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Full text of "Zeitschrift für Ethnologie"

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ZEITSCHRIFT 


Fti: 


E  T  H  N  0  L  0  G  I  E. 


Organ  der  Berliner  Gesellschaft 

für 

Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Unter  Mitwirkung  des  zeitigen  Vorsitzenden  derselben, 

R.  Virchow 

herausgegeben  von 

A.  Bastian  and  lt.  Hart  mann. 


Zweiter    B  a  n  d. 
1870. 


Berlin. 
Yerlag  von  Wiegandt  und  HeuipeL 

Nachdruck  mit  Genehmigung  der  Berliner  Gesellschaft  für 
Anthropologie,    Ethnologie  und  Urgeschichte,    Berlin    von 

SWETS  &  ZEITLINGER  B.V. 

LISSE  -  THE  NETHERLANDS  -  1982 


TUC   PCTTV   PCMTCD 


Inhalt. 


Seite 

Bastian,  A.,  Zur  Amazonen -Sage 177 

Ethnologische  Beiträge        40* 

Engel,  Franz,  Die  Palmen 30 

Erman,  A.,  Ethnographische  Wahrnehmungen  und  Erfahrungen  an  den  Küsten  des  Be- 

rings-Meeres 295 

do.  do.  (Fortsetzung) 369 

Ernst,  A.  (Caracas),  Die  Goajiro-Indiauer.     Eine  ethnographische  Skizze 328 

do.  do.  (Schluss) 394 

Friedel,  Ernst,  Der  Uglei.  Zur  Kunde  und  Vorgeschichte  des  ostholsteinischen  Seegebietes  204 
Friedmann,   Zustände   und  Vorfälle   in   den  Niederländischen  Colonien   in   den  Jahren 

1867  und  1868 424 

Fonck,   Die  Indier  des   südlichen  Chile  von   sonst   und   jetzt.     Vortrag   gehalten  in  der 

Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  am  2.  April  d.  J 284 

Hartmann,  R.,   Ueber  Pfahlbauten,   namentlich  der  Schweiz,   sowie   über   noch   einige 

andere,  die  Alterthumskunde  betreffende  Gegenstände.     1 1 

—  —  Untersuchungen  über  die  Völkerschaften  Nord-Ost-Afrikas.     III.    . 86 

—  —  Studien  zur  Geschichte  der  Hausthiere.     IV 123 

do.  do.  V 211 

Hensel,  Reinhold,  Die  Schädel  der  Coroados 195 

Strobel,  P.  (Parma),  Beiträge  zur  vergleichenden  Ethnologie.     1 111 

do.  do  II 274 

Virchow,  Rad.,  Ueber  Gesichtsurnen 73 

Miscellen  und  Bücherschau 69.  139.  236.  336.  448 

Verhandlungen  der  Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie  und  Urgeschichte. 

Sitzung  vom  15.  Januar  1870.  Ausgehöhlter  Stein.  Beyrich.  S.  144.  —  Koljuschen 
und  Aleuten.  Erman.  S.  144.  —  Ostasiatische  Gegenstände.  Jagor.  S.  147. 
Die  Philippinen  und  ihre  Bewohner.  Jagor.  S.  148.  —  Schädel  der  älteren  Be- 
völkerung der  Philippinen,  insbesondere  künstlich  verunstaltete  Schädel.  Vircbow. 
S.  151  —  Paläolithische  Flintwerkzeuge  aus  dem  Havel-Diluvium  zwischen  Potsdam 
und  Brandenburg.     Friedel.     S.  158 

Sitzung  vom  12.  Februar  1870.     Märkische  Steinäxte,    v.  Dücker,  Beyrich.    S.  162. 

—  Mammuthfragmente  von  den  Rollbergen  bei  Berlin.  Kunth.  S.  162.  —  Renn- 
thierfunde  in  Norddeutschland.  Virchow,  Beyrich,  Günther.  S.  162.  — 
Meisselartige  Bronze- Werkzeuge,  v.  Ledebur,  Virchow,  v.  Quast,  Jagor, 
Meitzen,  Maurer,  Hartmann.    S.  166. 

Sitzung  vom  12.  März  1870.     Westfälische  Funde,     v.  Dücker,   Virchow.     S.  170. 

—  Bronzesachen  von  Köpenik.  Friedel.  S.  171.  —  Axtartiges  Werkzeug  aus 
Java.  Jagor.  S.  171.  —  Altindische  Schnittwerkzeuge.  A.Kuhn.  S.  171.  — 
Bedeutung  der  geometrischen  Zeichnung  und  der  Photographie  für  die  Anthro- 
pologie. Fritsch.  S..172.  —  Gesichtsurnen.  Virchow,  v.  Ledebur,  Bastian. 
S.  174.  —  Vorkommen  des  Elen  in  Schlesien.  Göppert,  Virchow.  S.  175. 
Denka-Stämme.     Hartmann.     S.  176. 


Sitzung  vom  2.  April  1870.  Framea.  Lisch.  S.  237.  —  Funde  au»  vorhistorischer 
Zeit  in  der  Umgegend  von  Berlin  und  Rom.  Kunth,  Friede!.  S.  2.i7  -  Chi- 
lenische Indianer.  Fonek.  —  Cayapos.  Kupfer.  S.  230.  —  Westfälische  Höhlen- 
funde,    v.  Ducke r.     S.  240. 

Sitzung  vom  14.  Mai  1870  Constituirung  der  deutschen  Gesellschaft  für  Anthropo- 
logie, Ethnologie  und  Urgeschichte.  —  Gerätschaften  und  Schnitzereien  von  Dayakern 
im  Inner!'   von   Borneo.     v.  Martern s,    Virchow,    Hart  mann.    Kotier.     S.  242. 

—  8 tein warfen  bei  wilden  Völkerschaften.  Meitzen,  Virchow,  Fonck,  Kupfer. 
S.  243.  —  l'omerellische  Gesichtsurnen.  Mannhardt,  Virchow,  Hartmann. 
S.  244.  —  Gebrannte  Stein  wälle  der  Oberlausitz.  Virchow.  S.  257.  —  Rennthier- 
reste  aus  dem  Hönnethale.     v.  Dücker.     S.  272. 

Sitzung  vom  11. Juni  1S70.      Gesichtsurnen.      Müllenhoff,    Rödiger.    Virchow. 

S.  34ö.  —  Westfälische  Renuthierfunde.     Commissionsbericht..  S.  347.   —    Framea 

und  t'elt.     Koner,  v.  Cohausen,  Meitzen,  Bastian,  Virchow,   Hartmann. 

S.  347.    —    Lagerstätten    aus    der   Steinzeit   in    der   obern    Havel -üegend    und    der 

Nieder-Lausitz.     Virchow,    Reinhardt,    v.  Dücker.     S.  352.     -     Westfälische 

Knochenhöhlen.     Virchow.     S.  358. 
Sitzung   vom    9.  Juli    1870.     Eine    besondere    Art    geschliffener    Steine.      Virchow, 

v.  Ledebur.     S.  453    —   Pfahlbau  im  Lübtow-See  bei  Cöslin.     Zelle,  Virchow. 

S.  454.   —  Zwei  altpemanische  Schädel.     Beneke,  Bastian,  Virchow.     S.  455 

—  Der  Doppeladler  in  Asien.  Bastian,  Jagor.  S.  456.  —  Rennthier-Reste  auf 
dem  Akademischen  Museum  zu  Münster.     Hosius,    Virchow,    Lazard.     S.  457. 

—  Chemische  Untersuchung  der  Schlacken  von  den  oberlausitzischen  Brandwallen. 
Hauchecorne,  Alex.  Braun,  Virchow,  Wetzstein.  S.  461.  —  Schanze  am 
Daher  See.  Uartmann,  Kuchenbuch,  Virchow.  S.  468.  —  Alte  Höhlen- 
wohnungen auf  der  Bischofsinsel  bei  Königs walde.  Virchow,  v.  Ledebur,  Ascher- 
son,  Alex.  Brau  n,  Meitzen,  Jagor,  Koner.  S.  470  —  Chemische  Analyse 
einer  Glasperle.     Oscar  Liebreich.     S.  480. 


Verzeichniss  der  Tafeln. 

Tafel  I.     Restaurirtes  schweizer  Pfahldorf. 

Taf.  II.     Fig.  1.     Pfahlhaus  nach  Messikommer's  Abbildung. 

Fig.  2.     Ein  solches  nach  Messikommer's  neuerem  Modell. 

Fig.  3.     Pfahlhaus  von  Dore'i ,  Neuguinea 
Taf.  III.,  IV.,  V.,  VI.     Aegypterschädel. 
Taf.  VII.  Coroadoschädel. 
Taf.  VIII.  Gesichtsurnen. 
Taf.  IX.    Ethnologisch«   Karte    zu    A.  Erman's    Wahrnehmungen    und    Erfahrungen    an    den 

Küsten  des  Berings -Meeres. 
Taf.  X.,  XL     Goajiro -Schädel.     Goajiro -Mädchen.     Goajiro- Pfahldorf. 


[Teber  Pfahlbauten,  namentlich  der  Schweiz,  sowie  über  noch 
einige  andere,  die  Alterthuinskunde  Europa1«  betreffende 

Gegenstände. 

J. 

Ueber  Pfahlbauten  ist  schon  viel,  sehr  viel  geschrieben  worden.  In 
deu  nachfolgenden  Blättern  beabsichtige  ich  keineswegs  etwa  eine  erschöpfende 
Darstellung  alles  Dessen  zu  geben,  was  wir  über  diese  merkwürdigen  Alter- 
thüruer  bereits  iu  Erfahrung  gebracht,  sondern  ich  will  darin  zunächst  mil- 
den Standpunkt  erörtern,  den  ich  selber  der  Pfahlbau  frage  gegen- 
über im  Allgemeinen  einzunehmen  gedenke.  Es  erschien  mir  das 
nicht  unwichtig  in  einer  Zeitschrift,  in  welcher  obiger  Gegenstand,  der  Natur 
der  Sache  gemäss,  zu  öfteren  Malen  erwähnt  weiden  muss  und  wird.  Einige 
speciellere  Vorkommnisse  des  Gebietes,  ferner  einige  Fragen  genereller  Bedeu- 
tung in  Bezug  auf  europäische  Alterth  umskunde  mögen  hier  nebenbei 
ebeufalls  ihre  Erörterung  finden. 

Im  August  d.  J.  stattete  ich  der  Pfahlbaute  Robenhausen  am  Pfäffikon- 
See,  Canton  Zürich,  in  Begleitung  meines  Bruders,  Architekten  von  Fach 
und  bewandert  in  Altertumsforschungen,  einen  Besuch  ab.  Es  war  mir  Be- 
dürfniss  geworden,  einmal  mit  eigenen  Augen  diese  Wunder  einer  fernliegen- 
den Epoche  menschlichen  Seins  zu  schauen,  und,  da  die  Hausthierfrage  mich 
doch  einmal  auf  die  Pfahlbauten  hindrängte,  wenigstens  aus  dem  Bereiche  jener 
Vielen  herauszutreten,  welche  zwar  über  diese  Bauten  geschrieben  und  ge- 
urtheilt,  sich  dennoch  aber  kaum  je  die  Mühe  genommen,  eine  solche  wirk- 
lich in  Augenschein  zu  nehmen.  Mein  verehrter  Freund,  der  unseren 
Fachgenossen  wohlbekannte  Jac.  Messikommer  von  Stegen- Wetzikon  be- 
reitete uns  an  der  mehrjährigen  Stätte  seiner  tüchtigen  Wirksamkeit  den  herz- 
lichsten Empfang.  An  seiner  Seite  arbeiteten  wir  uns  durch  die  üppig  mit 
Gräsern,  Schilfrohr,  Windröschen,  Taubenkropf,  Schierling,  Lichtnelken, 
Schachtelhalmen  u.  s.  w.  überwucherte  Niederung  am  See,  das  ..Torfried", 
bis  zu  einer  Stelle  hindurch,  woselbst  am  Bande  einer  ehemaligen  PfaUlbau- 

Zeltsclmft  iiir  Ethnologie,  Julit-gaug  1870.  1 


niederlassung  von  den  Leuten  Messiko  mmer's  »ach  Adterthüiuern  gegraben 
wurde.  Diese  Fundschiclit  lieferte  unter  uuseren  Augen  hinnen  Kurzem  in- 
teressante Knochenstüekcheu  und  ludustrieprodukte  ,  sie  gewährte 
uns  auch  den  Anblick  ganzer  Pfahl  r  ei  hon.  Aus  einigen  anderen  lachen- 
ähnlichen Stellen  holte  unser  antiquarischer  Freund  G ersten körnoheu,  Apfel- 
und  Johannisbeerkerne  u.  s.  w.  mit  der  Grundscliaufel  heraus.  [n  seinem 
gastlichen  Hause  zeigte  er  uns  seine  unerschöpflichen  Knoeheuvorräthe,  dar- 
unter erst  vor  Kurzein  aufgefundene  Schiidelstücke  mit  ITornzapfen  vom  Wi- 
sent und  der  Torfkuh,  einen  schön  erhaltenen  Unterkiefer  vom  Torfschwein 
u.  s.  w.,  ferner  eine  uneudlichc  Fülle  von  Produkten  des  Pflanzenreiches,  von 
Stein-  und  Knoehengeräthen,  die  sehr  instructiven  Modelle  eines  Pfahlhau- 
hauses, diejenigen  von  Stein- Aexlen ,  Karsten  u.  s.  w.  Aus  seiner  reichen 
Erfahrung  theilte  es  uns  dann  noch  so  Mancherlei  mit  über  die  Weste  jener 
verschwundenen  Welt,  er  zog  interrossante  Parallelen  zwischen  dem  Damals 
und  Jetzt  seiner  herrliehen   FTeiinath. 


Als  man  sich  Vorjahren  über  den  Zweck  dieser  merkwürdigen  Nieder- 
lassungen klar  zu  werden  versuchte,  geriethen  bereits  damals  belesene  Leute 
auf  ähnliche,  noch  gegenwärtig  existirende  Constructionen.  Man  erinnerte 
sich  der  charakteristischen  Beschreibungen,  der  schönen  Abbildungen,  welche 
ein  Duperrey*),  ein  Freycine t**),  vor  Allen  aber  der  energische  und  ge- 
lehrte Dumont  d'Urville***)  über  das  an  der  Nordostspitze  von  Neu-Guinea 
befindliche  Papua-Pfahldorf  Dorei  (0"  51'  43"  S.  Br.  und  103°  39'  30"  0.  L. 
nach  d'Urville)  gegeben.  „Die  Bewohner  von  Dorei  sind",  wie  d'Urville 
erzählt,  „in  vier  am  Wasserrande  gelegenen  Dörfern  vertheilt;  zwei  davon 
befinden  sich  auf  dem  Nordufer  des  Hafens,  die  beiden  anderen  dagegen  auf 
den  Inseln  Mana-Suari  und  Masmapi.  Jedes  Dorf  hegreift  8 -—15  auf 
Pfählen  errichtete  Häuser  in  sich.  Nun  besteht  ein  jedes  der  Häuser  aus 
einer  Reihe  von  Zellen,  es  nimmt  mehrere  Familien  in  sich  auf.  Einige 
Häuser  enthalten  eine  Doppelreihe  von  Zellen,  die  durch  einen  der  ganzen 
Länge  nach  laufenden  Gang  in  zwei  Reihen  geschieden  werden.  Diese  völlig 
aus  roh  zugerichtetem  Holze  erhauten  Häuser  lassen  überall  das  Tageslicht 
hindurch  und  schwanken  unter  den  Tritten  des  Besuchenden."  A.  W.  Wal- 
lace,  ein  neuerer  Bcreiser  <\o^  Landes  der  Paradiesvögel,  schreibt  über 
obigen  Gegenstand:  „Die  Häuser  der  Dörfer  Mansinam  und  Dore'i  stehen 
alle  vollständig  im  Wasser  und  man  gelangt  auf  langen  ,  rohen  Brücken  zu 
ihnen.     Sie  sind    sehr  niedrig    und  besitzen    ein   Dach,    das    wie  ein  grosses, 

*)   Voyage  autoui  ihi  M le  snr  la  rorvettc  de  S.  M.  la  Coqiülle.  Par.  lS-.'S  et  ann.  suiv. 

Ilist.  du  voyage,   Atlas. 

**)    Voyage  autoui'  du  Monde  sur  les  rorvettes  rUratiie  et  la  Physicienne  etc.     Paris  1824 
-  1844.   Atlas  histor.   pl.  48. 

•*♦)  Voyage  de  la  corvette  l'Astrolabe.     Histoire  du  voyage.  T.  IV.  Paris  1842.  p.  607. 


3 

mit  dem   Boden  nach  oben  gerichtetes  Boot  geformt   ist.     Die  Pfahle,   weicht- 
die   Häuser,  die  Brücken  und  Plattformen  tragen,  sind  kleine,  krumme,  un- 
regelmässig aufgestellte  Stöcke,    die    aussehen,    als    ob  sie    umfallen    wollten. 
Die    Fussböden  sind  auch  aus  Stöcken  gemacht,  eben  s..  uuregel massig,  und 
so    lose   und    weil    auseinander   liegend,    dass  ich  es   für  unmöglich  fand,   aul 
ihneu  zu  gehen.     Die  Wände  bestehen  aus  Stücken  Bretter  von  alten  Böten, 
aus   verfaulten   Matten,  Attap  und  Palmblättem,    die  anfalle  mögliche    Weise 
hier  und  da    hineingesteckt  sind,    und  sie  halten  alle    ein    so  zerlumptes   und 
zerfallenes   Aussehen,  wie  man  es  sieh    nur  denken  kann."  —    „D'»"  Ansicht 
eines  Pfahlbaudorfes,   welche  auf  dem  Titelbilde   von    Sir  Charles  LyeU's 
Antiquity   of  Man    gegeben  ist,    gründet    sieh    hauptsächlich    auf  eine  Skizze 
eben    dieses    Dorfes    Dore'i,    aber   die   ausserordentliche    Regelmässigkeil    der 
Baulichkeiten,   wie  sie  dort   zu   sehen,   tindet  im  Original  uicht  statt,  ebenso- 
wenig wie  es  wahrscheinlich  ist,   dass  sie   in   (\<-n  wirklichen  Pfahldörfern  vor- 
handen war.*)"    Diese  Erscheinung  sieht  auf  der  östlichen  Hemisphäre,  übrigens 
keineswegs  vereinzelt  da  und  findet   ihre   Analogien  auch  auf  der  westlichen. 
Reduth-Kaleh  am  Uhopi  und  Nowo-Tscherkask  im  Lande  der  Don'schen  Ko- 
sacken  sollen  ?..  Th.  aus  auf  Holzklötzen  ruhenden   Bretterhütten  bestehen.**) 
Manche  Hütten  zu  Bankok,  Siam,  ruhen  über  dem  Menam  auf  Pfählen,  andere 
der  Tagalen  ebenso   über  den  Flüssen  Manilas,   sowie  die  der  See-Dajaks  auf 
Borneo  u.  s.  w.      Bruni,  Hauptorf  des  sogenannten  Sultan  von  ßorneo,  ist  eine 
echte    Pfahlbaustadt    im   Wasser    (Illustrated  London   News   vom'  Jahre   1847, 
Low:   Saräwak   its   inhabitants  and  productions.    London  18-48).     Viele  Suma- 
treseu  und  Javanesen    errichten  ihre  Kampongs  oder  Dörfer  theils  in  festem, 
theils  in  schlammigem  Boden,    auf  Pfählen.      Stets    verfahren    also  die  Niko- 
baren,  von  deren  Pfahlhütten  man  iu  der  Illustrirten  Zeitung  vom  Jahre  1850 
gute  Abbildungen  sieht.    In  A.  Joannes  Voyage  aus  cinq  parties  du  Monde, 
Paris  1851,  finde  ich  S.  135  die  Darstellung  eines  auf  Pfählen  über  den  Bos- 
poruswassern ruhenden  türkischen  Cafes  nach  A.  Bida,  S.  140  die  Darstel- 
lung  mehrerer   solcher  Wasser- Pfahlbauten  zu   Samsun  nach   A.  de  Beau- 
mont.     Ich  selbst  habe  Hütten  der  Gebelauis   im    Fasoglo    auf  Steinen   und 
kurzen  Pfählen  über  dem  Boden  erbaut  gesehen.     Livingstone   fand   beim 
Herabfahren  des  Schire  im  Papyrusdickicht  um  den   kleinen  See  Pamalombe 
herum  auf  den  Papyrusstengeln  errichtete  Hüttchen  solcher  Manganja,  welche 
sich  vor  ihren  Todfeinden,   den  Ajawa.    hierher  geflüchtet.***)      Temporäre  über 
dem  Wasser   errichtete.   Fischerhütten    sah    ich     1857    im    Gardasee    von     Pe- 
schiera  bis  gegen  Desenzano;  stationärer  derartiger  Pfahlbauten  bedienen  sich 

♦)  Der  malayische  Archipel.     Autor,  deutsche  Ausg.  um\  A    B.  Meyer      Braunschweig 

1809.    IT,  S.  282  ff. 

**)  M.  Wagner,    Reise  nach   Kolchis  und  nach  Jen  deutschen  Colonien  jenseit  de-;  Kau- 
kasus.   Leipzig  1850.   S.  204. 

***)  Neue  Missionsreisen  in  Südafrika.     Autor,  deutsche  Ausgabe.    Jena  und  Leipzig   1666. 
II,  S.  91. 

1* 


auch  die  Donaufisclier  abwärts  von  tbraila.  In  Oongo  errichteten  noch  in 
unseren  Zeilen  zu  Amlui/  und  an  anderen  Orten  europäische  Coiuptoiristen 
sowohl,  wie  auch  Landesemgeborene  hölzerne  Pfahlhäuser,  sogenannte  Qm 
bangas,  um  m  ihnen  .lein  tödtlichen  Bauche  des  feuchten  Hodens  leichter 
entgehen  zu  können.  Sir  Koberl  Schomburgk  theilte  mir  im  Jahre  1864 
mit,  dass  die  Guaraimos  oder  Warrau's,  sowie  die  Cariben  in  Guyana  oft 
genug  Pfahlhütten   im   Wasser  und   im  Schlamme  erbaueten.*) 

Auch  aus  drr  früheren  Geschichte  halten  wir  Nachrichten  von  Pfahl- 
bauten. Bereits  im  Jahrgang  1869,  lieft  I.  S.  !>4  dieser  Zeitschrift  habe  ich 
die  von  Dümichen  aus  dem  XVI I.  Jahrhundert  v.Chr.  dargestellten  Pfahl- 
hütten am  rotheu  Meere  erwähnt.  Schon  Hippocrates  weiss  von  derartigen 
Gebäuden  am  „Phasis."**)  Eine  von  Herodot  gegebene  Nachricht  be- 
schreibt genau  paeonische  Pfahlbauten  im  See  Prasias  (Sidero-Kapsas),  welchen 
der  zum  Gebiete  des  aegeischen  Meeres  gehörende  Strymon  (Kara-Ssu)  (V,  1»!) 
durchfliesst.  Diese  merkwürdige  Stelle  ist  schon  von  Virchow***),  Pallinaunf) 
und  R  ü  c  k  e  r  t-j-f)  so  ausführlich  citirt  worden,  dass  ich  hier  wohl  darüber 
hinweggehen  darf.  Einen  dacischen  Pfahlbau,  welcher  unter  römischer  Brand- 
fackel  in  Flammen  aufgeht,  zeichnen  uns  die  Reliefs  der  Trajanssäule.  f  ff ) 
Abul-Feda  erwähnt  christlicher,  auf  Pfählen  in  einer  Abtheilung  des  Apamea- 
Sees  um  1328  erbauete.r  Fischerhütten.  Der  grossartigste  Pfahlbau  des  Mittel- 
alters und  der  Neuzeit  wird  aber  stets  „la  bella  Veuezia"  mit  ihren  La- 
gunendependenzen  bleiben.  Mögen  auch  die  Subconstructioneu  der  grossen 
Lagunenstadt  ihr  Eigentümliches  haben,  ihrer  Entstehung  nach  gehören  sie 
dennoch  zur  Kategorie  der  uns  interessirenden  Bauten.  Mau  giebt  an,  dass 
die  zur  Zeit  des  Verfalles  des  weströmischen  Reiches  sich  mehrenden  Ein- 
brüche nordischer  Barbaren  venetische  Einwohner  veranlasst  hätten,  aut  dem 
Rialto  (Riv1  alto)  und  anderen  öden  Alluvionen  der  Lagunen  ihre  Nieder- 
lassungen zu  errichten,  denen  sie,  um  trockenen  Fusses  leben  zu  können, 
Subconstructioneu  von  Pfählen  gaben.  Daraus  ist  die  meergebietende 
Dogenstadt  entstanden.*-}-)  Als  Vespucci  und  Hojeda  die  Laguna  de  Mara- 
caybo  in  Augenschein  nahmen  ,  fanden  sie  hier  indianische,  im  „Fango"  der 
niederen  Küsten  erbauete  Hütten,  durch  welche  sie  lebhaft  an  die  Lagunen- 
häuser der  adriatischen  Meereskönigin  erinnert  wurden.     Sie  nannten  deshalb 


*)  Vergl.  auch  Gumilla:   Historia  natural,   civil  y  geografia  de  las  naciones  situadas  en 
las  riveras  del  Rio  Orenoco.     Nueva  Impresion  1790,  p.  143-  163. 
**)  Op.  omn.  Edit.  Kühn.     I,  p.  551. 

***)  Die  Hühnengräber  und  Pfahlbauten.     Berlin  1866.    S.  20. 
f)  Die  Pfahlbauten   und  ihre  Bewohner.     Berlin  1866.     S.  52. 
ft)  Die  Pfahlbauten  und  Völkerschichten  Osteuropas,  insbesondere  der  Donaufürsteathüiner. 
Würzburg  1869.    S.  12. 

fft)  Ausland   1867.     S.  646. 
*t)  Vgl.  Dum,  Histoire  de  la  republique  de   Venise.    Stuttgart  1828.   I.    Im  Arsenale  zu 
Venedig  sieht  man  sehr  interessante  Modelle   venetianischer  Häuser  mit  ihren  Pfahlunterbauen 


diese  Gegend  der  See  den  Golfo  de  Venecia*);  spätei  wurde  dei  ganze  von 
der  Mündung  des  Cuynni  l>is  zu  den  Quellen  des  Taclüra  sich  ausdehnende 
Landstrich  Venezuela,  Klein- Venedig,  benannt.  Letzteren  Namen  hat  be- 
kanntlich die  eine  der  colombischen  Republiken,  das  Geburtsland  eines  Bo- 
livar,  Päez  und  Tobar,  aus  Pietät  beibehalten. 

Wollen  wir  uns  nun  über  den  eigentlichen  Zweck  dieser  Pfahlbau- 
niederlassungen Klarheit  verschaffen,  so  müssen  wir  unter  den  Letzteren  solche 
unterscheiden,  welche  als  zeitliche  Fischerwohnungen  zur  bequemeren  Aus- 
übung des  Fischereibetriebes  dienen;  solche  Pfahlhiitteu  (s.  oben)  entstehen 
ja  auch  hier  und  da,  u.  Ä..  selbst  in  den  Stockfischetablissements  von  Neufund- 
land. Sie  sind  häufigerem  Wechsel  des  Standortes  unterworfen;  sie  haben 
selten  etwas  Bleibendes.  Desor  erwähnt,  die  Indianer  \  euezuela  s  hätten  ihre 
Wohnungen  deshalb  über  Wasser  erbaut,  „pour  se  mettre  ä  L'abri  des  mou- 
ehes".**)  Allein  die  Mosquitos  sind  gerade  an  den  niederen  Küsten  der 
Tropen  sehr  lästig,  sie  sind,  wie  mir  Augenzeugen  versichert  haben,  vorzugs- 
weise lästig  an  den  z.  Th.  mit  Rhizophoren  bewachsenen  Strichen  bei  Mara- 
caybo  und  Puerto  Cabello.  Die  Schwarzen  der  Sümpfe  des  weissen  Nil,  die 
furchtbar  von  den  Mücken  zu  leiden  haben,  errichten  in  der  schlimmsten  Zeit 
für  sich  und  ihre  Hunde  hohe  Gerüste,  um  Feuer  darunter  anzumachen  und 
sich  oben  auf,  vom  Rauche  halb  erstickt,  eine  zweifelhafte  Nachtruhe  zu 
sichern.  Sie  meiden  aber  zu  diesem  Zwecke  eine  allzu  grosse  Nähe  des 
Wassers.  Es  werden  daher  auch  die  venezuelanischen  Eingebornen  unzwei- 
felhaft andere  Gründe  zur  Errichtung  ihrer  Pfahlbauten  gehabt  haben,  als  die 
vermeintliche  Abwehr  von  Mosquitos. 

Manche  der  Pfahlbauten  mögen  nur  gewissen  Launen  und  individuellen 
Wünschen  ihrer  Besitzer  gedient  haben,  z.  B.  um  sich  die  Kühle  des  AVas- 
sers  zu  verschaffen,  so  am  Bosporus  u.  s.  w.  Andere  sollten  und  sollen  noch 
jetzt  Schutz  gegen  verderbenbringende  Exhalationen  eines  feuchten  Bodens 
gewähren,  so  an  manchen  Oertlichkeiten  Wasserindiens,  Afrikas.  Von  sol- 
chen Bauten  sind  aber  jene  stabileren  zu  unterscheiden,  die  der  Ver- 
teidigung gegen  Angriffe  von  Aussen  gegolten.  Diesem  zuletzt 
aufgeführten  Zwecke  zu  Liebe  sind  unstreitig  die  meisten  älteren  Pfahlbau- 
ten errichtet  worden.  Man  hat  nun  mehrfach  behauptet,  sie  seien  (wenigstens 
in  Europa)  angelegt  worden,  um  ihren  Bewohnern  Schutz  gegen  liaub- 
thiere  zu  verschaffen.  M.  Wagner  hat  aber  diese  Auffassungsweise  dahin 
abgefertigt,  dass  die  hervorragendsten,  angeblich  so  grimmigen 
Fleischfresser  der  älteren  Pfahlbauperiode,  Bär  und  Wolf,  über- 
haupt nicht  aggressiv  genug  seien,  um  so  ganz  ungewöhnliche  Schutzmaass- 
regeln  von  Seiten  der  pfahlbauenden  Altvordern,  wie  Errichtung  volkreicher 


*)  M.  F.  de  Navarrete:    Colloccion  de   los  viages   y  deseubrimientos  de  los    Esparioles. 
Vol.  III,  p.  8. 

•*)  Los  palafittes  011  construetions  lacustres  du  lac  de  Neuchatel.     Paris  1865.    p.  8. 


Niederlassungen  über  Wasser,  zu  rechtfertigen.  Ich  meinestheils  vermag 
mich  derartigen  Anschauungen  des  geehrten  münchener  Forschers  nur  anzu- 
sehliessen.  Wagner  hat  seine  Auslassungen  durch  Anführung  etlicher  Anek- 
doten über  die  Sitten  der  Bären  und  Wölfe  unseres  Continentes  zu  erhärten 
gesucht.  Auch  ich  könnte  darüber  aus  eigenen  und  fremden  Erfahrungen 
noch  Manches  hinzuzufügen,  begebe  mich  aber  hier  aus  räumlichen  Gründen 
eines  Weiteren.  Ich  kann  zum  Schlüsse  nur  die  Ueberzeugung  aussprechen, 
dass  Bär,  Wolf  und  selbst  Löwe,  Leopard,  im  Allgemeinen  menschliche 
Wohnstätten,  vom  einfachsten  Mattenzelt  des  Beduinen,  von  der  Bienenkorb- 
hütte des  Buschmann,  von  der  Eisblockbaracke  des  Esquimeau  bis  zum  Block- 
hause des  Backwoodsman,  dem  Lehmpalaste  des  nubischen  Grossen,  dem 
steinernen  Adelssitze  des  sarmatischen  Starosten,  mit  ihren  räuberischen  Be- 
suchen verschonen. 

R.  Pallmann  hat  nun  den  Versuch  gemacht,  die  Pfahlbauten  unserer 
europäischen  Gegenden  für  Handelsstationen  und  Handwerkerdepots 
italisch-etr uskischer,  massaliotischer,  gallischer  und  vielleicht 
auch  phönizisch  -  karthagischer  Kaufleute  (!)  zu  erklären.*)  Diese 
Krämer  aus  aller  Herren  Ländern  möchten  nach  unseres  Schriftstellers  An- 
sicht die  Pfahlbauten  der  Schweiz  bewohnt  und  die  Zeiten  der  Müsse,  wäh- 
rend  welcher  sie  auf  ihre  Seewohnungen  gefesselt  waren,  zu  fleissiger  Arbeit 
(d.  h.  Verfertigung  von  Stein-  und  Bronzegeräthen,  Waffen  u.  s.  w.)  verwandt 
haben,  wie  wir  dies  noch  jetzt  in  den  Abfällen  vor  uns  sähen.  „Ihre  be- 
sondere Wichtigkeit  haben  die  Pfahlbauten  einestheils  dadurch,  dass  sie  das 
oft  erwähnte  Stein-,  Bronze-  und  Ei  sensystem  endgültig  über  den 
Haufen  werfen"  u.  s.  w.**)  „Es  haben  danach  die  europäischen  Pfahl- 
bauten im  Bereiche  der  adriatischen  und  westlichen  Handsisstrasse  nach  dem 
Norden,  neben  dem  Zweeke  grösserer  Sicherheit  für  Menschen  und  Eigen- 
thum,  der  schliesslich  ja  allen  Pfahlbauten  und  allen  Gebäudearten  eigen  ist, 
vorwiegend  einen  bedeutsamen  handelspolitischen  und  eulturhistorischen  Hin- 
tergrund und  wie  ein  Blitz  zerreisst  ihre  Aufhellung  das  Dunkel  über  einer 
schon  vermutheten,  bisher  aber  nicht  nachweisbaren  Landhandelsstrasse  nach 
dem  Bernsteinlande.  Ihr  Verständniss  gewährt  ferner  einen  Einblick  in  die 
Maschinerie  des  alten  Landhandels  in  Barbarenländern,  zeigt  uns  wichtige 
Knotenpunkte  in  demselben  und  deckt  die  nachweisbar  ältesten  Werk- 
stätten reisender  Kaufleute  und  fahrender  Handwerker  aus  langer 
Verborgenheit  auf."***)  Eine  solche  Deutung  des  angeblichen  Zweckes  un- 
serer älteren  Pfahlbauten  ist  von  M.  Wagner  in  kurzer  und,  wie  uns  dünkt, 
auch  sehr  zutreffender  Weise,  perhorrescirt  worden.  Dieser  sagt:  „Einige 
der    neuesten    Hypothesen,    darunter    die,    welche    in    jenen    Seedörfern 


*)  A.  o.  n.  O.  S.  108,  109. 
»•)  A.  o.  a.  0.  S.  174. 
•*•)  A.  0.  a.  0.  S.  182,  183. 


Handelsstationen  der  Phönizier  oder  »rgend-einem  heidnischen  Kultus 
geweihte  Orte  erkennen  wollen,  berühre  i<di  nur  kurz.  Solche  bodenlose 
Ansichten  sind  meines  Erachten s  keiner  sehr  ernsten  Widerlegung  werth 
u.  s.  w.  „Wozu  sollen  in  der  Thal  Handelestationeu  von  fernwohnenden 
Seefahrera  in  den  ldeinen,  oft  ganz  abgelegenen  Sumpfseen  eines  armen 
Binnenlande,  dienen,  das  als  Tauschartikel  nichts  als  rohe  Steinwerkzeuge 
und  grobe  Flachsgewebe  besass?  Ein  stichhaltiger  Grund  ist  dafür  nicht 
angeführt  worden.  Schon  die  grosse  Zahl  der  damals  existirendon  Seedörfer 
ist  ein  schlagender  Gegenbeweis.  Oder  könnte  die  Phantasie  eines  Alter- 
tumsforschers wirklieh  80  weit  gehen  um  auf  dem  Neuenburgcrsee  allein 
40  Handelstationen  phönizischer  Kaufleute  anzunehmend  Welche  Schatze 
konnten  sie  dorthin  locken  und  wo  sind  die  Erzeugnisse  fremder  Welttheile, 
die  sie  zurückliessen ?M  Verfasser  fügt  dann  hinzu,  es  sei  allerdings  wahr- 
scheinlich, dass  die  Bronzegegenstände  der  späteren  Periode  wohl 
meist  eingeführte  Tauschartikel  gewesen.  Doch  sei  damit  noch  kein  Grund 
für  die  sonderbare  Hypothese  gegeben,  dass  die  fremden  Handelsleute  so 
mühsame  Bauten  im  Wasser  für  ihre  Magazine  aufgeführt  hätten.*) 

Lindenschmit  verwirft  die  von  Pallmann  aufgestellten  Ansichten,  durch 
welche  die  „Pfahlbauten  selbst  weder  zu  massalioiisch-celtischen  noch  anderen 
Handelsleuten  in  nähere  Beziehung  gebracht,  als  sie  es  vorher  auch  schon  waren." 
Der  ausgezeichnete  Archaeolog  fügt  den  beherzigenswerthen  Ausspruch  hinzu, 
dass  „sich  leider  zusehends  jene  Phantasien  über  die  Pfahlbauten  mehrten, 
welche  in  kritiklosem  Nachschreiben  thatsachlicher  Unwahrheiten  und  Miss- 
griffe eine  Menge  falscher  Vorstellungen  zusammenhäuften  und  durch  ihr 
Ueberbieten  in  gewagten  Behauptungen,  durch  ihre  übertreibende  Verzerrung 
anderweitig  gewonnener  Resultate  nicht  nur  die  Theilnahme  für  eine  unbe- 
fangene nüchterne  Betrachtung  verwirrten,  sondern  geradezu  beitrügen,  die 
Vorstellung  völliger  Unfruchtbarkeit  der  letzteren  zu  verbreiten  und  einen 
Ueberdruss  für  den  hochinteressanten  Gegenstand  zu  erwecken."**) 

Von  Einigen,  unter  Anderen  auch  von  Pallmann,  sind  ferner  die  Cran- 
noges,  die  sonderbaren,  dicht  veipallisadirten.  mit  im  Winter  unter  Wasser 
stehenden  Untergrund  versehenen  Inselburgen  irischer  Kämpen.  Häuptlinge, 
zu  den  Pfahlbauten  gezählt  worden.  Pallmann  meint,  dieselben  könnten  nur 
der  geschichtlichen  Zeit  angehören.  Er  bestimmt  in  seiner  etwas  ge- 
suchten Art  ihre  Existenz  sonderbar  genug  „nachweislich"  zwischen  848  und 
1G10  und  zwar  deshalb,  weil  ihrer  erst  seit  848  in  den  irischen  Annalen 
Erwähnung  geschieht!  „Was  das  Alter  der  Crannoges  betrifft,  so  schliesst 
man  aus  dem  Umstände,  weil  Steingeräth  a  ls  frühester  Zeit  neben  Bronze 
und  Eisen  vorkommt,  fälschlich  auf  ein  grosses  Alter  und  meint,  es  seien 
hier  Producte  der  „Stein-,  Bronze-  und  Eisenzeit"   vereinigt.    Auch  der  Um- 


*)  Ausland  1805,  S.  418  und  Anmerkung. 
"*)  Archiv  für  Anthropologie.     I.     Brauuseliweit:   186C.     1.  Band,  S.  366. 


stand,  dass  die  Crannoges  während  ihres  Bestehens  von  Wasser  und  Torf 
allmählich  verschlungen  wurden;  dass  Pfahlwerk  auf  Pfahlwerk  ruht,  dass 
hei  deren  Abtragung  Kohlenstätten  in  verschiedenen  Höhen  angetroffen  wer- 
den, ergiebt  nur  die  lange  Dauer  des  Bewohntseins,  nicht  aber  ein  hohes 
Alter  dieser  Ansiedlungen."*) 

In  allen  den  Pfahlbauten,  welche  nicht  als  zeitliche  Fischerei -Etablisse- 
ments*"1), nicht  zur  Sicherung'  gegen  climatische  Einflüssef),  nicht  gegen 
die  Verwüstungen  bergabstürzender  Regenwasser  (Fasoglo,  Dar-Bertat) 
etc.  oder  welche  selbst  nur  mehr  einem  individuellen  Comfort  gedient, 
hat  sich  der  Mensch  gegen  den  Menschen  schützen  wollen. 

Zwar  hat  F.  Keller  sich  ausdrücklich  gegen  die  Annahme  verwahrt  ge- 
habt, als  könnten  die  den  Pfahlbaudörfern  benachbarten  Landestheile  bewohnt 
gewesen  sein.  „Man  habe  bei  aller  Sorgfalt  an  den  den  ausgedehntesten  und 
am  dichtesten  besetzten  Steinzeitstationen  gegenüberliegenden  Uferstellen 
beim  Anbau  des  Landes,  beim  Ziehen  von  Gräben  oder  Fundamentiren  von 
Häusern  u.  s.  av.  nie  ein  Geräthe  zum  Vorschein  kommen  sehen,  wie  Mahlsteine, 
Beile,  Scherben  u.  s.  w.  Es  zeigten  sich  an  solchen  Orten  keine  Kohlen- 
stätten, keine  Veränderungen  in  der  Oberfläche  des  Bodens,  nicht  eine  noch 
so  geringe  Andeutung  von  menschlicher  Existenz  daselbst."  (VI.  Bericht. 
Zürich  186(5.  Vorrede.)  Dagegen  macht  nun  M.  Wagner  in  seiner  oben  be- 
reits citirten,  unserem  Urtheile  nach  mit  verständiger  Kritik  gehaltenen  Ar- 
beit darauf  aufmerksam,  dass  Ausgrabungen  im  festen  Lande  bisher  überhaupt 
noch  in  einer  gar  zu  spärlichen  Weise  vollführt  worden  seien,  um  solche  An- 
nahmen, wie  jene  F.  Kellers,  ohne  Weiteres  zu  rechtfertigen.  Unser  Gewährs- 
mann erinnert  hierbei  an  die  Funde  von  Schussenried  in  Würtemberg***), 
er  erinnert  an  die  Neuheit  derartiger  Nachforschungen  überhaupt,  ferner,  dass 
solche  Entdeckungen  auf  einem  von  der  Kultur  seit  Jahrtausenden  durch- 
wühlten Boden  sehr  schwierig  zu  machen  seien,  dass  nur  in  See-  und  Torf- 
mooren, in  einigen  noch  un durchsuchten  Höhlen  und  Hügelgräbern  der  Boden 
unversehrt  geblieben.  Aehnliche  Ausgrabungen  werden  übrigens  voraussicht- 
lich auch  noch  an  anderen  Orten  erfolgen.  Dass  zur  Zeit  wo  eine  ziem- 
lich zahlreiche  Bevölkerung  auf  diesen  Wasserdörfern  hauste, 
das  weite  Binnenland  von  Menschen  ganz  unbewohnt  und  unbe- 
nutzt gewesen,  wäre  eine  ebenso  willkürliche  als  unnatürliche 
Annahme.f) 

Bekanntlich  haben  die  Pfahlbauhewohner  am  festen  Lande  der  Jagd  ob- 


*)  Pallmann  a.  o.  a.  0.     8.  54. 

**)  Eine  Sicherung,  die  freilich  sehr  prekär  sein  dürfte     In  den  afrikanischen  Kieberhöllen 
schätzen    einige  Dutzend   FuS8    höher    noch  nicht  vor  den  krankheiter/eugenden  Ursachen;   man 
kann   sich    hier  selbsl   auf  Bergen   von    1Ö00-2000  Fuss  absoluter  Hohe  noch  sein  Fieber 
holen,  wie  /..  B.  im  Sennäi   und  auf  den  Erhebungen  der  abyssinischen  Kwolla. 
***)   ^  ,-rf,r'    Archiv  für  Anthropologie.     II.     S.  2'.).  ff. 
-r,  Ausland  iö»;7,  8.  421. 


9 

gelegen,  sie  haben  da  ihr  Vieh  geweidet,  haben  In  Wald  und  Flur  man«  berlei 
wildwachsende  Erzeugnisse  des  Pflanzenreiches,  Ba-st,  Rinden.  Beeren.  A-i 
werk  ii.  s.  w.  eingesammelt,  haben  daselbst  auch  ihren  Acker  bestellt.  Kam 
es  dann  zum  Angriff  von  Aussen,  so  blieb  den  Leuten  ihr  Pfahlbau  al*  <'iu 
gesicherterer  Zufluchtsort.  .Sic  durften  dann  nur  die  zum  Lande  führenden 
Stege  abbrechen,  ihre  Piroguen  anziehen,  und  waren  dann  doch  einigermassen 
gegen  die  Bedrohungen  eines  Feindes  gesichert,  gegen  dessen  furchtbarste 
Walle,  mit  brennenden  Stoffen  umwickelte  (Meile  und  Wurfspeere,  ihnen 
immer  noch  die  Hülfe  ihres  unmittelbar  nahen  feuchten  Elementes  blieb.  \\  li 
linden     in     den    Pfahlbauresten ,     liamenllieli     der   Schweiz,    zahlreiche    gänzlicll 

und  theilweise  verkohlte  Fragmente,  ein  Zeichen,  dass  hier  genug  der  Brande 

gewüthet  haben  müssen.  Manche  der  letzteren  mögen  bei  der  leichten,  feuer- 
empfänglichen  Bauart,  durch  Zufall  entstanden  sein,  andere  aber  sind  auch 
gewisslich  im  Gewühle  des  „mannsgrimmen  Kampfes"  emporgelodert.  Das» 
gewisse  Pfahlbauten,  z.  B.  die  dw  Manganjas,  Venedig,  u.  s.  w.  nur  zum 
Schutze  gegen  feindliche  Angriffe  errichtet  worden,  ist  bereits  früher 
(S.  4.)  hinlänglich  erörtert  worden.  Auch  diejenigen  der  schweizer  Seen 
werden  diesem  einen  Hauptzweck  gedient  haben,  einem  Zwecke,  denen  an- 
dere, z.  B.  bequemerer  Betrieb  der  Fischerei,  erleichterter  Wasserverkehr 
u.  s.  w.,  untergeordnet  werden  mussten.  Haben  doch  auch  die  Pfahlbauera 
dieser  Gegenden  von  mindestens  soviel  Land-,  als  Wasserthieren  gelebt!  Es 
mag  schon  recht  bequem  gewesen  sein,  von  den  Plattformen  solcher  Wasser- 
wohnungen aus  sogleich  die  Angeln  und  Reusen  ins  \\  asser  senken  zu  kön- 
nen. Es  mag  namentlich  für  die  alten  Pfahlbauern  der  von  unzugänglichen, 
dichtbewaldeten  Höhen  umschlossenen  schweizer  Seen  bequem  gewesen  sein. 
in  ihren  leichten  Einbäumen  von  Dorf  zu  Dorf  zu  fahren,  bald  hier,  bald  da 
zu  landen,  hier  einen  im  Uferschlamme  sich  siehlenden  \\  isent  zu  überfallen, 
dort  bei  nächtlicher  Weil  mittelst  Feuerbränden  Hirsche  oder  Rehe  ins  Schilf 
zu  locken  und  zu  Speeren  u.  s.  w.  In  Pommern  will  man  im  Dabei-  und 
Persanzigsee  die  Beobachtung  gemacht  haben,  dass  die  daselbst  aufgefundi  nen 
Pfahlbauten  ausgedehnt  gewesen  und  mit  voller  Planmässigkeit  angeordnet 
seien.  Sie  stünden  in  einem  bestimmten  Verhältnisse  zu  eigenthümlicheu 
Verhältnissen  des  Landes,  welche  im  Persanzig-See  als  natürliche  Inseln  und 
Werder,  im  Daber-See  wenigstens  zum  Theil  als  bedeutende  Wall-  und  1 1  ii— 
gelaufschüttungen  künstlicher  Art  sich  darstellen.  Schon  ihre  Anlage  lehre. 
dass  es  sich  nicht  nur  um  Wohnungen,  sondern  ganz  wesentlich  um  Be- 
festigungen handeln  könne.  Die  eine  ungeheure  Masse  von  Scherben, 
Thongeschirr  und  von  zerschlagenen  Knochen  neben  den  ebenfalls  geöffneten 
Haselnussschalen  schliesse  den  Gedanken  aus,  dass  man  es  nur  mit  Be- 
festigungen zu  thun  habe.  Waffen  aus  Stein  oder  Metall  oder  Ueberreste 
davon  seien  bis  jetzt  an  keinem  von  beiden  Orten  gefunden  worden  und  ob- 
wohl es  sehr  wahrscheinlich  sei,  dass  man  bei  weiteren  Nachsuchungen  auch 
sie  antreffen  werde,    so   stehe   doch   das   zahlreiche  Vorkommen    der  erst   ge- 


10 

nannten  Gegenstande  des  künstlichen  Handgebrauches  ausser  albm  Verhält- 
nisse zu  einer  blossen  Festungsanlage.  Man  müsse,  vielmehr  die  Ueber- 
zcugung  gewinnen,  dass  an  beiden  Orten  sowohl  Befestigungen  als  Wohnun- 
gen und  /war  See  w  o  h  n  u  n  gen  bestanden  hätten.  Am  Persanzig-See  habe 
sieh  sogar  eine  räumliche  Trennung  zwischen  Befestigungen  und 
Wohnungen  ziemlich  deutlich  herausgestellt.  Eine  früher  mitten  im  See 
befindliche  Insel  sei  nämlich  ringsum  von  Pfahlbauten  umgeben.  Auf  der 
südlichen  und  östlichen  Seite,  wo  der  See  sehr  tief  und  breit  gewesen,  hätten 
sich  nur  senkrechte  Pfähle  gefunden,  zwischen  denen  im  Boden  Alles  voll  von 
Thongerätii,  Thierknochen  u.  dgl.  liege,  auf  der  nördlichen  Seite  dagegen,  wo 
der  See  flacher  und  schmaler,  und  wo  eine  sehr  lange  Brückenaufstellung  die 
Verbindung  mit  dem  Festlande  gesichert,  sei  ein  starker  Verhau  von  horizontal 
gelegenen,  mehrfach  übereinander  geschichteten  Balken  zwischen  den  senk- 
rechten Pfählen  blossgelegt,  dagegen  seien  fast  keine  Ueberreste  von  Ge- 
räthen  und  Knochen  angetroffen.*)  Virchow  hat  später  noch  dargethan,  dass 
von  ihm  in  Pommern  an  verschiedenen  Punkten  kleine  Pfahlbauansiedlungen, 
Seeburgen,  wohl  einer  späteren  Kulturperiode  als  die  schweizerischen  Pfahl- 
bauten angehörend,  aufgefunden  worden,  in  denen  hauptsächlich  Eiseugeräth 
vorgekommen  sei,  Niederlassungen,  die  ähnlich  den  irischen  Crannoges,  als 
Festungen  für  Häuptlinge,  auch  Räuberpack,   gedient  haben  dürften.'"*) 

Fassen  wir  nun,  seihst  auf  die  Gefahr  hin,  ins  Breite  zu  gerathen,  die 
obige  Ausführung  noch  einmal  zusammen.  Nach  unserer  Ueberzeugung  also 
sind  die  Zwecke  einer  wirksamer  en  Verteidigung  gegen  Feinde  die  her- 
vorragendsten für  Errichtung  der  alteuropäischen  Pfahlbauten  gewesen 
und  sie  sind  auch  die  hervorragendsten  für  Errichtung  vieler  noch  heut  exi- 
stirender  Constructionen  ähnlicher  Beschaffenheit.  Das  Letztere  liess  sich 
direct  nachweisen  und  wird  Solches  auch  für  das  Alterthum  Geltung  finden 
müssen.  Der  Weg  der  Vergleichung,  des  Rückschlusses  von  Jetzt  auf  Ehe- 
dem wird  uns  in  dieser  Beziehung  sicherer  zum  Ziele  der  Erkenntniss  fuhren, 
ah  ein  Herumtappen  nach  fremdartigen,  gesuchten  Erklärungen.  Niemand 
wird  ja  in  Abrede  stellen,  dass  beim  Bau  der  alten  Pfahlniederlassungen  die 
Annehmlichkeiten  eines  leichten  Verkehrs  auf  der  Wasserstrasse  unter  Ver- 
mittlung schnellfortzubewegender  Piroguen,  dass  die  Erleichterung  des  Fisch- 
fanges und  des  Jagdbetriebes  in  benachbarten  Wildrevieren,  dass  ferner  noch 
man«  he  ander«'  Nebenrücksichten  zugleich  mit  ins  Auge  gefasst  worden  seien. 

Vielleicht  könnte  einmal  Jemand  die  Ansicht  aufnehmen,  es  lasse  sich 
«in  Zun-,  ein  Trieb,  ein  Drang  in  der  Kulturentwicklung  nachweisen,  der  die 
Menschen  in  gewissen  Perioden  zum  Aufsuchen  und  Bewohnen  der  Holden, 
in  anderen  zur  Errichtung  von  Pfahlbauten  veranlasst,  der  sie  endlich  zum 
Aufbau    festerer   Häuser,    Ortschaften,    Burgaden,    geführt.     Dem   gegenüber 


')  Entnommen  dem  „Schlesischen  Lamlwirth"  vom  1    December  1866. 
**)  Sitzung  des  wissenschaftlichen  Knnstveroins  zu  Berlin  16.  Murz  1860. 


11 

würde  ich  mich  übrigens  zu  der  Erwiederung  veranlass!  sehen,  dass  dei  Z 
der  Drang  nach  Höhlenbewohnung  nichl  allein  in  den  fernen,  vorhistorischen 
Zeiträumen,  in  jenen  Zeiträumen  eines  rloinmc  ä  cavernes  vorhanden 
sondern  dass  derselbe  auch  weit  spater  den  unserer  sie  he  ich  Geschichte 
angehörenden  Garamanten  (Teda),  den  Troglodyten  (Bedjah),  sclbsl  deu 
Urchristen  Aegyptens  und  Syriens,  inne  gewohnt.  Die  Ursachen  worden 
dieselben  oder  doch  mehr  minder  ähnliche  gewesen  sein.  Ich  würde  dann 
lerner  auf  jene  ungemein  grosse  Zahl  von  Pfahlbauten  aufmerksam  machen, 
welche  während  des  noch  späteren  Alterthums,  des  Mittelalters  und  der 
Neuzeit  in  so  vielen  Ländern  der  Erde  (vergl.  S.  3.)  aufgerichtet  worden. 
Einem  Zuge,  Triebe,  Drange,  nach  solchen  Dingen  wird  immer  ein  durch  die 
Zeit-  und  Kaumverhältnisse  bedingter  Zweck  zu  Grunde  liegen,  nicht  aber 
ein  unbestimmtes  Etwas,  etwa,  wenn  wir  so  wollen,  eine  blosse  Mode,  eine 
Marotte. 

Es  herrscht  für  uns  nicht  der  geringste  Grund,  die  von  unseren  Forschern 
aufgestellte,  sehr  übersichtliche  und  hei  vorsichtiger  Anwendung  ganz  unver- 
fängliche Eintlieilung  der  vorhis  fori  sehen  Zeit  in  ein  Stein-,  ein  Bronze- 
und  Eisenalter  zu  verwerf en,  wie  dies  von  Seiten  Pallmann's  und  weniger 
ähnlieh  Denkender  versucht  worden.  (Vergl.  u.  a.  S.  3.)  Denn  alle  unsere 
Funde,  alle  unsere  mit  grossester  Sorgfalt  und  mit  allen  Mitteln  der  Kritik 
angestellten  Untersuchungen  sprechen  immer  wieder  dafür,  dass  die  Völker 
der  Erde  und  selbst  die  frühesten  Kulturvölker,  wie  Aegypter,  Assyrcr,  *)  in 
den  ersten  Stadien  ihrer  Entwicklung  sich  der  Geräthe  und  Waffen  aus 
Stein,  Knochen  und  Holz  bedient,  dass  sie  später  meistenteils  erst  zur 
Bronze  und  noch  später  zum  Eisen  gegriffen  haben.  In  manchen  Län- 
dern, so  in  vielen  africanischen,  ist  zwar  das  sogenannte  Bronzealter  über- 
sprungen worden  und  das  Eisen  ist  hier  direct  an  Stelle  des  Steines,  der 
Knochen  und  des  Holzes  getreten.  Derartige  Vorkommnisse  haben  sich 
auch  in  anderen  Erdgegenden  gezeigt,  sie  hingen  von  den  Metallbefunden, 
von  der  Industrie  und  sogar  der  durch  Mancherlei  bedingten  Richtung  der  ein- 
geschlagenen Handelswege  ab.  Jene  Stein-,  jene  Bronze-  und  Eisenalter 
sind  wohl  nirgends  so  scharf  gegeneinander  abgegrenzt  gewesen,  dass  nicht 
etwa  während  des  Bronze-,  ja  selbst  während  des  Eisenalters  eine-  Landes, 
eines  Volkes,  neben  den  Bronze-  und  Eisengeräthen.  den  Bronze-  und  Eisen- 
waffen, deren  selbst  noch  von  Knochen  sowie  von  Stein  in  Gebrauch  genommen 
wären.  Hatten  doch  des  Harald  Kriegsinannen  bei  Hastings  mit  Steinbeilen 
auf  die  Eisentartschen  und  Eisenhelme  ihrer  Gegner  losgeschlagen!  Kämpf- 
ten doch  in  unse  ren  Jahrzehnten  die  tättowirten  und  wildaufgeputzten  Kana- 
Kiras  von  Hawai,  die  Ariis  und  Raa-Tiras  von  Tahiti,  die  Egis  und  Matta- 
bulis  von  Tonga -tabu,    die  Arikis  und  Kanga-Tiras  von  Tawai-Punamu  mit 

•)  Nilsson  sagt  ganz  richtig:  , Jedes  Volk,  selbst  die  ältesten  Kulturvölker  haben  ihr  Stein- 
alter gehabt.*  Das  Steinalter  oder  die  Ureinwohner  des  Seandinavischen  Nordens.  Nach  dein 
Manuscript  zur  dritten  Originalausgabe  übersetzt  von  J.  Mestorf.     Hainhurg  1S6S.     S.   13i». 


12 

ihren  Keulen  von  Holz,  mit  ihren  in  Spitzen  von  Gräten  und  Knochen  aus- 
lautenden Lanzen,  mit  ihren  Schlägeln  von  Stein  neben  den  Bayonet-Muske- 
i.ii.  Haschetäxten  und  Bowiemessern  !  Unterwarf  nicht  ein  Ta-Mea-Mea  mit 
solchen  halb  stein-  und  holz-,  halb  (modern-)  eisenbewaffiieten  Kriegern  seine 
gesammte  Inselgruppe?  Waren  es  nicht  solche  ganz  im  Mischmasch  Be- 
waffneten, mit  denen  ein  Pomare  von  Eimeo  aus  am  12.  November  181Ö  den 
denk  ward  igen,  für  die  Geschicke  der  Gesellschaftsinseln  entscheidenden  Sieg 
von  Buna-Anja  und  Narei  im  District  Atta-Hurru  erfocht?  Ilaben  nicht  noch 
in  den  1840ger  .Jahren  ein  Hongi  und  Heki  ihre  nephriteneu  Miri-Miri  s 
neben  den  binninghamer  Karabinern  geschwungen?  Aehnliche  Industrie-  und 
llandelsverhältnisse  haben  im  Alterthume,  wie  auch  noch  heut  in  verschie- 
denen Gegenden  der  Krde  stattgefunden.  Weiter  vorgerückte  Völker  boten 
den  minder  civilisirten  das  Vervollkonimneteve  zu  Kauf  und  Tausch.  Bronze- 
iiikI  Bisenarbeiten  mussten  schon  zu  Alters  die  Stein-,  Knochen-  und  Holz- 
arbeiten allgemach  verdrängen/")  Heut  überragen  die  Fabrikate  von  Birming- 
ham. Lüttich,  Suhl,  Sheffield  und  Solingen  die  zierlichsten  Urgeräthe  der 
So«  ietäts-,  Mendaüa- und  Paumotu-Inseln,  dennoch  hatten  sie,  trotz  ungeheue- 
rer Nachfrage,  es  bis  vor  kurzer  Zeit  nicht  vermocht,  die  letzteren  ganz  und 
gar  überflüssig  zu  machen,  mithin  den  gesannnten  Waffenbedarf  zu  decken, 
heim  fremde  Producte  wollen  doch  auch  irgendwie  bezahlt  werden  und 
der  in  beschränkten  Grenzen  verharrende  (sehr  lokalisirte !•)  Krieg  der  Süd- 
seeinsulaner  mit  einander,  wie  mit  Europäern  kann  nicht  den  Wehrapparat 
unserer  Civilisation  (durch  Erbeutung,  Plünderung  von  Ansiedlungen,  Schiffen, 
Leichen  etc.)  ausschliesslich  in  die  Hände  der  Begehrer  spielen.  Aehnlich 
muss  es  sich  also  schon  im  Alterthum  gezeigt  haben,  während  dessen 
mangelhafte  Kommunikationsmittel  noch  weit  grössere  räumliche  und  zeit- 
liche Hindernisse  setzten,  als  sie  der  in  unseren  Tagen  von  der  Dampfkralt 
überwundene  Ocean  nur  irgendwie  zu  setzen  vermag.**)    (Note  I.) 

Die    ältesten    Bewohner   Europas    haben    nur    steinerne,    knöcherne    und 


')  Xilsson  führt  /war  an,  dass  bei  den  Vorfahren  seiner  Nation  (gothischen  Stammes  we- 
nigstens) niemals  andere  als  Eisenwaffen  erwähnt  würden,  so  z.  B.  in  den  Sehlachten  von  Bra- 
silia (700)  und  Stickleretad  (1030),  in  welch  letzterer  der  Skalde  Thormodr  von  einem  mettalle- 
tien  Bauernpfeil  verwundet  worden.  Derselbe  Verfasser  fügt  jedoch  (S.  141)  hinzu,  dass  wir 
-olehe  Beschreibungen  den  Reicheren  und  Vornehmeren  verdanken,  die  selbst  in  Besitz  eiserner 
Wallen  gewesen  und  es  für  überflüssig  gehalten,  der  von  den  gemeinen  Kämpen  geführten  ein- 
fachen Steinwaffen  zu  gedenken.  Es  sei  auch  uichl  denkbar,  dass  die  eisernen  Waffen  plötzlich 
allgemein  gebraucht  worden  seien.  Eine  allmälige  Einführung  derselben  sei  viel  wahrschein- 
licher. Auf  den  Felsenbildern  von  Bohuslän,  die  aus  der  Wikingerzeit  stammten,  sehe  man  noch 
beide  nebeneinander  u.  s.  w. 

'•)  Lindenschmit  sagt:  „Der  Gebrauch  von  Wallen  und  Werkzeugen  aus  Stein  erstreckt 
«ich  diesseits  der  Alpen  aber  den  ganzen  vorgeschichtlichen  Zeitraum  und  reicht  neben  der 
t  heil  weisen  Benutzung  der  Metalle  viel  tiefer  in  die  historische  Zeit,  al<  man  nach  den  herr- 
schenden Vorstellungen  anzunehmen  geneigt  ist."  Es  sei  durch  eine  grosse  Reihe  von  Grab- 
funden  dargelegt,  dass  die  Steingeräthe  keineswegs  mit  der  Einführung  des  Erzes,  und  selbst  des 
Eisens,  ver  ehwnnden.  Archiv  f.  Anthropol,  III,  s.  117. 


13 

hölzerne  Gerätbe,  wie  auch  Waffen  benutzt,.  Wer  übrigens  einmal  in  irgend 
einer  Sammlung  die  selbst  bei  allem  Mangel  an  Schliff  sorgfaltig  gesprengten, 
aus  Feuerstein  gearbeiteten  Messer,  Lanzeu-  und  Pfeilspitzen  der  früheren, 
wer  dort  einmal  die  wohl  gekanteten  und  hübsch  geglätteten  Knooheuuiei 
Knochenahle,  die  Feuersteinsügeu,  die  aus  mancherlei  Steinmaterial  verfei 
tigten  Angeln  und  Heile,  Netzsenker  und  ähnliche  Arbeiten  des  späteren  Stein- 
alters*) ins  Auge  gefasst,  wird  den  Zeitgenossen  wenigstens  des  letzteren  eine 
gewisse  Kunstfertigkeit  nicht  absprechen  können.**)  Schon  damals  richtete 
sich  der  Sinn  der  Menschen  auf  möglichste  Zweckdienlichkeil  und  auf  mög- 
lichst anmuthige  Formen  der  Utensilien,  wenn  auch  mit  aller  Beschränktheil 
einer  nur  erst  wenig  entwickelten  Technik. 

Allgemach  hat  nun  Bronze  Eingang  in  die  europäischen  Gegenden 
gefunden.  C.  Vogt  Hess  vor  sieben  Jahren  die  Frage,  ob  die  Bronze  durch 
einen  vom  Steiuvolke  verschiedenen  Stamm  eingeführt  worden  oder  ob  sich 
ihre  Keuutniss  selbstständig  entwickelt,  noch  unentschieden.***)  Auch  bis 
jetzt  ist  diese  Frage  keineswegs  sicher  beantwortet  worden,  soviel  Midie  man 
sich  auch  gegeben  haben  mag,  eine  befriedigende  Lösung  derselben  zu  ge- 
winnen. 

F.  Maurer,  für  welchen  die  Pfahlbauten  in  erster  Reihe  nur  Zufluchts- 
stätten oder  Wasserburgen  semitischer  oder  semitisch -hellenischer  Krämer 
und  ihrer  Waaren  (!),  in  zweiter  Reihe  gelegentliche  Asyle  autochtoner  Kel- 
ten für  den  Kampf  gegeneinander  oder  gegen  deutsche  Angreifer,  meint,  dass 
im  europäischen  Norden  nur  ein  Steinalter  existire  und  aus  iberischem  oder 
celtischem  in  das  germanische  Eisenalter  hineinrage,  dass  unsere  sämmtlichen 
Bronzefunde  jedoch  einer  fremden  Industrie  angehörten  und  bei  uns  nur 
von  Begüterten  benutzt  worden  seien,  f)  Nach  Pallmann  aber  sind  die  Bron- 
zen durch  Metallfabrikation  treibende  Kulturvölker  (Phönizier,  Etrusker), 
durch  Wanderarbeiter,  fahrende  Handwerker  (Etrusker,  Massalioteu  oder 
Celten)  importirt  worden. 

Desor  ist  der  Ansicht,  dass  man  den  Handel  des  Bronzealters  der  Pfahl- 
bauten in  eine  der  etruskischen  und  phönizischeu  (Blüthe-)  Zeit  fernere 
Epoche  zurückverlegen  müsse.  Man  müsse  den  Geschichtsforschern  über- 
lassen den  Nachweis  zu  führen,  ob  etwa  ausser  Phöniziern  und  Karthagern 
noch  irgend  ein  anderes  Schiffer-  und  Handelsvolk  unter  Vermittlung  liguri- 
scher  Häfen  mit  den  Völkern  des  Bronzealters  der  italischen  Seen  vor  Ent- 
deckung  des  Eisens   Handel   getrieben    habe.     Nichts    constatire    aber,    dass 

•)  A.  o.  a.  0.  S.  26  ff.  Taf.  IL  Fig.  33,  34,  35,  Tat'.  XI,  Fig.  216. 

**)  Vergl.  die  Abbildungen  bei  Desor  1.  c;  bei  Le  Hon:  l'homme  fossile  en  Europe.  Bruxel- 
les  MDCCL-XVII.;  Lubbock:  Prebistoric  Times.  London  1865;  Nilsson.  I.  c  ;  Qöngora  >  Har- 
tinez:  Antigüedades  prehistöricas  de  Andalucia,  Madrid  1868,  Fig.  8,  9,  10.  19,  39,  60,  61,  12S 
bis  134;  Madsen:  Antiquites  prehistoriques  de  Danemarc.     L'äge   de   pierre.     Copenbague    1869 

U.    S.    W.    U.    S.    Vi. 

*")  Vorlesungen  über  den  Menschen  u.  s.  w.     Giessen  1863,  II,  S.  120, 
t)  Ausland  1864,  S.  913. 


14 

etwa  Phönizier  die  ersten  Sehrfffahrer  gewesen.  Die  Geschichte  weise  nach, 
dass  Tokkari  genannte  Gefangene  im  13.  Jahrhundert  v.  Chr.  durch  bihamsses 
IU.  in  einer  Seeschlacht  besiegt  worden,  deren  Physiognomie  nach  Morton 
den  celtischen  Typus  andeute.*)  Diese  Leute  möchten  sich  also  mit  einem 
der  mächtigsten  Pharaonen  zur  See  gemessen  und  den  Handel  längs  der 
Mittelmeer-  und  vielleicht  auch  der  atlantischen  Küsten  in  Händen  gehabt 
Indien.  Wenn  nun  wirklich  ein  solcher  Handel  vor  der  phönizisehen  Zeit 
existiit,  so  würde  derselbe  sich  nicht  auf  den  Südabhang  der  Alpen  beschränkt, 
haben.  Hei  selbe  hätte  sich  wohl  bis  auf  die  im  Bronzealter  der  .Schweiz,  le- 
benden Völker  erstrecken  müssen.  Die  Einführung  der  Bronze  würde  dem- 
nach in  ein  sehr  hohes  Alterthuin,  unzweifelhaft  weit,  jenseit  der  ältesten  Ge- 
schichte  Europas,  hinaufreichen. 

Meiner  Ansicht  nach  haben  wir  keinen  Grund,  gewissen  althergebrachten 
Annahmen  zu  Liebe,  die  Phönizier  als  die  alleinigen,  unbezweif'elbaren  Schöpfer 
europäischen  Kunst  fleisses  zu  betrachten.  Phönizische  .Seefahrt,  phöuizischer 
Handel  sollten  ja,  wie  man  so  lange  und  so  hartnäckig  behauptet  hat,  im 
Alteithume  Alles  beeinflusst  haben.  Die  phönizische  Kultur  erreicht,  aber 
nicht  das  Alter  der  ägyptischen.  Sidon  blühte  allerdings  schon  i.  J.  "-'000  v. 
Chr.;  um  1700  -1400  und  später  unterhielten  Phönizier  bereits  einen  lebhaf- 
ten Handel  zwischen  Aegypten  und  Babylouien,  sowie  anderwärts.  Die  ägyp- 
tische Kultur  ist  trotzdem  noch  weit  älter,  als  die  assyrische,  babylonische, 
phönizische,  indische,  sie  ist  die  älteste  der  Erde  (vergl.  auch  .lahrg.  18G9 
Heft  I.  dies.  Zeitschr.).  Die  Aegypter  hatten  schon  um  das  dritte  Jahrtausend 
v.  (.dir.  gut  gebauete  Schiffe;  im  17.  Jahrhundert  v.  Chr.  sehen  wir  sie  weite 
Seefahrten  ausführen.**)  Es  ist  anzunehmen,  dass  sie,  die  hochkultivirten, 
in  vielfacher  Beziehung  so  edlen  und  milden  Anbeter  des  höchsten  Amon- 
Ra,  wie  sie  Lehrmeister  der  Griechen  und  Westasiaten  gewesen,  dies  auch 
den  geriebenen,  aber  blutigstem  Molochdienst  huldigenden  Puna  (Phöniziern) 
im  Handel,  Seedienst  u.  s.  w.  gewesen.  In  Aegypten  war  die  Bronze  bereits 
unter  der  VI.  Dynastie  Gemeingut  der  Nation.  Waren  die  Aegypter  aber 
die  Erfinder  derselben?  Wir  wissen  es  bis  jetzt  nicht.  Auch  wenn  die 
Bronze  ein  Erzeugniss  ägyptischen  Genies,  so  brauchte  sie  deshalb  doch  nicht 
direct  von  den  Söhnen  Pharao* s  nach  Europa  gebracht  zu  werden,  sie  konnte 

')  In  Bezug  auf  ilioses  ('Hat  Desor's  aus  den  Types  of  Mankirul  vergl.  Eilit.  IX  derselben, 
l'liikul.  1868,  p.  108,  wie.  folgt:  „Almut  the  Urne  alluded  to,  there  seems  to  have  been  a  great 
commotion  among  tlie  white  rares  of  Asia;  a  the  Gauls  or  Celts,  a  perhaps  the  Hyksos,  may 
have  been  diverging,  streams  of  the  saine  stork.  Dr.  Morton  points  out  a  head  (Crania  aegy- 
ptiaru  p.  140,  tig.:  „to  my  view  they  have  the  lined  and  hardy  features  of  the  Celts  or  Gauls' 
etc.),  often  repeated  on  the  monuments  of  Egypt  which  he  reganls  as  a  Celtie  stock.  These 
people  called  Tokkari  in  hierogly  phics ,  are  prisoners  in  a  sea-fight.  of  Ramses  III,  XXth 
dyiias'y,  about  the  thirteenth  Century  B.  C.  They  are,  without  question,  the  Tochari  of  Strabo.* 
**)  Vergl.  darüber  das  neueste  von  Dümicben  publicirte  Werk:  Resultate  der  auf  Befehl 
Sr.  Majestät  des  Königs  Wilhelm  I.  von  Preussen  im  Sommer  18Ü8  nach  Aegypten  entsendeten 
archäolog.  photograph.  Expedition.  Th.  I,  Berlin  1869,  mit  B.  Graser's  gelehrter  Abhandlung 
über  das  Seewesen  der  Aegypter. 


15 

immerhin  durch  phönizische  Hände  dahin  gelangen.  Wer  die  Weiterver- 
breiter der  Bronze  nach  dem  Binnenlande  waren,  bleibt  vor  der  rlaud  un- 
sicher and  unterschiedlicher  Spekulation  überlassen.  Auch.  Nils  nn  betrachtet, 
wie  mancher  Andere,  die  Phönizier  als  die  Schöpfer  der  europäischen  Bronze 
kultur.*)  Man  beruft  sich  bei  derartigen  Spekulationen  immer  sehr  gern  aul 
die  Aehnlichkeit  von  alteuropäischen  Bronzegegenständen  mit  orientalischen, 
sucht  aber  die  letzteren  meist  nicht  an  ihrer  richtigen  Stelle.  Ich  werde  später 
wieder  auf  dieses  Thema  zurückkommen.  \Yil>el  9  Ansichten,  ..di>'  Kultur  derBrou- 
zezeit  sei  eine  durchaus  einheimische  (europäische),  ihrem  ersten  l  rsprunge  nach 
auf  Gros3brittannien  zurückzuführen  und  sei  sonnt  als  höhere  Entwicklung^ 
stufe  der  Urbewohner  dieses  Landes  zu  betrachten,"**)  hat  bis  jetzt  nirgends 
Anklang  gefunden,  hauptsächlich  deshalb  nicht,  weil  der  Gang  unserer  Kul- 
tur, auch  der  Bronzekultur,  von  Süd  nach  Nord  den  Ueberlieferuugen  zufolge 
gesichert  erscheint,  nicht  aber  der  umgekehrte  von  Nord  nach  Süd.  Hierfür 
hat  der  Umstand,  dass  wir  die  eigentliche  Stätte  der  Bronzeerfindung  im 
Süden  bisher  noch  nicht  aufzudecken  vermocht,  keine  durchschlagende  Be- 
deutung.  Nicht  einmal  die  Auffindung  von  Erzgussstätten  au  mancherlei 
Oertlichkeiten  Europas  würde  die  Möglichkeit  einer  Einführung  der  Bronze 
von  Aussen  her  ausschliessen ,  denn  wo  eine  Industrie  einmal  Eingang  er- 
halten, da  entstehen  auch  Etablissements  zu  ihrer  Pflege. 

Die  Zusammensetzung  der  Bronzen  ist  in  verschiedenen  Ländern  eine  viel 
zu  verschiedenartige  gewesen,  als  dass  man  daraus  unmittelbar  die  Herkunft 
dieser  Metallkomposition  im  Allgemeinen  zu  erschliessen  vermöchte.  Scherer 
führt  an,  dass  während  unsere  heutige  Bronze  mit  2  4  pOt.  Zinn  und  10 
1H  pCt.  Zink  legirt  werde,  die  antiken  Bronzen  nur  Kupfer  und  Zinn  mit 
etwas  Blei,  niemals  aber  Zink,  enthalten  hätten.***)  Wibel,  Cohausen  und  An- 
dere sind  nun  darüber  einig,  dass  zink-  und  bleihaltige  Bronzen  nicht 
jünger,  als  Zinnbronze  seien,  wie  das  doch  von  einigen  Seiten  her  behauptet 
worden.  Aber  Fellenberg  weist  dein  Zink  in  der  Bronze  eiuen  späteren 
Platz  an.  Griechen,  Römer,  Etrusker  und  Aegypter  haben  übrigens  blei- 
haltige Bronzen  gegossen,  und  zwar  mit  Hülfe  von  Blei,  das  im  Verein  mit 
Silbererzen  gewonnen  wurde. 

pjiuige  wenige  neuerlich  in  Oberschlesien  gefundene  antike  Geräthe,  na- 
mentlich gebogene  Messer  aus  stark  zink-  und  etwas  kadmiumhaltiger  Bronze 
mögen  ein  örtliches  aber  doch  späteres  Lidustrieerzeugniss  der  an  Zinkerzen 
(Galmey)  reichen  Landschaften  Schlesiens  selbst  gewesen  sein,  womit  freilich 
um   keinen  Preis  gesagt  werden  dürfte,  es  hätte  der  Anstoss  zu  dieser  lokalen 

*)  Den  stricte«  beweis  nun'  bleibt  uns  freilich  auch  Nilsson  schuldig.  Waren  denn  nun 
die  Phönizier  Erfinder  oder  waren  sie  nur  Vermittler  der  Bronzearbeit?  Vergl.  Oongres  inter 
national  d' Anthropologie  et  d'Archeologie  prdhistoriques.  Paris  1868.  d.  238  ff. 

")  Vergl.  Wibel:     Die  Kultur  der  Bronzezeit  Nord    und  Mitteleuropas  u.  s.  w.    Kiel  1865. 
Cohansen  im  Aren,  f.  Anthrogp.,  I,  S.  321  ff.  und  Wibel  das.     III.  S.  37  IV. 
♦•*)  Lehrbuch  der  Chemie,  Wieu   18G1,  I,  S.  690. 


16 

Industrie  nicht  auch  von  Aussen  kommen  küunen.  Das  Material,  welches 
man  übrigens  zur  Bronzebereitung  im  Allgemeinen  gebrauchte,  ist  sicherlich 
dt'i)  verschiedensten  ( legenden  entstammt  gewesen.  Man  mag  z.  B.  dazu 
immerhin  Zinn  aus  Ophir,  d  h.  Ostindien,  aus  Britannien  uud  aus  Sachsen, 
Kupfer  aus  Cornwallis,  herbeigeholt  haben,  je  nachdem  die  Lage  der  Erzguss- 
stätten, wie  die  einmal  eingeschlagenen  Handelswege  es  gerade  erforderten. 
Es  kann  uns  also  auch  dies  für  die  Frage,  woher  denn  die  Erfindung  der  Bronze 
eigentlich  gekommen,  gar  nichts  direct,  beweisen.  Ich  glaube  wir  können 
jetzt  überhaupt  diese  Frage  nur  unter  Zuratheziehung  noch  ganz  anderer 
Funde  aus  dem  Bronzealter  einer  Entscheidung  näher  führen.  Erst  wenn  wir 
im  Stande  sein  werden,  die  gesammte  Entwicklung  und  Richtung  der  Kultur 
des  Bronzealters  einer  genaueren  Zergliederung  zu  unterwerfen,  werden  wir 
uns  fähig  fühlen,  auch  in  dieser  Hinsicht  ein  entscheidenderes  Urtheil  zu 
fallen,  als  dies  bisher  möglich  sein  konnte.  Dazu  bedarf  es  freilich  eingehen- 
denen  Studiums  eines  erst  noch  bedeutend  zu  vermehrenden,  vergleichenden 
Materials  von  alten  Brouzegegenständen  und  von  neueren  Metallarbeiten  der 
verschiedensten  Völker  und  Kulturepochen,  endlich  ein  genaueres  Eingehen 
in  die  alten  kulturhistorischen  Verhältnisse  der  Landschaften,  von  denen  das 
Licht  für  die  östliche  Hemisphäre  ausgegangen,  d.  h.  Nord -Ost -Afrikas  nud 
Westasiens!     (Note  II.) 

Bekanntlich  hat  man  an  verschiedenen  Stellen  des  Festlandes,  wir  wollen 
hier  u.  A.  nur  Cotteau's  Fund  im  Yonnedepartement,  Pazin's  Fund  zu  Fu- 
meraut,  denjenigen  Sauvage's  und  Ilamy's  zu  Alpreck,  Szabo's  zu  Egyek, 
Mätragebirge,  u.  s.  w.  u.  s.  w.  nennen,  sowie  in  schweizer  u.  a.  Pfahlbauten, 
z.  B.  im  Münchlmchsee ,  im  Untersee  (Wangen,  Bodmann),  u.  a.  m.  die 
Reste  von  Werkstätten  zur  Verfertigung  von  Steingeräthen  u.  dgl.  m.  aufge- 
funden. Fast  jeder  Bericht  über  vorhistorische  Menschen  erzählt  uns  von 
derartigen  Entdeckungen.  Mau  beobachtet  an  solchen  Stellen  vollendete  und 
nicht  vollendete,  augenscheinlich  missrathene  Werkzeuge  und  Werkzeugsplitter. 
Manche  Pfahlniederlassungen  scheinen  wahrhafte  Steinwaarenspeicher  euthal- 
ten  zu  haben.  Ausserdem  mache  ich  hier  noch  einmal  auf  das  oben  über  die 
Auffindung  von  Bronzegussstätten  Erwähnte  aufmerksam.  Gewissen 
neueren  Annahmen  zufolge  wären  nun  aus  celtischen  Ansiedlungen  und  an- 
derswoher hervorgegangene,  reisende  Kaufleute  wie  auch  Handwerker  urnher- 
gepilgert,  hätten  hier  Handel  getrieben,  uns  mancherlei  Dinge  eingeführt, 
dort  Steinsägen  abgesprengt,  Steinbeile  geschliffen,  da  wieder  erzene  Messer 
und  Lanzenspitzen  gegossen  u.  s.  w.  Solchen  Annahmen  kann  die  Erfahrung 
nichts  entgegenstellen,  namentlich  in  wilden  und  halb  barbarischen 
Ländern. *J    Es  wimmelt  von  herumstrolchenden  Krämern   und  Handwerkern. 


*)  Wir  haben  solche  Erscheinungen  auch  noch  in  unseren  civilisirtesten  Ländern,  obwohl 
hier  die  Handwerker,  bis  auf  die  Slowaken  und  Zigeunerschmiede,  meistens  sesshafter  Natur  zu 
sein  pflegen. 


17 

Türkmanische  Schleifer,  auch  Schmiede,  durchziehen  den  Orient;  nubieche 
Djaelln,  so  rechte  Kleinkrämer  and  Wunderdoktoren,  bringen  ihre  Glasperlen, 
Messer,  Baumwollenzeuge  u.  s.  w.,  ihre  angeblich  heilkräftigen  Wurzeln  und 
Kräuter  bis  nach  Darfnr  und  in  die  Galaländer  hinein;  ili<*  dem  Barivolke 
entspriessenden  Tumonek,  sehr  geschickte  Eisenschmiede,  wandern  im  Gebiete 
des  weissen  Niles  hin  und  her,  um  selbst  bei  ganz  entfernt  wohnenden  Stum- 
men Lanzenspitzen,  Grabscheite  u.  s.  w.  zurechtzuhämmern. *)  Eine  ähnliche 
Rolle  spielen  in  Abyssinien  als  Schmiede,  Maurer,  Töpfer  u.  s.  w.  die  Fa- 
lascha's,**)  als  Goldschmiede  dagegen  die  Armenier  und  Hindus. 

Dergleichen  Wanderkrämer  und  Wanderhandwerker  mag  es  auf  dem  Fest- 
lande und  auf  Pfahlbauten,  auch  schon  im  Aiterthume  in  Europa  sowie  ander- 
wärts gegeben  haben.  Aber  es  ist  doch  stark,  wenn  Pallmann  unsere  Pfahl- 
niederlassungen als  nichts  weiter,  denn  „Handwerks-  und  Handelsstationen 
fahrender  Kelten   aus  Gallien'-   u.   s.  w.  gelten  lassen  will. 

Ueber  das  Eisen  alter  brauchen  wir  bei  dieser  Gelegenheit  wohl  nicht 
viel  mehr  zu  sagen.  Es  folgte  allmählich  dem  Bronzealter,  ging  in  geschicht- 
licher Zeit  weiter  und  gehört  ja  auch  unsere  Zeit  demselben  noch  immer  an 
Dass  wir  jetzt  statt  nur  Panzer  und  blanke  Waffen  auch  Häuser,  Schiffe  u. 
s.  w.  neben  Hinterladergewehren,  Gussstahlkanonen  und  Monitorplatten  aus 
Eisen  verfertigen,  ändert  nichts  an  der  allgemeinen  Sachlage. 

Kein  vernünftiger  Mensch  kann  noch  daran  denken,  für  das  Alterthum 
eine  besondere  Pfahlbauzeit,  ein  besonderes  Pfahlbauvolk  anzunehmen. 
Pfahlbauten  haben  sich  ja  zu  allen  Epochen  und  unter  den  verschiedensten 
Völkersckaften  gezeigt.  In  Europa  allein  haben,  in  sehr  verschiedenen  Ge- 
genden, Pfahlbauten  durch  lange  Zeiträume  hindurch  existirt  und  sind  daselbst 
wieder  gänzlich  verschwunden.  Wir  glauben  von  vornherein  die  Annahme 
zurückweisen  zu  müssen,  als  könnten  diese  Constructionen  auf  unserem  Con- 
tinente  sämmtlich  von  einem  und  demselben,  etwa  über  weit  von  einan- 
der liegende  Gegenden  verbreiteten  Stamme  errichtet  worden  sein,  welcher 
Anschauung  man  immerhin  gelegentlich  noch  hier  und  da  begegnet.  In  Be- 
zug hierauf  halten  wir  eine  Discussion  für  überflüssig.  Ein  Anderes  wäre  es 
dagegen  mit  der  Frage,  ob  der  Anstoss  zur  Errichtung  der  europäischen 
Pfahlbauten  nicht  von  einem  bestimmten  Stamme  ausgegangen  und  in  anderen 
Stämmen  durch  Nachahmung  weiterverbreitet  sein  könnte.  Auf  eine  Erörte- 
rung dieser  letztgestellten  Frage  werden  wir  späterhin  zurückkommen. 

Die  europäischen  Pfahlbauten  gehören  den  von  uns  angenommenen  Stein-, 
Bronze-  und  Eisenaltern  an,  sie  reichen  jedenfalls  in  ein  sehr  hohes  Altei 
hinauf.     Ueber  die  bereits  angestellten  Versuche    zur  Bestimmung  des  letzte- 

*)  W.  v.  Harnier  hat  eine  kleine  Gruppe  schwarzer  Wanderschmiede  vom  weissen  Nil  in 
sehr  charakteristischer  Weise  abgebildet.  S.  dessen  Reise  am  oberen  NU.  Darmstadl  und  Leip- 
zig 1866. 

**)  Einzelne  dieser  Falascha's  gehen  selbst  bis  Doka,  Gedarif,  Galahat  und  sogar  nach 
dem  blauen  Flusse    (hierher  allerdings  nur  selten),  um  ihre  Arbeiten  tu  verrichten. 

Zeitschrift  für  Etbliologte,  Jahrgang  1870.  2 


18 

reu  können  wir  vorläufig  auf  die  Arbeiten  von  Keller,  Morlot,  O. Heer,  Desor, 
Staub*),  M.  Wagner  u.  A.  verweisen.  Die  Pfahlbauten  der  Steinzeit  gehören 
sicherlich  sehr,  sein-  fernliegenden  Epochen  an,  mögen  auch  Pallmann  uud 
andere  Anhänger  einer  [landelsstationstheorie  a.  s.  w.  sieh  noch  soviel  Mühe 
geben,  ein  geringeres  Alte  jener  zu  breweisen.**) 

Mancherlei   Kopfzerbrechen    hat   bis  jetzt  immer  die  Frage  gekostet,   wie 
wohl  die  Häuser  in  den  alten  europäischen  Pfahlbauten,  namentlich  der  Schweiz, 
beschaffen  gewesen  sein  möchten.     Anfänglich  hatte  man  auf  deu  kreisförmi- 
gen Unterbau  und  das  spitz-kegelförmige  Dach  geratheu,  wie  diese  der  afri- 
kanische Togul    zeigt,    wie    dieselben   ferner  in  manchen  Gegenden  Mexico's, 
Coloinbiens,    auf   den    Tonga-    und   anderen   Südseeinseln   gefunden   werden. 
Keller    und  Lyell  reconstruirten   sich    ihr   schweizer  Pfahlbaudorf  ohne   stich- 
haltigen Grund  nach  den  von  Dumont  d'Urville  veröffentlichten  Ansichten  der 
Pfahlhütten  zu  Dorei  und  Hessen  inmitten  der  länglichen,  mit  verandenartigen 
l  eberdächern    versehenen  Gebäude,    einen    mächtigen   Togul    erstehen.     Auf 
<lem  etwas  duster  gehaltenen  Titelbilde  zu  Le  Hons  Homme  fossile   sehen  wir 
ein  aus  lauter  solchen  Togulhütten  gebauetes  Pfahldorf  lustig  in  Flammen  auf- 
gehen.    Ganz  so  schauete  ich  es  im  Jahre   1867  auf  einem  Oelgemälde  in  der 
so  höchst  interessanten  prähistorischen  Ausstellung   auf  der  grossen  interna- 
tionalen zu  Paris.     Da  wüthete  das  Feuer  zur  dunklen  Nacht   in  den  Togul- 
hütten einer  „Cite  lacustre" ,  vom  Ufer  her  aber    schoss  der  Feind  seine  mit 
brennenden   Stoffen    bewundenen   Pfeile    in    den    dem  Verderben   geweiheten 
Ort  hinein.     Ich  bin  nun  gewiss  kein  Feind  solcher  Darstellungen  und  Man- 
ches daran  war  sicher  so  naturwahr  gedacht  uud  wiedergegeben,    als  es  un- 
sere beschränkten  Kenntnisse   nur    irgend    gestatten    mochten.      Aber    waren 
hier  wohl  die  Togule  am  Platze?     Man  weiss  freilich,    dass  Strabo  den  Bel- 
giern    kuppeiförmige,    hochbedachte  Hütten   von  Weidenrutheu   und   Brettern 
zuschreibt.     Leuten,    die   aber   doch  Zeitgenossen    des,  Griechen  gewesen. 
Messikommer    versicherte    uns,    niemals   die  Subconstructionen  rundlicher, 
sondern  immer  nur  diejenigen  rechteckiger  Pfahlhütten  gefunden  zu  haben. 
Man  hat  im  Alterthuine  zum  Bau  derselben  immer  einen  möglichst   weichen, 
das  Einstemmen  der  Pfähle  zulassenden  Seegrund  gewählt,  und  jene  nur  an  ruhi- 
geren Stellen,  welche  gegen  heftige  Winde  thunlichst  gesichert  waren  und  deren 
Umgebung  auch  einigen  Landbau,    einige  Yiehweidung  ermöglichte,    errichtet. 

*)  Die  Pfahlbauten  in  den  schweizer  Seen.    Fluntem  bei  Zürich.    1864. 

**)  Pallmann  thut  S.  83  bei  Besprechung  einer  Ansicht  Nilsson's,  wie  man  sich  etwa  einen 
Steinmenschen  zu  denken  habe,  folgenden  sonderbaren  Ausspruch :  „ Man  versuche  es  nun,  solche 
Steinmenschen  in  die  schweizer  Pfahlbauten  zu  versetzen  und  man  wird  sich  fragen  müssen, 
wie  ist  es  möglich,  dass  solche  Wilden  (die  feste  Wohnsitze  hatten  und  in  meisterhafter  Weise 
iln  Steingeräth  anfertigten)  am  Bodensee  Ackerbau  und  Viehzucht  getrieben  und  am  Webstuhl 
fleissig  gearbeitet  haben  und  sogar  auf  Handelsgedanken  gekommen  sind?"  Wir  aber  fragen 
einfach,  warum  denn  nicht?  Wie  viele  Polynesier  hatten  doch  nur  Steins  Knochen-  und  Holz- 
geräthe  trotz  einer  gewissen  Kultur,  die  jedenfalls  sehr  viel  höher  gewesen,  als  diejenige  der 
vielbesprochenen  europäischen  Steinmenschen! 


19 

Messikonimer  hat  vor  drei  Jahren  folgende  Darstellung  der  robenhauseuci 
Pfablhütten  nach  seinen  eigenen  Untersuchungen,  seinen  eigeneu  Reconstru- 
ctionen  gegeben:  „Wenn  ein  Ort  zur  Errichtung  einer  Niederlassung  für  gün- 
stig befunden  wurde,  so  wurden  aui  ein  Quadrat  von  :!  Fuss  Seite  (also  9 
Quadratfuss)  an  die  4  Endpunkte  je  2  Pfahle  von  3—4  Zoll  Durchmesser  in 
den  Seegrund  eingeschlagen.  Zu  einer  Hütte  von  27  Fuss  Länge  und  21  Fuss 
Breite  gehörten  lb'O  Pfahle.  Die  Richtung  derselben  ging  genau  nach  den 
Himmelsgegenden,  d.  h.  von  8.  nach  N.  und  von  0.  nach  W.  Jeder  grössere 
Schacht  zeigt  das  zu  Kobenhausen  deutlich,  bei  kleineren  Schachten  siehl 
man  es,  da  einzelne  Pfähle  umstürzen,  nicht  so  leicht. 

Es  ergiebt  sich  hieraus,  dass  die  Kolonisten  nach  einem  bestimmten 
Plane  und  regelrecht  die  Basis  ihrer  Hütten  erstellten.  Wie  wäre  es  ohne 
dieses  möglich  gewesen,  Hütten  auf  solche  dünne  Stämme  zu  erbauen?  Wenn 
die  Pfähle  in  den  Seegrund  geschlagen  waren,  so  wurden  die  Querbalken, 
welche  theils  aus  Rundholz  und  theils  aus  leidlich  gespaltenem  Holze  bestan- 
den, in  die  Pfähle  eingezapft.  Wenn  die  Pfähle  zu  einer  Richtung  auf  diese 
Weise  mit  einander  verbunden  waren,  so  wurden  über  diese  Querbalken  kleine 
Kundhölzer  von  2 — 2£  Zoll  Durchmesser  hart  aneinander  gelegt  und  der 
Pfahlbau  war  zum  erstenmale  überbrückt,  lieber  diese  unterste  Lage  von 
Rundholz  wurde  aber  in  der  entgegengesetzten  Richtung  eine  zweite  Lage 
erstellt,  so  dass  dadurch  der  Boden  genügende  Sicherheit  bot. 

Die  Pfähle  bestanden  hauptsächlich  aus  Fichtenholz,  aber  auch  die  Eiche. 
Föhre,  Erle,  Aspe,  ja  sogar  die  Haselstaude  wurden  bisweilen  benutzt.  Dir 
Rinde  aller  dieser  Holzarten  findet  sich  an  den  Pfählen  noch  trefflich  erhalten. 

Wenn  der  Unterbau  erstellt  war,  so  wurde  am  Bau  der  eigentlichen 
Hütten  gearbeitet,  die  Hauptpfeiler  derselben  ruhten  im  Seegrund  um  ihnen 
die  nöthige  Festigkeit  zu  geben.  Wohl  die  meisten  Hütten  hatten  die  Form 
von  Rechtecken.  Dieselben  wurden  mit  Flechtwerk  eingekleidet,  über  welches 
ein  Lehmüberzug  gebracht  wurde,  um  Wind  und  WTetter  bestmöglichst  abzu- 
halten. Ebenso  wurde  der  Zimmerboden  mit  einer  Mischung  von  kleinen 
Steinen  (Kies)  und  Lehm  (sogen.  Estrich)  2 —  3  Zoll  hoch  belegt,  um  die 
Feuchtigkeit  von  unten  abzuhalten.  Was  ich  bis  jetzt  geschrieben  habe,  ruht 
auf  bestimmten  Thatsachen,  die  sich  jeden  Augenblick  beweisen  lassen;  anders 
ist  es  mit  dem  Dache  und  dem  Kubikinhalt  der  Hütten,  das  ist  mehr  Hypo- 
these. —  Die  bis  jetzt  aufgedeckten  Hütten  hatten,  wie  schon  bemerkt, 
eine  Länge  von  27  Fuss  und  eine  Breite  von  21  Fuss,  gleich  567  Quadrat- 
fuss. Wer  aber  auf  den  Pfahlbauten  gräbt  und  die  Massen  verkohlten  Stro- 
hes betrachtet,  die  man  immerwährend  findet,  dem  drängt  sich  unwillkürlich 
die  Ueberzeugung  auf,  dass  ein  Strohdach  die  Hütten  deckte.  Schwerer  ist 
es  den  Kubikinhalt  zu  bestimmen;  wenn  man  aber  bedenkt,  dass  der  Webe- 
stuhl fast  in  jeder  Hütte  thätig  war,  so  musste  auch  gewiss  Luft  und  Lichl 
in   denselben    vorhanden    sein.*)k'     Auf    Taf.  IL  Fig.    1.    ist    eine    Pfahlhütte 

')  Ausland  1867.    S.  194.  ff. 


20 

nach  dem  von  Messikommei  am  hier  angegebenen  Orte  (S.  193)  abgebildeten 
Modelle  dargestellt  worden.  Ich  selbst  habe  aber  neuere  von  dem  wetzikoner 
Archaeologen  angefertigte  Modelle  gesehen,  au  denen  die  Bekleidung  der 
Wände  mit  Lehm  oder  Lehm  und  Seekreide  an  der  gesaramten  Aussenseite 
von  oben  bis  unten  ausgeführt  war.  Ein  Bohlenbeschlag  mag  die  Giebelwände 
wie  iu  manchen  unserer  Bauernhäuser  gesichert  haben.  (Das.  Tat'.  IT.  Fig.  2.) 
In  den  schweizer  Pfahlbaudörfern  mögen,  wie  allenthalben  grössere  und  kleinere 
Hütten  nebeneinander  gestanden  halten.  Es  ist  auch  annehmbar,  dass  in- 
dividueller Geschmack,  individuelles  Bedürfniss  an  diesem  oder  jenem  Hause 
eine  Aenderung  des  allgemein  befolgten  Baustyles  zu  Wege  gebracht.  Wie 
es  aber  hätte  kommen  sollen,  dass  inmitten  der  rechteckigen  Pfahlhütten. 
deren  etwa  zu  Geineindezwecken.  als  Kathhaus  oder  dgl.  dienende  von  To- 
gulform  oder  eckige  von  Kioskform  erstanden  wären,  das  ist.  uns  unklar.  Man 
vergl.  hierauf  hin  abermals  die  Titelbilder  zu  LyeH's  Antiquity  of  Mau  und  zu 
Staub's  Pfahlbauten  in  den  schweizer  Seen.     (Note  III.) 

Wir  haben  diese  runden  Häuser  auf  unserer  ein  schweizer  Pfahldorf  dar- 
stellenden Tafel  (I.)  weggelassen  und  zwar,  wie  wir  denken,  mit  allem 
Fug.  Die  rechteckige  Form  entspricht  nur  der  in  Europa  bei  kleinen  Leuten 
allgemein  üblichen,  wie  man  dieselbe  noch  jetzt,  mit  geringen  Abweichungen, 
iu  den  Ebenen  der  Lombardei,  in  Spanien,  Frankreich,  Deutschland  und 
selbst  in  der  Schweiz,  hier  freilich  neben  den  berühmten,  mit  verschwenderi- 
sche)- Ornamentirung  versehenen  vollständigen  und  unvollständigen  Holzhäu- 
sern, beobachtet.  Wo  die  knappe  Räumlichkeit  es  gebot,  wurden  die  Pfahl- 
hütten ganz  nahe  aneinander  gebaut,  so  dass  nur  der  für  die  Communikatiou 
nothwendigste  Zwischenraum  blieb.  Der  Innenraum  scheint  ein  einfaches 
grosses  Gemach  dargestellt  zu  haben,  über  dem  sich  vielleicht,  ein  Giebelbo- 
den befunden.1')  Jene  höchst  praktische  Ausnutzung  des  inneren  Gebäues, 
jene  Eintheiluug  desselben  iu  eine  Menge  kleinerer  Gemächer,  Hangeböden, 
Verschlage  und  Corridore,  wie  wir  sie  in  ländlichen  Wohnungen  z.  B.  zu 
Wetzikon  und  in  anderen  Orten  der  Kantone  Zürich,  Uri,  Tessin,  wie  wir  sie 
aber  namentlich  in  den  grossen  „Höfen"  der  „Bauerschaften"  Westphalens 
(z.  B.  des  Münsterlandes),  ferner  in  den  grossen  Bauernhäusern  Oldenburgs 
und  Ostfrieslands**)  gesehen,  scheint  iu  jenen  Zeiten  noch  Niemand  beliebt 
zu  haben. 

*)  Vergl.  hierüber  auch  Staub  a.  a.  O.    S.  26. 

*•)  Als  ich  im  Jahre  1852  Oldenburg  und  Ostfriesland,  in  den  Jahren  1850  und  1853  West- 
pbalen  bereiste,  fand  ich  daselbst  noch  sehr  viele  dieser  alten  prächtigen,  niedersächsischen  Pa- 
triarchenhauser.  Dagegen  sah  ich  dieselben  im  Jahre  1868  in  den  genannten  Provinzen  bereits 
Stark  in  Abnahm,  begriffen.  Sie  wurden  durch  einen  mehr  städtischen  Styl  von  mit  Ziegeln 
und  mit  Schiefer  bedachten  Häusern  verdrängt.  Aehnliche  Vorgänge  kann  man  übrigens 
auch  an  gewissen  Legalitäten  der  Schweiz  verfolgen.  Selbst  in  Italien  verschwindet  schon 
manche  alterthfimliche  Casa  vor  einer  Villa  im  kosmopolitischen  Style,  ja  selbst  in  den  ehrwür- 
digen (.'anales  auf  Malta,  wieCasal  Qurmi,  Casal  Zeybug,  C  Bircercara,  sah  ich  1860  dieses  Ein- 
greifen einer  modernen  Architektur.  Jedenfalls  geschehen  solche  Veränderungen  auf  Kosten  eines 
urwüchsigen  Typus,  wenn  auch  freilich  nicht  überall  auf  Kosten  des  Nutzens,  der  Bequemlichkeit. 


21 

Die  Pfahlhütten  zu  Kobenhausen  und  an  anderen  schweizer  Oertlichkei- 
ten  haben  also,  wie  aus  obiger  Beschreibung  hervorgeht,  auf  frei  iu  den  Bo- 
den eingerammten  Pfählen  gestanden  und  hat  das  Wasser  der  Seen  anter  dem 
den  horizontalen  Boden  bildenden  Pfahlwerk,  dem  sogen    Pfahlrost,  frei  sicli 

bewegen   können. 

Dagegen  sind  andere  Pfahldörfer  der  Schweiz  (zu  Wauwyl  und  Nieder- 
wyl)  im  Machen  Wasser  auf  sogenannten  Packwerken  errichtet  worden.  Staub, 
der  im  Verein  mit  Messikomrner  selbst  Nachgrabungen  in  dieser  Art  Bauten 
angestellt,  beschreibt  dieselben  folgendennassen :  „Hier  (d.  h.  in  diesen  Pack- 
werkbauten) sind  die  Hütten  nicht  auf  einer  Art  Brücken  oder  Kost,  die  auf 
senkrechten  Pfählen  errichtet  ist,  gestanden,  sondern  —  wie  soll  ich  sagen  ? 
—  auf  einer  ungeheuer  grossen  Scheiterbeige.  Es  wurde  nämlich  eine  Un- 
masse Stamme  und  Prügel,  auch  Spältlinge,  alle  auf  etwa  6  10'  Länge  zu- 
gerüstet und  Lehm,  Zweige,  Laub  und  Steine  herbeigeschleppt.  Nun  wurde 
auf  der  Grenze  des  Baues  eine  Reihe  senkrechter  Pfahle  errichtet,  dann  Holz- 
schichten  in  Menge  verbreitet  (Taf.  VIII.  Fig.  16.  bei  Stanb),  diese  V  dick 
beschwert  mit  Latten,  Reisig,  Laub  und  Steinen,  auf  den  Grund  des  Sees 
versenkt,  und  zwar  etwa  auf  einer  Fläche  von  einer  Juchart  gross.  Auf  diese 
Lettenschicht  wurde  dann  wieder  eine  kreuzweise  gelegte  Holzschicht  ver- 
senkt, abermals  belastet  mit  V  dicken  Letten.  Steinen  u.  s.  w.  Nun  hatte  man 
schon  zwei  Böden.  Es  wurde  so  fortgefahren  mit  dem  dritten,  vierten  und 
fünften  Boden,  bis  endlich  der  letzte  genügend  über  das  Wasser  hervorragte. 
Auf  diese  Scheiterbeige  hinauf  errichtete  man  dann  die  Hütten*.  Man  schlug 
freilich  innerhalb  dieser  Holz-  und  Letteninsel  zur  Befestigung  der  Baue 
Pfahlreihen,  sowie  für  den  Bau  der  Hütten  auch  senkrechte  Pfähle  ein.  Letz- 
tere trugen  das  Dach  und  hielten  den  Unterbau  zugleich  fest.  Nun  geschah 
es  aber  später  gerne,  dass  die  Unterlage  lebendig  wurde  und  sich  senkte  oder 
dass  das  Wasser  höher  stieg,  dann  mussten  die  Colonisten,  wohl  oder  übel, 
noch  mehr  solcher  Holz-  und  Lettenschichten  auf  die  alten  legen  und  ihre 
Hütten  umbauen,  so  dass  am  Ende  oft  (i  —  7  solcher  Böden  aufeinander  zu 
liegen  kamen.  Beweis  hierfür  ist,  dass  Herr  Messikomrner,  als  er  Letzhin 
iu  Niederwyl  die  Schichten  bis  zum  fünften  Boden  abdeckte,  er  dort  Aepfel, 
Himbeersamen,  Gerste,  aufgeklopfte  Haselnüsse  und  Küchenabfalle  vorfand. 
Man  wohnte  also  früher  auf  dem  fünften  Boden,  später  auf  dem  siebenten. 
Er  hatte  die  Güte,  mir  einen  Schacht  graben  zu  lassen;  ich  zählte  6  Böden 
und  der  Arbeiter  war  noch  nicht  auf  dem  Seegrunde  angelangt.  Diese  eigen- 
tümliche Bauweise  kommt  bis  dahin  nur  in  Seen  mit  niederem  Wasserstand 
vor.     In  Wauywl  ist  die  Bauart  ganz  die   gleiche."*) 

Staub  gedenkt  ferner  der  Bauten  von  Nidau,  Satz,  Markigen,  woselbst 
im  tiefen  Bieler-See  je  ein  künstlicher  Hügel  aufgebaal  wurde  und  zwar  aus 
übereinander   geworfenen  Steinen,    die   man   vom  Lande   herbeifuhr    und   ver- 

*)  A.  a.  0.  S.  26,  27. 


22 

senkte.  Sah  man  doch  auf  dem  Grunde  des  Sees  eine  50'  lange,  4'  breite 
l'irowue  voll  solcher  Steine  liegen,  die  einstmals  hier  gesunken  ist.  Beim 
früher  niedrigeren  Wasserstande  des  Bieler  Sees  haben  diese  künstlichen 
Steininseln  den  Spiegel  überragt;  jetzt  liegen  sie  7'  tiefer  unter  demselben. 
Man  errichtete  auf  diesen  Inseln  die  Pfähle. 

Keller  hat  wohl  alle  solche  Funde  in  trefflicher  Weise  beschrieben;  Staub's 
schlichte,  man  möchte  sagen,  naive  Darstellungsweise  hat  mich  aber  nicht 
ullein  stets  besonders  angezogen,  sondern  ich  habe  auch  gerade  diese  hier, 
wo  es  nur  auf  ein  kurzes  Resume  des  Gefundenen  ankam,  benutzt. 

Desor  bemerkt,  dass  die  Stationen  des  Neuenburger  Sees  im  Allgemeinen 
weniger  ausgedehnt,  als  diejenigen  des  Bronzealters,  minder  vom  Ufer  ent- 
fernt und  nicht  zwei  Meter  unter  dem  mittleren  Wasserstande,  gelegen.  Was 
dieselben  übrigens  besonders  auszeichne,  sei  die  Beschaffenheit  der  Pfähle. 
Diese  seien  nämlich  weit  dicker,  als  diejenigen  der  Bronzestationen:  häufig 
ganze  25 — 30  Centimeter  starke  Stämme.  Auch  diese  Pfähle  sind  von  Stei- 
nen umgeben,  die  unzweifelhaft  durch  Menschenhände  eingesenkt  worden  und 
welche  die  Pfähle  durch  den  von  ihnen  ausgeübten  Seitendruck  selbst  fest- 
hielten (S.  das.  Fig.  1.).  Man  nennt  diese  künstlichen  Inseln  im  Dialecte  der 
Fischer  von  Estavayer:  „Tenevieres,"  zu  Cortaillod  dagegen  „Pervous,"  im 
Bieler  See  „Steinberge".  Diese  Art  der  Befestigung  war  die  einzig  mögliche 
überall  da,  wo  der  Boden  sich  felsig  zeigte,  z.  B.  an  mehreren  Punkten  des 
Nordufers,  zu  Monruz,  Hauterive,  Neuchätel,  woselbst  bis  dicht  an  den  Was- 
serspiegel hinanreichende  Bänke  von  einem  zum  urgonischen  Systeme  gehö- 
renden Kalk  das  Einrammen  von  Pfählen  verhindern.  An  anderen,  mit 
schlammigem  Grunde  versehenen  Oertlichkeiten,  namentlich  der  Ostschweiz, 
hat  man  die  Pfähle  ohne  Herumhäufung  von  Steinen  in  den  Grund  eingesenkt. 
Tn  diesen  Fällen  hat  man  es  nicht  mit  unter  Wasser  befindlichen  Hügeln  zu 
thun,  es  sind  nicht  eigentliche  Steinberge.  Aber  auch  diese  Stationen  fallen 
durch  ihre  geringe  Tiefe  und  ihre  Nähe  am  Wasser  auf,  so  dass  sie  bei  Nie- 
derwasser zuweilen  trocken  liegen,  z.  B.  zu  Markelfingen  am  konstanzer  See. 
Desor  fügt  noch  hinzu,  dass  die  Tenevieres,  namentlich  diejenigen  des  Neuen- 
burger Sees,  nicht  nothwendig  als  Subconstruktionen  von  über  Wasser  be- 
findlichen Bauten  gelten  dürften.  Ihre  Nähe  am  Ufer,  ihre  Construction  und 
ihre  geringe  Tiefe  führten  eher  darauf,  in  ihnen,  wie  es  auch  von  gewissen 
Seiten  her  geschehen,  künstliche  Inseln  nach  Art  der  irländischen  Crannoges 
(S.  7.)  zu  erkennen.  Hierauf  würde  sich  ihre  fast  übereinstimmende  Tief- 
lage bezichen  lassen.*)  Einer  ähnlichen  Kategorie  haben  unzweifelhaft  die 
auf  S.  21.  erwähnten  „Packweeke  der  Schweiz"  angehört,  sowie  die  schottischen 
von  Dowalton.  Künstliche  Inseln  hat  man  auch,  im  Starnberger-See  aufge- 
deckt. 

Bei  Desor  findet  sich  dann  S.  14.  die,  ich  weiss  nicht  augenblicklich  von 

')  L.  c.  p.  9—14 


23 

Wem  sonst  noch    getheilte,  Annahme,  die  Tenevieres   hätten    vielleicht   auch 
gelegentlich   zu  festlichen   Zusammenkünften   gedient,    wie   sich   das    aus    der 

wunderbaren  Menge  von  daselbst  aufgehäuften  Knochen  erklären  liesse,  deren 
es  ja  sonst  in  den  Bronzestationen  weniger  gäbe.  Jenes  mag  schon  wahr 
sein,  obwohl  der  defensive  Zweck  auch  bei  „Oannoges,"  „Packwerken"  und 
„Steinbergen"  jedenfalls  der  hervorragendste  gewesen. 

Sehr  interessant  sind  auch  die  von  L.  Pigorini  und  P.  Strobel ')  ge- 
machten Beschreibungen  parmesanischer  Pfahlbaureste,  die,  weil  sie  in  Deutsch- 
land weniger  bekannt,  liier  in  Kürze  beschrieben  werden  sollen.  „Der  beim 
Conventino  di  Castione  im  Districte  Borgo  San  Donnino  aufgedeckte  Tlieil  nimml 
einen  Flächenraum  von  .37  Aren  ein;  die  Baute  bildet  aber  die  ganze  Grund- 
fläche des  darüber  stehenden,  zwei  Hectaren  einnehmenden  Hügelchens,  oder 
den  grössten  Theil  desselben.  Um  uns  die  Baute  und  die  hügelartig  darauf 
ruhende  Terramara  (Terra  di  Mare,  Meereserde,  eine  Mergelerde)**)  so  gui 
als  möglich  versinnlichen  zu  können,  denken  wir  uns  in  einer  Ebene  einen 
3  Meter  sich  erhebenden  Hügel,  auf  dem  eine  Art  Klosterschloss,  ein  ehe- 
maliges Kloster,  conventino,  sich  erhebt.  Die  Decke  des  Hügels  wird  von 
der  Dammerde  gebildet;  darunter  findet  man  die  Terramara  und  unter  ihr 
die  Pfähle.  Wenn  man  sich  von  diesem  Hügel  und  dem  darunter  befind- 
lichen Erdreich,  bis  zur  Spitze  der  Pfähle,  in  diagonaler  Richtung  einen  senk- 
rechten Durchschnitt  denkt,  so  würde  er  von  oben  nach  unten  beiläufig  so 
ausfallen: 

1)  Angeschwemmte  Erde  2,00  Meter;'  2)  Terramara  2,50;  3)  schwarze 
moorige  Mergelerde  oder  merglige  Torferde,  ehemals  Sumpfwasser  1,00  M.; 
4)  grüngrauer  Lehmmergel,  ehemals  Sumpfgrund,  abwärts.  Natürlich  nehmen 
bei  1  und  2  diese  Zahlen  dort,  wo  die  Anhöhe  ringsum  gegen  die  Ebene  ab- 
fällt, verhältnissmässig  ab.  Die  Pfähle  stecken  mit  dem  grössten  Theil  ihrer 
Länge  in  der  dritten  Schicht:  im  Durchschnitt  zeigen  sich  ihre  Köpfe  1  Me- 
ter unter  der  Fläche  der  Ebene,  und  die  Terramara  reicht  noch  beiläufig 
1,50  Met.  unter  diese  hinunter,  liegt  demnach  theils  oberhalb  und  theils  un- 
terhalb der  Ebene.  Die  Pfähle  dringen  mehr  oder  minder  tief  in  die  Mergel- 
schicht, und  sind  gegenwärtig  wegen  eines  von  W.  S.  W.  gekommenen 
Druckes  (durch  die  darüber  gelegte  Terramara?)  nach  O.  N.  0.  geneigt  Sie 
stehen  bald  einzeln,  bald  zu  dreien  gruppirt  und  in  verschiedener  Entfernung 
von  einander;  ihre  Länge  beträgt  2  —  3  Met.  und  ihr  Durchmesser  am  Kopfe 
0,12  —  0,18  Meter.     Auf   den  Pfählen    ruhen  die  Balken,    2—3  Meter  lang. 


*)  Herrn  Strobel's  freuncllicheui  Entgegenkommen  verdanke  ich  nicht  allein  die  hier  ausge- 
zogenen Abhandlungen,  sondern   auch   eine  ganze  Suite  von  Thierknochen   und   Pflanze] 
aus   S.   Castione. 

•*)  Keine  Meeresablagerung.  „Le  terremare  poi  sono  cuinuli,  vuoi  artificiali,  vuoi  naturali,  di 
terra    piii  o  meno  marnosa,    contenente   ceneri,    carboni,    avan/.i  animali 

dell'  iudustria  umana  di  epoche  lontane."     Strobel:  Avan/i  preromani  raecolte  nelle  terremare  >■ 
palafitte  dell'  Emilia.     1.     Parma  1863      p.  l. 


24 

die  in  verschiedener  Entfernung  von  einander  nach  der  Länge  und  Breite  der 
Baute  liegen  und  sieh  rechtwineklig  begegnen.  Einige  lehnen  sich  einfach 
auf  die  Pfähle  oder  die  Balken,  auf  welche  sie  stossen,  andere  sind  entweder 
in  eine  am  Kopfe  des  Pfahles  eingeschnittene  Rinne  eingefügt,  oder  durch 
ein  viereckiges,  unter  dem  Kopfe  gehauenes  Loch  getrieben.  Auf  dem  Bal- 
kengerüste liegt  der  Bretterboden  aus  einer  einzigen  Schicht  von  2  Meter 
langen,  0,10—0,33  M.  breiten  und  0,03  —  0,04  dicken  Brettern  zusammenge- 
setzt. Darüber  endlich  ist  der  Estrich;  er  besteht  aus  einer  0,3  M.  mäch- 
tigen Schicht  gelblichen  Lehmmergerls  (vielleicht  aus  dein  ehemaligen  Sumpf- 
grunde genommen),  der  an  der  Oberfläche  ziemlich  fest  (durch  Stossen  und 
Feuer?)  und  glatt  ist.  Bis  jetzt  fand  man  darauf  noch  keine  sicheren  An- 
zeichen von  Hütten.  Es  könnte  auch  sein,  dass  diese  abgebrannt  wären,  da 
Spuren  eines  Brandes  vorhanden  sind.  —  Die  Pfähle  scheinen  nur  mit  der 
Axt,  nicht  mit  Hülfe  des  Feuers,  zugespitzt  worden  zu  sein;  die  Stämme 
wurden  nicht  gespalten,  sondern  ganz  verwendet;  es  sind  meistens  Ulmen- 
und  Eichenstämme.  —  Leider  ist  der  grösste  Theil  der  aufgedeckten  Baute, 
nach  weggeführter  Terramara,  wieder  mit  Kulturerde  bedeckt  und  mit  Mais 
bebaut  worden.  Nur  der  40  Quadratmeter  ausgedehnte  und  2  Meter  tiefe, 
letzthin,  in  den  unteren  Schichten,  ausgegrabene  Theil  konnte  in  Betracht  ge- 
nommen werden,  und  nur  die  Ergebnisse  dieser  Ausgrabung  wurden  hier 
angeführt." 

„Wie  in  den  Pfahlbauten  der  Schweiz,  hat  man  auch  in  den  Marieren*) 
die  Ueberbleibsel  der  Hütten  gefunden :  es  sind  Stücke  leicht  gebrannten 
Thones  mit  Eindrücken  von  Flechtwerk  (Reisig  und  Balken),  das  heisst, 
Stücke  der  Wandbekleidung  und  zwar  fast  sicherlich  jenes  Theiles,  an  dem 
der  Herd  angebracht  war,  dessen  Feuer  eben  den  Thon  gebrannt;  die  übri- 
gen Theile  der  Hütten,  weil  aus  ungebrannten  Thone,  haben  sich  vermuthlich 
aufgelöst.  Stücke,  von  Estrich,  dem  der  Pfahlbaute  von  Castione  ähnlich, 
wurden  auch  aus  den  Terramara  eingesammelt."**) 

Ich  komme  hier  noch  einmal  auf  die  Pfahlbauten  Norddeutschlands  zu- 
rück und  erinnere  zunächst  au  eine  Darstellung,  welche  Major  Krasiski  von 
denjenigen  des  Persanzig-Sees  bei  Neu -Stettin  geliefert  hat.  „Dieser  See, 
186  Morgen  gross,  1  Meile  von  Neu- Stettin  entfernt,  lag  südlich  von  dem 
Dorfe  Persanzig,  3—400  Schritt  von  der  das  Dorf  durchschneidenden  Strasse. 
In  dem  nördlichen  Theile  des  Sees,  260  Schritt  von  dem  festen  Lande,  lag 
eine  ungefähr  löO  □  Ruthen  grosse  Hache,  eirunde  Insel,  die  den  Wasser- 
spiegel des  Sees  nur  etwa  um  2  Fuss  überragte.  Ein  ungefähr  140  Schritt 
breiter  Arm  des  Sees  trennte  die  Insel  von  einem  nördlich,  von  demselben 
liegenden  Werder,   d.   h.   festen  Lande,    welches   von   dem  Seearm   und   von 


•)  Marniera,  Hariera,  Mergelgrabe. 

"*)  Die  Terramara-Lager  der  Kmilia.   I.    Bericht  von  L.  Pigorini  und  P.  Strobel  in  Parma. 
Separatabdruck  aun  den  Mittheilungen  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich. 


25 

moorigen  Wiesen  umgeben,  mit  der  Insel  vom  gleicher  Höhe  war  und  RO 
Schritt  von  dem  eigentlichen  festen  Lande  entfernt  lag. 

Durch  die  Persante,  welche  in  dem  See  entsprang,  hatte  derselbe  uinen 

natürlichen  Abfluss,  und  da  dieselbe  l>is  zu  der  \  Meile  von  dem  See  ent- 
fernten, ehemaligen  Wassermühle  durch  breite,  flache  Wiesen  Hievst  -,,  War 
ein  Anstauen  des  Sees  nicht  möglich  und  der  Wassi  rstand  desselben  i 
immer  ziemlich  die  gleiche  Höhe  behalten.  Im  Jahre  1863  liess  der  Besitzer 
des  Sees,  E.  v.  Hertzberg,  in  dem  Bette  der  Persante  bis  zu  der  vorhin  er- 
wähnten Wassermühle,  die  nun  einging,  einen  Kanal  graben,  wodurch  der 
See  gegen  9  Fuss  abgebissen  und  dadurch  so  weit  trocken  gelegt  w  rde,  dass 
nun  südlich  von  der  Insel  ein  gegen  170  []Ruthen  grosser  Wasserspiegel 
blieb,  aus  welchem  nun  die  Persante  entspringt,  der  übrige  Theil  des 
aber  in  eine   Wiesenfläche  umgewandelt  worden  ist. 

Nachdem  sich  in  dem  abgelassenen  See  der  Schlamm  gesenkt  hatte,  tra- 
ten aus  diesen  in  der  Umgebung  der  Insel  Pfahlspitzen   bis  auf  1  Fuss  I. 
hervor,  die  oben  ein   schwarzes,   verkohltes  Ansehen  hatten   und   die  sich   l> •■! 
näherer  Untersuchung  als  die  Grundlagen  von  Pfahlbauten   erwiesen. 

Diese  Pfähle,  mit  sehr  wenigen  Ausnahmen  von  Eichenholz,  haben  nur 
durch  den  Zahn  der  Zeit  gelitten  und  stehen  noch  so  vollständig  da,  wie  zu 
der  Zeit  als  die  Pfahlgebäude  darauf  ruheten,  sie  sind  auch  meistentheils  so 
gut  erhalten,    dass   von   vielen  selbst  der  Splint  noch  eine  grosse  Festigkeit 

bewahrt  hat:    sie    sind  sämmtlich  unbehauen     stehen  also  nur  mit  Gripfeleudc 

•  ■> 

nach  oben,  wie  aus  den  nach  oben  ragenden  Aststellen  ersichtlich  und  haben 
eine  verschiedene  Stärke  bis  zu  10  Zoll  im  Durchmesser. 

Diese  Pfahlbauten  sind  nicht  nur  wegen  ihrer  grossen  Ausdehnung  be- 
merkenswerth,  denn  dieselben  nehmen  mit  den  verschiedenen,  dazu  erhören- 
den Brücken  einen  Flächenraum  von  gegen  18  Morgen  ein,  sondern  auch 
dadurch,  dass  man  aus  der  Stellung  und  Anordnung  der  Pfähle  wichtige 
Schlüsse  auf  den  Zweck,  die  technische  Ausführung  der  Bauten  und  auf  den 
damaligen  Wasserstand  des  Persanzig-Sees  machen  kann. 

Der  Zweck  der  Pfahlbauten  in  diesem  See  war  offenbar:  gegen  die  An- 
griffe feindlicher  Nachbaren  einen  sicheren  Zufluchtsort  zu  haben,  denn  gegen 
die  wilden  Thiere  konnte  man  sich  auf  eine  weit  einfachere  Art  schützen. 
Diese  Bauten  bildeten  ein  einfaches  Befestigungssystem.  Die  eigentliche  Pfahl- 
festung nahm  einen  Flächenraum  von  460  □Ruthen  ein;  sie  lag  um  die  ehe- 
malige Insel  des  Sees  im  Weisser  und  bestand  aus  einer  Mensje  von  vier- 
eckigen Gebäuden,  deren  Zahl  bis  jetzt  noch  nieht  genau  festgestellt  ist  und 
die  mit  ihren  langen  Seiten  einige  Schritte  von  der  Tnsel  entfernt  und  wahr- 
scheinlich durch  Brücken  mit  derselben  verbunden  waren.  Auf  welche  Art 
die  flache  Insel  mitten  in  den  Pfahlbauten  von  den  Bewohnern  derselben  be- 
nutzt worden,  ist  nicht  ersichtlich.  Das  eine,  auf  der  nördlichen  Seite  der 
Insel  gelegene  Gebäude,  ungefähr  40  Fuss  lang  und  12  Fu><  breit,  diente 
offenbar  als  Festungsthor,  denn  aus  demselben  trat  man  unmittelbar  auf  eine 


26 

gegen  80  Sehritt  lange  Brücke,  welche  nach  dem  Werder  führte;  von  diesem 
gelangte  man  über  eine  zweite,  eben  so  lange  Brücke  durch  eine  moorige 
Wiese  auf  das  eigentliche  feste  Land.  Aus  der  technischen  Ausführung  des 
Baues  der  Brücken  wird  man  ersehen,  dass  dieselben  leicht  ungangbar  wer- 
den  konnten. 

Wenn  man  zugeben  muss,  dass  ein  Feind,  welcher  die  Pfahlfestungsbe- 
wohner bis  an  den  Persanzig-See  verfolgte,  keine  Kähne  mitführen,  denn 
diese  bestanden  zu  der  damaligen  Zeit  wohl  nur  aus  ausgehöhlten  Baum- 
stämmen, und  der  also  die  Pfahlfestung  nur  auf  Flössen  angreifen  konnte,  so 
muss  man  schliessen,  dass  die  Reihe  einzelner,  eichener  Pfähle,  welche  die 
nordöstliche  Seite  der  Insel  in  einem  Kreisbogen  von  mehr  als  200  Schritt 
Länge  umgab,  nur  dazu  dienen  konnte,  die  Annährung  des  Feindes  auf  Flös- 
sen von  dem  festen  Lande  her  zu  verhindern.  Diese  Pfahle  stehen  gegen  14 
Fuss  von  einander  entfernt,  erstrecken  sich  von  dem  Ende  der  ersten  Brücke, 
in  südöstlicher  Richtung,  bis  an  das  ehemalige  tiefe  Wasser  des  Sees,  wobei 
sie  die  gleiche  Entfernung,  von  ungefähr  80  Schritten,  von  der  Insel  behalten. 
Nimmt  man  ferner  an,  dass  diese  Pfähle  mit  den  daran  befindlichen  Aesten 
eingerammt  und  überdies  noch  wahrscheinlich  mit  Flechtwerk  verbunden 
waren;  so  wird  man  zugeben  müssen,  dass  sie  den  Zweck:  die  Annährung 
des  Feindes  auf  Flössen  zu  erschweren,  vollständig  erfüllten;  ein  anderer 
Zweck  dieser  einzeln  stehender  Pfähle  ist  auch  nicht  denkbar. 

Die  Pfahlfestung  bestand  demnach  aus  den  Pfahlgebäuden  um  die  Inseln, 
—  das  auf  der  nördlichen  Seite  derselben  liegende  diente  als  Festungsthor, 
weil  man  über  die  Brücken  nur  durch  dieses  Gebäude  auf  die  Insel  gelangen 
konnte,  aus  den  Brücken,  die  leicht  ungangbar  gemacht  werden  konnten,  und 
aus  den  auf  der  nordöstlichen  Seite  der  Insel  stehenden  einzelnen  Pfählen, 
welche  eine  Art  von  Pallisaden  bildeten. 

Wenn  die  Annahme  richtig  ist,  dass  die  Pfahlbauten  in  dem  ehemaligen 
Persanzig-See  vor  der  Einführung  des  Eisens  ausgeführt  wurden,  dann  geben 
die  Pfähle,  welche  die  Pfahlbrücken  getragen  haben,  einen  interessanten  Auf- 
schluss  über  die  technische  Ausführung  des  Baues  dieser  Brücken;  denn  als 
gewiss  ist  anzunehmen,  dass  die  damaligen  Bewohner  die  einfachste,  dem 
Zweck  entsprechende  Bauart  gewählt  haben  werden. 

Von  der  ersten  Brücke,  die  von  der  Insel  nach  dem  Werder  führt,  sind 
etwa  90  Pfähle  sichtbar,  die  zweite  Brücke  enthält  etwas  weniger,  aber  stär- 
kere Pfähle,  eine  dritte  angefangene  Brücke  hatte  41  Pfähle,  die  Pfahlreihe 
(Pallisaden)  südöstlich  von  der  ersten  Brücke  enthielt  33  Pfähle;  die  Gebäude 
auf  der  Insel  standen  auf  mindestens  150  Pfählen.  Hiernach  erhält  man  gegen 
400  eichene  Pfähle,  welche  den  Bauten  als  Grundlage  dienten.  Auf  der  Insel 
wird  ebenfalls  viel  eichenes  Holz  liegend  gefunden,  so  dass  man  annehmen 
muss,  dass  auch  der  Oberbau  der  Gebäude  theilweise  aus  diesem  Holze  be- 
stand. Wer  die  Härte  des  eichenen  Holzes  kennt,  wird  zugeben,  dass  es 
fast  unmöglich  war,  mit  den  unvollkommenen  steinernen  und  bronzenen  Werk- 


27 

zeugen  eine  so  bedeutende  Menge  von  Eichen  zu  bearbeiten;  besonders  wenn 
man  in  Betracht  zieht,  dass  diese  Werkzeuge  nur  in  angenügender  Menge 
vorhanden  sein  konnten,  wie  aus  der  geringen  Zahl  von  aufgefundenen  Steil  - 
Werkzeugen,  die  zu  dergleichen  Arbeiten  benutzt  werden  konnten,  hervorgeht. 
Es  ist  demnach  sehr  wahrscheinlich,  dass  man  die  Bäume  durch  Feuer  als 
Bauholz  zurichtete.  An  dem  zu  fällenden  Baume  wurden  die  Wurzeln  blosge- 
legt,  diese  wurden  dann  abgebrannt,  der  Baum  dadurch  gefallt;  ebenso  wur- 
den durch  Feuer  die  Aeste  entfernt  und  dem  Baume  die  erforderliche  Form 
gegeben.  Die  einfachste  Art,  eine  Brücke  zu  bauen,  besteht  darin,  dass  man 
genügend  starke  Pfähle  einrammt,  deren  Aeste  oben  eine  Gabel  bilden  ;  zwei 
solcher  Pfähle  mit  dem  auf  die  Gabeln  gelegten  Querholz  (Tragebalken)  bil- 
den ein  Brückenjoch  (einen  Bock);  Planken,  von  einem  Joche  zum  anderen 
gelegt,  vollenden  die  Brücke;  durch  das  Entfernen  der  Planken  wird  die 
Brücke  leicht  ungangbar  gemacht. 

Aus  der  Zahl  und  Stellung  der  Pfähle,  welche  mit  dem  Gipfelende 
sämmtlich  nach  oben  stehen  und  die  den  Pfahlbrücken  als  Fundamente  dien- 
ten, kann  man  fast  mit  Gewissheit  schliessen,  dass  der  Bau  derselben  auf  die 
eben  angeführte  Art  ausgeführt  worden  ist.  Die  Pfähle  stehen  tluils  einzeln, 
theils  zu  zweien,  zu  dreien  und  selbst  zu  vieren  beisammen,  jedoch  1  —  1£ 
Fuss  von  einander  entfernt, 

Hatte  man  nicht  hinreichend  starke  Pfähle,  um  die  Brücke  zu  tragen,  so 
nahm  man  zwei  Pfähle,  rammte  dieselben  .parallel  neben  einander  ein.  \>-^u- 
auf  die  zwei  Gabeln  ein  kurzes  Querholz;  der  andere  Brückenpfeiler  wurde 
ebenso  gebildet  und  auf  diesen  beiden  Querhölzern  ruhte  dann  der  Trage- 
balken. Waren  mehr  als  zwei  Pfähle  eingerammt,  so  dienten  diese  wahr- 
scheinlich nur  dazu,  den  eigentlichen  Brückenpfählen  mehr  Halt  zu  geben. 

Die  beiden  Brücken  hatten  eine  Breite  von  8  Fuss;  die  einzelnen  Joche 
standen  ungefähr  7  Fuss  von  einander.  Wo  in  dem  moorigen  Boden  die 
Brückenpfähle  keinen  festen  Halt  hatten,  waren,  um  das  Schwanken  der 
Brücke  zu  vermeiden,  zu  beiden  Seiten  einzelne  Pfähle  schräg  gegen  die 
Brücke  eingerammt,  um  als  Strebepfeiler  zu  dienen. 

Die  zweite  Brücke,  welche  durch  die  moorige  Wiese  führte,  ist  für  den 
Alterthumsforscher  in  so  fern  wichtig,  als  ihre  Lage  den  Beweis  liefert,  dass 
der  Persanzig-See  zu  der  Zeit,  als  diese  Brücken  gebaut  wurden,  dieselbe 
Höhe  hatte,  als  vor  drei  Jahren,  bevor  derselbe  abgelassen  wurde.  Denn 
wäre  der  damalige  Wasserstand  höher  gewesen  (wogegen  schon  die  ganze 
Lage  des  Sees  spricht),  so  stand  auch  das  flache  Werder  unter  Wasser,  und 
man  hätte  in  diesem  Falle  die  Brücke  auch  über  das  Werder  führen  nW 
wovon  aber  keine  Spur  vorhanden  ist.  Wenn  der  damalige  Wasserstand  aber 
niedriger  war,  so  hatte  man  nicht  nöthig,  durch  die  Wiese  eine  für  die  da- 
maligen Verhältnisse  so  grossartige  Brücke  zu  bauen;  ein  sogenannter  Knüp- 
peldamm würde  dem  Zwecke,  das  Werder  mit  dem  festen  Lande  zu  verbin- 
den, viel  einfacher  entsprochen  haben. 


28 

Daraus,  dass  der  Wasserstand  lies  Persanzig-Sees  seit  den  Zeiten  der 
Pfahlbauten  immer  dieselbe  Höhe  gehabt  hat,  folgt  wieder,  <iass  diese  Bauten 
nicht  durch  Feuer  zerstört  worden  sind;  denn  viele  der  schwarzen,  verkohlten 
Pfahlspitzen  stehen  6  Fuss  unter  dem  Wasserspiegel  des  vormaligen  Sees, 
konnten  also  unmöglich  so  weit  abbrennen'1  etc.*) 

Ueber  die  anderen,  so  vieles  Eigentümliche  darbietenden  Pfahlbauten 
Norddeutschlands  werden  wir  neuestens  durch  Professor  Virchow  genaue 
Belehrung  erhalten. 

Der  Leser  dürfte  sich  vielleicht  darüber  verwundert  haben,  dass  ich  hier 
mehrere  schon  längst  verbreitete  Nachrichten  über  unseren  Gegenstand  noch 
einmal  zusammengestellt.  Allein  dies  ist  mir  doch  nicht  überflüssig  erschie- 
nen, einmal  theils  um  damit  Belege  für  weiter  oben  von  mir  ausgesprochene 
Ansichten  zu  liefern,  theils  aber  auch,  um  die  verschiedene  Bauart  dieser 
wenngleich  sämmtlich  sehr  alten,  indessen  auch  jedenfalls  verschiedenen  Zeit- 
räumen und  Kulturepochen  angehörenden  Gonstructionen  darzuthun. 

Wenn  ich  nunmehr  das  mutmassliche  Alter  der  Pfahlbauten  berühre,  so 
verstehe  ich  —  eigentlich  selbstredend  —  hier  unter  letzteren  nur  diejenigen 
der  vorhistorischen  und  der  in  das  frühe  Alterthum  hineinragenden  Zeiträume. 
(S.  18).  Die  Pfahlbauten,  in  denen,  wie  zu  Robenhausen,  Moosseedorf,  Wangen, 
St.  Anbin,  Concise,  im  „Steinberge"  des  Starnberger  Sees,  zu  Gägelow, 
Müggenburg  u.  s.  w.,  nur  Steingegenstände  aufgefunden  worden,  gehören  un- 
zweifelhaft einer  ausserordentlich  frühen  Epoche  menschlichen  Seins  an.  Wir 
können  uns  hier  nicht  noch  einmal  auf  die  vei-schiedenen  Berechnungen  ein- 
hissen, welche  von  Diesem  und  Jenem  für  die  Festsetzung  des  ungefähren 
Anfanges  des  Steinalters  versucht  worden  sind.  Staub  thut  den  ganz  naiven 
Ausspruch:  „Ein  Volk,  das  zu  solchen  kindlichen  Werkzeugen  greifen  muss 
(Beilen  aus  Knochen  und  Feldhackcu  aus  Hirschhorn)  ist  gewiss  uralt,  und 
er  thut  ihn  mit  Recht.  M.  Wagner  hat  schon  früher  auf  K.  Vogt's  Vor- 
schläge aufmerksam  gemacht,**)  bei  Bestimmung  dieser  frühen  Epochen  die- 
jenige Methode  anzuwenden,  welche  man  in  der  Geologie  zur  Feststellung 
der  relativen  Zeitepochen,  in  denen  eine  Ablagerung  stattgefunden,  in  Ge- 
brauch  ziehe.***)  Ein  ängstliches  Feilschen  um  ein  Paar  Tausend  Jahre 
mehr  oder  weniger  darf  uns  in  einer  Sache  nicht  zugemuthet  werden,  bei 
welcher   wir    eigentlicher  Chronologie  entsagen  müssen,    bei    der    wir  nur 


*)  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde,  zu  Berlin  1.  Bd.  S.  187—191.  Der  obigen 
Beschreibung  ist  ein  instruetives  Kärtchen  beigegeben  Pallmann  bemerkt  hierzu  S  69  seines 
Buches:  „Die  Pfahlbauten  von  Neu-Stettin  sind  als  solche  noch  keineswegs  gesichert  u.  s.  w." 
Ferner:  Möglicherweise  kann  aber  die  Neu-Stettiner  Pfahlanlage  mit  einer  späteren,  vielleicht 
slawischen,  Befestigung  im  Zusammenhange  stehen;  bei  vereinzelt  aufgefundenen  Pfahlbauten 
und  bei  geringer  Ausbeute  von  Funden  ist  über  dieselbe  jedenfalls  ein  sicheres  Urtheil  nicht 
abzugeben. " 

**)  A.  a.  0.  S.  4fi4. 
***)  Vogt  im  Archiv  für  Anthropologie.    Bd.  I.    S.  15. 


29 

ungefähre  Schützungen  anzustellen  vermögen.  Das  thut  es  denn  auch  nicht,   wir 
wollen  ja  nur  ergründen,  was   zuerst    gewesen,  ob  Stein,    Bronze  oder  Eisen? 

Diese  Fragen  beantwortet  uns  aber  nicht  allein  die  geologische  Methode, 
sondern  es  gestattet  uns  sogar  die  Geschichte,  in  derselben  Bezieht  ng  Rück- 
schlüsse von  Später  auf  Früher  zu  ziehen. 

Selbst  die  Bestimmung  des  Beginnes  des  Bronzealters  kann  nur  eine  an- 
nährende sein  und  weichen  auch  hierin  die  Forsche]  vielfach  von  einander 
ab,  wenngleich  uns  dabei  gestattet  ist.  immerhin  genauer  zu  verfahren,  als 
beim  Steinzeitalter.  Es  dürfte  übrigens  bedenklich  erscheinen,  den  Anfang  der 
Bronzeperiode  so  ohne  Weiteres  etwa  in  das  Jahr  170"  v.Chr.  zu  verlegen, 
wie  von  gewissen  Seiten  her  geschehen,  da  wir  doch  einen  weil  früheren 
Gebrauch  des  „Erzes"  sehen  bei  den  Aegyptern  wahrnehmen.  Pfahlbauten, 
in  denen  wir  Bronzegegenständc  neben  den  aus  Stein  verfertigten  sehen,  ge- 
hören notwendigerweise  einer  späteren  Epoche  an,  als  diejenigen,  in  denen 
wir  ausschliesslich  Steingegenstände  finden.  Wir  wissen  ja  hinlänglich,  dass 
die  Bronze  erst  nach  und  nach  bei  den  Pfahlbauern  Europas  Eingan-  _ 
wonnen  hat. 

Ueber  das  noch  spätere  Eintreten  des  Eisenalters  hier  weiter  zu  reden. 
verlohnt  sich  nicht  der  Mühe.  Mit  vollem  Recht  weist  Wagner  die  Annahme 
zurück,  dass  an  denselben  Seen  gleichzeitig  lange  zwei  Nachbarvölker  zu- 
sammengewohnt, von  denen  das  eine  überraschend  reich  an  Metallwerkzeugen 
gewesen,  während  das  andere  nicht  das  Geringste  liesessen.  Das  „stehe  im 
schroffsten  Widerspruche  gegen  alle  Beobachtungen  der  Ethnographie  fem«  i 
Länder." 

Dass   übrigens,    wie   auch   M.  Wagner  bemerkt,    die  helvetischen   Pfahl 
bauten  der  überlegenen  römischen  Kriegskunst  nicht  zu  widerstehen  vermocht 
wie   es  einst   diejenigen  des  Prasiassees  gegen   die  noch    plumpe,    wenig   ein- 
wickelte des  Megabazns  (Herodot  1.  c),  leuchtet  wohl  ein.     Unterlagen   doch 
auch   die  dacisehen   Pfahlbauten  noch   später  den    Römern   (S.  4). 

Die  römischen  Schriftsteller  erwähnen  nichts  mehr  von  italischen,  schwei- 
zer und  süddeutschen  Pfahlbauten,  woraus  wir  schliesseu  dürfen,  dass  deren 
/.tu'  Quiritenzeit  hier  nicht  mehr  in   Gebrauch   gewesen. 

Man  darf  wohl  mit  Recht  annehmen,  dass  die  ineisten  der  älteren  Pfahl- 
bauten durch  Feuer  zerstört,  dass  viele  der  jüngeren  dagegen  in  Folge  der 
zunehmenden  Torfbildung  in  den  Gewässern  als  nicht  weiter  zweckmässig 
von  ihren  Bewohnern  verlassen,  dass  wieder  audere  von  diesen  aufgegeben 
worden  seien,  indem  einer  veränderten  weiter  vorgeschrittenen  Kriegführung 
gegenüber  jene  nicht  mehr  haltbar  geblieben,  dass  endlich  die  regelmäss  _ 
Gruppirung  der  Staaten,  deren  Gliederung  in  Gemeinden,  die  grössere  Siche- 
rung des  Eigenthums,  das  Aufblühen  der  Städte  des  Festlandes,  die  Erwei- 
terung des  Weltverkehrs  auf  den  Untergang  jener  hingearbeitet.  Freilich 
sind  etliche  dieser  Anlagen  in  verschiedenen  Erdgegenden  in  ihrem  Zustande 
erbalten    oder    es     sind    auch    hier    und    da    nach     und    nach    neue     erstanden. 


30 

(vergl.  S.  3).  Aber  die  eigentliche  Pfahlbauperiode  des  europäischen  Alter- 
thums  I  atte  jedenfalls  schon  Jahrhunderte  vor  der  Blüthezeit  der  römischen 
Kepublik   ihre.  Endschaft  erreicht. 

In  einem  zweiten  Artikel  weide  ich  nun  meine  Ansichten  über  die  tbie- 
rischen  Iteste,  über  die  Geräthe  und  die  muthmassliche  Abstammung  der 
Bewohner  der  europäischen  Pfahlbauten,  wofür  mir  ein  reichhaltiges  Material 
vorliegt,  auseinandersetzen.  Es  soll  dazu  auch  ein  bibliographischer  Anhang 
geliefert   werden. 

Hob.  Hart  mann. 


Zur  Erklärung  der  Abbildungen. 

Taf.  I  soll  ein  ungefähres  Bild  einer  schweizer  Pfahlbauniederlassung  des  Steinalters  zur 
ersten  Zeit    ihrer  Entstehung  gewahren.     Der  „Rost"   ist  noch  nicht  vollständig  bebaut. 

Taf.  II  Fig.  1.  Pfahlbanhütte  nach  der  Zeichnung  J.  Messikommer's ,  im  Auslande,  18C7. 
S.  193  a  Flechtwerk,  b  Lehmbewurf  desselben,  c  Stützpfeiler  der  Hausmauern,  d  Rundholz  zur 
Befestigung  des  Strohdaches. 

Fig.  2.  Schweizer  Pfahlhaus  mit  Zugrundelegung  eines  von  J.  Messikommer  angefertigten 
Modelles.  Der  aufgesetzte  Schornstein  ist  freilich  problematisch ,  indessen  möchte  ein  solcher, 
wenn  auch  in  sehr  roher  Form,  immerhin  vorhanden  gewesen  sein,  behufs  grösserer  Sicherung 
des  Strohdaches  gegen  Feuersgefahr. 

Fig.  3.  Papua-Pfahlhaus  von  Dorei,  nach  Dumont  d'Urville  Voy.  de  la  corvette  l'Astrolabe, 
Atlas  historique  PI.  [Pallmanu  hat  (auf  Taf.  I.  Fig.  2  seines  Buches)  aus  demselben  Werke  die 
Abbildung  eines  Dorei-IIauses  gewählt,  welches  jedenfalls  gerade  die  allergeringste  Analogie  mit 
europäischen  Pfahlhäusern  bietet. 


Die  Palmen. 

Palmentypus  und  Palmenkultus.  —  Geographische  und  lokale  Verbreitung  der  Palmen.  —  Pal- 
men-Individuen und  Palmen-Landschaft.  —  Bau  und  Wachsthum  der  Palmen.  Ihre  vegetativen 
Organe.  Frucht  und  Keim  Eintheilung.  —  Nutz-  und  Nahrungsstoffe,  und  allgemeine  Ver- 
wendbarkeit der  Palmen.  —  Wechselbeziehungen  zwischen  Mensch  und  Palme.  —  Lob  der  Palme. 

Unter  allen  Typen  des  Pflanzenreiches  haben  die  Völker  der  Erde  zu 
allen  Zeiten  und  einstimmig  der  Palme  den  ersten  Preis  zuerkannt;  der 
Kuhmeshymnus,    der    ihr    in   ihrer  Heimath   von    den    Lippen    der  Menschen 


31 

dargebracht,  hat  Land  und  Meer  umklungen  und  anter  allen  Zonen  \\  ieder- 
hall  gefunden.  Der  un  sprünglich  in  dem  wannen  und  für  das  warme  Klima 
geschaffene  Mensch  ward  gleichsam  an  den  Brüsten  der  Palme  gross  ge- 
säugt; alle  Bedürfnisse  der  eisten  einfachsten,  unbeschützteu  Existenz  lin- 
den in  der  Verwendbarkeit  aller  ihrer  Organe  ausreichende  Befriedigung;  sie 
reicht  dem  nackten  Dasein  die  erste  Nahrung,  hüllt  es  in  Gewandung  ein, 
überdacht  seine  Schlafstätte;  Früchte,  Mark  und  Blatter  enthalten  tast  alle 
Nährstoffe  in  einfachster  Zusammensetzung-,  sie  erzeugen  Meld.  Zucker,  Fett, 
Eiweiss  und  sogar  Salz.  „Der  Mensch  lebt  naturgemäss  innerhalb  der  Tro- 
pen und  nährt  sieh  von  den  Früchten  der  Palme,"  ruft  Linne  voll  Bewun- 
derung für  diese  edlen  Gewächse  aus;  „er  existirt  in  andren  Weltgegendcn 
und  behilft  sich  daselbst  mit  Koni  und  Fleisch." 

Hüterin  und  Erhalterin  seines  leiblichen  Daseins,  ward  die  Palme  zu- 
gleich die  Lehrerin  und  Bildnerin  der  Gesittung  des  aufwachsenden  Menschen- 
geschlechtes; unter  den  Palmen  Asiens  and  in  den  Ländern,  welche  die 
Heimath  der  Palmen  umgränzten,  stand  die  Wiege  der  ältesten  Menschen- 
bildung. Der  Hymnus  aber,  zu  welchem  die  Palme  den  dankbaren  Menschen 
begeistert,  entsprang  nicht  allein  aus  den  segensreichen  Eigenschaften  der 
Existenzvermittelung,  sondern  aus  der  tieferen,  ethisch-sittlichen  Quelle  hin- 
gebender, kindlich-frommer,  beseelender  Verehrung,  zu  welcher  der  Genius 
des  Schönen  und  Guten  die  Empfindungen  des  Menschen  hinanträgt.  Das 
vollendete  Ebenmass  ihrer  Formen  und  grossartigen  Verhältnisse,  wie  die 
Verkörperung  des  Schönheitsbegriffes  in  diesen  Formen  und  Linien,  —  gleich- 
sam eine  plastisch  gebundene  Musik,  —  überwältigt  durch  die  Macht  des 
Findruckes  das  künstlerisch  blickende  Auge  und  die  nach  Ebenmass  in  Wesen 
und  Ausdruck  ringende  Seele.  Trägerin  ihres  heimathlichen,  der  Tropenzone 
eigentümlichen,  schönen  Laubschmuckes  des  gefiederten  Blattes,  welchen  die 
nördliche  Zone  fast  ganz  entbehrt,  durch  dessen  leicht-lockeres  Maschennetz 
sich  der  dunkle,  tropische  Himmelslasur  nur  noch  intensiver,  magisch -wirk- 
samer abhebt,  konzentrirt  die  Palme  in  sich  den  ganzen  malerischen,  ver- 
klärten Effekt  der  tropischen  Natur -Erscheinungen  und  tritt  in  dieselben 
hinein  als  ein  Symbol  vollendetster  Schöpfungskraft. 

Unter  dieser  verinnerlichenden  Anschauung  hat  die  Palme  seit  alters- 
grauen Zeiten  eine  religiöse,  ästhetische  und  sympathische  Verehrung  genossen, 
je  nach  dem  Alter,  der  Empfänglichkeit  und  dem  Bildungsgrade  ihrer  hei- 
mathlichen Völkerschaften.  In  der  Kindheit  der  Gesittung  wurde  von  phan- 
tasiereich und  geistig  rege  angelegten  Völkern  die  religiöse  Verehrung  in  eine 
äussere  Kultusform  eingekleidet;  sogar  eine  alttestamentarische,  von  diesem 
Kultus  durchflochtenc  Weihe  liegt  auf  dem  ausgezeichneten  Baume,  welcher 
ein  Ausdruck  ist  jener  von  der  Natur  geliebkosten  Erde,  wo  der  von  heili- 
gen Traditionen  in  seinem  Glauben  genährte  Mensch  noch  heute  die  Oert- 
lichkeit  des  flüchtigen  Menschenparadieses  sucht,  Das  Bild  der  Palme  be- 
flügelt die  Phantasie  und  Redeweise   der  Völker  unter   allen  geographischen 


32 

Breiten,  soweit  Sprache  und  Phantasie  bereits  durchgeistigt  worden;  schöpft 
der  Gedanke  ans  dem  tiefen  Quell  der  Poesie,  d.  h.  aus  dem  Elemente  der 
idealen  Idee,  so  bemächtigt  er  sich  der  Palme  als  Redefigur;  es  spricht  der 
Mensch  von  palmigeu  Tagen,  wenn  er  einer  ruhmvollen  oder  kindlich-harm- 
los dahin  geflosseneu  \  ergangenheit  gedenkt;  er  hat  die  Palme  davongetragen, 
wenn  er  den  Sieg  über  den  Gegner  und  den  schwersten  aller  Siege:  den 
Sieg  über  sich  selbst  errang;  Palmenzweige  geleiteten  den  Sohn  Davids  im 
Triumphe  durch  die  Thore  Jerusalems;  auf  Palmen  jauchzte  das  Hosianna 
von  der  Erde  zum  Himmel  empor:  Palmsonntag  nennt  noch  heute  die  Chri- 
stenheit den  Gedächtnisstag  an  jene  weit-  und  kirchengeschichtliche  Begeben- 
heit, sowohl,  um  den  äusseren  begleitenden  Umständen,  als  der  inneren  und 
innerlichen  Bedeutung  desselben  Ausdruck  zu  geben. 

Es  liegt  tief  in  der  Natur  der  Sache  begründet,  dass  Verehrung,  Mythe 
und  Poesie  einen  verklärenden  Schimmer  um  die  Palme  woben,  denn  in  der 
lleimath  der  Palme  sucht  die  Phantasie,  wie  die  biblische  Doktrin  sowohl 
die  ideale,  wie  wirkliche  Stätte  des  Paradieses;  und  so  durch  und  durch 
durchdringt  dieser  Nimbus  alle  "Vorstellungen,  dass  der  Paradiesgedanke  nur 
auf  dem  sinnbildlichen  Grunde  der  Palmenlandschaft  feste  Form  und  Gestal- 
tung finden  kann.  Eieser  ideale,  aus  dem  höchsten  Schönheits-  und  Nütz- 
Hchkeitsbegriffe  hervorgegangene  Nimbus,  niusste  den  Boden  bereiten  und 
bestellen,  aus  welchem  Mythe,  Ehrfurcht,  Begeisterung,  Kultus  und  Dichtung 
duft-  und  farbevolle  Blumen  trieben  und  freundlich -üppige  Ranken  schlugen 
um  das  geheiligte,  auf  dem  Dankesaltar  aufgerichtete  Symbol  der  paradiesi- 
schen Glückseligkeit. 

Kein  Boden  war  von  der  Natur  so  günstig  vorbereitet  und  geeignet, 
diese  Blumen  und  Kauken  hervorzutreiben  und  sie  zu  einer  festen,  durch- 
geistigten Kultusform  zu  verflechten,  als  das  Land  der  glühendsten  Himmels- 
farben   und  des  öden,    endlosen  Sandwüstenmeeres:  Arabien.     So  weit 

d>e  geschichtlichen  Spuren  hinabreichen,  hat  in  diesem  Lande  des  Himmel- 
brillantes und  der  Erdenwüsten  die  Wiege  des  Palmenkultus  gestanden,  und 
uoeb  heute  finden  sich  dort  Fragmente  dieses  Kultus.  Da,  in  der  stillen, 
todesstummen,  leeren  Schöpfungswüste ,  wo  unter  dem  reinsten,  leuchtenden 
Aetherprisma  in  dem  Nichts  als  einzige  Lebenserscheinung  die  Dattelpalme 
wurzelt,  wo  diese  allein  den  einsamen  Wüstensohn  an  Leben  und  Gestalt 
ausser  seinem  Dasein  erinnert,  wo  sie  die  Quelle  hütet,  die  ihn  vor  dem  Tode 
der  Verschmachtung  bewahrt,  den  Schatten  zaubert,  der  den  Sonnenbrand 
von  seiner  ruhenden  und  schlafenden  Stirne  zurückwirft,  das  Brod  in  ihrer 
Flucht  bereitet,  das  ihn  ernährt,  und  so  allein  sein  Dasein  möglich  macht  in 
der  Wüste:  —  Da  wird  sie  Gnadenspenderin,  Vorsehung  und  gütige  Gottheit 
selber,  die  aus  den  Lichtstrahlen  des  Himmels  herabgestiegen  und  sich  der 
Erde  angetraut  zum  Schutze  und  Schirme  des  schutzlosen  Wüstensohnes. 
Der  Gott  aber,  der  so  Gestalt  angenommen  und  sich  der  Erde  vermählt  hat, 
offenbart  sieh  am  Himmel  iu  der   sinulich- wahrnehmbaren  Sonne   symbolisch 


33 

als  der  alleinige,  allmächtige,  ewig  reine  und  unvergängliche,  alles  Leben  der 
Erde  erweckende  und  erhaltende  Lichtgott,  und  auf  der  Erde  in  der  Palme 
als  Ernährer  und  Behüter  des  schutzlos  in  die  Wüste  hineingestellten 
Menschen. 

Lange  Zeit  erhielt  sich  in  dem  abgeschlossenen  Arabien  und  anf  den 
isolirten  Wüetenoasen  der  Palmenkultua  in  seiner  alten  Reinheit  and  Einfach- 
heit; allmählich  personifizirl  sieh  der  reine  Gottheitsbegriff' mit  dem  Sinnbilde, 
wird  der  übersinnliche  Gott  in  die  Gestalt  gebannt,  zum  Götzen  gemacht. 
Am  Saume  der  Syrischen  Wüste  Dumat-al-Dschandel,  wo  vor  Muhamed's 
Lehre  der  Sitz  eines  Götzendienstes  war,  tauchte  der  älteste  Gottesname: 
El  auf,  der  Semitischen  Ursprunges  ist,  El  bedeutet:  der  Starke,  ein  starker 
Baum,  der  immer  grün  bleibt,  keiner  Krankheit  unterworfen  ist  und  ein 
hohes  Alter  erreicht;  der  sich,  wenn  er  belastet  wird,  unter  seiner  Last  nach 
oben  krümmt,  und  wenn  er  abgehauen  wird,  sich  aus  der  Wurzel  neu  ver- 
jüngt, unsterblich  ist.  El  wird  Stadigründer  und  Städtekönig  in  den  Palmen- 
hainen der  Wüste,  wo  sich  die  zerstreuten  Hirtenstämme  sammeln,  wahr- 
scheinlich der  Gründer  der  jetzigen  Ruinenstadt:  al-Ghabel.  Den  Mittelpunkt 
dieser  Ansiedelungen  bildet  immer  der  Palmengarten  mit  seiner  Quelle  oder 
seinem  Teiche;  eine  ausgezeichnete,  meistens  wilde,  von  keiner  Menschen- 
hand entweihte  Palme  wird  zum  eigentlichen  Gottesbaume  ausgewählt;  auf 
einem  einfachen  Steine  werden  ihm  die  Opfergaben  dargebracht.  Wenn  die 
Luft,  —  der  Hauch  Gottes,  —  sich  regt,  leise  durch  die  Blätter  rauscht,  sie 
auf-  und  ab-,  und  hin-  und  wiederneigt,  dann  verkündet  der  Palmengeist 
seine  Gegenwart  und  offenbart  sich.  Der  Priester  legt  die  Orakel  aus;  da- 
her schliesst  der  Palmenkultus  überall  geschlossene  Priesterschaften  und  eine 
theokratische  Vorfassung  ein.  Nach  Diodor's  Aufzeichnungen  übten  ein  Mann 
und  ein  Weib  das  lebenslängliche  Priesterthum  aus.  In  Dodona  verkünden 
neben  den  Priestern  auch  Priesterinnen  die  Orakel;  im  Ammonium  finden 
sich  neben  der  Priesterschaft  bei  den  feierlichen  Umzügen  des  Gottes  auch 
Weiber-  und  Jungfrauen- Chöre.  Spuren  dieses  Gebrauches  haben  sich  auch 
bei  den  Israeliten  erhalten;  neben  Moses  erscheint  anfangs  seine  Gattin  Zip- 
pora,  d.  h.  Vogel,  Tochter  des  Jethro,  des  Priesters  in  Midjan,  sowie  seine 
Schwester  Mirjam  als  Prophetin,  bis  er  das  Priesterthum  mit  der  Weissagung 
in  seiner  Person  vereinigt.  Debora,  die  unter  der  Palme  bei  Betel 
wird  eine  Prophetin  genannt.  Später  duldete  das  Gesetz  das  Orakelbofra<;en 
nur  bei  dem  Hohenpriester,  wo  es  als  letzter  Rest  des  Heidenthumes  durch 
die  reine  Prophetie  verdrängt  wurde. 

Wohlgestalt  und  ein  reiner  und  tadelloser  Lebenswandel  war  bei  der 
Wahl  der  Priester  entscheidend;  sie  trugen  bei  der  Ausübung  des  Kultus 
weisse  Kleider,  wie  die  Israelitischen  Priester;  den  Oberpriestor  aber  um- 
wallte wahrscheinlich  noch  ein  Purpurmantel,  der  späte*  ein  Abzeichen  der 
Könige  wurde.  Der  Priester  wurde  Ab,  d.  h.  Vater  genannt,  der  Oberpriester 
hiess   Abitamer,    Palnienvater.      Allmählich    ging    in    manchen   Gegendon   die 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgaug  1870. 


M 

alte  Priestelherrschaft  au  Könige  über,  die  mit  der  Macht  auch  den  Titel 
von  den  Priesterfürsten  übernahmen,  immer  aber  behielt  in  solchen  monar- 
chischen Staaten  der  Hohepriester   den  höchsten    Hang   nach   dem  Könige. 

Die  Priester  winden  die  Bewahrer  und  Schützer  des  Heiligthunis  auf 
der  Palmenoase,  wo  sich  die  zerstreuten  Stämme  versammelten  und  die  Ka- 
rawanen rasteten;  an  solchen  heiligen  Orten  fand  der  Handel  Schutz,  -  wie 
noch  gegenwärtig  die  Priesterkolonie  zu  Damer  in  Nubien,  ein  Rest  des  alten 
Priesterstaates  von  Meroe,  ein  Schutz  der  Karawanen  ist.  Die  Streitigkeiten 
zwischen  den  einzelnen  Stämmen,  wie  zwischen  den  einzelnen  Personen  wur- 
den durch  die  Priester  Dach  dem  Willen  des  Palmengottes  entschieden,  die 
Fehden  beigelegt,  den  Bedrängten  und  Verfolgten  Recht  und  Schutz  gewährt; 
Allen  war  der  Gotteshain  ein  Asyl.  Zur  Zeit  der  Dattelreife  versammelten 
sich  die  Stämme  am  zahlreichsten  auf  den  heiligen  Palmenoasen;  es  wurden 
Hütten  von  Palmeublättern  errichtet  und  die  Tage  der  Vereinigung  mit 
Schmausereien  hingebracht.  Nach  den  Mittheilungen  Diodor's  kamen  in  sol- 
chem Palmenhaine  am  Sinai  die  Umwohner  alle  fünf  Jahre  zu  einer  Fest- 
feier zusammen;  es  lässt  sich  vermuthen,  dass  das  Laubhüttenfest  der  Juden 
eine  Nachahmung  dieser  alten  Palmenfeste  war.  Das  Erndte-  und  Freuden- 
fest wurde  aber  zugleich  auch  als  ein  Buss-  und  Dankfest  gefeiert;  die  ver- 
sammelte Volksmenge  bewegte  sich  im  feierlichen  Zuge  mit  Palmenblättern 
in  den  Händen  nach  dem  geschmückten  Gottesbaume,  um  ihn  mit  Gebeten, 
Gesäugen  und  Opfern  zu  verehren.  Blut  durfte  in  der  heiligen  Zeit  nicht 
vergossen  werden ;  an  Stelle  der  ruhenden  Waffenfehde  veranstaltete  das  krie- 
gerische Volk  zu  Ehren  des  Gottes  gymnastische  Spiele  und  sogar  poetische 
Wettkämpfe,  wie  bei  der  berühmten  Versammlung  Arabischer  Stämme  in 
Okuz,  östlich  von  Mekka.*)  Alle  Volkskraft  und  Eigenart  fand  auf  diesen 
Palmenoasen  einen  Zusammeustrom,  eine  Verschmelzung  und  Ei  Stärkung; 
daher  wurden  die  Priester  die  Besitzer  aller  Kenntnisse  und  die  Träger 
der  gefeierten  Weisheit  des  Orients;  hier  ward  wahrscheinlich  auch  die  Buch- 
stabenschrift entdeckt  und  in  den  Gebrauch  eingeführt  und  nahmen  alle 
höheren  Kenntnisse  und  alle  Wissenschaft  von  diesen  heiligen  Versammlungs- 
orten ihren  Ausgang. 

Aus  seiner  Heimath  drang  der  Palmeukultus  nach  Norden,  Osten  und 
Westen,  bald  auf  gewaltsamem ,  bald  auf  friedlichem  Wege  vor;  mit  seiner 
Auswanderung  aber  und  seiner  Entfernung  von  der  Heimath  verliert  der 
Kultus  seine  ursprüngliche  Reinheit  und  Einfachheit  mehr  und  mehr;  je  nach 
der  Beschaffenheit  des  Bodens  und  Klimas,  der  Beschäftigung,  Gemüths-  und 
Gesinnungsart  der  fremden  Völker  verfärbt  und  verändert  sich  der  Palmen- 
gott. Die  Sage  erzählt  von  der  verlorenen  Herrschaft,  der  Flucht  und  dem 
Verschwinden  des  Gottes;  zu  den  West-  und  Ostländern  kommt  er  über  das 
Meer;  daher  wird  in  dem  Ammonium  das  Bild  des  Gottes  in  einem  goldenen 


•)  Kitter  12.     S.  32. 


35 

Schiffe  von  P6  Priestern  in  Proeession  urahergetragen.*)  Ibc  Verbreitung 
des  Kultus  nach  Norden  über  Paliistina,  Phönizien  und  Syrien  erhellt  uns 
den  Münzen,  auf  welchen  sich  die  Palme  als  Sinnbild  dieser  Länder  ausge 
prägt  findet.  In  Palästina  wurde  der  Palmengotl  durch  den  reineren  Jahve- 
oder  Jehovahdienst  verdrängt,  neben  welchem  sich  nur  schwache  Spuren  des 
alten  Kultus  erhielten. 

Auch  nach  Afrika  drang  der  Palmenkultus  vor;  der  eingeführte  Gotl  wird 
Ra  oder  Re  d.  h.  Sonne  genannt,  oder  Amnion,  welcher  Name  ebenfalls 
Sonne  bedeutet;  auch  dieser  Kultus  unischliesst  eine  theokratische  Verfassung 
und  ein  einflussreiches  Orakel-,  auch  der  Painiennanie  findet  sich.  Das  alte 
Kulturland  Aegypten  nahm  den  Palmengott  ebenfalls  in  den  Kreis  seiner 
Götter  auf;  in  der  Stadt  Buto  an  der  Mündung  des  Sebennitischen  Nilürmcs 
war  ein  Orakel  der  Leto,  das  geehrteste  in  ganz  Aegypten,  und  auf  dei 
schwimmenden  Insel  im  Burlos-Sec  bei  derselben  stand  ein  grosser  Tempel 
und  drei   Altäre   in   einem   Palmenhain. 

Die  poesicumhauchten  Inseln  der  Seligen  der  Hellenen  lagen  in  dem 
Sandoeenen,  es  waren  die  Palmenoasen,  die  sich  dem  Nilthale  parallel  und 
im  Süden  des  Nordafrikanischen  Hochlandes  hinziehen;  erst  später  werden 
sie  in  das  Meer  verlegt,  als  Phöni/.ische  Seeleute  die  Kunde  von  Palmen- 
inseln nach  Griechenland  brachten.  Homer  besingt  sein  Elision  als  einen 
Palmenhain,  wo  kein  Sturm,  Schnee  und  Regen  die  sanften  Lüfte  des  Okeanos 
und  die  goldenen  Lebenstage  des  Menschen  trübt.  Hesiod  lässt  Kronos  auf 
den  Inseln  der  Seligen  herrschen,  wo  von  immergrünen  Bäumen  drei  Mal 
im  Jahre  süss-schmeckende  Früchte  geemdtet  werden.  Auch  der  Mythus  von 
den  Gärten  und  goldenen  Früchten  der  Hesperiden  findet  seine  Quelle  wahr- 
scheinlich in  dem  Palmenkultus ;  ihre  Ileiniath  ist  ebenfalls  eine  Insel  des 
Oceanes  oder  eine  Oase  der  libyschen  Wüste;  das  Lager  des  Zeus  umschattet 
der  Wunderbaum  mit  seinen  unsterblichen  Blättern  und  goldenen  Früchten; 
von  ambrosischen  Quellen  werden  seine  Wurzeln  getränkt  und  die  Sirenenstim- 
men reizender  Nymphen  laden  zum  Genüsse  der  goldenen  Früchte  ein  In 
den  Sirenenstimraen  lassen  sich  nicht  schwer  die  Stimmen  der  weissagenden 
Priesterinnen  des  Palmenkultus  wieder  erkennen,  welche  die  Offenbarungen 
des  Palmengottes  auf  den  Datteloasen  in  singender  oder  Musternder  Stimme 
mittheilten.  Nach  der  Oertlichkeit  beider,  entspringt  die  Paradiessage 
(1.  Mos.  1,3.)  mit  dem  Mythus  der  Hesperidcngärten  unzweifelhaft  aus  einer 
und  derselben  Quelle:  dem  Palmenkultus;  hier  bewacht  der  Drache  Ladon, 
dort  ein  Cherub  die  Götterfrucht,  auf  dass  kein  Mensch  sie  pflücke. 

So  verbreitet  sich  der  Palmenkultus  endlich  auch  über  die  Küstenländer 
und  Inseln  des  Mittelmeeres,  —  je  weiter  nach  Osten,  desto  mehr  und  melir 
seines  ursprünglichen   Charakters  entkleidet,      her  bildlose,    alleinige,    unend 
liehe  Gott  löst  sich  auf.  in  eine  Vielheit  erniedrigter  und  geschwächter   Götter 

*)  Diodor  17,  50. 

3* 


36 

und  Halbgötter;  aus  dem  alten  ursprünglichen  übersinnlichen,  geistigen  Gottes- 
wesen  wird  eine  versinnlichte  Götterfamilie.  Den  Keim  jedoch  seines  Ver- 
falles und  s  einer  Ausartung  in  Vielgötterei  trug  der  alte  Gott  El  der  Wüs- 
tenoasen  selber  in  sich,  da  er  sich  dem  Mensehen  in  mehrfacher  Gestalt 
seiner  eignen  Geschöpfe  zeigte:  am  Himmel  als  Sonne  und  auf  der  Erde  als 
Palme;  aus  dieser  mehrfachen  Gestaltannahme  entwickelte  sich  später  in 
seiner  eignen  Heimath  aus  dem  reinen,  einfachen  Kultus  ein  vollständiger 
Götterdienst;  dennoch  aber  erhielt  sich  in  einzelnen  Gegenden  der  Mono- 
theismus, der  immer  wieder  klärend  und  läuternd  auf  den  entarteten  Götzen- 
diensi  zurückwirkte,  bis  Moses  endlich  den  Gott  El  aus  aller  sinnlichen  Hülle 
befreite  und  zum  Jahre  vergeistigte.  Immer  aber  ehrt  das  Gedächtniss  der  Nach- 
welt, die  Pietät  der,  der  Kindheit  entwachsenen  Völker  die  heilige  Palme, 
die  einst  den  Völkern  des  Kindesalters  ein  geheiligter  Leib  der  Gottheit 
war;  und  noch  heute  verehrt  Christ,  Jude  und  Mohamedaner  in  ihr  das  Sym- 
bol des  Sieges,  des  Friedens  und  tröstlicher  Verheissung.  — 

„Könige  der  Gräser"  nennt  der  Indier  Amarishina  die  Palmengewächse, 
und  „Fürsten  der  Pflanzen"  nennt  sie  Linnö,  der  Schöpfer  der  wissenschaft- 
lichen Botanik  und  Naturkunde  überhaupt.  Linne  wählte  den  Ausdruck  nicht 
als  Systematiker,  indem  er  damit  die  Palme  hätte  hinstellen  wollen  als  die 
höchste  Stufe  einer  Reihenfolge  von  organisirten  Wesen;  eine  solche  findet 
in  Wirklichkeit  innerhalb  wissenschaftlich  scharf  bestimmbarer  Gränzen  nicht 
statt;  er  gebrauchte  den  Ausdruck  als  Physiograph,  aus  jenem  unbestimmten, 
alicr  lebhaften  Unterscheidungs-Gefühle,  das  alle  Menschen,  und  in  gewissem 
Grade  auch  den  Physiologen,  leitet.  Auch  ein  bildlicher  Vergleich  mit  den 
politischen  Oberhäuptern  darf  nicht  das  leitende  Motiv  sein  zur  Fürstener- 
hebung  der  Palmen,  denn  ungeachtet  aller  ihrer  Auszeichnungen  und  Vor- 
züge, die  sie  über  alle  Pflanzen  zu  Fürsten  erhebt,  gehören  sie  nach  dem 
natürlichen  Pflanzensysteme  zu  jener  untergeordneten  grossen  Abtheilung 
des  Pflanzenreiches,  welche  die  Mittelstellung  einnimmt  zwischen  den  höch- 
sten und  niedrigsten  Gruppen  des  Gewächsreiches.  Es  sind  vielmehr  die 
ausserordentlichen  Eigenschaften  dieser  Famile  des  Pflanzenstaates,  welche 
die  Phantasie  im  höchsten  Grade  beschäftigen  und  den  Trägern  derselben 
eine  so  allgemeine  innere  und  äussere  Bevorzugung  einräumen,  ausserdem 
behauptet  die  Familie  eine  Exclusivität  in  dem  Pflanzenstaate,  wie  das  Ge- 
schlecht  der  Fürsten  in  dem  Menschenstaate;  unter  sich  innig  verbunden, 
hat  sie  keine  ihr  unmittelbar  nahe  stehenden  Verwandten,  finden  sich  auch 
fernerstehende  Verwandte  unter  den  nie  dem  Klassen  der  grossen  Pflan- 
zenabtheilung,  zu  der  sie  gehören,  so  trennt  sie  doch  ein  abgeschlossenes 
vor  neli nies  Alleinstchen  äusserlich  von  jeder  intimen  Annäherung;  je  mehr 
diese  vornehme  Abgeschlossenheit  sich  auch  geltend  macht  in  der  Land- 
schaftsphysionomie,  —  je  isolirter  die  Palme  ihre  stolze  Laubkrone  in  den 
Farbenduft  des  Tropenäther  taucht,  desto  eindrucksvoller  wirkt  der  Adel 
ihrer  Erscheinung,  der  sie  erhebt  über  alle  Glieder  des  Pflanzenstaates. 


37 

Zu  den  Hohen  seines  Geschlechtes,  zu  der  Exclusivitäl  aus  der  Allge- 
meinheit, erhellt  der  Mensch  aber  mit  einem  besondern.    aus  ehrfurchtsvoller 

Scheu    vor   allem    Erhabenen   hervorgerufenen  Inten sein  auch 

zu  den  Hohen,  den  Exklusiven  des  Pflanzenstaates.  Mit  grossem  Eifer  und 
hingebendem  Fleisse  sucht  sowohl  die  wissenschaftliche,  als  uie  fashionable 
Haus-  und  Landscbaftsgärtnerei  diese  edelsten  Pflanzengestalten  in  ihr  Be- 
reich  zu  ziehen;  der  Nordländer  namentlich  hört  in  dem  Rauschen  ihrer  kö- 
niglichen Kronen  einen  bestrickenden  Mythusgesang  aus  weiten,  phantae 
umschleierten  Fernen;  seine  stiefmütterlich  eingekleidete  Naturumgebung  kennt 
keine  ähnlichen  Formen,  und  in  den  verwandten  Proletariern,  welche  in  der 
kalten  Zone  die  edle  Familie  vertreten,  in  den  Binsen  und  Gräsern,  vermag 
er  kaum  einen  verwandten  Zug  mit  der  fürstlichen  Sippe  zu  erkennen.  Aber 
schwer  gelingt  es  ihm,  sein  unwirthliches  Klima  dem  wählerischen  Geschlechte 
wohnlich  zu  machen;  unter  einem  wärmeren,  weicheren  Himmelsodem,  i1- 
er  über  den  nordischen  Breiten  weht,  entwickelt  die  Palme  ihren  Lebenskeim; 
da,  wo  der  Himmel  seine  glühendsten  Sonnenküsse  auf  die  Erde  haucht,  steht 
ihre  Wiege,  und  schwer  und  kümmerlich  wurzelt  die  Frucht  dieser  heissen 
Hiiomelsküsse  auf  einem  andern  Boden,  als  dem,  welchem  sie  entsprossen  ist. 

Die  Palmenheimath  liegt  zwischen  den  beiden  Wendekreisen;  sie  er- 
streckt sich  noch  einige  Grade  über  dieselben  hinaus,  jederseit-;  des  Aequator 
etwa  bis  zum  36  Br.-Gr.  Nördlich  vom  Aequator  ist  der  \\  uchs  der  Palmen 
üppiger  und  ihre  Verbreitung  zahlreicher,  als  innerhalb  der  Breiten  südlich 
vom  Aequator.  Die  Anzahl  der  Palmen  und  ihre  Grösse  und  Pracht  nimmt 
um  so  mehr  ab,  je  mehr  man  sich  vom  Aequator  gegen  das  gemässigte  Klima 
hin  entfernt;  zwischen  dem  10J  N.  und  S.  Br. ,  wo  die  scheitelrechte  Sonne 
den  Wuchs  der  Pflanzen  mächtiger  zu  sich  emporzieht,  wo  die  mit  Feuchtig- 
keit und  Wärme  gesättigte  Erde  und  Atmosphäre  die  Säfte  schwellender  und 
kraftvoller  durch  den  Pflanzenkörper  treibt,  liegt  die  Zone  des  üppigsten 
Wachsthumes  der  Palmen  und  zählt  die  Familie  gegen  300  Arten.  Das 
ächte  Palmenklima  hat  eine  mittlere  Jahreswärme  von  "20^  und  'l'l  K.  Mar- 
tins zerlegt  die  Palmenregion  in  fünf  Gürtel:  in  die  nördliche  Palmenzoue 
von  der  Nordgränze  der  Palmen  überhaupt  bis  zum  Wendekreis  des  Ki 
in  die  nördliche  Uebergangszone  von  diesem  Wendekreise  bis  zum  10  Gr. 
N.  Br.;  in  die  Hauptpalmenzone  vom  10°  N.  Br.  bis  zum  10°  S.  Br.;  in  die 
südliche  Uebergangszone  vom  10°  S.  Br.  bis  zum  Wendekreis  des  Stein- 
bockes; und  in  die  südliche  Palmenzone  bis  zur  Südgränze  überhaupt.  Die 
nördlichste  Palmengränze  bildet  in  Europa  der  43°,  in  Asien  und  Amerika 
der  34°  N.  Br. ;  die  südlichste  Gränze  findet  sich  in  Afrika  unter  dem  34", 
in  Neu-Seeland  unter  dem  38°  und  in  Amerika  unter  36°  S.  Br. 

Die  Zahl  der  Palmenarten,  welche  sich  über  diese  Kegion  zerstreuen, 
bleibt  einstweilen  noch  unbestimmbar;  die  wissenschaftliche  Erforschung  des 
Gewächsreiches  hat  sich  erst  die  neueste  Zeit  energisch  zur  Aufgabe  gestellt, 
und  der  unerschütterliche,  aufopfernde  Muth  der  Forscher,  die  Gut,  Gesund- 


38 

heit  und  Leben  an  diese  Aufgabe  gesetzt,  hat  es  in  wenigen  Jahren  dahin 
gebracht,  dass  allein  in  der  Familie  der  Palmen  die  bekannten  Arten  von  15 
auf  über  800  gestiegen  sind.  Noch  zur  Zeit  von  Linne's  Tode  waren  nicht 
mehr,  als  15  Palmenarten  bekannt;  Ruiz  und  Pavon  fügten  denselben  8  Ar- 
ten hinzu,  Humboldt  und  Bonpland  andere  20  neue  Arten  und  lernten  noch 
eine  Menge  kennen,  uhne  im  Staude  gewesen  zu  sein,  sich  die  hinreichenden 
Bestandteile  —  (Blüthe,  Frucht,  Blattscheiden  etc.)  zu  einer  genauen  Be- 
schreibung verschallen  zu  können.  Die  opferfreudigen  Reisen  und  unermüd- 
lichen Arbeiten  von  Martius,  Grifüth,  d'Ürbigny,  Blume,  Spruce,  Wallich, 
Seemann,  Karsten,  Wendlaud  und  Anderen  haben  gegenwärtig  zur  Kenntniss 
von  mehr,  als  800  Arten  geführt,  zu  denen  auch  der  Verfasser  dieses  einen 
Beitrag  von  17  neuen,  von  ihm  selbst  beschriebenen*)  und  mehreren  noch 
unbeschriebenen  Arten  geliefert  hat. 

Amerika  überbietet  alle  bekannten  Theile  der  Erde  an  Pracht  und  Fülle 
der  Pflanzenwelt,  ebenso,  wie  die  Fülle  und  Stärke  seiner  Thierwelt  gegen 
andere  Ländergebiete  zurücktritt;  in  diesem  Pflanzenreichthum  schliesst  es 
auch  die  grösste  Anzahl  und  die  erhabensten  Formen  der  Palmen  ein;  sein 
Gebiet  allein  umfasst  die  Hälfte  aller  überhaupt  bekannten  Arten.  In  der 
alten  Welt  erzeugen  die  Inseln  eine  grössere  Zahl  von  Arten,  als  das  Fest- 
land; in  der  neuen  Welt  ist  das  Verhältniss  durchaus  umgekehrt;  hier  be- 
sitzt das  Festland  über  fünf  Mal  mehr  Arten,  als  die  Inseln.  Europa  nennt 
nur  eine  einzige  Palmenform  die  seine,  die  fächerblättrige  Chamaerops  hu- 
milis,  die  an  den  Gestaden  des  Mittehneeres  und  in  Italien  selbst  bis  zum 
13  ihre  dürftige  Blattkrone  einige  Fuss  über  den  Boden  erhebt;  die  dürren, 
armseligen  Gegenden  empfangen  durch  sie  einen  geringen  Schmuck,  sowie 
die  trockne,  unfruchtbare  Erde  einen  spärlichen  Schatten  gegen  die  Sonne. 
Aus  den  Wüstenoasen  Afrika' s  nach  Europa  verpflanzt,  vegetirt  die  Dattel- 
palme noch  in  den  südlichen  Gegenden  unseres  Erdtheiles,  deren  mittlere 
Jahrestemperatur  12 — 13|°  R.  beträgt,  und  in  Spanien  erzeugt  sie  bis  zum 
39°,  in  Italien  sogar  noch  bis  zum  43  N.  Br.  reife  Früchte.  Auch  in  Ame- 
rika ist  es  eine  fach  er  blättrige  Palme,  die  Sabal  Adansonii  und  Palmetto, 
welche  die  nördlichste  Gränze  erreicht;  die  äusserste  Gränze  der  südlichen 
Halbkugel  wird  durch  fiederblättrigePalmenbezeichnet,  durch  die  in  Chile  wegen 
ihrer  essbaren  Früchte  angepflanzte  Jubaea  chilensis,  von  den  Eingeborenen 
Palma  de  miel,  Honigpalme  genannt;  ebenso  bezeichnet  die  Südgränze  der 
alten  Welt  eine  fiederblättrige  Palme,  die  strandliebende  Areca  sapida,  die 
in  Neu-Seeland  bis  zum  38°  Grade  jene  Früchte  reift,  deren  Samen  die  In- 
sulaner mit  gebranntem  Kalke  vermischen  und  in  die  Blätter  des  Betelpfcffers 
einwickeln,  um  sie  zu  kauen,  zwecks  Reizung  der  Verdauungsorgane;  der 
Nordländer  sucht  denselben  Zweck  durch  den  Taback  und  der  Süd-Amerika- 
ner durch  die  Coca  und  den  Chimö  zu  erreichen. 


*)  Linnaea,  Band  XXXIII,  lieft  VI. 


39 

Erzeugt  die  neue  Welt  auf  dem  Festlande  die  grösste  Zahl  und 
Formenmiiclitigkeit  der  Palmen,  so  bring!  dagegen  die  alte  Welt  auf 
dem  Inselgebiete  Australiens  die  riesigsten  Palmenfrüchte  hervor;  die 
sogenannte  doppelte  Cokosnuss  erregte  das  Staunen  der  Seefahrer,  und  da 
dieselbe  nur  auf  dem  Meere  in  der  Gegend  der  Malediven  gefunden  wurde, 
und  der  Baum,  der  sie  reifte,  lange  Zeit  unbekannt  blieb,  so  bemächtigte  sich 
ihrer  bald  die  Sage,  die  sie  an  einem  Baume  im  tiefen  Meeresgründe  wachsen 
liess,  von  welchem  sie  sich  loslöse  und  an  die  Oberfläche  des  Meeres  treibe; 
da  der  Glaube  sehend  macht,  so  wollte  man  auch  den  unterseeischen  Baum 
zuweilen  durch  die  klare  Spiegelfläche  des  Meeres  erkannt  haben,  wenn  er 
sich  freilich  auch  dem  Auge  der  Taucher  niemals  sichtbar  und  greifbar  zei- 
gen wollte.  Die  Frucht  erreicht  die  doppelte  Grösse  der  Cokosnuss,  bis 
4  Fuss  im  Umfange,  und  ist  nächst  dem  amerikanischen  Baumkürbis,  der 
Totuma,  der  Frucht  der  Oescentia  Cujete,  überhaupt  die  grösste  Frucht  einer 
baumartigen  Pflanze.  Seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  hat  man  die 
Herkunft  dieser  Wunderfrucht  erforscht  und  ihren  Träger  aus  dem  dunklen 
Meeresgrunde  wieder  auf  die  feste  Oberwelt  verpflanzt;  man  fand  die  Palme, 
die  sie  hervorbrachte  und  welche  La  Billardiere  Lodoicea  Sechellarum  be- 
nannte, auf  der  kleinen,  nordöstlich  von  Madagaskar  liegenden  Felseninsel- 
gruppe der  Sechellen;  nur  auf  diese  Inseln  beschränkt,  wächst  die  Palme  auf, 
unter  Brodfrucht-,  Muskatnuss-  und  Zimmtbaumwaldungen,  und  hebt  ihre 
dichte,  von  zwanzig  Fuss  langen  fächerförmigen  Blättern  zusammengesetzte 
Laubkrone  auf  einem  80—90  Fuss  hohem  Schafte  über  prächtige  Baumfarrn 
und  duftende  Schilfgräser  empor. 

Ein  derartig  beschränkter  Standort,  wie  eben  erwähnt,  findet  sich  so 
selten  nicht  unter  den  einzelnen  Gliedern  der  Palmenfamilie ;  eine  kosmopo- 
litische Natur  ist  den  Palmen  nicht  eigen;  nur  wenige*)  dehnen  ihren  geo- 
graphischen Verbreitungsbezirk  weiter  aus,  haben  diese  Verbreitung  aber  zum 
Theil  der  Kultur  zu  verdanken;  auf  beiden  Hemisphären  zugleich  lebt  nur 
die  Cokospalme;  ihr  wahres  Vaterland  ist  aber  noch  nicht  mit  voller  Sicher- 
heit ergründet  worden.  Gleich  dem  Umkreise  ihrer  Verbreitung,  ist  auch 
der  Standort  der  Palmen  eng  begränzt  und  nach  den  verschiedenen  Arten 
durchaus  verschiedener  Natur.  Nicht  der  Typus:  in  Grösse,  Form,  Mächtig- 
keit der  Belaübung  und  Fruchterz eugniss ,  und  andere  äussere  Erscheinungs- 
merkmale haften  an  gewisser  Boden-  und  Klimabeschaffenheit,  sondern  jede 
Art  wächst  unter  nur  ihr  eigenthümlichen  Bedingungen;  sie  entwickeln  in  den 
Wäldern  der  kühlen  Gebirgsregion,  ja,  über  alle  Waldzone  hinauf,  z.  B.  in  der 
Cerofylon  andicola  dieselben  gewaltigen  Dimensionen,  wie  in  den  Wäldern  der 
heissen,  schwülen  Sumpfniederungen  z.  B.  in  der  Oreodoxa  regia  und  ole- 
raeea;   andrerseits  wieder  erzeugt  die  feucht-heisse  Tropenatmosphäre  ebenso 

*)  Elaeis  melanococca :  —  Hyphaene thebaica;  —  Acrocomia  scelerocarpa;  —  Borrassus  fla- 
bellifonnis  und  die  Arenga-,  Areka-  und  Dattelpalme. 


40 

kleine,  rohrartig-  schwankende  Formen,  z.  B.  in  den  Charaaedoreen;  wie  die 
dicke,  feuchte,  kalte  Nebelluft  der  Kordillerenabhänge,  z.  B.  in  den  Morenia- 
und  Geonoma- Arten.  Etliche  Palmen  senken  ihre  Wurzeln  nur  in  den, 
vom  Meersalze  durchsetzten  Boden  der  Küstenniederungen,  während  an- 
dere tief  im  Innern  des  Binnenlandes  wohnen,  oder  hoch  über  den  Wogen 
des  Oceans  am  nackten  Fels  der  Kordilleren  hangen;  diese  flüchten  in  den 
dichten,  dunklen  Urwaldschatten,  wo  sie  entweder  unterhalb  des  dichtge- 
schlosseneu  Laubgewölbes  ihre  vegetativen  Orgaue  entwickeln,  oder,  hoch 
emporstrebend,  das  Laubdach  durchbrechen  und,  Wurzel  und  Schaft  in  den 
Schatten  bergend,  die  Laubkrone  im  heissen  Lichtglanze  der  Sonne  baden; 
jene  entziehen  auch  Schaft  und  Wurzeln  dem  feuchten  Waldboden  und  ge- 
deihen nur  zu  voller  Kraft  auf  der  kahlen,  durstig  auseinanderklaffenden, 
rothen  Erde  in  der  vollen,  ungebrochenen  Giuth  der  scheitelrechten  Sonnen- 
strahlen; etliche  wieder  leben  gesellig,  zu  Gruppen  geschaart,  sogar  kleine 
Waldparcellcn  innerhalb  der  Wälder  bildend,  während  noch  andere  alle  Gesellig- 
keit meiden,  in  stiller  ernster  Zurückgezogenheit  alle  Verwandtennähe  fliehen, 
und  selbst  aller  Pflanzengemeinschaft  entsagend,  in  einsamer,  stolzer  Majestät 
das  königliche  Haupt  zwischen  Himmel  und  Erde  wiegen. 

Am  einsamsten  und  abgeschlossensten  leben  die  Palmen,  welche  die 
vollendetsten  Stammformen  tragen;  dichte  Haufen  und  gesellige  Vereinigun- 
gen gehen  ein  die  Palmen  mit  rohrartiger  Stammform,  welche  lange,  spros- 
sende Wurzeln  horizontal  unter  der  Erdrinde  forttreiben;  kleine  Wälder  und 
Gestrüppe  bilden  meistens  nur  die  stammlosen,  d.  h.  Palmen  mit  verkürztem, 
unterirdischem  Stamme.  Das  hauptsächliche  Hindemiss  für  eine  waldartige 
Verbreitung  und  Vermehrung  der  überaus  fruchtbaren  Palmenfamilie  liegt  in 
ihren  Blumen  mit  getrennten  Geschlechte,  durch  welche  die  Ueberführung 
des  Pollenstaubes  des  männlichen  Blumenorganes  zu  der  weiblichen  Narbe 
erschwert  wird;  ferner  auch  in  der  Nachstellung  der  Früchte  durch  zahlreiche 
Thiere,  die  auf  ihre  Nahrung  angewiesen  sind,  wie  durch  die  Ausnutzung 
Seitens  des  Menschen  selbst.  Nur  dann,  wenn  die  Kultur  durch  Anpflan- 
zung künstliche  Palmenwälder  schafft,  erhält  die  Landschaft  lediglich  durch 
die  Palme  ihren  Ausdruck,  entstehen  wirkliche  Palmenlandschaften,  wie: 
Kokos-,  Oel-,  Pfirsich-,  Dattel-,  Zucker-,  Katechupalmenhaine  u.  a.  m.  Nichts 
Erhabeneres  aber  kann  die  Landschaft  hervorbringen ,  als  den  Palmenhain ; 
wie  ein  Gotteshaus  nimmt  er  den  Eintretenden  auf  mit  tiefem  Schweigen, 
feierlicher  Ruh1;  um  die  Stirne  des  in  sich  Gekehrten  wölben  sich  die  stum- 
men, ernsten  Säulenhallen;  schlang  empor  streben  die  Stammsäulen,  voll- 
kommen gleichmässig  eine,  wie  die  andere;  auf  der  zugespitzten  Säule  ruhen 
in  schwindelnder  Höhe  die  kuppeiförmigen,  buschigen  Laubkronen ;  alle  ein- 
zelnen Laubkuppeln  fügen  sich  wellenförmig  in  ein  einziges  Laubgewölbe 
zusammen,  das,  von  einem  schlanken,  ebenmässigen  Stammgerüste  getragen, 
leicht  auf  dessen  Spitzen  schwebt  und  wiederglänzt  im  heissem  Gold  der 
Sonnenstrahlen;  gedämpftes  Lieht  füllt  die  stillen  Hallen,  aber  nicht  das  Licht 


41 

einer  stockenden,  licht  armen  Dämmerung,  sondern  dae  Licht  der  ewigen 
Vesta,  die  ihre  blendende,  sengende  Gluth  mystisch  in  den  durchsichtigen, 
reich-dämpfcnden  Schoss  der  Edelkrystalle  birgt.  Der  Mittag  treibt  über  das 
Meer  landeinwärts  ein  leichtes  Wehen  der  lauen  Lüfte;  leise  beugen  sich 
dem  sanften  Hauche  die  elastischen  Säulen;  vispernde  flüsternd*  Stimmen 
regen  sich  in  der  schwebenden  Laubwolke;  ein  träumerischer  Mährchenton 
zittert  durch  die  Mittagschwüle;  die  überschwängliche  Lichtfülle  der  Tropen- 
mittagssonne schwimmt  im  heissen,  blendenden  Glänze  auf  dem  glattgedehn- 
ten  Meeresspiegel  und  dem  grünen  Firnisse  der  Palmenkuppeln;  es  neigt 
sich  der  lichtquelleude  Feuerball  tiefer  und  tiefer  zum  Horizonte;  stärker 
weht  die  Briese  über  das  rauschende  Meer,  und  auf  den  elastisch  schwan- 
kenden Säulen  hebt  und  senkt  sich,  wie  das  ruhig-wogende  Meer,  das  wo- 
gende Laubdach  der  Säulenhallen;  wie  ein  Ton  der  Orgel  rauscht  und  raunt 
es  unter  dem  flüsternden  Gewölbe;  fallende  Früchte  sausen  hin  und  wieder 
durch  die  tönende  Dämmerung,  schnellen  elastisch  vom  Bodeu  auf  und  ge- 
langen mit  Sprüngen  dumpfen  Schalles  weiter,  bis  die  Wucht  des  Falles  erlahmt 
und  wieder  jeder  ungewöhnliche  Ton  verstummt.  Nur  der  Kolibri  schwirrt 
und  summt  im  schimmernden  Geschmeide  seines  Gefieders  aus  und  ein  durch 
das  bewegliche  Laubgewölbe,  sonst  findet  kein  Vogel  in  dem  ast-  und  zweig- 
losen Blattbaume  dauernd  Sitz  und  Nest.  —  So  wirkt  die  Palmen  1  an  d- 
schaft;  aber  die  Wirkung  äussert  sich  mehr  feierlich-erhebend,  als  vertrau- 
lich zu  dem  Menschen  redend;  sie  athmet  jene  annäherungslose,  Zurückhaltung 
gebietende  Hoheit,  welche  alles  über  das  Gewöhnliche,  Allgemeine  Empor- 
gehobene an  seiner  Stirne  trägt. 

Wirksamer  aber,  als  aus  der  Gesellschaft,  tritt  aus  dem  Individuum  der 
Palme  volle  Gestalt  und  Gewalt  hervor;  wenn  sie  einsam  steht,  ihre  ganze 
Individualität  zur  Geltung  kommt;  wenn  sie,  unbeeinträchtigt  durch  alle 
störende  und  hemmende  Umgebung,  in  voller  Freiheit,  ganz  nach  eignem 
Triebe  ihre  schönen  Formen  bauet;  wenn  sie,  abgeschlnssen  aus  dem  chaoti- 
schen Lebensdrange  der  Pflanzenwelt,  wie  eine  auserwählte  Erscheinung, 
welche  einst  der  kindliche  Glaube  jugendlicher  Völker  mit  dem  Geiste  Gottes 
belebte,  emporstrebt  zu  dem  reinen,  feurigen  Lichtstrahle,  der  sie  aus  dem 
Keime  erweckt;  wenn  allein  nur  ihre  Gestalt  sich  aus  dem  malerischen 
Farbeneffekte  der  Tropenatmosphärc  in  unverwischbaren  Umrissen  abhebt, 
alle  Pflanzenumgebung  gleichsam  in  ehrfurchtsvoller  Scheu  zurücktritt;  oder 
wenn  sie  von  steiler,  kahler  Felsenhöh',  wo  keine,  als  nur  ihre  Wurzel  Ein- 
gang findet,  einsam  niederblickt  in  das  stronidurchrauschte  Thal,  still  und 
unbeweglich  oder  leicht-  hin-  und  widerwiegend  hinablauscht  zu  der  Meeres- 
brandung am  Fuss  der  schroffen  Felswand,  die  sie  emporhebt,  wie  auf  einem 
Altare,  zu  der  leichten,  sonnigen  Aetherbläue,  fest,  wie  der  starke,  unbeug- 
same, unsterbliche  El,  gegen  Sturm  und  Regen  und  Meeresbrandung:  —  dann, 
ja  dann  hebt  der  Palme  Anblick  die  Menschenseele  zur  Andacht  empor! 

Jedoch,  so  gross  und  gerecht  auch  das  Lob  ist,  zu  welchem  die  äussere 


42 

Erscheinung  und  die  ausgezeichneten  Eigenschaften  der  Palmengewächse  die 
Betrachtung  fortreissen,  es  würde  doch  übertrieben  sein,  dies  Lob  über  alle 
Beziehungen  auszudehnen;  trotz  alle  und  alle  dem  wandelt  es  sich  dennoch 
schöner,  wenigstens  gefahrloser  unter  Buchen  und  Eichen,  als  unter  Palmen. 
Das  geflügelte  Wort  der  Alten:  „Niemand  wandelt  ungestraft  unter  Palmen!" 
hat  eine  so  inhaltsschwere  Bedeutung,  dass  es  als  Redefigur  auf  alle  Lebens- 
verhältnisse übertragen  worden  ist;  weise  nahm  die  Natur  Bedacht  darauf, 
dass  sie  jeder  Erdregion  ihre  besondren  Vorzüge  und  ihre  besondren  Nach- 
theile verlieh,  denn  nimmermehr  hätte  eine  freiwillige  Vertheilung  der  Bewoh- 
ner über  den  ganzen  Erdball  stattgefunden,  wenn  es  nicht  von  jeher  überall 
Vorzüge  und  Nachtheile  auszugleichen  gegeben  hätte.  Wo  das  hellste  Licht, 
da  auch  der  tiefste  Schatten;  das  Wandeln  unter  Palmen  schliesst  eine  zwie- 
fache Gefahr  in  sich:  Gefahr  für  die  leibliche  und  Gefahr  für  die  sittliche 
Gesundheit;  ging  auch  von  der  Palmenheimath  die  erste  Menschengesittung, 
der  erste  Morgenstrahl  der  geistigen  Freiheit  aus,  so  gab  sie  doch  immer 
nur  den  ersten  Anstoss  znr  Bewegung  der  intellektuellen  Kräfte;  ward  dieser 
Anstoss  nicht  fortgetragen  von  anderen  kräftigen  Bildungselementen,  so  würde 
die  treibende  Kraft  sich  verloren,  die  Bewegung  still  gestanden,  der  Grund- 
stein keinen  Aufbau,  der  Bau  kein  Dach  und  Fach  gefunden  haben.  Die 
Heimath  der  Palmen  bettet  den  physischen  Menschen  in  Ueberfluss;  Ueber- 
tluss  aber  ist  kein  Hebel  der  Menschengesittung;  nur  der  Stachel  der  Sorge, 
der  Arbeit  und  Spekulation  treibt  die  Bildung  weiter  von  Stufe  zu  Stufe, 
weil  er  die  Menschengemeinde  rastlos  und  unerbittlich  zwingt  zur  Zusammen- 
raffung aller  ihrer  Kräfte.  Und  gleissnerisch  ist  der  goldene  Schmelz  der 
Lüfte,  der  glänzend  auf  dem  grünen  Firniss  der  Palmen  schwimmt;  unter  dem 
Entzücken  der  Sinne  und  Seele  bleicht  die  Wange  und  erschlaffen  die  Glie- 
der Derer,  welche  die  Natur  nicht  zu  Erben  jener  Reize  eingesetzt  hat. 
Aber  auch  der  Mensch,  dessen  Wiege  unter  Palmen  steht,  entgeht  nicht  der 
Sühne  überschwänglichen  Genusses;  Gift  und  Tod  verbirgt  sich  unter  dem 
glänzenden  Farbenkleide  der  Thier-  und  Pflanzenwelt;  Marter  und  Siechthum 
stäubt  in  winzigen  Organismen  und  unsichtbaren  Gasen  durch  den  Farbenduft 
der  Atmosphäre,  und  so  gross  die  Natur  ihre  Werke  gestaltet,  so  elend  und 
klein  gestaltet  sich  und  seine  Werke  der  Mensch  unter  den  Palmen.  — 

Im  Allgemeinen  knüpft  sich  an  die  Palmengewächse  die  Vorstellung  von 
einem,  über  das  gesammte  Gewächsreich  an  riesigen  Dimensionen  hervorra- 
genden Pflanzenwuchs;  jedoch  diese  Vorstellung  ist  nicht  zulässig  für  das 
ganze  Geschlecht  der  Palmen;  mehrere  Arten  bilden  nur  ein  kleines  Ge- 
strüpp, audere  bleiben  über  der  Erde  ganz  stammlos  und  gleichen  in  ihrer 
äussern  Erscheinung  Staudengewächsen,  und  noch  andere  klettern,  schlingen 
und  winden  sich  sogar  rebenartig  durch  das  dichte  Waldgehege. 

Die  Palmen  sind  holzige,  ausdauernde  Gewächse;  die  Bezeichnung  Baum 
für  das  ganze  Ptlanzengerüst,  und  Stamm  für  den  blatttragenden  Theil  des- 
selben ist  botanisch  nicht  korrect-  auch  die  höchste  Palme  ist  nur  ein  schein- 


4.3 

barer  ßuiim,  ihr  Stamm  physiologisch  dem  Grashalme  oder  Lilienstengel  ver- 
wandter, als  dem  Baumstamme;  die  eigentümliche  Anordnung  des  verholz- 
ten Gewebes  in  Stammform  wird  Stock  oder  Stocks ta mm  (Caudex)  ge- 
nannt. Die  Entwicklungsweise  ihrer  vegetativen  Organe  stellt  die  Palme  in 
die  grosse  Abtheilung  der  Monokotyledonen  oder  Endogenen  des  natürlichen 
Systems,  die  auch  alle  Lilien-,  Pisang-,  Schill-  und  Rohrgewiich.se,  die  Bin- 
sen, Gräser,  Orchideen  und  Pandaneen  umfasst;  in  dem  Samen  aller  dieser 
Gewächse  liegt  der  Keimling  nur  in  einem  Keimblatte  oder  Samenlappen 
eingebettet. 

Die  Entwicklung  des  Stockstammes  der  meisten  Palmen  beginnt  meh- 
rere Fuss  unterhalb  der  Erdoberfläche;  wenn  sich  der  Stock  überhaupt  nicht 
über  den  Boden  erhebt,  dann  kriecht  er  entweder  horizontal  unter  der  Erd- 
rinde fort  oder  verkürzt  sich  in  senkrechter  Lage  mit  dicht  über  einander 
zusammengedrängten  Blattinternodien.  Der  Stock  verdickt  sich  bereits  im 
Boden  bis  zum  Durchmesser  der  ausgewachsenen  Palme,  bevor  das  Höhe- 
wachsthum  beginnt;  die  ursprüngliche  Haupt-  (Pfahl-)  Wurzel  verschwindet 
bald  und  wird  durch  eine  Menge  von  Nebenwurzeln  ersetzt;  dieser  dicht 
durcheinandergefloehtene,  tief  eindringende  und  weit  ausgebreitete,  durch  ein- 
geschwemmte Erde  fest  zusammengeballte  und  in  den  Grund  gekittete  Wur- 
zelbüschel giebt  dem  aufsteigenden  Stockstamme  trotz  der  fehlenden  Pfahl- 
wurzel seine  Haltbarkeit  und  befähigt  auch  den  höchsten  Palmenstamm,  die 
ganze  Last  seines  ausgewachsenen  Gerüstes  zu  tragen  und  den  heftigsten 
tropischen  Gewitterstürmen  zu  trotzen.  Bei  seiner  Streckung  in  die  Länge, 
oder  Höhe,  nimmt  der  Palmenstamm  —  gemäss  seiner  Entwicklungs -  und 
Wachsthumsweise  —  niemals  mehr  an  Umfang  zu;  aus  seiner  Spitze  ent- 
stehen fortwährend  von  unten  nach  oben  die  Blätter;  die  Internodien  zwischen 
den  einzelnen  Blattanhaftungspunkten  —  den  Achsenknoten  —  strecken  sich 
mit  dem  Höhenwachsthume  des  Stockstammes  in  die  Länge;  die  unteren 
Blätter  lösen  sich,  parallel  mit  der  fortlaufenden  Neubildung  an  der  Spitze 
absterbend,  vom  Stocke  ab  und  hinterlassen  an  ihrem  frühern  Anheftungs- 
punkte  kreisförmige  Narben;  gewöhnlich  sitzen  die  grossen  Blätter,  zu  einem 
dichten  Schöpfe  vereinigt,  mit  verkürzten  Internodien  der  Spitze  —  der  Ter- 
minalknospe —  des  Stockes  auf,  in  jener  Blattstellung,  welche  Zollinger  als 
Schopfvegetation  in  der  Physiognomik  der  Landschaft  bezeichnet;  zuweilen 
aber  umstellen  die  Blätter  den  Stock  der  ganzen  Länge  nach  mit  weit  ge- 
streckten Internodien,  namentlich  bei  den  kletternden  Palmen.  Während  der 
Baum-  (Holz-)  Stamm  gleichzeitig  in  die  Länge  und  Dicke  fortwächst,  um 
die  innere  Gewebeschicht  eine  äussere  Schicht  anlegt,  und  diese  Verdickungs- 
schichten  später  deutlich  als  geschlossene,  concentrische,  sogenannte  .Jahres- 
ringe erkennen  lässt,  gestattet  die  Anordnung  und  Entwicklung  der  G< 
dem  Palmenstamm  eine  unbegränzte  Verlängerung,  aber  keine  Verdickung; 
die  durchkreuzende  Richtung  der  innern  und  äussern  Gefassbündel  lässt  auf 
der    transversalen  Durchschnittsfläche    des    Palmenstammes   die   Gefassbündel 


regellos  durcheinander  gestreut  erscheinen.  Holz  und  Mark  sind  nicht  deut- 
lich gesondert,  eine  eigentliche  Kinde  ist  nicht  vorhanden,  denn  die  soge- 
nannte Rindenschicht  ist  nicht,  wie  bei  dem  Holzstamme,  eine  eigne,  vom 
Marke  und  Holze  gesonderte  Schicht,  sondern  nur  die  äusserste,  aus  ge- 
streckten, engen  Zellen  bestehende  Lage  des  Stockstammes,  welche  oft  zu 
einem  sehr  festen  Holze  erhärtet;  daher  ist  der  Stockstaruin  im  Umlang  am 
härtesten  und  in  der  Mitte  weicher,  oft  schwammig,  während  bei  dem  Holz- 
stamme das  umgekehrte  Yerhältniss  stattfindet.  Der  Palmenstamm  erscheint 
bald  walzenförmig  und  ungetheilt,  bald  auch  mehr  oder  weniger  gabelförmig 
getheilt;  bei  einigen  Arten  hat  er  einen  Durchmesser  von  3  —  5  Fuss,  bei 
andern  kaum  j  Zoll;  hier  ist  er  glatt  und  hell  polirt,  dort  rauh  und  mit  kreis- 
förmigen Narben  umstellt;  diese  starren  in  einer  Rüstung  von  langen,  spitzen, 
harten  Stacheln,  jene  umhüllen  sich  mit  einem  weichen  Flaum  von  haarähn- 
lichen Fasern  oder  umkleiden  sich  mit  einer  dünnen  Wachsschicht.  Eine 
Verästelung  des  oberirdischen  Stockes  zeigen  nur  die  kletternden  Arten ;  eine 
gabelige  Verzweigung  ihrer  baumartig  aufstrebenden  Stämme  nur  die  Arten 
Hyphaene  the  baica,  Borassus  flabelliformis  und  Geonoa  mramosa;  zuweilen  tritt 
eine  krankhafte  Verästelung  auf  nach  Zerstörung  der  Stockspitze  —  der 
Gipfelknospe  —  durch  den  dreihörnigen  Riesenkäfer  Neptunus,  der  nach  dem 
zuckerhaltigen,  aufsteigenden  Frühlingssafte  lüstern  ist. 

Genau  dem  Zweckmässigkeitsgesetze  und  der  Entwicklungsbestimraung 
der  Pflanze  entsprechend,  geht  der  Keimungsprozess  des  Palmensamens  ver- 
schiedenartig vor  sich.  Der  Samenkern  aller  Palmen,  der  aus  ölig-hornigem 
Eiweisse  besteht,  besitzt  eine  sehr  geringe  Widerstandsfähigkeit  gegen  äussere 
Einwirkungen;  die  geringste  Zersetzung  oder  Verletzung  dieses  Eiweisskör- 
pers  würde  das  Leben  der  jungen  Pflanze  zerstören,  die  aus  ihm  ihre  Nah- 
rung bezieht;  darum  umschloss  ihn  die  weise  Natur  mit  einer  Schutzhülle, 
der  Samens  chaale,  die  niemals  beseitigt  wird,  da  ,das  Eiweiss  in  keiner 
Feuchtigkeit  aufquillt  und  also  nicht  mit  sprengender  Kraft  gegen  die  Samen- 
sehaale andrängt.  Um  den  Keimling  zur  Zeit  des  Keimens  zu  entlassen, 
öffnet  sich  an  der  festen,  ringsum  geschlossenen  Hülle  ein  kleines  Deckel- 
chen, das  unmittelbar  dem  Würzelchen  des  Embryo  von  genau  dem  gleichen 
Durchmesser  desselben  gegenüberliegt;  der  Keimling  tritt  durch  die  Oeffnung 
dieses  vor  seinem  Wurzelende  hergeschobenen  Deckelchens  aus  der  um- 
schliessenden  Hülle  frei  heraus  und  entfaltet  sich,  mit  dem  nährenden  Ei- 
weisskerne  durch  einen  Strang  in  Verbindung  bleibend,  weiter  seiner  Be- 
stimmung gemäss.  Dieser  Verbindungsstrang  —  der  verlängerte  Samenlappen- 
stiel —  versenkt  nur  den  Keim  tief  unter  die  äussere,  trockene  Erdrinde, 
um  in  dem  feuchten  Grunde  seine  Lebenkraft  vor  der  langen  Sommerdürre 
zu  schützen;*)  —  oder  versenkt  ihn  nur  flach,    weil   die  anhaltende  Feuch- 


*)  Hyphacue;  Copemicia;  Phytelephas;  Chamaerops;  Phoeuix;  Attalea;  Arenga  etc. 


45 

tigkeit  des  Waldbodens  das  Keimpflänzchen  zerstören  würde. *)  —  oder  er 
hebt  den  Keim  ganz  über  den  Boden  empor,  um  das  zarte  Pflänzchen  der 
übergrossen  Nässe  eines  in  der  Regenzeit  überschwemmten  Bodens  zu  ent- 
ziehen, das  alsdann  zahlreiche  Nebenwurzeln  in  den  Boden  hinabwirfi  und 
aber  denselben  aufgestützt  wird,  sodass  endlich  der  ausgewachsene,  oft  200 
Fuss  hohe  Palmen  stamm  von  einem  Stelzengerüste  strebepfeilartiger  Luft- 
wurzeln hoch  über  den  Boden  —  bis  12  Fuss  hoch  —  emporgehoben  ist;**) 
—  oder  der  Strang  verlängert  sich  überhaupt  nicht,  und  der  hervortretende 
Keim  verharrt  neben  der  Fruchtschale,  da  die  junge  Pflanze  die  Bewurzelang 
in  einem  meist  weicheren  und  gleichmässiger  durchfruchteten  Boden  in  einem 
einfacheren  Entwicklungsprozess  erreicht.f)  --  Demnach  würde  die  Familie 
der  Palmen  nach  dem  Keimungsprozesse  in  4  unterscheidbare  Gruppen  zer- 
fallen: 1)  in  Gruppen  mit  verlängerten,  tief  in  die  Erde  eindringenden  Sa- 
menlappenstrange; 2)  in  Gruppen  mit  einseitig  -  stolonenartigem  Aufwärts- 
wachsen der  Stammachse;  3)  in  Gruppen  mit  stelzenartig  den  Stock  empor- 
hebenden Luftwurzeln;  4)  in  Gruppen  ohne  verlängerten  Samenlappenstrang.  - 
An  dem  oberirdischen  Palmenstamm  lassen  sich  vier  verschiedene  For- 
men unterscheiden;  die  einfachste  Form  ist  rohrartig;  der  Stock  erhebt 
sich  dünn  und  schlank  in  der  Gestalt  der  baumartigen  Gräser  zwischen  2 
bis  25  Fuss  hoch;  er  ist  im  Innern  mit  weichem  Marke  erfüllt  und  trägt 
etwa  4-fi  einfache  Blätter  in  je  10  Linien  Entfernung  von  einander.  Eine 
zweite,  höhere  Form  ist  die  säulenartige,  die,  wenu  auch  noch  dünn,  doch 
frei  emporstrebt;  die  Blätter  ruhen  mit  weit  gestreckten  Internodien  auf  hohen, 
an  der  Basis  erweiterten  und  die  Internodien  umfassenden  Blattstielen,  - 
auf  einer  der  Spitze  des  Stockes  aufgesetzten  grünen  Säule  von  umeinander 
gerollten  Blattstielen.  Die  dritte  Form  ist  cylindrisch;  der  Stockstamm 
steigt  immer  höher  auf  und  trägt  an  seiner  Spitze  einen  dichten  Schopf  von 
zahlreich,  oft  bis  an  300  zusammengedrängten  Blättern.  Die  vierte,  vollen- 
detste Form  zeigt  der  cokosartige  Stockstamm;  er  allein  erreicht  die  Kraft 
und  Härte  des  Holzstammes,  da  er  aus  starken,  holzartigen  Grefässbündeln 
aufgebauet  ist.  —  Je  nach  der  Art  und  Weise,  wie  sich  die  untersten,  nach 
und  nach  absterbenden  Blätter  ablösen,  erhält  der  Palmenstamm  seine  eigen- 
thümliche  Zeichnung:  er  erscheint  geringelt  von  den  Narben  der  frühern 
Anheftungspunkte,  wenn  die  Blattstiele  der  kreisförmig  oder  dicht  spiralig  ge- 
stellten Blätter  sich  völlig  —  an  ihrem  Anheftungspunkte  —  ablösen;  er 
wird  schuppig,    wenn   die   erweiterte  Basis  des  Blattstieles  —  die  Vagina 


♦)  Bei  Klopstockia;  Diplothemia;  Sabal;  Acrocomia;  Trinax    Elaeis  melanococca  wächst  so- 
gar dauernd  in  dieser  Weise  fort. 

"*)  Iriartea;  Socratea;  Deckeria  etc. 

fj  bei  den  kletternden  (Jalamus  und  Desmoncus;  den  rohrartigen  Palmen  der  Bactris,  Hai 

tinezia,  Pyrenoglyphis,  den  Geonomen,   Chamaedoreen,   Euterpe,  Oenocarpus,  Guielielma,  I 

doxa,  Sagus  und  Cocos.  — 


4t> 

am  Stamme  haften  bleibt;  er  bekleidet  sieh  mit  einem  faserig-filzi- 
gem Gewebe,  wenn  diese  schuppen  artigen  Blattstielüberreste  bis  auf  die 
/.alleren  Pasern  verwittern;  oder  er  bewaffnet  sich  mit  harten,  spitzen 
[)nrnen stacheln,  wenn  die  untersten,  mit  den  ßlattstielscbeiden  zusammen- 
hangenden Anhängsel  — -  ursprünglich  verkümmerte  Blattorgane  nicht 
hinfällig  sind.  — 

Einfach  nnd  gleichartig  übereinstimmend,  wie  der  Bau  des  Stockstammes, 
ist  auch  der  Blattbau  der  Palmen,  und  diese  Einförmigkeit  in  dem  gesamm- 
ten  Aufbau  bewirkt  die  typische  Aehnlichkeit  der  Palmen  unter  sich  und 
ihren  Typus  überhaupt.  Die  Blattfläche  wird  von  einem  langen  Blattstiele  ge- 
tragen, der  mit  seiner  röhrenförmig  erweiterten  Basis  —  der  Vagina  —  den 
Stockstamm  an  seinem  Anheftungspunkte  ganz  oder  fast  ganz  umfasst;  mitten 
durch  ilie  lang  gestreckte  Blattfläche  zieht  sieh  ein  starker  Mittelnerv,  auch 
Mittebippe  genannt,  von  welcher  nach  jeder  der  beiden  Seiten  parallele 
Adern  --  Seitennerven  —  abzweigen.  Das  ist  der  Grundbau  des  Blattes  für 
alle  Palmenarten,  auf  welchem  sich  alle  Formmodifikationen  vollziehen.  Bei 
einigen  Arten  (Geonoma,  Bactris)  bleibt  die  Blattfläche  unzertheilt;  bei  den 
meisten  Arten  (Cocostypus)  theilt  sich  die  Blattfläche  zu  beiden  Seiten  der 
Mittelrippe  in  verschiedene,  längliche  Segmente,  sogenannte  Fiederblättchen, 
und  wird  dadurch  gefiedert;  eine  nochmalige  Theilung  der  Segmente  um 
deren  Mittelnerv,  ein  doppelt  gefiedertes  Blatt,  zeigt  nur  eine  einzige  von 
den  bis  jetzt  bekannten  Palmen,  die  Gattung  Caryota.  Das  —  einfach  oder 
doppelt  gefiederte  —  Blatt  wird  der  ganzen  Länge  nach  durch  die  Mittelrippe 
in  zwei  gleiche  Hälften  getheilt;  verkürzt  sich  die  Mittelrippe,  durchläuft 
sie  nur  einen  Theil  der  Blattfläche  oder  mündet  sie  nur  ein  wenig  in  die- 
selbe ein,  so  krümmt  sich  die  Blattflache  mit  den  gefalteten  und  mehr  und 
minder  tief  ausgeschnittenen  Sgmeenteu  in  einen  kreisrunden  Bogen  um  den 
Endpunkt  des  Mittelnerves;  dadurch  entsteht  das  gefächerte  Blatt,  so  genannt 
nach  seiner  Aehnlichkeit  mit  einem  auseinandergebreiteten  Fächer;  diese 
Form  ist  die  seltnere,  etwa  in  dem  Verhältnisse  von  1  :  7  unter  allen  bekann- 
ten Palmen.  Das  geliederte  Blatt  variirt  noch  darin,  dass  alle  seine  Segmente 
in  einer  Ebene  liegen,  eine  glatte  Fläche  bilden,  kammartig  mit  steifer  Textur 
nebeneinander  sitzen  und  auf  spiegelndem,  glattem  Grunde  das  glänzende 
Sonnenlicht  reflectiren;  oder  dass  sie  der  Mittelrippe  unter  verschiedenem 
Winkel  angeheftet  sind  und  sich  mit  biegsamer,  schilfartiger  Textur  durch- 
einauderkräuseln. 

Alle  Palmenblätter  haben  ein  pergament-zähes,  hartes  Gewebe,  stehen 
abwechselnd  in  aufsteigender  Spirale  um  den  Stockstamm  und  erreichen  bei 
manchen  Arten  kolossale  Dimensionen,  oft  50  Fuss  Länge  und  8  Fuss  Breite, 
also  ziemlich  die  Höhe  eines  kleinen  Dorfkirchthurmes;  das  Gewicht  eines 
solchen  Blattes  nimmt  alle  Tragkraft  eines  starkes  Mannes  in  Anspruch.  Der 
Blattschopf  ist  bald  kugelförmig,  bald  halbkugelfürniig  gewölbt,  bald  ziemlich 
aufgerichtet    mit    etwas    übernickeuden  Blattspitzen.     Aus    dem  Scheitel   des 


47 

Schopfes'  s<  hicl)1  sich  ein  junges  Blatt  nacli  dem  an  dem  rail  zusammenge- 
falteten Segmenten,  wie  ein  Pfeil,  hervor,  lockert  allmählich  seineu  Fieder- 
busch und  neigt  sich,  bogenförmig  geschwungen,  in  den  gewölbten  BlattschopJ 
zurück,    während   an    seiner  Basis    bereits    ein    neuer  junger  Blattpfeil    dem 

locken  den    1 1  inline!  suchte   entgegcn8trebt. 

Wahrend  so  an  der  Spitze  des  Palmenstammes  Bich  in  fortdauerndei 
Folge  Blatt  auf  Blatt  entfaltet,  schieben  sich  nach  einem  gewissen  Alter  des- 
selben aus  den  Achseln  der  altern  Blätter  die  Blüthenzweige  Kolben  — 
heraus;  dieselben  sind  dicht  übersäet  mit  unzähligen  kleinen  weissen,  gel 
Leu,  grünlichen  oder  röthlichen  Blümchen;  entweder  ist  der  Kolben  unver- 
ästelt,  oder  er  verzweigt  sich  ähreu-,  trauben-,  oder  straussförmig;  so  un- 
scheinbar und  winzig  auch  die  einzelne  Blume,  so  wirkt  doch  die  Zusammen- 
häufung  von  vielen  tausenden  derselben  auf  einem  Kolben  höchst  malerisch; 
sonnenartig  strahlen  die  goldgelben  Blüthenzweige  unter  der  schattenden  Laub- 
kuppel auseinander,  oder  sie  wachsen  wie  ein  riesiger  schneeweisser  Strauss 
in  leichter,  anmuthiger  Haltung  durch  die  schwere  Wölbung,  oder  die  nieder- 
hangenden, steifen  Traubenzweige  legen  sich  tressenartig  an  den  platten. 
dunklen  Firniss  des  holzigen  Stammes  an,  und  viel  weiter,  als  die  gold-  und 
silberklaren  Farben  leuchten,  durchquiilt  der  honigsüsse  Duft  das  grüne  Meer 
der  Wälder,  die  leichte  Fluth  der  Lüfte.  --  Ein  einziger  Kolben  trägt  viele 
Tausende  von  Blumen,  ein  Dattelkolben  bis  12,000;  die  Mandelpalme  des 
Magdalenen-Stromes  —  Attalea  amgydalina  —  bis  zu  207,000;  die  Sagus- 
palme  —  Sagus  Rumphii  —  gegen  208,000  Blumen;  es  blühen  aber  mehrere 
Kolben:  2,  4,  6  zu  gleicher  Zeit  an  einer  Palme,  so  dass  eine  einzige 
Palme  oft  über  eine  Million  von  Blumen  zu  einer  Zeit  erschliesst.  Aber 
nur  ein  geringer  Theil  dieser  Blumenfülle  ist  zur  wirklichen  Fruchterzeugung 
bestimmt;  die  zahlreichen  männlichen  Blumen  welken  und  fallen  ab  sofort 
nach  der  Entlassung  des  Pollenstaubes,  und  von  den  iu  geringer  Minderzahl 
vorhandenen  weiblichen  Blumen  wird  wiederum  nur  eine  geringe  Minderzahl 
wirklich  befruchtet. 

Die  Blätter  der  Blüthenzweige  entwickeln  sich  nicht  normal;  sie  bilden 
sich  um  zu  kleinen  Schuppen,  und  die  unteren  erweiteren  sich  zu  einer  dü- 
tenförmigen,  holzigen  oder  lederartigen  Hülle,  der  Blüthenscheide,  Spatha,  die 
den  ganzen  Blüthenzweig  bis  zu  seiner  völligen  Ausbildung  einschliesst  und 
ihn,  wie  im  Mutterschoose,  gegen  schädliche,  äussere  Einwirkungen  bewahrt. 
Bei  einigen  Arten  theilen  4 — 5  und  mehr  solcher  Scheiden  diese  mütterliche 
Hütung,  jedoch  gewöhnlich  so,  dass  nur  einige  oder  wenige  derselben  die 
Grösse  des  Blüthenstandes  erreichen  und  denselben  ganz  einschliessen,  wäh- 
rend die  oberen  sich  mehr  und  mehr  verkürzen  und  sich  einander  gegen- 
seitig theilweise  umhüllen  und  stützen.  Je  nach  dem  Umfange  der  einge- 
schlossenen Infloreszenz  erreichen  manche  Blütheuscheiden  bedeutende  l>i- 
mensioneu,  anfangs  stehen  sie  aufrecht  in  deu  Blattwinkeln,  beugen  sich  mit 
zunehmender  Schwere  und  Anschwellung  des  umschlossenen  Kolbens  allmuh- 


48 

lieh  niederwärts  and  hangen  endlich  gleich  langen,  zugespitzten  Keulen  schwer 
nach  unten,  gegen  den  Stamm  gekehrt.  Nun  aber  erfasst  der  Hochzeitsrausch, 
der  Drang  und  die  Sehnsucht  nach  Licht  und  Freiheit  die  gehüteten,  zarten 
Blumen,  so  dass  die  feste  Umhüllung  nicht  länger  dem  ungestümen  Andränge 
zu  widerstehen  vermag  und  plötzlich  mit  lautem  Schalle  auseinander  spaltet;, 
ein  ganzer  Blumengarten  entsteigt  duftend  dem  geöffneten  Schosse,  willkom- 
men geheissen  vom  goldnen  Lichte  und  Schwärmen  summender  und  funkeln- 
der Insekten,  welche  der  weilirauchartig  aufsteigende  Blumenstaub  naschlustig 
herbeigelockt. 

Die  Blüthenscheiden  wechseln  in  allen  Grössen  je  nach  den  Palmen  arten 
zwischen  zwei  Zoll  bis  mehreren  Fuss  Länge;  die  Scheide  der  Oreodoxa  re- 
gia und  oleracea  wird  gegen  8  Fuss  lang.  Die  eingeborenen  Landleute  be- 
nutzen die  grossen  Scheiden  zu  verschiedenen  Hausgeräthen;  sie  bewahren 
darin,  wie  in  einem  Fasse,  ihre  Mais-  und  Reisvorräthe,  stellen  sie  als  Was- 
ser- und  Futtertrog  vor  die  Thüre  oder  als  Behälter  ihrer  eignen  Speisen  in 
die  Küche;  ja,  sie,  die  einst  geheimnissvoll  die  Erweckung  und  Entwicklung 
des  Palmenlebens  umschlossen,  nehmen  nun  als  schaukelnde  Wiegen  das 
höchste  und  heiligste  Geheimniss  der  Natur:  —  die  erweckte  Frucht  der 
Menschenliebe,  auf. 

Ob  auch  nur  ein  verschwindend  kleiner  Theil  von  dem  fruchtragenden 
Blumen  am  Leben  bleibt,  so  beugt  sich  dennoch  der  reifende  Kolben  unter 
einer  Last  von  schwer  und  dicht  zusammengehäuften  Früchten;  die  Frucht- 
traube einer  Scheelea  trägt  etwa  900  -  1000  hühnereigrosse  Früchte  und  wiegt 
etwa  120  Pfund;  die  kleinen  kirschsteingrossen  Früchte  der  Oreodoxa  sitzen 
zu  vielen  Tausenden  an  einem  Strausse;  an  einer  einzigen  Traube  der  Seje- 
palme  des  Orinoko  kann  man  bis  8000  Früchte  zählen.  Das  Fruchtprodukt 
der  Palme  ist  nuss-  oder  beerenartig;  die  äussere  Membran  der  Frucht 
zeigt  alle  Farben;  in  dem  Yerhältniss  zu  den  Dimensionen  ihrer  Träger  sind 
die  Früchte  verschwindend  klein,  bei  vielen  Arten  nur  erbsengross;  die  Co- 
kosnuss  ist  die  einzigste  grosse  Palmenfrucht,  und  die  sogenannte  doppelte 
Cokosnuss  der  Sechellen  nächst  der  Crescentiafrucht  die  grösste  aller  Baum- 
früchte überhaupt.  Martins  benutzte  besonders  den  Bau  der  Früchte  zur 
Eintheilung  der  Palmenfamilie  in  verschiedene  verwandte  Gruppen,  die  er  so- 
dann nach  der  fächer-  oder  fiederförmigen  Belaubung  oder  nach  den  gestachel- 
ten oder  ungestachelten  Stockstamm  in  kleinere  Untcrabtheilungen  sonderte. 
Zur  Eintheilung  der  Palmen  in  Haupt-  und  Unterabtheilungen,  in  Klassen, 
Ordnungen  und  Gattungen  ist  die  Zergliederung  aller  Bestandtheile  derselben 
und  die  genaue  Prüfung  ihrer  Anordnung  zu  einander  erforderlich;  die  Thei- 
lung  des  Ovariums,  die  Stellung  der  Eichen,  die  Bildung  der  Frucht,  Anzahl 
und  Beschaffenheit  der  Samen,  Lage  des  Embryo,  Zahl  und  Stand  der  Staub- 
fäden in  <\rn  männlichen  Blüthen,  Oeffnung  des  Pollenschlauches,  Stellung, 
Form    und    Membran    der    Blätter,     der    Blatt-     und    Blüthenscheiden,     der 


4!» 

Blüthenkolben ,  Blüthen  etc.,  —  das  Alles  sind  ebensoviel  besondere  Wahr- 
zeichen, als  bestimmende  Gattungs-  and  Speciesnierkmale. 

Der  Samenkorn  füllt  im  unreifen  Zustande  die  Höhlung,  in  welcher  er 
wächst,  als  eine  wässrige  Eiweissmasse  ans,  dir  im  weiteren  Verlauf«  der 
Iteifung  fleischig  wird  und  im  ausgereiften  Zustande  hörn-  oder  knocheuartig 
erhärtet  und  oft  eine  Hohlkugel  bildet;  diese  ßilduug  <\r*  Samenkernes  ver- 
anschaulicht deutlich  die  Cokosnuss;  so  lange  der  Kein  uoeb  in  dem  Stu- 
dium der  Reifung  befindlich,  füllt  jene  trübe,  fade,  milchige  Flüssigkeil  die 
Höhlung  aus,  die  man  als  Cokosmilch  bezeichnet  und  über  Gebühr  poetisiri 
bat;  wenn  der  Same  ausgereift,  so  liegt  unter  der  Steinschale  der  feste,  harte 
Kern,  der  innen  hohl  ist  und  keine  Milch  mein-  enthält.  In  einigen  Fallen 
bleibt  der  Same  der  Palmenfrucht  un ausgebildet,  und  dadurch  wird  die  ganze 
Frucht  zu  einer  fleischigen  Masse  umgewandelt;  der  Fall  findet  statt  bei  der 
kultivirten  Pfirsichpalme  Südamerikas  und  der  ebenfalls  kultivirten  sternlosen 
Dattel  der  kanarischen  Inseln. — 

So  wachsen  und  leben  die  Palmen;  so  streben  sie  dem  Ziele  ihrer  \iO- 
bensbestimmung:  der  Entwicklung  ihrer  Fortpflanzungsorgane  entgegen;  so 
entfalten  sie  ihre  erhabene  Individualität  und  so  zeichnen  sie  der  Physiono- 
mie  der  Tropenlandschaft  ihre  charakteristischen  edlen  Züge  ein.  Fast  jeder 
Theil  dieser  herrlichen  Gewächse  ist  für  den  menschlichen  Haushalt  anwend- 
bar: von  ihren  Früchten  ernähren  sich  ganze  Völkerschaften  oft  einen  gros- 
sen Theil  des  Jahres  hindurch;  die  hohe  Bedeutung  der  Dattel  für  die  Be- 
wohner Arabiens,  Syriens  und  Nordafrikas;  der  Üokos ,  die  den  Insulanern 
der  Südsee  Alles  liefert,  was  zu  ihren  Bedürfnissen  gehört:  Gemüse,  Mehl. 
Butter,  Oel,  Wein,  Essig,  Zucker,  Dachdeckung,  Matten,  Seile,  Papier,  Son- 
nenschirme, Hüte,  Geschirr  u.  s.  w.;  der  Mauristiapalme,  welche  fast  die  ein- 
zige Nahrungsquelle  der  Guarani-Indianer  in  den  Orinokosümpfen  ist  und 
ihnen  selbst  zur  Wohnung  wird,  —  ist  bekannt  genug,  um  eines  eingehen- 
den Commentars  entbehren  zu  können;  nicht  der  kärglich  zugemessene  Kaum 
eines  Journalaufsatzes,  —  ein  ganzes  Buch  würde  erforderlich  sein,  alle  kost- 
baren Eigenschaften  der  hervorragenden  Palmengestalten  und  ihre  Wechsel- 
beziehungen zu  dem  Menschen-  und  Thierleben  erschöpfend  behandeln  zu 
wollen.  Eine  den  Früchten  gleiche  und  oft  noch  ergiebigere  Brodquelle  ist 
das  Mark  verschiedener  Palmenarten;  das  mehlige  Mark  der  Caryota  mens. 
die  in  Malabar,  Bengalen,  Assam  und  anderen  Theilen  Ostindiens  wächst,  hat 
oft  eine  Hungersnoth  abgewendet,  wenn  die  Erudte  anderer  Nahrungspflanzen 
fehlschlug;  in  Ceylon  wird  diese  Palme  allgemein  kultivirt,  da  sie  in  der 
heissen  Jahreszeit  ebenso  reichlichen  Zuckersaft,  wie  Mehl  producirt;  zur 
Gewinnung  dieses  Zuckersaftes,  Toddy  genannt,  wird  der  spindelförmigen 
Blüthenhülle  kurz  vor  ihrem  Oeffnen  die  Spitze  abgeschnitten  und  der  aus- 
tropfende Saft  in  Kürbisflaschen  aufgefangen,  die  unter  der  Wunde  betest  igt 
sind;  ein  starker,  gesunder  Caryotastamm  soll  in  "24  Stunden  gegen  100 
Flaschen  Toddy  geben ;   der  Schnitt    wird    täglich  erneuert  .    bis    der  Zufluss 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  1870.  4 


50 

des  Saftes  aufhört.  Der  Toddy  wird  zu  Syrup  eingedickt  und  bis  zu  festem 
Zucker  abgedampft,  und  der  Zucker  in  kleinen,  ein  Pfund  schweren  Stücken 
/uni  Vorkauf  auf  den  Markt  gebracht.  Ausserdem  bereiten  die  Südsee-Jnsu- 
laner  noch  Syrup  ans  dem  Zuckersäfte  der  Cokos,  der  Borassus  umbraculifera, 
und  besonders  aus  dm  Arengn  saccharifera  und  der  Phoenix  sylvestris.  In 
ßengalen  bereitet  man  allein  an  Dattelzucker  jährlich  1  Million  Centner;  der 
Dattelzucker  wird  ahn-  weniger  geschätzt,  als  der  Rohrzucker,  und  etwa  um 
ein   Viertel   billiger  verkauft. 

Die  undichte,  von  Handel,  Industrie  und  Kultur  unberührte  Bevölkerung 
der  weiten  Palmen  gebiete  Süd- Amerikas  kennt  den  Sporn  der  Betriebsandveit 
und  Speculation  nicht,  der  die  Völker  der  östlichen  Pahnenheimath  antreibt 
zur  merkantilen  Ausbeutung  der  Palmenprodukte.  Den  Indianer  treibt  zur 
Palme  nur  die  Notli  der  nackten  Existenz  und  wüste  Genusssucht;  ausser 
den  Früchten  und  Blättern  zur  Stillung  seines  Hungers  und  Herstellung  seiner 
Lagerstätte,  eignet  er  sich  nur  den  Saft  an,  und  diesen  nur  zur  Gewinnung 
eines  heftig  berauschenden  Getränkes,  des  sogenannten  Palmenweins,  —  be- 
sonders jene  Völker,  welche  die  Spirituosen  Getränke  und  die  Völlerei  eben 
so  sehr  lieben,  als  .-de  sich  schwer  in  den  Besitz  und  den  Zustand  derselben 
setzen  können;  diesen  Genuss  nur  verschaffen  sie  sich  in  dem  gegohrenen 
Safte  verschiedener  Palmenarten.  Man  schreibt  dem  Palmenweinc  aber  auch 
medizinische  Kräfte  zu;  dieselben  sind  zu  suchen  in  der  Oxalsäure,  die  sich 
immer  in  dem  Zellgewebe  dieser  Palmen  in  Verbindung  mit  einer  erdigen 
Pasis  findet,  und  je  nach  der  vorhandenen  Menge  dem  Getränke  einen  mehr 
oder  minder  bittern  Geschmack  und  erhöhte  Wirksamkeit  verleiht.  Der 
Wohlgeschmack  des  Palmenweines  steht  jedenfalls  unter  dessen  Wirkung; 
cinigerinassen  verfeinerte  Geschmacksorgane  können  ihm  überhaupt  nur  eine 
zweifelhafte  Würdigung  zu  Theil  werden  lassen.  Leider  kostet  der  Besitz 
einiger  Flaschen  Weines  immer  einer  langsam  emporgewachsenen  Palme  das 
Lehen;  dieselbe  wird  gefällt,  ihrer  Blätter  bis  auf  die  jüngsten  dicht  am 
Stamme  beraubt,  und  der  Stamm  unterhalb  des  Blattschopfes  bis  auf  die 
Mitte  des  Markes  ausgehöhlt;  die  Oeffuung  dieser  Höhlung  wird  zugedeckt 
mit  dem  Ausschnitt  der  Rinde,  der  Saftvorrath  täglich  ausgeschöpft  und  in 
irdenen  Gefässen  der  Gährung  übergeben.  —  Syrup  bereitet  man  in  Süd- 
Amerika  nur  aus  dem  Safte  der  Jubaea  chilensis;  auch  diesem  Gewinne  fällt 
,li,.  Palme  zniu  <  hrfer;  der  Saft  träufelt  aus  der  Schnittfläche  der  abgetrenn- 
ten Blattkrone  aus;  täglich  wird  der  Stamm  um  ein  dünnes  Scheibchen  ge- 
kürzt, bis  der  Saftabfluss  uach  mehreren  Monaten  versiegt,  nachdem  ein  kräf- 
tiger Stamm  etwa  400  Flaschen   Salt  geliefert  hat. 

Auch  d.is  Fruchtfleisch  verschiedener  Palmenfrüchte  wird  zur  Bereitung 
der  gegohrenen,  der  nährenden  und  sättigenden  Getränke  verwendet;  diesel- 
ben führen  den  Namen  Palmenmilch,  Mazamdrra  oder  Chicha,  je  nach  der 
Farbe,  der  Masse,  der  nährenden  oder  berauschenden  Eigenschaften.  Ohne 
allen   Zusatz   künstlicher   Würzen  gewöhut   sich    die    durch  die  Cultur  verzär- 


51 

teltc  Zunge  nur  schwer  an  diese  urwüchsigen  Tafelgenüsse;  jedoch  kann 
ihnen  durch  einige  Nachhülfe  immerhin  ein  gewisser  Wohlgeschmack  gegeben 

werden,     Den  Bewohnern  des  Magdalenenstr gebietes  und  der  Niederungen 

drs  Marakaibo-Sees  dienen  zur  Bereitung  der  Palmenmilch  und  Chicha  be- 
sonders die  Früchte  der  Phytelephas,  der  Elaeis  melanococca,  verschiedener 
Euterpes  und  der  Jessenia  repanda;  die  Gruaraunen  am  Orinoko  schöpfen 
auch  diese  Nahruugsspende  aus  ihrem  allgemeinen  Lebensbaume,  der  Mau- 
ritia-Palme. 

Ein  ebenso  beliebtes,  als  unentbehrliches  Nahrungsmittel  ist  bereits  auch 
in  Europa  das  Mehlprodukt  der  Palmen  geworden,  das  aus  dem  Marke  ge- 
nommen und  gewonnen  wird  und  unter  dem  Namen  Sago  oder  Sagu  allen 
kultivirten  Völkern  durch  den  Handel  bekannt  und  zugänglich  gemacht  wur- 
den ist.  Sago  heisst  in  der  Papuasprache:  Brod,  und  diese  Benennung  offen- 
bart am  deutlichsten,  welche  Bedeutung  das  Sagomehl  für  das  Leben  der 
südasiatischen  Völker  gewonnen  hat.  Stärkemehl  bildet  sich  in  dem  Marke 
aller  derjenigen  Palmen,  die  ein  starkes  Markgewebe  haben,  in  der  Zeit- 
periode vor  der  Blüthenentwickelung;  im  weiteren  fortschreitenden  Entwicke- 
lungsverlaufe  der  Blüthen  wird  die  Stärke  in  Gummi  und  endlich  in  Zucker 
umgesetzt,  und  liefert  in  diesem  Umwandlungsstadium  den  Palmenzucker  und 
den  Palmenwein;  daher  sind  alle  Palmen  mit  zuckerhaltigem  Safte  auch  Mehl- 
erzeuger, und  je  nach  der  Periode  des  chemischen  Stoffwechsels  im  Innern 
der  Gefässe  doppelte  und  dreifache  Nahrungsquellen.  Das  als  Sago  ver- 
arbeitete und  bekannte  Stärkemehl  wird  aus  dem  Marke  ostindischer  Sumpf- 
palmen, der  Metroxylon  Rumphii  und  M.  laeve  gewonnen.  Zu  dem  Zwecke 
wird  der  Palmenstamm  in  mehrere  Fnss  lange  Stücke  gespalten,  das  Mark 
herausgenommen,  von  Fasern  gereinigt,  gestossen  und  in  Wasserbehälter  ge- 
than;  nachdem  es  längere  Zeit  unter  Wasser  gestanden,  wird  es  durch  ein 
Sieb  gerieben;  aus  dem  Durchgeseihten  fällt  das  Stärkemehl  zu  Boden,  das 
durch  wiederholtes  Waschen  und  Absetzenlassen  gereinigt  und  endlich  ge- 
trocknet wird.  Der  Perlsago  erfährt  eine  wiederholte  sorgfältige  Behandlung 
durch  viele  Waschungeu  und  Durchsiebungen,  Erhitzungen,  Trocknungen  und 
mehrfaches  Rösten  auf  irdenen  Pfannen,  bis  die  Mehlkörnchen  nach  allen 
diesen  mühsamen  Manipulationen  so  klar  und  weiss  erscheinen,  wie  sie  unter 
dem  Namen  Perlsago  in  den   Handel   kommen. 

Bei  der  kleinen  indischen  Phoenix  farinifera  findet  sich  eine  mehlige 
Substanz  in  den  weissen,  ineinander  gewobenen  Fibern  der  äusseren  Ilolz- 
masse;  der  Strunk  dieser  kleinen  Palme  ist  nicht  höher,  als  1—2  Fuss  und 
so  unter  Blattscheiden  versteckt,  dass  er  nicht  zu  sehen  ist  und  die  ganze 
Pflanze  einem  dicken,'  runden  Busche  gleicht.  Während  die  Blättchen  des 
zwecks  Mehlgewinnung  gefällten  Strunkes  Matten  und  die  Blattstiele  Mate- 
rial zu  Korbgeflechten  liefern,  spaltet  man  den  entkleideten  Strunk  in  6  s 
Stücke,  trocknet  diese  und  stampft  sie  so  lange  in  hölzernen  Mörsern,  bis 
Mehl    und   Fasern    sich    getrenut   habeu;    es    folgt    dann    Waschung,    Durch- 

4* 


52 

siebung,  Trocknung  der  Mehlsubstanz;  darauf  wird  sie  zu  einer  dicken  Grütze 
eingekocht,  die  in  Indien  Kauji  hcisst.  Dies  Nahrungsmittel  steht  dem  Sago 
freilich  an  Nahruugsgehalt  nach  und  behält  einen  bittern  Geschmack,  hilft 
dennoch  aber  in  unfruchtbaren  Jahren  die  arme  Bevölkerung  gegen  Mangel 
und  Hunger  schützen. 

Die  zahlreichen  zuckerstoffhaltigen  Palmen  Süd-Amerikas  würden  eine 
gleiche  Quelle  nahrhaften  Mehles  erschliessen  ,  wenn  sich  die  eingeborenen 
Völkerschaften  ihrer  bemächtigen  wollen;  einerseits  aber  stehen  die  in- 
dustriellen Fähigkeiten  hier  auf  ungleich  tieferer  Stufe,  als  unter  den  ost- 
indischen  Völkerschaften,  andererseits  ist  die  Bevölkerung  zu  dünn,  und  der 
Boden  im  Verhältniss  zur  Zahl  seiner  Kostgänger  zu  produktiv  an  verschie- 
densten Brodpilanzen,  als  dass  ein  äusserer  Zwang  den  gesättigten  Menschen 
zu  industrieller  Thätigkeit  und  zur  ökonomischen  Ausnutzung  der  Naturpro- 
dukte anspornen  sollte.  Der  Südamerikaner  greift  nach  dem  Brode,  das  ihm 
am  nächsten  liegt  und  seiner  Gewöhnung  entspricht;  was  sich  von  Beiden 
entfernt,  bleibt  ihm  gleichgültig.  Leichter,  und  darum  auch  häufiger,  setzt 
er  sieh  in  den  Besitz  der  jungen  Blätter  und  Blumen,  die  er  als  Gemüse 
kocht  oder  roh  als  Salat  geniesst.  Solche  Blattsubstanz  —  den  sogenannten 
Palmeukohl  —  liefern  ihm  eine  Menge  von  Palmen,  fast  alle  jene  Arten,  die 
ihre  Blattscheiden  als  eine  zusammengerollte  lichtgrüne  Säule  dem  holzigen 
Stamme  aufsetzen.  Dazu  gehört  auch  die  schönste  und  erhabenste  aller  süd- 
amerikanischen Palmen,  die  Üreodoxa  oleracea,  —  Chaguaräma  der  Einge- 
borenen, so  eindrucksvoll  die  Schönheit  dieser  Palme,  so  gross  und  mannig- 
fach ist  auch  ihre  Nützlichkeit.  Die  nach  aussen  wachsenden,  sich  verhär- 
teuden  (refässbündel  des  Stockstammes  bilden  einen  3 — 4  Zoll  dicken  so 
überaus  festen  Holzring,  dass  er  die  Schneiden  der  Aexte  umlegt  oder  das 
Eisen  an  seinem  Panzer  zersplittert;  er  giebt  ein  unvergänglich-dauerhaftes 
Bauholz  zu  Sparren,  Gebälk,  Getäfel,  Bohlen  und  Dielen;  wenige  der  grossen 
Blätter  decken  das  Dach  der  ländlichen  Wohnhäuser;  die  abfallenden,  unte- 
ren, hohlen  Blattstiele  bilden  natürliche  Mulden  und  Wiegen  für  die  angehen- 
den kleinen  schwarzen,  braunen,  rothen,  gelben  und  undefinirbar  farbigen 
Weltbürger,  und  wenn  sie  gespalten ,  treffliche  Schienen  für  Knochenbrüche, 
die  innere  trockene  Epidermis  der  Blattstiele  liefert  ein  Pergament,  das  sich 
auf  einer  Seite  mit  Tinte  beschreiben  lässt,  während  die  andere  einen  Fett- 
überzug hat,  welcher  der  Feuchtigkeit  trotzt;  von  einem  Stamme  lassen  sich 
etwa  20  grosse  Bogen  gewinnen;  aus  dem  Marke  lässt  sich  Sago,  aus  den 
kleinen  Nussfrüchten  Oel  bereiten;  die  Blüthenscheiden  sind  taugliche  Wasser- 
gefässe,  Emballagen  für  verschiedene  Bodenbauprodukte  und  nochmals  Wie- 
gen, und  aus  den  jüngsten,  dicht  eingeschlossenen  Blattanlagen,  dem  soge- 
nannten Herz  der  Gipfelknospe,  wird  der  Palmenkohl:  das  Gemüse  oder  der 
Salat  gewonnen.  Das  weisse,  zarte  Gewebe  dieser  jungen,  von  den  äusseren 
Blattscheiden  eingerollten  Blattanlagen  schmeckt  in  Folge  seines  zuckerhalti- 
gen, öligen  Saftes  fast,  wie  Nusskerne,  hat  eine  dem  Spargel  oder  den  jung- 


53 

sten  Kohlblättern  ähnliche  Consistenz,  und  giebt,  entweder  mil  verschiedenen 
Säuren  gekocht  oder  mit  Oel  und  Essig  als  Salat  eingemacht,  «'in  wohl- 
schmeckendes Tafelgericht,;  es  wirkt  aber  aufregend  and  erhitzend  auf  das 
Blut. — Als  "wirkliches  Nahrungsmittel  jedoch  fällt  der  Palmenkohl  nicht  in's 
Gewicht,  weil  jede  Palme  nur  eine  geringe  Menge,  nicht  viel  übei  ein  Pfund 
essbare  Substanz  liefert.  Als  andere  Kohlpalmen  können  noch  besonders 
genannt  werden  verschiedene  Arten  der  Euterpe,  Oenocarpus,  Geonoma,  Ma- 
xiliana  u.  a.  m.  Letztere,  in  Parä  und  anderweitig  in  Neu- Brasilien  Juaja 
genannt,  stellt  in  ihrer  Scheide  einen  vollkommen  fertigen  Korb  dar,  den  die 
Indianer  als  Lastkorb  für  Erde,  Thon,  Mehl,  Früchte  etc.  benutzen;  die  Jäger 
kochen  darin  ihr  Wildprett,  denn  sie  versengt  eben  so  wenig,  als  sie  über 
dem  Feuer  wasserdicht  ist;  Affen  und  Vögel  theilen  sich  mit  den  Indianern 
in  ihre  Früchte,  als  wohlschmeckende  Speise. 

Ein  dem  Palmenkohl  ähnliches  Gemüse  finden  die  Neger  im  Innern 
Afrikas  in  dem  sehr  verlängerten  Samenlappenstiel  der  eben  gekeimten  Frucht 
der  Borassus  Aethiopum. 

Ergiebiger  noch,  als  alle  bisher  erwähnten  Produkte,  und  fast  in  allen 
ihren  Arten  fördert  die  Palme  Fettsubstanzen,  namentlich  Oel  zu  Tage. 
Die  Kerne  sämmtlicher  Palmennüsse  sind  ölhaltig;  das  Cokosnussöl  ist  hei- 
misch in  allen  industriellen  Städten  Europas;  auf  100  Cokosnusse  werden 
ungefähr  24  Pfund  Oel  gerechnet.  Dennoch  bleibt  die  Oelproduktion  der 
Cokos  noch  hinter  manchen  anderen  Palmenarten  zurück;  besonders  zeichnet 
sich  die  Frucht  der  Attaleen  und  Scheeleen  aller  heissen  und  feuchten  Ge- 
genden Süd-Amerikas  durch  reichen  Oelgehalt  aus,  an  welchen  jeder  Frucht- 
büschel oft  tausende  von  hühnereigrossen  Früchten,  und  jede  Pflanze  3— -4 
solcher  Büschel  gleichzeitig  hervorbringt. 

Der  Nusskern  dieser  Oelpalmen  schmeckt  ähnlich  dem  Cokosnusskern, 
nur  enthält  er  viel  mehr  Oel,  und  das  aus  ihm  gewonnene  Oel  ist  fetter  und 
brennt  fast  doppelt  so  lange,  als  das  Cokosöl.  Die  Palmen  liefern  jährlich 
eine  Fruchterndte ,  gewöhnlich  3 — 4  grosse  Büscheln,  jeder  mit  etwa  1000 
Früchten.  Die  Steinschaale,  welche  den  Kern  umschliesst,  ist  sehr  dick  und 
hart,  und  ebenfalls  mit  Fett  durchtränkt;  daher  zerquetscht  man  häufig  auch 
den  Stein  mit  dem  Kern  und  kocht  die  ganze  Breimasse  in  einem  Kessel  mit 
Wasser  aus,  bis  das  Oel  oder  Fett  oben  schwimmt,  abgeschöpft  und  in  einem 
Topfe  so  lange  gesiedet  wird,  bis  alle  wässrigen  Theilc  ausgeschieden  sind. 
Hundert  Nüsse  geben  etwa  eine  Viertel  Flasche  Oel;  gereinigtes  Oel  ist  auch 
geniessbar. 

Die  Fettproduktion  der  Palmen  beschränkt  sich  nicht  auf  Oel  allein ; 
etliche  Arten  sondern  Wachs  auf  der  Oberfläche  des  Stammes  und  der  Blätter 
ab;  diese  Wachspalmen  sind  Einwohner  Süd-Amerikas;  während  der  Nord- 
Brasilianer  aus  dem  Stammmarke  der  Copernicia  cerifera  Mehl  für  den  Haus- 
bedarf anfertigt,  der  Stamm  ihm  zu  Allem,  wozu  Holz  verwendbar  ist.  dient, 
die  Blätter  ihm  Dachstroh,  Packsättel,  Hüte  u.  s.  w.  verschaffen  helfen,  hefern 


54 

die  jungen,  vom  Baum  genommenen  Blattei*  ein  jedes  etwa  50  Gramm  eines 
weissen  schuppigen  Pulvers,  welches  über  dem  Feuer  zu  einem  Wachskuchen 
zusammenläuft.  Hoch  auf  den  Anden  Neu-Granadas  und  Equadors  erheben 
sich  in  den  grünen  Laubwäldern  mächtige  Palmen  mit  weissen,  marmorähn- 
lichen, schlanken  Stämmen;  dieser  weisse,  marmorartige  Ueberzug  der  harten 
äusseren  Holzschicht  der  Ceroxylon  undicola  und  Klopstockia  cerifera  besteht 
aus  Wachs;  ein  Mann  kann  an  einem  Tage  zwei  grosse  Palmen  fällen  und 
abschaben,  und  gewinnt  von  jedem  Stamm  etwa  eine  Arraba,  2ö  Pfund,  Wachs, 
das  er  nur  in  Formen  zu  giessen  hat,  tun  es  als  Kerzen  zu  verwenden.  — 
Die  prachtvolle  grosse  Bethovenia  cerifera  (von  mir  eingeführt  und  beschrieben 
in  Linnaea,  Band  XXXIII,  Heft  VI),  welche  die  Cordillerenwälder  Vene- 
zuelas überragt,  sondert  das  Wachs  in  den  inneren  Holzgefässen  ab;  wird 
der  Stamm  durchschnitten  und  etwas  vertieft,  so  legt  sich  über  diese  vertiefte 
Schnittfläche  nach  einiger  Zeit  ein  runder  Wachskuchen;  die  jüngsten,  noch 
unentfalteten  Blätter  dieser  selben  Palme  liefern  ein  vorzügliches  feines  Stroh- 
geflecht zu  Hüten. 

Werfen  wir  einen  Blick  in  den  Arzneischatz,  in  das  Laboratorium  der 
Gifte  und  Gegengifte,  so  begegnen  wir  auch  hier  Erzeugnissen  der  Palmen- 
familie. Drei  Pflanzcnarten  aus  sehr  fern  stehenden  Familien  des  natürlichen 
Systems  sind  es,  durch  deren  Adern  ein  rothflüssiger  Blutsaft  treibt;  eine 
derselben  gehört  zu  den  Palmen,  der  Calamus  Draco,  die  Drachenblutpalme, 
welche  die  hohen  Waldbäume  Sumatras  und  der  malayischen  Inseln  über- 
rankt. Die  schuppigen  Früchte  dieser  stachlichten  Kletterpalme  schwitzen  ein 
rotb.es  Harz  aus,  das  Drachenblut  der  Djurnang  oder  Malaien,  welches  in  seinem 
Vaterlande  als  zusammenziehendes,  blutstillendes  Mittel  noch  in  hohem  An- 
sehen steht,  in  Europa  aber  allmählich  als  vollkommen  wirkungslos  befunden 
und  von  den  Aerzten  aus  der  Reihe  der  Recepte  gestrichen  ist;  es  bildet 
aber  noch  einen  Hauptbestandteil  der  Zahnpulver,  um  ebenso  zur  Erhaltung 
der  frischen  Rüthe  des  Zahnfleisches,  als  des  weissen  Schmelzes  der  Zähne 
beizutragen,  und  wird  auch  hauptsächlich  zum  Färben  von  Weingeist  und 
Terpentin  gebraucht.  Die  natürliche  Ausschwitzung  des  Fruchtharzes  giebt 
den  besten  Djurnang;  eine  untergeordnete  Sorte  erhält  man  durch  Erhitzung 
und  Quetschung  der  Frucht  nach  Wegnahme  des  ausgeschwitzten  Harzes; 
zweifelhaft  ist,  ob  Drachenblut  jemals  durch  Einschnitte  in  die  Pflanze  ge- 
wonnen wurde.  —  Andere  viele  Calamus-Arten,  als  C.  Rotang,  C  Rudentum, 
C.  Royleanus  etc.  ,  die  in  allen  feuchten  Gegenden  des  tropischen  Asjens 
wachsen,  liefern  das  spanische  Rohr,  das  sehr  viele  Verwendungsarten  zu 
Stahlen,  Flechtwerken)  Besen  u.  s.  \v.  gefunden  and  für  die  Gewerbe  ein  an- 
entbehrliches Rohmaterial,  wie  auch  den  Kindern  schon  früh  auf  dem  dorni- 
gen Lebensgange  durch  die  Schule  ein  eben  so  bekannter,  als  unbeliebter 
Protektor  der  Disciplin  geworden  ist. 

Wirksamer,  als  der  Djurnang,  i^-t  die  blutstillende  Eigenschaft  des  sammet- 


55 

artigen,  filzigen  Haarüberzuges  der  Elaeis  melanococca  des  Magdaleuenstr - 

gebietes,  der  allgemein  als  Feuerschwamin  verwende!   wird. 

Eine  andere  Palme  der  südamerikanischen  Cordilleren,  die  Platcnia  Chi- 
ragua,  enthält  in  ihren  jungen,  röthlich  gefärbten  Blatten)  ■  ik  schart»  Sub- 
stanz, die  den  Fischern  zur  Betäubung  der  Fische  beim  fischfange  dient. 
Der  Saft  des  Fruchtfleisches  der  Arenga  saccharifera ,  der  Zuckerpalme  der 
Sundainseln,  ist  so  scharf,  ätzend  und  korrodirend,  das*      i  den  Malayen 

und  früher  auch  von  den  Holländern  im  Kriege  zur  Srertheidigung  benutzt 
wurde,  während  der  Kern,  der  von  diesem  gefürchteten  Fruchtfleische  einge- 
schlossen wird,  als  Nahrungsmittel  dient,—  Das  20— 24  Fuss  lange  und  etwa 
fingerdicke  Schlangenrohr  Neu-Granadas,  die  Cana  de  La  vibora  der  Einge- 
geborenen,  Kunthia  montana,  enthält  La  ihren)  zuckerhaltigen  Satt«-  ein  Gegen- 
gift gegen  den  Biss  giftiger  Schlangen;  der  Saft  wird  sowohl  in  die  Wunde 
geträufelt,  als  innerlich  genommen.  Aus  dem  dünnen  Stamme  aber  verferti- 
gen die  Indianer  die  Blasrohre,  durch  welche  sie  ihre  kleinen,  vergifteten 
Pfeile  abschiessen. 

Und  nicht  allein  werden  die  materiellen  Bedürfnis se  der  Menschen  durch 
die  Erzeugnisse  der  Palmengewächse  gedeckt,  nicht  allein  wird  das  künstle- 
risch blickende  Auge  und  das  dem  Schönen  zugängliche  Gemüth  durch  de« 
Aufbau  ihrer  edlen  Formen  ergötzt,  sondern  sie  hellen  auch  das  Material 
herbeitragen,  aus  welchem  Kunstsinn  und  künstlerische  Hand  ideale  Genüsse 
schaffen  und  hineintragen  in  die  triviale,  alltägliche  Interessenwirthschaft. 
Das  Elfenbein,  dessen  producirende  Riesengeschöpfe  die  letzte  Entwickclungs- 
phase  unseres  Planeten  verschlungen  hat,  und  dessen  fossilen  Reste  aus  dem 
Alluvium  der  gegenwärtigen  Erdrinde  hervorgegraben,  aber  nur  im  geringen 
Maasse  von  den  einzigen  Nachkommen  der  Riesenmammuths  und  Mastodonte, 
dem  Elephanten,  ergänzt  werden,  findet  ein  Aequivalent  in  dem  Produkte 
einer  Palme,  oder  doch  in  einer,  der  Palme  äusserlich  gleichen,  im  inne- 
ren Bau  sehr  nah  verwandten  Pflanze;  das  sogenannte  vegetabilische  Elfen- 
bein, der  zu  einem  festen  Stein  erhärtete,  hühnereigrosse  Samenkern  der 
Elfenbeinpalme,  Phytelephas  macrocarpa  und  P.  microcarpa,  gleicht  dem  Ele- 
(.hantenelfenbein  so  sehr,  dass  es,  soweit  seine  Grösse  es  zulässt,  statl  dessen 
verarbeitet  und  nur  von  Kennerblicken  von  demselben  unterschieden  wird. 
Die  Phyt.  macrocarpa  erhebt  sich  auf  einem  kurzen,  auf  dem  Boden  nieder- 
liegenden Stamme  über  die  Erde;  die  Phyt.  microcarpa  bleibt  stammlos;  beide 
entfalten  einen  reichblättrigen  Laubschopf;  die  Fruchtknoten  des  weiblichen 
Blüthenkolbens  verwachsen  zu  einer  grossen,  kugeligen,  kindesko 
Sammelfrucht,  in  welcher  die  sechs  bis  zehn,  von  einer  gemeinsamen  holzig- 
höckrigen  Fruchtschaale  umschlossenen  Früchte  in  einem  schmierig-weichen 
Fruchtfleische  eingebettet  liegen.  Jede  Pflanze  trägt  sechs  bis  acht  solcher 
Sammelfrüchte;  das  gemeinsame  Fruchtfleisch  fault  und  zersetzt  sieh  und  ent- 
lässt  die  harten  Einzelfrüchte,  die  von  den   Spekulanten  d   und  auf- 

gekauft werden.     Das   tropisch-heisse   Magdalenenstromgebiel  Neu-Granadas 


56* 

i^t  der  echte  Geburtsheerd  der  Elfenbeinpalnie;  grosse  Mengen  ihrer  Früchte 
gehen  den  .Strom  hinunter  und  werden  von  den  Küstenhäfen  nach  England 
und  Nord-Amerika  ausgeführt,  wo  sie  von  den  Drechslern  verarbeitet  und  in 
der  Gestalt  verschiedener  Kunst-,  Ni[>-  und  Schmucksachen  über  die  Märkte 
der  civilisirten  Welt  verbreitet  werden. 

So  nähren,  so  kleiden,  so  schirmen  und  decken  die  Könige  der  Gräser 
alle  Menschenbedürfnisse,  indem  sie  die  äussere  Existenz  gewinnen,  tragen 
und  erhalten  helfen,  und  das  innere  Sein  durch  Betrachtung  des  Schönen  und 
Nützlieben  in  der  Natur  sittlich- veredelnd  durchdringen  und  durchgeistigen. 
Und  so  tritt  der  Mensch  zur  Paline  gewisserniaassen  in  vertrauliche,  ver- 
wandschaftliche  Beziehungen,  die  zu  symbolischen  Betrachtungen  und  Gleich- 
nissen,  bis  zu  persönlichen  Vergleichen  führen;  das  vermag  keine  Kreatur, 
welche  die  Natur  in  die  Welt  der  Erscheinungen  gerufen,  so,  wie  sie,  welche 
die  Summe  aller  Vollendungsbestrebungen  der  Pflanzenschöpfung  ist;  die  das 
Schöne  in  unlösbarer  Verbindung  mit  absoluter  Nützlichkeit  in  sich  zum  Aus- 
druck bringt;  die  aus  der  Anlage  des  einfachen  Grashalmes  emporgestiegen 
ist  zur  Fürstenhöhe  im  Pflanzenstaate,  —  wie  der  Mensch  aus  seinem  An- 
lagekeim  hinan  zum  Höchsten  streben  soll.  Schon  die  altgeschichtlichen 
Völker  stellten  neben  dem  religiösen  Palmenkultus  derartige  inen  seh  lich- 
persönliche  Vergleiche  an;  so  schreibt  der  Perser  Cazvini  in  seinem  Buche: 
„Merkwürdigkeiten  der  Welt  und  Wunder  der  Schöpfung" :  Der  Palmenbaum 
gleicht  in  vieler  Hinsicht  dem  Menschen,  durch  seine  gerade  schlanke,  auf- 
rechte Gestalt  und  Schönheit;  durch  seine  Scheidung  in  zwei  Geschlechter, 
das  männliche  und  weibliche;  schlägt  man  ihm  den  Kopf  ab,  so  stirbt  er; 
leidet  das  Gehirn,  so  leidet  der  ganze  Baum  mit;  seine  Blätter,  wenn  man  sie 
abbricht,  wachsen  so  wenig  wieder,  wie  die  Arme  des  Menschen;  seine  Fa- 
sern und  Netzgewebe  bedecken  ihn,  wie  der  Haarwuchs  den  Mann  u.  s.  w. 
Und  so  ruft  Odysseus  aus,  als  er  die  Nausikaa,  die  Tochter  des  Phäaken- 
königs  Alkinors  erblickt: 

Nur  auf  Delos  sah  ich  am  Opferaltar  des  Apollon 

Einst  ein  Palmengespross  so  jung  und  herrlich  emporblühn, 

So,  wie  dieses  ich  lang'  anschaute  staunenden  Herzens,  — 

(Nie  ja  war  desgleichen   ein   Baum  entstiegen  der  Krde)  — 

Also  bewundre  ich  Dich,  Weib,   und  erstaun'  und  scheue  gewaltig 

Dir  die  Kniee  zu  berühren. 

Wohl  schwebt  ein  Genius  über  dem  stummen  Wesen  jeder  Pflanze,  — 
aber  er  atlimet  das  Menschengomüth  besonders  lebensvoll  aus  der  Palme  an; 
und  noch  heute  wähnt  es,  in  dem  Flug  der  Lüfte:  dem  Hauche  Gottes,  der 
durch  die  Blätter  rauscht,  sie  auf-  und  niederneigt,  seine  Offenbarungen  zu 
vernehmen.  Fern  bleibt  den  nordischen  Gestaden  der  Sonnenstrahl,  der  in 
dem  Scliooss  der  Erde  solche  erhabene  Erscheinungen  zeugt,  und  das  bril- 
lantene Luftgeschmeide,  das  ihr  immergrünes  Haupt  umstrahlt,  leuchtet  nicht 
über   unserem  dunklen  Waldhorizont;   aber  Kunst   und  Wissenschaft,  reichen 


57 

sich  erfinderisch  die  Sonde,  dem  Fremdlinge  des  fernen  Süd  auch  anter  dem 
nordischen  Bimmel  ei€e  künstlich-heimische  Stätte  zu  bereiten.  Unendlicher 
Pleiss,  unendliche  Anstrengungen  und  Ueberwindung  schwerer  Opfer  und 
Mühseligkeiten,  wie  die  Freigebigkeit  regierender  Fürsten  haben  ee  Jedem 
ohne  Unterschied,  dem  Armen  und  Niedrigen,  wie  dem  Hohen  and  Reichen 
möglich  gemacht,  auch  in  unserer  kalten  Heimath  —  wenn  nichl  unter  — 
doch  /.  wischen  Palmen  wandeln  zu  können;  jedem  Freunde  >l.  r  Natur  und 
Wissenschaft  ist  der  Genuss  vergönnt,  den  Aufbau  der  edlen  Palmenformen 
bewundern  zu  können,  den  Duft  zu  athmen,  der  tropische  Waldlüfte  füllt,  und 
sogar  die  Frucht  reifen  und  keimen  zu  sehen  unter  einer  Bimmelszone,  WO 
kein  Palmenspross  ein  natürliches  Leben  zu  fristen  vermag. 

Was  der  Menschenwille  vermag,  wenn  eine  hohe  Idee  ihn  begeistert, 
das  zeigen  jene  Anstalten,  die  getroffen  sind,  mitten  im  Eise  des  Nordens  den 
Wald-  und  Blumenflor  des  heissen  Süden  eine  Stätte  des  Lebens  zu  berei- 
ten; wohl  aber  geziemt  es  der  Dankbarkeit,  der  Verdienste  jener  Männer  zu 
gedenken,  deren  Aufopferungsmuth,  beharrlicher  Fleiss  und  Selbstverläugnung 
diese  Stätten  bevölkert  und  die  reichen  Sammlungen  aus  allen  Zonen  der 
Erde  zusammengetragen  und  zum  Allgemeingut  der  Völker  gemacht  hat: 
Humboldt,  Bonpland,  d'Orbigny,  Spruce,  Blume,  Wallich,  Ehrenberg,  Martins, 
Pöppig,  Hooker,  Purdie,  Hartwig,  Rugendas,  Warsewitz,  Karsten,  Scherzer, 
Seemann,  Schomburgk,  Linden,  Wendland,  —  die  Prinzen  Neuwied,  Walde- 
mar,  Maximilian,  Adalbert  u.  s.  w.  u.  s.  w. ;  Manche,  die  nicht  wiedergekehrt, 
wie  Löffling,  Ternström,  Banister,  Griffith  u.  s.  w. ;  noch  Andere,  die  Gesund- 
heit und  Vermögen  zum  Opfer  gebracht:  —  sie  wird  die  Geschichte  der 
Pflanzenkunde  und  der  Gartenkunst  im  Gedächtniss  bewahren,  wie  das  Buch 
der  Schlachten  von  seinen  Helden  erzählt   und  das  Volk    seine  Dichter  ehrt. 

Es  bliebe,  um  das  Tropenwaldmährchen  unserer  Gewächshäuser  vor  dem 
sinnlichen  Auge  noch  magischer  zu  gestalten,  nur  noch  übrig,  dass  auch  die 
Wolke  der  geflügelten,  funkelnden  Insekten,  der  Brillant  der  Schmetterlings- 
üttige,  der  Meteorflug  der  Leuchtkäfer  sich  spiegeln  möchte  in  dem  dunkel- 
saftigen Urwaldgrün-,  jedoch,  soweit  es  auch  der  Menschenwille  noch  bringen 
mag  in  der  Verzauberung  von  Luft  und  Erde,  jene  schwebenden  Juwelen  der 
Lüfte,  und  den  Himmel,  der  die  Palmenheimath  umfängt,  wird  er  nie  in  seine 
Wintergärten  bannen;  zwischen  Palmen  mag  er  wandeln,  doch  das  Palmen- 
land bleibt  ihm  ein  Traum,  —  so  wie  die  Palme  unter  Eichen  und  Buchen 
und  so  dunklen  Fähren  sehnsuchtsnah  träumen  mag  von  dem  ewigen  Früh- 
ling ihres   Vaterlandes. 

Nicht,  wo  die  Erde  aus  dem  eignen  Grunde, 
Mit  eignen  Kräften  in  dem  Gattenbunde 
Beschwingt,  beseelt,  durchtönt  den  Schöpfungschor,  — 
Nein,  nur  wo  sie  die  himmlischen  Gewalten 
In   Liebesinbrunst  heiss  umfangen  halten, 
Steigst,  Palme,  Du  zum  Himmelslicht  empor! 


58 

Wo  Eni  und  Himmel  äneinandertönen 

In  reiner,  voller  Harmonie  des  Schönen, 
Pas  Todte  lebt.  Lebendiges  sich  verklärt; 
Wo  Licht  und  Luft  die  Gluth  der  Seele  tränket, 
Wo  Himmelsstrahl  sich  in  die  Erde  senket,  — 
Dich,  Sonnenkiud,  der  Erdenschooss  gebiert! 

Aus  blauen  Höh'u  trug  Dich  ein  Genius  nieder, 
Ein  Sonnenstrahl  gebarst  Du  selbst  Dich  wieder, 
Ein  Tempel  Du  dem  heil'gen  Schöpfungsgeist; 
Ein  leibgeworduer  Hymnus,  der  in  klaren 
Und  festen  Zügen  strebt  zu  offenbaren 
Den  Geist,  den  Du  in  Deinem  Bilde  preis'st! 

Dich  in  Gedanken,  Dich  in  Formen  fassen, 
Kann  die  Gestaltungskraft  nicht,  die  im  blassen, 
Verwischten,  kalten  Nebellichte  schafft; 
Wo  Ideales  hat  Gestalt  genommen 
Auf  Erden  hier,  da  einem  andren  Bronnen 
Entsteiget  solche  hehre  Schöpfungskraft! 

Und  göttergleich  hebst  Du  aus  schlichtem  Halme 
Dich  frei  und  riesengross  empor,  o  Palme, 
Der  Kraft  und  Schönheit  Ruhmes-Kapitol ! 
Mit  Dir  empor  hebst  Du  die  Erde,  wieder 
Senkt  sich  in  Dir  zu  ihr  der  Himmel  nieder 
Du,  ihres  heil'gen  Bundes  stolz  Symbol! 

O,  so  wie  Du,  kann  in  den  dumpfen  Gründen 
Der  Mensch  auch  nimmer  Halt  und  "Wurzel  finden, 
Die  ihn  empor  zum  reinen  Lichte  trägt; 
Nur,  wenn  auch  er  von  himmlischen  Gewalten 
Sich  tragen  lässt  und  heben,  lenken,  halten:  — 
Sich  um  sein  Haupt  die  Siegespalme  legt! 

Wie  Du,  ist  er  auch  schwachem  Keim  entsprossen, 
Doch  wächst  er  kräftig,  freudig,  unverdrossen, 
Unbeugsam  auf,  wohin  der  Lichtstrahl  weis't:  — 
Dann  wird  auch  er  in  hehren,  festen,  klaren 
Und  lichten  Zügen  herrlich  offenbaren 
Den  Geist,  den  er  in  seinem  Bilde  preis't!  — 

Franz  Engel. 

Rubel,  Mecklenburg-Schwerin  im  Oktober  18G9. 


Mise  eil  en. 


General  L.  Faidherbe  über  den  Ursprang  der  Berbern.  General  L.  Faidherbe  hatte  in 
einem  mit  sehr  interessanten  bildlichen  Darstellungen  (Rassenköpfen,  Schädeln  u.  s.  w.)  ausge- 
statteten Aufsätze*)  nachzuweisen  versucht,  dass  man  die  Libyer  (Berbern)  weder  als  Stamm- 
verwandte der  Afrikaner  (Neger,  Buschmänner  u.  s.  w.),  noch  der  kananäisehen  Chamiteu  (Ibu- 
Khaldun,  II.  Martin),  noch  der  Aegypter  (Pruuer),  noch  der  Semiten  (Quatrefages,  Slane,  Judas 
u.s.  w.)j  sondern  als  Stammverwandte  der  alten  Bewohner  Westeuropa'*  betrachten 
müsse. 

Derselbe  Verfasser  hat   nun  in  der  ausserordentlichen  Sitzung   der  Societe  de  climatologic 
algerienne  vom  28.  September  1868  einen  Vortrag  über  die  Ethnologie  Nordost- Afrika     ■.  • 
welchem  wir  Folgendes  entnehmen:**) 

Faidherbe  sieftt  sich  durch  neuester  Zeit  in  Aegypten  gemachte  Entdeckungen  iranlasst, 
seine  in  jener  früher  von  ihm  veröffentlichten  Arbeit  über  die  megalitbisehen  Gräber  zu  Itokuia 
dargelegten  Ansichten  zum  Theile  zu  andern.  Verfasser  kommt  zunächst  auf  die  schon  von 
Herodot  gegebenen  Darstellungen  der  nordafrikanischen  Bevölkerungsgruppen  dunkelbrauner 
Aegypterj  weisser  Libyer  und  der  „Aethiopier"  zurück.  Zu  letzteren  werden  die  mit  nicht 
wolligen  Ilaaren  und  fast  „semitischen*  Zügen  versehenen  Schwarzen  Abyssiniens  (Kuschiteu) 
nehst  den  wahren  wollhaarigen  Negern  des  oberen  Nil  und  der  übrigen  Theile  des  Kontinentes, 
zusammengeworfen.  Nach  jenen  Angaben  schienen  die  Libyer  und  Aegypter  weder  in  Farbe. 
noch  in  Religion,  in  Sitten  oder  Sprache  etwas  mit  einander  Gemeinschaftlich   -  zu  haben. 

Nach  Faidherbe  linden   wir  nun  Leberbleibsel  der  uns  schon  vor  2400  Jahren  als  Autoch- 
tonen genannten  Libyer  in  denjenigen  Stämmen,    welche   die  sogenannte  Berbersprache 
Feher  die  letztere  existiren  jetzt    die  Tuarik-   und  Kabylgrammatiken   des  Obersten    Hanoteau 
sowie  das  unvollständige,  von  der  algerischen  Verwaltung  i.  J.  1846  veröffentlichte   SVört 
Alsdann  berührt  Verf.  die  schon  mehrfach  erörterte  \nnal  •  e,  dass  legypten  durch  eine  schwarze 
Menschenrasse   von   Meroe  aus  civilisirt    worden    sei,    welche    Ansicht  aber   durch   die    w 
Untersuchungen   widerlegt   werde.     Die  aegyptische       .ilisation  habe  sich  nicht  zu  Mein,-  unter 
dem    17 — 18  ,    sondern    zu  .Memphis  unter  dem   30*    n.   Fr.  entwickelt.     Memphis   liege   noch    um 
zwei  Freitengrade  südlicher,  als  Wargelah,  woselbst  weisse  Leute  eben  nur  noch  zu  vegetiren 
vermöchten.     Ueber  den  30    n.  Fr.  hinaus  gebe  es  keine  Schwarzen  mehr,   und  diese  letzteren 


*)  Recherches  anthropologiques  sur  les  tombeaux  megalithiques  de  Roknia.  Bulletin  de 
l'Academie  d'Hippone.     No.  4  &  5.     Föne  1868. 

**)  Wir  verdanken  einen  im  Moniteur  algerien  abgedruckten  Bericht  über  diesen  Vortrag 
der   Fiberalitat  des  Llerrn  Verfassers. 


60 

hätten  jenseits  desselben  deshalb  auch  kein  blühendes  Reich  gründen  können.  Welche  Rasse 
aber  habe  wohl  Thanis  öOOO  Jahre  v.  Chr.  die  erste  äegyptische  Dynastie  geliefert?  Das  hätte 
eine  dem  China  entsprechende,  zwischen  den  Schwarzen  und  Weissen  stehende  Rasse  sein  kön- 
nen, wie  es  ja  deren  sowohl  in  Afrika  wie  auch  anderwärts  gebe,  so  z.  B  die  ,Fouls*.  Diese 
Ansicht,  so  meint  Verf.,  werde  freilich  wenig  Anhänger  finden,  indem  ,monogenistische"  Vorur- 
theile  jedesmal  die  Existenz  und  den  Wohuplatz  einer  Rasse  mit  denjenigen  anderer  Rassen  und 
zwar  gewöhnlich  Centralasiens  in  Beziehung  zu  bringen  pflegten.  Pruner-Bey  habe  die  grosse- 
sten Analogien  zwischen  den  Schädeln  ägyptischer  Mumien  und  den  vom  Verf.  den  megalithischen 
Gräbern  zu  Roknia  entnommenen,  unzweifelhaft  libyschen  Schädeln  aufgefunden  Wie  habe 
aber  eine  libysche  Gruppe  die  herrliche  ägyptische  Civilisation  schaffen  können,  während  die 
andere  6000  bis  G000  Jahre  lang  in  einem  vollkommen  barbarischen  Zustande  gelebt?  Jener 
biete  das  Nilthal  besonders  günstige  Bedingungen  dar,  indessen  hätten  doch  auch  die  Gebiete 
des  Atlas,  hätte  selbst  die  Berberei  von  der  Natur  reich  ausgestattete,  für  die  Cultur  sehr  wohl 
geeignete  Striche  aufzuweisen.  Hinsichtlich  der  Sprachen  sei  man  noch  nicht  einig;  Manche 
freilich  constatirten  eine  Uebereinstimmung  zwischen  Koptischem  und  Berber,  namentlich  hin- 
sichtlich der  Pronomina  personalia.  Bestätige  sich  aber  eine  solche  Verwandtschaft,  so  diene 
diese  hauptsächlich  zur  Unterstützung  für  die  Ansichten  Pruner's. 

Ziehe  man  nun  die  biblische  Ethnographie  in  Betracht,  so  seien  hiernach  die  Aegypter, 
Chamiten  als  Söhne  Mi/.raim's,  Brüder  der  ersten  Babylonier  und  der  Aethiopen  mit  nicht  wol- 
ligem Haar  (Abyssinier),  der  Kananäer  (Phönizier)  und  selbst  der  Libyer,  welche  letztere  auch 
zu  den  Chamiten  gerechnet  würden.  Da  hätte  man  ja  nur  Bruderstämme,  aus  denen  eine 
schwarzbraune  Rasse  —  wie  dies  wohl  die  ersten  Babylonier  gewesen  —  eine  schwarze 
Rasse,  nämlich  die  Aethiopen,  eine  braune,  die  Aegypter,  sowie  eine  weisse,  Phönizier  und 
Libyer,  hervorgegangen  seien*).  Wer  nun  nicht  Monogeuist  sei  und  nicht  an  den  unbegrenzten 
Einfluss  des  Mediums  auf  die  Modelung  der  Rassen  glaube,  welchen  Grad  des  historischen  Ver- 
trauens könne  ein  Solcher  wohl  auf  diese  hebräischen  Traditionen  verwenden,  welchen  richtigen 
Sinn  könne  er  diesen  \mterlegen?  Oftmals  würfen  wir  die  Namen  von  Stämmen  mit  denen  von 
Gegenden  zusammen.  Selbst  für  sehr  gelehrte  Kritiker  bezeichneten  „Sem,  Cham  and  Japhet" 
nicht  etwa  einzelne  Menschen,  sondern  personificirte  Rassen.  Es  lasse  sich  die  mehr  oder  we- 
niger ausgedehnte  Anwendung  dieser  Bezeichnungen  keineswegs  begrenzen. 

Warum  sollten  nun  die  Aegypter  den  chamitischen  Ursprung  ihrer  Nation  nicht  gekannt, 
warum  sollten  sie  darüber  bei  ihrer  grossen  Sorgfalt  in  Abfassung  ihrer  Annalen  nicht  auch 
etwas  verzeichnet  haben?  Wenn  sie  selbst  wirklich  von  einem  und  demselben  Ahnen,  wie  die  Aethio- 
pen, abgestammt,  so  hätten  sie  doch  nur  geringe  Sympathien  für  ihre  Vettern  gehabt,  die  ja  von 
ihnen  stets  mit  der  verächtlichen  Bezeichnung  der  elenden  Rasse  von  Kusch  traktirt  worden. 

Gewisslich  würde  nun  a  priori  nichts  Widersinniges  in  der  Annahme  liegen,  dass  eine  und 
dieselbe  Rasse  die  erste  bahylonische,  phönizische,  auch  ägyptische  Civilisation  begründet,  alle 
die  industriösen ,  handeltreibenden  Reiche,  Urheber  gigantischer  Bauten,  deren  religiöse  Dog- 
men minder  rein ,  wie  die  der  Semiten,  minder  poetisch,  wie  die  der  Indo-Europäer.  Dabei 
müsste  man  wirklich  nicht  ausser  Acht  lassen,  dass  die  ursprünglich  weissen  Aegypter  durch 
die  Kreuzung  geschwärzt  worden  seien,**)  durch  die  Kreuzung  mit  kraushaarigen  oder  nicht 
kraushaarigen,  vom  oberen  Stromgebiet  gekommenen  Schwarzen,  die  freiwillig  eingewandert,  durch 
den  Handel  angezogen,  durch  Krieg  vertrieben  oder  als  Hülfstruppen  angeworben  worden. 


*)  Verf.  fügt  in  einer  Anmerkung  hinzu:  ,(ln  a,  au  moins  generalement  aujourd'hui,  le  bon 
esprit  de  ne  plus  mettre  au  nombre  des  Chamites  les  vrais  negres  laineux  et  prognathes." 

**)  „Ayant  lnngtemps  vecu  et  observe  dans  des  pays  ou  plusieurs  races  tres  dissemblables 
vivent  aupres  l'une  de  Tautre,  j'ai  cru  remarquer,  que  le  croisement  etait  la  cause  de  modifica- 
tions  que  certains  ethnographes  attribuenl  ä  l'inflnence  du  milieu.  Je  citerai  pour  exemple  les 
M.'iures  noirs  du  Senegal.  Ceci  soit  dit,  sans  nier  cettc  influence  dans  certaines  limites".  Anm. 
des  Verf. 


61 

Endlich  hätten  sich  die  Aegypter  auch  mit  semitischen,  ihnen  im  Osten  ihres  Reiches  be- 
nachbarten Bevölkerungen  kreuzen  müssen,  mit  den  Hyksos-Semiten,  die  aus  Asien  gekommen, 
wieder  dahin  zurückkehrten,  endlich  mit  einigen  Libyern  im  Westen.  Man  vermisse  in  der 
That  in  den  ägyptischen  Mumien  verschiedener  Epochen  einen  übereinstimmenden  Typus. 
Verf.  bemerkt,  dass  er  auf  seine  frühere  Idee,  die  Urheber  Aegyptens  seien  „Schwarze"  gewe- 
sen, verzichte,  dass  er  aber  auch  deren  libyschen  Ursprung  für  keineswegs  bewiesen  halte.  Wo 
könnte  nun  wohl  der  Ursprung  der  libyschen  Rasse,  auf  der  atlantischen  Halbinsel,  d.  h.  Marokko, 
Algerien,  Tunesien  und  Tripolitanien  sein,  die,  getrennt  vom  eigentlichen  Afrika  durch  die  Sahara, 
von  Aegypten  und  Asien  durch  die  libysche  Wüste,  mit  Europa  über  Gibraltar  vereinigt  gewesen, 
einer  Rasse ,  die  noch  in  das  früheste  Alterthum  hineinrage.  Konnten  nun  nicht  anfänglich 
diese  Völkerschaften  e:n  homogenes  Ganze  bilden,  und  dennoch  mehreren  Rassen  angehören? 
Verf.  macht  dagegen  auf  die  so  bemerkenswerthe  Einheit  der  Sprache  aufmerksam,  die  von  Aegypten 
bis  zum  atlantischen  Ozean,  vom  Mittelmeere  bis  zum  Sudan  herrsche.  Aus  dieser  gehe  doch 
mindestens  hervor,  dass  wenn  auch  einige  Bruchtheile  fremder  Nationen  sich  in  diese  Gegen- 
den zu  irgend  einer  Zeit  eingedrängt,  ihre  Sprache  mitten  in  der  Masse  Ureingeborner  ver- 
schwunden sei. 

Zur  Stütze  einer  mangelnden  Homogenität  der  Rassen  ziehe  man  stets  die  Existenz  blonder 
Leute  inmitten  einer  gemeinhin  schwarz-  oder  braunhaarigen,  schwarz-  oder  braunäugigen  Be- 
völkerung in  Betracht.  Den  „Polygenisten"  und  zu  diesen  rechnet  sich  der  Verfasser  nicht  durch- 
aus, widerstrebe  es  jedoch  in  einer  reinen  Rasse,  das  Vorkommen  brauner  und  blonder  Indivi- 
duen z\igleich  zuzugeben.*) 

Gäbe  es  nur  wenige  blonde  Individuen  in  diesen  Gegenden,  so  könnte  man  ihre  Existenz 
auf  den  Einfluss  der  vielen  in  den  Barbareskenstaaten  lebenden  Renegaten  schieben.  Aber  jene 
Blonden  fänden  sich  nicht  nur  zerstreut  und  in  Nähe  der  Küstenstädte,  sondern  selbst  innerhalb 
wohl  gruppirter  Tribus,  wie  z.  B.  im  marokkanischen  Rif,  im  algerischen  Aures  u,  s.  w.  Am 
häufigsten  habe  man  die  Ursache  dieser  Erscheinung  der  Eroberung  Afrika's  durch  die  Vandalen 
und  deren  einhundertjähriger  Herrschaft  daselbst  zugeschrieben.  Diejenigen  unter  ihnen,  welche 
durch  die  Griechen  besiegt  und  vertrieben  worden,  hätten  nur  eine  Handvoll  ihrem  letzten  Kö- 
nige treugebliebener  Krieger  gebildet.  Aber  es  hätten  sich  durch  100  Jahre  die  Vandalen  im 
Lande  ausgebreitet  und  der  Bevölkerung  beigemischt,  sie  hätten  Gruppen  bilden  müssen,  was 
besonders  im  Aures  geschehen.  Sicherlich  existirten  noch  Reste  ihres  Blutes  hier  und  da  im 
Lande. 

Aber  selbst  diese  Thatsache  könne  nimmer  die  Abstammung  der  blonden  Menschen  aufklä- 
ren, weder  der  in  Marokko  noch  der  nach  Angaben  der  Alten  im  Osten,  vor  dem  vandalischen 
Einfalle,  lebenden. 

Für  Nuinidien  und  für  die  etliche  Jahrhunderte  vor  Christus  beginnenden  Zeiträume  könne 
man  einen  Ursprung  der  Blonden  als  möglich  und  selbst  wahrscheinlich  annehmen,  indem  man 
sie  von  gallischen  Söldnern  der  Karthager  ableite,  die  zahlreich  genug,  sich  theilweise  unzwei- 
felhaft im  Lande  niedergelassen  und  Nachkommen  gezeugt. 

Selbst  die  Römer  hätten  ja  gallische  Truppen  unterhalten  und  in  römischen  Colonien  hät- 
ten sich  sicherlich  Gallier  aufgehalten.  Aber  die  ägyptischen  Monumente  deuteten  auf  die 
Existenz  sehr  zahlreicher  blonder  Menschen  in  Libyen  und  zwar  schon  vor  3300  Jahren,  gegen 
das  erste  Bestehen  phönizischer  Handelsstationen  in  Afrika,  hin,  zu  einer  Zeit,  wo  diese  Krämer 
noch  nicht  über  Soldtruppen  verfügten.    Die  blonde  Rasse  wäre  den  alten  Aegyptern  unter  dem 


*)  Wir  finden  aber  doch  in  rein  italienischen  Familien  auch  blondhaarige,  unter  reinen 
Innerafrikanern  röthliche  und  blonde  Individuen ,  ja  Familien  (namentlich  in  braunen  Tribus), 
wir  finden  unter  den  reinen,  schwarzhaarigen  Indianerstämmen  der  (jetzt  erloschenen)  Mandan 
und  der  Schwarzfüsse  ebendergleichen,  wir  finden  in  rein  germanischen  blonden  Familien  dagegen 
wieder  schwarzhaarige  Individuen  u.  s.  w.  u.  s  w.  Obiger  Ausspruch  Faidherbe's  erscheint 
uns  allzu  schroff  hingestellt.  D.  Uebers. 


62 

Namen  der  Tarahu  bekannt  gewesen,  nun  sei  es  zwai  nicht  völlig  bewiesen,  ob  dieser  Name  für 
Libyer  wie  Pelasger  gegolten,  indessen  sei  das  doch  wahrscheinlich.  Für  später  existire  kein 
Zweifel;  so  heisse  es  zur  Zeit  der  XIX.  Dynastie,  etwa  1-400  Jahr  vor  Christi  Geb.,  d.  h.  etwas 
vor  Moses  Zeit:  es  sei  aus  den  westlich  vom  Delta  gelegenen  Landen,  eine  Horde  Nomaden  mit 
blauen  Augen  und  blonden  Haaren  von  den  Inseln  des  Mittelmeeres  nach  dem  afrikanischen  Fest- 
lande gegangen,  habe  die  Nordprovinzen  Aegyptens  bedroht  und  sei  nur  mit  grosser  Mühe  durch  die 
ägyptischen  Streitkräfte  aufgehalten  worden  (Mariette).  Diese  Eindringlinge,  deren  Haupttheil 
aus  Libyen  hervorgebrochen,  hätten  auch  aus  Pelasgern  bestanden;  ihr  Häuptling  wäre  Maur- 
muiu,  König  der  Libyer  gewesen.  Diese  Libyer  hiessen  in  den  ägyptischen  Texten  Lebu  und 
Maschuasch,  beides  Stammnamen,  Nationalbezeichnungen,  nicht  Geschlechtsnamen  wie  Tamhu. 
Die  Maschuasch  seien  des  Herodot  Maxyes.  Unter  der  XX.  Dynastie  bringe  Rhamses  III  die- 
sen selbigen  Libyern  blutige  Niederlagen  bei. 

Unter  der  XXII.  Dynastie,  etwa  1000  Jahre  v.  Chr.,  hätte  die  Königl.  ägyptische  Garde, 
die  sonst,  Namen  nach  zu  urtheilen,  aus  Assyriern  bestanden,  auch  Maschuasch,  nicht  aber 
Aegypter,  in  ihren  Reihen  gezählt. 

Seit  Ende  dieser  Dynastie,  d.  h.  800  Jahre  v.  Chr.,  hätten  eine  Menge  kleiner  Häuptlinge, 
welche  aus  solchem  libyschen  Kriegsvolke  hervorgegangen,  die  königlichen  Städte  occupirt  und 
wären  die  wahren  Meister  Niederägyptens  geworden.  Ihre  Heersäulen  hätten  es  den  damals  am 
Gebel-Barkal  ansässigen  äthiopischen  Königen  gestattet,  sich  Aegyptens  zu  bemächtigen.*) 

Nach  Aufhören  der  äthiopischen,  50  Jahre  lang  andauernden  Herrschaft,  sei  Aegypten  im 
Norden  unter  der  Dodekarchie  zwischen  Aegyptern  selbst  und  libyschen  Maschuasch  getheilt, 
die  Thebaide  aber  sei  den  äthiopischen  Herrschern  tributär  gewesen.  Einer  der  Dodekarchen, 
Psamtik,  der  die  Königsherrschaft  wieder  hergestellt  und  der  XXVI.  Dynastie  das  Dasein  gege- 
ben, sei  vielleicht  einer  jener  Maschuasch  der  ägyptischen  Truppen  gewesen.  Damals  sei  die 
Kriegerkaste,  die  sich  schon  lange  erniedrigt  und  verletzt  gefühlt,  an  200,000  Mann  stark  aus- 
gewandert, ein  Zeichen,  dass  die  Aegypter  den  äthiopischen  Schwarzen,  näher  als  den  libyschen 
Weissen  verwandt  gewesen.  Als  nun  das  ägyptische  Reich,  nach  5000jähriger  Dauer,  in  Ver- 
fall gerathen,  als  es  nicht  mehr  fähig  erschien,  nationale  Dynastien  hervorzubringen,  oder  seine 
Unabhängigkeit  zu  wahren,  welche  Rassen  hätten  sich  nun  um  seine  Trümmer  gestritten?  Die 
Schwarzen  des  oberen  Nil  hätten  die  XXV.,  die  weissen  Libyer  die  XXVI.  Dynastie  geliefert. 

Es  sei  1JJ00  Jahre  v.  Chr.,  d  h.  ein  oder  zwei  Jahrhunderte,  nachdem  die  Phönizier  ihre 
Comptoire  zu  Cambe  und  Hippone  gegründet,  eine  blonde  Rasse  am  libyschen  Gestade  zahlreich 
und  mächtig  genug  gewesen,  um  gegen  Aegypten  in's  Feld  rücken  zu  können.  Wer  seien  wohl 
diese  Blonden  gewesen?  Die  freilich  etwas  vagen  ägyptischen  Berichte  schienen  zu  besagen, 
dass  Jene  über  die  Inseln  des  Mittelmeeres  nach  Libyen  gekommen  seien.  Es  stände  nun  zwar 
der  Annahme  nichts  entgegen,  dass  diese  blonden  Libyer  auch  hätten  Autochtonen  sein  können. 
Allein  Verf.  schliesst,  dass  dies  nicht  der  Fall  gewesen,  dass  vielmehr  die  Blonden  von  Norden 
her  über  die  Strasse  von  Gibraltar,  die  Inseln  und  Halbinseln  des  Mittelmeeres  gesetzt.  Das  sei 
die  Meinung  Henry  Martins.  Dieser  halte  blonde  Arier  für  die  Erbauer  der  megalithischen  Grü- 
ber Numidiens.  Dieselben  hätten  sich  endlich  mit  den  chamitischen  Libyern  verschmolzen. 
Die  letzteren  aber  stammten  aus  Asien. 

Alex.  Bertrand  dagegen  halte  die  megalithischen  Gräber  für  das  Werk  einer  Rasse,  welche 
vor  einer  arischen  Invasion  von  Küste  zu  Küste  geflohen  sei,  und  zwar  von  Asien  her  durch 
Nord-  und  West-Europa  bis  nach  Numidien.  Da  könne  man  freilich  immer  noch  die  Existenz 
einer  autochthonen  Libyerbevölkerung  zulassen,  die  jenen  Flüchtlingen  voraufgegangen;  die  Epoche 
solcher  Ereignisse  sei  freilich  nicht  festzustellen. 


*)  Verf.  wirft  hier  die  Frage  auf,  ob  wohl  die  vom  dritten  Könige  der  äthiopischen  (XXV.) 
Dynastie,  Tahraka,  bekriegten  Libyer  eine  Schrift  angenommen,  etwa  diejenige  der  Stelen,  deren 
Inschriften  von  uns  libysche  genannt  zu  werden  pflegten,  von  welcher  etwa  die  Tuarik  noch 
Spuren  bewahrt? 


63 

In  Bertrand's  Systeme  könne  man  zustimmen,  dass  Libyen  vor  allen  von  Norden  her  gekom- 
menen Einwanderungen  bevölkert  gewesen,  es  sei  nun,  nach  des  Verfassers  Meinung,  durch  eine 
atlantische  autoclitone,  es  sei  durch  eine  nicht  semitische,  aus  Asien  gekommene  Rasse;  ferner 
die  Ankunft  nicht  arischer  Flüchtlinge,  Gründer  der  megalithischen  Denkmale,  endlich  die  Ankunft 
blonder  Arier,  welche  in  der  Bevölkerung  Spuren  ihrer  Rasse  zurückgelassen  und  Niederägypten 
erobert 

Wäre  nun,  fragt  Verf.,  die  Berbersprache  diejenige  der  Bertrand'schen,  Dolmen  erbauenden 
Flüchtlinge  oder  der  diesen  voraufgegangenen  Libyer  gewesen?  Im  letzteren  Falle  wäre  die 
Sprache  der  Dolmenleute  verschwunden  Man  gelange  so  immer  wieder  zu  einem  linguistischen 
Probleme;  Faidherbe  wolle  sich  nicht  IL  Martin's  Meinung  über  den  arischen  Ursprung  der 
Rokniagräber  anschliessen,  in  denen  die  Bronze  nur  ausnahmsweise  (in  Form  einiger  armreif- 
artig gewundener  Drähte  und  zwar  nur  einmal  unter  zwanzig  Fällen)  vorkomme. 

Diese  Gräber  möchten  wohl  aus  der  Zeit  des  Einfalles  blonder  Menschen  in  Libyen  her- 
datiren  (gegen  1400  v.  Chr.).  Dreierlei  Umstände  schienen  hier  nämlich  gleichzeitig  obgewaltet 
zu  haben:  1)  der  Angriff  blonder  Horden  auf  Niederägypten;  ein  solcher  sei  durch  die  ägypti- 
schen Annalen  sichergestellt.  2)  Die  Einführung  der  Bronze  nach  Libyen  durch  Vermittelung 
der  ersten,  in  dieser  Epoche  mit  Sicherheit  entstandenen  phönizischen  Handelsplätze.  3)  Die 
Erbauung  der  megalithischen  Gräber  Libyens,  in  denen  sich  etliche  grobe  Bronzesachen  als  sel- 
tene und  kostbare  Dinge  den  Begrabenen  mitbeigegeben  fänden.")  Dieses  Zusammentreffen 
würde  zwar  zur  Stütze  der  Ansichten  Martin's  dienen  können,  dennoch  habe  Verfasser  ernste 
Einwürfe  zu  machen. 

Diese  Necropolen  von  3000  Gräbern  zu  Roknia,  von  2000  derselben  zu  Mazela**),  wiesen  auf 
Bevölkerungen,  welche  die  Hochthäler  eine  Reihe  von  Jahrhunderten  hindurch  bewohnt  gehabt. 
Könnten  sie  dagegen  wohl  Werke  nomadischer  Eindringlinge  gewesen  sein?  Man  dürfte  viel- 
leicht annehmen,  es  hätte  sich  ein  Theil  dieser  Horden  im  Lande  fest  niedergelassen  Aber 
warum  sollte  man  dann  nicht  auch  in  Unterägypten,  woselbst  doch  die  Blonden  sich  ansässig 
gemacht  und  geherrscht,  wenigstens  eine  gleiche  Anzahl  solcher  megalithischer  Gräber  vorfinden? 
An  Steinen  habe  es  in  Aegypten,  dem  Schauplatze  so  gigantischer  Bauten,  wahrlich  nicht  gefehlt. 
Würde  man  behaupten  können,  dass  diese  Völker,  als  sie  nach  Aegypten  gekommen,  als  sie 
hier  eine  höhere  Kultur  gefunden,  auf  ihre  Sitten  und  Gebräuche  Verzicht  geleistet? 

Verf.  glaube  vielmehr,  diese  Necropolen  seien  diejenigen  libyscher  Ureingeborner ,  einer 
schwarzäugigen  und  schwarzhaarigen  Rasse  von  Troglodyten,  in  welchen  jene  blonden  Eindring- 
linge aufgingen,  ihre  Sprache  und  ihre  Gebräuche  verloren,  wenn  man  auch  unter  den  Libyern 
selbst  jetzt  noch,  als  Reste  alter  Kreuzungen,  Individuen  von  dem  blonden  Typus  vorfinde. 

Um  die  Frage  der  megalithischen  Gräber  in  Nordafrika  aufzuhellen,  müsse  man  ihre  Ver- 
breitung vollständig  kennen  lernen.  Ob  dieselben  nun  in  Marocco  existirten,  habe  Verf.  trotz 
aller  aufgewandten  Mühe  nicht  in  Erfahrung  zu  bringen  vermocht. 

*)  Verf.  hatte  in  seiner  Arbeit  über  Roknia  behauptet,  dass  man  in  der  Berberei  bisher 
noch  keine  Anzeichen  eines  Steinalters  gefunden.  Spätere  Untersuchungen  hätten  ihn  aber  Fol- 
gendes kennen  gelehrt:  1)  Besitze  das  Museum  zu  Algier  eine  Art  runder  Axt,  von  Dr.  Reboud 
zu  Djelfa  gefunden,  ferner  acht  Objecto,  Beile,  Messer,  Pfeile  und  Säge  von  Guyotville.  2)  Finde 
sich  bei  der  Bergwerksdirection  zn  Oran  eine  von  Pomel  zu  Thessalah  gefundene  Axt.  3)  Sei 
in  dem  Gebel-Aures  eine  Axt  gefunden,  deren  weiteres  Schicksal  Verf.  nicht  kenne.  4)  Fänden 
sich  im  climatolog'schen  Museum  zu  Algier  fünf  kleine  geschnittene  Feuersteine  aus  der  von 
Dr.  Bourjot  an  der  Pointe  -  Pescade  entdeckten  Grotte.  5)  Habe  Nicaise  ein  Steinbeil  in  der 
grossen  Kabylie,  6)  hätten  Letourneux  und  Bourguignat  drei  geschnittene  Feuersteine  im  Sersu 
gefunden.  7)  Habe  Feraud  ihm,  dem  Verfasser,  mitgetheilt,  dass  sich  im  Museum  zu  Constan- 
tine  eine  Steinaxt  finde,  welche  mit  etwa  zehn  anderen  im  Wed-el-Klab  entdeckt,  dass  Cristy 
viele  Fragmente  grob  zugerichteter  Feuersteine  um  die  Dolmen  von  Bu-Merzug  und  zwei  Feuer- 
steinmesser in  einer  tieferen,  diesen  letztgenannten  Dolmen  benachbarten  Schicht  gefunden. 

Es  gehe  daraus  hervor,  dass  auch  in  der  Berberei  ein  wirkliches  Steinalter  gerade  so  wie 
in  Europa  existirt  habe.  , 

*•)  Vergl.  Catalogue  des  monuments  prehistoriques  de  l'Algerie  von  Letourneux.  In  Mate- 
riaux  pour  l'histoire  primitive  et  naturelle  de  l'homme.     V.  Ann.  p.  427  ff. 


64 

Faidherbe  empfiehlt  alsdann  die  Ausarbeitung  eines  vollständigen  Wörterbuches  der  Berber- 
sprache aus  allen  Gegenden  zwischen  Aegypten  und  dem  atlantischen  Ozean ,  zwischen  dem 
Mittelmeer  und  dem  Sudan,  Gegenden,  in  denen  man  berberische  Pialecte  spreche.  Ein 
solches  Unternehmen  würde  zwar  mehrere  Jahre  kosten  und  nur  auf  Betrieb  der  Regierung- 
ausführbar  sein  Alsdann  werde  es  sich  im  Ernste  zeigen,  ob  es  einige  Verwandtschaft  zwischen 
dem  Berberischen  uud  Koptischen  gebe*). 

Endlich  spricht  Verf.  von  Hooker's  Berichten  über  eine,  megalithische  Denkmäler  erbauende 
Völkerschaft  Innerasiens.  Wenn,  so  schliesst  Jener,  dieses  Dolraenvolk  aus  seinen  jetzigen 
Wohnsitzen  durch  Nord-  und  Westeuropa  nach  Numidien  gezogen  wäre,  so  würde  die  Idee  von 
einem  arischen  Ursprünge  desselben  dadurch  ihre  Stütze  finden  können. 

P.  Broca  hat  in  der  Sitzung  der  anthropologischen  Gesellschaft  zu  Paris  vom  15.  Juli  d.  J. 
einen  Auszug  des  Faidherbe'schen  Aufsatzes  mitgetheilt.  In  der  sich  anschliessenden  Discussion 
bemerkte  Giraud  de  Rialle,  dass  die  vom  General  erwähnten  Dolmen  Maroccos  sich  in  wesent- 
lich berberischen,  fast  unabhängig  gebliebenen  Gegenden  vorfänden  Nach  Semalle  wären  unter 
den  Canarien  zwei  oder  drei  Inseln,  deren  Bewohner  zum  sehr  grossen  Theile  blond  und  vom 
Guanchen-Stamme  seien.  Mortillet  sprach  seine  Verwunderung  darüber  aus,  dass  man  die 
Leute,  welche  die  Dolmen  nach  Afrika  gebracht,  aus  Sicilien  und  Italien  kommen  lasse,  woselbst 
es  doch  gar  keine  Dolmen  gebe.  Viel  natürlicher  würde  es  sein,  wenn  man  ihre  Herüberkunft 
von  der  iberischen  Halbinsel  herleitete.  Die  Dolmen  zögen  von  Frankreich  über  Spanien  und 
besonders  Portugal  nach  Marocco  und  Algerien ,  das  Vorkommen  derselben  zeige  sich  in  einer 
fast  zusammenhängenden  Linie.  Lagneau  meinte,  wenn  die  Lebu  und  Maku,  die  Aegypten  über- 
fallen, vom  Ufer  eines  cyrenäischen  Sees  gekommen,  so  entstehe  die  Frage,  ob  dieser  See  nicht 
ein  zur  Zeit  trockenes  Meer  gewesen.  Derselbe  constatirte  übrigens  ds  Vorkommen  etlicher 
blonder  Individuen  auch  bei  den  Tuarik.  Nach  dem  von  Broca  gegebenen  Schlussresume  wären 
zwei  Dinge  nach  Afrika  gebracht  worden,  die  Dolmen  und  die  blonden  Leute.  Nach  allen  Vor- 
lagen stammten  diese  Dinge  von  Europa  her.  Es  sei  geschichtlich  erwiesen,  dass  1400  v.Chr. 
aus  Westen  gekommene  Blonde  Aegypten  angegriffen.  Neuere  Untersuchungen  lehrten  uns,  dass 
gegen  1500  v.  Chr.  eine  Volksmasse  von  Asien  her  nach  Europa  gedrungen  sei.  Man  dürfe  nun 
wohl  eine  Beziehung  zwischen  diesen  beiden  Ereignissen  annehmen  und  sei  jene  Invasion  Aegyp- 
tens  durch  Blonde -wohl  nur  eine  ferne  Wirkung  der  esten  Einwanderung  einer  Ariermasse 
nach  Europa.") 

In  der  Sitzung  vom  29  Juli  zeigte  P.  Broca  die  Photographie  eines  blonden  Kabylen 
vor.  Dieselbe  rührt  von  einem  nach  Paris  gekommenen  Turco  her,  und  bietet  ein  sonderbares 
Gemisch  „negritischer  und  europäischer"  Züge  dar.  Die  dicken  Lippen,  die  vorspringenden 
Jochbeine  und  die  sehr  ausgesprochene  Prognathie  afrikanisch,  die  blonden  Haare,  blauen  Augen, 
die  Adlernase  dagegen  europäisch.  Dieser  Mann  dürfe  das  Produkt  einer  sehr  alten  Kreuzung 
sein,  denn  die  Züge,  anstatt  ein  Resultat  aus  zweien  Typen,  seien  nur  zum  einen  und  anderen 
Typus  zurückgekehrt.***) 

Specielleres  Eingehen  auf  diese  interessanten  Fragen  behalte  ich  mir  für  eine  andere  Ge- 
legenheit vor. 

Nach  Letourneux  sollen  übrigens  in  der  Kabylie  früher  die  verbündeten  Stämme  als  Wahr- 
zeichen wichtiger  Beschlüsse  an  den  Orten,  wo  ihre  Rathsversaramlungen  stattgefunden,  Kreise 
von  Steinen  aufgerichtet  haben,  symbolische  Archive,  welche  gewissermaassen  die  Tradition  von 


*)  Die  Verwandtschaft  zwischen  beiden  Sprachen  ist  übrigens  bereits  so  vollständig  erwiesen, 
dass  es  jener  grossartigen  Vorbereitungen,  wie  der  General  sie  in  Anregung  bringt,  keineswegs 
mehr  bedarf.  A.  d.  Uebers. 

**)  Materiaux  pour  l'histoire  primitive  et  naturelle  de  l'homme.     V.  Ann.  p.  2-43 
***)    ?  L.  c.  p,  336.     Ich   meincstheils   erkenne  in   Broca's  Darstellung   bis   auf  die   blonden 
Haare  nur  das  schlichte,  typische  Bild  des  echten  nordafrikanischen  B  e  r  b  e  r  n  ,  wie  ich  dasselbe 
bei  den  algerischen  Pilgern  und  auch  bei  den  Turcos  beobachtet.  D.  Uebers. 


65 

Alter  zu  Alter  fortgeerbt.     Dem  Bericht  eines  Marabut  der  Beni-Rotn  zufolge  seil  der  letzte  der- 
artige Menrhir  vor  etwa  130  Jahren  aufgerichtet  worden  sein.*) 

.  R.  Hartman». 

Dr.  Schweinfurth  schreibt  mir  vom  10.  Juli  1869  aus  der  Seribah  des  Kopten  Ghattas  im 
Djur-Lande  folgende,  in  ethnologischer  Beziehung  interessante  Daten :  „Ich  habe  es  hier  mit  drei 
verschiedene  Sprachen  redenden  Völkerschaften  zu  thun,  den  Djur-  (nicht  Dschur!*),  den  B 
und  denDinka-Stämmen,  welche  verschiedene  Namen  führen,  von  denen  der  genannteste  „Djanghe" 
ist.  Sobald  ich  meine  bisher  gemachten  Sammlungen  zur  Maschera  (e'-Rek)  expedirt  haben 
werde,  will  ich  mich  namentlich  an  das  Studium  dieser  Sprachen  machen,  bisher  war  ich  zu 
sehr  (mit  Botanisiren,  Maceriren  von  Schädeln,  Skeleten  u  s.  w.)  überladen.  Vocabularien  und 
zwar  recht  vollständige,  würden  sich  mit  geringer  Mühe  vermittelst  der  von  den  Seriben- Ver- 
waltern besoldeten  Dragomane  herstellen  lassen.  Auch  Niam-Niam  sind  da,  die  arabisch  reden. 
Dann  sollen  die  Körpermessungen  vorgenommen  werden,  zu  denen  ich  mir  bereits  die  Tabellen- 
schemata zurecht  gemacht  habe.  Letztere  werden  sehr  interessante  Resultate  liefern,  da  man 
hier  sehr  eigentümliche  Formen  wahrnimmt,  namentlich  bei  gut  ausgewachsenen  Weibern  fast 
ausnahmslos  colossal  entwickelte  Fettpolster  im  Gesäss,  die  ein  vollständig  pavianartiges  Aus- 
sehen geben,  da  sie  stets  einen  langen  Schwanz  von  Rindenbast  tragen,  der  zwischen 
den  Beinen  durchgezogen  wird  und  zugleich  die  Schaam  verhüllt.  Auch  kann  ich  mit  Massen 
operiren,  denn  hier  sind  immer  einige  300  bis  500  Sklaven  auf  Lager,  abgesehen  von  den  dienst- 
baren Sklaven,  die  noch  weit  zahlreicher  sind,  sowie  schliesslich  die  in  der  Nachbarschaft  ange- 
siedelten Neger,  zusammen  mindestens  5000,  mit  denen  ich  machen  kann,  was  ich  will.  Die 
Schädelausbente  wird  hier  vielleicht  gering  sein,  da  diese  Wilden  ihre  Leichname  sorgfältig  be- 
graben und  ich  die  Raubzüge  nicht  mitmache.  Schliesslich  werde  ich  einige  Gräber  öffnen 
müssen,  woraus  sich  meine  Leute  keine  Skrupel  machen.  Ich  habe  einige  Köpfe  gezeichnet  und 
diese  Versuche  in  einem  mir  ganz  neuen  Genre  machten  so  schnelle  Fortschritte,  dass  ich  grosse 
Lust  daran  finde  und  mich  eifrig  an's  Portraitzeichnen  begeben  will.  Diese  Bilder  werden  in 
Europa  sehr  viel  Interesse  erwecken,  da  sie  uns  einen  ganz  neuen  Typus  der  Bewohner  Afrikas 
vorführen.  Lcjean  hat  im  Tour  du  Monde  zwei  Portraits  von  angeblichen  Niam-Niam  gegeben.**) 
Um's  Himmels  willen  soll  man  sich  dieselben  nicht  so  vorstellen,  sie  sehen  ganz  anders  aus. 
Diejenigen,  welche  ich  bis  jetzt  gesehen,  und  ich  sah  ziemlich  viele  in  den  verschiedenen  Seri- 
ben, waren  wohlgestaltete,  mittelgrosse,  5£  Fuss  hohe,  wohlbeleibte  Menschen  mit  stets  langem 
Oberkörper  (was  auch  bei  den  heller  als  die  anderen  Rassen  gefärbten  Bongo  oft  vorkommt). 
Ihre  Physiognomie  hat  einen  ungemein  rohen  und  plumpen  Ausdruck,  nicht  ohue  einen  Anflug 
von  Gutmüthigkeit,  etwas  Offenes,  Vertrauenerweckendes.  Sie  haben  nicht  die  thierisch-wilde 
Grausamkeit  auf  den  Zügen,  wie  die  schwarzen  Neger.  Ihre  Farbe  ist  röthlich-braun  bis  braun- 
schwarz, wie  die  der  Bongo,  ein  Ton,  welcher,  obgleich  von  derselben  Tiefe,  wie  er  bei  Nubiern 
vorkommt,  dennoch  von  dem  der  letztgenannten  bedeutend  verschieden  ist  Die  Nubier  haben 
eine  reine  braune  Guttapercha-Haut,  diese  Neger  dagegen  eine  schmutzige,  kupfrige  Färbung***), 
die  sich  noch  deutlich  au  den  Mischlingen,  von  denen  die  Seriben  wimmeln,  erkennen  lässt 
Bei  allen  Niam-Niam,  die  ich  sah,  liegen  die  Augen  weit  auseinander,  fast  so  weit  auseinander. 
wie  die  Nasenspitze   von   ihnen   entfernt  ist.f)     Der  Kopf  ist    breit   und  das   Gesicht  ist  fünf- 


*)  L.  c.  p.  425. 

**)  L.  c.  1865,  II,  p.  227.  Uebrigens  hat  Lejean  hier  nur  ein  angebliches  Niam-Niampoi 
trait  geliefert,  das  andere  daneben  gedruckte  soll  einem  Fertit  angehören,  ist  aber  seinem  mir 
wohlbekannten  Typus  nach  ein  gewöhnlicher  Furauer  aus  den  mittleren  Provinzen  von  Dar-Fur. 
Dass  übrigens  oben  erwähnter  Niam-Niamkopf  Lejean's  keine  Bedeutung  habe  und  weit  eher  auf 
einen  Botokuden,  als  auf  einen  jener  Centralafrikaner  passte,  das  Hess  sich  von  vornherein  ohne 
Schwierigkeit  ergründen. 

***)  Wie  die  der  Bagara,  'Kababisch,  vieler  Gala,  Södama.  H. 

+)  Ganz  ähnlich  habe  ich  es  bei  Gala  uuu  Södama  gesehen.  H. 

5 


66 

kantig  wegen  der  breiten  Jochbögeu.  Die  Augenbrauen  sind  schräg  gestellt  und  geschweift,  die 
völlig  mandelförmigen  Augen  ebenfalls  schief  gestellt,  die  Nase  fast  eben  so  breit  als  lang,  brei- 
ter als  Loch,  der  Mund  breit  und  mi*  dieken  Lippen.  Was  mir  nun  am  Schädel  am  meisten 
auffiel,  war  das  häutig  starke  Hervortreten  der  oberen  Augenbögen  und  die  wulstige  Erbebung 
dei  Grlabella  fibei  der  Nasenbasis,  in  welchen  Stücken  eine  Analogie  mit  dem  sogen.  „Neander- 
schädel"  sehr  nahe  lag.  Im  Gau/.en  genomiueu  haben  diese  Niam-Niam  mehr  Mongolisches  in 
ihren  Zügen,  als  Aeihiopisches.  Wie  lebhaft  erinnerten  sie  mich  an  die  Baschkiren,  Kalmücken 
u.  s.  w.,  ilii  ich  gesehen!  Ich  bin  nun  vollkommen  von  Ihren  und  Dr.  Fritsch's  Ansichten  über 
ilie  sogen.  „Negerrasse"  überzeugt,  [eh  habe  Beweise  gesammelt,  dass  die  Farben  gar  keinen 
Werth  für  die  l  nterscheidung  der  Rassen  besitzen.  Bevor  man  kein  eigenes  Spectrum  zur 
Feststellung  der  verschiedenen  Farbennüancen  und  Töne  der  menschlichen  Haut  besitzt,  wird 
man  überhaupt  keinen  Werth  auf  dieses  Merkmal  legen  können.  Und  wie  trügerisch  ist  die 
äussere  Betrachtung  der  Hautfarbe  bei  den  .Menschen,  wie  sehr  wird  sie  durch  Schweiss,  Fett 
und  Schmutz  bei  diesen  dunkelgefärbten  Rassen  alterirt.  Ebenso  ungewiss  wie  die  natürliche 
Farbe  eines  Eskimo  oder  Jakuten  festzustellen,  erscheint  dies  namentlich  bei  den  Negerstämmen 
des  weissen  Nil.  deren  Toilettenkünste  auf  Asche,  Kuhmist  u.  dgl.  basiren.  Der  angeblich  bläu- 
liche Schimmer  der  Negerhaut  ist  reine  Einbildung  Ein  entaschter  Schiluk  hat  einen  bläulichen 
Anflug  von  der  an  den  Hautschüppchen  hängen  gebliebenen  Asche,  aus  dem  Wasser  steigend 
zeigt  er  das  reinste  Schwarz,  welches  in  der  Sonne  deutlich  braun  schimmert  und  mit  Oel  ein- 
gerieben, ist  er  völlig  nussbraun.  Von  den  Bongo  brauche  ich  nicht  zu  reden,  da  sie  geölt  völ- 
lig kupferroth.  Aber  die  dunkleren,  gewöhnlich  ganz  schwarz  erscheinenden  Djur  zeigen  ein 
deutliches  Braun,  sobald  sie  schwitzen  oder  mit  Fett  eingerieben  sind.  Wohlgeformte  Köpfe 
sind  allerdings  sehr  selten,  kommen  indessen  vor.  Die  Bongo  sind  unstreitig  die  wohlgebilde- 
testen unter  allen  diesen  Leuten".  Wenn  ich  nun  auch  nicht  gerade  alle  hier  über  die  Haut- 
farbe gethanen  Ansprüche  meines  trefflichen  Freundes  unterschreiben  möchte,  so  kann  ich  doch 
meine  Freude  nicht  verhehlen,  dass  er  auch  für  die  von  uns  vertretenen  Zwecke  durch  osteolo- 
gisehe  Sammlungen  (vgl,  Jahrgang  1869  S.  185  dies.  Zeitschrift),  Körpermessungen,  durch  son- 
stige  Beobachtung  der  physischen  Eigenheiten,  durch  Aufnahme  von  Portraits,  endlich  durch 
Beobachtung  der  Sitten  und  Gebräuche  afrikanischer  Stämme  so  rüstig  zu  wirken  bestrebt  ist. 
Gerade  seine  l'ntersuc hungert  über  die  Niam-Niam  werden  uns  ein  weit  wissenschaf tliche- 
res  Ergebniss  liefern,  als  die  nur  dürftigen  Notizen  eines  Lejean,  Piaggia  U.A.,  ganz  abgesehen 
von  denen  jenes  Europäergesindels,  welches  längs  des  Nils  fälscht,  stiehlt,  mordet,  dabei  aber 
noch  frech  genug  ist,  „umfangreiche  geographische"  und  ethnologische  Untersuchungen  in  die 
Welt  spediren  zu  wollen.  R.  Hartmann. 

Dr.  S.  Marcuse  erhielt  bei  3030  den  Journalen  der  Universitäts-Entbindungsanstalt  zu  Berlin 
entnommeneu  Notizen  über  Schwangere  als  durchschnittliches  Lebensalter  für  den  Eintritt  der  Men- 
struation die  Zahl  16,  '28.  l.'nter  den  3030  Personen  waren  aus  Berlin  gebürtig  370;  bei  diesen 
war  das  durchschnittliche  Lebensalter  für  die  erste  Menstruation  14,  59.  Seit  dem  10  Jahre 
wurde  der  Eintritt  der  Menstruation  in  vier  Fällen  beobachtet  (Ref.  kennt  einen  Fall,  in  wel- 
chem die  Menstruation  bei  einem  verzärtelten  8^jährigen  blonden  Mädchen  eintrat,  regelmässig 
bis  zum  11  anhielt,  dann  bis  12|  Jahr  sehr  unregelmässig,  mit  mehrmonatlichen  Pausen,  statt- 
fand, von  12%  Jahr  an  jedoch  wieder  regelmässig  wurde.  Die  Brüste  zeigten  übrigens  erst  vom 
11  Jahre  an  einige  Entwickelung.  Das  Mädchen  ist  jetzt  14}_>  Jahr  alt,  für  ihr  Alter  sehr  gross, 
schlank,  übrigens  vollkommen  gesund).  Für  die  grossen  Frauen  fand  Marcuse  das  durchschnitt- 
liche Lebensalter  16,  23,  für  die  kleinen  IC,  28,  für  die  mittelgrossen  16,  47.  Danach  würden 
grosse  Frauen  am  frühesten,  tnittelgrosse  am  spätesten  menstruirt.  Für  mittelgrosse  Blondi- 
nen wäre  das  mittlere  Lebensalter  für  den  Eintritt  der  Regeln  16,33,  für  mittelgrosse  Brünette 
15.  63,  für  klein.  Blondinen  17,  11.  für  kleine  Brünette  16,  81  (Beide  letztere  Kategorien,  nach 
spärlicherem  Material  aufgestellt). 


67 


(Ueber  den  Eintritt  der  Menstruation,   nach   Angabe  von  3030  Schwangeren  in  clei    Konig] 
Uiüversitäte-Entbindungsanstalt  zu  Berlin,     Inauguraldissertation.     Berlin  1869  .  H. 


Zur  besseren  Veranschaulichnng  der  geographischen   Verbreitung  der  Bluterkrankheil   (Ha 
mophilie)  hat  Dr.  R.  Assmann  folgende  Tabelle  nach  Grandidier  mit  hinzugerechneten  eigi 

obachteten  und  erkundeten  Fällen  aufgestellt : 


Land. 


Bluter-Fami-  i      Einzelne 
lien.  Bluter. 


Männer. 


Frauen. 


Deutschland 

77 

9 
2 

Frankreich 

17 

Grossbritannien     .... 

36 

Schweden  u. 

Dänemark .     . 

6 

Russland  u. 

Polen     .     .     . 

8 

20 

Java    . 

1 



247 

227 

20 

45 

45 

— 

9 

7 

o 

43 

42 

1 

88 

80 

8 

13 

8 

5 

14 

11 

3 

57 

55 

o 

5 

5 

- 

Summa 


176 


521 


480 


41 


Verf.  fährt  fort:  „Die  meisten  beschriebenen  Fälle  kämen  also  auf  Deutschland,  demnächst 
auf  Grossbritannien,  dann  auf  Nord-Amerika.  Assmann  möchte  die  Hämophilie  als  «ine  dem 
anglo-germanischen  Volksstamme  ganz  vorzüglich  eigenthümliche  KrankheiJ  ansehen,  wäh- 
rend sie  den  slavischen  und  romanischen  Volksstämmen  s0  gut  wie  fremd,  bliebe.  Wenigstens 
hätten  umfassende,  im  Sommer  1854  durch  Adelmann  angestellte  Versuche  für  Russland  ein 
meist  negatives  Resultat  gegeben.  Ebenso  selten  scheine  die  Bluterkrankheit  im  Süden  Europa's 
zu  sein,  wenigstens  fänden  sich  nirgends  Fälle  aus  Spanien,  Italien,  Ungarn,  Griechenland  und 
der  europäischen  Türkei  erwähnt.  Der  Schweiz  gehörten  9  pCt.  aller  bekannten  Fälle  an,  unter 
denen  sich  nicht  ein  einziger  Q  Bluter  befände  Auf  Frankreich  kämen  8'o  pCt.,  doch  sei  hierbei 
wissenswerth,  dass  die  meisten  dieser  Beobachtungen  aus  pariser  Hospitälern  stammten,  weshalb 
man  jene  Zahl  nicht  ohne  Weiteres  als  für  Frankreich  stricte  gültig  annehmen  könnte.  Holland 
und  die  Skandinavischen  Reiche  lieferten  nur  ein  kleines  Kontingent  zur  Statistik,  doch  sei  es 
erwähnenswerth.  dass  in  einem  Dorfe  bei  Christiania  eine  Bluterfamilie  wohne. 

Aus  anderen  Welttheilen  existirten,  ausser  Nord-Amerika  und  dem  vereinzelten  Falle  auf 
Java,  gar  keine  Beobachtungen.  Es  sei  zweifelhaft,  ob  diejenigen,  welche  Abul-Kasim  gegeben, 
wirklich  zur  Haemophilie  gehörten.  Refer.  bemerkt  hierzu,  dass  man  von  einigen  Seiten  über 
eine  in  Sudan  herrschende  Hämophilie  gesprochen.  Es  ist  dies  aber  nur  die  hei  daselbst  skor- 
butisch und  typhös  Erkrankten  eintretende  D;sposition  zu  leicht  erfolgenden  Blutungen,  welche 
mit  Abnahme  der  Krankheit  wieder  aufhört  und  selten  noch  in  geringem  Grade  Wochen,  Mo- 
nate, Jahre  nachbleibt.  Diese  Erscheinungen  haben  jedoch  mit  der  eigentlichen  Haemophüie 
nichts  zu  thun. 

Assmann  schliesst:  „Die  geographischen  Grenzen  Hessen  sich  also  bestimmen  nach  Norden 
61°  n.  Br.  bei  Christiania,  nach  Süden  durch  Palembang.  Demnach  scheine  die  Hämophilie  der 
nördlichen  Hemisphäre  ausschliesslich  anzugehören.  Eine  Elevationsgrenze  hisse  sich  nicht 
feststellen,  da  die  Krankheit  in  den  Tiefebenen  Hollands  und  Norddeutschlands  noch  in  der  Höhe 
von  5000'  zu  Tenna  in  den  rhätischen  Alpen  beobachtet  worden  sei."  (Die  Hämophilie.  Inau- 
guraldissertation.    Berlin   1869.)  H. 


68 

Tb.  Kotschky  schreibt  in  seinem  Tagebuche  vom  6.  Dez.  1837:  Abu-Ramla  ist  ein  Berg  an 
der  abyssinischen  Grenze  and  nur  zwei  Tagereisen  von  Roseies  entfernt.  Der  daselbst  wohn- 
hafte Stamm  heisst  Hammedz,  Schekh  desselben  ist  Edrys  Wod-Adlan.*)  Araber  giebt  es  da- 
selbst nur  sehr  wenige.  Die  Bewohner  von  Abu-Ramla  verhängen  sehr  grausame  Strafen  über 
Zauberer  und  Diebe.  Ist.  eines  dieser  Subjecte  gefangen  worden,  so  legt  man  selbiges  hin, 
zieht  ihm  Haut  und  Haare  von  der  Hirnschale  ab,  schmiert  den  Körper  mit  Honig  ein,  und 
bringt  es  so  lange  auf  einen  grossen  heissgemachten  Stein,  bis  Delinquent  zu  Tode  ge- 
braten ist.  H. 


Bücherschau. 


J.  P.  Madsen:  Antiquites  prehistoriques  du  Danemark.  L'Age  de  la  pierre. 
Copenhague  1869.  1  vol.  fol.  19  S.  und  45  Taf.  Verf.  giebt  zu  Anfang  seines  Bu- 
ches eine  kurze  Uebersicht  über  Stein-,  Bronze-  und  Eisenalter,  daran  schliesst  derselbe  eine 
compendiöse  Darstellung  der  Hauptindustriezweige,  der  Leichenbestattung  u.  s.  w.  der  alten  Dä- 
nen. In  dem  Artikel  L'Age  de  la  pierre  werden  die  Sitten  und  Gebräuche  der  dänischen  Stein- 
menschen noch  etwas  weiter  ausgeführt.  „On  n'a  pas  encore  constate  que  les  habitants  de 
läge  de  la  pierre  de  Danemare  ont  partique  l'agriculture  et  qüils  ont  elevö  des  bestiaux;  il 
paraitrait  plutot  qu'ils  vivaient  exclusivement  de  la  chasse  et  de  la  peche".  S.  8  und  9  geben 
uns  eine  gedrängte  Abhandlung  über  Küchenabfälle,  Affaldsdynger  og  Kjoekkenmoeddinger.  Auf 
SS.  10 — 14  treffen  wir  eine  etwas  ausführlichere  Besprechung  der  Dolmen  und  Dolmenfunde, 
letztere  wird  im  folgenden  Abschnitte,  ,Trouvailles  reunies"  betitelt,  (S.  14,  Th.  I)  noch  mehr  aus- 
gedehnt. Die  Figurenerklärung  findet  sich  im  Texte  selbst;  eine  Anzahl  Tafeln  sind  aber  im 
letzten  Textabschnitte:  Antiquites  de  differentes  provenances,  besonders  beschrieben  worden. 
Die  Tafeln  erscheinen  in  Kupferstichradirungen  sehr  hübsch  ausgeführt,  sie  bieten  in  Bezug  auf 
Dolmen,  Waffen  und  Geräthe  aus  Holz,  Knochen,  Hörn  und  Stein,  auf  Urnen  u.  s.  w.  ein  ebenso 
reiches  wie  interessantes  Material.  Eine  genauere  Einsicht  in  dies  wichtige  Buch  ist  dem  Alter- 
tumsforscher unentbehrlich,  auch  sollte  dasselbe  in  keiner  Bibliothek  eines  archäologischen  oder 
ethnologischen  Museums  fehlen. 

Bourguignat:  Histoire  des  monuments  megalithiques  de  Roknia  pres 
d  Hammam-Meskhoutin.  Souvenirs  d'une  exploration  scientifique  dans  le  Nord 
de  l'Afrique  IV.  Paris  1868.  1  vol.  4to  von  99  S.  Text  und  über  12  Tafeln. 
Verf.  hat.  an  den  Dolmen  von  Roknia,  deren  Zahl  er  auf  1200 — 1500  schätzt,  Ausgrabungen  ver- 
anstaltet, welche  sich  den  von  Faidherbe  unternommenen  und  S.  59  dieses  Heftes  erwähnten 
anreihen  lassen.  Bourguignat  leitet  seine  Darstellungen  mit  einer  kritischen  Uebersicht  der  über 
megalithiache  Denkmäler  Algeriens  von  1855 — 1868  durch  Becker,  Foy,  Payen,  Feraud,  Bertrand, 
Leclerc,  Neltnez,  Bourjot,  Faidherbe  und  Letourneux  veröffentlichten  Abhandluugen  ein.  Wer 
nun  die  Originale  der  letzteren  nicht  zur  Verfügung  hat,  findet  in  Bourguignat's  Uebersicht  we- 
nigstens  den    Hauptinhalt   hervorgehoben.     Von  Abschnitt  III   ab   behandelt  Verf.   dann  seinen 


*)  Vergl.  S.  288  Jahrgang  1869  dieser  Zeitschrift. 


69 

Stoff,  die  Dolmen  von  Roknia,  welche  bis  auf  einen  durch  seme  Grösse  ganz  besonder*:  hervor 
ragenden  nur  klein  sind.    In  den  [nnenkammern  dieser  Di  len  sich  Detritus  und  Land- 

schnecken, letztere   im   bedeutendsten    Pormenreichthum,   darunter  eine   Helia    \  lioiirij. 

In  der  Nachbarschaff  existirt  kein  römisches  Minium"!:!.  Im  folgenden  werden  rinn  einzelne 
Dolmengräber  und  „Haouanet1'.  neuere  Aushöhlungen,  den  i  Vltei  Verf.  auf  1000  l»if  höchstens 
1500  Jahre  vor  Chr.  schätzt,  genauer  beschrieben.  Vbschnitl  V  isl  hauptsächlich  den  sehi 
kunstlosen  Gold-  und  Bronzerunden   gewidmet.     Wii    erhalten   hier  Anal]  durchgehend« 

aus  Kupfer,  Zinn  und  Bisen  bestehenden  Bronzen.  Einigci  anderer  Industrieprodukte,  namenl 
lieh  Töpferwaaren,  geschieht  ebenfalls  Erwähnung.  Sehr  wichtig  isl  der  craniologische  Anhang 
Pruner-Rey's.  Dieser  behandelt  die  zn  Roknia  gefundenen  Afrikaner-  und  etliche  andere  ihr«! 
Herstammnng  nach  zweifelhafte  Schädel.  Unter  ersteren  treffen  wii  Kabylen,  Seger,  Mulatten, 
Aegypter.  Eine  Maasstabelle  ist  angehängt.  Die  ausführlichere  Betrachtung  dieses  wichtigen 
Abschnittes,  sowie  der  von  Pruner  und  von  Bourguignal  aus  dein  gesammten  Fundrnaterial  ge- 
zogenen Schlüsse,  muss  für  eine  andere  Gelegenheit  aufgespart  werden.  Hier  genüge  es,  Inhalt 
und  Bedeutung  des  ganzen  Werkes  im  Allgemeinen  zu  characterisiren.  Di"  Ausstattung  ist  sehr 
ansprechend.  Es  fehlt  nicht  an  Kärtchen,  Plänen,  Grundrissen.  Die  Abbildungen  der  Conchy- 
lien  sind  sehr  naturgetreu,  diejenigen  der  Geräthe  hinreichend  plastisch,  die  Scbädeldarstelluugen 
sind  sämmtlich  genau  nach  der  Antlitz-,  Scheite!-  und  Seitennorm,  sie  sind  im  Detail  vollstän- 
dig befriedigend. 

M.  Th.  v.  Heuglin:  Reise  in  das  Gebiet  des  weissen  Nil  und  seiner 
westlichen  Zuflüsse  in  den  Jahren  1862—1864.  Leipzig  und  Heidelberg  1865'. 
1  vol.  8.  382  S.,  Illustrationen  in  Holzschnitt  und  Karte.  Eingeleitet  durch  eine 
jener  Panegyrikeu,  wie  sie  Prof.  A.  Petermann  den  sich  seiner  besonderen  Bevorzugung  erfreuenden 
Reisenden  in  so  liberaler  Weise  angedeihen  lässt,  bietet  uns  dies  Werk  Dasj»  nige  im  Zusammen- 
hange dar,  was  Heuglin  schon  früher  in  den  geographischen  Mittheilungen  und  deren  Supple- 
menten in  einzelnen  Aufsätzen  veröffentlicht  hat.  [nterressanterweise  lernen  wir  unter  den 
eharrumer  Biedermännern  die  Gebrüder  Poncet  durch  den  Verf  als  Solche  schätzen,  denn 
„geographische  Untersuchungen"  bei  weitem  zu  den  besten  und  umfangreichsten  gehören, 
„die  wir  über  den  östlichen  Sudan  kennen!1-  Heuglin  hatte  für  den  grösseren  Theil  seiner  Reise 
insofern  erleichtertes  Schreiben,  als  ihm  in  den  (unterlassenen  Papieren  seine-  gelehrten  Begli  i- 
ters  Steudner  ein  vorzügliches  Material,  namentlich  in  botanischer  Hinsicht,  zur  Verfügung  stand. 
Bekanntlich  sind  Steudner's  selbst  topographisch  und  ethnographisch  interessante  Darstellungen. 
die  Heuglin  auch  in  seinem  abyssinischen  Reisewerk*)  in  ausgiebigster  Weise  zu  Rathe  gezogen, 
in  Koner's  Zeitschrift  für  allgemeine  Erdkunde  zur  Veröffentlichung  gelangt.  Heuglin  gewährt 
uns  in  rein  ethnographischer  Hinsicht  dankenswerthe  Mittheilungen  über  die  Stämme  des  von 
ihm  geschilderten  Gebietes,  obgleich  hierbei  die  natur  geschichtliche  Seite  der  Völkerkunde, 
wie  immer,  sehr  karg  wegkommt.  Wir  werden  aus  seinen  Schilderungen  hinsichtlich  der  phy- 
sischen Beschaffenheit,  Rassenstelluug  u.  s.  w.  der  Dinka,  Niam-Niam  u.  s  w  sicherlich  nicht 
klüger.  Wir  erfahren  nur  etwas  von  .reinen,  ächten  Negern",  von  einem  „nicht  der  Negerrasse 
angehörenden  Niam-Niamadel  und  ähnliche  nichtsbedeutende  Dinge,  wie  sie  für  die  Wissen- 
schaft ganz  unbrauchbar  sind.  Heuglin  giebt  auch  einen  zoologischen  Anhang,  dessen  syste- 
matischer Inhalt  jener  Periode  angehört,  während  welcher  man  aus  individuellen  Variationen, 
Fellen,  Hörnern,  ja  selbst  blos  aus  dem  „Sehen  von  Weitem"  so  künstlich,  wie  selbstgefällig 
,,neue  Arten"  zusammenconstruirte  Diese  Periode  hat  aber  die  wirklich  wissenschaftliche  Zoologie 
zum  Glück  überwunden,  dieselbe  verlangt  jetzt  ein  anderes  Material  zum  Aufbau  ihrer  Systeme. 
Nur  Schade,    dass   die  Wissenschaft  so  viel  Zeit  und  Mühe  aufwenden  muss,   um  all  den  zoolo- 


*)  Reise  nach  Abyssinien,  den  Gala-Ländern,  Ost-Sudan  und  Chartuin  in  den  Jahren  1861 
und  1862  von  M.  Th.  v.  Heuglin.     Jena  1868. 


70 

eischen  Ballast  wieder  loszuwerden,  den  man  ihr  aufgedrungen.  Dagegen  enthält  obiger  Anhang 
manches  recht  Interessante  über  die  Lebensweise  der  Thiere  des  Gebietes.  Die  Abbildungen, 
obgleich  in  technisch-xylographischer  Hinsieht  befriedigend,  hätten  dennoch  füglich  hin- 
wegbleiben können.  Sie  lehren  ans  wenig  genug.  Es  erseheinen  namentlich  die  Baumstudien 
verfehlt,  so  z.  B.  entbehrt  die  „Delebpaline"  jedweder  specielleren  Charakteristik.  Febrigens  ist 
das  Buch  nicht  schlecht  geschrieben,  der  Wortsatz  ist  nüchtern  und  sachgemäss,  ohne  jedoch 
langweilig  zu  werden. 

V.  Hehn:  Kulturpflanzen  und  Hausthiere  in  ihrem  Uebergang  aus  Asien 
nach  Griechenland  und  Italien,  sowie  in  das  übrige  Europa.  Berlin  1870. 
1  vol.     8.  zu  456  S. 

Prof.  Francesco  Papa:  Sugli  Animali  domestici  nei  terapi  anteistorici. 
Kicerche  paleontologiche.  Torino  1809.  1  vol.  8.  zu  116  S.  und  einer  Durch- 
schnittszeichnung in  Holzschnitt. 

Hehn  behandelt  die  Verbreitung  des  Weinstockes,  Feigenbaumes,  Oelbaumes,  Flachses,  Han- 
les,  der  Platane,  Pinie,  des  Rohres  u.  s.  w.,  des  Esels,  Maulthieres,  der  Ziege,  der  Katze,  des 
Büffels  u.  s.  w.,  über  Europa,  namentlich  das  südliche  Europa.  Verf.  trägt  mit  bedeutendem, 
höchst  anerkennungswerthem  Fleisse  reiches  historisches  und  linguistisches  Material  zusammen, 
welches  hinfort  von  einem  Jeden  sich  mit  dergleichen  Studien  Beschäftigenden  benutzt  werden 
muss.  Freilich  leidet  die  Schrift  auch  wieder  an  allen  durch  einseitige  historische  und  philolo- 
gische Methode  veranlassten  Mängeln.  Die  zoologische  und  paläontologische  Methode  würde  auf 
verschiedene  Fragen  der  Art  ganz  andere  Antworten  geben,  wie  Verf.  dieselben  zu  geben  ver- 
sucht hat.  Asiens  Gebieten  ist  ein  viel  zu  weiter  Raum  als  Urheimath  mancher  Kulturpflanzen 
und  Kulturthiere  gewährt  worden.  Die  alten  stereotypen  Lehren  von  „arischen  Einwanderungen" 
u.  s.  w.  beeinflussen  leider  auch  hier  gar  zu  sehr  den  Gang  der  Arbeit  und  veranlassen  wieder 
eine  Fülle  von  Speculationen,  die  einer  kühlen  ..anthropologischen"  Behandlung  der  Völkerkunde 
last  nirgends  Stich  halten  können.  Dies  macht  sich  namentlich  in  dem  über  die  „Urzeit"  han- 
delnden Abschnitte,  S   10—21,  so  recht  fühlbar. 

Üebrigons  hat  Verf.  seinen  „historisch- linguistischen"  Standpunkt  so  völlig  in 
den  Vordergrund  gedrängt,  dass  wir  ihm  die  aus  Mangel  an  intensiveren  naturgeschichtlichen 
Studien  erwachsenden  Missstände  seines  Buches  nur  indirekt  zum  Vorwurfe  machen  wollen. 
Letzteres  um  so  eher,  als  die  von  jeher  vernachlässigte,  oberflächliche,  jedes  Strebens  nach  ernster 
Forschung  völlig  bare  Behandlungsweise  des  vorliegenden  Materials,  namentlich  der  Hausthier- 
kunde,  von  Seiten  der  allermeisten  Zoologen,  Thierzüchter  und  Landwirthe,  einem  Geschichts- 
wie  auch  Sprachkundigen  nur  wenig  Lust  machen  wird,  die  naturgeschichtliche  Seite  der  Unter- 
suchung noch  besonders  in  s  Auge  zu  fassen. 

In  jedem  Falle  bleibt  das  Unternehmen  des  Verf.  ein  durchaus  daukenswerthes. 

Papa  giebt  in  seinem  oben  betitelten  Schriftchen  eine  verhältnissmässig  ausgedehnte  palä- 
ontologische Einleitung,  behandelt  den  archäologischen  Theil  des  Stoffes  dagegen  nur  kurz  und 
verfällt  in  dem  Abschnitte  über  das  Alter  der  Urmenschen,  ebenfalls  in  die  spezifische  arische 
Einwanderungstheorie  mit  ihren  unausbleiblichen  Consequenzen  von  Fehlschlüssen  und  Verwicke- 
lungen. Der  Abschnitt  über  die  Stammväter  unserer  Hausthiere  bietet  uns  anstatt  historischer 
und  zoologischer  Untersuchungen  nichts  weiter  als  etliche  allgemeine  Redensarten  dar.  In  den 
.lern  eigentlichen  Thema  gewidmeten  Abschnitten  treffen  wir  nur  auf  Kompilationen,  eigene  For- 
schungen auf  diesem  Gebiete  fehlen  jedoch.  Viel  lässt  sich  mit  der  ganzen  Arbeit  leider 
nicht  anfangen.  H. 


71 

Thierzucht  betreffend.  Von  R.  Biber.  (Neue  landwirthscbaftliebe  Zeitung, 
herausgegeben  vou  Dr.  J.  J.  Fühling.  Neue  Folge,  VI.  Jahrgang,  S.  412  ff.) 
Merkwürdig  bleibt  es,  wie  doch  gerade  in  die  Besprechung  der  Darwinschen  Lehren  sich  80 
Vieles  hineinzunisten  sucht,  was  am  Besten  gänzlich  davon  fremdbliebe.  Verf.  obigen  Artikels 
Autor  eines  Pamphletes  gegen  G.  Vogt,  eines  anderen  gegen  U.  Settegast,  Autor  einiger  sonsti 
ger  Artikel  über  Thierzueht,  Darwinismus  u.  s.  w.,  bekennt  sich  stets,  und  so  auch  an  obiger 
Stelle,  als  wüthigen  Gegner  des  letzteren,  wenn  er  es  auch  zuweilen  wieder,  politisch  genug, 
selbst  nicht  recht  haben  will,  Unter  den  Redensarten  unseres  Schriftstellers  spielen  „Wissen- 
schaft", „Induetion",  „Logik"  eine  stehende  Rolle.  Leider  gewähren  sämmtliche  uns  bekannt 
gewordene  Leistungen  besagten  Biber's  einen  nur  zu  deutlichen  Einblick  in  die  gänzliche  Man- 
gelhaftigkeit seiner  wissenschaftlichen  Vorbildung.  Wir  wollen  hier  von  früheren  naiven  Schnitzern, 
die  er  begangen  und  für  welche  die  von  ihm  so  häutig  und  für  seinen  Standpunkt  jedenfalls 
mit  Unrecht  getadelten,  schulmeisterlichen  Zurechtweisungen  sehr  am  Platze  sein  dürften,  au- 
Mangel  an  Raum  einmal  absehen.*)  Dagegen  wollen  wir  hier  ein  Paar  Stellen  aus  unserem  oben 
betitelten  Aufsatze  ausziehen,  welche  Stellen  die  Wissenschaft,  die  Logik,  die  Tiefe  und 
Gründlichkeit  des  Quellenstudiums,  die  Gerechtigkeit  des  Gefühls  Herrn  Biber's  ins  volle 
Licht  stellen  werden: 

A.  o.  a.  0.  S.  413  heisst  es  z.  B. :  „den  Angriffen  gegenüber  meinen  Auslassungen  contra 
Darwinismus  möchte  ich  vor  allen  Dingen  jedem  Missverständniss  durch  die  Erklärung  vorbeu- 
gen, dass  ich  an  die  Genesis  der  Bücher  Mosis  nicht  glaube,  eine  Fortentwicklung  der  Organis 
men,  Weltkörper  etc.  etc.  voraussetze,  Darwin's  und  seiner  Anhänger  Versuche,  diese  Hypothese 
zu  beweisen,  aber  vollständig  verwerfe,  weil  dieselben  nicht  ermittelte  Wahrheiten  und 
Facta  als  Beweismittel  induciren,  sondern  sich  mit  einem  Heer  von  ungenauen  Citaten,  falschen 
Beobachtungen  und  sogar  sophistischen  Verwendungen  Jedem  verdächtig  machen,  der  die  wissen- 
schaftlich constatirte  Thatsache  von  den  nonchalanten  Mittheilungen  aus  einer  kleinen 
Ferienreise  zu  unterscheiden  weiss.  Wenn  dem  gegenüber  noch  von  unerbittlicher  Logik  des 
Darwinismus  gesprochen  wird,  so  bleibt  mir  nur  die  Erklärung  übrig,  dass  Logik  eben  der 
schwächste  Punkt  der  Darwinianer  ist  und  dass  die  häufig  genommene  Zuflucht  zur  Sophistik 
das  logische  Gefühl  bei  vielen  Anhängern  dieser  Lehre  verdrängt  hat  u.  s.   w." 

Ferner  das.  „Darwin,  Huxley,  Vogt,  Rütimeyer,  Haeckel,  Büchner  und  selbst  Bastian  ha 
ben  auf  mich  bis  jetzt  den  Eindruck  einer  unerbittlichen  Logik  nicht  gemacht,  sondern  im  Ge- 
gentheil  ist  Logik  leider  eine  sehr  schwache  Seite  dieser  sonst  so  verdienstvollen  Naturforscher" 

Das. :  Verf.  fühlt  sich  frappirt  darüber,  „dass  der  Esel,  dass  gewisse  Formen  des  Schweine», 
des  Rindes,  dass  das  Lama  von  wilden,  jetzt  recht  wohl  bekannten  Stammformen  herrühren1' 
sollen.  „Das  ist  wieder  ganz  darwinianisch",  Alles,  was  zum  Belag  für  diese  Lehre  dienen  kann, 
zu  usurpiren  und  als  unumstössliche  wissenschaftlich  konstatirte  Thatsache  hinzustellen.  Ich 
weiss  darüber  nur,  dass  so  gut  wie  in  Amerika  das  Pferd  verwildert  ist,  in  einigen  Gegenden 
des  Orients  verwilderte  Esel  vorkommen,  dass  Arbeiten  über  Wildschwein  und  Hausschwein  und 
von  Rütimeyer  über  Bos  primigenius  und  unser  Hausrind  existiren,  die  mancherlei  anatomische 
Übereinstimmung  nachweisen  ;  alle  Arbeiten  darüber  weisen  nicht  nach,  dass  die  Species  durch 
anatomische  Aehnlichkeit  festgestellt  werden  könnte.  Unerbittlich  log  i  seh  würde  man  also, 
wenn  man  nicht  Darwinianer  ist,  sich  ungefähr  so  ausdrücken:  „Wir  wissen,  dass  im  Orient 
verwilderte  —  nicht  wilde  Esel  leben"  u.  s.  wr.**) 


*)  Halt  aber!  Einer  dieser  Schnitzer  ist  doch  gar  zu  nett,  um  ganz  übergangen  zu  werden: 
„Die  Darwinianer  werden  ims  doch  in  dieser  Weise  nie  darüber  aufklären,  weshalb  die  Sparma- 
tozoen  des  Maulthierhengstes  bei  der  Begattung  mit  Esel-  und  Pferdestuten  unbefruchtet  bleiben 
u.  s.  w."  Das  heisst  doch  wirklich  „die  Genitalien  verwechseln".  (Vergl.  C.  Vogt's  naturwis- 
senschaftliche Vorträge  über  die  Urgeschichte  des  Menschen  von  R.  Biber.  Berlin  i.  Selbst- 
verlag, S.  5). 

")  In  der  Schrift  gegen  Vogt  heisst  es  S.  11:  „es  gebe  vielleicht  auch  diese  gebänderten 
Pferde  (wie  Darwin  sie  schildert  und  jeder  Pferde-  wie    Eselzüchter  sie  kennt)  gar  nicht".    Wo 


72 

S.  H3.  »Das  Tnithuhii  fanden  die  Europäer  bei  der  Entdeckung  Amerikas  dort  bereits 
domesticirt,  und  die  Dnbeholfenheit  und  geringe  Scheu  der  wild  lebenden  spricht  dafür,  dass 
sie  nur  verwilderte  Hausthierc  sind:  die  Domestikation  konnten  wir  also  nicht  gut  beobachten-. 
Ferner  das.  Anm  :  „Ausserdem  giebt  es  noch  Lesarten,  nach  denen  das  Truthuhn  bereits  Rö- 
mern und  Griechen  bekannt  war  und  eine  Stelle  im  Aelian  wird  als  Schilderung  dieses  Thieres 
bei  Beschreibung  eiues  üppigen  Gastmahls  gedeutet."*)  Das.:  ,,Noch  schlimmer  sind  die  Mehr- 
arbeiten des  Parwinianers  auf  Reisen,  wie  ich  hier  klar  machen  will.  Denken  wir  uns,  dass  ein 
chinesischer  oder  afrikanischer  Naturforscher  dieser  Richtung  die  Mark  im  Herbste  durchstreif, 
und  dort  tief  in  den  Feldern  einige  Hauskater  findet,  wie  sie  der  Jager  um  diese  Zeit  oft  an- 
trifft. Als  grundsätzlicher  Fabrikant  \on  verschiedenen  Species  wird  er  seinen  Landsleuten  einen 
genauen  Bericht  über  die  Species  des  Genus  Felis  in  der  Mark  Brandenburg  abstatten  und  den- 
selben weissinaeheu,  dass  dori  eine  Hauskatze  neben  ihrer  wilden  Stammform  existirt;  dass 
diese  beiden  Species  sich  untereinander  noch  mehrere  Generationen  hindurch  fruchtbar  begatten 
und  dass  stets  wiederum  einige  wilde  Katzen  domesticirt  werden.  Unsere  berliner  Gelehrten 
sind  darin  jedoch  einig,  dass  die  Hauskatze  oft  weit  ins  Feld  zieht  und,  wenn  sie  dreifarbig 
aussieht,  sicher  kein  Kater,  sondern  weiblichen  Geschlechtes  ist'-.  Warum  nun  hat  Biber  seineu 
Witz  nicht  noch  durch  einige  Ausfälle  auf  Bates,  Wallace,  Hensel,  M'Lair,  Hilgendorf  und  andere 
„Darwinianer  auf  Reisen"  gewürzt? 

Man  ersieht  übrigens  aus  Obigem,  dass  dem  Manne  ein  nicht  ganz  uniübliches  Streben  inne- 
wohnt, die  Leser  seiner  Aufsätze  in  humoristischer  Weise  anzuregen  Er  will  auf  jeden  Fall 
hin  Spass  machen.  Es  scheint  rhm  das  auch  namentlich  bei  jener  Kategorie  von  Landwirthen 
u  s.  w.  trefflich  zu  gelingen,  welch^  ihm  durch  ihre  Theilnahme  den  Druck  bereits  einer  zwei- 
ten Auflage  seiner  .Schrift  gegen  .Vogt  ermöglicht  haben!  In  Leuten  derartiger  Kategorie  wird 
auch  Herrn  Biber's  Zurechtweisung  freudigen  Wiederhall  finden:  ,,die  Thierzucht  als  Wissen- 
schaft wird  nie  durch  Anatomen,  Physiologen,  Naturforscher  etc.  etc  (sie!)  direet  gefördert 
werden,  ohne  dass  dieselben  praktisch  das  Hausthier  von  der  Geburt  an  behandeln  und  beob- 
achten.**)'1 Lud  sollten  Anatomen,  Physiologen  u.  s.  w.  u.  s.  w  sich  doch  erkühnen,  in  solchen 
Angelegenheiten  zuweilen  ein  Wörtchen  mitreden  und  die  Oberflächlichkeiten  eingebildeter  Halb- 
wisser  schulmeisterlich  abstrafen  zu  wollen,  so  werden  weder  Herr  Biber  uoch  seine  Leser  sie 
daran  hindern.  Uebrigens  wird  besagter  Herr  Biber  schwerlich  noch  Jemand  dazu  provoziren, 
sich  mit  seinen  literarischen  Spässen  ernsthaft  zu  beschäftigen.  Möge  ihm  denn  der  Stalldunst, 
den  er  zum  Schlüsse  als  heilsames  Medium  bei  Untersuchungen  in  der  Thierzucht  anempfiehlt 
uud  den  auch  wir,  wo  es  Noth  thut,  nimmer  scheuen,  recht  wohl  bekommen  1  H. 

Am  Sonnabend,  11.  Dec,  hielt  die  Gesellschaft  für  Anthropologie  und  Ethnologie  (nach  einer 
vorläufigen  Besprechung  am  Mittwoch,  3.  Nov.  und  der  Constitutionsitzung  17.  Nov.)  ihre  erste  regel- 
mässig.' Sitzung  und  bildete  den  Hauptgegenstand  der  Verhandlungen  ein  Vortrag  des  Vorsitzen- 
den, Herrn  Professor  Virchow  über  die  Pfahlbauten  des  nördlichen  Deutschlands.  Die  stenogra- 
phischen Berichte  des  Protokolle*  werden  im  (i  Heft  der  Zeitschrift  veröffentlicht  werden,  das 
erst  in  2—3  Wochen  erscheinen  kaun,  um  den  Literaturbericht  des  verflossener)  Jahres  möglichst 
vollständig  zu  geben.  B. 

mag  wohl  Biber  seine  zoologischen  und  geographischen  Kenntnisse  hernehmen,  wo  mag  er  wohl 
seine  Beobachtungen  anstellen'''     Sicherlich  nicht  auf  Reisen,  nicht  in  Ställen. 

*)  Wir  möchten  den  geistreichen  Cominentator  Aelian's,  der  solche  Lesart  giebt,  wehl  ken- 
nen lernen.  Also  Truthühner  in  Amerika  und  bei  den  Griechen  und  Römern!  0  seliger  Gon- 
zalez Oviedo,  o  seliger  Lopez  Gomarral 

"  Haben  Männer  wie  Cuvier,  die  St.  Hilaire's,  Darwin,  Rütimeyer,  Nathusius  u.  A.  die 
ttaustbiere  etwa  nicht  so  beobachtet?     0  wie  naiv.  — 


Druck  von   Gebr.  Ungar  (Tb.  Grimm;  in  Berlin,  Friedricbstr.  24. 


Zeil  schritt  ftr  Kömolo^it  IS"'»1 


Taf .  11 


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Verlag rWe^anJt  fcHempeli  Berlin 


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73 


[Teber  Gesiclitsurnen. 

Vortrag,  gehalten  in  clor  Sitzung  rler  Berliner  Anthropologischen  Gesellschaft  am  12.  März  1S70 

von 
Rud.  Virchow. 

(Stenographische  Aufzeichnung.) 

Ich  beabsichtige,  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  Gegenstand  zu  lenken, 
welcher  uns  /.war  ziemlich  nahe  liegt,  aber  zugleich  ganz  exceptioneller  Natur 
ist,  nämlich  auf  die  Gesichtsurnen.  Schon  seit  längerer  Zeit  besitzt  unser 
Museum  ausgezeichnete  Exemplare  davon,  und  mir  persönlich  ist  in  letzter 
Zeit  ein  neues  zugegangen. 

Es  ist  bekannt,  dass  es  eine  gewöhnliche  Sitte  in  Aegypten  war,  die 
Eingeweide  der  Leichen,  welche  einbalsamirt  werden  sollten,  in  besondere 
Gefässe  zu  thun,  welche  in  der  Regel  aus  Stein  gearbeitet  und  mit  Deckeln 
versehen  waren,  die  einen  Kopf  darstellten.  Dieser  Kopf  trägt  häufig  mensch- 
liche Züge,  in  manchen  Fällen  aber  auch  die  Gestalt  von  Säugethieren,  Vö- 
geln u.  s.  w.  Unser"  Museum  besitzt  eine  grosse  Menge  dieser  Gefässe  in 
allen  möglichen  Grössen  und  Formen  der  Ausführung,  aber  überwiegend 
solche  mit  menschlichem  Angesicht. 

Derartige,  unter  dem  Namen  der  Kanopen  bekannte  Gefässe  finden  sich 
ausser  Aegypten  verhältnissmässig  selten.  Soweit  mir  wenigstens  bekannt 
ist,  war  es  hauptsächlich  Etrurien,  wo  man  eine  nicht  unbeträchtliche  Zahl 
solcher  Gefässe  angetroffen  liat.  Sie  haben  zugleich  für  unsere  Verhältnisse 
in  sofern  eine  höhere  Bedeutung,  als  sie  nicht  bestimmt  waren,  einzelne 
Theile  der  Leiche  aufzunehmen,  sondern  vielmehr  dazu  gebraucht  wur- 
den, die  Asche  des  verbrannten  Leichnams  zu  bergen.  Es  liegt  auf  der  Hand, 
dass  zu  diesem  Zwecke  die  etrurischen  Kanopen  einen  ungleich  grösseren 
Umfang  haben  mussten  als  die  ägyptischen.  Während  diese  in  der  Kegel  eine 
cylindrische  Gestalt  mit  nur  massiger  Ausweitung  besitzen,  stellen  die  etru- 
rischen Kanopen  stark  ausgebauchte  Gefässe  von  grösserem  Umfange  dar.  In 
der  Kegel  ist  auch  bei  ihnen  der  Deckel  mit  einem  Kopf  versehen  und  zwar 
von  grosser  Mannichfaltigkeit;  man  sieht  männliche  und  weibliche,  jugendliche 
und  alte,  bärtige  und  unbärtige,  verzierte  und  unverzierte  Gestalten.  Man 
hat  also  ein  gewisses  Recht  zu  schliessen,  dass  je  nach  der  Qualität  des  In- 
dividuums die  Deckel  Verschieden  gewählt  sind,  und  wenn  man  auch  nicht 
annehmen   kann,   dass   sie  jedesmal   das  Gesicht  des  verbrannten  Leichnams 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  1870.  Q 


74 

trugen,  wenn  vielmehr  wahrscheinlich  ist,  dass  sie  fabrikmässig  hergestellt 
und  verkauft  worden  sind,  so  darf  man  doch  unzweifelhaft  scbliessen,  dass 
die  vorhandenen  Typen  der  Beschaffenheit  der  Todten  gemäss  benutzt  wor- 
den sind. 

Die  etrurischen  Urnen  zeigen,  soweit  ich  habe  ermitteln  können,  aller- 
dings nur  in  einzelnen  Exemplaren,  gewisse  Modineationen,  welche  für  unsere 
Verhältnisse  ein  bestimmtes  Interesse  darbieten.  Es  giebt  einzelne  Abbildungen 
von  Urnen,  welche  in  Chiusi,  dem  alten  Clusium  gefunden  worden  sind,  wo 
der  Kopf  an  dem  Gefässe  selbst  angebracht  und  der  Deckel  auf  den  Koyi 
aufgesetzt  ist,  wie  eine  gewöhnliche  Kopfbedeckung,  als  Hut  oder  Mütze. 
Diese  Gefüsse  scheinen  allerdings  sehr  selten  zu  sein,  und  dasjenige,  welches, 
soweit  ich  aus  der  grossen  Sammlung  von  Micali  (Monumenti  per  servire  alla 
storia  degli  autichi  popoli  italiani.  Firenze  1832.  Tav.  XXVII.  No.  6)  ersehe, 
als  das  für  uns  wichtigste  erscheint,  wird  nicht  als  Aschengefäss  be- 
zeichnet, sondern  als  Balsamario  (Salbengefäss).  Hier  befindet  sich  der  Kopi 
und  Hals  an  dem  Gefässe  selbst;  die  Anne  sind  in  erhabener  Arbeit  an  dem 
Bauch  der  Urne  angelegt,  der  Henkel  hinten  an  den  Kopf  angesetzt  und 
der  Deckel  besteht  aus  einer  Art  flacher  Mütze.  Das  Original  befindet  sich 
im  Museo  del  Collegio  Romano.  In  vieler  Beziehung  ähnlich  ist  ein  Gefäss, 
welches   Falbe  (Memoires    de    la  societe  des   Antiquaires  du   Nord.      Copenh. 

1840 1844.     p.   133.      PL  VII.     Fig.  4)    aus     der   Kopenhagener   Sammlung 

abgebildet  hat.  Es  stammt  gleichfalls  aus  Clusium  und  besitzt,  wie  der  Bal- 
samario, hinten  einen  Henkel,  vorn  ein  vollständiges  Gesicht,  oben  einen 
Ilachen,  münzenförmigen  Deckel,  auf  dem  eiu  sitzender  Vogel  als  Grift  an- 
gebracht ist. 

Die  sehr  zahlreichen  Abbildungen,  welche  Micali  (Tav.  XIV.  XV)  von 
Aschenurnen  giebt,  nähern  sich  viel  inniger  den  ägyptischen  Vorbildern 
an.  Der  gewöhnlich  unbedeckte  Kopf  dient  als  Deckel  und  nur  die  bald 
freien*),  bald  angelegten,  zuweilen  mit  Spangen  gezierten  Arme  schliessen 
sich  dem  Gefässe  selbst  an.  In  seiner  Storia  degli  ant.  popoli  ital.  Firenze 
1832.  T.  III.  p.  7.  bemerkt  Micali,  dass  diese  Gefässe  aus  den  ältesten  Grä- 
bern von  Chiusi  und  seiner  Nachbarschaft  stammen.  An  einer  anderen  Stelle 
(Monum.  Tav.  XVI.)  bildet  er  zahlreiche  Kopfdeckel  von  Urnen  aus  der  Ne- 
kropole   von  Sartcano  ab. 

Es  sind  nun  im  Laufe  der  letzten  40  Jahre  gerade  in  verschiedenen 
Theilen  Deutschlands  Gesichtsurnen  in  nicht  geringer  Zahl  in  Gräbern  ge- 
funden worden,  fast  durchgängig  mit  Asche  und  Bruchstücken  verbrannter  Kno- 
chen gelullt,  also  unzweifelhaft  Aschenbehälter.  Sie  nähern  sich  sämintlich 
ihrer    Form    nach    der    selteneren    Kategorie    der   etrurischen    Kanopen.     Man 


'  l'.inr  ilicsev  I'i'ikmi  ist  auch  bei  0.  0.  Müller  (Denkmäler  der  Kunst,  gezeichnet  von 
c.  Oestevlen.  Göttingen  1832,  S.  :!('..  Tat.  LVII.  Fig.  277)  wiedergegeben.  Man  vergleiche  übrigens 
Micali  Monum.  inediti  della  storia  etc.  Firenze  1844.  Tuv.  XXVII.  u.  XXXUI. 


75 

kann  /.wci  Localgruppen  derselben  unterscheiden.  Die  eine  schliesst  sich  an 
die  alten  römischen  Ansiedelungen  am  Rhein  an.  Schon  im  Juhre  J£24  hat 
Emele  (Beschreibung  römischer  und  deutscher  Alterthümer  in  den  Gef.  der 
Prov.  Rheinhessen  Mainz  1833.  Taf.  7.  Fig.  8)  aus  einem  Grabe  bei  Castel 
eine  solche  Urne  abgebildel  Wie  ich  ans  Lindenschmit  (Die  Alterthümer 
unserer  heidnischen  Vorzeit.  Mainz  L858  I.  Heft  VI.  Tat.  ü.  Fig.  13),  der 
sie  gleichfalls  in  seinem  Atlas  wiedergegeben  hat,  ersehe,  befindet  sie  sicli 
in  dem  Museum  zu  Wiesbaden.  Unser  Museum  (nordische  Abtheilung)  hat 
eine  rechl  gute  Nachbildung  derselben.  Nach  dem  Berichte  von  Emele  fand 
sich  dabei  noch  eine  gewöhnliche  Urne,  welche  die  Asche  enthielt.  An  dem 
scbwarzbräunlichen,  nach  oben  breit  ausgehenden,  nach  unten  sehr  schmalen 
Gefasse  sieht  man  eine  stark  vorspringende,  spitze  Nase,  sehr  dicke,  stark 
gewölbte  und  verlängerte  Augenbrauen,  eigentümlich  tiefe  und  geschlitzte, 
fast  ganz  geschlossene  Augenlider  und  einen  etwas  schiefen  Mund  mit  sehr 
feinen  Lippen,  so  dass  das  Ganze  einen  etwas  grotesken  Eindruck  macht. 
Der  Henkel  sitzt  an  der  Rückseite;  ein  Deckel  fehlt. 

Derartige  Gefasse  sind  nachher  noch  einige  andere  bekannt  geworden. 
In  dem  Kupferwerk  von  Lindenschmit  (Taf.  6.  Fig.  7  u.  10)  finden  sich  noch 
zwei  andere  abgebildet:  eines  aus  dem  Museum  der  Universität  Bonn,  des- 
sen Fundart  unbekannt  ist,  und  eines,  welches  in  der  Nähe  von  Mainz  gefun- 
den worden  ist ,  aus  dem  dortigen  Museum.  Das  Gefäss  von  Bonn  lässt 
unzweifelhaft  seine  Abkunft  erkennen;  es  zeigt  auf  einer  Seite  ein  vollstän- 
diges Gesicht,  auf  dessen  Wangen  jederseits  ein  erhabener,  schräg  nach 
oben  und  innen  in  der  Richtung  gegen  die  Augen  gestellter  Phallus  ange- 
bracht ist.  Im  Uebrigen,  was  Form  und  Material  angeht,  scheinen  alle  diese 
Urnen  sich  sehr  ähnlich  zu  sein. 

Ausser  diesen  dreien  ist  noch  ein  viertes  Gefäss  bekannt  geworden,  des- 
sen Kenntniss  ich  Herrn  Koner  verdanke.  Es  ist  von  G.  R.  Hermans  (Nord- 
brabants  oudheden:  's  Hertogenbosch  1865.  Taf.  IX.  Nr.  3)  abgebildet.  Man 
fand  es  in  Nordbrabant;  es  zeigt  eine  analoge  Beschaffenheit,  wie  die  ange- 
führten. Dr.  Janssen  bemerkt  dazu,  dass  Urnen  mit  einem  Menschenange- 
sicht in  Relief  sonst  in  seinem  Vaterlande  nicht  gefunden  seien. 

Nun  ist  sonderbarerweise  eine  zweite  Lokalität  vorhanden,  von  der  aus 
namentlich  unser  Museum  sehr  reich  mit  Originalen  ausgestattet  ist.  Dieselbe 
ist  es,  welche  auch  mir  kürzlich  eine  solche  Urne  geliefert  hat,  —  ein  besonderer 
Zufall,  der  mir  die  Veranlassung  bietet,  die  Sache  hier  zur  Sprache  zu  bringen. 
Es  handelt  sich  hier  um  jene  Ecke  des  alten  Pomerellen,  welche  von  der  höch- 
sten Erhebung  (bis  1000  Fuss)  der  Ostpommerschen  Berge  gegen  das  Putzi- 
ger Wiek  abfällt  und  von  welcher  aus  sich  die  Halbinsel  Heia  in  das  Meer 
hinaus  erstreckt,  in  der  Nähe  des  bekannten  Badeortes  Zoppot.  Hier,  im 
Kreise  Neustadt,  wurden  zuerst  beim  Chausseebau  zu  Hochredlau  bei  Klein- 
Katz  im  Jahre  183G  die  ersten  Urnen  gefunden  und  von  dem  Pfarrer  Berg 
(Preussische  Provinzialblättcr.     1836.     Bd.  XL  S.  206)  beschrieben.     Von  da 

6* 


76 

sind  an  das  hiesige  sowie  an  das  Königsberger  Museum  Exemplare  gelangt. 
Späterhin  ist  an  verschiedenen  Orten  im  weiteren  Umkreise  dieser  Fundstätte  eine 
Reihe  ähnlicher  Urnen  ausgegraben*).  Es  sind  hauptsächlich  drei  Kreise  dabei 
betheiligt:  der  Kreis  Neustadt,  wo  ausser  Kl.-Katz  noch  Fundstellen  bei  Redi- 
schau,  Bohlschau  und  Pogorss  auf  der  Oxhöfter  Kämpe  zu  verzeichnen  sind;  sodann 
der  Kreis  Stargardt,  wo  an  drei  Orten:  Kniebau,  Dirschau  und  Gross-Borroschau 
derartige  Urnen  gefunden  wurden,  und  endlich  der  Kreis  Berent,  wo  bei  Ka- 
merau  ein  solches  Gefäss  ausgegraben  ist.  Uebrigens  sind  schon  früher 
solche  Urnen  bei  Dirschau  gefunden.  Förstemann  citirt  einen  merkwürdigen 
Bericht  von  Reusch  im  „erläuterten  Preussen"  vom  Jahre  1711  und  v.  Lede- 
bur**)  einen  anderen  von  Büsching,  dessen  Urne  an  das  Breslauer  Museum 
gelangte. 

Gewiss  ist  es  höchst  bemerkenswerth,  dass  diese  Art  von  Urnen  auf  ein 
einziges  Gebiet  beschränkt  ist.  Mir  wenigstens  ist  kein  anderes  Terrain  als 
Fundort  derselben  bekannt.  Die  drei  genannten  Kreise  liegen  einer  an  dem 
andern  längs  des  linken  Weichselufers  und  der  Danziger  Bucht  bis  zur  Ostsee. 
Es  handelt  sich  demnach  um  einen  Bezirk  von  über  10  Meilen  Länge  (etwa 
54°  bis  54°  10'  n.  Br.). 

In  allen  diesen  Fällen  zeigen  sich  an  den  Urnen,  die  fast  durchgehends 
durch  ihre  schwarze  oder  schwärzliche  Farbe,  jedoch  durch  keine  hohe  Fein- 
heit des  Materials  vor  den  gewöhnlichen  Urnen  sich  auszeichnen,  gewisse  men- 
schenähnliche Verzierungen,  bald  mehr,  bald  weniger.  An  einzelnen  Urnen 
beschränken  sie  sich  darauf,  dass  man  unter  dem  Rande  jederseits  Ohr-artige 
Ansätze  gemacht  hat,  welche  die  Stelle  der  Henkel  vertreten;  dann  hat  man 
diese  Ohren  ausgestattet  mit  Ohrringen;  weiterhin  hat  man  das  Gesicht  aus- 
gebildet, man  hat  die  Nase,  die  Augen,  den  Mund  bald  mehr,  bald  weniger 
vollständig  dargestellt.  Dazu  kommt  bei  allen  ein  mützenartiger  Deckel  mit 
flacher  Wölbung,  dickem  umgeschlagenem  Rande,  der  einer  Krampe  gleicht, 
und  bei  mehreren  ein  Griff  auf  der  Höhe. 

Unter  sich  bieten  die  Urnen  manche  Verschiedenheit  dar.  Diejenigen 
von  Klein-Katz  sind  in  ornamentaler  Beziehung  am  vollkommensten  gestaltet, 
während  ihre  Form  eine  weniger  gefällige  ist.  Von  den  in  Berlin  befindli- 
chen Urnen  ist  die  von  Redischau  (Museum  I.  2034)  die  einfachste  (Fig.  1).  Sie 
hat  eine  schlanke  Gestalt:  über  einer  nicht  umfangreichen  Grundfläche  erhebt 
sich  ein  massig  ausgelegter  Bauch,  der  sich  zu  einem  engeren,  ziemlich  ho- 
hen Halse  verjüngt.  Dieser  ist  durch  eine  einfache  Ringleiste  von  dem  Bauche 
abgesetzt.  Oben  am  Halse  befindet  sich  die  Nase,  zwei  Augenpunkte,  zwei 
Ohren  mit  je  3  über  einander  stehenden  Ohrlöchern,   jedoch  keine  Spur  von 


*)  Literarische  Nachweise  bei  v.  Letlebur  (Das  königliche  Museum  vaterländischer  Alter- 
thiimer.  Berlin  1838.  S.  13.  Taf.  II.),  Förstemann  (Neue  Preuss.  Prov.-Blätter  1850.  IX.  S.  257. 
Taf.  I.  II.  1851.  XI.  S.  257.  XII.  S.  401.  1852.  Neue  Folge  I.  S.  133),  Strehlke  (Ebencl. 
VIII.   S.  43). 

**)  v.  Ledebur  a.  a.  0.  S.  14  Arno. 


77 


Mund.  Der  Deckel  ist  eine  einfache  Mütze  ohne  Griff,  jedoch  mit  dickem 
Rande.  —  Daran  schliesst  sich  zunächst  die  durch  die  Güte  des  Herrn  Schulze- 
Billerbeck  in  meinen  Besitz  gelangte  Urne  (Fig.  2)  von  Bohlschau *).    Sie  ist 


Fig.  l. 


Fig.  2. 


etwas  niedriger  und  mehr  ausgebaucht,  besitzt  jedoch  auch  einen  stark  abge- 
setzten, verhältnissmässig  hohen  Hals  mit  scharf  herauspringender  Nase  und 
grossen  Ohren,  von  welchen  jedes  3  Ohrlöcher  über  einander  und  auf  der 
linken  Seite  in  zweien  davon  noch  dünne  Bronze-Ringe  mit  schöner  Patina 
trägt.  Die  Augen  sind  nur  durch  zwei  gekrümmte  Linien  und  einen  kleinen 
Kreis  (Pupille)  bezeichnet;  an  der  Stelle  des  Mundes  findet  sich  eine 
punktirte  Linie,  an  deren  rechtem  Ende,  etwas  jenseits  der  Mittellinie  zwei 
in  einander  gelegte,  concentrische  und  gleichfalls  punktirte  Kreise  stehen. 
Nase  und  Ohren  sind  nur  lose  angeklebt  gewesen,  so  dass  sie  sich  bei  mir 
in  der  Wärme  der  Zimmer  abgelöst  haben.  Auf  der  Urne  liegt  ein  schwerer 
Deckel  ohne  Handgriff,  jedoch  mit  radiären  und  kreisförmigen  punktirten  Li- 
nien verziert. 

Sämmtliche  3  Urnen  von  Klein-Katz  in  unserm  Museum  (I.  1409.  1410. 
1411),  sowie  die  beiden  im  Königsberger  Museum  befindlichen**)  sind  sehr 
viel   stärker  ausgebaucht  und  haben  keinen  cylindrischen,   scharf  abgesetzten 


*)  Das  Grab  lag  auf  dem  hohen  Ufer  des  Rheda-Flusses.  In  einer  aus  flachen  Steinen  ge- 
bildeten Kammer  standen  ausserdem  noch  3  grössere  Urnen  von  gleicher  Form;  sie  waren  je- 
doch trotz  aller  Vorsicht  nicht  zu  erhalten. 

*♦)  Förstemann,  Neue  Pr.  Prov.-Bl.  IX.  Taf.  II.  Fig.  XIII.  u.  XIV.  Sowohl  auf  dieser  Ta- 
fel, als  auf  der  bei  v    Ledebur  sind  die  Berliner  Urnen  mit  zu  schlankem  Ilalse  abgebildet. 


78 

Hals,  sondern  sie  verjüngen  sich  nach  ölten  in  zunehmendem  Maasse,  so  dass 
ihr  Durchmesser  an  der  Mündung  am  kleinsten  ist.  Sie  haben  sämmtlieh 
deutliche,  durch  kleine  Kreise  ausgedrückte  Augen  und  darüber  sehr  stark  ge- 
bogene und  weit  gegen  die  Wangen  herabgezogene  Augenbrauen.  Unter 
der  Nase  ist  jedesmal  ein,  freilich  sehr  schwach  ausgeführter  Mund,  darge- 
stellt durch  eine  bald  nach  oben,  bald  nach  unten  gekrümmte,  in  der  Mitte 
etwas  stärkere,  unverhältnissmässig  kurze  Linie*).  Die  eine  Königsberger 
Urne  scheint  keine  Ohren  zu  haben;  bei  allen  anderen  sind  sie,  trotz  der 
Verletzung  einzelner,  deutlich  zu  erkennen,  und  bei  mehreren  linden  sich  auch 
die  Ohrlöcher.  Alle  haben  endlich  die  mützenartigen  Deckel  und  zwar  die 
3  Berliner    mit   einem  Handgriffe,    die   Königsberger    ohne    denselben   wobei 

Fig.  3. 


noch  zu  bemerken  ist,  dass  die  eine  der  letzteren  einen  etwas  höheren  und 
mehr  zugespitzten,  also  liutartigen  Deckel  zeigt  (Fig.  3). 

Im  Ganzen  kann  man  daher  sagen,  dass  ein  nicht  unerheblicher  Unter- 
schied zwischen  den  pomerellischen  und  den  rheinischen  Gesichtsurnen  be- 
steht. Diese  zeigen  eine  freiere,  mehr  phantastische  Ausführung,  jedoch  in 
Anlehnung  an  ein  allgemeines  Schema;  jene  lassen  trotz  aller  Mangelhaftig- 
keit der  Arbeit  einen  entschiedenen  Naturalismus  und  Realismus  hervortre- 
ten, der  sich  mehr  an  die  gegebenen  natürlichen  Verhältnisse  anschliesst. 

Was  die  Zeit  betrifft,  in  welche  man  diese  Urnen  zu  versetzen  hat,  so 
ist  hervorzuheben,  dass  in  ihnen  Bronzegeräth  (Ringe,  Ketten,  Nadeln,  Pin- 
cetten)  und  einmal  Bernsteinschmuck  gefunden  worden.  Dass  meine  Bohl- 
schauer Urne  noch  Ohrringe  aus  Bronze  besitzt,  habe  ich  schon  erwähnt; 
eine  der  im  Museum  befindlichen  zeigt  noch  deutlichen  Bronzerost  in  einem 
der  Ohrlöcher.  Reusch,  Förstemann  und  Strehlke  beschreiben  von  mehreren  Orten 
derartige  Ohrringe,  auch  einigemal  (Fig.  4)  mit  erbsengrossen  Perlen  aus  Glas**). 
(Reusch  spricht  von  blauen  Glaskorallen.)  Es  sind  ausserdem  an  einzelnen 
Stellen  auch  eiserne  Sachen  aufgefunden  worden,  aber  leider  sind  fast  alle 
vorhandenen  Beschreibungen  über  diese  Funde  sehr  ungenau.  Ich  selbst  habe 
von  Bohlschau  Eisengeräth  erhalten,  habe  jedoch  bis  jetzt  nicht  vermocht, 
eine  bestimmte  Beziehung  desselben  zu  diesen  Urnen  auszumitteln.  Soviel 
wird  man  jedoch  als  sicher  anzunehmen  haben,  dass  die  Periode  dieser  Urnen 


*)  Strehlke  (a.  a.  0.  S.  45)  erwähnt  eine  in  Brück  (Kreis  Neustadt)  gefundene  und  jetzt  im 
Dauziger  Museum  befindliche  Urne,  welche  das  Antlitz  eines  bärtiges  Mannes  zeigt;  der  Kinnbart 
ist  gewellt  und  an  den  Seiten  stehen  sich  2  Oehre  mit  Ringen  gegenüber. 

*•)  Förstemann  giebt  eine  Abbildung  davon  (Neue  Pr.  Prov.  Bl.  IX.  Taf.  I.  Fig.  II.),  welche 
hier  als  Figur  4  reproducirt  wird. 


79 

in  eine  Zeit  zu  setzen  ist,  wo  die  Bronze  bekannt  war  und  wo  möglicher 
Weise  auch  schon  Eisengeräth  existirte,  also  vielleicht  in  eine  relativ  späte 
ßronzeperiode.  Es  ist  dies  in  sofern  wichtig,  als  damit  manche  andere  Pa- 
rallelen gewonnen  werden. 

Fig.  4. 


Nun  finden  sich  auf  einer  verhältnissmässig  grossen  Zahl  dieser  Pome- 
rellischen  Urnen  ausser  dem  menschlichen  Gesicht  und  dem  mützenartigen 
Deckel  noch  anderweitige  Zeichnungen,  die  mit  einem  etwas  groben  Instru- 
ment und  unsicherer  Hand  in  den  noch  weichen  Thon  eingegraben  worden 
sind,  die  jedoch  immer  eine  gewisse  künstlerische  Bestrebung  andeuten,  von 
welcher  wir  sonst  keine  Andeutung  auf  unsern  Gräberurnen  haben.  Letztere 
beschränken  sich  regelmässig  auf  ein  gewisses  System  von  Linien,  die  zu- 
weilen nach  mathematischen  Verhältnissen  geordnet  sind,  aber  auf  allen  fehlt 
es  an  Linien,  welche  organische  Formen  wiederzugeben  bemüht  sind.  Das 
ist  gerade  das  Auffallende,  dass  die  Pomerellischen  Urnen  diese  Seite  ergän- 
zen und  uns  an  einem  ganz  unerwarteten  und  örtlich  beschränkten  Punkte 
derartige  Formen  vorführen*). 

Fig.  5. 


Unter  den  Urnen,  welche  wir  hier  besitzen,  zeigen  die  3  von  Klein-Katz 
Thiere,  und  zwar  Thiere,  von  denen  mindestens  zwei  (T.  1410.  1411) 
unzweifelhaft  Säugethiere  darstellen  sollen  (Fig.6u.7),  während  es  von  dem  drit- 
ten (I.  1409)  zweifelhaft  ist,  wohin  man  es  rechnen  soll.  Ich  möchte  die  Aufmerk- 
samkeit besonders  auf  diesen  Gegenstand  zu  lenken  mir  erlauben;  vielleicht  fin- 
det sich  jemand,  der  Veranlassung  nimmt,  seine  Ansicht  hierüber  auszusprechen. 
Zwei    von   diesen  Thieren   sind   in   sehr   einfachen  Linien  am  unteren  T heile 


*)  Die  in  Fi£.  5   wiedergegebene  Zeichnung  findet  sich   an  der  einen  Katzer  Urne  im  Kö- 
nigsberger Museum. 


80 

des  Halses  der  Urnen  dargestellt*);  sie  sind  unzweifelhaft  Vierffissler,  mit  lan- 
gem Schwanz    und  Ohren   versehen;    das   eine  (I.   1410)   macht   überdies  den 

Fig.  6. 


*)  In  Fig.  6 — 8  sind  der  Raumersparniss  wegen  Zeichnungen  an  den  im  Berliner  Museum 
befindlichen  Urnen  von  Kl.-Katz  in  der  Art  dargestellt,  dass  die  ring-  oder  zirkeiförmigen  Zeich- 
nungen von  oben,  die  in  sie  hineingezeichneten  Thiere  und  Linien  dagegen  von  vorn  gesehen 
werden.  An  den  Urnen  haben  beide  Arten  von  Zeichnungen  natürlich  eine  andere  Stellung  zu 
einander. 


81 

Kin. huck.  :tls  soll  etwas  Geweiharüges  an  ihm  ausgedrückt  werden  (Fig.  7). 
Da  der  Leib  beider  stark  gestreckt  ist,  so  wird  man  bei  dem  einen  auf  ein  Thicr 
wie  der  Fuchs  hingewiesen,  bei  dem  andern  könnte  man  sich  eine  Cervus-Art 
vorstellen.   Das  dritte  (Fig.  8)  ist  ein  wunderbares  Wesen,  von  welchem  es  ganz 

Fiff.  8. 


dunkel  ist,  was  es  besagen  soll;  wenn  nicht  eben  die  Füsse  eine  sc»  starke 
Ausbildung  hätten,  so  würde  seine  Gestalt  viel  mehr  an  einen  Wasserkäfer 
erinnern.  Aber  die  Füsse  (zwei  längere  Vorder-  und  ein  kürzerer  Hinterfuss 
mit  je  3—4  Zehen)  und  an  den  Vorderfüssen  in  der  Gegend  der  Handwurzel 
4  kurze  Querlinien  mit  seitlicher  Abgrenzung  durch  Längslinien  machen  es 
wahrscheinlich,  dass  bei  dem  Künstler  die  Absicht  bestanden  habe,  ein  \A  ir- 
belthier  darzustellen.  Ein  starker,  freilich  rundlicher  Kopf  mit  grossem  Auge, 
ein  breiter,  nach  hinten  zugespitzter  Leib  und  ein  feiner,  langer  Schwanz  ge- 
ben demselben  etwas  Eidechsen-  oder  Krokodilartiges. 

Daneben  stehen  Linien  eigentümlicher  Art.  Schon  an  der  Urne,  welche 
ich  aus  Bohlschau  erhalten  habe,  habe  ich  eine  sonderbare  Zeichnung  in  der  Ge- 
gend des  Mundes  erwähnt,  eine  punktirte  Linie,  welche  in  einen  Kreis  aus- 
läuft, der  einen  kleineren  Kreis  umschliesst.  Solche  Linien,  jedoch  feiner  und 
einfacher,  sind  auch  auf  anderen  Urnen  zu  sehen  (Fig.  5—7).  Sie  stehen  überall 
paarweise,  meist  zu  zwei  Paaren,  über  den  Thierfiguren.  Das  obere  Paar 
läuft  jedesmal  nach  rechts  in  einen  kleinen  Kreis  aus;  das  untere,  längere 
zeigt  bald  nach  rechts,  bald  nach  links,  einmal  jedoch  gar  nicht,  scheeren- 
förmige  Ansätze,  und  ist  sowohl  unter  sich,  als  mit  der  nächst  höheren  Linie 
des  oberen  Paares  durch  senkrechte  oder  schräge  Linien  verbunden.  Offen- 
bar haben  sie  in  dieser  Zusammensetzung  irgend  ein.1  bestimmte  Bedeutung; 
man  kann  sich  nicht   vorstellen,  dass  sie  zufällig  seien.     \\  ill  man  sich  irgend 


82 

etwas  dabei  denken,  so  wird  man  zunächst  darauf  hingewiesen,  sich  ein 
Werkzeug  zur  Fortbewegung  vorzustellen,  seien  es  Schneeschuhe,  Schlitten, 
Wagen  oder  Schiffe.  Es  hat  diese  Deutung  deshalb  ihre  Berechtigung,  Aveil 
sich  anderweitig  gewisse  Analogien   dazu  finden. 

Weiterhin  sind  an  den  Katzer  Urnen  Verzierungen  augebracht  (Fig.  6—8), 
welche,  den  Eindruck  machen,  dass  sie  der  menschlichen  Gestalt  angepasste 
Sohmuckgeräthe  darstellen  sollen.  Bei  dem  einen  (140!))  findet  sich  unmittelbar 
unter  dem  Kopf  eine  breite,  rings  um  den  Hals  der  Urne  herumgehende  Zeichnung, 
welche  wie  ein  Halsschmuck  auszieht  (Fig.  8);  bei  den  andern  liegt  dieselbe  mehr 
um  den  Bauch,  wo  man  sich  einen  Gürtel  denken  könnte.  Die  Zeichnung 
besteht  meist  aus  drei,  an  einer  aus  zwei,  nicht  ganz  parallelen  Querlinien, 
zwischen  welchen  entweder  nur  schräge,  zu  3—5  zusammengestellte  Striche 
in  parallelen  oder  in  abwechselnd  nach  rechts  und  links  geneigten,  also  win- 
kelig gegen  einander  gestellten  Gruppen  verlaufen.  Bei  einzelnen  sind  diese 
Gruppen  durch  senkrechte  Linien,  bei  andern  durch  Ringe  getrennt.  Da  nun 
zwei  dieser  Urnen,  eine  Berliner  und  eine  Königsberger,  auf  der  linken  Seite 
einen  Knopf  haben,  der  mit  radiären  Strahlen  versehen  ist  und  den  Eindruck 
einer  Sonne  macht,  so  habe  ich  die  Frage  in  Erwägung  gezogen,  ob  mit  den 
Linien  nicht  eiue  astronomische  Andeutung  gegeben  sein  soll,  ob  vielleicht  die 
Zeichnung  auf  irgend  eineZeiteintheilung  Bezug  haben  soll;  es  ist  mir  indessnicht 
gelungen,  auch  bei  wiederholter  Auszählung  der  einzelnen  Abtheilungen  irgend 
ein  regelmässiges  Verhältniss  zu  ermitteln.  Man  muss  also  wohl  von  einer 
solchen  Auffassung  abstrahiren  und  diese  Dinge  mehr  als  Schmuck  betrach- 
ten. Dafür  spricht  auch  der  Umstand,  dass  die  bekannten  Halsringe  und 
Gürtel  aus  Bronze  ähnliche  Zeichnungen  zeigen 

Unter  dem  Gürtel  finden  sich  endlich  bei  zwei  Urnen  (1410  u.  1411) 
noch  viereckige  Zeichnungen  mit  kurzen  Ausstrahlungen  an  den  Ecken,  deren 
Bedeutung  ich  nicht  zu  enträthseln  vermag.  Es  sind  längliche  Vierecke,  von 
doppelten  Linien  begrenzt,  die  an  der  untern  Hälfte  des  Bauches  ange- 
bracht sind. 

Von  anderen  Urnen,  welche  z.  Th.  nach  Königsberg,  z.  Th.  nach  Danzig 
gelangt  sind,  hat  Förstemann  gleichfalls  Abbildungen  geliefert  (Neue  Pr.  Prov.- 
Bl.  Bd.  IX  Tai'.  L).  Es  sind  einfachere  Gefässe  mit  bloss  linearen-Zeichnun- 
gen  ohne  organische  Vorbilder,  obwohl  theilweise  recht  zierliche.  Dagegen  fin- 
den sich  ähnliche  Deckel,  und  die  Anordnung  der  Zeichnungen  an  gewissen 
Gegenden  des  Halses  schliesst  sich  den  besprochenen  au.  Auch  zeigt  das 
Vorhandensein  von  einfachen  oder  mit  Bingen  und  Perlen  geschmückten 
Ohren,    dass   man  sich  den  Gesichtsurnen  nähern  wollte. 

Es  ergiebt  sich  also,  dass  ein  kleines  Gebiet  seit  einer  Reihe  von  Jah- 
ren wiederholt  und  zwar  an  immer  neuen  Stellen  ähnliche  Formen  geliefert 
hat.  Ein  grosser  Theil  der  gefundenen  Urnen  ist  zerschlagen  oder  zerfallen, 
und  es  wird  nur  berichtet,  dass  sich  darunter  auch  solche  mit  Gesichtern 
befunden    haben.     Zuweilen    sind    ganze  Haufen  von  Urnen,    bis  zu  neun,    in 


83 

einer  einzigen  Grabkammer  gefunden  worden.  Man  muss  also  schliessen, 
dass  dies  nicht  ein  zufälliger  Fund  ist,  sondern  duss  eine  bestimmte  Kultur 
sidi  hier  uiii  einer  gewissen   Dauerhaftigkeit  erhalten  hat. 

In  unserm  Museum  ist  nur  noch  eine  Andeutung  uach  analoger  Richtung 
vorhanden;  eine  zu  Frestede  im  Lande  Ditmarschen  ausgegrabene  Urne 
(I.  1659)  zeigt  eine  Annäherung  an  diese  Verhältnisse  in  der  An.  dass  sich 
an  ihr  neben  einem  am  oberen  Ansätze  stark  eingebogenen  Henkel  jederseits 
ein  grosses,  rundes  Auge  mit  stark  vorspringender  Augenbraue  findet.  Der 
Henkel  erseheint  daher  als  Nase,  und  es  ist  deutlich,  dass  damit  die  Dar- 
stellung menschenähnlicher  Verhältnisse  beabsichtigt  worden  ist.  Trotzdem 
muss  ich  anerkennen,  dass  diese  Darstellung  sehr  weit  von  der  vorher  be- 
schriebenen entfernt  ist. 

Man  könnte  nun  die  Meinung  wohl  vertheidigen,  dass  es  möglich  sei, 
ganz  unabhängig  von  einander  an  sehr  verschiedenen  Orten  auf  analoge  For- 
men zu  kommen;  man  könnte  dem  entsprechend  vermuthen,  dass  die  Bevöl- 
kerung Pomerellens  aus  eigener  Initiative  diese  Formen  geschaffen  habe,  ohne 
irgend  eine  Beziehung,  mit  Völkern  gehabt  zu  haben,  welche  schon  ähnliche 
Formen  besassen.  Ein  Umstand  unterstützt  eine  solche  Annahme  allerdings 
in  sehr  ausgezeichneter  Weise,  in  Mexico  und  Peru  nämlich  hat  man  eine  nicht 
unbeträchtliche  Anzahl  derartiger  Gesichtsurnen  gefunden,  welche,  wenn  auch 
zahlreiche  Aehnlichkeiten  und  im  Grossen  dasselbe  Schema  vorhanden  sind,  so 
doch  im  Einzelnen  wieder  so  grosse  Eigenthüinlichkeiten  zeigen,  dass  kaum 
jemand  auf  die  Vermuthung  kommen  wird,  es  seien  dies  importirte  Gefässe. 
In  den  Menioires  de  la  Societe  des  Antiquaires  du  Nord  1840-  44.  p.  132. 
PI.  VI—  VII.  beschreibt  und  zeichnet  Falbe  peruanische  Urnen,  welche  bei 
der  Weltumsegelung  der  dänischen  Fregatte  Bellona  im  Jahre  1840-41  durch 
den  Schiffsgeistlichen  Pontoppidan  gesammelt  worden  sind.  Namentlich  ist 
auf  Taf.  VII.  Fig.  3  eine  Urne  abgebildet,  welche  über  einer  starken  Ausbau- 
chung einen  vollkommen  ausgebildeten  Kopf  mit  erhabener  Ausarbeitung  aller 
einzelnen  Theile  zeigt,  auf  welchem  eine  flache  Mütze  sitzt. 

Es  ist  interessant,  wenn  man  diese  Urne  mit  denen  von  Clusium  in  dem 
grossen  Bilderwerk  von  Micali  vergleicht,  zu  sehen,  eine  wie  grosse  Ärm- 
lichkeit in  der  weiteren  Ausstattung  vorhanden  ist.  Auch  bei  ihm  sieht  man 
manchmal  Arme  in  Haut-Relief  oder  in  voller  Freiheit  hervortreten;  sie  sind 
in  bittende  Stellung  zusammengefügt;  sie  halten  Gefässe  u.  dergl.  Ganz  ähn- 
lich sind  auch  an  der  peruanischen  Urne  mit  grosser  Freiheit,  freilich  in  höchst 
kurioser  Weise  fast  sämmtliche  Glieder  des  Körpers  ausgeführt  oder  wenig- 
stens angedeutet.  Es  geht  daraus  hervor,  dass  allerdings  analoge  Formen 
ganz  unabhängig  entdeckt  und  ausgeführt  werden  können,  und  dass  man  in 
einem  ganz  andern  Welttheil  auf  Gefässe  gekommen  ist,  die  im  Grossen  und 
Ganzen  den  von  mir  besprochenen  parallel  stehen 

Micali    legt  bei  der  Untersuchung  der  etruris.hen   Urnen  grossen   Werth 
auf  die  besondere  Physiognomie  der  Gesichter;  er  glaubt  herauszufinden,  dass 


84 

der  alt-italische  Typus  in  der  Form  der  Gesichter  auf  diesen  Urnen  wie- 
dergegeben sei*).  Ich  bin  nicht  in  der  Lage  gewesen,  über  diesen  Punkt 
zu  einem  eigenen  Urtheil  zu  kommen.  Aber  die  Frage  liegt  gewiss  nahe, 
wenn  wir  bei  uns  eine  grosse  Zahl  von  Gesichtsurnen  mit  überraschend  ähn- 
licher Physiognomie  finden:  haben  wir  es  mit  Urnen  zu  thun,  welche  eine 
einheimische  Bevölkerung  gearbeitet  und  in  die  Gräber  niedergelegt  hat? 
sollen  wir  in  diesen  Gesichtern  die  Typen  unserer  Pomerellischen  Urbewoh- 
ner  suchen?  oder  sollen  wir  annehmen,  es  habe  ein  eingewandertes  Volk  diese 
Typen  mitgebracht?  Ich  fühle  mich  nicht  befähigt,  die  letztere  Frage  be- 
stimmt zu  beantworten  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  auf  blosse  Abbildungen 
hin  eine  Entscheidung  zu  treffen  unsicher  erscheint.  Die  niedrige  Technik 
der  Verfertiger  unserer  Vasen  kommt,  hinzu.  Ich  will  daher  nur  erwähnen, 
dass  die  hohe  Nasenwurzel,  die  kurze,  spitze,  schmale,  stark  hervortretende 
Nase,  die  stark  geschwungenen  Augenbrauen  an  keinen  einheimischen  Stamm 
erinnern. 

Dagegen  kann  ich  allerdings  nicht  leugnen,  dass  eine  Reihe  anderweiti- 
ger Beobachtungen,  z.  B.  die  Bronzewagen,  welche  an  verschiedenen  Stellen 
unseres  Vaterlandes  gefunden  worden  sind  und  die  ich  vielleicht  später  zum 
Gegenstande  einer  Mittheilung  machen  werde,  mich  allerdings  sehr  geneigt 
machen,  auf  gewisse  Beziehungen  unserer  Vorfahren  zu  etrurischen  Stämmen 
zurückzugehen.  Auch  die  Urnen  fordern  zu  solchen  Vergleichungen  auf. 
Die  mützenartigen  Deckel  erinnern  an  etrurische  Kopfbedeckungen.  Micali 
(Monum.  Tav.  CXIV.)  hat  die  Abbildung  einer  in  Arezzo  gefundenen  und 
jetzt  im  Museo  del  Coli.  Romano  aufbewahrten  Bronzestatuette  eines  etrus- 
kischen  Pflügers,  der  eine  ganz  ähnliche  Mütze,  nur  ohne  Griff,  trägt.  Ebenso 
linden  sich  an  den  Kanopen  von  Clusium  (Tav.  XV.  N.  1 — 2)  Köpfe  mit  3 
in  einander  gehängten  Ringen  in  den  Ohren.  Es  lässt  sich  daher  wohl  die 
Möglichkeit  aufstellen,  dass  auf  dem  Wege  des  Handels  derartige  Artikel 
hereinbefördert  oder  wenigstens  gewisse  Modelle  erworben  worden  sind,  welche 
sodann  hier  nachgebildet  wurden.  Begreiflicherweise  könnte  man  aber  auch 
auf  die  Frage  kommen,  ob  nicht  diese  Gegend,  so  nahe  an  der  See,  an  der 
Mündung  eines  grossen  Stromes,  der  Endpunkt  einer  grossen  Handelsstrasse, 
wirklich  der  Sitz  einer  grossen  Handelscolonie  gewesen  ist,  und  es  liegt 
nahe,  den  Gedanken  Nilsson's  aufzunehmen:  haben  wir  hier  nicht  eine  phö- 
nicische  Colonie  vor  uns? 

Auch  bei  den  ägyptischen  Kanopen  findet  sich  auf  dem  Bauche  gewöhn- 
lich eine  Reihe  von  Hieroglyphen,  und  obwohl  sie  sehr  verschieden  von  den 
Kreisen,  Linien  und  Thierfiguren  unserer  Gesichtsurnen  sind,  so  nehmen  beide 
doch  eine  ganz  analoge  Stellung  ein.  Zeichnungen,  denen  verwandt,  wie  sie 
unsere  Gesichtsurnen  bieten,  kommen  dagegen  anderswo  im  Norden  vor. 
Nilsson   (Das  Bronzealter.     Aus  d.  Schwed.     Hamb.   1863.     S.  9.     Nachtrag. 


*)  Micali,  Storia  degli  aut.  pop.  ital    p.  II. 


85 

Hainb.  lS(;.r).  S.  42)  hat  von  dein  Kivik-Monumenl  und  dem  Wilfara-Stein  in 
Schonen  aralte  Zeichnungen  abbilden  lassen  die  er  auf  phöuicischen  Priester- 
diensl  bezieht.  Namentlich  die  Pferde  auf  dem  Wilfara-Stein  sehen  den  Thie- 
ren  auf  unseren  Urnen  sehr  ähnlich.  Am  häufigsten  sind  bekanntlich  Abbil- 
dungen von  Schiffen  auf  Felsen  und  Steinen  in  Scandinavien*),  wie  sie  sich 
auch  auf  Bronzegeräthen  wiederfinden.**)  Von  uorwegischen  Felsen-Einzeich- 
nungen  wurden  bei  dem  letzten  internationalen  Congress  für  prähistorische 
Archäologie  in  Copenhagen  Zeichnungen  vorgelegt***),  wo  unter  zahlreichen 
Schiffen  auch  einzelne  Thiere  und  G-erätbe  vorkommen,  welche  verhältniss- 
niässig  sehr  grosse  Achnlichkeit  mit  den  unsrigen  darbieten. 

Ich  will  auf  diese  an  sich  so  rohen  Zeichnungen  und  auf  diese  immerhin 
sehr  zweifelhaften  Uebereinstimmungen  keinen  zu  grossen  Werth  legen.  Wei- 
tere Untersuchungen  werden  erst  festzustellen  haben,  inwieweit  Verbindungen 
von  beiden  Seiten  der  Ostsee  her  stattgefunden  haben.  Indess  erinnere  ich 
daran,  dass  gerade  diese  Gegend  in  alten  Ueberlieferungen  bezeichnet  ist  als 
diejenige,  wo  die  Gothen  übergewandert  sind.  Violleicht  wird  es  doch  mög- 
lich sein,  einen  gewissen  Anhaltspunkt  zu  finden  für  die  Erläuterung  von 
Verhältnissen,  die  vielleicht  stattfanden  zu  einer  Zeit,  wo  das  Licht  der 
Geschichte  schon  anderswo  hell  leuchtete,  über  unserm  Lande  jedoch  noch 
tiefes  Dunkel  lag.  Denn  die  Zeit,  in  welche  wir  unsere  Lernen  zu  versetzen 
haben,  wenn  sie  auch,  wie  ich  angegeben  habe,  einer  verhältnissmässig  späten 
Bronzeperiode  angehört,  dürfte  immerhin  eine  für  uns  vorhistorische  sein. 

Ich  lege  schliesslich  noch  einige  Sachen  vor,  welche  von  demselben  Orte 
herstammen,  von  wo  ich  meine  Urne  empfing,  aus  der  Nähe  von  Bohlschau. 
Es  wird  mir  geschrieben,  dass  etwa  öO  Schritt  von  einander,  nahe  dem  Ufer 
eines  kleinen  Flusses,  zwei  Grabstätten  sich  befanden,  in  welchen  je  eine 
Urne  stand,  die  mit  schwarzen,  aus  Sand,  Asche  und  kleinen  verbrannten 
Knochenresten  bestehenden  Massen  gefüllt  war.  Das  eine  dieser  Gefässe  war 
eine  grosse  Thonurne,  das  andere  eine  Metallurne.  Letztere  war  leider  fast 
ganz  durch  Rost  zerstört.  Ich  erhielt  nur  ein  Paar  sehr  starke  und  grosse 
eiserne  Ringe,  welche  am  Rande  derselben  beweglich  eingelassen  waren,  einen 
starken  eisernen  Bügel  und  eine  Reihe  platter  Bruchstücke,  die  zum  Theil 
mit  Bronzerost  bedeckt  waren;  darunter  auch  ein  Stück  sehr  feines  Bronzc- 
blech  mit  einer  Reihe  feiner  runder  Oeffnungen.  Da  es  mir  von  Interesse  zu 
sein  schien,  zu  untersuchen,  ob  namentlich  Blei  in  der  Bronze  enthalten  sei. 
das  in  den  italischen  Bronzen  ziemlich  stark  vertreten  ist,  so  habe  ich  Herrn 
Liebreich  gebeten,  die  chemische  Analyse  zu  inachen  Er  theilt  mir  mit,  dass 
kein  Blei    darin  nachzuweisen  war.     Ausserdem   ist  noch  eine  Reihe  eiserner 


")  Worsaae,   Zur  Alterthumskunde  des  Nordens.    Leipz.  1847.     Taf  XIV.  KV.     Hansen, 
Mein,  de  la  SOC  des  Antiquaires  du  Nord.    1840—44.  p.  139.  PI.  IX. 

")  Worsaae,  Xordiske  Oldsager.    Kjübenh.  1859.  S.  3G.  Fig.  171  — 175. 
***)  Revue  des  Cours  scientifiques.    Paris  1870.    Nr.  13.  p.  200. 


86 

Gegenstände  gefunden  worden,  unter  andern  der  Griff,  sowie  ein  Theil  des  Blat- 
tes  und  der  Scheide  eines  sehr  sauber  gearbeiteten,  mächtigen,  doppelschneidigen 
Schwertes,  zwei  grosse  Schildbuckel,  zwei  über  die  Fläche  zusammengebogene, 
sehr  lange  Lanzenspitzen  und  ein  ganz  aufgewickeltes,  grosses  Schwert.  — 
letztere  offenbar  zum  Zweck  des  Unterbringens  in  der  Urne  zusammengedrückt. 
Man  kann  also  »icht  in  Zweifel  darüber  sein,  dass  hier  Krieger  beerdigt  wor- 
den sind.  Leider  bin  ich  jedoch  nicht  in  der  Lage,  nach  dem,  was  mir  niii- 
jretheilt  worden  ist,  beurtheilen  zu  können,  inwieweit  dieser  letztere  Fund  in 
directer  Beziehung  zu  den  Gresichtsurnen  steht.  Wie  es  scheint,  ist  eine  solche 
Beziehung  nicht  vorhanden. 

Jedenfalls  meine  ich.  dass  wir  unser  Augenmerk  auf  diese  Art  von  Fun- 
den richten  müssen,  welche  durch  unverkennbare  und  charakteristische  Eigen- 
thümlichkeiten  viel  nähere  Aufschlüsse  über  gewisse  Verhältnisse  der  Entwieke- 
luii"-  des  Volkes  darbieten,  als  wir  aus  bloss  mathematischen  und  einfach 
ornamentalen  Linien  gewinnen  können.  Jede  derartige,  mit  besonderen  Fi- 
guren ausgestattete  und  mit  Ausbildung  des  künstlerischen  Sinnes  ausgeführte 
Arbeit  hat.  offenbar  einen  hohen  Werth,  und  da  sich  in  unserm  Lande  eine 
viel  grössere  Menge  von  Gesiehtsurnen,  als  in  irgend  einem  andern  Cultur- 
lande  findet,  so  ist  es  um  so  mehr  nothwendig,  dass  alle  Nachrichten  darüber 
sorgfältig  gesammelt  werden. 


Untersuchungen 
über  die  Völkerschaften  Nord-Ost-Afrikas. 

V  on    Lob  ert  II  artmann. 
111.*) 

$  12.  Leider  lässt,  sich  die  Naturgeschichte  des  altägyptischen 
Meiischenstammes  nicht  mit  wenigen  Worten  ausführen,  Dank  dem  Vielen 
und  vielfach  von  einander  Abweichenden,  welches  darüber  bereits  veröffent- 
licht worden.  Ich  sehe  kein.:  Möglichkeit  vor  mir,  in  dieser  meiner  Arbeit 
gewisse  Wiederholungen  zu  vermeiden,  zumal  bier,  wo  ich  aus  dem  vorigen 
Jahrgange  zu  recapituliren  habe. 

*)  Vergl.  Jahrgang  I.  dieser  Zeitschr.  S.  135-153,  §.  3—11. 


S7 

^  13.  Au  das  oben  Gesagte  zunächst  anschliessend  fühle  ich  mich  wiedei 
von  Neuem  zu  «irr  ausdrücklichen  Bemerkung  veranlasst,  das*  ich  den  in 
Aegypten  stattgehabten  Einwanderungen  von  Bewohnern  Syriens  und  det 
arabischen  Halbinsel,  dieser  llauptwohnlande  der  Syro- Araber,  einen 
verhältnissmässig  uur  geringen  Einfluss  auf  die  Ausbildung  des  neuii^ 
sclion  Typus  zuzugestehen  vermag.    Die  doch  unumstösslich  feststehende  I  lial 

sache    einer    Wiederkehr    des    altägypti sehen    Volkstypus    der    ro< lei 

„KctiT",  im  neuägy ptisehen  tu  acht  die  von  geschichtlich-grübelnder  und 
sogar  von  ethnologisch  - speculativer  Seite  stets  rüstig  und  uuverdro 
gesprochene  Meinung,  es  sei  der  gegenwärtige  Anwolmer  des  Nils  in  Said, 
Dostanleh  und  Misr-Bachireh,  weit  eher  Syro  ar  ab  er,  als  Aegypter,  . 
lieh  zunichte.  Es  bleibt  vielmehr  der  heutige  Bebauer  des  Pharaonenreichs 
weit  eher  Retu,  als  Syroaraber  oder  irgend  sonst  etwas  NTchtägyptisches. 
Am  allerdeutlichsten  tritt  das  aber  in  den  Districten  Mittel-  und  Ober- 
ägyptens hervor.  Hier  sieht  man  in  Stielten  und  Dörfern,  auf  Bazaren  und 
an  Landungsplätzen,  auf  Aeckern  und  an  Scböpfräderu  immer  die  bekannten 
Gestalten  aus  den  mempthischeu  Pyramiden-  und  aus  den  thebaischen  Kö- 
nigsgräbern, aus  den  Tempelhallen  von  Denderah,  Gurneh,  Karnak  und  Luq- 
sor  wieder,  genau  Dieselben  in  Physiognomie.  Glieder bildung,  selbst  in  der 
Haltung  (vergl.  Jahrgang  I.  dies.  Zeitschr.  S.  156*).  Pruner  ist  der  Ansicht, 
dass  sich  entweder  der  siegreiche  (in  Aegypten  eingedrungene)  Araber  gar 
nicht  oder  doch  nur  wenig  mit  dem  ägyptischen  Bauernstände  vermischt,  oder 
dass  dieser  jenem  im  Laufe  der  Zeit  seinen  gesummten  Typus  so  vollständig 
aufgedrückt  habe,  dass  er  selber  zum  Aegypter  geworden*').  Auch  ich  bin 
der  festen  Ueberzeugung,  dass  die  nach  Aegypten  verpflanzten  syroarabi scheu 
Elemente  in  der  dortigen  einheimischen  Bevölkerung  zu  ihrem  grossesten 
Theile  aufgegangen  seien.  Keinen  Syroarabern,  Repräsentanten  ihres  Be- 
völkerungstypus, begegnet  man  übrigens  in  ganz  Afrika  nur  noch  in  den 
directen  Ankömmlingen  aus  Asien,  und  in  deren  unmittelbaren  Nachkom- 
men, deren  es  ja  z.  B.  an  der  Ostküste  von  Afrika,  zwischen  Cap  Guar- 
dafui  und  Halbinsel  Cabaceira  wohl  giebt,  woselbst  ansässige  Südaraber  eine 
wichtige  politische  und  commerzielle  Rolle  spielen.  In  der  grossen  einhei- 
mischen Bevölkerungsmasse  von  Aegypten,  Maghrib  und  Sudan,  dagegen  würde 
man    vergeblich   nach    solchen  reinen   syroarabischen   Bevölkerungselementen 


*)  Ferner  R.  Eartmann:  Reise  des  Freiherrn  A.  v.  Barnim  in  Nord-Ost-Afrika  in  iL  J. 
1859  und  1800.  Berlin  18(53.  4.  Anhang  X IJ II.  Ders.  Naturgeschichtlich  medizinische  Skizze 
der  Nilländer.  Berlin  1865.  S.  215  ff.  Das  neueste  Oelbild  meines  Freundes,  Malers  Wilhelm 
Gentz,  „ein  Märchenerzähler  (Scha  er)a  zeig!  eine  Menge  wohl  überkommen«  i  monumentaler  Köpf«" 
unter  der  modernen,  herumkauerndeu  Strassenbevölkerung  der  „Uebenvindenden".  Dies«  ein«1 
Schöpfung,  des  so  hervorragenden,  so  genau  beobachtenden  und  s"  uneinllich  heu 
zeichnenden  Künstlers,  weichet  das  Studium  des  Orientes  sich  zur  Lebensaufgabe  gi-iuadil, 
wiegt  mit  der  überzeugenden  Kraft  seiner  bildlichen  Darstellungskunst  vielmehr,  als  bogcnlanges 
Geschreibe. 

**)  Deberbleibsel  S.  13. 


88 

suchen.  Zwar  wird  uns  ja  noch  immer  von  Reisenden  sowohl,  wie  auch  von 
Ethnologen  und  Geographen  des  grünen  Tisches  mancherlei  Schönes  vorer- 
zählt von  den  „rein-  oder  echtarabischen  Physiognomien",  von  der  „durchaus 
arabischen"  Kopfbildung  ganz  unzähliger  afrikanischer,  angeblich  rein- 
arabische  sein  sollender  Stämme.*) 

Ich  habe  mich  auch  bereits  im  vorigen  Jahrgange  dieser  Zeitschrift  (S.  157) 
gegen  eine  hier  und  da  herrschende  Annahme  verwahrt,  welcher  zufolge  die 
Kopten  als  die  einzigen  und  alleinigen  modernen  Träger  des  Retu-Ty- 
pus  dargestellt  werden.  Die  Kopten  zeigten  sich  zur  Zeit  des  islamitisch- 
arabischen Einfalles  in  Misr's  Gelilde  wohl  mehr  mit  fremden  Elementen  ver- 
quickt**;, als  später,  nachdem,  im  Laufe  von  Jahrhunderten,  fremdes  Element 
durch  uneingeborenes  bereits  wieder  zersetzt  worden  war  (Note  Nr.  VI).  Bei 
den  Kopten  haben  die  Abgeschlossenheit  der  ihrer  (bekannterweise  jakobi- 
tisch-christlichea)  Religion  mit  unwandelbarer  Treue  anhängenden  Stammes- 
glieder und  die  in  Folge  dessen  eifrig  gepflegte,  engere  und  erweiterte  Fami- 
lienzeugung den  Retu-Typus  im  Ganzen,  jedenfalls  noch  etwas  reiner  fortge- 
erbt, als  es  die  (ägyptischen)  mehr  kosmopolitischen  Bewegungen  anheimfal- 
lenden Moslemin  gekonnt.  Trotzdem  ist  der  Fellach  im  Allgemeinen  doch 
ebenfalls  Aegypter,  ebenfalls  Träger  des  Retu-Typus,  wie  der  Kopte,  geblieben. 
Sind  auch  wirklich  etliche  Fellachgemeinden  durch  lokale  Verhältnisse  dazu 
gedrängt  worden,  etwas  mehr  Blut  arabischer  Eindringlinge  in  sich  aufzuneh- 
men, wie  andere,  so  vermögen  dennoch  derartige  vereinzelte  Vorkommnisse 
keineswegs  den  Charakter  der  Gesammtheit  zu  stören.  Pruner  bemerkt,  dass 
die  auf  dem  Lande  lebenden,  ackerbauenden  Kopten  sich  physisch  in  nichts 
von  den  islamitischen  Fellachen  unterschieden***):  ihre  Frauen  mit  dem  blauen 

*)  Jahrgang  1869  d.  Zeitschr.  S.  157.  Vergl.  ferner  Hartmann:  Entwurf  einer  Karte  der 
Karawaneustrasse  zwischen  Dabbeh  und  Khartum.  Zeitschr.  für  allgemeine  Erdkunde.  N.  F. 
Bd.  XII,  S.  197—200.  Derselbe:  Skizze  der  Landschaft  Sennär.  Das.  Bd.  XIV,  S.  löö.  Ders  : 
Naturgeschichtlich-medicinische  Skizze  u.  s.  w.  S.  210—212,  S.  2.31—254.  Ders.  Medicinische 
Erinnerungen  aus  dem  nordöstlichen  Afrika.  Reichert  und  du  Bois-Reymond's  Archiv  für  Ana- 
tomie, Physiologie  und  wissenschaftl.  Medicin,  Jahrgang  1868,  S.  95. 

*•)  Hierauf  könnte  man  des  Makrizi  übrigens  doch  etwas  hyperbolische  Angabe  beziehen: 
„Die  ganze  Masse  des  Volkes  von  Aegypten,  Copten  genannt,  sei  ein  vermischtes  Geschlecht  ge- 
wesen, so  dass  man    nicht  mehr   unterscheiden   gekonnt,   ob  Jemand  unter   ihnen   von    Koptischer, 

Habessinischer,  Nubiseher  oder  Israelitischer  Abkunft  gewesen  u.  s.  w.  (Geschichte  der  Kopten. 
Deutsch  von  F.  Wüstenfeld.  Abhandlungen  der  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaft  zu  Göttingen 
histor.  phÜOS.  ('lasse.  III,  S.  49). 

***)  E.  W.  Laue  sagt  Folgendes:  „Die  Kopten  unterscheiden  sich  nur  wenig  von  der  grossen 
Mehrzahl  ihrer  muslimischen  Landsleute;  letztere  sind  hauptsächlich  Abkömmlinge  von  Arabern 
und  zur  Religion  der  Araber  übergetretene  Kopten,  und  sind  daher  den  christlichen  Kopten  in 
ihren  Gesichtszügen  ähnlich.  Zuweilen  finde  ich  es  schwer  einen  Unterschied  zwischen  einem 
Kopten  und  einem  Muslim  zu  bemerken,  ausser  einem  gewissen  unterwürfigen  und  finsteren  Ana- 
druck dos  Gesichtes,  welcher  die  ersteren  gewöhnlich  auszeichnet;  und  die  Muslimen  lassen  sieh 
oft  täuschen,  wenn  sie  einen  Kopten  mit  weissem  Turban  sehen.  Wir  bemerken  bei  letzteren 
in  den  verschiedenen  Breiten  des  Landes  dieselben  Schattirungen  der  Farbe  wie  bei  jenen,  von 
einem  blassen  Gelb  bis  zu  einem  dunklen  Bronze  oder  Braun".  (Sitten  und  Gebräuche  der  heu 
ki  jypter.    A.  d.  E.  von  Dr.  J.  Th.  Zenker.    II.  Aufl.  Leipzig.  HI.  Bd.,  S.  169.) 


89 

Hemde  angethan  und  mit  dem  Haushalte  beschäftigt,  würde  auch  der  geübte 
Physioguom  und  Ethnograph  für  Fellachweiber  halten*). 

Ich  selbst  bin  während  unseres  Aufenthaltes  in  Nord-Ost-Afrika  alten 
von  Berlin  mit  herübergebrachten  Yorurtheilen  zu  Liebe  eifrigst  bemüht  ge- 
wesen, in  Kopten  und  Fellachen  völlig  von  einander  getrennte  ßevölke- 
rungselcmeute  zu  erkennen.  Allein  derartige  Bemühungen  erwiesen  sich  mir 
bald  genug  als  ein  gänzlich  unnützes  Beginnen.  Wenn  ich  auch  anfangs 
hier  und  da,  noch  von  jenem  Vorurtheile  gedrückt,  in  Leuten,  die  mir  als 
Kopten  bezeichnet  wurden,  etwas  ganz  Speeifisches  und  zwar  echt  Alt- 
ägyptisches, in  anderen,  die  mir  als  simple  Fellachen  angegeben 
wurden,  sogleich  wieder  etwas  Speeifisches,  nämlich  Arabisches,  Semi- 
tisches erkennen  zu  müssen  glaubte,  so  emaneipirte  ich  mich  doch  frühe 
von  solchen  vorgefassten  Ideen  und  gewöhnte  mich  daran,  die  Leute  total 
unbefangen  nach  der  Methode  der  vergleichenden  Naturforschung  ins  Auge 
zu  fassen.  Ich  gewöhnte  mich  ferner  auch  bald  an  die  logisch  völlig  zu  be- 
gründende Methode  einer  Vergleichung  der  Lebenden  mit  den  Todten. 
Eine  durch  Jahre  lang  immer  wiederholte  Auffrischung  des  Selbstgesehenen, 
ein  immer  erneuetes  Studium  der  Denkmäler,  Handzeichnungen,  Photogra- 
phien, namentlich  aber  weitere  vergleichende  Betrachtungen  über  die  asiati- 
sche und  gesammt-afrikanische  Ethnologie,  haben  mich  in  meinen  Anschauun- 
gen nur  noch  bestärken  können.  Endlich  werde  wieder  mal  bemerkt,  dass 
die  ägyptischen,  islamitischen  Städter,  welche  sich  Masrin,  Auläd-Masr  oder 
Ahl-Masr,  Beni-Masr,  Ahl-Beled  zu  nennen  pflegen,  ebenfalls  Nachkommen 
der  alten  Nilbewohner  seien,  wenngleich  das  in  den  Städten  mehr  entwickelte 
Harim-  und  Sclavenleben,  die  Ansammlung  Fremder  (namentlich  zu  Cairo, 
Alexaudrien,  Port-Said,  Ismailieh,  Suez)  noch  eher  die  Beimischung  anderen 
Blutes  ermöglicht,  als  die  einfachen  Verhältnisse  der  ländlichen  Bevöl- 
kerung. **) 

*)  Ueberbleibsel  S.  15. 

**)  Vergl.  Jahrgang  1869,  S.  157.  Skizze  der  Nillander,  S.  220,  Reichert's  und  du  Bois  Ai 
Chi?  a.  a.  0.  Ganz  gewöhnlich  leitet  man  den  Hauptanprall  der  arabischen  Molemin  gegen  Ae^yp- 
ten  vom  Erobenmgszuge  des  Amr-lbn-e]  -  Asi  her  (Jahr  18  der  Hedjirah,  639  der  christl. 
Aera).  Allein  es  ist  bekannt  genug,  dass  dieser  islamitische  Heerführer  anfänglich  über  nur  we- 
nige echt-syroarabische  Truppen  verfügt,  welche  dann  durch  Beduinen  der  arabischen  und 
libyschen  Wüste,  durch  christlich-ägyptische  Deberläufer,  nubisehe  Strolche  u.  s.  w.  verstärkt 
wurden.  Fanatischer  Eifer  für  den  neuen  Glauben  und  physische  Abhärtung  hatten  die  keuschen, 
der  Wüste  entsprossenen  Streiter  des  Halbmondes  dazu  befähigt,  die  durch  Jahrhunderte  der 
politischen  Zerrissenheit,  der  dogmatischen  Verwirrung  uud  der  christlich-mönchischen  Ascese 
verderbten  Nachkommen  der  Seti,  Ramsses  und  Nekao  ihrem  Willen  zu  beugeu.  Auch  nach 
der  Eroberung  blieb  anfänglich  die  Zahl  der  muslimischen  Eindringlinge  eine  verhältnissmassig 
nicht  grosse.  Makrizi  erwähnt,  „dass  die  Gefährten  des  Propheten  und  ihre  nächsten  Nachfol- 
ger bei  der  Eroberung  Aegyptens  nur  wenig  Wohnplätze  in  den  angebaueten  Gegenden  gehabt, 
dass  alle  Oerter  in  sämmtlichen  Provinzen  voll  von  Kopten  (d.  h.  also  chrisllich- ägyptischen 
Ui bewohnern)  und  von  Griechen  gewesen,  dass  sich  der  Islam  in  Aegypten  erst  nach  dem  ersten 
Jahrhundert  der  Hedjirah  naen  und  nach  ausgebreitet  habe"  (Geschichte  der  Gopten.  I>.  \.  Wü 
stenfeld  a.  o.  a.  0.  S.  54  Anm.). 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  1S7U.  7 


90 

Der  Leser  verzeihe  diese  Weitschweifigkeit.  Allein  wenn  man  bedenkt, 
wie  wenig  Klärung  bei  uns,  wie  auch  bei  unseren  Freunden  jenseit  des  Ka- 
nales,  wie  selbst  jenseit  des  Rheines,  trotz  der  Arbeiten  eines  Pruner, 
über  diesen  Gegenstand  vorhanden,  so  wird  man  es  schon  der  Mühe  werth 
erachten,  etwas  stark  auszuholen.  Wir  wollen  ja  damit  alte,  durch  Genera- 
tionen nachgedachte  nnd  nachgeschriebene  Vorurtheile  zerstören 
und  das  ist  leider  gegenüber  der  Hartnäckigkeit,  mit  der  die  eingewurzelte 
Doctrin  das  Feld  zu  behaupten  sucht,  nicht  so  leicht. 

Im  Nachfolgenden  will  ich  es  zunächst  versuchen,  den  Körper  der  alte  n 
Aegypter  ausführlicher  zu  beschreiben,  dann  will  ich  Einiges  über  ihr 
materielles  und  geistiges  Leben  hinzufügen.  Später  werde  ich  diesen 
Alten  ihre  Nachkommen  und  zwar  auch  körperlich  wie  geistig,  entgegenhalten. 
Danach  möge  nun  der  Leser  entscheiden,  ob  meiner  zwar  umständlichen, 
aber  gutgemeinten  Auseinandersetzung  einiger  wissenschaftliche  Werth  inne- 
wohne oder  nicht. 

Unsere  Betrachtung  muss  nun  vor  Allem  dem  Knochenbau  der  Alten 
zugewandt  werden,  hinsichtlich  dessen  mir  das  im  vorigen  Jahrgange  S.  144 
erwähnte  Material  zu  Gebote  gestanden.  Der  Haupttheil  des  Skeletes 
aber  ist  der  Schädel,  die  „wahre  Hauptsache"  der  Osteologie,  wie  Hyrtl 
so  richtig  sagt,  nicht  allein,  sondern  die  Hauptsache  j  ede  r  anthropolo- 
gischen Untersuchung.  Ich  bin  deshalb  auch  bemüht  gewesen,  zur  Illu- 
strirung  dieser  Zeilen  passende  Schädelabbildungen  herzustellen,  auch 
werde  ich  Schädelmessungen  und  Schädelbescbreibungen  hinzufü- 
gen. Das  Rumpf-  und  Extremitätenskelet  werden  natürlicherweise  ebenfalls 
ihre  Berücksichtigung  finden.*) 

Später  sind  denn  nun  immer  und  immer  Nachschübe  von  Einwanderern  syroarabischer 
Familien  nach  dem  Nilthale  erfolgt  und  ganz  so  geht  es  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Allein 
diese  Einwanderungen  von  nicht  zahlreichen  Individuen  (Soldaten,  Kaufleuten,  Handwerkern,  Hand- 
langern u.  s.  w.)  sind  ebensowenig  geeignet,  den  ägyptischen  Autochtonentypus  umzuwandeln, 
als  dies  durch  in  Aegypten  abenteuernde  Franken,  Osmanen,  Nubier,  Sennarier,  Abyssinier,  ge- 
schehen konnte. 

Ebenso  wenig  hervortretende  Spuren  wie  die  erwähnten  Einwanderungen,  haben  nun  auch 
noch  früher  diejenigen  von  Griechen  (zu  Amosis  und  seiner  Nachfolger  Zeit,  in  der  Periode  der 
l'tolemäer),  von  Persern  und  Römern  in  der  ägyptischen  Bevülkerungsmasse  in  physischer  wie 
psychische:  Beziehung  zu  hinterlassen  vermocht.  Endlich  darf  man  den  Einwirkungen  stattge- 
habter und  noch  stattfindender  Kreuzungen  zwischen  Aegyptern  und  eingewanderten  nubischen 
Beräbra,  sowie  mit  eingeführten  Sklaven  aus  allen  möglichen  Gebieten  Ost-  und  Inner- Afrika's 
nicht  einen  zu;  gewichtigen  Einfluss  auf  den  physischen  Zustand  der  Urbewohner  des  Pha- 
raonen lande»  zuerkennen.  Dergleichen  Kreuzungen  vermögen  inmitten  dieser  autochtonen  Be- 
völkerung so  wenig  durchschlagend  zu  wirken,  als  die  Kreuzungen  mit  europäischen  und  asiati- 
schen Stammesgenossen  in  älterer  und  neuerer  Zeit.  Eine  grosse,  compacte,  in  sich  entwickelte, 
körperlich  und  geistig  im  Allgemeinen  gut  begabte  Volksmasse  lässt  sich  eben  durch  einige  Bei- 
mischung von  auswärtigen  Kiementen  physisch  und  psychisch  nicht  so  völlig  ummodeln. 

*)  Dior  letzteren  Auseinandersetzungen  möchten  den  anatomisch-gebildeten  Fach- 
genossen  überflüssig  erseheinen.  Allein  ich  muss  doch  bemerken,  dass  mir  dergleichen  bei 
der  ziemlich  ausgedehnten  Tendenz  dieses  Blattes  den  nicht  anatomisch-geschulten  Lesern  gegen- 
über durch  billige  Rücksicht  geboten  erscheint. 


91 

Was  die  Herstellung  von  Schädelabbildungen  im  Allgemeinen  an- 
betrifft, so  finde  ich  hier  zunächst  Veranlassung  dazu,  die  häufig  allzu  grosse 
Sorglosigkeit  zu  rügen,  welche  dabei  selbst  von  Seite  bedeutenderer  Fach- 
männer an  den  Tag  gelegt  wird.  Wie  selten  trifft  man  doch  in  den  eine 
craniologische  Arbeit  begleitenden  Abbildungen  auf  consequente  Einhaltung 
der  Stellungen  der  abzubildenden  Schädel.  Nicht  wenige  neuere  Craniolo- 
gen  seheinen  sich  leider  aber  die  Anforderungen,  welche  überhaupt  an 
eine  zweckentsprechende  Schädelabbildung  gestellt  werden  sollen,  mehr  oder 
weniger  unklar  geblieben  zu  seiu.  So  betleissigte  sich  selbst  Blumenbuch 
bist  nie  einer  festen  Durchführung  bestimmter,  eine  genaue  Vorder-  oder  Sei- 
tenansicht bietender  Schädelaufstellungen,  er  wählte  z.  B.  in  seinen  Deca- 
des  sehr  häufig  unvollständige  Facestellungen  u.  s.  w.  In  ähnlicher  Weise 
sind  die  Schädeldarstellungen  bei  Prichard*),  in  Fitzinger's  Abhandlung  über 
Awarenscbädel**)  gehalten.  Wahrhaft  verquälte  Stellungen  beobachtet  man 
in   Owens  Anhange  zu  P.  Du  Chaillu's  Reisebuche  über  das  Ashangoland. 

H.  Welcher  hat  in  seinem  sonst  so  schönen  Werke  über  W'achsthum 
und  Bau  des  menschlichen  Schädels  die  Stellung  seiner  „perspectivisch" 
gezeichneten  Crania  in  {,  auch  J  Profil  geben  lassen,  indem  es  ihm  nach 
seinem  eigenen  Ausspruche  darauf  angekommen,  „mittelst  der  Abbildung  das 
Physiognomische  gewisser  Schädelformen  zur  Anschauung  zu  bringen,  da  ja 
auch  der  Schädel  als  Portrait  behandelt  sein  wolle,  eine  Wahrheit,  die  auch 
Blumenbach,  ein  grosser  Kenner  der  bildlichen  Darstellung,  so  wohl  zu  wür- 
digen gewusst." ***)  Ich  meinestheils  kann  mich  nun  aber  für  einen  derartigen 
Modus  der  .Schädelabbildung  keineswegs  begeistern,  vor  Allem  nicht  für  die 
Anwendbarkeit  desselben  hinsichtlich  der  Rassenschädel.  Ich  schliesse 
mich  in  dieser  Beziehung  vielmehr  durchaus  dem  von  C.  Vogt  ausgesproche- 
nen Tadel  an,  der  sich  namentlich  darauf  richtet,  dass  solche  den  Schädeln 
gegebene  Stellungen  einen  Hauptzweck  der  Abbildungen,  nämlich  ihre  Ver- 
gleichbarkeit, beeinträchtigten. f)  Carus,  K.  E.  v.  Bär,  Morton.  Lucae, 
Ecker,  Vogt,  Landzert,  Davis,  Hensel,  Fritsch  u.  A.  ragen  in  dieser  Hinsicht 
durch  grosse  Exactheit  hervor. 


*)  Z.  B.  in  den  Ausgaben  von  Norris  und  von  Roulin. 
**)  Denkschriften  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaften  V. 
"')  A.  o.  a.  0.     Leipzig  1862,  S.  XIII. 
f)  Vorlesungen  über  den  Mensehen.  Giessen  1863,  64  I,  S.  SC.    Ich  verlange  übrigens  auch 
für  physiognomische    Etassenabbüdungen  ein  möglichst    strenges  Festhalten  an  «ler  reinen 
Profil-   und  reinen  Facestellung.    Nun  bin  ich  freilich  selbst  Derjenige,   welcher  im  vor- 
liegenden und  in  den  folgenden  Aufsätzen  häufiger  dieses  letztere  Postulat  missachten  wird  und 
leider  missachten  muss.    Ich  bin  ja  zu  sehr  von  meinem  eigenen,  unter  ganz  besonderen  Schwie 
rigkeiten  mühselig  zusammengeschleppten  Materiale  abhängig  (vergl.  auch  Jahrg.  1869,  Hott  III. 
S.  256  dies.  Zeitschr.).    Trotz  alledem  wird  man  mit  diesem,   wie  ich  denke,  in  einiger  Fülle  ure- 
botenen  Material  immer  wohl  etwas  anfangen  können.    I « li  mache  auch  gelegentlich  hier  daraul 
aufmerksam,  dass  bis  jetzt  kaum  unsere  neueren,  in  photographischen  Aufnahmen  geübten  For- 
scher, Jagor,  Fritsch  und  Lamprey  ausgenommen,  ihre   physioguomischen  Rassenabbildungeu 

7* 


92 

Nach  meinem  eigenen  Dafürhalten  empfiehlt  sich  nun  vor  Allem  die  vor- 
herige photographische  Aufnahme  von  Schädeln  für  deren  weitere  ikono- 
graphische  Bekanntmachung.  Der  nicht  im  Zeichnen  geübte  Craniologe  giebt 
mit  Photographien  dem  Kupferstecher,  Lithographen  und  Holzschneider  ein 
zuverlässiges  und  in  den  Details  genaueres  Material  iu  die  Hände,  als  in  Ge- 
stalt von  Zeichnungen.     (Ueber  Craniographen  s.  Note  VI). 

Lässt  man  die  photographische  Aufnahme  vervielfältigen*),  so  gewinnen 
die  Fachgenossen  dadurch  zugleich  einen  hübschen,  für  Vergleichung  und 
Kontrole  dienlichen  Stoff.  Aber  die  photographische  Schädelaufnahme  muss 
in  die  Hände  sehr  intelligenter  Techniker  gelegt  werden,  welche  auch  im 
Stande  sind,  ihre  Aufgabe  zu  begreifen  und  der  Methode  wirksame  Hülfe  zu 
leisten.  Ein  gewöhnlicher  photographischer  Handwerker,  der  einen  ihm  über- 
gebenen  Schädel  in  den  Tag  hinein  hier  gerade,  da  schief,  bald  halb,  bald 
ganz  en  face  oder  en  profil  aufstellen  und  exponiren  will,  kann  für  unsere 
Zwecke  nichts  nützen.  Hierbei  sind  die  Hinzuziehung  eines  photographischen 
Künstlers  und  dabei  noch  die  genaueste  Anweisung  von  Seiten  des  auftrag- 
gebenden Forschers  von  Nöthen.  Ich  weiss  aus  eigener  Erfahrung,  dass  eine 
solche  Anweisung  nicht  überall  leicht  zu  ertheilen  ist,  und  dass  es  oft  Mühe 
kostet,  selbst  sehr  tüchtige,  aber  mehr  an  malerisches  Portraitiren,  gewöhnte 
Lichtbildner  nach  dieser  Richtung  hin  zu  schulen.  Am  besten  ist  es 
freilich,  wenn  der  Forscher,  selber  Photograph,  seine  eigene  derartige  Thä- 
tigkeit  auch  selber  zu  regeln  vermag.  Dazu  kommt  freilich  ein  schädelge- 
rechter Professor  nicht  häufig,  wenigstens  nicht  ein  deutscher,  denn  Ausga- 
ben für  andere  Zwecke  als  wissenschaftliche,  wie  z.  B.  Wittwenkassenbei- 
träge,  auch  häusliche  Misere,  verkümmern  ihm  leicht  die  Mittel,  eine  für  seine 
Zwecke  so  wichtige  Kunst,  wie  die  Photographie,  seibeigen  betreiben  zu 
können.  Nun  bringt  freilich  eine  photographische  Aufnahme  bald  einmal 
unnützes,  für  das  Verständnis«  gelegentlich  sogar  störendes  Beiwerk  mit  in 
das  Bild,  wie  zu  grelle  Lichteffecte,  dem  Specimen  selbst  anhaftende  Flecke, 
Krustentheile  u.  s.  w.    Dergleichen  können  aber  durch  eine  vorsichtig  an- 

uach  eenauer  Profil-  und  Facestellung  wiedergegeben.  Namentlich  haben  in  dieser  Hinsicht 
unsere  bedeutenden  Künstler,  wie  z.  B.  Choris,  H.  Vernet,  M.  Rugendas,  Prisse,  G.  Richter, 
W.  Genta  gegen  die  von  uns  erörterten  Normen  gefehlt,  Normen,  die,  wie  mir  oft  genug 
begegnet,  von  Adepten,  von  Kunst  anstrebenden  Dilettanten,  oder  über  Kunst  schwatzenden  Laien 
meist  als  steif,  hölzern,  unmalerisch  u.  s.  w.  getadelt,  ja  z.  Th.  gänzlich  verworfen  werden.  Nun 
gebe  ich  zwar  vollkommen  zu,  dass  Jemaiid,  der  sehen  kann  und  sehen  will,  auch  an  %  und 
%  Profilstellungen  von  R;issenköpfen  noch  eine  leidliche  Charakteristik  erkeimt,  allein  die  Wis- 
senschaft verlangt  doch  strengere  Norm  zur  übersichtlichen  Vergleichung  und  zwar  mit  allem 
Recht.  Die  bildende  Knust,  welche  mehr  für  die  Allgemeinheit  schafft,  bedarf  solcher  Normen 
weniger  und  wird  daher  öfter  die  ansprechendere,  mehr  Leben,  mehr  Abwechslung  gewährende, 
halbe  Profilstellung  wählen  und  nicht  Alles  nach  pedantischer  Norm  von  vorn  oder  von  der 
Seite  darstellen. 

*)  Leider  bildete  bisher  die  geschäftliche  Kngherzigkeit  unserer  photographischen  Verleger 
in  dieser  Hinsicht  ein  bedauerliches  Hinderniss  für  die  Weiterverbreitung  in  wissenschaftlicher 
Hinsicht  so  wichtiger  Vorlagen 


93 

gewandte  Retouche  verdeckt  werden.  Uebrigens  sei  hierbei  sogleich  bemerkt, 
dass  ich  der  Retouche  nirgendwo  zuviel  Macht  einräumen  möchte,  am 
Allerwenigsten  in  Händen  ordinärer  photographischer  Geschäftsleute.  ich! 
wenige  der  letzteren  Kategorie  Angehörende  sind  daran  gewöhnt,  ihre  Pho- 
tographien schablonenmässig  mit  dem  Pinsel  durchzuarbeiten,  hier  einem  eit- 
len Korporal  oder  llandlungsbeflissenen  den  Milchbart  anzustreichen,  dort 
einer  frechen  Bühnenheldin  die  sinnlich  aufgeblähten  Nüstern  auszuschattiieu 
u.  s.  w.  Alles  Oberflächlichkeiten,  tagesübliche,  für  die  Wissenschaft  wenig 
verwerthbare  Routine!  Ich  lasse  mir  jetzt,  nachdem  ich  selber  einiges  Lehr- 
geld gezahlt,  die  von  hiesigen  tüchtigeren  Photographen  anzufertigenden  Auf- 
nahmen wissenschaftlicher  Gegenstände  roh  überliefern  und  retouchire  sie 
mir  lieber  je  nach  Bedürfnis*  entweder  selbst,  oder  ich  unterlasse  dies  auch 
wohl  ganz.     Ich  weiss  dann  wenigstens  immer,  was  ich  vor  mir  habe. 

Leider  ist  die  directe  photographische  Vervielfältigung  nach  dem  gegen- 
wärtigen Stande  der  Sache  noch  sehr  kostspielig,  die  sogenannte  Phototy- 
pie  nicht  minder  und  somit  wird  es  sich  denn  vor  der  Hand  da,  wo  nicht 
besonders  günstige  Umstände  coneurriren,  durchaus  empfehlen,  die  fertigen 
Schädelphotographieu  von  geschickten  Kupferstechern,  Lithographen  oder  Holz- 
schneidern für  die  weitere  Publikation  verarbeiten  zu  lassen.  Es  bietet  diese 
Art  der  Weiterverbreitung  immerhin  den  Vortheil,  dass  durch  die  Hand 
der  ausübenden  Künstler  das  Schädelbild  häufig  sogar  in  einer  dem  Verständ- 
niss  noch  zugänglicheren  Form  überliefert  werden  kann,  als  in  Form  der  Ori- 
ginalaufnahme allein.  Uebrigens  sollte  man  möglichst  darauf  bedacht  sein, 
dem  ausführenden  Künstler  zur  weiteren  Darstellung  die  Original-Schädel 
auch  noch  neben  den  photographischen  Aufnahmen  derselben  zu  übergeben, 
um  damit  Jenen  in  den  Stand  zu  setzen,  selbst  die  nöthige  Kontrole  üben 
zu  können.  Ein  solches  Verfahren  wird  bei  mangelhafteren  Schädelpho- 
tographien  durch  die  anzustrebende  Genauigkeit  der  Methode  sogar  geboten. 

Lange  habe  ich  geschwankt,  ob  ich  für  die  in  Rede  stehenden  cranio- 
logischen  Abbildungen  zur  vorliegenden  Arbeit  nicht  den  Lucaeschen  Ap- 
parat*), dessen  mancherlei  Vorzüge  ich  aus  eigener  Erfahrung  kenne  und  auch 
stets  gerne  anerkenne,  mit  dessen  Hülfe  der  Erfinder,  sowie  die  Herren 
Ecker,  Landzert  u.  A.  so  brauchbare  Schädeldarstellungen  geliefert,  zur  Nach- 
bildung auch  meines  eigenen  Schädelmateriales  in  Anwendung  ziehen  sollte 
oder  nicht.  Allein  ich  bin  dennoch  wieder  zur  Photographie,  als  der  in  ein- 
facherer, weniger  Zeit  kostender  Weise  auszuführenden,  nicht  nur  Umrisse. 
sondern  ein  detaillirtes,  perspectivisches  Bild  gewährenden  Methode  zurück- 
gekehrt. Ich  stimme  ferner  auch  mit  H.  v.  Nathusius  überein,  nach  dessen 
Ausspruch    selbst   geometrische   Schädelaufnahmen   für   exaete  Messun- 


*)  Beschrieben  in  J.  C.  G.  Lucae:  zur  Morphologie  der  Rassenschädel,  Frankfurt  a.  IL  1864, 
S.  14  und  Th.  Landzert:  Aretiv  für  Anthropologie.  II,  S.  3,  4.  (Vergl.  auch  C.  Vogt:  Vorle- 
sungen, I,  S.  87  ff.) 


04 

fren  nicht  anwendbar  sind  und  niemals  directe  Messungen  ersetzen  könn- 
ten. „Wer  von  dem  abgebildeten  Schädel  eine  klare  Uebersicht  gewinnen 
wolle,  nü'issr  uothwendig  Messung  und  Beschreibung  neben  dem  Bilde  be- 
nutzen."   ) 

her  Haupttheil  dieser  Blätter  war  bereits  niedergeschrieben,  als  ich  den  in 
der  Sitzung  der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  vom  12.  März  1IS70 
gehaltenen  Vortrag  des  Dr.  G.  Fritsch  „über  die  Anwendung  der  Photogra- 
phie zur  Darstellung  von  Schädelabbildungen  im  Vergleich  zur  Anwendung 
des  Lucaesehen  Zeichnenapparates"  vernahm.  Fritsch  ist  gänzlich  unabhängig 
von  mir  zu  ähnlichen  Aussprüchen  gekommen.  Er  berührt  beiläufig  die 
Notwendigkeit,  die  durch  Benutzung  von  Lucae's  Apparat  in  natürlicher 
Grosse  des  Objectes  gewonnenen  Zeichnungen  (mit  dem  Storchschnabel)  ver- 
kleinern zu  müssen,  auch  er  erwähnt,  dass  Messungen  sich  an  solchergestalt 
gewonnenen  Zeichnungen  nicht  genau  durchführen  lassen,  da  die  Schiefheit 
der  Objecte  Fehlerquellen  eröffnet.  Directe  Messungen  an  den  Schädeln 
seien  weder  bei  geometrischen  noch  photographischen  Aufnahmen  zu  ver- 
meiden. Auch  der  Vortragende  pries  die  genauere  Detaillirung  der  photo- 
graphischen Aufnahmen  und  wies  die  den  letzteren  (meist  aus  Unkunde)  ge- 
machten  Vorwürfe  zurück.  **) 

Wem  nun  hinlänglicher  Raum  und  ausgiebige  Mittel  zu  Gebote  stehen, 
die  Abbildung  der  Antlitz-,  Seiten-,  Scheitel-  und  Hinterhaupts-, 
ja  womöglich  auch  noch  diejenige  der  Grundbeinansicht  eines  jeden  iko- 
nographisch  darzustellenden  Schädels  veröffentlichen  zu  können,  der  wird  sich 
des  Vortheiles  eines  embarras  de  richesses  erfreuen.  Ueber  einen  solchen 
vermag  freilich  nicht  Jeder  zu  verfügen.  Es  kann  damit  sogar  ein  überflüssiger 
Luxus  getrieben  werden.  Meines  Erachtens  genügen  die  Antlitzansicht  (Norma 
facialis),  die  Seitenansicht  (N.  lateralis),  die  Scheitelansicht  (N.  verticalis),  um 
die  hervorragendsten  Eigentümlichkeiten  eines  Schädels  bildlich  zu  charak- 
terisiren.  Zwar  bemerkt  C.  E.  v.  Bär,  dass  die  Hinterhauptsansicht  (Norma 
occipitalis)  des  Schädels  besonders  instructiv  sei,  indem  der  Umfang  des  Hin- 
terhauptes von  einer  deutlich  fünfeckigen  Gestalt,  die  bald  mehr  hoch,  bald 
mehr  breit  sei,  durch  Abrundung  der  Ecken  in  eine  Ellipse  oder  in  einen 
Kreis  übergehen  könne***).  Indessen  lassen  sich  die  Eigenthümlichkeiten  der 
Hinterhauptsansicht,  die  bei  sonst  in  naturgemässer  Weise  entwickelten  Schä- 
deln kaum  je  sehr  bedeutungsvolle  Abweichungen  aufweisen  wird,  ganz  gut 
und  zwar  am  ehesten  nach  der  von  Bär  selbst  (a.  o.  a.  O.  S.  54 )  gegebenen 
Bezeichnungsweise,    beschreiben,    was    dagegen   bei    den  Antlitz-,   Seiten- 


*)  Abbildung  Min  Sc-hweiiit'Sfhiult'In  zu  ilm  Vorstudien  für  Geschichte  und  Zucht  der  Haus- 
siere.    Berlin  1804,  S.  22. 

**)  Eine  genauere  Darlegung  von  Dr.  Fritsch's  Ansichten  über  diesen  Gegenstand  wird  der 
Btenographirte  Bericht  im  Sitzungsbülletin  der  Berliner  anthropolog.  Gesellschaft,  lieft  II,  Jahrg. 
1870  dieser  Zeitschrift,  bringen. 

"")  Bericht  über  die  Zusammenkunft  einiger  Anthropologen  iu  Göttingen.    Leipz.  18G1.    S.  47. 


95 

und  Scheitelnormen  nicht  immer  so  genau  ausführbar  sein  dürfte  Gewisse 
Eigentümlichkeiten  der  Hinterhauptsregion  linden  auch  schon  in  der  Seiten- 
ansicht ihren  vollen  Ausdruck,  so  z.  B.  die  Stellung  und  Entwickeluug  des 
äusseren  Hinterhauptsstachels,  die  Stellung  des  Zitzenfortsatzes  u.  s.  w.  Bei 
den  künstlich  verbreiterten  Schädeln  der  Peruaner,  Philippinenbewohner 
u.  s.  w.,  dagegen  werden  bildliche  Darstellungen  der  Hinterhaupts-  und 
selbst  der  ßasilarnorm  zu  unabweisbaren  Bedürfnissen.  Uebrigens  gewäh- 
ren uns  viele  der  vorzüglichsten  craniologischen  Schriften,  u.  A  das  oben 
citirte  Werk  über  den  Göttinger  Anthropologencongress  selber,  n  ur  die  Ant- 
litz-, Seiten-  und  Scheitelansicht  der  abgebildeten  Schädel.  Wenn 
ich  es  aber  auch  einestheils  nicht  für  einen  Fehler  erklären  kann,  die  Schä- 
delabbildungen in  Fällen,  in  denen  Sparsamkeitsgebote  es  erheischen,  auf 
Wiedergabe  dreier  vorzüglich  wichtiger  Normen  zu  beschränken,  so  vermag 
ich  doch  andererseits  nimmermehr  einem  allzu  übertriebenen  Kargen  in  dieser 
Beziehung  das  Wort  zu  reden. 

Morton's  sonst  so  treffliche  und  in  reicher  Zahl  gewährte  Abbildungen 
altägyptischer  Schädel  sind,  eine  einzige  Figur  auf  Taf.  XII  ausgenommen, 
sämmtlich  nur  nach  der  Seitenansicht  gezeichnet  worden.  Zum  Glück  sieht 
man  dieselben  meistens  mit  Konsequenz  nach  einer  Richtimg,  d.  h.  alle 
mit  dem  Antlitze  nach  rechts,  gekehrt.  Selbst  Pruner  giebt  in  seiner  vorzüg- 
lichen Abhandlung  über  die  alten  Aegypter  in  den  Memoiren  der  pariser 
anthropologischen  Gesellschaft  (I,  Taf.  12,  13)  nur  che  Antlitz-  und  nur  die 
Seitenansicht  der  von  ihm  als  typische  abgebildeten  Mumienschädel.  Gerade 
hier  wäre  aber  die  Darstellung  auch  der  Scheitelansicht  sehr  am  Platze  ge- 
wesen. Höchst  tadelnswerth  erscheint  es  mir,  wenn  ein  und  derselbe  Cra- 
niolog  in  seiner  Abhandlung  für  diese  Völkerschaft  Antlitz-,  Scheitel-,  Seiten- 
und  Hinterhauptsansicht,  für  eine  benachbarte,  verwandte  oder  fremde  dage- 
gen Antlitz-,  Scheitel-  und  Hinterhauptsansicht,  für  eine  dritte,  ebenfalls  ent- 
weder nahestehende  oder  fremde  Nation  wieder  Antlitz-,  Scheitel-  und  Basilar- 
ansicht  abbildet.  In  dieser  Beziehung  ist  eben  ein  colnseq  uentes  Ver- 
fahren erste  Bedingung.  Wohl  dem,  welcher  seine  Abbildungen  in  natür- 
licher Grösse  zu  bringen  vermag,  wie  es  C.  G.  Carus  im  Atlas  der  Cra- 
nioscopie,  Lucae  z.  Th.  in  seiner  Morphologie  der  Rassenschädel,  K.  E.  v.  Bär 
in  den  Crania  selecta,  C.  Vogt  in  seiner  Arbeit  über  die  Mikrophalen,  Davis 
und  Thurnam  in  ihrem  Prachtwerke :  Crania  britannica  gethan  haben.  Leider 
werden  jedoch  immer  nur  wenige  unserer  Forscher  im  Stande  sein,  über  den 
dazu  nöthigen  Raum  zu  verfügen.  Auch  muss  wohl  berücksichtigt  werden, 
dass  mit  so  grossen,  stattlichen  Tafeln  verzierte  Werke  die  Herstellungskosten 
gleich  ganz  gewaltig  vermehren.  Durch  solche  Rücksichten  werden  denn 
auch  die  meisten  Craniologeu  sieh  gezwungen  fühlen,  ihre  Schädelabüildun- 
gen  zu  reduciren.  In  einer  Zeitschrift  vom  Formate  der  vorliegenden  ver- 
.■-rtlit   steh  Letzteres  ganz  und  gar  von  selbst. 

In  Bezug   auf  die   unserrn  Hefte   beigefügten  Abbildungen    von  Mumien- 


96 

schadeln  bemerke  ich  beiläufig,  das  dieselben,  der  dunkelbraunen  (von  harzi- 
ger Imprägnation  herrührenden)  Färbung  der  Originale  wegen  etwas  entschie- 
den im  Tone  gehalten  wurden.  Da  nun  die  Aussenfläche  der  Originale  durch 
Ueberreste  zurückgebliebener  resinöser  Umgiessung,  deren  vollständigste  Ent- 
fernung auch  bei  sorgfältiger  Präparation  ohne  gleichzeitige  Anschabung  der 
äusseren  Tafel  nicht  gelingen  wollte,  etwas  glatt  geblieben,  so  musste  dies 
auch  schon  im  Steindrucke  berücksichtigt  werden.  Man  wird  daher  hier  ver- 
geblich nach  Wiedergebung  von  Knochenleistchen,  Höckern,  Löchern  suchen, 
wie  sie  unsere  späteren  Darstellungen  der  Oberfläche  nicht  einbalsamirter 
Schädel  in  stärkerem  oder  geringerem  Grade  bieten  sollen.  Einige  kleine 
Unfertigkeiten  nun,  welchen  man  hier  bei  Betrachtung  dieser  ersten  mensch- 
lich-craniographischen  Versuche  eines  aufstrebenden  Künstlers,  wie  A.  Meyn, 
begegnen  wird,  können  in  Zukunft  leicht  vermieden  werden.  Sie  sind  zum 
Glück  auch  nicht  bedeutend  genug,  um  die  Brauchbarkeit  der  Abbildungen 
zu  beeinträchtigen.  Man  trifft  leider!  deren  noch  viel  schlimmere  in  hervor- 
ragenden craniologischen  Werken  der  Neuzeit. 

Es  ist  mir  nicht  selten  passirt,  dass  Jemand  von  vornherein  eine  Schä- 
delabbildung als  unrichtig  tadelte,  weil  er  sich  nicht  darein  finden  konnte, 
die  dargestellten  Normen  aufeinander  zu  beziehen  und  sich  daraus  eine  ent- 
sprechende Vorstellung  zu  bilden.  Es  kann  nicht  genug  anempfohlen  wer- 
den, gerade  in  dieser  Hinsicht  erst  genau  zu  prüfen,  bevor  geurtheilt  werde. 

Messungen  am  Lebenden,  am  Skelet  und  namentlich  am  Schä- 
del gehören  zu  den  wichtigen  Aufgaben  unserer  Forschungen.  Schädel- 
messungen sollen  uns  in  dieser  Arbeit  gehörig  beschäftigen.  Ich  habe 
zwar  bereits  früher  eindringlich  davor  gewarnt,  an  diese  Untersuchungsmethode 
in  einseitiger  Weise  allzu  kühne  Hoffnungen  zu  knüpfen*).  Indessen  gewährt 
uns  die  Craniometrie  (wie  sich  dies  an  von  einander  sehr  abweichenden  For- 
men bereits  mit  nur  wenigen  Zahlen  darthun  lässt),  ein  Hülfsmittel  von 
nicht  zu  unterschätzender  Bedeutung.  Selbst  bei  sehr  ähnlichen  Formen  lei- 
ten uns  die  Zahlen,  sind  ihrer  nur  nicht  allzuwenige,  oft  weit  sicherer  in  der 
Schätzung  der  Verhältnisse  der  einzelnen  Theile  zu  einander,  als  dies  die 
sorgfältigste  Beschreibung  vermag. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  und  wo  sollen  die  Schädel  gemessen  werden? 
Aeby  sagt  a.  o.  a.  0.  S.  5:  „Die  Methode  der  Messung  muss  sich  an  den 
ganzen  Organismus  des  Schädels  anschliessen  und  eine  stereoskopische  An- 
schauung desselben  in  den  drei  Richtungen  des  Raumes  gestatten,  sie  soll, 
wo  immer  möglich,  aber  auch  dazu  dienen,  die  Schädelforra  als  solche  in 
einfachen  Linien  darzustellen;  denn  Zahlentabellen  sind  nicht  Jedermanns 
Sache  und  Vielen  wird  es  schwer,  den  Begriff  der  Zahlen  in  denjenigen  der 


*)  Vergl.  Jahrgang  1869.  S.  32,  33.  Man  vergleiche  ferner  die  ganz  vortreffliche  Behand- 
lung der  hier  in  Anregung  gebrachten  Fragen  bei  Aeby :  Die  Schädelformen  des  Menschen  und 
fler  Affen.     Leipzig  1867,  S.  5,  S.  57  ff. 


07 

räumlichen  Anschauung  zu  übersetzen  Ein  Versuch  in  dieser  Richtung  ist 
meines  Wissens  nur  von  Welcker  in  seinen  sogenannten  Schädelnetzen  ge- 
macht worden*);  die  Form  des  Kopfes  ist  dabei  jedoch  ganz  aufgegeben  und  . 
sie  leisten  für  die  Versinnlichung  der  wirklichen  Kopfform  kaum  mein-  als 
die  Zahlen  selbst.  Die  Messung  muss  aber  namentlich  auch  so  eingerichtet 
werden,  dass  sie  mit  Leichtigkeit  die  individuellen  Schwankungen  hervortre- 
ten lässt.  Im  Allgemeinen  ist  gewiss  viel  zu  wenig  Aufmerksamkeit  darauf 
gerichtet  worden  zu  erfahren,  innerhalb  welcher  Grenzen  eine  gewisse  Form 
variirt,  ohne  die  Norm  zu  verlassen.  Wir  halten  bereits  betont,  wie  nirgends 
vielleicht  wie  in  der  Anthropologie  der  einzelne  Fall  nur  durch  Verbindung 
mit  anderen  Fällen  Werth  erhält;  durch  nichts  lassen  sich  aber  getrennte 
Formen  so  leicht  wie  durch  Zahlen  zusammenschmelzen.  Je  grösser  die  Reihe 
der  einzelnen  Beobachtungen,  um  so  sicherer  werden  die  gewonnenen  Mit- 
telwerthe  der  Individualität  abgestreift  und  sich  zum  Ausdrucke  des  reinen 
Typus  erhoben  haben.  Endlich  ist  es  aber  wiederum  die  Messung,  welche 
allein  einer  Anforderung  Genüge  zu  leisten  vermag,  die  an  jede  Vergleichung 
ähnlicher  Gebilde  gestellt  werden  muss.  Nur  Gleichwertiges  hann  wirklich 
verglichen  werden;  auch  die  Schädel  müssen  demnach  vor  Allem  gleichwer- 
tig gemacht  werden,  um  einen  sicheren  Schluss  auf  ihre  Aehnlichkeit  oder 
Unähnlichkeit  zu  gestatten.  Es  geschieht  dies  in  der  Weise,  dass  alle  Grös- 
sen auf  ein  und  dasselbe  im  Schädel  selbst  enthaltene  Maass  bezogen  wer- 
den. Die  von  Aeby  aufgestellten  Principien  zur  Messung  von  Schädeln  sind 
in  einer  anderen  Schrift  desselben  Forschers  ausführlich  dargestellt  worden**). 
Verf.  sucht  in  seiner  weiter  oben  citirten  „die  Schädelform  u.  s  w."  betitel- 
ten Arbeit,  die  mit  Hülfe  dieser  Methode  gewonnenen  Resultate  näher  dar- 
zulegen. Bekanntlich  handelt  es  sich  bei  Aufstellung  von  Aeby's  Principien 
darum,  alle  Schädelmaasse  auf  eine  gemeinsame  Grundlinie  zu  reduciren, 
welche  zwischen  Hinterhauptsloch  und  Siebbeineinschnitt  des  Stirnbeines  ge- 
zogen, sich  auch  am  nicht  durchsägten  Schädel  mit  Sicherheit  bestimmen  lässt. 
W.  Krause  verlangt  nun,  da?s  vor  Allem  die  Wachsthumgrösse  der  einzelnen 
Schädelknochen  in  bestimmten  Richtungen  gemessen  werde,  denn  es  könne 
dieselbe  Form  bei  verschiedenen  Schädeln  ohne  Zweifel  durch  verschiedenes 
Wachsthum  verschiedener  Knochen  factisch  hervorgebracht  werden***). 

Ich  gebe  zu,  dass  die  hier  angedeuteten,  einerseits  von  Aeby,  anderer- 
seits von  Krause  befolgten  Gesichtspunkte  einen  bedeutenden  wissenschaftli- 
chen Werth  haben,  und  dass  es  sehr  vortheilhaft  sein  würde,  wenn  man  der- 
artige Gesichtspunkte  bei  Anstellung  aller  Schädelmessungen  im  Allgemeinen 


*)  Untersuchungen  über  Wachsthum  und  Bau  des  menschlichen  Schädels.  I.  Theil.  Leip- 
zig 1862.     S.  24. 

**)  Eine  neue  Methode  zur  Bestimmung  der  S^hädelform  des  Menschen  und  der  Säugetbiere. 
Braunschweig  1862.     Schon  Huxley  hatte  seine  basicranial  axis  als  Einheit  empfohlen 

***)  Archiv  für  Anthropologie,  I,  S.  252  Weiter  ausgeführt  von  Dr.  Sasse  das.  II,  S.  101 
lind  nochmals  von  Krause  das.  III,  S   136. 


98 

als  Grundlage  benutzen  wollte.  Ich  komme  spater  auf  dieselben  zurück, 
indem  ich  im  Anhange  Messungen  meiner  Aegyptersehädel  auch  nach  den 
Methoden  anderer  Forscher  zu  veröffentlichen  gedenke.  Es  ist  bereits  von 
mehreren  Seiten  dagegen  geeifert  worden,  die  Schädel  nur  au  ihrer  Oberfläche 
/.u  untersuchen,  und  nicht  auch  zugleich  den  Innernraum  derselben  der  Kon- 
trole  durch  den  Maassstab  zu  unterwerfen.  So  stellt  z.  B.  unser  Lucae  die 
Forderung,  dass  man  den  zu  untersuchenden  Schädel  durch  einen  senkrechten 
Schnitt  von  hinten  nach  vorn  und  von  oben  nach  unten  vorsichtig  öffnen, 
die  auseinander  genommenen  Schädelhälften  nach  stattgehabter  Untersuchung 
durch  Drathhefte  vereinigen  und  so  das  Ganze  wieder  zusammenfügen  solle. 
Das  ist  sicherlich  sehr  schön!  Man  kann  wohl  von  vornherein  zugestehen, 
dass  die  durch  Substanzverlust  bei  Führung  des  Sägeschnittes  erzeugte  Fehler- 
quelle zu  unbedeutend  sei,  um  eine  besondere  "Würdigung  zu  verdienen.  Auch 
würden  sich  bei  mit  aller  Vorsicht  angestellter  Zusammenfüguug  der  ausein- 
andergesägten Schädelhälften  Beschädigungen  der  also  behandelten  osteologi- 
schen  Präparate  vermeiden  lassen.  Und  trotz  alledem  lässt  sich  die  übrigens 
so  erspriessliche  Methode,  den  Schädelinnenraum  etwa  nach  den  oben  berühr- 
ten Vorschlägen  behufs  Anstellung  von  Untersuchungen,  besonders  aber 
von  Messungen,  in  Betracht  zu  ziehen,  nur  in  den  seltensten  Fällen  zur  An- 
wendung bringen.  Denn  nur  wenige  Directionen  öffentlicher  anatomischer 
Sammlungen  und  womöglich  noch  weniger  die  Besitzer  von  Privatmuseen 
möchten  sich  dazu  herbeilassen,  eine  derartige  Behandlung  der  ihrer  Obhut 
anvertraueten  oder  ihr  Eigenthum  bildenden  Präparate  zu  gestatten.  In  sol- 
chen Dingen  spricht  der  sogenannte  leidige  Usus  ein  bedeutendes  Wort,  zu- 
mal die  Aufsichtsbehörden,  deren  wir  im  Schoosse  des  Staatsleben  nimmer 
eutrathen  werden,  bei  solchen  Eingriffen  sich  vielleicht  nicht  zustimmend 
äussern  dürften.  Ich  selbst  spreche  aus  Erfahrung  in  dieser  Angelegenheit, 
und  viele  Fachgenossen  werden  mir  Recht  geben.  Aus  vielseitiger  Rücksicht 
auf  einen  durch  Jahrzehnte  geheiligten  Usus  vermag  ich  selbst,  z.  B.  die  im 
Berliner  anatomischen  Museum  befindlichen  Schädel  nicht  mit  der  Säge  an- 
zugreifen. Mir  würde  es  sogar  peinlich  sein,  bei  Entleihung  fremder,  mir 
sonst  vielleicht  mit  grosser  Liberalität  bewilligter  Schädelpräparate  zugleich 
um  Erlaubniss  zur  Aufsagung  zu  petitioniren.  Uebrigens  könnten  sich  die 
allgemeinen  anthropologischen  und  prähistorischen  Kongresse,  deren  es  in 
unserem  modernen  Europa  alljährlich  irgend  eine  neue  Auflage  giebt,  wohl 
gelegentlich  mit  Verhandlung  solcher  in  den  internationalen  wissenschaftlichen 
Verkehr  tief  eingreifender  Fragen,  wie  die  Art  der  Benutzung  gegenseitig  als 
Studienmaterial  zu  leihender  Skelete  und  Skelettheile  u.  s.  w.,  überhaupt  mit 
gröstmöglicher  Regelung  des  gegenseitig  zu  leistenden  Unterstützungs-  und 
Tauschverfahrens  beschäftigen,  als  sich  gar  zu  ausschliesslich  tief  mit  Einzel- 
heiten über  Steinsplitter,  Topfscherben,  Bronzereifen,  Knochenfragmente  u.  dgl. 
aus  irgend  einer  Fundstätte,  mit  Höhlenkannibalismus  u.  s.  w.  zu  beschäfti- 
gen.    Vielleicht  liesse  sich  da  doch  eine  gewisse  Einigung  erzielen,   welcher 


99 

gegenüber  einzelne  Eigensinnige  aus  Furcht  vor  Blamage  nicht  mehr  Wider- 
stand leisten  möchten.  Uebrigens  gewährt  auch  eingehendere  Betrachtung 
der  „äusseren  Schale"  manche  Gelegenheit,  nicht  allein  das  Allgemeinere 
bei  Schädeln  zu  kennzeichnen,  sondern  selbst  sogar  individuelle  Eigentüm- 
lichkeiten und  Schwankungen  festzustellen.  Ich  behaupte  mit  Welckcr,  dass 
man  zunächst  gründliche  und  umfassende  Messungen  am  äusseren  Schädel 
anstellen  müsse,  auch  frage  ich  mit  Welcher,  ob  man  etwa  auf  die  Messung 
des  äusseren  Schädels  verzichten  solle,  weil  man  denselben  durchsägen  und 
sein  Inneres  zugänglich  machen  könne? 

Bekanntlich  existiren  ziemlich  viele  Schemata  für  die  Ausführung  von 
äuwserlichen  Schädelmessungen  u.  A.  nach  Virchow,  Bär,  Huxley,  Wel- 
ckcr, Ecker.  Ich  selbst  habe  nicht  das  Bedürfhiss  empfunden,  ein  neues  auf- 
zustellen, mich  vielmehr  mit  einem  aus  den  schon  vorhandenen  zusammenge- 
stellten begnügt.  Dasselbe  scheint  mir  den  nöthigen  Erfordernissen  zu  ent- 
sprechen. Ich  werde  diesem  Schema  daher  in  dem  nachfolgenden  cranio- 
logi  sehen  Texte  den  Hauptplatz  einräumen,  jedoch  in  einem  Anhange 
(Note  VII)  auch  Maasse  meiner  Schädel  nach  den  Methoden  von  Pruner,  B. 
Davis  und  W.  Krause  geben.  Nach  Pruner  und  Davis  nämlich,  um  gewisse 
Vergleichungen  mit  dem  reichen,  von  ihnen  abgehandelten  Materiale  zu  er- 
möglichen, nach  Krause,  um  auch  einem  Verfahren  gerecht  zu  werden,  des- 
sen vielfache  Vorzüge  ich  anerkenne.  Mir  handelt  es  sich  hier  zunächst  um 
Angabe  solcher  Zahlen,  die  eine  leichte  Vergleichbarkeit  mit  den  früher  von 
mir  an  anderen  Schädeln  (afrikanischen)'  gewonnenen,  zulassen.  Ich  l>e- 
trachte  die  Sehäd  elme  ssung  als  eine  nothwendige  Ergänzung  der  Schä- 
delbeschr eibung  und  der  Schädelabbildung.  Je  mehr  Material  daher 
zur  Messung  vorhanden,  desto  besser*).  Nun  glaube  ich  zwar  keineswegs, 
mit  Demjenigen,  was  ich  bei  dieser  Gelegenheit  zu  bieten  vermag,  die  Osteo- 
logie  der  altägyptischen  Köpfe  nur  einigermassen  erschöpfend  behandeln, 
indessen  hoffe  ich  damit  dennoch  unsere  Kenntniss  des  Baues  dieses  interes- 
santen Volkes  wenigstens  etwas  fördern  zu  können.  Nach  dieser  Richtung 
hin  muss  ja  ein  jeder  Beitrag  erwünscht  sein. 

Uebrigens   pflege  ich  mich  bei  meinen  Messungen  folgender  Instrumente 
zu   bedienen:    1)  eines  Tasterzirkels  mit  nicht  zu   dünnen  Branchen,  2)  eines 


")  A.  Ecker  sagt  in  Bezug  auf  seine  an  deutschen  Schädeln  angestellten  Messungen, 
dass  er  auf  solche  der  Körper  der  Schädelwirbel,  der  Gapacität,  überhaupt  auf  Messungen,  die 
sich  nur  am  durchsägten  Schädel  veranstalten  Hessen,  verzichtet,  da  es  ihm  namentlich  darum 
hätte  zu  tlmn  sein  müssen,  an  einer  grossen  Anzahl  von  Schädeln  Messungen  vor- 
nehmen zu  können,  die  also  schon  deshalb  keine  complicirten  hätten  sein  dürfen.  Dass 
solche  Messungen  Manches  zu  wünschen  übrig  Hessen,  verkenne  er,  Verf.,  keineswegs,  er  glaube 
alier,  dass  bei  Untersuchungen,  wie  die  ihm  vorliegenden,  auch  die  genauesten  Messungen  nur 
weniger  Schädel  nie  den  Vortheil  bringen  könnten,  wie  eine,  wenn  auch  weniger  genau  durch- 
geführte einer  grossen  Reihe.  Im  ersteren  Falle  werde  man  immer  Gefahr  laufen.  Unwesentli- 
chem eine  zu  grosse  Rolle  zuzuschreiben  (('rania  Germaniae  Meridionalis  Occidentalis.  Freiburg 
i.  Br.  1865.     S.  3). 


100 

Stangenzirkels,  nach  Art  des  Schustermaasses  geformt,  mit  nach  innen  zu 
schräg  abgefeilten  Branchen,  3)  eines  nach  Welcher' s  Angabe*)  construirten, 
festen  Millimeterstabes,  auf  welchem  ich  die  an  den  Branchen  des  Taster- 
zirkels und  des  Stangenzirkels  mit  dem  gewöhnlichen  Zirkel  genommenen 
\la;isse  abstecke**),  4)  eines  (biegsamen)  Fischbein-  und  eines  Bandmaasses. 
Das  Fisehbeinmaass  benutze  ich  zur  Kontrole  mancher  mit  dem  Bandmaasse 
ausgeführter  Messungen.  Leider  sind  die  Bandmaasse  dehnbar,  sowohl  die 
aus  bedrucktem  Leder  als  auch  die  aus  bemaltem  Köper  verfertigten.  Man 
kann  sie  aber  für  diese  und  jene  Distanzen  wieder  besser  als  das  Fisehbein- 
maass gebrauchen,  mit  dem  man  dann  immer  ohne  Zeitverlust  wenigstens  ge- 
wisse Linien  nachzumessen  vermag.  Es  kommt  bei  diesen  Dingen  ja  nur 
auf  einige  Uebung  an,  um  fertig  damit  handthieren  zu  lernen.  Selbstverständ- 
lich folge  ich  dem  metrischen  Systeme. 

In  meinen  Tabellen  wird  man  die  folgenden  Messungspunkte  angegeben 
finden. 

A.     Mit  dem  Bandmaasse  genommen: 

1)  Von  der  Nasenstirnbeinnaht  bis  zum  Hinterrande  des  Hinterhaupts- 
loches über  die  Wölbung  der  Stirn-,  Scheitel-,  Hinterhauptsbeine  hinweg. 

2)  Von  der  Nasenstirnbeinnaht  über  die  Wölbung  des  Stirnbeines  bis 
zur  Kranznaht. 

3)  Länge  der  Pfeilnaht. 

4)  Von  der  Kranznaht  längs  der  Pfeilnaht  über  die  Hinterhauptswölbung 
hinweg  bis  zum  Hinterrade  des  Hinterhauptsloches.  Worm'sche  Knochen 
schliesse  ich  da,  wo  dieselben  gänzlich  in  der  Kontinuität  einer  Naht  befind- 
lich, in  das  Maass  derselben  mit  ein,  wo  dergleichen  aber  an  der  Berührungs- 
stelle dreier  Nahtzüge  befindlich  sind,  ohne  der  einen  oder  anderen  aus- 
schliesslich zugerechnet  werden  zu  können,  messe  ich  dieselben  besonders. 
Ich  füge  übrigens  eine  Angabe  des  Sachverhaltes  anmerkungsweise  hinzu. 

5)  Von  der  Mitte  zwischen  den  Stirnbeinhöckern  über  die  Wölbung  der 
Schädeldecke  hinweg  bis  zur  hervorragendsten  Stelle  am  Hinterhauptsbeine. 

6)  Vom  Hinterrande  des  Warzenbeines  in  gleicher  Höhe  mit  dem  Unter- 
rande der  äusseren  Gehöröffnung  über  die  Schädelhöhe  hinweg  bis  zum  ent- 
sprechenden Punkte  der  anderen  Seite. 

7)  Breite  des  Stirnbeines.  (Grosseste  Br.  an  der  Kranznaht.)  Länge 
des  Stirnbeines  8.  unter  2. 

8)  Länge  des  Hinterhauptsbeines  von  der  Pfeilnaht  über  die  Protuberantia 
hinweg  bis  zum  Hinterrande  des  Hinterhauptsloches. 

9)  Breite  des  Hinterhauptsbeines.     (Grosseste  Br.  an  der  Lamdanaht). 

10)  Breite  des  Scheitelbeines,  von  der  Pfeilnaht  über  die  grosseste  Wöl- 
bung hinweg  bis  zur  Schuppennaht.     Länge  dies.  Knochens,  entsprechend. 

•)  Archiv  für  Anthropologie  I.  S.  07,  Fig.  36. 
*•)  Etwas  umständlich,  aber  gut! 


101 

11)  Horizontal  umfang,  nach  zweierlei  Methoden,  nämlich  entweder  a)  über 
die  Stirnbeinhöcker  und  etwa  1  Cent,  oberhalb  des  äusseren  Hinterhau] 
chels,  oder  b)  über  den  Alveolarfortsatz  des  Oberkiefers,   die  äussere  Gehör- 
öffnung,  den  Zitzentheil  des  Schläfenbeines,  die  Hinterhauptsschuppe,    hinweg. 

B.     Mit  dem  Tasterzirkel. 

12)  Von  der  Mitte  zwischen  den  Stirnbeinhöckern  bis  zur  hervorragend- 
sten Stelle  am  Hinterhauptsbeine. 

13)  Grosseste  Breite,  einerlei  wo,  z.  B.  an  den  Scheitelbeinhöckern. 

14)  Von  der  Ohröffnung  bis  zur  Glabella. 

15)  Von  ebenda  bis  zur  hervorragendsten  Stelle  am  Hinterhauptsbeine. 

16)  Von  der  Nasenstirnbeinnaht  bis  zum  Vorderrande  des  Hinterhaupts- 
loches. 

17)  Länge  und  Breite  des  Stirnbeines. 

18)  Länge  und  Breite  des  Scheitelbeines  (in  der  Mitte  der  Suturränder). 

19)  Länge  und  Breite  des  Hinterhauptsbeines. 

C.     Mit  dem  Stangenzirkel. 

20)  Vom  Vorderrande  des  Hinterhauptsloches  bis  zum  Vorderende  der 
Gaumennaht  am  Alveolarrande  der  Oberkieferbeine. 

21)  Länge  des  harten  Gaumens  vom  Alveolarrande  längs  der  Gaumen- 
naht  bis  zum  hinteren  Nasenstachel. 

22)  Länge  der  Nasenbeine,  längs  des  vorderen  Randes  derselben  ge- 
messen. 

23)  Breite  der  Augenscheidewand  zwischen  den  Berührungsstellen  des 
Nasentheiles  des  Stirnbeines  und  des  Thränenbeinkammes. 

24)  Höhe    1 

«»    ™     •,       l  der  vorderen  JNasenounung. 

25)  Breite   J 

"26)  Länge  der  Oberkieferbeinnaht  vom  vorderen  Nasenstachel  bis  zum 
Alveolarrande. 

27)  Abstand  der  beiden  Keilbeiustachel  von  einander. 

28)  Abstand  der  Spitzen  der  Warzenbeine  von  einander. 

29)  Länge  des  Hinterhauptsloches.     Breite  desselben. 

30)  Grosseste  Jochbreite. 

31)  Abstand  der  Stirnbeinhöcker  von  einander.  Bekanntlich  variiren 
dieselben  ganz  ungemein  hinsichtlich  ihrer  grösseren  oder  geringeren  Aus- 
bildung (was  freilich  auch  bei  den  Scheitelbeinhöckern  und  bei  noch  anderen 
Hervorragungen  an  der  äusseren  Schädelfläche  der  Fall).  Man  kann  sich  nun, 
wie  schon  Welcker  anempfiehlt*),  dadurch  helfen,  dass  man  im  Einzelfalle  in 
einer  Anmerkung  die  Beschaffenheit  der  Stirn-  und  Scheitelhöcker  kurz   her- 


*)  Archiv  für  Anthropologie  I,  S.  9i. 


102 

vorhebt.  Zur  genaueren  lokalen  Bestimmung  der  Stirnbeinhöcker  kann  man 
sich  mit  Vortheil  eines  von  Welcker  in  Vorschlag  gebrachten  Verfahrens  be- 
dienen, und  dasselbe  ebenso  auf  die  lokale  Bestimmung  der  Scheitelhöcker 
anwenden*). 

Die  Messung  der  Höhe  des  Schädels  vollführe  ich  mit  dem  Stangenzir- 
kel, dessen  eine  Branche  auf  die  Ebene  des  Hinterhauptsloches,  an  dessen 
Vorder-  und  Hinterrand,  gelegt  wird,  während  die  andere  Brauche  die  gros- 
seste Schadelwölbung  berührt.  Auch  messe  ich  die  sogenaunte  aufrechte 
Schädel  höhe  nach  K.  E.  v.  Bär.  Letzterer  sagt:  „Es  hängt  nicht  nur  der 
Atlas  nach  hinten  über,  sondern  auch  der  Kopf  auf  ihm,  was  durch  die  Rich- 
tung des  Foramen  magnum  mehr  oder  weniger  ausgedrückt  wird.  Die  Höhe, 
welche  der  Kopf  bei  aufrechter  Stellung  von  hinten  zeigt,  findet  man,  wenn 
man  einen  Arm  eines  Stangenzirkels  an  den  hinteren  Rand  des  Foramen 
magnum  setzt,  ihn  parallel  mit  dem  oberen  Rande  des  Jochbogeus  haltend, 
und  den  anderen  Arm  an  die  Wölbung  des  Scheitels  legt.  So  gemessen,  legt 
sich  die  Wölbung  des  Scheitels  bei  den  meisten  Köpfen  viel  gleichmäs- 
siger  an.       ) 

Die  Gesichts  höhe  lässt  sich  endlich  zwischen  Nasenstirnbeinnaht  und 
Alveolarrand  des  Oberkiefers  messen. 

Am  Unterkiefer  messe  ich  den  Abstand  des  inneren  Kinnstachels  vom 
Winkel,  die  Höhe  von  der  Horizontalen  bis  zur  Spitze  des  Krön-  und  bis 
zur  grössten  Wölbung  des  Gelenkfortsatzes,  Alles  mit  dem  Stangenzirkel. 

Uebrigens  halte  ich  bei  meinen  Messungen  einen  gewöhnlichen  Zirkel, 
Loderstreifen,  Schnur  und  Touche,  Dinte  oder  weichen  Bleistift  bereit,  um 
jederzeit  etwaige  andere  Messungen  (z.B.  an  den  hinteren  Nasenöffnungen, 
an  der  äusseren  Gehöröffnung  u.  s.  w.)  vornehmen,  auch  um  eine  etwaige 
Kontrole  ausführen  zu  können. 

Die  Anführung  des  Höhen-,  des  Breiten-  und  des  Breitenhöhenindox  ge- 
hört endlich  zu  der  wichtigsten  bei  jeder  anthropologischen  Untersuchung  und 
darf  auch  hier  nicht  fehlen. 

§  14.  Kehren  wir  nunmehr  nach  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  zu  unse- 
ren specielleren  über  die  altägyptischen  Schädel  zurück.  Obwohl  bereits 
mannigfache  Untersuchungen  über  „Mumienschädel"  angestellt  worden  sind, 
so   war  doch  anher  das  Ergebniss  derselben  für  die  Bestimmung  der  nationa- 

")  .Man  visire,  die  Schädelbasis  gegen  sich  haltend,  das  Profil  der  Stirnhöeker;  der  Schädel 
wird  niiiliin  so  gehalten,  dass  der  Horizontalumfang  des  Stirnbeines  den  Horizont  bildet.  Auch 
die  flachen  Stirnhöeker  würden  in  diesem  Falle  eine  geringe  Vbrwölbung  zeigen,  deutlich  genug, 
um  mit  der  Bleifeder  über  den  Gipfel  jedes  derselben  einen  senkrechten,  der  Stirnraitte  paralle- 
len  Strich    lallen    zu    können.      Nun    wird    der   Schädel    von    der  Seite   visirl    und   wenn   das  enl 

sprechende  Profil  des  8tirnhöckers  gefunden  ist.  eine  horizontale  (in  de,.  Horizontalumfang  fal- 
lende) Linie  gefällt.  Das  so  entstandene  Kreuz  wird  bei  Wiederholung  des  Versuchs  seine  Stelle 
o    ut  wie  nichl  wechseln."     A.  <>    a.  0.  S.  95. 

•♦)  Bericht  übet  die  Zusammenkunft  einiger  Anthropologen  in  Göttingen  u.  s.  w.  Leipzig 
18G1,  S  50.     Vergl.  auch  A.  Ecker:   Crania  Gcrmaniae  Meridionalis  üccideutalis,  S.  3. 


103 

len  Stellung  ihrer  früheren  Inhaber,  die  eine  Pruncr  sehe  ausgenommen,  ein 
recht  dürftiges  gewesen.  Höchstens  war  man  damit  wieder  auf  die  Verwandt- 
schaft der  Aegypter  mit  „Hindus"  gekommen,  oder  man  hatte  die  Leberzeu- 
gung vom  echt  „kaukasischen  Schädelbau"  dieser  Menschen  gewonnen,  mau 
hatte  sie  anmittelbar  mit  den  Hottentotten  zusammenzuwerfen  gesucht,  Ideen, 
für  welche  die  Ausführungen  Josaphat  Hahns  einen  ebenso  kidin  gedachten, 
wie  sonderbar  dargelegten  Commentar  liefern*).  Was  ist  doch  in  unserer 
jungen  Wissenschaft  bis  jetzt  nicht  schon  Ades  dagewesen  !  Man  ist.  weit 
in  die  Ferne  geschweift,  wo  das  Gute  so  nahe  lag.  Wenigen  ist  es  einge- 
fallen, sich  unter  den  afrikanischen  Nachbarsfänimen  der  Aegypter  selbst  nach 
Verwandten  für  dieselben  umzusehen ! 

Wenn  schon  die  früheren  Untersuchungen  über  die  Schädel  und  Ske- 
lete  der  Mumien,  abgesehen  von  mancher  wackeren  Förderung  unserer  ana- 
tomischen Detailkenntniss  derselben,  nur  höchst  wenigen  ethnologisch  ver- 
werthbaren  Stoff  geliefert  (vergl.  vorigen  Jahrgang,  Heft  II),  so  lässt  sich  das 
leider  in  fast  gleichem  Grade  auch  von  vielen  neueren  Arbeiten  behaupten. 
Ich  will  dies  im  Folgenden  darzuthun  suchen. 

Blumenbach  hat,  wie  ich  bereits  im  vorigen  Jahrgange  auf  S.  141  ganz 
kurz  erwähnt,  in  den  Decades  den  Schädel  einer  ägyptischen  Mumie  in  Dec.  I 
Tab.  I,  den  noch  mit  Weichtheilen  bedeckten  einer  anderen  in  Dec.  IV 
Tab.  XXXI,  den  einer  dritten  in  Dec.  VI  Tab.  LH  abgebildet  und  beschrie- 
ben. Gewisse  Einzelnheiten  dieser  genauen  Beschreibungen  werde  ich  bei 
meinen  späteren  eigenen  Darstellungen  altägyptischer  Crania  berücksichtigen. 
Dasselbe  soll  mit  Soem'merings  in  seinen  Consequenzen  mir  unzuträglich  er- 
scheinenden Beobachtungen  dreier  Mumienschädel  geschehen1"').  Blumenbacb 
kommt  hinsichtlich  der  Verwandtschaft  der  Indier  und  Aegypter  auf craniolo- 
gischem  Wege  zu  dem  Schlüsse:  „Ipsam  vero  analogiam  ultro  et  luculenter 
probat  biga  craniorum  istarum  gentium  quae  non  obstante  sive  aevi  quo  vixe- 
runt,  sive  terrarum  quas  incoluere  distantia,  ita  ad  amussim  inter  se  conve- 
niunt  at  in  collectione  rnea  vix  ac  ne  vix  quidem  alias  duas  dissitarum  natio- 
num  calvarias  sibi  adeo  persimiles  videre  liceat.  Conveniunt  ut  universo  ha- 
bitu  ita  praesertim  fronte,  facil  ad  malas  angustiore,  nasi  ossibus  parum  pro- 
minulis  sed  a  glabella  leviter  decurrentibus.  et  orbitis  amplis."***) 

Auch  stiebt  Blumenbach  weitere  anatomische  Einzelnheiten  in  einer  in  den 
Philosophical  Transactions  MDCCXCTV  p.  174  veröffentlichten  Arbeit:  Ün 
some  Egyptian   Mummies  etc.      (Vergl.  auch  vor.   Jahrgang  S.  141.) 

Sehr  schön  ausgeführt  und  auch  für  die  craniologische  Untersuchung  nutz- 
bar, sind  die  in  dem  antiquarischen  Atlas  zur  Descript.  d'Egypte  II,  T.  49, 
Fig.   1,   2.    dargestellten    zwei    6    mit   Weichtheilen   bedeckten   Mumienköpfe. 


*)  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  zu  Berlin  u.  >.  w.     .lab  ig.   1  869. 
")  De  corporis  huuiani  fabrica  I,  p.  70. 
***)  Dec.  VI,  pag.  8.  Bengalensis  craniuw  Tab.  LI11. 


104 

Einen  solchen,  eines  9  Individuums,  hat  auch  Granville  abgebildet.  Die  völ- 
lig übersichtliche  Schädeldecke  zeigt  den  characteristisohen  Habitus  des  Wei- 
berschädels*). Granville  liefert  ferner  eine  Abbildung  dos  Beckens  (Tab.  XX), 
er  giebt  auch  Körper-  wie  Beckemnaasse  seiner  Mumie.  Er  fügt  hinzu:  „Weit 
davon  entfernt  irgend  einen  Zug  von  äthiopischem  Charakter  zu  verrathen, 
hat  dieser  Theil  uuserer  Mumie  eine  Bildung,  welche  in  jeder  Beziehung  von 
der  europäischen  Schädelform  abweicht  (S.  14).  Verfasser  vergleicht  dann  das 
von  ihm  abgebildete  Mumienhaupt  mit  dem  von  Blumenbach  in  Decas  III 
dargestellten  Schädel  einer  Georgierin,  mit  welchem  jener  vieles  gemein  ha- 
ben solle**). 

Pettigrew  schliesst  sein  durch  den  Abdruck  einer  vergleichenden  Dar- 
stellung von  Körperinaassen  verschiedener  Mumien  verdienstliches  Resume 
über  die  „physical  history  of  the  Egyptians"  mit  dem  Ausspruche:  „I  have 
seven  heads  in  my  collection,  and  with  the  exception  of  oue  specimcn,  that 
of  the  mumming  of  Th.  Saunders,  there  is  not  the  slighest  approximatiou  to 
the  Negro  character".***) 

Leider  habe  ich  den  von  Yimont  in  dessen  Traite  de  Phrenologie  1836 
pl.  C.  Fig.  2,  sowie  den  von  Carus  in  dessen  Atlas  der  Cranioscopie,  Heft  II, 
abgebildeten  Mumienkopf  nicht  in  Vergleich  ziehen  können. 

S.  Morton  hat  i.  J.  1844  137  Aegypterschädel,  in  demselben  Jahre  deren 
noch  17,  i.  .).  1851  deren  noch  23,  erhalten.  Sein  Material  hat  im  Ganzen  aus 
140  alt-  und  37  neuägyptischen  Schädeln  bestanden  f). 


*)  Philosophicai  Transactions  MDCCOXXV  pl.  XXI. 

**)  \nf  ärztlichem  Wege  habe  ich  Gelegenheit  gehabt,  zwei  filtere  tningrelische  Weiber,  eine 
junge  Frau  aus  dvv  achalzigher  Gegend  (Imereti)  und  zwei  junge  georgische  Mädchen  zu  sehen. 
Der  ganze  Typus  dieser  Personen  zeigte  sich  himmelweit  vom  ägyptischen  verschieden.  Mei- 
nes Krachteus  lässt  die  Blumenbach'sche  Abbildung  in  ihrer  übelgewählten  Stellung  eine  Ver- 
yleichung  mit  Granville's  Profildarstellung  kaum  einmal  zu.  Teber  Rassenschädel  Caucasiens 
vergleiche  übrigens  B.  Davis  Thesaurus  craniorum.  London  1867,  p.  126  ff.  (Note  VIII).  Gran- 
ville fährt  dann  fort:  „Es  lässt  sich  behaupten,  dass  Cuvier's  auf  Untersuchung  von  über  fünf- 
zig Mumienschädeln  gegründete  Ansicht  bezüglich  des  kaukasischen  Ursprunges  der  Aegypter 
in  den  im  Vorstehenden  erörterten  Beobachtungen  eine  Stütze  findet,  und  dass  die  auf  den 
Negertypus  basirten  Systeme  durch  fast  sämmtliche  neueren,  sicherlich  höchst  genauen  For- 
schung. M  aber  diesen  Gegenstand  hinfällig  gemacht  werden.  Es  ist  eine  merkwürdige  und  von 
mehr  als  einem  Reisenden  beobachtete  Thatsache,  dass  in  Oberägypten  ganze  Familien  gefunden 
werden,  bei  denen  der  allgemeine  Character  des  Kopfes  und  des  Antlitzes  denen  der  ausgezeich- 
netsten .Mumien  von  Theben  und  nicht  weniger  auch  den  auf  den  alten  Denkmälern  dieses  Lan- 
des abgebildeten  menschlichen  Figuren  höchst  ähnlich  ist-  (15).  „Die  Mumien  von  Sagarah 
dagegen  stehen,  wie  alle  Reisenden  anerkennen,  denen  aus  Oberägypten  weit  nach  und  können 
deshalb  bei  Untersuchungen  übci  die  Kunst  des  Einbalsamirens  bei  den  alten  Aegyptern  nicht 
m  Konkurrenz  gezogen  werden"  (21),  was  sehr  richtig  ist.    (Vergl.  vor.  Jahrg    S.  153.) 

'")  A  history  of  Kgyptian  mummies.     London  MDGCCXXXIV,  p.   166. 
f)  Urania  aegyptiaca.     Observations  on  a  Second  Series  of  Ancient  Kgyptian   Crania  in 
Proceedings    Acad.    Vit.   8oc.     Philadelphia  Ort,  1844    p.  8—10.  —  Catalogue   of  Skulls  :i  ed. 
I84!t.    In  Van  der  Iloevens   Oatalogus  craniorum  diversarura  gentium,  Lngduni  Batavorum  1860, 
geschieht  keiner  Mnmienschädel  Erwähnung. 


105 

Williamsou  bemerkt:  „Im  „Army  Medical  Museum"  befinden  sieb  elf 
Mumien  schädel  und  zwei  (d.  h.  noch  vollständige)  Mumienköpfe.  Die  betref- 
fenden Schädel  haben  die  unter  Europäern  überwiegende  ovale  Form.  Sie 
sind  alle  wohlgebildet;  die  Schläfenleisten  sind  sehr  entwickelt  und  liegen 
hoch  am  Kopfe;  die  Stirn  ist  hoch  und  eben,  im  Allgemeinen  ohne  hervor- 
tretende Augenbraunbögen,  die  Nasenbeine  stehen  hoch  und  sind  schön  gebo- 
gen, der  Oberkiefer  ist  gerade,  die  Zähne  sind  eben  und  an  den  Kronen 
platt,  die  Schneidezähne  klein,  dick  und  rund,  nicht,  wie  gewöhnlich,  abge- 
plattet und  scharfkantig,  sondern  abgestumpften  Kegeln  ähnlich.  Die  Dentes 
cuspidati  (Eckzähne)  sind  nicht  zugespitzt,  sondern  breit  und  flach,  wie  die 
neben  ihnen  stehenden  bicuspidati  (vorderen  Backzähne),  wohl  eine  Folge 
mechanischer,  durch  die  Beschaffenheit  der  Nahrungsmittel  bedingter  Ab- 
nutzung. Der  Gehörgang  liegt  nicht  höher  am  Schädel,  sondern  mit  der  Basis 
der  Nase  in  einer  und  derselben  Ebene.  Die  Knochen  sind  fest  und  dicht, 
jedoch  nicht  in  dem  Grade,  als  dies  bei  anderen  Rassen  der  Fall  und  das 
Gewicht  der  Schädel  ist  verhältnissmässig  nicht  bedeutender.  Das  Haar  war 
bei  keinem  der  Schädel,  als  dieselben  nach  Dublin  gebracht  wurden,  wollig, 
sondern  fein  mit  der  Neigung,  sich  zu  kräuseln  und  zu  Locken  zu  vereinigen. 
Der  Schädel  No.  208  nähert  sich  einigermassen  der  Negerschädelform,  inso- 
fern der  Alveolarfortsatz  des  Oberkieferbeines  an  der  Vorderseite  breit  und 
hervorstehend  ist  und  eine  dem  Schläfenmuskel  zur  Insertion  dienende  hoch 
am  Kopfe  liegende  Knochenleiste  besitzt.  Die  Nasenbeine  sind  hoch  und  wohl 
gewölbt,  die  vordere  Nasenöffnung  zeigt  europäische  Form*).  Worm'sche 
Knochen  der  Hinterhauptsnaht  fanden  sich  bei  drei  Schädeln  und  ebensoviele 
in  der  Schläfenbein-  und  Keilbeinnaht.  Das  Hinterhauptsloch  war  gross  bei 
einem,  klein  bei  drei  Exemplaren.  No.  205:  Grosses  und  wohlgebildetes  Cra- 
nium.  Stirn  hoch,  glatt  und  schön  gewölbt.  Hinterer  Kopftheil  gross.  Lei- 
sten für  die  Anheftung  des  Schläfenmuskels  hoch  am  Schädel  befindlich,  bis 
zum  Scheitelbeinhöcker  aufsteigend.  Alveolarfortsätze  geschwunden.  No.  206: 
Schädel  wohlgebildet.  Stirn  hoch,  gut  gewölbt,  Scheitelbeinhöcker  und  Hin- 
terhaupt vorragend.  Leiste  die  für  Insertion  des  Schläfenmuskels  hoch  am  Kopfe 
befindlich.  Alveolarfortsatz  des  Oberkieferbeines  gross,  vorn  breit,  etwas  vor- 
stehend, Nasenbeine  nicht  stark  gewölbt"**). 

Den  Bemühungen  J.  Czermak's  verdanken  wir  die  sehr  detaillirte  Keunt- 
niss  zweier  von  ihm  makroskopisch  und  mikroskopisch  untersuchter  Mumien, 
einer  erwachsenen  Weibsperson  und  eines  etwa  fünfzehnjährigen  Knaben,  beide 
unbekannten  Fundorts.  U.  A.  äussert  sich  Czermak  über  die  reinen  und 
schönen  Formen  des  Knabenschädels,  der,  von  oben  betrachtet,  einen  ovalen 
Umriss  zeige.  Die  Gesichtsknochen  würden  bei  dieser  Ansicht  völlig  von 
der  mächtig  entwickelten  Hirnschale   verdeckt,   und  nur  die  Nasenbeine  um! 


*)  Was  heisst  hier  europäische  Form? 
♦•)  Dublin  Quarterly  Journal  of  Medical  Science.     Vol.  XX.III,  1857,  p.  334  ff. 

jteiUcbrtft   lur  Etliuulojjie,  Jahrgang  lbTu.  g 


106 

die  Auffinge  der  Jochbögen  ragten  an  der  vorderen  Peripherie  ganz  unbedeu- 
tend hervor.  Bei  der  Seitenansicht  bemerke  man  keine  Spur  von  Progna- 
thismus.  Das  Gesicht  sei  verhältnissrnässig  klein  und  der  Kiefer  nicht  im 
Mindesten  vorgestreckt.  An  der  Nasenlinie  biege  sich  die  Profillinie  sehr  be- 
deutend ein.  Von  vorne  betrachtet,  sei- das  flache  Gesicht  auf  seine  Länge 
ziemlich  breit.  Besonders  auffallend  sei  die  Breite  der  wenig  gewölbten  Na- 
senwurzel. Die  geräumigen  Augenhöhlen  ständen  weit  auseinander.  Der 
weibliche  Schädel  zeige  von  obenher  betrachtet,  im  Umrisse  ein  von  beiden 
Seiten  abgeflachtes,  mehr  in  die  Länge  gezogenes  Oval.  Das  Gesicht  sei  bei 
dieser  Ansicht  dem  Blicke  völlig  entzogen.  Die  geringste  Breite  sei  vorne 
in  der  Schläfcnaeerend.  Im  Profil  falle  das  bedeutende  Hervorstehen  des  Hin- 
terhauptes  auf.  Die  Kiefer  seien  nicht  vorgestreckt.  Von  vorne  betrachtet 
ergebe  sich  das  Gesicht  als  sehr  breit,  im  Verhältniss  zu  den  merklich  abge- 
flachten Schläfen.  Die  Augen  ständen  weit  auseinander;  die  Nasenwurzel 
sei  auffallend  breit,  wenig  gewölbt,  aber  aufgerichtet.  Die  Jochbeine  träten 
stark  hervor  u.  s.  w.*).  Czermak  möchte  den  Knabenschädel  zu  Morton's 
pelasgischem,  den  Weiberschädel  etwa  zu  dessen  ägyptischen  Typus  stellen. 
Wichtig  erscheint  es  mir  ferner,  auch  der  Ansichten  unseres  Anders 
Retzius  über  den  beregten  Gegenstand  zu  gedenken.  „Im  Museum  des  Karo- 
linischen  (medicochirurgischen)  Museums  (zu  Stockholm)  befinden  sich  vier 
Schädel  von  ägyptischen  Mumien"  u.  s.  w.  —  „Der  eine  von  diesen  hat  einem 
ägyptischen  Manne  angehört,  der  zweite  einem  älteren,  der  dritte  einem  jün- 
ren  Frauenzimmer."  —  „Das  Haar  auf  den  Mannsschädeln  war  abgeschnitten, 
auf  dem  der  Frauenzimmer  war  es  noch  vorhanden,  eine  halbe  Elle  lang, 
fast  gerade,  etwas  lockig  und  ziemlich  fein.  Bei  allen  dreien  war  es  hell- 
kastanienbraun. Alle  vier  Schädel  waren  von  länglich-ovaler  Form  und  von 
grösserem  Umfange,  als  beim  Neger.  Bei  den  Mannesschädeln  verhielt  sich 
die  grösste  Länge  zur  grössten  Breite  wie  1,37  :  1.  Die  Stirn  ist  schmal,  der 
Scheitel  gut  gewölbt,  die  Schläfen  sind  flach,  die  Parietalknochen  von  dem 
Scheitel  nach  hinten  lang  abhängig;  das  Hinterhaupt  lang  und  schmal.  Der 
eine  Mannesschädel  hat  ein  grosses  Interparietalbein.  Der  Hinterhauptshöcker 
geht  einen  Zoll  hinter  die  Protuberantia  occipitalis,  welche  bei  beiden  Man- 
nesschädeln einen  grossen  Zacken  bilden.  Das  Conceptaculum  cerebelli  ist 
klein  und  liegt  horizontal.  Die  Linien  der  Nackenmuskelansätze  sind  bei 
allen  stark  ausgedrückt.  Die  Warzenfortsätze  sind  gross,  das  Hinterhaupts- 
loch ist  eirund,  mittelmässig;  die  Jochbeine,  die  Jochbögen,  die  Augenhöhlen 
und  die  Wangengruben  sind  wie  beim  Neger,  aber  die  Nasenwurzel  ist  auf- 
gerichtet, wie  bei  einem  Europäer;  der  untere  Nasendorn,  welcher  beim  Ne- 
ger nicht  selten  fehlt,  ist  sehr  gross  und  vorstehend,  der  Abstand  des  Nasen- 
dorns  vom  Alveolarrande  gross;   die  Zahnlade  gross,  die  Alveolarränder  sind 


•)  Sitzungsberichte  der  mathem.-naturwiss.  Classe  der  Kais.  Akademie  der  Wissenschaften, 
IX.  Band,  S.  427  ff.  (S.  11,  14  des  Separatabdruckes,  1862). 


107 

hervorstehend;  die  Zahnwurzeln  lang;  die  Zähne  bei  dem  einen  von  derselben 
Form,  wie  bei  den  Europäern  im  Allgemeinen.  Bei  zweien  der  anderen  sind 
die  Kronen  bis  au  die  Hälse  abgenutzt.  Der  Unterkiefer  ist  nicht  hoch,  das 
Kinn  schmal,  aber  abgestutzt,  der  Alveolarrand  nach  vorn  etwas  hervorragend. 
Die  Männerschädel  sind  dicker  als  gewöhnlich  und  stark  gebaut.  Man  kann 
von  diesen  Schädeln  dasselbe  sagen,  was  Prichard  von  einem  Mumienschädel 
im  Hunterian-Museum  sagt,  dass  „die  Form  europäisch  ist,  mit  Ausnahme 
der  Alveolarränder,  die  mehr  vorstehend  sind.  Demzufolge,  was  ich  nach 
der  macer irten  Haut  linden  zu  können  geglaubt  habe,  ist  deren  Farbe,  mei- 
ner Meinung  nach,  chokoladenbraun  gewesen.  Nach  dem,  was  ich  auf  diese 
Weise  bei  den  vorhandenen  Schädeln  gefunden,  verglichen  mit  den  Angaben 
anderer  Schriftsteller,  glaube  ich,  dass  sie  den  Kopten  oder  uralten  Einwoh- 
nern Aegyptens  augehört  haben." 

,.Die  Völker  Afrika's  sind  sämmtlich  Dolichocephalen."  —  „In  Afrika 
fehlt,  soviel  man  bisher  weiss,  jede  Spur  brachycephalischer  Bevölkerung."  — 
Das  Carolinische  Institut  besitzt  eine  nicht  geringe  Sammlung  afrikanischer 
Schädel;  aus  Nordafrika  von  Abyssiniern,  Kopten,  Berbern  und  Guanchen; 
sie  haben  alle  dieselbe  Schädelbildung:  grosse,  geräumige,  ovale  Schädel,  sehr 
nahe  denen  der  Araber  gleichend.  Der  abyssinische,  ebenso  wie  der  kop- 
tische, sind  etwas  prognathisch".  —  „An  allen  diesen  Schädeln,  sowohl  von 
Abyssiniern  wie  von  Aegyptern  und  Guanchen,  setzt  sich  das  Schädelgewülbe 
in  eiuen  langgestreckten  Bogen  plötzlich  gegen  den  hervorstehenden  grossen 
Hinterhauptshöcker  ab,  welcher  auch  an  den  Seiten  etwas  zusammengedrückt 
ist;  die  Scheitelhöcker  ragen  wenig  hervor.  Diese  Schädelform  lässt  sich  als 
die  herrschende  im  Küsten-  und  Hochlande,  sowie  in  den  Wüsten  des  nörd- 
lichen Afrika  beobachten"*). 

Jüngst  hat  nun  auch  Davis  in  seinem  Thesaurus  p.  182 — 186  die  Diagno- 
sen von  14  alten  und  von  zwei  neuen  Aegypterschädeln  geliefert.  Man  ver- 
gleiche hinsichtlich  der  von  Davis  gegebenen  Maasse  Note  IX. 

Ueber  ein  reiches  Material  hat  auch  Pruner  verfügt.  Ein  Theil  dessel- 
ben stammte  von  dem  als  tüchtigen  Zeichner  bekannten  Aegyptologen  Prisse 
d'Avennes   her.     Fast   alle   vom   letzteren    mitgebrachten  Schädel   waren  the- 


*)  Ethnologische  Schriften.  Stockholm,  Leipzig  1864.  S.  36,  148,  149.  Aus  der  zu  diesem 
posthuuieu  Werke  des  hochgeschätzten  Fachgenossen  vom  Herausgeber  Gustaf  Ret/ius  geschrie- 
benen Vorrede  geht  auf  S.  VII  hervor,  dass  A.  Ret/ins  Tafeln  und  Manuskript  zu  einem  theil- 
weis.'  ausgeführten  Werke  aber  ägyptische  Schädelformen  hinterlassen.  A.  o.  a.  0.  fin- 
del  sich  auf  Tafel  1,  Fig.  V  ein  altiigyptisches  $  Cranium  in  der  Seiten-  und  Scheitelansicht 
abgebildet.  Die  Tafeln  sind  nach  Photographien  zu  *  >  lithographirt  worden.  In  dem  Anhange 
XXIV  stellt  A.  Retzius  unter  den  afrikanischen  Völkern  die  Guanchen,  Möhren.  Berbern,  Ka 
bylen,  Kopten  und  Abyssinier,  als  \  tl  an  ten,  den  Negern,  Käfern  und  Bottentotten,  als  Ae  thio- 
piern,  gegenüber,  eine,  meinem  l  rtheil  nach,  verfehlte  Ein  t  h  ei  lungs  man  ier.  Aul 
(Abdruck  der  bereits  früher  bekannten  Arbeit  über  die  Schädelform  bei  verschiedenen  Völkern] 
stehen  die  orthognathen  und  dolichocephalen  Nubier,  Abyssinier,  Lcrbtru  und  Guanchen 
den  prognatheu  und  dolichocephalen  Kaffern,  Hottentotten  und  Koptenl  gegenüber. 

9* 


108 

baische,  kaum  einer  früheren  als  der  18.  Dynastie  augehörende,  einer  war 
von  Memphis,  einer  von  Monfallüt.  Ueberdies  verfügte  Pruner  über  noch 
andere  Schädel  des  Museums  von  z.  Th.  unbestimmter  Herkunft.  Später  hat, 
wenn  ich  recht  unterrichtet  bin,  der  Aegyptologe  Mariette-Bey  diese  Samm- 
lungen durch  reiche  Zusendungen  noch  bedeutend  vermehrt. 

Unter  allen  bisher  über  ägyptische  Craniologie  veröffentlichten  Arbeiten 
ist  die  Pruner'sche  die  einzige,  welche  uns  eine  nähere  Verknüpfung  mit  der 
eigenen  ermöglicht.  Schon  in  seinem  1846  erschienenen,  „Ueberbleibsel" 
u.  s.  w  betitelten  Hefte  hatte  Pruner  die  Existenz  zweier  „extremer  Ty- 
pen" innerhalb  der  pharaonischen  Bovölkerung  nachzuweisen  versucht.  In 
seiner  neueren  Arbeit  (Memoires  de  la  Societe  dAnthropologie,  I,  p.  399  ff.) 
charakterisirt  er  seine  beiden  Typen,  einen  feinen  (type  flu)  und  einen  groben 
(type  grossierj  noch  näher.  Der  erstere  soll  sich  durch  Eleganz  und  An- 
muth  der  Körperumrisse  auszeichnen,  sich  bereits  auf  den  alten  Denkmälern 
namentlich  als  Repräsentant  des  Königshauses  vorfinden  und  mit  leichten 
Unterschieden  den  Haupttypus  des  gesammten  Aegyptervolkes  darstel- 
len. Der  grobe  Typus  dagegen  soll  plumpe  Formen,  breite  Jochbögen,  eine 
etwas  platte,  an  der  Spitze  abgestumpfte  Nase,  eine  minder  harmonische,  klo- 
bigere Beschaffenheit  des  Knochengerüstes,  darbieten.  Dieser  grobe  Typus 
dürfte  nach  des  Verfassers  Ansicht  das  Produkt  einer  Mischung  mit  äthiopi- 
schen Völkern  zu  einer  Zeit  sein,  in  welcher  die  hohen  Kasten  sich  vor  dem 
Hyksos-Einfalle  nach  Süden  geflüchtet.  Die  Denkmäler  des  neuen  Reiches 
von  der  XVIII.  Dynastie  an  schienen  einer  solchen  Hypothese  selbst  in  Be- 
zug auf  Personen  höheren  Ranges  Vorschub  zu  leisten.  Indessen  widersprä- 
chen dem  doch  die  Befunde  in  den  der  IV.  Dynastie  entstammenden  Hypo- 
gaeen  von  Sagarah.  Unter  allen  auf  diesen  Werken  abgebildeten  Leuten 
erkenne  man  nur  im  Könige  Schafra  und  noch  in  einem  einzigen  Edlen  die 
Träger  des  feinen  Typus,  alle  anderen,  selbst  der  Grosspriester,  gehörten 
dagegen  dem  groben  au.  Diese  letzteren  hätten  einen  sehr  verlängerten, 
in  der  Scheitelgegend  abgeplatteten  Kopf. 

Pruner  giebt  nun  folgende  osteologische  Charakteristik  zunächst  des  fei- 
nen Typus:  „Kleiner,  ramassirter,  wenig  dicker,  fester  Schädel.  Der  Schei- 
tel erscheint  oval,  hinten  ein  wenig  verbreitert,  erhoben  (releve).  Indem 
nuu  die  Antlitzansicht  dieselbe  Form  darbietet,  kann  man  den  Schädel 
wohl  einen  harmonischen  nennen.  Die  selten  mit  kleinen  Augenbraunbögen 
oder  mit  einem  oberhalb  der  Glatze  sich  quer  hinziehenden  Wulste  versehene 
Stirn  zeigt  Neigung  mehr  gegen  den  Scheitel  zurückzutreten  als  gegen  die 
Schläfen ;  sie  ist  selten  ganz  gerade  und  hat  nur  ausnahmsweise  den  die  Ne- 
gerstirn auszeichnenden  Längenwulst.  Die  Seitenränder  des  Stirnbeines  bil- 
den mit  der  Schädelbasis  beinahe  einen  rechten  Winkel.  Diese  Beschaffen- 
heit der  Knochenkapsel  des  Schädels  entspricht  einer  ziemlich  starken  Ent- 
wicklung der  Vorderlappen  des  Gehirnes.  Alles  Dies  gewährt  der  Stirn  ein 
„anniuthiges  Aeussere".     Die  Stirnhöhlen  sind  klein.     Die  meistentheils  weit 


109 

geöffneten  Augenhöhlen  zeigen  eine  vertikale  Stellung  und  abgerundete  Win- 
kel; ihr  Horizontaldurchmesser  übertrifft  den  Vertikaldurchmesser  stets  am 
einige  Millimeter.  Die  Nasenbeine  bilden  an  ihrer  Wurzel  fast  eine  gerade 
Linie  mit  der  Stirn,  übrigens  sind  sie  unter  sehr  spitzem  Winkel  vereinigt 
und  leicht  nach  unten  gekrümmt.  Die  Nasenwurzel  ist  zuweilen  verdickt, 
wodurch  der  Zwischenraum  zwischen  den  Augen  vermehrt  wird.  An  man- 
chen Schädeln  ist  die  Nase  sogar  stumpf,  in  diesem  Falle  vereinigen  sich  die 
fast  dreieckigen  Nasenbeine  unter  weniger  spitzem  Winkel.  Der  Oberkiefer 
ist  klein,  abgerundet  und  fast  stets  völlig  orthognath.  Der  horizontale  Ast 
des  Unterkiefers  ist  kurz,  aber  gewöhnlich  ziemlich  hoch,  die  beiden  Winkel 
sind  sehr  weit  abstehend,  im  Gegensatz  zum  Kinn,  welches  klein  und 
sogar  etwas  unbedeutend  erscheint.  Der  Gelenktheil  des  aufsteigenden  Astes 
ist  gewöhnlich  kürzer  als  der  Kronfortsatz.  Der  Unterrand  ist  häufig  gebo- 
gen. Die  Zähne  sind  immer  sehr  klein,  mit  hohler  oder  flacher  Usur,  schon 
in  der  Jugend  mit  Spuren  von  Caries.  Die  namentlich  im  Unterkiefer  eng- 
stehenden Schneidezähne  bieten  zuweilen  eine  eher  cylindrische  als  platte  Form 
dar.  Man  bemerkt  den  frühzeitigen  Schwund  der  Zahnfächer  an  den  alten 
Schädeln  ebenso  wie  an  den  heutiger  ägyptischer  Städtebewohner.  Die 
Wangenknochen  sind  klein,  abgerundet,  vertikal,  die  Wangengruben  sind  ge- 
wöhnlich nicht  ausgeprägt.  Die  Seitenansicht  zeigt  dieselben  rundlichen  Con- 
touren,  die  leicht  gewölbten  Schläfen  und  wenig  tiefen  Schläfengruben,  ferner 
wenig  ausgeprägte,  niedrige  Lineae  semicirculares ,  kurze,  dünne  und  ge- 
rade, aussen  flache  Jochbögen.  Selbst  bei  diesem  „schönen"  Typus  verbindet 
sich  der  Schuppentheil  des  Schläfenbeines  zuweilen  direct  mit  dem  Stirnbeine. 
Die  Scheitelhöcker  treten  im  hinteren  oberen  Drittel  des  Schädels  zum  Vor- 
scheine. —  Das  meist  abgerundete  Hinterhaupt  ist  in  Gegend  der  äusseren 
Tuberosität  selten  eingezogen  oder  vorspringend.  Am  unteren  Theile  seines 
Schuppentheiles  zeigen  sich  wenig  deutliche  Muskeleindrücke.  Derselbe  ist 
leicht  gewölbt  und  seine  Verbindung  mit  dem  oberen  Theile  der  Schuppe 
geschieht  unter  einem  stumpfen  Winkel.  Die  Gelenkfortsätze  des  Hinter- 
hauptes sind  klein  und  flach:  das  grosse  Hinterhauptsloch  ist  elliptisch,  sein 
Hinterrand  ist  mit  dem  Gaumengewölbe  in  gleicher  Höhe,  sein  Vorderrand 
ist  etwas  niedriger.  Das  Gaumengewölbe  ist  tief,  kurz,  am  Zahnrande  abge- 
rundet. Die  Gehörgänge  haben  eine  normale  Stellung,  sie  sind  massig  weit 
und,  wie  sich  deutlich  wahrnehmen  lässt,  dem  Hinterhaupte  mehr,  als  der 
Stirn  genähert;  diese  Differenz  beträgt  einen  Centimeter.  Die  Zitzenfortsätze 
sind  klein  und  abgerundet. 

Der  weibliche  Schädel  ist  ohne  Ausnahme  wohl-charakterisirt  durch: 
Verminderung  des  Längsdurchmessers  (diam.  antero-posterieur),  völlige  Abrun- 
dung  des  Hinterhauptes,  vertikale  Entwicklung  der  hinteren  Gegend  und  all- 
gemeine Feinheit  der  Züge  der  Physiognomie". 

Pruner  beweist  aus  seinen  Maasstabellen,  dass  dieser  Typus  die  Mitte 
zwischen  Dolicho-   und  Brachycephalie   hält.     Dieselbe  Beziehung  lässt   sich 


110 

im  Allgemeinen  auch  auf  das  Gesicht  anwenden.  Was  das  Verhältniss  der 
einzelnen  Antlitztheile  zu  einander  betrifft,  so  erscheint  die  Nase  in  Bezug 
auf  die  Länge  des  Untergesichtes  etwas  kurz.  Diese  Differenz  beträgt  bei 
einigen  Individuen  bis  zu  15  Millim.  Die  oben  berührte,  hin  und  wieder 
\oikoiumende  Stülpnase  findet  sich  übrigens  auch  öfters  unter  den  lebenden 
Repräsentanten  des  feinen  Typus*). 

„Der  grobe  Typus  findet  sich  noch  heut  bei  Kopten  und  muselmän- 
nischen  Fellachen.  Der  Schädel  ist  hier  umfangreicher  und  massiver.  Von 
oben  gesehen  zeigt  er  ein  breites  und  langes,  mehr  flaches,  als  gewölbtes 
Oval;  die  Stirn,  obwohl  an  der  Basis  ein  wenig  breit,  steht  zu  der  beträcht- 
lichen Ausdehnung  des  Antlitztheiles  des  Schädels  in  keinem  Verhältniss;  sie 
ist  niedrig,  weicht  nach  allen  Richtungen  zurück,  hat  vorspringende,  eonver- 
girende  Augenbraunbögen,  eine  leicht  eingedrückte  Glatze  und  über  dieser 
einen  bei  allen  Berbern,  Aethiopen  und  zuweilen  auch  bei  den  Hottentotten 
vorkommenden  transversalen,  halbmondförmigen  Wulst.  Die  elliptische  Form 
und  die  geringe  Entwicklung  des  Stirnbeines  in  seiner  Frontalregion  stehen 
zu  der  beträchtlichen  Entwicklung  des  mittleren  Wirbels,  namentlich  im 
oberen  Theile,  in  scharfem  Gegensatz.  Die  Stirnhöhlen  sind  gross,  ebenso 
die  Nasenöffuung  und  die  Augenhöhlen,  welche  letzteren  etwas  nach  Aussen 
gekehrt  und  bisweilen  so  hoch  wie  breit  erscheinen.  Die  an  der  Wurzel  ein- 
gedrückte Nase  ragt  wenig  hervor,  ihre  Beine  sind  kurz  und  zuweilen  unter 
ganz  stumpfem  Winkel  vereinigt.  Der  Oberkiefer  springt  mit  seinem  Zahn- 
rande vor,  dieser  ist  aussenher  zuweilen  abgeflacht.  Seine  Wangenfort- 
sätze sind  breit  und  sehr  weit  abstehend,  sie  haben  bis  zu  98  Millimeter  Di- 
stanz. Die  Wangenbeine  sind  massiv,  hoch  und  am  inneren  Winkel  ihres 
Unterrandes  vorspringend,  ihre  Gruben  sind  tief.  Der  Unterkiefer  ist  eben- 
falls massiv  und  hoch,  das  Kinn  ist  viereckig.  Im  Profil  erscheinen  die  Joch- 
bögen nach  Aussen  gekrümmt,  die  Schläfen  sind  wenig  gewölbt,  die  Schlä- 
fengruben tief,  die  halbkreisförmigen  Linien  sehr  erhaben,  stark  ausgeprägt, 
ebenso  zeigen  sich  die  Muskeleindrücke  an  den  Wangen,  am  Unterkiefer  und 
am  Hinterhaupt.  Die  Scheitelhöcker  sind  weniger  in  die  Augen  fallend  als 
beim  feinen  Typus.  Das  Hinterhaupt  ist  viel  schmäler  und  seine  Seitenwand- 
parthie  abgeplatteter,  die  Verbindung  beider  Theile  seiner  Schuppe  findet  unter 
spitzerem  Winkel  als  beim  „schönen  Typus"  statt;  die  Mittelleiste  steht  bedeu- 
tend hervor.  Die  Zitzenfortsätze  sind  enorm,  zuweilen  sogar  zweitheilig,  auch 
sind  die  Hinterhauptsknorren  mehr  geneigt,  als  beim  „schönen"  Typus.  Man 
beobachtet  oft  an  den  Seitenparthien  der  Lambdanaht  Worm'sche  Knochen 
von  grosser  Ausdehnung.  Die  Zähne  endlich,  obwohl  viel  grösser,  sind  ab- 
genutzt und  krank  sowie  bei  jenem,  die  Schneidezähne  zuweilen  eher  cylin- 
drisch  als  platt. 

Die  Verwachsung  der  Schädelnähte  folgt,  wie  es  scheint,  einem  ziemlich 

•)  L.  c.  p.  403-407. 


111 

regelmässigen  Gange:  sie  beginnt  am  hinteren  Theile  der  Pfeilnaht  und  fin- 
de! später  am  Schläfentheile  der  Stirn-Seitenwandbeinnaht  und  endlich  iu  der 
Mitte  der  Lambdanaht  statt". 

Aus  den  Pruner'schen  Messungen  ergiebt  sieh  eine  ausgeprägtere  Doli- 
chocepbalie  wie  heim  „schönen"  Typus.  Das  Gesicht  von  vorn  gesehen  ist 
breiter;  und  hei  einigen  Individuen  übertrifft  sein  in  gerader  Linie  gemessener 
unterer  Thi'il  den  Nasentheil   um  26  Millimeter*). 

(Fortsetzung  folgt.) 


Beitrüge  zur  vergleichenden  Ethnologie. 

Gesammelt   in  Süd- Amerika,    von  Prof.  P.  Strobel  in  Parma. 

Auf  meinen  Reisen  durch  das  südliche  Argentinien  und  Chili,  in  den 
Jahren  1865-1867,  hatte  ich  mir,  unter  andern,  auch  die  Aufgahe  gestellt, 
Materialien  für  das  Studium  der  vergleichenden  Paiäoethnologie-  zu  sammeln. 
Ich  halte  es  der  Mühe  nicht  unwerth  sie  zu  veröffentlichen,  und  glaube,  dass 
es  am  zweckmässigsten  in  dieser  Zeitschrift,  geschehn  könne,  da  sie  sich  be- 
sonders mit  Ethnologie  befasst.  In  gegenwärtigem  Aufsatze  will  ich  mich 
lediglich  darauf  beschränken,  von  jenen  Thatsachen  zu  berichten,  die  ich  auf 
der  Reise  von  Curicö,  in  Chili,  über  den  Planchonpass,  nach  Mendoza,  in 
Argentinien  beobachtet  habe;  und  es  sind  deren  eben  nicht  viele.  Sollte  die- 
ser Aufsatz  den  Beifall  der  deutschen  Ethnologen  sich  gewinnen,  so  würde 
ich  andere  darauf  folgen  lassen. 

Pfahlbauten.  Aus  verschiedenen  Gründen  wurden  und  werden  noch 
Bauten  auf  Pfählen  errichtet.  Einige  sind  Wasserbauten,  d.  h.  stecken  stets 
im  Wasser,  andere  bleiben  immer  im  Trocknen,  andere  sind  zeitweise  auch 
vom  Wasser  umspühlt.  Die  Wasserbauten  und  jene  auf  trockner  Erde  wer- 
den wohl  um  Menschen  und  Vorräthe  vor  Thieren  und  Feinden  zu  schützen 
so  gebaut,  der  Zweck  der  anderen  Pfahlbauten  aber,  in  der  Nähe  der  Flüsse, 
ist  ein  anderer,  nämlich  der,  solche  Bauten  beim  periodischen  oder  auch 
ausserordentlichen  Austreten  der  Gewässer  vor  Ueberschwemmungen  sicher 
zu  stellen.  Eigentliche  Wasserbauten  sah  ich  auf  meiner  Reise  keine; 
denn  solche  wird  man  schwerlich  mehr  bei  anderen  als  bei  barbarischen  Stäm- 
men finden,  und  ich  habe  deren  keine  besucht.    Aber  hätte  ich  auch  das  Ge- 

*)  L.  c.  p.  407—409. 


112 

biet  der  unabhängigen  wilden  Indianer  Süd -Argentiniens  betreten,  so  würde 
ich  schwerlich  bei  diesem  nomadischen  Reitervolke  derlei  Bauten  gefunden 
haben;  auch  ist  mir  nicht  bekannt,  dass  irgend  eine  jener  Indianertribu  aul 
Wasserbauten  wohne.  —  Von  Pfahlbauten  im  Trocknen  spricht  Bur- 
meister in  seiner  Reise  durch  die  La  Plata-Staaten,  Halle  1861.  Er  erzählt 
von  Kornmagazinen  auf  Pfählen  in  den  Pampas,  die  so  gebaut  sind,  um  die 
Vorräthe  vor  dem  Zahne  der  Vizcacha  (ausg.  Bisskatscha)  oder  des  Pampas- 
kaninchen, Lagostomus  trichodactylus  Darwin,  zu  schützen.  Ich  selbst 
habe  keine  davon  sehen  können;  vielleicht  weil  sie  jetzt  selten  geworden  sind, 
und  zwar  desshalb,  weil  auch  jene  Nagethiere  immer  minder  gemein  werden; 
denn  viele  Landleute  zahlen,  seit  einiger  Zeit,  eine  Prämie  für  ihre  Ausrot- 
tung, die  dadurch  erreicht  wird,  dass  man  ihre  Höhlen,  Vizcacheras,  zerstört. 
—  Hingegen  fehlt  es  in  Südargentinien  nicht  an  Pfahlbauten  der  dritten 
Art,  und  selbst  nicht  an  derlei  Pfahlb  auten  dörfern.  Häuser  auf  Pfäh- 
len, zum  Theil  recht  saubere,  giebt  es  z.  B.  im  alten  Bette  des  Rio  Paranä, 
bei  San  Pedro,  in  der  Provinz  Buenos  Ayies,  am  Fusse  der  Barranca,  oder 
des  steilen  hohen  Ufers,  welches  hier  von  der  Ebene  oder  Pampa,  zur  rech- 
ten des  Flusses,  gebildet  wird.  Den  Rio  Paranä  herunterfahrend,  gelangt  man 
in  den  La  Plata  Strom  und  an  einem  Nebenflüsschen  zu  seiner  Rechten,  Tigre 
genannt,  sieht  man  ebenfalls,  bei  Las  Conchas  (ausg.  Kontschas),  21  Kilometer 
nordwestlich  von  Buenos  Ayres,  viele  Häuschen  und  Eisenbahnmagazine  auf 
Pfählen.  Südöstlich  und  3  Kilometer  von  der  genannten  Hauptstadt  entfernt, 
ist  ein  ganzes  von  Genuesern  bewohntes  Dorf,  oder  wohl  besser  eine  Vor- 
stadt von  Buenos  Ayres,  Boca  del  Riachuelo  (ausg.  Riatschuelo)  genannt,  auf 
Pfählen  gebaut;  d.  h.  die  Häuser  stehen  auf  1  bis  2  Meter  aus  der  Erde  ra- 
genden Pfählen.  Unter  die  Wohnungen,  zwischen  den  Pfählen,  und  auf  die 
Gassen  werden  die  Küchenabfälle,  die  Ueberbleibsel  der  Industrie,  todte 
Thiere  und  anderes  hingeworfen;  der  nahe  Rio  de  la  Plata,  dessen  Neben- 
flüsschen der  Riachuelo,  d.  h.  Flüsschen  ist,  lagert  bei  seinen  Ueberschwem- 
mungen  Schlamm,  Sand,  Muscheln  u.  s.  w.  auf  jene  Gegenstände;  und  so 
wird  sich  mit  der  Zeit  dort  eine  sogenannte  Culturschicht  bilden,  die  jenen 
der  vorhistorischen  Wasserbauten  der  Schweiz,  Oberitaliens  und  anderer  Län- 
der, der  vorgeschichtlichen  Ansiedlungen  auf  festem  Boden  in  der  Schweiz 
(z.  B.  am  Ebersberg  bei  Zürich),  der  Terramaralager  Oberitaliens,  der  Kjoek- 
kenmoeddinger  Dänemarks,  der  Tepe  von  Persien*)  u.  s.  w.,  analog  sein 
wird.  Dass  sich  ähnliche  Culturschichten  auch  auf  ganz  trockner  Erde  bil- 
den können,  davon  habe  ich  mich  auf  San  Vicente,  einer  der  Inseln  des  grü- 
nen Vorgebirges  überzeugt,    und  die  bezüglichen  Thatsachen  habe  ich  in  De 


*)  Vergleiche  zwischen  diesen  verschiedenen  Anhäufungen  vorgeschichtlicher  Ueberreste  des 
Menschen  wurden  schon  vor  mehren  Jahren  von  mir  und  Dr.  Pigorini  angestellt,  und  ihre  Ana- 
logie herausgehoben.  Sieh  die  Abhandlung:  Le  Terremare  e  le  Palafitte  del  Parmense,  2.  rela- 
zione.     Milano,  1864. 


113 

Mortillet's  Materiaux  pour  l'histoire  de  l'homme*  bekannt  gemacht.  Auf  der 
Reise,  deren  ethnologische  Erfolge  in  diesem  Aufsatze  besprochen  werden  sol- 
len, habe  ich  zwar  keinerlei  Pfahlbauten  gesehen;  allein  im  baumlosen  Thale 
des  Kio  Atuel,  an  seinem  rechten  Ufer  und  an  der  Stelle,  welch»'  in  den  Land- 
karten unter  dem  Namen  Manantial,  d.  h.  Quelle,  del  Atuel  angegeben  ist. 
sah  ich  einen  einzeln  dastehenden  Pfahl,  der  vermutblich  der  letzte  Rest  einer 
Wohnung  auf  Pfählen  war**)  —  und  desswegen  habe  ich  hier  von  Pfahl- 
bauten gesprochen. 

Wohnungen.  Manche  wunderts  wie  unsere  ßronzemänner  in  elenden 
Hütten  wohnen  konnten;  und  haben  Mühe  es  als  Thatsache  anzunehmen. 
Der  Gaucho  (ausg.  Gautscho)  oder  Landbewohner  im  Innern  Argentiniens  hat 
eben  keine  besseren  Wohnungen,  wie  wir  uns  gleich  überzeugen  werden,  und 
dennoch  lebt  er  in  einer  viel  vorgerückteren  Epoche  der  Civilisation,  und 
steht  auf  einer  höheren  Culturstufe  als  unsere  Ahnen  zur  Bronzezeit.  Er  ist 
vorzugsweise  Hirte,  und  bringt  die  meiste  Zeit  auf  dem  Rücken  seines  Rosses 
zu.  Seine  Hütte,  Rancho  (ausg.  Rantscho),  ist  je  nach  Umständen  verschie- 
den gebaut.  Die  einfachste,  rancho  de  totora,  besteht  nur  aus  Baumä6ten 
mit  einem  Dache  aus  Sumpfrohr,  Totora,  Typha  angustifolia  Linne?;  und 
ist  wohl  keine  bleibende  Behausung.  Das  Skelett  einer  dauernden  Hütte, 
rancho  de  estanteo,  besteht  aus  Pfählen  und  ihre  Wände  sind  entweder 
aus  Maisrohr,  das  um  die  Pfähle  geflochten  wird,  gebaut,  oder  aus  getrock- 
netem nicht  gereinigtem  Lehm,  gemischt  mit  Sumpfrohr,  oder  mit  einer  Art 
Stroh,  paja  (ausg.  paha)  oder  Coiron,  Andropogon  species.  Von  Wohlha- 
benheit und  selbst  von  einem  gewissen  Grade  von  Luxus  seines  Bewohners 
zeugt  der  rancho  de  adobe.  Er  heisst  so,  weil  seine  Wände  aus  Mauern 
von  adobes,  d.  h.  an  der  Luft  getrockneten,  nicht  gebrannten  Ziegeln,  oder 
auch  von  adobones,  das  ist,  gestampften  und  über  einander  gelegten  Lehmpa- 
rallelpipeden  bestehen***).  Und  nicht  besser  als  so  ein  rancho  sind  fast  alle 
Häuser  in  den  Dörfern  und  den  Städten  der  argentinischen  Pampa,  selbst  in 
den  Provinzialhauptstädten,  da  sie  aus  gleichem  Material  gebaut  sind,  und  nur 
aus  Zimmern  zu  ebener  Erde  bestehen.  Auch  das  Dach  dieser  Häuser  ist 
zumeist  von  jenem  der  Ranchos  nicht  verschieden,  d.  h.  ein  Strohdach,  aus 
der  gennnten  paja.  Gewöhnlich  hat  der  Rancho  eine  einzige  Oeffnung,  die 
zugleich  Thüre,  Fenster  und  gelegentlich  Rauchloch  ist.  Manchmal  giebt  es 
nichts  um  die  Oeffnung  zu  verschliessen,  andere  Mal  kann  sie  mit  einem 
Bretterladen  versperrt  werden;  öfters  versieht  dessen  Stelle  ein  Rahmen,  worauf 


')  Formation   actuelle  d'une   terramare  a   l'ile  Saint-Vincent,   in  Materiaux  etc.     I.   annee, 
page  510. 

**)  Sieh  das  Buch:  Viaggi  nell'  Argentinia  meridionale  effethiati  negli  anni  1865—  1S67. 
Parma  1868,  1869.     Vol.  I.    Fase    1.     Pag.  79. 

**')  Wie  man  verfährt,  um  eine  Mauer  aus  Adobones  aufzubauen,  habe  ich  weitläufig  Seite  6 
des  II.  Heftes  der  citirten  Reisebeschreibung  auseinandergesetzt  und  auf  Tafel  II.  derselben  habe 
ich  einen  grösseren  Rancho  de  estanteo  abbilden  lassen. 


114 

ein  Pferde-  oder  Ochsen-Fell  gespannt  worden  ist,  oder  ein  solches  Fell  selbst, 
das    wie    ein   Vorhang  aufgespannt  wird.     Die  nackte  Erde  bildet   den  Boden 
der  Ranchos,  so  wie  der  meisten  Häuser  und  von  Glasfenstern  ist  keine  Rede. 
Derlei   Wohnungen  schützen  einen  kaum   vor  ungünstiger  Witterung,    vorzüg- 
lich nicht  vor  Wind  und  Staub,  und  vor  der  Feuchtigkeit,  die  der  Boden  und 
die  porösen  Lehmmuaern  ansaugen.  —  Manches  Mal  ist  in  einem  Kancho  kein 
Möbel  zu  sehen:  der  Reitsattel  sammt  Zubehör  vertritt  des  Stuhls  und  Bettes 
Stelle.    Oefters  findet  man  Holzprismen,  welche  als  Sessel  dienen,  oder  wohl 
auch  ein  Paar  roh  gearbeitete  Stühle  und  einen  Tisch.    Hie  und  da  sah  ich  an 
den  Wänden  hohe  Lehmstufen,  worauf  Felle  und  Decken  ausgebreitet  werden 
konnten,  um  darauf  zu  sitzen  oder  sich  auszustrecken  und  zu  schlafen.    Auch 
als  Tische    konnten   sie  dienen.     In   irgend   einer  Ecke  wird  man  wohl  auch 
einen  Asador  (ausg.  Assadör)  oder  Bratspiess  und   eine  Pava  oder  Kanne  zur 
Bereitung  des  Mate  oder  Paraguayerthees  gewahr.  *)  —  Und  dennoch,  im  Ge- 
gensatze zu  dieser  erbärmlichen  Wohnung  und  Hauseinrichtung,  schmückt  der 
Gaucho   nicht   selten   sein  Pferd  mit  silberbeschlagenem  Reitzeug  und  silber- 
nen Steigbügeln,    und   silberne  Sporen  klirren   an    seinen  Stiefeln,   aus  unge- 
gerbtem  Leder;  Frau  und  Tochter  sind  mit  goldenen  Stecknadeln,  Qhrgehenken 
und  Ringen,    ja   sogar   mit   weiter  Crinoline   ausstaftirt.     Die  Schmucksachen, 
die  Kleider,  die  Werkzeuge,  die  Waffen  des  Gaucho  sind  im  allgemeinen  ohne 
Zweifel  geschmackvoller  und  zweckmässiger  verfertigt  als  jene  unserer  Urah- 
nen aus  den  vorgeschichtlichen  Zeiten;  und  dennoch  sind  seine  Wohnungen, 
wie  gesagt,  eben  so  elende  Hütten,  wenn  nicht  oft  elender.     Man  wird  zwar 
einwenden,  dass  der  Gaucho  das  Meiste,  durch  den  Handel,  aus  Europa  und 
Nordamerika  beziehe,  während  wir  wissen,  dass  unsere  Bronzemänner  sich 
selbst  ihre  Waffen,  Werkzeuge  und  Schmucksachen  aus  dem  Metalle  gössen. 
Allein  man  kann  eiwiedern,  dass  auch  die  Gauchos  manches,  vorzüglich  aus 
Fell,    Wolle,    Zwirn,  Thon  u.  s.  w.  sich  selbst  verfertigen,  wie  wir  es  in  der 
Folge  sehen  werden,  und  oftmals  sehr  zierliche  Sachen,  während  andererseits 
es  erwiesen  ist,  dass  auch  unseren  Bronzemännern  allerhand  durch  den  Han- 
del zugekommen  ist.    Es  soll  uns  also  nicht  mehr  wundern,  wenn  diese,  trotz 
ihrer  Cultur,    dennoch    in    armseligen  Hütten    gelebt  haben,    in  welchen  ver- 
muthlich   auch,    wie   in    den   Ranchos,   Holzprismen   und  Lehmstufen   an   den 
Wänden  gestanden  haben  werden  und  zu  demselben  Zwecke. 

Corrales.     Es   giebt  keinen  Rancho  ohne  Corral,   das  ist  eine  Einzäu- 

')  Wer  sich  von  einem  Passagierszünmer  bei  einer  Poststation  in  der  Pampa,  wie  ich  es 
z.  B.  bei  Rio  Qninto  bezogen  habe,  einen  Begriff  machen  will,  der  bilde  sich  eben  einen  stroh- 
bedeckten Rancho  ohne  Fenster  ein,  dessen  Thure  mit  einem  Bretterladen  verschlossen  werden 
konnte.  Links  von  der  TIn'ire,  wenn  man  eintrat,  ward  man  eine  Lehmstufe  oder  einen  grossen 
Adobone  an  der  Wand  gewahr,  über  den  Ochsenfelle  ausgebreitet  waren;  rechts  in  der  Ecke 
lehnte  an  der  Wand  eine  Art  dreizackiger,  grosser  Gabel,  aus  einem  dreiästig  auslaufenden  Baum- 
stamme. Zwischen  diesen  drei,  sternartig  von  einem  Zentrum  aus  einander  abweichenden  Zacken 
lag  ein  Wasserkrug.  Zwei  roh  gearbeitete  Tische  vervollständigten  die  comfortable  Zimmerein- 
richtung. 


115 

nung,  gewöhnlich  eine  Pallisade,  zum  gelegentlichen  Einsperren  der  im  Freien 
weidenden  und  übernachtenden  Heerden.  Solche  Einzäunungen  und  oichl 
etwa  Ställe,  müssen  auch  unsere  vorgeschichtlichen  Völker  gehabt  haben;  und 

auch  jene  unter  ihnen,  die  auf  \\  aaserbauten  wohnten,  konnten  die  Einzäu- 
nungen nur  auf  dem  festen  Lande  errichtet  haben,  denn  auf  den  Pfahlhauten 
selbst  konnte  wohl  kein  hinlänglicher  Kaum  dazu  vorhanden  gewesen  sein. 
Zu  diesem  Schlüsse  werde  ich  überdies  durch  das  Studium  der  Pfahlbauten- 
reste aus  der  Bronzezeit  in  der  Provinz  Parma  geführt;  denn  würden  die 
Hausthicre,  mindestens  die  Nacht  auf  der  Wasserbaute  zugebracht  haben,  so 
hätte  ich  hinlänglich  Kuhfladen  und  Koprolithen  der  anderen  llausthiere  in 
der  Culturschicht  der  Pfahlbauten  linden  müssen;  während  ich  nur  ein  einzi- 
ges Mal  in  der  Pfablbaute  der  Stadt  Parma  einen  Kuhfladen  anzutreffen  im 
Stande  gewesen  bin*). 

Thongeschirr.  Wenn  man  das  Thal  des  Rio  Claro  in  den  Chileni- 
schen Anden,  hinaufreitet,  um  den  Planchonpass  zu  erreichen,  gelangt  man 
im  Walde  zu  einem  Lagerplatze,  der  Puerta  de  los  Manantiales.  oder  das 
Quellenthor,  genannt  wird.  Während  des  Frühstücks  das  ich  hier  einnahm, 
beobachtete  ich  die  kleinen  irdenen  Töpfe,  welche  mein  Führer,  ein  chilesi- 
scher  Huaso  (ausg.  Uasso)  oder  Bauer  und  seine  Kameraden  zum  Aufbewah- 
ren und  Kochen  der  Speisen  mit  sich  führten.  Sie  waren  etwas  bauchig,  aus 
freier  Hand  verfertigt  und  nicht  im  Ofen  gebrannt;  die  einen  waren  schwarz 
und  die  anderen  röthlich.  Diese  verschiedenen  Farben  hängen  nicht  von 
der  verschiedenartigen  Zusammensetzung  des  Thones  der  Geschirre,  sondern 
von  der  verschiedenen  Art  sie  zu  brennen  und  vom  Grade  der  Hitze,  der  sie 
dabei  ausgesetzt  werden,  ab.  An  starkem  rauchlosen  Feuer  und  ohne  mit 
der  Flamme  in  Berührung  zu  kommen,  werden  die  Töpfe  auswendig  röthlich; 
schwarze  Geschirre  hingegen  bekommt  man,  wenn  man  sie  bei  gelindem  Feuer, 
welches  mit  Stroh  oder  anderen,  sehr  viel  Rauch  erzeugenden,  Brennstoffen 
ernährt  wird,  langsam  und  in  Berührung  mit  dem  Rauche  brennt.  Sowohl  von 
den  röthlichen  als  von  den  schwarzen  Töpfen  giebt  es  solche  mit  glänzender 
Oberfläche.  Den  Glanz  erhält  man  dadurch,  dass  man  die  noch  feuchte 
Oberfläche  des  Geschirres,  vor  dem  Brennen,  mit  einem  sehr  glatten  Steine, 
einem  Polirsteine,  glättet. 

In  den  Pfahlbauten  und  Terramaralagern  der  Emilia  (Parma  und  Modena), 
aus  der  ersten  Bronzeperiode  findet  man  Thongefässe,  die  den  genannten 
chilesischen  ähnlich  sind,  d.  h.  weder  auf  der  Drehscheibe  verfertigt,  noch 
im  Ofen  gebrannt  sind.  Was  die  Farbe  der  Oberfläche  anbelangt,  so  giebt' s 
darunter  sowohl  braune  als  röthliche,  gelblichgraue,  graue  und  asphalt-schwarzc 
Töpfe,  Schüsseln,  Schalen,  Becher  und  andere  Geschirre;  die  grösseren  roh 
gearbeiteten  Töpfe  aber  sind  nie  schwarz  und  haben  stets  eine  poröse,  matte 


*)  Le  Terremare  e  le  Palafitte  etc.  pag.  151. 


116 

Oberfläche,  während  vielr  von  den  kleineren  Gefässen  sehr  glänzend  sind. 
Schon  anderswo  habe  ich  mit  Dr.  L.  Pigorini,*)  die  Meinung  ausgesprochen, 
dass  die  schwarze  Farbe  des  erwähnten  vorgeschichtlichen  Töpferzeugs  durch 
dessen  Räuchern  beim  Brennen,  oder  auch  durch  Beimengung  von  fetten  oder 
kohligen  Stoffen  erreicht  worden  sei.  Die  oben  erwähnten,  bei  den  Chilenen 
beobachteten,  Thatsachen  zwingen  mich  nun,  eher  zur  ersteren  der  zwei  aus- 
gesprochenen Meinungen  mich  hinzuneigen.  —  Wenn  man  Scherben  von  den 
genannten,  schwarzen  Gefässen  der  Emilia  in  einem  Brennofen  ausbrennen 
lässt,  so  werden  sie  scharlachroth  und  verlieren  den  Glanz.  Scherben, 
die  ebenso  roth  und  glanzlos  sind,  findet  man  dann  und  wann  in  unseren 
Pfahlbauten  und  Terramaralagern.  Ich  glaube  nicht,  dass  sie  ursprünglich  so 
ausgesehen  haben,  da  das  Geschirr,  von  dem  sie  herrühren,  nicht  in  Oefen 
gebraunt  wurde,  und  daher  auch  nicht  eine  so  hochrothe  Farbe  annehmen 
konnte.  Sie  müssen  also  wie  die  von  mir  geflissentlich  im  Brennofen  ausge- 
brannten Scherben  aus  denselben  Fundorten,  erst  durch  ein  starkes  Feuer, 
durch  einen  Brand,  so  geworden  sein;  sie  sind  die  Beweise  irgend  einer 
Feuersbrunst.  —  In  den  Wasserbauten  der  Schweiz  giebt  es  ebenfalls 
schwarzes  Töpferzeug  mit  glänzender  Aussenseite;  und  die  Schweizer  Paläo- 
ethnologen  sind  der  Meinung,  dass  der  Glanz  durch  Einreiben  mit  Graphit 
erlangt  wurde.  Dieselbe  Erklärungsweise  konnte  ich  aber  für  das  glänzende 
Thongeschirr  unserer  Ablagerungen  aus  der  Bronzezeit  nicht  annehmen,  weil 
in  denselben  kein  Stück  Graphit  zu  finden  ist,  und  auch  weit  herum  kein 
solches  Gestein  ansteht;  und  weil  überdies  nicht  alles  glänzende  Töpferzeug 
auch  schwarz  ist,  wie  es  aber  sein  müsste,  wenn  Graphit  dazu  angewendet 
worden  wäre.  Ich  nahm  hingegen  an,  dass  man  feineren  Thon  auf  die  Ober- 
fläche der  Gefässe  aufstrich,  und  sie  dann  mit  gewissen  spateiförmigen  Instru- 
menten, die  sich  mit  dem  glänzenden  Geschirre  vorfinden,  glättete.**)  Da, 
wie  gesagt,  auf  ähnliche  Weise  die  chilesischen  Töpfer  dasselbe  Ziel  errei- 
chen, so  bestärkt  mich  diese  Thatsache  immer  mehr  in  meiner  Meinung. 

lieber  Stoff,  Form,  Zierrath  u.  s.  w.  der  Thongefasse  der  Argentiner  habe 
ich  manche  Beobachtungen  angestellt,  die  ich  später  mittheilen  werde.  Hier 
möchte  ich  nur  noch  die  Paläoethnologen  vor  Uebereilung  beim  Bestimmen 
des  Alters  von  irdenem  Geschirre  warnen,  da  man  sich  leicht  dabei  irren 
kann;  und  um  so  mehr,  wenn  es  sich  nur,  wie  sehr  oft,  um  Scherben  dessel- 
ben handeln  sollte.  Denn  z.  B.  Töpfe,  die  jenen  unserer  ersten  Eisenperiode 
gleich  sehen,  wurden  nicht  nur  von  den  Rhaeten,  Etruskern  und  Römern  ver- 
fertigt, sondern  werden  jetzt  noch  in  unseren  Appeninen  und  wohl  auch 
anderswo  fabrizirt.  ***) 


")  Le  Terremare  e  le  Palafitte  etc.  pag.  83. 
"')  Le  Terremare  etc.  pag.  84. 

•**)  Le  TeiTemare  del)1  Emilia,  prima  rela/.ione  Torino  1862,  pag.  10.  —  Le  Terremare  e 
le  Palafitte  etc.  p.  85.  —  Avanzi  preromani  raecolti  nell'  Emilia,  Parma  1863,  pag.  22.  —  Di 
im  Braccialetto  e  di  un  anello  d'una  forma  particolare,  rinveuuti  in  tombe  antiche  presto  Rove- 
redo.     Verona  1867,  p.  3. 


117 

Stein  Werkzeuge. 

Salz  quetscher.  Am  Fusse  eines  der  Bäume,  welche  die  kleine  Estancia 
oder  Meierei,  Cepillo  (ausg.  Zepilio)  bei  San  Carlos  in  der  Provinz  Mendoza 
beschatten,  lag  ein  grosser  in  der  Mitte  ausgehöhlter  Stein  aus  roseurothem 
Granit,  Felsart,  die  in  der  Nähe  ansteht.  Neben  ihm  war  ein  kleiner  rundli- 
cher Stein  hingestellt.  Ein  anderes  ähnliches  Hausgeräth  aus  Syenit  sah  ich 
in  Rio  Quinto  (ausg.  Kintö),  in  der  Pampa  der  Provinz  San  Luis.  Mit  sol- 
chen Steinen  zerquetscht  man  dort  das  Salz,  welches  zu  dem  Zwecke  in  die 
Aushöhlung  des  grossen  Steins  gelegt,  und  mit  dem  kleinen,  der  in  dieselbe 
hineinpasst,  d.  h.  dem  Quetscher,  zerdrückt  wird.  Die  Gauchos  haben  ver- 
muthlich  diese  Werkzeuge  von  den  Indios  Pampas  oder  Wilden  der  Pampa, 
die  von  ihnen  vernichtet  oder  verjagt  wurden,  ererbt;  denn  sowohl  diese  In- 
dianer, als  die  Patagonier  gebrauchen  solche  Instrumente  zu  demselben  Zwecke, 
und  schon  ihre  vorhistorischen  Ahnen  bedienten  sich  ebenfalls  derselben.*) 
Unter  den  Ueberresten  der  vorgeschichtlichen  Stämme  Europa' s  finden  sich 
desgleichen  rundliche  Steine  verschiedener  Felsarten,  die  man  für  Kornquet- 
sche r  hält,  die  aber  vermuthlich  ebenfalls  Salzquetscher  waren;  denn  Korn 
wird  wohl  gemahlen,  schwerlich  aber  gequetscht. 

Schalensteine.  —  In  Argentinien  findet  man  nicht  nur,  wie  ich  so 
eben  angezeigt  habe,  ausgehöhlte,  zum  Salzquetschen  gebrauchte,  Rollsteine 
aus  der  vorgeschichtlichen  Indianerzeit,  sondern  auch  Steinblöcke  verschiede- 
ner Grösse  und  Felsen  mit  Aushöhlungen,  oder  sogenannte  Schalensteine  aus 
derselben  Periode,  und  zwar  giebt's  deren,  meines  Wissens,  sowohl  in  den 
Anden,  unweit  v.  Mendoza,  aus  der  Epoche  der  Incas,  als  in  der  Sierra,  d.  h. 
Gebirge,  de  San  Luis  in  der  Pampa**).  Diese  Schalensteine  dienten,  so  wie 
die  Unterlagen  der  Salzquetscher,  zum  Zermalmen  von  Gegenständen,  wie  ich 
später  erörtern  werde.  Man  trifft  ihrer  bekanntlich  auch  in  Europa,  aus  vor- 
geschichtlichen Zeiten,  wie  in  Schweden  (Morlot),  in  Meklenburg  (Lisch), 
in  der  Schweiz  (Keller),  bei  Rocca  Tederighi  in  Toscana  (Simonin),  so  wie 
in  Californien  aus  der  Neuzeit  (Simonin).  Die  Franzosen  nennen  sie  Pierres 
ä  ecuelles  oder  ä  bassins. 

Mörser  und  Stössel.  —  Weder  Stössel,  noch  Mörser,  noch  Schalen- 
steine sah  ich  auf  der  Reise  vom  Planchonpasse  nach  Mendoza.  Allein  da 
sie,  was  ihren  Gebrauch  anbelangt,  in  die  nehmliche  Kategorie  mit  den  Salz- 
quetschern  gehören,  so  ist,  um  Wiederholungen  zu  ersparen,  in  diesem  Aut- 
satze auch  von  ihnen  die  Rede.  Stössel  habe  ich  drei  gesehen,  und  zwei 
von   ihnen  nach  Italien   gebracht***).     Der  in   dem  Paradero   del  Molino  bei 

•)  Paraderos   preistorici  in  Patagoiiia.     Milano  1867,   pag.  3.  —  Einen  Auszug  davon  giebt 
die  Zeitschrift  für  Ethnologie,  I.  Jahrgang,  Seite  87. 

")  Siehe  Strobel  —  Oggetti  dell'  etä  della  pietra  levigata,   rinvenuti  nella  provincia  di  San 
Luis.     Parma  1867  —  Seite  11,  Note  8. 

•*•)  Der  eine   von  Patagones   befindet  sich   im  R.  Museo  di  Antichita   in  Parina,   der  andere 
von  der  Isla  verde,  im  Museo  civico  in  Mailand. 


118 

Patagones  gefundene,  aus  Sandstein  mit  rauher  Oberfläche,  ist  34  Centimeter 
lang   und   fast   walzenförmig.     Man    konnte    ihn  also  auch  statt  zum  Stossen, 
zum  Zerquetschen    anwenden,    indem    man    damit,    wie    mit   einer   Rolle,    üher 
einen    Mühlstein    oder    einen    anderen   flachen  Stein    hinfuhr.     Einen    anderen 
Stössel   bekam   ich   in   Bahia   blanca,    nördlich   von   Patagones   und  vom    Rio 
Colorado.     Man  fand  ihn,  mit  irdenen  Töpfen  und  mit  mehren  andern  Stein- 
werkzeugen, in  der  nahen  Isla  verde,  unter  der  Erde  vergraben.     Er  ist  aus 
Grünstein,  21  Cent,  lang,  keulförmig,  mit  ziemlich  glatter  Oberfläche,  vorzüg- 
lich  am   breitern  Ende.     Den    dritten  habe  ich  schon  beschrieben  und  abge- 
bildet*).    Er   wurde    in   der  Canada   de   San   Luis    aufgefunden   und    zwar  in 
einer   der,   bisweilen   über  einen  halben  Meter  tiefen  Furchen,    die  sich  nach 
einem  Wolkenbruche  dort  im  Boden  bilden.    Er  ist  aus  weissem  Syenit,  seine 
Länge  beträgt  50  Cent,  und  seine  Form  steht  zwischen  der  Form  der  Walze 
und  jener  der  Keule.    Er  dient  noch  jetzt  um  in  einem  Mörser  von  Stein  oder 
von  Holz  Salz  oder  Maiskörner  zu  zerdrücken.    Diese  werden  somit  von  ihrer 
Hülse  befreit,  dann  gesiebt  und  in  Wasser  oder  Milch  gesotten;  so  ein  Brei 
heisst   Mazamorra.      Wir    werden    später    umständlicher    darauf  zu   sprechen 
kommen.    Stössel  giebt  es  auch  unter  den  Alterthüinern  von  Nord-  und  Mit- 
tel-Amerika; so  z.  B.  in  den  Indianer  Gräbern  von  Chiriqui  im  Panama-Staate 
(De   Zeltner).   —   Die   Hälfte    eines   Mörsers   entdeckte  ich   im   Paradero    del 
Molino  bei  Patagones,  er  ist  aus  Sandstein.    Viele  von  den  Steiumörsern  die 
gegenwärtig  im  Argentiner  Lande  gebraucht  werden,   stammen  wohl  von  den 
vertriebenen  Indianern   her,   vorzüglich   viele  von  jenen  Mörsern,   die  sich  in 
der  steinlosen  Pampa  finden.    Der  Steinmörser  bedient  man  sich  gegenwärtig 
auch  in  Algier  (Simonin)  und  im  Departement  de  lTndre  in  Frankreich  (Bou- 
vet),    wo    sie  Piles   oder  pierres  a  formentee  genannt  werden.  —  Ich  glaube, 
dass  weder  die  Mörser  noch  die  Schalensteine  beider  Kontinente  ausschliess- 
lich  nur  zu   bestimmten  Zwecken  gedient  haben,    und  noch  gegenwärtig  die- 
nen;   sondern,    da   es    sich  um  einfache  Werkzeuge  erster  Erfindung  handelt, 
bin  ich  der  Meinung,  dass  sie  selbst  an  demselben  Orte,  zu  allerlei  Zwecken 
gebraucht   wurden  und  noch  gebraucht  werden,  je  nach  den  Umständen  und 
den    örtlichen  Verhältnissen,   aber   wohl   fast  immer  um  Gegenstände  zu  zer- 
drücken   oder  zu   zermalmen;    also   z.  B.  sowohl  um  Korn  zu  zerstossen  und 
mit  dem  Mais,  die  genannte  Mazamorra  in  Südamerika  und  einst  die  Polenta 
in   Italien,  oder  mit  dem   Weizen,  den  Mirci  in  Argentinien**),  und  die  Fro- 
meritee    in  Frankreich    zu    bereiten;    als    auch    um   Kastanien    und  Eicheln  zu 
zerquetschen,  wie  vielleicht  in   uralten  Zeiten  in  Toskana  und  gegenwärtig  in 
Kalifornien,    oder   um  Oliven    zu    pressen  wie  in  Algier  u.  s.  w.     Ueberdiess 
halt«;  ich  dafür,  dass  in  derlei  Schalensteinen  und  Mörsern  wohl  eist  in  spä- 
terer Zeit    auch  Metallstufen   zermalmt  wurden,    wie  z.  B.  kupferreiche  Mine- 

•)  8t.rol.ul  I.  c.  Seite  7,  Fig.  11. 
*')  De  la  Cm/.  —  Descripcion  de  la  naturaleza  de  los  terrenos,  y  costumbres  de  los  Peguen- 
ehea  (Pampas-Indianer),    liuenos  Ayres  1835  —  äuite  Ol. 


119 

ralien  in  Toscana  und  Goldstufen  in  Argentinien,  so  wie  in  Panama  (Zeltner), 
und  zwar  um  das  Schmelzen  des  Metalles  zu  erleichtern.  —  Wie  gesagt,  ha- 
ben die  Schalensteine  vorzüglich  zu  gastronomischen  und  metallurgischen 
Zwecken  gedient,  vielleicht  aber  hat  man  in  denselben  auch  Gegenstände  zu 
dem  Ende  zerdrückt,  um  sie  bei  religiösen  Handlungen  oder  Gelagen  zu 
opfern  oder  zu  essen*).  In  dieser  Beziehung  muss  ich  aber  bemerken,  dass 
die  gegenwärtigen  Pampasindianer,  meines  Wissens,  nur  das  Herz  von  Thie- 
ren  und  womöglich  von  jungen  weissen  Stuten  opfern. 

Mühlsteine.  —  In  San  Rafael,  an  der  Südgrenze  der  Provinz  Mendoza, 
giebt's  weder  eine  Wasser-  noch  eine  Pferde-Mühle.  Im  Hofe  des  Hauses, 
in  dem  ich  gewohnt  habe,  lag  eine  Handmühle,  ganz  denselben  ähnlich,  die 
Europas  vorhistorische  Völker  uns  hinterlassen  haben  und  auch  gleich  denje- 
nigen, die  in  den  vorgeschichtlichen  Paraderos  Patagonien s  und  in  den  In- 
dianergräben von  Panama  gefunden  werden.  Sie  besteht  aus  zwei  Steinen  ; 
der  eine  kleinere  und  etwas  glatte,  hat  eine  der  Oberflächen  flach  und  rauh, 
und  wird  mit  der  Hand  in  Bewegung  gesetzt:  es  ist  der  Reiber.  Der  andere 
grössere  Stein  hat  ebenfalls  eine  flache,  rauhe  Seite,  gen  welche  der  Reiber 
gedrückt  und  bewegt  wird,  und  mit  dein  Reste  seiner  Oberfläche  sitzt  er  fest 
auf  dem  Boden:  es  ist  die  Unterlage.  Mit  solchen  Handmühlen  mahlt  man 
in  San  Rafael  das  dort  erzeugte  Korn  je  nach  dem  Bedürfnisse  des  Augen- 
blicks. Das  so  gemahlene  Getreide  wird  gesiebt  und  das  Mehl,  welches  man 
erhält,  ist  bei  weitem  nicht  so  grob  als  man  es  glauben  möchte. 

Gegenstände  aus  Leder.  —  Der  Gaucho  oder  argentinische  Land- 
bewohner, vorzugsweise  Hirte,  zieht  von  den  Eellen  seines  Viehes  den  gröss- 
ten  Vortheil,  den  man  von  ihnen,  ohne  sie  zu  gerben,  erzielen  kann,  und  be- 
dient sich  ihrer  zu  den  verschiedensten  Zwecken.  Er  schneidet  sie  in  Strei- 
fen, die  sogar  so  schmal  sein  können,  dass  sie  kaum  die  Breite  von  3  Milli- 
meter erreichen  und  verfertigt  sich  damit  Bänder,  Riemen,  Reitgerten 
(lätigos),  die  zugleich  Riemen  sind,  so  dass  er  mit  denselben  die  Füsse  der 
Pferde  an  einander  schnüren  kann,  um  ihnen  das  Davonlaufen  zu  verhindern, 
wenn  sie,  oft  stundenlang,  in  den  Ortschaften  oder  auf  dem  Lande,  in  den 
Gassen  oder  auf  dem  Felde  frei  gelassen  werden,  während  er  seinen  Geschäf- 
ten naehgeht.  Mit  jenen  Lederstreifen  flechtet  er  starke,  dauerhafte  Seile 
und  feine  elegante  Schnüre,  wie  z.B.  jene  der  Steigbügel,  deren  Durch- 
schnitt fast  quadratisch  ist.  Aus  Fellen  sind  oft  seine  Bett-  und  Sattel- 
decken, und  aus  Fell  verfertigt  sich  der  Gaucho  seine  Botas  de  potro, 
oder  Stiefel  ,  besser  wohl  Strümpfe,  von  der  nicht  gegerbten,  zusammenhän- 
gend abgezogenen  Haut  des  Fusses  und  des  unteren  Theiles  des  Beins  eines 
Pierdes  oder  eines  Füllen,  potro,  oder  auch  eines  Ochsen.  Sie  sind  nicht 
genäht,  sondern  an  den  Füssen  und  Beinen  desjenigen  der  sie  trägt,  gedorrt 


•)  Strobel  —  Pienes  ä  bassins  de  l'Ameriques  du  Sud.     In  De  Mortillet  —  Materiaux  pour 
l'histoire  de  l'homme.     Paris  1«07.     111.  Jahrgang,  Seite  398. 


120 

Zwei  oder  mehr  Zehen  ragen  nackt  daraus  hervor.  Der  Gaucho  kann  sie 
nicht  mehr  ausziehen  und  trägt  sie  also  aus.  —  In  San  Carlos  sah  ich  von 
eiuem  grossen  Ochsenfelle  einen  sonderbaren  Gebrauch  macheu,  d.  h.  sich 
desselben  wie  einer  Fuhre  bedieneu.  Man  hatte  nehmlich  an  einem  Felle, 
der  Länge  eines  seiner  Säume  nach,  einen  Stab  befestigt  und  an  diesem  ein 
Pferd  angespannt;  das  Fell  war  mit  Sand  und  Steinen  beladen  worden  und 
wurde  so  zur  Baustätte  geschleift.  So  beiläufig  mag  wohl  der  erste  Schlitten 
oder  Wagen  den  der  Mensch,  in  der  Steinzeit,  erfunden,  ausgesehen  haben.  — 
Ich  bin  überzeugt.,  dass  unsere  Vorfahren  aus  der  ersten  Steinperiode,  die 
noch  nicht  Ackerbau  getrieben  haben,  gerade  wie  die  Pampasindianer  und 
das  argentinische  Hirtenvolk  von  den  Fellen  der  wilden,  so  wie  der  zahmen 
Thiere  allen  möglichen  Gebrauch  gemacht  und  Nutzen  gezogen  haben,  eben 
so  wie  von  den  Haaren,  von  der  Wolle,  von  den  Sehnen  und  von  den  Kno- 
chen; obwohl  natürlicher  Weise  nur  von  der  Verarbeitung  dieser  letztem  (in 
der  ersten  Steinzeit)  die  Beweise  bis  auf  uus  haben  gelangen  können. 

Unter  den  von  mir  in  Argentinien  beobachteten  ledernen  Gegenständen 
verdienen  eine  besondere  Erwähnung  die  ledernen  Säcke.  Im  Innern  jenes 
Landes  wird  das  dort  geerntete  Getreide  in  nicht  gegerbten  Fellen  aufbewahrt. 
In  der  Halle  des  Hofes,  in  San  Rafael,  in  dem  ich  die  oben  beschriebene 
Handmühle  sah,  hing  auch  vom  Gewölbe  ein  grossmächtiger  Sack,  aus  zwei 
ganzen,  an  dreien  ihrer  Säume  zusammengenähten  Ochsenfellen  bestehend;  die 
frei  gebliebenen  Ränder  bildeten  die  Oeffnung  und  durch  diese  war  der  Sack 
mit  Korn  gefüllt  worden.  Und  um  es  herauszuschöpfen  musste  man  vermit- 
telst einer  Leiter  zur  Oeffnung  hinaufsteigen.  —  Einer  von  den  Huasos  oder 
chilesischen  Bauern,  die  mich  eine  Strecke  weit  auf  der  Reise  von  Curicö 
nach  San  Rafael  begleiteten,  führte  einen  mit  Mehl  gefüllten  ledernen  Sack 
mit;  es  war  das  ganze  einem  Kalbe  abgezogene,  ungegerbte  Fell,  welches 
allenthalben  zugenäht  war,  an  der  Halsgegend  ausgenommen,  wo  es  vermit- 
telst einer  Lederschnur  fest  zugebunden  werden  konnte.  —  Da  die  vorge- 
schichtlichen Völker  Europa's  und  Amerikas,  wie  vorher  gesagt  wurde,  ihr 
Getreide  auf  dieselbe  Weise  mahlten,  wie  die  Einwohner  von  San  Rafael, 
sollten  wir  nicht  annehmen,  dass  sie  auch  wie  diese  ihr  Korn  und  ihr  Mehl 
nicht  nur  in  grossen  irdenen  Töpfen,  von  denen  die  Scherben  bis  auf  uns 
sich  erhalten  haben,  aufbewahrten,  sondern  auch  in  Fellen,  die  Jahrhunderte 
lang  unter  der  Erde  vergraben,  nun  verwest  sind.  Da  sie  wie  jetzt  die 
Argentiner  mehr  Hirten  als  Bauern  waren,  und  deswegen  an  Fellen  Ueber- 
fluss  haben  mussten,  so  scheint  es,  dass  die  Antwort  nur  bejahend  ausfallen 
könne.  —  Säcke  aus  Fellen  zum  Aufbewahren  von  allerhand  Gegenständen 
gebrauchen  auch  jene  Wilden,  die,  wie  die  Australier,  es  noch  nicht  so 
weit  gebracht  haben,  irdenes  Geschirr  zu  formen  und  zu  brennen.  Aus  Ana- 
logie müssen  wir  schliessen,  dass  auch  unsere  vorgeschichtlichen  Ahnen,  wäh- 
sie  wie  jene  Wilden  noch  auf  der  ersten  Fortschrittstufe,  nehmlich  jener  eines 
Jäger-  und  Fischervolkes,  sich  befanden,  <tuch  Säcke  aus  Fellen  von  erlegten 


121 

Thieren  zu  demselben  Zwecke  sich  verfertigten,  da  von  ihnen  keine  Art  Ge- 
fässe  aufgefunden  worden  ist.  —  Dass  man  in  Fellen  sogar  Flüssiges  hat  auf- 
bewahren können,  wird  dadurch  bewiesen,  dass  noch  jetzt  wie  bei  uns  in  Ita- 
lien das  Oel  in  derlei  Säcken  verschickt  wird. 

Hölzerne  Werkzeuge.  —  Pflöckchen.—  Um  die  Felle  zu  trocknen, 
müssen  sie  ausgespannt  werden.  In  der  Pampa  ist  es  der  Brauch,  dass  man 
zu  dem  Ende  die  grösseren  Felle  auf  dem  sandigen  Boden  ausbreitet  und 
vermittelst  hölzerner  Pflöckchen,  die  am  Saume  die  Felle  durchbohren  und 
in  die  Erde  eindringen,  auf  diese  befestigt.  Sowohl  in  den  Pfahlbauten  Ober- 
Italiens  als  in  den  Terramarelagern  der  Emilia  findet  man  an  beiden  Enden 
zugespitzte  hölzerne  Pflöckchen  von  der  Länge  von  12  bis  15  Centimetern. 
Sowohl  Pigorini  als  Gestaldi  und  ich*)  halten  dafür,  dass  sie  zum  Bauen  der 
Hütten  oder  zum  Aufschlagen  von  Zelten  gedient  haben.  Es  könnte  aber 
wohl  leicht  sein,  dass  die  vorgeschichtlichen  Bewohner  Italiens,  die  uns  jene 
Alterthümer  hinterlassen  haben,  von  den  kleineren  dieser  Pflöckchen  so  wie 
von  den  anderen,  nur  an  einem  Ende  zugespitzten,  denselben  Gebrauch  ge- 
macht hätten,  wie  die  Gauchos  in  der  Pampa;  denn  an  Fellen  hat  es  ihnen 
gewiss  nicht  gefehlt.  Um  so  mehr  müssen  wir  auf  eine  ähnliche  Verwendung 
von  hölzernen  Pflöckchen  bei  jenen  vorgeschichtlichen  Völkern  schliessen, 
die  noch  nicht  durch  den  Ackerbau  oder  auch  auf  andere  Weise  zur  Kennt- 
niss  und  Verwerthung  von  Pflanzenstoffen  zu  Kleidungsstücken  und  Werk- 
zeugen gelangt,  und  deswegen  von  den  Fellen  den  grösstmöglichen  Nutzen 
zu  ziehen  gezwungen  waren.  -  Die  kleineren  Felle  werden  in  Argentinien 
auf  grobgearbeitete  Rahmen  zum  Trocknen  ausgespannt. 

Steigbügel.  —  Die  Steigbügel  des  Gaucho,  falls  er  sich  deren  bedient, 
sind  aus  Holz  verfertigt,  wie  jene  der  chilenischen  Huasos;  allein  ihre  Form 
ist  sehr  verschieden.  Die  argentinischen  Steigbügel  sehen  den  unseren  aus 
Metall  gleich;  ihre  scheitelrechten  Durchschnitte  sowohl  von  rechts  nach  links, 
als  von  vorn  nach  rückwärts  sind  gleichschenkliche  Dreiecke,  so  wie  ihre 
Oeffnung,  welche  aber  so  klein  ist,  dass  man  nur  die  Zehenspitze  durch  sie 
stecken  kann.  Diese  Vorrichtung  gewährt  dem  Gancho  den  Vortheil,  dass, 
wenn  er  vom  Pferde  herunterfällt,  er  nicht  in  denselben  verwickelt  bleibt, 
sondern  stehend  auf  die  Füsse  fällt.  Die  chilenischen  Steigbügel  (estribos 
baules)  sehen  den  Türkischen  ähnlich:  sie  sind  plump,  halbmondförmig,  mit 
der  gewölbten  Fläche  nach  unten,  oder  auch  wohl  dreieckig,  allein  sie  sind 
nicht  durchbrochen,  man  kann  also  nicht  einmal  die  Fussspitze  durch  sie 
durchstecken;  sie  sind  aber  zweckmässiger  als  die  argentinischen,  da  sie  den 
Fuss  gegen  das  Anprallen  an  Baumstämme  und  Stacheln  schützen.  Sowohl 
die  chilesischen  alo  die  argentinischen  Steigbügel  sind  oft.  mit  geometrischen, 
bald  erhabenen,  bald  eingegrabenen,  Figuren  geziert.  —  In  der  ethnologischen 

*)  Man  sehe  Pigorini  —  Abitazioni  lacustri  di  Ohiozzola  in  Pavullo  di  Modena.     In  Gior- 
uale  «lelk-  Alpi,   1864,  llefte  11   u.   12. 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  187U.  9 


122 

Sammlung  des  k.  Museums  in  Berlin  sah  ich  den  argentinischen  gleiche  höl- 
zerne Steigbügel  aus  China  (sub  num.  2553);  bei  diesen  ist  die  Stelle,  wo 
die  Schnur  an  den  Bügel  befestigt  ist,  von  einem  ledernen  Umschlage  be- 
deckt. Unsere  Vorfahren  aus  der  Steinperiode  hatten  schon  zahme  Pferde. 
Sie  müssen  sie  auch  geritten  und  sich  nach  Art  der  Indianer  und  Ganoho's 
darauf  geschwungen  und  gehalten  haben,  entweder  ohne  Steigbügel  oder  mit 
nur  einem,  oder  auch  mit  zwei  Steigbügeln,  und  diese  konnten  nur  von  Holz 
gewesen  sein;  ich  weiss  aber  nicht,  ob  man  deren  bisher  gefunden  hat. 

Pflug.  —  Um  Buenos  Aires  giebt  es  jetzt  sogar  durch  Dampfkraft  be- 
wegte Pflüge;  allein  im  Innern  Argentiniens  hat  mau  es  noch  lange  nicht  so 
weit  gebracht.  An  manchen  Orten,  wo  es  sandiges,  weiches,  fruchtbares  Erd- 
reich giebt,  ist  der  Pflug  weiter  uichts  als  das  zu  einer  Pflugschar  zuge- 
schnittene Stück  eines  Baumstammes,  von  dem  in  schräger  Richtung  ein  Ast 
ausläuft,  der  als  Deichsel  dient.  Ein  Stab,  der  in  fast  senkrechter  Richtung 
an  der  Pflugschar  angebracht  ist,  dient  dem  Bauer  zum  Lenken  des  Pflugs*).  — 
Es  könnte  sein,  dass  unsere  ackerbautreibenden  vorgeschichtlichen  Völker 
auch  den  argentinischen  ähnliche  Pflüge  gebraucht  hätten.  Allein  da  man 
meines  Wissens  noch  keine  dergleichen  entdeckt  hat,  und  da  ihr  Ackerbau 
sehr  beschränkt  gewesen  sein  muss  bin  ich  eher  der  Meinung,  dass  sie  nach 
Art  unserer  Alpenbewohner,  die  an  steilen  Flecken  die  Erde  nur  mit  der 
Hacke  bearbeiten,  sich  der  breiten  Steinäxte  in  der  Steinperiode  und  der 
breiten  Paalstäbe  in  den  Perioden  des  Metalls  dazu  bedient  haben,  und  zwar 
iudem  sie  dieselben  nicht  mit  der  Schneide  in  der  Richtung  des  Schaftes  in 
diesen  befestigten,  sondern  mit  ihm  in  senkrechter  Richtung,  wie  die  Stein- 
äxte der  Neuseeländer  (Berliner  k.  Museum  num.  499,  500)  und  die  Eisen- 
äxte  der  Javainsulaner  (Klemm'sche  Sammlung). 

Kar  in  —  Die  'Wägen,  Carretas,  zum  Fortschaffen  der  Erzeugnisse  der 
Viehzucht  und  des  Ackerbaus  sind  in  Argentinien  von  einfacher  und  grober 
Arbeit.  Die  Deichsel  ist  gerade,  dick,  viereckig-prismatisch,  und  indem  sie 
sich  rückwärts  verlängert,  bildet  sie  zugleich  den  Mitteltheil  des  Wagenbo- 
dens. Die  Räder  haben  keinen  eisernen  Reifen,  hingegen  sind  die  periphe- 
rischen Holzstücke,  wo  sie  sich  in  einander  fügen,  durch  eiserne  Bänder  fest- 
gehalten. Walzenförmig  ist  die  Nabe  und  hat  an  beiden  Enden  eiserne  Reif- 
chen. Die  hölzerne  Achse  steckt  in  einer  ledernen  Scheide,  um  die  Reibung 
gen  die  Nabe  zu  vermindern.  Diese  Karren  sind  entweder  mit  einem  ge- 
wölbten Holzdache  Gedeckt  oder  offen.  Die  Art  und  Weise  wie  die  Ochsen 
an  den  Karren  und  an  den  Pflug  gespannt  werden,  ist  dieselbe,  d.  h.  ver- 
mittelst eines  Joches.  Dieser  besteht  ganz  einfach  aus  einem  etwas  glatten 
Ballen,  der  an  die  Hörner  der  Ochsen  gebunden  und  an  den  die  Deichsel 
befestig!   wird**).         Um  derlei  grob  gearbeitete  Wägen  zusehen,  ist  es  eben 


strobeJ        V'iaggi  »eil    Argentinia  uaeiidionale,  Tafel  IV. 

')  Strobel  1.  *..  Tafelu  III   und  IV. 


123 

nicht  nöthig  über  den  Oeean  zu  schifl'en.  Auf  dem  Lande  um  Lissabon  und 
Santarem  sah  ich  deren  noch  plumpere:  ihre  Räder  waren  aus  zusammenge- 
nagelten und  zu  einer  Scheibe  zugeschnittenen  Brettern  zusammengesetzt,  in 
welche  zwei  halbmondförmige,  einander  entgegengesetzte  Löcher  gebohrt  wa- 
ren, um  ihre  Schwere  zu  vermindern.  In  den  Donauländern  sind  die  Karrn 
nicht  feiner  gearbeitet;  und  auch  in  Mittel-  und  Süd-Italien  giebt's  Wägen 
mit  scheibenförmigen  Kadern;  nur  sind  sie  noch  schwerer  als  die  portugisi- 
schen  und  argentinischen,  da  die  Räder  nicht  durchlöchert  sind  (ruote  piene). 
Ein,  den  Rädern  der  portugisischen  Karren  ähnliches,  hölzernes  Rad  ist  im 
Torfmoore   von  Mercurago  in  Piemont  aus  dem  Bronzealter  entdeckt  worden*). 

(Fortsetzung  folgt.) 


Studien  zur  Geschichte  der  Hausthiere. 

Von  Robert  Hart  mann. 
IV.  Das  Kameel.**) 

Nachtrag. 

Seit  dem  Abschlüsse  meiner  im  vorigen  dahrgange  dieser  Zeitschrift  ab- 
gedruckten Arbeit  über  das  Kameel  ist  es  mir  gelungen,  noch  einige  wich- 
tigere in  Frankreich  erschienene  über  beregtes  Thier  handelnde  Bücher  und 
Aufsätze  ausfindig  zu  machen,  hauptsächlich  in  Folge  der  unverdrossenen  Be- 
mühungen meines  Freundes,  des  Buchhändlers  Herrn  K.  Künne.  Im  Nach- 
stehenden gebe  ich  einige  Auszüge  aus  zweien  Arbeiten,  welche  hoffentlich 
allen  Denen  nicht  unangenehm  sein  werden,  welche  sich  überhaupt  für  die 
Geschichte  unseres  Thieres  interessiren. 

Drei  Franzosen  haben  sich  hoch  verdient  gemacht,  um  die  Geschichte 
dreier  für  die  Zoologie  sowohl,  wie  auch  für  die  Kulturgeschichte  wichtiger 
Hausthiere  und  domesticirter  Thiere.  Es  sind  dies  Oberst  P.  Armandi ***), 
welcher  über  den  Elephanten,  General  Daumasf),  welcher  über  das  ara- 

*)  Gastaldi   -  Nuovi  cenni  sugli  oggetti  di  alta  antichita  u.  s.  w.   Torino  1862  —  S.  84, 
Tat'.  I,  Fig    12. 

»•)  Vergl.  Jahrgang  1809.  S.  66.  239,  353. 
"")  Histoire  roilitaire  de£  Elephants.     Paris  1S-43. 
t)  Les  Chevaux  du  Sahara      Paris  1851      Deutsch   von  Lieutenant  C.  Graefe.    Berlin  1-01 

mehrere  Auflagen). 

9* 


124 

bische  Pferd  und  General  J.  L.  Carbuceia*),  welcher  über  das  Drome- 
dar ausführlich  geschrieben.  Diese  tüchtigen  Arbeiten  behalten  einen  unver- 
gänglichen Werth.  Endlich  hat  Isod.  Geoffroy  in  seinem  höchst  anregenden, 
in  Deutschland  noch  wenig  bekannten  Werke  über  Acclimatisation  und  Do- 
mestication  nützlicher  Thiere  noch  sehr  interessante  Daten  über  das  Drome- 
dar veröffentlicht**). 

Zufolge  einer  dem  Buche  Carbuceia"  s  angehängten  Notiz  von  Jomard 
wurde  auf  Befehl  Napoleons,  während  der  ägyptischen  Expedition  durch  den 
Obersten  J.  Cavalier  i.  J.  1798  ein  Regiment  Dromedarreiterei  orga- 
nisirt.  Man  liess  anfänglich  zwei  Leute  aufsitzen,  später  jedoch  nur  einen 
Mann***).  Gewöhnlich  reichte  eine  einzige  Woche  für  die  nöthige  Dressur 
des  Thieres  zum  Kriegsdienste  aus.  Diese  Reiterei  soll  sich  ganz  vorzüglich 
bewährt  haben.  Mit  dergleichen  militärischen  Elementen  unternahm  Desaix 
1799  seine  historische  Hetzjagd  auf  den  tapferen  Memluken  Murad-Bey  nach 
Oberägypten  (Sept.  1799).  Dromedarreiter  folgten  der  Armee  nach  Syrien 
und  erwarben  in  der  Schlacht  vor  Alexandrien  am  30  Ventöse  bei  Erstür- 
mung einer  Redoute  den  höchsten  Kriegsruhm.  Ihr  braver  Organisator  Ca- 
valier schützte  mit  Hülfe  dieser  Truppe  die  Sammlungen  der  französischen 
Forscher,  deren  einer  Theil  durch  die  Brutalität  eines  dummen,  rüden  Ge- 
schöpfes von  Platzkommandanten  bereits  der  Vernichtung  preisgegeben 
worden. 

Später  haben  die  Truppen  des  Dey  von  Algier  die  Dromedare  zum  Trans- 
port von  Maroden,  Verwundeten  und  von  kleinen  Feldstücken  benutzt.  Auch 
hat  Abd-el-Gader  auf  dem  Rücken  dieser  Thiere  öfters  sein  Fussvolk  bei 
Gelegenheit  von  Geschwind märschen  fortgeschafft.  Ebenso  verfuhr  General 
Marey-Monge  im  Jahre  1843  in  der  Provinz  Tittery.  Dieser  Gebrauch  wird, 
wie  man  hört,  auch  bis  auf  den  heutigen  Tag  beibehalten.  Dagegen  hat  der 
dem  General  Carbuceia  i.  J.  1843  durch  Marey-Monge  aufgetragene  Versuch, 
den  militärischen  Dienst  mit  Dromedaren  bei  der  französischen  Armee  in  Al- 
gerien zu  regeln,  besonders  aber  eine  eigentliche  Dromedarreiterei  zu  organi- 
siren,  weiter  keinen  Fortgang  gefunden  f).  Den  Nutzen  eines  solchen  Corps 
legt  Carbuceia  in  überzeugender  Weise  dar. 

Ich  entnehme  nun  dem  citirten  Werke  noch  folgende  Einzelnheiten:  Das 


*)  Uu  Dromadaire  corame  bete  de  sommc  et  eomme  animal  de  guerre.  Le  regiment  des 
dromadaires  a  l'armee  d'Orient  (1798—1801).     Paris  1853.     (J.  Dumaine.) 

*")  Acciiinatation  et  Domestication  des  animaux  utiles.    IV  Edit.     Paris  1861. 

*"j  Die  Abbildung  eines  solchen  Dromedarreiters  der  Xapoleonschen  Armee  erinnere  ich 
mich  in  Bippolyte  Beilanges  l»ekanntem  Werke  über  die  „grosse  Armee"  gesehen  zu  haben. 

t)  Vergl.  vor.  .Jahrg.  S.  '241.  Im  2ten  Jahrgange  der  Leipziger  illustrirten  Zeitung  sind 
Zaum-,  Sattel-  und  Evolutionen  einer  Abtheilung  auf  Dromedaren  vor  dem  Herzog  von  Aumale 
operirender  französischer  Soldaten  abgebildet,  jedenfalls  Clicbes  aus  der  pariser  „Illustration". 
üebrigens  bildel  auch  V.  Adam  auf  «-inem  seiner  lehrreichen  Blätter  ein  Dromedar  reitende 
französische  .Soldaten  ab  u.  s.  w. 


125 

Alter  des  Thieres  lässt  sich  bis  zu  fünfzehn  Jahren  erkennen.  Mit  zwanzig 
Jahren  sind  die  Zähne  meist  schon  sehr  stark  abgekaut. 

Der  vier-  bis  fünfjährige  Hengst  tritt  im  Früblinge,  der  sechs-  und  mehr- 
jährige aber  im  Januar  in  Brunst.  Es  stimmt  diese  Angabe  nur  theilweise 
mit  meinen  eigenen  Erfahrungen ;  soviel  steht  aber  fest,  dass  die  Eintrittszeit 
dieser  Periode  in  den  verschiedenen  Gürteln  Afrikas  nicht  unwesentlich 
schwankt*).  Nach  C.  dauert  die  Brunst  zwei  Monate.  Das  2  trägt  gerade 
zwölf  Monate,  vom  vierten  Jahre  ab.  Es  bleibt  ein  Jahr  lang  frei,  selten 
trägt  es  zwei  Jahre  hintereinander.  Verwerfungen  kommen  nicht  selten  vor. 
Viele   2   bleiben  in  Folge  allzustarken  Beladenwerdens  steril. 

Fast  alle  Dromedare  werden  castrirt,  weil  sie  in  diesem  Zustande  kräf- 
tiger bleiben  sollen,  als  im  nicht  castrirten.  Ein  über  20  Jahre  altes  Thier 
dient  nicht  weiter  zur  Arbeit,  wird  vielmehr  gemästet  und  auf  den  Schlacht- 
platz gebracht. 

Verf.  will  dem  General  Marey-Monge  Dromedare  vorgeführt  haben,  welche 
seit  drei  Tagen  weder  gefressen,  noch  seit  drei  Monaten  gesoffen  hatten  und 
und  die  dennoch  an  den  Folgen  dieser  Abstinenz  nicht  zu  leiden  schienen. 
Zu  Sommeranfang  säuft  das  Thier,  alsdann  bleibt  es  fünfzehn  Tage  ohne 
Wasser,  säuft  abermals,  bleibt  vierzehn,  dann  dreizehn,  zwölf  u.  s.  w.,  end- 
lich sieben  Tage  ohne  Wasser,  die  Zeitdauer  dieses  seines  Fastens  jedesmal 
kürzend;  endlich  säuft  es  nur  alle  sieben  Tage,  wie  gross  auch  Müdigkeit 
und  Hitze  sein  mögen**).  Es  nimmt  jedesmal  30  bis  40  Liter  zu  sich.  Auch 
Carbuccia  erwähnt  des  bekannten  Wasserreservoirs,  dessen  Füllung  nach  der 
Araber  und  seiner  eigenen  Meinung  wohl  einer  thierischen  Absonderung  ihre 
Entstehung  verdankt.  Ein  am  10.  Dez.  in  der  Mitidja  an  einem  Zu- 
falle verrecktes  Dromedar  ward  in  Gegenwart  mehrerer  Offiziere  des  Bordj- 
el-Arasch  aufgebrochen  und  enthielt  mehr  als  fünfzehn  Liter  grünlichen,  aber 
nicht  schlecht  schmeckenden  Wassers.  Dies  Wasser  wurde  auf  Hinweisung 
anwesender  Araber  aufgehoben  und  blieb  noch  drei  Tage  später  trinkbar. 

Ein  algerisches  Dromedar  kann,  ohne  anzuhalten,  an  einem  Tage  nur 
zwölf  bis  fünfzehn  Lieues  zurücklegen. 

Im  Frühjahre,  wo  es  an  Weide  gebricht,  darf  man  nur  die  gutgenährten 
arbeiten  lassen.  Im  Sommer  muss  man  sie  einen  Monat  wegen  der  Debab- 
Fliegen***)  und  einen  Monat  hindurch  kurz  nach  der  Schur  schonen,  letzteres, 


•)  Vergl.  Jahrgang  1869,  S.  249. 

**)  Diese  Angaben  widerstreiten  anderen  und  meinen  eigenen  Erfahrungen  und  muss  die 
Verantwortlichkeit  für  jene  dem  General  überlassen  bleiben,  der  —  leider  nicht  mehr  im  Stande 
ist,  auf  Einwürfe  zu  antworten.     D.  Uebers. 

***)  Taabln  in  Ost-Sudän,  grosse  Bremsen  {Tabanus  spec.)  mit  grellgezeichnetem  Hinter- 
leihe, welche  den  Thieren  im  Steppengrase  förmlich  auflauern  und  sie,  namentlich  im  Mai  und 
Juni,  ganz  fürchterlich  peinigen.  Man  räuchert  die  Kameele  (auch  Pferde  und  Esel)  an  den 
Halteplätzen  zum  Schutze  gegen  die  Blutsauger  mit  grünem  Holze  und  mit  Krautzeug  ein. 

D.  Uebers. 


126 

nm  den  Maden  den  Zugang  zu  der  alsdann  kahlen,  leicht  schrundig  werden- 
den Haut  zu  wehren. 

Ein  starkes  Dromedar  trägt  auf  ebenem  Boden  350  Kilogramme,  auf 
schwierigem  Terrain  aber  niemals  mehr  als  260  Kilog.  Im  Gebirge  kann 
man  zur  Noth  selbst  200  Kilog.  auflegen  (wie  z.  B.  während  der  Expedi- 
tionen gegen  die  Kuresch  und  Halluja),  dann  aber  auch  auf  alle  Gefahr  hin. 

Die  Brauchbarkeit  des  Thieres  zum  Krieg  gründet  sich  nach  Carbaccia's 
Ansicht  hauptsächlich  darauf,  dass  es  den  Schnelltransport  von  Infanterie  zur 
Unterstützung  der  Kavallerie  vermittelt,  dass  es  bei  Expeditionen  auf  drei 
bis  vier  Tagemärsche  Entfernung  die  Kavallerie  gänzlich  ersetzen  kann,  in- 
dem es  alsdann  sein  Ziel  früher  als  diese  erreichen  würde,  dass  die  höchste 
Schnelligkeit  des  von  einem  Reiter  verfolgten  Thieres  2%  Lieues  pro  Stunde, 
im  grossen  Schritt  und  Trott  aber  noch  fünf  weitere  Lieues,  beträgt.  Es 
Hessen  sich  mit  Leichtigkeit  gute  Züchtereien  anlegen,  sowie  aus  Tuggurt 
die  besten  Mehara  beziehen. 

Es  folgen  in  Carbuccia's  Werk  nun  noch  viele  veterinärische,  militärisch- 
statistische, handels-politische  u.  dgl.  Nachweise,  Vorschläge  u.  s.  w.,  deren 
Darlegung  uns  hier  zu  weit  führen  dürfte. 

J.  Geoffr.  St.  Hilaire  bespricht  in  seinem  oben  erwähnten  Buche  die 
Acclimatisation  der  Kameele.  Wir  wissen  aus  der  Geschichte,  dass  die  Ein- 
führungsversuche der  Mauren  nach  Spanien  keine  glücklichen  Erfolge  gehabt, 
obwohl  man  Kameele  fünfzig  Jahre  lang  zu  Aranjuez  gehalten.  Neuere  Ver- 
suche, diese  Thiere  in  Huelva  (Andalusien)  einzugewöhnen,  sollen  zufolge 
eines  von  dem  bekannten  Naturforscher  Graells  an  den  Verf.  gerichteten 
Schreibens  glücklicher  ausgefallen  sein  (p.  304). 

In  Toscana  tragen  die  zu  S.  Rossore  gehaltenen  Ö  Dromedare  etwa  480 
Kilogramme  Kiefernholz  und  marschiren  damit  fünf  Kilometer  in  der  Stunde. 
Nach  Angabe  des  Prof.  Jg.  Cocchi  belief  sich  die  toscaner  Heerde  i.  J.  1840 
auf  170,  i.  J.  1845  auf  131,  i.  J.  1850  auf  118,  i.  J.  1855  auf  118,  i.  J.  1858 
122  Haupt.  Unter  der  hier  zuletzt  aufgeführten  Zahl  befanden  sich  ein  Zucht- 
hengst, 41  zum  Lasttragen  bestimmte  6,  50  9  und  30  Junge. 

Während  des  Kampfes  in  Morea  wurden  den  Türken  Dromedare  abge- 
nommen und  weitergezüchtet,  Thiere,  welche  daselbst  jetzt,  namentlich  nach 
Carbuccia's  vom  Verf.  commentirter*)  Angabe,  als  acclimatisirt  gelten  dürfen. 
Acclimatisationsversuche  mit  dem  Dromedare  sind  neuerdings  ferner 
noch  in  Bolivia,  auf  Cuba,  in  verschiedenen  Gebieten  Nordamerica's  und  in 
Brasilien  gemacht  worden. 


*)  Carbuccia  sagt  an  der  von  J.  Geoffr.  St.  Hilaire  angezogenen  Stelle  1.  c.  p.  2.  übrigens 
nur  Folgendes:  „Le  charneau  ä  une  bosse,  appele  par  Aristote  chameau  d'Arabie,  porte,  dans 
Linne,  lo  nom  de  Camelus  Dromedarius,  clenomination  impropre,  comme  je  le  fais  observer  plus 
bas.  Cet  aniinal  cVst  repandu  d'Arabie  dans  tout  le  nord  de  l'Afrique,  dans  le  Senegal,  dans 
la  Syrie,  dans  la  Perse,  dans  la  partie  occidentale  de  l'Asie,  dans  la  Grece"  etc. 


127 

Gemäss  einem  ausführlichen,  vom  Kriegssekrätariat  der  Vereinigten  Staa- 
ten veröffentlichten  Bericht*)  wären  Einführungsversuche  mit  diesen  Thieren 
nach  Texas  und  Californien  von  ganz  gutem  Erfolge  begleitet  gewesen. 

Ohne  hier  näher  auf  die  in  Brasilien  gemachten  Einbürgerungs-Experi- 
mente  eingehen  zu  können**),  will  ich  nur  bemerken,  dass  sich  daselbst  die 
hochgelegenen  trockneren  Campos  und  Sertöes  der  mittleren  Provinzen,  z.  B. 
von  Minas,  Ceaiä,  Piauhy,  Rio  Grande  do  Norte  und  Pemambucn,  am  Besten 
für  die  Eingewöhnung  des  Dromedares  eigenen  dürften.  Die  spairigen  Grä- 
ser, die  knorrigen  Carrasco-Gebüsche,  die  Cacteen  und  Vellosien  der  Campos 
in  Minas  z.  B.  dürften  einigermassen  an  die  ähnlich  wachsenden  Gräser,  an 
die  Grewia-,  Boscia-,  Capparis-  und  Akaziendickichte,  die  Euphorbienbäume 
u.  s.  w.  der  innerafrikanischen  Steppen  (Qwolla,  Bejudah,  Borgu,  Ahir, 
senegambisches  Söhhil)  erinnern.  Jedenfalls  finden  sich  zwischen  diesen 
Landschaften  Brasiliens  und  Afrikas  grössere  natürliche  Analogien,  als  zwi- 
schen den  letzteren  und  manchen  anderen  häufiger  genannten.  Für  viele  Di- 
stricte  von  Chile,  Peru,  Bolivia,  Ecuador  und  Neu-Granäda  würden  übrigens 
die  gegen  Höhendifferenzen  weniger  empfindlichen  Llania's  und  Maulthiere 
weit  passendere  Züchtungsobjecte  als  das  Dromedar  bilden,  welches  letztere 
sich  für  die  strenge  Puna,  die  milderen  Districte  der  Ceja  de  la  Montana 
und  die  heissen  Wände,  wie  Sohlen  der  Barrancas,  Canadas,  Valles.  schwer- 
lich so  gleich  gut  eigenen  dürfte.  Das  Dromedar  wird  in  diesen  amerikani- 
schen Ländern  immer  nur  auf  ausgedehnteren,  eines  gleichmässig-warmen 
Clima's  theilhaftigen  Hochflächen  gedeihen  können,  nicht  aber  an  den  so  un- 
geheuere Temperaturgegensätze  darbietenden  Gebirgsabhängen  der  grossen  in 
den  eigentlichen  Bereich  der  Coidilleras  de  los  Andes  fallenden  Gebiete. 

Möchten  doch  die  Regierungen  derjenigen  Staaten  Südamerikas,  welche 
sich  für  die  Acclimatisation  unseres  Thieres  interessiren.  in  der  Wahl  der  7.11 
solchen  Versuchen  dienenden  Districte  mit  rechter  Vorsicht  zu  Werke  gehen. 
Denn  wozu  ein  Verschleudern  von  Capital  und  Arbeit  um  nichtiger  Spiele- 
reien mit  missverstandenen,  von  vornherein  keine  Resultate  versprechenden 
Experimenten  willen? 

In  beregter  Hinsicht  erwecken  neuerliche  Bemühungen  der  Bolivianer  um 
Einbürgerung  des  Dromedares  im  Lande  unser  Interesse.  Jene  zielten  schon 
vor  etlichen  Jahren  dahin,  Kameele  für  den  Waarentransport  von  Cobija 
(Puerto  La  Mar)  aus  durch  die  „Wüste"  (Atacama)  nach  Calaina  und  von 
da  weiter  nach  Norden  zu  verwenden,  und  wurden  dann  auch  zu  diesem 
Zwecke  eine  Anzahl  Dromedare  von  den  Canarischen  Inseln  eingeführt.  In- 
dessen hielten  diese  Thiere  weniger  wie  die  Maulthiere  aus,  es  litten  beson- 
ders ihre  Sohlen  von  dem  scharfen  Sande  und  den  spitzen  Steinen.    Ein  mit 


*)  Report  of  the   Secretaj-y  of  War,   communieatinü  Information  respectin<r  the  Purrhase  of 
Cameis.     Washington  1857. 

*')  Vercl.  Bullet  <le  la  Sodete  d'accliinatat  et.',  diverse  Aufsätze. 


128 

einer  Buchdruckerpresse  im  Gewichte  von  18  Arrobas  (4£  Centner,  ausge- 
zeichnete Maulthiere  tragen  bis  16  Arrobas)  beladenes  Dromedar  ging  unter- 
wegs zu  Grunde.  Die  Thiere  werden  daher  nur  noch  selten  gebraucht.  Uebri- 
gens  nahm  ihre  Zucht  guten  Fortgang,  denn  auf  der  Hacienda  Mochara  des 
Don  Calisto  Yarles,  Conde  de  Aploca,  wo  sie  getrieben  wird,  standen  im 
Jahre  1858  schon  gegen  100  Stück  Dromedare*).  Vielleicht  hätten  die  Bo- 
livianer besser  gethan,  bereits  von  Hause  aus  nur  ganz  starke  Dromedare 
aus  Anatolien  oder  Syrien,  anstatt  von  den  canarischen  Inseln  zu  beziehen. 
Es  wird  Niemand  behaupten  können,  dass  die  klimatischen  Verhältnisse  der 
Canarien  denjenigen  der  Atacama  viel  näher  ständen,  wie  etwa  die  Verhältnisse 
vieler  Districte  Westasiens.  Unser  Thier  ist  aber  auf  den  Canarien  fremder 
als  in  Asien  und  hier  noch  weit  stärker,  rustiker,  als  dort. 


Miscellen. 


In  einem  (Januar  13,  1869)  vor  der  Royal  Geological  Society  of  Ireland  gelesenen  Briefe 
Du  Noyer's  (On  the  Flint  Flakes  of  Antrim  and  Down)  wird  auf  das  Naheliegende  der  Täuschun- 
gen durch  Naturspiele  aufmerksam  gemacht,  sowie  auf  die  Criterien  "*)  der  Unterscheidung. 


*)  J.  J.  v.  Tschudi:  Reisen  in  Südamerica.     V.     Leipzig  1869,  S.  92. 

•*)  Subsequent  examination  clearly  showed  me  that  every  flake,  no  matter  how  rüde  its  form 
or  how  sharp  its  edge  exhibited  at  one  end  a  flat  surface,  transverse  to  the  longest  axis  of  the 
flake,  and  from  this  surface  a  blow  was  given  at  a  point  on  it,  which  caused  a  flake  to  come 
off  from  the  original  nodule,  and  this  flake  below  the  point  of  concussion,  exhibited  a  conchoidal 
fracture,  and  a  rbulb  of  concussion",  features  which  could  only  be  formed  by,  and  were,  the 
result  of  an  intelligent  blow.  „In  all  flakes  which  have  been  detached  by  a  Single  blow  from 
a  mass  of  flint,  there  is,  on  what  may  be  called  their  flat  side,  a  more  or  less  bulbous  or  co- 
nical  projectiou  inmediately  below  the  spot  where  the  blow  was  administered  to  strike  it  off 
from  the  mass.  It  is  probable  that  this  blow  may  in  some  rare  cases  have  been  the  result  of 
an  accidental  collision,  but  when  we  find,  upon  the  others  faces  of  the  flake  portions  of  cup- 
shaped  depressions  corresponding  in  form  to  the  projections  mentioned,  it  becomes  evident  that 
these  faces  have  been  produced  by  previous  flakes  having  been  Struck  off,  and  that  the  flake  is 
not  merely  the  result  of  a  Single  blow,  but  has  received  its  form  from  at  least  three  distinet  blows, 
each»  administered  in  its  proper  place.  The  chances  against  this  occuring  accidentally  are  very 
great,  but  when  in  any  spot  we  find  several  of  these  flakes,  each  bearing  these  marks  of  being 
the  result  of  several  successive  blows,  all  conducing  to  form  a  symmetrical  knife-life  flake,  it 
becoms  a  certainty  that  they  have  been  the  work  of  intelligent  beings"  (Evans )  The  beds  and 
the  Strips  of  the  riverine  valley  Btrewed  with  alluvium  galettes,  water  rolled  stones  and  pebbles 
(on  the  Rio  da  Prata).  The  harder  talcose  clays  were  cut  into  peculiar  shapes,  some  resembled 
the  balls  and  eggs  used  by  the  Indian  slingsmen,  others  were  not  to  be  distingiushed  (except 
by  the  practised  eye)  from  our  rüde  drift-hatehets.  They  probably  suggested  the  weapon  to  the 
aborigines  and  were  formed  by  nature  artistically  as  the  celts  used  by  the  seaboard  tribes  to 
open  their  oysters  and  shell  fish  (Burton)  in  Bra/.il. 


129 

Favre  bespricht  in  der  Revue  Scientifique  (Bibl.  univ.  et  Rev.  suisse)  dit  vermeintliche 
Existenz  des  Menschen  in  der  tertiären  Epoche,  und  hebt,  wie  es  auch  vielfach  in  England  ge 
schehen,  die  leicht  entstehenden  Missverständnisse  hervor,  wenn  man  jede  etwas  auffällige  Form  an 
rohen  Steinstücken  sogleich  der  Mitwirkung  menschlicher  Hand  zuschreiben  will.  Trotz  des  in 
solchen  Untersuchungen  angewandten  Scharfsinns  und  vielmehr  gerade  wegen  desselben  ist  es 
bedenklich  auf  diesem  Felde  weiter  vorzugehen,  so  lange  wir  uns  nicht  durch  eine  in  umfassen- 
der Weise  und  an  allen  gebotenen  Gelegenheiten  und  Oertlichkeiten  angestellte  Betrachtung 
der  in  der  Natur  vorkommenden  Formgestaltungen  sichere  Anschauungen  darüber  gebildet  ha- 
ben, die  als  Anhalt  zur  Abschätzung  dienen  können,  wenn  es  sich  um  die  Frage  menschlicher 
Kunst  handelt.  Wir  laufen  sonst  Gefahr,  ein  in  künstlichem  Gleichgewicht  balancirtes,  und  des- 
halb jeden  Augenblick  Einsturz  drohendes,  Hypothesengebäude  aufzurichten,  indem  das  subjective 
Urthcil  über  einige  Fundstücke  wieder  als  neues  Argument  dient,  andere  zu  stützen,  während 
jene  sowohl  wie  diese  noch  gar  nicht  objectiv,  in  der  Beleuchtung  allseitiger  Umschau,  ins  Auge 
gefasst  worden  sind.  Indem  die  dadurch  immer  enger  eingeleitete  Verknüpfung  der  Anthropo- 
logie mit  der  Geologie,  jetzt  auch  die  Zeitfolge  der  neptunischan  Schichtenablagerungen') 
in  jene  überführen  muss,  so  erhalten  wir  dadurch  für  den  nur  in  seinen  Wandlungen  mani- 
festirten  Process  des  Werdens  einen  abrupten  Anfang,  der  dann  in  consequentem  Denken  auf  die 
kaum  beseitigten  Schöpfungssysteme  zurückführen  müsste.  Die  Geschichte  ist  ein  Geschehen,  das 
das  Entstehen  nur  in  seinen  Relationen  anerkennt,  und  in  keiner  Urgeschichte  den  gesuchten 
Ruhepunkt  finden  wird.  Auch  das  Schlummerkissen  der  Periodentheilung  darf  sie  sich  nicht 
gönnen,  so  lange  es  noch  so  viele  Arbeitsaufgaben  zu  vollenden  giebt.  Dass  der  Mensch,  der 
seiner  Constitution  nach  (um  überhaupt  seine  Existenz  zu  sichern)  die  Natur  durch  Kunst  zu  be- 
siegen hat,  für  dieselbe  überall  das  nächstliegende  Material  verwerthen  wird,  und  also  Steine, 
Hölzer,  Muschel,  Knochen  für  seine  Werkzeuge  verwenden  muss,  wenn  seiner  Heimath  Metalle 
und  das  Verständniss  ihrer  Bearbeitung  fehlt,  ist  klar  genug  und  wird  überall  auf  dem  Erden- 
rund durch  die  Analogien  ethnologischer  Thatsachen  bewiesen,  die  zugleich  darthun,  dass  die 
Metallarbeit  einen  verhältnissmässig  höheren  Bildungsgrad  voraussetze,  ob  einen  selbsterworbenen 
oder  aus  der  Fremde  her  angeeigneten.  Indem  man  diese  in  ihren  Relationen  richtige  Regel  zu 
einer  absoluten  stempelt,  involvirt  man  sich  sogleich  in  einen  die  Richtigkeit  aller  weiteren  Fol- 


**)  In  den  Gesteinbildungen  hätte  man  einen  Wechsel  von  Zerstörungen  und  Erneuerungen  vor 
sich  (nach  Hutton),  so  dass  die  Erde  keine  Zeichen  weder  von  Jugend  noch  von  Alter  zeigt. 
Bei  dem  beständig  in  der  Tiefe  wirkenden  Wasser  (n.  Daubre)  kann  am  Wenigsten  bei  den  ober- 
flächlichen Schichten,  die  steter  Einwirkung  des  äusseren  Luftmeeres,  sowie  Pressung  von  Unten 
ausgesetzt  sind,  eine  derartig  stabile  Unbeweglichkeit  angenommen  werden,  um  nach  wenigen 
Metren  eine  Jahrtausende  umfassende  Altersablagerung  zu  berechnen  Schon  Abholzimg  einer 
Gegend  würde  verschiedene  Wärmevertheilung  im  Boden  und  dadurch  Verschiebungen  hervorru- 
fen. Ebenso  die  Wucht  schwerer  Gebäude,  die  man  in  Asien  oft  provisorisch  zu  solchem  Zwecke 
aufführte.  Noch  misslicher  ist  Zeitbestimmung,  wenn  es  sich  (wie  in  Santorin)  um  vulkanische 
Katastrophen  handelt.  „Die  oberen  4  Fuss  des  Schuttkegels  (am  Einfluss  der  Tiniere  in  den  Gen- 
fersee)  können  in  eben  so  viel  Minuten,  als  Morlot  für  sie  Jahrhunderte  annimmt,  angeschüttet 
worden  sein.  Das  Vorkommen  römischer  Münzen  beweist  nichts  für  das  Alter  der  Schuttmasse 
selbst,  denn  letztere,  ein  Resultat  der  Anschwemmungen  durch  Fluthen,  kann  dieselbe  in  viel 
späterer  Zeit  mit  sich  fortgeschleppt  und  abgelagert  haben"  (M.  Wagner).  Nach  Wagner  sind 
alle  die  Feuersteingebilde  der  Picardie,  auch  die  diejenigen,  welche  nach  dem  einstimmigen  L  r- 
theile  französischer  und  englischer  Geologen  und  Archäologen  für  künstliche,  von  Menschen  ge- 
fertigte Werkzeuge  gehalten  werden,  nichts  weniger  als  Kunstprodukte,  sondern  ohne  alle  Aus- 
nahme einfache  Naturprodukte  oder  Naturspiele,  an  deren  Formen  Menschenhand  sich  nicht  be- 
theiligt hat  '18G3).  Die  von  La  riet  an  mehreren  Knochen  und  Geweihen  aus  den  Sandgruben 
der  Picardie  bemerkten  Einschnitte  (von  Menschenhand)  sind  (nach  Wagner)  später  enstandene 
Risse  und  Sprünge,  die  theils  durch  früheres  gewaltsames  Herumwerfen  der  Knochen,  theils 
beim  schnellen  Versetzen  derselbeu  aus  ihren  unterirdischen  Lagerstätten  in  die  Sonnenhitze 
entstanden  sein  dürfte.  Da  die  lebenden  Conchilien  und  die  Maiutnuthen  zwei  Zeitaltern  an- 
gehören, so  zeigt  die  Vermengung  beiderlei  Ueberreste  (in  der  Picardie)  miteinander  an,  dass  die 
antediluvianischen  Säugethierreste  der  Picardie  nicht  mehr  in  ihrer  primitiven  Lagerstätte  einge- 
bettet sind,  sondern  durch  eine  spätere  Katastrophe  eine  sekundäre  Ablageruni;  erlitten  haben 
(M.  Wagner).  Was  die  Feuersteinhacken  in  den  Thälern  der  Somme,  der  Seine  und  anderen 
anbelangt,  so  scheint  es  Elie  de  Beaumont  nicht  erweisen,  dass  irgend  eine  dieser  Hacken  oder 
irgend  ein  anderes  Produkt  menschliche  Industrie  aus  dem  nicht  umgestürzten  Diluvialgebiet 
(terrain  diluvien  uon  remanie)  ausgegraben  worden  sei.    Die  Knochen  mit  Zeichnungen  mehren  sich. 


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gerungen  annullirenden  Fehlschluss.  Dadurch  dass  das  Geschehen  als  ein  nur  einmal  verlaufener 
Geschichtsgang  constituirt  wird,  nehmen  wir  Betrachtungen  aus  der  anorganischen  Natur,  die 
mit  ihren  Fäden  über  das  Planetensystem  hinausreieht,  in  die  lebendigen  Processe  des  Wer- 
aCa's  hinüber,  die  sich  vor  unseren  Augen  in  ihren  gesetzlichen  Phasen  abspielen  und  in  die- 
sen zu  studiren  sind.  Wir  brauchen  nur  auf  unsere  nächste  Umgebung  zu  blicken,  um  die  Not- 
wendigkeit einzusehen,  die  vermeintliche  Stabilität  des  Entwicklungsganges  in  kreisende  Bewe- 
gungen aufzulösen.  Wollten  wir  die  Volksstämme  des  Globus  nach  ihrem  gegenseitigen  Bildungs- 
grade abtaxiren,  so  würden  die  heutigen  Bewohner  des  elassischen  Hellas  gleich  den  Inhabern 
der  Culturstätten  Niniveh's  und  Babylon's  eine  überraschend  tiefe  Stellung  einnehmen,  und  Irland 
einst  der  Sitz  der  Wissenschaft  im  europäischen  Norden,  (die  insula  sanetorum  et  doctoruin, 
die  den  Angelsachsen  ihre  Schrift  gegeben)  ist  das  Land,  wo  sich  bis  in  neuere  Zeit  der 
Gebrauch  der  Steinwerkzeuge  bewahrt,  in  Steinhämmern  und  Stein-Amboss  der  Schmiede  (in 
some  remote  distriets).  Dass  die  Metalle  mit  ihrem  Bekanntwerden,  rasch  überall  den  Gebrauch 
roher  Steingeräthe  verdrängen  müssen,  wie  jetzt  in  Brasilien  und  Patagonien,  wo  man  noch 
allerorts  die  fortgeworfenen  Steinwerkzeuge  findet,  ist  selbstverständlich.  Wie  langsam  oder  wie 
rasch  dies  aber  geschieht,  wird  (wenn  keine  Selbst-Erfindung  oder  Belehrung  durch  Zuwandern 
eintritt)  von  den  Handelsverbindungen  abhängen,  und  ebenso  begierig  nach  Eisen  wie  die  Po- 
lynesier,  die  die  Nägel  gerne  zum  weiteren  Anbau  gepflanzt  hätten,  zeigten  sich  die  von  den 
Xowgoroder  Kaufleuten  besuchten  Bergbewohner  Sibirien's. 

So  wenig  wir  deshalb  indess  in  der  Dreitheilung  der  Stein-,  Bronze-  uud  Eisenzeit  die 
nacheinander  von  einem  aus  tertiären  und  quaternären  Schichtungen  erstandeneu  Urmenschen  auf- 
wärtsgestiegenen Stufen  anerkennen  können,  so  würde  doch  für  jeden  einzelnen  Fall  der  Schluss  seine, 
in  sich  selbst  gerechtfertigte  Richtigkeit  besitzen,  dass  die  einfachen  Verhältnisse  culturloser 
Umgebung  zu  Steinwerkzeugen  und  ähnlich  rohen  Aushülfen  führen  müssen,  und  erst  die  Cultur 
mit.  den  Vortheilen  der  Metallverwendung  beschenkte.  Wrenn  wir  dann  weiter  die  besonders  im 
Gebrauch  hervortretenden  Metalle,  Kupfer  (in  seiner  Zumischung)  und  Eisen  (als  gestähltes)  mit 
eiander  vergleichen,  so  werden  wir  finden,  dass  das  Vorwiegen  des  einen  oder  anderen  von  loca- 
ien  Verhältnissen  und.  den  Benutzungszwecken  abhängig  bleibt.  Aus  dem  Meteor-Eisen,  aus  dem 
Rasen-Eisenstein  und  ähnlichen  Verbindungen  lässt  sich  das  Eisen  ebenso  leicht"),  oft  leichter, 
als  Kupfer  gewinnen,  seine  brauchbare  Verwendung  zu  Stahl**)  (nicht  nur  zu  Caementstahl, 
sondern  auch  schon  zu  Rohstahl)  fordert  aber  (ausser  dem  gleichzeitigen  Vorhandensein  der 
Kohle)  höhere  technische  Fertigkeiten,  als  die  feinere  Verarbeitung  des  giessbaren  Kupfers,  das 
selbst  für  sich  allein  zu  vielfältigen  Zwecken  dienen  kann,  wenn  Zink  oder  Zinn  fehlt,  durch 
entsprechende  Zusätze  aber  grössere  Elasticität""*),  oder  die  Zähigkeit  des  Kanonenmetalls  gewin- 
nen kann.  Für  schneidende  Instrumente  steht  unzweifelhaft  Eisen,  wenn  der  Stähl ungsproeess 
richtig  verstanden  wird,  weit  höher,  als  irgend  eine  Art  der  Bronze,  und  es  ist  deshalb  eine 
natürliche  Folge,  dass  so  oft  diese  beiden  Metalle  miteinander  in  Concurrenz  treten,  das  Eisen 
die  Bronze   für  Benutzung   zu   Waffen   (wenigstens   der  Angriffswaffen)  verdrängen  wird,    obwohl 


*)  In  villa  Willine  sunt  hubae  tres,  quae  solvunt  ferri  frusta  'im  Zinsbuch  des  Klosters  Lorsch). 

**)  Die  Trefflichkeit  des  (mit  Pflanzentheilen  gemischtem)  Wooz  (1775  untersucht)  wurde  von 
Stodard  als  dem  Aluminium  zugehörig  erkannt.  Das  celtiberische  Verfahren  der  Eisenbereitung 
durch  Vergrabung  wird  in  ganz  gleicher  Weise  (bei  Beckmann)  in  Japan  beschrieben.  Die 
hieroglyphische  Form  für  Eisen  (Berips)  lautet  (nach  Brugsch)  ba-n-pe  oder  Stein  des  Himmelß 
(Petersen). 

***)  Man  verfertigt  für  die  dreispithamige  Katapulte  erzene  Schienen  (ktndhs  /«Xxni),  aus 
Erz  getrieben  (aus  möglichst  gutem  Kupfer  mit  3  Drachmen  Zinn  auf  die  Mine  beigemischt). 
Es  erhalten  die  Schienen  ihre  Kraft  durch  die  Legirung  des  Metalles,  denn  dieses,  so  rein  und 
lauter  als  möglich  gegossen  ohne  irgend  fremde  Beimischung,  ist  stark,  dehnbar  und  elastisch. 
Die  den  Hörnen  und  manchen  Holzarten,  die  für  Bogen  verwendet  werden,  zukommende  Elasti- 
cität, wird  zwar  beim  Erz  und  Eisen  bezweifelt,  setzt  Philon  hinzu,  aber  man  könne  die  Fabri- 
kation der  erwähnten  Schienen  an  den  sogenannten  keltischen  und  spanischen  Schwertern  sehen 
(inir  KtkiixMV  /tu  ' ioni'aoir  xnlnvfjtvtov  iioytuuv. :),  die  über  den  Kopf  bis  zu  den  Schultern 
gebogen,  heim  Loslassen  in  ihre  frühere  Gestalt  zurückkehren  Diese  Elasticität  habe  ihren  Grund 
in  der  Reinheit  des  im  Feuer  verarbeiteten  Eisens,  das  weder  zu  spröde  noch  zu  weich  sei,  und 
weil  die  Schwerter  kalt  kräftig  geschlagen  sind,  nicht  mit  grossen  Hämmern,  noch  mit  starken 
Schlägen  (s  Köchly},  zur  Zeit  der  Ptolem.  (Alexander  aus  Rhodos).  Nach  Philon  wird  als  Erfin- 
der des  Erzspauners  der  Alexandriner  Ktesibios  angeführt  (s.  Köchly). 


131 

für  Schmuck  und  andere  Luxusgegenstände  die  Bronze*)  noch  immer  vorgezogen  werden  möge. 
Das  Massgebende  für  eine  Scheidung  zwischen  Bronze-  und  Eisenzeil  isl  deshalb  auch  immer  nur. 
ob  die  Waffen,  und  /.war  die  Schärfung  bedürfenden  Trutzwaffen  (besonders  Schwerter  und  gros- 
sere Lanzenspitzen),  aus  diesem  oder  jenem  Metall  sind,  und  so  oft  wir  durch  eine  Regelmässig- 
keit der  Funde  hierin  zu  einem  sicheren  Resultate  gelangen  können,  sind  dann  die  politisch 
geographischen  Aspecten  zu  betrachten,  am  das  Warum  zu  erklären  Während  die  amei 
sehen  Culturstaaten  auf  Bronze  angewiesen  blieben,  in  Indien  früh  das  Eisen  vorgewaltet  zu  ha- 
benscheint, China")  seine  Bronzezeit  unter  der  Tschou-Dynastie  (neben  des  Eisengebrauches  der 
Miaotze)  durchlaufen  haben  soll,  finden  wir  in  Europa  und  westlichem  Asien  zwei  umschriebene 
Areale,  zwischen  denen  sich  die  Gränzlinie  Eisen  und  Bronze***),  ehe  sie  sich  mischten  und  theil- 
weis  verdrängten,  ziemlich  scharf  ziehen  lässt.  Die  Culturzeil  der  Griechen  gehört  gewisser- 
massen  der  Bronzezeit  an,  in  der  Dactylen  und  Teichinen  ihre  Kunstfertigkeit  übten.  Sie 
kannten  das  Eisen,  (der  Sintier)  schon  zu  Homers  Zeit,  wie  ausser  der  directen  Erwähnung 
eiserner  Rüstungen,  aus  dem  von  der  Kühlung  des  Eisens  hergenommenen  Bilde  (in  d.  Odyssee) 
hervorgeht.  Ihr  Eisen  (wozu  in  der  Waffenverarbeitung  der  Lacedämonier  die  Minen  am  Tay- 
getus  benutzt  sein  sollen)  wird  indess  ein  verhältnissmässig  wenig  brauchbares  gewesen  sein, 
was  schon  aus  der  Verlegung  der  Stahlbereitung  nach  dem  versteckten  und  in  seinen  rohen  Sit 
ten  Vernachlässigung  durch  Verkehrsstrassen  beweisenden  Volk  der  Chalybes  (als  antijnotixj 
bei  Aeschylus,  wie  Hamilton  bei  Unieh  nach  Constantinopel  verführtes  Eisen  sah),  hervorgeht. 
In  dem  bedeutsamen  Verkehr  Sinope's  bildeten  die  Metalle  einen  Export-Artikel.  Die  geringe 
Ausbeute  der  Eisenminen  und  der  Mangel  an  Kohlen  hatte  indessen  auch  westasiatische  Staaten 
auf  Bevorzugung  der  Bronze  geführt,  und  wir  würden  innerhalb  unserer  historischen  Nachrichten 
für  die  Bronze-Zeit  am  einfachsten  an  die  assyrische  f)  Cultur  anknüpfen,  die  durch  ihre  Grün- 
dungen in  Kleinasien,  sowie  durch  die  Minyäer  in  Orchomenos  die  chalkidische  Erzepoche  Grie- 
chenland^, wo  überall  die  Erzstädte  in  Mythologie  und  Geschichte  blühten,  einleitete  und  den 
auf  Keilschriften  gelesenen  Namen  Königs  Orchamus  westlichen  Traditionen  übergab. 

Unter  ihren  Einfluss  fielen  auch  die  Phönizier,  die  deshalb  mit  ihren  Handelsverbindungen 
Bronzegegenstände  verbreitet  haben  mögen,  die  aber,  wenn  auch  zu  Hiram's  Zeit  den  Juden  in  Bronze- 


*)  Die  überall  fast  gleichartige  Mischung  der  Bronze,  die  man  dann  als  die  chemisch 
augezeigte  fand,  erklärt  sich  gerade  aus  dieser  Richtigkeit  der  Verhältnisse,  da  das  gesetzlich 
gleichartige  sich  auch  eben  überall  im  Laufe  der  Experimente  als  ein  solches  zu  erkennen  geben 
muss.  Delas,  der  Erfinder  der  Kupfer-Zinn-Mischung  war  (nach  Theophrast)  ein  Phrygier  oder 
(nach  Aristoteles)  ein  Lydier  (als  Scythes).  Mentes,  König  der  Taphier.  tauscht  auf  Cypern 
Bronze  oder  Kupfer  gegen  Eisen  um  (in  der  Odyssee). 

**)  Nach  einer  alten  Nachricht  in  Kanghi's  Wörterbuch  waren  die  Waffen  in  alter  Zeit  nur 
aus  Kupfer  und  erst  seit  der  4  D.  Thsin  aus  Eisen  Der  Tao-kieu-lo  erwähnt  ein  gegossenes 
kupfernes  Schwert  unter  Yü's  Sohn  Ki  (2197 — 48  a.  d.),  und  ein  eisernes  unter  Kungkia  (1897 
—48  a.  d.)  mit  Inschriften  (Plath).  Nach  dem  Schiking  nahm  Kunglieu  (Ahn  der  Tscheu) 
Schleifsteine  (li)  aus  den  Steingruben  (tuan)  aus  den  Bergwerken. 

*")  Die  Massageten  bedienten  sich  (s.  Strabo)  der  kupfernen  Streitaxt,  neben  Bogen,  Schwert 
und  Panzer  Bei  Aeniana  (im  Lande  der  Daer)  zeigte  man  griechische  Waffen,  eherne  (iefässe 
und  Gräber.  Das  Kupfer  der  technischen  Werkzeuge  ist  wenig  oder  gar  nicht  legirt  Das  Heer 
des  Cyrus  (der  dem  Wagen  eiserne  Sichel  zufügt)  funkelt  von  Erz  (bei  Xenophon)  vor  der 
Schlacht  mit  Crösus.  Die  Pfeile  der  Indier  hatten  eiserne,  die  der  West  Aethiopier  steinerne 
Spitzen  (im  Heer  des  Xerxes).  Unter  Servius  waren  die  römischen  Rüstungen  von  Bronze 
(Livius).  Jonier  und  Carier  waren  zu  Psammetich's  Zeit  in  Bronze  gewaffnet  Cassiodor  macht 
Belus  zum  Erfinder  des  Eisenschwerts.  Beide  Theile  (das  Spiess)  sind  in  der  Heroenzeit  von 
Erz  (s.  Rüstow).  Das  Schwert  ($(q>os  öfop)  ist  zweischneidig  (von  Erz,  später  von  Eisen)  _  Die 
metallene  Spitze  der  Pfeile  hat  einen  oder  mehrere  Widerhaken,  ont.u  c/f'of/r  Infra  tv  aanl- 
dcig  Aiyolixrec  xn'i  ööoaiu  xui  xuuvr\  ydlxe«  xa)  Utonaxa;  xa)  xirjuiJtts  x<ü  iüf  r\  (DionyS. 
Hai.)  als  Bewaffnung  der  ersten  Classe  (Rom). 

+)  Obwohl  die  Assyrier  Eisen  und  zum  Theil  gestähltes,  kannten,  bewahrten  sie  die  Schwer- 
ter aus  Bronze.  Auf  den  Monumenten  Ramses  III.  zeigten  sich  die  blauen  Stahlwaffen  neben 
den  rothen  aus  Kupfer  oder  Bronze.  Zu  Solon's  Zeit  war  den  Lacedämoniern  das  Eisenschmieden 
noch  eine  Neuigkeit,  ein  fremdartiger  Process,  dein  Lichas  verwundert  zusah,  als  er  in  die  /id- 
■  "  der  Tegeaten  eintrat,  Alkäus  singt  von  ehernen  (chalkidischen  Schwertern.  Die  '<"- 
schneiden  (b.  Sophokles)  mit  Sicheln  aus  Bronze  Giftkräuter.  Im  Tempel  des  Asklepios  zu  Ni- 
comedia fand  sich  ein  Schwert  von  Bronze,  das  dein  Memnon  angehört,  eine  Lanze  des  Achill 
mit  Bronzespitze  zu  Phaseiis  (s  Petersen).  Aristoteles  kennt  noch  Lanzenspitzen  und  Schwerter 
aus  Bronze. 


132 

arbeit  überlegen,  nie  darin  excellirt  haben  werten,  ihrem  auf  Handelszwecke  gerichteten  Natio- 
nalcharakter gemäss.  Der  feine  Kunstsinn  der  Griechen  dagegen  brachte  die  Verarbeitung  des 
Bronze-Materials  zu  seiner  höchsten  Vollendung  und  wird  es  noch  lansre  dem  schlechten  Eisen, 
das  anfange  allein  zugäuglich  war,  vorgezogen  haben.  Das  Bronzereiche  Gross-Griechenland*)  war 
somit  der  Spiegel  des  Mutterlandes,  während  Etruskien**)  gleichfalls  die  direkten  Beziehungen  mit  sei- 
nen asiatischen  Verwandten  bewahrte,  wie  es  auch  die  frappanten  Uebereinstimimingen  ihrer  Gräber 
mit  den  kleinasiatischen  (und  die  phrygischen  Inschriften  in  Doganlu)  beweisen.  Durch  die 
unterworfenen  Umbrer  traten  indess  gallische  Anknüpfungen  hinzu.  Bei  den  Ligurern  wird 
der  Gebrauch  eherner  Lanzenspitzen  auf  ihre  alten  Beziehungen  zu  den  Griechen  gedeutet,  mit 
Gallien  aber  beginnt  dann  der  Gebrauch  des  Eisens,  das  anfangs  seine  beste  Vollendung 
auf  der  spanischen  Halbinsel  (wo  bei  den  Lusitaniern  indess  gleichzeitig  die  Verwendung  der 
Bronze  zu  Waffen  fortdauerte,  aus  möglicherweise  punischer  Reminiscenz)  erhielt,  wie  später  in 
Noricum  (berühmt  durch  den  noricus  ensis). 

Die  Vertheilung  der  sog.  Bronzezeit*")  im  nördlichen  Europa,  (die  besser  nicht  durch  gleich- 


*)  Aus  den  Eisenfunden  unter  dem  Poseidons-Tempe)  zu  Paestum  will  man  den  Uebergang 
in  die  Bronze  chronologisch  fixiren  können,  obwohl  diese  auch  später  noch  fortgedauert  haben 
mag.  Der  entschiedene  Uebergang  zum  Eisen  lässt  sich  selbst  bei  den  Römern  wohl  erst 
seit  dem  zweiten  punischen  Kriege  datiren,  wo  sie  die  hispanischen  Schwerter,  und  gleichzeitig 
ihr  Verfahren  der  Eisenbereitung,  adoptirten,  und  ehe  sie  letzteres  besassen,  werden  sie  kaum 
durchgängig  ihre  brauchbaren  Bronzewaffea  aufgegeben  haben,  für  biegsame  Schwerter  gleich  den 
gallischen,  deren  Nachtheüe  ihnen  selbst  auffällig  genug  waren.  In  den  hannibalischen  Kriegen 
mögen  noch  immer  Bronzewaffen  im  Gebrauch  gewesen  sein,  besonders  vielleicht  für  die  kurzen 
Stosswaffen,  mit  denen  auch  die  Celtiberer  neben  ihren  Schwertern  bewaffnet  waren.  Im  übrigen 
dürfen  vielleicht  gerade  diese  Kriege  als  der  Wendepunkt  betrachtet  werden,  in  welchem  die 
Römer  am  überzeugendsten  die  Vortheile  des  hispanischen  Schwertes  unter  den  Punischen  Hülfs- 
trnppen  (das  Polybius  mit  dem  der  an  ihren  Seiten  kämpfenden  Gallier  vergleicht)  erkannten 
und  nun  die  Eroberung  Spaniens  benutzten,  kunstfertige  Schmiede  nach  Rom  zu  rufen.  Car- 
thago  würde  als  phönizische  Colonie  mit  in  das  Bereich  der  Bronze  fallen,  wenn  es  nicht  früh 
durch  die  Iberer  über  das  Eisen  belehrt  wurde.  In  Italien  war  indess  Hannibal  die  Waffenzu- 
fuhr ausgegangen,  und  lag  es  überhaupt  näher  aus  den  eroberten  Ländern  die  Rüstungen  zu 
ziehen,  wie  auch  von  den  AM  in  seinem  Heere  gesagt  wird,  dass  sie  nach  römischer  Weise  be- 
waffnet gewesen,  vorzüglich  wohl  überhaupt  nach  einheimischer  Weise,  also  der  in  Süd-Italien, 
wo  die  Schlacht  zu  C'annae  geliefert  wurde,  üblichen  Weise.  A  Tenes,  fondee  par  les  Pheniciens 
ou  les  Carthaginois,  on  a  trouve  (1863)  une  hachette  en  cuivre,  analogue  aux  haches,  que  Ton 
trouve  en  France  et  que  Ton  regarde  comme  celtiques  (Gay)  Der  eiserne  Pfeil  des  Pandaros 
vor  Troja  war  ein  Göttergeschenk.  Framea  (a  ferrum,  quasi  ferrea),  gladius  ex  utraque  parte 
excutus  (Johannes  de  Janua).  Rudis  et  rudicula  est  instrumentum  coquinarium  ferreum  vel 
aheneum  (Pallad.).  Celtis,  i.uitvir\Qioy  (s.  Ducange).  Indra's  Pfeile  sind  von  Eisen  und  Feridun's 
Keule.  Die  Ackergeräthe  waren  ausser  der  Pflugschaar  ohne  alles  Eisen  in  Bromberg  (1773  p.  d.). 
Le  poisson  ä  couper  devait  etre  tranche  avec  des  lames  de  fer  et  non  des  lames  de  bois  (Statutes 
ä  Poitiers)  1413  (De  Ia  Fontanelle).  Die  Aegypter,  die  früher  mit  Keulen  und  Steine  gekämpft, 
vergötterten  Herakles,  der  zur  Bearbeitung  des  Eisens  ein  Werkzeug  von  oben  her  erlangt  (s. 
Palaepharus). 

**)  Sembra  che  sopra  cosi  fatte  bare  locassero  gli  estinti  loro  aeconci  con  balsami,  ma  sco- 
\erti  e  non  racchiusi  entro  un'arca.  Quelli  che  in  questo  sepolcro  giacevano,  ebbero  le  vesti- 
inenta  ricamate  a  fiori  di  smalto  di  opera  egiziana  e  simili  affatto  alle  grane  caerulee,  o  verdastre, 
recate  coi  corpi  imbalsamati  d'Egitto  (nel  ducato  di  Ceri).  Non  maucarano  ancora  delle  paste 
odorose  di  ambra  e  altre  orientali  resine,  disposte  all'  intorno  del  defonto.  Avendo  appressato 
al  fuoco  im  piccol  pezzetto  di  tali  odorate  sostanze,  si  ebbe  im  porfumo  di  tanta  forza  che  nell' 
ampia  sala  del  ducalle  palazzo  di  Ceri  non  se  ne  pote  comportare  la  gravitä  (Visconti). 

*")  In  England,  sowohl  wie  in  Deutschland  sind  auch  aus  der  so  jungen  Zeit  dortiger  Anwesen- 
heit der  Römer  Funde  von  Bronzeschwertern  in  den  Denkmälern  aufgezeichnet.  Obwohl  bei  dem 
Verbot  des  Porsenna,  das  besonders  gegen  Eisen  (ausser  zum  Ackerland)  gerichtet  war,  der  allge- 
meine Ausdruck  des  Ferrum,  als  in  der  späteren  Zeit  der  davon  redenden  Schriftsteller  auf  alle 
Art  Waffen  angewandt,  zu  beachten  ist,  so  kann  trotz  dichterischer  Verwendung  der  Bezeich- 
nung ehern,  als  Epithel  der  Waffen,  dasselbe  auch  zugleich  im  täglichen  Gebrauch  neben  dem 
i  fortgedauert  haben.  Ardentea  clypeos  atque  aera  micantia  cerno  (Virg.)  pro  armis  aereis. 
Ac  late  fluetuat  onmis  Aere  renidenti  tellus  (Virg.).  Tela  aerata  (Virg.)  hasta  aeratae 
cuspidis  (Ovid.)  Micat  aereus  ensis  (Vir^.)  Quin  et  arma,  pectoralis,  oereas,  galeaa  ex  aere  an- 
tiquis  faetas,  innuil  !<>ris  infinitis  Virgilius,  Servius,  Plinius,  Polybius,  Livius  et  alii  nulle  locis 
(Stevvec.)  Ad  haec  veruta  duo,  galeaque  aenea  et  crurum  tegmen  oerea  (Polyb.)  Arma  Roma- 
norum erant  ex  aere  pleraquc,  quae  ab  id  fusa  dicere  quis  possit.  Livius  de  prima  classe,  Arma, 
inquit,  his  imperata,  galea,  clypeus,  oereae,  lorica,  omnia  ex  aerea.    Multa  quoque  in  eam  sen- 


133 

zeitic-e  Meinungen  über  die  Bestattungsweise u  verwickelt  wird)  muss  nun  aus  den  Verhält] 
geographischer  Lagerung  iu  ihren  geschichtlichen  Beziehungen  erklärt  werden.  Den  phönizischen 
.Schifffahrten  nach  den  Zinn-Inseln  ist  dafür  eine  unverhältnissmässig  hohe  Bedeutung  beigelegt, 
und  etruskische  Handelszüge,  wenn  sie  (dem  Volkscharacter  eher  widerstrebend)  stattgefunden, 
würden  bald  mit.  Eisen  verarbeitenden,  Stämmen  in  erste  Berührung  gekommen  sein.  Aus  He 
rodot  (ist  uns  dagegen  die  eifrige  Thätigkeit  der  griechischen  Colonieu  am  Pontus,  (der  grriechi 
sehen  Factoreien  der  unter  den Budinern  wohnenden  Gelonen)  bekannt,  di 
der  Heere  und  Karawanen  nach  dem  Baltic  betraten,  und  jene,  durch  boreadische  Sagen  bezeug- 
ten, Verbindungen  mit  Scandinavien  eingeleitet  haben  werden,  wie  ßie  'in  mithridatischer 
Zeit  belebt)  Gauthar  und  Gotthi  mit  getischer.  Gothen  verknüpften.  Ausser  den  Analogien  der 
Gräberfunde  am  schwarzen  Meer  mit  denen  nordischer  Erdhügel,  ist  in  den  dänischen  Waffen 
und  ihren  Verzierungen  die  nächste  Aehnliehkeit  zu  den  griechischen  erkannt,  und  wiewohl 
nicht  alle  als  importirte  zu  betrachten  sein  werden,  so  müssen  doch  bei  ihrer  Verarbeitung  die 
Muster  massgebend  gewesen  sein,  wie  sie  durch  die  Künstler  (nicht  des  eigentlichen  H<  - 
sondern  der  milesischen  Colonien,  (die  in  ihrer  Zählung  nach  Hunderten  nicht  die  einzelne 
Stadt,  sondern  altjonische  Cultur  in  halborientalischer  Färbung  repräsentirei  ,  geliefert  wurden, 
und  sich  iu  Olbia,  in  Panticapaeuin,  im  Reiche  bosporianischer  und  aspurgianischer  Könige 
scythischen  Geschmacksrichtungen  nicht  entziehen  konnten.  Das  Bedürfnis  nach  Bronce,  (die 
besonders  Dänemark  füllte,  in  Gallien  dagegen  schon  mit  Eisen  zu  rivalisiren  hatte),  wird 
im  Norden  bis  in  die  späteste  Kaiserzeit  fortgedauert  haben,  da  wiederholt  die  strengsten  Ver- 
bote gegen  jede  Ausfuhr*)  von  Eisen  (oder  selbst  Waffenverkauf  au  die  Barbaren)  erlassen  wurde, 
und  dieselben  sich  von  den  Kaufleuten  wahrscheinlich  am  einfachsten  dadurch  umgehen  Hessen, 
dass  sie  Bronzegefässe  an  die  durch  ihre  Plünderzüge  bereicherten  Wikinger  (damals  säch- 
sisch -jütischen  Geschlechtes,  wie  später  normannisch  - askomannischen)  verkauften,  damit 
aus  dem  Umschmelzen  derselben  Waffen  gefertigt  würden.  Die  volle  Eisenzeit  tritt  für  die  ger- 
manischen Eroberer  in  Mitteleuropa  erst  ein,  als  Allemannen,  Franken,  Burgunder  die  römischen 
Stationen  besetzten  und  nun  auch  die  Waffenfabriken  (Remensis  spatharia,  Triberorum  spatharia 
et  balistaria,  Ambianensis  spatharia  et  scutaria)  in  ihre  Gewalt  bekommen,  die  in  der  Xotitia  auf- 
gezählt werden.  Bereits  Tacitus  kennt  Eisen  unter  "den  Germanen  und  die  Gothini  gruben  es, 
aber  der  Nutzen  des  Eisens  tritt  erst  mit  seiner  richtigen  Verarbeitung  ein,  und  der  eine  Zeit 
lang  den  Hermunduren  erlaubte  Handel  wird  bei  den  zunehmenden  Gefährdungen  der  römischen 
Grenze  unterbrochen  sein,  ehe  die  allgemeine  Umwälzung  eintrat. 

Hesiod    spricht  von  der  Zeit,  als   fMÜag  ä'ovx  soxt  oiötiqos,   der  Zeit   des  ytd/.o;,')    als 


tentiam  et  Virgilio  et  Servio  adferre  non  sit  difficile.  Claros  enini  aereos  in  construetione  na- 
vium  auetor  noster  commendavit.  Rostra  item  in  navibus  aera  fuisse  (Stewechius).  Samniti 
usarono  armatura  di  bronzo  al  riferir  di  Varrone.  Find,  yaXxonügaov  «xnvia  dicit.  jaculum 
aereas  habens  malas,  v.  e.  aeratum,  aerea  praefixum  cuspide,  vel  etiam  praeferratum.  %a).xonlr}0 r,g, 
aere  impletus,  armatus  (Eur.)  yaly.6nlj\/.fug  üinpjy.r^  ytvos  (Uom.)  yulxhxooiov  (faayuvov 
(Eur.),  Ensis  aere,  (aereo  ferrove  malleo)  cusus.  yi'tkvßot,  lövog  t»1?  2xv9(«(,  o:iov  ni'Jrnog 
ylvtiai  (Hesych)  yakvip  de  ferro  durissimo.  yrü.yo/«nfjr)g,  aere  (armis  aereis)  gaudens  (Pin- 
dar.)  yalxoiuoois  £fy  taiv  (Find )  De  vulneribus  aere  inflictis  (Opp.).  "Alloi  dwitdas  tto*«- 
örßtioio  ntluaov  yui.xoToQovg  uqommv  (Steph.)  y.ol'-t) />;;,  aerea  (aerata)  utens  hasta  (Lur.) 
%c<\xtviris,  aeneis  armis  instruetus  (Find.)  %akxian).og ,  aerea  arma  habens  (Eur.)  unla,  ya/y.ta 
(Eur.)  yaHxtvacijuwoi  ßü.rj  (Eust.)  yaXy.n/.«rn>'  «f/.«»;"  (Opp.)  *«Ax6«pj}?,  ferro  apte  armatus 
(Find.)  yc<lxoxooftii>)v,  yjdxoi  umhauivov  (Hesych.).  Les  epees  homeriques  etaient  en  kaikos 
ainsi  bat'tu  ä  froid  et  pour  ce' qui  est  du  sideros,  dont  011  ce  servait  pour  les  pointes  des  lances 
et  des  fleches,  pour  les  haches  et  les  doloires,  c'etait  le  meine  metal  trempe  (Mauduit).  Für 
Bronze  (statt  Kupfrr)  spricht  die  Sprödigkeit  des  Metalls  (yukxoi),  die  durch  das  Zerspringen 
eines  Schwertes  in  4  Stücke  (in  der  Iliade)  bezeugt  wird  's.  Petersen).  Nach  Eusth.  hahe  e>  auch 
Eisen  bedeutet 

*)  Nihil  penitus  ferri  vel  facti  vel  adhuc  infecti  ab  aliquo  distrahatur 

")  Auch  bei  den  Suionen  wurden  die  Waffen  unter  Hut  gehalten  (Tacit)  Nach  Aeneias 
sollten  sie  nur  im  Deigma  ausgestellt  weiden.  Kurze  Messer  ausgenommen,  musste  Alles  in  den 
öffentlichen  Waffenfabriken  verfertigt  werden  (unter  Justinian  Ab  hominibus  privatis  non  alia 
arma  aut  fabricari  aut  vendi  poterant,  praeter  cultellos  breves  (Stevvec).  Habet  praeterea  legio 
fabros  lignarios,  instruetores,  carpentarios,  ferrarios  pictores,  reliquosque  artifices  (Veget). 

•••)  Inde  minutatim  processit  ferreus  ensis,  Versaque  in  opprobrium  species  est  falcis  ahenae 
(Lucrez)  o«'J/)oo>'  arofttvaai  dicitur,  qui  acie  illud  instruit  sive  aeuit.    Sioftänut    irtv   u(,yutyrty 


134 

einer  vergangenen,  denn  zur  seinigen  sowohl,  wie  der  Homers  war  das  Eisen  bekannt  genug, 
aber  nicht  Eisen  constituirt  den  Unterschied  zwischen  Erz-  und  Eisenzeit,  sondern  die  gestählte 
Schneide,  neben  der  dann  die  Bronze  für  Scheiden  oder  Griffe  fortgebraucht  wird.  Für  kürzere 
Stosswaffen  mag  Bronze  auch  später  noch  lange  gebraucht  sein,  und  ebenso  für  Schwerte"),  wie  es 
scheint,  violleicht  für  die  Etiketten-Degen  der  Parazonien. 

Der  Stein  war  lange  eine  gewöhnliche  Waffe**),  nicht  nur  für  die  Festlingsmaschinen,  son- 
dern auch  für  die  Hand  des  Soldaten,  und  mit  solchen  Waffen  bekämpfte  Herakles  »He  Einge- 
borenen auf  der  Ebene  Crau  (craig  oder  Stein),  um  in  dem  heiligen  Bezirk  von  Nemausis  die 
morgenländische  Civilisation  zu  sichern  (*nr&ior«f  nwqoovixä  nohttvftaia  bei  Dion  Hai..)  und 
nach  Besiegung  des  (Höhlenmenschen)  Tauriscus  nohv  tvutyi'.h]  'Alrjotäv  zu  gründen,  r.rn'ari; 
r/j;  xtltixrfi  toilov  xnt  tn}io:')io >><)'.  Dann  sahen  ihn  die  himmlischen  „SCandentem  nubes  fran- 
gentemque  ardua  montis"  (It.  Sic  ),  um  den  Handelsweg  (massiolotischer  Stationen)  zu  öffnen, 
den  die  Römer  (s.  Thicrry)  für  ihre  Strassen  Aurelia  und  Domitia  benutzten.  B. 

(inquit  Bud.)  est  exaeuere  aciem,  quasi  os  gladii  conciunare  et  firmare  et  obdurare,  quod  nisi 
fieret  inutilis  gladius  esset.  ' llv  ydo  ort  %aixo<;  ßanTÖ/utvoi  tmouovxo  tiqos  orria  (Greg. 
Nyss.)  2.'u)r]ou<i  onico ,  ferrum  gesto,  arma  fero.  Nach  der  Zeit  Hannibal's  ahmten  die  Römer 
die  Eisenverfertigung  der  Keltiberer  (für  ihre  Schwerter)  nach,  ohne  die  Güte  derselben  zu  er- 
reichen (Suidas).  Apres  Homere  le  mot  atäiiyoi  semble  reserve  au  fer  non  susceptible  d'etre 
trompe.  et  1'acier  parait  indique  par  le  mot  ya).v\i>  (Ilousel).  In  itinerariis  referunt  aliqui  de 
Japanensibus ,  quod  ferrum  suum  in  contos  exeusum  locis  palustribus  immergant,  et  ibi  tarn 
diu  relinquaut,  dum  ad  multam  partem  ferrugine  Sit  consumtum,  exemtum  deinde  ex  novo  excu- 
dant,  et  iterum  in  palude  per  spatium  8  vel  10  annorura  lecendant,  usque  dum  iterum  in  aqua 
paludinosa  falsa  admodum  exesum  sit,  pars  ferri,  quae  restat,  speciem  chalybis  referre  perhibe- 
tur,  exinde  dein  vomeres  fabriquant,  exque  ferro  sie  rubiginosa  instrumenta  sua  et  utensilia  con- 
ficiuDt  (Swedenborg'.  Stahl  ist  den  Juden  Eisen  vom  Norden  (bei  Jerem.)  von  fhalyhien.  Poly- 
phem's  Auge  zischt,  wie  das  gekühlte  Kisen  des  Schmiedes  (Homer).  Celtiberes  ferro  aciem 
soliditatemque  parant  eo  in  terram  defosso  crassas  terrestresqne  partes  expurgando  (Polyb.) 

*)  Bei  der  römischen  Station  Ardoch  wurde  ein  Bronze -Schwert  gefunden.  According  to 
Wright  the  bronzc  weapons  (in  England)  have  generally  been  found  near  Roman  stations  and 
Roman  roads.  Lindenschmid  verzeichnet  ein  Erzschwert  aus  den  römischen  Gebäuderesten  zu 
Weisenau  und  noch  einen  anderen  Fund  aus  dem  römischen  C'astel  Salburg.  Beim  Dimeser  Ort 
wurde  ein  (römisches)  Erzmesser  gefunden,  in  der  römischen  Niederlassung  von  Nieder  -  Bipp 
(nach  Jahn)  eine  bronzene  Lanzenspitze,  ebenso  wie  (1847)  im  römischen  Castell  auf  dem  Börgli 
und  ein  eherner  Messergriff  (neben  Steinkeil)  zusammen  mit  Münzen  des  Anton.  Pius  bei  Toffen 
(1811).  ;1vo  kir/r»  itxiuruiv  xtti  yokxoivjiaii'  xai  SffOi  äkkoi  nokfiuxiöi'  fijymi'  i)nra  yti(ii>i f'yi'ni 
(Dionys.)  Justinian  erwähnt  aerarii  (Erzarbeiter)  fabri  sagittarii,  gladiatores  (Degenschmiede),  fer- 
rarii,  lapidarii.  Auf  den  alten  Schlachtfeldern  der  Römer  mit  den  Illyriern  bei  Triest,  in  [Strien 
und  in  den  Julischen  und  krainischen  Alpen  findet  man  fortwährend  keltische  Waffen  von 
Bronze  und  Kupfer  (v.  Bt'ilow).  Eccard  erwähnt  ein  neben  römischen  Münzen  gefundenes  Kup- 
ferschwert. Philopoemen  ersetzte  die  argolischen  Rundschilde  durch  viereckige  (aus  Holz  und  Floht 
werk)  mit  langen  Spiessen.  Camillus  umgab  das  scutum  (an  der  Stelle  des  clypeus  gesetzt) 
mit  einem  Metallrand.  Iphicrates  führte  längere  Schwerter  ein.  '//  x«)  Poiunfoi  («'<,-  nnTofous, 
unoDffitPoi  uttym'na*;,  {*  ii»v  xm'  'A"v(3cti/,  (jti(-ßt'tlov  jf<±  imv  *lßt)tj(üV  (Suidas).  Hispano- 
rum  non  minus  ad  punetim  feriendum  hostem  valebant,  Gallorum  gladii  (iKiyuiou)  ad  eaesim 
dumtaxat  feriendum  utilcs,  quam  ad  rem  opus  erat  aliquo  intervallo  (Polyb.);  ia  äi  £(tf>r]  ir\v 
fi'Ki'u'i'i'  ti/h  ihcilhaiv.  Die  römischen  Reiter  führten  (neben  Stangenlanzen)  anädi]  öt  (jtnXQa 
xu\  n).i'Tfit<  (Arrian.) 

•*)  Die  Heloten  kämpften  (wie  die  yv/xv^atot  in  Argos)  mit  Steinwürfen,  die  sikyonischen 
Sklaven  heissen  Knittelträger  [xoovovqq-oijoi').  In  den  l'erserkriegen  bildeten  die  Sklaven  die 
jitrooßüküi.  Lapide  aul  ex  fundaaut  ex  manu  (Aelian)  utuntur  (Velites).  Et  manu  sola  omnes 
milites  meditabantur  libralia  saxa  jaetare  qui  usus  paratior  creditur,  quia  non  desiderat  fundara. 
Missilias  quoque,  vel  plumbatas  jugiter  perpetuoque  exercitio  dirigere  cogebantur  (Veget.).  In 
quodam  illorum  tyrociniorum  Comes  Clarimontis  armorum  pondere  praegravatus  et  Malleorum 
ictibus  super  caput  pluries  el  fortiter  percussus  in  amentiam  deeidit  (1279  p.  d.).  Magnus  inter 
caetera  trophaeomm  raorum  insignia  inusitati  ponderis  malleos,  quos  Joviales  vocabant,  apud 
insularum  quandam  prisca  virorum  religione  eultos  in  patriam  deportandos  curavit  (Saxo) 
Mailhetus,  (als  Hammer),  [pse  brevis  gladius  apud  illos  Saxa  vocatur  (Gotefr.  Vit).  Cum 
fundere  tentassenl  cum  malleis  et  Cuneis  et  omni  hujus  generis  machinamento  (Mir.  st.  Rieh  ). 
Adjertis  irrreis  [.alis  et  Cuneis  (\it  S.  J.  E.  'I'.).  The  ancienl  Irish  warrior  carried  a  stone  in 
in 'bis  girdle  (the  Lia  Miledh  or  warriors  stone)  to  cast  at  his  adversary  (Wilde)  Fergus  threw 
the  Leacan  laechmhileadh  (the  semi-flal  stone  of  a  soldier  Champion)  gegen  die  Hexe,  Eochaidh 
Liagh  churadh  (a  Champions  Bai  stone),  Lohar  carried  a  Liagb  lamhalaich  (a  champions  haud- 
stone),  throwing  bis  battle-stone.  In  the  battle  aear  Limenck  against  the  Danes,  they  cast 
their  stones  (smal  arrows  and  smooth  speais).    The  stone  appears  to  have  beeu  a  naked  celt  thrown 


1  35 

(Halevy,)  Lettre  ä  monsieur  D'Abbadie  sur  l'origine  asiatique  des  languee 
du  nord  de  l'Afrique.  dum  18G7.  Paris,  Maisonneuve.  Separatdr.  aus  Actes 
de  la  societe  philol.  toiue  I,  p.  29 — 43. 

Verf.  will  nicht,  wie  man  ans  der  Aufschrift  Behliessen  konnte,  den  Ursprung  der  genann- 
ten Sprachen  aus  asiatischen  Sprachen  erörtern,  sondern  indem  er  den  Zusammenhang  der 
uordafrikanischen  (hamitischen)  Sprachen  mit  den  anstossenden  asiatischen  (zunächst  also  serai- 
tischeu)  ganz  aus  dem  Auge  lässt,  glaubl  er  in  vorliegender  Schrift  bewiesen  zu  haben,  dass 
die  Wiege  der  ägyptisch-berberischen  (hamitischen)  Race  irgend  ein  asiatisches  Land  ist,  aus 
welchem  die  ganze  Race  in  nicht  näher  zu  bestimmender  Zeit  ausgewandert  sei  und  en  passant 
die  arabische  Baibinse]  occupirt  babe.  Dort  seien  die  Hamiten  allmählig  von  den  Semiten  ab- 
Borbirt  oder  zur  Wanderung  weiter  nach  Westen  über  das  rothe  Meer  gezwungen  worden  ä 
l'exception  d'un  rameau  detache"  qui,  protege  par  sa  position  inaccessible  du  cöte  de  la  terre, 
s'est  conserve  jusqu'ä  nos  jours.    Diese  noch  heut  existirende  hamitische  Bevölkerung  Arabiens 


with  the  band  (s.  Wilde).  Clavering  fand  bei  den  Grönländern  einige  Spitzen  statl  aus  Kno- 
chen) aus  Meteor-Eisen.  Ad  arina  facienda  ferrum  utriusque  temperatui-ae  ei  carbones  servantur 
in  conditis,  ligna  quoque  hastilibus,  sagittisque  necessaria  reponuntur.  Saxa  rotunda  de  fluviis 
(minima  de  fundis,  sive  fustibalis,  vel  manibus  jacienda).  Rotae  quoque  de  lignis  yiridibus 
ingentissimae  fabricantur  (Veget.).  Fundibalum  dici  ait  (Isidor.)  quasi  fundentem  et  emittentem 
(a  fustibalo  fustibulatoribus).  Qui  fundis  ex  lino  vel  setis  factis.  ^<>\c\ie  fustibulatores  würden 
unter  den  mii  steinen  bewaffneten  Sachsen  zu  verstehen  sein,  wenn  dieselben  bei  Hastii  s 
werfen  wurden.  Fune  alligati  (globi  lapidei  perforati,  in  Holsatia  inveuti]  hostium  capitibus 
immittebantnr.  Nee  dissimili  bellico  instrumento  Johannes  Ziska  suo  adhuc  tempore  usus  est 
(Eccard).  Cultri  lapidei  quando  cum  aereis  et  tandem  ferreis  commutati  fuissent,  in  re  do- 
mestica.  in  sacris  manserunt,  quae  uon  fernere  etiam  in  minimis  mutationem  admittunt.  Et 
cultri  sacri,  quibus  circumeisio  fit  apud  Judaeos,  etiam  nostro  adhuc  aevo  lapidei  existunt 
(Eccard)  1750.  in  manchen  Artikeln  (des  Arnstädter  Stadtrechts)  kommt  die  Strafe  der  Liefe- 
rung einer  ^wissen  Zahl  Fuder  Steine  vor  (s.  Michelsen),  z.B.  Welcher  Bürger  dem  andern 
freuenlych  in  sein  Haus  leuff't  (mit  gewapenter  hent).  l.'nter  den  hotontini  genannten  Grenz- 
hügeln wurde  ausser  Asche  und  Kohle  auch  Scherben  gemischt  (in  der  Römerzeit).  Die  alten 
Dämme  und  hochgelegene  WTasserzüge  beweisen,  wie  die  niederländische  Anbauer  einst  durch 
Abwässerungen  das  Tiefland  (der  Ländereien  in  dem  wasserreichen  Thal  des  Elelmeflusses, 
ursprünglich  in  sumpfiger  Niederung  gelegen)  in  Wiesen  umgeschaffen  und  urbar  gemacht  haben. 
Wie  der  erste  Abt  (1144  p.  d.)  vom  Erzstift  Mainz,  erwarben  (1155)  die  Mönche  zu  Walkenried 
paludem  quandam  in  Heringen  virgultis  et  arbustis  obsitum.  quae  ad  Fuldensem  Ecclesiam  spec- 
tabat,  durch  Tausch.  Walkenried  >elbst  hatte  eine  sumpfige  Lage,  wurde  durch  niederländische 
Mönche  gebaut  und  musste  durch  Ausgrabung  in  Fischteiche  entwässert  werden  (s.  Eckstrom). 
In  den  niederländischen  Colonien  wurde  zwischen  Holländer  und  Fläminger  anfangs  nicht  unter- 
schieden [Michelsen).  Et  non  solum  deeimas  terrarum  novarum,  quae  quondam  solebant  esse 
paludes,  quomodo  vulgariter  appellantur  les  Pestis  (1224  p.  d.).  Den  römischen  I  rsprung  des 
wegen  der  Belegung  mit  Steinen)  Steinberg  (147:'  von  den  Pfählen)  genannten  Pfahlwerkes  bei 
Nidau  bezeugen  nebst  den  darin  vorkommenden  römischen  Ziegeln  die  dort  gefundenen  Münzen 
(Jahn)  1850.C    Unter    den    Ziegel-Fragmenten    in    dem   Grundbau   der   römischen   Wohnung  (in 

Engewalde)   wurden   Austerschaalen   gefunden.     Stagnum   a   Gra( artyröv   'ad    villas  rotunda 

stagna).  Unter  dem  bremischen  Bischof  Unwan  bewahrte  die  Paludicolae  heidnische  debräu.he. 
Obsidianspitzen  wurden  bei  Athen  gefunden  und  Steinäxte  (von  Merlin)  bei  Orehomenos.  The 
inner  Bra/.il  preserves  the  Catalan  or  direct  proces»  of  treating  the  ore  bj  Single  Fusion,  now 
obsolete  in  older  lands,  even  the  Munjolos  in  Western  and  the  Manne  savages  in  Eastern  Africa 
have  iraproved  upon  it  by  adding  a  chimney  for  draught,  a  rüde  kind  of  wind-furnace  (Burton). 
WTe  have  in  England  ample  evidence  from  barrows  of  the  continuance  in  use  of  stone-hatchets, 
arrow-heads  etc.  after  bronze  had  been  introduced  for  daggers  and  other  cutting  iustruments  (s. 
Evans).  In  the  tumuli  of  Wiltshire  the  stone  arrow-heads  are  usually  found  wirb  bronze  dag- 
gers. In  Derbyshire  stone  implements  are  found  not  only  with  bronze.  bul  with  iron  [Wright). 
In  the  barrow,  (called  Carder-lowe)  the  bronze  dagger  was  found  in  a  lower.  .nid  therefore  older. 
deposit,  than  one,  which  contained  nothing  but  Mint  implements  (Wright)  In  Belgium  on  the 
borders  of  the  Ardennes  a  cromlech  with  a  Koman  interment  in  it  has  been  found  in  the  middle 
of  a  Koman  cemetery  (Wright).  Bei  Homer  und  Hesiod  scheint  zu  Werkzeug  und  Ackergeräth 
Eisen,  zur  Waffe  aber  vorzugsweise  das  Kupfer  benutzt  worden  (von  Bibra).  In  den  -verschüt- 
teten Gruben  der  mit  eisernen  Werkzeugen  bearbeiteten  Goldfelsen  (am  rothen  Meer)  fand  Aga- 
tharchides  (150  a.  d.)  nur  kupferne  Werkzeuge  des  Bergbaus.  Ephorus  bezoiehnet  die  taurischen 
Gangbauten  der  Kimmerier,  als  unterirdische  Wohnungen,  mit  dem  keltischen  Worte  Argel 
(apytUas)  und  dort  wiederholt  sich  der  Gegensatz  der  Hochländer  des  Kaukasus  und  der  Nie 
derländer  des  palus  Maeotis,  wie  zwischen  Albanier  und  Maeoten  Caledonien's  (der  Ceiltach). 


136 

soll  nach  H.  aus  den  Stämmen  der  Südküste  bestehen,  welche  die  (nns  übrigens  nur  erst  durch 
höchst  dürftige  Mittheilungen  bekannte)  Ehkili  Sprache  reden.  Dieses  Idiom  hat  nämlich  nach  H. 
un  fond  africain  et  surtout  berber,  und  indem  er  dies  nachgewiesen  zu  haben  glaubt,  hält  er 
auch  die  Wanderung  der  Haniiten  aus  dem  Inneren  Asiens  durch  Arabien  nach  Afrika  für  er- 
wiesen. Verf.  wendet  sich  somit  (p.  30)  auch  gegen  die  von  It.  Hartmann  in  dieser  Zeitschrift 
(I,  p.  44)  ausgesprochene  Ansicht,  dass  Aegypten  von  Libyen  oder  den  höheren  Landschaften 
Nord-Sudans  her  seine  Bevölkerung  erhielt,  obgleich  die  Ansicht  dieses  Gelehrten  mit  der  H.'s 
eigentlich  gar  nicht  im  Widerspruch  zu  stehen  braucht.  Uebrigens  scheint  aus  anderweitigen 
linguistischen  Gründen  wirklich  eine  asiatische  Abkunft  der  nordafrikanischen  Völker  angenom- 
men werden  zu  müssen  (Vergl.  Fr.  Müller,  Novara-Expedition,  Ethnogr.  S.  92). 

Indess  hat  H.  durchaus  nicht  bewiesen  was  er  glaubt  bewiesen  zu  haben,  nämlich  den 
hamitischen  Charakter  des  Ehkili.  Hauptsächlich  stützt  er  sich  auf  Voknlvergleichung  und  bringt 
in  der  That  mehr  oder  minder  gewaltsam  einige  Anklänge  an  das  Berberische,  Aegyptische  oder 
Bega  (Hadendoa)  zu  Stande  In  vielen  Fällen  liegt  der  Irrthum  auf  der  Hand*),  in  anderen  ist 
die  Etymologie  des  betreffenden  Ehkiliworts  noch  nicht  mit  Sicherheit  zu  erkennen.  Jedenfalls 
aber  hätte  H.  wissen  müssen,  dass  bloss  durch  Vergleichung  von  30—40  Vokabeln  Sprachver- 
wandtschaft nicht  bewiesen  werden  kann.  Von  grammatischen  Uebereiustimmungen  hebt  er  be- 
sonders hervor  die  Bildung  des  Causativs  im  Ehkili  durch  präfigirtes  es  und  das  seh  des  Pro- 
nomens der  3.  Fers.  Beides  ist  aber  acht  und  alt-semitisch"),  und  wenn  im  Hamitischen  sich 
die  gleichen  Formen  hierfür  finden,  so  kann  dies  nur  mit  als  Beweis  dafür  gelten,  dass  semi- 
tische und  hamitische  Sprachen  von  alten  Zeiten  mit  einander  verwandt  sind,  nicht  aber  dass 
das  Ehkili  eine  hamitische  Sprache  ist. 

Dem  Vernehmen  nach  ist  Herr  H.  zur  Zeit  auf  Reisen  in  Südarabien.  Er  wird  hoffentlich 
dort  Gelegenheit  haben,  reicheres  Material  zu  sammeln  und  sich  von  der  Unhaltbarkeit  seiner 
Hypothese  zu  überzeugen.  Sollte  sich  übrigens  in  den  südarabischen  Sprachen  einiges  hamiti- 
sches  Sprachgut  finden,  so  wäre  dies  nicht  gerade  zu  verwundern,  da  auch  die  semitischen  Dia- 
lekte des  nur  durch  den  schmalen  Meeresarm  von  Südarabien  getrennten  Abessiniens  mehr  oder 
weniger  starke  hamitische  Beimischungen  zeigen.  Praetorius. 

Die  Ptoeiubari  und  Ptoeinphanae  des  Pllnlus.  Faul  Buchere  veröffentlicht  über  diese  Völker 
in  der  „Zeitschrift  für  ägyptische  Sprache  und  Alterthumskunde"  von  Lepsius  und  Brugsch. 
Jahrg.  1869,  S.  112  interessante  Daten,  welche  wir  im  Folgenden  etwas  näher  besprechen  wollen. 

Buchere  erwähnt  zunächst  einiger  Mittheilungen  von  Lepsius  über  sonderbare  Gebräuche 
gewisser  Bewohner  von  Fasoglo:  dass  nämlich  zu  einer  Jahreszeit  der  Landesfürst  von  vier 
Ministern  auf  einen  AngarOb  (Ruhebette)  getragen,  dass  an  einen  Fuss  dieses  Angareb  ein  Hund 
mit  einem  langen  Stricke  gebunden  und  von  der  Bevölkerung  mit  Speeren  und  Steinen  getödtet. 
dass  aber  alsdann  der  Fürst  wieder  nacli  seiner  Behausung  getragen  werde***). 

Referent  hörte  diese  Erzählung  von  Masaüd-Effendi,  Mamür  von  Rosöres  und  Fasoglo,  inso- 
weit bestätigen,  als  hiernach  der  Hund  von  jedem  Bewohner  (des  Dorfes  Fasoglo  oder  Fesoghlu, 
ferner  auch  der  Dörfer  zu  Gassan  und  Faronja)  einen  Ruthenstreich  empfange.  Es  geschehe 
dies  zur  Zeit  der  Durrahernte,  weshalb,  sei  aber  nicht  bekannt f). 

Nach  Buchere's  Bericht  findet  sich  eine  Auslegung  dieses  bizarren  Gebrauches  in  einer  Bio 
entnommenen  Stelle  des  Pliuius.  Nachdem  dieser  nämlich  einer  den  Semberriten  (Nachbarn  von 
Meroe)  gehörenden  Insel  des  Nil  gedacht,  fährt  er  fort:  weiterhin,  acht  Tagereisen  weit  (wohnen) 
die  nubischen    Vethiopier,   ihre  Stadt  Tenupsis  liegt  am  Nile,   ferner  die  Sambrer,  bei  welchen 


')  So  ist  dsinit  acht  =  somit,  sement;  sait,  set  neun  =  semit.  tis'a  mit  Metathese  wie 
ähnlich  im  Ambarischen  und  Barari;  cbitKaraeel  ist  offenber  nur  ein  Druckfehler  für  ebildas 
gew.  arabische  Wort;  siot  Feuer  =  semit.  esät;  mi,  mu  Wasser  =  semit.  mä,  mäj,  inoie; 
teia  Ziege  somit,  tali;  ob  gross,  wahrscheinlich  =  äth.  abi  H.  zieht  aber  überall  ferner  he- 
gende hamitische  Wörter  herzu, 

")  Vergl.  die  Inschrift  von  Hadramaut  in  Zeitschrift  d.  deutsch  morgenl.  Ges  XIX.  8.  238  ff. 
♦*♦)  Nach  Erzählung  des  Liwa  (Brigadegenerals)  Othmän-Bey-el-Arnaud.    Briefe  aus  Aegypten, 
Aethiopien  und  der  Halbinsel  des  Sinai.     Berlin    I8;>2,  8.  214. 

f)  Hartmann:  Reise  des  Freiherrn  Adalb.  v.  Barnim  durch  Nord-Ost- Afrika  u.  s  w.  Berlin 
1863,  S.  C24. 


137 

alle  Vierfüssler,  selbst  die  Elephanten,  der  Ohren  entbehren;  auf  der  afrikanischen  Seite  die 
Ptoembari,  die  Ptoemphanae,  welche  einen  Hund  /.um  Konige  haben,  und  welche  dessen  Be- 
fehle nach  seinen  Bewegungen  beurtheilen  (VI,  35)  Bio  scheint  diese  Nachrichten  von  einem 
Aegypter  erhalten  zu  haben. 

Buchere  hält  nun  die  Ptoembari  für  Bewohner  des  Landes  Bar,  p— to  en  bar;  die  Ptoern- 
phanae  dagegen  für  Bewohner  des  Landes  Plian,  p — to  en  phan.  Phan  müsste,  sowie  Bar,  auf 
afrikanischer  Seite,  d.  h.  westlich  vom  Nile,  gelegen,  auch  weiter  entfernt  gewesen  sein,  als  letzteres, 
indem  es  ja  spater  aufgeführt  verde,  wie  dieses.  Wenn  man  nun  erwähnten  Text  unter  Hinzu- 
nahme einer  Karte  prüfe,  so  fühle  man  sich  veranlasst,  das  Land  Bar  in  Kordufan  zu  suchen, 
da,  wo  heut  die  Stadt  Bara  sich  erhebe.  Ich  bemerke  hierzu,  dass  ausserdem  zwar  ein  Dorf 
Omm-Bari  in  Dar  Ros^res  am  blauen  Nile  befindlich  sei,  und  dass  ein  grosser  bekannter  Volks- 
stamm am  Bacher-el-Gebel  mit  dem  Namen  Bari  belegt  werde,  dass  aber  das  von  Buchere  er- 
wähnte kordufanische  Bara  seiner  Lage  nach  allerdings  dem  p — to  en  bar  der  Alten  ganz  wohl 
entsprechen  könnte. 

Ferner  meint  Buchere,  Phan  müsse  im  Süden  and  Westen  von  Kordufan  liegen  und  iden- 
tisch mit  dem  vom  Volke  der  Funje  (Fouii  ou  Fougn)  im  Süden  und  Westen  von  Kordufan  be- 
wohnten Districte  sein.  Dies  Volk  habe,  auswandernd,  auf  der  anderen  Seite  des  Nil  zu  Ende 
des  fünfzehnten  Jahrhunderts  das  mächtige  Reich  Sennär  gegründet  und  1771  auch  Fasoglo  er- 
obert, woselbst  sich  der  von  Lepsius  erwähnte  sonderbare  Gebrauch  noch  jetzt  finde.  Spuren 
des  primitiven  Sitzes  der  Funje  im  Süden  und  Westen  von  Kordufan  zeigten  sich  in  den  Namen 
Dar-Fungare  oder  Fonjoro  (Fougnara,  im  Süden  von  Für)  und  Gebel  Funjur,  Fungur  (Fougnur, 
im  Süden  Kordufan's). 

Ich  meinestheils  glaube  nun  die  Frage  nach  den  Ursitzen  und  nach  der  frühereu  Geschichte 
der  Funje  hinlänglich  aufgeklärt  zu  haben;  ich  hätte  uur  gewünscht,  dass  dem  französischen 
Aegyptologen  meine  älteren  und  neueren  Publikationen  über  diesen  Gegenstand  zugänglich  ge- 
wesen seien*).  Dass  das  Wort  „Phan"  mit  bem  Namen  Funje,  Singul.  Fuugi  in  sprachlicher 
Beziehung  stehe,  glaube  auch  ich.  Dieses  „Phan"  findet  sich  direct  im  Namen  des  Berges  De- 
fafän  wieder,  welcher  in  den  Traditionen  der  Besieger  Aloa's  eine  hervorragende  Rolle  spielt, 
ferner  auch  mittelbar  in  dem  Namen  eines  auf  den  Funje- Bergen  von  Sennar  nicht  seltenen  Bau- 
mes aus  der  Familie  der  Capparideen,  des  Sesefän.  Dies  „Fan"  wird  von  den  Funje  etwas  dünn, 
mit  nasalem  n  am  Ende,  ausgesprochen.  Der  Widerspruch,  dass  „p — to  en  phan"  westlich  vom 
Nile  gelegen  haben  solle,  löst  sich  wohl  dadurch,  dass  hier  bei  allgemeiner  Abschätzung  der  geo- 
graphischen Lage  der  Astaboras  (der  Alten)  d.  h.  der  blaue  Nil,  als  der  den  Alten  bekann- 
tere der  Hauptquellströme,  als  der  Strom  von  Meroe,  gemeint  sein  dürfte.  Der  uralte  Sitz 
der  Funje  befindet  sich  aber  zwischen  dem  blauen  und  weissen  Nile. 

Buchere  entwickelt  nun  über  die  muthmassliche  Herleitung  jener  Ceremonie  mit  dem  Hunde 
folgende  Ansichten:  Sie  fand  sich  bei  den  Funje  und  bezeichnet  ein  Jahresfest,  Dar-Fungi, 
(D.-Fougn)  oder  p— to  en  phan  ist  ehedem  von  einem  Hunde  regiert  gewesen,  d  h.  von  einer 
im  Hunde  incarnirten  Gottheit,  einer  Analogie  mit  Apis,  dessen  Bewegungen  die  Priester  ja 
auch  nach  ihrer  Fantasie  ausgelegt  haben.  Ein  Mächtiger  hat  die  von  der  Priesterkaste  ausge- 
übte Gewalt  an  sich  gerissen,  gerade  sowie  Ergamenes  in  Meroe**),  den  Hund  unter  Zudrang 
des  Volkes  tödten  lassen  und  zwar  mit  Rücksicht  auf  den  Act  der  Usurpation.  Er  hat  sodann 
die  alljährliche  Vollziehung  jener  Ceremonie  zum  Angedenken  an  die  stattgefundene  Staatsum- 
wälzung  festgestellt  Der  erste  Theil  dieses  Festes  wird  mit  allen  möglichen  Tollheiten  began- 
gen, um  an  die  Unordnung  zu  erinnern,  welche  bei  einem  von  einem  Hunde  regierten  Volke 
herrschen  musste  und  soll  die  vom  Könige  anbefohlene,  vom  Volke  gutgeheissene  Tödtung  des 
Huudes  den  Triumph  der  Ordnung  und  Autorität  symbolisiren. 

Ich  selbst  bin  der  Ueberzeugung,   dass  Buchere  mit  der  Herleitung  dieser  Hundegeschichte 


')  Z.  B.  Naturgeschichtlich  medizinische  Skizze  der  Nilländer,  Berlin  IStiö,  S.  370  ff.  Zeit- 
schrift für  Ethnologie,  Jahrgang  186P,  S.  280  ff.  Gebel-Fungur,  Dar-Fungare,  ist  nicht  Bezeich- 
nung für  den  Ursitz  der  Funje,  so  weuig  wie  Gebel-Gondjar,  Guiniar,  Bezeichnung  für  den  L'r 
sitz  der  Gondjara  oder  Gindjara  ist,  sondern  es  sind  das  Namen  für  Fungikolonien  in  Für  und 
für  Gondjarenkolonieu  (Tekariiie)  in  Ost-Sennrir. 
**)  Und  wie  Mena  in  Aegypteu  ?  —  U. 

Zeitschrift  tur  Ethnologie,  Jabrgaug  187U.  IQ 


138 

>ich  im  Ganzen  auf  dem  richtigen  Wege  befindet  Traditionen  aus  dem  Alterfhnme  sehen  wir 
hei  diesen  Völkern  in  Menge  von  Generation  zu  Generation  forterben. 

Gewisse  dunkle  Anklänge  an  einen  Hundekultus  existiren  auch  noch  anderwärts  in  Ost- 
Afrika  So  züchten  selbst  die  Schilluk  und  Denka  die  schönste  YVindhundrasse  wohl  der  Erde 
und  halten  diese  Thiere,  wie  es  auch  Funje,  Bedja  und  die  rdten  Aegypter  thatcn  und  noch 
thun,  sehr  hoch;  sie  legen  manchmal  eine  schwärmerische  Verehrung  für  dies  Hausthier  an 
den  Tag.  Bei  den  unseren  Funje  (Vielem  zufolge)  national  wohl  nicht  sehr  fernstehenden  Wa- 
huina  von  Uganda,  den  Waganda,  spielt  der  Hund  -  es  scheint  das  eine  kleine  Köterrasse  etwa 
wie  die  bekannte  des  Osortasen  zu  sein  —  nach  J.  H  Speke  bei  allen  Staatsaktionen  eine  grosse 
Rolle.  König  M'tesa,  der  jugendliche  Despot  von  Uganda,  pflegte  solch  ein  Thier  in  Gegenwart 
der  kühnen  Briten  hei  vielen  Audienzen  und  anderen  öffentlichen  Handlungen  an  der  Leine  mit 
sich  herum  zu  führen*).  Nach  einer  durch  F.  Morlang  reproducirten  Sage  der  Anwohner  des 
Jeji-Flusses  giebt  es  „weit  im  Süden-'  ein  Dschur  lo  wate  oder  Weiberdorf**).  Im  genannten 
Dschur  lo  wate  existiren  blos  Weiber,  die  sich  mit  Hunden  begatten  und  entweder  männliche 
Hunde  oder  Mädchen  gebären  u.  s.  w.  Nach  der  mir  gewordenen  Mittheilung  eines  in  der 
Garnison  von  Famaka  (Fasoglo)  als  Soldat  dienenden  Limu-Gala  giebt  es  im  Süden  von  Habesch 
Länder  voller  Zwerge'  ),  affenartiger  Zenjerenf)  und  rother  hundskö  pfiger,  von  einem 
Hunde  angeführter  Menschen  u.  S.  w.ftv 

Was  übrigens  die  hei  der  erwähnten  Hundeceremonie  der  Bewohner  Fasoglo's  und  Berta's 
begangenen  Ausgelassenheiten  anbelangt,  so  dürften  diese  ganz  sowie  alle  bei  beliebigen  Fest- 
lichkeiten, besonders  aber  bei  der  Durrahreife,  üblichen  Schmausereien,  Saufereien,  Tänze  u.  s.  w. 
aufzufassen  sein,  wie  sie  solchen  Stämmen  als  nöthiges  Attribut  des   Wohlleben    erscheinen. 

Buchere  erwähnt  endlich  gewisser  antiker  Ruinen  im  Süden  des  Berges  Merudi  zwischen 
Kordufan  und  Dar-Fur.  welche  vielleicht  einer  Stadt  der  ehemals  von  ägyptischer  Civilisation 
beeinflnssten  „Ptoemphanae"  angehört  haben  könnten.  Die  Erörterung  dieses  letzterwähnten  Ge- 
genstandes behalte  ich  mir  für  eine  andere  Gelegenheit  vor.  Hartmann. 

Prof.  A.  Ecker  empfiehlt  zur  Konservirung  der  Gehirne  „das  von  Gratiolet  und  Bischoff  vor- 
geschlagene Chlorzink  vor  Allem  deshalb,  weil  mau  nicht  nöthig  habe,  vor  Einlegung  in  diese 
Flüssigkeit  die  Pia  mater  vom  Gehirne  abzulösen,  indem  dieselbe  sich,  nachdem  sie  einige  Zeit 
darin  verweilt,  selbst  noch  leichter  als  im  frischen  Zustande  ablöse.  Wolle  man  Weingeist  zur 
Erhärtung  anwenden,  so  sei  eine  vorgängige  Entfernung  der  Pia  mater  absolut  nothwendig:  es 
könne  diese,  wenn  man  unmittelbar  das  Gehirn  in  absoluten  Alkohol  einbringe,  ganz  wohl  unter 
Wasser  geschehen.  Auch  die  in  Chlorzink  erhärteten  Gehirne  müssten  nach  einiger  Zeit  in 
Weingeist  gelegt  werden.  Für  vollständige  Erhaltung  der  Form  des  Gehirnes  sehr  vortheilhaft 
sei  auch  die  Einspritzung  von  Weingeist  oder  Chlorzink  in  die  Carotiden;  bei  Anwendung  der 
ersteren  Flüssigkeit  sei  jedoch  das  spätere  Studium  der  Windungen  wegen  der  fest  anhaftenden 
Pia  mater  mit  Schwierigkeiten  verbunden".  (Die  Hirnwindungen  des  Menschen.  Braunschweig 
ISG9,  S  00,  51.)  Will  man  Gehirne  in  Alkohol  erhärten,  so  genügt  es  zum  späteren  Studium 
der  Innentheile  derselben,  die  Pia  mater  vor  dem  Einlegen  hier  und  da  zu  lüften.  Man  wende 
sogleich  stärkeren  Weingeist  an.    Chromsäure  und  doppelt  chromsaures  Kali  eigenen  sich  nur  bei 


*)  Vergl.  Speke:  Journal  of  the  discovery  of  the  source  of  the  Nile  London  1863,  p.  291. 
.  \  white  dog,  spear.  shield  and  woman  —  the  Uganda  cognisance  — "  etc.,  ferner  die  cha- 
rakteristische bildliche  Darstellung  M'tesa's  und  seines  Staatshundes  das.  p.  292  nach  einer  Zeich- 
nung von  Grant. 

"*)  Morlang  fand  auf  einer  Landkarte  jenseit  des  Aequator  den  Namen  „Weiberstadt".  Peter- 
mann und  Hassenstein :  Innerafrika.     Abtheilung  III,  S.  120. 

"•;  .Jedenfalls  die  angeblichen  Doko's  des  Dilbo  in  C.  Uarris:  Highlands  of  Aethiopia.  London 
1844,  III,  p.  <dö. 

{•)  Zendjero,  Jenjero,  eine  Jnarya  tributpflichtige  Landschaft.  Zenjero  ist  übrigens  ein  amha- 
rischer  Name  für  den  Hamadryas-Pavian  (C'ynoccphalus  Ilamarfryas  he^m.). 

tt  Letztere  Notiz  aus  meinem  Tagebuche,  welche  ich  bisher  als  blosses  Sagengeschwätz  gauz 
lussei  \< -hl  gelassen,  gewinnt  erst  in  Verbindung  mit  Obigem  einiges  Interesse.  Der  Soldat 
nannte  das  mythische  Volk  in  seinem  schlechten  Arabisch  ein  „Nas  achmar  beta'l  ras-el-Kelb.1" 
„E  Schekh  beta'l  nas  de  min  gins  el-Kelftb,  se-i-de  el-Kelb".  Ich  wüsste  dies  nicht  anders  zu 
übersetzen,  als  oben  angedeutet  worden. 


139 

sehr  vorsichtiger  Anwendung;  ein  wenig  zuviel  macht  die  Hirnsubstanz  schon  leicht  bröcklig. 
Dagegen  eignen  sich  auch  sehr  wohl  Einspritzungen  von  arseniger  Säure,  zerrieben,  in  Spir.  Vini 
rectifieatiss.  (8—10  Gran  auf  1  Unze)  suspendirt,  sowie  von  Sublimat,  letztere  aber  nicht  ganz 
so  gut  wie  jene  (4— G  Gran  auf  1  Unze  destill.  Wassers),  in  die  Carotiden  (bei  kleineren  Säuge- 
thieren  und  Vögeln  mit  Erlolg  versucht).  Solche  Präparate  bewahrt  man  dann  in  mittelstar- 
kem Weingeist  auf. 

In  Zeiller's  „anthropologischem  Museum'  am  Odeonplatze  zu  München  finden  sich  einige 
sehr  interessante  plastische  Rassendarstellungen  vom  Menschen  So  /..  B.  No.  13.  eine  Furauieh, 
No.  14.  eine  Schankela  von  Basen  (nicht  Abyssinierin,  wie  Erklärung  besagt),  No.  10.  eine  an- 
gebliche Bornuerin,  Namens  Äischa,  (den  Wangenschnitten  nach  zu  urtheilen  aber  wohl  aus 
Mandara  gebürtig),  No.  90.  ein  Nubiermädchen,  in  London  nach  dem  Leben  sehr  brav  modellirt, 
No.  30.  ein  $  Somali,  No.  4.  die  Gypsbüste  des  Schwarzen  Salem,  Bedienten  des  Herzog-  .Max 
Interessante  Vergleichungsobjeete  bieten  der  vollständige  Körper  und  die  Köpfe  germanischer 
Weiber,  letztere  sehr  schön  gearbeitet,  dar.  H. 

Auf  der  internationalen  Kunstausstellung  zu  München  im  Sommer  1869  fiel  Pietro  Calvi's 
.Othello'  (Bildwerke,  No.  332  des  Kataloges)  als  höchst  vortreffliche  plastische  Darstellung  eines 
echten  Berbers  auf.  Dieser  Kopf  macht  doch  einen  ganz  anderen  Eindruck,  als  die  dunkel- 
angeschmiukten  pariser  oder  berliner  Bühnenheldeu  gleichenden  Othellos,  wie  sie  auf  gewissen 
berühmten  Oelgemälden  einen  mehr  wie  komischen  Effect  hervorbringen.  Auch  die  bildende 
Kunst  sollte  stets  nach  ethnologischer  Wahrheit  streben.  U. 


Bücherschau. 


Die  Wawa  oder  Wawa-t.  Von  P.  Buchere.  Zeitsclir.  f.  aegypt.  Sprache 
u.  S.  w.  1869,  S.  113  ff.  Unter  den  schwarzen  Völkern,  welche  ihre  Unabhängigkeit  gegen 
die  alten  Aegypter  vertheidigten,  war  nach  dem  Volke  von  Kese  eines  der  mächtigsten  das  Volk 
von  Wawa.  Letzteres  kommt  schon  im  alten  Reiche  unter  Sesertesen  IL  vor.  Zur  Zeit  dieses 
Pharao  fand  sich  Aegyptens  Grenze  in  Wadi-Halfa.  Die  Wawa  müsseu  also  südlich  von  diesem 
Districte  gewohnt  haben. 

Unter  Taudmes  III,  welcher  ganz  Nubien  bis  nach  Abyssinien  unterworfen,  erscheinen  die 
Wawa  als  Tributpflichtige  neben  dem  Kese  -  Volke.  Zu  dieser  Epoche  scheint  das  Gouverne- 
ment von  Kese  seine  Grenze  an  den  Provinzen  Ba-Kens  und  Chent-hen-nefer  gefunden  zu  haben, 
letztere  nicht  eben  weit  von  Aegypten  entfernt. 

Zur  Ptolemäer-  und  zur  Kaiserzeit  finden  wir  auf  Denkmälern  das  Wawa- Volk  immer  hinter 
dem  von  Kes^  als  ein  den  Aegyptern  tributäres  aufgeführt.  Das  bezeichnet  nun  für  die  da- 
malige Zeit  nichts  weiter,  als  lebhafte  Handelsbeziehungen  zwischen  beiden  Ländern.  In  den 
aus  der  Zeit  des  Verfalles  herrührenden  Dokumenten  erscheinen  die  Wawa  stets  als  eine  beträcht- 
liche und  reiche,  besonders  mit  kostbaren  Metallen,  wie  Gold,  Silber,  Kupfer  u.  s.  w.  und  mit 
Lapis  lazuli  handelnde  Nation. 

i>u»   Volk   von  Kese  darf  man  nun  nicht  weit  suchen,  es  war  das  von  Meroe,    welches   sich 


140 

nach  Süden  bi»  an  die  Gebirge  von  Habesch,  nach  Norden,  unter  Ergamenes,  bis  an  die  Gren- 
zen Aegyptens  ausdehnte,  zur  Römerzeit  aber  bereits  stark  in  Verfall  gerathen  war. 

Buchere  fragt  nun,  wo  man  wohl  die  Wawa  zu  suchen  habe?  Früher  habe  (nach  Arn. 
tl  Abbadie)  ein  reicher  mächtiger  Stamm  einen  grossen  Theil  von  Abyssinien  inne  gehabt,  näm- 
lich die  Agau  oder  Agaö,  die  xkouawas  d'Abbadie's.  Diese  dürften  ohne  Zweifel  langdauernde 
Beziehungen  mit  den  Aegyptern  unterhalten,  und  einen  diesem  Lande  nahe  liegenden  Wohnsitz 
behauptet  haben,  ^sach  Salt  hätten  die  besseren  Häuser  der  Agaus  die  charakteristische  Form 
der  altägyptisehen  Tempel.')  Auch  citirt  B.  die  bekannte  Mittheiluug  von  Bruce  über  Nilopfer 
der  heidnischen  Agau's  am  oberen  Abäy ,  welcher  Gebrauch  ebenfalls  an  Altägypten  und  Alt- 
äthiopien erinnere. 

Er  schliesst,  dass  1)  tue  Wawa  der  Aegypter  die  Agau  oder  Aouawas  der  Gegenwart  seien, 
dass  2)  diese  zur  Zeit  Sesurtesen  II.  die  Nilufer  in  Sukkot  bewohnt,  aber,  durch  die  Pharaonen 
und  die  äthiopischen  Eroberer  von  Napata  allmählich  nach  Süden  gedrängt,  ihren  alten  Nilgott 
nicht  hätten  verlassen  wollen ,  vielmehr  den  Kultus  desselben  mit  nach  dem  blauen  Flusse  ge- 
nommen. Soweit  Buchere.  Jedenfalls  müssen  wir  dem  strebsamen  Aegyptologen  die  grosseste 
Anerkennung  für  seine  Bemühungen  zollen,  den  natürlichen  Zusammenhang  zwischen  den  in 
alten  Dokumenten  aufgeführten  Völkern  mit  auch  noch  heut  existirenden  Völkern  zu  suchen. 
Einige  Punkte  in  dieser  hier  zuletzt  recensirten  Arbeit  Buchere's  bedürfen  übrigens  noch  der 
Klärung.  Obwohl  nun  in  Dar-Dongolah  ein  Dorf  Wawi  existirt,  welches,  vom  Referenten  selbst 
besucht,  an  die  Wawa  der  Aegypter  erinnern  könnte,  so  glaubt  derselbe  doch  nicht,  dass  die 
Bewohner  dieser  jetzt  ärmlichen  und  wohl  kaum  jemals  reich  gewesenen  Landparcelle  mit  dem 
antiken,  beträchtlichen  und  wohlhabenden  Handelsvolke  ähnlichen  Namens  zusammengeworfen 
werden  dürften.  Es  erscheint  die  Ansiebt  des  Verfassers,  dass  die  alten  Wawa  identisch  mit 
den  Agau  seien,  recht  plausibel. 

Als  Anmerkung  zu  meinem  Zusätze  zu  P.  Buchere's  Arbeit  über  den  Hundekultus  der 
Ptoemphanae  möge  noch  Folgendes  dienen:  Barth  schildert  nach  Angabe  des  Militärchefs  Burku, 
unter  den  zwischen  Mäsenja  und  Bang -Bai,  Baghirmi,  gelegenen  Gegenden  das  17  Tage 
von  ersterer  Hauptstadt  entfernte  Gebiet  von  Gabberi,  dessen  Bewohner,  trotz  ihres  Reichthums 
an  Pferden  und  Rindvieh,  wie  die  Bewohner  des  ganzen  Landes  von  Bäng-Wondja,  nur  Hunde- 
fleisch essen.  Ausserdem  schlachten  sie  unter  einer  grossen  Sykomore(Djimes) 
Hunde,  Schafe  und  Hühner  zu  Ehren  ihrer  Gottheit  und  begleiten  diese 
Handlung  mit  einer  lauten,  auf  Rindshäuten  erzeugten  Musik.  (Reisen  und  Ent- 
deckungen. III.,  S.  571.)  Ein  an  mir  noch  nicht  näher  bekannte  Vorstellungen  geknüpftes,  an- 
scheinend jedoch  ins  religiöse  Leben  hineinspielendes  Hundeessen  ist  bei  manchen  muslimischen 
Maghrebin  beliebt  Von  den  Njam-Njam  erzählt  man  sich,  dies  Volk  habe  Hundszähne,  Hunds- 
gesichter und  sei  geschwänzt,  wesshalb  man  es  auch  Abu-Kelab  (Hundemeuschen)  zu  nennen 
pflege.  Diese  Leute  mästen  und  verspeisen  eine  kleine  Hunderasse,  die  sie  sonst  auch  zur  Jagd 
gebrauchen").  H. 

Le  Tour  du  Monde,  nouveau  Journal  des  voyages,  publie  sous  la  directum 
de  Mr.  Ed.  (Jharton  et  illustre  par  nos  celebres  artistes.  Paris,  L.  Hachette 
et  Comp. 

Diese  illustrirte,  geographisch- ethnologische  Zeitschrift  wird  bald  das  erste  Semester  des 
Jahrganges  1870  vollendet  haben.  Mit  immer  erneuetem  Vergnügen  nehmen  wir  jede  einzelne 
Nummer  derselben  in  die  Hand,  durchblättern  wir  diese  reich  geschmückten  Seiten ,  auf  denen 
sich  ernstes  Streben  nach  wahrer  Belehrung,  ästhetischer  Sinn  und  technisches  Geschick  zu 
einer  ununterbrochenen  Leistung  einigen,  die  durchaus  ihres  Gleichen  sucht.  Welche  Fülle  des 
Materials  bietet  sich  uns  in  dieser  Zeitschrift  dar!  Die  Reisen  Repin's  und  Mouhot's,  P.  Mar- 
coy's  und  Davilliers,  die  Schilderungen  A.  Humbert's,  Duhousset's.  Garnier's,   Paris    und   noch 


*)  bei  übrigens  noch  heut  gewöhnliche  Styl  der  aus  gebrannten  oder  lufttrockenen  Ziegeln 
aufgeführten  Häuser  Ostsudän's,  wovon  man  zu  Mesalamieh ,  Woled-Medineh,  Sennar,  HeTlet- 
[dris  u.  a.  a.  0.  die  treffendsten  Beispiele  sehen  kann. 

")  Heugliu:  Reiae  in  das  Gebiet  des  weissen  Nils.     S.  206,  207. 


141 

HO  vieler  Anderer,  die  namentlich  aufzufahren  0118  der  Raum  mangelt,  rufen  unser  höchste 
Interesse  wach.  Der  Text  liefert  uns  lange,  ausgedehnte  Aufsätze,  wie  sie  unser  Wissenschaft 
liches  Gefühl  weit  mehr  befriedigen,  als  es  eine  noch  grössere  Zahl  abgekürzter  Essays  zu  thun 
vermöchte.  Unser  verehrter  Fachgenosse  Vivien  de  St,  Martin  sorgt  am  Schlüsse  jedes  Semesters 
für  einen  seiner  tiefdurchdachten  geographisch-ethnologischen  Rückblicke.  Ausgezeichnete  Kunst 
ler  schaffen  uns  eine  Menge  jener  vorzüglichen  z.  Tb.  sogar  brillant  ausgeführten  Abbildungen, 
die  jeder  Ethnolog  nur  mit  vollster  Dankbarkeit  entgegennehmen  wird.  Verziert  doch  mancher 
Ibklatscfa  der  letzteren  so  manches  nichtfranzösische  Journal  ähnlicher  Tendenz,  welches 
sich  leider  bisher  nicht  zur  Originalität  der  Seineschwester  hat  erheben  können.  Während  wir  nun 
die  zum  Theil  wahrhaft  grossartigen  ITolzschnittdarstellungen  landschaftlicher  und  rein  mensch- 
licher  Verhältnisse  aus  Brasilien  und  der  Djurdjura ,  aus  Hindustan  und  Siam,  aus  dem  .Fer- 
nen Westen"  und  aus  Habesch,  vom  Gabun  und  aus  Florida,  von  der  Rambla  und  aus  der  v:i- 
lencianer  Huerta,  aus  der  Moldau- Walachei  und  dem  Creuzot,  von  Neu-Caledonien  und  Japan, 
höchlichst  bewundern  müssen,  wünschen  wir  der  so  berühmten,  so  regsamen  Firma  der  Herren 
Hachette  &  Comp,  nur  etwas  bessere,  für  ihr  specielles  Fach  mehr  geschulte  Thierzeichner, 
wie  Deutschland  sie  in  seinem  R.  Kretschmer.  H.  Leutemann.  G.  Hammer,  wie  England  sie  in 
seinem  Wolf  und  in  noch  Anderen  besitzen.  Die  ethnographischen  Darstellungen  aus  Livingstone, 
Speke  und  Grant,  Baldwin,  Baker,  Vambery  sehen  wir  übrigens  in  dem  grösseren  Format 
und  in  der  technisch  voll  endeteren  Ausführung  des  Tour  du  Monde  weit  lieher,  als  in  den 
kleineren  englischen  Original- Ausgaben.  Hinsichtlich  der  Wiedergebung  ethnologisch  wichtigei 
Typen  ist  das  Bestreben  der  Redaktion,  möglichst  häufig  das  unvergleichliche  Hilfsmittel  der 
Photographie  in  Anwendung  zu  ziehen,  sehr  anerkennenswerth. 

Die  neuesten  April -Nummern  des  Jahrganges- 1870  bringen  uns,  eine  wahre  Erquickum: 
nach  einer  etwas  sehr  langausgedehnten  Schilderung  modernen  Bonzenwesens,  recht  lebei  - 
frische  Skizzen  des  Herrn  G.  Perrot  aus  den  noch  so  wenig  bekannten  südslavischen  Distrikten 
Oesterreichs  u.  s.  w.  Der  auch  bei  uns  hochgeschätzte  Th.  Valerio*)  illustrirt  diese  Blätter  aus 
der  Fülle  seines  Albums. 

Bisher  hatte  sich  der  im  Tour  du  Monde  veröffentlichte  Text  immer  durch  eine  kernig 
vielfach  recht  angenehm-heitere  und  namentlich  sachgemässe  Darstellungsweise  ausgezeich- 
net. Mit  um  so  tieferem  Bedauern  lesen  wir  in  Nr.  538,  dass  der  alberne,  eines  so  hoch-sre- 
bildeten  Volkes,  wie  das  französische,  so  gänzlich  unwürdige  Chauvinismus,  auch  in 
diese,  dem  edlen  Streben  nach  Erkenntnis*  gewidmeten  Blätter  sich  hineingestohlen.  Auf- 
richtig wünschen  wir,  dass  unsere  sonst  so  brave  französische  Schwesterzeitschrift  weiterhin  Für 
immer  fern  von  solchen  Scurrilitäten  bleiben  und  mit  uns  das  Banner  mit  dem  leuch- 
tenden yvoi&i  auuiof  —  zur  Ehre  kosmopolitisch- wissenschaftlichen  Strehens 
—  hochhalten  möge.  H. 

The  Natural  History  of  Man;  being  an  account  of  the  manners  a.  custoras 
of  the  uncivilized  races  of  men.  By  the  Rev.  J.  G.  Wood,  M.  A.,  F.  L. 
S.  etc.  Vol.  II.  Australia,  New  Zealand,  Polynesia,  America,  Asia,  and 
Ancient  Europa      London  1870.    864  p.  gr.  8.,  num.  woodcuts**). 

Der  vielbewanderte,  unermüdliche  Verfasser  dieses  Werkes  hat  gar  keine  leichte  Aufgabe 
über  sich  genommen,  nachdem  er  der  Völkerkunde  des  Mode-Continentes  Afrika  einen  ganzen 
dicken  Band  gewidmet,  diejenige  der  übrigen  Welttheile  in  einen  einzigen  zusammenzu- 
drängen. Wenn  nun  aber  auch  unter  der  Wucht  dieser  Aufgabe,  die  gleichmässige  Bearbeitung 
des  gesammten  Stoffes  sehr  gelitten,  so  hat  sich  Verf.  in  dieser  Hinsicht  hier  fast  noch  besser 
zu  helfen  gewusst,  als  in  jenem  ersten,  von  uns  bereits  besprochenen  Bande.  Im  vorliegenden 
zweiten  sind  einige  Abschnitte,  z.  B.  über  die  Inselwelt  Polynesiens,  über  Borneo,  Feuerland. 
Patagonien,  Arauco,  die  nordaraerikanischen  Prairiegebiete,  die  Ahts,  Qorids  und  B  ils,  mit  Aus- 

*)  In  dem  Kupferstich-Kabinet  des  neuen  Museums  zu  Berlin  erfreuen  wir  uns  des  Besitzes 
einer  Anzahl  in  ethnologischer  Hinsicht  sehr  werthvoller  Aquarellstudien  dieses  Meisters,  aus 
Ungarn  u.  s.  w. 

•*)  Vergl.  unsere  Besprechung  von  Vol.  I.     Africa,  im  Jahrg.  1869,  S.  187  dies.  Zeitschr. 


142 

fübrlichkeit  und  man  kann  wohl  sagen,  mit  Liebe,  auch  in  der  Herren  Wood  eigenen,  höchst 
gefälligen  Darstellungsweise,  behandelt  worden.  Andere  Völker  und  Gebiete  dagegen,  z.  B. 
die  doch  sehr  interessanten  Amurvölker,  die  Battas,  Garraus,  Timoresen  u.  s.  w.  kommen  wie- 
der entweder  recht  schlecht  fort  oder  sie  werden  gar  nicht  berücksichtigt.  Verf.  hat  sich  leider 
dadurch,  dass  er  auch  Siam,  China,  Japan  (und  zwar  in  ziemlich  dürftiger  Weise)  in  den  Be- 
reich seiner  sonst  ausdrücklich  den  „uncivilized  racesu  gewidmeten  Behandlung  zieht,  vorweg 
engagirt  und  bleibt  uns  daher  noch  Mancherlei  schuldig. 

Ein  ganz  vorzügliches  Material  liefert  Wood  in  Bezug  auf  die  Kunde  von  Waffen  und  Ge- 
rätheu, in  welcher  Hinsicht  seine  Bücher  wahre  Lexica  für  die  Ethnologen  abzugeben  beru- 
fen sind. 

Der  ikonographische  Theil  dieses  Bandes  ist  z  Th.  massig,  z.  Th.  aber,  aus  den  geschick- 
ten Händen  von  Zwecker,  Baiues,  Angas,  Danby  hervorgegangen,  auch  recht  befriedigend.  U.  A. 
bereiten  uns  die  lebensvollen  bildlichen  Darstellungen  einer  Sauhetze  auf  den  Samoa-inseln,  von 
Dajak-weibern,  einer  durch  Bolas  bewirkten  Jagd  auf  Vicunas,  das  Bild  eines  Mandan-Häuptlinges 
oder  einer  Robbenjagd  durch  Esquimeaux,  vielen  Genuss.  H. 

L.  Figuier:    L'Homme  primitif.    Paris,  Librairie  de  L.  Hachette  &  Comp. 

1870.     262  Gravur.,  446  pag.  8. 

Der  für  die  Popularisirung  jedes  Zweiges  der  Wissenschaft  in  Frankreich  mit  unverwüst- 
lichem Eifer  thätige  L.  Figuier  hat  mit  Obigem  wieder  einen  recht  ansehnlichen  Essai  geliefert, 
wie  er  jenes  Werk  selber  bezeichnet.  Verfasser  begeht  unserer  Meinung  nach  von  vornher- 
ein eine  kleine  Ungerechtigkeit,  wenn  er  die  bekannten  Bücher  von  Lyell:  On  the  antiquity  etc. 
von  Lubbock:  prehist.  times,  von  Vogt:  Vorlesungen  und  von  Huxley.  on  the  evidence  ihrer 
Einrichtung  und  Form  nach  tadelt.  Die  citirten  Werke  haben  denn  doch  ein  jedes  seine 
ganz  scharf  ausgesprochene  Tendenz  in  vollkommener  Berechtigung,  wie  hier  auch  die  von 
Figuier  gewählte  die  ihrige  hat.  Uebrigens  möchte  die  von  einzelnen  Seiten  gemachte  Anklage, 
Verfasser  habe  mittelst  jenes  Tadels  für  seine  eigene  Darstellungsweise  plaidiren  wollen,  mir 
völlig  ungerechtfertigt  erscheinen.  Figuier  sagt  am  Schlüsse  seiner  Vorrede  ohne  Ueberhebung-- 
„Xous  ne  revendiquons  d'autre  merite  que  celui  d'avoir  mis  en  ordre  tous  ces  materiaux  dis- 
parates et  d'avoir  facilite  la  täche  ä  ceux  qui  viendront  apres  nous  en  nous  efforcant  d'exposer 
avec  methode  et  clarte  une  question  qui  etait  plaine  d'obscurites  et  de  complications  et  qui 
figure  pourtant  au  premier  rang  de  celles  qui  s  imposent  aux  meditations  des  hommes  eclaires." 
Diese  Vorlage  hat  nun  F.  unserer  Meinung  nach  in  ganz  sachgemässer  Weise  für  die  Ausfüh- 
rung des  Gemäldes  benutzt,  welches,  bestechender  Farbe,  er  vor  uns  zu  entrollen  bemüht  ist. 

Seine  Introduktion  überhebt  schon  die  Nichtkundigen  des  Lesens  der  überaus  langweiligen 
Protokolle  betreffs  des  immerhin  wichtigen  Fundes  von  Moulin -Quignon  und  betreffs  mancher 
sonstiger  vorhistorischer  Streifzüge  unserer  Fachgenossen.  Wenn  wir  zwar  das  von  Figuier  ge- 
wissermassen  als  Motto  erwählte  „maxime  fondamentale  de  l'art:  scribentur  ad  narrandum,  non 
ad  docendum"  lieber  nur  auf  die  Kreise  des  nach  Halbbildung  haschenden  Philistertums  be- 
schränkt wissen  möchten,  so  erkennen  wir  doch  gerne  an,  dass  es  selbst  Fachmännern  gegenüber 
höchst  verdienstvoll,  sie  durch  kurze,  übersichtliche  Resume's  von  der  Lektüre  solcher  in  wahr- 
haft herzbrechender  Weise  breitgetrenener  Themata  freizumachen,  an  denen  die  Literatur  der 
Urgeschichte  so  überreich  ist,  ganz  besonders  aber  in  Bezug  auf  den  abbeviller  Kinn- 
backen. Man  erspart  Anderen  durch  solche  Resume's  Zeit  und  stört  nicht  ihren  guten  Ge- 
schmack. Wissenschaftlichkeit  ist  ja  ein  siegverheissendes  Panier,  Gründlichkeit  ist  ein  festes 
Fundament,  aber  übel  ist  es  um  die  endlose  Weitschweifigkeit  mancher,  so  mancher  Discussion 
auf  unserm  Felde. 

Figuier  schildert  nach  und  nach  die  Steinzeit,  (Epoche  des  Mammuth  und  Höhlenlöwen, 
des  Reims  (der  ausgewanderten  Thiere),  des  geglätteten  Steines)  und  der  Metall  zeit  (Bronze-, 
Eisenalter)  in  seinem  bekannten  ansprechenden,  klaren  Style,  welchem  die  anmuthige  Biegsam- 
keit seiner  Muttersprache  noch  einen  besonderen  Reiz  verleiht. 

Die  Auseinandersetzung  über  den  Ursprung  des  Menschen  erscheint  uns  ziemlich 
mager,  die  Schlussworte  zu  Kapitel  I.:  que  la  science  la  plus  eclairee  nous  declare ,  nous  crie, 
que   l'espece  est  immuable,   qu'aucune  espece  animale  derive  d'une  autre,  quelle  peut  se  trans- 


143 

former,  roais  que  toutes  reconnaissent,  une  creafion  independante  etc.  klingen,  gegenüber  einer 
höchst  schwierig  zu  losenden,  noch  so  ganz  in  der  Bewegung  begriffenen  Frage  für  unser  (iefühl 
riemlich  prätentiös. 

F.  bleibt  uns  hier  wie  anderwärts  doch  gar  zu  sehr  eine  strenge,  eine  haltbare  Definition 
Dessen  schuldig,  was  man  unter  einer  „espece  imnruable"  zu  verstehen  habe.  Wii  glauben  nun 
mal,  dass  unser  für  jetst  noch  meist  beliebter  Species-,  ja  Gattungsbegriff  nur  ein  in  kläg- 
licher Weise  um  seine  Existenz,  resp.  Duldung  ringender  sei  und  wir  hoffen,  dass  derselbe, 
in  nicht  zu  ferner  Zeit,  einem  besser  definirten   Platz  machen  werde. 

Es  kann  natürlich  nicht  fehlen,  dass  mit  einem  so  lückenhaften  Material,  wie  unsere  gegen- 
wärtigen Kenntnisse  der  vorhistorischen  Zeiten  dasselbe  darbieten,  eine  zusammenhängende,  über- 
all gleichmässig-e  Bearbeitung  der  Urgeschichte  unseres  Geschlechtes  fast  Doch  zu  den  l'nmög- 
lichkeiten  gehört.  Ja  es  kann  dabei  gar  nicht  einmal  an  falschen  Schlüssen  fehlen,  nament- 
lich so  lange  es  noch  an  ausreichenden  Beziehungen  zwischen  Damals  und  Jetzt  fehlt,  welche 
letztere  denn  doch  immer  für  uns  das  zur  Demonstratio  ad  oculos  Passende  abgeben  müssen  und 
werden.  Wir  vermögen  uns  doch  den  vorhistorischen  Menschen,  immer  nur  im  Dienste  einer  Ver- 
folgung der  Entwicklung  menschlicher  Kulturgeschichte  zu  reconstruiren.  wir  müssen  das,  was 
wir  von  ihm  in  alten  Bodenschichten,  in  alten  Wässern  auffinden,  mit  ähnlichen  Funden  im 
primitiven  Zustande  der  Jetztwelt  lebender  Menschen  vergleichen  und  müssen  von  Heut  auf 
Damals  zurückschliesseu.  Ausgenommen  bleiben  natürlich  immer  solche  sehr  seltenen  Fälle,  in 
denen  wir  absolut  nichts  der  heutigen  Zeit  Analoges  erwerben  können*).  Wir  sagen  seltene 
Fälle,  denn  hier  gilt,  sehr  vielen  bisherigen  Funden  nach  zu  urtheilen,  das  Sprüchwort:  es  giebt 
nichts  Neues  unter  der  Sonne,  ganz  besonders  Die  Urgeschichte  bewege  sich  daher  hauptsäch- 
lich auf  vergleichendem  Boden,  Hand  in  Hand  mit  Geographie  und  Ethnographie  der  Neuzeit. 
Letztere  Disciplinen  werden  mit  der  Zeit  schon  noch  manches  Licht  über  heut  unerklärte  vor- 
historische Funde  verbreiten. 

Wie  uns  dünkt,  fehlt  Figuier  dies  comparative  Element  noch  sehr  und  deshalb"  berühren 
uus  auch  seine  alten  Menschen  ziemlich  wesenlos,  fast  frostig,  trotz  allen  ihrem  Schilderer 
zu  Gebote  stehenden  Feuers  der  Diktion.  Diese  „Homtnes  primitifs"  sind  uns  noch  zu  grosse  Son- 
derwesen,  wie  sie  schwer  in  unsere  auserwählten  Typen  hineinpassen,  ein  Fehler,  den  wir  frei- 
lich, Dank  der  vielfach  üblichen,  abgeschlossenen  Behandlungsweise  der  menschlichen  Urge- 
schichte, in  den  meisten  antehistorischen  Darstellungen  wahrnehmen. 

Figuier  giebt  ein  sehr  gutes  Material  über  Waffen  und  Geräthe  der  alten  Europäer  und 
zwar  auch  in  den  zahlreichen,  sauber  ausgeführten  Abbildungen.  In  den  dem  Werke  beigefüg- 
ten z.  Th.  sehr  hübsch,  fast  in  üore's  Manier,  gearbeiteten  Gruppenbildern  sehen  wir  in  präch- 
tiger Kraft  strotzende  Männer  und  theils  üppige,  theils  grazile  Weiber  in  primitiver  Nacktheit 
dargestellt,  freilich  nach  einem  unseren  Illustrateuren  geläufigen,  Conventionellen  Ateliertypus. 
Solchen  Figuren  selbst  die  annähernden  Merkmale  ihrer  urthümlichen  Nationalität  zu  verleihen, 
gebricht  es  uns  vorläufig  leider  noch  zu  sehr  an  der  nöthigen  Keuntniss.  H. 

*)  In  solchen  Fällen  bleibt  dann  freilich  der  Phantasie  ein  sehr  weiter  Spielraum. 


Zur  Tafelerklärung. 

Die  diesem  Hefte  angehängten  vier  Steindrucktafeln  stellen  altägyptische  Schädel  dar, 
welche  auf  die  im  zugehörigen  Texte  angegebene  Weise  abgebildet  worden  sind.  Die  genauere 
Beschreibung  dieser  Figuren  wird  in  einem  der  nächsten  Hefte,  im  Texte  selbst  und  in  den  An- 
merkungen zu  finden  sein. 


Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie  und 

Urgeschichte, 

Sitzung  vom  15.  Januar  1870. 

Zu  Beginn  der  Sitzung  macht  der  Vorsitzende  Herr  Vir chow  Mittheilung  über  die  in  der 
Vorstandssitzung  vom  21.  December  1869  beschlossene  Veröffentlichung  der  Sitzungsberichte  der 
Gesellschaft  im  Anschluss  an  die  Zeitschrift  für  Ethnologie  von  Bastian  und  Hartmann  durch 
den  Verlag  von  Wiegandt  &  Hempel  in  Berlin. 

Herr  Beyrich  erklärt  schriftlich  den  von  Herrn  Hartmann  in  der  Sitzung  vom  11.  De- 
cember 1869  übergebenen  ausgehöhlten  Stein  für  ein  Muschelkalkgeröll ,  welches  vielleicht  zum 
Poliren  weicherer  Metalle,  wie  Kupfer  u.  s.  w.  gedient  haben  dürfte. 

Herr  Er  man  sprach  über 

die  Koljaschen  und  Aleaten. 

In  den  zu  Russland  gerechneten  Theilen  von  Nord-Asien  und  von  Amerika  hatten  sich 
bis  vor  einigen  Jahrzehnten  die  Sprachen  und  die  Sitten  der  Urbewohner  in  fast  ungetrübter 
Reinheit  erhalten.  —  Auf  dem  Wege  von  Berlin  über  den  Ural  bis  zum  grossen  Ocean  erlebte 
man,  neben  der  astronomischen  Meridiandifferenz,  welche  die  Uhr  des  Reisenden  zuletzt  um 
10  Stunden  retardirend  zeigte,  eine  ethnographische  von  entgegengesetzter  Richtung.  Die 
Sitten  bei  Moskau  schienen  einem  um  etwa  1  bis  2  Jahrhunderte  jüngeren  Volke  als  dem  Ber- 
liner anzugehören,  während  die  derOstjaken  am  unteren  Obi,  das  Leben  der  Rennthier- 
Tungusen  im  Aldanischen  Gebirge,  vor  Allem  aber  das  Benehmen  der  Bewohner  von  Kam- 
tschatka, in  allem  Wesentlichen  den  3000  Jahre  alten  Schilderungen  entsprachen,  die  uns 
Homer  von  seinen  Zeitgenossen  hinterlassen  hat. 

Nach  einigen  historischen  Angaben  über  die  Einwanderungen  und  meist  friedlichen  Occu- 
pationen,  welche  eine  dünn  gesäete  Russische.  Bevölkerung,  vom  12.  oder  13.  Jahrhundert  bis  zur 
Mitte  des  18.,  durch  ganz  Nord-Asien  verbreitet  haben  und  seit  1750  auch  über  die  Nordwest- 
küste von  Amerika  und  den  Archipel  zwischen  beiden  Continenten,  wurde  sodann  gezeigt,  wie 
diese  Einwanderer  bei  den  Urbewohnern  überall  mehr  zu  lernen  als  zu  lehren  fanden.  In  Folge 
einer  der  Slavischen  Race  eigenthümlichen  Biegsamkeit  haben  sie  sich  den  vorgefundenen  Ver- 
hältnissen anbequemt,  die  herrschenden  Sprachen  erlernt  und  die  Sitten  durch  keinerlei  Civilisi- 
ruugsversuche  getrübt.  Dies  gilt  auch  von  den  Russischen  Missionaren,  welche  wiederholentlich, 
und  speciell  in  Beziehung  auf  die  zwei  hier  zu  betrachtenden  Amerikanischen  Volksstämme,  er- 
klärt haben,  ihre  m sprünglichen  Sitten  seien  so  rein  und  so  anziehend,  dass  man  sich  scheue,  sie 
durch  Bekehrung  und  Europäisirung  zu  gefährden.  Auch  der  Reisende  war  unter  diesen  Umstän- 
den veranlasst,  sich  mit  den  einzelnen  Volksstämmen,  die  er  berührte,  einzuleben;  in  Folge 
davon  sammelte  er  nicht  bloss  höchst  genussreiche  Erinnerungen,  sondern  auch  nicht  unwichtige 
anthropologisch-ethnographische  Erfahrungen —  selbst  dann,  wenn  er  zunächst  auf  die 
Erforschung  von  Gesetzen  der  anorganischen  Natur  ausgegangen  war  und  gerichtet  blieb. 

Von  entgegengesetzten,  d.  h.  exterminirenden  Einflüssen  civilisatorischer  Einwanderer  wur- 
den sodann  zwei  erwähnt.  Dereine  hat  in  unserer  unmittelbaren  Umgebung,  in  den  Marken 
und  Pommern  stattgefunden,  wo  die  Namen  des  Landes,  der  einzelnen  Ortschaften,  der  Fa- 
milien, nebst  vielem  andrem  Sprachlichem  und  Sachlichem,  von  einem  Slavisch  redenden 
Stamme  herrühren,  ohne  dass  dessen  Beschaffenheit  sowie  die  Zeit  seines  Auftretens  und  Ver- 


145 

Schwindens  nachweisbar  wären.  Wir  empfinden  diese  bedauerliche  Lücke  in  unserem  ethno- 
graphischen Wissen  offenbar  durch  die  Schuld  der  süddeutschen  Bekehrer  dieses  Stammes, 
welche  zuletzt  noch  um  1124  alles  dort  Vorgefundene,  als  heidnisches  Wesen,  ebenso  unbeachtet 
und  unbeschrieben  gelassen  und  nur  auszurotten  gesucht  haben,  wie  später  die  Spanier  alle 
Maurischen  Sitten  in  einem  anderen  Theile  der  Erde. 

Viele  von  den  Räthseln  welche  uns  Pfähle  und  osteologische  Funde  in  unseren  Torfmooren 
jetzt  vorlegen,  würden  gelöst  sein,  wenn  man  auch  für  unsere  Gegend  annehmen  dürfte,  dass 
ihre  ursprünglichen  Bewohner  den  jetzigen  der  östlichen  Theile  des  alten  Continentes  in  ihrer 
Lebensart  so  nahe  gestanden  haben,  wie  diese  letzteren  sich  untereinander.  Indem  er  sich  die 
letztere  Voraussetzung  für  einen  Augenblick  erlaubte,  zeigte  der  Vortragende  durch  Zeichnuugen 
der  entsprechenden  nordasiatischen  Gegenstände,  wie  die  alten  Pommern  ihre  Rennthiere  ge- 
zäumt haben  müssen  und  dass  ihre  Pfahlbauten  wohl  kaum  Wohnungen,  wohl  aber  diejenigen 
Hülfsmittel  zum  Fischfang  gewesen  sein  können,  die  man,  mit  merkwürdigster  Uebereinstimmung, 
vom  Obj  bis  nach  Kam tschatka  und  sodann  auch  in  den  Flüssen  der  Westküste  von  Ame- 
rika wiederfindet. 

Das  andere  grossartige  Beispiel  von  Auslöschung  der  ursprünglichen  Sitten  liefern  die  ame- 
rikanischen Freistaaten.  Einigermaassen  geschieht  dies  schon  lange,  so  weit  das  Sternenbanner 
weht,  mit  bewunderungswürdiger  Schnelligkeit  aber  jetzt  neben  den  Eisenbahnen  und  deren 
telegraphischem  Zubehör.  Der  Vortragende  erwähnte  zum  Beweise,  dass  er  noch  kurz  vor  der 
Occupation  von  Californien  durch  die  Amerikaner,  in  dem  jetzigen  Weichbilde  der  wirk- 
lichen Weltstadt  San  Francisko,  die  zwei  Indianer  welche  die  mexikanische  Post  von  Mon- 
terey  nach  den  nördlichen  Missionen  brachten,  geradeso  wie  es  der  schiffbrüchige  Ulysses  auf 
dem  Mäste  seines  Fahrzeuges  gethan  hat,  auf  spindelförmigen  Schilfbündeln,  mit  untergetauchten 
Schenkeln  den  Fluss  hinabreiten,  gesehen  habe.  Dieselben  gewannen  auch  noch  das  Feuer,  das 
sie  auf  der  Reise  bedurften,  durch  Reiben  zweier  Holzstücke,  welche  sie  in  Zeugstreifen  gewickelt 
am  Halse  trugen,  um  sie  besser  wie  ihren  übrigen  Körper  vor  Durchnässung  zu  schützen. 

Da  nun  die  Inseln  der  Aleuten,  die  Insel  Sitcha  und  die  westamerikanischen  Küsten- 
länder bis  nahe  an  den  Polarkreis,  die  erstgenannte  mehr  oder  minder  schonende  Behandlung 
von  1750  1868  erfahren  haben,  die  nivellirend-auslöscbende  zweite  aber  seit  einem  Jahre,  als 
Staat  Alj  aksa  in  amerikanischem  Besitze,  so  ist  das  spurlose  Verschwinden  aller  dort  ursprüng- 
lichen ethnographisch-anthropologischen  Erscheinungen  unausbleiblich. 

Aus  diesem  Grunde  wünschte  der  Vortragende  über  die  dortigen  Kolju sc  he n  und  Aleu- 
ten Einiges  was  er  in  jener  ersten  Periode  erlebt  hat,  aufzubewahren,  ehe  es  zu  spät  wird. 
Es  sollte  mit  den  Koljuschen,  den  Bewohnern  von  Sitcha  und  dessen  Umgebungen,  ange- 
fangen und  erst  dann  zu  den  noch  länger  und  intimer  bekannten  Aleuten,  d.  i.  den  Bewoh- 
nern der  vulkanischen  Inselkette  übergegangen  werden,  die  wie  eine  Brücke  von  Amerika  nach 
Kamtschatka  hinüberreicht.  Ueber  die  in  Europa  gangbaren  Namen  dieser  zwei  Völker 
wurde  zuerst,  unter  Vorbehalt  späterer  Diskussion,  nur  bemerkt,  dass  sie  eben  so  zufällig  ent- 
standen und  daher  ebenso  werthlos  sind,  wie  diejenigen  Namen  die  wir  den  12  bis  15  Nord- 
asiatischen  Hauptstämmen  beilegen,  und  dass  hier,  wie  wohl  überall  auf  der  Erde,  jedes 
selbständige  Volk  nur  allein  das  Wort  Mensch  zu  seiner  generischen  Bezeichnung  ge- 
braucht habe. 

Unter  Vorlegung  einiger  landschaftlichen  Ansichten  von  Sitcha,  verschiedener  Bildnisse 
von  Koljuschen  und  Aleuten  und  einer  graphischen  Darstellung  des  Vorkommens  selbstän- 
diger Sprachen  auf  dem  betreffenden  Theile  der  Erdoberfläche,  wurde  etwa  Folgendes  zur  Orien- 
tirung  der  schliesslich  abzuhandelnden  Einzelnheiten  erwähnt. 

Um  57°  Breite  gelegen  besitzen  die  Wohnplätze   der  Site  ha  er  Koljuschen  ein  seltsam 
mildes  Klima.     Nach  Reaumurschem  Thermometer  betragen  für  Neu-Archangelsk 
die  mittlere  Jahrestemperatur  .     .     .     .     +  5°  7, 
die  Temperatur  des  kältesten  Monats  1°  2, 

,  ,  ,     wärmsten      „      .    .  +  13°7. 

DerEdgecomb,  von  der  Höhe  des  Brocken,  zeigt  sich  auf  der  vorgelegten  Gesammtansicht 
von  Sitcha  noch  um  Novbr.  12  ohne  jeden  Schnee  und  es  ereignen  sich  prachtvolle  Gewitter 
mit  grossen  birnförmigen  Hageln  sowohl  um  diese  Jahreszeit,  als  auch,  mit  weit  selteneren  Schnee- 
treiben aus  Norden  wechselnd,  mitten  im  Winter.     Diesen  meteorologischen  Verhältnissen  ent- 


146 

spricht  die  Kraft  und  die  Mannigfaltigkeit  der  Coniferen  Waldungen,  welche  das  Innere  der  Insel 
schwer  zugänglich  machen  und  von  dort  bis  hart  an  die  engen  Strassen  hinabreichen,  durch 
die  man,  wie  durch  einen  künstlich  gepflegten  Park,  aus  dem  Ocean  auf  die  Rhede  gelang). 
Zu  den  g  efiedereten  Bewohnern  dieses  üppigen  Urwaldes  gehört  der  von  den  Koljusch  en  oft. 
erwähnte  Vogel  Ktill,  d  h.  ein  glänzend  rother  Coli bri  (Troehilus  rui'us),  der,  wenn  auch 
an  Farbenpracht  seinen  tropischen  Verwandten  nachstehend ,  für  die  Blüthenfülle  in  einer'  so 
nordischen  Landschaft  zu  bemerkenswert hem  Beweise  dient.  Der  entsprechende  Reichthum  an 
jagdbarem  Wilde  in  dieser  Inselwaldung  und  in  deren  Fortsetzung  auf  den  nahen  Continent.. 
wird  von  den  Koljusch  en  eben  so  erfolgreich  ausgebeutet,  wie  der  L'eberfluss  an  essbaren 
Meeresbewohnern  an  den  offenen  Küsten  und  besonders  in  jenen  felsig  begrenzten  Strassen, 
welche  die  zwei  Hälften  von  Site  ha  und  deren  Umgebungen,  zu  einen  dem  Continent  vorge- 
lagerten Archipel  constituiren.  Die  Koljuschen  sind  ein,  bald  zu  Lande,  bald  auf  Booten 
wanderndes  Jagen olk  mit  Küstenschiffahrt  \on  den  Aleuten  durch  geringere  Seetüchtigkeit 
bedeutsam  unterschieden.  Bemerkens werth  erscheinen  an  den  Koljuschen  schon  bei  der 
ersten  und  feierlichen  Begrüssung,  zu  der  sie  dem  einlaufenden  Schiffe  bis  in  die  Mitte  der 
Sitchaer  Meeresstrassen  entgegenkommen,  der  berühmte  Lippenschmuck  der  Frauen,  die  kunst- 
reiche Bemalung  des  Gesichtes  bei  den  Männern  (die  dem  Reisenden  durch  Nordasien  bis  da- 
hin nur  an  den  Chinesischen  Schauspielern  in  Mai -ma- tsc  h  in  vorgekommen  ist),  die 
Mantel  form  ihrer  wollenen  Kleider,  welche  selbst  im  November  die  Beine  und  Schenkel  bei  bei- 
den Geschlechtern  unbedeckt  lassen,  --  in  noch  höherem  Maasse  aber  das  Selbstvertrauen  und 
der  Stolz  ihrer  Haltung  und  ihres  Benehmens.  Diese  werden  zwar  durch  den  schönen  und 
hohen  Wuchs  der  Männer  dieses  Stamme  begünstigt,  sind  aber  offenbar  noch  ausserdem  auf 
ihren  sogenannten  geistigen  Anlagen  begründet. 

Was  man  bald  darauf  von  dem  gegenseitigen  Verhältnis«  der  Russen  und  Koljuschen 
auf  Site  ha  sieht  und  erfährt,  bestätigt  diesen  Eindruck  in  vollstem  Maasse.  Ein  Pallisaden- 
Zaun  mit  verschliessbarem  Thore  trennt  das  auf  einer  Felskuppe  von  ansehnlicher  Höhe  gele- 
gene Fort  Neu- Archangelsk  und  die  unter  demselben  in  der  Ebene  zusammengedrängten 
Magazine  der  Russisch-Amerikanischen  Handelscompagnie,  nebst  den  Wohnungen  ihrer  Euro- 
päisch -A  leutisc  hen  Beamten  und  Mannschaften,  von  dem  sogenannten  Koljuschen-Dorfe. 
Es  ist  dieses  ein  Terrain  auf  dem,  nach  einem  der  letzten  Missverständnisse  zwischen  den  alten 
Herren  der  Insel  und  den  Europäischen  Einwanderern  und  nach  den  obligaten  Kanonenschüssen, 
der  Urwald  rasirt  ,  den  Ersteren  aber  die  Anlage  fester  Wohnungen  erlaubt  worden  ist.  Die 
Zahl  der  wechselnden  Inhaber  dieser  Wohnungen  wurde  vereinbart,  denn  das  Fortbestehen  des 
Zuzugs  derselben  war  der  Nordanieriknnischen  Handelscompagnie  unentbehrlich,  sowohl  weil  ihre 
Site  h  aer  Beamten  mancherlei  Lebensmittel  nur  von  den  K  olju  sehen  erhielten,  als  auch  weil 
die  letzteren,  durch  ihre  «ommerziellen  Talente  und  ihren  Verkehr  mit  der  continentalen  Hälfte 
ihres  weit  verbreiteten  Stammes,  den  Pelzhandel  der  Russen  wesentlich  unterstützten.  Wenn 
nun  auch,  durch  jene  Pallisadeu,  von  unumschränkten  zu  umschränkten  Herren  ihres  Geburts- 
landes gemacht,  so  geberdeten  sich  doch  die  Koljuschen,  während  der  Vortragende  sie  ge- 
sehen hat,  durchweg  wie  ein  freies  Volk,  auch  haben  sie  noch  im  Jahre  1855  einen  Angriff  auf 
Neu-Arc  hangelsk  ausgeführt.  Derselbe  soll  für  die  Russische  Herrschaft  nicht  unbedenklich 
gewesen  sein,  obgleich  das  Castell  von  N  eu-  Arch  angelsk  gut  mit  Kanonen  versehen,  die 
Beamten  der  Handelscompagnie  von  jeher  zu  einer  Landwehr  bewaffnet  und  eingeübt ,  sowie 
auch  bereits  durch  einige  von  der  Regierung  ihnen  zugesellte  Europäische  Soldaten  verstärkt 
waren. 

Was  von  dem  Vortragenden  zu  den  Bildnissen  der  Aleuten  und  der  Darstellung  ihrer 
gleich  merkwürdigen  Seefahrzeuge,  Kleidungen  und  Jagdwaffen  erwähnt  wurde,  wird  passender 
mit  dem  vorbebaltenen  eingehenderen  Bericht  über  diese  Gegenstände  zu  vereinigen  sein  Zu  der 
geographischen  Skizze,  die  er  der  anthropologischen  Gesellschaft  vorlegte,  bemerkte  er  aber 
Folgendes : 

*)  Für  die  Mitte  der  Russ.  Ortschaft  Neu- Archangelsk  aufSitcha  folgt  aus  den  Beob- 
achtungen des  Vortragenden  57n  2'  44"   Breite, 

222r14'20"  östl.  v.  Paris. 
Vergl.  Erman,  Reise  um  die  Erde  u.  s.  w.    Physikalische  Beobachtungen  Bd.  I.  St.  223,  420.  Bd.  2. 
St.  206.     47. 


147 

„Es  sind  auf  diesem  Blatte,  durch  0  verschiedene  Farben  eben  so  viele  radikale  Sprachver- 
schiedenheiten  angedeutet,  die  man  unterscheidet,  indem  man,  im  Süden  von  den  Kurilischen 
Inseln  anfangend,  nach  Kamtschatka,  von  dort  einerseits  über  die  Aleutischen  Inseln 
zu  den  Koljuschen,  und  von  der  anderen  Seite,  in  einem  weiter  nordwärts  reichenden  Bogen, 
durch  die  Weideplätze  der  Korjaken,  der  Namollen  oder  sesshaften  Tschuktscheu, 
über  die  Berings-Strasse  durch  die  \on  den  Kangjulit  und  Ttynai  bewohnten  Landschaften. 
wiederum  nach  Site  ha  geht.' 

„Ich  habe  aber  dieser  trenn  enden  Bezeichnung  (die  keineswegs  auf  Vollständigkeit  Anspruch 
macht,   sondern    nur  das  Minimum  des   Vorhandenen  andeutet)    eine    höchst  merkwürdige   ver 
einigende  (zu  nur  zwei  Gruppen)  hinzugefügt.     Diese  ist,  soviel  ich  weiss,  noch  nirgends 
bemerkt  oder  doch  ausgeführt  worden   und  ich  habe  daher  die  Verantwortlichkeit  für  ihre,  dem 
Verfolge  dieser  Mittheilungen  vorbehaltene,  Begründung  allein  zu  tragen." 

„Die  nur  zweifach  verschiedenen  Querstreifen  durch  die  (('.fach  verschiedene)  Färbung  der 
genannten  Länder  bezeichnen  nämlich  in  Beziehung  i.uf  die  in  denselben  vorgefundene  Be- 
schaffenheit der  Zahl  worte  das,  was  ich  respective 

den  vigesimalen  Typus 
und     „      decimalen  „ 

nenne.  Es  besteht  aber  der  erstere  in  zweien  Eigentümlichkeiten,  von  denen  die  bis  auf  Wei- 
teres gewählte  Bezeichnung  vigesimal  nur  an  die  eine,  und  auch  an  diese  nur  unvollständig 
erinnert." 

„In  allen  Ländern,  deren  Darstellung  die  dunkelgrüne  Querstreifung  hat,  führen  nämlich : 
1)    die  Begriffe  Haiul    und  Fünf  eine  und  dieselbe  Benennung,   und   zwar   ganz   unab- 
hängig von  der  totalen  Verschiedenheit  der  Laute,  welche  das  genannte  Paar  von  Be- 
griffen bei  dem  einen  oder  anderen  Volksstamme  bezeichnen; 
und  2)    verhält  es  sich  ebenso  mit  den  Begriffen  Mann  und  Zwanzig." 

„Es  ist  nur  eine  Consequeuz  dieses  zweiten  L'mstandes ,  dass  in  den  Benennungen  der  40, 
60  und  100  respective  die  Namen  der  J  ,  der  3  und  der  5  zugleich  mit  dem  Worte  Mann 
vorkommen." 

„In  den  mit  oranger  Quer streiiuug  dargestellten  Wohnplätzen  der  Kam  tschadale  n 
und  der  Kurilen  sind  dagegen,  ebenso  wie  bei  uns,  die  Namen  der  20,  der  30,  der  50  u  s.w. 
identisch  mit  2  Zehner,  4  Zehner,  5  Zehner  u.  s.w.,  und  der  Name  der  5  ist  von  dem  eine 
Hand  eben  so  radikal  verschieden,  wie  die  Ausdrücke  für  2U    und  für  Mann  unter  einander." 

Die  hierauf  von  dem  Vortragenden  angefangene  Darstellung  seiner  Wahrnehmungen  bei 
den  ersten  Besuchen  der  Niederlassung  der  Si  tchaer  Koljuschen  bezog  sich  auf  deren  Bau- 
werke und  häusliche  Einrichtungen  und  behandelte  von  den  befremdenden  Gebräuchen  und 
Sitten  dieses  Volkes  nach  einander  die  vprophetischen?)  Morgensitzungen  auf  einer  Strandklippe, 
die  Beschaffenheit,  die  Einbringung  und  die  vermutliche  Bedeutung  des  Lippenschmuckes  (der 
sogenannten  Kaljuga)  der  Ko  I  juschischen  Mädchen  und  Frauen  und  die  auf  deren  Men- 
struation bezüglichen  diätetischen  Vorstellungen  und  Vorkehrungen. 

Herr  Jagor  übergab  der  Gesellschaft  zum  Geschenk: 

Einen  Sarg  mit   einem  Skelet ,   an   welchem   noch   Reste   von  Muskelfasern   und  Haut 
und  Spuren   von  Geweben  wahrzunehmen  sind,   aus  der  Höhle  von  Nipa-Nipa  auf 
den  Philippinen, 
einen  Kindersarg  von  Molave,  einer  dem  Teak  verwandten  Holzart, 
eine  Anzahl  Schädel  und  Knochen, 

Scherben  von  bemaltem  Steingut,  die  er  mit  den  Särgen  zusammen  in  der  erwähnten 
Felsenhöhle  gefunden. 
Sämmtliche  Gegenstände  stammen  aus  den  Philippinen. 

Ferner  eine  Sammlung  von  etwa  WO  Photographien  aus  Ostasien  sammt  den  negativen 
Platten.  (Diese  Photographien  waren  früher  einstweilen  der  geographischen  Gesellschaft  übergeben. 
Sollten  aber,  sobald  sich  in  Berlin  ein  anthropologischer  Verein  bildete,  an  diesen  übergehen.) 

Der  Geber  sprach  die  Hoffnung  aus,  dass  die  der  Vollendung  nahen  Copieu  dieser  Photo- 
graphien dazu  dienen  möchten,  der  hiesigen  Gesellschaft  durch  Tausch  mit  ausländischen  Ver- 
einen eine  reiche  Sammlung  von  Abbildungen  fremder  Rassen  einzutragen.     Zu  demselben  Ende 


148 

• 

habe  er  Professor  Huxley,  dem  Präsidenten  der  Londoner  ethnologischen  Gesellschaft,  eine  Suite 
der  grösseren  Rassenbilder  überreicht,  wofür  von  diesem  ein  Aequivalent  in  Aussicht  stehe. 

Herr  Jagor  machte  darauf  aufmerksam,  dass  auf  Herrn  Huxley 's  Veranlassung  alle  briti- 
schen Konsuln  und  Kolonialbeamte  von  den  betreffenden  Staatsministern  amtlich  aufgefordert 
werden  sollten,  typische  Individuen  der  in  ihrem  Gebiet  vorkommenden  Volksstämme  photogra- 
phiren  zu  lassen,  und  zwar  genau  nach  gewissen  von  Prof.  Huxley  gestellten  Vorbildern  (von 
denen  Proben  vorgezeigt  wurden),  und  nach  einer  Anweisung,  in  welcher  die  Punkte  klar  ge- 
macht werden,  auf  welche  es  bei  diesen,  zu  anthropologischen  Studien  bestimmten  Abbildungen 
wesentlich  ankommt.  Es  sei  dies  nur  eines  der  vielen  Mittel,  die  seit  kurzem  in  England  von 
der  Regierung  und  den  gelehrten  Gesellschaften  wetteifernd  angewendet  werden,  um  die  Kolo- 
nien und  namentlich  das  bisher  so  sehr  vernachlässigte  Indische  Reich  nach  allen  Richtungen 
culturliistorisch  zu  erschliessen.  — 

Mit  Hinweis  auf  eine  grosse  Karte  und  die  im  Saale  aufgehängten  Zeichnungen  und  Photo- 
graphien, welche  Tagalen,  Bicols,  Bisayer,  Negritos,  Palaos,  einige  wilde  Bergstämme,  und  Bei- 
spiele hinterindischer  Pfahlbauten  und  flottirender  Häuser  darstellen,    spricht  Herr  Jagor  über 

die  Philippinen  und  ihre  Bewohner. 

Die  Philippinen  liegen  zwischen  5°  und  21°  N. ,  115°  und  124°  0.  von  Paris.  Die  Zahl 
der  grösseren  Inseln  pflegt  auf  20  angegeben  zu  werden,  die  kleinen  sind  unzählig.  Die  Haupt- 
'nsel  Luzon  zieht  sich  als  längliches  Viereck  von  18°40'N.  bis  zur  Bai  von  Manila  14°36'  und 
biegt  sich  dann  nach  Osten.  Vergleicht  man  die  Insel  mit  einem  gebogenen  Arm,  so  liegt  Ma- 
nila im  Ellenbogen.  Das  dem  Unterarm  entsprechende  Stück  wird  durch  2  tiefe,  von  N.  und 
S.  einander  entgegenstrebende  Buchten  in  2  fast  gleiche  Theile  geschnitten.  Das  westliche  und 
ein  grosses  Stück  des  daranstossenden  nördlichen  Gebietes  ist  von  Tagalen,  das  östliche  von  Bi- 
cols bewohnt,  die  auf  diese  Halbinsel  und  die  unmittelbar  davor  liegenden  Eilande  beschränkt 
sind.     Auf  den  südlich  und  östlich  davon  gelegenen  Inseln  wohnen  Bisayer. 

Alle  diese  Volksstämme  sind  von  malayischer  Rasse;  sie  reden  verschiedene,  aber  nahe 
verwandte  Sprachen,  und  stimmen  in  ihren  Gesichtszügen,  ihrer  Haltung,  ihrem  "Wesen  so  sehr 
überein,  dass  man  sie  erst  bei  längerem  Umgange  unterscheiden  lernt  und  den  Gesammteindruck 
empfängt,  dass  die  Bicols,  die  zwischen  den  Tagalen  und  Bisayern  wohnen  und  eine  Sprache 
reden,  die  zwischen  der  der  Tagalen  und  Bisayer  mitten  inne  liegt,  auch  in  körperlicher  und 
geistiger  Beziehung  zwischen  ihren  Nachbarn  die  Mitte  halten,  den  Bisayern  im  Allgemeinen 
überlegen  sind,  den  Tagalen  aber  nachstehen.  Es  ist  zu  hoffen,  dass  die  vergleichende  Ethno- 
logie, wenn  ernste  wissenschaftliche  Forschungen,  ihr  das  jetzt  gänzlich  fehlende  Material  liefern, 
das  Dunkel  über  den  Ursprung  dieser  Völker  mehr  oder  weniger  lichten  wird. 

Von  einem  Reisenden  darf  man  nur  erwarten,  dass  er  die  auffallendsten  Züge,  die  sich  Je- 
dem bemerklich  machen,  hervorhebt.  Und  es  dürfte  wohl  Keinem,  der  die  Philippinen  besucht, 
entgehen,  dass  ihre  Bewohner,  obwohl  ohne  Zweifel  von  malayischer  Rasse,  doch  von  den  eigent- 
lichen Malayen  sehr  merklich  verschieden  sind,  und  diese  geistig  sowohl  als  körperlich  beträcht- 
lich überragen. 

Ein  anderer  Umstand  ,  der  Jedem  auffallen  muss ,  ist,  dass  der  Menschenschlag  am  schön- 
sten und  ausgebüdetsten  ist  in  den  grossen  Verkehrscentren.  wo  wahrscheinlich  zahlreiche  Ver- 
mischungen mit  Chinesen  und  Japanesen,  später  mit  Spaniern  stattgefunden  haben.  Mit  Erste- 
ren  bestanden  schon  in  sehr  früher  Zeit  rege  Handelsbeziehungen. 

In  den  alten  Chroniken  der  Kolonie  sind  die  Nachrichten  über  die  Herkunft  der  gegenwär- 
tigen Eingeborenen  äusserst  ungenügend,  doch  scheint  es  danach,  als  wären  die  Bicols  vor  den 
Tagalen  in  das  Land  gekommen. 

Schon  aus  dem  blossen  Anblick  der  Karte  ergiebt  sich,  wie  reich  der  Archipel  gegliedert 
ist,  aber  ein  Umstand,  der  aus  der  Karte  nicht  ersichtlich  wird,  ist  die  ganz  ausserordentliche 
Menge  kleiner  Flüsse  mit  weiten  Mündungen.  Diese  bevorzugten  Oertlichkeiten  haben  von  jeher 
eine  grosse  Anziehungskraft  für  Ansiedler  gehabt.  Der  Fluss  ist  eine  von  der  Natur  gegebene 
Strasse,  auf  der  Lasten  bis  an  den  Fuss  der  Berge  befördert  werden  können.  In  vielen  beträcht- 
lichen Inseln  sind  bis  auf  den  heutigen  Tag  keine  anderen  vorhanden.  Dort  gedeihen  die  Cocos- 
und  die  Nipapnlme  am  besten,  hinter  ihnen  breiten  sich  die  Reisfelder  aus,  dort  ist  der  Fisoh- 
fang  am  ergiebigsten,  sowie  das  Sammeln  von  Muscheln  und  Krabben  und  essbaren  Algen. 


149 

An  solchen  Orten  errichtet  der  Eingeborene  sein  Haus  auf  Pfählen  an  der  Grenze  zwischen 
Ebbe  und  Fluth.  Die  malayischen  Pfahlbauten  entspringen  so  natuigemäss  aus  den  örtlichen 
Verhältnissen,  dass  ihre  Zweckmässigkeit  auf  den  ersten  Blick  in  die  Augen  springt,  während 
der  Zweck  der  vorgeschichtlichen  in  unserer  Heimath  vielleicht  noch  lange  den  Scharfsinn  der 
Forscher  beschäftigen  wird. 

Solche  Verhältnisse  fanden  schon  die  Spanier  bei  ihrer  Ankunft  vor  :;0O  Jahren:  Ueberall 
an  den  Flussuiündungen  seefahrende ,  unter  vielen  Ideinen  Häuptlingen  disciplinirte  Völker- 
schaften, die  leicht  überwunden  wurden  oder  sich  freiwillig  der  überlegenen  Rasse  unterwarfen; 
es  gelang  ihnen  aber  nicht,  die  unabhängigen  Stämme  im  Innern  zu  besiegen;  noch  heut  giebt 
es  solche  auf  allen  grösseren  philippinischen  Inseln. 

Ganz  ähnliche  Zustände  bestehen  an  vielen  Orten  des  indischen  Archipels:  Die  Handel 
und  Seeraub  treibenden  Malayen  besitzen  die  Gestade,  dort  herrscht  auch  ihre  Sprache;  die 
Eingeborenen  sind  von  ihnen  unterjocht,  oder  in  die  Wälder  gedrängt,  wo  sie  ein  kümmerliches, 
aber  unabhängiges  Leben  führen  und  durch  die  Unzugänglichkeit  ihrer  Wohnsitze  und  durch 
Armuth  vor  weiteren  Nachstellungen  geschützt  sind. 

Die  Bewohner  des  Irarog  gehören  solchen  unabhängigen  Stämmen  an.  Aber  vielleicht  sind 
weder  die  Bergvölker,  noch  die  Indianer,  wie  die  Spanier  alle  tributzahlenden  christlichen  Ein- 
gebornen  nennen,  die  ursprünglichen  Bewohner  des  Landes.  Als  solche  werden  die  Negritos 
angesehen,  kleine  zierliche  behende  Schwarze  mit  krausem  Haar,  die  im  Norden  Luzon's  in 
grösserer  Anzahl,  vereinzelt  auch  weiter  südlich  vorkommen  Aber  auch  dieser  Annahme  scheint 
jede  sichere  Grundlage  zu  fehlen.  Die  Bewohner  des  lriga  scheinen  Mischlinge  von  Negritos 
und  Indiern   zu  sein. 

Es  ist  Herrn  Jagor  gelungen,  eine  nicht  unbeträchtliche  Zahl  von  älteren  Schädeln  an 
verschiedenen  Orten  der  Philippinen  zu  erwerben.  Einige  derselben,  welche  leider  sämmtlich 
stark  zerbrochen  sind,  stammen  aus  einer  Höhle  in  Caramuan  (Insel  Luzon) ,  einer  vom  Isarog. 
alle  übrigen  sind  von  der  Insel  Samar,  westlich  von  Luzon. 

Samar  ist  fast  nur  an  seinem  Rande  von  civilisirten  Indiern  bewohnt  und  zwar  von  Bi- 
sayern.  Im  Innern,  das  mit  dichtem  Walde  bedeckt  ist,  giebt  es  keine  Strassen  und  keine 
Dörfer ,  es  dient  aber  vielen  unabhängigen  Stämmen  zum  Aufenthalt.  Negritos  sind  auf  der 
Insel  nicht  vorhanden..  Ein  Schädel  nebst  den  dazu  gehörigen  Knochen  ist  im  Walde  an  der 
Ostküste  bei  Borangan  gefunden  und  stammt  vermuthlich  von  einem  heidnischen  Eingeborenen. 

Daran  schliesst  sich  ein  Fund  aus  einer  Höhle  bei  Lanaug  (Ostküste  von  Samar),  die  der 
Vortragende  nicht  selbst  besucht  hat  Sie  liegt  angeblich  am  Ufer  des  Flusses,  dem  Dorfe 
gegenüber  und  ist  in  der  dortigen  Gegend  wegen  ihrer  flachgedrückten  Riesenschädel  ohne  Kopf- 
nähte berühmt.  Einer  von  diesem  Fundort,  der  mit  einer  dicken  Kalksinterkruste  überzogen, 
kann  noch  jetzt  als  ein  gutes  Beispiel  gelten.  Die  noch  übrigen  Schädel  sind  aus  Höhlen  in 
Felsen,  die  dicht  vor  der  Südküste  von  Samar,  dem  Dörfchen  Nipa-Nipa  gegenüber,  aus  dei 
schmalen  Meerenge  hervorragen,  welche  diese  Insel  von  Leyte  trennt.  Die  Umstände,  untei 
welchen  sie  gefunden  worden,  sind  bereits  im  I.  Heft  der  Ethnologischen  Zeitschrift  geschildert, 
weshalb  hier  nur  kurz  erwähnt  wird,  dass  es  Sitte  der  heidnischen  Bisayer  war,  ihre  vornehmen 
Todten  in  dergleichen  Höhlen  beizusetzen,  in  gutschliessenden  Särgen,  umgeben  von  Hausrath 
und  Mundvorrath,  zuweilen  auch  von  Sklaven,  die  zu  dem  Zweck  getödtet  wurden.  Da  deren 
Grabstätten  bis  in  die  Neuzeit  Gegenstand  abergläubischer  Verehrung  waren,  so  hatte  ein  Geist- 
licher die  Särge  zertrümmert,  die  Skelete  in's  Meer  geworfen,  es  war  nur  eines  der  letzteren, 
einige  Schädel  und  viele  Scherben  von  Schüsseln  übrig  geblieben. 

Sämmtliche  Schädel  sind  Herrn  Virchow  zur  genaueren  Untersuchung  übergeben  und 
werden  von  demselben  später  besprochen  werden. 

Der  Vortragende  citirt  mehrere  Stellen  aus  älteren  Schriftstellern,  in  welchen  die  Art  der 
Todtenbestattung  vor  der  christlichen  Zeit  beschrieben  wird;  sie  stimmen  durchaus  überein  mit 
den  Verhältnissen,  unter  welchen  die  Särge  und  Schädel  gefunden  wurden.  .  .  .  „sie  legten  ihre 
vornehmen  Todten  in  eine  Kiste,  die  aus  einem  ausgehöhlten  Baumstamme  bestand  mit  einem 
gut  zugespannten  Deckel  .  .  und  stellten  sie  .  .  .  auf  einen  erhabenen  Ort  oder  einen  Felsen  am 
Ufer  eines  Flusses,  damit  sie  von  den  Frommen  verehrt  werde."  (Informe  sobre  las  lslas  Filipi- 
nas.  Madrid  1843.  Bd.  I.  21)  .  .  .  „Sie  stellten  ihnen  Mundvorräthe,  Schüsseln  und  Näpfe  in  die 
Gräber  .  .  .  auch  pflegten  sie  Sklaven  mit  den  Vornehmen  zu  begraben  ,  um  sie  in  der  anderen 


150 

Welt  zu  bedienen."  (Gaspar  de  San  Agustin  Conqnistas    Madrid   1698.  S.  100)     Die  Greise 

-tarben   in  dieser  Eitelkeit   (nach   ihrem  Tode   angebetet   zu  werden);   wie  Einer   auf  der  Insel 
evte,    der  sich   am  Rande  des  Meeres  beisetzen  Hess,  damit  ihn   die  vorüberfahrenden  Schiffer 
als  Gott  anerkennen  und  verehren  möchten."  (Relation  des  Isles  Philippines  par  un  religieux  qui 
y  a  demeure  IS  ans.    Tbevenot,  Paris  1664.    Fol.    Bd.  II.  p.  21  .  .  . 

Wie  am  Westrande  des  Archipels  der  lange  Verkehr  mit  China,  Japan.  Hinterindien  und 
später  mit  Europa  den  Typus  der  Rasse  heeinflusst  zu  haben  scheint ,  so  mögen  am  Ostrande 
polynesische  Beziehungen  in  ähnlicher  Weise  gewirkt  haben:  Palaos-  und  Carolineninsulaner 
waren  ein  Jahr  vor  der  Ankunft  des  Vortragenden  durch  Stürme  nach  Samar  verschlagen  worden. 
In  Guiuan  auf  der  Südostspitze  dieser  Insel  erhielt  er  den  Besuch  von  Palaos -Insulanern, 
die  seit  14  Tagen  beschäftigt  waren,  bei  Sulangan,  auf  der  schmalen  Landzunge  südöstlich  von 
Guiuan.  nach  Perlmuscheln  zu  tauchen,  und  eigens  zu  dem  Zwecke  die  gefahrvolle  Reise  unter- 
nommen hatten.  Sie 'waren  aus  I'leai  (Uliai).  14  1°  40'  0.  von  Paris,  mit  5  Booten,  jedes  mit 
9  Mann  Besatzung  ausgelaufen,  in  jedem  Boote  waren  40  Kürbisse  voll  Wasser,  Cocosnüsse  und 
Bataten.  Jeder  Mann  erhielt  täglich  eine  Cocosnuss  und  2  Bataten,  die  in  der  Asche  der  Coeos- 
schalen  gebacken  wurden.  Sie  fingen  einige  Fische  unterwegs  und  sammelten  Regenwasser  auf. 
Ein  Sturm  zerstreute  die  Boote:  nur  eines  erreichte  2  Wochen  nach  der  Abfahrt  Tandag  an  der 
Ostküste  von  Mindanao,  8,'.  Wahrscheinlich  waren  diese  die  einzigen  Geretteten  :  Zwei  Boote 
gingen  sainmt  ihrer  Mannschaft  vor  den  Augen  der  Uebrigen  zu  Grunde.  Bei  der  Schifffahrt 
richteten  sie  sich  bei  Tajre  nach  der  Sonne,  Nachts  nach  den  Sternen.  In  Tandag  hlieben  sie 
2  Wochen  und  verrichteten  Feldarbeit  für  Tagelohn,  von  da  fuhren  sie  nordwärts  die  Küste  ent- 
lang nach  Cantilang,  8°  25'  N.,  Banouan  (bei  Coello  irrthümlich  Bancuan),  9C  1'  N..  Taganaan 
9°  25'  N.,  von  da  nach  Surigao  au  der  Nordspitze  von  Mindanao.  und  dann  gerade  nach  Guiuan 
mit  Ostwind  in  :'  Tagen. 

In  der  deutschen  Uebersetzung  von  Captain  Salmon's  Historie  der  orientalischen  In- 
seln, Altona  1733,  heisst  es  S.  G3:  .Man  hat  neulicher  Zeit  noch  andere  Inseln  ost- 
wert s  von  den  Philippinischen  entdecket  und  selbigen  den  Namen  der  neuen  Philippinischen 
beigeleget,  weil  sie  in  der  Nachbarschaft  der  alten  und  bereits  beschriebenen  liegen.  Der  Pater 
Clan  (Ciain)  bringt  in  einem  Brief  aus  Manila,  welcher  den  Philosophical  transactions  ist  ein- 
verleibet worden,  folgenden  Bericht  von  denselben:  Es  trug  sich  zu,  als  er  in  der  Stadt  Gui- 
uam  auf  der  Insel  Samar  war,  dass  er  daselbst  29  Palaos  (es  waren  30,  einer  starb  bald  darauf 
in  Guiuan)  oder  Einwohner  von  gewissen  erst  neulich  entdeckten  Inseln  antraff,  welche  von  den 
westlichen  Winden,  welche  hier  vom  December  bis  an  den  Majum  wehen,  dahin  waren  verschla- 
gen worden.  Sie  hatten  70  Tage  lang  nach  ihrem  Bericht  vor  dem  Winde  geseegelt,  ohne  eini- 
ges Land  in's  Gesicht  zu  bekommen,  bis  sie  vor  Guivam  angelandet  waren.  Als  sie  aus  ihrem 
Vaterlande  geseegelt,  waren  ihrer  zwey  Boote  gestopft  voll,  und  mit  deren  Weibern  und  Kindern 
in  allen  35  Seelen  gewesen;  unterschiedliche  aber  waren  von  dem  unter  Weges  erlittenen  Un- 
gemach crepiret.  Als  einer  von  Guivam  zu  ihnen  an  Bord  kommen  wolte,  wurden  sie  in  eine 
solche  Angst  gesetzet,  dass  alle  Kerls,  die  in  dem  einen  Fahrzeug  waren,  mit  ihren  Weibern 
und  Kindern  über  Bord  Sprüngen.  Wiewohl  sie  doch  zuletzt  am  besten  zu  seyn  befunden,  in 
den  Hafen  einzulaufen,  so  dass  sie  den  28.  December  lb96  aus  Land  kamen.  Sie  assen  Cocos- 
nüsse und  Wurt/.elii,  welche  ihnen  raildiglich  zugetragen,  und  geschenekt  wurden:  aber  den  ge- 
kochten Reis,  die  allgemeine  Speise  der  asiatischen  Völker,  wollen  sie  gar  nicht  einmal  kosten. 
Zwo  Weiber,  welche  vormals  aus  denselben  Inseln  dahin  verschlagen  waren, 
dieneren  ihnen  zu  Dolmetscherinnen. .  .  .  Die  Leute  des  Landes  gehen  halb  nackt  und  die  Män- 
ner schildern  (malen)  ihre  Leiber  mit  Flecken  und  machen  allerhand  Figuren  darauf.  ...  So 
lange  sie  auf  der  See  waren,  lebten  sie  von  Fischen,  welche  sie  in  einer  gewissen  Art  von  Fisch- 
körben fingen,  die  einen  weilen  Mund  hatten,  unten  aber  spitz  zuliefen  und  hinter  ihren  Booten 
hergeschleppet  wurden.  Das  Regenwasser,  so  sie  etwa  auffingen  (oder  wie  in  dem  Briefe  selber 
stehet,  in  den  Schalen  der  Cocosnüsse  aufhüben),  dienete  ihnen  zum  Getränk. 

Als  sie  vor  den  Pater  sollten  gebrachl  werden,  welchen  sie  wegen  der  Hochachtung,  die 
man  ihm  erwies,  für  den  Gouverneur  hielten,  färbeten  sie  ihren  Leib  gantz  gelb,  welches  sie 
für  den  grössten  Staat  halten,  in  welchem  sie  für  ansehnlichen  Leuten  erscheinen  können.  Im 
Tauchen  sind  sie  sehr  erfahren  und  finden  unterweilen  Perlen  in  den  Muscheln,  die  sie  heranl 
bringen,  welche  sie  aber  als  unnütze  Dinge  wegwerfen." 


151 

Eine  der  wichtigsten  Stellen  in  Pater  Clain's  Brief  hat  Capt.  Salmon  ausgelassen :  rDer 
älteste  dieser  Fremdlinge  war  schon  einmal  an  die  Küste  derProvinz  Caragan 
in  einer  unserer  Inseln  (Mindanao)  geworfen  worden,  da  er  aber  nur  Ungläubige  gefunden  hatte, 
die  in  den  Bergen  und  auf  dem  öden  Strande  wohnen,  war  er  in  sein  Vaterland  zurückgekehrt." 

In  dem  Briefe  des  Pater  Cantova  an  den  I'ater  D'Aubenton,  Agdana  (d.  Ii.  ^garia),  Marian- 
nen 20.  März  1722,  der  die  Carolinen-  und  Palaosinseln  beschreibl  heissl  es:  r^as  -!.  Gebiet 
liegt  westlich  .  .  Yap  (auf  span.  Karten  Uyap,  auf  engl  Gouap,  Oua  i  2.V  Y.  138°  :'  0.  Gr.) 
welches  die  Hauptinsel  ist,  hat  über  10  Leguas  Umfang.  . .  Ausser  den  verschiedenen  Wurzeln, 
die  bei  den  Eingeborenen  der  Insel  die  Stelle  des  Brodes  vertreten,  findet  man  Bataten,  welche 
sie  Camotes  nennen  und  welche  sie  von  den  Philippinen  erhalten  haben,  wie  mir  einer  von 
unseren  Carolinen-Indianern  mittheilt,  der  von  dieser  Insel  gebürtig  ist  Er  erzählt,  dass  sein 
Vater,  Namens  Coorr  .  .  ,  3  seiner  Brüder  und  er  selbst  durch  den  Sturm  nach 
einer  der  Provinzen  in  den  Philippinen  verschlagen  worden,  welche  man  Bi- 
sayas  nennt,  dass  ein  Missionar  unserer  (iesellschaft  (Jesu)  sie  freundlich  aufnahm  .  .  .  dass 
sie.  nach  ihrer  Insel  zurückkehrend,  Samen  verschiedener  Pflanzen  dahin  brachten,  und  unter 
andern  Bataten,  dass  diese  sich  so  sehr  vermehrten,  dass  sie  genug  hatten,  um  die  andern  In- 
seln dieses  Archipels  damit  zu  versehen."  .  . 

Dies  sind,  abgesehen  von  der  freiwilligen  Reise,  i  uugesucht  sich  darbietende  Beispiele  von 
Eingeborenen  der  Palaos,  die  nach  den  Philippinen  verschlagen  wurden.  Es  würde  vielleicht 
nicht  schwer  sein,  noch  mehrere  aufzufinden;  aber  wie  oft  mögen  vor  und  nach  Ankunft  der 
Spanier  Fahrzeuge  der  Palaos  in  den  Bereich  der  Nordoststürme  gerathen  und  von  diesen  un- 
widerstehlich an  die  Ostküsten  der  Philippinen  getrieben  worden  sein,  ohne  dass  die  Kunde  da- 
von aufbewahrt  worden! 

Nach  Pigafetta  (Paris,  l'An  IX.  S  liO.)  besassen  die  Bewohner  der  Ladronen  die  Kunst,  ihre 
Zähne  schwarz  und  roth  zu  färben;  dasselbe  wird  von  den  alten  Bisayem  erzählt  und  scheint 
auf  frühen  Verkehr  zwischen  beiden  Völkern  zu  deuten. 

HerrVirchow  sprach 

üeber  die  Schädel  der  älteren  Bevölkerung  der  Philippinen,  insbesondere  über  künstlich 
verunstaltete  Schädel  derselben. 

„Als  Herr  Jagor  mir  die  Mittheilung  machte,  dass  er  eine  grössere  Anzahl  von  Schädeln 
von  den  Philippinen  mitgebracht  habe,  welche  er  meiner  Untersuchung  unterziehen  wolle,  machte 
ich  mich  alsbald  daran,  um  wenigstens  Einiges  über  ihre  anatomische  Beschaffenheit  seinem 
Vortrage  hinzufügen  zu  können.  Der  erste  Blick  zeigte  jedoch,  dass  eine  der  seltensten 
künstlichen  Verunstaltungen  des  Schädels,  welche  überhaupt  bekannt  ist,  in  ausgezeichneten 
Exemplaren  hier  vorliegt,  und  dass  diese  Schädel  ein  ganz  besonderes  Interesse  in  Anspruch 
nehmen.  Ein  Theil  von  ihnen  hat  wesentlich  dieselbe  Form,  welche  sich  im  nordwestlichen 
Nordamerika  findet,  und  unter  dem  Namen  des  Flachkopfes  (Flathead;  bekannt  ist.  Namentlich 
einer  der  von  Herrn  Jagor  mitgebrachten  Schädel  aus  der  Höhle  von  Lanang  ist  ein  Flachkopf 
von  musterhafter  Ausbildung;  er  ist  von  oben  und  vorn  her  flachgedrückt,  wie  ein  Kuchen,  und 
von  den  weit  nach  hinten  geschobenen  Seitenbeinhöckern  (Tubera  parietalia^  läuft  das  fast  ganz 
abgeplattete  Hinterhaupt  in  einer  Ebene  schräg  nach  unten  gegen  das  grosse  llinterhauptsloch. 
Einige  der  anderen  Schädel  verhalten  sich  ähnlich,  wenngleich  ihre  Verunstaltung  keinen  so 
hohen  Grad  erreicht  hat. 

Dass  auf  den  Inseln  Asiens  ähnliche  Gebräuche  geherrscht  haben,  wie  \,i  Amerika,  ist  aller- 
dings, wie  sich  bei  genauerer  Nachforschung  gezeigt  hat,  von  einzelnen  Schriftstellern  berichtet, 
indess  ist  die  Thatsache  doch  so  verborgen  geblieben,  namentlich  ist  sie  so  wenig  durch  authen- 
tische Funde  belegt  worden,  dass  davon  auch  in  den  Werken  der  Specialschriftsteller  kaum  die 
Rede  ist.  Nur  Thevenot,  dessen  Werk*)  am  Ende  des  IC.  Jahrhnuderts  erschienen  ist,  lässt 
einen  Geistlichen  in  einer  Beschreibung  der  Philippinen  berichten,  dass  die  Eingebornen  auf 
einigen  dieser  Inseln  die  Gewohnheit  hätten,  den  Kopf  ihrer  neugebornen  Kinder  zwischen  zwei 
Bretter  zu  legen  und  so  zusammenzupressen,  dass  er  nicht  mehr  rund  bliebe,  sondern  sich  in 
die  Länge  ausdehne.     Kr  fügt   hinzu,    dass  sie  auch   die  Stirn  abplatteten,   indem    sie  glaubten, 

*)  M.  Theveuot,  Relations  de  divers  voyages  eurieux.     Paris   1591. 


152 

dass  diese  Forin  ein  besonderer  Zug  von  Schönheit  sei.  Eine  genauere  Betrachtung  der  vorlie- 
genden Schädel  ergiebt  in  der  That  deutlich  die  doppelte  Compression,  welche  einerseits  schräg 
\on  hiuten  und  unten  her,  andererseits  von  vorn  und  oben  her  auf  den  Schädel  ausgeübt  ist, 
und  man  braucht  sich  diese  beiden  Druckflächen  nur  verlängert  zu  denken,  so  bekommt  man 
die  nach  vorn  zusammengehende  Stellung  der  Druckbretter,  welche  noch  heute  bei  gewissen 
wilden  Stämmen  der  nordamerikanischen  Westküste  im  Gebrauch  ist. 

Die  Sache  hat  gegenwärtig  eine  ganz  besondere  Bedeutung,  weil  die  Zahl  der  Fundstellen 
solcher  verunstalteter  Schädel  im  Laufe  der  letzten  Jahre  immer  grösser  geworden  ist,  und  zwar 
auch  in  Europa.  Was  insbesondere  Deutschland  anbetrifft,  sc  sind  am  meisten  bekannt  die  in 
der  Nähe  von  Wien  gefundenen  difformen  Schädel,  über  welche  lange  und  gelehrte  Streitigkeiten 
stattgefunden  haben,  indem  die  eine  Partei  meinte,  es  handele  sich  um  Awarenschädel,  möglicher 
Weise  um  direkte  Ueberreste  der  alten  Hunnen,  während  auf  der  anderen  Seite  sogar  die  Frage 
auftauchte,  ob  nicht  bei  der  grossen  Aehnlichkeit,  welche  diese  Schädel  mit  gewissen  Peruaner- 
Schädeln  zeigen,  anzunehmen  sei,  dass  durch  die  Beziehungen  der  Habsburger  zu  Peru  Schädel 
von  da  nach  Deutschland  gekommen  und  hier  verloren  gegangen  sein  könnten. 

Diese  letzte  Frage,  die  immerhin  discussionsfühig  war,  hat  ihren  Boden  gänzlich  verloren, 
seitdem  in  den  letzten  Zeiten  ähnliche  Funde  auch  an  anderen  Orten  Europas  gemacht  worden 
sind.  Nachdem  schon  Blumenbach  in  seiner  berühmten  Schrift  De  generis  humani  varietate 
nativa  1770,  p.  63  eines  derartigen  Schädels  aus  einem  Göttinger  Grabe  gedacht  hat,  ist  neu- 
lich von  Hrn.  Ecker  in  Freiburg  im  ersteu  Bande  des  „anthropologischen  Archives"  S.  70  ein 
solcher  Fund  aus  Rheinhessen  genauer  beschrieben  worden.  Der  Schädel  wurde  gefunden  in  der 
Nähe  von  Niederolm,  zwischen  Mainz  und  Alzey,  innerhalb  einer  grösseren  Gräberreihe,  welche 
dort  aufgedeckt  worden  ist.  Diese  Beschreibung  hat  Hrn.  Barn ard  Davis  Veranlassung  ge- 
geben auf  einen  schon  früher  von  ihm  in  seinen  Crania  britannica  bezeichneten  Schädel  auf 
merksam  zu  machen  (Archiv  f.  Anthropologie  II.  S.  17),  welcher  auf  einem  seiner  Meinung  nach 
angelsächsischen  Kirchhof  zu  Harnhain  bei  Salisbury,  Wiltshire,  aufgefunden  worden  ist. 

Es  wird  daher  wohl  kaum  noch  zweifelhaft  sein  können,  dass  in  der  That  auch  in  Europa 
einheimische  Stämme  ähnliche  Gebräuche  gehabt  haben ,  und  wenn  wir  nun  auf  der  anderen 
Seite  das  Gebiet  dieser  Difformitäten  sich  weit  über  die  bisher  gekannten  Grenzen  auf  die  Inseln 
Ostasiens  ausdehnen  sehen,  —  bisher  war  Tahiti  der  von  Osten  her  am  meisten  vorspringende 
Punkt  von  welchem  derartige  Schädel  bekannt  waren,  —  wenn  wir  sehen,  dass  dasselbe  Verfahren 
auf  den  Philippinen  geübt  worden  ist,  so  wird  man  sich  wohl  darein  finden  müssen,  anzuneh- 
men dass  durch  eine  gewisse  Uebereinstimmung  des  menschlichen  Geistes,  wie  sie  uns  auch 
sonst  oft  genug  überrascht,  derartige  Gebräuche  sich  an  den  verschiedensten  Orten  festgestellt 
.haben,  ohne  dass  man  daraus  Folgerungen  auf  einen  direkten  Zusammenhang  der  Völker  ziehen 
darf,  und  ohne  dass  man,  was  meiner  Meinung  nach  das  Wichtigste  ist,  von  dem  Vorkommen 
gewisser  Schädel-Difformitäten  berechtigt  ist  auf  die  Abstammung  der  Völkerschaften  und  auf 
prähistorische  Wanderung  derselben  zurückzuschliessen.  Ich  betone  dies  namentlich  gegenüber 
den  Ausführungen  des  Herrn  Gosse  (Mem.  de  la  soc.  d'anthrop.  de  Paris.  1861.  T.  II.  p.  667), 
welcher  aus  gewissen  übereinstimmenden  Verunstaltungen  der  Schädelform  darthun  will,  dass 
von  Florida  eine  alte  Bevölkerung  in  Mexiko  eingewandert  sei  und  sich  später  bis  nach  Peru 
ausgebreitet  habe. 

*  Von  besonderem  Interesse  sind  die  sehr  ähnlichen  Schädel,  welche  in  der  Krim  gefunden 
worden  sind,  und  die  Herr  v.  Baer  zum  Gegenstande  einer  besonderen  Abhandlung**)  gemacht 
hat.  Fs  ist  dies  eine  klassische  Gegend,  denn  schon  Hippokrates  hat  uns  Nachrichten  von 
einer  Völkerschaft  an  der  östlichen  Ecke  des  schwarzen  Meeres  hinterlassen,  welche  er  Makro- 
cephalen  nennt,  die  sich  nach  seiner  Aussage  durch  die  Gestalt  ihres  Schädels  von  allen  anderen 
Völkern  auszeichnete.  Durch  Anlegung  von  Binden  nnd  Maschinen  zwangen  sie,  wie  er  sagt, 
schon  den  Kopf  des  neugebornen  Kindes,  in  die  Länge  zu  wachsen,  und  zwar  deshalb,  weil 
sie  die  Länge  des  Kopfes  für  ein  Zeichen  des  Adels  hielten.  Nach  Hippokrates  haben  ver- 
schiedene andere  Schriftsteller  über  diese  Völkerschaft  berichtet. 

Ueberall,  von  wo  wir  seitdem  Nachrichten  über  die  Entstehung  dieser  DifTormität  erhalten  ha- 

**)  Die  Makrocephalen   ioi   Boden   der  Krym    und    Oestcrreichs.      Mem.   de  l'acad.  irap.   des 
scieuce!»  de  St    Petershourg.  Ser.  VII.  T.  II.  No.  6. 


153 

ben,  kommen  sie  darin  überein,  dass  die  ueugebornen  Kinder  entweder  auf  ein  Bretl  gelegt  werden 
und  ihnen  dann  durch  Binden  der  Kopf  gegen  dasselbe  angezogen  wird,  oder  dass  ihr  Kopf 
zwischen  zwei  Bretter  gezwängt  und  dadurch  ein  Druck  auf  zwei  Punkte  desselben  ausgeübt 
wird,  oder  endlich,  dass  an  bestimmte  Stellen  des  Kopfes  Compressen  augelegl  und  darüber  Bin- 
den in  allerlei  Zirkeltoureu  um  den  Kopf  herumgeführt  werden,  so  dass  durch  die  Compresse 
eine  Abplattung,  durch  die  Binden  circuläre  Eindrücke  hervorgebracht  werd< 

Die  ersten  ikonographischen  Mittheilungen  über  diese  Verhältnisse  hat  der  berühmte  ame- 
rikanische Reisende  Catlin  veröffentlicht;  bei  ihm  finden  wir  auch  Abbildungen  der  Compres- 
sionsmaschinen.  In  seiner  Beschreibung  der  Chiuook's  an  der  Westküste  Nordamerikas  zeichnet 
er  auf  der  einen  Tafel  eine  flachköpfige  Dame,  welche  ihr  neugebornes  Kind  im  Druckapparat 
hält,  auf  der  nächstfolgenden  Tafel  ein  kleines  kahnartiges  Werl  ■  ug,  in  welchem  das  Kind  einge- 
wickelt  liegt,  und  welches  so  eingerichtet  ist,  dass  es  au!  deu  Bücken  gehängt  werden  kann,  um 
so  die  Wanderungen  mitzumachen,  welche  diese  wenig  sesshafteu   Völkerschaften  unternehmen, 

Dass  ähnliche,  wenn  auch  uichl  so  complicirte,  abei  doch  nicht  minder  wirksame  Operatio- 
nen noch  gegenwärtig  in  Europa  vorgenommen  werden,  ist  namentlich  durch  verschiedene  Be- 
obachtungen in  südfrauzösischen  Departements  festgestellt  worden.  Man  kennt  3 — 4  solche  Ge- 
benden, wo  noch  gegenwärtig  durch  Druckeinwirkungeu  der  Kopf  der  Neugcbornen  ver- 
unstaltet wird.  ]>a  nun  auch  in  verschiedenen  Gegenden  Deutschlands  ähnliche  Schädel  ge- 
•  unden  worden  sind,  so  erlaube  ich  mir  ganz  besonders  die  Aufmerksamkeit  auf  diesen  Punkt  zu 
lenken,  da  es  wünschenswert!!  wäre,  darauf  Acht  zugeben,  ob  etwa  Rückstände  dieser  Gebräuche 
auch  in  der  norddeutschen  Bevölkerung  anzutreffen  sind,  worauf  eine  Notiz  hei  Blumenbach 
(De  generis  huraani  varietate  nativa,  p.  WO  speciell  für  Hamburg  hindeutet. 

Nachdem  wir  die  Analogie  der  difformen  Schädel  von  den  Philippinen  mit  denen  der 
Chinooks  und  verschiedener  anderer  flachköpfiger  Bevölkerung  constatirt  haben,  so  fragt  es  sich: 
Was  mag  der  Volksstamm,  welchem  diese  Schädel  angehörten,  für  eine  primäre  Gestaltung  des 
Schädels  besessen  haben?  wie  würden  diese  Schädel  ausgesehen  haben,  wenn  sie  nicht  küustlich 
missstaltet  worden  wären? 

In  dieser  Beziehung  bemerke  ich,  dass  Herr  Gosse,  ein  Genfer  Arzt,  der  eine  sehr  ver- 
dienstvolle Abhandlung  über  die  künstliche  Verunstaltung  des  Schädels*)  geschrieben  hat,  die 
schon  von  Hippokrates  aufgestellte  Meinung  wiederholt  hat,  es  könne  sich  allmählich  eine 
erbliche  Fortpflanzung  dieser  Form  einstellen,  und  es  bedürfe  in  der  Folge  der  Generationen 
nicht  mehr  einer  ausgiebigen  Einwirkung,  um  sie  zu  erzeugen;  sie  erhalte  sich  von  selbst  auf 
dem  Wege  der  Heredität.  Dagegen  sprechen  alle  sonstigen  Erfahrungen:  bei  Catlin  sind 
Chinook-Indianer  abgebildet  aus  der  neueren  Zeit,  wo  diese  Bräuche  nicht  mehr  herrschen,  deren 
Schädel  sich  nicht  difform  zeigt;  ja,  unter  den  östlicheren  Stämmen  giebt  es  einzelne,  wie  die 
Choctaw's,  die  ursprünglich  mitten  in  dem  jetzt  cultivirten  Nordamerika  gewohnt  haben,  unter 
denen  früher  ähnliche  Sitten  herrschten,  und  in  deren  Gräbern  man  noch  abgeflachte  Schädel  ge- 
funden hat,  bei  denen  jedoch  jetzt  jede  Spur  dieser  Schädelform  geschwunden  ist,  nachdem  sie 
die  Compression  aufgegeben  haben.  Dazu  kommt,  dass  in  manchen  Stämmen  die  Verunstaltung 
ein  Vorzug  der  männlichen  und  zwar  der  adeligen  männlichen  Bevölkerung  war  und  dass  ausser 
den  Sklaven  auch  die  Frauen  davon  ausgeschlossen  waren,  —  ein  Umstand ,  welcher  der  Ver- 
erbungstheorie keineswegs  günstig  ist.  Man  darf  nirgends  annehmen,  dass  sich  diese  Difformität 
von  selber  fortgepflanzt  hat,,  und  es  wird  überall,  wo  man  sie  antrifft,  die  Frage  entstehen:  giebt 
es  Schädel,  aus   welchen   mau   die   ursprüngliche   Form  erkennen   kann? 

Für  die  Erörterung  dieser  Frage  an  den  Philippinen-Schädeln  ist  ein  Umstand  von  besou 
derem  Nutzen.  Ausser  dem  Eingangs  erwähnten  Muster-Schädel  -.hören  noch  4  andere  dem. 
selben  Fundorte  an.  Sie  sind  sämmtlich  in  der  Höhle  bei  Lanang  unter  Verhältnissen  gefunden, 
welche  ein  grosses  Alter  andeuten.  Ich  erwähne  zuerst  einen  ringsum  mit  starken  Kalkmassen 
inenistirten  und  dadurch  colossal  vergrösserten  Schädel,  welcher  ein  ganz  formidables  Aussehen 
darbietet  und  als  richtiger  fossiler  Schädel  erscheint.  Trotz  der  Kalkmassen,  die  ihn  um 
hüllen,  kann  man  sehr  wohl  erkennen,  dass  er  wesentlich  derselben  abgeplatteten  Form 
angehört  oder  ihr  jedenfalls  sehr  nahe  steht       Au  einem  dritten  Schädel  dagegen   ist  keine  Spul 

*)  L.  A.  Gosse,  Essai  sur  les  deformations  artiticielles  du  eräne.  Anual.  d'hygiene  pu- 
blique et  de  med.  legale.     Paris  1855.  Juill. 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgaug  187U.  11 


154 

jener  abweichenden  Form  vorhanden,  so  dass  durchaus  Urin  Zweifel  darüber  bestehen  kann,  dass 
er  niemals  einem  Druckverfahren  unterlegen  hat.  und  da  er  an  derselben  Stelle  mit  den  anderen 
gefunden  worden  ist,  so  ist  meiner  Meinung  nach  auf  dies  Verhältniss  ein  grosser  Werth  zu 
legen.  Endlich  die  letzten  beiden  Schädel,  obwohl  sie  deutliehe  Spuren  der  Abplattung  an  sieh 
tragen,  zeigen  dieselbe  doch  in  abnehmendem  Maasse,  so  dass  man,  wenn  man  einen  nach  dem 
andern  mit  jenem  ersten  vergleicht,  eine  ziemlich  regelmässige  Stufenfolge  der  Verunstaltung  er- 
kennt. Ich  hahe  oiu  diesen  letzteren  Schädeln  den  Kalküberzug  grossentheils  abgesprengt,  worauf 
sieh  ergab,  dass  man  schon  auf  eine  mehr  natürliche  Form  gelangt,  welche  weit  davon  entfernt 
ist.  eine  augenfällige  Aehnlichkeit  mit  den  Chinook-Köpfen  darzubieten;  freilich  der  sehneile  und 
ebene  Abfall  des  Hinterhauptes  deutet  immer  noch  darauf  hin,  dass  eine  künstliche  Einwirkung 
stattgefunden  hat. 

Noch  wichtiger  ist  es.  dass  aus  einer  anderen  und  zwar  aus  einer  von  der  eben  erwähnten 
ziemlich  entfernten  Lokalität,  nämlich  aus  der  von  Herrn  Jagor  (Zeitschrift  für  Ethnologie  I. 
S.  80)  beschriebenen  Felsklippe  von  Nipa-Nipa,  welche  in  der  Strasse  zwischen  Samar  und  Leyte 
gelegen  i~-t,  zwei  andere  Schädel  von  ihm  mitgebracht  worden  sind,  von  denen  der  eine  dieselbe 
Vi  runstaltung  in  hohem  Maasse  darbietet,  wie  die  besprochenen.  Ich  erwähne  nur  aus  der  Mitthei- 
ung  des  Herrn  Jagor,  dass  vom  Meere  aus  eine  Art  Thor  in  die  Klippe  hineingeht,  durch 
welches  man  in  eine  innere  Bucht  gelangt,  die  von  steilen  Felswänden  umgeben  ist;  an  einer 
der  letzteren  befindet  sich  hoch  über  dein  Meere  eine  schwer  zugängliche  Höhle,  aus  welcher  die 
Schädel  genommen  sind. 

Auch  an  diesen  beiden  Schädeln  aus  der  Höhle  von  Nipa-Nipa  zeigt  sich  eine  entschiedene 
Differenz:  an  dem  einen  bemerken  wir  eine  positive  Abplattung,  einen  steilen  Abfall  von  den 
Tubera  parietalia  nach  unten,  wie  er  niemals  an  einem  natürlichen  Schädel  vorkommt,  und  von 
unmittelbar  derselben  Lokalität  rührt  ein  anderer  Schädel  von  übrigens  ganz  ähnlicher  Färbung 
und  Beschaffenheit  der  Knochen  her,  der  vielleicht  einer  leichten  Abplattung  unterlegen  hat, 
worauf  eine  gewisse  Verschiebung  nach  der  einen  Seite  hin  deutet,  der  aber  im  Uebrigen  ganz 
offenbar  dem  gewöhnlichen  oder  ursprünglichen  Zustande  sich  nähert. 

Auf  diese  Weise  kann  man,  wie  mir  seheint,  seinen  Weg  von  den  künstlich  erzeugten  zu 
den  ursprünglichen  Verhältnissen  zurückfinden,  und  es  ist  möglich,  zu  Schädelformen  zu  gelan- 
gen, bei  welchen  man  wenigstens  annähernd  richtig  gewisse  Verhältnisszahlen  aufstellen  kann, 
welche  zur  Yergleichung  mit  anderen  Befunden  dienen  dürfen.  Unsere  Zuversicht  in  die  Rich- 
tigkeit der  Schlussfolgerungen  ist  um  so  grösser,  als  die  Zahlen  beider  Beobachtungsreihen  sich 
:j ege i iseitig  controliren. 

Für  diejenigen  Herren  aus  der  Gesellschaft,  welche  nicht  Anatomen  sind,  bemerke  ich,  dass 
es  in  neuerer  Zeit  Gebrauch  geworden  ist,  die  ethnologisch  wichtigsten  Maassverhältnisse  des 
Schädels  zunächst  in  der  Weise  zu  bestimmen,  dass  man  Verhältnisszahlen  zwischen  Länge, 
Breite  und  Höhe  des  Schädels  sucht,  in  der  Art  dass  die  Länge  =  100  gesetzt  und  Breite  und 
Höhe  darnach  reducirt  werden.  Der  Kürze  wegen  kann  man  die  gefundene  procentische  Zahl 
für  die  Breite  als  Breitenindex,  diejenige  für  die  Höhe  als  Höhenindex  bezeichnen.  Das  Ver- 
hältniss von  Höhe  zu  Breite  wird  gleichfalls  auf  eine  Breite  von  100  berechnet  und  die  Zahl 
für  die  Höhe  als  Breitenhöhenindex  aufgeführt.  Thut  man  dies  nun  an  den  am  wenigsten  dif- 
formen  Schädeln  der  Philippinen,  so  kommt  man  immer  noch  auf  einen  Breitenindex,  welcher 
nach  den  bisher  bekannten  Erfahrungen  für  die  ostasiatische  Inselbevölkerung  ganz  unerhört  ist. 
Hei  dem  einen  relativ  normalen  Schädel  aus  der  Höhle  von  Nipa-Nipa  beträgt  der  Breitenindex  89,1, 
der  Höhenindex  78,9,  der  Breitenhöhenindex  88,5;  bei  dem  einen  Lanang-Schädel  ist  der  Breiten- 
index  80,1,  der  Höhenindex  77.8,  der  Breitenhöhenindex  97,1.  Solche  Breitenverhältnisse  sind 
überall  ungewöhnlich;  z.B.  die  äusserste  Grenze  der  Breitenverhältnisse  in  Europa  rinden  wir 
bei  den   Lappen,  wo  sie  zwischen  82  und   83  schwankt. 

Es  ergiebl  sich  zunächst  aus  diesen  Verhältnissen  in  ganz  unzweifelhafter  Weise,  dass  diese 
in  ausgezeichnetem  Sinne  brachycephale  Bevölkerung,  die  doch,  wie  es  scheint,  einer  lange 
vergangenen*)  Zeit  angehört,  nichts  zu  thun  hat  mit  den  Negritos,  denn  diese  stehen,  soviel  bis 


*)  Da  seit  Thevenot  kein  neuerer  Autor  von  der  Klathead-Mode  auf  den  Philippinen  spricht, 
-..  wnd  man  diese  Schädel  mindestens  nicht  hinter  das  IG.  Jahrhundert  verlegen.  Die  Kalk- 
incrustation  könnte  sich  in  einigen  Jahrhunderten  ganz  wohl  gebildet  haben,  doch  ist  es  auch 
denkbar,  dass  nach  ihrer  Bildung  die  Schädel  beliebig  lange  unverändert  bleiben,  und  dass  sie 
dennoch  einer  .sehr  viel  älteren  Zeit  angehören. 


155 

jetzt  bekannt,  mit  den  Australnegern  in  Beziehung,  welche  sich  alle  auszeichnen  durch  die  re- 
lativ geringe  Breite  ihres  Schädels  im  Vergleich  zu  einer  relativ  beträchtlichen  Länge.  Einige 
andere  polynesische  Stämme  sind  geradezu  ausgezeichnel  durch  die  geringe  Breite  des  Schädels 
bei  einer  ungewöhnlichen  Höhe  und  Länge  CHypsistenocephali). 

Man  ist  daher  für  unsere  Schädel  darauf  angewiesen,  andere  Verwandtschaften  aufzusuchen, 
und  die  nächste  Frage,  welche  sich  hier  aufwirfl  ist  dir:  j>t  es  eine  malaische  Bevölkerung 
gewesen,  mit  der  wir  es  Zu  thun  haben?  Auch  füi  dir  malaische  Race  liegen  die  angeführten 
Verhältnisse  ausser  aller  Erfahrung;  -  giebl  ein  ,paar  Punkte  im  Gebiete  der  Malaien,  an  wel- 
chen erheblich  breite  Schädel  gefunden  worden  sind.  Welcker  (Archiv  für  Anthropologie  II. 
S.  154—156)  hat  die  extremsten  Verhältnisse  an  dm  von  Madura,  einer  nördlich  von  Java  ge- 
[egenen  Insel,  hergebrachten  Schädeln  Dachgewiesen,  bei  drum  aber  doch  solche  Verhältnisse 
tdchl  vorkommen,  wie  wir  sie  hier  vor  uns  finden.  Nach  seinen  Mittheilungen  betrug  der 
Breitenindex  derMaduresen,  der  übrigens  dem  Höhenindex  gleich  war,  82*).  Nächstdem  stehen 
n  der  Liste  von  Welcker  dir  Menadaresen  mit  einem  Breitenindex  von  80  und  einemHöhen- 
index  von  81.  Für  die  Javanesen  berechnet  er  einen  Breitenindex  von  79,  wahrend  freilich  an- 
dere Autoren  82—84  Italien  Immerhin  ist  durch  die  neuere  Untersuchung  constatirt,  dass  inner- 
halb der  malaischen  Reihe  eine  gewisse  Breite  der  Schwankungen  nach  Stammen  existirt,  und 
dass  man  bei  einzelnen  derselben  zu  Breitenindices  kommt  ,  welche  denen  der  Lappen  nahezu 
analog  sind. 

unter  dm  vorliegenden  Schädeln  stammt  nur  einer,  derjenige  nämlich,  welchen  Herr  Jagor 
•im  Vsarog  auf  der  Insel  Luzon  ausgegraben  hat,  nach  den  Nachrichten,  welche  er  erhielt,  von 
einem  der  heutigen  Eingebornen;  es  war  bekannt,  dass  der  betreffende^ Mann,  ein  Cimarone, 
durch  einen  Hieb  am  Hinterhaupte  sein  Leben  verloren  hat.  Dieser  Schädel  ist  unglücklicher- 
weise der  einzige  unter  den  von  Herrn  Jagor  mitgebrachten,  von  welchem  man  sicher  ist,  dass 
er  einer  noch  jetzt  bestehenden  Race  angehört,  und  da  wir  auch  sonst  wenig  Nachrichten  über 
die  Craniologie  der  Philippinen**;  haben,  so  bin  ich  nicht  in  der  Lage,  etwas  Bestimmtes  über 
seine  Stellung  zu  sagen.  Sein  Breitenindex  betragt  70,9,  der  Höhenindex  76,1,  der  Breitenhöhen- 
index 98,9,  die  Capacität  1315  Cub.-Cm.  Auch  wenn  man  die  einzelnen  Schädelknochen  mit 
denen  der  Lanang-  und  Nipa-Nipa-Schädel  vergleicht,  so  sind  die  Verhältnisse  so  wesentlich 
abweichend,  dass  in  der  That  keine  Beziehungen  des  modernen  Schädels  zu  den  Höhlen-Schä- 
deln aufgefunden  werden  können.  Dagegen  kann  ich  allerdings  nach  den  sonst  vorliegenden 
Messungen  sagen,  dass  der  Cimaronen-Schädel  eine  gewisse  Aehnlichkeit  mit  Malaien-Schädeln 
von  den  benachbarten  Sunda-Inseln,  namentlich  mit  Dajak-Schädeln***)  darbietet. 

Es  bleibt  aber  noch  eine  Reihe  von  Schädeln,  6  an  der  Zahl,  zu  betrachten,  welche  zwar 
sämmtlich  aus  einer  anderen  Höhle  genommen  sind,  als  die  bisher  besprochenen,  aber  doch  von 
demselben  Felsencomplex  von  Nipa-Nipa  stammen,  in  welchem  die  eine  der  vorhin  erwähnten 
Höhlen  liegt.  Diese  Schädel  haben  namentlich  durch  die  häufige  Erhaltung  der  Unterkiefer 
einen  besonderen  Werth.  Sie  gehören  ihrer  ganzen  Erscheinung  nach  einer  anderen  Kategorie 
an  und  machen,  namentlich  durch  ihre  gute  Erhaltung,  den  Eindruck  einer  mehr  modernen 
Gruppe.  Für  das  chronologische  Datum,  welches  man  ihnen  beilegen  kanu,  tragen  sie  noch  ein 
besonderes  Indicium  an  sich:  es  sind  nämlich  zwei  de. seihen  exquisit  syphilitisch,  so  dass  sie 
wirklich  als  Musterspecimina  in  einem  pathologischen  Museum  aufgestellt  zu  werden  verdienen. 
An  dem  einen  findet  sieh  eine  Durchbohrung  des  harten  Gaumens  und  eine  Zerstörung  im  Um- 
fange- des  Naseneingauges  an  dem  Oberkiefer  und  den  Nasenbeinen,  welche  jedoch  offenbar  ge- 
heilt gewesen  ist;    der  andere   bietet  ein   mustergültiges  Beispiel    von  t'aries   sicca,   welche   die 


*)  Kur  zwei  Schädel  von  Madura  bei  J.  van  der  Hoeven  (t'atal.  craniorum  p.  38)  berechne 
ich  den   Breitenindex  zu  80,4  und   78,4,  den  Höhenindex  zu  79,7  und  84,6. 

**)  Meyen  (Nova  Act.  Acad.  Leon.  Car.  1834.  Vol.  XVI.  suj.pl.  1.  p.  47),  der  auch  den 
Schädel  einer  Tagalin  von  Manila  abbildet,  rechnet  diesen  Stamm  nebst  den  Bewohnern  derCa- 
rolinen,  Marionen  u.  s.  w.  zur  Kasse  der  Oceanier.  Sc  bete  I  ig  (Transact  EthnoL  Soc.  1868. 
VII.)  stellt  die  Luzonesen  bestimmt  zu  dm  Malaien.  Nach  seinen  Messungen  hat  ihr  Schädel 
einen  Breitenindex  \<>n  $4,\,:>  bei  einem  Höhenindex  von  77-,  Davis  habe  bei  Bisayer-Schädeln 
so  und   79  berechnet. 

**•)  Welcker  berechne!  für  diese  einen  Breitenindex  von  75  bei  einem  Höhenindex  von  77. 
Ciner  der  Dajak-Sehädel    bei'van  der  lloeven    hat  einen   Breitenindex    von  75,2,   ein   zweiter 


E 

von  78,7 


11* 


15H 

(iegend  der  Stirn  einnimmt  und  von  da  auf  die  Nasenwurzel  übergreift,  so  dass  kein  Zweifel 
sein  kann,  dass  es  sich  um  eine  chronische  Periostitis  gummosa  des  Stirnheines  und  der  Nasen- 
beine gehandelt  hat. 

Nun  flieht  es  freilich  über  das  Alter  der  Syphilis  verschiedene  Meinungen,  indess  ist  bis 
jetzt  weder  die  .Meinung  aufgestellt  worden,  dass  die  Syphilis  ursprünglich  auf  den  Philippinen 
sieherrscht  hahe,  noch  ist  irgend  eine  Thatsache  an  einem  alten  Schädel  entdeckt  worden,  welche 
darthäte,  dass  syphilitische  Veränderungen  in  der  alten  Zeit  bestanden  hätten.  Man  wird  also 
immerhin  annehmen  können,  dass  diese  Schädel  erst  zu  einer  Zeit  in  die  Höhle  gebracht  worden 
sind,  als  schon  ein  längerer  Gontact  mit  europäischen  Völkern  stattgefunden  hatte,  also  wahrschein- 
lich nach  dem  Anfange  des  1K.  Jahrhunderts.  Andererseits  darf  man  nicht  wohl  annehmen, 
dass  eine  christianisirte  Bevölkerung  noch  diese  Höhle  benutzt  habe,  da,  wie  Herr  Jagor  be- 
richtet, die  christlichen  Priester  mit  grosser  Heftigkeit  sieben  diese  l'eberreste  gewüthet  haben. 
Es  lüsst  sich  daher  wohl  mit  ziemlicher  Sicherheit  schliessen,  dass  die  Zeit,  innerhalb  deren 
diese  Leichen  in  der  Höhle  von  Nipa-Nipa  deponirt  worden  sind,  nicht  allzu  lauge  nach  dem- 
jenigen Zeitpunkte  zu  suchen  ist,  in  welchem  eine  häufigere  Beziehung  mit  Europäern  herge- 
stellt worden  war,  und  man  wird  vielleicht  annehmen  dürfen,  dass  die  Schädel  dem  Ende  des 
16.  oder  dem  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  angehören;  denn  diese  Zeit  ist  es,  wo  die  spanische 
Herrschaft  sich  ausbreitete,  und  es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  derartige  Gebräuche  von  dieser 
Zeit  ab  gerade  unter  der  Küstenbevölkerung,  von  der  ein  grosser  Theil  -vorher  muhamedanisirt 
worden  war,  weiter  fortbestanden  haben. 

Da  nun  die  Stämme,  welche  an  der  Küste  ihren  Sitz  haben,  mit  denjenigen  im  Innern  des 
Landes  in  loserer  Berührung  stehen,  so  wird  in  der  Regel  wohl  der  Fundort  der  Schädel  dem 
Sitze  der  Bevölkerung ,  von  welcher  sie  stammen,  entsprechen.  Handelt  es  sich  also ,  wie  bei 
der  Höhle  von  Nipa-Nipa,  um  eine  Küsten-Lokalität,  so  wird  man  auch  annehmen  können,  dass 
der  betreffende  Yolksstamm  an  der  Küste  gewohnt  hat.  Es  liegt  daher  nahe  zu  schliessen,  dass 
diese  Gruppe  von  Schädeln  eine  Beziehung  zu  den  noch  jetzt  vorhandenen  Malaienstämmen  der 
Küste  hat,  und  in  der  That,  wenn  man  diese  Schädel  betrachtet  und  damit  die  Physiognomien 
der  Leute  auf  den  Abbildungen  des  Herrn  Jagor  vergleicht,  so  zeigen  sich  gerade  bei  den  Bi- 
sayos  gewisse  Eigenschaften,  welche  an  allen  diesen  Schädeln  wiederkehren:  die  verhältniss- 
mässige  Kürze  bei  relativer  Breite  der  Schädel  findet  sich  bei  der  Vergleichung  der  Profil-  und 
Frontalansichten  der  Bisayerinnen  leicht  wieder;  dazu  kommt  die  charakteristische  Bildung  der 
Stirn-  und  Nasengegend,  die  von  der  kaukasischen  gänzlich  verschieden  ist,  insofern  die  stärkste 
Wölbung  der  Stirn  gerade  da  liegt,  wo  bei  uns  eine  flache  Vertiefung  (Glabella)  besteht;  endlich 
sind  die  ungewöhnliche  Niedrigkeit  der  Nase  und  der  stark  prognathe  Zustand  der  Kiefer  überall 
deutlich  zu  erkennen.  Wenn  man  die  Profile  mit  einander  vergleicht ,  so  ist  so  viel  Aehnlich- 
keit  vorhanden,  wie  man  überhaupt  zwischen  einem  Schädel  und  einem  lebendigen  Gesichte  nur 
erwarten  kann. 

Auch  diese  Schädel  besitzen  eine  ungewöhnliche  Breite;  sie  haben  im  Mittel  gerechnet  einen 
Breiteninde*  von  83,3  bei  einer  Höhe  von  76,5,  ein  nach  den  Messungen  von  Davis  undSche- 
telig  auch  bei  Bisayos-Schädeln  gefundenes  Verhältniss,  welches  sonst  noch  von  keiner  andern 
hinterasiatischen  Bevölkerung  bekannt  ist.  Noch  weniger  findet  es  sich  bei  der  Bevölkerung  der 
polynesischen  Inseln;  in  Australien,  Neukaledonien ,  Neuseeland,  Tahiti  treten  ganz  andere 
Stammeseigenthümlichkeiten  hervor,  so  dass  dieser  Theil  der  Bevölkerung  der  Philippinen  als  ein 
ganz  eigenthümlicher  und  charakteristischer  erscheint.  Ich  bemerke  zu  ihrer  Charakteristik  noch, 
dass  sie  eine  Höhlung  von  durchschnittlich  1 282  Cub.-Om  Inhalt  besitzen,  dass  der  Breiten- 
llöhenindex  ihrer  Orbitae  94,7,  der  Höhenbreitenindex  ihrer  Nasen  41,3  und  der  Breitenhöhen- 
index  ihrer  Schädel  überhaupt  91,7  beträgt  Auch  ist  erwähnenswert!),  dass  weder  an  diesen 
Schädeln,  noch  an  den  übrigen  etwas  von  künstlicher  Feilung  der  Zähne  zu  bemerken  ist,  die 
doch  sonst  bei  Malaien  so  häufig  vorkommt  und  die  auch  von  Thevenot  noch  erwähnt  wird. 
\ui  an  einzelnen  zeigen  die  Zähne  die  Betelfärbung. 

Ich  verzichte  auf  die  weiteren  Details  der  Schädelfrage;  ich  will  nur  noch  auf  ein  besonders 
wichtiges  Verhältnis»  hinweisen.  Wenn  es  sich  feststellen  lassen  sollte,  dass  innerhalb  des  Ge- 
bietes der  malaischen  Kasse  eine  in  so  eminentem  Grade  brachycephalische  Bevölkerung  an 
einer  verhältnissmässig  gut  gegen  fremde  Einwanderung  geschützten  Stelle  sich  lange  erhalten 
hat,    während  nicht  bloss  auf  den  benachbarten  Inseln  (Borneo,  Java,  Sumatra)   eine  sich  mehr 


157 

den  Dolichocephalen  annähernde  Bevölkerung  vorkommt,  sondern  auch  dichl  daneben  im  Innern 
von  Luzon  noch  jetzt  nicht  civilisirte,  dolichocephalische  Stämme  leben,  wie  der  beschriebene 
Cimarouen-Sehädel  zu  beweisen  scheint,  so  würde  man  anerkennen  müssen,  das-  in  eitiei  und 
und  derselben  Kasse  die  aussetzten  Schwankungen  der  Schädelformen  vorkommen,  und  es  würde 

damit  ein  sehr  erheblicher  Einwand  gegeben  sein  gegen  die  Bemühungen,  ganzen  Rassen  durch 
die  Aufstellung  der  Breitenindices  ihre  Stelle  anzuweisen;  es  wurde  vielmehr  auf  das  [Jnzwei 
deutigste  dargethtn  sein,  dass  nur  durch  eine  grössere  Menge  von  Vergleichungszahlen  die 
ethnologische  Position    eines   Schädels  gefunden  werden,  kann. 

Es  sind  endlich  noch  zwei  Schädel  zu  erwähnen,  welche  von  den  bisher  besprochenen  we 
sentlich  verschieden  sind.  Der  eine  ist  in  der  /weiten  Höhle  von  Nipa-Nipa  unmittelbar  bei 
einem  Holz-Sarge  gefunden  wurden,  welchen  Herr  Jagor  mitgebracht  hat,  und  in  welchem 
noch  ein  zum  Theil  mit  mumineirteu  Resten  von  Weichtheileu  und  Fetzen  zerfallender  Beklei- 
dung bedecktes,  jedoch  schädelloses  Skelet  liegt.*)  Dieser  Schädel  zeichnet  siel:  durch  eine 
grössere  Längenentwickelung  aus  ,  aber  nichtsdestoweniger  beträgt  sein  Breitenindex  80,2  (bei 
einem  Höhenindex  von  76):  er  schliesst  sich  auch  sonst  in  vielfacher  Beziehung,  namentlich 
wegen  seiner  beträchtlichen  Capacität  von  1450  Cub.-Cm. ,  der  zuerst  besprochenen  Gruppe  an. 
Der  andere  Schädel  ist  ungewöhnlich  klein:  seine  Capacität  beträgt  nur  1160  Cub.-Cm.  Er  ist 
nebst  anderen  Knochen  in  einem  Walde  auf  Samar,  1  Legua  landeinwärts  von  Borangan,  ausge- 
graben worden  und  von  unbekannter  Abkunft  Manches  trenut  ihn  in  s.  iner  Entwicklung  von 
den  anderen  Schädeln,  aber  auch  sein  Breitenindex  beträgt  79,3  bei  einem  Höhenindex  von  75,". 

Diese  ziemlich  grosse  Reihe  untereinander  verschiedener  Schädel  hat  jedoch  in  sich  eüie 
nähere  Beziehung,  als  sie  zu  irgend  einer  der  benachbarten  Rassen  hat.  und  wenngleich  die  ein- 
zelnen (»nippen  wieder  so  viele  Differenzen  haben,  dass  ich  wohl  geneigt  bin,  anzunehmen,  dass 
die  Stämme,  von  welchen  sie  stammen,  unter  sehr  verschiedenen  Verhältnissen  gelebt  haben 
müssen,  so  wird  man  doch  nicht  umhin  können,  sie  einer  grösseren  Familie  zuzurechnen.  Von 
den  beiden  Hauptgruppen  der  Höhlensehädel  kann  man  sagen,  dass  die  aus  der  zweiten  Nipa 
Nipa-Höhle,  welche  durchweg  geringere  Dimensionen  haben,  den  Eindruck  einer  zarteren,  sess- 
haften  und  mehr  civilisirten  Bevölkerung  machen,  während  an  den  Schädeln  aus  der  ersten 
Nipa  Nipa-  und  denen  aus  der  Lanang-Höhle  sich  eine  grosse  Energie,  eine  gewisse  Massen- 
haft igkeii  und  Kräftigkeit  der  Entwickelung  zeigt,  welche  einem  mehr  wilden  Volke  anzugehören 
scheint. 

Was  die  Grössenverhältnisse  betrifft,  so  zeigt  der  erste  Blick,  dass  die  Schädel  der  letzteren 
(iruppe  bei  ihrer  grossen  Breite  auch  eine  relativ  grosse  Höhe  haben.  Auch  die  künstliche  Ver- 
unstaltung hebt  dies  Verhältniss  nicht,  ganz  auf,  denn  selbst  der  am  stärksten  abgeplattete 
Schädel  hat  hei  einem  Breitenindex  von  94,8  noch  immer  einen  Höhenindex  von  80.  Dies  be- 
gründet einen  wesentlichen  Unterschied  von  den  Chinook-Schädeln.  Mit  dieser  Grösse  hängt 
zusammen  die  beträchtliche  Capacität  der  Philippinen-Flachköpfe.  Die  in  der  That  makroeepha- 
len  Schädel  von  Lanang  besitzen  eine  durchschnittliche  Capacität  von  1J10  Cub.-Cm.,  die  aus 
der  ersten  Höhle  von  Nipa-Nipa  von  1380,  während  die  mehr  runden  Schädel  aus  der  zweiten 
Höhle  von  Nipa-Nipa,  wie  erwähnt,  im  Durchschnitt  nur  1282  Cub.-Cm.  fassen.  Es  sind  dies 
Grössen-Differenzen,  deren  Bedeutung  nicht  unterschätzt  werden  darf. 

Ich  will  für  diesmal  nicht  genauer  darauf  eingehen,  inwiefern  die  künstlichen  Veränderungen 
des  Schädels  einen  Eintluss  auf  das  Gehirn  haben.  Ganz  kurz  erwähne  ich,  dass  derselbe  Herr 
Gosse,  welcher  die  schon  erwähnte  Monographie  geschrieben  hat,  die  Meinung  vertritt,  welche 
sich  hauptsächlich  auf  tahitisehe  Tradition  stützt,  dass  es  möglich  sei,  durch  die  Gestaltung  des 
Schädels  den  psychischen  Eigenschaften  eines  Individuums  eine  ganz  bestimmte  Richtung  zu 
geben.  Es  wird  nämlich  erzählt,  dass  man  auf  Tahiti  zwei  Arten  von  Deformation  des  Schädels 
erzeugt  habe:  den  Kriegern  habe  man  die  Stirn  eingedrückt,  dagegen,  wie  sieh  ein  Redner  in  der 
anthropologischen  Gesellschaft  zu  Paris  ausdruckte,  den  Senatoren  das  Hinterhaupt.  Herr  Gösse 
erklärt  dies  so,  dass  man  beabsichtigt  habe,  bei  den  Kriegern  die  energischen  Eigenschaften  des 
hinteren,  bei  den  Staatsmännern  die  mehr  intellektuellen  Eigenschaften  des  vorderen  Abschnitts 
des  Gehirns  ganz  besonders  zur  Ausbildung  zu  bringen,  und  er  ist  ernsthaft  der  Meinung,  dass 
dieser  Versuch  als  Muster  für  moderne  Pädagogik  empfehlenswert!  sei.     Ich  kann  dieser  Ansicht 


*)  Schädel  und  Skelet  gehören  jedoch  offenbar  nicht  zusammen. 


158 

Dicht  beistimmen,  insofern  il ie  Erfahrung  ergiebt,  dass  auch  das  Gehirn  so  gut  wie  der  Schädel 
dislocirl  werden  kann,  dass  also  das  Vorderhirn  sich  zurückschiebt,  wenn  die  Stirn  zurückgedrängt 
wird,  und  ebenso  die  hinteren  Theilo  dos  Gehirns  sich  vorschieben  bei  einer  Abflachung  der  hin- 
teren Partie  des  Schädels.  Wie  ich  früher  nachgewiesen  habe,  pflegt  einer  Verkürzung  des  Schä- 
dels eine  com pensa torische  Verbreiterung  und  umgekehrt  zu  entsprechen.  Es  kann  wohl 
kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  eine  Abflachung  einzelner  Schädeltheile  an  sieh  eine 
Verminderung  der  Hirnmasse  nicht  zur  nothwendigen  Folge  hat,  und  es  stimmt  damit  tiberein 
die  Angabe  namhafter  Beobachter,  dass  die  Flatheads  in  der  That  keinen  Mangel  an  Intelligenz 
wahrnehmen  lassen." 

Herr  Friede]  machte  vorlaufige  Mittheilungen  ül>er 

Paiaolithische  Flintwerkzeuge  aus  dem  Haveldiluvium  zwischen  Potsdam  und  Brandenburg. 

„Längst  schon  sind  aus  der  Niederung  des  Havelflusses  zumal  zwischen  Potsdam  und  Bran- 
denburg und  insbesondere  von  da,  wo  der  Strom  sich  sein  Bette  in  denjenigen  Ablagerungen 
ausgehöhlt  hat,  welche  einer  Periode  angehören,  als  die  hydrographischen  Verhältnisse  von  denen 
der  geschichtlichen  Zeit  sehr  verschieden  waren,  Funde  von  Knochen  der  Thiere  bekannt,  welche 
damals  unser  Vaterland  bevölkerten  und  von  welchen  das  Elch,  das  wilde  Pferd,  der  Ur,  der 
Wisent,  das  Mammuth  und  das  Nashorn  die  bekanntesten  sind.  Zahlreiche  Funde,  namentlich 
vom  Mammuth,  sind  von  dem  verstorbenen  Director  von  Kl  öden  sorgfältig  aufgezeichnet  wor- 
den: Belagstiicke  zeigt  das  Berliner  Museum.*) 

Neu,  aber  durchaus  nicht  überraschend  ist  es,  dass  in  den  ungestörten  Kies-,  Lehin- 
und  Thon-Ablagerun  gen,  in  denen  derartige  Knochen  entdeckt  werden,  sich  auch  Reste 
menschlicher  Cultur  von  völlig  gleichem  Alter  vorfinden.  Ich  sage:  nicht  über- 
raschend, denn  nachdem  im  ganzen  westlichen  Europa,  anfangend  von  Frankreich,  wo  Boucher 
de  Perthes  1841  die  ersten,  damals  von  der  gesammten  gelehrten  Welt  mit  Misstrauen,  ja  Ver- 
achtung aufgenommenen  Driftwerkzeuge  in  der  Picardie  entdeckte,  die  erwähnten  Thierreste  mit 
Artefacten  aufgefunden  worden  sind,  durfte  man  schon  a  priori  mit  einiger  Berechtigung  ein 
ähnliches  Ergebniss  auch  bei  uns  erhoffen,  wo  namentlich  der  Elephant  ein  ziemlich  gewöhnli- 
ches Thier  gewesen  zu  sein  scheint.**)  Allein  man  interessirt  sich,  wie  es  scheint,  bei  uns  in 
weiteren  Kreisen  für  die  Merkmale  der  ältesten  Vorgeschichte  bei  Weitem  noch  nicht  so  lebhaft, 
wie  es  sein  sollte  und  wie  es  in  Frankreich,  England,  Skandinavien,  der  Schweiz,  theilweise  selbst 
in  Italien,  Spanien  und  Portugal  der  Fall  ist;  es  existirt  in  unseren  Museen  zur  Zeit  noch  nicht 
ein  einziges  paläolithisches  Werkzeug,  und  da  nur  Derjenige  über  die  paläolithischen  Artefacte 
ein  sicheres  Urtheil  gewinnen  kann,  der  sie  nicht  bloss  aus  Abbildungen  kennt,  sondern  in  ihren 
Lagerstätten  gesehen  und  in  der  Hand  gehabt,  oder  doch  mindestens  in  einem  Museum  betrachtet 
hat,  so  ist  man  bei  uns  zur  Zeit  noch  gezwungen,  weite  mit  Opfern  verknüpfte  Reisen  zu  unter 


*)  Dr.  G.  Berendt:  Die  Diluvial-Ablagerungen  der  Mark  Brandenburg,  insbesondere  der 
Umgegend  von  Potsdam.  Berlin  1863.  —  Ueber  derartige  Knochenfunde  aus  dem  Kreuzberg  bei 
Berlin  vgl.  Lyell:  Antiquity  of  Man,  Kap.  9. 

*•)  Die  frühere  Ansicht,  dass  die  im  Diluvium  Deutschlands  gefundenen  Mammuth-  und  Nas- 
horn-Reste vom  Meere  und  von  fern  her  (Ural?)  angeschwemmt  und  abgelagert  seien,  verliert 
immer  mehr  Anhänger.  Einmal  spricht  dagegen,  dass  die  bezüglichen  diluvialen  Kies-,  Lelnn- 
und  Thonbetten  keine  Meeresconehylien ,  wohl  aber  zahlreiche  Schneeken  und  Muscheln  des 
S  ü  sswassors  enthalten,  die  mit  den  noch  jetzt  bei  uns  vorh'ndlichen  Genera  als  Planorbis, 
Paludina,  Bythinia,  Valvata,  Cyclas,  Pisidium,  Anodonta,  vielfach  sogar  mit  denSpecies  über- 
einstimmen, und  dass  bei  uns  Ur,  Wisent  und  Elch,  deren  Reste  oft  durchaus  vermischt  mit 
Mammuth  und  Nashorn  hierorts  vorkommen,  gerade  wie  in  anderen  Theilen  Europas,  wo  man 
nicht  mehr  zweifelt,  dass  dort  diese  Dickhäuter  lebten,  bis  in  die  geschichtliche  Zeit  reichen. 
Wie  jene  zarten,  äusserst  zerbrechlichen,  zum  Theil  noch  mit  der  Epidermis  und  der  Farbe  ver- 
sehenen Schalthiere  die  bei  der  alten  Schule  so  beliebten  Kataklysmon  und  den  Transport  durch 
Meeresfluthen  und  Wellenschlag  zwischen  scharfem  Sand,  Grand  und  Kies  auf  Hunderte  von 
Meilen  ausgehalten  haben  sollen,  bleibt  jedem  Malakologen  unerklärt.  Vollends  unbegreiflich  ist 
es,  wie  hei  diesem  angeblichen  Wälzen  und  Schleifen  beispielsweise  die  Wirbel  vom  Nashorn  und 
Mammuth  mit  völlig  intacter  Knochenhaut  und  dem  schönen  Wachsglanz,  der  das  Periosteum 
wilder  Thiere  kennzeichnet,  erhalten  werden  konnten  und  vor  Allem,  wie  es  kommt,  dass  gar 
nicht  so  selten  bei  uns  die  Wirbel  eines  und  desselben  Thieres,  hinreichend  zur  mehr  oder  minder 
vollständigen  Reconstruction  des  Schwanzes,  des  Halses  etc.  gefunden  werden,  wenn  diese  Thiere 
nicht  bei  uns  gelebt  haben. 


159 

nehmen,    will  man  überhaupt  erst  einmal  einen  dieser  rkwnrdigeu  Culturreste  de«  Menschen 

zu  Gesichl  hekommen.  Vielleichl  mag  bei  uns  entschuldigend  noch  hinzukommen,  dass  die 
Nachforschungen  und  Nachgrabungen  nach  diluvialen  Thierknochen  und  gleichzeitigen  Cultur- 
ersten  gewöhnlich  ebenso  kostspielig  wie  undankbar  sind. 

Für  unsere  vorgeschichtliche  Untersuchung  genügl  eSj  wenn  wir  die  Diluvialschichten,  in 
denen  dergleichen  Reste  auftreten,  dem  Vorgange  der  Engländer  folgend,  nach  ihrer  Farbe  Grau 
kies-  und  Rothkies  -  Betten  (gray  gravel-beds  and  red  gravel-beds)  nennen.*)  In  Beiden 
glaube  ich  unter  völlig  ungestörten  Lagerungs-Verhältnissen  ausser  Resten  paläo- 
zoischer Thiere  gleichalterige  Culturreste  bestehend  in  bearbeiteten  Kieseln,  vielleichl  auch  in 
bearbeiteten  Knochenstficken,  gefunden  zu  haben.  Meine  Nachforschungen  sind  noch  keh 
abgeschlossen:  vor  der  Hand  begnüge  ich  mich,  einige  Funde  aus  dem  Rothkiese  und  dem 
ihn  begleitenden  Diluvial-Lehm  vorzulegen.  Weit  ausgesponnene  Betrachtungen  über  das 
Leben,  das  Thun  und  Treiben  des  Driftvolkes,  wie  sie  so  sehr  beliebt  sind,  werde  ich  uichi  an- 
knüpfen, da  ich  mich  der  Vorstellung  nicht  zu  erwehren  vermag,  dass  die  meisten  derselben  zur 
Zeit  noch  verfrüht  sind  und  mehr  oder  minder  auf  Selbsttäuschung  und  Trugschlüssen  beruhen. 
Die  einfachen  Thatsachen  ohne  Raisonnements  dürften  zur  Zeit  der  Vorgeschichte  am  Förder- 
lichsten sein. 

Der  Rothkies  scheint  seine  Farbe  Eisenhydraten  zu  verdanken.  Die  in  ihm  eingeschlossenen 
Knochen  und  Culturreste  haben  im  Wesentlichen  seine  Färbuno.  Es  ist  dies  ein  gutes  Kenn- 
zeichen dafür,  dass  die  Knochen  und  Culturreste  nicht  neuerdings  hineingelangt  sind,  auch  mag 
die  rostbraune  Färbung  der  ganzen  Ablagerung  erst  nachmals,  d.h.  nachdem  sie  mit  den  in  ihr 
eingebetteten  Resten  bereits  zur  Ruhe  gekommen  war.  und  mittels  Durchdringung  der  Schichten 
durch  Regen-,  Schnee-  und  Quellwasser  erfolgt  sein,  welche  etwa  Ortstein,  Raseneisenstein  oder 
ähnliche  Substanzen**)  auflösten,  allmählig  den  Kies  durchfilterten  und  durchsickerten  und  hier- 
bei färbten.  Der  Ton  der  Farbe  ist  häufig  sehr  verschieden  an  derselben  Stelle.  Steine,  die 
weich  sind  oder  ein  starkes  Aufsaugungsvermögen  besitzen,  sind  dunkler  gefärbt,  dünne  Feuer 
steine  stärker  als  dicke  Feuersteine  und  Knochen,  welche  an  besonders  nassen  Stellen  (unter  dem 
Einfluss  \<m  Quell-  und  Rieselwasser)  lagern,  stärker  als  solche,  die  zufällig  an -trockenen  Orten 
stecken  Im  Allgemeinen  habe  ich  Rothkieslager  noch  jetzt  viel  nasser,  als  die  Graukieslager 
gefunden,  in  welchen  die  Thierknochen  sich  deshalb  na*h  meiner  Wahrnehmung  besser  erhalten, 
als  in  dem  nassen  Rothkies,  worin  die  Knochen  gleichsam  ausgelaugt,  mürbe  und  morsch  wer- 
den, so  dass  sie  trotz  ihrer  colossalen  Dicke,  ähnlich  den  vorgeschichtlicnen  Urnen  und  Töpfen, 
«eiche  man  aus  feuchter  Erde  aushebt,  leicht  zerbröckeln.  Schlecht  erhalten  zeigen  sich  ferner 
auch  die  Knochen  aus  dem  Lehm.  Sie  sind,  vielleicht,  weil  der  Lehm  fester  als  der  Kies  an- 
schliesst,  meist  nicht  mit  Dendriten***)  oder  doch  mit  schwächer  entwickelten  bedeckt,  als  die 
Knochen  aus  dem  Kiese. 

In  solchen  Kies-  und  Lehmlagern,  von  denen  ich  Proben  vorlege,  habe  ich  mehrere  Feuer- 
steine, in  ungestörter  Lagerung  in  einer  von  7  bis  etwa  20  Fuss  wechselnden  Tiefe  gefunden, 
welche  eine  Einwirkung  von  Menschenhand  erfahren  haben.  Einzelne  mögen  einfache  Absplisse 
sein,  wie  sie  beim  Zerschlagen  einer  grossen  Feuersteinknolle  abfallen,  andere  sind  Werkzeuge 
gewesen. 

Zwei  Steinmesser  sind  besonders  anziehend,  da  sie  den  den  ältesten  Steingerätheu,  also  den 
sogen.  Driftwerkzeugen  eigentümlichen  Typus  zeigen.  Ich  will  versuchen  seine  Diagnose  in  der 
Kürze  zu  geben. 

Die  Driftwerkzeuge  sind  im  Allgemeinen  grösser,  schwerer  und  derber,  als  die  der  sogen. 
neolithischen   Menschheitsepoche.      Sie  sind  hier  und  da   wohl  abgeriehen,   mögen   also   mit 

*)   Auch   der    diese  Kiesbetten  begleitende  Diluviallehm   und  Thon   enthält  Fundstücke 
zeichneter  Art. 

**)  Ortstein,  ein  durch  Brauneisenstein  verkitteter  Sand,  der  da,  wo  der  Sand  in  diesem 
Gemenge  mehr  und  mehr  zurücktritt,  zu  sogenanntem  Raseneisenstein,  einem  sehr  phosphor- 
haltigem  Eisenerze  wird.  Es  bilden  sich  diese  Massen  besonders  in  den  Niederungen  der  Haide- 
ebene  und  verdanken  ihre  Entstehung  ebenfalls  dem  Kinthisse  der  Vegetabilien,  welche  den  Eisen- 
gehalt des  Sandes  an  ihren  Wurzeln  concentriren.  (Nach  Dr.  Hermann  Guthe:  Die  Lande 
Braunschweig  und  Hannover. .  Hannover   1867.) 

**")  Dendriten  sind  baumartige,  schwarze  oder  dunkelbraune  Zeichnungen,  die  hauptsächlich 
von  Manganoxyd  herrühren. 


160 

dem  sie  bedeckenden  Kif-se  durch  Wasserkraft  längere  Zeil  hin  und  her  gerollt  seins  mitunter  aber 
auch  so  wohl  erhalten,  dass  bic  uoch  heul  gehraucht  werden  könnten.  Die  Verfertiger  verrathen 
darin  eine  gewisse  technische  Unsicherheit,  dass  ihre  Werkzeuge  meist  Kant-  ober  Schaalstücke 
sind,  d.  Ii.  bedeutende  Reste  der  äusseren  Kinde  des  Steins  an  sieh  behalten  haben,  und  dass  sieh 
der  Künstler  bei  der  Anfertigung  des  Werkzeugs  mit  einer  gewissen  Aengstlichkeit  an  die  zu- 
fällige äussere  Form  des  Steins  anschmiegt.  Dies  ist  in  der  neolithischen  Zeit  ungleich  we- 
niger der  Fall,  auch  hier  sind  freilieh  fast  säm  rot  liehe  rotiere.  Werkzeuge  Kantstüeke,  allein  die 
Keste  der  stehengelassenen  Rinde  sind  in  der  Regel  viel  kleiner  als  hei  den  paläolithisehen  Werk- 
zeugen. Deutet  dies  schon  auf  eine  mein  freie,  ich  möchte  sagen,  mehr  künstlerische  Behandlung 
des  Steins,  so  documentirt  sieh  diese  noch  weit  deutlicher  bei  den  feineren  Steinsachen,  die  sich 
durch  eine  saubere  Bearbeitung,  durch  elegante  Form  und  durch  schöne  Politur  auszeichnen  und 
gewöhnlich  der  Bliithe  der  sogen.  Steinzeit  oder  der  sogen,  älteren  Bronzezeit  zugeschrieben 
werden.  Diese  letzteren  Werkzeuge  sind  stets  aus  dem  Kern  des  Steins  gearbeitet  und  zeigen 
keine  Spur  von  der  Rinde.  Eine  gewisse  Rohheit  der  Cultur  erseheint  ferner  darin,  dass  man 
häufig  fehlerhafte  oder  solche  Stücke  benutzt  hat,  in  denen  lvhiniten,  Belemniten  und  Amino- 
niten,  Terebrateln,  Muscheln,  Schnecken  und  andere  Versteinerungen  vorkommen,  was  in  der 
neolithischen  Zeit  wohl  auch  hier  und  da,  jedoch  im  Ganzen  weit  seltener  der  Fall  ist,  vielleicht, 
weil  man  wusste,  dass  dergleichen  Vorkommnisse  den  Hieb  oft  unsicher  machen. 

Nur  die  sogen.  Feuerst  einspähne,  welche  durch  die  ganze  Menschenzeit  vom  Diluvium 
bis  ins  Eisenalter  reichen  und  die  zum  Theil  zum  Schaben  und  Schneiden  gedient  haben  mögen, 
zeigen  eine  gewisse  Uebereinstimmung,   die   ein  genauer  Beobachter  gleichwohl  nicht  eine  voll- 
ständige nennen  wird:   dagegen    ist  die  Art,    wie   die  etwas  künstlicheren  Driftwerkzeuge,    d.  h. 
diejenigen,  welche  nicht  als  blosse  Spänne  oder  Splitter  erscheinen,  bearbeitet,  sind,  sehr  wesent- 
lich von  der  der  neolithischen  verschieden.     Die  Seh  lag  marken  zeigen,  dass  das  Driftwerkzeug 
durch  viel  heftigere  Hiebe  zugerichtet,  die  Steinmasse  in  grösseren  Fragmenten  abgesprengt  und 
tiefer  angegriffen  wurde.     Folgeweise  zeigen  die  neolithischen  Werkzeuge  viel  mehr  Uebereinstim- 
mung  als  die  Driftwerkzeuge,   die  letzteren  dagegen   oft    wunderlich  verschobene   und    verzerrte 
Formen,    weil  der  Künstler  den  Stein  weniger   in   der  Gewalt   hatte    und  oft    gezwungen  wurde, 
wie  es  scheint,  von  seinem  ursprünglichen  Plane  abzuweichen.      Vielleicht  sind  die  Werkzeuge, 
mit  welchen  man  die  Driftsachen  zubereitete,  anders  gestaltet,  vielleicht  anders  gehandhabt  wor- 
den;  die  Schlagmarken   der  neolithischen  sind  viel  kiir/.er    und   muscheliger,   die    der  Driftwerk- 
zenge  länger    und    splittriger.      Vielleicht    verstand    man    in    der   neolithischen   Zeit    besser    den 
Flintstein    vor   der  Bearbeitung   chemisch    zu  präpariren,   etwa    sei  es  durch  Eingraben  in 
feuchte  Erde,  wo  man  ihn  dem  Muttergestein,  der  Kreide,  die  gewöhnlieh  feucht  ist,   nicht  un- 
mittelbar  entnehmen  konnte,   sei  es   durch  Einwässern,    sei  es   durch  allmähliges  Erhitzen  und 
langsames  Abkühlen,  wodurch  dem  Feuerstein  ein  Theil  seiner  glasartigen  Sprödigkeit  genommen 
zu  werden  scheint.     Ich  habe,  um  dies  festzustellen,  Feuersteine  zerschlagen,  welche  ich  aus  der 
natürlichen  Kreide,  oder  a\is  feuchter  Erde,  oder  aus  trockenem  Sande,  oder  von  der  freien  Ober- 
fläche,   oder  aus  dem  Wasser   entnommen,   oder   im  Wasser  gekocht,   oder   schnell  erhitzt   und 
schnell  abgekühlt,  oder  endlich  langsam  erhitzt  und  langsam  abgekühlt  hatte,  und  habe  bemerkt, 
dass  die  Bolchergestall  verschiedenartig  vorbereiteten  Steine  beim  Zerschlagen  auch  verschiedene 
Bruchflächen,   verschiedene  Sprünge  und   Risse,   verschiedene  Splitter  zeigten.*)     Endlich  scheint 
man  es  in  der  Driftzeit   viel  weniger  Schäfte,  Griffe  und  andere  Zuthaten  ans  Hörn,  Holz  oder 
Knochen,  als  dies  später  geschah,    an  die  Steinwerkzeuge  gefügt  und  diese  womöglich  gleich  so 
gTOSS  und  massiv  aus  einem  Stück  hergestellt  zu  haben,  dass  man  sie  ohne  Weiteres  gebrauchen 
konnte. 

Trotz  der  erwähnten  relativ  roheren  Technik  müssen  diese  plumpen  Werkzeuge  den  ein- 
fachen Bedürfnissen  der  Urmenschen  genügt  und  in  Verbindung  mit  vermuthlich  entsprechend 
rohen  Knochen-  und  Holzgeräthen  für  den  damals  gewiss  harten  Kampf  um  das  Dasein  ausge- 
reicht haben,  was  am  so  bewundernswürdiger  erscheint,  als  der  Nordeuropäer  zu  einer  Zeit,  wo 
er  bereits  viel  vollkommuere  und  wirksamere  Werkzeuge  besass,  mit  einer  weniger  unfreundlichen 

•)  Möglich,  dass  fortgesetzte  Erhitzung  und  Abkühlung  bei  einem  so  empfänglichen  Stein 
wie  der  Flint  ist,  die  Lagerung  und  Öruppirung  der  Moleküle  und  damit  das  Widerstandsver- 
mögen der  ganzen  Masse  ändert. 


161 

Natur   und   vor   Allem   mit   im  Allgemeinen  schon   etwa«  kleineren   und   schwächlicheren  Ihier 
gattungen  (denn  Nashorn,  Mammut!:,  Löwe  und  Tiger  waren  hereits  verschwunden  oder  verdrängt.) 
/n  kämpfen  hatte. 

Die  beiden  erwähnten  Werkzeuge  sind  unter  den  von  mir  bisher  entdeckten  di< 
ristischsten.  Das  eine  scheinl  eine  An  von  Messer  vorgestellt  zu  haben,  welches  nicht  ganz 
vollständig  erhalten  ist.  Die  Schneide  durfte  nämlich  sehr  dünn  umi  zerbrechlich  gewesen  sein, 
ist  deshalb  jetzi  schartig  und  ausgebrochen:  jedoch  ist  das  Werkzeug  bereits  in  diesem  Zustande 
in  den  Kies  eingebettet  worden.  Es  besteht  aus  einem  ächten  Schalstück  und  steckl  mehr  als 
zur  Hälfte  noch  in  der  Rinde. 

Besser  erhalten  (und  auch  wohl  Jemand,  der  noch  nie  ein  Driftwerkzeug  in  nVr  Band  g< 
habt  hat,  auffallend),  ist  der  andere  Feuerstein.  Oberflächlich  betrachtet  scheint  es  nur  eine  kräf 
tige  Lanzenspitze  gewesen  zu  sein.  Ich  halte  ihn  jedoch  ebenfalls  für  ein  fertiges,  ohne  weiten' 
Zuthal  gebrauchtes  Messer,  weil  er  nur  auf  einer  Seite  zugeschärft,  auf  der  anderen  keine 
Schneide  zeigt,  vielmehr  fast  einen  kleineu  Finger  dick  ist,  während  wirkliche  Lanzenspitzen 
zwei  Schneiden  führen.  Ausserdem  hat  man  unten  ein  Stück  des  naturlichen  Steins  absichtlich 
stehen  lassen,  so  zwar,  dass  es  einen  ganz  zweckmässigen  Griff  bildet,  welcher  fest  in  der  Hand 
liegt.  Von  der  Spitze  ist  heim  Atisgraben  ein  unbedeutendes  Stückchen  abgebrochen,  im  Debri- 
gen  ist  die  etwa  2 '/a  Zoll  lange  Schneide  nur  unbedeutend  beschädigt  und  noch  heut  brauchbar. 
Ks  stimmen  zwar  unter  den  Driftwerkzeugen,  wie  bei  der  erwähnten  rohen  Technik  zu  erwarten, 
selten  zwei  ganz  überein,  indessen  ähnelt  das  Messer  B  denen  aus  den  postpliocenen  Kiesgruben 
so  auffallend,  dass,  wenn  man  es  unter  eine  grössere  Anzahl  französischer  Driftmesser  legte,  es 
wohl  kaum  möglich  wäre  zu  unterscheiden,  um  es  scherzhaft  auszudrücken,  welches  einem 
Manunuthjäger  von  den  Ufern  der  Sommc  oder  der  Havel  gehör!  habe.  Die  Arbeiter  in  den 
Kiesgruben  von  Amiens  haben  in  diesen  Messern  eine  Aehnlichkeil  mit  dei  Form  einer  Katzen 
zunge  gefunden  und  nennen  sie  deshalb  langue  de  chat.  Im  das  Innere  des  Steins  zu  zeigen, 
ist  das  letzterwähnte  Messer  bald  nach  der  Auffindung  und  als  es  noch  von  der  Feuchtigkeit  des 
Bodens  durchdrungen  war,  in  der  Queraxe  durchgeschlagen  worden  Her  llieh  ist  vorzüglich 
gelungen,  so  dass  kein  Splitterehen  abgeplatzt  ist.  sicherlich  nur  deshalb,  weil  der  Stein  noch 
noch  feucht  war  Die  Bruchfläche  ist  beachtenswert ,  sie  ist  matt,  während  die  Bruchfläche 
trockener  Feuersteine  glänzend  ist  Der  an  sieh  «lasige  Feuerstein  ist  etwas  erdig  geworden. 
Beide  Werkzeuge  sind  tief  von  Eisenoxydhydrat  imprägnirt.  Beides,  die  innere  Structurverän 
derung  des  Steins  und  die  energische  Färbung,  sind  gute  Zeichen  do^  enormen  Alters  der  Werk 
zeuge.  Mau  hat  in  der  Gegend  von  Boulogne  sur  Mer  und  Amiens  diese  Driftwerkzeuge  nach- 
gemacht, da  die  reisenden  Engländer  für  sie  unglaubliche  Preise  zahlen,  allein  die  beiden  er- 
wähnten Kennzeichen  lassen  sieh  nicht  nachmachen,  sie  erfordern  Jahrhunderte,  vielleicht  Jahr- 
tausende.    Ein  Durchschlagen  würde  jedes  verdächtige  Driftwerkzeug  sofort  entlarven 

Was  schliesslich  das  Alter  der  Werkzeuge  betrifft,  so  versucht  man  in  der  langen  Periode, 
die  man  als  Diluvial-  oder  Postpliocen-Zeit  zu  bezeichnen  pflegt,  bereits  zwei  Abschnitte,  eine 
jüngere  und  ältere  Epoche,  zu  unterscheiden.  Die  jüngere  wird  als  die  sog.  Rennthier- 
E poche  bezeichnet:  ihre  Reste  werden  vornehmlich  in  Felshöhlen  gefunden,  unter  denen  die 
südfranzösischen  eine  grosse  Berühmtheit  erlangt  haben.  Die  ältere  Epoche,  deren  Culturreste 
in  der  That  \on  der  jüngeren  theilweise  auffallend  verschieden  sind,  wird  als  die  sogen.  Drift- 
zeit bezeichnet  und  soll  bis  an  die  jüngsten  Tertiärschichten  hinabreichen"),  in  welchen  mau 
bekanntlich  ebenfalls  schon  Spuren  menschlicher  Thätigkeil  entdeckt  hatten  will. 

*)  ("eher  die  Rennthier-Epoche,  die  Funde  von  Aurignac,  Tarascon,  Perigord  u.  s.  f.  vergl. 
Archiv  für  Anthropologie,  Bd.  III  1868— 69.«  Sir  John  Lubbock  bemerkt  (1868  übei 
den  Höhlenmenschen:  „These  cavemen  were  very  ingenious  and  excellent  workers  in  Mint,  bu1 
though  their  hone  pins  etc  are  beautifully  polished,  this  is  never  the  case  with  their  flini  wea- 
pons.  —  On  the  wnole  these  remains  probably  belong  to  an  epoch  somewhal  I"--  ancient  than 
the  implements  of  the  St.  Acheul  gravels."  Ueber  die  Driftzeit  bemerkt  derselbe:  „The  antiqui- 
ties  referable  to  this  period  are  usually  found  in  beds  of  gravel  and  loam,  or,  as  it  is  techni- 
cally  called  „„loess",  extending  along  our  Valleys,  and  reaching  sometimes  to  a  height  of  200 
feet  above  the  present  waterlevel.  These  beds  were  deposited  by  the  existing  rivers.  which  then 
ran  in  the  same  directions  as  at  present  and  drained  the  same  areas.  In  each  river-valley  they 
contain  fragments  of  those  rocis  only  which  oeeur  in  the  area  drained  by  the  river  itself."  — 
Die  besten  mir  bekannten  Abbildungen  von  Driftwerkzeugen  in  natürlicher  Grösse  «ieM  Lubbock 
in  seiner  Uebersetzung  von  Nilsson's  Steinalter,  London  lötiS.  p.  XVII.  u.  XIX. 


162 

Theile  von  Gerippen  dieses  Driftvolks  sind  his  jetzt  äusserst  spärlich  vorhanden:  auch  wer- 
den die  wenigen  bezüglichen  Skelottreste  noch  von  manchen  Gelehrten  angezweifelt.  Diesem 
Driftvolk  würden  die  \on  mir  beschriebenen  Artefacte  angehören.  0'>  überhaupt  ein  einzelnes 
speciell  so  zu  nennendes  Driftvolk  existirt  hat,  oder  ob  nicht  die  Driftwerkzeuge  vielmehr  eine 
allgemeine  Culturstufe  kennzeichnen,  auf  der  zu  einer  gewissen  Zeit  die  gesammte  Bevölkerung 
nach  anthropologischen  und  psychologischen  Gesetzen  stehen  musste,  das  sind  Fragen,  die  sieh 
rli  na  Forscher  aufdrängen,  deren  Entscheidung  aber  vor  der  Hand  noch  ausstehen  muss. 

Sollte  diese  kleine  Mittheilun«  .  deren  Dürftigkeit  ieh  zu  entschuldigen  bitte  und  die  nichts 
weniger  denn  apodictische  Urtheile  involviren  soll,  andere  Freunde  der  Vorgeschichte  zu  weite- 
ren Nachforschungen  anregen,  so  würde  ich  mir  erlauben,  die  Aufmerksamkeit  auf  die  vielen 
Ziegeleien  in  unserer  Nähe  zu  richten,  den  an  Ort  und  Stelle  gefundenen  Dilu vialthon ,  der  ge- 
wöhnlich mit  Kies-  oder  Lehmhetten  vergesellschaftet  ist,  zu  verarbeiten.  Hier  lassen  sieh  Unter- 
suchungen mit  dem  geringsten  Geld-  und  Zeitaufwande  vornehmen:  auch  habe  ich  die  Besitzer 
bisher  immer  zugänglich  und  gefällig  gefunben. 


Sitzung  vom  12.  Februar  1870 

Vorsitzender:  Herr  Virehow. 

Der  Vorsitzende  macht  Anzeige  von  einer  Mittheilung  der  Anthropological  Society,  wonach 
dieselbe  ihre  Schriften  als  Geschenk  überreichen  wird. 

Herr  v.  Dücker  übersendet  zwei  bei  Saarow  und  Storkow  gefundene  Steinäxte,  deren  Ma- 
terial Hr.  Beyrich  für  ein  (ieiniseh  von  Fehlspatb,  Quarz,  Glimmer  und  Hornblende  (Hornhlende- 
gneiss)  erklärt,  wie  dasselbe  sieh  in  nordischen  Diluvialgeschieben  öfter  vorfindet. 

Herr  Kunth  berichtet  über  vorgelegte  Mammuthfraginente,  die  in  den  Kollbergen  bei 
Berlin  gefunden   wurden 

Hr.    V  i  rc  h  o  w  spricht 

Ueber  Rennthierfunde  in  Norddeutschland. 

Die  bis  jetzt  in  Norddeutschland  nachweisbaren  Rennthierfunde  lassen  sich  dem  Vorkommen 
nach  in  drei  Kategorien  Iheilen:  1)  diejenigen,  welche  in  Torfmooren  gemacht  worden,  zugleich 
diejenigen,  welche  immer  am  besten  erhalten  sind;  2)  diejenigen,  welche  der  Angabe  nach  in 
Mergelschichten  entdeckt  sind  und  endlich  3)  die  bis  jetzt  noch  verhältnissmässig  wenig  be- 
kannt gewordenen  Höhlenfunde 

Die  grösste  Ausbeute,  welche  bis  jetzt  überhaupt  in  irgend  einem  norddeutschen  Gebiete 
erreicht  worden  ist,  befindet  sich  im  Alterthumsmuseum  zu  Schwerin  vereinigt,  wo  schon  seit  einer 
Reihe  von  Jahren  zwei  sehr  verdiente  Forscher,  die  Herren  Boll  und  Lisch  diesem  wichtigen 
Gegenstande  ihre  Aufmerksamkeit  zugewendet  haben.  Es  sind  darunter  namentlich  viele  Ge- 
weihe.  Ein  grosser  Theil  dieser  Funde,  für  welche  Herr  Lisch  (Mecklenb.  Jahrb.  1864.  Bd.  29, 
S  282)  vor  mehreren  Jahren  schon  20  verschiedene  Fundorte  angeben  konnte,  ist  in  Torfmoo- 
ren gemacht 

Auf  preussischem  Boden  ist  bisher  verhältnissmässig  wenig  hierher  Einschlagendes  bekannt 
geworden.  Ich  habe  am  19.  October  v.J.  in  der  Gesellschaft  naturforschender  Freunde  (Sitzungs- 
bericht 1869,  S.  31)  das  erste  Rennthiergeweih,  das  aufzutreiben  mir  gelungen  ist,  vorgelegt, 
und  ich  habe  es  hier  noch  einmal  mitgebracht,  da  es  in  der  That  der  Grösse  und  Ausbildung 
wegen  ein  besonders  interessantes  Stück  darstellt.  Es  ist,  obwohl  unvollständig,  1,25  Mtr.  lang; 
die  Stange  hat  durchschnittlich  14  —  15  Cent,  im  Umfange,  die  Schaufel  9 — 10  Cent.  Breite;  an 
letzterer  sitzen  noch  2  Zacken,  von  denen  der  eine,  gut  erhaltene  10  Cent,  lang  ist.  Leider  ist 
die  Stange  beim  Ausgraben  in  der  Mitte  zerstossen  worden.  Trotz  dieser  Verletzungen  erseheint  es 
als  ein  sehr  entwickeltes  Geweih,  ungleich  grösser  als  Alles,  was  in  unseren  Sammlungen  an  Renn- 
thiergeweihen  vorhanden  ist  Ich  fand  es  zufällig  auf  einer  meiner  antiquarischen  Reisen  bei 
einem  pommerschen  Gutsbesitzter,  Herrn  Mereker  zu  Woltersdorf  bei  Freienwalde  i.  P.,  der 
es  mir  bereitwillig  überliess.  Bei  weiterer  Nachforschung  stellte  es  sich  heraus  ,  dass  es  bei 
Mellenau  in  der  Nähe  von  Boitzenburg  in  der  Uckermark  ausgegraben  war,  und  zwar  4  Fuss 
tief  in  einem  kleinen  modrigen  Bruch,  in  welchem  ausserdem  Birken,  Elsen  und  einzelne  Eichen 


163 

versenkt  waren.*]     Das  Geweih  soll  unmittelbar  ober  einer  schwachen  Kalkschichl    gelegen    ha- 
ben, welche  dem  alten  Seeboden  zu  entsprechen  scheint.     Bis  jetzt  hal  sich    in  Beziehung 
den  Untergrund    noch    nichts    weiter    ermitteln    lassen;    beim  Ausgraben   selbst    hatte   man  der 
Schichtung  keine  Aufmerksamkeit  zugewendet.    Vielleicht  wird  sich  nachträglich  durch  Grabun- 
gen feststellen  lassen,  ob  in  den  tieferen  Lagen  dieses  Moores  aretische  Vegetation  vorkommt. 

Ich  hatte  bei  Mittheilung  dieses  Falles  in  der  Gesellschaft  dei  naturforschenden  freunde 
darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  ein  paar  ältere  Notizen  vorhanden  seien,  welche  auf  .las  Voi 
kommen  von  Rennthieren  in  unseren  Gauen  hinweisen.  Si  hrehcr'j  hat  nämlich  vor  längerer 
Zeit  angegeben,  dass  bei  Baruth  in  der  Lausitz  in  derselben  Lage  mit  Sumpfeisenerz  Geweihe 
vorkämen,  welche  Rennthieren  von  mächtiger  Grösse  anzugehören  scheinen;  dann  hat  Hensel") 
bei  der  Beschreibung  der  älteren  Fauna  Schlesiens  angegeben,  dass  einzelne  Geweih-Fragmente 
gefunden  seien,  welche  wahrscheinlich  dem  Rennthier  angehörten.  Hr.  Göppcrt  glaubt,  dass 
in  der  Nahe  von  Sprottau  in  einer  Mergelgrube  bei  Witgendorf  ausser  einem  [iöwenzahne  Renn- 
thierreste  ausgegraben  seien. 

Ich  habe  seitdem  Gelegenheit  gehabt,  weitere  Thatsachen  zu  sammeln,  welche  darthun,  dass 
offenbar  viel  häufiger  derartige  Funde  bei  uns  vorkommen  müssen,  als  man  nach  dem  bisheri- 
gen Schweigen  irgend  annehmen  durfte.  Zunächst  erhielt  ich  durch  die  Güte  des  Hrn.  Fürsten- 
berg in  Eldena  die  Notiz,  dass  Hr.  Oberförster  Seeling  in  Borntuchen  bei  Morgenstern  [Hin- 
terpommern) an  den  Forstmeister  Wiese  in  Greifswald  Theile  eines  Rennthiergeweihes  geschickt 
habe,  welche  sich  gegenwärtig  auf  dem  zoologischen  Museum  daselbst  befinden.  Hr.  Seeling 
hai  auf  mein  Ersuchen  mir  dann  eine  weitere  Nachricht  zugehen  lassen,  wonach  schon  vor  12 
bis  15  Jahren  in  der  Nähe  des  Gutes  Golzow  im  Kreise  Karthaus  im  alten  Pomerellen,  dicht 
an  der  Bütower  Grenze,  ein  Thiergerippe  im  Mergellager  ausgegraben  sei  Kr  begab  sich  da- 
mals alsbald  selbst  an  Ort  und  Stelle  und  fand,  dass  mehrere  mit  Auswerfen  von  Mergel  in 
einem  Bruche,  das  jedenfalls  in  der  Vorzeit  ein  See  gewesen  war,  beschäftigte  Arbeiter,  ein 
Skelel  herausbefördert  hatten,  welches  jedoch  schon  so  mürbe  war,  dass  die  meisten  Theile  zer- 
fielen; nur  die  unteren,  tiefer  gelegenen  Theile  waren  noch  etwas  fester  und  er  erhielt  die  eine 
Stange  des  Geweihes,  welche  er  nach  Greitswald  geschenkt  hat.  Das  Mergellager  wai  8  10' 
mächtig,  und  hat  das  Thier,  wie  er  meint,  „beim  FHehen  über  das  damals  wohl  noch  weiche 
durchbrüchige  Moor"  seinen  Tod  gefunden. 

Ich  habe  mich  darauf  an  Hm  Prof.Münter  in  Greifswahl,  den  Vorstand  des  zoologischen 
Museums,  wegen  weiterer  Mittheilungen  gewendet  Derselbe  giebt  an,  dass  verschiedene,  wahr 
scheinlich  dem  Rennthiere  angehörige  Geweihstücke  sich  im  zoologischen  Museum  befinden,  ins 
besondere  ein  grösseres,  welches  aus  Gülzow  bei  Kammin  in  Pommern  herstamme,  wo  es  beim 
Graben  von  Gartenerde  gefunden  worden  sei.  Er  hat  eine  kleine  Beschreibung  davon  im  Briet.' 
gegeben,  woraus  allerdings  hervorgeht,  dass  es  sich  um  ein  mächtiges  Geweih  handelt .  welches 
nach  der  Zeichnung  unzweifelhaft  einem  Rennthiere  angehört.  Dasselbe  ist  an  beiden  Enden 
unvollständig,  jedoch  1,07  Met.  lang;  die  Stange  hat  unten  zwischen  Augen-  und  Eissprosse  17. 
höher  hinauf  19  Cent.  Umfang.  Die  Eissprosse  ist  37  Cent,  lang,  obwohl  gleichfalls  unvollstän- 
dig; ihr  schaufeiförmiges  Ende  trägt  3  Seitenzacken.  Hr.  Munter  ist  im  Zweifel,  ob  andere 
Stücke  des  Museums  dem  irischen  Riesenhirsche  oder  dem  Rennthiere  angeln, reu:  er  ist  zur 
Annahme  des  ersteren  geneigt.  Mir  ist  indess  nicht  bekannt,  dass  positiv  sichere  Ueberreste 
dieses  Thieres  in  Deutschland  gefunden  worden  sind,  und  es  wäre  recht  wohl  denkbar,  dass  auch 
diese  Stücke  den  Rennthierfunden  zuzurechnen  sind. 

Weiterhin  haben  die  Herren  Professoren  August  Müller  und  v.  Witt  ich  in  Königsberg 
mir  Mittheilungen  zugehen  lassen,  wonach  sich  herausstellt,  dass  in  letzter  Zeit  in  der  Provinz 
Preussen  an  verschiedenen  Stellen  Rennthiergeweihe  gefunden  worden  sind.  Zur  Zeit  als 
Hr.  \.  Baer  seine  Schrift:  De  fossilibus  mammalium  reliquiis  in  Prussia.  Regiom.  1823.  ver- 
öffentlichte, war  noch   kein  Specimen  bekannt;  das  älteste  der  jetzt  veröffentlichten  ist  vom  Jahre 


*)  Graf  Arnim- Boitzenburg  hat  mir  seitdem  mitgetheilt,  dass  das  ganze  Gebiet  noch 
bis  vor  20  Jahren  Wald  gewesen  und  erst  damals  urbar  gemacht   worden  ist. 

*)  Schreber,  Säugethiere  V.  l,  S.  1041 

")  Denkschriften  zur  Feier  des  fünfzigjährigen  Bestehens  der  Schlesischen  Gesellschaft. 
Breslau  1853    S.  245. 


164 

1S4S.  die  anderen  stammen  sämmtlich  aus  den  letzten  Jahren.    Indess  gehen  daraus  doch  schon 
tj  verschiedene  Fundorte  hervor.     Ich  stelle  dieselben  kurz  zusammen: 

1)  Die  älteste  Nachricht  -teilt  in  dem  .">.  Berichte  des  Vereins  für  die  Fauna  Preussens  in 
rlen  Neuen  Preussiscben  Provinzialblättern,  1848.  Bd.  V.,  S.  385.  Fs  wird  daselbst  über  das 
halbe  Geweih  eines  Rennthieres  beruhtet,  welches  13  Fuss  tief  in  einer  Mergelgrube  hei  Heili- 
genbeil  gefunden  worden  ist  Hr.  A  Müller  vermuthet,  dass  das  Exemplar  sich  im  zoologischen 
Museuro  befinden  dürfte. 

2)  Ein  in  einer  Mergelgrube  bei  Dulzen  in  der  Nahe  von  Pr.  Eylau  gefundenes,  sehr  gut 
erhaltenes,  natürlich  abgeworbenes  Geweih,  welches  dem  anatomischen  Museum  gehört,  hat  Hr. 
Müller  früher  erwähnt.  (Die  Provinz  Preussen.  Festgabe  für  die  Mitglieder  der  XXIV.  Ver- 
sammlung deutscher  Land-  und  Forstwirthe  in   Königsberg  in  Pr.  S.  147.) 

3)  Dieselbe  Sammlung  besitzt  ein  anderes,  noch  grösseres,  jedoch  unvollständiges  Geweih, 
welches  bei  Germau  in  Samland  im  Torf  gefunden  ist 

•i)  Das  zoologische  Museum  enthält,  ein  ziemlich  kräftiges  Bruchstück  eines  Geweihes,  wel- 
ches 5  Fuss  tief  (3'  Moor  und  2'  Wiesenmergel)  auf  dem  Gute  Emilienhof  bei  Rosenberg  in 
Westpreussen  ausgegraben  wurde. 

5)  und  6)  Die  Alterthumssammlung  hat  folgende  2  Stücke:  Journal  p.  4.  Nr.  37  eingesandt 
\pril  IS69  ein  vohlerhaltenes  Rennthiergeweih,  gefunden  in  Grumbkowkeiten  von  Ober- Amt- 
mann Heydenreieh  auf  Grumbkowkeiten  bei  Stallupönen. 

Journal  p.  31.  No.  145  eingesandt  24  September  18(39  ein  Fragment  eines  Rennthiergeweihs. 
gefunden  beim  Mergelgraben  5  bis  6  Fuss  tief  in  Brasnicken  bei  Preul  von  Herrn  Rauschning. 
(Ics.  henk  des  Dr    med.  ( 'asteil. 

Fs  ergiebt  sich  demnach  ein  grosses,  von  der  Elbe  bis  zum  Niemen  reichendes  Gebiet  für 
die  Torf-  und  Mergelfunde  Norddeutschlands.  Mecklenburg,  die  Mark  und  Lausitz,  Pommern, 
West  und  Ost-Preussen  sind  vertreten.  Daran  schliessen  sich  die  russischen  Länder  an,  über 
welche  Hr.  Brandt  (Zoogeographische  und  paläontologische  Beiträge.  St.  Petersburg  18U7,  S. 
38)  berichtet. 

Was  nun  die  ftöhlenfunde  betrifft,  so  haben  wir  schon  ältere  Nachrichten  von  ganz  be- 
sonderem Interesse  über  eine  westphälische  Höhle,  die  von  Balve,  in  der  Nähe  von  Altena. 
Nach  Akten,  die  mir  vorgelegen  haben,  sind  schon  im  Jahre  1845  bei  Untersuchungen,  welche 
Seitens  des  Rheinischen  Oberhergamtes,  namentlich  des  Herrn  v.  Dechen  veranstaltet  wurden, 
allerlei  Thierüberreste  gefunden  worden  und  darunter  auch  Rennthierüberreste.  Auch  einige 
Menschenknochen  wurden  ausgegraben  Hr.  Nöggerath  hat  späterhin  weiter  darüber  berich- 
tet*). Schon  aus  dem  damaligen  Berichte  ist  für  diese  Höhle  etwas  besonders  Interessantes  her- 
vorgegangen, indem  nehmlich  festgestellt  wurde,  dass  auch  solche  Thierkuochen,  insbesondere  Hirsch- 
geweihe und  Rippen  von  Ochsen  gefunden  waren,  welche  unzweifelhaft  Spuren  menschlicher  Be- 
arbeitung zeigten.  Die  Hirschgeweihe  waren  eingeschnitten,  durchbohrt,  polirt  u  s.  w.  Ich 
hatte  durch  Zufall  gerade  in  den  letzten  Tagen  durch  die  Güte  des  Hrn.  Apotheker  v.  d.  Mark 
zu  Hamm  ein  paar  andere  Stücke  zur  Ansicht  bekommen,  welche  aus  derselben  Höhle  stammen, 
zunächst  einen  gehauenen  Stein,  dessen  Schlagmarken  überaus  evident  sind,  sodann  den  Boden 
eines  gebrannten  Thon-Gefässes,  von  welchem  seinem  mehr  modernen  Habitus  nach  wohl  nicht 
anzunehmen  ist,  dass  er  derselben  Schicht  angehört,  endlich  noch  ein  drittes  kleines  Fragment 
von  schwarzem  rohen  Thon,  welches  aus  einer  roheren  Masse  besteht.  Die  Sachen  sind  bis  jetzt 
meines  Wissens  noch  nicht  recht  übersichtlich;  auch  ist  es  möglich,  dass  noch  genauere  Funde 
gemacht  worden  sind,  was  mir  indess  nicht  bekannt  ist.  Ich  wollte  nur  die  Aufmerksamkeit, 
auf  diesen  Punkt  lenken,  weil  allerdings  eine  nähere  Beziehung  der  einzelnen  Gegenstände  zu 
einander  vorhanden  ist,  als  sich  bisher  an  irgend  einer  anderen  Stelle  gezeigt  hat.  Denn  kein 
Torf-  oder  Mergelfund  hat  irgend  etwas  ergeben,  was  Spuren  menschlicher  Bearbeitung  dargebo- 
ten hätte. 

Ganz  ans  der  Nähe  der  Balver  Höhle  nun  hat  im  Herbst  v.  J.  Hr.  v.  Duck  er  Sachen  mit- 
gebracht, welche  er  in  der  Krusensteiner  Höhle  bei  Rüdingliaiiseu  und  in  deren  nächster  Umge- 
bung gefunden  hatte;  unter  diesen  befand  sich  eine  Reihe  von  Geweihstücken,  die  nach  dem  Aus- 
sehen vollkommen  den  Eindruck  von  jungen  Rennthiergeweiheu  machten,  die  sich  jedoch  damals 

*)  Archiv  für  Mineralogie,  Geologie,  Bergbau  und  Hüttenkunde  von  Karsten  und  von 
Dechen.     184*;.     Bd.  20,  8.  328,  341. 


165 

uichl  genauer  bestimmen  Messen,  weil  unsere  Sammlungen  keine-  parallelen  Stücke  besassen.    Die 

Mehrzahl  von  ihnen  war  etwa  10 — 14  Cent,  lang;  der  Umfang  des  Stammes  betrug  nur  £ — 0 
Cent.  Durch  die  Güte  des  Hrn.  Hilgendorf  in  Hamburg  ist  mir  seitdem  eine  Reihe  jugend- 
licher Rennthiergeweihe  zugesandt  worden.  Nach  einer  Vergleichung  beider  kann  kau 
Zweifel  darüber  besteben,  dass  es  sich  in  der  That  um  Rennthierknochen  handelt  Namentlich 
ein  Stück  ist  meiner  Meinung  nach  in  hohem  Grade  bezeichnend,  sowohl  in  Beziehung  auf  dio 
stark  nach  rückwärts  gehende  Richtung  des  Hauptastes,  als  auch  in  Beziehung  auf  den  Winkel, 
in  welchem  die  Augensprossc  und  Eissprosse  angesetzl  sind 

An  nicht  wenigen  derKrusensteiner  Knochen  finden  sieh  Zeichen  unzweifelhafter  Benagung,  zum 
Theil  in  grosser  Ausdehnung.  Nur  an  einem  Punkte  kann  es  etwas  zweifelhaft  sein,  ob  nur  die 
Einwirkung  von  Zähnen  vorliegt.  Wenn  man  das  Geweihstück  schlug  gegen  das  Licht  hält,  so 
sieht  man  eine  Reihe  parelleler,  schräg  stehender  Linien,  von  welchen  man  glauben  könnte,  dass 
sie  durch  irgend  ein  Instrument  erzeagf  worden  wären.  Indess  die  Regelmässigkeit  derselben 
möchte  gerade  darauf  hindeuten,  dass  es  Nagelinien  seien,  hervorgebracht  durch  scharte 
Zahnspitzen. 

Sonderbarerweise  gehören  sämmtliche  stücke,  welche  Hr  \.  Dücker  mitgebracht  hat.  der 
Grösse  nach  ziemlich  zusammen;  keines  war  darunter,  welches  einem  älteren  Thiere  angehört  zu 
haben  scheint.  Er  berichtet  darüber:  „ „Ich  fand  die  Rennthiergeweihe  am  12.  October  v.  J.  in 
einer  steil  aufsteigenden  schmalen  Kluft  des  devonischen  Kalkfelsens  am  rechten  Gehänge  des 
Hönnethales  bei  Klusenstein  unfern  Rüdinghausen  im  Kreise  Iserlohn  in  Westfalen.  Die  Kluft 
steigt  mit  einer  offenen  Seite  aus  dem  Thalgrunde  so  steil  auf,  dass  man  annehmen  inuss,  der 
Fluss,  die  Hönne,  habe  durHi  Unterspülung  noch  ein  Felsstück  zum  Absturz  gebracht,  Beitdem 
die  Geweihe  darin  deponirt  wurden,  denn  die  Steilheit  derselben  ist  jetzt  zu  gross,  als  dass  die 
ursprüngliche  Deposition  darin  geschehen  konnte.  Die  Stücke,  deren  ich  an  100  während  einer 
Stunde  sammelte,  lagen  in  trockenem,  scharfkantigem  Kalksteinschutt.  Alle  Stücke  sind  sehr 
dünn  und  wahrscheinlich  von  jungen  Individuen;  alle  sind  zu  Bruchstücken  von '2 — 4  Zoll  Länge 
zerschlagen  und  eigentümlich  beklopft  oder  benagt.  Von  anderen  Thierresten  wurde  nur  sein 
wenig  damit  zusammengefunden.  Dicht  über  der  betreffenden  Felskluft  liegt  eine  kleine,  jetzt  schwer 
zugängliche  Höhle,  die  Ziegenhöhle  genannt.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hat  in  derselben  eine 
menschliche  Familie  gewohnt,  welche  die  Rennthiere  hegte  und  deren  Geweihe  vorzugsweise  in  die  Kluft 
warf.  Das  ganze  Vorkommen  ist  nicht  anders  zu  erklären  Spuren  menschlicher  Thätigkcit  sind 
an  einigen  Stücken  mit  Bestimmtheit  zu  erkennen.  Ein  zerschlagener  Rennthierknochen  wurde 
in  selbiger  Kluft  gefunden,  das  untere  Ende  des  linken  Hinterschenkelknochens.  In  nächste]  \a<  h 
barschaft  der  Felskluft  sammelte  ich  in  einer  Felsennische  die  Reste  eines  menschlichen  Skeletes  " 

Ich  bin  nicht  ganz  sicher,  ob  die  letzten  Auffassungen  schon  jetzt  vollkommen  an- 
zuerkennen sind.  Sehr  merkwürdig  ist  die  Sache  jedenfalls,  indess  halie  ich  mich  nichl 
überzeugen  können,  dass  an  den  Rennthierknochen  mit  Sicherheit  etwas  festzustellen  war, 
was  auf  menschliche  Thätigkeit  hindeutete.  Die  Nagespuren  können  sehr  wohl  von  Thieren 
herrühren;  es  ist  sogar  wahrscheinlich,  wenn  man  die  KleinheU  der  Eindrücke  und  die  Schärfe 
ger  Begrenzungen  in's  Auge  fasst,  welche  diese  Nagespuren  hinterlassen  haben.  Sie  sprechen 
für  viel  mehr  spitzige  Zähne,  als  der  Mensch  besizt.  Auch  ist  es  nicht  nothwendig,  die 
Existenz  der  Bruchstücke  auf  Zerschlagen  durch  Menschen  zu  beziehen,  da  keine  Zeichen  von 
instrumentaler  Einwirkung  vorhanden  sind. 

Von  dem  in  der  Nähe  gefundenen  menschlichen  Skelet  hal>e  ich  die  Ceberzeugung,  dass  es 
nicht  aus  dieser  Periode  stammt;  es  macht  einen  mehr  modernen  Eindruck.  Auch  ist  es 
unter  Verhältnissen  gefunden  worden,  welche  nicht  einen  notwendigen  Zusammenhang  mit 
jenen  Knochen  darthui1.  Trotzdem  ist  der  Kund  geeignet,  diesem  Gegenstände  eine  grössere 
Aufmerksamkeit  zuzuführen,  und  es  wäre  möglieh,  dass  er  dazu  beitragen  könnte,  auch  auf  un- 
serem Boden  parallele  Funde  mit  denen,  wie  sie  in  Süddeutschland  und  Frankreich  gern»  bl 
worden  sind,  herbeizuführen. 

Ueberblicken  wir  diese  immer  noch  sehr  fragmentarischen  Thatsachen,  so  erscheint  das  Voi 
kommen  von  Rennthierknochen  in  Mergelschichten,  soweit  ich  es  beurtheilen  kann,  am  wenigsten 
geeignet,  einen  sicheren  Anhalt  zu  geben.     Offenbar  ist  es  in    der  Mehrzahl    der  Fälle    zweifel- 
haft, ob  die  Thiere  an  der  Stelle  gelebt  haben,  wo  man   ihre  Ueberreste    gefunden    hat.     Wenn 
man  sich  vorstellt,  dass  während  der  Eiszeit  eine  Bewegung  von  Eisblöcken    ülier    das    deutsche 


166 

Meer  stattgefunden  hat,  so  ist  klar,  dass  manches  angeschwemmt  sein  kann.  Anders  verhalt  es 
sieh  mit  den  Torf-  und  Höhlenfunden,  denen  man  gewiss  eine  grosse  Bedeutung  zuschreiben 
inuss.  Sie  beweisen  meiner  Meinung  nach  mit  Bestimmtheit,  tlass  das  Rennthier  wirklieh  in 
Norddeutschland  gelebt  hat,  und  es  ist  nach  dem  Höhlenfunde  mindestens  sehr  wahrscheinlich, 
dass  es  ein  Zeitgenosse  des  Menschen  war." 

Hr.  Beyrich  maeht  darauf  aufmerksam,  dass  eine  ansehnliche  Menge  von  Knochen  ans 
Balve  sich  in  der  Sammlung  der  Bergakademie  befindet  Sie  sind  nie  genauer  untersucht  wor- 
den. Er  erinnert  sich  nicht,  ob  Rennthierreste  dabei  sind,  wohl  aber,  dass  sehr  verschieden- 
artige Dinge  darunter  waren,  Knochenreste  von  Bären  u  s  w.  Nach  oben  hin  befand  sich  ein 
Gemisch  von  jüngeren  Sachen,  welehe  sieh  als  einer  spateren  Zeit  angehörig  erkennen  Hessen. 
Es  hatten  damals  die  Resultate  der  Grabungen  ein  geringes  Interesse,  weil  man  nicht  ausein- 
anderzuhalten verstand,  was  jung  und  was  alt  war 

Hr.  Günther  berichtet,  dass  eine  reiche  Sammlung  von  Gegenständen  aus  ben  Kalkschich- 
des  Hönne-Thales  im  Besitze  des  Hrn.  Apotheker  Seh  mit/,  zu  Letmathe  sieh  befindet  - 

Herr  Hartmann  überreichte  der  Gesellschaft  als  Geschenk  den  zweiten  Band  der  Mernoires 
de  la  Societe  d'Anthropologie  de  Paris  und  machte  auf  den  bekannten  darin  enthaltenen  Auf- 
satz P.  Broca's  über  Anstellung  anthropologischer  Untersuchungen  aufmerksam.  Er  übergab  fer- 
ner zwei  ihm  vom  norddeutschen  Viceconsul  für  Aegypten,  Herrn  Dr.  Nerenz,  zur  Verfügung- 
gestellte  orientalische  Manuscriptwerke,  deren  eines  in  arabischer,  eines  in  amharischer  Sprache 
abgefasst  ist.  Er  verlas  sodann  briefliche  Mittheilungen  des  Herrn  Jeitteles  (St.  Polten)  über 
dessen  Pfahlbaufunde  in  Mähren.  — 

Freiherr  von  Ledebur  trug  darauf  vor 
lieber  die  meisselartigen  Bronze-Werkzeuge  der  vaterländischen  Alterthnmskunde. 

„Es  liegt  hier  aus  der  reichhaltigen  Sammlung  der  hiesigen  königl.  Museen  eine  Reihen- 
folge von  Werkzeugen  vor,  die,  so  mannigfaltig  an  Form  und  Grösse  sie  auch  sind,  nichts 
desto  weniger  zu  einer  und  derselben  Klasse  von  Alterthümern  gehören,  und  eine  nicht  un- 
wichtige Stellung  in  der  gesammten  heimathlichen  Archäologie  einnehmen. 

Fragt  man  zunächst  nach  dem  Namen  dieser  Werkzeuge  und  vernimmt  man  die  zahlreichen 
Deutungen  und  Bezeichnungen,  die  man  ihnen  beigelegt  hat,  so  berührt  man  sofort  eine  der 
schwächsten  Seiten  unserer  Alterthümerkunde,  welche  beweiset,  dass  dieselbe  noch  sehr  in  der  Kind- 
heit ruht  Der  Mangel  einer  feststehenden  Terminologie,  einer  übersichtlichen  Nomenclatur  auf  die- 
sem Gebiete  ist  gross  in  Deutschland,  auch  oft  und  schmerzlich  empfunden  worden.  Vielfache 
Anregungen  zur  Beseitigung  dieses  Mangels  sind  seitens  des  Gesammt-Vereins  der  etwa  60  ver- 
schiedenen deutschen  Geschieht?-  und  Alterthums- Vereine  seit  fast  20  Jahren  gegeben  —  und 
doch  sind  wir  noch  nicht  einmal  dahin  gelangt,  eine  alphabetisch  geordnete  Uebersicht  aller  in 
der  heimathlichen  Alterthümerkunde  in  einer  sehr  umfangreichen  Literatur  vorgekommenen  Be- 
zeichnungen zu  besitzen  mit  Hinweisung  auf  die  Tausende  von  Autoren  und  dem  Sinne,  in  welchem 
sie  sich  der  oft  in  Widerspruch  stellenden  Bezeichnungen  bedienen.  Eine  solche  Vorarbeit,  wäre 
nöthig,  um,  womöglich  auf  Abbildungen  gestützt,  zahllose  Missverständnisse  und  Verwechselun- 
gen zu  vermeiden 

Bei  zweifelhaften  oder  verschiedenartig  gedeuteten  Gegenständen  vermeide  man   doch   mög- 
lichst   bestimmte  Gebrauchs-Bezeichnungen,    wenn   der  Gebrauch  selbst  noch  problematisch  ist. 
In    dieser  Beziehung   ist   besonders   bei   der  hier  zur  Anschauung  gebrachten  Klasse  von  Alter- 
thümern,   der    man    wenigstens   20    verschiedene  Namen  hat  zu  Theil  werden  lassen,    gesündigt 
worden.     Und  doch  könnte  mau  diese  Klasse,   ohne  ihrer  vielleicht  mannichfaltigen  Gebrauchs- 
Bestimmung  vorzugreifen,  sowohl  ihrer  Allgemeinheit  nach,  als  mit  Berücksichtigung  ihrer  For- 
men-Uebergänge,  vollkommen  deutlich  und  richtig  charakterisiren,  wenn  man  sie  umschriebe  als : 
meisselartige  Werzeuge    von    Bronze:    a)  mit  Schaftloch    und  Oehr,    mit    breiter,    mit 
schmaler,  mitgerader,   mi1  halbmondförmiger  Schneide;  b)  mit  Schaftriemen,  mit  oder 
ohne  Oehr,   mit  breiter,  mit  schmaler,  mit  gerader  oder  mit  halbmondförmiger  Schneide; 
e)   mit   Schaftrinnen,   mit  aufstehenden   Seitenwangen    n.  s.   w. 

.Ausser  den  zahlreichen  Gebrauchsbezeichnungen,  welche  man  diesen  Werkzeugen  gegeben 
hat,  als  da  sind:  Abhäute  Instrumente,  Keil,  Hobel,  Meissel,  Palstaf  u.  a.  m.  ist  auch  die  ethno- 
graphische Bezeichnung  < 'elt  vielfach  angewendet,  wohlberechtigt  in  Gross- Britannien,  insofern 
als  damit  nur  angedeutet  werden  soll,    dass  dies  Instrument  in  diejenige  Periode    falle,    welche 


167 

dort  keltische  Bewohner  hatte;  aber  Bchon  bedenklich  iu  Dänemark  und  mein-    noch,    weil    der 
Keltomanie  Vorschul»  leistend,  in  Süd- Deutschland. 

Dann  hatte  man  in  diesen  Instrumenten  bald  den  malleolus  odei  Feuerpfeil  der  Römer,  die 
securis  missilis  oder  das  Wurfbeil  des  Sidonius  Apollinaris,  das  vas  futile  des  Terenz  u  a.  in. 
erkennen  wollen;  die  ineisten  Autoren  haben  »sich  aber  dahin  vereinigt,  in  diesem  Werkzeuge 
die  Frainea  des  Tacitus,  mithin  die  National-Waffe  der  Germanen  zu  erkennen.  Betrachten  wir 
daher  die  Stellen  in  des  Tacitus  Germania,  wo  der  Framea  gedacht  wird,  etwas  näher. 

„Ausser  den  grösseren  Lanzen  führen  sie  Spiesse,  welche  sie  Frameen  oeunen  (hasta 
ipsarum    vocabulo  frameas  gerunt),   mit  schmaler  und   kurzer  S  bneidi  h    und 

zum  Gebrauch  so  handlich,  dass  sie  mit  derselben  Waife,  je  nach  Umständen  aus  der  Nahe 
sowohl  als  aus  der  Feme  kämpfen  (Cap.  6).  —  Der  Reitersmann  begnügt  sich  mit  Schild  und 
Frainea,  die  Fusskämpfer  entsenden  auch  Wurfgeschosse  (ibd.).  —  In  Volksversammlungen  ge 
ben  sie  ihre  Zustimmung,  indem  sie  die  Frameen  zusammenschlagen,  als  ehrendste  Art  des 
Beifalls  gilt  es,  mit  Waffenklang  zu  loben  (Cap.  11).  —  Die  Aufnahme  in  die  Gemeinde  ge- 
schieht, indem  der  Fürst,  der  Vater,  oder  ein  Verwandter  denJüngling  mitSchild  und  Framea 
schmückt;  das  ist  ihre  Toga,  das  die  erste  Ehre  der  Jugend,  bis  dahin  achtet  man  sie  dem 
Hause  angehörig,  dann  der  Gemeinde  (Cap.  13).  —  Berechtigt  ist  das  kriegerische  Gefolge  der 
Fürsten,  von  deren  Freigebigkeit  jenes  Boss  zu  erwarten,  das  sie  in  die  Schlachten  tragen,  ji  n 
Framea,  die  den  blutigen  Sieg  erkämpfen  soll  (Cap.  14).  —  Strenge  sind  dort  die  Ehen,  und 
von  keiner  Seite  möchte  man  ihre  Sitten  mehr  lohen  —  Mitgift  bringt  nichl  die  Frau  dem 
Mann,  sondern  der  Mann  der  Frau  —  Geschenke,  nicht  den  kleinen  weiblichen  Neigungen  ent- 
sprechend gewählt,  noch  zum  Schmuck  der  jungen  Frau  bestimmt,  sondern  Stiere,  ein  gezäum- 
tes Pferd  und  ein  Schild  nebst  Framea  und  Schwert.  Auch  die  Frau  hinwiederum  bringt 
dem  Manne  einige  Waffenstücke  zu.  Dies,  meinen  sie,  sei  das  festeste  Band;  dies  seien  geheime 
Heiligthümer,  dies  die  Götter  der  Ehe"  (Cap  18)  Wohl  bezieht  sich  auf  diese  Framea,  als 
die  Nationalwaffe  der  Germanen  auch  die  Stelle,  wenn  Seneca  (Brief 36)  sagt:  .Ware  ich  in 
Parthien  geboren,  würde  ich  gleich  als  Kind  den  Bogen  haben  spannen,  wenn  in  Germanien, 
sofort  als  Knabe  den  dünnen  Speer  haben  schwingen  können." 

Es  wäre  doch  wunderbar,  wenn  unter  allen  den  .zahlreichen  in  Deutschland  aufgefundenen 
Waffen,  gerade  diejenige  sich  nicht  finden  sollte,  deren  Tacitus  so  oft  und  so  bestimmt  bezeich- 
nend, ja  mit  einem  der  deutschen  Sprache  entlehnten  Namen  Framea  (Pfriem)  erwähnt;  wenn 
aber  irgend  eines  dieser  Waffenstücke  den  Forderungen  entspricht,  welche  zusammentreffen  müssen, 
um  als  Framea  gelten  zu  können,  so  sind  es  eben  diese  meisselartigen  Werkzeuge  von  Bronze. 

Die  in  den  Schaftlöchern  und  Schaftrinnen  oftmals  vorgedrungenen  hölzernen  Schaftreste, 
die  nicht  minder  wahrgenommenen  Spuren  von  Lederriemen,  welche  mittelst  der  Oehre  befestigt, 
für  den  Kampf  in  der  Nähe  als  Stoss-,  in  der  Ferne  als  zurückzuziehende  Wurf- Waffe  geeignet 
waren,  entsprechen  durchaus  der  Taciteischen  Beschreibung.  Fragen  wir  weiter  nach  der 
geographischen  Verbreitung  eben  dieser  Werkzeuge,  so  ergiebt  sich  allerdings,  dass  sie  zwar 
keineswegs  auf  Deutschland  sich  beschränken,  dass  sie  vielmehr  über  ganz  Europa  verbreitet  zu 
finden  sind,  ja  darüber  hinaus  bis  in  das  nordöstliche  Sibirien  sich  erstrecken*);  allein  nichts 
desto  weniger  macht  sich  für  Deutschland,  worauf  wir  vielleicht  später  eingehender  zurück- 
kommen, in  quantitativer  Beziehung  ein  so  ausserordentliches  numerisches  Uebergewichl  geltend, 
dass  auch  in  diesem  umstände  sich  bestätigt,  was  Tacitus  sagt,  dass  die  Framea  die  National- 
waffe der  Deutschen  sei.  Zum  Theil  liesse  sich  ihre  sonstige  Verbreitung  genügend  durch  die 
Wanderungen  und  Kriegszüge  der  Germanen  erklären,  so  /..  B.  der  Vandalen  (in  Andalusien; 
nach  Spanien,  wo  ebenfalls  diese  Werkzeuge  gefunden  werden,  und  wo  das  Wort  Framea  in 
der  spanischen  Sprache  sich  noch  erhalten   hat. 

Von  grosser  Bedeutung  ist  es  endlich,  dass    gerade  in  Deutschland  wir  mehrfach    auf  Guss- 


*)  Auf  dem  im  Sept.  1868  zu  Bonn  abgehaltenen  internationalen  Congress  für  Alterthums 
künde  und  Geschichte  hielt  der  Russische  Staatsrath  von  Eich waldt  eineu  Vortrag  übei 
Tschudische  Alterthümer-  und  Gräberfunde,  unter  denen  sich  knöcherne  Nadeln  /um  Nahen 
der  Rennthierfelle,  Steinkeile  und  steinerne  Lanzen  zusammen  mit  diesen  meisselartigen  Bron- 
zen mit  Schaftloch,  wie  mit  Schaftriemen  in  ein  und  demselben  Grabe  gefunden  haben,  mithin 
Gegenstände  beisammen,  die  nach  der  nordischen  Perioden-Theorie  weit  au»  einander  liegenden 
Epochen  angehören. 


168 

statten  und  Gussformen  dieser  Werkzeuge,  die  nach  den  angestellten  chemischen  Analysen  ziem- 
lich coustant  85  bis  90pCt.  Kupfer  und  15  bis  lOpCt.  Zinn  ergeben  haben,  gestossen  sind. 
Von  besonderer  Erheblichkeit  ist  der  in  den  zwanziger  Jahren  bei  Pestlin  zwischen  Anclam 
und  Dem  min  an  der  Peene  gemachte  Fund  von  etwa  150  dergleichen  bronzener  Werkzeuge,  die 
mit  grossen  Metallkuchen,  aus  reinem  Königskupfer  bestehend,  alsu  noch  unlegirt  mit  Zinn,  ge- 
funden wurden,  und  von  denen  der  grössere  Theil  an  das  Museum  gelangte.  So  gross  auch  die 
Zahl  dieser  Werkzeuge  ist,  so  findet  sich  doch  in  Form,  Grösse,  Verzierung  etc.  eine  solche 
Mannichfaltigkeif  vor,  dass  auch  nicht  ein  einziges  Stück  dem  anderen  so  gleich  ist,  dass  beide 
aus  ein  und  derselben  Form  hervorgegangen  sein  können.  Die  Fabrikation  muss  hiernach  au 
Ort  und  Stelle  vor  sich  gegangen  und,  wie  es  scheint,  mittelst  irdener  oder  thönerner  For- 
men, die  mit  vollendetem  Guss  ihre  Zerstörung  fanden,  verfertigt  sein. 

Eine  zweite  Vit  der  Herstellung  geschah  mittelst  Giessformen,  wie  solche  vor  einigen  Jahren 
bei  Müncheberg  im  Lande  Lebus  aufgefunden  und  in  der  Versammlung  des  Gesammt- Vereins  im 
September  18GS  zu  Erfurt  vorgezeigt  wurden.  Drei  mit  ihren  Flachseiten  aufeinanderpassende, 
den  Bau-Ziegelsteinen  ähnelnde,  feinkörnige  Sandsteine  oblonger  Form  enthielten  die  nach  zwei 
Seiten  hin  eorrespondirenden  hohlen  Hälften  des  zu  giessenden  Körpers,  zu  welchem  von  den 
Seiten  aus  die  Gusskanäle  führten. 

Noch  eine  dritte  Gattung  erblicken  wir  hier,  bestehend  aus  einer  in  zwei  Hälften  zerfallen- 
den Metallform.  Von  diesen  wurde  die  nur  in  einer  Hälfte  bestehende  unvollständige  Form 
vor  einigen  Jahren  zwischen  Sehlieben  und  Herzberg  im  Kreise  Schweinitz  (Regierungsbezirk 
Merseburg)  gefunden  und  später  von  einem  Bauer  dem  Museum  geschenkt;  die  zweite  vollstän- 
dig erhaltene  Gussform  dieser  Art  ist  bei  Gnadenfeld  im  Reg.-Bez.  Oppeln  gefunden  worden. 
Eine  daraus  hergestellte  Framea  von  Gyps  liegt  bei.  Stände  es  nun  aber  fest,  dass  eben  diese 
meisselartigen  Werkzeuge  von  Bronze,  die  zu  den  am  meisten  speeifisehen  Kennzeichen  der  so- 
genannten Bronzeperiode  gehören,  wirklich  die  Framea  darstellen,  so  würde  damit  auch  das  an- 
dere Problem  mit  Sicherheit  gelöset  werden,  nämlich  welcher  Periode  das  Broneezeitalter  angehört; 
dass  sie  nämlich  noch  in  diejenige  Zeit  falle,  von  der  Tacitus  redet;  freilich  in  der  Uebergangs- 
zeit  von  der  Bronze  zu  dem  Eisen,  von  welchem  Tacitus  (Cap.  6)  ausdrücklich  sagt:  „Eisen  ha- 
ben sie  nicht  in  Ueberfluss". 

Herr  Virchow  dankt  im  Namen  der  Gesellschaft  dafür,  dass  ein  so  kundiges  Mitglied 
ihr  zugleich  das  Verstäudniss  für  das  Museum  eröffnet,  und  behält  für  eine  spätere  Sitzung  die 
Gelegenheit  vor,  auf  diese  Verhältnisse  zurückzukommen.  Es  werde  namentlich  interessant 
sein,  eine  üebersicht  der  Fundstellen  für  die  Gussgeräthe  herzustellen.  Er  erinnert  sich,  so- 
wohl in  Kopenhagen,  als  in  Schwerin   Gussplatten  gesehen  zu  haben. 

Herr  von  Quast  meint,  es  sei  wesentlich,  die  geographischen  Verhältnisse  zur  Klarheit  zu 
bringen;  wo  und  in  welchen  Localitäten  diese  Gegenstände  gefunden  sind  Wenn  Herr  von 
Ledcbur  sage  dass  Deutschland  vorzugsweise  der  Fundort  dieser  Dinge  sei,  dass  sodann  England, 
Frankreich  und  Spanien  kommen,  so  wäre  erst  statistisch  nachzuweisen,  in  welchem  Verhältniss 
dies  der  Fall  ist.  Was  die  Einführung  dieser  Instrumente  durch  Vandalen  betreffe,  so  scheinen 
doch  in  der  Zeit,  in  welcher  die  Völkerwanderung  stattgefunden  hat,  die  reinen  Bronzeinstru- 
mente  nur  ausnahmsweise  vorgekommen  zu  sein.  Namentlich  sei  unter  den  altfränkischen  Sachen 
am  Rhein  das  Eisen  doch  vorherrschend  gewesen,  und  so  dürfte  anzunehmen  sein,  dass  die 
Vandalen,  als  sie  dorthin  gekommen,  eiserne  Instrumente  besessen  hätten.  Man  müsse  zeigen, 
dass  diese  Dinge  durch  die  Vandalen  dorthin  gekommen  seien.  Das  Vorhandensein  derselben 
Instrumente    auch    in  Sibirien  spreche  gegen    einen    gemeinschaftlichen  Zusammenhang. 

Herr  Jagor  bemerkt,  dass  solche  Gussformen  auch  in  England  vorhanden  sind,  es  dürfte 
daraus  wohl  folgen,  dass  derartige  Instrumente  and,  dort  verfertigt  wurden. 

Ben  \.  Ledebur  hielt  die  genaue  Registrirung  jedes  einzelnen  Fundes  für  sehr 
wichtig  und  ist  damit  auch  bereits  selbst  vorgegangen.  Wenn  sich  nun,  meint  er  weiter,  dabei  her- 
ausstellte, dass  diese  Werkzeuge  sich  hauptsächlich  in  den  Gegenden  finden,  in  denen  Germa- 
nen gelebt  und  in  zweiter  Linie  dort,  wohin  sie  gekommen,  so  könnten  jene  doch  in  der  Zeit 
dorthin  gelangt  sein,  welche  der  V  öl  ker  wand  er  un  g  entspricht.  Tacitus  erklärt  sich  dahin, 
dass  Eisen  in  Deutschland  selten  gewesen  sei,  und  wenn  dies  der  Fall,  so  muss  statt  des  Eisens 
sich  noch  etwas  anderes  gefunden  haben,  und  die  Framea  muss  aus  einem  anderen  Material  ge- 
wesen sein.     Man  spricht  allerdings  auch  von  eisernen  Spitzen,   aber  Werkzeuge   mit   eisernen 


169 

Spitzen  sind  nicht  gefunden  worden.  Nach  Plinius  ist  in  Deutschland  Kupfer  bearbeitet  wor- 
den. Nichts  desto  weniger  ist  zu  Tacitua  Zeit  die  Bronze  mit  Eisen  verbunden  gewesen;  dies 
wird  also  schon  gleichzeitig  und  überholt  die  Rronze.  Wenn  wir  nun  von  den  antiken  Volkern 
keine  Nachrichten  hierüber  haben,  se  würde  doch  Tacitus  diesen  Instrumenten  keinen  deutschen 
Namen  gegeben  haben,  wenn  er  nicht  eine  deutsche  Waffe  damit  gemeint  hat.  Herr  v.Eich- 
waldt  nimmt  für  den  ganzen  Norden  Deutschlands  eine  Tschudische  Bevölkerung  an,  wobei  er 
aber  entschieden  zu  weit  zu  gehen  scheint;  wir  müssen  es  vorläufig  dahin  gestellt  sein  lassen, 
ob  die  erwähnten  Formen  Nachbildungen  solcher  sind,  die  in  anderen  Ländern  bereits  früher 
existirt  haben1  (wofür  jeder  Anhalt  fehlt)  oder  nicht;  wir  können  nur  sagen:  „Hier  in  Nord- 
deutschland finden  wir  sie  weit  häufiger  als  südlich  von  der  Donau." 

Hr.  Meitzen  hält  die  Fraraea  wesentlich  für  ein  Jagdinstrument.  Es  sei  nicht  anzuneh- 
men, dass  ein  Meissel  mit  Oehr,  an  welchem  sich  ein  Riemen  befindet,  wesentlich  und  zuerst 
als  Kriegsinstrument  gedeutet  werden  müsse,  weil  hierzu  der  Riemen  keine  Dienste  geleistet 
haben,  ja  im  Gegenthcil  hinderlich  gewesen  sein  würde.  Bei  den  Eskinio's  fände  man  noch  jetzt 
derartige  mit  Oehren  versehene  Jagdinstrumente.  Diese  würden  dem  Thiere  in  den  Leib  ge- 
stossen,  man  ziehe  den  Stab  zurück,  nun  könne  das  Thier  noch  einige  Schritte  verwärts  laufen 
und  hänge  dann  an  der  Spitze  wie  an  einer  Angel  fest  Dies  Instrument  sei  vorzugsweise  bei 
solchen  Thieren  von  Nutzen,  die  unter  das  Wasser  tauchen  wie  Seehunde. 

Hr.  Maurer  macht  auf  die  von  Weber  etwa  vor  einem  Jahre  in  den  wissenschaftlichen 
Beitagen  der  Vossischen  Zeitung  gegebene  Definition  der  Framea  aufmerksam,  welche  sich 
auf  einen  Fund  beziehe,  wel'hem  zufolge  die  Framea  gleich  geeignet  zum  Hieb  als  zum  Wurf 
gedient.  Er  spricht  sich  auch  für  die  Benutzung  als  Beil  aus  und  bezieht  sich  auf  die  von 
Nilsson  gelieferte  Abbildung  einer  noch  am  Stiel  befestigten  Bronzeaxt  aus  dem  Salz- 
werke von  Reichenhall.  Von  beilartigen  Frameen  gebe  Klemm  eine  Abbildung  in  seinem 
Buche  über  Waffen  und  Geräthe.  Diese  Abbildungen  liefern  vielleicht  den  Beweis,  dass  nicht 
ein  Riemen,  sondern  eine  Kette  au  diesen  Instrumenten  sich  befunden. 

Nach  Herrn  v.  Ledebur's  Gegenbemerkung  ist  nicht  diese  Kette,  wohl  aber  der  Riemen 
gefunden.  Man  habe  allerdings  ähnliche  Instrumente  mit  und  ohne  Schaft,  aber  das  seien  ganz 
andere  Instrumente,  und  hierin  beruhe  eine  der  Gefahren,  das  Ding  gleich  mit  einer  bestimm- 
ten Bezeichnung  zu  versehen;  wenn  wir  uns  den  Schaft  anders  denken,  so  wird  es  eine  Stoss- 
waffe. Man  dürfe  hier  also  nicht  generalisireu,  sondern  müsse  jene  Dinge  einfach  für  meissel- 
artige  Werkzeuge  aus  Bronze  ohne  speeiellere  Gebrauchsbestimmung  erklären, 

Hr.  Hart  mann  erwähnt  des  Vorkommens  eiserner,  ungefähr  an  die  beilartige  Framea  er- 
innernder Instrumente  bei  Altägyptern,  bei  verschiedenen  neueren  centralafrikanischen  Völker- 
schaften und  bei  Südseeinsulanern. 

Nach  Hrn.  Jagor  werden  bei  den  malaischen  Stämmen  solche  Meissel  ganz  in  derselben 
Weise  beilartig  gebraucht. 

Hr.  v.  Quast  wirft  noch  einmal  die  Frage  auf,  ob  es  sicher  festgestellt  sei,  dass  die  frag- 
lichen Bronzegeräthe  gerade  Speere  sind?  Er  findet,  dass  es  für  eine  Stosswaffe  vorteilhafter 
ist,  wenn  sie  vorn  spitz,  als  wenn  sie  breit  ist.  Man  müsse  es  daher  vorläufig  noch  unbe- 
stimmt lassen,  welcher  Art  die  Verwendung  gewesen,  denn  bei  der  Framea,  wenn  wir  sie  in 
der  Bedeutung  von  Pfriem  nehmen,  müsse  gerade  die  Spitze  charakteristisch  sein.  — 

Herr  Er  man  vollendete  seinen  in  der  vorigen  Sitzung  begonnenen  Vortrag  über  Aleuten 
und  Koljuschen. 

Als  Geschenke  wurden  der  Gesellschaft  in  der  Januar-  und  Februarsitzung  ferner  über- 
reicht: Im  Namen  des  Herrn  Crampe  Urnen  und  Knochenpfeilspitzen  aus  der  Lausitz. 
Scientific  Opinion  No.  62.  —  Ch.  Borget:  Cours  d'Anthropologie  appliquee  ä  l'enseignement 
des  Beaux  Arts  Paris  1869.  —  Durch  Herrn  Virchow:  Vrolik  en  van  der  Hoeven  Be- 
schrijving  en  Afbeelding  van  denen  te  Pompeji  opgegraven  Menschelijken  Schedel.  Amsterdam 
1859.  —  J.  Schade:  De  singulari  cranii  cujusdam  deformitate  Gryphiae  MDCCCLVHI.  — 
Boogard:  De  Indrukking  der  grondvlakte  yan  den  Schedel  door  de  Wervelkolom.  -  Verzeich- 
niss    des  Museums    schlesischer  Alterthümer  zu  Breslau.    Juli  1869.     2  Hefte. 


Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrga^  1670.  12 


170 

Sitzung  vom  12.  März  1870. 

Vorsitzender:  Herr  Virchow. 

Der  Vorsitzende  verliest  ein  Schreiben  des  Herrn  Dr.  Beigel,  Vicepräsidtnten  und  Vor- 
sitzenden des  Finanz-  und  Publications-Komitee's  der  Londoner  anthropologischen  Gesellschaft' 
in  welchem  der  Konstituirung  des  Berliner  Schwestervereins  in  anerkennender  Weise  gedacht 
wird.  Das  Schreiben  ist  von  einer  sehr  reichen  Sendung  der  von  der  Anthropological  Society 
of  London  herausgegebenen  Schriften,  Geschenken  für  die  Berliner  Gesellschaft  begleitet. 

Der  Vorsitzende  legt  eine  Sammlung  von  Fundgegenständen  des  Hrn.  v.  Dücker  nebst  fol- 
gendem Schreiben  desselben  vor: 

Der  Berliner  Anthropologischen  Gesellschaft  beehre  ich  mich,  hiermit  einige  Reste  aus  west- 
phälischen  Kalkhöhlen  s.  p.  o.  vorzulegen,  welche  Zeugniss  ablegen  von  der  ältesten  Existenz 
des  Menschen  in  Norddeutschland,  die  bisher  constatirt  werden  konnte. 

Es  sind  meistens  versteinerte  Knocheureste ,  die  entweder  selbst  Spuren  menschlicher  Thä- 
tigkeit  an  sich  tragen,  oder  die  in  solcher  Zusammenlagerung  mit  menschlichen  Kunstproducten 
gefunden  wurden,  dass  man  nach  der  Gesammtheit  der  Erscheinungen  gleiches  Alter  für  sie  an- 
nehmen muss. 

A.  Aus  der  Balver  Höhle. 

(Sehr  grosse  Höhle  bei  dem  Städtchen  Balve;  /.um  grössten  Theile  ausgeräumt  1848— 18.'. 2 
und  zu  einem  Schützenplatze  eingerichtet;  Reste  von  mir  gesammelt  in  selbigen  Jahren.) 

1.  Versteinerte  längsgespaltene  Knochenstücke,  wie  solche  massenhaft,  mit  anderem  Schutt 
aus  der  Hölue  auf  die  Felder  gefahren  worden  sind. 

2.  Zähne  vom  Höhlenbär,  Pferd,  Schwein  etc. 

3.  Zwei  Stücke  eines  Kinderschädels;  von  einigen  Skeletten  herrührend,  welche  im  hin- 
teren Theile  der  Höhle  einige  Fuss  tief  im  Schutt  gefunden  wurden. 

B.  Aus  der  Klusenstemer  Höhle. 

(Sehr  grosse  Höhle  bei  dem  alten  Schlosse  Klusenstein;  theilweise  ausgeräumt  1866— 1669. 
Reste  von  mir  gesammelt  1867  —  1869.) 

4.  Streitaxt  aus  Feuerstein  von  der  Grösse  einer  grossen  Manneshand;  roh  geschlagen, 
älteste  Form.  Feuerstein  kommt  in  der  Nähe  der  Höhle  in  der  Natur  nicht  vor.  Ich  erhielt 
die  Axt  aus  der  Hand  des  Besitzers  der  Höhle,  Herrn  Feldhof. 

5.  Feuersteinwerkzeug;  unverkennbar  künstlich  geschlagen;  wahrscheinlich  eine  Lanzen- 
spitze. 

6.  Steinmesser;  aus  Hornstein  oder  Kieselschiefer  roh  geschlagen. 

7.  Zähne  von  Höhlenbären,  geschwärzt,  zum  Theil  deformirt,  anscheinend  durch  Feuer. 
8      Knochenstückchen,  offenbar  mit  Feuer  schwarz  gebrannt. 

C.  Aus  der  Friedrichshöhle. 

(Knochenbracefe  unter  voriger  Höhle;  Reste  von  mir  gesammelt  1867  und  1869.) 

9.  Stück  vom  Unterkiefer  eines  Tigers;  allem  Anscheine  nach  durch  Menschenhände  zer- 
schlagen. 

10.  Grosser  versteinerter  Knochen  mit  unzweifelhaften  Spuren  des  Zerschlagenseins  auf 
einer  Gelenkfläche. 

11.  Ein  weisser  und  ein  geschwärzter  Höhlenbären-Backzahn. 

12.  Kleine  Höhlenbären-Backzähne. 

13.  Kleine  Knochenreste. 

14.  Kieferstück  mit  Backzähnen  vom  Höhlenbär. 

D.     Aus  dem  hohlen  Stein. 
(Grosse  Höhle  bei  Rödinghausen;  untersucht  durch  mich  1849,  1867  und  1869.) 

15.  Backzahn  eines  grossen  Wiederkäuers  aus  oberster  Schicht. 

16.  Knochenstücke  mit  unzweifelhaften  Spuren  menschlicher  Thätigkeit. 

17.  Fuss-  und  Flügelknöchelchen  vom  Feldhuhn;  auffallend  häufig  und  in  guter  Erhaltung 
0)60—l,60  Meter  tief  im  Schutt  gefunden,  so  dass  man  vermuthen  darf,  sie  seien  wegen  ihrer 
Zierlichkeit  von  den  Höhlenbewohnern  werth  gehalten  worden. 

18.  Kleine  Knöchelchen,  darunter  ein  sehr  auffallendes  Kieferstück  von  Eidechse  oder  Fisch 
mit  einem  sehr  grossen  Zahn. 


171 

19.  Fussknochen  eines  sehr  grossen  Zweihufers. 

20.  Knochensplittern;  zum  Theil  anscheinend  durch  Gebrauch  geglättet;  wahrscheinlich 
Pfeilspitzen. 

21.  Splitter  von  Steinen  der  Localität,  wahrscheinlich  als  Messer  benutzt. 

22.  Sandstein;  Flussgeschiebe  der  Localität  mit  einem  Streifen,  der  auf  das  Schleifen  klei- 
ner Werkzeuge  hindeutet;  auch  anscheinend  künstlich  abgesplittert. 

23.  Sehr  rohe  Steinmasse  aus  Kieselschiefern  der  Localität. 

24.  Kleine  unzweifelhaft  künstlich  geschlagene  Messer  aus  Feuerstein,  der  nicht  an  der 
Localität  vorkommt,  stark  durch   Verwitterung  gebleicht. 

25.  4  Stück  Scherben  rohester,  ältester  Topferwaare  mit  Einsprengung  von  Kalkspath- 
trümmern. 

26.  Versteinertes  Kieferstück  von  einem  Höhlenbären. 

27.  4  versteinerte  Zahnstücäe  von  Rhinoceros. 

28.  Versteinertes  Stück  eines  Elephanten-Gelenkknochens;  allem  Anscheine  ebenso  aufge- 
schlagen wie  obiger  Knochen  aus  der  Friedrichshöhle  Die  letzteren  Reste  wurden  in  1 — 1,60 
Meter  Tiefe  in  unzweifelhafter  Zusammenlegung  mit  den  Kunstprodukten  gefunden. 

Zur  genaueren  Prüfung  der  übersandten  Gegenstände  wird  eine  Kommission  ernannt,  be- 
stehend aus  den  Herren  ßeyrich,  Hartmann,  Kunth  und  Virchow. 

Hr.  Virchow  macht  im  Anschlüsse  an  diese  Vorlage  folgende  Mittheilungen: 

Ich  habe  inzwischen  in  Folge  der  in  der  vorigen  Sitzung  gemachten  Bemerkung  des  Hrn. 
Beyrich  über  die  Existenz  von  Fundstücken  aus  den  Westphälischen  Höhlen  im  Museum  der 
Bergakademie  Gelegenheit  genommen,  mir  einen  Ueberblick  über  die  Sachen  zu  verschaffen. 
Sie  sind  noch  nicht  übersichtlich  geordnet,  indess  glaube  ich  doch  ein  paar  Stücke  vorlegen  zu 
müssen,  weil  sie  charakteristische  Specimina  menschlicher  Einwirkungen  darstellen;  sie  sind 
aus  der  Räsenbecker  Höhle  Es  finden  sich  darunter  ausgezeichnete  Specimina ,  Geweihstücke 
vom  Hirsch,  welche  unzweifelhaft  gesägt  und  geschnitten  sind,  so  dass  man  über  die  Natur  der 
Operation,  welche  hier  vorgenommen  ist,  keinen  Zweifel  hegen  kann.  Es  sind  auch  die  Ober- 
flächen, was  das  Alter  betrifft,  so  vollständig  übereinstimmend  mit  den  andern  Oberflächen, 
dass  kein  Zweifel  existiren  wird,  dass  die  Schnitte  gemacht  wordeh  sind,  bevor  die  Knochen 
in  die  Lage  kamen,  aus  welcher  sie  später  herausbefördert  worden  sind.  Auch  ein  Stück  einer 
grössern  Rippe,  wahrscheinlich  vom  Ochsen,  welche  deutlich  eingeschnitten  ist,  liegt  vor.  Ich 
behalte  mir  vor,  auf  die  Sache  später  noch  zurückzukommen,  wenn  es  gelungen  sein  wird,  die 
Sammlung  genauer  zu  durchmustern. 

Herr  Fr i edel  legt  eine  Anzahl  zum  Theil  sehr  gut  gearbeiteter  zwischen  Rummelsburg  und 
Köpenick  3$'  tief  im  Heidesande  gefundener  Bronzesachen  vor,  darunter  ein  von  Hrn.  Virchow 
für  ein  abgekniffenes  Gussstück  erklärtes  Fragment. 

Hr.  Jagor  zeigt  ein  axtartiges  ,  der  beilartigen  Framea  ähnelndes  Werkzeug  aus  Java  vor 
und  macht  auf  die  Abbildung  entsprechender  Geräthe  in  Klemm's  Abhandlung  aufmerksam. 

Hr.  A.  Kuhn: 

Ich  habe  nur  eine  kurze  Mittheilung  zu  machen,  welche  den  Gebrauch  der  ältesten  Schneide- 
werkzeuge betrifft. 

Unter  den  indischen  Opferrequisiten  ist  das  sogen.  Barhis,  eine  Streu  von  Kucagras,  einer 
langhalmigen  Grasart,  die  getrocknet  unserm  Weizenstroh  ähnlich  sieht,  nur  grössere  Blätter 
hat.  Dies  dient  dazu,  die  Opfergeräthe  darauf  zu  legen  und  die  Gaben  für  die  Götter  darauf 
niederzusetzen;  zugleich  werden  die  Götter  eingeladen,  sich  darauf  niederzulassen,  um  in  Ruhe 
die  ihnen  dargebrachten  Gaben  zu  verzehren,  ganz  also,  wie  wir  dies  auch  bei  den  römischen 
Lectisternien  finden.  Dieses  Barhis  wird  nun  also  von  Kucagras  gebildet  und  es  heisst  in  den 
Vorschriften,  der  Opferpriester  solle  sich  dazu  eines  Asida,  d.  h.  einer  Sichel  bedienen,  oder 
eine  avvaparcus  oder  adavutparcus  d.  h.  eine  Pferde-  oder  Kuhrippe  dazu  nehmen.  Diese 
Schneidewerkzeuge,  die  er  anwenden  soll,  müssen  wir  uns  wohl  in  irgend  einer  Weise  geschärft 
denken,  um  die  Dienste  verrichten  zu  können,  zu  denen  sie  gebraucht  wurden.  Eine  Rippe 
wird,  so  latitet  die  Erklärung  des  Brähmanam  hierfür  deshalb  genommen,  weil  das  Auge  des 
Prajjäpatis,  des  Herrn  der  Geschöpfe,  sich  (nach  vielfältig  vorkommenden  Erzählungen)  in  ein 
Pferd  verwandelt  habe,  und  mit  diesem  heiligen  Werkzeuge,  das  die  Pferderippe  darstellt,  das 
Gras  sich   besser  schneiden   lassen    werde     Das  Wort  Parcus,   welches  Rippe   bedeutet,   heisst 


172 

nun  zugleich  offenbar  wegen  dieses  Gebrauches  auch  „die  Sichel"  und  war  an  einigen  andern 
Stellen  als  Metallwerkzeug  erwähnt.  Danehen  steht  ein  anderes  Wort  Paracus  (c  sprich  eh.) 
Dies  heisst  im  spätem  Sanskrit  allgemein  Beil  oder  Axt;  es  ist  dies  c  „(ch)"  durchweg  im 
Sanskrit  aus  älterem  k  hervorgegangen,  so  dass  an  die  Stelle  des  spätem  Paracus  ein  älteres 
Parakus  zu  setzen  ist.  Dies  entspricht  aber  genau  dem  griechischen  vfkexus  und  wir  haben 
also  den  Fall,  dass  aus  einem  Worte,  das  ursprunglich  Rippe  heisst ,  der  Begriff  des  Beiles  bei 
Indern  und  Griechen  hervorgegangen  ist.  Ob  auch  die  übrigen  Völker  des  Alterthums  dieses 
Wort  gebraucht  haben,  lässt  sich  nicht  entscheiden,  nur  sehr  wahrscheinlich  ist  allerdings,  dass 
auch  vom  Lateinischen  dasselbe  Verhältniss  gilt.  Ais  Wurzel  hätten  wir,  da  c  auf  älteres  k 
zurückführt,  „Park"  anzusetzen;  mit  dieser  nahe  verwandt  ist  aber  eine  Wurzel  „Falk",  welche 
statt  der  Tenuis  im  Anlaut  die  Aspirata  zeigt  und  ausserdem  an  die  Stelle  des  r  ein  1  gesetzt 
hat,  aber  ursprünglich  r  gehabt  haben  muss,  da  das  älteste  Indogermanisch  kein  1  gekannt 
hat  und  erst  in  den  aus  demselben  entwickelten  Einzelsprachen  1  aus  r  hervorgegangen  ist. 
Diese  Wurzel  „Falk"  liegt  nun  in  dem  griechischen  tfdkxris,  welches  „Schiffsrippe"  bedeutet, 
vor  und  ihm  steht  das  lat.  falx,  die  Sichel,  von  gleicher  Wurzel  (Stamm  falei  — )  zur  Seite. 
Das  Resultat  ist  also  kurz  dies,  dass  die  Rippe  bis  in  historische  Zeit  als  Schneide-  oder  Hau- 
werkzeug bei  den  Indern  gebraucht  worden  ist,  und  dass  das  dafür  dienende  Wort  in  älterer 
Zeit  gleichzeitig  Sichel  und  schneidendes  Instrument  aus  einer  Rippe  bedeutet. 

Hr.  Fritsch:  Die  Fortschritte  der  neuem  Anthropologie  sind  grossentheils  zurückzu- 
führen auf  die  Verbesserung  der  dabei  in  Anwendung  kommenden  darstellenden  Methoden.  Die 
selben  verdienen  daher  eine  besondere  Berücksichtigung  und  es  dürfte  nicht  uninteressant  er- 
scheinen, zwei  der  wichtigsten  in  technischer  Hinsicht  eingehender  zu  vergleichen. 

Die  gedachten  Methoden  sind:  das  geometrische  Zeichnen  mittelst  des  Lucaeschen  Appara- 
tes und  die  Photographie.  Beide  haben  ihre  Vortheile  und  Nachtheile,  Beide  ihre  Freunde  und 
Gegner.  Um  das  Gute  und  Schlechte  derselben  leichter  erkennbar  zu  machen,  hat  der  Vortra- 
gende dieselben  anthropologischen  Objecte  nach  beiden  Methoden  abgebildet  und  erlaubt  sich, 
diese  Proben  der  Gesellschaft  vorzulegen. 

Die  früheren  Darstellungen  solcher  Objecte  sind  der  wissenschaftlichen  Vergleichung  kaum 
zugänglich,  da  meist  aus  freier  Hand  gezeichnet  wurde,  und  um  möglichst  viel  mit  möglichst 
wenig  Mitteln  zu  geben,  eine  willkührliche  Stellung  gewählt  ist.  Zu  dieser  Klasse  ge- 
hören z.B.  die  Blumenbach'schen  Schädelabbildungen  und  noch  in  neuerer  Zeit  hat  man  west- 
afrikanische Schädel  ebenfalls  zum  Theil  in  beliebiger  Stellung  abbildeu  lassen. 

Es  ist  dringend  zu  wünschen,  dass  diese  Art  der  Darstellung  gänzlich  verlassen  wird:  da 
nur  mehrere  Aufnahmen  in  geraden  Ansichten  ein  der  Vergleichung  zugängliches  Material  lie- 
fern. Diese  aus  freier  Hand  zu  zeichnen,  ist  kaum  ohne  bedeutende  Fehler  auszuführen  nud 
man  braucht  also  dazu  mechanische  Ilülfsmittel,  unter  welchen  der  Lucaesche  Apparat  und  die 
Photographie  obenan  stehen. 

Mit  dem  ersteren  werden  bekanntlich  die  Umrisse  auf  horizontaler  Glasplatte  aufgezeichnet 
wie  ein  senkrecht  darüber  hingeführtes  Diopter  dieselben  auf  die  Platte  projizirt.  Das  Aufzeich- 
nen soll  mit  Copirdinte  geschehen  und  das  Bild  von  der  Glastafel  dann  auf  Papier  abgedruckt 
werden.  Es  hat  dies  Verfahren  den  fjebelstand,  dass  die  Gontouren  leicht  breit  werden,  nahe 
aneinander  hinlaufende  Linien  verschmelzen  gern,  ausserdem  wird  durch  das  Abdrucken  Rechts 
zu  Links  und  das  Original  geht  verloren.  Diese  Uebelstände  lassen  sich  vermeiden,  wenn  man 
sich  des  Glaspapiers  zum  Aufzeichnen  bedient,  welches  auf  die  Platte  aufgeklebt  wird,  worauf 
die  Umrisse  mit  der  Kalkirnadel  eingeritzt  werden.  Man  erhält  so  ein  Bild  mit  äusserst  feinen 
Contouren,  welche  mit  dunklen  Farbstoffen  eingerieben  auf  Weiss  leicht  sichtbar  erscheinen, 
sich  beliebig  Rechts  oder  Links  nachzeichnen  lassen  und  der  originale  Entwurf  bleibt  erhalten, 
in  solchen  Aufnahmen  ist  die  Perspeethe  durch  den  Apparat  ganz  beseitigt  und  Distanzen, 
welche  genau  parallel  der  (ilasplatte  lagen,  müssen  darin  der  Theorie  nach  der  natürlichen 
Grösse  vollständig  entsprechen  Es  ist  aber  einleuchtend,  dass  bei  den  in  Frage  kommenden 
Gegenständen  (wie  Schädel,  Becken  etc.)  sieh  keine  Stellung  finden  lässt,  in  welcher  alle  sym- 
metrisch sich  entsprechenden  Punkte  dieselbe  Lage  zu  der  «ilasplatte  hätten,  da  eine  gewisse 
Schiefheit  den  Objeeten  als  Regel  eigen  ist,  die  Protection  wird  also  alle  der  Tafel  nicht  pa- 
rallelen Dimensionen  verkürzt  erscheinen  lassen,  und  wenu  diese  Abweichungen  auch  gering 
sind,  so  muss  es  doch  wünschenswert!)   erscheinen,  neben  der  Zeichnung  Messungen  zu 


173 

haben.  Es  wurde  hier  vorausgesetzt,  dass  der  Apparat  wie  Zeichner  vollkommen  arbeite,  aber 
man  kann  nicht  leugnen,  dass  dies  ideale  Anforderungen  sind;  will  man  nur  einigermassen 
exact  zeichnen,  so  ist  die  Arbeit  unter  allen  Umständen  zeitraubend  und  der  längere  Gebrauch 
des  Diopter's  strengt  die  Augen  sehr  an.  Wird  schneller  gearbeitet,  gehen  die  Details  verloren, 
scharfe  Vorspränge,  Ecken  etc.  werden  leicht  abgerundet,  und  die  Linien  bekommen  einen  ge- 
wissen arabeskenartigen  Schwung,  der  den  Knochen  wahrhaftig  nicht  eigen  ist;  manche  Publi- 
cationen  solcher  Schädelzeichnungen  lassen  diesen  Fehler  aber  deutlich  erkennen. 

Die  angestellte  Controlle  der  Zeichnung  mit  den  gemessenen  Dimensionen  (die  letzteren 
waren  als  Linien  in  die  vorgelegten  Proben  an  den  betreffenden  Stellen  eingetragen)  ergab  trotz 
der  aufgewandten  Sorgfalt  doch  öfters  nicht  unbedeutende  Abweichungen. 

Endlich  ist  ein  berechtigter  Einwand  gegen  die  Lucaesche  Methode,  der  auch  von  andrer 
Seite  (Welcker)  erhoben  worden  ist,  dass  durch  dieselbe  das  Physiognomische  des  Bildes  ver- 
loren geht  und  wir  keine  Anschauung  erhalten,  die  sich  mit  unseren  durch  direkte  Betrachtung 
des  Objectes  gewonnenen  Vorstellungen  vergleichen  Hesse,  indem  wir  auf  der  Netzhaut  perspec- 
tivische,  aber  keine  geometrischen  Bilder  erhalten.  Die  Zeichnung  mit  dem  Lucaeschen  Apparat 
ist  also  eher  eine  graphisch  dargestellte  Zahlentabelle  als  ein  Bild,  besonders  da  sich  dieselbe 
mehr  oder  weniger  auf  die  l'mrisse  beschränken  inuss  und  die  weitere  Ausführung  doch  der 
Auffassung  des  Zeichners  anheimgegeben  werden  wird. 

Bei  photographischen  Aufnahmen  ist  dies  nicht  der  Fall.  Hier  bleibt  die  Perspec- 
tive im  Bilde,  man  erhält  Umrisse  und  Flüchenansichten  gleichzeitig,  und  die  Darstellung  macht 
daher  einen  natürlicheren  Eindruck. 

Freilich  hat  die  Photographie  auch  ihre  grossen  Uebelstände.  Es  wird  der  Einwand  gegen 
dieselbe  erhoben,  man  könne  häufig  Portraits  von  Personen  sehen,  die  absolut  unkenntlich  seien, 
was  allerdings  aus  verschiedenen  Gründen  vorkommen  kann.  Der  Portraitphotograph  sucht  ein 
schönes  Bild  zu  liefern  und  wählt  daher  eine  Projection,  welche  er  vom  künstlerischen  Stand- 
punkte aus  für  die  günstigste  hält;  diese  ist  aber  vielleicht  der  aufzunehmenden  Person  ganz 
fremd,  das  Gesicht  wird  also  künstlich  entstellt;  oder  die  gewählte  Beleuchtung  täuscht  durch 
grelle  Contrast Wirkung  etc.  eine  abweichende  Gestaltung  vor;  oder  die  Perspective  ist  über- 
trieben worden;  oder  endlich  die  benutzten  Objective  sind  ungeeignet  gewesen. 

Dies  Alles  ist  für  wissenschaftliche  Darstellungen  möglichst  zu  vermeiden:  Künstlerische 
Auffassung  ist  durchaus  unerwünscht,  indem  man  hier  erst  recht  gerade  Ansichten  zu  be- 
nutzen hat;  die  Beleuchtung  wählt  man  am  besten  möglichst  von  vorn,  um  die  schädliche 
Contrastwirkung  zu  vermeiden;  die  Objective  müssen  frei  sein  von  sphärischer  Aberration  und 
dürfen  keinen  sehr  grossen  Oeffnungs winkel  haben. 

Das  letztere  Moment  ist  von  besonderer  Wichtigkeit,  weil  die  Objective  mit  grossem  Oeff- 
nungswinkel  die  Perspective  stark  übertreiben  und  dadurch  die  scheinbaren  Verzerrungen  in  die 
Bilder  bringen.  Den  geometrischen  Zeichnungen  am  ähnlichsten  sind  Aufnahmen  mit  Stein- 
heil's  Aplanat  und  Dallmeiers  Triple-  oder  recto-linear  Lens;  weniger  empfehlenswerth  wegen 
der  grossen  Oeffnungs  winkel  sind  Dallmeiers  wide-angular  Lens  oder  Busch's  Universal  triple, 
sowie  die  Pantoscop-  und  Augenlinsen. 

Das  Steinheil'sche  Aplanat  entspricht  im  allgemeinen  den  hier  in  Frage  kommenden  Bedür- 
nissen  am  besten.  Bei  der  Aufnahme  ist  noch  besonders  zu  berücksichtigen,  dass  die  Entfer- 
nung des  vorderen  Focus  stets  eine  gewisse  Grösse  haben  sollte,  und  man  also  dem  Objecte 
unter  keinen  Umständen  näher  als  höchstens  auf  4  Fuss  mit  dem  Apparat  kommen  sollte;  will 
man  daher  Bilder  erzielen,  welche  über  J  natürlicher  Grösse  hinausgehen,  so  muss  man  schon 
die  Objective  von  bedeutenderem  Durchmesser  anwenden.  Für  }  natürlicher  Grösse  wurden  eine 
grössere  Reihe  von  südafrikanischen  Schädeln  mit  Dallmeier's  Triple-Lens  No.  2  aufgenommen, 
in  welchen  zwar  die  perspectivische  Verkürzung  immer  deutlich  messbar  ist,  deren  Habitus  sich 
aber  doch  der  geometrischen  Zeichnung  schon  sehr  nähert.  Diese  Annäherung  ist  aber  aus- 
reichend, da  der  physiognomische  Eindruck  nicht  gänzlich  vernichtet  werden  sollte,  und  es  ge- 
eigneter erscheint,  die  genauen  Dimensionen  durch  ausführliche  Messungen  derselben  Objecte 
festzustellen.  Die  Betrachtung  der  photographischen  Tafeln  ergiebt  zugleich  als  einen  in  die 
Augen  springenden  Vortheil,  dass  die  ganze  Reihe  der  Abbildungen  mit  demselben  Objectiv,  in 
derselben  Entfernung  aufgenommen,  sofortige  Vergleichung  unter  sich  erlaubt,  da  die  Perspec- 
tive in  allen   ganz   in  gleicher  Weise  wirken   musste.    Die  perspectivische  Verkürzung,  welche 


174 

ein  bestimmtes  Objectiv  giebt,  ist  endlich  so  gut  zu  controlliren,  dass  die  Basis  der  Verglei- 
cbung  auch  für  andere  Aufnahmen  leicht  gefunden  werden  kann,  sobald  man  nur  genau  weiss, 
mit  welchem  Objectiv  sie  gemacht  worden  sind. 

Werden  die  photographischen  Aufnahmen  in  geringerer  Entfernung  als  die  oben  augegebene 
ausgeführt,  was  nothwendig  ist,  um  mit  den  Objectiven  mittleren  Durchmessers  ein  Bild  auf  { 
der  natürlichen  Grösse  zu  bringen,  so  ers-heint  die  Photographie  der  geometrischen  Zeichnung 
schon  sehr  unähnlich  und  macht  auch  auf  normalsichtige  Augen  wegen  der  übertriebenen  Per- 
spective einen  fremdartigen  Eindruck,  es  ist  aber  auch  dann  falsch  von  Fehlern  zu  sprechen, 
welche  das  Objectiv  in  das  Bild  brächte,  da  die  Abweichungen  durchaus  den  Regeln  der  Cen- 
tralperspective entsprechen,  so  lange  die  Linse  (wie  die  oben  genannten  es  thun)  überhaupt  cor- 
rect  zeichnet,  Das  Unnatürliche  entsteht  nur  dadurch,  dass  der  Augenpunkt  im  Bilde 
für  normale  Sehweite  zu  nahe  liegt. 

Um  die  Unterschiede  solcher  photographischen  Aufnahmen  von  der  geometrischen  Zeich- 
nung sichtbar  zu  machen,  wurden  die  mit  dem  Lucaeschen  Apparat  gewonnenen  Umrisse  pho- 
tographisch auf  die  Hälfte  reducirt  und  dieselbe  Ansicht  des  Objectes  (Racenbecken)  zugleich  in 
\  der  natürlichen  Grösse  mit  demselben  mittleren  Focus  aufgenommen.  Durch  Auflegen  der 
Pause  der  reducirten  Umrisszeichnung  auf  die  Photographie  wird  die  perspectivische  Verschie- 
bung in  den  einzelnen  Theilen  sofort  ersichtlich.  Abweichende  Ansichten  desselben  Beckens  erschei- 
nen, obgleich  mit  demselben  Objectiv  und  in  gleicher  Entfernung  aufgenommen,  von  verschiede- 
ner Grösse,  je  nachdem  die  Hanptmasse  der  Knochen  vor  oder  hinter  dem  mittleren  Focus  ge- 
legen hat 

Für  Darstellungen  in  so  grossem  Maasstab  dürfte  es  sich  daher  empfehlen,  wie  der  Vor- 
tragende es  bereits  praktisch  durchführt,  beide  hier  behandelte  Methoden  in  der  Weise  zu  ver- 
binden, dass  man  den  photographisch  reducirten  geometrischen  Umriss  zu  Grunde  legt  und  die 
Ausführung  der  Flächen  alsdann  nach  einer  ebenso  gefertigten  Aufnahme  derselben  Ansicht 
hinzufügt. 

Unter  allen  Umständen  wäre  eine  solche  Reduction  des  geometrischen  Umrisses  bei  allen 
Objecten  von  grösseren  Dimensionen  bei  weitem  der  gebräuchlichen  Verkleinerung  mittelst  des 
Storchschnabels  vorzuziehen ,  da  die  letztere  keineswegs  sehr  leicht  in  correcter  Weise  auszu- 
führen ist,  während  jedes  gute  photographische  Objectiv  so  frei  ist  von  sphärischer  Aberration, 
dass  es,  so  lange  man  nur  Sorge  trägt,  die  optische  Axe  genau  senkrecht  gegen  die  aufzuneh- 
mende Fläche  zu  stellen,  abgesehen  von  den  Rändern  des  Gesichtsfeldes,  unmöglich  ist,  die 
Fehler  durch  Messung  zu  constatiren 

Schliesslich  sei  noch  erwähnt,  dass  der  Uebelstand  der  Photographie  zu  viel  unwesentliche 
Details  in  Bezug  auf  die  Structur  der  Oberflächen  zu  geben  und  Farbenunterschiede  in  den  Ob- 
jecten in  gleicher  Weise  wie  Schatten  auszudrücken,  gewiss  ein  sehr  störender  ist,  zumal  wenn 
man  solche  Aufnahmen  als  Vorlagen  für  den  Zeichner  verwerthen  will.  Man  lernt  aber  sehr 
bald  die  Bilder  richtig  zu  erkennen,  um  das  Störende  daran  zu  eliminiren,  und  wenn  auch  an- 
fänglich zuweilen  missglückte  Versuche  zu  Tage  kamen,  so  hat  der  Vortragende  doch  stets 
schliesslich  Künstler  gefunden,  welche  den  Anforderungen  gerecht  zu  werden  verstanden  und  sich 
ihrer  Aufgabe  zuweilen  mit  bewunderungswürdiger  Leichtigkeit  erledigten. 

Herr  Virchow  hält  einen  Vortrag 

üeber  Gesichtsurnen. 

(Vergleiche  Bericht  Seite  73  dieses  Heftes.) 

Hierzu  bemerkt  Ilr  v.  Ledebur,  dass  nach  seiner  Ansicht  auf  den  Vasen  aus  Pommer- 
ellen  das  Oblongum  in  dem  untern  Theile  der  Dekorirung  wohl  den  Grundriss  des  Grabes  dar- 
stellen solle,  und  es  solle  in  der  Reihenfolge  der  Figuren  von  unten  nach  oben  ohne  Zweifel 
«las  Unterirdische,  das  auf  der  Erde  Lebende  und  das  Planetarische,  das  Ueberirdische  angedeu- 
tet sein. 

Hr.  Bastian  scbliesst  sich  der  Ansicht  des  Hrn.  Virchow  an,  dass  nur  aus  einer  grössern 
Menge  des  Materials  S(  blässe  gezogen  werden  dürfen,  worauf  die  Uebereinstimmung  an  ganz  ent- 
fernten Gegenden  gefundener  Vasen  beruhe.  Sobald  nicht  specielle  Anhaltspunkte  für  einen 
Contakl  'lieber  verschiedenen  Völkerschaften  vorhanden  seien,  müsse  man  stets  aus  Aehnlichkeit 
in    der  Form   ihrer   Gefässe  auf  einen   gleichen    Ideengang  schliessen.     Aehnliche   Formen   be- 


175 

gegneten  in  Polynesien  und  Mexico ,  besonders  aber  in  Peru ,  wo  auffallender  Weise  eine  Klasse 
der  Hausgötter  auch  Kanoben  genannt  werde.  Für  den  hier  gegebenen  Fall  sei  die  bereits 
von  dem  Vortragenden  angeregte  Bemerkung  festzuhalten ,  dass  die  sonst  aus  Etrurien  und  Ae- 
gypten  bekannten  Formen  sich  auf  beschränkter  Localität  am  Ausgang  einer  alten  Verkehrsstrasse 
wiederfinden,  die  schon  seit  ältester  Zeit  betreten  war  Solche  Knotenpunkte  alter  Handels- 
verbindungen bieten  stets  schwierige  Complicationen ,  bei  denen  man  sich  hüten  muss  sogleich 
auf  ethnologischen  Zusammenhang  zu  schliessen.  Reiche  Handelsplätze  bilden  überall  Anzie- 
hungspunkte für  Priester  der  verschiedensten  Culte,  die  dort  Filialen  errichten  für  Colonien  oder 
Factoreien  ihrer  Landsleute  oder  vielleicht  auch  nur  für  die  Kaufleute  und  Schiffer  aus  den- 
selben, die  dort  vorübergehend  verweilen.  So  zeigen  die  Häfen  Vorder-  und  Hiuterindien's  stets 
eine  bunte  Sammlung  aller  möglichen  Tempel  und  Kirchen,  die  Brahmanen  werden  selbst  bei 
den  Petroleumquellen  Baku's  und  Astrachan's  getroffen.  Schon  Namen  werden  in  solcher  Weise 
auf  weitesten  Kreuz-  und  Querwegen  um  hergetragen,  wie  viele  Beispiele  beweisen. 

Der  Vorsitzende    legt    folgende    schriftliche   Mitteilung  des    Hrn    Prof.   Göppert   sen.    in 

Breslau  vor. 

Bemerkungen  über  das  Vorkommen  des  Elen  in  Schlesien. 

Wie  ich  aus  der  sehr  interessanten  Abhandlung  des  Hrn.  Prof.  Dr.  Virchow  über  die 
Pfahlbauten  im  nördlichen  Deutschland  ersehe,  fehlt  es  in  Pommern  und  vielleicht  auch  in 
der  Mark  an  begründeten  Nachrichten  über  das  Vorkommen  des  Elenthieres  in  historischer  Zeit. . 
Aus  frühester  Zeit  liegt  für  Schlesien  auch  nur  eine,  aber  sehr  unzuverlässige  Angabe  vor. 
Nach  Friedrich  Schmaus  (Historisches  Staats- und  Heldenkabinet.  Schlesien,  1649)  hätte  Schlesien 
im  12ten  Jahrhunderte  ausser  Litthauen  damals  den  stärksten  Elenwildstand  gehabt.  Boleslaw  I.  habe 
1186  in  einer  zweitägigen,  mit  1205  Treibern  veranstalteten  Jagd  bei  Oppeki  nicht  weniger  als  860 
Elenthiere  erlegt.  Jedoch  ist  es  mir  ebenso  wenig  wie  Hrn.  v.  Havigwitz,  der  sich  mit  histori- 
schen Untersuchungen  über  das  Vorkommen  des  Elenthieres  beschäftigte,  gelungen,  diese  Schrift 
zu  verschaffen,  von  deren  Existenz  wir  auch  nur  durch  J.  K.  v.  Train  (Neues  Taschenbuch  für 
Natur-,  Forst-  und  Jagd-Freunde,  von  Schultes  und  Schultze  13 f.  auf  D.  I.  1»53,  Weimar  1S53 
bei  B.  F.  Voigt)  Kunde  erhielten.  Unser  überaus  kundige  Staatsarchivar  Herr  Prof.  Dr.  Grün- 
hagen, den  ich  darüber  befragte,  bezweifelt  die  Wahrheit  dieser  Angaben.  Er  habe  das  histo- 
rische Material  soweit  es  Schlesien  betrifft,  bis  zum  Jahre  1250  ziemlich  genau  kennen  gelernt 
und  nichts  über  das  Vorkommen  des  Elenthieres  darin  gefunden,  wohl  aber  zahlreiche  Stellen 
über  das  Vorkommen  von  Bibern. 

Unter  allen  Umständen  war  das  Andenken  an  einstige  heimathliche  Existenz  des  Elen  in 
Schlesien  so  erloschen,  dass  es  selbst  Schwenkfeld,  der  die  erste  Fauna  Schlesiens  1603 
schrieb,  gar  nicht  einfällt,  darauf  zurückzukommen,  sondern  er  sich  nur  begnügt,  es  zu  nennen 
und  Ungarn,  Litthauen  und  Preussen  als  seine  Heimath  zu  bezeichnen,  woher  häufig  Haut  und 
Klauen  nach  Schlesien  gebracht  wurden,  welche  letztere  man  damals,  wie  leider  auch  noch  heut, 
zu  allerhand  abergläubischen  sympathischen  Kuren  gebrauchte. 

Pastor  Herrmann,  der  Verfasser  der,  zu  ihrer  Zeit  geschätzten  und  heut  noch  in  paläo 
graphischer  Hinsicht  werthvollen  Maslographie  erwähnt  in  seiner  Schrift :  Ueber  einen  in  Massel 
gefundenen  Elenthier  Oels  1729,  dass  1675  ein  Elent  in  der  Baron  Bibra'schen  Heide  bei 
Modlau,  4  Meilen  nördlich  von  Liegnitz  erlegt  und  auf  der  Tafel  des  letzten  der  Piasten,  Her- 
zog Georg  von  Brieg,  am  Michaelistage  verspeist  worden  sei.  Von  2  im  Oelsnischen  1661  und 
1663  erlegten  Elch  oder  Elend  berichtet  Sinapius  (Olsnographia ,  Leipzig  1707,  S.  24).  Die 
Thiere  erschienen  dort  überall  als  seltsame,  ja  unheimliche  Wesen  und  gaben  zu  vielerlei  Be- 
fürchtungen und  Ahnungen  Veranlassung*),  woraus  wohl  hervorgeht,  dass  es  schon  damals  zu 
den  grössten  Seltenheiten  gehörte.  Inzwischen  werden  noch  in  dem  nächsten  Jahrhundert  drei 
Fälle  notirt,  die  wohl  ebenfalls  wie  die  vorigen  als  Einwanderer  aus  den  Nachbarländern  zu  be- 


*)  „Vor  dem  Absterben  des  geliebten  Herzog's  Sylvius  von  Oels  say  Anno  1663  den  7.  Ok- 
tober ein  Elend  im  Fürstenthume  Oels  gefällt  und  Tags  darauf  in  die  fürstliche  Residenz  ge- 
bracht worden,  von  welchen  an  diesen  Orten  sonst  unbekannten  und  seltsamen  Thieren  die 
wenigsten  etwas  Gutes,  sondern  das  darauf  erfolgte  Elend  und  Wehklagen  ominirt  hätten." 

In  Brieg  war  man  ebenfalls  über  das  plötzlich  zum  Vorscheine  gekommene  Thier  erschrocken 
und  fand  die  Besorgnisse  ganz  gerechtfertigt,  da  6  Wochen  darauf  der  letzte  Piast,  die  dama- 
lige Hoffnung  des  Landes,  schnell  von  den  Blattern  dahingerafft  wurde. 


176 

trachten  sind,  nämlich  1725  bei  Stein  in  der  freien  Standesherrschaft  Wartenberg,  dann  1743 
den  25.  September  in  Lampersdorf  bei  Oels,  dessen  Andenken  der  damalige  Besitzer  von  Ko- 
witz  durch  ein  grosses  Oelgemälde  zu  feiern  suchte,  welches  heut  noch  im  Schlosse  vorhanden 
ist;  und.  nach  Mittheilungen  des  Hrn.  v.  Haugwitz  zu  Dralin  im  Lublinitzer  Kreise  177C 
(v.  Haugwitz:  Letzte  Spuren  des  Vorkommens  des  Elen  in  Schlesien.  Jagdzeit,  von  Albert 
Hugo,  1864,  S.  507).  Im  Anfange  des  vorigen  Jahrhunderts,  1729,  wurde  auch  ein  vollständi- 
ges, fossiles  Elenthier  18—  .»O  F.  tief  im  Weingarten  bei  Massel  bei  Trebnitz  gefunden  und  von 
dem  Pastor  zu  Massel,  wie  oben  erwähnt,  beschrieben  und  abgebildet,  von  dem  jedoch  nichts 
auf  unsere  Zeit  gekommen  ist.  Einzelne  Geweihreste  fand  ich  1827  in  einer  Mergelgrube  zu 
Wittgendorf  bei  Sprottau,  dann  später  v.  Prittwitz  eines  von  bedeutender  Grösse  zu  Cavallen 
bei  Trebnitz,  welche  ich  1828  beschrieben  imd  dem  hiesigen  anatomischen  Kabinet  übergeben 
habe.  In  Galizien  ist  nach  Prof.  Dr  Zawadsky  (Fauna  der  Galizisch-ukrainischen  Wirbelthiere) 
Stuttgart  1840,  S.  33  und  Temple:  Die  ausgestorbenen  Säugethiere  in  Galizien.  Pesth  1869. 
1760  das  letzte  Thier  dieser  Art  geschossen  worden.  Dass  es  mir  einst  auch  gelang,  Knochen 
des  Rennthieres  und  Riesenhirsches  -  letztere  in  einer  Mergelgrube  zu  Wirrwitz  bei  Breslau 
—  zu  ermitteln,  ist  schon  früher  von  Dr    Mensel  erwähnt  worden. 

Hr.  Virchow  bemerkt,  dass  auch  er  bei  seinen  Nachforschungen  nach  Friedrich  Schmaus 
in  der  Königlichen  Bibliothek  keinen  Erfolg  gehabt  habe.  Vielmehr  hat  sich  herausgestellt, 
dass  Johann  Jacob  Schmaus  das  historische  Staats-  und  Delden-Cabinet,  Halle  1718—19  heraus- 
gegeben habe.  In  den  III  Eröffnungen  desselben  sei  es  ihm  jedoch  unmöglich  gewesen,  irgend 
ein  Wort  vom  Elen  zu  finden,  und  es  müsse  daher  wohl  angenommen  werden,  dass  der  erwähnte 
Hr.  v.  Train  keine  sehr  lauteren  Quellen  gehabt  habe.  Auf  alle  Fälle  sei  es  wünschenswerth, 
die  historischen  Thatsachen  über  alle  aussterbenden  Jagdthiere  zu  sammeln,  und  die  Gesellschaft 
werde  gewiss  ähnliche  Aufklärungen  gern  entgegennehmen.  — 

Herr  Hart  mann  hielt  einen  Vortrag  über  die  physische  Beschaffenheit  der  Denkastämme 
und  erläuterte  denselben  durch  Zeichnungen 


Druck  von  Ciebr.  Uu|jer  (Th.  (irimin)  iu  Berliu,  Friedrichsstr  24. 


Zeitschrift  fiiT  E  UinoJo'g  ic 


Taf.  JH. 


MI  ANWn  ad  nat  Jith 


A'erlac  v\Yiesa:ndt>;Hempe]  n.Bethji. 


Zeil  schritt  für  KtliiioJodii 


Tai    IV 


20- 


7/  k.Ue\  ii  H  fi  jrat .  lith. 


/i'riii'.  /  //lcciunü'  -Jlenipel  m  Berlin- 


Zeitschrift  f'ir  Kthnulo^jp 


Taf  V 


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WA.Wemad  n&1 .  l-ith 


Verla-'fi  v  VnesaiidK- Hempäh  Berlin. 


■  ■ 


177 


Zur  Amazonen -Sage. 


Bei  dem  Kriegszustande*)  wechselnder  Hegemonie,  in  welchem  in 
Afrika  die  in  ihren  Geheimbünden  intriguirenden**)  Geschlechter  leben,  ist  eine 
Trennung,  wie  sie  besonders  auf  weiblicher  Seite  bei  den  Amazonen  hervor- 
treten würde,  nichts  so  fernliegendes.  "Auf  den  Antillen  wurden  die  in  die 
Berge  geflohenen  Eingeborenen  von  den  Caraiben  als  Cavres  (Waldmen- 
schen) bezeichnet,  hiessen  aber  in  der  Weibersprache  (also  bei  ihren  eigenen 
Frauen,  die  jetzt  zur  Vermählung  mit  den  Eroberern  gezwungen  waren)  Eyeri 
oder  Männer  (als  ihre  früheren  Männer).  Eine  Ermordung  der  Männer  wie 
unter  Hypsipyle*s  Leitung  auf  Lemnos  (als  thracische  Sklavinnen  bevorzugt 
waren),  könnte  also  eine  Genossenschaft  der  Frauen  an  der  Küste  gebildet  haben, 
die  (vielleicht  früherer  Knechtschaft  eingedenk)  sich  nicht  wieder  so  unmittel- 
bar mit  ihren  vormaligen  Männern  vermählt  hätten,  sondern  (bei  der  Not- 
wendigkeit die  Fortpflanzung  aufrecht  zu  halten)  sie  nur  zeitweis  zugelassen 
haben  würden,  wie  die  auf  der  Insel  Mandanina  (Martinique)  die  Canibales 
(s.  Petrus  Martyr.).  Die  Frauenregimenter  Dahomey's,  die  als  vom  König  be- 
günstigt, die  Männer  tyrannisiren,  halten  sich  diesen  gleich,  und  auch  die 
Amazonen  Hinterindiens  tragen  keine  Scheu  sich  neben  ihnen  nackt  zu  baden 
(s.  Game),  da  mit  dem  Gefühl  untergeordneter  Schwäche,  das  derSchaam  wegfällt. 
Die  mit  den  Männern  in  den  Krieg  ziehenden  Frauen  müssen  wie  die  der  Cimbern 
oder  mehrere  Indianerstämme  Brasiliens***)  zur  Kriegsführung  fertig  sein,  wiih- 


*)  In  den  von  den  Aegineten  hei  den  Orgien  der  Göttinnen  Auxenia  und  Damia  eingeführ- 
ten Chören  wurden  nur  die  Frauen,  (nicht  Männer)  verspottet  und  ähnliche  Gebräuche  bostan 
den  (wieHerodot  zusetzt)  hei  den  Epidauriern  und  sonst.  Den  der  Bon^Dea  gefeierten  C'-ereino 
nieu  durfte  dagegen  kein  Mann  beiwohnen.  ^ 

••)  Als  Orpheus  mit  thrakischen  Männern  in  einem  Gebäude  die  Mysterien  feierte,  wurde  cm 
von  den  auflauernden  Weibern,  die  sieh  der  Warten  bemächtigt  hatten,  zerbackt  Zurbestäu 
digen  Strafe  und  Erinnerung  an  die  Ermordung  Orpheus  tättowirten  die  Thracier  ihre  Weiher 
(nach   Phanokles).     Nach  Arrian  fährte  Koni::  Phanokles  hei  den  Thraciern  die  Polygamie  ein. 

***)  Naeh  der  japanischen  Encyclopaedie  (Wa-kan-san-sai-dzon-ye)  lag  das  Königreich  der 
Frauen  (Nyo-nin-yok)  im  Osten  von  Pousang  [s.  de  Rosny).  Nach  Mela  zogen  die  Weiher  der 
Sarmuten,  denen  desshalb  gleich  nach  der  Geburt  die  rechte  Brust  ausgebrannt  wurde,  mit  den 
Mannern  in  den  Krieg.  Die  Amazonen  jenseits  Albanien  begatteten  sieh  periodisch  mit  Gar- 
gaueern  im  Gebirge  Ceraunia  (s.  Strabo). 

Zeitschrift  dir  Ethnologie,  Jahrgang  Wu.  13 


178 

rem!  daheim  Zurückgelassene  in  fremde  Gewalt  fallen  mögen,  wie  die  der 
Scythen,  die  bei  deren  Rückkehr  befreit  werden  niussten.  Das  Reich  der 
Chorasmier,  die  das  Joch  der  Perser  abgeworfen  hatten,  erstreckte  sich  bis 
zu  den  Grenzen  von  Colchis,  uud  dem  Land  der  Amazonen,  wohin  König 
Pharasmanes  sich  erbot,  Alexander  zu  führen. 

Unter  den  früh  (schon  vor  der  Zeit  des  Homer)  Asien  durchziehenden 
Eroberern  fand  sich  auch  ein  Volk,  in  dem  (wie  es  häutig  geschieht)  die 
Flauen  am  Kampfe  Theil  nahmen  und  vielleicht  (in  der  Rivalität  der  Ge- 
schlechter)  eine  zeitweise  Oberhand  über  ihre  Männer  (wie  es  bei  südafrika- 
nischen »Stämmen  vorkam)  erhielten  (unter  einer  der  Königin'1)  Gingha  in  Ma- 
tiambo  gleichenden  Virago)  und  so  Anlass  zu  der  Sage  von  den  Amazonen  gaben, 
die  Ephesus,  G'umae,  Smyrna,  Myrinae,  Paphos  (s.  Strabo)  gegründet.  Mit 
Herkules  in  Beziehung  gesetzte  Kriegszüge  der  Griechen  bekämpften  diese 
(ihre  Colonien  molestirenden)  Barbaren  (s.  Diodor)  und  Herodot  erzählt,  wie 
die  (wahrscheinlich  nach  Tödtung  der  Männer  durch  die  Sieger)  auf  einem  Schiff 
fortgeführten  Frauen  die  (ihrer  kriegerischen  Natur  nicht  gewärtige)  Mannschaft 
niedermachten  und  dann  an  die  Küste  Scythien's  getrieben  seien,  wo  sie  mit 
den  Jünglingen  der  Scythen  (unter  Bewahrung  einer  Doppelsprache)  ein  ähn- 
liches Verhältniss  eingingen,  wie  umgekehrt  (unter  Hegemonie  der  Männer) 
die  Caraiben  mit  den  Frauen  der  Antillen.  Themiscyra**)  am  Thermodon 
gilt  für  ihre  alte  Hauptstadt,  und  Hippoerates  berichtet  von  den  Sauromaten 
am  mäotischen  Sumpf  (die  er  in  der  allgemeinen  Bezeichnung  der  Scythen 
einbegreiffc),  dass  sie  ihren  Mädchen  mit  glühendem  Kupferblech  (wie  sich  auch 
Scythen  I) rannten)  die  rechte  Brust  vertrockneten  (ähnlich  sonstigen  Entstel- 
lungen an  Lippen  und  Ohren)  und  ihnen  nur  nach  Erlegung  dreier  Feinde 
das  Heirathen  gestattete.  Priamus  unterstützte  die  Phrygier  gegen  die  Ama- 
zonen. 

Wenn  sich  die  Städtegründungen  der  Amazonen  in  Kleinasien  besonders 
auf  äolischen  Gebieten  bewegen  und  vorwiegend  an  äolische  Siedelungen  an- 


*)  Von  Derceto  oder  Atorgatis  geboren,  dehnte  Semiramis  (Gemahlin  des  Oannes)  ihre 
Eroberungen  (nacb  Ninus  Tode)  auf  Indien  aus  (s.  Ctesias).  Von  Saminuramit,  Gemahlin  des 
Houlikhous  III..  wird  Babylon  verschönert.  In  Egypten,  wo  (nach  Herodot)  die  Frauen  die 
Geschäfte  der  Männer  besorgten,  führte  Brinothris  (Ba-neter-en)  die  weibliehe  Thronfolge  ein 
MI.  Dynast.).      Die    Ainazonenkönigin  Myrina  war  (nach  Diodor)  Freundin  des  Horus,   Sohn 

der    Isis. 

")  Nach  Diodor  wann  die  Gorgonen  ein  Weibervolk  des  westlichen  Libyen  (im  Kampf  mit 
den  Amazonen).  Die  eingeborenen  Gorgonen  wurden  (im  Gigantenkampf)  von  Pallas  besiegt  (s. 
Euripidi  Die  Graeen  waren  die  ungestalteten  Töchter  des  Phorcys  und  der  Ceto  (Deno,  Pem- 
phredo,  Enys).  In  Armenien  lag  die  Landschaft  Gorgodylene.  Der  Gorgonenkopf  als  ixonuokvxnov 
Schreckbilder)  diente  zu  Amuletten  [yoQyöviop).  Jam  cohabitantibua  Anglicis  et  Normannis  et 
alterutrum  uxores  ducentibus  vel  nubentibus,  sie  permixtae  sunt  nationes,  ut  vix  discend  possit 
hodie  (de  liberis  Impior)  quis  Anglicus,  <juis  Normannus  sit  genere,  exceptis  dumtoxat  ascriptitiis, 
qui  villani  dieuntur,  quibus  nun  *it  liberum  obstantibus  dominis  suis  a  sui  status  conditione 
discedere  (unter  Beinrieb.  II.). 


179 

schlicssen,  so  folgt  dies  schon  aus  dem  höheren  Alter  des  äolischen  Stammes, 
indem  damals,  als  Jonier  und  Dorier  ihre  ( 'olonien  anlegten,  die  von  Belle- 
rophon und  Herakles  in  Asien,  von  Theseus*)  in  Europa  bekämpften  Amazo- 
nen schon  aus  der  Geschichte  in  die  Sage  zurückgetreten  waren. 

Oie  uralte  Stadt  Kyme  in  Aeolis  leitete  ihren  Namen  von  der  Amazone 
Kyme  her  und  ihre  italienische  Filiale  Cumae  rühmte  sich  ebenso  Sitz  der 
Sibylle  zu  sein,  wie  (nach  Strabo)  Erythrae**)  "der  Knopupolis  unter  den  io- 
nischen Städten  Kleinasiens.  Nach  der  Eroberung  von  Ephesus,  wo 
(wie  hei  dem  Cultus  auf  Paphos)  die  Naturgöttin  in  Uhren  Tempel  ein- 
geführt wurde  (wie  Ares  in  den  der  Insel  Arethias  durch  die  Amazonenköni- 
ginncn  Otrere  und  Antiope)  wurde  die  äolische  Stadl  Smyrna,  die  später  zum 
jonischen  Bunde  übertrat,  durch  die  Amazone  Smyrna  erbaut,  die  äolische 
Stadt  Myrina  durch  die  Amazone  Myrina;  in  Annaea  in  Carien  war  die  Ama- 
zone Anaea  begraben  (Sieph.  Byz.)  und  die  aeolische.  Stach"  Oisthene  lag 
(nach  Aeschylus)  auf  den  gorgonäischen  Feldern,  so  auch  in  Asien**')  die  in 
Afrika  mit  den  Amazonen  kämpfenden  Gorgoncn  (die  unter  ihrer  Königin 
Medusa  von  Perseus  besiegt  wurden)  belebend.  Der  Muttersitz  der  Amazonen 
concentrirte  sich  indess  am  Thermodon,  wo  die  Königin  des  von  Weibern 
beherrschten-]-,  Volkes  die  Männer  zu  weibischenff,  Arbeiten  degradirtyff,  und 
Themiscyra  am  Pontus  gebaut  hatte,  neben  den  Amazonenstädten  Lycastia 
und  Chalybia  in  der  Nähe  der  Geiilde  des  Doreas  ( s.  Pherecydes ).  Die 
Kriegszüge  ihrer  Tochter  verbreiteten  den  Schrecken  des  Amazonen -Namens 
bis  nach  Thracien,  Herakles    aber  bezwang §,  die  stolze  Hippolyta,  und  wenn 

*)  Die  Amazonia  gehörte  zu  der  Atthis,  ein  Epos  von  den  Gründungssagen  Athens. 
*•)  Kaulonia  (Colonie  der  Krotoniaten)  von  Kaulos,  Sohn  der  Amazone  Klete,  gestiftet. 
***)  Vorher  Bduui  (s.  Suidas).  Battus  war  der  afrikanische  Königstitel  der  Griechen  in  Cy- 
rene.  Die  Bottiaer  bei  Tharma  stammten  von  Kreta.  Zeus  Bottiaeus  ward  in  Pella  verehrt. 
Die  phrygische  Sibylle  heisst  Sarysis  (Cassandra)  oder  Taraxandra,  die  sainisehe  '/tim,  die  chal- 
däische  (Noah's;  Sambethe.  Von  Teresias  stammend  hiess  Manto  2.(ßv).Xa  &triakri.  Der  Arkadier 
Evander  kam  von  der  weissagenden  Nymphe  Themis  (Carmenta  oder  Thespiadas)  begleitet  zu 
Faunus  in  Italien  (s.  Dionys.)  und  angeblich  nach  dem  neugegründeten  Cnopus.  Der  Dienst  des 
Gottes  Kneph  in  Memphis  war  ein  geistiger,  der  vor  dem  mit  den  Aethiopiern  eingeführten 
Thierdienst  zurücktreten  musste. 

t  Nach  Alex.  Polyhistor  erhielten  die  Hebräer  ihre  geschriebenen  Gesetzi  von  ilei 
genannten  Frau.  Nach  ITerodot  versahen  die  Frauen  Aegyptens  männliche  Geschäfte,  und  nach 
Nymphodorus  hatte  Sesostris  die  Männer  an  weibische  Beschäftigungen  gewöhnt  (wie  Cjrus  die 
Lydier),  um  Empörungen  zu  verhindern.  Die  Königinnen  als  mit  einem  Bart  dargestellt,  können 
nicht  häufig  in  ihrem  Geschlecht  auf  den  Monumenten  erkannt  werden.  Unter  den  Thaten  des 
Thutmosis  I.  werden  die  Seefahrten  nach  Pun  der  gleichzeitig  regierenden  Königin  beigelegt 
(die  in  Aethiopien  Caudake  heisst).  Diese  Königin  Misaphris  von  den  Edlen  aus  Pim  als  Aten 
(Sonnendiscus)  angeredet,  wurde  durch  Thutmosis  III.  auf  vielen  Monumenten  ausgelöscht. 

tt  Bei   der  Zerstörung  der   Kschattriya  durch   Rama    fanden   -ich   unter   den    Geretteten 
Einige  der  Haihayas,  die  von  der  Knie  als  Finnen  verborgen  wurden  (nach  dem   ßadjadharma). 
ttt  Hesiod  klagt   über  das  Unglück,   das  dem  Menschen  durch  das  Dasein  des  Weibes  er- 
wachse, das  von  Aphrodite  mit  Eitelkeit,  von  Hermes  mit  der  Lüge  ausgestattet. 

§  Nach   dem  LIeirathscontract   besassen    in  Egypten  die  Frauen  Controle  über  ihre  Männer 
(s.  Diodor.).    Bei  den  Dichtern  hiessen  die  Frauen  Friedeweberinnen  (Ettmüller). 

13* 


180 

auch  Penthiselea  nach  Troja  Hülfe  senden  mochte,  so  erlag  doch  dann  das 
Weibervolk  den  Hellenen  in  der  Schlacht  am  Thermodon,  und  die  durch 
Ermordung  der  Mannschaft  befreiten  Gefangenen,  die  auf  ihren,  Wind  und 
Wellen  preisgegebenen  Schiffen  nach  Kremnoi  am  Mäotis  trieben,  vermochten 
nicht  langer  die  Suprematie  ihres  Geschlechtes  behaupten,  sondern  mussten 
suh  begnügen  mit  scythischen  Jünglingen,  das  Mischvolk  der  Sauromaten  zu 
bilden,  in  dem  die  Amazonen  zwar  noch  ihre  kriegerischen  Sitten  bewahrten 
(nach  llerodot),  aber  doch  nur  an  der  Seite*)  der  Männer  kämpften  und  sich 

*)  Der  Häuptling  der  Mundrucus  war  in  der  Schlacht  von  seinen  Frauen  (wie  Ainenhotep 
1\.  von  Beinen  Töchtern)  umgeben,  die  die  auf  ihn  geworfenen  Geschosse  auffingen.  Nach  Nice- 
tas  Choniata  (1149)  waren  die  Alamanen  von  Amazonen  begleitet.  Mta  i)Y  xtä  v7tf£ygtTQ 
:i«i>  ixtlvaig  xaS-ctneg  ally  uz  Htvihaiktia  r/ng  yovaönovg  ntc^uivo^ci  tio.  Korrat-aFain, 
T'"-hTer  des  llogtehid  von  Kazwyn,  schloss  sich  der  Secte  des  1850  hingerichteten  Bab  an,  um 
den  Frauen  (die  sich  auch  unverschleiert  zeigen  durften)  dieselben  Rechte,  wie  den  Männern 
zu  verschaffen.  Sie  wurde  (nach  Gobineau)  verbrannt  i  iu  Teheran).  Der  Brustpanzer  von 
kriegerischen  Frauen  wurde  (nach  Wagner)  bei  Schweidnitz  gefunden,  (ebenso  bei  Braunfels, 
Cottbus;.  Kart/en,  Kobelwitz).  In  Quito  nahmen  die  Frauen  am  Kampf  gegen  die  Conquistadores 
Theil.  Unter  den  für  Khalid  ebn  Said's  Verstärkung  durch  Abu  Bekr  in  Medina  zusammen- 
gezogenen Truppen  fanden  sich  (nach  Wakedi)  die  von  Dhoul-Kela  geführten  Himyariten  mit 
ihren  Frauen,  .Niederlassung  in  den  eroberten  Ländern  beabsichtigend.  Scotorum  natio  uxo- 
res  proprias  non  habet  (Hieron.)  Die  alte  Kriegersecte  Shiva's  oder  Rudra's  ist  die  der  tanzen- 
den Pfauen,  mit  ihren  Helmbüschen,  wie  seine  Krieger  heissen,  oder  der  Kampfhähne  (Kukku- 
tas),  die  auch  seinen  amazonischen  Genossinnen  eignen  (s.  Eckstein).  Im  Cauca-Thal  (in 
Cali)  kämpften  die  Weiber  im  Kriege  mit  (in  Neu-Granada).  Die  kriegerischen  Jungfrauen  (oio- 
pata)  der  Slaven  brannten  die  rechte  Brust.  Libussa  war  von  streitbaren  Jungfrauen  umgeben. 
Lege  etiam  institutum  esse,  apud  Etruscos  ut  communes  sint  mulieres,  has  vero  diligentissimam 
cm  am  habere  corporis  saepeque  exerceri  cum  viris,  saepe  vero  etiam  inter  se  ipsas,  nee  enim  turpe 
illis  haben  nudas  conspici  (Timaeus).  Bei  den  Goiatakazes  (in  Brasilien)  oder  Waitaynazes 
kämpfen  Männer  und  Frauen  (s.  Laet)  b.  Espir.  Sant.  Im  Griinnismal  wählen  sich  Frigg  und 
ihr  Gemahl  Odin  jeder  seine  eigene  Schützlinge,  auf  die  sie  Hlidscialf  herabschwuren.  Frea 
(Wodan's  Gattin)  verschafft  durch  Verschiebung  des  Bettes  den  begünstigten  Longobarden  den 
Sieg  tnach  Paul.  Dial.)  In  der  Oberpfalz  trägt  Woud  den  Gürtel  des  Herrschers  (s.  Schönwerth), 
als  Gatte  der  Freid  (wie  Thor  den  megingiord  der  Stärke).  Maori  (Jungfrau)  entspricht  (goth.) 
mouve  (mhd.)  oder  die  Vette  (nach  Grimm).  Every  Buccaneer  had  his  chosen  and  declared  com- 
panion,  between  whom  property  was  in  common  and  if  one  died,  the  survivor  was  the  inheritor 
of  the  whole.  This  was  called  by  the  French  Matelotage"  (s.  Burney)  Statt  der  Laren  oder 
Genien  der  Männer,  hatten  die  Frauen  weibliche  Hausgötter  oder  Junonen  Ante  Deucalionis 
tempus  regem  habuere  Cercopem ,  quem,  ut  omnis  antiquitas  fabulosa  est,  biformem  tradidere, 
quia  primns  marem  foeminae  inatrimonio  junxit  (Justin.)  Bei  Hof  erscheinen  die  Weiber,  als 
Gewaffnete  (in  Aracan),  während  ihre  Männer  das  Haus  halten  (s.  Ritter).  Bei  der  Edda 
treten  die  männlichen  Formen  Fro  und  Niord  hervor,  bei  Tacitus  ihre  frühen  weibliche  Wand- 
lungen als  Kreya)  mater  deuin  ut  formae  aprorum  als  Eber  (Gullinborsti)  und  Nerthus  (Yörd 
der  Erde.)  Rerefrenorum  (Rerefenorum)  et  Sirdifenorum  (Geogr.  Rav.)  patriae  homines,  ut  ait 
Aithanarit,  Gothorum  philosophus,  rupes  montium  habitant  et  per  venationes,  tarn  viri ,  quam 
mulieres  vivere.  Hitler  sieht  in  den  kriegerischen  Frauen  der  Kurden  (nach  Hallabji)  die  Nach- 
kommen  der  \on  Atropate  dum  Alexander  zugeführten  Kriegerinnen.  A(i§tav6i  <5i  iot?s  ;"c' 
MHiOTTOMtfilav  'Aaooijtovt  Itytif  x«9m  'A/uaCüves  iaiQaJtvaav,  EoqvjivXijs  r,yovy.ivi\t  avimv 
Amazone  (nach  Ostrokerki)  von  am'  a/.zon  (kräftige  Frau).  Während  Boleslaus  vor  Kiew  lag, 
ergaben  sich  die  (wie  sie  sagten,  von  ihren  Männern  verlassenen)  Frauen  der  Adligen,  den 
unter  Olgierd  aufgestandenen  Bauern  (in  Polen),  bis  die  aus  dem  Kriegslager  zurückkehrenden 
Adligen  .sie  besiegten  (wie  die  Seythen  ihre  Knechte)  und  die  zuchtlosen  Frauen  (nach  Qallus) 
mit  jungen  Hunden  au  der  Brust  ausgestellt  wurden,  auf  des  Königs  Befehl. 


181 

(  ach  Mola)  die  Brust  ausbrannten,  wie  die  Scythinnen  am  Mäotie  (nach 
Hippocrates).  Mit  ihren  Sitzen  fallen  zum  Theil  die  Amazonen  Alhaniens 
zusammen,  die  (nach  Strabo )  mit  den  benachbarten  Gargarenern  verkehrten 
und  Paläphatus  meint,  die  Amazonen  seien  überhaupt  unbärtig  gewesen,  mit 
langen  Gewiindern,  die  ein  weibisches  Aussehen  gaben.  Bei  Polygamie  und 
wenn  die  Adligen,  wie  im  feudalen  Europa  und  Schottland  (wenigstens 
erstes  )    Hecht)   auf  jedes  Mädchen  hatten,   lag   die  Bildung  der  Frauen-Re- 


•)  In  Polen  dagegen  berechtigte  Nothziichtigung  seitens  des  Grundherrn  die  Leibeigenen  des 
ganzen  Dorfes  zum  Fortziehen,  und  dort  galt  der  Satz  uxor  sequitur  maritim  Von  der  Erbfolge 
waren  dagegen  Frauen  ausgeschlossen,  als  meist  in  eine  andere  Sippe  (ITerb  oder  Erbe)  über- 
tretend (8.  Düppel).  Dans  plusieurs  iles  grecques,  le  bieii  de  la  ligne  feminine  passe  aux  filles 
sous  le  nom  de  dot,  ä  Lesbos  entre  autre  (n.  Giraud-Teulon).  In  Feudalverhältnissen  verhin- 
derte die  mit  dem  Saalgut  ursprünglich  verknüpfte  Heerespflicht  die  weibliche  Nachfolge.  One 
of  the  peculiarities  of  the  Mongolian  (and  American)  race  consists  in  the  oecurrence  of  a  femi- 
niue  aspect  in  both  sexes.  In  the  absence  of  any  striking  difference  in  stature  and  dress,  the 
stranger  is  often  at  a  loss  to  distinguish  inen  from  women  (n.  Pickering.).  Theseus  in  langem 
Gewände  und  geflochtenem  Haupthaar  von  Trözen  kommend,  wurde  von  den  Werkleuten  in 
Athen  als  Jungfrau  verspottet,  bis  er  seine  Stärke  bewies  (n.  Pausan).  Wallace  bezieht  auf 
die  Uaupes  die  Sage  der  Amazonen  wegen  ihres  weibischen  Aussehens  (mit  einem  Kamm  im 
gescheitelten  Haar).  Baraza  kennt  Amazonen  bei  den  Tapacures.  La  face  des  homines  (che/. 
les  Itonamas)  esst  effeininee.  Die  Stimme  des  Hermaphroditen,  Katharine  Iloinann  ändert  im 
26.  Jahr  von  weiblicher  zur  männlichen  mit  Halsbeschwerde  (n.  Friedreich).  Muliebre  nomen 
Beghina  seu  Begutta,  antiquius  est  virili  Beghinus  et  Beghardus.  Illud  deeimo  jam  seculo  in 
Germania  et  Belgio  adhibebatur,  hujus  nulluni  vestigium  ante  duodeeimum  saeeulum  extat  (Mos- 
heim).  Herodot  erwähnt  Frauengemeinschaft  bei  den  Nasamonen  und  Ausäern,  wie  bei  den 
Massageten,  Diodor  bei  den  Troglodyten,  Nicolaus  Damascenus  bei  den  Liburnern.  La  misere 
et  l'inconstance  des  hommes  unterhalte  les  habitudes  de  libertinage  de  quelques  tribus  du  Sahara 
(s.  Olivier).  Die  Vandalen  haben  in  ganz  Afrika  die  Schande  der  Weibermänner  beseitigt  und 
die  Gemeinschaft  mit  Dirnen  aufgehoben  (n.  Salviau).  Bei  den  Agathyrseu,  bei  "Völkern  des 
Kaukasus  und  Indien  fand  sich  (n.  Herodot)  allgemeines  Beiwohnen.  Kaiser  Fangti  (G00  a.  d.) 
bildete  sich  eine  berittene  Leibwache  aus  tatarischen  Weibern.  Als  die  Awaren  im  Gefolge 
der  Slawen  Constantinopel  angriffen  (G57  p.  d.)  fand  man  unter  den  Erschlagenen  slavische  Frauen, 
(n.  Niceph. ).  Justin  nennt  die  Amazonen  als  Frauen  der  Skythen.  Der  Parther  (Parthi  oder 
Flüchtlinge  im  Skythischen)  stammten  (Pomp.)  von  den  Asien  als  Eroberer  durchziehenden  Gothen 
(unter  König  Tanausis,  der  den  ägyptischen  König  Vesosis  besiegt).  Die  während  der  Abwesen- 
heit der  Männer  von  einem  Nachbarvolk  angegriffenen  Frauen  der  Gothen  schlagen  diese  zurück 
und  erwählen  sich  zwei  Fürstinnen,  von  denen  Lampeto  das  Land  hütet,  wogegen  Marpesia  er- 
obernd nach  Asien  zieht  (n.  Jornandes).  Nach  Orosius  (bei  Jornandes)  waren  die  nunneu  das 
wildeste  der  Völker.  Hunnen  (Ammian).  Ovitioi  (n.  Eratorth),  Oriioi  ( n.  Herod. ).  Bei 
den  hunnischen  Kuturguren  folgten  die  Frauen  in  den  Krieg  (n.  Procop.).  As  enterprising  and 
indefatigable  as  their  inen,  the  Koordish  women  are  always  on  the  alert,  ever  ready  to 
jump  on  the  saddle  (s.  Meilingen).  An  den  Kämpfen  Ragnar  Lodbroks  (Sohn  des  Sigurd 
Reng)  mit  Pro  nahm  die  Schildjungfrau  lladgerd  von  Gaulthal  in  Mänuerkleiduug  Theil.  at 
yvi'aixff  Innä^OViai  lt  y.n'i  iSuitravai  xcc\  axoni^ovai  anv  iwr  In  Jim  V,  xett  uu/oricci  joToi 
nokifilotoi,  ?<uf  av  nagütvoi  läoi  (Hippocr.)  Columbus  fand  auf  Guadalupe  die  Frauen  der 
Caraiben  in  Abwesenheit  der  Männer  die  Insel  vertheidigend.  Huna  skialdmeyiar  (Atlaquida  in 
Groenlenzka).  Bei  den  Triballern  bildeten  die  Frauen  die  Nachhut  (Damasc  )  Scylas  erwähnt 
Gynaicocratie  bei  den  Liburnern,  die  sich  nach  Belieben  die  (freien)  Männer  zulegen  und  mit 
Sklaven  oder  Nachbarn  mischen.  Nicolaus  Damascenus  erwähnt  kriegerische  Frauen  bei  den 
(scythischen)  Galactophagen.'  Die  Sauromaten  gehorchten  ihren  Frauen,  als  Königinnen. 
Die  Alam.  und  Bair  Gesetze  geben  den  Weibern  im  Vergleich  mit  den  Männern  doppelte  Busse 


182 

gimenter  (wie  iu  Siam  und  Dahomey)  nulie,  um  den  Schutz  des  Palastes  er- 
gebenen Händen  anzuvertrauen. 


und  Wcrgeld.  Nach  dem  alten  sächsischen  Gesetz  hat  die  Jungfrau  doppelte,  die  enixa  ein- 
fache lius.se.  Im  Sachsenspiegel  wird  der  verheiratheten  Frau  eine  halbe  Busse  und  Wergeid 
ihres  Mannes,  der  Jungfrau  eine  halbe  Busse  und  Wergeid,  nach  dem  sie  geboren,  zugesprochen. 
Bei  den  Westgothen  ist  die  Busse  zu  Ungunsten  der  Frau.  Die  Gesetze  der  Kalmükken  bevor- 
zugen die  Frauen  (Pallas).  Das  GO.  Jahr  bildet  (im  Sachsenspiegel)  den  Zeitpunkt,  wo  der  Mann 
über  seine  Tage  gekommen  ist.  Die  Hinzufügung  der  väterlichen  zu  der  mütterlichen  Geburt  hat 
die  Bedeutung  ^Icn  'söhn  aus  einem  unilateralis  zum  bilateralis,  d  h.  zum  echten  Sprössling 
eines  bestimmten  Vaters  zu  erheben.  Das  Mittel,  dessen  man  sich  zu  diesem  Zwecke  bedient, 
isl  die  Fiction  (wie  bei  den  Tibarenern),  kraft  welcher  der  Vater  als  zweite  Mutter  gedacht  und 
dargestellt  wird  (s.  Bachofen),  wie  bei  dem  Kindbett  des  caraibischen  Vaters,  oit^ovmt  noQtt  Qoi^ly 
ot  evyevtii  nalätg,  *«)  naga  /'e'iuig  ot  äovkoi  ( Artemidor).  In  ihrer  Beschränkung  auf  die 
Frauen  erscheint  die  Tättowirung  als  ein  Ausdruck  des  mütterlichen  Adels,  als  avv&i\utt  u)g 
tvytvihii  (cf.  Chrysostomos).  Im  Dorfe  Mbourouma  bebauten  die  Männer  (gleich  den  Frauen) 
das  Feld  (Livingstone).  Die  etruskischen  Sepulcralinschriften  zeigen  häufiger  den  Namen  der 
Mutter,  als  den  des  Vaters  (s.  Krause).  Wenn  ein  Feldherr,  der  vom  Fürsten  aus  den  Xatrya 
beherrschten  Maharashtra  oder  Maliratten  eine  Schlacht  verloren  hatte,  wurde  er  (cf.  Hiouenthsang) 
weiblich  gekleidet  In  Malabar  erwirbt  sich  Eigenthum  nur  die  weibliche  Linie  (makkal  santan). 
Im  Vertrage  mit  Hannibal  wurde  ausgemacht,  dass  Klagen  der  Iberer  von  den  carthagrischen 
Beamten,  Klagen  der  Carthager  von  den  Frauen  der  Iberer  entschieden  wurden.  Nach  Hageck 
18  a.  d.)  zogeu  in  Böhmen  eine  Menge  alter  weissagender  Weiber  umher,  (Dojka  oder  Säug- 
amme genannt).  Zlota  Baba  (goldene  Amme)  ist  Lebensmutter  der  Slawen  (Schwenck).  Eporium 
nannten  dieSabiner  das  weibliche  Saatfeld,  den  y.r,noi,  woher  spurii,  die  Gesäeten,  von  antiQta 
(nach  Plutarch;.  Indem  das  Priucip  des  Lebens  in  der  Verwundung  (von  der  der  Erde  durch  die 
Ptlugscha.ir)  liegt,  führt  Amor  den  Pfeil  (s.  Backofen).  Scythius  heisst  (b.  Servius;  das  erste 
Pferd,  das  (auf  Poseidon"s  Gebot)  aus  der  Erde  hervorspringt.  Mit  dem  alten  Herkommen  der 
Erinnyen,  stürzt  der  junge  Gott  Apollo  das  Mutterrecht  (b.  Aeschylus),  indem  Athene,  als  ohne 
Mutter  geboren,  für  Orestes  stimmt.  Die  Kreter  sagten  ur\iod  (Mutterland)  statt  naiyts  das 
Vaterland  (nach  Plut.).  Als  Cecrops  abstimmen  Hess,  siegten  die  Frauen,  deren  Eine  mehr  war, 
über  die  Männer,  und  deshalb  Athene  über  Poseidon,  der  gesühnt  werden  musste,  indem  mau 
den  Frauen  das  Stimmrecht  entzog  (nach  Varro).  Den  Böotiern  wurde  in  Dodona  durch  Män- 
ner geweissagt,  als  sie  die  Priesterin,  die  ihnen  (aus  Freundschaft  für  die  Pelasger)  befohlen, 
gottlos  zu  handeln,  verbrannt  (nach  Ephoros).  Die  Aethiopier  ehrten  besonders  ihre  Schwestern  (Nie. 
Dam.).  Diodor  erwähnt  die  Nachahmung  des  weiblichen  Geburtsactes  (als  Adoptionsformel),  bei 
den  Barbaren  Der  von  der  Mutter  'llga  Geborene  hiess  'lIo«xlTJi.  Dionysos  wird  jlt/x>)iiog  ge- 
nannt, weil  er  zweimal  zur  Welt  kam,  und  nicht  nur  von  der  Mutter,  sondern  später  auch  vom 
\  ater  geboren  wurde  (Bachofen).  Der  Gott,  nach  seiner  ersten  Erscheinung  einseitiger  Mutter- 
sohn, wird  durch  den  Uebergang  auf  den  Vater,  zum  thtf vis.  Das  makedonische  Königshaus 
(in  Egypten)  erblickte  in  dem  Gott  Dionysos),  mit  dessen  Symbolen  geschmückt,  Alexander  der 
Welt  erschienen  war,  seine  Archegeten  (s.  Backofen).  Dionysische  Symbole  erscheinen  auf  den 
Denkmalen  der  Lagiden-Zeit  und  aus  Indien.  La  chevre  Amalthea,  la  nourrice  de  Jupiter,  repre- 
sentail  la  force  nutritive,  et  son  lait  etait  la  pluie  bien  faisante,  de  meme  que  sa  peau,  l'Egide, 
figurait  le  nuage  orageux  que  secoue  Jupiter  pluvius  pour  en  faire  jailler  les  eaux  fecondantes 
(-.  Pictet)  (im  Plu  der  Beschunen).  Erculus  se  ent  (Heracles  gigas)  und  Apollinis  (Apollo)  werden 
neben  Thor  und  Eooöen  in  angelsächsischen  Homilien  als  falsche  Götter  aufgeführt.  Nach  den 
Caraiben  isl  der  Schöpfer  der  Männer  grösser,  als  der  der  Frauen.  Le  pays  des  femmes  oriental 
B'appelle  Seu-fa-la-niu-ko-scbu-lo.  II  est  habite  par  une  tribu  des  Khiang  ou  Tubetains.  Sur 
les  bords  de  la  mer  occidentale  (Gaspienne),  il  y  a  egalement,  des  femmes  qui  gouvernent  en  roi 
neli  Jen  Chroniken  der  Soui  und  Thang).  Im  Westen  der  Berge  Throung-ling  liegt  das  west- 
liche Königreich  der  Frauen  (8.  Klaproth).  Die  berittenen  Frauen,  die  Atropates  dem  Alexander 
zuführte,  «raren  (nach  Arrian)  die  im  Reiten  geübten  Frauen  barbarischer  Völker,  nach  Art  der 
Amazonen   ausgerüstet.     Nach   der  Geschichte    von  Ivashmir  (bei   Wilson)  zog  der  König  Salita- 


183 

Der  provencalische  Frauendienst,  wie  er  in  den  Liedern  des  Troubadours 
hervortritt,  mag  sich  an  die  gynaikokratischen   Verhältnisse  des  alten  Eberien 

ditya  nach  der  Eroberung  von  Pradjotech  [Gohati  in  Assam)  gegen  Striradjyan,  da  K  d 
der  Frauen.  Bei  den  Issedouen  genoss  die  Frau  gleiche  Rechte  mit  dem  Mann  (Berodot).  Am 
Flusse  Puassa  (Arm  des  Oyapoke)  wohnten  (nach  Condamine)  die  langohrigen  Indianer.  Nach 
Mahanarwa  (Cazik  der  Caraiben)  besiu'hcn  die  Felsen  am  Wara-Fluss  bewolmenden  Amazonen 
den  Caraibeu8tamm  der  Teyrous  in  Cayenne.  Nach  dem  Arawak  erlauben  die  Amazonen  oder 
Wirisamoca  den  Besuch  der  Männer  nur  einmal  jährlich.  Nach  Peter  Martyr  kämpft 
Onadelupe)  die  Frauen  neben  den  Männern  Bei  der  Neger-Revolution  (1823)  begleiteten  die 
Flauen  (bei  den  Caraiben)  die  Männer  in  den  Krieg.  Bei  den  Ixamaten  (an  der  Mündui 
Tanais)  easdem  artes  feminae,  quas  viri,  exercent,  adeo  ut  ne  militia  quidem  vacenl  (lieb). 
Maeotfdae,  gynecocratouineni  (regna  Amazonum).  Schiltherger  spricht  von  einer  heidnischen 
t'n>\\en.  die  vinv  tusent  junekfrowen  hat!  (bei  den  Edigi)  und  das  sie  und  ir  frowen  an  den  -tut 
ritten  und  schlissen  Yachten  mit  dein  handbogen  als  die  man.  Zarina  oder  (ef.  NicoL  Dam.) 
Zarinaea  führte  die  mit  den  Parthern  verbundenen  Scythen  gegen  die  Meder  (s.  Ctesias)  nach 
dem  Tode  ihres  Gatten  Marmareus  (in  Roxanaee).  Sardanapalus,  Mr\dtct  ynv>]  ßtaiXüog  (König 
der  als  Meder  bezeichneten  Assyrer)  verbrannte  (von  den  als  Perser  bezeichneten  Medern  angegrif- 
fen) in  seinem  durch  Blitz  angezündeten  Pallast  (s.  Xenophon).  Die  grünen  Amazonensteine 
(Lapis  nephriticus  (oder  Piedras  hijadas)  die  von  den  Caraiben  (nach  Barrere)  höher,  als  Gold 
geschätzt  werden,  stimmen  (nach  Clavigero)  wie  die  (durch  Sahagan)  hei  der  Eroberung  Mexico's 
unter  den  Analmacs  entdeckten  (als Quetzalitzli  oder  Xouxouque  tecpatl)  nberein.  Die  Amazonen 
(Coignantese  couima  oder  Aikeambenanos)  wurden  (vom  Gili)  an  den  Cuchivero  versetzt.  Die  Ca- 
riben  bezeichneten  die  Amazonen  als  Wori-samacos  oder  Frauen  ohne  Ehemänner  (nach  Schom- 
burgk).  Die  Tapuyos  assen  einen  Theil  ihrer  verstorbenen  Angehörigen,  als  das  letzte  Zeichen  der 
Anhänglichkeit  (s.  Brett).  Die  Spanier  unter  Almagro  erfuhren  von  den  Einwohnern  in  Chili, 
dass  das  nur  von  Frauen  bewohnte  Land  zwischen  zwei  Flüssen  durch  die  Königin  Gabay  milla 
(Goldhimmel)  regiert  werde  (Zarate).  Als  die  Vorfahren  der  Tscheikessen  noch  am  Sehwarzen 
Meere  wohnten,  kämpften  sie  mit  dem  Weibervolk  der  Kmmetsch,  bis  auf  Vorschlag  ihres  An- 
führers Thulme  ein  Zusammenleben  vereinbart  wurde  (Reineggs).  Nordwestlich  von  Fiji  lau  die 
Insel  der  unsterblichen  Frauen.  L'ile  des  femmes  (isola  delle  Femiue)  s'appellait  Fimi  (Caussin). 
Nach  Pausanias  war  es  den  Frauen  untersagt,  zur  Zeit  der  Olympien  den  Alpheos  zn  überschrei- 
ten und  der  Feier  zuzusehen.  Ungehorsame  wurden  vom  tupäischen  Fels  gestürzt  (aber  das 
Verbot  trifft  nur  die  verheirateten  Frauen,  nicht  die  Mädchen).  Als  die  rhodische  Callipateira 
oder  Pherenike  sich  verkleidet  unter  die  Gymnasten  gemischt,  um  ihren  Sohn  Pisidorus,  als  Sie- 
ger, zu  bewillkommenen,  wurde  verordnet,  dass  fernerhin  auch  die  Gymnasten  nackt  bei  den  Spie- 
len erscheinen  sollten.  Die  Nachstellungen  des  römischen  Befehlshaber  in  Ghäroneia  b 
Dämon  zum  Räuberleben  Sappho  bemühte  sich  um  die  Liebe  der  Weiber,  Socrates  pflegte  die 
der  Männer  und  Beide  gestanden,  dass  sie  Viele  liebten  und  von  allen  Schönen  gefesselt  wür- 
den (s.  Maximus  Tyrius).  Das  Haupt  des  in  Thracien  getödteten  Orpheus  wird  auf  Lesbos  be- 
stattet. Kein  Mann  durfte  die  von  samnitischen  Frauen,  die  durch  Bachus  begeistert  wurden, 
bewohnte  Insel  vor  der  Mündung  des  Ligeris  betreten.  Les  Saintes  Femmes  (Sanctos  Bennos, 
Bennos  Sacrados)  predisent  l'avenir  (XVIII.  Jahrh.)  dans  los  Pyrenees  (Fondeville-Sabatut).  Auf 
der  Inschrift  v.  Metz  ist  Antistita  die  Vorsteherin  der  Druidinnen  (Fröret).  Bei  den  Nasamonen 
wohnten  die  Eingeladenen  der  Braut  bei  gegen  Geschenke  (Herodot).  Bei  den  Balearen  folgte 
der  Bräutigam  den  Eingeladenen  (Diod).  Ebenso  auf  Cuba.  In  der  Moldau  muss  die  Braut 
rohe  Scherze  anhören.  Bei  den  Machlyern  (in  Libyen)  verband  sich  das  Mädchen  beim  FYst 
einem  der  Gäste  (Nie.  Dam).  Gyptis  (Nann's  Tochter)  wählte  den  phoeäischen  WiMngerhäupt- 
ling  beim  Fest  (nach  nordischer  Sitte).  Bei  den  libyschen  Byäem  herrscht  ein  Mann  über  las 
männliche,  eine  Frau  über  das  weibliche  Geschlecht.  Durch  Orpheus  wird  dem  mächtigsten  der 
Triebe  eine  neue,  edlere  Richtung  gegeben  Auf  die  S^Qtvte  ?p<ot*s  gründete  der  apollinische 
Prophet  die  Erhebung  des  Menschengeschlechts  aus  dem  Sumpfe  hetärischer  Sinnenlust  zu  einer 
höheren  Stufe  des  Daseins  (wahrend  den  thracischen  Frauen  zur  Strafe  für  die  Ermordung  die 
Stigmata  des  Tättowirens  auferlegt  werden,  indem  was  früher  ein  Zeichen  der  tvytvtia  war,  in 


184 

anschliessen,  die  sich  am  längsten  in  Navarra  erhielten,  und  die  bei  den  Ger- 
manen von  Tacitus  bezeugte  Achtung  der  Frauen  führte  dann  jenseits  der 
Sitonen  zur  Aufstellung  eines  Frauenreichs  (das  auch  böhmische  Sagen  in 
einheimischer  Localisirung  kennen),  wogegen  in  Hellas  eine  unnatürliche  Zu- 
rücksetzung des  weiblichen  Geschlechts,  mit  Bevorzugung  des  andern,  ein- 
trat. Durch  strenge  Gesetze  wurde  der  weibliche  Verkehr*)  in  Jomsburg 
und  den  Wikinger  Gesetzen  geregelt,  wie  aus  den  Sagas  hervorgeht. 


Schande  verwandelt  wird,  wie  bei  den  Sklaven  der  Geten).  Als  Beförderung  der  Tugend  wurde 
der  männliche  Eros  von  den  Alten,  insbesondere  den  Aeolern  und  Dorern  in  ihr  öffentliches 
Leben  aufgenommen  (nach  Plutarch)  und  Sokrates  knüpfte  an  die  «öotj'f  ?  fQMes  die  erste  Er- 
hebung des  Menschen  an,  an  ihnen  die  Befreiungen  der  Herrschaft,  dos  Stoffes,  den  Uebergang 
von  dein  Leibe  zur  Seele  erkennend,  in  welchem  sich  die  Liebe  über  die  geschlechtlichen  Triebe 
erhebt  (Bachofen).  Die  birmanische  Königin  lässt  die  Männer  tättowiren,  um  die  unnatür- 
liche Lust  zu  unterdrücken.  Der  Häuptling  von  Tonga  vergass  den  Sinn  des  Tättowirens  und 
Hess  Männer  statt  Frauen  tättowiren.  Unter  Kaiser  Wuti  (25 — 57  p.  d.),  der  die  von  einer 
Amazonin  geleitete  Revolution  in  Cochinchina  unterdrückte,  liefen  die  ersten  SchifTr  aus  Indien 
in  Kanton  ein  (n.  Kruse).  "Eihvog  de  ywav/.Hov  ctl  ' Aunüvsg  noog  ko  Ghj/luöJoi'ti,  tf/ö  x<*i 
eino  fir]i^ou)v  tytvtukoyovvTo,  xndujitQ  'jLd&Htvog  lampf?.  Nach  Combes  lebten  bei  den  Cu- 
banos  auf  Mindanao  Männer  in  Weiberkleidern,  aber  geehrt  und  keusch,  von  weibischem  An- 
sehen. Die  Uritaos  auf  den  Marianen  lebten  (nach  Le  Gobien)  in  Zügellosigkeit  mit  den  Mäd- 
chen zusammen.  Bei  den  Juruna  macht  der  Vater  von  seinem  Schwiegersohn  gewisse  Proben 
von  Muth  oder  Geschicklichkeit  zur  Bedingung,  entweder  muss  eine  Unze  oder  Tapir  verschallt, 
der  Zahn  des  erlegten  Feindes  heimgebracht  werden,  oder  es  wurde  z.  B.  (in  Tavaquara)  ver- 
langt, während  des  Tanzen  eine  Cigarre  zu  verfertigen  und  zum  Rauchen  hinzureichen  (bemerkt 
Prinz  Adslbert  bei  seiner  Reise  nach  Brasilien).  Die  Scythen  wurden  bei  Plünderung  des  Tem- 
pel von  Askalon  mit  der  Krankheit  der  Philistaer  geschlagen,  wie  oft  aphrodisische  Heiligthümer 
besuchenden  Pilger  mit  der  syphilitischen.  Die  maltesische  Colonie  Achulla  (n.  Byzacium)  heisst 
Kir.  Mulieres  Iberorum  agros  colunt,  et  quum  peperere  suo  loco  viros  decumbere  jubent ,  iis 
ministrant  (Posidonius).  Pigrizia  degli  uomini,  operosita  delle  donne  (Antinori)  b.  d.  Nyam-Nyam. 
*)  Die  Saporoger  oder  Wasserfall  -  Kosaken  entführten  aus  Kleinrussland,  Polen,  den  türki- 
schen  und  tatarischen  Ländern  Knaben,  Weiber  und  Mädchen  Die  letzteren  behielten  sie  nur 
bis  zu  ihrer  Niederkunft  in  ihren  Winterlagern,  war  das  geborene  Kind  ein  Knabe,  so  behielten 
sie  es  bei  sich,  wenn  ein  Mädchen,  so  schickten  sie  es  zusammen  mit  der  Mutter  in  die  Hei- 
math [zurück  (nach  Engel).  Als  Myrina's  Amazonen  Cerna  eroberten,  tödteten  sie  die  waffen- 
fähigen Männer,  Frauen  und  Kinder  in  die  Gefangenschaft  führend  (Diod ).  Der  allein  zurück- 
kehrende Athener  wurde  von  den  Frauen  mit  ihren  Spangen  erstochen.  No  podian  compre- 
hender  (los  Carives)  como  los  Espanoles  obedecian  las  ordenes  de  zu  gefe  ni  como  se  sujeta  un 
hombre  mas  fuerte  ä  un  otro  mas  flaco  o  como  un  solo  podia  mandar  ä  muchos,  aunque  sus 
mugeres  como  sexo  debil,  estaban  sometidas  ä  sus  maridos  como  unas  verdaderas  esclavas  (Val- 
ladanes  de  Sotomayor).  Die  Tecpaneker  zwingen  die  mexicanischen  Gesandten  die  vom  König  Maxt- 
laton  geschenkten  Frauenkleider  anzuziehen,  um  sie  zu  insultiren  (wie  bei  den  Delawaren).  Der 
Aphroditentempel  der  Höhen  (uy.<mm)  auf  der  brustförrnigen  (««arof/J^s)  Spitze  des  cyprischen 
Olympus  durfte  von  Frauen  nicht  betreten  werden.  Nur  Männer  (aus  den  drei  oberen  Kasten) 
können  die  Vedas  studiren  (nach  Madhava).  Als  die  Geten  von  den  Bastarnen  besiegt  waren, 
befahl  König  üroles,  dass  sie  ihren  Frauen  dienen  (und  verkehrt  im  Bette  schlafen)  sollten 
(Justin).  Some  females  (of  the  Nut)  are  always  set  apart  for  regulär  marriage.  They  are  not 
taughl  Performances  of  any  kind ,  but  their  duty  to  the  tribs  is  to  bear  as  many  children  as 
possible  (Kay).  Pour  se  debarasser  plus  aisement  des  maitresses,  qu'il  repudiait  [Dahoraey], 
Miloch  avait  interdit  ä  tous  les  jeunes  gens  de  sa  garde  de  recevoir  leur  femmes  d'une  autre 
main  que  de  la  sienne,  l'oukase  de  1834  sur  ce  sujet  est  formel  (n.  Robert).  VVhen  Prajapati, 
Buddha's,   foster-mother,    asked  (with  the  other  princesses)  permission  to  enter  the  priesthood, 


185 

Von  den  verschiedenen  Berichten  über  die  Amazonen  I  stehen  die  die 
sauromatischen  betreffenden,  der  historischen  Zeit  am  nächsten  and  sie  brau- 
chen auch,  der  ganzen  Passung  nach  in  keiner  \\  eise  bezweifeil  zu  werden, 
da  Alles  das  von  ihnen  Erzählte  sich  noch  heutzutage  bei  asiatischen  Rei- 
tervölkern  findet  und  immer  linden  wird.  Die  Bilanz  der  durch  das  Recht 
des  Stärkeren  begründeten  Superiori tat  schwankt  zwischen  beiden  Geschlech- 
tern in  der  Reihe  des  Thierreiclies.  Bei  den  Vögeln  liegt  das  schwerere 
Gewicht  meist  auf  der  Seite  des  weiblichen,  bei  den  Säugethieren  gewöhnlich 
beim  männlichen,  und  so  beim  Menschen,  doch  ist  im  Ganzen  ihr  in  der 
Natur  selbst  begründete  Unterschied  nur  ein  geringer,  so  dass  man  hei  nicht 
allzugenauer  Abwägung  ein  Gleichgewicht  annehmen  kann.  Beim  ansäss 
Leben,  wird  durch  den  zunehmenden  Luxus  und  die  Verfeinerung  der  Sitten 
allerdings  das  weibliche  Geschlecht  vornehmlich  betroffen,  und  dadurch  rasch 
in  solcher  Weise  verändert,  dass  es  fortan  unfähig  ist,  die  Mehrzahl  der 
männlichen  Beschäftigungen*^  zu  versehen,  im    Nomadenleben   dagegen  ver- 


Buddha rebuked  thein,  saying:  ,Women  do  not  try  lo  enter  my  immaculate  priesthood"*,  but  rc- 
ceived  thein  afterwards.  Nach  Tansanias  war  der  Tempel  des  Apollo  Ama/.onios,  sowie  der  Diana 
i.in  Pyrriehos)  durch  die  vom  Thermodon  stammenden  Frauen  gegründet. 

*)  Unter  den  Eigenthiimliehkeiten ,  die  Aegypten  zur  verkehrten  Well  machten,  erwähnt 
Herodot,  dass  dort  abwärts  statt  aufwärts  geweht  wird,  und  Männer  Lasten  auf  den  Kopf,  Krauen 
dagegen  auf  den  Schultern  tragen  Gewöhnlich  findet  sich  allerdings  das  Gegentheil,  dass  näm 
lieh  in  Gegenden,  wo  Frauen  harte  Arbeit  obliegt,  die  Gewohnheit  vorwiegt,  auf  dem  Kopf  zu 
tragen,  als  der  weiblichen  Natur  mehr  entsprechend.  .Schultern  und  Itückeu  sind  bei  Frauen 
der  Urliste  wegen  empfindlicher  als  bei  Männern,  weshalb  sie  auch  in  dm  Zeiten.  wo  das  weile 
liehe  Geschlecht  noch  körperlichen  Züchtigungen  unterworfen  war,  verschont  wurden,  einei  alten 
Regel  gemäss,  die  auch  von  den  Beichtvätern  in  der  Application  der  diseiplina  sub  deorsura  be- 
leuchtet wurde.  König  Pheron  (Phuron  oder  Menephtah)  oder  (b.  i'linins'  Neucoreus,  der  Pharaoh 
des  Exodus  (n.  Lepsius),  der  seinen  Speer  in  den  geschwollenen  Fluss  schleudernd  ,  erblindete, 
liess  die  Frauen,  mit  deren  Urin  er  sich  vergeblich  gewaschen,  bei  Erythrabolus  (Roth-Erde)  ver- 
brennen    Abraham  musste  Sarah  und  Alexander  (Paris)  Helena  abtreten  (in  Egypten). 

**)  Die  Weiber  der  Guaycurus  pflegen  in  der  Jugend  die  Nachkommenschaft  künstlich  ab- 
zutreiben, um  leichter  die  Strapazen  des  Reiterlebens  zu  ertragen.  Erst  wenn  ein  Alter  von 
25  Jahren  erreicht  ist,  üben  sie  die  Mutterpflichten  (s  v.  Martius).  Dohrizhoffer  erklärt  die 
schweren  Geburten  bei  Reitervölkern  aus  einer  Missbildung  und  Verhärtung  des  Steissbeins. 
Nach  Castelnau  schlichten  die  Frauen  der  Guaycurus  im  geschlossenen  Kreise  der  Horde  ihre 
Streitigkeiten  mit  Faustkämpfen.  Jenseits  des  Weiberlandes  (b.  Ad.  Brem.)  Wilzi,  Mini,  Lami, 
Scuti  et  Turci  habitare  feruntur  usque  ad  Ruzziam  (Tracia  oder  Tricatia  über  der  Düna).  Im 
Dolmen  zu  Gierum  wurde  neben  einem  weiblichen  Skelette  eine  Axt  gefunden.  I >ie  Frauen,  die 
sich  in  dorischen  Röcken  brüsteten  (tßgvaCov),  halb  nackt  und  zur  leichten  Bewegung  ueschickt, 
wurden  von  den  Athenern  in  lange  Gewänder  (unter  Beraubung  der  Spangen)  gehüllt,  nach  der 
aeginetischen  Niederlage  (n.  Duris).  Die  Amazonenkönigin  am  Thermodon  wies  (n.  Diodor  den 
Männern  Wollarbeit  zu.  In  Aegypten  sitzen  die  .Männer  am  Webestuhl  n.  Sophokles),  während 
die  Weiber  dranssen  schaffen.  Ze  Kiinis  (Tunis)  erbent  auch  die  wib,  und  nichl  die  mau.  In 
den  Streitigkeiten  der  Kurden  stellen  die  Frauen  den  Frieden  her.  Die  Tovan  in  Centralasien 
folgen  in  Allem  den  Frauen.  Zinunouttim  itu;  j  i  raj-i  nt'iviu  nn'&ovito  w;  ihnnüiyais 
(Nie.  Dam.)  Nach  Strabo  wurden  nördlich  von  Caucasus  Amazonen  gesestzi  (n.  Theophanes  am 
Merraadalis  gekannt).  Die  Horiti  wohnen  neben  Maegdhaland  (n.  Alfred;.  Paul  Diacs  hat  ge- 
hört usque  hodie  in  intitnis  Germaniae  finibus  ^entern  harum  existere  femiuarum  Nach  Scylax 
hatten    die   Frauen  grossen  Einfluss   bei   den   Illyriern.      Circa  haec  litora  Baltici  maris  ferunt 


186 

richten  beide  Geschlechter  ziemlich  dieselben  Arbeiten  und  sind  an  gleiche 
Obliegenheiten  gewöhnt,  wenn  nicht  aus  anderer  Quelle  geflossene  Bestim- 
mungen, wie  bei  den  Mohamedanern,  darin  eine  Aenderung  herbeirufen.  Bei 
den  Hirtenvölkern  ziehen  die  Frauen  mit  den  Heerden  umher,  wie  die  Män- 
ner,  und  sind  sie  bei  der  Weiterwanderung  in  gleicher  Weise  behülflich,  bei 
Stämmen,  die  an  Krieg  und  Kaub  gewöhnt  sind,  die  stets  mit  den  Waffen 
in  der  Hand  gegen  ihre  Feinde  gerüstet  sein  müssen,  werden  die  Frauen 
ebensowohl  in  den  Kampf  ziehen,  wie  die  Männer,  und  schon  durch  die  Noth 
gezwungen  an  ihrer  Seite  kämpfen,  wie  die  Gallierinnen  mit  ihren  weissen 
Armen  (nach  Amin.  Marc.)  an  der  Seite  der  Ehehälften  dreinschlugen.  Bei 
kriegerischen  Stämmen  findet  sich  oft  die  Bestimmung,  dass  erst  eine  blutige 
Waffenthat  vollführt  sein  muss,  ehe  der  Jüngling  in  die  Reihen  der  Männer 
eintreten  darf.  Die  Germauen  konnten  allein  dann  ihr  Haar  scheeren  und  dem 
Kuki  ist  die  Heirath  erst  erlaubt,  nachdem  er  seinen  pflichtmässigen  Men- 
schenkopf  eingeliefert  hat.  Sind  also  von  einem  Volk  beide  Geschlechter  gleich- 
massig  zum  Kriege  geschickt,  so  mag  dieselbe  Bestimmung  auch  beide  betreffeu, 
und  llerodot's  Erzählung,  dass  bei  den  Sauromaten  keine  Jungfrau  zur  Ver- 
mählung zugelassen  werde,  die  nicht  einen  Gegner  getödtet,  hat  um  so  we- 
niger etwas  überraschendes,  da  sich  ganz  analoge  Bestimmungen  unter  den 
Kiinak  linden,  bei  denen  heutzutage  einem  Mädchen  der  Ehestand  verschlossen 
ist,  ehe  sie  nicht  eine  tapfere  That  ausgeübt  hat.  Auch  von  den  Frauen  der 
Hazzarah,  bemerkt  Ferrier,  dass  sie  ebenso  verwegen  seien,  wie  die  Männer 
und  stets  in  den  vordersten  Reihen  kämpften.  Nach  den  chinesischen  Ge- 
schichtsbüchern der  Tang -Dynastie  nahmen  die  Frauen  von  Kustana  oder 
Khotan  an  der  Gesellschaft  der  Männer  Theil  und  ritten,  wie  diese  auf  Pfer- 
den oder  auf  Kameelen.  Bei  den  Molathemiah  der  Morabethun  (Almoraviden) 
soll  der  Gebrauch  des  Schleiers  oder  Letham  durch  Abdallah  Ben  Bassin 
eingeführt  sein,  in  Folge  einer  Schlacht,  an  der  die  Frauen  mit  ihrem  nach 
gewöhnlicher  Weise  verdecktem  Gesicht  theilnahmen  und  die  Männer  darin 
nachgeahmt  hätten,  damit  der  Feind  die  Geschlechter  nicht  zu  unterscheiden 
vermöge  (ähnlich  der  von  Longobarden  gegen  Vandalen  verwandten  List). 
Bei  Völkern,  bei  denen  beide  Geschlechter  in  solcher  Weise  auf  gleichem 

esse  Amazonas,  quod  nunc  terra  feminarum  dicitur  (Ad.  Brem  )  Die  Königin  Mancochisane 
('fochtet  d(  -  Sebituane)  wollte  sich  alle  Männer  ihres  Stammes  zueignen  (n  Livingstone).  In 
Morauma  ha1  der  Bräutigam  der  Schwiegermutter  zu  dienen.  Die  (1700)  Inseln  Wakwak  sollen 
vou  einer  Frau  beherrscht  Bein.  Musa  ben  elmubarek  behauptet,  er  sei  zu  ihr  herangetreten 
und  habe  sie  auf  einem  Throne  sitzend  gesehen,  ganz  nackt,  mit  einer  goldenen  Krone  auf  dem 
B.iupte,  und  uehen  ihr  4000  Sklavinnen,  lauter  nackte  Jungfrauen  (n.  Kazwini).  Unter  der  An- 
fiihrung  einer  Frau  Gaichonarioski  im  nördlichen  Amerika  umherirrend,  wurden  die  Iroquesischen 
Agniei  nach  der  Lage  von  Quebec  geführt,  begaben  sich  aber  von  dort  (als  zu  kalter  und  zu 
i  nach  Agnie,  wo  Ackerbau  möglich  war  (Le  F.eau).  The  eondition  of  tlie  fe- 
among  the  Nehanrries  (ruled  by  a  woman)  stand  much  higher,  than  among  the  American 
Indians  generally  (n.  [sbister).  Im  Kali -Alter  werden  (n.  d  Vishnu-Purana)  die  Kanakas  im 
Amazonenlande  (Stri-rajya)  herrschen.  Im  Amazonenkampf  auf  der  Volcentischen  Cysta  finden 
sich  ge/ackle  .Schwerter. 


187 

Niveau  standen,  mussten  an  sich  die  Frauen  ebenso  gut  ein  Erbrecht  auf  <lie 
Krone  Iniben,  wie  die  Männer,  und  dasjenige,  was  die  Berichte  der  Alten 
über  Gynaikokokratien  und  Weiberregimenter  ofi  so  eigenthümlich  färbt, 
scheint  sich  auf  einen  Mangel  des  salischen  Gesetzes  zu  reduciren,  das  später 
überall  zur  Gültigkeit  gelangl  sein  wird,  da  die  Semiramis  der  Assyrier,  die 
Zarina  der  Saker,  die  Tomyris  der  Massag  ten,  die  Thalestris  Hyrcaniens 
u.  s.  w,  in  historischen  Zeiten  mein-  und  mehr  verschwinden.  Kami  weibliche 
Nachfolge  statt,  wie  sie  Binothris  oder  Ba-neter-au  in  Aegypten  einführte 
unter  der  II.  Dyn.,*)  so  war  es  natürlich,  dass  eine  Königin  auf  dem  Throne 
schon  an  sich  die  Aufmerksamkeit  (wie  jetzt  Englands  Victoria  bei  ihren  asi- 
tischen  Vasallen  und  Verbündeten)  auf  siel;  zog,  bei  allen  umwohnenden  Völ- 
kern, die  das  bei  ihnen  vielleicht  verachtete  Frauengeschleclit  solcher  Aus- 
zeichnung unfähig  hielten,  und  war  jene  Königin  also  thatkräftig  und  unter- 
nehmend, so  musste  alles  von  ihr  Vollführte  mit  übertriebenen  Farben  aus- 
gemalt und  rasch  nach  ihrem  Tode  liesige  Dimensionen  annehmen  (gleich 
der  Kaiserin  Jingu,  die  unter  den  Mikado's  als  Mutter  des  Kriegsgottes  dei- 
licirt  wurde).  Die  früher  weitere  Verbreitung  des  Mutterrechtes**)  zeiiit  sich 
in  den  bei  Locrern,  bei  Lydiern  und  sonst  erhaltenen  tti  sten  desselben,  und 
lehrreich  ist  die  hellenische  Mythe  der  Atalanta,  die  die  Uebergaugsstufe  zu 
markiren  seheint,  indem  schon  solche  Antipathie  gegen  Gleichstellung  der 
Frauen  eingetreten  ist,  dass  mit  Ausnahme  des  ritterlichen  Meleager  die  übri- 
gen Helden  Bedenken  tragen,  die  mit  allen  Eigenschaften  einer  tapferen  Ama- 
zone ausgerüstete  Jungfrau  bei  der  Eberjagd  zuzulassen  und  die  Sohne  des 
Thestius  (nach  Apollodor)  die  Vonechte  ihres  Geschlechtes  für  genügend  er- 
achten, um  den  Preis  für  sich  in  Anspruch  zu   nehmen. 

Die  in  Tibet  aus  der  grösseren  Zahl  geborenen  Knaben  erklärte  Polyan- 
drie   (wie  sie  sich  in  Cochin  bei  den  Nairs   findet),    erwähnt  Strabo   bei  den 
Medern,   wo  die  Frauen   dahin  strebten,  möglichst  viele*'*)  Männer  zu   haben 
wo  möglich  fünf  (also  die  Pancha-Pandu),  wogegen  bei  den  Bergvolkern  der 

*)  Auf  den  Hieroglyphen  finden  sich  Titel,  wie  die  göttliche  Gattin  (des  Gottes  Gattin)  oder 
die  Mutter  des  Gottes.  Im  Tempel  zu  Theben  empfing,  wie  in  dem  von  Patara  in  Lycien  und 
dem  Belustempel  Babylons,  eine  eingeschlossene  Frau  den  Besuch  des  Gottes  (nach  Herodot)j 
so  dass  es  an  Gottessöhnen  nicht  mangeln  konnte. 

*")  Die  epizephy rischen  Leerer  rechneten  den  Adel  von  mütterlicher  Seite.  Die  Lycier  nann- 
ten sich  von  der  Mutter  her.  Die  zur  Zeit  des  Crösus  erhaltene  Sage  von  Atys,  dessentwegen 
die  Watren  aus  den  Gemächern  der  Männer  in  die  der  Frauen  entfernt  seien,  deute  auf  frü- 
heren Gebrauch  durch  die  letzteren.  Die  Mysterien  des  Osiris  waren  durch  die  Töchter  des  Ha- 
naus in  Griechenland  eingeführt  (s.  Herodot).  Wie  Amenhotep  IV.  ist  Danaus  von  seinen  Töch- 
tern begleitet,  und  die  in  Argos  Wassersuehende  schiesst  auf  den  Satyr  einen  Pfeil  ab.  Als  (nach 
syrischer  Sage)  böse  Geister  den  Wald  von  Mabug  unsicher  machten,  sandten  die  Priester  die 
Simi  (Iladad's  Tochter),  um  durch  Ausgüsse  von  .Meerwasser  die  bösen  Geister  und  dir  Brunnen 
k/.u  bannen. 

***)  Bei  den  Gindanen  (in  Afrika),  war  es  ein  Stolz  der  Weiber  von  vielen  Männern  beschla- 
fen zu  sein,  und  trugen  sie  zum  Zeichen  jeder  neuen  Begattung  eine.,  Riemen  um  das  Bein  (He- 
rodot). Zur  Deisidämonie  (eine  abergläubige  Scheu  vor  dämonischen  Mähten,  von  denen  man 
keine  bestimmte    Vorstellung  hatte)  kam  zur  Zeit  der  Perserkriege  die  Magie  nach  Griechenland 


188 

König  verpflichtet  gewesen,  fönf  Frauen*)  sieh  zu  vermählen.  In  Aethiopien 
verhält  sieh  die  Frauenregierung  wie  in  Arabien,  und  als  die  dortige  Königin 
nach  Niuiveh  Gesandte  geschickt,  setzte  Assarhaddon**)  eine  Frau  aus  dem 
Pallast  in  das   Königthum  Arabien  ein. 

s.  Wacbsinuth).  In  answer  to  the  objectiou  (against  the  marriage  of  The  tive  Pandavo  hrethern  to 
Draupadi)  Yudhisthir  observes,  that  they  only  follow  in  this  polyandrian  marriage,  the  path  trod  bv 
other  princes  (aec.  to  the  Mahabharata).  The  powerfid  Yanadhipa  (amongst  Jarasandha's  allies)  is 
said  (in  (ho  Mahabharata)  to  possess  boundless  authority  and  to  reign  over  the  West  like  another 
Varnna.  In  Sacala  (the  chief  city  of  the  Bahieas)  a  female  demon  (Raeshasi)  on  d.  14.  day  of 
the  dark  fortnighl  sings  aloud:  I  will  feast  on  the  flesb  of  kine  and  quaff  the  in  ebriating  spirit, 
attended  bj  fair  and  graceful  females  (acc.  to  the  Mahabharata).  Die  Vielweiberei  scheint  Lei  den 
Troern  'ine  königliche  Prärogative  gewesen  zu  sein  (s.  E.  Müller).  Bei  den  Persern  fand  (nach 
Struho}  Beischlaf  mit  den  Müttern,  bei  den  Arabern  (nach  Hammer)  mit  deu Stiefmüttern  statt, 
und  auch  die  Inguschen  (s  Potocki)  heirathen  ihres  Vaters  Frau.  Die  auf  Doppelschlitten  (wie 
die  Urjangckuti  Pischeh  oder  Wald-TJrjangckuten)  fahrenden  Türken  (östlich  von  den  Ilakas  oder 
Chirkiz)  oder  Tukhus  werden  als  auf  hölzernen  Pferden  beschrieben.  Kiptsehak  vor  dem  ügetai 
Churdschi  (zur  Zeit  des  Hulagu)  aus  der  Dschelair  (der  Tartaren)  verwandt.  But-Tengri  (Sohn 
des  Gugdschis)  ein  Stamm  der  ürnaut  (zur  Zeit  des  Temudschin)  ritt  auf  einem  Schimmel  in 
den  Himmel  und  wählte  den  Namen  Dschinggizchan  (der  Unerschütterliche)  auf  Gottes  Befehl. 
Hei  den  Waraus  kommt  sowohl  Polygamie  wie  Polyandrie  vor.  und  Brett  hört  von  einer  Frau 
mit  drei  Ehemännern.  Die  Königin  Zingha  in  Congo  hielt  sich  viele  Männer  und  gestattete 
Wiederverheirathen  (mit  Tödtung  der  Kinder  1(340.  In  Targa  geniesst  die  Frau  Vorrechte  über 
den  Wann  (Duveyrier).  Bei  den  Beni  Jara  (in  Wadi  Nedjran)  lässt  der  Mann  heim  Verreisen 
der  Frau  im  Raus  eines  Freundes,   der  alle  Pflichten  des  Ehemannes  leistet  (Bnrckhanlt).    Beim 

\mi  Stamm  der  Merekede  wird  dem  eingekehrten  Fremdling  ein  weihliches  Glied  der  Familie  zur 
Fjagergenossin  wahrend  der  Nacht  gegeben.  Bei  den  Nachbaren  der  (libyschen) Nasamonen  wird 
der  Fremdling  erst  von  der  Frau  oder  Tochter  bewirthet.  Kathai  on  bien  Katha  ete  forme  par 
eorruptionj  «In  Khilat,   commc   l'ecrivent    les   Mongols,  ou    de   Kithai   on   Kithait,  comme   ils  le 

prononcent,  tio lanl  ainsi  la  Chine  entiere  (s.  Visdelou).    Les  Khitan  (de  Leao)  perdirent  l'em- 

pire  1125  p.  .1.).  Vamxechim  war  Hauptstadt  der  nomadisirenden  Yetho,  hei  denen  die  Frauen 
nach  der  Zahl  der  .Männer  Knoten  an  der  Haube  trugen  Die  Weiber  der  Tokhari  eines  zum 
Buddhismus  bekehrten  Stammes  der  Sakhi  (bei  dem  aus  Mangel  an  Weibern  Vielmännerei  ein- 
geführt wurde)  tragen  auf  ihren  Mutzen  so  viele  Ilörner,  als  sie  Männer  haben  (s.  Tschihatcheff), 
und  ebenso  bei  den  Dschcta  (ihren  Vorfahren)  oder  Vit  (nach  Vivien  de  St.  Martin),  Die 
Weiher  der  Okkal  am  Libanon  tragen  hornartige  Mützen,  tortur  genannt  Der  Kopfschmuck 
esthnischer  Weiber  heisst  Törk.  Nach  Strabo  tragen  die  Frauen  in  Ilispanien  einen  Schleier 
über  den  Hörnern.  TlaXtafiov  (Ringer)  wurde  später  Herakles  genannt.  Chittier  waren  die  Ur- 
einwohner Palästinas  Im  Mittelmeer  durfte  nach  dem  Frieden  des  Cimon  kein  bewaffnetes 
Fahrzeug  der  Phönizier  über  Phaseiis  hinaus  die  griechischen  Gewässer  befahren.  Die  canniba- 
lischen  Sumbas  drangen  (unter  ihrer  Königin  Dumha)  bis  nach  Sierra  Leone  vor  (XVI.  Jahrh.  p.). 
Nach  Theophanes  (der  auf  Pompejus  Feldzuge  Albanien  besuchte),  trennte  der  Mermadalis  von 
den  gethischen  und  legischen  Scythen  die  Amazonen,  die  Scepsis  und  Hypsikrates  an  die  Grenze 
dei   Gargaräer  und  die  nördlichen  Alihänge  des  dort  Oeraunia  genannten  Gaucasus-Gebirge. 

")  Diebus  ejus  incepil  regnum  mulierum,  quaa  Amazonas  vocant,  quorum  historia  ita  habet. 
Bello  tentavit  uihs  orbero,  cumque  cives  Amazonum  ad  internecionem  fuissent  caesi,  defuneto- 
rnm  \ Miliar  spiculis  sive  laneeis  arreptis  strenue  cum  hostibus  pugnarunt,  adeo  ut  evaderent 
superiores  et  regnum  suum  longe  continuarent  (Schalsch.  Nakkab).  Elmazin  setzt  die  babyloni- 
schen Amazonen  in  die  Zeit  des  ägyptischen  Königs  Reim  (mit  der  (iynokratie  der  Sabäer). 
Futychidcs  erwähnt  der  Frauenherrschafl  in  Saba.  Tempore  Abrahami  fuit  rex  in  Oriente,  cui 
uomen  Horesch,  qui  extruxil  Armisatum,  Claudiam,  Frakum,  qua  etiam  aetate  regnavit  Chalib, 
iixor  Sin,  sacerdotis  Monas,  quae  Nezibin  aedifleavit  et  Rohan,  eamque  muro  munivit.  Extruxit 
etiam  templum  magnum  Charris,  fecitque  Imaginem  auream  nomine  Sin,  quam  in  medio  templi 
colloravit,  mandavitque  omnibus  incolia  Charraeis,  ut  eam  adorarenl  (Patricides). 

**)  Phineus,  von  Agenor  nach  Thrazien  gesendet  (s.  Nonnus),  vermählte  sich  mit  der  Ama- 


189 

In  India   intra  Gangem   nennt  Plinius    die  Pandae  ein  von    Weibern   be- 
herrschtes*)  Volk,    in  Meroe  folgen    sich   die   Königinnen    unter    dem   Titel 


zoiie  Oreithyia  Nach  Apollodor  wurde  Orithyia,  Tochter  des  Brechtheus  (Sohn  des  Paudion)  von 
Boreas  geraubt.  Die  Mädchen  (in  den  Töchtern  des  Brechtheus  Bowohl,  wie  den  des 
Byacinthus)  schlachtenden  Athener  fraternisirten  (trotz  des  Krieges)  noch  später  mit  .Im  Ama- 
zonen iiinl  der  Amphictyon  (der  Crauaus  gestürzt  hatte)  vertreibende  Erichthonius  war  von 
Athene  gehören,  als  Vater  des  Pandion.  Bei  den  indischen  Pandae  galt  Weibej  Elegiment,  wie 
Polyandrie  bei  den  Pandu.  Vanda  herrscht  in  Krakau.  Preiya  (die  Ergänzung  zu  Freyr) 
heisst  Wanadis  (nympha  Wanarum).  In  der  littli  Mythe  verwüsten  dir  Kiesen  Wandu  und 
Weja  (Wasser  und  Wind)  die  Erde.  Mil  AU. ml  heissl  der  Name  Vindili  (bei  Tac.)  Vandilii 
(Vandali)  von  vindan  (winden)  oder  wantalon  (wandeln),  vandjan  (s.  Zeuss  ,  als  OväfJakoi  (bei 
Olymp.)  oder  BavdClot  (Zosim.).  Der  Tanaqvisl  (Vanasqvisl),  als  Grenzscheide  zwischen  Äsen 
und  Vanen,  gilt  als  Tanais  (in  d.  Yngl.  saga).  In  finnischer  Zunge  heissl  dei  Busse  noch  jetzt 
Wen&läinen  (esthn.  Wennelane),  seihst  der  Marne  der  Wenden  könnte  anklingen  (Grimm).  Der 
den  Nomaden  geläufige  Name  Tanais  (oder  Don.)  zeigt  sieh  im  Gothenkönig  Taunasis,  in  einer 
männlichen,  in  Tanaitis  in  weihlicher  Wandlung.  Strabo  bezeichnet  Tanais,  dem  zu  Ehren 
die  Sakaen  gefeiert  wurde,  als  patrium  aumen  (ätög  naunui)  der  Perser.  Anaitis  oder  Ta- 
nais hiess  (nach  Polyb.)  Al'rrj  in  Ecbatana  (s.  Movers).  Aphrodite  Tanais  vom  Flnss  Tanais) 
wurde  mit  Pharuuchos  (Pharnakes)  und  Pharsiris  (Oitasyris)  verehrte.  Lydus  erklärte  Astarte  von 
icoio  und  dotit),  Athen  von  aaiv  x«i  it,oyr\v.  Theseus  ordjiete  in  Amatus  ein  Fesl  an,  bei  wel- 
chem ein  auf  der  Erde  liegender  Jüngling  die  Bewegungen  einer  in  den  Wehen  liegenden  Frau 
nachahmte.  Astarte  oder  Nemanun  gebar  dem  Malcander  den  phönizisohen  Linus  (Plut.).  Has- 
dingi  (Astingi  oder  Hasdingi)  hedeutet  Männer  mit  Frauenhaar,  indem  das  vandalische  Königs- 
geschlecht ehemals  zu  dem  Cultus  des  Stammes  in  demselben  Verhältniss  stand,  wie  die  Yng- 
linge  und  Skiöldunge  zu  dem  Cultus  des  Freyr  in  Schweden  und  Dänemark  (s.  Möllenhoflf).  Dem 
Dienst  der  nahanavarlisehen  Brüder  (dem  Gastor  und  Pollux  verglichen)  stand  (nach  Tacitus) 
ein  sacerdos  muliebri  ornatu  vor.  Die  Tarentiner  stellten  die  Frauen  und  Mädchen  ihrer  be- 
siegten Feinde  einen  Tag  lang  nackt  im  Tempel  aus,  für  Jedes  Gebrauch  (muh  Klearchos). 

")  Die  Gynaikokratie  im  Gebirge  Azyr  (wie  im  heidnischen  Yeinen)  wurde  durch  dieWecha- 
biten  zerstört  Die  Wittwe  Ghalye,  die  die  Hegum-Araber  anführte,  wurde  von  den  Türken  für 
eine  Zauberin  gehalten  (Burckhardt).  The  government  of  Napata,  like  thal  of  Meroe,  was 
offen  committed  to  the  band  of  women.  who  höre  the  title  of  Candace,  and  in  the  kingdom  of 
Schendy  Burckhardt  fouud  a  similar  regimen  (n.  Donne).  Roxane,  the  daughter  of  [deines  and 
half-sister  of  Terituchmes,  is  noted  (by  Ctesias)  a  thouroughly  well  skilled  in  the  use  of  the  bow 
and  the  javeliu  (ltawlinson).  Bei  der  Ehe  trat  der  Mann  (in  Nicaragua)  in  eine  abhängige 
Stellung  (n.  Navarrete).  Die  Weiber  (von  Panama)  kämpften  im  Kriege  mit  (nach  Gomara).  „Die 
Kleidung  die  die  Statuen  der  Athene  schmückt,  sowie  ihre  Aegis  haben  die  Griechen  von  den 
libyschen  Frauen  entlehnt.  Denn  nicht  nur  sind  die  Kleider  der  Libyerinnen  von  Leder,  mit 
Kränzen  behangen,  in  der  Form  von  Sehlangen,  sondern  sie  sind  auch  sonst  in  gleicher 
Weise  gekleidet.  Auch  zeigt  der  Mann,  dass  die  Bekleidungsweise  der  Pallas-Statuen  von  Li- 
byen kam,  da  die  Libyerinnen  unbehaarte  Ziegenfellkleider,  an  den  Enden  gefranzl  und  roth  gefärbt, 
über  ihr  Gewand  tragen,  und  von  diesen  Ziegenfellen  erhielten  die  Griechen  das  Wort  Aegis  (Ziegen- 
panzer).  Auch  scheinen  die  lauten  Schreie  in  den  Oeremonien  von  dort  zu  stammen,  denn  die 
libyschen  Frauen  sind  darin  sehr  geübt  und  stossen  sie  rechl  hübsch  hervor61  (Herodot),  wie  in 
dem  Ritual  der  Fetischwidder.  Im  Soudan  besteht  die  Kleidung  (nach  Lyon)  uaeisl  aus  Leder. 
Nach  llesiod  dämmte  Orion  das  Zwischenmeer  Rhegium's  durch  das  Vorgebirge  von  Pelorias  ein, 
im  Tempel  des  Poseidon  wurde  die  Leibwache  des  Königs  der  Beins  am  weissen  MI  nur  von 
Frauen  gebildet.  Die  von  Ferguson  nach  den  Dolmen  Katli  Croghau  (Bretagne)  entzifferte 
Schrift  (im  Ogham  spricht  von  der  Amazonenkönigin  Medf  (Ossian's)  Nach  Aristoteles  ge- 
horchten alle  kriegerischen  Völker  dem  Weibe.  Bei  dem  hannibalischen  Bündniss  mit  den  Gal- 
liern wurde  die  Entscheidung  den  Matronen  überlassen.  Bei  den  Cantabrern  wurde  (n.  Strabo) 
die  Brüder  von  den  Schwestern  dotirt.  Nach  der  Sacralbestimmung  waren  alle  weiblichen  Opfer 
der  Gottheit  genehmer.     Bellerophou  (der  Besieger   der   Amazonen),    durch  Zeus   vom  Pegasus 


190 

Canda.ce,  aus  Süd-Arabien  kam  Balkis  oder  (aas  Abyssinien)  Maqueda  zu 
Salomo  und  ebenso  lässt  Eutrop  die  Sabäer  von  Königinnen  beherrscht  sein, 
während  Tiglatt - Pilsaer  II.  (769  a.  d. )  von  der  Königin  der  Iduniaeer  und 
Araber   Tribut  empfängt. 

Im  Norden  wird  feinina  domin atur  bei  den  Sitonen  (nach  Tacitus)  er- 
wähnt, bei  den  Kwenen  kennt  Adam  Brem,  terrae  feminaruni,  Pau- 
lus Diaconus  ein  Frauenvolk  in  intimis  Germaniae  finibus,  Cosmas  von  Prag 
ein  Maegdhaland  neben  den  Horiten  Nach  dem  Tode  der  Libussa  (Tochter 
des  Krak)  brach  der  Mädchenkrieg  aus,  der  unter  Wlasta  von  Dewyn  aus 
gegen  die  Männer  geführt  wurde.  Noch  in  der  scandinavischen  Sagenzeit 
sind  die  Schildmädchen  eine  gewöhnliche  Erscheinung  in  den  Reihen  der 
Krieger*).  In  der  Brawallaschlaeht  befehligte  die  Harald's  Banner  tragende 
Wisma  ein  grosses  Heer  Wenden,  oder  (nach  Saxo  Grammatius)  eine  slavische 
Schaar,  Webjorg  ein  Heer  südlich  von  Gothland,  Hetha  ein  tapferes  Gefolge 
von  Kriegern  und  neben  ihnen  andere  Jungfrauen.  Auch  hier  markirt  sich  die 
lteaction.  Weil  die  Walkyrie  Sigrdrifa  oder  Brynhild  den  Heermann  Hialm- 
gunnar  erschlagen,  stach  sie  Odhin  mit  dem  Schlafdorn,  bis  sie  von  Sigurdh 
befreit  wird  und  sich  vermählen  inuss  (nach  der  Volsungasaga).  Herakles 
„vernichtete  die  Gorgonen  und  die  Amazonen,  weil  er  glaubte,  wenn  er  der 
\\  ohlthäter  des  gesammten  Menschengeschlechtes  werden  wollte,  so  dürfte 
er  es  nicht  dulden,  dass  es  noch  von  Weibern  beherrschte  Völker  gäbe". 
In  der  griechischen  Sage  dient  Herakles  (der  Stammherr  des  heraklidischen 
Kriegsgeschlechtes  in  Sardis)  der  Omphale  von  Lydien,  vom  lydischen  Dop- 
pelgänger Sandon  (Sardan-apala  oder  Ninip**)  dagegen  wird  erzählt,   dass  er 

gestürzt,  behielt  ein  hinkendes  Bein  (n.  Steph  Byz)  Auf  der  Ruveser  Vase  unterstützen  die 
Amazonen  den  Bellerophon  in  Bekämpfung  iler  Chimära.  Die  Nasamonen  wohnten  (wie  die 
Massageten)  beliebig  den  Frauen  bei,  und  ebenso  die  Auser  und  Libumer  dextram  mammam  iis 
virilem,  laevam  muliebrem  esse  habe  Aristoteles  von  den  Machlyern  gesagt  (Plinius).  Pandaeam 
gentem  foeminae  tenent,  cui  prior  regina  Herculis  tilia  (Martianns).  Nach  Nie.  Dam.  herrschten 
bei  den  Sarmaten  die  Frauen.  Die  Tage  (Freitag  und  Montag)  der  Frauen -Promenaden  sind 
(in  Bosnien  dem  Aschyklik  J)ainendienst)  gewidmet,  welcher  Brauch  an  das  in  Oberösterreich 
und  Steiermark  übliche  Fensterin  erinnert  (n.  koskiewies)  Das  goldene  Zeitalter  in  Wynngolff 
(Sil/,  der  Göttinnen)  wurde  durch  die  Weiber  aus  Jotunheimr's  (Cyclopenstadt)  vernichtet.  Mit 
Penthesilea,  (die  letzte  der  Amazonen,)  verschwand  diese  Nation  und  wurde  seitdem  mythisch 
betrachtet  (nach  Diodor).  There  are  instances  of  women  für  some  particular  Services,  either  of 
themselves  or  of  their  family,  being  promoted  to  the  rank  of  captain,  and  in  the  late  invasion 
of  the  Appollonian  territory,  a  brave  Amazon  of  Dixcove  marched  at  the  head  of  her  Company 
(n.  Craickshauk)  1853,  Virgines  et  mulieres  equitant,  et  agiliter  currunt  in  equis,  et  viri  (Car- 
pin)  bei  den  Mongolen.  Argos  wurde  durch  die  anter  Telesilla  kämpfenden  Frauen  gerettet, 
Spartaner  unter  Cleomenes  gesiegt  hatten. 

*)  Die  Kureten  sollten  so  genannt  sein,  weil  sie  nach  Art  der  Jungfrauen  (Korae)  weibliche 
Kleidei  trügen,  wozu  Strato  die  Jaonen  im  Schleppgewande  (b.  Homer)  vergleicht.  Sonst  von 
dem  jugendlichen  Scheeren  des  Kopfes.  Achill  (in  Frauenkleidern  gedeckt)  winde  neben  der 
\stai te-Tanil  verehrt. 

*')  Nach  rlerodot's  Berechnung  fällt  die  Gründung  des  lydischen  Reiches  1221  a.  d.  und  in 
dem  1314  a,  d.  von  Venus  gestiftetem  Reich  Assyriens  bestieg  l'2ü0  a.  d.  Ninippallasar,  Sohn 
oder  Nachkommen   des  Ninip    (des    assyrischen  Herakles)  den  Thron,    von  dem  in  der  Inschrift 


191 

die  Amazonen  unterworfen  und  das  Beil  ihrer  Bamiginn  den  lydi  scheu  Königen 
als  Reichs-lnsiguie  hinterlassen.  Die  Amazonia  securis  (bei  Horaz)  ist  auf 
dem  Sarcophage  von  Salonichi  dargestellt  und  (nach  Nilssou'  finden  sich  dop- 
pelschneidige Amazonen-Aexte  aller  Grössen  in  den  westgotbischen  Gräbern 
der  Steinperiode,  zum  Theil  ähnlich  der  Securicula  auceps,  die  die  Jungfrau 
Palästra  (bei  Plautus)  als  Amulet  trägt. 

In  all  diesen  Berichten  über  kriegerische  Frauen  und  ihre  Theilnahnic 
an  den  Geschäften  der  Männer  liegt  nichts  aussergewöhnliches,  weil  wir  sie 
sämmtlich  mit  Analogien  belegen  können,  die  uns  aus  jetzt  noch  beste- 
henden Verhältnisse  zugänglich  sind.  Eigentümlicher  schon  ist  unter  den 
Gynaiko-Kratumenoi  (wie  die  Emmetsch  bei  Taveinierl  das  Weiberreich  am 
Pontus,  wo  geradezu  eine  Umkehr*)  in  der  gegenseitigen  Stellung  der  Ge- 
schlechter zu  einander  bestanden  haben  soll,  und  Aehnliches  scheint  Herodot 
mit  einer  Bemerkung  über  Aegypten  haben  andeuten  zu  wollen.  Es  ist  nun 
jedenfalls  beachtenswerth,  dass  dieser  sonderbare  Bericht,  den  man  im  ersten 
Augenblick  dem  Fabellande  in  verkehrter  Welt  zuzuschicken  geneigt  sein 
könnte,  sich  in  Diodors. Erzählung  an  Afrika  anknüpft,  gerade  denjenigen  Con- 
tineut,  wo,  wenn  überhaupt,  derartiges  allein  statthaben  kann  und  auch  allein 
stattgehabt  hat.  Nachdem  Myriua  ihren  Sieg  über  die  Gorgonen  durch  Er- 
richtung   der   Amazonenhügel**)    verewigt    und    in    Aegypten    mit   Horus    ein 

gesagt  wird,  dass  er  zuerst  das  Land  Assur  in  Ordnung  brachte  und  als  der  erste  das  assyrische 
Heer  aushob,  Unter  seinem  Sohn  Assurdayan  hörte,  der  noch  1150  a.  d.  von  Rhamses  XII. 
eingeforderte  Tribut  auf,  als  in  Egypten  der  Hohenpriester  llerr-IIor  den  Thron  usurpirte  Die 
Gorgonen  lebten  in  der  Stadt  Tithrasus  am  Triton  und  Tithras  war  Dennis  in  Attiea.  KaXoüoi 
J£  IqV  'AUtjvov  y.unrjfuidi  I'ony<ö,  COOTlto  1  tjv  Ainftuv  ©oäxig  HivSuccV,  .  frtxiXrti UOViOi  i?e 
Ovmr.  Das  im  assyrischen  Pallast  von  Nemrod  gefundene  Basrelief  (bei  Layard)  stellt  einen 
König  vor,  mit  einem  Beil  als  religiösem  Symbol  (wie  bei  Jeremias  beschrieben  .  Labrandeus 
wurde  in  Mylasa  verehrt  (als  Gottesbeil)  Die  Münzen  von  Tenedos  zeigen  ein  Doppelbeil,  die 
Münzen  von  Mylasa  in  Carien  den  labrandischen  Zeus  (bei  Plutarch)  mit  einem  Beil.  Nach 
Theopompus  von  Chios  führte  Alexander,  Tyrann  von  Pherä  in  Thessalien,  den  Cult  des  Bacchus 
mit  dem  Beil  von  Pagasa  ein  (zliörvaoi'  rbv  h>  Ilnyaoalg  o?  (xu).tno  rif'Xrxo;).  Auf  einem 
chaldiüschen  Cylinder  ist  ein  Priester  dargestellt,  ein  Beil  verehrend  (Longperier).  Dans  le 
Systeme  hieroglyphique  egyptien  le  mot  nouter,  dieu,  s'exprime  toujours  par  un  signe,  qui  n'est 
autre  que  la  figure  d'une  hache.  Die  Frauen  der  Solon-Tataren  reiten  und  führen  Waffen 
(Grosier).  Le  vetement  de  ceremonie  de  Chamone  esl  souvent  de  pendeloques  de  fer,  en 
forme  de  hachettes,  de  crotales,  de  tubes,  de  feuilles  de  sauge,  de  disques,  d'anneaux,  d'animaux 
etc.  Le  tout  extremement  curieux  pour  l'explication  des  objeets  de  inetal  qu'on  retrouve  dans 
les  fouilles  de  la  Ganle  et  de  la  Germanie.  Les  robes  des  figurines  de  Chamanes  soni  seinees 
de  petites  plaques  de  fer  angulaires  suspendues  au  moyen  dun  beliere. 

*)  Die  alten  Missionäre  sprachen  von  den  Erniedrigungen,  dir  die  Männer  im  Reiche  der 
Königin  Gingha  von  Matiambo  zu  erdulden  gehabt,  und  Aehnliches  bcrichtel  Livingstone  von  den 
Banyai. 

**)  KoXtovti,  xoXwvös,  Aoltovla  heisst  Grabhügel,  früher  aber,  wie  aus  xöXos,  xoXoanög, 
xiokov  und  coluinna  hervorgeht,  Säule,  aus  dem  Begriff  des  Grabhügels  entwickelt  sieh  der  der 
des  Hügels  (collis)  überhaupt  (n.  Müller).  In  dem  durch  sein  Orakel  berühmten.  Zu  Colophon 
besiegte  Mopsus  den  Kalchas  Mopsusia  (  \i  ,>  w  eat(u)  I  am  Pyramus  in  Cilicien.  Auch  die  cari- 
schen  Milesierinnen  verbanden  sich  durch  einen  gewiss  lad  gegen  die  jonischen  Männer,  ihre 
Eroberer  (n.  Herodot).  In  Rom  wurden  den  Frauen  bei  ihrem  Feste  der  Bona  dea  Ausgelas- 
senheiten nachgesehen. 


192 

Bündniss  geschlossen,  zog  sie  nach  Besiegung  der  Araber  und  Syrer,  den 
Ciliciern  ihre  Freiheit  lassend,  in  Kämpfen  mit  den  Tauriern  durch  Grossphrygien 
zum  Meer,  ausser  Myrina,  die  Städte  Kuna,  Pitana  und  Priene  erbauend,  sowie 
Mitylene  auf  Lesbos,  auf  Samothrace  Altäre  errichtend  und  auf  dem  Festlaude 
Korybauten  genannte  Sühne  als  Mysterienleiter  einsetzend,  (um  afrikanische 
Fetischgebräuche  in  den  Oult  europäisch-asiatischer  Götter  einzuführen).  Nach 
den  Kriegen*)  mit  dem  Thracier  Mopsus**)  und  Sipylus  aus  Scythien  sei  das 
Reich  geschwächt  worden  und  der  Rest  der  Amazonen  nach  Libyen  zurück- 
gekehrt. 

Dort  in  Libyen  erzählt  Diodor  von  den  staatlichen  Einrichtungen,  bei 
denen  die  Frauen  die  Herrschaft  führten  und  in  Sehlangenhautpanzern  ins 
Feld  zogen,  während  die  Männer  auf  häusliche  Geschäfte  angewiesen  waren 
und  die  mit  den  dienstuntüchtigen  Frauen  gezeugten  Kinder  mit  Milch  auf- 
fütterten. Es  sind  diese  Zustände  ein  Abbild  derjenigen,  wie  sie  Livingstone 
in  Süd-Afrika  fand,  und  wie  sie  bei  der  Rivalität  der  sich  in  ihren  Mysterien- 
bünden bekämpfenden  Geschlechter  jeden  Augenblick  in  der  einen  oder  andern 
Localität  Afrikas  noch  jetzt,  eintreten  können.  In  Banam  in  Baghirmi  wurde 
die  Feldarbeit  nicht  (wie  sonst  im  Sudan)  von  Frauen  verrichtet,  sondern  von 
den  Männern,  da  jene  die  Oberhand***)  erhalten  hatten  (n.  Barth). 


*)  Damit  vereinigt  sicli  der  athenische  Sieg  über  die  Amazonen.  Attica  olim  dieta  erat 
Mopsopia,  filia  Oeeani  (n. Euphorie-)  Der  Lapithe  Mopsus  heisst  Aunvy.iörii  (bei  Hesiod.)  Mopsia  ist 
alter  Name  Pamphyliens  (bei  Pliuius). 

"*)  Mopsus  (Sohn  der  Nymphe  Himantis)  findet  auch  in  Afrika  Feinde,  wo  er  mit  den  Ar- 
gonauten anliegend,  am  Sehlaugenbiss  stirbt  Mopsus  (der  mit  Amphiloehos  die  Stadt  MallOs 
gebaut)  trifft  (als  Gegner  des  Calchas)  mit  ihm  in  (der  joniseheu  Stadt)  Colophon  zusammen, 
denn  [mit  Kor y bauten  /.usammenkliugender)  Name  auf  dem  (slavischen)  Kolos  oder  Rundträger 
(der  Neger)  führt.  Die  Troglodyten  am  rothen  Meer  sollten  naeh  der  Reschneidung  Colobos 
(Verstümmelte)  heissen.  Smyrna  heisst  (b.  Herodot)  eine  Gründung  Colophons  (durch  die  Ver- 
bannten)- Nach  Diodor  war  Korybas  (mit  der  Tochter  des  Cilix  vermählt)  Sohn  des  Dardanus 
und  Cybele.  Kobarnas  war  den  Juden  heilig  und  die  Kobyner  werden  zn  Kobolden.  Die,  wie 
Basilea  des  Westens,  klagend  umherschweifende  Cybele  führt  die  llandtrommel  der  Neger. 

***)  Am  Leeba  traf  Livingston  mit  den  Häuptlingen  zusammen,  die  unter  dem  weibliehen 
Fürsten  Manenko  standen,  der  über  die  Balunda  oder  Balonda  herrschte.  Als  er  im  Dorfe  Nya- 
moaua's  (Schwester  des  Sliinte  oder  Kabompo)  seine  Anrede  an  den  Gatten  richtete,  deutete 
dieser  auf  seine  fürstliche  Krau,  als  zu  der  Ehre  berechtigt,  neben  der  er  sass.  Unter  den  Ban- 
yai  kann  ein  .Mann  nichts  ausführen  (b.  Tete),  ohne  zuvor  seine  Frau  gefragt  zu  haben  (b.  Li- 
vingston) Manenka,  weiblicher  Häuptling  an  dir  Grenze  der  Balonda,  wurde  durch  ihren  Manu 
als  Zauberer  begleitet.  Die  Geschichte  der  Zegzeg  (in  Haoussa)  beginnt  mit  den  Eroberungen 
einer  Kran  (Aminah).  In  Arr  Festung  der  Denulem  wurde  ein  weibliches  Götterbild  verehrt. 
I'in  sieh  gen, -ii  den  Missbrauch  der  männlichen  Herrschaft  zu  sichern,  nehmen  bei  einigen Stäui 
inen  Afrikas  die  Weiber  ihre  Zuflucht  zu  einem  bestimmten  CllltuS  und  setzen  so  dem  Miinncr- 
reeh!  das  Ansehen  der  Initiation  entgegen,  eine  Idee,  die  sich  in  (ieni  Verhältniss  der  römischen 
Matrone  zu  t'.uuieuta,  derlnitiation  der  Athenerin  und  allgemein  in  dem  Schutze  des  Weibes  durch 
die  Mutler  Knie  auch  bei  den  klassischen  Völkern  findet  (Bachofen)  In  Jarkand  nimmt  die 
Krau  den  Ehrenplatz  ein.  In  Formosa  bekleiden  die  Krauen  das  Friesterthum.  Urduja,  die  in 
Kailuknri  residirende  Tochter  des  Königs  zu  Tawalisi  (jenseits  der  stillen  See  oder  ul  Bahr  ul 
Kahil)  zog  (ii.  Ihn  Batuta)  mit  ihren  Fraueil  in  den  Krieg  und  wollte  nur  denjenigen  ihrer  Be- 
werber heirathen,  der  sie  besiegen  wurde.  Ibn  Batuta  horte ,  wie  ein  Besucher  des  Shaikh  von 
Sinkalan    sich   mit  einer  Krone   auf  dem  Kopf  im  Lustgarten  gesehen,  aber  als  er  einen  Apfel 


193 

Ist  noch  keine  Staatsgewalt  organisch  zum  Durchbruch  und  sittlichen  An- 
erkennung gekommen,  so  muss  sich  zur  Erhaltung  einer  sittlichen  Gesellschafts- 
ordnung, die  Lebensbedingung  für  jede  menschliche  Existenz  ist,  die  Selbst- 
hülfe constituiren  und  in  allen  Theilen  der  Welt  einen  ähnlichen  Ausdruck 
zeigen,  den  Ausdruck  des  Volkswillens  mit  der  Herrschergewalt  bekleidend, 
und  so  auch  hier  den  Verbrecher  durch  die  Macht  des  Stärkeren,  durch  dessen 
Recht  bezwingend.  Daraus  gingen  in  Afrika  die  im  Dunkel  der  Fetischwäl- 
der tagenden  Geheimbünde  hervor,  der  Purrah-Orden  bei  den  Timmanis,  der 
der  Semo  bei  den  Susus,  der  Mumbo-Yumbo  bei  den  Mandingoes,  das  Bunda- 
Gericht  bei  den  Bullamern,  der  Belli-Bund  bei  den  Quojah,  die  Egbo-Freimauer- 
schaft  am  Alt-Calabar  u.  s.  w.  Aus  gleichen  Verhältnissen  sicherte  sich  das 
junge  San-Francisco  sein  Bestehen  durch  die  Vigilance-Comittee,  die  aufblü- 
henden Staaten  Colorado,  Idaho  und  Montana  durch  die  Vigilanter,  indem  in 
diesem  Zufluchtsort  aller  Gesetzesflüchtigen,  Beidler,  auf  den  Gesamnitwillen*) 
gestützt,  die  meuchelmörderische  Bande  der  Road-Agents  niederwarf  und  das 
Lynch-Gesetz**)  übte. 

Wie  bei  anderen  Naturvölkern  hat  sich  auch  in  vielen  Gegenden  Afrika's 
die  gesellschaftliche  Ordnung  noch  nicht  über  die  Familie  hinaus  gegliedert, 
kaum  in  der  ersten  Erweiterung  durch  fictitive  agnatio  zur  gens,  mit  Aufnahme 

essen  wollte,  wieder  in  der  Hohle  gefunden  haben  und  ausgelacht  sei.  Die  Gynaikokratie  hat 
sich  überall  in  bewusstem  und  fortgesetztem  Widerstand  der  Frau  gegen  den  sie  erniedrigenden 
Hetärisraus  hervorgebildet,  befestigt,  erhalten  Dein  Missbrauche  des  Mannes  schutzlos  hinge- 
geben und  (nach  der  arabischen  Tradition  bei  Strabo)  durch  dessen  Lust  zu  Tode  ermüdet, 
empfindet  sie  zuerst  und  am  tiefsten  die  Sehnsucht  nach  geregelteren  Zuständen  uud  einer 
reinen  Gesittung,  deren  Zwang  der  Mann  im  trotzigen  Bewusstsein  höherer  physischer 
Kraft  nur  ungern  sich  bequemt  (Bachofen).  Indem  das  demetrische  Princip  als  die  Beeinträch- 
tigung ins  entgegengesetzte  ursprünglichere,  der  Ehe  selbst  als  die  Verletzung  eines  Religious- 
gebotes  erscheint,  so  erklärt  sich  (nach  Bachofen)  der  Gedanke,  dass  die  Ehe  eine  Sühne  jener 
Gottheit  verlangt,  deren  Gesetze  sie  durch  Ausschliesslichkeit  verletzt.  Zur  Ausrottung  des  Hetä- 
rismus war  die  Aussteuerung  des  Mädchens  seitens  ihrer  Familie  erforderlich  (n.  Backofen). 
Das  Vaterrecht  verdankt  seine  Durchführung  dem  römischen  Staatsprincip  des  männlichen  Im- 
perium (mehr,  als  dem  delphischen  Apoll).  Den  Befehlen  ihrer  Priester  gehorchen  die  Leute  in 
Arkhang  (mit  dem  Hafen  Tschuttagon)  blindlings  (nach  Abul  Fasel).  Die  Weiber  sind  die  Sol- 
daten dieses  Landes.  Ihnen  sind  die  Männer  untergeben  (s.  Bernouilli).  Nach  Vardan  lebten 
zur  Zeit  des  Abraham  die  Amazonen,  deren  Königin  zu  Alioa  residirte.  Dodschaima.  Nachfolger 
des  Azditen  Malec  ben  Fahm,  wurde  durch  die  amalekitische  Königin  Zabba  (Schönhaar)  ge- 
tödtet,  die  Eichhorn  mit  Zaba  (b.  Vopisc),  Schwester  der  Zenobia  (von  Palmyra)  identificirt.  Die 
Sage  von  den  Amazonen,  (Ycamiaba),  die  am  Rio  Nhamunda  mit  Orellana  gestritten  (auch  bei 
den  Mavay-asu  lebend)  wird  durch  Weiber  von  der  zu  den  Omaguas  gehörigen  Horde  der  Sori- 
mao  bezogen. 

*)  This  indefinite  unsoen,  unmeasurable  power  seems  to  have  ever  stricken  tiie  most  cou- 
rageous  thieve.s  und  murderers  neverless,  when  its  sudder  and  fatal  grasp  was  thrown  around 
them.  They  would  fight  scores  of  meu  for  their  lives  in  any  ordinary  attempt  to  arrest  them, 
but  they  seemed  weakened,  when  the  Citizen  confronted  them  in  the  naiue  of  publir  safet]  (Mc 
Clure).     No  formalities  were  known. 

••)  Wird  ein  Missethäter  auf  frischer  That  oder  (nach  westphälischer  Sprache)  mit  habender 
Hand,  blickendem  Schein  und  gichtigen  Munde  von  wissenden  Schoppen  (des  Femgerichtes)  be- 
troffen, so  konnten  sie  ihn  ohne  weitere  Prozessförmlichkeit  überzeugen,  verurtheilen  und  bestra- 
fen (s.  Berek) 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahryaug  ls7u.  14 


194 

der  Clienten  in  die  Clanship.  Bei  den  Kru  tritt  das  Patriarchenthum  in  sol- 
cher Entschiedenheit  hervor,  dass  selbst  die  Kastenabstufungen  nach  den 
Alterklassen  tixirt  sind,  also  im  Wechsel  steter  Erneuerung-,  von  den  Jüng- 
lingen (Kedibo  oder  Knappen)  durch  den  Kriegsadel  der  Männer  (Sedibo)  bis 
hinauf  zum  Seuatus  der  Seniores  (Gnekbade).  Duces  ex  virtute  suniunt  (Tac), 
gilt  auch  bei  den  brasilischen  Indianern,  wo  nur  persönliche  Eigenschaften 
zum  Anführer*)  der  Horde  erheben  (s.  v.  Martius),  und  dieser  deshalb  oft  mit 
zunehmender  Altersschwäche  im  Zweikampf  von  Stärkeren  weichen  muss.  Ist 
dagegen  die  geistige  Ueberlegung  der  Weisen  oder  Greise  anerkannt,  so 
sichern  solche  sich  den  Fortbestand  ihrer  Würde  durch  verschaffungsraässigen 
Vertrag  mit  den  übrigen  Mitgliedern  der  Volksgemeinde  dadurch,  dass  diese 
durch  regelmässigen  Nachschub  in  die  Rangordnungen  hineinwachsen  und 
also  Alle  allmählig  in  die  Stelle  des  Herrschers  kommen  werden.  Hat  der 
Knabe  die  Prüfungen**)  der  Mannbarmachung  überstanden,  so  erhält  der  den 
Ritterschlag,  mit  der  Toga  virilis  der  Männer,  und  rückt  dann  mit  diesen  all- 
mälig  weiter  auf.  Eine  gefährliche  Klasse  von  Unterthanen  bilden  dann  die 
von  allen  Rechten  ausgeschlossenen  Frauen  und  Sklaven,  und  um  die  inneren 
Feinde  im  Zaume  zu  halten,  schliessen  sich  die  Männer  in  ihren  Mysterien 
zusammen,  deren  Ausplauderung  dem  Verräther  den  Tod  bringt  (durch  ver- 
mummte Agenten  bei  den  Purrah).  Erscheint  der  Repräsentant  des  Grossfetisch 
in  den  Dörfern,  so  fliehen  Frauen  und  Sklaven,  und  ebenso  müssen  sie  die 
Strassen  meiden,  sobald  am  Calabar  ein  Egbotag  proclamirt  ist,  da  sie  beim 
Betreten  niedergehauen  werden  würden.  Laufen  klagen  von  den  Ehemännern 
ein,  so  wird  in  Senegambien  ein  Gericht  des  Mumbo  Yumbo  angezeigt  und 
alle   Frauen    haben    sich    auf   dem  Dorfplatz  zu  versammeln***).     Mit  dunkel- 

*)  Persönliche  Tüchtigkeil  ist  dem  (homerischen)  König  nothwendig  und  wem  diese  abgeht, 
der  thut  gut,  dem  Thron  zu  entsagen  (wie  Laertes  auf  Ithaka).  Auch  von  Peleus  besorgt  sein 
Sohn,  dass  er  als  schwacher  Greis  nicht  mehr  im  Stande  sein  möge,  die  königliche  Würde  zu 
behaupten  (Schoemann). 

**)  Von  Senegambien  bis  zu  den  Ländern  der  Betschuanen  und  Kaffern  finden  sich  durch 
ganz  Afrika  die  vorbereitenden  Ceremonien  der  Yirilität,  indem  die  gereifte  Altersklasse  der  Kua- 
ben  in  abgelegene  Wälder  fortzieht  und  dort  schwere  Peinigungen  untergeht,  bei  denen  auch 
Geissehingen  (wie  im  spartanischen  Kringel)  nicht  fehlen.  Sie  kehren  dann  als  „Wiedergeborene" 
zurück  und  sind  fortan  unter  die  Bürger  reeipirt.  Aehnliches  findet. in  Nord-  und  Süd-Amerika 
statt  und  in  den  Amazonasländern  (bei  den  Indianern  zu  Cumana  u  A.  m.)  müssen  auch  die 
Mädchen  (wie  es  ebenso  in  manchen  Theilen  Afrika's  vorkommt)  einen  gleichen  C'ursus  an  Ge- 
duldspriifungen  durchmachen,  bei  denen  ihnen  weder  Fasten,  noch  Peitschen,  noch  Gefangenschaft 
noch  andere  Qualen  gespart  werden.  In  Ukami  müssen  die  Mädchen  Ameisenbisse  ertragen,  wie 
am  Orinoco  die  Knaben.  Les  garcons  mandingues  sont  circonsis  ä  l'äge  de  quinze  ä  vingt  ans, 
les  fillr>  subissent  l'excision  quand  elles  sont  nubiles,  souvent  en  la  retarde  jusqu'au  moment  ou 
elles  sonl  promises  en  mariage,  j'ai  meine  ou  une  femme  mariee,  ayant  dejä  eu  un  enfant,  qui 
sViait  soumise  a  cette  Operation  (Caillie).  Le  jour  de  la  circoncision  est  nn  jour  de  rijouissauce. 
Des  le  lendemain  et  les  jours  suivans,  les  filles  circoncises  sont,  aecompagnees  d'une  vieille 
femme,  se  promener  dans  le  vülage. 

***)  Bei  den  alten  Dorfgerichten,  wo  nach  dreimaligen  Angang  mit  dem  Strick  das  ausersehene, 
aber  nur  den  Eingeweihten  bekannte  Opfer  gehängt  wurde,  hatte  nach  vorhergegangener  War- 
nung Jeder  die  Freiheit  fortzugehen,  aber  dann  war  alT  sein  Gut  verfallen. 


195 

werden  kommt  der  Popanz  aus  dem  Waldheiligthum  hervor,  die  Strafwerkzeuge 
tragend,  und  während  der  aufgeführten  Tänze  wird  die  Schuldige  von  seinen 
Trabanten  ergriffen  und  je  nach  ihrem  Vergehen  härter  oder  leichter  gezüch- 
tigt. Zum  Schutz  gegen  solche  Tyrannei  bildeten  die  (beschnittenen)  Frauen 
bei  den  Quo j ah  (dem  Belli-Paato  gegenüber)  den  Nesogge-Bund  (mit.  dem 
Sandy-Tanz  als  Anerkennungsz eichen),  und  dem  von  Nda  präsidirten  <  >rden 
der  Männer  (unter  den  Mpongwe)  gegenüber,  den  der  Njembe  oder  ähnliche 
Weihebünde,  deren  Belauschen  Du  Chaillu  fast  das  Leben  gekostet,  wenn 
nicht  die  übrigen  Männer  durch  hohe  Sühnen  sein  Vergehen  abgekauft  hät- 
ten. Bei  den  Kumbasser  wurden  die  adligen  Mädchen  in  einem  gemeinsamen 
Hause  erzogen  und  die  unter  Aufsicht  des  Blitzgottes  stehenden  \\  eiber  des 
Zo  (s.  Steinmann)  leben  in  einem  Kloster  beisammen,  die  nur  ihnen  verständ- 
liche Sprache  der  Agbui  redend.  A.   B. 


Die  Schädel  der  Coroados. 

Von 

Reinhold  Heu  sei. 

Ich  habe  in  einer  früheren  Mittheilung  über  die  Coroados  von  Rio  Grande 
do  Sul*)  erwähnt,  dass  ich  zwei  Gräber  derselben  geöffnet  und  ihnen  die 
Schädel  entnommen  hatte.  Auch  die  Skelete  zu  sammeln,  hatte  die  Zeit  ge- 
fehlt, da  ich  fürchten  musste,  von  den  Indianern  überrascht  zu  werden. 

Diese  beiden  Schädel,  welche  ich  mit  I  und  II  bezeichnen  will,  sind  von 
besonderem  Interesse,  da  der  eine  derselben  I,  wie  ich  dies  schon  in  der 
früheren  Mittheilung  bemerkte,  von  einem  bei  seinen  Stamuiesgenossen  sehr 
angesehenen  Individuum  herrührt,  das  zu  den  Häuptlingen  des  Stammes  zählte, 
und  ein  Alter  von  ungefähr  40  Jahren  erreicht  haben  mag.  Der  andere  Schä- 
del, II,  ist  der  eines  Coroado  gemeiner  Rasse  und  hat  einem  Burschen  von 
einigen  zwanzig  Jahren  angehört. 

Beide  Schädel  sind  wohl  als  "ausgewachsen"  zu  betrachten,  wenn  auch 
an  dem  jüngeren  die  Nähte  noch  sehr  deutlich  sind.  Sie  unterscheiden  sich 
aber  wesentlich  von  einander,  indem  an  dem  älteren  alle  Formen  viel  eckiger 
und  ausgeprägter  sind,  ohne  dass  man   hierin   Altersunterschiede  sehen  kann, 

*)  S.  diese  Zeitschrift  Bd.  I,  p.  124. 


196 

denn  auch  der  jüngere  Schädel  gehört  einem  Alter  an,  in  dem  durchgreifende 
Veränderungen  nicht  mehr  am  Schädel  auftreten.  Man  muss  wohl  die  er- 
wähnten Differenzen  als  individuelle  ansehen,  denn  auch  die  Abstammung 
kann  zu  ihrer  Erkläruug  nicht  herbeigezogen  werden,  da  der  Schädel  I  ent- 
schieden ein  viel  mehr  elementares  Aussehen  hat,  als  der  andere. 

Der  ältere  Indianer,  welcher  den  Brasilianern  gegenüber  den  Namen  Do- 
mingo führte,  hatte  von  der  Regierung  um  seiner  Eitelkeit  zu  schmeicheln 
und  ihn  willfähriger  zu  machen,  den  Titel  eines  Majors  erhalten.  Er  war 
nach  dem  Zeugniss  der  Beamten  der  Militärcolonie  mit  einem  hohen  Grade 
von  Intelligenz  begabt  gewesen,  und  Padre  Branco,  der  Leiter  der  Indianer- 
Angelegenheiten  auf  der  Colonie  von  Monte  Caseros,  erz  hlte,  welches  Ver- 
gnügen ihm  stets  die  Unterhaltungen  mit  dem  intelligenten  Indianer  bereitet 
hatten,  der  auch  des  Portugiesischen  soweit  mächtig  war,  um  sich  in  dieser 
Sprache  verständlich  machen  zu  können. 

Das  jüngere  Individuum  war  ein  roher  und  uncultivirter  Bursche  und 
zugleich  arger  Säufer  gewesen,  von  dem  sonst  nichts  Besonderes  zu  bemer- 
ken ist. 

Das  Aussehen  der  beiden  Schädel  ist  im  Allgemeinen  Folgendes:  Bei 
dem  Schädel  I  sind  die  Nähte  noch  grösstentheils  deutlich  sichtbar.  Die 
Kronennaht  ist  stellenweise,  namentlich  an  den  äusseren  Theilen,  verwachsen, 
obgleich  ihr  Verlauf  sich  noch  erkennen  lässt.  Die  Sagittalnaht  beginnt  am 
Ende  des  ersten  Drittels  und  im  letzten  Drittel  zu  verwachsen.  Die  Lambda- 
naht  ist  noch  vollständig  offen.  Unter  den  Nähten  des  Jochbeins  ist  die  ge- 
gen den  proc.  zygom.  des  Oberkiefers  ganz  verschwunden.  Seiner  Form  nach 
ist  der  Schädel  breit  zu  nennen.  Die  Stirn  zunächst  den  Augen  ist  ziemlich 
schmal,  die  Scheitelbein-Höcker  sind  deutlich  entwickelt,  an  ihnen  ist  der 
Schädel  breiter  als  nach  den  Proc.  mast.  hin.  Die  Region  der  Pfeilnaht  ist 
etwas  erhöht,  zu  beiden  Seiten  derselben  sind  die  Scheitelbeine  ziemlich  flach, 
so  dass  der  Contour  des  Schädels  von  hinten  gesehen  ein  deutliches  Pentagon 
vorstellt,  dessen  grösste  Breite  zwischen  die  Tuber.  pariet.  fällt. 

Die  Leiste,  welche  die  Schläfengrube  gegen  die  Fläche  des  Stirnbeins 
abgrenzt,  ist  ausserordentlich  scharf  und  deutlich  entwickelt,  namentlich  un- 
mittelbar hinter  der  Orbita  oder  auf  dem  Proc.  zygom.  des  Stirnbeins.  Das 
Maass  für  die  Breite  der  Stirn  in  dieser  Gegend  wird  daher  sehr  unzuver- 
lässig, da  es  zum  grossen  Theil  von  dem  Grade  der  Entwicklung  der  Lineae 
tempor.  abhängt.  Noch  vor  der  Kreuzung  mit  der  Kronennaht  verflacht  sich 
jene  Leiste  zur  normalen  linea  temporal.  Dieselbe  geht  auf  den  Scheitelbei- 
nen ziemlich  hoch  hinauf,  ist  aber  doch  im  Ganzen  nicht  sehr  deutlich.  Sie 
nähert  sich  der  Pfeilnaht  ungefähr  bis  auf  50  Mm.  Am  Hinterhaupt  sind 
die  Lineae  nuch.  deutlich,  doch  ist  die  Spina  oeeip.  nicht  besonders  stark 
entwickelt.  Ueber  ihr  befindet  sich  eine  kreisförmige  besonders  rauhe  Stelle, 
•welche  zugleich  bei  horizontaler  Stellung  der  Basis  das  äusserste  Ende  des 
Schädels  nach  hinten  zu  bildet.     Die  Sinus  frontales   sind  ohne  Zweiiel  sehr 


entwickelt,  wie  man  aus  der  Stärke  der  Arcus  supercil.  schliessen  muss. 
Diese  sind  durch  eine  flache  Einsenkung  von  einander  getrennt,  in  der  man 
noch  die  Spuren  der  Stirnnaht  erkennen  kann.  Nach  aussen  zu  erstrecken 
sie  sich  bis  hinter  die  sehr  breite  und  flache  Incis.  supraorbit.  und  endigen 
ungefähr  in  der  Mitte  zwischen  dieser  und  dem  Aussenrande  der  Orbita. 

Der  Gesichtstheil  des  Schädels  ist  etwas  defect.  Es  fehlen  die  Nasen- 
beine, die  Schneide-  und  Eckzähne  des  Oberkiefers  und  die  äussere  Lamelle 
ihrer  Alveolen.  Wie  ich  schon  in  meiner  früheren  Mittheilung  über  die  Co- 
roados  erwähnt  habe,  war  das  Grab  des  Indianers  von  seinen  Stammesgenos- 
sen durchsucht  worden,  und  wahrscheinlich  hatte  man  bei  dieser  Gelegenheit 
den  Schädel  etwas  gewaltsam  aus  dem  festen  Lehmboden  herausgebrochen, 
so  dass  die  genannten,  leicht  zu  verletzenden  Theile  des  Gesichts  zerstört 
wurden.  An  diesem  fällt  zunächst  die  breite  Scheidewand  zwischen  den  Au- 
genhöhlen auf.  Die  Apert.  pyriform.  ist  schmal  wie  bei  dem  Europäer.  Die 
Wangengegend  ist  sehr  entwickelt,  da  der  Proc.  zygom.  des  Oberkiefers  eine 
bedeutende  Höhe  hat.  Die  Fossa  maxill.  zeichnet  sich  durch  eine  besondere 
Tiefe  aus.  Die  Jochbogen  sind  kräftig  und  stark  abstehend.  Der  Zahnfort- 
satz des  Oberkiefers  ist,  soweit  er  die  Schneidezähne  enthielt,  stark  nach  vom 
geneigt,  so  dass  diese  schief  gestellt  waren.  Die  Basis  des  Schädels  zeigt 
keine  in  die  Augen  fallende  Merkmale. 

Der  Unterkiefer  ist  sehr  kräftig  gebaut.  Der  aufsteigende  Ast  breit  und 
bei  horizontaler  Stellung  der  Zahnreihen  deutlich  schräg  nach  hinten  aufstei- 
gend. Der  horizontale  Ast  ist  verhältnissmässig  hoch.  Das  breite  Kinn  steht 
stark  hervor,  so  dass  an  Stelle  der  Tuber.  ment,  mehr  breite  und  stumpfe, 
einen  Winkel  bildende  Kanten  erscheinen.  An  der  Vorderseite  fällt  die 
starke  Entwickelung  der  Protuberantia  mentalis  auf.  Im  Ganzen  sind  alle 
Kanten  und  Leisten,  so  wie  die  Muskelansätze  des  Unterkiefers  kräftig  aus- 
gebildet. 

Der  Schädel  Nr.  II  ist,  wie  schon  bemerkt  wurde,  jünger  und  von  abge- 
rundeten Formen.  Die  Nähte  der  Schädelkapsel  sind,  natürlich  die  spheno- 
basil.-Naht  ausgenommen,  noch  nicht  verwachsen.  Auch  die  Nähte  des  Joch- 
beins sind  noch  deutlich  sichtbar  und  würden  vielleicht  noch  eine  Trennung 
des  Knochens  zulassen.  Im  Allgemeinen  erscheint,  der  Schädel  schmäler  als 
der  vorhergehende  und  das  Pentagon  der  hinteren  Ansicht  ist  mehr  abgerun- 
det. Die  Arcus  superc.  sind  wohl  deutlich  ausgebildet,  vereinigen  sich  aber 
in  der  Mittellinie,  so  dass  ihre  stärkste  Wölbung  unmittelbar  neben  diese 
kommt.  Sie  verschwinden  auch  bald  etwas  nach  aussen  von  der  Senkrechten 
der  Incis.  supraorb. 

Im  Gesichtsschädel  machen  sich  die  gefälligeren  Formen  ebenfalls  be- 
merkbar. Die  Nasenbeine  sind  massig  lang,  an  der  Sutura  nasofront.  schmal, 
im  Uebrigen  dachförmig  oder  gegen  einander  aufgerichtet.  Die  Wangengegend 
ist  weniger  breit  und  vorstehend  als  bei  Nr.  I,  die  Fossa  maxillaris  ganz 
flach.    Der  untere  Rand  des  Proc.  zygom.  des  Oberkiefers  geht  nicht  in  einem 


198 

Winkel,  .sondern  wie  bei  Nr.  I  in  einem  sanften  Bogen  in  den  Proc.  dent. 
über.  Bei  horizontaler  Stellung  des  harten  Gaumens,  liegt  wie  bei  Nr.  I  die 
Ebene  desselben  ungefähr  3  Mm.  unter  dem  vorderen  Rande  des  Foram.  oc- 
cip.  magn.  Her  Zahnfortsatz  ist,  soweit  er  die  Schneide-  und  Eckzahne  ent- 
hält,  weniger  schief  nach   vorwärts  gerichtet  als  bei  Nr.   1 . 

Der  Unterkiefer  ist  in  allen  Stücken  zierlicher  und  zeigt  alle  Hervor- 
ragungen und  Muskelansätze  nur  undeutlich.  Der  aufsteigende  Ast  ist  schma- 
ler, der  horizontale  niedriger,  namentlich  in  seinem  vorderen  Theile,  da  hier 
sein   unterer  Rand  weniger  kräftig  entwickelt  ist. 

Was  die  Zähne  betrifft,  so  machen  sich  hier  einige  Eigenthümlichkeiten 
bemerkbar.  Bei  Nr.  I  sind  oben  nur  noch  7  Zähne  vorhanden,  rechts  p  2,  p  1, 
m  1  u.  m  2,  links  p  2  u.  p  1.  Die  Schneide-  und  Eckzähne  sind  wie  schon 
oben  bemerkt  wurde,  durch  Zufall  bei  dem  Ausgraben  des  Schädels  entfernt 
worden.  Die  übrigen  Backenzähne  hat  jedoch  ihr  Besitzer  schon  während 
seines  Lebens  verloren,  denn  ihre  Alveolen  sind  vollständig  verschwunden. 
Hinter  m  '2  der  rechten  Seite  befindet  sich  eine  rauhe  und  etwas  uuregelmäs- 
sig  vertiefte  Stelle,  wahrscheinlich  von  m  3  herrührend.  Doch  kann  mögli- 
cherweise dieser  Zahn  sich  niemals  entwickelt  haben. 

Im  Unterkiefer  bilden  die  ^Schneiden  der  Vorderzähue  eine  grade  Linie, 
die  Eckzähne  stehen  in  der  That  an  der  Ecke  der  nicht  im  Bogen  sondern 
winklig  verlaufenden  Zahnreihe.  Der  letzte  Backenzahn  m  3,  namentlich  der 
der  linken  Seite,  ist  etwas  kleiner,  als  er  bei  uns  gewöhnlich  zu  sein  pflegt. 
Im  Allgemeinen  sind  die  Zähne  fast  gar  nicht  abgekaut,  denn  nur  an  den 
Schneidezähnen  macht  sich  eine  kleine  Kaufläche  bemerkbar. 

Merkwürdig  ist  bei  dem  Wilden  das  Vorkommen  der  Caries  an  den  Zäh- 
nen des  Unterkiefers,  (die  fehlenden  des  Oberkiefers  sind  wahrscheinlich  auch 
durch  sie  zerstört  worden)  und  zwar  in  durchaus  symmetrischer  Anordnung. 
Nicht  bloss  sind  die  beiden  Eckzähne  stark  angefressen,  sondern  sie  sind  es 
auch  an  ganz  genau  symmetrischen  Stellen.  Auf  der  rechten  Seite  ist  m  1 
fast  ganz  zerstört,  nur  die  Wurzeln  stecken  noch  in  der  Alveole,  m  2  ist  auf 
der  Aussenseite  unterhalb  der  Zahnkrone  stark  ausgehöhlt.  Links  sind  eben- 
falls m  1  und  m  2  cariös  und  genau  an  den  entsprechenden  Stellen  der 
Aussenseite  nur  in  geringerem  Grade. 

Bei  Nr.  II  finden  sich  im  Oberkiefer  einige  Anomalien,  die  man  auch 
bei  einem  Wilden  nicht  so  leicht  erwartet.  Es  sind  nämlich  bloss  2  Schneide- 
zähne entwickelt,  ohne  Zweifel  die  beiden  mittelsten.  Sie  sind  zwar  sehr 
breit,  bleiben  aber  durch  einen  beträchtlichen  Zwischenraum  von  einander  und 
durch  einen  kleineren  von  den  Eckzähnen  getrennt.  Auf  der  rechten  Seite 
fehlt  m  3  vollständig  und  der  enge  Raum  hinter  m  2  lässt  vermuthen,  dass 
der  Zahn  niemals  ausgebildet  war.  Links  ist  wohl  m  3  vorhanden,  aber  nur 
als  ein  kleines  rundliches  Zähnchen. 

Im  Unterkiefer  bildet  die  Zahnreihe  einen  normalen  Bogen.  Alle  Zähne 
sind  kräftig  entwickelt  und  wie  die  oberen  durchaus  gesund. 


100 

Was  das  Princip  betrifft,  nach  welchem  bei  der  Messung  der  Schädel 
verfahren  wurde,  so  dürften  wohl  einige  Bemerkungen  zur  Verständigung  über 
diesen  Punkt  nicht  überflüssig  sein.  Die  Anthropologie  bat  zui  Begründung 
einer  wissenschaftlichen  Eintheilung  der  Menschenrassen  besonderen  Werth 
auf  die  Verhältnisse  des  Schädels  gelegt.  Man  hat  daher  schon  seit  län- 
gerer Zeit  sich  bemüht,  dieselben  durch  Messen  zu  ergründen.  Zu  einer 
besseren  Verwerthung  der  gefundenen  Maasse  sind  in  neuerer  Zeit  Versuche 
gemacht  worden,  eine  Grundlinie  zu  finden,  auf  welche  alle  übrigen  Maasse 
bezogen  oder  reducirl  werden  können.  Als  solche  ist  im  Allgemeinen  und 
mit  geringen  Abweichungen  die  Basis  des  Schädels  oder  der  Längsdurch- 
messer  der  Körper  der  drei  Schädelwirbel  angenommen  worden.  Doch  ist 
man  bei  der  Wahl  dieser  Grundlinien  nicht  bloss  von  dem  Streben  nach  einer 
möglichst  unveränderlichen  Dimension  ausgegangen,  sondern  man  hat  auch  eine 
Basis  haben  wollen,  die  als  ein  wesentlicher  Faktor  des  Hirntheiles  am 
Schädel  augesehen  werden  muss.  Mag  die  Linie,  welche  von  dem  vorderen 
Rande  des  Foram.  occip.  mag.  in  der  Sutura  nasofront.  (Virchow,  Welcker) 
oder  im  Foram.  coec.  (Aeby)  oder  im  hinteren  Rande  der  Siebbeinplatte 
(Huxley)  enden,  immer  soll  sie  ausser  ihrer  Constanz  auch  eine  Beziehung 
zum  physiologisch  wichtigsten  Theile  des  Schädels,  zum  Gehirn,  besitzen. 
Die  Anthropologie  bemüht  sich  nämlich  in  der  Lehre  von  den  Menschenrassen 
vorzugsweise  solche  Maasse,  zu  gewinnen  und  zu  verwerthen ,  welche  dem 
Eirntheil  des  Schädels  entnommen  sind.  Die  Länge,  Höhe  und  Breite  der 
das  Gehirn  umschliessenden  Kapsel  entweder  direct  oder  durch  Reduction 
auf  die  Basis  gemessen,  sollen  die  Grundlagen  für  die  Unterscheidung  der 
Menschenrassen  bilden.  Eine  solche  Richtung  der  Anthropologie  kann  nicht 
auffallen,  wenn  wir  uns  erinnern,  dass  diese  ursprünglich  nicht  aus  der  Zoo- 
logie sondern  aus  der  Physiologie  und  zwar  zunächst  aus  der  Lehre  vom 
„Bau  und  der  Verrichtung  des  Gehirnes''  hervorgegangen  ist,  Ja  man  wird 
nicht  umhin  können,  darin  ein  .Moment  zu  sehen,  welches  an  einen,  in  der 
Physiologie  längst  überwundenen  Standpunkt  erinnert,  der  psychische  Po- 
tenzen allein  auf  Volumen-  nicht  auch  auf  Structur- Verhältnisse  des  Ge- 
hirnes zurückführen  wollte. 

Der  Zoologe,  welcher  sich  bemüht,  die  Verhältnisse  des  Schädels  als 
Grundlage  für  eine  Unterscheidung  der  Species  zu  verwerthen,  wird  sehr 
bald  die  Erfahrung  machen,  dass  ihn  hierbei  der  Hirntheil  des  Schädels  als 
solcher  vollständig  im  Stich  lässt.  Es  ist  durchaus  unmöglich  zwei  Species 
durch  das  Gehirn  oder  die  von  ihm  abhängigen  Dimensionen  des  Schädel- 
gewölbes zu  unterscheiden.  Wo  dieses  venverthbare  Merkmale  liefert,  da 
kommen  nur  solche  Verhältnisse  in  Betracht,  die  seine  Beziehungen  nicht 
zum  Gehirn,  sondern  zu  den  übrigen  Theilen  des  Körpers,  Kaumuskeln, 
Nackenmuskeln  etc.  ausdrücken.  Nur  der  Gesichtstheil  des  Schädels  liefert 
dem  Zoologen  Merkmale  zur  Unterscheidung  der  Species.  In  ihm  verkörpern 
sich  vorzugsweise  die  Lebensbedingungen  der  Art.    Nicht  als  ob  das  Nerven- 


200 

röhr  vollständig  c-mancipirt  wäre  von  dem  Einfluss  natürlicher  Verhältnisse  , 
allein  uns  fehlen  nur  Organe,  seine  subtilen  Differenzen  wahrzunehmen.  Da- 
her muss  es  wie  eine  Anomalie  erscheinen,  wenn  die  Anthropologie  sich  be- 
müht, bei  der  Systematik  der  Menschenrassen  vorzugsweise  solche  Momente 
in  Betracht  zu  ziehen,  welchen  in  allen  übrigen  Fällen,  soweit  es  die  Species 
betrifft,  ein  Einfluss  auf  das  System  abgesprochen  werden  muss.  Ausserdem 
geben  uns  auch  die  gebräuchlichen  Methoden  der  Schädelmessung  nicht  ein- 
mal eine  genaue  Darlegung  der  Verhältnisse  des  Gehirnes  selbst,  sondern 
nur  einzelne  unbestimmte  Maasse  desselben,  nicht  einmal  direct,  sondern  erst 
durch  eine  dicke  und  höchst  variable  Hülle  hindurch  gemessen. 

Nicht  selten  findet  der  Zoologe  da  noch  höchst  werthvolle  Charaktere 
der  Species,  wo  für  den  physiologischen  Anthropologen  möglicherweise  völlige 
Identität  herrscht.  Man  denke  nur  an  die  systematische  Bedeutung  der 
Gestalt  und  Lage  des  Zwischenscheitelheins  bei  den  Murinen,  bei  denen 
vielleicht  die  Proportionen  des  Hirntheiles  nach  den  Durchmessern  desselben 
völlig  gleich  sein  können,  während  doch  das  Zwischenscheitelbein  nach  den 
•Species  die  wesentlichsten  Differenzen  aufzuweisen  hat. 

Vielleicht   wird   man   zu   Gunsten   der   gebräuchlichen  Schädelmessungen 
den  Einwand    geltend   machen,   dass    die  Theorie    von  der  Praxis  unterstützt 
werde,  und  dass  die  Classification  der  Menschenrassen,  wie  sie  aus  den  Ver- 
hältnissen der  Hirnkapsel  hervorgehe,  eine  durchaus  befriedigende  und  natur- 
gemässe  sei.     Um  den  Werth  dieser  Behauptung  ermessen   zu  können,    wird 
es  nöthig  sein,  einen  Blick  auf  die  Resultate  jener  Messungen  zu  werfen.    Es 
wird  zu  dem  Zweck    genügen,    diejenige  Eintheilung   der  Menschenrassen  zu 
prüfen,  welche  Aeby*)  geliefert  hat,  da  er  sich  ohne  Zweifel  der  rationellsten 
Methode  der  Schädelmessungen  bedient  hat.    Aeby  hat  das  Unzulängliche  der 
von  Retzius   angewandten  Begriffe    der  Dolichocephalie  und  Brach)  cephalie 
richtig  erkannt,  indem  er  in  Bezug  darauf  (jL  c.  p.  30)  bemerkt.    „Wie  kann 
denn    auch   ein  System   ein    ethnologisch  verwerthbares  Material  liefern,    das 
eine    allen  natürlichen  Verwandtschafts- Verhältnissen   so    offenkundig   wider- 
sprechende Gruppirung  der  Völker  aufstellt,  wie  die  von  Retzius  gegebenen." 
Vergleichen  wir  nun  aber  die  Resultate,  zu  denen  Aeby**)  selbst  gelangt  ist, 
so  finden  wir,  um  einzelne  Beispiele  hervorzuheben,  den  Chinesen  als  nächsten 
Verwandten   des  Neuholländ-jrs,    der  Däne    der  Steinperiode,   der  Hottentotte, 
Buschmann  und  Zigeuner  gehören  derselben  speciellen  Gruppe  an,  der  Grieche 
steht  neben  dem  Botocuden  und  der  Russe  nahe  bei  dem  Caraiben,  während 
der  Paraguaner  nicht  seinen  übrigen  Südamerikanischen  Stammesgenossen  zu- 
gezählt wird,  sondern  seinen  Platz  neben  der  Aegyptischen  Mumie  erhält.    Solchen 
Resultaten  gegenüber  wird  man  wohl  Bedenken  tragen  müssen,  die  Richtigkeit 
des  Princips,  welches  diesen  Gruppirungen   zu   Grunde   liegt,    anzuerkennen. 


*)  Die  Schädelformen  des  Menschen  und  der  Affen.     Leipzig  1867,  p.  38. 
**)  1.  c.  p.  38. 


201 

Man  wird  zugeben  müssen,  dass  damit  nur  eine  Classification  der  Hirnkapseln, 
nicht  aber  eine  solche  der  Menschenrassen  gegeben  ist.  Schon  oft  hat  man 
versucht,  ein  einzelnes  Moment  als  Prinzip  der  Classification  aufzustellen, 
aber  man  hat  ein  „System  der  Säugethiere  nach  dem  Gehirn"  <>der  „nach 
der  Placenta"  genannt,  was  in  Wirklichkeit  nur  eine  Eintheilung  der  Gehirne 
oder  Placenten  gewesen  ist. 

Es  ist  schon  oben  bemerkt  worden,  dass  die  Organe  der  Ernährung  und 
Bewegung  weit  brauchbarere  Charaktere  für  die  speziellen  systematischen 
Einheilen  liefern,  als  das  Nervenrohr.  Fs  wird  daher  auch  bei  Schädelmes- 
sungen zum  Zweck  der  Gruppirong  der  Menschenrassen  ein  grösseres  Ge- 
wicht auf  die  Verhältnisse  des  Gesichtsschädels  zu  legen  sein,  als  das  bisher 
geschehen  ist.  Schwerlich  wird  man  die  blosse  Schädelkapsel  eines  Hotten- 
totten als  solche  mit  Bestimmtheit  ansprechen,  während  Jemand,  der  dessen 
Gesichtsschädel  nicht  erkennen  oder  mit  dem  des  Zigeuners  verwechseln 
würde,  kaum  berufen  sein  dürfte,  in  ethnographischen  Fragen  sein  Urtheil 
abzugeben. 

Auf  den  nachstehenden  Tabellen  habe  ich  die  wichtigsten  Maasse  der 
beiden  Coroados-Schädel  mitgetheilt.  Dass  hierbei  auch  der  Gesichtsschädel 
mit  dem  Unterkiefer  berücksichtigt  worden,  wird  wohl  nach  dem  bereits  Ge- 
sagten keiner  besonderen  Rechtfertigung  bedürfen.  Als  Grundlinie  wurde  die 
Entfernung  des  Foram.  occ.  magn.  von  der  Sutura  nasofront.  angenommen, 
obschon  wegen  des  geringen  Vergleichungs:Materials  eine  Reduction  der  übri- 
gen Masse  auf  diese  Grundlinie  nicht  ausgeführt  worden  ist.  Diese  Grund- 
linie hat  hinreichende  Constanz  innerhalb  des  so  engen  Kreises,  in  dem  sich 
die  Unterschiede  der  Menschenrassen  bewegen.  Bei  Vergleichungen  allge- 
meineren Charakters,  wie  zwischen  Menschen-  und  Affenschädeln,  würde 
dieser  Grundlinie  eine  hinreichende  Beständigkeit  mangeln,  und  man  müsste, 
wie  dies  auch  Aeby  1.  c.  gethan  hat,  auf  jene  Grundlinien  zurückgreifen,  die 
den  Körpern  der  Schädel wirbel  mehr  oder  weniger  vollständig  entlehnt  sind. 

Maasse  der  Schädel  (in  Millimetern). 

a.     Hirntheil.  I         II 

1.  Von  dem  vorderen  Rande  des  Foram.  oeeip.  mag.  bis  zur  Sutura  nasofrontal.     100       100 

2.  Von  ebendaher  bis  zur  Mitte  des  Stirnbeins  (die  Horizontale  des  oberen  Ran- 

des der  Orbita  als  vordere  Grenze  desselben  gedacht)        ....     129       131 

3.  Von  ebendaher  bis  zum  vorderen  Ende  der  Sutura  sagittalis       .         .         .138       138 

4.  Von   ebendaher  bis   zur  Mitte   der  Sutura   sagittal.   (der   höchste  Punkt    des 

Schädels,  wenn  die  Grundlinie  (Nr.  1)  horizontal  steht)    .         .         .         .136       13" 

5.  Von  ebendaher  bis  zum  hinteren  Ende  der  Sut.  sagitt.       .         .  .         .     116       118 

6.  Von   ebendaher  bis  zu  demjenigen   Punkte  des   Hinterhauptes,    welcher  bei 

horizontaler  Stellung  der  Grundlinie  als  der  äusserste  erscheint         .         .01         99 

7.  Von  der  Sut.  nasofront.  bis  zum  hinteren  Rande  des  Foram.  oeeip.  mag.  nach 

der  Krümmung  des  Schädels  mit  einem  Faden  gemessen  .         .         .     373       365 

8.  Von  ebendaher  bis  zum  Anfange  der  Sut.  sagittalis  .         .         .         .         .      124       131 

9.  Von  da  bis  zu  deren  Ende 131       119 


1 18 

115 

185 

178 

145 

13G 

104 

100 

320 

330 

36 

3.» 

32 

31 ,5 

'202 


10.     Von   da    bis   /um    hinteren    Ramie  des  Foram.  ooc.  magn.  (8,  !)  u.   10  eben- 
falls nach  der  Krümmung  gemessen)       ....... 

ii.     Von  der  Glabella  bis  zu  nVro  äussersten  Punkte  des  Hinterhauptes  (vergl  6) 
l  -..     Grössb    Breite  rles  Schädels      ......... 

13.  Entfernung  der  Spitzen  der  Proc.  mastoid.  von  einander     .... 

14.  Vom  oberen  Rande  der  äusseren  Geböröffnung  Ins  zu  dem  der  anderen  Seite 

(über  die  Tub.  pariet.  gemessen)    .  ....... 

15.  Länge  des  Foram.  occ.  magnum       .         .  ..... 

16.  Breite1  desselben      ........... 

17.  Entfernung  der  äusseren  Gehöröffnungen  von  einander  (an  der  Interseite  des 

Schädels  gemessen)       .         .         .         .         .         .         .         -         •         .112       103 

b.     Gresichtstheil. 

1.  Grösste  Breite  an  den  Jochbogen      ........ 

2.  Vron  der  Sutura  nasofrontalis  Ins  zum  unteren  Rande  der  Nasenöffnung  (Aper- 

tura  pyriformis)  seitwärts  von  der  spina  nas.  ant. .  .... 

3.  Von  ebendaher  bis  zum  äussersten  Rande  des  Oberkiefers  zwischen  den  1  »ei- 

den  mittelsten  Schneidezähnen        ........ 

•!.  Höhe  der  Orbita,  ungefähr  in  der  Mitte  gemessen      ..... 

5.  Breite  der  Orbita    ........... 

ti.  Geringste  Entfernung  der  Orbiten  von  einander  .... 

7.  Von  dem  Aussenrande  der  einen  Orbita  in  grader  Linie  zu  dem  der  anderen 

8.  Länge"  der  Nasenbeine  (in  der  sagittalen  Naht  gemessen)     .... 
9  Ihre  Breite  am  freien  Ende  in  grader  Linie  gemessen  .... 

10.  Grösste  Br<  ite  der  Apertura  pyriformis      ....... 

11.  Länge  der  Naht,  welche  vorn  die  Oberkiefer  mit  einander  verbindet  (bis  auf 

die  obere  Seite  der  Spina  nas.  ant.  gemessen')  ..... 

12       Vom    unteren   Rande    der  Orbita    bis    zum   unteren    Rande    des  Joeht'ortsatzes 
des  Oberkiefers  etwas  nach  innen  vom  Tuber  zygomaticum 

13.  Vom  Tuber    zygomat.  der  einen  Seite  l>is  zu  dem  der  anderen  Seite   . 

14.  Breite   der  Oberkiefer   an   der  Aussenseite  der  Alveolen  des  ersten  Mahlzah- 

nes m  1      ........... 

15.  Vom  vorderen  Rande  des  Foram.  oeeip.  magn.  bis  Spina  nasalis  post. 

16.  Von  ebendaher  bis  zum   Ausschnitt  neben  dieser  Spina       .... 

17.  Von  ebendaher  bis  zum  hinteren  Ende  der  Sutura  incisiva 

18.  Von   eoendaher   bis  zum  vorderen  Ende  derselben  zwischen  den  beiden  mit- 

telsten Schneidezähnen  ......... 

id.     Von  ebendaher  bis  zur  spina  nas.  ant.     ....... 

20.  Von   ebendaher   bis   zum  unteren   Rande  der  Apertura  pyriformis  neben  der 

Spina  nas.  ant.     ...........        89         86, o 

21.  Von    ebendaher   bis  zu     iner  Querlinie,    welche  die  hinteren   Ränder  der  Al- 

veolen für  m  2  jederseits  mit  einander  verbindet      ..... 

22.  Von  der  Spina  nas    post.  bis  zur  Spina   nas    ant.       .  .... 

2:i.     Von    ebendaher    bis    zum    vorderen  Ende   der  Sutura    incisiva  zwischen  den 

mittelsten  Schneidezähnen      ......... 

24.  Breite  der  Choanen  am  hinteren  Rande  des  knöchernen  Gaumens  gemessen 

25.  Abstand    der    2  Mahlzähne,    m  2,  jeder  Seite   von    einander,    an  den  inneren 

Rändern  der  Alveolen  gemessen      .  .  .  .  .  .  .  .        —         41 

26.  Vom  hinteren   Rande  der  Alveole  des  m  2  bis  zum  vorderen  Rande  der  Al- 

veole des  vordersten  Prämolarzahnes  p  2  .  .  .  .  .  .       32, &       34 

27.  Von  der  Spitze  dei   Proc.  mastoideus  bis  zu  m  2,  an  der  Alveole  gemessen        70         70 

28.  Vom  Alveolar-Rande  des  Oberkiefers  zwischen  m  1   und  m2  bis  zum  unteren 

Rande  der  Orbita  ..........       44         43,5 


145 

133 

53,5 

51 

75 

70 

38 

36,5 

40 

38,5 

25 

27 

105 

104 

— 

21 

— 

14,5 

26 

25 

24,5 

22 

26 

22,5 

102 

104 

* 

58 

45,5 

46 

48,:* 

51 

62 

61 

100 

94 

92,5 

91 

56 

48 

47 

56 

49 

27 

29 

JIM 


c.     II  n  1  e  r  k  ie  fe  r. 


[        II 


l      Breite    des  Ramus    perpendicularis,   seukrechl    zu   seiner  Längsrichtung 

messen         .  .  .  .  .  .  .  .  .  .34,5 

2.  Vota   vorderen   Rande  der    Alveole   des  Zahnes   p  2    bis  zum  hinteren  R. 

des   Etam.   perpend.   in   der  Höhe  des  Alveolar  Randes  des  Unterkiefers  ge 

messen         .         .         .         .         .         .         •         •         ■         •         .         .        ■  i         70,5 

3.  \  im   ilrr  Querlinie,    welche    diese  Punkte  an  den  beiden  Ram.  perpend.  mit 

einander  verbindel  bis  zum  hinteren  Rande  iler  Alveolen  für  die  mittelsten 
Schneidezähne      ........... 

4.  Länge  dieser  Querlinie    .......... 

5.  Abstand  der  Gelenkköpfe  von  einander     .  ..... 

•'>.     Der  Querdurchmesser  eines  Gelenkkopfes  ....... 

7.  Grösste  Breite  der  [ucisura  sigmoidea       ....... 

8.  Von   dem  unter  Nr.  2   angenommenen  Punkte  am  hinteren   Rande  des  Rain. 

perpendic.  Ins  /.nm  Hinterrand  der  Alveole  des  letzten  Backenzahnes  m  3 
!'.     Entfernung  der  Prof.  coronoid.  von  einander     ...... 

10.  Vom   Angulus  |d.  h.    vom   unterem   Rande    des   Körpers  oder   Ram.    lioi  i/.ont.) 

bis  zur  Spitze  des  Proc.  eoron.        .  .  ..... 

11.  Von  ebendaher  ins  zur  [ncis.  sigm.  ....... 

12.  Von  ebendaher  bis  zum  höchsten  Punkt  des  Geleukkopfes 
13      Höhe  des  Ram.   horizont.  hinter  m  3  ...... 

14.  ,  ,  m  2 

15.  „  ,  ,,  in  1 

16  •         ,  „  ,  p  1  ... 

17-       „  ,  „  Pa  .       . 

in.  „  ,     zwischen  c  u.  p  2     . 

13.  „  „  „     zwischen  den   mittelsten  Sehneidezähnen 

20.  Länge  der  fünf  Backenzähne  (rechts    an  den  Alveolen  gemessen  . 

21.  Abstand  der  letzten  Backenzähne  m  3  von  einander  an  den  Alveolen  gemessen 

22.  Abstand  der  ersten    Backenzähne  p  i  von  einander      ..... 

23.  Breite  der  Sehneiden  der  4   Vorderzähne  ...... 

Zur  unmittelbaren  Vergleichung  lagen  mir  f>  männliche  Schädel  von  der  Berliner  Anatomi 

also  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  germanischen  oder  slavischen  Ursprungs,  vor.  Keiner  unter 
diesen  hat  einen  so  hohen  und  kräftigen  Unterkiefer  und  so  entwickelte  Wangengegend  wie  der 
Coroado  Nr.  1.  Doch  würden  sich  bei  grösserem  Material  ohne  Zweifel  auch  bald  solche  Schä- 
del finden,  die  ihn  darin  nicht  bloss  erreichten,  sondern  noch  überträfen.  Der  Coroado  Nr.  !1 
liegt  aber  vollkommen  innerhalb  des  Typus,  den  jene  Schädel  repräsentiren.  Nur  ist  bei  ihm 
wie  auch  bei  iNr.  I  der  untere  Rand  des  Proc.  zygoin.  des  Oberkiefers  bogenförmig  verlaufend, 
während  bei  den  5  Berliner  Schädeln  der  Proc.  niedriger  und  daher  am  unteren  Rand  mehr 
winklig  ausgeschnitten  ist.  Einer  dieser  Schädel,  die  meistens  orthognath  sind,  ist  aber  sehr 
schiefzähnig  und  erreicht  hierin  vollkommen  die  Coroados.  Ich  glaube  daher  nicht,  ilass  man 
im  Stande  ist,  irgend  ein  specifisches  Merkmal  für  die  Schädel  der  Coroados  aufzufinden,  und 
dass  dieselben,  namentlich  der  Schädel  Nr.  11,  ebenso  gut  als  germanische  angesprochen  werden 
konnten.  Es  liegt  daher  auch  kein  Grund  vor,  jenen  Indianerstamm  uns  gegenüber  als  eine  be 
sondere  Species  im  Sinne  der  systematischen  Zoologie  zu  betrachten. 


77 

74 

104, 

104 

83 

83 

21 

21, 

25  5 

II 

40,5 

40 

108 

10S 

72 

72 

54 

54 

75 

7i'. 

32, 

32,; 

:;■; 

32 

34 

34 

36 

35 

37 

37 

37 

36,5 

36 

35.. 

45 

47 

54, 

53 

30 

30 

23 

23 

Taf.  VII. 

Eig.   1.     Schädel  des  Coroado  Nr.   1. 
Fig.  2.     Schädel  des  Coroado  Nr.  II. 


204 


Der  Uglei. 

(Zur  Kunde  und  Vorgeschichte  des  ostholsteinischen  Seegebietes.) 

Von  den  zahlreichen  ostholsteinischen  Seen  erfreut  sich  keiner  eines  sol- 
chen allgemeinen  Ansehens  wie  der  eine  Meile  nördlich  von  Eutin,  im  olden- 
burgischen Fürstenthuni  Lübeck  belegene  Uglei-See,  kurzweg  der  Uglei 
genannt  Es  ist  nicht  Grösse,  die  ihn  auszeichnet,  denn  hierin  übertreffen 
der  Plöner.  Selenter,  Waterneversdorfer,  Keller  und  Eutiner  See  ihn  bei  Wei- 
tem, sondern  die  vorzügliche  Anmuth  seiner  Lage,  die  Schönheit  seiner  Uler 
und  vor  Allem  die  geschäftige  Sage,  welche  seinen  dunkeln  Wasserspiegel 
mit  dem  Reize  des  Geheimnissvollen  umkleidet.  Viele  Mitglieder  der  Philo- 
logen-Versammlung, welche  1869  in  Kiel  tagte,  haben  auf  einer  Extrafahrt, 
die  nach  Eutin,  der  Geburtsstätte  Carl  Maria  von  Webers  veranstaltet  wurde, 
den  Uglei  besucht  und  seinen  Eindruck  als  eine  werthe  Erinnerung  und  mit 
ihr  zugleich  eine  Ahnuug  der  Naturschönheiten,  welche  das  östliche  Holstein, 
diese  freilich  abseits  der  Hauptpulsader  belegene  und  im  übrigen  Deutsch- 
land so  gut  wie  unbekannte  Halbinsel  birgt,  in  ihre  Heimath  mitgenommen. 

Auf  jene  dem  Erdkundigen,  dem  Naturforscher  und  dem  Alterthümler 
noch  manche  Ausbeute  verheissende  Gegend  wollen  diese  Zeilen,  welche  zu- 
nächst dem  vom  Verfasser  wiederholt  in  den  Jahren  1868  und  1869  unter- 
suchten Uglei  gewidmet  sind,  zugleich  mit  aufmerksam  machen. 

Hydrographisch  interessant  ist  der  Uglei,  indem  er,  obwohl  nicht  3  Mei- 
len von  der  Neustädter  Bucht  belegen,  zu  dem  ostholsteinischen  Seegebiet 
gehört,  welches  mittels  der  Wilsau  und  Schwentine  in  die  Kieler  Bucht  ab- 
fliegst.    So  liegen  über  den  Ostsee-Spiegel: 

der  Stendorfer  See     ....     etwa  116  Fuss 
„     Sibbersdorfer  See    ...         „100       „ 
„     grosse  Eutiner  See      .     .         „       96       „ 

„     Uglei „       90       „ 

„     Keller-See „       86       „ 

„     Diek-See „       84       „ 

„     Behler-See „       82       „ 

„     grosse  Plöner-See  ...  80       w 

„     Lanker  See „       73       „ 

„     Post-See „       65       „ 

Ist  die  Tiefe  des  Uglei  so  bedeutend,  wie  man  behauptet,  und  wie  eine 
solche  bei  vielen  holsteinischen  Seen  in  der  Gegend  von  Segeberg  beobachtet 
wird,  wo  namentlich  flache  Gründe  mit  jähen  Abstärzen  der  Seeboden  wech- 


205 

sein,  so  bietet  der  Untergrund  der  Gegend  hierzu  eine  Erklärung.  Er  be- 
steht gerade  wie  in  der  Mark  Brandenburg  zum  TheiJ  aus  Gyps-,  Kalk-  und 
Salzlagern,  und  es  ist  den  Geologeu  eine  wohlbekannte  Thatsache,  dass  zu 
den  den  Gyps,  den  Kalkstein,  das  Kreide-  und  Salzgebirge  besonders  be- 
zeichnenden Erscheinungen,  die  oft  ziemlich  tief  im  Boden  vorhandenen,  an 
Gestalt  und  Grösse  sehr  mannigfachen  Höhlungen  (Kalk-  und  Gyps-Scblotten) 
und  die  unmittelbaren  Begleiter  derselben,  die  über  den  Höhlen  oder  in  der 
Nähe  ihrer  Züge  vorkommenden  Erdfälle,  gehören.  Letzter. •  haben  nur 
zwei  ganz  entschiedene  und  immer  wiederkehrende  Formen;  sie  sind  entwe- 
der trichterförmig  oder  verkehrt  kegelförmig,  zum  Tlieil  einen  umgekehrten 
abgestumpften  Kegel  darstellend,  oder  sie  sind  kesseiförmig  mit  scharfen  Rän- 
dern. Sodann  zeigen  sich  die  Erdfälle  theils  als  trockne  Gj  üben  oder  Ein- 
senkungen  des  weiteren  Seebodens,  theils  als  kleine  runde  für  sich  abge- 
schlossene Seen,  deren  ganze  Umgegend  zuweilen  flach  ist  und  deren  Ufer 
meist  in  der  Waage  mit  der  Wasserfläche  steht,  die  aber  dessenungeachtet 
fast  ohne  Vorland  schroff  bis  zu  einer  bedeutenden  Tiefe  abfallen  und  auf 
dem  Grunde  voll  Holz  liegen.  (Vgl.  Berghaus:  Landbuch  der  Mark  Bran- 
denburg. I.  1854.  S.  73.)  Solche  Erd-  und  Seefälle  sind  noch  in  histori- 
scher Zeit  vorgekommen,  ereignen  sich  bei  uns  noch  hie  und  da,  und  mögen 
mit  Veranlassung  zu  den  schauerlichen  Namen,  den  solche  Seelöcher  mitunter 
führen,  gegeben  haben. 

Der  Uglei  wird  durch  ein  Rinnsal  vom  Lebeben-See  gespeist,  während 
er  selbst  wieder  Abfluss  nach  dem  Keller-See  nimmt.  Er  bildet  in  ostwest- 
licher Richtung  etwa  ein  Eirund,  hat  meist  Sand-,  an  einigen  Stellen  Moor- 
Boden  und  weiches  Wasser,  was  indessen  meist  dunkel  erscheint,  da  die 
Ufer  zum  Theil  steil  und  mit  hohen  Buchen  bestanden  sind,  die  hier  in  üp- 
piger Fülle,  wenn  auch  nicht  in  solcher  Masse  vorhanden  sind,  wie  in  den 
Zeiten,  wo  nach  Rantzow  in  den  Rendsburger  Holzungen  jährlich  14,000,  in 
den  Waldungen  um  Segeberg  über  19,000,  in  denen  von  Bordesholm  10,000, 
von  Reinfeld  8000,  von  Ahrensbök  4000,  in  manchen  Gehölzen  auf  Alsen 
über  5000,  und  auf  Kekenis  17,000,  endlich  in  den  fürstlich  Gottorfer  Hol- 
zungen '.  0,000  Schweine  Mast  fanden  und  wo,  wie  der  alte  Neocorus,  der 
Chronist  der  Dithmarsen  berichtet,  ein  Eichhörnchen  von  Meldorf  im  Westen 
bis  zu  den  Grenzpfählen  im  Osten  auf  eitel  Bäumen  springen  möchte,  ohne 
den  Boden  zu  berühren. 

Dieser  Waldkranz  giebt  dem  Uglei  eine  feierliche,  fast  schauervolle  Um- 
gebung, die  an  den  Baa-See  bei  Freienwalde  a.  O.  und  den  Hertha-See 
auf  Rügen  erinnert,  welche  beide  ebenfalls  ein  Buchenhain  umfasst  und  ein 
reicher  Sagenschatz  schmückt.  An  Majestät  überragt  der  Hertha-See,  den 
seine  abgerundetere  Form  auszeichnet,  freilich  beide. 

Der  Uglei  gehört,  antiquarisch  betrachtet,  zu  der  Klasse  von  Landseen, 
die  im  Brandenburgischen  und  anderen  Theilen  des  deutschen  Nordens  nicht 
selten  bedeutsame  Namen,  als:    der  heilige  See,    der  Heiden-See,    der 


206 

Burgsee,  der  Teufels-See,  die  Hölle,  die  blanke  Hölle,  der  Gott- 
seibeiuns u.  s.  \v.  zu  führen  pflegen  und  dem  Alterthumsforscher  längst  als 
Sitze  vorgeschichtlicher  Cultur  bekannt  sind.  Es  sollen  diese  Bezeichnungen 
auf  alte  Cultusstätten  hinweisen,  die  ihren  geweihten  Namen  dann  behielten, 
wenn  christliche  Ansiedlungen  (Einsiedeleien,  Kapellen,  Kirchen,  Klöster)  an 
ihre  Stelle  traten,  entgegengesetzten  Falls  jedoch  von  den  christlichen  Send- 
boten als  verfluchte  und  dem  Teufel  verfallene,  sowie  als  Eingänge  zur  Hölle 
dienende  heidnische  Oertlichkeiten  gebrauutmarkt  wurden.  Kundliche  Gestalt, 
hohe  Ufer,  sumpfiger,  schwarzer  Grund  und,  wo  die  Axt  noch  nicht  um  sich 
gefressen,  stattlicher  Eichen-  oder  Buchenwuchs  eignet  diesen  stillen,  strom- 
losen Wassern,  deren  Spiegel  jetzt  nicht  selten  bereits  derartig  eingeschrumpft 
ist,  dass  er  nur  noch  als  Weiher  oder  Teich  gelten  kann.  Die  Sage  macht 
diese  Seen  grundlos,  lebende  Thiere,  namentlich  Fische,  sollen  in  ihnen  nicht 
hausen.  Grundlos  soll  der  Hertha  See  sein,  dessen  Tiefe  gleichwohl  mit 
50'  ausgelothet  zu  sein  scheint;  zahlreiche  Fische,  wie  ich  mich  selbst  über- 
zeugt, Frösche,  Tritonen,  Schnecken  und  Muscheln,  dagegen  keine  Krebse 
die  auf  ganz  Rügen  fehlen),  birgt  sein  Schooss.  —  Bei  Damsdorf,  nahe 
Plön,  soll  der  Teufelssee  grund-  und  fischlos  sein.  --  Der  Ramsee  in 
Schwansen,  auch  vom  Teufel  angelegt,  ist  unergründlich  und  enthält  kein 
lebendes  Geschöpf.  —  Unergründlich  ist  der  Teich  „blaue  Damm"  bei 
Flensburg,  wo  ein  gottloser  Ritter  mit  seinem  Schloss  versank.  Aehnlich 
sind  der  kleine  See  bei  Segeberg  und  derKuhlsee  nicht  weit  von  der- 
selben Stadt  unergründlich  tief  und  vom  Teufel  angelegt.  (Vgl.  Müllenhoff: 
Sagen,  Märchen  und  Lieder  der  Herzogthümer  Schleswig,  Holstein  und 
Lauenburg.) 

So  soll  auch  der  Uglei  unergründbar  uud  fischlos  sein.  Leider  besteht 
auch  hier  der  Volksmund  vor  dem  Naturkundigen  nicht.  In  den  Theilen  sei- 
nes Grundes  welche  moorfrei,  kiesig  und  fest  sind,  bemerkte  ich  zahllose 
Muscheln  (Unio  tumidus  und  Anodonta  piscinalis)  eingebohrt;  an 
Steinen  haften  zierlich  gebänderte  Neritinen  und  Napfschnecken  (An- 
cylus  lacustris),  während  an  den  verschlungenen  Ranken  von  Myriophyl- 
lum  und  C  eratophyllum  zahlreiche  Planorben,  Physen,  Paludinen 
und  Limnäen  berumkletterten*).  Ein  Kieler  versicherte  mir  Fische  (Aale?) 
im  Uglei  gefangen  zu  haben,  wie  denn  sein  Name  schon  auf  einen  Fisch 
weist,  den  Ugley,  Ukley,  lkley,  Ykley,  auch  dreisylbig  geschrieben, 
(Uklea  auf  Russisch),  die  slavische  Bezeichnung  des  Weissfisches  (Al- 
b  u  in  us  lucidu  s). 

Zwar  sagt  P.  H.  K.  v.  Mauck  (Urgeschichte  des  Schleswig-Holsteinischen 
Landes.     I.     2.   Aufl.    S.    101):    „Was   bedeutet  das  Wort  Ugley?     Die  erste 


')  Lieber  die  Fauna  des  Ugley  vergleiche  meine  Aufsätze:  Zur  Kunde  der  Weich  thiere 
Schleswig-Holsteins,  in  den  Alalaeozoologischen  Klätteru  für  1869,  S.  30  uud  den 
2.  Nachtrag  dazu  im  Jahrgang  187U. 


207 

Sylbo  dos  Wortes  kommt  in  mehreren  Ortsnamen  des  Landes  vor,  /..  B.  die 
Uggel-Harde  (im  Amte  Flensburg),  das  ehemalige  Kirchdorf  Huglstedt,  das 
Wort  ist  keltisch  und  entspricht  dem  deutschen  Hügel;  die  zweite  Sylbe  ey 
bedeutet  Insel,  also  ist  Ugley  die  Hügclinsel."  -  Allein  diese  Erklärung  --r- 
schein!  eine  höchst  gezwungene,  wogegen  bekannl  ist,  dass  die  Slaven,  in 
Sonderheit  die  Wenden,  welche  recht  eigentlich  ein  Fischervolk  sind,  und 
sich  ;ds  solches  uoch  Lange  auf  den  sogenannten  K  i .-t x*-n  abgesondert  von 
den  deutschen  Einwanderern  erhalten  haben,  zahlreichen  Seen,  nach  den  darin 
befindlichen  Fischen,  Namen,  die  noch  heut  gelten,  verliehen  haben.  So  fal- 
len mir  im  Augenblicke  <'in:  die  Ugley-Pfuhle  /.wischen  Rixdorf  und 
Sc-hmökewitz  (2  Meilen  südöstlich  von  Berlin),  der  Ugley-Fluss,  Ugley- 
See  (kurzweg  der  Ugley  genannt)  und  das  Korst  haus  zum  Ugley 
Qj  Meilen  südöstlich  von  dem  letztgenannten  Dorf),  die  Plötzen-Seen,  bei 
Ratzeburg  im  Lauenburgschen ,  bei  Berlin  und  bei  Biesenthal 
(3J£  Meile  nördlich  von  Berlin)  von  dem  bekannten  Fisch  Leuciscus  ruti- 
lus  (Plotiza  auf  Kussisch),  der  Karutz-See  (eine  Meile  südlich  der  Rü- 
dersdorfer  Kalkberge),  der  Karass-See  (eine  Meile  südlich  von  der  Stadt 
Storkow  in  der  Mark)  von  der  Karausche  [böhmisch  Karassek],  Caras- 
sius  vulgaris,  also  benannt.  -■  Hierzu  kommt,  dass  nicht  das  umliegende 
Land,  wie  man  nach  v.  Maack's  Deutung  erwartet,  sondern  der  See  den  Na- 
men Ugley  führt. 

Die  germanischen  Eroberer  haben  häufig  die  slavischen  Fischnamen  all- 
mählig  reeipirt,  was  um  so  leichter  geschah,  als  die  Slaven  keineswegs  aus- 
gerottet, vielmehr  nur  amalgamirt  wurden  und  lange  Zeit,  hier  und  da  bis 
heutigen  Tags,  die  Haupt-Fischlieferanten  für  die  deutsche  Bevölkerung  ge- 
blieben sind*).  Die  Kämpfe  zwischen  Deutschen  und  Slaven  waren  aber  in 
der  ostholsteinischen  Seegegend  gerade  sehr  erbittert,  es  bieten  die  dortigen 
Vorgänge  wiederum  einen  der  mehrfachen  parallelen  Züge  zu  der  noch  so 
vielfach   im  Dunkel  gehüllten  deutschen  Colonisation  der  Mark  Brandenburg. 

Albrecht  der  Bär,  der  i.  J.  1144  den  Namen  eines  Markgrafen  von  Bran- 
denburg annahm,  1157  Brennibor  eroberte,  colonisirte  hierauf  (etwa  gegen 
1162)  das  Land  Spirawani  (Spreegau)  mit  Deutscheu.  „Er  unterjochte, 
schreibt  Helmold  in  der  Chronik  der  Slaven,  das  ganze  Land  der  Brizanen, 
der  Stoderanen  und  vieler  Völker,  welche  an  der  V  vel  und  Elbe  wohnten, 
und  zügelte  die  Aufsässigen  unter  ihuen.  Zuletzt,  da  die  Slaven  allmählig 
verschwanden,  schickte  er  nach  Utrecht  und  den  Rheingegenden,  ferner  zu 
denen,  die  am  Oceau  wohnen  und  von  der  Gewalt  des  Meeres  zu  leiden  ha- 
ben, nämlich  zu  den  Holländern,  Seeländern  und  Flämingeru.  und  zog  von 
dort  gar  viele  Ansiedler  herbei,  die  er  in  den  Städten  und  Flecken  der  Slaven 
wohnen  Hess". 


")  Das  merkwürdige  in  den  Hauptwendenstädten  Spandau,  Potsdam,  Cöpenick  und 
Brandenburg  noch  bestehende  Institut  der  Pritzstapel  (Wasservögte)  beweist  noch  heut 
die  Wichtigkeit  des  altwendischen  Fischergewerbes. 


208 

Aehnlich  machte   es  Graf  Adolf  von  Holstein   mit  dem  ostholsteinischen 
Seegebiet.     „Weil   das  Land   menscheuleer    war,   so   sandte   er  Boten  aus  in 
alle  Lande,    nach  Flandern  und  Holland,  nach  Utrecht,  Westfalen  und  Fries- 
land,  und  Hess  alle  die,  welche  um  Land  verlegen  waren,  auffordern,  mit  ihren 
Familien  hinzukommen,  sie  würden  sehr  gutes,  geräumiges,  fruchtbares,  Fisch 
und  Fleisch  im  Ueberfluss  darbietendes  Land  und  vorteilhafte  Weiden  erhal- 
ten.     Den  Holzaten  und  Sturmaren  liess  er  sagen:  „Habt  ihr  nicht  das  Land 
der   Slaven   unterworfen    und   es   mit   dem  Blute   eurer  Brüder  und  Väter   er- 
kauft?    Warum  säumt  ihr  es  in  Besitz  zu  nehmen?     Seid  die  Ersten  in  das 
erwünschte  Land  hinüber  zu  wandern,  und  bewohnt  es,    und  nehmt  Theil  an 
den  Genüssen  desselben,   da  Euch   das  Beste    davon   gehört,    weil   ihr  es  aus 
Feindeshand  gerissen  habt."  -    Diesem  Aufruf  folgend  erhob  sich  eine  unzäh- 
lige   Menge   aus   verschiedenen  Völkern,    und   sie   kamen  mit  ihren  Familien 
und  mit  ihrer  Habe  ins  Land  der  Wagrier  zum  Grafen  Adolf,  um  das  Land, 
das   er  ihnen   versprochen  hatte,    in  Besitz   zu  nehmen.     Zuerst  erhielten  die 
Holzaten  Wohnsitze  an  sehr  sicheren  Orten  im  Westen  bei  Segeberg  an  der 
Trave,    auch    das   Schwentinethal    und  Alles    was   sich   vom  Sualenbache  bis 
nach  Agrimesau   und  bis  zum  Plönersee   erstreckt.     Das  Darguner  Land  be- 
zogen   die    Westfalen,    das   Eutiner   die   Holländer,    Süssel   die  Friesen.     Das 
Plöner  Land  war  noch  unbewohnt".     (Helmold  a.  a.  0.  I.  57.) 

Zuvor  war  das  ostholsteinische  Seegebiet,  wie  es  scheint,  bis  zu  den 
letzten  sächsichen  Kaisern  bereits  germanisirt  gewesen,  die  deutsche  Bevölke- 
rung aber  nachmals  verdrängt  worden.  „Noch  giebt  es,  schreibt  um  1172 
Helmold,  der  selbst  in  jenem  Seegebiete,  nämlich  zu  Bosow,  einem  wagri- 
schen  Kirchdorf  am  grossen  Plöner  See,  Pfarrer  war,  mehre  Spuren  jener 
alten  Bevölkerung,  zumal  in  dem  Walde  der  sich  von  der  Stadt  Lütjenburg*) 
in  sehr  weiter  Ausdehnung  bis  Schleswig  hin  erstreckt.  Die  weite  Einsam- 
keit und  das  tiefe,  fast  undurchdringliche  Dickicht  desselben  bieten  noch 
Gränzlinien  dar,  durch  welche  •  einst  die  einzelnen  Aecker  abgetheilt  waren. 
Auch  die  Anlage  von  Städten  oder  festen  Orten  ergiebt  sich  aus  dem  Bau 
der  Wälle.  Ebenso  zeigen  sich  die  Dämme,  welche,  um  das  Wasser  zum 
ßehufe  der  Mühlen  aufzustauen,  an  den  meisten  Bächen  aufgeführt  sind,  dass 
jener  ganze  Wald  einst  von  Sachsen  bewohnt  war."  (a.  a    O.  I.   12.) 

Diese  Stelle  ist  äusserst  wichtig,  weil  sie  klar  zeigt,  zu  wie  verschiede- 
nen Zeiten  wir  uns  die  Entstehung  der  alten  Erdaufwürfe,  Burg- 
wälle u.  s.  f.,  an  denen  sich  noch  heut  die  Forscher  abquälen,  zu  denken 
haben.  Und  merkwürdiger  Weise  fanden  die  von  dem  Askanier  Albrecht  in 
die  Marken  gerufenen  niederdeutschen  Siedler  ähnliche  Werke  germanischer 
Vorbevölkerung  bei  ihrem  Einzüge,  zumal  in  der  Alt-Mark,  vor,  was  Helmold 
(a.  a.  O.  I.  88)  bezeugt.    Man  sieht,  wie  bequem  es  sich  diejenigen  machen, 


•)  Bei  Lütjenburg  habe  ich    verschiedene   grosse  HfinonpTäber  von  schöner  Glockenfonn  be- 
merkt, /.um  Theil  nach  Rügenscher  Art  mit  Eichen  bestanden. 


209 

welche  diese  Dämme  und  Verwallungen  kurzweg  den  Slaven  zuschreiben. 
Dem  Geschichtsschreiber  der  Slaven,  der  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts, 
mitten  unter  slavischer,  zum  Theil  noch  heidnischer  Bevölkerung  lebte,  der 
über  Land  und  Volk  genaue  Kunde  sammelte,  erschienen  jene  zum  Theil  ge- 
waltigen Erdwerke,  bereits  als  stumme  Zeugen  längst  vergangener  Zeiteil, 
längst  verstorbener  Völker.  —  Oskar  Schuster,  der  in  seiner  Schrift  über  die 
alten  Heiden  schanzen  Deutschlands  (Dresden  bei  Türk,  1869,  gr.  8.) 
die  letzteren  fast  ausschliesslich  Deutschen  zueignet,  jedoch  die  von  uns  an- 
geführten wichtigen  Belagsstellen  nicht  zu  kennen  scheint,  erhält  durch  diese 
eine  wenigstens  theilweise  und  locale  Bestätigung  seiner  Hypothese.  —  Schanz- 
züge jener  Art  finden  sich  auch  in  der  Nähe  unseres  Uglei. 

Der  Uglei-See  würde  zu  dem  Gebiete  der  sechs  Nerthus- Volke  r 
des  Tacitus  gehören,  wenn  v.  Maack's  Annahme  (a.  a.  0.  S.  54),  dass  01- 
denburg-Fe  hm  am  die  lange  vergeblich  gesuchte,  im  grauen  Alterthum 
hochheilig  gehaltene  Nerthus-  (Hertha-Insel,  und  der  vier  Meilen  vom 
Uglei  entfernte  ehemalige  Siggen-See  der  Nerthus-  (Hertha-)  See  ist, 
zutrifft.  In  der  Slavenzeit  wurde  in  der  Nähe  des  wagrischen  Uglei  verehrt 
Prove,  recht  eigentlich  der  Nationalgott  des  Stargarder  (Oldenburger) 
Landes,  wie  Siwa,  als  Göttin  der  benachbarten  Polaben  und  Radi  gast 
als  Gott  der  Obotriten  (Mecklenburger).  „Diesen  waren,  belehrt  uns 
Helmold  (I.  52)  Priester  geweihet  und  wurden  besondere  Opfer  dargebracht, 
und  man  verehrte  sie  auf  mancherlei  Weise.  Ferner  macht  der  Priester  nach 
Anweisung  des  Looses  Anzeige,  welche  Feste  den  Göttern  zu  feiern  seien. 
Dann  kommen  Männer,  Frauen  und  Kinder  zusammen  und  bringen  ihren 
Götzen  Opfer  dar,  bestehend  in  Rindern  und  Schafen;  ja  sehr  Viele  opferu 
auch  Menschen,  Christen  nämlich,  weil  sie  erklären,  am  Blut  derselben  hät- 
ten die  Götter  Wohlgefallen.  Nachdem  das  Opferthier  getödtet  ist,  kostet 
der  Priester  von  dem  Blute  desselben,  um  sich  zum  Empfange  göttlicher  Wei- 
sungen mehr  zu  befähigen.  Denn,  dass  die  dämonischen  Wesen  durch  Blut 
leichter  anzulocken  sind,  ist  die  Meinung  Vieler.  Wenn  dann  das  Opfer  dem 
Brauche  gemäss  vollzogen  ist,  so  wendet  sich  das  Volk  wieder  zu  Schmaus 
und  Freude."  —  Eine  solche  Opferstätte  und  vielleicht  die  wichtigste  des 
ganzen  Landes,  liegt  eine  Meile  nordöstlich  vom  Uglei,  der  Rungs-Berg, 
mit  554  Fuss  der  höchste  Berg  Holsteins,  von  dessen  Aussichtsthurm  ich  eine 
der  schönsten  Aussichten,  welche  Norddeutschland  bietet,  genossen. 

Von  all  jenen  düsteren  Seen,  zu  deren  Klasse  der  Uglei  gehört,  gehen 
düstere  Mähren  und  Sagen.  Gottlose  Städte,  Schlösser  und  Dörfer  sind  in 
ihnen  versunken,  Kirchen,  deren  Thürme  man  wohl  ab  und  zu  noch  sieht, 
(Irren  Glocken  noch  hin  und  wieder  mahnend  ertönen.  Wälder  wurzeln  auf 
ihrem  Grunde,  an  denen  der  Fischer  nicht  selten  seine.  Netze  zerrissen  haben 
will.  Die  wenigen  bis  jetzt  vorgenommenen  Untersuchungen  solcher  Gewäs- 
ser haben  in  der  Thal  tust  immer  vorgeschichtliche  Menschenspureu  in  ihnen 
entdeckt,  hie   und  da   Pfahl-  oder   luselbauten,   wie  auch  an   ihren    Ufern   niclil 

Zeitschrift  für  Elhuologio,  Jahrgang  187U  .r 


210 

selten  Opferblöcke,  Steine  mit  Fusstapfen  und  ähnlichen  Zeichen  (beides  am 
Hertha-See  bei  Stubbenkammer),  Graburnen,  Scherben,  steinerne,  thönerne 
und  erzene  Geräthe,  Thierknochen  u.  a.  m.  gefunden  worden.  Sie  sind  alle 
gründlicher  Nachforschung  dringend  zu  empfehlen. 

Vom  Uglei  berichtet  die  Sage:  „Oben  auf  dem  Hügel,  wo  jetzt  das  Som- 
merhaus steht,  stand  früher  eine  Burg,  in  der  ein  junger  schöner  aber  wilder 
Ritter  hauste".  —  Er  habe  einem  Bauermädchen  die  Ehe  versprochen,  aber 
eine  Grälin  geheirathet.  Die  Kapelle  sei  bei  der  Trauung  unter  Donner  und 
Blitz  versunken  und  der  See  entstanden.  —  „Nur  der  Prediger,  die  Braut 
und  ein  kleines  unschuldiges  Mädchen,  die  auf  die  hölzernen  Stufen  des  Al- 
tares getreten  waren,  wurden  gerettet.  Zuweilen  aber  bei  stillem  Wetter  klingt 
noch  der  Ton  des  Glöckleins  der  Kapelle  aus  dem  Wasser  herauf".  (Preetzer 
Wochenblatt,  1831,  Nr.  46,  47  u.  48).  Dichterisch  bearbeitet  sind  die  Sagen 
vom  Uglei  neuerlich  von  Christian  Rode  (Der  Uglei-See.  Altona  1869.  Lehni- 
kuhl  u.  Co.     8.     15  sgr) 

Der  Hügel  am  Westufer  des  Sees,  mit  dem  gedachten  Sommerhause,  zeigt 
Spuren  menschlicher  Umformung,  bei  einer  flüchtigen  Nachgrabung  im  Hügel, 
ingleichen  an  seinem  Fuss  im  See  begünstigt  durch  den  ungewöhnlich  niedri- 
gen Wasserstand  des  Sommers  1808  fand  ich  mehre  Steinwerkzeuge,  als 
prismatische  Messer,  Meisselfragmente,  Schaber  und  Kieselabsplisse,  ähnliches 
Geräth  im  Jahre  1869  in  der  Nähe  des  Uglei  auf  dem  Wege  zum  Keller  und 
Plöner-See.  Der  See  wie  der  bezeichnete,  eigentümlich  gestaltete  Hügel 
scheinen  hiernach  eingehenderer  Untersuchung,  gewähre  sie  auch  nur  ein 
negatives  Resultat,  wohl  werth.  Möge  eine  solche  jetzt,  wo  das  östliche  Hol- 
stein, von  Norden  her  durch  die  Kiel-Neustädter  Bahn  zugänglich  ist  und 
auch  von  Süden  her  durch  die  Lübeck-Eutiner  Bahn  geöffnet  wird,  nicht  zu 
lange  auf  sich  warten  lassen.  Als  trefflicher  Leitfaden  in  jenem  Seegebiet 
kann  empfohlen  werden:  Bruhns,  Führer  durch  die  Umgebungen  der  osthol- 
steinischen  Eisenbahn.  (Eutin,  1868,  8.  1  Thl.) 
Berlin,  "23.  Februar  1870. 

Ernst  Friedel. 


211 


Studien  zur  Geschichte  der  Efansthiere. 

Von  Robert  Hart  mann. 
V.   Das  Rennthier. 

Das  Renn  tili  er  (Cervus  tarandus  Lin.)  ist  bekanntlich  eines  derjenigen 
Geschöpfe,  von  denen  es  sehr  wohl  bekannt,  dass  sie  direct  aus  dem  wil- 
den in  den  domesticirten  Zustand  übergeführt  worden,  welcher  Vorgang,  schon 
vor  Alters  begonnen,  auch  heut  noch  fortgeführt  wird.  Wir  haben  es  hier 
nicht  nur  mit  einer  durch  Menschenkunst  bewirkten  ephemeren  Z  äh  m  u  n  g,  son- 
dern mit  einer  wirklichen  Domesticirung  eines  ursprünglich  wilden 
8  äuget  hie  res  zu  thun. 

Das  Rennthier  gewinnt  eine  täglich  sich  mehrende  Bedeutung  für  unsere 
vorgeschichtlichen  Untersuchungen.  Schreiber  Dieses  hielt  es  daher  für  nicht 
unangemessen,  seine  unter  obigem  Titel  begonnenen  Arbeiten  über  Hausthiere 
zunächst  mit  einer  Betrachtung  eines  jetzt  gerade  in  anthropologischer 
Beziehung  so  vielgenannten  Geschöpfes  fortzusetzen.  Zwar  kennt  Verfasser 
selbst  das  Rennthier  nur  nach  in  Menagerien  uud  zoologischen  Gärten  ge- 
haltenen Exemplaren,  hofft  aber  trotzdem  mit  der  hier  folgenden  Zu sammen  - 
Stellung  das  Interesse  des  Lesers  anregen  und  weiter  auf  den  betreffenden 
Gegenstand  hinlenken  zu  können,  welcher  zugleich  einen  Anknüpfungspunkl 
an  den  in  Aussicht  gestellten,  zweiten  Aufsatz  über  Pfahlbauten  u.  s.  w. 
gewähren  wird. 

Das  Renn-  oder  Renthier,  auch  kurzweg  Renn  oder  Ren*)  genannt, 
dessen  äussere  Form  und  dessen  Stellung  im  Systeme  ich  als  bekannt  vor- 
aussetze, erreicht  im  Allgemeinen  eine  Körperlänge  von  A\ — 6',  eine  Schul- 
terhöhe von  2'  8"  —  3'  4".  Die  Farbe  hält  sich  bei  den  wilden  Individuen 
(wie  bei  wilden  Säugethieren  überhaupt)  in  constanterer  Weise,  d.  h.  graufahl, 
bei  gezähmten  dagegen  variirt  sie  ungemein,  von  Graufahl  in  Graugelb,  Grau- 
braun, Braunschwarz,  Schwarz,  Hellgrau  und  Weiss.  Leichtere  Farbenunter- 
schiede bringt  überdies  der  Wechsel  des  Sommer-  und  Winterhaares  mit  sich. 
Pas  bekanntlich  beiden  Geschlechtern  dieser  Thiere  zukommende,  wiewohl 
beim    9    schwächer   entwickelte  Geweih**)   bietet  hinsichtlich  der  Grösse  und 

*)  Schwcd.  Reen,  angelsächs.  hrän,  engl  Rein  (-Deer),  daher  am  richtigsten  eigentlich 
Renthier  zu  schreiben.  Indessen  hat  sich  die  usuelle  Schreibweise  Renn,  Rennthier 
bei  uns  hinlängliches  Bürgerrecht  erworben  und  kann  daher  auch  im  Vorstehenden  beibehalten 
werden. 

"')  Bei  den  Tscheremissen  soll  e*  ungeweihte  V  geben.  Bulletin  de  la  Societe  des  natu- 
ral, de  Moscou,  1840,  p.  58.  Es  dürften  diese  übrigens  vielleicht  auch  an  noch  anderen  Oert 
lichkeiten  vorkommen  ? 

15* 


212 

Stellung  seiner  einzelnen  Sprossen  beträchtliche  individuelle  Abweichungen 
dar.  Gar  nicht  selten  wächst  der  rechte  erste  Spross  unregelniässig  über  Stirne 
und  Auge  hinüber,  ja  zuweilen  biegt  sich  eine  ganze  Stange  nach  einwärts 
und  vorwärts,  in  solchem  Falle  den  Kopf  vollständig  überdachend.  Eine 
höchst  augenfällige  Asymmetrie  bot  ein  im  zoologischen  Garten  zu  Brüs- 
sel gehaltener  Rennthierbock  dar,  welcher  im  Herbste  1863  nur  auf  einer 
Seite  aufgesetzt  hatte,  1864  auf  der  linken  Seite  einen  Augenspross,  auf  der 
rechten  eine  blosse  Stange  zeigte*).  Das  Thier  wirft  durchschnittlich  in  der 
Mitte  Winters  ab,  setzt  in  der  zweiten  Hälfte  des  Winters  auf  und  fegt  im 
Spätsommer.  Im  zoologischen  Garten  zu  Berlin  hatten  die  Rennthiere  um 
Mitte  August  1862  und  1864  noch  nicht  vollständig  gefegt.  Andere  1854  oder 
1855  in  Berlin  gezeigte  setzten  Anfangs  Februar  auf. 

Das  wilde  Rennthier  bewohnt  noch  gegenwärtig  den  Norden  der  alten, 
wie  der  neuen  Welt.  Iu  Europa  findet  es  sich  etwa  vom  60 — 61°  n.  Br.,  in 
Asien  vom  46°  (Sachalin  oder  Oko-Jeso)  ab.  In  Amerika  reicht  es  bis  zum 
80°  Br.  nordwärts,  südlich  reicht  es  bis  zum  50°  n.  Br.  und  selbst  noch  süd- 
licher. 

in  Norwegen  kommt  es  auf  den  Fjelds,  den  hohen  kahlen  Bergregionen, 
zwischen  2500 — 4000  Fuss  M.  IL  vor,  im  Dovre-Fjeld,  in  den  Aemtern  Söndre 
und  Nordie  Bergenhuus  u  s.  w.  A.  Brehm  schätzt  ihre  Anzahl  im  Dovre- 
Field  nach  Angabe  des  Jägers  Erik  Svensen  auf  noch  mindestens  4000 
Stück**). 

G.  Berna  und  seine  Begleiter  jagten  es  am  Sneehätten ***)  und  beobach- 
teten es  (wild)  am  Pippertindf).  Nach  Island  soll  das  Thier  erst  um  das 
Jahr  1770  von  Skandinavien  aus  eingeführt,  später  daselbst  aber  massenhaft 
verwildert  sein.  Im  letzteren  Zustande  soll  es  übrigens  nur  noch  im  Osten 
der  Insel  vorkommen  ff).  Auf  Spitzbergen,  woselbst  diese  Wiederkäuer  ganz 
wild  sind,  gewähren  ihnen  u.  A.  einige  schöne  moosige  Ebenen  und  Thäler 
an  der  Ostseite  des  Stourfjord's  Aufenthalt f ff).  Nach  Gh.  Martins  zeigen 
sie  sich  auf  dieser  Insel  nicht  in  grossen  Rudeln,  sondern  nur  in  kleinen, 
vereinzelten  Trupps*f). 


*)  Der  Zoologische  Garten.  1864,  S.  392.  Einzelne  andere  interessante  Abweichungen  hat 
Graf  Mellin  in  seiner  Geschichte  des  ltennes  zusammengestellt  (Schriften  der  Berlinischen  Ge 
Seilschaft  naturforschender  Freunde.  VI.  Bd.  G.  Cuvier  sagt  in  Bezug  auf  diese  Verhältnisse 
sehr  treffend:  „II  en  est  des  bois  du  renne  comme  de  son  pelage;  non-seulement  ils  varient 
selon  1  age  et  le  sexe  mais  presque  aucun  individu  ne  les  a  absolument  semblables  ä  ceux  du 
meme  sexe  et  du  meine  äge".  Ossements  fossiles.  IV.  Edit.,  T.  VI,  p.  128. 
♦*)  Illustrirtes  Thierlebcn.  I,  S.  435. 

'")  Nordfahrt   auf  dem   Schooner  Joachim  Hinrich,    erzählt  von  C.  Vogt.     Frankfurt  a.  M. 
1863.     S.  116  ff. 

t)  Das.  S.  185,  nebst  farbiger  Darstellnng  eines  flüchtenden  Rudels   nach  der  Zeichnung 
von   II.  Hassel  hörst. 

ft)  Finsterwalder  Zeitschrift  für  die  gesammten  Naturwissenschaften.     26  Bd.,  S.  323. 
ttt)  J.  Lamont  in  Zeitsclir.  f.  allgemeine  Erdkunde.     N.  F.     11.  Band,  S.  62. 
•f)  Von  Spitzbergen  zur  Sahara.     Deutsche  Ausgabe,  Jena  1868.  I,  S.  119. 


213 

In  anderen  Theilen  Europa'«  und  in  Asien  ist  zunächst  das  Vorkommen 
des  Hennt.hieres  (im  wilden  und  zahmen  Zustande)  im  östlichen  Kussland,  in 
vergleichungsweise  sehr  gemässigten  Gegenden,  nämlich  in  den  Gouvernements 
Twer,  Nowgorod  und  Orenburg,  interessant*).  Nach  v.  Eichwald  geht  es 
vom  Ural  zuweilen  bis  in  die  Gegend  Orenburg's  hinab.  In  strengen  Win- 
tern soll  es  sich  auch  im  kasan'schen  Kreise  Zarewokoktschaisk  bemerkbar 
machen**).  Man  findet  diese  Thiere  im  südlichen  Fortläufer  des  Ural  zwi- 
schen Don  und  Wolga  bis  zum  46°,  am  Fusse  des  Kaukasus,  am  Kumaufer, 
fast  zwei  Grade  südlicher,  wie  Astrakhan. 

In  Ost-Sibirien  zeigt  es  sich  nach  Angabe  des  trefflichen  Radde  im  öst- 
lichen Sajan  und  bei  den  S'ojoten  zur  Zeit  schon  recht  selten.  Die  S'ojoten 
erbeuteten  bis  zum  Winter  1858-1859  jährlich  noch  etwa  5—6  Stück  der 
Mann:  jetzt  sollen  aber  diese  Thiere  hier  fast  ganz  verschwunden  sein.  Sie 
waren  besonders  im  Jechoi-Thale  über  die  hohe  Alpenkette  gestiegen  und  auf 
mongolisches  Land,  zu  den  Urjänchcn  und  Darchaten  ausgewandert.  Bei  die- 
sen Völkern,  namentlich  aber  bei  den  Dshoten  wird  nicht  nur  das  zahme 
Rennthier  in  grosser  Zahl  gezüchtet  (es  soll  Besitzer  von  300  Stück  geben), 
sondern  es  kommt  auch  das  wilde  noch  weiter  südwärts,  als  ein  Bewohner 
der  oberen  Reviere  der  Baumgrenze  und  über  diese  hinaus  bis  zur  Schnee- 
grenze überall  vor.  Wenngleich  nun  Berichterstatter  weder  bei  den  S'ojoten 
noch  bei  den  Burjäten  des  oberen  Irkut-  und  Okalaufes  genaue  Angaben  über 
das  Vorkommen  des  wilden  Rennthieres  südlich  von  dem  Lande  der  Dar- 
chaten erfragen  konnte,  da  diese  Leute  dorthin  nicht  leicht  kommen,  so  erfuhr 
Jener  doch  soviel,  dass  es  auf  den  Hochgebirgen  noch  lebe,  und  glaubt  es 
auch  für  den  Tangnu  und  vielleicht  als  alpinen  Bewohner  selbst  für  einen 
Theil  des  Khangai-Gebirges  annehmen  zu  dürfen.  Vom  Selenga-Thale  bleibt, 
es  ausgeschlossen,  nimmt  aber  im  NO.- Winkel  des  Baikalsees  an  Häufigkeit 
zu  und  wird  von  den  Tungusen  dort  noch  alljährlich  in  5—7  Exemplaren  (von 
jedem  guten  Schützen)  getödtet.  Auch  hier  findet  indessen  ein  allmähliges 
Verarmen  dieser  „braven"  Waldmenschen  in  Folge  der  Abnahme  an  Renn- 
thieren  statt.  Seltener  ist  das  Rennthier  im  Apfelgebirge,  und  über  sein  Vor- 
kommen im  Kentei  wusste  Niemand  etwas  zu  berichten.  Im  Chingan  wird 
es  erst  an  den  Quellen  des  Flüsschens  Eksema  85  Werst  unterhalb  Gorbiza. 
wild  gefunden.  Vom  Amur-Thale  bleibt  es,  wie  Radde  glaubt,  als  wildes 
Thier  in  dem  nördlicher  gelegenen  Theile  ausgeschlossen,  kommt  aber  auf 
beiden  Seiten  des  Stromes  im  Innern  der  Gebirge  noch  vor.  Am  Südabhange 
des  Apfelgebirges  und  Stanowoi  bleibt  es  nach  Middendorf  und  Schrenck  nur 
um  die  Quellen  der  grösseren  links  dem  Amur  zufallenden  Flüsse.  Die  Birar- 
Tungusen  im  Bureja-Gebirge  kannten  es  nur  dem  Namen  nach,  wussten,  dass 
es  bis  zu  den  Quellen  der  Bureja  (Njumen)  vorkomme.    Vom  Shotar,  von  den 


")  Brandt  in  Petermann's  Mittheilungen,  1868,  S.  204. 
*•)  Faana  Caspio-Caucasia.    Petropoli  (Berolini)  1841,  p.  31  Anm. 


214 

Uferhöhen  des  Bureja-Gebirges,  sowie  von  den  Knotenpunkten,  von  denen  die 
Rachsysteme  entquellen,  dein  Lagar  und  dem  Murgil,  war  es  ihnen  unbekannt 
geblieben.  l>as  Vorkommen  desselben  im  unteren  Amurlande  war  ihnen  in- 
dessen bekannt*). 

In  Grönland  scheinen  sie  sich  nach  den  von  A.  v.  Etzel  zusammenge- 
heilten Nachrichten  an  die  grösseren  geschlossenen  Parthien  des  Landes  zu 
halten,  die  auf  der  einen  Seite  durch  das  Meer  in  Form  grosser  Eisfjorde, 
auf  der  anderen  aber  durch  das  Eis,  welches  das  Inland  bedeckt  und  eiue 
Kommunikation  zwischen  den  Halbinseln  über  die  Fjorde  weg  unmöglich 
macht,  von  einander  geschieden  sind.  Die  nicht  gar  zu  breiten  Fjorde  dage- 
gen bereiten  den  Wanderungen  unserer  Thiere  im  Winter  kein  Hinderniss. 
Sie  halten  sich  auf  diesem  Landstriche  meist  im  Innern,  streifen  indessen 
auch^  au  den  Küsten  hin  und  von  da  nach  den  nächsten  Inseln.  Zwischen 
den  verschiedenen  .,Kennthierdistricten"  dehnen  sich  bedeutende  Landstrecken 
aus.  Der  reichste  südliche  District,  die  vom  Neksotuk-  und  Anleitsivik-Fjord 
umgebene  Halbinsel,  steht  in  Beziehung  mit  dem  ebenfalls  reichen  Districte 
von  Holsteenburg  in  Südgrönland,  woselbst  keine  Eisfjorde,  wo  sich  das  In- 
landeis nicht  bis  in  die  Fjorde  hinabsenkt  und  die  Inseln,  wie  in  Nordgrön- 
land, voneinander  scheidet.  Die  Rennthiere  besuchen  verschiedene  Inseln, 
z.  B.  Tuttulik  und  Simioak.  Sie  gehen  nordwärts  in  die  höchsten  Gegenden 
der  Baffinsbay,  über  die  dänischen  Niederlassungen  hinaus.  Auch  auf  Disko 
Hnden  sie  sich**). 

Auf  dem  Festlande  von  Nordamerika  wird  das  Renn  „Caribou",  nach 
einer  dem  Canadisch-Französischen  entlehnten  Bezeichnung,  genannt.  Das 
Caribou***)  bildet  nur  eine  climatische  Varietät  des  europäischen  und  asiati- 
schen Kennthieres.  Bekanntlich  bieten  die  Faunen  der  nördlichen  Regionen 
dieser  Erdtheile  vieles  Uebereinstimmende  dar,  unbeschadet  gewissen  örtlichen 
Eigentümlichkeiten  innerhalb  einzelner  P'ormen.  Der  braune  Bär,  der  Wolf, 
der  Biber,  das  Elen,  das  Renn  u.  a.  m.  gehen  durch  die  nördlichen  Striche 
dei  erwähnten  Kontinente.  Vielfach  hat  man  versucht,  die  identischen  For- 
men wenigstens  des  Nordens  der  alten  und  der  neuen  Welt  artlich  von  ein- 
ander zu  sondern,  doch  aber  immer  nur  auf  Merkmale  hin,  welche  die  neuere 
auch  dem  Studium  der  „Variation"  zugewandte  Zoologie  als  durchschlagende, 
als  speeifische,  nicht  überall  mehr  anerkennen  darf  und  anerkennen 
wird. 

[leisen  im  Süden  von  Ost-Sibirien.  Bd  I.  St.  Petersburg  18G2,  S.  286— 288. 
**)  Grönland  geographisch  nnd  statistisch  beschrieben.  Stuttgart  1SG0.  S.  223  ff. 
***)  Wie  Audubon  seine  Meinung:  „aecording  to  our  oppinion,  two  species  of  this  genus 
exist,  —  one  in  the  old  world  (Rangifer  tarandus),  comuionly  called  the  Lappland  Reindeer,  a. 
the  Caribou  (H.  caribou  a.  its  varieties,  the  Reindeer  of  tlie  American  continenf,  eigentlich 
/u  \ertheidigen  gedachte,  ist  mir  aus  seiner  Darstellung  nicht  klar  geworden.  The  Quadrupeds 
of  North  Am.riia.  New  York.  Vol.  III,  p.  111.  Nach  meiner  Ansicht  führt  uns  keine  Musterung 
des  Ge8ammthabitus,  der  Baarfärbung,  kein  Studium  des  Knochenbaues  hier  auf  Differenzen, 
welche  eine  artliche  Trennung  rechtfertigen  Hessen. 


215 

Das  Caribüu  nun  findet  sich  in  New-Foundland,  Labrador,  durch  da* 
ganze  oördüche  Amerika,  an  der  atlantischen  Küste  übrigen»  südlicher,  als 
an  der  pacifischen,  immer  nur  wild,  nirgend  gezähmt,  ein  ausschliess- 
licher Gegenstand  der  Jagd. 

A.  E.  Brehm,  welcher  den  Norden  Europa1  s  bereist  hat,  sagt:  das  wilde 
Rennthicr  sei  „ein  stolzer  Beherrscher  des  Hochgebirges,  ein  gemsenartig 
lebender  Hirsch,  mit  allem  Adel,  welcher  diesem  schönen  Wilde  zukomme." 
Dasselbe  geht  meist  rudelweise,  zuweilen  in  gewaltiger  Anzahl  (vgl.  S.  -MJ  i 
unter  Führung  alter  Böcke,  ganz  wie  sonstige  Hirsehthiere.  Das  Kenn,  gleich 
viel  ob  wild,  ob  gezähmt,  nährt  sich  im  Sommer  von  mancherlei  Gräsern  und 
Kräutern,  von  den  zwerghatten  Weiden  und  Birken  des  hohen  Nordens,  es 
scheut  aber  auch  die  Pilze  nicht,  nicht  einmal  die  Fliegenpilze,  dann  nicht 
die  Zeitlosen,  es  frisst  gelegentlich  mit  Behagen  selbst  Animalisches,  z.  B, 
Lemminge,  die  berüchtigten  nordischen  Wandermäuse,  ferner  Käfer,  Käfer- 
larven u.  a,  Insekten.  Bodinus  beobachtete,  wie  die  Rennthierc  des  Kölner 
zoologischen  Gartens  frisch  getödtete  Sperlinge  mit  Gier  verspeissten**).  Im 
Winter  dient  diesem  Geschöpfe  hauptsächlich  die  Flechte  Cenomyce  ran- 
giferina  Ag.  zur  Nahrung,  deren  schwefelgelb  überflogene  Flocken  den  das 
Eismeer  begrenzenden  Tundras  eine  recht  charakteristische,  wiewohl  sehr 
monotone  Färbung  verleihen. 

Das  5  des  wilden  Renn  (der  Bock)  wird  in  der  zweiten  Hälfte  Sep- 
tembers brünstig.  Alsdann  setzt  es  schwere  Kämpfe  zwischen'  den  zur  Ku- 
delanführung  sich  drängenden  Böcken.  Das  V  wirft  nach  etwa  siebenmonat- 
licher Trächtigkeitsdauer  nur  ein  Kalb. 

Diese  Geschöpfe  unternehmen  grosse  Wanderungen.  In  Nordsibirien 
fliehen  sie  zur  Sommerszeit  aus  den  offenen  Stellen  auf  die  waldigen  Berge, 
hauptsächlich  um  den  sie  schwerplagenden  Biesfliegen  zu  entgehen,  unter  denen 
eine  Art,  Oestrus  trompe  Fabr.,  das  Renn  ausschliesslich  heimzusuchen 
scheint.  Die  Larven  dieses  Plagegeistes  wühlen  sich  in  die  Haut  ein  und 
selten  sieht  man  ein  Rennthierfell,  welches  nicht  zerfressen,  nicht  narbig  wäre. 
Vogt  ist  der  Meinung,  dass  sich  diese  Thiere  gerade  der  genannten  Larven 
wegen  so  gerne  im  Schnee  herumwälzen  und  darin  einwühlen***).  Im  \\  inter 
besuchen  unsere  Wiederkäuer  in  der  oben  genannten  Gegend  wieder  die  moos- 
bewachsenen Ebenen,  sie  durchschwimmen  bei  derartigen  Ortsveränderungen 
an  stets  gleichgewählten  Stellen  breite  Flüsse,  den  Anadyr,  die  Lena,  den 
Ob,  sie  treten  bei  solchen  Wanderungen  mit  ihren  breiten  Schalen  an  den 
Böschungen  der  Ufer  grabenähnliche  Gänge  ausf).  Immer  schliessen  Männ- 
chen diese  Züge.    Auch  in  Grönland  unternehmen  sie  innerhalb  der  Grenzen 


*)  Illustrirtes  Thierleben.     II,  S.  432. 

**)  Der  Zoologische  Garten  in  Köln.     Vom  Direktor  Dr.  Bodinus.    Köln  1864,  S.  5. 
"•)  Nordfahrt  u.  s   w.  'S.  120. 
t)  Pallas  im  Stralsuudischen  Magazin.  I,  17G9,  S.  394.  Zoographia  Rosso-Asiatica  1.  p.  20t5 


216 

der  von  ihnen  bewohnten  Districte  weite  Wanderungen,  besonders  in  den  süd- 
liehen Landschaften,  indessen  weiss  man  doch  nieht,  dass  sie  von  einem  Di- 
strict  in  den  anderen  übergetreten  wären.  Ihr  nördlichster  Zug  war  am  Eis- 
Ijorde  von  Jacobshavn  stehen  geblieben*). 

Nach  Richardson  zieht  das  „Barren-ground-Caribou"  (eine  Varietät  — 
var.  et  Arctica  — )  im  Winter  von  der  aretischen  Küste  in  die  zwischen  dem 
63  und  66°  N.  Br.  gelegenen  Wälder,  und  weidet  daselbst  Usneen,  Alectorien 
und  andere  von  den  Bäumen  herabhängende  Flechten,  sowie  langes  Moorgras, 
alt.  Ende  April,  wenn  der  alsdann  theilweise  geschmolzene  Schnee  die  Cetra- 
rien,  Corniculaten  und  Cenomycen  aufgeweicht,  von  denen  die  Barren-grounds 
wie  mit  Teppichen  bedeckt  werden,  machen  sie  kurze  Ausflüge  aus  dem  Ge- 
hölz, kehren  aber  bei  kaltem  Wetter  wieder  dahin  zurück.  Im  Mai  rücken 
die  9,  um  Ende  Juni  auch  die  an  die  Seeküste.  Um  diese  Zeit  sind  die 
Flechtenteppiche  der  Barren-grounds  verdorrt  und  das  Renn  nährt  sich  dann 
lieber  von  den  frischen  Gramineen  sumpfiger  Theile  an  den  arktischen  Ge- 
staden und  Inseln.  Bald  nach  ihrer  Ankunft  an  der  Küste  verlassen  die  >' 
ihre  Jungen;  sie  beginnen  ihre  Rückkehr  nach  Süden  im  September,  gewin- 
nen die  Gehölze  wieder  gegen  Ende  Oktober  und  vereinigen  sich  da  mit  den 
ö-  Mit  Ausnahme  der  Brunstzeit  lebt  der  grössere  Theil  der  6  und  Q  getrennt. 
Die  Böcke  ziehen  sich  zur  Winterszeit  tiefer  in  die  Wälder  zurück,  während 
Kudel  der  hochbeschlagenen  „Thiere"  an  den  Säumen  der  Barren-grounds  wei- . 
len  und  im  Frühjahre  zeitig  an  die  Küste  gehen.  Capt.  Parry  sah  Böcke  an 
der  Melville-Halbinsel  am  23.  September,  die  „Thiere"  erschienen  mit  ihren 
Jungen  zuerst  am  22  April.  Die  Böcke  gehen  nicht  so  weit  nördlich  als  die 
Thiere.  An  der  Hudsonsbay-Küste  wandert  das  „Barren-ground-Caribou"  süd- 
licher, als  der  Kupferminen-  und  Mackenziefluss,  nicht  aber  südlicher  als 
Churchill. 

Richardson  unterscheidet  dann  noch  eine  andere  Varietät,  das  „Wood- 
land-Caribou"  (var.  fi  sylvestris),  welches  angeblich  grösser  als  das  „Barren- 
ground-Caribou"  sein,  kleinere  Geweihe  besitzen,  und,  wenn  auch  feist,  doch 
ein  schlechteres  Wildpret  abgeben  soll,  wie  jenes**). 

Bären  verschiedener  Art,  Wölfe,  Vielfrasse  und  Luchse  stellen  diesem 
Thiere  unausgesetzt  nach,  am  meisten  freilich  der  Mensch,  der  das  wilde 
Renn  auf  mannigfache  Weise  zu  erlegen  trachtet.  Die  üblicheren  Jagdmetho- 
den verdienen  unsere  Aufmerksamkeit.  Nur  wenige  Völker  des  Nordens  wen- 
den hierzu  noch  Bogen  und  Pfeil,  Speere  und  Fallen  an.  Zu  des  alten  Schef- 
fer Zeit  (um  1670)  bedienten  sich  die  Lappen  z.  Th.  des  Bogens,  ein  zahmes 
9  zur  Heranlockung  am  Wechsel  festbindend.  Man  birschte  sich  übrigens  auch 
schon    damals   mit  Hülfe   von  Schneeschuhen  an***),    wie   dies   noch  jetzt  in 


*)  A.  v.  Etzel  a.  a.  0.     S.  225. 

*")  Fauna   boreali-americana;   or   the   zoology   of  the    northern   parts  of  British   America. 
London  1829  ff.    Quadrupeds  p.  III,  114,  118  etc. 
'")  Lapplund.     Strasbourg  1675,   S.  256. 


217 

Asien  und  in  Nordamerika,  bier  bei  der  Bison-.  Caribou-  und  Orignal-Jagd  ge- 
schieht. Auch  benutzte  man  damals  Schlingen  und  ausgedehnte  Corrals  oder 
Verzäunungen  mit  Graben  an  deren  Enden.  Letztere  .seheinen  etwa  wie  die 
Hopo's  der  gegenwärtigen  Südafrikaner  construirL  gewesen  zu  sein"). 

Die  Rennthiere  schwimmen  sehr  geschickt  und  mit  grosser  Ausdauer. 
Manche  Stämme  der  nördlichen  Gegenden  treiben  dies  Wild  in  das  Meer  oder 
in  die  Ströme  hinein;  fahren  in  ihren  Kanoes  hinter  den  flüchtig  Davon- 
schwimmenden  her  und  erlegen  die  zur  Beute  auserkorenen  Stücke  mit  Har- 
punen  und  Fangmessern. 

Am  häufigsten  dient  gegenwärtig  das  Feuergewehr  zur  Jagd  auf  das 
wilde  Kenn.  Mau  benutzt  diese  Waffe  bei  verschiedenen  Jagdarten,  auf  dem 
Anstände,  beim  Anschleichen  (auch  mit  Schneeschuhen),  vom  Birschschlitten 
aus,  beim  Buschiren,  auf  der  Treibjagd,  auf  der  Parforcejad  mit  Hunden,  im 
Corral,  letztere  Art  nach  Whymper  noch  bei  den  Ko-Yukon  des  Alaschka- 
Gebietes,  nach  Maack  auch  bei  Orotschonen,  üblich**). 

Uas  zahme  Renn  ist  bei  gewissen  nordischen  Völkern  Europas  und 
Asien's  in  Gebrauch.  ]n  Europa  beschäftigen  sich  die  Lappen  mit  Reunthier- 
zucht.  Die  Lappen  benutzten  bisher  als  Hausthier  wenig  das  Rind,  des- 
sen kleine  verkommene  Nordlands-Schläge  in  der  dort  so  ungemein  kargen 
Natur  kaum  noch  Nahrung  finden  können  und  deren  Haltung  der  nomadisi- 
renden  Lebensweise  jenes  Volkes  weniger  zusagte.  Für  diese  schien  das  mit  ge- 
ringer Intelligenz  begabte,  störrische,  aber  genügsame  und  ausdauernde  Renn- 
thier  recht  geeignet.  In  früheren  Zeiten  hat  es  in  den  Aemtern  Finmar- 
ken,  Nordland  und  Lappmarken  viele  Familien  gegeben,  welche,  im  Besitze 
von  je  400  bis  500  Kopf  Rennthieren  für  arm  galten.  Erst  der  Besitz  von 
1000  ja  2000  und  mehr  Kopf  charakterisirte  das  wohlsituirte  Familienhaupt. 
Gegenwärtig  scheint  sich  dies  allmählich  zu  ändern.  Soll  doch  überhaupt  das 
ganze  Lappenthum  nach  und  nach  abnehmen  unter  dem  Einflüsse  der  Civi- 
lisation,  welche  dem  unabhängigen  Nomadenwesen  Schranken  auferlegt,  die 
Sesshaftigkeit,  die  rationelle  Viehzucht,  den  Landbau,  die  Industrie  im  Ge- 
folge hat,  welche  ferner  dem  Branntweine  und  anderen  Dingen  Eingang  ver- 
schafft, die  sich  einmal  mit  der  urwüchsigen  Lebensweise  des  Lappen  nicht 
gut  vertragen.  Bei  der  wenigen  Milch,  welche  die  2  geben,  bedarf  eine  Lap- 
penfamilie wenigstens  100  Stück,  um  davon  leben  zu  können.  Wenn  die 
Heerde  unter  diese  Zahl  herabsinkt  (durch  Schneestürme,  Seuchen  u.  s.  w.), 
so  muss  der  unglückliche  Lappe,  will  er  nicht  Hungers  sterben,  sich  mit  einem 
anderen  associiren.  Er  leistet  diesem  alsdann  alle  Dienste  und  erhält  dafür 
einen  Antheil  an  dem  Gewinnste,  der  im  Verhältnisse  seines  Zuschusses  zu 
der  Heerde   berechnet   wird.     Nach  den  Angaben***)  Chaudordy's,    Sekretärs 

*)  Charakteristische  Abbildungen  solcher  Hopo's  in  Livingstone's  Jlissionsreisen  und  For- 
schungen in  Südafrika,  auch  in   Le  Tour  du   Monde    1866,   I,  S.    L2. 

*•)  Travel  and  adventures  in  the  territory  of  Alaska   -   formerly  Russiau  Amerika  —  uow 
eeded  to  the  L'nited  States        a.  in  various  other  parts  of  the  North  Parific.     London  1868. 
***)  C.  Vogt  in:  Nordfahrt  u.  s.  w.     S.  165. 


218 

der  französischen  Legation  in  Kopenhagen,  leben  in  Finmarken  etwa  32  Men- 
schen auf  der  Quadratmeile.  In  ganz  Finmarken  existiren  etwa  (iO,00()  Renn- 
thiere ;  der  Besitz  von  je  300  bedeutet  Wohlhäbigkeit,  derjenige  von  (!()()  Stück 
aber  bereits  Reichthum  in  einer  Familie*).  Es  mag  übrigens  auch  jetzt  noch 
in  anderen  Districten  manche  Ausnahme  geben,  wie  z.  B.  Vogt  von  einem 
Lappen  bei  Tromsü  erzählt,  der  nicht  zu  den  reichen,  aber  doch  wohlhabenden 
Lappen  gehörte  und  etwa  2000  Stück  besass.  Im  Durchschnitt  je  60  Franken 
an  Werth,  repräsentirteu  sie  ein  Vermögen  von  etwa  60,000  Franken  in 
Vieh**). 

Nach  Chaudordy  kommen  im  russischen  Lappland  nur  4  —  5  Menschen 
auf  die  Quadratmeile.  Den  Lappen  dieses  Gebietes  war  durch  die  russische 
Regierung  neuerlich  die  Freiheit  des  Umherwanderns  verkürzt  worden,  was 
einen  sehr  degradirenden  Einfluss  auf  das  Wohlbefinden  derselben  ausübte. 
Die  sesshaften,  mit  Fischerei  beschäftigten  Lappen  halten  ürigens  immer  nur 
wenige  Rennthiere. 

Die  Mesen'schen  Samojeden  wohnen  in  der  östlichen  Hälfte  des  Gouver- 
nement Archangelsk  auf  11,600  □  Meilen  nur  4900  Individuen  stark,  der 
Mehrzahl  nach  in  Zelten,  nur  wenige  in  festen  Sitzen.  Dieselben  halten  oft 
an  10 — 20,000  Stück  Rennthiere,  mit  denen  sie  umherwandern***).  Das  Renn- 
thier  wird  in  mongolischem  Lande  bei  Urjänchen,  Darchaten  und  namentlich 
bei  Dshoten  zu  je  300  Stück  gezüchtet.  Vom  Iltschirsee  auf  russischem  Ge- 
biete südwärts  findet  man  das  zahme  Rennthier  mit  dem  Pferde  und  Rinde. 
Ersteres  muss  im  Sommer  in  7000  8000  Fuss  der  Hochgebirge,  letztere  dür- 
fen nur  in  tieferen,  1000 — 5000  Fuss  hoch  gelegenen  Thälern  zum  Weiden 
emporgetrieben  werden.  Manche Tungusen  besassen  vor  25 — 3().Jahrennoch  über 
100,  die  aber  theils  an  Seuchen  starben,  theils  in  Hungerjahren  geschlachtet, 
wurden.  Bei  den  Orotschonen  ist  es  gewöhnliches  Hausthierf).  Diese  Leute 
benutzen  nach  Maack  dergleichen  meist  nur  zum  Ziehen,  selten  zur  Nahrung, 
opfern  ihrer  jedoch  guten  und  bösen  Geistern.  Zu  Pallas'  Zeit  galten  die 
Korjaken  als  sehr  rennthierreich. 

Das  zahme  Rennthier  variirt  in  der  Färbung  sehr  viel  häufiger  als  das 
wilde,  es  kommt  auch  gescheckt  vor  und  zwar  in  allen  möglichen  Abwechs- 
lungen. Auch  ist  die  Grösse  dieses  Geschöpfes  im  Hausstände  bedeutenden 
Schwankungen  unterworfen,  es  giebt  von  ihm,  wie  vom  Rind  und  anderen 
Hausthieren,  kleinere  verkümmertere  und  grössere  stattlichere  Schläge.  Diese 
unterscheiden  sich  oft  wesentlich  von  einander.  So  zeigte  man  z.  B.  O.  Vogt 
zu  Hammerfest  grosse,  prachtvolle  Winterkleider,  wie  sich  deren  die  Norwe- 
ger bei  ihren  Schlittenfahrten  bedienen;  dieselben  stammten  aus  Archangel, 
wohin  sie  aus  den  östlichen  Gegenden  gebracht  werden.    Man  könnte  solche 

')  Bulletin  de  la  Societe  d'acelimatation,  1862,  p.  10;'). 
M)  Das.  S.  164. 

*••)  Q    C.  HeigeJ  in  der  Gartenlaube,  1862,  S.  214. 
t)  Radde  a.  a.  O.     S.  286-288. 


219 

Pelzröcke,  dte  aus  je  einem  Stücke  bestehen,  keineswegs  aus  den  Kellen  wil- 
der oder  zahmer  lappischer  Rennthiere  verfertigen,  namentlich  wären  aber  die 
Letzteren  zu  klein  dazu"). 

In  manchen  Districten  Nordeuropa's  werden  sie  gehütet,  in  anderen  wei- 
den sie  frei  umher;  das  Erstere  mit  Hülfe  kleiner,  spitzohriger,  zottiger  Hunde. 
Im  Winter  nimmt  man  sie  mehr  in  Obacht,  versieht  sie  alsdann  wohl  auch 
mit  einer  Marke**).  Die  Paarung  erfolgt  gewöhnlich  Anfangs  Oktober,  die 
Satzzeit  ist  im  April.  Nach  Pallas  (1.  c.)  kommen  auch  Zwillingsgeburten 
Cbei  zahmen  R.)  vor.  Demselben  Gewährsmanne  zufolge  werden  sie  nach  zwei 
Jahren  reif  und  setzen  jedes  Jahr.  Wie  Brehm  (a.  o.  a.  0.  S.  443)  mittheilt, 
vermischen  sich  die  zahmen  mit  den  wilden,  zur  grossen  Freude  der  Heer- 
denbesitzer,  welche  hierdurch  eine  bessere  Zucht  erzielen.  Sie  fegen  im  Herbst 
und  werfen  im  Januar  ab.  Castrirte  Böcke  werfen  nach  Pallas  alljährlich 
ab,  fegen  aber  nicht.  Bekanntlich  behalten  die  an  beiden  Hoden  durch  Scbuss 
oder  dgl.  verstümmelten  llothhirsche  den  Bast  für  unbestimmte  Zeit,  wer- 
fen auch  gar  nicht  oder  doch  nur  höchst  unregelmässig.  Das  Thier  des 
llenn  wirft  immer  einige  Tage  nach  dem  Satze  ab. 

Nach  dem  Satze,  im  Sommer,  wird  gemolken.  Ein  anonymer  Berichter- 
statter beschreibt  die  Procedur  des  Melkens  bei  den  Lappen  (von  Stockholm 
aus)  sehr  genau  im  Globus,  IV.  Band,  S.  152.  Die  im  Süden  der  Lappmar- 
ken  am  unteren,  etwa  15  Meilen  breiten  Küstensaume  des  Bottnischen  Meer- 
busens umherziehenden  Waldlappen,  haben  kleine  eingehegte  Plätze  (Kerda)> 
in  welche  sie  während  der  Zeit  des  Mückenschwürmens,  Juli  und  Anfang 
August,  die  Heerde  täglich  zwei  bis  dreimal  treiben  und  ausräuchern.  Hier 
wird  auch  täglich  einmal  gemolken.  Um  dies  Geschäft  mit  einiger  Ruhe  aus- 
führen zu  können,  muss  jedes  einzelne  Thier  eingefangen  und  von  einer  Per- 
son gehalten  werden,  während  die  andere  melkt.  Dies  geschieht,  weil  das  sehr 
lebhafte  Kenn  alle  Augenblick  seine  Stellung  ändert,  immer  stehend  und  nur 
mit  einer  Hand,  mit  der  anderen  muss  das  Melkgefäss,  die  Nappe,  gehalten 
werden.  Aus  den  beiden  kleinen  Zitzen  kommt  nur  ein  sehr  feiner  Strahl, 
auch  giebt  jedes  Q  nur  sehr  wenig,  so  dass  acht  bis  zehn  Q  ihre  Milch  lie- 
fern müssen,  um  ungefähr  ein  preussisches  Quart  zu  füllen.  Demselben  Be- 
richterstatter zufolge  macht  das  Melken  bei  den  Berglappen  (schwedisch 
Fjäll-Lappar,  norweg.  Fjeld-Finner)  der  hohen  Gebirge  der  nördlichen  schwe- 
dischen und  norwegischen  Lappmarken,  noch  grössere  Schwierigkeiten.  Man 
treibt  hier  die  Heerde  einmal  täglich  auf  den  Sjaljo,  den  Oit,  wo  das  Zelt, 
Kota,  steht,  und  fängt  ein  Thier,  Vaja,  nach  dem  anderen  mittelst  einer  um 
das  Geweih  geworfenen  Schlinge  aus  Tannen  hast.  Einer  hält  das  Renn,  der 
Andere  melkt  dasselbe.  Die  Lappen  haben  für  jedes  Stück  einen  besonderen 
Namen,    selbst   wenn    die  Zahl    derselben    auf  mehrere  Tausende    steigt.      I  >er 


*)  Bulletin  de  l'Instit.  Genevois.     T.  XV,  p.  22  IT. 
'*)  Chaudordy  1.  c.  p.  105. 


220 

Milchertrag  kann  nicht  immer  der  Anzahl  der  Thiere  entsprechen.  Ein  Fjäll- 
Lappe  gewinnt  von  700 — 800  Vajor  oft  bei  weitem  nicht  soviel  Milch,  als  ein 
Waldlappe  von  nur  50 — 60  Vajor.  Letztere  sind  nämlich  zahmer  und  lassen 
sich  leichter  melken,  wie  jene,  die  häufig  nur  theilweise  gemolken  werden. 
Manche  Berglappen  melken  ihre  Thiere  auch  gar  nicht,  sondern  überlassen 
die  Milch  den  Kälbern.  Diejenigen  Thiere,  welche  ihre  Kälber  verloren  ha- 
ben und  Toptjah  heissen,  werden  jedoch  immer  gemolken.  Vogt  sah  die  Zitzen 
mit  vom  Pelze  ausgerupften  Haaren  reiben,  um  sie  zu  entwickeln  und  fand 
Haare  und  Mist  in  der  mit  wenig  Vorsicht  gemolkenen,  fetten  Flüssigkeit 
(S.  170).  Nach  Angabe  des  obigen  Berichterstatters  im  Globus  ist  die  Milch 
sehr  fett,  süss  und  schwer.  Man  kaut  dazu  den  Stengel  der  als  antiskor- 
butisch  geltenden  Engelwurz  (Archangeli  ca  officinalis  Hoffm.),  oder 
isst  sie  mit  Mülte-  oder  Moltebeeren  (Rubus  Chamaemorus  Lin.)  und 
mit  Preisseibeeren.  Sie  giebt  viel  Butter  von  weisser  Farbe  und  Talgkon- 
sistenz. Hauptsächlich  üblich  ist  die  Käsebereitung;  Rennthiermilch  ist  weit 
caseinreicher  als  Kuhmilch.  Dieser  Käse  ist  ein  hauptsächliches  Nationalge- 
richt der  Lappen,  derselbe  dient  als  Provision  auf  Reisen  u.  s.  w.,  auch  mit* 
Mehl  und  Wasser  zur  Käsesuppe.  Rennthierkäse  wird  übrigens  nur  im  Juli 
und  August  bereitet.  Schon  im  September  wird  die  Milch  spärlicher.  Man 
sammelt  wohl  kleine  Vorräthe  davon  in  Fässern,  unvermischt  oder  mit  Jobmo, 
Sauerampfer,  auch  Preisseibeeren  vermischt  und  bewahrt  diese  als  Kittan-Ase, 
Frühlingskost,  auf.  Die  noch  im  Oktober  und  im  November  gewonnene  Milch 
lässt  man  frieren  und  verwendet  sie  so  als  besondere  Leckerei  (A.  o.  a.  O. 
S.  153). 

Im  Herbste  werden  einige  Stück  geschlachtet.  Ein  gutes  Renn  giebt 
nach  Chaudordy  60  Kilogramm  Fleisch  und  20  Kilo  Talg*).  Das  Fleisch  dient 
bei  den  Lappen  gelegentlich  als  Tauschartikel  für  Mehl.  Dies  Produkt,  wel- 
ches von  Einigen  für  vorzüglich  an  Geschmack  erklärt  wird,  bildet  ein  wich- 
tiges Volksnahrungsmittel  in  Grönland,  woselbst  man  dasselbe  roh  und  ge- 
kocht verzehrt,  in  gefrornem  und  in  gedörrtem  Zustande  aufbewahrt.  Sehr 
beliebt  ist  die  Zunge  des  Thieres.  In  Grönland  soll  der  mit  zum  ersten  Male 
gekautem  Futter  gefüllte  Magen  als  Delikatesse  gelten.  Das  zahme  Renn 
nährt  sich  ganz  so  wie  das  wilde.  In  Norwegen  hat  man  eine  gewisse  Moos- 
schonung einführen  müssen,  da  sich  dieses  Cryptogam  nur  langsam  wieder 
erzeugt.  Nach  A.  v.  Etzel's  Bericht  giebt  ein  grosses  Rennthier  8—12  Pfund 
Talg,  was  obiger  Angabe  Ohaudordy's  widerspricht.  Die  Geweihe  dienen  zu 
ähnlichen  technischen  Zwecken,  wie  „Hirschhorn",  d.  h.  das  Geweih  unserer 
Rothhirsche. 


')  Man  hat  Rothhirsche  bis  zu  600—700,  ja  000  Pfund  Gesammtgewicht  erlegt.  Ge- 
meinhin beträgt  das  ganze  Kürpergewicht  dieses  Thieres  200—300  Pfd.  Ein  zahmes  Renn  wiegt 
durchschnittlich  I8u— ->50  Pfd. 


221 

In  Südgrönland  verbraucht  man  davon  jährlich  etwa  3000 — 4000  Pfund. 
An    100,000  Pfund  lagen  zu  Holsteeuburg  in  Vorrath*). 

Sehr  bedeutend  ist  der  Verbrauch  der  Folie.  Der  Rennthierpelz  hart 
zwar  leicht,  ist  aber  weich  und  warm.  Er  giebt  für  die  Nordlander  weit  bes- 
seres Bekleidungsmaterial  ab,  als  Robbenpelz.  Manche  nordische  Bewohne i, 
z,  B.  die  Samojeden,  tragen  Alles,  Mütze,  Hemd,  Hosen,  Strümpfe  und  Schuh 
von  Rennthierfell**). 

Das  Produkt  dient  ferner  zu  Reit-,  Schlaf-  und  Schlittendecken,  sowie 
zur  inneren  Bekleidung  der  VViuterhütten.  Zwischen  1845 — 1841)  sind  in  Nord- 
grönland jährlich  4300  Rennthierfelle  in  den  Handel  gebracht  worden,  in  den 
ersten  beiden  Jahren  £,  in  den  letzten  dagegen  £  der  ganzen  Menge.  Die 
Sehnen  dienen  zum  Nähen,  z.  B.  der  Fellkleider***).  Nach  Chaudordy  ver- 
fertigt man  in  Schweden  gute  Handschuhe  aus  den  Häuten  ungeborener  Jun- 
gen. Aus  dem  Darm  dreht  der  Lappe  zähe  Saiten,  die  auch  in  England  ge- 
schätzt werden  f). 

Das  zahme  Renn  giebt  endlich  auch  ein  für  des  Nordens  unwirthliche 
Gefilde  sehr  wichtiges  Reit-  und  Zugthier  ab.  Zum  Reiten  wird  es  vor- 
nehmlich von  Tungusen  benutzt,  die  ihm  einen  Sattel  auf  den  Vorderrücken, 
gerade  über  den  Widerriss,  legen.  Weiter  hinten  ist  der  Rücken  zu  schwach, 
um  einen  Erwachsenen  tragen  zu  können.  Der  Reiter  lässt  die  Beine  herab- 
hängen und  lenkt  das  Thier  mit  einem  Zaume.  Zum  Fahren  werden  die 
Renns  paarweise  vor  den  Schlitten,  den  Akjja  der  Lappen,  gespannt.  Die  Art 
des  Anschirrens  ist  in  den  einzelnen  Gegenden  etwas  verschieden.  Die  Me- 
sen'schen  Samojeden  schlingen  die  Leine  an  das  Geweih  der  links  gehenden 
Rennthiere,  mögen  ihrer  noch  so  viele  vorgespannt  sein.  Der  Schlitten  selbst 
wird  mit  einem  langen  Stocke  gesteuert.  So  fahren  sie  das  petersburger  Pu- 
blikum Winters  auf  dem  Eise  der  Neva  spazieren  ff).  Zwei  Schweden,  wel- 
chen ich  während  der  Weltausstellung  1867  zu  Paris  begegnete,  schilderten 
mir  das  Schlittenfahren  mit  Rennthieren  als  etwas  sehr  Unvollkommenes, 
Ermüdendes  und  häufig  sogar  Verdriessliches.  Diese  Zughirsche  trotteten,  so 
hiess  es,  kein  Hinderniss  achtend,  wild  darauf  los,  Hessen  sich  nur  mit  Mühe 
auf  der  richtigen  Bahn  erhalten,  würfen  bald  einmal  um,  stutzten  leicht,  sprän- 


*)  Vergl  A.  v.  Etzel:  Grönland.  Es  werden  in  Nordgrönland  jährlich  800—900  Renn- 
thiere getödtet  und  zwar  75  pCt  in  den  südlichsten,  20  pCl  in  den  nördlichsten,  kaum  5  pC't 
in  den  mittleren  Rennthierdistricten.  Im  Districte  Julianehab  waren  .seit  vierzig  .Jahren  keine 
mehr  geschossen  wurden  und  doch  war  die  Jagd  daselbst  sein  bedeutend  gewesen.  Zwischen 
1840—45  mögen  in  nainimo  an  10,000,  zwischen  1851-185.)  alljährlich  an  8500  Stück  ge- 
schossen worden  sein. 

**)  Eine  prachtvolle  Serie  von  mit  den  Haaren  gegerbten  Reunthierbäuten  („Norsk  Reene) 
hatte  u.  A.  Stamm  von  Drontheim    1807  zu  Paris  ausgestellt. 
**♦)  A.  v.  Etzel  das. 

t)   L.  s.  c.  p.   105. 
tt)  Heigel  a.  o.  a.  0.     S.  _'14. 


222 

gen  wirr  durcheinander,  wenn  fremde  Gegenstände,  Thiere  u.  s.  w.,  ihre  Scheu 
erregten  und  so  gäbe  es  der  Unzuträglichkeiten  mehr. 


So  ist  unser  Renn,  so  ist  seine  Nutzung  zur  Jetztzeit.  Ein  besonderes 
Interesse  erregt,  aber  das  Vorkommen  dieses  Geschöpfes  in  den  frühen  Pe- 
rioden des  Menschengeschlechtes.  Rennthierknochen  und  Rennthier- 
geweihe  mit  und  ohne  Spuren  menschlicher  Einwirkung  sind  in  verschiedenen 
Ländern  des  gemässigten  und  wärmeren  Europas  aufgefunden  worden,  häufig 
im  Verein  mit  den  Resten  anderer  z.  Th.  gänzlich  erloschener,  z.  Th.  aus 
unserem  Kontinente  ausgewanderter  Thiere. 

Es  kommt  mir  hier  übrigens  nicht  in  den  Sinn,  alle  gegenwärtig  bekann- 
ten Rennthierfunde  zu  erwähnen,  ich  will  hier  nur  etliche  derselben  hervorhe- 
ben und  damit  den  weiten  Kreis  der  ehemaligen  Verbreitung  dieses  Wieder- 
käuers andeuten.  In  Grossbritannien  z.  B.  fand  Blackmore  in  einer  auf  weis- 
ser Kreide  auflagernden  Ziegelerde  des  Wileythales  bei  Salisbury  Reste  des 
Kenn  neben  denen  des  Mammont,  Knochenscheidewand-Nashorn,  des  Schwei- 
nes, Höhlenlüwen,  Ur,  der  Höhlenhyäne,  des  Fuchses,  Pferdes,  Bison,  Hasen, 
Lemming's*).  Man  traf  dergleichen  ferner  im  schottischen  Blocklehm  bei 
Croftaraie  in  der  Grafschaft  Dumbarton  im  Endrickbette,  18  Fuss  unter  der 
Oberfläche.  In  anderen  Gegenden  lieferte  der  Blocklehm  Elephantenzähne, 
die  man  dem  Mammont  zugeschrieben.  Nach  Falconer's  tabellarischer  Ueber- 
sicht  waren  Rennthierfunde  in  den  Höhlen  der  Gower-Halbinsel,  Glamorgan- 
shire,  Südwales,  welche  von  ihm  und  Oberstlieutenant  Wood  untersucht  wur- 
den, wenig  reichlich  in  Bacon-,  Minchin-,  Long-Höhle,  auch  im  Spritsail-Tor, 
sehr  reichlich  dagegen  in  Boscos  Den  und  in  Raven  s  Cliff  gemacht  wor- 
den***). Von  einem  durch  diesen  Gewährsmann  als  Varietät  a.  des  Reims 
aufgeführten  Thiere  (Cercus  Guettardi  Desm.)  fanden  sich  gleichfalls  viel 
Ueberbleibsel  in  Bosco's  Den,  von  einer  Varietät  b.  (Cerons  priscus)  desglei- 
chen, von  einer  dritten  Varietät  c.  (Ccrvus  Bucklandi  Owen)  fanden  sich  Spe- 
cimina  in  Bosco's  Den,  zu  Paviland  und  Spritsail-Tor.  Dabei  waren  z.  B. 
in  Bosco's  Den  Reste  vom  Fuchs,  Rhinoceros  hemitoechus,  vom  Reh,  in  Ba- 
con's  Höhle  waren  Reste  vom  Hermelin,  vom  Hirsch,  Reh,  in  Paviland  und 
Spritsail  Tor  Reste  vom  Dachs,  gemeinen  braunen  Bären,  Iltis,  von  Höhlen- 
hyäne,  vom  Höhlenbären,  Mammont,  Rhinoceros  tichor/vinus,  Pferd,  Esel,  (  er- 
rvs  euryeeros  8.  megaceros,  Rothhirsch,  Reh,  Cercus  strongyloceros,  Bison,  in 
Raven's  Cliff  Reste  von  Felis  spelaea,  Wildkatze,  llippopotamus  major',  Dachs, 
Wolf,  Fuchs,  Wassermaus,  Eleph.  antiquus,  Rhinoc.  hemitoechus,  Pferd,  Wild- 
schwein u.  s.  w.  gefanden  worden.     Beim  Autwerfen  der  Folkestone-Batterie 

*.  Lyell:    Das  Altei  des  Menschengeschlechtes  auf  der  Knie  u.  s.  w.     Deutsche  Ausgabe, 
Leipzig  1811 1,  S.  115. 
•'    Das.  s    im. 
***)  Palaeontological  töemoirs,  II.  p.  ;'>2,rj. 


223 

wurden  Rennthier-Thcile  mit  denen  von  Hippopotamus  major,  Cervus  euryceros 
{Megac&ros  hibernicus)  Bisonpriscus,  Rhinoceros,  Sus  etc.  entdeckt*).  MitRhinoce- 
ros-,  Höhlenbär-,  Höhlenhyiinenresten  u.  s.  w.,  sowie  mitFeuersteinmessern 
wurden  Rennthiertheile  aus  der  Brixham-Höhle  heraufgebracht**)  u.  s.  w. 

In  Frankreich  sind  Rennthierknocheti  und  zwar  angeblich  von  Menschen- 
band zerschlagene,  zusammen  mit  verschiedenen  menschlichen  Erzeugnissen, 
in  den  Höhlen  von  Rize  und  Salleles  (Aude),  von  Bruniquel  (Tarn  et  Ga- 
ronne),  Aurignac  und  Lourdes  (Hautes-Pyrenees),  La  Yache  bei  Tarascon 
(Ariege),  Espalungue  (Rasses-Pyrenees)  und  Eyzies  (Dordogne)  vorgekommen. 
Diese  Funde***)  sind  häufig  von  denen  anderer  Thiere  begleitet  gewesen.  So 
z.  B.  in  der  Aurignachöhle  von  denen  eines  Elephanten,  des  Ochsen,  Rhino- 
ceros,  der  Höhlenhyäne,  des  Höhlenbären,  des  Wolfes,  Fuchses  u.  s.  \\\,  so- 
wie von  Menschenskeletenf).  Ferner  im  Perigord  von  Knochen  des  Höhlen- 
bären, Höhlenlöwen,  des  Wisent,  Pferdes  und  Ri  sam  ochsen  ff ).  In  der 
Rizer-Höhle  fand  schon  P.  Tournal  i.  J.  1827  Menschenknochen  und  Topf- 
scherben  neben  den  Knochen  verschiedener  grosser  Säugerfff). 

M.  de  Serres*f),  der,  wie  aus  dem  unten  angeführten  Memoire  von  Ger- 
vais und  Rrinckmann  über  die  Rizer  Höhle  hervorgeht,  manche  hier  gefundene 
Thierreste  unrichtig  bestimmt  hatte,  zählte  ausser  Fledermäusen,  Hasen,  Ka- 
ninchen, Maus  (? Myoxsuis?) ,  Pferd,  grossen  Repräsentanten  des  Genus  Bos, 
Wolf,  Fuchs,  Serval  u.  s.  w.,  u.  s.  w.,  noch  die  Hirsch- Arten  ( 'erous  Reboulii, 
('.  Leufroyi  und  C.  Tournalii  auf,  welche  letzteren  drei  mit  dem  Renn  voll- 
kommen identisch  sein  sollen  **f). 

A.  Arcelin  berichtet  über  Auffindung  von  Knochen  des  Renn,  Pferdes, 
Riesenhirsches,  Wisent,  Elephanten,  Fuchses,  Menschen,  sowie  menschlicher 
Industrieerzeugnisse  auf  Feuerstätten  und  in  Gräbern  unter  den  Felsen  von 
Solutre  ***f).  Die  Existenz  des  Renns  in  Altfrankreich  wird  dann  noch  durch 
zahlreiche  Arbeiten  neuen  Datums,  u.  A.  von  Chantre  über  Höhlen  in  der 
Dauphine"  etc.f*)  von  Longuemar  über  die  Grotten  von  Chaffaudf**)  bestätigt. 

*)  L.  c.  II,  p.  568. 
**)  L.  c.  II,  p.  491  ff. 

***)  Cf.  P.  Gervais  Zoologie  et  Paleontolooie  Francaises  p.  145.    Recherohes  sur  l'anoiennete 
de  l'homme  et  la  periode  quaternaire.    Paris  1867,  p.  100. 
f)  The  natural  history  review,  1861,  p.  53. 
ft)  Lartet  in  Annales  des  seienees  naturelles  T    IV,  Ser.  V,   1865,  p.  355. 
ttt)  Considerations    theoriques  sur  les  cavernes  ä   ossements  de  Bize,    pr>  s   tle   Narbonne 
(Aude)  etc.  in  Annal.  des  scienc.  nat.  T.  XVIII,  I  Ser.,  1820. 

*f)  Notice  sur  les  cavernes  ä  ossements  du  departement  de  l'Aude.     Montpellier  1839. 
**f)  P.  Gervais  et  J.  Brinekmann  in  Memoires  de  l'Academie  de  Montpellier,   1864.    Recher- 
ches  etc.  p.  52  ff. 

***+)  Etudes  d'archeologie  prehistorique,  1'horaine  quaternaire  en  Mäconnais,  la  Station  de 
Tage  du  Renne  ä  Solutre  (Saone  et  Loire).  Lyon  186.S.  H.  de  Kerry  et  .\.  Arcelin:  L'Age  du 
renne  en  Mäconnais.     Memoire  sur  ia  Station  du  (.'los  du  Charnier  a  Solutre.     Mäcoii   1868. 

t*)  Etudes  paleo-ethnologiques,  ou  recherches  geologico-archeologiques  sur  l'industrie  et  le> 
inoeurs   de  l'homme   des   temps   prehistoriques  dans   le  Nord  de  la  Dauphine  et  les  environs  de 
Lyon.     Ann.  Soc.  des  seienees  industr.  de  Lyon,  1867     Nr.  3,  p    114 — 144. 
t**)  Exploration  methodique  des  grottes  du  Chaffaud  (Vienne).     Paris  1868. 


224 

Für  Belgien  bildet  die  Höhle  von  Furfooz  bei  Dinant  eine  der  reichsten 
Fundstätten  von  Rennthierknochen.  Die  Grafschaft  Namur  enthält  ferner  noch 
einige  Punkte  von  untergeordneter  Bedeutung.  Eine  resumirende  Zusammen- 
stellung der  belgischen  Rennthierfunde  überhaupt  liefert  uns  ein  coinpilatori- 
sches  Werk  von  Xavier  de  Reul*).    . 

In  Skandinavien  hat  man  viele  Rennthierreste  entdeckt.  Nilsson  theilt 
darüber  Folgendes  mit :  „Die  Rennthierskelete,  welche  wir  in  den  schoonischen 
Mooren  finden,  gehören  übrigens  einer  ganz  anderen  Rasse  an  als  das  lapp- 
ländische. Es  kam  wahrscheinlich  aus  südlicher  gelegenen  Ländern  (Gebirge 
des  südlichen  Festlandes)  und  gehörte  vielleicht  zu  der  Rasse,  welche  noch 
zu  Cäsars  Zeit  im  hercynischen  Walde  lebte"  u.  s.  w.  —  „Dass  dies  Renn- 
thier  sich  nicht  von  Schoonen  allmälig  nach  Lappland  zurückgezogen  hat, 
erhellt  daraus,  dass  in  den  Zwischenstationen  kein  Renntkierskelett,  nicht 
einmal  ein  Rennthierknochen  gefunden  ist.  Das  lappländische  Rennthier  ist 
in  einer  verhältnissmässig  viel  späteren  Zeit  über  Finnland  nach  den  norwe- 
gischen Hochalpen  gekommen,  wo  es  sich  noch  jetzt  aufhält"**).  Vogt  sucht 
nachzuweisen,  dass  das  heutige  domesticirte  Renn  beträchtlich  vom  wilden 
abweiche.  Letzteres  sei  kleiner,  seine  Knochenkanten  seien  deutlicher  aus- 
geprägt, seine  Backzähne  nutzten  sich  frühzeitiger  ab.  Die  Hausrennrasse  der 
Samojeden  des  weissen  Meeres  sei  nicht  identisch  mit  derjenigen  der  Lap- 
pen. Die  Rennthiere  des  weissen  Meeres  seien  grösser  und  hätten  ein  ande- 
res Haarkleid.  Nilsson  hat  dann  noch  einmal  die  Unterschiede  zwischen  dem 
fossilen  skandinavischen  und  dem  heutigen  wilden  Renn  des  Nordens  be- 
tont***). 

Viele  Rennthierreste  sind  auch  am  Mont-Saleve,  Savoyen,  entdeckt  wor- 
den, und  zwar  im  Verein  mit  Resten  von  Pferd,  Rind,  Hirsch,  Steinbock, 
Gemse,  Alpenhase,  Murmelthier,  Bär,  Wolf,  Fuchs,  Storch,  Schneehuhn  f). 
Denen  des  Rennthieres  sehr  ähnliche  Geweihe  sind  ferner  bei  Benken,  Can- 
ton  Zürich,  gefunden  ff).  Dagegen  vermisst  man  unser  Thier  gänzlich  in  der 
Fauna  der  Schweizer  Pfahlbauten  und  in  Italien. 

In  Deutschland  existiren  zahlreiche  Spuren  der  früheren  Anwesenheit 
unseres  Thieres.  Darunter  haben  die  zu  Schussenried  zwischen  Ulm  und 
Friedrichshafen   aufgefundenen    mit  Recht  grosse  Berühmtheit   erlangt.      Die 

')  L'Age  de  la  pierre  et  l'homme  prehistorique  en  Belgique.     Paris  et  Bruxelles  18Ü8. 
")  Das  Steinalter  oder  die  Ureinwohner  des  skandinavischen  Nordens.     Deutsche  Bearbei- 
tung von  J.  Mestorf.     Hamburg  1868,  S.   183,  Anna. 

*•')  Discussion  sur  les  aniinaux  emigres.  Im  Congres  international  d'anthropologie  et  d'ar- 
cheologie  prehistoriques.     Compte  rendu  de  la  2.  session,  Paris  1867.     Paris  1868,  p.  G7. 

f)  F.  Thioly.  Lepoque  du  renne  au  pied  du  Mont-Saleve.  Revue  savoisienne  d'Annecy, 
1868.  Dere.  Documents  sur  les  epoques  du  Renne  et  de  la  pierre  polie  dans  les  envirous  de 
Geneve  etc.  Precedee  d'une  introduetion  de  Mr.  C.  Vogt.  Description  d'objetfi  de  l'epoque  de 
a  pierre  trouves  sur  l'emplacement  lacustre  des  Kau\-vives.  Kxtiait  du  Tome  XV  du  Bulletin 
de  riustitul  genevois.    Gene-ve  1869. 

|t)  o.  Heer:  Die  1'rwelt  der  Schweiz.    Zürich  1865.    S.  542. 


225 

hierselbst  ausgegrabenen  Reste  sind  meistenteils  von  Menschenhand  bearbei- 
tet, sie  treten  auf  im  Verein  mit  Rennthieimoos.  mit  Resten  von  Vielfrass, 
Bär,  Wolf,  Goldfuchs,  Eisfuchs,  Pferd,  Ochs,  Hase,  Singschwan.*) 

Tri  Nordwestdeutschland  sind  einestheils  die  in  der  Balver  Höhle  in  West- 
falen, anderntheils  die  in  Holstein  und  iu  Mecklenburg  vorgefundenen  Reste 
benierkenswerth.  In  letzterer  Landschaft  existirten  nach  der  Darstellung  von 
Lisch  allein  20  verschiedene  Fundorte.**)  Ueber  die  in  den  älteren  preussi- 
schen  Provinzen  gewonnenen  Rennreste  berichtete  ausführlicher  R.  Vi rchow  ***) 
Ich  darf  wohl  in  dieser  Hinsicht  auf  die  in  unserer  Zeitschrift  bereite  publi- 
cirten  Angaben  unseres  berühmten  Fachgenossen  verweisen.  Ein  bei  Mellenau 
unfern  Boitzenburg  aufgegrabenes  Geweih  rnuss  einem  ungewöhnlich  kräftigen 
und  alten  Thiere  angehört  haben;  die  in  unseren  Museen  enthaltenen  Reun- 
thiergeweihe  sind  durchweg  um  mindestens  %  kleiner.  Die  Mecklenburger 
Funde  sind  fast  sämmtlich  in  Torfmooren  und  Brüchen  gemacht  worden.  An- 
dere in  Deutschland  aufgedeckte  gehören  dagegen  Höhlenresten  an  Ueber 
die  Authenticität  der  angeblich  in  Mergel  aufgedeckten  dagegen  lässt  sich, 
wie  Virchow  mit  Recht  hervorhebt, f)  noch  streiten. 

Die  in  Russland  neuerlich  gefundenen  Rennreste  sind  von  Brandtff) 
und  Grewingkfff)  näher  besprochen  worden.  In  den  Ostseeprovinzen  zeig- 
ten jene  sich  selten;  Grewingk  kennt  bis  jetzt  nur  ein  unzweifelhaft  fossiles 
Rennthiergeweih  aus  Südlivland;  andere,  die  Dondangener,  können  nach  sei- 
ner Ansicht  auch  aus  dem  gegenwärtigen  oder  vorigen  Jahrhundert  stammen, 
zumal  owohl  in  Schottland  und  Pommern,  als  auch  in  Kur-  und  Livland 
(verunglückte)  Accl  imatisations  vers  uche  mit  dem  Rennthiere  an- 
gestellt worden  sind.  Verf.  erklärt  übrigens,  dass  er  die  Seltenheit  der  Funde 
fossiler  Rennthierreste  in  den  Ostseeprovinzen  noch  nicht  als  beweisend  für 
die  Seltenheit  ihres  Vorhandenseins  ansehen  könne.  Reste  dieses  Geschöpfes 
würden  leichter  übersehen  und  verkannt,  erhielten  sich  weniger  gut,  könnten 
älter  und  daher  weniger  zugänglich ,  aber  ebenso  zahlreich  vorhanden  sein, 
als  gewisse  der  dortigen,  zufolge  ihres  Vorkommens  und  Erhaltungszustandes 
als  fossil  bezeichnete  Elenreste  u.  s.  w.  Es  sei  ferner  wenig  wahrschein- 
lich, dass  dies  Thier  .bei  seinen  Wanderungen  nach  und  in  West-Europa  jene 
Provinzen  besonders  gemieden  habe  und  gewöhnlich  umgangen  sei  (Brandt 
a.  a.  O.  S.  117).    Denn  nichts  berechtige  zur  Annahme,  dass  das   1760  Qua 

*)  0.  Fraas  im  Archiv  für  Anthropologie,  II,  S.  34. 

**)  Bericht  des  geognostischen   Yweins   für  die   baltischen   Länder.     Lübeck  1851,   S.  5. 
Mecklenburger  Jahrbuch   1864,  Band  29,  S.  282. 

***)  Sitzungsbericht  der  Gesellschaft  naturforschender  Freunde  zu  Berlin  vom  19  Oktober 
18<i9.     Sitzungsbericht  der  Berliner  anthropologischen  Gesellschaft  vom    \2.   Februar  1S70. 

f)  Sitzungsbericht    der    Berliner   anthropologischen  Gesellschaft    vom     12    Februar    I87<i 
S.  diese  Zeitschr.  1870,  Heft  II,  S.  165. 

ff)  Verhandlungen  der  mineralogischen  Gesellschaft,  zu  St.  Petersburg,  Serie  II,  Md.  2, 
ISGT.     Petermann,  Geographische  Mittheilungen,  l si;t, _  S.  ?o->. 

ttt)  Schriften  der  gelehrten  estnischen  Gesellschaft.  N"    »'•      hnrpat    .   '  ■' 

Zeititcbrift  für  Ktlmologie,  Jabrgaug  l!)7u.  j  lj 


226 

dratmeilen  messende,  zwischen  56  und  00  Grad  Br.  belegene,  mit  ausgedehn- 
ten Wäldern  und  Mooren  versehene  Areal  (der  Ostseeprovinzen)  der  Existenz 
des  Rennthieres  während  der  Quartärperiode  mehr  Hindernisse  dargeboten, 
als  die  Gouvernements  Nowgorod  und  Twer,  wo  das  Kennthier  sich  nocli 
jetzt  zuweilen  zeige,  oder  als  Litthauen.  Pommern  und  Mecklenburg  u.  s.  w. 
Eine  für  die  ganze  Quartärzeit  geltende  Lückentheorie  des  Rennthiervorkom- 
mens  im  mittleren  Theile  Europas  sei  überhaupt  nicht  zu  halten,  seit  mau 
Reste  des  Rennthieres  in  Irland,  Englaud,  Dänemark  und,  wenn  auch  selten, 
/wischen   Schoonen  und  Lappland  kennen  gelernt  habe. 

Soweit  die  Funde,  welche  uns  hier  vorläufig  interessiren  könnten,    lieber 
•las   gleichzeitige    Vorkommen    des   Menschen   und    des   Renns   im 
alten  Europa    darf  ein  Zweifel  jetzt  nicht  mehr  Platz  greifen.     Die  vielen   in 
Höhlen   mit   Rennthierknochen   beisammen    gefundenen   Produkte   einer   wenn 
auch    noch   rohen   menschlichen  Industrie,    die  so  viele  Spuren  unmittelbarer 
Bearbeitung  zeigenden  Geweihstücke  dieses  Thieres  selbst  in  Bodenschichten 
von    nachweisbarem  Alter,    endlich   auch    mancherlei    eingekratzte  und  relief- 
artig ausgeschnitzelte   figürliche   Darstellungen    unseres   Thieres   auf  Geweih- 
fragmenten und  Knochen  vom  Renn  geben  beredte  Zeugen  für  jene  (Koexistenz 
ab.     Man    hat    häufig  die  Echtheit,  der  erwähnten  alteuropäischen  Thierbilder 
des  Mammont,  Renn,  Wisent,  Ur's,  Pferdes  u.  s.  w.  in  Zweifel  gezogen,  die- 
selben  sogar  ohne  Weiteres  für  auf  die  Mystificirung  leichtgläubiger  Gelehr- 
ter   berechnete    Produkte    einer   neueren    Fälschungsindustrie    erklärt.      Diese 
Thierbilder,  hiess  es  hier  und  da,    seien  in  viel  zu.correcten  Umrissen  aus- 
geföhrt,    als    dass   ein   roher  al+europäischer  Steinmensch   sie   ohne   genauere 
uaturgeschichtliche  Kenntnisse  hätte  schaffen  können.    Man  gab  z.  B.  an,  dass 
die  bekannte  Zeichnung  des  Mammont  auf  Mammont-Elfenbein  aus  der  Höhle 
La  Madeieine,  Perigord,  Departement  der  Dordogne,  an  welcher  der  Nacken 
eine  unnatürlich  tiefe  Einsattlung  zeige,   nach  den  Umrissen  eines  entfleisch- 
ten Elephantenschädels,    vielleicht   gar  nach  der  Abbildung  eines  solchen  in 
l'uviers  ossements  fossiles  copirt  sein  könnte.  J  Dagegen  Hesse  sich  freilich 
der   Einwand    erheben,    dass    ein  alter  Darsteller  sich  wohl  auch  nach  einem 
entfleischten   Mammontkopfe  hätte   richten  können.      Sodann   hat   Brandt  auf 
die    in    der    betreffenden  Zeichnung  berücksichtigte,    für  Elephas  primigenius 
Blumen!),  charakteristische,    so  sehr  erhabene  Stellung  der  hinteren  Kopfpar- 
thie  mit  Recht  aufmerksam  gemacht.**) 

Wer  möchte  nun  freilich  für  die  unanfechtbare  Echtheit  solcher 
Gegenstände  mit  vollkommenster  Sicherheit  einstehen?  Könnten  jene  der  an- 
erkanntesten Hochachtung  aller  Fachgenossen  theilhaftigen  Forscher,  welche, 

*)  E  v.  Jlartens  in  dem  Sitzungsberichte  der  Gesellschaft  naturforsehendev  Freunde  zu 
Berlin  vom  19.  Juni  1 8t;*;. 

**)  Melanies  biolog-iques  V,  pag\  733  und  Tafel.  Vielleicht  hat  der  Urheber  der  firavirung 
gerade  diese  Höbe  des  Hinterkopfes  so  recht  hervorheben  wollen  und  den  Nacken  uubedachtsam 
K'iedei  etwas  /u  niedrig  gemacht. 


■i-n 

wie  ein  E.  Lartet,  ein  H.  Christy,  derartige  Dinge  beschrieben  und  in  ge- 
treuen Abbildungen  wiedergegeben,  selbst  trotz  aller  angewandten  Vorsicht 
nicht  Opfer  eines  frivolen  Betruges  geworden  sein?  Liegen  nicht  genug  ab- 
schreckende Beispiele  vor,  dass  sich  selbst  die  gewiegtesten  Alterthumskun- 
rligen  durch  geschickt  ins  Werk  gesetzte  Betrügereien  haben  foppen  lassen? 
Obne  derartige  Möglichkeiten  ganz  ausser  Acht  zu  lassen,  behaupte  ich  doch 
zunächst,  dass  selbst  sehr  rohe,  völlig  in  der  Kindheit  stehende  Völker 
naturgetreue  Umrisszeichnungen  von  Tbieren,  Pflanzen  und  anderen  Natur- 
produkten anzufertigen  verstehen.  Trifft  man  nicht  auch  unter  den  Kritzeleien 
der  Diarien  talentvoller  Schulbuben  des  zarteren  Alters  zuweilen  ganz  tref- 
fende Sudeleien  von  Menschen  und  Thielen  au,  Fratzen,  denen  eine  gewisse 
schlagende  Charakteristik  kaum  abgeht.  Ich  will  nicht  weiter  von  den  an- 
erkannt prachtvollen  Zeichnungen  und  Skulpturen  der  Aegypter,  Assyrer, 
Perser,  von  den  weniger  guten,  aber  immer  noch  leicht  erkennbaren  anderer 
alter  Kulturvölker,  wie  Inder,  Birmanen,  Chinesen,  Yukateken ,  Mexikaner, 
Peruaner  u.  s.  w.  reden.  Ich  mache  nur  auf  di^  Thierdarstellungen  der  rohen 
Betschuanen,  Buschmänner,  Mountbuilder,  Garamanten.  Jorubaner.  Dahomier, 
Aleuten,  Grönlands-Esquimeaux  u  s.  w.  aufmerksam.  Auch  in  diesen  höchst 
groben  Thierzeichnungen  und  Thierskulpturen  erkennt  man  die  dem  speci- 
tischen  Habitus  der  darzustellenden  Bestien  gewidmete,  dem  Wesentlichen 
desselben  zugewandte  Naturauffassung.  Danach  könnten  auch  jene  eingekratz- 
ten und  ausgeschnitzten  Figuren  von  Rennthieren  z.  B.  der  Stationen  von 
lAugerie-Haute  (Commune  de  Tayac,  Arrondissement  Sarlat)*)  und  TAugerie 
hasse  daselbst*");  ferner  von  La  Madeleine ***j  sehr  wohl  die  ehrwürdigen  Zeu- 
gen des  primitiven  künstlerischen  Streben s  alteuropäischer  Rern- 
thierjäger  sein.  An  der  Echtheit  jener  zahlreichen,  zum  Theil  mit  ein- 
gekritzelten Figuren  geschmückten,  auch  zu  allerhand  Geräthen,  zu  Schmuck- 
gegenständen u.  s.  w.  umgearbeiteten  Geweihfragmente  des  Renn  von  der 
Schussenquelle,  deren  0.  Fraas  nicht  wenige  mit  der  peinlichsten  Sorgfalt 
hat  abbilden  lassen, f)  kann  kein  vernünftiger  Mensch  mehr  zweifeln.  Aber 
selbst  die  so  vielfach  angefochtenen  Funde  einer  aus  Renngeweih  gearbei- 
teten, mit  Widerhaken  versehenen  Pfeilspitze  der  Breccie  von  Eyzies,ff) 
dann  sogenannter,  aus  der  gleichen  Substauz  verfertigter  Kommandostäbe  und 
löffelartiger  Instrumente  zeugen  für  das  ältere  gleichzeitige  Zusam- 
menleben von  Menschen  und  Rennthieren  im  mittleren  und  sogar  im 
südlicheren  Europa. 

*    Cavernes  du  Perigord.    Objets  graves  et  sculptes  des  temps  prehistoriques  dans  I  Em 
i-ope  occidentale   par  E.  Lartet  et  H    Christy.     Kxtrait  de  la   Kevin-  arcbeologique,     Paris   1864, 
patr.  34. 

••)  Auf  Schiefer  eingekritzelt,  im  Besitze  Hrn.  Vibrayc's  -     höchst  charakteristisch.     <  f. 
Gervais.  Recherches,  pag.  35,  Fig.   1. 
•**)  Reliquiae  Aquitanicae  PI.  II. 
i)  Archiv  für   Anthropologie.  II.  Fig.  IG    -30. 
|-|     Lallet  el   Christy:  l'averne»  du   Perigoid,  pag.   1(5,   AMiildiing 

16* 


228 

Die  Uebereinstimmung  einer  nicht  unbedeutenden  Menge  verbürgter  That- 
sachen  führt  uns  jetzt,  allgemein  zu  der  Annahme  hin,  dass  auf  die  warme 
Tertiärzeit  eine  Zeit  folgte,  während  welcher  unter  starker  Abnahme  der  Tem- 
peratur ungeheure  Gletsehermassen,  zunächst  von  den  Gebirgen  aus,  sich 
über  grössere  Strecken  Europas  ausbreiteten.  Eine  unwirtbliche  arctische 
Natur  entwickelte  sich  an  vielen  Stätten,  an  denen  noch  zur  Miocenzeit  son- 
derbare plumpe,  z.  Th.  den  Tapiren  verwandte  Dickhäuter  unter  den  Fächer- 
blättern stattlicher  Palmen  Schatten  suchten,  wo  riesige  Hyaenaeluren,  wahre 
Tiger  der  Molasse,  den  behenden  Schlankaffen  nachgestellt,  wo  vom  Rande 
der  Wasserpfützen  her  das  dröhnende  Gequake  der  Riesenfrösche  ertönt. 
Nunmehr  mussten  bei  uns  die  kargen  Gewächse  des  hohen  Nordens  ihr 
Dasein  an  und  zwischen  den  Felsblöcken,  den  Schollen  des  auf  weite  Strecken 
hartgefrornen  Bodens  fristen.  In  Oberschwaben  deckten  z.  B.  Moose  hoch- 
nordischer und  alpiner  Standorte,  wie  Hypnum  sarmentosum,  H.  aduncum  var. 
groenlandicum  und  H.fiuitans,  z.B.  um  Schussenried  die  Oberfläche.*)  Schwim- 
mende Eismassen  verhreiteten  die  Pflanzen  von  Grönland  und  Island  nach 
den  Inseln,  den  Küsten  Europas,  nach  Schottland,  England,  Deutschland  u.  s.  w. 

Zugleich  mit  den  arctischen  Pflanzen  wanderten  damals  auch  arctische 
Thiere  in  die  eisstarrenden  Länder  des  nun  jetzt  wieder  gemässigten,  selbst 
wärmeren  Europa  ein.  Das  Rennthier  zog  sich,  wohl  von  Nordasien  her, 
das  einen"  grossen  Theil  Deutschlands  bedeckende  östliche  Meer  umgehend, 
nach  der  Schweiz  und  nach  Frankreich.  Eine  Zeit  lang  trennte  kein  Kanal 
das  letztere  Land  von  Grossbritannien.  Auch  hierher  konnten  daher  Renn- 
thiere  gelangen,  und  es  hielten  sich  dieselben  dort  allem  Anscheine  nach 
noch  bis  in  eine  verhältnissmässig  ganz  neue  Zeit,  lange  noch,  nachdem  sich 
die  Isolirung  der  britischen  Inseln  von  dem  Festlande  bereits  vollzogen  hatte. 

Allmählich  erreichte  aber  selbst  die  \  Gletscherperiode  ihr  Ende.  Das 
Hennthier,  welches,  wie  wir  oben  kennen  gelernt,  auch  in  nicht  arctischen, 
in  weniger  kalten  Ländern  auszudauern  vermag  (8.  213),  blieb  noch  hier  und 
da  in  Mitteleuropa  zurück.  Viele,  viele  Rudel  mögen  in  jenen  Zeiten  nach 
Norden  und  Nordosten  hin  ausgewandert  sein.  Ein  sehr  grosser  Theil  dieser 
Geschöpfe  ist  jedoch  den  sich  fernerhin,  wiewohl  langsam  vollziehenden  kli- 
matischen Umwandlungen  und  den  Jagdwaffen  seines  mächtigen  Zeitgenossen, 
des  Menschen,  erlegen.  So  ist  es  denn  in  vielen  Theilen  der  Welt,  in  denen 
es  ehedem  häufiger  vorgekommen,  vollständig  verschwunden,  weit  spä- 
ter freilich,  als  der  Mammont,  das  langborstige  Knochennashorn  und  andere 
jener  grossen  von  uns  früher  als  der  Rennthierzeit  angehörig  erwähnte  Säuge- 
thiere. 

Hut  das  Rennthier  in  unseren'Gegenden  noch  in  geschichtlicher  Zeit 
existirt?  Die  alten  Griechen  warfen  unter  der  Bezeichnung  cü^avöo^  die  ihnen 


')  Vergl     \.  Braun     Sitzungsbericht  der  (iesollschaft  naturforscbender  Freunde  zu  Berlin 
%  um  19.  März  l»G7. 


229 

nur  sehr  mangelhaft  bekannten  Hirschthiere  Kenn,  Elen  und  vielleicht  auch 
^chelch  zusammen.  Diese  Thiere  gehörten  dem  fernen  ,,Scythien"  an.  Auch 
Plinius  unterschied  Renn  und  Elen  nicht  deutlich  (VIII,  34).  Caesar  erwähnt 
de  belle  Gallico  VI,  WJ(!  des  damaligen  Vorkommens  hirschähnlicher  Ochsen 
bos  cervi  figura  -  im  hereynischen  Walde,  deren  6  und  9  je  ein  ver- 
ästeltes  Gehörn  trügen.  Unter  dieser  Angabe  vermuthen  G.  Cuvier,*)  Oken,**) 
Nilsson,***)  Brandt,  (a.  a.  0.)  und  Andere  die  schlechte  Beschreibung  eines 
Rennthieres,  und  dies,  wie  mir  scheint,  mit  allem  Hecht.  Maack  fügt  dem 
nur  die  Bemerkung  hinzu,  dass  die  angeblich  von  der  lappländischen  ver- 
schiedene schoonische  Rasse-]-)  in  einem  minder  kalten  Klima  gelebt  habe 
und  dass  dadurch  der  Anstoss  beseitigt  werde,  dass  zu  Caesar's  Zeit  das 
Kenn  noch  in  Deutschland  gelebt  haben  solle,  welches  Land,  wenn  auch  käl- 
ter als  jetzt,  doch  kein  lappländisches  Klima  gehabt  haben  werde. ff)  Nils- 
son's  Annahme  zufolge  wäre  das  Thier  in  einer  verhältnissmässig  viel  späte- 
ren Zeit  über  Finnland  nach  den  norwegischen  Hochalpen  gekommen. 

Man  hat  früher  fast  allgemein  geglaubt,  unser  Geschöpf  habe  noch  bis 
ins  14.  Jahrhundert  hinein  in  den  Pyrenäen  existirt.  Denn  Gaston  Phoebus  111., 
Graf  von  Foix  und  Herr  von  Bearn,  geboren  1331  und  gestorben  1390,  hatte 
in  seinem  „Miroir  de  Phoebus  des  deduits  de  la  chasse"  das  Renn,  Rangier, 
und  seine  Jagd  sehr  genau  beschrieben.  Da  nun  aber  die  Ländereicn  des 
Gaston  Phoebus  am  Fusse  der  Pyrenäen  gelegen,  so  hatte  Buffon  daraus  auf 
die  Anwesenheit  des  Thieres  in  den  Frankreich  von  Spanien  trennenden 
Bergen  noch  zu  jener  späten  Zeit  geschlossen  und  Mellin,  Schreber  und  An- 
dere hatten  sich  seinem  Urtheile  angeschlossen.  Nicod  hat  im  Tresor  de  la 
Langue  p.  537,  art.  rangier,  die  Stelle  aus  Gr.  Phoebus  in  folgender  Weise 
commentirt:  rPhoebus  dit  que  de  rangier  il  n'en  a  point  vu  en  Romains  pays; 
trop  bien  en  Mauritanie,  oü  il  l'a  vu  prendre  ä  force  de  chiens  qu'on  nomine 
baulx." 

Erst  G.  Cuvier  vermochte  Licht  über  diesen  Gegenstand  zu  verbreiten. 
Er  hat  mehrere  Ausgaben  des  Miroir  de  Phoebus  geprüft,  sowie  verschiedene 
andere  auf  das  ganze  Verhältniss  bezügliche  Schriften.  Der  grosse  Anatom 
hat  nun  daraus  die  Ueberzeugung  gewonnen,  dass  G.  Phoebus  auf  den  Hülfe- 
ruf  des  Hochmeisters  des  Deutschen  Ordens,  Winrich  von  Kniprode  hin  mit 
anderen  Rittern  die  feindlichen  Litthauer  bekämpft  und  in  Skandinavien  per- 
sönlich Rennthiere  beobachtet.  Gaston  Phoebus  sagt  ja  selbst  in  einem  an 
Messire  Philipp  le  Hardi,  Duc  de  Bourgogne  gesandten  Exemplare  seines 
Buches  unter  der  wohl  erkennbaren  Figur  eines  Rennes:  „J'en  ay  veu  en 
Nourvegue  et  en  Xuedene  et  en  ha  oultre  mer,  mes  en  Romains  pays  en  ay 

*)  Ossements  fossiles,  VI.  pag.  117. 

*•)  Allgemeine  Naturgeschichte,  VII.  Band,  2.  Abtheilung,  S.  1298. 
*••)  Das  Steinalter  u.  s.  w.,  S.  184  Anm. 

t)  Nicht  Species,  wie'  Maack  fälschlich  schreibt.     Vergl.  S.  214. 
t+)  Urgeschichte  des  Schleswig-Holsteinischen  Landes,  Theil  I,  Kiel   1869,  S.  155. 


230 

je  peu  veu."  Der  jagdkundige  und,  wir  man  bemerkt,  durchaus  wahrhaftige 
Graf  v.  Foix  ist  ako  von  etlichen  Auslegern  nur  falsch  commentirt  worden.') 
Es  fällt,  demnach  jene  auf  seine  Autorität  gestützte  Angabe  von  der  Existenz 
des  Reims  in   den   Pyrenäen   zur  Zeit  König  Philipp   f II .  gänzlich   zusammen. 

Es  hatte  bereits  Vinceuz  von  Beauvais  die  Heimath  des  von  ihm  genau 
characterisirtenRangifer  nach  Skandinavien  verlegt.**)  Während  nun  Alber- 
tus Magnus***),  C.  Gessner  und  Belon  sich  sehr  mangelhaft  über  unser  Thier 
unterrichtet  zeigen,  weiss  Aldrovandi  dasselbe  ganz  gut  darzustellen  und  vom 
Elenu  zu  unterscheiden.-)-)  was  jenen  Anderen  weit  weniger  möglich  gewesen. 
Die  beste  ältere  Beschreibung  des  Renn  verdanken  wir  übrigens  Olaus  Magnus, 
dem  wohlbekannten  naturkundigen  Upsaler  Bischöfe,  ff) 

In  Grossbritannien  scheint  das  Thier  vergleichungsweise  spät  aus- 
gedauert zu  haben  (S.  222).  Die  noch  gegenwärtig  wildreichen  schottischen 
Hochlande  gewährten  ihm  angeblich  bis  in  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts 
ein  Asyl.  Es  bildete  hier  immer  nur  einen  Gegenstand  der  Jagd,  niemals 
des  Hausstandes. fff) 

Wann  ist  nun  das  Thier  im  dänischen  Gebiete  erloschen?  Die  hiesi- 
gen Kjoekkenmoeddinger,  welche  den  Haushund  als  Begleiter  des  Menschen 
nachweisen,  enthalten  keine  sicheren  Spuren  desselben.  Nilsson  bemerkt  hier- 
über: „Als  das  Rennthier  seine  Wanderungen  über  Land  zwischen  Nord- 
deutschland und  Scandinavien  nach  dem  Eintreten  des  oft  benannten  Natur- 
ereignisses *f)  nicht  mehr  unternehmen  konnte,  scheint  es  hier  bald  danach 
ausgestorben  zu  sein.  Und  um  diese  Zeit  scheint  auch  in  Dänemark  erst 
jene  Bevölkerung  existirt  zu  haben,  welche  die  oft  beschriebenen  Küchen- 
abfälle hinterlassen  und  dies  erklärt  uns,  warum  in  denselben  keine  Renn- 
thierknochen  gefunden  wurden,  da  sie  sowohl  in  dänischen  als  in  schoo- 
nischen  Mooren  vorkommen.  Ist  das  Rennthier,  nachdem  es  seine  jährlichen 
Wanderungen  einstellen  musste,  bald  ausgestorben,  so  hat  sich  der  Ur  um 
so  länger  hier  erhalten"   u.  s.  w.  **f) 

Ueber  das  Aufhören  des  Rennthieres  in  Deutschland  fehlen  uns  eben- 
falls irgendwie  sichere  Spuren.  Zu  Caesar  s  Zeit  soll  es  also  noch  Bewohner 
des  hereynischen  Waldes  gewesen  sein.  —  Wie  lange  aber  noch  nach  Cae- 
sar, das  lehrt  uns  freilich  keine  Angabe  eines  Chronisten.    Grewingk's  An- 

*)  Ossem.  foss.  1.  c    p.   119  Anm.     Vergl.   ferner   die   kritische  Darstellung  dieses  Gegen- 
standes bei  Oken  a.  a.  0.  S.   1300. 

**)  Speculuin  naturale,  XX,  103. 
'**)  „In  partibus  aquilunis,  versus  poluui  areticum  et  etiam  in  partibus  Norvegiae  et  Sueviae." 

t)  Bisulca  1621,  p.  857,  auch  863. 
tt)  De  gentibus  septentrionalibus  1562,  p.   133. 

ttt)  Hibbert:  On  the  question  of  the  existence  of  the  Rein-deer,  during  the  12  Century 
in  Caithness.     Edinb.  Joum.  of  scienc.    New  ser.  V,  p.  50. 

*t)  Grosse  Meeresfluth ,   die  der  Ostsee  ihre  heutige  Begrenzung,   den  anliegenden  Küsten 
ihre  Gestaltung  verlieh.     Nilsson  fügt  hier  hinzu:    „Es  ist  überhaupt  gar  nicht  erwiesen,   dass 
die  Katastrophe  zu  einer  Jahreszeit  stattfand,   als  die  Rennthiere  sich  in  Schoonen  aufhielten" 
*         **t)  Steinalter  u.  s.  w.,  S.  188  ff. 


231 

merkung.  dasR  nach  Mittbeilung  seines  Freundes  Dr.  E.  Boll  zu  Neubranden- 
burg  siel)  das  Lpben  dieses  Thieres  in  Mecklenburg  auf  etwas  mehr  als  1000 
Jahre  zurückschieben  bisse  (S.  11),  findet  sich  ohne  weitere  geologische  oder 
historische  Begründung  vor.  Der  verehrte  Dorpater  Verfasser  fahrt  dann 
weiter  fort:  „Die  genauere  Untersuchung  der  einzigen  Localität  unserer  Ost- 
seeprovinzen, wo  vor  20  Jahren  ein  Rennthier  in  20'  Tiefe  eines  Moores*) 
ausgegraben  wurde,  liegt  nicht  vor  und  wird  schwer  nachzuholen  sein.  Geht 
man  von  der,  im  vorliegenden  Falle  wenig  brauchbaren  Zahl  von  50  Jahren 
Bildungszeit  für  eine  Torfschicht  von  1'  Mächtigkeit  aus,  so  würde  unser 
Fund  auf  ein  Leben  des  Kennthiers  vor  600  Jahren  führen.  Legt  man  da- 
gegen die  Berechnung  des  Pfahlbauten-Torfs  (100  Jahr  per  Fuss)  zu  Grunde, 
so  hätte  das  Rennthier  von  Neu-Kaipen  vor  1200  Jahren  gelebt.  Dergleichen 
Zahlen  lassen  sich  selbstverständlich  nicht  verwerthen,  so  lange  nicht  andere 
Momente  für  Bestimmung  der  Zeit  des  Rennthierverschwindens  herbeigezogen 
sind.  Dieses  Verschwinden  wird  aber  in  den  Ostseeprovinzen,  wo  es  weder 
durch  hinreichend  grosse  Veränderungen  der  äusseren  Natur  (soweit  sie  nicht 
vom  Menschen  abhängen)  und  namentlich  nicht  durch  ungeeignetes  Klima, 
Nahrung  oder  durch  innere,  das  Aufhören  der  Propagati onsfähigkeit  bedin- 
gende Gründe  zu  erklären  ist,  einestheils  den  Erbfeinden  des  Reu nthi eres 
aus  dem  Thierreiche,  anderntheils  aber  namentlich  dem  Menschen  als  Ver- 
uichter,  sowie  dessen  zunehmender  Zahl  und  CuJtur  zuzuschreiben  sein." 
Nach  Grewingk's  ferneren  Untersuchungen  liefert  „keine  Geschichtsquelle  der 
Ostseeprovinzen  eine  Andeutung  von  der  früheren  Existenz  des  Rennthieres 
in  denselben."  Es  sei  dem  gründlichsten  Kenner  des  Estenvolkes,  Dr.  Kreuz- 
wald in  Werro,  nach  Allem,  was  er  von  dessen  Sprache  und  Erinnerungen 
wisse,  bis  jetzt  nichts  vorgekommen,  das  auf  eine  frühere  Bekanntschaft  die- 
ses Volkes  mit  dem  Rennthier  hinweise,  während  das  Elen  schon  im  Jahre 
1000  bei  den  Liven  genannt  Werde  und  kein  Grund  vorliege,  das  damalige 
livische  Eleu  (pudrs)  für  etwas  anderes  zu  halten,  als  das  heutige. 

Eine  sehr  alte  Benennung  —  pedru  —  für  das  Rennthier  finden  wir 
nach  Grewingk  bei  den  Kareliern,  jenem  Finnenvolke,  welches  im  eigent- 
lichen Grenzgebiete  der  Verbreitung  des  Renns  und  Elens  lebend,  mit  bei- 
den Thieren  zufolge  den  in  Granit  geritzten  Bilderschriften  am  Onegasee**) 
bekannt  ist,  dieselben  auch  gegenwärtig  noch  jagt.** ':)    Uebrigens  werde  das 

*)  Bei  Neu-Kaipen  in  Südlivland,  Kreis  Riga,  wurde  das  oben  erwähnte  vollständige,  doch 
aus  sehr  mürben,  auseinanderfallenden  Knochen  bestehende  Gerippe  eines  Rennthieres  gefunden, 
von  welchem  eine,  an  der  Luft  erhärtende  Geweihstange  in  das  Rigaer  Museum  gelangte  (a.  a. 
O.  S.  4). 

**)  Melanges  Russes  de  l'Ac.  des  sc.  de  St.  Petersbourg,  II,  p.  427—434. 

***)  Nach  A.  v.  Nordmauu  streift  das  „circumpolare  Rennthier,  welches  seine  nördlichste 
Aufenthaltszone  mit  dem  Eisbären  und  dem  Eisfuchse  theilt,  und  an  einigen  Orten  des  neu- 
erworbenen, weitläufigen  Amufgehietes  mit  dem  bengalischen  Tiger  zusammentrifft,  -  ia  ver- 
wildertem Zustande  bis  in  das  eigentliche  Finnland  hinein  und  kommt  namentlich  zur  Winter- 
zeit  rudelweise  bis  zum  Ladogasee  und   zu   dessen  Inselgruppen.     Einzeln  vorkommend   ist  es 


232 

Rennthier  iu  den  alten  Liedern  und  Sagen  der  Eisten  gänzlich  vermisst 
so  ■/..  B.  in  der  Kalewipoeg-Sage,  in  welchem  doch  andere  Jagdthiere  wie 
der  Waldochse  (Metsärg  -  Ur,  d.  b.  Boa  prinbigenius)  mit  Elen,  Bär,  Wolf 
und  Hase  zusammen  aufgeführt  würden. 

Dürfen  wir  nun  dem  oben  Mitgetheilten  zufolge  auch  das  Vorkommen 
des  Kennthieres  in  gewissen  Theilen  Grossbritanniens  und  Deutsehlands  noch 
zur  geschichtlichen  Zeit  für  wahrscheinlich  halten,  so  können  wir  doch 
aber  dieses  Vorkommen  nur  für  ein  vereinzelteres  erklären,  da  sich  das  gänz- 
liche Verschwinden  unseres  Geschöpfes  in  anderen  europäischen  Ländern 
schon  zu  eben  jenen  Zeitläuften  als  völlig  erwiesen  darstellt.  Die  vielen  lehl- 
geschlagenen  Acclimatisationsversuche  unseres  Renn  in  Deutschland,  Gross- 
britannien, Frankreich  u.  s.  w.  zeigen,  dass  jenes  Geschöpf  im  gemässigten 
Europa  heut  keineswegs  mehr  die  zu  seinem  Fortkommen  erforderlichen 
Bedingungen  und  Nahrungsmittel  vorfindet. 

Es  fragt  sich  nun,  ist  das  alte  Renn  Mitteleuropas  bereits  Hausthier 
oder  ist  dasselbe  nur  Jagdthier  gewesen?  P.  Gervais  hat  neuerdings  mehr- 
fach die  Ansicht  vertreten,    es  sei  das  Rennthier  von  aus  Norden  gekomme- 
neu Völkern,    von    hyperboräisehen   Lappen,    von    skythischen  Finnen    in 
unsere  Gegenden    eingeführt   worden.     Die  heutigen  Finnen  müssten  als  Ab- 
kömmlinge früher  sehr-  zahlreich  gewesener  Horden  gelten,    die  dann   später 
durch  Mongolen,  Türken  und  Slawen   zurückgedrängt  und  unterjocht  worden 
seien.     Im  fünften  Jahrhundert  der   christlichen  Aera  seien  die  Finnen  noch 
unabhängig  gewesen  und  habe  man,    wiewohl  mit  Unrecht,  behauptet,   Attila 
sei    einer    der    ihren    gewesen.     Die   Eroberungen    dieser    nordischen    Völker 
und  ihr  mögliches  Auftreten  an  den  Ufern  des  Mittelmeeres,    wohin   sie   das 
Renn  eingeführt,  woselbst  sie  es  zur  Verwendung  gebracht,  würde  den  älte- 
sten geschichtlichen  Documenten,   dem  Erscheinen  der  Aryas,  vorauf  gegan- 
gen  sein.     Noch   ehe   die  Finnen  den  Kampf  gegen  Mongolen,   Türken    und 
Slaven   begonnen,    müssten   sie  bereits  dem  bedrängenden  Einfluss  einer  all- 
mählich erstehenden  keltischen  Cultur  gewichen  sein.   Die  Arbeiten  Die- 
trichs  lehrten,    dass   die    Finnen   vor  Ankunft   der  germanischen  Völker   in 
Europa  nur  Pferd  und  Renn  besessen,  dass  ihnen  dagegen  Ziege,  Schaf  und 
selbst  Rind    (ohne   Zweifel   der   echte    Boa   taurua)    durch    (indogermanische) 
Scandinavier  zugeführt  worden  wären.*)    Gervais  sagt  ferner  an  einer  andern 
Stelle:    Im  Süden  Frankreichs   müsse   der  Mensch    sehr   viel  Rennthiere  ge- 
schlachtet haben.    Das  gehe  aus  der  Masse  und  Verschiedenheit  der  Kno- 
chen hervor,  so  namentlich  der  in  der  Grotte  von  Bize  gefundenen  (p.  70). 

auch  in  dem  mittleren  Theile  von  Finnland,  in  Sawolax  und  zwar  unfern  Kuopio  erlegt  worden. 
Auf  der  Insel  Walamo,  61)6°  n.  Br.,  welche  Verf  1856  besuchte,  findet  sich  auch  eine  Anzahl 
von  Rennthieren,  die  keineswegs  verpflanzt  worden  ist."  Das  dem  Verf.  aus  Lappland  reichlich 
zu  Gebote  stehende  fossile  Renn  ist  bis  jetzt  in  Russland  nicht  aufgefunden  worden,  zumal 
Cervus  leptoceros  Eichwald  aus  dem  Bug  in  der  That  unterschieden  zu  sein  scheine.  (Palae- 
ontologie  Siidrusslauds.     Helsingfors  1858—62,  S.  24:j.) 

•)  Annal.  d.  scienc.  nat.  1.  c.  p.  72.     Recherches  etc.  p.  58  ff. 


233 

Grewingk  bemerkt,  dass  Tacitus,  bei  seiner  doch  sonstige  Verhältnisse 
des  Hausstandes  berührenden  Schilderung  der  .Finnen"  nichl  des  Ronnthieres 
erwähne.  Es  gehe  aus  dieser  Schilderung  hervor,  dass  die  Finnen  nicht  mit 
Rennthieren  nomadisirt  hätten,  weil  diese  zu  auffällig  gewesen  wären,  um 
übersehen  zu  werden.  Ohne  hier  übrigens  die  rein  anthropologische  Seite 
der  von  Gervais  vertretenen  Ansicht  einer  tschudischen  Einwanderang  und 
einer  durch  Tschuden  vermittelten  Einführung  des  Renns  näher  erörtern  zu 
wollen,  möchte  ich  hier  auf  einen,  wie  mir  scheint,  sehr  wohl  begründe- 
ten, von  Vogt  aufgestellten  Einwand  aufmerksam  machen.  Dieser  Fach- 
genosse  Gervais1  bemerkt  nämlich,  dass  Gervais  Einführungstheoric  unstatt- 
haft sei,  weil  das  Rennthier  ohne  den  Hund  nicht  als  Hausthier  ge- 
dacht werden  könne,  der  zur  Hütung  der  Heerden  ganz  unumgänglich 
nöthig  sei  und  überall,  wo  Rennthiere  gezüchtet  würden,  als  Hausthier  vor- 
komme. Wer  jemals  Rennthiere  gesehen,  werde  mit  ihm  -  Vogt  —  darin 
übereinstimmen,  dass  der  Mensch  ohne  den  Hund  nicht  eines  einzigen  Renns 
Meister  werden  könne,  geschweige  denn  einer  Heerde.  Nun  habe  man  aber 
bis  jetzt  keine  Spur  eines  zahmen  Haushundes  oder  überhaupt  eines  II  aus - 
thieres  bei  den  Knochen  der  Rennthierperiode  gefunden,  während  unmittel- 
bar nachher  in  den  dänischen  Küchenabfällen  der  Hund  und  später  in  den 
Pfahlbauten  noch  weitere  Hausthiere  vorkämen,  die  —  wie  Ruetimeyer  nach- 
gewiesen habe  —  sehr  wohl  von  den  wilden  Racen  durch  das  Gefüge  ihrer 
Knochen  unterschieden  werden  könnten.*)  Wenn  aber  der  Mensch  aus  dem 
Norden,  der  in  späterer  Zeit  den  Haushund  besessen,  Züge  mit  seinen  Renn- 
thierheerden  durch  den  ganzen  europäischen  Continent  gemacht  hätte,  so  wäre 
gewiss  der  Hund  ebenfalls  mit  von  der  Reise  gewesen.  Ferner  spreche  gegen 
diese  Annahme  die  ganze  nordische  Hochgebirgsfauna,  die  das  Rennthier  be- 
gleite. Der  Mensch  nehme  auf  seinen  Wanderungen  stets  mit  oder  ohne  Ab- 
sicht einige  Thiere  mit  sich  und  bekanntlich  habe  manche  wilde  Art,  beson- 
ders kleinerer  Säugethiere ,  wie  z.  B.  Nager,  sich  in  dieser  Weise  über  die 
Erde  verbreitet.  Aber  dass  eine  ganze  Fauna,  Gemse  und  Steinbock,  Moschus- 
ochse und  Vielfrass,  Bison  und  Lemming  nun  auch  mitgewrandert  wären,  das 
gehe  denn  doch  über  alle  Erfahrung  hinaus.  Diese  ganze  Fauna  wäre  viel- 
mehr naturwüchsig  auf  dem  Boden,  mit  dem  Menschen  und  dem 
Rennthiere  und  hätte  sogar  in  unmittelbarer  Nähe  von  Arten  existiren 
können,  die  jetzt  nur  im  Süden  vorkämen;  in  ähnlicher  Weise,  wie  jetzt  in 
einem  Inselklima  wie  Neuseeland  Tropenvegetation  und  Gletscher  sich  un- 
mittelbar berührten  u.  s.  w.**) 

Ich   glaube,    man   darf  Vogt   hierin  nur    beistimmen.     Aus   dieser  seiner 

*)  Es  ist  übrigens  eine  bereits  altbekannte  Erfahrung,  dass  die  Knochen  eines  zahmen 
Schweines,   Esels   u    s.  w.   sich   durch  Dichtheit,    glattes,   fettes  Wesen  und  Schwere  von  den 
dünneren,  hervorragendere   Kanten  und  Musttelfortsätze   zeigenden,    trockneren   und   leichteren 
Knochen  der  entsprechenden  wilden  Thiere  ganz  gut  unterscheiden  lassen. 
•*)  Archiv  f.  Anthropologie,  I,  S.  38. 


234 

Deduction  .  der  wir  kaum  irgfind  Etwas  hinzuzufügen  wüssten.  sjeht  zur  Ge- 
nüge hervor,  das«  an  die  Einführung  des  Hausrenns  von  zur  Eisperiode  nach 
Europa  eingedrungenen  Tschnden  schwerlich  gedacht  werden  könue.  Das 
Renn  scheint  damals,  wie  noch  jetzt  im  Norden  Amerikas  u.  s.  w.,  nicht 
Hausthier,  sondern  ausschliesslicher  Gegenstand  der  Jagd  von  Seite  der 
menschlichen  Zeitgenossen  gewesen  zu  sein,  welchen  letzteren  Haut,  Sehne, 
Fleisch,  Talg,  Knochen  und  Geweih  ebenso  vieles  für  den  Unterhalt,  ver- 
wrrthhares  Material  geliefert  haben  mochten,  wie  noch  heut  Trappers  und 
f'oureurs  des  Bois,  Hundsrippenindianern,  Ko-Yukons,  Orotschonen  u.  s.  w. 
Mag  auch  die  Domesticirung  dieses  Geschöpfes  sich  an  gewissen 
Oertlichkeiten  in  eine  sehr  ferne  Vorzeit  verlieren,  uns  fehlen  leider  alle  ge- 
naueren Anhaltspunkte  über  diesen  Zeitpunkt.  Ich  finde  nur  eine  Stelle 
Aelian's,  welche  in  dieser  Hinsicht  Beachtung  verdient:  Wilde  Skythier  rit- 
ten auf  gezähmten  Hirschen  wie  auf  Pferden  —  sehr  wahrscheinlich  doch  die 
alten  Tungus en  des  Angara,  Wilui  und  Lena!   — 


Berichtigung. 
S.  224  Z.  15  v.  u.  lies:  Pfahlbauten  und  derer  Italiens. 


Miscellen. 


Wichtige  Beiträge  zur  afrikanischen  Ethnologie  haben  uns  neuerdings  wieder  Dr.  Seh  wein  - 
furth  (Zeitschr.  der  Gesellschaft  f.  Erdkunde,  Band  V,  Heft  1,  2)  und  auch  Dr.  Nachtigall 
(das.  Heft  :i)  gebracht. 

Schweinfurth  schildert  zunächst  die  Schilluk  nach  körperlicher  Erscheinung,  Tracht  und 
Sitte..  W.  v.  Harnier's  bildliche  Darstellungen*)  gewähren  eine  treffliche  Illustration  zu  dieser 
Schilderung.  Auch  bei  den  Djanghe,  einem  bedeutenden,  um  die  Maschera-el-Rek  herumwohnen- 
den  Theile  der  grossen  Denka-Farailie,  verweilt  sich  Verf.  und  macht  uns  endlich  noch  mit  den 
physischen  Eigentümlichkeiten  der  zum  grossen  Dorvolke  gehörenden  Bongo  bekannt.  Wir 
haben  über  die  letzteren  und  die  Njam-Njaro,  nach  des  Reisenden  an  uns  direkt  gerichteten 
Briefen,  bereits  in  Heft  I.  dieses  Jahrganges  unserer  Zeitschrift  berichtet.  Bekanntlich  gewinnen 
die  Dor  ein  nicht  geringes  Interesse  durch  ihre  nationale  Verwandtschaft  mit  den  Eroberern  von 
Baghirmi.  Dr.  Schweinfurth  hat  letzthin  eine  bedeutende  Anzahl  von  Schädeln  der  Schilluk, 
Oenka,  Djur  und  Bongo,  sowie  auch  andere  Skelettheile  dieser  Völker  nach  Berlin  gesandt,  ein 
unvergleichliches  Material,  wie  es  zur  Zeit  nur  in  dem  von  dem  Kartumer  Banditengesindel 
verwüsteten  Gebiete  des  weissen  Niles  und  des  Gazelleuflusses  gewonnen  werden  konnte.  Ueber 
die  wissenschaftliche  Verwerthung  dieser  kostbaren  Sammlung  wird  unsere  Zeitschrift  gelegent- 
lich berichten. 

Dr.  Nachtigall  unterhält  uns  in  sehr  eingehender  Weise,  weit  eingehender,  weit  einleuch- 
tender, als  es  irgendwie  früher  geschehen  ist,  mit  dem  bisher  noch  unzureichend  bekannten 
Volke  der  Tibbu. ",     Verf.   zergliedert  die  Namen  dieser  Nation,    ferner  ihre  ethnographische 

*)  Reise  am  oberen  Nil.     Darmstadt  unt)  Leipzig  186t;. 

**)  So  schreibt  Nachtigall  und  so  schrieb  Referent  schon  früher  nach  directer  Aufzeichnung 
des  sehr  gebildeten   Furer's  Idris-Jmam  zu  Siut. 


235 

Stellung,  die  sie,  was  Ref.  schon  froher  nach  manchem  Anderen  kaum  zweifelhaft  erschienen, 
den  Berbern,  sogai  den  nubischen  Beräbra  und  ihren  Verwandten,  nahe  bringt;  endlich  schil- 
derl  N  mit  jenei  überlegenen  Sicherheit  der  Methode,  die  dem  Ethnologen  um  gute  medicinisch 
naturwissenschaftliche  Schulung  zu  leihen  vermag,  auch  di(  physisch'  Bes  baffenbeil 
dei  Tibbu  Dem  Schlüsse  dieser  wichtigen  Abhandlung  sehen  wir  mit  ungetheiltem  Intere  »e 
entgegen.  Wir  können  dem  muthigen  Heisenden  nur  von  Herzen  Glück  auf  neinci  mit  so  viel 
wissenschaftlichem  Sinne  eingeschlagenen  Bahn  wünschen.  H. 


Kim-  Ergänzung  zu  der  Affenherkunft  indischer  Rajafamilieu  bildet  folgende  Notiz:  «Ihm-  to  the 
Banian  tree  (on  the  Sookulteruth  island  near  Broach)  was  a  yoang  boj  (chained  bj  the  neck), 
who  was  begotten  by  a  monkey,  who  had  ravished  one  of  the  Faquiers'  wives.  He  was  aboul 
■I  feet  high,  all  the  gestures  of  a  monkey,  speechless,  hairy,  and  his  forehead  ahnosl  overgrowu, 
His  complexion  was  rather  darker,  than  any  ot  the  women  seen  there  One  of  his  hands  was 
considerabiy  shorter,  he  seemed  very  weak  on  his  legs  and  walked  with  great  caution,  for  feai 
of  falling.  The  hair  of  his  body  and  armpits  especially  was  prodigiously  long,  but  (hat  of  his 
head  rather  woolly  and  tied  in  the  centre  into  a  bunch  (Hove)  1788.  From  tbe  Mss.  in  the 
Banksian  library,  in  der  officiellen  Ausgabe  (durch  Alexander  Gibson)  1855  (mit  begleitender  Ab- 
bildung). B. 


Im  Archaeological  Journal  (Vol.  XXVI)  findet  sich  ein  Bericht  (durch  W.  0.  Stanley)  über 
Ancient  Circular  Habitations,  called  Cyttiaur  Guyddelod,  at  Tej.  Mawr  in  Holyhead  is'.and  (1869), 
Neben  Steinmörsern  einer  Hütte  wurden  gefunden  (indications  of  melting),  quantities  of  eharcoal, 
thick  masses  of  iron  slag  or  (according  to  Sir  R.  Griffith)  portions  of  the  metallic  lode,  inixed 
with  the  stone  and  floor  of  the  hut  In  einer  andern  Hütte:  stone-hammers  were  found  (grooved 
and  notched  in  the  centre),  dann  Bronze- Waffen ,  römische  Münzen.  Die  Martellos  de  pedra 
descobertos  em  trabalhos  antigos  da  mina  de  cobre  de  Ruy  Gomes  no  Alemtejo  zeigen,  das> 
technische  Gründe  den  Steinhammer  auch  selbst  au  der  Fundstätte  der  Metalle  bewahren 
konnten. 


In  dem  Recueil  des  Notices  et  Memoires  de  la  Societe  Archeologique  de  la  Province  de 
Gonstantina  findet  sich  ein  Bericht  de  Boysson's  über  die  Tombeaux  Megalythiques  de  Madrid. 
die  als  Reste  eines  Steinregens  galten,  wodurch  die  gottlose  Rasse  der  zwerghaften  Beni-Sfao 
vertilgt  wurde.  Eine  ähnliche  Sage  wird  von  den  Panda-Kulis  im  Dekkban  erzählt  und  kommt 
auch  im  Kaukasus  vor. 

In  der  Beschreibung  des  Landes  Turuchansk  durch  Tretjakow,  aus  den  Berichten  dei 
K.  R.  Geographischen  Gesellschaft  wird  von  den  dortigen  Ostjäken  oder  Tundiget  ein  neuer 
Belag  gegeben  zu  dem  weit  verbreiteten  Gebrauch  des  gegenseitigen  Vermeidens  von  Schwieger- 
eltern und  -Kindern,  wie  es  sich  bei  Omaha,  Mandan,  Abiponen,  Caffern  u.  s.  w.  rindet. 
In  Sibirien  noch  bei  den  Katschintzen.  Bei  der  unumschränkten  Gewalt  des  Hausherrn,  wie 
es  Dixon  auch  bei  den  patriarchalischen  Verhältnissen  in  Russland  hervorhebt,  soll  die  Schwieger- 
tochter gleichsam  für  ihn  nicht  vorhanden  sein,  um  nur  ihrem  Manne  anzugehören,  dessen 
Eigentumsrecht  auf  sie  dadurch  begünstigt  wird.  B. 


In  dem  letzten  Hefte  der  Zeitschrift  für  Erdkunde  (Band  V,  Heft  III.)  rindet  sich  der  von 
Herrn  Dr.  Kupfer  in  der  Sitzung  der  Anthropologischen  Gesellschaft  April  2,  1870  gehaltene 
Vortrag  über  die  Cayapo- Indianer  in  der  Provinz  Matto  Grosso,  der  ausser  einer  Beschreibung 
ihres  physischen  Habitus,  sowie  ihrer  Sitten  und  Gebräuche,  auch  ein  kurzes  Vocabularium 
aus  ihrer  Sprache  bringt. 


23« 


Büeherschan. 


Orton:  The  Andes  and  the  Amazon,  London  1870,  aus  den  Ergebnissen 
der  von  der  Kmithsonian-Institution  aiisgesandten  Expedition  nach  den  äqua- 
torialen Anden  und  dem  Amazonas. 

Die  im  Flussgebiet  des  Napo  übliche  Präparationsweise  der  Schädel  dient  zur  Erläuterung 
der  sog.  Aztekenköpfe,  die  letzthin  mehrfach  über  Guayaquil  oder  auch  über  Panama  nach 
Europa  gekommen  sind.  The  Jivaros  have  the  custom  and  art  of  corapressing  the  heads  of 
their  notable  captives,  taking  off  the  skin  entire  and  drying  it  over  a  small  mould,  they  have 
a  hideous  mumtny  which  preserves  all  the  features  of  the  original  face,  but  on  a  reduced  scale. 
They  also  braid'the  long  black  hair  of  their  foes  into  girdles,  which  they  wear  as  mementoes  of 
their  prowess  (s.  Orton).  Auch  Bates  bemerkt:  The  Mundrucus  used  to  sever  the  head  with 
knives  made  of  broad  bamboo,  and  then,  after  taking  out  the  braiu  and  fleshy  parts,  soak  it  in 
bitter  vegetable  oils  and  expose  it  several  days  over  the  smoke  of  a  fire  or  in  the  sun. 
Estratte  le  cervella  pel  foro  occipitale,  ei  lava  accuratamente  il  cranio,  lo  rimpie  di  cotono, 
e  dopo  averlo  asciugato  e  ben  ripulito  dal  saiigue,  lo  appende  al  disopra  del  focolare  onde  ri- 
ceva  quel  grado  di  calore  sufficiente  alla  perfetta  essiccazione  e  conservazione  delle  carni  cavan- 
done  soltanto  gli  occhi,  ai  quali  sostituisce  della  bambagia  colorata.  Fatto  questo,  la  tiene  es- 
posta  al  di  fuori  della  capanna  o  la  porta  sulla  punta  d'una  lancia  quando  ei  celebra  qualche 
festa.  In  tal  modo  e  conservano  eziandio  le  teste  dei  loro  parenti,  tenenendole  perö  separate 
da  quelle  dei  nemici  e  portandole  in  solennita  differenti  (Osculati).  Quando  il  Mundrucus  (taglia- 
teste)  guinge  ad  uccidere  un  suo  nemico,  saluto  gli  recide  la  testa  (preparata).  Auch  Villavi- 
cencio  spricht  davon:  Los  Jivaros  acostumbran  en  sus  guerras  contar  las  cabezas  de  sus  ene- 
migos  y  llevarlos  ä  sus  casas  para  hacer  un  aniversario  con  la  piel  de  la  cara  y  cuero  cabelludo 
que  sacan  intacto  y  secan  en  unos  moldas  de  piedra  caliente,  despojan  el  cabello  largo  de 
sus  enemigos  para  formar  trenzas  y  atärselas  ä  la  cintura  desnuda.  Das  lange  Haar  rindet  sich 
wieder  in  Yukatan,  bei  den  nach  Herrera  die  Köpfe  abplattenden  Indianern.  Their  hair  was 
long  like  woraen  and  in  tresses,  with  which  they  made  a  garland  about  the  head  and  a  tail 
hung  hehind,  wie  auch  die  Chinesen  ihren  Zopf  bei  der  Arbeit  oft  um  den  Kopf  schlingen.  Bei 
den  Napo-Indianern  bemerkte  Orton  rothe  Bemalung  (mit  Achote  oder  Anatto),  Usually  they  draw 
horizontal  bands  from  the  mouth  to  the  ears   and  across  the  forehead.  B. 


Perrin:  Etüde  prehistorique  sur  la  Savoie,  specialement  ä  l'epoque  la- 
custre  (age  du  Bronze),  Paris  Chambery  1870.  Les  nombreuses  decouvertes  de  ces 
dernieres  annees  placent  l'existence  de  nos  bourgades  lacustres  (les  palafittes  du  Bourget)  ä  l'age 
du  bronze.  L'äge  du  pierre  ne  parait  pas  y  avoir  precede  l'äge  du  bronze,  bien  que  l'on  retrouve 
des  couteaux,  des  grattoirs  et  des  pointes  de  fleches  en  silex  eclate  et  des  haches  en  pierre  polie, 
mais  en  petit  nombre ,  et  comme  continuation  des  anciens  usages,  les  memes  instruments  se  re- 
trouvent  d'ailleurs  employes  encore  ä  l'äge  du  fer  (S  25).  La  decouverte  de  quelques  debris  de 
l'epoque  romaine  a  Chätillon  et  ä  la  petite  Station  de  Gresine  n'a  pas  une  portee  plus  grande, 
que  celle  des  obiets  modernes,  que  nous  y  avons  trouves.  Der  beifolgende  Atlas  giebt  auf  der 
ersten  seiner  20  Tafeln  einen  Knochen,  decore  de  gravures  au  trait,  representant  d'un  cote  un 
bouquetin,  et  de  l'autre  un  rameau  de  fougeres  aus  Thioly's  Funden  bei  Veyrier. 


Noe:  Dalmatien,  Wien  1870.  Anziehende  Schilderungen ,  weniger  geographisch  als 
dichterisch.  Doch  besitzt  auch  diese  Auffassungsweise  für  die  Ethnologie  ihre  Bedeutung,  — 
wenn  man  Zeit  dafür  hat. 


237 


Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie 
und  Urgeschichte. 

Sitzung  vom  2.  April   187<i 

In  Abwesenheit  des  Herrn  Virchow  eröffnet  Herr  Bastian  die  Sitzung. 
Derselbe   überreicht   als  Geschenk  des  Herrn  Jagor  für  die  Bibliothek:  Le  Dänemark  ä  l'ex- 
position    universelle  de  1867,   publiee  par  la  commission  danoise. 


Herr  Lisch  übersendet  folgenden  Brief 

über  die  Framea. 

In  der  „Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie",  Sitzung  vorn  12.  Februar  1870 
ist  die  Betrachtung  der  bronzenen  „Framea"  wieder  aufgenommen,  über  welche  schon  so 
endlos  viel  geschrieben  ist.'  Ich  will  mich  über  die  Richtigkeit  dieser  Benennung,  welche  ich 
selbst,  beiläufig  gesagt,  seit  40  Jahren  gebrauche,  nicht  weiter  auslassen,  ich  will  nur  einen 
Punkt  berühren,  welcher  für  die  Erklärung  von  Wichtigkeit  sein  dürfte. 

In  der  Sitzung  ist  wiederholt  ausgesprochen,  dass  man  bei  zweifelhaften  oder  verschieden- 
artig gedeuteten  Gegenständen  möglichst  „bestimmte  Gebrauchs-Bezeichnungen  vermeiden  möge  " 
Nun  ist  aber  in  der  Sitzung  auch  wiederholt  das  Wort  Framea  durch  Pfriemen  erklärt. 
Diese  alte  Erklärung  kann  aber  nicht  richtig  sein,  denn  ein  Pfriemen  ist  eine  kleine  spitze 
Nadel  mit  Griff  zum  Bohren  eines  kleinen  Loches.  Dazu  passt  die  Wortform  Framea  nicht, 
um  so  mehr,  da  im  Altdeutschen  das  Wort  phrimo  sehr  selten  und  vielleicht  von  zweifelhaftem 
Alter  ist.  Tacitus  nahm  das  Wort  ohne  Zweifel  so  auf,  wie  er  es  hörte  Nun  giebt  es  in  allen 
germanischen  Dialekten  ein  uraltes  Wort  fram,  welches  noch  in  den  nordischen  Dialecten  und 
im  Englischen  in  der  Form  from  (=  von)  existirt,  und  selbst  noch  im  Deutschen  fromm. 
Fram  heisst  aber  ursprünglich  vorwärts;  davon  kommt  ein  Zeitwort  fram  Jan,  jetzt  frommen, 
d.   i.   fördern;    auch  fremd   gehört  demselben  Stamme  au. 

Framea  ist  also:  ein  Werkzeug  zum  Vorwärtsstossen  oder  Vorwärts  werfen  =  tfinni 
misslle.     Eine  althochdeutsche  Glosse  erklärt  die  Framea  des  Tacitus  durch:  stafswert. 

Ich  habe  diese  Erklärung,  bei  einer  Behandlung  der  Waffe,  schon  im  Jahre  1832  in  einer 
Zeitschrift  und  ausführlich  im  Friderico- Francis  ceum ,  Erläuterung,  S  3^  ff.,  IS37,  aus- 
führlich behandelt   — 


Herr  Kunth  spricht 
Deber  Fände  ans  vorhistorischer  Zeit  in  der  Umgegend  von  Berlin  nnd  Rom. 

M.  H.I  Ehe  ich  zu  dem  eigentlichen  Gegenstande  meines  Vortrages  übergehe,  bin  ich  in 
der  Lage,  zwei  interessante  Steine,  welche  deutliche  Spuren  menschlicher  Bearbeitung  zeigen, 
aus  unserer  nächsten  Umgegend,  nämlich  aus  dem  Diluvium  des  Kreuzberges,  vorzulegen.  Die 
Notiz,  welche  diese  Sachen  abhandelt,  ist  schon  alt,  sie  findet  sich  in  Karstens  Archiv  vom 
Jahre  1835.  Damals  hatte  der  jetzige  Geheimrath  Low  in  den  Schichten  des  Kreuzberges  ein 
Sandsteinstück  gefunden,  welches  deutliche  Spuren  der  Bearbeitung  zeigte,  und  von  Arbeitern 
war  ihm  ein  Feuersteinstück  übergeben  worden,  welches  polirt  ist  und  jene  keilförmige  Gestalt 
besitzt,  wie  man  sie  bei  sogenannten  Feuersteinäxten  häufig  findet.  Die  vorliegenden  Stücke 
befinden  sich  noch  im  Besitz  des  Herrn  Low,  dessen  Güte  ich  verdanke  dieselben  hier  vorlegen 
zu  können  und  dem  ich  ausserdem  für  mündliche  Mittheilungeu  \erprlkhtet  bin.  Die  Schich- 
ten, die  damals  die  beiden  Stücke  geliefert  haben,  fanden  sich  in  den  grossen  Sandgruben  un- 
terhalb der  Hopf  scheu   Brauerei;    das  Schichtenprofil,    welches   Low  giebt,    ist  folgendes-     Zu 


238 

•  ibersl  ist  Dammerde  und  Flugsand,  unter  diesem  befindet  sich  Diluvialsand  ohne  Geschiebe, 
welcher  eine  Mächtigkeit  von  8 — 12'  besitzt,  und  es  folgt  dann  eine  Schicht  von  Gross  und 
Kies,  hierauf  Diluvialsand  und  Thonmergel.  Das  Kieslager  zeigte  auf  der  oberen  und  unteren 
Seite  eine  Brauneisensteinrinde  und  in  der  untern  fanden  die  Arbeiter  diesen  Feuerstein;  er 
war  anfangs  vollständig,  die  Arbeiter  versuchten  jedoch  Feuer  daran  anzuschlagen,  wobei  eine 
Ecke  abgesprungen  ist  Später  hat  Herr  Low  ein  Sandsteinstück  gefunden,  welches  wie  ein 
Schleifsteinstück  aussiebt.  Die  Sache  hat  damals  grosses  Aufsehen  erregt;  es  ist  eine  Oom- 
mission  an  Ort  und  Steif'  gewesen,  und  soweit  es  möglich  war,  ist  constatirt  worden,  dass  diese 
beiden  Stücke  in  unverletztem  Gebirge  gefunden  worden  sind.  Es  ist  dies  die  früheste  Notiz 
und  meiner  Ansicht  nach  die  einzige  über  das  Vorkommen  von  Feuersteinwaffen  in  älteren  Erd- 
schichten unserer  Gegend:  denn  obgleich  Herr  Friedet  solche  ans  der  Umhegend  Brandenburgs 
yezeigt  hat,  so  wird  es  Ihnen  doch  zum  Theil  so  gegangen  sein  wie  mir;  Sie  werden  vielleicht 
nicht  völlig  überzeugt  sein,  dass  seine  Stücke  Kunstprodukte  sind. 

Das  zweite,  was  ich  mir  erlaube  Ihnen  mitzutheilen,  sind  Berichte  von  Ponzi  und  de  Rossi 
über  Funde  aus  der  Umgegend  von  Rom,  welche  Spuren  menschlicher  Thätigkeit  theils  aus  der 
älteren,  theils  au<  der  neueren  Steinzeit,  wie  aus  der  Bronze-  und  Eisenzeit  nachgewiesen 
hallen. 

Die  ältesten  Spuren  menschlicher  Thätigkeit,  Spuren  der  alten  Steinzeit  sind  gefunden  wor- 
den bei  Ponte  molle  Der  Tiber  hat  sich  an  dieser  Stelle  nach  und  nach  ein  tiefes  Bett  einge- 
rissen, und  man  findet  in  der  Höhe  über  dem  Fluss  Schichten  aus  Mergel  und  Süsswassergebilde 
bestehend,  welche  zum  Theil  Feuerstein waffen  enthalten.  Bei  Ponte  molle  zeigt  ein  Profil  zu- 
nächst eine  untere  Schicht  aus  grobem  Kies  bestehend,  darüber  ■jine  mergelige  Schicht,  welche 
Süsswasserptlanzen  enthält  und  darüber  eine  Schicht  aus  feinerem  Kies  bestehend.  In  den  bei- 
den Kiesschichten  sind  Feuerstein  waffen  gefunden  worden,  und  die  grosse  Mehrzahl  derselben 
zeigt  deutlich  den  Charakter  schlechter  Bearbeitung  aus  der  älteren  Steinzeit  Drei  dieser  Dinge 
sind  \on  feinerer  Bearbeitung,  sie  stammen  nach  Ponzi  aus  der  obern  Schicht,  während  die 
andern  alle  in  der  untern  gefunden  worden  sind. 

Ein  zweiter  Punkt,  wo  sich  solche  Geräthe  fandeu,  ist  Monticelli,  wo  die  Sachen  in  ganz 
ähnlichem  Verhältniss  auftreten.  Es  hat  hier  ein  Fluss  der  Quartärzeit  einen  tiefem  Einschnitt, 
im  alten  Gebirge  gemacht  wie  an  der  vorigen  Stelle  des  Tieber,  und  man  hat  in  Schichten,  die 
ebenfalls  Anlagerungen  dieses  Flusses  sind,  Feuersteinwaffen  gefunden,  und,  mit  diesen  gleich- 
zeitig, Kos  primigenius,  Elephas,  Rhinoceros  tichorhinus  etc. 

Ausser  diesen  beiden  Stellen  sind  Produkte  der  älteren  Steinzeit  noch  auf  dem  äusseren 
Abbange  des  Vulkan  von  Latium  gefunden  worden.  Die  äussere  Wand  desselben  ist  von  vul- 
kanischen Produkten  gebildet,  fast  über  den  gan::en  Vulkan  verbreitet  ist  dann  eine  Humus- 
schicht, welche  diese  Dinge  enthält  und  über  dieser  kommen  neue  vulkanische  Massen. 

Es  haben  sich  auch  in  der  Umgegend  von  Rom  Waffen  der  neueren  Steinzeit  gefunden  und 
zwar  besonders  in  der  Umgegend  von  Vicovaro,  wo  ein  Nebenfluss  des  Anio  hauptsächlich  l  -ji 
der  Bildung  der  heutigen  Oberfläche  thätig  gewesen  ist.  Es  findet  sich  nun  an  einem  Hügel, 
eine  Travertiu-Masse  und  in  derselben  mehrere  Grabstätten.  Die  eine  der  letzteren,  welche  etwa 
7  M.  über  der  jetzigen  Thalsohle  liegt  und  jetzt  beinahe  3  M.  in  die  Oberfläche  eingesenkt,  ist, 
hat  die  Schädel  dreier  Menschen  geliefert,  welche  entschieden  dolichocephal  sind,  und  von  be- 
gleitenden Thieren  Sus  scropha,  Cervus  elaphus  und  andere,  eine  Fauna,  die  jünger  zu  sein 
scheint,  als  die  vorher  erwähnte.  Etwas  über  diesem  unteren  Grabe  fand  sich  eine  zweite  Grab- 
stätte, welche  2  Skelette  enthielt,  und  merkwürdigerweise  haben  die  Schädel  derselben  die  Ge- 
stalt der  Brach ycephali,  ausserdem  fanden  sich  in  ihr  noch  eine  Vase  aus  Thon,  die  ohne 
Scheibe  fabricirt  ist,  und  die  in  ihrem  Material  Brockeu  von  Lawa,  Glimmer,  kurz  Gestein  der 
Umgegend  zeigte,  wie  dies  in  unsern  alten  Vasen  ebenfalls  vorkommt.  Dabei  fanden  sich  Feuer- 
äteinwaffen  der  neueren  Steinzeit.  Diese  beiden  Gräber  sind  nur  ein  geringer  Theil  eiuei 
grösseren  Gräberreihe,    welche  Gegenstand  der  Untersuchungen  Ponzi's  sein  werden. 

Die  Bronzezeit  ist  nur  sehr  ungenau  untersucht;  es  finden  sich  in  den  Bergen  überall  Bronze 
geräthe,  aber  nirgends  eine  genaue  Angabe  der  Fundstätte.  Nur  bei  einem  einzigen  Geräthe 
dieser  Ut  giebt  es  eine  sichere  Angabe  des  Ortes,  an  dem  es  sich  fand,  es  ist  ein  Beilmessei 
aus  Bronze. 

Ich  schliesse  mich  in  Folgendem  der  Eintheüung  de  Rossi's  an,  obwohl  sich  einige  beiner 
kenswerthe  Eigentümlichkeiten  in  derselben  finden. 


239 

Die  folgenden  Fuadpunkte  rechnet  de  Rossi  zur  Eisenzeit,  obwohl  Bisen  an  ihnen  nicht 
gefunden  ist,  sondern  nur  deshalb,  weil  die  Thonvasen  derselben  den  Typus  der  Eisenzeit  au 
sich  tragen  sollen.  Ich  bin  zu  wenig  mit  dergleichen  Dingen  bekannt,  um  zu  wissen,  ob  die 
Form  dieser  Geräthe  in  den  verschiedenen  Perioden  bestimmte  Eigentümlichkeiten  besitzt:  die 
Urnen  enthalten  Bronze-Gegens'ände,  Heftnadeln  aus  Bronze,  Bernsteinarbeiten  u.  s.   w. 

Bereits  im  Jahre  lg  17  sind  die  ersten  derartigen  Funde  in  der  Nähe  des  Albanersec's  ge- 
macht worden.  Der  Ort.  ist  später  von  de  Rossi  selbst  im  Jahre  1867  untersucht  worden  und 
diese  Untersuchung  hat  zu  folgenden  Resultaten  geführt. 

In  der  Nähe  des  Albanersees,  wo  eine  Decke  von  Peperin  die  oberste  Schichte  des  Gestein^ 
bildet,  J£—  IM.  dick,  und  unter  welcher  sich  eine  Abtheilung  vulkanischen  Sandes  findet  l— i,5M. 
mächtig  und  unter  der  abermals  eine  Peperin-Schichl  sieh  befindet  sind  in  dem  vulkanischen 
Sande  zahlreiche  thönerne  Geräthschaften,  z.  Th.  sehr  schön  erhalten,  gefunden  worden  und 
zwar  unter  gewissen  eigentümlichen  Umständen,  besonders  ist  dies  der  Fall  in  der  Nähe  von 
Rocca  di  papa,  man  hat  da  die  Gefässe  auf  viereckigen  Abschnitten,  welche  mit  schwarzer  Damm 
erde  bedeckt  waren,  stehend  gefunden  Das  Feld  auf  welchem  man  dieselben  antraf,  nmfasst 
112ö^M.  und  innerhalb  dieses  Terrains  ist  es  mir  gelungen,  ein  einziges  Skelet  zu  finden:  der 
Schädel  hat  gezeigt,  dass  es  einem  alten  Manne  angehört  hat. 

Es  ist  nun  von  Interesse  einige  Bemerkungen  über  die  Z<  it.  au  diese  Funde  zu  knüpfen. 
Ponzi  hat  nachgewiesen,  dass  der  Krater  von  Uatium  drei  Epochen  durchgemacht  bat:  die  erste, 
in  welcher  der  grosse  Kranz  der  Berge  ringsum  entstand,  die  zweite,  ,vo  der  Kegel  in  der 
Mitte  dieses  grossen  Kraters  sich  bildete  und  drittens,  die  Bildung  des  Albanersees.  Es  be- 
weist nur  der  Umstand,  dass  mau  in  den  Aussenabhängen  des  Vulkans  von  Uatium  Spuren 
menschlicher  Thätigkeit  findet,  dass  die  Menschen  bereits  in  jener  ersten  Epoche  auf  dem  Ab- 
hänge des  Vulkans  gelebt  haben,  es  wurden  also  alle  Vorgänge,  welche  während  der  Bildung 
des  Vulkans  geschahen,  von  Menschen  gesehen,  bis  die  letzten  vielleicht  bei  der  Bildung  des 
Albanersees  ähnlich  umgekommen  sind  wie  die  Bewohner  von  Pompeji.  Her  römische  Ritus 
zeigt  mehrfach,  dass  die  Römer  eine  Erinnerung  an  die  alte  Zeit  gehabt,  haben.  Bei  gewissen 
Opfern  mussten  steinerne  Messer,  bei  dem  Bau  der  Tempel  stets  Bronzegeräthe  gebraucht  wer 
den.  Es  ist  ferner  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  die  Umgegfnd  des  Vulkans  von  Latiuin 
die  ist.,  die  als  der  alte  Sitz  des  latinischen  Volkes  angegeben  wird.  — 

Hr.  Friedel:  Es  hat  sich  allerdings  bei  nachträglicher  Untersuchung  herausgestellt,  da- 
von den  Sachen,  die  ich  in  der  zweiten  Sitzung  vorzeigte,  zwei  von  eineiu  Stücke  herstammen 
und,  wie  Hr.  Kunth  bereits  sagte,  nicht  von  Menschenhand,  sondern  wahrscheinlich  von  der 
Natur  getrennt  sind.  Es  kommt  jedenfalls  darauf  an,  ob  bei  uns  Funde  aus  der  alten  Steinzeit 
vorkommen,  und  da  haben  wir  Alles  zu  untersuchen.  Was  die  beiden  heute  von  Herrn  Kunth 
vorgelegten  Stücke  betrifft,  so  will  ich  bemerken,  dass  dieselben  aus  der  palaeolitischen  Zeit 
keineswegs  stammen  können,  wenigstens  nach  dem,  was  man  bis  jetzt  darüber  annimmt,  denn 
der  Steincelt  ist  polirt  und  solche  sind  bis  jetzt  noch  nicht  im  Diluvium  gefunden.  — 

Herr  Fonck  giebt 

Mittheilangen  über  chilenische  Indianer. 

Der  Vortrag  wird  später  ausführlich  erscheinen.  Die  gleichzeitig  vorgezeigte  Sammlung 
chilenischer   Steinwerkzeuge  wird   der  Gesellschaft  als  Geschenk  überreicht. 

Der  Vorsitzende  dankt  im  Namen  der  Gesellschaft  für  das  werthvolle  Geschenk  und  macht  aut 
die  wichtigen  Erläuterungen  aufmerksam,  die,  wie  der  so  eben  gehörte  Vortrag  beweise,  dis 
Anthropologie  aus  ethnologischen  Beobachtungen  gewinnen  werde. 

Herr  Kupfer  spricht  über  die 

Cayapos. 
welche-  er   in   einem   aus  Lehmhäusern  gebauten  Dorfe  von  Santa  Anna  de  Parauahyba,  einem 
kleinen  Städtchen  in  der  Provinz  Matto  Grosso  aufsuchte.     Die  Eingebomen  führten  einen  Tanz 
auf,    an    welchem    auch  der  bemalte  Häuptling  Theil  nahm,   zum   Empfange  der  Reisenden,    die 
dann  iu  einem  offenen  Rancho  einquartirt  und  bestens  verpflegt  wurden. 


240 

Die  Mänper  zeigten  sich  wohlgenährt,  mit  schräg  nach  Innen  geschlitzten  Augen.  Die 
grosse  Zehe  ist  sehr  kurz ,  so  dass  der  sonst  schön  gewölbte  Fuss  ein  plumpes  Ansehen  erhält. 
Der  Frauenschmuck  besteht  aus,  an  Bast  und  Baumwolle  befestigten,  Zähnen.  Die  ärmlichen 
Lehmhütten  entbehren  fast  jedes  Geräth  und  ist  die  Gewinnung  oder  Bearbeitung  von  Metallen 
ihnen  unbekannt.  Sie  schlafen  auf  Matten  und  schieben  dabei  einen  Holzklotz  unter  den  Nacken. 
Sie  treiben  keinen  Ackerbau ,  nutzen  auch  die  bei  ihnen  wachsenden  vielen  offizinellen  Pflanzen 
nicht  aus  Von  religiösem  Cultus  zeigen  sich  nur  schwache  Spuren.  Obwohl  sie  ein  ein  Wort 
für  Gott  und  Himmel  haben,  verehren  sie  besonders  die  bösen  Waldgeister,  Hempiampiam  ge- 
nannt. Sie  haben  ausser  Kuhhörnern  keine  Musikinstrumente,  rauchen  Tabak  und  trinken  gern 
Branntwein.     Der  Wald  liefert  ihnen  Alles  zum  Leben  Benöthigte. 

Es  fanden  sich  etwa  150  Personen  am  Orte,  darunter  aber  keine  heiratsfähigen  Weiber. 
Die  Alten  haben  nämlich  das  Recht  zur  Polygamie  und  occupiren  alles  Weibliche  vorweg.  Auch 
über  ihre  Sprache  wurden  einige  Mittheilungen  gemacht.  Sie  haben  nur  drei  Zahlwörter,  nämlich 
1,  2  und  viele.  Ihre  Anzahl  vermindert  sich  zusehends  und  sie  werden  in  nicht  ferner  Zeit  von 
der  Erde  verschwinden,  woran  ihre  Indolenz  in  Krankheitsfällen  wohl  mit  Schuld  sein  mag.  — 

Die  in  der  vorigen  Sitzung  ernannte  Commission  (Beyrich,  Hart  mann,  Kunth,  Vir- 
chow)  berichtet  über  die  von  Herrn  Baron  v.  Dücker  eingesandte  Sammlung 

Westfälischer  Höh'enfande. 

Die  aus  sehr  mannichfaltigen  und  interessanten  Fundgegenständen  bestehende  Sammlung 
hat  in  Beziehung  auf  die  Frage  von  der  Existenz  des  Menschen  in  den  westfälischen  Höhlen 
einen  entschiedenen  Werth.  Die  unter  Nr.  4,  5  und  8  aufgeführten  Gegenstände  aus  der  Klusen- 
steiner  Höhle  zeigen  deutliche  Spuren  menschlicher  Einwirkung :  No.  4,  eine  grosse,  blattförmige 
Lanzenspitze  (nach  Herrn  v.  Dücker  eine  Streitaxt)  ist  ein  noch  unfertiges,  vielfach  angeschla- 
genes, altes  Stück;  Nr  5  ein  geschlagenes  Feuersteinstück  ohne  erkennbare  Bedeutung.  Ebenso 
finden  sich  aus  dem  Hohlen  Stein  bei  Rödinghausen  unter  Nr.  24  geschlagene  Feuersteine,  unter 
Nr.  25  Topfscherben  und  aus  der  Balver  Höhle  unter  Nr.  3  Stücke  vom  Schädeldach  eines  Kindes. 

Manche  Stücke,  welche  Herr  v.  Dücker  als  von  Menschenhand  bearbeitet  ansieht,  sind 
der  Commission  nicht  so  erschienen.  Aus  der  Klusensteiner  Höhle  ist  das  unter  No.  6.  aufge- 
führte Stück  aus  Kieselschiefer  freilich  sehr  scharfkantig,  jedoch  ohne  bestimmte  Spur  menschlicher 
Einwirkung  Die  unter  Nr.  7  aufgeführten  Zähne  sind  zur  genaueren  Prüfung  auf  die  Natur  der  fär- 
benden Substanz  Herrn  Dr.  Liebreich  übergeben  worden.  —  Aus  der  Friedrichshöhle  liegt  ein 
Stück  Unterkiefer  von  Felis  spelaea  vor,  aber  die  Brüche  an  demselben  sind  unvollständig  und  die 
Spalten  mit  Lehm  durchsetzt,  wie  wenn  es  in  dem  Schlamm  zerquetscht  wäre  (Nr.  9).  Das  un- 
tere Ende  eines  mächtigen  Os  femoris  (No.  16)  zeigt  scharfkantige  Bruchstellen,  aber  ohne  künst- 
liche Einwirkung.  —  Aus  dem  Hohlenstein  bei  Rödinghausen  sind  die  Knochenstücke  (No.  16) 
allerdings  bemerkenswerth.  Es  sind  3  ihrer  Natur  nach  ganz  verschiedene  Stücke:  ein  sehr 
schwarz  aussehendes,  scharfkantiges  frisches  Bruchstück  von  einem  dicken  Röhrenknochen,  und 
zwei  sehr  leichte,  an  der  Zunge  klebende  Stücke,  von  denen  eins  einen  Dornfortsatz,  das  andere 
ein  Rippenstück  darstellt.  Alle  3  tragen  kleine,  geradlinige,  zu  mehreren  parallel  neben  einander 
gestellte  und  zum  Theil  durch  andere  durchsetzte,  kurze  und  oberflächliche  „Kritze*  oder  Ker- 
ben, die  man  für  Einschnitte  halten  kann.  Sie  sind  offenbar  alt;  eine  sichere  Entscheidung  ge- 
statten sie  jedoch  nicht,  da  sie  weder  die  Natur  des  einwirkenden  Körpers,  noch  eine  bestimmte 
Absicht  erkennen  lassen.  Noch  weniger  ist  d^e  Beschaffenheit  der  Knochensplitter  Nr.  20  be- 
weisend; die  meisten  von  ihnen  tragen  unverkennbare  Spuren  von  Benagung;  einige  erscheinen 
überdies  abgerundet  und  wie  gerollt  Eine  künstliche  Glättung  ist  nicht  ersichtlich,  vielmehr 
gehören  die  glatten  Flächen  den  Stellen  an,  wo  der  Knochen,  wahrscheinlich  unter  dem  Gebiss 
eines  mächtigen  Thiers,  gesprungen  ist  Auch  die  scharfkantigen  Steinstücke  (No.  21  und  23) 
sind  weder  durch  Form  noch  durch  Grösse  von  anderen  zufälligen  Bruchstücken  der  zerfallen- 
den Felsmasse  unterschieden.  Der  Sandstein  Nr.  22  könnte  möglicherweise  zum  Schleifen  be- 
nutzt sein,  doch  ist  es  nicht  sicher.  Das  Oberschenkelstück  Nr.  2K  hat  scharfe  Brüche  ohne 
Zeichen  menschlicher  Beihülfe  Endlich  die  Knochen  vom  Feldhuhn  (Nr.  17),  ferner  von 
Hypodaeus  amphibius,  Talpa  europaea,  die  Fragmente  eines  Hühnervogels  und  das  Kieferstück 
eines  Iltvhtes  (Nr.  18)  gehören  offenbar  neuerer  Zeit  an,  als  die  Knochen  des  Rhinoceros, 
Mainuiuth,  Höhlenbären,  welche  in  derselben  Höhle  gefunden  sind. 

Obwohl   daher   nach   der  Meinung  der  Commission  nur  ein  kleiner  Theil  der  verzeichneten 


241 

Fumle  unzweifelhaft  auf  die  Anwesenheit  und  die  Thätigkeit  des  Mensehen  in  den  Höbleu  hin- 
weist, so  hält  sie  diesen  Hinweis  doch  für  einen  sehr  werthvollea  Sie  bedauert  nur,  dass 
Herr  v.  Dücker  keine  vollständige  Fundbeschreibung  geliefert  hat,  aus  welcher  die  Lage  der  ein- 
zelnen Objekte  sicher  erkannt  und  ihre  ursprüngliche  Beziehung  zu  den  übrigen  Kunden  der 
selben  Localität  nachgewiesen  werden  könnte.  Schon  Nöggerath  (Karsten's  An  Im  Bd.  20) 
hat  erwähnt,  dass  in  der  Bai ver  Höhle  Münzen  Kaiser  Otto's  I.,  in  der  Rösenbecker  Höhle  neben 
römischen  Alterthümern  eine  englische  Münze  vom  Jahre  1594  gefunden  sind.  Alle  solche  Funde 
haben  keinen  absolut  beweisenden  Werth.  Sie  gelten  nur  für  nie  Schicht,  in  der  sie  liegen, 
vorausgesetzt,  dass  diese  Schicht  nicht  durchgraben,  umgewühlt  oder  sonst  wie  nachträglich  ver- 
ändert ist.  Dass  ein  Thei]  der  westfälischen  Höhlen  bewohnt  gewesen  ist,  haben  schon  die 
früheren  Ausgrabungen  nachgewiesen;  die  Aufgabe  der  Gegenwart  ist  zu  zeigen,  wann  dieses 
Bewohnen  angefangen  hat.  Die  Funde  des  Herrn  v.  Dücker  sprechen  dafür,  dass  dies  schon 
in  der  Steinzeit  der  Fall  war,  aber  sie  lassen  die  Frage  unentschieden,  ob  der  Mensch  der  Stein- 
zeit hier  schon  lebte,  als  die  grossen  Säuger  lebten,  deren  Knochen  der  Höhlenschutt  umschliesst.  — 

Herr  Die  bleich  berichtet  über  einen  von  ihm  untersuchten  Zahn  (Nr.  7)  aus  der  Daher  Höhle 
\on  eigentümlich  schwarzem  Aussehen;  derselbe  enthält  keine  Kohle,  wohl  aber  Eisen  und  Mangan. 


Sitzung  vom  14.  Mai  1870. 

Der  Vorsitzende,  Herr  Virchow  widmet  nach  Eröffnung  der  Sitzung  dem 
verstorbenen  Mitgliede  Prof.  Magnus  ehrende  Worte  uud  verliest  den  Abmeldungs- 
brief des  nach  Dresden  übergesiedelten  Mitgliedes,  Generalarzt  Dr.  Koth. 

Die  Herreu  Geheimräthe  Dr.  Ho  ussel  le  und  Dr.  Nagel,  Fabrikbesitzer  Solt- 
mauu,  Banquier  Berth.  Richter,  Stabsarzt  Dr.  Hahn,  Dr.  v.  Martens,  Dr. 
Loew  und  Dr.  Beuster  werden  als  neue  Mitglieder  genannt. 

Als  Gescbenke  werden  vorgelegt: 
von  Herrn  Friedel:  WibeFs  Abhandlung  über  den  Gangbau  des  Denhoogs  auf 
Sylt,  von  Herrn  Virchow  dessen  Abhandlung  über  die  altnordischen  Schädel  zu 
Kopenhagen  (Archiv  f.  Anthropologie  Bd.  IV),  ferner  dessen  Vortrag  über  Menschen- 
und  Affenschädel,  Berlin  1870,  von  Herrn  Bastian  Sprachwissenscbaftliche  Stu- 
dien u.  s.  w.,  von  Herrn  B.  Davis  dessen  von  einer  Zuschrift  begleiteter  Thesaurus 
crauiorum,  von  Herrn  Langkavel  mehrere  kleinere  Schriften,  von  Herrn  Jagor 
eine  grosse  Reihe  sehr  werthvoller,  ethnologisch  wichtige  Typen  Asiens  darstellen- 
der Photographien. 

Herr  Virchow  macht  darauf  Mittheilungen  über  die  kürzlich  in  Mainz  statt- 
gehabte constituirende  Versammlung  der  deutscheu  Gesellschaft  für  Anthropologie, 
Ethnologie  und  Urgeschichte.  Die  erste  Nummer  des  neu  gegründeten  Correspon- 
denzblattes,  welche  einen  Bericht  über  die  Versammlung  und  die  in  derselben  be- 
schlossenen Statuten  enthält,  wird  vorgelegt;  das  Blatt  wird  künftig  allen  Mitglie- 
dern unentgeltlich  zugesendet  werden.  Der  Wiener  Lokalverein  "hat  sich  dem  all- 
gemeinen deutschen  Vereine  nicht  angeschlossen,  vielmehr  ein  eigenes  Blatt  zur 
Publikation  seiner  Arbeiten  gegründet.     Die    erste  allgemeine  Versammlung    der 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  1870.  t'j 


242 

deutschen  anthropologischen  Gesellschaft  beginnt  am  22.  Sept.  d.  J.  zn  Schwerin. 
Herr  Lisch  ;st  zum  örtlichen  Geschäftsführer  erwählt  worden  and  hat  die  Vor- 
bereitungen übernommen. 

Darauf  verliest  der  Vorsitzende  die  Einladungsschreiben  des  Präsidenten  Grafen 
Gozzadini  zur  Theilnahme  an  dem  internationalen  Congresse  für  prähistorische 
Anthropologie  und  Archäologie  zu  Bologna,  der  am  1.  October  beginnt,  sowie  eine 
Einladung  zur  Theilnahme  am  internationalen  Gongresse  für  Geographie,  Kosmogra- 
phie,  Forderung  der  Haudelsinteressen  u.  s.  w.  zu  Antwerpen,  welcher  im  August 
stattfinden  soll. 

Im  Einverständnisse  mit  der  Redaction  (Bastian  und  Hartmann),  sowie  der 
Verlagsbuchhandlung  Wiegandt  uud  Hempel  (P.  Parey),  wird  beschlossen,  die 
Zeitschrift  für  Ethnologie  zum  Organ  der  Berliner  Gesellschaft  zu  erklären  und 
dieselbe  jedem  Mitgliede  unentgeltlich  zu  liefern.  Der  Vorstand  wird  ermächtigt, 
den  Vertrag  darüber  abzuschliessen.  — 

Herr  v.  Martens  zeigt 

Gerätschaften  und  Schnitzereien  von  Dayakern  im  Innern  von  Borneo. 
Er    hat    dieselben   auf  seiner    Reise   im  Frühjahr    1863    an    dem  See  Danau  Sriang 
im  obern  Gebiet  des  Kapnas-  Stroms   erworben.     Während  die  Niederlassungen  der 
Malaien,    Chinesen  und  Holländer  sich  an  den  Lfern  der  Flüsse  befinden,    welche 
die  Verkehrsstraasen  in  Borneo  darstellen ,  finden  sich  die  Wohnstätten  der  altein- 
heimischen Dayaker,  wenigstens  gegenwärtig,  gern  abgelegen  davon  auf  bewaldeten 
Anhöhen;  gefällte  Baumstämme,  einer  hinter  den  andern  gereiht,  einige  Fuss  über 
dem  Boden  und  von  dem  dichten  Unterholz  desselben  getragen   bildeten    den    ein- 
zigen Pfad    zu    einer   solchen    vom  Vortragenden    besuchten  Wohnstätte.     Dieselbe 
besteht  aus  einer  y^on   zahlreichen  Baumstämmen   in    einer  Höhe    von   30—40  Fuss 
getrageneu,  ebenfalls  aus  Baumstämmen  gebildeten  Platform,  auf  deren  einer  Seite 
die  niedrigen  Wohnungsräume,  von  Einem  gemeinschaftlichen  Dache  bedeckt,  aber 
im  Innern  getrennt,  auf  der  andern  die  noch  niedrigeren  Vorrathskammern  sich  be- 
finden.   Alles  ist  aus  Holz  Rotaug  (Calamus.  spanisch  Rohr)  und  andern  einheimi- 
schen Produkten  des  i'flanzeureichs  gemacht.     Der  unter   dem  Gerüste    befindliche 
natürliche  Boden  empfängt  alle  Abfälle  von  oben  und  dient  den  zahmen  Schweinen 
zum   Aufenthalt,    welche  neben  wenigen  Hunden   und  Hühnern   die  Hausthiere   der 
Dayaker    bilden.     Zur  Bearbeitung    dienen    eiserne  Werkzeuge,    welche    die  Einge- 
bornen    sich    selbst    schmieden,    namentlich   ein  verhältnissmässig   schwaches    mei- 
sel förmiges,    nur  an  der  Schneide  etwas  mehr  verbreitertes  Beil,    mittelst  Rotang- 
streifen  an    einem    hölzernen  Stiel    befestigt.     Zum  Emporzieheu    der  Baumstämme 
dienen  aus  Rotang  geflochtene  nicht  stielrunde,    sondern   bandförmige,    noch   nicht 
handbreite  Taue.     Die  gewöhnliche  Watte  der  Dayaker    ist    ein    schweres    gerades 
einschneidiges  Schwert  oder  Haumesser,    an  der  stumpfen  Kante   gegen   die  Spitze 
zu  abgestuft;    sein  Griff,  für  europäische  Hände  etwas  klein,  ist  aus  Hörn  zierlich 
geschnitzt,  die  Scheide  besteht  aus  rechtwinkligen  Holzstücken,  welche  durch  Ro- 
tangstreifen eng  zusammengebunden  sind;    sie  ist    oft   mit    den    langen    schwarzen 
dicken  Haaren  erlegter  Dayaker  verziert  und  wird   mittelst  eines   um  die  Mitte  des 
Leibs  gehenden  Strickes  und  eines  viereckigen  hölzernen  in  der  Mitte  durchbohrten 
Knopfes   so  getragen,    dass   die  Schneide    des  Schwertes    nach   oben    gerichtet   ist. 
Au   der  Seite   der  Scheide    steckt   in    einem   besondern    aus  Palmfasern    gebildeten 
Futteral  ein  Messer,  zu  kleineren  Manipulationen  bestimmt,  an  das  Messer  zur  Seite 
der  japanischen  Schwerter  erinnernd.    Zur  Vergleichung  zeigt  der  Vortragende  noch 
andere  Hiebwaffen    ans    dem    iudischen  Archipel,    namentlich    eiu  Seeräuberschwert 


243 

und  den  javanischen  Klewang,  ferner  den  /.an»  Stecheu  bestimmten  Kris  der  javani- 
schen Häuptlinge  vor.  Ein  nicht  gering  >.u  schätzender  Kunstsinn  zeigt  sich  auch 
in  den  Holzschnitzereien,  welche  theils  ganz  frei,  theils  als  Relief  verschiedene  ein- 
heimische Thiere  kenntlich  darstellen,  so  das  Krokodil,  die  grosse  Sumpfeidechse 
(Varanus)  welche  den  Hühnern  nachstellt,  und  den  Nashornvogel.  Wenn  bei  letz- 
terem an  abergläubische  Zwecke  gedacht  werden  kann,  da  die  Dayaker  aus  dein 
Kl  Micken  dieses  durch  seine  laute  Stimme  und  grelle  Färbung  sich  sein-  bemerk- 
lich machenden  Vogels  Vorzeichen  für  das  Gelingen  oder  Misslingen  ihrer  Unter- 
nehmungen abnehmen  zu  können  glauben,  ähnlich  dem  bekannten  römischen  Aber- 
glauben,  so  scheint  doch  bei  den  andern  Thieren  nur  die  Lust  an  den  ihnen  ver- 
trauten  Formen  als  Schmuck  der  Wohnungen  das  Motiv  der  Darstellung  zu  sein. 

Ferner  legt  Hr.  v.  Martens  einige  ohne  Zweifel  von  Menschenhand  geformte  Steine 
vor,  die  er  auf  der  kleinen  Insel  Adenare  an  der  Gstseite  von  Flore?,  unweit 
Timor,  von  den  Eingebomen  als  von  ihnen  werthgehaltene,  von  ihren  Vorfahren 
überkommene  Stücke  erhalten,  ohne  über  deren  jetzigen  Gebrauch  etwas  zu  er- 
fahren; einzelne  derselben  gleichen  auffallend  alten  Steinwerkzeugen. 

Herr  Virchow  bemerkt  in  Bezug  auf  die  zuletzt  erwähnten  Steinwerkzeuge, 
dass  das  eine  entschieden  als  schneidendes  Werkzeug  angesehen  werden  müsse;  es 
entspricht  nach  Material  und  Form  ganz  den  bei  uns  vorkommenden,  namentlich 
den  sächsischen.  Die  andern  sind  allerdings  ungewöhnlicher  Natur  und  machen 
den  Eindruck,  als  hätten  sie  als  Schleifwerkzeuge  gedient.  Ein  Theil  der  vorge- 
legten Waffen  hat  auffällig  kurze  Griffe,  was  auch  bei  den  alten  Bronceschwertern 
Europas  sich  vielfach  wiederholt;  es  führt  das  auf  die  Frage,  ob  das  Volk  über- 
haupt kleine  Hände  hat.  Es  würde  erwünscht  sein,  wenn  unsere  Reisenden  in  den 
«"istlichen  Gegenden,  wo  sie  kurzgriffige  Werkzeuge  antreffen,  zugleich  Untersuchun- 
gen darüber  anstellten,  ob  die  Kürze  der  Griffe  in  den  wirklichen  anatomischen 
Verhältnissen  der  Hände  begründet  ist,  oder  ob  irgend  ein  anderes  Motiv  vorliegt. 

Herr  v.  Martens  erklärt,  dass  die  Hände  der  Dayaker  im  Durchschnitt  eher 
kleiner  seien,  als  die  unsrigen. 

Herr  Hartmann:  Alle  Schwerter  und  Dolche  der  Centralafrikaner  haben  auf- 
fallend kleine  Griffe,  und  habe  ich  allerdings  bemerkt,  dass  die  Gondjara  und 
Funje,  welche  schlank  gebaut  sind,  auch  wirklich  kleine  Hände  haben. 

Herr  Koner:  Die  erste  von  Herrn  v.  Martens  vorgezeigte  Dayakwaffe 
ist  auf  griechischen  Vasenbildern  ganz  ebenso  abgebildet,  namentlich  iu  der  eigen- 
tümlichen Form  des  Griffes,  ein  Griff,  der  nach  der  einen  Seite  schnabelförmig 
gebogen  ist.  Sie  kommt  nicht  allein  mit  der  Scheide  vor,  sondern  auch  ohne  die- 
selbe und  hat  dieselbe  Form  wie  diese.  Sie  ist  wohl  von  Osten  her  eiugeführt 
worden.  — 

Herr  Meitzen  hat  folgenden  Antrag  gestellt: 

In  der  Sitzung  unserer  Gesellschaft  vom  2.  d.  Mts.  hat  Herr  Fonck  in  seinem 
interessanten  Vortrage  über  die  chilenischen  Indianer  erwähnt,  dass  bei  einem 
dieser  Stämme  die  jungen  Männer  sich  nicht  verheirathen .  bevor  sie  nicht  durch 
Fällen  eines  Baumes  ihre  zur  Erhaltung  eines  Hausstandes  nöthige  Kraft  und  Fer- 
tigkeit nachgewiesen;  zugleich  haben  uns  die  scharf  geschliffenen  schweren  Keile 
aus  (ineiss  vorgelegen,  welche  wahrscheinlich  für  diesen  Zweck  benutzt  werden. 

17* 


244 

Ich  erlaube  mir  bei  dem  geehrten  Vorstande  zu  beantragen: 

derselbe  wolle  die  Vermittelung  des  Herrn  Fonck  für  eine    bis   in   alle  we- 
sentlichen Einzelheiten  der  Handgriffe  und  Hülfsmittel  ausgedehnte  Feststel- 
lung des  Verfahrens  in  Anspruch  nehmen,    nach    welchem    diese  Arbeit  des 
Baumfällens  vorgenommen  wird. 
Vielleicht  würden  auch  andere  Herren,  welche  wilde,  bis  zur  neueren  Zeit  nur  mit 
Steinwerkzeugen    bekannte  Volksstämme    beobachten  konnten,    wie  Herr  Kupfer, 
bereit  sein,  diese,  wie  mir  scheint,  für  unsere  Begriffe  von  der  Urzeit  sehr  erheb- 
liche Ermittelung  zu  unterstützen  und  zu  ergänzen. 

Der  Vorsitzende  erklärt,  dass  ähnliche  Bestrebungen  allerseits  sehr  dankbar 
aufgenommen  würden,  und  wünscht  eine  lebhafte  Bethätigung  der  Mitglieder  an 
denselben.  Für  den  vorliegenden  Fall  hat  er  sich  schon  mit  dem  neu  ernannten 
Generalconsul  für  Peru,  Herrn  von  Bunseu  iu  Beziehung  gesetzt,  der  auch  zuge- 
sagt hat,  wenn  möglich,  peruanische  Gesichtsurnen  für  die  Berliner  Sammlungen 
zu  erwerben. 

Herr  Fonck  hat  in  Erfahrung  gebracht,  dass  in  Chile  die  Steinwaffen  schon 
seit  langer  Zeit  nicht  mehr  in  Gebrauch  gewesen.  Derselbe  erklärt,  die  Herren 
Prof.  Philippi  und  Dr.  C.  Martin  zur  Fortsetzung  ähnlicher  Studien  aufmuntern 
zu  wollen  und  erwähnt  der  reichhaltigen  Sammlung  chilenischer  und  peruanischer 
Alterthümer  des  Nationalmuseums  zu  San  Jago  de  Chile. 

Herr  Kupfer  berichtet,  dass  die  alten  Brasilianer  die  Holzflächen  erst  mit  Feuer 
verkohlten,  dann  mit  Steinwerkzeugen  abkratzten,  und  auf  diese  Weise  Bäume 
fällten  und  Canoes  zurichteten.  — 

Herr  Mannhardt  sendet  aus  Danzig  schriftlich  folgende  Mittheilungen 
über  die  Pomerelüschen  Gesichtsurnen. 

Die  Pomerellischen  Gesichtsurnen,  welchen  Herr  Prof.  Virchow  den  Haupt- 
theil  seines  Vortrages  v.  12.  März  d.  J.  widmete,  haben  seit  langer  Zeit  mein  lu- 
teresse  in  Anspruch  genommen.  An  Förstemann's  und  Strehlkes  Unter- 
suchungen von  Anfang  an  betheiligt,  versuchte  ich  1851  die  Aufmerksamkeit  der 
deutschen  Gesellschaft  in  Berlin  auf  jene  Alterthümer  zu  lenken;  ein  von  mir  im 
.1.  1866  verfasster  kleiner  Aufsatz  über  einige  besonders  interessante  Stücke  ist  in 
der  Zeitschrift  der  archäologischen  Gesellschaft  zu  Moskau  B.  I.  1868.  S.  57 — 60  in 
russischer  Uebersetzung  von  Abbildungen  begleitet  gedruckt,  und  vom  Akademiker 
Kunik  iu  Petersburg  mit  einer  Nachschrift  versehen  worden.  Es  war  mir  zu  mei- 
nem Bedauern  seit  Jahren  nicht  möglich  durch  Ausflüge  in  die  Umgegend  von 
Danzig  das  bisherige  Material  über  diesen  Gegenstand  zu  erweitern  und  Arbeiten 
anderer  Art  verhinderten  mich  überhaupt  demselbeu  eine  eingehendere  Fürsorge  zu- 
zuwenden: doch  veranlassten  mich  1868  einige  neue  Beobachtungen  an  älteren  Fuud- 
stücken  bei  Uebersendung  einer  Anzahl  grösserer  Zeichnungen  von  Gesichtsurnen 
gegen  den  Sekretär  des  Reichsmuseums  in  Stockholm  H.  0.  Hildebrand  brieflich 
über  die  sich  aufdrängende  Frage  nach  etwaigem  phönikischem  Ursprung  dieser 
Alterthümer  mit  Bezug  auf  Nilsson's  Hypothese  mich  auszusprechen  und  Gründe 
und  Gegengrüude  abzuwägen.  Nunmehr  vermehrt  ein  ganz  neuerdings  gemachter 
Fund  unsere  Kenntniss  in  erwünschter  Weise.  Durch  diese  Umstände  bin  ich  in 
den  Stand  gesetzt,  Virchow's  ebenso  lichtvolle,    als  fast  erschöpfende  Darlegung 


245 

schon  jetzt  durch  einige  wenige,    doch,    wie  ich  hoffe,    weder  ganz  unwesentliche, 
noch  unwillkommene  Mittheilungen  zu  vervollständigen. 

Mag  die  Frage  nach  ihrem  Ursprünge  schliesslich  zu  beantworten  sein,  wie 
sie  wolle,  so  haben  die  Pomerellischen  Gesichtsurnen  sicherlich  schon  dadurch 
hohe  Bedeutung,  dass  sie  uns  ähnlich  i\*'n  von  andern  Fundorten  her  bekannten 
Hausurnen  durch  ihr  Bildwerk  über  die  Körperbeschaffenheit,  Tracht  und  Lebens- 
weise der  ihnen  gleichzeitigen  Menschen  eine  ganz  neue  und  eigentümliche  Kunde 
vermitteln.  Von  hervorragender  Wichtigkeit  sind  solche  Exemplare,  welche  eine 
Physiognomie  in  feinerer  und  sorgfältiger  Ausarbeitung  bis  in  einzelnes  Detail  hin- 
ein oder  andere  Körpertheile  mit  Kleidung  und  Schmucksachen  angethan  erkennen 
lassen  und  in  diesem  Falle  deutlich  die  Anwendung  der  letzteren  vergegenwärtigen. 
Vorzüglich   lehrreich  sind  die  nachstehenden   Fandstücke: 

1.    Die    sogenannte  Brücker,    eigentlich   Pogorsser  Urne   (vgl    Virchow  Se- 
paratabdruck   S.  8   Anm.,    Strehlke   N.  Pr.  Prov.  Bl.  III    F.   185.r>  B.  VIII    S.  45; 
1856  B.  IX  S.  272  N.  T)5).     Ich  fand   sie   schon    1850  im  Besitz   des  Herrn  Lehrer 
Adler  zu  Brück,  der  sie  1852  dem  Danziger  Museum  einverleibte  (Taf.VIII.  Fig.  1). 
Ausgegraben  war  sie  in  Gesellschaft  einer  anderen  Gesichtsurne  zu  Pogorss  am  Ab 
hange  der  Oxböfter  Kämpe  gegen  das  Kniebauthal.    Ihre  Eigentümlichkeit  beruht 
nicht  allein  darin,  dass  sie  überhaupt  ausser  Augen '),  Nase  und  Ohren  mit  Bronze 
ringen  das  bisher  einzige  Beispiel  einer  Andeutung  der  Zähne  durch   parallele  senk 
rechte  Striche,  sowie  eines  Kinnbartes  gewährt,  sondern  in  der  Beschaffenheit  dieses 
Bartes  selbst.     Derselbe  besteht  nämlich   aus   drei    senkrechten,    parallel    laufenden 
Strähnen  in  erhabener  Arbeit,  welche  durch  vier  ebensolche  Strähne  in  wagerechter 
Richtung  durchkreuzt  und  begrenzt  sind,  so  dass  in  den  Zwischenräumen  viereckige 
Vertiefungen  entstehen. 

Bei  der  Unzulänglichkeit  literarischer  Hilfsmittel  in  der  Provinzialstadt  vermag 
ich  nicht  anzugeben,  ob  auf  den  etrurischen  Kanopen  ähnliche  Barte  sich  finden; 
die  rheinischen  bei  Lindenschm.it  sind  sämmtlich  bartlos.  Auch  die  von  Wilde 
(A  descriptive  catalogue  of  the  antiquities  in  the  Museum  of  the  royal  Irish  Aca- 
demy  Dubl.  1863  p.  156)  publizirte  Urne  aus  Irland,  welche  ein  Gesicht  in  Relief- 
bildung und  von  diesem  frei  herabhangend  einen  Bart  zeigen  soll,  bin  ich  nicht  in 
der  Lage  zu  vergleichen.  Dagegen  fällt  auf  den  ersten  Blick  die  Aehnlichkeit  des 
Bartes  der  Brücker  Vase  mit  den  etagenartig  geflochtenen,  häufig  aus  falschen 
Haaren  künstlich  hergestellten  Barten  der  Assyrer  und  Perser  in  die  Augen  (vgl. 
Weiss  Kostümkuude  I  S.  206.  Fig.  122.  S.  270.  Fig.  150  a.  c;  S.  272);  so  wie 
mit  der  Kinnklappe  einzelner  ägyptischer  Würdenträger  (Weiss  a.  a.  0.  S.  40. 
Fig.  28  i.).  In  weiterem  Abstände  vergleicht  sich  die  gemeinägyptische  Sitte,  den 
Bart  zopfartig  zu  flechten,  während  die  westasiatischen  Semiten  zwar  auch  ein 
grosses  Gewicht  auf  die  Pflege  des  Barthaars  legten ,  den  ei*haltenen  Denkmälern 
zufolge  jedoch  den  natürlichen  Wuchs  durch  keine  künstliche  Zuthat  oder  Anord- 
nung zu  verbessern  suchten.  (Weiss  a.  a.  0.  178.  335.  417.)  Indem  ich  diese 
Beobachtung  in  meinem  angeführten  Aufsatze  mittheilte,  konnte  ich  nicht  umhin 
noch  eine  andere  Thatsache  zu  erwähnen ,  welche  auf  die  Möglichkeit  hindeutete 
geflochtene,  oder  vielleicht  durchflochtene  Barte  von  der  Art  desjenigen,  der  auf 
unserer  Urne  dargestellt  ist,  den  ältesten  Slaven  zuzuschreiben.  Von  einem  kriegs- 
gefangenen  Serben  aus  dem  Banat  hatte  ich  1866  erfahren,  dass  man  in  seiner  Hei- 
mat beim  Ernteschluss  die  letzten  übriggebliebenen  Halme  des  Erntefeldes  mit  Gold- 


')  Die  Nasenspitze  ist  leider  abgebrochen,  der  untere  Rest  derselben  bildet  gegen  das  Pilum 
einen  stumpfen  Winkel. 


246 

borten  durchfleehte,  wie  sie  Hie  Mädchen  als  Besatz  um  ihre  Sonntagsröcke  zu  tra- 
gen pflegen.  Man  nennt  diese  Ceremonie  ..den  Bart  des  Herrgotts  flechten-  und 
lasst  den  auf  solche  Weise  geschmückten  Getreidebäschel  auf  dem  Acker  stehen. 
Kurz  darauf  brachte  A  fan  asie  w's  Buch  „Poetisch"  Naturanschauungen  der  Russen 
B.  I  S.  HOT  die  Mittheilung,  dass  in  weiter  Verbreitung  in  Russland  (in  den  Gu- 
bernien  Archangelsk,  Kostrowo,  Kursk,  Woronesch  u.  s.  w.)  die  letzten  Aebren  des 
Feldes  an  der  Wurzel  zusammengeflochten  und  mit  Blumen  verziert  zu  werden  pfle- 
gen Man  sagt,  es  werde  der  Roggenbart  gewunden,  dem  h.  Elias  der  Bart  ge- 
bunden, man  winde  für  Christus,  St.  Nicolaus  u.  s.  w.  einen  Bart.  Nach  einem 
Aufsatze  des  Oberpopen  Sabnin  werde  zuweilen  auch  „  dem  Wolosch  der  Bart  ge- 
bunden"'. In  den  bei  dem  Rrnteschluss  gesungenen  Schnitterliedern,  deren  Text 
Herr  Afanasiew  mir  handschriftlich  mittheilte,  ist  jedesmal  ausdrücklich  davon 
die  Rede  dass  der  Bart  von  Gold,  Silber  oder  Seide  umwunden  sei  Ausser  der 
mythologischen  Beziehung  (s.  d.  M.  Korndämonen  in  Berlin  1868.  S.  22)  scheint 
durch  diese  Gebräuche  eine  altslavische  Volkssitte  verbürgt  zu  werden,  einen  mit 
Bändern  durchflocbtenen  Bart  zu  tragen.  Staatsrath  Kunik  hat  bemerkt  (a.  a.  0. 
S.  61),  es  finde  sich  zwar  in  sonstigen  Quellen  für  diese  Annahme  kein  direkter 
Anhalt,  wohl  aber  werde  in  den  unverächtlichen  Angaben  der  arabischen  Chroni- 
sten über  die  ältesten  Russen  etwas  derartiges  erwähnt  Ibn  Haukai  (im  J.  976) 
erzählt,  dass  die  Russen  zum  Theil  den  Bart  scheeren,  zum  Theil  ihn  flechten, 
ähnlich  wie  man  die  Mähnen  der  Pferde  zu  flechten  pflegt,  und  sodann  mit  Safran- 
farben schmücken.  (Frähn-Ibn  Fozlan  p.  248.)  Noch  Edrisi  (f  1154)  drückt 
sieb  ähnlich  aus:  Les  Rouss  brülent  leurs  r.iorts  et  ne  les  enterrent  pas.  Quelques- 
uns  se  rasent  la  barbe,  d'autres  la  reunissent  et  la  tressent  ä  la  maniere  des  Arabes 
du  Douab.u  (Lelewel  Geograph,  du  moyen  age  T.  IU—  IV  p.  185)  Aus  sorg- 
fältiger Erwägung  aller  in  Betracht  kommenden  Umstände  hat  Herr  Kunik  die 
Ueberzeugung  gewonnen,  bei  diesen  arabischen  Schriftstellern  sei  unter  den  Russen 
nicht  der  herrschende  Stamm  der  skandinavischen  Waräger,  sondern  deren  slavi- 
sche  Unterthanenschaft  zu  verstehen. 

2.  Das  von  Strehlke  a.  a.  0.  IX  S.  272  N.  5  verzeichnete  Gefäss  von  schwär 
zemThon  ist  im  Jahre  1855  zuWarmhof  bei  Mewe  ausgegraben  worden  (Taf.VIII.  Fig.  2). 
Die  Technik  desselben  ist  eine  vorzüglichere,  als  in  allen  übrigen  Beispielen  von 
Gesichtsurnen.  Der  Verfertiger  hat  den  Versuch  gemacht  ein  menschliches  Gesicht 
nicht  nur  anzudeuten,  sondern  in  Ohrmuschel,  Augäpfeln,  Nasenflügeln,  Nasen- 
löchern und  Lippen  naturgetreu  auszuformen.  Auffällig  steht  die  fast  thierische 
Stumpfheit  der  Nase  und  die  wulstartige  Anschwellung  der  Lippen,  sowie  die  Grösse 
des  einen  erhaltenen  Ohrs  (von  dem  zweiten  ist  nur  der  Ansatz  übrig)  von  den 
Formen  dieser  Gesichtstheile  auf  den  sonst  bekannten  Gesichtsurnen  ab.  Der  die 
Kopfbedeckung  darstellende  mützenförmige  Deckel,  der  in  der  Mitte  einen  Bruch- 
schaden hat,  ist  mit  Einritzungen  versehen,  welche  bekannten  Ornamenten  der 
Bronzezeit  entsprechen. 

3.  Vielfach  besprochen  ist  die  im  Besitze  der  naturforschenden  Gesellschaft  zu 
Danzig  (Taf.VIII.  Fig.  3)  befindliche  sogenannte  Runenurne,  wegen  der  um  ihren  Hals 
laufenden  Reihe  von  unbekannten  Characteren,  welche  den  Eindruck  von  Schriftzügen 
machen  Ueber  sie  handelten  am  vo'lständigsten  Giesebrecht  in  den  Balt.  Stu- 
dien XII  1846  S.  1—27  und  Förstemann  N.  Pr.  Provinzialbl.  1857  XII  S.  411  — 
413.  Gefunden  ist  sie  im  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  eine  Meile  von  Danzig  auf 
der  Höhe.  Bisher  war  es  nur  bekannt,  dass  an  ihrem  Halse  sich  in  gleicher  Höhe 
drei  längliche,  sanft  gewölbte  senkrecht  herablaufende  Erhöhungen  von  ungleicher 
Länge  und  in  ungleichem  Abstände  von  einander  befinden.    (Förstemann  a.  a.  0. 


247 

411).  Als  ich  im  ■'.  1868  den  Gewerbeakademiker  A.  Scheibe!  zu  einer  sorgfäl- 
tigen Zeichnung  d<  •  Gefässes  veranlasste  und  zu  diesem  Zwecke  mit  einem  nassen 
Schwamm  behutsam  die  noch  immer  anklebenden  Reste  des  fremden  Grabhügel 
sandes  entfernte,  traten  zu  beiden  Seiten  des  mittleren  Hockers  die  Ver- 
tiefungen eines  Augenpaares  deutlich  hervor,  so  dass  nun  auch  die 
sogenannte  Runenvase  in  die  Reihe  der  Gesichtsurnen  eintritt.  Hie- 
mit  ist  für  das  relative  Alter  der  eingegrabenen  Cbaractere  eine  si- 
chere Zeitbestimmung,  für  die  Epoche  der  pomerellischen  Kanopen. 
falls  die  Legende  als  Schrift  sich  bestätigen  sollte,  ein  der  Enträtb 
seiung  harrendes  Sprachdenkmal  gewonnen. 

Eine  Inschrift  liegt  deutlich  hierin  vor,  denn  die  stehenden  althergebrachten 
und  symmetrischen  Ornamente  der  übrigen  Gesichtsurnen  lehren,  dass  zum  blossen 
Zierrat  ganz  ander.'  Formen  verwandt  wurden.  Auch  lösen  sich  aus  dem  sehein 
baren  Gewirre  eine  Anzahl  deutlich  erkennbarer  zum  Theil  mehrfach  wiederholtet 
/eichen  al>,  so  bald  mau  sich  überzeugt  hat,  dass  mehrfach  eiue  lueiiiauderverschlin- 
gungvon  Gharactereu  stattgefunden  hat  (Fig.  3a).  Die  Inschrift  ist  aber  weder  aus 
irgend  einem  sonst  bekannten  europaischen  Alphabete,  sei  es  einem  altgriechisch- 
italischen,  oder  aus  einem  Futhork  altgermanischer  Stabrunen  lesbar.  Giese- 
brecht's  Versuch  einer  Deutung  aus  den  ganz  jungen  stablosen  Runen  darf  eben 
sowohl  aus  paläographischen  als  aus  sprachlichen  und  sachlichen  Gründen  als  ge- 
scheitert angesehen  werden.  Die  Einritzungen  zweier  Pomme'rischer  Grabgefässe, 
welche  man  für  Schrift  hat  erklären  wollen,  des  Kolbitzower  (Ball.  Stud.  XI  H.  2. 
S.  113)  und  des  Bnkower  (Bali  Stud.  VII  H.  I.  S  230.  IX  H.  2.  S.  35)  zeigen,  wie 
nuter  sich  Verschiedenheit,  so  mit  der  Danziger  Urne  keine  Uebereinstimmung.  In 
einzelnen  Characteren  vergleicht  sich  der  letzteren  dagegen  die  einer  erneuten 
Untersuchung  würdige  Mecklenburgar  Urne  aus  Käbelich  (Memoires  de  la  Societe 
royale  des  antiquaires  du  nord  1845 — 4'J.  Copenhague  1852  S.  353—357.  Sitzungs 
ber.  d.  böhm.  Gesellsch.  der  Wissensch.  zu  Prag  1853.  VIII  34.  35),  von  deren  In- 
schrift Harnisch  im  Archiv  f.  Kunde  österr.  Geschichtsquellen  B.  VIII,  soviel  ich 
weiss,  die  neueste  und  beste  Abbildung  gegeben  hat. 

Trägt  das  Alphabet  der  Dauziger  Urne  ein  eigentümliches,  in  seiner  Gesamuit 
heil  von  deu  mit  meinen  Hilfsmitteln  vergleichbaren  Schriftarten  abweichendes  Ge- 
präge, so  enthält  es  doch  Züge,  welche  auf  eine  Entwickelung  aus  der  gemeinsa- 
men Quelle  europäischer  Schreibekunst,  den  altphönikischen  Buchstaben  hindeuten, 
sobald  man  zwei  wohlbekauute  Erfahrungen  aus  der  Geschichte  der  Graphik  be- 
achtet, die  häufige  Veränderung  der  Richtung  und  Lage  der  einzelnen  Lautzeichen, 
und  ihre  Differenzirung  durch  Hinzufagang  von  Strichen  und  Häkchen  zu  dem  über- 
lieferten Buchstabenkörper.  Ich  vermeine  gewisse  Zeichen  auf  unserer  Inschrift 
unterscheiden  zu  können,  denen  die  möglichen  Gleichungen  aus  dem  phönikisch- 
puropaischen  Schriftsysteme  leicht  an  die  Seite  zu  setzen  sind  '). 

Ich  will  mit  dieser  Bemerkung  nichts  beweisen,  sondern  nur  die  Aufmerk- 
samkeit berufener  Forscher  auf  das  in  Rede  stehende  Denkmal  der  Paläographie 
gelenkt  haben.  Ist  aber  in  meinen  Beobachtungen  irgend  ein  richtiger  Kern ,  so 
wird  man  sich  dem  Eindrucke  kaum  entziehen  können,  dass  die  Schrift  der  Dan- 
ziger Urne  auf  einer  selbständigen,  von  der  griechisch -italischen  und  altgermani- 
schen verschiedenen  Vermittelang  aus  dem  Altphönikischen  beruhe. 


')  Anm.  des  Protok.  Herr  Mannhardt,  der  in  der  Sitzung  anwesend  war,  erläuterte  diese 
Bemerkungen  durch  Kreidezeichnungen,  in  denen  er  einige  der  correspondirenden  Zeichen,  aus 
dein  Phünikisehen,  Hebräischen,  Elischen,  Menapischen,  Etruskischen,  neben  einander  setzte. 


248 

4.  Im  Jahre  1857  wurden  in  einem  Steinkasten  gewöhnlicher  Art  bei  Stangen- 
walde. Ki.  Karthaas,  7  Urnen  entdeckt,  deren  zwei  menschliche  Gesichtszüge  dar- 
stellten. Dieser  Fund  ist  vom  Oberforstmeister  Grunert  in  den  N.  Pr.  Provinzialhl. 
1868  III  l\  B.  1.  S.  18G — 191  beschrieben  und  abgebildet.  Die  grössere  Gesichts- 
arne  von  schwarzem  Thon  zerbrach  leider  beim  Aufgraben.  Die  kleinere  aus  feinem, 
graurothem  Thone  gearbeitet  zeigt  ein  menschliches  Gesiebt  ohne  Mund.  Die  Augen- 
brauen und  die  Nase  sind  erhaben,  Pupille  und  Nasenlöcher  durch  Eindrücke  be- 
zeichnet. Die  Ohren  sind  je  mit  zwei  Löchern  versehen.  Um  deu  Hals  der  Urne 
läuft  ein  einfacher  eingeschnittener  Ring.  Den  hutförmigen  Deckel  durchkreuzt 
ein«'  Einritzung  von  4  Strahlenbündeln,  von  9,  10  und  11  Strahlen.  Die  beiden 
Zwischenräume  des  einen  Halbkreises  füllt  ein  von  einer  einfachen  Linie  getheiltes 
wellenförmiges  Ornament  aus,  während  die  beiden  Felder  des  anderen  Halbkreises 
keine  weitere  Zeichnung  enthalten.  Eigentümlich  ist  der  Urne  ein  sonst  noch 
nicht  beobachteter  Untersatz  in  Form  einer  Schale,  in  welche  ihr  flacher  Boden 
genau  hinein  passt;  ausserdem  aber  im  rechten  Ohre  ein  interessantes 
Gehänge,  das  aus  zwei  mit  blauen  Glasperlen  besteckten  Bronzerin- 
gen besteht,  von  deren  unterem  eine  weisse  Kaurischnecke  (Schlan- 
genköpfchen, Cypraea  moneta)  herabhängt.  Da  diese  Oonchylie  aus 
dem  Oriente  (Afrika,  Indien)  stammt,  kann  sie  nur  durch  einen  der 
Gesichtsurnenperiode  gleichzeitigen  Handel  mit  dem  Morgenlande 
an  die  Ostsee  geratben  sein,  durch  den  auch  wohl  die  Glasperlen  ih- 
ren Wog  hieb  er  gefunden  haben. 

5.  Schliesslich  ist  noch  über  einen  neuerdings  gewonnenen  Zuwachs  des  Vor- 
ratlies poraerellischer  Kanopen  zu  berichten.  Auf  der  F'eldmark  des  Gutes  Schä- 
ferei bei  Oliva  (l'/3  Meilen  von  Danzig)  wurde  am  30.  October  1869  beim  Graben 
einer  Kartoffelmiete  eine  Steinkiste  aufgedeckt,  welche  eine  einzige  Urue  mit  Kno- 
chenfüllung enthielt.  Durch  den  Eifer  eines  jungen  Handlungseleven,  W.  Kauff- 
mann,  der  sich  seit  einiger  Zeit  um  Sammlung  von  Grabalterthümeru  bemüht,  ist 
diese  Vase  aufgespürt  und  seit  einer  Woche  nach  Danzig  geschafft,  leider  nicht 
ganz  unversehrt,  indem  ausser  mehrfachen  kleineren  Verletzungen  ein  grösseres 
Stück  ausgebrochen  ist  (Fig.  4).  Sie  zeigt  eine  wohlgebildete  Nase  mit  mittlerem 
Gesichtswinkel,  vertiefte  Nasenlöcher,  erhaben  gearbeitete,  über  der  Nase  zusam- 
menstossende  Augenbrauen;  ebenso  sind  die  Lippen  durch  eine  leise  Erhöhung  an- 
gedeutet. Augen  scheinen  nicht  vorhanden  gewesen  zu  sein,  denn  die  Vertiefungen, 
welche  man  als  solche  ansehen  könnte,  machen  den  Eindruck  zufälliger  Ausbrüche. 
Zwei  Eigenthümlichkeiten  des  neuen  Fundes  sind  besonders  bemerkenswerth. 

a.  Die  ohne  Naturtreue  durch  eine  niedrige  Erhöhung  von  auffalleuder  Länge 
dargestellten  Ohren,  welche  denjenigen  der  Redischauer  Vase  des  Berliner  Museums 
(Virchow  Separatabdr.  S.  7.  Fig.  1)  genau  entsprechen,  enthalten  je  5  Ohrlöcher, 
in  deren  jedem  auf  der  rechten  Seite  noch  ein  Bronzering  erhalten  ist.  Von  dem  zweit- 
obersten dieser  Ringe  hängen,  vermittelst  eines  kleineren  Ringes  verbunden,  zwei 
ausserordentlich  fein  gearbeitete  Bronzekettchen  hinab,  die  noch  24  und  16  Glieder 
zählen  und  beinahe  bis  zu  demjenigen  Theile  des  Gefässes  hinunterreichen,  der 
die  Stelle  des  Schulterblattes  vertritt.  In  dem  obersten  Ringe  desselben  Ohres 
haften,  jedoch  ohne  Mittelglied,  noch  einige  Glieder  zweier  gleichartiger  Ketten  und 
mindestens  an  dem  dritten  Ringe  lässt  eine  stark  oxydirte  Stelle  auf  das  ehema- 
lige Vorhandensein  des  nämlichen  Schmuckes  schliessen.  Auf  dem  linken  Ohre 
sind  nur  die  drei  unteren  Ringe  ohne  weiteren  Zierrat  erhalten.  Man  darf  wohl 
vermuthen,    dass  die  Ketten  ehedem  nach  nnten  hin  miteinander  zusammenhingen 


249 

oder  wahrscheinlicher  in  irgend  ein  Schaustück  ausliefen  der  Art,  wie  die  Gürtel- 
gehänge fränkischer  Gräber  (Lindenschmil  Alterth    IV  7,  ■>.  6). 

I>ie  erwähnten  Bronzeketten  gleichen  genau  einer  im  Danziger  Musen  ro  auf- 
bewahrten, welche  in  meinem  oben  erwähnten  Aufsatz  Fi:;.  G  abgebildet  ist.  Der 
Leuchtthurmswärter  Schultz  auf  Heia  übergab  sie  mir  1859  mit  der  Angabc,  eine 
von  ihm  und  Anderen  in  Redischau  ausgegrabene  Gesichtsurne,  die  beim  Ausheben 
zerfiel,  habe  diese  Kette  in  der  Nase  getragen.  Diese  L'rne,  verschieden  \un  der 
Berliner  ans  Redisohau  (Virchow,  Separatabdr.  S.  <".  Fig.  I),  ist  wohl  dieselbe,  id»er 
welelie  bereits  Körst eman  n  (N.  Pr.  Prov.  Bl.  I85U  IX  268)  Nachricht  erhielt;  des 
Mittinders  mir  erstattete  Mittheilungen  sind  verwerthet  (N.  Pr.  Prov.  Bl.  1856  B.  IX 
275  N.  24.  1855,  B.  VI J I  S.  43).  Auf  einem  von  diesem  nach  dem  Gedächtniss  ent- 
worfenen Risse  beruht  die  im  Danziger  Museum  befindliche  Zeichnung  der  Urne 
mit  dem  Nasenschmuck  (N.  Ur.  Prov.  1856,  B.  IX  S.  274,  4,  1.  M.  Mosk.  Aufs. 
Fig.  H.).  Es  darf  jedoch  nach  dem  Krgebniss  des  neuen  Fundes  von  Schäferei  ge- 
fragt weiden,  ob  nicht  die  Erinnerung  täuschte.  Denn  wiewohl  Gehänge  in  der 
Nase  (z.  B.  bei  Arabern  und  Hebräern)  im  Alterthum  nicht  beispiellos  sind,  dünkt 
es  mich  doch  wahrscheinlicher,  dass  auch  die  Redischauer  Bronzekette  ein  n  Theil 
des  Ohrgehänges  bildete,  das  ausserdem  aus  mehreren  Bronzeringen  mit  (ilasperlen 
bestand.  In  der  Zahl  von  5  Ohrringen  stimmt  das  Gefäss  von  Schäferei  genau  mit 
einer  Gesichtsurne  überein,  welche  1656  auf  dem  iSilberberge  bei  Danzig  ausgegra- 
ben ist.     (Vgl.  N.  Pr.  Prov.  Bl     1851,  XI  271;   1855  VIII  48.) 

Ohrgehänge  finden  sich  in  den  Gräbern  der  Bronzezeit  selten.  (Weiss, 
Kostümkunde  II  S.  628.)  Denkt  man  sich  die  unsrigen  auch  unten  mit  einem 
Schaustück  behängt,  so  muss  doch  auffallen,  dass  sie  —  in  ihrer  Art  und  Ausdeh- 
nung zunächst  an  den  assyrischen  Ohrschmuck,  sodann  an  lydische,  ägyptische  und 
etruskische  Sitte  erinnernd  —  durch  geschmachvolle  Form  vor  den  in  Bildwerk 
oder  Natur  übriggebliebenen  Crotalien  dieser  Völker  sich  auszeichnen. 

b.  Um  den  Hals  der  Urne  schlingt  sich  eine  aus  freier  Hand  eingeritzte  un- 
vollkommene Zeichnung,  ein  Band  von  3  Streifen,  das  von  einer  Zickzacklinie  durch- 
zogen ist.  Unzweifelhaft  soll  es  einen  Halsschmuck  bedeuten  (vgl.  die  Halsringe 
bei  Lindenschmit  VIII  5,  1.  2  der  Aethiopen,  Aeg-pter,  Assyrer  und  Etrusker. 
(Weiss  a.  a.  0.  I,  Fig.  90.  92;  31c,  120  cc;  II  S.  982.  984.)  Denn  erst  unterhalb 
seiner  oder  vielmehr  innerhalb  des  untersten  Streifen  sieht  man  auf  jeder  Seite  des 
(iefässes  eine  fast  kreisförmige,  das  Schulterblatt  darstellende  Erhöhung,  aus  der 
ein  in  die  Hand  mit  ihren  fünf  Fingern  auslaufender  Arm  hervorgeht.  Der  wohl- 
erhaltene Unterarm  der  linken  Seite  weist  sechs  Einschnitte  auf.  Auf  der  rechten 
Seite  ist  der  Unterarm  leider  ausgebrochen,  aber  am  Rande  gewahrt  mau  noch  deut- 
lich die  Spuren  gleichartiger  Einschnitte  (Fig.  4a).  Dieselben  stellen  augenscheinlich 
einen  Zierrat  dar,  sei  es  den  spiralförmigen  Armring  (Worsaae,  Afbildninger. 
Kjöbenh.  1854  p.  48.  n.  201.  Lindenschin.  X,  1,  6.  9.  10)  oder  die  gerippte 
Armschiene  (Worsaae  50  n.  206.  vgl.  Li  ndenschm.  V  4,  3.  4.  Weiss,  Kostümk. 
II  626.  Fig.  227.  q).  In  häutigster  Anwendung  während  der  Bronzezeit, 
haben  sich  die  gewundenen  Armbänder,  zumal  die  Spiralen  (die  einst 
auch  bei  Etruskern  im  Gebrauch  waren,  Weiss  II,  Fig.  406  b.)  bekanntlich  auch 
während  der  beiden  Eisenalter  (hier  vornehmlich  in  Silber  und  Gold)  erhalten: 
in  der  Heldenzeit  der  Germanen  und  sicherlich  auch  bei  deren  östlichen  Nachbarn 
waren  sie  ein  begehrtes  Gut,  die  Gabe  der  Könige  (vgl  Grimm,  Schenken  und 
Geben    139  fgg.     Kl.  Sehr.  II  197,  Weinhold,  Altnord.  Leben  186). 

Die  pomerellischen  Kanopen  lassen  deutlich  zwei  verschiedene  Gesichtstypen 
unterscheiden:  dereines  zur  kaukasischen  Race  gehörigen  Volkes  ist  der  häufigere; 


250 

seine  Nasenbildung  steht  gleichweit  von  der  gebogenen  Spitznase  der  Semiten  als 
von  der  edeln  Form  an  griechischen  und  römischen  Köpfen  ab,  während  doch  die 
stark  ausgebildeten  über  der  Nase  zusammenstossemlen  Augenbrauen  eher  einem 
sudlichen,  als  einem  nordischen  Stamme  ahnlich  sehen.  Der  andere,  durch  die 
Urne  von  Warnihof  vertretene  Typus  —  falls  wir  es  hier  nicht  mit  einer  singulären 
Missbildung  zu  thun  haben  -  nähert  sich  mehr  mongolischem  Character  (man  sieht 
sich  unwillkürlich  an  Lappen  und  Samojeden  erinnert),  doch  ist  nicht  ersichtlich, 
ob  der  auffallend  hohen  einwärts  gebogenen  Stülpnase  auch  stärker  hervortretende 
Backenknochen  entsprachen.  Unter  den  mir  bekannten  Volkstypen  ist  keiner  ge- 
nau  vergleichbar. 

Das  Volk,  welches  diese  Gesichtsurnen  verfertigte  oder  zuerst  verfertigen 
lehrte,  trug  eine  bald  hutl'örmige,  bald  mützenartige  Kopfbedeckung;  beide  Ge- 
schlechter verzierten  ihre  Ohren  mit  Bronzeringen  und  Glas-  oder  Bernsteinperlen, 
zuweilen  mit  tief  auf  die  Schulter  herabhängenden  Kettchen,  an  denen  möglicher 
Weise  die  aus  Gewanduadeln  bekannten  Klapperbleche  (vgl.  von  Sacken,  Leit- 
faden S.  99  Fig.  39)  befestigt  waren.  Den  Hals  umgab  ein  mit  einfachen  Orna- 
menten in  mannichfaltiger  Weise  verziertes  Band;  den  Unterarm  schmückten  aus 
mehreren  Reifen  bestehende  Armbänder.  Ein  langer  Kinnbart,  kunstvoll  geflochten, 
bildete  den  Stolz  des  Mannes. 

Virchow  hat  den  Ursprung  der  Gesichtsurnen  in  die  Zeit  des  Ueberganges 
von  der  Bronzezeit  zum  älteren  Kisenalter  gesetzt.  In  der  That  ist  kein  eiuziges 
sicheres  Beispiel  von  Auffindung  eisernen  Geräthes  mit  einer  Gesichtsurne  zusam- 
men bekannt  geworden;  doch  kam  solches,  wenn  auch  nur  vereinzelt  neben  Brouze- 
geräth  in  ganz  naheliegenden  Gräbern  zum  Vorschein.  Die  Urneu  selbst  tragen 
viele  der  characteristischen  Ornamente  der  Bronzezeit.  Von  diesen  ist  die 
Sonne  (Nilsson,  Bronzealter  S.  13)  dreimal,  auf  zweien  der  Urnen  von  Katz 
(Förstern.  Fig.  X.  XIII)  und  auf  dem  Deckel  eines  Grabgefässes  aus  Reckau,  der 
sich  im  Berliner  Museum  befinden  soll,  zum  Vorschein  gekommen  (N.  Pr.  Prov. 
Bl.  1855,  B.  VIII  S.  45)  Auch  begegnet  man  dem  eiufachen  und  punktirten  Kreis 
(Katz),  dem  Rade  mit  4  Speichen  (Warmhof),  der  einfachen  und  doppelten  Zick- 
zacklinie (Katz;  Schäferei),  den  durch  parallele  Strichreihen  gedildeten  Streifen 
(vgl.  von  Sacken  S  102.  Fig.  41.  h.  =  Katz).  Fs  fehlt  aber  auf  den  bis  jetzt 
bekannten  Gesichtsurnen  das  entscheidendste  Ornament,  die  Spirale,  (cf.  Nilsson, 
Brouzealter  S.  4.  5.     v.  Sacken,    Leitfaden  102) ')•     Da  ausserdem  der  Gebrauch 


')  Auf  gleichzeitigen  Urnen  z.  ß.  aus  Redisehau  (Förstern.  N.  Pr.  Prov.  Hl.  1850.  IX 
Tab.  1.  Fig.  1)  begegnet  das  von  Nilsson  sogenannte  Ornament  des  Palmzweigs,  das  er  aus  der 
Grotte  von  Newgrange  nachgewiesen  hat  (Broir/.ealter  xNachtr.  2.  II  S.  114).  Auf  den  Deckeln 
anderer  Urnen,  deren  Verhiiltniss  zu  Gesichtsurnen  aus  den  Fundberichten  jedoch  nicht  hervor- 
geht, tritt  es  noch  deutlicher  hervor.     Z  B.  auf  dem  Deckel  einer  Urne  aus  Pemgau 


2.r>] 

Her  Mehrzahl   jener  Ornamente    auch    in    der    Elisenzeil    aul    Gefässen    vielfach    in 
L'ebung  blieb  (v.  Sacken,    Leitf.  S.  153)  und  «Im   unser. ■   bisherigen  Fnndberichte 
zu  ongenan  und  unvollständig  sind,    nm   bei    uns  Grabet    der  Bronzezeit    und  des 
Bisenalters  schon  jetzl  von  einander   scheiden   zu   können,    darf  die    obige  Zeitb« 
Stimmung  nur   als  wahrscheinlich,    keinesweges   als  vollkommen   gesichert   angesi 
hen  werden. 

Wann  für  die  baltischen  Küstenländer  der  [Jebergang  von  der  Bronzecultnr  in 
die  Eisenzeit  anzusetzen  sei,  las»!  sich  aus  pomerel tischen  Kunden  bis  jetzt  noch 
nicht  genau  feststellen.  Nur  ans  Analogien  ist  ein,  wahrscheinlich  ziemlich  zutref- 
fender Schluss  darüber  zu  ziehen  Das  ältere  Bisenalter  fällt  für  Skandinavien 
und  Deutschland  zusammen  mit  Münzfunden  römischer  Denare  ans  Saec.  1  I 
(Titus  —  Alexander  Severus);  wenn  unsere  Gesichtsurnen  auf  eine  etwas  frühere 
Zeit  hinweisen,  insofern  ihre  characteristischeh  Kennzeichen  der  von  Nordischen 
Archäologen  sogenannten  jüngeren  Bronzeperiode  zu  entsprechen  scheinen,  so  darl 
man  für  sie  spätestens  die  letzten  Jahrhunderte  vor  unserer  Zeitrechnung  in  An- 
spruch nehmen.  Hiemit  stimmt  —  wie  es  scheint  —  der  durch  Münzen  des  zwei 
ten  Jahrhunderts  p.  Chr.  (Trajan .  Hadrian,  Faustina)  dat-irbare  Fund  von  I  rnen 
zu  Polwitten  im  Samlande  (N.  Pr.  Prov.  Bl.  F.  III.  B.  III  1859  S.  r;4  fgg.)  Denn 
auf  diesen  sieht  man  noch  theilweise  dieselben  Ornamente,  wie  auf  uuseren  Ge 
sichtsuruen  (vgl.  Fig.  d.  g.  mit  den  Katzer  l  rnen),  aber  auch  bereits  andere  Zeich- 
nungen. Eines  dieser  (iefässe  lässt  deutlich  in  dem  I  rnenhalse  die  Nachbildung 
eines  menschlichen  Halses,  und  unteihalb  dessen  einen  auf  der  Schulter  liegenden 
Halsring  (vgl.  Worsaac,  Afbildniuger  S.  171)  erkennen  (Fig.  c),  aber  ohne  son 
stige  Andeutung  eines  Gesichtes  oder  anderen  menschlichen  Körpertheiles  Man 
gewinnt  den  Kindruck,  dass  hieran  das  Modell  einer  Kanopnsvase  eine  nur  dunkel.' 
Erinnerung  bewahrt  sei.  Auch  finden  sich  hier  die  kleinen  Oehre,  welche  ein 
characteristisehes  Kennzeit  hen  vieler  l'rnen  der  jüngeren  Bronzezeit  bilden  (Wor- 
saae  a.  a  O.  S.  54.  Fig.  220.  222.  v.  Sacken.  S.  106.  Fig.  48)  und  als  nnver 
standene  Nachbildung  der  Henkel  von  Metallgefässen  betrachtet  werden  müssen,  in 
so  völlig  von  den  Grundmustern  abweichender  Lage  als  blosse  Verzierungen  ange- 
bracht, dass  daraus,  wie  ich  glaube,  auf  eine  dem  Bronzealter  nahestehende,  aber 
spätere  Zeit  geschlossen  werden  darf.  Farbige  Glaskorallen,  Bronzesacheu,  aber  in 
vorwiegendem  Masse  Eisengeräthe  und  Eisenwaffeu  wurden  mit  diesen  l'rnen 
zusammen  gefunden.  Alle  diese  Umstände  miteinander  sprechen  dafür,  dass  die 
pomerellischen  Gesichtsurnen  einer  dem  Funde  von  Polwitten  nicht  allzufern  lie- 
genden, aber  ihm  vorausgehenden  Periode  angehören  Eine  genauere  Untersuchung 
des  in  der  Sammlung  der  Prussia  zu  Königsberg  aufgehäuften  Alterthümerschatzes 
müsste  zeigen,  ob  diese  Annahme  sich  bestätigt ') 

Ist  das  angenommene  Zeitalter  richtig,  so  fällt  es  ungefähr  mit  derjenigen  Zeit 


')  Augenscheinlich  hat  auch  in  dem  Bronzealter  vielfach  eine  AbSchwächung,  Versetzung 
und  Vermischung  der  künstlerischen  Motive  stattgefunden.  Auf  eine  solche  vermeine  ich  die 
räthselhaften  viereckigen  Zeichnungen  am  Bauche  der  beiden  Katzer  l'rnen  (1410  u.  IUI)  zu- 
rückführen zu  sollen  Sie  sind,  wie  ich  glaube,  den  Hausuruen  entlehnt  —  die  bekanntlich 
ebenfalls  der  Bronzecultnr  angehören  —  und  vertreten  die  Stelle  der  Thür.  Die  uralte  Vor- 
stellung bes  Leibes  als  Haus  der  Seele  könnte  mitgewirkt  haben,  die  Vermischung  beider  Fir- 
men (der  Kanopusform  und  der  Domizilienform)  zu  befördern.  Man  möchte  fragen,  ob  die  auf 
vielen  Exemplaren  beobachtete  Stellung  der  Thür  dicht  unter  dem  Dache  der  Hausuruen  (s. 
Lisch,  Hausurnen  S.  5  fgg)  nicht  etwa  statt  Vorbildern  in  der  Wirklichkeit  dem  Niehtver- 
Ständniss  älterer  Muster  ihre   Entstehung  verdanke'' 


252 

zusammen,  in  welcher  man  gewohnt  ist,  germanische  Gothen  als  Anwohner  der 
Bernsteinküste  westlich  der  Weichsel  zu  denken  In  Bezug  hierauf  ist  zu  consta- 
tiren,  dass  die  Inschrift  der  Danziger  Gesichtsurne  eine  Schrift  bezeug!,  welche 
vom  altgerraanischen  Rnnenalphabete  durchaus  verschieden  ist,  das  wir  als  Gothen 
und  skandinavischen  Goten  gemeinsam  aus  den  dem  älteren  Eisenalter  gehörigen 
Denkmälern  von  Snderbrarnp  (Bronzeschwert  mit  Inschrift),  Tondern  (goldenes  Hörn) 
und  Bukarest  (Goldring),  sowie  aus  vielen  der  Solidusperiode  angehörigen  Brak- 
teaten  und  einer  Anzahl  von  Runensteinen  nachweisen  können,  und  als  die  Grund- 
form sowohl  des  jüngeren  nordischen  als  des  angelsächsischen  Futhorks  erkennen. 
Dieser  scheinbare  Widerspruch  mit  der  Geschichte  wird  indessen  schon  durch  des 
Tacitus  und  Ptolemäus  Nachrichten  beseitigt,  nach  welchen  die  Gpthonen  damals 
südöstlich  der  Weichsel,  an  der  Mündung  des  Flusses  bereits  Wenden  sesshaft 
waren,  (cf.  Grimm,  Gesch.  d.  D.  Spr.  722.  C.  Zeuss,  die  Deutschen  u.  ihre  Nach- 
barst. S.  135.)  Weitergehender  Vermuthungen  über  den  Ursprung  der  Gesichts- 
urnen Pomerellens  enthalte  ich  mich,  so  lange  nicht  ein  ausreichenderes  Material 
zur  völlig  entscheidenden  Lösung  der  Vorfrage  nach  ihrem  Zeitalter  im  Lande  selbst 
gewonnen  sein  wird.  Durch  die  Anwendung  der  vergleichenden  Methode  auf  die 
nordeuropäische  Archäologie  wurden  neue  und  überraschende  Gesichtspunkte  er- 
öffnet, der  Zusammenhang  der  Kulturen  des  Steinalters  wie  der  Bronzezeit  mit 
südeuropäischen,  afrikanischen  und  asiatischen  Ländern  darf  als  sicher  festgestellt 
betrachtet  werden;  auch  ein  bedeutender  Antheil  des  Welthandels  an  der  Verbrei- 
tung der  Industrieerzeugnis.se  beider  Epochen  wird  von  Niemandem  mehr  bezwei- 
felt werden  können.  Innerhalb  dieser  allgemeinen  Umrisse  bestimmtere,  geschicht- 
liche Anknüpfungspunkte  zu  fixiren ,  ist  in  den  meisten  Fällen  noch  verfrüht;  un- 
sere Hauptaufgabe  bleibt  für  jetzt  noch  die  sorgfältige  Sammlung  von  Beobachtun- 
gen und  die  möglichst  vielseitige  und  weitreichende  Erörterung  von  Analogien, 
ohne  aus  denselben  sofort  voreilige  Schlüsse  zu  ziehen. 

Die  von  Professor  Virchow  zuerst  im  Zusammenhange  beleuchtete  Thatsache 
der  Uebereinstimmung  unserer  pomerellischen  Gesichtsurnen  mit  ähnlichen  Ge- 
fässen  Etruriens  und  einer  gewissen  Art  ägyptischer  Kanopen ')  in  der  Idee,  die 
Leichenreste  in  einem  dem  menschlichen  Körper  nachgebildeten  Gefässe  zu  ver- 
wahren und  auf  diese  Weise  gewissermassen  dem  ganzen  Leibe  des  geliebten  Tod- 
ten  Fortdauer  zu  sichern,  verdient  freilich  um  so  mehr  Beachtung,  als  in  den  Haus- 
urnen ein  zweites  Beispiel  gleichartiger  Gefässbildnerei  aus  Altitalien  und  dem  euro- 
päischen Norden  während  der  Bronzezeit  vorliegt.  Zwar  scheint  es  sicher,  dass 
die  preussischen  Gefässe  nicht  in  Masse  fabrikmässig  nach  der  Schablone,  sondern 
je  nach  Bedürfniss  aus  freier  Hand  im  Lande  selbst  gearbeitet  wurden.  Die  enge 
Begrenzung  und  geographische  Lage  des  Fundbereiches  unserer  Gesichtsurnen  drän- 
gen jedoch  den  Gedanken  an  den  Einfluss  einer  fremden,  auf  dem  Seewege  ver- 
mittelten Cultur  gleichsam  von  selbst  auf;  diese  Einwirkung  scheint  eine  länger 
andauernde  gewesen  zu  sein  und  dürfte  am  ehesten  einer  Handelsniederlassung  zu- 
geschrieben werden.  Deutet  die  Uebereinstimmung  mit  den  rheinländischen,  etrns- 
kischen  und  ägyptischen  Kanopen  auf   die  Möglichkeit    eines    südlichen  Ausgangs- 


')  Bekanntlich  dienten  andere  Kanopen  als  heilige  Wasserkrüge  zur  Reinigung  des  Nilwas- 
sers. Gefässe  mit  Menschenköpfen  aus  Gold  oder  anderem  Edelmetall,  zu  Tafelaufsätzen  dienend, 
erhielten  die  Aegypter  als  Tribut  von  Kypern  und  Palästina  (?)  S.  Weiss,  Kostümkunde  I  S.  105 
Fig.  75.  Sind  diese  Geschirre  der  Form  nach  den  Gesichtsurnen  zu  vergleichen,  so  entspricht 
«leren  Idee  den  in  Gestalt  menschlicher  Körper  gearbeiteten  Mumiensarkophagen,  von  denen  das 
Berliner  ägyptische  Museum  mehrere  Exemplare  aus  Stein  und  Holz  aufzuweisen  hat. 


253 

puuktes  dieser  eounnerciellen  Beziehungen  hin,  so  wird  durch  die  Cypraea  nioneta 
der  Urne  von  Stangenwalde  das  thatsächliche  Vorhandensein  einer  irgend  wie  ge- 
arteten Verbindung  mit  Sndenropa  oder  dem  Orient  zur  Gewissheit.  Der  eigen- 
tbüm liehe  Bart  der  Vase  von  Brück  könnte  möglicher  Weise  eine  altwendische 
Sitte  nachbilden,  erinnert  jedoch  noch  bestimmter  an  morgenländische  Muster.  Die 
Inschrift  der  Danziger  Urne  scheint  ebenfalls  einen  Zusammenhang  mit  der  am 
Siidostrande  des  Mittelmeers  erfundenen  Buchstabenschrift  zu  veirathen;  jedenfalls 
ist  die  Aehnlichkeit  der  Zeichen  gross  genug,  um  eine  eingehendere  Untersuchung 
zu  verdienen. 

So  viel,  aber  auch  nur  soviel  wird  sich  ohne  Gefahr  ernstlichenW  nk'rspruches  be- 
haupten lassen.  Denn  welchemVoIke  die  Einführung  jener  fremdländischen  Civilisation 
der  Weichselmündung  wäbrend  der  an  den  Anfang  der  christlichen  Zeitrechnung 
grenzenden  Jahrhunderte  beigemessen  werden  dürfe,  darüber  zu  entscheiden  fehlt 
es  noch  an  sicheren  Anhaltspunkten.  Nur  der  Bernstein,  soviel  ist  klar,  lockte 
den  Ausländer  nach  Preussens  Gestaden.  Bernsteinperlen  in  goldene  Halsbänder 
eingereiht  bot  schon  der  sidonische  Schiffer  zu  Homers  Zeit  in  griechischen  Häfen 
feil,  doch  kein  Zeugniss  bewährt,  dass  er  von  der  Ostsee  diese  Waare  holte,  die  schon 
an  Schleswigs  und  Jütlands  Westküste  zu  beziehen  war  Später  finden  wir  Münzen  aus 
Rhodos,  Thasos,  Oyzikus,  Cyrene,  ebenso  aus  Aegina  und  Athen,  nicht  minder  je- 
doch aus  Italien  (Neapolis,  Syrakus,  Panormos)  durch  den  Bernsteinhandel  an  die 
südöstlichen  Gestade  des  baltischen  Meeres  geführt  (Wiberg  S.  94),  aber  dieser 
Handel,  der  zwischen  400 — 100  v.  Chr.  blühte  und  von  dem  Herodot  nur  durch 
ein  dunkles  Gerücht  erfuhr,  er  habe  seinen  Endpunkt  an  der  Mündung  eines  Stro- 
mes Eridanos  (der  Weichsel?),  ging  wahrscheinlich  über  Land  vom  schwarzen 
Meere  aus  und  wurde  durch  Zwischenhändler  vermittelt  (Wiberg  S.  41).  Der 
westlichste  Punkt  jener  Münzfunde  ist  Samlaad,  am  Ausflüsse  der  Weichsel  selbst; 
in  Pomerellen  hat  sich  noch  keine  Spur  davon  gezeigt. 

Die  Etrusker  (ihrer  Abstammung  nach  wahrscheinlich  Semiten),  ein  in  seinen 
Culturverhältnisseu  durch  Griechenland  stark  beeinflusstes  gleichzeitig  aber  auch 
mit  Assyrern  (L'Etrurie  et  les  Etrusques  par  Noel  de  V ergers  I  S.  102  fgg.),  Phö- 
nikern  und  Aegyptern  sich  berührendes  Volk,  haben  den  meisten  Anspruch  auf  die 
Ehre,  für  die  Verbreiter  und  Tonangeber  der  Bronzeindustrie  und  ihrer  Erzeugnisse 
in  Nord-  und  Mitteleuropa  angesehen  zu  werden  (Wiberg  S.  15  fgg.).  In  ihren 
Gräbern  trifft  man  auch  Bernsteinschmuck.  Immerhin  wäre  es  nicht  unmöglich, 
dass  ihre  Schiffe  die  Weichselmündung  aufgesucht  hätten;  möglich,  aber  nicht 
wahrscheinlich.  Denn  war  dies  der  Fall,  warum  wäre  den  Erben  ihrer  Civilisation 
und  Industrie,  den  Römern,  unsere  Gegend  bis  zum  Beginne  der  Kaiserzeit  unbe- 
kannt geblieben?  warum  traf  mau  in  Pomerellen  auf  keine  Denkmäler  unzweifel- 
haft etruskischer  Abstammung  (Inschriften,  Münzen  u.  dgl.)? 

Wollte  man  au  eine  Phönikische  Handelsfactorei  an  der  Ostsee  denken ,  so 
könnte  doch  wohl  nur  die  Niederlage  irgend  einer  westlichen  Pflanzstadt  der  Punier 
(Gades  u.  s.  w.)  in  Betracht  kommen.  Nilsson  hat  meines  Erachtens  überzeugend 
nachgewiesen  —  und  dies  macht  sein  Hauptverdienst  aus  — ,  dass  die  gewerblichen 
Erzeugnisse  der  Bronzezeit  einen  gemeinsamen  technischen  Character,  einen  gerueiu- 
samen  Vorrath  ornamentaler  Verzierungen  verratheu  und  dass  wegen  der  L  ebereiu- 
stimmung  mit  diesen  gewisse  Steindenkmale  des  skandinavischen  Nordeus  und  Ir- 
lands der  nämlichen  Kulturepoche  zuzuweisen  seien  (die  Monumente  von  Ki\ik, 
Dowth,  Newgrange);  auch  zeigte  er  vereinzelte  Aehnlichkeiten  mit  entsprechenden 
Kuustformeu  südlicher  Länder  z.  Theil  semitischer  Nationalität.  Den  Beweis  einer 
Herkunft  der  gesammteu  Bildung   des  Bronzezeitalters    aus  Phöuizieu   hat  er   auch 


254 

nicht  einmal  annähernd  erbracht.  Namentlich  der  eine  Haupttheil  seines  Bewei- 
ses, der  reügionsgeschiohtliche,  schlug  völlig  fehl.  Nur  durch  ein  Gewehe  irri- 
ger Schlussfolgerungeu  aus  Namen  und  durch  ganz  Europa  verbreiteten  leben- 
digen Volksgebräuchen  verlieh  er  dem  Phantom  eines  nordischen  Baaldienstes  eini- 
gen Schein.  Dieses  l'rtheil  an  diesem  Orte  näher  zu  begründen  ist  nicht  meine 
Aufgabe;  ich  spreche  es  aus,  um  nicht  durch  die  oben  hervorgehobene  Ueberein- 
stimmung  der  Sonnenbilder  uud  des  zweigartigen  Ornamentes  auf  unseren 
l'rnen  mit  den  nämlichen  Figuren  in  den  Grotten  von  Newgrange  und  Dowth  mei- 
nerseits die  Forschung  auf  eine  falsche  Spur  zu  leiten. 

Eine  preussische  Oolonie  irgend  einer  Stadt  der  phonikisch-punischen  Well 
müsste  unabhängig  von  Nilsson's  Hypothese  durch  stichhaltige  Gründe  oder  Funde 
erwiesen  werden. 

So  deuten  manniebfache  Verhältnisse  auf  eine  Verbindung  des  späteren  Pome- 
rellen  während  der  Zeit  der  Gesichtsurnen  mit  den  Ländern  rings  um  das  Becken 
des  Mittelmeeres  hin,  aber  erst  weiteren  Funden  dürfte  es  vorbehalten  sein,  die 
Art  und  den  Ausgangspunkt  dieser  Verbindungen  deutlicher  zu  erhellen.    — 

Zu  obigen  schriftlichen  Mittheilungen  fügt  der  in  der  Sitzung  erschienene  Hr. 
Mannhardt  noch  weitere  mündliche  Zusätze: 

Die  in  meinem  Aufsatze  erwähnte  Gesich turne  mit  Bart  war  bis  zum  An- 
fang  dieser  Woche  die  einzige  Urne  dieser  Art.  Allein  eben  bevor  ich  abreiste, 
brachte  mir  Hr.  Kau  ff  mann  am  9.  Mai  eine  von  ihm  selber  ebenfalls  im  Neustädter 
Kreise  bei  Starzin  ausgegrabene  Urne,  die,  wie  alle  diese  Dinge,  in  einem  steiner- 
nen Sarge  sich  befand,  bestehend  ans  4  Feldsteinen,  die  ein  Oblong  bildeten  uud 
mit  einem  Feldstein  als  Deckel  versehen  waren.  Es  fanden  sich  2  Urnen  darin, 
die  eine  zeigte  ein  Gesicht,  die  andere  keines.  Unter  der  Nase  des  Gesiebtes,  die 
gebogen  ist  und  spitz  zugeht,  befindet  sich  ein  Bart,  der  allerdings  keine  Spur 
eines  Flechtwerkes  zeigt,  sondern  vielmehr  zugespitzt  ist  (Taf.  VIII.  Fig.  5). 

Dieser  Fund  ist  gleichzeitig  von  nicht  geringer  Bedeutung  in  Bezug  auf  die 
Zeit  ,  in  welche  man  die  Gesichtsurnen  zu  setzen  hat.  Es  fand  sich  nämlich  iu 
dieser  Urne  selbst  ein  überaus  merkwürdiges  Stück,  ein  gespaltenes  Schädelfrag- 
ment,  in  welchem  ein  Stück  Eisen  steckt,  das  wie  ein  Nagel  aussieht.  Es  wäre 
mir  dies  weniger  aufgefallen,  wenn  es  eine  platte  Gestalt  gehabt  hätte;  denn  als- 
dann würde  man  an  eine  Pfeilspitze  haben  denken  können,  durch  welche  der  Ver- 
storbene seinen  Tod  fand.  Hierdurch,  glaube  ich,  ist  es  wahrscheinlich  gemacht, 
dass  diese  Urnen  einem  verhältnissmässig  jüngeren  Zeitalter  angehören,  einer  Zeit, 
in  welcher  das  Eisen  schon  im  Gebrauch  war,  und  man  würde  die  letzten  Jahr- 
hunderte vor  oder  die  ersten  Jahrhunderte  uach  Christi  Geburt  als  die  Zeit  ihrer 
Entstehung  annehmen  müssen. 

Herr  Virchow  legt  verschiedene  einschlagende  literarische  Werke  vor  und  be- 
merkt Eolgendes: 

Unter  den  von  Hrn.  Mannhardt  erwähnten,  ihm  jedoch  nicht  zugänglich  ge- 
wesenen Schriften  befindet  sich  der  Katalog  von  Wilde1).  In  demselben  sind  aus 
der  Sammlung  der  irischen  Akademie  zu  Dublin  7  Krüge  aus  glasirtem  Thon  er- 
wähnt,   die  unter  dem   Namen  Graybeards  oder  Bellarmines    bekannt  seien.     Einen 


')  W.  K.  Wilde,  ('atalogue  of  the  antiquities  of  stone,  earthen  and  vegetable  materials  in 
Hu-  Museum  of  Um-  Irish  Academy.     Dublin   l  s.r  7.    j>.  l&G. 


255 

davon  bildet  er  ab  (Fig.  111);  derselbe  ist  allerdings  für  uns  von  besonderem  In- 
teresse, weil  daran  im  Relief  ein  bärtiger  Kopf  dargestellt  ist.  welcher  mit  dem  von 
Hrn.  Mannhardt  beschriebenen  einige  Aehnlichkeit  hat.  Nur  ist  der  Kart  aus 
ziemlich  dicken,  glatt  herabhängenden  Strängen  gebildet,  als  wären  die  Ilaare  ge- 
kämmt oder  in  Strähnen  geflochten.  Obwohl  das  Gefäss  in  das  Gebiet  der  Gesichts- 
urnen  gehört,  so  zeigt  es  doch  einen  ganz  anderen  Typns;  nnter  einem  engen  Hals 
befindet  sich  hinten  ein  dicker  Henkel,  vorn  ein  vollständiges  Gesicht  mit  grossen 
runden  Augen,  einer  langen  und  starken  Nase  und  einem  breiten  Munde,  jedoch 
ohne  Ohren;  an  das  Kinn  schliesst  sich  der  erwähnte  Bart  Um  die  Mitte  des 
weiten  Bauches  läuft  eiu  Doppelstrich,  in  dessen  Mitte  vorn,  wie  an  einem  Gürtel 
ein  grosser  rundlich  viereckiger  Stern  sitzt,  der  in  gewisser  Beziehung  an  die  \ier- 
ec.kige  Zeichnung  erinnert,  die  sich  an  unsern  Gesichtsurnen  befindet.  D  r  Bodeu 
des  Gefässes  ist  verhältnissmässig  eng. 

Sodann  erwähne  ich,  dass  sich  in  einer  alten  Königsberger  Inaugural -Disser- 
tation von  dem  nachher  viel  genannten  Reusch ')  vom  Jahre  1724  eine  eingehende 
Beschreibung  und  eine  Abbildung  der  Danziger  Runenurne  findet,  von  der  Hr. 
Mannhardt  gesprochen  hat,  namentlich  auch  eine  weitere  Beschreibung  des  Fun- 
des selbst,  welche  von  Interesse  ist.  Nach  seiner  Mittheilung  bat  ein  Pastor  Fr  omni 
iu  Marienburg  zuerst  1714  in  einem  Schreiben  an  Fischer  sich  darüber  ausge- 
sprochen und  eine  Beschreibung  davon  geliefert.  Es  geht  daraus  hervor,  dass  2  Ur- 
nen zusammen  in  einer  Steinkammer  standen,  nämlich  die  Runen-Urne  und  ausser- 
dem eine  Gesichtsurne  mit  freilich  sehr  einfacher  Zeichnung,  die  jedoch  Ohren  und 
in  dem  einen  derselben  Ringe  trug.  Schon  damals  ist  der  Punkt  in  PYage  gekom- 
men, ob  die  Zeichen  Runen  seien  oder  nicht.  Sonderbarerweise  wird  dabei  ange- 
geben, dass  bei  diesen  Urnen  ein  Gefäss  sich  befunden  habe,  welches  mit  einem 
Getränk,  das  als  Bier  bezeichnet  wird,  gefüllt  gewesen  sei,  welches  eine  dicke  Haut 
gehabt  habe,  jedoch  noch  trinkbar  gewesen  sei.  Ohne  weitere  Bedenken  deducirt 
Reusch  daraus,  dass,  da  das  Bier  erst  durch  die  deutschen  Ritter  in  Preussen  ein- 
geführt worden  sei,  das  betreffende  Grab  erst  nach  der  Occupation  Premsens  durch 
den  Orden  hergerichtet  sein  könne.  —  In  derselben  Schrift  (p.  33)  ist  noch  eine 
Beschreibung  geliefert  von  einem  grossen  Gräber-Funde,  der  1711  bei  Dirschau  ge- 
macht wurde  und  dessen  ich  schon  in  meinem  ersten  Vortrage  gedacht  habe.  Das 
Grab  fand  sich  auf  einem  nahe  bei  der  Weichsel  gelegenen  Hügel.  In  einer  grossen, 
aus  geschlagenen  Steinen  gebildeten  Kammer  (Taf.  I.  Fig.  2)  standen  14  grössere 
und  kleinere  Urnen,  die  grösseren  hinter  den  kleineren  in  aufsteigender  Reihe  ge- 
ordnet, sämmtlich  mit  dem  mützenförmigen  Deckel,  jedoch  nur  eine  mit  einem 
Henkel.  Eine  darunter  fesselte  schon  damals  besonders  die  Aufmerksamkeit,  und 
sie  verdient  sie  um  so  mehr,  als  durch  Hrn.  Mannhardt  jetzt  ein  ähnlicher  Fund 
von  Oliva  mitgetheilt  ward.  Reusch  beschreibt  an  dieser  Urne,  welche  gebrannte  Kno- 
chen, —  darunter  einen  kleineren  Unterkiefer,  also  wohl  die  Gebeine  einer  Frau 
enthielt. —  eine  kleine  Nase,  zwei  Augenpunkte  und  zwei  Ohren.  Von  einem  Ohre 
uach  dem  andern  geht,  wie  Hr.  Mannhardt  es  von  der  Olivaer  Urne  als  wahrschein- 
lich vermuthet  hat,  über  den  Bauch  der  Urne  fort  ein  zusammenhängendes  Ohr- 
gehänge. Dasselbe  bestand  aus  einem  biegsamen  Bronzefadeu.  welcher  mit  blauen 
Glaskorallen  besetzt  war.  Am  Bauche  der  Urne  zeigt  die  Abbildung  eine  vier 
eckige  Figur,  wie  die  Gesichtsurnen  unseres  Museums.  Zwischen  den  Knochen- 
resten in  der  Urne  fand  sich  ein  zum  grössten  Theil  geschmolzener  Ring.        Reusch 


')  Christian.  Frid.  Reusch,   De  Unmilis  et  urnis  sepulcralibns  in  Prussia.    Regioin    17. 4. 
p.  31.  Tab.  II.  fig.  2. 


256 

(p.  31)  beschreibt  noch  eine  dritte  Grabstätte  vom  Heidenberg  bei  Danzig,  wo  8 
einfachere,  jedoch  offenbar  derselben  Zeit  und  Bevölkerung  angehörige  Urnen  in 
einer  ans  geschlagenen  Steinen  gebildeten  und  mit  Erde  beschütteten  Kannner  bei- 
gesetzt waren  (Tat  1.  Fig.  1),  genau  so,  wie  es  noch  neuerlich  Grunert  (Neue 
Preuss.  Prov.  Blätter  1858.  III.  Foige.  Bd.  I.  S.  187)  von  dem  Grabe  bei  Stangen- 
walde im  Kreise  Carthans  schildert,  in  dem  7  Gesichtsurueu  standen.  Es  sind 
dadurch  manche  werthvolle  Anhaltspunkte  für  die  Vergleichung  gegeben.  Es  wird 
demnach  kaum  bezweifelt  werden  können,  dass  die  Urnen  äussersten  Falles  bis  in 
die  späteste  Bronzezeit  zurückdatirt  werden  dürfen. 

Immerhin  bleibt  es  in  hohem  Maasse  bemerkenswerth,  dass  keine  dieser  Urnen 
ähnliche  Zeichen  besitzt,  wie  die  üanziger  Runen-Urne.  Freilich  hat  Hanus  (Ar- 
chiv für  Kunde  österr.  Geschichts- Quellen.  Wien  1857.  Bd.  XVIII.  S.  114)  die 
Meinung  aufgestellt,  dass  auch  die  Einzeichnungen  an  den  Katzer  Urnen,  die  ich  in 
meinem  Vortrage  besprochen  hatte,  „runenartige  Bilder"  seien,  indess  hat  er  kei- 
nen Versuch  gemacht,  sie  zu  deuten,  und  mindestens  haben  sie  keine  Aehnlichkeit 
mit  den  Zeichen  des  Ringes  an  der  sogenannten  Runen-Urne.  Letztere  erinnern 
dagegen,  wie  Hr.  Mannhardt  mit  Recht  hervorhebt,  in  Einzelheiten  an  die  Zei- 
chen der  im  Jahre  1852  auf  dem  Felde  von  Neu-Käbelich  bei  Stargard  in  Mecklen- 
burg-Strelitz  beim  Sandgraben  gefundenen  Urne,  von  deren  Inschrift  Wo  cel  (Mem. 
des  antiquaires  du  Nord  1845—49.  p.  353)  eine  Deutung  versucht  hat,  welche  wie- 
derum von  Hanus  (a.  a.  0.  S.  22)  mit  scheinbar  guten  Gründen  bestritten  wird. 

Preusker  (Beschreibung  einiger  bei  Radeberg  im  Königreich  Sachsen  aufge- 
fundenen Urnen  mit  unbekannten  Charakteren.  Halle  1828)  hat  eine  alte  Grab- 
kammer bei  Radeberg,  3  Stunden  nordöstlich  von  Dresden,  beschrieben,  in  der 
unter  Anderem  zwei  Urnen  mit  doppeltem  Henkel  und  eigenthümlichen,  buchstaben- 
artigen Zeichnungen,  sowie  einem  eingegrabenen  Pfeil  u.  s.  w.  (Taf.  I.  fig.  1  —  11) 
gefunden  wurden.  Allein,  abgesehen  davon,  dass  in  der  Nähe  römische  Kaiser- 
müuzen  lagen,  haben  die  Zeichnungen  auch  nicht  die  mindeste  Aehnlichkeit  mit 
den  uns  hier  beschäftigenden.  Eine  weitere  Untersuchung  der  Danziger  Urne  muss 
erst  feststellen,  ob  in  der  That  Beziehungen  zu  anderen  Funden  nachzuweisen  sind, 
oder  ob  die  pomerellischen  Alterthümer  einem  in  sich  abgeschlossenen  Gebiete  an- 
gehören. Jedenfalls  können  wir  Hrn.  Mannhardt  Glück  wünschen,  dass  es  ihm 
gelungen  ist,  bestimmt  darzuthun,  dass  die  Runen-Urne  zu  den  Gesichts-Urnen  ge- 
hört, und  es  lässt  sich  wohl  erwarten,  dass  diese  Entdeckung  nicht  ohne  Frucht 
bleiben  wird. 

Zur  Ergänzung  desjenigen,  was  ich  früher  über  die  rheinischen  Gesichts- 
uruen  beigebracht  hatte,  kann  ich  noch  mittheilen,  dass  ich  auf  meiner  letzten 
Reise  im  Museum  in  Wiesbaden  drei  weitere  Exemplare  gefunden  habe,  welche  im 
Wesentlichen  demselben  Typus  angehören,  welcher  schon  früher  von  den  rheinischen 
Gelassen  dieser  Art  bekannt  war.  Die  eine  derselben  ist  bei  Bingerbrück,  jenem 
durch  römische  Alterthümer  so  berühmten  Orte,  ausgegraben  worden;  sie  ist  weit 
grösser,  als  die  früher  erwähnte  Urne  von  Kastei,  und  enthielt  einen  Eisennagel 
und  zahlreiche  gebrannte  Knochen.  Die  sehr  grossen  Augenbrauen  laufen  in  der 
Mitte  zusammen  und  sind  durch  starke,  derbe  Schrägstriche  ausgezeichnet.  Eine 
sehr  viel  kleinere  Urne,  in  der  alten  römischen  Niederlassung  von  Heddernheim 
1863  gefunden,  hat  Ohren,  einen  grossen  Mund,  schräge  prominente  Augen,  um 
den  Bauch  einen  gürtelförmigen  Ring,  oben  einen  erhabenen  Rand  ohne  Deckel. 
Am  merkwürdigsten  aber  ist  eine  in  Wiesbaden  selbst  1828  ausgegrabene,  sehr 
grosse  I  ine  mit  enger  Basis,  weitem  Bauch  und  kurzem,  engem  Halse,  an  welchem 
oben  drei  runde  feste  Ansätze  sitzen,  genau  von  der  Gestalt,  wie  das  obere  Ende 


257 

unserer  Leuchter.  Zv«ei  von  dieseu  Ansätzen  sind  nach  unten  blind,  der  diitte 
durchbohrt,  so  dass  er  in  das  Innere  der  Urne  fährt.  Unter  dem  Halse  am  An- 
fange des  Bauches  kommen  in  Relief  die  Nase,  die  Augenbrauen,  die  Augen  und 
eine  Verzierung,  wie  ein  Palmzweig. 

Auch  in  der  Mainzer  Sammlung  sah  ich  noch  einige  kleinere  Gefässe  mit  Ge- 
sichtstheilen.  Es  seigt  sich  daher,  dass  das  Gebiet  dieser  Gegenstände  sich  schnei! 
v ergrösser t;  trotzdem  bleibt  es  ein  aus  der  grossen  Gruppe  der  alten  Thongefasse 
abgelöstes,  so  dass  ich  hoffe,  dass  sich  ihm  ein  grosseres  Interesse  zuwenden  werde. 
Sollte  es  gelingen,  dadurch  zu  einer  chronologischen  Feststellung  zu  gelangen,  so 
würde  ein  erheblicher  Schritt  vorwärts  gethan  sein.  Selbst  so  unscheinbare  Beob- 
achtungen, wie  die  des  Hrn.  Grunert  (a.  a.  0.  S.  186.  Fig.  1  d.)  über  das  Vor- 
kommen einer  Kauri- Muschel  an  dem  Ohrgehänge  der  Stangenwalder  Urne  können 
von  grösster  Wichtigkeit  für  die  endliche  Lösung  unserer  Zweifel  werden. 

Herr  Hartmann  bemerkt  zu  der  Mittheilung  des  Hrn.  Mannbardt:  Ich  habe 
mich  überrascht  gefunden  von  der  Aehnlichkeit  gewisser  an  der  Urne  dargestellter 
Zeichen  mit  älteren  und  neueren  Schriftzeichen  (Tefinagh)  der  Tuarik,  sowie  mit 
deneu  einiger,  von  Göngora  y  Martinez  in  dessen  Antiguedades  de  Andalucia  ab- 
gebildeter Felseninschriften. 

Herr  Mannhardt  übergiebt  der  Gesellschaft  eine  in  grossem  Maassstabe  ausge- 
führte Zeichnung  der  von  ihm  besprochenen  Runen-Urne  als  Geschenk.  — 

Herr  Virchow  spricht 

über  die  gebrannten  Steinwäile  der  Oberlausitz. 

In  den  letzten  Ferien  habe  ich  unter  andern  Dingen  eine  Frage  in  Angriff  genom- 
men, welche  speciell  angeregt  worden  war  durch  die  sehr  schätzeuswerthe  Schrift 
«die  alten  Heideuschanzeu  Deutschlands  mit  specieller  Beschreibung  des  Oberlau- 
sitzer  Schanzeusystems"  (Dresden  1869)  des  sächsischen  Hauptmanns  Schuster. 
Diese  Arbeit  geht  wesentlich  von  dem  militärischen  Standpunkte  aus  und  gelangt 
st.  zu  der  Conclusb  u,  dass  in  alten  Zeiten  Aveither  \on  der  gegenwärtigen  Provinz 
Posen  durch  Schlesien  und  die  Lausitz  bis  tief  nach  Sachsen  hinein  ein  ausge- 
dehntes System  von  Befestigungen  sich  erstreckt  habe,  welches  möglicherweise  so- 
gar Beziehungen  gehabt  haben  könne  mit  gewissen  Steinwällen  in  Westfalen  und 
der  Rheinprovinz  Vorwiegend  bezieht  sich  die  Darstellung  des  Hrn.  Schuster 
jedoch  auf  ein  System,  dessen  Mittelpunkt  er  in  der  Oberlausitz  sucht.  Betrachtet 
man  die  seiner  Schrift  angehängte  Karte,  so  gewinnt  es  allerdings  sowohl  in  Be- 
ziehung auf  die  Anlage  gewisser  Langwälle  und  Wassergräben  (Landwehren),  als 
auch  in  Beziehung  auf  Rundwälle  und  Schanzen  den  Anschein,  als  ob  ein  wirk- 
liches Befestigungs system  vorliege,  welches  seineu  ersten  Stützpunkt  an  der  Krüm- 
mung der  Warthe  bei  Schrimm  findet,  sich  dann  schräg  über  die  Oder  erstreckt 
und  von  hier  über  die  Elbe  bis  an  die  Saale  reicht.  Hinter  eiuem  vorgeschobenen 
System  von  Langwällen  zeichnet  Hr.  Schuster  eine  immer  dichter  werdende  An- 
ordnung von  Rundwällen,  welche  sich  am  meisten  gegen  die  Lausitz  hin  concen- 
triren,  uud  den  Kern  dieses  Systems  findet  er  wiederum  in  gewissen  Steinwällen 
auf  den  hervorragenden  basaltischen  Kuppen,  die  sich  nördlich  vor  dem  oberlau- 
sitzischen  Gebirge  erheben.  Unter  diesen  Steinwällen  treten  insbesondere  3  oder 
4  hervor,  welche  dadurch  ausgezeichnet  sind,  dass  die  Steine,  aus  denen  sie  er- 
richtet sind,  in  geringerer  oder  grösserer  Ausdehnung  gebrannt,  oder  wie  der  alle 
Ausdruck  lautet,  „verglast"  sind. 

Zeitschrift  für  Ethnologie.,  Jahrgang  1870.  ,o 


258 

Die  Kenntniss  solcher  „Glasburgeu u,  wie  man  sie  in  Schottland  genannt, 
oder  Schlackenwälle,  wie  man  sie  später  vielfach  bezeichnet  hat,  ist  auch  für 
diese  Gegenden  schon  seit  läugerer  Zeit  angebahnt.  Es  war  im  Jahre  1837,  wo 
auf  der  Naturforscherversammlung  in  Prag  Prof.  Zippe  über  das  Vorkommen  eines 
Sclilackenwalles  auf  dem  Schafberge  bei  Bukowetz  in  der  Nähe  von  Pilsen  im  west- 
lichen Böhmen  berichtete.  Daran  schlössen  sich  die  Mittheilungeu  eines  unserer 
bedeutendsten  Geologen,  Bernhard  Cotta1),  der  auf  das  Vorkommen  dieser  Art 
von  Wällen  in  der  Oberlausitz  aufmerksam  machte  und  namentlich  vier  derselben 
bezeichnete:  auf  der  Landskrone  bei  Görlitz,  auf  dem  Rothstein  bei  Sohland,  auf 
dem  Schafberge  bei  Löbau  und  auf  dem  Stromberge  bei  Weissenberg.  Auch  in 
Böhmen  und  zwar  theils  im  Mittelgebirge,  theils  südlich  von  Prag  wurde  bald  eine 
grössere  Zahl  aufgefunden.  Seitdem  sind  dieselben  wiederholt  besprochen  worden, 
besonders  von  militärischem  Standpunkte  aus,  so  namentlich  durch  General  von 
Pe ucker2).  Dagegen  waren  die  einheimischen  Schriftsteller  mehr  geneigt,  in  den 
Schlackenwällen  die  Ueberreste  alter  heidnischer  Opferstätten  zu  sehen3).  Eine 
Entscheidung  dieser  Differenzen  ist  nur  möglich,  wenn  man  einerseits  die  beson- 
deren Einrichtungen  der  einzelnen  lausitzer  und  böhmischen  Wälle  genauer  er- 
forscht, andererseits  die  offenbar  ganz  analogen  Verhältnisse  in  Schottland  und  Frank- 
reich in  Vergleichung  zieht. 

In  Schottland  ist  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Glasburgen  (vitrified  forts  oder 
sites)  schon  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  gerichtet  gewesen.  Es  sind 
dies  sehr  umfängliche  Werke  in  den  nördlichen  Theilen  des  Landes.  Zahlreiche 
Streitschriften  sind  darüber  erschienen,  die  allmählich  zu  einer  gewissen  Einigung 
der  Ansichten  geführt  ha  en.  Obwohl  im  Anfang  mancherlei  Zweifel  darüber  herrschten, 
ob  die  Schlacken  nicht  möglicherweise  als  natürliche  Produkte  anzusehen  seien, 
oder  ob  sie  ihre  Entstehung  nicht  einem  blossen  Zufalle  verdankten,  so  sprachen 
.sich  doch  schliesslich  die  sorgfältigsten  Untersucher  für  die  künstliche  Erzeugung 
derselben  aus.  Eine  sehr  vollständige  Uebersicht  des  Gegenstandes  hat  v.  Leon- 
hard4)  geliefert.  Es  ergiebt  sich  daraus,  dass  in  einer  Beziehung  die  geologischen 
Verhältnisse  in  Schottland  die  Frage  einfacher  gestalten,  als  sie  gerade  in  der  Lau- 
sitz liegt.  Während  es  hier  durchweg  basaltische  Erhebungen  sind,  auf  denen  die 
Brandwälle  liegen,  finden  sie  sich  in  Schottland  auf  Oranit,  Gneiss,  Glimmer-  und 
Thonschiefer,  Quarz,  Old-red  und  Trappconglomerat,  also  auf  Gesteinen,  bei  denen 
die  Analogie  mit  vulkanischen  Bildungen  nicht  so  nahe  liegt,  wie  in  der  Lausitz. 
Häufig  kommen  die  Uniwallungen  auf  der  Höhe  an  sich  schwer  zugänglicher  Berge 
vor.  Ihre  Ausdehnung  ist  sehr  verschieden,  und  manchmal  zeigen  sich  die  Brand- 
spuren nur  an  gewissen  Stellen  des  Walles.  Bei  einzelnen  bildet  die  Schlacken- 
masse die  Basis  des  Walles,  bei  andern  findet  sie  sich  mehr  au  der  Aussenwand. 
während  sie  im  Uebrigen  durch  unveränderte  Steine  oder  erdige  Umhüllungen  ver- 
deckt ist.  Schliesslich  ist  man  in  Schottland  zu  der  Auffassung  gekommen,  die 
dann  auch  für  die  Werke  der  Oberlausitz  angenommen  worden  ist,  dass  zuerst  ein 


')  Cotta,  Neues  Jahrbuch  für  Mineralogie,  Geognosie,  Geologie  und  Petref.  von  v.  Leon- 
hanl  und  Bronn.  1837.  S.  67;J.  Erläuterungen  zu  Section  VI  der  geognost.  Karte  des  K.  Sachsen. 
Drescl.  und  Leipz.  1839.  Ö.  6i  Neues  Lausitzisches  Magazin.  Görlitz  1839.  Bd.  XVII  (Neue 
Folge  Bd.  IV)  S.  122. 

2)  v.  Peucker,  Das  deutsche  Kriegswesen  der  Urzeiten.     Berlin  1860.    Bd.  II.  S.  391. 

3)  Preusker,  Blicke  in  die  vaterländische  Vorzeit.  Leipzig  1841.  Bd.  1.  S.  82,  92.  K. 
Haupt,  Neues  Lauöitzisches  Magazin.    1868.    Bd.  XLIV.  S.  387. 

\   v.  Leonhard,  Basaltgebilde.     Stuttg.  1832.     Abth.  II.    S.  023. 


259 

Steinwall  ohne  Mörtel  und  sonstige  Bindemittel  aufgebaut  sei,  dass  man  sodann 
um  diesen  herum  einen  Erdwall  aufwarf,  den  Zwischenraum  zwischen  beiden  mit 
Holz  füllte,  es  anbrannte,  wieder  neues  Holz  hineinschaffte,  welches  ebenfalls  an- 
gezündet wurde  und  so  fort,  um  auf  diese  Weise  das  mächtige  Feuer  zu  erzeugen, 
durch  welches  man  die  unteren  und  äusseren  Theile  in  den  Zustand  der  Verglasuug 
versetzte;  schliesslich  sei  dann  der  äussere  Wall  entfernt  worden  Diese  umständ- 
lichen Arbeiten  sollen  aber  desshalb  unternommen  sein,  um  dem  Walle  eine  solche 
Festigkeit,  den  Steinen  einen  solchen  Zusammenhalt  zu  verleihen,  dass  sie  gegen 
äussere  Einwirkungen  den  festesten  Schutz  gewähren  könnten. 

In  neuerer  Zeit  sind  auch  in  Frankreich  einige  solche  Werke  gefunden  wor- 
den und  zwar  zuerst ')  in  der  Bretagne  bei  Peran  (Cötes  du  Nord)  und  in  der  Nor- 
mandie  bei  St.  Suzanne  (Mayeune),  sodann-)  in  Maine  bei  Courbe  (Dep.  de  l'Orne), 
also  sämmtlich  in  dem  nordwestlichen  Winkel  Prankreichs,  dem  durch  seine  mega- 
lithischen Monumente  berühmtesten  Sitze  uralter  keltischer  Bevölkerung.  Beson- 
ders interessant  ist  das  Lager  von  Peran  (10  Kilom.  südlich  von  St.  Brieux),  von 
dem  Geslin  de  Bourgogne  einen  Plan  veröffentlicht  hat.  Es  trägt  den  sehr 
charakteristischen  Namen  der  pierres  brulees,  und  eine  alte  Sage  berichtet,  dass 
das  Feuer  daselbst  7  Jahre  lang  unterhalten  sei.  Ein  durch  Gräben  geschützter 
Doppelwall  umschliesst  einen  elliptischen  Raum  von  134  und  110  Meter  Durch- 
messer. Der  äussere  Wall  bestand  nur  aus  aufgeworfener  Erde,  der  innere  war  im 
Centrum  gebrannt,  und  es  liessen  sich  daran  Lagen  von  Steinen,  abwechselnd  mit 
Schichten  von  Kohle  und  Asche,  nachweisen. 

Meine  literarischen  Nachforschungen  über  die  Verhältnisse  in  der  Oberlausitz 
hatten  mich  zu  keiner  bestimmten  Anschauung  darüber  geführt,  wie  die  dortigen 
Schlackeuwälle  aufzufassen  seien.  Bei  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  entschloss 
ich  mich  zu  dem  Versuch,  durch  eigene  Anschauung  mir  ein  Urtheil  zu  verschaffen. 
Wie  ich  hoffe,  wird  das  Mitzutheilende  etwas  zu  der  Aufklärung  des  dunklen  Ge- 
genstandes beitragen. 

Schon  in  Görlitz  wurde  mir  erzählt,  dass  auf  der  Landskrone  ßasalt- 
sch lacken  vorkämen  und  in  der  Sammlung  der  dortigen  Naturforschenden  Gesell- 
schaft zeigte  mir  der  verdiente  Conservator,  Herr  Peck  schöne  Stücke  davon.  In 
der  That  erwähnt  Cotta,  dass  sich  am  westlichen  Abhänge  des  Berges  einzelne 
Schlacken  und  auf  der  Höhe  geringe  Spuren  eines  Walles  finden.  Indess  wusste 
keiner  der  Herren,  welche  mich  begleiteten,  etwas  von  einem  solchen  Walle  anzu- 
geben. Die  früher  vorhanden  gewesenen  Schlacken  sind  verschleppt,  und  als  ein- 
zigen l'eberrest  fand  ich  einen  kleinen  Schlackenhaufen  mit  verschmolzenen  und 
gebrannten  Basaltstücken  am  westlichen  Abhänge  der  (1304  Fuss  hohen)  Kuppe. 
Derselbe  ist  erst  nachträglich  an  einer  Stelle  zusammengetragen,  wo  offenbar  ur- 
sprünglich nichts  existirte,  Niemand  weiss  mehr,  dass  ein  Wall  da  war;  vielmehr 
war  die  Meinung  in  Görlitz  allgemein  verbreitet,  welche  schon  Cotta  andeutet, 
dass  das  alte  Schloss  Landskrone  in  seinen  Grundmauern  aus  Basalt  gebaut  ge- 
wesen, dass  es  später  durch  Brand  zerstört  und  die  Schlacken  als  letzte  Rudimente 
übrig  geblieben  seien.  Zum  Beweise,  dass  bei  einem  Brande  eine  derartige  Ein- 
schmelzung  stattfinden  kann,    hat  mau   allerdings   in    der  Sammlung   der  Görlitzer 

')  Geslin  de  Bourgogne,  Mein,  de  la  Soc.  des  Antiquaires  de  France.  Paris  1846. 
Nouv.  Serie.    T.  VIII    p.  283.    PI.  V    p    303.     Merimee,  Ebendas.  p.  312. 

2)  F.  Prevost,  Mem.  sur  les  aneieunes  eonstructions  militaires  connues  sous  le  nom  de 
forts  vitrifies  Saumur  1863. •,  mir  nur  bekannt  durch  eine  Abhandlung  von  R.  Haupt  in  d^tn 
Neuen  Lausitzer  Magazin.    1868.    Bd.  XLIV.  S.  379. 

ls' 


260 

naturforschen  den  Gesellschaft  ein  Stück  von  der  Basaltmauer  einer  abgebrannten 
Kirche  aufbewahrt .  welches  in  ein  derartiges  Schmelzstück  verwandelt  ist.  Auch 
mir  schien  diese  Erklärung  plausibel,  und  ich  wandte  mich  daher  alsbald  zu  audereu 
Lokalitäten. 

Die  nächste  Bergkuppe  in  westlicher  Richtung,  welche  einen  Steiuwall  tragen 
soll,  ist  der  Rothstein  (1590  Fuss  hoch).  Da  jedoch  meine  Gewährsmänner  auch 
hier  wenig  Ausbeute  in  Aussicht  stellten,  so  lenkte  sich  unsere  Aufmerksamkeit 
auf  den  in  der  Reihe  folgenden  Schafberg  bei  Löbau  (1359  Fuss  hoch),  eine 
auch  in  geologischer  Beziehung  sehr  merkwürdige  Kuppe,  weil  sie  nach  den  Unter- 
suchungen G um p recht's  (1836)  aus  Nephelin-Dolerit  besteht.  Der  Löbauer  Berg 
hat  nämlich  zwei  Köpfe,  die  durch  einen  Sattel  mit  einander  verbunden  sind.  An 
dem  südwestlichen  Kopfe  steht  Basalt  an;  der  nordöstliche  dagegen,  der  erwähnte 
Schafberg,  zeigt  durchgehends  Nephelin-Dolerit,  und  seine  Kuppe  ist  es,  an  wel- 
cher ein  Schlackenwall  beschrieben  ist.  Hr.  Dr.  Schneider,  ein  geborner  Löbauer, 
der  seit  vielen  Jahren  diesen  Berg  untersucht1),  theilte  mir  jedoch  mit,  es  sei 
nichts  mehr  von  Scldacken  an  dem  Wall  vorhanden;  es  fänden  sich  nur  noch  ein- 
zelne an  dem  Abhänge  des  Berges.  Alles  Andere  scheine  verschleppt,  um  in  Gärten 
und  Parkanlagen  erwendet  zu  werden.  Es  schien  daher,  als  ob  auch  hier  nichts 
Erhebliches  zu  sehen  sei.  Ich  wandte  mich,  begleitet  von  den  Herren  Dr.  Schneider 
und  Dr.  Kleefeld,  sofort  zu  dem  Berge,  welcher  am  weitesten  von  den  Stätten 
menschlicber  Thätigkeit  entfernt  ist,  und  von  welchem  Niemand  mir  etwas  mitzu- 
theileu  wusste,  zu  dem  niedrigen  basaltischen  Vorbeige  Stromberg  bei  Weissen- 
berg,  etwa  2  Stunden  nordöstlich  von  Löbau  mehr  gegen  die  Ebene  zu  gelegen,  in 
der  Nähe  des  berühmten  Dorfes  Hochkirch.  Dieser,  988  Fuss  hohe,  gleichfalls 
doppelkuppige  Berg  besteht  aus  sehr  dichtem  Basalt,  der  an  zwei  Stellen,  nament- 
lich an  der  östlichen,  dem  Gebirge  zugekehrten  Seite  gebrochen  wird.  Diese  Seite 
fällt  auch  ohnehin  mit  einem  scharfen  Rande  steil  gegen  die  Ebene  ab.  Von  dem 
Rande  aus,  welcher  der  höchsten  Erhebung  der  südöstlichen  Kuppe  entspricht, 
senkt  sich  der  Berg  gegen  NNW.  ziemlich  schnell  bis  zu  einem  Sattel,  welcher  die 
eben  erwähnte  Kuppe  mit  einer  zweiten  niedrigeren  nördlichen  verbindet.  Jene 
südöstliche  Kuppe  ist  nun  gegen  NNW.  d.  h.  gegen  den  Sattel  bin  durch  einen 
halbmondförmigen  Querwall  vollständig  abgeschlossen;  derselbe  endigt  beiderseits 
da,  wo  der  steile  Abfall  beginnt.  Nachdem  ich  eben  erst  auf  einer  Reise  um  Rügen 
Irische  Erinnerungen  von  dem  Aussehen  Arcona's  gesammelt  hatte,  so  kanu  ich 
mit  voller  Ueberzeugung  sagen,  es  giebt  nichts,  was  der  Stromberg- Anlage  ähn- 
licher sieht,  als  der  Burgwall  von  Arcona. 

Am  besten  übersieht  mau  das  Gesaramt-Verhältniss,  wenn  man  die  nördliche 
Kuppe  besteigt.  Man  erblickt  dann  über  den  Sattel  hin  gerade  vor  sich  die  SO.- 
Kuppe,  hinter  welcher  links  der  Rothstein,  rechts  der  Löbauer  Berg  und  neben 
ihm  im  fernen  Hintergrunde  der  lsarkamm  hervortreten.  Die  drei  umwallten  Berge 
bilden  die  Endpunkte  eines  beinahe  gleichschenkligen  Dreiecks.  Au  dem  Strom- 
berge ragt  zu  höchst  der  scharfe  Ostrand  hervor,  an  welchem  nach  rechts  (Süd) 
ein  Sigualstein  der  trigonometrischen  Vermessung  Sachsen'*  vom  Jahre  1861  sich 
erhebt.  Unter  dem  Rande  sieht  man  einen  Theil  des  Innenraumes,  in  dem  ausser 
zwei  jüngeren  Bäumen  (B,  B)  kein  erhabener  Gegenstand  befindlich  ist  und  der 
durch  den  Wall  (Hierüber  abgeschlossen  ist.  Nach  rechts  zeigt  sich  an  dem  auch 
hier  ziemlich  jähen  Abhänge    ein   kleinerer  Basaltbruch.     Wendet    man    sich    noch 


')  (i.  Schneider,  Abhamlll.  der  Naturforsch. Gesellschaft  zu  <i<irtö»z.  ihgs.  Bd.  XIII.  S.  l. 


weiter  nach  Westen,  so  erblickt  man  aber  die  Höhe  von  Hochkirch  hinweg  den 
durch  seinen  Namen  auf  altwendischen  Götterdienst  hinweisenden  Berg  Czernobog. 
Der  umwallte  Kaum  bildet  ein  unregelmässiges  Halboval;  der  Wall  selbst  stellt 
einen  länglichen  Halbkreis  dar,  während  der  freie  Rand  des  Berges  in  einer  nur 
wenig  gekrümmten  Linie  verläuft,  [n  querer  Richtung  (NNO.  — SSW.)  misst  der 
Innenraum  73,  in  senkrechter  (W'NW.— OSO.)  41  Schritte;  die  Länge  des  Walles 
beträgt  etwa  200  Schritte.     Letzterer  ist   von   sehr   verschiedener  Höhe.     Nach  Sü- 


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den  zu  verflacht  er  sich,  nach  Westen  steigt  er  allmählich  bis  zu  einer  Höhe  von 
3—5  Fuss  an,  gegen  Nordost  wird  er  noch  etwas  höher  Aeusserlich  ist  er,  wo 
er  nicht  durch  Ausbrechungen  und  Grabungen  angegriffen  ist,  überall  mit  kurzem 
Rasen  und  darunter  mit  schwarzer  Erde  bedeckt.  Nach  aussen  fällt  er  steil  ab, 
nach  innen  ist  er  sanft  abschüssig.  Auf  diese  Weise  entsteht  eine  grosse  kessel- 
artige  Vertiefung,  welche  gegen  den  Ostrand  ansteigt  und  unmittelbar  hinter  dem 
Westrande  am  tiefsten  ist. 

Wir  untersuchten  die  Beschaffenheit  des  Bodens  und  des  Walles  an  8  Stellen. 
Innerhalb  des  Raumes  (bei  a  und  b)  fand  sich  nichts,  als  schwarze  Erde  und  zahl- 
reiche rothe  Basaltstücke1).  An  dem  freien  Rande  (bei  1  und  2),  in  der  Nähe  des 
Signalsteines  (c),  kamen  kleine  Holzkohlenstücke,  rotbgebrannte  Erde  und  äusser- 
lich  durch  Feuer  geröthete  Basaltstücke  zu  Tage.  Am  südwestlichen  Rande  stiessen 
wir  auf  eine  grosse  Brandstelle  (3)  mit  zahlreichen,  bis  über  Faust  grossen  Stücken 
von  noch  fester  Eichenkohle,  welche  zwischen  grossen,  äusserlich  geschwärzten 
Basaltstücken,  von  schwarzer  Erde  bedeckt,  bis  zu  einer  Tiefe  von  2  Fuss  la- 
gen ,  ohne  dass  jedoch  die  Steine  erhebliche  Brandspuren  zeigten.  Nach  Norden 
(5)  bestand  der  Wall  gleichfalls  aus  Erde  und  Steinen,  zwischen  denen  jedoch  po- 
röse Schlacken  vorkamen.  An  der  nordöstlichen  Ecke  (6)  lag  sehr  schwarze  Erde; 
die  Steine  waren  gebrannt,    stellenweise  sogar  porös      Gegen  NNW.  (i)   dagegen, 


262 

also  in  der  Richtung  gegen  den  Sattel  des  Berges  hin,    fand   sich   in    längerer  Er- 
strecknng  der  eigentliche  verschlackte  Theil. 

Es  ergab  sich  daher  sofort,  dass  die  Beschaffenheit  des  Walles  nicht  in  allen 
Theilen  gleich  ist,  dass  derselbe  vielmehr  nur  da,  wo  er  gegen  den  Sattel  gerichtet 
ist,  unter  einer  dünnen  Erdkrume  in  vollkommen  gebranntem  Zustande  sich  be- 
findet. Weiterhin,  an  den  Seitentheilen  des  Berges,  kommt  allmählich  immer  mehr 
Erde  hinzu  und  obwohl  auch  hier  Basaltstücke  immer  noch  die  Hauptmasse  bil- 
den, so  zeigen  sie  doch  keineswegs  so  starke  ßrandspuren,  dass  man  araus  die 
Bezeichnung  eines  Schlackenwalles  ableiten  könnte. 

Wir  concentiirten  daher  unsere  Arbeit  wesentlich  auf  den  nordwestlichen 
Punkt  (4),  wo  ich  einen  vollkommenen  Durchschnitt  durch  die  ganze  Dicke  des 
Walles  machen  Hess.  Es  war  dies  mit  grossen  Schwierigkeiten  verbunden,  da  die 
Massen  überaus  fest  zusammenhielten,  trotzdem  dass  sie  doch  schon  manches  Jahr 
hindurch  den  Angriffen  der  Witterung  ausgesetzt  wird.  Die  Cohärenz,  nament- 
lich in  der  Tiefe  war  so  gross,  dass  es  einer  höchst  anstrengeuden  Arbeit  bedurfte, 
um  nur  zunächst  einen  Durchschnitt  von  3 — 4  Fuss  Breite  zu  erlangen.  Von  die- 
sem aus  wurde  dann  nach  den  Seiten  zu  gearbeitet. 

Der  Wall  zeigte  an  dieser  Stelle  an  der  Basis  eine  Breite  von  15  Fuss  und 
eine  Höhe  von  4 — 5  Fuss  über  dem  natürlichen  Felsboden.  Zu  oberst  unter  dem 
Rasen  und  von  humoser  Erde  durchsetzt  lagen  lose,  theils  unveränderte,  theils  ge- 
brannte Basaltstücke  in  grosser  Menge;  in  der  Tiefe  von  l'/2 — 2  Fuss  kam,  wie  es 
auch  in  Peran  und  in  manchen  der  schottischen  Glasburgen  beobachtet  ist,  ein  zu- 
sammenhängender Kern  von  Brandmassen,  die  fast  durchweg,  jedoch  verschieden 
fest  zusammenhingen.  Dieser  Kern  hatte  sehr  verschiedene  Breiten  und  Höhen. 
An  einer  Stelle  war  er  nahezu  4  Fuss  breit  und  21ji  —  3  Fuss  hoch,  so  dass  er 
nach  völliger  Blosslegung  wie  eine  mächtige  gebackene  Mauer  aussah,  allein  sehr 
bald  verschmälerte  sich  diese  Mauer  und  lief  in  eine  Art  Spitze  aus,  neben  welcher 
sich  jedoch  schon  wieder  der  Anfang  einer  neuen  Mauer  zeigte.  Nach  der  äusseren 
Seite  des  Walles  war  der  Brand  offenbar  stärker  gewesen,  denn  hier  waren  die 
Massen  stellenweise  völlig  geschmolzen  und  geflossen. 

So  nahe  nun  auch  die  Interpretation  liegen  mag,  dass  man  um  den  Steinwall 
nach  aussen  herum  noch  einen  Erdwall  errichtet  und  den  Zwischenraum  zwischen 
beiden  mit  Holz  ausgefüllt  habe,  welches  angezündet  wurde  u.  s.  w.,  so  ist  dieselbe 
meiner  Meinung  nach  doch  für  den  Stromberg  ganz  unmöglich:  es  ist  kein  Platz 
mehr  für  einen  zweiten  Wall  da;  er  würde  sich  wegen  der  Abschüssigkeit  des  Ber- 
ges nicht  haben  halten  können.  Vielmehr  zeigte  es  sich,  dass  innerhalb  der  ge- 
brannten Masse  selbst  zahlreiche  kleinere  und  grössere,  meist  länglich-eckige  Höh- 
lungen oder  Lücken  vorhanden  waren,  deren  Untersuchung  uns  die  Ueberzeugung 
gab,  dass  wenigstens  ein  grosser  Theil  derselben  dadurch  entstanden  sein  inuss, 
dass  Holz  zwischen  die  Steine  gesteckt  und  durch  den  Brand  zerstört  worden  sei 
An  zahlreichen  dieser  Höhlungen  zeigte  die  innere  Oberfläche  deutlich  die  Abdrücke 
von  Holzstücken.  Ja,  wir  fanden  mitten  in  einem  grossen  zusammengebackenen 
Klumpen  in  einer  tiefen,  gangartigen  Aushöhlung  einige  Esslöffel  voll  pulveriger 
Holzkohle,  so  dass  für  uns  auch  nicht  der  leiseste  Zweifel  blieb,  dass  sich  zwischen 
den  Steinen  Holz  befunden  hat. 


')  Auch  Preusker  (a.  a.  0.  S.  95)  berichtet,  dass  Urnen-Bruchstücke,  Thierknochen  und 
ähnliche  Gegenstände  hier  so  wenig,  als  auf  dem  Löbauer  Berge  gefunden  seien.  Dagegen  er- 
zählt Schneider  (a.  a.  0.  S.  66),  dass  Hr.  v.  Gers  he  im  auf  dem  Gipfel  des  Stromberges 
alte  thönerne  Gefässe  ausgegraben  hat. 


263 

Die  Frage,  ob  alle  Aushöhlungen  durch  die  Anwesenheit  von  Holz  bedingt  ge- 
wesen, ist  freilich  nicht  so  einfach  zu  beantworten  und  ich  bekenne,  dass  in  dem 
Masse,  als  ich  mich  länger  mit  der  Sache  beschäftigte,  ich  immer  wider  in  Zweifel 
gerathen  bin.  Es  finden  sich  namentlich  in  dem  Werke  von  Leonhard's  über 
die  Basaltgebilde  einige  Abbildungen  (Taf.  I.  fig.  9 — 11),  welche  in  vielfacher  Be- 
ziehung übereinstimmen  mit  denjenigen  Bildern,  um  welche  es  sich  hur  handelt. 
Der  berühmte  Autor  bespricht  diese  Sachen  aber  nicht  etwa  bei  den  Glaswällen, 
die  er  in  einem  besonderen  Capitel  darstellt,  sondern  er  beschreibt1)  auf  der  Ober- 
fläche gewisser  Schlacken  „leisten-artige  Hervorragungen.  unter  Winkeln  verbunden, 
welche  spitzige  oder  stumpfe  sind  und  theils  den  rechten  sehr  nahe  stehen.  Die 
einer  Richtung  folgenden  Leisten  laufen  einander  so  parallel,  dass  das  Ganz«-  ein 
ziemlich  regelvolles,  jedoch  grobes,  netzähnliches  Gewebe,  eine  Art  Fachwerk  dar- 
stellt-. Die  dazu  gehörigen  Abbildungen  sind  in  der  That  bemerkenswerth.  Wenn 
das  Abgebildete,  wie  Leonhard  meint,  ein  blosses  Produkt  natürlicher  Erstarrung 
ist,  dann  würde  es  höchst  zweifelhaft  sein,  ob  man  das,  was  ich  am  Stromberge 
fand,  auf  Holzüberreste  beziehen  darf. 

Von  den  Schlacken,  welche  Leonhard  bespricht,  stammt  die  eine  von  der 
Insel  Bourbon  (Taf.  [.  fig.  9);  er  discutirt  dabei  die  Frage,  ob  die  Massen  in  ihrem 
flüssigen  Zustande  nicht,  wie  ein  Lavastrom,  über  pflanzliche  Theile  hinweggegangen 
seien,  so  dass  sich  die  Struktur  des  Holzes  an  der  Oberfläche  d  ;s  Basaltes  abge- 
drückt habe.  Er  macht  dabei  die  sonderbare  Fragestellung:  ob  das  gitterförmige 
Relief  Pflanzenzelleu  wiedergebe?  Es  erhellt  aber  auf  den  ersten  Blick,  dass  das 
Gitter  dem  anatomischen  Bau  der  Pflanze  nicht  entspricht  und  dass  am  wenigsten 
Pflanzen zellen  mit  diesen  grossen  Figuren  in  Beziehung  gebracht  werden  können. 
Hierin  kann  man  ihm  ganz  beistimmen.  Er  beschreibt  dann  eine  zweite  Schlacke 
von  der  erhabensten  Stelle  des  Heimberges  bei  Fulda  (1262  Fuss  hoch),  wo 
der  Basalt  den  Muschelkalk  durchbrochen  hat.  Hier  finden  sich  in  dem  Ausgehen- 
den der  basaltischen  Masse  Stücke,  deren  Oberfläche  mit  parallelen  Rippen  besetzt 
ist,  welche  vou  Querleisten  unter  rechten  Winkeln  durchsetzt  werden  (Taf.  I.  fig.  1 1). 
Endlich  spricht  er  davon,  dass  die  Wandungen  grosser  Blasenräume  in  den  Lagen 
des  Pariou- Stromes  unfern  Clermont  mit  sehr  dünnen,  oben  ausgezackten,  fran- 
sichten,  parallelen  Schlackenleisten  besetzt  gewesen  seien,  —  Jedenfalls  geht  aus 
diesen  Beschreibungen  hervor,  dass  die  erwähnten  Schlacken  mancherlei  Analogie 
darbieten  mit  den  oberlausitzischen,  und  es  dürfte  sich  wohl  der  Mühe  verlohnen, 
den  Heimberg  bei  Fulda  einer  genaueren  Prüfung  zu  unterziehen,  ob  er  nicht  in 
dieselbe  Kategorie  gehört.  Auch  v.  Leonhard  hat  die  Aehnlichkeit  der  Zeich- 
nungen seiner  Schlacken  mit  denen  von  künstlichen  Brandstellen  nicht  übersehen. 
Fr  vergleicht  sie  sogar  direct  mit  den  Schlacken  der  verglasten  schottischen  Bur- 
gen und  denen  vom  grossen  Brande  des  Heidelberger  Schlosses.  Auch  bildet  er 
eine  solche  künstliche  Schlacke  (Taf.  I.  fig.  10)  ab,  wo  „um  eine  zapfenförmig 
hervorragende  Schlackenmasse  sich  kreisförmig  gewundene  Reifen''  mit  zahllosen 
Querleistchen  anschliessen  und  dadurch  eine  Menge  sehr  kleiner  Fächer  entsteht. 
Sonderbarerweise  vergleicht  er  jedoch  dies  Aussehen  mit  dem  Querschnitte  von 
Nummuliten,  während  es  ganz  klar  ist,  —  ich  provocire  auf  unsere  Botaniker  — 
dass  es  dem  Durchschnitte  eines  jungen  Baumstammes  täuschend  ähnlich  ist. 

Aber  man  muss  sich  wohl  verständigen.  Die  im  mineralogischen  Sinne  aller- 
dings feinen  Vorsprünge  und  Leisten  der  Schlacken   sind   im   botanischen   doch   so 


')  v.  Leonhard,  Basaltgebilde.    Ahth.  1.  S.  172. 


264 

grob  ,  dass  sie  allerdings  keinem  gewöhnlichen  Strukturverhältniss  einer  Pflanze 
entsprechen:  es  sind  vielmehr  offenbar  Spalten  und  Zerklüftungen  in  dem  Holze, 
in  welche  die  schmelzende  Masse  eingedrungen  ist1)-  Solche  Spalten  entstehen 
sowohl  durch  das  einfache  Austrocknen,  als  namentlich  bei  der  Verkohlung  im 
Feuer,  und  die  Kohlenstücke,  welche  ich  (von  der  Stelle  3.)  mitgebracht  habe,  zei- 
gen ein  System  von  Spalten  und  Rissen,  ganz  den  Figuren  vergleichbar,  welche 
die  Höhlen  der  Schlackenmasse  an  ihrer  inneren  Oberfläche  darbieten.  Es  sind  aber 
fast  sämmtliche  Höhlungen  an  den  Stromberg -Schlacken  ihrer  Gestalt  nach  nicht 
auf  natürliche  Formen  der  Aeste  oder  Stämme  zu  beziehen,  sondern  sie  zeigen  viel- 
mehr künstlich  gespaltene  oder  durchhauene  Holzstücke,  in  der  Regel 
wahre  Holzscheite  mit  ganz  platten  Längsflächen  und  schräg  oder  rechtwinklig 
daran  stossenden  Endflächen  (Querschnitten).  Gerade  die  winkelige  Begrenzung 
der  End-  und  Seitenflächen  ist  in  hohem  Masse  charakteristisch.  Au  einer  solchen 
gehauenen  Endfläche  eines  Holzscheites  sieht  man  noch  ganz  feine,  faserige  Vor- 
sprünge, zerrissenen  Holzfasern  entsprechend.  Solche  Zeichnungen  finden  sich  in 
aller  möglichen  Abwechselung,  stellenweise  mit  solcher  Zartheit  der  Linien,  dass 
meiner  Meinung  nach  dadurch  Alles  wiedergegeben  wird,  was  in  Beziehung  auf  das 
Wiedergeben  von  Holzkohle  nur  möglich  ist.  Besonders  merkwürdig  ist  in  dieser 
Beziehung  ein  grosses  Schlacken-Oonglomerat  mit  zwei  grösseren  Gängen  oder  Höh- 
lungen; der  eine  dieser  Gänge,  dessen  Durchschnitt  zu  */s  durch  eine  runde,  zu 
',.,  durch  eine  gerade  Linie  begrenzt  ist,  zeigt  am  Ende  eine  rechtwinklig  anschlies- 
sende, fast  ebene  Endfläche,  auf  welcher,  theils  durch  verschiedene  Färbung,  theils 
durch  eine  gewisse  Unebenheit  charakterisirt,  die  Ringe  eines  Baumstammes  oder 
Astes  deutlich  zu  sehen  sind.  Offenbar  war  derselbe  an  der  einen  Seite  gespalten 
und  am  Ende  durchgeschlagen. 

Obwohl  wir  Holz  selbst  nirgends  gefunden  haben,  und  Kohle,  abgeschlossen 
in  einer  solchen  Höhle,  nur  an  einer  einzigen  Stelle,  so  trage  ich  doch  kein  Be- 
denken, zu  behaupten,  dass  überall  die  Steinmassen  des  Walles  mit  zerschlagenem 
Holz  durchsteckt  waren.  Dieses  Holz  ist  durch  den  Brand  zerstört  und  seine  Asche 
ist  in  die  schmelzende  Masse  mit  aufgenommen.  So  entstanden  die  Höhlungen, 
deren  Innenflächen  freilich  nur  hie  und  da  eigenthümliche  weissliche  und  gelbliche, 
möglicherweise  durch  Aschentheile  gefärbte  Beschläge  zeigen.  Stellenweise  ist  die 
Wand  der  Höhlungen  in  wirklichen  Fluss  gerathen;  meist  war  sie  nur  so  weit  ge- 
schmolzen, dass  sie  in  die  Spalten  und  Klüfte  des  Holzes  eindrang  und  Abgüsse 
derselben  bildete.  Nicht  selten  zeigen  auch  die  noch  in  der  zusammengebackenen 
Masse  erhaltenen  ßasaltstücke  tiefe  Sprünge  und  wenn  man  das  Geschmolzene 
davon  ablöst,  so  erscheinen  an  letzterem  äusserlich  gleichfalls  ebene  Flächen  mit 
vorspringenden  Leisten.  Diese  haben  jedoch  nicht  die  Regelmässigkeit  der  in- 
neren Oberflächen  derjenigen  Höhlungen,  welche  ich  auf  Holzscheite  deute. 

Die  Basaltstücke  selbst  zeigen  alle  Grade  der  Feuerwirkung.  Einige  sind  nur 
äusserlich  bis  auf  einige  Linien  geröthet  und  oft  gesprungen;  in  anderen  sieht  man 
auf  Bruchflächen  ganz  feine  und  vereinzelte  Blasenräume;  andere  sind  ganz  und 
gar  grossblasig,  wie  Bimstein.  Zuweilen  sieht  man  alle  diese  Zustände  hinter  ein- 
ander in  demselben  Stücke,  welches  am  Ende  in  einen  Fluss  übergeht,  der  in  Bän- 
der- und  Tropfenform  erstarrt  ist. 

In  einem  Punkte  unterscheiden  sich  unsere  Beobachtungen  am  Stromberge  we- 


')  Auf  diese  Art  der  Entstehung  scheint  zuerst  der  Maler  Fischer   in  Dresden    aufmerk- 
sam gemacht  zu  haben  (Schneider  a.  a.  0.  S.  66.  Anm.). 


265 

seotlicb  von  der  Mehrzahl  (\ei  früheren  Angaben.  Fast  von  allen  Brandwällen  wird 
angegeben,  die  Steine  seien  lose,  ohne  jedes  Bindemittel,  auf  einander  gehäuft  und 

erst  die  schmelzenden  Massen  des  Gesteins  selbst  hätten  eine  Vereinigung  zu  Stande 
gebracht.  Allerdings  hat  auch  am  Stroniberge  eine  Schmelzung  im  ausgezeichneten 
Masse  stattgefunden;  wir  fanden  nicht  selten  in  Tropfenform  heruntergeflossene 
und  so  erstarrte  Tbeile.  allein  das  (Geschmolzene  und  Gebrannte  war  offenbar  nicht 
bloss  Basalt.  Vielmehr  zeigten  gerad :  solche  in  Fluss  gerathene  Theile  oft  genug 
neben  der  eigentlichen  Ilasaltmasse  noch  eiue  besondere  Zwischensubstanz,  und  ich 
habe  mich  überzeugt,  dass  wenngleich  nicht  durchweg,  so  doch  an  den  meisten 
Stellen  neben  und  zwischen  den  Steinen  noch  ein  anderes  Material  vorhanden  ge- 
wesen sein  muss,  welches  mit  verbrannt  ist.  Es  ist  diess  eine  rothe,  häufig  sehr 
brüchige,  stellenweise  jedoch  sehr  corapakte ')  Substanz,  in  welcher  kleinere  und 
grössere  <,)uarzstücke  eingeschlossen  sind,  wie  sie  in  dem  anstehenden  Busalt  nir- 
gends zu  finden  sind.  An  einer  Stelle  löste  ich  mit  eigener  Hand  aus  der  Kitt- 
substanz in  der  Tiefe  des  Braudwalles  eineu  zerschlagenen  und  gebrannten  Feuer- 
stein aus.  Als  wir  auf  unserem  Rückwege  bei  einer  Ziegelei  am  Fusse  des  Berges 
vorübergingen  und  den  dort  anstehenden  Lehm  untersuchten,  so  zeigte  sich,  dass 
die  Zusammensetzung  desselben  so  viel  Aehnlichkeit  mit  der  Mischung  der  ge- 
brannten Zwisclieumasse  darbot,  dass  wir  keinen  Anstand  nahmen,  die  Meinung 
auszusprechen,  dass  wirklich  Lehm  als  Bindemittel  angewendet  ist  und  dass  in 
dieses  Holzscheite  eingelegt  wurden.  Es  sind  daher  bei  dem  Brande  nicht  bloss 
Basaltstücke  zum  Schmelzen  gekommen,  sondern  es  ist  auch  der  Lehm  gebrannt 
worden.  So  erklärt  sich  wahrscheinlich  die  grosse  Feinheit  der  Zeichnung,  welche 
die  Innenfläche  der  geschilderten  Höhlungen  darbot 

Aehuliches  berichten  Prevost  von  der  Mauer  von  Courbe,  wo  Kalkbestaud- 
theile  vorhanden  sein  sollen,  Preusker  und  Haupt-)  von  dem  Rothstein  bei  Sohland, 
wo  eiue  Beimischung  von  Erde  und  Kies  stattgefunden  haben  soll.  Bei  den  schotti- 
schen und  böhmischen  Brandwällen  scheint  nichts  Aehnliches  beobachtet  zu  sein. 
Am  Stromberge  dagegen  war  durchweg  eine  rothe  Kittsubstanz  vorhanden;  stellen- 
weise war  sie  sogar  zu  einem  wirklichen  weisslichen  oder  grünlichen  Glase  ge- 
schmolzen. 

Es  kommt  endlich  noch  ein  Umstand  in  Betracht,  welcher  mir  am  meisten 
Schwierigkeit  gemacht  hat.  Nicht  überall  an  den  Höhlungeu  sind  die  Linien  so 
fein  und  scharf,  wie  vorher  beschrieben;  vielmehr  zeigen  sich  ziemlich  derbe  rund- 
liche Parallellinieu,  so  dass  die  betreffenden  Flächen  vollständig  canellirt  er- 
scheinen. Manche  dieser  Längserhebungen  sind  hohl;  manche  gehen  am  Ende  in 
feine,  abgerundete  Vorsprünge  oder  Lücken  aus.  Hier  kann  meiner  Meinung  nach 
allerdings  kein  Zweifel  sein,  dass  es  sich  nicht  mehr  um  blosse  Abdrücke  von  zer- 
klüftetem Holz  handelt.  Ich  werde  darauf  gleich  nachher  zurückkommen  und  will 
hier  nur  bemerken,  dass  ich  diese  Figuren,  welche  am  meisten  der  Abbildung  von 
v.  Leonhard  auf  Tat.  1.  fig.  11  entsprechen,  auf  einen  höheren  Grad  der  Schmel- 
zung und  Verflüssigung  beziehe. 

Zur  Vervollständigung  des  Befundes  am  Stromberge  habe  ich  nur  noch  zu  be- 
richten, dass  sich  hier  ein  ähnliches  Verhältniss  zeigt,  wie  es  von  Geslin  in  Peran 


')  Wie  ich  aus  Seh  neide  r's  Mittheilungen  (S.  64)  ersehe,  hat  schon  Glocker  vom  Strom- 
berge angegeben,  dass  daselbst  in  manche  blasige  ^asaltstiicke  Stücke  von  der  Beschaffenheit 
und  Farbe  rother  Ziegel  und  in  manche  Ziegelstücke  umgekehrt  auch  kleine  eckige  Basaltstücke 
eingemengt  seien. 

*l  Preusker  a.  a.  0.  Bd.  I.  S.  95.     Haupt  a.  a.  0.  S.  381. 


266 

unter  der  Bezeichnung  von  Oefen  (fournaise)  beschrieben  ist.  Die  Brandmasse  bil- 
dete gewisse  Heerde  von  beträchtlicher  Grösse,  deren  Zwischenräume  mit  we- 
niger oder  gar  nicht  gebrannten  Steinen  gefüllt  waren.  Tin  Innern  dieser  Heerde. 
gab  es  stellenweise  grössere  Höhleu,  1  —  P/2  Fuss  hoch  und  so  tief,  dass  ich  den 
ganzen  Arm  in  ausgestreckter  Haltung  hineinbringen  konnte.  Dieselben  waren 
tbeils  ganz  leer,  theils  mit  losem,  graurothem  Brandschutt  gefüllt.  Ihre  Wandun- 
gen erschienen  stets  in  hohem  Grade  verschlackt.  Gegen  die  Aussenseite  des 
Walles  zu  war  die  Schmelzung  und  Verglasung  meist  stärker,  jedoch  reichte  die 
Schlacke  hier  nicht  bis  dicht  unter  die  Erdkrume,  vielmehr  fand  sich  zunächst 
unter  dieser  ein  loserer  rothgebrannter  lehmiger  Schutt.  Gegen  die  Innenseite  des 
Walles  zu  dagegen  schlössen  sich  an  den  harten  Kern  grosse,  künstlich  aufge- 
schichtete Basaltblöcke  an,  deren  oft  grosse  Zwischenräume  von  gebranntem  Grus 
eingenommen  waren.  Diese  Eigenthümlichkeiten  dürften  mehr,  als  alles  Andere, 
beweisen,  dass  es  sich  um  eine  absichtliche  Anlage  handelt,  welche  gebrannt  wer- 
den sollte. 

Nach  diesen  Ermittelungen  kehrten  wir  nach  Löbau  zurück  und  begannen  die 
Untersuchung  des  grossen  Steiuwalles.  auf  dem  Schaf  berge.  Trotz  aller  ungün- 
stigen Prophezeiungen  gelang  es  bei  etwas  hartnäckiger  Forschung  auch  hier, 
noch  anstehende  Schlacken  zu  finden  und  damit  die  Meinung  zu  widerlegen,  als 
sei  Alles  fortgebrochen  oder  herabgefallen.  Die  betreffende  Stelle  liegt  an  der  nord- 
westlichen Ecke  des  Steinwalles  neben  einem  alten  Einschnitte  (Eingange).  Preus- 
ker1)  hat,  wie  ich  nachträglich  ersehe,  eine  ähnliche  an  der  südwestlichen  Ecke 
getroffen2). 

Als  wir  an  dieser  ziemlich  verborgenen  Stelle  die  äussere  Schicht  von  losen 
Steinen  hatten  abtragen  lassen,  welche  durchaus  unverändert  waren,  stiessen  wir 
im  Kern  des  Walles  auf  eine  in  grossen  Klumpen  zusammenhängende  Brandmasse. 
Für  die  Geologen  ist  es  vielleicht  von  besonderem  Interesse,  zu  erfahren,  dass  ähn- 
liche Zeichnungen,  wie  wir  sie  an  dem  Basalt  des  Stromberges  kennen  gelernt  ha- 
ben, an  dem  Nephelin -Dolerit  des  Löbauer  Berges  sich  wieder  finden.  Nur  die 
rothe  Kittsubstanz  schien  hier  zu  fehlen. 

Manche  Doleritstücke  waren  ebenso  porös,  ja  blasig  und  stellenweise  glasig  und 
geflossen,  wie  die  Basalte  des  Stromberges.  Jedoch  sah  ich  keinen  einfachen  Holz- 
abdruck, während  Preusker  (a.  a.  0.  S.  93)  einen  solchen  gesehen  zu  haben  an- 
gibt. Dagegen  erwiesen  sich  viele  Stücke  ganz  besetzt  und  durchsetzt  von  ecki-  • 
gen  Höhlungen,  deren  Innenfläche  meist  mit  den  1  ruh  er -erwähnten  gröberen,  pa- 
rallelen und  an  der  Oberfläche  abgerundeten  Kelieflinien  versehen  war.  Nicht  sel- 
ten waren  diese  Linien  jedoch  nicht  glatt,  ondern  mit  feinen  queren  oder  schiefen 
Querlinien  besetzt  Ich  kann  nicht  behaupten,  dass  diese  Art  von  Zeichnungen  in 
irgend  einer  Weise  einer  mir  bekannten  Holzart  entspräche.  Auch  giebt  es  Höh- 
lungen, an  welchen  deutlich  zu  sehen  ist,  dass  ihre  Innenwand  geschmolzen,  und 
das  Geschmolzene  heruntergeflossen  und  zu  Stalactiten-ähnlichen  Bildungen  erstarrt 
ist.  Aber  ich  möchte  desshalb  die  Möglichkeit  nicht  ausschliessen,  dass  dieselben 
Höhlungen,  welche  durch  die  Anwesenheit  und  die  Zerstörung  von  Holz  bedingt 
waren,  späterhin  durch  weiteres  Einschmelzen  an  ihrer  Oberfläche  von  Neuem  ver- 


')  Preusker  a.  a.  0.  I.  S.  92. 

2)  Auch  bei  der  schottischen  Burg  Gataere-House  in  Soropshirc,  die  jetzt  zerstört  ist,  tru- 
gen nur  die  gewissen  Weltgegenden  zugekehrten  Mauern  Spuren  der  Feuer-Wirkung  (v.  Leon- 
hard  II.  S.  526). 


267 

ändert  sind  und  dass  namentlich  früher  scharfe  Leisten  und  Vorsprünge  bei  stär- 
kerer Erhitzung  halbflüssig  geworden  sind  und  sich  unter  Abnahme  ihrer  Höhe  ab- 
gerundet haben. 

Auf  diese  Weise  löst  sich  vielleicht  der  scheinbare  Widerspruch  zwischen  bei- 
den Arten  von  Zeichnungen,  der  feineu  und  der  gröberen.  Es  ist  dies  ein  Punkt, 
der  auch  geologisch  von  grosser  Bedeutung  ist.  Hr.  Schneider  hat  gegen  Glocker, 
welcher  die  Zeichnungen  iu  den  Wallschlacken  als  natürliche  Erzeugnisse  ansah, 
eine  Reihe  von  Gründen  beigebracht,  welche  für  die  künstliche  Schmelzung  spre- 
chen. Ich  will  im  Allgemeinen  darauf  verweisen,  kann  jedoch  noch  einen  neuen, 
meiner  Meinung  nach  entscheidenden  Grund  hinzufügen.  Soweit  ich  sehe,  sind  alle 
natürlichen  Blasenräume  in  den  basaltischen  Gesteinen  rundlich;  hier  dagegen  be- 
sitzen die  Höhlungen  ein  so  eckiges  und  winkeliges  Aussehen,  sie  haben  so  ebene 
Wandungen  und  diese  stossen  unter  so  scharfen  Winkeln  gegen  einander,  dass  man 
überall  auf  künstlich  zerspaltene  oder  zerschlagene  Holzstücke  geführt 
wird.  Dazu  kommt,  dass  hie  und  da  die  geschmolzene  Masse  in  langen  Zügen  über 
benachbarte  Steine  herabgeflossen  ist,  wie  mir  dies  sehr  überzeugend  von  Hrn  Dr. 
Schneider  an  einer  aus  derartigen  Schlacken  aufgerichteten  Pyramide  in  den  An- 
lagen der  Stadt  Löbau  (am  West-Umfange)  gezeigt  wurde. 

Der  Löbauer  Steinwall  zeichnet  sich  vor  dem  Stromberge  noch  durch  zwei  Um- 
stände aus.  Er  liegt  an.  den  meisten  Stellen  noch  jetzt  völlig  frei,  so  dass  die 
Steine  nackt  zu  Tage  treten ').  Ausserdem  ist  er  von  sehr  beträchtlicher  Grösse. 
Denn  er  umgiebt  in  einer  Erstreckung  von  über  8000  Fuss  einen  Raum  von  20 
Morgen,  gross  genug,  um  Tausende  von  Menschen  aufzunehmen.  Seine  Höhe 
schwankt  zwischen  3—7  Fuss  Höhe,  und  er  folgt  überall  den  Seitenrändern  der 
Bergkuppe.  Noch  jetzt  ist  er  fast  ganz  geschlossen  und  seine  Gestalt  ist  im  Gros- 
sen eine  viereckige  mit  ziemlich  scharfen  Ecken. 

Nachdem  so  an  zwei  Orten  die  Existenz  von  Brandstellen  in  den  Steinwällen 
dargethan  war,  so  durfte  ich  die  Frage  aufwerfen,  ob  nicht  auch  auf  der  Lands- 
krone die  Verhältnisse  anders  tu  erklären  seien,  als  es  bisher  geschehen  ist.  Eine 
Nachforschung  über  die  Geschichte  des  alten  Schlosses  hat  in  der  That  ergeben,  dass 
dasselbe  niemals  abgebrannt  ist,  sondern  auf  friedliche  Weise  durch  die  Thätigkeit 
der  Bürger  im  Jahre  142*2  abgetragen  wurde,  nachdem  seine  Besitzer  dem  Könige 
von  Böhmen  und  der  Stadt  mannichfache  Unbequemlichkeiten  bereitet  hatten3).  Dass 
es  vorher  abgebrannt  sei,  davon  ist  wenigstens  bis  jetzt  nirgends  eine  Nachricht  zu 
finden  gewesen.  Späterhin  hat  man  wiederholt  versucht,  die  von  Natur  so  feste  Po- 
sition wieder  zu  militärischen  Zwecken  zu  benutzen,  aber  erst  in  der  neuesten  Zeit 
sind  die  Pläne  zum  Wiederaufbau  zur  Ausführung  gekommen;  nirgends  ist.  auch  aus 
späterer  Zeit,  irgendwie  berichtet,  dass  dort  ein  Brand  stattgefunden  habe.  Bei  wei- 
terem Nachfragen  hat  sich  vielmehr  herausgestellt,  dass  an  verschiedenen  Punkten 
des  Berges  noch  Schlacken  vorkommen,  und  es  ist  möglich,  dass  weitere  Nachfor- 
schungen noch  etwas  Genaueres  über  die  Existenz  eines  Brandwalles  ergeben  werden. 

Wie  verhält  es  sich  nun  mit  der  chronologischen  Deutung  und  dem  Zwecke 
dieser  Stein  wälle? 

Nach  Cotta  sind  dieselben  als  slavische,  nach  v.  Peucker  und  Schuster  als 
germanische  Befestigungen  anzusehen.  Dass  dieselben  gegen  die  andrängende  Fluth 
der  Slaven  gerichtet  gewesen  seien,  folgt  nach  diesen  Schriftstellern  aus  militärischen 
Gründen,  insbesondere  aus  dem  offenbaren  Zusammenhange  des  ganzen  Systems.    Ein 


')  Eine  etwas  rohe  Abbildung  hat  Preusker  a.  a.  0.  Taf.  II.  fig.  6. 

*)  Jancke,  Abhandl.  der  naturf.  Gesellschaft  zu  Görlitz.    1838.    Bd.  II.  S.  119. 


268 

Mitglied  unserer  Gesellschaft,  Hr.  v.  Ledebur  hat  das  Verdienst,  die  Aufmerksam- 
keit zuerst  auf  diesen  Zusammenhang  einer  grossen  Reihe  von  Schanzen  und  Wällen 
gerichtet  zu  haben.  So  auffällig  dieses  Verhältniss  ist,  so  würde  es  doch  in  der 
That  überraschend  sein,  wpnn  man  annehmen  müsste,  dass  auch  die  Schlackenwälle 
mit  dem  übrigen  Schanzen-  und  Wallsystem  zusammengehören,  und  dass  ein  so  gross- 
artiger Plan  der  Verteidigung  ausgedacht  und  ausgeführt  worden  wäre,  um  einem 
sich  zurückziehenden  Volke  Schritt  für  Schritt  neue  Haltpunkte  zu  gewähren.  Ge- 
genüber der  weiten  Ausdehnung  des  gesammien  sogenannten  Systems  erscheinen  die 
letzten  Refugia  in  den  Steinwällen  unverhältnissmässig  klein.  Mag  auch  der  Löbauer 
Berg  Tausende  von  Menschen  fassen,  mögen  die  benachbarten  Brandwälle  abermals 
Tausenden  Schutz  gewähren  können,  so  darf  man  sich  doch  nicht  vorstellen,  dass  ein 
grosses  Volk,  welches  zu  seiner  Vertheidigung  von  der  Warthe  bis  zur  Saale  Schan- 
zen errichtet  hatte,  auf  wenigen  und  verhältnissmässig  kleinen  Bergen  eine  Stätte  der 
Zuflucht  gesucht  habe.  Die  Umwallung  des  Stromberges  ist  so  eng,  dass  sie  auch 
nicht  für  einen  einzelnen  Stamm  ausreichend  sein  konnte,  und  die  Möglichkeit,  diesem 
Stamme  im  Falle  einer  Belagerung  Trinkwasser  zu  verschaffen,  ist  gänzlich  ausge- 
schlossen. 

Es  würde  überaus  wichtig  sein,  wenn  es  gelänge,  aus  bestimmten  einzelnen  Fun- 
den weitere  Anhaltspunkte  für  Erwägungen  über  das  Alter  und  die  Benutzung  dieser 
Anlagen  zu  gewinnen.  Mir  ist  es  leider  nicht  gelungen,  irgend  etwas  Wesentliches 
zu  ermitteln.  Ich  habe  auf  dem  Stromberge  an  mehreren  Stellen  gegraben,  aber 
nichts  entdecken  können,  was  irgendwie  für  chronologische  Beziehungen  verwerthet 
werden  könnte;  ausser  der  erwähnten  Eichenkohle,  die  vielleicht  einige  Bedeutung 
gewinnen  kann,  haben  meine  Grabungen  gar  nichts  zu  Tage  gefördert:  keinen  Topf- 
scherben, keinen  Thierknochen  oder  sonst  irgend  etwas,  was  auf  ein  früheres  Bewoh- 
nen hingedeutet  hätte.  Auf  dem  Löbauer  Berge,  der  sehr  ausgedehnt  und  mit  gros- 
sen Bäumen  bestanden  ist,  habe  ich  bei  der  geringen,  mir  zur  Verfügung  stehenden 
Zeit  keine  Nachgrabungen  veranstaltet.  Preusker1)  legt  besonderen  Werth  auf 
einen  daselbst  im  Jahre  1802  gefundenen  Bronce-Celt  von  7  Zoll  Länge,  und  er  er- 
wähnt ausserdem,  dass  in  der  Nähe  des  sogenannten  Goldkellers,  einer  Höhle  dicht 
unter  der  südöstlichen  Ecke  des  Schafberges,  mehrere  Drahtringe.  Nadeln  und  ähn- 
liche Broncegegenstände  vor  Jahren  zufällig  entdeckt  seien  Auch  daraus  hat  man 
auf  eine  germanische  Bevölkerung  geschlossen. 

Meiner  Meinung  nach  bieten  derartige  vereinzelte  Funde  durchaus  keinen  sicheren 
Anhaltspunkt  dar.  Geslin')  hat  in  dem  Rundwall  von  Peran  Spuren  einer  römischen  und 
einer  mittelalterlichen  Ansiedelung  nachgewiesen.  Trotzdem  nimmt  er,  und  gewiss 
mit  Recht  an,  dass  die  Anlage  vor-römisch  oder,  was  für  ihn  gleichbedeutend  ist, 
celtisch  war.  Anderson1)  stiess  in  schottischen  Glasburgen  auf  grosse  Kohlenlager 
mit  Gebeinen  von  Pferden,  Rothwild  und  Schweinen.  Derartige  Reste  können  eben 
so  gut  die  Caledonier,  als  die  Römer  oder  Dänen  hinterlassen  haben.  Man  muss  da- 
her in  der  Beurtheilung  solcher  Funde  in  höchstem  Masse  vorsichtig  sein.  Zumal 
das  Beispiel  der  Landskrone  fordert  zu  einer  solchen  Vorsicht  auf.  War  hier  ein 
alter  Schlackenwall,  so  würde  daraus  gewiss  nicht  folgen,  dass  das  Schloss  Lands- 
krone und  der  Brandwall  von  einem  und  demselben  Volk  errichtet  worden  sind. 


';  Preusker,  Neues  Lausitzisches  Magazin.  1827.  Bd.  VI.  S   519.  Taf.  I.  %.  1.     Blicke  in 
die  Vorzeit,  Bd.  1.  S.  81    Taf.  I.  %.  43. 

-)  Memoires  des  Antiquaires  de  France.   XV1I1.  p.  311. 
3)  v.  Leonhard,  Basaltgebilde  II.  S.  526. 


269 

Gerade  für  diesen  Punkt  is1,  es  mir  gelungen,  ein  bisher  ganz  unbekanntes  Ver- 
hältniss  aufzuklären,  das  in  anderer  Beziehung  sehr  wichtig  erscheint.  Als  ich  mich 
nach  den  Umgehungen  der  Landskrone  erkundigte,  erzählte  man  mir,  dass  am  Kusse 
des  Berges  eine  alte  Schweden-  oder  Hussitenschanze ')  sei.  Wir  begaben  uns  als- 
bald dahin  und  es  ergab  sich  iu  der  That,  dass  am  Westabhange  des  Berges,  etwas 
unter  der  halben  Höhe  desselben,  ein  sehr  umfangreiches,  ganz  und  gar  künstlich 
aufgeschüttetes  Erdwerk  lag,  welches  sich  halbmondförmig  an  den  Abhang  anschloss 
und  dessen  südlicher  Schenkel  sich  in  langer  Erstreckung  bis  zu  der  niedrigeren, 
zweiten  (südlichen)  Basaltkuppe  des  Berges  hinaufzog.  J)er  Band  des  Walles  war 
bereits  abgegraben  und  auf  die  benachbarten  Felder  gefahren .  dadurch  aber  zugleich 
in  günstigster  Weise  das  gesammte  Terrain  aufgeschlossen.  Nicht  der  mindeste  Grund 
ergab  sich  für  die  Annahme,  dass  Hussiten  oder  Schweden  etwas  mit  der  Anlage  zu 
thun  gehabt  hätten  Vielmehr  lehrte  eine  Reihe  von  Nachgrabungen .  die  wir  sofort 
veranstalteten,  das-  in  dem  losen,  humosen  und  vielfach  geschwärzten,  stellenweise 
8 — 10  Fuss  hohen  Erdreich  grosse  Mengen  theils  unversehrter  kleiner,  theils  zer- 
schlagener und  ganz  scharfkantiger  grosser  Knochen  zerstreut  lagen.  Letztere  waren 
stellenweise  stark  geschwärzt,  und  einzelne  so  stark  gebraunt,  dass  sie  angefangen 
hatten,  weiss  zu  werden.  Unter  den  Bruchstücken  Hessen  sich  namentlich  Rinder- 
und Schweineknochen  von  gezähmten  Rassen  unterscheiden.  Mit  Ausnahme  einzel- 
ner Knochen  von  kleineren  Thieren  fanden  wir  nichts,  was  wilden  und  am  wenigsten 
älteren,  später  verschwundenen  Arten  zugeschrieben  werden  konnte.  Kohlenstücke 
lagen  an  vielen  Orten,  jedoch  stiessen  wir  auch  auf  grössere  Brand-  oder  Heerdstelleu, 
an  welchen  ganz  grosse  Stücke  von  Eichenkohle  in  Massen  zusammenlagen.  Hie  und 
da  kamen  auch  Klumpen  von  rohem  gebrannten  Lehm  vor.  Ferner  sammelten  wir 
eine  reiche  Anzahl  von  Urnenscherben,  sowohl  Rand-  uud  Mittel-,  als  Bodenstücke. 
Obwohl  ihre  Grösse  und  Gestalt  grosse  Manniclifaltigkeit  darbot,  so  gehörten  sie  doch 
nach  Material  und  Bearbeitung  im  Grossen  derselben  Gruppe  an,  welche  ich  in  einer 
früheren  Sitzung  von  unseren  Burgwällen  beschrieben  habe.  Keines  von  ihnen  war 
gebrannt;  sie  hatten  durchweg  jenes  schwärzliche,  nur  an  der  Oberfläche  häufig  röth- 
liche  oder,  wo  sie  an  der  Luft  gelegen  hatten,  grauweissliche  Aussehen,  wie  wir  es  an 
dein  Topfgeräth  der  Burgwälle  Pommerns  und  der  Mark  finden.  Grobe  Bröckel  von 
Quarz,  Glimmer  u.  s.  w.  traten  sowohl  an  der  Oberfläche,  als  auf  dem  Bruche  deutlich 
hervor.  Einzelne  bestanden  aus  dichterem  und  etwas  feinerem  Material.  Fast  alle  Ober- 
stücke waren  mit  einem  gutgeformten,  stark  umgelegten  und  zuweilen  noch  weiter 
abgeglätteten  Rande  verseben.  Daran  schlössen  sich  bei  der  Mehrzahl  Ornamente 
mit  ausschliesslich  horizontaler  Richtung  der  Verzierungen,  welche  bald  einfache, 
breitere  oder  schmälere,  dichter  oder  weiter  von  einander  stehende,  bald  schlangenförmig 
gekrümmte  Parallellinien,  bald  eine  Reihe  schräger  Nageleindrücke,  bald  endlich  zier- 
liche, wie  durch  Einpressen  eines  grob  gedrehten  und  geflochtenen  Fadens  erzeugte 
Figuren  zeigten  Die  sehr  dicken  Bodenstücke  waren  sämmtlich  einfach  gewölbt 
und  glatt.  Metall  wurde  von  uns  nicht  aufgefunden.  Um  so  mehr  charakteristisch 
ist  ein  rohes  Knocheuwerkzeug,  nämlich  ein  in  der  Diaphyse  zerschnittener  und  zu- 
gespitzter, thierischer  Metatarsalknochen ,  der  vollkommen  übereinstimmt  mit  den 
Spitzbohrern,  die  in  fast  allen  unseren  Pfahl-  und  Wallansiedelungen  vorkommen. 

Ich  habe  nach  diesen  Ergebnissen  keinen  Zweifel  darüber  behalten,  dass  wir  es 
iu  der  That  hier  zu  thun  haben  mit  einer,    lauge  Zeit   hindurch    bewohnt  gewesenen 

')  Preusker  (Blicke  in  die  Vorzeit  II.  S.  114)  scheint  dieselbe  zu  meinen,  wenn  er  von 
einem  kleinen  Walle  am  Bergabhauge  spricht,  der  erst  bei  Besetzung  des  Berges  1467  durch 
die  Görlitzer  aufgeworfen  sei. 


270 

Ansiedelung,  welche  in  dieselbe  Periode  zu  versetzen  ist,  welcher  unsere  weiter  in 
die  Ebene  hineingelegenen  Burgwälle  angehören.  Diese  Periode  würde  sich  schon 
jetzt  genauer  bestimmen  lassen,  wenn  die  früher  auf  der  Landskrone  gemachten  und 
zum  Theil  in  den  Görlitzer  Sammlungen  aufbewahrten  Funde1)  nach  ihren  Fund- 
stellen genauer  beschrieben  wären.  In  der  Sammlung  der  dortigen  Gesellschaft  der 
Wissenschaften  sah  ich  einen  dicken  Bronce-Ring  und  eine  noch  ganz  neu  erschei- 
nende Lanzenspitze  von  Bronce  ohne  alle  Patina,  die  auf  der  Landskrone  gefunden 
sein  sollten,  aber  ich  konnte  nichts  Genaueres  darüber  erfahren.  Dia  Sammlung 
der  naturforschenden  Gesellschaft  enthält  zahlreiches  Eisengeräth  (grosse  und 
kleine  Schlüssel,  Pfeile  mit  Widerhaken,  Messer,  Panzerplatten,  Ketten,  Sporen,  Huf- 
eisen), Lederstücke  mit  Kupfer -Mosaik,  Pferdezähne  und  zahlreiche  Scherben  von 
Thongefässen,  darunter  auch  solche  mit  Pfahlbau-Ornamenten,  aber  Alles  ohne  Fund- 
scheine. Die  Ergebnisse  weiterer  Forschungen  werden  hoffentlich  mit  mehr  Sorgfalt 
registrirt  werden. 

Ich  selbst  zog  es  vor,  um  eine  breitere  Grundlage  zur  Vergleichung  zu  gewinnen, 
weiter  gegen  die  Ebene  hin  einige  der  lausitzischen  Schanzen  zu  untersuchen.  Ich 
begann  mit  zwei  seit  langer  Zeit  bekannten  Schanzen,  welche  sich  in  der  Nähe  des 
Dorfes  Schöps  befinden,  wo  die  alte  Heerstrasse  von  Dresden  und  Bautzen  nach  Breslau 
(von  Deutschland  nach  Polen)  den  schwarzen  Schöps,  ein  Nebenflüsschen  der  Spree, 
überschreitet.'  Hier  liegt  zu  jeder  Seite  der  Strasse  unmittelbar  am  Flusse  und  zwar  am 
rechten  Ufer  desselben  eine  mächtige  Schanze2).  Beide  sind  auf  natürlichen  Granit- 
Hügeln  angelegt,  dann  aber  weiter  durch  Erdschüttungen  so  erhöht,  dass  die  südliche 
bis  zu  30,  die  nördliche  bis  zu  50  Fuss  Höhe  aufgethürmt  ist.  Letztere  hat  oben 
300  Schritte  im  Umfange,  trägt  gegen  die  Landseite  hin  noch  einen  mächtigen  halb- 
mondförmigen Erdwall  auf  der  Höhe  ihres  Randes,  ist  dagegen  nach  der  Uferseite 
hin  ohne  besondere  Schutz  wehr.  Preusker  hatte  darin  Gefässbruchstücke  gefun- 
den, sonst  nichts.  Auch  unsere  Nachgrabungen,  obwohl  durch  die  Unterstützung  des 
Hrn.  Gutsbesitzer  Schröber  in  grösserer  Ausdehnung  ausgeführt,  ergaben  nur  we- 
uige  Resultate.  Ausser  ganz  spärlichen  und  kleinen  Bruchstücken  von  Knochen,  dar- 
unter ein  Zahn  vom  Schafe,  sowie  kleinen  und  scheinbar  geschlagenen  Feuersteinen 
erlangten  wir  nur  eine  grössere  Menge  von  Kohlenstückeu  und  zwar  von  Nadelholz, 
sowie  von  Urnen.  Einzelne  der  letzteren  waren  von  colossaler  Dicke  und  äusserst 
roher  Beschaffenheit,  alle  jedoch  ungebrannt,  unglasirt  und  von  dem  bekannten  rohen 
Material  der  Burgwall -Urnen.  Entscheidend  erwies  sich  auch  hier  die  Ornamentik, 
welche  in  hohem  Maasse  ähnlich,  ja  stellenweise  fast  identisch  mit  der  oben  beschrie- 
benen der  Gefässe  von  dem  Erdwall  der  Landskrone  war.  Somit  wurde  jeder  Zweifel 
über  den  Parallelismus  dieser  Anlagen  gehoben. 

In  Gemeinschaft  mit  den  Herren  Dr.  Blau  uud  Dr.  Böttcher,  welche  mich  an 
diesem  Tage  begleiteten,  begab  ich  mich  von  da  zu  dem  viel  besprocheneu  Burg- 
berge von.  Döbschütz,  der  in  einer  ganz  ähnlichen  Lage  und  gleichfalls  auf  einer 
niedrigen  Granitkuppe  weiter  abwärts  am  rechten  Ufer  des  schwarzen  Schöps  gele- 
gen ist.  Die  lausitzischen  Gelehrten  haben  in  dieser  Gegend  das  im  Mittelalter  er- 
wähnte Schloss  Meer,  Meran  oder  Meerane  gesucht3).  Der  sehr  hohe  und  steile,  je- 
doch wenig  umfangreiche  (kaum  50  Schritt  im  Durchmesser  haltende)  Burgwall  liegt 


')  Man  vergleiche  auch  Preusker  II.  S.  114. 

'')  Preusker  (a.  a.  0.  L  S.  115.  Taf.  II.  fig.  1  u.  12)  hat  Beschreibung  und  Abbildung  davon 

gegeben. 

:1)  Käuifer,    Neue  Lausitzische  Monatsschrift.    1803.    Bd.  I.  S.  8.     Crudelius,    Ebendaa. 
S.  05.     Worbs,  Ebenda*.  S.  213.     Schulz,  Ebemlas.  Bd.  II.  S,  17. 


In 

gerade  gegenüber  dem  Dorfe  Melaune.  Ausser  einzelnen  Urnenfragraenten  und  zahl- 
reichen Kohlenstellen  fanden  wir  nichts.  Ein  früherer  Besitzer  hat  den  ganzen  ln- 
nenraum  ausgrabeu  und  600  Fuder  davon  zur  Wiesendüngung  fortfahren  lassen.  Bei 
dieser  Gelegenheit  sind  zahlreiche  Lagen  von  Asche,  Buchen-Kohlen,  abwechselnd 
mit  Schichten  von  Erde,  geschmolzene  Eisenstücke,  rohe  Thongeräthe,  Thierknochen 
und  grosse  Mengen  von  verkohltem  Getreide  (Weizen,  Koggen,  Gerste,  vielleicht  Ha- 
fer, sowie  kleine,  für  Hirse  oder  Wicken  gehaltene  Körner),  stellenweise  in  Haufen 
von  i — 2  Scheffeln  gefunden  worden1).  In  der  Sammlung  der  Görlitzer  naturfor- 
schenden Gesellschaft  sah  ich  solches  Getreide,  namentlich  Weizen-  und  Roggenkör- 
ner, ferner  schwarze  Trnenstücke  mit  ringförmigen  Linien,  auch  ein  Eisenstück;  in 
der  Sammlung  der  oberlausitzischen  Gesellschaft  fand  sich  eine  eiserne  Pfeilspitze 
mit  Widerhaken  und  Feuersteinspähne  von  da.  Hier  wird  wohl  nicht  der  mindeste 
Zweifel  übrig  bleiben  können.  Wir  haben  es  mit  einem  Burgwalle  der  Eisenzeit 
zu  thun,  der  in  jeder  Beziehung  unseren  mehr  nördlichen  Burgwällen  anzuschlies- 
sen   ist. 

Welchen  Grund  sollten  wir  nun  aber  haben,  diese  Erd wälle,  Schanzen  und  Burg- 
berge für  Werke  der  alten  Deutschen  zu  halten?  Ich  sehe  in  der  That  bis  jetzt 
noch  keinerlei  Anknüpfungspunkte  für  eine  solche  Annahme.  Vielmehr  scheint  mir 
die  Ausführung,  welche  schon  vor  65  Jahren  Rösch'1)  von  den  Schanzen  der  Lau- 
sitz gegeben  hat,  dass  es  Werke  der  Wenden  seien,  am  meisten  begründet  zu  sein. 
Dagegen  scheint  mir  nichts  dafür  zu  sprechen,  dass  die  Schlacken  wälle  etwas  mit 
slavischen  Völkern  zu  thun  haben.  Vorläufig  fehlt  hierfür  jede  Anknüpfung.  Ich  bin 
daher  der  Meinung,  dass  man  trotz  ihrer  räumlichen  Beziehung  vorläufig  die  Stein- 
wälle und  die  Erdwälle  gänzlich  aus  einander  halten  muss.  Mag  immerhin  von  dem 
militärischen  Standpunkte  aus,  den  die  Herren  Schuster  und  v  Peucker  vertre- 
ten, der  einheitliche  Ursprung  beider  Arten  von  Wällen  und  ihr  germanischer  Ur- 
sprung sehr  wahrscheinlich  sein,  so  halte  ich  doch  dafür,  dass  diese  Ansicht  eine 
irrige  ist.  —  Die  Erdschanzen  sind,  wie  die  Burgwälle,  allem  vorliegenden  Material 
nach,  slavische  Anlagen,  und  als  solche  allem  Anschein  nach  bald  überwiegend  zu 
religiösen,  bald  mehr  zu  militärischen  Zwecken  errichtet.  Die  Stein-  und  Brandwälie 
dagegen,  welche  sich  in  dieser  Form  nirgends  in  der  norddeutschen  Ebene  finden, 
obwohl  es  doch  in  derselben  an  Steinen  aller  Art  nicht  fehlt,  die  dagegen  in  Böhmen 
in  grosser  Zahl,  in  Nord-Frankreich  und  in  den  schottischen  Hochlanden  vorkommen, 
mögen  von  einer  germanischen  Bevölkerung  errichtet  sein,  aber  es  wäre  auch  möglich, 
dass  sie  noch  älter  sind  und  dass  sie  einer  vorgermanischen,  also  vielleicht  eiuer 
celtischen  Bevölkerung  angehören.  Jedenfalls  muss  man  Angesichts  so  kleiner  Brand- 
wälle, wie  der  des  Stromberges,  und  gegenüber  so  beschränkter  Brandstellen  inner- 
halb der  betreffenden  Wälle,  wie  sie  auch  einzelne  schottische  Glasburgen  nur  be- 
sitzen, von  der  Meinung  ablassen,  dass  diese  Anlagen  lediglich  oder  vorwiegend  im 
militärischem  Interesse  errichtet  worden  seien.  Manche  Steinwälle  mögen  diese  Be- 
deutung haben;  andere  sind  gewiss  vorzugsweise  zu  religiösen  Zwecken  hergestellt 
worden. 

Die  Herren  Braun  und  Beyrich  erklären  sich  bereit,  die  vom  Vortragenden  vor- 
gelegten Schlacken-Fragmeute  einer  genaueren  Untersuchung  zu  unterwerfen. 


')  Preusker  a.  a.  0.  III.  S.  125,   132.  Taf.  III.  nV.  20. 

*)  Rösch,    Neue  Lausitzische  Monatsschrift.    1805.    1.    S.   IH.     (Hier   rindet    sich    wohl  die 
ersto  Aufzählung-  der  oberlausitzischen  Schanzen.) 


272 

Herr  von  Dücker  übersendet  nebst  einer  grösseren  Sammlung  von  Geweihstücken 
u.  s.  w.  folgende  briefliche  Mittheiluug  über 

Die  Rennthierreste  aus  dem  Hönnethale. 
„Der  hochverehrte  Vorsitzende  des  Berliner  Anthropologischen  Vereines  hat  iu 
seinem  Vortrage  über  Rennthierreste  in  Norddeutschland  die  Frage  der  Coexistenz 
des  Rennthieres  mit  dem  Menschen  offen  gelassen.  Auch  in  Betreff  der  von  mir  im 
Hönnethale  gefundenen  Reste  erwähnte  derselbe,  dass  die  Beweise  für  die  Herstam- 
mung  derselben  aus  Menschenhand  nicht  vorlägen.  Dies  war  auch  ganz  richtig,  denn 
in  den  Händen  des  Herrn  Redners  befanden  sich  nur  einige  wenige  Stücke,  die  nicht 
zu  diesem  Zwecke  ausgewählt  waren. 

Hiermit  beehre  ich  mich  nun,  dem  Vereine  eine  Suite  von  53  Bruchstücken  von 
Rennthierge weihen  uud  Knochen  vorzulegen,  welche  ich  sämmtlich  aus  der  in  obi- 
gem Vortrage  erwähnten  Felskluft  im  Hönnethale  in  Westfalen  am  12.  October  vori- 
gen Jahres  gesammelt  habe.  Es  bleiben  hiernach  noch  47  ganz  ähnliche  Reste  iu 
meinen  Händen  und  über  10  Stück  habe  ich  bereits  verschenkt.  iJas  Zusammen  vor- 
kommen einer  so  grossen  Zahl,  in  ganz  gleicher  Weise  zerschlagener  Geweihstücke 
des  Rennthieres  in  einer  Felsenkluft  an  einem  schroffen  Thalgehänge  unterhalb  einer 
Höhle  ist  au  und  für  sich  nicht  füglich  ohne  die  Annahme  menschlicher  Thätigkeit 
zu  erklären. 

Ausserdem  sind  in  der  vorgelegten  Suite  zu  bemerken: 

12  Stück  längsgespaltene  Geweihestücke,  darunter  zwei  mit  deutlichen  Schlag- 
eindrücken, ferner  7  Stück  mit  Spuren  menschlicher  Thätigkeit,  darunter  fünf  mit 
Schlageindrücken,  eins  mit  Spuren  des  Bestrebens  zum  Längsaufspalten  und  eins  mit 
einem  Einschnitt,  endlich  ein  Knochenstück  (unteres  Ende  eines  hinteren  Oberschen- 
kelknochens vom  Rennthier)  mit  Schlagspuren,  auch  zwei  Stücke  mit  starkem  Mi- 
neralansatz, welcher  für  das  hohe  Alter  der  Stücke  spricht 

Zum  Vergleich  mit  den  obigen  Stücken  ist  ein  Bruchstück  von  einem  Rehge- 
hörn beigefügt,  welches  ich  am  'AQ.  August  vorigen  Jahres  aus  dem  Kjöckenmödding 
zu  Sölager  auf  Seeland  aufgehoben  habe;  dasselbe  ist  in  gleicher  Weise  zerschlagen. 

Nach  meinem  Dafürhalten  kann  es  keinem  Zweifel  nnterliegen.  dass  diese  sämmt- 
licheu  Geweihe  zerschlagen  sind,  um  die  geringe  Quantität  Nahrungsstoff,  welche 
sich  in  denselben  befand,  nutzbar  zu  machen.  Die  Rennthiergeweihe  scheinen  den 
Thieren  im  jugendlichen  Zustande  abgeschlagen  zu  sein,  weil  dieselben  in  höherem 
Alter  nicht  so  viel  Nahrungsstoff  boten.  Auf  andere  Weise  vermag  ich  mir  nicht  zu 
erklären,  warum  an  der  betreffenden  Stelle  ausschliesslich  so  kleine,  jugendliche 
Exemplare  angehäuft  waren." 

Die  frühere  Commission  wird  über  die  zugesendeten  Gegenstände  berichten. 


Druck  vmi  Qebr,  linder  (Tb. Grimm)  in  Berlin,  KriedrlouMtr. 84. 


Zeitschrift  f  .Et] 


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p5 


>* 


Beiträge  zur  vergleichenden  Ethnologie. 

Von  Prof.  P.  Strobel  in  Parma. 

(Fortsetzung  und  Schluss.) 

Waffen.  Vor  der  Entdeckung  und  theilweisen  Eroberung  Südamerikas 
durch  die  Europäer  scheinen  alle  die  wilden,  barbarischen  oder  halbbarba- 
rischen Völkerschaften,  die  es  bewohnten,  Bogen  und  "Pfeile  gehabt  zu  haben. 
Allein  weder  die  Araucaner  noch  die  Indianer  der  Pampasie  bedienen  sich 
derselben  heutzutage,  so  viel  ich  weiss;  die  Tribü  der  Huilliches  (auszuspr. 
Uilitsche8)  ausgenommen;  wohl  aber  gebrauchen  sie  noch,  wie  in  den  vor- 
geschichtlichen Zeiten,  die  Bolas  oder  Schleudersteine.  Auch  der  Lazo  oder 
die  Schlinge  dient  vielen  als  Waffe.  Durch  die  von  den  Eroberern  bewirkte 
Einführung  und  Acclimatisation  des  Pferdes  in  Reitervölker  umgewandelt, 
mussten  jene  Indianer  ihre  Pfeile  in  Speere  umändern.  Hingegen  im  Süden 
und  im  Norden  der  von  jenen  Nomadenstämmen  durchstreiften  Länder,  d.  h. 
im  Feuerlande  gen  Süden  und  im  Gran  Chaco  (auszuspr.  Tschaco)  und  Bra- 
silien gegen  Norden  begegnen  wir,  vorzüglich  in  bewaldeten,  dem  Schützen 
Verstecke  gewährenden  Gegenden  mehr  oder  minder  wilden  Stämmen,  die 
jetzt  noch  Bogen  und  Pfeile  führen.  Allein  die  Indianer  des  Chaco  verfer- 
tigen sich  nicht,  wie  die  Pampas  und  Patagonier  in  vorhistorischen  Zeiten,  ihre 
Pfeilspitzen  aus  Stein,  sondern  schneiden  sich  Stiel  und  Spitze  ihrer  Pfeile  aus 
demselben  Holzstücke  eines  Baumes,  der  dieser  seiner  Verarbeitung  halber 
palo  de  lanza,  Lanzenholz  genannt  wird.  Anderswo  schon  habe  ich  diese 
Thatsachen  näher  erörtert  und  weitläufiger  auseinander  gesetzt.*)  —  Zu  Ende 
des  vorigen  Jahrhunderts  hatten  die  Patagonier  Yacana-cunis  (auszuspr.  Dscha- 
cana-cunis)  an  der  Magellanstrasse  noch  Bogen  und  Pfeile.**) 

Lazo.  —  Ich  habe  soeben  gesagt,  dass  die  Indianer  Südargentiniens 
auch  von  dem  Lazo  (auszuspr.  Lasso)  Gebrauch  machen.    Allein  er  ist  eigeut- 

*)  Materiali  di  Paletnokigia  comparata  raccolti  in  Südamerika.     S.  10—12. 
♦*)  Falkner,  Tomas.   -   Descripcion   de   Patagonia.    Traduccion  Castellana.     Buenos  Aires 
1835.  —  «.,44. 

Zeitschrift  für  Etliuologie,  Jahrgang  1870.  19 


274 

lieh  mehr  ein  charakteristisches  und  unentbehrliches  Instrument  des  Gaucho 
oder  argentinischen  Hirten,  und  der  Indianer,  der  sich  dessen  bedient,  hat 
ihn  nur  von  jenem  angenommen.  Berühmt  ist  die  Gewandtheit,  womit  der 
Gaucho  ihn  schleudert,  und  in  jedem  Buche,  welches  der  Gebräuche  der  Ar- 
gentiner  erwähnt,  kann  man  die  bezüglichen  Schilderungen  nachlesen.*)  Es 
giebt  aber  auch  Hirten  in  der  alten  Welt,  die  hierin  den  Gauchos  nicht  nach- 
stehen. —  Der  Lazo  ist  aber  nicht  nur  ein  Werkzeug,  sondern  zugleich  auch 
die  fürchterlichste  Waffe  des  argentinischen  Hirten,  mehr  noch  als  sein  lan- 
ges Messer;  und  gegen  dieselbe  hilft  nur  die  Vorsicht,  die  Schärfe  der  Seh- 
kraft,  die  Geistesgegenwart,  die  gute  Schneide  des  Seiteugewehrs  und  die 
Behendigkeit,  mit  der  man  die  Schnur  des  Lazo  durchzuschneiden  trachten 
muss,  widrigenfalls  man  durch  ihn,  am  Halse  oder  anderswo  am  Körper  er- 
iässt,  vom  Feinde  zu  Tode  geschleift  würde,  der  im  strengsten  Galopp  oder 
in  Carriere  davoneilt.  —  Der  Lazo  ist  ein  Strick  aus  geflochtenen  Fellstrei- 
fen, an  dessen  einem  Ende  ein  Eisenring  befestigt  ist,  durch  welchen  das 
andere  gezogen  wird.  Dieses  andere  Fmde  wird  am  Sattel  befestigt,  wenn  der 
Gaucho  zu  Pferde  steigt. 

Bolas.  —  So  nennt  man  in  Argentinien  die  Schleudersteine.  Wenn  sie 
frei  mittelst  der  Honda  oder  Schleuder  geworfen  werden,  heissen  sie  Bolas 
perdidas  oder  verlorene,  d.  h.  verworfene  Schleudersteine.  Auch  zur  Zeit  der 
Eroberung  Argentiniens  wurden  solche  von  den  Indianern  als  Waffen  ge- 
braucht. —  Nach  De  la  Cruz**)  hatten  zu  Anfang  dieses  Jahrhunderts  die 
Peguenches  (auszuspr.  Pegentsches)  den  Quinchunlaque  (auszuspr.  Kintschun- 
lacke),  d.  h.  einen  mit  Fell  überzogenen  Schleuderstein,  der  an  einem  Stricke 
hina  und  mit  diesem  geworfen  wurde.  —  Von  dieser  Waffe  unterscheidet  sich 
der  Laque  (auszuspr.  Lacke),  den  Molina  beschreibt,***)  dadurch,  dass  die- 
ser anstatt  aus  nur  einem,  aus  zweien  an  beiden  Enden  eines  Strickes  be- 
festigten derlei  Schleudersteinen  besteht.  Der  Strick  aus  Lederstreifen  ist 
fünf  bis  sechs  Schuh  lang.  —  Die  Boleadora  endlich,  die  De  la  Cruz  zu  den 
Laqnes  zählt,  hat  drei  Steine  oder  Metallkugeln,  die  in  Fell  gekleidet  und 
mit  einander  verbunden  sind,  und  zwar  entweder  durch  drei  lederne  Streifen 
oder  durch  drei,  von  mehreren  ledernen,  in  einander  verflochtenen  Streifen 
gebildeten  Stricken,  oder  durch  drei  Seile  aus  andern  zähen,  sei  es  auch 
vegetabilischeu  Stoffen.  Diese  Stricke  laufen  an  einer  gemeinschaftlichen 
Stelle  zusammen,  sind  entweder  gleich  lang  oder  einer  davon  ist  länger.  Die 
täustgrossen  Bolas  haben  gewöhnlich  alle  die  Kugelform,  manchmal  aber  ist 
eine    von    ihnen    walzenförmig  oder  länglich;    und  wenn  ein  Strick  länger  ist 

*)  /..  B.  in  Mantegazza  --  Sulla  America  meridionale,  Lettere  mediche.  Milano  1858. 
I.  Band,  S.  42. 

**)  De  la  Cruz,  Luis  —  Descripcioo  de  la  Daturaleza  de  los  terrenos,  y  costumbres  de  los 
Peguenches.    Buenos  Aires  lHiiö.    S.  4t>. 

***;  Molina,  (Jiov.  lgu.  —  Sag^io  Sulla  storia  naturale  del  Chili.  Seconda  edizioue.  Bo- 
logna  1810.     S.  261. 


275 

als  die  andern,  so  wird  an  ihn  eben  jener  ungleiche  Stein  oder  der  kleinere 

davon  befestigt,  so  wie  alsdann  dieser  Stein  beim  Schleudern  angefasst  wird. 
—  Laque  und  Boleadora  werden  auf  dieselbe  Art  geworfen.  Wie  geschickt 
hierin  die  Indianer  zur  Zeit  der  Eroberung  Argentiniens  waren,  erhellt  aus 
den  Erzählungen  und  Beschreibungen  der  alten  Chronisten  und  Schriftsteller, 
wie  eines  Schmidel,  Ramirez*)  u.a.  Von  der  Gewandtheit  derselben  in  spä- 
teren Zeiten  erzählen  Azara,  Molina,  "-j  Falkner  u.  a.  Auch  der  Gaucho,  der 
von  ihnen  die  Boleadora  angenommen  hat,  steht  ihnen  jetzt  hierin  nicht  nach. 
Mau  tödtet  mit  ihr  den  Feind  oder  das  Thier,  oder  man  nimmt  sie  lebendig 
gefangen,  je  nach  V,  misch  und  Geschicklichkeit  desjenigen,  der  sie  schleudert. 
— ■■  Schleudersteine  wurden  auch  in  den  Pfahlbauten  der  Schweiz,  in  den 
Terramaralagern  Oberitaliens,  in  den  Gräbern  von  Hallstatt  und  anderwärts 
unter  den  Ueberresten  aus  vorhistorischen  Zeiten  entdeckt.  Mehrere  darunter 
haben  eine  äquatoriale  Hohlkehle,  während  ich  eine  solche  an  keinem  argen- 
tinischen Schleuderstein  der  Neuzeit  deutlich  ausgeprägt  gesehen  habe.  Von 
den  vorgeschichtlichen  Schleudersteinen  Argentiniens  haben  hingegen  einige 
eine  solche  Rinne,  andere  einen  äquatorialen  Kiel.  Sie  sind  kugelig  oder 
gedrückt  kugelförmig,  einige  haben  eine  glatte,  andere  eine  rauhe  Oberfläche. 
Auch  ganz  kleine  Bolas  für  Knaben,  zu  deren  Einübung  im  Schleudern,  fand 
ch  in  den  Paraderos  Patagoniens,  so  wie  Steine  mit  Aushöhlungen,  in  die 
man  die  Schleudersteine  hineinpasste,  um  sie  bei  ihrer  Bearbeitung  festhalten 
zu  können.  —  Einige  Palethnologen  sind  der  Meiuung,  dass  die  vorgeschicht- 
lichen, ausgekehlten  Steine  mittelst  eines  Strickes  an  einen  Stock  gebunden 
wurden,  um  sich  deren,  nach  mittelalterlichem  Brauche,  als  Waffe  (Casse- 
tete)  zu  bedienen.  Andere  hingegen  glauben,  dass  es  Klopfer  oder  Hämmer 
waren,  die  mit  einem  Holzstiel  oder  mit  einem  aus  Ochsensehnen  versehen 
wurden.***)  WTenn  ihre  Oberfläche  Zeichen  von  Schlägen  oder  Stössen  an 
sich  trägt,  dann  ist  diese  Auslegung  wahrscheinlich  die  richtige.  Im  ent- 
gegengesetzten Falle  aber  halte  ich  dafür,  dass  jene  Steine  die  Bolas  der 
Quinchunlaques,  der  Laques  oder  der  Boleadoras  unserer  vorhistorischen  wil- 
den Ahnen  gewesen  sind;  oder  wohl  auch,  je  nach  der  Form,  Gewichte  von 
Webstühlen,  von  Netzen  oder  dergleichen. 

Chuza  oder  Chuzo.  —  W7ie  Anfangs  angedeutet  wurde,  sind  die  Pam- 
pas und  Patagonier,  d.  h.  die  Indianer  der  Pampasie  oder  Grau  Pampa,  heut 
zu  Tage  mit  Speeren  oder  Chuzos  (auszuspr.  Tschussos)  bewaffnet.  Während 
meines  Aufenthaltes  in  Bahia  blanca  hatte  ich  das  Glück,  einem  Camaricuu, 
einer  Art  von  Triduum,  beizuwohnen,  das  eine  freundliche  Tribü  Pampa, 
welche  in  der  Nähe  jener  Stadt  ihre  Toldos,  d.  h.  Zelthütten,  aufgeschlagen 
hatte,  eben  hielt.     Seit  langem  war  kein  Regen  gefallen,  ihre  Priesteriu,  die 

*)  Siehe  Mantegazza  op.  cit.  I,  S.  44. 

**)  Strobel  —  Viaggi  nell'  Argenthüa  uoeridionale,  I,  1.  Heft,  S.  53  Anui. 
*)  Siehe  hierüber  Strobel  —  Oggetti  dell'  eta   della  pietra   levigata   della  prov.   >ü  Sau 
Luis.     Parma  1867.     S.  G  u.  10,  Anin.  4. 

19* 


***\ 


276 

zugleich  Zauberin  und  Arzt  ist,  beschloss  also,  ihn  von  Gott  zu  erflehen. 
Um  diese  Gnade  zu  erhalten,  tanzten  Männer  und  Weiber,  jung  und  alt,  drei 
Tage  hindurch,  von  Sonnenaufgang  bis  Sonnenuntergang,  ununterbrochen  fort. 
Und  da  man  den  Reihen  um  eine  doppelte  Reihe  von  in  die  Erde  gesteck- 
ten Lanzen  tanzte,  so  hatte  ich  Müsse  genug,  deren  eine  ziemliche  Anzahl 
zu  besichtigen,  denn  es  waren  ihrer  beiläufig  siebenzig.  Der  Lanzenschaft  ist 
ein  Rohr  des  Coligüe  oder  chilesischen  Bambü  (Ghusquea  fauszuspr.  Tschus- 
l< e a |  coleu  Desv.,  Phil.),  gegen  5  Meter  lang.  An  dessen  Spitze  wird  so 
gut  als  möglich  was  immer  für  ein  spitziges  Eisenstück,  als  da  wäre  die 
Klinge  eines  Messers  oder  einer  grossen  Scheere,  ein  langer  starker  Nagel, 
ein  Bajonett  oder  dergleichen  befestigt;  und  das  untere  Ende  dieser  schein- 
bar verächtlichen  Lanzenspitze  wird  mit  einem  Büschel  Federn  des  Avestruz 
oder  amerikanischen  Strausses  (Rhea  americana)  geziert.  Von  seinem 
Bruder  in  Araucanien  bezieht  der  Indianer  der  Pampa  das  Bamburohr  zum 
Schafte  seines  Spiesses,  und  von  ihm  bekommt  er  wohl  auch  oft  die  Eisen- 
stücke zu  dessen  Spitze  in  Tausch  für  das,  in  den  argentinischen  Nachbar- 
provinzen geraubte  Vieh.  Gewöhnlich  aber  verschafft  er  sich  dieselben  durch 
Tausch  oder  durch  Raub   von  den  Argentinern. 

Wirtel.  Sowohl  in  Chili  als  in  der  Provinz  Mendoza  wird,  vorzüglich 
auf  dem  Lande,  mit  Wirtein,  Torteras,  gesponnen.  Ich  habe  mehrere  solcher 
Torteras  von  dorther  mitgebracht,  einige  sind  von  Holz,  andere  von  gebrann- 
tem Thone,  andere  von  Stein.  Sie  sind  mehr  oder  minder  scheibenförmig, 
entweder  flach  oder  rund  erhaben,  manchmal  im  Umkreis  ausgekehlt;  einige 
sind  verschiedenartig  geziert,  andere  einfach.  Ein  Rohrhalm  oder  ein  länge- 
res Stück  leichten  Holzes  wird  durch's  Loch  getrieben,  aber  so,  dass  auf 
einer  Seite  nur  ein  ganz  kurzer  Theil  davon  herausragt,  und  beim  Spinnen 
hängt  dieser  natürlich  nach  unten  herab.  —  In  der  Klemm'schen  Sammlung 
in  Dresden  sah  ich  hölzerne  Wirtel,  wie  sie  noch  jetzt  in  Schlesien  in  Brauch 
sind;  einer,  von  Serpentin  und  mit  geometrischen  Figuren  geziert,  in  dersel- 
ben Sammlung,  war  aus  Sachsen,  und  in  diesem  Lande,  nach  Klemm's  Aus- 
sage, bediente  man  sich  im  vorigen  Jahrhundert  bleierner  Spinnwirtel.  — 
In  der  ethnographischen  Abtheilung  des  königlichen  Museums  in  Berlin  giebt 
es  Steinwirtel  aus  Polinesien  (No.  494),  sowie  einen  hölzernen  Spinnwirtel 
der  Coroados  von  Brasilien,  dessen  hölzerne  Spindel  sehr  dünn  und  bearbei- 
tet ist.  —  Man  findet  Wirtel  aus  alten,  sowohl  historischen  als  vorgeschicht- 
lichen Zeiten,  mehr  wohl  aus  den  vorhistorischen.  In  einer  Privatsammlung 
in  Aquileja  sah  ich  deren  von  gebranntem  Thon,  von  Glas,  von  Bernstein 
und  andern  Steinen,  von  Bein,  alle  aus  der  Römerzeit.  Hölzerne  altägyptische 
Wirtel  sind  in  der  genannten  Berliner  ethnographischen  Sammlung  aufbewahrt; 
und  in  derselben  Sammlung  sieht  man  unter  den  mexikanischen  Alterthümern 
thönerne  Wirtel  von  verschiedener  Grösse  und  Form  und  mit  mannigfaltigen 
Zieirathen.  Klemms  Sammlung  enthält  eine  scheibenförmige  Tortera  von 
Thonschiefer  aus  Neu-Granada.    Im  öffentlichen  Museum  in  Santiago  de  Chile 


277 

werden  mehrere  Spinnwirtel  aus  vorgeschichtlichen  Zeiten  aufbewahrt,  einer, 
aus  Thon,  von  den  alten  Huilliches  der  Pampa,  die  übrigen  von  den  alten 
Indianern  (Araucanern)  Chili's.  Zwei  von  diesen  sind  aus  Schiefer  und  einer 
aus  leichtem  Hol/.e.  Der  thönerne  ist  röthlich  und  mit  eingegrabenen  Punkten 
geziert;  einer  der  steinernen  hat  geometrische,  eingeriffelte  Zierrathen,  der 
andere  ist  roth  angestrichen.  An  diesem  und  am  hölzernen  steckt  noch  die 
hölzerne  Spindel.  —  Ausserdem  enthält  jene  Sammlung  noch  andere  sechs 
VVirtel;  allein  diese  sind  sehr  gross  und  mit  weitem  Loche  versehen;  alle 
sind  von  Stein,  einer  darunter  von  Lava.  Solche  Wirtel  aus  der  alten  India- 
nerzeit habe  ich  auch  anderswo  in  Chili  bei  Landleuten  gesehn,  die  sie  ihren 
Kindern  anstatt  der  Wagenräder  zum  Spielen  gaben.  Aehnliche  grosse  vor- 
historische Wirtel  giebt  es  auch  allenthalben  in  Europa,  aber  sie  sind  fast 
immer  von  gebranntem  Thon  und  konnten  also  nicht  zu  demselben  Zwecke 
verwendet  werden ,  wie  die  erwähnten  grossen  Torteras  in  Chili.  —  Kleine 
Wirtel  der  Menge  und  von  allerhand  Formen,  von  Thon,  von  Stein,  von  Bein 
entdeckt  man  in  unsern  Terramaralagern  und  Pfahlbauten,*)  sowie  unter  den 
Ueberresten  vorgeschichtlicher  Völkerschaften  in  Europa.  —  Aus  dem  Ge- 
sagten erhellt,  dass  die  Wirtel  schon  seit  der  Steinzeit  und  in  beiden  Welt- 
theilen  in  Brauch  waren,  und  wenn  es  erlaubt  ist,  von  der  Gegenwart  auf 
die  Vergangenheit  zurückzuschliessen,  so  müssen  wir  annehmen,  dass  sie  zum 
Spinnen  gebraucht  wurden.  Allein  damit  will  ich  durchaus  nicht  gesagt  haben, 
dass  auch  alle  Wirtel  zu  diesem  Zwecke  oder  zu  diesem  Zwecke  allein  ge- 
dient haben,  sondern  je  nach  der  Form  und  dem  Stoffe  als  Senksteine  für 
Netze,**)  als  Gewichte,  als  Räder  (die  grösseren),  als  Kern  von  Kleiderquasten, 
als  Knöpfe,  zu  Bein-,  Arm-  und  Halsschnüren,  zum  Zählen,  zum  Beten  (wie 
bei  den  Rosenkränzen  der  Katholiken  und  der  Mahometaner),  selbst  als  Arau- 
lete  in  Brauch  waren. 

Nahrungsmittel.  Mazamorra.  —  Dieser  Speise  aus  Mais  habe  ich 
schon  dort  Erwähnung  gethan,  wo  ich  von  den  Mörsern  und  Stösseln  gespro- 
chen habe.  Um  sie  zuzubereiten,  werden  die  Maiskörner  mittelst  hölzerner 
Stössel  in  Holzmörsern  grob  gestossen,  dann  gesichtet  und  in  Wasser  oder 
Milch  gekocht.  Dieses  Gericht  ist  ziemlich  unverdaulich,  aber  demungeachtet 
eine  Lieblingskost  der  Landbevölkerung  Argentiniens,  Chilis  und  Perus.  In 
chilenischer  oder  araukanischer  Sprache  heisst  die  Mazamorra  Copullea  oder 
Muda.  Es  scheint  also,  dass  die  Indianer  Chilis,  von  denen  die  Pampas  ab- 
stammen sollen,  diese  Speise  vor  der  Ankunft  der  Spanier  in  Südamerika 
gekannt  hätten,  und  dass  diese,  nachdem  sie  sich  dort  niedergelassen,  sie  in 
ihre  Küche  eingeführt,  die  Milch,  die  die  Indianer  nicht  hatten,  an  die  Stelle 
des  Wassers  dazu  gethan  und  ihr  den  Namen  Mazamorra  gegeben  hätten,  der 
dem    französischen    Worte    Mächemoure    und    dem    italienischen    Mazzamuro 

*)  Unsere  Bäuerinnen  stecken  solche  uralte  Wirtel,  wenn  sie  gerade  deren  finden,  an  ihre 
Spindeln,  sonst  aber  hat  ihre  dickbäuchige  Spindel  keinen  Wirtel. 

**)  Wie  heut  zu  Tage  noch  in  einigen  Orten  Siciliens  und  am  See  von  Lugano 


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gleichluiitet  und  Biskuitgebröckel  bedeutet.  Die  Mörser  und  Stössel  aus  vor- 
geschichtlichen Zeiten,  die  man  in  Argentinien  entdeckt,  bekräftigen  diese. 
Meinung,  sowie  jene,  dass  der  Mais  schon  seit  uralten  Zeiten  in  Amerika 
angebaut  wurde.  In  Gräbern  aus  Zeiten,  die  in  eine  ältere  Epoche  als  die 
,1er  Incas  zurückreichen,  findet  man  zweierlei  ausgestorbene  und  jetzt  in  Peru 
unbekannte  Sorten  dieses  Korns.  Auch  Darwin  entdeckte  an  der  Küste  des 
Stillen  Ozeans  mit  18  Arten  Meerconchilien  vergrabene  Maiskolben  au  einer 
Stelle,  die  nun  mehr  als  85  Schuh  ober  der  Meeresfläche  sieh  befindet. 
Bei  den  Argentinern  (wie  bei  den  Ungarn)  sind  die  Maiskolben  ein  Gemüse, 
sowohl  zu  ihrer  Sopa,  als  zu  ihren  Pucheros,  Carbonados,  Cazuelas  und  wie 
alle  die  Gerichte  heissen  mögen,  bei  denen  das  gesottene  Rind-,  Kalb- 
oder Hühnerfleisch  der  nicht  eben  vorwiegende  thierische  Bestandteil  ist. 
Auch  Brod  und  Getränke  werden  aus  Mais  bereitet. 

Gofio.  —  Wie  bekannt,  war  der  Golio  eine  Mehlspeise  der  Guanches 
auf  den  Kanarischen  Inseln,  und  er  wird  noch  jetzt  von  ihren  Abkömmlin- 
gen, den  Bewohnern  jeuer  Inseln,  gegessen.  Um  ihn  zu  bereiten,  giesst  man 
zu  dem  im  Ofen  gerösteten  und  dann  gesalzenen  Maismehl,  je  nach  Umstän- 
den und  Geschmack,  Wasser  oder  Milch,  und  richtet  somit  auf  der  Stelle 
einen  Brei  zu.  —  Nach  De  la  Cruz  rösteten  auch  die  Peguenches  zu  Ende 
des  vorigen  Jahrhunderts  ihr  Weizenmehl  und  nannten  es  dann  Mirei,  und 
mit  solchem  Mehle  bereiteten  sie  zwei  verschiedene  Breie,  den  einen  mit 
kaltem  und  den  andern  mit  heissem  Wasser,  und  gaben  dem  ersteren  den 
Namen  Ulpo  und  Checan  dem  letzteren.*)  —  Auch  die  argentinischen  und 
chilesischen  Landbewohner,  die  Gauchos  und  Huasos,  essen  etwas  ähnliches, 
wenn  es  ihnen  an  Brennstoff  oder  an  Feuer  oder  an  Zeit  fehlt,  sich  eine 
warme  Speise  zuzurichten.  Sie  begnügen  sich  dann  mit  einer  Faust  voll  ge- 
röstetem Weizenmehl,  das  sie  in  ihren  Chifle  (auszuspr.  Tschifle)  oder  Kuh- 
horn,  das  des  Bechers  Stelle  vertritt,  hineinwerfen,  mit  zugegossenem  Wasser 
zu  einem  Brei  einrühren  und  mit  dem  Löffel  herausessen.  Wenn  es  ihnen 
aber  weder  an  Feuer,  noch  an  Zeit  gebricht,  sondern  an  andern  Speisen, 
dann  ziehen  sie  es  vor,  jenen  Brei  warm  einzunehmen.  Um  sich  ihn,  wenn 
es  Noth  thut,  bereiten  zu  können,  führen  sie  stets  auf  Reisen  das  Mehl  dazu 
in  ledernen  Säcken  mit.**) 

Brod.  —  Die  Gauchos  essen  jetzt  gern  auch  Brod  und  backen  sich  es 
auch.  Bei  Rio  Quinto  (auszuspr.  Kinto)  in  der  Pampa,  wo  wir  einen  ganzen 
Tag  lang  auf  Postpferde  warten  mussten,  sah  ich  zwei  Backöfen  neben  ein- 
ander. Die  Backöfen  unserer  vorhistorischen  Ahnen  werden  sicherlich  nicht 
einfacher  gebaut  gewesen  sein,  als  jene  in  der  Pampa.  Der  eine  davon  hatte 
die  Basis  von  Steinen,  der  andere  von  Adobones,***)  und  der  Ofen  selbst 
war  ein  hohler,  getrockneter  Lehmkegel  mit  einer  pentagonalen  Oeffnung.  Die 

*)  De  la  Cruz,  op.  cit.  S.  04. 

•*)  Man  vergleiche  das  Gesagte  über  die  Werkzeuge  aus  Fell. 
***)  Siehe  die  Erklärung  dieses  Wortes  im  Paragraphen  von  den  Wohnungen. 


279 

Ofenschaufel    glich  ganz  einem  jener  hölzernen  Instrumente,    die    ich   in   der 
Pfahlbaute  von  Castione,    in  der  Provinz  Parma,    entdeckte    und    für  Flachs- 
brecher  hielt.*)     Es    könnte    also  wohl  auch  eine  Ofenschaufel  gewesen  sein 
da  die  Bewohner  jener  Pfahlbauten,  aus  der  ersten   Bronzeperiode,  sicherlich 
eine  Art  Brod    sich   gebacken  haben  werden,    ähnlich   jenem    aus   den  Pfahl 
bauten  der  Steinperiode  der  Schweiz. 

Fleisch.  Her  Gaucho  isst  rohes  Fleisch,  wenn  er  sehr  hungrig  isl 
und  nicht  abwarten  kann,  bis  es  gekocht  sein  wird.  Um  so  anstandloser  issl 
er  es  roh,  wenn  ihm  das  Feuer  oder  die  Zeit  zum  Kochen  fehlt;  —  und  na- 
türlich, minder  noch  haben  die  Indianer  Abscheu  vor  rohem  Fleische.  —  Ge- 
wöhnlich aber  essen  es  die  einen  wie  die  andern  gebraten,  Asado  (auszuspr. 
Assado).  Zu  dem  Ende  spiesst  man  das  Fleisch  auf  den  Asador  oder  eiser- 
nen Bratspiess,  und  diesen  steckt  man  in  den  Boden  hinein,  mehr  oder  min- 
der senkrecht  und  in  der  Mitte  des  Feuers.  Das  Fleisch  wird  entweder  zu- 
vor gesalzen  oder  wahrend  des  Bratens  mit  salzigem  Wasser  begossen.  Auf 
Reisen,  wenn  man,  wie  gewöhnlich,  keinen  Bratspiess  bei  sich  führt,  spitzt 
man  einen  Stecken  zu  und  dieser  vertritt  dessen  Stelle.  Natürlich  darf  dann 
nicht  in  der  Flamme,  sondern  nur  im  Kohlenfeuer  gebraten  werden.  Das  fette 
Fleisch  wird  vorgezogen,  sowohl  weil  das  Fett  anstatt  der  Butter  zum  Bra- 
ten dient,  als  weil  es  anstatt  der  seltenen  oder  fehlenden  stickstofflosen  Nah- 
rungsmittel aus  dem  Pflanzenreiche  zur  Wärmeerzeugung  nothwendig  ist.*  i 
—  Der  Gaucho  zieht  den  Rindbraten  allen  andern  vor,-  der  Indier  hingegen 
isst  den  Pferdebraten  lieber,  jener  einer  jungen  Stute  ist  ihm  ein  Leckerbissen. 
Für  die  Psychologie  der  Racen  ist  diese  Thatsache  nicht  ohne  Interesse,  denn 
es  ist  sonderbar,  wie  das  Fleisch  eines  eingeführten  Thieres  gerade  die  Lieb- 
lingsspeise des  Indianers  seit  langer  Zeit  schon***)  geworden  ist.  —  AVenn 
das  Fleisch  eines  geschlachteten  Thieres  nicht  bald  aufgezehrt  werden  kann, 
und  es  an  Vieh  keinen  solchen  Ueberfluss  giebt,  dass  es  erlaubt  wäre,  das 
Fleisch  zu  verwerfen,  so  wird  es  gesalzen,  nicht  aber  geräuchert,  sondern  an 
einem  Baume  oder  sonst  wo  starke  Zugluft  weht,  aufgehängt  und  sehr  bald 
getrocknet.  Alsdann  heisst  es  Charque  (auszuspi*.  Tscharke),  vom  Quichua- 
nischen  Worte  Chharqui,  das  gedörrtes  Fleisch,  magerer  Mensch  bedeutet.-]-) 
Die  Indianer  Südamerikas  assen  also  vor  der  Entdeckung  dieses  Landes  der- 


*)  Mittheilungen  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Zürich.  Pfahlbauten,  b.  Bericht.  Zü- 
rich 1863.    Taf.  III,  Fig.  5. 

**)  Der  Asado  con  cuero  oder  ein  Stück  Fleisch,  das  noch  mit  dem  behaarten  Felle  be- 
deckt gebraten  wird,  soll  ein  Leckerbissen  sein. 

♦♦♦)  Falkner,   op.  i it.  S.  43   und  De  la  Cruz,   op.  cit.  S.  63.  Sonderbarer  Weise  kann 

dieses  Factum  ein  Analogon  in  der  Thierwelt  aufweisen.  Die  einheimischen,  argentini-chen,  phy- 
tophagen  Insekten  sind  über  die  in  Argentinien  akklimatisirten  Pflanzen  hergefallen  und  zeigen 
eine  besoadere  Vorliebe  für  dieselben. 

t)  Charquican  heisst  ein  Gericht,  das  eben  aus  gebratenem,  klein  gehacktem  Charque  he- 
steht,  dem  Erdäpfel,  Kürbisschnitze  und  anderes  Gemüse  beigemengt  und  das  mit  Pfeffer  und 
Goldäpfelbrühe  gewürzt  wird. 


280 

art   zubereitetes  Fleisch    —    und    rohes  Fleisch,    Asado   und  Charque   waren 
sicherlich  auch  die  allerersten  Speisen  unserer  Ureltern  in  der  Steinzeit. 

Gebräuche.  Als  Brennmaterial  zum  Braten  des  Fleisches  werden 
nicht  nur  Holz,  Reisig,  dürre  Kuhfladen  und  Pferdemist,  sondern  selbst  Kno- 
chen verwendet,  und  manche  augebrannte  Knochen  der  Pfahlbauten  und 
Terramaralager  werden  wohl  auch  die  Ueberbleibsel  eines  Bratenfeuers  sein. 
-  Viele,  wenn  nicht  alle  Gauchos  schneiden  nicht  das  Stück  Fleisch, 
welches  sie  in  den  Mund  nehmen  wollen,  ab,  bevor  sie  es  in  denselben 
stecken,  sondern  nehmen  ein  grösseres  Stück,  schieben  davon  in  den  Mund, 
was  er  zu  fassen  im  Stande  ist,  und  schneiden  das  übrige,  den  Lippen  und 
Zähnen  entlang,  mit  ihrem  scharfgeschliffenen  Messer  ab.  Es  giebt  wilde 
Völker,  die  denselben  Brauch  haben. 

Von  den  Steigbügeln  des  Gaucho  haben  wir  schon  gesprochen.  Er  hat 
und  braucht  oft  gar  keine,  wie  der  Indianer.  Manchesmal  hat  er  deren  nur 
einen,  um  sich  in  den  Sattel  zu  schwingen.  Die  Knaben  können  natürlich, 
wenn  sie  einmal  aufs  Pferd  gestiegen  sind,  ihre  Fussspitzen  nicht  mehr  in 
den  Bügel  schieben.  Sie  nehmen  alsdann  die  Schnur  desselben  zwischen  die 
grosse  und  die  zweite  Zehe,  und  stützen  so  den  Fuss  auf  den  Bügelbogen. 
Viele  Gauchos  behalten  diese  Jugendgewohnheit,  auch  wenn  sie  gross  ge- 
worden sind,  bei,  so  wie,  nach  Gratiolet,  es  auch  die  abyssinischen  Reiter 
thun,  und  dem  Gaucho  ist  das  auch  dann  möglich,  wenn  er  Stiefel  an  hat, 
da  seine  Botas  de  potro,  wie  wir  bereits  wissen,  mindestens  die  ersten  Zehen 
unbedeckt  und  frei  lassen.  —  Ueberdies  bedient  er  sich  der  Zehen  auch,  um 
Gegenstände  von  der  Erde  aufzuheben,  ohne  sich  eben  die  Mühe  zu  nehmen, 
sich  hinabzubücken,  d.  h.  er  bedient  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  des 
Fusses  statt  der  Hand,  wie  mehrere  barbarische  und  wilde  Völker  anderer 
Gegenden  und  Welttheile.  Derlei  Thatsachen  wären  Belege  für  die  Hypo- 
these,  dass  der  zweihändige  Mensch  von  dem  vierhändigen  Affen  abstamme. 

Vieh.  Fast  alle  zahmen  Thiere  Europas  findet  man  in  Argentinien,  wie 
Katze,  Hund,  Schwein,  Esel,  Pferd,  Kaninchen,  Schaf,  Ziege,  Ochs  unter  den 
Säugethieren,  Taube,  Huhn,  Pfau,  Perlhuhn,  Ente,  Gans,  Schwan  unter  den 
Vögeln.  Hier  will  ich  nur  von  zweien  zahmen  Säugethi  er  arten  sprechen, 
nehmlich  vom  Schweine  und  vom  Ochsen. 

Schwein.  —  In  den  südlichen  Theilen  der  Provinz  Mendoza  habe  ich 
fast  keine  Schweine,  Chanchos  (auszuspr.  Tschantschos),  gesehen.  Demunge- 
achtet  giebt  es  deren,  wie  z.  B.  in  San  Carlos,  zwei  Racen,  eine  grössere 
mit  kleinen  aufrecht  stehenden  Ohren,  die  viel  Fleisch  und  wenig  Speck  lie- 
fert, und  eine  kleinere  mit  herabhängenden  Ohren,  die  umgekehrt  fetter  wird 
als  jene.  In  Graubünden  habe  ich  auch  zwei  ähnliche  Schweineracen  ge- 
sehen, mit  dem  Unterschiede  aber,  dass  die  mit  herabhängenden  Ohren  die 
grössere  und  die  andere  die  kleinere  ist.  Diese,  wie  bekannt  ist,  stammt  ver- 
muthlich  vom  kleinen  Torfschweine,  Sm  palustris  RüL,  und  jene  vom  grosse- 


281 

ren  Wildschwein,  Svs  scrofa  /.in  ,  ab.  --  Nach  Molina*)  wären  die  Schweine 
gewöhnlich  weiss  in  Chili  und  schwarz  in  Peru.  Derselbe  Schriftsteller  ist 
der  Meinung,  dass  jene  Schweine  rrichl  von  Europa  eingeführt,  sondern  in- 
ländisch seien,  da  das  Schwein  im  spanischen  Südamerika  den  oben  ange- 
führten indianischen  Namen   führt. 

Ochs.  —  Da  auf  dem  Lande  die  Ochsen  im  Freien  geschlachtet  und 
nach  Abnahme  von  Fell  und  Fleisch  liegen  gelassen  werden,  hat  es  mir 
nicht  an  Gelegenheit  gefehlt,  Ochsenschädel  untersuchen  zu  können,  und  ich 
habe  es  zu  thun  auch  nicht  unterlassen.  Bei  einigen  Schädeln  läuft  die  Hin- 
terhauptskante in  fast  gerader  Linie  von  dem  einen  zu  dem  andern  Horn- 
zapfen,  wie  bei  Bos  primigenius  Boj.,  bei  anderen  hingegen  erhebt  sich  in  der 
Mitte  der  Occipitalwulst  ziemlich  nach  oben,  so  dass  er  rasch  nach  den  Horn- 
ansätzen  abfällt,  fast  so  wie  man  es  bei  der  Torfkuh,  Bos  brachyceros  Rüt, 
beobachtet.  Die  erstere  Schädelbildung  habe  ich  an  grösseren,  vermuthlich 
Ochsenschädeln,  die  andern  bei  kleineren,  vermuthlich  Kuhschädeln  beobach- 
tet. Jene  hatten  auch  grössere,  längere  Hornzapfen,  die  wie  bei  Bon  taurm  L. 
entschieden  nach  aussen,  vorn,  oben  und  rückwärts  gelichtet  waren,  bei  den 
kleineren  Schädeln  waren  sie  fast  nur  nach  aussen  und  vom  gerichtet.  — 
Von  den  Vacas  natas  (nicht  niatas  oder  natas)  oder  stumpfnasigen  Kühen 
der  Pampa  spricht  Darwin  in  seinen  klassischen  Werken.  —  Lichthäutige 
Ochsen  mit  dunklen  Querstreifen,  wie  Zebras,  oder  getigerte  Ochsen  sind  in 
Argentinien  nicht  selten. 

Einwohner.  Indianer.  -  Martin  de  Moussy  vereint  alle  Indianer- 
stämme Argentiniens,  vom  34.  Grad  südl.  Br.  bis  zur  Magellansstrasse ,  in 
zwei  grosse  Gruppen,  die  Patagones  und  die  Pampas,  jene  südlich  und  diese 
nördlich  vom  Rio  Negro.  Und  ich  folge  dieser  Eintheilung,  da  auch  die  Ar- 
gentiner  keine  andere  kennen.  Einige  Schriftsteller,  dem  Laute  des  indiani- 
schen Wortes  Pampa,  das  Ebene  bedeutet,  folgend,  geben  den  Namen  Pam- 
pas-Indianer oder  Pampeaner  allen  jenen,  welche  die  eben  zwischen  dem  an- 
gegebenen Breitengrade  und  der  Magellanstrasse  sich  ausdehnende  Pampasie 
oder  Gran  Pampa  durchwandern,  und  vereinen  mit  den  eigentlichen  Pampas 
auch  die  Patagonier.  Andere  zählen  die  Pampas  zu  den  Indianern  Paraguays, 
obwohl  sie  von  diesem  Lande  durch  einen  von  einer  civilisirten  Bevölkerung 
bewohnten  Raum  von  vier  Breitengraden  getrennt  sind.  Diese  Schriftsteller 
haben  sie  vielleicht  verwechselt  mit  den  Eingebornen  des  Gran  Chaco  (aus- 
zuspr.  Tschako),  einer  ausgedehnten  Ebene  im  Westen  von  Paraguay,  die 
man  also  auch  eine  Pampa  nennen  könnte.**)  —  Auf  der  Reise  vom  Planchon 
nach  Mendoza  habe  ich  keine  unabhängigen  Indianer  gesehen,  obwohl  ich 
über  zwei  Tage  lang,  von  Los  Animas  bis  Agua  de  los  Castanos,  längs  der 
Grenze   des   Gebiets   der  freien,   wilden   Pampas  reiste.     Bei  Agua   caliente 


*)  Molina,  op.  cit   S    22G. 
'*)  Näheres  in  den  schon  angeführten  Material]  di  paletnologia,  S.   11  u.  \'2. 


282 

fürchtete  ich  wohl,  dass  unser  Lagerfeuer  während  der  Nacht  das  Augenmerk 
irgend  einer  Indiada  oder  Indianertruppe  auf  uns  ziehen  könnte,  und  meine 
Furcht  war  eben  nicht  ungegründet,  denn  kurze  Zeit  nach  meiner  Durchreise 
kamen  jene  Wilden  in  einer  Streiferei  bis  zur  nahen  Laguna  blanca,  die  ent- 
fernter und  westlicher  von  ihrer  Grenze  gelegen  ist  als  Agua  caliente,  zer- 
störten eine  seit  kurzem  dort  angelegte  Estancia  oder  Meierei  und  raubten 
deren  Vieh.  Und  hätten  sie  uns  erspäht,  so  würden  sie  uns  überfallen  haben 
und  ich  würde  wohl  schwerlich  jetzt  diesen  Aufsatz  schreiben,  da  sie,  nach 
dem  Rechte  der  Gegenseitigkeit,  alle  weissen  Männer  tödten  und  nur  deren 
Frauen  und  Kinder  gefangen  mit  sich  führen;  und  weil  unser  drei,  zusammen 
mit  nur  drei  Messern,  zwei  Pistolen  und  einem  Revolver  bewaffnet,  unmög- 
lich uns  gegen  dreissig  oder  mehr  solcher  Mordskerle  hätten  wehren  .können, 
schwerlicher  noch  ihnen  entfliehen.  Sonst  hätte  ich  nicht  ungern,  selbst  als 
Gefangener,  ihre  persönliche  Bekanntschaft  gemacht,  um  ihre  Sitten  und  Ge- 
bräuche studiren  zu  können.  Bei  solchen  Umständen  aber  zog  ich  es  vor, 
mich  mit  dem  Besitze  zweier  ihrer  Schädel  zu  begnügen.*)  Beide  Schädel 
gleichen  sich ,  selbst  in  der  grösseren  Entwicklung  des  linken  Scheitelbeins 
im  Vergleich  zum  rechten,  was  den  Schädel,  von  oben  gesehen,  asymmetrisch 
erscheinen  lässt;  in  der  Grösse  sind  sie  etwas  weniges  verschiedeu.  Sie  ge- 
hören dem  brachykephalen  Typus  an,  und  ihr  Gesichtswinkel  misst  72  Grad. 
In  der  Form  der  Hirnschale  und  vorzüglich  des  Hinterhauptbeins  nähern  sie 
sich  dem  Typus  von  Disentis  (Germaneukopf),  aber  in  der  Enge  des  Kopfs, 
in  der  Entwicklung  der  Augenbrauenbögen  und  in  der  Vertiefung  der  Nasen- 
wurzel gleichen  sie  mehr  dem  Typus  von  Sion  (althelvetische  Form).  Von 
ihnen  unterscheiden  sich  die  von  mir  gesammelten  Patagonierschädel  vorzüg- 
lich durch  die  Hypsokephalie;  ihr  Gesichtswinkel  misst  78  Grad.**)  —  Die 
Farbe  der  Pampas  ist  grau-grün-gelb-bräunlich;  Mantegazza***)  vergleicht 
sie  mit  der  Farbe  des  thonigen  Schlammes  oder  des  lohgaren  Leders.  Mit 
dieser  Färbung  vergleicht  Henself)  auch  die  Farbe  der  Coroados  Brasiliens. 

*)  Diese  hatten  zweien  Individuen  angehört,  welche  in  einem  Scharmützel  gefallen  waren, 
das  sie  vier  Monate  früher  mit  den  argentinischen  Trnppen  bei  einem  ihrer  Einfälle  in  die  nörd- 
licher gelegene  Provinz  San  Luis  gehabt  hatten.  Ich  verdanke  sie  der  Güte  des  Statthalters 
jener  Provinz ,  Don  Justo  Darak.  Als  ich  ihm  meinen  Wunsch  ausgesprochen  hatte,  einige  In- 
diarierschädel  mir  zu  verschaffen,  so  schickte  er  einen  jener  Soldaten,  die  gegen  jene  Pampas 
gekämpft  hatten,  auf  das  Schlachtfeld,  und  dieser  hieb  zweien  der  dort  unbeerdigt  liegen  geblie- 
benen und  grösstentheils  schon  verwesten  Indianerleichen  die  Köpfe  ab  und  brachte  sie  mir 
noch  theilweise  mit  der  eingeschrumpften,  dürren  Haut  und  mit  Haaren  bedeckt.  Ich  habe  diese 
Schädel  in  den  schon  angeführten  Viaggi  nell'  Argentinia,  I.  Bd.,  1.  Heft,  nach  Tatti's  Photo- 
graphien abbilden  lassen,  und  sie  sind  nun  mit  andern  von  mir  gesammelten  südamerikanischen 
Schädeln  im  Museo  craniologico  nazionale  in  Turin  aufgestellt. 

•)  Sie  sind  in  den  Atti  della  Societä  Italiana  di  Scienze  Naturali  in  Milano,  Vol.  X,  1867, 
Taf.  I,  nach  Photographien  abgebildet  worden  und  ebenfalls  im  Museo  craniologico  in  Turin 
aufbewahrt. 

**♦)  Mantegazza,  op.  cit.  II.  Bd.,  p.  297. 
t)  Uensel  —  Die  Coroados  der  brasilianischen  Provinz  Rio  Grande  do  Sul.     In  der  Zeit- 
schrift für  Ethnologie,  I,  S.  128.  —  Berlin  18G9. 


283 

Mit  Ausnahme  einiger  Indianerstämme  Nordamerikas  scheinen  alle  anderen 
Indios  keine  Rothliäute  zu  sein.  Ihr  Kopf  ist  verhältnissmässig  nicht  klein. 
Das  Haar  ist  schwarz,  nicht  foin ,  straff,  von  mittlerer  Länge  und  fällt  fast 
dachförmig  vom  Scheitel  herunter.  Die  Stirn  ist  nicht  hoch,  die.  Nase  breit. 
Das  Gesicht  ist  etwas  breit  und  die  Backenknochen  sind  mehr  oder  weniger 
vorstehend,  so  dass  das  ganze  Gesicht  an  den  mongolischen  Typus  erinnert,*) 
obwohl  eine  schiefe  Stellung  der  wenig  offenen  Augen  sich  kaum  bemerken 
lässt.  Nur  wenige  Barthaare  wachsen  um  die  Lippen  und  ums  Kinn  des 
Pampa,  allein  aus  Schönheitssinn  rupft  er  sich  dieselben  mit  einer  Kneipzange 
aus.  Nach  Mantegazza**)  lassen  sich  einige  Pampas  eine  sehr  schmale  Linie 
davon  oberhalb  der  Oberlippen  wachsen.  Ihre  Zähne  sind  kaum  schärfer  ge- 
stellt als  bei  Weissen.  Von  Gestalt  sind  sie  kräftig,  eher  klein,  manches 
Mal  stämmig  und  fett,  andere  Male  dünn  und  hager.  Die  Weiber  sind  stets 
klein  und  nicht  unschön.  Beide  Geschlechter  zeichnen  sich,  wie  alle  India- 
ner, durch  kleine  Hände  und  Füsse  aus.  —  Das  Gesicht  der  Weiber  hat  ge- 
wöhnlich einen  sanften  Ausdruck,  das  der  Männer  ist  apathisch  und  drückt 
manchmal  Gemeinheit,  andere  Male  selbst  Grausamkeit  aus.  —  Von  der  In- 
telligenz, vom  Charakter  und  Temperamente,  von  den  Sitten  und  Gebräuchen, 
von  der  Religion,  von  der  Industrie,  sowie  von  der  eben  nicht  anziehenden 
Art,  wie  die  sogenannte  Civilisation  an  die  Indianer  herangetreten  ist  und 
die  civilisirten  Menschen  sie  behandeln,  werde  ich  in  einem  andern  Auf- 
sätze sprechen.  Hier  will  ich  nur  bemerken,  dass  man  die  verehelichte  India- 
nerfrau von  der  ledigen  an  der  Stecknadel,  womit  sie  ihr  Ueberwurftuch  auf 
der  Brust  befestigt,  unterscheidet;  denn  bei  ihr  vertritt  eine  grosse  Metall- 
scheibe die  Stelle  des  Nadelkopfes.  Von  dieser  Stecknadel  hängen  metallene 
oder  Glasperlen-Schnure  herab,  an  deren  Ende  allerlei  Münzen  und  Medail- 
len angebracht  sind.***).  So  geziert,  sagt  De  Mortillet,f)  haben  diese  Brust- 
nadeln grosse  Aehnlichkeit  mit  gewissen  alten  Fibeln  von  Hallstatt. 

*)  Und  weil  an  den  Mischlingen  zwischen  Ein^ebornen  und  Weissen  noch  die  Spuren 
jenes  Typus  erkenntlich  sind,  nennt  man  sie  in  den  südlichen  Provinzen  Argentiniens  Chinos 
(auszuspr.  Tsehinos),  d.  h.  Chinesen,  in  den  nördlichen  Provinzen  heisst  man  sie  Cholos  (aus- 
zuspr.  Tscholos). 

**)  Mantegazza,  <>p.  cit.  II,  p.  30t). 

***)  Siehe  Yiaggi  nelT  Argentinia  u.  s.  w.,  I    Bd  ,  -2.  Heft,  Tat'.  1. 
t)  De  Mortillet,   Materiaux   pour   l'histoire   primitive  et  philosophique  de  l'homme.     Pari> 
1868,  IV,  p.  242. 


284 


Die  Indier  des  südlichen  Chile  von  sonst  und  jetzt. 

Vortrag  gehalten  in  der  anthropologischen  Gesellschaft  am  2.  April  d.  J. 

von  Dr.  Fonck. 

Das  Gebiet,  auf  welches  sich  meine  direkten  Beobachtungen  und  Erfah- 
rungen beziehen,  umfasst  die  Provinzen  Chiloe,  Llanquihue  und  Valdivia. 
Dieselben  erstrecken  sich  vom  38.  Grad  bis  zum  43.  Grad  südl.  Br.  an  der 
Westküste  des  Grossen  Oceans  entlang;  nördlich  schliesst  sich  an  sie  das 
Gebiet  der  unabhängigen  Araukaner.  Innerhalb  dieses  Theiles  von  Chile  fin- 
det der  für  die  Configuration  des  Landes  so  bedeutungsvolle  Uebergang  vom 
Festlande  zu  den  Inseln  statt,  indem  nämlich  das  grosse  Längsthal  unter  das 
Niveau  des  Meeres  herabsinkt,  während  die  Küsten-Cordillere  als  Inselkette 
aus  demselben  hervorragt  und  der  Fuss  des  Andes-Gebirges  von  da  ab  bis 
zum  Cap  Hörn  von  ihm  bespült  wird.  Das  Klima  ist  milde;  in  Folge  der 
kalten  Meeresströmung,  welche  die  Küste  trifft,  sogar  verhältnissmässig  kühl; 
die  Regenmenge  ist  sehr  bedeutend,  in  Valdivia  und  Chiloe  wahrhaft  exces- 
siv.  Einige  grössere  Flächen  im  Araukaner  Gebiete  und  einzelne  durch  Cul- 
tur  gewonnene  Strecken  abgerechnet,  ist  das  ganze  Land  mit  einem  undurch- 
dringlichen, immergrünen  Urwalde  bedeckt.  Ferner  erinnere  an  mehrere  grös- 
sere Seen,  welche  diese  Provinzen  schmücken  und  das  celossale  Anden-Ge- 
birge mit  seinen  Vulkanen  und  Schneebergen,  welches  sie  überragt.  Endlich 
erwähne  in  Betreff  der  Geologie,  dass,  abgesehen  vom  vulkanischen,  pluto- 
nischen  und  metarnorphischen  Gestein  der  Anden  und  Küsten-Cordillere,  alles 
Uebrige  der  Tertiär-Formation  angehört.  Der  Theil  davon,  den  ich  in  der 
Umgebung  von  Puerto  Montt  beobachtet  habe,  scheint  zur  sogenannten  Drift- 
Periode,  d.  h.  zur  jüngsten   Abtheilung  der  Pliocene-Formation  zu  gehören. 

Es  scheint,  dass  die  einheimische  Bevölkerung  von  ganz  Chile  ein 
und  demselben  Stamme  angehörte:  sie  waren  wenig  zahlreich,  setzten  der 
Eroberung  geringen  Widerstand  entgegen  und  haben  sich  mit  den  Abkömm- 
lingen der  spanischen  Eroberer  und  Kolonisten  derart  vermischt,  dass  sie 
nicht  mehr  kenntlich  sind.  Die  durch  Volksmenge  und  Tapferkeit  ausgezeich- 
neten Stämme  südlich  vom  Maula  haben  bis  zum  Archipel  von  Chiloe  und 
wahrscheinlich  noch  weiter  nach  Süden  dieselbe  Sprache.  Wir  finden  hier 
zunächst  am  Ufer  des  Maule  die  längst  verschwundenen  Promaucans,  von 
denen  nur  so  viel  bekannt  ist,  dass  sie  den  Peruanern  und  Spaniern  tapferen 
\\  Hierstand  leisteten.  Südlich  von  ihrem  ehemaligen  Gebiete  wohnen  die  be- 
rühmten Araukaner;  östlich  von  letzteren  die  Pehuenchen,  welche  ur- 
sprünglich die  Cordillere  bewohnten  und  von  den  Früchten  der  Araukaria- 
Fichte  („Pehuen'1)   lebten    -     daher   ihr  Name   —  jetzt  aber  mit  den  Pual- 


285 

ches,  einem  Stumme  derselben  Familie,  vereinigt,  die  Pampas  bis  zum  Rio 
Negro  im  Süden  bewohnen.  An  die  Araukaner  sehliessen  sich  die  Cuncos 
in  den  Provinzen  Valdivia  und  Llanquihue  und  an  diese  die  Chiloten.  Die 
Araukaner  und  die  Pehuenchen  fasst  man  wohl  unter  dem  Namen  der  Mo- 
luches,  die  Cuncos  und  Chiloten  unter  dem  der  Huiliches  zusammen, 
während  die  Araukaner  selbst  Epicuntus  oder  Picunchcs,  die  Cuncos 
auch  Mapunches  genannt  werden.  Auf  die  Deutung  dieser  verschiedenen 
Namen  hier  einzugehen,  würde  zu  weit  führen  Nur  sei  bemerkt,  dass  der 
Name  Araukaner,  welcher  von  den  Spaniern  den  Picunches  beigelegt  wor- 
den, kein  Volksname  ist,  sondern  sich  nur  auf  die  Bewohner  der  Landschaft 
oder  des  Gaues  Arauco  bezieht,  welcher  der  Grenzhauptstadt  Concepcion  zu- 
nächst lag. 

Die  Araukaner  kenne  nicht  aus  eigner  Anschauung:  ihre  Geschichte, 
Sitten  und  Eigentümlichkeiten  zu  schildern,  würde  eine  besondere  Aufgabe 
sein,  die  mir  hier  fern  liegt.  Ich  beschränke  mich  darauf,  flüchtig  auf  einige 
Gebräuche  aufmerksam  zu  machen,  die  bei  einem  Vergleiche  mit  denen  des 
Urzustandes  anderer  Völker  vielleicht  von  besonderem  Interesse  sein  könnten. 

Ihre  Waffen  bestanden  ursprünglich  in  Pfeilen  und  Bogen,  welche  man 
bei  allen  Stämmen  bis  zum  Feuerlande  herab  findet,  ferner  in  sogenannten 
„Macanas"  (eine  Art  Streitkolben  oder  Keulen),  in  Piken  und  „Lazos" 
(Wurfschlingen)  aus  Schlingpflanzen  gemacht.  Jetzt  ist  das  ganz  anders;  viel- 
leicht schon  seit  150  bis  200  Jahren  ist  die  Lanze  ihre  vorzüglichste,  wenn 
nicht  einzige  Waffe.  Diese  vollständige  Umgestaltung  in  der  Art  ihrer  Krieg- 
führung, ja  ihrer  ganzen  Lebensweise  wurde  veranlasst  durch  die  Einführung 
des  Pferdes.  Waren  sie  anfangs  dem  Häuflein  der  Eroberer  durch  ihre  grosse 
Zahl  furchtbar  gewesen,  so  wurden  sie  es  später  durch  ihre  Schnelligkeit  und 
Flüchtigkeit.  Im  Jahre  1685  —  44  Jahre  nachdem  die  Spanier  zuerst  festen 
Fuss  in  Chile  gefasst  hatten  —  führte  der  junge  Toqui  Noncunahuel  die 
erste  150  Mann  starke  Reiterschaar  ins  Feld.  Ich  kann  nicht  umhin,  bei  die- 
ser Gelegenheit  auf  den  merkwürdigen  und  von  Grund  aus  umwälzenden  Ein- 
fluss  aufmerksam  zu  machen,  den  das  Pferd  auf  die  indischen  Volksstämme 
Nord-  und  Süd-Amerikas  überall  da  gehabt  hat,  wo  die  Bedingungen  zu  sei- 
nem Gedeihen  vorhanden  waren,  also  in  den  Länder-Gebieten  mit  waldlosen 
und  nicht  allzu  hoch  gelegenen  Ebenen.  Es  ist  höchst  interessant,  dass  der- 
selbe in  vollständig  getrennten  Ländern  der  gleiche  gewesen  ist.  So  finden 
wir  in  der  südlichen  Hälfte  Süd-Amerikas  die  Araukaner,  Pehuenchen,  Paui- 
pas-Indier,  Patagonier  u.  s.  w.,  welche  eine  den  Beduinen,  Kirgisen  und  an- 
dern zu  Pferde  nomadisirenden  Völkern  der  alten  Welt  ähnliche  Lebensweise 
angenommen  haben,  und  ganz  ebenso  in  Nord-Amerika  die  Apaches,  Coman- 
ches,  Sioux  und  andere.  Ohne  das  Pferd  würden  diese  Völker  längst  dem 
Einflüsse  der  Civilisation  unterlegen  sein,  so  aber  ist  es  ihnen  gelungen,  sich 
zu  erhalten,  sich  den  Weissen  durch  ihre  Raubzüge  noch  bis  heute  furchtbar 


286 

zu  machen  und  dabei  in  grösserer  Zahl  ihre  Wohnsitze  auf  Gegenden  auszu- 
dehnen, die  ohne  das  Pferd  unbewohnbar  sind. 

Die  oben  erwähnten  Waffen  (Keulen  und  Piken)  waren  vermuthlich  von 
Holz.  Der  Dichter  Ereil la  erwähnt  auch  Aexte,  doch  waren  diese  jedenfalls 
wenig  gebräuchlich  uud  wissen  wir  nicht,  von  welchem  Material  sie  gewesen 
sind.  Dagegen  führten  die  Toquis  oder  obersten  Heerführer  im  Kriege,  eine 
Art  Diktatoren,  welche  aus  den  Tüchtigsten  des  ganzen  Volkes  gewählt  wur- 
den, als  Zeichen  ihrer  Würde  eine  schwarze  marmorne  Axt.*)  Was  den  Mar- 
mor betrifft,  so  möchte  dies  bezweifeln,  da  man  bis  jetzt  noch  keinerlei  Kalk- 
stein im  südlichen  Theile  von  Chile  gefunden  hat.  Wahrscheinlich  war  diese 
Insignie  von  demselben  schwarzen  Stein,  vielleicht  Basalt  oder  Melaphyr,  von 
dem  auch  mehrere  andere  indische  Gegenstände  gesehen  habe. 

Zu  den  barbarischen  Kriegsgebräuchen  der  Araukaner  gehörte  auch  der, 
aus  den  Schienbeinen  der  erschlagenen  Feinde  Flöten  zu  machen  und  ihre 
Schädel  bei  festlichen  Gelagen  als  Trinkgefäss  zu  gebrauchen.  Das  letz- 
tere erinnert  an  den  gleichen  Gebrauch  bei  den  Gothen  und  Longobarden, 
wenn  ich  nicht  irre. 

Um  ihre  Feinde  zu  schrecken,  nahmen  sie  auch  aus  Holz  geschnitzte 
Masken  vor;  ich  habe  einige  dieser  Masken  gesehen,  welche  recht  sauber 
gearbeitet  waren. 

Ein  sowohl  den  Araukanern  als  auch  den  Pehuenches  und  Huilliches 
gemeinschaftlicher  Gebrauch  ist  das  Chuera  oder  Linao-Spiel,  welches 
mit  dem  englischen  Crickett  die  grösste  Aehnlichkeit  hat,  man  möchte  sagen 
identisch  ist. 

Die  Araukaner  und  Cuncos  rauchten  Tabak.  Ob  die  gewöhnliche  Ta- 
bakpflanze oder  eine  der  einheimischen  Species  von  Nicotiana,  lässt  sich 
nicht  bestimmen.  Ein  Schriftsteller  über  Chile  versichert,  dass  ihr  Tabak  viel 
stärker  sei  wie  der  gewöhnliche.  Daher  mag  es  kommen,  dass  die  Pfeifen, 
woraus  sie  rauchen,  einen  so  kleinen  Kopf  haben.  Doch  erinnere  daran,  dass 
auch  die  in  Süd-Amerika  allgemein  gerauchten  Papier-Cigarren  viel  kleiner 
sind,  als  die  bei  uns  gebräuchlichen  „Puros",  ohne  dass  darum  der  Genuss 
und  die  Leidenschaft  dazu  dort  geringer  wären.  Jetzt  haben  diese  Indier  kei- 
nen andern  Tabak  als  den,  welchen  sie  von  den  Weissen  erhandeln. 

Zur  Zeit  der  Spanier  hatten  alle  diese  Indier  als  Hausthier  das  „Chili- 
hueque'",  dessen  Wolle  sie  spannen  und  welches  sie  bei  Festen  opferten. 
Es  gehörte  zur  Familie  der  Kameel-Schafe ;  man  hatte  es  in  verschiedener 
Farbe  und  Zeichnung,  gerade  wie  die  Peruaner  noch  jetzt  das  Llaiua  uud 
vermuthlich  ist  es  mit  diesem,  welches,  wie  es  scheint,  als  das  gezähmt»1 
Guauaco  zu  betrachten  ist,  identisch.  Jetzt  ist  das  Chilihuoque  längst  aus- 
gestorben   und    an  seine  Stelle  unser  Schaf  getreten.     Einige  Getreide- Arten, 


*)  Diese  Axt  führte  ebenfalls  den  Namen  Toqui;    sie   wurde  im  Lager  als  Feldzeichen  in 
die  Erde  gesteckt,  war  also  vermuthlich  lang  gestielt. 


287 

die  sie  angebaut  haben  sollen,  sind  ebenfalls  abhanden  gekommen  und  durch 
die  europäischen  verdrängt,  worden;  nur  die  Kartoffel,  dieses  köstliche  Pro- 
dukt der   Westküste  von  Süd-Amerika,  ist  geblieben. 

Die  Cuncos,*)  obgleich  ursprünglich  nicht  minder  tapfer  und  zahlreich 
wie  die  Araukaner,  haben  ihre  Nationalität  nicht  60  gut  zu  bewahren  gewusst. 
Nach  der  Zerstörung  der  Städte  Valdivia  und  Osorno  und  der  Vertreibung 
der  Spanier  (1602)  durch  dieselben  konnte  die  nächste  spanische  Ansiedelung 
Chiloe,  wo  Rindvieh  selten  ist,  ihren  etwaigen  Raubzügen  nichts  bieten;  auch 
ist  die  Wald- Vegetation  in  diesen  Provinzen  so  ausserordentlich  mächtig,  dass 
die  Wege,  nachdem  die  Verbindung  mit  den  Spaniern  aufgehört  hatte,  sehr 
bald  davon  überwuchert  wurden,  so  dass  ein  schnelles  Vordringen  zu  Pferde 
ganz  unmöglich  war  und  die  Uebergänge  über  die  Cordillere  nach  den  Pam- 
pas bald  aufhörten  gangbar  zu  sein.  Auch  wirkten  die  Pocken  und  andere 
epidemische  Krankheiten  wahrhaft  verheerend  unter  ihnen,  so  eine  grosse 
Seuche  im  Jahre  1638  (ßrouwer),  welche  ein  Drittel  der  Bevölkerung  hin- 
raffte. So  finden  wir  denn  dieselben  in  geringer  Zahl  und  friedlich  lebend  in 
der  Provinz  Valdivia  und  in  dem  nördlichen  Theile  von  Llanquihue,  und  so 
ist  es  wohl  auch  gekommen,  dass  der  ganze  südliche  Theil  des  Festlandes 
von  Osorno  bis  Puerto  Montt,  in  dessen  Mitte  der  See  Llanquihue  liegt,  den 
sie  früher  ebenfalls  inne  gehabt  hatten,  gänzlich  unbewohnt  war,  als  die  deut- 
schen Colonisten  sich  dort  ansiedelten.  Diese  fanden  dagegen  dort  viele  und 
mannigfache  Reste  dieses  zahlreichen  und  fleissigen  Volksstammes,  von  denen 
mehrere  gesammelt  und  mitgebracht  habe. 

Ausser  diesen  gleich  vorzuzeigenden  Gegenständen  fanden  sich  eine  in 
den  weichen  Saudstein  gehauene  Wohnung,**)  sehr  viele  Feuer  stellen, 
Kohlen,  Spuren  von  Wegen,  Gräben,  Brücken,  künstlich  gefassten  Quel- 
len, einzelne  Dinge  von  Eisen,  so  ein  Meissel,  ein  Theil  eines  Steigbügels, 
viele  irdene  Töpfe***)  zum  Kochen  und  auderm  häuslichen  Gebrauche,  viele 
sogenannte  „  Ha rina" -Steine,  auf  welchen  der  mit  heissem  Sande  geröstete 
Weizen  zu  „Hanna"  zerrieben  wird,  welche  eins  der  vorzüglichsten  Nahrungs- 


*)  Vergl.  eine  sehr  anziehende  Schilderung  derselben  von  Professor  R.  A.  Philippi  in  San- 
tiago im  Auslande  1869,  No.  9  und  10. 

**)  Der  Kolonist  A.  Püschel  fand  (1860)  in  der  Nähe  des  sogenannten  kleinen  Hafens  an 
der  Ostseite  des  Sees  Llanquihue  einen  durch  einen  schmalen  Hügelzug  mit  senkrechten  Wan- 
den gehaueneu  niedrigen  Gang,  welcher  zu  einer  kleinen  Fläche  ebenen  und  trockenen  Landes 
führte,  die  ringsum  von  steilen  Abhängen  und  nach  dem  Ufer  zu  von  Sumpf  begrenzt,  also 
sonst  von  allen  Seiten  unzugänglich  war.  In  der  einen  Bergwand  fand  sich  eine  vorn  weit  offene 
Höhle,  eine  frühere  indische  Wohnung,  mit  einer  Fenerstelle  und  vielen  Strichen  und  anderen 
nicht  zu  deutenden  Zeichen  an  den  Wänden.     In  dein  Gange  lagen  zwei  irdene  Tupfe. 

***)  Die  grosse  Zahl  irdener,  noch  brauchbarer  Töpfe  und  Krüge,  welche  man 'gefunden  bat, 
bedürfen,  wie  es  scheint,  einer  besonderen  Erklärung.  Man  könnte  daraus  schliessen,  dass  diese 
Bevölkerung  ihren  Wohnsitz  plötzlich  verliess  und  dabei  genöthigl  war,  ihr  Hausgeräth  im  Stich 
zu  lassen.  Dagegen  wäre  allerdings  zu  bedenken,  dass  der  Transport  so  zerbrechlicher  Dinge  auf 
diesen  Waldwegen  schwierig  ist  und  demnach  dieses  Geschirr  auch  mit  Vorbedacht  zurückge- 
lassen worden  sein  kann. 


288 

mittel  ist  und  noch  jetzt  die  Stelle  des  Brodes  vertritt  und  namentlich  ein 
haltbarer  und  unentbehrlicher  Reiseproviant  ist.  Auch  erhielt  von  dort  eine 
sehr-  zierlich  gearbeitete  Pfeilspitze  von  schwarzem  Stein;  dieselbe  war 
last  2  Zoll  lang  und  wenig  über  £  Zoll  breit.  Die  Pfeilspitzen,  welche  vom 
Feuerlande  gegehen  habe ,  waren  von  durchsichtigem  Stein  oder  Glase  und 
breiter  und  kürzer.  Ferner  erhielt  von  verschiedenen  Fundorten  zwei  ganz 
bleiche  Kugeln  von  der  Grösse  eines  kleinen  Apfels,  von  demselben  schwar- 
zen Stein,  sauber  gearbeitet  und  geglättet.  Ich  habe  nicht  in  Erfahrung  brin- 
gen können,  wozu  dieselben  gedient  haben  mögen;  zu  Wurf  kugeln  („Bolas, 
Laques"),  welche  als  Waffe  und  zum  Erlegen  der  Thiere  auf  der  Jagd  noch 
jetzt  von  Pehuenchen  und  andern  Stämmen  gebraucht  werden,  sind  sie  einer- 
seits zu  klein,  andererseits  ist  auch  die  sorgfältige  Bearbeitung  dazu  durch- 
aus überflüssig.  Eine  Indierin  erzählte  mir,  dass  die  Zauberer  („Brujos,  Ma- 
chis")  ihres  Volkes  solchen  Kugeln  Feuer  und  Funken  entlocken  —  also  eine 
elektrische  Erscheinung  —  relata  refero.  Endlich  erwähne  noch,  obgleich 
diese  nicht  selbst  gesehen  habe,  alte  Befestigungs-Anlagen  mit  Gräben 
und  Wällen  in  den  verschiedensten  Theilen  des  Landes,  auch  an  Orten,  wie 
auf  den  Huaitecas-Inseln,  wo  sie  nicht  von  den  Spaniern  herstammen  können; 
sowie  auf  die  Spuren  ehemaliger  Goldwaschereien  u.  s.  w. 

Diese  Reste  gehören  theils  einer  Periode  vor  Ankunft  der  Spanier,  als 
diese  Indier  sich  noch  ihrer  einfachen  Steinwerkzeuge  bedienten ,  theils  der 
nächsten  Zeit  nach  der  Eroberung  an.  Ihre  Frauen  spannen  sehr  fleissig,  wie 
die  vielen  Spinnwirtel  beweisen:  von  einem  Kolonisten  erhielt  b  Stück  der- 
selben auf  einmal.  Ueberhaupt  waren  die  von  ihnen  hintex-lassenen  Gegen- 
stände recht  sauber  gearbeitet;  die  Steine  dazu  wussten  sie  sich  aus  grösse- 
rer Entfernung  zu  beschaffen  und  jedes  Werkzeug  war  aus  einer  besonderen 
Steingattung  gearbeitet.  So  waren  die  Harina-Steine  aus  einem  Blasen  ent- 
haltenden Steine,  ganz  ähnlich  den  Nieder-Mendiger  Mühlsteinen,  wodurch 
sie  bei  der  Abnutzung  immer  scharf  blieben. 

Als  einen  in  der  That  seltsamen  Fund  muss  noch  folgenden  erwähnen. 
Der  3  Meilen  breite  Isthmus,  welcher  den  See  Llanquihue  von  der  Seeküste 
bei  Puerto  Montt  scheidet,  besteht  aus  stufenförmig  über  einander  liegenden 
Ebenen  bis  zu  etwa  1  Meile  Entfernung  vom  See,  wo  ein  unregelmässiger 
Höhenzug  auftritt,  welcher  bis  in  die  Nähe  des  Sees  streicht  und  dann  eben- 
falls terrassenförmig  zu  demselben  abfällt;  zu  beiden  Seiten  dieser  Hügel 
setzt  sich  die  Ebene  bis  in  die  Nähe  des  Sees  fort,  ohne  ihn  jedoch  zu  er- 
reichen. Auf  dieser  Fläche  wachsen  mehr  als  1000  jährige  Alerce  -  Bäume, 
während  der  Höhenzug  ebenfalls  höchst  corpulente  Bäume  trägt.  Letzteren, 
der  von  Norden  nach  Süden  streicht,  habe  mir  öfter  als  die  Moräne  eines 
früheren,  aus  der  Cordillere  hervortretenden  riesigen  Gletschers  vorgestellt. 
Etwa  in  der  Mitte  desselben  und  fast  auf  der  Höhe  grub  ein  Kolonist  einen 
Brunnen  und  stiess  dabei  in  der  Tiefe  von  22  Varas  —  etwa  60  Fuss  —  auf 
einen  irdeuen  Topf  derselben  Art,    wie   mau  sie  jetzt  dort  sowohl  noch  in 


289 

Gebrauch  hat  —  als  auch,  wie  eben  erwähnte,  zuweilen  verlassen  findet.  Die 
untere  Hälfte  des  Topfes  steckt  noch  jetzt  in  der  Wand  des  Brunnens.  Da 
die  Vorrichtung  zum  Herablassen  in  den  Brunnen  nicht  die  beste  war,  so 
habe  es  allerdings  nicht  mit  eignen  Augen  constatirt,  allein  ich  zweifle  durch- 
aus nicht  an  der  Wahrheit;  einige  der  herausgebrachten  Scherben  habe  selbst 
gesehen.  Im  Falle  es  für  wichtig  gehalten  werden  sollte,  das  Faktum  genauer 
festzustellen,  wird  mein  werther  College  und  Nachfolger  Dr.  C  Martin  in 
Puerto  Montt  dies  gewiss  gern  besorgen.  Es  ist  nicht  anzunehmen,  dass  Men- 
schen den  Topf  in  eine  solche  Tiefe  vergraben  haben  und  war  auch  keine 
Spur  davon  zu  erkennen.  Man  kann  also  kaum  anders  annehmen,  als  dass 
dieser  Topf  vom  Wasser  erfasst  zum  Geschiebe  geworden  ist  und  dann  glei- 
ches Schicksal  mit  dem  Gerolle  hatte,  das  über  und  unter  ihm  liegt.  Hier- 
nach wäre  das  Alter  desselben  ein  unglaublich  hohes  und  dürfte  er  zu  den 
ältesten  bekannten  Funden  menschlicher  Thätigkeit  gehören.  Nötigenfalls 
würde  bereit  sein,  einige  Notizen  über  die  Geologie  und  Configuration  der 
nähern  Umgebung  jenes  Fundortes  zu  geben.') 

Nach  Süden  zu  forschreitend,  finden  wir  am  Ufer  des  Golfs  von  Re- 
loncavi  dieselben  Spuren  einer  untergegangenen  Bevölkerung:  auch  dort 
findet  man  die  Steinmeissel  und  Krüge  aus  Peru  verlassen  im  Walde  liegend 
und  Furchen,  wo  früher  Kartoffeln  gebaut  worden  waren,  auf  jetzt  bewalde- 
tem Lande.  Das  Gleiche  scheint  auf  der  Insel  Chiloe'  der  Fall  zu  sein.  Da- 
gegen begegnen  wir  einer  neuen  Erscheinung:  die  vielen  Inseln  und  lang- 
gedehnten  Küsten  und  Kanäle  beherbergen  eine  Menge  essbarer  Schal- 
thiere,  ausserdem  Fische,  Krebse,  Seesterne  u.  s.  w  ,  kurz  alle  Produkte 
des  Meeres  in  reichlichstem  Maasse.  Die  Bevölkerung  hat  dort  von  uralten 
Zeiten  her  das  Meer  als  Nahrungsquelle  ausgebeutet.  Auch  jetzt  noch,  wo  die 
Bewohner  Ackerbau  (vorzüglich  Kartoffeln)  und  Viehzucht  (Schweine,  Schafe) 
treiben,  siedeln  sie  sich  dennoch  fast  nur  in  unmittelbarer  Nähe  des  Ufers 
an,  um  täglich  ein  oder  zwei  Mal  zur  Zeit  der  Ebbe  Schalthiere  zu  sammeln. 
An  Punkte,  wo  dieselben  besonders  reichlich  vorhanden  sind,  ziehen  sie  mit 
ihren  Booten  hin,  um  dort  grösseren  Vorrath  davon  zu  machen.  In  früheren 
Zeiten  lebten  sie  ohne  Zweifel  hauptsächlich  von  dem  Ertrage  des  Meeres 
und  ich  glaube,  dass  sie  in  der  Urzeit  einzig  und  allein  darauf  angewiesen 
waren  und  dass  sie  ursprünglich  dieselbe  Lebensweise  führten  wie  ihre  Nach- 
barn, die  jetzt  ausgestorbenen  Chonos-Indier  und  wie  noch  jetzt  die 
Feuerländer,  welche  bekanntlich  mit  ihren  Kanoes  aus  Rinde  nomadisirend 
von  einer  Uferstrecke  zur  andern  ziehen.  Da  aber  Chiloe  fruchtbares  Land 
hat,  war  es  leicht,  dass  sie  von  ihren  Nachbarn  des  Festlandes  den  Acker- 
bau lernten,  was  bei  der  Beschaffenheit  der  Chonos-Liseln  und  des  Feuer- 
landes unmöglich  gewesen  wäre,    wo    für  uneivilisirte  Menschen  in  der  That 


")  Dieser  Bruuueii  liegt  beim  Hause  des  Kolonisten  Mädinger  am  Wege  von  Puerto  Montt 
nach  dem  See. 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  ls7u.  20 


290 

keine  andere  Art  der  Existenz  denkbar  ist.  Diese  frühere  Lebensweise  scheint 
sich  auch  in  dem  Typus  der  Chiloten  auszusprechen,  denn  obgleich  mit 
ihren  festländischen  Nachbarn  von  einer  Sprache,  unterscheiden  sie  sich  von 
ihnen  durch  noch  etwas  niedrigere  Statur,  niedrigere  Stirn,  plumpen  Fuss 
und  eingedrückte  Nasen,  während  wir  bei  jenen  meist  Adlernasen,  stärker 
vorspringende  Backenknochen  und  einen  zierlich  gewölbten  Fuss  linden.  Auch 
zeigen  die  Chiloten,  verglichen  mit  den  Araukanern  und  frühern  Cuncos,  eine 
grosse  Verschiedenheit  im  Charakter;  während  diese  Waldbewohner  kriege- 
risch, ernst  und  stolz  sind,  sind  jene  Insulaner  unterwürfig,  friedlich  und  zu- 
vorkommend und  haben  kaum  je  gegen  die  spanischen  Eroberer  rebellirt. 
Sehr  anregend  dürfte  die  Untersuchung  der  Frage  sein,  inwiefern  die  ge- 
schilderte Lebensweise  und  vor  Allem  der  beständige  Genuss  von  Sckal- 
und  andern  Seethieren  die  erwänte  Harmlosigkeit  des  Charakters  der  Chilo- 
ten, im  Gegensatz  zu  dem  hochfahrenden  Temperament  ihrer  sprach-  und 
stammverwandten  Nachbarn,  von  Einiluss  ist.  Ich  glaube,  dass  die  Chiloten 
sehr  grosse  Aehnlichkeit  mit  den  Feuerländern  haben  und  vielleicht  ursprüng- 
lich von  einem  Stamme  mit  ihnen  sind.  Interessant  ist,  dass  an  der  Küste 
der  Wüste  von  Atacama,  am  äussersten  Nordeude  von  Chile,  ein  kleiner 
Volksstamm  von  nicht  vollen  500  Seelen,  der  längst  seine  Sprache  vergessen 
hat,  die  Changos,*)  noch  jetzt  dieselbe  Lebensweise  wie  die  frühem  Chi- 
loten und  die  Feuerländer  führen,  indem  sie  von  Strand  zu  Strand  ziehen, 
um  Schalthiere  zu  sammeln,  zu  fischen  u.  s.  w.  Ich  halte  es  für  wahrschein- 
lich, dass  in  vergangenen  Zeiten  dieser  auf  das  Meer  angewiesene  Volksstamm 
die  ganze  Küste  von  Chile  entlang  lebte  und  also  muthmasslich  sich  von  der 
Grenze  der  heissen  Zone  bis  an  das  äusserste  Ende  Süd-Amerikas  erstreckte. 
Es  gehören  demselben  zugleich  die  am  meisten  nach  dem  Südpol  zu  vorge- 
schobenen Bewohner  der  Erde  an.  So  ist  es  also  äusserst  merkwürdig,  dass 
dieselben  viele  nicht  zu  verkennende  Analogien  mit  den  andern  Endbewoh- 
nern der  Erde  auf  der  nördlichen  Halbkugel,  den  Eskimos,  bieten. 

Um  zu  den  jetzigen  Chiloten  zurückzukehren,  bemerke,  dass  alle  Chri- 
sten sind  und  ihre  Sprache  vollständig  durch  die  spanische  verdrängt  ist,  so 
dass  nur  noch  einzelne  alte  Leute  dieselbe  verstehen.  Neben  der  Physiogno- 
mie kennzeichnen  ihre  Namen  den  indischen  Ursprung. 

In  Chiloe  hatte  Gelegenheit,  die  Anfertigung  der  irdenen  Töpfe, 
welche  jetzt  noch  ebenso  wie  vor  Zeiten  im  Gebrauch  sind,  zu  sehen.  Sie 
geschieht  ohne  Töpferscheibe:  der  angemachte  Thon  wird  mit  einem  grob- 
körnigen Pulver,  welches  man  durch  Zerstossen  von  stark  glimmerhaltigen 
und  vorher  in  Feuer  geglühten  Granitsteinen  erhält,  gemischt  —  alle  alten 
Topfscherben  enthalten  diese  Beimischung  und  soll  in  der  That  der  beste 
Thon  ohne  dieselbe  unbrauchbar  sein.  Aus  dem  so  zugerichteten  Teige  rol- 
leu  sie  lange,  wurstähnliche  Rollen  mit  den  Händen  aus,  nehmen  darauf  ein 

*)  Siehe  die  Reise  io  die  Wüste  von  Atacama  von  Prof.  R.  A.  Plnlippi. 


291 

rundes,  glattes  Stück  zum  Boden  des  Topfes  und  legen  auf  den  Rand  eine 
jener  Rollen  rund  herum,  indem  sie  mit  den  Fingern  das  Stück  seitlich  platt 
drücken  und  die  Fugen  zusammenstreichen.  Darüber  legen  sie  dann  ebenso 
eine  zweite  Rolle,  auf  diese  eine  dritte  und  so  fort,  bis  das  Gefäss  im  Rohen 
gebildet  ist;  dann  werden  noch  die  Fugen  zwischen  den  Rollen  in-  und  aus- 
wendig mit  einer  Culerg  genannten  Muschel  geglättet  und  schliesslich  die 
Töpfe  im  Rauche  getrocknet  und  am  offnen  Feuer  gebrannt 

Interessanter  und  wichtiger  noch  sind  die  mannigfachen  Eigenthümlich- 
keiten,  welche  der  Verkehr  der  Chiloten  auf  dem  Meere  zwischen  ihren  In- 
seln und  am  Ufer  desselben  ergiebt.  Hierhin  gehören  besonders  ihre  früheren 
Fahrzeuge,  Piraguas  genannt,  deren  Beschreibung  hier  zu  weit  führen 
würde,  vor  Allem  aber  die  gewaltigen  Haufen  und  Bänke  von  Muschel- 
schalen, welche  man  am  Ufer  findet,  die  ganz  genau  eine  Wiederholung 
der  „Kjökenmöddings"  der  dänischen  Inseln  sind.  Dieselben  entstanden  da- 
durch, dass  die  Bewohner  an  gewissen,  besonders  geeigneten  Stellen  die  ge- 
sammelten Schalthiere  zubereiteten  und  verzehrten.  Die  Zubereitung  geschieht 
in  sogenannten  „Curantos",  in  welchen  die  Muscheln,  Fische,  Kartoffeln 
und  Speisen  jeder  Art  durch  im  Feuer  erhitzte  und  dann  mit  Erde  bedeckte 
Steine  gar  gekocht  oder  vielmehr  gebacken  werden.  Jene  grossen  Muschel- 
bänke, welche  wohl  bis  zu  20  Fuss  Höhe  und  100  und  mehr  Fuss  Länge 
vorkommen  mögen,  sind  nach  und  nach  durch  solche  Curantos*)  entstanden. 
Man  findet  daher  in  ihnen  ausser  den  Schalen  der  vorzüglichsten  essbaren 
Muscheln  (Species  von  Venus,  Mytilus  und  Solen)  rundliche  Steine,  Kohlen 
und  verkohltes  Holz,  Knochen  von  Fischen,  Schalen  von  Seeigeln,  Krebsen 
u.  s.  w.  und  nicht  selten  auch  ganze  Gerippe  und  Schädel.  Diese  Bänke  sind 
gewöhnlich  mit  uralten,  riesigen  Bäumen  bewachsen,  zwischen  denen  die  neue 
Generation  noch  fortfährt,  Curantos  zu  machen.  Kleinere  Curantos  und  Muschel- 
haufen findet  man  bei  jedem  Hause.  Ich  glaube,  dass  Darwin  diese  selben 
Muscheln  als  von  der  Erhebung  des  Landes  über  das  Meer  herrührend  be- 
trachtet, was  für  irrthümlich  halte;  ich  habe  in  einem  Aufsatze  in  Petermann's 
Mittheilungen  (18G6)  etwas  darüber  rnitgetheilt. 

Die  schon  erwähnten,  jetzt  ausgestorbenen  Chonos-Indier,  südlich  von 
Chiloe,    hatten   die   eigenthümliche   und   den   übrigen  Indiern   Chiles   fremde 


*)  Die  Gestalt  dieser  früheren  Curantos  ist  sehr  charakteristisch  und  überraschend,  sie 
gleicht  genau  einem  Vulkan  en  miniature  mit  sehr  sanft  ansteigenden  Wänden  und  bildet  eine 
hauptsächlich  aus  Muschelschalen  bestehende  Erhöhung  von  verschiedener  Höhe,  in  deren  Mitte 
sich  eine  mulden-  oder  nabeiförmige,  runde  Vertiefung  befindet,  deren  Grund  unregelmäs 
durch  darin  liegende  rundliehe  Steine  von  durchschnittlich  Faust-Grüsse.  Sind  die  Muschelthiere 
in  einem  solchen  Backofen  —  unstreitig  die  älteste  und  einfachste  Art  desselben  —  weich  Lre 
worden,  so  verspeist  sie  die  Familie  rinus  herum  sitzend,  wobei  die  leeren  Schalen  rings  um  die 
in  der  Mitte  gelegene  und  durch  Herausnahme  des  Inhalts  etwas  vertiefte  Feuerstelle  liegen  blie- 
ben,  unter  welchen  dann  wohl  noch  die  Hunde  und  Schweine  eine  Nachlese  halten.  Wo  sich, 
wie  in  den  erwähnten  Muschelbänken,  diese  Curantos  über-  und  nebeneinander  gehäuft  haben, 
ist  ihre  Form  nicht  mehr  so  deutlich.  Später  sind  diese  Stellen,  ausser  durch  ihre  Form,  auch 
durch  den  hellgrünen  Rasen,  der  sie  bedeckt,  und  einzelne  Kalk  liebende  Pflanzen  kenntlich 

20* 


292 

Sitte,  ihre  Todten,  in  Rinde  von  „Cipres"  (Libocedrus  tetragona)  gehüllt,  in 
Höhlen  beizusetzen,  wo  sie  zu  Mumien  vertrockneten.  In  Betreff  ihrer  Werk- 
zeuge erwähnt  ein  spanisches  Dokument  vom  Jahre  1729,  dass  sie  von  Stein 
sind  und  dass  sie  von  diesem  Material  Aexte,  Hohlbeile  (üechsel),  Meissel  und 
Messer  haben.  Als  Waffen  scheinen  also  diese  Art  Werkzeuge  nicht  gedient 
zu  haben. 

Ein  Russe,  der  diese  Inseln  vielfach  besucht  und  durchstreift  hat,  er- 
zählte mir,  dass  er  eine  steinerne  Schüssel  und  eine  Vorrichtung  zum 
Schärfen  der  Steinmeissel  auf  denselben  gefunden  habe. 

Ich  komme  endlich  zur  Besprechung  der  von  mir  mitgebrachten  Gegen- 
stände. 

Unter  den  zumeist  im  Gebiete  der  Cuncos  gefundenen  Dingen  erwähne: 

1)  Einen  sehr  beschädigten  Schädel,  Reste  eines  Gerippes  und  ein 
kleines  Töpfchen,  zusammen  gefunden  auf  einer  deutschen  Farm  im  Frutil- 
lar  am  See  Llanquihue  in  einiger  Entfernung  vom  Ufer  desselben,  beim  Ab- 
graben eines  Platzes  für  ein  Haus.  Das  Töpfchen  giebt  eine  gute  Idee  von 
der  Art  dieses  Geschirres.  Zugleich  beweist  es  die  Allgemeinheit  der  Sitte 
unter  den  Indiern  Süd-Amerikas,  ihren  Todten  Zehrung  mit  ins  Grab  zu  ge- 
ben. In  Peru  geschah  dieses  in  sehr  künstlichen  und  eigenthümlich  verzier- 
ten Gefässen  von  feiner  Masse.  Der  Abstand  zwischen  letztern  und  diesem 
höchst  einfachen  Töpfchen,  dessen  einzige  Verzierung  in  schräg  verlaufenden 
schwarzen  Streifen  besteht,  lässt  uns  einen  ungefähren  Schluss  thun  auf  den 
grossen  Unterschied  in  der  Bildung  zwischen  den  peruanischen  und  chileni- 
schen Urbewohnern. 

2)  Sechs  einfache  Steinmeissel  verschiedener  Grösse,  von  0,09  bis 
0,28  Meter  Länge.  An  dem  kürzesten  darunter  könnte  vielleicht,  da  er  ver- 
liältnissmässig  breit  und  sein  oberes  Ende  unregelmässig  ist,  ein  Theil  des- 
selben abgebrochen  sein.  Bei  zwei  von  ihnen  ist  die  scharfe  Schneide  recht 
gut  erhalten.  Die  jetzigen  Bewohner  wissen  über  den  Gebrauch  dieser  Meis- 
sel nur  so  viel,  dass  sie  zum  Behauen  des  Holzes  dienten;  also  zur  Anfer- 
tigung ihrer  Pivaguas  und  Kanoes  und  ihrer  Häuser,  zum  Abhauen  der  Bäume 
und  Spalten  des  Holzes  beim  Urbarmachen  des  Waldes  u.  s.  w.  War  es 
doch  Sitte,  dass  kein  junger  Mann  eher  heirathen  durfte,  bis  er  nicht  durch 
Umhauen  eines  Baumes  bewiesen  hatte,  dass  er  hinlänglich  kräftig  und  ge- 
schickt sei.  In  Betreff  der  Handhabung  wird  angegeben,  dass  das  obere  rauhe 
und  sich  allmählich  verschmälernde  Ende  in  das  Loch  eines  Stieles  befestigt 
oder  mit  starken  Schlingpflanzen  au  ein  passendes  Holz  gebunden  wurde. 
Doch  sind  diese  Angaben  keineswegs  als  zweifellos  zu  betrachten  und  ich 
halte  es  für  möglich,  dass  sie  bloss  mit  der  Hand  geführt  wurden. 

3)  Eine  Steinaxt  mit  einem  Loche  am  oberen  Ende.  Dieselbe  ist  mir 
von  meinem  Freunde  Herrn  Alfred  Tysska  zur  Vorzeigung  geliehen  worden. 
Derselbe  erhielt  sie  vom  Nordufer  des  Sees  Llanquihue.  Die  Schneide  ist  be- 
deutend breiter  wie  bei  den  Meisseln.    Die  hier  vorliegende  ist  von  verhältniss- 


293 

massig  weichem  Stein.  Ich  hatte  früher  eine  ehen  solche,  jetzt  im  Museum 
von  Santiago  befindliche,  welche  etwas  länger  und  breiter  wie  diese  und  von 
einem  sehr  harten,  grünlich  raarmorirten  Steine  war;  das  Loch  daran  lief  von 
beiden  Seiten  trichterförmig  /.u.  Interessant  ist,  dass  sowohl  die  Meissel  wie 
diese  Aexte  genau  die  Form  und  das  Princip  der  jetzt  gebräuchlichen  nord- 
amerikanischen  llolzäxte  einhalten,  indem  nämlich  die  Dicke  von  der  Mittel- 
linie zu  nach  allen  Seiten  hin  abnimmt;  diese  Eigenschaft  hat  nämlich  den 
Vortheil,  dass  die  Axt  sich  nie  einklemmt.  Wozu  das  Loch  didht,  habe  eben- 
falls nicht  in  Erfahrung  bringen  können;  jedenfalls  diente  es  zum  Anhängen 
der  Axt,  wenn  man  sie  bei  sich  trug;  möglicherweise  erleichterte  es  auch 
ihre  Befestigung  an  einem  Stiele;  jedoch  ist  dies  wohl  nicht  wesentlich  ge- 
wesen, da  man  keinerlei  Abnutzung  an  den  Löchern  findet  und  ihre  oben 
erwähnte  Trichterform  sie  zur  sicheren  Befestigung  wenig  geeignet  macht. 

4)  Zwei  irdene  Tabakspfeifen  verschiedener  Form.  Ich  erwähnte  schon 
oben  etwas  über  das  Rauchen.  Eine  dritte  Pfeife,  welche  besass,  war  dieser 
fast,  gleich,  hatte  aber  an  dem  der  Spitze  gegenüberliegenden  Ende  auch  eine 
Oeffuung,  welche  durchging. 

5)  Ein  Spinn-  Wirtel.  Es  scheint,  dass  sie  meistens  aus  Topfscherben 
gemacht  wurden.  Unter  denen,  welche  besessen  habe,  hatte  einer  auf  einer 
Seite  eine  weisse  Glasur,  stammte  also  von  einem  glasierten  Topfe  europäi- 
scher Herkunft. 

6)  Ein  Stückchen  gewebtes  Zeug,  welches  Herr  Professor  Philipp]  beim 
Nachgraben  in  einem  indischen  Grabe  nebst  Knochen.  Glasperlen  und  silber- 
nen Nadeln,  denselben,  welche  noch  jetzt  die  Indierinnen  tragen,  fand.  Er 
hatte  die  Güte,  mir  diese  Probe  davon  abzulassen.  Es  würde  nicht  uninter- 
essant sein,  zu  bestimmen,  ob  das  Zeug  von  Schaf-  oder  Guanaco-Wolle  ist. 

7)  Ein  am  See  Llanquihuc  gefundener  Krug  aus  Peru:  diese  Art  Krüge 
mit  engem  Halse,  dickem  Bauche  und  abgerundetem  Boden,  so  dass  man  sie 
nicht  stellen,  sondern  nur  legen  kann,  von  fester  und  sehr  dauerhafter  Masse, 
wurden  und  werden  noch  jetzt  in  dem  Hafen  Pisco  an  der  peruanischen 
Küste  gemacht.  Sie  sind  mit  wahrscheinlich  aus  Zuckerrohr  dargestelltem 
Branntwein  gefüllt,  welcher  ebenso  wie  auch,  die  Krüge  selbst  nach  dem  Orte 
der  Herkunft  Pisco  genannt  wird.  So  wurden  sie  zur  Zeit  der  Spanier  zu 
Schiffe  nach  dem  Hafen  Chacao  auf  der  Insel  Chiloe,  vielleicht  auch  nach 
Valdivia  geführt,  dort  gegen  Bretter  und  andere  Erzeugnisse  der  Bewohner 
umgetauscht  und  fanden  von  dort  ihren  Weg  über  das  ganze  Land ,  da  die 
Leidenschaft  für  das  Feuerwasser  bei  diesen  Indiern  eben  so  stark  wie  irgendwo 
anders  ist  Der  Strand  des  jetzt  verlassenen  Hafens  von  Chacao  ist  noch  jetzt 
mit  einer  Menge  von  Scherben  dieser  Töpfe  besät.  Ich  habe  über  ein  Dutzend 
solcher  im  Urwalde  gefundenen  Krüge  gesehen. 

8)  Ein  Stück  eines  messingenen  Leuchters,  ganz  nahe  bei  dem  unter 
No.  1  erwähnten  Gerippe  gefunden.  Ein  weiterer  Beweis,  dass  die  jetzt  aus- 
gestorbenen Bewohner  mit  den  Spaniern  in  Verbindung  standen. 


294 

Ich  komme  zu  den  von  den  Insel-Bewohnern  stammenden  Gegen- 
ständen,  worunter 

9)  ein  wohlerhaltener  Schädel  eines  jungen  Individuums  von  Mechi, 
einem  Punkte  an  der  Küste  des  Golfs  von  Reloncavi,  östlich  von  Puerto 
Montt.  Derselbe  fand  sich  in  der  Mitte  einer  Muschelbank  nebst  mehreren 
Gerippen,  welche  quer  über  einander  lagen.  Obgleich  ganz  Laie  in  der  Cra- 
niologie,  hebe  hervor,  dass  der  Schädel  verhältnissmässig  schwer,  die  Kno- 
chenentwickelung besonders  am  Hinterhaupte  sehr  stark  ist,  dass  die  Zitzen- 
fortsätze klein  sind,  so  dass  der  Schädel  beim  Aufliegen  nicht  auf  ihnen, 
sondern  auf  der  Umgebung  des  Hinterhauptes  aufruht,  und  dass  die  Schläfen- 
fläche der  Keilbein-Flügel  schmäler  als  gewöhnlich  ist.  Die  Sprünge  an  den 
Scheitelbeinen  können  durch  die  Hitze  der  über  ihm  angemachten  Feuer  ent- 
standen sein. 

10)  Vier  gleiche  Knochen'.stücke  eines  mir  unbekannt  gebliebenen 
Thieres  aus  dem  Meere,  von  denen  drei  in  einem  alten  Muschelhaufen  gefun- 
den wurden,  während  das  vierte  frische  selbst  am  Strande  aufgelesen  habe. 
Es  wäre  vielleicht  interessant,  festzustellen,  von  welchem  Thiere  sie  stammen/1) 

11)  Ein  Stück  von  einer  alten  Piragua,  welche  im  Jahre  1794  von 
Missionären  am  Ufer  des  Nahuelhuapi-Sees  zurückgelassen  wurde  und 
von  der  dort  im  Jahre  1856  einige  Reste  fand.  Eine  solche  Piragua  bestand 
aus  mehreren  breiten  und  langen  Brettern,  welche  am  Rande  mit  einer  Reihe 
von  Löchern  versehen  waren,  durch  welche  die  Bretter  vermittelst  Schnüren 
von  Rohrbast  aneinander  genäht  wurden,  während  man  die  Löcher  mit  Alerce- 
Werg  verstopfte.  Diese  Piraguas  waren  bei  den  Indiern  der  patagonischen 
Westküste  von  Chiloe  bis  in  die  Nähe  der  Magelhaens-Strasse  im  Gebrauch 
und  eigneten  sich  vortrefflich  für  die  Beschiffung  des  Binnenmeeres  zwischen 
der  Inselkette  und  der  Cordillere.  Gelangten  die  Indier  dabei  an  eine  Land- 
enge, wie  z.  B.  an  den  Isthmus  von  Ofqui,  so  nahmen  sie  das  Fahrzeug  aus- 
einander, trugen  die  Bretter  herüber  bis  an  das  andere  Ufer  und  nähten  sie 
dort  wieder  zusammen.**) 

Endlich  benutze  diese  Gelegenheit,  auf  die  Abbildung  einiger  arauka- 
nischer  Alterthümer  hinzuweisen,  welche  sich  in  Gay's  Atlas  zur  politischen 
und  physischen  Geschichte  von  Chile  findet,  und  zu  welcher  keine  Erklärung 
gegeben  worden  ist.  Vielleicht  findet  sich  unter  den  Archäologen  von  Fach 
ein  Kenner,  der  sie  deuten  kann.  Zwei  derselben  glaube  nach  der  Verglei- 
chung  mit  den  von  mir  vorgelegten  Tabakpfeifen  als  solche  ansprechen  zu 
können. 


*)  Herr  Dr.  Hensel  erkannte  diesen  Knochen  als  Theil  des  Schädels  eines  zur  Gattung 
Epliip/ius  gehörenden  Fisches.  Merkwürdiger  Weise  findet  sich  dieses  Genua  nicht  in  der  Be- 
schreibung der  chilenischen  Fische  von  Gay.  Brama  und  Scorpis  sind  die  einzigen  von  Letz- 
terem verzeichneten  Arten  der  Familie,  wozu   Ephipptu  gehört. 

*•)  Verfasser  hat  die  vorstehend  besprochenen  Gegenstände  (mit  Ausnahme  von  No.  3  u.  11) 
der  im  Entstehen  begriffenen  Sammlung  der  anthropologischen  Gesellschaft  geschenkt,  mit  der 
Bitte  an  den  Vorstand,  sie  einer  sachverständigen  kritischen  Untersuchung  unterwerfen  zu  lassen. 


295 


Ethnograph i sehe  Wahrnehmungen  und  Erfahrungen 
an  den  Küsten  des  Berings-Meeres 

von  A.  Er  man. 

(Hierzu  eine  Karte.) 

Kur  die  allgemein eD  Fragen  der  Anthropologie,  denen  man  sich  jetzt  mit 
gebührendem  Eifer  hingiebt,  ist  die  Kenntniss  des  Urzustandes  der  Bewohner 
der  amerikanischen  Küste  des  Berings-Meeres  und  der  Inseln  desselben 
von  einleuchtender  Wichtigkeit.  Zunächst  so  wie  dergleichen  Kenntniss  von 
jeder  anderen  Stelle  der  Erde,  welche  erst  spät,  oder  in  gelinderem  Maasse 
von  Europäern  beeinflusst  worden  ist,  sodann  aber  noch  im  Besonderen,  weil 
hier  die  Wahrscheinlichkeit  einer  Wanderung  der  vorgefundenen  Bevölkerung 
von  einem  (kontinente  zum  andern  sehr  gross,  über  die  Richtung  derselben 
aber  vielleicht  noch  durch  Thatsachen  zu  entscheiden  möglich  ist. 

Das  Sammein  und  Erhalten  des  ethnographischen  Materials  welches  sich 
manchen  Reisenden  und  den  ansässigen  Russen  durch  Anschauungen  und 
unwillkürliche  Studien  seit  etwa  130  Jahren  auf  den  Aleutischen  Inseln 
und  seit  50  bis  60  Jahren  auf  Sitcha*)  dargeboten  hat,  ist  aber  jetzt  auch 
deswegen  zeitgemäss,  weil  den  Objecten  desselben  ein  beschleunigter  Unter- 
gang bevorsteht.**)  Wollte  man  nun  nur  dem  europäischen  Sprachgebrauche 
genügen,  unbekümmert  um  dessen  Ursprung  und  Bedeutung,  so  hätte  man 
die  zu  sammelnden  Notizen  zu  beziehen  auf  die  Aleuten  als  den  üblich 
gewordenen  Namen  aller  Bewohner  derjenigen  Inseln,  welchen  man,  wiederum 
nach  einem  Gebrauche  von  unerwiesener  Berechtigung,  denselben  Gesammt- 
namen  zu  geben  pflegt,  und  auf  die  Kolj  uschen,  die  man  dann  einfach  als 
die  Bewohner  der  Insel  Site  ha  und  deren  näheren  Umgebungen  zu  definiren 
hätte,  unter  Vorbehalt  etwa  von  ergänzenden  Einschaltungen  über  die  Be- 
wohner der  nördlicheren  Theile  des  jetzigen  Staates  Aljaksa  oder  der  mit 
diesem  identischen  früheren  Besitzungen  der  sogenannten  Russisch-Ame- 
rikanischen Compagnie. 

Eine  leichtsinnige  Nomenclatur  ist  aber  in  der  Ethnographie  doppelt 
fehlerhaft,  weil  erstens,  in  diesem  wie  in  jedem  andern  Gebiete  der  Natur- 
beschreibung, die  zu  gewinnenden  Gattungscharaktere  oder  deren  Aequiva- 
lente  nur  insoweit  von  Werth  sind,  als  sie  zu  einem  Namen  von  bestimmter 
Begränzung  gehören,  und  weil  zweitens  ethnographische  Namen  auch  an  und 
für  sich  folgenreich   wären,    wenn  sie  wirklich  einmal  den  ihnen  gewöhnlich 

*)  Die  Cursiv-Buehstaben  S,  s,  J,j  sind  wie  im  Französischen,    S,  s,  J,  j  aber  wie  im 
Deutschen  auszusprechen. 

*•)  Vergl.  was  darüber  in  dem  Auszuge  meines  Vortrages  vom  15.  Januar  1870  in  dem 
Sitzungsberichte  der  Berl.  Gesellsch.  für  Anthropologie  gesagt  ist. 


296 

beigelegten  Ursprung  hätten,  d.  h.  eine  Erfindung  des  zu  beschreibenden  Vol- 
kes wären. 

Aus  diesem  Grunde  habe  ich  festzustellen  versucht: 

1)  was  das  Wort  Aleut  (Plural  Aleuty)  in  russischer  Sprache  und 
Schrift  ursprünglich  und  was  nach  einander  bedeutet  habe  und  wo 
es  herstamme, 

und  sodann  das  Entsprechende  zu  erlangen 

2)  für  das  Wort  Kolju/i  oder  Koljusehi  und 

3)  für  die  Bezeichnungen,  die  man  den  Bewohnern  der  nördlichen  Di- 
strikte der  ehemaligen  Russisch-Amerikanischen  Compagnie-Besitzun- 
gen  beilegte. 


Wer  sind  und  was  heisst  Aleuten? 

Unter  den  abenteuernden  russischen  Seefahrern,  die,  wie  ich  früher  ge- 
schildert habe,*)  von  Ochozk  ausgingen,  ist  die  Benennung  Aleut  für  einen 
Bewohner  beliebiger  Inseln  des  grossen  Oceans  zwischen  Asien  und  Ame- 
rika, mit  denen  sie  oft  ausser  deren  geographischer  Reihenfolge  in  Berührung 
kamen,  gangbar  geworden,  ehe  noch  einige  dieser  Inseln  von  mehr  oder  we- 
niger wissenschaftlichen  oder  doch  schreibekundigen  Reisenden  besucht  wur- 
den. Auch  diese  haben  sich  dann  dem  Sprachgebrauche  den  sie  an  ihrem 
Einschiffungsorte  in  Ochozk  oder  auf  Kamtschatka  herrschend  fanden,  be- 
quemt und  ihn  sogar  rückwärts  als  Gesammtname  auf  die  Inselkette  übertra- 
gen, die  ausserdem  in  6  bis  7  Gruppen  getheilt  wurde.**)  Die  zu  ihrer  Zeit 
vielleicht  noch  lösbare  Frage  nach  der  Entstehung  des  Namens  Aleut  finde 
ich  bei  keinem  dieser  ältesten  Beschreiber,  wie  Bering,  Schelechow,  Saryt- 
schew  u.  A.  erwähnt.  Seitdem  sie  aber  zur  Sprache  gekommen  ist,  hat  sich 
nur  ihre  Unlösbarkeit  ergeben.  Wenjaminow,  der  erste  unter  den  Beschrei- 
ben! des  betreffenden  Landes  dem  ein  zehnjähriger  Umgang  mit  den  Bewoh- 
nern von  Unalaschka  und  der  übrigen  Fuchs -Inselgruppe  und  die  da- 
durch erworbene  Sprachkenntniss  zur  Seite  standen,  sagt  darüber  um  1840 
an  zweien  Stellen,  die  ich  hier  wegen  der  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  und 


*)  Reise  um  die  Erde  durch  Nord-Asien  und  die  beiden  Oceane  u.  s.  w.  von  A.  Erman. 
Histor.  Bericht,  Bd.  3,  S.  34. 

**)  Es  sind  diese  von  Westen  gegen  Osten  gezählt: 

1)  Komandorskie  ostrowa  =  die  Commodore-I.  —   Zur  Erinnerung  an  Capitata  Bcring's 
Schiffbruch  benannt  und  der  Aleutischen  Kette  theils  zugetbeilt,  theils  von  ihr  getrennt, 

2)  Bli/nie  ostrowa  =  die  nahen  Inseln. 

3)  Krysji  ostrowa  -  die  Ratten-Inseln. 

4)  Andrejanowskie  ostrowa  =  die  Adrian-Inseln,  nach  einem  Ocho/.ker  Schiffer  Andre 
jan  Tolstych. 

5)  Tschetyresöpotschnie  ostrowa  =  die  viergipfligen  Inseln. 

6)  Lisji  ostrowa  =  die  Fuchsinseln. 

7)  Schumäginskije  ostrowa  =  die  Schurnaginer  Inseln,   denen   Bering  den  Namen  sei- 
nes auf  einer  derselben  gestorbenen  Matrosen  Schumagin  beilegte. 


297 

zugleich  als  Probe  <)<t  naiven  über  unkritischen  Breite  ihreä  Verfassers  in 
buchstäblicher  Uebersetziing  wiederhole.*) 

Vol.  1,  pag.  2 alle  Inseln   weiche   das  Beerings-Meer    vom    stillen 

Ocean  trennen,  nennt,  man  im  Allgemeinen  die  Aleatischen  Inseln  oder 
den  Aleatischen  Archipel  und  die  '/um  Unalaschkaer  Bezirke  gehö- 
rigen, d.  h.  von  Amuchta  bis  Aljak.va  reichenden  Inseln,  so  wie  auch 
alle,  jenseits  (soll  wohl  heissen  östlicher  als  die  Westspitze  von)  Aljak-a 
gelegenen  die  Fuchs  in  sein. 

Vol.  2,  pag.  1.  Die  Bewohner  der  hiesigen  (d.  h.  zum  Unalaschkaer 
Bezirke  gehörigen)  Inseln,  welche  von  den  Russen  und  von  allen  Europäern 
Aleuty  genannt  werden,  nennen  sich  selbst  Unängan.  Dieses  Wort  be- 
deutet auf  Kussisch  gar  nichts  uud  lässt  sich  von  keinem  anderen  Aleutischen 
Worte  ableiten.  (Freilich  giebt  es  ein  Aleutisches  Wort  Unängan,  wel- 
ches der  russischen  Präposition  sa  [dem  Deutschen  für,  hinter,  jenseits  | 
entspricht,  z.B.  in  tschau  uuangän  =  hinter  der  Hand ;  aber  hieraus  kann 
man  schwerlich  irgend  etwas  schliessen.  Anm.  d.  Russ.  Verf.)  Die  hiesigen 
Einwohner  haben  den  Namen  Aleuty  ursprünglich  von  Russen,  namentlich 
»Sibiriern,  erhalten.  Weshalb  aber  diese  letzteren  sie  Aleuten  genannt  haben, 
ist  schwer  darzuthun.  Wenn  man  die  Sprache  der  Aleuten  und  ihr  Benehmen 
kennt,  so  kann  man  wohl  glauben  dass  sie,  bei  ihrer  ersten  Begegnung  mit 
den  Russen,  als  ihren  ersten  Besuchern  und  den  ersten  Leuten  die  sie  ausser 
sich  selbst  und  ihren  Nachbarn  sahen,  aus  begreiflicher  Verwunderung  zu 
einander  gesagt  haben:  alik  uaja  oder  abgekürzt  aliuaja,  das  heisst:  Was 
ist  das?  und  dass  sie  ferner  auf  jede  Frage  der  Russen,  die  in  jedem  Fall 
der  Aleutischen  Sprache  unkundig  waren  und  welche  sie  daher  nicht  verstan- 
den, mit  denselben  Worten  alik  oder  aliuaja  geantwortet  (!!)  haben,  welche 
auch  im  gewöhnlichen  Gespräche  oft  gebraucht  werden  und  bisweilen  wie 
eine  Angewöhnung.**)  Indem  nun  die  Russen  diese  Laute  sehr  oft  hörten, 
konnten  sie  glauben,  dass  die  Eingebornen  sich  selbst  so  nannten  (!!)  — 
oder  sie  mögen,  wegen  der  Unmöglichkeit  deren  wirklichen  Namen  zu  erfah- 
ren, angefangen  haben,  dieselben  Aliuty  und  nachher  Aleuty  zu  nennen. 
Diese  selbe  Hypothese  über  den  Namen  der  Aleuten  stellt  auch  Chamisso 
auf,  der  1817  auf  Unalaschka  war." 

„Ausser  der  allgemeinen  Benennung  Unängan  haben  die  Hiesigen 

(d.  h.   die   Insulaner  des   Unalaschkaer  Bezirkes)   auch   noch   örtliche 

Benennungen,  und  namentlich  werden  die  Bewohner  vonUnga  und  alle 


*)  Sapiski  ob  ostrowach  Unaläschkinskago  Otdjela,  J.  Wenjarainowa,  Tsch. 
1  i  II.  und:  Sapiski  ob  Atchinskich  Aleutach  iKoloschach,  Tsch.  III.,  d.  h.  Aufzeich- 
nungen über  die  Aleuten  des  Unalaschkaer  Bezirkes,  Bd.  1.  u.  2.  und  Bd.  ;;.  oder  Zugabe  von 
Aufzeichnungen  über  die  Atchaer  Aleuten  und  die  Koloschen. 

**)  Im  Russischen  lautet  diese  kaum  glaubliche  Versicherung:  kak  prislöwie,  d.  h. 
wie  eine  angewöhnte  Redensart  oder  wie  ein  Sprichwort,  und  es  wäre  unbegreiflich, 
wenn  wirklich  die  Frage:  was  ist  das?  irgendwo  zu  dieser  Rolle  gekommen  wäre. 


298 

übrigen   bis  Uniinak:   Khägan  Tajagungin,    d.  h.    östliche   Leute 

oder  Männer*)  genannt. 

Die  Unimaker  nennt  man  Unimgin. 

Die  Bewohner  der  Krenizyninsel  und  einiger  Dörfer  auf  Unalaschka: 

khigigun,  d.  h.  nordöstliche. 

Die  übrigen  Unalaschkaer  und  die  Bewohner  von  Uinnak:  Khau- 

1  j  an  gi  n  oder  K  a g  u  1  j  a  n  g  i  n. 

Die   Bewohner  der   tschetyrech   aopotschnie   ostrowa    nannte 

man  ehemals  akügan,  d.  h.  dortige,  die  der  kry*ji  ostrowa:  kaghun. 
Die  Bewohner  der  zunächst   an  Kamtschatka   gelegenen  Inseln  Sa- 

>  i  g  n  a  n , 

und  die  der  Andrejanow'schen  Inseln  überhaupt  bisweilen  Namigün, 

d.  h.  die  Westlichen." 

Ob  die  hier  zur  Auswahl  gelassenen  zwei  Vermuthungen  über  den  Na- 
men der  Aleuten  von  Chamisso  so  ernstlich  gemeint  Maren,  wie  der  russische 
Beschreiber  annimmt,  bleibe  dahin  gestellt.  Es  ist  aber  gegen  die  erste  der- 
selben einzuwenden,  dass  doch  die  Fremden  vernünftiger  Weise  nicht  vor- 
aussetzen konnten,  die  Insulaner  haben  ihnen  vor  Allem  den  Namen  mit 
dem  sie  bezeichnet  sein  wollten,  zugerufen.  —  Gegen  die  zweite  Ableitung, 
nach  welcher  den  neuen  Bekannten  irgend  ein  oft  gehörtes  Wort  ihrer  Sprache 
als  Spitzname  beigelegt  worden  wäre,  spricht  alsdann  ebenso  entschieden  der 
Umstand,  dass  aus  dem  gehörten  aliuäja  das  accentuirte  und  (nach  Wen- 
jaminow's  ausdrücklicher  Erklärung  |Aleutsk.  Grammat.  §  6|)  gedehnte  äja 
nicht  wegfallen  und  durch  ein  kurz  abgestossenes  t  ersetzt  werden  konnte, 
um  so  weniger,  als  die  Russen,  nach  dem  was  sie  in  vielen  ähnlichen  Fäl- 
len gethan  haben,  einen  durch  öfteren  Gebrauch  des  betreffenden  Wortes 
ausgezeichneten  Menschen  aliuäkatschik  oder  allenfalls  auch  aliuäkatsch 
genannt  haben  wüiden  Die  Unwissenheit  der  ältesten  russischen  Ansiedler 
über  die  Bedeutung  des  kurz  vor  ihnen  aufgekommenen  ethnographischen 
Sprachgebrauches  folgte  übrigens  schon  aus  den  Aufzeichnungen  welche 
iSchelechow  über  seine  Reisen  und  Aufenthalte  in  den  amerikanischen  Com- 
pagniebesitzungen  zwischen  17G1  und  178G  hinterlassen  hat,**)  und  eben  diese 
haben  dann  auch  jenem  Gebrauche  eine  äusserst  wichtige  Begränzung  hinzu- 
gefügt, w'elche  von  allen  späteren  Beschreibe™  und  unter  ihnen  auch  von 
Wenjaminow  an  einer  andern  Stelle  seines  Buches,  anerkannt  worden  ist. 
Schelechow  hat  nämlich,   wahrscheinlich   schon    um    1761    auf  Unalaschka 


*)  In  Wenjaminow'sAleutischer Grammatik  und  Vokabular  (Opy  t  Grammatiki  aleutsko- 
lisjewskago  jasyka,  Petersburg  184(1)  treliupt  es  durchaus  nicht,  diese  Angabe  zu  verificiren. 
Für  östlich  von  Unalaschka  wohnende  steht  daselbst  pag.  43:  khigadaghinan  —  und  dem 
Tajagungin  kommt  am  nächsten:  Tajagunakh  =  ein  Läufling  oder  Räuber,  so  dass 
oben  etwa  khiga  tajagungin  stehen  und  die  Erklärung:  nach  Osten  Entflohene  lauten 
müsste. 

**)  Puteschestwie  G.  Schelechowa  w'dwuch  tschastjach.     Sankt  Petersburg  1812.     Vergl. 
auch  Erman,  Reise  u.  s.  w.,  Histor.  Ber.  Bd.  3,  S.  36. 


200 

gehört,   I7s.r)  aber  durch  viele  genau  geschilderte  eigene  Erlebnisse  dargethan, 
dass   die   postulirte  Verbreitung  von  einerlei  sogenannten  Aleuten  über  die 
ganze  Kette  der  asiatisch-amerikanischen   Inseln    auf  der  letzten  un.l 
grössten    von    ihnen,    das    ist    auf   Kadjak    oder    Kyktjak    (also    bei    -r>''» 
bis  58°  Breite,    mit  203°   bis   20(i°   O.   v.    Paris)   entschieden   aufhöre.*)     Er 
Ix 'weist    auf    das    unleugbarste,    dass   zwischen    den    östlichsten    Bewohnern 
der    Fueh  sin  sein    (bei     102°    0.   v.    Paris)    und    denen     von   Kadjak    (203 
O.  von  Paris)    eine    totale    sprachliche    Trennung    bestehe,    zu   welcher    bis- 
her   zwischen    170"   und    102     O.    von    Paris    dunhaus    nichts  Aehnliches    vor- 
gekommen   war.     Nach    Wenjaminow   soll    die   Kadjaker   Sprache   mit    dem 
Unalaschkaer  Aleutischen    nicht    mehr   als  die  zwei   Worte:    adakh  = 
Vater  und  tangakh  =  Bär  gemein  haben.    Den  Namen  Konjagi,  unter  dem 
Schelechow   die  Bewohner  von  Kadjak    als   einen   neu  bekannt  gewordenen 
Volksstamm  aufführte  und  sehr  gründlich  beschrieb,  hat  er  wie  mehrere  ähn- 
liche Stellen  seines  Buches  mit  der  bedeutungslosen  Phrase:   tak  oni  ime- 
nujutsja,  d.  h.  denn  so  werden  sie  genannt,  begleitet.    Sein  Konjagi 
mag  aber  wohl  mit  Konägikh  zusammengehangen  haben,  welches  nach  Wen- 
jaminow in  der  aleutischen  Sprache  so  Viel  als  das  russische  Kadjak  zi,  d.  h. 
die  Bewohner  von  Kadjak  bedeutet.  Es  ist  jedenfalls  jetzt,  neben  der  allein 
üblichen  letzteren   Bezeichnung,   in  Vergessenheit  gerathen.  --   Zur  Sache  ist 
aber  festgestellt  worden,  dass  zu  der  von  dem  Aleutischen  streng  geschiede- 
nen Sprache   dieser  Kadjaker,    an    der   ("istlichen    oder   amerikanischen    Küste 
des    Berings-Meeres    zwischen    60°    und     66°    Breite,     viele     ihr    nahe    ver- 
wandte Dialekte  gefunden   werden,   und  dass  dieselbe  Kadjaker  Sprache  end- 
lich   auch    auf    der    asiatischen    Seite    der    Berings -  Strasse    von    denjenigen 
Tschuktschen-Geschlechtern  bequem  verstanden  wird,  denen  die  Sprache 
der  östlichen  Aleuten  durchaus  fremd  erscheint. 

Alles  Vorstehende  fasse  ich  demnach  dahin  zusammen: 
Aleut  ist  eine  bedeutungslose  und  werthlose  Benennung,    welche   auch 
zu    conventioneller  Bezeichnung    nur    für    die   Bewohner    der    zwischen   170 
und  102°  0.  v.  Par.  an  der  Südgrenze  des  Berings-Meeres  gelegenen  Inseln 
gebraucht  werden  darf. 

Nichts  beweist  dass  weder  die  Gesammtheit  dieser  Insulaner  noch  irgend 
ein  Zweig  derselben  jemals  sich  selbst  einen  generischen  Namen  gegeben 
habe.  Es  ist  höchstens  vorgekommen,  dass  je  einer  dieser  Zweige  seine  ver- 
schiedenen Nachbarn  nach  der  Lage  ihrer  Wohnplätze  gegen  den  seinigen 
bezeichnet  hat. 

Wer  sind  und  was  heisst  Koljuschen? 
Bei  den  Erklärungsversuchen  über  die  von  den  Russen  jedenfalls  indistincl 
verwendeten  Ausdrücke  Koljuschi,  Koloschi  und  Koljuyi  begegnet  man 

•)  Schelechow,  a    a.  0.  Th.  1,  S.  3  bis  55. 


300 

zunächst  demselben  Mangel  an  historischen  Relegen,  wie  bei  der  vorigen 
ethnographischen  Frage.  —  ausserdem  aber  einer  Assonanz  des  zu  deutenden 
Namens  an  bekanntes,  die  man  sich  schwer  entschliesst  für  so  zufällig  und 
trügerisch  zu  halten,  wie  von  ihr  neuerdings  behauptet  worden  ist. 

Während  meines  Aufenthaltes  auf  »S'itcha  und  lange  nach  demselben 
habe  ich,  wie  gewiss  viele  meiner  Vorgänger,  nicht  bezweifelt,  dass  in  dem 
Namen  der  Koljuschi  oder  Kolju/i  der  Begriff  der  russischen  Verbalfor- 
men kolju,  ich  durchsteche  oder  spalte,  koljus,  ich  steche  mich,  sowie 
von  deren  Derivirten:  koljutschi  oder  kolj  utsch,  stechend,  und  dem  durch 
seine  (ichthyologische)  Diminutivform  Kolju  seh  ki  =  Stichlinge  odergaste- 
rostei,  völlig  autorisirten  Kolj  uschi  =  die  Stechenden  oder  Spaltenden  ent- 
halten sei  ,  welcher  dann  natürlich  auf  die  Lippendurchschneidung  der 
Koljuschinnen  zu  beziehen  gewesen  wäre.  Die  Russen  hätten  dann  durch  die 
von  ihnen  eingeführte  Benennung  diese  bemerkenswerthe  Volkssitte  eben  so 
deutlich  hervorgehoben,  wie  es  durch  den  von  den  französischen  Canadiern 
eingeführten  Namen  der  Nez  perces  mit  einer  ähnlichen  Sitte  bei  den  näch- 
sten südwestlichen  Nachbarn  der  Koljuschen  geschehen  ist.*) 

Dieser  anscheinend  so  genügenden  Ansicht  wird  nun  aber  von  Wenja- 
minow  widersprochen,  in  einer  Stelle  seiner  Beschreibungen,  von  der  ich,  wie- 
der aus  den  oben  genannten  Gründen,  eine  genaue  und  vollständige  Ueber- 
setzung  folgen  lasse:**) 

„Die  Koloschi  nennen  sich  selbst  Tlinkit  mit  dem  Beisatze  antukuän, 
also  Menschen  von  überall  oder  Menschen  aller  Ortschaften.***) 
Woher  sie  aber  die  Benennung  Koloschi  oder  Kolju/i  erhalten  haben,  ist 
nicht  bekannt.  Von  den  Engländern  werden  sie  bald  Indians  im  Allgemei- 
nen genannt,  bald  Street-Indians,  d.  h.  Anwohner  der  Prince  of  Wales 
Street  und  anderer  Strassen.  Bisweilen  hört  man  zwar  auch  einen  Koloschen 
sich  selbst  oder  einen  seiner  Landsleute  Kon 6 seh a  nennen,  aber  dieser  Aus- 
druck ist  nur  das  entstellte  russische  Koloscha.  Welcher  von  den  Namen 
Koloscha  (Plur.  Koloschi)  und  Kolju/a  (Plur.  Koljuyi)  ist  nun  der 
richtige?  In  den  früheren  Beschreibungen  findet  man  immer  Kolju/a,  und 
wenn  dieses  das  richtige  ist,  so  hat  man  die  Koloschen  wohl  des- 
wegen Kolju/i  oder  auch  Kalju/i  (?!)  genannt,  weil  ihre  Frauen  die  Ka- 
lu/ki  tragen,  d.  h.  die  bekannten  Verzierungen  ihrer  Gesichter.  Das  Wort 
Kalu/ka  stammt  von  dem  aleutischen  Kaluga,  mit  dem  man  ein  jedes 
hölzerne  Geschirr  bezeichnet  und  welches  von  den  dort  lebenden  Russen 
schon  längst  angenommen  ist." 

*)  Vergl.  über  diese  die  Karte  zu  Catlin,  letters  and  notes  on  the  Northameri- 
can  Indians,  Vol.  I,  bei  43°  Br.,  240°  0.  v.  Par.,  und  Vol.  II,  pag.  108. 

**)  Sapiski  i.  pr.  Wenjaminowa,  Tsch   III,  Str.  28. 

,1")  In  dem  russiseh-koljuschischen  Vokabular  desselben  Verfassers  finde  ich  von  zur  Er- 
klärung dieser  Angabe  Passendem :  Mensch  =  tlinkit  (aber  wenn  für  Mann  =  hka),  Wohn- 
platz (russisch  Selenie)  -  an,  und  vielleicht  auch  aller,  e,  es  --  iltakat.  —  Cf.  Sa- 
mjetschanija  o  Koloschenskora  i  Kadjakskom  j  asykach.    St.  Petersb.  1846,  8vo.  81  S. 


301 

Was  zunächst  den  letzten  Theil  dieser  Behauptung  betrifft,  dass  die  nach 
.Sitcha  übersiedelten  Russen  für  den  doch  nicht  neuen  Begriff  eines  belie- 
bigen hölzernen  Schnitzwerks  den  aleutisclien  Ausdruck  uls  den  ihnen 
passendsten  und  geläufigsten  angenommen  haben  sollen,  so  verliert  er  freilich 
seine  äusserste  Unwahrscheinlichkeit  durch  die  Erinnerung  an  ganz  ähnliche 
und  sehr  häufige  Vorgänge  in  Nord-Asien.  Auf  dem  Landwege  von  der  Ost- 
see zum  grossen  Oceau  beobachtet  man  fast  als  einen  eigentümlichen  and 
charakteristischen  Hang  der  russischen  Einwanderer,  dass  sie  zugleich  mit 
den  Geräthen  und  auderweiten  gewerblichen  Leistungen  der  Urbewohuer,  die 
diesen  Gegenständen  von  den  Letzteren  gegebenen  Namen  in  ausschliesslichen 
Gebrauch  genommen  und  also  zum  Beispiel  in  verschiedenen  Gegenden  von 
-Sibirien,  immer  unter  Aufgebung  der  .slavischen  Benennungen,  ihre  Wohnun- 
gen nach  einander  y'urty,  tschumy,  uru<si,  schalaschi,  barabari,  ba- 
lagani,  ihr  Oberkleid:  maljza,  parka,  kukljanka,  kamlejka,  ihre  Stie- 
fel puimi,  Aari,  torbaai  u.  s.  w.  genannt  haben.  Wird  aber  auch  die  Mög- 
lichkeit der  vorstehenden  Etymologie  hiernach  zugegeben,  so  spricht  doch 
gegen  ihre  Wirklichkeit  der  seltsame  Umstand,  dass  in  dem  aleutisch-russi- 
schen  Vokabular  desselben  Verfassers  die  Form  kaluga  nirgends  vorkommt, 
und  von  Vergleichbarem  nur  kaliigin,  welches  nicht  ein  hölzernes  Geräth, 
sondern  eine  Decke  (russisch  odjejalo)  bedeutet,  sowie  endlich  khaljukh 
mit  der  Erklärung:  ein  Tisch  oder  der  Platz  auf  dem  man  isst  und 
der  vorhergegangenen  Bemerkung,  dass  das  Consonantzeichen  kh  von  dem 
reinen  k  wohl  zu  unterscheiden  und  wie  ein  etwas  gutturales  ch  zu  sprechen 
sei.  Es  folgt  dass  wenn  man  die  Bewohner  von  6'itcha  wirklich  die  Tisch- 
träger (nicht  die  Geschirrträger)  hätte  nennen  wollen,  diese  Absicht 
durch  einen  etwa  wie  Chaliuchschi  lautenden  Namen  erreicht  worden 
wäre,  d.  h.  durch  einen  möglichst  weit  von  der  Schreibart  Koloschi  abste- 
henden, für  die  sich  doch  Wenjaminow  im  Contexte  seines  Buches  durchaus 
entschieden  hat.  Schliesslich  darf  aber  noch  als  Argument  für  unsere  erst- 
genannte ungezwungenere  Etymologie  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  schon  von 
den  ältesten  sibirischen  Russen  an  der  Eismeerküste  (bei  67'  bis  67°,5 
Breite,  182°  bis  184°  0.  v.  Par.)  eine  Insel  und  eine  angräuzende  Meeres- 
strasse respective  Koljütschin  ostrow  und  Kolj  ütschinskji  proliw  be- 
nannt worden  sind.  Es  steht  fest  dass  man  diese  Stellen  der  Küste  von  jeher 
für  besonders  ergiebig  an  Walfischen,  Seehunden  und  Walrossen  gehalten  bat. 
Ob  sich  ihr  Name  auf  das  Harpuniren  oder  Stechen  dieser  Thiere  be- 
ziehen sollte,  ist  mir  zwar  nicht  aufzufinden  gelungen,  wohl  aber  dass  von 
denselben  »Sibiriern  auf  den  an  das  Eismeer  gränzenden  Mooren  nicht  bloss 
das  Stechen  der  Rennthierheerden,  die  zuvor  mit  Hunden  in  Seen  gehetzt 
und  auf  Kähnen  angefahren  werden,  durch  das  Verbuni  kolotj  (1.  Pers.  Präs. 
kolju)  bezeichnet  wird,  sondern  auch  mit  einer,  der  angeblich  aleutisclien 
völlig  gleichlautenden  Wortform :  po  kaljuga,  entweder  dieses  Jagdv erfah- 
ren oder  eine  bei  demselben  gebrauchte  eigenthümliche  Art  von  Lanzen.     In 


302 

seinem  Bericht  über  die  Anwohner  der  Eismeerküsten  schreibt  nämlich  Ile- 
denström  mich  Schilderung  jener  Rennthierhetzen  bei  den  nördlichen  Juka- 
giren  und  Jakuten  wörtlich:  icli  koljatj  uskimi  kopjami  (pokaljuga), 
d.  h.  sie  stechen  sie  dann  mit  gewissen  schmalen  Lanzen  (pokaljuga).  —  *) 

Nachdem  in  dieser  Weise  die  Benennung  Koljuschen  jedenfalls  für  eine 
russische  Erfindung  erklärt,  ihre  Beziehung  auf  den  Gebrauch  der  Lippen- 
durchbohrung festgestellt  und  nur  für  die  Etymologie  derselben  die  Wahl 
zwischen  einer  anscheinend  nahe  liegenden  älteren  und  einer  gezwungeneren 
ueuen  Annahme  gelassen  ist,  versuche  ich  noch,  als  ungleich  wichtiger,  die 
Umstände  und  die  Zeit  ihrer  Entstehung  und  die  geographische  Begrenzung 
ihrer  Anwendbarkeit  zu  ermitteln. 

Nach  Schelechow's  Reiseberichten'**)  wurde  im  Frühjahr  1788  von  Kad- 
jak,  als  dem  damaligen  Hauptsitz  der  russisch-amerikanischen  Handelsgesell- 
schaft, auf  einer  damals  sogenannten  Galeote  unter  dem  Commando  der  zwei 
Steuerleute  Ismailow  und  Botscharow  eine  russische  Mannschaft  expedirt,  mit 
dem  Auftrage,  an  der  nächstgelegenen  amerikanischen  Küste  und  längs  deren 
östlicher  und  südöstlicher  Fortsetzung  1)  neue  Inseln  zu  suchen  und  deren 
Bewohner  unter  russische  Botmässigkeit  zu  bringen,  und  2)  den  gesammten 
amerikanischen  Theil  der  Compagnic-Besitzungen  mit  den  üblichen  Zeichen 
dieser  Unterwerfung  zu  versehen,  d.  h.  Kupferplatten  mit  entsprechenden  In- 
schriften und  Darstellungen  theils  an  wiederfindbaren  Punkten  zu  vergraben, 
theils  den  Einwohnern  zu  übergeben.  Zwei  Aleuten  des  Unalaschkaer  Bezir- 
kes und  vier  Kadjaker,  die  als  Dollmetscher  zu  dieser  Gesellschaft  gehörten, 
verhalfen  ihr  zu  denkwürdigen  Aufschlüssen  über  ethnographische  Verhältnisse. 
So  verkehrten  sie  zueiöL  mit  den  Eingeborenen  derjenigen  Küsten  und  In- 
seln, welche  sie  der  bereits  benannten  Tschugätscher  Bucht  (tschu- 
gatskaja  guba)  hinzuzählen,  und  namentlich  auf  der  Insel  Tschalcha, 
von  der  sie  der  später  mit  einem  gleichnamigen  russischen  Fort  versehenen 
Stelle  den  Namen  der  Constantin-  und  Helenen-Einfahrt  beilegten.  Es 
war  hiernach  das  etwa  zwischen  G0°,25  und  G0°,9  Br.  bei  210°,5  und  211°,0 
O.  von  Paris  gelegene  Land,  dessen  Bewohner  sie  ohne  alles  weitere  als 
Tschugät sehen  aufführen.  Sie  berichten  aber  über  dieselben  unter  Ande- 
rem, dass  sie  die  Sprache  der  Kadjaker  reden  und  in  Geissei- Verbänden 
stehen  (russisch  aman jät  atsj  a),  sich  also  nicht  für  homogen  halten,  mit 
einem  gegen  Westen  an  sie  grenzenden  Stamm  der  Keuajen  (russisch  Kc- 
naizi,  Kinaizi  und  auch  Kinaji)  und  mit  den  ihnen  gegen  Osten  benach- 
barten Ugalachmj  uten.  Auch  von  diesen  beiden  Stämmen  werden  die  Na- 
men wie  etwas  anderweitig  Bekanntes  erwähnt,  und  in  ebenso  befremdlicher 
Weise  ungenügend  verfahrt  Schelecbow  endlich  auch,  indem  er,  nach  dem  Ismai- 
low scheu  Tagebuch,    anführt,,    dass  man   bei  östlicher  Fortsetzung  der  Fahrt. 


*)  Opisanie  lierogow  ledowitago  inorja  in  <S'il>irskji  wjestnik  na  1823  god.  Tscb.  '?,  str.  2t). 
'*)  Putesebestwie  Scbelecbowa,  Tbl.  2,  S.  1   bis  90. 


303 

die  Umgegend  einer  „auf  heidnisch  so  genannten"  (po  inowjer- 
tscheski  na  s  y  waj  emaj  a)  Bucht  Jakutat  (mithin,  wie  wir  jetzt,  wissen, 
etwa  59°,6  bis  (;0'J,0  Breite  bei  217°,5  bis  218°,0  O.  von  Paris)  erreicht 
und  daselbst  einen  Umgang  mit  Eingeborenen  gehabt  habe,  die  ausführlich 
und  mit   ganz  unverkennbaren  Zügen   geschildert  werden  denn  er  schliesst 

daran   wörtlich  folgende  Aussage:*) 

„Hiese  Geschlechter  werden  Kolju/'i  genannt.  Sie  wohnen  auf  dem 
Festlande  an  verschiedenen  kleinen  Flüssen.  Sie  haben  ausser  vielen 
kleinen  Häuptlingen  auch  einen  gros&eu,  dem  sie  alle  gehorchen  .  .  . 
u.  s.  w." 

Die  Verständigung  und  ausführliche  Unterhaltung  mit  diesen  Kolju/en 
oder  Kolju  sehen  gelang  den  Russen,  wie  sie  ausdrücklich  versichern,  nur 
durch  Vermittlung  eines  Knaben  der  auf  Kadjak  geboren,  darauf  von  Kenai- 
jen  gefangen  genommen  und  durch  successiven  Verkauf  zuerst  an  die  Tschu- 
gatschen,  darauf  an  die  Ugalachmjuten  und  von  diesen  an  die  Koljuschen, 
die  ihn  den  Russen  überliessen,  übergegangen  war.  Er  hatte  zu  der  Sprache 
seines  Stammes  (der  kadjakischen)  die  koljuschische  hinzu  gelernt  und  ver- 
mittelte demnach  eine  russisch-kadjakisch-koljuschische  Uebertragung. 

Die  Küste  um  die  Bucht  Jakutat  wird  sodann  als  das  westliche  und  zu- 
gleich nördliche  Ende  der  koljuschischen  Wohnplätze  und  als  deren  Grenze 
gegen  ein  Geschlecht  oder  gegen  einen  Stamm  von  sogenannten  Ugaljach- 
rajuten  angegeben. 

Der  vornehmste  Häuptling  der  Koljuschen,  den  Ismailow  bei  Jakutat  mit 
einer  von  170  Leuten  seines  Stammes  bemannten  Bootflotte  antraf,  hatte  seine 
festere  VVinlerwohnung  um  45  bis  50  geogr.  Meilen  weiter  gegen  Sü,  noch 
jenseits  der  Bucht  Ltuja,  bei  der  Mündung  des  Flusses  Tschilkat  d.  h. 
an  einer  Stelle  des  Continents,  welche  von  der  Verlängerung  der  Ostküste 
der  Admiralitätsinsel,  d.  i.  der  östlichsten  des  Sitchaer  Archipels  getroffen 
wird  —  mithin  etwa  bei  5^,5  Br.,  222°,5  O.  v.  Par. 

Wir  wissen  jetzt  dass  diese  Stelle  von  dem  nordwestlichen  Ende  des 
von  Koljuschen  eingenommenen  Landstriches  vielleicht  um  nicht  mehr  als  ein 
Fünftel,  in  jedem  Falle  aber  um  weniger  als  ein  Drittel  des  grössten  Durch- 
messers desselben  absteht.  Das  Erstcrc  würde  der  Fall  sein,  wenn  man  ge- 
radezu, nach  der  einen  von  Wenjaminow's  einander  widersprechenden  An- 
gaben, annehmen  könnte,  dass  die  Wohnsitze  der  Koljuschen  von  ihrer  nörd- 
lichen Grenze  unter  (!0,5U  Breite  ununterbrochen  bis  zu  45  Breite  rei- 
chen**) und  zwischen  diesen  Parallelkreisen  alle  dem  Continente  vorgelager- 
ten Inseln  und  einen  Küstenstrich  von  unbekannter  Breite  einnehmen.  Die 
Anwohner  des  Columbia-Flusses,  die  auf  Sitcha  Kolumbjizy  genannt,  von 
den   Engländern    und    Anglo-Amerikanern    alter    dem   Stamme   der   Klatheads 


*)  Putechestwie  u.  s.  w.  Scheleeliowa,  Thl.  2,  S.  4C>. 
**)  Sapiski  u.  s    w.  YVenjauiiuova,  Thl.  3,  S.  20. 


304 

zugerechnet  werden,  würden  dadurch  für  Koljuschen  erklärt,  auch  behauptet 
YYenjaininow  ausdrücklich,  dass  unter  den  Ätchaer  Koljuschen  viele  der  so- 
genannten Kalgi,  d.  h.  der  ärmeren  und  dienstbaren  Familien  dergleichen 
Kolumbjizy  seien.*)  Ich  werde  auf  diese  Angabe  bei  Betrachtung  der  Ein- 
zelheiten zurückkommen,  bemerke  aber  schon  jetzt,  dass  der  Verf.  sie  gerade 
durch  eine  anscheinend  bestätigende  Ausführung  äusserst  zweifelhaft  gemacht 
hat.  Wenjaminow  fügt  nämlich  hinzu,  dass  zum  Beweise  ihres  Columbischen 
Ursprungs  die  niederen  Koljuschen  (Kalgi)  auf  Sitclm  gewöhnlich  einen 
nach  oben  spitzen  Schädel  hätten  und  noch  häufiger  einen,  dessen  linke 
Hälfte  proenjinire.  Für  dieselbe  Zeit  auf  welche  sich  diese  angebliche  Wahr- 
nehmung bezieht  (die  .Jahre  1832  bis  1839),  sagt  aber  nun  Catlin  von  den 
Flatheads,  die  in  zahlreiche  Gesellschaften  (bands)  getheilt,  am  unteren 
Columbia  wohnen:  sie  verdanken  zwar  ihren  Namen  unzweifelhaft  der  Sitte, 
ihren  Kopf  flach  zu  drücken;  es  giebt  aber  unter  den  so  Benannten  nur 
äusserst  wenige,  welche  diese  seltsame  Sitte  wirklich  ausüben.-1*) 
Eine  Eigenschaft,  die  an  dem  ganzen  Stamm  nur  äusserst  selten  vorkommt, 
konnte  aber  unmöglich  an  einem  dem  Zufall  überlassenen  Auszuge  aus  dem- 
selben als  eine  gewöhnliche,  ja  sogar  als  eine  noch  häufiger  als  ge- 
wöhnlich vorkommende  erscheinen! 

Erheblich  verengert  erscheint  dagegen  die  südliche  Begrenzung  des  be- 
treffenden Landes  durch  eine  speciellere  Nachweisung  desselben  Beschreibers, 
in  welcher  zuerst  an  Koljuschen  innerhalb  des  Gebietes  der  russischen  Com- 
pagnie  die  in  16  Ortschaften  zwischen  Jakutat  (60°  Breite  mit  218,2° 
0.  v.  Par.)  und  <S'anajan  (bei  55°  Breite  mit  220,6°  0.  v.  Par.)  wohn- 
haften aufgeführt  und  deren  Zahl  bis  um  das  Jahr  1835  auf  10000,  nach 
einer  Verheerung  durch  die  Pocken  um  das  Jahr  1839  aber  nur  noch  auf 
5800  bis  6000  angegeben,  sodann  aber  zu  denselben  gegen  14000  auf  eng- 
lischem Gebiete  wohnhafte  Koljuschen  gezählt  werden.  Von  den  letzteren 
sollten  namentlich  6000  in  einem  Districte  Nasa  oder  Nasy  (w'Nasje  ili 
Nasach)  leben,  d.  h.  offenbar  an  dem  Naasriver  der  von  Dali  compilirten 
amerikanischen  Karte,  an  dessen  Mündung  das  Fort  Simpson  gelegen  ist,***) 

♦)  Ibid.  S  30  Aniu. 

•*)  Catlin,  letters  aml  notes  &c,  Bd.  2.  S.  108. 

***)  Die  Bekanntschaft  der  Sitchaer  Koljuschen  mit  dieser  Gegend  folgt  aus  einer  gelegent- 
lichen Mittheilung  von  Wenjaminow  (Sapiski  n.  s.  w.  Bd.  «5,  S.  37).  Nach  dieser  versetzen  die 
i'itchaer  Sagen  den  Ursprung  des  Ostwindes  (bei  dem  der  später  zu  besprechende  Gott  El  sich 
aufhalten  soll)  an  die  Quelle  des  Flusses  Nasa,  welcher  sich  in  die  Bucht  Nas  auf  der  Grenze 
der  russischen  und  englischen  Besitzungen  ergiesst.  Eben  deshalb  heisst  auch  der  Güttersitz 
auf  Koljnschisch:  Nas-schakiel  von  Nas  =  dem  Namen  des  Flusses,  Schaki  von  aschak 
-  die  Quelle  und  El  =  dem  Namen  des  Gottes.  —  Durchaus  irrtlnimlich  ist  hiernach  Catlin's 
Angabe,  welcher  den  Naas-Stamm  an  die  Mundung  des  Columbia,  d.  i.  um  150  geogr.  Meilen 
zu  weit  südlich  versetzt  (letters  and  notes,  Vol.  '2,  pag.  113:  In  the  vicinity  of  the  luouth  ol 
lli-'  Columbia  there  are  besides  the  Chinooks,  the  Klickatacks,  Chechaylas,  Naas  and  manj 
othera  ,  zugleich  aber  von  den  Frauen  dieser  Naa.s  die  Durchbohrung  und  Ausstattung  der  Un- 
terlippe in  einer  auf  die  Sitchaer  Koljuscbionen  ununterscheidbar  passenden  Weise  abbildet. 


305 

Hie  übrigen  8000  aber  auf  der  Queen  Charlotte-  oder  Tschirikow- 
Insel.  Die  hierdurch  zu  etwa  5J°  Breite  bestimmte  Südgrenze  der  Ko- 
ljuschen wird  aber  schliesslich  noch  einmal  gegen  Süden  auf  49°  bis  50° 
Br.  versetzt,  durch  die  resumirende  Angabe  von  Wenjaminow,  dass  die  Ko- 
ljusclien  selbst  sich  mit  Einschluss  aller  Bewohner  des  Festlandes  von  Jaku- 
tat  bei  60u  Breite  bis  zu  den  Indianern  von  New -Albion,  d.  h.  bis  zur 
Juan  de  Fucas- Strasse  und  49", 5  Breite,  in  die  zwei  Stämme  Kiksati 
und  Zitkujati,  d.  h.  in  den  Raben-  und  den  Wolfs-Stamm  theilen.  Die 
Einschränkung  auf  die  conti  nentale  Küste  gilt  aber  offenbar  nur  zwischen 
49°, ü  und  50°, 5  Br.,  um  die  Wakasch  oder  Eingebornen  der  Vancouver- 
lusel  von  den  Koljuschen  auszuschliessen,  welche  dagegen  zwischen  51° 
und  60°  Breite  recht  vorzugsweise  die  dem  Festlande  vorgelagerten  Inseln 
besitzen 

Zu  der  Darstellung  dieser  ethnographischen  Nomenclatur  auf  der  beige- 
gebenen Karte  habe  ich  die  entsprechende  für  die  nördlicheren  amerikanischen 
Küsten  des  Berings-Meeres  (zwischen  60°  und  66°  Breite)  und  für  die  asia- 
tischen Küstenländer  (von   70°  bis  46°  Br.)  gefügt. 

Namen   der   nördlichen   amerikanischen  und  asiatischen  Küsten- 
bewohner. 

Man  hat  hiernach  in  den  ersteren  oder  nordamerikanischen  Küstenländern, 
ausser  den  Aleuten  und  Koljuschen,  nur  noch  zwei  sprachlich  selbständige 
Völker:  die  auf  Russisch  sogenannten  Kodjakzy  oder  auch  Konjagy  und 
die  Ttynai  zu  unterscheiden  und  deren  ursprüngliche  geographische  Verthei- 
lung  etwa  so  anzunehmen,  wie  sie  die  Colorirung  unserer  Karte  angiebt.  Das 
erstere  dieser  Völker  erstreckt  sich  längs  der  amerikanischen  Küste  minde- 
stens bis  zum  Polarkreise,  ausserdem  aber  gegen  Westen  über  die  Berings- 
Strasse    und  mehr  als    100   geogr.  Meilen  weit   durch  Nord-Asien.     Es  wird 


Eine  so  arge  Verwirrung  wäre  unerklärlich,  wenn  nicht  Catlin  ausdrücklich  sagte  (a.  a.  O.  p.  108), 
dass  er  Alles  was  er  über  diese  westamerikanischen  Stämme  berichtet,  nur  durch  Hören- 
sagen, die  von  ihnen  herstammenden  und  auf  seinen  Tafeln  210  und  2101t,  ab- 
gebildeten Gegenstände  aber  nur  durch  indirekte  Einkäufe  für  seine  Sammlung 
erhalten  habe.  Dieser  Umstand  ist  nicht  bloss  in  Betracht  der  hier  in  Rede  stehenden  südlichen 
Begrenzung  der  Koljuschen  bemerkenswerth ,  sondern  auch  weil  er  zugleich  für  die  mit  so  be- 
sonderem Interesse  aufgenommenen  Zeichnungen  von  Schädeleindrückungen  und  die  dazu  ge- 
brauchten Vorrichtungen  gilt.  Vergl.  was  darüber  noch  neuerdings  von  Hrn  Virchow  gesagt 
wurde  im  Sitzungsber.  der  Berl.  Gesellsch  für  Anthropologie  vom  15.  Januar  1870,  pag.  8.  Es 
sind  gerade  diese  die  einzigen  Darstellungen  des  vortrefflichen  Werkes,  zu  denen  Catlin  jede 
Angabe  ihres  Ursprunges,  den  er  doch  sonst  so' sorgfältig  zu  schildern  pflegte,  unterlassen  hat. 
Der  angebliche  Compressionsapparat  der  Columbier  ist  aber  nach  Form  und  Beschaffenheit  so 
durchaus  identisch  mit  den  tragbaren  Wiegen,  welche  wandernde  Samojeden  und  Tungusen  ge- 
brauchen (vergl.  meine  Reise  u.  s.  w  ,  bist.  Ber.,  Bd.  1,  S.  707  und  Bd  2,  S.  420),  dass  Catlin's 
seltsame  Deutung  eines  Theiles  desselben  nur  durch  eigene  Anschauung  seiner  Anwendung  be- 
glaubigt werden  konnte.  Ueber  eine  Schädelform ,  die  scheinbar  durch  Compression  entstan- 
den, nach  Catlin  aber  sich  selbständig  forterben  soll,  bei  den  Hinitari  am  obern  Missur 
vergl.  letters  and  notes,  Vol.  I,  pag.  193  und  pl.  77  u.  7  8. 

Zeitschrift  für  Ethuologie,  Jahrgaug  1870.  21 


306 

daselbst  innerhalb  seines  etwa  5000  Quadratmeilen  einnehmenden  Verbreitungs- 
bezirkes, je  nach  seiner  nomadischen  oder  mehr  sesshaften  Lebensweise,  mit 
den  zwei  gleich  willkürlichen  Namen  Tschuktschi  und  Naniolli  belegt, 
aber  mit  Recht  unterschieden  von  den  gegen  Süden,  längs  der  Küste  und 
auf  den  Inseln  des  Berings-Meeres  und  des  offenen  Oceans  wohnenden  so- 
genannten Korjaken,  Kamtschadalen  und  Kurilen. 

Für  das  andere  der  beiden  nordamerikanischen  Hauptvölker  scheint  der 
Name  Ttynai  der  passendste,  denn  Capitäu  Sagoskin  hat  dieses  Wort  bei 
seinem  Umgang  mit  den  mittleren  und  am  meisten  unverändert  erhalteneu 
Stämmen  desselben  sowohl  für  den  Begriff  Mensch  in  Gebrauch  gefunden, 
als  auch  zur  Beantwortung  der  üblicher  Weise  auch  von  ihm  gestellten  Frage 
nach  ihrem  Eigennamen.*)  Ich  werde  auf  dieses  Wort  bei  Gelegenheit  einer 
sehr  charakteristischen  Eigenthüiulichkeit  des  betreffenden  Volkes  zurückkom- 
men. Hier  ist  aber  zu  bemerken,  dass  wohl  auch  der  Name  Kenai  oder 
Kinai  (russisch  Kenai  zy  und  Kinaizy),  den  man  dem  zuerst  bekannt  ge- 
wordenen Stamme  desselben  an  der  Kenajer  Strasse  und  Kenajer  Bucht  zu 
geben  pflegt,  durch  eine  etwas  verschiedene  Aussprache  oder  Auffassung  der 
Laute  eutstanden  ist,  die  Sagoskin  durch  Ttynai  zu  bezeichnen  suchte. 
Wenn  man  mit  Hrn.  Schott  voraussetzt,  dass  das  Tt  des  russischen  Schrift- 
steller nur  eine  Verstärkung  des  Zungen-Gaumenlautes  T  bedeuten  solle,  so 
wäre  freilich  dessen  Uebergang  in  die  Kehllaute  Ke  oder  Ki  nicht  wahr- 
scheinlich. Sagoskin  selbst  hat  aber  bei  der  Mittheilung  seiner  später  zu  er- 
wähnenden Sprachproben  über  die  Bedeutung  der  betreffenden  Schreibart  jede 
erklärende  Angabe  unterlassen. 

Ueber  die  in  Europa  allgemein  gangbaren  Benennungen  der  nordasiati- 
schen Küstenvölker  ist  hier  zu  erinnern,  wie  schon  Steller  deren  Ursprung 
durchweg  willkürlich  und  werthlos  gefunden  hat.  Den  Namen  Tschuktschi 
erkannte  er  für  eine  Entstellung  von  Tschautschu,  das  ist  von  einem  Aus- 
druck den  die  sogenannten  Korjaken  für  die  sesshaften  Stämme  ihres  eignen 
Volkes  gebrauchen.  Seine  jetzige  Anwendung  involvirt  demnach  einen  dop- 
pelten Mißbrauch,  weil  er  von  einem  Zweige  eines  nicht  kadjakischen 
Volkes  auf  den  eines  kadjakischen  übei tragen  worden  ist  und  ausserdem 
von  sesshaften  Leuten  des  erstem  auf  nomadische  des  andern.  Nach  dem 
jetzigen  russischen  Sprachgebrauche  werden  nämlich  vorzugsweise  unter 
Tschuktschi  die  mit  ihren  Rt  nnthierheerden  wandernden  Geschlechter  des 
gleichbenannten  Stammes  und  unter  Namolli  diejenigen  verstanden,  die  nach 
dem  Verlust  ihrer  Heerden  zu  ansässigen  Fischern  und  Jägern  geworden  sind- 

Die  Korjaken  sind  von  den  Russen  wahrscheinlich  nach  dem  Worte  chöra 
benannt  worden,  mit  dem  sie  selbst  ein  Rennthier  bezeichnen  und  welches 
daher   bei  den  Verhandlungen  der  Eindringlinge  mit  eleu  Eingeboruen  zuerst 


•)  Yergl.   L.  Sagoskin's   Heise    und   Entdeckungen   im   russibclien   Amerika  im   Arcb.   fül 
»issenscli.  Kunde  von  Russland,  Bd.  VI,  S.  499  u.  tU3,  Bd.  VII,  S.  429  u.  480. 


:i07 

und  vorzugsweise  gebraucht  wurde  Cnter  dem  zu  benennenden  Volke  selbst 
soll  muh  An  eines  Gattungsnamens  das  Wort  Tumugutu  üblich  gewesen 
sein,  offenbar  aber  nur.  wie  immer  in  ähnlichen  Füllen,  zur  Bezeichnung  eines 
Stammes  desselben  durch  einen  andern. 

Noch  unberechtigter  sind  bekanntlich  die  Benennungen  Kamtschadalen 
und  Kurilen.  Die  Cl'Stere  ist  ausser  jedem  Zusammenhange  mit  dem  Auf- 
druck Iteljmen.  den  das  zu  bezeichnende  Volk  von  jeher  für  jeden  mensch- 
lichen Einwohner  und  daher  auch  für  die  ihrem  Laude  angehörigen  ausschliess- 
lich gebraucht  hat  Er  wird  noch  näher  erklärt  durch  das  sogenannt  kamt- 
schadalische  Wort  itelachsa  ich  wohne  oder  lebe.  Dass  aber  die  Sylbe 
inen  für  sich  einen  Mann  bedeutet  (wie  Krascheninikow  angeblich  nach 
Steller  zur  Erläuterung  des  Iteljmen  angiebt),  scheint  auf  einem  Irrthum 
zu  beruhen.*)  Zu  einiger  Erklärung  des  Ausdrucks  Kamtschadal  oder 
K  am  t  seh  ad  a  le  z,  der  schon  in  den  Berichten  der  ältesten  Reisenden  vor- 
kommt, hat  man  angenommen,  dass?  ihn  diese  dem  einigermassen  gleichlau- 
tenden ehontschala  nachgebildet  haben,  welches  bei  den  Korjaken  zur  Be- 
zeichnung ihrer  südlichen  Nachbarn  in  Gebrauch  war.  Einen  Zusammenhang 
mit  dem  kanitschadalischen  Worte  kam/a  oder  ksamsan  =  Mensch  halte 
ich  aber  für  etwa  in  gleichem  Maasse  wahrscheinlich  (s.  die  vorige  Anmer- 
kung), wenn   auch   ebenso  unerweislich  wie  den  bisher  angenommenen. 

Die  russischen  Namen  Kurili  und  Kurilskie  ostrowa  sollen  endlich 
aus  einem  Worte  Kuschi  oder  Kusch  in  entstanden  sein,  mit  dem  die  be- 
tielbnden  Insulaner  von  den  Kamtschadalen  bezeichnet  wurden.  Es  ist  kaum 
zu  glauben,  dass  dieses  Wort  rein  appellativisch  gebraucht  wurde.  Seine  ur- 
sprüngliche Bedeutung  ist  aber  eben  so  unbekannt,  wie  sein  Uebergang  in 
den  fast  allzu  weit  abstehenden  russischen  Namen  Kurili  unvermittelt  ge- 
blieben. 

Auf  der  nun  schliesslich  noch  eiumal  zu  betrachtenden  amerikanischen 
Seite  des  Berings-Meeres  werden  die  ethnographischen  Namen  bei  weitem 
zahlreicher,  wenn  mau  zu  dem  bisher  Erwähnten  die  Augaben  von  Einwan- 
derern und  Reisenden  über  Stamme  s  unterschiede  der  Eiugebornen  hinzu- 
nimmt. Ein  jedes  der  vier  als  sprachlich  selbständig  aufgezählten  Völker  zer- 
fällt dann  entweder  in  einige  Abtheilungen,  deren  Dialecte  man  bereits  nach 


*)  Opisanie  Kamtsehatki  Step.  Krascheninikowym  1755,   ito,  Tsch.  3,  str.  3,  uuü  Eruaau, 

Reise  ii.  s.  w.,    liistor.  Ber.,    Bd.  3,  S.  251  u.422,   wonach    l>ei   den  jetzigen  Bewohnern  von 

Kamtschatka  der  Ausdruck  Iteljmen    wie  Itenemeii  lautete,   ti'ir  den  Begriff  Men sc li  aber 

um   in  Gebrauch  waren  bei 

den  nordwestlichen    den  mittleren 

sogenannten  Kamtschadalen 

die  Worte  Ksänisan  ,    ,  . 

tisch   kain/a. 
und   lisch  kämya  I 

Das  räthsel hafte  Kamtschadal  der  russischen  Einwanderer  könnte  somit  von  ihnen  auch  wohl 

/ur  Annäherung  an  die  Worte  Ksamsan  und  Käm/a  gebildet  worden  sein,  welche  sie  zugleich 

mit  dem   Iteljmen  und  nahe  gleichbedeutend  anwenden  hörten 

21* 


308 

eingehenderer  Untersuchung  als  verschieden  erkannte,  oder  in  weit  zahlrei- 
chere Stämme,  die  nur  selbst  sich  für  einander  fremd  und  ihre  Verbreitungs- 
bezirke meist  für  nicht  grösser  erklärt  haben  sollen,  als  die  jedesmaligen  Ab- 
stände der  Wohnplätze  in  dem  Lande  dem  sie  angehören. 

Als  Unterabtheilungen    der    ersteren  Art   erwähnt  Wenjaminow  und  sind 
auf  unserer  beiliegenden  Karte  zu  finden: 

bei  den  Aleuten     die  Unalaschkaer 
und  Atchaer, 
bei  den  Koljuschen  die  Jakutater  unter  4, 
„     «Sitchaer        „      5, 
„     Kaiganer       „      6, 
bei  den  Ttynai    „     Atachtani      „      3a,    die    als    Anwohner    der 

mjednaja   rjeka  (d.  h.   des  Kupfer- 
flusses)   auch    unter    dem   Namen 
Mjednöwzy  aufgeführt  werden, 
„     Koltschani  unter  3  b, 
„     Kuskokwimjuti  unter  3  c, 
„     Kwichpagmjuti      „       3d, 
bei  den  Kadjakern  (Ka- 

nägikh)   oder  Konjagi     „     eigentlichen  Kadjaker  unter  2a, 
„     Aglegmjuti  unter  2  b, 
„     Tschugatschi  unter  2  c, 
„     Tschuagmjuti     „       2d, 
„     Malegmjuti         „      2e, 
„     Tschuktschi        „       2  f. 
Von  den  Stammesnamen  der  andern  Art  habe  ich  nur  einige  verzeichnet, 
zu  welchen  entweder  bemerkenswerthere  ethnographische  Angaben  vorliegen, 
"wie  die  von  Sagoskin  über  die  kadjakischen  Stämme  Asjagnijuti  und  Kaug- 
julit  und  der  ttynaischen:  lnkilik  und  J  ugclnj  ut,  oder  aber  einander  wi- 
dersprechende, die  einer  Ausgleichung  bedürfen.   Es  gilt  dies  namentlich  von 
den  Ugalachmjuti,  die,  wie  schon  oben  erwähnt,  von  den  ältesten  Beschreibem 
als  ein  an  die  Koljuschen  grenzender,  aber  ihnen  entschieden  fremder  Stamm 
geschildert,    von  Wenjaminow  dagegen  den  Jakutater  oder  nördlichen  Kolju- 
schen als  iutegrirend  und  gleichartig  zugezählt  werden.     Es  ist  um  so  wahr- 
scheinlicher  dass    in  dieser  Gegend  die  späteren  und  jetzigen  ethnologischen 
Verhältnisse    erst   durch  Entstellung  aus  den  ursprünglichen  entstanden  sind, 
da   auch    Wenjaminow's    gesammte   Unterscheidung   zwischen    mittleren    oder 
»S'itchaer  Koljuschen  und  nördlichen  oder  Jakutater  Koljuschen  der  ausdrück- 
lichen Versicherung  der  älteren  Reisenden,   dass  beide  identisch  seien  (vergl. 
u\>vu  S.  303),   widerspricht. 


309 


Auf  dem   Ocean  zwischen  Kamtschatka  und  -Sitcha. 

Auf  dem  5fi(!  deutsche  Meilen  betragenden  Wege,  den  wir  zwischen  dem 
]:»  October  und  f>.  November  von  Petropaulshafen  (d.  i.  53°  0',5  Br  ,  l.r>f>°  I9',8 
0.  v  Par.)  nach  Neii-Archangelsk  (d.  i.  57°  2',7  Br,  222°  U',3  0.  v.  Par) 
in  einein  bis  47"  Hr.  gegen  Süden  reichenden  Bogen  zurücklegten,  haben 
wir  14  Punkte  durch  sorgfältige  astronomische  Beobachtungen  bestimmt.  Die 
Vcrgleichung  dieser  Punkte  mit  den  entsprechenden  welche  das  Schiff  ohne 
jeden  Einfluss  von  Meeresströmungen  erreicht  haben  würde,  hat  zu 
einem  auch  in  ethnologischer  Beziehung  beachtenswerthen  Resultate  geführt. 
In  der  .Gesammtheit  der  bezeichneten  Gegend  des  grossen  Oceans  fand  sich 
nämlich  die  Meeresoberfläche  während  der  genannten  Jahreszeit  in  einer  nach 
Ost  zum  Süd  gerichteten  Strömung,  welche  erst  nahe  bei  Amerika  in  eine 
nach  Norden  gerichtete  überging.*)  In  beiden  Districten  wurden  durch  den 
vorherrschenden  Wind,  d.  h.  durch  einen  westlichen  in  dem  ersteren  und 
durch  einen  südlichen  in  dem  anderen,  diese  Wasser -Bewegungen  nicht 
allein  erklärt,  sondern  auch  ihre  Wirkungen  auf  die  Schifffahrt  erheblich  ver- 
stärkt. Ich  habe  mich  aber  ferner  durch  Rechnungen  über  andere  Schiffstage- 
bücher überzeugt,  dass  während  des  Sommers  eine  jede  der  genannten  Be- 
wegungen in  ihr  Entgegengesetztes  übergeht 

Es  folgt  hieraus,  dass  sowohl  absichtliche  wie  zufällige  Uebergänge  von 
Asien  nach  Amerika  im  Spätherbst  und.  Winter  durch  die  Naturverhält- 
nisse erleichtert  werden,  freilich  aber  nicht  mehr,  als  dergleichen  von  ent- 
gegengesetzter Richtung  im  Sommer.**) 

Unsere   meteorologischen  Messungen    während  der  Ueberfahrt  haben  fer- 
ner etwa  für  die  Mitte  des  genannten  Weges,   das  heisst  für 
den  26.  Oct.  bei  51°,1  Breite,  i  das  Tagesmittel  der  Lufttemperatur   -   f  5°J  R. 
187°,5  0.  v.  Par.  J    „  „  „    Wassertemper.  =  4-  6°,4  R. 

und  mithin  die  erstere  um  4°, 9  R  grösser  ergeben,  als  an  demselben  Tage 
sowohl  bei  Petropanshafen,  als  auch  (wegen  der  fast  nord-südlichen  Richtung 
des  betreffenden  Elementes  einer  Isotherme)  bei  51°  Breite  auf  Kamtschatka. 
Dieser  höchst  merkliche  Unterschied  scheint  geeignet,  um  reisefähige  Thiere 
eben  dahin  zu  locken,  wohin  ihnen  zu  Anfang  und  während  der  kalten  Jah- 
reszeit auch  die  genannten  Luft-  und  Wasserströmungen  förderlich  sind. 
Meerwärts  ziehende  Schnepfen  haben  wir  denn  auch  wirklich  neben  und  auf 

*)  Vergl.  meine  „Ortsbestimmungen  bei  einer  Fahrt  durch  den  Grossen  und  den  Atlan- 
tischeji  Ocean  auf  der  Corvette  Krotkoi  u.  s.  w."  im  Archiv  für  wissensch.  Kunde  von  Russl., 
Bd.  X,  S.  496,  512  u.  5o9 

**)  Zur  Bestätigung  dieses  Resultates  und  namentlich  der  zweiten  Hälfte  desselben  werden 
alljährlich  von  der  amerikanischen  Küste  ungeheuer  viele  Baumstämme  an  die  Ostseite  der  Mat- 
w  ei -Insel  (61°  Breite,  185°  0.  von  Paris)  und  der  ihr  zunächst  gelegenen  unbenannten  klei- 
nen Insel  gespült,  während  an  den  Westseiten  derselben  keine  Spur  von  Treibholz  zu  finden 
ist.  Schon  Sarytschew  sah  hierin  mit  Recht  den  Beweis  einer  zur  Sommerzeit  im  Berings- 
Meere  herrschenden  Strömung  von  der  amerikanischen  gegen  die  asiatische  Küste. 


310 

unserem  Schiffe  zuletzt  noch  bei  30  deutsche  Meilen  von  iler  nächsten  kann 
schatischen  Küste  gesehen,  sowie  auch  bei  8  deutsehe  Meilen  von  dieser 
Küste  einen  sie  verfolgenden  Wanderfalken  (Falco  peregrimis) ,  den  östliche 
Windstösse  ermattet  zu  uns  trieben,  gefangen  und  von  da  ab  einen  Mona! 
lang  beherbergt.  Als  acht  Wochen  später  ein  dne  Schnepfen  und  Ctrandläti- 
fern  genau  so  wie  der  genannte  kamtschatische  nachstellender  F.  <pei'egnnu8 
der  erste  war,  den  ich  an  der  californischen  Küste  schoss,  mag  dieser  Zufall 
uns  bestärkt  haben,  die  Herkunft  von  Asien  auch  denjenigen  Schnepfen, 
Tringa- Arten,  Enten,  Kampfbahnen  und  den  zahllosen  wilden  Gänsen  zuzu- 
schreiben, die  man  dort  im  December  ebenso  wiederfand,  wie  man  sie  im 
Sommer  an  ähnlich  gelegenen  Stellen  von  Kamtschatka  gesehen  hatte. 

Zu  der  Annahme  so  ungeheurer  Wanderungen  wurden  wir  aber  geneig- 
ter, als  wir  nahe  an  der  Mitte  und  am  südlichsten  Punkte  unserer  dermaligen 
Fahrt  sowohl  Seepapageien  [Lunda  arciica  J'all.,  L.  j.wutacida  Pall.),  wie  auch 
kamtschatische  Urily  (Phalao'ocora.v  bicristatus  Pull.)  trafen,  mithin  zweierlei 
Vögel,  welche  bei  den  nordischen  Seefahrern  für  untrügliche  Landboten  gel- 
ten.*) Wir  vermutheten  in  jener  Gegend  eine  Insel,  auf  die  manche  Angaben 
früherer  Reisenden  deuteten,  und  so  wurde  denn  auch  trotz  sehr  stürmischen 
Wetters  und  daher  nicht  ohne  Beschwerde  des  Nachts  gelothet,  um  eine  un- 
angenehme Berührung  mit  den  nahe  geglaubten  Herbergen  jener  Vögel  zu 
vermeiden.  Wir  fanden  aber  weder  damals  noch  am  folgenden  Tage  irgendwo 
weniger  als  600  engl.  Fuss  Tiefe  und  auch  sonst  keinerlei  Spur  von  Land 
oder  Felsen.  Die  für  sesshaft  gehaltenen  Thiere  mussten  also  entweder  für 
Wanderer  erklärt  werden,  die  sich  von  ihrem  Ausgangspunkte  und  von  ihrem 
Ziele  gegen  300  geogr.  Meilen  entfernt  befanden*'"'')  oder  für  unfreiwillig  Ver- 
schlagene. Es  wäre  ihnen  im  letzteren  Falle  nicht  anders  wie  den  japanischen 
Schiffern  ergangen,  welche  von  ihren  Küstenfahrten  längs  der  Kurdischen 
Inseln  weit  in  den  Ocean  hinaus  getrieben  wurden  und  dann  theils  bei  den 
Aleuten  landeten,  theils,  nach  langem  Umherirren,  an  der  Ostküste  von  Kamt- 
schatka. Unter  fünf  Irrfahrten  dieser  Art,  die  sich  in  den  Jahren  1729,  1785, 
1790,  1796  und  1811  ereigneten,  haben  die  zweite  und  vierte  mit  der  Ankunft 
der  Japaner  auf  den  aleutischen  Inseln  geendet,  die  erste  zwar  mit  einer 
Landung  an  der  Südspitze  von  Kamtschatka,  jedoch  erst  im  Sommer  (18.  Juni), 
nachdem  die  Reisenden  ihren  Mast  uud  ihr  Ruder  verloren  und  während  211 
Tagen  (seit  19.  Novbr.)  willenlos  wohl  bis  nahe  an  eine  amerikanische  Küste 
irctrieben  hatten.  Strom  und  Wind  haben  um  das  Ende  dieser  Fahrt  —  den 
Jahreszeiten  gemäss  —   die  Wirkung  wieder  aufgehoben,    welche   sie  auf  die 


*)  Auch  in  dem  amtlichen  Logbuch  der  Corvette  wurde  damals  verzeichnet:  „halten  uns 
für  nah   an   Land,    wegen  der   l'rily,   die  um   uns   fliegen." 

**)  Wenn  man  nämlich  eine  Wanderung  derselben  von  Kamtschatka  nach  Amerika  an- 
nahm. Die  nächste  aleutische  fnsel  Amtschitka  lag  naher,  jedoch  immernoch  81  Meilen 
nördlich  von  unsenn  damaligen  Orte. 


311 

erste  Hälfte  derselben  geübt  hatten  *)  Von  den  Japanern  die  um  1790  nach 
rinn  russischen  Küste  verschlagen,  1792  durch  den  jüngeren  Laxmann  zu 
den  Ihrigen  zurückgebracht  und  bei  diesen  wegen  unerlaubt  weiten  Eleisens 
zu  ewiger  Einsperrung  veiurtheilt  wurden,  halte  ich  nicht  erfahren  können, 
ob  sie  in  Amerika  oder,  wie  die  von  1811,  auf  Kamtschatka  strandeten.  Zu- 
fällige Uebergünge  von  Asien  nach  den  amerikanischen  Inseln  und  Küsten 
halten  sich  aber  wählend  des  letzten  Jahrhunderts  jedenfalls  häufig  genug  er- 
eignet, um  «lass  man  deren  Vorkommen  iu  weit  früheren  Zeiten  für  an  sich 
nicht   unwahrscheinlich  erklären  rnuss. 

Nachdem  wir  am  4.  Novbr.  Mittags  bei  frischem  Südostwinde  die  ameri- 
kanische Küste  gerade  so  wie  unsere  Rechnung  erwarten  Hess,  erblickt  hat- 
ten (denn  die  Sitchaer  Festung  sollte  damals  6,7  geogr.  Meilen  von  uns  nach 
NG7°0  hiu,  der  Edgecomh  neben  ihr  und  beträchtlich  näher  liegen),  verging 
noch  der  folgende  Tag  und  die  Nacht  zum  6.  Novbr.  mit  Behauptung  des  er- 
reichten Ortes  unter  einem  wüthenden  Winde  aus  S  und  SW.  Erst  am  6. 
kurz  vor  Mittag  hatten  wir  näher  an  der  S'itchaer  Einfahrt  beigelegt  und  mit 
der  Flagge  einen  Lootsen  gefordert. 

Empfang  und  Landung  auf  <Sitcha. 

Was  bald  darauf  vom  Saling  des  Hauptmastes  gemeldet  und  sodann  auch 
vom  Verdeck  ans  sichtbar  wurde,  erschien  täuschend  wie  zwei  schmale 
schwarze  Fische  von  seltenster  Länge,  die  ungehindert  über  die  Kämme  der 
Wellen  hinweggli'teu.  Ein  zierliches  europäisches  Boot  bewegte  sich  zwischen 
ihnen  und  der  schäumende  Bug  desselben  zeigte  schon  aus  der  Ferne  die 
Anstrengung  seiner  vier  Ruderer,  um  sich  neben  den  cylindrischen  Wesen 
zu  erhalten.  Es  waren  diese  die  ersten  dreilukigen  Lederboote 
(Baidaren)  die  ich  sah,  nachdem  ich  die  einlukigen  oder  Baidarkeu 
schon  iu  Ochozk  und  Petropaulshafen  kennen  und  bewundern  gelernt  hatte."") 

Die  aleutischeu  Ruderer  in  der  vorderen  und  hinteren  Luke  eines  jeden 
dieser  Fahrzeuge  und  der  Lotse  in  der  mittleren  Luke  des  einen  von  ihnen 
waren,  wie  erwartet,  mit  der  sogenannten  Kamleika  bekleidet  und  mit  deren 
Rand  in  das  Verdeck  gebunden,  während  eingenähte  Schnüre  sie  auch  um 
den  Hals  und  die  Handgelenke  wasserdicht  schlössen;  denn  hier  war  es  Ernst 
geworden  mit  der  oft  gehörten  Behauptung,  dass  die  Kleidung  der  Baidaren- 
fahrer  einen  unerlässlichen  Theil  ihres  Schiffes  ausmache,  und  dass  sie  in  den 
über  das  Verdeck  wie  über  einen  Fischkürper  schlagenden  V\  eilen  auf  die 
Undurchdringlichkeit  ihres  durchscheinenden  Rockes  ebenso  zu  rechnen  hat- 
ten,  wie   der  Luftschiffer   auf  die    seines   Ballons.     Auch   verstand   sich   von 

*)  Bekanntlich  zum  Unglück  der  betroffenen  siebzehn  Manu,  die  bei  den  Aleuten  gut  auf- 
genommen worden  wären,  bei  den  Russen  auf  Kamtschatka  aber  von  einem  räuberischen  Be- 
amten (dem  sogenannten  Pjatidesjatnik  oder  Kosakeniuhrer  Schtschinikow)  und  dessen  Bande 
geplündert  und  bis  auf  zwei  erschlagen  wurden. 

**)  Vergl.  meine  Reise  um  die  Erde  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  3,  S.  67  ff. 


312 

selbst,  dass  hier  nach  uuverderbter  Landessitte  die  Baidaren  aus  den  Fellen 
der  Phoca  nautica  (den  sogenannten  Lachtaki  der  Russen)  genaht  waren, 
die  Kamleiki  aber  aus  den  Därmen  des  »Siwutsch  (Phoca  leoiiina)  oder 
aus  Walfischdärmen,  anstatt  wie  die  werthlosereu  Surrogate  der  russischen 
Händler  aus  den  Schleimhäuten  des  Halses  der  Robben,  die  nach  echter 
Landessitte  nur  zur  Fussbekleidung  dienen  sollen.*)  Die  Aleuten  hatten  den 
Fremden  zu  Ehren  auch  einen  andern  Theil  ihrer  merkwürdigen  Traoht  so 
vollständig  wie  in  den  Zeiten  ihrer  Freiheit  und  Blüthe  angelegt.  Sie  trugen 
die  hölzernen  Hüte,  deren  lange  Schirme  die  Augen  der  Baidarensehiffer  vor 
der  Wellenspreu  zu  schützen  bestimmt,  welche  aber  ausserdem  mit  geschnitz- 
ten und  bemalten  Figuren  und  über  der  linken  Seite  des  Kopfes  mit  Büscheln 
von  Barthaaren  des  Seelöwen  höchst  geschmackvoll  und  sinnreich  verziert  sind. 

Trotz  ihres  unentstellten  Ansehens  waren  jedoch  diese  Insulaner,  wie  alle 
ihre  Landsleute  auf  »Sitcha  und  wie  die  Seeleute  auf  dem  europäischen  Boote 
welches  sie  geleiteten,  nur  übersiedelte  und  dienstbare  Untergebene  der  rus- 
sischen Handelscompagnie. 

Die  eingebornen  und  freien  Bewohner  von  »Sitcha,  die  Koljuschen,  hat- 
ten sich  zwar  auch  und  weit  zahlreicher  zu  dem  üblichen  Empfange  der 
Fremden  aufgemacht.  Sie  verlassen  aber  nicht  die  Meeresstrassen,  von  denen 
der  Theil  von  Amerika  den  sie  bewohnen,  überall  durchsetzt  und  für  ihre 
Wanderungen  und  Jagdzüge  wie  eigens  vorbereitet  erscheint.  In  einer  dieser 
Strassen,  die  von  dem  Ocean  auf  die  »S'itchaer  Rhode  führt,  fanden  wir,  dicht 
neben  dem  gewaltigen  Seegang  der  draussen  von  den  letzten  Stürmen  noch 
blieb,  ein  kaum  bewegtes  WTasser.  Auf  diesem  und  mitten  in  dem  prachtvol- 
len Walde,  von  dem  wir  nun,  noch  unter  Segel,  rings  umgeben  waren,  hiel- 
ten in  zahlreichen  Gruppen  die  offenen  hölzernen  Boote  der  Koljuschen,  mit 
Männern  und  Frauen,  die  nur  zur  Hälfte  bekleidet,  mit  seltsamst  geschmück- 
ten Gesichtern,  die  Ankommenden  theils  nur  mit  aufgehobenen  Rudern  be- 
grüssten,  theils  schon  die  Gastgeschenke  entgegenhielten,  durch  welche  sie 
wie  andere  Handelsvölker  jeden  neuen  Umgang  zu  einem  freundschaftlichen 
und  später  vortheilhaften  zu  machen  gewohnt  sind. 

Unter  Anschluss  an  eine  auf  der  Rhede  gezeichnete  Gesammtansicht  und 
an  einige  Vegetationsbilder  aus  der  Umgebung  von  Neu- Ar changelsk**) 
habe  ich  schon  früher  über  das  Klima  des  Koljuschenlandes,  insofern  es  des- 
sen Vegetation  und  die  Lebensart  seiner  Bewohner  bedingt,  und  sodann  über 
die  Trennung  der  »S'itchaer  Niederlassung  in  eine  europäisch-aleutische 
Hälfte  und  in  die  den  eingebornen  Herren  des  Landes  verbliebene  (dem  so- 
genannten  Koljuschen- Dorf)    das   Wesentlichste    erwähnt.***)     Es  folge 


•)  So  wie  Quappenhäute  bei  den  ichthyophagischen  Ostjakenstämnien  am  Obj.  Vergl. 
meine  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  1,  S.  570,  547. 

•*)  Nach   F.  11.  v.  Kittlitz,  Vegetationsansichten  von  Küstenländern  der  Südsee. 

•••)  Sitzungsber.  der  Beil.  Gesellsch.  für  Anthropol.  vom  15.  Januar  1870,  pag.  2.  Um  die 
klimatischen  Bedingungen  und  die  Vegetationsverhältnisse  der  nordamerikanischen  Küstenländer 


313 

daher  nun,  was  ich  in  diesem,  seinem  ursprünglichen  Zustande  mich  nicht 
entfremdeten  Thcile.  der  Insel  nach  einander  gesehen  und  durch  manche  münd- 
liche und  schriftliche  Mittheilungen  der  russischen  Nachharn  der  Koljuschen 
zu  ergänzen  gesucht  habe.  Zu  den  Erfahrungen  der  erstcren  Art  ist  zu  er- 
wähnen, dass  sie  mir,  wie  alle  späteren  bei  meiner  Rückkehr  von  Kamtschatka 
nach  Europa  auf  der  Corvette  Krotkoi,  in  steter  Gemeinschaft  mit  dem  jetzigen 
Adiniral  und  damaligen  Midshipman  der  nissischen  kaiserlichen  Flotte  Herrn 
Eugen  Bereits  zuTheil  wurden.  Dieser  ausgezeichnete  Seemann  hat  mir  aber  noch 
vor  wenigen  Wochen  geschrieben,  dasa  viermalige  Reisen  um  die  Erde  und 
ebenso  zahlreiche  Aufenthalte  auf  Sitcha  sein  Interesse  für  unseren  ersten 
Verkehr  mit  den  Koljuschen  nicht  zu  schwächen  vermocht  oder  unsere  Ur- 
tbeile  über  dieselben  wesentlich  geändert  haben. 

Die  Koljuschen  auf  »Sitcha. 

Mit  der  gewünschten  Ausschliessung  der  Eingebornen  aus  der  europäi- 
schen Niederlassung  wurde  es  nicht  allzu  streng  genommen,  denn  in  der  Nähe 
der  am  Strande  gelegenen  russischen  Häuser  sah  man  oft  ein  einzelnes  Boot, 
in  dem  einige  Koljuschen  anscheinend  absichtslos  ruhten.  Sie  waren  aber 
dann  immer  mit  den  Einwohnern  des  Hauses,  in  das  sie  nicht  eintreten  durf- 
ten, in  Unterhandlung  um  die  Steinbutten,  die  Enten,  das  Wildschaf  u.  dgl., 
die  sie  gezeigt  und  dann  wieder  versteckt  hatten  und  welche  sie  erst  nach 
mehrmaliger  Erhöhung  des  gebotenen  Preises  losschlugen.  Die  koljuschischen 
Frauen,  denen  der  Handel  wie  alle  ökonomische  Thätigkeit  von  ihren  Män- 
nern übertragen  ist,  zogen  diesen  heimlichen  Verkehr  dem  erlaubten  vor,  der 
auf  einem  dazu  bestimmten  Marktplatz  zu  verabredeten  Zeiten  gewünscht 
wurde.  Eine  wesentlichere  Ausnahme  von  jener  Ausschliessung  stand  aber 
auch  vertragsmässig  fest.  Sie  betraf  den  Besitz  einer  Oertlichkeit,  die  ganz 
nahe  bei  den  Grenz-Palisaden,  aber  noch  auf  der  russischen  Seite  derselben 
liegt.  Es  ist  diese  ein  kleines  felsiges  Vorgebirge,  welches  vom  Lande  aus 
einen  bequemen  Zugang  hat,  gegen  das  Meer  aber  als  eine  senkrechte  Klippe 
abfallt.  .In  den  Morgenstunden  war  nun  immer  die  breite  Oberfläche  dieses 
Felsens  von  einem  Haufen  koljuschischer  Männer  und  Frauen  eingenommen, 
die  regungslos  auf  den  Fersen  hockend  und  die  Schultern  in  ihre  wollenen 
Mäntel  gehüllt  in  das  Meer  hinaus  sahen.  Sie  schienen  mir  immer  in  fest- 
licher Tracht   und   hatten   oft  auch   bemalte   Gesichter.     Man   hat   bei   diesen 

mit  den  ihnen  entsprechenden  nordasiatischen  zu  vergleichen,  bemerke  ich  noch,  dass  bei  glei- 
cher Breite  auf  5itcha 

die  jährliche  Mitteltemperatur  um  4°,2  grösser, 
die  Temperatur  des  kältesten  Tages  um  8°,8  grösser 
und  dagegen  nur  die  Temperatur  des  wärmsten  Tages  um  1°,0  kleiner  ist  als  aut  Kamt- 
schatka. Vergl  meine  Reise  u  s.  w.,  histor.  Ber ,  Bd.  3,  S.  :T8  u  5G0  —  sowie  über  den  ebenso 
schönen,  als  von  dem  Sitchaer  verschiedenen  landschaftlichen  Habitus  und  die  Vegetation  kamt- 
schatischer  Wohnplätze  an  der  Westküste  und  im  Innern  der  Halbinsel:  a.  a.  0.  S.  135,  156, 
310  u.  a.  und  im  Atlas  zu  S.  351,  4t',n,.  :,  n,  ,51. 


314 

seltsamen  Sitzungen,  welche  von  Alters  her  die  Aufmerksamkeit  und  die  Be- 
sorgnis«; der  Kusseu  erregl  haben,  an  blosse  Wetterbeobachtungen  gedacht, 
nach  denen  die  Koljuschen  etwa  ihren  Fischfang  und  andere  Geschäfte  ein- 
richten wollten.  Die  geringe  Höhe  ihres  Sitzplatzes  macht  aber  denselben  zu 
solchen  Beobachtungen  kaum  merklich  geeigneter  wie  jeden  andern  Punkt 
des  Strandes.  Einigen  Aufschluss  über  die  Meinung  oder  den  Glauben  welche 
diesem  auszeichnenden  Gebrauche  zu  Grunde  lagen,  gewährt  dagegen  die 
ausdruckliche  Erwähnung  solchen  Sitzens  auf  der  Klippe  in  denjenigen 
Sagen  der  Kolj  tischen,  von  denen  eine  wörtliche  Uebersetzung  vorliegt  Das- 
selbe wird  dort  einerseits  als  ein  Genuss  genannt,  den  man  sich  nur  bei 
glücklichster  Müsse  gönnen  könne  und  ausserdem  als  Folge  der  Trauer  oder 
eines  Unglücks,  bei  dem  dann  dem  Betroffenen  in  wunderbarer  Weise  vom 
Meere  aus  Hülfe  zu  Theil  wird  (vergl.  unten  über  Religion  und  Sagen 
der  Kolj us eben). 

Die  20  bis  30  Wohnhäuser  des  Sitchaer  Koljuschendorfs  unterschieden 
sich  durch  leichtere  und  zierlichere  Bauart  vor  den  Balkenhäusern,  die  man 
in  Sibirien  und  auf  Kamtschatka  als  Winterwohnungen  ansässiger  Stämme 
zu  sehen  gewohnt  wurde,  ohne  doch  weder  mit  den  Sommerwohnungen  die- 
ser Stämme  überein  zu  kommen,  noch  mit  den  stets  kegelförmigen  trag- 
baren Stangenbauten  (Zelten),  welche  die  wandernden  Nord-Asiaten  in 
überall  gleicher  Weise  mit  Decken  aus  Filz,  aus  Rennthierfellen,  aus  genäh- 
ten Streifen  von  Birkenrinde  oder  von  Fischhäuten  belegen.*) 

Die  Wände  dieser  /S'itchaer  Häuser  bestehen  aus  behauenen  Bohlen,  die 
/.wischen  vier  Eckpfosten  mit  ihrer  längsten  Seite  senkrecht  neben  einander 
gestellt  sind  und  daher  mit  ebenfalls  senkrechten  Fugen  auf  den  Wänden 
sichtbar  bleiben.  Die  Dächer  sind  (vierflächig  pyramidal)  ziemlich  stumpf  ge- 
neigt und  bestehen  gleichfalls  aus  brettartig  behauenen  Hölzern,  ohne  die 
bei  den  jakutischen  und  anderen  Winterjurten  übliche  Beschwerung  mit  Stei- 
nen oder  Erde.  In  der  einen  der  kürzeren  Wände  dieses  oblongen  Gebäudes 
bildet  eine  elliptische  Oeffnung  die  Thüre,  zu  der  meistens  einige  Stufen  so- 
wohl von  aussen  als  auch  von  dem  etwas  tieferen  Fussboden  des  Wohnrau- 
mes führen.  In  diesem  sind  die  der  Thüre  gegenüber  und  zur  Seite  gelege- 
nen Wände  wie  in  allen  nordasiatischen  Winterwohnungen  von  den  auf  rus- 
sisch sogenannten  näry  eingenommen,  d.  i.  von  mannslangen,  4  Fuss  breiten 
und  etwa  \}2  Fuss  hohen  Schlaf bänken,  die  ausserdem  am  Tage  von  den 
[•'lauen  bald  als  Tische,  bald  als  Sitze  gebraucht  und  von  denen  je  mehrere 
durch  zwei  Matten  oder  Felldecken  zu  einem  Abschlage  für  eine  der  zum 
Hause   gehörigen  Familien    verbunden    werden.     Bei    gleicher  Anordnung  des 

\  ergl.  beziehungsweise  Ermau,  Reise; u.  s.  w  ,  histor  Ber.,  Bd.  1,  S.  425;  Bd.  2,  S.  103; 
Bd.  l,  S  693;  IM.  2,  8.  300,  339,  362,  307;  Bd,  •->,  S.  ±00  u.  420  über  diese  Anordnung  bei  den 
Baschkiren,  den  ßuräten,  den  Samojeden,  den  Jakuten  und  den  Fiseh-Tungusen,  und  die  Zeich- 
nungen zu  Catlin,  letters  and  notes  u.  s.  w.  über  deren  häufiges  Vorkommen  im  Osten  der 
Rock]   Mountains  zwischen  50°  und  45°  N.  Br. 


810 

Innern  fehlte  also  hier  vollständig  diejenige  Ucberschüttung  des  hölzernen 
Gebäude«  mit  eiuern  Erdhügel,  die  Kamtsohadaleu  und  Aleuten  nach  ursprüng- 
licher Tradition,  die  Kangjulil  am  Norton-Sunde  (63"  bis  fiö"  Breite,  107" 
( ).  von  P.u-i.s)  bis  in  die  acueste  Zeil  für  ihre  Winterwohnungen  gebrauch 
ten*)  und  welche  man  sodann  aufs  bemerkeuswertheste  und  vollständigste 
übereinstimmend  —  am  oberen  Missuri  bei  den  sogenannten  Mandan 
und  den  ihnen  zuuächsl  lohnenden  Stämmen  wiederfindet  (etwa  47,5"  Ib., 
335"  O.  v.  Par.).**J 

Gewisse  grössere  und  auch  im  Innern  wesentlich  anders  eingerichtete 
Gebäude,  die  von  den  Russen  sogenannten  Kasim  oder  Kay  im  <\<:>,  Dorfes, 
leinten  wir  eist  bei  einigen  späteren  Gelegenheiten  kennen.***)  -  Zwischen 
die  Wohnhänser  eingestreul  stehen  aber  ausserdem  die  zu  Trockenanstalten 
und  Vorrathskammern  dienenden  Bauwerke,  d.  i.  kastenförmig  durch  senk- 
rechte Bohlen  begrenzte  und  überdachte  Räume,  welche  10  bis  15  Fuss  über 
dem  Erdboden  liegen  und  mittelst  eines  leiterartig  eingekerbten  Baumstammes 
erstiegen  werden.  Der  untere,  nur  durch  den  Boden  dieses  oberen  Stockwer- 
kes bedeckte  Raum  dient ,  wie  die  Unterhälfte  der  Balagane  auf  Kamtschatka 
und  wie  die  Wjescheläk  bei  Ochozk,f)  zur  Bereitung  des  Jukola  -  flenn 
mit  diesem  auf  Kamtschatka  üblichen  Ausdruck  haben  die  Russen  das  an  der 
liiit'i  getrocknete  Fischfleisch  auch  in  ihren  amerikanischen  Colonien  überall 
benannt.  Die  Anordnung  und  Verwendung  dieser  Bauwerke  sind  hei  den 
nördlicheren  Anwohnern  der  amerikanischen  Küste  genau  dieselben  wie  auf 
Sitcha  und  ebenso  auch  mitten  in  Nordasien  bei  den  Ostjaken  am  Obj.ffJ  — 
Der  kanitschatische  Gebrauch  ihres  oberen  Stockwerkes  zu  den  nestartig  ein- 
gerichteten Sommerlagern,  die  man  Luft-Pfahlbauten  nennen  könnte,  ist  aber 
hierher  eben  so  wenig  gelangt  wie  irgend  eine  Erinnerung  an  die  vielbesag- 
ten   Wasser-Pfahlbauten  oder  an  schwimmende    Wohnungen. 

Dem  Häuptling  des  Rabenstammes  derKoljuschen,  Nauschket,fff)  hatten 
wir  bei  unserem  ersten  Aufenthalt  in  ihrer  Niederlassung  den  Besuch  zu  er- 
wiederu,  den  er  unserem  Schiffe,  sobald  es  vor  Anker  gegangen,  gemacht 
hatte.  Er  war  nun  vor  Allem  bedacht,  uns  die  Reichthümer  bewundern  zu 
lassen,  welche  er  und  die  Seinigen  theils  unabhängig  von  den  russischen 
Kaufleuten,  theils  gegen  deren  Willen  und  ihnen  zum  Trotz  zu  erlangen  wussten. 


*)  Vergl.  Sagoskin  im  Archiv  für  wissenschaftl    Kunde  von  Russl.,  Bd.  VI,  S.  öüC. 
**)  Vergl.  Catlin,  letters  aud  aotes  u.  s.  w.,  Vol.  I,  tab.  47,  69,  pag.  81  u.  a 
***)  Die  Benennung  Ka/im   ist  zuerst  auf  Kadjak  für  dieselbe  Art   von  Gebäuden  üblich 
gefunden  worden. 

t)  Vergl.  meine  Reise  u.  s    w.,  bistor.  Der.,  Bd.  3,  S.  IM,  307,  414,  410  und  S.  13. 
"HO  Sagoskin  a.  a.  U.  und  Erman,  Reise  a    a.  0.,  Bd.  1,  S.  567. 

ttt)  Dass  die  »Sit.  haer  Russen  diesem  wie  allen  andern  angesehenen  Männern  eines  belie- 
bigen l  rvolkes  den  Titel  Tojön  beilegten,  isl  bedeutungslos,  denn  die  Annahme  dieses  jakuti- 
schen Wortes  (Erman,  Reise,  bistor.  Ber.,  Bd  2,  S  246)  gehurt  zu  den  oben  erwähnten  miss- 
bräuchlichen  Verallgemeinerungen  ihrer  Erfahrungen  auf  dem  Landwege  durch  Nordasien.  ,\gl 
auch  unten  über  Freiheit  und  Sklaverei  bei  den  Koljuschen.) 


316 

Zu  den  letzteren  zählten  vortreffliche  Doppelflinten  und  Büchsen,  die  aller- 
dings aufs  überraschendste  abstachen  von  den  sogenannten  Wintowki,  d.h. 
den  am  Ural  gearbeiteten  groben  Stutzen,  den  einzigen  die  sowohl  durch 
Nord-Asien  als  auch  hierher  durch  den  russischen  Handel  verbreitet,  wurden. 
Die  Koljuschen  erhielten  jene  kostbaren  Gewehre  bei  ihrem  Pelzhandel  mit 
amerikanischen  Schiffern  in  den  Strassen,  oder  auch  durch  indirekte  Ver- 
bindung mit  ihren  Verwandten  auf  der  Vancou ver-Insel.  Sie  jagen  auf 
dem  Festlande,  betreiben  aber  auf  dem  Meere  so  vorzugsweise  den  eigent- 
lichen Fischfang,  dass  sie  das  Walfischfleisch,  die  vorzüglichste  Ausbeute 
der  Seejagden  und  die  Lieblingsspeise  der  Aleuten,  sogar  für  unrein  und 
verboten  erklärt  haben.  Aus  eben  diesem  Grunde  haben  sie  die  Vorzüge  der 
Feuerwaffen  eben  so  schnell  und  so  willig  anerkannt,  wie  die  meisten  nord- 
asiatischen Stämme.  Sie  unterscheiden  sich  auch  hierdurch  von  den  Aleuten, 
welche  auf  der  Baidare  ihre  Wurfwaffen  von  uralter  und  ihnen  durchaus 
eigentümlicher  Einrichtung  beibehalten,  gegen  die  europäischen  aber  einwen- 
den, dass  der  Knall  und  der  Pulvergeruch  das  schon  an  sich  äusserst  em- 
pfindliche Seewild  und  namentlich  die  Seeottern  bleibend  vertreiben  würde. 
An  die  Landjagden  der  Koljuschen  erinnerte  ferner  eine  sehr  schöne  Art 
von  schlanken  weissen  Wolfshunden,  die  den  Strand  und  die  Umgebung  der 
Häuser  belebten. 

Auch  zu  den  Feicrkleidern  welche  Nauschket  in  kostbaren  japanischen 
Kisten  aus  Kampherholz  aufbewahrte,  schienen  jetzt  europäische  Stoffe  häu- 
figer verwendet  wie  die  Zeuge  aus  mühsam  gezwirnter,  theils  weisser,  theils 
mannigfaltig  gefärbter  Wolle  des  Argali,  die  von  jeher  und  noch  immer  zu 
den  wunderbaren  Kunstleistungen  der  Koljuschinnen  gehörten.  Hier  zeigte 
man  uns  Mäntel  von  landesüblichem  Schnitt,  aber  aus  scharlachrothem  oder 
schwarzem  Tuch,  das,  wenn  überhaupt  von  den  Russen,  doch  nur  zu  entsetz- 
lichen Preisen  zu  erhalten  und  welches  mit  platten  Perlmutterstücken  und 
andern  einheimischen  Zierrathen  sehr  kunstvoll  besetzt  und  ausgenäht  war. 
Weit  merkwürdiger  schienen  uns  indessen  unter  diesen  Reichthümern  die 
zweischneidigen,  mehr  als  fusslangen  kupfernen  Dolche,  die  der  Besitzer 
nur  gelegentlich  sehen  Hess,  sowohl  durch  ihre  eigenthümliche  Form  wie  durch 
ihre  vollendete  Ausführung.  Ich  erinnere  vorläufig  nur,  dass  meine  Zweifel 
an  der  einheimischen  Erfindung  und  Anfertigung  dieser  Kunstwerke  sich  völ- 
lig grundlos  gezeigt  haben  und  werde  im  Verfolge  auf  die  Metallarbeiten  und 
sonstigen  industriellen  Leistungen  der  Koljuschen  mehr  im  Zusammenhange 
zurückkommen. 

Die  Frauen  dieses  Hauses,  von  denen  wir  später  vier  als  die  ehelich 
anerkannten  des  Häuptlings  kennen  lernten,  waren,  offenbar  im  Verhältniss 
ihres  Alters,  mit  Lippeneinsätzen  oder  Kaljugi  von  verschiedener  Grösse 
versehen.  Bei  der  ältesten  war  das  von  der  ausgereckten  Unterlippe  umge- 
bene und  mit  dem  etwa  ^  Zoll  hohen  Holzklotz  gefüllte  Loch  von  kaum  un- 
ter 3  Zoll  Länge  and  dabei  der  Kreisform  schon  weit  näher  als  bei  jüngeren 


317 

Frauen.  Bei  diesen  ist  der  Einsatz  und  daher  auch  seine  fleischige  Umgebung 
elliptisch  gestaltet  und  mit  der  kleineren  Axe  nach  vorn  vom  Körper  abge- 
wendet. Die  nach  oben  gekehrte  Fläche  der  Kalj  ugi  ist  bei  den  elliptischen 
nach  Art  eines  Löffels,  bei  den  runden  aber  tellerartig  ausgehöhlt,  und  beim 
Gebrauche  liegt  der  Rand  horizontal,  so  dass  die  untere  Zahnreihe  völlig  un- 
bedeckt bleibt.  Auch  die  Seiten-  oder  Mantelfläche  des  cylindrischen  Körpers 
ist  vertieft,  d.  h.  in  der  Hälfte  ihrer  Höhe  von  kleinstem  Durchmesser,  nach 
Art  eines  Knopfes.  Das  Einbringen  und  Herausnehmen  der  Kaljuga  sind 
daher  jedesmal  mit  beträchtlicher  und  wie  man  glauben  sollte  schmerzhafter 
Ausweitung  und  Zusammenziehung  der  Lippen  verbunden.  Ich  sah  sie  den- 
noch wiederholentlich  und  ohne  Widerwillen  oder  Anstrengung  vollziehen, 
namentlich  zu  Ehren  der  europäischen  Speisen,  mit  denen  die  vornehmen 
Koljuschen  und  ihre  Frauen  während  des  üblichen  Festes  auf  unserem  Schiffe 
bewirthet  wurden.  Mehrere  der  älteren  Frauen  hatten  während  dieses  Mahles 
die  hölzernen  Teller  aus  ihren  Lippen  neben  die  europäischen,  von  denen 
sie  assen,  gelegt.  Um  sich  nun  endlich  von  dem  Sinne  dieses  seltsamen 

Gebrauches  Rechenschaft  zu  geben,  konnte  man  annehmen,  dass  die  Kolju- 
schen zwar  auch  die  arge  Entstellung  bemerken,  die  sie  ihren  von  Natur 
sehr  schönen  Frauen  anthun,  dass  sie  aber  dazu  durch  eine  Eifersucht  ver- 
anlasst würden,  die  mit  der  Dauer  des  ehelichen  Besitzes  zunähme;  etwa  so 
wie  die  Korjaken,  deren  Frauen  sich  bei  der  Ankunft  von  Fremden  durch 
schmutzige  Oberkleider  entstellen  mussten.*)  Gegen  Bewerbungen  von  Euro- 
päern und  wohl  auch  von  anderen  fremdstämmigen  Männern  sind  die  Kalju- 
gen-Trägerinnen  in  der  That  im  directen  Verhältniss  zur  Grösse  ihrer  wider- 
wärtigen und  bei  alten  Frauen  sogar  ekelhaften  Ausstattung  gesichert  — 
aber  jene  Erklärung  ist  dennoch  unbegründet  Die  erwachsenen  Mädchen  und 
Frauen  die  wir  mit  undurchbohrten  Lippen  sahen,  empfanden  diese  Erhal- 
tung ihrer  Schönheit  nicht  als  einen  Vorzug,  sondern  als  eine  Zurücksetzung. 
Sie  gehörten  zu  den  armen  und  unfreien  Familien  oder  den  von  den  Russen 
sogenannten  Kalgi.  Den  Töchtern  der  Reichen  oder  Vornehmen  wird  da- 
gegen die  Unterlippe  schon  sehr  früh  und  jedenfalls  längst  vor  ihrer  Verhei- 
ratung durchbohrt. 

Auf  Erkundigung  nach  diesen  Verhältnissen  hörten  wir  von  unserem  *b'it- 
chaer  Begleiter,  dass  gerade  jetzt  die  betreffende  Operation  an  der  Tochter 
eines  anderen  Vornehmen  (Tojon)  vollzogen  worden  sei  und  wurden  zur 
Besichtigung  derselben  in  ein  Kayim,    d.  i.    wie  wir  nun  erfuhren,    ein  Ge- 

*)  Krascheninikow,  Opisanie  Kamtschatka  Tsch.  III,  S  148,  wo  es  unter  Anderem  heisst: 
„Die  Rennthier-Korjaken  sind  über  die  Massen  eifersüchtig  und  deshalb  suchen  ihre  Frauen  sieb 
auf  alle  Weisen  zu  entstellen.  ...  Sie  tragen  ein  schmieriges  und  zerfetztes  Oberkleid.  Wozu, 
sagen  die  Männer,  sollten  sie  sich  schmücken,  als  um  Andern  schön  zu  scheinen,  da  wir  sie 
auch  ohnedem  lieben.  Bei  den  ansässigen  Korjaken  und  Tschuktschen  ist  es  dagegen  eine  todes- 
würdige Beleidigung,  wenn  ein  Gast  der  ihm  als  äusserste  Freundschaftsbezeigung  angebotenen 
Frau  oder  Tochter  seines  Wirtues  nicht  beiwohnt."  Vergl.  auch  Ermau,  Reise  u.  s.  w.,  bist. 
Ber.,  Bd.  3,  S.  425. 


318 

meindehaus,  geführt,  in  welchem  alle  festlichen  Versammlungen  abgehalten, 
Fremde  untergebracht  und  bewirthet  und  ausserdem  häusliche  Arbeiten,  die 
einen  grösseren   Kaum  erfordern,  ausgeführt  werden. 

Das  Innere  dieser  Gebäude  ist  über  den  gewöhnlichen  Näry  oder  Schlaf- 
stellen mit  einer  zweiten  Reihe  von  Abschlägen  oder  nach  vorn  ganz  offenen 
Logen  versehen,  deren  Fussboden  etwa  mannshoch  über  dem  der  ersteren 
liegt.  Auf  dem  Boden  dieses  oberen  Raumes  und  etwa  in  der  Mitte  desselben 
sass  nun  heute  das  operirte  Mädchen,  lautlos  und  unbeweglich,  offenbar  zur 
Schau  für  Vorübergehende  oder  Besuchende,  während  in  den  seitlichen  un- 
teren Theilen  des  Gebäudes  Frauen  und  Männer  ihrer  Familie  ohne  Bezie- 
hung auf  sie  beschäftigt  schienen  oder  sich  doch  erst  mit  uns  zu  ihr  begaben. 
Die  Grösse  und  das  Ansehen  dieses  gefeierten  Individuums  Hessen,  mit  Rück- 
sicht auf  den  hohen  und  kräftigen  Wuchs  der  Koljuschinnen ,  auf  ein  Alter 
von  kaum  über  12  Jahren  schliessen.  Sie  war  vollständig  und  offenbar  sehr 
sorgsam  bekleidet,  während  wir  doch  vielen  eben  so  grossen  Knaben  und 
Mädchen,  ganz  nackt  am  Strande  und  zwischen  den  Häusern  begegneten.  Ich 
habe  nicht  erfahren  seit  wie  viel  Tagen  der  Schnitt  in  ihrer  Unterlippe  aus- 
geführt worden  war.  Er  blutete  aber  nicht  mehr,  sondern  erschien  wie  ein 
etwa  b'  Linien  langer,  horizontaler  Spalt,  der  nur  in  der  Mitte  merklicher 
klaffte,  welcher  aber  jetzt  ohne  Einsatz,  die  natürliche  Lage  der  Mundtheile 
nur  wenig  geändert  hatte.  Das  Fest  und  die  allgemeine  Bewirthung,  mit  de- 
nen die  Einbringung  der  ersten  Kaljuga  verbunden  sein  soll,  mochte  in  die- 
ser Familie  noch  bevorstehen.  Weit  zweifelhafter  ist  mir  dagegen  deren  Ver- 
hältniss  zu  dem  anderen  gynaekologischen  Gebrauche  geblieben,  der  den  Ko- 
Ijuschen  mit  ihren  nördlichen  Nachbarn  an  der  amerikanischen  Küste  und  mit 
den  Aleuten  gemein  ist,  sie  aber  von  vielen  anderen  Völkern  ebenso  bedeut- 
sam unterscheidet,  wie  ihre  Vorliebe  für  hängende  und  vergrösserte  Unter- 
lippen. 

Von  dem  letzten  koljuschischen  Wohnhause  über  den  ziemlich  weiten 
Platz,  auf  dem  bis  zu  dem  Ausgangsthor  der  Palisaden  nur  noch  einzelne 
Ambary  oder  Vorratshäuser  stehen,  geht  man  an  einer  Reihe  einander  be- 
rührender, 6  bis  8  Fuss  hoher  Hütten  oder  Käfige  vorüber,  die  gegen  die 
See  und  die  Strasse  mit  einem  vergitterten  Lichtloch  versehen,  sonst  aber 
von  oben,  ringsum  an  den  Seiten  und  namentlich  auch,  soviel  man  sehen 
konnte,  von  hinten  an  der  Landseite  mit  grünenden  Nadelholzzweigen  dicht 
bedeckt  und  abgeschlossen  sind.  In  mehreren  dieser  Ställe  oder  grossen  Kä- 
fige befand  sich  je  ein  Frauenzimmer,  meist  sitzend  und  mit  abgewandtem 
Gesicht  —  in  dem  einen  aber  ein  schlankes  und  jüngeres  Mädchen,  das  eben 
aufgestanden  war  und  uns  ansah,  offenbar  ohne  wesentliche  Störung  durch 
die  seltsame  Beschaffenheit  ihres  Gesichtes.  Dieses  war  nämlich  durchweg 
geschwärzt,  und  zwar  hier  nicht,  wie  sonst,  durch  sorgfältige  Bemalung,  son- 
dern, wohl  mit  Russ  oder  Kohlenstaub,  fleckig  und  unsauber  beschmiert. 
Naeli  unseren   hergebrachten  Vorstellungen  glaubte  ich  mich  vor  den  Gefäng- 


319 

nissen  der  Ortschaft  zu  befinden  und  hörte  daher  von  unserem  Sitchaer  Be- 
gleiter, auf  die  Frage:  was  die  Eingesperrten  verschuldet  hätten,  nicht  ohne 
Verwunderung  die  Worte:  „tolko  tscho  u  nich  inj  ävatsc  Im  oe  "  ,  d.  Ii. 
„Nichts  weiter,  als  dass  sie  eben  menstruiren."  Es  wurde  dann  fer- 
ner ausgeführt,  dass  verheirathete  und  unverheirathete  Frauenzimmer  dieser 
Behandlung  in  ganz  gleicher  Weise  unterworfen  werden  und  dass  von  einer 
schweren  Sünde,  und  zwar  für  beide  Theile,  erst  dann  die  Rede  sei,  wenn 
etwa  eine  dieser  Eingeschlossenen  dennoch  von  einem  Manne  besucht  werde. 
Wenjaminow  giebt  an  dass  die  erste  solcher  Einsperrungen  die  ein 
Mädchen  erlebe,  nach  altem  Gebrauche  ein  Jahr  gedauert  habe  und  dass 
sie  "von  der  Durchschneidung  der  Unterlippe  und  dem  mit  dieser  verbunde- 
nen Feste  unmittelbar  gefolgt  wurde.  Bei  den  £itchaer  Kolj tischen  sei  diese 
Zeit  zwar  auf  drei  bis  sechs  Monate  heruntergesetzt,  die  sonstigen  Lieblich- 
keiten während  derselben  aber  vollständig  beibehalten.  So  werde  namentlich 
der  Betroffenen  eine  Art  von  Hut  mit  sehr  langen  Krampen  aufgesetzt,  da- 
mit sie  nicht  durch  ihre  Blicke  den  Himmel  verunreinige.  Die  Kalga  oder  , 
Dienerin,  welche  dem  endlich  für  genesen  erklärten  und  dann  sogleich  der 
Lippendurch6chneidung  unterworfenen  Mädchen  ihr  Festkleid  anlegt,  werde 
freigelassen.  Ich  weiss  nun,  wie  gesagt,  nicht,  ob  der  behauptete  Zusammen- 
hang zwischen  der  Lippendurchschneidung  und  der  ersten  Menstruation  mit 
dem  geringen  Alter  des  Mädchens  vereinbar  ist,  an  dem  wir  die  erstere  voll- 
zogen sahen.  Nach  demselben  russischen  Berichte  soll  aber  jede  spätere  Ein- 
sperrung für  die  koljuschischen  Mädchen  nur  drei  Tage  dauern,  und  ebenso 
lange  die  gewöhnliche  Einsperrung  der  Frauen,  vor  deren  unheilvoller  Nähe 
die  menschliche  Gesellschaft  nach  jedem  Gebären  noch  ausserdem  10  Tage 
lang  in  der  besagten  Weise  geschützt  wird.  —  So  lange  ich  von  dieser  selt- 
samen Sittenpolizei  nur  die  dazu  gebrauchten  mühsamen  Vorkehrungen  ge- 
sehen, über  die  jedesmalige  Dauer  ihrer  Anwendung  aber  sehr  übertriebene 
Angaben  gehört  hatte,  schien  sie  entweder  das  Fortbestehen  des  Koljuschen- 
Stammes  räthselhaft  zu  machen  oder  mit  denjenigen  Massregeln  gegen  Ueber- 
völkerung  unvereinbar,  welche  anerkannte  Physiologen  noch  neuerdings  vor- 
geschlagen haben.  Jetzt  sind  diese  Zweifel  insoweit  beseitigt,  als  man  die 
Augabe  einer  nur  dreitägigen  Dauer  der  Absperrungen  für  richtig  hallen 
darf*)  und  es  blieb  zunächst  nur  bemerkenswerth ,  dass  sich  ein  so  eigen- 
thümlicher  Gebrauch,  der  anscheinend  auf  einer  diätetischen  Erfahrung  die 
überall  gelten  müsste,  beruht,  sich  in  einzelnen  Districten  der  Erdoberfläche 
auch  bei  nicht  stammverwandten  Völkern  eingefunden  und  erhalten  habe, 
während  er  in  andern  spurlos  fehlte.  Dieselbe  Vorsichtsmassregel  winde  näm- 
lich auf  den  aleutischen  Inseln  in  ebenso  strenger  Weise  wie  auf  Sitcha  be- 
obachtet.**) Nach  Wenjaminow  bestand  sie  dort  sogar  in  Absperrungen,  welche 

*)  Nach  Bischoft'  wären  solche  Zweifel  erst  bei  zwei-  bis  dreimal  längerer  Dauer  der  A.Ü 
sperruug  begründet;  —   vergL  aber  da*  Folgende. 

**)  Wie  unter  Anderm  aus  eiiM-r  unten  näher  zu  erwähnenden  Sage  der  Uualaschkaer  zu 
ersehen  ist. 


320 

für  Frauen  und  ältere  Mädchen  jedesmal  sieben  Tage  dauerten,  nach  der 
ersten  Menstruation  aber  zweimal,  resp.  40  und  20  Tage.  Sie  ist  dort  erst 
durch  die  immer  häufigeren  Bekehrungen  zum  Christenthum  obsolet  gewor- 
den. —  Bei  den  Ttynai  (etwa  65"  Breite,  200°  0.  von  Paris)  sah  und 
beschrieb  Capitän  Sagoskin  dieselbe  Sitte  noch  1842  wie  folgt:  „In  dem 
Wohnorte  Kadichljakakat  befanden  sich  jetzt  nur  zwei  Frauen  (die 
Männer  waren  zur  Jagd  ausgezogen),  eine  alte  und  eine  jüngere.  Die  letz- 
tere war  aber  in  der  Menstruation  begriffen  und  deshalb  mit  schwarz  be- 
maltem Gesichte  unter  einer  ledernen  Zeltdecke  eingesperrt."  Der 
Reisende  erwähnt  diese  Erfahrung  ohne  jeden  Commentar,  offenbar  weil  sie 
ihm  seit  seiner  Ankunft  auf  Sitcha  geläufig  und  wie  von  selbst  verständlich 
geworden  war. 

Bei  den  Völkern  der  Osthälfte  von  Nord-Amerika  scheint  dagegen  Cat- 
lin  durchaus  nichts  mit  diesem  Gebrauche  der  Küstenvölker  Vergleichbares 
gesehen  zu  haben,  und  es  steht  jedenfalls  fest,  dass  niemals  weder  derselbe, 
noch  auch  der  ihm  zu  Grunde  liegende  diätetische  Glaube  bei  den  Kamt- 
schadalen  oder  bei  einem  der  tungusischen,  türkischen  und  mongolischen 
Stämme  des  mittleren  »Sibirien  geherrscht  hat.*)  Erst  unter  den  samojedischen 
Rennthiernomaden  am  Eismeere  bezieht  sich  auf  einen  gleichen  Glauben  die 
schon  von  Pallas  erwähnte  Verachtung  der  menstruirenden  Frauenzimmer, 
und  deren  Räucherungen  mit  verbranntem  Rennthierhaar  und  mit  Castoreum, 
sowie  auch  die  deshalb  stattfindende  Ausschliessung  der  Weiber  von 
einem  Theile  des  Zeltraumes  und  die  angeblichen  Nachtheile  von  ihrer  Nähe 
während  der  Jagd  eines  edleren  Wildes.**) 

Sowohl  am  Eismeer,  als  auch  bei  den  alten  Bewohnern  vou  Palästina,***) 
bei  den  Parsen  auf  Ceylon,  nach  einer  Angabe  von  Orlichs,  und  in  Süd- 
Amerika  bei  den  Macusis-Indiancrn  nach  Schomburg  hat  man  sich  aber 
gegen  die  vermeinte  Gefahr  doch  nur  durch  weit  laxere  Massregeln  wie  auf 
»Sitcha  geschützt. 

Bei  einem  andern  Morgenbesuche  des  Koljuschendorfes  hörteu  wir  aus 
einem  der  Wohnhäuser  einen  wilden  vielstimmigen  Gesang  und  gingen  des- 
sen Ursprünge  um  so  eifriger  nach,  als  unser  dollmetschender  Begleiter  zu- 
gab, dass  er  zu  einer  Art  von  Scham  an  stwo,  d.  h.  nach  sibirischem  und 
hiesigem  Sprachgebrauch  zu  einer  religiösen  oder  poetischen  Ceremonie  ge- 
höre. Wir  fanden  nur  einige  Weiber,  die  in  den  verschiedenen  Abschlägen 
des  betreffenden  Hauses  ihre  gewöhnlichen  Arbeiten  betrieben,  aber  mitten 
in  der  Wohnung  über  dem  Feuerplatz  einen  mit  Vorhängen  abgeschlossenen 
Raum,  in  dem  sich  die  Musizirenden  befanden,  die  nun  nacheinander  und  ab- 

*)  Auch  nicht  in  Polynesien  nach  Allem   was  ich  auf  Otaheiti  gesehen   und   nach  dem 
\\  ;is  ich  später  zu  erfahren  gesucht  habe. 

*')  Ermau,  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd   1,8.  700  u.  681. 

•••)  Moses  üb.  III,  cp.  18,  v.  19  —  während  ibid.  cp.  15,  v.  19  freilich  auch  eine  Absper- 
rung gemeint  sein  konnte. 


321 

wechselnd  das  Rasseln  einer  wahrscheinlich  hölzernen  Trommel,  eine  einzelne 
Mannsstimme  und  einen  höchst  leidenschaftlichen  Chor  von  dergleichen  ver- 
nehmen Hessen.  Das  Ganze  wurde  mehrmals  durch  eine  Pause  unterbrochen, 
welcher  kreischende  Ausrufe  von  Einzelnen  vorhergingen.  Dann  hob  sich 
einer  der  Vorhänge  und  die  Sänger  traten  nackt,  schweisstriefend  und  mit 
dunkelrother  Haut  aus  dem  auf  Koljuschisch  sogenannten  Chägh,  d.  i.  dem 
Dampfbade,  welches  sie  sich  mit  Steinen  die  in  dem  gewöhnlichen  Heerd- 
feuer  geglüht  werden,  bereitet  hatten.  Es  waren  etwa  zehn  Männer  von  rie- 
sigem Ansehen,  die  sich  jetzt,  wieder  schreiend  und  singend,  in  das  nahe 
eiskalte  Meerwasser  stürzten,  das  von  der  Schwelle  ihrer  Wohnung  nur  um 
wenige  Schritte  absteht.  Wir  haben  sie  leider  bald  darauf  verlassen  und  sie 
nur  aus  der  Ferne  im  Wasser  springen  oder  tanzen,  sich  einzeln  gegen  den 
Strand  und  wieder  meerwärts  bewegen  und  endlich,  vielleicht  zur  Wieder- 
holung des  Schwitzbades,  alle  zusammen  in  das  Haus  zurücklaufen  gesehen. 
Dass  sich  diese  Uebungen  jetzt  (im  Novemb'er)  täglich  bei  ihnen  wieder- 
holten, haben  uns  die  Koljuschen  ausdrücklich  versichert.  Ich  halte  dagegen 
nur  für  äusserst  wahrscheinlich,  aber  nicht  für  erwiesen,  dass  die  Theile  der- 
selben die  unserer  zufälligen  Amvesenheit  vorhergingen  und  diejenigen  die 
uns  durch  den  Vorhang  verdeckt  blieben,  das  Ganze  zu  vollständiger  Ueber- 
einstimmung  mit  Wenjaminow's  mir  weit  später  zugekommenen  Beschreibung 
eines  der  auszeichnendsten  Gebräuche  der  Koljuschen  ergänzen.  Von  dieser 
Beschreibung,  die  der  aleutische  Missionar,  wie  alles  auf  <S'itcha  Bezügliche, 
durch  einen  russischen  Dollmetscher  von  koljuschischer  Abkunft  erhalten  hat, 
lautet  das  Wesentliche  in  wörtlicher  Uebersetzung  wie  folgt:  „Ehe  die  Ko- 
ljuschen erfuhren,  dass  eine  von  der  schwächsten  Frauenhand  abgeschossene 
Flintenkugel  selbst  den  Tapfersten  tödte,  galt  es  Jedem  von  ihnen  als  un- 
verbrüchliche Regel  sich  zu  geissein,  um  seinen  Muth  zu  bewähren  und 
um  Körper  und  Geist  zu  stärken.  Jetzt  werden  diese  Uebungen  seltener.  Die 
Geisselung  geschieht*)  im  Winter  des  Morgens  zur  Zeit  der  strengsten  Kälte, 
zugleich  mit  den  Seebädern,  die  sie  gerade  in  dieser  Jahreszeit  nehmen.  Der 
Aelteste  eines  Geschlechtes  lässt  einen  Haufen  Ruthen  an  den  Strand  brin- 
gen, an  dem  er  sich  darauf  mit  einer  Handvoll  von  denselben  aufstellt.  Dann 
läuft  der  Muthigste  der  Badenden  aus  dem  Wasser  auf  ihn  zu,  hält  ihm  die 
Brust  entgegen  und  lässt  sie  schlagen,  bis  dem  Tojon  die  Hand  müde  wird 
oder  bis  ein  anderer  der  Badenden  sich,  vor  Eifersucht  und  Ruhmbegier,  aus 
dem  Wasser  an  seine  Stelle  drängt.  Die  Tapfersten  nehmen  nach  dieser 
Geisselung  auch  noch  in  jede  Hand  einen  scharfen  Stein  oder  ein  Messer, 
schneiden  sich  damit  bis  aufs  Blut  und  bisweilen  sehr  tief,  in  die  Brust  und 
in  die  Arme,  und  setzen  sich  darauf  wieder  in  das  kalte  Wasser,  bis  dass 
sie  vollständig  erstarren.  Dann  legt  man  sie  auf  eine  Decke  und  trägl  sie  in 
die  Wohnung  an   das   Feuer,    welches   während   des  Seebades   so   stark    wie 

*)  Notabene:  das  Praesens  wie  auch  im  Verfolge  der  Beschreibung. 

Zeitschnlt   liir  EtlinuloKie,  Jabrgau*  ltiTu.  22 


322 

möglich  erhalten  wird.*)  Diese  Morgengeisselung  ist,  wie  man  sagt,  nicht 
sehr  schmerzhaft,  weil  sie  auf  dein  erstarrten  Körper  nur  ein  (Gefühl  von) 
Brennen  venu  sacht.  Eine  andere  viel  seltener  ausgeübte  Art  der  Geissehui", 
erklären  dagegen  die  Koljuschen  selbst  für  entsetzlich.  Sie  geschieht  des 
Abends  im  Hause,  vor  'lern  Feuer,  um  das  sich  die  Männer  gesetzt  und  an 
dem  sie  sich  stärkstens  durchwärmt  haben.  Auf  ein  Zeichen  des  Aeltesten 
werden  dann  plötzlich  Ruthen  gebracht,  von  denen  er  zwei  bis  drei  ergreib 
und  aufspringt,  um  Freiwillige  aufzufordern.  Der  Tapferste  der  Hausgenossen 
wirtt  seinen  Mantel  ab  und  lässt  sich  abwechselnd  auf  die  Brust,  auf  den 
Kücken  und  auf  die  Seite  schlagen  —  oft  bis  der  ganze  Körper  geschwollen 
ist.  Dabei  stösst  er  keiuen  Schmerzenslaut  aus,  verzieht  kaum  das  Gesicht 
u.  s.  w."  ....  „Durch  solche  Probe  gewann  der  Mann,  der  sie  ertrug,  den 
Ruhm  unerschütterlicher  Tapferkeit.  .  .  .  Nach  einem  Augenzeugen  war  diese 
Ahendgeisselung  so  entsetzlich,  dass  es  bei  dem  Geräusche  von  angeschlepp- 
ten Ruthen  die  Muthigsten  kalt  überlief,  denn  sie  wollten  sich  der  Peinigung 
aichl   entziehen,  um  nicht  für  feige  zu  gelten  und  dazu  war  noch  der  Ruf  der 

lapteikeit  keineswegs  vorteilhaft/1'*) Uebrigens  bleibt  es  bei  beiden 

Arten  der  Geisselung  einem  Jeden  überlassen,  sich  ihr  zu  unterwerfen  oder 
nicht,  und  Niemand  wird  namentlich  aufgerufen."***) 

Nachdem  wir  durch  diesen  Gebrauch  und  durch  einige  der  früher  erwähn- 
ten an  den  Koljuschen  die  Einflüsse  eines  träumerischen  Nachdenkens  zu  er- 
kennen geglaubt  hatten,  das  über  die  direkten  Bedürfnisse  und  die  gewöhn- 
lichen Leistungen  einer  wandernden  Jagdgesellschaft  weit  hinausgeht,  mach- 
ten wir  die  erste  Bekanntschaft  eines  der  Urheber  und  Erhalter  dieser  Selt- 
samkeiten; ich  meine  eines  von  den  Russen  als  Schama.11,7)  von  den  Ko- 
ljuschen aber  durch   die  Benennung  ichet  bezeichneten  Gelehrten  und  Wür- 

*)  Hier  sind  vielleicht  die  koljuschischen  Ausdrücke  chägh  für  das  Dampfbad  und  kc hau 
im  das  gewöhnliche  Heizungsfeuer  mit  einander  verwechselt  worden. 

•*)  Nämlich  wegen  des  noblesse  ol/ligc,  mit  dem  auch  die  Koljuschen  solche  Hehlen 
von   Profession  bei  ihren  Kriegszügen  zur  Todesverachtung  instigirten. 

"**)  Man  vergleiche  hiermil  Catlin,  letters  and  notes  u.  s.  w.,  Vol.  I,  pag.  1G9,  tat).  f>8.  69 
ulier  die  noch  weil  entsetzlicheren,  aber  ebenso  bis  zur  Ohnmacht  fortgesetzten  Peinigungen, 
deren  sich  die  sogenannten  Mandan  (bei  47°,.r)  Br.,  3U5°  0.  v.  Par.)  jährlich  unterwerfen  und 
/■.war  gleichfalls  um  die  Lieberzeugung  von  ihrer  Tapferkeit  sowohl  sich  selbst  zu  verschaffen  als 
ihren  zuschauenden  Landsleuten. 

■J-)  lieber  den  Ursprung  dieses  durch  die  sibirischen  Russen  wiederum  missbräuchlich  ver- 
schleppten Wortes  vergleiche  man  die  Untersuchung  von  Herrn  W.  Schott  im  Arch  f.  wissen- 
schaftl.  K Ie  von  Bussland,  Bd.  Will,  s.  207.  In  dein  Sinne  welchen  der  Ausdruck  Scha- 
ni au  in  der  russischen  Sprache  und  darauf  durch  ganz  Europa  als  ethnographisches  Kunstwort 
erhalb  n  hat,  ist  derselbe  nur  etwa  bei  den  Tungusen  gebräuchlich,  allen  übrigen  nordasiatischen 
ibev  durchaus  unbekannt  gewesen.  Ks  darf  ferner  nicht  angenommen  werden,  dass 
das  bei  reifende  tungusische  Wort  mit  einem  sanskritischen  von  gleicher  Bedeutung  in  der  Weise 
verwand!  sei,  dass  es  Buddhapriester  nach  Nord-Asien  gebracht  hätten!  —  Ks  wird  vielmehr 
wie  dei  lungn  ische  und  anderweitig  uordasiatische  und  nord amerikanische  Zau bei eultus 
ersl  durch  die  lungusisrhen  Mand/u  zu  den  Chinesen,  welche  sie  sich  unterworfen  hatten,  ge- 
brachl  und  seitdem  (namentlich  seit  1717)  als  eine  der  Staats-Kirchen  des  himmlischen  Reiches 
sanetionirt  worden  ist. 


323 

denträgers.  —  Es  war  ein  ältlicher  Mann,  der  auch  heute,  in  gewöhnlicher 
Landestracht,  durch  «las  wesentlichste  Zeichen  seiner  Begabtheii  auffiel,  näm- 
lich durch  Kopfhaare,  die  ihm  bis  auf  die  Waden  reichten.  Kr  trug 
sie  über  dem  Kücken  weit  ausgebreitet  und  ungebunden  herabhängend,  doch 
zeigten  sie  sich  hei  näherer  Betrachtung  zu  Strehnen  vereinigt  oder  verfilzt, 
ohne  dass  ich  entschieden  habe,  ob  sie  diese  Beschaffenheit  an  und  für  sich, 
wie  die  sogenannten  Weichselzöpfe,  angenommen  hatten  oder  durch  ab- 
sichtliche Anwendung  irgend  eines  Leimes.  Das  letztere  ist  bei  weitem  wahr- 
scheinlicher, denn  viele  der  verfilzten  Stellen  der  Ilaare  waren  mit  einem 
Ueberzuge  von  weissen  Flocken  bedeckt,  die  ich  für  den  Pappus  eines  Syn- 
genesisten  oder  andere  wollähnliche  Pflanzentheile  gehalten  habe.  Nach  [smai- 
low,  /Sagoskin,  Wenjaminow  u.  A.  sollen  aber  Flaumfedern  von  Vögeln  zu 
diesem  Gebrauche  verwendet  werden.*)  Ich  erfuhr  leider  erst  spater,  dass 
Kschholz  hei  seinem,  dem  unsrigen  längsl  vorhergegangenen  Aufenthalte  aui 
Nitcha  auch  einen  eigentümlichen  Staphylinus  oder  Raubkäfer  auf  dem 
Haare  eines  hiesigen  Schamanen  gefunden  und  denselben,  zu  Ehren  dieses 
abweichenden  Vorkommens,  StapJi.  pech'culus  genannt  hatte.  Mag  aber  dieses 
Vorkommen  zufällig  oder  absichtlich  herbeigeführt  gewesen  sein,  so  fehlte  es 
dem  fraglichen  Wohnorte  dieses  Käfers  wenigstens  nicht  an  Ruhe,  denn  die 
Schamanen  lassen  die  Haare  ihres  Hinterkopfes  während  ihrer  gan- 
zen Lebenszeit  unverkürzt.  Als  Zeichen  der  Trauer  um  Verstorbene 
wird  daher  auch  von  ihnen  nur  das  Vorderhaar  über  der  Stirn,  von  den  übri- 
gen Koljuschen  dagegen  der  ganze  Kopf  geschoren.  —  Ich  habe  seither  oft 
an  diesen  Gebrauch  und  die  ihm  zu  Grunde  liegende  Ueberzeugung  der  ko- 
ljuschischen  Seher  oder  Weisen  gedacht,  wrenn  es  mir  wieder  einmal  auffiel, 
dass  sich  sporadisch  aber  über  die  ganze  Erde  und  zu  allen  Zeiten  der  Glaube 
au  eine  Abhängigkeit  der  geistigen  und  körperlichen  Kraft  des  Mannes  von 
der  Beschaffenheit  seines  Kopfhaares  eingefunden  hat.  In  die  jetzige  euro- 
päische, d.  i.  in  die  christliche  Welt  ist  dieselbe  offenbar  durch  den  jüdischen 
Mythus  von  Simson  übergegangen,  in  dem  ja  geradezu  das  Scheereu  des 
Kopfhaares  der  Männer  als  ein  Widerspruch  gegen  den  göttlichen  Willen, 
d.  h.  ein  äusserst  wichtiger  Eingriff  in  die  Entwicklung  des  menschlichen 
Körpers  betrachtet  wird.**)  Dass  die  Juden  unter  dieser  Annahme  nicht  Alle 
versuchten,  sich  zu  langhaarigen  Helden  zu  machen,  ist  freilich  autfallend, 
aber  doch  um  Nichts  mehr  als  bei  den  Koljuschen  die  Ueberlassung  der  von 
den  Haaren  ausgehenden  Weisheit  an   einige  Schamanen.    Die  in   Europa  pe- 

k  tsmailow  bemerkte  unter  den  ersten  Koljuschen,  mit  denen  er  an  der  Jakutater  Bucht 
zusammentraf  (oben  S.  303),  Männer  die  ihr  Haai  mit  einer  rothen  Farbe  bestrichen  und  dann 
mit  Vogelflaumen  bestreut  hatten  —  und  Oapt.  Sagoskin  erwähnl  die  verfilzten  und  mit  Flaum 
Federn  bestreuten  Haare  von  dem  Chorführer  einet  tanzenden  Gesellschaft  am  Tlegon  64  1 
Bi  bei  202°,2  o.  v.  Par.)  Archiv  fni  wissensch.  Kunde  von  llussland,  Bd.  VI.  8  62-i  \:n 
oberen  Missuri  (47°,5  Br.  bei.256  0.  v.  Par.)  Hessen  die  sogenannten  Minatari  ihre  Haare  bi* 
/um  Erdboden  wachsen,  jedoch  ohne  Verfilzung;  nach  Catliu,  letters  and  notes,  Vol  I,  pag.  133 
**)  Buch  der  Richter,  Ca)).  13,  v.  5;  Cap.  1C;  v.  17  ff. 

22* 


324 

riodisch  vorgekommenen  Anwendungen  dieser  biblischen  Vorstellungen  wider- 
sprachen dann  einander  in  sehr  humoristischer  Weise,  so  dass  man  z.  B. 
bei  uns  einen  langhaarigen  Mann  bald  für  einen  von  turnerischen  oder  alt- 
teutschen  Grundsätzen,  eine  Art  von  Simson,  bald  für  einen  frömmelnden  My- 
sten  (etwa  einen  christlichen  Schamanen)  zu  halten  hatte  oder  noch  hat,  bei 
den  Griechisch-Katholischen  aber  theils  Geistlichen  mit  mehr  als  ellenlangen 
hellblonden  Haaren  von  sehr  widerlichem  Ansehen  begegnet,  theils  eben  so 
religiösen  Männern,  die  sich  Strigolniki,  d.  i.  Kahlscheerer  nennen,  weil 
sie  sich  den  Oberkopf  scheeren  und  epiliren.*)  —  Etwas  bedeutsamer  ist  es5 
dass  im  Norden  von  Europa  und  namentlich  in  England  auch  die  ursprüng- 
liche, d.h.  antebiblische  Ueberzeugung  dieselbe  war,  welche  die  Sitchaer 
Ich  et  unter  ihren  Landsleuten  zu  erhalten  wissen.  So  schildert  noch  Shake- 
speare gewisse,  mit  grossem  Erfolg  bettelnde  Männer,  die  sich  das  Haar 
verfilzten  („als  ob  Elfen  es  unter  gehabt  hätten"),  und  dann  Nadeln,  Nä- 
gel, Baumzweige  u.  dgl.  in  ihre  Arme  bohrten,  bald  unter  wahnsinnig  klin- 
genden Flüchen  (lunatic  bans),  bald  mit  (christlichen)  Gebeten.**)  Diese  leg- 
ten mithin  sehr  ähnliche  Proben  von  Unverletzbarkeit  ab,  wie  alle  sibirischen***) 
und  nordamerikanische  Schamanen  und  wie  die  koljuschischen  Weisen  durch 
den  später  zu  erwähnenden  passiven  Theil  ihrer  Leistungen.  Ueber  deren 
activen  Theil,  d.  i.  die  mimischen  Darstellungen  durch  die  sie  eine  unbe- 
gräuzte  Macht  über  alle  ihre  Landsleute  und  namentlich  die  Gewalt  über 
Leben  und  Tod  von  vielen  derselben  erhielten,  folge  aber  hier  zuerst,  was 
wir  selbst  gesehen  haben. 

Es  war  am  12.  November,  dem  ersten  Tage  nach  Eintritt  des  Vollmon- 
des, um  b  Uhr  Abends  oder  4£  Stunden  nach  Sonnenuntergang  und  etwa 
.'  Stunde  nach  dem  Ende  der  letzten  Dämmerung,  als  uns  der  mehrerwähnte 
Dollmetscher  abholte,  um  in  dem  Koljuschendorfe  dem  was  er  ein  grosses 
Schamunisches  Fest  nannte,  beizuwohnen.  Aus  dem  Ka/'im  hörten  wir  darauf 
schon  aus  der  Ferne  Paukenschläge  und  singende  oder  taktmässig  schreiende 
Stimmen,  die  aber  verstummten,  als  unser  Begleiter  an  das  Thürbrett  schlug, 
mit  dem  man  das  runde  Eingangsloch  zugesetzt  hatte.  Nach  einiger  Unter- 
handlung wurde  von  innen  geöffnet  und  wir  sahen  nun  in  dem  unteren  Räume 
des  Gebäudes  Hunderte  von  nackten  Männern,  die  ein  in  der  Mitte  des  Fuss- 
bodens  brennendes  Feuer  umstanden.  Nur  an  einer  der  längeren  Wände  wa- 
ren die  oberen  Nary  oder  Logen  von  bekleideten  Koljuschen  eingenommen, 
unter  denen  sich  einige  der  früher  gesehenen  Tojone  und  viele  Frauen  be- 
fanden. Die  riesigen  Gestalten  des  unteren  Raumes  schienen  mir  auch  dies- 
mal, wie  früher  nach  dem  Schwitzbade,  ganz  roth  oder  braunroth,  und  es 
mögen  dazu  der  Feuerschein  und  die  Erhitzung  beigetragen  haben,  vielleicht 

•)  Ermaii,  Reise  u    s.  w  ,  histor.  Ber.,  Bd.  I,  S.  106,  141. 
**)  Shakespeare,  Kin£  Lear,  Act.  III,  Sc.  3. 

***)  Ermaii,  Reise  a.  a.  0.  S.  672.  »S'arytschew  und  Lütke  im  Archiv  für  wissenschaftliche 
Kunde  von  Kussland,  Bd.  III,  S.  457  u.  v.  A. 


325 

aber  ausserdem  der  Umstand,  dass  die  Hautfarbe  der  Männer  auch  bei  den 
Koljuschen  dunkler  wäre  als  die  der  Frauen,  so  wie  dies  bei  den  Chinesen 
nach  deren  eigenen  Schilderungen  in  höchst  auflallender  Weise  vorkommen 
soll.*)  Die  meisten  von  ihnen  hielten  einen  der  prachtvollen  kupfernen  Dolche 
gebrauchfertig  in  ihrer  Rechten  und  so  war  es  fast  bedenklich,  als  wir  uns 
gleich  auf  der  Schwelle  des  Eingangsloches  von  einigen  derselben  ergriffen, 
an  andere  ausgehändigt  und  über  die  Köpfe  der  übrigen  befördert  fühlten. 
Diese  unfreiwillige  Wanderung  endete  aber  schnell  in  einer  der  oberen  Lo- 
gen, in  die  man  uns  absetzte.  Eben  so  schnell  hatten  sich  auch  viele  der 
nackten  Gestalten  in  die  unteren  Nary  zurückgezogen,  so  dass  das  Feuer 
nur  von  einer  kleineren  Zahl  derselben  und  zwischen  diesen  von  einem  freien 
Ringe  umgeben  blieb.  Der  Gesang,  der  in  eintöniger,  anfangs  langsamer  und 
dann  immer  lebhafterer  und  lauterer  Ausstossung  einzelner  Sylben  bestand, 
fing  wieder  an  und  nach  einigen  Paukenschlägen  hob  sich  ein  Vorhang,  durch 
den  das  dem  Eingangsloche  gegenüber  gelegene  Ende  des  Hauptraumes  von 
dem  übrigen  getrennt  war.  Der  Schaman  erschien  in  demselben  mit  fliegen- 
den Haaren  und  allerhand  buntem  Behang  seines  Mantels,  der  sich  aber  je- 
der näheren  Betrachtung  entzog  durch  die  ausserordentliche  Schnelligkeit,  mit 
der  er  nun  sogleich  um  das  Feuer  zu  laufen  anfing.  Die  Sänger  schwangen 
ihre  Dolche  und  schienen  durch  ihr  leidenschaftliches  Geschrei  ihn  hetzen 
und  dann  fangen  zu  wollen,  während  er  durch  künstliche  Luftsprünge  und 
Verdrehungen  des  Körpers  diesen  Verfolgungen  auswich.  Unter  Anderem  zog 
er  einen  brennenden  Holzscheit  aus  dem  Feuer  und  warf  ihn  bis  an  das  Dach 
des  Hauses,  wodurch  der  Enthusiasmus  der  Verfolger  vermehrt  schien.  Sie 
kehrten  bei  der  nächsten  Declamation  ihre  Dolche  bald  gegen  die  Alten  und 
Vornehmen  in  den  Logen,  bald  wieder  gegen  den  rasenden  Seher,  den  sie 
dann  endlich  mit  einer  Wurfschlinge  fingen  und  banden.  Er  wurde  mit  einer 
Matte  bedeckt  und  von  einigen  seiner  Verfolger  hinter  den  Vorhang  geschleppt. 
Man  hörte  ihn  stöhnen,  während  der  an  dem  Feuer  gebliebene  Theil  des 
Chores  seinen  Gesang  wieder  leiser  und  langsamer  fortsetzte. 

Derselbe  Hergang  von  Recitativen,  die  wohl  Drohungen  gegen  den  Scha- 
manen enthielten  und  von  Bemühungen  ihn  zu  fangen,  wiederholte  sich  bei 
seiner  zweiten  und  seinen  folgenden  Darstellungen,  zu  denen  er  von  hinter 
dem  Vorhang  offenbar  den  ihn  Haltenden  entsprungen  scheinen  sollte,  jedoch 
mit  dem  Unterschiede,  dass  er  jedesmal  eine  andere  Gestalt  angenommen 
hatte.  Sein  Kopf  war  nun  immer  in  eine  ringsum  geschlossene  Maske  ge- 
steckt, welche  das  erste  Mal  den  Kopf  eines  reh-  oder  schafartigen  Thieres 
darstellte,  dem  auch  das  Fell  welches  ihn  bekleidete,  zu  gehören  schien.  In 
diesem  umkreiste  er  das  nun  leider  ziemlich  schlecht  brennende  Feuer  eben 
so  schnell  und  so  geschickt  wie  früher,  aber  seiner  Rolle  gemäss  auf  allen 
Vieren,  bis  dass  er  wieder  gebunden  und  röchelnd  oder  stöhnend  hinter  die 


*)  Vergl.  meine  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  2,  S.  139. 


326 

Scene  geschleppt  wurde.  Als  er  zum  letzten  Mal  entsprungen  war,  trug  er 
dagegen  ein  Raubthier-  oder  vielleicht  auch  verzerrtes  Mensehen-G  esicht,  von 
blauer  und  rother  Färbung,  mit  weissen  Zähnen  in  dem  offnen  Rachen,  wel- 
ches wohl  einem  fabelhaften  Wesen  angehören  sollte.  Er  lief  nun,  theils  auf- 
recht, theils  wiederum  auf  Händen  und  Füssen,  bald  rückwärts,  bald  vorwärts. 
Auch  war  dieser  Akt  noch  dadurch  ausgezeichnet,  dass  von  dem  Zauberer 
selbst  oder  von  einem  der  ihn  verfolgenden  Gehülfen  eine  brennbare  Flüssig 
keit  in  das  Feuer  gegossen  wurde,  welche  dasselbe  hoch  aufflammen  und  vor- 
trefflich leuchten  machte.  Nach  der  darauf  folgenden  Ueberwältiguug  und 
Fortschaffung  verstummte  der  Gesang  vollständig.  Alle  Zuschauer  in  den 
Logen,  die  bis  dahin  in  gewisse  Theile  des  Cboi'gesanges  eingestimmt  hatten, 
geberdeten  sich  höchst  erwartungsvoll,  und  der  Ich  et  Hess  sich  von  hinter 
dem  Vorhang  zuerst  durch  das  frühere  Stöhnen,  darauf  aber  endlich  in  ab- 
gestossenen  Sätzen  einer  prophetischen  Rede  vernehmen.  —  Der 
Dollmetscher,  den  wir  über  deren  Bedeutung  befragten,  sagte  nacheinander: 
„Ich  sehe  den  Jek  oder  Geist  —  er  ist  auf  dem  Meere  —  sein  Boot 
kommt  zu  uns."  —  Manches  andere  könne  er  nicht  sogleich  angeben,  weil 
es  für  koljuschische  Reden  (d.  h.  wohl  Vorstellungen)  nicht  immer  russische 
Worte  gebe.  Es  sei  aber  die  heutige  Prophezeiung  sehr  günstig,  namentlich 
für  den  kranken  Tojon,  denselben  den  unser  Schiffsarzt  (Herr  Dr.  Peter«) 
vor  einigen  Tagen  besucht  und  bei  dem  man  ihm  bereits  einen  zum  even- 
tuellen Todtenopfer  ausersehenen  Diener  oder  Kalga  vorgestellt  hatte.  Der 
Schaman  habe  auch  noch  von  der  Zufriedenheit  des  Jek  mit  der  Ankunft 
unseres  Schiffes  gesprochen.  —  Besonders  angelegentlich  wurden  wir  aber 
endlich  auf  die  wunderbare  Begabung  dieses  Zauberers  aufmerksam  gemacht, 
mit  den  hölzernen  Masken,  durch  die  er  nicht  sehen  könne,  um  das  Feuer 
zu  laufen,  und  wir  fanden  in  den  gemalten  Augen  von  einigen,  die  man  uns 
zeigte,  in  der  That  nur  äusserst  kleine  Oeffnungen.  Sie  schienen  sogar  von 
der  Pupille  des  Tragenden  so  weit  abzustehen,  dass  sie  ihm,  selbst  beim  Vor- 
wärtslaufen, nur  wenig  helfen  konnten. 

Zu  vollständiger  Einsicht  über  das  was  sich  die  Koljuschen  bei  diesen 
Darstellungen  dachten,  wäre  das  Verständniss  des  sie  begleitenden  Gesanges 
-  falls  derselbe  wesentlich  mehr  als  leidenschaftliche  Interjectionen  von  un- 
bestimmter Bedeutung  enthielt  —  erforderlich  gewesen.  Sie  sind  mir  aber 
auch  ohnedem,  schon  auf  »Sitcha  und  noch  bis  diesen  Augenblick,  höchst 
merkwürdig  erschienen,  durch  ihre  Uebereinstimmung  mit  der  Homerischen 
Erzählung  von  den  Erlebnissen  die  Menelaos  und  seine  Begleiter,  eine  da- 
malige Tagesfahrt  vor  der  Nilmündung,  auf  der  Insel  Pharos  mit  dem  wahr- 
sagenden Proteus  gehabt  hätten.  Hier  wie  dort  muss  dem  Wissenden  sein 
Ausspruch  gewaltsam  abgerungen  werden,  indem  man  seinen,  an  beiden  Or- 
ten in  gleicher  Weise  vorkommenden  Verwandlungen  durch  ein  Verfahren 
ein  Ende  macht,  das  von  Homer  ein  nicht  nachlassendes  Halten  und 
Drücken   (y(oXe(.iecog   iy^if.isv   und  aoxB(.i(pitog  ejfjfyie»',  ftfikkor  te  nti-Ceiv)  ge- 


327 

nannt,  von  den  Koljuschen  aber  buchstäblich  ebenso  gehandhabl  and  Doch 
durch  das  Binden  und  Einwickeln  in  eine  Matte  verstärk!  wird  Vuctli  du 
Verschiedenheit,  dass  die  Weissagung  bei  Homer  von  einem  tuil  übcmalüi 
liehen  Eigenschaften  bleibend  begabten  Wesen  ausgehe,  auf  Sitcha  du 
viiu  nur  zeitweilig  insnirirten  Männern,  1 ; i  11t  aber  fort,  wenn  man  mit  Lucian 
den  Proteus  für  Nichts  weiter  als  einen  höheren  Tänzer  ('' [■ •;/.'/■'  ','  nvii)  er 
klärt,  der  vermöge  seiner  mimischen  Kunst  allerlei  Thiere  und  sonstige  Natur- 
erzeugnisse ganz  so  dargestellt  habe,  als  ob  er  zu  denselben  wirklich  gewoi 
den  wäre.')  —  I riese  Auffassung  einmal  zugegeben,  wird  dann  historisch  ge 
nommen  das  mythische  Wesen  (nicht,  wie  abgeschmackte  Scholiasten  gewollt 
haben:  ein  ägyptischer  König  mit  einem  Lustschloss  auf  Pharos,  son- 
dern) in  der  That  zu  einen  ergrauten  und  bis  zur  Unfehlbarkeit  erfahrenen 
Seemann  (ysQiav  aAiog  vrtfUQtijg),  der  auf  der  öden  Insel  Pharos  verkehrte, 
und  verlegnen  Schiffern  sowohl  die  unschätzbarsten  Lootsenkunden  mitzutheilen 
wusste  (rrdorjg  0-aÄdooqg  rlivifta  o'idt),  als  auch  zu  ihrer  ferneren  Reise  die 
Curse  und  Längen  der  einzelnen  Fahrten  (oöav  y.c.l  (.Utqo.  y.sXeli>oi>).  —  Zur 
Verherrlichung  und  Beglaubigung  solcher  Aufschlüsse  und  seiner  anderweiten 
Wahrsagungen  dienten  ihm  sein  ablehnendes  Sträuben  und  seine  Verwand- 
lungen. Homer  nennt  diese  geradezu  Trug-  oder  Schamanen-Künste,  denn 
das  heisst  ganz  genau  sein  oAnqpcJia,  wenn  es,  der  Wahrscheinlichkeit  ge- 
mäss, zu  eXsrpaiviü  gezogen  wird.**)  Die  dem  ägyptischen  Wunderthäter  zu- 
geschriebene Leistung,  die  Phoken,  in  deren  Mitte  er  sich  zu  sonnen  pflegte, 
wie  ein  Hirt  zwischen  seiner  Heerde,  gezählt,  mithin  vorher  gezähmt  zu  ha- 
ben, wäre  freilich  künstlich  gewesen,  jedoch  genau  von  derselben  Art  und 
kaum  in  demselben  Masse  wie  die  Leistungen  der  koljuschischen  Schamanen. 
welche  Ottern  und  andere  Thiere  des  Waldes  und  Meeres  bei  der  ersten 
Begegnung  durch  gewisse  Zurufe  ihrem  Willen  geneigt  machen  sollten  (vgl. 
unten).  Wenn  aber  dann  endlich  Menelaos,  nachdem  er  ihn  zur  Annahme 
seiner  wahren  Gestalt  gezwungen,  vom  Proteus  hören  will,  welcher  der  Göt- 
ter ihm  zürne,  so  verfährt  er  genau  wie  die  Koljuschen,  indem  sie  ihren  Ichet 
im  Namen  des  Urhebers  des  von  uns  gesehenen  Festes  befragten,  welcher 
der  Jeks,  d.  i.  der  übermenschlichen  Geister,  ihn  beschädigt  und  von  wo 
er  etwa  Hülfe  zu  hoffen  habe.***) 

_.  (Fortsetzimg  folgt.) 

*)  fllegl  6<jx>}nfo)c,  cap.  19.    (Luciani  opera,  edit.  stereot  ,  Lipsiae  1829,  Tom.  II,  pag.311.) 
**)  Wie   dagegen  die   koljuschischen   Wahrsager    bei   den   sie   Befragenden  den   relif 
(Jlauben   erhalten,    dass  die  von  ihnen  dargestellten  Verwandlungen  wirkliche  seien;    ist  unten 
etwas  näher  zu  erwähnen. 

***)  Durch  diese  anscheinende  Uehereinstimmung  in  einem  prophetischen  Verfahren, 
welches  zwei  im  Raum  so  weit  als  es  auf  der  Erde  möglich  ist  und  in  der  Zeil  durch  mehrere 
Jahrtausende  von  einander  getrennte  Volksstämme  ausübten,  wird  man  an  die  durchaus  erwie- 
sene Gleichheit  einer  industriellen  Erfindung  erinnert,  die  unter  beinahe  ebenso  verschie- 
denen räumlichen  und  zeitlichen  Bedingungen  wie  jene  vorgekommen  ist,  für  welche  man  aber, 
ihrer  Seltsamkeit  wegen,  an  eine  zweimalige  Entstehung  ohne  Tradition  zwis  hen  ihren  Urhebern 
noch  weit  weniger  glauben  möchte.     Ich  meine  die  Fiscb warten,    die  Strabo  an   der  afrika- 


328 


Die  Goajiro- Indianer. 

Eine  ethnographische  Skizze  von  A.  Ernst,  Caracas. 
(Mit  Karte  und  Abbildungen.*) 

Im  äussersten  Norden  des  südamerikanischen  Continents  liegt  die  Goa- 
jiro-Halbiusel,  die  in  der  Punta  de  Grallinas  bis  12°  30'  N.  ßr.  reicht.  Oest- 
lich  begrenzt  sie  der  Golf  von  Venezuela,  westlich  jener  Theil  des  Caraibi- 
schen  Meeres,  welcher  Neugranäda's  Nordküste  bespült.  Zwischen  Rio  Hacha 
im  Westen  und  Sinamaica  im  Osten  beträgt  ihre  von  NW  nach  SO  laufende 
Basis  etwas  mehr  als  15  geographische  Meilen,  während  sie  sich  in  der  Länge 
von  den  Montanas  de  Oca  bis  zum  Cap  Chichibocoa  in  südwestlich-nordöst- 
licher Richtung  ungefähr  24  Meilen  weit  ausdehnt. 

Obgleich  das  Innere  noch  wenig  bekannt  ist,  so  steht  doch  fest,  dass  es 
grosse  Grasfluren  enthält,  aus  denen  sich  nur  hier  und  da  unbedeutende  Hö- 
hen erheben.  Zu  diesen  gehören  die  Teta  Goajiro  (167  Meter  hoch),  und  die 
857  Meter  (?)  ansteigenden  Berge  der  Sierra  Aceite. 

Wenig  weiss  man  von  den  Naturprodukten  dieses  Gebiets.  An  der  mit 
gefährlichen  Untiefen  umgürteten,  in  zahlreiche  Buchten  ausgeschnittenen 
Küste  wachsen  Dividive  (Cacsalpinia  C'oriaria,  Willd.)  und  Campecheholz 
(Jlucinatoxylon  Campcchianum,  L.)  in  bedeutender  Menge  und  sind  Gegen- 
stand des  Tauschverkehrs  zwischen  den  Indianern  und  den  Holländern  von 
Curacao. 

Die  Halbinsel  gehörte  früher  zu  dem  Vicekönigreiche  von  Neu-Granäda, 
von  dem  vergebens  ihre  Eroberung  versucht  wurde,  wie  weiter  unten  bei  der 
Erzählung  der  historischen  Schicksale  ihrer  Bewohner  berichtet  werden  soll. 
Seit  der  Spaltung  der  Republik  Colombia  in  die  3  Schwesterfreistaaten  haben 
sich  Neu-Granäda  und  Venezuela  durch  einen  Strich  auf  der  Karte  in  die 
Halbinsel  getheilt;  doch  hat  keine  von  beiden  bis  jetzt  irgend  welche  Hoheits- 
rechte gegen  die  unbezwungenen  Goajiros  geltend  machen  können,  obgleich 
dieselben  bereits  mehrfach  Gegenstand  eines  diplomatischen  Notenwechsels 
zwischen  Caracas  und  Bogota  gewesen  sind.  Auf  venezolanischer  Seite  wird 
in  Sinamaica  ein  Grenzposten  unterhalten,  einerseits  um  den  Handelsverkehr 
mit  den  Indianern  zu  vermitteln,  andererseits  um  etwaige  feindliche  Gelüste 
derselben  zurückzuschlagen. 

So   weit   unsere  jetzige   Kunde   reicht,    sind    die  Bewohner   der   Goajiro 

nischen  Küste  des  Mittelländischen  Meeres  genau  so  gesehen  und  beschrieben  hat,  wie  sie  jetzt 
dicht  am  Grossen  Ocean  von  den  Kamtschadalen  gebraucht  werden.  Vergl.  meine  Abhandlung 
„Ueber  ein  optisches  Mittel  zum  Fischfang"  im  Archiv  für  wissenschaftl.  Kunde  von  Russland, 
Bd.  XXI,  S.  155  ff. 

*)  Werden  später  folgen. 


329 

wahrscheinlich  desselben  Stammes.  Die  Gesammtbevölkerung  wird  auf  100,000 
Köpfe  geschätzt.  Man  nennt  zwölf  verschiedene  Stämme:  Ipuanas,  Urianas, 
Urariyüs,  Jusayüs,*)  Jarariyüs,  Epiayüs,  Pusainas,  Paraujanos,  Arpusianas, 
Fpinayüs,  Zaposanas,  Arpureches,  zu  denen  man  noch  als  Anhang  di<;  Co- 
cinas  hinzufügen  muss.  Mit  Ausnahme  der  letzteren  haben  sie  bestimmte 
Wohnsitze.  So  wohnen  die  Zaposanas  in  der  Nähe  der  Montes  de  Oca,  die 
Paraujanos  nahe  der  Lagune  von  Sinamaica  und  am  Fluss  Limon,  die  Uria- 
nas an  der  Küste  bei  Cqjoro,  die  Arpusianas  in  der  Gegend  von  Bahia  Honda 
und  des  Portete,  die  Pusainas  finden  sich  bei  Macuire.  Die  Cocinas,  vielleicht 
anderen  Stammes  als  der  Rest  der  Bevölkerung,  sind  ein  vagabundirendes 
Raubgesindel,  das  alle  Wege  unsicher  macht. 

Die  Goajiros  sind  durchschnittlich  ein  kräftiger  Menschenschlag,  welcher 
in  der  gleichgültigen  Erduldung  von  Entbehrungen  aller  Art  keinem  der  übri- 
gen amerikanischen  Urvölker  nachsteht.  Sie  sind  verhältnissmässig  klein  von 
Wuchs  und  erreichen  selten  eine  Höhe  von  mehr  als  fünf  Fuss.  Das  Gesicht 
erscheint  gross  durch  die  fleischigen  Backen.  Drei  durch  die  Güte  des  Herrn 
Vicente  Urdaneta  aus.  Maracaybo  an  die  Sociedad  de  Ciencias  fisicas  y  na- 
turales de  Caracas  eingesandte  Schädel  ergaben  die  nachstehenden  Messungs- 
resultate, bei  deren  Ermittelung  ich  mich  des  thätigen  Beistandes  des  Herrn 
Dr.  Juan  Cuello,  eines  hiesigen  Arztes,  der  in  Berlin  studirt  hat,  zu  erfreuen 
hatte.  Die  Messungen  wurden  nach  Virchow's  System  ausgeführt  (Vogt,  Vor- 
lesungen über  den  Menschen,  Giessen   J  863,  I,  72). 


Benennung. 

Angabe  der  Richtung  und  der  Punkte,  durch 

ädel 
.  1. 
alt. 

ädel 
.  2. 
alt 

"3    .  bc 

-C  P5    C 

welche  das  Maass  bestimmt  ist. 

«izHO 

t»z-IO 

Mm. 

Mm. 

Mm. 

500 

480 

480 

Theil  des  Horizontalumfangs  zwischen  den  Kro- 

165 

135 

145 

Mittellinie  des  ganzen  Schädels  (von  der  vorde- 
ren  Mitte   des    Oberkieferrandes    unter    dem 
Nasenstachel    über   den   Scheitel    nach    dem 

4:il 
120 

400 
115 

400 

110 

Pfeilnath 

Bis  Hinterrand  des  foramen  magnura  

110 
130 

110 
110 

120 
107 

Hinterhauptsschuppe  . . 

165 

140 

148 

Länge  der  Wirbelkörper 

Vom  Vorderrand  des  foramen  magnum  bis  zur 

Nasennath  in  gerader  Linie 

98 

90 

87 

Rechts  (den  Biegungen  derselben  folgend)  .... 

102 

100 

101 

„       (in  gerader  Linie  von  Ende  zu  Ende)  . 

100 

— 

— 

Links  (ebenso) 

102. 100 

100 

101 

*)  Alle  Namen  sind  nach   spanischer  Orthographie  geschrieben;    man  spreche  also  hier 
das  spanische  j  aus,  ein  starkes  gutturales  h. 


330 


Benennum; 


Lambdanaht 

Basaler  Querumfang. . 


<  Iberer  Querumfang  .  . . 

Diagoualumfang   

Längsdurchmesser  A.  .  . 

B.  .. 

Höhendurchmesser  A... 

B... 

Querdurchmesser,  unte- 
rer frontaler 

Querdurchmesser,  oberer 
frontaler 

Querdurchmesser,tempo- 
raler  

Querdurchmesser,  oberer 
parietaler- 

Querdurchmesser,  unte- 
rer parietaler 

Querdurchmesser,  oeeipi- 
laler 

(,>uerdurchmesser ,  ma- 
stoidaler 


Angabe  der  Richtung  und  der  Funkle ,  durch 
welche  das  Maass  bestimmt  ist. 


Rechts 

Links  

In  gerader  Linie  von  der  Kante  des  Jochfort- 
satzes über  der  Ohröffnung  zu  demselben 
Punkte  an  der  anderen  Seile  über  die  Schä- 
delbasis   

Zwischen  denselben  Punkten  über' den  Scheitel. 

Vorn  Gehörgang  zur  vorderen  Fontanelle 

Von  Nasennath  zur  Lambdanath 

Von  der  Glabella  zur  grössten  Wölbung  des 
Oeciput 

Vom  Hinterrand  des  foramen  maguum  zur  Vor- 
derspitze der  Pfeilnath 

Vom  Vorderrand  des  foramen  maguum  zum 
höchsten  Scheitelpunkt 


3   O        I -C    o         ;—   o  — 


o 


Zwischen    den    Kanten    der   Jochfortsätze    des 
Stirnbeins 


Zwischen  den  Stirnhöckern 

Zwischen  den  Spitzen  der  grossen  Keilbeinflügel , 

Zwischen  den  Scheitelhöckern 

Oberhalb  der  Mitte  der  Schuppennaht   


Zwischen   den   hinteren   äusseren    Winkeln   der 
Scheitelbeine 

Zwischen  den  Spitzen  der  Zitzenfortsätze 


Schiefe  Maass e 
Von  Stirnhöcker  zu  Scheitelhöcker,  rechts  . .  .  . 

„  „  „  ,  links 

„  „  „    Jochfortsatz,  rechts 

»  »  »  -,  links 

,     Zitzenfortsatz  zu  Scheitelhöcker,  rechts... 

,  links 

,  ,  „    Jochfortsatz,  rechts 

r,  ,  „  „  links 

,     Scheitelhöcker  zu  Uinterhauptshöcker, rechts 

•>  n  r>  r.  ÜldiS. 

,     Zitzenfortsatz    „  „  rechts 

nB»  n  links. 

Linie  l>x  (Vorderrand  des  foramen  maguum  zu 

Nasenstachel) 

Linie  bn   (Vorderrand  des  foramen  magnum  zu 

Nasennath) 

Linie  nx  (Nasennath  zn  Nasenstachel) 


Im. 

Mm. 

Mm. 

95 

1)0 

100 

101) 

85  ' 

96 

145 
290 
305 
160 

180 


Uo  '  14. > 

275  I  200 

282  |  312 

160  I  160 


105 


138  |  130 
125  !   120 


100  j   05 

55  I   49 

127  I   110 


13. 


1 23 


140    106 
105  !   110 


101 

110 

95 

100 

55 

50 

55 

50 

108 

90 

108 

96 

100 

96 

100 

95 

110 

115 

107 

125 

140 

90 

150 

95 

87 

87  j 

98 

90  | 

57  | 

i 

52  1 

168 
130 
125 

95 

50 

117 


148    130    140 


105 
105 


95 

105 

55 

55 

110 

105 

90 

95 

120 

115 

110 

110 

83 

88 
47 


331 


lenennung. 


Angabe  der  Richtung  und  der  Punkte,  durch     -?-'•=  eo«  -; 
welche  das  Maass  bestiuiuil  ist. 


Winkel  bnx  (Nasenwinke]) •  •  •  •      62° 

( lamperscher  Gesichtswinkel  (Stirn,  Nasenstachel 

Ohr) 

(■amperscher  Gesichtswinkel  (Stirn,  ol>erei  Zahn 

rand,  Ohr) I    72" 


/  ' 


70 
68 
62 


69 

77  ' 
72 


1012  i 12D0*) 


Innere  Gapacität,  in  Cubikcentirnetern |  1211 

Verhältniss  der  Breite  zur  Länge  (nach  Davis, 

im    'J'hesaurus  craniorum)  0,83        0,is        0,« . 

Verhältniss  der  Höhe  zur  Lauge 0,77       0,77    [    0,7t 


Der  sehr  kleine  Gesichtswinkel  des  Schädels  No.  2  und  die  damit  über- 
einstimmende geringe  Capacität  desselben  lassen  mit  Recht  Idiotismus  ver- 
muthen.  Die  Schädel  1  und  3  sind  brachycephal  in  dem  Sinne,  wie  J.  B.  Davis 
(Thesaurus  craniorum,  pag.  XV)   dieses  Wort  nimmt. 

Die  beigegebenen  Ansichten  sind  von  dem  Schädel  No.  1  entnommen. 
Ich  verdanke  sie  der  gütigen  Mitwirkung  des  hiesigen  trefflichen  Photogra- 
phen F.  Lessmann,  der  mit  seiner  Kunst  stets  bereit  ist,  der  Wissenschah 
zu  dienen. 

Das  Gesicht  der  Goajiros  ist  plump,  der  allgemeine  Ausdruck  mehr  krät- 
tig  als  roh.  Die  stets  dunklen  Augen  stehen  ziemlich  schief;  die  Nase  isi 
breit  und  stumpf,  der  Mund  gross,  das  Haar  grob  und  straff,  pechschwarz 
von  Farbe.  Der  Querdurchschnitt  des  letzteren  unter  dem  Mikroskop  ist  bei- 
nahe kreisförmig  mit  sehr  undeutlich  zu  erkennendem  Kern.  Der  Bart  ist 
stets  schwach,  die  übrige  Körperbehaarung  spärlich. 

Die  Hautfarbe  der  meisten  Goajiros  ist  eher  hell  als  dunkel  zu  nennen, 
hell  lohfarbig  scheint  mir  am  zutreffendsten.  Ich  kann  nicht  recht  verstehen, 
wie  Galindo  (Journ.  Roy.  Geogr.  Society  III,  290,  bei  Waitz,  Anthrop.  III, 
;>(>6)  von  ganz  schwarzer  Haut  der  Goajiros  sprechen  kann.  Er  mag  vielleicht 
recht  schmutzige  Cocinas  im  Sinne  gehabt  haben.  Die  Haut  transpirirt  stark ; 
doch  habe  ich  an  den  von  mir  beobachteten  Individuen  nichts  von  einem 
speciellen  Hautgeruche  gemerkt. 

Die  Brust  ist  meistens  breit.  Bei  den  Weibern  sind  die  Brüste  oft  sehr 
gross,  doch  selten  oder  nie  schlaff  hängend.  Die  Hüften  stehen  seitlich  be- 
deutend vor  und  erhöhen   das  gedrungene  Aussehen  des  Körperbaues. 

Ich  bin  nicht  im  Stande,  auch  nur  Vermuthungen  auszusprechen  über 
den  Zusammenhang  der  Goajiros  mit  anderen  Indianerstämmen  Süd-Amerikas. 
Es  wäre  indessen  mehr  wie  seltsam,  wenn  keiner  vorhanden  sein  sollte.    Ich 


*)  Da  die  Nähte  etwas  aufgetrieben  waren,  ist  diese  Zahl  nicht  zuverlässig,  sondern  zu  gross. 


332 

darf  vielleicht  hoffen,  dass  meine  Arbeit  für  die  anthropologischen  Forscher 
genügendes  Material  enthalten   werde,   um  diesen  Punkt  ins  Reine  zu  bringen. 

Die  Goajiros  wissen  absolut  nichts  von  ihren  Vorfahren.  Unter  ihnen 
lebt  keine  Sage,  keine  Ueberlieferung.  Kein  Denkmal  aus  alten  Zeiten  giebt 
Ausschluss  oder  Andeutung  über  ihre  Vergangenheit.  Die  persönliche  Erin- 
nerung des  Individuums  ist  rückwärts  geschichtliche  Grenze.  Ein  Gefühl  nur 
hat  den  Untergang  der  hingestorbenen  Generationen  überdauert,  der  Hass 
gegen  die  Spanier  und  deren  Abkömmlinge.  Was  ältere  Schriftsteller  uns  von 
ihnen  berichten,  ist  dürftig  und  trägt  mehr  den  Charakter  gelegentlicher  Be- 
merkung. Ich  beschränke  mich  demnach  auf  den  gegenwärtigen  Zustand,  und 
will  in  Folgendem  eine  eulturhistorische  Schilderung  der  Goajirostämme  ver- 
suchen. 

Schon  der  Umstand,  dass  die  Goajiros  sich  durch  Jahrhunderte  energisch 
und  erfolgreich  der  unterjochenden  Givilisation  widersetzten,  erregt  Interesse 
und  lässt  vermuthen,  dass  wir  es  hier  nicht  mit  ganz  rohen  Völkern  zu  thun 
haben. 

Die  Goajiro-Halbinsel  ist  in  nur  wenigen  Punkten  zum  Ackerbau  geeig- 
net, da  es  ihr  an  Wasser  fehlt.  Der  Landbau  ist  demnach  auf  wenige  bevor- 
zugte Punkte  und  auf  das  allernothwendigste  beschränkt.  Die  Banane  ist  ein- 
geführt worden;  denn  die  Namen  purana  und  guinea  sind  fremden  Ur- 
sprungs. Die  Batate  dagegen  (JBatata  edulis,  Choisy)  heisst  j  äisch,  die  Baum- 
wolle mauri.  Der  Name  des  Mais  (mäique)  könnte  aus  Hayti  stammen; 
Wassermelonen  und  Melonen  verrathen  sogleich  durch  ihre  Benennung  die 
spanische  Herkunft.  Dagegen  zeigen  die  Namen  für  Kürbis  (uir,  jetzt  in  Ve- 
nezuela aullama,  ein  caribisches  Wort)  und  die  Cassavepflanze  (Jatropha  uti- 
/issima)  keine  Aehnlichkeit  mit  sonst  mir  bekannten  Namen  dieser  Gewächse. 
Dasselbe  gilt  von  dem  Namen  des  Tabak,  yül-li*)  oder  yuri;  die  Aehnlich- 
keit mit  dem  aztekischen  yetl  ist  doch  kaum  nennenswerth. 

Weniger  noch  als  für  den  Ackerbau  eignet  sich  die  Halbinsel  fär  die 
Jagd;  denn  es  fehlt  an  Wild.  Dagegen  treiben  die  an  der  Küste  wohnenden 
Stämme  Fischfang,  wenn  auch  nur  in  beschränktem  Grade. 

Die  Hauptbeschäftigung  der  Goajiros  ist  die  Viehzucht.  Die  von  Europa 
eingeführten  Hausthiere  (Pferd,  Esel,  Maulthier,  Ziege,  Huhn)  haben  die  ehe- 
malige, uns  nicht  bekannte  Lebensweise  dieser  Völker  sicherlich  weit  mehr 
umgestaltet,  als  dies  betreffs  der  Bewohner  Europas  durch  die  Erfindungen 
und  Entdeckungen  der  Neuzeit  geschehen  ist.  Die  heutigen  Goajiros  müssen 
in  der  That  sich  sehr  von  ihren  Vorfahren  unterscheiden,  die  als  Hausthiere 
nur  ihre  Weiber  hatten.  Die  reichen  Paraujanos  besitzen  zahlreiche  Heerden 
und  bringen  jahraus  jahrein  Thiere,  Felle  und  Käse  zum  Austausch  nach  dem 
Grenzposten  von  Sinamaica.    Ich  führe  beispielsweise  die  Ziffern  für  das  ve- 

*)  Mil  /-/  bezeichne  ich  hier  und  im  Wörterverzeichniss  die  sehr  markirte  Aussprache 
beider  Consonanten,  fast  mit  trennender  Pause,  etwas  guttural  lind  nicht  unähnlich  dem  gestri- 
chenen 1  (1)  der  Polen. 


333 

nezuelanische  Finanzjahr  1852 — 1853  (1.  Juli  1852  bis  30.  Juni  1853)  an: 
2079  Rinder,  916  Pferde,  220  Maulthiere,  162')  Esel,  1906  Häute  von  Rin- 
dern, 2819  Kalbsfelle,  9750  Pfund  Käse  (Memoria  del  Ministerio  de  lo  Inte- 
rior  y  Justicia,  Caracas  1854).  Es  ist  natürlich,  dass  diese  Thiere  Namen 
haben,  welche  der  spanischen  Sprache  entnommen  sind;  doch  weiss  ich  den 
des  Pferdes  (amma,  jama)  mir  nicht  zu  erklären. 

Die  Hauptnahrung  der  Goajiros  besteht  demnach  aus  Fleisch.  Sie  sind 
wie  alle  Indianer  in  Betreff  ihrer  Mahlzeiten  gleich  dem  Condor  der  Cordil- 
leren.  Ist  Nahrung  im  Ueberfiuss  vorhanden,  so  werden  erstaunliche  Mengen 
verschlungen;  fehlt  es  an  Nahrungsmitteln,  so  wird  der  Hunger  mit  der  gröss- 
ten  Gleichgültigkeit  ertragen,  und  die  starke  Constitution  leidet  nicht  sonder- 
lich dabei.  Bei  den  westlichen  Goajiros  scheint  die  Coca  bekannt  zu  sein, 
wenn  nämlich  der  Hayostrauch  das  Erythroxylum  Coca,  Lam.  ist.  Die  öst- 
lichen Stämme  kennen  nichts  derartiges.  Sie  rauchen  Tabak,  aber  nicht  mit 
der  Nase,  wie  die  Bewohner  von  Hayti  es  thaten,  und  bereiten  sich  aus  Mais 
berauschende  Getränke. 

Doch  nicht  alle  Stämme  gründen  ihre  Existenz  auf  Viehzucht  und  damit 
in  Verbindung  stehende  Beschäftigungen.  Einige  leben  vom  Raube,  wobei  sie 
weder  Freund  noch  Feind  unterscheiden. 

Die  äussere  Ausstattung  des  Lebens  steht  selbstverständlich  in  Beziehung 
zu  der  Beschäftigung.  Die  Hütte  ist  selten  etwas  anderes  als  ein  auf  einigen 
Pfählen  ruhendes  Dach  aus  den  Stämmen  und  Blättern  der  Typha  angu*ti- 
folia,  welche  enea  genannt  wird  und  in  den  zahlreichen  Sumpfgegenden  des 
Südens  die  sogenannten  eneales  bildet  (die  Endung  al  nach  Pflanzennamen 
entspricht  bekanntlich  im  Spanischen  dem  etum  der  Lateiner).  Die  an  der 
Meeresküste  oder  an  den  Lagunen  lebenden  Fischerstämme  wohnen  theilweis 
auch  in  Hütten,  die  auf  einem  Pfahlwerk  in  einer  3  bis  4  Fuss  tiefen  Stelle 
des  Wassers  erbaut  sind.  Die  beiliegende  Ansicht,  die  ich  meinem  kunst- 
verständigen Freunde,  dem  Ornithologen  A.  Goering,  verdanke,  stellt  das  so 
gebaute  Dorf  La  Rosa  bei  Maracaybo  vor.  In  dem  vorderen  niederen  Theile 
der  Hütte  ist  die  Küche;  der  hintere  Theil  ist  Wohn-  und  Schlafplatz.  Ur- 
sache dieser  Wasserbauten  ist  wahrscheinlich  der  Umstand,  dass  über  dem 
Wasser  die  entsetzliche  Plage  der  Mücken  und  sonstiger  Insekten  weniger 
gross  ist.  Wir  haben  hier  also  moderne  Pfahlbauten.  Diese  Sitte  fiel 
schon  den  spanischen  Entdeckern  auf.  Als  Alonzo  de  Ojeda  1499  den  Golf 
von  Maracaybo  auffand,  „sah  er  an  der  östlichen  Seite  ein  Dorf,  dessen  Bau- 
art ihn  mit  Erstaunen  erfüllte.  Es  bestand  aus  zwanzig  grossen  glockenför- 
migen Häusern,  die  auf  Pfählen  standen,  welche  in  den  flachen  und  reinen 
Seegrund  getrieben  waren.  Jedes  Haus  hatte  eine  Zugbrücke  und  die  Bewoh- 
ner verkehrten  in  Booten  mit  einander."  (W.  Irving,  Voyages  of  the  Comp, 
of  Columbus,  Alonzo  de  Ojeda,  Chapt.  IV.)  Alonzo  fand  bekanntlich  hierin 
eine  Aehnlichkeit   mit  Italiens   altberühmter  Lagunenstadt   und   nannte  darum 


334 

die  Gegend  Golf  von   Venezuela  (d.  h.  Klein- Venedig);  der  indianische  Name 
war  Coquibacoa. 

Die  Kleidung  besteht  zunächst  aus  dem  guayuco  (perizonium)  und  so- 
dann einem  baumwollenen  Hemd  oder  Mantel  ohne  Aennel  oder  mit  sein 
kurzen  Aermeln.  Der  Stoff  ist  gewöhnlich  weiss  und  roth  gestreift.  Die  Wei- 
ber haben  dieselbe  Tracht.  Die  gebrauchten  Stoffe  wurden  früher  von  ihnen 
selbst  gewebt;  doch  weiss  ich  nichts  über  das  dabei  angewandte  Verfahren 
Viele  Stämme  tauschen  jedoch  auch  diese  Stoffe  in  Sinamaica  gegen  ihre 
Landesproducte  ein.  Als  Putz  dienen  ausser  gleichfalls  durch  Tausch  erwor- 
benen Schnüren  von  Glasperlen ,  Corallen  und  anderen  Artikeln  dieser  Art 
Hals-  und  Armbänder  aus  farbigen  Samenkernen,  Fingerringe  aus  Palmen- 
früchten (einer  in  meinem  Besitze  scheint  von  einer  Bactris  herzustammen); 
Federschmuck  wird  dagegen  selten  gefunden.  Die  Goajiros  kennen  das  Tät- 
towiren  nicht,  auch  haben  sie  kein  Oel,  um  sich  damit  einzureiben. 

Ihre  Hausgeräthe  sind  höchst  einfach.  Die  Schale  der  Frucht  des  Ca- 
lebassenbaums  dient  ihnen,  wie  zahlreichen  anderen  Stämmen  Venezuelas,  als 
hauptsächlichstes  Geräth.  Sie  nennen  dieselbe  nicht  mit  dem  caribischeu  Na- 
men totuma,  sondern  ita.  Sie  ist  ihnen  Krug,  Glas,  Teller,  Schüssel,  Tasse 
und  Flasche. 

Mannigfaltiger  sind  die  Waffen  und  sonstigen  Geräthe,  welche  die 
Männer  bei  ihrer  Arbeit  benutzen.  Zu  ersteren  gehört  vor  allem  der  Bogen 
(jurasch),  aus  festem,  elastischem  Holze,  gewöhnlich  4  Fuss  lang  und  in 
der  Mitte  über  einen  Zoll  dick.  Die  Sehne  (jurachapo)  an  allen  denen,  die 
ich  gesehen,  war  aus  Pitahanf,  den  Fasern  der  Fovrcroyu  gigantea.  Die  Pfeile 
sind  gewöhnlich  2  Fuss  lang.  Ihr  unterer  Theil  ist  aus  Rohr,  dem  Stengel 
der  Blüthenrispe  des  Gynerium  saccharoide*  (parala);  in  das  obere  Ende  wird 
ein  Holzstückcheu  fest  eingebunden,  an  welchem  oberhalb  der  Schwanzstachel 
des  Stechrochens  (Tryyon  spec.)  befestigt  ist.  Dieser  Stachel  ist  gegen  3  bis 
4  Zoll  lang,  scharf  spitzig  und  an  beiden  Seiten  mit  scharfen,  dichtstehenden 
Widerhaken  versehen.  Man  schreibt  der  Verwundung  mit  demselben  giftige 
Eigenschaften  zu;  doch  ist  diese  Behauptung  wohl  ohne  Grund,  da  der  Sta- 
chel vollkommen  massiv  und  knochig  ist.  Die  Wunde  ist  jedenfalls  sehr 
schmerzlich  und  kann  wegen  ihrer  Tiefe  und  der  von  den  Seitenstacheln  ver- 
ursachten Zerfleischung  des  Randes  in  einem  heissen  Klima  sicherlich  gefähr- 
liche Zufälle  mit  sich  führen.  Die  Pfeilspitze  wird  von  den  Goajiros  vergiftet. 
Das  Gift  (jimalä)  ist  thierischen  Ursprungs.  Der  gewöhnliche  Bericht,  wie 
ich  ihn  aus  dem  Munde  von  Indianern  gehört  habe,  lautet  wie  folgt:  Man 
tödtet  eine  grüne  auf •  Bäumen  lebende  Schlange  (jirül-li),  nimmt  die  Gift- 
druse heraus  und  steckt  diese  durch  eine  kleine  Oeffnung  in  eine  Calebassen- 
frucht.  Nach  15  bis  20  Tagen  ist  das  Innere  der  Frucht  eine  dunkele  schlei- 
mige Masse,  mit  der  man  die  Pfeilspitze  bestreicht.  Einen  anderen  Bericht 
giebt  Kamon  Paez  in  seinem  lesenswerthen ,  wenngleich  nicht  immer  zuver- 
lässigen Werke  Wild  Scenes   iu    South   America   (New-York    18G2),    S.  40G: 


335 

„Eine  Menge  todter  Reptilien,  Schlangen,  Kröten,  Eidechsen,  Scorpione  und 

Taranteln  weiden  in  eine  Totuma  geworfen  und  darin  gelassen,  bis  alles  in 
Verwesung  übergegangen  ist.u  Dann  soll  eine  gelbliche  Flüssigkeil  sich  am 
Grunde  des  Gefässes  ansammeln,  in  welche  die  Pfeilspitzen  getauchl  werden. 
Beide  Berichte  mögen  wahr  sein.  Dem  erstgenannten  steht  die  neulichsl  von 
J.  Escobar  gemachte  Mittheilung  zur  Seite,  dass  einige  (welche?)  Indianer 
Neu-Granadas  ihre  Pfeile  mit  dem  weisslichen,  milchigen  Safte  vergiften,  der 
unter  gewissen  Manipulationen  aus  dem  Kücken  eines  Laubfrosches,  l'ht/llo- 
batcs  melanorhinvs,  ausschwitzt  (Comptes  rendus,  Juni  21,  1869,  tom.  68,  p,  148? 
und   in   The   Annais  and   Magazine  of  Natural  History,    Aug.    1869,   p.  135). 

Die  Goajiros  gebrauchen  ihre  vergifteten  Pfeile  nur  im  Kampfe,  nicht 
auf  der  Jagd.  Das  Holzstück  wird  gewöhnlich  ringsum  eingeschnitten,  um 
das  Abbrechen  der  Spitze  zu  erleichtern.  Nach  den  Angaben  von  Augen- 
zeugen soll  die  durch  einen  vergifteten  Pfeil  gemachte  Wunde  unheilbar  und 
binnen  wenigen  Tagen  tödtlich  sein,  wenn  mau  nicht  gleich  ihre  Cautensa- 
tion  vornehmen  kann.  Der  Verwundete  stirbt  unter  stets  sich  steigernden, 
heftigen  Convulsionen.  In  Gemeinschaft  mit  Herrn  Dr.  J.  Cuello  machte  ich 
Versuche  mit  einem  vergifteten  Pfeile  an  einem  Meerschweinchen,  um  tue 
physiologischen  Wirkungen  des  Giftes  näher  zu  beobachten.  Sei  es  nun,  dass 
die  übersandten  Pfeilspitzen  entweder  gar  nicht  vergiftet  waren,  oder  dass 
die  sie  bedeckende  schmutzig  graue  Masse  bereits  kraftlos  geworden  war,  das 
Thier  litt  nur  in  Folge  der  mechanischen  Verletzung  und  die  Versuche  gaben 
kein  Resultat. 

Ausser  Bogen  und  Pfeilen  haben  die  meisten  Goajiros  auch  Feuer- 
waffen (carabus,  vom  spanischen  arcabusa).  Die  venezuelanischen  Gesetze 
verbieten  aus  leicht  zu  errathenden  Gründen  den  Verkauf  von  Schusswaffen 
und  Pulver  an  die  Goajiros,  die  diese  Artikel  von  Jamaika  und  namentlich 
von  Curacao  erhalten.  Paez  berichtet  in  dem  oben  augeführten  Buche  (S.  406). 
dass  sich  die  Goajiros  bleierner  Spitzkugeln  bedienen. 

Neben  den  Schusswaffen  ist  das  Waldmesser  (charaj  uta),  die  machete 
der  Venezuelaner,  zu  nennen. 

Jetzt  sind  die  Goajiros  überdies  in  Besitz  von  Messern  (ruli),  Sehcereii 
(parajus),  eisernen  Nägeln  (cachuer),  Kesseln  (siguarali).  Nadeln 
(uchiye  oder  atia)  und  anderen  Metallgegenständen.  Der  Name  für  Gold 
(oro)  ist  vollkommen   mit  dem   spanischen   Worte   übereinstimmend. 

Der  Angelhaken  der  Fischcrstämme  ist  heutzutage  ein  europäisches  Pro- 
dukt; er  beisst  curia,  die  Angelschnur  guarara  (wahrscheinlich  identisch 
mit  dem  gleichbedeutenden  caribischen  Worte  guaral).  Die  Kähne  werden 
aus  den  dicken  Stämmen  der  Ochroma  Lagopus  gemacht;  doch  sind  die  Na- 
men ihrer  Fahrzeuge:  lancha,  anua  (von  canoa)  weitverbreitete  Wörter 
Alle  Küstenanwohner  sind  vortreffliche  Schwimmer,  die  des  Binnenlandes 
gewandte  Reiter.  Sie  haben  weder  Sattel  noch  Steigbügel.  Eine  einfache  baum- 
wollene Decke  ersetzt  den  ersteren.     Die  Pferde  sind  nicht  schön,    aber  uu- 


336 

gemein  ausdauernd  und  werden  von  den  W  eissen  gern  gekauft.  Da  der  In- 
dianer uicht  leicht  dem  verlockendeu  Preise,  der  ihm  geboten  wird,  wider- 
stehen kann,  so  schneidet  er  lieber  seinem  Lieblings pferde  die  Ohren  ab,  um 
sicher  zu  sein,  dass  kein  Weisser  ihm  ein  Gebot  dafür  mache. 

(Schluss  folgt.) 


Büeherschau. 


Bartle:  Hades  and  the  Atonement.    London  1869. 

Bei  der  Erörterung  über  „The  point  of  the  Universe  in  which  Hades  is  situated",  wird  aus  den 
Schriftstellern  geschlossen:  Hades  is  always  represented  as  being  underneath  the  earth  (divided 
into  two  compartments).  In  Hades  at  this  moment  are  all  the  souls  that  have  ever  lived  in 
this  world.  Hades  one  day  will  be  our  abode.  Es  stimmt  diese,  sich  an  das  jüdische  Scheol 
anschliessende  Auffassung  des  würdigen  Vorstehers  des  Walton  College  (Liverpool),  mit 
den  Vorstellungen  der  Indianer  und  Eskimos  überein,  die  ihre  Jagdgründe  in  die  Unterwelt 
verlegten,  wie  auch  der  Griechen.  Der  für  die  höchsten  Fragen  der  Menschheit  gleichgültige  In- 
differentismus unserer  Zeit  giebt  sich  selten  über  diese  Dinge  klare  Rechenschaft,  wie  sie  die 
liekenutniss  einer  Religion  verlangt,  und  besonders  fühlt  man  sich  bei  dem  jetzigen  Weltsystem 
über  die  Localisirung  des  Himmels  in  grösserer  Verlegenheit,*)  als  seiner  Zeit  Dante,  wenn 
man  nicht  (wie  einige  neuere  Theologen  im  Anschluss  an  Lafontaine  und  Brewster)  den  Auf- 
enthalt der  Seeligen  an  die  verschiedenen  Sternenkörper  anschliesst.  Solche  Unentschiedenheit 
ist  besonders  den  Missionären  nachtheilig,  von  denen  die  Neubekehrten  Auskunft  zu  erlangen 
.suchen,  besonders  wenn  sie  eine  frühere  Religion  verlassen  haben,  die,  wie  z.  B.  die  buddhi- 
stische, die  ganze  übersinnliche  Welt  genau  in  ihren  Kosmos  eingepasst  hat  und  über  jede  ge- 
wünschte Einzelnheit  die  genaueste  Auskunft  zu  geben  weiss.**)  Ueber  dem  Caelum  stellatum 
erhebt  sich  das  Caelum  empyraeum,  aber  die  Zahl  der  Himmel  schwankt  zwischen  drei  (Paulus 
in  tertium  caelum  raptus),  fünf  oder  Caelum  quiutuplex  (Meisn.)  und  neun.  ***)  Nach  Augustin 
reichte  das  Wasser  der  Fluth  mcht  an  die  caeli  caelorum  (superiores  in  firmamento),  obwohl 
XV  cubitis  super  montes  asceudens.  Die  Wasserzerstörung  der  Buddhisten  erhebt  sich  dagegen 
bis  zu  der  unteren  Brahmanen-Terrasse ,  die  viele  Millionen  Meilen  über  dem  Gipfel  des  Meru 
erhaben  ist.    Rudloff  fasst  die  letzten  drei  der  sieben  Himmel  als  Paradies  t)  zusammen.    Tertia 

*)  Auch  über  die  Weltgegenden.  Damascenus  statuit  ex  orientali  coeli  plaga  Christum 
ad  Judicium  venturum,  denn  das  Gericht  (nach  Gregorius)  erit  in  valle  Josaphat. 

**)  Ultra  firmamentum  quod  octavum  orbem  nostris  faciunt,  est  regio  felicissima,  ubi  cor- 
pus Christi  degit  (Petrus  Martyr). 

***)  Secundum  majorem  computationein  novem  numerantur  caeli  largissime  accipiendo, 
aereum,  aethereum,  olympium  igneum,  coelum  planetarum,  firmamentum,  aqueum,  empyraeum, 
coelum  Trinitatis,  und  Auetores  concordantiarum  edit.  Francof  anno  600  unterscheiden  sieben 
Himmel  (bis  zum  Coelum  novum).     Suarez  ist  das  Caelum  empyraeum  am  höchsten. 

t)  Hie  probanaum  nobis  imumbere  videtur,  paradisum  supra  firmamentum  esse  consti- 
tutum (Lampadius)  und  dieses  würde  dem  Paradies  des  Amitabha  entsprechen  oder  dem  Rohutu 
noa  noa  der  Areoi  auf  Tahiti  nach  der  Beschreibung  von  Bellarminus :  In  prato  quodam  floren- 
tissimo  lucidissimo,  odorato  amoeno  degant  animae,  quae  nihil  patiuntur,  sed  tarnen  ibi  manent, 
quia  nondum  idoneae  sunt  divinae  visioni  (Bellarminus). 


337 

caeli  regio  a  süleribus  ad  aquas  illas  superiores  patet,  quae  est  aedes  beatorum  spirituum  et  ho- 
minuui  (Sohnius).  Die  schwebenden  Paläste  *)  wiederholen  die  Vimana  der  Bhjamma, 
doch  scheint  ebenso  die  spiritualistische  Auffassung  *•)  ihr  Recht  zu  haben.  Wenn  Luther 
auch  animalcula  et  catellos,  quorum  cutis  erit  aurea  et  pili  de  lapidibus  pretiosis  in  den 
Himmel  setzt,  so  entspricht  das  der  Fiji- Auffassung,  nach  der  selbst  jedes  Insect  fortlebt. 
Ibi  formicae,  ciniphes  et  omnia  foetitia  et  male  olentia  animalia  merae  diliciae  erunt  et 
optimum  udorem  spirabunt.  Das  konnte  zur  Phthirophagie  verleiten ,  da  die  Beschäf- 
tigung***) der  Beati  eine  sehr  einförmige  scheint,  wie  (nach  Burneh)  die  Umgebung, 
„ohne  Berg,  ohne  Meer,f)  ohne  Klippen."  Sonst  heisst  es:  Edemus  de  ligno  vitae,  und 
Augustin  erörtert,  dass  die  Esswerkzeuge  zwar  nicht  mit  der  Noth wendigkeit,  aber  doch  mit 
der  Möglichkeit  des  Kanens  vorhanden  sein  würden,  sowie  sonstige,  scheinbar  unnütz  gewordene 
Eingeweide.  Die  Auferstehung  des  Fleisches  ist  es  überhaupt,  die  schwer  lösliche  Schwierigkeiten 
verursacht,  und  die  gelehrten  Kirchenväter  (nicht  nur  die  altenft)  hatten  ihren  ganzen  Scharfsinn 
nöthig,  zu  erklären,  wie  sowohl  den  Raubthieren,  die  Menschen  zerrissen  haben  könnten,  ihr 
Raub  abzujagen  sei,  sondern  auch  den  Würmern,  die  den  Leichnam  im  Grabe  gefressen  Jedes 
Atom  der  Elemente,  aus  denen  der  erste  Lehm-Mensch  geformt  war,  ist  aber  zu  retten,  denn: 
resurget  carno,  et  quidem  omnis  et  quidem  ipsa  et  quidem  integra  (Tertullian).  Securae  estote 
caro  et  sanguis,  usurpastis  et  coelum  et  regnum  Dei  in  Christo.  Gautama's  scheinbar  verwickelte 
Lehre  der  Metempsychosen  hatte  es  in  ihrer  Erklärung  viel  leichter,  da  die  Rupa- Formen  nur 
Accidentien  sind,  die  die  moralische  Verantwortlichkeit  in  jeder  Existenz  neu  gestaltet.  Boni- 
facius  zwang  bekanntlich  einen  Fuchs,  die  gefressene  Henne  zurückzugeben,  und  Germanus  er- 
weckte „asellum ,  qui  obierat  et  vitulum ,  quem  ipsius  familia  comederat."  Die  Vielfachheit  (s. 
Delitzsch)  der  Mansiones  im  Himmel  gab  zu  einer  Vielfachheit  von  Ansichten  Veranlassung,  denn 
non  omnes  aeque  beati  sunt  (Beccanus).    Ex  fide  est  illa   adsertio,   alios  majorem  beatitudinem 


*)  Crediderim  ampla  admirabiliaque  esse  in  ipso  coelo  palatia,  amplaque  alia  aedificia 
ex  incorruptibili  materia  ipsisque  margaritis  pretiosore  fabricata.  Forte  enim  prata  amoe- 
nissima,  nemora,  similiaque  alia,  quae  beatorum  oculis  ipsa  varietate  offerant  oblectationem 
et  civitatem  illam  coelestem  exornent.  Habebunt  beati  mansiones,  ut  ex  evangelio  constat  (Bar- 
radius). Vero  similius  enim  est,  quod  illic  fiant  choreae  ac  saltationes.  Omnia  enim ,  quae  ad 
ehoream  sufficiunt  et  requiruntur ,  ibi  inveniuntur:  Locus  spatiosus,  qui  datur  in  coelo,  locus 
speciosus,  locus  luminosus,  locus  firmus,  jueunditas,  tranquillitas,  satietas,  ebrietas,  corporis  for- 
mositas,  vigorositas  corporis,  corporis  levitas,  corporis  ornatus  (Bernhardinus).  Plateae  auro 
mundo  sternuntur,  portae  ex  sapphiro,  et  smaragdo  aedificantur ,  et  lapide  pretioso  omnis  cir- 
cuitus  muri  ejus,  super  turres ,  super  muros  custodes  constituti  sunt,  qui  die  noctuque  nomen 
Domini  laudare  non  cessant,  sed  et  per  plateas  vicosque  mirabili  exsultatione  ab  universis  Alle- 
luia  cantatur  (Laurentus  Just.).  Suavissimum  odorem  exhalaturum  ex  corporibus  glorificatis, 
qui  summam  delectationem  olfactus  adferat  (Thomas).  Indicibilis  dulcedo  omnium  delectabilium 
melliflua  quadam  et  jueunda  satietate  oris  faginabit  palatum  (s.  Laurent.).  Intra  ipsum  coe- 
lum empyraeum  ad  conversum  usque  beatorum  palatia  admirabiliter  summi  artificis  manu  con- 
strueta  sunt,  ordineque  ita  disposita,  ut  alia  sint  inferiora,  alia  superiora,  alia  aliis  sint  pul- 
chriora  ac  pretiosiora.  In  celsissimo  caeli  loco  palatium  summi  regis  Christi  est,  quod  omnem 
superat  admirationem.  Eo  inferius  Deiparae  virginis  palatium  alterum,  quäle  tantae  reginae 
dignitas  poscit.  Ordines  sequuntur  alia  pene  innnita  tarn  angelis  quam  hominibus  attributa. 
Habent  enim  angeli  quoque  peculiares  sedes  atque  palatia  quibus  alii  ab  aliis  seiungantur  loco 
(Cajetanus).     Laokun  weilt  in  Tae-tsing-kun  (im  Pallast  höchster  Reinheit). 

**)  Corpus  nostrum  agilius  tenuiusque  et  quod  aura  vehi  possit,  futurum  adserit  (Chryso- 
stomos).  Nach  Sartorius  haben  die  himmlischen  Leiber  die  zauberische  Gewalt,  leichter  durch 
entgegenstehende  Hindernisse  hindurch  zu  dringen  (wie  die  Tischgeister  zeigen). 

***)  Die  Seligkeit  besteht  in  dem  Befreitsein  von  allem  Uebel  und  in  der  Gemeinschaft  mit 
dem   höchsten  Gut,   dem  Anschauen   und  Preisen   der   heiligen  Dreieinigkeit  (was   mit  hörbarer 
Stimme  und  derselben  Sprache,  vielleicht  der  hebräischen,  geschieht),  dann  im  Verkehr  mit  den 
Engeln  und  allen  Seligen  (s.  Gerhard).     Una  remanebit  lingua,  sei.  nebraica  (Cajetanus). 
f)  Aqua  in  novo  mundo  erit  sicut  cristallus  (Barradius). 

tt)  Bei  (dem  Lutheraner)  Gerhard  werden  die  Fragen  erörtert:  Bis  zu  welchem  Grade  der 
Fötus  entwickelt  gewesen  sein  müsse,  wenn  er  an  der  Auferstehung  Theil  nehmeu  solle?  Wie 
es  sich  mit  dem  Abortus  in  Bezug  auf  die  Auferstehung  des  Fleisches  verhalte?  Wie  die  Voll- 
ständigkeit der  Auferstehungsleiber  unter  menschenfressenden  Völkern  oder  im  Fall  des  Gefressen- 
seins  des  Menschen  durch  ein  Thier  möglich  werde?  Ob  das  vom  Menschen  durch  Essen  assi- 
milirte  Rindfleisch  an  der  Auferstehung  und  Verklärung  Theil  nehme  oder  ausgeschieden  werde? 
Ob  die  Haare  und  Nägel  der  Seligen  im  Himmel  noch  wüchsen?  Welchen  Zweck  Magen  und 
Gedärme  bei  den  Leibern  der  Seligen  hätten?  u.  dgl.  m.  (s.  Gerlach). 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  1870.  23 


338 

accepturos,  quam  alios  (Gregor).  Man  unterschied  eine  duplicem  coronam  (magnam  et  minorem). 
Ejusmodi  aureolas  tres  statuunt,  quarum  unam  martyrilms,  alteram  virginibus,  tertiam  doctori- 
bus  assignant.  Wie  Augustin  mitzutbeilen  befähigt  war,  trug  der  heilige  Hieronymus  eine 
Kinne  mit  zwei  Zinken,  Johannes  Bapt  mit  drei.  Die  Rangordnung  der  ciselirten  Kronen  er- 
örtert Rabanus.  Die  Leiber  werden  glänzend*)  sein  (wie  in  den  Abhassara-Himmeln),  und  dies 
sowohl  bedingt  die  Unterschiede,  als  weil  caeli  angelis,  throni  potestatibus,  lumina  ministris 
gefüllt  sind.  Die  Beati  gelten  als  toäyyflot.  Beati  nudi  erunt  (Anshelm).  Quidam  ex  schola- 
sticis  statuunt,  beatos  liabituros  vestes.  Oswald  schreibt  den  Seeligen  verschiedenes  Geschlecht**) 
zu  mit  distinctiveu  Gliedmassen.  In  den  Buddhistischen  Phroma-Lok  leben  die  Frauen  dagegen  als 
Männer  auf.  auch  sind  die  Phroma,  absque  sexu,  intestinis  et  viis  excretoriis.  Im  Paranimit- 
llimiiiel  wird  tue  Speise  sogleich  durch  den  ganzen  Körper  verbreitet,  unde  fit  ut  non  sint 
faeces  neque  excrementa  (Pallegoix).  Die  verstorbenen  Gottlosen  sind  entweder  (nach  Sartorius) 
in  ein  festes  Gefängniss  gebannt  wie  einst  auf  den  Mariauen),  oder  sie  treiben  sich  im  Zwi- 
schenreich  flüchtig  umher,  wie  vielfach  die  Dämone.  Unter  diesen  erscheinen  bei  den  Malayen 
die  Hexen  als  Funken  und  Irrlichter.  Corpus  nostrum  ita  leve  et  agile  Deus  efriciet,  ut  instar 
scintillae  in  sublimi  feramur  (Luth.).  Gott  wird  die  Sonne  („um  der  Menschen  willen  halb  fin- 
ster, rassig  und  besudelt")  »wieder  ausfegen  und  reinigen  durchs  Feuer*,  eine  Ansicht,  die  sich 
vielfach  in  den  Mythologien  und  Volksauschauungen  wiederholt.  Nach  Canz  ist  der  subtile 
Leib  der  Seele  aus  dem  gröberen,  „wie  ein  Branntwein  aus  alten  Weinhefen  ausgezogen"  (1747 
p.  d.i.  Die  Buddhisten  kennen  einige  Hunderte  von  Höllen  und  Nebenhöllen,  genau  ihrer  Lage 
und  Bestimmung  nach  beschrieben,  und  ähnlich  haben  es  uns  die  Patres***)  überliefert,  obwohl 

•;  Futurum   siquidem   est,   ut  facies  justorum  fulgeant  tanquam  luna,  tanquam  coelum, 
tanquam  stellae,  tanquam  fulgura,  tanquam  lilia,  tanquam  lampades  (s.  Galatin). 

**)  Abortus  inanimes  et  informati  non  vixerunt,-  er^o  nee  raori  potuerunt  et  per  consequens 

resurgent.    Foetus  autem  abortivi  qui  formati  fuerunt  er  vitam  habuerunt,  etiamsi  in  utero 

exstineti  iuerint,  resurgent  ab  omni  tarnen  defectu  et  infirmitate  liberati  (1780  p  d.).    Si  partes 

principales  (Monstri)  sunt  hominis,  si  vixit,  habuit  animam  humanam  et  ideo  ordinatum  est  ad 

resurrecrionem  et  resurget  homo  seeundum  totum  (Bonaventura). 

***)  Dubitandum  non  est,  ipsas  poenas,  quibus  cruciabuntur,  qui  regnum  Dei  non  posside- 
bunt,  pro  diversitate  criminum  esse  diversas  et  alias  aliis  acriores  (Aug.).  Damnatorum  locus 
non  sub  ipso  globo,  ut  Isidorus  putat,  sed  in  ipsius  globi  terrestris  medio,  tellure  ipsa  siniun 
i  quasi  alvcum  aperiente,  credendus  est  (Baptista  Mantuanus).  Interna  sub  terra  esse  nemo 
j;im  utnbigat  (s.  Hieronym.).  Probabile  est,  infernum  in  profundioribus  terrae  marisque  spelun- 
ris  esse  (s.  Keckermanus).  Nach  Laurentius  Surius  sind  am  Feuerberg  Aetna  tartari  ostia,  wie 
an  den  Seliwefelgruben  des  Ilecla  (lä:i7  p.  d.).  Ponderosi  peecati  locus  velut  naturalis  tartarus 
est  (Barradius)  Hieronymus  detiuirt  das  Infernum  als  locus  (in  quo  animae  recliiduntur).  Fa- 
teri  cogens  in  inferno  esse  paradisum  (Olaudianus).  Internus  est  locus  igne  et  sulphure  horri- 
dus,  inferius  dilatatus  superius  coangustatus  (Anshelmus).  Os  velut  os  putei  habet  (Hildegardis). 
Tribuitur  igni  iufernali  llamma,  sulphur,  ligna,  utique  ergo  est  ignis  corporeus,  materialis  proprie 
dictus.  In  inferno  est  ferocitas  bestiaruin,  dilaceratio  immortalium  vermium  (s.  Haym.),  als 
Schlangendrachen  (nach  Anshelm.).  Etiaui  sulphur  ac  picem  veram  in  inferno  fore  tum  quia 
necessaria  ut  aliqua  materia,  in  qua  ignis  infernalis  accendatur,  tum  ne  odoratui  damnatorum 
sua  desint  tormenta,  meint  Thyräus  (s.  Gerh.).  Farne  ac  siti  proprie  dieta  damnatos  torquen- 
dos  esse  plurimoruin  est  opinio  (Gerh.).  In  inferno  esse  latissimum  frigidissimarum  aquarum 
reeeptaculum  instar  maris,  in  quod  ex  igne  transeant  damnati  a  daemonibus  rapti,  post  ar- 
dorem  patiuntur  frigns,  ex  quo  Stridor  deutium  oriatur,  wird  behauptet  uach  Hugo  Victor's  Vor- 
gang Ibi  vermis,  qui  non  moritur,  ignis  qui  nuuquam  exstinguitur  atque  Stridor  semper  den- 
tinm  sentituy,  gehenuae  letli.de  frigus,  et  glacies  indeficiens,  fames  pessima,  et  sitis  immensa, 
dolor  perpetnus  (s.  (Jassianus).  Odoratus  sulphureo  foetore  torquebitur.  Cum  damnatis  enim 
omues  üu jus  seculi  feces,  sterquilinia,  foetores,  in  infernum  seu  in  cloacam  quandam  descendunt 
Dionysius  Carthus.).  Paradisus  coelestis  est  regio  lucis,  theatrum  gaudii,  conclave  quietis  et 
laumiv  omnis  felicitatis  (Gerhard).  Ignis  inferni  non  clarus  et  splendidus,  sed  fumosus  et  qun- 
dammodo  lenebricosus  adnritur,  veruntamen  inodicum  quid  sortitur  de  luce  in  tantum,  ut  dam 
iin.ti  ad  calamitatis  suae  argnmentuirj  se  invicein  adspicere  queant  (Dionys.  Carth.)  Constat 
autem  inultos  homines  in  medio  ignium  per  bonitatem  creatoris  illaesos  fuisse  servatos  (Alver- 
uu.s),  ohne  Schmerz,  und  so  würden  die  Körper  der  Verdammten  im  ewigen  Feuer  erhallen,  mit 
Schmerz,  was  Tertullian  den  Feuerbergen  vergleicht  (und  Augustin  den  animalia,  quae  in  mo- 
dus ignibiis  vivimt).  si  «| ii is  dicit  aut  .sentit,  temporanea  esse  daemonum  et-impiorum  hominum 
tormenta,  finemque  ea  tempore  aliquo  babitura,  sivo  restitutionem  daemonum  aut  impiorum  bo- 
niiiiuin  futuram,  anathema  Bit  (Syu.  oec.)  &52  p.  d.  Das  höllische  Feuer  ist  schwefelfarben  und 
brennt,  olme  Stoff  zu  bedürfen  und  ohne  den  Körper  dei'  Verdammten  zu  verzehren,  die  durch 
güttli«  Im-   Allmacht  solche  Beschaffenheit  erhalten,  dass  sie  das  Feuer  fühlen,  aber  nicht  dadurch 


333 

weniger  systematisch.  Varia  sunt  tormentorum  loca  (Ephremuß).  Duplex  damnatorum  po<  u  > 
(Isid.).  Die  Fortdauer  dei  Qual  erklär!  sich  folgenderujassen:  ..Im  Allgemeinen  wird  n 
Umwandlung  bei  den  Verworfenen  als  eine  Härtung  »der  Verfestigung  (Pctrifaction)  der  Lcibei 
sich  vorstellen  müssen.  Im  Einzelnen  aber  wird  die  Unverweslichkeil  und  in  deren  Folge  di< 
Unsterblichkeit  der  verklärten  Leiber  bei  denen,  die  dem  zweiten  ewigen  Tode  verfallen  sind, 
gleichsam  in  ein  ewiges  Sterben  umschlagen,  in  ein  ewiges  Verwesen  und  Anfaulen  bei  leben- 
digem Leibe"  (s.  Oswald).  Der  zauberhafte  Lichtschein,  der  von  den  Leibern  der  Verklärten  ab 
strahlt,  setzt  sieh  bei  den  Verworfenen  in  einen  abstossenden  Ekel  um.  Die  Seeligen  erkennen 
wie  sich  unter  einander,  so  auch  denjenigen  Verdammten,  die  sie  auf  Erden  gekannt  haben, 
aber  ohne  Mitleid,  da  ihre  Seligkeit  durch  den  Anblick  jener  nur  erhöht  wird  (n.  Gerhard).  Im 
Jahre  18G3  bemerkt  Oertel,  Pastor  zu  Storkwitz:  „Als  ueutestamentliche  Anschauung  über  den 
Zwischenzustand  ergiebt  sich,  dass  der  Aufenthalt  der  abgeschiedenen  Seelen  zum  Theil  uutei 
der  Erde  zu  suchen  ist,  dass  dieser  Raum  in  zwei  von  einander  getrennte  Räume  (einer  für  die 
relativ  Seeligen,  der  andere  für  die  relativ  l'nseeJigen)  geschieden  ist,  dass  der  Zwischenzustand 
nur  ein  einstweiliger,  dass  alle  abgeschiedenen  Seelen  dem  Zwischenzustand  entweder  auf  dei 
Erde  oder  im  Himmel  anheimfallen,  dass  die  Abgeschiedenen  leiblos  sind,  Selbstbewußtsein, 
Rückerinnerung,  die  Fähigkeit,  wahrzunehmen  und  Eindrücke  zu  empfangen,  mit  einander  zu 
verkehren,  an  Erkenntniss  zu  wachsen  und  auf  der  im  Diesseits  begonnenen  Lahn  fortzuschrei- 
ten, behalten  und  selbst  die  Möglichkeit  ihnen  geblieben  ist,  jenseits  von  der  hier  betretenen 
Bahn  entweder  zum  Guten  oder  zum  Bösen  abzulenken." 

Manchem  scheinen  derlei  Erörterungen  unnütz  oder  selbst  kindisch.  Das  bleibt  dei  Ansicht 
eines  Jeden  überlassen.  Da  sich  solch'  ernsthafte  Leute,  wie  die  obigen  Autoritäten,  damit  be- 
schäftigen, giebt  es  jedenfalls  zwei  Seiten  der  Betrachtung.  Wollen  wir  indess  in  der  Ethuo 
logie  ein  objeetives  Bild  des  Normalmenschen  gewinnen,  so  müssen  wir  ihn  auf  allen  Theilen 
der  Erde  mit  gleichem  Massstab  messen-  Wenn  uns  Reisende  von  den  mythologischen  Vor 
Stellungen  wilder  Stämme  erzählen,  so  werden  wir  diese  im  Grunde  ganz  identisch  linden  mit 
dem  Hexen-  und  Gespensterglauben,  der  in  der  grossen  Masse  unseres  Volkes  fortlebt  oder  doch 
bis  ganz  vor  Kurzem  noch  fortlebte,  wie  Gerichtsverhandlungen  und  Zeitungsnachrichten  bis  in 
das  Jahr  1870  p.  d.  beweisen.  Das  gebildete  Publikum,  die  Klasse  der  Lesenden  und  Schreibenden, 
ist  im  Grunde  eine  sehr  kleine  Fra'ction,  und  in  unseren  übervölkerten  Ländern  wahrscheinlich 
eine  verhältnissmässig  noch  kleinere,  als  in  den  ausser-europäischen,  denn  in  jedem  Negerdorfe 
oder  polynesischen  Districte  giebt  es  der  Aufgeklärten  oder  der  Spötter,  je  nach  der  Part  hei 
Ansieht,  genugsam.  Sie  finden  es  aber  gewöhnlich  in  ihrem  Vortheil,  den  religiösen  Dogmen, 
wie  sie  die  Priester  aufstellen,  nicht  weiter  entgegen  zu  treten,  und  verhalten  sich  passiv  gegen 
dieselben,  obwohl,  wenn  die  Sprache  darauf  kommt,  jeder,  der  sich  zu  den  Gebildeten  rechnet, 
sie  freigeisterisch  für  Fabeln  erklärt,  die  des  Volkes  wegen  erfunden  seien,  selbst  in  den  buddhisti- 
schen Ländern,  wo  tue  Hierarchie  mächtiger  zu  sein  scheint,  als  irgendwo  sonst.  Handelt  es 
sich  also  um  unpartheiische  Vergleichungen,    so  haben  wir  die  Ansichten  der  Gebildeten*)  dei 


verbrannt  werden.  Auch  die  Teufel  werden  durch  das  Feuer  gequält,  vermehren  selbst  aber  durch 
ihr  Heulen  und  Zähnefletschen  die  Qual  der  Verdammten  (Gerhard).  Das  Zähneklappen  rührt 
aus  Neid  und  Wuth  her.  Justi  videbunt  malos  in  poena,  ut  magis  gaudeant,  quod  hanc  eva- 
serant  poenam  (Anshelm.). 

*)  There  is  no  evidence  of  creation,  it  is  only  a  tradition;  why  not  aecount  for  it  by 
the  self-producing  power  of  nature?  meint  (b.  Alabaster)  der  siamesische  Buddhist  (Chao  Phya 
Thipakon,  der  Minister  des  Auswärtigen)  in  einem  Gespräch  mit  Gützlaff,  der  darüber  ärgerlich 
wurde  und  fortging  (when  I  had  said  this,  the  missiynary  became  angry,  and  saying,  l  was 
hard  to  teach .  left  me).  Als  bei  einem  weiteren  Gespräche  der  Herr  Heide  nicht  beg 
wollte,  dass  der  Dewa  im  Himmel  aus  purer  Liebe  zu  den  kleinen  Kindern  dieselben  tüdtete, 
antwortete  Dr.  Gützlaff:  „lf  any  one  spoke  like  this  in  Europaean  eountries,  he  would  be  pul 
in  prison."  InSiam  ist  das  nicht  der  Fall,  da  Verfolgung  (wie  der  Mildster  anderswo  bemerkt) 
den  Principien  des  Buddhismus  überhaupt  zuwider  ist,  und  so  werden  die  Verunglimpfungen 
Buddha's  durch  die  christlichen  Missionäre  von  den  Siamesen  apathisch  hingenommen,  denn 
nach  dem  Worte  des  ungläubigen  Königs  würde  sich  doch  Niemand  zu  einer  Religion  bekehren, 
deren  Lehren  den  Eindruck  des  Unverständigen  machen  (s.  Alabaster)-  Dr.  Gützlaffs  Version  über 
diese  Gespräche  ist  in  seinen  Tagebüchern  nachzulesen.  Sein  Langmuth  war  zu  Ende,  als  der 
starrköpfige  Siamese  Zweifel" hegte  über  die  Folgen,  die  aus  Eva's  Apfelbiss  entstanden  waren. 
The  missionary  replied:  „It  is  waste  of  time  to  converse  with  evil  men,  who  will  nol  be  taught," 
and  so  left  me  (schreibt  Sr.  Excellenz  Thipakon). 

23* 


340 

verschiedenen  Lander  unter  einander  (wie  in  Raker's  Gespräch  mit  dem  Negerkönig) ,  die  An- 
sichten der  unteren  Volksschichten  mil  einander,  und  die  Ansichten  der  Priesterklassen  mit  ein- 
ander in  gegenseitige  Parallele  zu  setzen.  Oftmals  ziehen  die  letzteren  allerdings  vor,  ihre  Be- 
griffe über  alle  diejenigen  Dinge,  worüber  es  eben  ihre  Pflicht  wäre,  Auskunft  zu  geben,  in  so 
vager  Unbestimmtheit  zu  halten,  dass  sie  es  einfacher  hätten,  sich  zum  Glauben  der  Daeotahs 
zu  bekehren,  die  das  Göttliche  und  Uebersinnliche  einfach  Tahuwakan  (das  Unbegreifliche)  nennen. 

B. 

Hamy:  Paleontologie  humaine,  Paris  1870.  Den  Cerauniern  (S.  12)  kann  man 
die  Malleolos  joviales*)  zufügen,  deren  Gebrauch  erst  König  Magnus,  der  1139  p.  cl.  den  Thron 
bestieg,  abschaffte.  Von  den  verschiedensten  Volksstämmen  ist  es  bekannt,  dass  sie  bei  Gewit- 
tern ihre  Pfeile  zum  Himmel  schössen,  bald  die  Dämonen  zu  bekämpfen,  bald  die  mit  diesen 
kämpfenden  Götter  zu  unterstützen.  Wie  Salmoneus  im  dynastischen  Uebermuthe  den  Donner 
des  Zeus  nachzuahmen  suchte,  so  Hess  der  letzte  König  von  Madagascar  beim  Gewitter  seine 
Kauonen  lösen,  und  antwortete  den  ihn  darum  befragenden  Missionaren,  dass  [wie  der  König 
des  Himmels  donnere,  so  er  auf  Erden.  Tuckey  hörte  den  verehrten  Stein  (am  Zaire)  Taddi- 
engazzi  (Blitzstein)  benennen.  Das  Buch  enthält  114  Abbildungen  und  verschiedenen  Abschnit- 
ten sind  Erörterungen  aus  der  vergleichenden  Ethnologie  beigefügt ,  freilich  nur  sehr  kurz  ge- 
halten. Die  Behandlungen  der  Ethnologie  und  der  menschlichen  Paläontologie  scheinen  augen- 
blicklich in  der  Mehrzahl  ihrer  Bearbeitungen  in  einem  grossen  Missverhältniss  zu  einander  zu 
stehen.  Bei  Botanik  und  Zoologie  ging  die  systematische  Behandlung  dieser  Wisseuschaften 
der  Paläontologie  vorauf,  und  die  zerstreuten  und  zusammenhanglosen  Zeugnisse  dieser,  die  für 
sich  allein  kein  abgeschlossenes  Ganze  hätten  liefern  können,  zeigten  sich  darin  fruchtbringend, 
dass  sie  bereits  feststehende  Sätze  zu  bestätigen  oder  zu  erweitern  vermochten.  Beim  Menschen 
dagegen  haben  wir  die  Behandhuig  seiner  fossilen  Reste  begonnen,  ehe  noch  aus  den  lebenden 
Repräsentanten  der  Völkerstämme  ein  Normalbild  gewonnen  ist.  Alle  bisherigen  Systeme  der 
Ethnologie  haben  sich  als  gänzlich  unzulänglich  bewiesen ,  und  mussten  es  bei  dem  Mangel  an  zu- 
verlässigem Material.  Dieser  Mangel  selbst  aber  rührt  nur  aus  der  Vernachlässigung  eines  ernst- 
lichen Studiums  her,  denn  vorhanden  ist  (oder  war  wenigstens)  das  ethnologische  Material  in 
Hülle  und  Fülle.  Nimmt  man  die  Ethnologie  als  den  sicheren  und  auf  breiter  Basis  gegebenen 
Ausgangspunkt,  so  mögen  die  disjeeta  membra  des  fossilen  Menschen  die  werthvollsten  Auf- 
schlüsse zu  Tage  fördern;  bilden  sie  dagegen  den  einzigen  Gegenstand  der  Betrachtung  (höch- 
stens mit  gelegentlichen  Seitenblicken  auf  die  Ethnologie),  so  bedarf  es  für  ihre  Verknüpfung 
eines  solch'  wahnsinnigen  Wustes  willkürlichster  Hypothesen,  dass  dadurch  jede  Controle  der 
induetiven  Methode  unmöglich  wird.  B. 


Waring:  Stone-Monuments,  Tumuli  and  Ornaments  of  Remote  Ages.  Lon- 
don 1870.  Wenn  auch  die  Ausführungen  der  108  Tafeln,  sowie  die  beigefügten  Beschreibun- 
gen wissenschaftlichen  Anforderungen  nicht  genügen,  so  wird  sich  doch  für  Vergleichungen  die 
übersichtliche  Zusammenstellung  der  verschiedenen  Formen  nützlich  und  bequem  zeigen.  Die 
Gleichheit  der  circassischen  Gräber  auf  Tafel  LIX,  fig.  10  (ebenso  XLV,  3  b)  mit  denen  aus  dem 
Carnatic  (statt  Bengalen),  Tafel  LIX,  fig.  12  (dann  Tafel  LXIII,  fig.  3.  4,  Tafel  LX1V,  fig.  6), 

*)  Tarn  obstinatissimo  animo  Deorum  suorum  eultum  observabant,   ut  concitato  in  nubi- 
bus  fragore,  sagittas  ex  areubus  in  aera  excutientes,  ostenderent  se  opera  afferre  velle  Diis  suis, 

3uos  tunc  ab  aliis  oppugnari  putabant.  Nee  ea  temeraria  superstitione  contenti,  inußitati  pon- 
eris  malleos  (quos  joviales  vocabant)  ingenti  aere  complexos,  magnaque  religione  eultos,  ad  eum 
usum  habebant,  ut  per  eos  tanquam  per  Claudiana  tonitrua  et  per  usitatam  rerum  similitudi- 
nem,  coeli  fragores,  quos  malleis  cieri  credebant  exprimerent,  tantique  sonitus  vim  fabrilium 
specie  imitantes,  Deorum  suorum  bellis  sie  adesse  admodum  religiosum  existimarent.  Durabat 
is  jovialium  malleorum  usus  usque  ad  annum  a  Christo  nato  MCXXX,  quum  Magnus  Gothorum 
rex  Christianae  diseiplinae  studio  paganam  superstitionem  perosus  et  fanorum  eultu  et  jovem 
insignibus  spoliare  sanetitatis  loco  habuit,  qui  propterea  ad  multa  tempora  a  Gothis  perinde  ac 
coelestium  spoliorum  sacrilegus  raptor  reputatus  est  (s.  Joh.  Magnus)  1558.  Die  Donnersteine 
oder  Keile  sind  (am  narz)  Schutz  gegen  Gewitterschlag,  auch  gegen  Rose  und  gegen  Entzündung 
der  Brüste  und  des  Euters  bei  Kühen  (s.  Schumann)  1869.  Ebenso  in  Frankreich  und  verschie- 
denen Theilen  Asiens.    Das  Haus  des  in  Alba  donnernden  Alladios  traf  der  Blitz. 


341 

erstreckt  sich  bis  auf  die  runde  Oeffnung,  die  ebenso  bei  den  Tafel  LX  dargestellten  Gräbern 
wiederkehrt,  sowie  bei  dem  französischen,  Tafel  I.IX,  fi^.  N,  dem  Dolmen  von  GHsors,  Tai«!  XU1 
Gg.  5,  dann  den  durchbohrten  Steinen  ans  Irland  (I.IX),  Persien  (LX,  J),  dem  Dekkhao  (LXIII, 
LXI V)  n.  s.  w.  An  den  Fundorten  selbst  kann  man  hierüber  eben  so  wenig  Auskunft  geben,  wie  öbei 
die  Monumente  überhaupt;  die  vergleichende  Ethnologie  leint  indess  leichl  genug,  dass  es  sich 
hier  um  das  aus  den  magischen  Operationen  der  Madegassen,  Tschai li,  Irokesen  u.  s.  w  w oM 
bekannte  Seelenloch  handelt.  li. 


Brasseur  de  Bourbourg:  Manuscrit  Troano  (Mission  scientifique  en  fcfe- 
xique),  Paris  1870,  T.  I.  &  II.  Die  Copie  eines  in  Madrid  erhaltenen  Manuscriptes, 
von  seinem  Eigenthümer  Juan  de  Tro  benannt,  gab  Veranlassung  zu  einem  weiteren  Studium 
des  von  Landa  mitgetheilten  Maya-Alphabets  und  dann  zu  einem  Versuche  der  Entzifferung. 
Wenn  die  yucatanesisehe  Bilderschrift  gleichzeitig  alphabetische,  syllabisehe,  ideographische  Zei 
Oben  einschliesst  (neben  den  noch  hinzugefügten  Determinativen),  so  ist  dadurch  bereits  der 
Willkür  jedes  Thor  geöffnet,  wenn  sie  sich  nicht  selbst  in  der  Erklärung  vorsichtige  Fesseln 
anlegt,  wie  z.  B.  bei  der  Interpretation  der  Keilschriften  durch  die  gegenseitige  Controle  nam- 
hafter Forscher.  In  dem  vorliegenden  Falle  steht  der  Herausgeber  aber  allein,  dessen  Kopf  (wie 
seine  letzten  Schriften  beweisen)  eben  nicht  der  kühlste  ist,  und  ausserdem  handelt  es  sich  um 
eine  Sprache,  von  der  de  Bourbourg  selbst  sagt,  dass  sie  erst  noch  zu  erlernen  sei.  Alle  diese 
Indulgenzen,  die  der  Abbe  für  sich  in  Anspruch  nimmt,  geben  aber  noch  nicht  genügende  Frei- 
heit, denn  sie  lassen  bei  der  Auslegung,  wie  er  gesteht,  gänzlich  im  Stich.  Es  werden  nun 
also  noch  soviel  neue  Hypothesen  zur  Zerlegung  der  Kalenderzeichen  hinzugefügt,  wie  es  riöthig 
ist,  um  eine  Lesung  zu  Wege  zu  bringen,  und  wenn  es  dann  nicht  damit  gehen  sollte,  so  wäre 
es  allerdings  mehr  wie  ein  Wunder.  Das  schliesslich^  Resultat  ist  nun  aber  allerdings  auch 
ein  derartig  überraschendes,  dass  all  solche  Mühe  und  Arbeit  wohl  belohnt  sein  würde,  und 
wenn  die  syntactische  Verknüpfung  der  Sätze  etwas  dunkel  bleibt,  ist  der  Eindruck  des 
Mysteriösen  desto*  gewaltiger.  Durch  die  Enthüllungen  des  indianischen  Weisen,  gleichsam 
die  letzten  Worte  einer  gleich  darauf  untergegangenen  Civilisation,  werden  wir  in  die  tiefste 
Urgeschichte  unseres  Planeten  hineingeführt,  nicht  etwa  in  die  mythologische  Spielerei  der  vier 
Weltalter,  sondern  in  paläontologische  Schichtungen  und  Umwälzungen  frühester  Vergangenheit, 
und  wenn  schon  bei  unserer  wissenschaftlichen  Construction  derselben  einige  Confusion  zu  herr- 
schen scheint,  so  wirbelt  in  jenen  mexicanischen  Conceptionen  ein  wahrer  danse  Maccabre.  Cata- 
clysmen  folgen  auf  Cataclysmen,  die  Erde  wird  verschlungen,  aufgetaucht,  wieder  verschlungen. 
Vulcane  sprühen  empor,  ihre  Lava  überschwemmt,  neun  Mal,  drei  Mal,  nochmals  drei  Mal  (S.  14G), 
an  19  Punkten  steigen  Berge  hervor  (S.  151),  4  Krater  (S.  161),  drei  Krater  (163),  17  Feuer- 
heerde,  12  Ausbrüche  (167),  12  Länder  versunken  (169),  13  Ausbrüche  mit  10  Öffnungen  (173), 
10,  4,  la  terre  est  ivre!  (S.  181),  und  wüthet  fort:  13  Berge  steigen  hervor  mit  4  Kratern 
(S.  182),  13,  11.  Die  Vulcanthätigkeit  ist  erschöpft  (S.  192),  dennoch:  18  Länder  wieder 
verschlungen  (193),  13  Krater,  Erdbeben,  3  Vulcane,  Lava,  zerreissen,  zittern,  —  so  weit 
die  Erklärung  bis  Folio  V.  Dreissig  sind  übrig,  die  nach  dem  Aussehen  der  grimmigen  Figuren 
auf  denselben  noch  die  furchtbarsten  Geheimnisse  einschliessen  dürften.  Möge  die  Welt,  ihrer 
Seelenruhe  wegen,  mit  deren  Enträthselung  verschont  bleiben.  In  einem  Nachtrag  hören  wir 
von  den  Gletschern  (schon  früher  in  dem  Worte  „annoneaut  l'ere  du  salut  aux  populations  epar- 
ses  sur  les  glaciers");  19  Länder  erheben  sich,  Anhäufung  der  Gletscher  im  Norden,  mit  Befrei- 
ung von  2  Gipfeln,  Gletscher  im  Osten,  15  Länder,  Gletscher  in  Osten,  9  Länder,  Gletscher  im 
Westen,  16  Länder,  Gletscher  im  Norden  u.  s.  w.  Dazu  gehört  das  Symbol  Tecpactl  (couteau 
de  pierre).  Dazwischen  spielen  der  Nil,  der  ammonische  See,  die  Syrien  Afrikas,  der  Etna.  Si- 
cilien,  Italien,  Rhea,  Cybele  u.  s.  w.  Es  ist  (von  dem  eingestampften  Buche  des  Abbe  Dome- 
nech  und  dem  von  der  Academie  an  das  Zuchtpolizeigericht  transferirten  Manuscripten-Process 
abgesehen)  wohl  das  Tollste,  was  jemals  mit  Unterstützung  einer  Kaiserlichen  Regierung  an  das 
Licht  trat.  Doch  sind  manche  unserer  anthropologischen  Phantasien  noch  toller,  da  sie  von 
Männern  ausgehen,  die  an  die  strenge  Denkmethode  der  exaeten  Wissenschaften  gewöhnt  sein 
sollten,  während  Brasseur  de  Bourbourg  nur  Ansprüche  darauf  macht,  Historiker  oder  Sprach- 
forscher zu  sein,    und   in  seiner   mexicanischen  Geschichte  in  der  That  höchst  werthvolle  Bei- 


342 

träge  geliefert  hat,  für  den,  der  sie  zu  benutzen  versteht.  Auch  das  vorliegende  Bueh  ist  durch 
die  sorgfältige  Wiedergabe  des  dariii  behandelten  Manuscriples  .^ohi  schätzbar.  Der  zweite  Thei) 
ßiebl  Grammatik  und  Vocabular  der  Maya-Sprache.  lt. 


Benfey:  Geschichte  der  Sprachwissenschaft,  München   1869. 

Nächst  der  Naturwissenschaft  giebt  es  keinen  andern  Zweig  der  Forschung,  auf  dem  die 
letzten  50  Jahre  so  glänzende  Erfolge  zu  verzeichnen  haben,  als  auf  dem  der  Sprachwissenschaft. 
Ihre  Umgestaltung  war  eine  nicht  weniger  radicale,  als  die  der  Chemie,  in  mancher  Hinsicht 
eine  noch  raschere,  und  von  allen  philosophischen  Disciplinen  wird  es  die  Sprachwissenschaft  wahr- 
scheinlich zuerst  erlauben,  die  exacte  Methode  der  Induction  auf  ihre  Behandlung  anzuwenden. 
Ks  isi  deshalb  sehr  erfreulich,  dass  von  der  mit  Unterstätzung  des  Königs  von  der  königlichen 
kademie  der  Wissenschaften  in  München  herausgegebene  Geschichte  der  Wissenschaften  in 
Deutschland  die  Geschichte  der  Sprachwissenschaft  in  die  Hände  Prof.  Benfey's  in  Göttingen 
gelegt  ist,  der  durch  seine  umfassenden  Kenntnisse  in  allen  Theilen  der  Philologie  und  Lin- 
guistik, durch  seinen  schon  so  vielfach  bethätigten  Scharfblick  und  seine  gewandte  Darstellungs- 
weise mehr  wie  ein  Anderer  befähigt  war,  diesen  schwierigen  Stoff  zu  bewältigen.  Hauptsäch- 
lich waren  es  die  drei  grossen  Abtheilungen  der  klassischen  Philologie,  der  germanischen  Sprach- 
forschung und  der  besonders  auf  die  aus  dem  Studium  des  Sanscrit  gewonnenen  Resultate  ba- 
hrten Sprachvergleichung,  die  ihre  ausführliche  Darstellung  erforderten  und  sie  mit  gleicher 
l  npartheilichkeit  erhallen  haben.  Die  klassische  Philologie  ist  der  alte  Stamm,  auf  dem  alle 
die  Irischen  Blüthen  der  Gegenwart  emporgesprosst  sind,  und  sie  darf  sich  nicht  beklagen,  wenn 
ihr  Iniher  alleiniges  Monopol,  als  die  Wissenschaft  der  Sprache  zu  gelten,  durch  jüngere  Kin- 
der beeinträchtigt  wird,  da  ihr  stets  die  Ehre  verbleibt,  die  ernährende  Mutter  gewesen  zu  sein. 
Ks  lieg!  in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  mit  F.  Bopp's  Grammatik  begründete  Sprachfamilie 
lies  Indo-europäischen  in  den  Vordergrund  trat,  mid  ihr  sind  auch  die  meisten  Specialarbeiten 
Benfey's  zugewandt.  Derselbe  stimmt  mit  andern  Forschern  darin  überein,  dass  die  Sprache, 
111  di  r  die  allen  Heldenlieder  gedichtet  waren,  einst  die  Volkssprache  bildete.  „Der  Untergang 
des  Bharala  Iteiches  führte  zunächst  auch  das  Aussterben  ihrer  Sprache  mit  sich",  und  das 
dem  Volke  entschwindende  Verständniss  der  alten  Lieder  erhielt  sich  nur  in  dem  Gedäehtniss*) 
der  vereinzelten  Priester-  und  Sänger-Geschlechter.  „Der  Zusammenhang  zwischen  der  Sprache 
dei  Ved(  ulicdcr,  der  der  Brahmanas  oder  überhaupt  der  spätem  Vedenliteratur  und  dem  eigeni- 
i  päteren)  Sanskrit  war  kein  naturwüchsiger,  kein  auf  einer  volkstümlichen  Entwicklung 
beruhender,  sondern  ein  mehr  künstlicher",  wofür  die  Rolle  des  Altgriechischen  bis  heute,  des 
Mthebräischcn  (noch  jetzt  in  Polen  und  Russland),  der  lateinischen  Gultursprache  im  Mittelalter 
u.s.  w.  Aufklärungen  biete).  Die  in  allen  Feldern  der  weiten*')  Sprachwissenschaft  auf  Detailstudien 
eingehenden  Forschungen  dieses  lehrreichen  Werkes  entziehen  sich  einer  kurzen  Besprechung.  Es 
sei  nur  bemerkt,  dass  Benfey  die  Erforschung  des  genealogischen  Verhältnisses  der  Sprache  mit 
den  jetzt  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  für  noch  nicht  ausführbar  hält  und  den  Schluss  von  der 


*)  „Indem  diese  Studien  und  der  Antheil  daran  immer  zunahm,  behauptete  und  verbreitete 
•ich  die  Vedensprache  als  Religions-  und  Cultur-  oder  überhaupt  heilige  Sprache  immer  weiter, 
wurde  von  denen,  welche  sich  an  jenen  Studien  betheiligen  wollten,  neben  ihrer  volkstümlichen 
Muttersprache  erlernt,  konnte  aber  nicht  umhin,  im  Fortgange  der  Zeit  diejenigen  Veränderun- 
gen xu  erleiden,  welchen  eine  ausgestorbene  Volkssprache,  wenn  sie  sich  als  Gultursprache  be- 
haupten will,  nicht  entgehen  kann." 

*  )  Uebcr  die Differenziirungen  einer  und  derselben  Sprache,  welche  sich  durch  sociale  Ver- 
hältnisse, wie  gleichen  Hang,  Stand,  Gewerbe,  Thäligkeit,  Gebrauch  ergeben,  z.  B.  verschiedene 
Rangsprachen  'in  Java),  Sprachen  verschiedener  Stände,  wie  z.  B.  in  Deutschland  der  Studen- 
leu,  Slang  and  <an t  in  England  und  ähnliches  sonst  vielfach,  1  laudelssprache,  wissenschaftliche, 
Verschiedenbeil  der  Frauen-  und  Männersprache  (bei  den  Karaiben),  Verschiedenheiten,  die  sich 
durch  den  Gebrauch  ergeben)  poetische,  prosaische,  Unterhaltungssprache  u.  s.  w.  ist  keine  um- 
endi  Vrbeil  erschienen  (S.  794).  Es  ist  die  Vernachlässigung  dieses  Punktes  jedenfalls  ein 
Mangel  der  gegenwärtigen  Sprachwissenschaft,  die  (wie  nach  LyeU's  Reform  der  Geologie)  die 
jetzt  Statt  habender]  Veränderungen  aus  früher  statt  gehabten  erklären  könnten  Nicht  mit  Un- 
rechl  Bagt  Rosa  (1858):  Sprachvergleichung,  ohne  dass  man  den  organischen  Klang  der  vergli- 
chenen Sprachen  kennt,  Mos  mit  dem  Lexicon  und  der  Grammatik,  bringt  meistens  nur  todt- 
gebonie  Kinder  zu   Wege. 


343 

Sprachverwandtschaft  auf  ursprüngliche  Rassenverwandtschaft  in  Frage  zieht.  Ueber  den  begriff  - 
lichen  Werth  von  Lauten  ist  seit  Abfassung  des  platonischen  Kratylos  bis  auf  den  heutigen  Tag 
mehr  Unvernünftiges  als  Vernünftiges  zu  Tage  gefördert  (S.  791),  doch  räth  Benfey,  alle  dahin 
gehörigen  Fälle  zu  sammeln  und  genau  zu  erörtern. 

Bei  den  Thieren  ist  die  Veränderungsfähigkeit  der  von  ihnen  hervorf  d  Laute  in  eiuem 

engen  Cirkel  umschrieben;  der  meisten  Modulationen  ist  (vom  Singender  Vögel  abgesehen)  vielleicht 
das  Bellen  des  Hundes  fähig.  Die  .Menge  der  producirbaren  Laute  ist  keine  unbeschränkte,  indem  die 
Gränzen  der  Hörbarkeit  (nach  Savart)  zwischen  7-24000  (16—18000)  Schw.  in  derSecunde  liegen. 
Ausdrückbar  ist  alsonur  eine  bestimmte  Reihe  von  Worten,  deren  Zahl  sich  berechnen  lassen  würde. 
wenn  die  Zusammenwirkungsfahigkeiten  der  verschiedenen  Theile  der  Sprechorganc  bekannt  wären. 
Tbausing  scheidet  die  Geräusche  'gutturales  verae)  von  dem  natürlichen  Lautsystem  aus  und  von  den 
Vocalen  lässt  u  die  tiefste  i  die  höchste  Schwingungszahl  hören.  Nur  in  diesem  Sinne,  da  in  dem 
weitesten  Kreise  schliesslich  immer  dieselben  Laute  wiederkehren  müssen,  Hesse  sich  von  einer 
Ursprache  reden,  nicht  in  dem  geschichtlich  aufgefassten  einer  philologischen  Descendenz.  Die 
Zahl  der  überhaupt  möglichen  Laute  wird  sich  ohnedem  nach  dem  allgemeinen  Naturgesetz  dei 
Trägheit  oder  des  Beharrungsvermögens  sein  beschränken,  da  überall  die  Neigung  voi 
rouss,  nur  die  am  leichtesten  modulirbaren  Worte  zu  reden  und  die  an  den  Grenzen  der  Hör- 
und  Sprachfähigkeil  gelegenen  schon  aus  Nützlichkeitsgründen  unbenutzt  bleiben  werden.  Auch 
der  diesen  Lauten  zuertheilte  Inhalt  wird  insofern  nicht  von  sogenannter  Willkür  des  Zufalls 
abhängen,  weil  für  diese  Verbindungen  natürlich  gegebene  Motive  vorliegen,  und  ebenso  wie 
dem  Trauernden  das  Aechzen,  dem  Fröhlichen  das  Jubeln  näher  liegt,  werden  wir  auch  fast 
durchgängig  für  das  Kleine  i  oder  e,  für  das  Grosse  a  oder  0,  für  das  Trübe  dumpfe,  das  Freu- 
dige helle  Vocale  verwandt  sehen.  Die  Naturnotwendigkeit  spielt  hier  in  derselben  Weise  wie 
in  allen  andern  menschlichen  Verhältnissen.  Bei  allen  Stämmen,  soweit  wir  .sie  auf  der  Knie 
treffen,  sehen  wir  stets  dieselben  Waffen  sich  innerhalb  einer  beschränkten  Peripherie  bewegen, 
ohne  dass  man  diese  deshalb  auf  eine  Urwaffe  zurückleiten  würde.  Ausser  durch  Schlingen. 
Fangen,  Netze,  Vergiftung  u.  s.  w.  können  die  dem  Menschen  gefährlichen  oder  zu  seinem  Ge- 
brauch nützlichen  Thiere  besonders  durch  Stich  oder  Hieb  getödtel  werden,  und  demgemäss 
werden  wir  überall  darauf  berechnete  Mordwerkzeuge  in  mehr  oder  weniger  identischer  Form 
wiederkehren  sehen,  als  Speere  (zum  Stoss),  Pfeile  (zum  Schuss),  Keulen  (zum  Hieb),  Säbel  (zum 
Schnitt)  u  s.  w.,  "der  Lassos,  Bolas,  Dreizacken,  Blasröhre  u.  s.  w.  Die  Speere  und  Pfeile, 
mit  zugehörigen  Bogen,  sind  häufig  genug  in  den  verschiedenen  Welttheilen  so  völlig  ü herein 
stimmend,  dass  sie  sich  nur  nach  dem  in  dem  jedesmaligen  Lande  für  ihre  Anfertigung  geböte 
neu  Material  unterscheiden  lassen,  und  bei  sorgsamer  Arbeit  vielleicht  nach  dem  Stil  der  (aul 
den  unteren  Stufen  aber  nur  in  gleichartigen  Ornamenten  wiederkehrenden)  Verzierungen.  Die 
Knobkerrie  der  Kaffern  wird  auf  den  Sandwich-Inseln  in  derselben  Form  gebraucht,  und  das 
polynesische  Patu-Patu  ist  mit  dem  der  Orinoco-Indianer  identisch,  der  nmu  der  Sagartier 
oder  (nach  Suidas)  der  Parther  in  Amerika  verbreitet.  Dass,  wie  der  Macusi,  der  Dayak  in  dem 
dichten  Gebüsch  das  Sumpitan  gebraucht,  ist  ebenso  deutlich,  als  die  Verwendung  der  Bolas  in 
dem  baumlosen  Flachlande  der  Patagonier.  Auch  bei  der  weiteren  Vervollkommnung  der  Wal 
Ben  Folgt  aus  der  Natur  der  Sache  das  Wie  und  Warum.  Um  dem  Wurfspiess  weitere  Trag 
weite  zu  geben,  winde  das  römische  Amentum  auch  von  den  Neu-Caledoniern  erfunden,  und 
\iellach  das  Wurfbrett.  Die  Umspinnung  des  ßogens  zur  Vermehrung  seiner  Klasticität  lag  den 
Aht  ebenso  nahe,  wie  den  Aethiopiern.  Es  treten  dann  später  Entlehnungen  der  Wallen  von 
einander  ein  (wie  zwischen  Tongu  und  Fidschi),  ein  Lernen  und  ein  Lehren,  so  dass  es  bei 
dem  unvollkommenen  Einblick  nicht  immer  möglich  ist,  den  weiteren  Verbesserungen  Schritt 
für  Schritt  zu  folgen;  aber  das  Princip  liegt  klar  genug  zu  Tage,  und  ebenso  in  dei  Sprach 
bildung.  Die  existirenden  Lautmöglicbäeiten  werden  in  grammatische  Verknüpfung  gesetzt,  wie 
sie  die  Logik  der  Denkgesetze  vorschreibt,  in  an  sieh  unveränderlich  nolhwendiger,  aber  der 
äusseren  Erscheinung  nach  vielfach  differirender  Fonn.  Die  primären  Grundlagen  des'Psyobischen 
sind,  wie  die  Zellbildungen  im  Pflanzen-Organismus,  dieselben,  entfalten  sieh  aber,  je  nach  dei 
geographisch-historischen  Umgebung,  zu  verschiedenen  Manifestationen,  und  es  ist  wiedei  eine 
natürliche  Folge  des  Trägheitsgesetzes,  dass  jedes  Volk  so  lange  als  möglich  bei  der  von  ihm 
gewählten  oder  der  ihm  zukommenden  Sprachform   verharren  wird.  B. 


»44 

G.  L.  von  Maurer:  Geschichte  der  Städteverfassung  in  Deutschland,  Er- 
langen 1869,  l.  Theil. 

Das  grosse  Lebenswerk  des  Verfassers,  den  Abschluss  bildend  zu  seinen  früheren  Arbeiten 
(Einleitung  7.ur  Geschichte  der  Mark-,  Hof-,  Dorf-  und  Stadtverfassung  und  der  öffentlichen  Ge- 
walt.  IS54:  Geschichte  der  Markenverfassung  in  Deutschland,  1856;  Geschichte  der  Fronhöfe, 
der  Bauernhöfe  und  der  Hofverfassung  in  Deutschland,  1S62;  Geschichte  der  Dorfverfassung  in 
Deutschland,  1SG6),  die  gewissermassen  die  Einleitung  bilden  und  das  weite  Feld  dieser  For- 
schungen in  langsamen,  aber  überall  durch  Quellenstudium  gesicherten  Schritten  durchmessen 
Die  schon  von  Tacitus  in  Deutschland  erwähnten  Castelle  (burgum  vocant  b.  Veget.l  werden 
nach  Art  des  britischen  Oppidum  Verhaue  dargestellt  haben,  ähnlich  den  Pa  der  Maori.  Der 
römische  Veteran  erhielt  auf  seinen  von  den  Agri  decumates  zugetheilten  Feldern  häufig  das 
Burgrecht,  als  castellanus.  Die  Germanen  pflegten  (weil  für  ihre  Kriegsführung  gefährlich)  die 
gallischen  Städte  zu  zerstören,  neben  deren  Ruinen  sie  Julian  wohnen  sah,  und  bei  ihrem  Wie- 
deraufbau unter  den  fränkischen  Königen  wichen  dann  die  römischen  Namen  (Argentoriatum, 
Yangiones,  Nemetes  u.  s.  w.)  den  deutschen  (Strassburg,  Worms,  Speier  u.  s.  w.).  In  den  Sachsen- 
kriegen  werden  firmitates  und  civitates  (castra  oder  eastella)  genannt,  Erfurt  (b.  Bonifacius)  als 
olim  urbi  paganorum  rusticorum.  In  Karl  M.  Königshöfen  (curtis  imp.),  in  seinen  Palatien  oder 
den  unter  den  Neubekehrten  fundirten  Bisthümern  war  der  Grund  zu  befestigten  Wohnsitzen 
gelegt ,  aber '  auch  die  deutschen  Könige  bauten  Städte  schon  vor  Heinrich  dem  Städtegründer 
(s.  S.  19).  Den  mit  der  grossen  Wanderung  eingetretenen  Völkerstämmen  waren  die  in  den 
neuen  Wohnsitzen  vorgefundenen  Steinburgen  ebenso  fremd,  wie  den  Indianern  die  Werke  derMound- 
builder,  von  denen  sich  keine  Tradition  bewahrt  hat.  Im  Siegeslied  auf  den  Bischof  Anno  wird 
die  Erbauung  der  Burgen  (in  Deutschland)  „den  grimmen  Heyden"  zugeschrieben.  Köln 
heisst  „der  heristin  bürge  ein".  Eticho  (Stammvater  des  österreichischen  Hauses)  wohnte  mei- 
stens (Köuigshoven)  auf  heidnischen  Burgen,  genannt  Hohenburg  (s.  Pfister).  Die  Purusc  liuti 
heissen  (bei  Ulfilas)  baurjans.  B. 


Schumann:  Die  Missionsgeschichte  der  deutschen  Harzgebiete,  Halle  1869. 
Neben  dem  allemannischen  Stamme  in  seinem  neuen  Zusammenschluss  unter  Herzogen  bil- 
dete vor  Allen  das  „ruhmreiche  Geschlecht  der  herrlichen  Sachsen"  (Luitprand)  den  Kern  des 
deutschen  Reiches,  dessen  Macht  über  die  slavischen  Länder  jenseits  (und  auch  noch  diesseits) 
der  Elbe  ausgebreitet  wurde.  Das  mit  den  Gründungen  der  Bisthümer  und  Klöster  am  Harz 
eng  verbundene  Privatleben  der  sächsischen  Kaiser  bietet  unter  den  Wirren  damaliger  Zeitläufte 
freundliche  Blicke  in  die  Vermählung  echt  germanischen  Sinnes  mit  den  trotz  vielfach  zwischen- 
laufenden Aberglaubens  wohlthätig  mildernden  Lehren  des  neu  verkündeten  Christenthuins. 

B. 

Burgen:  The  Temples  of  Satrünjaya,  Bombay  1869. 

Historische  und  beschreibende  Einleitung  zu  45  photographischen  Aufnahmen  (durch  Sykes 
und  Dwyer)  auf  dem  den  Jainas  heiligen  Hügel  Satrünjaya  (bei  Palitana),  dessen  Legende,  Mä- 
hätmya,  das  älteste  Document  der  Jaiua-Literatur  darstellt  und  von  A.  Weber  (in  seiner  gelehr- 
ten Erörterung  über  das  Catrunjaya  Muhätonyam)  598  p.  d.  angesetzt  wird.  B. 


Von  J.  G.  F.  Riedel  ist  erschienen  und  freundlich  übersandt:  De  Landschappen  nolontalo, 
Liinoeto,  Bone,  Boalemo  en  Kattinggola,  of  Andagile,  durch  welches  'Schriftchen  aufs  Neue  die 
keimt niss  der  noch  so  wenig  erforschten  und  doch  so  erforschungswürdigen  Insel  Celebcs  durch 
geographische,  statistische,  historische  und  ethnographische  Untersuchungen  bereichert  wird. 

B. 


Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie 
und  Urgeschichte. 

Sitzung  vom  11.  Juni  187U. 

Der  Vorsitzende,  Herr  Virchow  theilt  mit,  dass  Herr  Dr.  Mannhardt  eine 
Anzahl  von  Fragen,  welche  mythologische  Gebräuche  betreffen,  gedruckt  eingesendet  hat; 
er  empfiehlt  die  Berücksichtigung  derselben  bei  Gelegenheit  von  Reisen  der  Mit- 
glieder der  Gesellschaft. 

Derselbe  übergiebt  eine  Basaltschlacke  vom  Heimberge  bei  Fulda,  welche  er  von 
Hrn.  Dr.  Speyer  daselbst  erhalten  hat  und  welche  der  in  der  vorigen  Sitzung  er- 
wähnten Fundstätte  Leonhard's  entnommen  ist.  Einen  weiteren  Bericht  über  die 
dortigen  Verhältnisse  behält  er  vor. 

Ferner  schenkt  er  der  Bibliothek  der  Gesellschaft  Lubbock,  Prehistoric  Times. 

Herr  Virchow  macht 

Weitere  Mittheilungen  über  Gesichtsurnen. 

Die  grosse  Zeichnung  der  sogen.  Runen-Urne,  welche  uns  in  der  letzten  Sitzung 
von  Herrn  Mannhardt  übergeben  worden  ist,  hat  seitdem  zweien  Sachverständigen, 
den  Herren  Professoren  Müllen  hoff  und  Rüdiger,  vorgelegen.  Herr  Müllenhoff 
äussert  sich  darüber  folgendermassen : 

„Nachdem  ich  von  dem  Aufsatze  Dr.  Mannhardt's  und  den  beigegebenen  Zeich- 
nungen Kenntniss  genommen,  gestehe  ich  gerne,  dass  ich  mich  von  dem  Schriftcha- 
rakter der  auf  der  Danziger  Urne  vorkommenden  Zeichen  nicht  habe  überzeugen 
können,  dass  ich  diese  für  blosse  Verzierungen  und  nicht  für  Schrift  halte,  schon 
weil  dieselben  Zeichen  sich  allzu  oft  und  ohne  jegliche  Unterscheidung  wiederholen. 
Selbst  wenn  die  Aehnlichkeit  altsemitischer  oder  phönikischer  Buchstaben  grösser 
wäre,  als  sie  in  der  That  ist,  würde  ich  anstehen,  darauf  eine  Hypothese  zu  gründen 
oder  auch  nur  ein  Gewicht  zu  legen,  da  ich  nicht  absehe,  wie  jene  unvermittelt  au 
die  Ostsee  gekommen  sein  sollten,  weil,  nach  meiner  festen  und  wie  ich  meine  wohl 
begründeten  Ueberzeugung,  der  Glaube  unserer  Gelehrten  au  eine  so  weite  Ausdeh- 
nung der  Fahrten  der  Phönizier  jegliches  Grundes  entbehrt  und  an  keinem  alten 
Zeugnisse  «ine  Stütze  findet." 

Das  Urtheil  des  Herrn  Rödiger  weicht,  wie  es  bei  einem  so  schwierigen  Gegen- 
stände nicht  überraschen  darf,  nicht  unerheblich  von  dem  eben  mitgetheilten  ab.  Er 
schreibt: 

„Die  ganze  Sache  war  mir  neu,  sie  hat  mich  sehr  interessirt,  besonders  auch 
die  Inschrift.  Dass  dies  wirklich  Schriftzüge  sind,  daran  lässt  sich  kaum  zweifeln. 
Aber  welcher  Art  sie  ist  und  wie  zu  lesen,  das  ist  mir  bei  der  kurzen  Zeit,  die  ich 
auf  die  Besichtigung  verwenden  konnte,  bis  jetzt  noch  durchaus  nicht  klar  geworden. 
Dazu  gehört,  wenn  es  überhaupt  gelingt,  wiederholte  Betrachtung  und  —  ein  glück- 
licher Moment,  der  auf  die  richtige  Spur  leitet.     Einige  Zeichen  haben  Aehnlichkeit 

24** 


346 

mit  älterer  semitischer  Schrift,  aber  das  kann  täuschender  Zufall  sein  und  berechtigt 
noch  nicht  zu  weiteren  Schlüssen.  Hrn.  M.'s  Versuch  ist  eben  ein  Versuch,  und  ein 
solcher  musste  gemacht  werden;  doch  fand  ich  darin  Einiges  unsicher,  eine.  Angabe 
geradehin  irrig.  Die  ganze  Abhandlung  des  Hrn.  M.  ist  aber  so  gelehrt,  gediegen  und 
besonnen,  dass  ihr  baldiger  Abdruck  auch  mir,  dem  Laien  in  dieser  Branche  der 
Alterthiimer,  sehr  wünschenswerth  erscheint;  sie  regt,  wie  schon  Ihre  Schrift,  Fragen 
au,  die  alhnählig  zu  einem  Resultat  führen   müssen." 

Die  Veröffentlichung  der  Mittheilungen  des  Herrn  Mannhardt  wird  bald  erfol- 
gen und  weitere  Untersuchungen  werden  alsdann  feststellen,  was  aus  der  „Inschrift" 
zu  machen  ist. 

Inzwischen  hat  Herr  Walter  Kauffmann  (Danzig),  den  wir  das  Vergnügen 
haben,  unter  uns  zu  sehen,  einen  neuen  Fund  gemacht.  In  Gr.  Czapielken  (Kreis 
Carthaus)  hat  er  wiederum  eine  Gesichtsurne  ausgegraben.  Obwohl  einfacher  Art,  ist 
6ie  insofern  von  Interesse,  als  ihr  Deckel  eine  andere  Varietät  von  „Mütze"  zeigt, 
als  die  bisher  bekannten;  auch  besitzt  sie  einen  vollkommeneren  Gürtelschmuck  als 
die  früheren.  Herr  Kauffmann  hat  ausserdem  ein  paar  Bruchstücke  von  Perlen  mit- 
gebracht, welche  von  den  Ohrgehängen  der  Gesichtsurnen  stammen,  eines  von  Bern- 
stein und  eines  von  blauem  Glase.  Letzteres  wird  einer  chemischen  Analyse  unter- 
worfen werden,  um  wo  möglich  weitere  Anhaltspunkte  für  das  chronologische  Urtheil 
zu  gewinnen. 

In  Beziehung  auf  die  Mütze  will  ich  noch  bemerken,  dass  mir  bei  einer  Durch- 
sicht von  MadsenV)  „Dänischen  Steinalterthümern"  aufgefallen  ist,  dass  eine  ver- 
hältnissmässig  grosse  Zahl  von  Urnen  der  Steinzeit  existirt,  welche  ähnliche  Deckel 
haben;  ebenso  giebt  Klemm2)  in  seinem  Buch  über  deutsche  Alterthümer  die  Ab- 
bildung eines  der  Träger  des  sog.  Crodo-Altars,  die  dieselbe  Mützenform  zeigt.  Diese 
Form  kann  also  nicht  füglich  eine  typische  sein,  und  man  darf  auf  diese  Einzelheit 
einen  entscheidenden  Werth  für  die  Zeitbestimmung  der  Urnen-Anfertigung  nicht  le- 
gen In  dieser  Beziehung  ist  der  schon  von  Herrn  Mannhardt  erwähnte  Fund  des 
Hrn.  Kauffmann  in  Starzin  (Kreis  Neustadt)  sehr  werthvoll,  indem  er  in  einer  Ge- 
sichtsurne ein  von  einem  Nagel  durchbohrtes  Schädelfragment  gefunden  hat.  Nach  der 
mündlichen  Mittheilung  des  Herrn  Finders  handelt  es  sich  hier  um  einen  langen  Na- 
gel, dessen  Knopf  über  dem  Scheitelbogen  lag,  während  seine  Spitze  unten  au  der 
Basis  wieder  zum  Vorschein  kam.  Aehuliche  Funde  sind  auch  an  anderen  Orten  ge- 
macht worden,  und  da  sich  dieses  Schädelfragment  in  der  Urne  befand,  so  ist  es  aus- 
gemacht, dass  es  mindestens  der  Uebergangszeit  zum  Eisen  angehört. 

Herr  Rector  Luchs  in  Breslau  theilt  mir  mit,  dass  auch  schlesische  Gesichts- 
urnen en  miniature  existiren,  und  Herr  de  Mortillet  am  kaiserlichen  Museum  zu 
St.  Germain  schreibt  mir,  dass  dieses  Museum  6  vollständige  Vasen  von  gelbem  und 
z.  Th.  schwarzem  Thon  mit  menschlichen  Figuren  auf  dem  Bauch  besitzt.  Sie  haben 
die  grösste  Aehnlichkeit  mit  den  Urnen,  welche  Lindenschmit  abbildet.  Ausser- 
dem sind  ebendaselbst  noch  Fragmente  von  Gefässen  vorhanden,  die  dieselbe  Beschaf- 
fenheit  in  noch  mehr  ausgeprägter  Form  haben  und  im  Walde  von  Compiegue  (Dep.  de 
l'Oise)  gefunden  sind.    Offenbar  gehören  diese  sämmtlich  dem  rheinischen  Typus  an.  — 

')  Madsen,  Antiquites  prehistoriques  du  Dänemark.  Copenh.  IS(U>.  PI.  IC,  Hg.  6;  pl,  43, 
fit;    |   et  4;  pl.  4.0,  fig.  24  e1   25. 

*)  Gl.  Klemm,  Hamllnn-h  der  germanischen  Alterthumskunde.  Dresd.  18Ü0.  Tuf.  XIX,  fig.  :i. 


347 

Es  wird  sodann  der  weitere  Bericht  der  Commission  verlosen 
übt r  die  westfälisch! n  Renn'hiertinde. 

Die  von  f  Im  von  Dücker  der  Gesellschaft  vorgelegte  Sammlung,  welche  fasl 
ganz  und  gar  aus  Bruchstücken  junger  ßennthiergeweihc  besteht,  zeig!  an  einigen 
Stücken  deutlich  die  erwähnten  dendritischen  Zeichnungen,  und  die  Beschaffenheit 
vieler  Bruchflächen  lässt  erkennen,  dass  die  letzteren  schon  zu  einer  Zeit  vorhanden 
wiiien,  ;ils  die  Stücke  in  die  Erde  gelangten.  Indess  gill  dies  nicht  von  allen  Bruch- 
flächen,  aamentlich  nicht  von  den  Längsgespaltenen  Stücken.  Manche  Oberflächen  der 
letzteren  sehen  frisch  aus,  und  da  sich  allerlei  Uebergänge  von  blossen  Sprüngen 
und  Spalten  bis  zu  vollständiger  Trennung  zeigen,  so  erscheint  es  wahrscheinlich, 
dass  im  natürlichen  Gange  der  Verwitterung  derartige  Veränderungen  eingetreten 
sind.  Bei  zahlreichen  anderen  Stücken  sieht  man  trichterförmige  Eindrücke  und  läng- 
liehe Abschärfungen,  nicht  selten  beides  nebeneinander  und  zusammenhängend;  auch 
sind  die  Enden  einzelner  Geweihstücke  durch  wiederholte  Einwirkungen  der  Art  ver- 
kleinert und  zugeschärft.  Alle  diese  Einwirkungen  machen  den  Eindruck,  dass  sie 
durch  Nagen  und  Beissen  von  Raubthieren  hervorgebracht  sind.  Allerdings  zeigt  auch 
das  Geweihstück  von  Sölager  einen  ähnlichen  trichterförmigen  Eindruck,  aber  nichts 
berechtigt  zu  der  Vermuthung,  dass  liier  ein  menschliches  Werkzeug  angesetzt  sei. 
Wenn  Herr  v.  Dücker  in  solchen  Eindrücken  die  Spuren  „des  Bestrebens  zum  Auf- 
spalten" der  Geweihe  sieht,  so  ist  dagegen  zu  sagen,  dass  die  gewöhnlichen  Arten 
des  Aufspaltens  von  Knochen  mit  meissclförmigen  Werkzeugen  vorgenommen  wurden. 
die  längliche  Kindrücke  geben,  und  dass  die  Geweihe  nicht  zum  Ausnehmen  von 
Mark  bestimmt  sein  konnten,  da  sie  ein  ganz  dichtes  spongiöses  Gewebe  enthalten 
Wirkliche  Spuren  der  Bearbeitung  fehlen  hier  ganz,  wenigstens  ist  nirgends  eine  be- 
stimmte Operation  erkennbar.  Ein  einziges  Stück  hat  einen  IG  Millimeter  langen, 
ganz  geraden  Eindruck,  der  quer  über  dasselbe  verläuft  und  ganz  alt  erscheint;  die 
Möglichkeit,  dass  dies  ein  Einschnitt  ist,  lässt  sich  nicht  leugnen.  Aber  von  der 
Möglichkeit  bis  zur  Wirklichkeit  ist  ein  grosser  Schritt,  und  die  Commission  fühlt 
sich  nicht  berechtigt,  auf  Grund  dieser  einzigen  Wahrnehmung  die  Deutung  des 
Hrn.  v.  Dücker  als  erwiesen  anzuerkennen.  Vielmehr  ist  sie  der  Meinung,  dass  die 
frühere  Zusendung  ungleich  bestimmtere  Merkmale  für  die  Anwesenheit  des  Menschen 
in  den  betreffenden  Höhlen  geliefert  hat,  als  die  gegenwärtige. 

Hierauf  sprach  Herr  Koner 

über  die  Framea. 

Anknüpfend  an  die  in  der  Februar- Sitzung  gemachte  Vorlage  einpr  reichen  Samm- 
lung meisselförmiger  Instrumente  aus  Bronze  des  hiesigen  Museums  und  an  die  da- 
mals von  Herrn  v.  Ledebur  daran  geknüpften  Bemerkungen  über  die  Framea  der 
alten  Deutschen,  versucht  es  Herr  Kon  er,  die  UnWahrscheinlichkeit  darzulegen,  dass 
auf  diese  Geräthe  die  taciteische  Beschreibung  der  Framea  angewendet  werden  könne. 
Der  Vortragende  unterzieht  zunächst  die  auf  diese  Waffe  bezügliche  Stelle  des  Ta- 
citus  einer  genaueren  Untersuchung,  indem  er  die  Worte:  „rari  gladiis  aut  majoribus 
laneeis  utuntur",  welche  allerdings  mit  anderen  Angaben  desselben  Schriftstellers  über 
die  mächtigen  Lanzen  einzelner  deutschen  Stämme  nicht  in  Einklang  zu  bringen  sind 
und  deshalb  bei  den  Erklärern  manche  Bedenken  erregt  haben,  statt  wie  gewöhnlich 
„selten  bedienen  sie  sich  etc."  also  übersetzt:  „einige  wenige  Völkerschaften  (rari  sc. 
populi)  bedienen  sich  etc.";  in  dieser  Weise  würde  sich  der  scheinbare  Widerspruch 
bei  Tacitus  ausgleichen  lassen.  Sodann  geht  derselbe  über  zu  der  von  Tacitus  über- 
lieferten Beschreibung  des  Speereisens  der  Fiamea,  welches  dort  charakteristisch  und 
von   der  Form    römischer  Wurfwaffen   gänzlich    abweichend  als   eine   schmale,    kurze 


348 

und  scharfe  Eisenspitze  geschildert  wird,  gleich  anwendbar  für  den  Nahe-  wie  für 
den  Fernkampf.  Jene  nun  nicht  nur  in  germanischen  Ländern,  sondern  auch  iu  den 
von  keltischen  und  romanischen  Stämmen  bewohnten  Gebieten  vielfach  vorkommen- 
den meisselartigen  Geräthe,  welche  fast  überall  iu  ihrer  Form  eine  seltene  Ueberein- 
stimmung  zeigen  und  nur  in  ihrer  Grösse  von  einander  verschieden  sind ,  rechtferti- 
gen nach  genauer  Prüfung  mit  den  taciteischen  Worten  auch  nicht  im  Entferntesten 
ihre  von  vielen  Archäologen  gebrauchte  Bezeichnung  als  Framea;  vielmehr  müsse 
man  annehmen,  dass  diese  Instrumente,  gleichviel  ob  an  einem  geraden  oder  kuieförmig 
gebogeuen  Holzgriff  befestigt,  für  gewisse  Manipulationen  im  Alltagsleben,  wie  zum 
Schaben,  Aushöhlen,  Behauen  und  Hacken  benutzt  worden  seien,  wobei  es  jedoch 
keineswegs  in  Abrede  gestellt  zu  werden  braucht,  dass  die  grösseren  dieser  Werk- 
zeuge gelegentlich  wohl  auch  als  Waffe  ihre  Verwendung  gefunden  haben.  Ganz  ähn- 
lich gestaltete  und  in  gleicher  Weise  auf  einem  knieförmig  gestalteten  Holzgriffe  be- 
festigte Werkzeuge  würden  noch  jetzt  von  mongolischen  Völkerschaften  zum  Aushöh- 
len der  Tröge  verwendet.  Was  die  Länge  der  Framea  betrifft,  so  macht  der  Vortra- 
gende darauf  aufmerksam,  dass  Tacitus  dieselbe  mit  der  römischen  Hasta  vergleicht, 
nicht  aber  mit  dem  damals  bei  allen  Legionen  gleichmässig  eingeführten  Pilum,  und 
dass  daraus  mit  Recht  ein  Schluss  auf  die  Länge  der  Framea  gemacht  werden  könne. 
Mit  der  Umgestaltung  der  römischen  Heeresorganisation  von  der  Servianischen  Pha- 
lanx bis  zu  der  Caesars  gehe  die  Umänderung  der  Bewaffnung  in  gleichem  Schritt, 
beide  hängen  organisch  mit  einander  zusammen,  und  schildert  der  Redner  iu  kurzen 
Umrissen  die  Veränderung  der  Lanze  von  der  Zeit  des  altrömischen  Phalangiteu- 
Speeres  bis  in  die  spätrömische  Kaiserzeit,  indem  er  gleichzeitig  die  von  Linden- 
6chmit  mit  so  vielem  Glücke  versuchte  Reconstruction  des  Caesariauischen  Pilum 
zur  Anschauung  bringt.  Schliesslich  erwähnt  derselbe  der  von  den  alten  Schriftstel- 
lern erwähnten  Schleuderriemen  (amentum,  «y.-.i .'.',),  deren  Gebrauch  nach  den  Wor- 
ten des  Ovid:  „inserit  amento  digitos"  aus  einem  im  British  Museum  befindlichen 
Vasenbilde  deutlich  wird,  während  das  auf  wenigen  anderen  Monumenten  (auf  dem 
unter  dem  Namen  der  Alexanderschlacht  bekannten  pompejanischen  Mosaik  und  auf 
einem  von  Stuart  und  Revett,  Antiquities  of  Athens,  T.  III,  p.  47  publicirten  Bas- 
relief) vorkommende  Amentum  für  die  richtige  Erklärung  desselben  einen  grossen 
Spielraum  gewähre. 

HeiT  v.  Cohausen:  Ich  kann  mich  den  Ausführungen  des  Herrn  Koner  nur  an- 
schliessen;  ich  halte  diese  Erz-Keile  durchaus  nicht  für  die  Framea.  Es  kommt  noch 
der  eigenthümliche  Umstand  in  Betracht,  dass  mit  dem  Auftreten  des  Eisens  dieser 
Keil  ganz  aufhörte,  während  Tacitus  ausdrücklich  sagt,  dass  die  Framea  eine  eiserne 
Spitze  gehabt  habe.  Ich  glaube,  dass  diese  Form  in  der  Eisenperiode  nur  sehr  we- 
nig vorkommt,  wenn  auch  einzelne  Stücke  davon  vorhanden  sind. 

In  Bezug  auf  das  Pilum  ist  zu  bemerken,  dass  es  notorisch  eine  viereckige  Waffe 
war,  was  man  sowohl  aus  dem  pyramidalen  Ansatz,  als  auch  aus  der  Beschreibung 
sehen  kann.  Es  ist  das  Pilum  das  gewesen,  was  die  Franken  Angun  nannten,  eine 
Art  von  Harpune,  während  ich  diese  Erz-Meissel  für  das  antike  Taschenmesser  halte, 
wofür  auch  die  an  demselben  befindliche  Oese  spricht. 

Herr  Meitzen:  Ich  habe  nur  zu  wiederholen,  was  ich  schon  bei  der  früheren 
Besprechung  der  Framea  vorgetragen  habe.  Es  müssen  hierbei  noch  andere  Fragen 
in  Betracht  kommen.  Zunächst  hat  mau  denselben  Meissel  auf  einem  Schafte  gefun- 
den. Der  Meissel  hat  eine  Oeffnung  und  ausserdem  eine  Tülle,  welche  wenig  geeig- 
net ist,    auf  einen  Stab  gesteckt  zu  werden.     Wenn  man  diese  Meissel  alle  mit  ein- 


349 

ander  vergleicht  sii  gebe  ich  gern  zu  .  dass  man  '/  davon  mit  einer  Tülle  finden 
wird,  welche  genügend  ist,  einen  Stab  aufzunehmen;  ,  davon  aber  sind  gänzlich 
ungeeignet,  einen  Stab  ernsthaft  daran  zu  befestigen  Wenn  man  nichts  desto  wem 
ger  einen  solchen  Meissel  auf  einem  Stabe  befestig)  gefunden  hat,  wenn  man  audrei 
Beils  auch  nicht  lilnss  einen  Hing,  sondern  sogar  mehrere  Hinge  an  dieser  Tülle  bän 
genil  gefunden  hat,  so  ist  man  meine-,  lürachtene  durchaus  noch  nicht  berechtigt, 
diese  hinge  für  die  Framea  zu  erklären;  ich  halte  sie  vielmehr  für  ein  Instrument) 
welches  für  den  Kriegsgebrauch  ungeeignet  ist.  Die  Lanze  ist  kurz  und  nach  der 
Bezeichnung  vielleicht  •'!'  lang,  was  wohl  zu  berücksichtigen  ist,  wenn  man  annimmt, 
dass  das  Instrument  dazu  gedient  habe,  auf  einem  Schaft  befestigt  zu  werden.  Mau  wird 
mir  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  wenn  ich  behauptet  habe,  dass  dies  Instrument  als 
ein  solches  bezeichnet  werden  muss,  welches  zu  allen  möglichen  Arbeiten  benutzt 
wurde,  wenn  es  vielleicht  auch  gelegentlich  einmal  als  basta  gebraucht  wurde.  Der 
wirklich  nützliche  Gebrauch,  den  man  von  demselben  machen  konnte,  ist  der,  dass 
man  es  einem  Thiere  in  den  Rachen  stösst;  der  Stab  fällt  alsdann  heraus,  das  Thier 
beisst  entweder  auf  den  Ring  oder  den  Riemen  und  wird  so  erlegt.  Als  Jagdinstru- 
meiit  ist  es  sehr  brauchbar. 

Nun  wollte  ich  noch  darauf  zurückkommen,  dass  in  der  That  ein  solches  Instrument 
auf  einem  Stabe  und  ein  Ring  in  der  Oese  gefunden  worden  ist;  dabei  lässt  es  sich 
denken,  dass  der  Ring  benutzt  worden  ist,  um  es  aufzuhängen,  und  dass  es  zugleich 
als  ein  Instrument  zum  häuslichen  Gebrauch  gedient  habe,  zum  Schneiden,  Schaben  u.  s.w. 

Herr  Bastian:  Bezüglich  der  Etymologie  der  Framea  in  der  schätzbaren  Zuschritt 
des  Herrn  Archivar  Lisch  hörte  ich  von  Herrn  Prof.  Müllenhoff,  dass  dieselbe 
Eierleitung  auch  von  ihm  gegeben- sei  in  Haupt's  Zeitschr.  f.  d.  A.  Wackernagel 
erklärte  das  Wort  aus  adchrainire,  Isidorus  als  ferramentum  in  allgemeiner  Bedeu- 
tung, mit  besonderem  Bezug  auf  ein  Stossschwert.  Stossscbwert  (Stockdegeu),  und 
holländisch  Mordt-priem,  als  Dolch,  würde  wieder  auf  Pfriem  führen. 

Was  die  meisselartigen  Werkzeuge  betrifft,  so  war  die  ursprüngliche  Erklärung 
von  Thom.  Hearne  (1709)  diesem  Namen  entsprechend,  den  er  dem  mittelalter- 
lichen Wort  Celtis  oder  Celtes  (Meissel)  entnahm,  das  von  der  afrikanischen  Celtis- 
Pflanze,  deren  Wurzel  (nach  Plinius)  zu  Griffen  für  Instrumente  diente,  entnommen 
sein  mochte,  und  dann  mit  der  celtischen  Volksbezeichnung  zusammengeworfen  wurde. 
Nach  ihm  trug  jeder  römische  Soldat  ein  solches  Instrument  für  seinen  Gebrauch, 
besonders  bei  den  Umwallungsarbeiten  des  täglich  auf  dem  Marsche  aufgeschlagenen 
Lagers,  zum  Glätten  der  Steine  u.  s.  w.,  und  wenn  das  Material  dafür  weich  er- 
scheinen mag,  war  es  bei  der  kostbaren  Seltenheit  gut  gestählten  Eisens  doch  viel- 
leicht vorzuziehen.  Dieser  Ansicht  stellte  sich  später  die  antiquarische  Beobachtung 
entgegen,  dass  die  fraglichen  Werkzeuge  in  grossen  Mengen  in  Gegenden  getroffen 
wurden,  die  nie  von  römischen  Armeen  betreten  waren.  Obgleich  jedes  noch  rohe 
Volk  begierig  ist,  Metalle  bei  sich  aufzunehmen  (wie  die  Berichte  der  Nowgoroder 
über  ihren  sibirischen  Handel,  der  polyuesischen  Entdecker,  der  Holländer  in  Süd- 
Afrika,  der  Wogulen  (1590)  u  s.  w.  beweisen),  und  den  Gebrauch  derselben  dann  bald  zu 
einem  allgemeinen  machen  (wie  jetzt  die  amerikanischen  Indianer),  so  stehen  dem 
doch  oft  Schwierigkeiten  entgegen.  Der  schon  ldlXi  a.  d.  in  den  chinesischen  Auna- 
leu  genannte  Stamm  der  Y-lin  brachte  noch  2Go  p.  d.  Steinwerkzeuge  an  den  Hof 
als  Tribut,  und  auch  die  eifersüchtige  Politik  Japans  Hess  Sachalin,  Süd-Kamtschatka 
u.  s.  w.  trotz  regelmässigen  Verkehrs  lange  metalllos.  Die  friedlichen  Beziehungen 
der  Römer  mit  dem  germanischen  Norden,  wie  sie  sich  in  dem  Handel  der  (thürin- 
gischen) Hermunduren   (bis  nach  Rhätien)   kundgaben,    wurden    seit  Errichtung  des 


350 

Marcomannen-Reicbs  und  den  folgenden  Wirren  durch  einen  fortdauernden  Kriegszustand 
unterbrochen ,  so  dass  die  Kaiser  wiederholt  Verbote;  gegen  die  Ausfuhr  von  Warten 
(die  auch  Sacrovir  mangelten)  und  von  Eisen  überhaupt  erliessen     Häufig  wurde  dasselbe 

erst  dann,  als  sich  die  Kranken  und  Alleraanuen  in  den  Besitz  der  römischen  Waffenfabrikeu 
in  Rheims,  Trier  n.  s.  w.  gesetzt  hatten.  In  der  Zwischenzeit  konnte  mm  vielleicht 
*"ln  leicht  zu  erlangendes  Bronze-Werkzeug  die  vornehmliche  Form  sein,  in  welcher 
die  Kaufleute  auf  Schleichwegen  dem  Wunsch  der  durch  ihre  Raubzüge  bereicherten 
Barbaren  nach  Metall  genügten  'und  auch  vielleicht  durch  im  Lande  verfertigte  Guss- 
formen nachahmten).  Wir  hätten  dann  nur  eine  Anticipation  der  Rolle,  die  in  spälerei 
Wiederholung  Eisennägel  am  Cap  (im  Austausch  für  Heerden)  spielten,  oder  in  Poly- 
nesien, wo  sie  (wenn  von  Schiffern  erworben)  ein  Regal  der  Häuptlinge  bildeten  und 
von  diesen  zum  Löcherbohren  u.  dgl.  m.  vermiethet  wurden,  was  auf  Tahiti  (nach 
Cook)  und  den  Carolinen  (nach  Cardena)  eine  reiche  Quelle  der  Einkünfte  gewesen 
sein  soll.  Man  hätte  das  wert h volle  Product  deshalb  gern  acelimatisirt.  und  die  Ein- 
gebornen  pflanzten  die  exotischen  Nägel  in  ihre  Gärten,  ob  sie  vielleicht  zum  Kei- 
men zu  bringen  wären.  Dass  bei  erster  Einleitung  eines  Verkehrs  gewöhnlich  weniger 
das  reine  Metall,  als  vielmehr  ein  aus  demselben  gefertigtes  Geräth  zum  Austausch 
gedient  hat,  zeigen  (neben  dem  Hufeisengeld  am  Niger)  die  sonderbaren  Dinge,  die 
man  oft  in  i\on  sog.  „Pacquets"  West-Afrikas  findet,  obwohl  dort  später  die  Harre 
/u  nomineller  Abschätzung  diente.  Ausser  zum  Einschmelzen  können  solche  Gegen- 
stände dann  auch  immer  erst  in  der  ihnen  schon  gegebenen  Form  gebraucht  werden, 
und  dienen  meist  den  Naturvölkern  zu  den  verschiedensten  Zwecken,  die  häufig  sehr 
weit  von  demjenigen  abweichen,  für  den  sie  durch  ihre  Verfertiger  eigentlich  be- 
stimmt sind. 

Herr  Meitzen:  Die  Meissed,  um  die  es  sich  hier  handelt,  haben  eine  so  gleich- 
massige  Form,  dass  mau  in  der  That  darauf  kommen  muss,  dass  sie  aus  dem  Süden 
eingeführt  sind.  Wie  die  sichelförmigen  Messer,  welche  in  den  etruriseben  Sammlun- 
gen gefunden  werden,  so  bin  ich  auch  überzeugt,  dass  diese  ausgeführt  worden  sind: 
die  ganze  Art  des  Gusses  ist  derart.  Diese  künstliche  Meisselform  mit  der  einen 
Oese  i^t  auch  zur  Befestigung  nicht  geeignet;  trotzdem  lege  ich  aber  immer  einen 
Werth  darauf,  dass  man  das  Metall  mit  dem  Schafte  zusammen  gefunden  hat.  Man 
wird  also  immerhin  darauf  kommen  müssen,  dass  diese  Meissel  zu  einem  Gebrauch 
dienten,  zu  welchem  eine  Verbindung  mit  dem  Holze  noth wendig  war,  und  zwar  eine 
sehr  leichte  Verbindung. 

Herr  v.  Cohausen:  Es  besteht  noch  heute  in  unserer  Technik  ein  dem  Meissel 
sehr  ähnliches  Instrument,  Palzer  genannt,  ein  meisselartiges  Instrument  mit  einer 
Schärfe  und  einem  Oehr.  In  dasselbe  wird  ein  Pfahl  gesteckt,  9—10'  lang,  und  eine 
Leine  daran  befestigt.  Dies  Instrument  dient  zum  Holzflössen.  Wenn  ein  Floss  auf 
den  kleinen  Flüssen  des  badischen  Landes  vom  Schwarzwalde  herunterkommt,  so 
werden  an  die  Nadelhölzer  immer  die  Eichenstämme  befestigt;  sie  gehen  leicht  zu 
Grunde,  und  um  den  Stamm  wieder  heraufzubringen,  dazu  dient  der  Palzer.  Man 
sondirt  erst  den  Grund,  indem  man  das  Instrument  an  der  Leine  hinabsenkt,  um  zu 
sehen,  wo  sich  das  Holz  befindet;  alsdann  stösst  man  es  in  den  Stamm  hinein  und 
zieht  ihn  so  in  die  Höhe.  Der  Name  Palzer  ist  auch  deshalb  interessant,  weil  die 
dänischen   A Iterthumsforscher  dem   Instrument  den   Namen  Paalstaf  gegeben   haben. 

Was  die  Tülle  anlangt,  von  welcher  hervorgehoben  ist,  dass  sie  wenig  tief  ist, 
60  läßsl  sich  dagegen  allerdings  nichts  sagen,  aber  wir  haben  auch  noch  ein  Instru- 
ment, in  welchem  sich  ein  Loch  befindet,  das  nicht  gebraucht  wird,  an  welchen  sich 


351 

das  Loch  vielleicht  aus  einem  alten  Gebrauch  fortgepflanzt  hat,  wie  ich  es  auch  für 
diese  Tülle  glaube,  ich  meine  nämlich  die  Axt  unserer  Zimmerleute.  Die  Tülle,  um 
welche  es  sich  hier  handelt,  mag  einstmals  einen  wesentlicheu  Nutzen  gehabt  haben, 
indem  sie  zur  Befestigung  eines  6tuck.es  gedient  hat,  oder  vielleicht  auch,  wie  an- 
derswo gezeigt  worden  ist,  indem  sie  bestimmt  war,  einen  krummen  Ast  aufzuneh- 
men, um  das  Ding  als  Beil  zu  gebrauchen.  Das  Loch  in  der  Stossaxl  unserer  Zim- 
merleute ist  in  der  heutigen  Form  viel  zu  klein,  um  einen  Stiel  aufzunehmen,  und 
ich  vermutlie,  dass  .las  Loch  nur  zur  Bequemlichkeit  darin  geblieben  ist,  so  dass  der 
Mann  jetzt  Bein   Winkeleisen   hineinstecken  kann. 

Line  andere  Art  der  Befestigung  ist  die,  dass  man  das  Holz  spaltete,  das  Instru- 
ment hineinsteckte  und  mit  Binden  umwand,  wie  es  in  den  Gräbern  von  Ilallstadt 
gefunden  worden  ist. 

Nun  kommt  bei  den  meisten  Werkzeugen  noch  eine  Eigentümlichkeit  vor:  es 
ist  entweder  ein  Loch  vorhanden,  oder  es  ist  gespalten,  oder  es  öffnet  sich  auch  Hin- 
durch ein  kleines  Rudiment,  eine  Thatsache,  welche  uns  einen  Blick  in  die  Technik, 
auch  vielleicht  in  den   Gebrauch  dieser   Instrumente  geben  könnte. 

Herr  Virchow:  Ls  ist  nicht  zu  übersehen,  dass  gerade  die  beilförmige  Befesti- 
gung des  Instrumentes  an  einem  Stiele,  eine  Befestigung,  die  von  vielen  der  früheren 
Forscher  vermuthet  war,  im  Salzbergwerk  von  Reichenhall  wirklich  gefunden  worden 
ist.  Liue  Nachbildung  dieses  Instrumentes  ist  im  Mainzer  Central-Museum,  eine  Ab- 
bildung hat  Lindenschmit  in  der  Zeitschrift  des  Mainzer  Vereins  zur  Erforschung 
der  rheinischen  Geschichte  und  Alterthümer  (1868,  Bd.  III,  S.  8,  Taf.  II,  fig.  6)  ge- 
geben. Diese  Art  der  Schaltung  wird  also  als  feststehend  angesehen  werden  müssen 
Es  kann  sich  daher  nur  noch  darum  handeln,  ob  sämmtliche  meisselförmige  Instrumente 
als  zu  diesem  Typus  gehörig  anzusehen,  ob  es  lauter  beilartige  Instrumente  sind  oder 
ob  diese  letzteren  nur  eine  besondere  Gruppe  bilden.  Es  ist  ganz  richtig,  was  Herr 
v.  Ledebur  gesagt  hat,  man  dürfe  noch  keinen  generellen  Namen  wählen,  um  der 
Forschung  nicht  vorzugreifen.  Aus  einem  ähnlichen  Grunde  hat  Desor  (Les  pala- 
fittes,  p.  41)  die  verschiedenen  Unterarten  nach  einzelnen  Männern  bezeichnet  und 
die  Directum  der  Revue  archeologique  (18G8,  Janv.)  hat  eine  noch  weitere  Classifi- 
cation versucht.  Es  lässt  sich  sehr  wohl  denken,  dass  man  das  mit  einem  offenen  Stielloch 
versehene  Instrument  als  Beil  geführt  hat,  die  anderen  aber  nicht.  Mir  scheint  jedoch 
die  Ansicht  des  Herrn  v.  Cohausen  auch  für  die  Varietät  mit  umgelegtem  Lande 
die  wahrscheinlichere  zu  sein,  die  näadich,  dass  man  ein  Holz  gespalten  und  das  In- 
strument darin  beilartig  befestigt  hat.  Die  Beziehung  zu  dem  Palzer  trifft  jedoch  nicht 
zu,  denn  die  Dänen  sprechen  das  Wort  „Paalstaf  mit  einem  o  (Polstaf).  „Paal" 
heisst  „Spaten",  bezeichnet  also  ein  Instrument  zum  Graben. 

Ausserdem  muss  ich  noch  bemerken,  dass  Herr  v.  Ledebur  davon  ausging,  dass 
überall,  wo  die  germanischen  Völker  hingekommen  sind,  diese  Instrumente  sich  tiu- 
den,  und  er  legte  einen  Werth  darauf,  dass  überall,  wo  sie  gefunden  worden  sind, 
auch  Gussstätten  sich  nachweisen  liessen.  Wilde  (Catal.  Mus.  Irish  Academy,  p.  91, 
tig.  72 — 74)  berichtet  jedoch  von  mehreren  solcher  Gussformen  und  bildet  .meh  einige 
ab,  welche  in  verschiedenen  Gegenden  Irlands  gefunden  worden  sind,  wo  niemals 
eine  germanische  Bevölkerung  sesshaft  gewesen  ist;  man  wird  daher  wohl  aufhören 
müssen.   Celto   und  Polstäbe   als   specilisch  germanische  Ligeut  bünilichkeiteii  anzusehen 

Herr  Koner:  Ich  will  noch  hinzufügen,  dass,  wenn  man  die  Instrumente  als  Frame» 
erklären  wollte,  es  doch  merkwürdig  wäre,  dass  die  Grössen  derselben  in  su  auffal- 
lender Weise    variiren,    nämlich    von  2"  bis  über   12".     Nuu  sind  aber  auch  bei  den 


352 

cohesten  Völkern  die  Lanzenspitzen  stets  von  fast  übereinstimmender  Länge,  und 
wäre  solche  variable  Länge  bei  der  Framea  doch  wunderbar.  Dass  diese  Instrumente 
aber  als  Waffe  ungeeignet  sind,  beweist  ein  solches  in  den  römischen  Alterthümern 
unseres  Museums  befindliches,  bei  dem  die  sogenannten  Federn  oder  aufwärts  gebo- 
genen Kanten  sich  bis  zur  Schneide  fortsetzen,  so  dass  man  das  Instrument  mit  einem 
sehr  flachen  Hohlmeissel  vergleichen  könnte.  Dieses  Instrument  kann  unmöglich  als 
Waffe  angesehen  werden,  da  ein  tieferes  Eindringen  in  einen  Körper  vermöge  eines 
Stosses  oder  Wurfes  eben  durch  die  Kanten  verhindert  wird. 

Herr  Hartmann:  Ich  will  nunmehr  noch  einmal  kurz  darauf  aufmerksam  machen, 
dass  die  Form,  welche  Herr  von  Co  hausen  beschrieben  hat,  die  eines  gewöhnlichen 
Instrumentes  vieler  Afrikaner  ist,  und  dass  letzteres  auch  bei  den  Malaien,  wie  Herr 
Ja  gor  uns  mitgetheilt  hat,  in  ganz  ähnlicher  Form  vorkomme.  Diese  Instrumente 
gebraucht  man  in  Afrika,  um  den  Boden  zu  beackern,  um  Holz  zu  fällen,  die  zur 
Korbflechterei  dienende  Rinde  der  Akazien  u.  s.  w.  abzuschälen,  um  grössere  Thiere 
zu  tödten;  man  bedient  sich  ihrer  aber  auch  wie  der  Streitäxte  im  Kampfe.  Diese 
Eisen  sind  häufig  nicht  lang  und  ihre  Tülle  ist  immer  nur  eng;  der  knieförmig  ge- 
bogene Schaft  wird  in  die  Tülle  gesteckt  und  das  Eisen  oftmals  noch  mit  Leder, 
Strickwerk,  Bast  u.  s.  w.  am  Schafte  befestigt.  Manchmal  hat  aber  das  Eisen  hinten 
noch  einen  Dorn,  der  in  den  Schaft  selbst  eingefügt  wird.  — 

Herr  Virchow  spricht  über 
Lagerstätten  aus  der  Steinzeit  in  der  oberen  Havel-Gegend  und  in  der  Nieder-Lausitz. 

Im  Februar  d.  J.  erhielt  ich  von  Hrn.  Niessing  in  Zehdenick  die  Nachricht, 
dass  in  der  Nähe  dieser  Stadt,  nicht  weit  von  der  Mecklenburger  Grenze,  seit  eini- 
gen Jahren  zahlreiche  kleine  Feldstein-Haufen,  vom  Winde  blossgelegt,  zu  Tage  trä- 
ten, welche  in  ihrer  Mitte  eine  Anhäufung  von  Holzasche,  Russ  und  Kohle  enthiel- 
ten, während  sich  „zwischen  diesen  Feuerheerden  eine  Menge  Splitter  von  dort 
nicht  häufigen  Feuersteinen,  sowie  mannichfaltige  Bruchstücke  von  Thongefässen 
fänden".  Hr.  Niessing,  der  die  Bedeutung  dieses  Fundes  vollständig  erkannte, 
hatte  mir  verschiedene  der  gefundenen  Sachen  mitgeschickt,  darunter  insbesondere 
eine  ausgezeichnete  Sammlung  von  sogen.  Feuerstein-Spähnen ,  oder  wie  Manche  ge 
radezu  sagen,  Messern,  sowie  einen  zerbrochenen  Streithammer  von  schön  polirtem 
Stein  und  Scherben  von  groben,  vollständig  schmucklosen  Thongefässen. 

Diese  merkwürdige  Mittheilung,  namentlich  aber  die  sehr  charakteristische  Be- 
schaffenheit der  Fundgegenstände  veranlassten  mich,  die  betreffende  Oertlichkeit  wäh- 
rend der  letzten  Oster-Ferien  selbst  in  Augenschein  zu  nehmen,  und  ich  muss  in  der 
Tliat  sagen,  dass  sie  zu  den  wunderbarsten  gehört,  welche  ich  in  dieser  Art  gesehen 
habe.     Ich  werde  versuchen,  dieselbe  etwas  genauer  zu  beschreiben. 

Nicht  fern  von  ihrem  Ursprünge  verlässt  die  Havel  das  Gebiet  des  Grossherzog- 
thums  Mecklenburg-Strelitz,  und  nachdem  sie  einen  langgestreckten,  schönen  Grenz- 
see, den  W'entow,  durchströmt  hat,  tritt  sie  mit  einer  fast  rechtwinkligen  Biegung 
nach  Süden  in  die  Mark  Brandenburg  ein.  Ringsumher  erstreckt,  sich  ein  noch  jetzt 
sehr  ausgedehntes  Waldgebiet,  welches  nur  auf  dem  rechten  Ufer  des  Flusses  mehr 
gelichtet  worden  ist,  sich  aber  nach  Norden  und  Osten  hin  meilenweit  fortsetzt.  Es 
sind  dies  alte,  berühmte  Jagdgründe,  welche  in  älteren  Urkunden  viel  genannt  wer- 
den. Hier  lag  die  Silva  Besunt,  wahrscheinlich  vom  Wisent  so  genannt,  und  daran 
schloSS  sieb  die  grosse  Merica  Werbelin  mit  der  noch  jetzt  erhalteneu  Grimnitz,  wo 
die  alten  Markgrafen  verschiedene  Jagdschlösser  hatten.  Es  lässt  sich  daher  wohl 
nicht    bezweifeln,  dass  die  ganze  Gegend  noch  bis  in  späte  Zeiten  hiueiu  Wald  war. 


353 

Ich  möchte  zugleich  darauf  aufmerksam  machen,  dass  nach  der  Beschreibung  der 
karolingischen  Schriftsteller  in  der  Zeit,  wo  sich  zuerst  das  I'unkel  der  Ethnographie 
dieser  Gegenden  lichtet,  hier  ein  slavisches  Volk,  die  Linoneo  (Linones,  Lini.  Lino- 
ges,  Linai),  wohnte,  ein  Volk,  das  auffallender  Weise  bis  jetzt  die  Aufmerksamkeit 
der  Korseber  weniger  gefesselt  hat,  obwohl  die  Dörfer  Linow  und  Linum,  welches 
letztere  durch  sein  grosses  Torfmoor  berühmt  ist,  den  Namen  erhalten  zu  haben 
scheinen.  Seine  Wohnsitze  erstreckten  sich  bis  an  die  Grenze  der  Morizauer  (am 
Müritz-See   im  heutigen  Mecklenburg). 

In  geringer  Entfernung  abwärts  von  der  erwähnten  südlichen  Biegung  der  Havel 
liegt  auf  dem  rechten  Ufer  derselben,  umgeben  von  der  Zehdenicker  Forst,  ein  klei- 
ner Ort,  der  den  auffälligen  Namen  „Burgwall"  führt.  Da  meine  Zeit  sehr  kurz 
war,  so  habe  ich  ihn  nicht  besucht,  zumal  da  die  mich  begleitenden  Herren  nicht 
wussten,  ob  daselbst  wirklich  ein  Burgwall  sei.  Indess  versprachen  sie  genauere  Nach- 
suchungen. 

Etwas  unterhalb  von  ßurgwall,  am  andern  Ufer  des  hier  schon  ziemlich  breiten 
Stromes,  in  der  Nähe  der  Dörfer  Ribbeck  und  Mildenberg  liegt  ein  Platz,  welcher 
den  Namen  „Jägerlake"  trägt.  Es  ist  ein  niedriges  Hügelwerk  aus  losem  Flug- 
sand, ganz  ähnlich  den  an  so  vielen  Stellen  unserer  Provinz  vorhandenen  Dünen- 
zügen.  Eine  kümmerliche  Grasnarbe  und  wenige  Sträucher  bedecken  die  Oberfläche 
der  noch  stehen  gebliebenen  Stellen,  deren  Höhe  über  dem  festen  Boden  durchschnitt- 
lich 4 — 8  Fuss  betragen  mag.  Nach  Süden  und  Westen  ist  der  Dünenzug  von  aus- 
gedehnten Wiesen  und  Mooren  umgeben,  die  sich  bis  Zehdenick  erstrecken  und  die 
wahrscheinlich  in  früherer  Zeit  ganz  unter  Wasser  standen.  Bis  vor  einigen  Jahren 
war  der  Dünenzug  unversehrt  geblieben.  Damals  entstand  jedoch  in  Folge  eines 
Dorfbraudes  ein  grösserer  Bedarf  an  Mauersand,  und  die  Leute  begannen  an  verschie- 
denen Stellen  der  Hügel  Löcher  zu  machen  und  Sand  zu  graben.  Die  Löcher  wur- 
den sehr  bald  durch  den  Wind  vergrössert,  so  dass  gegenwärtig  ein  grosser  Theil 
der  früheren  Hügel  gänzlich  verschwunden  ist.  In  dem  Masse,  als  der  Sand  weg- 
gefegt wurde,  trat  eine  grosse  Menge  von  Steinhaufen  zu  Tage,  in  der  Regel  von 
flach  konischer  Gestalt,  jedoch  von  geringer  Höhe.  An  einzelnen  Stellen  lagen  sie 
ausserordentlich  dicht.  Ich  habe  in  einem  Viereck,  welches  3  Seiten  zu  22  Schritt, 
die  vierte  Seite  zu  11  Schritt  hatte,  27  solcher  Haufen  gezählt.  An  anderen  Stellen 
waren  grössere  Entfernungen  dazwischen,  doch  lagen  sie  meist  gruppenweise.  Die 
vom  Winde  blossgelegte  Strecke  betrug  etwa  280  Fuss  in  der  Länge  (parallel  dem 
Havel-Ufer)  und  110  in  der  grössten  Breite.  In  der  Regel  bildeten  die  Haufen  kleine, 
1 '/a  —  2'/2  Fuss  hohe,  an  der  Basis  2  —  3  Fuss  im  Durchmesser  haltende  Pyramiden 
aus  geschlagenen  Steinen,  meist  Granit,  Gneiss  und  anderen  erratischen  Geschieben. 
Warf  man  die  Steine  auseinander,  so  zeigten  sich  die  Zwischenräume  mit  Kohlen- 
resten und  schwarzer,  kohliger  Erde  ausgefüllt.  Die  Steine  erwiesen  sich  vielfach 
gebrannt.  Ueberall  zwischen  diesen  Haufen,  wo  der  Wind  kleine  Thäler  gebildet 
hatte,  waren  Feuersteinsplitter  in  grosser  Zahl  aufgehäuft,  meist  jene  dünnen,  langen, 
scharfen,  messerartigen  Spähne  von  l'/3— 2  Zoll  Länge,  viele  jedoch  auch  beträcht- 
lich kleiner,  fast  alle  mit  einer  breiteren  Fläche  und  einem  bald  scharfen,  bald  ab- 
gestumpftem Rücken,  so  dass  ihr  Querschnitt  entweder  drei-  oder  viereckig  war. 
Einzelne  breitere,  mehr  blatt-  oder  zungenförmige  Stücke  und  eine  gewisse  Zahl  so- 
genannter Nuclei  mit  langen,  parallelen  Absplitterungsflächen  fehlten  nicht.  Der  Feuer- 
stein war  überwiegend  hellgrau,  manche  Stücke  schwärzlich,  wenige  gelb-  oder  roth- 
braun. Von  solchen  geschlageneu  Steinen  konnte  ich  in  kürzester  Zeitfrist  eine  be- 
trächtliche Zahl  sammeln. '  Ausserdem  fand  einer  meiner  Söhne  auch  ein  Stück  von 
iener   zerbrocheneu,   grob   polirteu  Streitaxt,    sowie  einen  glatten,   wetzsteiuförrnigen, 

Zeitschrift   für  Ethnologie,  Jahrgang  1S50.  24 


3.r>4 

schmäler  bearbeiteten  Sandstein  von  4  Zoll  Länge.  In  weit  geringerer  Menge  trafen 
wir  Scherben  von  äusserst  rohem  Topfgeschirr  aus  der  bekannten  Mischung  von  Thon 
mit  Quarz  und  Feldspath.  Die  Mehrzahl  derselben  war  schwärzlieh,  wenigstens  auf 
•  lein  Bruch;  ihre  äusseren  Flächen  zeigten  sich  öfter  durch  Brand  geröthet.  Manche 
waren  sehr  dick,  die  .Menrzahl  jedoch  verhältuissinässig  dünn.  Nirgends,  auch  nicht 
an  den  sehr  einfach  auslaufenden  Randstücken  fand  sich  eine  Spur  von  Verzierung 
oder  Glätte.  Einzelne  festere,  schwarzgraue  Stücke  schienen  einer  späteren  Periode 
anzugehören. 

In  verhältuissinässig  geringer  Menge  zeigten  sich  gebrannte  Knochen  und  ge- 
brannte geschlagene  Feuersteine,  erstere  zerschlagen  und  in  so  kleineu  Bruchstücken, 
dass  ihre  Bestimmung  mir  nicht  möglich  war.  Es  schienen  mir  Thierknochen  zu 
sein.  Dagegen  gab  es  ziemlich  beträchtliche  Stellen  in  der  Nähe,  wenngleich  ausser- 
halb des  eigentlichen  Pyramiden-Gebietes,  wo  beim  Aufgraben  ganze  Kohlen-Heerde 
blossgelegi  wurden.  Fs  war  durchweg  Coniferen  -  Kohle,  wahrscheinlich  von  Pinus 
sylvestris,  welche  in  Schichten  von  ';■  Fuss  und  darüber  aufgehäuft  war.  Grössere 
Stücke  von  1-1',.,  Zoll  Dicke  und  2  —  3  Zoll  Länge  waren  nicht  selten.  Endlich 
fanden  wir.  und  das  ist  dasjenige,  was  einige  Zweifel  über  das  Alter  der  Lagersteile 
erregen  kann,  ein  paar  kleinere  Schlackenstücke,  die  offenbar  von  reisen  herrühr- 
ten. Da  hier  und  da  kleine,  braune,  röhrenförmige  Körper  in  dem  Sande  steckten, 
die  auf  den  ersten  Blick  wie  versteinerte  Räucherkerzchen  aussahen,  und  wohl  Aus- 
scheidungen von  Eisen  auf  verwitternden  Prlanzenwurzeln  siud,  so  darf  man  anneh- 
men, dass  das  Erdreich  ziemlich  eisenhaltig  ist,  und  es  erscheint  nicht  nöthig,  zumal 
bei  der  geringen  Zahl  und  Grösse  der  Schlacken,  zu  weitgreifeuden  Schlussfolgerun- 
gen zu  greifen. 

In  der  Nähe  dieses  Ortes,  aber  keineswegs  in  Verbindung  damit,  ist  früher  eine 
grosse,  schön  polirte  Axt  von  hellbrauuem  F'euersteiu  gefunden,  von  der  es  dahin 
gestellt  bleiben  muss,  ob  sie  für  die  vorliegende  Frage  irgend  eine  Bedeutung  hat. 
Ich  habe  dieselbe  mitgebracht. 

Ueber  die  ursprüngliche  Situation  der  einzelnen  F'undstüeke  bin  ich  nicht  in  der 
Lage  etwas  angeben  zu  können,  weil  sich  bei  unserer  Nachgrabung  keine  Stelle  fand, 
welche  den  Eindruck  der  Integrität  machte.  Nur  gewisse  Stellen,  au  denen  über- 
wiegend Kohle  oder  kohlige  Erde  ohne  Steine  und  ohne  anderweitige  Einschlüsse  vorhan- 
den war.  machten  den  Eindruck,  als  ob  eine  nach  unten  zu  sich  allmählich  in  eine 
Spitze  zuziehende  Grube  vorhanden  gewesen  sein  müsse,  welche  durch  Zusammen- 
sinken der  Ränder  ausgefüllt  worden  sei;  ein  Durchschnitt  ergab  in  der  Regel  die 
Gestalt  eines  mit  der  Spitze  nach  unten  gerichteten  Kegels  von  kohliger  Erde, 
durchsetzt  von  weissen  oder  röthlichen  Sandschichten.  Ich  kann  aber  nicht  sagen, 
ob  in  gleicher  Weise  auch  die  Steinpyramiden  zu  erklären  sind,  denn  ich  war  nicht 
so  glücklich,  irgeudwo  einen  noch  mit  Sand  umhüllten  Steinhaufen  zu  treffen.  Immer- 
hin könnte  man  sieh  denken,  dass  es  kleine  Heerde  in  Erdlöchern  gewesen  seien. 
In  der  That  ist  kaum  eine  andere  Erklärung  möglich,  als  dass  man  Löcher  grub,  in 
denselben  kleiue  Feuer- Heerde  anlegte,  auf  denen  das  erbeutete  Wild  zubereitet 
wurde,  während  man  daneben  die  Feuersteine  schlug  und  die  Werkzeuge  herrichtete. 
Vielleicht  darf  man  auch  annehmen,  dass  die  Feuersteine  in  dem  Feuer  zum  Schla- 
gen vorbereitet  wurdeu. 

Jedenfalls   ist   die    Sache   deshalb    von    besonderem   Interesse,    weil    nur  äusserst 
wenige   Lokalitäten    in    unserem  Vaterlande    bekannt   sind,    wo  so  wenig  Material  ge- 
funden ist  und   wo  die  gaDze   Linrichtung  so  sehr  den  Eindruck  der  Rohheit  macht 
Wenn  man  erwägt,  dass  Eisenschlacken  in  wenigen  und  ganz  kleinen  Exempla- 
ren gefuudeu  wordeu  sind,  so  scheint  es  mir  mindestens  sehr  zweifelhaft,  ob  man  sie 


355 

derselben  Bevölkerung  zuschreiben  darf,   von   welcher  die  übrigen  Sachen   berstaj 
Bis  jetzt  habe  ich  wenigstens  noch  keine  Kunde  davon,   dass  in  einer  Zeit,  wo  man 
schon  Eisen   zubereitete,    noch    in   so   gn  sser    Masse    Feuersteine   geschlagen    worden 
wären.      L>   scheint   mir  daher   wahrscheinlich    zu    sein,    dass   diese   Schlacken   einer 
späteren  Zeit  angehören,  oder  dass  sie  zufällig  hei  dem   Brande  entstanden  sind. 

Für  die  Feststellung  der  Zeit,  in  welche  ias  Lager  auf  der  Jägerlake  zu  setzen 
ist,  haben  die  Steinsachen  offenbai  eine  entscheidende  Bedeutung.  Die  grosse  Zahl 
von  Feuersteinspähnen  uud  von  Nuclei  beweist,  dass  hier  eine  Werkstatt«  für  die  Be- 
reitung von  Stein  eiät.li  war.  Die  beiden  polirten,  aber  zerbrochene!  ;  ixte  zei- 
gen, dass  man  in  der  Kunst  d<  r  Glättung  solcher  Waffen  schon  sehr  vorgeschritten  war. 
Das  eine,  voii  meinem  Snluie  Lm>t  eoiundene  Stück  ist  freilich  ziemlich  roh;  e  hat 
eine  plan-convexe  Gestalt  und  nur  die  Schneide  und  die  convexe  Fläche  sind  wirk- 
lich geschliffen.  Vielleicht  ist  es  auch  nicht  weiter  bearbeitet,  weil  es  zerbrach.  Das 
andere,  von  lim.  Niessing  gesammelte  Stück  dagegen  ist  von  grosser  Vollendung. 
Ls  ist  eine  I  Zoll  lauge,  sehr  schön  polirte  Axt  mit  scharfer  und  regelmässig  gerun- 
deter Schneide.  Letztere  ist  I  :  ..  Zoll  breit,  während  der  Körper  der  Axt  nur  1,  das 
hintere  Ende  nur  -\ ..  Zoll  Breite  hat.  Die  grösste  Dicke  beträgt  in  der  Mitte  1,  am 
hinteren  Ende  etwas  über  \,  Zoll.  Sämmtliche  Flächen  siud  abgerundet,  und  zwar 
die  beiden  breiten  Seitenflächen  convex,  die  beiden  schmalen  Seiten-  und  die  End- 
fläche flach-concav,  und  zwar  mit  schart'  vorspringenden  Begrenzungslinien.  Ls  ent- 
steht so  eine  überaus  gefällige,  um  nicht  zu  sagen,  zierliche  Form.  Das  übrigens 
gauz  solide  Werkzeug  ist  l1/;  Zoll  vor  dem  hinteren  (dünneren)  Ende  durch  einen 
splitterigen  Querbruch  in  zwei  Stücke  zertheilt.  Beide  Steinäxte  bestehen  nach  der 
Bestimmung  des  Herru  Kunth  aus  sehr  dichtem  Diorit. 

Bald  nachher  kam  ich  nach  Görlitz  und  war  nicht  wenig  überrascht,  in  di  i 
Sammlung  der  dortigen  gelehrten  Gesellschaft  eiue  ziemlich  beträchtliche  Auswahl 
von  allerlei  Alt- Sachen  zu  finden,  welche  die  äusserste  Aehnlichkeit  mit  dem  dar- 
boten, was  ich  aus  Zehdenick  mitgebracht  hatte.  Diese  Sachen  stammten  aus  der 
Niederlausitz  und  zwar  aus  der  Nähe  von  Golssen  von  einer  einzigen  Fundstelle, 
welche  Hr.  Apotheker  Schumann  seit  Jahren  sorgsam  überwacht  hatte.  Dieser 
eifrige  Lorscher  hat  eine  grössere  Reihe  von  Nachrichten  über  seine  Funde  in  dem 
Organ  der  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Görlitz1)  veröffentlicht,  auch  einen 
übersichtlichen  Bericht  darüber  in  den  .Mittheiluiigeu  des  thüringisch-sächsischen  Alter- 
thums- Vereins**)  niedergelegt.  In  Folge  dieser  Erfahrung  nahm  ich  kürzlich  Ver- 
anlassung, mit  Hrn.  Dr.  Voss  diese  Lokalität  aufzusuchen,  uud  ich  habe  mit  einiger 
Ueberraschung  gesehen,  dass  in  der  That  in  vieler  Beziehuug  ähnliche  Verhältnisse 
wie  auf  der  Jägerlake  vorliegen. 

Auch  in  Golssen  handelt  es  sich  um  eine  grosse  Sanddüne.  Dieselbe  stösst  un 
mittelbar  an  ein  weites  Torf-  und  Wiesenbruch,  aas  mit  der  Dahuie,  einem  kleinen 
Nebenflüsschen  der  Spree,  in  Verbindung  steht  und  offenbar  ein  grosses  alte-  -  . 
hecken  darstellt.  Die  Düne,  auf  welcher  die  Mehrzahl  der  Sachen  gefunden  ist, 
schliesst  sich  gegen  Osten  au  einen  Waldconiplex,  welcher  den  Namen  Geh  mutz 
trägt;  sie  selbst  hat  den  Namen  der  Rauchen  oder  rauhen  Berge.  Von  da  führt 
ein  Weg  über  das  Moor  zu  dem  „  K  i  rc  hhors  t " ,  also  zu  einer  Lokalität,  welche 
wahrscheinlich   schon    in   heidnischer  Zeit  eine  Bedeutung  gehabt  bat.     Di.    Rauche u- 

*    Neues  Lausitzisches  Magazin.     1843,  Bd.  21,  s    :M4.     1*46,  Bd.  23,  s.  127,  Taf.  I.  II 
I8äö,   Bit    32,  S.   83. 

* ')  Neue  Mittheiiuugen  uns   dem  (iebiet   liistor.-autiqiiarisehei    Forschungen.     Balle  1846 
Bd.  VIII.  Heft  2,  S.  21.  158. 

V4' 


356 

berge  bilden  die  letzten  Ausläufer,  gewissermassen  das  Vorgebirge  eines  '/s  Stunde 
langen  Dünenzuges,  welcher  sich  von  Osten  her,  von  einer  „die  Pforte"  genannten 
Stelle  aus  in  das  Moor  hinein  erstreckt.  Auch  hier,  wie  auf  der  Jägerlake,  ist  durch 
den  Wind  allmählich  ein  grosser  Theil  der  Düne  aufgeräumt  worden.  Allerdings 
scheinen  sich  nicht  in  der  vorhin  geschilderten  Regelmässigkeit  Kegelhaufen  von 
Steinen  gefunden  zu  haben;  indess  erwähnt  Hr.  Schumann*),  dass  im  Umfange 
der  Düne  von  ihm  Brandstellen  mit  Kohle  auf  zusammengehäuften  oder  gepflasterten, 
in  starkem  Feuer  gewesenen  Steinen  in  einer  Tiefe  von  l'/j — 2  Fuss  beobachtet  seien. 
Im  Uebrigen  waren  allerlei  Gegenstände  vorhanden,  namentlich  eine  grosse  Menge 
von  geschlagenen  Feuersteinen,  rem  denen  ich  selbst  zahlreiche  messerartige  Spähne 
und  Nuclei  sammelte.  Das  Interessanteste  an  dem  Golssener  Funde  aber  ist,  dass 
Hr.  Schumann  in  früherer  Zeit  an  einer  bestimmten  Stelle  der  Düne  ein  Häufchen 
von  Feuerstein-Pfeilspitzen  aufgenommen  hat,  welche  in  der  That  zu  den  vorzüglich- 
sten gehören,  die  ich  aus  unserer  Gegend  gesehen  habe.  Es  sind  4  grössere  von 
1j.i — 3/4  Zoll  Länge,  unpplirt,  mit  zahlreichen  feinen  Schlagmarken,  am  hinteren  Ende 
ausgerandet,  und  2  kleinere.  Dazu  kommt  ein  fast  2  Zoll  langes  und  über  ll2  Zoll 
breites  Bruchstück  von  einer  blattartigen  Lanzenspitze  aus  Feuerstein,  und  ein  paar 
grössere  plattrundliche  Steine  mit  eigenthümlicher  dreiflächiger  Zuschleifung  auf  bei- 
den Flächen,  endlich  ein  Sandstein  mit  Rinnen,  welche  aussehen,  wie  wenn  sie  zum 
Schleifen  benutzt  worden  wären. 

Wir  selbst  waren  nicht  glücklich  im  Finden  feiuer  bearbeiteter  Steine,  weil  einer- 
seits der  Sand  längst  verweht  ist,  andrerseits  seit  30  Jahren  Alles  mit  grosser  Sorg- 
falt von  Hrn.  Schumann  gesammelt  worden  ist.  Wir  fanden  ausser  den  erwähnten 
Feuerstein-Spähnen  nur  grobe  Bruchstücke  von  Thon  -  Gefässen ,  einzelne  Knochen- 
fragmente, kleine  Kohlenstücke  und  mit  Asche  gemischte  humose  Erde.  Es  zeigte 
sich,  dass  fast  durchweg  über  einer  dicken  Schicht  rothen  Sandes  eine  verschieden 
starke  Lage  torfiger  Erde  folgt,  welche  von  weissem  Flugsande  überwellt  ist.  Die 
Kohlen  reichen  nirgends  bis  über  die  torfige  Lage  hinab.  Hr.  Schumann  selbst 
hat  jedoch  alle  möglichen  Dinge  gesammelt,  welche  anzeigen,  dass  sich  hier  offenbar 
nach  und  nach  vielerlei  Leute  aufgehalten  haben  müssen.  Er  hat  im  Innern  der 
Düne  Bronze,  eiserne  Geräthe  und  zwar  z  Th.  ziemlich  moderne,  Schlacken  und 
Urnenscherben,  in  den  äusseren  Abschnitten  zwei  ovale  Mahlsteine  aus  Granit,  einen 
Steinkeil,  einen  Schleifstein,  eine  eiserne  Pfeilspitze  u.  s.  w.  gesammelt.  Ausserdem 
führte  uns  Hr.  Schumann  an  der  nördlichen  Seite  der  Düne  zu  einer  Stelle  des 
alten  See -Ufers,  wo  er  eine  bronzene  Sichel  gefunden  hatte;  wir  trafen  auch  hier 
Kohleustellen,  zahlreiche  Urnenscherben,  und  meine  Tochter  hob  ein  Stück  einer  ge- 
bogenen Bronzeplatte  auf,  das  von  einem  zerbrochenen  Armringe  herzustammen  schien. 
Auch  an  einigen  anderen  Stellen  des  südlichen  Randes  der  Gehmlitz  kamen  wir  auf 
angebrochene  Dünen,  in  denen  Feuersteinspähne  und  Urnenscherben  in  grösserer  Zahl 
zerstreut  lagen.  Hr.  Schumann  besitzt  ausserdem  von  den  Aussenwerken  sehr 
schöne  und  zum  Theil  sehr  grosse  farbige  und  bunte  Thonwirtel,  Glaskorallen  und 
Glasperlen,  manche  halb  oder  ganz  geschmolzen,  andere  noch  gut  erhalten. 

Leider  ist  ein  grosser  Theil  dieser  schönen  Sachen  gesammelt  worden  unter  Ver- 
hältnissen, wo  von  Genauigkeit  in  Beziehung  auf  die  Lagerung  nicht  die  Rede  war; 
das  Meiste  ist  nicht  durch  regelmässige  Aufgrabung  gewonnen,  sondern  wie  der 
Wind  es  blossgolegt  hatte.  Nichtsdestoweniger  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  die 
beiden  von  mir  beschriebeneu  Stellen  in  vielfacher  Beziehung  übereinstimmen,  und 
ich    habe    mich    deshalb    beeilt,    auf  diese  Fundstellen    aufmerksam    zu  machen.     Die 


*)  Thüringisch-sächsische  neue  Ifittheilungen  Bd.  VIII,  lieft  2,  S.  24. 


357 

Aehnlichkeit  dieser  beiden  Orte  mit  manchen  anderen  Dünenzügen  unseres  Landes 
führt  auf  die  Vennnthung,  dass  auch  audei'Bwo  ähnliche  Funde  gemacht  werden  könn- 
ten. In  Rügen,  namentlich  an  der  Lietzowcr  fähre  und  auf  den  Banzel witzer  Ber- 
gen am  Jasmunder  Budden  habe  ich  selbst  ganz  ähnliche  Stellen,  auf  welche  mich 
Hr.  Rosenberg  aufmerksam  gemacht  hatte,  besacht:  alte  Feuerstein -Werkstätten, 
in  deren  Nähe  Kohlenstellen  mit  Uruenscherben,  auch  Gräberreste  vorkommen.  Da 
nun  dünenartige  Bildungen  bei  uns  im  Lande  vierfach  vorhanden  sind,  so  dürfte  es 
sich   wohl  der  Mühe  verlohnen,  die  Aufmerksamkeit  auf  dieselben  zu  lenken. 

Ich  erwähnte  vorhin,  dass  auf  den  rauhen  Bergen  zwei  Steine  mit  dreiflächiger 
Abschleifung  ihrer  beiden  convexen  Oberflächen  gefunden  worden  sind,  welche  den 
Anschein  einer  künstlichen  Zurichtung  an  sich  tragen.  Aehidiche  Steine  sind  in  je- 
ner (legend  ziemlich  häufig.  Die  Sammlung  der  Görlitzer  naturforschenden  Gesell- 
schaft besitzt  deren  eine  grössere  Zahl.  Auch  unser  Museum  hat  vor  einiger  Zeit 
durch  unser  Mitglied  Hrn.  Friedel  ein  paar  dergleichen  Steine  von  der  Insel  Sylt 
bekommen.  Wir  fanden  ein  Paar  ziemlich  grosse  ganz  zufällig,  als  wir  einen  frisch 
aufgeschütteten  Landweg  in  der  Nähe  von  Golssen  verfolgten,  um  die  dortige  alte 
„Landwehr",  den  Rest  eines  früher  sehr  ausgedehnten  Erdwalles*),  aufzusuchen.  Die 
aufgeschüttete  Erde  war  nach  der  Angabe  des  Hrn.  Schumann  von  dem  durch  ein 
altes  Gräberfeld  und  verschiedene  andere  Funde,  darunter  auch  eine  römische  Münze, 
ausgezeichneten  Sagritzer  Berge  angefahren.  Die  uns  interessirenden  Steine  bestehen 
aus  rothem  Quarzit,  und  namentlich  der  eine  von  ihnen  ist  von  grosser  Regelmässig- 
keil,  indem  er  auf  jeder  Seite  3  glatte  oder  flachruudliche  Flächen  mit  zum  Theil  ganz 
scharfkantiger  Begrenzung  trägt.  Er  ist  im  Grossen  herzförmig,  4  Zoll  lang,  3'/a 
Zoll  im  grössteu  Querdurchmesser  breit  und  von  der  einen  seitlichen  Zuspitzung  bis 
zur  anderen  2  Zoll  dick. 


Die  andern  Steine  dieser  Art,  welche  ich  gesehen  habe,  waren  in  der  Mehrzahl 
kleiner,  zeigten  aber  zum  Theil  noch  schärfere  Flächen.  Letztere  stimmen  so  wenig 
mit  irgend  einer  bekannten,  sei  es  krystallinischen .  sei  es  oryctognostischen  Form 
überein,  dass  ich  vorläufig  wenigstens  die  Meinung  aussprechen  muss,  dass  es  sich 
um  eine  künstliche  Zuschleifung  handelt.  Ich  habe  von  derselben  Stelle  einen  rohen 
Stein   mitgebracht,    der  im  Grossen   dieselben  Flächen    und   zum   Theil   auch   scharfe 


*)  Schumann,  Neues  Lausitzisches  Magazin  1843,  Bd.  21,  S.  375. 


358 

Konten  besitzt,  nur  Alles  unregelmässiger;  wenn  ein  solcher  Stein  noch  ein  wenig 
bearbeitet  wird,  so  ist  es  gewiss  leicht,  ihm  die  beschriebene  Gestalt  zu  geben.  Es 
ist  daher  leicht  denkbar,  dass  man  ein  präexi  stiren  des  natürliches  Verhältnis  benutzt 
hat.  Da  diese  Können  noch  nicht  besprochen  zu  sein  seheinen,  so  möchte  ich 
sie  der  Aufmerksamkeit  sowohl  unserer  Mineralogen  als  Archäologen  empfehlen 
Stellt  man  sich  vor,  dass  eine  künstliche  Zubereitung  stattgefunden  hat,  so  liegt  der 
Gedauke  nahe,  dass  diese  Steine  bestimmt  gewesen  sind  zum  Glatten  oder  Poliren. 
Um  als  blosse  Schleudern  zu  dienen,  dazu  scheint  die  Arbeit  zu  schwierig  zu  sein, 
falls  überhaupt  eine  Arbeit  daran  ist,  dagegen  lässt  sich  bei  der  Gestalt  der  Steine 
der  Gedanke  nicht  zurückweisen,   dass  sie  zum  Poliren  gedient  haben. 

Herr  Reinhardt:  Ich  will  nicht  versäumen,  auf  eine  andere  Lokalität  in  unserer 
Nähe  aufmerksam  zu  machen,  an  welcher  sich  ebenfalls  rohe  Feuerstein -Sachen 
Hilden :  das  sind  die  .lahnberge  bei  Nauen.  ich  hatte  neulich  Gelegenheit,  mit  Hrn. 
Friede!  eine  Excursion  dahin  zu  machen,  wo  wir  sie  ganz  in  derselben  Weise,  wie 
der  Vortragende  es  beschrieben  hat,  antrafen.  Die  Jahnberge  machen  gleichfalls  den 
Eindruck  einer  Düne;  sie  sind  bewaldet,  aber  die  oberste  Schicht  ist  abgeweht.  An 
einer  Stelle  lagen  bearbeitete  und  auch  Stücke  von  gebraunten  Feuersteinen.  Auch 
rohe  Urnei'stücke  habe  ich  dort  gefunden.  Es  ist  übrigens  in  der  Nähe  noch  eine 
zweite  Lokalität,  nehmlich  die  Ritsche  bei  Paulinenaue.  wo  sich  auf  einem  ähn- 
lichen  Haufen  dieselben  Sachen  wiederholen. 

Herr  Virchow:  ich  habe  noch  zu  erwähnen,  dass  Hr.  \.  Dücker  in  einem  Briefe 
d.  d.  fsfimptsch,  2.  Juni,  auf  eine  analoge  Stelle  aufmerksam  macht.  Er  berichtet,  dass  er 
im  Kreise  Nimptsch  au  den  Ufern  des  Lohe-Haches  bei  Trebnig,  Jordansmühle  und  Biseh- 
kowitz  „sehr  ausgedehnte  Lagerplätze,  aller  wilder  Menschen  gefunden  habe  Die  Plätze 
charakterisiren  sich  durch  ungeheure  Aschenmassen,  welche  den  Boden  weithin  graufarben 
und  durch  häutig  darir  liegende  Scherben  rohester  Töpferwaare,  wie  auch  durch  Knochen- 
icste.  Werkzeuge  finden  sich  ausserordentlich  selten.  Au  den  bezeichneten  Stellen  konnte 
i.h  von  solchen  nur  einen  Mühlstein  von  16  Zoll  Durchmesser  und  eine  bearbeitete 
Hirscbhornzacke  erkennen.  Die  Töpferwaare,  zuweileu  mit  Strichen  verziert,  stimmt 
genau  mit  derjenigen  der  Seestationen  (stations  lacustres)  überein,  welche  ich  zu 
Potzloh,  Komgswalde,  Saarow,  Fürstensee  und  auf  Rügen  gefunden  habe.  Das  ganze 
Vorkommen  stimmt  überhaupt  mit  dein  dortigen  genau  überein  und  stammt  aus  roher 
Steinzeit,  speciell  anscheinend  aus  der  Pfahl bauperiode.  Die  Dicke  der  Massen  fand 
ich  bei  Trebnig  1 — 2'/a  Fuss  unter  der  Ackererde.  Bei  Jordansmühle  fanden  sich 
die   Beste  bis  zu   12  Fuss  tief  in  einer  torfigeu  Sumpfausfüllung." 

FiS  sind  in  dieser  Mittheilung  Widersprüche,  die  nicht  recht  aufzuklären  sind. 
Vi »ii  Feuerstein-Sachen  erwähnt  Hr.  v.  Dücker  gar  nichts;  nichtsdestoweniger  ver- 
legt er  die  Dinge  in  die  Steinzeit.  Die  Ansiedlungeu  von  Potzlow  und  Königswalde, 
welche  ich  seihst  untersucht  habe,  gehören  aber  einer  späten  lMsenzeit  an;  die  Grä- 
ber von  Saarow,  wie  ich  nachgewiesen  habe,  stammen  aus  der  Bronzezeit.  Ich  muss 
mich  daher  enthalten,  zu  entscheiden,  wohin  die  neuen  Fundstellen  zu  rechnen  sind; 
immerhin  scheint  die   Lokalität  werth,  im  Auge  behalten  zu  werden.  - 

Herr  Virchow  berichtet 

über  einen  Besuch  der  westfälischen  Knochenhöhlen. 

Nachdem  ich  schon  einige  Male  die  Wichtigkeit  der  westfälischen  Höhleu  be- 
sprochen und  einzelnes  daraus  in  früheren  Sitzungen  vorgelegt  hatte,  bin  ich  gegen- 
wärtig  in   der    Lage,    aus    persönlicher    Erfahrung    darüber    zu    berichten.     Auf   dem 


3.r)9 

Rückwege  von  Mainz  nahm  ich  zu  Anfang  April  dir;  Gelegenheit  wahr,  einen  Theil 
der  Höhlen  selbst  zu  untersuchen,  und  obwohl  gerade  in  der  letzten  Zeil  di<  Nach- 
richten über  dieselben  sich  geinehrt  haben,  so  kann  ich  doch  das,  was  ich  beob- 
achtet habe,  nicht  für  unerheblich  halten.  Abgesehen  von  den  Mitthei luugeu  des 
Hrn.  v.  Dücker  liegen  namentlich  von  Prof.  Fuhlrott,  dem  Kinder  des  Neandei 
thal-Schädels,  mehrere  Publicationen  vor*).  In  einer  kleinen  ßroehure  i  hat  er  eine 
Skizze  der  kürzlich  im  Lennethal  oberhalb  Betmathe  erschlossenen  Dechen-Höhle,  die 
jetzl  am  meisten  berühmt  ist,  und  eine,  wenn  auch  nicht  täuschend  ähnliche,  so  doch 
immerhin  plastische  Darstellung  einer  der  schönsten  Tropfsteiustellen  derselben  ge- 
liefert. 

Gegenwärtig  ist  der  Gang  der  Reisenden  gewöhnlich  so,  dass  man  sich  zunächst 
zu  der  Dechenhöhle  wendet,  welche  von  der  Bahn  am  Leichtesten  zugänglich   ist  und 

durch    ihre  landschaftliche  Schönheit   in   der  That  den    am    meisten    her' agendeu 

Platz  einnimmt.  Ich  hatte  zufällig  den  umgekehrten  Weg  eingeschlagen,  indem  ich 
von  Werdohl  aus  zuerst  nach  Balve  ging,  und  ich  habe  es  nicht  bereut,  denn  es 
stellte  sieh  heraus,  dass  die  Dechenhöhle  zu  den  am  wenigsten  dankbaren  in  Bezie- 
hung auf  Kunde  gehört,  wenngleich  sie  durch  ihren  Tropfsteinschmuck  sieh  in  so 
wunderbarer  Weise  auszeichnet,  dass  ich  mit  höchstem  Vergnügen  mich  einige  Stunden 
darin  bewegt  habe.  Auch  die  Mehrzahl  der  übrigen  Höhlen,  welche  ich  gesehen 
habe,  namentlich  die  Keldhofshöhle  im  Hönnethal  und  die  Höhlen  von  Sundwig,  sind 
verhältnissmässig  unbequem  für  die  Untersuchung,  weil  an  den  meisten  Theilen  der- 
selben so  viel  Sickerwasser  durchtropft,  dass  noch  gegenwärtig  immer  neue  Absetzun- 
gea  von  Tropfstein-Massen  sich  bilden  und  namentlich  so  dichte  Horizontal-Schich- 
ten  davon  vorhanden  sind,  dass  eine  sehr  erhebliche  Arbeit  nothwendig  ist,  durch 
dieselben  hindurchzukommen. 

In  der  Regel  kommen  diese  horizontalen  Tropfstein-Schichten  mehrfach  vor,  ge- 
trennt durch  losen  Behin.  Gerade  die  Thierüberreste  finden  sich  vorwiegend  in 
den  oberen  Schichten  dieses  Lehms  und  in  den  Tropfstein -Lagen.  f.-  i>t  daher 
schwer,  aus  dieser  Breccie  ein  Stück  vollständig  auszulösen  leb  habe  einen  grossen 
Unterkiefer  vom  Höhlenbären  mitgebracht,  den  wir  in  der  Keldhofs-Höhle  am  Klusen- 
stein  ausgegraben  haben,  aber  es  war  nicht  anders  möglich  ihn  zu  gewinnen  als  in 
Bruchstücken,  die  leider  kein  vorzügliches  Bild  von  seiner  Beschaffenheit  darbieten. 
ludess  kam  es  mir  weniger  darauf  an,  Thierkuochen  zu  erlangen,  als  vielmehr  die 
Krage  von  der  Existenz  des  Menschen  in  den  Höhlen   zu  prüfen. 

Unter  sämmtlichen  Höhlen,  die  ich  besucht  habe,  ist  nur  eine  einzige  trockene; 
das  ist  die  schou  lange  bekannte  prachtvolle  Balver  Höhle  im  oberen  Hönne-Thal. 
Es  finden  sich  darin  sehr  wenige  Stellen,  au  welchen  irgend  ein  Tröpfeln  stattfindet, 
so  dass  man  von  oben  bis  unten  die  fast  trockenen  Schichten  mit  Bequemlichkeit 
durchgraben  kann.  Obwohl  seit  einer  Reihe  vou  Jahren  die  Räumung  dieser  Höhle 
zu  Ackerbau-Zwecken  bewerkstelligt  wird,  indem  daraus  sehr  fruchtbare,  an  phosphor- 
saurem Kalk  und  organischen  Stoffen  reiche  Erde  gewonnen  wird,  und  obwohl  gegen- 
wärtig von  der  überaus  geräumigen  Höhle  in  der  That  der  grössere  Theil  ausgeräumt 
ist,  so  war  ich  doch  insofern  überaus  glücklich,  als  einerseits  durch  diese  Arbeiten 
die  Schichteulage  bis  auf  den  Boden  blossgelegt  ist,  andererseits  in  verschiedenen 
Ecken  es  noch  möglich  war,  selbst  die  obersten  Schichten  uoch  genau  kennen  zu 
lernen. 

*)  C.  Fuhlrott,   die  Höhlen  und  Grotten  in  Rheinland  und  Westfalen.     Iserlohn    is£9    — 
Sendschreiben  in  den  Verhandlungen  des  naturhistorisehen  Verein:  der  Rbeinlande.   1870,  S.  119. 
*•)  Fuhlrott.  Führer  zur  Dechen-Höhle.  Iserlohn  ,'ohne  Jahreszahl). 


360 

Die  Höhle,  deren  mächtiges  Portal  20  Fnss  hoch  und  beinahe  60  Fuss  breit  ist, 
hat  eine  Ticfcnausdehming  von  etwa  200  Fuss;  in  ihrem  hinteren  Abschnitte 
erweitert  sie  sich  in  der  Breite  nicht  unbeträchtlich.  In  den  rJ  heilen,  wo  sie  bis  auf 
den  Boden  ausgeräumt  ist,  beträgt  ihre  Höhe  bis  zu  40  Fuss  und  darüber.  Sie  ist 
daher  wohl  die  grösste  und  trotz  ihrer  Einfachheit  die  imposanteste  Höhle,  welche 
wir  in  Deutschland  besitzen.  Schon  ihr  vorderer  Theil  genügt,  um  Hunderte  von 
Menschen  aufzunehmen.  Noch  vor  f>0  Jahren  war  sie  so  weit  mit  Absätzen  aller  Art 
erfüllt,  dass  die  Decke  kaum  5  Fuss  von  dem  Niveau  der  Ausfüllungsmasse  entfernt 
gewesen  sein  soll.  Der  hintere  Abschnitt  ist  noch  jetzt  zum  grössten  Theil  gefüllt. 
Er  spaltet  sich  in  zwei,  durch  einen  mächtigen  Vorsprang  des  devonischen  Kalksteins 
getrennte,  nach  oben  aufsteigende  Kammern,  durch  welche  wahrscheinlich  früher  Was- 
ser eingetreten  ist.  Diese  Nebenkammern  sind  noch  ziemlich  unberührt,  dagegen  ist 
der  Hauptraum,  namentlich  auf  der  rechten  Seite  bis  nahe  an  den  Vorsprung  ausge- 
eert.  Hier  steht  gegenwärtig  eine  20  Fuss  und  darüber  hohe  Wand  von  Ausfüllungs- 
masse, welche  bis  unmittelbar  auf  den  alten  Kalkstein-Boden  niedergeht;  an  ihr  sieht 
man  noch  den  grössten  Theil  der  Schichten  vor  sich.  Von  den  oberen  Lagen  ist 
verhältnissmässig  am  meisten  fortgeräumt,  so  dass  eine  Untersuchung  derselben  nur 
an  den  äussersten  Rändern  möglich  war.  Diese  Untersuchung  habe  ich  unter  thäti- 
ger  Mithülfe  des  Hrn.  Ehrenamtmann  Plassmann  am  4.  und  5.  April  möglichst 
sorgfältig  veranstaltet. 

Schon  1843  —  44  ist  auf  Veranlassnng  des  Bonner  Oberbergamtes  eine  of6cielle 
Ausgrabung  in  der  Balver  Höhle  vorgenommen  worden.  Dabei  hatte  man  4  verschie- 
dene Schichten  unterschieden*):  zu  oberst  eine  1  Fuss  mächtige  Schicht  von  soge- 
nannter Asche,  einer  feinen,  dunkel  schwärzlich  grauen  Erde,  welche  zahlreiche  Kno- 
chen von  Wiederkäuern,  namentlich  vom  Hirsch,  Reh,  Ochsen,  ferner  einzelne  vom 
Schwein  und  vom  Menschen,  alte  Urnen,  Münzen,  endlich  scharfkantige  Stücke 
aus  Kalkstein,  häufig  auch  aus  sandsteinartiger  Grauwacke  in  grosser  Menge  enthielt. 
Dann  kam  eine  zweite,  4  —  5  Fuss  mächtige  Schicht  aus  lehmartiger,  ockergelber 
Erde  mit  Knochen  älterer  Thierarten,  namentlich  Mammuth,  meist  verbrochen  und 
etwas  abgerollt,  sowie  mit  Bruchstücken  von  Kalkstein,  Grauwacke  und  Kieselschie- 
fer. Eine  dritte  Schicht,  2  Fuss  mächtig,  sollte,  wie  die  erste,  aus  einer  dunkelge- 
färbten fetten  Dammerde  bestehen  und  sowohl  Gesteinfragmente,  als  Knochen  ein- 
schliessen;  endlich  eine  vierte,  mehr  lehmartige  Schicht,  8  Fuss  mächtig,  in  welcher 
Knochen,  besonders  Mammuthzähne,  und  Kalksteinstücke,  jedoch  keine  Grauwacke 
und  kein  Kieselschiefer  vorkommen  sollten.  Unter  den  Thieren,  welchen  die  Kno- 
chen in  den  3  unteren  Schichten  angehören,  wurden  genannt  der  Höhlenbär,  das 
Mammuth,  das  Nashorn  und  das  Flusspferd,  das  Pferd,  der  Hirsch  und  zwar  Cervus 
Elephas,  scanicus  (Tarandus  fossilis)  und  Guettardi.  Die  dritte  Schicht  schien  gegen 
das  hintere  Ende  der  Höhle  auszufallen,  so  dass  hier  die  zweite  und  vierte  in  Eins 
zusammenflössen. 

Meine  Beobachtung  hat  ergeben,  dass  die  Zahl  der  wohl  zu  unterscheidenden 
Schichten  eine  viel  grössere  ist.  Möglicherweise  erklärt  sich  diese  Differenz  aus  der 
weiter  zurückgelegenen  Stelle  der  jetzigen  Grabungen,  welche  den  erwähnten  End- 
Ausläufern  der  Höhle  näher  liegen.  In  dieser  Gegend  setzt  sich  von  dem  beschrie- 
benen Vorsprunge  aus  an  dem  Boden  der  Höhle  eine  flache  Erhebung  fort,  und  es 
lässt  sich  denken,  dass  früher  von  beiden  Ausläufern  her  Wasserströme  durchgegan- 
gen sind.    Die  undichte  Beschaffenheit  des  durch  Hebungen  zerklüfteten  Kalkes  macht 

*)  Nöggerath  im  Archiv  für  Mineralogie,  Geognosie,  Bergbau  und  Hüttenkunde  von  Kar- 
sten und  v.  Dechen,  1846,  Bd.  XXVI,  S.  334. 


361 

dies  in  hohem  Maasse  wahrscheinlich.  Noch  jetzt  verschwindet  selbst  die  Hönne 
unterhalb  Balve  im  Sommer  stellenweise  so  vollständig  im  Boden,  dass  ihr  Bett  auf 
gewisse  Strecken  ganz  trocken  wird.  Andererseits  sieht  man  gerade  unter  der  Feld- 
hofshöhle am  Klusenstein,  welche  in  einer  Höhe  von  I  10  Pubs  über  dem  Hönnethal 
liegt,  einen  mächtigen,  rauschenden  Bach  direkt  aus  dem  Felsen  in  die  Hönne  ein 
strömen.  Nimmt  man  an,  dass  früher  in  der  Balver  Höhle  ähnliche  Verhältnisse, 
wenn  auch  nur  zeitweise,  bestanden,  so  lässt  sich  denken,  dass  die  Ansätze  an  ver- 
schiedenen Stellen  der  Höhle  sehr  verschieden  geschahen.  Jedenfalls  bilden  die 
tiefsten  Lugen  des  gegenwärtigen  Profils  der  Ausfüllungsmassen  convexe,  über  den 
erwähnten  Felsvorsprung  sich  schalig  anlegende  Schichten,  und  erst  in  der  dritten 
Lage  (von  unten)  nehmen  die  Ansätze  eine  mehr  horizontale  Richtung  an.  Letztere 
erhält  sich  dann,  soweit  ich  ersehen  konnte,  bis  zur  Oberfläche,  so  dass  es  wahrschein- 
lich ist,  dass  in  späterer  Zeit  der  Zufluss  durch  die  früheren  Schlünde  aufgehört  hat. 

Es  ergaben  sich  nun  als  für  unsere  Frage  fast  allein  wichtig  die  beiden  obersten 
Schichten,  welche  ungefähr  der  ersten  Schicht  der  früheren  Grabung  entsprechen 
mögen.  Zu  oberst,  in  den  noch  den  Höhlenwanduugen  ansitzenden  Schichten,  welche 
bröcklig,  ungleichmässig,  im  trocknen  Zustande  bräunlichgrau  aussahen,  fanden  wir 
verschiedene  Einschlüsse,  die  auf  die  Anwesenheit  des  Menschen  hinweisen,  insbeson- 
dere sehr  häutig  kleine  Stücke  von  Holzkohle,  so  häufig,  dass  gar  nicht  davon  die 
Rede  sein  konnte,  dass  sie  durch  einen  Zufall,  z.  B.  einen  Waldbrand  dorthin  ge- 
kommen seien.  Diese  Kohle  haftet  sehr  fest  in  der  umgebenden  Erde  und  ist  daher 
nicht  leicht  auszulösen.  In  ähnlicher  Weise  findet  sich  der  Erde  manches  Andere 
beigemischt,  so  dass  dies  Zusammenvorkommen  durchaus  kein  zufälliges  sein  kann.  So 
löste  ich  aus  dem  noch  anstehenden  Erdreich  wiederholt,  wenngleich  sehr  vereinzelt, 
kleinere  Feuerstein-Splitter,  die  allerdings  nicht  den  positiven  Eindruck  absicht- 
licher Arbeit  erregen,  aber  die  Gestalt  geschlagener  Feuersteine,  namentlich  den  drei- 
eckigen Querschnitt  zeigen.  Wenn  man  erwägt,  dass  gerade  in  diesen  Gegenden 
Westfalens  Feuerstein  ausserordentlich  selten  ist,  so  kommt  gewiss  auf  einen  solchen 
Fund  gar  viel  an.  Weiter  zeigten  sich  verhältnissmässig  kleine  Bruchstücke  ge- 
schlagener Knochen  von  solcher  Schärfe,  dass  die  Vermuthung  sehr  nahe  liegt, 
sie  seien  von  Menschen  zerschlagen.  Es  waren  dies,  mit  Ausnahme  einiger  kleinen 
Längssplitter  von  Cervus-Horn,  durchweg  kurze  Bruchstücke  der  sehr  festen  und 
dicken  Corticalis  von  Röhrenknochen  grosser  Thiere;  ein  einziges  Stück  hob  ich  auf, 
das  von  einem  Schädeldachknochen  eines  grossen  Thieres  herstammt.  Au  einigen 
dieser  Bruchstücke  zeigte  sich  eine  Abrundung  der  Bruchflächen,  welche  auf  Bewegung 
im  Wasser  deutet.  Biss-  oder  Nagestellen,  die  auf  Thiereinwirkungen  bezogen  wer- 
den können,  Hessen  sich  nach  sorgfältiger  Reinigung  der  Knochen  hier  und  da  wahr- 
nehmen, dagegen  habe  ich  nichts  gesehen,  was  irgendwie  auf  eine  Bearbeitung  zu 
technischen  oder  artistischen  Zwecken  hingedeutet  hätte.  An  einem  einzigen  Frag- 
ment sieht  man  an  einer  kleinen  Stelle  scharfe,  wie  geschnittene  Linien  von  geradem 
Verlauf,  die  sich  kreuzen,  allein  dicht  daneben  ist  ein  stärkerer,  trichterförmiger  Ein- 
druck wie  von  einem  Zahn.  Jedenfalls  ist  die  Sache  zweifelhaft  Ebensowenig  habe 
ich  unter  den  vielen  scharfkantigen  Kalksteinstücken,  welche  in  dieser  Schicht  vor- 
kommen, irgend  eins  bemerkt,  das  nicht  auf  natürliche  Weise  hätte  entstanden  sein 
können.  Endlich  zeigten  sich  in  der  oberflächlichen  Lage  sehr  zahlreiche  Knochen 
von  Fledermäusen,  insbesondere  Handknochen,  sowie  vereinzelt  Vogelknochen, 
unter  denen  die  Metatarsalknochen  vom  Rebhuhn  zu  erkennen  waren. 

Dass  in  der  Oberfläche  dieser  Höhle  seit  Jahren  mancherlei  gesammelt  worden 
ist,  was  auf  menschliche  Thätigkeit  hinweist,  ist  bekannt.  Namentlich  kommt  ein 
ganz  besonderer  Fund  in  Betracht:  ich  sah  nämlich  im  Museum  der  naturforschenden 


362 

Gesellschaft  zu  Bonn  ein  paar  Stücke,  welche  von  Hrn.  Bergmeister  Hu  n  rl  t  aus  Sie- 
gen eingeliefert  sind  und  aus  der  Balver  Höhle  stammen  sollen,  und  zwar  einen 
grossen,  schön  geschlagenen,  nicht  poiirten  Dolch  ans  Feuerstein  mit  zierlich  ausge- 
schweiftem Handgriff,  und  einen  am  Ende  sehr  scharfen,  poiirten  M eissei  ans  der 
Diaphyse  eines  Extremitäten-Knochens  ei:ies  grössere!]  Thieres  (Hären?1).  Hr.  Hundt 
hat  mir  darüber  auf  meine  Anfrage  folgende  Mittheilung  gemacht: 

„Ich  ergreife  gern  die  Gelegenheit,  um  Ihnen  über  den  Kund  in  der  ßalver 
Höhle,  soweit  mir  die  Sache  noch  erinnerlich  ist,  Näheres  mitzutheilen.  \nfaug  der 
(Hier  Jahre  habe  ich  selbst  und  auch  durch  Andere  iu  dem  Höhlenschutt,  2t»  bis  2.r> 
Schritt  vom  Eingang  der  Höhle,  suchen  lassen.  Es  fanden  sich  in  der  4  bis  (i  Fuss 
hohen  Geröllmasse  fossile  Knochen  von  Bären,  Hyänen  und  anderen  schon  bekannten 
Thieren.  Etwa  2  Fuss  unter  dem  Boden,  bestehend  aus  thonig-kalkigen  Erdmassen, 
befand  sich  zwischen  dem  Gerolle  ein  alter,  zerbrochener  Topf,  kohlige  Massen  zei- 
gend, und  in  dessen  Nähe,  1  bis  2  Fuss  davon  entfernt,  lag  das  Steinmesser  und 
der  Knochenmeissel.  Vom  Topfe  verwahre  ich  noch  einen  Scherben.  Wie  alle  irde- 
nen Gefässe  aus  der  Urzeit  besteht  er  aus  roth  gebranntem  Thon  mit  eingemengten 
feinen  Quarz-  und  Kalkspathstüekchen.  Dass  der  Topf  hier  eingegraben  gewesen, 
durfte  ich  wohl  annehmen  und  damit  auch  den  früheren  Aufenthalt  unserer  Urbevöl- 
kerung im  Höhlenraume.  Die  Waffen  scheinen  mehr  zufällig  unter  die  Gerölhnassen 
gelangt  zu  sein.  Sie  lagen  zwischen  ssilen  Knochen,  die  in  die  Balver  Höhle  mit 
den  Geschieben  wohl  unzweifelhaft  \  in  Wasser  hineingetragen  sind.  Schon  früher. 
zu  Anfang  der  10er  .Jahre,  hat  man  Gefässe  mit  Kohlen  im  vorderen  Höhlenraum 
gefunden,  leider  aber  zu  wenig  darauf  geachtet.  So  fanden  sich  auch  im  Schutt  der 
Rosen becker  Höhle  bei  Brilon  einige  3— -5  'II  lange  kupferne  Griffel,  welche  wohl 
mit  Unrecht  für  römische  Schreibstifte,  erklärt,  aber  auch  nicht  weiter  beachtet  wur- 
den Sind  in  die  Balver  Höhle  die  beiden  Messer  hineingeflösst,  und  dieses  ist  bei 
direr  Lage  zwischen  Geröllsteinen  wohl  anzunehmen,  so  rühren  sie  aus  einer  Zeit 
her,  die  noch  viel  weiter  hinaufreicht  als  die,  wo  der  Mensch  d$u  trockenen  Boden 
berührte." 

Immerhin  ist  die  Sache  noch  nicht  ganz  klar  Die  Isolirtheit  des  Fundes 
ausserdem  ist  nichts  Analoges  gefunden  worden  —  macht  die  Deutung  desselben  an 
sich  etwas  bedenklich.  Wenn  man  erwägt,  dass  in  dieser  Schicht  auch  eine  Silber- 
münze des  Kaiser  Otto  1.  aus  dem  10.  Jahrhundert  und  eine  andere  Silbermünze  vom 
Jahre  100 1  gefunden  worden  ist"),  so  wird  man  in  hohem  Maasse  vorsichtig  sein 
müssen,  so  lange  nicht  jedp  Einzelheit  des  Fundes  und  der  Fundstelle  nachgewiesen 
ist.  Dass  die  Höhle  noch  bis  in  die  historische  Zeit  Menschen  zum  Aufenthalt,  ge- 
dient hat,  ist  unzweifelhaft;  wie  weit  daher  die  in  den  oberflächlichen  Lagen  vor- 
kommenden Gegenstände  als  vorhistorische  zuzulassen  sind,  hängt  von  der  Bestim- 
muug  der  neben  ihnen  in  jungfräulichem  Boden  liegenden  Thiei Überreste  ab.  Diese 
scheinen  mir  jedoch  wenig  charakteristisch  zu  sein. 

Auch  bei  Hrn.  von  der  Mark  in  Hamm,  aus  dessen  Sammlung  ich  schon  in 
einer  früheren  Sitzung  einzelne  Gegenstände  vorlegte,  sah  ich  aus  der  Balver  Höhle 
einige  neue  Objecte  Ich  erwähne  daraus  Spinde.'steine  und  irdene  Topfscherben  von 
grobem  Material  und  grosser  Dicke  (:■'.  4'").  Der  obere  Rand  war  bei  einigen  in 
regelmässiger  Weise  wellig  eingebogen;  in  kurzer  Entfernung  darunter  lief  ein  hori- 
zontaler Gürtel  von  kurzen,  tiefen,  senkrechten  Eindrücken  um  das  Gefäss.  Vielleicht 
werden   solche    verzierten    Stücke   später   eine    bessere   Vergleicbung   gestatten,    wenn 

Nöggeratb  :i,       0.  -.  '■'■  '■<     Pub Ir ott,  Hohlen  und  Grotten,  S.  92  Anu). 


363 

andere    westfälische    Funde    in    Beziehung   dazu    gebracht   werden.     Heber   die   Fund- 
fcellen  dieser  Urneusrheiheii  selb«!   war  leider  nichts  Genaues  hekannl. 

Von  ungleich  grösserer  Bedeutung  ist  nach  meinen  Untersuchungen  -\\p  zweite 
*«hich1  W;i  nach  Jen  Inihereu  Ermittelungen  wnlirscheinlich,  jedoch  durch  keine 
fip*  früheren  Grabungen  wirklich  constatirl  war,  das  ergab  sich  mil  grösstei  Bestimmt- 
heit: eine  Rennthiersch  tcht.  Diese,  stellenweise  bis  zu  :;  Fnss  mächtige  Lage 
bestand  aus  einer  schwärzlichgrauen,  hier  und  da  graubräunlichen,  ziemlich  feinen 
und  gleichmässigen  mürben  Erde,  die  in  horizontalen  Lagen  abgesetzt  war.  Auf  s\< 
passl  wohl  am  meisten  die  früher  erwähnte  Bezeichnung  der  Aßcbenschicht.  An 
manchen  Stellen  war  die  Masse  offenbar  durch  das  Eindringen  von  Sickerwasser  festei 
geworden:  hier  hatte  sie  ein  mehr  weissliches  Ansehen  und  die  Ein  chlüsse  waren 
unter  einander  und  mit  der  umgebenden  Mass«,  fest  zusammen  gekittet,  fn  kurzer 
Zeil  gelang  es  mir,  daraus  eine  grosse  Masse  von  Bruchstücken  von  Rennthiergewei- 
hen  zu  gewinnen;  manchmal  fanden  sie  gich  haufenweise  zusammen.  Die  Mehrzahl 
davon  gehörte  jüngeren  Thieren  an,  jedoch  galt  es  auch  recht  starke  Stücke  darunter. 
Ihr  Verhalten  erwies  sieh  je  nach  der  Lagerung  sehr  verschieden:  während  einige 
mehr  verwittert  aussahen  und  verhältnissmässig  leicht  waren,  hatten  andere  eine  grosse 
■»chwere  und  eine  wirklich  steinerne  Consistenz.  An  einer  geringen  Zahl  liessei 
Nagespuren  erkennen;  namentlich  zeigt  ein  grösseres,  starkes  Fragment  an  allen  En- 
den so  tiefe  und  ausgedehnte  Abnagung,  dass  sich  daraus  vielleicht  für  die  Beurthei- 
rnng  desjenigen  Thieres,  von  dem  die  Benagung  ausging,  einige  Anhaltspunkte  ge- 
winnen lassen  machten.  Trotz  der  grossen  Mühe,  welche  ich  mir  gegeben  habe,  an 
diesen  Kennthierknochen  eine  Spur  menschlicher  Einwirkung  zu  sehen,  bin  ich  doch 
nicht  im  Stande  gewesen,  irgend  etwas  zu  entdecken,  was  auch  nur  mit  Wahrschein- 
lichkeit auf  eine  solche  Einwirkung  hätte  bezogen  werden  können,  was  irgend  ein 
bestimmtes  Geräth,  das  gemacht  werden  sollte, .oder  eine  bestimmte  Absicht  des  Spal 
tens  oder  Zerbrochens  andeutete.  Wohl  fanden  sich  alte  Längs-  und  Querbruche, 
zuweilen  von  einer  mehr  ebenen  Oberfläche,  jedoch  keine,  welche  bestimmt  als  ge- 
schnitten  hätten  bezeichnet  werden  können.  Einzelne  geradlinige  Eindrücke  auf  dei 
Oberfläche  vermag  ich  ebensowenig  als  durch  Menschenhand  erzeugt  nachzuweisen. 
In  dein  obersten  Theil  dieser  Schicht  kamen  einige  Geweihstücke  vor,  die  durchweg 
oder  nur  in  der  Rinde  eine  fast  ziegelrothe  Farbe  besassen  und  auf  den  ersten  Blick 
wie  gebrannt  aussahen,  indess  verdankten  sie  ihre  Färbung  ebenso,  wie  gewisse 
s.  hwärzliche  Fragmente,  wohl   nur  einer  Infiltration   mit  metallischen  Verbindungen. 

So  interessant  dieser  Fund  in  Beziehung  auf  das  Vorkommen  des  Rennthiers  ist, 
so  mager  erscheint  er  in  Beziehung  auf  die  anthropologische  Frage.  Nichtsdestowe- 
niger bin  ich  vollständig  überzeugt,  dass  zu  der  Zeit,  als  die  Rennthierknochen  hier- 
her gelangten,  die  Höhle  von  Menschen  besucht  war.  Indem  ich  eigenhändig  mit 
aller  Sorgfalt  wiederholt  die  Schichten  ganz  frisch  abstach  und  aus  einander  legte, 
so  stiess  ich  immer  wieder  auf  Kohlenstellen,  welche  in  zweifellos  unversehrtem  Erd- 
reich unter  und  zwischen  Stellen  mit  Rennthiergeweihen  lagen.  Auch  fanden  sich 
darin  viele  schart  zerschlagene  und   nicht  abgerollte  Knochenreste. 

Was  die  Kohle  betrifft,  so  waren  die  Bruchstücke  etwas  grösser,  als  in  der  ober- 
sten Schicht,  und  ihr  heerdweises  Vorkommen  sprach  entschieden  dafür,  dass  die  Ver- 
brennung des  Holzes  an  Ort  und  Stelle  vor  sich  gegangen  ist.  Hr.  Alex.  Braun 
hat  festgestellt,  dass  es  Kohle  von  Laubholz  ist.  jedoch  hat  die  grosse  Brüchigkeit 
derselben  nicht  gestattet,  die  Species  genau  zu  erkennen.  Hr.  Braun  vermuthet. 
dass  es  Ulmenholz  war.  Ebensowenig  vermag  ich  genau  anzugeben,  welchen  Thieren 
die  zerschlagenen  Knochen  angehörten.  Die  Bruchstücke  waren  fast  durchweg 
klein.     Ob  der   Höhlenbär,   dessen    Leberreste  sich    in   tieferen   Lagen   zahlreich   finden, 


364 

noch  mit  dem  Rennthier  zusammenlebte,  ist  erst  weiter  festzustellen;  ich.  fand  in  die- 
ser Schicht  nur  ein  sehr  mächtiges  Fragment  von  eiuem  Extremitäten-Knochen,  das 
seiner  Grösse  nach  wohl  dem  Bären  angehört  haben  mag.  Tiefer  kommen  Zähne, 
Kiefer  und  andere  Knochen  des   Bären   iu  grosser  Zahl   und  Schönheit  vor. 

Unter  der  Rennthier- Schicht  kam  als  dritte  I-agc  eine  bis  3  Fuss  dicke  Lage 
von  Lehm  mit  sehr  zahlreichen,  scharfkantigen  Steinen,  meist  Bruchstücken  von  Kalk- 
stein, und  ebenfalls  scharfkantigen  Kuochenfragmentcn.  Dann  erst  folgt  als  vierte 
eine  deutliche  Rollschicht,  in  welcher  sowohl  die  Steine,  als  die  Knochenstückc 
derart  abgerundet  sind,  dass  man  deutlich  erkennt,  wie  sie  im  Wasser  hin-  und  her- 
gewälzt sind.  Einige  haben  noch  scharfe  Kanten,  aber  keineswegs  in  der  Weise,  wie 
sie  die  Steine  und  Knochen  der  oberen  Schichten  besitzen.  Es  kann  also  kein  Zwei- 
fel darüber  sein,  dass,  als  diese  Schicht  abgesetzt  worden  ist,  von  der  äusseren  Oeff- 
liuiig,  also  vom  Hönnethal  her,  Wasser  in  die  Höhle  gegangen  ist,  und  die  Knochen 
hin-  und  hergeworfen  worden  sind.  Es  ist  dabei  zu  erwähnen,  dass  auch  hier  noch 
vereinzelte  Geweihfragmente  vom  Rennthier  vorkommen,  dass  daneben  jedoch  Kuo- 
chenstücke  von  grösseren  Thieren  häufiger  sind.  Kohlen  fehlen  unter  der  Rennthier- 
schicht,  soviel  ich  sehen  konnte,  gänzlich. 

Demnächst  kommt  eine  etwa  2  Fuss  starke  Lehmschicht,  dieselbe  Schicht, 
welche  man  in  den  meisten  der  westfälischen  Höhleu  findet.  Dieser  Lehm  ist  als 
der  sogenannte  Knochenlehm  bekannt  und  es  ist  wohl  nicht  zu  bezweifeln,  dass  er 
durch  Anspülung  von  aussen  hereingelangt  ist.  In  der  Balver  Höhle  ist  er  verhält- 
nissmässig  arm  an  Knochen  und  die  darin  enthaltenen  Steine  sind  durchschnittlich 
sehr  viel  grösser,  als  in  den  oberen  Lagen,  aber  auch  sehr  viel  weniger  zahlreich. 
Weder  die  Knochen,  noch  die  Steine  tragen  Spuren  der  Rollung  in  solchem  Grade, 
wie  die  vorigen;  wenn  man  das  Ganze  im  Zusammenhang  betrachtet,  so  erweist  sich 
ein  solcher  Gegensatz,  dass  es  nicht  zweifelhaft  sein  kann,  dass  diese  Schicht  in  einer 
mehr  ruhigen  Weise  abgesetzt  worden  ist.  Die  Knochen,  welche  ich  aus  der  Lehm- 
schicht sammelte,  trugen  durchweg  in  höherem  Grade  den  fossilen  Charakter;  es 
waren  kleine,  aber  sehr  schwere  Bruchstücke,  meist  von  Extremitätenknochen.  Ein 
einziges  Schädelfragment  mit  Stirnfortsatz  schien  einem  juugen  Rennthier  anzugehö- 
ren; auch  fand  ich  eine  Scheibe  von  einem  Mammuthzahn.  Einzelne  Knochenstücke 
waren  abgerundet  durch  Rollung,  die  meisten  scharfkantig.  Spuren  von  Benaguug 
waren  selten. 

Erst  unter  dieser  Schicht  folgt  die  10 — 12  Fuss  hohe  Lage,  in  welcher  das  Mam- 
mute häufig  vorkommt,  ja  die  vorwiegende  Masse  der  Einschlüsse  geliefert  hat.  Mäch- 
tige Bruchstücke  äusserst  starker  Knochen,  die  wahrscheinlich  grösstentheils  dem 
Mammuth  angehören,  sind  überaus  häutig.  Die  meisten  tragen  die  Zeichen  des  Hiu- 
und  Herrollens  an  sich,  namentlich  zeigen  manche  sehr  auffällige  Abruudung  der 
Kanten.  Die  Mehrzahl  ist  an  der  Oberfläche  mit  ausgezeichueteu  Dendriten  bedeckt. 
Indess  fehlen  auch  keineswegs  kleine,  ganz  scharfkantige  Bruchstücke  von  langen 
Knochen;  an  keinem  konnte  ich  Biss-  oder  Nagespuren  bemerken.  Nur  einige  der 
grösseren  Stücke  zeigten  feinere,  geradlinige  Eindrücke  an  der  Oberfläche,  und  na- 
mentlich an  einem  derselben  traten  nach  sorgfältiger  Waschung  zahlreiche,  äusserst 
feine  und  scharfe,  theils  parallele,  theils  schräg  gegen  einander  gestellte  Linien  her- 
vor, gauz  ähnlich  denjenigen,  welche  durch  scharfe  Steinmesser  hervorgebracht  wer- 
den. Da  die  Dendriten  über  diese  Linien  fortlaufen,  so  kann  kein  Zweifel  darüber 
bestehen,  dass  sie  sehr  alt  sind.  Auch  fand  ich  iu  der  Mitte  dieser  Schicht,  unter 
einem  grossen  Stosszahn  vom  Mammuth,  einen  glatten,  scharfkantigen  Kieselschiefer, 
dessen  Kanten  allerlei  Ausbuchtungen,  wie  Schlagmarken,  darboten.  Ich  erwähne 
dies,  ohne  den  Fund  für  entscheidend  zu  halten.     Immerhin  war  derselbe  auffallend, 


365 

da  sonst  an  dieser  Stelle  nur  Kalksteintrümmer  und  zwar  solche  von  massiger  Grösse 
vorhanden  waren;  indess  ist  zu  bedenken,  dass  Kieselschiefer  in  nicht  grosser  Ent- 
fernung von  der  Höhle  ansteht. 

Unter  der  Manmiuth-Schicht  kommen  endlich  noch  zwei  deutlich  zu  unterschei- 
dende Schichteü,  nämlich  ganz  zu  unterst  unmittelbar  auf  dem  Vorspruug  des  Fel- 
sens eine  braune,  ziemlich  feste,  feuchte,  lehmige  Schicht  von  [jt  —  */4  Fuss  Dicke, 
in  welcher  wenig  Knochen  vorhanden  waren,  und  nächstdem  eine  mehr  helle,  gelb- 
liche, sandig»',  '/8 — 1  Fuss  mächtige  Schicht,  die  ebenfalls  Knochen  enthielt.  Steint' 
fehlten  hier  fast  gänzlich,  wenigstens  grössere  Stücke.  Auch  von  Mammutliüberresteu 
habe  ich  nichts  bemerkt.  Die  von  mir  direkt  aus  diesen  Schichten  entnommenen 
Knochen  waren  zum  Theil  kleinere,  noch  ganz  erhaltene  Knochen,  wie  es  schien,  von 
der  Hand-  oder  Fusswurzel,  zum  Theil  Bruchstücke  und  zwar  viele  ganz  scharfkan- 
tige ohne  Nagespuren. 

Begreiflicherweise  macht  das,  was  ich  mitgetheilt  habe,  keinen  Anspruch  auf 
Vollständigkeit.  Weitere  Untersuchungen  werden  vielleicht  wesentliche  Erweiterun- 
gen und  Correkturen  ergeben.  Insbesondere  bin  ich  nicht  im  Stande,  mit  Sicherheit 
über  das  Fehlen  oder  Vorkommen  der  einzelnen  Thierspecies  in  jeder  Schicht  zu  be- 
richten*). Indess  geht  aus  dem  Mitgetheilten  hervor,  dass  ohne  Schwierigkeit  min- 
destens 8,  ihrer  Bildung  und  Zusammensetzung  nach  verschiedene  Schichten  zu  un- 
terscheiden sind.  Von  diesen  zeigen  meiner  Meinung  nach  nur  zwei,  nämlich  die 
beiden  obersten,  deutlich  die  Anwesenheit  des  Menschen:  die  oberste  Schicht,  deren 
Einschlüsse  vielleicht  bis  ins  Mittelalter  zu  verfolgen  sind,  und  die  zweite,  welche 
wesentlich  der  Rennthier-Zeit  angehört. 

Dass  in  der  Zeit,  wo  das  Mammuth  existirte,  selbst  in  der  3.  bis  5.  Schicht, 
wo  vom  Mammuth  noch  verhältnis'smässig  wenig  zu  sehen  ist,  Menschen  in  der  Höhle 
gelebt  haben,  darüber  kann  ich  kein  Zeugniss  ablegen.  Ich  habe  in  den  tieferen 
Schichten  weder  Kohle  gefunden,  noch  etwas,  das  bestimmt  den  Eindruck  des  Zer- 
schlageus  durch  Menschen  gemacht  hätte.  Einige  scharfkantige  Bruchstücke  von  lau- 
gen Thierknochen ,  ferner  die  erwähnten  linearen  „Einschnitte"  des  einen  grossen 
Knochenfragments  und  das  scheinbar  geschlagene  Stück  Kieselschiefer**)  können  auf 
menschliche  Einwirkung  hindeuten,  aber  sie  beweisen  sie  nicht.  Alles  Uebrige  macht 
den  Eindruck  des  blossen  Zerfalles,  und  ich  muss  gegenüber  den  Mittheilungen  des 
Hrn.  v.  Duck  er  namentlich  hervorheben,  dass  scharfe  Steine  und  Felsstücke  so  häu- 
fig und  in  so  grosser  Zahl  vorkommen,  dass  man  schon  aus  diesem  Umstände  zu 
grosser  Vorsicht  im  Urtheil  genöthigt  wird.  Wenn  man  diese  scharfen  Stücke  ge- 
nauer betrachtet,  so  erweisen  sie  sich  durchweg  als  Stücke  desselben  Gesteins,  aus 
welchem  die  Wand  der  Höhle  besteht;  sie  entsprechen  in  jeder  Beziehung  den  Bruch- 
stücken, welche  man  aussen  an  den  Abhängen  der  Kalkfelsen  sich  ablösen  und  her- 
unterstürzen sieht,  und  aus  welchen  die  grossen  Schutthaufen  herstammen,  welche 
überall  den  Fuss  der  steilen  Thalwände  begleiten.  Auch  von  der  Decke  und  den 
Wänden  der  Höhle  lösen  sich  solche  Stücke  ab  und  fallen  auf  den  Boden,  aber  kei- 
nes von  allen  den  scharfkantigen  Stücken  spricht  dafür,  dass  ein  Mensch  es  zerschla- 
gen  hat.     Mau   kann   ähnliche  Stücke   im  Hönnethal  an  jedem  Abhänge  finden,    uud 

*)  Beiläufig  erwähne  ich,  dass  ich  in  der  Sammlung  des  Hrn.  Apotheker  Krem  er  in  Balvo 
einen  Rückenwirbel  des  Bären  fand,  welcher  durch  Arthritis  deformans  in  ausgedehntem  Maasse 
verunstaltet  war. 

**)  Dasselbe  hat  viel  Aehnlichkeit  mit  einem  Hrn.  von  der  Mark  gehörigen  uud  in  einer 
früheren  Sitzung  vorgelegten  Stück,  welches  nur  etwas  grösser  ist  und  hei  welchem  die  künst- 
liche Anfertigung  noch  wahrscheinlicher  ist. 


36fi 

ich  kann  daher  sagen,  dass  ;dle  Schlüsse,  welche  man  ans  der  Form  dieses  oder  je- 
nes Steins  oder  Knochen-Bruchstückes  gezogeu  hat,  unzulässig  sind,  so  lange  nicht 
ein  bestimmter  Zweck  oder  eine  bestimmte  Methode  der  Bearbeitung  ersichtlich  sind. 
Jedenfalls  muss  ich  in  Betreff  der  Balver  Höhle  meine  Ueberzeugung  dahin  ausspre- 
chen, dass,  wenn  nicht  noch  ganz  besondere  Stellen  entdeckt  werden,  die  Existenz 
des  Menschen   mit  Sicherheit  nur  bis  zur  Reunthierzeit  zurückgeführt  werden   kann. 

Was  nun  die  anderen  von  nur  besuchten  Hohlen  angeht,  so  kann  ich  über  die, 
Mehrzahl  derselben  nichts  Analoges  berichten  Wie  schon  erwähnt,  sind  diese  an- 
deren Höhlen  so  sehw  er  zu  untersuchen,  dass  man  ohne  lange  Arbeit  nicht  zum  Ziele 
kommen  kann;  namentlich  erschweren  die  Tropfstein-Absätze  die  Nachgrabungen  in 
hohem  Maasse.  Ausserdem  sind  diese  Höhlen  meist  niedriger  und  sie  haben  daher 
eine  viel  geringere  Ausfüllung.  Auch  ist  von  manchen  der  benachbarten  Höhlen,  wie 
es  scheint,  ziemlich  sicher  anzunehmen,  dass  ihre  Einschlüsse  nicht  einmal  bis  in  die 
Mammuth-Zeit  reichen,  und  dass  ihre  Eingänge  verschlossen  oder  sie  selbst  gänzlich 
ausgefüllt  waren  in  der  Rennthier-Periode ").  Dagegen  finden  sich  sehr  häutig  Kno- 
chen des  Höhlenbären  und  der  Höhlenhyäne,  welche  letztere  in  der  Balver  Höhle  gänz- 
lich zu  fehlen  scheint.  Es  ist  dies  um  so  mehr  bemerkenswerth,  als  ganz  in  der 
Nähe,  etwa  eine  Viertelstunde  oberhalb  Balve  am  rechten  Ufer  des  Hönnethales,  in 
der  Nähe  des  Dorfes  Frühlinghausen,  eine  bis  jetzt  noch  wenig  bekannte  Höhle  liegt, 
aus  welcher  ich  selbst  zwei  schöne  Bruchstücke  vom  Unterkiefer  der  Hyäne  mitge- 
bracht habe.  Diese  Höhle  ist  vollständig  ausgefüllt  gewesen:  gauz  zufällig  ergab  sich 
vor  einigen  Jahren  beim  Abgraben  der  Erdmassen,  dass  der  Fels  hier  ausgehöhlt  sei. 
Auch  unterscheidet  sie  sich  dadurch  von  der  Balver  Höhle,  deren  Eingang  5  Lachter 
über  der  dicht  darunter  fliesseuden  Hönue  liegt,  dass  sie  nur  wenig  über  der  Thal- 
sohle  ansetzt.  Ich  erwähne  dabei,  dass  sich  in  der  Balver  Sammlung  aus  der  Früh- 
iinghauser  Höhle  mächtige  Geweihstücke  befinden,  die  dem  Megaceros  anzugehören 
scheinen. 

Die  einzige  Höhle,  wo  ich  durch  eigene  Untersuchung  noch  einen  unzweifelhat- 
ten  Beweis  für  die.  Existenz  des  Menschen  in  vorhistorischer  Zeit  gewinnen  konnte, 
ist  die  Klusensteiner  oder  genauer  gesagt,  die  Feldhofs-Höhle'""").  Es  wird  dieser 
Beweis  geliefert  durch  ein  rohes  Werkzeug  aus  Bein,  dessen  Bestimmung  etwas  zwei- 
felhaft ist.  Dasselbe  besteht  ganz  aus  compakter  Knochensubstauz,  die  überdies  von 
grosser  Dichtigkeit  und  Schwere  ist,  und  offenbar  von  einem  starken  Säugethier, 
wahrscheinlich  vom  Bären  stammt  Eine  Seite  des  Instruments  zeigt  noch  die  natür- 
liche Oberfläche,  die  anderen  sind  künstlich  durch  Zerschlagen  hergestellt,  und  nur  in 
einer  schmalen  Furche  lässt  sich  der  Ueberrest  der  alten  Markhöhle  erkennen.  Das 
Instrument  ist  .5'/«  Zoll  lang,  '/,—  '/,.  Zoll  dick,  im  Allgemeinen  dreikantig,  jedoch 
uicht  regelmässig;  an  beiden  Enden  läuft  es  in  etwas  breite,  aufsteigende  Flächen 
aus,  so  dass  es,  von  der  Seite  gesehen,  die  Gestalt  eiues  Kahnes  hat  Indess  ist  nur 
das  eine  Ende  weiter  bearbeitet:  man  sieht  hier  von  der  inneren  Seite  her  eine  durch 
Schneiden  oder  Schaben  zugeschärfte  und  geglättete  schräge  Fläche  von  über  '/»  Zoll 
Länge,  welche  fast  schneidend  ist.  Ich  lasse  dahin  gestellt,  ob  das  Werkzeug  wirk- 
lich zum  Schneiden  bestimmt  war  oder  ob  es,  wozu  es  sehr  geeignet  erscheint,  zum 
Glätten    und  Ausarbeiten    von    Thongeschirr    gedient    haben    mag.      Ich    habe    dasselbe 

*)  Am  nächsten  der  Balver  Höhle  scheint  die  Feldhofe-Höhle  in  Beziehung  auf  Einschlüsse 
zu  stehen. 

*♦)  Bei  Klusenstein,  am  linken  Ufer  der  Hönue,  unterhalb  Balve,  giebt  es  zwei  Höhlen: 
eine  direkt  unter  dem  Schlosse,  die  Klusensteiner  im  engeren  Sinne  des  Wortes,  und  eine  zweite, 
etwas  weiter  oberhalb,  die  Feldhofs-Höhle.     Beide  werden  leicht  mit  einander  verwechselt. 


3fi7 

eigenhändig  aus  einer  Lehmschicht  ausgelöst,  welche  mit  derjenigen  fortlaufend  zu- 
sammenhing, über  welcher  ich  den  Eingangs  erwähnten  Kiefer  des  Höhlenbären  ge- 
wonnen habe,  so  dass  man.  wenn  nicht  ganz  absonderliche  Verhältnisse  vorliegen 
sollten,  scbliessen  muss,  dass  mindestens  zur  Zeit  des  Höhlenbären  auch  der  Mensch 
in  der  Höhle  gewesen  sei. 

Allerdings  giebt  «'s  auch  in  dieser  Höhle  stark  abgerundete  und  offenbar  gerollte 
Knochenstücke,  was  um  so  weniger  befremden  kann,  als  die  Höhle  zwei  Eingänge 
und  zwei  sehr  lange  Ausläufer  bat,  von  denen  der  eine  breit  in  die  Höhe  steigt.  Ich 
fand  jedoch  das  Werkzeug  in  der  Nähe  eines  Felsvorspi  unges,  der  den  zweiten,  kleineren 
Eingang  von  der  Haupthöhle  abgrenzt,  an  einer  Stelle,  wo  die  sonst  durchweg  vor- 
handene Tropfsteindecke  fehlte,  in  den  oberen  Lagen  der  Lebnischicht  unter  einer 
Schiebt  von  grossen  und  /.abdeichen  Steinen.  Nach  dem  Berichte  des  Hrn.  Fuhl- 
rott  )  und  nach  den  uns  früher  gemachten  Mittheilungen  des  Hrn.  v.  Dücker  sind 
übrigens  schon   früher  Steingeräthe  in  dieser  Höhle  aufgefunden   worden. 

Darauf  beschränken  sich  meine  anthropologischen  Erfahrungen  in  den  westfäli- 
schen Höhlen.  In  den  wundervollen  Tropfsteinhöhlen  von  Sundwig  und  Letmathe 
habe  ich  nichts  gesehen,  was  auf  die  Anwesenheit  des  Menschen  hindeutet.  Aller- 
dings sind  gerade  hier  die  Schwierigkeiten  des  Grabens  besonders  gross,  und  trotz 
der  ausserordentlichen  und  überraschenden  Gefälligkeit,  mit  weicher  die  Herren  von 
der  ßecke  in  Sundwig,  Hr.  Overweg  in  Letmathe  und  die  Directum  der  Bergisch- 
Märkischen  Eisenbahn-Gesellschaft  mir  ihre  Hülfe  zur  Verfügung  stellten,  musste  ich 
darauf  verziehten,  da  ohne  eine  sehr  lange  und  ausgedehnte  Nachforschung  ein  er- 
hebliches Ergebniss  nicht  zu  erwarten  war.  Indess  auch  so  ist  ein  Schritt  vorwärts 
gethan.  Wenn  wir  annehmen  dürfen,  dass  der  Mensch  mit  dem  Reunthier  ued  dem 
Höhlenbären  in  den  Hohlen  des  Hönuethals  gelebt  hat,  so  ist  eine  gewisse  Grund- 
lage gewonnen  auch  für  die  Erforschung  der  übrigen  Höhlen.  Diese  Erfahrung  wird 
dazu  beitragen,  die  Aufmerksamkeit  zu  schärfen.  Bei  der  tumultuarischen  Ausräu- 
mung mancher  dieser  Höhlen  ist  es  in  der  That  die  höchste  Zeit,  dass  auf  derartige 
Funde  die  grösste  Sorgfalt  verwendet  wird;  sonst  könnte  es  dahin  kommen,  dass  in 
Kürze  die  Mehrzahl  der  Höhlen  ausgeräumt  ist,  ohne  dass  man  zu  solchen  Ermitte- 
lungen gelangt  ist,  wie  diejenigen,  durch  welche  die  französischen  Höhlen  zu  so  denk- 
würdigen  Fundstätten  der  Urgeschichte  geworden   sind. 

*)  Fuhlrott,  die  Höhleu  und  (-Trotten  u.  s.  w.,  S.  39 


Druck  \ou  Gebr.   Unger  (Th.Oriuiui)  iu  Berlin    Kriedriihsstr.  24. 


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Ethnographische  Wahrnehmungen  und  Erfahrungen 
an  den  Küsten  des  ßerings-Meeres 

von  A.  Er  man. 
(Hierzu  eine  Karte.) 

(Fortsetzung.) 

Die  Religion  und  Sagen  der  Koljuschen. 

Von  den  mir  zugekommenen  Angaben  über  das  Verhältniss  der  kolju- 
schischen  Hierarchen  zu  dem  übrigen  Volke  und  die  Mittel,,  die  sie  noch 
ausser  ihren  mimischen  Künsten  zur  Erhaltung  ihres  Einflusses  gebrauchten,- 
ist  etwa  Folgendes  hinlänglich  sicher  begründet.  Die  Würde  der  Ichet  oder 
Schamanen  —  von  denen  es  bei  den  Koljuschen  nicht  mehr  als  jederzeit 
Einen  an  jedem  ihrer  Wohnplätze  gegeben  hat  —  war  doch  nur  in  soweit 
erblich,  als  sie  an  den  Besitz  eines  kostbaren. Apparates  gebunden  blieb. 
Sie  ging  somit,  bei  dem  Tode  eines  jeden  von  ihnen,  an  Denjenigen  über, 
dem  er  seine  Masken,  Thierfelle,  Pauken,  die  mit  magischen  Riemen,  mit 
Thierbälgen  und  anderem  buntem  Behänge  verzierten  Mäntel  u.  s.  w.  hinter- 
lassen hatte.  Die  koljuschischen  Weisen  sollen  aber  ihre  Söhne  oder  son- 
stigen näheren  Verwandten  nur  dann  zu  Nachfolgern  gewählt  haben,  wenn 
sich  diese,  als  zweites  Erforderniss  ihres  Berufes,  zu  dem  Umgange  mit  den 
Jeks  oder  Geistern,  also  zu  dem,  was  man  in  Europa  ihre  Inspiration  oder 
Besessenheit  genannt  hätte,  geneigt  und  geeignet  erwiesen.  So  erzählten  die 
Ätchaer,  dass  von  zweien  Söhnen  eines  berühmten  Ichet  in  Jakutat  (etwa 
55  deutsche  Meilen  NW  von  Neu-Archangelsk)  der  eine  sich  vergebens  um 
solche  Inspiration  und  die  von  ihm  gewünschte  schamanische  Würde  bemüht 
habe,  während  der  andere  gegen  seinen  Willen  von  den  Geistern  besessen 
und  für  auserwählt  erklärt  worden  sei.  Dieser  soll  sogar  vergebens  versucht 
haben,  sich  den  ihn  heiligenden  und  plagenden  Jeks  durch  die  ärgste  Ver- 
unreinigung und   die  schwerste  Sünde,    d.  i.  „durch   den  Einbruch   zu  men- 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  1870.  2ö 


370 

struirenden  Frauen",  zu  entziehen.  —  Sobald  ein  lebet  die  Ueberzeugung 
von  seinem  Verkehr  mit  deu  unsichtbaren  Wesen  verbreitet  und  vielleicht 
auch  selbst  gewonnen  hatte,  beglaubigte  er  dieselbe  durch  Wunder,  von 
theils  herkömmlicher,  theils  je  nach  Umständen  merkwürdigst  variirter  Be- 
schaffenheit. Zu  den  ersteren  gehört  seine  Entfernung  aus  der  menschlichen 
Gesellschaft  in  den  Urwald.  Er  vollzieht  nämlich  diese  ohne  Jagdwaffen  und 
lebt  demnach  auch  mehrere  Wochen  lang  nur  allein  von  der  Rinde  eines 
gewissen  Dorn-  oder  Rosenstrauches  (des  Nesamainik  der  »Sitchaer  Russen) 
in  Erwartung  einer  ihm  von  den  befreundeten  Jeks  zuzusendenden  Fluss- 
otter.  Diese  begegnet  ihm  endlich  und  wird  durch  einen  gewissen  magischen 
Zuruf  nicht  bloss  zum  Stillstehen  gebracht,  sondern  auch  zum  Umfallen  und 
Verenden  unter  Vorstreckung  ihrer  Zunge,  die  für  ein  gewaltiges  Zauber- 
mittel gilt.  Als  Zeichen  seiner  Würde  nimmt  und  bewahrt  der  nun  Geweihte 
aber  nur  den  Balg  der  Otter,  während  deren  Zunge  in  einem  Korbe  mit 
allerlei  Zierrath  an  einer  möglichst  unzugänglichen  Stelle  des  Waldes  vergra- 
ben wird,  wo  sie  Jeden,  der  sie  dennoch  findet  und  aufnimmt,  mit  Wahnsinn 
bedroht.  —  Ein  sehr  gefürchtetes,  begreiflicher  Weise  aber  öfter  angedrohtes 
als  ausgeübtes  Wunder  der  Ichet  sollte  ferner  in  dem  sogenannten  „Anwer- 
fen eines  Jek"  bestehen,  d.  h.  in  einer  lang  dauernden  Erstarrung  oder 
Ohnmacht,  die  sie  über  ungläubige  Zuschauer  ihrer  prophetischen  Ekstase 
verbreiten,  und  etwa  eben  dahin  gehört  die  Tradition,  dass  auch  ein  Jek, 
also  ein  übermenschliches  Wesen,  mit  Erstarrung  bestraft  werde,  wenn  er 
es  mit  dem  Glauben  an  die  eigentliche  Gottheit  (den  Jel  der  Koljuschen) 
nicht  streng  genug  nähme.  Zum  Beweise  dieses  Satzes  zeigte  ein  mächtiger 
Schamane  der  Tschilkater  Niederlassung,  *)  wie  die  Maske,  durch  die  er  sich 
zur  Personification  eines  bestimmten  Geistes  Namens  Takpek  zu  machen 
pflegte,  nachträglich  und  plötzlich  versteinert  sei.  Er  versicherte,  sie  üb- 
licher Weise  ganz  aus  weichem  Elsenholz  verfertigt  zu  haben,  und  dennoch 
sah  man  ihre  linke  Hälfte  „nach  Härte  und  Bruch  zu  Stein  geworden",  seit- 
dem sich  Takpek  unterfangen  hatte,  bis  zu  dem  unnahbaren  Göttersitz  an 
den  Quellen  des  Flusses  Naas  (oben  S.  304)  vorzudringen.**)  —  Unter  den 
Beweisen  von  wunderbarer  Unverletzlichkeit  der  Ichet  führte  man  an  ,  dass 
einmal  derselbe,  den  wir  in  der  >Sitchaer  Niederlassung  wirksam  fanden,  an 
vier  ihm  verwandte  Männer  befohlen  hatte,  ihn  in  die  Mitte  einer  tiefen  und 
felsig  begrenzten  Meeresbucht  hinauszurudern  und  ihn  daselbst,  ihrem  Er- 
barmen zum  Trotz,  mit  gehörigem  Ballast  in  eine  Matte  geschnürt,  über  Bord 
zu   werfen.     Ein   langer  Riemen,    der   an   seine  Banden  befestigt  und  dessen 


*)  Auf  dem  Continent  zunächst  nördlich  von  »Site  ha. 

**)  Es  wird  \on  »S'itcha  aus  nicht  schwer  und  nicht  ganz  ohne  Interesse  sein  zu  unter- 
suchen, ob  zu  diesem  frommen  Wunderwerke,  welches  sich  bei  demselben  Schamanen  und  bei 
passenden  Gelegenheiten  auch  an  einigen  andern  Theilcn  seines  Apparates  vollzogen  hatte,  eine 
kalkabsetzende  (Quelle  mitgeholfen  hat  oder  die  in  gewissen  Braunkoblentlotzen  nicht  seltenen 
Staramstücke,  die  halb  petrihzirt,  halb  holzig  geblieben  sind. 


371 

anderes  Ende  mit  einer  Thierblase  als  Boje  versehen  war,  zeigte  zuerst,  dass 
der  Ausgeworfene  so  schnell  wie  ein  Stein  versank  und  dann,  als  jene  Bucht 
an  drei  auf  einander  folgenden  Tagen  besucht  wurde,  dass  er  fest  auf  dem 
Meeresgrunde  liege.  Erst  am  vierten  Tage  war  die  15oje  verschwunden,  der 
vermeintliche  Tndte  aber  wieder  erwacht.  Heine  trauernden  Freunde  hörten 
ihn  nämlich  in  der  Ferne  singen  und  sahen  darauf  vom  Meere  aus,  dass  er 
mit  blutbedecktem  Gesichte,  den  Kopf  nach  unten  gekehrt,  aber  lebend,  an 
einem  unzugänglichen  Felsenabhange  der  Küste  lag  oder  schwebte.  Dass 
sich  eine  Schaar  von  Waldvögeln  um  ihn  versammelt  und  seinen  Gesang 
mit  dem  ihrigen  begleitet  hatten,  konnte  man  seiner  gewöhnlichen  Macht 
über  die  Thierwelt  zuschreiben,  während  seine  Unversehrtheit  von  denjeni- 
gen, die  sich  mit  äusseister  Mühe  einen  Weg  zu  ihm  bahnten  und  ihn  nach 
Sitcha  zurückbrachten,  als  neues  Zeichen  seiner  Heiligkeit  gepriesen  wurde. 
Ein  anderes  Mittel,  durch  welches  die  koljuschischen  Ichet  zu  ihrem 
Ansehen  gelangt  zu  sein  schienen  und  es  aufrecht  erhielten,  war  eine  äus- 
serst reiche  Legende.  Sie  haben  diese  als  ergötzende  Sagen  (russisch: 
•vkaski)  wohl  meistens  selbst  ihren  Landsleuten  vorgetragen,  jedenfalls  aber 
theils  selbst  erfunden,  theils  als  Erbtheil  ihrer  Vorgänger  in  gebührender 
Reinheit  erhalten  und  vor  Vergessenheit  geschützt.  —  Es  war  in  vielen  Ge- 
genden von  Nord-Asien,  besonders  aber  auf  Kamtschatka  ganz  gewöhnlich, 
dass  Missionare  die  heidnischen  Sitten  und  Thaten  für  viel  besser  als  alles, 
was  sie  »von  Christen  gesehen  hatten,  erklärten,  und  sich  deshalb  vor  Euro- 
päisirung  und  Bekehrung  der  Eingebornen  scheuten.*)  Dasselbe  sagt  Pater 
Wenjaminow  über  die  Aleuten  in  dem  Capitel  seines  Werkes,  welches  in 
30  Paragraphen  eben  so  viele  Vortreffliche  Charakterzüge  dieses  Volkes  auf- 
zählt, die  durch  Bekehrung  und  beginnende  Civilisirung  gefährdet  oder  auch 
schon  entstellt  worden  seien.**)  Weit  seltener  mag  es  sich  aber  ereignet 
haben,  dass  —  so  wie  eben  dieser  russische  Schriftsteller  bei  den  Koljuschen 
—  ein  christlicher  Apostel  die  theologisch-kosmogonische  Lehre  der  heidni- 
schen Eingebornen  Punkt  für  Punkt  mit  der,  die  er  zu  verbreiten  wünschte, 
identisch  fand.  Herr  Wenjaminow  macht  in  dieser  Beziehung  zuerst  auf  die 
Gleichheit  der  Namen  El  aufmerksam,  den  Koljuschen  und  Hebräer  ihrer 
llauptgottheit  beilegten,***)  bemerkt  aber  dann  als  weit  bedeutsamer,  dass 
nach  kolj uschischer  Tradition  der  amerikanische  El  so  wie  Christus  von 
einer  Jungfrau  ohne  Zuthun  eines  Mannes,  also  durch  eine  immaculata 
coneeptio  virginis,  geboren,  von  den  Seinigen  verfolgt  und  getödtet, 
durch  ihm  wunderbar  inwohneude  Kraft  wieder  aufersteht  und  andere  Todte 
erweckt;  dass  er  darauf  seinen  im  Finstern  weilenden  Landsleuten  das 
Licht  bringt  und  endlich  selbst,  nach  Art  der  Transfiguration  und  As- 

*)  Vergl.  u.  a.  meine  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  III,  S.  305,  263.  471. 
**)  Sapiski  ob  ostrowacii  Aleutskago  otdjela,  Tsch.  2,  Str.  11)  —  6ö. 

***)  Er  giebt  jedoch  zu,  dass  Andere  diesen  Namen  wie  Je  1  j  verstanden  und  geschrieben 
hätten. 

26* 


372 

eension,  gegen  Osten  entweicht,  woher  uns  das  Sonnenlicht  kommt,  um 
daselbst  ewig  zu  leben,  den  Gläubigen  aber  (unter  Vermittlung  der  Jek  und 
der  Ichet,  d.  i.  der  Kirche)  allmächtig  beizustehen.  —  Seine  Ansicht  zusam- 
menfassend, sagt  Herr  Wenjaminow  weiter:  „Dieses  Alles  beweist  deutlich, 
dass  die  Geschichte  -von  El,  welche  nicht  allein  den  Koljuschen,  sondern 
auch  anderen  amerikanischen  Völkern  bekannt  ist,  nichts  anderes  enthält  als 
neutestamentliche  Begebenheiten  (nowo  bibleiskija  sobytia),  die  durch  Fictio- 
nen  etwas  verdorben  sind.  Wie  und  woher  sie  zu  den  Koljuschen  kamen, 
ist  noch  unentschieden."  *)  Ich  erwähne  diese  Aussprüche  als  Beweis  für  die 
unschätzbare  Unbefangenheit  des  Berichtenden,  lasse  aber  nun  zu  selbststän- 
diger Würdigung  derselben  (zunächst  in  buchstäblicher  Uebersetzung)  das 
Wesentliche  von  dem  folgen,  was  die  Schamanen  in  verschiedenen  koljuschi- 
schen  Niederlassungen  durch  ihren  dolmetschenden  Landsmann  diktirt  haben.**) 
„Es  gab  eine  Zeit,  wo  kein  Licht  war  auf  der  Erde,  so  dass  Alle  im 
Finstern  gingen  und  arbeiteten.  In  dieser  Zeit  lebte  ein  Mann  und  bei  ihm 
seine  Frau  und  seine  Schwester.  Die  Frau  liebte  er  so  sehr,  dass  er  sie 
durchaus  Nichts  arbeiten  liess  und  dass  sie  daher  den  ganzen  Tag  mit  Still- 
sitzen hinbrachte,  sei  es  im  Hause,  sei  es  vor  den  Häusern  auf  der  Klippe.***) 
An  ihrem  Leibe  trug  aber  diese  Frau  acht  von  den  kleinen  rothen  Vögeln 
Kun.f)  zu  vier  auf  jeder  Seite.  Nach  Anderen  waren  es  im  Ganzen  nur 
vier  Kun,  von  denen  zwei  an  den  Brüsten  neben  den  Armen  und  die  bei- 
den andern  weiter  unterhalb  sassen.  Sie  verliessen  aber  ihre  Plätze  augen- 
blicklich und  flogen  davon,  sobald  die  Frau,  sei  es  auch  auf  das  Sittsamste, 
mit  einem  anderen  Manne  als  ihrem  eignen  zu  thun  bekam.  Ihr  eigner  Mann 
war  nun  so  eifersüchtig,  dass  er  sie,  wenn  er  von  Hause  ging,  in  einen  Ka- 
sten einschloss.  Er  ging  aber  täglich  zur  Arbeit  in  den  Wald,  wo  er  ein- 
stämmige Boote  (Baty)  machte  und  war  Meister  in  dieser  Kunst. -J-J-)  Seine 
Schwester  hiess  Kitchuginsi,  d.  i.  die  Nordkaper-Tochter. f ff)  Sie  hatte, 
man  wusste  nicht  von  wem,  einige  Söhne  und  diese  wurden  von  ihrem  arg- 
wöhnischen Mutterbruder  einer  nach  dem  andern  getödtet.  Nach  Einigen  soll 
er  einen  solchen  Neffen,  sobald  derselbe  heranwuchs  und  etwa  anfangen 
konnte,  nach  seiner  Tante  zu  blicken,  mit  sich  zur  See  genommen  und  dann 
weit  von  der  Küste  das  Boot,   worauf  er  sass,   mit  dem  Kiel  nach  oben  ge- 

♦)  Sapiski  etc.,  Tsch.  3,  Str.  31. 
••)  Ibid.  Tsch.  3,  Str.  38. 
***)  Vergl.  oben  S.  314. 
t)  Das  ist  von  den  glänzend  rothen  Colibris  (Trochilus  rufus  L.),  die  noch  jetzt  in  den 
Sitchaer  Wäldern  ihren  Sommeraufenthalt  nehmen. 

tt)  Die  Anfertigung  der  von  den  Sitchaer  Russen  mit  dem  kamtschatisch-russischen  Worte 
bäty  bezeichneten  Fahrzeuge  erfolgt  hier  genau  so  wie  ich  sie  auf  Kamtschatka  gesehen  und 
beschrieben  habe  (vergl.  meine  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  III,  S.  167);  nur  wird  die  in 
Asien  dazu  angewendete  Pappel  auf  Sitcha  durch  die  sogenannte  tschäga,  d.  i.  die  califor- 
nische  Riesenfichte,  ersetzt. 

tft)  Im  Russischen:  dotsch  kosätki,  d   i.  aber  die  Tochter  von  balaeno-glaciolis  oder  dem 
Nordkaper. 


373 

kehrt  haben.  Die  6'itchaer  Koljuschen  erzählen  dagegen,  dass  der  eifersüch- 
tige Onkel  seine  Neffen  in  die  trogartig  ausgehauenen  Stämme,  die  er  zu 
Baty  ausweiten  wollte,  gesteckt  und  darin  verspundet  habe.  Auf  die  eine 
oder  die  andere  Weise  waren  mehrere  dieser  Jünglinge  getödtet,  und  die 
Mutter  klagte  hülflos  über  den  Verlust  ihrer  Kinder.  So  sass  sie  weinend 
auf  der  Klippe,*)  als  ganz  nahe  am  Strande  eine  Schule  von  Nordkapern 
(kosätki)  vorbeizog,  von  denen  der  eine  stehen  blieb  und  ein  Gespräch  mit 
der  trostlosen  Mutter  anfing.  Nachdem  er  die  Ursache  ihrer  Trauer  gehört 
hatte,  befahl  er  ihr  ins  Wasser  zu  steigen,  einen  kleinen  Stein  vom  Grunde 
zu  nehmen,  ihn  zu  verschlucken  und  Wasser  nachzutrinken.  Einige  Kolju- 
schen (namentlich  die  Kukchan**)  erzählen,  dass  der  Nordkaper  selbst  ihr 
den  Stein  gegeben  und  andere,  wie  der  Schaman  Akutazyn,  dass  sie  ihn 
gefunden  habe.  Genug,  Kitschuginsi  verschluckte  einen  Stein  und  trank 
danach  von  den  Wellen,  die  der  Abzug  der  Wallfische  hinterliess.  In  Folge 
davon  wurde  sie  schwanger  und  gebar  schon  nach  acht  Monaten  einen  Sohn, 
den  sie  für  einen  gewöhnlichen  Menschen  hielt,  der  aber  der  El  war.  Wäh- 
rend der  Schwangerschaft  hatte  sie  sich  vor  ihrem  Bruder  an  einem  abgele- 
genen Orte  verborgen  gehalten." 

„Schon  in  seiner  frühesten  Jugend  machte  seine  Mutter  diesem  El  einen 
Bogen  und  Pfeile  und  sobald  sie  ihm  deren  Anwendung  gezeigt  hatte,  wurde 
er  ein  so  geschickter  Flug -Schütze,  dass  er  keinen  vorbeifliegenden  Vogel 
verfehlte.  Nur  allein  von  den  Kun  oder  Colibris  erlegte  er  so  viele,  dass 
die  Mutter  sich  aus  deren  Bälgen  ein  ganzes  Oberkleid  nähete***)  und  um 
seiner  Jagdlust  zu  genügen,  baute  er  sich  dann  auch  eine  kleine  Schiess- 
hütte. Als  er  in  dieser  einmal  während  der  Morgendämmerung  versteckt 
war,  setzte  sich  dicht  vor  die  Thür  ein  grosser  Vogel,  der  wie  eine  Elster 
gestaltet,  einen  langen  Schwanz  hatte  und  einen  sehr  langen,  dünnen,  glän- 
zenden Schnabel,  der  fest  war  wie  Eisen. f)  Es  war  der  Kuzgatüli,  d.  h. 
der  Himmelsvogel.  El  schoss  ihn,  nahm  ihm  den  Balg  ab  und  zog  ihn  sich 
über  —  worauf  er  sofort  Lust  und  Fähigkeit  fühlte  zu  fliegen  und  dann  auch 
grade  aufstieg  bis  an  eine  Wolke,  in  die  sich  der  Schnabel  so  fest  einbohrte, 


*)  Aus  dem  Koljuschischen  buchstäblich  ins  Griechische  übertragen,  wird  dies  das  Ho- 
merische tnnxTTJs  xlait  xctStjuevos  wie  Od.  E,  v.  22;  vergl.  auch  oben  S.  314. 

**)  Vielleicht  contrahirt  für  Kuchonton,  welches  das  zahlreichste  Geschlecht  des  Wolfs- 
stammes bezeichnet,  ein  Geschlecht,  das  selbst  wieder  in  die  Sippschaften  Kutschi-tan,  Aniki- 
gaisch-tan,  Kukisch-tan  u.  A.  zerfällt. 

***)  So  wie  jetzt  namentlich  bei  den  Aleuten  nur  von  Colymbus  arcticus  und  anderen  ge- 
meinen und  grossen  Vögeln.  Da  der  Colibri  offenbar  das  koljuschische  Symbol  der  Liebenswür- 
digkeit ist,  so  besass  die  Gottesmutter  nun  diese  in  weit  höherem  Masse  wie  ihre  berühmte 
Schwägerin. 

t)  Dass  das  Eisen  bei  den  Koljuschen  jetzt  den  ganz  selbstständig  scheinenden  Namen 
kies  führt,  ist  anderweitig  bekannt  und  unten  näher  zu  erwähnen.  Eine  vorhistorische  Ent- 
stehung ist  aber  für  diese  El-Sage  oder  doch  für  ihre  vorliegende  Version  nicht  sicher  genug 
bewiesen,  um  Bie  auf  Grund  der  obigen  Worte  auch  von  der  Bekanntschaft  der  Koljuschen  mit 
dem  Eisen  behaupten  zu  dürfen. 


374 

dass  er  ihn  kaum  zurückziehen  konnte.  Er  liess  sich  aber  herunter,  ging  in 
sein  Haus,  zog  den  Balg  aus  und  verbarg  ihn  sorgfältig.  Ein  anderes  Mal 
schoss  er  eine  grosse  Ente  und  bekleidete  mit  ihrem  Balg  seine  Mutter,  die 
dann  sofort  auf  dem  Meere  schwimmen  konute."*) 

„Als  El  herangewachsen  war  und  von  seiner  Mutter  die  Unthaten  ihres 
Bruders  gehurt  hatte,  ging  er,  wahrend  sich  dieser  im  Walde  auf  Zimmer- 
arbeit befand,  in  sein  Haus,  öffnete  den  Kasten,  in  den  die  Frau  gesteckt 
war  und  liess  ihre  Colibri  davon  fliegen.  Den  gekränkten  Ehemann  erwartet 
er  ruhig,  wird  von  diesem  zu  einer  Seefahrt  aufgefordert  und  über  Bord  ge- 
worfen, geht  aber  ungesehen  auf  dem  Meeresgrunde  landwärts,  wo  er  nach 
vier  Tagen  wohlbehalten  wieder  auftritt  und  seinen  Mutterbruder  zu  dem 
Rufe:  „dann  komme  das  Diluvium"  (russisch  potöp,  d.  i.  die  Mosaische- 
oder  Sünd-Fluth)  veranlasst.  El  entgeht  auch  dieser  nachdrücklicheren  Verfol- 
gung seines  menschlichen  Verwandten,  indem  er  mit  Hülfe  des  Himmels- 
vogel-Balges an  die  Wolken  fliegt,  sich  daran  aufhängt  und  das  Fallen  der 
Gewässer,  „die  alle  Berge  überfluthen  und  ihm  sogar  den  Schwanz 
benetzen",  abwartet.  Nach  seiner  Rückkehr  zur  Erde  soll  er,  nach  einer 
Version,  ins  Meer  auf  einen  Haufen  Seekohl**)  gefallen  und  durch  eine 
Seeotter  ans  Land  gezogen  worden  sein  —  nach  einer  andern  (bei  den  Sta- 
diner Koljuschen)  aber  auf  die  Tschirikow-  oder  Charlotten-Insel,  von 
wo  er  in  seinem  Schnabel  einige  fruchtbare  Zweige  der  Tschaga  oder  Rie- 
sentanne brachte,  die  jetzt  auf  verschiedenen  Inseln  des  Küsten-Archipels 
sporadisch  vorkommt  und,  wTie  die  grosse  Pappel  auf  Kamtschatka,  das  un- 
schätzbare Material  zu  den  einstämmigen  Booten  liefert. 

Die  etwas  phantastische  oder  transcendent-philosophische  Weise,  in  der 
die  Fortsetzung  dieser  Geschichte  des  Gottes  das  Verfahren  schildert,  durch 
das  er  Sterne,  Mond  und  Sonne,  die  latent  geblieben  waren,  sensibel 
gemacht  hat,  kann  man  theils  mit  der  Mosaischen  Fabel,  theils  und  vollstän- 
diger mit  der  griechischen  Prometheus-Sage  vergleichen  —  denn  wie  in  der 
ersten  lassen  auch  die  koljuschischen  Weisen  jene  Lichter  erst  nach  und  für 
die  Erde  entstehen  und  wie  in  der  anderen  geschieht  dies  sogar  zum  Ge- 
brauch für  die  längst  vorhandenen  menschlichen  Bewohner  der  Erde  durch 
List  und  Kühnheit  eines  Heroen.  Eigenthümlich  ist  nur,  dass  El  nicht  selbst 
die  drei  Kasten  stehlen  konnte,  in  denen  ein  fern  wohnender  Mann  die  dreierlei 
Lichter  versteckt  hielt.  Der  Gott  El  zeugt  vielmehr  der  aufs  Strengste  be- 
wachten Tochter  dieses  abgünstigen  Reichen  einen  Sohn,  indem  er  sich,  iu 
einen  Grashalm  verwandelt,***)    ihrer  Speise  beimischt,    und  es  ist  der  ver- 


*)  Die  Verwandlungen  der  Ichct  durch  Masken  und  Tliierfelle  sollen  demnach  ebenfalls 
für  reell  und  der  Gottheit,  die  sie  genau  ebenso  vollführte,  abgelernt  gehalten  werden. 

**)  Fucus  esculentus  oder  eine  verwandte  Species.  Vergl.  meine  Reise  u.  s.  w.,  histor. 
Ben,  Bd.  III,  S.  47,  82. 

*••)  Auch  bei  dieser  Gelegenheit  werden  von  der  Sage  Efs  Verwandlungen  in  die  ver- 


375 

zogenc  Enkel  des  Lichtbesitzerfl  oder  richtiger  der  zum  zweiten  Mal  jung- 
fräulich geborne  El,  der  mich  einander  ein  jedes  der  drei  kostbaren  Be- 
bälter  zum  Spielzeug  erhall  und  sie  zum  Besten  des  aoch  unerleuchteten 
Menschengeschlechts  öflhei. 

Seine  Todtenerweckung  vollzieht  El  bei  einer  von  seinen  auf  die  grosse 
Fluth  folgenden  Wanderungen  gegen  Osten  durch  den  gesunden  Ge- 
schlechtstrieb, indem  er  gewisse  Jünglinge,  die  er  ertrunken  oder  sonst 
verstorben  auffindet,  mit  Haaren  eines  Mädchens  unter  der  Nase  berührt.") 
Dass  der  Gott  sich  jetzt  gegen  Osten  auf  die  Quellberge  des  Naas  zurück- 
gezogen habe  und  den  Menschen  und  Geistern  schwer  zugänglich  geworden 
sei,  wurde  oben  erwähnt  (S.  304  Anm.). 

An  diesen  El-  oder  Gottes-Sagen  waren  die  Koljuschen  so  reich, 
dass  es,  wie  einer  ihrer  Ichet  sich  ausdrückte,  niemals  einen  Menschen,  dem 
sie  alle  bekannt  waren,  gegeben  hat.  Bemerk enswerth  ist  zunächst,  dass 
viele  der  übernatürlichen  Leistungen,  welche  die  hiesige  Tradition  der  Gott- 
heit zuschreibt,  von  den  Priestern  genau  nachgeahmt  werden,  wie  z.  B.  das 
Versenken  und  viertägige  Verschwinden  auf  dem  Meeresgrund  (oben  S.  370 
und  371)  und  die  Verwandlungen,  durch  die  sich  El  seinen  Verfolgern,  die 
lebet  aber  der  Wissbegierde  ihrer  Gemeinde  entziehen.  Von  den  heiligen 
Comödien  des  christlichen  Mittelalters  unterscheiden  sich  demnach  die  scha- 
inanisch-ainerikanischen  wohl  nur  dadurch,  dass  sie  etwas  vollständigeren 
Glauben  an  die  Wirklichkeit  des  Dargestellten  und  dadurch  an  die  göttliche 
Mission  der  Priesterschaft  beanspruchen.  Die  Aeusserung  der  koljuschischen 
Laien,  dass  auch  sie  sich  bemühten,  gerade  so  zu  leben,  wie  man  von  El 
erzählte,  bezieht  sich  dagegen  besonders  auf  eine  Klasse  ihrer  Götter-Sagen, 
die  in  ihrer  didaktischen  Natur  mit  ähnlichen,  die  ich  auf  Kamtschatka  ge- 
hört habe,  übereinkommen.  Auf  die  Frage  nach  der  Bedeutung  von  Kutcha, 
d.  i.  von  dem  alten  landesüblichen  Namen  der  Gottheit,  wurde  mir  dort  das 
eine  Mal  eine  bemerkenswerthe  Vorsicht ,  deren  es  beim  Bärenstechen  be- 
darf, und  ein  anderes  Mal  eine  kluge  Art  von  Treibjagd  auf  Ovis  Argali 
mitgetheilt,  mithin  zwei  Jagdregeln,  die  man  durch  eine  dichterische  Ein- 
kleidung nur  eindringlicher  und  unvergänglicher  gemacht  hatte.**) 

Von  den  heiligen  Traditionen  der  Koljuschen  gehört  aber  zu  dieser  Klasse 
z.  B.  die  Erzählung,  wie  El  den  kleinen  Fisch,  den  sie^Sak***)  nennen  und 


sehiedensten  Thiere  und  Pflanzen  als  besonders  göttlich  hervorgehoben  und  dabei  seine  Vorliebe 
für  die  Gestalt  eines  Raben,  der  auf  koljuschisch  el  heisst,  und  den  die  eine  Hälfte  der  Ko- 
ljuschen (der  sogenannte  Rabenstainm)  als  Gesehleehts-l'enaten  anerkennt  und  abbildet. 

*)  Vgl.  dieselbe  metaphorische  Wendung  in  einer  nnten  zu  erwähnenden  aleutischen  Sage. 

**)  Vgl.  meine  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  III,  S.  281  und  457. 

***)  Nach  Wenjaminow  soll  dieser  «Sak  geradezu  die  russische  Koljüschka,  d.  i.  Salmo 
Ei>erlanus  oder  der  europäische  Stint  sein,  und  man  kann  ihn  daher  jedenfalls  für  eine  mit 
diesem  nahe  verwandte  kleine  Lachsart  halten  —  nicht  aber  für  den  Stichling  (  Gaster  acanthus 
cataphraclus  Pallas),  der  unter  dem  Namen  Chächeltsche  auf  Kamtschatka  in  einer  der 
oben  geschilderten  sehr  nahe  kommenden  Weise  gefunden  wird.    Vergl.  Erman  a.  a.  0.  S.  345. 


376 

aus  dem  sie  das  Fett,  welches  eines  ihrer  wesentlichsten  Nahrungsmittel  aus- 
macht gewinnen,  „den  Menschen  dadurch  geschenkt",  d.  h.  ihn  fang- 
bar gemacht  habe,  „dass  er  Feindschaft  zwischen  den  Möwen  und 
dem  Reiher  stiftete".  Von  gewissen  dem  Meere  nahen  und  mit  ihm 
communicirenden  Süsswasserstellen  werden  nämlich  nun  die  langschnäbligen 
und  daher  tief  fischenden  Reiher  durch  die  Möwen  verjagt,  so  dass  die 
Schwärme  jener  stintähnlichen  Fische  ungestört  aufsteigen  und  dem  Menschen 
zu  Theil  werden  können.  Die  Fabel  lehrt  aber  nützlicherweise,  dass  man 
den  £ak  nur  da  zu  suchen  habe,  wo  sich  keine  Reiher  halten  und 
zu  den  Ausschmückungen  gehört  dann  nur,  dass  El,  als  Dank  für  sein  di- 
plomatisches, d.  h.  kriegstiftendes  Verfahren  in  der  Thierwelt  von 
einem  Greise,  welcher  den  (jetzt  wohl  stintreichen)  District  des  Koljuschen- 
landes,  den  man  -Sik  nennt,  bewohnte,  eine  ganze  Batladung  von  jenen  da- 
mals neuen  Fischen  und  das  Bat  dazu  zum  Geschenk  erhalten  habe.  — 

In  einigen  dieser  Sagen,  von  geographischer  oder  lokal -kosmogonischer 
Bedeutung,  ist  von  Kämpfen  des  El  mit  Wesen  die  Rede,  die  ihm  an  Macht 
und  Unvergänglichkeit  nicht  nachzustehen  scheinen,  z.  B.  mit  einem  gewissen 
Kanuk,  dem  El  das  diesem  zugehörige  Quellwasser  auf  einer  sehr  kleinen 
Felsinsel  in  der  Nähe  von  Sitcha  abzugewinnen  hatte,  der  bei  dieser  Gelegen- 
heit den  Gott  in  Verwandlungen  überbietet  und  sogar,  als  El  seine  ursprüng- 
liche weisse  Rabengestalt  angenommen  hatte,  ihn  in  seiner  Wohnung  ein- 
gesperrt, über  dem  Heerdfeuer  geräuchert  und  dadurch  für  immer  geschwärzt 
hat.  Eine  wesentlich  monotheistische  Beschaffenheit  könnte  man  indessen  der 
kolj  uschischen  Religion  wohl  trotz  dieser  kleinen  Anomalien  zuschreiben.*)  — 
Etwas  schwieriger  für  das  europäische  Verständniss  scheint  dagegen  die  Lehre 
von  den  Jek  oder  Geistern,  welche  die  kolj  uschischen  Schamanen  ebenso 
wie  die  vielen  nordasiatischen  Stämme  als  Dispensatoren  des  göttlichen  Wil- 
lens darstellen.  Sie  selbst  nennen  sich,  wie  schon  erwähnt,  nur  Werkzeuge 
dieser  Wesen  und  Vermittler  zwischen  ihnen  und  den  Menschen.  Die  Jeks 
haben  —  was  der  christliche  Missionar  bewundert  —  durchaus  nichts  von 
teufelischer  Beschaffenheit  an  sich.  Es  bedarf  dagegen  gewisser  tugend- 
haften Observanzen  um  sie  geneigt  zu  machen.  So  ist  jede  Art  von  Rein- 
lichkeit eine  stete  Pflicht  für  den  Ichet  der  beständig  mit  ihnen  umgeht  und 
für  das  Volk  eine  besondere,  während  es  seiner  Begeisterung  beiwohnt.  Die 
bisweilen  vorkommende  Erwähnung  von  Jeks  unter  neuen  Namen  und  die 
Behauptungen  der  Ichet,  dass  sie  sich  vergeblich  bemühen  oder  dass  es  ihnen 
endlich  gelungen  ist,  mit  einzelnen  dieser  Geister,  die  schon  ihren  Vätern 
oder  Vorgängern  beistanden,  in  Berührung  zu  kommen,  machen  es  wahrschein- 


*)  Kanuk  wird  ausserdem  von  den  Koljuschen  für  den  Stammvater  ihres  Wolfs  Stam- 
mes ausgegeben,  obgleich  sein  Name  mit  dem  Worte  Khutsch,  welches-auf  Koljuschisch  einen 
Wolf  bedeutet,  nichts  gemein  hat.  Für  die  zweite  Hälfte  des  Volkes  oder  den  Rabenstamm 
führen  dagegen,  wie  schon  bemerkt,  der  Gott,  der  Stammvater  und  das  benennende  Thier  den 
Namen  El  gemeinsam. 


377 

lieh,  dass  diese  ganze  Lehre  mit  ihren  Vorstellungen  von  einer  Fortdauer 
nach  dem  Tode  zusammenhängt.  Ein  unsichtbares  Vorhandensein  ihrer  Ver- 
storbenen wird  aber  von  den  Koljuschen  jedenfalls  und  für  so  unzweifelhaft 
angenommen,  dass  die  Neugebornen ,  welche  Mattermale  oder  andere  Abnor- 
mitäten mit  einem  ihrer  Voreltern  gemein  haben,  ohne  Weiteres  für  umgestal- 
tet Wiedergekommene  erklären,  und  durch  den  Namen,  den  sie  ihnen  geben, 
an  den,  den  sie  dann  früher  geführt  hätten,  erinnern.  Auch  geht  eben  dahin 
der  von  sogenannten  Kaigen  oder  Proletariern  oft  geäusserte  Wunsch  zu 
sterben,  um  in  Gestalt  eines  neugebornen  Reichen  wieder  zu  kommen. 

Unter  den  Aehnlichkeiten  zwischen  Einzelnem  aus  diesem  coniplizirten 
Sagen-  oder  Religions-System. der  Koljuschen  und  aus  anderen  schamanischen 
Lehren  in  Nordasien  und  in  Nordamerika,  von  denen  wir  dürftigere  Nachrich- 
ten besitzen,*)  scheint  doch  die  des  ersteren  mit  dem  Gottesdienst  der  Ost- 
jaken  am  unteren  Obj  sehr  ausgezeichnet  und  kaum  für  zufällig  zu  erklären. 
Die  Ostjaken  in  Obdorik  bewaffneten  sich  zu  einer  Art  Tanz  bei  ihren  scha- 
manischen Festen  mit  Säbeln  und  Lanzen,  die  sie  sich  nur  zu  diesem  Zwecke 
verschafft  hatten  und  aufbewahrten  und  an  welche  nun  die  in  gleicher  Weise 
gebrauchten  Dolche  der  Koljuschen  ebenso  bestimmt  erinnerten,  wie  das  Ver- 
fahren mit  den  wahrsagenden  Priestern  am  Obj  an  das  entsprechende  auf 
6'itcha.  **)  Man  konnte  aber  dann  ferner  kaum  anders  als  durch  gemeinsamen 
Ursprung  erklären,  dass  die  Ostjaken  den  Gott,  dem  sie  in  dieser  Weise 
dienen,  Jelan,  die  Koljuschen  aber  den  ihrigen  El  und  nach  Anderen  sogar 
Jel  nennen  (oben  S.  371).  Ich  habe  schon  vor  langer  Zeit  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  dass  die  Sprache  der  Ostjaken  und  von  ihren  Gebräuchen  ge- 
rade diese  Waffentänze  mit  der  Sprache  und  alten  Sitte  der  Ungarn  aufs 
nächste  übereinstimmten  und  diese  Thatsache  ist  seitdem  durch  Reguly,  Cas- 
tren  und  andere  madjarische  Forscher  zum  unzweifelhaftesten  Beweis  eines 
gemeinsamen  Ursprunges  dieser  beiden  Völker  erhoben  worden.  Die  jetzt 
wahrscheinlich  gewordene  U  eberein  Stimmung  wichtiger  Sitten  bei  den  Kolju- 
schen und  Ostjaken  wäre  demnach  gleichbedeutend  mit  einer  solchen,  die 
(nicht,  wie  so  oft,  durch  die  Gleichheit  menschlicher  Instincte,  sondern  durch 


*)  So  mit  der  Lehre  und  Wirksamkeit  der  Tadybi  oder  Schamanen  bei  den  Samojeden 
nach  Erman,  Reise  u.  s.  w.,  histor  Ber.,  Bd.  I,  S.  661  und  Arch.  für  wissenschaftl.  Kunde  von 
Russland,  Bd.  IV,  S.  597  ff.,  und  der  Schamanen  bei  den  Tschuktschen,  selbst  nach  den  sehr 
befangenen  Schilderungen  im  Arch.  f.  wissensch.  Kunde  von  Russl ,  Bd  III,  S.  459  und  F.  von 
Wrangel,  Reise  längs  der  Nordküste  von  Sibirien  u.  s.  w  ,  Berlin  1839,  Thl  I,  S.  286  ff.  Ueber 
die  verwandten  Erscheinungen  in  Amerika  ist  u.  A.  das  zu  vergleichen,  was  Catlin  von  den  reli- 
giösen Sagen  der  Mandan  erfahren  hat,  die  mit  den  Sitchaern  durch  bestimmte  Beziehung 
auf  eine  grosse  Fluth  übereinstimmen,  in  Letters  and  Notes,  Vol.  I,  pag.  163  ff.  Dies  geschieht 
noch  specieller,  da  die  Koljuschen  neben  der  Fluth  nach  der  obigen  El-Sage  auch  von  dersel- 
ben oder  einer  späteren,  ihr  gleichen  Fluth  aussagen,  dass  sie  gewisse  Menschen  betroffen  habe. 
Diese  sollen  sich  auf  einem  grossen  Fahrzeuge  gerettet  haben,  durch  dessen  Spaltung  beim 
endlichen  Stranden  aber  in  Tlinkit,  d.  i.  Koljuschen  und  in  Andersredende  geschie- 
den worden  sein. 

••)  Erman,  Reise  a.  a.  0.  S.  673  ff. 


378 

nachweisbare  uralte  Tradition)  zwischen  dermaligen  Oesterreichern  und  nord- 
westamerikanischen Eingebornen  entstanden  ist.  Erklärt  würde  hierdurch  zu- 
gleich, wie  die  madjarische  Sprache,  nach  den  Untersuchungen  von  Gyarma- 
thi,  einem  nordamerikanischen  Dialecte  (dein  des  einst  sogenannten  Algon- 
kinen-Stammes  in  Ganada)  in  einer  noch  entscheidenderen  Weise  verwandt 
sein  könne,   wie   vielen   mit  ihr  verglichenen   asiatischen.*) 

Es  stehen  hier  schliesslich  einige  Ergänzungen  über  Sitten  und  Eigen- 
Ihümlichkeiten  der  Kolj tischen,  deren  Vorhandensein  meine  Erfahrungen  auf 
Sitcha  zwar  aligedeutet,  alter  theils  ganz  unklar,  theils  genauerer  Untersuchung 
bedürftig  gelassen  hatten. 

Freiheit  und  Sklaverei  bei  den  Koljuschen. 
Die  bei  den  Sitchaer  Russen  übliche  Bezeichnung  eines  angeblich  be- 
vorrechteten Standes  unter  den  Koljuschen  durch  das  jakutische  Wort 
Tojon  beruhte  theils  auf  Täuschung  durch  die  Begriffe,  welche  Europäer 
noch  überall  mit  sich  zu  bringen  pflegten,  theils  auf  falscher  Auslegung  einer 
vorhandenen,  aber  ganz  anders  gemeinten  Unterscheidung.  Auf  Sitcha  und 
in  den  übrigen  koljuschischen  Gemeinden  gaben  ursprünglich  ebenso  wie  auf 
Kamtschatka  nur  das  Alter  und  die  Anstelligkeit  gewissen  Männern  einen 
Vorrang,  der  in  nichts  weiterem  bestand,  als  dass  man  ihrem  Käthe  folgte, 
sowie  auch  bei  Kriegszügen,  gemeinsamen  Jagdunternehmungen  und  dergl. 
ihrer  Führung.'")  Die  vollständigste  Freiheit  jedes  Eingebornen  wurde  aber 
hierdurch  nicht  beeinträchtigt,  weil  es  kaum  verbotene  Handlungen,  in  kei- 
nem Falle  aber  auf  dergleichen  gesetzte  Strafen  oder  gar  mit  deren  Ausfüh- 
rung vorzugsweise  Berechtigte  gab'**)  und  weil  endlich  von  Niemand  Abga- 
ben gezahlt  oder  empfangen  wurden.  Auf  Kamtschatka,  wo  Steller  und  Kra- 
scheninikow  diesen  primitiven  Zustand  noch  wie  einen  kaum  vergangenen 
geschildert  haben, f)  hatte  man  ihn  doch  bereits,  durch  Belegung  jener  Ver- 
trauensmänner in  den  Ortschaften  mit  dem  .sibirisch-russischen  Ehrentitel  To- 
jon, in  den  noch  jetzt  bestehenden  Zustand  umgewandelt,  d.  h.  durch  Ver- 
anlassung dieser  Männer  zur  Einsammlung  des  jährlichen  Tributes,  zu  dem 
sich  ihre  gutmüthigen  Landsleute  verstanden  hatten.ff) 


*)  Erman,  Reise  a.  a.  0    S.  666. 
*»)  Erman,  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  III,  S.  421. 

***)  In  den  sehr  seltenen  Fällen  von  Tocltschlag,  Ehebruch  oder  anderweitigem  Diebstahl 
suchte  jeder  nichl  die  Bestrafung,  sondern  die  Sühne  zu  erlangen,  so  wie  er  konnte  und  wie 
ihm  beliebige  freunde  dazu  verhalten.  Wenjaminow,  Sapiski  pr.,  tsch.  III,  st.r.  40.  Vergl. 
auch  über  das  heidnische  Mittel  gegen  Verbrechen  auf  Kamtschatka  meine  Heise  a.  a.  0.  S.  263 
Anmerkung. 

t)  Opisanie  Kamtschatkie,  tsch.  HI,  str.  14.  „Bis  zur  Unterwerfung  unter  die  Russen  hat 
dieses  Volk  in  voller  Freiheit  irelebt  ....  Ausser  den  Alten  und  Erfahrenen,  deren  Bathschläge 
sie  vorzogen,  waren  Alle  gleich,  Niemand  befahl  oder  Hess  sich  befehlen  und  Niemand  wagte 
einen    Andern   zu  strafen." 

tt)  Siehe  ibid.  pag  253  ein  V*erzeicbni88  von  :!<)  Männern  und  deren  Wohnorten,  denen 
mau  neuerdings  (um   1730)  zu  dem  Verhauen,  welches  sie  bei  den  Kamtschadalen  genossen,  den 


379 

Während  ich  die  Koljusehen  gesehen  habe,  gehört«  q  sie  nun,  sowie  einige 
andere  Stämme  der  amerikanischen  Westküste,  zu  denjenigen  freien  aber  ver- 
bündeten Völkern,  bei  denen  man  das  unter  den  tributpflichtigen  so  wirksam 
gefundene  Mittel  vorläufig  und  vielleicht  vorbereitend  anwendete.  Man  hatte 
die  sogenannten  Tojone  auf  Micha,  indem  man  neben  ihrem  itolzen  Selbst- 
gefühl auf  ihre  kindliche  Eitelkeit  rechnete,  durch  Verleihung  von  kupfernen 
Medaillen  verpflichte!  und  zum  Theil  auch  durch  wahre  N<  3  sus- Kleider, 
d.  i.  durch  alte  Uniformsröcke,  die  sie  wohl  bei  friedlichen  Besuchen  des 
russischen  Gebietes  ad  Ihren  übrigens  uackten  Körper  zogen,  bei  dm  Rück- 
kehr zu  den   Ihrigen  aber  gebührend  verhöhnten  und  verabscheuten. 

Die  Einsicht  in  diese  Verhältnisse  machte  es  um  so  auffallender,  dass 
unter  den  Koljusehen,  mit  denen  man  täglich  umging,  ganze  Familien  von 
Sklaven  sein  sollten,  von  denen  manche  bei  namhaft  gemachten  Gelegenhei- 
ten durch  die  Herren,  denen  sie  angehörten,  getödtet  würden.  Ausser  dem 
Maugel  der  Kaljuga  bei  den  Frauen  dieser  Familien  können  sich  dieselben 
von  den  Freien  wohl  kaum  durch  ein  auffallendes  Zeichen  unterschieden  ha- 
ben, noch  viel  weniger  aber  durch  die  Begegnung,  die  sie  von  diesen,  so  oft 
ich  beide  zusammen  gesehen  habe,  erfuhren.  Von  den  Russen  wurden  sie 
Kalgi  genannt  und  es  ist  merkwürdig,  dass  dieses  Wort  weder  der  kolju- 
schischen  Sprache  angehört,  in  der  vielmehr  kuch  für  einen  Dienenden  ge- 
braucht werden  soll,  noch  der  auf  andere  Sitchaer  Begriffe  übertragenen  ale- 
utischen.  In  dieser  heisst  ein  Diener  oder  Sklave  Täljakh.*)  --  Dennoch 
scheint  die  Versicherung  der  auf  Niteha  Ansässigen  richtig,  dass  diese  Zurück- 
setzung der  einen  Klasse  des  Volkes  ebenso  alt  wie  die  Gleichheit  der  Uebri- 
gen,  die  sogenannten  Kalgi  aber  theils  durch  ihre  Besitzer  selbst  erbeutete 
Kriegsgefangene  oder  deren  Abkömmlinge  seien,  theils  dergleichen  von 
benachbarten  Stämmen  gekaufte.  Das  meist  völlig  gleiche  Aeussere  der  Freien 
und  Kalgi  erklärte  sich  dann  durch  die  Beschaffenheit  ihrer  sogenannten 
Kriege,  bei  denen  es  sich  weit  öfter  um  Eifersuchten  und  Missverständnisse 
zwischen  zwei  koljuschischen  Dörfern  gehandelt  hat,  als  um  dergleichen  mit 
anders  redenden  Stämmen**)  —  aber  um  desto  seltsamer  erscheint  die  Ge- 
duld, mit  der  sich  diese  Sklaven  theils  augenblicklich,  theils  viele  Generatio- 
nen hindurch  in  ihr  zufälliges  Schicksal  gefunden  haben.  Bei  den  nomadi- 
schen und  bei  den  ansässigen  Tschuktschen  an  der  Eismeerküste  von  Kolju- 
tschin  gegen  die  Beringsstrasse  hat  Capitain  Wrangel  ein  gleiches  Yerhält- 
niss  ebenso  unklar  gefunden.  Erst  nach  längerem  Umgang  mit  diesem  frei- 
heitsliebenden   und   tapferen  Volke    bemerkte   er  mit  Verwunderung,    dass  es 

Titel  Tojon  hinzugefugt  hatte,  sowie  die  Angabe  des  jährlichen  Fell-Tributes,  den  sie  zu  sam- 
meln übernahmen. 

*)  Der  Begriff  des  ITerrschens  oder  Befehlen.^   scheinl    aber  auch   dort  so  Fremd  gewesen 
zu  sein,  dass  das  russische  Z a r  durch  das  offenbar  moderne  Fabrikat:  Tanamagügu      Erden- 
gott von  dem  aleutischen  Tanakh  =  Erde  und  agugukh       Gott  ausgedrückt  werden  musste. 
*•)  VergL  Er  man.  Reise  u.  s.  w.,  bistor.  Ber.,  Bd.  III,  S.  20S  über  dergleichen  Kriege  bei 
den  Kamtschadalen  und  Catlin,  letters  and  notes,  Vol  1,  pag.  130  u    v.  A. 


380 

unter  ihm  wahre  Leibeigene  gäbe,  indem  gewisse  dienstthuende  Familien  kein 
Eigenthum  hatten  und  sich  von  den  Wohlhabenden,  von  denen  sie  abhingen, 
nie  entfernen  durften.  Sie  erhielten  von  diesen  "Wohnung  und  Kleidung,  ver- 
standen sich  aber  dagegen  so  vorzugsweise  zu  den  schweren  Arbeiten,  dass 
sie  neben  den  Schlitten  herlaufen  mussteu,  um  die  Hunde  anzutreiben.  "We- 
der die  Tschuktschen  noch  die  Dollmetscher  wussten  auf  Erkundigungen  nach 
dem  Ursprung  dieses  Zustandes  mehr  zu  erwidern,  als  dass  es  immer  so  ge- 
wesen sei  und  deshalb  so  bleiben  müsse.  Nur  vermuthungsweise  sagt  daher 
Wrangel,  dass  auch  diese  tschuktschischen  Sklaven  wohl  Abkömmlinge 
ehemaliger  Kriegsgefangenen  seien.*) 

Die  Tödtung  der  koljuschischen  Kalgi  ist  auf  Äitcha  von  jeher  und  ein- 
stimmig für  einen  religiösen,  d.  h.  von  den  Schamanen  aufrecht  erhaltenen 
Gebrauch  erklärt  worden,  den  man  namentlich  bei  der  ersten  Gedächt- 
nissfeier für  einen  Verstorbenen  ausübte.  Diese  Feier  erfolgt  erst 
beträchtliche  Zeit  nach  dem  Tode  des  Betreffenden,  nämlich  zugleich  mit  der 
Verbrennung  seiner  Leiche,  welcher  man,  offenbar  zur  Erleichterung 
des  Processes,  eine  genügende  Verwesung  oder  doch  Austrocknung  vorher- 
gehen Hess.**)  Nachdem  dann  die  Angehörigen  des  Verstorbenen  ihr  Kopf- 
haar geschoren  oder  es  an  demselben  Feuer  wie  die  Leiche  bis  auf  die  Wur- 
zeln abgebrannt,  bei  dem,  seiner  Frömmigkeit  wegen  berühmten,  Stamm  der 
Kaiganer  Koljuschen  auch  sich  die  Gesichter  mit  scharfen  Steinen  zerschnit- 
ten hatten,  wurden  von  ihnen  und  von  den  aus  anderen  Ortschaften  eingela- 
denen Gästen  laute  Klagerufe  und  Trauergesänge  angestimmt  und  während 
derselben  ein  oder  zwei  Kaigen  umgebracht.***)  Auf  »Sitcha  sagte  man  uns, 
dass  dazu  die  Zusammendrückung  des  Halses  mittelst  eines  über  denselben 
gelegten  Balkens,  also  ein  bekanntlich  auch  in  China  beliebtes  Verfahren,  an- 
gewendet werde.  Herr  Wenjaminow  versichert  aber,  dass  man  sich  dieser 
Art  der  Hinrichtung  nur  bediente,  wenn  der  Gefeierte  an  einer  Krankheit 
gestorben  war,  während  zum  Andenken  an  einen  Ertrunkenen  oder  ander- 
weitig gewaltsam  Umgekommen  den  ihm  geweihten  Kaigen  auch  die  ihm  zu- 
gekommene Todesart  bereitet  wurde.  Er  behauptet  ferner,  dass  die  bei  die- 
ser Leichenfeier  geopferten  Sklaven  durchaus  nicht  zu  denen,  die  dem 
Verstorbenen  gedient  hatten,   gehören  durften,   sondern    von  den  Trau- 


*)  P.  v.  Wrangel's  Reise  längs  der  Nordkiiste  von  (Sibirien,  Berlin  1 839,  Bd.  II,  S.  229. 
**)  Wo  und  wie  man  die  Leichen  bis  zur  Verwesung  aufbewahrte,  haben  die  Russen  selt- 
samer Weise  nicht  berichtet  oder  doch  nicht  erfahren. 

***)  Ich  theile  übrigens  über  diese  Gebräuche  nicht  die  Ansicht  des  vortrefflichen  und  zu 
früh  verstorbenen  Th.  Simpson,  der  nach  Nachrichten,  die  er  über  die  Leichenverbrennung  bei 
den  sogenannten  Neu-Galedonieru,  d.  i.  den  Anwohnern  der  Mündung  des  Columbia  und  ande- 
ren noch  unmittelbareren  Nachbarn  der  Koljuschen  erhielt,  auf  deren  asiatischen  Ursprung 
schliessen  und  in  der  dortigen  Gewohnheit  der  Wittwe  und  sonstigen  Angehörigen  des  Verstor- 
benen, sich  an  dem  Scheiterhaufen  zu  versengen,  eine  bedeutungsvolle  Erinnerung  an  die  hin- 
dostanische  Wittwenverbrennung  erkennen  wollte.  Vergl.  Thomas  Simpson,  Narrative  of  the  dis- 
coveries  on  the  north  coast  of  America  from  183G  to  39  &c,  pag.  159  u.  160. 


381 

ernden  aus  ihrem  eigenen  Besitz  geliefert  werden  mussten  und  dass  das 
Tödten  von  Kaigen  auch  bisweilen  bei  zweien  anderen  Gelegenheiten  vor- 
gekommen sei,  nämlich  bei  dem  Beziehen  einer  neuen  Ortschaft  oder  Woh- 
nung und  bei  einer  zweiten,  von  der  Leichenverbrennung  unabhängigen  Art 
von  Erinnerungsfesten  an  gewisse  Verstorbene.  Diese  letzteren  Feste  waren 
mit  einer  so  anhaltenden  Bewirthung  vieler  Eingeladenen  aus  anderen  Ort- 
schaften verbunden,  dass  die  Veranstalter  dadurch  für  lange  und  oft  für  immer 
verarmten.  Die  Koljuschen  rechneten  sie  zu  den  von  ihnen  sogenannten 
Kchataschi,  d.  h.  grossen  Festen,  haben  aber  wörtlich  „eine  Aufrich- 
tung der  Verstorbenen"  (podnimanie  pokoinikow)  als  den  besondern 
Zweck  derselben  angegeben.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  sie  dabei,  etwa  so 
wie  die  Griechen  u.  v.  A.  bei  ihren  Bestattungen  an  eine  Hülfe  gedacht  ha- 
ben, deren  die  Geister  zum  Antritt  ihrer  selbständigen  Existenz  bedürfen.*) 

Nimmt  man  noch  hinzu,  dass  die  Leichen  der  Ichet  oder  koljuschischen 
Schamanen"nie  verbrannt,  sondern  sorgfältigst  bekleidet,  das  Gesicht  mit  einem 
Korbgeflecht  (offenbar  gegen  den  Angriff  der  Vögel)  bedeckt,  auf  einem  un- 
zugänglichen und  überdachten  Pfahlgerüst  im  Walde  ausgesetzt  wurden,  dass 
für  sie  mit  der  Verbrennung  auch  die  Tödtung  der  Kaigen  ausdrücklich 
fortfiel  und  dass  endlich  die  Körper  dieser  Schlachtopfer  ohne  jede  Bestattung 
geblieben  sein  sollen,  so  dürfte  über  das  Thatsächliche  dieser  bemerkens- 
werthen  Hergänge  kaum  Weiteres  zu  erfahren  sein.  Von  direct  mit  densel- 
ben Vergleichbarem  scheint  bei  den  östlicheren  Völkern  von  Nord-Amerika 
Nichts  vorgekommen  zu  sein.  Diese  stimmen  zwar  mit  den  Koljuschen  in 
den  Grausamkeiten  gegen  ihren  eignen  Körper  (oben  S.  321)  vollständig  über- 
ein, haben  aber  dergleichen  gegen  Andere  und  namentlich  das  beliebte  Skal- 
piren zwar  sehr  häufig  und  in  Menge,  jedoch  nur  in  der  Hitze  des  Gefechts 
oder  doch  in  Folge  derselben,  sowie  auch,  nach  Catlin's  ausdrücklicher  Ver- 
sicherung, nur  an  bereits  Getödteten  ausgeübt.  Auch  gegen  eine  Vergleichung 
mit  manchen  andern  Leichenopfern  und  namentlich  mit  der  berühmten,  von 
Achilleus  bei  Patroklos'  Bestattung  vollzogenen  Abschlachtung  von  zwölf  Tro- 
janern ist  einzuwenden,  dass  diese  für  einen  im  Kriege  Umgekommenen  an 
gefangenen  Landsleuten  seiner  kriegerischen  Mörder  vor  sich  geht.  Man  könnte 
weit  eher  glauben,  dass  die  Koljuschen  bei  ihrer  friedlichen  Opferung  von 
friedlichen  Kaigen  an  Aehnliches  gedacht  haben,  wie  die  Griechen  bei  der 
ihrer  Lieblings-  oder  Tischhunde  nach  der  Homerischen  Schilderung,**) 
nämlich  an  das  Aufgeben  eines  geliebten  und  doch  nicht  ganz  unentbehrlichen 
Besitzes.  Dieses  ist  weit  wahrscheinlicher  als  die  gewöhnliche  Vermuthung, 
nach  der  die,  doch  übrigens  nicht  absurden  Ichet  auf  die  Notwendigkeit  einer 
Bedienung  der  herrischen  Seelen  durch  die  Seelen  von  Kaigen  gedeutet  hätten 

*)  Vergl.  u.  A.  Homer,  Ilias  '/',  v.  71  seq.  und  v.  114  seq.,  wo  auch  noch  etwas  deutlicher 
die  Schwierigkeit  in  dem  Auskommen  einer  i/'i'^'j  ohne  (pytvsg,  d.  h    einer  Seele  ohne  zugehö- 
riges Zwerchfell  nebst  Eingeweiden  gefunden  wird. 
•*;  Ibid.  v.  183. 


382 


und  es  entspricht  ausserdem  einem  in  den  reflektirenden  Berichten  über  das 
betreffende  Verhältniss  überall  wiederkehrenden  Nachtrag.  Ich  meine  die 
A.ufzählung  der  Umstände,  die  das  Loos  der  koljuschischen  Sklaven  milder- 
ten und  von  der  anscheinenden  Grausamkeit  ihrer  Herren  das  Wenigste  übrig 
dessen. 

Zunächst    ist    nämlich    der   zum  Tode   ausersehene  Kalge   stets   ganz  frei 
ausgegangen,    sobald    es   ihm  gelungen  war,    sich  während  der  Leichen- 
verbrennung   versteckt   zu    halten.       Sodann    soll    bei    der   zweiten   Art 
von    Erinnerungsfeier  das  Wesentliche  darin   bestanden  haben,  dass  der  Fest- 
geber den   Besitz  einiger  Sklaven,  die  er  den  versammelten  Gästen  vorführte, 
aufgab,    während   es    einem   durch   den  Schamanen  vermittelten  Orakel  über- 
lassen  blieb,    ob  er  diesen  Verlust  durch  Tödtung  oder  durch  Freilassung 
derselben   zu    erfahren   hatte.     Solche   Freilassung   von    Kaigen    erfolgte 
aber   ferner   bei  mehreren  ein  für  alle  Mal  dazu  ausersehenen  Gelegenheiten, 
z.  B.  wie  schon  oben- erwähnt  (S.  318),  bei  der  Einsetzung  der  Kaljuga  und 
ebenso  während  der  Feste,  welche  die  allmälige  Ausstattung  der  Knaben  und 
heranwachsenden  Männer  mit  sechs  kleinen  Ohrlöchern  begleiteten  und  beim 
Tode  vieler  Reichen,  welche  ihren  Erben  die  Freilassung  geradezu  auftragen 
und  es  wird  endlich  in  mehreren  Berichten  hinzugefügt,  dass  die  Koljuschen, 
trotz   der  Gewalt   über   Leben  und  Tod   ihrer  Sklaven,    dieselben    „wie   ihre 
eignen  Kinder   hielten   und  behandelten".     Dieser  letztere  Ausdruck  bedeutet 
aber   weit   mehr   als   gewöhnlich   für   ein  Volk,    bei   dem  die  Liebe  zwischen 
Intern    und  Kindern    den   europäischen  Nachbarn  oft  bis  zum  Unverständ- 
lichen   stark    erschienen   ist.      Auf    »Sitcha    wie    auf  den    aleutischen   Inseln 
haben   die  Russen    von   jeher   bewundert,    dass  die  eingebornen  Kinder  ohne 
Kuthe   erzogen   und    überhaupt  von  ihren  Eltern  niemals  geschlagen  wurden. 
Die    bei    beiden  Völkern  herrschende  Sitte,    die  Erziehung   der  Knaben    den 
Grossvätern  zu  überlassen,  schien  aber  den  Äitchaer  Russen  sogar  darin  be- 
gründet, dass  ein  koljuschischer  Vater  zu  zärtlich  sei,  um  das  Geschrei  sei- 
nes Knaben   bei   den   ersten   winterlichen -Seebädern,    zu   denen  man  sie  alle 
anhält   und  Anfangs   zwingen   muss,    zu    ertragen.     Unterstützung   der   Alten 
und  Gebrechlichen  durch  ihre  Kinder  hat  man  gleichfalls  bei  den  Koljuschen 
ohne  jede  Ausnahme   gefunden.     Die  unbegrenzte  Polygamie  der  Koljuschen 
und  die  sonstige  Freiheit  ihrer  Ehen,  bei  denen  nur  etwa  feststand,  den  Frauen 
aus  einem  anderen  Geschlecht  oder  Wohnplatz  den  Vorzug  vor  den  näheren 
Verwandten   zu  geben,    und  vor  der  Heirath  den  Vater  der  Erwählten  durch 
Arbeit  oder  Bezahlung  zu  entschädigen,    hat  also  ihren  Familien  keineswegs 
geschadet.    Kinder  und  Mütter  wurden  übrigens  immer  zu  dem  Stamme,  dem 
der  Vater  angehörte,  gerechnet,  so  wie  auch  frei  gewordene  Kaigen  zu  dem 
ihres  früheren  Herrn. 


383 


Das  Aeussere  der  Koljuschen. 

Es  ist  beraerkenswerth,  dass  den  meisten  Beschreiben]  der  Koljuschen 
gewisse  Ungleichheiten  ihrer  Hautfarbe  aufgefallen  sind.  So  sagt  schon  I- 
mailow  (obeD  8.302)  von  den  ersten,  die  den  Russen  bekannl  wurden,  sie 
seien  von  ansehnlichem  Wuchs,  von  eben  so  dunkler  Hautfarbe  («muglie) 
wie  die  Kad  jaker  gewesen,*)  doch  habe  man  unter  ihnen  auch  weisse  mit 
blonden  oder  röthlichen  Haaren  (rusic)  bemerkt  —  und  noch  in  neue- 
ster Zeit  haben  Admiral  Lütke  und  seine  Begleiter  sogar  allen  Üitchaer  Ko- 
ljuschen eine  Hautfarbe  zugeschrieben,  die  um  Weniges  dunkler  sei  als  die 
europäische  und  eine  von  der  der  sogenannten  Rothhäute  beträchtlich  abwei- 
chende Gesichtsbildung.  Eine  etwas  breite  Gesichtsform ,  grosse  schwarze 
Augen  und  volles  schwarzes  Haar  schienen  ihnen  am  beständigsten  vorzu- 
kommen, und  es  sind  dann  dazu  noch  als  den  Koljuschen  stets  zugeschrie- 
ben eine  gerade  Haltung  und  eine  breite  und  gewölbte  Brust,  sowie  im  \  er- 
gleich mit  der  aleutischen  Physiognomie  der  Mangel  eines  Vorragens  der 
Backenknochen  zu  erwähnen.  Mir  selbst  schien  'die  Hautfarbe  der  Männer 
röther  als  die  der  Frauen,  gewisse  individuelle  Unterschiede  in  derselben  bei 
den  Koljuschen  aber  mit  ähnlichen,  die  ich  bei  den  Kamtschadalen  bemerkt 
hatte,  vergleichbar.  **) 

Man  wird  bei  Beurtheilung  dieser  Erscheinung  unter  Anderem  auch  auf 
Catlin's  Wahrnehmungen  über  dieselbe  und  über  Verschiedenheiten  der  Haut 
bei  den  Man  den  zu  achten  haben,  durch  die  er  sich  zu  einer  höchst  aben- 
teuerlichen Hypothese  über  den  Ursprung  dieses  seltsamen  Volksstammes  ge- 
zwungen glaubt.***) 

Die  Industrie  der  Koljuschen  und  der  benachbarten*  Stämme. 

Das  Wichtigste  über  die  Industrie  und  einige  Kuustleistungen  der  Ko- 
ljuschen soll  hier  mit  dem  Entsprechenden  zusammengestellt  werden,  was  sich 
bei  den  Aleuten  vor  ihrer  Unterwerfung  unter  die  Russen,  sowie  auch  bei 
andern  Anwohnern  des  Berings -Meeres  und  des  angrenzenden  Oceans  vor- 
gefunden hat.  Auf  manche  aleutische  Leistungen  dieser  Art,  die  von  denen 
der  Koljuschen  gänzlich  abweichen  und  doch  mehr  als  eine  oberflächliche  Er- 
wähnung verdienen,   will  ich  aber  weiter  unten  besonders  zurückkommen. 

Bekleidung  und  Stoffe  zu  derselben. 

Die  Kleidung  der  Koljuscheu  ist  ihrer  Form  nach  von  Allem,  was 
man  in  Nord-Asien  zu  sehen  gewohnt  wird,  verschieden.  Mau  kann  I.  et  /.le- 
res in  der  That,  trotz  der  zahlreichen  Unterschiede  bei  den  15  bis  20  Natio- 
nen, die  von  der  Wolga  bis  an  die  Ostküste  von  Kamtschatka  widmen,  unter 

*)  Das  schwarze  Haar  .hat  er  offenbar  für  diese  als  hinlänglich  bekannt  betrachtet 
"*)  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Bei.,  Bd.  III,  S.  243,  408,  201)  u.  a. 
***)  Catlin,  letters  and  notes  &c.,  Vol.  I,  p  94  seq. 


384 

die  zwei  Klassen  eines  runden,  sackförmig  geschlossenen  und  eines 
auf  der  Brust  offenen  A  ermelrockes  zusammenfassen.  Neben  diesen 
erscheinen  die  ärmellosen,  viereckigen  Mäntel,  mit  denen  die  Kolju- 
schen  bisweilen  beide  Schultern,  meist  aber  nur  eine  bedecken,  ebenso  auf- 
fallend, als  sie  auf  dem  amerikanischen  Continent  und  an  dessen  Westküste 
bis  zu  60°  Bieite  gewöhnlich  sind.  Sie  werden  auf  *Sitcha  wie  bei  den  mei- 
sten ihrer  sonstigen  Vorkommen  von  Männern  und  Frauen  ohne  Unterschied 
angewendet.  —  Die  asiatische  Kleiderform,  welche  die  Russen  bald  mit  dem 
ostjakischen  Namen  park  oder  parka,  bald  mit  dem  auf  Kamtschatka  üb- 
lichen kukljanka  bezeichnen,  ist  dagegen  in  ausschliesslichem  Gebrauche 
bei  den  Aleuteri  und  (vielleicht  von  ihnen  ausgegangen)  bei  den  Kadjakern 
sowohl  auf  der  Insel,  nach  der  sie  benannt  sind,  als  an  der  amerikanischen 
Küste  bei  ihren  Stammesgenossen  und  bei  den  Ttynai  von  61°  Breite  bis 
zur  Beringsstrasse,*)  sowie  dann  wieder  gegen  Westen  bei  den  Tschuktschen. 
—  Ueber  den  Stoff  der  koljuschischen  Mäntel  wussten  die  Ätchaer  Russen 
nur  anzugeben,  dass  er  aus  Wolle  des  wilden  Schafes**)  bestehe,  die  aber 
zuvor  zu  Fäden  verzwimt,  darauf  theilweise  äusserst  dauerhaft  und  verschie- 
dentlich gefärbt,  und  endlich  zu  einem  Zeuge  verwebt  oder  verflochten  wer- 
den, dessen  Festigkeit  und  geschmackvoll  farbige  Muster  in  gleichem  Grade 
bewunderungswürdig  seien.***)  — 

Cook  und  seine  Begleiter  haben  an  der  Westküste  der  Vancouver-Insel 
bei  den  sogenannten  Wakasch  (49°,6  Br.,  235°,G  0.  v.  Paris)  genau  dieselbe 
Industrie  in  uralter  Ausübung  gefunden  und  sich  überzeugt,  dass  von  den 
auf  koljuschische  Weise  getragenen  Mänteln,  die  sie  lieferte,  die  eine  Art, 
aus  Fuchswolle ,  so  dicht  war  wie  gröbere  englische  Bettdecken,  die  andere, 
aus  der  Wolle  eines  braunen  Luchs,  den  feinsten  dieser  Decken  an  Dichtig- 
keit nicht  nachstand  und  dass  ausserdem  beide  Arten  weicher  und  warm- 
haltender waren  als  die  europäischen.  Sie  haben  ausserdem  ihre  anfäng- 
liche Voraussetzung,  dass  diese  Zeuge  auf  irgend  einer  Art  von  Webstuhl 
gemacht  würden,  nur  deswegen  aufgegeben,  weil  dann  die  Mannichfaltigkeit 
der  künstlichen  Figuren  aus  hellgelben  und  braunen  Fäden,  die  sie  enthiel- 
ten, unerklärlich  geblieben  wäre.  Sie  fanden  diese  farbigen  Muster  ebenso 
vollendet  wie   auf  den  besten  englischen  Teppichen  und  sahen  dennoch  bald 

*)  Vergl.  über  die  Kleidung  der  Anwohner  der  Tschugätskaja  gubä:  Cook,  third  voyage 
<fec.  zu  1778,  Mai  13  u.  f.  —  und  der  Kangjulit  und  Ttynai  am  Norton-Sunde:  Sagoskin  im 
Arch.  für  wissensch.  Kunde  von  Russl.,  Bd.  VI,  S.  533. 

*)  Bestimmter  der  auf  Sitcha  unter  dem  Namen  Jaman  bekannten  Thiere,  zu  denen, 
wie  es  scheint,  sowohl  Ovis  Argali  Patt.,  als  auch  missbräuchlich  die  durch  längeres  weisses 
Haar  von  ihm  unterschiedene  Capra  americana  Richardson  gezählt  worden  sind.  Nach  den 
Berichten  der  russisch-amerikamseben  Compagnie  wurden  im  Jahre  1848  350  Felle  des  Jaman 
oder  wilden  Schafes  gegerbt,  aber  leider  nicht  untersucht,  ob  sie  dem  in  Ost-<Sibirien  und  auf 
Kamtschatka  so  wohlbekannten  Argali  angehörten. 

*)  Ob  die  Besetzung  mit  Perlmutterplatten,  die  ich  auf  den  weissen  Decken  der  Äitchaer 
Koljuschen  in  Anwendung  fand,  auch  auf  den  jetzt  seltneren  gemusterten  gebraucht  wurde,  wird 
nicht  erwähnt. 


385 

darauf,  dass  zum  Weben  des  so  kunstvollen  Wollenzeuges,  ebenso  wie  zu 
dem  eines  Zeuges  aus  dem  hanfähnlichen  Bast  einer  Tanne,  von  den  Frauen 
der  Wakasch  nur  ihre  Hände  und  ausserdem  ein  festgestellter  und  zwei  be- 
wegliche Stöcke  gebraucht  werden,  über  welche  sie  das  zu  verzwirnende  und 
dann  zu  verknüpfende  Material  ausbreiteten.*) 

Während  sich  die  Koljuschen  durch  die  Verarbeitung  von  Thierwolle  zu 
Zeugen  sowohl  von  den  Aleuten  wie  von  allen  nordasiatischen  Küstenvölkern 
unterschieden,  hatten  sie  mit  diesen  den  Gebrauch  von  allerlei  Pelzwerk  zu 
Kleidern  gemein,  denen  sie  aber  dieselbe  Mantelform  wie  den  gewebten  gaben 
und  die  sie  auch  mit  vielen  seltsamen  Zierrathen  vorzugsweise  gebrauchten, 
um  sich  im  Kriege  und  bei  religiösen  Festen  ein  fremdartiges  Ansehen  zu 
geben.  Sie  scheinen  dagegen  in  der  Lederbereitung  hinter  den  Kennthier- 
besitzern  und  andern  inländischen  Völkern  zurückgeblieben  zu  sein,  indem 
sie  das  bei  allen  diesen  im  Ueberfluss  vorhandene  sämische  Leder  (die  vöw- 
dugi  der  sibirischen  Russen)  sowohl  auf  dem  Continent  von  ihren  eingebor- 
nen  Nachbarn  als  auch  in  späterer  Zeit  von  den  Sitchaer  Händlern  begierig 
kauften. 

Schiffbau. 

Ihre  Seefahrzeuge  bauten  die  Koljuschen,  wie  schon  erwähnt  (oben  S.  372) 
in  der  Weise,  die  auch  auf  Kamtschatka,  sowohl  auf  den  Flüssen  als  auf 
dem  Meere  an  beiden  Küsten  der  Halbinsel  südlich  von  60°  bis  61°  Breite, 
ausschliesslich  üblich  gefunden  worden  ist:  indem  sie  einen  Baumstamm  zu- 
erst muldenförmig  aushöhlten,  dann  aufweichten  mit  Wasser,  welches  in  die- 
ser Höhlung  durch  glühend  hineingeworfene  Steine  kochend  erhalten  wurde, 
und  endlich  mittelst  eingetriebener  Querstreben  aus  Holz  oder  Knochen  zu 
der  gewünschten  Gestalt  ausweiteten  und  verfestigten. 

Das  Vorkommen  der  Riesentanne  an  vielen  ihrer  Wohnorte  erlaubte  ihnen, 
diesen  sogenannten  baty  für  gewöhnlich  26  Fuss  Länge,  4  Fuss  Breite  und 
3  Fuss  Tiefe  zu  geben,  zu  besonderen  Zwecken  aber  weit  ansehnlichere  Di- 
mensionen, so  dass  sie  für  50  bis  60  Mann  bequem  wurden.  Sie  waren  theils 
ganz  ohne  Haut  oder  Bretterbekleidung,  theils  nur  zur  Erhöhung  der  Borde 
mit  einer  solchen  versehen,  sowie  auch  am  Spiegel  und  Schnabel  mit  künst- 
lichsten Skulpturen,  die  dann  wohl  mit  Namen  wie  Sonne,  Mond,  Walfisch  u.  8.  w. 


*)  Vergl.  Cook,  third  voyage  u.  s.  w.  zu  1778,  April  1  u.  f.  Nur  mit  der  Bereitung  der 
Fäden  bei  diesem  merkwürdigen  Geschäfte  ist  das  Verfahren  der  Kamtschadalen  mit  dem  Brenn- 
nesselbast  zu  vergleichen,  den  sie  zuerst  durch  Reiben  zwischen  den  Handflächen  und  darauf 
mittelst  eiuer  aufrechten  Spindel  verzwirnten  Sie  haben  aber  von  den  so  gewonnenen  Fäden 
nur  die  kürzeren  zum  Nähen  und  die  längeren  zu  Fischnetzen  verwendet,  von  zeugähnlichem 
dagegen  nie  mehr  als  ein  Geflecht  aus  einem  mannshohen  Triticum  (Gmelin,  Flore  Sil 'ir.  p  IIP) 
bereitet,  welches  neben  der  gewöhnlichen  Anwendung  zu  Vorhängen  und  Matten  auch  wie  ein 
Regenmantel  über  den  Pelzkleidern  gebraucht  wurde.  Nur  als  Zierrath  wurden  einzelne  Fäden 
von  gefärbter  Thierwolle  solchen  Geflechten  aus  ganzen  Pflanzenfasern ,  sowie  auch  gewissen  le- 
dernen Erzeugnissen  bei  den  Kamtschadalen  und  den  Aleuten  eingenäht 

Zeitschrift  für  Etlinolugio,  Jahrgaug  1870.  26 


386 

in  Beziehung  standen,  mit  denen  einzelne  dieser  Fahrzeuge  von  ihren  Be- 
sitzern belegt  waren.  Weder  Segel  noch  Ausleger  waren  jemals  auf  diesen 
koljusohischen  Fahrzeugen  in  Gebrauch,  die  Dimensionsverhältnisse  derselben 
aber  so  zweckmässig,  dass  sie  genügsame  Steifigkeit  und  doch,  wie  Admiral 
Liitke  versichert,  durch  nur  5  Fuss  lange,  über  beide  Borde  gebrauchte  Hand- 
ruder einen  eben  so  guten  Gang  erhielten  wie  die  besten  europäischen 
B00te.  —  Manche  Einzelheiten  dieses  primitiven  Schiffbaues  sind  bei  den 
Koljuschen  wohl  nahe  ebenso  vorgekommen  wie  auf  Kamtschatka,  wTo  man 
sie  genauer  beachtet  hat,  so  namentlich,  dass  die  Aushöhlung  eines  Stammes 
mit  den  damals  allein  üblichen  Beilen  aus  Jaspis  oder  aus  "Walfischknochen 
drei  Jahre  erforderte*)  und  dass  zum  Gebrauche  bei  der  Walfischjagd  an 
der  Ostküst'e  der  Halbinsel  der  Boden  der  Baty  absichtlich  durchschnitten, 
die  künstlichen  Spalten  aber  mit  Moos  gedichtet  und  mit  Fischbein  vernäht 
wurden,  um  das  Bersten  des  Pappelstammes  durch  den  Wellenschlag  zu  ver- 
hindern. —  Es  ist  aber  sodann  besonders  beachtenswerth,  dass  sich  auch 
diese  koljuschische  Industrie  auf  der  amerikanischen  Seite  des  grossen  Oceans 
zwar  an  der  Jakutater  Bucht  (bei  den  westlichsten  Angehörigen  ihres  Stam- 
mes) und  bei  den  Wakasch  auf  der  Vancouver-Insel  von  jeher  gefunden,  dass 
aber  der  für  die  Aleuten  so  auszeichnende  Gebrauch  von  Baidaren  oder 
ledernen  Fahrzeugen  auch  überall  westlich  und  nördlich  von  dem 
Koljuschenlande  bei  den  kadjakischen  und  Ttynai- Stämmen  der  amerikanischen 
Küste  und  bei  den  Tschuktschen  der  asiatischen  ausschliesslich  geherrscht  hat. 

Metallurgie. 
Die  Koljuschen  haben  ferner  vor  jeder  Berührung  mit  Europäern  ebenso 
wie  bis«  zum  Ende  ihres  Umganges  mit  den  Russen  Metalle  besessen  und 
zu  verwerthen  gewusst:  am  häufigsten  und  von  jeher  zur  Darstellung  kupfer- 
ner Gegenstände,  in  späteren  Zeiten  aber  auch  zur  Erlangung  von  derglei- 
chen aus  Eisen.  Das  auffallendste  Resultat  dieses  Besitzes  und  dieser  Fer- 
tigkeiten waren  die  oben  erwähnten  Dolche  (S.  316  u.  325),  von  denen  ich 
auf  Sitcha  nur  ganz  aus  Kupfer  bestehende  gesehen  habe.  Diese  waren  gegen 
anderthalb  Fuss  laug,  4  bis  5  Zoll  breit,  in  eine  Spitze  auslaufend  und  theils 
säbelförmig  mit  convex  gekrümmter  Schneide,  theils  grade  und  zweischneidig, 
nach  Art  der  alten  römischen  Schwerter.  Ueber  der  dünner  gehaltenen  Hand- 
habe endeten  sie  entweder  in  einen  Knopf,  dem  dann  sehr  zierlich  die  Ge- 
stalt eines  Vogelkopfes  oder  dergleichen  gegeben  war,  oder  in  eine  zweite  kür- 
zere Klinge;  auch  war  das  Ganze  stets  blank  und  schien,  sorgfältigst 
polirt. 


♦)  Aach  Kochgefässe,  die  ebenso  wie  die  Baty  angefertigt  wurden  (vergl.  unten),  erforder- 
ten eine  mehr  als  einjährige  Arbeit,  wenn  sie  zur  Bewirthung  mehrerer  Gäste  dienen  sollten 
und  zählten  daher  zu  den  seltneren  Reichthümern.  Ich  habe  auf  Kamtschatka  nur  noch  die 
Auskochung  des  Lachsfettes  in  hölzernen  Gefässen  vollziehen  und  dazu  eben  jene  einstämmi- 
geu  Fahrzeuge  (Baty)  gebrauchen  sehen.    Vergl.  meine  Reise  u.  s.  w  ,  histor.  Ber.,  Bd.  III,  S.  337. 


387 

Auf  dieselbe  Art  von  Produkten  bezieht  sich  offenbar  J.  Wenjaminow's 
bedauerlich  dürftige  Angabe,  dass  die  Koljuschen  bei  der  Verarbeitung  von 
Kupfer  zu  Lanzenspitzen  und  zu  Dolchen  eine  noch  höhere  Kunst  ent- 
wickelten, als  bei  ihren  merkwürdigen  Skulpturen,  Webereien  u.  s.  w. ,  sowie 
seine  Erwähnung  einer  aus  Kupfer  getriebenen  Maske,  die  einen  Wolfskopf 
darstellte  und  zu  dem  Festschmuck  der  Kuchontani  oder  Koljuschen  des 
Wolfsstammes  gehörte.*)  Auch  ist  es  wohl  nur  von  kupfernen  Waffen  zu 
verstehen,  wenn  Adiniral  Lütke  berichtet,  dass  die  doppelschneidigen  Dolche 
der  Sitchaer  Koljuschen  von  wunderbarer  Vollendung  und  oft  mit  kleinen 
glänzenden  Muscheln  verziert  seien,**;  denn  die  dazu  nöthige  Ein- 
legung einer  zerbrechlichen  und  partiell  verbrennlichen  Substanz  ist  in  bieg- 
sames Kupfer  ganz  wohl,  in  Eisen  dagegen  äusserst  schwer  zu  vollziehen. 
Dass  aber  dennoch  neben  diesen  kupfernen  Dolchen  auch  eiserne  bei  den 
Koljuschen  in  Gebrauch  waren,  hat  unter  Anderen  II.  v.  Kittlitz  gesehen, 
während  er  gleichzeitig  mit  Adiniral  Lütke  auf  »S'itcha  verweilte.  Er  sagt, 
dass  die  eiugebornen  Männer,  denen  er  um  Neu- Archangelsk  im  Walde  be- 
gegnete, fast  immer  unter  ihrem  Mantel  eine  ganz  eigentümliche  Waffe  ge- 
tragen haben,  nämlich  zwei  grade,  ziemlich  breite,  doch  ungleich  lange  Dolch- 
klingen von  gut  gehärtetem  Stahl,  die  durch  einen  in  Kupfer  gefassten 
hölzernen  Griff  so  verbunden  waren,  dass  sie  in  einer  Hand  gehalten,  nach 
allen  Seiten  hin  verwunden  konnten.  Jede  dieser  Klingen  haJbe  natürlich 
einer  besonderen  Scheide  bedurft.***) 

Auch  diese  merkwürdigen  Industrieprodukte  sind  an  der  Jakutater  Bucht 
bei  den  Koljuschen  selbst  von  Ismäilow  um  1788  gefunden  worden,  als  die 
Russen  zum  ersten  Male  mit  ihnen  umgingen,  bei  den  beiderseitigen  Nach- 
barn der  Koljuschen,  d.  i.  den  Wakasch  gegen  Süden  und  den  Tschugatschen 
gegen  Westen,  aber  sogar  schon  1778  von  Cook  und  seinen  Begleitern  Von 
den  Jakutater  Koljuschen  sagt  Ismäilow,  dass  ein  Jeder  unter  dem  Mantel, 
mit  dem  sie  nur  eine  Schulter  bedeckten,  eine  Art  „Speer"  getragen  habe 
der  mit  seiner  Scheide  an  einem  Riemen  um  den  Hals  gehängt  war.  Eine, 
solche  Waffe  sei  14  engl.  Zoll  lang,  in  der  Mitte  5J  engl.  Zoll  breit  und  so- 
wohl an  der  Spitze  als  an  beiden  Seiten  scharf  gewesen.  Bei  Vielen  habe 
sie  auch  von  dem  Gürtel  bis  an  die  Knien  gereicht  und  sie  seien  immer, 
von  ihren  Besitzern  selbst,   auf  einem  Steine  geschmiedet  worden. 

Dass  hier  unter  dem  russischen   Worte  kopio,  welches  ich  durch  Speer 
übersetzt  habe,   ein  Messer   oder  Dolch   von  einer  der  auf  Nitcha  vorgekom- 


*)  J.  Wenjarninowa,  Sapiski  ob  ostrowach  Unalaschkmskago  otdjela  i.  pr.,  tsch.  III.  str.  IM. 
**)  Puteschestwie  wokrug  .swjeta  i.  pr.  Flota-Kapitanom  F.  Litke,  tsch.  1.  str.  163.    Herrn 
Lütko's  Ausdruck:   obojudno  ostrie,   der  oben  durch  doppelschneidig   übersetzt  i>t . 
wörtlich  ebensowohl  beiderseits  scharf  wie  beiderseits  spitz,   und    lässt   daher    zweifel- 
haft, ob  nur  eine  Klinge  mit  zwei  Sohneiden  gemeint  sei,  oder  zwei  zu  beidi 
meinsamen  Heftes  gelegene  Klingen. 

***)  F.  H.  v.  Kittlitz,  Denkwürdigkeiten  einer  Reise  nach  dem  russischen  Amerika  u.  s.  w. 
Bd.  I,  S.  214. 

26* 


388 

raenen  Formen  zu  verstehen  sei,  folgt  zunächst  aus  den  Angaben,  dass  sie 
gänzlich  geschmiedet,  also  nicht  mit  einem  Stiele  versehen,  und  dass  sie  ihrer 
ganzen  Länge  nach  zu  beiden  Seiten  schneidend  waren,  sodann  aber  noch 
aus  einer  ferneren  Beschreibung  ihrer  Form,  die  trotz  einiger  Unklarheit  ganz 
wohl  von  einer  langen  Klinge,  aber  durchaus  nicht  von  einer  Lanze  zu  ver- 
stehen ist.  Es  heisst  nämlich  noch  an  der  betreffenden  Stelle  des  russischen 
Tagebuchs:  „Diese  Speere  haben  auf  einer  Seite  vorragende  Streifen  und 
sind  auf  der  anderen  Seite  wie  ein  Brett  mit  einer  inneren  (oder  mittleren) 
Rinne.*) 

Die  complizirte  Gestalt,  welche  dieser  Beschreibung  entspricht,  macht 
es  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  Jakutater  Klingen  ebenso  wie  die  meisten 
»Sitchaer  aus  Kupfer  bestanden  haben,  obgleich,  nach  andern  Angaben  des- 
selben Reisenden,  von  den  westlichsten  Koljuschen  auch  damals  schon  Eisen 
verarbeitet  wurde  So  sahen  die  Russen  bei  ihnen  unter  verschiedenen  me- 
tallenen Bildwerken,  die  als  Amulete  getragen  wurden,  auch  dergleichen  in 
Gestalt  eines  Rabenkopfes,  von  denen  ausdrücklich  gesagt  wird,  sie  haben 
aus  Eisen  bestanden,  in  welches  man  kupferne  Augenbrauen  eingelegt, 
mithin  die  sogenannte  Kerb  arbeit  (nasjötschena  rabota)  angewendet 
hatte,  die  bei  mehreren  asiatischen  Stämmen  in  ursprünglichem  Gebrauch  ge- 
wesen und  erst  von  diesen  zu  den  Russen  übergegangen  ist.**) 

In  gleicher  Weise  sind  bei  den  Tschugatschen  (um  61°  Breite,  etwa  8° 
westlich  von  Jakutat)  schon  zehn  Jahre  früher  von  den  englischen  Reisenden 
Lanzenspitzen  aus  Kupfer,  aus  Eisen  und  nur  weit  seltener  aus  Hörn  oder 
Knochen  in  Gebrauch  gesehen  worden,  ausserdem  aber  Messer,  von  denen 
manche  nahe  wie  ein  Schiffsdolch  gestaltet,  fast  2  Fuss  lang  und  in  der  Mitte 
mit  einer  Furche  versehen  waren.  Diese  wurden  in  einer  Scheide  aus  Thier- 
fell  an  einem  Riemen  um  den  Nacken  getragen,  so  dass  die  Beschreiber  nicht 
anstanden,  sie  für  "Waffen  zu  erklären.  Sie  hielten  dagegen  andere  weit  klei- 
rere  und  verschiedenartig  gestaltete  eiserne  Klingen,  die  in  lange  Holzhefte 
gesetzt  waren,  für  die  Werkzeuge,  mit  denen  die  Tschugatschen  bewunderns- 
würdige Schnitzwerke  hergestellt  und  sich  in  ihrer  gesammten  Industrie  allen 
Küsten-  und  Inselbewohnern  des  grossen  Oceans  an  Geschicklichkeit  ent- 
weder gleich  oder  überlegen  gezeigt  hatten. 

Die  koljuschische  Metallurgie  kam  übrigens  bei  diesen  Tschugatschen 
mit  Schiffbau  und  Bekleidung  nach  rein  aleutischer  Sitte  in  Ver- 
bindung vor  und  nach  Ismailow  mit  einem  kadjakischen  Dialekt,  den  die 
Tschugatschen  zwischen  den,  respective  gegen  Osten  und  gegen  Westen  von 
ihren  Wohnplätzen,  herrschenden  koljuschischen  und  Ttynai-Sprache  bewahrt 
hatten. 

Noch   auffallender   waren    der  Besitz   und  die  Verwendung  von  Metallen, 


*)  Im   Russischen :    Kopja  rii  s'odnoi   storony  s'wypuklymi   doljami ,  a  s'drugoi   wnutrje 
doskoju  na  podobje  lq/biny,  vergl.  Puteschestwie  G.  Schelechowa,  tsch.  III',  str.  51. 
'*)  Vergl.  Erman,  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  II,  S.  367. 


389 

die  man  in  demselben  Jahre  (1778)  an  der  Westküste  der  Vancouver-Insel 
(49°,ß  Breite)  bei  den  Wakasch  vorfand.  Vor  Cook  und  seinen  Begleitern 
war  nie  ein  europäischer  Seefahrer  zu  diesem  Volke  gelangt.  Es  waren  aber 
daselbst  —  neben  Streitäxten,  die  durch  einen  dickeren  Ansatz  an  das 
obere  Ende  ihres  hölzernen  Stieles  und  durch  die  Zungenform  ihres  7  bis  8 
Zoll  langen  steinernen  Theiles  wie  ein  Menschenkopf  gestaltet  und  demselben 
durch  Verzierung  mit  Haarbüscheln  oder  einem  Skalp  noch  ähnlicher  gemacht 
waren  —  wiederum  Dolche  wie  die  der  Koljuschen  und  Tschugatschen,  die 
als  Kriegswaffen  dienten.  Sie  hatten  gebogene,  an  ihrer  convexen  Seite 
schneidende  Klingen,  von  einer  für  Europäer  so  ungewöhnlichen  Form,  dass 
die  Engländer  ihre  inländische  Anfertigung  für  unzweifelhaft,  wenn  auch  die 
Herkunft  des  dazu  verwendeten  Eisens  für  räthselhaft  erklärten  Auch  klei- 
nere messer-  und  meisselförmige  Eisenstücke  wurden  damals  von  den  Wakasch 
wie  längst  Gewohntes  angewendet  und  weit  seltener  durch  knöcherne  Werk- 
zeuge von  derselben  Form  vertreten,  während  ausser  dem  Eisen  auch  noch 
rothes  Kupfer  und,  wie  es  schien,  eine  bronzeartige  Legirung  bei  ihnen 
in  Gebrauch  waren.  Aus  diesen  bestanden  namentlich  die  meisterhaft  gear- 
beiteten Ringe  und  andere  Zierrathen,  welche  die  dortigen  Männer  in  ihre 
durchlöcherten  Ohren,  sowie  auch  an  ihre  Nasenscheidewand  theils  nach 
Durchbohrung,  theils  durch  Einklemmung  derselben  hingen.  Zum  Ausschmie- 
den der  Metalle  war  ein  steinerner  Hammer  in  Gebrauch  und  zu  deren  Schlei- 
fen, Poliren  und  stetem  Blankhalten  Wetzsteine  und  die  Haut  eines 
Fisches. 

Als  vergleichbare  Thatsache  sei  hier  noch  erwähnt,  dass  die  Unalasch- 
kaer  Aleuten  nicht  bloss  ursprünglich  ihren  Jagd-  und  Kriegswaffen  nur  knö- 
cherne und  steinerne  Schneiden  von  äusserst  sinnreicher  Einrichtung  gegeben, 
sondern  auch  später  für  eiserne  Beile,  zu  denen  ihnen  nun  das  Material 
durch  die  Russen  zukam,  die  Form  und  die  Anordnung  ihrer  steinernen  bei- 
behalten, d.  h.  fortgefahren  haben,  den  schneidenden  Theil  derselben  durch 
Riemen  mit  dem  Stiel  zu  verbinden.  Die  westlicheren  oder  Atchaer  Aleuten 
erzählten  dagegen  von  Kupfer  und  Eisen,  welche  sich  schon  längst  vor  An- 
kunft der  Russen  bisweilen  an  ihren  Küsten  gefunden  haben  und  sie  behaup- 
teten, dass  dergleichen  seltene  Schätze  damals  nur  im  Geheimen  und  wider 
den  Rath  ihrer  Schamanen  von  einzelnen  Künstlern  zu  Pfeilspitzen,  Messern 
und  dergl.  verschmiedet  worden  seien.*)  — 

Für  die  Koljuschen*  und  deren  nähere  Nachbarn  ist  jetzt  jeder  Zweifel 
über  den  Ursprung  und  die  Beschaffenheit  ihrer  metallurgischen  Leistungen 
beseitigt.     Es   war  ein,  in  geologischer  Beziehung  durch  seine  Massenhaftig- 


•)  Die  Vermuthung,  dass  dergleichen  von  der  See  ausgespülte  Metallstiieke  verunglückten 
Schiffen  gehört  hätten  und  dass  diese  japanische  gewesen  seien,  rührt  nicht  von  den  aleutischen 
Erzählern  her,  sondern  von  den  Russen,  welche  sie  befragten  Sie  ist  daher  nicht  wahrschein- 
licher wie  die  Herkunft  jener  Stücke  von  einer  amerikanischen  oder  asiatischen  Küste. 


390 

kcit  höchst  merkwürdiges  Vorkommen  von  gediegenem  Kupfer,    mit   dem 
sie  von  jeher  in  Verbindung  gestanden  haben  und  welches  sie  zu  kunstvollem 
Ausschmieden  der  ihm  entnommenen  Stücke  veranlasste.     Die  »Sitchaer  Rus- 
sen haben .  offenbar  in  Folge  unbestimmter  Nachrichten  über  dieses  Verhält- 
nis»,   einen   Fluss,    der  sich  bei  etwa  60°,3  Breite,  21 1°, 4  0.  v.  Par.  in  den 
Ocean   ergiesst,    von  jeher   die   mjednaja   rjeka,    d.  h.    den  Kupferfluss 
genannt  und  auch  den  Anwohnern  seines  oberen  Laufes  als  einem  besonders 
bemerk enswerthen  Stamme  den  Namen  mjednöwzy,  d.  i.  die  Kupferleute 
gegeben.     Die  Koljuschen    sollen  übrigens  diesen  Stamm  Alachtan  genannt 
und  zu  ihrem  Handel  mit  demselben  die  Vermittelung  eines  anderen  Stammes, 
welchen    sie   Kon  lau   nannten,    gebraucht  haben.     Jedenfalls    war   aber   auf 
Äitcha  bekannt,  dass  die  Koljuschen  überhaupt  oder  doch  die  Ugaljachmutische 
Abtheilun«?  ihres  Volkes  und  die  Tschugatschen,  also  die  beiderseitigen  Nach- 
barn jener  Kupferleute,    Verbindungen   mit  ihnen    unterhielten,    während  die 
Russen  sich  noch  nie  bis  zu  denselben,  sondern  von  der  Mündung  der  mjed- 
naja rjeka  nur  gegen  15  geogr.  Meilen  stromaufwärts  bis  zu  einer  daselbst 
angelegten  odinötschka,  d.  h.  einem  einsamen  Vorposten,  gewagt  hat- 
ten.    So   wusste   mau    dann   auch   noch    1862  auf  »Sitcha  nicht  mehr  über  die 
Mjednöwzy  zu  sagen,   als  dass  sich  ihre  Zahl  auf  3000  bis  5000  beliefe  und 
dass  sie  zu  den  völlig  unabhängigen  Stämmen  zu  gehören  fortführen.    In  der 
That    war   aber  bei   einer  um   1848   unternommenen  Expedition  zur  Aufnahme 
des  mittleren  und  oberen  Laufes   der  mjednaja  rjeka   der    Steuermann   «Sereb- 
rjennikow,  der  sie  anführte,  mit  allen  seinen  Begleitern  von  den  Eingebornen 
erschlagen,  zugleich  aber  der  Metallreichthum  derselben  genugsam  veran- 
schaulicht worden.     Man  hatte  Blöcke  oder  grosse  Klumpen  von  gediegenem 
Kupfer   gesehen,    die   sich   daselbst   angeblich   lose,  jedenfalls  aber  in  einem 
leicht  von  ihrer  Lagerstätte  trennbaren  Zustande  finden  und  nach  allem  über 
die   kupfernen   Waffen    und   sonstigen   Kunstwerke   bei   den   Koljuschen    und 
Tschugatschen  Gesagten  war  es  daher  nun  so  gut  wie  erwiesen,  dass  diesel- 
ben aus   solchen  Stücken   ohne    alle  Schmelzung  durch  Ausschmieden 
und  Treiben   dargestellt   wurden.    —    Man   hat   bekanntlich    erst  in  neuerer 
Zeit  erfahren,  dass  ein  dem  von  der  Mjednaja  ähnliches  amerikanisches 
Kupfervorkommen  470  bis  480  geogr.  Meilen    von    dem   ersteren  auf  der  öst- 
licheren Seite  der  Rocky  mountains   ebenfalls  in  uraltem  Gebrauche  gewesen 
ist,  indem  sich  beim  Absteifen  eines  Schachtes  der  Minnesotah-Gruben  unter 
einem  Blocke    von    gediegenem  Kupfer    sowold   von   demselben  abgebrochene 
Stücke,    als    auch   bergmännische  Werkzeuge   aus   Holz,    aus   Stein   und   aus 
einem    harten,    d.   h.    wahrscheinlich    legirten    Kupfer    gefunden    haben. 
Diese   unzweifelhaften  Beweise    einer   Förderung   mit   primitiven  Hülfsmitteln 
haben  auch  dort  eine  weit  ältere  ethnographische  Erfahrung  erklärt,  die  man 
trotz  ihrer   Wichtigkeit  nur  gelegentlich  und*  oberflächlich  erwähnt  hatte.    Ich 
meine    einen  dem  koljuschischen  ähnlichen  Besitz  von  Kupfer  und  kupfernen 


391 

Werkzeugen,  der  bei  den  sogenannten  Indianerstammen  in  Canada  von  den 
ersten  Europäern,  die  mit  ihnen  umgingen,  gefunden  wurde.*) 

Selbst  nach  diesen  Erfahrungen  bleibt  aber  freilich  noch  dunkel,  woher, 
neben  dem  Kupfer,  auch  schon  Eisen  zu  denjenigen  der  oben  erwähnten 
Stämme  gelangt  war,  die  zum  ersten  Mal  in  directe  Berührung  mit  Europäern 
traten.  Cook  hat  für  die  Wakasch  gewiss  mit  Rechi  vermuthet,  dass  der  Han- 
del, den  er  sie  mit  den  nächsten  ihrer  inländischen  Nachbarn  unterhalten  sah, 
sich  (1778  und  schon  lange  zuvor)  durch  mehrfache  ähnliche  Verbindungen 
gegen  Osten  bis  zu  Stämmen  fortsetzte,  welche  Eisen  und  andere  europäische 
Waaren  von  den  canadischen  Pelzhändlern  und  von  denen  der  Hudsonsbay- 
Compagnie  erhielten.  Durch  dergleichen  mehrfachen  Tausch  konnte  aber 
dann  auch  zu  den  Tschugatschen  und  Koljuschen  sowohl  1788  bei  Ismailow's 
Besuch,  als  sogar  schon  zehn  Jahre  früher,  als  Cook  mit  den  ersteren  um- 
ging, einiges  Eisen  aus  Sibirien  durch  Vermittelung  der  Tschuktschen  über 
die  Beringsstrasse  und  dann  südwärts  längs  der  amerikanischen  Küste  gelangt 
sein  —  und  diese  Annahme  wird  äusserst  wahrscheinlich,  wenn  man  beach- 
tet, wie  schon  .r»0  Jahre  früher  in  den  gegenüberliegenden  asiatischen  Küsten- 
ländern das  Eisen  von  demselben  Ursprung  Anerkennung  und  einige  Verbrei- 
tung gefunden  hatte  und  wie  eifrig  schon  damals  seine  Bearbeitung  von  den 
Kamtschadalen,  Korjaken  ftnd  Tschuktschen  betrieben  wurde. 

Auf  Kamtschatka  war  es  zu  Steller's  und  Krascheninikow's  Zeit  noch  in 
frischer  Erinnerung,  dass,  unmittelbar  nach  der  Ankunft  der  ersten  Russen, 
jeder  Besitzer  eines  Bruchstückes  von  Eisen  für  reich  gegolten  hatte  und  man 
sah  die  Eingebornen  selbst  aus  dergleichen  Stücken  Pfeilspitzen,  die 
Schlagmesser  zu  den  sogenannten  Kljepzy  oder  Bärenfängen,**)  Beilsurrogate 
und  viele  andere  Werkzeuge  herstellen.  Die  Beschreiber  haben  es  mit  Recht 
bemerkenswerth  gefunden,  dass  zu  diesem  Zwecke  das  zu  verarbeitende  Stück 
ohne  jede  Anwärmung  nur  auf  einen  Stein  gelegt  und  mit  einem 
steinernen  Hammer  anhaltend  geschlagen  wurde.  Die  Kamtscha- 
dalen gebrauchten  dieses  Mittel  sogar,  um  an  einer  von  den  stählernen  Näh- 
nadeln  (welche   allmählich   anstatt   der   bis   dahin   üblichen   aus  feinen  Zobel- 


•)  Noch  1838  und  1839  haben  die  verdienstvollen  Reisenden  der  Hudsonsbaycompany 
kupferne  Lanzenspitzen  bei  denen  unter  70°  Br.,  210°  0.  v.  Pur.  in  Gebrauch  gesehen,  Messer 
und  andere  Werkzeuge  aus  gediegenem  Kupfer  bei  den  Eskimo  unter  etwa  G8C  Br. ,  2-42°  0.  v. 
Par.,  sowie  die  letzteren  zugleich  mit  russischen  eisernen  Messern,  die  offenbar  aus  dem  tsehuk- 
tschischen  Verkehr  über  die  Beringsstrasse  stammten  (vergl.  unten).  Auch  das  Kupfer  konnten 
aber  die  Besitzer  an  der  zuletzt  genannten  Stelle  viel  eher  von  dem  nur  120  geogr.  Meilen  ab- 
stehenden Vorkommen  an  der  Mjednaja,  als  von  dem  512  geogr.  Meilen  entfernten  \on  Minne- 
sotah  erhalten  haben  —  wenn  nicht  etwa  von  irgend  einem  den  beiden  genannten  ähnlichen 
dritten  Vorkommen  in  den  Rocky  mountains.  Diese  Stelle  liegt  nämlich,  wie  ich  l>ei  anderen 
Gelegenheiten  gezeigt  habe,  nicht  wek  von  dem  Nordabhange  des  dort  nahe  westlich  streichen- 
den Systems  des  Anden-  oder  Felsen-Gebirges.  Vergl  Th.  Simpson,  Narrative  of  the  discove- 
ries  from  1836  to  39,  pag.  264  und  123  und  Archiv  für  wissenseh.  Kunde  von  Russl.,  Bd.  VI, 
S.  229,  Bd.  XX,  S.  311. 

**)  Vergl.  Erman,  Reise  u.  s.  w.,  histor.  Ber.,  Bd.  111,  S.  491. 


392 

knochen  in  Gebrauch  kamen)  das  abgebrochene  Oehr  durch  ein  neues  zu  er- 
setzen und  um  diese  Operation  so  oft  zu  wiederholen,  bis  dass  von  dem  kost- 
baren Besitzthum  kaum  mein-  als  die  Spitze  im  ursprünglichen  Zustande  ge- 
blieben war.  Noch  Unerhörteres  soll  aber  damals  dasselbe  Verfahren  bei  den 
Tschuktschen  geleistet  haben,  denn  als  man  diesen  noch  gefürchteten  Feinden 
durchaus  kein  zu  Waffen  brauchbares  Schmiedeeisen  zukommen  Hess,  den  für 
unschädlich  gehaltenen  Verkauf  von  gusseisernen  Kochtöpfen  und  Kesseln 
aber  nicht  gänzlich  inhibirte,  sollen  sie  diese  gegen  das  kostbarste  Pelzwerk 
eingetauscht  und  Stücke  desselben  zu  Lanzeneisen  umgeschmiedet  ha- 
ben! Auch  das  sogenannte  Tempern  oder  Adouciren  des  Roheisens  wäre 
.ihnen  also  theils  durch  oftmaliges  Erhitzen  in  Berührung  mit  Wasser,  theil^ 
durch  Compressions wärme  weit  mehr  gelungen,  als  man  in  Europa  für 
möglich  hält.  Dass  aber  später  ganz  Aehnliches  bei  den  Koljuschen  vorkam, 
beweist  noch  ein  seltsames  Ereigniss  während  ihres  mehrerwähnten  ersten 
Verkehrs  mit  den  Russen.  Bei  der  Bucht  Ltuja  war,  wie  Ismailow  erfuhr, 
von  einem  europäischen  Schiffe,  welches  etwa  2  Jahre  zuvor  (also  1786  oder 
1787)  daselbst  gelegen  hatte,*)  ein  800  Pfund  schwerer  Anker  verloren  wor- 
den. Die  Koljuschen  hatten  ihn  mühsam  aufs  Land  gezogen  und  im  Walde 
verborgen  und  als  man  ihn  ihnen  für  werthlose  Spielereien  abgehandelt  hatte, 
zeigte  sich,  dass  sie  alle  dessen  Theile  von  massiger  Dicke  bereits  abgeschla- 
gen und  verschmiedet  hatten.  Auch  für  den  schlechten  Tausch,  zu  dem  sie 
sich,  anscheinend  aus  Leichtsinn,  überreden  Hessen,  wussten  sie  sich  aber 
bald  schadlos  zu  halten,  indem  sie  in  der  folgenden  Nacht  von  den  zwei 
Dreggankern,  vor  denen  die  russische  Galeote  gelegt  war,  den  einen  abschnit- 
ten und  entführten  und  somit  anstatt  des  unbehülflichen  Stückes,  welches  sie 
aufgegeben,  ein  für  sie  zur  Zertheilung  und  Verarbeitung  weit  geeigneteres 
erhielten. 

Die  genannte  anomale  Behandlung  des  Eisens  und  ihre  uner- 
warteten Erfolge  erinnern  einerseits  wieder  einmal  an  die  Leistungsfähig- 
keit, welche  sogenannte  Wilde  oder  Urvölker  durch  ihre  unbegrenzte  Müsse 
und  die  daraus  folgende  Geduld  und  Unermüdlichkeit  erlangten.  Sie  bewei- 
sen aber  andererseits,  dass  die  Völker,  bei  denen  sie  vorkamen,  mit  den 
mittelasiatischen  Stämmen  und  selbst  mit  den  nordasiatischen  bis  zu  62°  oder 
63°  Breite  entweder  nie  in  Verbindung  gestanden  haben  oder  doch  sehr  früh 
von  ihnen  getrennt  wurden.  Namentlich  aber  vor  dem  12.  Jahrhundert  un- 
serer Zeitrechnung  von  jeder  bis  zu  den  Mongol-Türken  reichenden  Tradition 
und  sogar  —  respective  nach  zweien  in  etwa  gleichem  Grade  begründeten 
Angaben  chinesischer  Geschichtsschreiber  -  vor  dem  4.  oder  dem  12.  Jahr- 
hundert u.   Z.   von  jeder   bis   ins   Innere   von   China  reichenden.      Schon   zu 


•)  Es  war  dieses  wahrscheinlich  eines  der  Fahrzeuge  der  ostindischen  Compagnie,  die 
gich  in  Folge  der  dritten  Cook'schen  Reise  nach  einem  von  Capitain  King  entworfenen  Plane 
um  den  Pelzhandel  an  der  nordamerikanischen  und  au  der  nordasiatischen  Küste  beworben 
haben.  • 


393 

diesen  Zeitpunkten  übten  nämlich  die  genannten  asiatischen  Völker  diejenige 
vollendete  Schmelz-  und  Schmiedekunst,  die  ihnen  das  Stahl  zu  zweien  von 
ihnen  erfundenen  Operationen,  das  Feuerschlagen  und  die  Anfertigung 
und  geographische  Verwendung  von  Magneten,  lieferte*)  und  welche  sich 
bis  in  die  Gegenwart  bei  so  isolirten  Gliedern  ihres  Stammes  wie  die  Jaku- 
ten an  der  Lena  erhalten  hat.**)  —  Für  die  Geschichte  der  Metallurgie  bei 
den  Koljuschen  und  einigen  ihrer  Nachbarn  ist  aber  endlich  auch  der  Um- 
stand beachtenswerth ,  dass  die  Sprache  der  ersteren  von  jeher  ein  Wort  für 
schmieden  besessen  hat  und  ein  mit  diesem  etymologisch  zusammenhangen- 
des für  Kupfer.  In  dem  koljuschischen  Worte  at-ik  hi  =  schmieden  scheint 
nämlich  unverkennbar  das  kol.  Wort  ikh  =  Kupfer  zu  liegen,  insofern  nur 
der  ersten  Sylbe  von  jenem  ein  ähnlicher  Begriff  zuerkannt  wird,  wie  der- 
selben in  den  koljuschischen  Worten:  at~chuth  =  zimmern  und  at-igakük 
=  ein  Künstler  oder  Meister.  Jedenfalls  hat  aber  das  jetzige  koljuschische 
Wort  kies  =  Eisen  mit  dem  Worte  für  schmieden  keine  Aehnlichkeit.  — 
Bei  den  Aleuten  verhält  es  sich  umgekehrt,  denn  erst  von  ihrem  Worte 
khumljagukh  =  Eisen  ist  bei  ihnen  khumljaguch  sinak  ein  Schmied 
gebildet,  und  beide  moderne  Benennungen  eines  neuen  Begriffes  haben  nichts 
gemein  mit  dem  aleutischen  Worte  känujakh  =  Kupfer.  Dieses  letztere  ist 
dagegen  identisch  mit'  dem  Namen  des  Kupfers  bei  allen  kadjakischen 
Stämmen  bis  einschliesslich  zu  den  Namollen  jenseits  der  Beringsstrasse, 
gerade  so  als  ob  in  dieser  metallurgischen  Beziehung  eine  aus  dem  Innern 
von  Amerika  sowohl  nach  Asien  als  südwärts  längs  der  Küste  reichende  Tra- 
dition sich  auch,  von  Kadjak  und  Aljaksa  aus,  noch  einmal  westwärts  zu  den 
Aleuten  gewandt  habe.  Die  entsprechende  selbständige  Kunde  der  Ko- 
ljuschen hat  sich  dagegen  an  der  Küste  ohne  Uebergang  zu  den  ferneren 
westlichen  Inselbewohnern  erhalten. 
(Fortsetzung  folgt.) 

*;  Vergl.  meine  „Bemerkungen  über  ein  bei  den  Jakuten  und  in  Andalusien  gebräuch- 
liches Feuerzeug"  im  Arch.  für  wissensch.  Kunde  von  Russl.,  Bd.  XIX,  S.  310.  Dass  die  Ko- 
ljuschen und  die  Aleuten  zu  der  weit  überwiegenden  Majorität  des  Menschengeschlechts  gehört 
haben,  die  sich  selbständig  nie  über  das  hölzerne  Reibefeuerzeug  erhoben,  ersieht  man  aus 
dieser  Abhandlung* möge  aber  hier  noch  ausdrücklich  erwähnt  sein. 
**)  Arch.  für  wissensch.  Kunde  von  Russl.,  Bd.  XI,  S.  308. 


394 


Die  Goajiro-Indianer. 

Eine  ethnographische  Skizze  von  A.  Ernst,  Caracas. 

'Mit  Karte  und  Abbildungen.) 

(Schluss.) 

Schon  oben  wurde  des  in  Sinamaica  stattfindenden  Verkehrs  mit  den 
Weissen  gedacht.  Der  Handel  ist  Tausch  und  wird  durch  Dolmetscher 
vermittelt.  Es  wäre  unzweifelhaft  im  wohlverstandenen  Interesse  Venezuela's, 
diesem  Gegenstande  mehr  Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  als  wenigstens  jetzt 
der  Fall  ist.  An  den  Küsten  erscheinen  nicht  selten  holländische  und  eng- 
lische Fahrzeuge,  welche  Landesproducte,  namentlich  Campecheholz,  Dividive 
und  Vieh  gegen  europäische  Kurzwaaren  und  Waffen  austauschen.  Zu  gegen- 
seitiger Sicherstellung  geben  sich  beide  Partheien  Geissein,  die  nach  beendig- 
tem Geschäfte  wieder  ausgeliefert  werden.  Trotz  dessen  werden  die  Indianer 
stets  auf  das  Schändlichste  betrogen.  Eine  hierher  gehörige  Geschichte,  die 
viel  von  sich  reden  machte,  ist  die  des  Sehooners  Loinaz,  in  dem  ein  Mann 
aus  Puerto  Cabello,  Namens  Laroche,  nach  der  Küste  der  Goajiros  segelte, 
um  Tauschhandel  zu  treiben.  Da  die  Indianer  sich  übervortheilt  sahen,  und 
überdies  auch  Nachricht  erhalten  hatten,  dass  Laroche  zwei  als  Geissein  an 
Bord  befindliche  Töchter  des  Häuptlings  prostituirt  hatte,  erschlugen  sie  ihrer- 
seits den  Bruder  des  Laroche,  der  sich  bei  ihnen  als  Geissei  befand,  und 
nahmen  seinen  Begleiter  nach  dem  Innern,  ohne  dass  man  weitere  Kunde 
von  ihm  erhalten  hat.  Laroche  setzte  die  Behörden  in  Maracaybo  und  in 
Caracas  in  Bewegung;  Zeugen  wurden  vernommen  und  lange  Actenstücke 
geschrieben,  die  sich  im  Archiv  des  Regierungsgebäudes  in  Caracas  befinden 
(Legajo  VII,  carp.  6,  esped.  1).  In  der  unangemessensten  Weise  verfügte 
man  eine  Expedition  gegen  die  Indianer;  Colonel  Escolästico  Andrade  befeh- 
ligte den  Zug.  Die  ersten  besten  Indianer  wurden  niedergemetzelt,  ohne  zu 
untersuchen,  ob  sie  dem  betheiligten  Stamme  (der  sogenannten  parcialidad 
del  Crespudo)  angehörten.  Die  ganze  Sache  hatte  nur  Misshelligkeiten  im 
Gefolge  und  war  sicherlich  das  beste  Mittel,  um  die  Indianer  von  allem  Ver- 
kehr mit  den  Weissen  abwendig  zu  machen. 

In  anderen  Fällen  scheinen  die  Goajiros  allerdings  der  Ausübung  des 
Strandrechts  sich  schuldig  gemacht  zu  haben,  obgleich  es  mir  unwahrschein- 
lich ist,  dass  sie  wie  ehedem  die  Bewohner  von  Helgoland  Gott  um  einen 
gesegneten  Strand  angerufen  hätten !  Hierher  gehört  der  Schiffbruch  der  Brigg 
La  Silla  im  Jahre  1845    und  des  französischen  Schiffes  Frontier  Calais  (Juli 

ik:«). 

Wie    bei    allen   Indianerstämmen    ist  das    Weib   auch   bei   den   Goajiros 


39$ 

Gegenstand   des  Ankaufs.     Der  gewöhnliche  Preis  ist  fünf  Kinder  oder  «in« 
entsprechende  Menge  Baumwollenstoffe ,   Branntwein   oder  dergleichen.     Der 

Bruder  der  Mutter  eines  Mädchens  hat  das  Verkaufsrecht  und 
erhall  auch  den  Preis.  Die  Goajiros  meinen  uämlich,  betreffs  des  Vaters 
könnten  Zweifel  obwalten;  diese  seien  allerdings  mit  Beziehung  auf  die  Mut- 
ter nicht  vorhanden,  doch  habe  diese  als  Weib  eben  keine  Rechte,  diese 
ständen  ihrem  Bruder  zu.  Tst  der  Kaufpreis  Branntwein,  so  wird  er  gewöhn- 
lich noch  am  Tage  des  Kaufs  von  den  gesammteu  Anverwandten  consuniirt. 
Eine  besondere  Hochzeitsceremonie  findet  nicht  statt.  Die  Frauen  sind  im 
Allgemeinen  treu.  Vielweiberei  kommt  nur  bei  den  Reichen  vor.  Eine  Frau 
kann  von  ihrem  Manne  Verstössen,  auch  wieder  verkauft  werden,  und  kann 
sie  sich  im  ersteren  Falle  mit  einem  anderen  verheirathen.  Die  Frauen  be- 
sorgen die  häuslichen  Angelegenheiten  und  den  geringen  Feldbau.  Bei  Wander- 
zügen sind  sie  die  Lastthiere,  doch  werden  sie  von  den  Männern  nicht  son- 
derlich hart  behandelt.  Es  ist  sogar  der  Fall  vorgekommen,  dass  ein  Stamm 
eine  Frau  zur  Anführerin  hatte.  Der  Name  dieser  Amazone  war  Rosa  und 
sie  soll  sich  der  unzweifelhaften  Gunst  eines  dermaligen  Commandanten  in 
Sinamaica  erfreut  haben. 

Es  scheint  nicht,  dass  die  Eltern  viel  Liebe  zu  ihren  Kindern  hegen, 
da  sie  dieselben  häufig  nach  Sinamaica  zum  Verkauf  bringen.  Der  Preis  ist 
gewöhnlich  10  bis  15  Thaler  für  einen  Knaben  oder  ein  Mädchen  von  8  bis 
9  Jahren.  Das  Geschäft  wird  gerichtlich  abgeschlossen;  der  Käufer  unter- 
zeichnet ein  Document,  in  welchem  er  als  Vormund  (tutor)  des  Kindes 
bezeichnet  wird,  und  verpflichtet  sich,  dasselbe  in  die  katholische  Kirche  auf- 
nehmen und  in  der  Religion  unterweisen  zu  lassen.  Dafür  hat  der  Indianer 
bis  zu  seinem  17.  Jahre  im  Dienste  seines  Vormundes  zu  verbleiben.  Die 
Massregel  ist  durchaus  nicht  zu  verwerfen.  Die  indianischen  Dienstboten, 
deren  es  in  Maracaybo  und  auch  in  Caracas  viele  giebt,  werden  sehr  gut 
behandelt,  da  sie  in  der  That  auch  viel  besser  sind,  als  die  grosse  Mehrzahl 
der  Mulatten  und  Zambos.  Jedenfalls  ist  jener  Brauch  ein  vernünftiges  Mittel, 
um  wenigstens  einige  Goajiros  zu  civilisirten  Menschen  zu  machen.  Sie  keh- 
ren allerdings  nur  in  den  seltensten  Fällen  wieder  in  ihre  Heimath  zurück, 
und  die,  welche  es  thun,  haben  sicherlich  bis  jetzt  noch  keinen  Samen  der 
Civilisation  ausgestreut. 

Die  Kinder  scheinen  gegen  ihre  Eltern  ebenfalls  keine  besondere  Liebe 
und  Anhänglichkeit  zu  besitzen.  Ein  Knabe  von  vielleicht  12  Jahren  vom 
Stamm  der  Pusainas,  der  als  Laufbursche  in  dem  Hause  meines  Freundes 
Cuello  lebt,  spricht  von  seiner  Mutter  nie,  und  weiss  von  seinem  Vater  nur, 
dass  ihn  ein  Cocina  erschlug. 

Die  Stämme  zerfallen  in  Abteilungen  (parcialidades  oder  rancherias). 
Jede  hat  ihren  Anführer;  doch  hat  derselbe  keine  bedeutende  Gewalt.  Alle 
Stämme  hassen  und  verfolgen  sich  gegenseitig.  Die  Blutrache  erscheint 
bei  ihnen   in   einer   sonderbaren  Form.     Der  Mörder  hat  nämlich   den    Ver- 


396 

wandten  des  Erschlagenen  das  Blut  des  letzteren  zu  bezahlen  („pagar  la 
sangre").  Der  Preis  ist  verschieden  und  schwankt  von  1  bis  5  Rindern. 
Diese  Regel  wird  selbst  nach  einem  Kampfe  zwischen  zwei  Stämmen  beob- 
achtet, und  es  ist  vorgekommen,  dass  der  eine  trotz  überlegener  Gewalt  sich 
zurückzog,  weil  er  sich  nicht  reich  genug  glaubte,  die  Todten  zu  bezahlen. 

Das  äussere  Benehmen  des  nüchternen  Indianers  ist  ernst  und  schweig- 
sam. Sie  reden  wenig  und  ohne  Gesticulation.  Im  Zustande  des  Rausches 
dagegen  ist  es  gerade  das  Gegentheil.  Die  meisten  hassen  die  Spanier  und 
deren  Abkömmlinge;  weniger  feindlich  stellen  sie  sich  anderen  Fremden 
gegenüber.  Wer  die  Reise  von  Maracaybo  nach  Rio  Hacha  zu  Lande  macht, 
thut  am  besten,  sich  irgend  einem  Stamme  anzuschliessen,  und  wird  dann 
für  die  Reise  (etwa  3  Tage)  als  einer  der  Ihrigen  betrachtet,  was  sogar  ge- 
wöhnlich eine  temporäre  Verheirathung  im  Gefolge  hat. 

Die  Goajiros  sind  leidenschaftliche  Säufer.  Ausserdem  tanzen  sie  gern, 
doch  stets  einzeln,  nach  dem  Tone  einer  Rohrpfeife,  einer  Art  Trommel  und 
der  Maraca.  Die  letztere  ist  die  an  einen  Stock  befestigte  leere  Schale  der 
Calebassenfrucht,  die  mit  30  bis  50  Erbsen,  Maiskörnern  oder  kleinen  Stein- 
chen angefüllt  ist.  Durch  rhythmisches  Schütteln  wird  ein  Geräusch  hervor- 
gebracht, welches  als  nothwendige  Begleitung  aller  Musik  (auch  bei  der  nie- 
deren Klasse  der  Creolen)  angesehen  wird.  Die  Pfeife  ist  ungefähr  zwei 
und  einen  halben  Fuss  lang,  besteht  aus  mehreren  Rohrstücken  von  verschie- 
dener Dicke  und  ist  nach  dem  Princip  der  Clarinette  oder  mehr  noch  des 
Fagotts  construirt.  An  dem  dünnen,  oben  geschlossenen  Mundstück  befindet 
sich  seitlich  ein  vibrirendes  Blättchen,  welches  einen  nach  unten  freien  Aus- 
schnitt deckt.  Die  andern  Stücke  sind  dicker;  sie  werden  in  einander  ge- 
schoben und  die  Verbindungsstellen  dicht  mit  Schnur  umwickelt.  Etwas  unter- 
halb der  Mitte  hat  die  Pfeife  vier  Löcher  und  am  Ende  ein  aus  einer  halben 
Calebassenschale  gebildetes,  einfach  aufgeschobenes  Schallstück.  Die  Töne 
des  Instrumentes  haben  einen  schnarrenden  Charakter  und  liegen  nahe  bei 
einander,  gewöhnlich  in  der  Nachbarschaft  des  eingestrichenen  g.  Der  Pfei- 
fer tanzt  bei  seiner  Musik  in  wilden  Sprüngen. 

Im  Falle  ausbrechender  Feindseligkeiten  wird  keine  Kriegserklärung  ge- 
geben ;  man  sucht  den  Gegner  vielmehr  zu  überrumpeln.  Ursache  zu  Käm- 
pfen ist  gewöhnlich  Raublust  oder  Hunger.  Die  Cocinas  sind  die  schlimm- 
sten von  allen.  Sie  sind  erklärte  Feinde  der  übrigen  Indianer  und  aller 
Fremden,  vagabundirend ,  unbezähmbar,  rachsüchtig,  grausam  und  viehisch. 
(Sollten  sie  eine  Art  unterdrückter  Ureinwohner  sein  ?) 

Es  ist  seltsam,  dass  die  Goajiros  durchaus  keine  religiösen 
Vorstellungen  haben.  Ich  habe  zahlreiche  Individuen  in  allen  möglichen 
Formen  darüber  befragt,  aber  nie  das  geringste  erfahren  können.  Dasselbe 
berichten  auch  Andere,  die  Gelegenheit  hatten,  sie  länger  zu  beobachten. 
Nur  in  einem  aus  Maracaybo  erhaltenen  Glossar  finde  ich  eines  guten  Geistes 
(marsiba)  und  eines  bösen  (yarfä)  Erwähnung  gethan.    Der  Name  piache 


397 

ist  ihnen  nicht  bekannt  und  wird  nur  von  den  Venezuelanern  auf  ihre  ouc- 
tesch  oder  Beschwörer  angewendet.  Nach  Casanova  (Diario  de  Avisos  de 
La  Guayra,  27.  Februar  1858)  soll  sich  dieser  durch  den  Rauch  einer  aus 
Zeuglappen   gemachten  Cigarre  inspirii;en  und  Orakelsprüche  abgeben. 

Ich  glaube  von  der  Sprache  der  Goajiros,  diesem  wichtigsten  Element 
für  ethnographische  Kritik,  keine  bessere  Anschauung  geben  zu  können,  als 
durch  Mittheilung  eines  Glossars,  welches  nach  Materialien  entworfen  wurde, 
die  theils  in  Caracas  von  Herrn  Dr.  J.  Cuello,  theils  in  Maracaybo  von  Herrn 
J.  V.  Urdaneta  gesammelt  sind.  Wenngleich  das  Wörterverzeichniss  dürftig 
ist,  so  ist  es  vielleicht  doch  genügend,  um  einen  Schluss  auf  Abstammung 
und  ethnographische  Verwandtschaft  der  Goajiros  ziehen  zu  können.  Ich  will 
hierbei  en  passant  bemerken,  dass  ich  in  J.  A.  de  Plaza,  Memorias  para  la 
historia  de  la  Nucva  Granada  (Bogota),  gelesen  habe,  es  existire  in  Stock- 
holm ein  handschriftliches  vollständiges  Wörterbuch  der  Goajirosprache. 
Könnte  nicht  ein  Ethnograph  daselbst  weitere  Nachsuchungen  anstellen? 

Mit  Bezug  auf  die  historischen  Schicksale  der  Goajiros  sind  die 
Quellen,  wie  bereits  oben  bemerkt,  sehr  spärlich.  Die  Spanier  rersuchten 
selbstverständlich  mehrfach  ihre  Unterjochung,  aber  stets  ohne  irgend  welchen 
Erfolg.  Unter  der  Regierung  des  Vicekönigs  von  Bogota,  Jose  de  Solis 
Folch  de  Cördova  (1735  — 1760)  wurde  D.  Bernardo  Ruiz  de  Noruega  mit 
der  Eroberung  betraut  (Relaciones  de  los  Vireyes  del  Nuevo  Reino  de  Gra- 
nada, compiladas  por  el  Dr.  Jose  Ant.  Garcia  y  Garcia,  Nueva  York,  1869, 
pag.  15).  Die  Sache  kam  indessen  nicht  zur  Ausführung.  Kleinere  Streif- 
züge dauerten  auf  beiden  Seiten  fort,  bis  unter  dem  Vicekönig  Antonio  Ca- 
ballero y  Göngora,  Erzbischof  von  Cördova,  ein  gewisser  Antonio  Arevalo 
die  Cocinas  zur  Ruhe  brachte  (op.  cit.  183). 

Aus  dem  Bericht  des  letztgenannten  Vicekönigs  theile  ich  die  nachfol- 
gende interessante  Stelle  in  Uebersetzung  mit  (pag.  260.  261  des  cit.  Werks): 
„Die  Provinz  Rio  Hacha  wird  noch  von  einer  erstaunlichen  Anzahl  Goajiros 
und  Cocinas  bedroht,  und  behauptet  man,  diese  hätten  10,000  Krieger.  Die 
Furcht  vor  ihren  Einbrüchen  dauert  fort,  obgleich  D.  Ant.  Narvaez,  der  lange 
Jahre  hindurch  Gouverneur  dieser  Provinz  war,  der  Meinung  ist,  dass,  wenn 
die  Unsrigen  sie  nicht  verletzten  und  plagten,  oder  den  Diebstahl  einer  Kuh 
sofort  mit  dem  Blute  vieler  Indianer  rächen  wollten,  diese  ihrerseits  ruhig 
bleiben  und  das  mit  ihnen  bestehende  friedliche  Verhältniss  nicht  zerstören 
würden.  Dies  würde  die  geeignetste  Gelegenheit  sein,  sie  zu  einem  civili- 
sirten  und  staatlichen  Leben  zu  bringen,  dem  allerdings  die  herumstreifende 
und  wilde  Lebensart  der  Indianer  widerstrebt,  die  sich  in  kleine  Abtheilun- 
gen oder  Haufen  theilen,  wegen  der  Notwendigkeit,  von  Berg  zu  Berg  und 
von  Fluss  zu  Fluss  ihren  Unterhalt  zu  suchen."  Um  sie  sesshaft  zu  machen, 
schlug  Narvaez  vor,  Jedem  einige  Ziegen,  eine  oder  zwei  Kühe  und  einige 
Hühner  zu  geben,  ihnen  Häuser  zu  bauen  und  beim  Urbarmachen  ihrer  Fel- 
der behülflich  zu  sein. 


308 

In  der  Relacion  de  Ezpeleta  (op.  cit.  S.  363)  heisst  es  von  ihnen:  „Sie 
greifen  selten  au,  obgleich  sie  gelegentlich  einige  kleine  Räubereien  in  un- 
seren Besitzungen  ausüben.  Wenn  aber  der  Diebstahl  eines  Pferdes  oder 
die  Zerstörung  eines  Saatfeldes  durch  ein  Bhitvergiessen  gerächt  werden  sol- 
It-n,  so  ist  es  sicher,  dass  der  Indianer  sich  wiederum  rächen  wird  und  zwar 
mit   Wucher." 

Trotz  dieser  jedenfalls  sehr  vernünftigen  Ansichten  fuhr  man  fort,  die 
gewaltsame  Unterwerfung  zu  betreiben.  Die  Erfolge  waren  aber  so  wenig 
erfreulich,  dass  Mendinueta  (1803)  in  seinem  Berichte  sagt  (S.  549  der  Rela- 
ciones):  „Der  Plan,  sie  mit  Gewalt  zu  unterwerfen,  ist  nicht  gelungen.  Es 
ist  gleichfalls  beinahe  unmöglich,  sie  durch  Sanftmuth,  Unterweisung  in  un- 
serer Religion  und  unseren  Gesetzen  zu  eivilisiren-;  denn  sie  sind  durch  den 
Verkehr  mit  Fremden  und  die  Freiheit  ihres  Handels  schon  sehr  gewitzt 
(„resabiados")  und  wollen  sich  mit  unsernl  System  nicht  vertragen." 

In  der  darauf  folgenden  Periode  des  Unabhängigkeitskrieges  verlor  man 
natürlich  die  Goajiros  ganz  aus  dem  Auge,  und  erst  durch  ein  Gesetz  vom 
13.  September  1833  wurde  ein  neuer  Versuch  zu  ihrer  Unterwerfung  („re- 
duccion")  angebahnt.  Man  ernannte  Caporales  oder  Häuptlinge  für  die  ein- 
zelnen Stämme.  Später  berief  man  spanische  Capuciner  als  Missionäre.  Diese 
erreichten  indess  gar  nichts,  und  die  venezuelanische  Regierung  hatte  nichts 
als  Klagen,  Beschwerden  und  Unannehmlichkeiten  von  dieser  Pfaffeneinfuhr. 
In  der  neuesten  Zeit  hat  man  sich  auf  die  Regulirung  des  Grenzverkehrs  in 
Sinamaica  und  die  Ueberwachung  der  Rinderausfuhr  beschränkt.  Wo  wäre 
auch  Venezuela,  das  leider  aus  seinen  ewigen  inneren  Unruhen  nicht  heraus- 
kommen kann,  im  Stande,  etwas  Nachhaltiges  gegen  die  Goajiros  zu  unter- 
nehmen! Es  scheint,  dass  augenblicklich  einige  diplomatische  Misshelligkeiten 
betreffs  der  Halbinsel  zwischen  Venezuela  und  Neu-Granäda  in  der  Schwebe 
sind,  und  es  hat  wirklich  ein  angesehener  Mann  den  mehr  als  seltsamen  Plan 
vorgeschlagen,  die  Goajiros  sämmtlich  gewaltsam  in  andere  Gegenden  Vene- 
zuela^ zu  schaffen,  um  sich  ihrer  als  Feldarbeiter  zu  bedienen.  Glücklicher- 
weise wird  aus  alle  dem  nichts,  und  bei  den  eigenthümlichen  Verhältnissen 
der  beiden  Nachbarstaaten  ist  den  Goajiros  noch  eine  lange  Unabhängigkeit 
beschieden.  Sollen  wir  das  beklagen  oder  uns  dessen  freuen?  Die  Antwort 
ist  nicht  leicht.  So  viel  aber  ist  gewiss,  dass  die  Civilisation,  die  Venezuela 
oder  Neu-Granäda  jetzt  ihr  geben  könnten,  nicht  die  Anstrengungen  und 
Opfer  einer  Eroberung  werth  ist. 


399 


Verzeichnis  von  Wörtern  aus  der  (jioajiro-Sprache.*) 


A. 

Abend,  ariuea. 

Abendstern,  joröt. 

Acacie  (Acacia  forty osa,  UV/A/.),  aipia. 

acht,  niesquisar. 

alt,  muilleu,  araurä. 

Angelhaken,  curia. 

arbeiten,  acütjasch. 

Arm,  tatuna. 

arm,  camamisa  (letztes  a  sehr  dumpf). 

Armadill  (Dasypus),  querü. 

Auge,  toüj. 

Axt,  chajaruta,  pöruj. 

B. 

Banane  (Musa  paradisiaca,  L.),  purana; 
(Musa  sapienlum,  L.),  guinea  (span.). 

Bart,  teima. 

Batate  (Batatas  edulis,  Chois),  jäisch. 

Baum,  unü. 

Baumwolle,  mauri. 

Bär,  cayuri  (wahrscheinlich  Ameisen- 
bär). 

Berg,  üchi. 

Beutelratte  (Didelphys),  uariuj. 

Bienenstock,  mapässe  (cfr.  Honig). 

Blatt,  sipana. 

blau,  nits. 

bleib,  yajt. 

bleib  hier,  yajt  yayä. 

Blitz,  acäpalla,  schiiräjuya. 

Blume,  jussi. 

Blut,  guaschä. 

Bogen,  j  urach. 

Bogensehne,  jurachäpo. 

Bohne,  schwarze,  carsälia. 

Bohne  (frijol  d.  Spanier),  quepeschüna). 

Boot,  lancha,  anua  (von  canoa). 


böse,  majiis. 

bring,  saja,  painca. 

bring  mir,  sajama,  paincama. 

Bruder,  tajap. 

Bruder,  älterer,  tapaya. 

Bruder,  jüngerer,  temaliyi,  temursc. 

Brust,  tanitälu,  huaitupua. 

Brüste,  tachira. 

C. 

Cactus,  yorü 
Cassave,  assüjal-lü. 
Chinchorro   (Art  ordinärer  Hängemat- 
ten), siri. 
Cocosnuss,  cöco. 
Coralle,  cururasch. 

D. 

Daumen,  jouschu,  schiqui.  tajäpira. 

Dieb,  caluarala. 

dieser,  tu  (u  sehr  dumpf). 

Donner,  jiiye,  aturs. 

Dorf,  pichi. 

dort,  chayä. 

drei,  apuni. 

du,  piä. 

E. 

Ebene,  nachuä. 

Ei,  juschucu. 

Eidechse,  caranirschari. 

einäugig,  machauri. 

eins,  guane. 

Eisen,  cachuer  (Nagel). 

siguarali  (Kessel). 
Enkel,  tarin. 
Enkelin,  tariu  jier. 
er,  chirä. 
Erde,  muä. 


*)  Die  Aussprache  ist  nach  spanischer  Weise  gegeben  worden. 


400 


erzürnt,  tatuj. 

Esel,  pulico  (sparj.  burrico). 
essen,  ecussa. 
Excremente,  chaä. 


Faden,  sipata. 

faul,  schucurass. 

Feder,  lange,  jitiinna. 

Feder,  kurze,  sumurera. 

feig,  cainpijess. 

Feind,  taanü. 

Feuer,  sigui. 

Fieber,  porona. 

Finger,  tajapira. 

Fisch,  jime. 

Flasche  (irdene),  japuinca. 

Flasche   (grosse  mit  Korbgeflecht   be- 
deckt), mesana. 

Fledermaus,  pusichi. 

Fleisch, jiirco,päa  (letzteres  span.  vaca). 

Fliege,  juyümule,  jurconurer. 

Flinte,  carcoso,  carcabus  (span.). 

Floh,  jayapa 

Fluss,  ruop. 

Frau,  jier.     (Quandt  giebt  hiäru   als 
arawakisch  für  Frau.) 

Freund,  tatansjut. 

Frosch,  iper. 

fröhlich,  anastain. 

Frucht,  gi. 

Fuchs,  narir. 

Füllen,  potr  (span.  potro). 

fünf,  j arare. 

Fuss,  uöli,  guagüi. 

G. 

gebären,  jemeyus. 
geben,  püpanümai. 
ich  gebe,  pap. 
ich  gebe  dir,   pap  pir. 
gieb  mir,  papma. 
gehen,  aunusch. 


ich  gehe  fort,  auni  tayä. 

du  gehst  fort,  auni  chipia. 

er  ging  fort,  unts. 

geh  fort,  pünata. 

lasst  uns  gehen,  jauyö. 

Geist,  guter,  marsiba. 

Geist,  böser,  yarfa. 

gelb,  poroinsia. 

Geld,  ner  (span.  di-ner-o). 

geschwind,   camora. 

Gesicht,  oupuna. 

gestern,  soncaricaica. 

gesund,  anainchi. 

Gewebe,  anion. 

Gold,  oro  (span.). 

Gras,  arama  (span.  grama). 

gross,  moröi. 

grün,  yotas. 

gut,  hanas. 

H. 

Haar,  taval-la,  guaguara. 

Hängematte,  jamäa. 

hässlich,  majus  (siehe  böse). 

Häuptling,  alagla,  jaraura. 

Hahn,  garina  (span.  gallina,  Henne). 

Haifisch,  peryuri. 

Hals,  tanulo. 

Hammel,  arner  (span.  carnero). 

Hand,  huajapa. 

Haus,  pichi. 

Herz,  guani. 

heut,  joucäl-li,  noncacaicaichi. 

hier,  yayä. 

Himmel,  siruma. 

Holz,  unü  (siehe  Baum). 

Honig,  mäpa. 

hübsch,  anachon. 

Hut,  uon. 

Hund,  erro  (span.  perro). 


I. 


ich,  tayö. 


401 


Iguana,  iguana. 
ihr,  jaya. 
Indianer,  guayü. 

Indianerin,  huaricha  (ist  caribisch  und 
zweifelhaft  für  die  Goajirosprache). 


ja  (durch  Wiederholung  der  Frage  aus- 
gedrückt). 


Jaguar,  caraira. 
jener,  niasa. 
jetzt,  jöru. 
Jungfrau,  jimaalo. 

K. 

kalt,  jimieis. 

Kamm,  posuta,  pastä. 

Kaninchen,  alpana. 

Kinn,  teiyalima. 

Klapperschlange,  mara. 

klein,  jintuf-li,  morsachon. 

Knabe,  tepuich. 

Knochen,  jüalse,  schimschia. 

Knopf,  carura. 

Kohle,  puschüscha. 

Kohle,  glühende,  sigui  (Feuer). 

kommen,  schuschi. 

er  kam,  scheisch. 

komm,  areche. 

komm  du,  arechipia. 
Kopf,  tequi. 
Körper,  huatapa. 
krank,  ayurs. 
Krebs,  jororo. 
Krieger,  guayabas. 
Kröte,  acors. 
Kürbis,  uir. 
Kuh,  pa  (span.  vaca). 


lachen,  asül-lejisch. 
lahm,  schatsch. 
lang,  jaapu. 

Zeitschrift  für  Ethuologie,  Jahrgang  1S70. 


Lapa  (Coelogeny j  Paco),  paüia. 

laufen,  taguachirassa. 

Laus,  mapui. 

lebendig,  catauchi. 

leer,  jotuso. 

Leuchtkäfer  (Elater  ■noctilucus),  canä. 

lieben,  älschi,   aisinipura. 

liegen,  sarain. 

es  liegt  mir  nicht  daran,  aiteire. 

M. 

Made  (im  Käse),  jocoma. 
Mädchen,  kleines,  jintor. 
Mädchen,  erwachsen,  isas. 
Mädchen  (unverheirathete  Person),  ma- 

juyen. 
Mais,  mäique. 
Maisbrod,  yäja. 
Mann,  guayü,  jarich. 
Maus,  uiyel-ligua,   pichauri. 
Meer,  parä. 

Melone,  meruna  (span.). 
Messer,  ruli. 
milchig,  coyu. 
Mond,  cäschi. 

Morgen  (Subst.),  hualtachö. 
morgen  (Adv.),  gualtä. 
Mücke,  marir. 
Mund,  teimata. 
Mutter,  mama. 

N. 

Nacht,  älpaa,  aipä. 

Nadel,  uchiye,  atia. 

Nagel  (unguis),  tapatäuscha. 

nahe,  pejess. 

Nase,  teichi. 

nein,  napor. 

Nest,  sura. 

neun,  jivana. 


0. 


oben,  uimpuä. 


27 


40i 


Ochs,  tola,  oebij  (span.  toro,  novillo). 
öffnen,  päcara. 
Ohr,  tache. 


Papagei,   calesch,  oroyorü. 

Papier,  cararanta  (span.  carta,  Brief). 

Peitsche,  gurara  (carib.  guaral,  starke 

Schnur). 
Perlen,  caeuna. 
Pfeil,  jatii,  jimula  (vergiftet). 
Pferd,  amma,  jama. 
Puma,  nasasch. 

R. 
rauchen,  asinasch  (Tabak). 
Reh,  iraraa. 
reich,  guaschir. 
reiten,  ama-usch. 
Rinde,  jütta,  susta. 
Rochengift,  imarö. 
Rohr,  parala. 
roth,  schoeö. 
Kücken,  tasappo. 


Sack,  tarega  (span.  talega). 

sagen  (was  sagst  du,  casa  puche). 

Salz,  chi,  ichi. 

Sandfloh  (ist  unbekannt). 

Schabe  (Blattete  spec.),  sipul-la,  caschap. 

Schädel,   bisqui. 

Scheere,  parajus. 

Schildkröte,  sihuanira,  saguair. 

Schlaf,  tuuques 

schlafen,  jatüneussu. 

Schlange,  uül-li,  güiri. 

schliessen,  serera  (span.  cerrar) 

Schmetterling,  guaguache. 

schreien,  auartass. 

Schuh,   sapat  (span.  zapato). 

Schwager,  taresch. 

schwanger,  ipüol. 


schwarz,  morsiya. 

Schwertfisch  (Xipkias),  yatara. 

Schwester,  taschumii 

Schwester,  ältere,  tapaya  jier. 

Schwester,  jüngere,  temalirua,  temuima. 

Schwiegerin,  tarinu. 

schwimmen,  catanasch. 

Scorpion,  yauru. 

sechs,  aipirü. 

sehen,  terajäin,  terin. 

ich   habe   ihn   nicht  gesehen,   napor 
terin. 
setzen,  joyetüsch,  sorö. 
sie  (3    Pers.  Plur.),  nayä. 
sieben,  acarare. 
singen,  eirjasch,  ayäguajas. 
Sohn,  tachöu. 

Sommer  (trockene  Zeit),  muriofantari. 
Sonne,   cäli. 

sprechen,  yoiirnutüss,  auschujass. 
stark,  caroläisch,  pataeuna. 
stehen,  schavatüsch,  schaurts. 
stehlen,  al-luäjisch,  armasch. 
Stein,  ipä. 
Stern,  ciliguäla. 
stinkend,  quejuns 
Stinkthier  (Mepkiti«),  yarina. 
Stirn,  teiporü. 
stumm,  maneisai. 
Stute,  jama  jier. 


Tabak,  yül-li,  yuri. 
Tag,  jocal-li,  cari. 
tanzen,  oyarnojassa. 
taub,  macheisai. 
Taube,  iruli,  guaguas. 
Thal,  jiiehi. 
Tochter,  tachöu  jier 
todt,  autsch, 
tödten,  autusch. 

Totuma  (Schale  der  Frucht  des  Calebas- 
sen-Raums,  Crescentia  C-ujete^  L.),  ita. 


403 


traurig,  justain 
trinken,  assüssa,  tasiu. 


Urin,  schira. 
unten,  napuä. 


ü. 


V. 


viel,  maima. 
vier,  pienchi. 

Vogel,   uchi. 
vorgestern,  uanecalica. 

W. 

Wärme,  guaraschisa. 

Wald,   ünu,   uniiquigua. 

Waldraesser,  charajuta. 

wann,  jauja. 

warm,  jeisch. 

was  willst  du?  casa  puchequi? 

Wasser,  ui,  uin. 

Wassermelone  (Citrullvs),  calapasa 

(span.). 
Weide  (/'asan/m^,  arama  (span.  grama, 

eine  Art  Gras), 
weiss,  uulejtalli,  casuto. 


weisser  Mann,  alijun-na. 

weit,  uartass. 

wer,  jaun. 

wie  heisst?  casa  ton? 

wie  viel?  jer? 

wie  viel  mehr?  jer  ma? 

Wind,  joutäl-li. 

Winter  (Regenzeit),  juyap 

wir,   guayä. 

wo  ist?  jaraschia? 

wohlriechend 

jemets. 


wohlschmeckend 

Wurm  (in  den  Maiskörnern),    raligua. 


Yuca  ( Yanipha  vtilisstma),  süsse,  uol- 

gona,  aya. 
Yuca,  bittere,  guayamala. 


Zahn,  tali. 

Zehen,  japira  töli,  siehe  guagüi. 

zehn,  porö 

Ziege,   caura  (span.  cabra). 

Zunge,  meine,  taye;  eines  anderen  niye. 

zwei,  piamo. 


Ethnologische  Beiträge. 

Bei  den  von  Fahian  (399  p.  d.)  besuchten  Uiguren  erkennt*)  Yam-Yen-Te 
(981   p.  d.)  tiefliegende  Augen  und  lange  Nasen,  zu  einer  Zeit,  wo  sie  unter 


*)  Von  den  'obwohl  an  Dialecten  verschiedenen)  in  Sitten  übereinstimmenden  Völkern 
der  Ta-Wan,  Ta-Hia  und  Ansi  (Asi)  bemerkt  Ssemathien  (100  a  d.),  dass  sie  tiefliegende  Vugen, 
starken  Hart  und  Schnurrbart  haben  'von  den  Chinesen  im  Metallschmelzen  unterrichtet).  Zur 
/fit    der  Thang  werden   die  Bewohner  von  Khangkiu  beschrieben  als  grossäugig  und  lang 

und  ebenso  heisst  es  im  Wen  hian  thoung  khao  von  Khan^kiu  (mit  der  Stadt  Alouti),  dass  die 
Bewohner   tiefliegende  Augen   und   vorstehende  Nasen   haben-,   sowie  starken  Bart      D.is  Gebiet 

27* 


404 

der  Herrschaft  der  besonders  unter  Wang-lou-ching  (1001  p.  d.)  mächtigen 
Hoeihe  (Kaotche  der  uigurischen  Hauptstadt  Kiao  tschin's)  standen.  An  die 
(759  p.  d.)  unterworfenen  (und  als  gelbrothe  Hakas  nach  Norden  getriebenen) 
Kian-kuen  ging  (841  p.  d.)  der  Stammsitz  der  Hoeihe  (am  Arkhon)  verloren, 
und  beide  Völker  mischten  sich  nun  (wie  früher  in  längeren  Kämpfen,  jetzt) 
durch  ihr  Zusammenwohnen,  so  dass  die  Besetzung  der  (vormals  chinesischen) 
Provinz  Si-tscheou  (im  Lande  Khamil  und  Turfan)  von  einem  zwar  Hoeihe 
genannten ,  aber  aus  Hoeihe  und  Hakas  gemischten  Volke  (962  p.  d.)  aus- 
ging. Als  diese  (durch  ihre  uigurischen  Unterthanen,  sowie  die  früheren  Be- 
ziehungen der  Hakas  zu  chinesischer  Civilisation  gebildeten)  Herrscher  dann 
durch  die  in  China  aufstrebenden  Kutan  nach  Westen  gedrängt  wurden 
(während  die  eigenen  Könige  der  Uigur-Kaotschang  in  chinesischer  Vasallen- 
schaft verblieben),  trieben  sie  dorthin  die  Keime  der  späteren  Usbeken-Macht 
(schon  vorher  in  friedlicher  oder  feindlicher  Berührung  mit  den  übrigen  Tür- 
kenstämmen). Von  den  kriegsgefangenen  Turk,  die  an  dem  Hofe  der  Sassa- 
niden  zu  Ehrenstellen  (unter  Persern  und  Arabern)  befördert  wurden  (wie 
die  uigurischen  Schreiber  an  dem  Hofe  Djingiskhan's),  verbreitete  sich  rasch 
der  Islam,  so  dass  der  Name  der  Hoeihe  oder  Hoeihoei  den  Chinesen  bald 
zu  allgemeiner  Bezeichnung  der  Mohamedaner  diente. 

Die  Vorfahren  der  Uiguren  (oder  Khou-li-fi-lo)  wohnten  am  Flusse  Arkhon 
(im  Karakorum- Gebirge  entspringend),  und  ihr  Reichsstifter  Boucou-Khan, 
der  (745  p.  d.)  die  Thukiu  besiegte,  soll  (nach  den  chinesisch  gelesenen  In- 
schriften seiner  Residenz  am  Arkhon)  der  Abkömmling  von  zwei  Bäumen 
gewesen  sein  (s.  Djouveini),  wie  auch  (nach  Klaproth)  Ouigour-Kkan  von 
einem  Baume,  der  im  nördlichen  Paradiese  wuchs,  geboren  gewesen.  Bhou- 
cou-Khan  war  der  Erste,  der  die  Uiguren  in  die  Ebenen  von  Turkistan  führte, 
ein  (847  p.  d.  von  Kirgisen  und  Chinesen  zerstörtes)  Reich  im  Osten  grün- 
dend, und  die  von  ihm  erzählte  Abrichtung  drei  wunderbarer  Krähen  im  Spre- 
chen deutet  auf  die  dann  durch  ihre  höhere  Cultur  (in  Bischbalig  oder  der 
Fünfstadt  unter  dem  Idi-cout  oder  Landesherrn  betitelten  Fürsten)  und  Schrift, 
erlangte  Superiorität  des  Uigurischen  (Osttürkischen),  worin  Rubruquis  des- 
halb die  Wurzel  der  türkischen  und  kumanischen  Sprache  findet,  indem  diese 
lingua  U^oresca  für  die  tuikomanischen  Wandervölker  eine  ähnliche  Bedeu- 
tung erlangte,  wie  die  arabische  des  Koran  für  die  semitischen.  Die  Ab- 
stammung von  dem  am  Boden  wurzelnden  Baume*)  zeigt  den  Eingebornen 
im  Gegensatz  zum  Wandrer,  der  in  dem  unstäten  Thier  seinen  Ahn  erblickt. 


der  Usiun  lag  am  oberen  Etzina  in  Kantscheou,  Soutscheou  und  Schatseou  am  Nordfuss  des 
Bchneeigen  Nan-Shan  und  am  Ufer  des  Boulounghir.  Die  langen  Pferdegesichter  lagen  (für  die 
Chinesen)  westlich  von  Turfan.  Kaiser  Hiawuti  hörte  von  der  Flucht  der  Yueitchi,  deren  König 
vmi  den  lliorignu  getödtet  war.  Der  allein  übrige  Königssohn  der  von  den  Hiongnu  vernichteten 
Usiun  wurde  (durch  ein  Wunder  erhalten)  von  den  Tschen-yu  zum  Könige  des  noch  übrigen 
Volkes  einge.sit/.t. 

*)  Die   (bei   der  Trennung)  nach   dem  Irtisch  gezogenen  Uiguren  (um  dort  von  der  Jagd 
zu  leben,  wahrend  diu  andern  sich-  in  Bish-balig  niederliessen)  könnten  (nach  Fischer)  die  Vor- 


405 

Bei  Beschreibung  der  Usiun  als  einer  blonden  Rasse  erwähnt  der  chine- 
sische Geschichtschreiber  zugleich  ihre  im  Aeussern  deutliche  (wie  bei  den 
Hunnen  für  Ammian ,  dem  sie  als  zweibeinige  Thiere  erschienen)  Herstam- 
mung  von  den  Affen,  eine  auf  ihre  alte  Heimath  zurückführende  Sage  (auf 
die  Grenzgebirge  Tibet's,  wo  dieselbe  heimisch  ist),  während  die  hellen  Haare 
und  Augen  grösstenteils  auf  Rechnung  der  unterworfenen  Eingebornen  in 
ihren  neuen  Sitzen  (wohin  sie  gleichfalls  von  den  Hiongnu  gedrängt,  den 
Yueitchi  folgten)  zu  setzen  sein  werden,  so  dass  hier  unter  sibirischen  Blon- 
den die  dunkle  Varietät  (wie  die  Nachkommen  des  Chinesen  Li-ling  bei  den 
Kian-Kuen)  die  adlige  Minorität  bilden  mochte  (während  umgekehrt  bei  den  Kai- 
sak-Kirgisen  die  helle,  in  den  weissen  Knochen,  den  schwarzen  gegenüber  steht). 
Die  von  den  Yueitchi  im  Lande  getroffenen  und  (als  ihre  indoskythischen 
Vorgänger)  nach  Bactrien  (als  Sacaraulen,  neben  Asiern,  Pasianern  und  das 
durch  den  Hindukusch  von  Kabul  getrennte  Tocharistan  benennende  Tocharer) 
getriebenen  Sai  entsprechen  den  nach  Iran  vorgeschobenen  Posten  der  Sky- 
then, wodurch  der  Name  Sacae  zum  allgemeinen  geworden  war,  und  wenn 
Strabo  später  in  den  Bergfesten  des  Issikul  die  Aufenthaltsorte  der  Sacae 
kennt,  so  ergeben  sich  diese  als  die  Reste  der  in  unzugängliche  Zufluchts- 
plätze (auch  von  den  Kara-Kirgisen ,  als  heutige  Sitze,  bei  der  sibirischen 
Eroberung  gewählt)  Geflüchteten,  ähnlich  wie  die  Garamanten,  die  früher  die 
Troglodyten  jagten,  sich  jetzt  selbst  als  Fels-Tibboo  verstecken.  Die  Sai  ge- 
boten (vor  Ankunft  der  tangutischen  Zuwanderer)  als  Herren  im  Lande,  und 
die  grosse  Masse  des  Volkes  wird  aus  den  als  weitest  (vom  Baikal  bis  west- 
lich vom  Ob  und  Irtysch)  verbreitet  geschilderten  Tingling  gebildet  sein, 
bei  denen  vor  allen  die  Eigentümlichkeiten  der  nordisch  hellen  Rasse  als 
characteristisch  erwähnt  werden.  Auch  bezeichnete  ihr  Name  in  der  Usiun- 
Sprache  geradezu  die  „alten  Leute",  und  wenn  sie  sich  im  Norden  unabhän- 
gig hielten,  bis  (48  a.  d.)  in  die  Gewalt  Tschi-tschi's  (der  bei  der  Ergebung 
des  Tschen  yu  Houhansie  an  China  ein  westliches  Reich  der  Hiongnu  er- 
richtete) fallend,  so  wird  sich  die  gleichartige  Färbung  doch  von  ihren  Sitzen 
aus  bis  über  die  der  Hiongnu  erstreckt  haben,  da  in  Kashgar  (Choule  oder 
Khin-cha)  wieder  eine  blonde  Bevölkerung  Erwähnung  findet,  wie  auch  die 
westlich  an  die  Usiun  grenzenden  Hou-te  oder  Khou-te  dazu  gerechnet  wer- 
den (bis  an  die  Sitze  der  Massageten,  die  sich  dann  in  den  Alanen  oder 
Yan-thsai  fortsetzen).  Die  jetzt  im  Süden  der  Oststeppe  wohnende  Grosse 
Horde  der  Kirgisen  führt  den  Namen  Uisun.  Viele  der  dienenden  Horden 
werden  damals  (wie  später  unter  den  Thukiu  und  weiter)  den  Namen  Ki-li- 
ki-szu  (Ki-ku  oder  Khin-wu)  geführt  haben,  und  wenn  allerdings  zu  Zeiten 
die  Kraft  des  Volkes  einen  selbständigen  Schwerpunkt  finden  mochte  in  einem 


fahren  der  Wogulen  sein.  Obwohl  tatarisch  redend,  heissen  die  Baschkiren  (als  andern  Ursprungs) 
Uschtäk  (Ostjäken)  oder  Fremde  (bei  den  Kirgisischen  Kosaken).  Tschud  bedeutet  (bei  den 
Russen)  in  allgemeiner  Weise  die  Fremden  (Fischer). 


406 

Midydjito  (medischeu  Midgard,  wie  im  indischen  Madhyadesa),  wenn  selbst 
gläuzeudc  Triumphe,  wie  der  Hakas  über  die  Hoeihe,  dein  Oje  den  Titel 
eines  Khakhan  verleihen  konnten,  so  stellte  sich  doch  periodisch  immer  wie- 
der das  Niveau  der  schütz-  und  machtlos  wandernden  Nomadenstämme  her, 
wo  dann  (s.  Klaproth)  die  Horden  der  Kiankuen  mit  denen  der  Thing-ling 
untermischt  lebten.  Der  Name  Ki-ku  in  analogen  Formen  seheint,  wie  in  In- 
dien, auch  im  Westen  gebräuchlich  zu  sein,  wo  er  an  den  uralten  Kikonen 
haftet,  und  die  Kilikier  treten  durch  ihre  gleichzeitige  Bezeichnung  als  Hy- 
pachaer  (s.  Herodot)  in  eine  mannigfaltige  Reihe  von  Beziehungen.  Bei  den 
Kian-kuen,  die  (wie  die  Agathyrsen  und  andere  pictische  Nationen  Europas) 
das  Tättowiren  übten,  übertraf  die  Zahl  der  weiblichen  Geburten  die  der 
männlichen,  eine  den  Chinesen  wahrscheinlich  durch  die  Nachbarschaft  der 
Usun,  bei  denen  (wie  in  Tibet)  das  Gegentheil  Statt  rinden  mochte,  auffällige 
Beobachtung.  Die  (tättowirenden)  Tungusen,  deren  eigentlicher  Name  (nach 
Strahlenberg)  Tingis  war,  gelten  (nach  Abulghasi)  als  die  ursprünglichen  Ta- 
taren und  werden  (in  den  See-Mongolen  oder  Wasser-Mongolen)  mit  (homeri- 
schen Abiern  (Ab,  das  Wasser)  oder  Gubiern  des  Biurnauer  Landes  der  Dauria 
(Scythia  extra  lmaum)  identificirt.  Der  (auf  König  )  gedeutete)  Titel  Kuen-mi 
oder  Kuen-mo  (bei  den  Usun)  führt  auf  das  im  Siamesischen  (und  tibetischen 
Dialecten)  gewöhnliche  Khuu  ^Khun  luaug)  und  hier  würde  eher  Kuen-ti  das 
männliche  Geschlecht  ausdrücken  (mia  dagegen  weibliche  Endung  bei  Thie- 
ren).  Auch  Ongh  ist  (siamesisch)  königlicher  Titel  (wie  im  späteren  Ung- 
khan,  als  chinesischer  \V  an  oder  Fürst  von  Kara-Kitai).  Der  Nömadenfürst, 
bei  dem  Fa-IIian  auf  dem  Wege  nach  Khotan  verweilte,  hiess  Kung  sun, 
worin  Kitter  das  germanische  König  findet  (in  den  alten  Sitzen  der  Usun). 
Bei  den  nordwestlich  von  Sogdiana  an  den  endlosen  Sümpfen  bis  zur  Grenze 
des  Uömer-Reiches  lebenden  Yanth  sai  oder  (iL  Jahrhund.  p.  d.)  A-lan-na 
(A-lan-liao  oder  A-lan)  wird  von  den  Chinesen  (wie  in  römischen  Kriegen) 
ihre  Geübtheit  im  Bogenschiessen  erwähnt.  Doch  waren  sie,  ausser  einer 
nomadisirenden,  auch  eine  Städte  bewohnende  Nation,  und  unzweifelhaft  eine 
Handel  treibende,  worin  ihre  weiten  Wanderungen  (in  Wagenburgen)  bis  zum 
Ganges  (b.  Amm.)  natürliche  Erklärung  finden,  zumal  ihnen  die  Chinesen  als 
(raj putischen)  Handelsleuten  in  den  Ländern  der  Liang  den  Namen  Sout  (Southe) 
beilegen,   also  den  indischer  Kaufleute  (Setthi  oder  Soutthe).     Ihre  Selbstän- 


')  f)ii  appelait  les  habitans  de  l'Estie  les  petits  rois,  Kuni^s,  de  leurs  villes  (au  notnhre 
d'environ  cinquante  ,  ils  avaicut  pour  boisson  le  Kumiala,  pienas  et  Medos,  dans  la  ceremonie 
dos  obseqnes  ils  faisaienl  des  gueriras  (<_riart ,  boire  ä  rasades).  Une  de  leurs  villes,  appelee 
Trakas,  etail  bätie  au  milieu  d'un  lac,  eile  etait  entouree  de  prairies,  ainsi  qu'une  autre,  nommee 
Lida,  Mir  nn  teil  .Uli  \ni  in  des  forets,  qu'ils  exploitaient  (890  p,  d  ).  Les  Estes  (au  temps  de 
Vulfstan)  avaienl  un  boisson  fait  avec  le  lait  de  cavalle  (eornuie  les  Tatares  et  les  Calmouks). 
Kumiala  s'appelle  (en  Lituanien)  cavalle,  quenas  signifie  lait  Kuuigas  sijruifle  ,ea  Lituanien) 
pretre,  Kuiii^aystas  priuee.  Medos  est  une  boissou  faite  de  miel  chez  tous  les  Slaves.  Trakas 
en  lituanien  a  le  aom  d'une  prairie  qui  eutourait  la  ville  de  Troki,  bätie  au  milieu  d'un  lac. 
Liditnas  veut  dire  eü  Lituauien  bois  exploite  (Siestrzeucevicz). 


407 

digkeit  endete  mit  der  Herrschaft  des  Wang-Houni  (Königs  der  Hunnen), 
wie  auch  vor  den  Hunnen  Attilas  zuerst  die  Alanen  fielen.  Wie  bei  der 
Besiegung  der  Usun  (156  p.  d.)  die  Sianpi  nach  Westen  vordrangen,  mögen 
auch  früher  dort  verwandte  Stämme  geherrscht  und  die  griechischen  Erzäh- 
lungen von  (kalmükkisch)  geschorenen  Argippäern  veranlasst  haben.  Ihrer 
Hegemonie  folgte  die  der  Juan -Juan,  und  da  diese  (seit  Vertreibung  der  Liang) 
Uiguren  unter  ihren  Vasallen  zählten,  liegt  das  Hervortreten  der  Namen  Utnr- 
guren,  Kuturguren,  Bulgaren,  Ugern  bei  westlichen  Historikern  nahe.  Als 
die  Juan-juan  selbst  vor  den  Thukiu  zu  fliehen  hatten  (554  p.  <L),  erschienen 
sie  vor  Byzanz  als  (falsche)  Avaren  (Sogoren). 

Von  den  Usiun  wird  bald  gesagt,  dass  sie  aus  ihren  ursprünglichen 
Sitzen  den  vor  den  Hiongnu  retirireuden  Jueitchi  gefolgt  seien,  bald  dass  sie 
von  diesen  in  bereits  festen  Sitzen  am  Ili  angetroffen  wären,  immer  aber 
wird  einer  zweiten  Begegnung  erwähnt,  indem  die  in  diesen  Sitzen  am  Ili 
aufs  Neue  von  den  Hiongnu  bedrängten  Usiun  auf  die  Jueitchi  im  Süden  des 
Jaxartes  gestossen  seien,  und  diese  dann  (aus  Tawan  oder  Schasch  in  Fer- 
ghaua  aufbrechend)  auf  die  ihnen  nach  Süden  (ins  bactrisch-griechische  Reich) 
vorangezogenen  Sai  gefallen,  und  sich  (Khangkui  oder  Sogdiana,  als  das  Land 
zwischen  Samarkand  und  Bokhara  durchziehend)  zuerst  (unter  Tahia  oder 
Dahae)  in  Transoxiana  (am  Nordufer  des  Oxus)  niedergelassen  hätten,  dann 
in  Bactrien  (und  als  Eroberer  von  Kabul  oder  Kiphin,  Kandahar  oder  Kian- 
thowei,  Belludschistan  oder  Foe-leoutscha,  Sind  oder  Jat  und  sonst  in  den 
Formen  der  Indo- Skythen)  angetroffen  wären.  Es  Hesse  sich  deshalb  an- 
nehmen, dass  das  von  den  Jueitchi  am  Ili  getroffene  Reich  ein  einheimisches 
gewesen,  dessen  Name  sich  auf  die  später  anlangenden  Eroberer  (mir  dem 
ihrigen  amalgamirt)  übertrug,  so  dass  diese  jetzt  fortan  als  Usiun  auftraten, 
wogegen  er  ursprünglich  nähere  Beziehung  zu  den  Sai  (Sakae)  gehabt  haben 
mochte,  deren  sämmtliche  Gebiete  deshalb  auch  dann  von  den  Usiun  in  An- 
spruch genommen  wurden.  Mit  dem  Namen  der  Sai  würde  dann  ferner  der 
der  Asi  (Gantsai  oder  Parther)  zusammenhängen,  die  anfänglich  die  südwest- 
liche Verbreitung  der  Sai  darstellend,  sich  nach  dem  Falle  ihrer  Stammsitze 
desto  energischer  aufrafften,  und  in  geschlossener  Macht  dem  westlichen  \  or- 
dringen  der  Jueitchi  wehrten,  so  dass  diese  nach  Süden  ablenken  mussten, 
nach  Indien  oder  Chintou  (von  wo  das  Thsian  hau  chou  von  dem  alten  Han- 
del durch  das  Land  der  Tahia*)  berichtet).    Wenn  Strabo  also  unter  den   aus 

*)  Habitant  in  partibus  oeeidentalibus  propter  Armeniam  Caspii,  infra  quos  est  Margiana 
juxta  totum  Assyriae  latus,  ad  mare  autetn  Cadusii  et  Gelae  [I  '<•  )  et  Dribyces.  post  quos 
porrecti  in  mediana  terram  Araariacae  et  Mardi.  Ineoluut  deinde  regiones  quae  sunt  prope  Ca- 
dusiorum  terram  Carduchi  et  Marundae  usque  ad  Margianum  lacum,  quae  introrsum  sunl  si 
Gelis  Margasi,  post  quos  Tropateue  extenditur  Amariacis  tenus,  et  orientem  versusa  Zayio  inonte 
Sagartii  (s.  Ptol.).  Byltae  ad  Imaum  montem  cPtol )  Paseuis  utuntur  desertae  terrae  in  por- 
tibus  meridianis  Patichae  et  Chuthi,  quae  media  sunt  ZadanophydreSj  latus  ad  septentrioues  et 
oeeasum  vergens  dicitur  ilodomartiee  in  Carmaniae  desertae  situs).  Incolunt  Carmaniae  partes 
prope  deserta  »itaa  Camelobosci  qui  vocantur  Soxotae  ^Zw|öi«i),  infra  hos  a  mari  extenduntur 


408 

Sogdiana  hervorbrechenden  Völkern,  durch  welche  das  griechisch-bactrische 
Reich  gestürzt  -wurde,  der  Asi  erwähnt,  so  mögen  damit  die  von  den  Jueitchi 
aus  den  Usiunländern  weiter  südlich  getriebenen  Sai  bezeichnet  sein,  wäh- 
rend ihre  Verwandtschaft  mit  den  Parthern,  die  unter  den  Erwerbungen  in 
Persien  schon  einen  sie  im  besondern  characterisirenden  Typus  gewonnen 
hatten,  aus  den  Augen  blieb,  und  wenn  es  (bei  Justin)  heisst,  dass  die  Asi 
die  Fürsten  der  Tocharer  gewesen  (wie  der  Name  Usbeken  den  Fürstentitei 
der  Kiuszu  oder  Ghuz  einschliesst  in  Beg),  so  zeigt  sich  ein  in  Thouholo 
oder  Tokharistan  ehrender  Titel  involvirt  (während  die  Bewohner  der  asischen 
Hauptstadt  Alanmi  sich  unter  den  Thang  des  Preisnamens  der  Tokie  oder 
Tapferen  rühmten).  Wenn  nun  die  Sai  (früher  Sakae)  oder  (anaptyxisch) 
Asai  (Asi)  in  das  Land  der  (nach  Amin.)  bis  zum  Ganges  wandernden  Ala- 
nen (bei  Ptolem.)  fallen,  so  lassen  sich  weitere  Namenveränderungen  verfol- 
gen. Der  auch  den  Osseten  des  Kaukasus  bekannte  Uebergang  der  Assi  in 
Alani  wiederholt  sich  (unter  den  Thang)  in  Khodjend,  wenn  bei  der  Erhe- 
bung des  Fürsten  zum  Thseusse  der  Name  seines  Staates  aus  Alan  in  Asit- 
cheou  (District  der  Asi)  verändert  wird.  Gleichzeitig  (660  p.  d.)  erhielt  das 
aus  dem  Geschlecht  der  Grossen  Jueitchi  beherrschte  Königreich  von  Cha- 
sepi  (Kesch  bei  Samarkand)  den  Namen  Sse  (Sai)  oder  Che,  so  dass  auch 
hier  eine  Erneuerung  der  alten  Bezeichnungen  Statt  fand.  Die  Yanthsai  hat- 
ten unter  den  Han  ihren  Namen  in  Alanna  verändert,  bis  zum  caspischen 
Meer  (nach  Ssemathien)  wohnend.  Der  jüngste  Uebergang  des  Asen-Namens 
nach  Europa  (zur  Zeit  der  Völker  mischenden  Kriege  des  Mithridates)  ge- 
wann in  Aspurgium  den  Ausgangspunkt  für  den  Norden,  aber  schon  früher 
hatte  er  (vom  troischen  Askanien  oder  Askenaz  aus)  in  etruskischen  Asoi 
und  gallischen  Hesus  die  Völker  des  Westens  durchweht. 

Wie  die  Usiun  in  dem  durch  sie  besetzten  Lande  der  Sai  (im  Gegen- 
satz als  Assai)  oder  Sacae  (durch  den  Jaxartes  von  den  Sogdiern  getrennt, 
wie  diese  durch  den  Oxus  von  den  Bactriern),  konnten  die  Jueitchi  den  ihri- 
gen von  ihrer  Herrschaft  im  Lande*)  der  (n.  Strabo)  als  östlich  an  die  Da- 
hae  (Tahia)  grenzenden  Massa-Geten  (ein  bis  zu  Timur's  Zeit  unter  den 
Geten  am  Saisan-See  und  der  Westseite  des  Altai  fortdauernder  Name)  er- 
halten haben,  und  Strabo  unterscheidet  unter  den  Bactriana  besetzenden  Wan- 
derhirten die  Asier,  Pasianer,  Tocharer  und  Sacarauler  von  den  aus  der  Ge- 
gend jenseits  des  Jaxartes  (unter  Saken  und  Sogdianern)  Ausgezogenen,  wobei 


Rhudiana  et  Agdenitis,  deinde  Paraepaphitis,  infra  quam  Arae  et  Charadrae  gentes,  deinde  Ca- 
badene  et  Canthouice  atque  ad  mare  Pasargadae  et  Chelenophagi  (Ptol.).  Amarispi  in  Bactriana 
(Ptol.).  'Tntg  <5l  A\a  üviov  oixtovai  Ziy.üücu  dpojrjgts  (Herod.).  Tdva'Cv  dk  noiet/uoy  dia- 
ßavii  ,  ovxfu  ZxvUixrj  ,  älk'  r,  ptv  nouJTtj  iwi'  In'iduv  ZuvfjOjuaT^iof  laii  (Herod.).  i^f«J 
(jionice),  das  Loos  A«J/{,  das  durch  das  Loos  zuertheilte  (Land).  A«f/?  ex  antiquo  läyio  vel 
luy((»  (Schweigh.).  kd/oi,  Loos,  Schicksal.  Cech  ist  in  böhmischen  Sagen  ein  Lech  oder  (edler) 
Mann.     Auf  die  Hyutae  (in  Serica)  folgen  als  äusserste  die  Ottorocorrhae  (nach  Ptol.). 

•)  Weitsi  meint  auch  in  der  That,  dass  die  vielfach,  wie  die  Yetha,  mit  den  Yueti  (Yuetchi) 
zusammenfallenden  Yinthian  (Yita)  am  besten  als  sogdianischen  Ursprunges  angesehen  würden. 


409 

die  letzteren  die  aus  der  Ferne  herbeigekommenen  Stämme  bezeichnen,  die  er- 
steren  dagegen  die  vorwärts  gedrängten  einheimischen,  die  (obwohl  in  ein- 
zelnen Stammesnamen  unterscheidbar)  sich  im  Allgemeinen  als  Sacae  oder 
Sai  (Sse)  zusammenfassen  Hessen.  Sie  scheinen  nach  ihrer  Ankunft  in  Bac- 
trien  unter  den  inneren  Verwirrungen  und  den  Kriegen  mit  den  ihnen  stamm- 
verwandten Parthern  zum  Theil  in  griechische  Dienste  getreten  zu  sein  und 
werden  zu  Alexanders  Eroberungen  in  Indien  (deshalb  auch  später  zu  dem 
nationalen  Triumphe  Vicramaditya's  über  die  Sakas)  beigetragen  haben,  aber 
erst  die  auf  ihren  Spuren  folgenden  Fürsten  aus  tangutischen  Ländern  (an 
der  Grenze  Tibet's)  errichteten  ein  organisirtes  Reich  mit  gläubiger  Hinge- 
bung an  buddhistischen  Mönchskultus.  Die  unter  den  Dahern  genannten 
Stämme  der  Aparner,  Xanthier,  Pisurer  führen  (ihrer  geographischen  Lage- 
rung gemäss)  den  verwüstenden  Grenzkrieg  mit  persischen  Ackerbauern  (in 
Strabo's  Beschreibung),  wie  heute  die  Turkmanen,  ohne  an  jener  weltgeschicht- 
lichen Bewegung  Theil  zu  nehmen.  Die  Derbiccae*)  oder  Derbices  beobach- 
teten die  vegetabilische  Diät  der  buddhistischen  Bikkhu  aus  dem  benachbar- 
ten Ladakh  (oder  Khotan). 

Die  Sai  (Sacae  oder  Scytbae)  oder  Massageten  (die  durch  die  Thyssa- 
geten  und  Skoloten  bis  zu  den  Geten  reichten)  kämpften  (als  Turanier)  mit 
den  Persern,  gründeten  aber  dann,  durch  die  (stammverwandten)  Jueitchi 
verdrängt,  das  parthische  Reich  (der  Asi),  während  die  Alanen  oder  As  (Asa, 
als  Kanskische  Tataren,  und  As-jach  als  Wogulen  mit  Ostjäken)  nach  Europa 
zogen      Auf  der   frei   gewordenen   Strasse   der   Steppen   breiteten   sich    dann 


*)  Die  gerechten  Dyrbaei  (Derbikken)  Hessen  sich  durch  religiöse  Bestimmungen  leiten 
und  assen  nur  Vegetabiüen  (nach  Ktesias).  Les  Parthes  (des  Dyrbaei)  etaient  les  enfants  d'Ashek 
(Aresh  ou  Ashkesh)  en  Arsaces  et  Ashkanyans  (s.  Gobineau).  Nach  Strabo  tödteten  die  Der- 
bikken die  Alten  (die  Greise  essend).  Südlich  von  den  Derbikken  (zwischen  Parsen  und  Dahae) 
an  der  Mündung  des  Oxus  wohnten  die  Tapuren  oder  Marden.  Bertas  oder  Pertas  (Sohn  des 
Kemany,  Enkel  des  Nouh)  war  Ahn  der  Berdeh  (Derbyssen  oder  Dyrbaei)  oder  (indisch)  Paradas 
(Pouroutas),  die  (zur  Zeit  Djemschid's)  Hyrcanien  (als  Scythen)  besetzten  (bis  Damgham  oder 
Hekatompylos  herrschend),  aus  Ladakh  kommend  (s.  Gobineau).  Bei  der  Theilung  mit  Afrasiab 
erwirbt  Aresh  (König  der  Parther)  Hyrcanien  für  Menoutshehr,  indem  sein  auf  dem  Gipfel  des 
Demawend  abgeschossener  Pfeil  bis  an  das  Ufer  des  Djihun  flog  Fradeshwad-Gher  oder  Fersh- 
wad  (Parthyene)  erstreckte  sich  (nach  Abdallah-Mohamed)  von  Azerbeidschan  bis  Gourgan  ;zur 
Zeit  des  Menoutshehr).  Menoutshehr  verlegte  die  Residenz  von  Amal  oder  Temysheh  nach  Ragha 
oder  Pehlou  (s.  Gobineau).  Pehlu,  Vater  des  Fars,  war  Sohn  des  Sem  (Sohn  des  Noah).  Les 
Indes  connaissaient  les  gens  de  l'Iran  sous  le  titre  commun  de  Pahlawas  (Pehlewans).  Tourany 
(de  Tur)  signifie  Turk  ou  Tjyny.  L'origine  de  la  langue  turk  est  attribue  ä  Aous,  fils  de  Ter 
(Tourya).  Cette  denomination  veut  dire  ennemi  (s.  Gobineau).  Les  Afghans  appellent  Tour  les 
populations  brunes  ou  noires,  telles  que  les  negres  et  les  Ilindous  et  par  apposiüon  Sour  (Sy- 
riens) les  peuples  non  noirs,  Turks,  Ouzbeks,  Europeens,  Chinois  et  Mongols  (d'apres  Mir-Elera- 
Khan).  La  race  de  Tour  est  celle.de  rois  arians-scythes  (Gobineau).  Amour  habitait  primitive- 
ment  dans  le  nordest  (d'apres  Masoudi).  Key-Ghobad  (Gomata)  se  transporta  de  l'Elburz  (inonde 
par  les  envahisseurs)  dans  les  provinces  du  Sud  et  fit  de  la  Perside  le  centre  de  l'empire,  choi- 
sissant  pour  capiüüe  Istakhar  (Persepolis).  Die  Derbiccae  (Jtoßi'y.xai  oder  dtQßixot)  oder  Der- 
bices, die  (nach  Strabo)  die  Erde  verehrten,  assen  (nach  Aelian)  die  Greise,  nachdem  sie  im 
Opfer  geweiht  waren. 


410 

von  den  Issedoncn  her  stammverwandte  Horden  der  Hiongnu  aus,  bis  die  Hun- 
nen an  der  Wolga  erschienen,  und  gleichzeitig  kamen  die  Völker  im  süd- 
lichen Sibirien  (längs  des  nördlichen  Altai)  in  Bewegung,  durch  den  Ural 
Europa  betretend,  als  Bulgaren  (von  Theoderich  in  Mösien  bekämpft),  und  um 
den  Caspi  nach  Süden  gewandt,  die  Chazaren,  die  im  5.  Jahrh.  ihre  Einfälle 
in  Persien  (als  östliche  Türken)  begannen  und  im  7.  Jahrh.  Heraklius  gegen 
Chosroes  unterstützten,  während  sich  das  centrale  Reich  der  Thukiu  am  Fusse 
des  Altai  erhob  (und  die  Avaren  nach  Westen  trieb).  Dieses  wurde  von 
dem  Kaotsche  oder  Chuiche  genannten  Zweige  der  Uiguren  gestürzt,  und 
unter  den  eintretenden  Stämmen  wandten  sich  die  Petschenegen  oder  Bessi 
(Bassiani  oder  Tatar-kuschha  bei  Madjar)  gegen  Russland  (915  p.  d),  und 
ihnen  folgend  (9.  Jahrh.)  die  Cumanen  oder  Kiptchaken  (Usen  oder  Guss), 
als  Polowczer.  Mit  Verfall  der  arabischen  Herrschaften  in  Asien  überschrit- 
ten dann  die  aus  Khowarezm  zurückgedrängten  Türken  wieder  den  Oxus 
und  eroberten  (1034)  Khorasan,  als  Seldschukken.*) 

*)  Gleich  den  Seldschukken  wurden  die  Osmanen  von  Oghuz-Chan  hergeleitet,  während 
alle  Türken  (gemeinsam  mit  den  Scytheu)  ihren  Ahn  in  Targitaus  finden  (und  Japhet  oder  Ja- 
petos).  Ein  unter  inneren  Kämpfen  nach  dem  Bergthal  Irgene-khoun  (am  Argoun  mit  dem  hei- 
ligen Dalai-Nor-See)  versprengter  Zweig  türkischer  Tataren  schmolz  sich  unter  Burteschiuo  durch 
die  Eisenfelsen  und  begründete  seine  Macht  unter  mongolischen  Ruräten  (mit  jakutischer  Ver- 
wandtsrhaft), von  dem  Lande  der  (den  Mandjuren  verwandten)  Tungusen  aus  die  stammfeind- 
lirhen  Tataren  im  Westen  bekämpfend  (dann  aber  in  den  Usbeken  mit  ihnen  gemischt),  und 
das  Reich  Kiptschak  stürzend  (sowie  die  türkische  'Dynastie  bis  zu  ihrer  Wiedererhebung).  Der 
Stamm  Tulg-a  (oder  Aschina,  als  Zweig-  der  nördlichen  Hunnen)  der  Ta-hiui  befreite  sich  (an 
der  Südseite  dev  Altai  nomadisirend)  von  der  Herrschaft  der  nach  Norden  gezogenen  Schushan 
(deren  Stifter  Tscheluchu  von  den  Hao-hiui  stammte)  und  der  bisherigen  Zwangsarbeit  in  Eisen- 
iiiinen  unter  Tumyn,  der  552  p.  d.  den  Titel  Ui-Chan  annahm.  Auf  seinen  Nachfolger  Muhan- 
Chan  Zyphin  folgte  (572  p.  d  )  Tobo-Chan,  der  seinen  Sohn  Ruli-Chan  in  die  westliche  (und 
Mim-Chan  in  die  östliche)  Mongolei  einsetzte  [den  Disabulos  der  Griechen].  Unter  seinem  Nach- 
folger Sehabolju-Chan  Schetu  machten  sich  die  Aboer  (unter  Abo-Chan)  unabhängig,  die  aber 
von  Mochö-Chan  (f  588  p.  d )  besiegt  wurden  [und  Bezug  haben  könnten  zu  dem  Streit  um 
die  Genuität  der  Avaren].  Theophylact  leitet  die  vielen  Völkern  gemeinsame  Bezeichnung  War 
und  Chuni  von  den  'Oytotj  her,  und  die  von  den  Tulgaern  vertriebenen  Shushan  standen  auch 
in  der  That  in  einem  Verwandtschaftsverhältniss  zu  den  Hao-huie  (Hochwaglem)  oder  Toloe, 
die  vor  der  Macht  der  Tulgaer  eine  Zeitlang  zurücktraten,  aber  als  dieselbe  durch  die  Einfälle 
der  stammverwandten  Sse-Janto  (Sse)  oder  Ilitschi  (nördlich  am  Urumji  nomadisirend)  geschwächt 
war,  in  der  Verbindung  der  Choicher  (Uiguren),  Hölolu  und  Bassimi  (mit  Hülfe  China's)  die 
Herrschaft  der  Tulgaer  stürzte.  Der  an  dem  chinesischen  Hofe  mit  dem  Heldentitel  belehnte 
Bölö-Chan  (f  759  p.  d.)  wird  die  Kirgisen  (758  p.  d.)  unterworfen  haben,  und  unter  seinem 
Nacf,folger  Dynli-Chan  verloren  sich  in  Folge  des  steten  Verkehrs  mit  den  Chinesen  die  ein- 
fachen  Sitten  der  Choichorer,  unter  zunehmendem  Glänze  des  Reichthuins  und  der  Rildung  (mit 
ihrer  Literatur).  Dann  durch  mehrere  Jahre  von  Post  und  Kälte  geschwächt,  fiel  das  Reich  der 
Choichorer  an  die  nördlich  am  Tarbagtai  wohnenden  Chagass,  die  (kühn  und  muthvoll,  mit 
Adlernase,  rothem  Haar  und  blauen  Augen)  den  ehoiohorisehen  Kössi-Chan  (8-10  p.  d.)  besiegten 
(als  Kirgisen).  In  China  gründeten  (9'29  p.  d.)  die  von  den  ostmongolischen  Dun-chu  (die  schon 
im  t.  Jahrh.  a.  d.  neben  Jueitschi  und  Chunnu  genannt  werden  stammenden  Kidan  die  Leao- 
Dynastie  und  während  ihrer  Kämpfe  mit  den  Niutschiern  bildeten  sich  Söldnerbanden  aus  den 
schwarzgekleideten  Tatan,  die,  ein  Zweig  der  (aus  amurischen  Ssuschen  und  mandschurischen 
Ilu  entstandenen)  Mochö,  sich  in  die  vier  Stämme  der  Tatar,  Taischut,  Ohörö  uud  Mongol  (mit 
iJjingis;  theilten.     Von  den   ÄTSlau-Chauen  (Schi-Zsy-Wan)  der  Choichoren  (in  Pitschan)  mögen 


411 

Die  (von  den  Türken)  wegen  ihrer  wilden  Wolfsnatur*)  Kurdi  oder 
Kurti  genannten  Räubervölker  am  chwarzen  Meer  wir  in  Kurdistan)  biessen 
(nach  Chardin)  sonst  Lazi  (oder  Lesghier  am  Kaukasus),  was  einen  Piraten 
bedeute  und  (nach  Strahlcnberg)  sich  (von  Laez  oder  Laes)  als  Waldmensch 
(Laessnoi  Ludi)  erklären  lasse,  so  dass  Sheringshamus  den  Namen  auf  die 
Kimmerier  (der  Krimm  oder  Ghazaria)  oder  die  (aufComari  Seeraub  treiben- 
den) Kimbern  übertrage,  und  damit  eine  Anknüpfung  zu  den  barbarischen 
Hilfstrappen  der  Laeti  (Lazzen  oder  Lassen)  bilden  würde'  (in  den  römischen 
Garnisonen),  welcher  Name  später  das  vielfach  erprobte  Schicksal  erfuhr,  nach 
neuer  Eroberung  an  den  unterworfenen  zu  haften.  Unter  den  Kämpfen  der 
Araber  gegen  die  Turkoniannenstänime  war  der  Titel  Grhasie  beliebt,  als  ein 
gegen  die  Ungläubigen  streitender  Held,  der  sieh  durch  sein  Ghasia  oder 
Rhazzia  (Lazzia  mit  Kudelka's  Murmellaut)  furchtbar  machte.  Auf  anderen 
Analogien-Reihen  zweigt  dann  der  Name  der  Chazaren  ab  (in  Korsaren  auf 
khorasanische  Kurden  zurückführend).  Ki(.i€QOvg  snovofACe.  ovqi  n'i  TsQfiavol 
Tovg  XrjOTog.  Wie  die  Tschelayr,  Tataren,  Ouyrat,  Ungut.  Kerayt,  Na v man  und 
andere  Stämme  zu  Raschid- eddin's  Zeit  sieb  als  Mongolen  zu  bezeichnen  liel  - 
ten,  so  hatte  man  früher  (wie  derselbe  hinzufügt)  nach  den  durch  Eroberungen 
berühmten  der  Tataren  gesucht,  und  aus  solcher  Erinnerung  war  dann  eine 
besondere  Horde  der  Tataren**)  unter  den  Mongolen  verblieben,  wie  jetzt  der 
Nayinan,  Kiptschak  u.  s.   w.  unter  den  Kaisak-Kirgisen. 


die  Selclschukken  ihren  Titel  genommen  haben.  Resl'e  der  Tulgaer,  die  nach  Norden  an  den 
Amur  genächtet,  erneuten  ihre  Mythen  des  lüisenhandwerks  und  <\ei:  alten  Hass  gegen  die  Hao- 
huier  (wie  auch  Privatfeindschaft  zwischen  Mogol  und  Tatar  bestand).  In  der  westlichen  Aus. 
dehming  der  Sse-Janto  als  Sse  (oder  Sacae)  fand  schon  früh  Berührung  mit  den  blonden  Völ- 
kern statt,  die  dann  wieder  in  den  Chagass  hervortraten  uud  (während  früher  die  Türken  die 
Cherkess  unterworfen)  im  südlichen  Sibirien  die  Obermacht  bewahrten,  bis  zur  Ankunft  der 
(russischen)  Kaisaken,  worauf  sich  die  Burut  in  die  Berge  zogen,  in  den  Ebenen  jedoch  das 
Mischvolk  der  Kirgis-Kaisaken  erwuchs. 

*)  The  name  Ilyrcanians  siguifies  Tthe  wolves"  in  Zend,  and  is  exactly  represented  by 
the  modern  Persian  Gurgan  (s.  H.  Rawlinson).  Jetzt  noraadisirt  der  Taimuni-  Stamm  in  den 
Wüsten  Hyreaniens  'aus  chazarischen  Khorassans)  oder  Parthiens,  aus  denen  fl4.  Jahrh.  p.  d.) 
die,Eusofzye  nach  dem  kabulis^hen  Abhänge  des  Hindukusch  zogen,  wie  für  die  ->eiter  in  In- 
dien siedelnden  Patanen  (oder  für  Perser)  nördlicher  'von  Apak  eder  Norden  iu  Bachter  oder 
Bactrien),  Ruhilkend,  das  Gebirgsland  (der  Afghanen".  So  werden  die  Siaposh  verdrängt  sein, 
die  früher  in  vier  Stämmen  (Kamoze,  Hilar,  Silar  und  Kamoje)  um  Kandahar  sassen.  Zum 
Tribut  an  die  Tu-kju  wurde  das  (nach  dem  Uang-hui  thu)  vom  Himmel  geregnete  Eisen  in 
Kirgisien  verarbeitet.  Die  Tataren  leiten  sich  von  Türk  als  Stammvater.  Die  Chinesen  bezeich- 
nen alle  ihre  Nachbarn  als  Ta-ta  oder  Ta-dse  (s.  Fischer). 

**)  Jener  Tata-Name  (der  unter  neu  übergelagerten  Erobererschichten  in  die  Verachtung 
der  Tadjik  oder  Ta  dse  hinabsank)  mochte  sich  an  die  siegreichen  Wallen  der  Ta-Hiä  in  den 
(von  ihnen  stammenden)  Tiaotschi  oder  Perser  knüpfen,  in  Steigerung  ihres  Epithet  als  Grossen, 
obwohl  er  schon  in  früheren  Geschichtsphasen  erschienen  war,  in  armenischen)  Titanen,  (assy- 
rischen) Teuthranen,  germanischen)  Teutonen  u.  s.  w.  spielend.  Er  hat  zu  verschiedenen  Epo- 
chen anderen  Rivalen  (die  ihn  dann  mehr  oder  weniger  in  seiner  Bedeutung  niederdrückten) 
weichen  müssen,  in  dem  für  die  Geschicke  der  asiatischen  Steppenländer  massgebenden  Central- 
gebiete  besonders  unter  dem  Aufschwünge  der  ThuMu-Macht,  als  die  Bewohner  von  Alanmi  (der 
Hauptstadt   der  Asi   in  Bokhara)   sich   den  Titel   der  Tokie   oder  Tapferen   beilegten   (wie  Amin 


412 

Plinius  nennt  (hinter  dem  caspischen  Meer  und  den  Skythen)  an  der 
Grenze  der  Inder  und  dem  Emodusgebirge,  die  Tochari  (neben  Attacori, 
Phyuri  u.  s.  w.),  die  sonst  (bei  Dionys.  Perieg.  und  Eusth.)  mit  Saken  am 
Jaxartes  und  Serern  vergesellschaftet  werden  (s.  Ritter).  Neben  den  Thyssa- 
geten  (am  Tanais  und  riphäischen  Gebirge)  stehen  (bei  Plinius)  Turcae*) 
oder  (nach  Herod.)  3lx>Qxat. 


die  Tochari  das  ausgezeichnetste  der  den  Bactrianern  gehorchenden  Völker  nennt),  und  bald 
mit  Ghazneviden,  Seldschukken,  Osmanen  u.  s.  \v.  der  Name  der  Türken  weithin  Schrecken  ver- 
breitete. Seine  indess  bereits  in  der  alten  Scheidung  zwischen  Iran  und  Turan  (mit  Turk  als 
Diminutiv)  involvirten  Anfänge  sind  in  (tyrrhenischen)  Tursci,  in  Tokabara  (den  asiatischen 
Griechen  auf  den  Keilschriften)  oder  der  Helmträger  (wie  Terk  im  Persischen  den  Eisenhelm  der 
Thukhiu  bedeutet)  und  anderen  Klängen  (der  pluralischen  Atrak,  Atta  u.  s.  w.)  schon  früh,  dann 
in  Turcilingae,  (finnischen)  Turci,  (arischen)  Turcae  (Yrkae)  u.  s.  w.  in  Europa  bekannt  geworden, 
wohin  die  auch  in  Asien  aufgeführten  Thracier  (mit  Wiederholung  der  Dahae  oder  Dai  und  Daci) 
den  Uebergang  vermittelten,  und  sind  ebenso  durch  die  Turuschka  (Tocharistan's)  Indien  nicht 
fremd  (oder  als  dorische  Taurier  westlichen  Bergen),  gleich  den  Dhurani  in  Ghor  (und  Berdu- 
rani  mit  Yusufszye).  Die  Zamurris  und  Sheraunis  wohnen  auf  dem  Tukhti  Scliman.  Verschie- 
den von  den  Spin-Kafärs  (weissen  Kafirn)  waren  die  Tor-Kafir  (schwarze  Kafirn)  oder  Siaputh 
(Siapusch)  ein  gefürchtetes  Gebirgsvolk,  dem  die  Mohamedaner  Badakhan's  jährlichen  Tribut 
zahlten,  ehe  Timur  ihre  Macht  (in  dem  Gebirgssitze  Kueter  oder  Kuttone)  brach, "  so  dass  sie 
jetzt  durch  die  Eusofzyes,  die  sie  für  die  Sklavenmärkte  Kabul  s  zu  jagen  pflegen,  bei  ihrer  An- 
siedlung  verknechtet  werden,  um  das  Feld  zu  bauen  oder  das  Vieh  zu  hüten.  Die  Stellung  der 
(wie  im  Kaukasus  aus  Flüchtlingen  neu  recrutirten)  Gebirgsvölker  hängt  von  den  politischen 
Verhältnissen  ab,  ob  sie  wie  jetzt  die  Kurden  (die  zu  Zohak's  Zeit  sich  in  die  Felsschluchten 
versteckten)  die  umliegenden  Gegenden  schrecken  oder  von  diesen  tyrannisirt  werden.  Unter 
den  Kafir  im  Gebirgssitz  Kueter  (Kuttone)  findet  sich  der  Stamm  Kuttaur,  und  der  Fürst  von 
Chitral  (den  las  Kunduz  vorgedrungenen  Usbeken  tributpflichtig)  betitelte  sich  Shah  Kuttone 
(s.  Burnes).  Der  türkische  Name  mag  den  tangutischen  Völkern  angehört  haben,  die  bei  den 
westlichen  Zügen  nach  ihren  Sitzen  am  Lande  der  Sai  (Sacae)  und  Massageten  den  Namen 
Usun  oder  Yuetchi  empfingen,  aber  den  eigenthümlichen  Tokharestans  oder  Thukolo's  in  dem 
Berglande  (nach  ihrem  Abzüge  nach  Indien  oder  ihrem  Aufgehen  in  Hiongnu  und  Thukhiu)  be- 
wahrten, wo  die  tibetische  Sitte  der  Polyandrie  und  (nach  Matuanlin)  auch  dasselbe  Verhältniss 
der  Geschlechter  herrschte.  In  den  Kämpfen  der  späteren  Indoskythen  mit  den  Asi  oder  Par- 
thern wurde  König  Artabanus  von  den  Tocheri  oder  Thogari  besiegt,  und  obwohl  ihr  Name  an 
diesen  Sitzen  später  wieder  zeitweis  (bei  ihren  südlichen  Eroberungen)  verschwand,  so  weiss 
doch  Menander,  dass  er  vor  dem  nochmals  neu  auftauchenden  der  Saken  bestanden,  und  meint 
deshalb,  dass  Tourkoi  ein  älterer  Name  der  Tocharer  gewesen,  und  im  Hinblick  auf  eine  älteste 
Phase  der  Wanderungen  (die  mit  den  türkisch-tyrrhenischen  in  Europa  zusammengehangen)  mag 
es  so  gelten,  obwohl  sich  sonst  würde  sagen  lassen,  dass  ein  noch  älterer  der  der  Sakae  gewesen. 
Nachdem  dann  aus  Resten  der  (mit  Usun  und  Yuetchi  verwandten)  Hiongnu  (und  wahrschein- 
lich unter  Assimilation  solch  türkischer  Usiun  selbst)  die  Thukhiu  oder  Türken  am  Altai  her- 
vorgegangen ,  erwuchsen  die  schon  vorher  als  /jtyn  fcJVoj  bezeichneten  Tocharoi  oder 
Türken  zu  jener  weit  ausgedehnten  Völkerkette,  wie  sie  den  die  Oxusländer  betretenden  Arabern 
erscheinen  musste  und  von  Ibn  Haukai  (10.  Jahrh.  p.  d  )  beschrieben  wurde,  als  auf  der  einen 
Seite  das  chinesische  Meer  berührend,  auf  der  andern  in  einzelnen  Stämmen  bis  zu  den  Bulghar 
und  Russ  (im  Westen)  sich  forterstreckte.  Doch  bewahrt  sich  die  einmal  geltende  Unterscheidung 
von  Tokharestau  noch  bei  Edrisi,  für  den  das  Land  Al-Tork  oder  Turkestan  dagegen  erst  im 
Norden  des  Gihon  beginnt.     Odin  führt  (in  der  Hervararsaga)  die  Türken  nach  Norden. 

*)  Strabo  kennt  die  Tocharer  unter  den  Saken  und  iiör  Tovoxwy,  lmv  Ztnxwv  xeckov- 
/uiyoy  tö  jidlai  (b.  Menander).  Gegen  die  Tochari  (b.  Trog.)  oder  Thogari  (b.  Just.)  fällt  der 
parthische  König  Artabanus  (Vater  des  Mithridates).  Bei  Ptol.  stehen  T«/«(>or  (neben  Jatae) 
am  Nordufer  des  Jaxartes,  aber  die  Toyctoot,  ^.iya  Uvos  sind  an  den  Oxus  (südlich  von  den 


413 

In  Pouho  oder  Bokhara  (westlich  von  der  kleinen  An  oder  Ngan)  heissen 
die  tapfersten  Krieger  Tsche-kiei  oder  Tokiei,  was  in  der  Sprache  des  mitt- 
leren Königreiches  (Ta-Ngan,  als  grosses  Mittel  Ngan)  Helden  bedeute  (nach  Ma- 
tuanlin).  Ssemathien  unterscheidet  die  Ansi,  als  festgesiedelte  Ackerbauer,  von 
den  nomadisirenden  Ta-Yueti*)  im  Osten  (100  a.  d.).  Im  Westen  der  Ansi 
(die  Silbermünzen  mit  dem  Bilde  eines  Königs  prägten  und  bei  seinem  Tode 
den  Stempel  wechselten)  wohnten  die  Tiao  tchi  (Tadjik  oder  persisch  Redende), 
im  Norden  die  Yanthsai  und  Liban  (Alan). 

In  den  Berggauen  Dizak  (Uratippa's  oder  Osruschnah's)  und  Masikha  traf 
Baber  die  Sarten  noch  im  Besitze  grosser  Heerden  von  Schafen  und  Pferden 
(gleich  den  Turk).    Sarten**)  waren  auch  die  Bewohner  von  Marghinan,  aber 


Zariaspen)  gesetzt.  Nach  Macedonien's  Besetzung  durch  Friga  trennen  sich  Francions  Franken 
von  Turchot's  Türken  (Fredegar).  Verschieden  von  Turkistan,  begreift  Tokharestan  (b.  Ebn  Hau- 
kai) Taikan,  Anderab,  Badakshan  und  Penghir.  Die  Turkstämme,  noch  in  Chin  (auf  chinesi- 
schem Gebiete)  liegend,  sind  (gleicher  Sprache  mit  Kirgiz  und  Kaimak)  weit  nach  Westen  ver- 
breitet, selbst  bis  Bulgar  und  Russ  (in  einzelnen  Stämmen),  im  Osten  bis  zum  chinesischen 
Meer  (980  p.  d.).  Gegen  sie  steht  ein  mohamedanischer  Posten  in  Awasch.  Mit  seinem  aus 
Turk,  Chaldschi,  Inder,  Afghanen,  Araber,  Gaziden  zusammengesetzten  Heere  besiegte  Mahmud 
von  Ghazna  (Beherrscher  von  Tokharestan)  den  Turkfürsten  Mekkhan,  der  (aus  Turkestan  und 
Transoxiana  herabkommend)  den  Gihon  überschritten  (Mirkhond).  Kabul  liegt  in  der  Nähe  von 
Tokharestan,  aber  das  Land  AI  Tork  oder  Turkestan  beginnt  (nach  Edriei)  erst  im  Norden  des 
Gihon  mit  zahlreichen  Nomaden,  als  Tibeter,  Bagharghar,  Khirkhir,  Kimaki,  Khizildis,  Turkechs, 
Arkechs,  Khiftschahs,  Khilks,  Bulgaren  (1154  p.  d.)  Das  chinesische  Thuholo  bezieht  sich  auf 
das  (durch  Mawaralnahar  oder  Transoxiana  von  Turkestan  getrennte)  Tokharestan  vom  oberen 
Oxus  (als  Badakshan  und  Talikhan  bis  Wachan  an  der  Südseite  des  Pamer),  östlich  von  Balkh 
(s.  Ritter).  Die  Bewohner  von  Thuholo  oder  (unter  den  Wei)  Thuhulo  verkehrten  (unter  den 
Sui)  mit  China  (U.  Jahrh.  p.  d.),  mit  Yta  (Yitä)  vermischt  lebend  (nach  Tuyeou)  in  der  Religion 
des  Foe.  Die  Brüder  nehmen  zusammen  eine  Frau,  weil  (nach  Matuanlin)  es  mehr  Männer  als 
Frauen  gäbe.  Bei  5  Männern  trägt  die  Frau  5  Hörner  an  der  Mütze.  Nördlich  stiess  Tocha- 
restan  (mit  Schrift,  wie  in  Khotan)  an  das  (zur  Zeit  der  Hau)  Ta-Wan  genannte  Land  (nach 
Matuanlin),  und  war  früher  Land  der  Ta-Hia  genannt,  mit  Ye  oder  She  hu  Wüte,  als  Titel  des 
Königs  (s.  Neumann).  Die  Nachfolger  des  Assena,  Königs  vou  Tocharestan,  werden  (in  der 
Hauptstadt  Yueichifu)  zu  Königen  der  Yta  (Yeyita)  erhoben.  König  Assena  (von  Tocharestan) 
schickte  seinen  Sohn  mit  Tribut  nach  China  (650  p.  d.). 

*)  Bei  den  Yetha,  die  (nach  Matuanlin)  von  den  Kaotsche  oder  (wie  die  Yita)  von  den 
Ta-Yueti  stammten,  herrschte  Polyandrie  (nach  dem  Suischu).  Die  Yetha,  deuen  Khangkiu 
(Sogdiaua),  Khotan,  Sule  (Kaschgar)  und  Asi  unterworfen  waren,  verschwägerten  sich  mit  den 
Juanjuan  (nordischen  Sianpi),  wurden  aber  (559  p.  d.)  von  den  Turk  besiegt.  Der  Volksname 
Yitha  war  (nach  den  Chinesen)  aus  Yetha  entstanden,  dem  Namen  der  Fürstenfamilie  im  Lande 
Hoa,  dem  (144  p.  d.)  alle  Nachbarstaaten  (wie  Persien,  Hoeipan,  Kophene,  Koueitsiu,  Sule, 
Kume,  Khotan  u.  s.  w.)  unterworfen  waren.  Die  Yithian  sind  (nach  dem  Sifanki)  sogdianischen 
Ursprungs,  als  durch  die  Kriege  zur  Zeit  der  Han  zersprengt.  Tammuz  (der  bis  zur  vierten 
Hinrichtung  wieder  auflebte)  gehörte  weder  zu  den  Kasdäern  (Chaldäern,  denen  die  Nabathäer 
in  der  Bewohnung  Babylon's  vorangingen),  noch  zu  den  Kenaanäern,  noch  zu  den  Hebräern, 
noch  zu  den  Geraraiqah  (Assyrern),  sondern  zu  den  alten  Ganbasäern  (s.  Makrizi).  Dimeschqi 
erwähnt  (neben  Chaldäer,  Assyrer  u.  s.  w.)  das  alte  Volk  El-Gauban.  Nach  Chwolsohn  sind 
die  Ganban  (Ganbar)  die  riesenhafte  Urbevölkerung  Chakläa's,  die  von  den  semitischen  Naba- 
thäern  vorgefunden  wurde.  Livius  bezeichnet  Alpenvölker  als  semigermanae.  Nach  Ptolemäos 
stand  in  Spanien  (wo  Germaui  zu  Oretani  rechneten)  eine  germanische  Legion. 

**)  Die  Badakshan  (mit  Lagern  wandernder  Usbeken  im  Westen)  bewohnenden  Tadjik  heis- 
sen  Badakshi   (nach    Elphistone)  und  die  Einwohner  der  von  Murad  Bey  (der  von  Kuuduz  auch 


414 

Ferghana  war  (zu  Baber's  Zeit)  von  Turk  bewohnt  und  alle  Einwohner  ver- 
standen das  Turk  in  der  guten  Schriftsprache.  Obwohl  die  Sprache  Kokan's 
türkisch  ist,  bemerkt  Mir  Isset  (1818  p.  d.),  dass  die  Stadtbewohner  Tadjik 
(persisch  Redende)  sind.  Nach  dem  Thai-thing  y-thoung-tschi  (1790  p.  d) 
sind  die  Einwohner  Khokan's  (persischer  Sprache)  von  derselben  Rasse  wie 
die  Burut.  Vambery  unterscheidet  in  Chiwa  die  Sart-tili  (der  Städte)  und 
Uezbeg-tili. 

Die  Länder  um  Yarkand  heisseu  Mogulistan,  indem  das  Landvolk  von 
den  Städtebewohnern  Mogul  genannt  wird,  ein  wahrscheinlich  von  den  Mo- 
hamedanern  den  Feueranbetern  (wie  in  Mogestan)  gegebener  Name,  der  dann 
in  der  Bezeichnung  von  Heiden  (Gentiles)  mit  dem  Volksnamen  zusammen- 
fiel (ähnlich  wie  bei  Aramäer).  Der  von  den  Mohamedanern  gesprochene 
Türk-Dialect  wird  sich  mit  Entwicklung  der  Schrift  in  dem  civilisirten  Reiche 
der  Uiguren  herangebildet  und  als  rectificirende  Norm  über  die  auseinander- 


Badakshan  erobert  hatte)  beherrschten  Gebiete  waren  (nach  Burnes)  grösstenteils  Tadjik,  als 
die  auch  in  Badakshan  (wohin  eine  Einwanderung  aus  Balkh  Statt  gefunden)  vorwiegenden  Ein- 
gebornen.  Durwaz  (ganz  von  Tadjik  bewohnt)  wurde  (nach  Burnes)  durch  einen  unabhängigen 
Tadjik-Fürsten  beherrscht  (am  Bergpass  von  Bolor  und  Pamir).  Edrisi  beschreibt  die  Turk- 
Sklaven  (die  die  Türk-Tibeter  Kaschgar's  nach  Ferghana  brachten)  von  frischester  Hautfarbe, 
schlanker  Gestalt,  schönsten  Gesichtszügen.  Nazarow  (auf  dem  Wege  nach  Khokand)  nennt  die 
östlichen  Perser  (in  den  Bergengen  bei  Dari)  Goltschi  oder  (nach  Meyendorff)  Ghaltschi  von 
Karatigin,  im  Süden  der  Asfera-Kette  bis  zum  Pamir-Passe  (bei  Baber),  welches  Gebirgslandes 
Landesfürsten  (durch  den  Derwaz  beherrschenden  Tadjik-Fürsten  besiegt)  sich  von  Alexander  M. 
herleiten,  ebenso  wie  (nach  Marco  Polo)  die  Zulcarnaim  betitelten  Fürsten  von  Baudascia  (Ba- 
laschan  oder  Badakshan)  oder  (nach  Baber)  von  Sekander  Filkus  (Alexander,  Philipp's  Sohn). 
Wie  sein  Nachbar  meint  der  König  von  Derwaz  von  Alexander  M.  zu  stammen  (Elphinstone). 
Die  das  Hochland  im  Süden  und  Südosten  von  Badakshan  bewohnenden  Siapusch  werden  von 
den  kriegsgefangenen  Sklaven  (auf  dem  Markte  Bokhara's  und  Kabul  V  Siknan  genannt  (nach 
Meyendorff)  und  die  Gebirgsbewohnenden  Shignan  (Cheghanian  oder  Siknam)  Wurden  durch 
Ueberfälle  aus  Khokand  und  Badakshan  in  die  Sklaverei  geschleppt  (s.  Timkowsky),  indem  im 
Menschenhandel  Badakshan's  dem  Khan  seiue  Unterthanen  die  gangbarste  Münze  sind  (s.  Ritter) 
und  Murad  Bey  hatte  (nach  Moorcroft)  mit  seinem  Vezir  darüber  einen  Contract  abgeschlossen. 
Die  von  Xeriffeddin  als  Riesen  geschilderten  Siapush  (von  den  Badakshanern  in  die  Sklaverei 
geführt)  sind  ihrer  Schönheit  wegen  weit  berühmt,  wie  auch  Fräser  die  Schönheit  der  Siapush 
oder  Kafir  im  Süden  von  Badakshan  hervorheben  hörte  Badakshan's  Tribut  an  Kunduz  (oder 
die  Kudghum-Üsbeken)  war  in  Sklaven  zu  zahlen  unter  Murad  Bey,  der  auch  in  Chitrat  und 
Kaferistan  Sklavenjagden  anstellte.  Nach  Ferishta  führten  die  Könige  von  Badakshan  ihren 
Stammbaum  bis  auf  Alexander  (Philipp's  Sohn),  wie  sich  (nach  Elphinstone)  die  Fürsten  von 
Durwaz.  solches  rühmen,  und  solche  Herkunft  wird  (ausser  von  Chitral,  Gilgit,  Iskardo,  Durwaz, 
Badakshan)  auch  von  den  östlich  von  Durwaz  wohnenden  Häuptlingen  und  denen  von  Kulab, 
Sheghanian  und  Wakhan  (im  Norden  des  Gihon)  in  Anspruch  genommen  (nach  Burnes).  Diese 
Fürsten  (in  dem  sonst  Bakhtur  Zemin  oder  Bactriana  genannten  Lande)  verheirathen  sich  nur 
innerhalb  der  Genealogie  Zulkarnaim's.  In  dem  (von  Yusufzi  bewohnten)  Sewad  und  Bijore 
[nördlich  vom  Kabulfluss)  nannte  sich  der  (lö.  Jahrh  p.  d.)  aus  Kabul  (wo  Secander  seinen 
Nachkommen  einen  Schatz  hinterlassen)  nach  dem  Hindukusch  gewanderte  Stamm  (zu  Abul  Fazil's 
Zeit)  der  Königliche  oder  Sultan,  weil  von  einer  Tochter  Zulcarnaim's  Secander  stammend.  Wie 
unter  den  Bewohnern  Thokharestan's  (zwischen  Belut-Tag  und  Hindukusch)  bestand  unter  den 
Tungani-Stämmen  in  Yarkand  (den  von  griechischen  Kriegen  stammenden  Söldnertruppen)  eine 
Alexandersage.  Das  (Keulen  tragende)  Bergvolk  der  Sibas  oder  Sibus  (Siaposh  im  Kaukasus) 
wurde  (nach  Strabo)  von  Herakles  abgeleitet,  Sarten  von  Serer. 


415 

gehenden  Idiome  im  Austausch  des  Verkehrs  fixirt  haben.  Die  in  Yarkand 
und  lli  zum  sesshaften  Leben  übergehenden  Kalmüken  fallen  in  ihrem  (Ge- 
trennte oder  Uebrige  bedeutenden)  Namen  mit  den  als  (nach  Weise  der  Mani- 
luken  und  Janitscharen  ehrlosen)  Grenzsoldaten  fungirenden  Tunganen  zu- 
sammen, die  sich  als  „Zurückgelassene"  erklären  aus  dem  Heere  Alex.  M., 
wie  die  Kotheu  Karen  (in  Rirma)  aus  einem  chinesischen. 

Neben  den  Mongolen  als  Ausdruck  der  Steppen  der  Gobi  (mit  den  Cul- 
turstaaten  China's  verknüpft),  den  (türkischen)  Uiguren,  die  in  der  Seeregion 
des  Thianschan-Nanlu  wandern,  den  Kirgisen  zwischen  Aral  und  Kaspi,  den 
(in  semitische  Reiche  auslaufenden)  Beduinen  Arabiens  begreifen  die  als 
Ariana  zusammengefassten  (und  oft  in  dem  engeren  Sinne  eines  medischen 
Aria  bei  Herat  verstandenen)  Flächen  (von  Beluchistan,  unter  Kohistan  und, 
in  Persien,  Kerman  bis  zur  Steinerhebung  in  Mangyschlak,  wo  türkisch  mo- 
dificirte  Turkomannen  mit  hyperboräischen  Kirgisen  zusammenstossen)  die 
Wurzeln  der  iranischen  Bilduugsvölker,  die  sich  sowohl  nach  dem  westlichen 
Europa,  wie  südlichen  Indien  verbreitet.  Als  die  Turanier  noch  von  den 
Hochlanden  Khorassans  aus  mit  den  Pehlewaneu  stritten,  erschienen  sie  als 
(alanische  oder  albanische)  Taurier  der  Toukhara  (touchara  im  Sanscr.),  wie 
später  in  Tokharestan  oder  Badekchan.  Die  Tapyren  stehen  zwischen  Der- 
bikker  und  Hyrcaner  (Strabo). 

Aehnlich  der  türkisch-  (uigurisch-)  mongolischen  Mischung*)  in  den  Us- 


*)  Als  Oghus  (Sohn  des  Kara-chan),  weil  er  mir  den  einigen  Gott  verehrte,  mit  seinen 
Verwandten  siegreich  Krieg  führte,  versammelte  er  seine  Verbündeten  und  legte  ihnen  den  Na- 
men l'igur  bei,  welcher  tfn  türkischer  Sprache)  sich  mit  einander  verbinden  und  Hülfe  leisten 
bedeutet  (nach  m  Raschid  -eddin).  Dieser  Name  wurde  nachher  auf  dieses  ganze  Volk,  dessen 
Stämme,  Söhne  und  Familien  übertragen,  und  obgleich  einige  dieser  Stämme,  jeder  durch  irgend 
einen  besonderen  Umstand,  einen  anderen  Namen  bekamen,  wie  Karbik,  Kilidsch,  Kaptschak 
u.  dgl.  m.,  so  blieb  ihnen  doch  der  Name  Uigur.  Auf  diese  Weise  stammt  das  ganze  Volk  der 
Uiguren  von  diesem  ab.  In  der  Zeitfolge  aber  wurde  die  Art  und  Weise,  wie  sich  ihre  Stämme 
und  Geschlechter  in  verschiedene  Zweige  vertheilt  habeu,  hinsichtlich  ihrer  ursprünglichen  Be- 
nennung und  näheren  Bezeichnung  unbekannt,  man  hält  sie  daher  überhaupt,  ohne  Rücksicht 
auf  die  früheren  Ereignisse,  für  einen  türkischen  Stamm.  An  den  Flüssen  des  Berges  Kuttak 
neben  dem  Berge  Karakorum  (zwischen  den  Bergen  Tukratu  Bosluk  oder  Bukara  Tuluk  und  dem 
Berge  Oskunluk  Bikrim  oder  Oschkunluk)  im  Lande  Uiguristan  finden  sich  die  Wrohnsitze  der 
Völker  Uigur  (die  On-Uigur  an  den  10  Flüssen  und  die  Tokus-Uigur  an  den  9  Flüssen).  Das 
Volk  Ung  wohnt  am  Flusse  Kamlandschu,  und  die  Kuman-ati  am  Flusse  Ufkan.  Die  uignrischen 
Stämme  (ohne  Beherrscher  lebend)  erwählten  (auf  dem  Landtag)  den  Menkutai  (aus  dem  Volke 
Ischkel)  als  II  Ilterir,  und  einen  gelehrten  Mann  aus  dem  Volke  Uskider  als  Köl  Irkin,  indem 
sie  diese  Beiden  zu  Königen  der  gesammten  Völkerschaften  machten.  In  späteren  Zeiten  nann- 
ten die  Uiguren  ihren  König  Idi-kut  (Besitzer  des  Reichs).  Zur  Zeit  des  Djingiskhan  war  Ba 
wardshik  der  Idikut  (König)  der  Uiguren,  und  er  unterwarf  sich  sich  gegen  Kara-t'hatai  empö- 
rend) dem  Gurchan  und  heirathete  eine  Tochter  des  Djingiskhan,  der  ihm  einen  hohen  Platz 
unter  seinen  Vasallen  anwies.  Das  Vaterland  der  Mongolen  (mil  dem  Eoflager  des  Djingiskhan 
am  Orchon)  hiess  Onam  cherule  (Onou  und  Kurulum)  oder  Mancherule  (nach  Rubruquis)  Ka- 
rakum ist  der  tatarische  Name  aller  sandigen  Wüsteneien.  Die  weissen  Tataren  wohnten  süd- 
östlich vom  Altai  (Gaub.).  Die  Tungusen  am  Penschinischen  See  heissen  Lamuten  (von  Lam 
oder  Meer).  Die  Samojeden  neuneu  sich  selbst  khasovo  (Menschen),  lieber  die  khasischeu  Berge 
führen  (b.  Ptolem.)  die  Handelsstrassen  zu  den  Serern 


416 

beken  beginnt  der  arabische  Einfluss  (im  Pehlewi  durch  die  arische  Schich- 
tung Irans  verbreitet)  in  Belutchistan  (wo  der  Iraam  von  Muskat  über  die 
Westhälfte  der  Küste  herrschte)  durch  die  Wüste  in  die  jüdisch-persische 
Bildung  der  Bhatti  in  Jessulmer  und  Bhikanir  einzudringen,  sowie  anderer 
Rajputen,  deren  Rajas  von  Jeypur  über  die  Raubhorden  der  Shekawutty,  Be- 
sieger (arabischer  Herkunft)  des  Hindustamnies  der  Kyaokhani,  Oberhoheit 
üben.  In  den  Amir  von  Sindh  begründete  das  Belludschen  Geschlecht  der 
Talpuri  (seit  den  aus  Belludschistan  gezogenen  Söldnern)  seine  Herrschaft 
in  Hydrabad  und  entriss  Omerkote  dem  Rajah  von  Jhundpur.  Das  Gesicht 
der  Eingebornen  von  Kutch  erinnert  (nach  Burnes)  an  jüdische  Bildung  und 
das  Pferd  ist  dort  (wie  in  Kuttiwar)  arabischer  Herkunft. 

Im  Norden  von  Tibet  und  Tangut  nomadisiren  die  Siraigol  oder  Scha- 
raigol  genannten  Mongolen,  die  (bei  den  Tibetern)  Kor  oder  Chor  heissen, 
und  die  aus  dem  Tangut  ausziehenden  Völker  übertrugen  den  Namen  der 
Kuru  in  Kuruxetra,  vor  dem  ihre  Heimath  als  Uttara-Kuru  der  'OxzoQoxoftQOi 
in  die  xäoia  oq?]  oder  Khasagairi  (östlich  von  Kashgar)  zurücktrat,  nach 
Sogdiana,  und  dann  nach  Khorassan  (mit  Chowaresm),  und  weiter  nach  In- 
dien, wo  sie,  als  gleichfalls  persischer  Herkunft  (oder  Durchzugs),  die  (per- 
sisch-medischen)  Madra  in  eine  verachtetere  Stellung  am  Indus  zurückdräng- 
ten. Dass  ähnliche  Züge,  wie  sie  von  den  Juetchi  Tangut's  historisch  be- 
kannt sind,  schon  in  früher  Zeit  Statt  gefunden  haben,  zeigen  die  Sitze  der 
Massageten  und  der  den  Chunnu  an  Sitten  verwandten  Issedonen,  und  die 
Erhebung  der  Perser  unter  Cyrus  wird  damals  ihre  Stütze  an  den  dortigen 
Nomadenvölkern  gefunden  haben,  wie  bei  den  späteren  Wiederherstellungen 
ihres  Reiches.     Von  alakmak  (zerstören)  bilden  sich  (heldenhafte)  Alaman. 

Maotun,  Sohn  des  Tchenju  (der  Hiongnu)  Theuman,  unterwarf  (208  a.  d.) 
die  Juetchi  (am  oberen  Hoangho  und  den  Zuflüssen  des  Bulangghir  in  Kansu), 
die  (bei  einer  Erhebung)  von  seinem  Nachfolger  Laoshang  (165  a.  d.)  besiegt 
und  (nach  dem  Fall  ihres  Königs)  zur  Auswanderung*)  nach  dem  Ili  gezwun- 


*)  Euthydemos  (f  206  a  d.)  rief  Antiochus  zu  gemeinsamem  Handeln  auf  gegen  die  von 
den  Nomaden  drohende  Gefahr,  indem  damals  Theuman's  Eroberungen  und  Begründung  der 
Hiongnu-Macht  den  Osten  bereits  in  Bewegung  gesetzt  hatten.  Der  parthische  König  Phrahates 
wurde  von  den  scythischen  Söldnern,  die  er  gegen  Antiochus  Sidetes  (f  130  p.  d.)  zu  Hülfe 
gerufen,  (128  a.  d  )  getödtet  und  die  reiche  Beute,  die  damals  gemacht  wurde,  scheint  die  Juetchi 
zu  ihrer  weiteren  Bewegung  veranlasst  zu  haben,  indem  Artabanes  (Nachfolger  des  Phrahates) 
gegen  die  Tocharer  oder  (nach  Justin.)  Thogarii  fiel  (125  a.  d.).  Die  Chinesen  berichten,  dass 
die  Juetchi  nach  Besetzung  Tahia's  die  Antzu  besiegt  hätten.  Mithridates  II.  (t  88  a.  d.)  führte 
verschiedene  Kriege  mit  den  Scythen,  der  von  Mnaskires  vertriebene  Sinatroukes  wurde  von  den 
Sakaraulern  (62  a.  d.)  auf  den  parthischen  Thron  zurückgeführt  und  Phrahates  IV.  flüchtete  vor 
den  Skythen  zu  Augustus  in  Syrien  (37  a.  d.).  Unter  den  griechisch-bactrischen  Kriegen  nahm 
Eukratides,  der  seine  indischen  Eroberungen  bis  zum  Hyphasis  ausdehnte,  zuerst  auf  seinen 
Münzen  den  Gebrauch  arianischer  Schrift  an  (f  160  a.  d.),  als  Maharaja.  Die  Bactrianer  unter- 
stützt« Demetrios  Nicator  gegen  die  Parther,  aber  nach  dessen  Niederlage  fiel  das  bactrische 
Reich  (mit  Archebios)  und  Mithridates  (f  176  a.  d)  omnes  praeterea  gentes,  quae  inter  Hydas- 
pem  fluvium  et  Indum  jacent,  subegit,  ad  Indiam  quoque  cruentum  extendit  imperium.  Das 
in   Indien  von  den  Griechen  (seit  Apoliodotos  die  indischen  Länder  seines  Bruders  Heliokles, 


417 

gen  wurden,  wo  sie  die  Sse  (mit  den  Horden  Hieu-siun  und  Kuento)  nach 
Sogdiana  drängten  und  dann  von  den  (gleichfalls  von  den  Hiongnu  besieg- 
ten) Usun  über  den  Jaxartes  getrieben,  die  Sse  weiter  südwärts  (nach  Kipin 
und  nordöstlicher  Arachosien)  schoben,  während  sie  selbst  durch  Tawan  (Fer- 
ghana  oder  Khokhand)  ins  Land  der  Tahia  zogen  (124  a.  d.),  in  fünf  Hor- 
den (Hieurni,  Shoangmi,  Kueischuang,  Hitun  und  Tumi)  getheilt  (mit  der 
Hauptstadt  in  Lanschi).  Nachdem  Kieu-tsieu-kio  (Vater  von  Jenkaotchin) 
als  Fürst  von  Kueischuang  die  andern  Horden  besiegt,  unterwarf  er  (24  a.  d.) 
Kipin  (Kophen)  und  Pota,  in  Thien-tschou  (Indien)  eindringend  (nach  Ma- 
tuanlin),  als  Vorgänger  (Kadphises  II.)  der  Turushka-Könige  (nach  Lassen), 
die  (nach  dem  Iiaja  Tarangini)  in  Kashmir  herrschten  (wo  Nagarjuna  in  die 
Zeit  des  Kanishka  fällt). 

Die   mit   den   Bactriern    verbundenen  Sogdier   (Sughdhai),    neben   denen 
(und  Ariern  Herat's)    die   (unter   gleichem  Befehlshaber  mit   den  Parthiern*) 


Sohn  des  Eukratides ,  besetzt  hatte)  gegründete  Reich  (der  Indoskythen)  bestand  bis  Hermaios 
(85  a.  d.),  wo  die  turanischen  Völker  eindrangen.  Nach  Trogus  Pompejus  (der  unter  den  skythischen 
Völkern,  die  Bactrien  und  Sogdiana  besetzten,  Sarancae  und  Asiani  nennt)  hatten  die  Tocharaner 
und  Sarducher)  Fürsten  aus  dem  Stamme  der  Ariani.  'F.vitiOtv  JLuxamc.n'j  Säxav  Zxu- 
:nZr  >)  y«)  llu{<iTay.i]iij  (Is.  Ch.)  odei  lfcioi'iTttxrii'i't,  östlich  von  Drangiana,  als  Tuiuxr\vi\  (bei 
Ptol.)  oder  (skythischer)  Tatarensitz.  Indem  der  ganze  Verlauf  der  Begebenheiten  in  Kurzem 
dahin  zusaramengefasst  wird,  entsprechen  die  Sakarauler  (Sarakauler)  oder  Sarauker  den  voran- 
ziehenden Saka  oder  Sse,  die  Tocharer  (mit  den  Pasianern  im  späteren  Praitakene)  oder  (wenn 
nach  der  usiunischen  Herrscherfamilie  genannt)  die,  Asiani  den  beiden  Türkenstämmen,  die  von 
Osten  her  in  die  Ili-Länder  eingezogen  waren.  Ihre  Eroberungen  folgten  den  parthischen,  die 
bereits  die  bactrisehen  Könige  ihrer  Macht  beraubt  hatten.  Bactriani  per  varia  bella  jaetati, 
non  regnum  tantum,  verum  etiam  libertatem  amiserunt,  siquidem  Sogdianorum  et  Arachotorum 
et  Drangianorum  Indorumque  bellis  fatigati,  ad  postremum  ab  invalidioribus  Parthis,  velut  ex- 
sangues,  oppressi  sunt  (Justin). 

*)  Als  die  glücklichen  Kriege  Mithridates  II.  (s.  Justin.)  die  Skythen  unter  Mayes  (der 
das  Reich  der  Soter  auf  Kabulistan  beschränkte)  zu  Eroberungen  in  Indien  (mit  der  Hauptstadt 
Nikaia  am  Hydaspes)  zwang,  bildete  sich  in  Kipin  eine  parthische  Nebendynastie  seit  Vonones 
(s.  Lassen).  Unter  den  Nachfolgern  des  Mayes  dehnte  Azes  das  indoskythische  Reich  bis  Kasch- 
mir (von  Damodara  beherrscht)  aus.  Auf  Azes  folgte  Spalirisos,  als  letzter  König  der  Skythen 
oder  Saka,  die  (57  a.  d.)  von  Vicramaditja  (in  Ujhjhajini)  besiegt  wurden.  Als  Zeitgenosse  des 
Azes  herrschte  (im  westlichen  Kabulistan)  Kozoulo  Kadphises,  König  der  Su  oder  Suti  unter 
den  Juetchi,  die  (südlich  vom  Hindukusch  erobernd)  den  letzten  griechisch -indischen  König 
(Hermaisos)  verdrängten  (85  a.  d.),  als  Vorgänger  des  Kadaphes  (von  Yndopherres  vertrieben). 
Die  nach  dem  Tode  Mithridates  II.  in  das  Reich  der  Arsakiden  einfallenden  Skythen  wurden 
von  Yndopherres  oder  (bei  den  Chinesen)  Utaiao,  der  (90  a.  d.)  in  Kipin  herrschte,  vertrieben 
(worauf  er  sich  „Siegreicher  Retter"  benannte).  Auf  seinen  Nachfolger  Abdagases  (f  30  a.  d.) 
folgte  Jimmofu.  Auf  Kieu  tsieu-kio  oder  Kadphises  II.,  der  die  Eroberungen  (22  a.  d.)  der 
Juetchi  bis  Indien  (16  a.  d.)  ausdehnte,  folgten  (in  Kashmir)  die  Turuschka-Könige  (30  p.  d.), 
als  Hushka,  Gushka  und  Kanishka  Unter  Abhimanju  (Nachfolger  des  Kanishka)  wurde  die 
brahmanische  Religion  wieder  hergestellt  (f  65  p.  d.).  Kadphises  II.  oder  Kieutsieukio  (Kuei- 
shuarcg)  eroberto  Pota  (Patau  oder  Pakhtan,  als  östliches  Afghanistan),  Kipin  (nordöstliches  Ara- 
chosien) und  (bis  Malava)  Indien)  Nach  Töiltung  der  Könige  setzten  die  Juetschi  ihre  Häupt- 
linge ein  in  Indien  (bis  221  p.  d.)  regierend.  Die  unter  Jenkaotchin  (Sohn  des  Kadphises  II.) 
durch  den  „Grosser  Retter"  betitelten  Indier  aus  der  Pentapotaraie  (gleichzeitig  mit  dem  bud- 
dhistischen Ainoghabuti  zwischen  dem  Fünfstroralaud  und  der  Jamuna)  geschwächte  Macht  der 
Juetchi   wurde  durch   die  Turuschka-Könige  (von  Kashmir  aus)  hergestellt  in  Indien.     Aus  der 

Zeitschrift  für  Ethnologie    Jahrgang  lt!70.  28 


418 

stehenden)  Chorasmier  (Khairizaos),  die  (b.  Strabo)  unter  Sacae  und  Massa- 
getae  gerechnet  werden,  in  derselben  Satrapie*)  (b.  Herodot)  vorkommen  (in 
der  Wüste  Kharesm),  zeigen  die  nördliche  Ausbreitung  der  (den  ßergstämmen 
Tocharistans  Herrscher  gebenden)  Reitervölker  Arianas  (mit  südlichen  Sagar- 
tiern)  in  der  Namensmodilication  als  Asier  (und  eine  weitere  in  Usiun  ähn- 
lich der  durch  einheimische  Massagetcn  bei  einwandernden  Jueti  oder  Jueitchi 
hervorgerufenen)  und  verschwinden  dann  (nach  Westen  zu)  in  der  allgemei- 
nen Bezeichnung  (persischer)  Parther,  die  (bei  Darius)  mit  Sarangier,  Arier 
und  Sagartier  (in  der  Inschrift  von  Behistun  mit  Hyrcaniern)  vereinigt  sind. 


von  Kad  in  Bactrien  gestifteten  Dynastie  der  Juetchi  stammend ,  eroberte  Hushka  oder  Hoerki 
(gleichzeitig  mit  Kadphises  II.  und  Amoghabuti)  Kaschmir,  wo  (nach  seinem  Nachfolger  Gushka) 
Kanishka  oder  Kanerki  herrschte,  der  östlich  vom  Tsongling  eroberte,  sowie  Kanyakubja  in  In- 
dien.  Nach  Ralhana  Pandita  blühte  unter  den  Turuschka-Königen  (Hushka,  Gushka  und  Ka- 
nishka)  der  Buddhismus  in  Kashmir.  Nach  den  Si-jü-ki  wurde  Kanishka  bei  Purushapura  (Pes- 
hawer)  zur  Religion  des  Cakjabuddha  bekehrt  und  (unter  dem  Vorsitz  des  Vasumitra)  wurde 
(nach  Fabian)  die  vierte  Synode  in  Jalandhara  abgehalten  Auf  Balan  (Nachfolger  des  Kanishka 
in  Kanekpura)  folgte  Balan,  Vorgänger  des  Üer  (während  in  Kashmir  Abhimanju  sich  selbstän- 
dig machte)-  Zur  Zeit  des  Periplus  gehörten  Abiria  und  Syrastrene  zum  Reich  der  Indoskythen, 
deren  Hauptstadt  Minnagara  von  den  Parthern  besetzt  war  (nach  dem  Tode  des  Kanishka).  Pa- 
kores  unterstützte  die  Parther  in  Indien  gegen  die  Indoskythen.  Salivahana  besiegte  (78  p.  d.) 
die  Saka.  Nach  den  letzten  Königen  in  Indien  (3.  Jahrh.  p.  d.)  erhielt  sich  die  Macht  der 
Juetchi  im  Norden  des  Hindukusch.  Die  kleinen  Juetchi  eroberten  (5.  Jahrh.)  in  Indien.  Auf 
den  Münzen  der  parthischen  Nebendynastie  (in  Kipin)  finden  sich  (neben  griechischen  und  ari- 
schen Legenden)  Herakles,  Zeus,  Athene  (Dreizackträger).  Die  indoskythischen  Münzen  (mit 
griechischen  und  arischen  Legenden)  zeigen  Poseidon,  Pallas,  Victoria,  Zeus  mit  Donnerkeil, 
Athene,  Herakles,  Hermes,  Apollo.  Die  Münzen  der  Juetchi-Könige  (mit  griechischen  und  ari- 
schen Legenden)  zeigen  Herakles,  Zeus  (im  älteren  Yueitchi-Reich).  Die  Münzen  des  (Kadphi- 
ses II.  oder)  Kieutsieukio  zeigen  (neben  griechischen  und  arischen  Legenden)  Siwa  (mit  Drei- 
zack) und  Feueraltar,  Halbmond,  Stier  (Nandi).  Die  Münzen  der  Turushka  -  Könige  (mit  Titel 
im  griechischen  und  indischen  Dialect)  zeigen  Mithra  oder  Helios,  Mond  (Mao  und  Oami),  Ma- 
nao  bagho,  Nauaia,  Arthro  (Ardetho),  Oado  (Vado),  Pharo,  Ordagno,  Okro  (Ugra  oder  Siva  mit 
Trommel  und  Dreizack),  Ardokro,  Nandi  (Stier),  Trimurti,  Kumara  oder  Ikando  (Skando  oder 
Kartykeja),  Odi  Bod  (Adhibuddha  oder  Samantabhadra),  Sramana,  Gebeträder  u.  s.  w.  In  spä- 
teren Versionen  wird  Salivahana,  der  Sakenfürst  zum  Sakenzwinger. 

*)  Die  (mit  Daher,  Marder  und  Dropicer)  nomadischen  Stämme  (neben  den  ackerbauenden 
Persiens)  der  Sagartier  oder  Asagarta,  die  (auf  Darius'  Inschrift)  in  Medien  stehen  (als  Nach- 
barn der  Sarangier  am  Etymaudrus  oder  Heimond,  am  Mechila  Rüstern  oder  See  des  Rüstern 
in  Seistan  in  gleicher  Satrapie  mit  Thamanaeer,  Utier  und  Mykier)  bildeten  den  Grundstock  des 
arianisehen  Wandervolkes,  also  (neben  den  ".J%hioi  Herat's  oder  Hariva's)  die  eigentlichen  "Joint 
(oder  Ari),  im  Gegensatz  mit  den  nach  ihrer  Ansässigkeit  zur  Herrschaft  im  Mittelreiche  Ma- 
dhyadesa's  gelangten  Medier  (Aryanem  vaejo's).  Wie  die  vorwiegend  die  Reiterei  des  persischen 
Heeres  bildenden  Sagartier  auf  der  einen  Seite  durch  die  Wüste  in  Persien  hineinragten,  so 
berührten  sie  sich  auf  der  anderen  mit  den  zu  Bactrien  (Bahli  oder  Bakhdi)  führenden  Hoch- 
landen der  Pactyer,  die,  als  von  dort  (in  späteren  Zeitumläuften)  über  die  Ebenen  ausgebreitet 
(nachdem  die  Reste  der  Sagartier  nach  Asterabad  Bay  in  Mazenderan  getrieben  waren)  als  Pahlu 
(Aussi  oder  Asi)  oder  Parther  (der  Pehlewane)  erscheinen  (in  Ausbreitung  des  bei  Herodot  süd- 
lich von  Elburz  auf  den  Distrikt  Atak  beschränkten  Namens)  und  (nach  Aufnahme  semitischer 
Mischung  in  Belludschistan)  in  ihren  Abzweigungen  nach  (kabulischem)  Afghanistan,  als  Patau 
(Fashtun  oder  Pakhtun)  zurückkehren,  wo  die  aus  den  Thälern  vertriebenen  Bewohner  (unter 
einer  in  der  Zwischenzeit  ans  Indien  verbreiteten  Herrschaft)  nun  ihrerseits  zu  Kohistans  (Berg- 
bewohnern) werden. 


419 

Die  Arrintzi-Tataren  am  Jenissei  (die  in  ihrer  symbolischen  .Sendung  au 
die  Russen  die  scythisohe  Botschaft  an  Darius  wiederholten)  erklärten  Strah- 
lenberg ihren  Namen  aus  Arr  und  „Ära  hiesse  bei  ihnen  so  viel  wie  ein  Hör- 
niss,  so  in  der  schwedischen  und  gothischen  [getischenj  Sprache  Geting  ge- 
nannt wird,  welche  Creatur  die  Art  hatte,  dass  sie  Menschen  und  Vieh  mit 
ihrem  Stachel  plagte,  und  wenn  ihrer  viel  beysammen,  sogar  Menschen  und 
Vieh  todt  stächen.  Weil  sie  nun  in  denen  alten  Zeiten  ein  gross  und  mäch- 
tiges Volk  gewesen,  welches  viele  Leute  todt  geschlagen  oder  todt  gestochen, 
so  hätte  man  sie  dahero  mit  den  Hornissen  verglichen,  und  ihnen  deshalb 
solche  Namen  Arr  (Arinci)  beigelegt  [ähnlich  den  von  hebräischen  Propheten 
gebrauchten  Vergleichungen].  Zu  einer  gewissen  Zeit  aber  wären  eine  Menge 
grausamer  Schlangen  in  ihr  Laud  kommen,  welche  Köpfe  wie  Menschen  ge- 
habt und  hätten  geglänzt  wie  die  Sonne,  nfit  diesen  hätten  sie  zwar  Krieg 
geführt,  aber  sie  wären  von  denen  Schlangen  überwunden,  ruiniret,  und  ihrer 
sehr  viele  von  ihnen  todt  gestochen  worden.  Worauf  die  übrigen  von  ihnen 
sich  aus  dem  Lande,  wo  sie  damahls  gewohnet,  wegbegeben  müssen.''  Die 
yofjTig  oder  (am  Nurskazemja-See)  von  dem  Noor  (See)  genannten  Neuri  fal- 
len durch  ihren  Wohnsitz  am  Tyras  (mit  Ophiusa  oder  der  Schlangenstadt 
Tyras)  in  das  Gebiet  der  bis  zu  den  Thyrigetae  (Thyssigetae)  ausgedehnten 
Sarmatae  (s-rrn  is  the  same  roat  as  s-rb)  und  verbinden  sich,  bei  der  medi- 
schen  Herkunft  dieser,  mit  den  Asien  durchschwärmenden  Arii  oder  Medern. 
Die  (Gott  als  Mador  bezeichnenden)  Wotjäken  (Arr  oder  Ari)  nennen  ihr 
Land  Arima,  zu  den  (obischen)  Ostjäken*)  gehörig,  die  wenn  gewaltsamen 
Todes  sterbend,  sogleich  zum  Himmel  steigen,  sonst  aber  vorher  bei  dem 
strengen  Gott  der  Erde  dienen  müssen,  ehe  sie  in  den  Himmel  kommen. 

Bei  den-  Sianpi  (deren  Reste  sich  in  Korea  finden),  die  (mit  den  U-huan) 
am  Sunggari  wohnten,  pflegten  sich  die  Männer  bei  der  Vermählung  den  Kopf 
zu  rasiren.  Ihr  mächtigster  Stamm  war  der  der  Yu-wen,  die  einen  Haar- 
büschel auf  dem  geschorenen  Kopfe  Hessen.  Unter  dem  wunderbar  geborneu 
Fürsten  Than-chy-hoai  besiegten  die  Sianpi  die  Ting-ling  (im  südlichen  Si- 
birien), sowie  die  Fu-yu  im  Osten  und  die  Usun  im  Westen,  ein  mächtiges 
Reich  (unter  Kämpfen  mit  China)  stiftend  (156  p.  d.),  das  sie  also  in  Ge- 
genden führte,  wo  schon  früher  Herodot  von  kahlköpfigen  (und  plattnasigen) 


*)  Verschieden  von  den  Ostjäken  (am  Ohi)  zerfallen  die  Jenisseier  (Jenisseiischen  Ostjäken) 
in  Konnigung,  Arinzi,  Assanen  (Kottuen),  Kotowzi  und  Denka,  aus  dem  sajanischen  Gebirge 
stammend  (nach  Castren),  wie  die  Samojeden).  Unter  den  (Turm  oder  Turum  verehrenden  Ost- 
jäken (bei  denen  der  Bär  heilig-  ist)  halten  die  Geschlechter  »ihr  Yerwandtschaftsverhältniss  unter 
den  Angehörigen  aufrecht,  so  dass  sie  keine  Ehen  unter  sich  abschliessen  und  gegenseitig  hei 
fen  (wie  die  Samojeden).  Die  obdorschen  Ostjäken  zerfallen  in  Rennthierbesitzer  (die  sich  Sitten 
und  Sprache  der  Samojeden  angeeignet  haben)  und  in  Fischer.  Als  die  von  Sonnenuntergang 
nach  Osten  an  den  Tasnuss  gelangende  Horde  der  Ostiäken  dem  Verhungern  nahe  war.  lernten 
sie  von  einem  Tschwotschibuikub  (erleuchteten  Wahrsager)  den  Fischfang  (s.  Erman).  Die  (den 
Ostjäken  am  Jenissei  der  Sprache  nach  ahnlichen)  Ariner  unter  Tulka  (im  Lande  Tulkina  am 
Jenissei  bei  Krasnojarsk)  haben  sich  grösstenteils  unter  den  Kirgisen  verloren   (J.  E.  Fischer). 

2d* 


420 

Argippäern  zu  erzählen  wusste  und  dem  (Helheim's)  der  Hellenen  und  Jonier 
(Javanen)  dorthin.  Im  Albanesischen  bedeutet  June  „unsere",  und  mag  so 
zuv  allgemeinen  Volksbezeichnung  (unsere  Leut1)  dienen.  Der  Gouverneur 
von  Kaschgar  führte  den  Titel  Yuni-Wang  und  in  Annam  erscheinen  die  Ja- 
vana  (oder  Hindu)  als  Juen*)  (und  jüngste)  oder  Jonaka  (Yune  der  Inschrift 
von  Behistuu). 

Für  Persien  (wo  der  aus  der  Po-Familie  stammende  König  in  Suli  oder 
Shuster  auf  einem  goldenen  Throne  residirte)  kam  unter  den  Wei  der  Name 
Posse  (Po-ssii  oder  Parsi)  auf  (nach  Tuyeou),  während  das  Land  früher 
Tiaotschi  (Tadjik  oder  Tata  der  Ta-Hia)  gewesen,  indem  der  parthische  Name 
(der  Exules  bei  Justin.)  seit  dem  aus  dem  Stamme  der  Dahae*)  (s.  Mannert) 
und  also  des  Tahia  hergeleiteten  Stifter  Arsaces  (den  Strabo  Parthien  erobern 
lässt,  als  König  der  Dahae)  mft  den  Sassaniden  vor  dem  persischen  zurück- 
trat, der  indess  in  noch  älterer  Zeit  gleichfalls  schon  in  Gebrauch  gewesen. 
Indem  dann  weiter  gesagt  wird,  dass  das  Volk  des  Königreichs  Posse  (das 
frühere  Königreich  Tadschik)  vom  Stamm  der  Ta-Yue  gewesen,  so  wird  auf 
das  Verweilen  der  Ta-Yuetchi  in  den  Ländern  der  Ta-Hia  Rücksicht  genom- 
men sein,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  das  Reich  der  (mit  den  Ta-Yuetchi 
verwandten)  Yeta  (in  Tokharestan),  die  (5.  Jahrh.  p.  d.)  in  mehrfachem  Ver- 
kehr mit  China  standen.  Die  sonst  als  Parther  erklärten  Asi  entsprechen 
den  durch  die  Ta-Yuetchi  in  das  Land  der  Ta-Hia  und  weiter  über  seine 
Grenzen  hinausgedrängten  Sai  (als  Asai  oder  Assi),  während  die  in  Persien 
zur  Herrschaft  gelangten  Wanderstämme  (aus  den  Ta-Hia  von  vielleicht  Statt 
habender  Mischung  mit  verwandten  Sai)  in  den  Specialnamen  der  Tiaotschi, 
die  diesen  Namen  Tadjik  oder  Tata  zu  einem  allgemeinen  westlicher  Noma- 
den machten,  auch  die  Araber  (Tache)  einbegriffen  (wie  zu  Djingiskhan's  Zeit 
die  mohamedanischen  Feinde  des  Westens  allgemeiner  als  Tadjik  zusammen- 
gefasst  wurden).  Persia  olim  nomen  regionis  omnis  quae  non  intra  finem 
Arabiae  vel  magnae  Tatariae  continebatur  (Meninski),  und  Hyde  leitet  von 
Taj  oder  Krone  (als  Thron  in  Taj  Soliman)  den  altpersischen  Namen  Tag- 
jik.  Dass  derselbe  in  Folge  der  Eroberung  eines  Reitervolkes  eingeführt  sei, 
geht  auch  aus  dem  Buudehesch  hervor,  in  dem  Tadj  unter  den  Vorfahren  des 
Zohak  genannt  wird,  und  die  Araber  (Tadji)  wurden  (nach  d'Ohsson)  von  den 
alten  Persern  als  Tazi,  von  den  Armeniern  als  Dadjik  benannt,  als  Tasian 
oder  Tazian  von  Taz  und  Taze,  Kinder  des  Fervaks.  Nach  Leyden  könnten 
die  Reste  der  alten  Bevölkerung  seit  der  Tazi-Regierung  (der  Araber-Zeit) 
in  Mawaral  nahar   von   den  Turk  den  Namen  Tazi  oder  Taji  erhalten  haben. 


*)  Unota  (jnnota  oder  jinoch)  oder  Jüngling  von  ime  (jung  oder  uny)  statt  juti  (in  Li- 
Imsa's  Gericht).    Junose,  juvenis  (Mater  verborum). 

*)  The  Dahi,  whose  name  is  equivalent  to  the  Latin  „Rustici",  were  spread  over  the 
whole  country  froni  the  Caspian  to  the  Persian  gulf  and  the  Tigris.  They  are  even  mentioned 
in  Scripture  among  the  Samarian  colonists,  being  classed  with  the  men  of  Archoe  (Erech  or 
0(>xorj),  of  Babylon,  of  Susa  und  of  Elam  (s.  ttawlinaon). 


421 

Bei  der  Blüthe  des  Tiaotchi- Reiches  verbreiteten  sich  die  höher  gebildeten 
Handelsleute  der  Tadjik  oder  Sartcn ,  aber  mit  dem  Sturze  sank  auch  der 
Name  in  den  Sklavenstand  der  That  (im  Siamesischen)  hinab,  als  der  Name 
(Tat  oder  Tatas),  „den  die  Nachkommen  der  Seldjukiden  als  Sieger  den  Be- 
siegten gaben,  den  sich  die  alten  Einwohner  der  Bucharei  von  ihren  usbeki- 
schen Eroberern  gefallen  lassen  müssen,  den  aber  auch  die  herrschenden  Sun- 
Diten  den  unterdrückten  Aliden  geben"  (s.  Ritter).  In  Shirvan  und  Daghestan 
werden  die  persisch  redenden  Aliden  von  den  si*  umgebenden  persisch  re- 
denden Sunniten  so  genannt,  und  bis  in  die  Kriinm  finden  sich  Tat,  die,  ob- 
wohl sie  dort  türkisch  sprechen,  dennoch  nur  als  Unterworfene  so  genannt 
werden.  Die  Tadjik  (in  Kabul)  werden  auch  Sartes  genannt  (nach  Burnes). 
In  Chiwa  wird  der  Name  der  Sarty  (Sarteu)  oder  Sarter  (der  Karavanen  aus- 
sendenden Städtebewohner)  gleichbedeutend  mit  Tata  gebraucht  (nach  Mura- 
view),  wie  schon  früher  in  Kharesmien  und  das  Erbtheil  Tschagatai's  (Sohnes 
des  Djingiskhan)  in  grosser  "nd  kleiner  Bucharei  hiess  (bei  den  Mongolen) 
Sartohl  (s.  Timkowski)  oder  Sartenland.  „Sart  bezeichnet  ausserhalb  Persiens 
dieselbe  gewerbetreibende  Classe  persisch  Redender,  welche  im  Persischen 
selbst  auch  Sogdager  oder  Sudagr  (Handelsleute,  wie  indische  Banig-jana) 
genannt  werden,  und  so  sind  die  Sarten  die  Abkömmlinge*)  der  antiken  Ur- 


•)  Ueber  die  Kaste  der  Ackerbauer  (der  Panthialaei,  Derusiaei  und  Germanii)  und  die 
der  Nomaden  (der  Dai,  Mardi,  Dropici  und  Sagartii)  herrschte  (in  Persien)  die  der  Krieger,  aus 
den  Pasagardae  (mit  der  königlichen  Familie  achäischer  Achämeniden  von  Hakha  oder  Sakha, 
des  Perseus  aus  Chemmis),  der  Maraphier  (von  Maraphus,  Sohn  des  Menelaos  und  der  Helena 
hergeleitet  mit  ägyptischen  Namensformen)  oder  Mafee  (s.  Rawlinson)  und  der  Maspii,  die  (von 
aspa  oder  Pferd)  als  Gross-Rossige  auf  die  Aspasii  (der  Paropamisadae)  oder  (bei  Strabo)  'f.nnä- 
m.„  führen  würde,  durch  Pferdezucht  berühmt,  wie  (bei  den  Indern)  die  Kamboja  (s.  Lassen), 
als  Kamoje  (der  Siaposh)  später  in  die  Berge  gedrängt.  Die  Pasargadae  oder  (b.  Curtius)  Par- 
sagadae,  bei  llaaaauyttiat  oder  (nach  Steph.  Byz.)  das  Lager  der  Perser  in  Farsistan,  bildete 
den  Mittelpunkt  der  persischen  Monarchie,  die  (wie  gegenwärtig)  auf  Ansässigen  (Tat  oder  Tad- 
jik) und  Wanderstämmen  (Iliyat)  begründet  war  und  in  ihrer  Herrscher-Dynastie  (wie  jetzt  in 
den  Kadjaren)  eine  Verwandtschaft  zu  den  umwohnenden  Reiterhorden  (die  von  den  nächsten 
Nachbarn  Sakae  genannt  wurden)  zeigte.  Solche  unstät  schweifende  Sacae  (der  Scythen)  oder 
Sse  wurden  zu  Sagartier,  wenn  ein  Gorod  (wie  Pasargata)  in  ihrem  Gebiete  einschliessend  (als 
Burgunder)  und  bei  der  durch  die  Parther  eintretenden  Völkerschiebung  (in  der  die  Sagartier 
nach  Asterabad  gedrängt  wurden)  konnte  sich  der  Name  der  Maspier  oder  Maha-Aspier  (Aspa- 
sier)  in  Aspurgianer  des  Nordens  verwandeln.  Damals  erneute  sich  (wie  zu  verschiedenen  Malen 
der  periodisch  untergegangene  Name  der  Türken)  die  Bezeichnung  der  Parther,  die  sich  bereits 
von  den  Steppen  aus  über  die  farsischen  Thalländer  verbreitet  hatten,  als  flüchtige  Fürsten- 
geschlechter der  von  Cyaxares  besiegten  Sakae  (die  schon  früh  als  Achäer  Egypten  bedroht  hat- 
ten in  einer  später  diese  als  Ansässige  von  den  Schweifenden  unterscheidenden  Namensform) 
sich  unter  den  Persern  (als  Achämeniden)  festsetzten  und  dann  mit  Hülfe  der  dort  einheimi- 
schen Nomadenvölker  (der  Maspier  unter  den  Sagartiern)  das  Joch  medischer  Tyrannei  in  Cyms 
Aufstande  abwarfen  (in  anfänglich  feindlichem  Gegensatz  zu  den'  im  Culturstaate  Bactrien  oder 
Bahli  ihren  Schwerpunkt  findenden  Parther  oder  Pahlu).  Dieser  Zusammensturz  des  medischen 
Reiches  (unter  Ästyages  oder  Dahak)  wurde  von  den  bactrischen  Gesängen  als  Verdienst  ihres 
Feridun  (in  Verknüpfung  mit  einheimischen  Schmiedesagen  des  Ostens)  gefeiert,  der  ohne  Be- 
ziehung (und  eher  im  Gegensatz)  zu  (dem  im  Westen  thätigen)  Cyrus  stand  Als  jedoch  die 
Ausdehnung  des  Arsacidenreiches  beide  Landestheile  in  eine  Nationalität  vereinigt  h3tte,  fanden 


422 

sassen  des  alten  Sogdianas,  indem  (nach  Sultan  Baber)  alle  Einwohner  von 
Marghinan  (Ferghana)  Sarten  waren,  und  selbst  die  Bewohner  des  Asferah- 
Gebirges  (südöstlich  von  Ferghana)  seien  Bergvölker  oder  Sarten"  (s.  Ritter). 
Muraview  beschreibt  die  europäischen  Gesichtszüge  der  den  Usbeken  unter- 
worfenen Tadjiks  (Nachkommen  der  alten  Sogdianer)  in  Buchara,  wo  sie  seit 
Iskanders  (Alexanders)  Zeiten  gewohnt,  und  St.  Martin  führt  den  Namen 
der  Tadjik,  welchen  Turk  und  Tataren  den  persisch  Redenden  in  Persien,  Afgha- 
nistan, Tokharestan  und  Transoxiana  geben,  auf  die  alten  Dahac  zurück,  die 
sich   einst  vom  Danubius  bis  Bactrien  ausgebreitet. 

Vor  Ankunft  der  tangutischen  Stämme  wird  also  eine  arisch  redende  (im 
Gegensatz  zu  Anarier  oder  medische)  Nomadenbevölkerung  (die  ihre  Analo- 
gien in  den  jetzt  auf  Berge  beschränkten  Kurden  findet)  die  See-Steppen  be- 
wohnt haben  und  Reiche  im  Westen  gestiftet  (so  dass  Darius  seine  arische 
Abkunft  hervorhebt),  worauf  dann  (nach  der  Religionsreform)  die  das  Wan- 
derleben bewahrenden  Verwandten  als  Magier  (Moghestan's  in  einer  auf  mon- 
golische Benennung  der  Moho  fortwirkenden  Generalisirung)  stigmatisirt 
wurden,  und  Astyages  in  der  Sage  mit  dem  turanischen  Afrasiab  zusammen- 
fiel, als  der  (in  Tokharestan's  Bergen  schon  seit  den  Yueti  bewahrte)  Name 
der  Türken  seit  den  Thukhiu,  und  dann  besonders  der  seit  dem  neuen  Erschei- 
nen der  (uigurische  Bildungselemente  bewahrenden)  Hoeihe  unter  arabischen 
Eroberern  in  Sogdiana  verbreitete  Name  der  Türken  ein  allgemeiner  wurde 
und  (trotz  ephemerer  Unterbrechung  durch  die  Mongolen)  so  geblieben  ist. 
Die  sibirisch  tingirten  Stämme,  zu  denen  die  allgemeine  Bezeichnung  der 
Sakae  (b.  Perser)  und  (europäischer)  Scythen  einen  Uebergang  bildeten,  schlös- 
sen sich  dann  an  die  finnische  Rasse  an. 

Von  Aram  unter  den  Nachkommen  des  Haig  (Sohn  des  Taglath  oder 
Thogorma)  erhielten  die  Haiayanier  den  Namen  Armenier  und  bei  den  Er- 
oberungen, die  Aram  (in  seinem  Bündniss  mit  Ninus)  über  Medien,  Nord- 
Assyrien  und  Cappadocien  ausdehnte,  wird  sich  der  Name  der  Aramäer  ver- 
breitet haben,  den  Strabo  mit  dem  der  Armenier  zusammenstellt.  Der  Name 
der  Arimer  oder  Arimanen  kann  dann  zu  dem  allgemeinen  die  (medischen) 
Wandervölker  umfassenden  der  Arii  (Asi)  in  einem  ähnlichen  Verhältniss  ge- 
standen haben,  wie  Turkmanen  zu  Turk.  Die  herrschende  Bezeichnung  der 
Asi  oder  Assi  (wie  in  den  Assireta)  im  Gegensatz  zu  den  beherrschten  Ein- 
gebornen  Iran's  (des  Landes  Ir  oder  Er)  könnte  der  Name  der  Assyrier  ge- 
bildet haben,    wozu   dann   im  Gegensatz   die  Sirier  (Syrier)   gebildet  wurden 


auch  die  Khosru-Sagen  im  Epos  ihren  Platz  unter  der  von  Firdusi  in  Ghazna  vorgefundenen 
Verknüpfung,  und  aus  der  nördlichen  Herkunft  arabischer  Bujediten  stellte  sich  (in  Erinnerung 
der  letzten  Eroberungen  des  Islam)  die  Verwandtschaft  Zohak's  zu  den  Aditen  her,  Für  die 
Städte  Bactriens  hatten  Meder,  so  lange  ihre  verwandten  Stämme  die  Kbenen  Sogdianas  durch- 
streiften, die  Turanier  gebildet,  wie  spater  die  Türken.  Mttnäcfioi  t&vog  Iv  UtQOtdi ,  an 6 
Maoni/ (o»  ßaaikfoj  (Steph.  I'yz.).  Ztr/madt,  ynjnr,r,^rK  nunä  rj}  K«nn(«  Onknnnrj,  10 
t'Jvty.'iv  ZtayixQTiot  (Steph.  Byz.). 


423 

(als  serische  Sarten).     Die  skythischen  Völkerschaften,  von  den  Persern  Sa- 
ker  genannt,  führten  bei  den  Alten  den  Namen  Aramier  (nach  Plinius).*) 
Mit  Gross-  und  Klein-Poliu  (Purut**)  bezeichnen  die  chinesischen  Geo- 


*)  Ante  divisionern  imperii  Assyrios  et  Syros  ab  Aram  (Semi  nlio)  dictos  esse  Syros  Ara- 
maeos,  testatur  Josephus  Hör  noinen  apud  Syros  desiisse  deineeps.  quod  nomen  Aramaei  pro 
gentili  idolaträ  asurpatum  ftrit,  nt  in  Gemara  Talmud  Babylonici,  ubi  Samaritanus  sive  Cuthaeus 
medius  ponitur  inter  Judaeum  et  Aramoeum,  vel  idolatram  gentilem.  Apud  Onkelos  (Lev.)  Ara- 
rnaeus  ponitur  pro  Idolatro.  Et  in  versione  Nov.  Test,  Syriai :a  [pro  gentibus  ei  graecis)  legunt 
aramaeos.     Die  Götter  Syriens  heissen  (bei  Jes.)  Elhei  Aram. 

**)  Im  Namen  Burut  (mit  mongolischer  Plural  -Endung)  liegt  (auch  siamesisch)  der  all- 
gemeine Ausdruck  für  Mensch  und  ist  derselbe  (im  Anschluss  an  die,  durch  die  <  (riechen  bore- 
adisch  modificirten  Bcr-Sagen  des  Nordens)  den  kirgisischen  Resten  am  Issykul  sowohl,  wie  den 
mongolischen  am  Baikal  geblieben.  Als  mit  Buruten  früher  vereinigt  gelten  die  Jakuten  (As 
oder  Sacae),  die  sich  bei  ihrer  Herleitung  aus  Tangut  (s.  Strahlenberg)  den  Kouten  oder  Houten 
(Nachbarn  tangutischer  Usunen)  zur  Seite  stellen  würden,  und  gewissermaassen  (ähnlich  wie  die 
Sai  oder  Sacae  nach  den  Issykul-Bergen  flüchteten)  als  die  nach  Norden  retirirten  Reste  einer 
späteren  (aus  unterworfenen  Sacae  und  herrschenden  Usun  zusammengemischten)  Schichtung, 
als  die  Usun  den  Thukiu ,  Toraxtn  •'  iü  tija  ttpus  oder  (b.  Theophanes)  Chazaren  (die  gemein- 
sam den  muhamedanisch  und  chinesisch  bezeugten  Gebrauch  der  Chan-Drosselung  übten)  er- 
lagen. Neben  dem  (bis  zu  -den  Hiongnu  gleichartigen)  Gebrauch  des  Himmelsopfer  beim  Feuer 
(b.  Isbrand  Ives)  verehrten  die  Jakuten  in  dem  Gott  Tangara  (Schugo-teugon  und  Artengon)  den 
Tengri-Himmel.  Gemeinsam  wird  die  göttliche  Dreiheit  Sumans  (der  Samanäer  Schigeinuni's) 
oder  der  Heilige  genannt.  Der  Hauptstamm  der  Jakuten  heisst  Boro-Ganiska.  Unter  Deptzi 
Tarchan  tegin  (worin  sich  neben  dem  bedeutsamen  Tarkhan  Anklänge  an  Tengri-khan,  dem  Er- 
oberer der  Hoeihe,  finden)  theilten  sie  sich  von  den  Buräten,  aber  ihr  berühmter  Nationalfürst 
wird  Zacha  genannt,  was  bei  der  früheren  Nachbarschaft  zu  Chokend  oder  Alexandreia  ultima 
unter  dem  auch  sonst  in  Asien,  z.  B.  in  Badekshan"  (nach  Baber),  bei  den  Fürsten  der  Tagik 
(nach  Marco  Polo)  und  Malayen,  als  Stammherrn  geltenden  Dhulkarnaim  oder  Alexander  M. 
(Sacha  in  russischer  Modification)  führen  würde.  Diejenigen  so  in  der  Stadt  Jakuhtski  sterben, 
lassen  sie  auf  den  Gassen  liegen ,  dass  die  Hunde  die  todten  Körper  zum  öfftern  fressen  (nach 
Strahlenberg),  wie  in  Bactrien  (bei  Strabo).  „Sonst  hat  und  hält  ein  jedes  Geschlecht  eine  ab- 
sonderliche Creatur  heilig,  wie  Schwan,  Gauss,  Raben  u.  s.  w.,  und  dasjenige  Thier,  welches  ein 
Geschlecht  für  heilig  hält,  wird  von  demselben  nicht  gegessen;  die  andern  aber  mögen  es  essen" 
(wie  in  Amerika  und  Afrika).  Wie  Klaproth  bemerkt,  können  die  (91  p.  d.)  von  den  Chinesen 
in  die  Quellen  des  Irtysch  zerstreuten  Hiongnu  nicht  den  von  Deguignes  vermutheten  Zusam- 
menhang mit  den  Hunnen  haben,  doch  zeigt  sich  in  dem  Namen  der  Hunnen,  auf  den  die  west- 
lichen Schriftsteller  so  vielerlei  Völker  zurückzuführen  suchen,  der  nachbleibende  Ruhm  einst 
weithin  gefürchteter  Herrschaft,  obwohl  es  bei  dem  beweglichen  Element  der  Wandervölker,  die 
sich  auf  ihren  offenen  Steppen  unter  den  Händen  des  Historikers  selbst  verändern  mögen, 
schwer  und  oft  unmöglich  ist,  zu  entscheiden,  wieviel  Procent  des  ursprünglichen  Blutes  eine 
an  anderm  Ort  und  zu  andrer  Zeit  auftretende  Horde  gleichen  Namens  noch  besitzen  dürfte. 
Wiewohl  die  vermeintliche  Ausrottung  der  Juan-Juan  durch  Moukan-Khan  (558  p.  d.)  die  edlen 
Geschlechter  vorwiegender  als  das  ganze  Volk  betroffen  haben  muss,  so  werden  doch  in  der 
avarischen  Bewegung  weniger  ihre  Personen,  als  die  glänzende  Erinnerung  an  dieselben  gespielt 
haben,  wo  sie,  als  die  Erben  der  Hiongnu  (und  der  Sianpi),  wie  den  Namen  der  Hunnen  auch 
den  der  Avaren  bewahrten,  der  sich  schon  in  Varhatchan,  Hauptstadt  der  Armenien  benach- 
barten Hunnen  (Hounk)  zeigt  und  später  von  den  Uuarkhoniten  usurpirt  wurde.  Hüni  wird 
(Diut.)  für  Pannonii  gebraucht  oder  für  Vandali  (s.  Grimm)  und  als  Riese.  Das  tatarisch-mon- 
golische Wort  Uigur  oder  Vigur  bedeutet  L'niti  (Verbrüderte)  oder  Confoederati  im  alten  Namen 
der  Hunnen,  der  bei  der  Trennung  des  Volkes  in  Unn-Oigur  und  Nokos-Oigur  entstand  (s.  Strah- 
lenberg). Im  Gegensatz  zu  Tokos -Uigur  (Neun  -  Uigur)  würden  sich  dann  die  Uu-Uigur  oder 
Zehn-Uigur  (bei  Abulghasi)  an  die  (westlichen)  Huu  (als  Hundert  oder  Centenarii)  schliessen  (im 
Bellen  mit  Gerichtsbarkeit  verbunden).  Der  bei  den  Uiguren  erbliche  Fürstentitel  eines  (godischen) 


424 

graphen  der  Thang-Dynastie  ein  zwischen  Kaschgar  und  Kaschmir  gelegenes 
Ländergebiet  (s.  Remusat),  also  das  Gebirgsland  südwestlich  von  Yarkand 
gegen  den  Puschtikhur  und  Karakorum,  sammt  Klein-Thibet,  nämlich  Balti- 
stan  und  Ladakh  (nach  Kitter).  Gross-Purut  (dessen  König  in  Ladakh  resi- 
dirte)  wurde  von  den  Tibetern  unterjocht,  aber  (747  p.  d.)  von  den  Chinesen 
besetzt.  Der  in  Nie'ito  am  Soi-Fluss  (Gilgit  oder  Chitral)  residirende  König 
von  Klein-Pourout  vertheidigte  sich  mit  Hülfe  der  Chinesen  gegen  die  Tibe- 
ter (713  p.  d),  trat  aber  später  mit  diesen  in  verwandtschaftliche  Verhältnisse. 
Im  Thsing-y-thoung  tschi  (1790  p.  d.)  wird  von  den  Burut  gesagt,  dass  sie 
früher  (unter  den  Thang)  in  kleine  und  grosse  Pulu  oder  Poliu  (Pourut) 
getheilt,  ihre  Wohnsitze  im  Süden  von  Türkestan  gehabt  (in  den  Südgebir- 
gen oder  dem  Kuenlün),  später  aber  sich  in  der  Nordkette  (im  Thiansehan- 
System)  festgesetzt  hätten.  Bei  den  aus  der  Zerstreuung  der  Kirgisen  im 
Issykul  hergeleiteten  Kara-Kirgisen  oder  Burut  fand  Radioff  keine  auf  einen 
nördlichen  Ursprung  hindeutenden  Traditionen,  da  dieselben  eher  nach  Süden 
wiesen.  Tschao-hoei  (1459)  setzt  die  Purut-Ertschien  oder  (nach  Amiot) 
Antschüen  (Andidjan)  westlich  von  Kaschgar.  A.  B. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Zustände  und  Vorfälle  in  den  Niederländisehen  Colonien 
in  den  Jahren  1867  und  1868. 

Von  Dr.  Friedmann. 

A.    Niederländisch  Indien. 

I. 
Grundgebiet.  —  Bevölkerung  Java's  und  des  übrigen  Archipels.  —   Berlehte  über  elnielne  Länder 

und  Provinzen. 
Die  ausgestreckten  Ländermassen  und  zahlreichen  Inselgruppen  des  ostasiatischen  Archipels, 
obwohl  innerhalb  der  Tropenzone  gelegen,  sind  dennoch  von  jenem  excessiven,  für  den  Menschen 


Kuht  tritt  dann  in  Idi-Kuht  (s.  Abulghasi)  mit  vielfach  gekreuzten  Reihen  mythologischer  Be- 
zeichnungen zusammen.  Les  Polonais  ont  fait  de  leur  nom  propre  d'Obry  (synonyme  d'Avares) 
leur  appellatif  obrzym,  qui  veut  dire  geant  (Siestrzencewicz).  Les  anciens  Slaves  appelaient  les 
geans  Woloty  (Wilzen  oder  Basken  des  Vasgau).  Nestor  beschreibt  die  Obren  (Awaren)  als 
hohen  Wuchses. 


425 

verderblich  wirkenden  Klima  verschont,  das  wir  in  anderen  Tropenländern,  besonders  auf  dem 
afrikanischen  Cöntinenl  bemerken  Denn  die  zahlreichen  Meere  und  Meeresarme,  die  sieh  zwi- 
schen den  Inseln  hinziehen,  bewirken,  dass  die  kleinern  Inseln  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  von 
den  kühlen  und  reinen  Seewinden  durchstrichen  weiden,  während  dieselben  auch  tief  in  das 
Innere  der  grossen  Inseln  dringen,  deren  Centraltheile  überdies  aus  fielu^s/iisren  verschiedener 
Formationen  bestehen,  welche  gewöhnlich  weil  in  die  Region  dei  gemässigten  Zone  hinaufreichen, 
so  dass  auf  deren  Hochebenen  und  Bergrücken  ein  ewiger  Frühling  ^elageri   ist. 

Die  Niederländer  beherrschen  fast  den  ganzen  Archipel,  und  zwar  steht  der  grösste  Theil 
desselben  unter  ihrer  unmittelbaren  Verwaltung,  während  die  Herrscher  vieler  Stämme  im  Lehns- 
verhältniss  zur  niederländischen  Regierung  stehen  "der  durch  Contracte  mit  derselben  verbunden 
sind  und  die  Oberhoheit  derselben  anerkennen.  Aus  den  von  dort  kommenden  Berichten  ent- 
nehmen wir,  dass  Cultur  und  Humanität  unter  den  dortigen  \ölkern  bei  der  milden  und  wei- 
sen Regierung  der  Niederländer  von  Jahr  zu  Jahr  fortschreiten,  indem  die  Bevölkerung  bedeu- 
tend zunimmt,  die  sanitätischen  Verhältnisse  sich  verbessern,  Ackerbau,  Handel  und  Industrie 
rasch  sich  ausbreiten,  die  Sitten  der  Bevölkerungen  sich  veredeln  und  selbst  die  Wissenschaften, 
besonders  die  naturhistorische  und  geschichtliche  Erforschung  der  Länder,  mit  Eifer  gepflegt 
wird. 

Das  Ländergebiet  betreffend,  über  welches  die  unmittelbare  Herrschaft  der  Holländer 
sich  erstreckt,  so  unterlag  dasselbe  in  dei  betreffenden  beiden  Jahren  keiner  Veränderung. 
Ueberhaupl  erfolgte  seit  dem  Jahre  1864,  wo  das  grosse  Reich  von  Banjermassin  aut  Borneo 
dem  niederländischen  Gebiete  einverleibt  wurde,  kein  Zuwachs  von  Bedeutung  zum  ostasiatischeu 
Ländergebiet  der  Niederländer.  Nur  geschah  im  Jahre  1866  in  Folge  von  Plünderungen  und 
Raubzügen,  welche  sich  die  Bewohner  der  l'asuma-Länder  auf  Sumatra  zwischen  Benkulen  und 
Palembang  erlaubten,  die  Einverleibung  dieses  kleinen  Gebietes,  welches  nun  durch  holländische 
Beamte  verwaltet  wird.  Die  topographischen  und  statistischen  Aufnahmen  der  erworbenen  Be- 
sitzungen, sowie  die  Entwerfung  von  Special-Land-  und  Seekarten  ist  dem  Corps  der  Ingenieure 
der  Landmacht  sowie  den  Seeofficieren  übertragen,  welche  ihre  Function  eifrig  betreiben.  Es 
wurden  von  1866  —  69  nicht  weniger  als  2000  sogenannte  Dessatanten  oder  Specialkarten  ein- 
zelner kleinen  Districte  im  Maassstabe  von  1  :  2500  ausgegeben,  während  die  Zahl  der  Seekarten 
mit  genauen  Tiefenangaben,  welche  seit  drei  Jahren  von  den  Officieren  einzelner  Kriegsschiffe 
verfertigt  wurden,  ebenfalls  nicht  unbedeutend  ist.  In  Folge  der  trigonometrischen  Aufnahmen 
der  meisten  Districte  von  Sumatra  und  Celebes  stellte  sich  heraus,  dass  die  Angaben  der  klei- 
neren Regenten  und  Distriktsvorsteher  über  die  Ausgestrecktheit  der  bebauten  und  besteuerten 
Felder  vielfach  unrichtig,  in  der  Regel  zu  gering  waren,  so  dass  der  Staatskasse  in  Folge  dieser 
genauen  Aufnahmen  und  Richtigstellung  der  Grösse  der  zu  besteuernden  Felder  eine  bedeutende 
Vergrösserung  des  jährlichen  Einkommens  zufloss. 

Die  Oberfläche  der  Inseln  Java  und  Madura  sammt  mehreren  kleinen  Küsteninseln  stellte 
sich  nach  den  neuesten  Aufnahmen  heraus  zu  '2390.8  geographischen  Qu. -Meilen,  und  zwar  be- 
trägt die  Oberfläche  Javas  sammt  den  Küsteninseln  2294.8  Qu.-Meilen ,  jene  von  Madura  96.0 
Qu.-Meilen.  Hierdurch  wird  die  frühere  Aufnahme  dieser  Inseln  vom  Jahre  1849  berichtigt, 
nach  welcher  die  Insel  Java  berechnet  wurde  auf  2334  Qu.-Meilen, 
die  Küsteninseln  „  13.3  „ 
Madura  „         97.3        „ 

2444.6  Qu.-Meilen. 

Die  Oberfläche  der  ostjndischen  Besitzungen  ausserhalb  Java  und  Madura  beträgt  nach  den 
Berichten  von  1868  ohne  das  Reich  Banjermassin  26,500  geographische  Qu.-Meilen. 

Wohl  in  keinem  europäischen  Lande  werden  so  häufig  Volkszählungen  vorgenommen,  als 
auf  dem  indischen  Archipel,  und  besonders  auf  Java,  Madura,  der  Westküste  Sumatras,  den 
Zinninseln  Billiton,  Banka  und  Celebes.  Die  Regierung  ist  daher  im  Stande,  alljährlich  die 
Zahl  der  Einwohner  in  den  verschiedenen  Ländern  des  Archipels  mit  ziemlicher  Genauigkeit 
anzugeben  und  werden  die  Listen  über  die  Uevölkerungsbewegung  alljährlich  nach  dem  Mutter 
lande  gesendet"  und  veröffentlicht.  Java  und  Madura,  die  beiden  am  dichtesten  bevölkerten 
Inseln  des  Archipels,  zeigten  in  den  fünf  Jahren  1864 — 1868  folgende  Bevölkerungszunahme: 


426 

1864  13,917,400 

1865  14,168,400 

1866  14,552,500 

1867  14,945,900 
1S68  15,477,700 

Den  Racen  nach  vertheilt  sich  die  Bevölkerung  Javas  von  1868  in  folgender  Weise: 
Europäer    .     .     .  28,500 

Chinesen    .     .     .         167,600 
Araber  ....  11,500 

Andere  Asiaten  4,200 

Eingeborne  .  .  15,265,900 
15,477,700 
Da  nun  die  beiden  Inseln  einen  Flächenraum  von  etwa  2391  Quadratmeilen  einnehmen,  so 
stellt  sich  eine  Dichtigkeitsbevölkerung  von  G470  Menschen  auf  eine  Quadratmeile  heraus,  die 
den  dichtest  bevölkerten  Ländern  Europas  gleich  kommt.  Erwägt  man  nun,  dass  etwa  %  der 
Oberfläche  Javas  noch  aus  Urwäldern  und  unbebauten  Allangflächen  besteht,  sowie  dass  ein 
grosser  Theil  der  bebauten  Felder  für  den  europäischen  Markt  bestimmte  Producte  liefert,  so 
kann  man  sich  eine  Vorstellung  von  der  ungeheuren  Productionskraft  dieses  gesegneten  Eilandes 
machen,  welches  nicht  mit  Unrecht  die  Perle  der  niederländischen  Besitzungen  genannt  wird. 

Die  Bevölkerung  in  den  übrigen  unter  niederländischer  Herrschaft  stehenden  Ländern  des 
Archipels  stellt  sich  nach  der  Zählung  von   1868  folgendermassen  heraus: 

Sumatras  Westküste 1 ,565,039  Seelen 

Benkulen 131,151       » 

Lampang'sche  Districte 102,346 

Palembang 457,095 

Insel  Banka 58,986 

Billiton 18,773 

Riouw 30,523       , 

Westlicher  Theil  Borneos 341,300 

.Südlicher  und  östlicher  Theil  Borneos       842,330 

Südcelebes 338,718       , 

Nordcelebes  nebst  den  Sangir-  und  Ta- 

laut-Inseln 491,974 

Amboina,  Banda  nebst  dem  Reiche  von 
Gorontalo,  den  Ländern  der  Tomini- 
Bucht,  sowie  den  Key-Aru-,  Tenin- 
ber-  und  Südwestinseln  nebst  Ceram 

und  Buru 534,688       „ 

Ternate 81,425 

Timor 500,0001  un- 
Bali     700,000jgenau 

6,204,348  Seelen 
Hierzu  die  Bevölkerung  von  Java  und  Madura  15,477,700       „ 

21,682,048  Seelen 
Für  die  noch  unabhängigen  Völkerschaften  kann  man  füglich  noch  5  Millionen  Seelen  rech- 
nen, die  vorzüglich  im  Innern  Borneos  und  auf  vielen  wenig  besuchten  Inseln  wohnen,  so  dass 
die  Gesammtbevölkerung  des  indischen  Archipels  sich  etwa  auf  26)6  Millionen  Seelen  beläuft. 

Unter  den  Mortalitätslisten  finde  ich  auch  Verzeichnisse  der  in  verschiedenen  Ländern  des 
Archipels  vorgekommenen  gewaltsamen  Todesarten,  die  wohl  einiges  Interesse  bieten.  Auf  Java 
und  Madura  kamen  im  Jahre  1868  im  Ganzen  2480  gewaltsame  Todesarten  vor,  und  zwar  star- 
ben 236  Personen  durch  Blitzschlag,  906  ertranken,  417  verunglückten  durch  einen  Sturz  von 
einer  Höhe,  210  wurden  durch  Tiger,  50  durch  Krokodille,  5  durch  Schlangen  und  48  durch 
andere  Thiere  getödtet ,  während  145  Selbstmorde  vorkamen  und  563  Personen  durch  anderes 
Unglück  das  Leben  verloren.  Ausserhalb  Java  und  Madura  kamen  in  jenem  Jahre  3616  ge- 
waltsame Todesarten   —   abgerechnet  die  in  den  Gefechten  und  bei  Aufständen  gefallenen  Per- 


427 

sonen   —   vor.    worunter  457  durch  Tiger,    187  durch  Krokodille,    11  dui  tilgen  und  60 

durch  andere  Thiere  umkamen 

Die  Beziehungen  de-;  indischen  Archipele  mit  dem  Auslände  betreffend,  isl  anzuführen,  dass 
der  General  -  Gouverneur  P.  Meyei  im  Jahre  1867  Pebereinkünfte  traf  mit  dem  norddeutschen 
Bunde  und  dein  Königreich  Siam,  gemäss  welchen  an  grossen  Bandeisplätzen  des  Archipels 
Consuln  <h'r  genannten  Staaten  ihren  Sitz  haben  sollten  Im  Jahre  1868  kam  ein  Oonsul  von 
Bayern  nach  Samarang,  sowie  ein  solcher  des  norddeutschen  Bundes  nach  Batavia. 

Dnter  den  einzelnen  Völkerschaften  sowohl  auf  Java  als  den  übrigen  Ländern  des  Archipels 
herrschte  während  der  beiden  Jahre  im  Allgemeinen  Hohe  und  Friede  und  kamen  ausser  eini- 
gen später  anzuführenden  kleinen  aufständen  keinerlei  politische  Unruhen  \<>r.  hie  Bevölkerun- 
gen fühlen  sich  glücklich,  indem  sie  durch  eine  humane  Regierung  geschlitzt  werden  und  jene 
Akte  der  Gewalt  und  der  Despotie  allmählich  schwinden,  welche  die  einheimischen  Regenten 
früher  gegen  ihre  eigenen  Unterthanen  auszuüben  für  gut  fanden  Deshalb  ist  es  auch  nie  die 
Masse  des  Volkes,  auf  welche  die  Urheberschaft  von  Widerstand  gegen  die  Regierung  fällt,  son- 
dern es  sind  ausser  einzelnen  religiösen  Schwärmern  die  ehemaligen  Fürsten  oder  ihre  Ver- 
wandten, welche  hier  und  da  sich  auflehnen,  da  sie  ihre  frühere  despotische  Herrschaft  gerne 
wieder  fortzusetzen  wünschten. 

Im  Jahre  1868  kam  nur  ein  kleiner  Aufstand  in  der  Residentschaft  Batara  vor,  der  zwei 
Beamten  das  Leben  kostete,  aber  schon  durch  das  Erscheinen  von  Truppen  unterdrückt  wurde, 
ohne  dass  von  den  Waffen  Gebrauch  gemacht  wurde. 

Von  den  ausserjavanischen  Ländern  des  Archipels  wird  berichtet,  dass  fast  allenthalben  in 
den  beiden  Jahren  die  Reisenite  theils  befriedigend,  thcils  vortrefflich  ausfiel,  so  dass  bei  reich- 
lichem Vorrath  dieses  Haupt-,  ja  fast  einzigen  Nahrungsmittels  mancher  Stämme  auch  der  Wohl 
stand  des  Volkes  sich  hob. 

Der  nördliche  Theil  Sumatras  wird  bekanntlich  noch  von  unabhängigen  Stämmen  bewohnt 
Nach  dem  Vertrage  der  Niederländer  mit  England  vom  Jahre  1824  soll  die  sogenannte  Pfeffer 
küste,  d.  i  jener  Theil  Sumatras,  der  sich  von  Baros  und  Sakel  nordwärts  erstreckt,  neutrales 
Gebiet  bleiben  und  sollte  es  jeder  Nation  gestattet  sein  ,  dort  Handel  zu  treiben ,  insbesondere 
Pfeffer  zu  holen.  Dennoch  übt  die  niederländische  Regierung  einigen  Einfluss  auf  das  dort  ge- 
legene Reich  Atjeh  *)  aus ,  so  wie  sie  vor  wenigen  Jahren  auch  zu  Deli ,  an  der  Grenze  dieses 
Reiches  ein  Fort  erbauten.  Südlich  von  Atjeh  wohnen  die  berüchtigten  Battan,  zwischen  Sakel 
und  Tapanuli,  ein  noch  der  Anthropophagie  ergebener  Volksstamm,  dessen  Sitten  wir  in  dem 
illustrirten  Werke  „Ostasiatische  Inselwelt"  (Leipzig  1867,  bei  Otto  Spamer)  sküzirten.  Bei  dem 
geringen  Zusammenhalt  dieses  Volksstammes,  bei  welchem  fast  jeder  kleine  District,  ja  selbst 
einzelne  Dörfer  einen  kleinen  Staat  für  sich  bilden,  so  dass  jede  Centralisation  und  daher  auch 
die  Bildung  einer  grösseren  Streitmacht  fehlt,  wäre  es  ein  Leichtes,  mit  ein  paar  Compagnien 
europäischer  Truppen  den  ganzen  Stamm  in  Botroässigkeit  zu  erbalten  und  ihnen  aufs  strengste 
die  barbarische  Sitte  der  Menschenfresserei  zu  verbieten.  Es  ist  daher  auffallend,  dass  bei  dem 
löblichen  Streben  der  holländischen  Regierung  nach  Hebung  der  Cultur  und  Humanität  unter 
den  ihrer  Leitung  anvertrauten  Völkern  die  Battan  noch  immer  jene  Anthropophagen  sind,  wie 
sie  uns  von  Reisenden  des  vierzehnten  Jahrhunderts  schon  geschildert  werden. 

Die  oben  erwähnte  Acquisition  der  zwischen  Benkulen  und  Palembang  gelegenen  Districte 
Ampat-Lawang,  Pasuma  und  Redjang  erweist  sich  als  eine  nutzbringende,  indem  diese  Gegen- 
den grosse  Quantitäten  Damar-Harz  produziren,  aus  welchen  Kerzen  fabrizirt  werden  und  unter 
andern  Handelsartikeln  allein  200  Pikul  Kaffee  alljährlich  nach  Padang  verführt  werden. 

Die  Osthälfte  Sumatras  wird  von  verschiedenen  Volksstämmen  bewohnt,  deren  Regenten  als 
Vasallen  der  Regierung  betrachtet  werden.  Nicht  selten  kommen  dort  Aufstände  vor,  welche 
gewöhnlich  von  Verwandten  der  Fürsten,  die  sich  Anhänger  zu  verschaffen  wissen,  angezettelt 
werden.  So  gelang  es  im  Jahre  1868  einem  solchen  Abkömmling  eines  Regenten,  Namens  Pi- 
rasun  ,  einige  Districte   an  sich  zu  ziehen  und  halle  er  den  Plan,   sich  zum  Radja  von  Palem- 


*)  So  -wird  der  Name  dieses  Landes  in  niederländischen  officiellen  Berichten  geschrieben, 
während  die  Engländer  ihn  „Atcheen"  schreiben  und  nach  ihnen  deutsche  Schriftsteller  oft.  der 
englischen  Aussprache  folgend,  das  Land  ,Atschina  nennen.  Auf  diese  Weise  kommen  durch 
die  englische  Schreibweise  und  Aussprache  mehrfache  Korruptionen  in  die  geographischen  Be- 
nennungen. 


428 

bang  aufzuwerten.  Durch  das  Aufgebot  einer  kleinen  Militärmacht,  bestehend  aus  den  Besatzun- 
gen der  nahen  Stationen,  gelang  es  jedoch  den  Aufruhrer  zur  Unterwerfung  zu  bringen,  so  dass 
er  gegenwärtig  als  einfacher  Oekonom  auf  seinem  Gute  hei  Palerubang  wohnt  und  sich  mit  der 
Anpflanzung  von  Kokosbäumen  beschäftigt. 

Von  mehr  Wichtigkeit  sind  die  Nachrichten  \on  Borneo.  An  der  Nordseite  dieser  Insel 
hat  bekanntlich  vor  mehreren  Jahren  JimeS  Brooke  als  Privatmann,  dem  nur  ein  kleiner  Kriegs- 
dampfer zu  Gebote  stand.  Einfluss  auf  die  staatlichen  Verhältnisse  des  Sultans  von  Brunai  sich 
verschafft,  so  dass  er  von  diesem  zum  Radja  von  Serawak  und  Labuan  ernannt  wurde,  welchen 
Posten  der  kühne  Unternehmer  benutzte,  um  sich  ziemlich  unabhängig  von  seinem  Lehnsherrn 
zu  machen  und  das  ihm  anvertraute  Gebiet  im  Namen  der  englischen  Regierung  zu  verwalten. 
Die  Holländer  widersetzten  sich  dieser  Handlungsweise  nicht,  um  nicht  in  Conflict  mit  der  eng- 
lischen Regierung  zu  kommen  und  betrachteten  James  Brooke  wie  einen  der  inländischen  Rad- 
jas, deren  viele  neben  dem  niederländischen  Gebiet  ihren  Sitz  haben  und  ziemlich  unabhängig 
sind.  Nach  dem  Tode  von  Brooke  wurde  von  der  englischen  Regierung  ein  Nachfolger  dessel- 
ben unter  dem  Titel  eines  Gouverneurs  von  Nordborneo  ernannt,  der  mit  den  benachbarten 
niederländischen  Residenten  von  Sintang  und  Sambas  auf  freundschaftlichem  Fusse  steht.  Es 
wird  berichtet,  dass  er  im  Juni  1869  mit  seinem  Sekretär  am  Bord  des  Kriegsdampfers  Slarey 
dem  Residenten  von  Sintang  einen  Besuch  abstattete,  die  Bergwerke  und  Seeplätze  von  West- 
borneo  besichtigte  und  sich  mit  seinem  holländischen  Collegeu  über  die  Mittel  zur  Abwendung 
des  Seeraubes  berathschlagte.  Was  den  letzteren  betrifft,  so  hat  sich  derselbe  in  den  jüngsten 
Jahren  im  ganzen  indischen  Archipel,  Dank  den  energischen  Massregeln  der  niederländischen 
Regierung  gegen  denselben,  welche  mit  kleinen,  flachen  Kriegsdampf  booten  zahlreiche  Expedi- 
tionen gegen  die  R-äuberschiffe  unternahm  und  dieselben  in  den  Grund  bohrte,  sowie  die  Mann- 
schaften zu  Gefangenen  machte,  so  bedeutend  vermindert,  dass  gegenwärtig  nur  selten  mehr  ein 
Seeraub  in  den  Gewässern  des  Archipels  ausgeführt  wird.  Dennoch  ist  der  Sitz  der  indischen 
Seeräuber,  die  Insel  Mindanao  sowie  noch  einige  der  unter  spanischer  Herrschaft  stehenden 
Philippinischen  Inseln,  noch  nicht  aufgehoben,  so  dass  das  wachsame  Auge  der  holländischen 
Regierung  die  alljährlich  zu  unternehmenden  Expeditionen  noch  nicht  einstellen  kann.  Im 
Jahre  1868  kreuzte  das  Dampfschiff  Den  Briel  an  den  Küsten  von  Borneo,  sowie  einige  Schoo- 
ner  und  Kreuzboote  der  iudischen  Flotte  die  Küsten  von  Lombok,  Flores,  Bali,  dann  die  Natuna- 
Inseln  besuchten,  jedoch  kein  Raubschiff  entdecken  konnten,  obgleich  sie  Kunde  von  hier  und 
da  durch  Räuberprauen  gepflogenen  Strandraub  erhielten.  Die  Abwendung  des  Seeraubes  durch 
gemeinsame  Unternehmungen  der  britischen  und  holländischen  Regierung  bildete  auch  den 
Gegenstand  der  Besprechung  zwischen  dem  englischen  Gouverneur  von  Serawak  und  dem  hol- 
ländischen Residenten. 

Dem  Beispiele  Englands,  auf  dem  indischen  Archipel  festen  Fuss  zu  fassen  und  sich  eine 
Besitzung  zu  erwerben,  suchte  in  neuester  Zeit  auch  Nordamerika  nachzuahmen,  ohne  dass 
jedoch  bis  jetzt  der  Plan  gelang.  Mehrere  amerikanische  Colonisten  haben  sich  in  den  Jahren 
1867  und  1868  in  Nordborneo  niedergelassen,  nachdem  sie  Ländereien  sich  erworben  und  suchen 
diese  Herren  die  Bekanntschaft  mit  dem  Sultan  von  Brunai  und  anderen  einflussreichen  Perso- 
nen zu  erwerben,  um,  wie  es  scheint,  Einfluss  in  politischen  Dingen  zu  gewinnen.  Auch  wurde 
zu  Brunai  ein  amerikanischer  Consul  mit  dem  Titel  „General-Consul  von  Borneo"  angestellt, 
der  jedoch  alsbald  in  Conflict  mit  dem  Sultan  gerieth,  dem  er  den  versprochenen  Tribut  nicht 
entrichtete.  Die  Sache  wurde  von  dem  amerikanischen  Consul  zu  Shanghai  in  China,  welcher 
•  persönlich  nach  Brunai  kam,  in  der  Art  beigelegt,  dass  das  Consulat  von  Brunai  wieder  auf- 
gehoben wurde. 

In  der  Süd-  und  Ostabtheilung  Borneos  hatten  die  Holländer  noch  vollauf  zu  thun,  um 
Aufstände  zu  unterdrücken  und  die  Anhänger  der  früheren  Dynastie  von  Banjermassin  zur 
Unterwerfung  zu  bringen.  Unter  den  letzteren  waren  der  Pangeran  Kurba  und  sein  Sohn  Dja- 
nal,  sowie  Butapi,  fürstliche  Personen,  die  noch  bedeutenden  Einfluss  auf  die  Bevölkerung  aus- 
übten, Forts  errichteten  und  sich  die  Herrschaft  über  einen  Theil  des  Landes  wieder  zu  erwer- 
ben suchten.  Doch  glückte  es  den  Bemühungen  der  Regierung,  die  Aufstände  zu  unterdrücken, 
und  hob  sich  zum  Theil  wieder  der  Handel  und  der  Landbau.  Der  letztere  beschränkt  sich  auf 
Borneo  freilich  nur  auf  die  von  den  Eingebornen  begehrten  Culturpflanzen ,  als  Reis,  Kokos- 
palmen, Katjang,  Tabak,  Betel,  Pinang,  und  konnten  bis  jetzt  keine  bedeutenden  Quantitäten 


429 

der  für  den  europäischen  Markt  bestimmten  Erzeugnisse  erzielt  werden;  doch  kann  durch  fort- 
gesetzte Bemühungen  der  Regierung  auch  dieses  ausgestreckte  Land  einer  bedeutenden  Zukunft 
entgegengehen,  da  seine  Fruchtbarkeit  jener  Javas  kaum  nachsteht.  — 

Der  bedeutende  Umfang  der  einzelnen  Residentschaften  und  die  geringe  Zahl  der  europäi- 
schen Civil-  und  Militärpersonen  machten  es  bis  jetzt  unmöglich,  die  barbarische,  unter  den 
Dajaks  bestehende  Sitte  des  meuchlerischen  Kopfabschlagens  gänzlich  zu  unterdrücken,  obgleich 
schon  vor  mehreren  Jahren  energische  Massregeln  und  die  nöthigen  gesetzlichen  Bestimmungen 
gegen  diese  Mordanfälle  getroffen  wurden.  So  berichtet  der  Resident  von  Sambas  (Westborneo), 
dass  in  seiner  Residentschaft  im  Jahre  1868  ungefähr  50  Personen  meuchlerisch  getödtet  wur- 
den. — 

Auf  Celebes  fanden  im  Jahre  1868  zwei  Aufstände  statt.  Der  gewesene  Regent  vonljamba 
in  der  Landschaft  Maros  machte  bekannt,  dass  bei  ihm  die  früher  plötzlich  verschwundenen 
Reichsinsignien,  deren  Besitzer  nach  dem  Volksglauben  der  rechtmässige  Regent  des  Landes 
sein  soll,  sich  , niedergelassen"  haben.  Hierdurch  verschaffte  er  sich  zahlreiche  Anhänger,  er- 
oberte verschiedene  Ortschaften  und  kämpfte  auch  gegen  die  wider  ihn  aufgebotenen  holländi- 
schen Truppen  Anfangs  mit  Glück.  Ferner  erhob  sich  auch  im  Reiche  Boni  ein  gewisser  Bonto- 
Bonto,  um  die  Unabhängigkeit  des  Landes  wieder  herzustellen.  Beide  Aufstände  waren  jedoch 
im  Monat  September  1868  unterdrückt  und  die  Urheber  derselben  unschädlich  gemacht.  Der 
Lehnfürst  von  Boni  benahm  sich  bei  dieser  Gelegenheit  ebenso  wie  die  Fürstin  von  Tanatte  zur 
Zufriedenheit  der  Regierung,  indem  sie  zur  Unterdrückung  des  Aufstandes  mitwirkten.  Auch 
zu  Goa  kamen  ähnliche  Aufstände  vor.  Celebes  ist  in  eine  grosse  Anzahl  kleiner  Reiche  ver- 
theilt,  die  unter  sich  in  keinem  politischen  Verbände  stehen,  alle  aber  die  Oberherrschaft  der 
Niederländer  anerkennen.  Erhebungen  einzelner  dieser  kleinen  Reiche  können  daher  unmöglich 
eine  grosse  Bedeutung  gewinnen  und  werdeu  leicht  durch  eine  geringe  Macht  unterdrückt. 

Die  Berichte  von  den  Sangir-Inseln,  den  Molukken,  dann  von  Bali,  Lombok,  Flores,  sowie 
von  der  Küste  von  Guinea  über  die  Jahre  1867  und  1868  sind  theilweise  von  keinem  besonde- 
ren allgemeinen  Interesse,  sowie  sie  anderntheils  ähnliche  Vorfälle  von  Zwisten  einzelner  Volks- 
siämme  unter  sich  und  von  Aufständen  schildern,  wie  sie  von  oben  genannten  Ländern  berich- 
tet wurden. 

In  mehreren  Gebieten  des  Archipels  herrschten  wie  alljährlich  Cholera -Epidemien,  welche 
oft  Tausende  von  Menschen  dahinrafften.  Der  Umstand,  dass  kein  Jahr  vergeht,  in  welchem 
nicht  in  einzelnen  Theilen  des  Archipels  solche  Epidemien  vorkommen,  ferner  die  erwiesene  Ab- 
nahme der  Intensität  dieser  Epidemien  von  der  Aequatorialzone  nach  den  höheren  Breiten,  dann 
die  bestehende  Polargrenze  dieser  Krankheit,  jenseits  welcher  sie  sich  nicht  mehr  zeigt,  ebenso 
die  vorhandene  vertikale  Grenze,  die  in  der  Tropenzone  bei  einer  Höhe  von  6000  Fuss  über  der 
Meeresfläche  eintritt,  endlich  die  Thatsache,  dass  nicht  weniger  als  93  Prozent  aller  Cholera- 
Epidemien  in  den  subtropischen  und  gemässigten  Zonen  auf  den  Spätsommer,  nämlich  die  Mo- 
nate August  und  September  fallen,  auf  welche  Momente  wir  zuerst  in  den  betreffenden  Organen 
aufmerksam  gemacht  haben,  beweist  zur  Evidenz  die  Abhängigkeit  dieser  Krankheit  von  den 
klimatischen  Verhältnissen,  insbesondere  der  Temperatur.  Jenseits  der  Isotherme  von  +  10°  R. 
zeigt  sich  keine  Cholera  mehr,  und  selbst  jene  Länder,  deren  Jahrestemperatur  relativ  hoch  ist, 
aber  mit  einem  Sommer  von  unter  +  10°  R.  betheilt  sind,  entbehren  diese  Krankheit,  während 
andere  Länder  von  niedrigerer  Jahrestemperatur,  aber  mit  relativ  warmen  Sommern,  also  mit 
einem  Continentalklima  vers%hen,  von  dieser  Krankheit  noch  heimgesucht  werden. 

i 

IL 

Die    indische   Landmacht.     Gesundheitszustand   derselben.     Die   Seemacht   und   ihre  Verrichtungen.     Der 

Verkehr  Im  Innern  des  Archipels  und  mit  dem   Auslande,     (hristlicbe  und  iiiuhaiuedanistbe  Schulen. 

Kultusangelegenhelten.     Leistungen  Im  Gebiete  der  Wissenschaft. 

Die  Stärke  der  Heeresmacht  in  Indien  ist  im  Ganzen  so  gering,  dass  sie  kaum  in  einem 
gehörigen  Verhältniss  zur  Ausgestrecktheit  der  zu  verwaltenden  Länder  und  der  Zahl  der  Ein- 
wohner steht.  Es  bestand  die  Landmacht  in  Niederländisch-Indien  am  31.  Dezember  1868  aus 
i:>06  Offizieren  und  27,325  Unteroffizieren  und  Soldaten.  Diese  kleine  Armee  genügt,  um  Län- 
der, welche  zusammen  ungefähr  2^mal  so  gross  sind  als  Frankreich  mit  2l^  Millionen  unter 
direkter  Herrschaft  der  Niederländer  stehenden  Einwohnern   vor   inneren  und  äusseren  Feinden 


430 

zu  schützen.  Es  «riebt  diese  Thatsaclie  das  beste  Zengniss  von  der  zweckmässigen  und  vermint 
tigen  Administration  der  holländischen  Regierung,  die  es  sich  angelegen  sein  lässt,  die  Völker 
auf  der  Basis  ihres  angestammten  Nationalcharakters  und  ihrer  Sitten  zu  einer  höheren  Cultur- 
Stufe  emporzuschwingen,  ohne  gewaltsame  Massregeln  anzuwenden  oder  der  Denkweise,  den  re- 
ligiösen und  staatlichen  Verhältnissen,  wie  sie  sich  im  Laufe  der  Geschichte  gebildet  haben, 
Zwaug  anzuthun.  Das  genannte  Oftiziercorps  besteht  aus  1  Generallieutenant,  2  Generalmajors. 
lu  Colonels,  26  Lieutenant -Colonels,  47  Majoren,  269  Capitänen,  504  ersten  und  447  zweiten 
Lieutenants. 

Die  Unteroffiziere  und  Soldaten  bestehen  aus  11,722  Europäern,  54 j  Afrikanern,  872  Am- 
boinesen  und  14 ,:;io  anderen  Eingebornen  aus  dem  Archipel.  Im  Jahre  1868  wurden  im  Gan- 
zen 434ö  Soldaten,  theils  in  Niederland,  theils  in  Indien,  sowie  an  der  Guineaküste  geworben. 
Da  Niemand  gezwungen  werden  kann,  Militärdienste  in  Indien  zu  verrichten,  sowie  auch  keine 
Detaschirungen  europäischer  Regimenter  nach  den  Colonien  stattfinden,  wie  solches  in  England 
der  Fall  ist,  so  müssen  alle  für  die  Colonien  bestimmten  Truppen  durch  Handgeld  geworben 
werden.  Das  letztere  beträgt  je  nach  der  Dienstdauer,  für  welche  ein  Soldat  sich  anwerben 
lässt,  für  Europäer  80—160  Gulden,  für  Eingeborne  50—120,  für  Afrikaner  60—150  Gulden. 

Als  Chef  der  indischen  Truppen  fungirte  bis  zum  18.  Juli  1869  der  Generallieutenant  An- 
dresen,  welcher  seiner  Bitte  gemäss  zu  jener  Zeit  das  Commando  niederlegte  und  wurde  das- 
selbe dem  zum  Generallieutenant  ernannten  Generalmajor  Kroesen  übertragen. 

Besondere  Sorgfalt  wird  von  Seite  der  Regierung  auf  die  sanitätischen  Verhältnisse  der 
Truppen  und  der  Marine  verwendet.  Die  ungeheure  und  wahrhaft  erschreckende  Mortalität, 
welche  bis  zum  Anfange  dieses  Jahrhunderts  unter  den  indischen  Truppen  herrschte,  bei  wel- 
chen jährlich  über  %  ausstarben,  veranlasste  die  Regierung,  energische  und  zweckmässige  Mass- 
regeln zur  Verbesserung  der  Gesundheitsverhältnisse  der  Truppen  in  Niederländisch -Indien  zu 
treffen.  Es  bestanden  diese  Massregeln,  an  deren  Verbesserung  noch  immer  gearbeitet  wird,  in 
der  Anstellung  zahlreicher  wissenschaftlich  gebildeter  Aerzte,  zu  welchen  besonders  die  Deutschen 
ein  bedeutendes  Contingent  lieferten;  ferner  in  möglichster  Schonung  der  Truppen,  Aufrecht- 
erhaltung der  Disciplin  und  einer  regelmässigen  Lebensweise,  Errichtung  zweckmässig  eingerich- 
teter Hospitäler  und  Sanitarien  in  den  hochgelegenen,  eines  gemässigten  Klimas  sich  erfreuen- 
den Hochebenen  und  an  Bergabhängen.  Hierdurch  gelang  es,  die  Mortalität  unter  den  Truppen 
allmählich  bedeutend  zu  verringern,  so  dass  gegenwärtig  dieselbe  sich  noch  etwas  günstiger  her- 
ausstellt, als  jene  der  Truppen  in  Britisch-Indien.  Dennoch  ist  dieselbe  noch  immer  ziemlich 
bedeutend  in  Vergleichung  mit  der  Mortalität  unter  den  in  europäischen  Ländern  stationirten 
Truppen,  da  ein  guter  Theil  der  Soldaten  in  Indien  aus  herabgekommenen  Individuen  besteht, 
welche  schon  in  Europa  entweder  beim  Militär  oder  im  bürgerlichen  Stande  ein  unmässiges  und 
schwelgerisches  Leben  führten  und  endlich  als  letzte  Zuflucht  sich  zum  Dienste  in  Indien  mel- 
deten. Diese  gewöhnlich  der  Trunksucht  und  der  Schwelgerei  ergebenen  Individuen  werden  am 
leichtesten  von  perniciösen  Fiebern,  von  Leber-  und  Milzkrankheiten  und  Dysenterien  befallen, 
und  erliegen  häufig  als  Opfer  dieser  Krankheiten,  während  jener,  der  einer  massigen,  dem  Klima 
entsprechenden  Lebensweise  sich  hingiebt,  in  der  Regel  von  den  der  Tropenzone  eigenthüm- 
lichen  Krankheiten  entweder  verschont  bleibt  oder  alsbald  seine  Gesundheit  wieder  erlangt. 

Vorwaltende  Pflanzenkost,  kühles  Verhalten,  häufige  Bäder,  Vermeidung  spirituöser 
Getränke  sind  die  Ilaupterfordernisse  zur  Erhaltung  der  Gesundheit  in  der  Tropenzone,  und 
selbst  bei  eingetretenem  Unwohlsein  sind  es  die  sämmtlichen  Frifchte,  der  Gebrauch  des  Reis 
und  des  Cacao  als  Nahrung,  welche  den  Anzug  einer  ernstlichen  Krankheit  aufzuhalten  und 
Genesung  herbeizuführen  im  Stande  sind.  Gewöhnlich  aber  werden  selbst  von  gebildeten  Rei- 
senden in  solchen  Fällen  unzweckmässige  Mittel,  wie  Fleischkost,  Opium  und  andere  narkotische 
und  reizende  Medikamente  angewandt,  welche  nothwendig  das  Uebel  verschlimmern  müssen. 

In  den  Jahren  1864 — 1868  incl.  war  die  Zahl  der  Erkrankten,  Genesenen  und  Gestorbenen 
unter  den  Truppen  auf  Java  und  dem  übrigen  Archipel  folgende: 


431 


Verhältniss  der  Gestorbene  n 


i8t;-i 

1865 

1866 
1867 
1868 


Behandelt. 


28189 
28124 
29076 
26514 
30394 


Genesen.  Gestorben,     zu  den  Behandelten, 
a)  J  a  va  u  ad  M  ad  ura. 

1  -.27,3  oder  3,65  pCt. 


/in   Garnisonsstärke. 


25720 
26029 

27307 
24652 

27735 


1031 

787 
54!) 
508 
911 


1  :  35,7  „ 

1  :  52,9  „ 

1:52,1  „ 

1  :  35,36  „ 


2,79 
1,88 
1,91 
3.00 


1 

:  14,02 

oder  7,12  pCt, 

1 

:  18,5 

„      5,11      , 

1 

:  25,6 

„      3,9 

1  : 

;  29,08 

»      3,43      ., 

1  : 

:  15,98 

„      6,25     „ 

1 

:  30,8 

oder  3,32  pCt 

1 

:  30,3 

.      3,29     .. 

1 

:  33,6 

•      2,97     . 

1 

:39,7 

.      2,51      „ 

1 

;  33,86 

,              2,95            „ 

l>)  Im  übrigen  Archipel. 

1864  28468     27322     391    1  :  72,8  oder  1 ,37  pCt. 

1865  30955     29711     380    1:81,4  „   1,22  n 

1866  28941     27719     383    1:75,5  „   1,32  „ 

1867  25292     24333     267    1:94,7  „   1,05  „ 

1868  237J6     22687     293    1:81,07,   1,23  , 

Sowohl  auf  Java  als  im  übrigen  Theile  des  Archipels  war  daher  das  Jahr  1867  das  gün- 
stigste in  Bezug  auf  Morbilität  und  Mortalität.  Dass  die  Mortalität  in  den  ausserjavanischen 
Besitzungen  durchgängig  günstiger  sich  herausstellt  als  auf  Java,  darf  nicht  auf  Rechnung  eines 
etwa  ungünstigeren  Klimas  auf  letztgenannter  Insel,  sondern  vielmehr  dem  Umstände  zugeschrie- 
ben werden,  dass  die  kränklichen  oder  an  chronischen  Krankheiten  leidenden  Individuen  in  der 
Regel  in  einem  der  Hospitäler  Javas  behandelt  und  nicht  nach  auswärtigen  Garnisonen  geschickt 
werden.  Ein  bedeutender  Unterschied  besteht  in  der  Mortalität  der  Küstenländer  in  Verglei- 
chung  mit  den  in  den  Centraltheilen  der  Inseln  gelegenen  Stationen,  und  zwar  zu  Gunsten  der 
letzteren.  Die  Ursache  hiervon  ist  einleuchtend,  da  die  Küsten  nicht  nur  eine  viel  höhere  Tem- 
peratur besitzen,  als  die  hochgelegenen,  oft  die  Region  der  gemässigten  Zone  erreichenden  Orte 
der  gebirgigen  Centraltheile ,  so  wie  auch  an  den  Küsten  sich  oft  Sümpfe  vorfinden,  deren  Ex- 
foliationen der  Gesundheit  nachtheilig  sind,  während  in  den  Binnenländern  solche  Sümpfe  feh- 
len, die  Luft  daher  von  fremdartigen  Dünsten  und  Gasen  frei  ist.  Die  folgende  Zusammenstel- 
lung der  Küsten-  und  Hinnenstationen  auf  Java  und  Madura  zeigt  den  Unterschied  der  Morta- 
lität bei  den  verschiedenen  Racen: 


Europäer 

he 

Afr 

i  k  a  n  e  r. 

J  a  v  a  u  e  n. 

.. 

Küsten- 

Binnenländisi 

Küsten- 

Binnenländische 

Kästen- 

Binnenländis' 

ll  1*1*1111  gü. 

orte. 

Stationen. 

orte. 

Stationen. 

orte. 

Stationen. 

1864 

1  :    7,6 

1  :  17,2 

1  :  4,0 

1  :    9,4 

1 :  21,02 

1  :  29,6 

1865 

1:11,3 

1  :  15,2 

l  :  2,4 

1  :  26,5 

1  :  31,8 

1  :  42,2 

1866 

1  :  14,9 

1  :28,7 

1:5,6 

1  :  70,6 

1  :  38,4 

1  :  74,1 

1867 

1  :  20, 1 

1  :  24,2 

1  :  4,6 

1:47,0 

1  :  39,8 

1  :  125 

1868 

1:    9,7 

1:  17,3 

1  :4,8 

1:31,4 

1  :  19,8 

1  :37,7 

Die  ungünstige  Mortalität  in  den  Jahren  1864,  1865  und  1868  ist  vorzüglich  den  in  jenen 
Jahren  geherrscht  habenden  Choleraepidemien  zuzuschreiben,  indem  resp.  58,  38  und  49  Prozente 
der  Gesammtmortalität  in  dem  betreffenden  Jahre  auf  Cholera  kommen.  Die  Verbesserung  der 
Gesundheitsverhältnisse  unter  den  Truppen  in  Indien  bildete  sowohl  in  der  zweiten  Kammer  in 
Holland,  als  bei  der  sanitätischen  Commission  auf  Java  in  den  jüngsten  Jahren  den  Gegenstand 
ernster  Berathungen.  Es  wurde  beschlossen,  die  aus  Europa  und  anderen  Welttheilen  ankom- 
menden Truppen,  welche  in  der  Regel  eine  Akklimatisations-Krankheit  durchzumachen  haben, 
nicht,  wie  bisher,  in  Weltevreden  bei  Batavia,  sondern  zu  Campong  Makassar  auf  dem  Wege  nach 
Buitenzorg  zu  Stationiren.  Auch  soll  die  projectirte  Eisenbahn  von  Batavia  nach  Buitenzorg 
schleunig  in  Angriff  genommen  werden,  um  die  neu  angekommenen  Truppen  so  schnell  als  mög- 
lich nach  den  hochgelegenen,  gesunden  Stationen  bringen  zu  können. 

Um  die  Truppen  besonders  bei  Expeditionen  stets  mit  gutem  Trinkwasser  zu  versehen, 
wurde  in  neuerer  Zeit  die  .Brunnenbohrmaschine  des  Amerikaners  Morton  eingeführt,  durch 
welche  in  kürzester  Zeit  ein  Brunnen  von  bedeutender  Tiefe  mit  gewöhnlich  reichem  Wasser 
•ströme  hergestellt  werden  kann. 


432 

Die  maritime  Macht  von  Indien  betreffend,  so  waren  Ende  1868  30  Kriegsschiffe  der  nieder- 
ländischen Marine  auf  verschiedenen  Stationen  anwesend.  Hierzu  kommen  noch  eine  ansehn- 
liche Zahl  Schiffe  der  einheimischen  indischen  Marine,  welche  in  Indien  gebaut  wurden  und 
auch  dort  stets  stationirt  bleiben.  Die  genannten  30  Kriegsschiffe  waren  von  4035  Mann  (3065 
Europäern,  970  Eingeboruen)  besetzt.  Die  Hauptstationen  der  Kriegsschiffe  in  Indien  bilden 
Sumatras  Ost-  und  Westküste,  dann  die  Meere  von  Riouw  und  Lingga,  die  Küsten  von  Celebes, 
Borneo  und  die  Molukkischen  Inseln,  ausser  den  Inseln  Java,  Madura,  Bali,  Lombok,  Flores. 
Im  September  1869  wurde  der  Kriegsdampfer  Curacao  nach  dem  arabischen  und  persischen 
Meerbusen  geschickt,  um  dort  Erkundigungen  über  das  Schicksal  und  das  Benehmen  der  zahl- 
reich aus  Indien  gehenden  Mekkapilger  einzuholen.  Auch  sollte  dieses  Kriegsschiff  der  Eröffnung 
des  Suezkanals  beiwohnen,  was  auch  geschah. 

In  Anbetracht  der  vielen  schädlichen  Einflüsse,  denen  die  Mannschaften  der  Marine  aus- 
gesetzt sind,  indem  viele  Stationen  der  Gesundheit  sehr  nachtheilig  sind  und  die  reinen  und 
kühlen  Gebirgslüfte  ihnen  nicht  zu  Theil  werden,  konnte  der  Gesundheitszustand  der  Marine, 
Dank  vielen  Verbesserungen ,  die  in  Bezug  auf  Ernährung  und  Lebensweise  der  Matrosen  und 
Soldaten  eingeführt  wurden,  befriedigend  genannt  werden.  Es  wurden  im  Jahre  1868  6151  Euro- 
päer und  2012  Eingeborne  der  Marine  ärztlich  behandelt,  von  welchen  103  Europäer  und  38 
Eingeborne  starben. 

Die  Marine-Etablissements  zu  Surabaja  und  zu  Onrust  entsprechen  vollkommen  ihrer  Be- 
stimmung, indem  daselbst  nicht  bloss  Reparaturen  von  Dampf-  und  Segelschiffen  vorgenommen 
werden,  sondern  auch  neue  Schiffe,  besonders  für  die  einheimische  Marine  gebaut  werden. 

Anlangend  die  Verrichtungen  der  Marine,  so  werden  die  Dienste  derselben  gelobt  sowohl 
bei  Landung  von  Kriegsschiffen  an  fernen,  von  noch  wenig  abhängigen  Stämmen  bewohnten 
Küsten,  bei  Reisen  ins  Innere  von  Borneo  auf  den  Strömen,  dann  bei  der  Unterstützung  der 
Operationen  der  Landmacht.  Insbesondere  aber  ist  es  der  Seeraub,  den  die  Marine  so  ziemlich 
zu  unterdrücken  Gelegenheit  hatte.  Das  Dampfschiff  Surinam  nahm  im  März  1867  eine  Zahl 
von  23  Räuberprauen  im  Bangaai-Archipel  bei  der  Insel  Batjoa  gefangen  und  übergab  die  Mann- 
schaft den  Behörden  zu  Amboina.  Ebenso  zeichneten  sich  die  Kriegsdampfer  Reteh  und  Sta- 
voren  durch  emsige  Untersuchung  der  Gewässer  zwischen  Celebes  und  Nordborneo  aus,  wobei 
sie  10  Frauen,  die  sich  mit  Strandraub  beschäftigten,  gefangen  nahmen. 

Der  Sultan  des  Suluh- Archipels,  derselbe,  von  dem  es  vor  zwei  Jahren  hiess,  dass  er  mit 
Freussen  und  dem  norddeutschen  Bunde  einen  Handelsvertrag  abschloss,  wird  schon  seit  langer 
Zeit  für  den  Beschützer  der  indischen  Seeräuber  gehalten  und  lief  deshalb  schon  einige  Male 
Gefahr  von  der  holländischen  Marine  überfallen  und  seines  kleinen  Thrones  für  verlustig  erklärt 
zu  werden.  Doch  er  kam  jedes  Mal  demüthiglich  dem  Kommandanten  der  Flotte  entgegen  und 
versprach  Sorge  zu  tragen,  dass  das  niederländische  Gebiet  von  Raubanfüllen  verschont  bleibe. 
Dennoch  aber  wiederholten  sich  die  letzteren;  der  Sultan  aber,  darüber  zur  Rede  gestellt,  lehnte 
jede  Verantwortlichkeit  für,  die  ausgeübten  Raubanfälle  ab,  indem  er  versicherte,  dass  er  mit 
den  Anführern  der  Räuberflotte  in  keiner  Beziehung  stehe. 

Auch  europäische  Schiffe  anderer  Mächte  wurden  durch  die  holländische  Marine  geschützt. 
Im  Februar  1869  entstand  am  Bord  der  französischen  Brigg  Tamaris  60  Meilen  vom  Ausgang 
der  Sundastrasse  ein  Aufruhr,  welcher  durch  die  anwesenden  chinesischen  Kulis  angezettelt 
wurde.  Letztere  bemächtigten  sich  des  Schiffes,  nahmen  den  Kapitäu  gefangen  und  setzten  die 
übrige  europäische  Mannschaft  auf  einer  Insel  aus.  Das  Schiff  wurde  durch  den  Stationscom- 
mandant  der  Westküste  Sumatras  angehalten  und  der  Regierung  hiervon  Anzeige  erstattet.  — 

Wenden  wir  uns  nun  von  den  Kriegsunternehmungen  und  den  Massregeln  zur  Sicherheit 
im  Innern  zu  den  friedlichen  Werken  zur  Förderung  der  Kenntniss  der  Länder  und  des  Wohl- 
standes der  Bevölkerung.  Ausser  den  zahlreichen  Spezialkarten  der  einzelnen  Districte  Javas 
wurde  auch  Südcelebes  in  den  Jahren  1866  —  70  topographisch  und  statistisch  aufgenommen. 
Die  kleinen  Reiche  Boni ,  Soppeing,  Wadjo  und  Sidering  wurden  1867  in  Karten  nach  dem 
Massstab  1  :  10,000  trigonometrisch  aufgenommen  und  umfassen  diese  Reiche  einen  Umfang  von 
166  Quadratmeilen  (engl.).  Im  Jahre  1868  wurden  weitere  213  Quadratmeilen  der  Insel  ver- 
messen. 1869  waren  2  Ingenieure  mit  der  Fortsetzung  der  Landesaufnahme  beschäftigt,  wovon 
der  eine  in  der  Residentschaft  Bulekomba  eine  Fläche  von  60,  der  andere  in  der  Abtheilung 
Bikeru.     Im  Ganzen    wurden    in  den  3  Jahren  700  Quadratmeilen  kartographisch  aufgenommen. 


433 

Einer  iler  Ingenieure  wurde  leider  im  Jahre  18G7  meuchlerisch  durch  Eingeborne  ermordet, 
worauf  ein  anderer  Offizier  dessen  Amt  übernahm.  Es  wurden  bei  dieser  Gelegenheit  im  Di- 
stricte  Tanamea  Steinkohlenlager  entdeckt.  Auch  wurden  gute  Landstrassen  zur  Verbindung 
der  Ost-  und  Westküste  angelegt,  die  Insel  Salain  topographisch  untersucht  und  die  Resident 
schaft  Makassar  in  Karten  gebracht  nach  dem  Massstab  von  1  :  2000.  Ein  Zeichen  fortschrei- 
tender Kultur  bildet  auch  die  Vermehrung  und  Steigerung  des  inneren  Verkehrs,  was  an  der 
Zunahme  der  Zahl  der  von  der  Post  beförderten  Briefe  zu  erkennen  ist.  1866  wurden  1,467,384 
Briefe  von  den  Postexpeditionen  im  Archipel  befördert,  1867  stieg  die  Zahl  auf  1,548,967,  1868 
auf  1,635,974.  Die  Briefportos  betrugen  resp.  173,600,  182,469,  191,733  Gulden.  Durch  Post- 
nachnahme wurden  in  den  3  Jahren  Geldsummen  befördert  fl.  1,493,609,  1,724,854  und  1,807,827. 
Hierunter  sind  die  sogenannten  Seebriefe  oder  die  nach  Europa  und  anderen  Welttheilen  ge- 
schickten und  von  dort  empfangenen  Briefe,  deren  Zahl  ebenfalls  von  Jahr  zu  Jahr  steigt,  nicht 
einbegriffen.  An  gedruckten  Werken  und  Schriften  wurden  1866  627,770  Druckbogen,  1867 
655,794  und  im  folgenden  Jahre  665,239  Bogen  versendet.  Es  befinden  sich  auch  auf  Java  und 
einigen  anderen  Inseln  zahlreiche  Telegraphenlinien.  Mehrere  Dampfschiffe  besorgen  in  regel- 
mässigen Fahrten  theils  im  Auftrage  der  Regierung,  theils  in  Folge  von  Privatunternehmungen 
sowohl  den  Transport  von  Personen,  als  Briefen  und  Frachtgütern  nach  den  einzelnen  Stationen 
des  Archipels,  sowie  nach  Manilla,  Makao,  Canton,  Calcutta,  Madras  und  nach  der  arabischen 
Halbinsel.  Es  wurde  selbst  in  neuester  Zeit  eine  regelmässige  Dampfschifffahrt  von  Batavia 
nach  Sidney  eingerichtet.  Auch  geht  man  mit  dem  Plane  um,  eine  regelmässige  Dampfschiff- 
fahrt durch  den  Suezkanal  von  Niederland  nach  Java  ins  Leben  zu  rufen. 

Wie  die  niederländische  Regierung  von  jeher  im  Miitterlande  die  grösste  Sorgfalt  auf  Er- 
ziehung und  l'nterricht  der  Jugend  legte  und  in  Holland  zu  jeder  Zeit  Koryphäen  der  Wissen- 
schaft, besonders  der  Physik,  Astronomie  und  Medizin  lebten,  so  ist  es  auch  ihr  Bestreben,  in 
den  Colonien  den  Unterricht  der  Jugend  in  sorgfältiger  Weise  zu  pflegen. 

Es  besteht  zu  Batavia  ein  Gymnasium,  das  nach  dem  gegenwärtigen  König  der  Niederlande 
Willem  III.  benannt  ist,  in  welchem  die  Zöglinge  ohne  Unterschied  der  Nationalität  und  der 
Confession  in  einem  sechsjährigen  Cursus  in  Sprachen  und  naturhistorischen'  Wissenschaften 
gründlichen  Unterricht  von  ausgezeichneten  europäischen  Lehrern  erhalten.  Einer  Verordnung 
vom  21.  August  1867  gemäss  wurde  diesem  Institut  noch  eine  neue  Abtheilung  für  indische 
Sprach-,  Land-  und  Völkerkunde  beigefügt,  besonders  für  diejenigen  Zöglinge,  welche  dem  Be- 
amtenstande in  Indien  einst  angehören  sollen.  Die  Leitung  und  der  Unterricht  der  Anstalt  ist 
einem  Direktor,  zwölf  Professoren,  drei  „Erziehern"  (opvoeders),  einem  Administrator  und  noch 
einigen  europäischen  Dozenten  übertragen.  Die  Zahl  der  Zöglinge  belief  sich  1868  auf  91.  Im 
Laufe  des  Jahres  stieg  die  Zahl  derselben  auf  100.  Die  Ausgaben  für  das  genannte  Jahr  be- 
trugen fl.  121,383.  Ebenso  besteht  zu  Surabaja  eine  höhere  Bürgerschule,  welche  1868  von  70 
Zöglingen  besucht  wurde,  von  welchen  die  durch  Talent  und  Fleiss  sich  auszeichnenden  Jüng- 
linge zur  weiteren  Ausbildung  nach  Niederland  geschickt  und  dort  auf  Kosten  der  Regierung 
verpflegt  werden. 

Oeffentliche,  durch  die  Regierung  unterhaltene  Schulen  für  Europäer  und  Kreolen  bestanden 
im  Jahre  1868  69,  und  zwar  50  auf  Java  und  19  in  den  ausserjavanischen  Besitzungen.  Es 
functionirten  in  diesen  Schulen  112  Lehrer  und  zahlten  denselben  3962  Zöglinge.  Verausgabt 
wurden  für  diese  Schulen  410,028  Gulden. 

Abgesehen  von  diesen  öffentlichen  Schulen  bestehen  noch  zahlreiche  Privatinstitute  und 
bedarf  es  einer  Verordnung  vom  Jahre  1867  gemäss  zur  Errichtung  einer  Privatschule  keiner 
besonderen  Erlaubniss  der  Behörden,  sondern  nur  einer  Prüfung  des  Institutsvorstehers,  damit 
er  den  Beweis  liefert,  dass  ihm  auch  die  nöthigen  Kenntnisse  zur  Leitung  einer  Schule  zu  Ge- 
bote stehen. 

Schullehrer  -  Seminare   befinden   sich  ausser  in  den  grosseren  javanischen  Städten  auf  Fort 
De  Kok   und  Tanah  Batu  in  Sumatra  und  zu  Tänawangko  auf  Celebes.     Ebenso  sollen  zu  Ku 
pang  (Timor)  und  auf  Amboina  Lehrer-Seminarien  errichtet  werden. 

Die  Kinder  der  inländischen  Bevölkerung  erhalten  ihren  L'nterricht  iu  den  sehr  zahlreichen, 
von  unuhamedanischen  Priestern  geleiteten  Schulen,  und  obwohl  die  Regierung  über  diese  Schu- 
len nicht  die  unmittelbare  Leitung  führt,  so  stehen  dieselben  dennoch  unter  ihrem  Schutze  und 
ihrer  Aufsicht.     Das   reiche  Verzeichnis»   der  seit   L8Ö0  erschienenen,    \ou  Europäern  verfassteu 
Zeitschrift  für  Kthuologie,  Jahrgang  ls7u.  99 


434 

und  lediglich  für  die  Eingebornen  bestimmten  Schulbücher  in  javanischer,  sundaischer.  bugine- 
sischer.  malaiischer,  battaischer  und  maduresisclier  Sprache,  welche  allenthalben  zu  sehr  niedri- 
gen Preisen  zu  haben  sind,  siebt  Zcugniss  für  die  Sorge  der  Regierung  für  zweckmässigen  Un- 
terricht  der  inländischen  Jugend.  In  diesen  Lehrbüchern  finden  sich  als  Uebungsstiieke  zum 
Lesen  mehrere  Auszüge  aus  dem  Koran,  ebenso  Blumenlesen  aus  der  javanischen  Literatur,  so- 
wie überhaupt  die  Lehrbücher  im  Sinne  der  betreffenden  Nationalität  und  der  religiösen  An- 
schauungen der  eingebornen  Völker  abgefasst  sind.  Ebenso  sind  in  den  genannten  Sprachen 
Lehrbücher  «für  Erwachsene  über  Geographie,  Arithmetik,  Physik,  über  Geschichte  der  Völker 
des  Archipels  und  andere  Wissenschaften  abgefasst,  um  dem  Volke  zur  Belehrung  und  Unter- 
haltung zu  dienen. 

f>ie  Zahl  der  christlichen  Missionäre  in  Niederländisch-Indien  ist  zwar  nicht  bedeutend  und 
ist  es  überhaupt  der  Regierung  weniger  darum  zu  thun,  eine  grösstmögliche  Zahl  von  Indivi- 
duen dem  Namen  nach  zu  Christen  zu  machen,  als  vielmehr  wahre  Sittlichkeit  und  Cultur  zu 
fördern,  was  auch  auf  der  Basis  der  angestammten  Religion  geschehen  kann;  dennoch  haben 
in  Indien  die  Missionäre  folgender  Gesellschaften  Zutritt  und  Erlaubniss,  ihre  religiöse  Lehre  zu 
verbreiten : 

1.  Die  Genossenschaft  für  in-  und  ausländische  Mission  zu  Batavia. 

2.  Niederländisch-indische  Missions-  und  Bibelgesellschaft. 

3.  Niederländische  Missionsgesellschaft  zu  Rotterdam. 

4.  Missionsvereinigung  zu  Amsterdam. 

5.  Rheinische  Missionsgesellschaft  zu  Barmen   (Preussen). 

6.  Gossnersche  Missionsgesellschaft  zu  Berlin. 

7.  Utrecht'sche  Missionsgesellschaft. 

Es  fungireu  gegenwärtig  in  ganz  Niederländisch- Indien  70  Missionare  auf  verschiedenen 
Orten,  und  zwar  auf  Java  14,  auf  Sumatras  Westküste  13,  auf  Süd-  und  Ostborneo  5,  auf  Nord  - 
celebes  13,  auf  den  Sangirinsein  6,  in  den  Molukken  5,  an  der  Guineaküste  7,  auf  Halmaheira 
4,  auf  Timor,  Rotti  und  Bali  je   1. 

Die  Zahl  der  zum  Christenthum  übergegangenen  Eingebornen  in  Niederländisch-Indien  ist 
im  Ganzen  nicht  bedeutend.  Die  meisten  Christen  unter  den  Eingebornen  befinden  sich  auf 
Menado  (Xordcelebes),  den  molukkischen  Inseln  und  auf  Timor.  Es  folgt  hier  eine  Liste  der 
Ende  18G8  in  Niederländisch-Indien  befindlichen  Christen  unter  den  Eingebornen: 

Java 3.433 

Westküste  Sumatras    .     .  Klö 

Banka 6 

Stiruw 3 

Westborneo    ....  5 

Süd-  und  Ostborneo    .     .  216 

Südcelebes 12 

Menado 70,350 

Amboina 44,553 

Banda 796 

Ternate 425 

Timor _.     13,835 

134,249 
Wegen  der  grossen  Zahl  der  eingebornen  Christen  auf  Menado  und  Amboina  befinden  sich 
dort  eine  ziemlich  grosse  Zahl  christlicher  Schulen,  nämlich  92,  welche  durchschnittlich  von 
etwa  50  Schülern  besucht  werden.  Selbst  von  den  Sangir-  und  Talaut-Inseln  wird  berichtet, 
dass  dort  nicht  weniger  als  20,  theilweise  von  Missionären  geleitete  Schulen  für  Eingeborne  sich 
befinden,  in  welchen  Unterricht  in  den  Elementar-Gegenständen  und  in  Religion  ertheilt  wird. 

Nach  den  vorhandenen  Listen  besuchen  im  ganzen  Archipel  etwas  über  28,000  Kinder  der 
Eingebornen  die  öffentlichen  Schulen.  Diese  Zahl  wäre  für  eine  Bevölkerung  von  26  Millionen 
freilich  gering;  doch  muss  man  in  Anmerkung  nehmen,  dass,  wie  oben  erwähnt,  die  bei  weitem 
grösste  Zahl  der  Eingebornen  ihre  Kinder  durch  die  einheimischen  Priester  und  Lehrer  unter- 
richten lassen. 

Die  Mitglieder  der  wissenschaftlichen  Akademie  zu  Batavia  fuhren  fort,  in   ihren  verschie- 


435 

denen  Sparten  ihre  Thätigkeit  zur  Förderung  der  Wissenschaften  an  den  Tag  zu  legen.  Prof. 
Wilkens  arbeitet  noch  an  einem  umfangreichen  javanisch  -  holländischen  Wörterbuch  und  wa 
1868  bis  zum  18.  javanischen  Buchstaben  ,Ba"  gekommen.  Wenn  diese  Arbeil  nur  langsam 
vorwärts  geht,  so  ist  als  Ursache  zu  betrachten  der  Maugel  an  Vorausgängen]  und  Vorarbeiten, 
so  dass  das  ganze  Material  erst  aus  dei  javanischen  Literatur  und  dem  persönlichen  Verkehr 
geschöpft  werden  rauss.  Auch  ein  sunda'sches  Wörterbuch  wird  von  Koordens  bearbeitet,  so- 
wie Dr.  Mathes  mit  einer  buginesischen  Chrestomathie  beschäftigl  war.  In  Bezug  auf  archäo- 
logische Fiirsi  liunevn  war  bis  /um  Februar  1869  Dr.  Friedrich,  ein  Deutscher,  im  Auftrage  dei 
Regierung  thätig,  sowohl  die  javanischen  und  balinesischen  Inschriften  und  zahlreiche  Manu- 
scripte  zu  erklären,  als  auch  im  südlichen  Sumatra  die  dorl  zahlreich  sich  findenden  Eilschriften 
auf  Stein  zu  entziffern.  Zur  genannten  Zeit  trat  Friedrich  wegen  geschwächter  Gesundheit  in 
den  Ruhestand  und  statt  seiner  übernahm  der  ^rchäolog  Cohen  Stuart  die  Fortsetzung  der 
Untersuchung  genannter  Länder. 

Der  schönste  und  best  erhaltene  alt-indische  Tempel  auf  Java  ist  der  in  der  Residentschaft 
Kadu  gelegene,  unter  dem  Namen  der  „Riuneu  von  Boro-Bodur"  bekannte.  Kr  ist  ungemein 
reich  an  Statuen  aus  Trachyt  und  die  Wände  sind  bedeckt  mit  prachtvollen  Basreliefs,  Scenen 
aus  der  buddhistischen  Mythologie  darstellend.  Von  diesem  Tempel  li'tsst  die  Regierung  sätnmt- 
liehe  Statuen  und  Relief-Bilder  photographisch  aufnehmen  und  sie  in  einem  Werke  sammeln, 
welches  durch  Kupferstich  vervielfältig!  wird.  Im  Jahre  ] S68  war  die  Vollendung  dieses  Wer- 
kes in  Grossfolio  nahe  bevorstehend. 

Die  meteorologischen  Beobachtungen  werden  mit  Eifer  an  verschiedenen,  mit  ein- 
ander in  Correspondenz  stehenden  Stationen  des  Archipels  fortgesetzt,  und  erstrecken  sich  die- 
selben bis  zum  Eiland  Deziina  in  Japan,  dessen  Observatorium  seine  Berichte  ebenfalls  wie  die 
andern  Stationen  des  Archipels  nach  der  Hauptstadt  Batavia  sendet.  In  Bezug  auf  die  Inkli- 
nation der  Magnetnadel  wurden  im  Jahre  186S  allwöchentlich  Stundenbeobnchtnngen  von  Mor- 
gens 7  Uhr  bis  Abends  10  Ihr  angestellt.  Man  fand  bei  dieser  Gelegenheit,  dass  die  Inklina- 
tion auf  Java  von  7—10  Uhr  Morgens  abnimmt  und  ihr  Minimum  erreicht,  von  dieser  Zeit  an 
bis  7  Uhr  Abends  zunimmt,  wo  sie  ihr  Maximum  gewinnt,  um  dann  um  10  Uhr  Abends  wieder 
denselben  Stand  wie  um  4  Ihr  Nachmittags  zu  erreichen. 

Die  eigentlichen  naturhistorischen  Wissenschaften  finden  seit  langer  Zeit  auf  Java  eine 
sorgsame  Pflege.  Die  prachtvollen  botanischen  Gärten  zu  Buitenzorg,  die  sich  bis  zur  Spitze 
des  Salakberges  erstrecken,  schliessen  nicht  nur  alle  bekannten  Tropenpflanzeu  von  4  Weltthei- 
len  in  sich,  sondern  es  werden  auch  in  den  verschiedenen  Höhen  die  Gattungen  der  gemässig- 
ten und  selbst  der  kalten  Zonen,  wie  das  Rennthiermoos  und  andere  Cryptogamen  und  Phane- 
rogamen  der  Alpen-  und  Polarflora  eultivirt,  und  steht  die  Direktion  mit  verschiedenen  Bota- 
nikern anderer  WTelttheile  beständig  in  wissenschaftlichem  Verkehr.  Für  die.  Zoologie  ist  das 
nun  vollendete  Prachtwerk  von  Bleeker:  „ Atlas  Ichthyologique  des  Indes  Neerlandaises"  von 
Wichtigkeit. 

Die  zu  Batavia  bestehende,  sehr  thätige  und  verdienstvolle  „naturhistorische  Vereinigung 
für  Niederländisch- Indien",  welche  von  der  Regierung  eine  jährliche  Subvention  von  rl.  8000 
erhält,  hat  den  33.  Band  ihrer  „Verhandlungen"  und  den  18.  ihrer  „Zeitschrift"  veröffentlicht. 
Wir  erwähnen  hier  auch,  dass  durch  die  Nachforschungen  der  Mitglieder  dieser  Gesellschaft  im 
Jahre  1868  reichhaltige  Lager  von  Kupfererz  auf  Timor  mit  einem  Metallgehalt  von  15  Procent 
gefunden  wurden.  Ebenso  wurde  im  District  Palembang  eine  alaunhaltige  Mineralquelle  entdeckt. 
Man  kann  nicht  sagen,  dass  in  Niederland  und  seinen  Colonien  dei'  protestantische  Glaube 
der  herrschende  sei,  da  vielmehr  für  die  Bekennet'  aller  Confessionen  vollkommene  und  nicht, 
wie  in  manchen  andern  Ländern,  bloss  theoretisch  aufgestellte  Gleichheit  der  Rechte  in  jeder 
Hinsicht  besteht;  aber  es  bilden  allerdings  die  Protestanten  die  Mehrzahl  unter  den  Europäern. 
Es  sind  in  Niederländisch-Indien  im  Ganzen  :ii;  e\angelische  Prediger  angestellt,  welche  an 
grösseren  Orten  ihren  Hauptsitz  haben,  öfters  aber  Reisen  zu  auswärtigen  Gemeinden  unterneh- 
men, um  dort  zu  predigen  und  Religions- Unterricht  zu  ertheileu. 

16  katholische  Geistliche,  an  deren  Spitze  ein  Bisehof  steht,  üben  in  Indien  die  Seelsorge 
bei  den  Gemeinden  dieser  Confession  aus. 

Die  bei  weitem  grösste  Zähl  der  Bewohner  des  Archipels  bekennt  sich  zur  mohamedanischen 
Religion,  und  bestehen  namentlich  die  15  Millionen  Einwohner  Javas,  mit  Ausnahme  eines  klei- 

29* 


436 

nen  Districtes,  wo  der  alte  Hinduglaube  noch  besteht,  aus  Muhamedanern ,  deren  Kultus  unter 
besonderem  Schutze  der  Regierung  und  theilweise  auch  unter  Aufsicht  derselben  steht.  Nach 
den  Listen  von  1868  sind  auf  Java  allein  nicht  weniger  als  95,670  inubatnedanische  Priester 
und  121,590  angehende  Priester  oder  Studirende.  Von  den  ersteren  empfangen  jedoch  die  we- 
nigsten einen  fixen  Gehalt,  sondern  sie  betreiben  theils  Ackerbau,  theils  gewinnen  sie  ihren 
Unterhalt  durch  freiwillige  Gaben  ihrer  Gemeindemitglieder ,  sowie  durch  Ertheilen  von  Unter- 
richt in  Religion  und  in  Lesung  des  Koran. 

Das  Pilgern  nach  Mekka,  welches  die  Muhamedaner  als  ein  besonders  verdienstliches  Werk 
betrachten,  wird  auch  häufig  von  den  Bewohnern  des  Archipels  ausgeführt,  und  da  diese  Pilger- 
fahrten, wie  die  Erfahrung  lehrt,  nicht  ohne  politischen  Einfluss  sind,  indem  die  von  der  Reise 
Zurückkehrenden  oft  von  revolutionären  Gedanken  und  von  Plänen  zur  Losreissung  des  Landes 
von  der  Herrschaft  der  „Ungläubigen"  erfüllt  sind,  so  hat  die  Regierung  ein  wachsames  Auge 
auf  diese  Pilgrime  und  führt  auch  ein  genaues  Register  über  dieselben.  Wir  erfahren  aus  den 
betreffenden  Listen,  dass  im  Jahre  1868  von  Java  und  Madura  1986  und  von  anderen  Inseln 
des  Archipels  1299  Personen  nach  Mekka  pilgerten.  Unter  diesen  Pilgern  waren  33  hochgestellte 
Eingeborne.  Die  Mekkapilger  unternehmen  ihre  Reise  nach  Arabien  entweder  direkt  von  Java 
oder  Sumatra  aus,  oder  sie  benützen  die  von  Singapur  ans  zahlreich  dahin  segelnden  arabischen 
Schiffe. 

III. 
Bodenkultur.  Zahl  der  ackerbautreibenden  Bevölkerung  auf  Jaia.  Die  Reiskultur.  Die  Kokospalme. 
Tabakkultur,  l'ultur  des  Caffees.  Verschiedene  Arten  nach  den  Standplätzen.  Zuckerkultur.  Hinnahmen 
in  Niederland  für  verkaufte  Colnnlalprodukte.  Landbau  und  Productlon  in  den  ausserjavanlschen  Ländern 
des  Archipels.  Pioducte  aus  dem  Mineralreich.  Die  Zlnmulnen  Bankas.  Steinkohlenlager.  Petroleum- 
quellen.    Die  Salzgewinnung  Im  indischen  Archipel.     Bändel  und  Schulfahrt. 

Die  meisten  Völker  des  Archipels  sind  ackerbautreibende.  Insbesondere  blüht  der  Acker- 
bau auf  Java  und  Madura  in  einer  Weise,  wie  sich  solches  selbst  in  manchen  europäischen 
Ländern  nicht  in  gleichem  Grade  findet.  Die  Ausgestrecktheit  des  mit  Culturpflanzen  bebauten 
Landes  vermehrt  sich  hier  von  Jahr  zu  Jahr,  so  dass  allmählich  der  Urwald  den  Reisfeldern 
und  der  Cultivirung  anderer  Nutzpflanzen  sein  Terrain  abzutreten  genöthigt  sein  wird.  Von 
den  aus  über  15  Millionen  bestehenden  Eingebornen  Javas  beschäftigten  sich  im  Jahre  1868 
nicht  weniger  als  12,472,096  Personen  mit  Ackerbau,  während  der  Rest  der  Gesammtbevölke- 
rung  dem  geistlichen,  dem  Beamten-  oder  dem  Handels-  und  Handwerkstande  angehören  oder 
sich  mit  Jagd  und  Fischerei  beschäftigen.  Die  Javanen  bewohnten  im  Jahre  1867  33,598  Dör- 
fer oder  Dessas,  von  welchen  die  Bewohner  von  32,481  sich  mit  Feldbau  beschäftigten  und  die 
von  1117  sich  durch  Fischerei  ernährten.  Auch  von  der  Zahl  der  zur  Landwirthschaft  verwen- 
deten Thiere  werden  genaue  Verzeichnisse  gehalten  und  betrug  die  Zahl  der  zum  Pflügen  ver- 
wendeten Thiere  (Rinder,  Pferde,  Maulesel)  2,261,877.  Die  Ausgestrecktheit  der  auf  Java  zum 
Reisbau  verwendeten  Felder  betrug  2,782,935  Bouw  (1  Bouw  =  500  rheinl.  Ruthen  oder  72,000 
Quadratfuss,  also  etwa  1%  bayrischen  Tagwerkes).  Von  diesen  Feldern  wurden  50,505  für  Rech- 
nung der  Regierung  bebaut.  Alle  diese  Felder  brachten  eine  Ernte  von  39,552,606  Pikul  Reis 
(1  Pikul  =  125  Amsterdamer  Pfunde)  zu  Stande.  Der  grösste  Theil  dieser  Ernte,  nämlich  28 
Millionen  Pikul,  wurde  von  Feldern  gewonnen,  welche  künstlich,  durch  Wasserleitungen  bewäs- 
sert wurden,  in  welcher  Arbeit  der  Javane  eine  grosse  Geschicklichkeit  an  den  Tag  legt.  9  Mil- 
lionen Pikul  wurden  von  Feldern  gewonnen ,  deren  Bewässerung  dem  Regen  überlassen  wurde. 
Obwohl  nun  die  künstliche  Bewässerung  in  Bezug  auf  die  zu  erwartende  Ernte  gegen  die  natür- 
liche Bewässerung  durch  den  Regen  viele  Vortheile  bietet,  so  ist  sie  doch  vom  sanitätischen 
Standpunkte  aus  weniger  wünschenswerth ,  weil  durch  die  künstliche  Bewässerung  das  Land  in 
einen  Sumpf  verwandelt  wird,  der  der  menschlichen  Gesundheit  nachtheilig  ist.  Durchschnitt- 
lich lieferte  im  Jahre  1868  jeder  Bouw  20,08  Pikul  Reis.  Die  Ernte  in  den  Jahren  1867  und 
1868  wird  im  Ganzen  als  günstig  angegeben.  Auf  den  javanischen  Märkten  wurde  der  Pikul 
Reis  durchschnittlich  für  2 — 3$  Gulden  verkauft. 

Zu  den  landwirtschaftlichen  Produkten,  welche  im  Inlande  verzehrt  werden  und  höchstens 
nach  andern  Ländern  des  Archipels  oder  nach  der  asiatischen  Festlandsküste  versandt  werden, 
gehören  die   Kokosnüsse,    welche  dem  Bewohner  des  Archipels  nicht  nur  das  Brennöl  liefern, 


437 

sondern  auch  die  Stelle  der  Butter  versehen,  indem  zürn  täglichen  Gebrauche  die  ölige  Schale 
in  siedendes  Wasser  geworfen  wird,  wo  dann  das  Fett  obenauf  schwimmt.  Besondere  Kokos- 
gärten,  wie  sie  in  anderen  Theilen  des  Archipels  gefunden  werden,  wo  besonders  die  kleinen 
felsigen  Inseln  zum  Anpflanzen  von  Kokospalmen  verwendet  werden,  findet  man  auf  Java  nicht, 
und  sind  die  Palmen  in  einzelnen  Höfen,  an  felsigem  Strande  und  besonders  in  den  Waldgür 
teln  zerstreut,  welche  jedes  javanische  Dorf  umgeben ,  aus  Fruchtbäumen  verschiedener  Art  be- 
stehen und  die  Umgebung  des  Dorfes  schattig  und  kühl  erhalten.  Die  sich  jährlich  mehrende 
Zahl  der  auf  Java  zerstreuten  Kokospalmen  betrug  18(58  zusammen  26,399,000,  im  vorausgegan- 
genen Jahre  25,694,000,  von  welchen  ungefähr  zwei  Fünftel  fruchttragend  sind.  Ein  Kokoäbaum 
trägt  durchschnittlich  jährlich  50 — 60  Nüsse,  von  welchen  100  Stück  in  Indien  zu  .0-8  Gulden 
verkauft  werden.  Wer  daher  im  Besitze  von  ein  paar  Tausend  Kokosbäumen  ist,  welche  mit 
wenig  Mühe  auf  einem  Stück  Land  von  einigen  Bouw  gezogen  werden  können ,  geniesst  schon 
ein  ziemlich  reiches  jährliches  Einkommen. 

Zu  den  für  Rechnung  von  Privatpersonen  auf  Java  angebauten  Culturpflanzen  gehört  noch 
der  Tabak,  dessen  Qualität  zwar  nicht  jene  des  Mauilla-Tabaks  erreicht,  aber  doch  zu  den  bes- 
seren Sorten  gehört;  dann  der  Kattun  (aus  verschiedenen  Sträuchern  und  Kräutern  des  Ge- 
schlechts Gossypium)  und  der  Indigo,  der  früher  ebenfalls  zu  jenen  Culturpflanzen  Javas  ge- 
hörte, welche  der  Regierung  als  Monopol  gehörten,  gegenwärtig  aber  freigegeben  sind,  so  dass 
der  Verkauf  des  Produktes  an  allen  Märkten  und  an  Privatpersonen  gestattet  ist.  Hingegen 
werden  noch  gegenwärtig  folgende  Produkte  für  Rechnung  der  Regierung  angepflanzt,  die  das 
Monopol  über  dieselben  sich  vorbehält.  Doch  sind  die  Ländereien  in  den  Residentschaften  Ba- 
tavia,  Buitenzorg,  dann  die  "Fürstenländer  Djokjokarta  und  Surakarta,  ebenso  viele  andere  Land- 
güter vom  Monopol  der  Regierung  ausgeschlossen  und  dürfen  die  Produkte  dieser  Länder  in  be- 
liebiger Weise  verkauft  werden.  Das  vorzüglichste  hierher  gehörige  Produkt  ist  der  Caffee. 
Man  unterscheidet  auf  Java  je  nach  dem  Standorte  der  Produktion  dreierlei  Caffee,  nämlich 
1)  Gartenkaffee,  der  in  regelmässigen  Reihen  angelegt  ist  und  wovon  jeder  Strauch  von  einem 
Dadap-Baume  (Erythrina  indica)  zur  Abwehr  der  zu  grossen  Sonnenhitze  beschattet  ist.  Auf 
solche  Weise  wird  der  meiste  javanische  Kaffee  producirt.  2)  Waldkaffee,  der  an  den  einst  mit 
Urwald  bedeckten  Orten  gezogen  wird  und  wovon  die  Sträucher  von  den  noch  stehen  gebliebe- 
nen Waldbäumen  beschattet  werden.  Endlich  3)  Bagger-  oder  Dorfkaffee,  der  in  dem  jedes 
javanische  Dorf  umgebenden  Waldgürtel  cultivirt  wird  und  von  besonderer  Güte  ist,  da  solchen 
Orten  viel  Dünger  zugeführt  wird. 

Der  Kaffeestrauch  verliert  auf  Java  im  Alter  von  30 — 40  Jahren  seine  fruchttragende  Kraft 
und  vegetirt  nur  noch  ohne  Blüthen  und  Früchte.  Die  Ursache  dieser  Unfruchtbarkeit  in  spä- 
teren Jahren  scheint  mir  weniger  in  dem  Mangel  an  Kali  des  Bodens,  wie  nach  den  Ansichten 
der  chemischen  Schule  behauptet  wurde,  die  alle  Vorgänge  des  Lebens,  bis  auf  die  Seelen- 
zustände  des  Menschen,  aus  chemischen  Vorgängen  erklären  wollen,  zu  liegen.  Vielmehr  ist 
nicht  einzusehen,  dass  die  chemischen  Bestandtheile  des  Bodens,  welche  hinreichten,  den  Baum 
bis  zum  40.  Jahre  zu  ernähren  und  zur  Blüthe-  und  Fruchttragung  zu  bringen,  jetzt  zu  seinem 
weiterem  Bestände  nicht  mehr  ausreichen  sollten.  Die  Ursache  des  früheren  Alterns  des  Kaffee- 
baumes auf  Java  liegt  vielmehr  in  den  eigenthümlichen  Lebensverhältnissen  und  Lebensgese«tzen 
desselben.  Man  vergesse  nicht,  dass  der  Kaffeebaum  iirsprünglich  ein  Produkt  der  gemässigten 
oder  subtropischen  Zone  ist  und  seine  Ueberpflanzung  in  die  eigentliche  Tropenzone  auf  künst- 
liche Weise  geschah,  so  dass  er  hier  immerhin  als  Fremdling  erscheint  und  sich  hier  auch 
nicht  vollkommen  akklimatisirt. 

Die  Ernte  im  Jahre  1867  war  auf  Java  eine  ziemlich  günstige,  was  jedoch  vom  darauf  fol- 
genden Jahre  nicht  behauptet  werden  kann,  indem  die  damalige  Ernte  gleich  jeuer  von  den 
Jahren  1864,  1849  und  1838  zu  den  ungünstigsten  seit  30  Jahren  zählten.  Die  anhaltende 
Dürre  in  den  ersten  Monaten  von  1868  und  die  darauf  folgenden  heftigen  Regen,  welche  die 
Blüthen  zerstörten,  werden  als  Ursache  der  geringen  Kaffeeernte  jenes  Jahres  bezeichnet.  Die 
folgende  Liste  giebt  die  während  eines  fünfjährigen  Zeitraumes  auf  Java  anwesende  Zahl  Kaffee- 
bäume, den  Ertrag  derselben,  die  Kosten  für  die  Gewinnung  des  Produktes  und  den  Erlös  an, 
den  die  Regierung  in  Holland  erzielte. 


438 


Jahre. 

Zahl  der  frucht- 
tragend. Bäume. 

225,956,544 

Gewonnene 
Quantit.  Kaffee. 

l'ikul. 

Kosten  auf 

den  Piknl. 

rt. 

Netto-Erlös 

in  Holland, 
it. 

1864 

434,240 

13.61 

44.  54 

1865 

223,261,717 

949,419 

13.  28V, 

45   85 

1866 

230,103,030 

1,094,097 

13.  49V, 

43.  54 

1867 

233,272,384 

1)20,057 

14.28 

41.  73 

1868 

234,051,454 

588,616 

15.  26 

35.  24 

Der  Gewinn,  den  daher  die  Regierung  bei  diesem  Produkte  erzielt,  ist  ziemlich  bedeutend 
und  betrug  derselbe  im  Jahre  1866  über  33  Millionen  Gulden.  Im  Jahre  1869  war  die  Kaffee- 
ernte  eine  mittelmassige  und  betrug  dieselbe  ungefähr  850,000  l'ikul.  Bis  /um  Monat  August 
wurden  in  Holland  bereits  37V.839  Pikul  Javakaffee  zum  Preise  \ou  38  —  46  Gulden  verkauft. 
Ausserdem  fanden  auch  Verkaufe  durch  die  Regierung  in  Indien  statt. 

Das  Zuckerrohr  wird  auf  Java  und  im  übrigen  Archipel  noch  in  grosser  Ausgestrecktheit 
cultivirt  und  hat  sich  die  Produktion  des  Zuckers  daselbst  in  den  jüngsten  Jahrzehnten  nicht 
vermindert,  obgleich  mau  in  Europa  und  Amerika  den  Zucker  aus  einheimischen  Pflanzen  zu 
produziren  versteht.  Dieses  Produkt  bildet  nur  theilweise  ein  Monopol  der  Regierung,  indem 
nur  ungefähr  die  Hälfte  des  gewonnenen  Zuckers  den  Regierungsmagazinen  eingeliefert  wird. 

Im  Jahre  1868  waren  auf  Java  97  Zuckerfabriken  und  beschäftigten  sich  mit  der  Cultur 
des  Zuckerrohrs  207,024  Familien,  welche  eine  Fläche  von  39,636  Bouw  bearbeiteten,  so  dass 
2,027,750  Pikul  Zucker  gewonnen  wurden.  Ein  Bouw  lieferte  daher  51.15  Pikul  Zucker.  Der 
Regierung  wurde  von  obiger  Quantität  1,025,042  Pikul  Zucker  eingeliefert,  wofür  fl.  5,115,670 
für  die  Arbeiter  verausgabt  wurden.  Eine  Familie  erhielt  demnach  durchschnittlich  fl.  24.  71. 
Die  (iesammtausgabe  für  die  Zuckerkultur  von  Seite  der  Regierung  betrug  fl.  9,535,000,  so  dass 
ein  Pikul  auf  fl.  9.  30.  zu  stehen  kam.  In  Holland  war  der  Erlös  für  den  Pikul  fl.  18.  16,  der 
Gewinn  für  die  Regierung  daher  ungefähr  9  Millionen  Gulden. 

Der  Kaffee  und  der  Zucker  bilden,  ausser  dem  Zinn,  welches  die  Inseln  Bauka  und  Billiton 
liefern,  diejenigen  Produkte  von  Niederländisch-Indien,  welche  in  finanzieller  Hinsicht  der  Re- 
gierung die  meisten  Vortheile  gewähren.  Mehrere  andere  Produkte,  welche  früher  ebenfalls  zum 
Monopol  der  Regierung  gehörten,  sind  gegenwärtig  frei  gegeben  und  ist  der  Handel  mit  den- 
selben keiner  Beschränkung  unterworfen.  Unter  diese  Artikel  ist  der  Indigo  zu  rechnen,  dessen 
Cultur  viele  Austrengung  und  Mühe  erfordert,  im  Ganzen  wenig  Gewinn  der  Regierung  brachte 
und  deshalb  grossentheils  den  Privatpersonen  überlassen  wurde.  Auch  die  Theekultur,  die 
Zimmtkultur,  selbst  jene  der  Gewürznelken  und  der  Muskatnüsse  auf  den  molukkischeu  Inseln, 
welche  im  17.  und  18  Jahrhundert  so  sehr  gewinnbringend  waren,  ist  nicht  mehr  dem  Mono- 
pol der  Regierung  unterworfen  und  ist  der  Handel  mit  diesen  Produkten  frei  gegeben. 

Die  folgende  Liste  giebt  die  Quantität  der  in  Niederland  im  Jahre  1868  öffentlich  verkauf- 
ten ostindischen  Produkte  an,  sowie  den  bei  dem   Verkaufe  erzielten  Gewinn  -. 

1   Netto-Ein- 
Gegenstände.       j    Quantität,    "ahme  (Abz.  Einnahme. 

aller  Kosten). 
Kilo^r.  il. 


Kaffee 50,280,414 

Zucker   '  41,843,396 

Bankazinn 3,244,756 

Indigo 12,717 

Muskatnüsse 636,1 59 


31,342,645      l,  Kilogr.  0.  36  fl 

10,539,519       1         „        0.  34  . 

3,323,707      50      „      54.  56  . 

14:4,757      %        „        6. 20  „ 

340,602  :   „         „        0.  62  „ 

140,928  j   „        „        1.  10  , 


Muskatlilüthe 75,j84 

Gewürznelken  ....  63,609 

Muskatseife 2,539 

Bilitonzinn 46,271   I  49,722      50      ,      54 


Gewürznelken  63,609  20,191  j  „       ,       0.24 

Muskatseife 2,539  6,925  i   ,         „         1.52 


05,904,978   ,  45,904,920 


439 

Ausser  den  oben  angegebenen,  Produkte  verschiedener  \it  liefernden  Flächen  giebt  es  auf 
Java  noch  solche  dem  Landbau  gewidmete  Felder,  welche  die  i;> .  nen  ent 

weder   verpachtet  oder  lebenslänglich   zum  Gebrauch    überlässt.     I>ie   Felder  der  letzten 
hid.cn  eine  Ausgestrecktheit  von  1,560,845  Bouw  und  werden  von   1,131,399  Menschen  bewohnt 
Sie  liefern  einen  jährlichen  Ertrag  von  fl.  379,257. 

Unter  den  genannten  Produktionen  auf  Java  sind  die   Fürstenländer  Djokjokarta  und  Sura 
karta  ebenfalls   nicht  einbegriffen.    Die  Residentschaft  Surakarta   allein   lieferte   im  Jahre  1868 
83,430  Pikul  Kaffee,   02,761  Pikul  Zucker,    103,615   Pfunde  Indigo    und   747,285  Pfunde  Tabak, 
welche  Produkte  keinem  Monopol  anheimfallen. 

Dass  auch  die  ausserjavanischen  Länder  des  Vrchipels  bedeutende  Quantitäten  Produkte 
verschiedener  Arl  liefern,  ist  wohl  keinem  Zweifel  unterworfen;  doch  übertrifft  die  Insel  Java 
alle  ihre  Schwesterländer  an  Fruchtbarkeit,  sowie  ihre  Bewohner  den  meisten  Fleiss  auf  die 
Bebauung  ihrer  Felder  verwenden.  An  der  Westküste  Sumatras  erntet.'  mau  1808  eine  Quan- 
tität von  4,471,000  Pikul  Reis,  sowie  auf  dem  Markte  zu  Padang  in  jenem  Jahre  181,000  Pikul 
Kaffee  von  einheimischen  Produzenten  verkauft  wurden.  Ebenso  werden  auf  Sumatra  bedeutende 
Quantitäten  Kattun,  Tabak,  Cassia,  Muskatnüsse,  Gambir,  Zucker  und  Indigo  produzirt.  Der 
Pfefferstrauch  hat  seine  eigentliche  Heimath  in  Nordsumatra,  dessen  Küsten  deshalb  die  Pfeffer- 
küsten genannt  werden.  Von  dort  holen  fast  alle  seefahrenden  Volker  den  Pfeffer  und  ist  der 
Handel  mit  diesem  Produkt  vollkommen  frei  gegeben.  Auch  das  wohlriechende  Benzoe,  der 
echte  Kampher  kommt  aus  den  Wäldern  Nordsumatras ,  von  wo  auch  mehrere  feine  Tischler- 
hölzer in  den  Handel  gelangen. 

Die  Inseln  Banka  und  Billiton  liefern  ausser  den  Erzeugnissen  rtus  dem  Mineralreich  auch 
die  meisten  der  eben  genannten  Produkte  Sumatras.  Insbesondere  werden  die  Muskatnüsse  von 
Banka  sowie  der  dort  produzirte  Gambir  gerühmt. 

Von  Westborneo  werden  folgende,  auch  in  ethnographischer  Hinsicht  bemerkenswerthe  No- 
tizen gemeldet.  Wer  dort  ein  Feld  zuerst  bebaut,  wird  unter  der  Bedingung,  dass  er  dem  Für- 
sten den  zehnten  Theil  des  Ertrages  in  natura  oder  in  Geld  einliefert,  als  Ei^enthümer  betrach- 
tet. Es  machen  aber  die  Uajaks  wenig  Gebrauch  von  ihrem  Rcichthum  an  Feldern,  indem  sie 
in  der  Regel  nur  ein-  bis  zweimal  ein  Feld  mit  Reis  bebauen,  dann  aber  wieder  brach  liegen 
lassen.  Auf  diese  Weise  gewinnen  sie  bei  geringer  Mühe  verhältnissmässig  mehr  Reis,  als  wenn 
ein  Feld  mehrere  Jahre  nacheinander  bearbeitet  wird.  Auch  wird  aus  der  Zuckerpalme  (Arenga 
saccharifera)  Zucker  gewonnen,  so  wie  auch  die  Sagopalme  benutzt  wird.  Die  Abgaben  an  den 
Fürsten  können  auch  durch  eine  gewisse  Summe  abgelöst  werden.  Von  den  landwirtschaft- 
lichen Thieren  sind  es  vorzüglich  Ziegen  und  Schweine,  welche  gehalten  werden.  Rinder  findet 
man  nur  bei  den  Vornehmen  und  Reichen.  In  der  Residentschaft  Sambas  wird  auch  Kaffee, 
Tabak  und  Kattun  produzirt,  doch  kommt  hiervon  kaum  etwas  nach  den  europäischen  Märkten. 
In  Süd-  und  Westborneo  werden  hingegen  ausser  den  für  einheimischen  Gebrauch  bestimm- 
ten Culturpflanzen,  wie  Reis,  Sago,  Kokosnüsse,  Betel,  Gambir  etc.  auch  Erzeugnisse  für  den 
europäischen  Markt  geliefert.  Besonders  wird  in  der  Abtheilung  Ainunthai  viel  Kaffee,  Tabak, 
Indigo  und  Kattun  gepflanzt. 

Ziemlich  blühend  ist  der  Landbau  auf  Celebes  Auf  dem  bedeutenden  Markte  von  Makas- 
sar  häufen  sich  Waaren  verschiedener  Art  in  beträchtlichen  Massen.  Es  gehen  von  dort  grosse 
Quantitäten  Reis  nach  China,  den  Molukken  und  nach  Riouw.  Von  dortiger  Rhede  gehen  auch 
mehrere  europäische  Schiffe  mit  Kaffee  nach  Europa.  Denn  in  den  gebirgigen  Distrikten  von 
Nordcelebes  ist  die  Kaffeekultur  eine  Verpflichtung  der  Bewohner  und  ist  jede  Familie  gehalten, 
alljährlich  eine  Anzahl  Kaffeesträucher  zu  pflanzen  und  zu  unterhalten.  Von  Makassar  wurden 
1868  44,000  Pikul  Kaffee  nach  Europa  geschickt.  Ebenso  wird  auf  Celebes  viel  Zucker,  Kattun 
und  Tabak  produzirt  Der  Kaffee  von  Menado  hat  in  neuerer  Zeit  in  Europa  eine  besondere 
Beliebtheit  erlangt  und  ist  derselbe  mehr  gesucht,  als  selbst  der  beste  Javakaffee.  Die  Zahl  der 
Kaffeebäume  auf  Menado  betrug  im  genannten  Jahre  10,285,900  Menado  hat  auch  eine  be- 
trächtliche Anzahl  Cacao-Bäume,  sowie  dort  auch  ganze  Wälder  von  Muskatnussbäumen  gefun- 
den werden. 

Da  die  Gewürznelken  auf  Amboiua  nicht  mehr  unter  Aufsicht  der  Regierung  produzirt  und 
von  derselben  nicht  mehr  angekaiift  werden,  ist  die  Produktion  gegenwärtig  eine  geringere  und 
auch  der  Preis  des  Produktes  ist  gefallen.     Es  sollen  im  Jahre  1868  auf  der  Insel  933,000  Pfd. 


440 

Gewürznelken,    105,000  Pfund   Muskatbliithen    und    463.000  Pfund  Muskatnüsse    erzeugt   wor- 
den sein. 

Als  Produkte   der   Inseln  Timor   und  Ternate   werden   vorzüglich   genannt:    Reis,    Mais, 
Kokosnüsse,  Sago,  Kaffee,  Kattun,  Dammarhar?  (aus  welchem  man  Kerzen  bereitet),  Tabak  und 

Indigo.  — 

Der  Zinnproduktion  der  Inseln  Banka  und  Billiton  und  dem  Erlös  hieraus  auf  dem  euro- 
päischen Markte  ist  bereits  Erwähnung  geschehen.  Der  indische  Archipel  birgt  auch  an  ver- 
schiedenen Orten  Steinkohlenlager  und  werden  besonders  einige  Steinkohlenminen  auf  Bor 
neo  für  Rechnung  der  Regierung  bearbeitet.  Die  Mine  Oranje-  Nassau  hei  Penganon  auf  West- 
borneo  liefert  jährlich  durchschnittlich  öOOO  Tonnen  gute,  für  Dampfschiffe  brauchbare  Kohlen, 
und  soll  durch  Verbesserung  der  Bearbeitung  nach  dem  Urtheile  der  Ingenieure  die  Mine  bis 
zu  einem  Ertrage  von  '20,000  Tonnen  jährlich  gebracht  werden  können.  Geringer  ist  der  Er- 
trag der  Mine  Pelarang  in  der  Landschaft  Kutei  auf  Ostborneo,  die  auch  von  geringerer  Qualität 
ist.  Es  werden  auch  die  Kohlenminen  von  Pulu-Laut  an  der  Westküste  Borneos  bearbeitet, 
sowie  auch  zu  Siboga  an  der  Westküste  Sumatras  Steinkohlenlager  sich  befinden.  Auch  an 
Petroleumquellen  ist  im  indischen  Archipel  kein  Mangel,  obwohl  bis  jetzt  noch  wenig  Unter- 
suchungen und  Nachgrabungen  in  dieser  Hinsicht  unternommen  wurden.  In  einem  Berichte 
an  die  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Amsterdam  vom  Jahre  1869  heisst  es  hierüber:  „In 
unseren  ostindischen  Besitzungen  findet  man  an  vielen  Orten  Petroleumquellen.  Obwohl  unter 
den  untersuchten,  nahe  an  der  Oberfläche  geschöpften  Oelen,  die  durch  Einfluss  der  Luft,  durch 
Verdampfung  und  Oxydation  ihre  flüchtigen  Bestandteile  verlieren  und  zähe  und  dickflüssig 
werden,  so  hat  doch  die  genaue  chemische  Untersuchung  gelehrt,  dass  das  Petroleum  von  Che- 
ribon  und  Rambang  'Java)  zu  den  besten  Sorten  gezählt  werden  muss,  sowie  auch  erfahrungs- 
mässig  diejenigen  Quellen,  welche  nahe  bei  der  Erdoberfläche  ein  theerartiges  Oel  liefern,  in 
grösseren  Tiefen  viel  dünnflüssiger  werden  und  bedeutende  Quantitäten  Oel  geben.  Man  kann 
daher  die  Ueberzeugung  aussprechen,  dass,  wenn  die  Nachforschungen  nach  Erdöl  in  Ostindien 
eifrig  und  systematisch  fortgesetzt  werden,  alsbald  ein  neuer  ergiebiger  Zweig  des  Handel«  und 
der  Industrie  geschaffen  wird,  wodurch  Viele  sich  Wohlstand  und  Reichthum  erwerben  werden." 
Aus  einer  Petroleumquelle  im  Distrikte  Palembang  wurden  1868  2000  Fässer  Oel  gewonnen, 
obgleich  dieselbe  noch  nicht  gehörig  bearbeitet  ist  und  das  Oel  nahe  an  der  Oberfläche  gewon- 
nen wird. 

Zum  Schlüsse  dieses  Abschnittes  mögen  einige  kurzen  Notizen  über  die  Salzgewinnung  im 
indischen  Archipel  angeführt  werden.  Wie  in  den  meisten  Tropenländern  wird  auf  dem  Ar- 
chipel das  Kochsalz  ebenfalls  aus  dem  Meerwasser  durch  Vertrocknung  der  in  das  Land  ein- 
gelassenen Teiche  gewonnen  Der  Verkauf  von  Kochsalz  gehört  in  Indien  ebenfalls  zu  den  Mo- 
nopolen der  Regierung,  doch  wird  dasselbe  zu  verhältnissmässig  sehr  niedrigen  Preisen  der  Be- 
völkerung übergeben.  Im  Jahre  1868  wurden  auf  diese  Weise  77,856  Tonnen  Salz  gewonnen. 
Nach  einer  Beschlussfassung  der  Regierung  sollte  in  Zukunft  nur  an  einem  Orte,  nämlich  in 
dem  Etablissement  zu  Tanara  in  der  Residentschaft  Bantam  von  Regierungswegen  Salz  gewon- 
nen werden.  Durch  den  Verkauf  von  Salz  empfängt  die  Regierung  alljährlich  6—7  Mill.  Gulden. 
Der  Zustand  des  Handels  nnd  der  Schifffahrt  wird  sich  am  deutlichsten  zeigen,  wenn  wir 
aus  den  Jahresberichten  der  einzolnen  Provinzen  die  Summen  der  Ein-  und  Ausfuhr,  die  Zahl 
der  angekommenen  und  abgereisten  Schiffe,  ihre  Grösse  und  Befrachtung  u.  s.  w.  zusammen- 
stellend. 

Auf  Java  und  Madura  wurden  im  Jahre  1867  für  Rechnung  von  Privatpersonen  eingeführt 
an  Kaufmannsgütern  für  fl.  51,715,265,  an  geprägter  Münze  für  fl.  2,139,391.  Für  Rechnung 
der  Regierung  wurden  an  Kaufmannsgütern  für  fl.  4,198,397,  an  geprägter  Münze  aus  Holland 
für  fl.  15,700,000  eingeführt. 

Die  Ausfuhr  für  dasselbe  Jahr  betrug  für  Rechnung  von  Privatpersonen  an  Gütern: 
fl.  59,313,449,  an  geprägter  Münze  (meistens  nach  den  Ländern  des  übrigen  Archipels) 
fl.  6,031,446.  Für  Rechnung  der  Regierung  wurden  ausgeführt:  Waaren  im  Betrage  von 
fl.  49,683,705  (meistens  landwirtschaftliche  Produkte),  Münze  im  Betrage  von  fl.  3,078,102. 

Die  Einfuhr  für  Privatpersonen  bestand  vorzüglich  aus  Leinen-  und  Kattunwaaren,  Ess- 
waaren,  Weinen,  Eisengeräthen  und  Maschinerien.    Es  wurden  nämlich  eingeführt  an 


441 

Leinen-  und  Kattunwaaren  für  fl.  2'j,O32,10O. 

Esswaren ,     ,      3,372,200. 

Weinen,   Liqueuren  ....  ,     „      2,421,800. 

Eisenwaaren,  Maschinen    .     .  ,     „        766,200. 
Die  Ausfuhr   aus  Java   und  Madura    im  Jahre  1 8<i7    betrug   an    verschiedenen  Artikeln  fol- 
gende Quantitäten : 

a)  für  Privatpersonen:  h)  für  Rechnung  der  Regierung: 

Reis 493,900  Pikul.  Kaffee 932,000  Pikul. 

Kaffee "30.3co      „  Zucker     .... 

Zucker 1,267,800       .  Indigo      .... 

Tabak 146,400       ..  Thce 

Indigo 68s,700  Pfund.  Muskatnüsse 


Thee  .     .     . 

6/00  Pikul 

Pfeffer    .     . 

24,100 

Zimmt    .     . 

140 

Muskatnüsse 

8,700 

Muskatblüthe 

420 

Gewürznelken 

25 

25.500 

Die   Zahl   der 

Schiffe 

betreffend,    we 

18,400 

„ 

13,000  Pfund. 

2.700 

Pikul. 

5,700 

„ 

1,300 

. 

2,100 

, 

Muskatblüthe 

Gewürznelken    . 

Zinn 52,000 


:he  die  Häfen  von  Java  und  Madura  berührten,  so 
kamen  im  Jahre  1867  anter  niederländischer  Flagge  an  2660  Schiffe  mit  152,982  Lasten  und 
unter  anderen  Flaggen  157"Schiffe  mit  33,771  Lasten.  Abgereist  sind  in  demselben  Jahre  2852 
Schiffe  mit  200,7*8  Lasten  unter  niederländischer  Flagge,  und  unter  fremden  Flaggen  171  Schiffe 
mit  40,287  Lasten.  Von  den  Häfen  des  Archipels  ausserhalb  Java  liegen  Berichte  vom  Jahre 
1866  vor,  aus  welchen  hervorgeht,  dass  in  jenem  Jahre  in  sämmtlichen  Häfen  für  fl.  24,517,073 
an  Waaren  und  für  fl.  1,647,606  an  Münze  eingeführt  wurde,  und  zwar  durch  4926  Schiffe  mit 
165,335  Lasten.  Die  Ausfuhr  erreichte  einen  Betrag  von  fl.  22,838,145  an  Waaren  und  1,499,057 
an  Münze  und  wurde  derselbe  durch  5667  Schiffe  mit  162,549  Lasten  bewerkstelligt. 

Die  einheimische  niederländisch -indische  Kauffahrteiflotte  b;  stand  im  Jahre  1868  aus  368 
Schiffen  mit.  30,741  Lasten. 

Zum  Schlüsse  mögen  noch  einige  Berichte  über  den  Zustand  der  so  verdienstlichen  Kultur 
des  Chinabaumes  auf  Java  folgen,  welche  die  Regierung  seit  1851  sich  angelegen  sein  lässt. 
Damals  unternahm  nämlich  der  Botaniker  Hasskarl  eine  Reise  nach  Südamerika,  um  einige  junge 
Chinapflanzen  und  Chinasamen  zu  gewinnen,  was  ihm  auch  trotz  der  Schwierigkeiten,  die  ihm 
von  Seite  der  dortigen  Behörden  entgegentraten,  gelang.  Ebenso  erhielt  die  indische  Regierung 
einige  Chinabäumchen  von  holländischen  botanischen  Gärten  sowie  aus  Paris  'und  wurde  mit 
diesen  Pflanzen  und  Samen  auf  Tjibodas  im  Salakgebirge  eine  erste  Pflanzung  angelegt,  die 
ziemlich  gut  gedieh.  Von  Jahr  zu  Jahr  vermehrte  sich  die  Zahl  der  Chinabäume  und  erreich- 
ten mehrere  Tausende  derselben  eine  Höhe  von  15  —  18  Fuss,  so  dass  sie  in  die  Wälder  unter 
andere  Waldbäume  verpflanzt  werden  konnten.  Gegenwärtig  können  die  Chinapflanzungen  auf 
Java  als  gelungen  betrachtet  werden  und  hofft  man  binnen  wenigen  Jahren  nicht  nur  den  Be- 
darf an  Chinin  für  Indien  und  Holland  aus  den  auf  Java  gepflanzten  Bäumen  gewinnen  zu 
können,  sondern  auch  noch  einen  kleinen  Handel  mit  Chinin  und  Chinarinde  zu  unterhalten. 

Es  befinden  sich  gegenwärtig  12  verschiedene  Chinapflanzungen  auf  Java,  und  zwar  säinint- 
lich  auf  Hochebenen  oder  an  Gebirgsabhängen,  da  die  Natur  diese  Pflanze  auch  in  ihrem  Vater- 
lande nur  in  Höhen  von  4  -  7000  Fuss  über  der  Meeresfläche  wachsen  lässt.  Die  älteste ,  von 
Hasskarl  angelegte  Chinapflanzung  auf  Java  ist  die  schon  erwähnte  zu  Tjibodas,  welche  1430 
Meter  über  dem  Meere  liegt.  Es  folgte  2)  die  Pflanzung  zu  Lembang  (1251  Meter  über  dem 
Meere),  dann  3)  jene  zu  Nagrak  im  Tangusan-Peasu-Gebirge  (1625  Meter  hoch);  4)  die  Pflan- 
zung von  Tjibitung  im  Masanz  -  Gebirge  (1527  Meter  hoch);  5)  Tjibeurum  im  Malawan-Gebirge 
(1566  Meter  hoch);  6)  Tjiniruan,  15C0  Meter  hoch,  im  Malawan-Gebirge;  7)  Steung  Gunang  im 
Kendeng-Gebirge,  1625  Meter  hoch;  8)  Kawa  Tjiwedei  im  Kendeng-Gebirge ,  1950  Meter  hoch; 
9)  Tjirandja  Bolang,  1917  Meter  hoch,  im  Patua  Kendeng-Gebirge;  10)  Telaga  Patengan,  1576 
Meter  hoch,  ira'Gebirge  Patua  Djambang;  11;  Worodjampi,  2219  Meter  hoch,  im  Ajang-Gebirge 
12)  Düng,  2046  Meter  hoch,  im  Diing-Gebirge. 


442 

Es  sind   vorzüglich   7   Arten   von  China   in   den  javanischen  Pflanzungen  vertreten,    wovon 
einige  an  Alkaloiden  sehr  reiche  Arten,  wie  die  China  Calisaya.  Ch.  Condaminea,  Cli.  succirubra, 
wahrend  die  Ch.  Pahudiana,  caricolata,  micrantha,  carcifolia  weniger  reich  an  Alkaloiden  sind. 
Im  Jahre   1868  waren  nun  in  sämmtliehen  Pflanzungen  vorhanden: 

a)  Grössere  im  Walde  aus  Stecklingen  gewonnene  Bäume  .         42,998 
li)  Im   Walde  stehende,  aus  Samen  gezogene  Bäume      .     .    1,333,863 

c)  Noch  junge  Pflanzen  in  den  Gärten 263,420 

(I)  Bewurzelte  Pflanzen  aus  Stecklingen 1.076 

e)  Stecklinge,  eben  eingelegt 9,022 

1 ,650^384 
Es  waren  daher  im  Jahre  1868  bereits  über  \±>  Millionen  Chinapflanzen  und  Bäume  vor- 
handen, wobei  wohl  in  Anmerkung  zu  nehmen  ist,  dass  über  400,00(1  Pflanzen  und  Bäume  zu 
der  edlen  Sorte  Calisaya  gehören,  welche  eine  bedeutende  Quantität  Chinin  liefert.  Die  minder 
edlen  Arten,  besonders  die  Pahudiana.  weiden  in  den  jüngsten  Jahren  nicht  mehr  vermehrt 
.Man  befolgt  auf  Java  die  vortheilhafte  Praxis,  eine  Quantität  Chinasamen  auf  ein  Feld  zu  säen, 
dieselbe  zwei  Jahre  lang  keimen  und  wachsen  zu  lassen,  um  dann  die  jungen  Pflanzen  auszu- 
ziehen, wo  sie  eine  verhältnissmässig  bedeutende  Quantität  Chinin  und  Cinchonin  liefern.  Die 
höchsten  Bäume  waren  im  Jahre  1S6S  11  —  12  Meter  hoch.  Der  grösste  Umfang  des  Stammes 
war  0.40  Fleier.  Den  meisten  Gehalt  an  Alkaloiden  erhielt  man  1868  von  einer  Cinchona  sueci- 
rubra,  nämlich  6.49  Prozent  aus  100  Theilen  getrockneter  Rinde.  Aus  Cinchona  Calisaya  er- 
hielt man  durchschnittlich  3 — 4.9  Prozent,  aus  Pahudiana  nur  1 — 2.7  Prozent  Im  Monat  De- 
zember I&68  kamen  zum  vierten  Mal  seit.  1864  Samen  von  Ch.  Calisaya  aus  Amerika.  Die  von 
der  ersten  Sendung  (ingelegten  Samen  haben  sich  bereits  zu  6  —  8  Meter  hohen  Bäumchen  ent- 
wickelt. Die  Direktion  der  Chinakultur  steht  auch  mit  den  ähnlichen  Etablissements  am  süd- 
lichen Abhänge  des  Himalaja -Gebirges,  auf  den  Fidschi -Inseln  und  in  Algier  in  Verbindung 
und  werden  von  den  Direktionen  gegenseitig  Samen  und  Bäumchen  verschiedener  Chinchona- 
Arten  ausgetauscht.   — 


B.    Nioderländisch-Westindien. 

Bot  sich  uns  bei  Bettachtung  der  Zustände  im  Ostasiatischen  Archipel  das  erfreuliche  Bild 
des  Fortschrittes  in  Cultur  und  Humanität  dar,  und  ergab  sich,  dass  die  dortige  einheimische 
Bevölkerung  von  Jahr  zu  Jahr  einen  bedeutenden  Zuwachs  erhält,  Ackerbau,  Handel  und  Schiff- 
fahrt in  blühendem  Zustande  sind,  und  auch  die  Gesundheitsverhältnisse  der  europäischen  und 
einheimischen  Bevölkerung  befriedigend  genannt  werden  können,  so  sehen  wir  in  Niederländisch- 
Westindien,  wenigstens  in  den  ausgestreckten  Alluvialebenen  Surinams,  von  all  diesem  das 
Gegentheil.  Der  Umstand,  dass  die  Holländer  bei  der  Colonisirung  dieser  Länder  keine  autoch- 
thone,  bildungsfähige  Bevölkerung  vorfanden,  und  die  jetzt  noch  übrige  Urbevölkerung  wie  vor 
Jahrhunderten  ohne  Ackerbau  odeY  Gewerbe  ein  wildes  Naturleben  in  ihren  Wäldern  fortführt, 
hatte  zur  Folge,  dass  die  verhältnissmässig  wenigen  europäischen  Einwanderer  bei  Bearbeitung 
ihrer  Plantagen  nur  auf  sich  selbst  und  vorzüglich  anf  die  von  der  afrikanischen  Küste  herbei- 
gebrachten Sklaven  angewiesen  waren,  so  dass  zwar  eine  ziemliche  Menge  von  Colon ialwaaren 
produzirt  wurde,  doch  nie  der  Grund  zu  einer  selbständigen  und  glücklichen  Bevölkerung  gelegt 
werden  konnte.  Als  nun  endlich  in  neuester  Zeit  die  fortschreitende  Cultur  und  die  sich  aus- 
breitende Herrschaft  humaner  Ideen  das  längere  Bestehen  der  Sklaverei  als  eine  Unmöglichkeit 
erscheinen  Hessen,  beeilte  sich  auch  die  niederländische  Hegierung,  sowohl  in  Ost-  als  West- 
indien nicht  nur  jeden  Sklavenhandel,  sondern  auch  das  Halten  von  Sklaven  strenge  zu  ver- 
bieten. Die  Niederländer  warteten  selbst  nicht  einmal  die  Zeit  ab,  wo  auch  die  meisten  übrigen 
seefahrenden  Nationen  die  Sklaverei  in  ihren  Colonien  abschafften,  sondern  sie  bereiteten  die 
Emanzipation  der  Neger  bereits  vor  20-  30  Jahren  vor,  indem  sie  zweckmässige  Gesetze  schufen, 
welche  die  Willkür  der  Sklavenhalter  gegenüber  ihren  Leibeigenen  einschränkten  und  letztere 
wo  möglich  zu  brauchbaren  Mitgliedern  der  Gesellschaft  allmählich  umzuschaffen  im  Stande 
waren.  Zuerst  wurde  durch  ein  Gesetz  jedem  Sklavenbesitzer  die  eigenmächtige  Ausübung  von 
Strafen,    insbesondere  die   körperliche  Züchtigung   untersagt   und  Behörden   ins  Leiten   gerufen, 


443 

welche  in  Fällen  von  Klagen  der  Herren  gegen  ihre  Knechte,  aber  auch  bei  Klagen  rler  letzte 
ren  gegen  ihre  Herren  den  Richterspruch  zu  füllen  hallen.  Es  wurden  ferner  Vorschriften  er- 
lassen über  die  Quantität  und  Qualität  der  den  Sklaven  au  reichenden  Kost,  über  das  Mass 
der  ihnen  täglich  aufzutragenden  Arbeiten,  dann  über  ihre  Kleidung,  Wohnung  ^uiA  sonstige 
Behandlungsweise ,  sowie  emilich  den  Plantagen besitzern  aufgetragen  wurde,  ihre  Sklaven  von 
den  Herrnhutern  in  der  christlichen  Religion  und  im  Lesen  und  Schreiben  unterrichten  zu 
lassen.  Die  Vorschriften  der  Regierung  fanden  williges  Gehör  von  Seite  der  Plantagenhesitzer 
and  zeigten  sich  auch  günstige  Erfolge  hei  den  Negern,  indem  nicht  nur  die  meisten  derselben 
die  christliche  Religion  annahmen,  sondern  sich  auch  i\^)i  Elementarunterricht  in  den  Schulen 
zu  Nutze  machten  und  manche  Neger  selbst  mit  Erlaubniss  ihrer  Herren  sich  in  dem  ron  den 
Herrnhutern  errichteten  Seminare  zu  Schullehrern  ausbildeten  und  ihre  Genossen  in  den  Ele- 
mentargegenständen unterrichteten  Nachdem  auf  diese  Weise  der  Emanzipation  der  Sklaven 
vorgearbeitet  wurde  und  man  hotten  konnte,  dass  die  Freigelassenen  gemäss  der  bereits  erreich- 
ten Culturstufe  nicht  mehr  nackt  in  den  Wäldern  gleich  den  Indianern  herumlaufen  und  sich 
dem  Massiggang  hingeben  winden,  schritt  man  im  Jahre  L8C3  endlich  zur  Freierklärung  der 
Neger  in  Surinam.  Aber  auch  dieser  Akt  war  nur  ein  Schritt  vorwärts  auf  dem  schon  längst 
betretenen  Wege,  indem  die  Freigebung  nicht  ohne  von  der  Vorsichtigkeit  und  dem  Zwecke  der 
Civilisirung  der  Neger  gebotene  Einschränkungen  begleitet  war.  Ks  wurde  nämlich  mit  dein 
Emanzipationsgesetz  zugleich  angeordnet,  dass  die  Neger  nzch  während  zehn  Jahre,  also  bis  zu 
1873  unter  Aufsicht  der  Behörden  bleiben,  die  über  ihre  Lebensweise  zu  wachen  haben.  Zu- 
gleich wurden  die  ehemaligen  Sklaven  verpflichtet,  mit  den  Besitzern  von  Plantagen  Contrakte 
zu  schliessen,  gemäss  welchen  sie  gegen  Bezahlung  diejenigen  Arbeiten  als  freie  Männer  ver- 
richten sollten,  welche  sie  früher  als  Sklaven  ausführten.  Trotz  all  dieser  Vorsicht  glückte  es 
der  Regierung  dennoch  nicht,  die  für  alle  Colonien  gefährliche  Krisis  der  Sklavenemanzipation 
ohne  empfindlichen  Schaden  zu  überstehen.  Abgesehen,  dass  nach  den  neuesten  Berichten  die 
Plantagenbesitzer  durchgängig  die  Klage  führen,  dass  die  Arbeit  der  Freigelassenen  bei  weitem 
nicht  mehr  jene  der  einstigen  Sklaven  au  Umfang  und  Genauigkeit  erreicht,  gesteht  auch  der 
jetzige  Gouverneur  von  Surinam  Van  Idsinga,  dass  selbst  diese  geringere  Arbeit  nur  der  Auf- 
sicht zu  danken  ist,  welche  die  Behörden  über  die  Freigelassenen  ausüben,  und  dass  zu  befürch- 
ten sei,  wenn  einmal  die  Zeit  dieser  Beaufsichtigung  beendet  sein  wird,  die  Plantagen  gänzlich 
der  nöthigen  Arbeiter  entbehren  werden.  Deshalb  schlkgt  dieser  Gouverneur  der  Regierung  vor, 
dass  sie  für's  Erste  bis  zur  Zeit  des  Ablaufes  der  Beaufsichtigung  der  Neger  von  Seite  der  Re- 
gierung Sorge  tragen  möge,  dass  hinlängliche  Arbeitskräfte  nach  Surinam  von  anderwärts  ge- 
bracht werden.  Seitdem  von  den  chinesischen  Häfen  aus  zahlreiche  Auswanderer  von  dort  nach 
der  Westküste  Amerikas  gebracht  werden,  hat  sich  der  Strom  der  Auswanderung  auch  nach 
den  westindischen  Inseln  und  nach  Surinam  gewendet  und  zählte  man  im  Jahre  1868  fi  14  chi- 
nesische Emigranten  auf  Surinam.  Doch  ist  die  Zahl  dieser  Einwanderer  lange  nicht  bedeutend 
genug,  dass  sie  selbst  in  mehreren  Jahren  sämmtliche  Plantagen,  die  wenigstens  40,000  Ar- 
beiter nöthig  haben,  versehen  könnten. 

Ein  zweiter  Vorschlag  des  Gouverneurs  besteht  darin,  dass  man  nach  Ablauf  der  zehnjäh- 
rigen Frist  für  die  Beaufsichtigung  der  Neger  dieselben  noch  nicht  der  gänzlichen  Freiheit  in 
ihrer  Handlungsweise  hingeben  soll,  sondern  es  sei  Pflicht  der  Regierung,  die  noch  einer  Bevor- 
mundung bedürfenden  Freigelassenen  auch  ferner  noch  unter  einer  gewissen  Aufsicht  zu  halten. 
Hierin  muss  auch  dem  Gouverneur  vom  Standpunkt  vernünftiger  Regierungs-Prinzipien  aus  voll- 
kommen beigestimmt  werden.  Denn  die  Gesetzgebung  muss  sich  notb.wen.dig  nach  dem  Cha- 
rakter und  der  Bildungsstufe  der  zu  regierenden  Individuen  richten.  Nicht  alle  Völker  und 
Volksstämme  können  nach  ein  und  derselben  Schablone  regiert  werden,  und  so  wenig  beispiels- 
weise die  freie  englische  oder  nordamerikanische  Constitution  für  die  Kaffern  in  Südafrika  oder 
die  Maoris  in  Neuseeland  passend  wäre,  indem  diese  Völker  nicht  den  rechten  Gebrauch  von 
den  ihnen  zugestandenen  Freiheiten  zu  macheu  wüssteu,  ebensowenig  kann  das  allgemeine  Prin- 
zip der  persönlichen  Freiheit  in  demselben  Masse  und  derselben  Form  bei  freigelassenen  Neger- 
sklaven wie  bei  einem  intelligenten  und  gebildeten  Volke  germanischer  Race  angewendet  wer- 
den. Die  Freiheit  gleicht  einem  muthigen  Rosse,  das  den  kundigen  und  geübten  Heiter  ergötzt 
uud  ihm  nützt,  aber  den  Ungeschickten  herabwirft,  und  beschädigt.  Es  gehört  ein  gewisser 
Grad    von   moralischer  Höhe   und  Bildung  dazu,    um    das   volle  Mass   der  persönlichen  Freiheit 


444 

zum  eignen  Heil  benützen  zu  können  Zu  dieser  Höhe  der  Bildungsstufe  und  Intelligenz  scheint 
aber  die  vor  Kurzem  emanzipirte  Sklavenbevölkerung  nicht  gekommen  zu  sein. 

Die  Idee,  die  Negerbevölkerung  durch  europäische  Einwanderer  zu  ersetzen,  ist,  wenigstens 
für  ein  tropisches  Alluvialland,  wie  Surinam  ein  solches  ist,  eine  unglückliche,  und  musste  sol- 
ches die  holländische  Regierung  durch  traurige  Erfahrungen  inne  werden 

Hat  man  doch  vor  23  Jahren  den  wahnsinnigen  Plan  zur  Ausführung  zu  bringen  gesucht, 
die  Negerbevölkerung  Surinams,  deren  allmähliche  Emanzipation  schon  damals  beabsichtigt  war, 
durch  europäische  Colonisten,  und  zwar  durch  Geldern'sche  Bauern  zu  ersetzen,  ohne  zu  be- 
denken, dass  der  Bewohner  der  kälteren  Länder  sich  nie  im  flachen,  tiefgelegenen,  besonders 
sumpfigen  Lande  in  der  Weise  akklimatisiren  kann,  dass  er  durch  Feldarbeit  seinen  Unterhalt 
zu  gewinnen  im  Stande  ist.  Nur  die  in  der  gemässigten  Zone  angelegteu  Colonien,  ebenso  die 
auf  den  Hochebenen  und  den  Bergabhängen  in  der  Tropenzone,  3—4000  Fuss  über  dem  Meere 
gelegenen  Ansiedelungen  europäischer  Colonisten  können  sich  eines  dauernden  Erfolges  und 
eines  glücklichen  Gedeihens  erfreuen.  Denn  dort  bebaut  der  eingewanderte  Europäer  das  Land 
wie  im  Heimathlande,  ohne  durch  klimatische  Einwirkungen  tödtlichen  Krankheiten  unterworfen 
zu  sein.  Im  heissen  Tropenlande  aber  bedarf  er  zur  Erhaltung  seiner  Gesundheit  einer  beson- 
deren Pflege  und  Schonung,  die  wohl  Beamte  und  viele  Private  in  Anwendung  bringen  können, 
nicht  aber  der  Landbauer,  der  in  der  heissen  Tageszeit  das  Feld  zu  bestellen  hat.  —  Von  den 
nach  Surinam  verpflanzten  Geldern'schen  Bauern  unterlag  kurze  Zeit  nach  ihrer  Ankunft  ein 
grosser  Theil  den  endemischen  Fiebern,  während  die  Ueberlebenden  noch  eine  Zeit  lang,  von 
der  Regierung  unterstützt,  in  ihren  von  Negern  ihnen  erbauten  Häuschen  den  Landbau  trieben, 
bis  endlich  die  meisten  der  noch  Lebenden  sich  anderen  Beschäftigungen  und  Gewerben  hin- 
gaben und  die  Colonie  als  ackerbautreibende  sich  auflöste.  Wären  der  Regierung  beim  Ent- 
würfe dieses  unglücklichen  Unternehmens  kundige  Rathgeber  zur  Seife  gestanden,  man  hätte 
viele  Menschenleben  und  bedeutende  Geldsummen  ersparen  können 

Die  Bevölkerung  Surinams  bestand  im  Jahre  1868  ungerechnet  die  Indianer  und  sogenann- 
ten Buschneger,  die  aus  ehemaligen  entlaufenen  Sklaven  bestehen,  aus  50,778  Personen,  worunter 
22,000  Einwohner  der  Stadt  Paramaribo.  Geboren  wurden  in  jenem  Jahre  1859  Kinder,  wäh- 
rend 1850  Todesfälle  stattfanden.  In  der  Regel  aber  übertrifft  in  der  Colonie  die  Zahl  der 
Todesfälle  jene  der  Geburten,  so  dass  nur  durch  die  Emigration  das  Gleichgewicht  der  ohnehin 
sehr  sparsamen  Bevölkerung  hergestellt  wird. 

Beschützt  wird  die  Colonie  durch  eine  nur  geringe  Militärmacht  von  einigen  Compagnien 
Infanterie  und  Artillerie,  die  ungefähr  700  Mann  ausmachen.  Es  giebt  zu  Surinam  keine  inne- 
ren Aufstände  niederzudrücken,  noch  drohen  auswärtige  Feinde.  Die  Indianer  und  Buschneger, 
gegen  welche  in  früheren  Zeiten  öfters  Gefechte  statthatten,  leben  gegenwärtig  in  Eintracht  und 
Frieden  mit  den  Colonisten,  nachdem  ihre  Zahl  sich  sehr*verminderte  und  sie  in  keiner  Bezie- 
hung mehr  zu  fürchten  sind. 

Bei  der  Landmacht  kamen  im  Jahre  1868  1275  Erkrankungen  und  17  Todesfälle  vor,  so 
dass  die  Mortalität  zur  Garnisonsstärke  wie  1:36  verhielt,  was  als  ein  günstiges  Resultat  be- 
trachtet werden  muss. 

Auffallend  ist  das  bedeutende  Uebergewicht  der  unehelichen  Geburten  zu  den  ehelichen  in 
Surinam.  In  der  katholischen  Gemeinde  zu  Paramaribo  wurden  75  eheliche,  dagegen  235  un- 
eheliche Kinder  im  Jahre  1868  getauft.  Ebenso  waren  in  der  evangelisch-lutherischen  Gemeinde 
unter  131  Kindern  103  aussereheliche.  Es  werden  nämlich  alle  aus  nicht  eingesegneten  Ehen 
entsprossenen  Kinder  als  uneheliche  betrachtet. 

Zur  Herrnhuter  Gemeinde  zählten  1868  in  Surinam  24,833  Personen,  worunter  der  grösste 
Theil  aus  freigelassenen  Sklaven  besteht.  Zu  Paramaribo  befinden  sich  2  jüdische  Gemeinden, 
nämlich  eine  portugiesisch-jüdische,  deren  Mitglieder  Abkömmlinge  der  am  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts aus  Spanien  und  Portugal  vertriebenen  und  zum  Theil  nach  Amerika  geflüchteten 
Juden  sind  und  aus  661  Personen  besteht,  und  dann  eine  niederländisch -jüdische  Gemeinde, 
deren  Mitglieder  aus  633  Personen  bestehen.  Sie  geniessen  dieselben  bürgerlichen  und  staats- 
bürgerlichen Rechte  als  die  christliche  Bevölkerung. 

Der  Handel  und  die  Schifffahrt  in  Surinam  kann  nicht  unbedeutend  genannt  werden.  Die 
Ausfuhr  nach  Europa  und  Nordamerika  besteht  vorzüglich  aus  Kaffee,  Zucker,  Baumwolle,  Kakao, 
feinen  Hölzern  und  Medikamenten.   Im  Jahre  1868  kamen  in  der  Colonie  164  Schiffe  von  11,443 


445 

Tonnen  Gehalt  an.     Hiervon   waren   aus  Niederland  23,   aus  Nordamerika  31    und  von  anderen 
Ländern    111.     Der  Werth  der  Einfuhr  betrug-. 

aus  Niederland     .     .     fl.   1,735,756. 

„    Nordamerika.     .      „       926,470, 

„    anderen  Ländern     .    1,310,592. 

A.  3,975Mfnr 

Die  Ausfuhr  geschah  durch  KJl  Schiffe,  welche  11,146  Tonnenlasten  enthielten  mit  einem 
Qesammtwerth  von  h\  3,054,647. 

Ks  wurden  folgende  Waaren  hauptsächlich  ausgeführt: 
72,593,182  Pfund  Zucker. 

520,209       „       Kattun  (Baumwolle). 
41,908       „       Kaffee. 
1,303.760       „       Cacao. 
61,374  Gallons  Rum. 
Die  Gesammtausgaben  für  die  Colonie  betrugen   im  Jahre  1869  fl.  1,185,638.     Die  Einnah- 
men  blieben   unter  den  Ausgaben   zurück,    so   dass   das  Mutterland    zur  Deckung   der  letzteren 
fl.  435,059    beilegen   musste.     Ein    ähnliches  Defizit  ergiebt  sich  alljährlich  bei  der  Verwaltung 
der  Colonie;  doch  spricht  der  Gouverneur  die  Hoffnung  aus,  dass  durch  allmähliche  Vermehrung 
der  Produktion,   was  besonders  durch  Herbeischaffung  von  Arbeitern  geschehen  kann,   die  Ein- 
nahmen der  Colonie  die  Ausgaben  decken  werden. 

Nach  den  Untersuchungen  eines  Herrn  Rosenberg  rindet  man  in  den  Oberländern  des 
Surinamstromes  in  dem  gelben,  lehmartigen,  mit  Quarzstücken  vermengten  Boden  der  dortigen 
Gegend  Goldkörner,  welcher  Umstand  vielleicht  Anlass  zur  baldigen  Entdeckung  eines  bedeuten- 
den Goldlagers  geben  kann. 


In  der  Nähe  des  südamerikanischen  Festlandes  besitzen  die  Holländer  noch  sechs  kleinere 
Inseln,  nämlich  Curacao,  Bonäri,  Aruba,  St.  Eustasius,  Saba,  St.  Martin,  welche  besonders  in 
klimatologischer  und  sanitätischer  Beziehung  bemerkenswerth  sind  und  in  letzterer  Hinsicht 
einen  direkten  Gegensatz  zu  dem  ungesunden  Klima  Surinams  bilden.  Wir  können  durch  die 
Vergleichung  dieser  verschiedenen  Verhältnisse  und  der  sie  bedingenden  Ursachen  am  deutlich- 
sten erkennen,  worauf  es  bei  Beurtheilung  der  sanitätischen  Verhältnisse  eines  Landes  ankommt 
und  welchen  Umständen  vorzüglich  viele  Tropenländer  die  Ungesundheit  ihres  Klimas  verdanken. 
Während  an  vielen  Punkten  Surinams  das  gelbe  Fieber  und  andere  pernieiöse  Tropenkrankhei- 
ten endemisch  sind  und  die  europäischen  Mannschaften  so  bald  als  möglich  diese  Gegenden  ver- 
lassen müssen,  um  nicht  durch  Krankheiten  aufgerieben  zu  werden,  kennt  man  auf  den  genann- 
ten Inseln  das  gelbe  Fieber  nicht  als  einheimische  Krankheit,  sondern  es  wird  dasselbe  nur  hie 
und  da  durch  Schiffe  eingeschleppt  und  erlischt  nach  kurzer  Zeit.  Ebenso  finden  wir  auf  die- 
sen Inseln  eine  auf  Surinam  unbekannte  Longävität  der  Einwohner  und  übertrifft  die  Zahl  der 
Geburten  jene  der  Sterbefälle  in  der  Regel  um  das  Doppelte.  Die  Ursache  dieser  Verschieden- 
heit der  sanitätischen  Verhältnisse  der  Inseln  und  des  Landes  von  Guyana  besteht  für's  Erste 
und  hauptsächlich  in  dem  ausgebreiteten  Alluvial-  und  Sumpfboden  des  letzteren.  Sümpfe  aber 
aber  wirken  um  so  nachtheiliger  auf  die  menschliche  Gesundheit,  je  höher  die  Temperatur  des 
betreffenden  Landes  ist,  da  nach  physikalischen  Gesetzen  sich  eine  um  so  grössere  Quantität 
der  Dünste  und  Gase,  Produkte  der  sich  zersetzenden  organischen  Stoffe  des  feuchten  Bodens 
in  der  Luft  auflösen  kann,  je  höher  die  Temperatur  der  letzteren.  Während  daher  an  den  Mün- 
dungen der  Lena  und  anderer  Ströme  der  Polarländer  sich  noch  keine  Spur  von  endemischen 
Wechselfiebern  findet,  zeigen  sich  dieselben  schon  in  Holland  an  den  Mündungen  des  Rhein, 
der  Scheide  und  der  Maass,  sie  werden  pernieiöser  an  den  Mündungen  der  Donau  oder  des  MI 
und  zeigen  sich  am  gefährlichsten  in  den  Tropenländern,  an  den  Mündungen  des  Ganges,  des 
Orinoko,  des  Surinam  u.  s.  w.  Auf  den  genannten  kleinen  Inseln,  die  aus  tertiären  Kalkhügeln 
oder  aus  vulkanischem  Grunde  bestehen,  zeigen  sich  nirgend  Stagnationen  von  Gewässern  oder 
Sümpfe  und  entbehren  sie  daher  der  Quelle  der  krankmachenden  Ursachen.  Ausserdem  liegen 
diese  Inseln  im  Passatstrorae  'und  werden  daher  das  ganze  Jahr  hindurch  von  den  reinen  See- 
lüften durchweht,  die  keine  fremdartigen,  der  Gesundheit  nachtheiligen  Bestandtheile  enthalten. 


446 

Der  Luftwechsel  rindet  demnach  auf  solcher  Insel  stets  in  lebhafter  Weise  statt,  so  dass  etwa 
der  Lvift  zufällig  beigemengte  fremdartige  Bestandteile  sogleich  vom  Luftzüge  hinweggeschwemmt 
werden.  Selbst  dem  menschlichen  Gefühle  ist  eine,  wenngleich  eben  so  heisse.  aber  reine  und 
in  Bewegung  begriffene  Luft  lauge  nicht  so  lästig,  wie  die  weniger  reine  und  mehr  stillstehende 
Luft.  Deshalb  kann  man  auf  den  genannten  Inseln,  wie  ich  selbst  öfter  gethan,  während  der 
heissen  Tageszeit  ohne  Belästigung  Spaziergänge  und  Spazierritte  längs  des  Strandes  oder  auf 
den  Kämmen  der  Hügel  und  Berge  unternehmen,  während  solches  in  Guyana  nicht  wohl  mög- 
lich  ist. 

Die  Bevölkerung  der  genannten  sechs  Inseln,   welche  von  einem  Gouverneur  im  Namen  der 
holländischen  Regierung  verwaltet  werden,  war  anno  1868  folgende: 


Männ- 
liche. 

Weib- 
liche 

G 
bei 

esammt- 
rölkerung. 

Curaeao    .     .     9;'i35 
Bonäre      .     .      1,788 

11.509 

2.02S 

20.844 
3,816 

Aruba  .     .    .     1.8 1 7 

1,975 

3.792 

St.  Eustasius       750 

1,140 

1,890 

Saba     ...        857 

975 

1,832 

St.  Martin  (hol- 

länd.Theil)     1,235 

1,618 

2:8;.:t 

15,782 
Bekenntniss  vertheilt  si< 

19,245 
•h  diese  Bev< 

35,027 
jlkerung  fo 

Reformirte  . 

.     7,696 

Methodisten 

300 

Katholiken  . 

.  26,126 

Israeliten     . 

905 

Nai 


35.027 

Die  überwiegende  Zahl  der  Katholiken  hat  ihren  Grund  in  dem  Umstände,  dass  alle  ehe- 
maligen Sklaven  dieser  Confession  angehören.  Die  protestantischen  Holländer  wollten  mit  ihren 
Sklaven  nicht  zu  derselben  Religion  sich  bekennen  und  in  dieselbe  Kirche  mit  ihnen  gehen, 
weshalb  sie  es  vorzogen,  ihnen  katholische  Missionäre  zu  ihrer  Bekehrung  zu  senden. 

Die  Zahl  der  Geburten  betrug  anno  1868  auf  den  sechs  Inseln  1414,  die  Zahl  der  Todes- 
fälle 964. 

In  Folge  des  Mangels  an  Regen  herrschte  auf  den  Inseln,  insbesondere  aber  auf  dem  ohne- 
hin brunnen-  und  quellenarmen  Curaeao,  grosse  Trockenheit,  so  dass  der  Landbau,  der  in  der 
Cultur  von  Mais,  Reis,  Baumfrüchten  und  Erdbohnen  (Arachis  hypogaea)  besteht,  sehr  beein- 
trächtigt wurde  und  eine  grosse  Zahl  landwirtschaftlicher  Hausthiere  zu  Grunde  gingen.  Im 
Reiche  der  Passate  gelegen,  haben  diese  Inseln  ohnehin  in  keinem  Jahre  viel  Regen.  Nur  zur 
Zeit  der  Windstille,  d.  i.  zur  Zeit  des  Zusammenstosses  der  der  Sonne  folgenden  Luftmassen 
der  nördlichen  und  südlichen  Hemisphäre,  der  in  der  Breite  von  Curaeao  auf  den  Monat  Okto- 
ber fällt,  ist  die  Quantität  der  Niederschläge  bedeutender,  doch  fällt  sie  in  manchem  Jahre 
sehr  spärlich  aus. 

Die  Militärbesatzung  besteht  aus  350  Mann,  die  sich  wenig  mit  den  Schrecken  des  Krieges 
zu  beschäftigen  haben.  Ihnen  liegt  es  ob,  ein  ankommendes  Kriegsschiff  durch  Salutschüsse  zu 
begrüssen,  täglich  zur  Parade  zu  ziehen,  zuweilen  zu  exerciren  und  ihre  Kasernen  und  Pulver- 
magazine zu  bewachen.  Hiermit  ist  der  Wirkungskreis  dieser  Seidaten  so  ziemlich  begrenzt. 
Der  Gesundheitszustand  unter  ihnen  ist  im  Allgemeinen  sehr  günstig,  doch  erkrankten  1868 
einige  unter  ihnen  am  gelben  Fieber,  im  Ganzen  in  jenem  Jahre  12  Mann  oder  etwa  4  Prozent 
der  Besatzung.  Es  besteht  auf  Curaeao  ein  gutes  Hospital,  in  welchem  auch  Matrosen  und 
Civilpersonen  behandelt  werden. 

Für  den  Handel  und  die  Schifffahrt  zeigt  sich  in  Bezug  auf  die  Inseln  das  Jahr  1868  we- 
nig günstig,  da  die  L'nruhen  in  Venezuela  und  auf  Cuba  und  anderen  amerikanischen  Staaten 
den  Handel  einschränkten.  Es  kamen  auf  Curaeao  915  Schiffe  an  mit  47,191  Tonnen  Gehalt. 
Im  Hafen  zu  Bonäre  kamen  605  Schiffe  au  mit  10,057  Tonnen. 

Der  Besitz  dieser  Inselgruppe  ist  für  die  Regierung  ebeu  so  wenig  eine  Quelle  des  pekuuiä- 


447 

ich  Ertrages,  als  solches  hei  Surinam   der  Fall  ist.    Im  Gegentheil  bedarf  die  Verwaltung  einen 
jährliche«  Zuschuss  vom  Mutterlande  und  betrug  derselbe  lötifl  die  Summe  von  H.   I'J9,"99. 


C.    Die  Küste  von  Guinea. 

An   der  westafrikanischen  Küste   besitzen  die  Holländer   und  Engländer   ein  ausg 
Land,   welches   in  Bezug  auf  sanitätische  Verhältnisse  all<    %-  eines   von  frischen   • 

winden  und  dein  Passate  nur  sehr  wenig  durchströmten,  dabi  i  niedrig  gelegenen  und  mit  Sümpfen 
versehenen  Tropenlandes  in  sich  vereinigt.  Es  ist  die  Lage  der  Küste  von  Guinea  viel  ungün- 
stiger in  sanitätischer  Beziehung  als  jene  von  Guyana  in  Südamerika,  da  in  letzterem  Lande 
die  kühlen  und  frischen  Nordostwinde  die  Lüfte  der  See  tief  ins  Land  tragen  und  das  Klima 
einigermassen  begünstigen,  während  an  dieser  westafrikanischen  Küste  während  eines  grossen 
Theils  des  Jahres  der  Hermattan  oder  Landwind  von  ftordosl  und  Ost  weht,  welcher  pemi- 
ciöse  Krankheiten  hervorruft.  Die  Temperatur  steigl  hier  sehr  häufig  auf  30 — 33°  K.  im  Schat- 
ten, endemische  Fieber  wirken  sehr  nachtheilig  auf  die  Einwohner  und  noch  mehr  auf  die  dort 
sich  aufhaltenden  Europäer,  und  der  Aufenthalt  an  dieser  Küste  wird  auch  von  der  Regierung 
so  sehr  als  ungesund  betrachtet,  dass  die  dahin  gesandten  Beamten  und  Offiziere  schon  nach 
5  Jahren  Anspruch  auf  Pension  haben,  während  solches  in  den  übrigen  Colonien  erst  nach 
•20  jährigem  Dienste  der  Fall  ist.  Auch  bei  den  Engländern  ist  die  (Jngesundheit  von  Sierra 
Leone,  insbesondere  aber  der  Benins-Bai  sprichwörtlich  geworden,  und  drücken  sie  solches  un- 
gefähr in  folgenden  Worten  aus: 

Kommst,  du  von  Benin's  Bai.  so  rechne  dies  als  Glück. 
Denn  zwanzig  sterben  dort,  bis  einer  kommt  zurück. 

Die  Sterblichkeit  der  aus  170  Manu  bestehenden  Besatzung  ist,  obgleich  der  grösste  Theil 
aus  Afrikanern  besteht,  ziemlich  bedeutend  und  auch  die  Offiziere  und  Beamten  sind  in  der 
Kegel  nach  kurzem  Aufenthalt  in  der  Golonie  geuöthigt.  zur  Herstellung  ihrer  Gesundheit  nach 
Europa  zurückzukehren.  Wir  finden  Folgendes  in  den  Berichten  von  1-07  und  18G8:  „Der 
Gesundheitszustand  unter  den  europäischen  Beamten  und  Offizieren  war  im  Allgemeinen  sehr 
ungünstig.  Zwei  Beamte  und  der  Kapitän  der  Besatzung  starben  Anfangs  1867,  während  auch 
is,;s  ein  Beamter  und  ein  Offizier  der  Seemacht  (unter  7  Seeoffizieren;  starben.  Mehreren  Be- 
amten musste  Urlaub  ertheilt  werden,  damit  sie  sich  in  Europa  kuriren  lassen  können.  Auch 
kamen  mehrere  Beamte  von  den  übrigen  Orten  nach  Elmina.  um  dort  einer  ärztlichen  Behand- 
lung sich  zu  unterziehen.  Von  den  an  der  Küste  wohnenden  Europäern  unterlagen  ebenfalls 
viele." 

Das  Jahr  1868  zeichnete  sich  auch  durch  Kriege  der  eingebornen  Stämme  unter  sich  aus, 
wobei  die  niederländische  Regierung  einige  Kriegsschiffe  aus  Holland  sandte,  um  ihren  Bundes- 
genossen Beistand  zu  leisten.  Es  gelang  mit  Hilfe  des  englischen  Gouverneurs,  welcher  häufige 
Conferenzen  mit  dem  holländischen  Gouverneur  unterhielt,  den  Frieden  zwischen  den  Einwoh- 
nern von  Elmina  und  jenen  zu  Aschantyn  wieder  herzustellen. 


448 


Bücherschau. 


Beiträge  zur  Theorie  der  natürlichen  Zuchtwahl.    Eine  Reihe  von  Essais 
von  A.  R.  Wallace.    Aut.  deutsche  Ausgabe  von  A.  B.  Meyer.    Erlangen  1870. 

Wie  alle  Arbeiten  des  thätigen  Naturforschers  (dessen  Forschungsfeld  jetzt  von  seinem 
Uebersetzer  besucht  wird)  von  einer  Fülle  der  interessantesten  Details  strotzend,  die  durch  eine 
feine  und  scharfsinnige  Beobachtung  mit  einander  verknüpft  sind.  Unter  den  Essays  beschrän- 
ken wir  uns  hier  auf  einige  Bemerkungen  über  den  neunten  (die  Entwicklung  der  Menschen- 
rassen unter  dem  Gesetz  der  natürlichen  Zuchtwahl).  „Von  der  Zeit  an,  in  welcher  soziale 
und  sympathische  Gefühle  in  thätige  Wirksamkeit  traten  und  intellektuelle  und  moralische  Fähig- 
keiten sich  gut  entwickelten,  würde  der  Mensch  aufgehört  haben,  in  seiner  physischen 
Form  und  Struktur  von  der  natürlichen  Zuchtwahl  beeinflusst  zu  sein u ,  am  meisten  aber 
noch  immer  derselben  unterworfen  bleiben  in  dem  Schädel,  dessen  Aufstellung  als  Kriterium 
für  Eintheilungen  deshalb  besonders  bedenklich  ist,  und  während  in  der  Knochenstruktur  des 
menschlichen  Körpers  die  genaueste  anatomische  Aehnlichkeit  mit  den  Anthropoiden-Affen  vor- 
handen ist,  ist  er  des  Kopfes  und  Gehirns  wegen  (nach  Owen)  in  eine  distinkte  Unterklasse 
der  Säugethiere  zu  stellen,  „was  die  Bestimmung  des  Unterschiedes  zwischen  Homo  und  Pithe- 
cus  zu  einem  Kreuz  des  Anatomen  macht".  Die  von  Wallace  mit  Recht  bei  gegenseitiger  Hilfe 
innerhalb  der  menschlichen  Gesellschaft  (zum  Unterschiede  von  den  Thieren)  hervorgehobene 
Sympathie  wird  indess  auch  (ebenso  wie  die  mögliche  Arbeitsteilung)  die  „Vernichtung"  der 
andern  Klasse  durch  die  höhere  (je  nach  Umständen  mehr  oder  weniger)  verhindern,  obwohl 
jene  allmälig  in  diese  nothwendig  aufgehen  müsse.  Wallace  meint,  rdass  die  Differenzen,  welche 
jetzt  das  Menschengeschlecht  von  andern  Thieren  trennen,  entstanden  sein  müssen,  ehe  es  in 
den  Besitz  eines  menschlichen  Intellekts  oder  menschliche  Sprache  gelangte",  übersieht  aber, 
dass  die  Einflüsse  des  Milieu  in  den  geographisch  umschriebenen  Provinzen  auch  jetzt  noch 
fortdauern,  obwohl  ihre  Wirkungen  verschieden  sein  werden,  je  nach  der  Resistenzfähigkeit  oder 
der  Verwandtschaft  des  aus  der  Fremde  in  ihre  Mitte  verpflanzten  Materials,  auf  das  sie  zu 
wirken  haben.  Lange  Zeit  an  der  Westküste  Afrikas  lebende  Europäer  nehmen  oft  schon  in 
laufender  Lebenszeit  eine  Hinneigung  zum  Mulattentypus  an,  der  noch  mehr  in  ihrer  Nachkom- 
menschaft (am  stärksten  natürlich  in  der  gekreuzten)  hervortreten  wird,  und  ähnliche  Beispiele  lie- 
fern Creolen,  Liplap,  Yankee  u.  s.  w.,  so  viele  man  deren  bedarf.  Die  von  Darwin  nur  bei- 
läufig für  Erklärung  von  Krankheitserscheinungen  herbeigezogene  Farbe  spielt  deshalb  auch  eine 
viel  eingreifendere  Rolle.  Beim  Vorwalten  des  Lebersystems  im  heissen  Afrika  ist  die  schwarze 
Färbung  durch  Ablagerung  des  überschüssigen  Kohlenstoffes  deutlich  genug,  und  aus  der  Cor- 
relation  des  Wachsthums  folgt  dann  weiter  die  trägere  Tbätigkeit  des  durch  weniger  arterielles 
Blut  gespeisten  Gehirns.  Die  Natur  hat  nun  noch  andere  Wege,*)  die  in  den  Tropen  beschränkte 
Respiration  auszugleichen,  wie  sich  bei  den  gelben  Rassen,  Polynesiern  des  Aequators,  braunen , 
Orinoco-Indianern  u.  s.  w.  zeigt,  immer  aber  wird  derjenige,  dessen  Lunge  für  nordische  Kli- 
mate  gebaut  war ,  in  den  Tropenländern  leicht  Krankheiten  seiner  Leber  unterworfen  sein ,  da 
sie  für  die  vielfachen  Ansprüche,  die  jetzt  an  ihre  Thätigkeit  gemacht  werden,  nicht  vorbereitet 
war,  und  umgekehrt  verfallen  die  Neger  in  gemässigten  Klimaten  in  Lungenkrankheiten.  Die 
in  verdünnter  Luft  der  Sierra  und  Puna  peruanischer  Cordillere  lebenden  Quechuas  bringen 
ihren   viereckig  erweiterten  Brustkasten  mit,   wie  ähnlich  die  untersetzten  Tibeter,  und  obwohl 


*)  Oder  vielmehr  als  Gesammtresultat  aus  den  den  Charakter  der  ethnologischen  Provinz 
constitairenden  Agentien  (neben  der  Temperatur,  die  mit,  aber  nicht  allein  in  Frage  kommt) 
ergiebt  sich  ein  Produkt,  bei  dem  die  Schwarzfärbung  der  Haut  durch  Pigment  nicht  eine  not- 
wendige Folge  in  der  Correlation  des  Wachsthums  ist. 


449 

der  intelligente  Europäer  mancherlei  Vorrichtung  treffen  kann,  um  die  für  ihn  feindlichen  Ein- 
flüsse unschädlich  zu  machen,  wird  er  sich  doch  nie  einer  gewissen  Umwandlung  in  seiner 
Eörperconstitution  durch  die  Acclimatisation  entziehen  können,  um  im  vollen  Zustande  der  Ge- 
sundheit zu  bleiben.     Diese  Fundamental-Wirkungen  des  Milieu,  um  überhaupt  die  Existenz  in 

dem  jedesmaligen  Areal  zu  ermöglichen,  müssen  deshalb  in  den  verschiedenen  Theilen  der  Erde 
genau  constatirt  sein,  und  wird  dies  wahrscheinlich  nur  durch  die  vergleichende  Zoologie  ge- 
schehen können,  auf  deren  Hilfe  die  Ethnologie  deshalb  zu  warten  hat.  B. 


R.  Lepsius:  Ueber  die  Annahme  eines  sogenannten  prähistorischen  Stein- 
alters in  Aegypten  (mit  einer  photogr.  Doppeltafel).  Besonderer  Abdruck 
aus  der  Zeitschrift  für  ägyptische  Sprache  und  Alterthumskunde  (Aug.  1870). 
Die  Arbeit  eines  Meisters,  deren  Durchlesung  wir  allen  Anthropologen  empfehlen.  Es  liegt 
in  der  Natur  der  Sache,  dass  die  Anthropologie  die  verschiedensten  Wissensgebiete  berühren 
muss,  oder  vielmehr,  da  sie  die  Wissenschaft  vom  Menschen  darstellt,  alle  Gebiete  in  Natur 
und  Geschichte,  in  denen  der  Mensch  mithandelnd  oder  mitleidend  auftritt,  und  es  ist  deshalb 
eine  natürlich  daraus  niessende  Folgerung,  dass  der  Anthropologe  unmöglich  auf  allen  diesen 
Feldern  mit  gleicher  Sicherheit  zu  Hause  sein  und  diejenige  eingehende  Detailkenutniss  besitzen 
kann,  wie  eine  solche  von  der  Inductionsmethode  bei  Lösung  wissenschaftlicher  Fragen  verlangt 
wird.  Die  Anthropologie  ist  deshalb  auf  die  Mitwirkung  der  Fachmänner  in  den  verschiedenen 
Forschungszweigen  hingewiesen,  und  da,  wo  solche  noch  nicht  gewährt  ist,  müssen  sich  die 
Anthropologen  selbst  verständige  Fesseln  in  ihren  Muthmassungen  anlegen,  nicht  aber  etwa 
glauben,  dass  keine  Schwierigkeiten  vorhanden  sind,  weil  sie  aus  mangelndem  Verständniss  der 
Einzelnheiten  keine  auftreten  sehen.  Prof.  Lepsius  macht  zunächst  darauf  aufmerksam,  ein  wie 
hohes  Interesse  sich  an  den  Nachweis  einer  prähistorischen  Steinzeit  in  Aegypten  knüpfen 
müsste.  „  Die  Aegyptische  Geschichte  ragt  wie  ein  weit  vorgeschobenes  Vorgebirge  über  die 
geschichtliche  Zeit  aller  übrigen  Völker  in  das  Nebelmeer  der  menschlichen  Vorgeschichte  hin- 
aus, und  wird  diese  Stellung  zu  ihren  Nachbarn  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  für  alle  Zukunft 
behalten."  Nach  den  Steinfunden  Arcelin's  bei  Abu-Mangar,  sowie  bei  El-Kab,  bei  Theben, 
Gizeh  u.  s.  w.  war  es  Herrn  Lenormant  vorbehalten,  mit  seinem  Begleiter  Hamy  jene  über- 
raschende Entdeckung  zu  machen,  über  die  bereits  zu  viel  Lärm  in  den  Blättern  geschlagen  ist, 
als  dass  wir  hier  darauf  zurückzukommen  brauchten.  Der  deutsche  Egyptologe  fasst  die  Sache 
kühler  auf  und  stellt  sie  durch  seine  eingehende  Bekanntschaft  mit  dem  von  ihm  nach  allen 
Richtungen  hin  historisch  und  geographisch  durchforschten  Lande  in  ihr  richtiges  Licht.  Er 
•  macht  zunächst  auf  das  dort  häufige  Vorkommen  der  Feuersteinfelder  in  den  Kalksteinregionen 
aufmerksam  („ namentlich  in  den  libyschen  Thalufern  von  Theben  und  in  ganz  Aegypten,  welches 
vom  Meere  an  bis  fast  zu  seiner  Südgrenze  an  der  Katarakte  von  Assuan  Kalkfels  zu  beiden 
Seiten  zeigt"),  und  dann  auf  das  der  Textur  der  Masse  entsprechende  Springen  der  Knollen, 
wenn  zu  Tage  liegend  und  dem  Temperaturwechsel  ausgesetzt.  Morgens  oder  auch  Nachts  nach 
Sonnenuntergang  hört  man  in  der  Wüste  „oft  ein  ferneres  oder. näheres  Knacken  und  Knistern, 
was  ohne  Zweifel  nur  vom  Springen  einzelner  Steine  herrühren  kann".  Auf  ähnliche  Ursachen 
würde  das  Tönen  der  Memnonsstatue ,  das  nach  der  Reparatur  (wahrscheinlich  unter  Septimius 
Severus)  verschwand ,  zurückzuführen  sein.  Interessante  Parallelen  bietet  das  Zerspringen  von 
Feuersteinen  in  nordischen  Mährchen,  worüber  der  Verfasser  aus  Ad.  Kuhn's  Sammlung  Bei- 
spiele anführt.  In  Betreff  des  li!)0i  AWiojiixös  (bei  Herodot)  macht  Prof.  Lepsius  auf  die  vage 
Unbestimmtheit  in  Bezeichnung  der  Felsarten  bei  den  Griechen  aufmerksam  Exemplare  von 
Feuersteinmessern,  wie  sie  in  den  Gräbern  vorkommen,  finden  sich  im  Berliner  Museum.  Der 
berühmte  Alterthumsforscher  stellt  das,  auch  im  besonneneren  England  mehrfach  ausgesprochene 
Verlangen  auf,  dass  die  älteste  Species  von  Feuerstein-Instrumenten  nicht  eher  der  Technik  zu- 
zuweisen sei,  bis  die  Orte  ihres  Vorkommens  nochmals  genauer  untersucht  seien,  „ausdrücklich 
von  dem  Gesichtspunkte  aus,  ob  diese  rohen  Instrumente,  die  man  erst  gefertigt  und  dann  lie- 
gen gelassen  haben  soll,  nicht  sämmtlich  einfache  Naturprodukte  sind*.  Boucher  de  Perthes 
kämpfte  lange  allein  mit  ungebrochener  Ausdauer  gegen  die  Gleichgültigkeit  an,  die  ihn  auf 
allen  Seiten  umgab;   als  dann  aber  das  Eis  plötzlich  gebrochen  war,  überschwemmte  die  Fluth 

Zeitschrift  für  Etbuologie,  Jahrgaug  1S70.  3y 


450 

des  ersten  Enthusiasmus  alle  vernünftigen  Grenzen.  Wie  wir  schon  früher  bemerkten,  wird  es 
vorher  Sache  der  Geologen  sein,  eine  sichere  Entscheidung  zu  treffen,  ehe  die  Anthropologen 
sich  /"  weiteren  Folgerungen  berechtigt  fühlen  dürfen,  und  es  wäre  zu  wünschen,  dass  ihre 
Aegypten  betreffenden  Studien  noch  öfter  von  dieser  hohen  Autorität  geleitet  würden,  der  wir 
die  gegenwärtige  Mittheilung  verdanken.  B. 


Gobineau:  Histoire  des  Perses.     Vol.  I.  &  II.     Paris  1869. 
Es    war   eine   sehr   enge  Welt,    ans    der   man   früher  in  Weltgeschichte  zu  machen  dachte. 
Dass  drei  Erdtheile  fast  ganz  ausser  Krage  blieben,  war  entschuldbar,  aber  auch  in  den  beiden 
Geschichtscontinenten   musste  das  genügen,   was   die  Historiker  des  kleinen  Griechenlands,   die 
der  nicht  viel  grösseren  Halbinsel  Italiens    oder   eines  palästinensischen  Bergvolkes  in  ihren  po- 
litischen  Horizont  hatten  eintreten  sehen     Die  Annalen  Chinas  wurden  nicht  beachtet  und  des- 
halb als  nicht  vorhanden  angesehen,   auch   auf  die  Sagen  und  Epen  Indiens  einen  Blick  fallen 
zu  lassen,   wurde  sorgsam  vermieden,   und  die  Werke  des  Orients,   der  Gelehrten   von  Isfahan, 
Bagdad,  Samarkand,  Merw,  Kairo  u.  s.  w.  sprachen  in  einem  zu  plebejisch-familiären  Ton,  als 
dass  die  höhere  Kritik  sich  damit  befasst  haben  würde.     Was  gab  es  ohnedem  Bequemeres,  als 
mit  einem  strengen  und  definitiven  Urteilsspruch  über  kritiklose  Unzuverlässigkeit  den  Anspruch 
hundert  dickleibiger  Bände  zu  vernichten,  deren  Studium  viele  Jahre,  vielleicht  ein  halbes  oder 
ganzes  Lebensalter  erfordert  hätte.    Zugleich  geben  unserer  fastidiosen  Kritik  ihr  Häuflein  Clas- 
siker  genug   zu  thun,   und  sie  scheint  dieselben  in  einer  Art  Tretmühle  zu  verarbeiten,   da  sie 
trotz   tausendjährigen  Gestampfes  damit   keinen   Schritt  aus  der  Stelle   rückt.     Wer  sich   über 
eine   zweifelhafte  Stelle  im  Caesar  oder  Tacitus  zu  unterrichten  wünscht,   mag  die  ganze  Reihe 
der  Commentatoren  durchlesen  vom  16.  Jahrhundert  bis  heute  und  wird  als  Lohn  der  geopfer- 
ten Zeit  vielleicht  die  theuer  erkaufte  Erfahrung  heimtragen,  dass  die  jüngste  Conjectur  wieder 
auf  die   ursprünglich   zuerst  ausgesprochene   zurückführt  und  trotz  aller  Gelehrsamkeit  die  Er- 
klärung ebenso  schwankend  bleibt,  wie  bisher.    Ob  sich  aus  Masudi,  Mirkhond,  Jacut,  Albufarag 
u.  s.  w.  gerade  viele  genaue  chronologische  Data  bis  auf  den  Monat,   die  Woche  und  den  Tag 
des  Geschehens  werden  gewinnen  lassen,   steht  dahin  und  diesem  Mangel  bleibt  vielleicht  nicht 
abzuhelfen.     Was   wir  aus  ihnen   indessen  lernen  würden,  und  was  wir  bis  jetzt  leichtsinniger 
Weise  zu  lernen  verschmähten,  ist  der  Einblick  in  die  Weltanschauung  hochbegabtester  Cultur- 
volker,  deren  geschichtliche  Rolle,  nicht  viel  weniger  bedeutsam  als  die  unsrige,  nicht  nur  mit 
der   unsrigen  gleichzeitig  verlief,   sondern  auch  schon  lange  vor  dieser  sich  abspielte.     Um  aus 
diesen  orientalischen  Schriftstellern  fassliche  Ergebnisse  zu   gewinnen,   wird   die  Vergleichungs- 
methode zur  Anwendung  kommen  müssen,  indem  man  vom  Gesichtspunkte  eines  jeden  derselben 
den  ganzen  Zusammenhang  construirt,   und  dann  durch  gegenseitige  Controle  diese  vorläufigen 
Hypothesen  so  lauge  mit  und  durch  einander  rectificirt,  bis  sie  schliesslich  beim  Ineinanderschieben 
sich   als  ein   wohl   zusammengefügtes   Ganzes  herausstellen.     So  lange  sich   darin  noch  irgend 
welche  Mängel  zeigen,   darf  man  sich  die  Arbeit  des  Neumachens  nicht  verdriessen  lassen.     Es 
wird  deshalb  genug  zu  thun  bleiben,  und  bis  jetzt  ist  kaum  der  Anfang  gemacht.    Gobineau  hat 
sich   eine   ähnliche  Aufgabe   bei   seinem  Aufenthalt  in  Persien  gestellt  und  von   dieser  speeiel- 
len  Seite  aus   vielfach   gefördert,   wie  sich    z.  B    in  seinen  Mittheilungen  aus  Azery's  Kousch- 
nameh  (14.  Jahrb.  p.  d.)  zeigt.     Hätten  wir  ähnliche  Versuche  vom  Standpunkt  der  chinesischen, 
indischen,   assyrischen,  babylonischen,  egyptischen  und  anderen  Quellen  aus,   so  möchten  sich, 
wenn   man   dann   gleichzeitig  die  griechischen  und  römischen  Geschichtsschreiber  daneben  ver- 
wendete, schon  jetzt  manche  neuen  Perspectiven  für  die  Entwicklung  des  Menschengeschlechtes 
eröffnen.  B. 


Das  Archiv  für  Anthropologie  in  seinem  kürzlich  ausgegebenen  vierten  Bande  (erstes  und 
zweites  Vierteljahrsheft)  enthält:  Kau,  Steinerne  Ackerbaugeräthe  der  nordamerikanischeu  India- 
ner (Angabe  von  Fundstätten,  wo  die  Flintvorräthe  vielleicht  absichtlich  vergraben  wären,  um 
durch  die  Feuchtigkeil  leichtere  Spaltbarkeit  zu  erzielen).  Wiberg:  Ueber  den  Einfluss  der  Etrus- 
ker  und  Griechen  auf  die  Bronzecultur  mit  nachträglicher  Bemerkung  der  Redaction  (indem 
L.  Liiidenscliinit  der  ausgesprochenen  Anerkennung  des  altitalischen  Ursprungs  vieler  skandina- 


451 

vischer  Bronzefunde  weitere  Nachweise  aus  seinem  reichen  Beobachtungs-Material  beifügt).  Lin- 
denschmit:  Bemerkungen  zu  der  antiquarischen  Untersuchung  von  Dr.  v  Maak  (Sind  'las  .Stein-, 
Bronze-  und  Eisenalter  der  vorhistorischen  Zeit,  nur  die  Entwicklungsphasen  >\<-*  Cultur/.ustandes 
Eines  Volkes  oder  sind  sie  mit  dem  Auftreten  verschiedener  Völkerschaften  verknüpft?).  Vir- 
chow:  Die  altnordischen  Schädel  zu  Kopenhagen.  (Während  des  internationalen  Congresses  in 
Kopenhagen  angestellte  Messungen,  die  als  auf  langen  Reihen  basirend,  zum  ersten  Male  eine 
jeste  Grundlage  für  weitere  Untersuchung  der  Steinschilde]  abgeben.)  v  Erantzius:  Die  Ein- 
gebornen  von  Costa-Rica.  (In  dem  Rio-( brande  Thal  berührten  sich  die  Grenzen  dreier,  ihrer 
Gesittung  und  Abkunft  nach  verschiedenen  Stämme,  nämlich  die  Cherotegas  und  zwei  andere 
den  Cuevas  und  Chontales  verwandte  Stämme.)  Ecker:  Die  Höhlenbewohner  der  llennthierzeit 
von  les  Eyzies  (Höhle  von  Cro  Magnon)  in  l'erigord.  (In  seinen  Bemerkungen  über  das  Ver- 
hältniss  der  Oraniologie  zur  Ethnologie  warnt  der  Herausgeber  mit  Recht  vor  dem  Aufstellen 
unzeitiger  Diagnosen  und  hall  es  für  wünschenswerth,  vorläufig  jederzeit  craniologische  und  eth- 
nologische Classification  scharf  auseinander  zu  halten.)  Referate,  kleine  Mittheilungen,  Verhand- 
lungen wissenschaftlicher  Versammlungen,  Verz.eich.niss  der  anthropologischen  Literatur.      B. 


Memoirs  on  tbe  History,  Folk-lorc  and  Distribution  of  the  llaces  of  the 
North-Western  Provinces  of  India,  by  Sir  Henry  M.  Elliot  etc.,  edited,  re- 
vised  and  rearranged  by  .John  Beames,  London  1S69,  Triibner  Sc  Co.,  Vol.  I. 
&  II.  als  erweiterte  Ausgabe  des  1845  erschienenen  Supplemental  Glossary 
of  terms. 

Besonders  wichtig  ist  die  Besprechung  der  Kasten  Verhältnisse  und  die  statistischen  Nach- 
weise über  ihre  Vertheilung,  indem  gerade  sie  tief  in  die  indische  Ethnologie  eingreifen  und 
das  Verständniss  dieser  nur  durch  das  ihrige  möglich  wird.  Die  H>  Abtheilungen  der  Brah- 
nianen  zerfallen  in  die  fünf  Dravira  und  die  fünf  Gaur,  welche  letzteren  die  Kanaujia  ein- 
seh Hessen  mit  5  oder  (nach  dem  Tambihnl  Jahilin)  16  [Jnterabtheilungen.  Darunter  werden 
die  Gautam  (mit  Garg  und  Sande!  als  die  bedeutendsten)  aufgeführt  (ebenso  Misr).  Die 
Gautam-Rajput,  besonders  zahlreich  in  Ghazipur,  werden  unter  die  :5G  königlichen  Geschlechter 
gerechnet.  Unter  der  Bezeichnung  Kshatriya  werden  175  Clane  der  Rajputen  aufgeführt 
im  Census  von  1865,  der  die  Zahl  der  Brahmanen  (in  den  N.  W.  P.)  auf  2,311,887  an- 
triebt in  (58  Rubriken.  In  einem  üeberblick  der  verschiedenen  Kasten  werden  die  Brahmanen 
auf  3,510,103,  die  Rajputen  auf  2,816,815  angesetzt  (S.  182).  Die  Bevölkerung  von  ganz 
Indien  stellt  sich  (S.  369):  Hindus  110,000,000,  Musulman  25,000,000,  Eingeborne  (Nicht 
Arier)  12,000,000,  Buddhisten  :5,000,000,  Asiatische  Christen  1,000,000  (März  1869).  Dazu 
kommen  Parsis  (180,000),  Eurasier  (91,000),  Europäer  (150,000),  Juden  (10,000),  Armenier  (5000). 
Nach  Plowden  werden  in  den  vier  Hauptkasten  (der  Nordwest-Provinzen)  den  Brahmanen  (3,451,692) 
70  Untcrabtheilungen  zugewiesen,  den  Kshatriya  (2,827,768)  175,  den  Variya  (1,091,250)  65  und 
den  Sudra  (18,;504,:J09)  230,  neben  Sikh,  Jain  (6  Abtheilungen),  Gosain,  Jogis,  Sannyasis  u.  s.  w. 
(14  Abtheilungen)  und  8  weitere  (S.  28:5).  Unter  den  von  Mathura  hergeleiteten  Ahir  gelten 
die  Khoro  für  die  vornehmsten.  In  den  Gautam,  bei  ihrer  Verbindung  mit  den  von  Salivahana 
stammenden  Bais,  werden  die  Nachkommen  der  Shakya  vermuthet.  Der  Maharaja  von  Benares 
gehör!  zu  der  Familie  Gautara  unter  den  (nach  Champaran  eingewanderten)  Bhuinhar  oderTha- 
kur,  den  ackerbauenden  Brahmanen,  die  Parasurama  an  stelle  der  vernichteten  Kshatriya  setzten. 
Steel  theilt  die  Bhat  (Jaga)  in  Bhal  Elajpul  oder  Kavi  (in  nindustan)  und  Bhal  Kunbi  (in 
Mahratha).  B. 


Appun:  Unter  den  Tropen.     Erster  Band.     Jena  1871,  Costenoble. 

Ein  unterhaltendes  und  unterrichtendes  Buch,  das  für  seinen  /.weiten  Band  mancherlei 
Aufschlüsse  über  noch  wenig  bekannte  [ndianerstämme  verspricht.  Schon  der  vorliegende  be- 
handelt einheimische  Rassen  neben  der  in  diesen  Ländern  gewöhnlichen  Mischung.  „Die  Creo 
linnen  haben  einen  seltenen,  schwer  zu  beschreibenden  Teint,  dei  sich  je  nach  der  Tageszeil 
verändert.    Am   Morgen,   kurz  nachdem  sie  aufgestanden  sind,   ist   das   Weiss  desselben  am  gelb- 

30* 


452 

liebsten  und  die  Augenränder  wohl  noch  um  zwei  gelbliche  Farbentöne  tiefer;  gegen  Mittag  hat 
das  Gelb,  das  am  Morgen  gleich  einem  Pigment  die  weisse  Haut  überzog,  an  Durchsichtigkeit 
gewonner.,  welche  die  Haut  dem  Alabaster  gleichkommen  lässt,  so  dass  das  weisse  Fleisch  wie 
mit  der  zartesten  gelblichen  Lasurfarbe  überhaucht  erscheint,  am  Abeud  jedoch  ist  der  Teint 
das  reinste  durchsichtigste  Weiss,  in  welchem  die  grossen,  feurigen,  schwarzen  Augen  in  feuch- 
tem Glänze  schwimmen,  umrahmt  von  der  üppigsten  Fülle  der  schwärzesten  Seidenhaare".  So 
in  Venezuela.  In  den  westlichen  Theilen  Südamerikas  sind  diese  Nüancirungen  zum  Theil  von 
künstlichen  Färbungen  abhängig,  deren  richtige  Verwendung  sehr  umständliche  Proceduren 
voraussetzt.  B. 

H.   von   Schlagintweit-Sakünlünski:    Reisen    in    Indien    und    Hochasien. 
Zweiter  Band:  Hochasien.     Jena  1871,  Costenoble. 

Zerfällt  in  1.  Gebirgssysteme,  Reiche  und  Rassen  Hochasiens ;  2.  der  Buddhismus  (besonders 
begründet  auf  E  Schlagintweit :  Buddhismus  in  Tibet);  3.  Bhutan;  4.  Sikkim;  5.  das  nordwest- 
liche Himalaya.  Die  Besprechung  der  Rassenfragen  in  Indien  wird  auf  später  verschoben  (S.  64\ 
Beachtenswerth  ist  Folgendes  (S.  75):  „Architektonisches  in  Aufrissen  ohne  Perspektive,  auch 
menschliche  Porträts  werden  in  Indien  einigermassen  geschätzt  und  verstanden,  und  die  in  ihrer 
Art  ausgezeichneten  Ornamente  der  Moscheen  und  Grabdenkmäler  sind  nicht  ungewürdigt  ge- 
lassen. Aber  für  keine  Art  von  Gruppirung  von  Figuren,  noch  weniger  für  Landschaften  findet 
man  dort  ein  Verständniss;  die  Skizze  einer  Landschaft  ohne  Gebäude  oder  ohne  sehr  deutliche 
Vegetation,  welche  zugleich  im  Vordergründe  leicht  ausgehend  gehalten  war,  wurde  einem  In- 
dier  der  Probe  wegen  verkehrt  in  die  Hand  gegeben,  ohne  dass  er  sogleich  merkte,  wo  die  Luft 
oder  der  Boden  sei ,  so  lange  noch  kein  Grün  oder  keine  Figur  auf  dem  Bilde  war.  Noch  we- 
niger sind  die  Indier  im  Staude,  mit  einiger  Bestimmtheit  die  einzelnen,  eben  contourirten 
Theile  eines  grösseren  Bildes  mit  dem  betreffenden  Objecte  in  der  Natur  zu  identificiren ,  so 
lange  nicht  ein  bedeutender  Theil  des  Bildes  vorliegt.  Die  Gebirgsbewohner  dagegen  zeigten 
sich  darin  ungleich  gewandter."  Ueber  die  Schwierigkeiten  der  Indier,  sich  in  europäische  Bil- 
der hineinzufinden,  hört  man  bei  dortigen  Reisen  allerlei  komische  Geschichten.  Die  rasche 
Auffassung  derselben  durch  die  Indianer  an  der  Nordwestküste  Amerikas  wird  dagegen  wieder 
in  den  neuesten  Berichten  über  dieselben  hervorgehoben.  7  landschaftliche  Tafeln  in  Tondruck 
und  3  Tafeln  topographischer  Gebirgsprofile  begleiten  den  vorliegenden  Band  B. 


Di   ulteriore   scoperte  nell'  antica  Necropoli  a  Marzabotto  nel  Bolognese 
ragguaglio  del  Conte  Giovanni  Gozzadini.     Bologna  1870. 

I  crani  etruschi  (di  Vejo,  Tarquinia,  Cere,  Vulci,  Perugia,  Chiusä,  Volterra)  comprendono 
un  maggior  numero  di  dolichocefali  chen  non  que'  di  Marzabotto  (Nicolucci).  Comune  e  negli 
etruschi  il  prognatismo,  della  mascella  superiore,  ne'  felsinei  rarissimo  e  quasi  eccezionale  (1870), 
und  wird  deshalb  auf  Umbrier  geschlossen,  während  Gozzadini  das  Auffinden  etrurischer  Schrift 
entgegenhält,  obwohl  durch  umbrische  Mischung  der  Typus  des  circumpadanischen  Etruskien  von 
Central-Etruskien  abweichend  gewesen  sein  möchte.  B. 


Archivio  per  l'Antropologia  e  la  Etnologia  (pubblicato  per  la  parte  An- 
tropologica  dal  Dottor  Paolo  Mantegazza,  per  la  parte  Etnologica  dal  Dottor 
Feiice  Finzi)  ist  der  Titel  einer  neuen  Zeitschrift,  die  überall  einen  willkommenen  Empfang 
finden  wird,  da  in  den  Namen  ihrer  Herausgeber  die  Bürgschaft  für  Tüchtigkeit  ihrer  Leistun- 
gen liegt.  "• 

Dr.  von  Maclay  begiebt  sich  auf  einer  russischen  Corvette  nach  Oceanien,  um  zunächst 
seinen  Aufenthalt  in  Neu-Guinea  zu  nehmen,  und  dort,  wie  bereits  auf  seinen  früheren  Reisen, 
besonders  zoologischen  und  anthropologischen  Studien  obzuliegen.  B. 


Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie 
und  Urgeschichte. 

Sitzung  vom  9.  Juli  1870. 

Vorsitzender  Herr  Virchow. 

Nachdem  die  Namen  neu  vorgeschlagener  Mitglieder  genannt  sind,  spricht 
Herr  Virchow 

über  eine  besondere  Art  geschliffener  Steine. 

Ich  habe  im  Anschluss  an  die  in  der  vorigen  Sitzung  von  mir  gezeigten  geschliffe- 
nen Steine  aus  der  Niederlausitz  (Golssen)  eine  kleine  Sammlung  ähnlicher  Steine 
vorzulegen,  welche  sich  in  dem  Besitz  der  uaturforschenden  Gesellschaft  zu  Görlitz 
befinden.  Ich  erwähnte  schon  neulich,  dass  dort  eine  grössere  Zahl  analoger  Steine 
vorhanden  sei.  Die  Herren  in  Görlitz  haben  auf  meine  Anfrage  die  Güte  gehabt, 
6  derselben  zu  schicken,  und  der  Conservator  der  naturforschenden  Gesellschaft, 
Hr.  Peck,  bemerkt  dabei:  „Dr.  Kleefeld  und  ich,  wir  sind  beide  der  Ansicht, 
dass  es  Geschiebe  sind,  wobei  jedoch  nicht  "ausgeschlossen  ist,  dass  sie  vorher 
kunstlich  bearbeitet  waren,  ehe  sie  in  das  Wasser  gelangten.  Für  die  GeBchiebe- 
Natur  sprechen  die  Stücke  No.  5  und  30,  wo  die  härteren  Quarzadern  der  abschlei- 
fenden Kraft  des  Wassers  länger  widerstanden  haben  als  die  übrige  Gesteinsmasse; 
bei  einem  künstlichen  Abschleifen  würde  doch  wohl  eine  glatte  Fläche  entstan- 
den sein.  Die  bei  den  meisten  Stücken  vorhandene  eine  scharfe  Kante  spricht 
dagegen  für  eine  künstliche  Bearbeitung.  Die  Gesteinsraasse  ist  verschieden  und 
zwar,  so  weit  es  sich  ohne  frische  Bruchfläche  beurtheilen  lässt,  Granit,  Gneis- 
granit (nordisch),  Thonschiefer,  Feuerstein,  gemeiner  Quarz  und  Diorit.  Leider  ist 
der  Fundort  nicht  bezeichnet;  auch  das  sonst  sehr  vollständige  Verzeichniss  unse- 
rer Alterthümer  enthält  nichts,  ebenso  wenig  konnte  ich  bei  der  Durchsicht  der 
Acten  etwas  darüber  auffinden." 

So  sehr  dieser  Mangel  zu  beklagen  ist,  so  wird  doch  schwerlich  zu  bezweifeln 
sein,  dass  die  Steine  aus  der  Lausitz  stammen  Auch  ist  klar,  dass,  wenn  auch  in 
sehr  roher  Weise,  sie  doch  im  Grossen  und  Ganzen  eine  auffällige  Analogie  der 
Bearbeitung  mit  den  früher  aus  der  Lausitz  vorgelegten  Steinen  darbieten.  Wenn 
bei  letzteren  wegen  der  übereinstimmenden  Natur  des  Gesteins,  aus  dem  sie  ge- 
fertigt waren  (Quarzit),  in  Krage  kommen  konnte,  ob  nicht  einfach  eine  natürliche 
Form  oder  Eigenschaft  des  Gesteins  hervortrete,  so  wird  es  bei  der  überaus  man- 
nichfaltigen  Beschaffenheit  der  Gesteine,  welche  hier  vertreten  sind,  nicht  zweifel- 
haft sein,  dass  es  sich  um  eine  rohe  Bearbeitung  und  Schleifung  handelt.  Es  liegt 
freilich  auf  der  Hand,  dass  man  bei  einer  solchen  Bearbeitung  die  natürliche  Form 
verwerthet  hat,  aber  ebenso  klar  ist,  dass  diese  natürliche  Form  nur  eine  Vorberei- 
tung für  die  künstliche  darstellt;,  gewissermassen  das  Muster,  wonach  die  Steine 
zugerichtet  sind.    Daher  ist  diese  Form  auch   mannichfaltiger,   ßh  die  früher  er- 


454 

wähnton  Stücke,  welch**  meist  Sechsflächncr  waren,  vermuthen  Hessen.  Zwei  der 
Görlitzer  Steine  (No  3  und  11)  sind  länglich-keilförmig,  mit  schwacher  Abschlei- 
fung  der  Flächen,  und  der  eine  (No.  11)  auf  dem  einen  Ende  ganz  spitz,  auf 
den»  andern  stumpf,  so  jedoch,  dass  sich  auch  hier  auf  jeder  Seite  3  schräge  Flä- 
chen erkennen  lassen.  Diese  Steine  machen  mehr  den  Eindruck  von  Spitzhämmern. 
Ein  dritter,  kleinerer  (Nun  30),  aus  demselben  rothen  Quarzit,  wie  die  früher  er- 
wähnten, ist  fast  dattelförmig,  mit  abgerundeten  Enden.  Zwei  andere  (No.  24  rother, 
No.  27  weisser  Quarz)  sind  gleichfalls  länglich  und  mit  gerundeten  Enden,  jedoch 
mit  schärferen  Kanten  und  Flächen,  zumal  auf  der  einen  Seite.  Der  letzte  (No.  1<>, 
rot  her  Quarzit)  ist  gleichfalls  länglich  und  am  Ende  abgerundet,  jedoch  mehr  platt 
und  jederseits  mit  2  in  der  Längsaxe  durch  eine  scharfe  Kante  geschiedenen  Schliff- 
flachen  versehen.  Der  kleinste  dieser  Steine  (No.  30)  inisst  in  der  Länge  fast  S, 
in  der  Breite  3,8  Centim.,  der  grösste  (No.  8)  in  der  Länge  12,  in  der  grössten 
Breite  .r)  Centim.  Es  geht  daraus  hervor,  dass  sie  unmöglich  zu  einem  einzigen 
Zweck  gedient  haben.  Es  würde  aber,  wie  mir  scheint,  wichtig  sein,  in  Bezug  auf 
das  Vorkommen  derartiger  Funde  näher  unterrichtet  zu  werden,  da  sie  zu  dem 
rohesten  Steingeräth  gehören,  welches  bekannt  ist. 

Herr  von  Ledebur:  Unser  Museum  besitzt  aus  verschiedenen  Gegenden  unseres 
Vaterlandes  durchaus  Aehnliches,  namentlich  die  scharf  gekanteten,  besonders  drei- 
eckig gebildeten  Steine.  Doch  kommen  auch  andere  vor,  die  den  Anschein  bieten, 
als  habe  die  Natur  selbst  das  Stück  zu  einem  bestimmten  Zweck  geeignet  gemacht, 
z.  B.  dazu,  mit  einer  Durchbohrung  versehen  zu  werden.  Wir  haben  solche  Steine, 
welche  nur  durch  die  Durchbohrung  als  Werkzeuge,  etwa  als  Steinhammer,  kennt- 
lich gemacht  sind.  — 

Herr  Virchow  legt  verschiedene,  durch  den  Oberlehrer  Dr.  Zelle  übersendete 
Gegenstände  vor  aus  einem 

Pfahlbau  im  Lübtow-See  bei  Göslin. 

Erst  gestern  sind  mir  durch  Hrn.  Zelle  in  Cöslin  verschiedene,  sehr  bemer- 
kenswerthe  Gegenstände  zugegangen.  Es  hat  sich  beim  Senken  eines  oberhalb  von 
Cöslin  gelegenen  Sees,  der  merkwürdigerweise  denselben  Namen  trägt,  wie  das 
Dorf,  bei  welchem  der  erste  Pfahlbau  in  Pommern  aufgefunden  wurde,  Lübtow,  und 
zwar  an  verschiedenen  Stellen  des  Ufers  Mancherlei  gefunden,  von  dem  es  wenig- 
stens sehr  wahrscheinlich  ist,  dass  es  mit  Pfahlbauten  zusammenhänge.  Hr.  Holtz 
in  Bonin,  einem  Dorfe  am  Westufer  des  Sees,  hat  Pfähle  in  regelmässiger  Reihen- 
folge blossgelegt  gesehen.  Bis  jetzt  hat  noch  keine  genauere  Untersuchung  statt- 
gefunden, dagegen  sind  die  von  Hrn.  Holtz  gefundenen  Gegenstände  von  hohem 
Interesse.  Es  sind  zwei  vortreffliche  Knochenwerkzeuge:  ein  durchbohrter  Hammer 
aus  dem  Geweih  eines  offenbar  sehr  starken  Hirsches  oder  Elchs,  und  ein  sogen. 
Knochenmeissel  aus  dem  Extremitäten-Knochen  eines  grossen  Thieres  von  der  Form, 
wie  sie  allerdings  für  einen  älteren  Pfahlbau  passen  würde.  Der  Hammer  oder  die 
Streitaxt  ist  von  hell  gelbbrauner  Farbe,  äusserlich  sorgfältig  geglättet,  15  Centim. 
lang,  4,5  breit  und  3  dick,  im  Ganzen  von  länglich  viereckiger,  etwas  abgeplatte- 
ter Gestalt,  am  hinteren  Eude  von  beiden  Seiten  her  verschmälert  und  leicht  ab- 
gerundet, am  andern  von  den  Seiten  her  zugespitzt,  jedoch  wegen  der  spongiösen 
Beschaffenheit  des  Innern  derart  gespalten,  dass  er  in  2  Spitzen  ausläuft.  Fast 
genau  in  der  Mitte  ist  er  durch  ein  kreisrundes  Loch  von  2,8  Centim.  Durchmesser 
durchbohrt,  an  dessen  Umfange  einige  Schnittstellen  zu  bemerken  sind.  Der  Meissel, 
wie  es  scheint,  aus  einem  Metutarsal-Knocheu  gearbeitet,  ist  17  Centim.  laug,  und 


455 

an  seinem  einen  Ende,  wo  die  etwas  verletzte  Gelenkfläcbc  lag,  f>,4  Oentim.  breit 
und  .r)  ('entim.  dick.  An  dein  andern  Knde  zeigt  sieb  eine  8  Oentim.  lange,  schräge 
Durchschnittsfläche  \on  grosser  (Uätte,  welche  die  Markbühle  durchsetz!  und  in 
eine  scharfe  Schneide  ausläuft.  Dieser  Knochen  ist  von  schwärzlich  branner,  Regen 
das  ^denkende  mehr  gelbbrauner  Farbe.  Seine  Corticalis  bat  eine  Dicke  von 
6— ö  Millim. 

Die  übrigen  Sachen  sind  von  Hrn.  Knop  in  Wisbuhr,  am  Ostufer  des  Sees  im 
(jollenberge  gefunden.  Ausser  zwei  bronzenen  Armringen  und  einem  Spindelstein 
von  blaugrauem  Thon  zeigt  sich  eine  Anzahl  von  Thierknochen,  die  in  ausgezeich- 
neter Weise  das  schwärzliche  Torfaussehen  haben,  darunter  Zähne  vom  Pferd  und 
Kind,  eine  Geweihzacke  vom  Hirsch,  die,  wie  es  scheiut,  am  Knde  Spuren  von 
Bearbeitung  zeigt;  dann  einige  grössere,  theils  zerschlagene,  theils  zerbrochene 
Stücke,  namentlich  Schulterblatt  und  Metatarsalknochen  eines  Wiederkäuers  (Hirsch?), 
an  deren  Oberfläche  sich  eine  Reihe  scharfliniger  Eindrücke  (Einschnitte?;  findet. 
Ich  mache  auf  diese  letzteren  besonders  aufmerksam,  weil  sie  auffallend  ähnlich 
denjenigen  sind,  welche  Hr.  v.  Duck  er  bei  seinen  Vorlagen  als  evidente  Spuren 
menschlicher  Einwirkung  bezeichnete.  Die  grosse  Zahl  dieser  Linien  oder  Schram- 
men hat  mich  etwas  zweifelhaft  gemacht,  ob  sie  überhaupt  etwas  Besonderes  be- 
zeichnen. Es  wird  ja  hoffentlich  nicht  an  weiteren  Untersuchungen  fehlen;  jeden- 
falls stimmen  die  vorgelegten  Gegenstände  vollkommen  mit  dem,  was  sonst  aus 
Pfahlbauten  bekannt  ist.  Was  die  Bronzeringe  betrifft,  so  geht  aus  dem  mir  Mit- 
geteilten nicht  bestimmt  hervor,  dass  sie  in  dem  alten  Seebette  gefunden  sind, 
und  es  ist  wohl  möglich,  dass  sie  nur  aus  der  Nähe  herstammen.  Der  eine,  klei- 
nere ist  ganz  glatt  und  ziemlich  dünn;  der  andere,  grössere  ist  regelmässig  ver- 
ziert, indem  Reiben  von  parallelen  Querstrichen  mit  kürzeren  oder  längeren,  grup- 
penweise gestellten  Schrägstrichen  abwechseln.  — 

Herr  Bastian  legt 

zwei  altperuanlsche  Schädel 
nebst  einem  dabei  gefundenen  bearbeiteten  Steine  vor,  welche  käuflich  für  die 
Sammlung  der  Gesellschaft  erworben  sind.  Die  zum  Theil  mumificirten  und  noch 
mit  langen  Haaren  besetzten  Schädel  sind  gut  erhalten.  Der  Finder  und  Ueber- 
bringer  derselben,  ein  Hamburger  Schift'scapitain,  Hr.  Benecke  (Führer  der  nord- 
deutschen Barke  Carolina),  berichtet  darüber  in  einem  Briefe  d.  d.  Hamburg,  28.  Juni, 
Folgendes: 

„Der  genaue  Fundort  ist  circa  6  englische  Meilen  südlich  von  Yquique,  auf 
dem  ersten  Plateau,  wenn  man  vom  Meere  nach  dem  Innern  gehen  will.  Wir  rit- 
ten von  Yquique  dort  hin,  da  mir  meiu  Stauer  erzählte,  dass  durch  das  letzte  Erd- 
beben auch  eine  Stelle  Erschütterungen  erlitten  hätte,  wo  früher  Menschen  gelebt 
hätten,  als  dort  noch  trinkbares  Wasser  aus  jetzt  lange  versiegten  Quellen  geströmt 
sei.  Es  ist  dieses  ein  scharfer  Einschnitt  in  die  Vorgebirge  der  hinter  liegenden 
hohen  Ebene  und  wird  „Molle"  genannt,  was,  wie  man  mir  gesagt,  gleichbedeutend 
mit  „Quelle"  sein  soll  in  der  alt-peruanischen  Sprache.  Obgleich  nun  die  jetzigen 
Leute  dort  dies  von  einem  anderen  Dinge,  nämlich  einem  „Molo"  oder  einer  Brücke, 
die  ins  Meer  gebaut  war,  um  Salpeter  abzuladen,  herleiten  wolleu,  so  kann  ich  dies 
doch  nicht  glauben,  denn  ähnliche  Brücken  sind  ja  in  Yquique,  in  Mexillones,  Pi- 
sagua  etc.  gebaut  und  man  nennt  die  Plätze  doch  nicht  Molle.  Ueberdies  habe  ich 
mich  überzeugt,  dass  da  früher  Menschen  an  der  Küste  gelebt  haben  müssen.  Da- 
für spricht  erstens  die  Menge  von  einzelnen  Menschenknochen;  zweitens  die  alten 
Traditionen  der  dort  lebenden  Indianer,  wonach  sie  die  uralten  Bewohner  in  zwei 


456 

Classen  eintheilten,  nelimlich  eine  Classe,  die  Fische  assen  und  daher  den  Namen 
„Fischesser"  erhielten,  und  eine  audere,  die  tiefer  im  Lande  von  Wild  etc.  lebten 
und  „Fleischesser"  genannt  wurden;  drittens  die  Masse  von  halbverkohlten  Gegen- 
ständen,  die  man  2 — 3  Fuss  tief  unter  der  sandigen  Oberfläche  an  einer  Stelle  auf 
einem  kleinen  flachen  Terrain  findet,  die  sich  sehr  wohl  zu  einem  Fischerdorfe  ge- 
eignet haben  mag.  Alles  dieses  im  Verein  mit  der  Fähigkeit  des  Klimas,  in  Ab- 
wesenheit jeder  Feuchtigkeit  Gegenstände  sehr  lange,  ja  Tausende  von  Jahren  zu 
conserviren,  deutet  darauf  hin,  dass  diese  Küsten  dermaleinst  von  einer  ziemlich 
starken  Bevölkerung  bewohnt  gewesen,  die  erstens  die  Fischerei  zu  ihrem  Lebens- 
unterhalte, zweitens  einen  gänzlich  verschiedenen  Boden  gehabt  haben  muss  ,  da 
sie  Quellen  von  gutem  Trinkwasser,  ohne  welches  kein  Mensch  existiren  kann,  be- 
sass.  Ich  habe  nach  Wurzeln  von  Bäumen  oder  Pflanzen  geforscht,  aber  leider 
nichts  gefunden,  trotz  der  Menge  von  Holzstückchen  etc.,  welche  halb  verkohlt 
dabei  lagen.  Die  Gräber  selbst  zeichnen  sich  nur  hin  und  wieder  durch  eine  kleine 
Erhöhung  aus.  Nach  dem  Skelet  eines  Mannes,  namentlich  nach  den  Beckenkno- 
chen zu  urtheilen,  können  sie  nur  klein  gewesen  sein,  circa  4  Fuss.  Es  thut  mir 
jetzt  leid,  dass  ich  nicht  noch  einen  Maulesel  miethete,  um  das  noch  ziemlich  com- 
plete  Gerippe  mitzuschleppen,  aber  die  Sonne  brannte  überaus  heiss,  jeder  von 
uns  war  vom  Arbeiten  sehr  ermüdet,  mit  Schaufeln  und  Hacken  beladen,  wir  hat- 
ten noch  einen  scharfen  Ritt  vor  uns,  um  wieder  an  Bord  nach  Yquique  zu  kom- 
men, und  so  konnte  ich  nichts  mehr  mitschleppen.  Der  Stein  mit  dem  Loch  darin 
wurde  wahrscheinlich  von  den  Leuten  benutzt,  ihre  Fischleinen  zu  drehen,  wovon 
Proben  im  Grabe  zu  finden  waren.  Es  scheint,  dass  sie  den  Todten  in  Rücksicht 
auf  ihren  Broderwerb  in  der  Zukunft,  wie  man  dies  ja  bei  so  vielen  Urnationen 
findet,  allerlei  Geräth  mitgaben,  was  also  auch  bei  diesen  Menschen  Gedanken  von 
Ewigkeit,  Himmel  und  zukünftigem  Leben  voraussetzt.  Die  furchtbare  Trockenheit 
der  ganzen  Gegend,  deren  Boden  mit  Salpeter,  Salz  und  Sodatheilchen  geschwän- 
gert ist,  macht  das  Leben  für  Menschen,  die  nicht  ihren  Wasserbedarf  weit,  weit 
herholen  oder  aus  dem  Meere  destilliren,  wie  es  jetzt  geschieht,  auf  Meilen  weit 
zur  reinen  Unmöglichkeit.  Man  kann  das  Versiegen  der  Quellen,  wenn  map  es 
nicht  einer  langsamen  Austrocknung  zuschreiben  will,  durch  vulkanische  Einflüsse 
erklären.  Jedenfalls  erstreckt  sich  der  Fund  ins  graue  Alterthum  und  es  müssen 
viele  Jahre  vergangen  sein,  seitdem  die  Menschen  gestorben  sind,  deren  Schädel 
ich  Ihnen  übersenden  kann."  Eine  früher  zahlreichere  Bevölkerung  der  jetzt  mit 
Ausnahme  der  Oasen  wüsten  Küste  ergiebt  sich  aus  den  Geschichtsbüchern  Garci- 
lasso's  de  la  Vega. 

Herr  Virchow,  der  eine  weitere  Besprechung  der  Schädel  vorbehält,  bemerkt: 
Es  handelt  sich  hier  um  starke  künstliche  Verunstaltungen,  ähnlich  wie  wir  sie  vor 
Kurzem  bei  den  alten  Schädeln  von  den  Philippinen  gesehen  haben,  nur  dass  die 
Druckfläche  mehr  schräg  gegen  die  Stirn  liegt  und  dadurch  der  Schädel  in  der 
Scheitelgegend  stärker  erhaben  geworden  ist.  Es  ist  dies  aber  nicht  die  am  mei- 
sten berühmte,  nach  hinten  cylindrisch  verschobene  Form,  sondern  eine  mehr 
breite  Form,  von  der  wenig  zu  uns  gekommen  ist.  Daher  ist  es  besonders  an- 
genehm, dass  wir  mit  dieser  Erwerbung  eine  würdige  Grundlage  für  die  Ethno- 
logie Amerikas  in  unserer  Sammlung  gelegt  haben.  — 

Hr.  Bastian  überreicht  als  Geschenk  des  Hrn.  Jagor  die  Photographie  des  doppel- 
köpfigen Adlers,  der  auf  verschiedenen  Monumenten  Kleinasiens  sculptirt  gefunden 
ist  und  Gelegenheit  zu  mehrfachen  Erörterungen  gegeben  hat.  Hamilton  sah  ihn 
(1836)  bei  Euyuk  und  (wieTexier)  bei  Boghaz-kieu,  das  er  für  Tavium  (Hauptstadt 


457 

Her  trocmischen  Gallier)  erklärte.  Der  Adler  ist  als  Wappen  in  der  ganzen  Welt 
verbreitet.  Der  deutsche  Doppeladler  soll  zuerst  1452  bei  der  Kaiserkrönung  ge- 
tragen und  aus  den  zwei  Adlern  Ludwig  IV.  zusammengesetzt  sein.  Der  russische 
Doppeladler  wird  auf  den  byzantinischen  bezogen,  den  die  späteren  Paläologen 
führten.  Auch  in  Birma,  Ceylon,  Amerika  kommt  diese  Zusammenstellung  vor. 
Gobineau  findet  den  Prototyp  des  Doppeladlers  auf  Agaten  der  Arsaciden. 


Herr  Virchow  verliest  folgende  Mittheilung  des  Hrn.  Professor  Hosius  in 
Münster  über 

Rennthier-Reste  auf  dem  Akademischen  Museum  zu  Münster. 

„1.  Die  rechte  Seite  eines  Geweihes,  Fig.   1. 

Dieselbe  hat  in  ihrem  jetzigen  unvollständigen  Zustande  eine  Länge  von  1,15 
Meter,  zwischen  der  Augen-  und  der  Eissprosse  einen  Umfang  von  16,  im  L'ebrigeu 
durchschnittlich  einen  Umfang  von  14  Centimeter.  Am  unteren  Ende  sind  der 
Stirnzapfen  und  ein  Theil  der  Schädelhöhle  noch  erhalten.  Die  Augensprosse  ist 
abgebrochen,  war  jedoch  nach  der  Grösse  der  Bruchfläche  ziemlich  stark  entwickelt. 
Die  stark  nach  Innen  gebogene  Eissprosse  ist  bis  zu  den  Zacken  34  Cent,  lang 
und  hat  einen  Umfang  von  10  Cent.  Die  Stange  sowie  die  Eissprosse  sind  in  ihrem 
unteren  Theil  sehr  gerundet,  erst  über  der  kleinen,  nach  hinten  gerichteten  Zacke 
plattet  sich  die  Stange  ziemlich  ab;  "der  grösste  Querdurchmesser  der  Stange  be- 
trägt hier  41/.,  Cent.,  der  kleinste  3'/'»  Cent.  Von  der  Schaufel  sind  leider  nur  ein 
Theil  der  Fläche  und  2  nach  vorn  gerichtete  Zacken  erhalten.  Dies  Geweih  ist 
bereits  vor  mehreren  Jahren  im  Bette  der  Ems  etwa  '/a  Meile  unterhalb  Telgte, 
ca.  2  Meilen  von  Münster  gefunden.  Der  Fund  blieb  jedoch  unbekannt  und  erst 
vor  3  Jahren  gelang  es  mir,  denselben  für  das  hiesige  Museum  zu  erwerben,  nach- 
dem das  Geweih,  bis  dahin  in  einem  Baume  aufgehangen,  nicht  unerheblich  durch  den 


458 

Einfluss  der  Witterung  gelitten  hatte  Die  ursprüngliche  Lagerstätte  habe  ich  Hoch 
nicht  genau  ermitteln  und  untersuchen  können,  ich  zweifle  je  och  durchaus  nicht, 
dass  es  in  den  tieferen  diluvialen  Ablagerungen  gefunden  ist,  die  hier  dem  Kreide- 
gebirge unmittelbar  auflagern;  in  der  gelblich  braunen  Farbe,  sowie  in  der  sonsti- 
gen Beschaffenheit  stimmt  es  durchaus  mit  den  Knochen  übereiu,  die  in  diesen 
Schichten  gefunden  werden. 

2.  Die  Stange  der  rechten  Seite  eines  Geweihes,  Fig.  2. 

Die  Länge  dieses  Bruchstücks  beträgt  34  Cent.,  der  Umfang  am  unteren  Ende 
6,  höher  hinauf  ca.  5  Cent.  Die  Stange  ist  schon  am  unteren  Ende  stark  abge- 
plattet, der  grösste  Durchmesser  beträgt  hier  2,5  Cent.,  der  kleinste  1,6.  Eine 
Augensprosse  war  nicht  vorhanden.  Dies  Bruchstück  stimmt  vollständig  mit  dem 
(ieweih  eines  jungen  weiblichen  Rennthiers,  womit  ich  es  vergleichen  konnte. 

Gefunden  ist  dasselbe  bei  der  Correction  des  Flussbettes  der  Ems,  welche  im 
Sommer  1869  beim  Bau  der  Brücke  der  Paris -Hamburger  Bahn  ca.  l'/2  Meilen 
nordöstlich  von  Münster  ausgeführt  ist.  Mit  diesem  Stücke  wurden  in  denselben 
Schichten  gefunden: 

Das  Bruchstück  eines  Topfes  von  sehr  roher  Arbeit,  den  ältesten  hier  gefun- 
denen Formen  zugehörig. 

Eine  Feuersteinspitze  und  ein  Beil  von  Grünstein,  beide  schon  ziemlich  gut 
gearbeitet. 

2  Hacken  oder  Beile  aus  dem  unteren  Ende  von  Hirschgeweihen  gearbeitet. 

Ellenbogenbein,  Schienbein  und  Bruchstück  eines  Beckens  vom  menschlichen 
Skelet. 

Das  untere  Stück  vom  Oberschenkel  eines  Mammuth. 

Der  Kopf  eines  Bibers. 

Bein-  und  Fussknochen  vom  Pferde. 

Mehrere  Kopf-  und  Fussknochen  vom  Hirsch,  Reh,  Ochs,  Schwein,  namentlich 
Hirschgeweihe  sehr  zahlreich. 

Upter  den  Fussknochen  können  einige  noch  dem  Rennthier  angehören,  da  sie 
den  Fussknochen  des  Rennthiers,  welche  Cuvier,  Recherches  sur  Ies  ossemens  fos- 
siles, tom.  VI,  pag.  188,  pl   168,  beschreibt  und  abbildet,  sehr  ähnlich  sind. 

Ausserdem  fand  sich  der  Stamm  einer  Eiche  und  Holz  von  Coniferen. 

Sämmtliche  Reste  wurden  in  einer  Tiefe  von  etwa  20'  unter  der  Oberfläche  des 
Thals  in  einer  Schicht  gefunden,  die  noch  jetzt  bisweilen  bei  sehr  seichtem  Was- 
ser blossgelegt  wird.  Die  durchsunkenen  Schichten  bestanden  aus  einem  grauen, 
bald  feinkörnigen,  bald  grobkörnigen  Sand.  Die  sehr  feinkörnigen  Massen,  welche 
mit  Bestimmtheit  als  das  Lager  der  Reste  angegeben  wurden,  bestanden  vorherr- 
schend aus  durchsichtigen  oder  weiss  und  gelb  gefärbten  Quarzkörnchen,  zwischen 
denen  sich  einzelne  rothe  Feldspathkörnchen  und  feste  graue  Thonmergelstückchen 
fanden,  welche  letztere  sehr  wahrscheinlich  dem  grauen  Thonmergel  der  Kreide 
entstammen.  Ob  und  in  welcher  Tiefe  dieser  Kreidemergel  erreicht  ist,  habe  ich 
nicht  feststellen  können.  Nester  von  sehr  thonig  kalkiger  Beschaffenheit,  sowie 
eisenschüssige  Stellen  fanden  sich  unregelmässig  zerstreut  Foraminiferen  der 
Kreide  oder  sonstige  Versteinerungen  älterer  Formationen  habe  ich  nicht  gefunden, 
dagegen  fanden  sich  in  den  feinkörnigen  sandigen  Schichten  zahlreiche  kleine 
Schnecken  und  zwar:  Pupa  muscorum ,  Limnaeus  minutus,  Limnaeus  albus?,  Suc- 
cinea  amphibia?  und  2  bis  3  andere  nicht  bestimmbare  Arten.  Die  beiden  ersten 
sicher  bestimmten  Arten  sind  am  zahlreichsten  vertreten  und,  wie  auch  die  beiden 
andern,    noch  hiesig.     In   der  Beschaffenheit  zeigen  die  gefundenen  Knochenreste 


459 

einige  Verschiedenheit;  die  Reste  vom  Mammutb,  Renntbier,  sowie  einige  Hirsch- 
geweihe scheinen  älter  zu  sein,  als  die  vom  Schwein  und  Biber. 

'■).  Ein  drittes  noch  mehr  verletztes  Stück  wurde  im  Jahre  1865  in  der  Lippe  ge- 
funden bei  Werne,  2  Meilen  unterhalb  Hamm,  ebenfalls  bei  der  durch  den  Bau 
einer  Brücke  veranlassten  Correction  des  Flussbetts.  Es  besteht  nur  aus  dem  Theil 
der  Stange,  welcher  in  Fig.  2  durch  die  Buchstaben  übe  bezeichnet  ist.  In  seinen 
Dimensionen  stimmt  es  vollständig  mit  dem  Bruchstück  Fig.  2  überein,  nur  erreicht 
das  untere  Ende  von  der  Eissprosse  abwärts  bei  diesem  Stück  eine  Länge  von  6 
('ent.,  während  es  bei  dem  Stück»  Fig.  2  nur  4  Cent,  lang  ist.  Auch  ist  noch  eine 
Spur  der  Augensprosse  vorhanden. 

Eine  Beschreibung  der  Schichten,  worin  dies  Stück  gefunden,  sowie  eine  Zu- 
sammenstellung der  übrigen  dort  gefundenen 'Beste  ist  von  den  Herren  Borggreve, 
Köuigl.  Baurath  in  Hamm,  und  Geisberg,  Gerichtsassessor  in  Münster,  gegeben 
worden  in  der  „Zeitschrift  für  Vaterland.  Geschichte  und  Alterthumskunde,  heraus- 
gegeben vom  Verein  für  Geschichte  und  Alterthumskunde  Westfalens,  3.  Folge, 
Bd.  8,  S.  309.  Münster,  Regensberg,  1869."  Nach  dieser  Mittheilung  ist  das  tiefste 
Glied,  welches  erreicht  wurde,  ein  blauer,  thoniger,  ziemlich  fester  Kalkmergei  — 
vermuthlich  schon  zur  Kreideformation  gehörend.  Auf  demselben  lagerte  eine  5' 
mächtige  Sandschicht,  unten  ziemlich  grobkörnig  in  sogenannten  Kies  übergehend, 
oben  dagegen  feinkörnig.  Dieser  Schicht  folgte  eine  9  Zoll  starke  braune  Sand- 
schicht mit  Resten  von  Gräsern  und  Eichen,  in  derselben  fanden  sich  auch  einige 
nicht  weiter  bestimmte  Schnecken  Auf  dieser  Schicht  lagerte  wieder  Sand  von 
gewöhnlicher  Beschaffenheit,  je  nach  der  Gestalt  der  Oberfläche  von  verschiedener 
Mächtigkeit.  Mergelschmisse  fanden  sich  überall  im  Sande  unregelmässig  vertheilt. 
Die  braune  Sandschicht  trat  nicht  überall  auf,  sie  fehlte  namentlich  da,  wo  die  un- 
ter No.  1  genannten  Reste  gefunden  sind.  Die  unter  No.  2  genannten  Reste  sollen 
jedoch  sämmtlich  aus  dem  Sande  unter  der  braunen  Schicht,  meistens  aus  dem 
Kies  stammen,  welcher  der  blauen  Mergelschicht  unmittelbar  aufgelagert  ist.  Die 
Reste  sind: 

No.  1.  Ein  aus  26  Pfählen  bestehendes  Bauwerk,  vermuthlich  ein  Wehr.  Die 
Pfähle  standen  in  2  parallelen  Reihen,  waren  81/»  — 12  Fuss  lang  und  6—10  Zoll 
stark,  oben  und  unten  zugespitzt.  2  ausgehöhlte  als  Nachen  benutzte  Baumstämme, 
von  22'  Länge,  ziemlich  gut  und  regelmässig  bearbeitet.  3  Krüge.  2  Schwerter  aus 
dem   14.  Jahrhundert  und  ein  menschlicher  Schädel. 

No.  2.  Ein  Topf  und  Ringe  aus  Thon,  sehr  roh  gearbeitet.  Verschiedene  Ge- 
räthe  aus  Hirschgeweihen,  ein  sehr  verletzter  menschlicher  Schädel.  Atlas  und  Zahn 
vom  Rhinoceros.  Verschiedene  Knochen  vom  Ochsen,  Schwein,  Hund,  Hirsch,  Ziege, 
Pferd. 

Unter  den  zur  Gattung  Bos  gehörigen  Resten  fanden  sich  ein  Atlas  und  einige 
andere  Knochen  von  sehr  bedeutender  Stärke,  jedenfalls  zu  den  ausgestorbenen  Arten 
dieser  Gattung  gehörig,  sowie  ein  kleiner,  aber  deutlich  erkennbarer  Schädel  des 
Auerochsen.  Die  Beschaffenheit  der  einzelnen  Stücke  ist  sehr  verschieden,  nament- 
lich machen  die  Reste  vom  Schwein,  Hund,  Pferd  und  zum  Theil  auch  vom  Ochsen 
entschieden  den  Eindruck  eines  jüngeren  Alters,  so  dass,  wenn  dieselben  wirklich 
mit  den  übrigen  in  gleicher  Tiefe  gefunden  sind,  das  Ganze  eine  verhältnissmässig 
junge  Bildung  ist,  iu  welcher  ältere  wieder  ausgespülte  Reste  mit  jüngeren  zusammen- 
geschwemmt sind." 

Herr  Virchow  hebt  im  Anschlüsse  an  das  Verlesene  die  Aehnlichkeit  des  zuerst 
beschriebenen  Geweihstückes  mit  dem  vor  einiger  Zeit  von  ihm  aus  der  Uckermark 


460 

vorgelegten  hervor,  uud  betont  die  Wichtigkeit  dieser  westfälischen  Funde  für  die 
Frage  von  der  Coexistenz  des  Menschen  und  des  Rennthiers  in  jener  Gegend.  Er 
legt  seinerseits  mehrere  Geweihstücke  vom  Rennthier  vor,  welche  er  auf  seiner  letz- 
ten Reise  in  Minden  erworben  hat.  Er  bemerkt  dazu:  „Es  sind  ziemlich  kräftige, 
jedoch  meist  kürzere  Stücke,  21—27  Fuss  tief  im  Flussthale  der  Weser,  südlich  von 
der  Porta,  auf  der  Grenze  zwischen  den  alluvialen  und  diluvialen  Schichten  in  einem 
Terrain  gefunden,  in  dem  auch  sonst  mancherlei  Thierknochen  vorkommen,  in  dichtem 
Anschlüsse  an  die  Hügelkette,  welche  auf  dem  rechten  Ufer  des  Stromes  bei  dem  Dorfe 
Holzhausen  ansteigt.  Hier  ist  namentlich  viel  vorrfMammuth  gefunden  worden,  sowie 
eine  Menge  verschiedenartiger  Knochen,  die  noch  nicht  genauer  bestimmt  worden 
sind.  Ich  werde  Gelegenheit  haben,  auf  die  Fundstelle  zurückzukommen.  Ich  hatte 
sie  besucht,  weil  gerade  über  den  Rennthierschichten  ein  alter  ßegräbnissplatz  liegt, 
auf  welchem  zahlreiche  Urnen  ausgegraben  worden  sind.  Die  Eisenbahn-Verwaltung 
benutzt  diesen  Platz  seit  Jahren,  um  von  dort  Kies  zu  beziehen,  und  hat  ihn  bis  zu 
einer  grossen  Tiefe  und  in  einem  Umfange  von  etwa  20  Morgen  ausgefahren.  Ich 
hatte  das  Vergnügen,  die  beiden  wahrscheinlich  letzten  Urnen  am  Rande  des  Hügels 
ausheben  zu  können. 

Ich  will  ausserdem  noch  aufmerksam  machen  auf  eine  mir  von  Hrn.  v.  Martens 
übergebene  Schrift  über  die  frühere  Existenz  des  Rennthiers  in  den  russischen  Ostsee- 
provinzen von  Grewingk,  in  welcher  wenigstens  zwei  bestimmte  Funde  vom  Renn- 
thier in  Liefland  constatirt  sind.  Von  diesen  ist  besonders  einer  bemerkenswerth  aus  der 
Nähe  von  Kaipen  im  Kreise  Riga,  wo  vor  20  Jahren  in  einem  Torfmoor  das  Gerippe 
eines  Rennthiers  gefunden  worden  ist,  also  ein  Fund,  der  durch  die  Vollständigkeit 
der  Knochen  an  jenen,  früher  von  mir  besprochenen  erinnert,  der  auf  der  Grenzscheide 
zwischen  Pommern  und  Pomerellen  gemacht  ist.  Man  wird  daher  wohl  nicht  mehr 
zweifeln  können,  dass  das  Rennthier  im  Bereiche  der  norddeutschen  Ebene  von  dem 
äussersten  Osten  bis  zu  den  westfälischen  Gebirgen  hin  gelebt  hat." 

Herr  Lazard:  Die  Hügel  bei  Holzhausen,  in  denen  die  Rennthierknochen  gefun- 
den worden,  enthalten  Diluvial-  und  Alluvialschichten.  Die  Porta  westphalica  war 
früher  eine  zusammenhängende  Thälerkette,  durch  welche  Versteinerungen  und  Steine, 
welche  von  Norden  kamen,  aufgefangen«  worden  sind.  In  der  Sammlung  der  Berg- 
akademie finden  sich  verschiedene  Steine  aus  der  Juraformation,  welche  an  denselben 
Hügeln  gefunden  worden  sind.  Die  Thiere  brauchen  also  nicht  an  der  Stelle  gelebt 
zu  haben,  an  der  ihre  Reste  gefunden  werden,  sondern  sie  können  von  Norden  dort- 
hin gelangt  sein. 

Herr  Virchow*:  Die  Rennthiergeweihe  liegen  nicht  in  den  Hügeln,  sondern  un- 
mittelbar unter  dem  Dorfe  Holzhausen,  zwischen  der  Eisenbahn  und  dem  rechten 
Ufer  der  Weser,  also  in  dem  eigentlichen  Weser-Thal.  Das  Land  ist  dort  ganz  flach. 
Nur  an  einer  Stelle,  eine  Viertelstunde  hinter  Hausberge,  am  Rande  des  Alluviums, 
fand  sich  eine  seichte,  sandige  Erhöhung,  die,  wie  es  scheint,  wesentlich  für  den  Be- 
gräbnissplatz gedient  hat.  Leider  habe  ich  nicht  mehr  Gelegenheit  gehabt,  die  tief- 
sten Schichten,  in  denen  die  Rennthierüberreste  vorkamen,  zu  sehen.  Die  benach- 
barten Hügel  habe  ich  nur  deshalb  erwähnt,  weil  darin  zahlreiche  Mammuth-Knochen 
gefunden  sind ;  es  ist  mir  nicht  bekannt,  dass  dort  gleichfalls  Rennthierreste  vorkom- 
men. Die  von  mir  vorgelegten  Stücke  habe  ich  durch  die  Güte  des  Hrn.  Baumeister 
Schneider,  eines  sehr  zuverlässigen  Mannes,  erhalten,  der  bei  jedem  Stück  die  Tiefe, 
in  der  es  ausgegraben  wurde,    sorgfältig  notirt  hat.     Hr.  Dr.  C ramer,    dessen  Ver- 


461 

mittlung  ich  diese  Bekanntschaft  verdanke,  schildert  das  fragliche  Terrain  folgender- 
massen : 

a)  Ackerkrume  und  sehr  feiner  Alluvialsand,  3 —  4  Fuss  tief. 

b)  Schichten  von  schwerem,  thonartigem  Lehm,   2 — 2'/3  Fuss  tief. 

c)  Kies   mit  grossen  Rollsteinen    und  Kuocheu    von   Diluvialthieren,    gegen  "20 
Fuss  tief  aufgeschlossen. 

Mag  daher  immerhin  eine  Einschwemmung  von  Norden  her  erfolgt  sein,  so  wird 
mau  doch  schwerlich  genöthigt  sein,  anzunehmen,  dass  die  Rennthiergeweihe  von 
weither  eingeführt  sind.  Das  Vorkommen  zahlreicher  Ueberreste  des  Rennthiers  iu 
den  westfälischen  Höhlen  Leweist  ja  hinlänglich,  dass  eine  nordische  Fauna  im  Lande 
selbst  vorhanden  gewesen  ist.  — 

Herr  Hauchecorne  berichtet 
über  die  chemische  Untersuchung  der  Schlacken  von  den  oberlausitzischen  Brandwäilen. 

Unser  Herr  Vorsitzender  hat  in  der  Sitzung  vom  14.  Mai  über  die  gebrannten 
Steinwälle  in  der  Oberlausitz  gesprochen  und  eine  Anzahl  von  Gesteinsproben  aus 
denselbeu  vorgelegt,  aus  deren  Beschaffenheit  auf  das  Verfahren  geschlossen  wurde, 
vermittelst  dessen  die  Alten  jene  als  schanzenartige  Befestigungen  gedeuteten  Wälle 
zu  Stande  gebracht  haben  möchten.  Es  wurde  angenommen,  dass  grössere  und  klei- 
nere Stücke  des  die  befestigten  Bergkuppen  bildenden  basaltischen  Gesteins  mit  Lehm 
zusammengeschichtet,  mit  sehr  vielem  zerhacktem  Holz  durchsteckt,  wohl  auch  um- 
geben worden  seien  und  dass  man  dann  durch  Verbrennen  des  Holzes  die  Massen 
zum  Zusammenschmelzen  oder  doch  Zusammensintern  gebracht  habe,  um  ihnen  die 
gewünschte  Festigkeit  zu  geben.  An  den  Belagstücken,  welche  ich  hier  wiederholt 
vorlege,  wurde  gezeigt,  dass  sich  in  den  zusammengebacknen  Massen  Eindrücke  und 
Abdrücke  finden,  welche  nur  von  den  zu  dem  Brande  verwendeten  Holzstücken  her- 
rühren könnten,  und  dass  der  Basalt  nicht  nur  äusserlich  gebrannt,  sondern  auch  in 
seinem  Innern  verändert,  blasig  geworden,  ja  sogar  wirklich  zum  Schmelzen  ge- 
langt sei. 

Bei  der  Besichtigung  dieser  Stücke  waren  nun  Zweifel  darüber  geäussert  worden, 
ob  die  erwähnten  Eindrücke  in  der  That  von  Holzstücken  herrühren  möchten,  und 
andererseits  darüber,  ob  man  annehmen  dürfe,  dass  bei  jener  Art  und  Weise  der 
Brände  eine  Temperatur  von  solcher  Höhe  habe  erzeugt  werden  können,  dass  Basalt 
bis  zum  Aufblähen,  ja  sogar  bis  zu  völligem  Schmelzen  und  Abtropfen  erhitzt  wor- 
den sei.  Die  an  den  Stücken  wahrzunehmenden  Erscheinungen  schienen  die  Annahme 
zuzulassen,  dass  die  stark  blasigen  und  die  ganz  geflossenen  Parthien  nicht  wirklich 
veränderter  Basalt,  sondern  etwa  durch  Schmelzung  des  vielleicht  besonders  leicht- 
schmelzigen  Lehms  zwischen  den  Basaltstücken  entstanden  seien.  Sie  haben  grosse 
Aehnlichkeit  mit  dem  sogenannten  Schmolz,  welcher  in  Ziegeleien  bei  zu  hoher  Brenu- 
hitze  leicht  entsteht,  wenn  der  Ziegelthon  reich  an  Kalkerde  und  Alkalien  ist. 

Mit  Rücksicht  auf  diese  Zweifel  sind  die  von  dem  Herrn  Vorsitzenden  vorgeleg- 
ten Gesteinsproben,  welche  von  den  Basaltkuppen  des  Stromberges  und  der  Lands- 
krone  und  von  der  Nepheliu-Doleritkuppe  des  Löbauer  Berges  entnommen  sind, 
inzwischen  in  Gemeinschaft  mit  dem  Herrn  Professor  Braun  näher  untersucht  worden. 

Vergleichsmaterial  zu  diesen  Gesteinsschlacken  fand  sich  in  den  Sammlungen  der 
hiesigen  Bergakademie  zunächst  in  der  Reihe  solcher  hüttenmännisch  erzeugter 
Schlacken,  welche  sich  in  geschlossenen  Oefen  als  Producte  der  Schmelzung  von  Si- 
likaten unter  Anwendung  von  Holzkohle  als  Brennmaterial  bilden.  Weiter  besitzt 
die  Bergakademie  eine  Sammlung  von  Stücken  aus  dem  grossen  Brande  zu  Hamburg 
im  Jahre  1842,  Schlacken,  welche  in  der  Gluth  dieses  Brandes  unter  freiem  Himmel 


462 

aus  de,m  Mauerwerk  uud  durch  Zusammenschmelzung  von  allerlei  Gegenständen  ent- 
standen sind,  also  unter  Bedingungen,  die  einige  Aehnlichkeit  besitzen  mit  denjeni- 
gen, unter  welchen  sich  das  Material  der  Steinwälle  bei  deren  Herstellung  befunden 
haben  mag. 

Sowohl  unter  den  Hamburger  Schlacken  als  besonders  unter  den  Hüttenschlacken 
linden  sich  zunächst  Stücke,  bei  welchen  Holzkohle  von  der  erstarrenden  Schlacke 
umschlossen  worden  ist  und  theils  noch  in  derselben  steckt,  theils  nicht  mehr  vor- 
handen ist,  sondern  nur  Abdrücke  hinterlassen  hat.  Diese  zeigen  sowohl  die  Struc- 
tur  der  sog.  Hirnseite  der  Holzkohle  mit  ihren  concentrischen  Jahresringen,  als  die- 
jenige der  Längsfasern  aufs  Schärfste  abgeformt.  Auch  treten  die  Querrisse,  welche 
sich  in  verkohltem  Holze  zahlreich  bilden,  in  der  Gestalt  feiner  Querleisten  auf  den 
Abdrücken  der  Längsflächen  des  Holzes  abgeformt  sehr  characteristisch  hervor.  Diese 
Erscheinungen  bei  den  Schlacken  nun  stimmen  aufs  Vollkommenste  überein  mit  den- 
jenigen, welche  sich  bei  den  Stücken  aus  den  Schlackenwällen  zeigen,  so  dass  Herr 
Braun  keinen  Anstand  genommen  hat,  die  Abdrücke  bei  den  letzteren  ebenfalls  als 
von  verkohltem  Holze  herrührend  zu  bezeichnen. 

Eine  Lösung  des  Zweifels,  ob  die  in  den  Stücken  aus  den  Schlackenwällen  ent- 
haltenen stark  blasigen  und  geflosseneu  Partieen  wirklich  das  Product  der  Schmel- 
zung der  basaltischen  Gesteine  seien,  liess  sich  nicht  durch  eine  äusserliche  Prüfung 
erlangen.  Es  war  vielmehr  nöthig,  durch  die  chemische  Analyse  zu  untersuchen,  ob 
die  blasigen  und  geschmolzenen  Theile  die  gleiche  oder  eine  andere  Zusammensetzung 
haben,  wie  das  feste  Gestein,  woran  sie  haften.  Im  ersteren  Falle  muss  angenommen 
werden,  dass  sie  mit  dem  festen  Gestein  identisch  und  nur  ein  veränderter  Aggregat- 
zustand desselben  sind;  im  anderen  Falle  nur  können  sie  als  ein  Product  der  Schmel- 
zung anderen  Materials  der  "Wälle  angesehen  werden.  Es  wurden  deshalb  chemische 
Untersuchungen  von  recht  charakteristischen  Stücken  von  drei  Lokalitäten,  vom  Strom- 
berg, vom  Löbauer  Berg  und  von  der  Landskrone  in  dem  Laboratorium  der  Berg- 
akademie ausgeführt.  Das  Stück  vom  Stromberg  ist  ein  rundliches,  faustdickes  Stück 
dichten  Basaltes,  auf  welchem  eine  Partie  ganz  geflossener,  einer  Eisenfrischschlacke 
ähnlich  abgetropfter  Schlacke  aufsitzt;  zwischen  beiden  liegt  theilweise  noch  ein  Hauf- 
werk kleiner  zusammengefritteter,  rothgebrannter  Brocken.  Das  Basaltstück  ist  im 
Innern  ganz  dicht  und  unverändert,  au  der  Oberfläche,  auf  welcher  die  Schlacke  und 
das  Brockenhaufwerk  angebacken  sind,  nur  rothbraun  gefärbt,  wie  geröstet  Die  in- 
nere Textur  der  geflossenen  und  blasigen  Masse  ist  eine  von  derjenigen  des  dichten 
Basaltes  sehr  abweichende. 

Das  Stück  vom  Löbauer  Berg  ist  ein  kopfgrosser  Klotz  von  Nephelin-Dolerit,  im 
Innern  dicht  krystallinisch,  frei  von  Blasen;  nach  der  Aussenfläche  zu  treten  kleine 
Blasen  ein,  die  je  mehr  nach  aussen  desto  grösser  und  häufiger  werden.  In  der  Ober- 
fläche finden  sich  sehr  charakteristische  und  deutliche  Abdrücke  von  Holzkohle.  Da- 
bei ist  jedoch  weder  wirklich  abgeflossenes  Material  vorhanden,  noch  ist  das  Gestein 
in  der  Nähe  der  Oberfläche  in  der  inneren  Textur  der  Zwischenräume  zwischen  den 
grösseren  Blasen  von  wesentlich  anderer  Beschaffenheit  als  in  dem  nichtblasigen,,  dich- 
ten Theil  des  Stücks. 

Das  dritte  Stück,  von  der  Landskrone,  besteht  aus  einem  kleinen  Stück  Basalt 
von  der  Dicke  eines  mittleren  Apfels,  kubisch  mit  gerundeten  Ecken,  auf  welchen 
eine  stark  blasige,  schlackige  Partie  aufsitzt.  Beim  Anschlagen  zeigt  sich,  dass  der 
Basalt  an  der  der  Schlacke  abgewendeten  Seite  dicht  ist,  in  dem  ihr  zugewendeten 
Theile  wird  er  erst  ganz  fein,  dann  gröber  blasig  und  scheint  gauz  in  die  Schlacke 
überzugehen.  In  der  letzteren  sind  die  Wände  der  Blasem'.ellen  von  vollkommen 
schlackiger  innerer  Textur. 


463 

Von  jedem  dieser  drei  Stücke  wurde  eine  Probe  des  festen  Gesteins,  und  zwar 
von  der  dichtesten  Stelle,  und  eine  zweite  des  schlackigen  Theiles  von  desseu  am 
meisten  geschmolzen  erscheinender  Stelle  untersucht.  Zunächst  wurde  nur  der  Kiesel- 
Bau  regehalt  bestimmt.     Derselbe  betrug: 

Stromberg.        Löbauer  Berg.        Landskrone. 
in  dem  dichten  Gestein:        43,89  pCt.  40,87  pCt.  41,03  pCt. 

in  der  Schlacke:  43,99    „  42,31     „  58,52    „ 

Dadurch  stellte  sich  heraus,  dass  bei  dem  Stück  von  der  Landskrone,  welches 
von  allen  am  meisten  den  Anschein  hat.  als  gehe  das  feste  Gestein  in  die  geflossene 
Schlacke  über  und  sei  mit  ihr  identisch,  beide  jedenfalls  verschiedene  Körper  sind 
und  letztere  nicht  aus  ersterem  entstanden  sein  kann,  da  die  Dillen:!/,  im  Kieselsäure- 
gehalt  viel  zu  erheblich  ist  Sollte  bei  der  Landskrouer  Schlacke  dennoch  Basalt 
zum  Schmelzen  gelangt  gewesen  sein,  so  müsste  ein  anderes,  kieselsäurereicheres 
Material  mit  demselben  zusammengeschmolzen  sein,  was  bei  der  völligen  Homogenei- 
tät  der   Löbauer  Schlacke  nicht  wahrscheinlich  erscheint. 

Bei  dem  Nephelin-Dolerit  des  Löbauer  Berges  bestätigt  die  nahe  Ucbereinstiin- 
mung  des  Kieselsäure-Gehaltes  die  Identität  der  festen  und  der  oberflächlichen,  mit 
Eindrücken  verseheneu  Gesteinssubstanz,  welche  das  Aussehen  vermutllen  lässt.  Es 
scheint  bei  dem  vorliegenden  Stück  angenommen  werden  zu  können,  dass  das  Ge- 
stein durch  die  Hitze  nicht  ganz  zum  Fluss  gebracht,  sondern  nur  äusserlich  so  weil 
erweicht  worden,  dass  es  die  Eindrücke  der  Holzkohle  empfangen  konnte  und  dass 
es  bei  dieser  Erweichung  zugleich  etwas  blasig  geworden  ist.  Mit  dieser  Annahme 
stimmt  es  überein,  dass  die  Holzkohleneindrücke  weit  weniger  scharf  und  deutlich, 
mehr  rundkantig  sind,  als  bei  der  ganz  flüssig  gewesenen  Schlacke  vom  Stromberg. 

Bei  dem  Stück  vom  Stromberg,  bei  welchem  der  Zustand  des  festen  Gesteins, 
das  Ansehen  der  geflossenen  Schlacke  und  der  Mangel  jedes  Ueberganges  aus  erste- 
rem in  die  letztere  au  dem  vorliegenden  Stück  es  ganz  und  gar  nicht  vermutheu 
lassen,  dass  die  Schlacke  geschmolzener  Basalt  sei,  zeigte  sich  dagegen  ein  so  glei- 
cher Kieselsäuregehalt,  dass  ich  fast  an  eine  Verwechselung  bei  der  Analyse  glaubte. 
Ich  liess  dieselbe  deshalb  wiederholen  uud  zugleich  auf  die  übrigen  Elemente  aus- 
dehnen.    Diese  zweite  Analyse  ergab  folgende  Zusammensetzung: 

beim  festen  Basalt:  bei  der  Schlacke: 

Kieselsäure   .     44,65  44,66 

Eisenoxyd     .     19,75  19,68 

T  honerde.     .      14,9«  14,89 

Kalkerde.     .     11,23  11,17 

Magnesia  .     .       6,84  6,81 

Hie  Alkalien  wurden  nicht  bestimmt.  —  Die  Analyse  ergab  also  eine  so  voll- 
kommene üebereinstimmung,  dass  an  der  Identität  beider  Körper  nicht  der  leiseste 
Zweifel  bleibt.  Wenn  die  Schlacke  nicht  aus  dem  Basaltstück  selbst  entstanden  ist, 
auf  welchem  sie  sitzt,  was  der  Augenschein  anzunehmen  nicht  zulässt,  so  ist  sie  das 
Produkt  der  Schmelzung  eines  benachbarten  Basaltstückes  und  auf  ersteres  abgeflossen. 

Hiernach  scheint  mir  die  Thatsache  festzustehen,  dass  in  den  Schlackenwällen 
basaltische  und  ähnliche  Gesteine  zum  Zusammenschmelzen  gebracht  worden  sind, 
eine  Thatsache,  die  wohl  bezweifelt  werden  durfte  mit  Rücksicht  darauf,  dass  die 
Art  des  Brandes  die  Hervorbringung  einer  dazu  ausreichenden  Hitze  kaum  voraus- 
setzen liess.  Gegen  die  Annahme  jener  Thatsache  Hesse  sich  noch  allenfalls  der  Ge- 
danke aufstellen,  ob  nicht  die  schlackigen  Gesteine  ursprüngliche,  der  Eruption  der 
Basalte  und  Dolerite  augehörige  Bildungen  seien,  welche  zur  Zeit  ihres  Emportretens 
an  die  Oberfläche  durch  irgend  einen  Zufall  mit  Hölzern  oder  Liguiteu   in  Berührung 


464 

gekommen  seien  und  dabei  jene  Eindrücke  empfangen  hätten.    Die  ganze  Zusammen- 
setzung der  Stücke  vom  Stromberg  lässt  indessen  diesem  Gedanken  keinen  Raum. 

Was  nun  die  zur  Schmelzung  des  Basaltes  erforderliche  Temperatur  betrifft, 
welche  bei  der  Ausführung  der  Schlackenwälle  nach  dem  Erwähnten  erreicht  worden 
ist,  so  finde  ich  die  einzige  Angabe  über  eine  effective  Bestimmung  dieser  Tempera- 
tur in  einer  Mittheilung  von  Gustav  Bischof  über  Schmelzuug  von  Basalt,  welche  er 
in  Gemeinschaft  mit  dem  verstorbenen  Geh.  Bergrath  Althaus  zu  Saynerhütte  im 
Jahre  1836  ausgefbhrt  hat.*)  Zum  Guss  einer  Basaltkugel  von  2  Fuss  Durchmesser, 
an  welcher  Erkaltungstemperaturbeobachtuugen  gemacht  werden  sollten,  wurden  in 
einem  Cupolofen  720  Pfund  Basalt  mit  2-10  Pfund  Koks  innerhalb  einer  Stunde  nie- 
dergeschmolzen. Der  geschmolzene  Basalt  floss,  aus  dem  Ofen  abgestochen,  „ruhig 
in  einem  gleichförmigen  Strom  von  Syrupsconsistenz".  Die  Temperatur  dieses  flies- 
senden Basaltes  wurde  durch  Schmelzung  eingetauchter  Drähte  verschiedener  Metalle 
als  höher  wie  die  Schmelzhitze  des  Kupfers,  also  mindestens  als  1118°  R.  direkt  be- 
stimmt, demnächst  aber  nach  den  Abkühlungsversuchen  auf  ungefähr  1250°  R.  be- 
rechnet. Mögen  nun  auch  nicht  alle  Basalte  gleiche  Schmelztemperatur  haben,  so 
kann  doch  immerhin  angenommen  werden,  dass  bei  dem  Brennen  der  Steinwälle  eine 
ganz  ähnliche  Temperatur  erzeugt  worden  sein  muss.  Dies  im  Freien  in  der  vorhin 
angegebenen  Art  und  Weise  zu  Stande  zu  bringen,  mag  seine  grossen  Schwierigkei- 
ten gehabt  haben.  Dass  aber  solche  Temperaturen  im  Freien  unter  Umständen  ent- 
stehen können,  beweisen  die  hier  vorliegenden  Stücke  aus  dem  Hamburger  Brande. 
Unter  denselben  befinden  sich  selbst  vollständig  zusammengeschmolzene  Porzellan- 
massen, was  auf  eine  noch  beträchtlich  höhere  Temperatur  als  die  angegebene  Schmelz- 
hitze des  Basalts  schliessen  lässt. 

Der  Basalt  vom  Stromberg  ist  endlich  auch  in  dem  Laboratorium  der  Bergaka- 
demie ohne  Schwierigkeit  zum  Schmelzen  gebracht  worden.  Ein  haselnussdickes 
Stückchen  wurde  im  Gasgebläse  im  Platintiegel  innerhalb  P/j— 2  Minuten  in  Fluss 
gesetzt. 

Schliesslich  bemerke  ich  noch,  dass  sich  in  einer  Abhandlung  von  v.  C  oh  aus  eu, 
welche  sich  nicht  sowohl  speciell  mit  den  Schlackenwällen,  als  vielmehr  mit  ähnlichen 
Fortificationen  der  Alten  im  Allgemeinen  beschäftigt,  eine  etwas  abweichende  Auf- 
fassung der  Entstehung  der  „gebrannten  Wälle"  findet,  v.  Cohausen  bestreitet, 
dass  man  die  Steine  und  Hölzer  in  der  Absicht  zusammengefügt  habe,  durch  den 
Brand  der  letzteren  die  ersteren  zusammenzuschmelzen.  Er  behauptet  vielmehr  und 
stützt  diese  Behauptung  auf  Angaben  des  Cäsar  und  des  Tacitus,  dass  die  Alten  die 
Wälle  aus  wechsellagernden  Schichten  von  Steinen  und  von  Stammholz  und  Faschi- 
nen zusammengebaut  hätten,  künstlich  und  fest^dann  seien  wohl  bei  Erstürmung  der 
Schanzen  durch  den  Feind  oder  bei  dem  Aufgeben  der  Lager  diese  Wälle  in  Brand 
gerathen  oder  absichtlich  durch  Feuer  zerstört  worden  und  so  die  Steinlage  zu  theil- 
weisem  Schmelzen  gebracht.  Abgesehen  von  der  Frage,  ob  wirklich  die  Alten  in 
solcher  Weise  Schanzen  gebaut  haben,  scheint  mir  die  Erklärung  des  gebrannten  Zu- 
standes  der  Wälle  nach  der  v.  Cohausen'schen  Auffassung  nicht  wahrscheinlich. 
Denn  wenn  wirklich  es  gelungen  .zu  sein  scheint,  durch  ein  absichtliches  sorgfältiges 
und  vielleicht  lange  fortgesetztes  Feuern  die  Gesteinstücke  und  ihre  Bindemittel  zum 
Zusammenbacken  zu  bringen,  so  wird  doch  bei  einem  zufälligen  Braude  der  Schan- 
zen schwerlich  die  nöthige  Hitze  entstanden  sein. 


♦)  G.  Bischof,  die  Wärmelehre  des  Erdkörpers.     Leipzig  1837.     S.  443  ft". 


465 

Herr  Alex.  Braun:  Die  Herren  werden  sieb  erinnern,  dass  unter  den  von  Hrn. 
Virchow  vorgelegten  Stücken  das  eine  aus  einer  geschmolzenen,  röthlich- braunen 
Masse  bestand,  in  welcher  die  Holzeindrücke  noch  zu  erkennen  waren.  Schon  damals 
hatte  es  keinen  Zweifel,  dass  bei  diesen  Stücken  wirklich  Holzabdrücke  vorhanden 
sind,  dagegen  waren  bei  den  stärker  geschmolzenen,  schwarzen  Stücken  diese  Ein- 
drücke keineswegs  derart,  dass  man  an  ihnen  deutlich  die  Struktur  des  Holzes  hätte 
erkennen  können.  Allein  die  Exemplare  vom  Hamburger  Brande  haben  ganz  ähn- 
liche Verhältnisse  gezeigt,  und  zwar  noch  zum  Theil  mit  der  unverbrannten  Holz- 
kohle in  Verbindung,  so  dass  nicht  der  geringste  Zweifel  mehr  bestehen  kann,  dass 
alle  diese  eigenthümlich  gestreiften  Höhlungen  Räume  waren,  in  welchen  sich  Holz 
befand,  wobei  aber  durch  die  schmelzende  Masse  die  Oberfläche  so  verändert  ist,  dass 
sie  nicht  mehr  einen  genauen  Abdruck  des  Holzes  liefert.  Unter  den  Stücken,  welche 
mir  jetzt  vorgelegt  worden  sind,  befindet  sich  namentlich  eines,  welches  einen  wun- 
dervollen Abdruck  des  Querschnittes  eines  Holzstückchens  zeigt,  bei  dem  man  das 
Centrum  und  die  umliegenden  Jahresringe  deutlich  sehen  kann.  Die  ersten  Ringe 
sind  nicht  die  stärksten,  sondern  der  dritte  und  vierte  sind  breiter;  dann  kommen 
schmälere  Ringe,  ganz  nach  dem  Gesetze  des  Holzwachsthums,  wo  dann  wieder  eine 
Abnahme  in  der  Breite  der  Ringe  stattfindet.  Diese  Verhältnisse  der  einzelnen  Ringe 
zu  einander  sind  so  deutlich,  dass  sie  keinen  Zweifel  mehr  übrig  lassen.  Das  Ganze 
ist  eine  glasige  Masse,  in  welcher  Holz  die  Eindrücke  hinterlassen  hat.  Ebenso  ist 
es  bei  einem  andern  Stück,  welches  eigentlich  nur  Kohle  ist,  in  deren  Sprünge  die 
verglaste  Masse  eingedrungen  ist,  so  dass  man  im  Innern  der  Kohle  Schlacken-La- 
mellen findet.  Bei  den  andern  Stücken  ist  die  Struktur  des  Holzes  weniger  deutlich 
zu  erkennen;  es  ist  auch  nicht  deutlich  mehr  Kohle  zu  erkennen,  jedoch  sind  un- 
zweifelhaft diese  Eindrücke  dem  Holze  zuzuschreiben. 

Uebrigens  ist  es  mir  unwahrscheinlich,  dass  ein  Wall,  der  aus  mehr  Erde  und 
Steinen  als  Holz  besteht,  sich  von  selbst  entzündet,  und  daher  halte  ich  die  von  un- 
serem Hrn.  Vorsitzenden  gegebene  Erklärung  für  die  zutreffende. 

Herr  Virchow :  Ich  habe  mich  bemüht,  weitere  Aufklärungen  über  die  Sache  zu 
verschaffen.  Als  ich  in  der  Sitzung  vom  14.  Mai  verschiedene  Stücke  von  den  Stein- 
wällen des  Löbauer  Berges  und  des  Stromberges  vorlegte,  machte  ich  darauf  aufmerk- 
sam, dass  der  Wall  des  Stromberges  mit  Hülfe  einer  Bindemasse  aufgemauert  scheine, 
der  Löbauer  Wall  aber  nicht.  Indess  in  Beziehung  auf  den  letzten  Punkt  war  ich 
meiner  Sache  nicht  ganz  sicher.  Hr.  Oscar  Schneider  hat  auf  meine  Bitte  die 
Verhältnisse  noch  einmal  genauer  untersucht  und  schreibt  mir  darüber  d.  d.  Dresden, 
12.  Juni:  „Während  meines  Aufenthaltes  in  Löbau  im  Laufe  der  letztvergangenen 
Woche  habe  ich  mich  bemüht,  zur  Klärung  der  Ihnen  zweifelhaft  gebliebenen  Punkte 
nochmals  an  Ort  und  Stelle  zu  beobachten,  habe  zu  solchem  Zwecke  zunächst  am 
zweiten  Feiertage  die  von  uns  auf  dem  Löbauer  Berge  ausgegrabenen  und  die  in  den 
Promenaden  anlagen  der  Stadt  aufgestellten  Schlackenmassen  durchgesehen,  dabei  jedoch 
keine  Spur  eines  mitverschmolzenen  Binde-  oder  Ausfüllmittels  gefunden.  Von  Inter- 
esse war  für  mich  ein  in  einen  engen  Kluftraüfm  der  Schlackenrinde  eines  von  uns 
ausgegrabenen  Blockes  locker  eingezwängtes,  etwa  l1  /<  Zoll  langes,  schmales  Knochen- 
fragment, das,  obgleich  keine  Spur  von  Verkohlung  zeigend,  wohl  schwerlich  erst  in 
späterer  Zeit  dort  hineingekommen  sein  dürfte;  vielleicht,  dass  das  Knochenstück  erst 
hineinfiel,  als  die  sqhlackige  Masse  bereits  mehr  oder  weniger  abgekühlt  war,  viel- 
leicht auch,  dass  die  verkohlten  Aussenränder  abgebröckelt  und  durch  Wasser  weg- 
gespült sind.  Glocker  in  seiner  „geographischen  Beschreibung  der  preussischen 
Oberlausitz"  erwähnt  (S.  119)  sowohl  den  verschlackten  Basalt  des  Stromberges,  wie 

Zeitschrift  für  Ethnologie,  Jahrgang  1870.  31 


466 

auch  die  mitverschlackte  Binde-  (oder  besser  Ausfülle-?)  Masse,  letztere  als  „rothe 
Ziegelstücke",  uud  knüpft  daran  die  nach  den  localen  Verhältnissen  wohl  etwas 
drollige  Hypothese,  dass  die,  ^iegelbrocken  einschliessenden ,  verschlackten  Basalt- 
niassen  „jedenfalls  von  einer  künstlichen  Schmelzung  herrühren",  die  porösen  und 
blasigen  StiiVke  ohne  fremdartige  Einmengung  aber,  „gleich  maucheu  Basalten  des 
Löbauer  Berges,  natürlicher  Basalt"  seien.  Hauptmann  Schuster  aber  hat,  wie  aus 
S.  11  seiner  Abhandlung  über  „die  alten  Heidenschanzen  Deutschlands"  hervorgeht, 
die  Ausfülhnasse  im  Steinwalle  des  Stromberges  übersehen;  auch  Cotta  kann  von 
dieser  den  Wall  zu  einer  compacten  Masse  machenden  Ausfüllmasse  Nichts  gewusst 
haben,  da  er,  von  den  Lausitzer  Schlackenwällen  insgesammt  sprechend,  sagt,  dass 
„die  verschlackten  Massen  locker  übereinander  liegen".  Ich  kenne  nur  noch  einen 
Punkt  in  hiesiger  Gegend,  der  ähnliche  Schlackenmassen  und  daneben  noch  Scher- 
bon und  andere  Reste  birgt,  —  das  ist  ein  kleiner  Wall  bei  Koschütz  am  oberen  Ab- 
hänge des  Plauenschen  Grundes." 

In  Beziehung  auf  die  von  Hrn.  v.  Co  hausen  aufgestellte  Theorie  möchte  ich 
darauf  aufmerksam  machen,  dass,  nach  den  Fundstücken,  welche  ich  sowohl  vom 
Stromberge  als  vom  Löbauer  Berge  mitgebracht  habe,  zu  urtheilen,  unzweifelhaft  das 
Holz  gespalten  und  zerschlagen  war.  Es  handelt  sich  da  um  Holzscheite,  welche 
längere  Spaltflächen  und  kürzere,  scharfe  Durchschnittsflächen  hatten,  und  zwar  so, 
dass  Spalt-  und  Durchschnittsflächen  winklig  gegen  einander  stiessen.  Nicht  wenige 
Stücke  aber  waren  ganz  kurz  und  klein ;  manche  mochten  nicht  mehr  als  etwa  1  Zoll 
in  jedem  Durchmesser  haben.  Ich  meine,  diese  Beobachtung  widerlegt  entschieden 
die  Möglichkeit,  dass  man  mit  Stücken  von  so  geringen  Dimensionen  einen  Bau  habe 
aufführen  wollen;  das  passt  nicht  für  fortificatorische  Constructionen.  Ausserdem  muss 
man  in  Betracht  ziehen,  Uuss  dieses  so  eigenthümliche  Verhalten  der  Brandwälle  sich 
nur  an  bestimmten  Stellen  findet,  und  zwar  gerade  an  denjenigen,  welche  am  leich- 
testen zugänglich  waren  und  daher  eine  verhältnissmässig  grössere  Festigkeit  nöthig 
hatten. 

Ich  habe  mir  schon  in  der  vorigen  Sitzung  erlaubt,  ein  Stück  Basaltschlacke  von 
dem  früher  erwähnten  Heimberge  bei  Fulda  vorzulegen,  von  dem  bis  jetzt  nicht  fest- 
gestellt ist,  ob  auf  ihm  ein  Steinwall  existirte  oder  nicht.  Ich  erhielt  das  Stück  von 
Hrn.  Dr.  Speyer  in  Fulda,  der  dasselbe  aus  dem  Nachlasse  von  Schneider  erwor- 
ben hat,  und  der  ausserdem  noch  ein  anderes  grosses  Basaltstück  mit  vollständigem 
Glasflusse  besitzt.  Sie  wurden  vor  etwa  40  Jahren,  als  man  einen  Steinbruch  auf  dem 
Heimberge  anlegte,  gewonnen.  Von  derselben  Stelle  stammen  die  Stücke,  welche 
v.  Leonhard  erhalten  und  beschrieben  hat.  Seitdem  ist  die  Spitze  des  Heimberges 
dicht  mit  Wald  bewachsen  und  fast  unzugänglich  geworden.  Hr.  Speyer  hat  mir 
jedoch  zugesagt,  gegen  den  Winter  hin,  wenn  das  Laub  gefallen  sein  wird,  die  Stelle 
genauer  zu  untersuchen.  Ich  will  dabei  bemerken,  dass  unzweifelhaft  eine  grössere 
Zahl  von  Bergen  in  der  Rhön  und  ihrer  Umgebung  Steiuwälle  trug,  und  dass  nach 
dem,  was  ich  selbst  gesehen  habe  und  was  mir  Hr.  Hassenkamp  in  Fulda  mit- 
theilte, die  Möglichkeit  ähnlicher  Verhältnisse,  wie  in  der  Oberlausitz,  auch  in  der 
Rhön  mehrfach  vorliegt.  Hr.  Hassenkamp  schreibt,  dass  er  ähnliche  Basalt-Schlacken- 
bildungen östlich  von  Hilders  am  Westabhange  der  hohen  Rhön  gefunden  habe,  doch 
liefere  diese  Stelle  nicht  so  schöne  Belegstücke  wie  der  Heimberg.  „Von  grossem 
Interesse  war  für  mich",  schreibt  er,  „das  Auffinden  von  primitiven  Mauern  am  Pferds-, 
köpf;  dieselben  machten  auf  mich  den  Eindruck  von  primitiven  Wohnuugsüberresten. 
Hünengräber  sind  mehrfach  vorhanden  und  auch  theilweise  geöffnet  worden.  In 
denen  links  der  Fulda  wurden  Bronzegegenstände  gefunden,  in  einem  vor  einigen 
Jahren  rechts  der    Fulda  geöffneten  fanden  sich  nur  Kohlen." 


4(57 

Ich  selbst  habe  in  Gesellschaft  des  Hrn.  Dr.  Speyer  zu  Pfingsten  die  berühmte 
Milseburg  (unweit  von  Fulda)  besucht;  es  zeigte  sich,  dass  um  den  Fuss  dieses  mäch- 
tigen,  2GÖ3  Fuss  hohen  PhonoHthkegels  in  grosser  Ausdehnung  ein  offenbar  künstlich 
aufgeschütteter  Ringwall  von  Steinen  sich  befindet,  welcher  eine  umfangreiche  Berg 
wiese,  die  sogenannte  Danzwiese  umfriedigt.  Derselbe  hat  eine  solche  Breite  und 
Höhe  unil  schliesst  so  vollständig  das  Feld  ab,  dass  kein  Zweifel  darüber  sein  kann, 
dass  es  ein  künstlicher  Aufbau  ist.  Die  Masse  der  zusammengehäuften  Steine  aber 
ist  so  enorm  gross,  dass  man  sich  kaum  vorstellen  kann,  es  sei  dies  geschehen,  um 
einen  kleinen  Weideplatz  zu  erzielen.  Allerdings  könnte  man  daran  denken,  da  auch 
anderswo  in  der  Rhön  die  von  den  Bergkuppen  herabgestürzten  Steinblöcke  in  regel- 
mässigen Linien  zu  Vierecken  oder  kreisförmigen  Aufschüttungen  zusammengelegt 
worden  sind,  um  den  Boden  für  das  Pflanzen wachsthum  und  die  Weide  frei  zu  machen. 
Um  die  Milseburg  liegt  aber  eine  so  grosse  Masse  und  es  sind  so  mächtige  Blöcke, 
dass  der  Gewinn,  der  durch  das  Zusammentragen  erzielt  werden  konnte,  in  gar  kei- 
nem» Verhältnis  zu  der  Arbeit  stellen  würde.  Ich  bezweifle  daher  nicht,  dass  es 
sich  um  eine  Einschliessuug  handelt,  die  zu  bestimmten  Zwecken  der  Zuflucht  oder 
der  Andachtsübung  hat  dienen  sollen.  Brandspuren  habe  ich  an  dem  Ringwalle  nir- 
gends wahrgenommen,  obwohl  ich  ihn  fast  seiner  ganzen  Länge  nach  durchwan- 
dert habe. 

Dagegen  bin  ich  durch  ein  Citat  bei  Lubbock)  darauf  aufmerksam  geworden,  dass 
auch  in  Nordamerika,  in  Wisconsin,  am  westlichen  Arme  des  Rock  River  ein  gebrannter 
Erdwall,  in  neuerer  Zeit  Aztalan  genannt,  existirt.  Nach  der  Skizze,  welche  Squier 
und  Da  vis"*)  davon  geliefert  haben,  gleicht  die  Gesammtanlage  in  höchstem  Maasse 
gewissen  unserer  Burgwälle,  z.  B.  dem  von  Pansin.  Nach  der  Beschreibung  Lapham's 
besteht  der  Wall  aus  hartem,  röthlichem"  Thon  voller  Höhlungen,  in  welchen  man 
deutliche  Eindrücke  von  Stroh  oder  Heu  entdecken  kann,  „welches  der  Masse  vor 
dem  Brande  beigemischt  sein  musste".  Obwohl  die  Bewohner  diese  Wrälle  als  brick 
walls  bezeichnen,  so  ist  doch  von  eigentlichen  Ziegeln  nichts  daran  zu  bemerken. 
Die  Indianer  hatten  zur  Zeit,  als  diese  Stelle  zuerst  (183G)  die  Aufmerksamkeit 
erregte,  keine  Tradition  übar  die  Benutzung  und  Bedeutung  dieses  Walles,  so 
dass  es  höchst  wahrscheinlich  ist,  dass  es  sich  um  eine  vorhistorische  Anlage  handelt. 
Auch  von  einem  andern  Orte,  bei  Bourneville,  Ohio,  und  zwar  von  einem  sehr  aus- 
gedehnten Steinwalle  auf  der  Höhe  eines  Berges  berichten  Squier  und  Davis***), 
dass  an  einzelnen  Stellen  deutliche  Spuren  von  Feuer  bemerkt,  ja  dass  die  Oberflächen 
der  Steine  theilweise  verglast  gefunden  wurden. 

Ich  habe  diese  Analogien  deshalb  angeführt,  weil  daraus  hervorgeht,  dass  der 
Gedanke,  durch  Feuer  festere  Umwallungen  herzustellen,  sich  unter  verschiedenen 
Verhältnissen  realisirt  findet,  also  jedenfalls  nicht  Eigenthum  eines  bestimmten  Volkes 
gewesen  ist.  Um  so  mehr  empfiehlt  es  sich,  bei  unseren  Wällen  viel  mehr  Aufmerk- 
samkeit auf  die  Eigenthümlichkeiten  ihrer  Herstellung  zu  richten. 

Was  die  Zeit  ihrer  Herstellung  betrifft,  so  will  ich  noch  hervorheben,  was  aus 
dem  Nachweise  der  scharf  gehauenen  Holzstücke  unmittelbar  hervorgeht,  dass  die 
Wälle  nicht  einer  ganz  alten  Zeit  angehören  können.  Es  ist  nicht  denkbar,  dass 
man  so  scharfe  und  ausgedehnte  Flächen  in  Eichenholz  hat  hervorbringen  können 
mit  Stein-Instrumenten.  Ebenso  wenig  dürfte  Bronze  dazu  geeignet  sein.  Die  Zeichuuug 
und  Form  der  Löcher  in  der  Schlacke  macht  es  wahrscheinlich,    dass   das  Holz   mit 


*)  John  Lubbock,  Prehistoric  Times.     Lond.  1869.     pag.  256. 
•*)  Smithsonian  Contributions  1848.     Vol.  I,  pag.  131.     PI.  XLIV,  No.  \. 
**•)  Smithsoniaa  Contrib.    I,  p.  12.    PI.  IV. 

31' 


468 

Eisenwerkzeugen   gespalten  und   zerhauen   worden  ist.     Es   ist  daher  wahrscheinlich, 
dass  die  Anlage  der  "Wälle  der  Eisenzeit  angehört. 

Herr  Wetzstein  führt  in  Beziehung  auf  die  Schmelzbarkeit  basaltischer  Gesteine 
eine  Erfahrung  aus  Syrien  auf.  In  den  dortigen  Dörfern  fabriciren  die  Weiber  Ge- 
fässe,  welche  zur  Aufbewahrung  des  Wassers  gebraucht  werden  und/2—  3  Met.  hoch, 
1  Met.  weit  und  etwa  einen  Finger  dick  sind,  aus  Dolerit.  Das  Gestein  wird  ge- 
pulvert, mit  Hauranerde  und  Dünger  gemischt  und  dann  mit  Wasser  angemacht;  das 
daraus  geformte  Gefäss  trocknet  man  zuerst  an  der  Sonne  und  brennt  es  dann  einen 
Tag  und  eine  Nacht  lang  in  einer  in  die  Erde  gemachten  Grube  mit  Häcksel.  Diese 
Gefässe  sind  etwas  porös  und  erhalten  das  Wasser  frisch.  — 

Herr  Hartmann  erstattet  Bericht  über  die  von  den  Mitgliedern  Herren  Deegen, 
Friedländer,  Hartmann,  A.  und  E.  Kuhn,  Kunth,  Langerhans,  Munter, 
Raschkow  und  Voss  unternommene  Excursion  nach  Müncheberg  am  13.  Juni  zur 
Untersuchung  der  Schanze  am  Däber  See. 

Es  handelte  sich  hier  um  die  Fortsetzung  von  Nachgrabungen  an  von  Dr.  Voss 
zuerst    bezeichneten    Stellen.      Die    Theilnehmer    der    Excursion    fanden    von    Seite 
des  Vereins   für  Heimathskunde   Müncheberg's    am    dortigen  Bahnhofe    die   liebens- 
würdigste Aufnahme   und   begaben   sich   unter  Leitung  derselben  zur  Stätte  der  Aus- 
grabungen.     Ueber  die   Lagerungsbeschaffenheit  der   letzteren   giebt   der  beifolgende 
Bericht  des  Herrn  Kreisgerichtsrathes  Kuchenbuch,  d.  d.  Müncheberg,  den  4.  Juli, 
Auskunft.     Es  heisst  darin:    „Die  in   der  hiesigen  Gegend  ohne  anderen  Zusatz  ge- 
wöhnlich nur  „Schanze"  genannte  Halbinsel  zwischen  dem  grossen  und  kleinen  Däber- 
see  und  einer  sumpfigen,  beide  Seen  trennenden  Wiese  bildet  schon  von  Natur  einen 
zur  Verteidigung  oder  festen  Ansiedelung  sehr  geeigneten  Ort.    Die  ganze  Umgegend 
besteht  aus  sehr  hügeligem  Lande,    zum  Theil  mit  steilen  Abhängen,   besonders  auf 
den  Südseiten  und  häufigen  Seen,  Lachen,  Luchen  u.  dergl.  dazwischen  in  den  Nie- 
derungen.    Die  Halbinsel   der  Schanze  streift  von  West  nach  Ost  und  hängt  durch 
einen  Rücken  mit   dem  übrigen  Lande   zusammen,    über  welchen   etwa  500   Schritt 
vom  ersten  (westlichen)  Wall   ein  Fussweg  von  der  Bahn  nach  Buckow  läuft.     Die 
Schanze  fällt  ebenfalls  nach  Süden  und  gegen  den  grossen  Däbersee  auch  nach  Nor- 
den hin  steil  ab,  und  bilden  diese  Abhänge  zum  Unterschied  gegen  die  übrigen  um- 
liegenden Hügel  mit  dem  Plateau  eine  scharfe  Kante.    Die  ganze  Schanze  ist  durch- 
schnittlich 500  Schritt  lang,   da,   wo  sie  mit  dem  Hügelrücken  zusammenhängt,    150 
Schritt  breit,    erweitert   sich   beim  zweiten  Wall  auf  300  Schritt,    wird  dann  wieder 
200  Schritt  breit  und   erreicht  bei  der  Wiese  im  Osten  wieder  gegen   300   Schritt, 
alles  von  der  ganzen  Halbinsel  von  See  zu  See  gemessen.    An  der  schmälsten  Stelle 
ist  ein  Wall  von  See  zu  See  künstlich  aufgeworfen,   der   in  neuerer  Zeit  namentlich 
auf  der  Nordseite  zu  Culturzwecken  auseinander  geworfen  wurde,  jetzt  wie  die  andere 
Fläche  mit  beackert  wird,  aber  doch  noch  eine  Erhöhung  und  ein  gegen  das  Uebrige 
schwärzeres    Erdreich    erkennen    lässt.      Noch    vor    etwa    10  Jahren    war    der  Wall 
unberührt,    mit  Rasen   bewachsen    und  damals   durchschnittlich   wohl    10   Fuss  hoch. 
Beim  Auseinanderwerfen  wurden  Steine  und  Urnen,  Grabgefässe  gefunden,  die  leider 
zerbrochen  und  weggeworfen  worden  sind.    Auf  seiner  höchsten  Stelle,  welche  40  bis 
50  Fuss  vom  Seespiegel  hoch  liegen  mag,  ist  ein  Hügel  von  etwa  24  Schritt  Durch- 
messer   befindlich.     Bei    der  von   Westen   her  angefangenen  Durchgrabung    bis    zur 
Hälfte  hat  sich  zwar  ergeben,  dass  er  in  seiner  ganzen  Höhe  von  etwa  12  Fuss  künst- 
lich aufgeschüttet  ist;    es  sind   aber  ausser  Holzkohlen,   wenigen  Thierknochen  und 
einigen  Gefässscherben   keine   bemerkenswerthen  Sachen   gefunden.     Der  Hügel  liegt 


469 


dicht  am  steilen  südlichen  Abhang,  nach  Norden  zu  verläuft  der  Boden  nur  allmäh- 
lich zum  See.  Ziemlich  parallel  mit  diesem  Wall  läuft  durchschnittlich  150  Schritt 
davon  entfernt  ein  zweiter  Wall,  der  jetzt  noch  bedeutend  höher  ist,  als  der  erste, 
und  gleichzeitig  den  Abhang  des  breiteren  Plateaus  der  Schanze  bildet.  Dass  auch 
am  Rande  dieses  Abhanges  ein  Wal!  aufgeworfen  war,  ist  noch  deutlich  an  der  Er- 
höhung zu  sehen,  obgleich  auch  hier  schon  das  Erdreich  geebnet  und  beackert  ist. 
Vor  10  Jahren  war  auch  dieser  Abhang  noch  berast.  Dieser  zweite  Wall  oder  Rücken 
läuft  von  dein  südlichen  steilen  Abhang  des  Plateaus  in  nördlicher  Richtung  und 
endet  in  eine  in  den  See  vorgeschobene  Spitze.  Die  Plumpe  und  die  Däberseen 
sind  ziemlich  tief;  von  der  gedachten  Spitze  aus  läuft  aber  auch  ein  Rücken  durch 
das  Wasser  bis  aus  jenseitige  Ufer,  der  etwa  40  Schritt  Breite  hat  und  über  den 
das  Wasser  beim  niedrigsten  Stande  2  bis  3  Fuss  steht.  Er  ist  auch  mit  Schilf  und 
Rohr  bewachsen.  Vor  jenem  zweiten  Walle  scheint  auch  noch  ein  Graben  gewesen 
zu  sein,  dessen  Spuren  namentlich  auf  der  Höhe  noch  deutlich  sichtbar  sind.  Vor- 
dem Graben  hat  anscheinend  das  Wasser  eine  kleine  Schlucht  in  deu  südlichen  Ab- 
hang gerissen.  Das  durchschnittlich  300  Schritt  lange,  110  Schritt  breite  Plateau, 
etwa  60  bis  70  Fuss  über  dem  Seespiegel,  verflacht  sich  allmählich  nach  der  Ost- 
seite hin  und  fällt  hinter  dem  Wall  an  der  Nordwestseite  etwas  weniger  steil  ab  wie 
sonst.  An  der  nordöstlichen  Spitze  nähert  sich  die  Schanze  den  jenseitigen  Höhen 
auf  etwa  20  Schritt,  und  wird  von  ihnen  durch  das  sog.  Kreuzfliess,  das,  von  Münche- 
berg  kommend,  durch  den  grossen  Däbersee  nach  dem  Stobberfliess  geht,  getrennt. 
An  dieser  äussersten  Spitze  ist  noch  ein  Hügel  von  circa  20  Schritt  Durchmesser, 
der  von  der  Schanze  durch  einen  noch  deutlich  sichtbaren  Graben  getrennt  war.  Die 
vorerwähnte  Spitze  am  zweiten  Wall  ist  circa  150  Schritt  vom  jenseitigen  Ufer  ent- 
fernt, ebenso  die  südöstliche  Spitze.  Auch  das  Land  zwischen  beiden  Wällen  fällt 
nach  Norden  hin  nur  allmählich  ab.  Hier  sind  die  Nachgrabungen  gemacht,  welche  die 
Funde  ergeben  haben.  Schwarze  Stellen  im  sonst  gelblichen  Boden  lassen  auf  die 
Reste  des  Alterthuins  schliessen.  Früher  war  jedenfalls  die  Schanze  mit  Wald  be- 
standen. Vor  15  Jahren  standen  noch  am  südlichen  Rande  sehr  alte  Kiefern,  unter 
deren  Wurzeln  ich  schwarze  Erde,  Knochen,  Scherben  u.  s.  w.  gefunden  habe.  Ein 
Mühlstein  ist  ebenfalls  hier  gefunden.  Von  Pfahlbauten  in  den  Seen  bis  jetzt  keine 
Spur.     Sagen  auch  nicht  vorhanden." 


470 

Der  diesem  Berichte  beigefügte  Situationsplan  der  Schanze  ist  nach  filier  Karten- 
skizze des  Herrn   Kuchen buch  angefertigt   worden. 

Mi!  Hülfe  einiger  nrtsangehörigen  Vrbeitsleute  und  theils  mit  den  Händen  der 
Excursionstheiluehmer,  rheils  mit  geognostisehen  Instrumenten  wurden  nun  an  Ort 
und  stelle  verschiedene  Lager  aufgedeckt,  an  denen  viele  schwarze,  reichlich  mit 
Kohle  geschwängerte  Erde  vorhanden  war,  und  in  welcher  sieh  interessante  Fund- 
stücke zeigten.  Von  dem  ziemlich  reichhaltigen  Material  an  Thierknochen  legte  der 
Berichterstatter  einiges  in  der  Gesellschaft  vor.  das  übrige  hatte  derselbe  noch  im 
anatomischen  Museum  zurückgelassen,  um  die  Bestimmung  fortzusetzen.  Unter  den 
interessantesten  ausgelegten  Stücken  zeigten  sich  Reste  von  z.  TL  in  ihrer  Kontinui- 
tät erhaltenen,  /..  Th.  verletzten  Knochen  des  Haushundes  (ziemlich  vollständiger 
Schädel  nehst  dazu  gehöriger  Unterkieferhälfte,  sowie  ein  Unterkiefer,  zu  dem  nichts 
weiter  gefunden  worden  ist),  eine  Menge  von  Kiefer- Fragmenten,  Zähne  und  Schulter- 
blatt des  Wildschweins  und  einige  Stücke  vom  Schaf,  Rind,  von  der  Ziege.  Stücke 
von  Extremitäten-Knochen  des  Rindes,  Hirsches,  ferner  Wirbel  von  Hirsch,  Rind  und 
Pferd.  Unter  den  zugleich  mit  aufgedeckten  Erzeugnissen  menschlichen  Kunstfleisses 
befinden  sich  zwei  sorgfältig  gearbeitete  Knochenpfrieme,  eine  F^isensichel  und  Topf- 
seherben, letztere  Rand-.  Boden-,  Seitenwand-  und  Deckelstücke.  Einige  dieser 
Scherben  sind  mit  netten  Zeichnungen  versehen,  nett  im  Hinblick  auf  den  niederen 
Culturznstand,  in  welchem  doch  die  Bevölkerung  gelebt  haben  muss.  Alle  genann- 
ten Scherben  zeigen  sich  aus  grobem  Thon  verfertigt;  es  sind  viele  kleine  Fragmente 
granitischen  Gesteines  darin  eingeknetet,  die  namentlich  auf  der  Bruchfläche  sehr 
deutlich  zu  sehen  sind.  Viele  haben  äussere  und  innere  Brandspuren.  Endlich  ist 
noch  die  Phalanx  eines  Säugethiers  zu  erwähnen,  welche  nach  des  Berichterstatters 
Ansicht  dem  Bären  zugehört.  Auch  vom  Elen  scheinen  (unvollständige)  Reste  vor- 
handen,  indess  muss  deren   Untersuchung  erst  noch  genauer  controlirt  werden. 

Die  Stadt  Müncheberg  besitzt  eine  im  dortigen  Rathhause  aufgestellte  Sammlung 
vaterländischer  Alterthümer  und  geschichtlich  merkwürdiger  Gegenstände  aus  neuerer 
Zeit,  welche  von  den  Mitgliedern  der  Excursion,  wiederum  unter  gefälliger  Führung 
des  Vorstandes  des  oben  erwähnten  Müncheberger  Vereins,  in  Augenschein  genommen 
wurde.  Einige  hervorragende  Stücke  der  Sammlung,  z.  B.  eine  Lanzenspitze  mit 
Runenzeichen,  Gussformen  von  Sichelmessern,  das  Modell  eines  daselbst  aufgedeckten 
Packwerkes,  angefertigt  von  Herrn  Kuchenbuch,  erregten  das  grösste  Interesse. 
Es  verlohnt  sich  wahrlich  der  Mühe,  die  Herren  in  Müncheberg  zu  besuchen,  wozu 
sie  denn  auch  wiederholt  eingeladen  haben. 

Nach  einem  in  Gemeinschaft  mit  den  Vorstandsmitgliedern  eingenommenen  Mahle 
begaben  sich  spät  am  Abend  die  Theilnehmer  der  Excursion  in  befriedigter  und 
heiterer  Stimmung  nach  Berlin  zurück. 

Herr  Virchow  constatirt,  dass  die  Beschaffenheit  und  namentlich  die  Ornamen- 
tik des  Topfgeschirrs  ganz  dem  von  ihm  wiederholt  erwähnten  „Burgwalltypus"  un- 
serer Gegenden  entspricht,  und  er  trägt  daher  kein  Bedenken,  die  Schanze  des  Dä- 
ber-Sees  chronologisch  den  wahrscheinlich  slavischen  Erdbefestigungen  an  die  Seite 
zu  stellen.  — 

Herr  Virchow  berichtet 

über  alte  Höhlenwohnungen  auf  der  Bischofsinsel  bei  Königswalde. 

Ich  untersuchte  vor  Kurzem  eine  merkwürdige  Stelle  an  der  Ostgrenze  der  Neu- 
mark, bei  der  es  sich,  nach  meiner  Vorstellung,  um  alte  Höhlenwohnungen  bandelt. 
Nicht  weit  von  Schwerin  (Provinz  Posen),  ziemlich  genau  südlich  von  Landsberg  an 


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der  Warthe,  im  Lande  Sternberg,  liegt  die  kleine  Stadt  Königswalde  in  einer  von 
Natur  ziemlich  abgeschlossenen  Gegend.  Während  nördlich  von  der  Warthe  unmittel- 
bar die  neumärkische  Hochebene  ansteigt,  erstreck!  sich  auf  dem  Südufer  des  Flu  e 
das  Warthebruch  in  grosser  Breite.  In  demselben  ist  hier  keine  einzige  ältere  Strasse 
von  Landsberg  aus  erkennbar,  Fs  darf  daher  wohl  angenommen  werden,  da 
südlich  vom  Warthebruch  gelegene  Land  in  frühere]  Zeil  von  Norden  her  wenig  zu- 
gänglich war.  Noch  jetzt  führeu  keine  anderen  Wege  durch  das  Bruch,  als  schmale 
Vicinalstrassen,  die  gewöhnlich  unter  rechtem  Winkel  von  einem  Hof»  zum  andern 
abbiegen;  sie  stammen  erst  von  der  im  vorigen  Jahrhundert  begonnenen  Colonisation. 
Jenseits  des  Bruches  bebt  ein  sandiges,  flaches  Hügelland  an,  das  weithin  mit  Wald 
bedeckt  ist.  Erst  aachdem  man  einen  400Ü  Morgen  grossen  sterilen  Kiefernwald 
passirt  hat,  erreicht  man  Stadt  und  Schloss  Königswalde,  welche  n-cht  hübsch  am 
östlichen  Ufer  eines  beträchtlichen  Sees  gelegen  sind.  In  diesem  See  und  zwar  am 
entgegengesetzten  Ende  desselben  beiludet  sieh  die  Bischofsinsel,  von  welcher  hier 
die  Rede  sein  soll.  Herr  von  Waldaw-Reitzenstein,  der  Besitzer  des  Schlosses, 
des  Sees  und  der  Insel,  hatte  die  Güte  gehabt,  mir  in  eingehender  Wn'se  von  den 
früheren  Funden  Mittheilung  zu  machen.  Unter  dem  20.  April  theilte  er  mir  Fol- 
gendes mit:  „Auf  der  mir  gehörigen  14  Morgen  grossen  Sandinsel  (Generalstal  Karte 
Seite  171,  Landsberg  a.  W.,  Bischofsinsel),  welche  sich  über  den  Spiegel  des  Lübins- 
Sees  30  Fuss  erhebt,  habe  ich  auf  gelbem  Sande  eine  graue  Frdschicht  „efunden, 
welche  dem  Anscheine  nach  aus  Sand,  Asche  und  Kohle  besteht.  Diese  Schicht  be- 
deckt den  südöstlichen  Abhang  der  Insel  in  einer  Ausdehnung  von  .'>  b  •  4  \Iorgen 
und  wechselt  in  ihrer  Mächtigkeit  zwischen  zwei  bis  sechs  Fuss.  Di'  erst  u  Auf- 
grabungen habe  ich  auf  Veranlassung  des  Herrn  Berg- Assessor  von  Duck'  r  vor- 
genommen, welcher  mir  gesagt  hat.  dass  er  Ihnen  Mittheilung  davon -gemacl  t  habe 
und  Ihnen  neben  den  Urnen -Scherben  auch  die  Köpfe  von  zwei  me  schlichet  Ske- 
leten,   welche  wir  in  der  grauen   Frdschicht  freigelegt  hatten,   vorge'egt   habe. 

Später  habe  ich  die  Ausgrabungen  fortgesetzt  und  etwa  .r>0  Quadratruthi  n  der 
grauen  Erdschicht  bis  auf  den  Sand  umgraben  lassen.  Dabei  habe  ich  etwa  zwei 
Scheffel  Knochen  verschiedener  Grösse  gefunden,  von  denen  die  Röhrenknoche  i  und 
die  stärkeren  Kinnbacken  sämmtlich  aufgeschlagen  sind;  die  Knochen  rühren  s  igen- 
scheinlich  von  grösseren  und  von  kleineren  Thieren  her  und  'inden  sich  unter  den- 
selben eine  Elchschaufel,  Stücke  von  Hirschgeweihen,  von  Rehgehörnen  und  Sch^eine- 
zähne.  Daneben  finden  sich  ziemlich  viele  Steine,  von  denen  viele  augenscheinlich 
dem  Feuer  ausgesetzt  gewesen  sind,  so  dass  sie  leicht  zerfallen.  Ferner  ist  die  Erd- 
schicht mit  vielen  Scherben  von  gebranntem  Thon  vermischt,  von  denen  einige  mit 
rohen  Verzierungen  versehen  sind.  Dann  habe  ich  kleine  Anhäufungen  von  Fisch- 
schuppen und  Gräten,  sowie  von  zwei  verschiedenen  Samenarten  gefunden. 

Von  Werkzeugen  habe  ich  gefunden: 

1.  Einen  Mühlstein  aus  Granit. 

2.  Feuersteinwerkzeuge. 

3.  Einen  als  Pfriemen  zugespitzten  und  einen  durchbohrten  Knochen. 

4.  Einen  Röhrenknochen,  welcher  anscheinend  als  Schlittschuh  benutzt  worden  ist. 

5.  Stücke  von  Geweihen,  an  denen  geschnitten  ist. 
fi.    Kleine  Spindeln  aus  gebranntem  Thon. 

7.  Stücke  von  gebranntem  Thon,  welche  wie  die  Eckkacheln  von  eii  em  Ofen 
geformt  sind.  Dieselben  sind  auf  der  inneren  Seite  glatt,  auf  der  äusseren  rauh,  so 
dass  es  den  Anschein  hat,  als  ob  eine  Höhle  mit  Strauch  ausgesetzt  gewei  u  wäre, 
um  den  Sand  festzuhalten,  und  als  ob  der  Thon  von  innen  gegen  denselben  angetra- 
gen gewesen  wäre. 


472 

8.  Ein  kleiner  Schleifstein,  3"  lang,  '  ... "  breit.  ',.,"  stark,*  offenbar  für  Knochen 
und  Hörn. 

Metall  i»t  ausser  einigen  ganz,  kleinen  Stückchen  Eisen  und  einem  Messer  mit 
Knoclieuscliale,  welche  wohl  später  dorthin  gekommen  sein  mögen,  nicht  gefunden." 

Hr.  v.  WaUlaw  lud  mich  ein,  eie  Sache  anzusehen,  und  da  ich  allerdings  schon 
im  Jahre  1868  von  Herrn  von  Docker  ausser  einer  Mittheilung  über  die  ersten 
Aufgrabungen  zwei  menschliche  Schädel  erhalten  hatte  nebst  der  Angabe,  dass 
menschliche  Skelete  dort  zu  haben  seien,  so  entschloss  ich  mich  sehr  leicht,  die 
Reise  zu   unternehmen. 

fn  Beziehung  auf  die  von  Herrn  von  Duck  er  mir  übergebenen  Schädel  will 
ich  bemerken,  dass  dieselben  entschieden  doliehocephal  sind.  Sie  haben  einen  Breiten- 
Index  von  71,9  und  72,5  bei  einem  Höhen- Index  von  G(.),5  und  78,1.  Ich  werde 
vielleicht  bei  einer  anderen  Gelegenheit  mir  erlauben,  dieselben  vorzulegen.  Jeden- 
falls haben  sie  nichts  an  sich,  was  nach  der  herrschenden  Meinung  an  Slavenschädel 
erinnert. 

Ausserdem  hat  es  vielleicht  Interesse  zu  erwähnen,  dass  früher  wiederholt  in 
dieser  Gegend  alterthümliche  Funde  gemacht  worden  sind.  So  sind  namentlich  eine. 
Silbermünze  des  Trajanus  Decius  und  in  einem  Sandhügel  1855  silberne  Schmuck- 
sachen gefunden*). 

Als  ich  nun  in  Königswalde  ankam,  so  ergab  sich  allerdings,  dass  Herr  v.  Wal- 
daw  eine  sehr  beträchtliche  Masse  von  Knochen  aufgehäuft  hatte,  und  ich  muss  nach 
ihrer  Durchsicht  im  Wesentlichen  bestätigen,  was  er  angegeben  hat.  Insbesondere 
zeigte  die  Mehrzahl  derselben  denselben  zerschlagenen  Zustand,  welcher  uns  in  un- 
seren alten  Ansiedelungen  so  häufig  begeguet  und  von  dem  sich  nicht  bezweifeln 
lässt,  dass  er  absichtlich  zur  Erlangung  des  in  den  Knochen  enthaltenen  Markes  her- 
beigeführt worden  ist.  Die  von  Herrn  von  Waldaw  angegebeneu  Thierarten  sind 
richtig.  Ich  habe  nur  noch  hinzuzufügen,  dass  ein  grosser  Bärenkiefer  darunter  war. 
Elenknochen  zeigten  sich  in  ungewöhnlicher  Zahl  und  Grösse,  insbesondere  einige 
Kieferstücke  gehören  zu  den  kräftigsten,  welche  aus  dieser  Zeit  vorhanden  sein  mögen. 
Ebenso  waren  Kieferstücke  vom  Wildschwein  in  besonderer  Stärke  vorhanden.  Es 
fand  sich  ferner  eine  sehr  beträchtliche  Quantität  von  Knochen  einer  gezähmten 
Schweinerace,  die  in  den  wesentlichen  Stücken  mit  dem  Torfschwein  übereinstimmt; 
eine  grosse  Masse  von  Schaf-  und  Rindsknochen ,  Weniges  von  der  Ziege ,  eine  ver- 
hältnissmässig  nicht  grosse  Menge  vom  Hirsch  und  Reh,  ■vereinzelte  Knochen  vom 
Fuchs,  ein  halber,  jedoch  auffallend  kleiner  Unterkiefer  von  einer  Katze,  mehrere 
Schädelstücke  von  Hypodaeus  amphibius  (der  Wasser-Mühlmaus)  von  ungewöhnlicher 
Grösse,  sodann  eine  nicht  unbeträchtliche  Zahl  von  Vögelknochen,  unter  denen  die 
Gans,  die  Ente  und  das  Huhn  vertreten  sind,  endlich  grosse  Quantitäten  Fischüber- 
reste, sowohl  Schuppen,  als  Kopf-  und  Wirbelknochen,  Gräten  u.  s.  w.,  wie  sie  Herr 
von  Walcia w  schon  gesammelt  hatte  und  wie  ich  nachher  durch  eigene  Ausgrabung 
selbst  in  der  Lage  gewesen  bin  zu  constatiren.  Was  die  in  dem  Schreiben  des  Hrn. 
von  Waldaw  erwähnten  beiden  Arten  von  Samen  betrifft,  so  habe  ich  Specimina 
davon  mitgebracht,  welche  Herr  Braun  die  Güte  gehabt  hat,  näher  zu  bestimmen. 
Nach  seiner  Angabe  ist  der  eine  Hirse,  welche  ganz  genau  in  Grösse  und  Form  mit 
dem  jetzt  eultivirten  Panicum  miliaceum  (Rispenhirse)  übereinstimmt,  deren  Vorkom- 
men von  Heer  auch  in  den  Schweizer  Pfahlbauten  angegeben  wird;  der  andere  Buch- 
weizen oder  Heidekorn  (Polygonum  Fagopyrum),  jedoch  die  Früchtchen  viel  kleiner, 

*)  J.  Friedländer,  Märkische  Forschungen.    Bd.  VII.  S.  108. 


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als  bei  dein  jetzt  cultivirten.  In  den  Schweizer  Pfahlbauten  ist  nach  Heer  Buch- 
weizen nicht  gefunden  worden. 

ich  bin  nicht  in  der  Lage,  eine  grossere  Zahl  von  bearbeiteten  Sachen  vorzu- 
legen, da  Hon  von  Waldaw  dieselben  zu  behalten  wünschte  und  ich  es  wenigstens 
für  jetzt  nicht  für  nothwendig  gehalten  habe,  dieselben  zu  erbitten.  Er  würde  sie 
aber  gern  zur  Ansicht  vorlegen.  Ich  habe  nur  Kleinigkeiten,  namentlich  Geweih- 
stücke vom  Elch,  Hirsch  und  Heb,  sowie  verschiedene  Knochen  des  Stammes  und  der 
Extremitäten,  welche  deutliche  Spuren  kunstinässiger  Schnitt.'  zeigen.  Ein  paar  eiserne 
Messer,  welche  ich  seihst  auf  der  ln>el  gefunden  habe,  sind  von  geringerer  Bedeutung, 
da  sie  mehr  oberflächlich  lagen  und  Zweifel  darüber  bestehen  können,  ob  sie  nicht 
erst  später  daliin  gelangt  sind.  Im  Grossen  und  Ganzen  stimmen  sowohl  die  Kunst- 
produkte als  die  Thierknochen  mit  dem  überein,  was  sonst  in  unseren  Burgwällen 
und  Pfahlbauten  vorkommt.  Nur  der  Bär  ist  bisher  nirgends  unter  den  von  der 
alten  Bevölkerung  verwerteten  Thieren  erkannt  worden;  sollte  sich  jedoch  der  vor- 
her vom  Däber-See  vorgelegte  Zehenknochen,  den  Herr  Hartmann  als  wahr- 
scheinlich vom  Bären  abstammend  angegeben  hat,  als  solcher  bestätigen,  so  würde 
auch  hier  eine  Analogie  festgestellt  sein.  Dagegen  ist  es  für  unsere  Gegenden  voll- 
kommen neu,  dass  so  grosse  (Quantitäten  von  Körnern  aufgefunden  sind.  Hinwiederum 
ist  das  Vorkommen  von  Fischüberresten,  namentlich  von  Schuppen,  nichts  Neues 
da  ich  ganz  Aehnliches  früher  in  dem  Wallberge  bei  Garz  (Camin)  nachgewiesen 
habe.  Auf  der  Bischofsinsel  sind  Fischschuppen  in  grossen  Mengen  so  häufig,  dass 
ich  in  kurzer  Zeit  eine  ganze  Schachtel  voll  davon  ausgegraben  habe. 

In  Beziehung  auf  das  Alter  der  Königswalder  Ansiedhing  sind  meiner  Meinung 
nach  wieder  die  Topfgeschirre  entscheidend,  von  denen  sehr  grosse  Quantitäten  mit 
Leichtigkeit  gewonnen  worden  sind.  Das  Material,  aus  dem  sie  gearbeitet  sind,  un- 
terscheidet sich  in  Nichts  von  den  gewöhnlichen  groben  Thongeräthen  unserer  Vor- 
zeit. Es  ist  ein  schwärzlich  grauer,  mit  Quarz-  und  Glimmerstiicken  gemengter 
Thon,  der  hie  und  da  aussen,  auch  wohl  innen  durch  Brand  geröthet  ist  Durchweg 
sind  die  Geräthe  sehr  dickwandig  und  ohne  Glätte.  Aber  nicht  wenige  von  ihnen 
zeigen  einen  höheren  Grad  von  Kunstsinn  an  und  bieten  überaus  maunichfaltige 
Formen  dar.  Die  Ornamentik  daran  stimmt  in  vielen  Stücken  überein  mit  demjeni- 
gen, was  ich  früher  wiederholt  aus  unseren  Pfahl-  und  Wall- Ansiedelungen  erwähnt 
habe  und  was  eben  erst  wieder  aus  der  Schanze  am  Däber-See  vorgelegt  worden  ist. 
Von  speciellem  Interesse. ist  namentlich  ein  Fund,  der  lebhaft  erinnert  an  das,  was 
ich  in  einer  früheren  Sitzung  von  den  Pfahlbauten  im  Soldiner  und  Daber-See  an- 
geführt habe.  Es  findet  sich  nämlich  eine  gewisse  Zahl  von  Bodenstücken,  welche 
besondere  Zeichen  haben,  gewöhnlich  allerdings  nur  einen  einfachen  runden  Eindruck; 
ein  Topfstück  aber  besitzt  an  seiner  unteren  Fläche  eine  Art  von  Stempel  mit  erha- 
benen Linien.  Es  ist  ein  zierliches  Kreuz,  dessen  Winkel  durch  Linien  mit  gekrümm- 
ten Enden  durchsetzt  sind.  Wenn  ich  nicht  ganz  irre,  so  findet  sich  im  hiesigen 
Museum   ein  ähnlicher  Abdruck  von  Königsberg  i.  N.     Sodann  ist   noch   das  Bruch- 


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stück  eines  Topfdeckels  da,  dessen  Ausstattung  weit  über  dasjenige  hinausgeht,  was 
wii  sonst  aus  unseren  alten  Ansiedelungen  der  Art  keunen.  Derselbe  besitzt  einen 
grossen  platten  Knopf,  der  auf  einem  dicken,  konischeu  Süel  sitzt:  er  ist  auf  seiner 
oberen  Fläche  mit  regelmässigen,  in  zwei  Ringen  angeordneten,  durch  Kindrücke 
scharfei  Gegenstände  hervorgebrachten  Verzierungen  besetzt.  Aehuliche  Formen  sind 
auch  sonst  wohl  bekannt,  aber  sie  setzen  doch  einen  höheren  Grad  künstlerischer 
Ausbildung  voraus,  als  er  an  der  Mehrzahl  unserer  Gräber-  und  Burgwall-Uruen  zu 
erkennen   ist. 

Indem  ich  mich  nun  zu  einer  Beschreibung  der  Lage  und  Beschaffenheit  des  be- 
treffenden Terrains  wende,  sage  ich  zuerst  einige  Worte  über  die  Bischofsinsel  selbst. 
Diese,  wie  erwähnt,  etwa  II  Morgen  gross,  hat  eine  rundliche  Gestalt  und  bildet 
einen  niedrigen,  etwas  schiefen  Kegel,  dessen  Spitze  einige  3U  Fuss  hoch  ist  uud 
dem  nördlichen  Bande  näher  liegt.  Hier  fällt  daher  das  Ufer  etwas  steiler  ab,  wäh- 
rend es  sich  Dffmentlich  nach  Süden  zu  iu  einer  längeren  Abdachung  allmählich  ver- 
flacht. Dem  entsprechend  ist  auch  der  umgebende  See  nach  Norden  hin  sehr  tief 
und  das  nächste  Ufer  entfernt,  während  nach  Süden  hin  das  Ufer  nur  durch  eine 
zum  grossen  Theile  seichte  und  schmale  Fuhrt  getrennt  ist.  Jenseits  dieser  Fuhrt 
steigt  eine  sandige  Fläche  ziemlich  schnell  zu  einem  massigen  Landrücken  empor. 
Sowohl  in  der  Fuhrt,  als  an  dem  nördlichen  Ufer  der  Insel  sind  unter  dem  Wasser- 
spiegel einzelne  Pfähle  ergründet,  jedoch  so  vereinzelt,  dass  an  wirkliche  Pfahlbauten 
bis  jetzt  nicht  zu  denken  ist. 

Trotz  wiederholter  Grabungen  an  den  verschiedensten  Stellen  der  Insel  fanden  wir 
nirgends  weiter  Spuren  älterer  Thätigkeit  des  Menschen,  als  auf  der  flacheren  südlichen 
und  südöstlichen  Abdachung,  übrigens  der  einzigen,  nicht  mit  Gesträuch  bestandenen 
Gegend  der  Insel.  Die  alte  „Culturschicht"  machte  sich  hier  leicht  kenntlich  durch 
die  sehr  lockere,  schwärzlich  graue  Erde,  in  welcher  schon  oberflächlich  Topfscherben 
in  grösserer  Menge  bemerklich  waren.  Sie  beginnt  etwas  unterhalb  der  Spitze,  setzt 
sich  dann  aber  Ins  nahe  an  das  Ufer  hin  fort.  Diese  ganze  Fläche  ist  äusserlich 
eben  und  nur  gegen  die  schmälste  Stelle  der  Fuhrt  hin  lag  eine  grössere  Anhäufung 
von  mächtigen  Geröllsteinen,  welche  den  Eindruck  eines  Hünengrabes  machte,  deren 
Aufschliessung  uns  aber  keinerlei  wichtigeie  Ergebnisse  lieferte.  Einzelne  Scherben 
und  Knocheustücke  in  der  kohligen  Erde  bildeten  hier  unseren  ganzen  Erwerb. 

Durch  meine  weiteren  Ausgrabungen  wurde  nun  zunächst  festgestellt,  dass  die 
Skelete,  von  denen  unter  meiner  Leitung  noch  weitere  vier  ausgegraben  wurden, 
sich  nur  auf  einer  beschränkten  Stelle  der  Culturschicht,  mehr  gegen  die  erwähnte 
Fuhrt  hin,  jedoch  höher  als  die  Steinsetzung,  vorfanden,  und  dass  sie  unzweifelhaft 
einer  anderen  Periode  angehören,  als  die  ganze  übrige  Masse  der  Funde.  Man  konnte 
nehmlich  erstlich  bei  einem  Skelet  noch  Holzfragmente  unterscheiden,  Ueberreste  eines 
Sarges,  in  den  offenbar  die  Leiche  hineingelegt  worden  war.  Sodann  zeigte  sich, 
dass  die  Erde  über  und  unter  den  Skeleten  zerstreut  dieselben  Gegenstände,  nament- 
lich Bruchstücke  von  Thierknochen  und  Topfgeschirr-Trümmer  enthielt,  die  an  den 
anderen  Stellen  in  besonderer,  noch  zu  beschreibender  Weise  gefunden  wurden.  Es 
war  also  unzweifelhaft,  dass  die  Leichen  in  eine  Erde  gelegt  worden  sind,  welche 
schon  so  beschaffen  war,  wie  an  den  übrigen  Stellen,  woraus  wiederum  folgt,  dass 
sie  einer  ungleich  späteren  Zeit  zugerechnet  werden  müssen.  Es  ist  jedoch  vorläufig 
nicht  zu  sagen,  Welcher  Zeit  sie  angehören. 

Bei  den  Skeleten  ist  Nichts  gefunden  worden,  welches  irgend  einen  Anhalts- 
punkt darbietet,  und  es  ist  daher  wohl  möglich,  dass  die -Leichen  erst  in  neuerer 
Zeit  begraben  worden  sind.  Dafür  spricht  namentlich  der  Umstand,  dass  sie  durch- 
weg sehr  oberflächlich,   zum  Theil   wenig  über  Fuss  tief  lagen,   und  dass  äusserlich 


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keinerlei  Zeichen,  wie  Bodenerhöhungen,  Steinkränze  u.  dergl.  auf  ihre  Anwesenheil 
hindeuteten.  Ich  erwähne  ausserdem  noch,  dass  die  Leichen  sämmtlich  in  horizon- 
tale! Lage,  den  Kopf  nach  Westen,  die  Füsse  nach  Osten  gerichtet,  in  Reihen  hintei 
einander  hestattet  waren,  und  dass'  die  \fehrzahl  der  Knochen  vorzüglich  erhalten 
war:  nur  die  tiefer  gelegenen  Theile,  namentlich  die  Wirbel  und  die  hinteren  Ab- 
schnitte der  Hecken,  waren  stellenweise  gänzlich  zerfallen.  I»i<-  meisten  diesei  Kno- 
chen hatten  eine  gelblichbraune  Farbe  und  unterschieden  sich  dadurch  erheblich  von 
dem  einzigen,  in  grösserer  Tiefe  ausgegrabenen  Deberrest  eine-  menschlichen  Kno- 
chens, nämlich  einem  vorderen  Bruchstück  von  der  rechten  Hälfte  eines  ehi  hohen 
und  starken  Unterkiefer  mit  sehr  tief  abgeschliffenen,  so nst  jedoch  vorzüglich  erhal- 
tenen Zähnen.  Die  Bruchflächen  dieses  Stückes  waren  ganz  alt.  jedoch  keineswegs 
scharf,  und  ich  möchte  daher  ans  seiner  Existenz  keine  Schlüsse  auf  anthropophage 
Neigungen  der  alten    Bewohner  machen. 

Das  eigentliche  [nteresse  des  Ortes  knü[ifte  sich  daher  vorläufig  nicht  so  sehr 
au  die  menschlichen  Reste,  sondern  vielmehr  an  das  vorher  in  seiner  Lage  geschil- 
derte alte  Kulturland,  von  dem  ich  annehmen  zu  dürfen  glaube,  das»  darauf  oder 
darin  eine  gewisse  Zahl  -von  Erdwohnungen  existirt  haben  muss.  Denn  obwohl 
hei  der  ersten  Grabung  der  Anschein  entstand,  als  sei'der  ganze  Boden  Ins  zu  einei 
Tiefe  von  4  —  ti  Fuss  mit  Trümmern  menschlicher  Cultur  durchsetzt,  so  ergab  sich 
bei  genauerer  Aufmerksamkeit  doch  bald,  dass  die  Zusammensetzung  des  Bodens  eine 
in  kurzen  Zwischenräumen  sehr  wechselnde  sei.  Insbesondere  liess  sich  erkennen, 
dass  gewisse  Vertiefungen  in  bestimmten  Entfernungen  von  einander  existirt  haben 
müssen,  die  später  durch  Nachstürzen  von  oben  und  zum  Theil  von  den  Seiteu  her 
ausgefüllt  worden  sind.  Der  natürliche,  aus  gelbem  Sande  bestehende  Boden  lässt 
sich  leicht  unterscheiden.  Er  war  jedoch  von  Stelle  zu  Stelle  unterbrochen  durch 
grössere,  keilförmig  in  die  Tiefe  gehende  Massen  von  schwärzlicher  Erde,  welche  5 — 
6  Fuss  unter  der  Oberfläche  grosse,  zum  Theil  haufenweise  liegende  Stücke  von  Holz- 
kohle. Asche,  zerschlagene  und  gebrannte  Heerdsteine  umschloss.  Innerhalb  diesei 
Trichter  fanden  sich  die  verschiedenen  Gegenstände,  namentlich  der  Küche,  in  gros 
ser  Menge,  während  der  Sand  daneben  frei  davon  war.  Es  fanden  sich  ferner  ganz 
im  Grunde  der  Trichter  noch  einzelne  mehr  zusammenhaltende  Töpfe  und  Topfreste, 
und  in  dem  einen  derselben  eine  so  grosse  Masse  blätterig  auf  einander  geschichte- 
ter, ganz  reiner  Fischschuppen,  dass  sie  beinahe  zwei  Hände  hätten  füllen   können. 

Wahrscheinlich  hat  sich  die  alte  Ansiedelung  auf  die  andere  Seite  der  Fuhrt  er- 
streckt. Wenigstens  fanden  wir  auch  an  dem  gegenüber  liegenden  Abhänge  zerstreute 
Kohlenheerde,  verzierte  Topfscherben,  zerschlagene  Thierknochen  und  einzelne,  jedoch 
sehr  unreine  Eisenschlacken.  Wir  waren  jedoch  hier  in  unseren  Untersuchungen  be- 
hindert, da  das  betreffende  Ufergebiet  einem  anderen  Besitzer  gehörte,  dessen  Er- 
laubniss  wir  nicht  einholen  konnten.  Immerhin  lässt  sich  kaum  bezweifeln,  dass  der 
gewöhnliche  Zugang  zu  der  Insel  über  die  Fuhrt  herüber  stattfand  und  dass  der 
Stamm,  welcher  die  Insel  bewohnte,  wenigstens  ie  rnhigen  Zeiten  auch  auf  dem  Fest- 
lande Ansiedelungen  besass.  Möglicherweise  diente  die  kleine  Insel  mehr  als  eine 
letzte  Zufluchtsstätte. 

Jedenfalls  handelt  es  sich  auf  der  Insel  nicht  wesentlich  um  einen  Begräbniss- 
platz, sondern  wesentlich  um  eine  Ansicdlung.  auf  deren  Boden  ein  späteres  Geschlecht 
Todte  bestattet  hat.  Die  Natur  der  Ansiedelungen  trat  besonders  klar  hervor,  als 
ich  einen  längeren,  dem  Uferrande  parallelen  Querschnitt  von  etwa  6  Fuss  Tiefe  und 
3 — 4  Fuss  Breite  ausgraben  Hess.  Mit  grosser  Regelmässigkeit  wiederholten  sich  hier 
die  schwarzen  Trichter  in  der  gelben  Sandschicht.  Erwägt  man  nun.  dass  gerade 
die  Trichter  die  wichtigsten  und  reichsten  Fundstücke  enthalten  und  zwar  gegen  die 


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Tiefe  hin  die  am  vollständigsten  erhaltenen,  so  wird  man  sieh  der  Vorstellung  nicht 
entziehen  können,  dass  diese  Gruben  nicht  bloss  Keller  unter  den  Wohnungen,  son- 
dern selbst  bewohnt  waren,  wenigstens  die.  Küche  mit  enthielten. 

Eine  solche  Art  der  Existenz  bei  alteuropäischen  Stämmen  ist  an  verschiedenen 
Orten  nachgewiesen  worden.  Ich  erinnere  erstlich  daran,  dass  in  der  Nahe  des  Zü- 
richer Sees  durch  Hrn.  Escher  von  Berg  am  [rchel  schon  1851  und  18H2  tieflie- 
gende Erdwohnungen  constatirt  worden  sind,  in  welchen  ähnliche  Sachen  sieh  fanden, 
wie  in  den  benachbarten  Pfahlbauten.  Sodann  hat  Hr.  Lisch  sich  wiederholt  mit 
dem  Gegenstände  beschäftigt  und  an  verschiedenen  Stelleu  Mecklenburgs  Höhlen- 
Wohnungen,  namentlich  bei  Dreviskirchen  und  Roggow  in  der  Nähe  von  Neu-Bukow, 
sowie  auf  dem  Wehrkamp  bei  Pölitz  nachgewiesen,  und  es  ist  für  unsere  Verhält- 
nisse von  besonderem  Interesse,  dass  dieser  erfahrene  Korscher,  während  er  die  er- 
steren  Ansiedelungen  der  Steinzeit  zurechnet,  die  bei  Pölitz  der  letzten  Heidenzeit 
zuzählt  und  sie  mit  den  Burgwällen  in  dieselbe  Periode  setzt.  Endlich  hat  vor  zwei 
Jahren  Hr.  Friederich  eine  Lokalität  in  der  Nähe  von  Wernigerode  am  Harz  be- 
schrieben, wo  auf  zwei  Stellen:  am  Kölderbrink  und  am  Stukenberge  (Krebswarte) 
ähnliche  Verhältnisse  angetroffen  worden  sind,  und  es  ist  namentlich  wichtig  zu  er- 
wähnen, dass  hier  von  eiuer  ganz  übereinstimmenden  Art  von  Ofen-Einrichtung,  wie 
sie  Hr.  v.  Waldaw  beschreibt,  vortreffliche  Stücke  aufgefunden  sind,  nämlich  Steine 
aus  rothgebranntem  Thon  mit  hohlen  Röhren  und  Rinnen,  die  offenbar  bestimmt  wa- 
ren, Rauch  in  die  Höhe  zu  leiten.  Hr.  Friederich  beruft  sich  auf  die  schon  von 
Tacitus,  Germania  cap,  17,  gemachte  Angabe,  wonach  die  Germanen  unterirdische 
Höhlen  als  Zuflucht  im  Winter  und  als  Aufbewahrungsort  für  Früchte  benutzten. 
Fndess  folgt  aus  dieser  Angabe  nicht,  dass  auch  unsere  Erdwohnungen  durch  alte 
Germanen  angelegt  sind,  denn  eine  derartige  Sitte  ist  zu  natürlich,  um  sich  nicht 
unter  ganz  verschiedeneu  Verhältnissen  zu  wiederholen. 

Selbst  aus  unserer  Nähe  kann  ich  noch  eine  andere,  in  vieler  Beziehung  ähnliche 
Lokalität  erwähnen,  über  welche  ich  mir  vorbehalte,  später  einmal  genauer  zu  be- 
richten. Es  ist  eine  ebenfalls  von  Hrn.  v.  Dücker*)  früher  besuchte  und  beschrie- 
bene, von  ihm  der  Steinzeit  zugerechnete  Ansiedluug  bei  Potzlow  in  der  Uckermark, 
welche  nach  meinen  Untersuchungen  verhältnissmässig  jung  ist  und  gleichfalls  der 
Burgwall-Periode  augehört.  Eine  dritte  Lokalität,  die  wahrscheinlich  eine  ähnliche 
Bedeutung  hat,  ist  der  Wallberg  bei  Garz  in  der  Nähe  von  Camin  in  Pommern.  Ich 
zweifle  nach  diesen  Erfahrungen  nicht  daran,  dass  Verhältnisse,  wie  sie  sich  in  Meck- 
lenburg an  verschiedenen  Orten  gezeigt  haben,  sich  in  grösserer  Zahl  auch  bei  uns 
finden  werden.  Nur  muss  ich  in  Beziehung  auf  die  Zeit  dieser  Erd- Ansiedelungen 
von  der  Mehrzahl  der  früheren  Auffassungen  abweichen,  insofern  meiner  Meinung  nach 
kein  Zweifel  darüber  bestehen  kann,  dass  die  Anlage  unserer  Höhlenwohnungen  nicht 
weit  zurückliegen  kann  von  der  Zeit,  wo  die  Burgwälle,  Schanzen  und  Pfahlbauten 
unserer  Gegenden  im  Gebrauch  gewesen  sind. 

Herr  v.  Ledebur:  An  dem  einen  Topfscherben  ist  interessant  das  auf  der  untern 
Seite  befindliche  Töpferzeichen,  zwei  über  ein  Kreuz  gelegte  Stäbe.  Dies  ist  das 
Wappen  der  Bischöfe  von  Lebus.  Freilich  sieht  man  noch  mehr  als  bloss  zwei 
Krummstäbe;  sie  sind  nach  zwei  Seiten  gedreht,  so  dass,  wie  man  das  Stück  auch 
drehen  mag,  immer  dasselbe  Kreuz  vorhanden  ist.    Ich  erinnere  mich  keines  anderen 

•)  Baron  P.  F.  von  Dücker,  Vorgeschichtliche  Spuren  des  Menschen  am  Wege  nach 
Rügen  und  auf  der  Insel  Rügen  selbst.    Berlin  1868. 


477 

ßischofswappens,  auf  welchem  sich  zwei  Kreuzstäbe  befinden.    Darnach  möchten  diese 
Ueberreste  der  historischen  Zeit  angehören. 

Herr  Ascherson:  Ich  will  mir  eine  Bemerkung  erlauben,  die  vielleicht  zu  einer 
ähnlichen  Con  Sequenz  führen  wird.  Das  Vorkommen  des  Buchweizens  ist  ausser- 
ordentlich merkwürdig,  und  es  würde  dieser  Fund,  falls  sich  aus  anderen  Indicien 
ein  hohes  Alter  des  Platzes  herausstellen  sollte,  für  die  Geschichte  dieser  Pflanze 
von  grosser  Wichtigkeit  sein.  Andernfalls  würde  er  ein  verhältnissmässig  junges  Al- 
ter der  Ansiedelung  beweisen;  denn  Buchweizen  ist  eine  Culturpflanze  welche  erst 
in  verhältnissmässig  neuer  Zeit  nach  Europa  gelangt  ist,  wofür  schon  der  Umstand 
spricht,  dass  sie  einen  deutschen  Namen  trägt.  Der  lateinische  Name  (Fagopyrum) 
ist  bloss  eine  Uebersetzung  des  Deutschen.  Es  lässt  sich  durch  historische  Nach- 
richten feststellen,  dass  der  Buchweizen  erst  im  Mittelalter  in  Europa  eingeführt  wor- 
den ist;  insbesondere  hat  der  auf  dem  archii  fischen  Gebiete  so  bekannte  Hr.  Lisch 
nachgewiesen,  dass  der  Buchweizen  in  Mecklenburg  nicht  über  das  15.  Jahrhundert 
hinausreicht.  Es  würde  dies  also  wahrscheinlich  machen,  mit  andern  Umständen  zu- 
sammengerechnet, dass  dieser  Fund  einer  verhältnissmässig  späten  Zeit  des  Mittel- 
alters angehört. 

Herr  Alex.  Braun:  Diese  Körner  haben  zwar  vollkommen  die  Form  des  Buch- 
weizens, sind  aber  doch  bedeutend  kleiner.  Es  wäre  also  denkbar,  dass  eine  andere 
Polygonuni-Art  in  früherer  Zeit  ähnlich  benutzt  worden  wäre.  Ich  habe  die  Körner 
mit  denen  von  Polygonum  Convolvulus  verglichen,  dem  sie  sehr  analog  sind,  aber 
mit  dem  sie  doch  nicht  ganz  übereinstimmen.  Im  Vortrage  des  Hrn.  Vorsitzenden 
ist  mir  noch  etwas  aufgefallen,  n;imlich  die  Erwähnung  der  Hühnerknochen.  Die 
Hühner  gehören  in  Europa  ebenfalls  einer  sehr"  späten  Zeit  an,  es  müssten  denn  wilde 
Hühner  oder  Auerhühner  sein.  Indess  wäre  es  denkbar,  dass  sich  auch  unter  den 
übrigen  Dingen  Einiges  findet,  das  einer  neueren  Zeit  angehört. 

Herr  Virchow:  Was  die  Samen  betrifft,  so  bin  ich  nicht  in  der  Lage,  aus  eige- 
ner Anschauung  zu  constatiren,  an  welcher  Stelle  si^  sich  befunden  haben.  Für  die 
Fischschuppen  kaun  ich  stehen,  da  ich  sie  mit  eigener  Hand  mit  dem  thönernen 
Topfe,  in  dem  sie  enthalten  waren,  aus  einer  Tiefe  von  5  Fuss  genommen  habe; 
ebenso  für  die  Vögelknochen.  Ich  habe  nicht  verglichen,  welche  Hühner  darunter 
begriffen  sind;  jedenfalls  ist  es  nicht  das  Rebhuhn.  Soviel  ich  jedoch  sehe,  stimmen 
die  Knochen  am  meisten  mit  denen  des  Haushuhns  überein.  Es  ist  mir  aber  von 
letzterem  nicht  bekannt,  dass  seine  Einführung  in  Europa  eine  so  späte  sei;  die 
Nachrichten  der  griechischen  und  römischen  Schriftsteller  können  für  Norddeutsch- 
land nichts  entscheiden.  Ich  muss  einen  besonderen  Werth  auf  das  legen ,  was  ich 
selbst  constatirt  habe.  Darnach  bin  ich  der  Meinung,  dass  man  mit  grosser  Evidenz 
schliessen  kann,  dass  es  sich  um  Erd-  oder  Höhlenwohnungen  aus  vorhistorischer 
Zeit  handelt.  Durchmustert  man  die  Gesammtheit  der  Fundgegenstände,  so  wird  sich 
Jeder  leicht  überzeugen,  dass  unter  den  erweislich  späteren  Ueberresten  iu  unseren  Ge- 
genden nichts  ist,  was  dem  hier  Vorliegenden  parallel  gestellt  werden  kann.  Der 
eine  oder  andere  Scherben  mag  aus  einer  höheren  Erdschicht  aufgehoben  und  erst 
nachträglich  hinzugekommen  sein,  wie  die  Leichen,  von  denen  ich  berichtet  habe. 
An  der  Oberfläche  habe  ich  hie  und  da,  wie  an  so  vielen  später  beackerten  und  ge- 
düngten Orten,  selbst  glasirte  Topfscherben  gesehen.  Ich  will  also  nicht  für  jedes 
einzelne  Stück  stehen,  aber  der  Gesammt-Charakter  des  Fundes  ist  so,  wie  ich  ihn 
beschrieben  habe. 


478 

Herr  Meitzen:  Ich  wollte  unsern  Hrn.  Vorsitzenden  bitten,  ob  er  uns  nicht  eine 
genauere  Beschreibung  des  Charakters  der  Wohnungen  geben  könnte.  Ich  habe  nehm- 
lich  die  von  Hrn.  Fried  er  ich  bei  Wernigerode  aufgedeckten  „Höhleuwohnungen" 
gesehen,  und  bin  zu  der  Ueberzeugung  gekommen,  dass  man  auf  diese  Dinge  den 
Namen  von  Wohnungen  nur  sehr  uneigentlich  anwenden  kann.  Es  sind  offenbar 
Heerde,  die  auch  ein  wandernder  Stamm,  selbst  ein  Heer  zum  Kriegslager  errichtet 
haben  könnte.  Dieselben  befinden  sich  keineswegs  in  einer  besonderen  Tiefe,  sondern 
es  ist  da  eine  flache  Anhöhe,  die  auf  der  einen  Seite  vielleicht  5  Fuss  abgestochen 
ist.  In  dieser  Wand  sind  grosse  Feldsteine  zusammengelegt,  so  dass  sie  einen  Heerd 
bilden;  über  sie  ist  augenscheinlich  eine  Lehmscbicht  gestrichen  worden.  Nun  steht 
fast  regelmässig  an  jeder  Seite  je  ein  Ziegel,  welcher  konisch  zugeht,  wie  ein  Obe- 
lisk, und  man  sieht,  dass  er  mit  einer  gewissen  Absicht  der  Verzierung  verfertigt 
ist:  es  sind  mit  den  Fingern  vier  Riefen  daran  gemacht  worden.  Ausserdem  ist  an 
ihm  ein  Loch  vorhanden,  welches  zum  Hiudurchstecken  eines  Hratspiesses  sehr  wohl 
geeignet  ist.  Dabei  fanden  sich  Urnen  in  erheblicher  Masse,  Feuersteine,  es  fanden 
sich  auch  Knochen,  aber  man  kann  doch  nicht  schlechthin  behaupten,  dass  zwischen 
allen  diesen  Dingen  eine  Beziehung  existirt  und  dass  dies  auf  eine  Bewohnung  in 
alter  Zeit  schliessen  lasse.  Ich  kann  es  mir  nicht  anders  vorstellen ,  als  dass  man 
über  eine  Grube  ein  Holz-  oder  Strohdach  gelegt  hat,  und  dass,  wenn  es  überhaupt 
Wohnungen  gewesen  sind,  sie  in  der  Art  benutzt  wurden,  wie  heute  noch  die  Klein- 
Russen  wohnen.  Denken  lässt  es  sich  allerdings,  dass  man  sie  mit  einem  Dache  von 
Holz  oder  Stroh,  wie  eine  Veranda,  bedeckt  und  so  bewohnt  hat;  ich  vermochte  mich 
aber  nicht  davon  zu  überzeugen,  dass  sie  zu  einem  dauernden  Aufenthalte  gedient 
haben.  Ich  kann  mir  wohl  denken,  dass  auf  einer  Insel,  die  als  Refugium  dienen 
sollte,  solche  Anlagen  gemacht  wurden,  die  wie  ein  Lager  mit  Koch- Vorrichtungen 
versehen  waren;  ob  es  aber  nothwendig  Höhlen  zum  Wohnen  waren,  darüber  würde 
ich  Hrn.  Virchow  bitten,  noch  genauere  Mittheilungen  zu  machen. 

Herr  Virchow :  Der  Abhang  der  Insel,  welche  übrigens  erst  in  neuerer  Zeit  den 
Namen  der  Bischofsinsel  erhalten  zu  haben  scheint *),  geht  ziemlich  glatt  bis  zum 
Wasserspiegel  herunter.  Auf  der  anderen  Seite  der  Fuhrt  steigt  das  Terrain  ziemlich 
schnell  bis  zu  einer  beträchtlichen  Erhebung.  Die  Culturzone  reicht  auf  der  Insel 
bis  nahe  an  die  Spitze;  ebenso  zeigen  sich  auf  dem  Lande  in  einiger  Höhe  ebenfalls 
einzelne  Fundstellen.  Die  Skelete  lagen,  wie  erwähnt,  weiter  abwärts  an  dem  Ab- 
hänge, durchschnittlich  1'/«— 2  Fuss  unter  der  Oberfläche.  Die  Schicht,  welche  die 
Oberfläche  der  Culturzone  bildet,  ist  im  Ganzen  schwärzlich  und  mit  feiner  Kohle 
durchmengt;  darüber  sitzt  eine  beträchtliche  Grasnarbe,  stellenweise  mit  Gesträuch 
bestanden.  Wenn  man  nun  eingräbt  und  die  schwärzliche  Schicht  durchstösst,  so 
kommt  man  au  gewissen  Stellen  auf  gelben  Sand,  an  andern  auf  schwarze  und  immer 
schwärzer  werdende  Schichten,  in  welchen  sich  Kohlenlagen  befinden.  Diese  Schich- 
ten füllen  gewisse  Vertiefungen,  die  sich  nach  unten  verjüngen,  nach  oben  breiter 
sind  und  die  in  gewissen  Abständen  von  einander  stehen.  In  der  Tiefe,  in  den  unter- 
sten Abschnitten  dieser  umgekehrten  Schuttkegel  liegen  hauptsächlich  grosse,  zuweilen 
beerdweise  zusammengehäufte  Kohlenmassen,  gebrannte  Feldsteine,  Topfreste  mit  Fiseh- 
Bchuppen,  zerschlagene  Knochen,  bearbeitete  Gegenstände  u.  dergl.  Allerdings  sieht  man 
stellenweise,  dass  das  Ganze  einmal  zusammengestürzt  ist  und  dass  sich  von  den  Rän- 
dern her  Erdmassen  abgelöst  haben  und  in  die  Vertiefungen  nachgesunken  sind,  aber  an 

*)  Hr.  v.  Waldaw  theilte  mir  mit,  dass  einer  seiner  Vorfahren  Bischof  von  Lebus  gewesen 
sei,  dass  aber  erst  in  dem  gegenwärtigen  Jahrhundert  der  Name  der  Bischofeinsel  auftrete. 


479 

anderen  Stellen  stösst  man  auf  zusammenhängende  Massen  schwarzer  Erde,  die  bis  5 
Fuss  in  die  Tiefe  reichen.  Was  sollten  die  Leute  mit  der  Kohle,  mit  den  Topfen,  den 
Knochen  vorgehabt  haben ,  wenn  sie  sich  tiefe  Löcher  in  die  Erde  gruben  und  diese 
Gegenstände  in  dieselben  hineinbrachten?  Es  ist  doch  nur  denkbar,  dass  sie  wirklich 
in  den  Gruben  gekocht  haben.  Fasst  man  die  grosse  Zahl  dieser  Löcher  ins  Auge. 
die  Regelmässigkeit  ihrer  Anordnung  —  denn  in  einer  Entfernung  von  3  —  4  Fuss 
kommt  man  immer  wieder  an  eine  neue  Stelle  —  so  ist  keine  andere  Deutung  zu- 
lässig, ich  denke  mir  allerdings,  dass  über  den  Gruben  etwas  Dachartiges  gewesen 
ist,  sei  es  ein  grösserer  oder  kleinerer  Aufbau,  aber  sicher  muss  man  doch  annehmen, 
dass  diese  Höhlen  nicht  bloss  zum  Kochen  da  waren.  Dazu  hätte  man  sie  nicht  so 
tief  auszugraben  gebraucht.  Ebensowenig  lässt  sich  vermuthen,  es  seien  Keller  ge- 
wesen, denn  in  Kellern  der  Art  pflegt  man  nicht  zu  kochen.  Auch  wäre  es  dann 
wohl  wahrscheinlich,  dass  man  einen  grösseren  Theil  der  Gegenstände  in  der  Höhe 
finden  würde,  während  er  jetzt  eben  in  den  Löchern  liegt.  Für  die  künstliche  Her- 
stellung der  Gruben  oder  Höhlen  spricht  aber  bestimmt,  dass  unmittelbar  neben 
ihnen  der  reine  gelbe  Sand  ansteht.  Allerdings  macht  der  sehr  geringe  Umfang  der 
Höhlen  es  nicht  sehr  wahrscheinlich,  dass  sie  zu  dauernder  Bewohnuug  angelegt  ge- 
wesen sind,  aber  auch  die  Wohnungen  vieler  gegenwärtigen  Naturvölker  sind  nur 
kleine  Löcher,  die  uns  mit  unseren  modernen  Ansprüchen  nicht  sehr  behaglich  er- 
scheinen würden. 

Herr  Meitzen:  Die  Königswalder  Höhlen  unterscheiden  sich  von  denen  in  Wer- 
nigerode allerdings  dadurch,  dass  die  Gruben  tief  hineingehen.  Die  Leute  lagen 
demnach  in  tiefen  (hüben,  in  welchen  sie  vor  Wind  geschützt  waren.  Bei  denen  in 
Wernigerode  aber  ist  auf  der  einen  Seite  freies  Feld  gewesen. 

Herr  Jagor:  In  Granada  und  zwar  im  Albaicin,  einem  Berge  westlich  von  der 
Stadt  jenseits  des  Darro,  wohnen  die  Zigeuner  noch  heute  in  solchen  Höhlen,  und 
in  Gran  Ganaria  giebt  es  ebenfalls  solche  Höhlen,  die  z.  Th.  hübsch  möblirt  sind, 
und  die  vielleicht  2  —  3000  Fuss  hoch  über  dem  Meere  liegen.  Die  Höhlen  sind 
vorn  offen;  manche  haben  noch  ein  Vestibulum,  sind  mit  Spiegeln  ausgerüstet  u.  s.  w. 
Solche  Höhlen  werden  für  3 — 4  Dollars  verkauft  und  für  '/,  Dollar  jährlich  vermiethet. 
Ich  habe  sie  im  obern  Theil  der  Schlucht  gesehen,  die  bei  der  Hauptstadt  Las  Pal- 
mas in's  Meer  mündet.  L.  v.  Buch  sagt  in  seiner  Beschreibung  von  Gran  Ganaria 
(Descriptiou  physique  des  iles  Canaries.  Paris  1836.  S.  21):  . .  .  .  le  village  d'Arte- 
nara:  (c')est  Tendroit  le  plus  eleve  de  l'ile,  il  se  trouve  ä  3694  pieds  au-dessus  de 
la  mer  ....  Mais  ce  village  est  invisible;  on  se  trouve  au  milieu  sans  qu'on  puisse 
s'en  appercevoir,  et  l'eglise  sur  la  hauteur  est  le  seul  objet,  qui  puisse  annoncer,  que 
ce  Heu  est  habite;  c'est  que  toutes  les  maisons,  meine  celle  du  eure,  sont  excaves 
dans  le  roc,  on  n'en  voit  que  la  porte,  et  encore  souvent  avec  peine."  Im  Regen- 
stein, am  Harz,  sollen  auch  permanent  benutzte  Höhlenwohnungen  vorhanden  sein. 

Herr  Koner:  In  Bezug  auf  den  Stempel,  den  Hr.  v.  Ledebur  besprochen  hat, 
will  ich  bemerken,  dass  man  in  neuerer  Zeit  auf  die  Stempel  römischer  und  grie- 
chischer Topfgeschirre  grosse  Aufmerksamkeit  verwandt  hat.  Mau  ist  dadurch  zu 
ganz  interessanten  Resultaten  gekommen  in  Bezug  auf  den  Ort  der  Fabrikation.  Ich 
bin  in  den  vaterländischen  Alterthümern  zu  wenig  zu  Hause;  da  aber  auch  unsere 
Gefässe  solche  Stempel  tragen,  so  wäre  es  interessant,  eine  Zusammenstellung  der 
letzteren  zu  machen.  Es  würde  sich  dann  vielleicht  ergeben,  dass  gewisse  Gegen- 
stände  aus   bestimmten   Gegendeu   stammen.     Da    wir    von    vielen    im    Museum    be- 


480 

findlichen  Gegenständen  nicht  wissen,  woher  sie  stammen,  so  wäre  es  lohnend,  diese 
Zeichen  einmal  zusammenzustellen. 

Herr  v.  Ledebur:  Bis  jetzt  ist  die  Aufmerksamkeit  nur  auf  die  Zeichen  auf  den 
Böden  der  Gefässe  gerichtet  gewesen,  welche  wohl  meist  eingeritzt  wurden,  als  die 
Gefässe  schon  fertig  waren.  Hier  ist  das  Zeichen  aber  erhaben,  was  den  Gebrauch 
eines  vertieften  Stempels  voraussetzt;  das  Einritzen  kann  mit  einem  Spahu  gesche- 
hen. Daher  trägt  dieser  Topfboden  den  Charakter  einer  späteren  Zeit.  Wenn  auch 
der  Thon  selbst  das  Material  der  alten  Töpfe  zeigt,  so  macht  doch  der  Stempel  durch 
seine  Reliefuatur  die  Sache  sehr  auffallend  und  erregt  den  Verdacht,  dass  diese  Gegen- 
stände einer  späteren  Zeit  angehören.  Ich  weiss  kein  Beispiel  aus  der  Zeit  der  heid- 
nischen Alterthümer,  wo  Derartiges  wahrgenommen  ist. 

Herr  Virchow:  Ich  hatte  schon  bei  Gelegenheit  meines  Vortrages  über  die  Pfahl- 
bauten (in  der  Sitzung  vom  ll.Decbr.  v.  J.)  erwähnt,  dass  ich  an  den  Böden  der 
Töpfe  aus  den  pommerschen  und  neumärkischen  Pfahlbauten  „allerlei  Fabrikzeichen" 
bemerkt  habe,  und  ich  will  ausdrücklich  hinzufügen,  dass  sich  auf  einem  solchen 
Topfboden  aus  dem  Soldiner  See  das  Kreuzeszeichen  in  halb  erhabenem,  halb  ver- 
tieftem Abdruck  gefunden  hat. 

Herr  Koner:  Auch  der  hier  vorliegende  Abdruck  hat  Aehnlichkeit  mit  dem  Mo- 
nogramm Christus.  — 

Herr  Dr.  Oscar  Liebreich  berichtet  über 

die  chemische  Analyse  einer  alten  Glasperle. 

In  der  Sitzung  vom  11.  Juni  wurde  mir  eine  von  Hrn.  W.  Kauffmanu  aus  Dan- 
zig  mitgebrachte  blaue  Glasperle  zur  Untersuchung  übergeben,  welche  von  einer  po- 
merellischen  Gesichtsurne  stammte.  Dieselbe  wurde  auf  Kobalt  und  Kupfer  untersucht, 
aber  mit  negativem  Erfolge,  weil  die  Masse  zu  gering  war.  Wegen  der  grossen  In- 
tensität, mit  welcher  die  Metalle  Glasflüsse  färben,  bedarf  es  bei  schwach  gefärbten 
Gläsern  grösserer  Massen,  damit  die  qualitative  Analyse  zum  Resultat  führe.  Die 
Farbe,  dem  Ansehen  nach  zu  urtheilen,  spricht  für  Kobalt-Färbung;  es  würde  daher 
von  Interesse  sein,  eine  grössere  Quantität  solcher  gleich  gefärbten  Perleu  zu  haben, 
um  die  Anwesenheit  dieses  Metalles  definitiv  zu  entscheiden. 


Druck  von  Q«br.  Uugtr  (Tb.  Oriinui)  in  Berliu,   V  riedrioUstr.  24. 


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11 


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Karlen-  Skizze  der  Halbinsel 
GOAJIRA, 

nach  Codazzi.  Atlas  von  Venezuela 


Zril.si  linl'l  im  Etlmologie 


Taf.  XI 


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3  3125  00701  7144