ZEITSCHRIFT
Fti:
E T H N 0 L 0 G I E.
Organ der Berliner Gesellschaft
für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Unter Mitwirkung des zeitigen Vorsitzenden derselben,
R. Virchow
herausgegeben von
A. Bastian and lt. Hart mann.
Zweiter B a n d.
1870.
Berlin.
Yerlag von Wiegandt und HeuipeL
Nachdruck mit Genehmigung der Berliner Gesellschaft für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Berlin von
SWETS & ZEITLINGER B.V.
LISSE - THE NETHERLANDS - 1982
TUC PCTTV PCMTCD
Inhalt.
Seite
Bastian, A., Zur Amazonen -Sage 177
Ethnologische Beiträge 40*
Engel, Franz, Die Palmen 30
Erman, A., Ethnographische Wahrnehmungen und Erfahrungen an den Küsten des Be-
rings-Meeres 295
do. do. (Fortsetzung) 369
Ernst, A. (Caracas), Die Goajiro-Indiauer. Eine ethnographische Skizze 328
do. do. (Schluss) 394
Friedel, Ernst, Der Uglei. Zur Kunde und Vorgeschichte des ostholsteinischen Seegebietes 204
Friedmann, Zustände und Vorfälle in den Niederländischen Colonien in den Jahren
1867 und 1868 424
Fonck, Die Indier des südlichen Chile von sonst und jetzt. Vortrag gehalten in der
Berliner anthropologischen Gesellschaft am 2. April d. J 284
Hartmann, R., Ueber Pfahlbauten, namentlich der Schweiz, sowie über noch einige
andere, die Alterthumskunde betreffende Gegenstände. 1 1
— — Untersuchungen über die Völkerschaften Nord-Ost-Afrikas. III. . 86
— — Studien zur Geschichte der Hausthiere. IV 123
do. do. V 211
Hensel, Reinhold, Die Schädel der Coroados 195
Strobel, P. (Parma), Beiträge zur vergleichenden Ethnologie. 1 111
do. do II 274
Virchow, Rad., Ueber Gesichtsurnen 73
Miscellen und Bücherschau 69. 139. 236. 336. 448
Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.
Sitzung vom 15. Januar 1870. Ausgehöhlter Stein. Beyrich. S. 144. — Koljuschen
und Aleuten. Erman. S. 144. — Ostasiatische Gegenstände. Jagor. S. 147.
Die Philippinen und ihre Bewohner. Jagor. S. 148. — Schädel der älteren Be-
völkerung der Philippinen, insbesondere künstlich verunstaltete Schädel. Vircbow.
S. 151 — Paläolithische Flintwerkzeuge aus dem Havel-Diluvium zwischen Potsdam
und Brandenburg. Friedel. S. 158
Sitzung vom 12. Februar 1870. Märkische Steinäxte, v. Dücker, Beyrich. S. 162.
— Mammuthfragmente von den Rollbergen bei Berlin. Kunth. S. 162. — Renn-
thierfunde in Norddeutschland. Virchow, Beyrich, Günther. S. 162. —
Meisselartige Bronze- Werkzeuge, v. Ledebur, Virchow, v. Quast, Jagor,
Meitzen, Maurer, Hartmann. S. 166.
Sitzung vom 12. März 1870. Westfälische Funde, v. Dücker, Virchow. S. 170.
— Bronzesachen von Köpenik. Friedel. S. 171. — Axtartiges Werkzeug aus
Java. Jagor. S. 171. — Altindische Schnittwerkzeuge. A.Kuhn. S. 171. —
Bedeutung der geometrischen Zeichnung und der Photographie für die Anthro-
pologie. Fritsch. S..172. — Gesichtsurnen. Virchow, v. Ledebur, Bastian.
S. 174. — Vorkommen des Elen in Schlesien. Göppert, Virchow. S. 175.
Denka-Stämme. Hartmann. S. 176.
Sitzung vom 2. April 1870. Framea. Lisch. S. 237. — Funde au» vorhistorischer
Zeit in der Umgegend von Berlin und Rom. Kunth, Friede!. S. 2.i7 - Chi-
lenische Indianer. Fonek. — Cayapos. Kupfer. S. 230. — Westfälische Höhlen-
funde, v. Ducke r. S. 240.
Sitzung vom 14. Mai 1870 Constituirung der deutschen Gesellschaft für Anthropo-
logie, Ethnologie und Urgeschichte. — Gerätschaften und Schnitzereien von Dayakern
im Inner!' von Borneo. v. Martern s, Virchow, Hart mann. Kotier. S. 242.
— 8 tein warfen bei wilden Völkerschaften. Meitzen, Virchow, Fonck, Kupfer.
S. 243. — l'omerellische Gesichtsurnen. Mannhardt, Virchow, Hartmann.
S. 244. — Gebrannte Stein wälle der Oberlausitz. Virchow. S. 257. — Rennthier-
reste aus dem Hönnethale. v. Dücker. S. 272.
Sitzung vom 11. Juni 1S70. Gesichtsurnen. Müllenhoff, Rödiger. Virchow.
S. 34ö. — Westfälische Renuthierfunde. Commissionsbericht.. S. 347. — Framea
und t'elt. Koner, v. Cohausen, Meitzen, Bastian, Virchow, Hartmann.
S. 347. — Lagerstätten aus der Steinzeit in der obern Havel -üegend und der
Nieder-Lausitz. Virchow, Reinhardt, v. Dücker. S. 352. - Westfälische
Knochenhöhlen. Virchow. S. 358.
Sitzung vom 9. Juli 1870. Eine besondere Art geschliffener Steine. Virchow,
v. Ledebur. S. 453 — Pfahlbau im Lübtow-See bei Cöslin. Zelle, Virchow.
S. 454. — Zwei altpemanische Schädel. Beneke, Bastian, Virchow. S. 455
— Der Doppeladler in Asien. Bastian, Jagor. S. 456. — Rennthier-Reste auf
dem Akademischen Museum zu Münster. Hosius, Virchow, Lazard. S. 457.
— Chemische Untersuchung der Schlacken von den oberlausitzischen Brandwallen.
Hauchecorne, Alex. Braun, Virchow, Wetzstein. S. 461. — Schanze am
Daher See. Uartmann, Kuchenbuch, Virchow. S. 468. — Alte Höhlen-
wohnungen auf der Bischofsinsel bei Königs walde. Virchow, v. Ledebur, Ascher-
son, Alex. Brau n, Meitzen, Jagor, Koner. S. 470 — Chemische Analyse
einer Glasperle. Oscar Liebreich. S. 480.
Verzeichniss der Tafeln.
Tafel I. Restaurirtes schweizer Pfahldorf.
Taf. II. Fig. 1. Pfahlhaus nach Messikommer's Abbildung.
Fig. 2. Ein solches nach Messikommer's neuerem Modell.
Fig. 3. Pfahlhaus von Dore'i , Neuguinea
Taf. III., IV., V., VI. Aegypterschädel.
Taf. VII. Coroadoschädel.
Taf. VIII. Gesichtsurnen.
Taf. IX. Ethnologisch« Karte zu A. Erman's Wahrnehmungen und Erfahrungen an den
Küsten des Berings -Meeres.
Taf. X., XL Goajiro -Schädel. Goajiro -Mädchen. Goajiro- Pfahldorf.
[Teber Pfahlbauten, namentlich der Schweiz, sowie über noch
einige andere, die Alterthuinskunde Europa1« betreffende
Gegenstände.
J.
Ueber Pfahlbauten ist schon viel, sehr viel geschrieben worden. In
deu nachfolgenden Blättern beabsichtige ich keineswegs etwa eine erschöpfende
Darstellung alles Dessen zu geben, was wir über diese merkwürdigen Alter-
thüruer bereits iu Erfahrung gebracht, sondern ich will darin zunächst mil-
den Standpunkt erörtern, den ich selber der Pfahlbau frage gegen-
über im Allgemeinen einzunehmen gedenke. Es erschien mir das
nicht unwichtig in einer Zeitschrift, in welcher obiger Gegenstand, der Natur
der Sache gemäss, zu öfteren Malen erwähnt weiden muss und wird. Einige
speciellere Vorkommnisse des Gebietes, ferner einige Fragen genereller Bedeu-
tung in Bezug auf europäische Alterth umskunde mögen hier nebenbei
ebeufalls ihre Erörterung finden.
Im August d. J. stattete ich der Pfahlbaute Robenhausen am Pfäffikon-
See, Canton Zürich, in Begleitung meines Bruders, Architekten von Fach
und bewandert in Altertumsforschungen, einen Besuch ab. Es war mir Be-
dürfniss geworden, einmal mit eigenen Augen diese Wunder einer fernliegen-
den Epoche menschlichen Seins zu schauen, und, da die Hausthierfrage mich
doch einmal auf die Pfahlbauten hindrängte, wenigstens aus dem Bereiche jener
Vielen herauszutreten, welche zwar über diese Bauten geschrieben und ge-
urtheilt, sich dennoch aber kaum je die Mühe genommen, eine solche wirk-
lich in Augenschein zu nehmen. Mein verehrter Freund, der unseren
Fachgenossen wohlbekannte Jac. Messikommer von Stegen- Wetzikon be-
reitete uns an der mehrjährigen Stätte seiner tüchtigen Wirksamkeit den herz-
lichsten Empfang. An seiner Seite arbeiteten wir uns durch die üppig mit
Gräsern, Schilfrohr, Windröschen, Taubenkropf, Schierling, Lichtnelken,
Schachtelhalmen u. s. w. überwucherte Niederung am See, das ..Torfried",
bis zu einer Stelle hindurch, woselbst am Bande einer ehemaligen PfaUlbau-
Zeltsclmft iiir Ethnologie, Julit-gaug 1870. 1
niederlassung von den Leuten Messiko mmer's »ach Adterthüiuern gegraben
wurde. Diese Fundschiclit lieferte unter uuseren Augen hinnen Kurzem in-
teressante Knochenstüekcheu und ludustrieprodukte , sie gewährte
uns auch den Anblick ganzer Pfahl r ei hon. Aus einigen anderen lachen-
ähnlichen Stellen holte unser antiquarischer Freund G ersten körnoheu, Apfel-
und Johannisbeerkerne u. s. w. mit der Grundscliaufel heraus. [n seinem
gastlichen Hause zeigte er uns seine unerschöpflichen Knoeheuvorräthe, dar-
unter erst vor Kurzein aufgefundene Schiidelstücke mit ITornzapfen vom Wi-
sent und der Torfkuh, einen schön erhaltenen Unterkiefer vom Torfschwein
u. s. w., ferner eine uneudlichc Fülle von Produkten des Pflanzenreiches, von
Stein- und Knoehengeräthen, die sehr instructiven Modelle eines Pfahlhau-
hauses, diejenigen von Stein- Aexlen , Karsten u. s. w. Aus seiner reichen
Erfahrung theilte es uns dann noch so Mancherlei mit über die Weste jener
verschwundenen Welt, er zog interrossante Parallelen zwischen dem Damals
und Jetzt seiner herrliehen FTeiinath.
Als man sich Vorjahren über den Zweck dieser merkwürdigen Nieder-
lassungen klar zu werden versuchte, geriethen bereits damals belesene Leute
auf ähnliche, noch gegenwärtig existirende Constructionen. Man erinnerte
sich der charakteristischen Beschreibungen, der schönen Abbildungen, welche
ein Duperrey*), ein Freycine t**), vor Allen aber der energische und ge-
lehrte Dumont d'Urville***) über das an der Nordostspitze von Neu-Guinea
befindliche Papua-Pfahldorf Dorei (0" 51' 43" S. Br. und 103° 39' 30" 0. L.
nach d'Urville) gegeben. „Die Bewohner von Dorei sind", wie d'Urville
erzählt, „in vier am Wasserrande gelegenen Dörfern vertheilt; zwei davon
befinden sich auf dem Nordufer des Hafens, die beiden anderen dagegen auf
den Inseln Mana-Suari und Masmapi. Jedes Dorf hegreift 8 -—15 auf
Pfählen errichtete Häuser in sich. Nun besteht ein jedes der Häuser aus
einer Reihe von Zellen, es nimmt mehrere Familien in sich auf. Einige
Häuser enthalten eine Doppelreihe von Zellen, die durch einen der ganzen
Länge nach laufenden Gang in zwei Reihen geschieden werden. Diese völlig
aus roh zugerichtetem Holze erhauten Häuser lassen überall das Tageslicht
hindurch und schwanken unter den Tritten des Besuchenden." A. W. Wal-
lace, ein neuerer Bcreiser <\o^ Landes der Paradiesvögel, schreibt über
obigen Gegenstand: „Die Häuser der Dörfer Mansinam und Dore'i stehen
alle vollständig im Wasser und man gelangt auf langen , rohen Brücken zu
ihnen. Sie sind sehr niedrig und besitzen ein Dach, das wie ein grosses,
*) Voyage autoui ihi M le snr la rorvettc de S. M. la Coqiülle. Par. lS-.'S et ann. suiv.
Ilist. du voyage, Atlas.
**) Voyage autoui' du Monde sur les rorvettes rUratiie et la Physicienne etc. Paris 1824
- 1844. Atlas histor. pl. 48.
•*♦) Voyage de la corvette l'Astrolabe. Histoire du voyage. T. IV. Paris 1842. p. 607.
3
mit dem Boden nach oben gerichtetes Boot geformt ist. Die Pfahle, weicht-
die Häuser, die Brücken und Plattformen tragen, sind kleine, krumme, un-
regelmässig aufgestellte Stöcke, die aussehen, als ob sie umfallen wollten.
Die Fussböden sind auch aus Stöcken gemacht, eben s.. uuregel massig, und
so lose und weil auseinander liegend, dass ich es für unmöglich fand, aul
ihneu zu gehen. Die Wände bestehen aus Stücken Bretter von alten Böten,
aus verfaulten Matten, Attap und Palmblättem, die anfalle mögliche Weise
hier und da hineingesteckt sind, und sie halten alle ein so zerlumptes und
zerfallenes Aussehen, wie man es sieh nur denken kann." — „D'»" Ansicht
eines Pfahlbaudorfes, welche auf dem Titelbilde von Sir Charles LyeU's
Antiquity of Man gegeben ist, gründet sieh hauptsächlich auf eine Skizze
eben dieses Dorfes Dore'i, aber die ausserordentliche Regelmässigkeil der
Baulichkeiten, wie sie dort zu sehen, tindet im Original uicht statt, ebenso-
wenig wie es wahrscheinlich ist, dass sie in (\<-n wirklichen Pfahldörfern vor-
handen war.*)" Diese Erscheinung sieht auf der östlichen Hemisphäre, übrigens
keineswegs vereinzelt da und findet ihre Analogien auch auf der westlichen.
Reduth-Kaleh am Uhopi und Nowo-Tscherkask im Lande der Don'schen Ko-
sacken sollen ?.. Th. aus auf Holzklötzen ruhenden Bretterhütten bestehen.**)
Manche Hütten zu Bankok, Siam, ruhen über dem Menam auf Pfählen, andere
der Tagalen ebenso über den Flüssen Manilas, sowie die der See-Dajaks auf
Borneo u. s. w. Bruni, Hauptorf des sogenannten Sultan von ßorneo, ist eine
echte Pfahlbaustadt im Wasser (Illustrated London News vom' Jahre 1847,
Low: Saräwak its inhabitants and productions. London 18-48). Viele Suma-
treseu und Javanesen errichten ihre Kampongs oder Dörfer theils in festem,
theils in schlammigem Boden, auf Pfählen. Stets verfahren also die Niko-
baren, von deren Pfahlhütten man iu der Illustrirten Zeitung vom Jahre 1850
gute Abbildungen sieht. In A. Joannes Voyage aus cinq parties du Monde,
Paris 1851, finde ich S. 135 die Darstellung eines auf Pfählen über den Bos-
poruswassern ruhenden türkischen Cafes nach A. Bida, S. 140 die Darstel-
lung mehrerer solcher Wasser- Pfahlbauten zu Samsun nach A. de Beau-
mont. Ich selbst habe Hütten der Gebelauis im Fasoglo auf Steinen und
kurzen Pfählen über dem Boden erbaut gesehen. Livingstone fand beim
Herabfahren des Schire im Papyrusdickicht um den kleinen See Pamalombe
herum auf den Papyrusstengeln errichtete Hüttchen solcher Manganja, welche
sich vor ihren Todfeinden, den Ajawa. hierher geflüchtet.***) Temporäre über
dem Wasser errichtete. Fischerhütten sah ich 1857 im Gardasee von Pe-
schiera bis gegen Desenzano; stationärer derartiger Pfahlbauten bedienen sich
♦) Der malayische Archipel. Autor, deutsche Ausg. um\ A B. Meyer Braunschweig
1809. IT, S. 282 ff.
**) M. Wagner, Reise nach Kolchis und nach Jen deutschen Colonien jenseit de-; Kau-
kasus. Leipzig 1850. S. 204.
***) Neue Missionsreisen in Südafrika. Autor, deutsche Ausgabe. Jena und Leipzig 1666.
II, S. 91.
1*
auch die Donaufisclier abwärts von tbraila. In Oongo errichteten noch in
unseren Zeilen zu Amlui/ und an anderen Orten europäische Coiuptoiristen
sowohl, wie auch Landesemgeborene hölzerne Pfahlhäuser, sogenannte Qm
bangas, um m ihnen .lein tödtlichen Bauche des feuchten Hodens leichter
entgehen zu können. Sir Koberl Schomburgk theilte mir im Jahre 1864
mit, dass die Guaraimos oder Warrau's, sowie die Cariben in Guyana oft
genug Pfahlhütten im Wasser und im Schlamme erbaueten.*)
Auch aus drr früheren Geschichte halten wir Nachrichten von Pfahl-
bauten. Bereits im Jahrgang 1869, lieft I. S. !>4 dieser Zeitschrift habe ich
die von Dümichen aus dem XVI I. Jahrhundert v.Chr. dargestellten Pfahl-
hütten am rotheu Meere erwähnt. Schon Hippocrates weiss von derartigen
Gebäuden am „Phasis."**) Eine von Herodot gegebene Nachricht be-
schreibt genau paeonische Pfahlbauten im See Prasias (Sidero-Kapsas), welchen
der zum Gebiete des aegeischen Meeres gehörende Strymon (Kara-Ssu) (V, 1»!)
durchfliesst. Diese merkwürdige Stelle ist schon von Virchow***), Pallinaunf)
und R ü c k e r t-j-f) so ausführlich citirt worden, dass ich hier wohl darüber
hinweggehen darf. Einen dacischen Pfahlbau, welcher unter römischer Brand-
fackel in Flammen aufgeht, zeichnen uns die Reliefs der Trajanssäule. f ff )
Abul-Feda erwähnt christlicher, auf Pfählen in einer Abtheilung des Apamea-
Sees um 1328 erbauete.r Fischerhütten. Der grossartigste Pfahlbau des Mittel-
alters und der Neuzeit wird aber stets „la bella Veuezia" mit ihren La-
gunendependenzen bleiben. Mögen auch die Subconstructioneu der grossen
Lagunenstadt ihr Eigentümliches haben, ihrer Entstehung nach gehören sie
dennoch zur Kategorie der uns interessirenden Bauten. Mau giebt an, dass
die zur Zeit des Verfalles des weströmischen Reiches sich mehrenden Ein-
brüche nordischer Barbaren venetische Einwohner veranlasst hätten, aut dem
Rialto (Riv1 alto) und anderen öden Alluvionen der Lagunen ihre Nieder-
lassungen zu errichten, denen sie, um trockenen Fusses leben zu können,
Subconstructioneu von Pfählen gaben. Daraus ist die meergebietende
Dogenstadt entstanden.*-}-) Als Vespucci und Hojeda die Laguna de Mara-
caybo in Augenschein nahmen , fanden sie hier indianische, im „Fango" der
niederen Küsten erbauete Hütten, durch welche sie lebhaft an die Lagunen-
häuser der adriatischen Meereskönigin erinnert wurden. Sie nannten deshalb
*) Vergl. auch Gumilla: Historia natural, civil y geografia de las naciones situadas en
las riveras del Rio Orenoco. Nueva Impresion 1790, p. 143- 163.
**) Op. omn. Edit. Kühn. I, p. 551.
***) Die Hühnengräber und Pfahlbauten. Berlin 1866. S. 20.
f) Die Pfahlbauten und ihre Bewohner. Berlin 1866. S. 52.
ft) Die Pfahlbauten und Völkerschichten Osteuropas, insbesondere der Donaufürsteathüiner.
Würzburg 1869. S. 12.
fft) Ausland 1867. S. 646.
*t) Vgl. Dum, Histoire de la republique de Venise. Stuttgart 1828. I. Im Arsenale zu
Venedig sieht man sehr interessante Modelle venetianischer Häuser mit ihren Pfahlunterbauen
diese Gegend der See den Golfo de Venecia*); spätei wurde dei ganze von
der Mündung des Cuynni l>is zu den Quellen des Taclüra sich ausdehnende
Landstrich Venezuela, Klein- Venedig, benannt. Letzteren Namen hat be-
kanntlich die eine der colombischen Republiken, das Geburtsland eines Bo-
livar, Päez und Tobar, aus Pietät beibehalten.
Wollen wir uns nun über den eigentlichen Zweck dieser Pfahlbau-
niederlassungen Klarheit verschaffen, so müssen wir unter den Letzteren solche
unterscheiden, welche als zeitliche Fischerwohnungen zur bequemeren Aus-
übung des Fischereibetriebes dienen; solche Pfahlhiitteu (s. oben) entstehen
ja auch hier und da, u. Ä.. selbst in den Stockfischetablissements von Neufund-
land. Sie sind häufigerem Wechsel des Standortes unterworfen; sie haben
selten etwas Bleibendes. Desor erwähnt, die Indianer \ euezuela s hätten ihre
Wohnungen deshalb über Wasser erbaut, „pour se mettre ä L'abri des mou-
ehes".**) Allein die Mosquitos sind gerade an den niederen Küsten der
Tropen sehr lästig, sie sind, wie mir Augenzeugen versichert haben, vorzugs-
weise lästig an den z. Th. mit Rhizophoren bewachsenen Strichen bei Mara-
caybo und Puerto Cabello. Die Schwarzen der Sümpfe des weissen Nil, die
furchtbar von den Mücken zu leiden haben, errichten in der schlimmsten Zeit
für sich und ihre Hunde hohe Gerüste, um Feuer darunter anzumachen und
sich oben auf, vom Rauche halb erstickt, eine zweifelhafte Nachtruhe zu
sichern. Sie meiden aber zu diesem Zwecke eine allzu grosse Nähe des
Wassers. Es werden daher auch die venezuelanischen Eingebornen unzwei-
felhaft andere Gründe zur Errichtung ihrer Pfahlbauten gehabt haben, als die
vermeintliche Abwehr von Mosquitos.
Manche der Pfahlbauten mögen nur gewissen Launen und individuellen
Wünschen ihrer Besitzer gedient haben, z. B. um sich die Kühle des AVas-
sers zu verschaffen, so am Bosporus u. s. w. Andere sollten und sollen noch
jetzt Schutz gegen verderbenbringende Exhalationen eines feuchten Bodens
gewähren, so an manchen Oertlichkeiten Wasserindiens, Afrikas. Von sol-
chen Bauten sind aber jene stabileren zu unterscheiden, die der Ver-
teidigung gegen Angriffe von Aussen gegolten. Diesem zuletzt
aufgeführten Zwecke zu Liebe sind unstreitig die meisten älteren Pfahlbau-
ten errichtet worden. Man hat nun mehrfach behauptet, sie seien (wenigstens
in Europa) angelegt worden, um ihren Bewohnern Schutz gegen liaub-
thiere zu verschaffen. M. Wagner hat aber diese Auffassungsweise dahin
abgefertigt, dass die hervorragendsten, angeblich so grimmigen
Fleischfresser der älteren Pfahlbauperiode, Bär und Wolf, über-
haupt nicht aggressiv genug seien, um so ganz ungewöhnliche Schutzmaass-
regeln von Seiten der pfahlbauenden Altvordern, wie Errichtung volkreicher
*) M. F. de Navarrete: Colloccion de los viages y deseubrimientos de los Esparioles.
Vol. III, p. 8.
•*) Los palafittes 011 construetions lacustres du lac de Neuchatel. Paris 1865. p. 8.
Niederlassungen über Wasser, zu rechtfertigen. Ich meinestheils vermag
mich derartigen Anschauungen des geehrten münchener Forschers nur anzu-
sehliessen. Wagner hat seine Auslassungen durch Anführung etlicher Anek-
doten über die Sitten der Bären und Wölfe unseres Continentes zu erhärten
gesucht. Auch ich könnte darüber aus eigenen und fremden Erfahrungen
noch Manches hinzuzufügen, begebe mich aber hier aus räumlichen Gründen
eines Weiteren. Ich kann zum Schlüsse nur die Ueberzeugung aussprechen,
dass Bär, Wolf und selbst Löwe, Leopard, im Allgemeinen menschliche
Wohnstätten, vom einfachsten Mattenzelt des Beduinen, von der Bienenkorb-
hütte des Buschmann, von der Eisblockbaracke des Esquimeau bis zum Block-
hause des Backwoodsman, dem Lehmpalaste des nubischen Grossen, dem
steinernen Adelssitze des sarmatischen Starosten, mit ihren räuberischen Be-
suchen verschonen.
R. Pallmann hat nun den Versuch gemacht, die Pfahlbauten unserer
europäischen Gegenden für Handelsstationen und Handwerkerdepots
italisch-etr uskischer, massaliotischer, gallischer und vielleicht
auch phönizisch - karthagischer Kaufleute (!) zu erklären.*) Diese
Krämer aus aller Herren Ländern möchten nach unseres Schriftstellers An-
sicht die Pfahlbauten der Schweiz bewohnt und die Zeiten der Müsse, wäh-
rend welcher sie auf ihre Seewohnungen gefesselt waren, zu fleissiger Arbeit
(d. h. Verfertigung von Stein- und Bronzegeräthen, Waffen u. s. w.) verwandt
haben, wie wir dies noch jetzt in den Abfällen vor uns sähen. „Ihre be-
sondere Wichtigkeit haben die Pfahlbauten einestheils dadurch, dass sie das
oft erwähnte Stein-, Bronze- und Ei sensystem endgültig über den
Haufen werfen" u. s. w.**) „Es haben danach die europäischen Pfahl-
bauten im Bereiche der adriatischen und westlichen Handsisstrasse nach dem
Norden, neben dem Zweeke grösserer Sicherheit für Menschen und Eigen-
thum, der schliesslich ja allen Pfahlbauten und allen Gebäudearten eigen ist,
vorwiegend einen bedeutsamen handelspolitischen und eulturhistorischen Hin-
tergrund und wie ein Blitz zerreisst ihre Aufhellung das Dunkel über einer
schon vermutheten, bisher aber nicht nachweisbaren Landhandelsstrasse nach
dem Bernsteinlande. Ihr Verständniss gewährt ferner einen Einblick in die
Maschinerie des alten Landhandels in Barbarenländern, zeigt uns wichtige
Knotenpunkte in demselben und deckt die nachweisbar ältesten Werk-
stätten reisender Kaufleute und fahrender Handwerker aus langer
Verborgenheit auf."***) Eine solche Deutung des angeblichen Zweckes un-
serer älteren Pfahlbauten ist von M. Wagner in kurzer und, wie uns dünkt,
auch sehr zutreffender Weise, perhorrescirt worden. Dieser sagt: „Einige
der neuesten Hypothesen, darunter die, welche in jenen Seedörfern
*) A. o. n. O. S. 108, 109.
»•) A. o. a. 0. S. 174.
•*•) A. 0. a. 0. S. 182, 183.
Handelsstationen der Phönizier oder »rgend-einem heidnischen Kultus
geweihte Orte erkennen wollen, berühre i<di nur kurz. Solche bodenlose
Ansichten sind meines Erachten s keiner sehr ernsten Widerlegung werth
u. s. w. „Wozu sollen in der Thal Handelestationeu von fernwohnenden
Seefahrera in den ldeinen, oft ganz abgelegenen Sumpfseen eines armen
Binnenlande, dienen, das als Tauschartikel nichts als rohe Steinwerkzeuge
und grobe Flachsgewebe besass? Ein stichhaltiger Grund ist dafür nicht
angeführt worden. Schon die grosse Zahl der damals existirendon Seedörfer
ist ein schlagender Gegenbeweis. Oder könnte die Phantasie eines Alter-
tumsforschers wirklieh 80 weit gehen um auf dem Neuenburgcrsee allein
40 Handelstationen phönizischer Kaufleute anzunehmend Welche Schatze
konnten sie dorthin locken und wo sind die Erzeugnisse fremder Welttheile,
die sie zurückliessen ?M Verfasser fügt dann hinzu, es sei allerdings wahr-
scheinlich, dass die Bronzegegenstände der späteren Periode wohl
meist eingeführte Tauschartikel gewesen. Doch sei damit noch kein Grund
für die sonderbare Hypothese gegeben, dass die fremden Handelsleute so
mühsame Bauten im Wasser für ihre Magazine aufgeführt hätten.*)
Lindenschmit verwirft die von Pallmann aufgestellten Ansichten, durch
welche die „Pfahlbauten selbst weder zu massalioiisch-celtischen noch anderen
Handelsleuten in nähere Beziehung gebracht, als sie es vorher auch schon waren."
Der ausgezeichnete Archaeolog fügt den beherzigenswerthen Ausspruch hinzu,
dass „sich leider zusehends jene Phantasien über die Pfahlbauten mehrten,
welche in kritiklosem Nachschreiben thatsachlicher Unwahrheiten und Miss-
griffe eine Menge falscher Vorstellungen zusammenhäuften und durch ihr
Ueberbieten in gewagten Behauptungen, durch ihre übertreibende Verzerrung
anderweitig gewonnener Resultate nicht nur die Theilnahme für eine unbe-
fangene nüchterne Betrachtung verwirrten, sondern geradezu beitrügen, die
Vorstellung völliger Unfruchtbarkeit der letzteren zu verbreiten und einen
Ueberdruss für den hochinteressanten Gegenstand zu erwecken."**)
Von Einigen, unter Anderen auch von Pallmann, sind ferner die Cran-
noges, die sonderbaren, dicht veipallisadirten. mit im Winter unter Wasser
stehenden Untergrund versehenen Inselburgen irischer Kämpen. Häuptlinge,
zu den Pfahlbauten gezählt worden. Pallmann meint, dieselben könnten nur
der geschichtlichen Zeit angehören. Er bestimmt in seiner etwas ge-
suchten Art ihre Existenz sonderbar genug „nachweislich" zwischen 848 und
1G10 und zwar deshalb, weil ihrer erst seit 848 in den irischen Annalen
Erwähnung geschieht! „Was das Alter der Crannoges betrifft, so schliesst
man aus dem Umstände, weil Steingeräth a ls frühester Zeit neben Bronze
und Eisen vorkommt, fälschlich auf ein grosses Alter und meint, es seien
hier Producte der „Stein-, Bronze- und Eisenzeit" vereinigt. Auch der Um-
*) Ausland 1805, S. 418 und Anmerkung.
"*) Archiv für Anthropologie. I. Brauuseliweit: 186C. 1. Band, S. 366.
stand, dass die Crannoges während ihres Bestehens von Wasser und Torf
allmählich verschlungen wurden; dass Pfahlwerk auf Pfahlwerk ruht, dass
hei deren Abtragung Kohlenstätten in verschiedenen Höhen angetroffen wer-
den, ergiebt nur die lange Dauer des Bewohntseins, nicht aber ein hohes
Alter dieser Ansiedlungen."*)
In allen den Pfahlbauten, welche nicht als zeitliche Fischerei -Etablisse-
ments*"1), nicht zur Sicherung' gegen climatische Einflüssef), nicht gegen
die Verwüstungen bergabstürzender Regenwasser (Fasoglo, Dar-Bertat)
etc. oder welche selbst nur mehr einem individuellen Comfort gedient,
hat sich der Mensch gegen den Menschen schützen wollen.
Zwar hat F. Keller sich ausdrücklich gegen die Annahme verwahrt ge-
habt, als könnten die den Pfahlbaudörfern benachbarten Landestheile bewohnt
gewesen sein. „Man habe bei aller Sorgfalt an den den ausgedehntesten und
am dichtesten besetzten Steinzeitstationen gegenüberliegenden Uferstellen
beim Anbau des Landes, beim Ziehen von Gräben oder Fundamentiren von
Häusern u. s. av. nie ein Geräthe zum Vorschein kommen sehen, wie Mahlsteine,
Beile, Scherben u. s. w. Es zeigten sich an solchen Orten keine Kohlen-
stätten, keine Veränderungen in der Oberfläche des Bodens, nicht eine noch
so geringe Andeutung von menschlicher Existenz daselbst." (VI. Bericht.
Zürich 186(5. Vorrede.) Dagegen macht nun M. Wagner in seiner oben be-
reits citirten, unserem Urtheile nach mit verständiger Kritik gehaltenen Ar-
beit darauf aufmerksam, dass Ausgrabungen im festen Lande bisher überhaupt
noch in einer gar zu spärlichen Weise vollführt worden seien, um solche An-
nahmen, wie jene F. Kellers, ohne Weiteres zu rechtfertigen. Unser Gewährs-
mann erinnert hierbei an die Funde von Schussenried in Würtemberg***),
er erinnert an die Neuheit derartiger Nachforschungen überhaupt, ferner, dass
solche Entdeckungen auf einem von der Kultur seit Jahrtausenden durch-
wühlten Boden sehr schwierig zu machen seien, dass nur in See- und Torf-
mooren, in einigen noch un durchsuchten Höhlen und Hügelgräbern der Boden
unversehrt geblieben. Aehnliche Ausgrabungen werden übrigens voraussicht-
lich auch noch an anderen Orten erfolgen. Dass zur Zeit wo eine ziem-
lich zahlreiche Bevölkerung auf diesen Wasserdörfern hauste,
das weite Binnenland von Menschen ganz unbewohnt und unbe-
nutzt gewesen, wäre eine ebenso willkürliche als unnatürliche
Annahme.f)
Bekanntlich haben die Pfahlbauhewohner am festen Lande der Jagd ob-
*) Pallmann a. o. a. 0. 8. 54.
**) Eine Sicherung, die freilich sehr prekär sein dürfte In den afrikanischen Kieberhöllen
schätzen einige Dutzend FuS8 höher noch nicht vor den krankheiter/eugenden Ursachen; man
kann sich hier selbsl auf Bergen von 1Ö00-2000 Fuss absoluter Hohe noch sein Fieber
holen, wie /.. B. im Sennäi und auf den Erhebungen der abyssinischen Kwolla.
***) ^ ,-rf,r' Archiv für Anthropologie. II. S. 2'.). ff.
-r, Ausland iö»;7, 8. 421.
9
gelegen, sie haben da ihr Vieh geweidet, haben In Wald und Flur man« berlei
wildwachsende Erzeugnisse des Pflanzenreiches, Ba-st, Rinden. Beeren. A-i
werk ii. s. w. eingesammelt, haben daselbst auch ihren Acker bestellt. Kam
es dann zum Angriff von Aussen, so blieb den Leuten ihr Pfahlbau al* <'iu
gesicherterer Zufluchtsort. .Sic durften dann nur die zum Lande führenden
Stege abbrechen, ihre Piroguen anziehen, und waren dann doch einigermassen
gegen die Bedrohungen eines Feindes gesichert, gegen dessen furchtbarste
Walle, mit brennenden Stoffen umwickelte (Meile und Wurfspeere, ihnen
immer noch die Hülfe ihres unmittelbar nahen feuchten Elementes blieb. \\ li
linden in den Pfahlbauresten , liamenllieli der Schweiz, zahlreiche gänzlicll
und theilweise verkohlte Fragmente, ein Zeichen, dass hier genug der Brande
gewüthet haben müssen. Manche der letzteren mögen bei der leichten, feuer-
empfänglichen Bauart, durch Zufall entstanden sein, andere aber sind auch
gewisslich im Gewühle des „mannsgrimmen Kampfes" emporgelodert. Das»
gewisse Pfahlbauten, z. B. die dw Manganjas, Venedig, u. s. w. nur zum
Schutze gegen feindliche Angriffe errichtet worden, ist bereits früher
(S. 4.) hinlänglich erörtert worden. Auch diejenigen der schweizer Seen
werden diesem einen Hauptzweck gedient haben, einem Zwecke, denen an-
dere, z. B. bequemerer Betrieb der Fischerei, erleichterter Wasserverkehr
u. s. w., untergeordnet werden mussten. Haben doch auch die Pfahlbauera
dieser Gegenden von mindestens soviel Land-, als Wasserthieren gelebt! Es
mag schon recht bequem gewesen sein, von den Plattformen solcher Wasser-
wohnungen aus sogleich die Angeln und Reusen ins \\ asser senken zu kön-
nen. Es mag namentlich für die alten Pfahlbauern der von unzugänglichen,
dichtbewaldeten Höhen umschlossenen schweizer Seen bequem gewesen sein.
in ihren leichten Einbäumen von Dorf zu Dorf zu fahren, bald hier, bald da
zu landen, hier einen im Uferschlamme sich siehlenden \\ isent zu überfallen,
dort bei nächtlicher Weil mittelst Feuerbränden Hirsche oder Rehe ins Schilf
zu locken und zu Speeren u. s. w. In Pommern will man im Dabei- und
Persanzigsee die Beobachtung gemacht haben, dass die daselbst aufgefundi nen
Pfahlbauten ausgedehnt gewesen und mit voller Planmässigkeit angeordnet
seien. Sie stünden in einem bestimmten Verhältnisse zu eigenthümlicheu
Verhältnissen des Landes, welche im Persanzig-See als natürliche Inseln und
Werder, im Daber-See wenigstens zum Theil als bedeutende Wall- und 1 1 ii—
gelaufschüttungen künstlicher Art sich darstellen. Schon ihre Anlage lehre.
dass es sich nicht nur um Wohnungen, sondern ganz wesentlich um Be-
festigungen handeln könne. Die eine ungeheure Masse von Scherben,
Thongeschirr und von zerschlagenen Knochen neben den ebenfalls geöffneten
Haselnussschalen schliesse den Gedanken aus, dass man es nur mit Be-
festigungen zu thun habe. Waffen aus Stein oder Metall oder Ueberreste
davon seien bis jetzt an keinem von beiden Orten gefunden worden und ob-
wohl es sehr wahrscheinlich sei, dass man bei weiteren Nachsuchungen auch
sie antreffen werde, so stehe doch das zahlreiche Vorkommen der erst ge-
10
nannten Gegenstande des künstlichen Handgebrauches ausser albm Verhält-
nisse zu einer blossen Festungsanlage. Man müsse, vielmehr die Ueber-
zcugung gewinnen, dass an beiden Orten sowohl Befestigungen als Wohnun-
gen und /war See w o h n u n gen bestanden hätten. Am Persanzig-See habe
sieh sogar eine räumliche Trennung zwischen Befestigungen und
Wohnungen ziemlich deutlich herausgestellt. Eine früher mitten im See
befindliche Insel sei nämlich ringsum von Pfahlbauten umgeben. Auf der
südlichen und östlichen Seite, wo der See sehr tief und breit gewesen, hätten
sich nur senkrechte Pfähle gefunden, zwischen denen im Boden Alles voll von
Thongerätii, Thierknochen u. dgl. liege, auf der nördlichen Seite dagegen, wo
der See flacher und schmaler, und wo eine sehr lange Brückenaufstellung die
Verbindung mit dem Festlande gesichert, sei ein starker Verhau von horizontal
gelegenen, mehrfach übereinander geschichteten Balken zwischen den senk-
rechten Pfählen blossgelegt, dagegen seien fast keine Ueberreste von Ge-
räthen und Knochen angetroffen.*) Virchow hat später noch dargethan, dass
von ihm in Pommern an verschiedenen Punkten kleine Pfahlbauansiedlungen,
Seeburgen, wohl einer späteren Kulturperiode als die schweizerischen Pfahl-
bauten angehörend, aufgefunden worden, in denen hauptsächlich Eiseugeräth
vorgekommen sei, Niederlassungen, die ähnlich den irischen Crannoges, als
Festungen für Häuptlinge, auch Räuberpack, gedient haben dürften.'"*)
Fassen wir nun, seihst auf die Gefahr hin, ins Breite zu gerathen, die
obige Ausführung noch einmal zusammen. Nach unserer Ueberzeugung also
sind die Zwecke einer wirksamer en Verteidigung gegen Feinde die her-
vorragendsten für Errichtung der alteuropäischen Pfahlbauten gewesen
und sie sind auch die hervorragendsten für Errichtung vieler noch heut exi-
stirender Constructionen ähnlicher Beschaffenheit. Das Letztere liess sich
direct nachweisen und wird Solches auch für das Alterthum Geltung finden
müssen. Der Weg der Vergleichung, des Rückschlusses von Jetzt auf Ehe-
dem wird uns in dieser Beziehung sicherer zum Ziele der Erkenntniss fuhren,
ah ein Herumtappen nach fremdartigen, gesuchten Erklärungen. Niemand
wird ja in Abrede stellen, dass beim Bau der alten Pfahlniederlassungen die
Annehmlichkeiten eines leichten Verkehrs auf der Wasserstrasse unter Ver-
mittlung schnellfortzubewegender Piroguen, dass die Erleichterung des Fisch-
fanges und des Jagdbetriebes in benachbarten Wildrevieren, dass ferner noch
man« he ander«' Nebenrücksichten zugleich mit ins Auge gefasst worden seien.
Vielleicht könnte einmal Jemand die Ansicht aufnehmen, es lasse sich
«in Zun-, ein Trieb, ein Drang in der Kulturentwicklung nachweisen, der die
Menschen in gewissen Perioden zum Aufsuchen und Bewohnen der Holden,
in anderen zur Errichtung von Pfahlbauten veranlasst, der sie endlich zum
Aufbau festerer Häuser, Ortschaften, Burgaden, geführt. Dem gegenüber
') Entnommen dem „Schlesischen Lamlwirth" vom 1 December 1866.
**) Sitzung des wissenschaftlichen Knnstveroins zu Berlin 16. Murz 1860.
11
würde ich mich übrigens zu der Erwiederung veranlass! sehen, dass dei Z
der Drang nach Höhlenbewohnung nichl allein in den fernen, vorhistorischen
Zeiträumen, in jenen Zeiträumen eines rloinmc ä cavernes vorhanden
sondern dass derselbe auch weit spater den unserer sie he ich Geschichte
angehörenden Garamanten (Teda), den Troglodyten (Bedjah), sclbsl deu
Urchristen Aegyptens und Syriens, inne gewohnt. Die Ursachen worden
dieselben oder doch mehr minder ähnliche gewesen sein. Ich würde dann
lerner auf jene ungemein grosse Zahl von Pfahlbauten aufmerksam machen,
welche während des noch späteren Alterthums, des Mittelalters und der
Neuzeit in so vielen Ländern der Erde (vergl. S. 3.) aufgerichtet worden.
Einem Zuge, Triebe, Drange, nach solchen Dingen wird immer ein durch die
Zeit- und Kaumverhältnisse bedingter Zweck zu Grunde liegen, nicht aber
ein unbestimmtes Etwas, etwa, wenn wir so wollen, eine blosse Mode, eine
Marotte.
Es herrscht für uns nicht der geringste Grund, die von unseren Forschern
aufgestellte, sehr übersichtliche und hei vorsichtiger Anwendung ganz unver-
fängliche Eintlieilung der vorhis fori sehen Zeit in ein Stein-, ein Bronze-
und Eisenalter zu verwerf en, wie dies von Seiten Pallmann's und weniger
ähnlieh Denkender versucht worden. (Vergl. u. a. S. 3.) Denn alle unsere
Funde, alle unsere mit grossester Sorgfalt und mit allen Mitteln der Kritik
angestellten Untersuchungen sprechen immer wieder dafür, dass die Völker
der Erde und selbst die frühesten Kulturvölker, wie Aegypter, Assyrcr, *) in
den ersten Stadien ihrer Entwicklung sich der Geräthe und Waffen aus
Stein, Knochen und Holz bedient, dass sie später meistenteils erst zur
Bronze und noch später zum Eisen gegriffen haben. In manchen Län-
dern, so in vielen africanischen, ist zwar das sogenannte Bronzealter über-
sprungen worden und das Eisen ist hier direct an Stelle des Steines, der
Knochen und des Holzes getreten. Derartige Vorkommnisse haben sich
auch in anderen Erdgegenden gezeigt, sie hingen von den Metallbefunden,
von der Industrie und sogar der durch Mancherlei bedingten Richtung der ein-
geschlagenen Handelswege ab. Jene Stein-, jene Bronze- und Eisenalter
sind wohl nirgends so scharf gegeneinander abgegrenzt gewesen, dass nicht
etwa während des Bronze-, ja selbst während des Eisenalters eine- Landes,
eines Volkes, neben den Bronze- und Eisengeräthen. den Bronze- und Eisen-
waffen, deren selbst noch von Knochen sowie von Stein in Gebrauch genommen
wären. Hatten doch des Harald Kriegsinannen bei Hastings mit Steinbeilen
auf die Eisentartschen und Eisenhelme ihrer Gegner losgeschlagen! Kämpf-
ten doch in unse ren Jahrzehnten die tättowirten und wildaufgeputzten Kana-
Kiras von Hawai, die Ariis und Raa-Tiras von Tahiti, die Egis und Matta-
bulis von Tonga -tabu, die Arikis und Kanga-Tiras von Tawai-Punamu mit
•) Nilsson sagt ganz richtig: , Jedes Volk, selbst die ältesten Kulturvölker haben ihr Stein-
alter gehabt.* Das Steinalter oder die Ureinwohner des Seandinavischen Nordens. Nach dein
Manuscript zur dritten Originalausgabe übersetzt von J. Mestorf. Hainhurg 1S6S. S. 13i».
12
ihren Keulen von Holz, mit ihren in Spitzen von Gräten und Knochen aus-
lautenden Lanzen, mit ihren Schlägeln von Stein neben den Bayonet-Muske-
i.ii. Haschetäxten und Bowiemessern ! Unterwarf nicht ein Ta-Mea-Mea mit
solchen halb stein- und holz-, halb (modern-) eisenbewaffiieten Kriegern seine
gesammte Inselgruppe? Waren es nicht solche ganz im Mischmasch Be-
waffneten, mit denen ein Pomare von Eimeo aus am 12. November 181Ö den
denk ward igen, für die Geschicke der Gesellschaftsinseln entscheidenden Sieg
von Buna-Anja und Narei im District Atta-Hurru erfocht? Ilaben nicht noch
in den 1840ger .Jahren ein Hongi und Heki ihre nephriteneu Miri-Miri s
neben den binninghamer Karabinern geschwungen? Aehnliche Industrie- und
llandelsverhältnisse haben im Alterthume, wie auch noch heut in verschie-
denen Gegenden der Krde stattgefunden. Weiter vorgerückte Völker boten
den minder civilisirten das Vervollkonimneteve zu Kauf und Tausch. Bronze-
iiikI Bisenarbeiten mussten schon zu Alters die Stein-, Knochen- und Holz-
arbeiten allgemach verdrängen/") Heut überragen die Fabrikate von Birming-
ham. Lüttich, Suhl, Sheffield und Solingen die zierlichsten Urgeräthe der
So« ietäts-, Mendaüa- und Paumotu-Inseln, dennoch hatten sie, trotz ungeheue-
rer Nachfrage, es bis vor kurzer Zeit nicht vermocht, die letzteren ganz und
gar überflüssig zu machen, mithin den gesannnten Waffenbedarf zu decken,
heim fremde Producte wollen doch auch irgendwie bezahlt werden und
der in beschränkten Grenzen verharrende (sehr lokalisirte !•) Krieg der Süd-
seeinsulaner mit einander, wie mit Europäern kann nicht den Wehrapparat
unserer Civilisation (durch Erbeutung, Plünderung von Ansiedlungen, Schiffen,
Leichen etc.) ausschliesslich in die Hände der Begehrer spielen. Aehnlich
muss es sich also schon im Alterthum gezeigt haben, während dessen
mangelhafte Kommunikationsmittel noch weit grössere räumliche und zeit-
liche Hindernisse setzten, als sie der in unseren Tagen von der Dampfkralt
überwundene Ocean nur irgendwie zu setzen vermag.**) (Note I.)
Die ältesten Bewohner Europas haben nur steinerne, knöcherne und
') Xilsson führt /war an, dass bei den Vorfahren seiner Nation (gothischen Stammes we-
nigstens) niemals andere als Eisenwaffen erwähnt würden, so z. B. in den Sehlachten von Bra-
silia (700) und Stickleretad (1030), in welch letzterer der Skalde Thormodr von einem mettalle-
tien Bauernpfeil verwundet worden. Derselbe Verfasser fügt jedoch (S. 141) hinzu, dass wir
-olehe Beschreibungen den Reicheren und Vornehmeren verdanken, die selbst in Besitz eiserner
Wallen gewesen und es für überflüssig gehalten, der von den gemeinen Kämpen geführten ein-
fachen Steinwaffen zu gedenken. Es sei auch uichl denkbar, dass die eisernen Waffen plötzlich
allgemein gebraucht worden seien. Eine allmälige Einführung derselben sei viel wahrschein-
licher. Auf den Felsenbildern von Bohuslän, die aus der Wikingerzeit stammten, sehe man noch
beide nebeneinander u. s. w.
'•) Lindenschmit sagt: „Der Gebrauch von Wallen und Werkzeugen aus Stein erstreckt
«ich diesseits der Alpen aber den ganzen vorgeschichtlichen Zeitraum und reicht neben der
t heil weisen Benutzung der Metalle viel tiefer in die historische Zeit, al< man nach den herr-
schenden Vorstellungen anzunehmen geneigt ist." Es sei durch eine grosse Reihe von Grab-
funden dargelegt, dass die Steingeräthe keineswegs mit der Einführung des Erzes, und selbst des
Eisens, ver ehwnnden. Archiv f. Anthropol, III, s. 117.
13
hölzerne Gerätbe, wie auch Waffen benutzt,. Wer übrigens einmal in irgend
einer Sammlung die selbst bei allem Mangel an Schliff sorgfaltig gesprengten,
aus Feuerstein gearbeiteten Messer, Lanzeu- und Pfeilspitzen der früheren,
wer dort einmal die wohl gekanteten und hübsch geglätteten Knooheuuiei
Knochenahle, die Feuersteinsügeu, die aus mancherlei Steinmaterial verfei
tigten Angeln und Heile, Netzsenker und ähnliche Arbeiten des späteren Stein-
alters*) ins Auge gefasst, wird den Zeitgenossen wenigstens des letzteren eine
gewisse Kunstfertigkeit nicht absprechen können.**) Schon damals richtete
sich der Sinn der Menschen auf möglichste Zweckdienlichkeil und auf mög-
lichst anmuthige Formen der Utensilien, wenn auch mit aller Beschränktheil
einer nur erst wenig entwickelten Technik.
Allgemach hat nun Bronze Eingang in die europäischen Gegenden
gefunden. C. Vogt Hess vor sieben Jahren die Frage, ob die Bronze durch
einen vom Steiuvolke verschiedenen Stamm eingeführt worden oder ob sich
ihre Keuutniss selbstständig entwickelt, noch unentschieden.***) Auch bis
jetzt ist diese Frage keineswegs sicher beantwortet worden, soviel Midie man
sich auch gegeben haben mag, eine befriedigende Lösung derselben zu ge-
winnen.
F. Maurer, für welchen die Pfahlbauten in erster Reihe nur Zufluchts-
stätten oder Wasserburgen semitischer oder semitisch -hellenischer Krämer
und ihrer Waaren (!), in zweiter Reihe gelegentliche Asyle autochtoner Kel-
ten für den Kampf gegeneinander oder gegen deutsche Angreifer, meint, dass
im europäischen Norden nur ein Steinalter existire und aus iberischem oder
celtischem in das germanische Eisenalter hineinrage, dass unsere sämmtlichen
Bronzefunde jedoch einer fremden Industrie angehörten und bei uns nur
von Begüterten benutzt worden seien, f) Nach Pallmann aber sind die Bron-
zen durch Metallfabrikation treibende Kulturvölker (Phönizier, Etrusker),
durch Wanderarbeiter, fahrende Handwerker (Etrusker, Massalioteu oder
Celten) importirt worden.
Desor ist der Ansicht, dass man den Handel des Bronzealters der Pfahl-
bauten in eine der etruskischen und phönizischeu (Blüthe-) Zeit fernere
Epoche zurückverlegen müsse. Man müsse den Geschichtsforschern über-
lassen den Nachweis zu führen, ob etwa ausser Phöniziern und Karthagern
noch irgend ein anderes Schiffer- und Handelsvolk unter Vermittlung liguri-
scher Häfen mit den Völkern des Bronzealters der italischen Seen vor Ent-
deckung des Eisens Handel getrieben habe. Nichts constatire aber, dass
•) A. o. a. 0. S. 26 ff. Taf. IL Fig. 33, 34, 35, Tat'. XI, Fig. 216.
**) Vergl. die Abbildungen bei Desor 1. c; bei Le Hon: l'homme fossile en Europe. Bruxel-
les MDCCL-XVII.; Lubbock: Prebistoric Times. London 1865; Nilsson. I. c ; Qöngora > Har-
tinez: Antigüedades prehistöricas de Andalucia, Madrid 1868, Fig. 8, 9, 10. 19, 39, 60, 61, 12S
bis 134; Madsen: Antiquites prehistoriques de Danemarc. L'äge de pierre. Copenbague 1869
U. S. W. U. S. Vi.
*") Vorlesungen über den Menschen u. s. w. Giessen 1863, II, S. 120,
t) Ausland 1864, S. 913.
14
etwa Phönizier die ersten Sehrfffahrer gewesen. Die Geschichte weise nach,
dass Tokkari genannte Gefangene im 13. Jahrhundert v. Chr. durch bihamsses
IU. in einer Seeschlacht besiegt worden, deren Physiognomie nach Morton
den celtischen Typus andeute.*) Diese Leute möchten sich also mit einem
der mächtigsten Pharaonen zur See gemessen und den Handel längs der
Mittelmeer- und vielleicht auch der atlantischen Küsten in Händen gehabt
Indien. Wenn nun wirklich ein solcher Handel vor der phönizisehen Zeit
existiit, so würde derselbe sich nicht auf den Südabhang der Alpen beschränkt,
haben. Hei selbe hätte sich wohl bis auf die im Bronzealter der .Schweiz, le-
benden Völker erstrecken müssen. Die Einführung der Bronze würde dem-
nach in ein sehr hohes Alterthuin, unzweifelhaft weit, jenseit der ältesten Ge-
schichte Europas, hinaufreichen.
Meiner Ansicht nach haben wir keinen Grund, gewissen althergebrachten
Annahmen zu Liebe, die Phönizier als die alleinigen, unbezweif'elbaren Schöpfer
europäischen Kunst fleisses zu betrachten. Phönizische .Seefahrt, phöuizischer
Handel sollten ja, wie man so lange und so hartnäckig behauptet hat, im
Alteithume Alles beeinflusst haben. Die phönizische Kultur erreicht, aber
nicht das Alter der ägyptischen. Sidon blühte allerdings schon i. J. "-'000 v.
Chr.; um 1700 -1400 und später unterhielten Phönizier bereits einen lebhaf-
ten Handel zwischen Aegypten und Babylouien, sowie anderwärts. Die ägyp-
tische Kultur ist trotzdem noch weit älter, als die assyrische, babylonische,
phönizische, indische, sie ist die älteste der Erde (vergl. auch .lahrg. 18G9
Heft I. dies. Zeitschr.). Die Aegypter hatten schon um das dritte Jahrtausend
v. (.dir. gut gebauete Schiffe; im 17. Jahrhundert v. Chr. sehen wir sie weite
Seefahrten ausführen.**) Es ist anzunehmen, dass sie, die hochkultivirten,
in vielfacher Beziehung so edlen und milden Anbeter des höchsten Amon-
Ra, wie sie Lehrmeister der Griechen und Westasiaten gewesen, dies auch
den geriebenen, aber blutigstem Molochdienst huldigenden Puna (Phöniziern)
im Handel, Seedienst u. s. w. gewesen. In Aegypten war die Bronze bereits
unter der VI. Dynastie Gemeingut der Nation. Waren die Aegypter aber
die Erfinder derselben? Wir wissen es bis jetzt nicht. Auch wenn die
Bronze ein Erzeugniss ägyptischen Genies, so brauchte sie deshalb doch nicht
direct von den Söhnen Pharao* s nach Europa gebracht zu werden, sie konnte
') In Bezug auf ilioses ('Hat Desor's aus den Types of Mankirul vergl. Eilit. IX derselben,
l'liikul. 1868, p. 108, wie. folgt: „Almut the Urne alluded to, there seems to have been a great
commotion among tlie white rares of Asia; a the Gauls or Celts, a perhaps the Hyksos, may
have been diverging, streams of the saine stork. Dr. Morton points out a head (Crania aegy-
ptiaru p. 140, tig.: „to my view they have the lined and hardy features of the Celts or Gauls'
etc.), often repeated on the monuments of Egypt which he reganls as a Celtie stock. These
people called Tokkari in hierogly phics , are prisoners in a sea-fight. of Ramses III, XXth
dyiias'y, about the thirteenth Century B. C. They are, without question, the Tochari of Strabo.*
**) Vergl. darüber das neueste von Dümicben publicirte Werk: Resultate der auf Befehl
Sr. Majestät des Königs Wilhelm I. von Preussen im Sommer 18Ü8 nach Aegypten entsendeten
archäolog. photograph. Expedition. Th. I, Berlin 1869, mit B. Graser's gelehrter Abhandlung
über das Seewesen der Aegypter.
15
immerhin durch phönizische Hände dahin gelangen. Wer die Weiterver-
breiter der Bronze nach dem Binnenlande waren, bleibt vor der rlaud un-
sicher and unterschiedlicher Spekulation überlassen. Auch. Nils nn betrachtet,
wie mancher Andere, die Phönizier als die Schöpfer der europäischen Bronze
kultur.*) Man beruft sich bei derartigen Spekulationen immer sehr gern aul
die Aehnlichkeit von alteuropäischen Bronzegegenständen mit orientalischen,
sucht aber die letzteren meist nicht an ihrer richtigen Stelle. Ich werde später
wieder auf dieses Thema zurückkommen. \Yil>el 9 Ansichten, ..di>' Kultur derBrou-
zezeit sei eine durchaus einheimische (europäische), ihrem ersten l rsprunge nach
auf Gros3brittannien zurückzuführen und sei sonnt als höhere Entwicklung^
stufe der Urbewohner dieses Landes zu betrachten,"**) hat bis jetzt nirgends
Anklang gefunden, hauptsächlich deshalb nicht, weil der Gang unserer Kul-
tur, auch der Bronzekultur, von Süd nach Nord den Ueberlieferuugen zufolge
gesichert erscheint, nicht aber der umgekehrte von Nord nach Süd. Hierfür
hat der Umstand, dass wir die eigentliche Stätte der Bronzeerfindung im
Süden bisher noch nicht aufzudecken vermocht, keine durchschlagende Be-
deutung. Nicht einmal die Auffindung von Erzgussstätten au mancherlei
Oertlichkeiten Europas würde die Möglichkeit einer Einführung der Bronze
von Aussen her ausschliessen , denn wo eine Industrie einmal Eingang er-
halten, da entstehen auch Etablissements zu ihrer Pflege.
Die Zusammensetzung der Bronzen ist in verschiedenen Ländern eine viel
zu verschiedenartige gewesen, als dass man daraus unmittelbar die Herkunft
dieser Metallkomposition im Allgemeinen zu erschliessen vermöchte. Scherer
führt an, dass während unsere heutige Bronze mit 2 4 pOt. Zinn und 10
1H pCt. Zink legirt werde, die antiken Bronzen nur Kupfer und Zinn mit
etwas Blei, niemals aber Zink, enthalten hätten.***) Wibel, Cohausen und An-
dere sind nun darüber einig, dass zink- und bleihaltige Bronzen nicht
jünger, als Zinnbronze seien, wie das doch von einigen Seiten her behauptet
worden. Aber Fellenberg weist dein Zink in der Bronze eiuen späteren
Platz an. Griechen, Römer, Etrusker und Aegypter haben übrigens blei-
haltige Bronzen gegossen, und zwar mit Hülfe von Blei, das im Verein mit
Silbererzen gewonnen wurde.
pjiuige wenige neuerlich in Oberschlesien gefundene antike Geräthe, na-
mentlich gebogene Messer aus stark zink- und etwas kadmiumhaltiger Bronze
mögen ein örtliches aber doch späteres Lidustrieerzeugniss der an Zinkerzen
(Galmey) reichen Landschaften Schlesiens selbst gewesen sein, womit freilich
um keinen Preis gesagt werden dürfte, es hätte der Anstoss zu dieser lokalen
*) Den stricte« beweis nun' bleibt uns freilich auch Nilsson schuldig. Waren denn nun
die Phönizier Erfinder oder waren sie nur Vermittler der Bronzearbeit? Vergl. Oongres inter
national d' Anthropologie et d'Archeologie prdhistoriques. Paris 1868. d. 238 ff.
") Vergl. Wibel: Die Kultur der Bronzezeit Nord und Mitteleuropas u. s. w. Kiel 1865.
Cohansen im Aren, f. Anthrogp., I, S. 321 ff. und Wibel das. III. S. 37 IV.
♦•*) Lehrbuch der Chemie, Wieu 18G1, I, S. 690.
16
Industrie nicht auch von Aussen kommen küunen. Das Material, welches
man übrigens zur Bronzebereitung im Allgemeinen gebrauchte, ist sicherlich
dt'i) verschiedensten ( legenden entstammt gewesen. Man mag z. B. dazu
immerhin Zinn aus Ophir, d h. Ostindien, aus Britannien uud aus Sachsen,
Kupfer aus Cornwallis, herbeigeholt haben, je nachdem die Lage der Erzguss-
stätten, wie die einmal eingeschlagenen Handelswege es gerade erforderten.
Es kann uns also auch dies für die Frage, woher denn die Erfindung der Bronze
eigentlich gekommen, gar nichts direct, beweisen. Ich glaube wir können
jetzt überhaupt diese Frage nur unter Zuratheziehung noch ganz anderer
Funde aus dem Bronzealter einer Entscheidung näher führen. Erst wenn wir
im Stande sein werden, die gesammte Entwicklung und Richtung der Kultur
des Bronzealters einer genaueren Zergliederung zu unterwerfen, werden wir
uns fähig fühlen, auch in dieser Hinsicht ein entscheidenderes Urtheil zu
fallen, als dies bisher möglich sein konnte. Dazu bedarf es freilich eingehen-
denen Studiums eines erst noch bedeutend zu vermehrenden, vergleichenden
Materials von alten Brouzegegenständen und von neueren Metallarbeiten der
verschiedensten Völker und Kulturepochen, endlich ein genaueres Eingehen
in die alten kulturhistorischen Verhältnisse der Landschaften, von denen das
Licht für die östliche Hemisphäre ausgegangen, d. h. Nord -Ost -Afrikas nud
Westasiens! (Note II.)
Bekanntlich hat man an verschiedenen Stellen des Festlandes, wir wollen
hier u. A. nur Cotteau's Fund im Yonnedepartement, Pazin's Fund zu Fu-
meraut, denjenigen Sauvage's und Ilamy's zu Alpreck, Szabo's zu Egyek,
Mätragebirge, u. s. w. u. s. w. nennen, sowie in schweizer u. a. Pfahlbauten,
z. B. im Münchlmchsee , im Untersee (Wangen, Bodmann), u. a. m. die
Reste von Werkstätten zur Verfertigung von Steingeräthen u. dgl. m. aufge-
funden. Fast jeder Bericht über vorhistorische Menschen erzählt uns von
derartigen Entdeckungen. Mau beobachtet an solchen Stellen vollendete und
nicht vollendete, augenscheinlich missrathene Werkzeuge und Werkzeugsplitter.
Manche Pfahlniederlassungen scheinen wahrhafte Steinwaarenspeicher euthal-
ten zu haben. Ausserdem mache ich hier noch einmal auf das oben über die
Auffindung von Bronzegussstätten Erwähnte aufmerksam. Gewissen
neueren Annahmen zufolge wären nun aus celtischen Ansiedlungen und an-
derswoher hervorgegangene, reisende Kaufleute wie auch Handwerker urnher-
gepilgert, hätten hier Handel getrieben, uns mancherlei Dinge eingeführt,
dort Steinsägen abgesprengt, Steinbeile geschliffen, da wieder erzene Messer
und Lanzenspitzen gegossen u. s. w. Solchen Annahmen kann die Erfahrung
nichts entgegenstellen, namentlich in wilden und halb barbarischen
Ländern. *J Es wimmelt von herumstrolchenden Krämern und Handwerkern.
*) Wir haben solche Erscheinungen auch noch in unseren civilisirtesten Ländern, obwohl
hier die Handwerker, bis auf die Slowaken und Zigeunerschmiede, meistens sesshafter Natur zu
sein pflegen.
17
Türkmanische Schleifer, auch Schmiede, durchziehen den Orient; nubieche
Djaelln, so rechte Kleinkrämer and Wunderdoktoren, bringen ihre Glasperlen,
Messer, Baumwollenzeuge u. s. w., ihre angeblich heilkräftigen Wurzeln und
Kräuter bis nach Darfnr und in die Galaländer hinein; ili<* dem Barivolke
entspriessenden Tumonek, sehr geschickte Eisenschmiede, wandern im Gebiete
des weissen Niles hin und her, um selbst bei ganz entfernt wohnenden Stum-
men Lanzenspitzen, Grabscheite u. s. w. zurechtzuhämmern. *) Eine ähnliche
Rolle spielen in Abyssinien als Schmiede, Maurer, Töpfer u. s. w. die Fa-
lascha's,**) als Goldschmiede dagegen die Armenier und Hindus.
Dergleichen Wanderkrämer und Wanderhandwerker mag es auf dem Fest-
lande und auf Pfahlbauten, auch schon im Aiterthume in Europa sowie ander-
wärts gegeben haben. Aber es ist doch stark, wenn Pallmann unsere Pfahl-
niederlassungen als nichts weiter, denn „Handwerks- und Handelsstationen
fahrender Kelten aus Gallien'- u. s. w. gelten lassen will.
Ueber das Eisen alter brauchen wir bei dieser Gelegenheit wohl nicht
viel mehr zu sagen. Es folgte allmählich dem Bronzealter, ging in geschicht-
licher Zeit weiter und gehört ja auch unsere Zeit demselben noch immer an
Dass wir jetzt statt nur Panzer und blanke Waffen auch Häuser, Schiffe u.
s. w. neben Hinterladergewehren, Gussstahlkanonen und Monitorplatten aus
Eisen verfertigen, ändert nichts an der allgemeinen Sachlage.
Kein vernünftiger Mensch kann noch daran denken, für das Alterthum
eine besondere Pfahlbauzeit, ein besonderes Pfahlbauvolk anzunehmen.
Pfahlbauten haben sich ja zu allen Epochen und unter den verschiedensten
Völkersckaften gezeigt. In Europa allein haben, in sehr verschiedenen Ge-
genden, Pfahlbauten durch lange Zeiträume hindurch existirt und sind daselbst
wieder gänzlich verschwunden. Wir glauben von vornherein die Annahme
zurückweisen zu müssen, als könnten diese Constructionen auf unserem Con-
tinente sämmtlich von einem und demselben, etwa über weit von einan-
der liegende Gegenden verbreiteten Stamme errichtet worden sein, welcher
Anschauung man immerhin gelegentlich noch hier und da begegnet. In Be-
zug hierauf halten wir eine Discussion für überflüssig. Ein Anderes wäre es
dagegen mit der Frage, ob der Anstoss zur Errichtung der europäischen
Pfahlbauten nicht von einem bestimmten Stamme ausgegangen und in anderen
Stämmen durch Nachahmung weiterverbreitet sein könnte. Auf eine Erörte-
rung dieser letztgestellten Frage werden wir späterhin zurückkommen.
Die europäischen Pfahlbauten gehören den von uns angenommenen Stein-,
Bronze- und Eisenaltern an, sie reichen jedenfalls in ein sehr hohes Altei
hinauf. Ueber die bereits angestellten Versuche zur Bestimmung des letzte-
*) W. v. Harnier hat eine kleine Gruppe schwarzer Wanderschmiede vom weissen Nil in
sehr charakteristischer Weise abgebildet. S. dessen Reise am oberen NU. Darmstadl und Leip-
zig 1866.
**) Einzelne dieser Falascha's gehen selbst bis Doka, Gedarif, Galahat und sogar nach
dem blauen Flusse (hierher allerdings nur selten), um ihre Arbeiten tu verrichten.
Zeitschrift für Etbliologte, Jahrgang 1870. 2
18
reu können wir vorläufig auf die Arbeiten von Keller, Morlot, O. Heer, Desor,
Staub*), M. Wagner u. A. verweisen. Die Pfahlbauten der Steinzeit gehören
sicherlich sehr, sein- fernliegenden Epochen an, mögen auch Pallmann uud
andere Anhänger einer [landelsstationstheorie a. s. w. sieh noch soviel Mühe
geben, ein geringeres Alte jener zu breweisen.**)
Mancherlei Kopfzerbrechen hat bis jetzt immer die Frage gekostet, wie
wohl die Häuser in den alten europäischen Pfahlbauten, namentlich der Schweiz,
beschaffen gewesen sein möchten. Anfänglich hatte man auf deu kreisförmi-
gen Unterbau und das spitz-kegelförmige Dach geratheu, wie diese der afri-
kanische Togul zeigt, wie dieselben ferner in manchen Gegenden Mexico's,
Coloinbiens, auf den Tonga- und anderen Südseeinseln gefunden werden.
Keller und Lyell reconstruirten sich ihr schweizer Pfahlbaudorf ohne stich-
haltigen Grund nach den von Dumont d'Urville veröffentlichten Ansichten der
Pfahlhütten zu Dorei und Hessen inmitten der länglichen, mit verandenartigen
l eberdächern versehenen Gebäude, einen mächtigen Togul erstehen. Auf
<lem etwas duster gehaltenen Titelbilde zu Le Hons Homme fossile sehen wir
ein aus lauter solchen Togulhütten gebauetes Pfahldorf lustig in Flammen auf-
gehen. Ganz so schauete ich es im Jahre 1867 auf einem Oelgemälde in der
so höchst interessanten prähistorischen Ausstellung auf der grossen interna-
tionalen zu Paris. Da wüthete das Feuer zur dunklen Nacht in den Togul-
hütten einer „Cite lacustre" , vom Ufer her aber schoss der Feind seine mit
brennenden Stoffen bewundenen Pfeile in den dem Verderben geweiheten
Ort hinein. Ich bin nun gewiss kein Feind solcher Darstellungen und Man-
ches daran war sicher so naturwahr gedacht uud wiedergegeben, als es un-
sere beschränkten Kenntnisse nur irgend gestatten mochten. Aber waren
hier wohl die Togule am Platze? Man weiss freilich, dass Strabo den Bel-
giern kuppeiförmige, hochbedachte Hütten von Weidenrutheu und Brettern
zuschreibt. Leuten, die aber doch Zeitgenossen des, Griechen gewesen.
Messikommer versicherte uns, niemals die Subconstructionen rundlicher,
sondern immer nur diejenigen rechteckiger Pfahlhütten gefunden zu haben.
Man hat im Alterthuine zum Bau derselben immer einen möglichst weichen,
das Einstemmen der Pfähle zulassenden Seegrund gewählt, und jene nur an ruhi-
geren Stellen, welche gegen heftige Winde thunlichst gesichert waren und deren
Umgebung auch einigen Landbau, einige Yiehweidung ermöglichte, errichtet.
*) Die Pfahlbauten in den schweizer Seen. Fluntem bei Zürich. 1864.
**) Pallmann thut S. 83 bei Besprechung einer Ansicht Nilsson's, wie man sich etwa einen
Steinmenschen zu denken habe, folgenden sonderbaren Ausspruch : „ Man versuche es nun, solche
Steinmenschen in die schweizer Pfahlbauten zu versetzen und man wird sich fragen müssen,
wie ist es möglich, dass solche Wilden (die feste Wohnsitze hatten und in meisterhafter Weise
iln Steingeräth anfertigten) am Bodensee Ackerbau und Viehzucht getrieben und am Webstuhl
fleissig gearbeitet haben und sogar auf Handelsgedanken gekommen sind?" Wir aber fragen
einfach, warum denn nicht? Wie viele Polynesier hatten doch nur Steins Knochen- und Holz-
geräthe trotz einer gewissen Kultur, die jedenfalls sehr viel höher gewesen, als diejenige der
vielbesprochenen europäischen Steinmenschen!
19
Messikonimer hat vor drei Jahren folgende Darstellung der robenhauseuci
Pfablhütten nach seinen eigenen Untersuchungen, seinen eigeneu Reconstru-
ctionen gegeben: „Wenn ein Ort zur Errichtung einer Niederlassung für gün-
stig befunden wurde, so wurden aui ein Quadrat von :! Fuss Seite (also 9
Quadratfuss) an die 4 Endpunkte je 2 Pfahle von 3—4 Zoll Durchmesser in
den Seegrund eingeschlagen. Zu einer Hütte von 27 Fuss Länge und 21 Fuss
Breite gehörten lb'O Pfahle. Die Richtung derselben ging genau nach den
Himmelsgegenden, d. h. von 8. nach N. und von 0. nach W. Jeder grössere
Schacht zeigt das zu Kobenhausen deutlich, bei kleineren Schachten siehl
man es, da einzelne Pfähle umstürzen, nicht so leicht.
Es ergiebt sich hieraus, dass die Kolonisten nach einem bestimmten
Plane und regelrecht die Basis ihrer Hütten erstellten. Wie wäre es ohne
dieses möglich gewesen, Hütten auf solche dünne Stämme zu erbauen? Wenn
die Pfähle in den Seegrund geschlagen waren, so wurden die Querbalken,
welche theils aus Rundholz und theils aus leidlich gespaltenem Holze bestan-
den, in die Pfähle eingezapft. Wenn die Pfähle zu einer Richtung auf diese
Weise mit einander verbunden waren, so wurden über diese Querbalken kleine
Kundhölzer von 2 — 2£ Zoll Durchmesser hart aneinander gelegt und der
Pfahlbau war zum erstenmale überbrückt, lieber diese unterste Lage von
Rundholz wurde aber in der entgegengesetzten Richtung eine zweite Lage
erstellt, so dass dadurch der Boden genügende Sicherheit bot.
Die Pfähle bestanden hauptsächlich aus Fichtenholz, aber auch die Eiche.
Föhre, Erle, Aspe, ja sogar die Haselstaude wurden bisweilen benutzt. Dir
Rinde aller dieser Holzarten findet sich an den Pfählen noch trefflich erhalten.
Wenn der Unterbau erstellt war, so wurde am Bau der eigentlichen
Hütten gearbeitet, die Hauptpfeiler derselben ruhten im Seegrund um ihnen
die nöthige Festigkeit zu geben. Wohl die meisten Hütten hatten die Form
von Rechtecken. Dieselben wurden mit Flechtwerk eingekleidet, über welches
ein Lehmüberzug gebracht wurde, um Wind und WTetter bestmöglichst abzu-
halten. Ebenso wurde der Zimmerboden mit einer Mischung von kleinen
Steinen (Kies) und Lehm (sogen. Estrich) 2 — 3 Zoll hoch belegt, um die
Feuchtigkeit von unten abzuhalten. Was ich bis jetzt geschrieben habe, ruht
auf bestimmten Thatsachen, die sich jeden Augenblick beweisen lassen; anders
ist es mit dem Dache und dem Kubikinhalt der Hütten, das ist mehr Hypo-
these. — Die bis jetzt aufgedeckten Hütten hatten, wie schon bemerkt,
eine Länge von 27 Fuss und eine Breite von 21 Fuss, gleich 567 Quadrat-
fuss. Wer aber auf den Pfahlbauten gräbt und die Massen verkohlten Stro-
hes betrachtet, die man immerwährend findet, dem drängt sich unwillkürlich
die Ueberzeugung auf, dass ein Strohdach die Hütten deckte. Schwerer ist
es den Kubikinhalt zu bestimmen; wenn man aber bedenkt, dass der Webe-
stuhl fast in jeder Hütte thätig war, so musste auch gewiss Luft und Lichl
in denselben vorhanden sein.*)k' Auf Taf. IL Fig. 1. ist eine Pfahlhütte
') Ausland 1867. S. 194. ff.
20
nach dem von Messikommei am hier angegebenen Orte (S. 193) abgebildeten
Modelle dargestellt worden. Ich selbst habe aber neuere von dem wetzikoner
Archaeologen angefertigte Modelle gesehen, au denen die Bekleidung der
Wände mit Lehm oder Lehm und Seekreide an der gesaramten Aussenseite
von oben bis unten ausgeführt war. Ein Bohlenbeschlag mag die Giebelwände
wie iu manchen unserer Bauernhäuser gesichert haben. (Das. Tat'. IT. Fig. 2.)
In den schweizer Pfahlbaudörfern mögen, wie allenthalben grössere und kleinere
Hütten nebeneinander gestanden halten. Es ist auch annehmbar, dass in-
dividueller Geschmack, individuelles Bedürfniss an diesem oder jenem Hause
eine Aenderung des allgemein befolgten Baustyles zu Wege gebracht. Wie
es aber hätte kommen sollen, dass inmitten der rechteckigen Pfahlhütten.
deren etwa zu Geineindezwecken. als Kathhaus oder dgl. dienende von To-
gulform oder eckige von Kioskform erstanden wären, das ist. uns unklar. Man
vergl. hierauf hin abermals die Titelbilder zu LyeH's Antiquity of Mau und zu
Staub's Pfahlbauten in den schweizer Seen. (Note III.)
Wir haben diese runden Häuser auf unserer ein schweizer Pfahldorf dar-
stellenden Tafel (I.) weggelassen und zwar, wie wir denken, mit allem
Fug. Die rechteckige Form entspricht nur der in Europa bei kleinen Leuten
allgemein üblichen, wie man dieselbe noch jetzt, mit geringen Abweichungen,
iu den Ebenen der Lombardei, in Spanien, Frankreich, Deutschland und
selbst in der Schweiz, hier freilich neben den berühmten, mit verschwenderi-
sche)- Ornamentirung versehenen vollständigen und unvollständigen Holzhäu-
sern, beobachtet. Wo die knappe Räumlichkeit es gebot, wurden die Pfahl-
hütten ganz nahe aneinander gebaut, so dass nur der für die Communikatiou
nothwendigste Zwischenraum blieb. Der Innenraum scheint ein einfaches
grosses Gemach dargestellt zu haben, über dem sich vielleicht, ein Giebelbo-
den befunden.1') Jene höchst praktische Ausnutzung des inneren Gebäues,
jene Eintheiluug desselben iu eine Menge kleinerer Gemächer, Hangeböden,
Verschlage und Corridore, wie wir sie in ländlichen Wohnungen z. B. zu
Wetzikon und in anderen Orten der Kantone Zürich, Uri, Tessin, wie wir sie
aber namentlich in den grossen „Höfen" der „Bauerschaften" Westphalens
(z. B. des Münsterlandes), ferner in den grossen Bauernhäusern Oldenburgs
und Ostfrieslands**) gesehen, scheint iu jenen Zeiten noch Niemand beliebt
zu haben.
*) Vergl. hierüber auch Staub a. a. O. S. 26.
*•) Als ich im Jahre 1852 Oldenburg und Ostfriesland, in den Jahren 1850 und 1853 West-
pbalen bereiste, fand ich daselbst noch sehr viele dieser alten prächtigen, niedersächsischen Pa-
triarchenhauser. Dagegen sah ich dieselben im Jahre 1868 in den genannten Provinzen bereits
Stark in Abnahm, begriffen. Sie wurden durch einen mehr städtischen Styl von mit Ziegeln
und mit Schiefer bedachten Häusern verdrängt. Aehnliche Vorgänge kann man übrigens
auch an gewissen Legalitäten der Schweiz verfolgen. Selbst in Italien verschwindet schon
manche alterthfimliche Casa vor einer Villa im kosmopolitischen Style, ja selbst in den ehrwür-
digen (.'anales auf Malta, wieCasal Qurmi, Casal Zeybug, C Bircercara, sah ich 1860 dieses Ein-
greifen einer modernen Architektur. Jedenfalls geschehen solche Veränderungen auf Kosten eines
urwüchsigen Typus, wenn auch freilich nicht überall auf Kosten des Nutzens, der Bequemlichkeit.
21
Die Pfahlhütten zu Kobenhausen und an anderen schweizer Oertlichkei-
ten haben also, wie aus obiger Beschreibung hervorgeht, auf frei iu den Bo-
den eingerammten Pfählen gestanden und hat das Wasser der Seen anter dem
den horizontalen Boden bildenden Pfahlwerk, dem sogen Pfahlrost, frei sicli
bewegen können.
Dagegen sind andere Pfahldörfer der Schweiz (zu Wauwyl und Nieder-
wyl) im Machen Wasser auf sogenannten Packwerken errichtet worden. Staub,
der im Verein mit Messikomrner selbst Nachgrabungen in dieser Art Bauten
angestellt, beschreibt dieselben folgendennassen : „Hier (d. h. in diesen Pack-
werkbauten) sind die Hütten nicht auf einer Art Brücken oder Kost, die auf
senkrechten Pfählen errichtet ist, gestanden, sondern — wie soll ich sagen ?
— auf einer ungeheuer grossen Scheiterbeige. Es wurde nämlich eine Un-
masse Stamme und Prügel, auch Spältlinge, alle auf etwa 6 10' Länge zu-
gerüstet und Lehm, Zweige, Laub und Steine herbeigeschleppt. Nun wurde
auf der Grenze des Baues eine Reihe senkrechter Pfahle errichtet, dann Holz-
schichten in Menge verbreitet (Taf. VIII. Fig. 16. bei Stanb), diese V dick
beschwert mit Latten, Reisig, Laub und Steinen, auf den Grund des Sees
versenkt, und zwar etwa auf einer Fläche von einer Juchart gross. Auf diese
Lettenschicht wurde dann wieder eine kreuzweise gelegte Holzschicht ver-
senkt, abermals belastet mit V dicken Letten. Steinen u. s. w. Nun hatte man
schon zwei Böden. Es wurde so fortgefahren mit dem dritten, vierten und
fünften Boden, bis endlich der letzte genügend über das Wasser hervorragte.
Auf diese Scheiterbeige hinauf errichtete man dann die Hütten*. Man schlug
freilich innerhalb dieser Holz- und Letteninsel zur Befestigung der Baue
Pfahlreihen, sowie für den Bau der Hütten auch senkrechte Pfähle ein. Letz-
tere trugen das Dach und hielten den Unterbau zugleich fest. Nun geschah
es aber später gerne, dass die Unterlage lebendig wurde und sich senkte oder
dass das Wasser höher stieg, dann mussten die Colonisten, wohl oder übel,
noch mehr solcher Holz- und Lettenschichten auf die alten legen und ihre
Hütten umbauen, so dass am Ende oft (i — 7 solcher Böden aufeinander zu
liegen kamen. Beweis hierfür ist, dass Herr Messikomrner, als er Letzhin
iu Niederwyl die Schichten bis zum fünften Boden abdeckte, er dort Aepfel,
Himbeersamen, Gerste, aufgeklopfte Haselnüsse und Küchenabfalle vorfand.
Man wohnte also früher auf dem fünften Boden, später auf dem siebenten.
Er hatte die Güte, mir einen Schacht graben zu lassen; ich zählte 6 Böden
und der Arbeiter war noch nicht auf dem Seegrunde angelangt. Diese eigen-
tümliche Bauweise kommt bis dahin nur in Seen mit niederem Wasserstand
vor. In Wauywl ist die Bauart ganz die gleiche."*)
Staub gedenkt ferner der Bauten von Nidau, Satz, Markigen, woselbst
im tiefen Bieler-See je ein künstlicher Hügel aufgebaal wurde und zwar aus
übereinander geworfenen Steinen, die man vom Lande herbeifuhr und ver-
*) A. a. 0. S. 26, 27.
22
senkte. Sah man doch auf dem Grunde des Sees eine 50' lange, 4' breite
l'irowue voll solcher Steine liegen, die einstmals hier gesunken ist. Beim
früher niedrigeren Wasserstande des Bieler Sees haben diese künstlichen
Steininseln den Spiegel überragt; jetzt liegen sie 7' tiefer unter demselben.
Man errichtete auf diesen Inseln die Pfähle.
Keller hat wohl alle solche Funde in trefflicher Weise beschrieben; Staub's
schlichte, man möchte sagen, naive Darstellungsweise hat mich aber nicht
ullein stets besonders angezogen, sondern ich habe auch gerade diese hier,
wo es nur auf ein kurzes Resume des Gefundenen ankam, benutzt.
Desor bemerkt, dass die Stationen des Neuenburger Sees im Allgemeinen
weniger ausgedehnt, als diejenigen des Bronzealters, minder vom Ufer ent-
fernt und nicht zwei Meter unter dem mittleren Wasserstande, gelegen. Was
dieselben übrigens besonders auszeichne, sei die Beschaffenheit der Pfähle.
Diese seien nämlich weit dicker, als diejenigen der Bronzestationen: häufig
ganze 25 — 30 Centimeter starke Stämme. Auch diese Pfähle sind von Stei-
nen umgeben, die unzweifelhaft durch Menschenhände eingesenkt worden und
welche die Pfähle durch den von ihnen ausgeübten Seitendruck selbst fest-
hielten (S. das. Fig. 1.). Man nennt diese künstlichen Inseln im Dialecte der
Fischer von Estavayer: „Tenevieres," zu Cortaillod dagegen „Pervous," im
Bieler See „Steinberge". Diese Art der Befestigung war die einzig mögliche
überall da, wo der Boden sich felsig zeigte, z. B. an mehreren Punkten des
Nordufers, zu Monruz, Hauterive, Neuchätel, woselbst bis dicht an den Was-
serspiegel hinanreichende Bänke von einem zum urgonischen Systeme gehö-
renden Kalk das Einrammen von Pfählen verhindern. An anderen, mit
schlammigem Grunde versehenen Oertlichkeiten, namentlich der Ostschweiz,
hat man die Pfähle ohne Herumhäufung von Steinen in den Grund eingesenkt.
Tn diesen Fällen hat man es nicht mit unter Wasser befindlichen Hügeln zu
thun, es sind nicht eigentliche Steinberge. Aber auch diese Stationen fallen
durch ihre geringe Tiefe und ihre Nähe am Wasser auf, so dass sie bei Nie-
derwasser zuweilen trocken liegen, z. B. zu Markelfingen am konstanzer See.
Desor fügt noch hinzu, dass die Tenevieres, namentlich diejenigen des Neuen-
burger Sees, nicht nothwendig als Subconstruktionen von über Wasser be-
findlichen Bauten gelten dürften. Ihre Nähe am Ufer, ihre Construction und
ihre geringe Tiefe führten eher darauf, in ihnen, wie es auch von gewissen
Seiten her geschehen, künstliche Inseln nach Art der irländischen Crannoges
(S. 7.) zu erkennen. Hierauf würde sich ihre fast übereinstimmende Tief-
lage bezichen lassen.*) Einer ähnlichen Kategorie haben unzweifelhaft die
auf S. 21. erwähnten „Packweeke der Schweiz" angehört, sowie die schottischen
von Dowalton. Künstliche Inseln hat man auch, im Starnberger-See aufge-
deckt.
Bei Desor findet sich dann S. 14. die, ich weiss nicht augenblicklich von
') L. c. p. 9—14
23
Wem sonst noch getheilte, Annahme, die Tenevieres hätten vielleicht auch
gelegentlich zu festlichen Zusammenkünften gedient, wie sich das aus der
wunderbaren Menge von daselbst aufgehäuften Knochen erklären liesse, deren
es ja sonst in den Bronzestationen weniger gäbe. Jenes mag schon wahr
sein, obwohl der defensive Zweck auch bei „Oannoges," „Packwerken" und
„Steinbergen" jedenfalls der hervorragendste gewesen.
Sehr interessant sind auch die von L. Pigorini und P. Strobel ') ge-
machten Beschreibungen parmesanischer Pfahlbaureste, die, weil sie in Deutsch-
land weniger bekannt, liier in Kürze beschrieben werden sollen. „Der beim
Conventino di Castione im Districte Borgo San Donnino aufgedeckte Tlieil nimml
einen Flächenraum von .37 Aren ein; die Baute bildet aber die ganze Grund-
fläche des darüber stehenden, zwei Hectaren einnehmenden Hügelchens, oder
den grössten Theil desselben. Um uns die Baute und die hügelartig darauf
ruhende Terramara (Terra di Mare, Meereserde, eine Mergelerde)**) so gui
als möglich versinnlichen zu können, denken wir uns in einer Ebene einen
3 Meter sich erhebenden Hügel, auf dem eine Art Klosterschloss, ein ehe-
maliges Kloster, conventino, sich erhebt. Die Decke des Hügels wird von
der Dammerde gebildet; darunter findet man die Terramara und unter ihr
die Pfähle. Wenn man sich von diesem Hügel und dem darunter befind-
lichen Erdreich, bis zur Spitze der Pfähle, in diagonaler Richtung einen senk-
rechten Durchschnitt denkt, so würde er von oben nach unten beiläufig so
ausfallen:
1) Angeschwemmte Erde 2,00 Meter;' 2) Terramara 2,50; 3) schwarze
moorige Mergelerde oder merglige Torferde, ehemals Sumpfwasser 1,00 M.;
4) grüngrauer Lehmmergel, ehemals Sumpfgrund, abwärts. Natürlich nehmen
bei 1 und 2 diese Zahlen dort, wo die Anhöhe ringsum gegen die Ebene ab-
fällt, verhältnissmässig ab. Die Pfähle stecken mit dem grössten Theil ihrer
Länge in der dritten Schicht: im Durchschnitt zeigen sich ihre Köpfe 1 Me-
ter unter der Fläche der Ebene, und die Terramara reicht noch beiläufig
1,50 Met. unter diese hinunter, liegt demnach theils oberhalb und theils un-
terhalb der Ebene. Die Pfähle dringen mehr oder minder tief in die Mergel-
schicht, und sind gegenwärtig wegen eines von W. S. W. gekommenen
Druckes (durch die darüber gelegte Terramara?) nach O. N. 0. geneigt Sie
stehen bald einzeln, bald zu dreien gruppirt und in verschiedener Entfernung
von einander; ihre Länge beträgt 2 — 3 Met. und ihr Durchmesser am Kopfe
0,12 — 0,18 Meter. Auf den Pfählen ruhen die Balken, 2—3 Meter lang.
*) Herrn Strobel's freuncllicheui Entgegenkommen verdanke ich nicht allein die hier ausge-
zogenen Abhandlungen, sondern auch eine ganze Suite von Thierknochen und Pflanze]
aus S. Castione.
•*) Keine Meeresablagerung. „Le terremare poi sono cuinuli, vuoi artificiali, vuoi naturali, di
terra piii o meno marnosa, contenente ceneri, carboni, avan/.i animali
dell' iudustria umana di epoche lontane." Strobel: Avan/i preromani raecolte nelle terremare >■
palafitte dell' Emilia. 1. Parma 1863 p. l.
24
die in verschiedener Entfernung von einander nach der Länge und Breite der
Baute liegen und sieh rechtwineklig begegnen. Einige lehnen sich einfach
auf die Pfähle oder die Balken, auf welche sie stossen, andere sind entweder
in eine am Kopfe des Pfahles eingeschnittene Rinne eingefügt, oder durch
ein viereckiges, unter dem Kopfe gehauenes Loch getrieben. Auf dem Bal-
kengerüste liegt der Bretterboden aus einer einzigen Schicht von 2 Meter
langen, 0,10—0,33 M. breiten und 0,03 — 0,04 dicken Brettern zusammenge-
setzt. Darüber endlich ist der Estrich; er besteht aus einer 0,3 M. mäch-
tigen Schicht gelblichen Lehmmergerls (vielleicht aus dein ehemaligen Sumpf-
grunde genommen), der an der Oberfläche ziemlich fest (durch Stossen und
Feuer?) und glatt ist. Bis jetzt fand man darauf noch keine sicheren An-
zeichen von Hütten. Es könnte auch sein, dass diese abgebrannt wären, da
Spuren eines Brandes vorhanden sind. — Die Pfähle scheinen nur mit der
Axt, nicht mit Hülfe des Feuers, zugespitzt worden zu sein; die Stämme
wurden nicht gespalten, sondern ganz verwendet; es sind meistens Ulmen-
und Eichenstämme. — Leider ist der grösste Theil der aufgedeckten Baute,
nach weggeführter Terramara, wieder mit Kulturerde bedeckt und mit Mais
bebaut worden. Nur der 40 Quadratmeter ausgedehnte und 2 Meter tiefe,
letzthin, in den unteren Schichten, ausgegrabene Theil konnte in Betracht ge-
nommen werden, und nur die Ergebnisse dieser Ausgrabung wurden hier
angeführt."
„Wie in den Pfahlbauten der Schweiz, hat man auch in den Marieren*)
die Ueberbleibsel der Hütten gefunden : es sind Stücke leicht gebrannten
Thones mit Eindrücken von Flechtwerk (Reisig und Balken), das heisst,
Stücke der Wandbekleidung und zwar fast sicherlich jenes Theiles, an dem
der Herd angebracht war, dessen Feuer eben den Thon gebrannt; die übri-
gen Theile der Hütten, weil aus ungebrannten Thone, haben sich vermuthlich
aufgelöst. Stücke, von Estrich, dem der Pfahlbaute von Castione ähnlich,
wurden auch aus den Terramara eingesammelt."**)
Ich komme hier noch einmal auf die Pfahlbauten Norddeutschlands zu-
rück und erinnere zunächst au eine Darstellung, welche Major Krasiski von
denjenigen des Persanzig-Sees bei Neu -Stettin geliefert hat. „Dieser See,
186 Morgen gross, 1 Meile von Neu- Stettin entfernt, lag südlich von dem
Dorfe Persanzig, 3—400 Schritt von der das Dorf durchschneidenden Strasse.
In dem nördlichen Theile des Sees, 260 Schritt von dem festen Lande, lag
eine ungefähr löO □ Ruthen grosse Hache, eirunde Insel, die den Wasser-
spiegel des Sees nur etwa um 2 Fuss überragte. Ein ungefähr 140 Schritt
breiter Arm des Sees trennte die Insel von einem nördlich, von demselben
liegenden Werder, d. h. festen Lande, welches von dem Seearm und von
•) Marniera, Hariera, Mergelgrabe.
"*) Die Terramara-Lager der Kmilia. I. Bericht von L. Pigorini und P. Strobel in Parma.
Separatabdruck aun den Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich.
25
moorigen Wiesen umgeben, mit der Insel vom gleicher Höhe war und RO
Schritt von dem eigentlichen festen Lande entfernt lag.
Durch die Persante, welche in dem See entsprang, hatte derselbe uinen
natürlichen Abfluss, und da dieselbe l>is zu der \ Meile von dem See ent-
fernten, ehemaligen Wassermühle durch breite, flache Wiesen Hievst -,, War
ein Anstauen des Sees nicht möglich und der Wassi rstand desselben i
immer ziemlich die gleiche Höhe behalten. Im Jahre 1863 liess der Besitzer
des Sees, E. v. Hertzberg, in dem Bette der Persante bis zu der vorhin er-
wähnten Wassermühle, die nun einging, einen Kanal graben, wodurch der
See gegen 9 Fuss abgebissen und dadurch so weit trocken gelegt w rde, dass
nun südlich von der Insel ein gegen 170 []Ruthen grosser Wasserspiegel
blieb, aus welchem nun die Persante entspringt, der übrige Theil des
aber in eine Wiesenfläche umgewandelt worden ist.
Nachdem sich in dem abgelassenen See der Schlamm gesenkt hatte, tra-
ten aus diesen in der Umgebung der Insel Pfahlspitzen bis auf 1 Fuss I.
hervor, die oben ein schwarzes, verkohltes Ansehen hatten und die sich l> •■!
näherer Untersuchung als die Grundlagen von Pfahlbauten erwiesen.
Diese Pfähle, mit sehr wenigen Ausnahmen von Eichenholz, haben nur
durch den Zahn der Zeit gelitten und stehen noch so vollständig da, wie zu
der Zeit als die Pfahlgebäude darauf ruheten, sie sind auch meistentheils so
gut erhalten, dass von vielen selbst der Splint noch eine grosse Festigkeit
bewahrt hat: sie sind sämmtlich unbehauen stehen also nur mit Gripfeleudc
• ■>
nach oben, wie aus den nach oben ragenden Aststellen ersichtlich und haben
eine verschiedene Stärke bis zu 10 Zoll im Durchmesser.
Diese Pfahlbauten sind nicht nur wegen ihrer grossen Ausdehnung be-
merkenswerth, denn dieselben nehmen mit den verschiedenen, dazu erhören-
den Brücken einen Flächenraum von gegen 18 Morgen ein, sondern auch
dadurch, dass man aus der Stellung und Anordnung der Pfähle wichtige
Schlüsse auf den Zweck, die technische Ausführung der Bauten und auf den
damaligen Wasserstand des Persanzig-Sees machen kann.
Der Zweck der Pfahlbauten in diesem See war offenbar: gegen die An-
griffe feindlicher Nachbaren einen sicheren Zufluchtsort zu haben, denn gegen
die wilden Thiere konnte man sich auf eine weit einfachere Art schützen.
Diese Bauten bildeten ein einfaches Befestigungssystem. Die eigentliche Pfahl-
festung nahm einen Flächenraum von 460 □Ruthen ein; sie lag um die ehe-
malige Insel des Sees im Weisser und bestand aus einer Mensje von vier-
eckigen Gebäuden, deren Zahl bis jetzt noch nieht genau festgestellt ist und
die mit ihren langen Seiten einige Schritte von der Tnsel entfernt und wahr-
scheinlich durch Brücken mit derselben verbunden waren. Auf welche Art
die flache Insel mitten in den Pfahlbauten von den Bewohnern derselben be-
nutzt worden, ist nicht ersichtlich. Das eine, auf der nördlichen Seite der
Insel gelegene Gebäude, ungefähr 40 Fuss lang und 12 Fu>< breit, diente
offenbar als Festungsthor, denn aus demselben trat man unmittelbar auf eine
26
gegen 80 Sehritt lange Brücke, welche nach dem Werder führte; von diesem
gelangte man über eine zweite, eben so lange Brücke durch eine moorige
Wiese auf das eigentliche feste Land. Aus der technischen Ausführung des
Baues der Brücken wird man ersehen, dass dieselben leicht ungangbar wer-
den konnten.
Wenn man zugeben muss, dass ein Feind, welcher die Pfahlfestungsbe-
wohner bis an den Persanzig-See verfolgte, keine Kähne mitführen, denn
diese bestanden zu der damaligen Zeit wohl nur aus ausgehöhlten Baum-
stämmen, und der also die Pfahlfestung nur auf Flössen angreifen konnte, so
muss man schliessen, dass die Reihe einzelner, eichener Pfähle, welche die
nordöstliche Seite der Insel in einem Kreisbogen von mehr als 200 Schritt
Länge umgab, nur dazu dienen konnte, die Annährung des Feindes auf Flös-
sen von dem festen Lande her zu verhindern. Diese Pfahle stehen gegen 14
Fuss von einander entfernt, erstrecken sich von dem Ende der ersten Brücke,
in südöstlicher Richtung, bis an das ehemalige tiefe Wasser des Sees, wobei
sie die gleiche Entfernung, von ungefähr 80 Schritten, von der Insel behalten.
Nimmt man ferner an, dass diese Pfähle mit den daran befindlichen Aesten
eingerammt und überdies noch wahrscheinlich mit Flechtwerk verbunden
waren; so wird man zugeben müssen, dass sie den Zweck: die Annährung
des Feindes auf Flössen zu erschweren, vollständig erfüllten; ein anderer
Zweck dieser einzeln stehender Pfähle ist auch nicht denkbar.
Die Pfahlfestung bestand demnach aus den Pfahlgebäuden um die Inseln,
— das auf der nördlichen Seite derselben liegende diente als Festungsthor,
weil man über die Brücken nur durch dieses Gebäude auf die Insel gelangen
konnte, aus den Brücken, die leicht ungangbar gemacht werden konnten, und
aus den auf der nordöstlichen Seite der Insel stehenden einzelnen Pfählen,
welche eine Art von Pallisaden bildeten.
Wenn die Annahme richtig ist, dass die Pfahlbauten in dem ehemaligen
Persanzig-See vor der Einführung des Eisens ausgeführt wurden, dann geben
die Pfähle, welche die Pfahlbrücken getragen haben, einen interessanten Auf-
schluss über die technische Ausführung des Baues dieser Brücken; denn als
gewiss ist anzunehmen, dass die damaligen Bewohner die einfachste, dem
Zweck entsprechende Bauart gewählt haben werden.
Von der ersten Brücke, die von der Insel nach dem Werder führt, sind
etwa 90 Pfähle sichtbar, die zweite Brücke enthält etwas weniger, aber stär-
kere Pfähle, eine dritte angefangene Brücke hatte 41 Pfähle, die Pfahlreihe
(Pallisaden) südöstlich von der ersten Brücke enthielt 33 Pfähle; die Gebäude
auf der Insel standen auf mindestens 150 Pfählen. Hiernach erhält man gegen
400 eichene Pfähle, welche den Bauten als Grundlage dienten. Auf der Insel
wird ebenfalls viel eichenes Holz liegend gefunden, so dass man annehmen
muss, dass auch der Oberbau der Gebäude theilweise aus diesem Holze be-
stand. Wer die Härte des eichenen Holzes kennt, wird zugeben, dass es
fast unmöglich war, mit den unvollkommenen steinernen und bronzenen Werk-
27
zeugen eine so bedeutende Menge von Eichen zu bearbeiten; besonders wenn
man in Betracht zieht, dass diese Werkzeuge nur in angenügender Menge
vorhanden sein konnten, wie aus der geringen Zahl von aufgefundenen Steil -
Werkzeugen, die zu dergleichen Arbeiten benutzt werden konnten, hervorgeht.
Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass man die Bäume durch Feuer als
Bauholz zurichtete. An dem zu fällenden Baume wurden die Wurzeln blosge-
legt, diese wurden dann abgebrannt, der Baum dadurch gefallt; ebenso wur-
den durch Feuer die Aeste entfernt und dem Baume die erforderliche Form
gegeben. Die einfachste Art, eine Brücke zu bauen, besteht darin, dass man
genügend starke Pfähle einrammt, deren Aeste oben eine Gabel bilden ; zwei
solcher Pfähle mit dem auf die Gabeln gelegten Querholz (Tragebalken) bil-
den ein Brückenjoch (einen Bock); Planken, von einem Joche zum anderen
gelegt, vollenden die Brücke; durch das Entfernen der Planken wird die
Brücke leicht ungangbar gemacht.
Aus der Zahl und Stellung der Pfähle, welche mit dem Gipfelende
sämmtlich nach oben stehen und die den Pfahlbrücken als Fundamente dien-
ten, kann man fast mit Gewissheit schliessen, dass der Bau derselben auf die
eben angeführte Art ausgeführt worden ist. Die Pfähle stehen tluils einzeln,
theils zu zweien, zu dreien und selbst zu vieren beisammen, jedoch 1 — 1£
Fuss von einander entfernt,
Hatte man nicht hinreichend starke Pfähle, um die Brücke zu tragen, so
nahm man zwei Pfähle, rammte dieselben .parallel neben einander ein. \>-^u-
auf die zwei Gabeln ein kurzes Querholz; der andere Brückenpfeiler wurde
ebenso gebildet und auf diesen beiden Querhölzern ruhte dann der Trage-
balken. Waren mehr als zwei Pfähle eingerammt, so dienten diese wahr-
scheinlich nur dazu, den eigentlichen Brückenpfählen mehr Halt zu geben.
Die beiden Brücken hatten eine Breite von 8 Fuss; die einzelnen Joche
standen ungefähr 7 Fuss von einander. Wo in dem moorigen Boden die
Brückenpfähle keinen festen Halt hatten, waren, um das Schwanken der
Brücke zu vermeiden, zu beiden Seiten einzelne Pfähle schräg gegen die
Brücke eingerammt, um als Strebepfeiler zu dienen.
Die zweite Brücke, welche durch die moorige Wiese führte, ist für den
Alterthumsforscher in so fern wichtig, als ihre Lage den Beweis liefert, dass
der Persanzig-See zu der Zeit, als diese Brücken gebaut wurden, dieselbe
Höhe hatte, als vor drei Jahren, bevor derselbe abgelassen wurde. Denn
wäre der damalige Wasserstand höher gewesen (wogegen schon die ganze
Lage des Sees spricht), so stand auch das flache Werder unter Wasser, und
man hätte in diesem Falle die Brücke auch über das Werder führen nW
wovon aber keine Spur vorhanden ist. Wenn der damalige Wasserstand aber
niedriger war, so hatte man nicht nöthig, durch die Wiese eine für die da-
maligen Verhältnisse so grossartige Brücke zu bauen; ein sogenannter Knüp-
peldamm würde dem Zwecke, das Werder mit dem festen Lande zu verbin-
den, viel einfacher entsprochen haben.
28
Daraus, dass der Wasserstand lies Persanzig-Sees seit den Zeiten der
Pfahlbauten immer dieselbe Höhe gehabt hat, folgt wieder, <iass diese Bauten
nicht durch Feuer zerstört worden sind; denn viele der schwarzen, verkohlten
Pfahlspitzen stehen 6 Fuss unter dem Wasserspiegel des vormaligen Sees,
konnten also unmöglich so weit abbrennen'1 etc.*)
Ueber die anderen, so vieles Eigentümliche darbietenden Pfahlbauten
Norddeutschlands werden wir neuestens durch Professor Virchow genaue
Belehrung erhalten.
Der Leser dürfte sich vielleicht darüber verwundert haben, dass ich hier
mehrere schon längst verbreitete Nachrichten über unseren Gegenstand noch
einmal zusammengestellt. Allein dies ist mir doch nicht überflüssig erschie-
nen, einmal theils um damit Belege für weiter oben von mir ausgesprochene
Ansichten zu liefern, theils aber auch, um die verschiedene Bauart dieser
wenngleich sämmtlich sehr alten, indessen auch jedenfalls verschiedenen Zeit-
räumen und Kulturepochen angehörenden Gonstructionen darzuthun.
Wenn ich nunmehr das mutmassliche Alter der Pfahlbauten berühre, so
verstehe ich — eigentlich selbstredend — hier unter letzteren nur diejenigen
der vorhistorischen und der in das frühe Alterthum hineinragenden Zeiträume.
(S. 18). Die Pfahlbauten, in denen, wie zu Robenhausen, Moosseedorf, Wangen,
St. Anbin, Concise, im „Steinberge" des Starnberger Sees, zu Gägelow,
Müggenburg u. s. w., nur Steingegenstände aufgefunden worden, gehören un-
zweifelhaft einer ausserordentlich frühen Epoche menschlichen Seins an. Wir
können uns hier nicht noch einmal auf die vei-schiedenen Berechnungen ein-
hissen, welche von Diesem und Jenem für die Festsetzung des ungefähren
Anfanges des Steinalters versucht worden sind. Staub thut den ganz naiven
Ausspruch: „Ein Volk, das zu solchen kindlichen Werkzeugen greifen muss
(Beilen aus Knochen und Feldhackcu aus Hirschhorn) ist gewiss uralt, und
er thut ihn mit Recht. M. Wagner hat schon früher auf K. Vogt's Vor-
schläge aufmerksam gemacht,**) bei Bestimmung dieser frühen Epochen die-
jenige Methode anzuwenden, welche man in der Geologie zur Feststellung
der relativen Zeitepochen, in denen eine Ablagerung stattgefunden, in Ge-
brauch ziehe.***) Ein ängstliches Feilschen um ein Paar Tausend Jahre
mehr oder weniger darf uns in einer Sache nicht zugemuthet werden, bei
welcher wir eigentlicher Chronologie entsagen müssen, bei der wir nur
*) Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde, zu Berlin 1. Bd. S. 187—191. Der obigen
Beschreibung ist ein instruetives Kärtchen beigegeben Pallmann bemerkt hierzu S 69 seines
Buches: „Die Pfahlbauten von Neu-Stettin sind als solche noch keineswegs gesichert u. s. w."
Ferner: Möglicherweise kann aber die Neu-Stettiner Pfahlanlage mit einer späteren, vielleicht
slawischen, Befestigung im Zusammenhange stehen; bei vereinzelt aufgefundenen Pfahlbauten
und bei geringer Ausbeute von Funden ist über dieselbe jedenfalls ein sicheres Urtheil nicht
abzugeben. "
**) A. a. 0. S. 4fi4.
***) Vogt im Archiv für Anthropologie. Bd. I. S. 15.
29
ungefähre Schützungen anzustellen vermögen. Das thut es denn auch nicht, wir
wollen ja nur ergründen, was zuerst gewesen, ob Stein, Bronze oder Eisen?
Diese Fragen beantwortet uns aber nicht allein die geologische Methode,
sondern es gestattet uns sogar die Geschichte, in derselben Bezieht ng Rück-
schlüsse von Später auf Früher zu ziehen.
Selbst die Bestimmung des Beginnes des Bronzealters kann nur eine an-
nährende sein und weichen auch hierin die Forsche] vielfach von einander
ab, wenngleich uns dabei gestattet ist. immerhin genauer zu verfahren, als
beim Steinzeitalter. Es dürfte übrigens bedenklich erscheinen, den Anfang der
Bronzeperiode so ohne Weiteres etwa in das Jahr 170" v.Chr. zu verlegen,
wie von gewissen Seiten her geschehen, da wir doch einen weil früheren
Gebrauch des „Erzes" sehen bei den Aegyptern wahrnehmen. Pfahlbauten,
in denen wir Bronzegegenständc neben den aus Stein verfertigten sehen, ge-
hören notwendigerweise einer späteren Epoche an, als diejenigen, in denen
wir ausschliesslich Steingegenstände finden. Wir wissen ja hinlänglich, dass
die Bronze erst nach und nach bei den Pfahlbauern Europas Eingan- _
wonnen hat.
Ueber das noch spätere Eintreten des Eisenalters hier weiter zu reden.
verlohnt sich nicht der Mühe. Mit vollem Recht weist Wagner die Annahme
zurück, dass an denselben Seen gleichzeitig lange zwei Nachbarvölker zu-
sammengewohnt, von denen das eine überraschend reich an Metallwerkzeugen
gewesen, während das andere nicht das Geringste liesessen. Das „stehe im
schroffsten Widerspruche gegen alle Beobachtungen der Ethnographie fem« i
Länder."
Dass übrigens, wie auch M. Wagner bemerkt, die helvetischen Pfahl
bauten der überlegenen römischen Kriegskunst nicht zu widerstehen vermocht
wie es einst diejenigen des Prasiassees gegen die noch plumpe, wenig ein-
wickelte des Megabazns (Herodot 1. c), leuchtet wohl ein. Unterlagen doch
auch die dacisehen Pfahlbauten noch später den Römern (S. 4).
Die römischen Schriftsteller erwähnen nichts mehr von italischen, schwei-
zer und süddeutschen Pfahlbauten, woraus wir schliesseu dürfen, dass deren
/.tu' Quiritenzeit hier nicht mehr in Gebrauch gewesen.
Man darf wohl mit Recht annehmen, dass die ineisten der älteren Pfahl-
bauten durch Feuer zerstört, dass viele der jüngeren dagegen in Folge der
zunehmenden Torfbildung in den Gewässern als nicht weiter zweckmässig
von ihren Bewohnern verlassen, dass wieder audere von diesen aufgegeben
worden seien, indem einer veränderten weiter vorgeschrittenen Kriegführung
gegenüber jene nicht mehr haltbar geblieben, dass endlich die regelmäss _
Gruppirung der Staaten, deren Gliederung in Gemeinden, die grössere Siche-
rung des Eigenthums, das Aufblühen der Städte des Festlandes, die Erwei-
terung des Weltverkehrs auf den Untergang jener hingearbeitet. Freilich
sind etliche dieser Anlagen in verschiedenen Erdgegenden in ihrem Zustande
erbalten oder es sind auch hier und da nach und nach neue erstanden.
30
(vergl. S. 3). Aber die eigentliche Pfahlbauperiode des europäischen Alter-
thums I atte jedenfalls schon Jahrhunderte vor der Blüthezeit der römischen
Kepublik ihre. Endschaft erreicht.
In einem zweiten Artikel weide ich nun meine Ansichten über die tbie-
rischen Iteste, über die Geräthe und die muthmassliche Abstammung der
Bewohner der europäischen Pfahlbauten, wofür mir ein reichhaltiges Material
vorliegt, auseinandersetzen. Es soll dazu auch ein bibliographischer Anhang
geliefert werden.
Hob. Hart mann.
Zur Erklärung der Abbildungen.
Taf. I soll ein ungefähres Bild einer schweizer Pfahlbauniederlassung des Steinalters zur
ersten Zeit ihrer Entstehung gewahren. Der „Rost" ist noch nicht vollständig bebaut.
Taf. II Fig. 1. Pfahlbanhütte nach der Zeichnung J. Messikommer's , im Auslande, 18C7.
S. 193 a Flechtwerk, b Lehmbewurf desselben, c Stützpfeiler der Hausmauern, d Rundholz zur
Befestigung des Strohdaches.
Fig. 2. Schweizer Pfahlhaus mit Zugrundelegung eines von J. Messikommer angefertigten
Modelles. Der aufgesetzte Schornstein ist freilich problematisch , indessen möchte ein solcher,
wenn auch in sehr roher Form, immerhin vorhanden gewesen sein, behufs grösserer Sicherung
des Strohdaches gegen Feuersgefahr.
Fig. 3. Papua-Pfahlhaus von Dorei, nach Dumont d'Urville Voy. de la corvette l'Astrolabe,
Atlas historique PI. [Pallmanu hat (auf Taf. I. Fig. 2 seines Buches) aus demselben Werke die
Abbildung eines Dorei-IIauses gewählt, welches jedenfalls gerade die allergeringste Analogie mit
europäischen Pfahlhäusern bietet.
Die Palmen.
Palmentypus und Palmenkultus. — Geographische und lokale Verbreitung der Palmen. — Pal-
men-Individuen und Palmen-Landschaft. — Bau und Wachsthum der Palmen. Ihre vegetativen
Organe. Frucht und Keim Eintheilung. — Nutz- und Nahrungsstoffe, und allgemeine Ver-
wendbarkeit der Palmen. — Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Palme. — Lob der Palme.
Unter allen Typen des Pflanzenreiches haben die Völker der Erde zu
allen Zeiten und einstimmig der Palme den ersten Preis zuerkannt; der
Kuhmeshymnus, der ihr in ihrer Heimath von den Lippen der Menschen
31
dargebracht, hat Land und Meer umklungen und anter allen Zonen \\ ieder-
hall gefunden. Der un sprünglich in dem wannen und für das warme Klima
geschaffene Mensch ward gleichsam an den Brüsten der Palme gross ge-
säugt; alle Bedürfnisse der eisten einfachsten, unbeschützteu Existenz lin-
den in der Verwendbarkeit aller ihrer Organe ausreichende Befriedigung; sie
reicht dem nackten Dasein die erste Nahrung, hüllt es in Gewandung ein,
überdacht seine Schlafstätte; Früchte, Mark und Blatter enthalten tast alle
Nährstoffe in einfachster Zusammensetzung-, sie erzeugen Meld. Zucker, Fett,
Eiweiss und sogar Salz. „Der Mensch lebt naturgemäss innerhalb der Tro-
pen und nährt sieh von den Früchten der Palme," ruft Linne voll Bewun-
derung für diese edlen Gewächse aus; „er existirt in andren Weltgegendcn
und behilft sich daselbst mit Koni und Fleisch."
Hüterin und Erhalterin seines leiblichen Daseins, ward die Palme zu-
gleich die Lehrerin und Bildnerin der Gesittung des aufwachsenden Menschen-
geschlechtes; unter den Palmen Asiens and in den Ländern, welche die
Heimath der Palmen umgränzten, stand die Wiege der ältesten Menschen-
bildung. Der Hymnus aber, zu welchem die Palme den dankbaren Menschen
begeistert, entsprang nicht allein aus den segensreichen Eigenschaften der
Existenzvermittelung, sondern aus der tieferen, ethisch-sittlichen Quelle hin-
gebender, kindlich-frommer, beseelender Verehrung, zu welcher der Genius
des Schönen und Guten die Empfindungen des Menschen hinanträgt. Das
vollendete Ebenmass ihrer Formen und grossartigen Verhältnisse, wie die
Verkörperung des Schönheitsbegriffes in diesen Formen und Linien, — gleich-
sam eine plastisch gebundene Musik, — überwältigt durch die Macht des
Findruckes das künstlerisch blickende Auge und die nach Ebenmass in Wesen
und Ausdruck ringende Seele. Trägerin ihres heimathlichen, der Tropenzone
eigentümlichen, schönen Laubschmuckes des gefiederten Blattes, welchen die
nördliche Zone fast ganz entbehrt, durch dessen leicht-lockeres Maschennetz
sich der dunkle, tropische Himmelslasur nur noch intensiver, magisch -wirk-
samer abhebt, konzentrirt die Palme in sich den ganzen malerischen, ver-
klärten Effekt der tropischen Natur -Erscheinungen und tritt in dieselben
hinein als ein Symbol vollendetster Schöpfungskraft.
Unter dieser verinnerlichenden Anschauung hat die Palme seit alters-
grauen Zeiten eine religiöse, ästhetische und sympathische Verehrung genossen,
je nach dem Alter, der Empfänglichkeit und dem Bildungsgrade ihrer hei-
mathlichen Völkerschaften. In der Kindheit der Gesittung wurde von phan-
tasiereich und geistig rege angelegten Völkern die religiöse Verehrung in eine
äussere Kultusform eingekleidet; sogar eine alttestamentarische, von diesem
Kultus durchflochtenc Weihe liegt auf dem ausgezeichneten Baume, welcher
ein Ausdruck ist jener von der Natur geliebkosten Erde, wo der von heili-
gen Traditionen in seinem Glauben genährte Mensch noch heute die Oert-
lichkeit des flüchtigen Menschenparadieses sucht, Das Bild der Palme be-
flügelt die Phantasie und Redeweise der Völker unter allen geographischen
32
Breiten, soweit Sprache und Phantasie bereits durchgeistigt worden; schöpft
der Gedanke ans dem tiefen Quell der Poesie, d. h. aus dem Elemente der
idealen Idee, so bemächtigt er sich der Palme als Redefigur; es spricht der
Mensch von palmigeu Tagen, wenn er einer ruhmvollen oder kindlich-harm-
los dahin geflosseneu \ ergangenheit gedenkt; er hat die Palme davongetragen,
wenn er den Sieg über den Gegner und den schwersten aller Siege: den
Sieg über sich selbst errang; Palmenzweige geleiteten den Sohn Davids im
Triumphe durch die Thore Jerusalems; auf Palmen jauchzte das Hosianna
von der Erde zum Himmel empor: Palmsonntag nennt noch heute die Chri-
stenheit den Gedächtnisstag an jene weit- und kirchengeschichtliche Begeben-
heit, sowohl, um den äusseren begleitenden Umständen, als der inneren und
innerlichen Bedeutung desselben Ausdruck zu geben.
Es liegt tief in der Natur der Sache begründet, dass Verehrung, Mythe
und Poesie einen verklärenden Schimmer um die Palme woben, denn in der
lleimath der Palme sucht die Phantasie, wie die biblische Doktrin sowohl
die ideale, wie wirkliche Stätte des Paradieses; und so durch und durch
durchdringt dieser Nimbus alle "Vorstellungen, dass der Paradiesgedanke nur
auf dem sinnbildlichen Grunde der Palmenlandschaft feste Form und Gestal-
tung finden kann. Eieser ideale, aus dem höchsten Schönheits- und Nütz-
Hchkeitsbegriffe hervorgegangene Nimbus, niusste den Boden bereiten und
bestellen, aus welchem Mythe, Ehrfurcht, Begeisterung, Kultus und Dichtung
duft- und farbevolle Blumen trieben und freundlich -üppige Ranken schlugen
um das geheiligte, auf dem Dankesaltar aufgerichtete Symbol der paradiesi-
schen Glückseligkeit.
Kein Boden war von der Natur so günstig vorbereitet und geeignet,
diese Blumen und Kauken hervorzutreiben und sie zu einer festen, durch-
geistigten Kultusform zu verflechten, als das Land der glühendsten Himmels-
farben und des öden, endlosen Sandwüstenmeeres: Arabien. So weit
d>e geschichtlichen Spuren hinabreichen, hat in diesem Lande des Himmel-
brillantes und der Erdenwüsten die Wiege des Palmenkultus gestanden, und
uoeb heute finden sich dort Fragmente dieses Kultus. Da, in der stillen,
todesstummen, leeren Schöpfungswüste , wo unter dem reinsten, leuchtenden
Aetherprisma in dem Nichts als einzige Lebenserscheinung die Dattelpalme
wurzelt, wo diese allein den einsamen Wüstensohn an Leben und Gestalt
ausser seinem Dasein erinnert, wo sie die Quelle hütet, die ihn vor dem Tode
der Verschmachtung bewahrt, den Schatten zaubert, der den Sonnenbrand
von seiner ruhenden und schlafenden Stirne zurückwirft, das Brod in ihrer
Flucht bereitet, das ihn ernährt, und so allein sein Dasein möglich macht in
der Wüste: — Da wird sie Gnadenspenderin, Vorsehung und gütige Gottheit
selber, die aus den Lichtstrahlen des Himmels herabgestiegen und sich der
Erde angetraut zum Schutze und Schirme des schutzlosen Wüstensohnes.
Der Gott aber, der so Gestalt angenommen und sich der Erde vermählt hat,
offenbart sieh am Himmel iu der sinulich- wahrnehmbaren Sonne symbolisch
33
als der alleinige, allmächtige, ewig reine und unvergängliche, alles Leben der
Erde erweckende und erhaltende Lichtgott, und auf der Erde in der Palme
als Ernährer und Behüter des schutzlos in die Wüste hineingestellten
Menschen.
Lange Zeit erhielt sich in dem abgeschlossenen Arabien und anf den
isolirten Wüetenoasen der Palmenkultua in seiner alten Reinheit and Einfach-
heit; allmählich personifizirl sieh der reine Gottheitsbegriff' mit dem Sinnbilde,
wird der übersinnliche Gott in die Gestalt gebannt, zum Götzen gemacht.
Am Saume der Syrischen Wüste Dumat-al-Dschandel, wo vor Muhamed's
Lehre der Sitz eines Götzendienstes war, tauchte der älteste Gottesname:
El auf, der Semitischen Ursprunges ist, El bedeutet: der Starke, ein starker
Baum, der immer grün bleibt, keiner Krankheit unterworfen ist und ein
hohes Alter erreicht; der sich, wenn er belastet wird, unter seiner Last nach
oben krümmt, und wenn er abgehauen wird, sich aus der Wurzel neu ver-
jüngt, unsterblich ist. El wird Stadigründer und Städtekönig in den Palmen-
hainen der Wüste, wo sich die zerstreuten Hirtenstämme sammeln, wahr-
scheinlich der Gründer der jetzigen Ruinenstadt: al-Ghabel. Den Mittelpunkt
dieser Ansiedelungen bildet immer der Palmengarten mit seiner Quelle oder
seinem Teiche; eine ausgezeichnete, meistens wilde, von keiner Menschen-
hand entweihte Palme wird zum eigentlichen Gottesbaume ausgewählt; auf
einem einfachen Steine werden ihm die Opfergaben dargebracht. Wenn die
Luft, — der Hauch Gottes, — sich regt, leise durch die Blätter rauscht, sie
auf- und ab-, und hin- und wiederneigt, dann verkündet der Palmengeist
seine Gegenwart und offenbart sich. Der Priester legt die Orakel aus; da-
her schliesst der Palmenkultus überall geschlossene Priesterschaften und eine
theokratische Vorfassung ein. Nach Diodor's Aufzeichnungen übten ein Mann
und ein Weib das lebenslängliche Priesterthum aus. In Dodona verkünden
neben den Priestern auch Priesterinnen die Orakel; im Ammonium finden
sich neben der Priesterschaft bei den feierlichen Umzügen des Gottes auch
Weiber- und Jungfrauen- Chöre. Spuren dieses Gebrauches haben sich auch
bei den Israeliten erhalten; neben Moses erscheint anfangs seine Gattin Zip-
pora, d. h. Vogel, Tochter des Jethro, des Priesters in Midjan, sowie seine
Schwester Mirjam als Prophetin, bis er das Priesterthum mit der Weissagung
in seiner Person vereinigt. Debora, die unter der Palme bei Betel
wird eine Prophetin genannt. Später duldete das Gesetz das Orakelbofra<;en
nur bei dem Hohenpriester, wo es als letzter Rest des Heidenthumes durch
die reine Prophetie verdrängt wurde.
Wohlgestalt und ein reiner und tadelloser Lebenswandel war bei der
Wahl der Priester entscheidend; sie trugen bei der Ausübung des Kultus
weisse Kleider, wie die Israelitischen Priester; den Oberpriestor aber um-
wallte wahrscheinlich noch ein Purpurmantel, der späte* ein Abzeichen der
Könige wurde. Der Priester wurde Ab, d. h. Vater genannt, der Oberpriester
hiess Abitamer, Palnienvater. Allmählich ging in manchen Gegendon die
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgaug 1870.
M
alte Priestelherrschaft au Könige über, die mit der Macht auch den Titel
von den Priesterfürsten übernahmen, immer aber behielt in solchen monar-
chischen Staaten der Hohepriester den höchsten Hang nach dem Könige.
Die Priester winden die Bewahrer und Schützer des Heiligthunis auf
der Palmenoase, wo sich die zerstreuten Stämme versammelten und die Ka-
rawanen rasteten; an solchen heiligen Orten fand der Handel Schutz, - wie
noch gegenwärtig die Priesterkolonie zu Damer in Nubien, ein Rest des alten
Priesterstaates von Meroe, ein Schutz der Karawanen ist. Die Streitigkeiten
zwischen den einzelnen Stämmen, wie zwischen den einzelnen Personen wur-
den durch die Priester Dach dem Willen des Palmengottes entschieden, die
Fehden beigelegt, den Bedrängten und Verfolgten Recht und Schutz gewährt;
Allen war der Gotteshain ein Asyl. Zur Zeit der Dattelreife versammelten
sich die Stämme am zahlreichsten auf den heiligen Palmenoasen; es wurden
Hütten von Palmeublättern errichtet und die Tage der Vereinigung mit
Schmausereien hingebracht. Nach den Mittheilungen Diodor's kamen in sol-
chem Palmenhaine am Sinai die Umwohner alle fünf Jahre zu einer Fest-
feier zusammen; es lässt sich vermuthen, dass das Laubhüttenfest der Juden
eine Nachahmung dieser alten Palmenfeste war. Das Erndte- und Freuden-
fest wurde aber zugleich auch als ein Buss- und Dankfest gefeiert; die ver-
sammelte Volksmenge bewegte sich im feierlichen Zuge mit Palmenblättern
in den Händen nach dem geschmückten Gottesbaume, um ihn mit Gebeten,
Gesäugen und Opfern zu verehren. Blut durfte in der heiligen Zeit nicht
vergossen werden ; an Stelle der ruhenden Waffenfehde veranstaltete das krie-
gerische Volk zu Ehren des Gottes gymnastische Spiele und sogar poetische
Wettkämpfe, wie bei der berühmten Versammlung Arabischer Stämme in
Okuz, östlich von Mekka.*) Alle Volkskraft und Eigenart fand auf diesen
Palmenoasen einen Zusammeustrom, eine Verschmelzung und Ei Stärkung;
daher wurden die Priester die Besitzer aller Kenntnisse und die Träger
der gefeierten Weisheit des Orients; hier ward wahrscheinlich auch die Buch-
stabenschrift entdeckt und in den Gebrauch eingeführt und nahmen alle
höheren Kenntnisse und alle Wissenschaft von diesen heiligen Versammlungs-
orten ihren Ausgang.
Aus seiner Heimath drang der Palmeukultus nach Norden, Osten und
Westen, bald auf gewaltsamem , bald auf friedlichem Wege vor; mit seiner
Auswanderung aber und seiner Entfernung von der Heimath verliert der
Kultus seine ursprüngliche Reinheit und Einfachheit mehr und mehr; je nach
der Beschaffenheit des Bodens und Klimas, der Beschäftigung, Gemüths- und
Gesinnungsart der fremden Völker verfärbt und verändert sich der Palmen-
gott. Die Sage erzählt von der verlorenen Herrschaft, der Flucht und dem
Verschwinden des Gottes; zu den West- und Ostländern kommt er über das
Meer; daher wird in dem Ammonium das Bild des Gottes in einem goldenen
•) Kitter 12. S. 32.
35
Schiffe von P6 Priestern in Proeession urahergetragen.*) Ibc Verbreitung
des Kultus nach Norden über Paliistina, Phönizien und Syrien erhellt uns
den Münzen, auf welchen sich die Palme als Sinnbild dieser Länder ausge
prägt findet. In Palästina wurde der Palmengotl durch den reineren Jahve-
oder Jehovahdienst verdrängt, neben welchem sich nur schwache Spuren des
alten Kultus erhielten.
Auch nach Afrika drang der Palmenkultus vor; der eingeführte Gotl wird
Ra oder Re d. h. Sonne genannt, oder Amnion, welcher Name ebenfalls
Sonne bedeutet; auch dieser Kultus unischliesst eine theokratische Verfassung
und ein einflussreiches Orakel-, auch der Painiennanie findet sich. Das alte
Kulturland Aegypten nahm den Palmengott ebenfalls in den Kreis seiner
Götter auf; in der Stadt Buto an der Mündung des Sebennitischen Nilürmcs
war ein Orakel der Leto, das geehrteste in ganz Aegypten, und auf dei
schwimmenden Insel im Burlos-Sec bei derselben stand ein grosser Tempel
und drei Altäre in einem Palmenhain.
Die poesicumhauchten Inseln der Seligen der Hellenen lagen in dem
Sandoeenen, es waren die Palmenoasen, die sich dem Nilthale parallel und
im Süden des Nordafrikanischen Hochlandes hinziehen; erst später werden
sie in das Meer verlegt, als Phöni/.ische Seeleute die Kunde von Palmen-
inseln nach Griechenland brachten. Homer besingt sein Elision als einen
Palmenhain, wo kein Sturm, Schnee und Regen die sanften Lüfte des Okeanos
und die goldenen Lebenstage des Menschen trübt. Hesiod lässt Kronos auf
den Inseln der Seligen herrschen, wo von immergrünen Bäumen drei Mal
im Jahre süss-schmeckende Früchte geemdtet werden. Auch der Mythus von
den Gärten und goldenen Früchten der Hesperiden findet seine Quelle wahr-
scheinlich in dem Palmenkultus ; ihre Ileiniath ist ebenfalls eine Insel des
Oceanes oder eine Oase der libyschen Wüste; das Lager des Zeus umschattet
der Wunderbaum mit seinen unsterblichen Blättern und goldenen Früchten;
von ambrosischen Quellen werden seine Wurzeln getränkt und die Sirenenstim-
men reizender Nymphen laden zum Genüsse der goldenen Früchte ein In
den Sirenenstimraen lassen sich nicht schwer die Stimmen der weissagenden
Priesterinnen des Palmenkultus wieder erkennen, welche die Offenbarungen
des Palmengottes auf den Datteloasen in singender oder Musternder Stimme
mittheilten. Nach der Oertlichkeit beider, entspringt die Paradiessage
(1. Mos. 1,3.) mit dem Mythus der Hesperidcngärten unzweifelhaft aus einer
und derselben Quelle: dem Palmenkultus; hier bewacht der Drache Ladon,
dort ein Cherub die Götterfrucht, auf dass kein Mensch sie pflücke.
So verbreitet sich der Palmenkultus endlich auch über die Küstenländer
und Inseln des Mittelmeeres, — je weiter nach Osten, desto mehr und melir
seines ursprünglichen Charakters entkleidet, her bildlose, alleinige, unend
liehe Gott löst sich auf. in eine Vielheit erniedrigter und geschwächter Götter
*) Diodor 17, 50.
3*
36
und Halbgötter; aus dem alten ursprünglichen übersinnlichen, geistigen Gottes-
wesen wird eine versinnlichte Götterfamilie. Den Keim jedoch seines Ver-
falles und s einer Ausartung in Vielgötterei trug der alte Gott El der Wüs-
tenoasen selber in sich, da er sich dem Mensehen in mehrfacher Gestalt
seiner eignen Geschöpfe zeigte: am Himmel als Sonne und auf der Erde als
Palme; aus dieser mehrfachen Gestaltannahme entwickelte sich später in
seiner eignen Heimath aus dem reinen, einfachen Kultus ein vollständiger
Götterdienst; dennoch aber erhielt sich in einzelnen Gegenden der Mono-
theismus, der immer wieder klärend und läuternd auf den entarteten Götzen-
diensi zurückwirkte, bis Moses endlich den Gott El aus aller sinnlichen Hülle
befreite und zum Jahre vergeistigte. Immer aber ehrt das Gedächtniss der Nach-
welt, die Pietät der, der Kindheit entwachsenen Völker die heilige Palme,
die einst den Völkern des Kindesalters ein geheiligter Leib der Gottheit
war; und noch heute verehrt Christ, Jude und Mohamedaner in ihr das Sym-
bol des Sieges, des Friedens und tröstlicher Verheissung. —
„Könige der Gräser" nennt der Indier Amarishina die Palmengewächse,
und „Fürsten der Pflanzen" nennt sie Linnö, der Schöpfer der wissenschaft-
lichen Botanik und Naturkunde überhaupt. Linne wählte den Ausdruck nicht
als Systematiker, indem er damit die Palme hätte hinstellen wollen als die
höchste Stufe einer Reihenfolge von organisirten Wesen; eine solche findet
in Wirklichkeit innerhalb wissenschaftlich scharf bestimmbarer Gränzen nicht
statt; er gebrauchte den Ausdruck als Physiograph, aus jenem unbestimmten,
alicr lebhaften Unterscheidungs-Gefühle, das alle Menschen, und in gewissem
Grade auch den Physiologen, leitet. Auch ein bildlicher Vergleich mit den
politischen Oberhäuptern darf nicht das leitende Motiv sein zur Fürstener-
hebung der Palmen, denn ungeachtet aller ihrer Auszeichnungen und Vor-
züge, die sie über alle Pflanzen zu Fürsten erhebt, gehören sie nach dem
natürlichen Pflanzensysteme zu jener untergeordneten grossen Abtheilung
des Pflanzenreiches, welche die Mittelstellung einnimmt zwischen den höch-
sten und niedrigsten Gruppen des Gewächsreiches. Es sind vielmehr die
ausserordentlichen Eigenschaften dieser Famile des Pflanzenstaates, welche
die Phantasie im höchsten Grade beschäftigen und den Trägern derselben
eine so allgemeine innere und äussere Bevorzugung einräumen, ausserdem
behauptet die Familie eine Exclusivität in dem Pflanzenstaate, wie das Ge-
schlecht der Fürsten in dem Menschenstaate; unter sich innig verbunden,
hat sie keine ihr unmittelbar nahe stehenden Verwandten, finden sich auch
fernerstehende Verwandte unter den nie dem Klassen der grossen Pflan-
zenabtheilung, zu der sie gehören, so trennt sie doch ein abgeschlossenes
vor neli nies Alleinstchen äusserlich von jeder intimen Annäherung; je mehr
diese vornehme Abgeschlossenheit sich auch geltend macht in der Land-
schaftsphysionomie, — je isolirter die Palme ihre stolze Laubkrone in den
Farbenduft des Tropenäther taucht, desto eindrucksvoller wirkt der Adel
ihrer Erscheinung, der sie erhebt über alle Glieder des Pflanzenstaates.
37
Zu den Hohen seines Geschlechtes, zu der Exclusivitäl aus der Allge-
meinheit, erhellt der Mensch aber mit einem besondern. aus ehrfurchtsvoller
Scheu vor allem Erhabenen hervorgerufenen Inten sein auch
zu den Hohen, den Exklusiven des Pflanzenstaates. Mit grossem Eifer und
hingebendem Fleisse sucht sowohl die wissenschaftliche, als uie fashionable
Haus- und Landscbaftsgärtnerei diese edelsten Pflanzengestalten in ihr Be-
reich zu ziehen; der Nordländer namentlich hört in dem Rauschen ihrer kö-
niglichen Kronen einen bestrickenden Mythusgesang aus weiten, phantae
umschleierten Fernen; seine stiefmütterlich eingekleidete Naturumgebung kennt
keine ähnlichen Formen, und in den verwandten Proletariern, welche in der
kalten Zone die edle Familie vertreten, in den Binsen und Gräsern, vermag
er kaum einen verwandten Zug mit der fürstlichen Sippe zu erkennen. Aber
schwer gelingt es ihm, sein unwirthliches Klima dem wählerischen Geschlechte
wohnlich zu machen; unter einem wärmeren, weicheren Himmelsodem, i1-
er über den nordischen Breiten weht, entwickelt die Palme ihren Lebenskeim;
da, wo der Himmel seine glühendsten Sonnenküsse auf die Erde haucht, steht
ihre Wiege, und schwer und kümmerlich wurzelt die Frucht dieser heissen
Hiiomelsküsse auf einem andern Boden, als dem, welchem sie entsprossen ist.
Die Palmenheimath liegt zwischen den beiden Wendekreisen; sie er-
streckt sich noch einige Grade über dieselben hinaus, jederseit-; des Aequator
etwa bis zum 36 Br.-Gr. Nördlich vom Aequator ist der \\ uchs der Palmen
üppiger und ihre Verbreitung zahlreicher, als innerhalb der Breiten südlich
vom Aequator. Die Anzahl der Palmen und ihre Grösse und Pracht nimmt
um so mehr ab, je mehr man sich vom Aequator gegen das gemässigte Klima
hin entfernt; zwischen dem 10J N. und S. Br. , wo die scheitelrechte Sonne
den Wuchs der Pflanzen mächtiger zu sich emporzieht, wo die mit Feuchtig-
keit und Wärme gesättigte Erde und Atmosphäre die Säfte schwellender und
kraftvoller durch den Pflanzenkörper treibt, liegt die Zone des üppigsten
Wachsthumes der Palmen und zählt die Familie gegen 300 Arten. Das
ächte Palmenklima hat eine mittlere Jahreswärme von "20^ und 'l'l K. Mar-
tins zerlegt die Palmenregion in fünf Gürtel: in die nördliche Palmenzoue
von der Nordgränze der Palmen überhaupt bis zum Wendekreis des Ki
in die nördliche Uebergangszone von diesem Wendekreise bis zum 10 Gr.
N. Br.; in die Hauptpalmenzone vom 10° N. Br. bis zum 10° S. Br.; in die
südliche Uebergangszone vom 10° S. Br. bis zum Wendekreis des Stein-
bockes; und in die südliche Palmenzone bis zur Südgränze überhaupt. Die
nördlichste Palmengränze bildet in Europa der 43°, in Asien und Amerika
der 34° N. Br. ; die südlichste Gränze findet sich in Afrika unter dem 34",
in Neu-Seeland unter dem 38° und in Amerika unter 36° S. Br.
Die Zahl der Palmenarten, welche sich über diese Kegion zerstreuen,
bleibt einstweilen noch unbestimmbar; die wissenschaftliche Erforschung des
Gewächsreiches hat sich erst die neueste Zeit energisch zur Aufgabe gestellt,
und der unerschütterliche, aufopfernde Muth der Forscher, die Gut, Gesund-
38
heit und Leben an diese Aufgabe gesetzt, hat es in wenigen Jahren dahin
gebracht, dass allein in der Familie der Palmen die bekannten Arten von 15
auf über 800 gestiegen sind. Noch zur Zeit von Linne's Tode waren nicht
mehr, als 15 Palmenarten bekannt; Ruiz und Pavon fügten denselben 8 Ar-
ten hinzu, Humboldt und Bonpland andere 20 neue Arten und lernten noch
eine Menge kennen, uhne im Staude gewesen zu sein, sich die hinreichenden
Bestandteile — (Blüthe, Frucht, Blattscheiden etc.) zu einer genauen Be-
schreibung verschallen zu können. Die opferfreudigen Reisen und unermüd-
lichen Arbeiten von Martius, Grifüth, d'Ürbigny, Blume, Spruce, Wallich,
Seemann, Karsten, Wendlaud und Anderen haben gegenwärtig zur Kenntniss
von mehr, als 800 Arten geführt, zu denen auch der Verfasser dieses einen
Beitrag von 17 neuen, von ihm selbst beschriebenen*) und mehreren noch
unbeschriebenen Arten geliefert hat.
Amerika überbietet alle bekannten Theile der Erde an Pracht und Fülle
der Pflanzenwelt, ebenso, wie die Fülle und Stärke seiner Thierwelt gegen
andere Ländergebiete zurücktritt; in diesem Pflanzenreichthum schliesst es
auch die grösste Anzahl und die erhabensten Formen der Palmen ein; sein
Gebiet allein umfasst die Hälfte aller überhaupt bekannten Arten. In der
alten Welt erzeugen die Inseln eine grössere Zahl von Arten, als das Fest-
land; in der neuen Welt ist das Verhältniss durchaus umgekehrt; hier be-
sitzt das Festland über fünf Mal mehr Arten, als die Inseln. Europa nennt
nur eine einzige Palmenform die seine, die fächerblättrige Chamaerops hu-
milis, die an den Gestaden des Mittehneeres und in Italien selbst bis zum
13 ihre dürftige Blattkrone einige Fuss über den Boden erhebt; die dürren,
armseligen Gegenden empfangen durch sie einen geringen Schmuck, sowie
die trockne, unfruchtbare Erde einen spärlichen Schatten gegen die Sonne.
Aus den Wüstenoasen Afrika' s nach Europa verpflanzt, vegetirt die Dattel-
palme noch in den südlichen Gegenden unseres Erdtheiles, deren mittlere
Jahrestemperatur 12 — 13|° R. beträgt, und in Spanien erzeugt sie bis zum
39°, in Italien sogar noch bis zum 43 N. Br. reife Früchte. Auch in Ame-
rika ist es eine fach er blättrige Palme, die Sabal Adansonii und Palmetto,
welche die nördlichste Gränze erreicht; die äusserste Gränze der südlichen
Halbkugel wird durch fiederblättrigePalmenbezeichnet, durch die in Chile wegen
ihrer essbaren Früchte angepflanzte Jubaea chilensis, von den Eingeborenen
Palma de miel, Honigpalme genannt; ebenso bezeichnet die Südgränze der
alten Welt eine fiederblättrige Palme, die strandliebende Areca sapida, die
in Neu-Seeland bis zum 38° Grade jene Früchte reift, deren Samen die In-
sulaner mit gebranntem Kalke vermischen und in die Blätter des Betelpfcffers
einwickeln, um sie zu kauen, zwecks Reizung der Verdauungsorgane; der
Nordländer sucht denselben Zweck durch den Taback und der Süd-Amerika-
ner durch die Coca und den Chimö zu erreichen.
*) Linnaea, Band XXXIII, lieft VI.
39
Erzeugt die neue Welt auf dem Festlande die grösste Zahl und
Formenmiiclitigkeit der Palmen, so bring! dagegen die alte Welt auf
dem Inselgebiete Australiens die riesigsten Palmenfrüchte hervor; die
sogenannte doppelte Cokosnuss erregte das Staunen der Seefahrer, und da
dieselbe nur auf dem Meere in der Gegend der Malediven gefunden wurde,
und der Baum, der sie reifte, lange Zeit unbekannt blieb, so bemächtigte sich
ihrer bald die Sage, die sie an einem Baume im tiefen Meeresgründe wachsen
liess, von welchem sie sich loslöse und an die Oberfläche des Meeres treibe;
da der Glaube sehend macht, so wollte man auch den unterseeischen Baum
zuweilen durch die klare Spiegelfläche des Meeres erkannt haben, wenn er
sich freilich auch dem Auge der Taucher niemals sichtbar und greifbar zei-
gen wollte. Die Frucht erreicht die doppelte Grösse der Cokosnuss, bis
4 Fuss im Umfange, und ist nächst dem amerikanischen Baumkürbis, der
Totuma, der Frucht der Oescentia Cujete, überhaupt die grösste Frucht einer
baumartigen Pflanze. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts hat man die
Herkunft dieser Wunderfrucht erforscht und ihren Träger aus dem dunklen
Meeresgrunde wieder auf die feste Oberwelt verpflanzt; man fand die Palme,
die sie hervorbrachte und welche La Billardiere Lodoicea Sechellarum be-
nannte, auf der kleinen, nordöstlich von Madagaskar liegenden Felseninsel-
gruppe der Sechellen; nur auf diese Inseln beschränkt, wächst die Palme auf,
unter Brodfrucht-, Muskatnuss- und Zimmtbaumwaldungen, und hebt ihre
dichte, von zwanzig Fuss langen fächerförmigen Blättern zusammengesetzte
Laubkrone auf einem 80—90 Fuss hohem Schafte über prächtige Baumfarrn
und duftende Schilfgräser empor.
Ein derartig beschränkter Standort, wie eben erwähnt, findet sich so
selten nicht unter den einzelnen Gliedern der Palmenfamilie ; eine kosmopo-
litische Natur ist den Palmen nicht eigen; nur wenige*) dehnen ihren geo-
graphischen Verbreitungsbezirk weiter aus, haben diese Verbreitung aber zum
Theil der Kultur zu verdanken; auf beiden Hemisphären zugleich lebt nur
die Cokospalme; ihr wahres Vaterland ist aber noch nicht mit voller Sicher-
heit ergründet worden. Gleich dem Umkreise ihrer Verbreitung, ist auch
der Standort der Palmen eng begränzt und nach den verschiedenen Arten
durchaus verschiedener Natur. Nicht der Typus: in Grösse, Form, Mächtig-
keit der Belaübung und Fruchterz eugniss , und andere äussere Erscheinungs-
merkmale haften an gewisser Boden- und Klimabeschaffenheit, sondern jede
Art wächst unter nur ihr eigenthümlichen Bedingungen; sie entwickeln in den
Wäldern der kühlen Gebirgsregion, ja, über alle Waldzone hinauf, z. B. in der
Cerofylon andicola dieselben gewaltigen Dimensionen, wie in den Wäldern der
heissen, schwülen Sumpfniederungen z. B. in der Oreodoxa regia und ole-
raeea; andrerseits wieder erzeugt die feucht-heisse Tropenatmosphäre ebenso
*) Elaeis melanococca : — Hyphaene thebaica; — Acrocomia scelerocarpa; — Borrassus fla-
bellifonnis und die Arenga-, Areka- und Dattelpalme.
40
kleine, rohrartig- schwankende Formen, z. B. in den Charaaedoreen; wie die
dicke, feuchte, kalte Nebelluft der Kordillerenabhänge, z. B. in den Morenia-
und Geonoma- Arten. Etliche Palmen senken ihre Wurzeln nur in den,
vom Meersalze durchsetzten Boden der Küstenniederungen, während an-
dere tief im Innern des Binnenlandes wohnen, oder hoch über den Wogen
des Oceans am nackten Fels der Kordilleren hangen; diese flüchten in den
dichten, dunklen Urwaldschatten, wo sie entweder unterhalb des dichtge-
schlosseneu Laubgewölbes ihre vegetativen Orgaue entwickeln, oder, hoch
emporstrebend, das Laubdach durchbrechen und, Wurzel und Schaft in den
Schatten bergend, die Laubkrone im heissen Lichtglanze der Sonne baden;
jene entziehen auch Schaft und Wurzeln dem feuchten Waldboden und ge-
deihen nur zu voller Kraft auf der kahlen, durstig auseinanderklaffenden,
rothen Erde in der vollen, ungebrochenen Giuth der scheitelrechten Sonnen-
strahlen; etliche wieder leben gesellig, zu Gruppen geschaart, sogar kleine
Waldparcellcn innerhalb der Wälder bildend, während noch andere alle Gesellig-
keit meiden, in stiller ernster Zurückgezogenheit alle Verwandtennähe fliehen,
und selbst aller Pflanzengemeinschaft entsagend, in einsamer, stolzer Majestät
das königliche Haupt zwischen Himmel und Erde wiegen.
Am einsamsten und abgeschlossensten leben die Palmen, welche die
vollendetsten Stammformen tragen; dichte Haufen und gesellige Vereinigun-
gen gehen ein die Palmen mit rohrartiger Stammform, welche lange, spros-
sende Wurzeln horizontal unter der Erdrinde forttreiben; kleine Wälder und
Gestrüppe bilden meistens nur die stammlosen, d. h. Palmen mit verkürztem,
unterirdischem Stamme. Das hauptsächliche Hindemiss für eine waldartige
Verbreitung und Vermehrung der überaus fruchtbaren Palmenfamilie liegt in
ihren Blumen mit getrennten Geschlechte, durch welche die Ueberführung
des Pollenstaubes des männlichen Blumenorganes zu der weiblichen Narbe
erschwert wird; ferner auch in der Nachstellung der Früchte durch zahlreiche
Thiere, die auf ihre Nahrung angewiesen sind, wie durch die Ausnutzung
Seitens des Menschen selbst. Nur dann, wenn die Kultur durch Anpflan-
zung künstliche Palmenwälder schafft, erhält die Landschaft lediglich durch
die Palme ihren Ausdruck, entstehen wirkliche Palmenlandschaften, wie:
Kokos-, Oel-, Pfirsich-, Dattel-, Zucker-, Katechupalmenhaine u. a. m. Nichts
Erhabeneres aber kann die Landschaft hervorbringen , als den Palmenhain ;
wie ein Gotteshaus nimmt er den Eintretenden auf mit tiefem Schweigen,
feierlicher Ruh1; um die Stirne des in sich Gekehrten wölben sich die stum-
men, ernsten Säulenhallen; schlang empor streben die Stammsäulen, voll-
kommen gleichmässig eine, wie die andere; auf der zugespitzten Säule ruhen
in schwindelnder Höhe die kuppeiförmigen, buschigen Laubkronen ; alle ein-
zelnen Laubkuppeln fügen sich wellenförmig in ein einziges Laubgewölbe
zusammen, das, von einem schlanken, ebenmässigen Stammgerüste getragen,
leicht auf dessen Spitzen schwebt und wiederglänzt im heissem Gold der
Sonnenstrahlen; gedämpftes Lieht füllt die stillen Hallen, aber nicht das Licht
41
einer stockenden, licht armen Dämmerung, sondern dae Licht der ewigen
Vesta, die ihre blendende, sengende Gluth mystisch in den durchsichtigen,
reich-dämpfcnden Schoss der Edelkrystalle birgt. Der Mittag treibt über das
Meer landeinwärts ein leichtes Wehen der lauen Lüfte; leise beugen sich
dem sanften Hauche die elastischen Säulen; vispernde flüsternd* Stimmen
regen sich in der schwebenden Laubwolke; ein träumerischer Mährchenton
zittert durch die Mittagschwüle; die überschwängliche Lichtfülle der Tropen-
mittagssonne schwimmt im heissen, blendenden Glänze auf dem glattgedehn-
ten Meeresspiegel und dem grünen Firnisse der Palmenkuppeln; es neigt
sich der lichtquelleude Feuerball tiefer und tiefer zum Horizonte; stärker
weht die Briese über das rauschende Meer, und auf den elastisch schwan-
kenden Säulen hebt und senkt sich, wie das ruhig-wogende Meer, das wo-
gende Laubdach der Säulenhallen; wie ein Ton der Orgel rauscht und raunt
es unter dem flüsternden Gewölbe; fallende Früchte sausen hin und wieder
durch die tönende Dämmerung, schnellen elastisch vom Bodeu auf und ge-
langen mit Sprüngen dumpfen Schalles weiter, bis die Wucht des Falles erlahmt
und wieder jeder ungewöhnliche Ton verstummt. Nur der Kolibri schwirrt
und summt im schimmernden Geschmeide seines Gefieders aus und ein durch
das bewegliche Laubgewölbe, sonst findet kein Vogel in dem ast- und zweig-
losen Blattbaume dauernd Sitz und Nest. — So wirkt die Palmen 1 an d-
schaft; aber die Wirkung äussert sich mehr feierlich-erhebend, als vertrau-
lich zu dem Menschen redend; sie athmet jene annäherungslose, Zurückhaltung
gebietende Hoheit, welche alles über das Gewöhnliche, Allgemeine Empor-
gehobene an seiner Stirne trägt.
Wirksamer aber, als aus der Gesellschaft, tritt aus dem Individuum der
Palme volle Gestalt und Gewalt hervor; wenn sie einsam steht, ihre ganze
Individualität zur Geltung kommt; wenn sie, unbeeinträchtigt durch alle
störende und hemmende Umgebung, in voller Freiheit, ganz nach eignem
Triebe ihre schönen Formen bauet; wenn sie, abgeschlnssen aus dem chaoti-
schen Lebensdrange der Pflanzenwelt, wie eine auserwählte Erscheinung,
welche einst der kindliche Glaube jugendlicher Völker mit dem Geiste Gottes
belebte, emporstrebt zu dem reinen, feurigen Lichtstrahle, der sie aus dem
Keime erweckt; wenn allein nur ihre Gestalt sich aus dem malerischen
Farbeneffekte der Tropenatmosphärc in unverwischbaren Umrissen abhebt,
alle Pflanzenumgebung gleichsam in ehrfurchtsvoller Scheu zurücktritt; oder
wenn sie von steiler, kahler Felsenhöh', wo keine, als nur ihre Wurzel Ein-
gang findet, einsam niederblickt in das stronidurchrauschte Thal, still und
unbeweglich oder leicht- hin- und widerwiegend hinablauscht zu der Meeres-
brandung am Fuss der schroffen Felswand, die sie emporhebt, wie auf einem
Altare, zu der leichten, sonnigen Aetherbläue, fest, wie der starke, unbeug-
same, unsterbliche El, gegen Sturm und Regen und Meeresbrandung: — dann,
ja dann hebt der Palme Anblick die Menschenseele zur Andacht empor!
Jedoch, so gross und gerecht auch das Lob ist, zu welchem die äussere
42
Erscheinung und die ausgezeichneten Eigenschaften der Palmengewächse die
Betrachtung fortreissen, es würde doch übertrieben sein, dies Lob über alle
Beziehungen auszudehnen; trotz alle und alle dem wandelt es sich dennoch
schöner, wenigstens gefahrloser unter Buchen und Eichen, als unter Palmen.
Das geflügelte Wort der Alten: „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen!"
hat eine so inhaltsschwere Bedeutung, dass es als Redefigur auf alle Lebens-
verhältnisse übertragen worden ist; weise nahm die Natur Bedacht darauf,
dass sie jeder Erdregion ihre besondren Vorzüge und ihre besondren Nach-
theile verlieh, denn nimmermehr hätte eine freiwillige Vertheilung der Bewoh-
ner über den ganzen Erdball stattgefunden, wenn es nicht von jeher überall
Vorzüge und Nachtheile auszugleichen gegeben hätte. Wo das hellste Licht,
da auch der tiefste Schatten; das Wandeln unter Palmen schliesst eine zwie-
fache Gefahr in sich: Gefahr für die leibliche und Gefahr für die sittliche
Gesundheit; ging auch von der Palmenheimath die erste Menschengesittung,
der erste Morgenstrahl der geistigen Freiheit aus, so gab sie doch immer
nur den ersten Anstoss znr Bewegung der intellektuellen Kräfte; ward dieser
Anstoss nicht fortgetragen von anderen kräftigen Bildungselementen, so würde
die treibende Kraft sich verloren, die Bewegung still gestanden, der Grund-
stein keinen Aufbau, der Bau kein Dach und Fach gefunden haben. Die
Heimath der Palmen bettet den physischen Menschen in Ueberfluss; Ueber-
tluss aber ist kein Hebel der Menschengesittung; nur der Stachel der Sorge,
der Arbeit und Spekulation treibt die Bildung weiter von Stufe zu Stufe,
weil er die Menschengemeinde rastlos und unerbittlich zwingt zur Zusammen-
raffung aller ihrer Kräfte. Und gleissnerisch ist der goldene Schmelz der
Lüfte, der glänzend auf dem grünen Firniss der Palmen schwimmt; unter dem
Entzücken der Sinne und Seele bleicht die Wange und erschlaffen die Glie-
der Derer, welche die Natur nicht zu Erben jener Reize eingesetzt hat.
Aber auch der Mensch, dessen Wiege unter Palmen steht, entgeht nicht der
Sühne überschwänglichen Genusses; Gift und Tod verbirgt sich unter dem
glänzenden Farbenkleide der Thier- und Pflanzenwelt; Marter und Siechthum
stäubt in winzigen Organismen und unsichtbaren Gasen durch den Farbenduft
der Atmosphäre, und so gross die Natur ihre Werke gestaltet, so elend und
klein gestaltet sich und seine Werke der Mensch unter den Palmen. —
Im Allgemeinen knüpft sich an die Palmengewächse die Vorstellung von
einem, über das gesammte Gewächsreich an riesigen Dimensionen hervorra-
genden Pflanzenwuchs; jedoch diese Vorstellung ist nicht zulässig für das
ganze Geschlecht der Palmen; mehrere Arten bilden nur ein kleines Ge-
strüpp, audere bleiben über der Erde ganz stammlos und gleichen in ihrer
äussern Erscheinung Staudengewächsen, und noch andere klettern, schlingen
und winden sich sogar rebenartig durch das dichte Waldgehege.
Die Palmen sind holzige, ausdauernde Gewächse; die Bezeichnung Baum
für das ganze Ptlanzengerüst, und Stamm für den blatttragenden Theil des-
selben ist botanisch nicht korrect- auch die höchste Palme ist nur ein schein-
4.3
barer ßuiim, ihr Stamm physiologisch dem Grashalme oder Lilienstengel ver-
wandter, als dem Baumstamme; die eigentümliche Anordnung des verholz-
ten Gewebes in Stammform wird Stock oder Stocks ta mm (Caudex) ge-
nannt. Die Entwicklungsweise ihrer vegetativen Organe stellt die Palme in
die grosse Abtheilung der Monokotyledonen oder Endogenen des natürlichen
Systems, die auch alle Lilien-, Pisang-, Schill- und Rohrgewiich.se, die Bin-
sen, Gräser, Orchideen und Pandaneen umfasst; in dem Samen aller dieser
Gewächse liegt der Keimling nur in einem Keimblatte oder Samenlappen
eingebettet.
Die Entwicklung des Stockstammes der meisten Palmen beginnt meh-
rere Fuss unterhalb der Erdoberfläche; wenn sich der Stock überhaupt nicht
über den Boden erhebt, dann kriecht er entweder horizontal unter der Erd-
rinde fort oder verkürzt sich in senkrechter Lage mit dicht über einander
zusammengedrängten Blattinternodien. Der Stock verdickt sich bereits im
Boden bis zum Durchmesser der ausgewachsenen Palme, bevor das Höhe-
wachsthum beginnt; die ursprüngliche Haupt- (Pfahl-) Wurzel verschwindet
bald und wird durch eine Menge von Nebenwurzeln ersetzt; dieser dicht
durcheinandergefloehtene, tief eindringende und weit ausgebreitete, durch ein-
geschwemmte Erde fest zusammengeballte und in den Grund gekittete Wur-
zelbüschel giebt dem aufsteigenden Stockstamme trotz der fehlenden Pfahl-
wurzel seine Haltbarkeit und befähigt auch den höchsten Palmenstamm, die
ganze Last seines ausgewachsenen Gerüstes zu tragen und den heftigsten
tropischen Gewitterstürmen zu trotzen. Bei seiner Streckung in die Länge,
oder Höhe, nimmt der Palmenstamm — gemäss seiner Entwicklungs - und
Wachsthumsweise — niemals mehr an Umfang zu; aus seiner Spitze ent-
stehen fortwährend von unten nach oben die Blätter; die Internodien zwischen
den einzelnen Blattanhaftungspunkten — den Achsenknoten — strecken sich
mit dem Höhenwachsthume des Stockstammes in die Länge; die unteren
Blätter lösen sich, parallel mit der fortlaufenden Neubildung an der Spitze
absterbend, vom Stocke ab und hinterlassen an ihrem frühern Anheftungs-
punkte kreisförmige Narben; gewöhnlich sitzen die grossen Blätter, zu einem
dichten Schöpfe vereinigt, mit verkürzten Internodien der Spitze — der Ter-
minalknospe — des Stockes auf, in jener Blattstellung, welche Zollinger als
Schopfvegetation in der Physiognomik der Landschaft bezeichnet; zuweilen
aber umstellen die Blätter den Stock der ganzen Länge nach mit weit ge-
streckten Internodien, namentlich bei den kletternden Palmen. Während der
Baum- (Holz-) Stamm gleichzeitig in die Länge und Dicke fortwächst, um
die innere Gewebeschicht eine äussere Schicht anlegt, und diese Verdickungs-
schichten später deutlich als geschlossene, concentrische, sogenannte .Jahres-
ringe erkennen lässt, gestattet die Anordnung und Entwicklung der G<
dem Palmenstamm eine unbegränzte Verlängerung, aber keine Verdickung;
die durchkreuzende Richtung der innern und äussern Gefassbündel lässt auf
der transversalen Durchschnittsfläche des Palmenstammes die Gefassbündel
regellos durcheinander gestreut erscheinen. Holz und Mark sind nicht deut-
lich gesondert, eine eigentliche Kinde ist nicht vorhanden, denn die soge-
nannte Rindenschicht ist nicht, wie bei dem Holzstamme, eine eigne, vom
Marke und Holze gesonderte Schicht, sondern nur die äusserste, aus ge-
streckten, engen Zellen bestehende Lage des Stockstammes, welche oft zu
einem sehr festen Holze erhärtet; daher ist der Stockstaruin im Umlang am
härtesten und in der Mitte weicher, oft schwammig, während bei dem Holz-
stamme das umgekehrte Yerhältniss stattfindet. Der Palmenstamm erscheint
bald walzenförmig und ungetheilt, bald auch mehr oder weniger gabelförmig
getheilt; bei einigen Arten hat er einen Durchmesser von 3 — 5 Fuss, bei
andern kaum j Zoll; hier ist er glatt und hell polirt, dort rauh und mit kreis-
förmigen Narben umstellt; diese starren in einer Rüstung von langen, spitzen,
harten Stacheln, jene umhüllen sich mit einem weichen Flaum von haarähn-
lichen Fasern oder umkleiden sich mit einer dünnen Wachsschicht. Eine
Verästelung des oberirdischen Stockes zeigen nur die kletternden Arten ; eine
gabelige Verzweigung ihrer baumartig aufstrebenden Stämme nur die Arten
Hyphaene the baica, Borassus flabelliformis und Geonoa mramosa; zuweilen tritt
eine krankhafte Verästelung auf nach Zerstörung der Stockspitze — der
Gipfelknospe — durch den dreihörnigen Riesenkäfer Neptunus, der nach dem
zuckerhaltigen, aufsteigenden Frühlingssafte lüstern ist.
Genau dem Zweckmässigkeitsgesetze und der Entwicklungsbestimraung
der Pflanze entsprechend, geht der Keimungsprozess des Palmensamens ver-
schiedenartig vor sich. Der Samenkern aller Palmen, der aus ölig-hornigem
Eiweisse besteht, besitzt eine sehr geringe Widerstandsfähigkeit gegen äussere
Einwirkungen; die geringste Zersetzung oder Verletzung dieses Eiweisskör-
pers würde das Leben der jungen Pflanze zerstören, die aus ihm ihre Nah-
rung bezieht; darum umschloss ihn die weise Natur mit einer Schutzhülle,
der Samens chaale, die niemals beseitigt wird, da ,das Eiweiss in keiner
Feuchtigkeit aufquillt und also nicht mit sprengender Kraft gegen die Samen-
sehaale andrängt. Um den Keimling zur Zeit des Keimens zu entlassen,
öffnet sich an der festen, ringsum geschlossenen Hülle ein kleines Deckel-
chen, das unmittelbar dem Würzelchen des Embryo von genau dem gleichen
Durchmesser desselben gegenüberliegt; der Keimling tritt durch die Oeffnung
dieses vor seinem Wurzelende hergeschobenen Deckelchens aus der um-
schliessenden Hülle frei heraus und entfaltet sich, mit dem nährenden Ei-
weisskerne durch einen Strang in Verbindung bleibend, weiter seiner Be-
stimmung gemäss. Dieser Verbindungsstrang — der verlängerte Samenlappen-
stiel — versenkt nur den Keim tief unter die äussere, trockene Erdrinde,
um in dem feuchten Grunde seine Lebenkraft vor der langen Sommerdürre
zu schützen;*) — oder versenkt ihn nur flach, weil die anhaltende Feuch-
*) Hyphacue; Copemicia; Phytelephas; Chamaerops; Phoeuix; Attalea; Arenga etc.
45
tigkeit des Waldbodens das Keimpflänzchen zerstören würde. *) — oder er
hebt den Keim ganz über den Boden empor, um das zarte Pflänzchen der
übergrossen Nässe eines in der Regenzeit überschwemmten Bodens zu ent-
ziehen, das alsdann zahlreiche Nebenwurzeln in den Boden hinabwirfi und
aber denselben aufgestützt wird, sodass endlich der ausgewachsene, oft 200
Fuss hohe Palmen stamm von einem Stelzengerüste strebepfeilartiger Luft-
wurzeln hoch über den Boden — bis 12 Fuss hoch — emporgehoben ist;**)
— oder der Strang verlängert sich überhaupt nicht, und der hervortretende
Keim verharrt neben der Fruchtschale, da die junge Pflanze die Bewurzelang
in einem meist weicheren und gleichmässiger durchfruchteten Boden in einem
einfacheren Entwicklungsprozess erreicht.f) -- Demnach würde die Familie
der Palmen nach dem Keimungsprozesse in 4 unterscheidbare Gruppen zer-
fallen: 1) in Gruppen mit verlängerten, tief in die Erde eindringenden Sa-
menlappenstrange; 2) in Gruppen mit einseitig - stolonenartigem Aufwärts-
wachsen der Stammachse; 3) in Gruppen mit stelzenartig den Stock empor-
hebenden Luftwurzeln; 4) in Gruppen ohne verlängerten Samenlappenstrang. -
An dem oberirdischen Palmenstamm lassen sich vier verschiedene For-
men unterscheiden; die einfachste Form ist rohrartig; der Stock erhebt
sich dünn und schlank in der Gestalt der baumartigen Gräser zwischen 2
bis 25 Fuss hoch; er ist im Innern mit weichem Marke erfüllt und trägt
etwa 4-fi einfache Blätter in je 10 Linien Entfernung von einander. Eine
zweite, höhere Form ist die säulenartige, die, wenu auch noch dünn, doch
frei emporstrebt; die Blätter ruhen mit weit gestreckten Internodien auf hohen,
an der Basis erweiterten und die Internodien umfassenden Blattstielen, -
auf einer der Spitze des Stockes aufgesetzten grünen Säule von umeinander
gerollten Blattstielen. Die dritte Form ist cylindrisch; der Stockstamm
steigt immer höher auf und trägt an seiner Spitze einen dichten Schopf von
zahlreich, oft bis an 300 zusammengedrängten Blättern. Die vierte, vollen-
detste Form zeigt der cokosartige Stockstamm; er allein erreicht die Kraft
und Härte des Holzstammes, da er aus starken, holzartigen Grefässbündeln
aufgebauet ist. — Je nach der Art und Weise, wie sich die untersten, nach
und nach absterbenden Blätter ablösen, erhält der Palmenstamm seine eigen-
thümliche Zeichnung: er erscheint geringelt von den Narben der frühern
Anheftungspunkte, wenn die Blattstiele der kreisförmig oder dicht spiralig ge-
stellten Blätter sich völlig — an ihrem Anheftungspunkte — ablösen; er
wird schuppig, wenn die erweiterte Basis des Blattstieles — die Vagina
♦) Bei Klopstockia; Diplothemia; Sabal; Acrocomia; Trinax Elaeis melanococca wächst so-
gar dauernd in dieser Weise fort.
"*) Iriartea; Socratea; Deckeria etc.
fj bei den kletternden (Jalamus und Desmoncus; den rohrartigen Palmen der Bactris, Hai
tinezia, Pyrenoglyphis, den Geonomen, Chamaedoreen, Euterpe, Oenocarpus, Guielielma, I
doxa, Sagus und Cocos. —
4t>
am Stamme haften bleibt; er bekleidet sieh mit einem faserig-filzi-
gem Gewebe, wenn diese schuppen artigen Blattstielüberreste bis auf die
/.alleren Pasern verwittern; oder er bewaffnet sich mit harten, spitzen
[)nrnen stacheln, wenn die untersten, mit den ßlattstielscbeiden zusammen-
hangenden Anhängsel — - ursprünglich verkümmerte Blattorgane nicht
hinfällig sind. —
Einfach nnd gleichartig übereinstimmend, wie der Bau des Stockstammes,
ist auch der Blattbau der Palmen, und diese Einförmigkeit in dem gesamm-
ten Aufbau bewirkt die typische Aehnlichkeit der Palmen unter sich und
ihren Typus überhaupt. Die Blattfläche wird von einem langen Blattstiele ge-
tragen, der mit seiner röhrenförmig erweiterten Basis — der Vagina — den
Stockstamm an seinem Anheftungspunkte ganz oder fast ganz umfasst; mitten
durch ilie lang gestreckte Blattfläche zieht sieh ein starker Mittelnerv, auch
Mittebippe genannt, von welcher nach jeder der beiden Seiten parallele
Adern -- Seitennerven — abzweigen. Das ist der Grundbau des Blattes für
alle Palmenarten, auf welchem sich alle Formmodifikationen vollziehen. Bei
einigen Arten (Geonoma, Bactris) bleibt die Blattfläche unzertheilt; bei den
meisten Arten (Cocostypus) theilt sich die Blattfläche zu beiden Seiten der
Mittelrippe in verschiedene, längliche Segmente, sogenannte Fiederblättchen,
und wird dadurch gefiedert; eine nochmalige Theilung der Segmente um
deren Mittelnerv, ein doppelt gefiedertes Blatt, zeigt nur eine einzige von
den bis jetzt bekannten Palmen, die Gattung Caryota. Das — einfach oder
doppelt gefiederte — Blatt wird der ganzen Länge nach durch die Mittelrippe
in zwei gleiche Hälften getheilt; verkürzt sich die Mittelrippe, durchläuft
sie nur einen Theil der Blattfläche oder mündet sie nur ein wenig in die-
selbe ein, so krümmt sich die Blattflache mit den gefalteten und mehr und
minder tief ausgeschnittenen Sgmeenteu in einen kreisrunden Bogen um den
Endpunkt des Mittelnerves; dadurch entsteht das gefächerte Blatt, so genannt
nach seiner Aehnlichkeit mit einem auseinandergebreiteten Fächer; diese
Form ist die seltnere, etwa in dem Verhältnisse von 1 : 7 unter allen bekann-
ten Palmen. Das geliederte Blatt variirt noch darin, dass alle seine Segmente
in einer Ebene liegen, eine glatte Fläche bilden, kammartig mit steifer Textur
nebeneinander sitzen und auf spiegelndem, glattem Grunde das glänzende
Sonnenlicht reflectiren; oder dass sie der Mittelrippe unter verschiedenem
Winkel angeheftet sind und sich mit biegsamer, schilfartiger Textur durch-
einauderkräuseln.
Alle Palmenblätter haben ein pergament-zähes, hartes Gewebe, stehen
abwechselnd in aufsteigender Spirale um den Stockstamm und erreichen bei
manchen Arten kolossale Dimensionen, oft 50 Fuss Länge und 8 Fuss Breite,
also ziemlich die Höhe eines kleinen Dorfkirchthurmes; das Gewicht eines
solchen Blattes nimmt alle Tragkraft eines starkes Mannes in Anspruch. Der
Blattschopf ist bald kugelförmig, bald halbkugelfürniig gewölbt, bald ziemlich
aufgerichtet mit etwas übernickeuden Blattspitzen. Aus dem Scheitel des
47
Schopfes' s< hicl)1 sich ein junges Blatt nacli dem an dem rail zusammenge-
falteten Segmenten, wie ein Pfeil, hervor, lockert allmählich seineu Fieder-
busch und neigt sich, bogenförmig geschwungen, in den gewölbten BlattschopJ
zurück, während an seiner Basis bereits ein neuer junger Blattpfeil dem
locken den 1 1 inline! suchte entgegcn8trebt.
Wahrend so an der Spitze des Palmenstammes Bich in fortdauerndei
Folge Blatt auf Blatt entfaltet, schieben sich nach einem gewissen Alter des-
selben aus den Achseln der altern Blätter die Blüthenzweige Kolben —
heraus; dieselben sind dicht übersäet mit unzähligen kleinen weissen, gel
Leu, grünlichen oder röthlichen Blümchen; entweder ist der Kolben unver-
ästelt, oder er verzweigt sich ähreu-, trauben-, oder straussförmig; so un-
scheinbar und winzig auch die einzelne Blume, so wirkt doch die Zusammen-
häufung von vielen tausenden derselben auf einem Kolben höchst malerisch;
sonnenartig strahlen die goldgelben Blüthenzweige unter der schattenden Laub-
kuppel auseinander, oder sie wachsen wie ein riesiger schneeweisser Strauss
in leichter, anmuthiger Haltung durch die schwere Wölbung, oder die nieder-
hangenden, steifen Traubenzweige legen sich tressenartig an den platten.
dunklen Firniss des holzigen Stammes an, und viel weiter, als die gold- und
silberklaren Farben leuchten, durchquiilt der honigsüsse Duft das grüne Meer
der Wälder, die leichte Fluth der Lüfte. -- Ein einziger Kolben trägt viele
Tausende von Blumen, ein Dattelkolben bis 12,000; die Mandelpalme des
Magdalenen-Stromes — Attalea amgydalina — bis zu 207,000; die Sagus-
palme — Sagus Rumphii — gegen 208,000 Blumen; es blühen aber mehrere
Kolben: 2, 4, 6 zu gleicher Zeit an einer Palme, so dass eine einzige
Palme oft über eine Million von Blumen zu einer Zeit erschliesst. Aber
nur ein geringer Theil dieser Blumenfülle ist zur wirklichen Fruchterzeugung
bestimmt; die zahlreichen männlichen Blumen welken und fallen ab sofort
nach der Entlassung des Pollenstaubes, und von den iu geringer Minderzahl
vorhandenen weiblichen Blumen wird wiederum nur eine geringe Minderzahl
wirklich befruchtet.
Die Blätter der Blüthenzweige entwickeln sich nicht normal; sie bilden
sich um zu kleinen Schuppen, und die unteren erweiteren sich zu einer dü-
tenförmigen, holzigen oder lederartigen Hülle, der Blüthenscheide, Spatha, die
den ganzen Blüthenzweig bis zu seiner völligen Ausbildung einschliesst und
ihn, wie im Mutterschoose, gegen schädliche, äussere Einwirkungen bewahrt.
Bei einigen Arten theilen 4 — 5 und mehr solcher Scheiden diese mütterliche
Hütung, jedoch gewöhnlich so, dass nur einige oder wenige derselben die
Grösse des Blüthenstandes erreichen und denselben ganz einschliessen, wäh-
rend die oberen sich mehr und mehr verkürzen und sich einander gegen-
seitig theilweise umhüllen und stützen. Je nach dem Umfange der einge-
schlossenen Infloreszenz erreichen manche Blütheuscheiden bedeutende l>i-
mensioneu, anfangs stehen sie aufrecht in deu Blattwinkeln, beugen sich mit
zunehmender Schwere und Anschwellung des umschlossenen Kolbens allmuh-
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lieh niederwärts and hangen endlich gleich langen, zugespitzten Keulen schwer
nach unten, gegen den Stamm gekehrt. Nun aber erfasst der Hochzeitsrausch,
der Drang und die Sehnsucht nach Licht und Freiheit die gehüteten, zarten
Blumen, so dass die feste Umhüllung nicht länger dem ungestümen Andränge
zu widerstehen vermag und plötzlich mit lautem Schalle auseinander spaltet;,
ein ganzer Blumengarten entsteigt duftend dem geöffneten Schosse, willkom-
men geheissen vom goldnen Lichte und Schwärmen summender und funkeln-
der Insekten, welche der weilirauchartig aufsteigende Blumenstaub naschlustig
herbeigelockt.
Die Blüthenscheiden wechseln in allen Grössen je nach den Palmen arten
zwischen zwei Zoll bis mehreren Fuss Länge; die Scheide der Oreodoxa re-
gia und oleracea wird gegen 8 Fuss lang. Die eingeborenen Landleute be-
nutzen die grossen Scheiden zu verschiedenen Hausgeräthen; sie bewahren
darin, wie in einem Fasse, ihre Mais- und Reisvorräthe, stellen sie als Was-
ser- und Futtertrog vor die Thüre oder als Behälter ihrer eignen Speisen in
die Küche; ja, sie, die einst geheimnissvoll die Erweckung und Entwicklung
des Palmenlebens umschlossen, nehmen nun als schaukelnde Wiegen das
höchste und heiligste Geheimniss der Natur: — die erweckte Frucht der
Menschenliebe, auf.
Ob auch nur ein verschwindend kleiner Theil von dem fruchtragenden
Blumen am Leben bleibt, so beugt sich dennoch der reifende Kolben unter
einer Last von schwer und dicht zusammengehäuften Früchten; die Frucht-
traube einer Scheelea trägt etwa 900 - 1000 hühnereigrosse Früchte und wiegt
etwa 120 Pfund; die kleinen kirschsteingrossen Früchte der Oreodoxa sitzen
zu vielen Tausenden an einem Strausse; an einer einzigen Traube der Seje-
palme des Orinoko kann man bis 8000 Früchte zählen. Das Fruchtprodukt
der Palme ist nuss- oder beerenartig; die äussere Membran der Frucht
zeigt alle Farben; in dem Yerhältniss zu den Dimensionen ihrer Träger sind
die Früchte verschwindend klein, bei vielen Arten nur erbsengross; die Co-
kosnuss ist die einzigste grosse Palmenfrucht, und die sogenannte doppelte
Cokosnuss der Sechellen nächst der Crescentiafrucht die grösste aller Baum-
früchte überhaupt. Martins benutzte besonders den Bau der Früchte zur
Eintheilung der Palmenfamilie in verschiedene verwandte Gruppen, die er so-
dann nach der fächer- oder fiederförmigen Belaubung oder nach den gestachel-
ten oder ungestachelten Stockstamm in kleinere Untcrabtheilungen sonderte.
Zur Eintheilung der Palmen in Haupt- und Unterabtheilungen, in Klassen,
Ordnungen und Gattungen ist die Zergliederung aller Bestandtheile derselben
und die genaue Prüfung ihrer Anordnung zu einander erforderlich; die Thei-
lung des Ovariums, die Stellung der Eichen, die Bildung der Frucht, Anzahl
und Beschaffenheit der Samen, Lage des Embryo, Zahl und Stand der Staub-
fäden in <\rn männlichen Blüthen, Oeffnung des Pollenschlauches, Stellung,
Form und Membran der Blätter, der Blatt- und Blüthenscheiden, der
4!»
Blüthenkolben , Blüthen etc., — das Alles sind ebensoviel besondere Wahr-
zeichen, als bestimmende Gattungs- and Speciesnierkmale.
Der Samenkorn füllt im unreifen Zustande die Höhlung, in welcher er
wächst, als eine wässrige Eiweissmasse ans, dir im weiteren Verlauf« der
Iteifung fleischig wird und im ausgereiften Zustande hörn- oder knocheuartig
erhärtet und oft eine Hohlkugel bildet; diese ßilduug <\r* Samenkernes ver-
anschaulicht deutlich die Cokosnuss; so lange der Kein uoeb in dem Stu-
dium der Reifung befindlich, füllt jene trübe, fade, milchige Flüssigkeil die
Höhlung aus, die man als Cokosmilch bezeichnet und über Gebühr poetisiri
bat; wenn der Same ausgereift, so liegt unter der Steinschale der feste, harte
Kern, der innen hohl ist und keine Milch mein- enthält. In einigen Fallen
bleibt der Same der Palmenfrucht un ausgebildet, und dadurch wird die ganze
Frucht zu einer fleischigen Masse umgewandelt; der Fall findet statt bei der
kultivirten Pfirsichpalme Südamerikas und der ebenfalls kultivirten sternlosen
Dattel der kanarischen Inseln. —
So wachsen und leben die Palmen; so streben sie dem Ziele ihrer \iO-
bensbestimmung: der Entwicklung ihrer Fortpflanzungsorgane entgegen; so
entfalten sie ihre erhabene Individualität und so zeichnen sie der Physiono-
mie der Tropenlandschaft ihre charakteristischen edlen Züge ein. Fast jeder
Theil dieser herrlichen Gewächse ist für den menschlichen Haushalt anwend-
bar: von ihren Früchten ernähren sich ganze Völkerschaften oft einen gros-
sen Theil des Jahres hindurch; die hohe Bedeutung der Dattel für die Be-
wohner Arabiens, Syriens und Nordafrikas; der Üokos , die den Insulanern
der Südsee Alles liefert, was zu ihren Bedürfnissen gehört: Gemüse, Mehl.
Butter, Oel, Wein, Essig, Zucker, Dachdeckung, Matten, Seile, Papier, Son-
nenschirme, Hüte, Geschirr u. s. w.; der Mauristiapalme, welche fast die ein-
zige Nahrungsquelle der Guarani-Indianer in den Orinokosümpfen ist und
ihnen selbst zur Wohnung wird, — ist bekannt genug, um eines eingehen-
den Commentars entbehren zu können; nicht der kärglich zugemessene Kaum
eines Journalaufsatzes, — ein ganzes Buch würde erforderlich sein, alle kost-
baren Eigenschaften der hervorragenden Palmengestalten und ihre Wechsel-
beziehungen zu dem Menschen- und Thierleben erschöpfend behandeln zu
wollen. Eine den Früchten gleiche und oft noch ergiebigere Brodquelle ist
das Mark verschiedener Palmenarten; das mehlige Mark der Caryota mens.
die in Malabar, Bengalen, Assam und anderen Theilen Ostindiens wächst, hat
oft eine Hungersnoth abgewendet, wenn die Erudte anderer Nahrungspflanzen
fehlschlug; in Ceylon wird diese Palme allgemein kultivirt, da sie in der
heissen Jahreszeit ebenso reichlichen Zuckersaft, wie Mehl producirt; zur
Gewinnung dieses Zuckersaftes, Toddy genannt, wird der spindelförmigen
Blüthenhülle kurz vor ihrem Oeffnen die Spitze abgeschnitten und der aus-
tropfende Saft in Kürbisflaschen aufgefangen, die unter der Wunde betest igt
sind; ein starker, gesunder Caryotastamm soll in "24 Stunden gegen 100
Flaschen Toddy geben ; der Schnitt wird täglich erneuert . bis der Zufluss
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 1870. 4
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des Saftes aufhört. Der Toddy wird zu Syrup eingedickt und bis zu festem
Zucker abgedampft, und der Zucker in kleinen, ein Pfund schweren Stücken
/uni Vorkauf auf den Markt gebracht. Ausserdem bereiten die Südsee-Jnsu-
laner noch Syrup ans dem Zuckersäfte der Cokos, der Borassus umbraculifera,
und besonders aus dm Arengn saccharifera und der Phoenix sylvestris. In
ßengalen bereitet man allein an Dattelzucker jährlich 1 Million Centner; der
Dattelzucker wird ahn- weniger geschätzt, als der Rohrzucker, und etwa um
ein Viertel billiger verkauft.
Die undichte, von Handel, Industrie und Kultur unberührte Bevölkerung
der weiten Palmen gebiete Süd- Amerikas kennt den Sporn der Betriebsandveit
und Speculation nicht, der die Völker der östlichen Pahnenheimath antreibt
zur merkantilen Ausbeutung der Palmenprodukte. Den Indianer treibt zur
Palme nur die Notli der nackten Existenz und wüste Genusssucht; ausser
den Früchten und Blättern zur Stillung seines Hungers und Herstellung seiner
Lagerstätte, eignet er sich nur den Saft an, und diesen nur zur Gewinnung
eines heftig berauschenden Getränkes, des sogenannten Palmenweins, — be-
sonders jene Völker, welche die Spirituosen Getränke und die Völlerei eben
so sehr lieben, als .-de sich schwer in den Besitz und den Zustand derselben
setzen können; diesen Genuss nur verschaffen sie sich in dem gegohrenen
Safte verschiedener Palmenarten. Man schreibt dem Palmenweinc aber auch
medizinische Kräfte zu; dieselben sind zu suchen in der Oxalsäure, die sich
immer in dem Zellgewebe dieser Palmen in Verbindung mit einer erdigen
Pasis findet, und je nach der vorhandenen Menge dem Getränke einen mehr
oder minder bittern Geschmack und erhöhte Wirksamkeit verleiht. Der
Wohlgeschmack des Palmenweines steht jedenfalls unter dessen Wirkung;
cinigerinassen verfeinerte Geschmacksorgane können ihm überhaupt nur eine
zweifelhafte Würdigung zu Theil werden lassen. Leider kostet der Besitz
einiger Flaschen Weines immer einer langsam emporgewachsenen Palme das
Lehen; dieselbe wird gefällt, ihrer Blätter bis auf die jüngsten dicht am
Stamme beraubt, und der Stamm unterhalb des Blattschopfes bis auf die
Mitte des Markes ausgehöhlt; die Oeffuung dieser Höhlung wird zugedeckt
mit dem Ausschnitt der Rinde, der Saftvorrath täglich ausgeschöpft und in
irdenen Gefässen der Gährung übergeben. — Syrup bereitet man in Süd-
Amerika nur aus dem Safte der Jubaea chilensis; auch diesem Gewinne fällt
,li,. Palme zniu < hrfer; der Saft träufelt aus der Schnittfläche der abgetrenn-
ten Blattkrone aus; täglich wird der Stamm um ein dünnes Scheibchen ge-
kürzt, bis der Saftabfluss uach mehreren Monaten versiegt, nachdem ein kräf-
tiger Stamm etwa 400 Flaschen Salt geliefert hat.
Auch d.is Fruchtfleisch verschiedener Palmenfrüchte wird zur Bereitung
der gegohrenen, der nährenden und sättigenden Getränke verwendet; diesel-
ben führen den Namen Palmenmilch, Mazamdrra oder Chicha, je nach der
Farbe, der Masse, der nährenden oder berauschenden Eigenschaften. Ohne
allen Zusatz künstlicher Würzen gewöhut sich die durch die Cultur verzär-
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teltc Zunge nur schwer an diese urwüchsigen Tafelgenüsse; jedoch kann
ihnen durch einige Nachhülfe immerhin ein gewisser Wohlgeschmack gegeben
werden, Den Bewohnern des Magdalenenstr gebietes und der Niederungen
drs Marakaibo-Sees dienen zur Bereitung der Palmenmilch und Chicha be-
sonders die Früchte der Phytelephas, der Elaeis melanococca, verschiedener
Euterpes und der Jessenia repanda; die Gruaraunen am Orinoko schöpfen
auch diese Nahruugsspende aus ihrem allgemeinen Lebensbaume, der Mau-
ritia-Palme.
Ein ebenso beliebtes, als unentbehrliches Nahrungsmittel ist bereits auch
in Europa das Mehlprodukt der Palmen geworden, das aus dem Marke ge-
nommen und gewonnen wird und unter dem Namen Sago oder Sagu allen
kultivirten Völkern durch den Handel bekannt und zugänglich gemacht wur-
den ist. Sago heisst in der Papuasprache: Brod, und diese Benennung offen-
bart am deutlichsten, welche Bedeutung das Sagomehl für das Leben der
südasiatischen Völker gewonnen hat. Stärkemehl bildet sich in dem Marke
aller derjenigen Palmen, die ein starkes Markgewebe haben, in der Zeit-
periode vor der Blüthenentwickelung; im weiteren fortschreitenden Entwicke-
lungsverlaufe der Blüthen wird die Stärke in Gummi und endlich in Zucker
umgesetzt, und liefert in diesem Umwandlungsstadium den Palmenzucker und
den Palmenwein; daher sind alle Palmen mit zuckerhaltigem Safte auch Mehl-
erzeuger, und je nach der Periode des chemischen Stoffwechsels im Innern
der Gefässe doppelte und dreifache Nahrungsquellen. Das als Sago ver-
arbeitete und bekannte Stärkemehl wird aus dem Marke ostindischer Sumpf-
palmen, der Metroxylon Rumphii und M. laeve gewonnen. Zu dem Zwecke
wird der Palmenstamm in mehrere Fnss lange Stücke gespalten, das Mark
herausgenommen, von Fasern gereinigt, gestossen und in Wasserbehälter ge-
than; nachdem es längere Zeit unter Wasser gestanden, wird es durch ein
Sieb gerieben; aus dem Durchgeseihten fällt das Stärkemehl zu Boden, das
durch wiederholtes Waschen und Absetzenlassen gereinigt und endlich ge-
trocknet wird. Der Perlsago erfährt eine wiederholte sorgfältige Behandlung
durch viele Waschungeu und Durchsiebungen, Erhitzungen, Trocknungen und
mehrfaches Rösten auf irdenen Pfannen, bis die Mehlkörnchen nach allen
diesen mühsamen Manipulationen so klar und weiss erscheinen, wie sie unter
dem Namen Perlsago in den Handel kommen.
Bei der kleinen indischen Phoenix farinifera findet sich eine mehlige
Substanz in den weissen, ineinander gewobenen Fibern der äusseren Ilolz-
masse; der Strunk dieser kleinen Palme ist nicht höher, als 1—2 Fuss und
so unter Blattscheiden versteckt, dass er nicht zu sehen ist und die ganze
Pflanze einem dicken,' runden Busche gleicht. Während die Blättchen des
zwecks Mehlgewinnung gefällten Strunkes Matten und die Blattstiele Mate-
rial zu Korbgeflechten liefern, spaltet man den entkleideten Strunk in 6 s
Stücke, trocknet diese und stampft sie so lange in hölzernen Mörsern, bis
Mehl und Fasern sich getrenut habeu; es folgt dann Waschung, Durch-
4*
52
siebung, Trocknung der Mehlsubstanz; darauf wird sie zu einer dicken Grütze
eingekocht, die in Indien Kauji hcisst. Dies Nahrungsmittel steht dem Sago
freilich an Nahruugsgehalt nach und behält einen bittern Geschmack, hilft
dennoch aber in unfruchtbaren Jahren die arme Bevölkerung gegen Mangel
und Hunger schützen.
Die zahlreichen zuckerstoffhaltigen Palmen Süd-Amerikas würden eine
gleiche Quelle nahrhaften Mehles erschliessen , wenn sich die eingeborenen
Völkerschaften ihrer bemächtigen wollen; einerseits aber stehen die in-
dustriellen Fähigkeiten hier auf ungleich tieferer Stufe, als unter den ost-
indischen Völkerschaften, andererseits ist die Bevölkerung zu dünn, und der
Boden im Verhältniss zur Zahl seiner Kostgänger zu produktiv an verschie-
densten Brodpilanzen, als dass ein äusserer Zwang den gesättigten Menschen
zu industrieller Thätigkeit und zur ökonomischen Ausnutzung der Naturpro-
dukte anspornen sollte. Der Südamerikaner greift nach dem Brode, das ihm
am nächsten liegt und seiner Gewöhnung entspricht; was sich von Beiden
entfernt, bleibt ihm gleichgültig. Leichter, und darum auch häufiger, setzt
er sieh in den Besitz der jungen Blätter und Blumen, die er als Gemüse
kocht oder roh als Salat geniesst. Solche Blattsubstanz — den sogenannten
Palmeukohl — liefern ihm eine Menge von Palmen, fast alle jene Arten, die
ihre Blattscheiden als eine zusammengerollte lichtgrüne Säule dem holzigen
Stamme aufsetzen. Dazu gehört auch die schönste und erhabenste aller süd-
amerikanischen Palmen, die Üreodoxa oleracea, — Chaguaräma der Einge-
borenen, so eindrucksvoll die Schönheit dieser Palme, so gross und mannig-
fach ist auch ihre Nützlichkeit. Die nach aussen wachsenden, sich verhär-
teuden (refässbündel des Stockstammes bilden einen 3 — 4 Zoll dicken so
überaus festen Holzring, dass er die Schneiden der Aexte umlegt oder das
Eisen an seinem Panzer zersplittert; er giebt ein unvergänglich-dauerhaftes
Bauholz zu Sparren, Gebälk, Getäfel, Bohlen und Dielen; wenige der grossen
Blätter decken das Dach der ländlichen Wohnhäuser; die abfallenden, unte-
ren, hohlen Blattstiele bilden natürliche Mulden und Wiegen für die angehen-
den kleinen schwarzen, braunen, rothen, gelben und undefinirbar farbigen
Weltbürger, und wenn sie gespalten , treffliche Schienen für Knochenbrüche,
die innere trockene Epidermis der Blattstiele liefert ein Pergament, das sich
auf einer Seite mit Tinte beschreiben lässt, während die andere einen Fett-
überzug hat, welcher der Feuchtigkeit trotzt; von einem Stamme lassen sich
etwa 20 grosse Bogen gewinnen; aus dem Marke lässt sich Sago, aus den
kleinen Nussfrüchten Oel bereiten; die Blüthenscheiden sind taugliche Wasser-
gefässe, Emballagen für verschiedene Bodenbauprodukte und nochmals Wie-
gen, und aus den jüngsten, dicht eingeschlossenen Blattanlagen, dem soge-
nannten Herz der Gipfelknospe, wird der Palmenkohl: das Gemüse oder der
Salat gewonnen. Das weisse, zarte Gewebe dieser jungen, von den äusseren
Blattscheiden eingerollten Blattanlagen schmeckt in Folge seines zuckerhalti-
gen, öligen Saftes fast, wie Nusskerne, hat eine dem Spargel oder den jung-
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sten Kohlblättern ähnliche Consistenz, und giebt, entweder mil verschiedenen
Säuren gekocht oder mit Oel und Essig als Salat eingemacht, «'in wohl-
schmeckendes Tafelgericht,; es wirkt aber aufregend and erhitzend auf das
Blut. — Als "wirkliches Nahrungsmittel jedoch fällt der Palmenkohl nicht in's
Gewicht, weil jede Palme nur eine geringe Menge, nicht viel übei ein Pfund
essbare Substanz liefert. Als andere Kohlpalmen können noch besonders
genannt werden verschiedene Arten der Euterpe, Oenocarpus, Geonoma, Ma-
xiliana u. a. m. Letztere, in Parä und anderweitig in Neu- Brasilien Juaja
genannt, stellt in ihrer Scheide einen vollkommen fertigen Korb dar, den die
Indianer als Lastkorb für Erde, Thon, Mehl, Früchte etc. benutzen; die Jäger
kochen darin ihr Wildprett, denn sie versengt eben so wenig, als sie über
dem Feuer wasserdicht ist; Affen und Vögel theilen sich mit den Indianern
in ihre Früchte, als wohlschmeckende Speise.
Ein dem Palmenkohl ähnliches Gemüse finden die Neger im Innern
Afrikas in dem sehr verlängerten Samenlappenstiel der eben gekeimten Frucht
der Borassus Aethiopum.
Ergiebiger noch, als alle bisher erwähnten Produkte, und fast in allen
ihren Arten fördert die Palme Fettsubstanzen, namentlich Oel zu Tage.
Die Kerne sämmtlicher Palmennüsse sind ölhaltig; das Cokosnussöl ist hei-
misch in allen industriellen Städten Europas; auf 100 Cokosnusse werden
ungefähr 24 Pfund Oel gerechnet. Dennoch bleibt die Oelproduktion der
Cokos noch hinter manchen anderen Palmenarten zurück; besonders zeichnet
sich die Frucht der Attaleen und Scheeleen aller heissen und feuchten Ge-
genden Süd-Amerikas durch reichen Oelgehalt aus, an welchen jeder Frucht-
büschel oft tausende von hühnereigrossen Früchten, und jede Pflanze 3— -4
solcher Büschel gleichzeitig hervorbringt.
Der Nusskern dieser Oelpalmen schmeckt ähnlich dem Cokosnusskern,
nur enthält er viel mehr Oel, und das aus ihm gewonnene Oel ist fetter und
brennt fast doppelt so lange, als das Cokosöl. Die Palmen liefern jährlich
eine Fruchterndte , gewöhnlich 3 — 4 grosse Büscheln, jeder mit etwa 1000
Früchten. Die Steinschaale, welche den Kern umschliesst, ist sehr dick und
hart, und ebenfalls mit Fett durchtränkt; daher zerquetscht man häufig auch
den Stein mit dem Kern und kocht die ganze Breimasse in einem Kessel mit
Wasser aus, bis das Oel oder Fett oben schwimmt, abgeschöpft und in einem
Topfe so lange gesiedet wird, bis alle wässrigen Theilc ausgeschieden sind.
Hundert Nüsse geben etwa eine Viertel Flasche Oel; gereinigtes Oel ist auch
geniessbar.
Die Fettproduktion der Palmen beschränkt sich nicht auf Oel allein ;
etliche Arten sondern Wachs auf der Oberfläche des Stammes und der Blätter
ab; diese Wachspalmen sind Einwohner Süd-Amerikas; während der Nord-
Brasilianer aus dem Stammmarke der Copernicia cerifera Mehl für den Haus-
bedarf anfertigt, der Stamm ihm zu Allem, wozu Holz verwendbar ist. dient,
die Blätter ihm Dachstroh, Packsättel, Hüte u. s. w. verschaffen helfen, hefern
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die jungen, vom Baum genommenen Blattei* ein jedes etwa 50 Gramm eines
weissen schuppigen Pulvers, welches über dem Feuer zu einem Wachskuchen
zusammenläuft. Hoch auf den Anden Neu-Granadas und Equadors erheben
sich in den grünen Laubwäldern mächtige Palmen mit weissen, marmorähn-
lichen, schlanken Stämmen; dieser weisse, marmorartige Ueberzug der harten
äusseren Holzschicht der Ceroxylon undicola und Klopstockia cerifera besteht
aus Wachs; ein Mann kann an einem Tage zwei grosse Palmen fällen und
abschaben, und gewinnt von jedem Stamm etwa eine Arraba, 2ö Pfund, Wachs,
das er nur in Formen zu giessen hat, tun es als Kerzen zu verwenden. —
Die prachtvolle grosse Bethovenia cerifera (von mir eingeführt und beschrieben
in Linnaea, Band XXXIII, Heft VI), welche die Cordillerenwälder Vene-
zuelas überragt, sondert das Wachs in den inneren Holzgefässen ab; wird
der Stamm durchschnitten und etwas vertieft, so legt sich über diese vertiefte
Schnittfläche nach einiger Zeit ein runder Wachskuchen; die jüngsten, noch
unentfalteten Blätter dieser selben Palme liefern ein vorzügliches feines Stroh-
geflecht zu Hüten.
Werfen wir einen Blick in den Arzneischatz, in das Laboratorium der
Gifte und Gegengifte, so begegnen wir auch hier Erzeugnissen der Palmen-
familie. Drei Pflanzcnarten aus sehr fern stehenden Familien des natürlichen
Systems sind es, durch deren Adern ein rothflüssiger Blutsaft treibt; eine
derselben gehört zu den Palmen, der Calamus Draco, die Drachenblutpalme,
welche die hohen Waldbäume Sumatras und der malayischen Inseln über-
rankt. Die schuppigen Früchte dieser stachlichten Kletterpalme schwitzen ein
rotb.es Harz aus, das Drachenblut der Djurnang oder Malaien, welches in seinem
Vaterlande als zusammenziehendes, blutstillendes Mittel noch in hohem An-
sehen steht, in Europa aber allmählich als vollkommen wirkungslos befunden
und von den Aerzten aus der Reihe der Recepte gestrichen ist; es bildet
aber noch einen Hauptbestandteil der Zahnpulver, um ebenso zur Erhaltung
der frischen Rüthe des Zahnfleisches, als des weissen Schmelzes der Zähne
beizutragen, und wird auch hauptsächlich zum Färben von Weingeist und
Terpentin gebraucht. Die natürliche Ausschwitzung des Fruchtharzes giebt
den besten Djurnang; eine untergeordnete Sorte erhält man durch Erhitzung
und Quetschung der Frucht nach Wegnahme des ausgeschwitzten Harzes;
zweifelhaft ist, ob Drachenblut jemals durch Einschnitte in die Pflanze ge-
wonnen wurde. — Andere viele Calamus-Arten, als C. Rotang, C Rudentum,
C. Royleanus etc. , die in allen feuchten Gegenden des tropischen Asjens
wachsen, liefern das spanische Rohr, das sehr viele Verwendungsarten zu
Stahlen, Flechtwerken) Besen u. s. \v. gefunden and für die Gewerbe ein an-
entbehrliches Rohmaterial, wie auch den Kindern schon früh auf dem dorni-
gen Lebensgange durch die Schule ein eben so bekannter, als unbeliebter
Protektor der Disciplin geworden ist.
Wirksamer, als der Djurnang, i^-t die blutstillende Eigenschaft des sammet-
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artigen, filzigen Haarüberzuges der Elaeis melanococca des Magdaleuenstr -
gebietes, der allgemein als Feuerschwamin verwende! wird.
Eine andere Palme der südamerikanischen Cordilleren, die Platcnia Chi-
ragua, enthält in ihren jungen, röthlich gefärbten Blatten) ■ ik schart» Sub-
stanz, die den Fischern zur Betäubung der Fische beim fischfange dient.
Der Saft des Fruchtfleisches der Arenga saccharifera , der Zuckerpalme der
Sundainseln, ist so scharf, ätzend und korrodirend, das* i den Malayen
und früher auch von den Holländern im Kriege zur Srertheidigung benutzt
wurde, während der Kern, der von diesem gefürchteten Fruchtfleische einge-
schlossen wird, als Nahrungsmittel dient,— Das 20— 24 Fuss lange und etwa
fingerdicke Schlangenrohr Neu-Granadas, die Cana de La vibora der Einge-
geborenen, Kunthia montana, enthält La ihren) zuckerhaltigen Satt«- ein Gegen-
gift gegen den Biss giftiger Schlangen; der Saft wird sowohl in die Wunde
geträufelt, als innerlich genommen. Aus dem dünnen Stamme aber verferti-
gen die Indianer die Blasrohre, durch welche sie ihre kleinen, vergifteten
Pfeile abschiessen.
Und nicht allein werden die materiellen Bedürfnis se der Menschen durch
die Erzeugnisse der Palmengewächse gedeckt, nicht allein wird das künstle-
risch blickende Auge und das dem Schönen zugängliche Gemüth durch de«
Aufbau ihrer edlen Formen ergötzt, sondern sie hellen auch das Material
herbeitragen, aus welchem Kunstsinn und künstlerische Hand ideale Genüsse
schaffen und hineintragen in die triviale, alltägliche Interessenwirthschaft.
Das Elfenbein, dessen producirende Riesengeschöpfe die letzte Entwickclungs-
phase unseres Planeten verschlungen hat, und dessen fossilen Reste aus dem
Alluvium der gegenwärtigen Erdrinde hervorgegraben, aber nur im geringen
Maasse von den einzigen Nachkommen der Riesenmammuths und Mastodonte,
dem Elephanten, ergänzt werden, findet ein Aequivalent in dem Produkte
einer Palme, oder doch in einer, der Palme äusserlich gleichen, im inne-
ren Bau sehr nah verwandten Pflanze; das sogenannte vegetabilische Elfen-
bein, der zu einem festen Stein erhärtete, hühnereigrosse Samenkern der
Elfenbeinpalme, Phytelephas macrocarpa und P. microcarpa, gleicht dem Ele-
(.hantenelfenbein so sehr, dass es, soweit seine Grösse es zulässt, statl dessen
verarbeitet und nur von Kennerblicken von demselben unterschieden wird.
Die Phyt. macrocarpa erhebt sich auf einem kurzen, auf dem Boden nieder-
liegenden Stamme über die Erde; die Phyt. microcarpa bleibt stammlos; beide
entfalten einen reichblättrigen Laubschopf; die Fruchtknoten des weiblichen
Blüthenkolbens verwachsen zu einer grossen, kugeligen, kindesko
Sammelfrucht, in welcher die sechs bis zehn, von einer gemeinsamen holzig-
höckrigen Fruchtschaale umschlossenen Früchte in einem schmierig-weichen
Fruchtfleische eingebettet liegen. Jede Pflanze trägt sechs bis acht solcher
Sammelfrüchte; das gemeinsame Fruchtfleisch fault und zersetzt sieh und ent-
lässt die harten Einzelfrüchte, die von den Spekulanten d und auf-
gekauft werden. Das tropisch-heisse Magdalenenstromgebiel Neu-Granadas
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i^t der echte Geburtsheerd der Elfenbeinpalnie; grosse Mengen ihrer Früchte
gehen den .Strom hinunter und werden von den Küstenhäfen nach England
und Nord-Amerika ausgeführt, wo sie von den Drechslern verarbeitet und in
der Gestalt verschiedener Kunst-, Ni[>- und Schmucksachen über die Märkte
der civilisirten Welt verbreitet werden.
So nähren, so kleiden, so schirmen und decken die Könige der Gräser
alle Menschenbedürfnisse, indem sie die äussere Existenz gewinnen, tragen
und erhalten helfen, und das innere Sein durch Betrachtung des Schönen und
Nützlieben in der Natur sittlich- veredelnd durchdringen und durchgeistigen.
Und so tritt der Mensch zur Paline gewisserniaassen in vertrauliche, ver-
wandschaftliche Beziehungen, die zu symbolischen Betrachtungen und Gleich-
nissen, bis zu persönlichen Vergleichen führen; das vermag keine Kreatur,
welche die Natur in die Welt der Erscheinungen gerufen, so, wie sie, welche
die Summe aller Vollendungsbestrebungen der Pflanzenschöpfung ist; die das
Schöne in unlösbarer Verbindung mit absoluter Nützlichkeit in sich zum Aus-
druck bringt; die aus der Anlage des einfachen Grashalmes emporgestiegen
ist zur Fürstenhöhe im Pflanzenstaate, — wie der Mensch aus seinem An-
lagekeim hinan zum Höchsten streben soll. Schon die altgeschichtlichen
Völker stellten neben dem religiösen Palmenkultus derartige inen seh lich-
persönliche Vergleiche an; so schreibt der Perser Cazvini in seinem Buche:
„Merkwürdigkeiten der Welt und Wunder der Schöpfung" : Der Palmenbaum
gleicht in vieler Hinsicht dem Menschen, durch seine gerade schlanke, auf-
rechte Gestalt und Schönheit; durch seine Scheidung in zwei Geschlechter,
das männliche und weibliche; schlägt man ihm den Kopf ab, so stirbt er;
leidet das Gehirn, so leidet der ganze Baum mit; seine Blätter, wenn man sie
abbricht, wachsen so wenig wieder, wie die Arme des Menschen; seine Fa-
sern und Netzgewebe bedecken ihn, wie der Haarwuchs den Mann u. s. w.
Und so ruft Odysseus aus, als er die Nausikaa, die Tochter des Phäaken-
königs Alkinors erblickt:
Nur auf Delos sah ich am Opferaltar des Apollon
Einst ein Palmengespross so jung und herrlich emporblühn,
So, wie dieses ich lang' anschaute staunenden Herzens, —
(Nie ja war desgleichen ein Baum entstiegen der Krde) —
Also bewundre ich Dich, Weib, und erstaun' und scheue gewaltig
Dir die Kniee zu berühren.
Wohl schwebt ein Genius über dem stummen Wesen jeder Pflanze, —
aber er atlimet das Menschengomüth besonders lebensvoll aus der Palme an;
und noch heute wähnt es, in dem Flug der Lüfte: dem Hauche Gottes, der
durch die Blätter rauscht, sie auf- und niederneigt, seine Offenbarungen zu
vernehmen. Fern bleibt den nordischen Gestaden der Sonnenstrahl, der in
dem Scliooss der Erde solche erhabene Erscheinungen zeugt, und das bril-
lantene Luftgeschmeide, das ihr immergrünes Haupt umstrahlt, leuchtet nicht
über unserem dunklen Waldhorizont; aber Kunst und Wissenschaft, reichen
57
sich erfinderisch die Sonde, dem Fremdlinge des fernen Süd auch anter dem
nordischen Bimmel ei€e künstlich-heimische Stätte zu bereiten. Unendlicher
Pleiss, unendliche Anstrengungen und Ueberwindung schwerer Opfer und
Mühseligkeiten, wie die Freigebigkeit regierender Fürsten haben ee Jedem
ohne Unterschied, dem Armen und Niedrigen, wie dem Hohen and Reichen
möglich gemacht, auch in unserer kalten Heimath — wenn nichl unter —
doch /. wischen Palmen wandeln zu können; jedem Freunde >l. r Natur und
Wissenschaft ist der Genuss vergönnt, den Aufbau der edlen Palmenformen
bewundern zu können, den Duft zu athmen, der tropische Waldlüfte füllt, und
sogar die Frucht reifen und keimen zu sehen unter einer Bimmelszone, WO
kein Palmenspross ein natürliches Leben zu fristen vermag.
Was der Menschenwille vermag, wenn eine hohe Idee ihn begeistert,
das zeigen jene Anstalten, die getroffen sind, mitten im Eise des Nordens den
Wald- und Blumenflor des heissen Süden eine Stätte des Lebens zu berei-
ten; wohl aber geziemt es der Dankbarkeit, der Verdienste jener Männer zu
gedenken, deren Aufopferungsmuth, beharrlicher Fleiss und Selbstverläugnung
diese Stätten bevölkert und die reichen Sammlungen aus allen Zonen der
Erde zusammengetragen und zum Allgemeingut der Völker gemacht hat:
Humboldt, Bonpland, d'Orbigny, Spruce, Blume, Wallich, Ehrenberg, Martins,
Pöppig, Hooker, Purdie, Hartwig, Rugendas, Warsewitz, Karsten, Scherzer,
Seemann, Schomburgk, Linden, Wendland, — die Prinzen Neuwied, Walde-
mar, Maximilian, Adalbert u. s. w. u. s. w. ; Manche, die nicht wiedergekehrt,
wie Löffling, Ternström, Banister, Griffith u. s. w. ; noch Andere, die Gesund-
heit und Vermögen zum Opfer gebracht: — sie wird die Geschichte der
Pflanzenkunde und der Gartenkunst im Gedächtniss bewahren, wie das Buch
der Schlachten von seinen Helden erzählt und das Volk seine Dichter ehrt.
Es bliebe, um das Tropenwaldmährchen unserer Gewächshäuser vor dem
sinnlichen Auge noch magischer zu gestalten, nur noch übrig, dass auch die
Wolke der geflügelten, funkelnden Insekten, der Brillant der Schmetterlings-
üttige, der Meteorflug der Leuchtkäfer sich spiegeln möchte in dem dunkel-
saftigen Urwaldgrün-, jedoch, soweit es auch der Menschenwille noch bringen
mag in der Verzauberung von Luft und Erde, jene schwebenden Juwelen der
Lüfte, und den Himmel, der die Palmenheimath umfängt, wird er nie in seine
Wintergärten bannen; zwischen Palmen mag er wandeln, doch das Palmen-
land bleibt ihm ein Traum, — so wie die Palme unter Eichen und Buchen
und so dunklen Fähren sehnsuchtsnah träumen mag von dem ewigen Früh-
ling ihres Vaterlandes.
Nicht, wo die Erde aus dem eignen Grunde,
Mit eignen Kräften in dem Gattenbunde
Beschwingt, beseelt, durchtönt den Schöpfungschor, —
Nein, nur wo sie die himmlischen Gewalten
In Liebesinbrunst heiss umfangen halten,
Steigst, Palme, Du zum Himmelslicht empor!
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Wo Eni und Himmel äneinandertönen
In reiner, voller Harmonie des Schönen,
Pas Todte lebt. Lebendiges sich verklärt;
Wo Licht und Luft die Gluth der Seele tränket,
Wo Himmelsstrahl sich in die Erde senket, —
Dich, Sonnenkiud, der Erdenschooss gebiert!
Aus blauen Höh'u trug Dich ein Genius nieder,
Ein Sonnenstrahl gebarst Du selbst Dich wieder,
Ein Tempel Du dem heil'gen Schöpfungsgeist;
Ein leibgeworduer Hymnus, der in klaren
Und festen Zügen strebt zu offenbaren
Den Geist, den Du in Deinem Bilde preis'st!
Dich in Gedanken, Dich in Formen fassen,
Kann die Gestaltungskraft nicht, die im blassen,
Verwischten, kalten Nebellichte schafft;
Wo Ideales hat Gestalt genommen
Auf Erden hier, da einem andren Bronnen
Entsteiget solche hehre Schöpfungskraft!
Und göttergleich hebst Du aus schlichtem Halme
Dich frei und riesengross empor, o Palme,
Der Kraft und Schönheit Ruhmes-Kapitol !
Mit Dir empor hebst Du die Erde, wieder
Senkt sich in Dir zu ihr der Himmel nieder
Du, ihres heil'gen Bundes stolz Symbol!
O, so wie Du, kann in den dumpfen Gründen
Der Mensch auch nimmer Halt und "Wurzel finden,
Die ihn empor zum reinen Lichte trägt;
Nur, wenn auch er von himmlischen Gewalten
Sich tragen lässt und heben, lenken, halten: —
Sich um sein Haupt die Siegespalme legt!
Wie Du, ist er auch schwachem Keim entsprossen,
Doch wächst er kräftig, freudig, unverdrossen,
Unbeugsam auf, wohin der Lichtstrahl weis't: —
Dann wird auch er in hehren, festen, klaren
Und lichten Zügen herrlich offenbaren
Den Geist, den er in seinem Bilde preis't! —
Franz Engel.
Rubel, Mecklenburg-Schwerin im Oktober 18G9.
Mise eil en.
General L. Faidherbe über den Ursprang der Berbern. General L. Faidherbe hatte in
einem mit sehr interessanten bildlichen Darstellungen (Rassenköpfen, Schädeln u. s. w.) ausge-
statteten Aufsätze*) nachzuweisen versucht, dass man die Libyer (Berbern) weder als Stamm-
verwandte der Afrikaner (Neger, Buschmänner u. s. w.), noch der kananäisehen Chamiteu (Ibu-
Khaldun, II. Martin), noch der Aegypter (Pruuer), noch der Semiten (Quatrefages, Slane, Judas
u.s. w.)j sondern als Stammverwandte der alten Bewohner Westeuropa'* betrachten
müsse.
Derselbe Verfasser hat nun in der ausserordentlichen Sitzung der Societe de climatologic
algerienne vom 28. September 1868 einen Vortrag über die Ethnologie Nordost- Afrika ■. •
welchem wir Folgendes entnehmen:**)
Faidherbe sieftt sich durch neuester Zeit in Aegypten gemachte Entdeckungen iranlasst,
seine in jener früher von ihm veröffentlichten Arbeit über die megalitbisehen Gräber zu Itokuia
dargelegten Ansichten zum Theile zu andern. Verfasser kommt zunächst auf die schon von
Herodot gegebenen Darstellungen der nordafrikanischen Bevölkerungsgruppen dunkelbrauner
Aegypterj weisser Libyer und der „Aethiopier" zurück. Zu letzteren werden die mit nicht
wolligen Ilaaren und fast „semitischen* Zügen versehenen Schwarzen Abyssiniens (Kuschiteu)
nehst den wahren wollhaarigen Negern des oberen Nil und der übrigen Theile des Kontinentes,
zusammengeworfen. Nach jenen Angaben schienen die Libyer und Aegypter weder in Farbe.
noch in Religion, in Sitten oder Sprache etwas mit einander Gemeinschaftlich - zu haben.
Nach Faidherbe linden wir nun Leberbleibsel der uns schon vor 2400 Jahren als Autoch-
tonen genannten Libyer in denjenigen Stämmen, welche die sogenannte Berbersprache
Feher die letztere existiren jetzt die Tuarik- und Kabylgrammatiken des Obersten Hanoteau
sowie das unvollständige, von der algerischen Verwaltung i. J. 1846 veröffentlichte SVört
Alsdann berührt Verf. die schon mehrfach erörterte \nnal • e, dass legypten durch eine schwarze
Menschenrasse von Meroe aus civilisirt worden sei, welche Ansicht aber durch die w
Untersuchungen widerlegt werde. Die aegyptische .ilisation habe sich nicht zu Mein,- unter
dem 17 — 18 , sondern zu .Memphis unter dem 30* n. Fr. entwickelt. Memphis liege noch um
zwei Freitengrade südlicher, als Wargelah, woselbst weisse Leute eben nur noch zu vegetiren
vermöchten. Ueber den 30 n. Fr. hinaus gebe es keine Schwarzen mehr, und diese letzteren
*) Recherches anthropologiques sur les tombeaux megalithiques de Roknia. Bulletin de
l'Academie d'Hippone. No. 4 & 5. Föne 1868.
**) Wir verdanken einen im Moniteur algerien abgedruckten Bericht über diesen Vortrag
der Fiberalitat des Llerrn Verfassers.
60
hätten jenseits desselben deshalb auch kein blühendes Reich gründen können. Welche Rasse
aber habe wohl Thanis öOOO Jahre v. Chr. die erste äegyptische Dynastie geliefert? Das hätte
eine dem China entsprechende, zwischen den Schwarzen und Weissen stehende Rasse sein kön-
nen, wie es ja deren sowohl in Afrika wie auch anderwärts gebe, so z. B die ,Fouls*. Diese
Ansicht, so meint Verf., werde freilich wenig Anhänger finden, indem ,monogenistische" Vorur-
theile jedesmal die Existenz und den Wohuplatz einer Rasse mit denjenigen anderer Rassen und
zwar gewöhnlich Centralasiens in Beziehung zu bringen pflegten. Pruner-Bey habe die grosse-
sten Analogien zwischen den Schädeln ägyptischer Mumien und den vom Verf. den megalithischen
Gräbern zu Roknia entnommenen, unzweifelhaft libyschen Schädeln aufgefunden Wie habe
aber eine libysche Gruppe die herrliche ägyptische Civilisation schaffen können, während die
andere 6000 bis G000 Jahre lang in einem vollkommen barbarischen Zustande gelebt? Jener
biete das Nilthal besonders günstige Bedingungen dar, indessen hätten doch auch die Gebiete
des Atlas, hätte selbst die Berberei von der Natur reich ausgestattete, für die Cultur sehr wohl
geeignete Striche aufzuweisen. Hinsichtlich der Sprachen sei man noch nicht einig; Manche
freilich constatirten eine Uebereinstimmung zwischen Koptischem und Berber, namentlich hin-
sichtlich der Pronomina personalia. Bestätige sich aber eine solche Verwandtschaft, so diene
diese hauptsächlich zur Unterstützung für die Ansichten Pruner's.
Ziehe man nun die biblische Ethnographie in Betracht, so seien hiernach die Aegypter,
Chamiten als Söhne Mi/.raim's, Brüder der ersten Babylonier und der Aethiopen mit nicht wol-
ligem Haar (Abyssinier), der Kananäer (Phönizier) und selbst der Libyer, welche letztere auch
zu den Chamiten gerechnet würden. Da hätte man ja nur Bruderstämme, aus denen eine
schwarzbraune Rasse — wie dies wohl die ersten Babylonier gewesen — eine schwarze
Rasse, nämlich die Aethiopen, eine braune, die Aegypter, sowie eine weisse, Phönizier und
Libyer, hervorgegangen seien*). Wer nun nicht Monogeuist sei und nicht an den unbegrenzten
Einfluss des Mediums auf die Modelung der Rassen glaube, welchen Grad des historischen Ver-
trauens könne ein Solcher wohl auf diese hebräischen Traditionen verwenden, welchen richtigen
Sinn könne er diesen \mterlegen? Oftmals würfen wir die Namen von Stämmen mit denen von
Gegenden zusammen. Selbst für sehr gelehrte Kritiker bezeichneten „Sem, Cham and Japhet"
nicht etwa einzelne Menschen, sondern personificirte Rassen. Es lasse sich die mehr oder we-
niger ausgedehnte Anwendung dieser Bezeichnungen keineswegs begrenzen.
Warum sollten nun die Aegypter den chamitischen Ursprung ihrer Nation nicht gekannt,
warum sollten sie darüber bei ihrer grossen Sorgfalt in Abfassung ihrer Annalen nicht auch
etwas verzeichnet haben? Wenn sie selbst wirklich von einem und demselben Ahnen, wie die Aethio-
pen, abgestammt, so hätten sie doch nur geringe Sympathien für ihre Vettern gehabt, die ja von
ihnen stets mit der verächtlichen Bezeichnung der elenden Rasse von Kusch traktirt worden.
Gewisslich würde nun a priori nichts Widersinniges in der Annahme liegen, dass eine und
dieselbe Rasse die erste bahylonische, phönizische, auch ägyptische Civilisation begründet, alle
die industriösen , handeltreibenden Reiche, Urheber gigantischer Bauten, deren religiöse Dog-
men minder rein , wie die der Semiten, minder poetisch, wie die der Indo-Europäer. Dabei
müsste man wirklich nicht ausser Acht lassen, dass die ursprünglich weissen Aegypter durch
die Kreuzung geschwärzt worden seien,**) durch die Kreuzung mit kraushaarigen oder nicht
kraushaarigen, vom oberen Stromgebiet gekommenen Schwarzen, die freiwillig eingewandert, durch
den Handel angezogen, durch Krieg vertrieben oder als Hülfstruppen angeworben worden.
*) Verf. fügt in einer Anmerkung hinzu: ,(ln a, au moins generalement aujourd'hui, le bon
esprit de ne plus mettre au nombre des Chamites les vrais negres laineux et prognathes."
**) „Ayant lnngtemps vecu et observe dans des pays ou plusieurs races tres dissemblables
vivent aupres l'une de Tautre, j'ai cru remarquer, que le croisement etait la cause de modifica-
tions que certains ethnographes attribuenl ä l'inflnence du milieu. Je citerai pour exemple les
M.'iures noirs du Senegal. Ceci soit dit, sans nier cettc influence dans certaines limites". Anm.
des Verf.
61
Endlich hätten sich die Aegypter auch mit semitischen, ihnen im Osten ihres Reiches be-
nachbarten Bevölkerungen kreuzen müssen, mit den Hyksos-Semiten, die aus Asien gekommen,
wieder dahin zurückkehrten, endlich mit einigen Libyern im Westen. Man vermisse in der
That in den ägyptischen Mumien verschiedener Epochen einen übereinstimmenden Typus.
Verf. bemerkt, dass er auf seine frühere Idee, die Urheber Aegyptens seien „Schwarze" gewe-
sen, verzichte, dass er aber auch deren libyschen Ursprung für keineswegs bewiesen halte. Wo
könnte nun wohl der Ursprung der libyschen Rasse, auf der atlantischen Halbinsel, d. h. Marokko,
Algerien, Tunesien und Tripolitanien sein, die, getrennt vom eigentlichen Afrika durch die Sahara,
von Aegypten und Asien durch die libysche Wüste, mit Europa über Gibraltar vereinigt gewesen,
einer Rasse , die noch in das früheste Alterthum hineinrage. Konnten nun nicht anfänglich
diese Völkerschaften e:n homogenes Ganze bilden, und dennoch mehreren Rassen angehören?
Verf. macht dagegen auf die so bemerkenswerthe Einheit der Sprache aufmerksam, die von Aegypten
bis zum atlantischen Ozean, vom Mittelmeere bis zum Sudan herrsche. Aus dieser gehe doch
mindestens hervor, dass wenn auch einige Bruchtheile fremder Nationen sich in diese Gegen-
den zu irgend einer Zeit eingedrängt, ihre Sprache mitten in der Masse Ureingeborner ver-
schwunden sei.
Zur Stütze einer mangelnden Homogenität der Rassen ziehe man stets die Existenz blonder
Leute inmitten einer gemeinhin schwarz- oder braunhaarigen, schwarz- oder braunäugigen Be-
völkerung in Betracht. Den „Polygenisten" und zu diesen rechnet sich der Verfasser nicht durch-
aus, widerstrebe es jedoch in einer reinen Rasse, das Vorkommen brauner und blonder Indivi-
duen z\igleich zuzugeben.*)
Gäbe es nur wenige blonde Individuen in diesen Gegenden, so könnte man ihre Existenz
auf den Einfluss der vielen in den Barbareskenstaaten lebenden Renegaten schieben. Aber jene
Blonden fänden sich nicht nur zerstreut und in Nähe der Küstenstädte, sondern selbst innerhalb
wohl gruppirter Tribus, wie z. B. im marokkanischen Rif, im algerischen Aures u, s. w. Am
häufigsten habe man die Ursache dieser Erscheinung der Eroberung Afrika's durch die Vandalen
und deren einhundertjähriger Herrschaft daselbst zugeschrieben. Diejenigen unter ihnen, welche
durch die Griechen besiegt und vertrieben worden, hätten nur eine Handvoll ihrem letzten Kö-
nige treugebliebener Krieger gebildet. Aber es hätten sich durch 100 Jahre die Vandalen im
Lande ausgebreitet und der Bevölkerung beigemischt, sie hätten Gruppen bilden müssen, was
besonders im Aures geschehen. Sicherlich existirten noch Reste ihres Blutes hier und da im
Lande.
Aber selbst diese Thatsache könne nimmer die Abstammung der blonden Menschen aufklä-
ren, weder der in Marokko noch der nach Angaben der Alten im Osten, vor dem vandalischen
Einfalle, lebenden.
Für Nuinidien und für die etliche Jahrhunderte vor Christus beginnenden Zeiträume könne
man einen Ursprung der Blonden als möglich und selbst wahrscheinlich annehmen, indem man
sie von gallischen Söldnern der Karthager ableite, die zahlreich genug, sich theilweise unzwei-
felhaft im Lande niedergelassen und Nachkommen gezeugt.
Selbst die Römer hätten ja gallische Truppen unterhalten und in römischen Colonien hät-
ten sich sicherlich Gallier aufgehalten. Aber die ägyptischen Monumente deuteten auf die
Existenz sehr zahlreicher blonder Menschen in Libyen und zwar schon vor 3300 Jahren, gegen
das erste Bestehen phönizischer Handelsstationen in Afrika, hin, zu einer Zeit, wo diese Krämer
noch nicht über Soldtruppen verfügten. Die blonde Rasse wäre den alten Aegyptern unter dem
*) Wir finden aber doch in rein italienischen Familien auch blondhaarige, unter reinen
Innerafrikanern röthliche und blonde Individuen , ja Familien (namentlich in braunen Tribus),
wir finden unter den reinen, schwarzhaarigen Indianerstämmen der (jetzt erloschenen) Mandan
und der Schwarzfüsse ebendergleichen, wir finden in rein germanischen blonden Familien dagegen
wieder schwarzhaarige Individuen u. s. w. u. s w. Obiger Ausspruch Faidherbe's erscheint
uns allzu schroff hingestellt. D. Uebers.
62
Namen der Tarahu bekannt gewesen, nun sei es zwai nicht völlig bewiesen, ob dieser Name für
Libyer wie Pelasger gegolten, indessen sei das doch wahrscheinlich. Für später existire kein
Zweifel; so heisse es zur Zeit der XIX. Dynastie, etwa 1-400 Jahr vor Christi Geb., d. h. etwas
vor Moses Zeit: es sei aus den westlich vom Delta gelegenen Landen, eine Horde Nomaden mit
blauen Augen und blonden Haaren von den Inseln des Mittelmeeres nach dem afrikanischen Fest-
lande gegangen, habe die Nordprovinzen Aegyptens bedroht und sei nur mit grosser Mühe durch die
ägyptischen Streitkräfte aufgehalten worden (Mariette). Diese Eindringlinge, deren Haupttheil
aus Libyen hervorgebrochen, hätten auch aus Pelasgern bestanden; ihr Häuptling wäre Maur-
muiu, König der Libyer gewesen. Diese Libyer hiessen in den ägyptischen Texten Lebu und
Maschuasch, beides Stammnamen, Nationalbezeichnungen, nicht Geschlechtsnamen wie Tamhu.
Die Maschuasch seien des Herodot Maxyes. Unter der XX. Dynastie bringe Rhamses III die-
sen selbigen Libyern blutige Niederlagen bei.
Unter der XXII. Dynastie, etwa 1000 Jahre v. Chr., hätte die Königl. ägyptische Garde,
die sonst, Namen nach zu urtheilen, aus Assyriern bestanden, auch Maschuasch, nicht aber
Aegypter, in ihren Reihen gezählt.
Seit Ende dieser Dynastie, d. h. 800 Jahre v. Chr., hätten eine Menge kleiner Häuptlinge,
welche aus solchem libyschen Kriegsvolke hervorgegangen, die königlichen Städte occupirt und
wären die wahren Meister Niederägyptens geworden. Ihre Heersäulen hätten es den damals am
Gebel-Barkal ansässigen äthiopischen Königen gestattet, sich Aegyptens zu bemächtigen.*)
Nach Aufhören der äthiopischen, 50 Jahre lang andauernden Herrschaft, sei Aegypten im
Norden unter der Dodekarchie zwischen Aegyptern selbst und libyschen Maschuasch getheilt,
die Thebaide aber sei den äthiopischen Herrschern tributär gewesen. Einer der Dodekarchen,
Psamtik, der die Königsherrschaft wieder hergestellt und der XXVI. Dynastie das Dasein gege-
ben, sei vielleicht einer jener Maschuasch der ägyptischen Truppen gewesen. Damals sei die
Kriegerkaste, die sich schon lange erniedrigt und verletzt gefühlt, an 200,000 Mann stark aus-
gewandert, ein Zeichen, dass die Aegypter den äthiopischen Schwarzen, näher als den libyschen
Weissen verwandt gewesen. Als nun das ägyptische Reich, nach 5000jähriger Dauer, in Ver-
fall gerathen, als es nicht mehr fähig erschien, nationale Dynastien hervorzubringen, oder seine
Unabhängigkeit zu wahren, welche Rassen hätten sich nun um seine Trümmer gestritten? Die
Schwarzen des oberen Nil hätten die XXV., die weissen Libyer die XXVI. Dynastie geliefert.
Es sei 1JJ00 Jahre v. Chr., d h. ein oder zwei Jahrhunderte, nachdem die Phönizier ihre
Comptoire zu Cambe und Hippone gegründet, eine blonde Rasse am libyschen Gestade zahlreich
und mächtig genug gewesen, um gegen Aegypten in's Feld rücken zu können. Wer seien wohl
diese Blonden gewesen? Die freilich etwas vagen ägyptischen Berichte schienen zu besagen,
dass Jene über die Inseln des Mittelmeeres nach Libyen gekommen seien. Es stände nun zwar
der Annahme nichts entgegen, dass diese blonden Libyer auch hätten Autochtonen sein können.
Allein Verf. schliesst, dass dies nicht der Fall gewesen, dass vielmehr die Blonden von Norden
her über die Strasse von Gibraltar, die Inseln und Halbinseln des Mittelmeeres gesetzt. Das sei
die Meinung Henry Martins. Dieser halte blonde Arier für die Erbauer der megalithischen Grü-
ber Numidiens. Dieselben hätten sich endlich mit den chamitischen Libyern verschmolzen.
Die letzteren aber stammten aus Asien.
Alex. Bertrand dagegen halte die megalithischen Gräber für das Werk einer Rasse, welche
vor einer arischen Invasion von Küste zu Küste geflohen sei, und zwar von Asien her durch
Nord- und West-Europa bis nach Numidien. Da könne man freilich immer noch die Existenz
einer autochthonen Libyerbevölkerung zulassen, die jenen Flüchtlingen voraufgegangen; die Epoche
solcher Ereignisse sei freilich nicht festzustellen.
*) Verf. wirft hier die Frage auf, ob wohl die vom dritten Könige der äthiopischen (XXV.)
Dynastie, Tahraka, bekriegten Libyer eine Schrift angenommen, etwa diejenige der Stelen, deren
Inschriften von uns libysche genannt zu werden pflegten, von welcher etwa die Tuarik noch
Spuren bewahrt?
63
In Bertrand's Systeme könne man zustimmen, dass Libyen vor allen von Norden her gekom-
menen Einwanderungen bevölkert gewesen, es sei nun, nach des Verfassers Meinung, durch eine
atlantische autoclitone, es sei durch eine nicht semitische, aus Asien gekommene Rasse; ferner
die Ankunft nicht arischer Flüchtlinge, Gründer der megalithischen Denkmale, endlich die Ankunft
blonder Arier, welche in der Bevölkerung Spuren ihrer Rasse zurückgelassen und Niederägypten
erobert
Wäre nun, fragt Verf., die Berbersprache diejenige der Bertrand'schen, Dolmen erbauenden
Flüchtlinge oder der diesen voraufgegangenen Libyer gewesen? Im letzteren Falle wäre die
Sprache der Dolmenleute verschwunden Man gelange so immer wieder zu einem linguistischen
Probleme; Faidherbe wolle sich nicht IL Martin's Meinung über den arischen Ursprung der
Rokniagräber anschliessen, in denen die Bronze nur ausnahmsweise (in Form einiger armreif-
artig gewundener Drähte und zwar nur einmal unter zwanzig Fällen) vorkomme.
Diese Gräber möchten wohl aus der Zeit des Einfalles blonder Menschen in Libyen her-
datiren (gegen 1400 v. Chr.). Dreierlei Umstände schienen hier nämlich gleichzeitig obgewaltet
zu haben: 1) der Angriff blonder Horden auf Niederägypten; ein solcher sei durch die ägypti-
schen Annalen sichergestellt. 2) Die Einführung der Bronze nach Libyen durch Vermittelung
der ersten, in dieser Epoche mit Sicherheit entstandenen phönizischen Handelsplätze. 3) Die
Erbauung der megalithischen Gräber Libyens, in denen sich etliche grobe Bronzesachen als sel-
tene und kostbare Dinge den Begrabenen mitbeigegeben fänden.") Dieses Zusammentreffen
würde zwar zur Stütze der Ansichten Martin's dienen können, dennoch habe Verfasser ernste
Einwürfe zu machen.
Diese Necropolen von 3000 Gräbern zu Roknia, von 2000 derselben zu Mazela**), wiesen auf
Bevölkerungen, welche die Hochthäler eine Reihe von Jahrhunderten hindurch bewohnt gehabt.
Könnten sie dagegen wohl Werke nomadischer Eindringlinge gewesen sein? Man dürfte viel-
leicht annehmen, es hätte sich ein Theil dieser Horden im Lande fest niedergelassen Aber
warum sollte man dann nicht auch in Unterägypten, woselbst doch die Blonden sich ansässig
gemacht und geherrscht, wenigstens eine gleiche Anzahl solcher megalithischer Gräber vorfinden?
An Steinen habe es in Aegypten, dem Schauplatze so gigantischer Bauten, wahrlich nicht gefehlt.
Würde man behaupten können, dass diese Völker, als sie nach Aegypten gekommen, als sie
hier eine höhere Kultur gefunden, auf ihre Sitten und Gebräuche Verzicht geleistet?
Verf. glaube vielmehr, diese Necropolen seien diejenigen libyscher Ureingeborner , einer
schwarzäugigen und schwarzhaarigen Rasse von Troglodyten, in welchen jene blonden Eindring-
linge aufgingen, ihre Sprache und ihre Gebräuche verloren, wenn man auch unter den Libyern
selbst jetzt noch, als Reste alter Kreuzungen, Individuen von dem blonden Typus vorfinde.
Um die Frage der megalithischen Gräber in Nordafrika aufzuhellen, müsse man ihre Ver-
breitung vollständig kennen lernen. Ob dieselben nun in Marocco existirten, habe Verf. trotz
aller aufgewandten Mühe nicht in Erfahrung zu bringen vermocht.
*) Verf. hatte in seiner Arbeit über Roknia behauptet, dass man in der Berberei bisher
noch keine Anzeichen eines Steinalters gefunden. Spätere Untersuchungen hätten ihn aber Fol-
gendes kennen gelehrt: 1) Besitze das Museum zu Algier eine Art runder Axt, von Dr. Reboud
zu Djelfa gefunden, ferner acht Objecto, Beile, Messer, Pfeile und Säge von Guyotville. 2) Finde
sich bei der Bergwerksdirection zn Oran eine von Pomel zu Thessalah gefundene Axt. 3) Sei
in dem Gebel-Aures eine Axt gefunden, deren weiteres Schicksal Verf. nicht kenne. 4) Fänden
sich im climatolog'schen Museum zu Algier fünf kleine geschnittene Feuersteine aus der von
Dr. Bourjot an der Pointe - Pescade entdeckten Grotte. 5) Habe Nicaise ein Steinbeil in der
grossen Kabylie, 6) hätten Letourneux und Bourguignat drei geschnittene Feuersteine im Sersu
gefunden. 7) Habe Feraud ihm, dem Verfasser, mitgetheilt, dass sich im Museum zu Constan-
tine eine Steinaxt finde, welche mit etwa zehn anderen im Wed-el-Klab entdeckt, dass Cristy
viele Fragmente grob zugerichteter Feuersteine um die Dolmen von Bu-Merzug und zwei Feuer-
steinmesser in einer tieferen, diesen letztgenannten Dolmen benachbarten Schicht gefunden.
Es gehe daraus hervor, dass auch in der Berberei ein wirkliches Steinalter gerade so wie
in Europa existirt habe. ,
*•) Vergl. Catalogue des monuments prehistoriques de l'Algerie von Letourneux. In Mate-
riaux pour l'histoire primitive et naturelle de l'homme. V. Ann. p. 427 ff.
64
Faidherbe empfiehlt alsdann die Ausarbeitung eines vollständigen Wörterbuches der Berber-
sprache aus allen Gegenden zwischen Aegypten und dem atlantischen Ozean , zwischen dem
Mittelmeer und dem Sudan, Gegenden, in denen man berberische Pialecte spreche. Ein
solches Unternehmen würde zwar mehrere Jahre kosten und nur auf Betrieb der Regierung-
ausführbar sein Alsdann werde es sich im Ernste zeigen, ob es einige Verwandtschaft zwischen
dem Berberischen uud Koptischen gebe*).
Endlich spricht Verf. von Hooker's Berichten über eine, megalithische Denkmäler erbauende
Völkerschaft Innerasiens. Wenn, so schliesst Jener, dieses Dolraenvolk aus seinen jetzigen
Wohnsitzen durch Nord- und Westeuropa nach Numidien gezogen wäre, so würde die Idee von
einem arischen Ursprünge desselben dadurch ihre Stütze finden können.
P. Broca hat in der Sitzung der anthropologischen Gesellschaft zu Paris vom 15. Juli d. J.
einen Auszug des Faidherbe'schen Aufsatzes mitgetheilt. In der sich anschliessenden Discussion
bemerkte Giraud de Rialle, dass die vom General erwähnten Dolmen Maroccos sich in wesent-
lich berberischen, fast unabhängig gebliebenen Gegenden vorfänden Nach Semalle wären unter
den Canarien zwei oder drei Inseln, deren Bewohner zum sehr grossen Theile blond und vom
Guanchen-Stamme seien. Mortillet sprach seine Verwunderung darüber aus, dass man die
Leute, welche die Dolmen nach Afrika gebracht, aus Sicilien und Italien kommen lasse, woselbst
es doch gar keine Dolmen gebe. Viel natürlicher würde es sein, wenn man ihre Herüberkunft
von der iberischen Halbinsel herleitete. Die Dolmen zögen von Frankreich über Spanien und
besonders Portugal nach Marocco und Algerien , das Vorkommen derselben zeige sich in einer
fast zusammenhängenden Linie. Lagneau meinte, wenn die Lebu und Maku, die Aegypten über-
fallen, vom Ufer eines cyrenäischen Sees gekommen, so entstehe die Frage, ob dieser See nicht
ein zur Zeit trockenes Meer gewesen. Derselbe constatirte übrigens ds Vorkommen etlicher
blonder Individuen auch bei den Tuarik. Nach dem von Broca gegebenen Schlussresume wären
zwei Dinge nach Afrika gebracht worden, die Dolmen und die blonden Leute. Nach allen Vor-
lagen stammten diese Dinge von Europa her. Es sei geschichtlich erwiesen, dass 1400 v.Chr.
aus Westen gekommene Blonde Aegypten angegriffen. Neuere Untersuchungen lehrten uns, dass
gegen 1500 v. Chr. eine Volksmasse von Asien her nach Europa gedrungen sei. Man dürfe nun
wohl eine Beziehung zwischen diesen beiden Ereignissen annehmen und sei jene Invasion Aegyp-
tens durch Blonde -wohl nur eine ferne Wirkung der esten Einwanderung einer Ariermasse
nach Europa.")
In der Sitzung vom 29 Juli zeigte P. Broca die Photographie eines blonden Kabylen
vor. Dieselbe rührt von einem nach Paris gekommenen Turco her, und bietet ein sonderbares
Gemisch „negritischer und europäischer" Züge dar. Die dicken Lippen, die vorspringenden
Jochbeine und die sehr ausgesprochene Prognathie afrikanisch, die blonden Haare, blauen Augen,
die Adlernase dagegen europäisch. Dieser Mann dürfe das Produkt einer sehr alten Kreuzung
sein, denn die Züge, anstatt ein Resultat aus zweien Typen, seien nur zum einen und anderen
Typus zurückgekehrt.***)
Specielleres Eingehen auf diese interessanten Fragen behalte ich mir für eine andere Ge-
legenheit vor.
Nach Letourneux sollen übrigens in der Kabylie früher die verbündeten Stämme als Wahr-
zeichen wichtiger Beschlüsse an den Orten, wo ihre Rathsversaramlungen stattgefunden, Kreise
von Steinen aufgerichtet haben, symbolische Archive, welche gewissermaassen die Tradition von
*) Die Verwandtschaft zwischen beiden Sprachen ist übrigens bereits so vollständig erwiesen,
dass es jener grossartigen Vorbereitungen, wie der General sie in Anregung bringt, keineswegs
mehr bedarf. A. d. Uebers.
**) Materiaux pour l'histoire primitive et naturelle de l'homme. V. Ann. p. 2-43
***) ? L. c. p, 336. Ich meincstheils erkenne in Broca's Darstellung bis auf die blonden
Haare nur das schlichte, typische Bild des echten nordafrikanischen B e r b e r n , wie ich dasselbe
bei den algerischen Pilgern und auch bei den Turcos beobachtet. D. Uebers.
65
Alter zu Alter fortgeerbt. Dem Bericht eines Marabut der Beni-Rotn zufolge seil der letzte der-
artige Menrhir vor etwa 130 Jahren aufgerichtet worden sein.*)
. R. Hartman».
Dr. Schweinfurth schreibt mir vom 10. Juli 1869 aus der Seribah des Kopten Ghattas im
Djur-Lande folgende, in ethnologischer Beziehung interessante Daten : „Ich habe es hier mit drei
verschiedene Sprachen redenden Völkerschaften zu thun, den Djur- (nicht Dschur!*), den B
und denDinka-Stämmen, welche verschiedene Namen führen, von denen der genannteste „Djanghe"
ist. Sobald ich meine bisher gemachten Sammlungen zur Maschera (e'-Rek) expedirt haben
werde, will ich mich namentlich an das Studium dieser Sprachen machen, bisher war ich zu
sehr (mit Botanisiren, Maceriren von Schädeln, Skeleten u s. w.) überladen. Vocabularien und
zwar recht vollständige, würden sich mit geringer Mühe vermittelst der von den Seriben- Ver-
waltern besoldeten Dragomane herstellen lassen. Auch Niam-Niam sind da, die arabisch reden.
Dann sollen die Körpermessungen vorgenommen werden, zu denen ich mir bereits die Tabellen-
schemata zurecht gemacht habe. Letztere werden sehr interessante Resultate liefern, da man
hier sehr eigentümliche Formen wahrnimmt, namentlich bei gut ausgewachsenen Weibern fast
ausnahmslos colossal entwickelte Fettpolster im Gesäss, die ein vollständig pavianartiges Aus-
sehen geben, da sie stets einen langen Schwanz von Rindenbast tragen, der zwischen
den Beinen durchgezogen wird und zugleich die Schaam verhüllt. Auch kann ich mit Massen
operiren, denn hier sind immer einige 300 bis 500 Sklaven auf Lager, abgesehen von den dienst-
baren Sklaven, die noch weit zahlreicher sind, sowie schliesslich die in der Nachbarschaft ange-
siedelten Neger, zusammen mindestens 5000, mit denen ich machen kann, was ich will. Die
Schädelausbente wird hier vielleicht gering sein, da diese Wilden ihre Leichname sorgfältig be-
graben und ich die Raubzüge nicht mitmache. Schliesslich werde ich einige Gräber öffnen
müssen, woraus sich meine Leute keine Skrupel machen. Ich habe einige Köpfe gezeichnet und
diese Versuche in einem mir ganz neuen Genre machten so schnelle Fortschritte, dass ich grosse
Lust daran finde und mich eifrig an's Portraitzeichnen begeben will. Diese Bilder werden in
Europa sehr viel Interesse erwecken, da sie uns einen ganz neuen Typus der Bewohner Afrikas
vorführen. Lcjean hat im Tour du Monde zwei Portraits von angeblichen Niam-Niam gegeben.**)
Um's Himmels willen soll man sich dieselben nicht so vorstellen, sie sehen ganz anders aus.
Diejenigen, welche ich bis jetzt gesehen, und ich sah ziemlich viele in den verschiedenen Seri-
ben, waren wohlgestaltete, mittelgrosse, 5£ Fuss hohe, wohlbeleibte Menschen mit stets langem
Oberkörper (was auch bei den heller als die anderen Rassen gefärbten Bongo oft vorkommt).
Ihre Physiognomie hat einen ungemein rohen und plumpen Ausdruck, nicht ohue einen Anflug
von Gutmüthigkeit, etwas Offenes, Vertrauenerweckendes. Sie haben nicht die thierisch-wilde
Grausamkeit auf den Zügen, wie die schwarzen Neger. Ihre Farbe ist röthlich-braun bis braun-
schwarz, wie die der Bongo, ein Ton, welcher, obgleich von derselben Tiefe, wie er bei Nubiern
vorkommt, dennoch von dem der letztgenannten bedeutend verschieden ist Die Nubier haben
eine reine braune Guttapercha-Haut, diese Neger dagegen eine schmutzige, kupfrige Färbung***),
die sich noch deutlich au den Mischlingen, von denen die Seriben wimmeln, erkennen lässt
Bei allen Niam-Niam, die ich sah, liegen die Augen weit auseinander, fast so weit auseinander.
wie die Nasenspitze von ihnen entfernt ist.f) Der Kopf ist breit und das Gesicht ist fünf-
*) L. c. p. 425.
**) L. c. 1865, II, p. 227. Uebrigens hat Lejean hier nur ein angebliches Niam-Niampoi
trait geliefert, das andere daneben gedruckte soll einem Fertit angehören, ist aber seinem mir
wohlbekannten Typus nach ein gewöhnlicher Furauer aus den mittleren Provinzen von Dar-Fur.
Dass übrigens oben erwähnter Niam-Niamkopf Lejean's keine Bedeutung habe und weit eher auf
einen Botokuden, als auf einen jener Centralafrikaner passte, das Hess sich von vornherein ohne
Schwierigkeit ergründen.
***) Wie die der Bagara, 'Kababisch, vieler Gala, Södama. H.
+) Ganz ähnlich habe ich es bei Gala uuu Södama gesehen. H.
5
66
kantig wegen der breiten Jochbögeu. Die Augenbrauen sind schräg gestellt und geschweift, die
völlig mandelförmigen Augen ebenfalls schief gestellt, die Nase fast eben so breit als lang, brei-
ter als Loch, der Mund breit und mi* dieken Lippen. Was mir nun am Schädel am meisten
auffiel, war das häutig starke Hervortreten der oberen Augenbögen und die wulstige Erbebung
dei Grlabella fibei der Nasenbasis, in welchen Stücken eine Analogie mit dem sogen. „Neander-
schädel" sehr nahe lag. Im Gau/.en genomiueu haben diese Niam-Niam mehr Mongolisches in
ihren Zügen, als Aeihiopisches. Wie lebhaft erinnerten sie mich an die Baschkiren, Kalmücken
u. s. w., ilii ich gesehen! Ich bin nun vollkommen von Ihren und Dr. Fritsch's Ansichten über
ilie sogen. „Negerrasse" überzeugt, [eh habe Beweise gesammelt, dass die Farben gar keinen
Werth für die l nterscheidung der Rassen besitzen. Bevor man kein eigenes Spectrum zur
Feststellung der verschiedenen Farbennüancen und Töne der menschlichen Haut besitzt, wird
man überhaupt keinen Werth auf dieses Merkmal legen können. Und wie trügerisch ist die
äussere Betrachtung der Hautfarbe bei den .Menschen, wie sehr wird sie durch Schweiss, Fett
und Schmutz bei diesen dunkelgefärbten Rassen alterirt. Ebenso ungewiss wie die natürliche
Farbe eines Eskimo oder Jakuten festzustellen, erscheint dies namentlich bei den Negerstämmen
des weissen Nil. deren Toilettenkünste auf Asche, Kuhmist u. dgl. basiren. Der angeblich bläu-
liche Schimmer der Negerhaut ist reine Einbildung Ein entaschter Schiluk hat einen bläulichen
Anflug von der an den Hautschüppchen hängen gebliebenen Asche, aus dem Wasser steigend
zeigt er das reinste Schwarz, welches in der Sonne deutlich braun schimmert und mit Oel ein-
gerieben, ist er völlig nussbraun. Von den Bongo brauche ich nicht zu reden, da sie geölt völ-
lig kupferroth. Aber die dunkleren, gewöhnlich ganz schwarz erscheinenden Djur zeigen ein
deutliches Braun, sobald sie schwitzen oder mit Fett eingerieben sind. Wohlgeformte Köpfe
sind allerdings sehr selten, kommen indessen vor. Die Bongo sind unstreitig die wohlgebilde-
testen unter allen diesen Leuten". Wenn ich nun auch nicht gerade alle hier über die Haut-
farbe gethanen Ansprüche meines trefflichen Freundes unterschreiben möchte, so kann ich doch
meine Freude nicht verhehlen, dass er auch für die von uns vertretenen Zwecke durch osteolo-
gisehe Sammlungen (vgl, Jahrgang 1869 S. 185 dies. Zeitschrift), Körpermessungen, durch son-
stige Beobachtung der physischen Eigenheiten, durch Aufnahme von Portraits, endlich durch
Beobachtung der Sitten und Gebräuche afrikanischer Stämme so rüstig zu wirken bestrebt ist.
Gerade seine l'ntersuc hungert über die Niam-Niam werden uns ein weit wissenschaf tliche-
res Ergebniss liefern, als die nur dürftigen Notizen eines Lejean, Piaggia U.A., ganz abgesehen
von denen jenes Europäergesindels, welches längs des Nils fälscht, stiehlt, mordet, dabei aber
noch frech genug ist, „umfangreiche geographische" und ethnologische Untersuchungen in die
Welt spediren zu wollen. R. Hartmann.
Dr. S. Marcuse erhielt bei 3030 den Journalen der Universitäts-Entbindungsanstalt zu Berlin
entnommeneu Notizen über Schwangere als durchschnittliches Lebensalter für den Eintritt der Men-
struation die Zahl 16, '28. l.'nter den 3030 Personen waren aus Berlin gebürtig 370; bei diesen
war das durchschnittliche Lebensalter für die erste Menstruation 14, 59. Seit dem 10 Jahre
wurde der Eintritt der Menstruation in vier Fällen beobachtet (Ref. kennt einen Fall, in wel-
chem die Menstruation bei einem verzärtelten 8^jährigen blonden Mädchen eintrat, regelmässig
bis zum 11 anhielt, dann bis 12| Jahr sehr unregelmässig, mit mehrmonatlichen Pausen, statt-
fand, von 12% Jahr an jedoch wieder regelmässig wurde. Die Brüste zeigten übrigens erst vom
11 Jahre an einige Entwickelung. Das Mädchen ist jetzt 14}_> Jahr alt, für ihr Alter sehr gross,
schlank, übrigens vollkommen gesund). Für die grossen Frauen fand Marcuse das durchschnitt-
liche Lebensalter 16, 23, für die kleinen IC, 28, für die mittelgrossen 16, 47. Danach würden
grosse Frauen am frühesten, tnittelgrosse am spätesten menstruirt. Für mittelgrosse Blondi-
nen wäre das mittlere Lebensalter für den Eintritt der Regeln 16,33, für mittelgrosse Brünette
15. 63, für klein. Blondinen 17, 11. für kleine Brünette 16, 81 (Beide letztere Kategorien, nach
spärlicherem Material aufgestellt).
67
(Ueber den Eintritt der Menstruation, nach Angabe von 3030 Schwangeren in clei Konig]
Uiüversitäte-Entbindungsanstalt zu Berlin, Inauguraldissertation. Berlin 1869 . H.
Zur besseren Veranschaulichnng der geographischen Verbreitung der Bluterkrankheil (Ha
mophilie) hat Dr. R. Assmann folgende Tabelle nach Grandidier mit hinzugerechneten eigi
obachteten und erkundeten Fällen aufgestellt :
Land.
Bluter-Fami- i Einzelne
lien. Bluter.
Männer.
Frauen.
Deutschland
77
9
2
Frankreich
17
Grossbritannien ....
36
Schweden u.
Dänemark . .
6
Russland u.
Polen . . .
8
20
Java .
1
247
227
20
45
45
—
9
7
o
43
42
1
88
80
8
13
8
5
14
11
3
57
55
o
5
5
-
Summa
176
521
480
41
Verf. fährt fort: „Die meisten beschriebenen Fälle kämen also auf Deutschland, demnächst
auf Grossbritannien, dann auf Nord-Amerika. Assmann möchte die Hämophilie als «ine dem
anglo-germanischen Volksstamme ganz vorzüglich eigenthümliche KrankheiJ ansehen, wäh-
rend sie den slavischen und romanischen Volksstämmen s0 gut wie fremd, bliebe. Wenigstens
hätten umfassende, im Sommer 1854 durch Adelmann angestellte Versuche für Russland ein
meist negatives Resultat gegeben. Ebenso selten scheine die Bluterkrankheit im Süden Europa's
zu sein, wenigstens fänden sich nirgends Fälle aus Spanien, Italien, Ungarn, Griechenland und
der europäischen Türkei erwähnt. Der Schweiz gehörten 9 pCt. aller bekannten Fälle an, unter
denen sich nicht ein einziger Q Bluter befände Auf Frankreich kämen 8'o pCt., doch sei hierbei
wissenswerth, dass die meisten dieser Beobachtungen aus pariser Hospitälern stammten, weshalb
man jene Zahl nicht ohne Weiteres als für Frankreich stricte gültig annehmen könnte. Holland
und die Skandinavischen Reiche lieferten nur ein kleines Kontingent zur Statistik, doch sei es
erwähnenswerth. dass in einem Dorfe bei Christiania eine Bluterfamilie wohne.
Aus anderen Welttheilen existirten, ausser Nord-Amerika und dem vereinzelten Falle auf
Java, gar keine Beobachtungen. Es sei zweifelhaft, ob diejenigen, welche Abul-Kasim gegeben,
wirklich zur Haemophilie gehörten. Refer. bemerkt hierzu, dass man von einigen Seiten über
eine in Sudan herrschende Hämophilie gesprochen. Es ist dies aber nur die hei daselbst skor-
butisch und typhös Erkrankten eintretende D;sposition zu leicht erfolgenden Blutungen, welche
mit Abnahme der Krankheit wieder aufhört und selten noch in geringem Grade Wochen, Mo-
nate, Jahre nachbleibt. Diese Erscheinungen haben jedoch mit der eigentlichen Haemophüie
nichts zu thun.
Assmann schliesst: „Die geographischen Grenzen Hessen sich also bestimmen nach Norden
61° n. Br. bei Christiania, nach Süden durch Palembang. Demnach scheine die Hämophilie der
nördlichen Hemisphäre ausschliesslich anzugehören. Eine Elevationsgrenze hisse sich nicht
feststellen, da die Krankheit in den Tiefebenen Hollands und Norddeutschlands noch in der Höhe
von 5000' zu Tenna in den rhätischen Alpen beobachtet worden sei." (Die Hämophilie. Inau-
guraldissertation. Berlin 1869.) H.
68
Tb. Kotschky schreibt in seinem Tagebuche vom 6. Dez. 1837: Abu-Ramla ist ein Berg an
der abyssinischen Grenze and nur zwei Tagereisen von Roseies entfernt. Der daselbst wohn-
hafte Stamm heisst Hammedz, Schekh desselben ist Edrys Wod-Adlan.*) Araber giebt es da-
selbst nur sehr wenige. Die Bewohner von Abu-Ramla verhängen sehr grausame Strafen über
Zauberer und Diebe. Ist. eines dieser Subjecte gefangen worden, so legt man selbiges hin,
zieht ihm Haut und Haare von der Hirnschale ab, schmiert den Körper mit Honig ein, und
bringt es so lange auf einen grossen heissgemachten Stein, bis Delinquent zu Tode ge-
braten ist. H.
Bücherschau.
J. P. Madsen: Antiquites prehistoriques du Danemark. L'Age de la pierre.
Copenhague 1869. 1 vol. fol. 19 S. und 45 Taf. Verf. giebt zu Anfang seines Bu-
ches eine kurze Uebersicht über Stein-, Bronze- und Eisenalter, daran schliesst derselbe eine
compendiöse Darstellung der Hauptindustriezweige, der Leichenbestattung u. s. w. der alten Dä-
nen. In dem Artikel L'Age de la pierre werden die Sitten und Gebräuche der dänischen Stein-
menschen noch etwas weiter ausgeführt. „On n'a pas encore constate que les habitants de
läge de la pierre de Danemare ont partique l'agriculture et qüils ont elevö des bestiaux; il
paraitrait plutot qu'ils vivaient exclusivement de la chasse et de la peche". S. 8 und 9 geben
uns eine gedrängte Abhandlung über Küchenabfälle, Affaldsdynger og Kjoekkenmoeddinger. Auf
SS. 10 — 14 treffen wir eine etwas ausführlichere Besprechung der Dolmen und Dolmenfunde,
letztere wird im folgenden Abschnitte, ,Trouvailles reunies" betitelt, (S. 14, Th. I) noch mehr aus-
gedehnt. Die Figurenerklärung findet sich im Texte selbst; eine Anzahl Tafeln sind aber im
letzten Textabschnitte: Antiquites de differentes provenances, besonders beschrieben worden.
Die Tafeln erscheinen in Kupferstichradirungen sehr hübsch ausgeführt, sie bieten in Bezug auf
Dolmen, Waffen und Geräthe aus Holz, Knochen, Hörn und Stein, auf Urnen u. s. w. ein ebenso
reiches wie interessantes Material. Eine genauere Einsicht in dies wichtige Buch ist dem Alter-
tumsforscher unentbehrlich, auch sollte dasselbe in keiner Bibliothek eines archäologischen oder
ethnologischen Museums fehlen.
Bourguignat: Histoire des monuments megalithiques de Roknia pres
d Hammam-Meskhoutin. Souvenirs d'une exploration scientifique dans le Nord
de l'Afrique IV. Paris 1868. 1 vol. 4to von 99 S. Text und über 12 Tafeln.
Verf. hat. an den Dolmen von Roknia, deren Zahl er auf 1200 — 1500 schätzt, Ausgrabungen ver-
anstaltet, welche sich den von Faidherbe unternommenen und S. 59 dieses Heftes erwähnten
anreihen lassen. Bourguignat leitet seine Darstellungen mit einer kritischen Uebersicht der über
megalithiache Denkmäler Algeriens von 1855 — 1868 durch Becker, Foy, Payen, Feraud, Bertrand,
Leclerc, Neltnez, Bourjot, Faidherbe und Letourneux veröffentlichten Abhandluugen ein. Wer
nun die Originale der letzteren nicht zur Verfügung hat, findet in Bourguignat's Uebersicht we-
nigstens den Hauptinhalt hervorgehoben. Von Abschnitt III ab behandelt Verf. dann seinen
*) Vergl. S. 288 Jahrgang 1869 dieser Zeitschrift.
69
Stoff, die Dolmen von Roknia, welche bis auf einen durch seme Grösse ganz besonder*: hervor
ragenden nur klein sind. In den [nnenkammern dieser Di len sich Detritus und Land-
schnecken, letztere im bedeutendsten Pormenreichthum, darunter eine Helia \ lioiirij.
In der Nachbarschaff existirt kein römisches Minium"!:!. Im folgenden werden rinn einzelne
Dolmengräber und „Haouanet1'. neuere Aushöhlungen, den i Vltei Verf. auf 1000 l»if höchstens
1500 Jahre vor Chr. schätzt, genauer beschrieben. Vbschnitl V isl hauptsächlich den sehi
kunstlosen Gold- und Bronzerunden gewidmet. Wii erhalten hier Anal] durchgehend«
aus Kupfer, Zinn und Bisen bestehenden Bronzen. Einigci anderer Industrieprodukte, namenl
lieh Töpferwaaren, geschieht ebenfalls Erwähnung. Sehr wichtig isl der craniologische Anhang
Pruner-Rey's. Dieser behandelt die zn Roknia gefundenen Afrikaner- und etliche andere ihr«!
Herstammnng nach zweifelhafte Schädel. Unter ersteren treffen wii Kabylen, Seger, Mulatten,
Aegypter. Eine Maasstabelle ist angehängt. Die ausführlichere Betrachtung dieses wichtigen
Abschnittes, sowie der von Pruner und von Bourguignal aus dein gesammten Fundrnaterial ge-
zogenen Schlüsse, muss für eine andere Gelegenheit aufgespart werden. Hier genüge es, Inhalt
und Bedeutung des ganzen Werkes im Allgemeinen zu characterisiren. Di" Ausstattung ist sehr
ansprechend. Es fehlt nicht an Kärtchen, Plänen, Grundrissen. Die Abbildungen der Conchy-
lien sind sehr naturgetreu, diejenigen der Geräthe hinreichend plastisch, die Scbädeldarstelluugen
sind sämmtlich genau nach der Antlitz-, Scheite!- und Seitennorm, sie sind im Detail vollstän-
dig befriedigend.
M. Th. v. Heuglin: Reise in das Gebiet des weissen Nil und seiner
westlichen Zuflüsse in den Jahren 1862—1864. Leipzig und Heidelberg 1865'.
1 vol. 8. 382 S., Illustrationen in Holzschnitt und Karte. Eingeleitet durch eine
jener Panegyrikeu, wie sie Prof. A. Petermann den sich seiner besonderen Bevorzugung erfreuenden
Reisenden in so liberaler Weise angedeihen lässt, bietet uns dies Werk Dasj» nige im Zusammen-
hange dar, was Heuglin schon früher in den geographischen Mittheilungen und deren Supple-
menten in einzelnen Aufsätzen veröffentlicht hat. [nterressanterweise lernen wir unter den
eharrumer Biedermännern die Gebrüder Poncet durch den Verf als Solche schätzen, denn
„geographische Untersuchungen" bei weitem zu den besten und umfangreichsten gehören,
„die wir über den östlichen Sudan kennen!1- Heuglin hatte für den grösseren Theil seiner Reise
insofern erleichtertes Schreiben, als ihm in den (unterlassenen Papieren seine- gelehrten Begli i-
ters Steudner ein vorzügliches Material, namentlich in botanischer Hinsicht, zur Verfügung stand.
Bekanntlich sind Steudner's selbst topographisch und ethnographisch interessante Darstellungen.
die Heuglin auch in seinem abyssinischen Reisewerk*) in ausgiebigster Weise zu Rathe gezogen,
in Koner's Zeitschrift für allgemeine Erdkunde zur Veröffentlichung gelangt. Heuglin gewährt
uns in rein ethnographischer Hinsicht dankenswerthe Mittheilungen über die Stämme des von
ihm geschilderten Gebietes, obgleich hierbei die natur geschichtliche Seite der Völkerkunde,
wie immer, sehr karg wegkommt. Wir werden aus seinen Schilderungen hinsichtlich der phy-
sischen Beschaffenheit, Rassenstelluug u. s. w. der Dinka, Niam-Niam u. s w sicherlich nicht
klüger. Wir erfahren nur etwas von .reinen, ächten Negern", von einem „nicht der Negerrasse
angehörenden Niam-Niamadel und ähnliche nichtsbedeutende Dinge, wie sie für die Wissen-
schaft ganz unbrauchbar sind. Heuglin giebt auch einen zoologischen Anhang, dessen syste-
matischer Inhalt jener Periode angehört, während welcher man aus individuellen Variationen,
Fellen, Hörnern, ja selbst blos aus dem „Sehen von Weitem" so künstlich, wie selbstgefällig
,,neue Arten" zusammenconstruirte Diese Periode hat aber die wirklich wissenschaftliche Zoologie
zum Glück überwunden, dieselbe verlangt jetzt ein anderes Material zum Aufbau ihrer Systeme.
Nur Schade, dass die Wissenschaft so viel Zeit und Mühe aufwenden muss, um all den zoolo-
*) Reise nach Abyssinien, den Gala-Ländern, Ost-Sudan und Chartuin in den Jahren 1861
und 1862 von M. Th. v. Heuglin. Jena 1868.
70
eischen Ballast wieder loszuwerden, den man ihr aufgedrungen. Dagegen enthält obiger Anhang
manches recht Interessante über die Lebensweise der Thiere des Gebietes. Die Abbildungen,
obgleich in technisch-xylographischer Hinsieht befriedigend, hätten dennoch füglich hin-
wegbleiben können. Sie lehren ans wenig genug. Es erseheinen namentlich die Baumstudien
verfehlt, so z. B. entbehrt die „Delebpaline" jedweder specielleren Charakteristik. Febrigens ist
das Buch nicht schlecht geschrieben, der Wortsatz ist nüchtern und sachgemäss, ohne jedoch
langweilig zu werden.
V. Hehn: Kulturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus Asien
nach Griechenland und Italien, sowie in das übrige Europa. Berlin 1870.
1 vol. 8. zu 456 S.
Prof. Francesco Papa: Sugli Animali domestici nei terapi anteistorici.
Kicerche paleontologiche. Torino 1809. 1 vol. 8. zu 116 S. und einer Durch-
schnittszeichnung in Holzschnitt.
Hehn behandelt die Verbreitung des Weinstockes, Feigenbaumes, Oelbaumes, Flachses, Han-
les, der Platane, Pinie, des Rohres u. s. w., des Esels, Maulthieres, der Ziege, der Katze, des
Büffels u. s. w., über Europa, namentlich das südliche Europa. Verf. trägt mit bedeutendem,
höchst anerkennungswerthem Fleisse reiches historisches und linguistisches Material zusammen,
welches hinfort von einem Jeden sich mit dergleichen Studien Beschäftigenden benutzt werden
muss. Freilich leidet die Schrift auch wieder an allen durch einseitige historische und philolo-
gische Methode veranlassten Mängeln. Die zoologische und paläontologische Methode würde auf
verschiedene Fragen der Art ganz andere Antworten geben, wie Verf. dieselben zu geben ver-
sucht hat. Asiens Gebieten ist ein viel zu weiter Raum als Urheimath mancher Kulturpflanzen
und Kulturthiere gewährt worden. Die alten stereotypen Lehren von „arischen Einwanderungen"
u. s. w. beeinflussen leider auch hier gar zu sehr den Gang der Arbeit und veranlassen wieder
eine Fülle von Speculationen, die einer kühlen ..anthropologischen" Behandlung der Völkerkunde
last nirgends Stich halten können. Dies macht sich namentlich in dem über die „Urzeit" han-
delnden Abschnitte, S 10—21, so recht fühlbar.
Üebrigons hat Verf. seinen „historisch- linguistischen" Standpunkt so völlig in
den Vordergrund gedrängt, dass wir ihm die aus Mangel an intensiveren naturgeschichtlichen
Studien erwachsenden Missstände seines Buches nur indirekt zum Vorwurfe machen wollen.
Letzteres um so eher, als die von jeher vernachlässigte, oberflächliche, jedes Strebens nach ernster
Forschung völlig bare Behandlungsweise des vorliegenden Materials, namentlich der Hausthier-
kunde, von Seiten der allermeisten Zoologen, Thierzüchter und Landwirthe, einem Geschichts-
wie auch Sprachkundigen nur wenig Lust machen wird, die naturgeschichtliche Seite der Unter-
suchung noch besonders in s Auge zu fassen.
In jedem Falle bleibt das Unternehmen des Verf. ein durchaus daukenswerthes.
Papa giebt in seinem oben betitelten Schriftchen eine verhältnissmässig ausgedehnte palä-
ontologische Einleitung, behandelt den archäologischen Theil des Stoffes dagegen nur kurz und
verfällt in dem Abschnitte über das Alter der Urmenschen, ebenfalls in die spezifische arische
Einwanderungstheorie mit ihren unausbleiblichen Consequenzen von Fehlschlüssen und Verwicke-
lungen. Der Abschnitt über die Stammväter unserer Hausthiere bietet uns anstatt historischer
und zoologischer Untersuchungen nichts weiter als etliche allgemeine Redensarten dar. In den
.lern eigentlichen Thema gewidmeten Abschnitten treffen wir nur auf Kompilationen, eigene For-
schungen auf diesem Gebiete fehlen jedoch. Viel lässt sich mit der ganzen Arbeit leider
nicht anfangen. H.
71
Thierzucht betreffend. Von R. Biber. (Neue landwirthscbaftliebe Zeitung,
herausgegeben vou Dr. J. J. Fühling. Neue Folge, VI. Jahrgang, S. 412 ff.)
Merkwürdig bleibt es, wie doch gerade in die Besprechung der Darwinschen Lehren sich 80
Vieles hineinzunisten sucht, was am Besten gänzlich davon fremdbliebe. Verf. obigen Artikels
Autor eines Pamphletes gegen G. Vogt, eines anderen gegen U. Settegast, Autor einiger sonsti
ger Artikel über Thierzueht, Darwinismus u. s. w., bekennt sich stets, und so auch an obiger
Stelle, als wüthigen Gegner des letzteren, wenn er es auch zuweilen wieder, politisch genug,
selbst nicht recht haben will, Unter den Redensarten unseres Schriftstellers spielen „Wissen-
schaft", „Induetion", „Logik" eine stehende Rolle. Leider gewähren sämmtliche uns bekannt
gewordene Leistungen besagten Biber's einen nur zu deutlichen Einblick in die gänzliche Man-
gelhaftigkeit seiner wissenschaftlichen Vorbildung. Wir wollen hier von früheren naiven Schnitzern,
die er begangen und für welche die von ihm so häutig und für seinen Standpunkt jedenfalls
mit Unrecht getadelten, schulmeisterlichen Zurechtweisungen sehr am Platze sein dürften, au-
Mangel an Raum einmal absehen.*) Dagegen wollen wir hier ein Paar Stellen aus unserem oben
betitelten Aufsatze ausziehen, welche Stellen die Wissenschaft, die Logik, die Tiefe und
Gründlichkeit des Quellenstudiums, die Gerechtigkeit des Gefühls Herrn Biber's ins volle
Licht stellen werden:
A. o. a. 0. S. 413 heisst es z. B. : „den Angriffen gegenüber meinen Auslassungen contra
Darwinismus möchte ich vor allen Dingen jedem Missverständniss durch die Erklärung vorbeu-
gen, dass ich an die Genesis der Bücher Mosis nicht glaube, eine Fortentwicklung der Organis
men, Weltkörper etc. etc. voraussetze, Darwin's und seiner Anhänger Versuche, diese Hypothese
zu beweisen, aber vollständig verwerfe, weil dieselben nicht ermittelte Wahrheiten und
Facta als Beweismittel induciren, sondern sich mit einem Heer von ungenauen Citaten, falschen
Beobachtungen und sogar sophistischen Verwendungen Jedem verdächtig machen, der die wissen-
schaftlich constatirte Thatsache von den nonchalanten Mittheilungen aus einer kleinen
Ferienreise zu unterscheiden weiss. Wenn dem gegenüber noch von unerbittlicher Logik des
Darwinismus gesprochen wird, so bleibt mir nur die Erklärung übrig, dass Logik eben der
schwächste Punkt der Darwinianer ist und dass die häufig genommene Zuflucht zur Sophistik
das logische Gefühl bei vielen Anhängern dieser Lehre verdrängt hat u. s. w."
Ferner das. „Darwin, Huxley, Vogt, Rütimeyer, Haeckel, Büchner und selbst Bastian ha
ben auf mich bis jetzt den Eindruck einer unerbittlichen Logik nicht gemacht, sondern im Ge-
gentheil ist Logik leider eine sehr schwache Seite dieser sonst so verdienstvollen Naturforscher"
Das. : Verf. fühlt sich frappirt darüber, „dass der Esel, dass gewisse Formen des Schweine»,
des Rindes, dass das Lama von wilden, jetzt recht wohl bekannten Stammformen herrühren1'
sollen. „Das ist wieder ganz darwinianisch", Alles, was zum Belag für diese Lehre dienen kann,
zu usurpiren und als unumstössliche wissenschaftlich konstatirte Thatsache hinzustellen. Ich
weiss darüber nur, dass so gut wie in Amerika das Pferd verwildert ist, in einigen Gegenden
des Orients verwilderte Esel vorkommen, dass Arbeiten über Wildschwein und Hausschwein und
von Rütimeyer über Bos primigenius und unser Hausrind existiren, die mancherlei anatomische
Übereinstimmung nachweisen ; alle Arbeiten darüber weisen nicht nach, dass die Species durch
anatomische Aehnlichkeit festgestellt werden könnte. Unerbittlich log i seh würde man also,
wenn man nicht Darwinianer ist, sich ungefähr so ausdrücken: „Wir wissen, dass im Orient
verwilderte — nicht wilde Esel leben" u. s. wr.**)
*) Halt aber! Einer dieser Schnitzer ist doch gar zu nett, um ganz übergangen zu werden:
„Die Darwinianer werden ims doch in dieser Weise nie darüber aufklären, weshalb die Sparma-
tozoen des Maulthierhengstes bei der Begattung mit Esel- und Pferdestuten unbefruchtet bleiben
u. s. w." Das heisst doch wirklich „die Genitalien verwechseln". (Vergl. C. Vogt's naturwis-
senschaftliche Vorträge über die Urgeschichte des Menschen von R. Biber. Berlin i. Selbst-
verlag, S. 5).
") In der Schrift gegen Vogt heisst es S. 11: „es gebe vielleicht auch diese gebänderten
Pferde (wie Darwin sie schildert und jeder Pferde- wie Eselzüchter sie kennt) gar nicht". Wo
72
S. H3. »Das Tnithuhii fanden die Europäer bei der Entdeckung Amerikas dort bereits
domesticirt, und die Dnbeholfenheit und geringe Scheu der wild lebenden spricht dafür, dass
sie nur verwilderte Hausthierc sind: die Domestikation konnten wir also nicht gut beobachten-.
Ferner das. Anm : „Ausserdem giebt es noch Lesarten, nach denen das Truthuhn bereits Rö-
mern und Griechen bekannt war und eine Stelle im Aelian wird als Schilderung dieses Thieres
bei Beschreibung eiues üppigen Gastmahls gedeutet."*) Das.: ,,Noch schlimmer sind die Mehr-
arbeiten des Parwinianers auf Reisen, wie ich hier klar machen will. Denken wir uns, dass ein
chinesischer oder afrikanischer Naturforscher dieser Richtung die Mark im Herbste durchstreif,
und dort tief in den Feldern einige Hauskater findet, wie sie der Jager um diese Zeit oft an-
trifft. Als grundsätzlicher Fabrikant \on verschiedenen Species wird er seinen Landsleuten einen
genauen Bericht über die Species des Genus Felis in der Mark Brandenburg abstatten und den-
selben weissinaeheu, dass dori eine Hauskatze neben ihrer wilden Stammform existirt; dass
diese beiden Species sich untereinander noch mehrere Generationen hindurch fruchtbar begatten
und dass stets wiederum einige wilde Katzen domesticirt werden. Unsere berliner Gelehrten
sind darin jedoch einig, dass die Hauskatze oft weit ins Feld zieht und, wenn sie dreifarbig
aussieht, sicher kein Kater, sondern weiblichen Geschlechtes ist'-. Warum nun hat Biber seineu
Witz nicht noch durch einige Ausfälle auf Bates, Wallace, Hensel, M'Lair, Hilgendorf und andere
„Darwinianer auf Reisen" gewürzt?
Man ersieht übrigens aus Obigem, dass dem Manne ein nicht ganz uniübliches Streben inne-
wohnt, die Leser seiner Aufsätze in humoristischer Weise anzuregen Er will auf jeden Fall
hin Spass machen. Es scheint rhm das auch namentlich bei jener Kategorie von Landwirthen
u s. w. trefflich zu gelingen, welch^ ihm durch ihre Theilnahme den Druck bereits einer zwei-
ten Auflage seiner .Schrift gegen .Vogt ermöglicht haben! In Leuten derartiger Kategorie wird
auch Herrn Biber's Zurechtweisung freudigen Wiederhall finden: ,,die Thierzucht als Wissen-
schaft wird nie durch Anatomen, Physiologen, Naturforscher etc. etc (sie!) direet gefördert
werden, ohne dass dieselben praktisch das Hausthier von der Geburt an behandeln und beob-
achten.**)'1 Lud sollten Anatomen, Physiologen u. s. w. u. s. w sich doch erkühnen, in solchen
Angelegenheiten zuweilen ein Wörtchen mitreden und die Oberflächlichkeiten eingebildeter Halb-
wisser schulmeisterlich abstrafen zu wollen, so werden weder Herr Biber uoch seine Leser sie
daran hindern. Uebrigens wird besagter Herr Biber schwerlich noch Jemand dazu provoziren,
sich mit seinen literarischen Spässen ernsthaft zu beschäftigen. Möge ihm denn der Stalldunst,
den er zum Schlüsse als heilsames Medium bei Untersuchungen in der Thierzucht anempfiehlt
uud den auch wir, wo es Noth thut, nimmer scheuen, recht wohl bekommen 1 H.
Am Sonnabend, 11. Dec, hielt die Gesellschaft für Anthropologie und Ethnologie (nach einer
vorläufigen Besprechung am Mittwoch, 3. Nov. und der Constitutionsitzung 17. Nov.) ihre erste regel-
mässig.' Sitzung und bildete den Hauptgegenstand der Verhandlungen ein Vortrag des Vorsitzen-
den, Herrn Professor Virchow über die Pfahlbauten des nördlichen Deutschlands. Die stenogra-
phischen Berichte des Protokolle* werden im (i Heft der Zeitschrift veröffentlicht werden, das
erst in 2—3 Wochen erscheinen kaun, um den Literaturbericht des verflossener) Jahres möglichst
vollständig zu geben. B.
mag wohl Biber seine zoologischen und geographischen Kenntnisse hernehmen, wo mag er wohl
seine Beobachtungen anstellen''' Sicherlich nicht auf Reisen, nicht in Ställen.
*) Wir möchten den geistreichen Cominentator Aelian's, der solche Lesart giebt, wehl ken-
nen lernen. Also Truthühner in Amerika und bei den Griechen und Römern! 0 seliger Gon-
zalez Oviedo, o seliger Lopez Gomarral
" Haben Männer wie Cuvier, die St. Hilaire's, Darwin, Rütimeyer, Nathusius u. A. die
ttaustbiere etwa nicht so beobachtet? 0 wie naiv. —
Druck von Gebr. Ungar (Tb. Grimm; in Berlin, Friedricbstr. 24.
Zeil schritt ftr Kömolo^it IS"'»1
Taf . 11
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Verlag rWe^anJt fcHempeli Berlin
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73
[Teber Gesiclitsurnen.
Vortrag, gehalten in clor Sitzung rler Berliner Anthropologischen Gesellschaft am 12. März 1S70
von
Rud. Virchow.
(Stenographische Aufzeichnung.)
Ich beabsichtige, die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu lenken,
welcher uns /.war ziemlich nahe liegt, aber zugleich ganz exceptioneller Natur
ist, nämlich auf die Gesichtsurnen. Schon seit längerer Zeit besitzt unser
Museum ausgezeichnete Exemplare davon, und mir persönlich ist in letzter
Zeit ein neues zugegangen.
Es ist bekannt, dass es eine gewöhnliche Sitte in Aegypten war, die
Eingeweide der Leichen, welche einbalsamirt werden sollten, in besondere
Gefässe zu thun, welche in der Regel aus Stein gearbeitet und mit Deckeln
versehen waren, die einen Kopf darstellten. Dieser Kopf trägt häufig mensch-
liche Züge, in manchen Fällen aber auch die Gestalt von Säugethieren, Vö-
geln u. s. w. Unser" Museum besitzt eine grosse Menge dieser Gefässe in
allen möglichen Grössen und Formen der Ausführung, aber überwiegend
solche mit menschlichem Angesicht.
Derartige, unter dem Namen der Kanopen bekannte Gefässe finden sich
ausser Aegypten verhältnissmässig selten. Soweit mir wenigstens bekannt
ist, war es hauptsächlich Etrurien, wo man eine nicht unbeträchtliche Zahl
solcher Gefässe angetroffen liat. Sie haben zugleich für unsere Verhältnisse
in sofern eine höhere Bedeutung, als sie nicht bestimmt waren, einzelne
Theile der Leiche aufzunehmen, sondern vielmehr dazu gebraucht wur-
den, die Asche des verbrannten Leichnams zu bergen. Es liegt auf der Hand,
dass zu diesem Zwecke die etrurischen Kanopen einen ungleich grösseren
Umfang haben mussten als die ägyptischen. Während diese in der Kegel eine
cylindrische Gestalt mit nur massiger Ausweitung besitzen, stellen die etru-
rischen Kanopen stark ausgebauchte Gefässe von grösserem Umfange dar. In
der Kegel ist auch bei ihnen der Deckel mit einem Kopf versehen und zwar
von grosser Mannichfaltigkeit; man sieht männliche und weibliche, jugendliche
und alte, bärtige und unbärtige, verzierte und unverzierte Gestalten. Man
hat also ein gewisses Recht zu schliessen, dass je nach der Qualität des In-
dividuums die Deckel Verschieden gewählt sind, und wenn man auch nicht
annehmen kann, dass sie jedesmal das Gesicht des verbrannten Leichnams
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 1870. Q
74
trugen, wenn vielmehr wahrscheinlich ist, dass sie fabrikmässig hergestellt
und verkauft worden sind, so darf man doch unzweifelhaft scbliessen, dass
die vorhandenen Typen der Beschaffenheit der Todten gemäss benutzt wor-
den sind.
Die etrurischen Urnen zeigen, soweit ich habe ermitteln können, aller-
dings nur in einzelnen Exemplaren, gewisse Modineationen, welche für unsere
Verhältnisse ein bestimmtes Interesse darbieten. Es giebt einzelne Abbildungen
von Urnen, welche in Chiusi, dem alten Clusium gefunden worden sind, wo
der Kopf an dem Gefässe selbst angebracht und der Deckel auf den Koyi
aufgesetzt ist, wie eine gewöhnliche Kopfbedeckung, als Hut oder Mütze.
Diese Gefüsse scheinen allerdings sehr selten zu sein, und dasjenige, welches,
soweit ich aus der grossen Sammlung von Micali (Monumenti per servire alla
storia degli autichi popoli italiani. Firenze 1832. Tav. XXVII. No. 6) ersehe,
als das für uns wichtigste erscheint, wird nicht als Aschengefäss be-
zeichnet, sondern als Balsamario (Salbengefäss). Hier befindet sich der Kopi
und Hals an dem Gefässe selbst; die Anne sind in erhabener Arbeit an dem
Bauch der Urne angelegt, der Henkel hinten an den Kopf angesetzt und
der Deckel besteht aus einer Art flacher Mütze. Das Original befindet sich
im Museo del Collegio Romano. In vieler Beziehung ähnlich ist ein Gefäss,
welches Falbe (Memoires de la societe des Antiquaires du Nord. Copenh.
1840 1844. p. 133. PL VII. Fig. 4) aus der Kopenhagener Sammlung
abgebildet hat. Es stammt gleichfalls aus Clusium und besitzt, wie der Bal-
samario, hinten einen Henkel, vorn ein vollständiges Gesicht, oben einen
Ilachen, münzenförmigen Deckel, auf dem eiu sitzender Vogel als Grift an-
gebracht ist.
Die sehr zahlreichen Abbildungen, welche Micali (Tav. XIV. XV) von
Aschenurnen giebt, nähern sich viel inniger den ägyptischen Vorbildern
an. Der gewöhnlich unbedeckte Kopf dient als Deckel und nur die bald
freien*), bald angelegten, zuweilen mit Spangen gezierten Arme schliessen
sich dem Gefässe selbst an. In seiner Storia degli ant. popoli ital. Firenze
1832. T. III. p. 7. bemerkt Micali, dass diese Gefässe aus den ältesten Grä-
bern von Chiusi und seiner Nachbarschaft stammen. An einer anderen Stelle
(Monum. Tav. XVI.) bildet er zahlreiche Kopfdeckel von Urnen aus der Ne-
kropole von Sartcano ab.
Es sind nun im Laufe der letzten 40 Jahre gerade in verschiedenen
Theilen Deutschlands Gesichtsurnen in nicht geringer Zahl in Gräbern ge-
funden worden, fast durchgängig mit Asche und Bruchstücken verbrannter Kno-
chen gelullt, also unzweifelhaft Aschenbehälter. Sie nähern sich sämintlich
ihrer Form nach der selteneren Kategorie der etrurischen Kanopen. Man
' l'.inr ilicsev I'i'ikmi ist auch bei 0. 0. Müller (Denkmäler der Kunst, gezeichnet von
c. Oestevlen. Göttingen 1832, S. :!('.. Tat. LVII. Fig. 277) wiedergegeben. Man vergleiche übrigens
Micali Monum. inediti della storia etc. Firenze 1844. Tuv. XXVII. u. XXXUI.
75
kann /.wci Localgruppen derselben unterscheiden. Die eine schliesst sich an
die alten römischen Ansiedelungen am Rhein an. Schon im Juhre J£24 hat
Emele (Beschreibung römischer und deutscher Alterthümer in den Gef. der
Prov. Rheinhessen Mainz 1833. Taf. 7. Fig. 8) aus einem Grabe bei Castel
eine solche Urne abgebildel Wie ich ans Lindenschmit (Die Alterthümer
unserer heidnischen Vorzeit. Mainz L858 I. Heft VI. Tat. ü. Fig. 13), der
sie gleichfalls in seinem Atlas wiedergegeben hat, ersehe, befindet sie sicli
in dem Museum zu Wiesbaden. Unser Museum (nordische Abtheilung) hat
eine rechl gute Nachbildung derselben. Nach dem Berichte von Emele fand
sich dabei noch eine gewöhnliche Urne, welche die Asche enthielt. An dem
scbwarzbräunlichen, nach oben breit ausgehenden, nach unten sehr schmalen
Gefasse sieht man eine stark vorspringende, spitze Nase, sehr dicke, stark
gewölbte und verlängerte Augenbrauen, eigentümlich tiefe und geschlitzte,
fast ganz geschlossene Augenlider und einen etwas schiefen Mund mit sehr
feinen Lippen, so dass das Ganze einen etwas grotesken Eindruck macht.
Der Henkel sitzt an der Rückseite; ein Deckel fehlt.
Derartige Gefasse sind nachher noch einige andere bekannt geworden.
In dem Kupferwerk von Lindenschmit (Taf. 6. Fig. 7 u. 10) finden sich noch
zwei andere abgebildet: eines aus dem Museum der Universität Bonn, des-
sen Fundart unbekannt ist, und eines, welches in der Nähe von Mainz gefun-
den worden ist , aus dem dortigen Museum. Das Gefäss von Bonn lässt
unzweifelhaft seine Abkunft erkennen; es zeigt auf einer Seite ein vollstän-
diges Gesicht, auf dessen Wangen jederseits ein erhabener, schräg nach
oben und innen in der Richtung gegen die Augen gestellter Phallus ange-
bracht ist. Im Uebrigen, was Form und Material angeht, scheinen alle diese
Urnen sich sehr ähnlich zu sein.
Ausser diesen dreien ist noch ein viertes Gefäss bekannt geworden, des-
sen Kenntniss ich Herrn Koner verdanke. Es ist von G. R. Hermans (Nord-
brabants oudheden: 's Hertogenbosch 1865. Taf. IX. Nr. 3) abgebildet. Man
fand es in Nordbrabant; es zeigt eine analoge Beschaffenheit, wie die ange-
führten. Dr. Janssen bemerkt dazu, dass Urnen mit einem Menschenange-
sicht in Relief sonst in seinem Vaterlande nicht gefunden seien.
Nun ist sonderbarerweise eine zweite Lokalität vorhanden, von der aus
namentlich unser Museum sehr reich mit Originalen ausgestattet ist. Dieselbe
ist es, welche auch mir kürzlich eine solche Urne geliefert hat, — ein besonderer
Zufall, der mir die Veranlassung bietet, die Sache hier zur Sprache zu bringen.
Es handelt sich hier um jene Ecke des alten Pomerellen, welche von der höch-
sten Erhebung (bis 1000 Fuss) der Ostpommerschen Berge gegen das Putzi-
ger Wiek abfällt und von welcher aus sich die Halbinsel Heia in das Meer
hinaus erstreckt, in der Nähe des bekannten Badeortes Zoppot. Hier, im
Kreise Neustadt, wurden zuerst beim Chausseebau zu Hochredlau bei Klein-
Katz im Jahre 183G die ersten Urnen gefunden und von dem Pfarrer Berg
(Preussische Provinzialblättcr. 1836. Bd. XL S. 206) beschrieben. Von da
6*
76
sind an das hiesige sowie an das Königsberger Museum Exemplare gelangt.
Späterhin ist an verschiedenen Orten im weiteren Umkreise dieser Fundstätte eine
Reihe ähnlicher Urnen ausgegraben*). Es sind hauptsächlich drei Kreise dabei
betheiligt: der Kreis Neustadt, wo ausser Kl.-Katz noch Fundstellen bei Redi-
schau, Bohlschau und Pogorss auf der Oxhöfter Kämpe zu verzeichnen sind; sodann
der Kreis Stargardt, wo an drei Orten: Kniebau, Dirschau und Gross-Borroschau
derartige Urnen gefunden wurden, und endlich der Kreis Berent, wo bei Ka-
merau ein solches Gefäss ausgegraben ist. Uebrigens sind schon früher
solche Urnen bei Dirschau gefunden. Förstemann citirt einen merkwürdigen
Bericht von Reusch im „erläuterten Preussen" vom Jahre 1711 und v. Lede-
bur**) einen anderen von Büsching, dessen Urne an das Breslauer Museum
gelangte.
Gewiss ist es höchst bemerkenswerth, dass diese Art von Urnen auf ein
einziges Gebiet beschränkt ist. Mir wenigstens ist kein anderes Terrain als
Fundort derselben bekannt. Die drei genannten Kreise liegen einer an dem
andern längs des linken Weichselufers und der Danziger Bucht bis zur Ostsee.
Es handelt sich demnach um einen Bezirk von über 10 Meilen Länge (etwa
54° bis 54° 10' n. Br.).
In allen diesen Fällen zeigen sich an den Urnen, die fast durchgehends
durch ihre schwarze oder schwärzliche Farbe, jedoch durch keine hohe Fein-
heit des Materials vor den gewöhnlichen Urnen sich auszeichnen, gewisse men-
schenähnliche Verzierungen, bald mehr, bald weniger. An einzelnen Urnen
beschränken sie sich darauf, dass man unter dem Rande jederseits Ohr-artige
Ansätze gemacht hat, welche die Stelle der Henkel vertreten; dann hat man
diese Ohren ausgestattet mit Ohrringen; weiterhin hat man das Gesicht aus-
gebildet, man hat die Nase, die Augen, den Mund bald mehr, bald weniger
vollständig dargestellt. Dazu kommt bei allen ein mützenartiger Deckel mit
flacher Wölbung, dickem umgeschlagenem Rande, der einer Krampe gleicht,
und bei mehreren ein Griff auf der Höhe.
Unter sich bieten die Urnen manche Verschiedenheit dar. Diejenigen
von Klein-Katz sind in ornamentaler Beziehung am vollkommensten gestaltet,
während ihre Form eine weniger gefällige ist. Von den in Berlin befindli-
chen Urnen ist die von Redischau (Museum I. 2034) die einfachste (Fig. 1). Sie
hat eine schlanke Gestalt: über einer nicht umfangreichen Grundfläche erhebt
sich ein massig ausgelegter Bauch, der sich zu einem engeren, ziemlich ho-
hen Halse verjüngt. Dieser ist durch eine einfache Ringleiste von dem Bauche
abgesetzt. Oben am Halse befindet sich die Nase, zwei Augenpunkte, zwei
Ohren mit je 3 über einander stehenden Ohrlöchern, jedoch keine Spur von
*) Literarische Nachweise bei v. Letlebur (Das königliche Museum vaterländischer Alter-
thiimer. Berlin 1838. S. 13. Taf. II.), Förstemann (Neue Preuss. Prov.-Blätter 1850. IX. S. 257.
Taf. I. II. 1851. XI. S. 257. XII. S. 401. 1852. Neue Folge I. S. 133), Strehlke (Ebencl.
VIII. S. 43).
**) v. Ledebur a. a. 0. S. 14 Arno.
77
Mund. Der Deckel ist eine einfache Mütze ohne Griff, jedoch mit dickem
Rande. — Daran schliesst sich zunächst die durch die Güte des Herrn Schulze-
Billerbeck in meinen Besitz gelangte Urne (Fig. 2) von Bohlschau *). Sie ist
Fig. l.
Fig. 2.
etwas niedriger und mehr ausgebaucht, besitzt jedoch auch einen stark abge-
setzten, verhältnissmässig hohen Hals mit scharf herauspringender Nase und
grossen Ohren, von welchen jedes 3 Ohrlöcher über einander und auf der
linken Seite in zweien davon noch dünne Bronze-Ringe mit schöner Patina
trägt. Die Augen sind nur durch zwei gekrümmte Linien und einen kleinen
Kreis (Pupille) bezeichnet; an der Stelle des Mundes findet sich eine
punktirte Linie, an deren rechtem Ende, etwas jenseits der Mittellinie zwei
in einander gelegte, concentrische und gleichfalls punktirte Kreise stehen.
Nase und Ohren sind nur lose angeklebt gewesen, so dass sie sich bei mir
in der Wärme der Zimmer abgelöst haben. Auf der Urne liegt ein schwerer
Deckel ohne Handgriff, jedoch mit radiären und kreisförmigen punktirten Li-
nien verziert.
Sämmtliche 3 Urnen von Klein-Katz in unserm Museum (I. 1409. 1410.
1411), sowie die beiden im Königsberger Museum befindlichen**) sind sehr
viel stärker ausgebaucht und haben keinen cylindrischen, scharf abgesetzten
*) Das Grab lag auf dem hohen Ufer des Rheda-Flusses. In einer aus flachen Steinen ge-
bildeten Kammer standen ausserdem noch 3 grössere Urnen von gleicher Form; sie waren je-
doch trotz aller Vorsicht nicht zu erhalten.
*♦) Förstemann, Neue Pr. Prov.-Bl. IX. Taf. II. Fig. XIII. u. XIV. Sowohl auf dieser Ta-
fel, als auf der bei v Ledebur sind die Berliner Urnen mit zu schlankem Ilalse abgebildet.
78
Hals, sondern sie verjüngen sich nach ölten in zunehmendem Maasse, so dass
ihr Durchmesser an der Mündung am kleinsten ist. Sie haben sämmtlieh
deutliche, durch kleine Kreise ausgedrückte Augen und darüber sehr stark ge-
bogene und weit gegen die Wangen herabgezogene Augenbrauen. Unter
der Nase ist jedesmal ein, freilich sehr schwach ausgeführter Mund, darge-
stellt durch eine bald nach oben, bald nach unten gekrümmte, in der Mitte
etwas stärkere, unverhältnissmässig kurze Linie*). Die eine Königsberger
Urne scheint keine Ohren zu haben; bei allen anderen sind sie, trotz der
Verletzung einzelner, deutlich zu erkennen, und bei mehreren linden sich auch
die Ohrlöcher. Alle haben endlich die mützenartigen Deckel und zwar die
3 Berliner mit einem Handgriffe, die Königsberger ohne denselben wobei
Fig. 3.
noch zu bemerken ist, dass die eine der letzteren einen etwas höheren und
mehr zugespitzten, also liutartigen Deckel zeigt (Fig. 3).
Im Ganzen kann man daher sagen, dass ein nicht unerheblicher Unter-
schied zwischen den pomerellischen und den rheinischen Gesichtsurnen be-
steht. Diese zeigen eine freiere, mehr phantastische Ausführung, jedoch in
Anlehnung an ein allgemeines Schema; jene lassen trotz aller Mangelhaftig-
keit der Arbeit einen entschiedenen Naturalismus und Realismus hervortre-
ten, der sich mehr an die gegebenen natürlichen Verhältnisse anschliesst.
Was die Zeit betrifft, in welche man diese Urnen zu versetzen hat, so
ist hervorzuheben, dass in ihnen Bronzegeräth (Ringe, Ketten, Nadeln, Pin-
cetten) und einmal Bernsteinschmuck gefunden worden. Dass meine Bohl-
schauer Urne noch Ohrringe aus Bronze besitzt, habe ich schon erwähnt;
eine der im Museum befindlichen zeigt noch deutlichen Bronzerost in einem
der Ohrlöcher. Reusch, Förstemann und Strehlke beschreiben von mehreren Orten
derartige Ohrringe, auch einigemal (Fig. 4) mit erbsengrossen Perlen aus Glas**).
(Reusch spricht von blauen Glaskorallen.) Es sind ausserdem an einzelnen
Stellen auch eiserne Sachen aufgefunden worden, aber leider sind fast alle
vorhandenen Beschreibungen über diese Funde sehr ungenau. Ich selbst habe
von Bohlschau Eisengeräth erhalten, habe jedoch bis jetzt nicht vermocht,
eine bestimmte Beziehung desselben zu diesen Urnen auszumitteln. Soviel
wird man jedoch als sicher anzunehmen haben, dass die Periode dieser Urnen
*) Strehlke (a. a. 0. S. 45) erwähnt eine in Brück (Kreis Neustadt) gefundene und jetzt im
Dauziger Museum befindliche Urne, welche das Antlitz eines bärtiges Mannes zeigt; der Kinnbart
ist gewellt und an den Seiten stehen sich 2 Oehre mit Ringen gegenüber.
*•) Förstemann giebt eine Abbildung davon (Neue Pr. Prov. Bl. IX. Taf. I. Fig. II.), welche
hier als Figur 4 reproducirt wird.
79
in eine Zeit zu setzen ist, wo die Bronze bekannt war und wo möglicher
Weise auch schon Eisengeräth existirte, also vielleicht in eine relativ späte
ßronzeperiode. Es ist dies in sofern wichtig, als damit manche andere Pa-
rallelen gewonnen werden.
Fig. 4.
Nun finden sich auf einer verhältnissmässig grossen Zahl dieser Pome-
rellischen Urnen ausser dem menschlichen Gesicht und dem mützenartigen
Deckel noch anderweitige Zeichnungen, die mit einem etwas groben Instru-
ment und unsicherer Hand in den noch weichen Thon eingegraben worden
sind, die jedoch immer eine gewisse künstlerische Bestrebung andeuten, von
welcher wir sonst keine Andeutung auf unsern Gräberurnen haben. Letztere
beschränken sich regelmässig auf ein gewisses System von Linien, die zu-
weilen nach mathematischen Verhältnissen geordnet sind, aber auf allen fehlt
es an Linien, welche organische Formen wiederzugeben bemüht sind. Das
ist gerade das Auffallende, dass die Pomerellischen Urnen diese Seite ergän-
zen und uns an einem ganz unerwarteten und örtlich beschränkten Punkte
derartige Formen vorführen*).
Fig. 5.
Unter den Urnen, welche wir hier besitzen, zeigen die 3 von Klein-Katz
Thiere, und zwar Thiere, von denen mindestens zwei (T. 1410. 1411)
unzweifelhaft Säugethiere darstellen sollen (Fig.6u.7), während es von dem drit-
ten (I. 1409) zweifelhaft ist, wohin man es rechnen soll. Ich möchte die Aufmerk-
samkeit besonders auf diesen Gegenstand zu lenken mir erlauben; vielleicht fin-
det sich jemand, der Veranlassung nimmt, seine Ansicht hierüber auszusprechen.
Zwei von diesen Thieren sind in sehr einfachen Linien am unteren T heile
*) Die in Fi£. 5 wiedergegebene Zeichnung findet sich an der einen Katzer Urne im Kö-
nigsberger Museum.
80
des Halses der Urnen dargestellt*); sie sind unzweifelhaft Vierffissler, mit lan-
gem Schwanz und Ohren versehen; das eine (I. 1410) macht überdies den
Fig. 6.
*) In Fig. 6 — 8 sind der Raumersparniss wegen Zeichnungen an den im Berliner Museum
befindlichen Urnen von Kl.-Katz in der Art dargestellt, dass die ring- oder zirkeiförmigen Zeich-
nungen von oben, die in sie hineingezeichneten Thiere und Linien dagegen von vorn gesehen
werden. An den Urnen haben beide Arten von Zeichnungen natürlich eine andere Stellung zu
einander.
81
Kin. huck. :tls soll etwas Geweiharüges an ihm ausgedrückt werden (Fig. 7).
Da der Leib beider stark gestreckt ist, so wird man bei dem einen auf ein Thicr
wie der Fuchs hingewiesen, bei dem andern könnte man sich eine Cervus-Art
vorstellen. Das dritte (Fig. 8) ist ein wunderbares Wesen, von welchem es ganz
Fiff. 8.
dunkel ist, was es besagen soll; wenn nicht eben die Füsse eine sc» starke
Ausbildung hätten, so würde seine Gestalt viel mehr an einen Wasserkäfer
erinnern. Aber die Füsse (zwei längere Vorder- und ein kürzerer Hinterfuss
mit je 3—4 Zehen) und an den Vorderfüssen in der Gegend der Handwurzel
4 kurze Querlinien mit seitlicher Abgrenzung durch Längslinien machen es
wahrscheinlich, dass bei dem Künstler die Absicht bestanden habe, ein \A ir-
belthier darzustellen. Ein starker, freilich rundlicher Kopf mit grossem Auge,
ein breiter, nach hinten zugespitzter Leib und ein feiner, langer Schwanz ge-
ben demselben etwas Eidechsen- oder Krokodilartiges.
Daneben stehen Linien eigentümlicher Art. Schon an der Urne, welche
ich aus Bohlschau erhalten habe, habe ich eine sonderbare Zeichnung in der Ge-
gend des Mundes erwähnt, eine punktirte Linie, welche in einen Kreis aus-
läuft, der einen kleineren Kreis umschliesst. Solche Linien, jedoch feiner und
einfacher, sind auch auf anderen Urnen zu sehen (Fig. 5—7). Sie stehen überall
paarweise, meist zu zwei Paaren, über den Thierfiguren. Das obere Paar
läuft jedesmal nach rechts in einen kleinen Kreis aus; das untere, längere
zeigt bald nach rechts, bald nach links, einmal jedoch gar nicht, scheeren-
förmige Ansätze, und ist sowohl unter sich, als mit der nächst höheren Linie
des oberen Paares durch senkrechte oder schräge Linien verbunden. Offen-
bar haben sie in dieser Zusammensetzung irgend ein.1 bestimmte Bedeutung;
man kann sich nicht vorstellen, dass sie zufällig seien. \\ ill man sich irgend
82
etwas dabei denken, so wird man zunächst darauf hingewiesen, sich ein
Werkzeug zur Fortbewegung vorzustellen, seien es Schneeschuhe, Schlitten,
Wagen oder Schiffe. Es hat diese Deutung deshalb ihre Berechtigung, Aveil
sich anderweitig gewisse Analogien dazu finden.
Weiterhin sind an den Katzer Urnen Verzierungen augebracht (Fig. 6—8),
welche, den Eindruck machen, dass sie der menschlichen Gestalt angepasste
Sohmuckgeräthe darstellen sollen. Bei dem einen (140!)) findet sich unmittelbar
unter dem Kopf eine breite, rings um den Hals der Urne herumgehende Zeichnung,
welche wie ein Halsschmuck auszieht (Fig. 8); bei den andern liegt dieselbe mehr
um den Bauch, wo man sich einen Gürtel denken könnte. Die Zeichnung
besteht meist aus drei, an einer aus zwei, nicht ganz parallelen Querlinien,
zwischen welchen entweder nur schräge, zu 3—5 zusammengestellte Striche
in parallelen oder in abwechselnd nach rechts und links geneigten, also win-
kelig gegen einander gestellten Gruppen verlaufen. Bei einzelnen sind diese
Gruppen durch senkrechte Linien, bei andern durch Ringe getrennt. Da nun
zwei dieser Urnen, eine Berliner und eine Königsberger, auf der linken Seite
einen Knopf haben, der mit radiären Strahlen versehen ist und den Eindruck
einer Sonne macht, so habe ich die Frage in Erwägung gezogen, ob mit den
Linien nicht eiue astronomische Andeutung gegeben sein soll, ob vielleicht die
Zeichnung auf irgend eineZeiteintheilung Bezug haben soll; es ist mir indessnicht
gelungen, auch bei wiederholter Auszählung der einzelnen Abtheilungen irgend
ein regelmässiges Verhältniss zu ermitteln. Man muss also wohl von einer
solchen Auffassung abstrahiren und diese Dinge mehr als Schmuck betrach-
ten. Dafür spricht auch der Umstand, dass die bekannten Halsringe und
Gürtel aus Bronze ähnliche Zeichnungen zeigen
Unter dem Gürtel finden sich endlich bei zwei Urnen (1410 u. 1411)
noch viereckige Zeichnungen mit kurzen Ausstrahlungen an den Ecken, deren
Bedeutung ich nicht zu enträthseln vermag. Es sind längliche Vierecke, von
doppelten Linien begrenzt, die an der untern Hälfte des Bauches ange-
bracht sind.
Von anderen Urnen, welche z. Th. nach Königsberg, z. Th. nach Danzig
gelangt sind, hat Förstemann gleichfalls Abbildungen geliefert (Neue Pr. Prov.-
Bl. Bd. IX Tai'. L). Es sind einfachere Gefässe mit bloss linearen-Zeichnun-
gen ohne organische Vorbilder, obwohl theilweise recht zierliche. Dagegen fin-
den sich ähnliche Deckel, und die Anordnung der Zeichnungen an gewissen
Gegenden des Halses schliesst sich den besprochenen au. Auch zeigt das
Vorhandensein von einfachen oder mit Bingen und Perlen geschmückten
Ohren, dass man sich den Gesichtsurnen nähern wollte.
Es ergiebt sich also, dass ein kleines Gebiet seit einer Reihe von Jah-
ren wiederholt und zwar an immer neuen Stellen ähnliche Formen geliefert
hat. Ein grosser Theil der gefundenen Urnen ist zerschlagen oder zerfallen,
und es wird nur berichtet, dass sich darunter auch solche mit Gesichtern
befunden haben. Zuweilen sind ganze Haufen von Urnen, bis zu neun, in
83
einer einzigen Grabkammer gefunden worden. Man muss also schliessen,
dass dies nicht ein zufälliger Fund ist, sondern duss eine bestimmte Kultur
sidi hier uiii einer gewissen Dauerhaftigkeit erhalten hat.
In unserm Museum ist nur noch eine Andeutung uach analoger Richtung
vorhanden; eine zu Frestede im Lande Ditmarschen ausgegrabene Urne
(I. 1659) zeigt eine Annäherung an diese Verhältnisse in der An. dass sich
an ihr neben einem am oberen Ansätze stark eingebogenen Henkel jederseits
ein grosses, rundes Auge mit stark vorspringender Augenbraue findet. Der
Henkel erseheint daher als Nase, und es ist deutlich, dass damit die Dar-
stellung menschenähnlicher Verhältnisse beabsichtigt worden ist. Trotzdem
muss ich anerkennen, dass diese Darstellung sehr weit von der vorher be-
schriebenen entfernt ist.
Man könnte nun die Meinung wohl vertheidigen, dass es möglich sei,
ganz unabhängig von einander an sehr verschiedenen Orten auf analoge For-
men zu kommen; man könnte dem entsprechend vermuthen, dass die Bevöl-
kerung Pomerellens aus eigener Initiative diese Formen geschaffen habe, ohne
irgend eine Beziehung, mit Völkern gehabt zu haben, welche schon ähnliche
Formen besassen. Ein Umstand unterstützt eine solche Annahme allerdings
in sehr ausgezeichneter Weise, in Mexico und Peru nämlich hat man eine nicht
unbeträchtliche Anzahl derartiger Gesichtsurnen gefunden, welche, wenn auch
zahlreiche Aehnlichkeiten und im Grossen dasselbe Schema vorhanden sind, so
doch im Einzelnen wieder so grosse Eigenthüinlichkeiten zeigen, dass kaum
jemand auf die Vermuthung kommen wird, es seien dies importirte Gefässe.
In den Menioires de la Societe des Antiquaires du Nord 1840- 44. p. 132.
PI. VI— VII. beschreibt und zeichnet Falbe peruanische Urnen, welche bei
der Weltumsegelung der dänischen Fregatte Bellona im Jahre 1840-41 durch
den Schiffsgeistlichen Pontoppidan gesammelt worden sind. Namentlich ist
auf Taf. VII. Fig. 3 eine Urne abgebildet, welche über einer starken Ausbau-
chung einen vollkommen ausgebildeten Kopf mit erhabener Ausarbeitung aller
einzelnen Theile zeigt, auf welchem eine flache Mütze sitzt.
Es ist interessant, wenn man diese Urne mit denen von Clusium in dem
grossen Bilderwerk von Micali vergleicht, zu sehen, eine wie grosse Ärm-
lichkeit in der weiteren Ausstattung vorhanden ist. Auch bei ihm sieht man
manchmal Arme in Haut-Relief oder in voller Freiheit hervortreten; sie sind
in bittende Stellung zusammengefügt; sie halten Gefässe u. dergl. Ganz ähn-
lich sind auch an der peruanischen Urne mit grosser Freiheit, freilich in höchst
kurioser Weise fast sämmtliche Glieder des Körpers ausgeführt oder wenig-
stens angedeutet. Es geht daraus hervor, dass allerdings analoge Formen
ganz unabhängig entdeckt und ausgeführt werden können, und dass man in
einem ganz andern Welttheil auf Gefässe gekommen ist, die im Grossen und
Ganzen den von mir besprochenen parallel stehen
Micali legt bei der Untersuchung der etruris.hen Urnen grossen Werth
auf die besondere Physiognomie der Gesichter; er glaubt herauszufinden, dass
84
der alt-italische Typus in der Form der Gesichter auf diesen Urnen wie-
dergegeben sei*). Ich bin nicht in der Lage gewesen, über diesen Punkt
zu einem eigenen Urtheil zu kommen. Aber die Frage liegt gewiss nahe,
wenn wir bei uns eine grosse Zahl von Gesichtsurnen mit überraschend ähn-
licher Physiognomie finden: haben wir es mit Urnen zu thun, welche eine
einheimische Bevölkerung gearbeitet und in die Gräber niedergelegt hat?
sollen wir in diesen Gesichtern die Typen unserer Pomerellischen Urbewoh-
ner suchen? oder sollen wir annehmen, es habe ein eingewandertes Volk diese
Typen mitgebracht? Ich fühle mich nicht befähigt, die letztere Frage be-
stimmt zu beantworten und zwar deshalb nicht, weil auf blosse Abbildungen
hin eine Entscheidung zu treffen unsicher erscheint. Die niedrige Technik
der Verfertiger unserer Vasen kommt, hinzu. Ich will daher nur erwähnen,
dass die hohe Nasenwurzel, die kurze, spitze, schmale, stark hervortretende
Nase, die stark geschwungenen Augenbrauen an keinen einheimischen Stamm
erinnern.
Dagegen kann ich allerdings nicht leugnen, dass eine Reihe anderweiti-
ger Beobachtungen, z. B. die Bronzewagen, welche an verschiedenen Stellen
unseres Vaterlandes gefunden worden sind und die ich vielleicht später zum
Gegenstande einer Mittheilung machen werde, mich allerdings sehr geneigt
machen, auf gewisse Beziehungen unserer Vorfahren zu etrurischen Stämmen
zurückzugehen. Auch die Urnen fordern zu solchen Vergleichungen auf.
Die mützenartigen Deckel erinnern an etrurische Kopfbedeckungen. Micali
(Monum. Tav. CXIV.) hat die Abbildung einer in Arezzo gefundenen und
jetzt im Museo del Coli. Romano aufbewahrten Bronzestatuette eines etrus-
kischen Pflügers, der eine ganz ähnliche Mütze, nur ohne Griff, trägt. Ebenso
linden sich an den Kanopen von Clusium (Tav. XV. N. 1 — 2) Köpfe mit 3
in einander gehängten Ringen in den Ohren. Es lässt sich daher wohl die
Möglichkeit aufstellen, dass auf dem Wege des Handels derartige Artikel
hereinbefördert oder wenigstens gewisse Modelle erworben worden sind, welche
sodann hier nachgebildet wurden. Begreiflicherweise könnte man aber auch
auf die Frage kommen, ob nicht diese Gegend, so nahe an der See, an der
Mündung eines grossen Stromes, der Endpunkt einer grossen Handelsstrasse,
wirklich der Sitz einer grossen Handelscolonie gewesen ist, und es liegt
nahe, den Gedanken Nilsson's aufzunehmen: haben wir hier nicht eine phö-
nicische Colonie vor uns?
Auch bei den ägyptischen Kanopen findet sich auf dem Bauche gewöhn-
lich eine Reihe von Hieroglyphen, und obwohl sie sehr verschieden von den
Kreisen, Linien und Thierfiguren unserer Gesichtsurnen sind, so nehmen beide
doch eine ganz analoge Stellung ein. Zeichnungen, denen verwandt, wie sie
unsere Gesichtsurnen bieten, kommen dagegen anderswo im Norden vor.
Nilsson (Das Bronzealter. Aus d. Schwed. Hamb. 1863. S. 9. Nachtrag.
*) Micali, Storia degli aut. pop. ital p. II.
85
Hainb. lS(;.r). S. 42) hat von dein Kivik-Monumenl und dem Wilfara-Stein in
Schonen aralte Zeichnungen abbilden lassen die er auf phöuicischen Priester-
diensl bezieht. Namentlich die Pferde auf dem Wilfara-Stein sehen den Thie-
ren auf unseren Urnen sehr ähnlich. Am häufigsten sind bekanntlich Abbil-
dungen von Schiffen auf Felsen und Steinen in Scandinavien*), wie sie sich
auch auf Bronzegeräthen wiederfinden.**) Von uorwegischen Felsen-Einzeich-
nungen wurden bei dem letzten internationalen Congress für prähistorische
Archäologie in Copenhagen Zeichnungen vorgelegt***), wo unter zahlreichen
Schiffen auch einzelne Thiere und G-erätbe vorkommen, welche verhältniss-
niässig sehr grosse Achnlichkeit mit den unsrigen darbieten.
Ich will auf diese an sich so rohen Zeichnungen und auf diese immerhin
sehr zweifelhaften Uebereinstimmungen keinen zu grossen Werth legen. Wei-
tere Untersuchungen werden erst festzustellen haben, inwieweit Verbindungen
von beiden Seiten der Ostsee her stattgefunden haben. Indess erinnere ich
daran, dass gerade diese Gegend in alten Ueberlieferungen bezeichnet ist als
diejenige, wo die Gothen übergewandert sind. Violleicht wird es doch mög-
lich sein, einen gewissen Anhaltspunkt zu finden für die Erläuterung von
Verhältnissen, die vielleicht stattfanden zu einer Zeit, wo das Licht der
Geschichte schon anderswo hell leuchtete, über unserm Lande jedoch noch
tiefes Dunkel lag. Denn die Zeit, in welche wir unsere Lernen zu versetzen
haben, wenn sie auch, wie ich angegeben habe, einer verhältnissmässig späten
Bronzeperiode angehört, dürfte immerhin eine für uns vorhistorische sein.
Ich lege schliesslich noch einige Sachen vor, welche von demselben Orte
herstammen, von wo ich meine Urne empfing, aus der Nähe von Bohlschau.
Es wird mir geschrieben, dass etwa öO Schritt von einander, nahe dem Ufer
eines kleinen Flusses, zwei Grabstätten sich befanden, in welchen je eine
Urne stand, die mit schwarzen, aus Sand, Asche und kleinen verbrannten
Knochenresten bestehenden Massen gefüllt war. Das eine dieser Gefässe war
eine grosse Thonurne, das andere eine Metallurne. Letztere war leider fast
ganz durch Rost zerstört. Ich erhielt nur ein Paar sehr starke und grosse
eiserne Ringe, welche am Rande derselben beweglich eingelassen waren, einen
starken eisernen Bügel und eine Reihe platter Bruchstücke, die zum Theil
mit Bronzerost bedeckt waren; darunter auch ein Stück sehr feines Bronzc-
blech mit einer Reihe feiner runder Oeffnungen. Da es mir von Interesse zu
sein schien, zu untersuchen, ob namentlich Blei in der Bronze enthalten sei.
das in den italischen Bronzen ziemlich stark vertreten ist, so habe ich Herrn
Liebreich gebeten, die chemische Analyse zu inachen Er theilt mir mit, dass
kein Blei darin nachzuweisen war. Ausserdem ist noch eine Reihe eiserner
") Worsaae, Zur Alterthumskunde des Nordens. Leipz. 1847. Taf XIV. KV. Hansen,
Mein, de la SOC des Antiquaires du Nord. 1840—44. p. 139. PI. IX.
") Worsaae, Xordiske Oldsager. Kjübenh. 1859. S. 3G. Fig. 171 — 175.
***) Revue des Cours scientifiques. Paris 1870. Nr. 13. p. 200.
86
Gegenstände gefunden worden, unter andern der Griff, sowie ein Theil des Blat-
tes und der Scheide eines sehr sauber gearbeiteten, mächtigen, doppelschneidigen
Schwertes, zwei grosse Schildbuckel, zwei über die Fläche zusammengebogene,
sehr lange Lanzenspitzen und ein ganz aufgewickeltes, grosses Schwert. —
letztere offenbar zum Zweck des Unterbringens in der Urne zusammengedrückt.
Man kann also »icht in Zweifel darüber sein, dass hier Krieger beerdigt wor-
den sind. Leider bin ich jedoch nicht in der Lage, nach dem, was mir niii-
jretheilt worden ist, beurtheilen zu können, inwieweit dieser letztere Fund in
directer Beziehung zu den Gresichtsurnen steht. Wie es scheint, ist eine solche
Beziehung nicht vorhanden.
Jedenfalls meine ich. dass wir unser Augenmerk auf diese Art von Fun-
den richten müssen, welche durch unverkennbare und charakteristische Eigen-
thümlichkeiten viel nähere Aufschlüsse über gewisse Verhältnisse der Entwieke-
luii"- des Volkes darbieten, als wir aus bloss mathematischen und einfach
ornamentalen Linien gewinnen können. Jede derartige, mit besonderen Fi-
guren ausgestattete und mit Ausbildung des künstlerischen Sinnes ausgeführte
Arbeit hat. offenbar einen hohen Werth, und da sich in unserm Lande eine
viel grössere Menge von Gesiehtsurnen, als in irgend einem andern Cultur-
lande findet, so ist es um so mehr nothwendig, dass alle Nachrichten darüber
sorgfältig gesammelt werden.
Untersuchungen
über die Völkerschaften Nord-Ost-Afrikas.
V on Lob ert II artmann.
111.*)
$ 12. Leider lässt, sich die Naturgeschichte des altägyptischen
Meiischenstammes nicht mit wenigen Worten ausführen, Dank dem Vielen
und vielfach von einander Abweichenden, welches darüber bereits veröffent-
licht worden. Ich sehe kein.: Möglichkeit vor mir, in dieser meiner Arbeit
gewisse Wiederholungen zu vermeiden, zumal bier, wo ich aus dem vorigen
Jahrgange zu recapituliren habe.
*) Vergl. Jahrgang I. dieser Zeitschr. S. 135-153, §. 3—11.
S7
^ 13. Au das oben Gesagte zunächst anschliessend fühle ich mich wiedei
von Neuem zu «irr ausdrücklichen Bemerkung veranlasst, das* ich den in
Aegypten stattgehabten Einwanderungen von Bewohnern Syriens und det
arabischen Halbinsel, dieser llauptwohnlande der Syro- Araber, einen
verhältnissmässig uur geringen Einfluss auf die Ausbildung des neuii^
sclion Typus zuzugestehen vermag. Die doch unumstösslich feststehende I lial
sache einer Wiederkehr des altägypti sehen Volkstypus der ro< lei
„KctiT", im neuägy ptisehen tu acht die von geschichtlich-grübelnder und
sogar von ethnologisch - speculativer Seite stets rüstig und uuverdro
gesprochene Meinung, es sei der gegenwärtige Anwolmer des Nils in Said,
Dostanleh und Misr-Bachireh, weit eher Syro ar ab er, als Aegypter, .
lieh zunichte. Es bleibt vielmehr der heutige Bebauer des Pharaonenreichs
weit eher Retu, als Syroaraber oder irgend sonst etwas NTchtägyptisches.
Am allerdeutlichsten tritt das aber in den Districten Mittel- und Ober-
ägyptens hervor. Hier sieht man in Stielten und Dörfern, auf Bazaren und
an Landungsplätzen, auf Aeckern und an Scböpfräderu immer die bekannten
Gestalten aus den mempthischeu Pyramiden- und aus den thebaischen Kö-
nigsgräbern, aus den Tempelhallen von Denderah, Gurneh, Karnak und Luq-
sor wieder, genau Dieselben in Physiognomie. Glieder bildung, selbst in der
Haltung (vergl. Jahrgang I. dies. Zeitschr. S. 156*). Pruner ist der Ansicht,
dass sich entweder der siegreiche (in Aegypten eingedrungene) Araber gar
nicht oder doch nur wenig mit dem ägyptischen Bauernstände vermischt, oder
dass dieser jenem im Laufe der Zeit seinen gesummten Typus so vollständig
aufgedrückt habe, dass er selber zum Aegypter geworden*'). Auch ich bin
der festen Ueberzeugung, dass die nach Aegypten verpflanzten syroarabi scheu
Elemente in der dortigen einheimischen Bevölkerung zu ihrem grossesten
Theile aufgegangen seien. Keinen Syroarabern, Repräsentanten ihres Be-
völkerungstypus, begegnet man übrigens in ganz Afrika nur noch in den
directen Ankömmlingen aus Asien, und in deren unmittelbaren Nachkom-
men, deren es ja z. B. an der Ostküste von Afrika, zwischen Cap Guar-
dafui und Halbinsel Cabaceira wohl giebt, woselbst ansässige Südaraber eine
wichtige politische und commerzielle Rolle spielen. In der grossen einhei-
mischen Bevölkerungsmasse von Aegypten, Maghrib und Sudan, dagegen würde
man vergeblich nach solchen reinen syroarabischen Bevölkerungselementen
*) Ferner R. Eartmann: Reise des Freiherrn A. v. Barnim in Nord-Ost-Afrika in iL J.
1859 und 1800. Berlin 18(53. 4. Anhang X IJ II. Ders. Naturgeschichtlich medizinische Skizze
der Nilländer. Berlin 1865. S. 215 ff. Das neueste Oelbild meines Freundes, Malers Wilhelm
Gentz, „ein Märchenerzähler (Scha er)a zeig! eine Menge wohl überkommen« i monumentaler Köpf«"
unter der modernen, herumkauerndeu Strassenbevölkerung der „Uebenvindenden". Dies« ein«1
Schöpfung, des so hervorragenden, so genau beobachtenden und s" uneinllich heu
zeichnenden Künstlers, weichet das Studium des Orientes sich zur Lebensaufgabe gi-iuadil,
wiegt mit der überzeugenden Kraft seiner bildlichen Darstellungskunst vielmehr, als bogcnlanges
Geschreibe.
**) Deberbleibsel S. 13.
88
suchen. Zwar wird uns ja noch immer von Reisenden sowohl, wie auch von
Ethnologen und Geographen des grünen Tisches mancherlei Schönes vorer-
zählt von den „rein- oder echtarabischen Physiognomien", von der „durchaus
arabischen" Kopfbildung ganz unzähliger afrikanischer, angeblich rein-
arabische sein sollender Stämme.*)
Ich habe mich auch bereits im vorigen Jahrgange dieser Zeitschrift (S. 157)
gegen eine hier und da herrschende Annahme verwahrt, welcher zufolge die
Kopten als die einzigen und alleinigen modernen Träger des Retu-Ty-
pus dargestellt werden. Die Kopten zeigten sich zur Zeit des islamitisch-
arabischen Einfalles in Misr's Gelilde wohl mehr mit fremden Elementen ver-
quickt**;, als später, nachdem, im Laufe von Jahrhunderten, fremdes Element
durch uneingeborenes bereits wieder zersetzt worden war (Note Nr. VI). Bei
den Kopten haben die Abgeschlossenheit der ihrer (bekannterweise jakobi-
tisch-christlichea) Religion mit unwandelbarer Treue anhängenden Stammes-
glieder und die in Folge dessen eifrig gepflegte, engere und erweiterte Fami-
lienzeugung den Retu-Typus im Ganzen, jedenfalls noch etwas reiner fortge-
erbt, als es die (ägyptischen) mehr kosmopolitischen Bewegungen anheimfal-
lenden Moslemin gekonnt. Trotzdem ist der Fellach im Allgemeinen doch
ebenfalls Aegypter, ebenfalls Träger des Retu-Typus, wie der Kopte, geblieben.
Sind auch wirklich etliche Fellachgemeinden durch lokale Verhältnisse dazu
gedrängt worden, etwas mehr Blut arabischer Eindringlinge in sich aufzuneh-
men, wie andere, so vermögen dennoch derartige vereinzelte Vorkommnisse
keineswegs den Charakter der Gesammtheit zu stören. Pruner bemerkt, dass
die auf dem Lande lebenden, ackerbauenden Kopten sich physisch in nichts
von den islamitischen Fellachen unterschieden***): ihre Frauen mit dem blauen
*) Jahrgang 1869 d. Zeitschr. S. 157. Vergl. ferner Hartmann: Entwurf einer Karte der
Karawaneustrasse zwischen Dabbeh und Khartum. Zeitschr. für allgemeine Erdkunde. N. F.
Bd. XII, S. 197—200. Derselbe: Skizze der Landschaft Sennär. Das. Bd. XIV, S. löö. Ders :
Naturgeschichtlich-medicinische Skizze u. s. w. S. 210—212, S. 2.31—254. Ders. Medicinische
Erinnerungen aus dem nordöstlichen Afrika. Reichert und du Bois-Reymond's Archiv für Ana-
tomie, Physiologie und wissenschaftl. Medicin, Jahrgang 1868, S. 95.
*•) Hierauf könnte man des Makrizi übrigens doch etwas hyperbolische Angabe beziehen:
„Die ganze Masse des Volkes von Aegypten, Copten genannt, sei ein vermischtes Geschlecht ge-
wesen, so dass man nicht mehr unterscheiden gekonnt, ob Jemand unter ihnen von Koptischer,
Habessinischer, Nubiseher oder Israelitischer Abkunft gewesen u. s. w. (Geschichte der Kopten.
Deutsch von F. Wüstenfeld. Abhandlungen der K. Gesellschaft der Wissenschaft zu Göttingen
histor. phÜOS. ('lasse. III, S. 49).
***) E. W. Laue sagt Folgendes: „Die Kopten unterscheiden sich nur wenig von der grossen
Mehrzahl ihrer muslimischen Landsleute; letztere sind hauptsächlich Abkömmlinge von Arabern
und zur Religion der Araber übergetretene Kopten, und sind daher den christlichen Kopten in
ihren Gesichtszügen ähnlich. Zuweilen finde ich es schwer einen Unterschied zwischen einem
Kopten und einem Muslim zu bemerken, ausser einem gewissen unterwürfigen und finsteren Ana-
druck dos Gesichtes, welcher die ersteren gewöhnlich auszeichnet; und die Muslimen lassen sieh
oft täuschen, wenn sie einen Kopten mit weissem Turban sehen. Wir bemerken bei letzteren
in den verschiedenen Breiten des Landes dieselben Schattirungen der Farbe wie bei jenen, von
einem blassen Gelb bis zu einem dunklen Bronze oder Braun". (Sitten und Gebräuche der heu
ki jypter. A. d. E. von Dr. J. Th. Zenker. II. Aufl. Leipzig. HI. Bd., S. 169.)
89
Hemde angethan und mit dem Haushalte beschäftigt, würde auch der geübte
Physioguom und Ethnograph für Fellachweiber halten*).
Ich selbst bin während unseres Aufenthaltes in Nord-Ost-Afrika alten
von Berlin mit herübergebrachten Yorurtheilen zu Liebe eifrigst bemüht ge-
wesen, in Kopten und Fellachen völlig von einander getrennte ßevölke-
rungselcmeute zu erkennen. Allein derartige Bemühungen erwiesen sich mir
bald genug als ein gänzlich unnützes Beginnen. Wenn ich auch anfangs
hier und da, noch von jenem Vorurtheile gedrückt, in Leuten, die mir als
Kopten bezeichnet wurden, etwas ganz Speeifisches und zwar echt Alt-
ägyptisches, in anderen, die mir als simple Fellachen angegeben
wurden, sogleich wieder etwas Speeifisches, nämlich Arabisches, Semi-
tisches erkennen zu müssen glaubte, so emaneipirte ich mich doch frühe
von solchen vorgefassten Ideen und gewöhnte mich daran, die Leute total
unbefangen nach der Methode der vergleichenden Naturforschung ins Auge
zu fassen. Ich gewöhnte mich ferner auch bald an die logisch völlig zu be-
gründende Methode einer Vergleichung der Lebenden mit den Todten.
Eine durch Jahre lang immer wiederholte Auffrischung des Selbstgesehenen,
ein immer erneuetes Studium der Denkmäler, Handzeichnungen, Photogra-
phien, namentlich aber weitere vergleichende Betrachtungen über die asiati-
sche und gesammt-afrikanische Ethnologie, haben mich in meinen Anschauun-
gen nur noch bestärken können. Endlich werde wieder mal bemerkt, dass
die ägyptischen, islamitischen Städter, welche sich Masrin, Auläd-Masr oder
Ahl-Masr, Beni-Masr, Ahl-Beled zu nennen pflegen, ebenfalls Nachkommen
der alten Nilbewohner seien, wenngleich das in den Städten mehr entwickelte
Harim- und Sclavenleben, die Ansammlung Fremder (namentlich zu Cairo,
Alexaudrien, Port-Said, Ismailieh, Suez) noch eher die Beimischung anderen
Blutes ermöglicht, als die einfachen Verhältnisse der ländlichen Bevöl-
kerung. **)
*) Ueberbleibsel S. 15.
**) Vergl. Jahrgang 1869, S. 157. Skizze der Nillander, S. 220, Reichert's und du Bois Ai
Chi? a. a. 0. Ganz gewöhnlich leitet man den Hauptanprall der arabischen Molemin gegen Ae^yp-
ten vom Erobenmgszuge des Amr-lbn-e] - Asi her (Jahr 18 der Hedjirah, 639 der christl.
Aera). Allein es ist bekannt genug, dass dieser islamitische Heerführer anfänglich über nur we-
nige echt-syroarabische Truppen verfügt, welche dann durch Beduinen der arabischen und
libyschen Wüste, durch christlich-ägyptische Deberläufer, nubisehe Strolche u. s. w. verstärkt
wurden. Fanatischer Eifer für den neuen Glauben und physische Abhärtung hatten die keuschen,
der Wüste entsprossenen Streiter des Halbmondes dazu befähigt, die durch Jahrhunderte der
politischen Zerrissenheit, der dogmatischen Verwirrung uud der christlich-mönchischen Ascese
verderbten Nachkommen der Seti, Ramsses und Nekao ihrem Willen zu beugeu. Auch nach
der Eroberung blieb anfänglich die Zahl der muslimischen Eindringlinge eine verhältnissmassig
nicht grosse. Makrizi erwähnt, „dass die Gefährten des Propheten und ihre nächsten Nachfol-
ger bei der Eroberung Aegyptens nur wenig Wohnplätze in den angebaueten Gegenden gehabt,
dass alle Oerter in sämmtlichen Provinzen voll von Kopten (d. h. also chrisllich- ägyptischen
Ui bewohnern) und von Griechen gewesen, dass sich der Islam in Aegypten erst nach dem ersten
Jahrhundert der Hedjirah naen und nach ausgebreitet habe" (Geschichte der Gopten. I>. \. Wü
stenfeld a. o. a. 0. S. 54 Anm.).
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 1S7U. 7
90
Der Leser verzeihe diese Weitschweifigkeit. Allein wenn man bedenkt,
wie wenig Klärung bei uns, wie auch bei unseren Freunden jenseit des Ka-
nales, wie selbst jenseit des Rheines, trotz der Arbeiten eines Pruner,
über diesen Gegenstand vorhanden, so wird man es schon der Mühe werth
erachten, etwas stark auszuholen. Wir wollen ja damit alte, durch Genera-
tionen nachgedachte nnd nachgeschriebene Vorurtheile zerstören
und das ist leider gegenüber der Hartnäckigkeit, mit der die eingewurzelte
Doctrin das Feld zu behaupten sucht, nicht so leicht.
Im Nachfolgenden will ich es zunächst versuchen, den Körper der alte n
Aegypter ausführlicher zu beschreiben, dann will ich Einiges über ihr
materielles und geistiges Leben hinzufügen. Später werde ich diesen
Alten ihre Nachkommen und zwar auch körperlich wie geistig, entgegenhalten.
Danach möge nun der Leser entscheiden, ob meiner zwar umständlichen,
aber gutgemeinten Auseinandersetzung einiger wissenschaftliche Werth inne-
wohne oder nicht.
Unsere Betrachtung muss nun vor Allem dem Knochenbau der Alten
zugewandt werden, hinsichtlich dessen mir das im vorigen Jahrgange S. 144
erwähnte Material zu Gebote gestanden. Der Haupttheil des Skeletes
aber ist der Schädel, die „wahre Hauptsache" der Osteologie, wie Hyrtl
so richtig sagt, nicht allein, sondern die Hauptsache j ede r anthropolo-
gischen Untersuchung. Ich bin deshalb auch bemüht gewesen, zur Illu-
strirung dieser Zeilen passende Schädelabbildungen herzustellen, auch
werde ich Schädelmessungen und Schädelbescbreibungen hinzufü-
gen. Das Rumpf- und Extremitätenskelet werden natürlicherweise ebenfalls
ihre Berücksichtigung finden.*)
Später sind denn nun immer und immer Nachschübe von Einwanderern syroarabischer
Familien nach dem Nilthale erfolgt und ganz so geht es noch bis auf den heutigen Tag. Allein
diese Einwanderungen von nicht zahlreichen Individuen (Soldaten, Kaufleuten, Handwerkern, Hand-
langern u. s. w.) sind ebensowenig geeignet, den ägyptischen Autochtonentypus umzuwandeln,
als dies durch in Aegypten abenteuernde Franken, Osmanen, Nubier, Sennarier, Abyssinier, ge-
schehen konnte.
Ebenso wenig hervortretende Spuren wie die erwähnten Einwanderungen, haben nun auch
noch früher diejenigen von Griechen (zu Amosis und seiner Nachfolger Zeit, in der Periode der
l'tolemäer), von Persern und Römern in der ägyptischen Bevülkerungsmasse in physischer wie
psychische: Beziehung zu hinterlassen vermocht. Endlich darf man den Einwirkungen stattge-
habter und noch stattfindender Kreuzungen zwischen Aegyptern und eingewanderten nubischen
Beräbra, sowie mit eingeführten Sklaven aus allen möglichen Gebieten Ost- und Inner- Afrika's
nicht einen zu; gewichtigen Einfluss auf den physischen Zustand der Urbewohner des Pha-
raonen lande» zuerkennen. Dergleichen Kreuzungen vermögen inmitten dieser autochtonen Be-
völkerung so wenig durchschlagend zu wirken, als die Kreuzungen mit europäischen und asiati-
schen Stammesgenossen in älterer und neuerer Zeit. Eine grosse, compacte, in sich entwickelte,
körperlich und geistig im Allgemeinen gut begabte Volksmasse lässt sich eben durch einige Bei-
mischung von auswärtigen Kiementen physisch und psychisch nicht so völlig ummodeln.
*) Dior letzteren Auseinandersetzungen möchten den anatomisch-gebildeten Fach-
genossen überflüssig erseheinen. Allein ich muss doch bemerken, dass mir dergleichen bei
der ziemlich ausgedehnten Tendenz dieses Blattes den nicht anatomisch-geschulten Lesern gegen-
über durch billige Rücksicht geboten erscheint.
91
Was die Herstellung von Schädelabbildungen im Allgemeinen an-
betrifft, so finde ich hier zunächst Veranlassung dazu, die häufig allzu grosse
Sorglosigkeit zu rügen, welche dabei selbst von Seite bedeutenderer Fach-
männer an den Tag gelegt wird. Wie selten trifft man doch in den eine
craniologische Arbeit begleitenden Abbildungen auf consequente Einhaltung
der Stellungen der abzubildenden Schädel. Nicht wenige neuere Craniolo-
gen seheinen sich leider aber die Anforderungen, welche überhaupt an
eine zweckentsprechende Schädelabbildung gestellt werden sollen, mehr oder
weniger unklar geblieben zu seiu. So betleissigte sich selbst Blumenbuch
bist nie einer festen Durchführung bestimmter, eine genaue Vorder- oder Sei-
tenansicht bietender Schädelaufstellungen, er wählte z. B. in seinen Deca-
des sehr häufig unvollständige Facestellungen u. s. w. In ähnlicher Weise
sind die Schädeldarstellungen bei Prichard*), in Fitzinger's Abhandlung über
Awarenscbädel**) gehalten. Wahrhaft verquälte Stellungen beobachtet man
in Owens Anhange zu P. Du Chaillu's Reisebuche über das Ashangoland.
H. Welcher hat in seinem sonst so schönen Werke über W'achsthum
und Bau des menschlichen Schädels die Stellung seiner „perspectivisch"
gezeichneten Crania in {, auch J Profil geben lassen, indem es ihm nach
seinem eigenen Ausspruche darauf angekommen, „mittelst der Abbildung das
Physiognomische gewisser Schädelformen zur Anschauung zu bringen, da ja
auch der Schädel als Portrait behandelt sein wolle, eine Wahrheit, die auch
Blumenbach, ein grosser Kenner der bildlichen Darstellung, so wohl zu wür-
digen gewusst." ***) Ich meinestheils kann mich nun aber für einen derartigen
Modus der .Schädelabbildung keineswegs begeistern, vor Allem nicht für die
Anwendbarkeit desselben hinsichtlich der Rassenschädel. Ich schliesse
mich in dieser Beziehung vielmehr durchaus dem von C. Vogt ausgesproche-
nen Tadel an, der sich namentlich darauf richtet, dass solche den Schädeln
gegebene Stellungen einen Hauptzweck der Abbildungen, nämlich ihre Ver-
gleichbarkeit, beeinträchtigten. f) Carus, K. E. v. Bär, Morton. Lucae,
Ecker, Vogt, Landzert, Davis, Hensel, Fritsch u. A. ragen in dieser Hinsicht
durch grosse Exactheit hervor.
*) Z. B. in den Ausgaben von Norris und von Roulin.
**) Denkschriften der Wiener Akademie der Wissenschaften V.
"') A. o. a. 0. Leipzig 1862, S. XIII.
f) Vorlesungen über den Mensehen. Giessen 1863, 64 I, S. SC. Ich verlange übrigens auch
für physiognomische Etassenabbüdungen ein möglichst strenges Festhalten an «ler reinen
Profil- und reinen Facestellung. Nun bin ich freilich selbst Derjenige, welcher im vor-
liegenden und in den folgenden Aufsätzen häufiger dieses letztere Postulat missachten wird und
leider missachten muss. Ich bin ja zu sehr von meinem eigenen, unter ganz besonderen Schwie
rigkeiten mühselig zusammengeschleppten Materiale abhängig (vergl. auch Jahrg. 1869, Hott III.
S. 256 dies. Zeitschr.). Trotz alledem wird man mit diesem, wie ich denke, in einiger Fülle ure-
botenen Material immer wohl etwas anfangen können. I « li mache auch gelegentlich hier daraul
aufmerksam, dass bis jetzt kaum unsere neueren, in photographischen Aufnahmen geübten For-
scher, Jagor, Fritsch und Lamprey ausgenommen, ihre physioguomischen Rassenabbildungeu
7*
92
Nach meinem eigenen Dafürhalten empfiehlt sich nun vor Allem die vor-
herige photographische Aufnahme von Schädeln für deren weitere ikono-
graphische Bekanntmachung. Der nicht im Zeichnen geübte Craniologe giebt
mit Photographien dem Kupferstecher, Lithographen und Holzschneider ein
zuverlässiges und in den Details genaueres Material iu die Hände, als in Ge-
stalt von Zeichnungen. (Ueber Craniographen s. Note VI).
Lässt man die photographische Aufnahme vervielfältigen*), so gewinnen
die Fachgenossen dadurch zugleich einen hübschen, für Vergleichung und
Kontrole dienlichen Stoff. Aber die photographische Schädelaufnahme muss
in die Hände sehr intelligenter Techniker gelegt werden, welche auch im
Stande sind, ihre Aufgabe zu begreifen und der Methode wirksame Hülfe zu
leisten. Ein gewöhnlicher photographischer Handwerker, der einen ihm über-
gebenen Schädel in den Tag hinein hier gerade, da schief, bald halb, bald
ganz en face oder en profil aufstellen und exponiren will, kann für unsere
Zwecke nichts nützen. Hierbei sind die Hinzuziehung eines photographischen
Künstlers und dabei noch die genaueste Anweisung von Seiten des auftrag-
gebenden Forschers von Nöthen. Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass eine
solche Anweisung nicht überall leicht zu ertheilen ist, und dass es oft Mühe
kostet, selbst sehr tüchtige, aber mehr an malerisches Portraitiren, gewöhnte
Lichtbildner nach dieser Richtung hin zu schulen. Am besten ist es
freilich, wenn der Forscher, selber Photograph, seine eigene derartige Thä-
tigkeit auch selber zu regeln vermag. Dazu kommt freilich ein schädelge-
rechter Professor nicht häufig, wenigstens nicht ein deutscher, denn Ausga-
ben für andere Zwecke als wissenschaftliche, wie z. B. Wittwenkassenbei-
träge, auch häusliche Misere, verkümmern ihm leicht die Mittel, eine für seine
Zwecke so wichtige Kunst, wie die Photographie, seibeigen betreiben zu
können. Nun bringt freilich eine photographische Aufnahme bald einmal
unnützes, für das Verständnis« gelegentlich sogar störendes Beiwerk mit in
das Bild, wie zu grelle Lichteffecte, dem Specimen selbst anhaftende Flecke,
Krustentheile u. s. w. Dergleichen können aber durch eine vorsichtig an-
uach eenauer Profil- und Facestellung wiedergegeben. Namentlich haben in dieser Hinsicht
unsere bedeutenden Künstler, wie z. B. Choris, H. Vernet, M. Rugendas, Prisse, G. Richter,
W. Genta gegen die von uns erörterten Normen gefehlt, Normen, die, wie mir oft genug
begegnet, von Adepten, von Kunst anstrebenden Dilettanten, oder über Kunst schwatzenden Laien
meist als steif, hölzern, unmalerisch u. s. w. getadelt, ja z. Th. gänzlich verworfen werden. Nun
gebe ich zwar vollkommen zu, dass Jemaiid, der sehen kann und sehen will, auch an % und
% Profilstellungen von R;issenköpfen noch eine leidliche Charakteristik erkeimt, allein die Wis-
senschaft verlangt doch strengere Norm zur übersichtlichen Vergleichung und zwar mit allem
Recht. Die bildende Knust, welche mehr für die Allgemeinheit schafft, bedarf solcher Normen
weniger und wird daher öfter die ansprechendere, mehr Leben, mehr Abwechslung gewährende,
halbe Profilstellung wählen und nicht Alles nach pedantischer Norm von vorn oder von der
Seite darstellen.
*) Leider bildete bisher die geschäftliche Kngherzigkeit unserer photographischen Verleger
in dieser Hinsicht ein bedauerliches Hinderniss für die Weiterverbreitung in wissenschaftlicher
Hinsicht so wichtiger Vorlagen
93
gewandte Retouche verdeckt werden. Uebrigens sei hierbei sogleich bemerkt,
dass ich der Retouche nirgendwo zuviel Macht einräumen möchte, am
Allerwenigsten in Händen ordinärer photographischer Geschäftsleute. ich!
wenige der letzteren Kategorie Angehörende sind daran gewöhnt, ihre Pho-
tographien schablonenmässig mit dem Pinsel durchzuarbeiten, hier einem eit-
len Korporal oder llandlungsbeflissenen den Milchbart anzustreichen, dort
einer frechen Bühnenheldin die sinnlich aufgeblähten Nüstern auszuschattiieu
u. s. w. Alles Oberflächlichkeiten, tagesübliche, für die Wissenschaft wenig
verwerthbare Routine! Ich lasse mir jetzt, nachdem ich selber einiges Lehr-
geld gezahlt, die von hiesigen tüchtigeren Photographen anzufertigenden Auf-
nahmen wissenschaftlicher Gegenstände roh überliefern und retouchire sie
mir lieber je nach Bedürfnis* entweder selbst, oder ich unterlasse dies auch
wohl ganz. Ich weiss dann wenigstens immer, was ich vor mir habe.
Leider ist die directe photographische Vervielfältigung nach dem gegen-
wärtigen Stande der Sache noch sehr kostspielig, die sogenannte Phototy-
pie nicht minder und somit wird es sich denn vor der Hand da, wo nicht
besonders günstige Umstände coneurriren, durchaus empfehlen, die fertigen
Schädelphotographieu von geschickten Kupferstechern, Lithographen oder Holz-
schneidern für die weitere Publikation verarbeiten zu lassen. Es bietet diese
Art der Weiterverbreitung immerhin den Vortheil, dass durch die Hand
der ausübenden Künstler das Schädelbild häufig sogar in einer dem Verständ-
niss noch zugänglicheren Form überliefert werden kann, als in Form der Ori-
ginalaufnahme allein. Uebrigens sollte man möglichst darauf bedacht sein,
dem ausführenden Künstler zur weiteren Darstellung die Original-Schädel
auch noch neben den photographischen Aufnahmen derselben zu übergeben,
um damit Jenen in den Stand zu setzen, selbst die nöthige Kontrole üben
zu können. Ein solches Verfahren wird bei mangelhafteren Schädelpho-
tographien durch die anzustrebende Genauigkeit der Methode sogar geboten.
Lange habe ich geschwankt, ob ich für die in Rede stehenden cranio-
logischen Abbildungen zur vorliegenden Arbeit nicht den Lucaeschen Ap-
parat*), dessen mancherlei Vorzüge ich aus eigener Erfahrung kenne und auch
stets gerne anerkenne, mit dessen Hülfe der Erfinder, sowie die Herren
Ecker, Landzert u. A. so brauchbare Schädeldarstellungen geliefert, zur Nach-
bildung auch meines eigenen Schädelmateriales in Anwendung ziehen sollte
oder nicht. Allein ich bin dennoch wieder zur Photographie, als der in ein-
facherer, weniger Zeit kostender Weise auszuführenden, nicht nur Umrisse.
sondern ein detaillirtes, perspectivisches Bild gewährenden Methode zurück-
gekehrt. Ich stimme ferner auch mit H. v. Nathusius überein, nach dessen
Ausspruch selbst geometrische Schädelaufnahmen für exaete Messun-
*) Beschrieben in J. C. G. Lucae: zur Morphologie der Rassenschädel, Frankfurt a. IL 1864,
S. 14 und Th. Landzert: Aretiv für Anthropologie. II, S. 3, 4. (Vergl. auch C. Vogt: Vorle-
sungen, I, S. 87 ff.)
04
fren nicht anwendbar sind und niemals directe Messungen ersetzen könn-
ten. „Wer von dem abgebildeten Schädel eine klare Uebersicht gewinnen
wolle, nü'issr uothwendig Messung und Beschreibung neben dem Bilde be-
nutzen." )
her Haupttheil dieser Blätter war bereits niedergeschrieben, als ich den in
der Sitzung der Berliner anthropologischen Gesellschaft vom 12. März 1IS70
gehaltenen Vortrag des Dr. G. Fritsch „über die Anwendung der Photogra-
phie zur Darstellung von Schädelabbildungen im Vergleich zur Anwendung
des Lucaesehen Zeichnenapparates" vernahm. Fritsch ist gänzlich unabhängig
von mir zu ähnlichen Aussprüchen gekommen. Er berührt beiläufig die
Notwendigkeit, die durch Benutzung von Lucae's Apparat in natürlicher
Grosse des Objectes gewonnenen Zeichnungen (mit dem Storchschnabel) ver-
kleinern zu müssen, auch er erwähnt, dass Messungen sich an solchergestalt
gewonnenen Zeichnungen nicht genau durchführen lassen, da die Schiefheit
der Objecte Fehlerquellen eröffnet. Directe Messungen an den Schädeln
seien weder bei geometrischen noch photographischen Aufnahmen zu ver-
meiden. Auch der Vortragende pries die genauere Detaillirung der photo-
graphischen Aufnahmen und wies die den letzteren (meist aus Unkunde) ge-
machten Vorwürfe zurück. **)
Wem nun hinlänglicher Raum und ausgiebige Mittel zu Gebote stehen,
die Abbildung der Antlitz-, Seiten-, Scheitel- und Hinterhaupts-,
ja womöglich auch noch diejenige der Grundbeinansicht eines jeden iko-
nographisch darzustellenden Schädels veröffentlichen zu können, der wird sich
des Vortheiles eines embarras de richesses erfreuen. Ueber einen solchen
vermag freilich nicht Jeder zu verfügen. Es kann damit sogar ein überflüssiger
Luxus getrieben werden. Meines Erachtens genügen die Antlitzansicht (Norma
facialis), die Seitenansicht (N. lateralis), die Scheitelansicht (N. verticalis), um
die hervorragendsten Eigentümlichkeiten eines Schädels bildlich zu charak-
terisiren. Zwar bemerkt C. E. v. Bär, dass die Hinterhauptsansicht (Norma
occipitalis) des Schädels besonders instructiv sei, indem der Umfang des Hin-
terhauptes von einer deutlich fünfeckigen Gestalt, die bald mehr hoch, bald
mehr breit sei, durch Abrundung der Ecken in eine Ellipse oder in einen
Kreis übergehen könne***). Indessen lassen sich die Eigenthümlichkeiten der
Hinterhauptsansicht, die bei sonst in naturgemässer Weise entwickelten Schä-
deln kaum je sehr bedeutungsvolle Abweichungen aufweisen wird, ganz gut
und zwar am ehesten nach der von Bär selbst (a. o. a. O. S. 54 ) gegebenen
Bezeichnungsweise, beschreiben, was dagegen bei den Antlitz-, Seiten-
*) Abbildung Min Sc-hweiiit'Sfhiult'In zu ilm Vorstudien für Geschichte und Zucht der Haus-
siere. Berlin 1804, S. 22.
**) Eine genauere Darlegung von Dr. Fritsch's Ansichten über diesen Gegenstand wird der
Btenographirte Bericht im Sitzungsbülletin der Berliner anthropolog. Gesellschaft, lieft II, Jahrg.
1870 dieser Zeitschrift, bringen.
"") Bericht über die Zusammenkunft einiger Anthropologen iu Göttingen. Leipz. 18G1. S. 47.
95
und Scheitelnormen nicht immer so genau ausführbar sein dürfte Gewisse
Eigentümlichkeiten der Hinterhauptsregion linden auch schon in der Seiten-
ansicht ihren vollen Ausdruck, so z. B. die Stellung und Entwickeluug des
äusseren Hinterhauptsstachels, die Stellung des Zitzenfortsatzes u. s. w. Bei
den künstlich verbreiterten Schädeln der Peruaner, Philippinenbewohner
u. s. w., dagegen werden bildliche Darstellungen der Hinterhaupts- und
selbst der ßasilarnorm zu unabweisbaren Bedürfnissen. Uebrigens gewäh-
ren uns viele der vorzüglichsten craniologischen Schriften, u. A das oben
citirte Werk über den Göttinger Anthropologencongress selber, n ur die Ant-
litz-, Seiten- und Scheitelansicht der abgebildeten Schädel. Wenn
ich es aber auch einestheils nicht für einen Fehler erklären kann, die Schä-
delabbildungen in Fällen, in denen Sparsamkeitsgebote es erheischen, auf
Wiedergabe dreier vorzüglich wichtiger Normen zu beschränken, so vermag
ich doch andererseits nimmermehr einem allzu übertriebenen Kargen in dieser
Beziehung das Wort zu reden.
Morton's sonst so treffliche und in reicher Zahl gewährte Abbildungen
altägyptischer Schädel sind, eine einzige Figur auf Taf. XII ausgenommen,
sämmtlich nur nach der Seitenansicht gezeichnet worden. Zum Glück sieht
man dieselben meistens mit Konsequenz nach einer Richtimg, d. h. alle
mit dem Antlitze nach rechts, gekehrt. Selbst Pruner giebt in seiner vorzüg-
lichen Abhandlung über die alten Aegypter in den Memoiren der pariser
anthropologischen Gesellschaft (I, Taf. 12, 13) nur che Antlitz- und nur die
Seitenansicht der von ihm als typische abgebildeten Mumienschädel. Gerade
hier wäre aber die Darstellung auch der Scheitelansicht sehr am Platze ge-
wesen. Höchst tadelnswerth erscheint es mir, wenn ein und derselbe Cra-
niolog in seiner Abhandlung für diese Völkerschaft Antlitz-, Scheitel-, Seiten-
und Hinterhauptsansicht, für eine benachbarte, verwandte oder fremde dage-
gen Antlitz-, Scheitel- und Hinterhauptsansicht, für eine dritte, ebenfalls ent-
weder nahestehende oder fremde Nation wieder Antlitz-, Scheitel- und Basilar-
ansicht abbildet. In dieser Beziehung ist eben ein colnseq uentes Ver-
fahren erste Bedingung. Wohl dem, welcher seine Abbildungen in natür-
licher Grösse zu bringen vermag, wie es C. G. Carus im Atlas der Cra-
nioscopie, Lucae z. Th. in seiner Morphologie der Rassenschädel, K. E. v. Bär
in den Crania selecta, C. Vogt in seiner Arbeit über die Mikrophalen, Davis
und Thurnam in ihrem Prachtwerke : Crania britannica gethan haben. Leider
werden jedoch immer nur wenige unserer Forscher im Stande sein, über den
dazu nöthigen Raum zu verfügen. Auch muss wohl berücksichtigt werden,
dass mit so grossen, stattlichen Tafeln verzierte Werke die Herstellungskosten
gleich ganz gewaltig vermehren. Durch solche Rücksichten werden denn
auch die meisten Craniologeu sieh gezwungen fühlen, ihre Schädelabüildun-
gen zu reduciren. In einer Zeitschrift vom Formate der vorliegenden ver-
.■-rtlit steh Letzteres ganz und gar von selbst.
In Bezug auf die unserrn Hefte beigefügten Abbildungen von Mumien-
96
schadeln bemerke ich beiläufig, das dieselben, der dunkelbraunen (von harzi-
ger Imprägnation herrührenden) Färbung der Originale wegen etwas entschie-
den im Tone gehalten wurden. Da nun die Aussenfläche der Originale durch
Ueberreste zurückgebliebener resinöser Umgiessung, deren vollständigste Ent-
fernung auch bei sorgfältiger Präparation ohne gleichzeitige Anschabung der
äusseren Tafel nicht gelingen wollte, etwas glatt geblieben, so musste dies
auch schon im Steindrucke berücksichtigt werden. Man wird daher hier ver-
geblich nach Wiedergebung von Knochenleistchen, Höckern, Löchern suchen,
wie sie unsere späteren Darstellungen der Oberfläche nicht einbalsamirter
Schädel in stärkerem oder geringerem Grade bieten sollen. Einige kleine
Unfertigkeiten nun, welchen man hier bei Betrachtung dieser ersten mensch-
lich-craniographischen Versuche eines aufstrebenden Künstlers, wie A. Meyn,
begegnen wird, können in Zukunft leicht vermieden werden. Sie sind zum
Glück auch nicht bedeutend genug, um die Brauchbarkeit der Abbildungen
zu beeinträchtigen. Man trifft leider! deren noch viel schlimmere in hervor-
ragenden craniologischen Werken der Neuzeit.
Es ist mir nicht selten passirt, dass Jemand von vornherein eine Schä-
delabbildung als unrichtig tadelte, weil er sich nicht darein finden konnte,
die dargestellten Normen aufeinander zu beziehen und sich daraus eine ent-
sprechende Vorstellung zu bilden. Es kann nicht genug anempfohlen wer-
den, gerade in dieser Hinsicht erst genau zu prüfen, bevor geurtheilt werde.
Messungen am Lebenden, am Skelet und namentlich am Schä-
del gehören zu den wichtigen Aufgaben unserer Forschungen. Schädel-
messungen sollen uns in dieser Arbeit gehörig beschäftigen. Ich habe
zwar bereits früher eindringlich davor gewarnt, an diese Untersuchungsmethode
in einseitiger Weise allzu kühne Hoffnungen zu knüpfen*). Indessen gewährt
uns die Craniometrie (wie sich dies an von einander sehr abweichenden For-
men bereits mit nur wenigen Zahlen darthun lässt), ein Hülfsmittel von
nicht zu unterschätzender Bedeutung. Selbst bei sehr ähnlichen Formen lei-
ten uns die Zahlen, sind ihrer nur nicht allzuwenige, oft weit sicherer in der
Schätzung der Verhältnisse der einzelnen Theile zu einander, als dies die
sorgfältigste Beschreibung vermag.
Es fragt sich nun, wie und wo sollen die Schädel gemessen werden?
Aeby sagt a. o. a. 0. S. 5: „Die Methode der Messung muss sich an den
ganzen Organismus des Schädels anschliessen und eine stereoskopische An-
schauung desselben in den drei Richtungen des Raumes gestatten, sie soll,
wo immer möglich, aber auch dazu dienen, die Schädelforra als solche in
einfachen Linien darzustellen; denn Zahlentabellen sind nicht Jedermanns
Sache und Vielen wird es schwer, den Begriff der Zahlen in denjenigen der
*) Vergl. Jahrgang 1869. S. 32, 33. Man vergleiche ferner die ganz vortreffliche Behand-
lung der hier in Anregung gebrachten Fragen bei Aeby : Die Schädelformen des Menschen und
fler Affen. Leipzig 1867, S. 5, S. 57 ff.
07
räumlichen Anschauung zu übersetzen Ein Versuch in dieser Richtung ist
meines Wissens nur von Welcker in seinen sogenannten Schädelnetzen ge-
macht worden*); die Form des Kopfes ist dabei jedoch ganz aufgegeben und .
sie leisten für die Versinnlichung der wirklichen Kopfform kaum mein- als
die Zahlen selbst. Die Messung muss aber namentlich auch so eingerichtet
werden, dass sie mit Leichtigkeit die individuellen Schwankungen hervortre-
ten lässt. Im Allgemeinen ist gewiss viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf
gerichtet worden zu erfahren, innerhalb welcher Grenzen eine gewisse Form
variirt, ohne die Norm zu verlassen. Wir halten bereits betont, wie nirgends
vielleicht wie in der Anthropologie der einzelne Fall nur durch Verbindung
mit anderen Fällen Werth erhält; durch nichts lassen sich aber getrennte
Formen so leicht wie durch Zahlen zusammenschmelzen. Je grösser die Reihe
der einzelnen Beobachtungen, um so sicherer werden die gewonnenen Mit-
telwerthe der Individualität abgestreift und sich zum Ausdrucke des reinen
Typus erhoben haben. Endlich ist es aber wiederum die Messung, welche
allein einer Anforderung Genüge zu leisten vermag, die an jede Vergleichung
ähnlicher Gebilde gestellt werden muss. Nur Gleichwertiges hann wirklich
verglichen werden; auch die Schädel müssen demnach vor Allem gleichwer-
tig gemacht werden, um einen sicheren Schluss auf ihre Aehnlichkeit oder
Unähnlichkeit zu gestatten. Es geschieht dies in der Weise, dass alle Grös-
sen auf ein und dasselbe im Schädel selbst enthaltene Maass bezogen wer-
den. Die von Aeby aufgestellten Principien zur Messung von Schädeln sind
in einer anderen Schrift desselben Forschers ausführlich dargestellt worden**).
Verf. sucht in seiner weiter oben citirten „die Schädelform u. s w." betitel-
ten Arbeit, die mit Hülfe dieser Methode gewonnenen Resultate näher dar-
zulegen. Bekanntlich handelt es sich bei Aufstellung von Aeby's Principien
darum, alle Schädelmaasse auf eine gemeinsame Grundlinie zu reduciren,
welche zwischen Hinterhauptsloch und Siebbeineinschnitt des Stirnbeines ge-
zogen, sich auch am nicht durchsägten Schädel mit Sicherheit bestimmen lässt.
W. Krause verlangt nun, da?s vor Allem die Wachsthumgrösse der einzelnen
Schädelknochen in bestimmten Richtungen gemessen werde, denn es könne
dieselbe Form bei verschiedenen Schädeln ohne Zweifel durch verschiedenes
Wachsthum verschiedener Knochen factisch hervorgebracht werden***).
Ich gebe zu, dass die hier angedeuteten, einerseits von Aeby, anderer-
seits von Krause befolgten Gesichtspunkte einen bedeutenden wissenschaftli-
chen Werth haben, und dass es sehr vortheilhaft sein würde, wenn man der-
artige Gesichtspunkte bei Anstellung aller Schädelmessungen im Allgemeinen
*) Untersuchungen über Wachsthum und Bau des menschlichen Schädels. I. Theil. Leip-
zig 1862. S. 24.
**) Eine neue Methode zur Bestimmung der S^hädelform des Menschen und der Säugetbiere.
Braunschweig 1862. Schon Huxley hatte seine basicranial axis als Einheit empfohlen
***) Archiv für Anthropologie, I, S. 252 Weiter ausgeführt von Dr. Sasse das. II, S. 101
lind nochmals von Krause das. III, S 136.
98
als Grundlage benutzen wollte. Ich komme spater auf dieselben zurück,
indem ich im Anhange Messungen meiner Aegyptersehädel auch nach den
Methoden anderer Forscher zu veröffentlichen gedenke. Es ist bereits von
mehreren Seiten dagegen geeifert worden, die Schädel nur au ihrer Oberfläche
/.u untersuchen, und nicht auch zugleich den Innernraum derselben der Kon-
trole durch den Maassstab zu unterwerfen. So stellt z. B. unser Lucae die
Forderung, dass man den zu untersuchenden Schädel durch einen senkrechten
Schnitt von hinten nach vorn und von oben nach unten vorsichtig öffnen,
die auseinander genommenen Schädelhälften nach stattgehabter Untersuchung
durch Drathhefte vereinigen und so das Ganze wieder zusammenfügen solle.
Das ist sicherlich sehr schön! Man kann wohl von vornherein zugestehen,
dass die durch Substanzverlust bei Führung des Sägeschnittes erzeugte Fehler-
quelle zu unbedeutend sei, um eine besondere "Würdigung zu verdienen. Auch
würden sich bei mit aller Vorsicht angestellter Zusammenfüguug der ausein-
andergesägten Schädelhälften Beschädigungen der also behandelten osteologi-
schen Präparate vermeiden lassen. Und trotz alledem lässt sich die übrigens
so erspriessliche Methode, den Schädelinnenraum etwa nach den oben berühr-
ten Vorschlägen behufs Anstellung von Untersuchungen, besonders aber
von Messungen, in Betracht zu ziehen, nur in den seltensten Fällen zur An-
wendung bringen. Denn nur wenige Directionen öffentlicher anatomischer
Sammlungen und womöglich noch weniger die Besitzer von Privatmuseen
möchten sich dazu herbeilassen, eine derartige Behandlung der ihrer Obhut
anvertraueten oder ihr Eigenthum bildenden Präparate zu gestatten. In sol-
chen Dingen spricht der sogenannte leidige Usus ein bedeutendes Wort, zu-
mal die Aufsichtsbehörden, deren wir im Schoosse des Staatsleben nimmer
eutrathen werden, bei solchen Eingriffen sich vielleicht nicht zustimmend
äussern dürften. Ich selbst spreche aus Erfahrung in dieser Angelegenheit,
und viele Fachgenossen werden mir Recht geben. Aus vielseitiger Rücksicht
auf einen durch Jahrzehnte geheiligten Usus vermag ich selbst, z. B. die im
Berliner anatomischen Museum befindlichen Schädel nicht mit der Säge an-
zugreifen. Mir würde es sogar peinlich sein, bei Entleihung fremder, mir
sonst vielleicht mit grosser Liberalität bewilligter Schädelpräparate zugleich
um Erlaubniss zur Aufsagung zu petitioniren. Uebrigens könnten sich die
allgemeinen anthropologischen und prähistorischen Kongresse, deren es in
unserem modernen Europa alljährlich irgend eine neue Auflage giebt, wohl
gelegentlich mit Verhandlung solcher in den internationalen wissenschaftlichen
Verkehr tief eingreifender Fragen, wie die Art der Benutzung gegenseitig als
Studienmaterial zu leihender Skelete und Skelettheile u. s. w., überhaupt mit
gröstmöglicher Regelung des gegenseitig zu leistenden Unterstützungs- und
Tauschverfahrens beschäftigen, als sich gar zu ausschliesslich tief mit Einzel-
heiten über Steinsplitter, Topfscherben, Bronzereifen, Knochenfragmente u. dgl.
aus irgend einer Fundstätte, mit Höhlenkannibalismus u. s. w. zu beschäfti-
gen. Vielleicht liesse sich da doch eine gewisse Einigung erzielen, welcher
99
gegenüber einzelne Eigensinnige aus Furcht vor Blamage nicht mehr Wider-
stand leisten möchten. Uebrigens gewährt auch eingehendere Betrachtung
der „äusseren Schale" manche Gelegenheit, nicht allein das Allgemeinere
bei Schädeln zu kennzeichnen, sondern selbst sogar individuelle Eigentüm-
lichkeiten und Schwankungen festzustellen. Ich behaupte mit Welckcr, dass
man zunächst gründliche und umfassende Messungen am äusseren Schädel
anstellen müsse, auch frage ich mit Welcher, ob man etwa auf die Messung
des äusseren Schädels verzichten solle, weil man denselben durchsägen und
sein Inneres zugänglich machen könne?
Bekanntlich existiren ziemlich viele Schemata für die Ausführung von
äuwserlichen Schädelmessungen u. A. nach Virchow, Bär, Huxley, Wel-
ckcr, Ecker. Ich selbst habe nicht das Bedürfhiss empfunden, ein neues auf-
zustellen, mich vielmehr mit einem aus den schon vorhandenen zusammenge-
stellten begnügt. Dasselbe scheint mir den nöthigen Erfordernissen zu ent-
sprechen. Ich werde diesem Schema daher in dem nachfolgenden cranio-
logi sehen Texte den Hauptplatz einräumen, jedoch in einem Anhange
(Note VII) auch Maasse meiner Schädel nach den Methoden von Pruner, B.
Davis und W. Krause geben. Nach Pruner und Davis nämlich, um gewisse
Vergleichungen mit dem reichen, von ihnen abgehandelten Materiale zu er-
möglichen, nach Krause, um auch einem Verfahren gerecht zu werden, des-
sen vielfache Vorzüge ich anerkenne. Mir handelt es sich hier zunächst um
Angabe solcher Zahlen, die eine leichte Vergleichbarkeit mit den früher von
mir an anderen Schädeln (afrikanischen)' gewonnenen, zulassen. Ich l>e-
trachte die Sehäd elme ssung als eine nothwendige Ergänzung der Schä-
delbeschr eibung und der Schädelabbildung. Je mehr Material daher
zur Messung vorhanden, desto besser*). Nun glaube ich zwar keineswegs,
mit Demjenigen, was ich bei dieser Gelegenheit zu bieten vermag, die Osteo-
logie der altägyptischen Köpfe nur einigermassen erschöpfend behandeln,
indessen hoffe ich damit dennoch unsere Kenntniss des Baues dieses interes-
santen Volkes wenigstens etwas fördern zu können. Nach dieser Richtung
hin muss ja ein jeder Beitrag erwünscht sein.
Uebrigens pflege ich mich bei meinen Messungen folgender Instrumente
zu bedienen: 1) eines Tasterzirkels mit nicht zu dünnen Branchen, 2) eines
") A. Ecker sagt in Bezug auf seine an deutschen Schädeln angestellten Messungen,
dass er auf solche der Körper der Schädelwirbel, der Gapacität, überhaupt auf Messungen, die
sich nur am durchsägten Schädel veranstalten Hessen, verzichtet, da es ihm namentlich darum
hätte zu tlmn sein müssen, an einer grossen Anzahl von Schädeln Messungen vor-
nehmen zu können, die also schon deshalb keine complicirten hätten sein dürfen. Dass
solche Messungen Manches zu wünschen übrig Hessen, verkenne er, Verf., keineswegs, er glaube
alier, dass bei Untersuchungen, wie die ihm vorliegenden, auch die genauesten Messungen nur
weniger Schädel nie den Vortheil bringen könnten, wie eine, wenn auch weniger genau durch-
geführte einer grossen Reihe. Im ersteren Falle werde man immer Gefahr laufen. Unwesentli-
chem eine zu grosse Rolle zuzuschreiben (('rania Germaniae Meridionalis Occidentalis. Freiburg
i. Br. 1865. S. 3).
100
Stangenzirkels, nach Art des Schustermaasses geformt, mit nach innen zu
schräg abgefeilten Branchen, 3) eines nach Welcher' s Angabe*) construirten,
festen Millimeterstabes, auf welchem ich die an den Branchen des Taster-
zirkels und des Stangenzirkels mit dem gewöhnlichen Zirkel genommenen
\la;isse abstecke**), 4) eines (biegsamen) Fischbein- und eines Bandmaasses.
Das Fisehbeinmaass benutze ich zur Kontrole mancher mit dem Bandmaasse
ausgeführter Messungen. Leider sind die Bandmaasse dehnbar, sowohl die
aus bedrucktem Leder als auch die aus bemaltem Köper verfertigten. Man
kann sie aber für diese und jene Distanzen wieder besser als das Fisehbein-
maass gebrauchen, mit dem man dann immer ohne Zeitverlust wenigstens ge-
wisse Linien nachzumessen vermag. Es kommt bei diesen Dingen ja nur
auf einige Uebung an, um fertig damit handthieren zu lernen. Selbstverständ-
lich folge ich dem metrischen Systeme.
In meinen Tabellen wird man die folgenden Messungspunkte angegeben
finden.
A. Mit dem Bandmaasse genommen:
1) Von der Nasenstirnbeinnaht bis zum Hinterrande des Hinterhaupts-
loches über die Wölbung der Stirn-, Scheitel-, Hinterhauptsbeine hinweg.
2) Von der Nasenstirnbeinnaht über die Wölbung des Stirnbeines bis
zur Kranznaht.
3) Länge der Pfeilnaht.
4) Von der Kranznaht längs der Pfeilnaht über die Hinterhauptswölbung
hinweg bis zum Hinterrade des Hinterhauptsloches. Worm'sche Knochen
schliesse ich da, wo dieselben gänzlich in der Kontinuität einer Naht befind-
lich, in das Maass derselben mit ein, wo dergleichen aber an der Berührungs-
stelle dreier Nahtzüge befindlich sind, ohne der einen oder anderen aus-
schliesslich zugerechnet werden zu können, messe ich dieselben besonders.
Ich füge übrigens eine Angabe des Sachverhaltes anmerkungsweise hinzu.
5) Von der Mitte zwischen den Stirnbeinhöckern über die Wölbung der
Schädeldecke hinweg bis zur hervorragendsten Stelle am Hinterhauptsbeine.
6) Vom Hinterrande des Warzenbeines in gleicher Höhe mit dem Unter-
rande der äusseren Gehöröffnung über die Schädelhöhe hinweg bis zum ent-
sprechenden Punkte der anderen Seite.
7) Breite des Stirnbeines. (Grosseste Br. an der Kranznaht.) Länge
des Stirnbeines 8. unter 2.
8) Länge des Hinterhauptsbeines von der Pfeilnaht über die Protuberantia
hinweg bis zum Hinterrande des Hinterhauptsloches.
9) Breite des Hinterhauptsbeines. (Grosseste Br. an der Lamdanaht).
10) Breite des Scheitelbeines, von der Pfeilnaht über die grosseste Wöl-
bung hinweg bis zur Schuppennaht. Länge dies. Knochens, entsprechend.
•) Archiv für Anthropologie I. S. 07, Fig. 36.
*•) Etwas umständlich, aber gut!
101
11) Horizontal umfang, nach zweierlei Methoden, nämlich entweder a) über
die Stirnbeinhöcker und etwa 1 Cent, oberhalb des äusseren Hinterhau]
chels, oder b) über den Alveolarfortsatz des Oberkiefers, die äussere Gehör-
öffnung, den Zitzentheil des Schläfenbeines, die Hinterhauptsschuppe, hinweg.
B. Mit dem Tasterzirkel.
12) Von der Mitte zwischen den Stirnbeinhöckern bis zur hervorragend-
sten Stelle am Hinterhauptsbeine.
13) Grosseste Breite, einerlei wo, z. B. an den Scheitelbeinhöckern.
14) Von der Ohröffnung bis zur Glabella.
15) Von ebenda bis zur hervorragendsten Stelle am Hinterhauptsbeine.
16) Von der Nasenstirnbeinnaht bis zum Vorderrande des Hinterhaupts-
loches.
17) Länge und Breite des Stirnbeines.
18) Länge und Breite des Scheitelbeines (in der Mitte der Suturränder).
19) Länge und Breite des Hinterhauptsbeines.
C. Mit dem Stangenzirkel.
20) Vom Vorderrande des Hinterhauptsloches bis zum Vorderende der
Gaumennaht am Alveolarrande der Oberkieferbeine.
21) Länge des harten Gaumens vom Alveolarrande längs der Gaumen-
naht bis zum hinteren Nasenstachel.
22) Länge der Nasenbeine, längs des vorderen Randes derselben ge-
messen.
23) Breite der Augenscheidewand zwischen den Berührungsstellen des
Nasentheiles des Stirnbeines und des Thränenbeinkammes.
24) Höhe 1
«» ™ •, l der vorderen JNasenounung.
25) Breite J
"26) Länge der Oberkieferbeinnaht vom vorderen Nasenstachel bis zum
Alveolarrande.
27) Abstand der beiden Keilbeiustachel von einander.
28) Abstand der Spitzen der Warzenbeine von einander.
29) Länge des Hinterhauptsloches. Breite desselben.
30) Grosseste Jochbreite.
31) Abstand der Stirnbeinhöcker von einander. Bekanntlich variiren
dieselben ganz ungemein hinsichtlich ihrer grösseren oder geringeren Aus-
bildung (was freilich auch bei den Scheitelbeinhöckern und bei noch anderen
Hervorragungen an der äusseren Schädelfläche der Fall). Man kann sich nun,
wie schon Welcker anempfiehlt*), dadurch helfen, dass man im Einzelfalle in
einer Anmerkung die Beschaffenheit der Stirn- und Scheitelhöcker kurz her-
*) Archiv für Anthropologie I, S. 9i.
102
vorhebt. Zur genaueren lokalen Bestimmung der Stirnbeinhöcker kann man
sich mit Vortheil eines von Welcker in Vorschlag gebrachten Verfahrens be-
dienen, und dasselbe ebenso auf die lokale Bestimmung der Scheitelhöcker
anwenden*).
Die Messung der Höhe des Schädels vollführe ich mit dem Stangenzir-
kel, dessen eine Branche auf die Ebene des Hinterhauptsloches, an dessen
Vorder- und Hinterrand, gelegt wird, während die andere Brauche die gros-
seste Schadelwölbung berührt. Auch messe ich die sogenaunte aufrechte
Schädel höhe nach K. E. v. Bär. Letzterer sagt: „Es hängt nicht nur der
Atlas nach hinten über, sondern auch der Kopf auf ihm, was durch die Rich-
tung des Foramen magnum mehr oder weniger ausgedrückt wird. Die Höhe,
welche der Kopf bei aufrechter Stellung von hinten zeigt, findet man, wenn
man einen Arm eines Stangenzirkels an den hinteren Rand des Foramen
magnum setzt, ihn parallel mit dem oberen Rande des Jochbogeus haltend,
und den anderen Arm an die Wölbung des Scheitels legt. So gemessen, legt
sich die Wölbung des Scheitels bei den meisten Köpfen viel gleichmäs-
siger an. )
Die Gesichts höhe lässt sich endlich zwischen Nasenstirnbeinnaht und
Alveolarrand des Oberkiefers messen.
Am Unterkiefer messe ich den Abstand des inneren Kinnstachels vom
Winkel, die Höhe von der Horizontalen bis zur Spitze des Krön- und bis
zur grössten Wölbung des Gelenkfortsatzes, Alles mit dem Stangenzirkel.
Uebrigens halte ich bei meinen Messungen einen gewöhnlichen Zirkel,
Loderstreifen, Schnur und Touche, Dinte oder weichen Bleistift bereit, um
jederzeit etwaige andere Messungen (z.B. an den hinteren Nasenöffnungen,
an der äusseren Gehöröffnung u. s. w.) vornehmen, auch um eine etwaige
Kontrole ausführen zu können.
Die Anführung des Höhen-, des Breiten- und des Breitenhöhenindox ge-
hört endlich zu der wichtigsten bei jeder anthropologischen Untersuchung und
darf auch hier nicht fehlen.
§ 14. Kehren wir nunmehr nach diesen allgemeinen Betrachtungen zu unse-
ren specielleren über die altägyptischen Schädel zurück. Obwohl bereits
mannigfache Untersuchungen über „Mumienschädel" angestellt worden sind,
so war doch anher das Ergebniss derselben für die Bestimmung der nationa-
") .Man visire, die Schädelbasis gegen sich haltend, das Profil der Stirnhöeker; der Schädel
wird niiiliin so gehalten, dass der Horizontalumfang des Stirnbeines den Horizont bildet. Auch
die flachen Stirnhöeker würden in diesem Falle eine geringe Vbrwölbung zeigen, deutlich genug,
um mit der Bleifeder über den Gipfel jedes derselben einen senkrechten, der Stirnraitte paralle-
len Strich lallen zu können. Nun wird der Schädel von der Seite visirl und wenn das enl
sprechende Profil des 8tirnhöckers gefunden ist. eine horizontale (in de,. Horizontalumfang fal-
lende) Linie gefällt. Das so entstandene Kreuz wird bei Wiederholung des Versuchs seine Stelle
o ut wie nichl wechseln." A. <> a. 0. S. 95.
•♦) Bericht übet die Zusammenkunft einiger Anthropologen in Göttingen u. s. w. Leipzig
18G1, S 50. Vergl. auch A. Ecker: Crania Gcrmaniae Meridionalis üccideutalis, S. 3.
103
len Stellung ihrer früheren Inhaber, die eine Pruncr sehe ausgenommen, ein
recht dürftiges gewesen. Höchstens war man damit wieder auf die Verwandt-
schaft der Aegypter mit „Hindus" gekommen, oder man hatte die Leberzeu-
gung vom echt „kaukasischen Schädelbau" dieser Menschen gewonnen, mau
hatte sie anmittelbar mit den Hottentotten zusammenzuwerfen gesucht, Ideen,
für welche die Ausführungen Josaphat Hahns einen ebenso kidin gedachten,
wie sonderbar dargelegten Commentar liefern*). Was ist doch in unserer
jungen Wissenschaft bis jetzt nicht schon Ades dagewesen ! Man ist. weit
in die Ferne geschweift, wo das Gute so nahe lag. Wenigen ist es einge-
fallen, sich unter den afrikanischen Nachbarsfänimen der Aegypter selbst nach
Verwandten für dieselben umzusehen !
Wenn schon die früheren Untersuchungen über die Schädel und Ske-
lete der Mumien, abgesehen von mancher wackeren Förderung unserer ana-
tomischen Detailkenntniss derselben, nur höchst wenigen ethnologisch ver-
werthbaren Stoff geliefert (vergl. vorigen Jahrgang, Heft II), so lässt sich das
leider in fast gleichem Grade auch von vielen neueren Arbeiten behaupten.
Ich will dies im Folgenden darzuthun suchen.
Blumenbach hat, wie ich bereits im vorigen Jahrgange auf S. 141 ganz
kurz erwähnt, in den Decades den Schädel einer ägyptischen Mumie in Dec. I
Tab. I, den noch mit Weichtheilen bedeckten einer anderen in Dec. IV
Tab. XXXI, den einer dritten in Dec. VI Tab. LH abgebildet und beschrie-
ben. Gewisse Einzelnheiten dieser genauen Beschreibungen werde ich bei
meinen späteren eigenen Darstellungen altägyptischer Crania berücksichtigen.
Dasselbe soll mit Soem'merings in seinen Consequenzen mir unzuträglich er-
scheinenden Beobachtungen dreier Mumienschädel geschehen1"'). Blumenbacb
kommt hinsichtlich der Verwandtschaft der Indier und Aegypter auf craniolo-
gischem Wege zu dem Schlüsse: „Ipsam vero analogiam ultro et luculenter
probat biga craniorum istarum gentium quae non obstante sive aevi quo vixe-
runt, sive terrarum quas incoluere distantia, ita ad amussim inter se conve-
niunt at in collectione rnea vix ac ne vix quidem alias duas dissitarum natio-
num calvarias sibi adeo persimiles videre liceat. Conveniunt ut universo ha-
bitu ita praesertim fronte, facil ad malas angustiore, nasi ossibus parum pro-
minulis sed a glabella leviter decurrentibus. et orbitis amplis."***)
Auch stiebt Blumenbach weitere anatomische Einzelnheiten in einer in den
Philosophical Transactions MDCCXCTV p. 174 veröffentlichten Arbeit: Ün
some Egyptian Mummies etc. (Vergl. auch vor. Jahrgang S. 141.)
Sehr schön ausgeführt und auch für die craniologische Untersuchung nutz-
bar, sind die in dem antiquarischen Atlas zur Descript. d'Egypte II, T. 49,
Fig. 1, 2. dargestellten zwei 6 mit Weichtheilen bedeckten Mumienköpfe.
*) Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin u. >. w. .lab ig. 1 869.
") De corporis huuiani fabrica I, p. 70.
***) Dec. VI, pag. 8. Bengalensis craniuw Tab. LI11.
104
Einen solchen, eines 9 Individuums, hat auch Granville abgebildet. Die völ-
lig übersichtliche Schädeldecke zeigt den characteristisohen Habitus des Wei-
berschädels*). Granville liefert ferner eine Abbildung dos Beckens (Tab. XX),
er giebt auch Körper- wie Beckemnaasse seiner Mumie. Er fügt hinzu: „Weit
davon entfernt irgend einen Zug von äthiopischem Charakter zu verrathen,
hat dieser Theil uuserer Mumie eine Bildung, welche in jeder Beziehung von
der europäischen Schädelform abweicht (S. 14). Verfasser vergleicht dann das
von ihm abgebildete Mumienhaupt mit dem von Blumenbach in Decas III
dargestellten Schädel einer Georgierin, mit welchem jener vieles gemein ha-
ben solle**).
Pettigrew schliesst sein durch den Abdruck einer vergleichenden Dar-
stellung von Körperinaassen verschiedener Mumien verdienstliches Resume
über die „physical history of the Egyptians" mit dem Ausspruche: „I have
seven heads in my collection, and with the exception of oue specimcn, that
of the mumming of Th. Saunders, there is not the slighest approximatiou to
the Negro character".***)
Leider habe ich den von Yimont in dessen Traite de Phrenologie 1836
pl. C. Fig. 2, sowie den von Carus in dessen Atlas der Cranioscopie, Heft II,
abgebildeten Mumienkopf nicht in Vergleich ziehen können.
S. Morton hat i. J. 1844 137 Aegypterschädel, in demselben Jahre deren
noch 17, i. .). 1851 deren noch 23, erhalten. Sein Material hat im Ganzen aus
140 alt- und 37 neuägyptischen Schädeln bestanden f).
*) Philosophicai Transactions MDCCOXXV pl. XXI.
**) \nf ärztlichem Wege habe ich Gelegenheit gehabt, zwei filtere tningrelische Weiber, eine
junge Frau aus dvv achalzigher Gegend (Imereti) und zwei junge georgische Mädchen zu sehen.
Der ganze Typus dieser Personen zeigte sich himmelweit vom ägyptischen verschieden. Mei-
nes Krachteus lässt die Blumenbach'sche Abbildung in ihrer übelgewählten Stellung eine Ver-
yleichung mit Granville's Profildarstellung kaum einmal zu. Teber Rassenschädel Caucasiens
vergleiche übrigens B. Davis Thesaurus craniorum. London 1867, p. 126 ff. (Note VIII). Gran-
ville fährt dann fort: „Es lässt sich behaupten, dass Cuvier's auf Untersuchung von über fünf-
zig Mumienschädeln gegründete Ansicht bezüglich des kaukasischen Ursprunges der Aegypter
in den im Vorstehenden erörterten Beobachtungen eine Stütze findet, und dass die auf den
Negertypus basirten Systeme durch fast sämmtliche neueren, sicherlich höchst genauen For-
schung. M aber diesen Gegenstand hinfällig gemacht werden. Es ist eine merkwürdige und von
mehr als einem Reisenden beobachtete Thatsache, dass in Oberägypten ganze Familien gefunden
werden, bei denen der allgemeine Character des Kopfes und des Antlitzes denen der ausgezeich-
netsten .Mumien von Theben und nicht weniger auch den auf den alten Denkmälern dieses Lan-
des abgebildeten menschlichen Figuren höchst ähnlich ist- (15). „Die Mumien von Sagarah
dagegen stehen, wie alle Reisenden anerkennen, denen aus Oberägypten weit nach und können
deshalb bei Untersuchungen übci die Kunst des Einbalsamirens bei den alten Aegyptern nicht
m Konkurrenz gezogen werden" (21), was sehr richtig ist. (Vergl. vor. Jahrg S. 153.)
'") A history of Kgyptian mummies. London MDGCCXXXIV, p. 166.
f) Urania aegyptiaca. Observations on a Second Series of Ancient Kgyptian Crania in
Proceedings Acad. Vit. 8oc. Philadelphia Ort, 1844 p. 8—10. — Catalogue of Skulls :i ed.
I84!t. In Van der Iloevens Oatalogus craniorum diversarura gentium, Lngduni Batavorum 1860,
geschieht keiner Mnmienschädel Erwähnung.
105
Williamsou bemerkt: „Im „Army Medical Museum" befinden sieb elf
Mumien schädel und zwei (d. h. noch vollständige) Mumienköpfe. Die betref-
fenden Schädel haben die unter Europäern überwiegende ovale Form. Sie
sind alle wohlgebildet; die Schläfenleisten sind sehr entwickelt und liegen
hoch am Kopfe; die Stirn ist hoch und eben, im Allgemeinen ohne hervor-
tretende Augenbraunbögen, die Nasenbeine stehen hoch und sind schön gebo-
gen, der Oberkiefer ist gerade, die Zähne sind eben und an den Kronen
platt, die Schneidezähne klein, dick und rund, nicht, wie gewöhnlich, abge-
plattet und scharfkantig, sondern abgestumpften Kegeln ähnlich. Die Dentes
cuspidati (Eckzähne) sind nicht zugespitzt, sondern breit und flach, wie die
neben ihnen stehenden bicuspidati (vorderen Backzähne), wohl eine Folge
mechanischer, durch die Beschaffenheit der Nahrungsmittel bedingter Ab-
nutzung. Der Gehörgang liegt nicht höher am Schädel, sondern mit der Basis
der Nase in einer und derselben Ebene. Die Knochen sind fest und dicht,
jedoch nicht in dem Grade, als dies bei anderen Rassen der Fall und das
Gewicht der Schädel ist verhältnissmässig nicht bedeutender. Das Haar war
bei keinem der Schädel, als dieselben nach Dublin gebracht wurden, wollig,
sondern fein mit der Neigung, sich zu kräuseln und zu Locken zu vereinigen.
Der Schädel No. 208 nähert sich einigermassen der Negerschädelform, inso-
fern der Alveolarfortsatz des Oberkieferbeines an der Vorderseite breit und
hervorstehend ist und eine dem Schläfenmuskel zur Insertion dienende hoch
am Kopfe liegende Knochenleiste besitzt. Die Nasenbeine sind hoch und wohl
gewölbt, die vordere Nasenöffnung zeigt europäische Form*). Worm'sche
Knochen der Hinterhauptsnaht fanden sich bei drei Schädeln und ebensoviele
in der Schläfenbein- und Keilbeinnaht. Das Hinterhauptsloch war gross bei
einem, klein bei drei Exemplaren. No. 205: Grosses und wohlgebildetes Cra-
nium. Stirn hoch, glatt und schön gewölbt. Hinterer Kopftheil gross. Lei-
sten für die Anheftung des Schläfenmuskels hoch am Schädel befindlich, bis
zum Scheitelbeinhöcker aufsteigend. Alveolarfortsätze geschwunden. No. 206:
Schädel wohlgebildet. Stirn hoch, gut gewölbt, Scheitelbeinhöcker und Hin-
terhaupt vorragend. Leiste die für Insertion des Schläfenmuskels hoch am Kopfe
befindlich. Alveolarfortsatz des Oberkieferbeines gross, vorn breit, etwas vor-
stehend, Nasenbeine nicht stark gewölbt"**).
Den Bemühungen J. Czermak's verdanken wir die sehr detaillirte Keunt-
niss zweier von ihm makroskopisch und mikroskopisch untersuchter Mumien,
einer erwachsenen Weibsperson und eines etwa fünfzehnjährigen Knaben, beide
unbekannten Fundorts. U. A. äussert sich Czermak über die reinen und
schönen Formen des Knabenschädels, der, von oben betrachtet, einen ovalen
Umriss zeige. Die Gesichtsknochen würden bei dieser Ansicht völlig von
der mächtig entwickelten Hirnschale verdeckt, und nur die Nasenbeine um!
*) Was heisst hier europäische Form?
♦•) Dublin Quarterly Journal of Medical Science. Vol. XX.III, 1857, p. 334 ff.
jteiUcbrtft lur Etliuulojjie, Jahrgang lbTu. g
106
die Auffinge der Jochbögen ragten an der vorderen Peripherie ganz unbedeu-
tend hervor. Bei der Seitenansicht bemerke man keine Spur von Progna-
thismus. Das Gesicht sei verhältnissrnässig klein und der Kiefer nicht im
Mindesten vorgestreckt. An der Nasenlinie biege sich die Profillinie sehr be-
deutend ein. Von vorne betrachtet, sei- das flache Gesicht auf seine Länge
ziemlich breit. Besonders auffallend sei die Breite der wenig gewölbten Na-
senwurzel. Die geräumigen Augenhöhlen ständen weit auseinander. Der
weibliche Schädel zeige von obenher betrachtet, im Umrisse ein von beiden
Seiten abgeflachtes, mehr in die Länge gezogenes Oval. Das Gesicht sei bei
dieser Ansicht dem Blicke völlig entzogen. Die geringste Breite sei vorne
in der Schläfcnaeerend. Im Profil falle das bedeutende Hervorstehen des Hin-
terhauptes auf. Die Kiefer seien nicht vorgestreckt. Von vorne betrachtet
ergebe sich das Gesicht als sehr breit, im Verhältniss zu den merklich abge-
flachten Schläfen. Die Augen ständen weit auseinander; die Nasenwurzel
sei auffallend breit, wenig gewölbt, aber aufgerichtet. Die Jochbeine träten
stark hervor u. s. w.*). Czermak möchte den Knabenschädel zu Morton's
pelasgischem, den Weiberschädel etwa zu dessen ägyptischen Typus stellen.
Wichtig erscheint es mir ferner, auch der Ansichten unseres Anders
Retzius über den beregten Gegenstand zu gedenken. „Im Museum des Karo-
linischen (medicochirurgischen) Museums (zu Stockholm) befinden sich vier
Schädel von ägyptischen Mumien" u. s. w. — „Der eine von diesen hat einem
ägyptischen Manne angehört, der zweite einem älteren, der dritte einem jün-
ren Frauenzimmer." — „Das Haar auf den Mannsschädeln war abgeschnitten,
auf dem der Frauenzimmer war es noch vorhanden, eine halbe Elle lang,
fast gerade, etwas lockig und ziemlich fein. Bei allen dreien war es hell-
kastanienbraun. Alle vier Schädel waren von länglich-ovaler Form und von
grösserem Umfange, als beim Neger. Bei den Mannesschädeln verhielt sich
die grösste Länge zur grössten Breite wie 1,37 : 1. Die Stirn ist schmal, der
Scheitel gut gewölbt, die Schläfen sind flach, die Parietalknochen von dem
Scheitel nach hinten lang abhängig; das Hinterhaupt lang und schmal. Der
eine Mannesschädel hat ein grosses Interparietalbein. Der Hinterhauptshöcker
geht einen Zoll hinter die Protuberantia occipitalis, welche bei beiden Man-
nesschädeln einen grossen Zacken bilden. Das Conceptaculum cerebelli ist
klein und liegt horizontal. Die Linien der Nackenmuskelansätze sind bei
allen stark ausgedrückt. Die Warzenfortsätze sind gross, das Hinterhaupts-
loch ist eirund, mittelmässig; die Jochbeine, die Jochbögen, die Augenhöhlen
und die Wangengruben sind wie beim Neger, aber die Nasenwurzel ist auf-
gerichtet, wie bei einem Europäer; der untere Nasendorn, welcher beim Ne-
ger nicht selten fehlt, ist sehr gross und vorstehend, der Abstand des Nasen-
dorns vom Alveolarrande gross; die Zahnlade gross, die Alveolarränder sind
•) Sitzungsberichte der mathem.-naturwiss. Classe der Kais. Akademie der Wissenschaften,
IX. Band, S. 427 ff. (S. 11, 14 des Separatabdruckes, 1862).
107
hervorstehend; die Zahnwurzeln lang; die Zähne bei dem einen von derselben
Form, wie bei den Europäern im Allgemeinen. Bei zweien der anderen sind
die Kronen bis au die Hälse abgenutzt. Der Unterkiefer ist nicht hoch, das
Kinn schmal, aber abgestutzt, der Alveolarrand nach vorn etwas hervorragend.
Die Männerschädel sind dicker als gewöhnlich und stark gebaut. Man kann
von diesen Schädeln dasselbe sagen, was Prichard von einem Mumienschädel
im Hunterian-Museum sagt, dass „die Form europäisch ist, mit Ausnahme
der Alveolarränder, die mehr vorstehend sind. Demzufolge, was ich nach
der macer irten Haut linden zu können geglaubt habe, ist deren Farbe, mei-
ner Meinung nach, chokoladenbraun gewesen. Nach dem, was ich auf diese
Weise bei den vorhandenen Schädeln gefunden, verglichen mit den Angaben
anderer Schriftsteller, glaube ich, dass sie den Kopten oder uralten Einwoh-
nern Aegyptens augehört haben."
,.Die Völker Afrika's sind sämmtlich Dolichocephalen." — „In Afrika
fehlt, soviel man bisher weiss, jede Spur brachycephalischer Bevölkerung." —
Das Carolinische Institut besitzt eine nicht geringe Sammlung afrikanischer
Schädel; aus Nordafrika von Abyssiniern, Kopten, Berbern und Guanchen;
sie haben alle dieselbe Schädelbildung: grosse, geräumige, ovale Schädel, sehr
nahe denen der Araber gleichend. Der abyssinische, ebenso wie der kop-
tische, sind etwas prognathisch". — „An allen diesen Schädeln, sowohl von
Abyssiniern wie von Aegyptern und Guanchen, setzt sich das Schädelgewülbe
in eiuen langgestreckten Bogen plötzlich gegen den hervorstehenden grossen
Hinterhauptshöcker ab, welcher auch an den Seiten etwas zusammengedrückt
ist; die Scheitelhöcker ragen wenig hervor. Diese Schädelform lässt sich als
die herrschende im Küsten- und Hochlande, sowie in den Wüsten des nörd-
lichen Afrika beobachten"*).
Jüngst hat nun auch Davis in seinem Thesaurus p. 182 — 186 die Diagno-
sen von 14 alten und von zwei neuen Aegypterschädeln geliefert. Man ver-
gleiche hinsichtlich der von Davis gegebenen Maasse Note IX.
Ueber ein reiches Material hat auch Pruner verfügt. Ein Theil dessel-
ben stammte von dem als tüchtigen Zeichner bekannten Aegyptologen Prisse
d'Avennes her. Fast alle vom letzteren mitgebrachten Schädel waren the-
*) Ethnologische Schriften. Stockholm, Leipzig 1864. S. 36, 148, 149. Aus der zu diesem
posthuuieu Werke des hochgeschätzten Fachgenossen vom Herausgeber Gustaf Ret/ius geschrie-
benen Vorrede geht auf S. VII hervor, dass A. Ret/ins Tafeln und Manuskript zu einem theil-
weis.' ausgeführten Werke aber ägyptische Schädelformen hinterlassen. A. o. a. 0. fin-
del sich auf Tafel 1, Fig. V ein altiigyptisches $ Cranium in der Seiten- und Scheitelansicht
abgebildet. Die Tafeln sind nach Photographien zu * > lithographirt worden. In dem Anhange
XXIV stellt A. Retzius unter den afrikanischen Völkern die Guanchen, Möhren. Berbern, Ka
bylen, Kopten und Abyssinier, als \ tl an ten, den Negern, Käfern und Bottentotten, als Ae thio-
piern, gegenüber, eine, meinem l rtheil nach, verfehlte Ein t h ei lungs man ier. Aul
(Abdruck der bereits früher bekannten Arbeit über die Schädelform bei verschiedenen Völkern]
stehen die orthognathen und dolichocephalen Nubier, Abyssinier, Lcrbtru und Guanchen
den prognatheu und dolichocephalen Kaffern, Hottentotten und Koptenl gegenüber.
9*
108
baische, kaum einer früheren als der 18. Dynastie augehörende, einer war
von Memphis, einer von Monfallüt. Ueberdies verfügte Pruner über noch
andere Schädel des Museums von z. Th. unbestimmter Herkunft. Später hat,
wenn ich recht unterrichtet bin, der Aegyptologe Mariette-Bey diese Samm-
lungen durch reiche Zusendungen noch bedeutend vermehrt.
Unter allen bisher über ägyptische Craniologie veröffentlichten Arbeiten
ist die Pruner'sche die einzige, welche uns eine nähere Verknüpfung mit der
eigenen ermöglicht. Schon in seinem 1846 erschienenen, „Ueberbleibsel"
u. s. w betitelten Hefte hatte Pruner die Existenz zweier „extremer Ty-
pen" innerhalb der pharaonischen Bovölkerung nachzuweisen versucht. In
seiner neueren Arbeit (Memoires de la Societe dAnthropologie, I, p. 399 ff.)
charakterisirt er seine beiden Typen, einen feinen (type flu) und einen groben
(type grossierj noch näher. Der erstere soll sich durch Eleganz und An-
muth der Körperumrisse auszeichnen, sich bereits auf den alten Denkmälern
namentlich als Repräsentant des Königshauses vorfinden und mit leichten
Unterschieden den Haupttypus des gesammten Aegyptervolkes darstel-
len. Der grobe Typus dagegen soll plumpe Formen, breite Jochbögen, eine
etwas platte, an der Spitze abgestumpfte Nase, eine minder harmonische, klo-
bigere Beschaffenheit des Knochengerüstes, darbieten. Dieser grobe Typus
dürfte nach des Verfassers Ansicht das Produkt einer Mischung mit äthiopi-
schen Völkern zu einer Zeit sein, in welcher die hohen Kasten sich vor dem
Hyksos-Einfalle nach Süden geflüchtet. Die Denkmäler des neuen Reiches
von der XVIII. Dynastie an schienen einer solchen Hypothese selbst in Be-
zug auf Personen höheren Ranges Vorschub zu leisten. Indessen widersprä-
chen dem doch die Befunde in den der IV. Dynastie entstammenden Hypo-
gaeen von Sagarah. Unter allen auf diesen Werken abgebildeten Leuten
erkenne man nur im Könige Schafra und noch in einem einzigen Edlen die
Träger des feinen Typus, alle anderen, selbst der Grosspriester, gehörten
dagegen dem groben au. Diese letzteren hätten einen sehr verlängerten,
in der Scheitelgegend abgeplatteten Kopf.
Pruner giebt nun folgende osteologische Charakteristik zunächst des fei-
nen Typus: „Kleiner, ramassirter, wenig dicker, fester Schädel. Der Schei-
tel erscheint oval, hinten ein wenig verbreitert, erhoben (releve). Indem
nuu die Antlitzansicht dieselbe Form darbietet, kann man den Schädel
wohl einen harmonischen nennen. Die selten mit kleinen Augenbraunbögen
oder mit einem oberhalb der Glatze sich quer hinziehenden Wulste versehene
Stirn zeigt Neigung mehr gegen den Scheitel zurückzutreten als gegen die
Schläfen ; sie ist selten ganz gerade und hat nur ausnahmsweise den die Ne-
gerstirn auszeichnenden Längenwulst. Die Seitenränder des Stirnbeines bil-
den mit der Schädelbasis beinahe einen rechten Winkel. Diese Beschaffen-
heit der Knochenkapsel des Schädels entspricht einer ziemlich starken Ent-
wicklung der Vorderlappen des Gehirnes. Alles Dies gewährt der Stirn ein
„anniuthiges Aeussere". Die Stirnhöhlen sind klein. Die meistentheils weit
109
geöffneten Augenhöhlen zeigen eine vertikale Stellung und abgerundete Win-
kel; ihr Horizontaldurchmesser übertrifft den Vertikaldurchmesser stets am
einige Millimeter. Die Nasenbeine bilden an ihrer Wurzel fast eine gerade
Linie mit der Stirn, übrigens sind sie unter sehr spitzem Winkel vereinigt
und leicht nach unten gekrümmt. Die Nasenwurzel ist zuweilen verdickt,
wodurch der Zwischenraum zwischen den Augen vermehrt wird. An man-
chen Schädeln ist die Nase sogar stumpf, in diesem Falle vereinigen sich die
fast dreieckigen Nasenbeine unter weniger spitzem Winkel. Der Oberkiefer
ist klein, abgerundet und fast stets völlig orthognath. Der horizontale Ast
des Unterkiefers ist kurz, aber gewöhnlich ziemlich hoch, die beiden Winkel
sind sehr weit abstehend, im Gegensatz zum Kinn, welches klein und
sogar etwas unbedeutend erscheint. Der Gelenktheil des aufsteigenden Astes
ist gewöhnlich kürzer als der Kronfortsatz. Der Unterrand ist häufig gebo-
gen. Die Zähne sind immer sehr klein, mit hohler oder flacher Usur, schon
in der Jugend mit Spuren von Caries. Die namentlich im Unterkiefer eng-
stehenden Schneidezähne bieten zuweilen eine eher cylindrische als platte Form
dar. Man bemerkt den frühzeitigen Schwund der Zahnfächer an den alten
Schädeln ebenso wie an den heutiger ägyptischer Städtebewohner. Die
Wangenknochen sind klein, abgerundet, vertikal, die Wangengruben sind ge-
wöhnlich nicht ausgeprägt. Die Seitenansicht zeigt dieselben rundlichen Con-
touren, die leicht gewölbten Schläfen und wenig tiefen Schläfengruben, ferner
wenig ausgeprägte, niedrige Lineae semicirculares , kurze, dünne und ge-
rade, aussen flache Jochbögen. Selbst bei diesem „schönen" Typus verbindet
sich der Schuppentheil des Schläfenbeines zuweilen direct mit dem Stirnbeine.
Die Scheitelhöcker treten im hinteren oberen Drittel des Schädels zum Vor-
scheine. — Das meist abgerundete Hinterhaupt ist in Gegend der äusseren
Tuberosität selten eingezogen oder vorspringend. Am unteren Theile seines
Schuppentheiles zeigen sich wenig deutliche Muskeleindrücke. Derselbe ist
leicht gewölbt und seine Verbindung mit dem oberen Theile der Schuppe
geschieht unter einem stumpfen Winkel. Die Gelenkfortsätze des Hinter-
hauptes sind klein und flach: das grosse Hinterhauptsloch ist elliptisch, sein
Hinterrand ist mit dem Gaumengewölbe in gleicher Höhe, sein Vorderrand
ist etwas niedriger. Das Gaumengewölbe ist tief, kurz, am Zahnrande abge-
rundet. Die Gehörgänge haben eine normale Stellung, sie sind massig weit
und, wie sich deutlich wahrnehmen lässt, dem Hinterhaupte mehr, als der
Stirn genähert; diese Differenz beträgt einen Centimeter. Die Zitzenfortsätze
sind klein und abgerundet.
Der weibliche Schädel ist ohne Ausnahme wohl-charakterisirt durch:
Verminderung des Längsdurchmessers (diam. antero-posterieur), völlige Abrun-
dung des Hinterhauptes, vertikale Entwicklung der hinteren Gegend und all-
gemeine Feinheit der Züge der Physiognomie".
Pruner beweist aus seinen Maasstabellen, dass dieser Typus die Mitte
zwischen Dolicho- und Brachycephalie hält. Dieselbe Beziehung lässt sich
110
im Allgemeinen auch auf das Gesicht anwenden. Was das Verhältniss der
einzelnen Antlitztheile zu einander betrifft, so erscheint die Nase in Bezug
auf die Länge des Untergesichtes etwas kurz. Diese Differenz beträgt bei
einigen Individuen bis zu 15 Millim. Die oben berührte, hin und wieder
\oikoiumende Stülpnase findet sich übrigens auch öfters unter den lebenden
Repräsentanten des feinen Typus*).
„Der grobe Typus findet sich noch heut bei Kopten und muselmän-
nischen Fellachen. Der Schädel ist hier umfangreicher und massiver. Von
oben gesehen zeigt er ein breites und langes, mehr flaches, als gewölbtes
Oval; die Stirn, obwohl an der Basis ein wenig breit, steht zu der beträcht-
lichen Ausdehnung des Antlitztheiles des Schädels in keinem Verhältniss; sie
ist niedrig, weicht nach allen Richtungen zurück, hat vorspringende, eonver-
girende Augenbraunbögen, eine leicht eingedrückte Glatze und über dieser
einen bei allen Berbern, Aethiopen und zuweilen auch bei den Hottentotten
vorkommenden transversalen, halbmondförmigen Wulst. Die elliptische Form
und die geringe Entwicklung des Stirnbeines in seiner Frontalregion stehen
zu der beträchtlichen Entwicklung des mittleren Wirbels, namentlich im
oberen Theile, in scharfem Gegensatz. Die Stirnhöhlen sind gross, ebenso
die Nasenöffuung und die Augenhöhlen, welche letzteren etwas nach Aussen
gekehrt und bisweilen so hoch wie breit erscheinen. Die an der Wurzel ein-
gedrückte Nase ragt wenig hervor, ihre Beine sind kurz und zuweilen unter
ganz stumpfem Winkel vereinigt. Der Oberkiefer springt mit seinem Zahn-
rande vor, dieser ist aussenher zuweilen abgeflacht. Seine Wangenfort-
sätze sind breit und sehr weit abstehend, sie haben bis zu 98 Millimeter Di-
stanz. Die Wangenbeine sind massiv, hoch und am inneren Winkel ihres
Unterrandes vorspringend, ihre Gruben sind tief. Der Unterkiefer ist eben-
falls massiv und hoch, das Kinn ist viereckig. Im Profil erscheinen die Joch-
bögen nach Aussen gekrümmt, die Schläfen sind wenig gewölbt, die Schlä-
fengruben tief, die halbkreisförmigen Linien sehr erhaben, stark ausgeprägt,
ebenso zeigen sich die Muskeleindrücke an den Wangen, am Unterkiefer und
am Hinterhaupt. Die Scheitelhöcker sind weniger in die Augen fallend als
beim feinen Typus. Das Hinterhaupt ist viel schmäler und seine Seitenwand-
parthie abgeplatteter, die Verbindung beider Theile seiner Schuppe findet unter
spitzerem Winkel als beim „schönen Typus" statt; die Mittelleiste steht bedeu-
tend hervor. Die Zitzenfortsätze sind enorm, zuweilen sogar zweitheilig, auch
sind die Hinterhauptsknorren mehr geneigt, als beim „schönen" Typus. Man
beobachtet oft an den Seitenparthien der Lambdanaht Worm'sche Knochen
von grosser Ausdehnung. Die Zähne endlich, obwohl viel grösser, sind ab-
genutzt und krank sowie bei jenem, die Schneidezähne zuweilen eher cylin-
drisch als platt.
Die Verwachsung der Schädelnähte folgt, wie es scheint, einem ziemlich
•) L. c. p. 403-407.
111
regelmässigen Gange: sie beginnt am hinteren Theile der Pfeilnaht und fin-
de! später am Schläfentheile der Stirn-Seitenwandbeinnaht und endlich iu der
Mitte der Lambdanaht statt".
Aus den Pruner'schen Messungen ergiebt sieh eine ausgeprägtere Doli-
chocepbalie wie heim „schönen" Typus. Das Gesicht von vorn gesehen ist
breiter; und hei einigen Individuen übertrifft sein in gerader Linie gemessener
unterer Thi'il den Nasentheil um 26 Millimeter*).
(Fortsetzung folgt.)
Beitrüge zur vergleichenden Ethnologie.
Gesammelt in Süd- Amerika, von Prof. P. Strobel in Parma.
Auf meinen Reisen durch das südliche Argentinien und Chili, in den
Jahren 1865-1867, hatte ich mir, unter andern, auch die Aufgahe gestellt,
Materialien für das Studium der vergleichenden Paiäoethnologie- zu sammeln.
Ich halte es der Mühe nicht unwerth sie zu veröffentlichen, und glaube, dass
es am zweckmässigsten in dieser Zeitschrift, geschehn könne, da sie sich be-
sonders mit Ethnologie befasst. In gegenwärtigem Aufsatze will ich mich
lediglich darauf beschränken, von jenen Thatsachen zu berichten, die ich auf
der Reise von Curicö, in Chili, über den Planchonpass, nach Mendoza, in
Argentinien beobachtet habe; und es sind deren eben nicht viele. Sollte die-
ser Aufsatz den Beifall der deutschen Ethnologen sich gewinnen, so würde
ich andere darauf folgen lassen.
Pfahlbauten. Aus verschiedenen Gründen wurden und werden noch
Bauten auf Pfählen errichtet. Einige sind Wasserbauten, d. h. stecken stets
im Wasser, andere bleiben immer im Trocknen, andere sind zeitweise auch
vom Wasser umspühlt. Die Wasserbauten und jene auf trockner Erde wer-
den wohl um Menschen und Vorräthe vor Thieren und Feinden zu schützen
so gebaut, der Zweck der anderen Pfahlbauten aber, in der Nähe der Flüsse,
ist ein anderer, nämlich der, solche Bauten beim periodischen oder auch
ausserordentlichen Austreten der Gewässer vor Ueberschwemmungen sicher
zu stellen. Eigentliche Wasserbauten sah ich auf meiner Reise keine;
denn solche wird man schwerlich mehr bei anderen als bei barbarischen Stäm-
men finden, und ich habe deren keine besucht. Aber hätte ich auch das Ge-
*) L. c. p. 407—409.
112
biet der unabhängigen wilden Indianer Süd -Argentiniens betreten, so würde
ich schwerlich bei diesem nomadischen Reitervolke derlei Bauten gefunden
haben; auch ist mir nicht bekannt, dass irgend eine jener Indianertribu aul
Wasserbauten wohne. — Von Pfahlbauten im Trocknen spricht Bur-
meister in seiner Reise durch die La Plata-Staaten, Halle 1861. Er erzählt
von Kornmagazinen auf Pfählen in den Pampas, die so gebaut sind, um die
Vorräthe vor dem Zahne der Vizcacha (ausg. Bisskatscha) oder des Pampas-
kaninchen, Lagostomus trichodactylus Darwin, zu schützen. Ich selbst
habe keine davon sehen können; vielleicht weil sie jetzt selten geworden sind,
und zwar desshalb, weil auch jene Nagethiere immer minder gemein werden;
denn viele Landleute zahlen, seit einiger Zeit, eine Prämie für ihre Ausrot-
tung, die dadurch erreicht wird, dass man ihre Höhlen, Vizcacheras, zerstört.
— Hingegen fehlt es in Südargentinien nicht an Pfahlbauten der dritten
Art, und selbst nicht an derlei Pfahlb auten dörfern. Häuser auf Pfäh-
len, zum Theil recht saubere, giebt es z. B. im alten Bette des Rio Paranä,
bei San Pedro, in der Provinz Buenos Ayies, am Fusse der Barranca, oder
des steilen hohen Ufers, welches hier von der Ebene oder Pampa, zur rech-
ten des Flusses, gebildet wird. Den Rio Paranä herunterfahrend, gelangt man
in den La Plata Strom und an einem Nebenflüsschen zu seiner Rechten, Tigre
genannt, sieht man ebenfalls, bei Las Conchas (ausg. Kontschas), 21 Kilometer
nordwestlich von Buenos Ayres, viele Häuschen und Eisenbahnmagazine auf
Pfählen. Südöstlich und 3 Kilometer von der genannten Hauptstadt entfernt,
ist ein ganzes von Genuesern bewohntes Dorf, oder wohl besser eine Vor-
stadt von Buenos Ayres, Boca del Riachuelo (ausg. Riatschuelo) genannt, auf
Pfählen gebaut; d. h. die Häuser stehen auf 1 bis 2 Meter aus der Erde ra-
genden Pfählen. Unter die Wohnungen, zwischen den Pfählen, und auf die
Gassen werden die Küchenabfälle, die Ueberbleibsel der Industrie, todte
Thiere und anderes hingeworfen; der nahe Rio de la Plata, dessen Neben-
flüsschen der Riachuelo, d. h. Flüsschen ist, lagert bei seinen Ueberschwem-
mungen Schlamm, Sand, Muscheln u. s. w. auf jene Gegenstände; und so
wird sich mit der Zeit dort eine sogenannte Culturschicht bilden, die jenen
der vorhistorischen Wasserbauten der Schweiz, Oberitaliens und anderer Län-
der, der vorgeschichtlichen Ansiedlungen auf festem Boden in der Schweiz
(z. B. am Ebersberg bei Zürich), der Terramaralager Oberitaliens, der Kjoek-
kenmoeddinger Dänemarks, der Tepe von Persien*) u. s. w., analog sein
wird. Dass sich ähnliche Culturschichten auch auf ganz trockner Erde bil-
den können, davon habe ich mich auf San Vicente, einer der Inseln des grü-
nen Vorgebirges überzeugt, und die bezüglichen Thatsachen habe ich in De
*) Vergleiche zwischen diesen verschiedenen Anhäufungen vorgeschichtlicher Ueberreste des
Menschen wurden schon vor mehren Jahren von mir und Dr. Pigorini angestellt, und ihre Ana-
logie herausgehoben. Sieh die Abhandlung: Le Terremare e le Palafitte del Parmense, 2. rela-
zione. Milano, 1864.
113
Mortillet's Materiaux pour l'histoire de l'homme* bekannt gemacht. Auf der
Reise, deren ethnologische Erfolge in diesem Aufsatze besprochen werden sol-
len, habe ich zwar keinerlei Pfahlbauten gesehen; allein im baumlosen Thale
des Kio Atuel, an seinem rechten Ufer und an der Stelle, welch»' in den Land-
karten unter dem Namen Manantial, d. h. Quelle, del Atuel angegeben ist.
sah ich einen einzeln dastehenden Pfahl, der vermutblich der letzte Rest einer
Wohnung auf Pfählen war**) — und desswegen habe ich hier von Pfahl-
bauten gesprochen.
Wohnungen. Manche wunderts wie unsere ßronzemänner in elenden
Hütten wohnen konnten; und haben Mühe es als Thatsache anzunehmen.
Der Gaucho (ausg. Gautscho) oder Landbewohner im Innern Argentiniens hat
eben keine besseren Wohnungen, wie wir uns gleich überzeugen werden, und
dennoch lebt er in einer viel vorgerückteren Epoche der Civilisation, und
steht auf einer höheren Culturstufe als unsere Ahnen zur Bronzezeit. Er ist
vorzugsweise Hirte, und bringt die meiste Zeit auf dem Rücken seines Rosses
zu. Seine Hütte, Rancho (ausg. Rantscho), ist je nach Umständen verschie-
den gebaut. Die einfachste, rancho de totora, besteht nur aus Baumä6ten
mit einem Dache aus Sumpfrohr, Totora, Typha angustifolia Linne?; und
ist wohl keine bleibende Behausung. Das Skelett einer dauernden Hütte,
rancho de estanteo, besteht aus Pfählen und ihre Wände sind entweder
aus Maisrohr, das um die Pfähle geflochten wird, gebaut, oder aus getrock-
netem nicht gereinigtem Lehm, gemischt mit Sumpfrohr, oder mit einer Art
Stroh, paja (ausg. paha) oder Coiron, Andropogon species. Von Wohlha-
benheit und selbst von einem gewissen Grade von Luxus seines Bewohners
zeugt der rancho de adobe. Er heisst so, weil seine Wände aus Mauern
von adobes, d. h. an der Luft getrockneten, nicht gebrannten Ziegeln, oder
auch von adobones, das ist, gestampften und über einander gelegten Lehmpa-
rallelpipeden bestehen***). Und nicht besser als so ein rancho sind fast alle
Häuser in den Dörfern und den Städten der argentinischen Pampa, selbst in
den Provinzialhauptstädten, da sie aus gleichem Material gebaut sind, und nur
aus Zimmern zu ebener Erde bestehen. Auch das Dach dieser Häuser ist
zumeist von jenem der Ranchos nicht verschieden, d. h. ein Strohdach, aus
der gennnten paja. Gewöhnlich hat der Rancho eine einzige Oeffnung, die
zugleich Thüre, Fenster und gelegentlich Rauchloch ist. Manchmal giebt es
nichts um die Oeffnung zu verschliessen, andere Mal kann sie mit einem
Bretterladen versperrt werden; öfters versieht dessen Stelle ein Rahmen, worauf
') Formation actuelle d'une terramare a l'ile Saint-Vincent, in Materiaux etc. I. annee,
page 510.
**) Sieh das Buch: Viaggi nell' Argentinia meridionale effethiati negli anni 1865— 1S67.
Parma 1868, 1869. Vol. I. Fase 1. Pag. 79.
**') Wie man verfährt, um eine Mauer aus Adobones aufzubauen, habe ich weitläufig Seite 6
des II. Heftes der citirten Reisebeschreibung auseinandergesetzt und auf Tafel II. derselben habe
ich einen grösseren Rancho de estanteo abbilden lassen.
114
ein Pferde- oder Ochsen-Fell gespannt worden ist, oder ein solches Fell selbst,
das wie ein Vorhang aufgespannt wird. Die nackte Erde bildet den Boden
der Ranchos, so wie der meisten Häuser und von Glasfenstern ist keine Rede.
Derlei Wohnungen schützen einen kaum vor ungünstiger Witterung, vorzüg-
lich nicht vor Wind und Staub, und vor der Feuchtigkeit, die der Boden und
die porösen Lehmmuaern ansaugen. — Manches Mal ist in einem Kancho kein
Möbel zu sehen: der Reitsattel sammt Zubehör vertritt des Stuhls und Bettes
Stelle. Oefters findet man Holzprismen, welche als Sessel dienen, oder wohl
auch ein Paar roh gearbeitete Stühle und einen Tisch. Hie und da sah ich an
den Wänden hohe Lehmstufen, worauf Felle und Decken ausgebreitet werden
konnten, um darauf zu sitzen oder sich auszustrecken und zu schlafen. Auch
als Tische konnten sie dienen. In irgend einer Ecke wird man wohl auch
einen Asador (ausg. Assadör) oder Bratspiess und eine Pava oder Kanne zur
Bereitung des Mate oder Paraguayerthees gewahr. *) — Und dennoch, im Ge-
gensatze zu dieser erbärmlichen Wohnung und Hauseinrichtung, schmückt der
Gaucho nicht selten sein Pferd mit silberbeschlagenem Reitzeug und silber-
nen Steigbügeln, und silberne Sporen klirren an seinen Stiefeln, aus unge-
gerbtem Leder; Frau und Tochter sind mit goldenen Stecknadeln, Qhrgehenken
und Ringen, ja sogar mit weiter Crinoline ausstaftirt. Die Schmucksachen,
die Kleider, die Werkzeuge, die Waffen des Gaucho sind im allgemeinen ohne
Zweifel geschmackvoller und zweckmässiger verfertigt als jene unserer Urah-
nen aus den vorgeschichtlichen Zeiten; und dennoch sind seine Wohnungen,
wie gesagt, eben so elende Hütten, wenn nicht oft elender. Man wird zwar
einwenden, dass der Gaucho das Meiste, durch den Handel, aus Europa und
Nordamerika beziehe, während wir wissen, dass unsere Bronzemänner sich
selbst ihre Waffen, Werkzeuge und Schmucksachen aus dem Metalle gössen.
Allein man kann eiwiedern, dass auch die Gauchos manches, vorzüglich aus
Fell, Wolle, Zwirn, Thon u. s. w. sich selbst verfertigen, wie wir es in der
Folge sehen werden, und oftmals sehr zierliche Sachen, während andererseits
es erwiesen ist, dass auch unseren Bronzemännern allerhand durch den Han-
del zugekommen ist. Es soll uns also nicht mehr wundern, wenn diese, trotz
ihrer Cultur, dennoch in armseligen Hütten gelebt haben, in welchen ver-
muthlich auch, wie in den Ranchos, Holzprismen und Lehmstufen an den
Wänden gestanden haben werden und zu demselben Zwecke.
Corrales. Es giebt keinen Rancho ohne Corral, das ist eine Einzäu-
') Wer sich von einem Passagierszünmer bei einer Poststation in der Pampa, wie ich es
z. B. bei Rio Qninto bezogen habe, einen Begriff machen will, der bilde sich eben einen stroh-
bedeckten Rancho ohne Fenster ein, dessen Thure mit einem Bretterladen verschlossen werden
konnte. Links von der TIn'ire, wenn man eintrat, ward man eine Lehmstufe oder einen grossen
Adobone an der Wand gewahr, über den Ochsenfelle ausgebreitet waren; rechts in der Ecke
lehnte an der Wand eine Art dreizackiger, grosser Gabel, aus einem dreiästig auslaufenden Baum-
stamme. Zwischen diesen drei, sternartig von einem Zentrum aus einander abweichenden Zacken
lag ein Wasserkrug. Zwei roh gearbeitete Tische vervollständigten die comfortable Zimmerein-
richtung.
115
nung, gewöhnlich eine Pallisade, zum gelegentlichen Einsperren der im Freien
weidenden und übernachtenden Heerden. Solche Einzäunungen und oichl
etwa Ställe, müssen auch unsere vorgeschichtlichen Völker gehabt haben; und
auch jene unter ihnen, die auf \\ aaserbauten wohnten, konnten die Einzäu-
nungen nur auf dem festen Lande errichtet haben, denn auf den Pfahlhauten
selbst konnte wohl kein hinlänglicher Kaum dazu vorhanden gewesen sein.
Zu diesem Schlüsse werde ich überdies durch das Studium der Pfahlbauten-
reste aus der Bronzezeit in der Provinz Parma geführt; denn würden die
Hausthicre, mindestens die Nacht auf der Wasserbaute zugebracht haben, so
hätte ich hinlänglich Kuhfladen und Koprolithen der anderen llausthiere in
der Culturschicht der Pfahlbauten linden müssen; während ich nur ein einzi-
ges Mal in der Pfablbaute der Stadt Parma einen Kuhfladen anzutreffen im
Stande gewesen bin*).
Thongeschirr. Wenn man das Thal des Rio Claro in den Chileni-
schen Anden, hinaufreitet, um den Planchonpass zu erreichen, gelangt man
im Walde zu einem Lagerplatze, der Puerta de los Manantiales. oder das
Quellenthor, genannt wird. Während des Frühstücks das ich hier einnahm,
beobachtete ich die kleinen irdenen Töpfe, welche mein Führer, ein chilesi-
scher Huaso (ausg. Uasso) oder Bauer und seine Kameraden zum Aufbewah-
ren und Kochen der Speisen mit sich führten. Sie waren etwas bauchig, aus
freier Hand verfertigt und nicht im Ofen gebrannt; die einen waren schwarz
und die anderen röthlich. Diese verschiedenen Farben hängen nicht von
der verschiedenartigen Zusammensetzung des Thones der Geschirre, sondern
von der verschiedenen Art sie zu brennen und vom Grade der Hitze, der sie
dabei ausgesetzt werden, ab. An starkem rauchlosen Feuer und ohne mit
der Flamme in Berührung zu kommen, werden die Töpfe auswendig röthlich;
schwarze Geschirre hingegen bekommt man, wenn man sie bei gelindem Feuer,
welches mit Stroh oder anderen, sehr viel Rauch erzeugenden, Brennstoffen
ernährt wird, langsam und in Berührung mit dem Rauche brennt. Sowohl von
den röthlichen als von den schwarzen Töpfen giebt es solche mit glänzender
Oberfläche. Den Glanz erhält man dadurch, dass man die noch feuchte
Oberfläche des Geschirres, vor dem Brennen, mit einem sehr glatten Steine,
einem Polirsteine, glättet.
In den Pfahlbauten und Terramaralagern der Emilia (Parma und Modena),
aus der ersten Bronzeperiode findet man Thongefässe, die den genannten
chilesischen ähnlich sind, d. h. weder auf der Drehscheibe verfertigt, noch
im Ofen gebrannt sind. Was die Farbe der Oberfläche anbelangt, so giebt' s
darunter sowohl braune als röthliche, gelblichgraue, graue und asphalt-schwarzc
Töpfe, Schüsseln, Schalen, Becher und andere Geschirre; die grösseren roh
gearbeiteten Töpfe aber sind nie schwarz und haben stets eine poröse, matte
*) Le Terremare e le Palafitte etc. pag. 151.
116
Oberfläche, während vielr von den kleineren Gefässen sehr glänzend sind.
Schon anderswo habe ich mit Dr. L. Pigorini,*) die Meinung ausgesprochen,
dass die schwarze Farbe des erwähnten vorgeschichtlichen Töpferzeugs durch
dessen Räuchern beim Brennen, oder auch durch Beimengung von fetten oder
kohligen Stoffen erreicht worden sei. Die oben erwähnten, bei den Chilenen
beobachteten, Thatsachen zwingen mich nun, eher zur ersteren der zwei aus-
gesprochenen Meinungen mich hinzuneigen. — Wenn man Scherben von den
genannten, schwarzen Gefässen der Emilia in einem Brennofen ausbrennen
lässt, so werden sie scharlachroth und verlieren den Glanz. Scherben,
die ebenso roth und glanzlos sind, findet man dann und wann in unseren
Pfahlbauten und Terramaralagern. Ich glaube nicht, dass sie ursprünglich so
ausgesehen haben, da das Geschirr, von dem sie herrühren, nicht in Oefen
gebraunt wurde, und daher auch nicht eine so hochrothe Farbe annehmen
konnte. Sie müssen also wie die von mir geflissentlich im Brennofen ausge-
brannten Scherben aus denselben Fundorten, erst durch ein starkes Feuer,
durch einen Brand, so geworden sein; sie sind die Beweise irgend einer
Feuersbrunst. — In den Wasserbauten der Schweiz giebt es ebenfalls
schwarzes Töpferzeug mit glänzender Aussenseite; und die Schweizer Paläo-
ethnologen sind der Meinung, dass der Glanz durch Einreiben mit Graphit
erlangt wurde. Dieselbe Erklärungsweise konnte ich aber für das glänzende
Thongeschirr unserer Ablagerungen aus der Bronzezeit nicht annehmen, weil
in denselben kein Stück Graphit zu finden ist, und auch weit herum kein
solches Gestein ansteht; und weil überdies nicht alles glänzende Töpferzeug
auch schwarz ist, wie es aber sein müsste, wenn Graphit dazu angewendet
worden wäre. Ich nahm hingegen an, dass man feineren Thon auf die Ober-
fläche der Gefässe aufstrich, und sie dann mit gewissen spateiförmigen Instru-
menten, die sich mit dem glänzenden Geschirre vorfinden, glättete.**) Da,
wie gesagt, auf ähnliche Weise die chilesischen Töpfer dasselbe Ziel errei-
chen, so bestärkt mich diese Thatsache immer mehr in meiner Meinung.
lieber Stoff, Form, Zierrath u. s. w. der Thongefasse der Argentiner habe
ich manche Beobachtungen angestellt, die ich später mittheilen werde. Hier
möchte ich nur noch die Paläoethnologen vor Uebereilung beim Bestimmen
des Alters von irdenem Geschirre warnen, da man sich leicht dabei irren
kann; und um so mehr, wenn es sich nur, wie sehr oft, um Scherben dessel-
ben handeln sollte. Denn z. B. Töpfe, die jenen unserer ersten Eisenperiode
gleich sehen, wurden nicht nur von den Rhaeten, Etruskern und Römern ver-
fertigt, sondern werden jetzt noch in unseren Appeninen und wohl auch
anderswo fabrizirt. ***)
") Le Terremare e le Palafitte etc. pag. 83.
"') Le Terremare etc. pag. 84.
•**) Le TeiTemare del)1 Emilia, prima rela/.ione Torino 1862, pag. 10. — Le Terremare e
le Palafitte etc. p. 85. — Avanzi preromani raecolti nell' Emilia, Parma 1863, pag. 22. — Di
im Braccialetto e di un anello d'una forma particolare, rinveuuti in tombe antiche presto Rove-
redo. Verona 1867, p. 3.
117
Stein Werkzeuge.
Salz quetscher. Am Fusse eines der Bäume, welche die kleine Estancia
oder Meierei, Cepillo (ausg. Zepilio) bei San Carlos in der Provinz Mendoza
beschatten, lag ein grosser in der Mitte ausgehöhlter Stein aus roseurothem
Granit, Felsart, die in der Nähe ansteht. Neben ihm war ein kleiner rundli-
cher Stein hingestellt. Ein anderes ähnliches Hausgeräth aus Syenit sah ich
in Rio Quinto (ausg. Kintö), in der Pampa der Provinz San Luis. Mit sol-
chen Steinen zerquetscht man dort das Salz, welches zu dem Zwecke in die
Aushöhlung des grossen Steins gelegt, und mit dem kleinen, der in dieselbe
hineinpasst, d. h. dem Quetscher, zerdrückt wird. Die Gauchos haben ver-
muthlich diese Werkzeuge von den Indios Pampas oder Wilden der Pampa,
die von ihnen vernichtet oder verjagt wurden, ererbt; denn sowohl diese In-
dianer, als die Patagonier gebrauchen solche Instrumente zu demselben Zwecke,
und schon ihre vorhistorischen Ahnen bedienten sich ebenfalls derselben.*)
Unter den Ueberresten der vorgeschichtlichen Stämme Europa' s finden sich
desgleichen rundliche Steine verschiedener Felsarten, die man für Kornquet-
sche r hält, die aber vermuthlich ebenfalls Salzquetscher waren; denn Korn
wird wohl gemahlen, schwerlich aber gequetscht.
Schalensteine. — In Argentinien findet man nicht nur, wie ich so
eben angezeigt habe, ausgehöhlte, zum Salzquetschen gebrauchte, Rollsteine
aus der vorgeschichtlichen Indianerzeit, sondern auch Steinblöcke verschiede-
ner Grösse und Felsen mit Aushöhlungen, oder sogenannte Schalensteine aus
derselben Periode, und zwar giebt's deren, meines Wissens, sowohl in den
Anden, unweit v. Mendoza, aus der Epoche der Incas, als in der Sierra, d. h.
Gebirge, de San Luis in der Pampa**). Diese Schalensteine dienten, so wie
die Unterlagen der Salzquetscher, zum Zermalmen von Gegenständen, wie ich
später erörtern werde. Man trifft ihrer bekanntlich auch in Europa, aus vor-
geschichtlichen Zeiten, wie in Schweden (Morlot), in Meklenburg (Lisch),
in der Schweiz (Keller), bei Rocca Tederighi in Toscana (Simonin), so wie
in Californien aus der Neuzeit (Simonin). Die Franzosen nennen sie Pierres
ä ecuelles oder ä bassins.
Mörser und Stössel. — Weder Stössel, noch Mörser, noch Schalen-
steine sah ich auf der Reise vom Planchonpasse nach Mendoza. Allein da
sie, was ihren Gebrauch anbelangt, in die nehmliche Kategorie mit den Salz-
quetschern gehören, so ist, um Wiederholungen zu ersparen, in diesem Aut-
satze auch von ihnen die Rede. Stössel habe ich drei gesehen, und zwei
von ihnen nach Italien gebracht***). Der in dem Paradero del Molino bei
•) Paraderos preistorici in Patagoiiia. Milano 1867, pag. 3. — Einen Auszug davon giebt
die Zeitschrift für Ethnologie, I. Jahrgang, Seite 87.
") Siehe Strobel — Oggetti dell' etä della pietra levigata, rinvenuti nella provincia di San
Luis. Parma 1867 — Seite 11, Note 8.
•*•) Der eine von Patagones befindet sich im R. Museo di Antichita in Parina, der andere
von der Isla verde, im Museo civico in Mailand.
118
Patagones gefundene, aus Sandstein mit rauher Oberfläche, ist 34 Centimeter
lang und fast walzenförmig. Man konnte ihn also auch statt zum Stossen,
zum Zerquetschen anwenden, indem man damit, wie mit einer Rolle, üher
einen Mühlstein oder einen anderen flachen Stein hinfuhr. Einen anderen
Stössel bekam ich in Bahia blanca, nördlich von Patagones und vom Rio
Colorado. Man fand ihn, mit irdenen Töpfen und mit mehren andern Stein-
werkzeugen, in der nahen Isla verde, unter der Erde vergraben. Er ist aus
Grünstein, 21 Cent, lang, keulförmig, mit ziemlich glatter Oberfläche, vorzüg-
lich am breitern Ende. Den dritten habe ich schon beschrieben und abge-
bildet*). Er wurde in der Canada de San Luis aufgefunden und zwar in
einer der, bisweilen über einen halben Meter tiefen Furchen, die sich nach
einem Wolkenbruche dort im Boden bilden. Er ist aus weissem Syenit, seine
Länge beträgt 50 Cent, und seine Form steht zwischen der Form der Walze
und jener der Keule. Er dient noch jetzt um in einem Mörser von Stein oder
von Holz Salz oder Maiskörner zu zerdrücken. Diese werden somit von ihrer
Hülse befreit, dann gesiebt und in Wasser oder Milch gesotten; so ein Brei
heisst Mazamorra. Wir werden später umständlicher darauf zu sprechen
kommen. Stössel giebt es auch unter den Alterthüinern von Nord- und Mit-
tel-Amerika; so z. B. in den Indianer Gräbern von Chiriqui im Panama-Staate
(De Zeltner). — Die Hälfte eines Mörsers entdeckte ich im Paradero del
Molino bei Patagones, er ist aus Sandstein. Viele von den Steiumörsern die
gegenwärtig im Argentiner Lande gebraucht werden, stammen wohl von den
vertriebenen Indianern her, vorzüglich viele von jenen Mörsern, die sich in
der steinlosen Pampa finden. Der Steinmörser bedient man sich gegenwärtig
auch in Algier (Simonin) und im Departement de lTndre in Frankreich (Bou-
vet), wo sie Piles oder pierres a formentee genannt werden. — Ich glaube,
dass weder die Mörser noch die Schalensteine beider Kontinente ausschliess-
lich nur zu bestimmten Zwecken gedient haben, und noch gegenwärtig die-
nen; sondern, da es sich um einfache Werkzeuge erster Erfindung handelt,
bin ich der Meinung, dass sie selbst an demselben Orte, zu allerlei Zwecken
gebraucht wurden und noch gebraucht werden, je nach den Umständen und
den örtlichen Verhältnissen, aber wohl fast immer um Gegenstände zu zer-
drücken oder zu zermalmen; also z. B. sowohl um Korn zu zerstossen und
mit dem Mais, die genannte Mazamorra in Südamerika und einst die Polenta
in Italien, oder mit dem Weizen, den Mirci in Argentinien**), und die Fro-
meritee in Frankreich zu bereiten; als auch um Kastanien und Eicheln zu
zerquetschen, wie vielleicht in uralten Zeiten in Toskana und gegenwärtig in
Kalifornien, oder um Oliven zu pressen wie in Algier u. s. w. Ueberdiess
halt«; ich dafür, dass in derlei Schalensteinen und Mörsern wohl eist in spä-
terer Zeit auch Metallstufen zermalmt wurden, wie z. B. kupferreiche Mine-
•) 8t.rol.ul I. c. Seite 7, Fig. 11.
*') De la Cm/. — Descripcion de la naturaleza de los terrenos, y costumbres de los Peguen-
ehea (Pampas-Indianer), liuenos Ayres 1835 — äuite Ol.
119
ralien in Toscana und Goldstufen in Argentinien, so wie in Panama (Zeltner),
und zwar um das Schmelzen des Metalles zu erleichtern. — Wie gesagt, ha-
ben die Schalensteine vorzüglich zu gastronomischen und metallurgischen
Zwecken gedient, vielleicht aber hat man in denselben auch Gegenstände zu
dem Ende zerdrückt, um sie bei religiösen Handlungen oder Gelagen zu
opfern oder zu essen*). In dieser Beziehung muss ich aber bemerken, dass
die gegenwärtigen Pampasindianer, meines Wissens, nur das Herz von Thie-
ren und womöglich von jungen weissen Stuten opfern.
Mühlsteine. — In San Rafael, an der Südgrenze der Provinz Mendoza,
giebt's weder eine Wasser- noch eine Pferde-Mühle. Im Hofe des Hauses,
in dem ich gewohnt habe, lag eine Handmühle, ganz denselben ähnlich, die
Europas vorhistorische Völker uns hinterlassen haben und auch gleich denje-
nigen, die in den vorgeschichtlichen Paraderos Patagonien s und in den In-
dianergräben von Panama gefunden werden. Sie besteht aus zwei Steinen ;
der eine kleinere und etwas glatte, hat eine der Oberflächen flach und rauh,
und wird mit der Hand in Bewegung gesetzt: es ist der Reiber. Der andere
grössere Stein hat ebenfalls eine flache, rauhe Seite, gen welche der Reiber
gedrückt und bewegt wird, und mit dein Reste seiner Oberfläche sitzt er fest
auf dem Boden: es ist die Unterlage. Mit solchen Handmühlen mahlt man
in San Rafael das dort erzeugte Korn je nach dem Bedürfnisse des Augen-
blicks. Das so gemahlene Getreide wird gesiebt und das Mehl, welches man
erhält, ist bei weitem nicht so grob als man es glauben möchte.
Gegenstände aus Leder. — Der Gaucho oder argentinische Land-
bewohner, vorzugsweise Hirte, zieht von den Eellen seines Viehes den gröss-
ten Vortheil, den man von ihnen, ohne sie zu gerben, erzielen kann, und be-
dient sich ihrer zu den verschiedensten Zwecken. Er schneidet sie in Strei-
fen, die sogar so schmal sein können, dass sie kaum die Breite von 3 Milli-
meter erreichen und verfertigt sich damit Bänder, Riemen, Reitgerten
(lätigos), die zugleich Riemen sind, so dass er mit denselben die Füsse der
Pferde an einander schnüren kann, um ihnen das Davonlaufen zu verhindern,
wenn sie, oft stundenlang, in den Ortschaften oder auf dem Lande, in den
Gassen oder auf dem Felde frei gelassen werden, während er seinen Geschäf-
ten naehgeht. Mit jenen Lederstreifen flechtet er starke, dauerhafte Seile
und feine elegante Schnüre, wie z.B. jene der Steigbügel, deren Durch-
schnitt fast quadratisch ist. Aus Fellen sind oft seine Bett- und Sattel-
decken, und aus Fell verfertigt sich der Gaucho seine Botas de potro,
oder Stiefel , besser wohl Strümpfe, von der nicht gegerbten, zusammenhän-
gend abgezogenen Haut des Fusses und des unteren Theiles des Beins eines
Pierdes oder eines Füllen, potro, oder auch eines Ochsen. Sie sind nicht
genäht, sondern an den Füssen und Beinen desjenigen der sie trägt, gedorrt
•) Strobel — Pienes ä bassins de l'Ameriques du Sud. In De Mortillet — Materiaux pour
l'histoire de l'homme. Paris 1«07. 111. Jahrgang, Seite 398.
120
Zwei oder mehr Zehen ragen nackt daraus hervor. Der Gaucho kann sie
nicht mehr ausziehen und trägt sie also aus. — In San Carlos sah ich von
eiuem grossen Ochsenfelle einen sonderbaren Gebrauch macheu, d. h. sich
desselben wie einer Fuhre bedieneu. Man hatte nehmlich an einem Felle,
der Länge eines seiner Säume nach, einen Stab befestigt und an diesem ein
Pferd angespannt; das Fell war mit Sand und Steinen beladen worden und
wurde so zur Baustätte geschleift. So beiläufig mag wohl der erste Schlitten
oder Wagen den der Mensch, in der Steinzeit, erfunden, ausgesehen haben. —
Ich bin überzeugt., dass unsere Vorfahren aus der ersten Steinperiode, die
noch nicht Ackerbau getrieben haben, gerade wie die Pampasindianer und
das argentinische Hirtenvolk von den Fellen der wilden, so wie der zahmen
Thiere allen möglichen Gebrauch gemacht und Nutzen gezogen haben, eben
so wie von den Haaren, von der Wolle, von den Sehnen und von den Kno-
chen; obwohl natürlicher Weise nur von der Verarbeitung dieser letztem (in
der ersten Steinzeit) die Beweise bis auf uus haben gelangen können.
Unter den von mir in Argentinien beobachteten ledernen Gegenständen
verdienen eine besondere Erwähnung die ledernen Säcke. Im Innern jenes
Landes wird das dort geerntete Getreide in nicht gegerbten Fellen aufbewahrt.
In der Halle des Hofes, in San Rafael, in dem ich die oben beschriebene
Handmühle sah, hing auch vom Gewölbe ein grossmächtiger Sack, aus zwei
ganzen, an dreien ihrer Säume zusammengenähten Ochsenfellen bestehend; die
frei gebliebenen Ränder bildeten die Oeffnung und durch diese war der Sack
mit Korn gefüllt worden. Und um es herauszuschöpfen musste man vermit-
telst einer Leiter zur Oeffnung hinaufsteigen. — Einer von den Huasos oder
chilesischen Bauern, die mich eine Strecke weit auf der Reise von Curicö
nach San Rafael begleiteten, führte einen mit Mehl gefüllten ledernen Sack
mit; es war das ganze einem Kalbe abgezogene, ungegerbte Fell, welches
allenthalben zugenäht war, an der Halsgegend ausgenommen, wo es vermit-
telst einer Lederschnur fest zugebunden werden konnte. — Da die vorge-
schichtlichen Völker Europa's und Amerikas, wie vorher gesagt wurde, ihr
Getreide auf dieselbe Weise mahlten, wie die Einwohner von San Rafael,
sollten wir nicht annehmen, dass sie auch wie diese ihr Korn und ihr Mehl
nicht nur in grossen irdenen Töpfen, von denen die Scherben bis auf uns
sich erhalten haben, aufbewahrten, sondern auch in Fellen, die Jahrhunderte
lang unter der Erde vergraben, nun verwest sind. Da sie wie jetzt die
Argentiner mehr Hirten als Bauern waren, und deswegen an Fellen Ueber-
fluss haben mussten, so scheint es, dass die Antwort nur bejahend ausfallen
könne. — Säcke aus Fellen zum Aufbewahren von allerhand Gegenständen
gebrauchen auch jene Wilden, die, wie die Australier, es noch nicht so
weit gebracht haben, irdenes Geschirr zu formen und zu brennen. Aus Ana-
logie müssen wir schliessen, dass auch unsere vorgeschichtlichen Ahnen, wäh-
sie wie jene Wilden noch auf der ersten Fortschrittstufe, nehmlich jener eines
Jäger- und Fischervolkes, sich befanden, <tuch Säcke aus Fellen von erlegten
121
Thieren zu demselben Zwecke sich verfertigten, da von ihnen keine Art Ge-
fässe aufgefunden worden ist. — Dass man in Fellen sogar Flüssiges hat auf-
bewahren können, wird dadurch bewiesen, dass noch jetzt wie bei uns in Ita-
lien das Oel in derlei Säcken verschickt wird.
Hölzerne Werkzeuge. — Pflöckchen.— Um die Felle zu trocknen,
müssen sie ausgespannt werden. In der Pampa ist es der Brauch, dass man
zu dem Ende die grösseren Felle auf dem sandigen Boden ausbreitet und
vermittelst hölzerner Pflöckchen, die am Saume die Felle durchbohren und
in die Erde eindringen, auf diese befestigt. Sowohl in den Pfahlbauten Ober-
Italiens als in den Terramarelagern der Emilia findet man an beiden Enden
zugespitzte hölzerne Pflöckchen von der Länge von 12 bis 15 Centimetern.
Sowohl Pigorini als Gestaldi und ich*) halten dafür, dass sie zum Bauen der
Hütten oder zum Aufschlagen von Zelten gedient haben. Es könnte aber
wohl leicht sein, dass die vorgeschichtlichen Bewohner Italiens, die uns jene
Alterthümer hinterlassen haben, von den kleineren dieser Pflöckchen so wie
von den anderen, nur an einem Ende zugespitzten, denselben Gebrauch ge-
macht hätten, wie die Gauchos in der Pampa; denn an Fellen hat es ihnen
gewiss nicht gefehlt. Um so mehr müssen wir auf eine ähnliche Verwendung
von hölzernen Pflöckchen bei jenen vorgeschichtlichen Völkern schliessen,
die noch nicht durch den Ackerbau oder auch auf andere Weise zur Kennt-
niss und Verwerthung von Pflanzenstoffen zu Kleidungsstücken und Werk-
zeugen gelangt, und deswegen von den Fellen den grösstmöglichen Nutzen
zu ziehen gezwungen waren. - Die kleineren Felle werden in Argentinien
auf grobgearbeitete Rahmen zum Trocknen ausgespannt.
Steigbügel. — Die Steigbügel des Gaucho, falls er sich deren bedient,
sind aus Holz verfertigt, wie jene der chilenischen Huasos; allein ihre Form
ist sehr verschieden. Die argentinischen Steigbügel sehen den unseren aus
Metall gleich; ihre scheitelrechten Durchschnitte sowohl von rechts nach links,
als von vorn nach rückwärts sind gleichschenkliche Dreiecke, so wie ihre
Oeffnung, welche aber so klein ist, dass man nur die Zehenspitze durch sie
stecken kann. Diese Vorrichtung gewährt dem Gancho den Vortheil, dass,
wenn er vom Pferde herunterfällt, er nicht in denselben verwickelt bleibt,
sondern stehend auf die Füsse fällt. Die chilenischen Steigbügel (estribos
baules) sehen den Türkischen ähnlich: sie sind plump, halbmondförmig, mit
der gewölbten Fläche nach unten, oder auch wohl dreieckig, allein sie sind
nicht durchbrochen, man kann also nicht einmal die Fussspitze durch sie
durchstecken; sie sind aber zweckmässiger als die argentinischen, da sie den
Fuss gegen das Anprallen an Baumstämme und Stacheln schützen. Sowohl
die chilesischen alo die argentinischen Steigbügel sind oft. mit geometrischen,
bald erhabenen, bald eingegrabenen, Figuren geziert. — In der ethnologischen
*) Man sehe Pigorini — Abitazioni lacustri di Ohiozzola in Pavullo di Modena. In Gior-
uale «lelk- Alpi, 1864, llefte 11 u. 12.
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 187U. 9
122
Sammlung des k. Museums in Berlin sah ich den argentinischen gleiche höl-
zerne Steigbügel aus China (sub num. 2553); bei diesen ist die Stelle, wo
die Schnur an den Bügel befestigt ist, von einem ledernen Umschlage be-
deckt. Unsere Vorfahren aus der Steinperiode hatten schon zahme Pferde.
Sie müssen sie auch geritten und sich nach Art der Indianer und Ganoho's
darauf geschwungen und gehalten haben, entweder ohne Steigbügel oder mit
nur einem, oder auch mit zwei Steigbügeln, und diese konnten nur von Holz
gewesen sein; ich weiss aber nicht, ob man deren bisher gefunden hat.
Pflug. — Um Buenos Aires giebt es jetzt sogar durch Dampfkraft be-
wegte Pflüge; allein im Innern Argentiniens hat mau es noch lange nicht so
weit gebracht. An manchen Orten, wo es sandiges, weiches, fruchtbares Erd-
reich giebt, ist der Pflug weiter uichts als das zu einer Pflugschar zuge-
schnittene Stück eines Baumstammes, von dem in schräger Richtung ein Ast
ausläuft, der als Deichsel dient. Ein Stab, der in fast senkrechter Richtung
an der Pflugschar angebracht ist, dient dem Bauer zum Lenken des Pflugs*). —
Es könnte sein, dass unsere ackerbautreibenden vorgeschichtlichen Völker
auch den argentinischen ähnliche Pflüge gebraucht hätten. Allein da man
meines Wissens noch keine dergleichen entdeckt hat, und da ihr Ackerbau
sehr beschränkt gewesen sein muss bin ich eher der Meinung, dass sie nach
Art unserer Alpenbewohner, die an steilen Flecken die Erde nur mit der
Hacke bearbeiten, sich der breiten Steinäxte in der Steinperiode und der
breiten Paalstäbe in den Perioden des Metalls dazu bedient haben, und zwar
iudem sie dieselben nicht mit der Schneide in der Richtung des Schaftes in
diesen befestigten, sondern mit ihm in senkrechter Richtung, wie die Stein-
äxte der Neuseeländer (Berliner k. Museum num. 499, 500) und die Eisen-
äxte der Javainsulaner (Klemm'sche Sammlung).
Kar in — Die 'Wägen, Carretas, zum Fortschaffen der Erzeugnisse der
Viehzucht und des Ackerbaus sind in Argentinien von einfacher und grober
Arbeit. Die Deichsel ist gerade, dick, viereckig-prismatisch, und indem sie
sich rückwärts verlängert, bildet sie zugleich den Mitteltheil des Wagenbo-
dens. Die Räder haben keinen eisernen Reifen, hingegen sind die periphe-
rischen Holzstücke, wo sie sich in einander fügen, durch eiserne Bänder fest-
gehalten. Walzenförmig ist die Nabe und hat an beiden Enden eiserne Reif-
chen. Die hölzerne Achse steckt in einer ledernen Scheide, um die Reibung
gen die Nabe zu vermindern. Diese Karren sind entweder mit einem ge-
wölbten Holzdache Gedeckt oder offen. Die Art und Weise wie die Ochsen
an den Karren und an den Pflug gespannt werden, ist dieselbe, d. h. ver-
mittelst eines Joches. Dieser besteht ganz einfach aus einem etwas glatten
Ballen, der an die Hörner der Ochsen gebunden und an den die Deichsel
befestig! wird**). Um derlei grob gearbeitete Wägen zusehen, ist es eben
strobeJ V'iaggi »eil Argentinia uaeiidionale, Tafel IV.
') Strobel 1. *.. Tafelu III und IV.
123
nicht nöthig über den Oeean zu schifl'en. Auf dem Lande um Lissabon und
Santarem sah ich deren noch plumpere: ihre Räder waren aus zusammenge-
nagelten und zu einer Scheibe zugeschnittenen Brettern zusammengesetzt, in
welche zwei halbmondförmige, einander entgegengesetzte Löcher gebohrt wa-
ren, um ihre Schwere zu vermindern. In den Donauländern sind die Karrn
nicht feiner gearbeitet; und auch in Mittel- und Süd-Italien giebt's Wägen
mit scheibenförmigen Kadern; nur sind sie noch schwerer als die portugisi-
schen und argentinischen, da die Räder nicht durchlöchert sind (ruote piene).
Ein, den Rädern der portugisischen Karren ähnliches, hölzernes Rad ist im
Torfmoore von Mercurago in Piemont aus dem Bronzealter entdeckt worden*).
(Fortsetzung folgt.)
Studien zur Geschichte der Hausthiere.
Von Robert Hart mann.
IV. Das Kameel.**)
Nachtrag.
Seit dem Abschlüsse meiner im vorigen dahrgange dieser Zeitschrift ab-
gedruckten Arbeit über das Kameel ist es mir gelungen, noch einige wich-
tigere in Frankreich erschienene über beregtes Thier handelnde Bücher und
Aufsätze ausfindig zu machen, hauptsächlich in Folge der unverdrossenen Be-
mühungen meines Freundes, des Buchhändlers Herrn K. Künne. Im Nach-
stehenden gebe ich einige Auszüge aus zweien Arbeiten, welche hoffentlich
allen Denen nicht unangenehm sein werden, welche sich überhaupt für die
Geschichte unseres Thieres interessiren.
Drei Franzosen haben sich hoch verdient gemacht, um die Geschichte
dreier für die Zoologie sowohl, wie auch für die Kulturgeschichte wichtiger
Hausthiere und domesticirter Thiere. Es sind dies Oberst P. Armandi ***),
welcher über den Elephanten, General Daumasf), welcher über das ara-
*) Gastaldi - Nuovi cenni sugli oggetti di alta antichita u. s. w. Torino 1862 — S. 84,
Tat'. I, Fig 12.
»•) Vergl. Jahrgang 1809. S. 66. 239, 353.
"") Histoire roilitaire de£ Elephants. Paris 1S-43.
t) Les Chevaux du Sahara Paris 1851 Deutsch von Lieutenant C. Graefe. Berlin 1-01
mehrere Auflagen).
9*
124
bische Pferd und General J. L. Carbuceia*), welcher über das Drome-
dar ausführlich geschrieben. Diese tüchtigen Arbeiten behalten einen unver-
gänglichen Werth. Endlich hat Isod. Geoffroy in seinem höchst anregenden,
in Deutschland noch wenig bekannten Werke über Acclimatisation und Do-
mestication nützlicher Thiere noch sehr interessante Daten über das Drome-
dar veröffentlicht**).
Zufolge einer dem Buche Carbuceia" s angehängten Notiz von Jomard
wurde auf Befehl Napoleons, während der ägyptischen Expedition durch den
Obersten J. Cavalier i. J. 1798 ein Regiment Dromedarreiterei orga-
nisirt. Man liess anfänglich zwei Leute aufsitzen, später jedoch nur einen
Mann***). Gewöhnlich reichte eine einzige Woche für die nöthige Dressur
des Thieres zum Kriegsdienste aus. Diese Reiterei soll sich ganz vorzüglich
bewährt haben. Mit dergleichen militärischen Elementen unternahm Desaix
1799 seine historische Hetzjagd auf den tapferen Memluken Murad-Bey nach
Oberägypten (Sept. 1799). Dromedarreiter folgten der Armee nach Syrien
und erwarben in der Schlacht vor Alexandrien am 30 Ventöse bei Erstür-
mung einer Redoute den höchsten Kriegsruhm. Ihr braver Organisator Ca-
valier schützte mit Hülfe dieser Truppe die Sammlungen der französischen
Forscher, deren einer Theil durch die Brutalität eines dummen, rüden Ge-
schöpfes von Platzkommandanten bereits der Vernichtung preisgegeben
worden.
Später haben die Truppen des Dey von Algier die Dromedare zum Trans-
port von Maroden, Verwundeten und von kleinen Feldstücken benutzt. Auch
hat Abd-el-Gader auf dem Rücken dieser Thiere öfters sein Fussvolk bei
Gelegenheit von Geschwind märschen fortgeschafft. Ebenso verfuhr General
Marey-Monge im Jahre 1843 in der Provinz Tittery. Dieser Gebrauch wird,
wie man hört, auch bis auf den heutigen Tag beibehalten. Dagegen hat der
dem General Carbuceia i. J. 1843 durch Marey-Monge aufgetragene Versuch,
den militärischen Dienst mit Dromedaren bei der französischen Armee in Al-
gerien zu regeln, besonders aber eine eigentliche Dromedarreiterei zu organi-
siren, weiter keinen Fortgang gefunden f). Den Nutzen eines solchen Corps
legt Carbuceia in überzeugender Weise dar.
Ich entnehme nun dem citirten Werke noch folgende Einzelnheiten: Das
*) Uu Dromadaire corame bete de sommc et eomme animal de guerre. Le regiment des
dromadaires a l'armee d'Orient (1798—1801). Paris 1853. (J. Dumaine.)
*") Acciiinatation et Domestication des animaux utiles. IV Edit. Paris 1861.
*"j Die Abbildung eines solchen Dromedarreiters der Xapoleonschen Armee erinnere ich
mich in Bippolyte Beilanges l»ekanntem Werke über die „grosse Armee" gesehen zu haben.
t) Vergl. vor. .Jahrg. S. '241. Im 2ten Jahrgange der Leipziger illustrirten Zeitung sind
Zaum-, Sattel- und Evolutionen einer Abtheilung auf Dromedaren vor dem Herzog von Aumale
operirender französischer Soldaten abgebildet, jedenfalls Clicbes aus der pariser „Illustration".
üebrigens bildel auch V. Adam auf «-inem seiner lehrreichen Blätter ein Dromedar reitende
französische .Soldaten ab u. s. w.
125
Alter des Thieres lässt sich bis zu fünfzehn Jahren erkennen. Mit zwanzig
Jahren sind die Zähne meist schon sehr stark abgekaut.
Der vier- bis fünfjährige Hengst tritt im Früblinge, der sechs- und mehr-
jährige aber im Januar in Brunst. Es stimmt diese Angabe nur theilweise
mit meinen eigenen Erfahrungen ; soviel steht aber fest, dass die Eintrittszeit
dieser Periode in den verschiedenen Gürteln Afrikas nicht unwesentlich
schwankt*). Nach C. dauert die Brunst zwei Monate. Das 2 trägt gerade
zwölf Monate, vom vierten Jahre ab. Es bleibt ein Jahr lang frei, selten
trägt es zwei Jahre hintereinander. Verwerfungen kommen nicht selten vor.
Viele 2 bleiben in Folge allzustarken Beladenwerdens steril.
Fast alle Dromedare werden castrirt, weil sie in diesem Zustande kräf-
tiger bleiben sollen, als im nicht castrirten. Ein über 20 Jahre altes Thier
dient nicht weiter zur Arbeit, wird vielmehr gemästet und auf den Schlacht-
platz gebracht.
Verf. will dem General Marey-Monge Dromedare vorgeführt haben, welche
seit drei Tagen weder gefressen, noch seit drei Monaten gesoffen hatten und
und die dennoch an den Folgen dieser Abstinenz nicht zu leiden schienen.
Zu Sommeranfang säuft das Thier, alsdann bleibt es fünfzehn Tage ohne
Wasser, säuft abermals, bleibt vierzehn, dann dreizehn, zwölf u. s. w., end-
lich sieben Tage ohne Wasser, die Zeitdauer dieses seines Fastens jedesmal
kürzend; endlich säuft es nur alle sieben Tage, wie gross auch Müdigkeit
und Hitze sein mögen**). Es nimmt jedesmal 30 bis 40 Liter zu sich. Auch
Carbuccia erwähnt des bekannten Wasserreservoirs, dessen Füllung nach der
Araber und seiner eigenen Meinung wohl einer thierischen Absonderung ihre
Entstehung verdankt. Ein am 10. Dez. in der Mitidja an einem Zu-
falle verrecktes Dromedar ward in Gegenwart mehrerer Offiziere des Bordj-
el-Arasch aufgebrochen und enthielt mehr als fünfzehn Liter grünlichen, aber
nicht schlecht schmeckenden Wassers. Dies Wasser wurde auf Hinweisung
anwesender Araber aufgehoben und blieb noch drei Tage später trinkbar.
Ein algerisches Dromedar kann, ohne anzuhalten, an einem Tage nur
zwölf bis fünfzehn Lieues zurücklegen.
Im Frühjahre, wo es an Weide gebricht, darf man nur die gutgenährten
arbeiten lassen. Im Sommer muss man sie einen Monat wegen der Debab-
Fliegen***) und einen Monat hindurch kurz nach der Schur schonen, letzteres,
•) Vergl. Jahrgang 1869, S. 249.
**) Diese Angaben widerstreiten anderen und meinen eigenen Erfahrungen und muss die
Verantwortlichkeit für jene dem General überlassen bleiben, der — leider nicht mehr im Stande
ist, auf Einwürfe zu antworten. D. Uebers.
***) Taabln in Ost-Sudän, grosse Bremsen {Tabanus spec.) mit grellgezeichnetem Hinter-
leihe, welche den Thieren im Steppengrase förmlich auflauern und sie, namentlich im Mai und
Juni, ganz fürchterlich peinigen. Man räuchert die Kameele (auch Pferde und Esel) an den
Halteplätzen zum Schutze gegen die Blutsauger mit grünem Holze und mit Krautzeug ein.
D. Uebers.
126
nm den Maden den Zugang zu der alsdann kahlen, leicht schrundig werden-
den Haut zu wehren.
Ein starkes Dromedar trägt auf ebenem Boden 350 Kilogramme, auf
schwierigem Terrain aber niemals mehr als 260 Kilog. Im Gebirge kann
man zur Noth selbst 200 Kilog. auflegen (wie z. B. während der Expedi-
tionen gegen die Kuresch und Halluja), dann aber auch auf alle Gefahr hin.
Die Brauchbarkeit des Thieres zum Krieg gründet sich nach Carbaccia's
Ansicht hauptsächlich darauf, dass es den Schnelltransport von Infanterie zur
Unterstützung der Kavallerie vermittelt, dass es bei Expeditionen auf drei
bis vier Tagemärsche Entfernung die Kavallerie gänzlich ersetzen kann, in-
dem es alsdann sein Ziel früher als diese erreichen würde, dass die höchste
Schnelligkeit des von einem Reiter verfolgten Thieres 2% Lieues pro Stunde,
im grossen Schritt und Trott aber noch fünf weitere Lieues, beträgt. Es
Hessen sich mit Leichtigkeit gute Züchtereien anlegen, sowie aus Tuggurt
die besten Mehara beziehen.
Es folgen in Carbuccia's Werk nun noch viele veterinärische, militärisch-
statistische, handels-politische u. dgl. Nachweise, Vorschläge u. s. w., deren
Darlegung uns hier zu weit führen dürfte.
J. Geoffr. St. Hilaire bespricht in seinem oben erwähnten Buche die
Acclimatisation der Kameele. Wir wissen aus der Geschichte, dass die Ein-
führungsversuche der Mauren nach Spanien keine glücklichen Erfolge gehabt,
obwohl man Kameele fünfzig Jahre lang zu Aranjuez gehalten. Neuere Ver-
suche, diese Thiere in Huelva (Andalusien) einzugewöhnen, sollen zufolge
eines von dem bekannten Naturforscher Graells an den Verf. gerichteten
Schreibens glücklicher ausgefallen sein (p. 304).
In Toscana tragen die zu S. Rossore gehaltenen Ö Dromedare etwa 480
Kilogramme Kiefernholz und marschiren damit fünf Kilometer in der Stunde.
Nach Angabe des Prof. Jg. Cocchi belief sich die toscaner Heerde i. J. 1840
auf 170, i. J. 1845 auf 131, i. J. 1850 auf 118, i. J. 1855 auf 118, i. J. 1858
122 Haupt. Unter der hier zuletzt aufgeführten Zahl befanden sich ein Zucht-
hengst, 41 zum Lasttragen bestimmte 6, 50 9 und 30 Junge.
Während des Kampfes in Morea wurden den Türken Dromedare abge-
nommen und weitergezüchtet, Thiere, welche daselbst jetzt, namentlich nach
Carbuccia's vom Verf. commentirter*) Angabe, als acclimatisirt gelten dürfen.
Acclimatisationsversuche mit dem Dromedare sind neuerdings ferner
noch in Bolivia, auf Cuba, in verschiedenen Gebieten Nordamerica's und in
Brasilien gemacht worden.
*) Carbuccia sagt an der von J. Geoffr. St. Hilaire angezogenen Stelle 1. c. p. 2. übrigens
nur Folgendes: „Le charneau ä une bosse, appele par Aristote chameau d'Arabie, porte, dans
Linne, lo nom de Camelus Dromedarius, clenomination impropre, comme je le fais observer plus
bas. Cet aniinal cVst repandu d'Arabie dans tout le nord de l'Afrique, dans le Senegal, dans
la Syrie, dans la Perse, dans la partie occidentale de l'Asie, dans la Grece" etc.
127
Gemäss einem ausführlichen, vom Kriegssekrätariat der Vereinigten Staa-
ten veröffentlichten Bericht*) wären Einführungsversuche mit diesen Thieren
nach Texas und Californien von ganz gutem Erfolge begleitet gewesen.
Ohne hier näher auf die in Brasilien gemachten Einbürgerungs-Experi-
mente eingehen zu können**), will ich nur bemerken, dass sich daselbst die
hochgelegenen trockneren Campos und Sertöes der mittleren Provinzen, z. B.
von Minas, Ceaiä, Piauhy, Rio Grande do Norte und Pemambucn, am Besten
für die Eingewöhnung des Dromedares eigenen dürften. Die spairigen Grä-
ser, die knorrigen Carrasco-Gebüsche, die Cacteen und Vellosien der Campos
in Minas z. B. dürften einigermassen an die ähnlich wachsenden Gräser, an
die Grewia-, Boscia-, Capparis- und Akaziendickichte, die Euphorbienbäume
u. s. w. der innerafrikanischen Steppen (Qwolla, Bejudah, Borgu, Ahir,
senegambisches Söhhil) erinnern. Jedenfalls finden sich zwischen diesen
Landschaften Brasiliens und Afrikas grössere natürliche Analogien, als zwi-
schen den letzteren und manchen anderen häufiger genannten. Für viele Di-
stricte von Chile, Peru, Bolivia, Ecuador und Neu-Granäda würden übrigens
die gegen Höhendifferenzen weniger empfindlichen Llania's und Maulthiere
weit passendere Züchtungsobjecte als das Dromedar bilden, welches letztere
sich für die strenge Puna, die milderen Districte der Ceja de la Montana
und die heissen Wände, wie Sohlen der Barrancas, Canadas, Valles. schwer-
lich so gleich gut eigenen dürfte. Das Dromedar wird in diesen amerikani-
schen Ländern immer nur auf ausgedehnteren, eines gleichmässig-warmen
Clima's theilhaftigen Hochflächen gedeihen können, nicht aber an den so un-
geheuere Temperaturgegensätze darbietenden Gebirgsabhängen der grossen in
den eigentlichen Bereich der Coidilleras de los Andes fallenden Gebiete.
Möchten doch die Regierungen derjenigen Staaten Südamerikas, welche
sich für die Acclimatisation unseres Thieres interessiren. in der Wahl der 7.11
solchen Versuchen dienenden Districte mit rechter Vorsicht zu Werke gehen.
Denn wozu ein Verschleudern von Capital und Arbeit um nichtiger Spiele-
reien mit missverstandenen, von vornherein keine Resultate versprechenden
Experimenten willen?
In beregter Hinsicht erwecken neuerliche Bemühungen der Bolivianer um
Einbürgerung des Dromedares im Lande unser Interesse. Jene zielten schon
vor etlichen Jahren dahin, Kameele für den Waarentransport von Cobija
(Puerto La Mar) aus durch die „Wüste" (Atacama) nach Calaina und von
da weiter nach Norden zu verwenden, und wurden dann auch zu diesem
Zwecke eine Anzahl Dromedare von den Canarischen Inseln eingeführt. In-
dessen hielten diese Thiere weniger wie die Maulthiere aus, es litten beson-
ders ihre Sohlen von dem scharfen Sande und den spitzen Steinen. Ein mit
*) Report of the Secretaj-y of War, communieatinü Information respectin<r the Purrhase of
Cameis. Washington 1857.
*') Vercl. Bullet <le la Sodete d'accliinatat et.', diverse Aufsätze.
128
einer Buchdruckerpresse im Gewichte von 18 Arrobas (4£ Centner, ausge-
zeichnete Maulthiere tragen bis 16 Arrobas) beladenes Dromedar ging unter-
wegs zu Grunde. Die Thiere werden daher nur noch selten gebraucht. Uebri-
gens nahm ihre Zucht guten Fortgang, denn auf der Hacienda Mochara des
Don Calisto Yarles, Conde de Aploca, wo sie getrieben wird, standen im
Jahre 1858 schon gegen 100 Stück Dromedare*). Vielleicht hätten die Bo-
livianer besser gethan, bereits von Hause aus nur ganz starke Dromedare
aus Anatolien oder Syrien, anstatt von den canarischen Inseln zu beziehen.
Es wird Niemand behaupten können, dass die klimatischen Verhältnisse der
Canarien denjenigen der Atacama viel näher ständen, wie etwa die Verhältnisse
vieler Districte Westasiens. Unser Thier ist aber auf den Canarien fremder
als in Asien und hier noch weit stärker, rustiker, als dort.
Miscellen.
In einem (Januar 13, 1869) vor der Royal Geological Society of Ireland gelesenen Briefe
Du Noyer's (On the Flint Flakes of Antrim and Down) wird auf das Naheliegende der Täuschun-
gen durch Naturspiele aufmerksam gemacht, sowie auf die Criterien "*) der Unterscheidung.
*) J. J. v. Tschudi: Reisen in Südamerica. V. Leipzig 1869, S. 92.
•*) Subsequent examination clearly showed me that every flake, no matter how rüde its form
or how sharp its edge exhibited at one end a flat surface, transverse to the longest axis of the
flake, and from this surface a blow was given at a point on it, which caused a flake to come
off from the original nodule, and this flake below the point of concussion, exhibited a conchoidal
fracture, and a rbulb of concussion", features which could only be formed by, and were, the
result of an intelligent blow. „In all flakes which have been detached by a Single blow from
a mass of flint, there is, on what may be called their flat side, a more or less bulbous or co-
nical projectiou inmediately below the spot where the blow was administered to strike it off
from the mass. It is probable that this blow may in some rare cases have been the result of
an accidental collision, but when we find, upon the others faces of the flake portions of cup-
shaped depressions corresponding in form to the projections mentioned, it becomes evident that
these faces have been produced by previous flakes having been Struck off, and that the flake is
not merely the result of a Single blow, but has received its form from at least three distinet blows,
each» administered in its proper place. The chances against this occuring accidentally are very
great, but when in any spot we find several of these flakes, each bearing these marks of being
the result of several successive blows, all conducing to form a symmetrical knife-life flake, it
becoms a certainty that they have been the work of intelligent beings" (Evans ) The beds and
the Strips of the riverine valley Btrewed with alluvium galettes, water rolled stones and pebbles
(on the Rio da Prata). The harder talcose clays were cut into peculiar shapes, some resembled
the balls and eggs used by the Indian slingsmen, others were not to be distingiushed (except
by the practised eye) from our rüde drift-hatehets. They probably suggested the weapon to the
aborigines and were formed by nature artistically as the celts used by the seaboard tribes to
open their oysters and shell fish (Burton) in Bra/.il.
129
Favre bespricht in der Revue Scientifique (Bibl. univ. et Rev. suisse) dit vermeintliche
Existenz des Menschen in der tertiären Epoche, und hebt, wie es auch vielfach in England ge
schehen, die leicht entstehenden Missverständnisse hervor, wenn man jede etwas auffällige Form an
rohen Steinstücken sogleich der Mitwirkung menschlicher Hand zuschreiben will. Trotz des in
solchen Untersuchungen angewandten Scharfsinns und vielmehr gerade wegen desselben ist es
bedenklich auf diesem Felde weiter vorzugehen, so lange wir uns nicht durch eine in umfassen-
der Weise und an allen gebotenen Gelegenheiten und Oertlichkeiten angestellte Betrachtung
der in der Natur vorkommenden Formgestaltungen sichere Anschauungen darüber gebildet ha-
ben, die als Anhalt zur Abschätzung dienen können, wenn es sich um die Frage menschlicher
Kunst handelt. Wir laufen sonst Gefahr, ein in künstlichem Gleichgewicht balancirtes, und des-
halb jeden Augenblick Einsturz drohendes, Hypothesengebäude aufzurichten, indem das subjective
Urthcil über einige Fundstücke wieder als neues Argument dient, andere zu stützen, während
jene sowohl wie diese noch gar nicht objectiv, in der Beleuchtung allseitiger Umschau, ins Auge
gefasst worden sind. Indem die dadurch immer enger eingeleitete Verknüpfung der Anthropo-
logie mit der Geologie, jetzt auch die Zeitfolge der neptunischan Schichtenablagerungen')
in jene überführen muss, so erhalten wir dadurch für den nur in seinen Wandlungen mani-
festirten Process des Werdens einen abrupten Anfang, der dann in consequentem Denken auf die
kaum beseitigten Schöpfungssysteme zurückführen müsste. Die Geschichte ist ein Geschehen, das
das Entstehen nur in seinen Relationen anerkennt, und in keiner Urgeschichte den gesuchten
Ruhepunkt finden wird. Auch das Schlummerkissen der Periodentheilung darf sie sich nicht
gönnen, so lange es noch so viele Arbeitsaufgaben zu vollenden giebt. Dass der Mensch, der
seiner Constitution nach (um überhaupt seine Existenz zu sichern) die Natur durch Kunst zu be-
siegen hat, für dieselbe überall das nächstliegende Material verwerthen wird, und also Steine,
Hölzer, Muschel, Knochen für seine Werkzeuge verwenden muss, wenn seiner Heimath Metalle
und das Verständniss ihrer Bearbeitung fehlt, ist klar genug und wird überall auf dem Erden-
rund durch die Analogien ethnologischer Thatsachen bewiesen, die zugleich darthun, dass die
Metallarbeit einen verhältnissmässig höheren Bildungsgrad voraussetze, ob einen selbsterworbenen
oder aus der Fremde her angeeigneten. Indem man diese in ihren Relationen richtige Regel zu
einer absoluten stempelt, involvirt man sich sogleich in einen die Richtigkeit aller weiteren Fol-
**) In den Gesteinbildungen hätte man einen Wechsel von Zerstörungen und Erneuerungen vor
sich (nach Hutton), so dass die Erde keine Zeichen weder von Jugend noch von Alter zeigt.
Bei dem beständig in der Tiefe wirkenden Wasser (n. Daubre) kann am Wenigsten bei den ober-
flächlichen Schichten, die steter Einwirkung des äusseren Luftmeeres, sowie Pressung von Unten
ausgesetzt sind, eine derartig stabile Unbeweglichkeit angenommen werden, um nach wenigen
Metren eine Jahrtausende umfassende Altersablagerung zu berechnen Schon Abholzimg einer
Gegend würde verschiedene Wärmevertheilung im Boden und dadurch Verschiebungen hervorru-
fen. Ebenso die Wucht schwerer Gebäude, die man in Asien oft provisorisch zu solchem Zwecke
aufführte. Noch misslicher ist Zeitbestimmung, wenn es sich (wie in Santorin) um vulkanische
Katastrophen handelt. „Die oberen 4 Fuss des Schuttkegels (am Einfluss der Tiniere in den Gen-
fersee) können in eben so viel Minuten, als Morlot für sie Jahrhunderte annimmt, angeschüttet
worden sein. Das Vorkommen römischer Münzen beweist nichts für das Alter der Schuttmasse
selbst, denn letztere, ein Resultat der Anschwemmungen durch Fluthen, kann dieselbe in viel
späterer Zeit mit sich fortgeschleppt und abgelagert haben" (M. Wagner). Nach Wagner sind
alle die Feuersteingebilde der Picardie, auch die diejenigen, welche nach dem einstimmigen L r-
theile französischer und englischer Geologen und Archäologen für künstliche, von Menschen ge-
fertigte Werkzeuge gehalten werden, nichts weniger als Kunstprodukte, sondern ohne alle Aus-
nahme einfache Naturprodukte oder Naturspiele, an deren Formen Menschenhand sich nicht be-
theiligt hat '18G3). Die von La riet an mehreren Knochen und Geweihen aus den Sandgruben
der Picardie bemerkten Einschnitte (von Menschenhand) sind (nach Wagner) später enstandene
Risse und Sprünge, die theils durch früheres gewaltsames Herumwerfen der Knochen, theils
beim schnellen Versetzen derselbeu aus ihren unterirdischen Lagerstätten in die Sonnenhitze
entstanden sein dürfte. Da die lebenden Conchilien und die Maiutnuthen zwei Zeitaltern an-
gehören, so zeigt die Vermengung beiderlei Ueberreste (in der Picardie) miteinander an, dass die
antediluvianischen Säugethierreste der Picardie nicht mehr in ihrer primitiven Lagerstätte einge-
bettet sind, sondern durch eine spätere Katastrophe eine sekundäre Ablageruni; erlitten haben
(M. Wagner). Was die Feuersteinhacken in den Thälern der Somme, der Seine und anderen
anbelangt, so scheint es Elie de Beaumont nicht erweisen, dass irgend eine dieser Hacken oder
irgend ein anderes Produkt menschliche Industrie aus dem nicht umgestürzten Diluvialgebiet
(terrain diluvien uon remanie) ausgegraben worden sei. Die Knochen mit Zeichnungen mehren sich.
130
gerungen annullirenden Fehlschluss. Dadurch dass das Geschehen als ein nur einmal verlaufener
Geschichtsgang constituirt wird, nehmen wir Betrachtungen aus der anorganischen Natur, die
mit ihren Fäden über das Planetensystem hinausreieht, in die lebendigen Processe des Wer-
aCa's hinüber, die sich vor unseren Augen in ihren gesetzlichen Phasen abspielen und in die-
sen zu studiren sind. Wir brauchen nur auf unsere nächste Umgebung zu blicken, um die Not-
wendigkeit einzusehen, die vermeintliche Stabilität des Entwicklungsganges in kreisende Bewe-
gungen aufzulösen. Wollten wir die Volksstämme des Globus nach ihrem gegenseitigen Bildungs-
grade abtaxiren, so würden die heutigen Bewohner des elassischen Hellas gleich den Inhabern
der Culturstätten Niniveh's und Babylon's eine überraschend tiefe Stellung einnehmen, und Irland
einst der Sitz der Wissenschaft im europäischen Norden, (die insula sanetorum et doctoruin,
die den Angelsachsen ihre Schrift gegeben) ist das Land, wo sich bis in neuere Zeit der
Gebrauch der Steinwerkzeuge bewahrt, in Steinhämmern und Stein-Amboss der Schmiede (in
some remote distriets). Dass die Metalle mit ihrem Bekanntwerden, rasch überall den Gebrauch
roher Steingeräthe verdrängen müssen, wie jetzt in Brasilien und Patagonien, wo man noch
allerorts die fortgeworfenen Steinwerkzeuge findet, ist selbstverständlich. Wie langsam oder wie
rasch dies aber geschieht, wird (wenn keine Selbst-Erfindung oder Belehrung durch Zuwandern
eintritt) von den Handelsverbindungen abhängen, und ebenso begierig nach Eisen wie die Po-
lynesier, die die Nägel gerne zum weiteren Anbau gepflanzt hätten, zeigten sich die von den
Xowgoroder Kaufleuten besuchten Bergbewohner Sibirien's.
So wenig wir deshalb indess in der Dreitheilung der Stein-, Bronze- uud Eisenzeit die
nacheinander von einem aus tertiären und quaternären Schichtungen erstandeneu Urmenschen auf-
wärtsgestiegenen Stufen anerkennen können, so würde doch für jeden einzelnen Fall der Schluss seine,
in sich selbst gerechtfertigte Richtigkeit besitzen, dass die einfachen Verhältnisse culturloser
Umgebung zu Steinwerkzeugen und ähnlich rohen Aushülfen führen müssen, und erst die Cultur
mit. den Vortheilen der Metallverwendung beschenkte. Wrenn wir dann weiter die besonders im
Gebrauch hervortretenden Metalle, Kupfer (in seiner Zumischung) und Eisen (als gestähltes) mit
eiander vergleichen, so werden wir finden, dass das Vorwiegen des einen oder anderen von loca-
ien Verhältnissen und. den Benutzungszwecken abhängig bleibt. Aus dem Meteor-Eisen, aus dem
Rasen-Eisenstein und ähnlichen Verbindungen lässt sich das Eisen ebenso leicht"), oft leichter,
als Kupfer gewinnen, seine brauchbare Verwendung zu Stahl**) (nicht nur zu Caementstahl,
sondern auch schon zu Rohstahl) fordert aber (ausser dem gleichzeitigen Vorhandensein der
Kohle) höhere technische Fertigkeiten, als die feinere Verarbeitung des giessbaren Kupfers, das
selbst für sich allein zu vielfältigen Zwecken dienen kann, wenn Zink oder Zinn fehlt, durch
entsprechende Zusätze aber grössere Elasticität""*), oder die Zähigkeit des Kanonenmetalls gewin-
nen kann. Für schneidende Instrumente steht unzweifelhaft Eisen, wenn der Stähl ungsproeess
richtig verstanden wird, weit höher, als irgend eine Art der Bronze, und es ist deshalb eine
natürliche Folge, dass so oft diese beiden Metalle miteinander in Concurrenz treten, das Eisen
die Bronze für Benutzung zu Waffen (wenigstens der Angriffswaffen) verdrängen wird, obwohl
*) In villa Willine sunt hubae tres, quae solvunt ferri frusta 'im Zinsbuch des Klosters Lorsch).
**) Die Trefflichkeit des (mit Pflanzentheilen gemischtem) Wooz (1775 untersucht) wurde von
Stodard als dem Aluminium zugehörig erkannt. Das celtiberische Verfahren der Eisenbereitung
durch Vergrabung wird in ganz gleicher Weise (bei Beckmann) in Japan beschrieben. Die
hieroglyphische Form für Eisen (Berips) lautet (nach Brugsch) ba-n-pe oder Stein des Himmelß
(Petersen).
***) Man verfertigt für die dreispithamige Katapulte erzene Schienen (ktndhs /«Xxni), aus
Erz getrieben (aus möglichst gutem Kupfer mit 3 Drachmen Zinn auf die Mine beigemischt).
Es erhalten die Schienen ihre Kraft durch die Legirung des Metalles, denn dieses, so rein und
lauter als möglich gegossen ohne irgend fremde Beimischung, ist stark, dehnbar und elastisch.
Die den Hörnen und manchen Holzarten, die für Bogen verwendet werden, zukommende Elasti-
cität, wird zwar beim Erz und Eisen bezweifelt, setzt Philon hinzu, aber man könne die Fabri-
kation der erwähnten Schienen an den sogenannten keltischen und spanischen Schwertern sehen
(inir KtkiixMV /tu ' ioni'aoir xnlnvfjtvtov iioytuuv. :), die über den Kopf bis zu den Schultern
gebogen, heim Loslassen in ihre frühere Gestalt zurückkehren Diese Elasticität habe ihren Grund
in der Reinheit des im Feuer verarbeiteten Eisens, das weder zu spröde noch zu weich sei, und
weil die Schwerter kalt kräftig geschlagen sind, nicht mit grossen Hämmern, noch mit starken
Schlägen (s Köchly}, zur Zeit der Ptolem. (Alexander aus Rhodos). Nach Philon wird als Erfin-
der des Erzspauners der Alexandriner Ktesibios angeführt (s. Köchly).
131
für Schmuck und andere Luxusgegenstände die Bronze*) noch immer vorgezogen werden möge.
Das Massgebende für eine Scheidung zwischen Bronze- und Eisenzeil isl deshalb auch immer nur.
ob die Waffen, und /.war die Schärfung bedürfenden Trutzwaffen (besonders Schwerter und gros-
sere Lanzenspitzen), aus diesem oder jenem Metall sind, und so oft wir durch eine Regelmässig-
keit der Funde hierin zu einem sicheren Resultate gelangen können, sind dann die politisch
geographischen Aspecten zu betrachten, am das Warum zu erklären Während die amei
sehen Culturstaaten auf Bronze angewiesen blieben, in Indien früh das Eisen vorgewaltet zu ha-
benscheint, China") seine Bronzezeit unter der Tschou-Dynastie (neben des Eisengebrauches der
Miaotze) durchlaufen haben soll, finden wir in Europa und westlichem Asien zwei umschriebene
Areale, zwischen denen sich die Gränzlinie Eisen und Bronze***), ehe sie sich mischten und theil-
weis verdrängten, ziemlich scharf ziehen lässt. Die Culturzeil der Griechen gehört gewisser-
massen der Bronzezeit an, in der Dactylen und Teichinen ihre Kunstfertigkeit übten. Sie
kannten das Eisen, (der Sintier) schon zu Homers Zeit, wie ausser der directen Erwähnung
eiserner Rüstungen, aus dem von der Kühlung des Eisens hergenommenen Bilde (in d. Odyssee)
hervorgeht. Ihr Eisen (wozu in der Waffenverarbeitung der Lacedämonier die Minen am Tay-
getus benutzt sein sollen) wird indess ein verhältnissmässig wenig brauchbares gewesen sein,
was schon aus der Verlegung der Stahlbereitung nach dem versteckten und in seinen rohen Sit
ten Vernachlässigung durch Verkehrsstrassen beweisenden Volk der Chalybes (als antijnotixj
bei Aeschylus, wie Hamilton bei Unieh nach Constantinopel verführtes Eisen sah), hervorgeht.
In dem bedeutsamen Verkehr Sinope's bildeten die Metalle einen Export-Artikel. Die geringe
Ausbeute der Eisenminen und der Mangel an Kohlen hatte indessen auch westasiatische Staaten
auf Bevorzugung der Bronze geführt, und wir würden innerhalb unserer historischen Nachrichten
für die Bronze-Zeit am einfachsten an die assyrische f) Cultur anknüpfen, die durch ihre Grün-
dungen in Kleinasien, sowie durch die Minyäer in Orchomenos die chalkidische Erzepoche Grie-
chenland^, wo überall die Erzstädte in Mythologie und Geschichte blühten, einleitete und den
auf Keilschriften gelesenen Namen Königs Orchamus westlichen Traditionen übergab.
Unter ihren Einfluss fielen auch die Phönizier, die deshalb mit ihren Handelsverbindungen
Bronzegegenstände verbreitet haben mögen, die aber, wenn auch zu Hiram's Zeit den Juden in Bronze-
*) Die überall fast gleichartige Mischung der Bronze, die man dann als die chemisch
augezeigte fand, erklärt sich gerade aus dieser Richtigkeit der Verhältnisse, da das gesetzlich
gleichartige sich auch eben überall im Laufe der Experimente als ein solches zu erkennen geben
muss. Delas, der Erfinder der Kupfer-Zinn-Mischung war (nach Theophrast) ein Phrygier oder
(nach Aristoteles) ein Lydier (als Scythes). Mentes, König der Taphier. tauscht auf Cypern
Bronze oder Kupfer gegen Eisen um (in der Odyssee).
**) Nach einer alten Nachricht in Kanghi's Wörterbuch waren die Waffen in alter Zeit nur
aus Kupfer und erst seit der 4 D. Thsin aus Eisen Der Tao-kieu-lo erwähnt ein gegossenes
kupfernes Schwert unter Yü's Sohn Ki (2197 — 48 a. d.), und ein eisernes unter Kungkia (1897
—48 a. d.) mit Inschriften (Plath). Nach dem Schiking nahm Kunglieu (Ahn der Tscheu)
Schleifsteine (li) aus den Steingruben (tuan) aus den Bergwerken.
*") Die Massageten bedienten sich (s. Strabo) der kupfernen Streitaxt, neben Bogen, Schwert
und Panzer Bei Aeniana (im Lande der Daer) zeigte man griechische Waffen, eherne (iefässe
und Gräber. Das Kupfer der technischen Werkzeuge ist wenig oder gar nicht legirt Das Heer
des Cyrus (der dem Wagen eiserne Sichel zufügt) funkelt von Erz (bei Xenophon) vor der
Schlacht mit Crösus. Die Pfeile der Indier hatten eiserne, die der West Aethiopier steinerne
Spitzen (im Heer des Xerxes). Unter Servius waren die römischen Rüstungen von Bronze
(Livius). Jonier und Carier waren zu Psammetich's Zeit in Bronze gewaffnet Cassiodor macht
Belus zum Erfinder des Eisenschwerts. Beide Theile (das Spiess) sind in der Heroenzeit von
Erz (s. Rüstow). Das Schwert ($(q>os öfop) ist zweischneidig (von Erz, später von Eisen) _ Die
metallene Spitze der Pfeile hat einen oder mehrere Widerhaken, ont.u c/f'of/r Infra tv aanl-
dcig Aiyolixrec xn'i ööoaiu xui xuuvr\ ydlxe« xa) Utonaxa; xa) xirjuiJtts x<ü iüf r\ (DionyS.
Hai.) als Bewaffnung der ersten Classe (Rom).
+) Obwohl die Assyrier Eisen und zum Theil gestähltes, kannten, bewahrten sie die Schwer-
ter aus Bronze. Auf den Monumenten Ramses III. zeigten sich die blauen Stahlwaffen neben
den rothen aus Kupfer oder Bronze. Zu Solon's Zeit war den Lacedämoniern das Eisenschmieden
noch eine Neuigkeit, ein fremdartiger Process, dein Lichas verwundert zusah, als er in die /id-
■ " der Tegeaten eintrat, Alkäus singt von ehernen (chalkidischen Schwertern. Die '<"-
schneiden (b. Sophokles) mit Sicheln aus Bronze Giftkräuter. Im Tempel des Asklepios zu Ni-
comedia fand sich ein Schwert von Bronze, das dein Memnon angehört, eine Lanze des Achill
mit Bronzespitze zu Phaseiis (s Petersen). Aristoteles kennt noch Lanzenspitzen und Schwerter
aus Bronze.
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arbeit überlegen, nie darin excellirt haben werten, ihrem auf Handelszwecke gerichteten Natio-
nalcharakter gemäss. Der feine Kunstsinn der Griechen dagegen brachte die Verarbeitung des
Bronze-Materials zu seiner höchsten Vollendung und wird es noch lansre dem schlechten Eisen,
das anfange allein zugäuglich war, vorgezogen haben. Das Bronzereiche Gross-Griechenland*) war
somit der Spiegel des Mutterlandes, während Etruskien**) gleichfalls die direkten Beziehungen mit sei-
nen asiatischen Verwandten bewahrte, wie es auch die frappanten Uebereinstimimingen ihrer Gräber
mit den kleinasiatischen (und die phrygischen Inschriften in Doganlu) beweisen. Durch die
unterworfenen Umbrer traten indess gallische Anknüpfungen hinzu. Bei den Ligurern wird
der Gebrauch eherner Lanzenspitzen auf ihre alten Beziehungen zu den Griechen gedeutet, mit
Gallien aber beginnt dann der Gebrauch des Eisens, das anfangs seine beste Vollendung
auf der spanischen Halbinsel (wo bei den Lusitaniern indess gleichzeitig die Verwendung der
Bronze zu Waffen fortdauerte, aus möglicherweise punischer Reminiscenz) erhielt, wie später in
Noricum (berühmt durch den noricus ensis).
Die Vertheilung der sog. Bronzezeit*") im nördlichen Europa, (die besser nicht durch gleich-
*) Aus den Eisenfunden unter dem Poseidons-Tempe) zu Paestum will man den Uebergang
in die Bronze chronologisch fixiren können, obwohl diese auch später noch fortgedauert haben
mag. Der entschiedene Uebergang zum Eisen lässt sich selbst bei den Römern wohl erst
seit dem zweiten punischen Kriege datiren, wo sie die hispanischen Schwerter, und gleichzeitig
ihr Verfahren der Eisenbereitung, adoptirten, und ehe sie letzteres besassen, werden sie kaum
durchgängig ihre brauchbaren Bronzewaffea aufgegeben haben, für biegsame Schwerter gleich den
gallischen, deren Nachtheüe ihnen selbst auffällig genug waren. In den hannibalischen Kriegen
mögen noch immer Bronzewaffen im Gebrauch gewesen sein, besonders vielleicht für die kurzen
Stosswaffen, mit denen auch die Celtiberer neben ihren Schwertern bewaffnet waren. Im übrigen
dürfen vielleicht gerade diese Kriege als der Wendepunkt betrachtet werden, in welchem die
Römer am überzeugendsten die Vortheile des hispanischen Schwertes unter den Punischen Hülfs-
trnppen (das Polybius mit dem der an ihren Seiten kämpfenden Gallier vergleicht) erkannten
und nun die Eroberung Spaniens benutzten, kunstfertige Schmiede nach Rom zu rufen. Car-
thago würde als phönizische Colonie mit in das Bereich der Bronze fallen, wenn es nicht früh
durch die Iberer über das Eisen belehrt wurde. In Italien war indess Hannibal die Waffenzu-
fuhr ausgegangen, und lag es überhaupt näher aus den eroberten Ländern die Rüstungen zu
ziehen, wie auch von den AM in seinem Heere gesagt wird, dass sie nach römischer Weise be-
waffnet gewesen, vorzüglich wohl überhaupt nach einheimischer Weise, also der in Süd-Italien,
wo die Schlacht zu C'annae geliefert wurde, üblichen Weise. A Tenes, fondee par les Pheniciens
ou les Carthaginois, on a trouve (1863) une hachette en cuivre, analogue aux haches, que Ton
trouve en France et que Ton regarde comme celtiques (Gay) Der eiserne Pfeil des Pandaros
vor Troja war ein Göttergeschenk. Framea (a ferrum, quasi ferrea), gladius ex utraque parte
excutus (Johannes de Janua). Rudis et rudicula est instrumentum coquinarium ferreum vel
aheneum (Pallad.). Celtis, i.uitvir\Qioy (s. Ducange). Indra's Pfeile sind von Eisen und Feridun's
Keule. Die Ackergeräthe waren ausser der Pflugschaar ohne alles Eisen in Bromberg (1773 p. d.).
Le poisson ä couper devait etre tranche avec des lames de fer et non des lames de bois (Statutes
ä Poitiers) 1413 (De Ia Fontanelle). Die Aegypter, die früher mit Keulen und Steine gekämpft,
vergötterten Herakles, der zur Bearbeitung des Eisens ein Werkzeug von oben her erlangt (s.
Palaepharus).
**) Sembra che sopra cosi fatte bare locassero gli estinti loro aeconci con balsami, ma sco-
\erti e non racchiusi entro un'arca. Quelli che in questo sepolcro giacevano, ebbero le vesti-
inenta ricamate a fiori di smalto di opera egiziana e simili affatto alle grane caerulee, o verdastre,
recate coi corpi imbalsamati d'Egitto (nel ducato di Ceri). Non maucarano ancora delle paste
odorose di ambra e altre orientali resine, disposte all' intorno del defonto. Avendo appressato
al fuoco im piccol pezzetto di tali odorate sostanze, si ebbe im porfumo di tanta forza che nell'
ampia sala del ducalle palazzo di Ceri non se ne pote comportare la gravitä (Visconti).
*") In England, sowohl wie in Deutschland sind auch aus der so jungen Zeit dortiger Anwesen-
heit der Römer Funde von Bronzeschwertern in den Denkmälern aufgezeichnet. Obwohl bei dem
Verbot des Porsenna, das besonders gegen Eisen (ausser zum Ackerland) gerichtet war, der allge-
meine Ausdruck des Ferrum, als in der späteren Zeit der davon redenden Schriftsteller auf alle
Art Waffen angewandt, zu beachten ist, so kann trotz dichterischer Verwendung der Bezeich-
nung ehern, als Epithel der Waffen, dasselbe auch zugleich im täglichen Gebrauch neben dem
i fortgedauert haben. Ardentea clypeos atque aera micantia cerno (Virg.) pro armis aereis.
Ac late fluetuat onmis Aere renidenti tellus (Virg.). Tela aerata (Virg.) hasta aeratae
cuspidis (Ovid.) Micat aereus ensis (Vir^.) Quin et arma, pectoralis, oereas, galeaa ex aere an-
tiquis faetas, innuil !<>ris infinitis Virgilius, Servius, Plinius, Polybius, Livius et alii nulle locis
(Stevvec.) Ad haec veruta duo, galeaque aenea et crurum tegmen oerea (Polyb.) Arma Roma-
norum erant ex aere pleraquc, quae ab id fusa dicere quis possit. Livius de prima classe, Arma,
inquit, his imperata, galea, clypeus, oereae, lorica, omnia ex aerea. Multa quoque in eam sen-
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zeitic-e Meinungen über die Bestattungsweise u verwickelt wird) muss nun aus den Verhält]
geographischer Lagerung iu ihren geschichtlichen Beziehungen erklärt werden. Den phönizischen
.Schifffahrten nach den Zinn-Inseln ist dafür eine unverhältnissmässig hohe Bedeutung beigelegt,
und etruskische Handelszüge, wenn sie (dem Volkscharacter eher widerstrebend) stattgefunden,
würden bald mit. Eisen verarbeitenden, Stämmen in erste Berührung gekommen sein. Aus He
rodot (ist uns dagegen die eifrige Thätigkeit der griechischen Colonieu am Pontus, (der grriechi
sehen Factoreien der unter den Budinern wohnenden Gelonen) bekannt, di
der Heere und Karawanen nach dem Baltic betraten, und jene, durch boreadische Sagen bezeug-
ten, Verbindungen mit Scandinavien eingeleitet haben werden, wie ßie 'in mithridatischer
Zeit belebt) Gauthar und Gotthi mit getischer. Gothen verknüpften. Ausser den Analogien der
Gräberfunde am schwarzen Meer mit denen nordischer Erdhügel, ist in den dänischen Waffen
und ihren Verzierungen die nächste Aehnliehkeit zu den griechischen erkannt, und wiewohl
nicht alle als importirte zu betrachten sein werden, so müssen doch bei ihrer Verarbeitung die
Muster massgebend gewesen sein, wie sie durch die Künstler (nicht des eigentlichen H< -
sondern der milesischen Colonien, (die in ihrer Zählung nach Hunderten nicht die einzelne
Stadt, sondern altjonische Cultur in halborientalischer Färbung repräsentirei , geliefert wurden,
und sich iu Olbia, in Panticapaeuin, im Reiche bosporianischer und aspurgianischer Könige
scythischen Geschmacksrichtungen nicht entziehen konnten. Das Bedürfnis nach Bronce, (die
besonders Dänemark füllte, in Gallien dagegen schon mit Eisen zu rivalisiren hatte), wird
im Norden bis in die späteste Kaiserzeit fortgedauert haben, da wiederholt die strengsten Ver-
bote gegen jede Ausfuhr*) von Eisen (oder selbst Waffenverkauf au die Barbaren) erlassen wurde,
und dieselben sich von den Kaufleuten wahrscheinlich am einfachsten dadurch umgehen Hessen,
dass sie Bronzegefässe an die durch ihre Plünderzüge bereicherten Wikinger (damals säch-
sisch -jütischen Geschlechtes, wie später normannisch - askomannischen) verkauften, damit
aus dem Umschmelzen derselben Waffen gefertigt würden. Die volle Eisenzeit tritt für die ger-
manischen Eroberer in Mitteleuropa erst ein, als Allemannen, Franken, Burgunder die römischen
Stationen besetzten und nun auch die Waffenfabriken (Remensis spatharia, Triberorum spatharia
et balistaria, Ambianensis spatharia et scutaria) in ihre Gewalt bekommen, die in der Xotitia auf-
gezählt werden. Bereits Tacitus kennt Eisen unter "den Germanen und die Gothini gruben es,
aber der Nutzen des Eisens tritt erst mit seiner richtigen Verarbeitung ein, und der eine Zeit
lang den Hermunduren erlaubte Handel wird bei den zunehmenden Gefährdungen der römischen
Grenze unterbrochen sein, ehe die allgemeine Umwälzung eintrat.
Hesiod spricht von der Zeit, als fMÜag ä'ovx soxt oiötiqos, der Zeit des ytd/.o;,') als
tentiam et Virgilio et Servio adferre non sit difficile. Claros enini aereos in construetione na-
vium auetor noster commendavit. Rostra item in navibus aera fuisse (Stewechius). Samniti
usarono armatura di bronzo al riferir di Varrone. Find, yaXxonügaov «xnvia dicit. jaculum
aereas habens malas, v. e. aeratum, aerea praefixum cuspide, vel etiam praeferratum. %a).xonlr}0 r,g,
aere impletus, armatus (Eur.) yaly.6nlj\/.fug üinpjy.r^ ytvos (Uom.) yulxhxooiov (faayuvov
(Eur.), Ensis aere, (aereo ferrove malleo) cusus. yi'tkvßot, lövog t»1? 2xv9(«(, o:iov ni'Jrnog
ylvtiai (Hesych) yakvip de ferro durissimo. yrü.yo/«nfjr)g, aere (armis aereis) gaudens (Pin-
dar.) yalxoiuoois £fy taiv (Find ) De vulneribus aere inflictis (Opp.). "Alloi dwitdas tto*«-
örßtioio ntluaov yui.xoToQovg uqommv (Steph.) y.ol'-t) />;;, aerea (aerata) utens hasta (Lur.)
%c<\xtviris, aeneis armis instruetus (Find.) %akxian).og , aerea arma habens (Eur.) unla, ya/y.ta
(Eur.) yaHxtvacijuwoi ßü.rj (Eust.) yaXy.n/.«rn>' «f/.«»;" (Opp.) *«Ax6«pj}?, ferro apte armatus
(Find.) yc<lxoxooftii>)v, yjdxoi umhauivov (Hesych.). Les epees homeriques etaient en kaikos
ainsi bat'tu ä froid et pour ce' qui est du sideros, dont 011 ce servait pour les pointes des lances
et des fleches, pour les haches et les doloires, c'etait le meine metal trempe (Mauduit). Für
Bronze (statt Kupfrr) spricht die Sprödigkeit des Metalls (yukxoi), die durch das Zerspringen
eines Schwertes in 4 Stücke (in der Iliade) bezeugt wird 's. Petersen). Nach Eusth. hahe e> auch
Eisen bedeutet
*) Nihil penitus ferri vel facti vel adhuc infecti ab aliquo distrahatur
") Auch bei den Suionen wurden die Waffen unter Hut gehalten (Tacit) Nach Aeneias
sollten sie nur im Deigma ausgestellt weiden. Kurze Messer ausgenommen, musste Alles in den
öffentlichen Waffenfabriken verfertigt werden (unter Justinian Ab hominibus privatis non alia
arma aut fabricari aut vendi poterant, praeter cultellos breves (Stevvec). Habet praeterea legio
fabros lignarios, instruetores, carpentarios, ferrarios pictores, reliquosque artifices (Veget).
•••) Inde minutatim processit ferreus ensis, Versaque in opprobrium species est falcis ahenae
(Lucrez) o«'J/)oo>' arofttvaai dicitur, qui acie illud instruit sive aeuit. Sioftänut irtv u(,yutyrty
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einer vergangenen, denn zur seinigen sowohl, wie der Homers war das Eisen bekannt genug,
aber nicht Eisen constituirt den Unterschied zwischen Erz- und Eisenzeit, sondern die gestählte
Schneide, neben der dann die Bronze für Scheiden oder Griffe fortgebraucht wird. Für kürzere
Stosswaffen mag Bronze auch später noch lange gebraucht sein, und ebenso für Schwerte"), wie es
scheint, violleicht für die Etiketten-Degen der Parazonien.
Der Stein war lange eine gewöhnliche Waffe**), nicht nur für die Festlingsmaschinen, son-
dern auch für die Hand des Soldaten, und mit solchen Waffen bekämpfte Herakles »He Einge-
borenen auf der Ebene Crau (craig oder Stein), um in dem heiligen Bezirk von Nemausis die
morgenländische Civilisation zu sichern (*nr&ior«f nwqoovixä nohttvftaia bei Dion Hai..) und
nach Besiegung des (Höhlenmenschen) Tauriscus nohv tvutyi'.h] 'Alrjotäv zu gründen, r.rn'ari;
r/j; xtltixrfi toilov xnt tn}io:')io >><)'. Dann sahen ihn die himmlischen „SCandentem nubes fran-
gentemque ardua montis" (It. Sic ), um den Handelsweg (massiolotischer Stationen) zu öffnen,
den die Römer (s. Thicrry) für ihre Strassen Aurelia und Domitia benutzten. B.
(inquit Bud.) est exaeuere aciem, quasi os gladii conciunare et firmare et obdurare, quod nisi
fieret inutilis gladius esset. ' llv ydo ort %aixo<; ßanTÖ/utvoi tmouovxo tiqos orria (Greg.
Nyss.) 2.'u)r]ou<i onico , ferrum gesto, arma fero. Nach der Zeit Hannibal's ahmten die Römer
die Eisenverfertigung der Keltiberer (für ihre Schwerter) nach, ohne die Güte derselben zu er-
reichen (Suidas). Apres Homere le mot atäiiyoi semble reserve au fer non susceptible d'etre
trompe. et 1'acier parait indique par le mot ya).v\i> (Ilousel). In itinerariis referunt aliqui de
Japanensibus , quod ferrum suum in contos exeusum locis palustribus immergant, et ibi tarn
diu relinquaut, dum ad multam partem ferrugine Sit consumtum, exemtum deinde ex novo excu-
dant, et iterum in palude per spatium 8 vel 10 annorura lecendant, usque dum iterum in aqua
paludinosa falsa admodum exesum sit, pars ferri, quae restat, speciem chalybis referre perhibe-
tur, exinde dein vomeres fabriquant, exque ferro sie rubiginosa instrumenta sua et utensilia con-
ficiuDt (Swedenborg'. Stahl ist den Juden Eisen vom Norden (bei Jerem.) von fhalyhien. Poly-
phem's Auge zischt, wie das gekühlte Kisen des Schmiedes (Homer). Celtiberes ferro aciem
soliditatemque parant eo in terram defosso crassas terrestresqne partes expurgando (Polyb.)
*) Bei der römischen Station Ardoch wurde ein Bronze -Schwert gefunden. According to
Wright the bronzc weapons (in England) have generally been found near Roman stations and
Roman roads. Lindenschmid verzeichnet ein Erzschwert aus den römischen Gebäuderesten zu
Weisenau und noch einen anderen Fund aus dem römischen C'astel Salburg. Beim Dimeser Ort
wurde ein (römisches) Erzmesser gefunden, in der römischen Niederlassung von Nieder - Bipp
(nach Jahn) eine bronzene Lanzenspitze, ebenso wie (1847) im römischen Castell auf dem Börgli
und ein eherner Messergriff (neben Steinkeil) zusammen mit Münzen des Anton. Pius bei Toffen
(1811). ;1vo kir/r» itxiuruiv xtti yokxoivjiaii' xai SffOi äkkoi nokfiuxiöi' fijymi' i)nra yti(ii>i f'yi'ni
(Dionys.) Justinian erwähnt aerarii (Erzarbeiter) fabri sagittarii, gladiatores (Degenschmiede), fer-
rarii, lapidarii. Auf den alten Schlachtfeldern der Römer mit den Illyriern bei Triest, in [Strien
und in den Julischen und krainischen Alpen findet man fortwährend keltische Waffen von
Bronze und Kupfer (v. Bt'ilow). Eccard erwähnt ein neben römischen Münzen gefundenes Kup-
ferschwert. Philopoemen ersetzte die argolischen Rundschilde durch viereckige (aus Holz und Floht
werk) mit langen Spiessen. Camillus umgab das scutum (an der Stelle des clypeus gesetzt)
mit einem Metallrand. Iphicrates führte längere Schwerter ein. '// x«) Poiunfoi («'<,- nnTofous,
unoDffitPoi uttym'na*;, {* ii»v xm' 'A"v(3cti/, (jti(-ßt'tlov jf<± imv *lßt)tj(üV (Suidas). Hispano-
rum non minus ad punetim feriendum hostem valebant, Gallorum gladii (iKiyuiou) ad eaesim
dumtaxat feriendum utilcs, quam ad rem opus erat aliquo intervallo (Polyb.); ia äi £(tf>r] ir\v
fi'Ki'u'i'i' ti/h ihcilhaiv. Die römischen Reiter führten (neben Stangenlanzen) anädi] öt (jtnXQa
xu\ n).i'Tfit< (Arrian.)
•*) Die Heloten kämpften (wie die yv/xv^atot in Argos) mit Steinwürfen, die sikyonischen
Sklaven heissen Knittelträger [xoovovqq-oijoi'). In den l'erserkriegen bildeten die Sklaven die
jitrooßüküi. Lapide aul ex fundaaut ex manu (Aelian) utuntur (Velites). Et manu sola omnes
milites meditabantur libralia saxa jaetare qui usus paratior creditur, quia non desiderat fundara.
Missilias quoque, vel plumbatas jugiter perpetuoque exercitio dirigere cogebantur (Veget.). In
quodam illorum tyrociniorum Comes Clarimontis armorum pondere praegravatus et Malleorum
ictibus super caput pluries el fortiter percussus in amentiam deeidit (1279 p. d.). Magnus inter
caetera trophaeomm raorum insignia inusitati ponderis malleos, quos Joviales vocabant, apud
insularum quandam prisca virorum religione eultos in patriam deportandos curavit (Saxo)
Mailhetus, (als Hammer), [pse brevis gladius apud illos Saxa vocatur (Gotefr. Vit). Cum
fundere tentassenl cum malleis et Cuneis et omni hujus generis machinamento (Mir. st. Rieh ).
Adjertis irrreis [.alis et Cuneis (\it S. J. E. 'I'.). The ancienl Irish warrior carried a stone in
in 'bis girdle (the Lia Miledh or warriors stone) to cast at his adversary (Wilde) Fergus threw
the Leacan laechmhileadh (the semi-flal stone of a soldier Champion) gegen die Hexe, Eochaidh
Liagh churadh (a Champions Bai stone), Lohar carried a Liagb lamhalaich (a champions haud-
stone), throwing bis battle-stone. In the battle aear Limenck against the Danes, they cast
their stones (smal arrows and smooth speais). The stone appears to have beeu a naked celt thrown
1 35
(Halevy,) Lettre ä monsieur D'Abbadie sur l'origine asiatique des languee
du nord de l'Afrique. dum 18G7. Paris, Maisonneuve. Separatdr. aus Actes
de la societe philol. toiue I, p. 29 — 43.
Verf. will nicht, wie man ans der Aufschrift Behliessen konnte, den Ursprung der genann-
ten Sprachen aus asiatischen Sprachen erörtern, sondern indem er den Zusammenhang der
uordafrikanischen (hamitischen) Sprachen mit den anstossenden asiatischen (zunächst also serai-
tischeu) ganz aus dem Auge lässt, glaubl er in vorliegender Schrift bewiesen zu haben, dass
die Wiege der ägyptisch-berberischen (hamitischen) Race irgend ein asiatisches Land ist, aus
welchem die ganze Race in nicht näher zu bestimmender Zeit ausgewandert sei und en passant
die arabische Baibinse] occupirt babe. Dort seien die Hamiten allmählig von den Semiten ab-
Borbirt oder zur Wanderung weiter nach Westen über das rothe Meer gezwungen worden ä
l'exception d'un rameau detache" qui, protege par sa position inaccessible du cöte de la terre,
s'est conserve jusqu'ä nos jours. Diese noch heut existirende hamitische Bevölkerung Arabiens
with the band (s. Wilde). Clavering fand bei den Grönländern einige Spitzen statl aus Kno-
chen) aus Meteor-Eisen. Ad arina facienda ferrum utriusque temperatui-ae ei carbones servantur
in conditis, ligna quoque hastilibus, sagittisque necessaria reponuntur. Saxa rotunda de fluviis
(minima de fundis, sive fustibalis, vel manibus jacienda). Rotae quoque de lignis yiridibus
ingentissimae fabricantur (Veget.). Fundibalum dici ait (Isidor.) quasi fundentem et emittentem
(a fustibalo fustibulatoribus). Qui fundis ex lino vel setis factis. ^<>\c\ie fustibulatores würden
unter den mii steinen bewaffneten Sachsen zu verstehen sein, wenn dieselben bei Hastii s
werfen wurden. Fune alligati (globi lapidei perforati, in Holsatia inveuti] hostium capitibus
immittebantnr. Nee dissimili bellico instrumento Johannes Ziska suo adhuc tempore usus est
(Eccard). Cultri lapidei quando cum aereis et tandem ferreis commutati fuissent, in re do-
mestica. in sacris manserunt, quae uon fernere etiam in minimis mutationem admittunt. Et
cultri sacri, quibus circumeisio fit apud Judaeos, etiam nostro adhuc aevo lapidei existunt
(Eccard) 1750. in manchen Artikeln (des Arnstädter Stadtrechts) kommt die Strafe der Liefe-
rung einer ^wissen Zahl Fuder Steine vor (s. Michelsen), z.B. Welcher Bürger dem andern
freuenlych in sein Haus leuff't (mit gewapenter hent). l.'nter den hotontini genannten Grenz-
hügeln wurde ausser Asche und Kohle auch Scherben gemischt (in der Römerzeit). Die alten
Dämme und hochgelegene WTasserzüge beweisen, wie die niederländische Anbauer einst durch
Abwässerungen das Tiefland (der Ländereien in dem wasserreichen Thal des Elelmeflusses,
ursprünglich in sumpfiger Niederung gelegen) in Wiesen umgeschaffen und urbar gemacht haben.
Wie der erste Abt (1144 p. d.) vom Erzstift Mainz, erwarben (1155) die Mönche zu Walkenried
paludem quandam in Heringen virgultis et arbustis obsitum. quae ad Fuldensem Ecclesiam spec-
tabat, durch Tausch. Walkenried >elbst hatte eine sumpfige Lage, wurde durch niederländische
Mönche gebaut und musste durch Ausgrabung in Fischteiche entwässert werden (s. Eckstrom).
In den niederländischen Colonien wurde zwischen Holländer und Fläminger anfangs nicht unter-
schieden [Michelsen). Et non solum deeimas terrarum novarum, quae quondam solebant esse
paludes, quomodo vulgariter appellantur les Pestis (1224 p. d.). Den römischen I rsprung des
wegen der Belegung mit Steinen) Steinberg (147:' von den Pfählen) genannten Pfahlwerkes bei
Nidau bezeugen nebst den darin vorkommenden römischen Ziegeln die dort gefundenen Münzen
(Jahn) 1850.C Unter den Ziegel-Fragmenten in dem Grundbau der römischen Wohnung (in
Engewalde) wurden Austerschaalen gefunden. Stagnum a Gra( artyröv 'ad villas rotunda
stagna). Unter dem bremischen Bischof Unwan bewahrte die Paludicolae heidnische debräu.he.
Obsidianspitzen wurden bei Athen gefunden und Steinäxte (von Merlin) bei Orehomenos. The
inner Bra/.il preserves the Catalan or direct proces» of treating the ore bj Single Fusion, now
obsolete in older lands, even the Munjolos in Western and the Manne savages in Eastern Africa
have iraproved upon it by adding a chimney for draught, a rüde kind of wind-furnace (Burton).
WTe have in England ample evidence from barrows of the continuance in use of stone-hatchets,
arrow-heads etc. after bronze had been introduced for daggers and other cutting iustruments (s.
Evans). In the tumuli of Wiltshire the stone arrow-heads are usually found wirb bronze dag-
gers. In Derbyshire stone implements are found not only with bronze. bul with iron [Wright).
In the barrow, (called Carder-lowe) the bronze dagger was found in a lower. .nid therefore older.
deposit, than one, which contained nothing but Mint implements (Wright) In Belgium on the
borders of the Ardennes a cromlech with a Koman interment in it has been found in the middle
of a Koman cemetery (Wright). Bei Homer und Hesiod scheint zu Werkzeug und Ackergeräth
Eisen, zur Waffe aber vorzugsweise das Kupfer benutzt worden (von Bibra). In den -verschüt-
teten Gruben der mit eisernen Werkzeugen bearbeiteten Goldfelsen (am rothen Meer) fand Aga-
tharchides (150 a. d.) nur kupferne Werkzeuge des Bergbaus. Ephorus bezoiehnet die taurischen
Gangbauten der Kimmerier, als unterirdische Wohnungen, mit dem keltischen Worte Argel
(apytUas) und dort wiederholt sich der Gegensatz der Hochländer des Kaukasus und der Nie
derländer des palus Maeotis, wie zwischen Albanier und Maeoten Caledonien's (der Ceiltach).
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soll nach H. aus den Stämmen der Südküste bestehen, welche die (nns übrigens nur erst durch
höchst dürftige Mittheilungen bekannte) Ehkili Sprache reden. Dieses Idiom hat nämlich nach H.
un fond africain et surtout berber, und indem er dies nachgewiesen zu haben glaubt, hält er
auch die Wanderung der Haniiten aus dem Inneren Asiens durch Arabien nach Afrika für er-
wiesen. Verf. wendet sich somit (p. 30) auch gegen die von It. Hartmann in dieser Zeitschrift
(I, p. 44) ausgesprochene Ansicht, dass Aegypten von Libyen oder den höheren Landschaften
Nord-Sudans her seine Bevölkerung erhielt, obgleich die Ansicht dieses Gelehrten mit der H.'s
eigentlich gar nicht im Widerspruch zu stehen braucht. Uebrigens scheint aus anderweitigen
linguistischen Gründen wirklich eine asiatische Abkunft der nordafrikanischen Völker angenom-
men werden zu müssen (Vergl. Fr. Müller, Novara-Expedition, Ethnogr. S. 92).
Indess hat H. durchaus nicht bewiesen was er glaubt bewiesen zu haben, nämlich den
hamitischen Charakter des Ehkili. Hauptsächlich stützt er sich auf Voknlvergleichung und bringt
in der That mehr oder minder gewaltsam einige Anklänge an das Berberische, Aegyptische oder
Bega (Hadendoa) zu Stande In vielen Fällen liegt der Irrthum auf der Hand*), in anderen ist
die Etymologie des betreffenden Ehkiliworts noch nicht mit Sicherheit zu erkennen. Jedenfalls
aber hätte H. wissen müssen, dass bloss durch Vergleichung von 30—40 Vokabeln Sprachver-
wandtschaft nicht bewiesen werden kann. Von grammatischen Uebereiustimmungen hebt er be-
sonders hervor die Bildung des Causativs im Ehkili durch präfigirtes es und das seh des Pro-
nomens der 3. Fers. Beides ist aber acht und alt-semitisch"), und wenn im Hamitischen sich
die gleichen Formen hierfür finden, so kann dies nur mit als Beweis dafür gelten, dass semi-
tische und hamitische Sprachen von alten Zeiten mit einander verwandt sind, nicht aber dass
das Ehkili eine hamitische Sprache ist.
Dem Vernehmen nach ist Herr H. zur Zeit auf Reisen in Südarabien. Er wird hoffentlich
dort Gelegenheit haben, reicheres Material zu sammeln und sich von der Unhaltbarkeit seiner
Hypothese zu überzeugen. Sollte sich übrigens in den südarabischen Sprachen einiges hamiti-
sches Sprachgut finden, so wäre dies nicht gerade zu verwundern, da auch die semitischen Dia-
lekte des nur durch den schmalen Meeresarm von Südarabien getrennten Abessiniens mehr oder
weniger starke hamitische Beimischungen zeigen. Praetorius.
Die Ptoeiubari und Ptoeinphanae des Pllnlus. Faul Buchere veröffentlicht über diese Völker
in der „Zeitschrift für ägyptische Sprache und Alterthumskunde" von Lepsius und Brugsch.
Jahrg. 1869, S. 112 interessante Daten, welche wir im Folgenden etwas näher besprechen wollen.
Buchere erwähnt zunächst einiger Mittheilungen von Lepsius über sonderbare Gebräuche
gewisser Bewohner von Fasoglo: dass nämlich zu einer Jahreszeit der Landesfürst von vier
Ministern auf einen AngarOb (Ruhebette) getragen, dass an einen Fuss dieses Angareb ein Hund
mit einem langen Stricke gebunden und von der Bevölkerung mit Speeren und Steinen getödtet.
dass aber alsdann der Fürst wieder nacli seiner Behausung getragen werde***).
Referent hörte diese Erzählung von Masaüd-Effendi, Mamür von Rosöres und Fasoglo, inso-
weit bestätigen, als hiernach der Hund von jedem Bewohner (des Dorfes Fasoglo oder Fesoghlu,
ferner auch der Dörfer zu Gassan und Faronja) einen Ruthenstreich empfange. Es geschehe
dies zur Zeit der Durrahernte, weshalb, sei aber nicht bekannt f).
Nach Buchere's Bericht findet sich eine Auslegung dieses bizarren Gebrauches in einer Bio
entnommenen Stelle des Pliuius. Nachdem dieser nämlich einer den Semberriten (Nachbarn von
Meroe) gehörenden Insel des Nil gedacht, fährt er fort: weiterhin, acht Tagereisen weit (wohnen)
die nubischen Vethiopier, ihre Stadt Tenupsis liegt am Nile, ferner die Sambrer, bei welchen
') So ist dsinit acht = somit, sement; sait, set neun = semit. tis'a mit Metathese wie
ähnlich im Ambarischen und Barari; cbitKaraeel ist offenber nur ein Druckfehler für ebildas
gew. arabische Wort; siot Feuer = semit. esät; mi, mu Wasser = semit. mä, mäj, inoie;
teia Ziege somit, tali; ob gross, wahrscheinlich = äth. abi H. zieht aber überall ferner he-
gende hamitische Wörter herzu,
") Vergl. die Inschrift von Hadramaut in Zeitschrift d. deutsch morgenl. Ges XIX. 8. 238 ff.
♦*♦) Nach Erzählung des Liwa (Brigadegenerals) Othmän-Bey-el-Arnaud. Briefe aus Aegypten,
Aethiopien und der Halbinsel des Sinai. Berlin I8;>2, 8. 214.
f) Hartmann: Reise des Freiherrn Adalb. v. Barnim durch Nord-Ost- Afrika u. s w. Berlin
1863, S. C24.
137
alle Vierfüssler, selbst die Elephanten, der Ohren entbehren; auf der afrikanischen Seite die
Ptoembari, die Ptoemphanae, welche einen Hund /.um Konige haben, und welche dessen Be-
fehle nach seinen Bewegungen beurtheilen (VI, 35) Bio scheint diese Nachrichten von einem
Aegypter erhalten zu haben.
Buchere hält nun die Ptoembari für Bewohner des Landes Bar, p— to en bar; die Ptoern-
phanae dagegen für Bewohner des Landes Plian, p — to en phan. Phan müsste, sowie Bar, auf
afrikanischer Seite, d. h. westlich vom Nile, gelegen, auch weiter entfernt gewesen sein, als letzteres,
indem es ja spater aufgeführt verde, wie dieses. Wenn man nun erwähnten Text unter Hinzu-
nahme einer Karte prüfe, so fühle man sich veranlasst, das Land Bar in Kordufan zu suchen,
da, wo heut die Stadt Bara sich erhebe. Ich bemerke hierzu, dass ausserdem zwar ein Dorf
Omm-Bari in Dar Ros^res am blauen Nile befindlich sei, und dass ein grosser bekannter Volks-
stamm am Bacher-el-Gebel mit dem Namen Bari belegt werde, dass aber das von Buchere er-
wähnte kordufanische Bara seiner Lage nach allerdings dem p — to en bar der Alten ganz wohl
entsprechen könnte.
Ferner meint Buchere, Phan müsse im Süden and Westen von Kordufan liegen und iden-
tisch mit dem vom Volke der Funje (Fouii ou Fougn) im Süden und Westen von Kordufan be-
wohnten Districte sein. Dies Volk habe, auswandernd, auf der anderen Seite des Nil zu Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts das mächtige Reich Sennär gegründet und 1771 auch Fasoglo er-
obert, woselbst sich der von Lepsius erwähnte sonderbare Gebrauch noch jetzt finde. Spuren
des primitiven Sitzes der Funje im Süden und Westen von Kordufan zeigten sich in den Namen
Dar-Fungare oder Fonjoro (Fougnara, im Süden von Für) und Gebel Funjur, Fungur (Fougnur,
im Süden Kordufan's).
Ich meinestheils glaube nun die Frage nach den Ursitzen und nach der frühereu Geschichte
der Funje hinlänglich aufgeklärt zu haben; ich hätte uur gewünscht, dass dem französischen
Aegyptologen meine älteren und neueren Publikationen über diesen Gegenstand zugänglich ge-
wesen seien*). Dass das Wort „Phan" mit bem Namen Funje, Singul. Fuugi in sprachlicher
Beziehung stehe, glaube auch ich. Dieses „Phan" findet sich direct im Namen des Berges De-
fafän wieder, welcher in den Traditionen der Besieger Aloa's eine hervorragende Rolle spielt,
ferner auch mittelbar in dem Namen eines auf den Funje- Bergen von Sennar nicht seltenen Bau-
mes aus der Familie der Capparideen, des Sesefän. Dies „Fan" wird von den Funje etwas dünn,
mit nasalem n am Ende, ausgesprochen. Der Widerspruch, dass „p — to en phan" westlich vom
Nile gelegen haben solle, löst sich wohl dadurch, dass hier bei allgemeiner Abschätzung der geo-
graphischen Lage der Astaboras (der Alten) d. h. der blaue Nil, als der den Alten bekann-
tere der Hauptquellströme, als der Strom von Meroe, gemeint sein dürfte. Der uralte Sitz
der Funje befindet sich aber zwischen dem blauen und weissen Nile.
Buchere entwickelt nun über die muthmassliche Herleitung jener Ceremonie mit dem Hunde
folgende Ansichten: Sie fand sich bei den Funje und bezeichnet ein Jahresfest, Dar-Fungi,
(D.-Fougn) oder p— to en phan ist ehedem von einem Hunde regiert gewesen, d h. von einer
im Hunde incarnirten Gottheit, einer Analogie mit Apis, dessen Bewegungen die Priester ja
auch nach ihrer Fantasie ausgelegt haben. Ein Mächtiger hat die von der Priesterkaste ausge-
übte Gewalt an sich gerissen, gerade sowie Ergamenes in Meroe**), den Hund unter Zudrang
des Volkes tödten lassen und zwar mit Rücksicht auf den Act der Usurpation. Er hat sodann
die alljährliche Vollziehung jener Ceremonie zum Angedenken an die stattgefundene Staatsum-
wälzung festgestellt Der erste Theil dieses Festes wird mit allen möglichen Tollheiten began-
gen, um an die Unordnung zu erinnern, welche bei einem von einem Hunde regierten Volke
herrschen musste und soll die vom Könige anbefohlene, vom Volke gutgeheissene Tödtung des
Huudes den Triumph der Ordnung und Autorität symbolisiren.
Ich selbst bin der Ueberzeugung, dass Buchere mit der Herleitung dieser Hundegeschichte
') Z. B. Naturgeschichtlich medizinische Skizze der Nilländer, Berlin IStiö, S. 370 ff. Zeit-
schrift für Ethnologie, Jahrgang 186P, S. 280 ff. Gebel-Fungur, Dar-Fungare, ist nicht Bezeich-
nung für den Ursitz der Funje, so weuig wie Gebel-Gondjar, Guiniar, Bezeichnung für den L'r
sitz der Gondjara oder Gindjara ist, sondern es sind das Namen für Fungikolonien in Für und
für Gondjarenkolonieu (Tekariiie) in Ost-Sennrir.
**) Und wie Mena in Aegypteu ? — U.
Zeitschrift tur Ethnologie, Jabrgaug 187U. IQ
138
>ich im Ganzen auf dem richtigen Wege befindet Traditionen aus dem Alterfhnme sehen wir
hei diesen Völkern in Menge von Generation zu Generation forterben.
Gewisse dunkle Anklänge an einen Hundekultus existiren auch noch anderwärts in Ost-
Afrika So züchten selbst die Schilluk und Denka die schönste YVindhundrasse wohl der Erde
und halten diese Thiere, wie es auch Funje, Bedja und die rdten Aegypter thatcn und noch
thun, sehr hoch; sie legen manchmal eine schwärmerische Verehrung für dies Hausthier an
den Tag. Bei den unseren Funje (Vielem zufolge) national wohl nicht sehr fernstehenden Wa-
huina von Uganda, den Waganda, spielt der Hund - es scheint das eine kleine Köterrasse etwa
wie die bekannte des Osortasen zu sein — nach J. H Speke bei allen Staatsaktionen eine grosse
Rolle. König M'tesa, der jugendliche Despot von Uganda, pflegte solch ein Thier in Gegenwart
der kühnen Briten hei vielen Audienzen und anderen öffentlichen Handlungen an der Leine mit
sich herum zu führen*). Nach einer durch F. Morlang reproducirten Sage der Anwohner des
Jeji-Flusses giebt es „weit im Süden-' ein Dschur lo wate oder Weiberdorf**). Im genannten
Dschur lo wate existiren blos Weiber, die sich mit Hunden begatten und entweder männliche
Hunde oder Mädchen gebären u. s. w. Nach der mir gewordenen Mittheilung eines in der
Garnison von Famaka (Fasoglo) als Soldat dienenden Limu-Gala giebt es im Süden von Habesch
Länder voller Zwerge' ), affenartiger Zenjerenf) und rother hundskö pfiger, von einem
Hunde angeführter Menschen u. S. w.ftv
Was übrigens die hei der erwähnten Hundeceremonie der Bewohner Fasoglo's und Berta's
begangenen Ausgelassenheiten anbelangt, so dürften diese ganz sowie alle bei beliebigen Fest-
lichkeiten, besonders aber bei der Durrahreife, üblichen Schmausereien, Saufereien, Tänze u. s. w.
aufzufassen sein, wie sie solchen Stämmen als nöthiges Attribut des Wohlleben erscheinen.
Buchere erwähnt endlich gewisser antiker Ruinen im Süden des Berges Merudi zwischen
Kordufan und Dar-Fur. welche vielleicht einer Stadt der ehemals von ägyptischer Civilisation
beeinflnssten „Ptoemphanae" angehört haben könnten. Die Erörterung dieses letzterwähnten Ge-
genstandes behalte ich mir für eine andere Gelegenheit vor. Hartmann.
Prof. A. Ecker empfiehlt zur Konservirung der Gehirne „das von Gratiolet und Bischoff vor-
geschlagene Chlorzink vor Allem deshalb, weil mau nicht nöthig habe, vor Einlegung in diese
Flüssigkeit die Pia mater vom Gehirne abzulösen, indem dieselbe sich, nachdem sie einige Zeit
darin verweilt, selbst noch leichter als im frischen Zustande ablöse. Wolle man Weingeist zur
Erhärtung anwenden, so sei eine vorgängige Entfernung der Pia mater absolut nothwendig: es
könne diese, wenn man unmittelbar das Gehirn in absoluten Alkohol einbringe, ganz wohl unter
Wasser geschehen. Auch die in Chlorzink erhärteten Gehirne müssten nach einiger Zeit in
Weingeist gelegt werden. Für vollständige Erhaltung der Form des Gehirnes sehr vortheilhaft
sei auch die Einspritzung von Weingeist oder Chlorzink in die Carotiden; bei Anwendung der
ersteren Flüssigkeit sei jedoch das spätere Studium der Windungen wegen der fest anhaftenden
Pia mater mit Schwierigkeiten verbunden". (Die Hirnwindungen des Menschen. Braunschweig
ISG9, S 00, 51.) Will man Gehirne in Alkohol erhärten, so genügt es zum späteren Studium
der Innentheile derselben, die Pia mater vor dem Einlegen hier und da zu lüften. Man wende
sogleich stärkeren Weingeist an. Chromsäure und doppelt chromsaures Kali eigenen sich nur bei
*) Vergl. Speke: Journal of the discovery of the source of the Nile London 1863, p. 291.
. \ white dog, spear. shield and woman — the Uganda cognisance — " etc., ferner die cha-
rakteristische bildliche Darstellung M'tesa's und seines Staatshundes das. p. 292 nach einer Zeich-
nung von Grant.
"*) Morlang fand auf einer Landkarte jenseit des Aequator den Namen „Weiberstadt". Peter-
mann und Hassenstein : Innerafrika. Abtheilung III, S. 120.
"•; .Jedenfalls die angeblichen Doko's des Dilbo in C. Uarris: Highlands of Aethiopia. London
1844, III, p. <dö.
{•) Zendjero, Jenjero, eine Jnarya tributpflichtige Landschaft. Zenjero ist übrigens ein amha-
rischer Name für den Hamadryas-Pavian (C'ynoccphalus Ilamarfryas he^m.).
tt Letztere Notiz aus meinem Tagebuche, welche ich bisher als blosses Sagengeschwätz gauz
lussei \< -hl gelassen, gewinnt erst in Verbindung mit Obigem einiges Interesse. Der Soldat
nannte das mythische Volk in seinem schlechten Arabisch ein „Nas achmar beta'l ras-el-Kelb.1"
„E Schekh beta'l nas de min gins el-Kelftb, se-i-de el-Kelb". Ich wüsste dies nicht anders zu
übersetzen, als oben angedeutet worden.
139
sehr vorsichtiger Anwendung; ein wenig zuviel macht die Hirnsubstanz schon leicht bröcklig.
Dagegen eignen sich auch sehr wohl Einspritzungen von arseniger Säure, zerrieben, in Spir. Vini
rectifieatiss. (8—10 Gran auf 1 Unze) suspendirt, sowie von Sublimat, letztere aber nicht ganz
so gut wie jene (4— G Gran auf 1 Unze destill. Wassers), in die Carotiden (bei kleineren Säuge-
thieren und Vögeln mit Erlolg versucht). Solche Präparate bewahrt man dann in mittelstar-
kem Weingeist auf.
In Zeiller's „anthropologischem Museum' am Odeonplatze zu München finden sich einige
sehr interessante plastische Rassendarstellungen vom Menschen So /.. B. No. 13. eine Furauieh,
No. 14. eine Schankela von Basen (nicht Abyssinierin, wie Erklärung besagt), No. 10. eine an-
gebliche Bornuerin, Namens Äischa, (den Wangenschnitten nach zu urtheilen aber wohl aus
Mandara gebürtig), No. 90. ein Nubiermädchen, in London nach dem Leben sehr brav modellirt,
No. 30. ein $ Somali, No. 4. die Gypsbüste des Schwarzen Salem, Bedienten des Herzog- .Max
Interessante Vergleichungsobjeete bieten der vollständige Körper und die Köpfe germanischer
Weiber, letztere sehr schön gearbeitet, dar. H.
Auf der internationalen Kunstausstellung zu München im Sommer 1869 fiel Pietro Calvi's
.Othello' (Bildwerke, No. 332 des Kataloges) als höchst vortreffliche plastische Darstellung eines
echten Berbers auf. Dieser Kopf macht doch einen ganz anderen Eindruck, als die dunkel-
angeschmiukten pariser oder berliner Bühnenheldeu gleichenden Othellos, wie sie auf gewissen
berühmten Oelgemälden einen mehr wie komischen Effect hervorbringen. Auch die bildende
Kunst sollte stets nach ethnologischer Wahrheit streben. U.
Bücherschau.
Die Wawa oder Wawa-t. Von P. Buchere. Zeitsclir. f. aegypt. Sprache
u. S. w. 1869, S. 113 ff. Unter den schwarzen Völkern, welche ihre Unabhängigkeit gegen
die alten Aegypter vertheidigten, war nach dem Volke von Kese eines der mächtigsten das Volk
von Wawa. Letzteres kommt schon im alten Reiche unter Sesertesen IL vor. Zur Zeit dieses
Pharao fand sich Aegyptens Grenze in Wadi-Halfa. Die Wawa müsseu also südlich von diesem
Districte gewohnt haben.
Unter Taudmes III, welcher ganz Nubien bis nach Abyssinien unterworfen, erscheinen die
Wawa als Tributpflichtige neben dem Kese - Volke. Zu dieser Epoche scheint das Gouverne-
ment von Kese seine Grenze an den Provinzen Ba-Kens und Chent-hen-nefer gefunden zu haben,
letztere nicht eben weit von Aegypten entfernt.
Zur Ptolemäer- und zur Kaiserzeit finden wir auf Denkmälern das Wawa- Volk immer hinter
dem von Kes^ als ein den Aegyptern tributäres aufgeführt. Das bezeichnet nun für die da-
malige Zeit nichts weiter, als lebhafte Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern. In den
aus der Zeit des Verfalles herrührenden Dokumenten erscheinen die Wawa stets als eine beträcht-
liche und reiche, besonders mit kostbaren Metallen, wie Gold, Silber, Kupfer u. s. w. und mit
Lapis lazuli handelnde Nation.
i>u» Volk von Kese darf man nun nicht weit suchen, es war das von Meroe, welches sich
140
nach Süden bi» an die Gebirge von Habesch, nach Norden, unter Ergamenes, bis an die Gren-
zen Aegyptens ausdehnte, zur Römerzeit aber bereits stark in Verfall gerathen war.
Buchere fragt nun, wo man wohl die Wawa zu suchen habe? Früher habe (nach Arn.
tl Abbadie) ein reicher mächtiger Stamm einen grossen Theil von Abyssinien inne gehabt, näm-
lich die Agau oder Agaö, die xkouawas d'Abbadie's. Diese dürften ohne Zweifel langdauernde
Beziehungen mit den Aegyptern unterhalten, und einen diesem Lande nahe liegenden Wohnsitz
behauptet haben, ^sach Salt hätten die besseren Häuser der Agaus die charakteristische Form
der altägyptisehen Tempel.') Auch citirt B. die bekannte Mittheiluug von Bruce über Nilopfer
der heidnischen Agau's am oberen Abäy , welcher Gebrauch ebenfalls an Altägypten und Alt-
äthiopien erinnere.
Er schliesst, dass 1) tue Wawa der Aegypter die Agau oder Aouawas der Gegenwart seien,
dass 2) diese zur Zeit Sesurtesen II. die Nilufer in Sukkot bewohnt, aber, durch die Pharaonen
und die äthiopischen Eroberer von Napata allmählich nach Süden gedrängt, ihren alten Nilgott
nicht hätten verlassen wollen , vielmehr den Kultus desselben mit nach dem blauen Flusse ge-
nommen. Soweit Buchere. Jedenfalls müssen wir dem strebsamen Aegyptologen die grosseste
Anerkennung für seine Bemühungen zollen, den natürlichen Zusammenhang zwischen den in
alten Dokumenten aufgeführten Völkern mit auch noch heut existirenden Völkern zu suchen.
Einige Punkte in dieser hier zuletzt recensirten Arbeit Buchere's bedürfen übrigens noch der
Klärung. Obwohl nun in Dar-Dongolah ein Dorf Wawi existirt, welches, vom Referenten selbst
besucht, an die Wawa der Aegypter erinnern könnte, so glaubt derselbe doch nicht, dass die
Bewohner dieser jetzt ärmlichen und wohl kaum jemals reich gewesenen Landparcelle mit dem
antiken, beträchtlichen und wohlhabenden Handelsvolke ähnlichen Namens zusammengeworfen
werden dürften. Es erscheint die Ansiebt des Verfassers, dass die alten Wawa identisch mit
den Agau seien, recht plausibel.
Als Anmerkung zu meinem Zusätze zu P. Buchere's Arbeit über den Hundekultus der
Ptoemphanae möge noch Folgendes dienen: Barth schildert nach Angabe des Militärchefs Burku,
unter den zwischen Mäsenja und Bang -Bai, Baghirmi, gelegenen Gegenden das 17 Tage
von ersterer Hauptstadt entfernte Gebiet von Gabberi, dessen Bewohner, trotz ihres Reichthums
an Pferden und Rindvieh, wie die Bewohner des ganzen Landes von Bäng-Wondja, nur Hunde-
fleisch essen. Ausserdem schlachten sie unter einer grossen Sykomore(Djimes)
Hunde, Schafe und Hühner zu Ehren ihrer Gottheit und begleiten diese
Handlung mit einer lauten, auf Rindshäuten erzeugten Musik. (Reisen und Ent-
deckungen. III., S. 571.) Ein an mir noch nicht näher bekannte Vorstellungen geknüpftes, an-
scheinend jedoch ins religiöse Leben hineinspielendes Hundeessen ist bei manchen muslimischen
Maghrebin beliebt Von den Njam-Njam erzählt man sich, dies Volk habe Hundszähne, Hunds-
gesichter und sei geschwänzt, wesshalb man es auch Abu-Kelab (Hundemeuschen) zu nennen
pflege. Diese Leute mästen und verspeisen eine kleine Hunderasse, die sie sonst auch zur Jagd
gebrauchen"). H.
Le Tour du Monde, nouveau Journal des voyages, publie sous la directum
de Mr. Ed. (Jharton et illustre par nos celebres artistes. Paris, L. Hachette
et Comp.
Diese illustrirte, geographisch- ethnologische Zeitschrift wird bald das erste Semester des
Jahrganges 1870 vollendet haben. Mit immer erneuetem Vergnügen nehmen wir jede einzelne
Nummer derselben in die Hand, durchblättern wir diese reich geschmückten Seiten , auf denen
sich ernstes Streben nach wahrer Belehrung, ästhetischer Sinn und technisches Geschick zu
einer ununterbrochenen Leistung einigen, die durchaus ihres Gleichen sucht. Welche Fülle des
Materials bietet sich uns in dieser Zeitschrift dar! Die Reisen Repin's und Mouhot's, P. Mar-
coy's und Davilliers, die Schilderungen A. Humbert's, Duhousset's. Garnier's, Paris und noch
*) bei übrigens noch heut gewöhnliche Styl der aus gebrannten oder lufttrockenen Ziegeln
aufgeführten Häuser Ostsudän's, wovon man zu Mesalamieh , Woled-Medineh, Sennar, HeTlet-
[dris u. a. a. 0. die treffendsten Beispiele sehen kann.
") Heugliu: Reiae in das Gebiet des weissen Nils. S. 206, 207.
141
HO vieler Anderer, die namentlich aufzufahren 0118 der Raum mangelt, rufen unser höchste
Interesse wach. Der Text liefert uns lange, ausgedehnte Aufsätze, wie sie unser Wissenschaft
liches Gefühl weit mehr befriedigen, als es eine noch grössere Zahl abgekürzter Essays zu thun
vermöchte. Unser verehrter Fachgenosse Vivien de St, Martin sorgt am Schlüsse jedes Semesters
für einen seiner tiefdurchdachten geographisch-ethnologischen Rückblicke. Ausgezeichnete Kunst
ler schaffen uns eine Menge jener vorzüglichen z. Tb. sogar brillant ausgeführten Abbildungen,
die jeder Ethnolog nur mit vollster Dankbarkeit entgegennehmen wird. Verziert doch mancher
Ibklatscfa der letzteren so manches nichtfranzösische Journal ähnlicher Tendenz, welches
sich leider bisher nicht zur Originalität der Seineschwester hat erheben können. Während wir nun
die zum Theil wahrhaft grossartigen ITolzschnittdarstellungen landschaftlicher und rein mensch-
licher Verhältnisse aus Brasilien und der Djurdjura , aus Hindustan und Siam, aus dem .Fer-
nen Westen" und aus Habesch, vom Gabun und aus Florida, von der Rambla und aus der v:i-
lencianer Huerta, aus der Moldau- Walachei und dem Creuzot, von Neu-Caledonien und Japan,
höchlichst bewundern müssen, wünschen wir der so berühmten, so regsamen Firma der Herren
Hachette & Comp, nur etwas bessere, für ihr specielles Fach mehr geschulte Thierzeichner,
wie Deutschland sie in seinem R. Kretschmer. H. Leutemann. G. Hammer, wie England sie in
seinem Wolf und in noch Anderen besitzen. Die ethnographischen Darstellungen aus Livingstone,
Speke und Grant, Baldwin, Baker, Vambery sehen wir übrigens in dem grösseren Format
und in der technisch voll endeteren Ausführung des Tour du Monde weit lieher, als in den
kleineren englischen Original- Ausgaben. Hinsichtlich der Wiedergebung ethnologisch wichtigei
Typen ist das Bestreben der Redaktion, möglichst häufig das unvergleichliche Hilfsmittel der
Photographie in Anwendung zu ziehen, sehr anerkennenswerth.
Die neuesten April -Nummern des Jahrganges- 1870 bringen uns, eine wahre Erquickum:
nach einer etwas sehr langausgedehnten Schilderung modernen Bonzenwesens, recht lebei -
frische Skizzen des Herrn G. Perrot aus den noch so wenig bekannten südslavischen Distrikten
Oesterreichs u. s. w. Der auch bei uns hochgeschätzte Th. Valerio*) illustrirt diese Blätter aus
der Fülle seines Albums.
Bisher hatte sich der im Tour du Monde veröffentlichte Text immer durch eine kernig
vielfach recht angenehm-heitere und namentlich sachgemässe Darstellungsweise ausgezeich-
net. Mit um so tieferem Bedauern lesen wir in Nr. 538, dass der alberne, eines so hoch-sre-
bildeten Volkes, wie das französische, so gänzlich unwürdige Chauvinismus, auch in
diese, dem edlen Streben nach Erkenntnis* gewidmeten Blätter sich hineingestohlen. Auf-
richtig wünschen wir, dass unsere sonst so brave französische Schwesterzeitschrift weiterhin Für
immer fern von solchen Scurrilitäten bleiben und mit uns das Banner mit dem leuch-
tenden yvoi&i auuiof — zur Ehre kosmopolitisch- wissenschaftlichen Strehens
— hochhalten möge. H.
The Natural History of Man; being an account of the manners a. custoras
of the uncivilized races of men. By the Rev. J. G. Wood, M. A., F. L.
S. etc. Vol. II. Australia, New Zealand, Polynesia, America, Asia, and
Ancient Europa London 1870. 864 p. gr. 8., num. woodcuts**).
Der vielbewanderte, unermüdliche Verfasser dieses Werkes hat gar keine leichte Aufgabe
über sich genommen, nachdem er der Völkerkunde des Mode-Continentes Afrika einen ganzen
dicken Band gewidmet, diejenige der übrigen Welttheile in einen einzigen zusammenzu-
drängen. Wenn nun aber auch unter der Wucht dieser Aufgabe, die gleichmässige Bearbeitung
des gesammten Stoffes sehr gelitten, so hat sich Verf. in dieser Hinsicht hier fast noch besser
zu helfen gewusst, als in jenem ersten, von uns bereits besprochenen Bande. Im vorliegenden
zweiten sind einige Abschnitte, z. B. über die Inselwelt Polynesiens, über Borneo, Feuerland.
Patagonien, Arauco, die nordaraerikanischen Prairiegebiete, die Ahts, Qorids und B ils, mit Aus-
*) In dem Kupferstich-Kabinet des neuen Museums zu Berlin erfreuen wir uns des Besitzes
einer Anzahl in ethnologischer Hinsicht sehr werthvoller Aquarellstudien dieses Meisters, aus
Ungarn u. s. w.
•*) Vergl. unsere Besprechung von Vol. I. Africa, im Jahrg. 1869, S. 187 dies. Zeitschr.
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fübrlichkeit und man kann wohl sagen, mit Liebe, auch in der Herren Wood eigenen, höchst
gefälligen Darstellungsweise, behandelt worden. Andere Völker und Gebiete dagegen, z. B.
die doch sehr interessanten Amurvölker, die Battas, Garraus, Timoresen u. s. w. kommen wie-
der entweder recht schlecht fort oder sie werden gar nicht berücksichtigt. Verf. hat sich leider
dadurch, dass er auch Siam, China, Japan (und zwar in ziemlich dürftiger Weise) in den Be-
reich seiner sonst ausdrücklich den „uncivilized racesu gewidmeten Behandlung zieht, vorweg
engagirt und bleibt uns daher noch Mancherlei schuldig.
Ein ganz vorzügliches Material liefert Wood in Bezug auf die Kunde von Waffen und Ge-
rätheu, in welcher Hinsicht seine Bücher wahre Lexica für die Ethnologen abzugeben beru-
fen sind.
Der ikonographische Theil dieses Bandes ist z Th. massig, z. Th. aber, aus den geschick-
ten Händen von Zwecker, Baiues, Angas, Danby hervorgegangen, auch recht befriedigend. U. A.
bereiten uns die lebensvollen bildlichen Darstellungen einer Sauhetze auf den Samoa-inseln, von
Dajak-weibern, einer durch Bolas bewirkten Jagd auf Vicunas, das Bild eines Mandan-Häuptlinges
oder einer Robbenjagd durch Esquimeaux, vielen Genuss. H.
L. Figuier: L'Homme primitif. Paris, Librairie de L. Hachette & Comp.
1870. 262 Gravur., 446 pag. 8.
Der für die Popularisirung jedes Zweiges der Wissenschaft in Frankreich mit unverwüst-
lichem Eifer thätige L. Figuier hat mit Obigem wieder einen recht ansehnlichen Essai geliefert,
wie er jenes Werk selber bezeichnet. Verfasser begeht unserer Meinung nach von vornher-
ein eine kleine Ungerechtigkeit, wenn er die bekannten Bücher von Lyell: On the antiquity etc.
von Lubbock: prehist. times, von Vogt: Vorlesungen und von Huxley. on the evidence ihrer
Einrichtung und Form nach tadelt. Die citirten Werke haben denn doch ein jedes seine
ganz scharf ausgesprochene Tendenz in vollkommener Berechtigung, wie hier auch die von
Figuier gewählte die ihrige hat. Uebrigens möchte die von einzelnen Seiten gemachte Anklage,
Verfasser habe mittelst jenes Tadels für seine eigene Darstellungsweise plaidiren wollen, mir
völlig ungerechtfertigt erscheinen. Figuier sagt am Schlüsse seiner Vorrede ohne Ueberhebung--
„Xous ne revendiquons d'autre merite que celui d'avoir mis en ordre tous ces materiaux dis-
parates et d'avoir facilite la täche ä ceux qui viendront apres nous en nous efforcant d'exposer
avec methode et clarte une question qui etait plaine d'obscurites et de complications et qui
figure pourtant au premier rang de celles qui s imposent aux meditations des hommes eclaires."
Diese Vorlage hat nun F. unserer Meinung nach in ganz sachgemässer Weise für die Ausfüh-
rung des Gemäldes benutzt, welches, bestechender Farbe, er vor uns zu entrollen bemüht ist.
Seine Introduktion überhebt schon die Nichtkundigen des Lesens der überaus langweiligen
Protokolle betreffs des immerhin wichtigen Fundes von Moulin -Quignon und betreffs mancher
sonstiger vorhistorischer Streifzüge unserer Fachgenossen. Wenn wir zwar das von Figuier ge-
wissermassen als Motto erwählte „maxime fondamentale de l'art: scribentur ad narrandum, non
ad docendum" lieber nur auf die Kreise des nach Halbbildung haschenden Philistertums be-
schränkt wissen möchten, so erkennen wir doch gerne an, dass es selbst Fachmännern gegenüber
höchst verdienstvoll, sie durch kurze, übersichtliche Resume's von der Lektüre solcher in wahr-
haft herzbrechender Weise breitgetrenener Themata freizumachen, an denen die Literatur der
Urgeschichte so überreich ist, ganz besonders aber in Bezug auf den abbeviller Kinn-
backen. Man erspart Anderen durch solche Resume's Zeit und stört nicht ihren guten Ge-
schmack. Wissenschaftlichkeit ist ja ein siegverheissendes Panier, Gründlichkeit ist ein festes
Fundament, aber übel ist es um die endlose Weitschweifigkeit mancher, so mancher Discussion
auf unserm Felde.
Figuier schildert nach und nach die Steinzeit, (Epoche des Mammuth und Höhlenlöwen,
des Reims (der ausgewanderten Thiere), des geglätteten Steines) und der Metall zeit (Bronze-,
Eisenalter) in seinem bekannten ansprechenden, klaren Style, welchem die anmuthige Biegsam-
keit seiner Muttersprache noch einen besonderen Reiz verleiht.
Die Auseinandersetzung über den Ursprung des Menschen erscheint uns ziemlich
mager, die Schlussworte zu Kapitel I.: que la science la plus eclairee nous declare , nous crie,
que l'espece est immuable, qu'aucune espece animale derive d'une autre, quelle peut se trans-
143
former, roais que toutes reconnaissent, une creafion independante etc. klingen, gegenüber einer
höchst schwierig zu losenden, noch so ganz in der Bewegung begriffenen Frage für unser (iefühl
riemlich prätentiös.
F. bleibt uns hier wie anderwärts doch gar zu sehr eine strenge, eine haltbare Definition
Dessen schuldig, was man unter einer „espece imnruable" zu verstehen habe. Wii glauben nun
mal, dass unser für jetst noch meist beliebter Species-, ja Gattungsbegriff nur ein in kläg-
licher Weise um seine Existenz, resp. Duldung ringender sei und wir hoffen, dass derselbe,
in nicht zu ferner Zeit, einem besser definirten Platz machen werde.
Es kann natürlich nicht fehlen, dass mit einem so lückenhaften Material, wie unsere gegen-
wärtigen Kenntnisse der vorhistorischen Zeiten dasselbe darbieten, eine zusammenhängende, über-
all gleichmässig-e Bearbeitung der Urgeschichte unseres Geschlechtes fast Doch zu den l'nmög-
lichkeiten gehört. Ja es kann dabei gar nicht einmal an falschen Schlüssen fehlen, nament-
lich so lange es noch an ausreichenden Beziehungen zwischen Damals und Jetzt fehlt, welche
letztere denn doch immer für uns das zur Demonstratio ad oculos Passende abgeben müssen und
werden. Wir vermögen uns doch den vorhistorischen Menschen, immer nur im Dienste einer Ver-
folgung der Entwicklung menschlicher Kulturgeschichte zu reconstruiren. wir müssen das, was
wir von ihm in alten Bodenschichten, in alten Wässern auffinden, mit ähnlichen Funden im
primitiven Zustande der Jetztwelt lebender Menschen vergleichen und müssen von Heut auf
Damals zurückschliesseu. Ausgenommen bleiben natürlich immer solche sehr seltenen Fälle, in
denen wir absolut nichts der heutigen Zeit Analoges erwerben können*). Wir sagen seltene
Fälle, denn hier gilt, sehr vielen bisherigen Funden nach zu urtheilen, das Sprüchwort: es giebt
nichts Neues unter der Sonne, ganz besonders Die Urgeschichte bewege sich daher hauptsäch-
lich auf vergleichendem Boden, Hand in Hand mit Geographie und Ethnographie der Neuzeit.
Letztere Disciplinen werden mit der Zeit schon noch manches Licht über heut unerklärte vor-
historische Funde verbreiten.
Wie uns dünkt, fehlt Figuier dies comparative Element noch sehr und deshalb" berühren
uus auch seine alten Menschen ziemlich wesenlos, fast frostig, trotz allen ihrem Schilderer
zu Gebote stehenden Feuers der Diktion. Diese „Homtnes primitifs" sind uns noch zu grosse Son-
derwesen, wie sie schwer in unsere auserwählten Typen hineinpassen, ein Fehler, den wir frei-
lich, Dank der vielfach üblichen, abgeschlossenen Behandlungsweise der menschlichen Urge-
schichte, in den meisten antehistorischen Darstellungen wahrnehmen.
Figuier giebt ein sehr gutes Material über Waffen und Geräthe der alten Europäer und
zwar auch in den zahlreichen, sauber ausgeführten Abbildungen. In den dem Werke beigefüg-
ten z. Th. sehr hübsch, fast in üore's Manier, gearbeiteten Gruppenbildern sehen wir in präch-
tiger Kraft strotzende Männer und theils üppige, theils grazile Weiber in primitiver Nacktheit
dargestellt, freilich nach einem unseren Illustrateuren geläufigen, Conventionellen Ateliertypus.
Solchen Figuren selbst die annähernden Merkmale ihrer urthümlichen Nationalität zu verleihen,
gebricht es uns vorläufig leider noch zu sehr an der nöthigen Keuntniss. H.
*) In solchen Fällen bleibt dann freilich der Phantasie ein sehr weiter Spielraum.
Zur Tafelerklärung.
Die diesem Hefte angehängten vier Steindrucktafeln stellen altägyptische Schädel dar,
welche auf die im zugehörigen Texte angegebene Weise abgebildet worden sind. Die genauere
Beschreibung dieser Figuren wird in einem der nächsten Hefte, im Texte selbst und in den An-
merkungen zu finden sein.
Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und
Urgeschichte,
Sitzung vom 15. Januar 1870.
Zu Beginn der Sitzung macht der Vorsitzende Herr Vir chow Mittheilung über die in der
Vorstandssitzung vom 21. December 1869 beschlossene Veröffentlichung der Sitzungsberichte der
Gesellschaft im Anschluss an die Zeitschrift für Ethnologie von Bastian und Hartmann durch
den Verlag von Wiegandt & Hempel in Berlin.
Herr Beyrich erklärt schriftlich den von Herrn Hartmann in der Sitzung vom 11. De-
cember 1869 übergebenen ausgehöhlten Stein für ein Muschelkalkgeröll , welches vielleicht zum
Poliren weicherer Metalle, wie Kupfer u. s. w. gedient haben dürfte.
Herr Er man sprach über
die Koljaschen und Aleaten.
In den zu Russland gerechneten Theilen von Nord-Asien und von Amerika hatten sich
bis vor einigen Jahrzehnten die Sprachen und die Sitten der Urbewohner in fast ungetrübter
Reinheit erhalten. — Auf dem Wege von Berlin über den Ural bis zum grossen Ocean erlebte
man, neben der astronomischen Meridiandifferenz, welche die Uhr des Reisenden zuletzt um
10 Stunden retardirend zeigte, eine ethnographische von entgegengesetzter Richtung. Die
Sitten bei Moskau schienen einem um etwa 1 bis 2 Jahrhunderte jüngeren Volke als dem Ber-
liner anzugehören, während die derOstjaken am unteren Obi, das Leben der Rennthier-
Tungusen im Aldanischen Gebirge, vor Allem aber das Benehmen der Bewohner von Kam-
tschatka, in allem Wesentlichen den 3000 Jahre alten Schilderungen entsprachen, die uns
Homer von seinen Zeitgenossen hinterlassen hat.
Nach einigen historischen Angaben über die Einwanderungen und meist friedlichen Occu-
pationen, welche eine dünn gesäete Russische. Bevölkerung, vom 12. oder 13. Jahrhundert bis zur
Mitte des 18., durch ganz Nord-Asien verbreitet haben und seit 1750 auch über die Nordwest-
küste von Amerika und den Archipel zwischen beiden Continenten, wurde sodann gezeigt, wie
diese Einwanderer bei den Urbewohnern überall mehr zu lernen als zu lehren fanden. In Folge
einer der Slavischen Race eigenthümlichen Biegsamkeit haben sie sich den vorgefundenen Ver-
hältnissen anbequemt, die herrschenden Sprachen erlernt und die Sitten durch keinerlei Civilisi-
ruugsversuche getrübt. Dies gilt auch von den Russischen Missionaren, welche wiederholentlich,
und speciell in Beziehung auf die zwei hier zu betrachtenden Amerikanischen Volksstämme, er-
klärt haben, ihre m sprünglichen Sitten seien so rein und so anziehend, dass man sich scheue, sie
durch Bekehrung und Europäisirung zu gefährden. Auch der Reisende war unter diesen Umstän-
den veranlasst, sich mit den einzelnen Volksstämmen, die er berührte, einzuleben; in Folge
davon sammelte er nicht bloss höchst genussreiche Erinnerungen, sondern auch nicht unwichtige
anthropologisch-ethnographische Erfahrungen — selbst dann, wenn er zunächst auf die
Erforschung von Gesetzen der anorganischen Natur ausgegangen war und gerichtet blieb.
Von entgegengesetzten, d. h. exterminirenden Einflüssen civilisatorischer Einwanderer wur-
den sodann zwei erwähnt. Dereine hat in unserer unmittelbaren Umgebung, in den Marken
und Pommern stattgefunden, wo die Namen des Landes, der einzelnen Ortschaften, der Fa-
milien, nebst vielem andrem Sprachlichem und Sachlichem, von einem Slavisch redenden
Stamme herrühren, ohne dass dessen Beschaffenheit sowie die Zeit seines Auftretens und Ver-
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Schwindens nachweisbar wären. Wir empfinden diese bedauerliche Lücke in unserem ethno-
graphischen Wissen offenbar durch die Schuld der süddeutschen Bekehrer dieses Stammes,
welche zuletzt noch um 1124 alles dort Vorgefundene, als heidnisches Wesen, ebenso unbeachtet
und unbeschrieben gelassen und nur auszurotten gesucht haben, wie später die Spanier alle
Maurischen Sitten in einem anderen Theile der Erde.
Viele von den Räthseln welche uns Pfähle und osteologische Funde in unseren Torfmooren
jetzt vorlegen, würden gelöst sein, wenn man auch für unsere Gegend annehmen dürfte, dass
ihre ursprünglichen Bewohner den jetzigen der östlichen Theile des alten Continentes in ihrer
Lebensart so nahe gestanden haben, wie diese letzteren sich untereinander. Indem er sich die
letztere Voraussetzung für einen Augenblick erlaubte, zeigte der Vortragende durch Zeichnuugen
der entsprechenden nordasiatischen Gegenstände, wie die alten Pommern ihre Rennthiere ge-
zäumt haben müssen und dass ihre Pfahlbauten wohl kaum Wohnungen, wohl aber diejenigen
Hülfsmittel zum Fischfang gewesen sein können, die man, mit merkwürdigster Uebereinstimmung,
vom Obj bis nach Kam tschatka und sodann auch in den Flüssen der Westküste von Ame-
rika wiederfindet.
Das andere grossartige Beispiel von Auslöschung der ursprünglichen Sitten liefern die ame-
rikanischen Freistaaten. Einigermaassen geschieht dies schon lange, so weit das Sternenbanner
weht, mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit aber jetzt neben den Eisenbahnen und deren
telegraphischem Zubehör. Der Vortragende erwähnte zum Beweise, dass er noch kurz vor der
Occupation von Californien durch die Amerikaner, in dem jetzigen Weichbilde der wirk-
lichen Weltstadt San Francisko, die zwei Indianer welche die mexikanische Post von Mon-
terey nach den nördlichen Missionen brachten, geradeso wie es der schiffbrüchige Ulysses auf
dem Mäste seines Fahrzeuges gethan hat, auf spindelförmigen Schilfbündeln, mit untergetauchten
Schenkeln den Fluss hinabreiten, gesehen habe. Dieselben gewannen auch noch das Feuer, das
sie auf der Reise bedurften, durch Reiben zweier Holzstücke, welche sie in Zeugstreifen gewickelt
am Halse trugen, um sie besser wie ihren übrigen Körper vor Durchnässung zu schützen.
Da nun die Inseln der Aleuten, die Insel Sitcha und die westamerikanischen Küsten-
länder bis nahe an den Polarkreis, die erstgenannte mehr oder minder schonende Behandlung
von 1750 1868 erfahren haben, die nivellirend-auslöscbende zweite aber seit einem Jahre, als
Staat Alj aksa in amerikanischem Besitze, so ist das spurlose Verschwinden aller dort ursprüng-
lichen ethnographisch-anthropologischen Erscheinungen unausbleiblich.
Aus diesem Grunde wünschte der Vortragende über die dortigen Kolju sc he n und Aleu-
ten Einiges was er in jener ersten Periode erlebt hat, aufzubewahren, ehe es zu spät wird.
Es sollte mit den Koljuschen, den Bewohnern von Sitcha und dessen Umgebungen, ange-
fangen und erst dann zu den noch länger und intimer bekannten Aleuten, d. i. den Bewoh-
nern der vulkanischen Inselkette übergegangen werden, die wie eine Brücke von Amerika nach
Kamtschatka hinüberreicht. Ueber die in Europa gangbaren Namen dieser zwei Völker
wurde zuerst, unter Vorbehalt späterer Diskussion, nur bemerkt, dass sie eben so zufällig ent-
standen und daher ebenso werthlos sind, wie diejenigen Namen die wir den 12 bis 15 Nord-
asiatischen Hauptstämmen beilegen, und dass hier, wie wohl überall auf der Erde, jedes
selbständige Volk nur allein das Wort Mensch zu seiner generischen Bezeichnung ge-
braucht habe.
Unter Vorlegung einiger landschaftlichen Ansichten von Sitcha, verschiedener Bildnisse
von Koljuschen und Aleuten und einer graphischen Darstellung des Vorkommens selbstän-
diger Sprachen auf dem betreffenden Theile der Erdoberfläche, wurde etwa Folgendes zur Orien-
tirung der schliesslich abzuhandelnden Einzelnheiten erwähnt.
Um 57° Breite gelegen besitzen die Wohnplätze der Site ha er Koljuschen ein seltsam
mildes Klima. Nach Reaumurschem Thermometer betragen für Neu-Archangelsk
die mittlere Jahrestemperatur . . . . + 5° 7,
die Temperatur des kältesten Monats 1° 2,
, , , wärmsten „ . . + 13°7.
DerEdgecomb, von der Höhe des Brocken, zeigt sich auf der vorgelegten Gesammtansicht
von Sitcha noch um Novbr. 12 ohne jeden Schnee und es ereignen sich prachtvolle Gewitter
mit grossen birnförmigen Hageln sowohl um diese Jahreszeit, als auch, mit weit selteneren Schnee-
treiben aus Norden wechselnd, mitten im Winter. Diesen meteorologischen Verhältnissen ent-
146
spricht die Kraft und die Mannigfaltigkeit der Coniferen Waldungen, welche das Innere der Insel
schwer zugänglich machen und von dort bis hart an die engen Strassen hinabreichen, durch
die man, wie durch einen künstlich gepflegten Park, aus dem Ocean auf die Rhede gelang).
Zu den g efiedereten Bewohnern dieses üppigen Urwaldes gehört der von den Koljusch en oft.
erwähnte Vogel Ktill, d h. ein glänzend rother Coli bri (Troehilus rui'us), der, wenn auch
an Farbenpracht seinen tropischen Verwandten nachstehend , für die Blüthenfülle in einer' so
nordischen Landschaft zu bemerkenswert hem Beweise dient. Der entsprechende Reichthum an
jagdbarem Wilde in dieser Inselwaldung und in deren Fortsetzung auf den nahen Continent..
wird von den Koljusch en eben so erfolgreich ausgebeutet, wie der L'eberfluss an essbaren
Meeresbewohnern an den offenen Küsten und besonders in jenen felsig begrenzten Strassen,
welche die zwei Hälften von Site ha und deren Umgebungen, zu einen dem Continent vorge-
lagerten Archipel constituiren. Die Koljuschen sind ein, bald zu Lande, bald auf Booten
wanderndes Jagen olk mit Küstenschiffahrt \on den Aleuten durch geringere Seetüchtigkeit
bedeutsam unterschieden. Bemerkens werth erscheinen an den Koljuschen schon bei der
ersten und feierlichen Begrüssung, zu der sie dem einlaufenden Schiffe bis in die Mitte der
Sitchaer Meeresstrassen entgegenkommen, der berühmte Lippenschmuck der Frauen, die kunst-
reiche Bemalung des Gesichtes bei den Männern (die dem Reisenden durch Nordasien bis da-
hin nur an den Chinesischen Schauspielern in Mai -ma- tsc h in vorgekommen ist), die
Mantel form ihrer wollenen Kleider, welche selbst im November die Beine und Schenkel bei bei-
den Geschlechtern unbedeckt lassen, -- in noch höherem Maasse aber das Selbstvertrauen und
der Stolz ihrer Haltung und ihres Benehmens. Diese werden zwar durch den schönen und
hohen Wuchs der Männer dieses Stamme begünstigt, sind aber offenbar noch ausserdem auf
ihren sogenannten geistigen Anlagen begründet.
Was man bald darauf von dem gegenseitigen Verhältnis« der Russen und Koljuschen
auf Site ha sieht und erfährt, bestätigt diesen Eindruck in vollstem Maasse. Ein Pallisaden-
Zaun mit verschliessbarem Thore trennt das auf einer Felskuppe von ansehnlicher Höhe gele-
gene Fort Neu- Archangelsk und die unter demselben in der Ebene zusammengedrängten
Magazine der Russisch-Amerikanischen Handelscompagnie, nebst den Wohnungen ihrer Euro-
päisch -A leutisc hen Beamten und Mannschaften, von dem sogenannten Koljuschen-Dorfe.
Es ist dieses ein Terrain auf dem, nach einem der letzten Missverständnisse zwischen den alten
Herren der Insel und den Europäischen Einwanderern und nach den obligaten Kanonenschüssen,
der Urwald rasirt , den Ersteren aber die Anlage fester Wohnungen erlaubt worden ist. Die
Zahl der wechselnden Inhaber dieser Wohnungen wurde vereinbart, denn das Fortbestehen des
Zuzugs derselben war der Nordanieriknnischen Handelscompagnie unentbehrlich, sowohl weil ihre
Site h aer Beamten mancherlei Lebensmittel nur von den K olju sehen erhielten, als auch weil
die letzteren, durch ihre «ommerziellen Talente und ihren Verkehr mit der continentalen Hälfte
ihres weit verbreiteten Stammes, den Pelzhandel der Russen wesentlich unterstützten. Wenn
nun auch, durch jene Pallisadeu, von unumschränkten zu umschränkten Herren ihres Geburts-
landes gemacht, so geberdeten sich doch die Koljuschen, während der Vortragende sie ge-
sehen hat, durchweg wie ein freies Volk, auch haben sie noch im Jahre 1855 einen Angriff auf
Neu-Arc hangelsk ausgeführt. Derselbe soll für die Russische Herrschaft nicht unbedenklich
gewesen sein, obgleich das Castell von N eu- Arch angelsk gut mit Kanonen versehen, die
Beamten der Handelscompagnie von jeher zu einer Landwehr bewaffnet und eingeübt , sowie
auch bereits durch einige von der Regierung ihnen zugesellte Europäische Soldaten verstärkt
waren.
Was von dem Vortragenden zu den Bildnissen der Aleuten und der Darstellung ihrer
gleich merkwürdigen Seefahrzeuge, Kleidungen und Jagdwaffen erwähnt wurde, wird passender
mit dem vorbebaltenen eingehenderen Bericht über diese Gegenstände zu vereinigen sein Zu der
geographischen Skizze, die er der anthropologischen Gesellschaft vorlegte, bemerkte er aber
Folgendes :
*) Für die Mitte der Russ. Ortschaft Neu- Archangelsk aufSitcha folgt aus den Beob-
achtungen des Vortragenden 57n 2' 44" Breite,
222r14'20" östl. v. Paris.
Vergl. Erman, Reise um die Erde u. s. w. Physikalische Beobachtungen Bd. I. St. 223, 420. Bd. 2.
St. 206. 47.
147
„Es sind auf diesem Blatte, durch 0 verschiedene Farben eben so viele radikale Sprachver-
schiedenheiten angedeutet, die man unterscheidet, indem man, im Süden von den Kurilischen
Inseln anfangend, nach Kamtschatka, von dort einerseits über die Aleutischen Inseln
zu den Koljuschen, und von der anderen Seite, in einem weiter nordwärts reichenden Bogen,
durch die Weideplätze der Korjaken, der Namollen oder sesshaften Tschuktscheu,
über die Berings-Strasse durch die \on den Kangjulit und Ttynai bewohnten Landschaften.
wiederum nach Site ha geht.'
„Ich habe aber dieser trenn enden Bezeichnung (die keineswegs auf Vollständigkeit Anspruch
macht, sondern nur das Minimum des Vorhandenen andeutet) eine höchst merkwürdige ver
einigende (zu nur zwei Gruppen) hinzugefügt. Diese ist, soviel ich weiss, noch nirgends
bemerkt oder doch ausgeführt worden und ich habe daher die Verantwortlichkeit für ihre, dem
Verfolge dieser Mittheilungen vorbehaltene, Begründung allein zu tragen."
„Die nur zweifach verschiedenen Querstreifen durch die (('.fach verschiedene) Färbung der
genannten Länder bezeichnen nämlich in Beziehung i.uf die in denselben vorgefundene Be-
schaffenheit der Zahl worte das, was ich respective
den vigesimalen Typus
und „ decimalen „
nenne. Es besteht aber der erstere in zweien Eigentümlichkeiten, von denen die bis auf Wei-
teres gewählte Bezeichnung vigesimal nur an die eine, und auch an diese nur unvollständig
erinnert."
„In allen Ländern, deren Darstellung die dunkelgrüne Querstreifung hat, führen nämlich :
1) die Begriffe Haiul und Fünf eine und dieselbe Benennung, und zwar ganz unab-
hängig von der totalen Verschiedenheit der Laute, welche das genannte Paar von Be-
griffen bei dem einen oder anderen Volksstamme bezeichnen;
und 2) verhält es sich ebenso mit den Begriffen Mann und Zwanzig."
„Es ist nur eine Consequeuz dieses zweiten L'mstandes , dass in den Benennungen der 40,
60 und 100 respective die Namen der J , der 3 und der 5 zugleich mit dem Worte Mann
vorkommen."
„In den mit oranger Quer streiiuug dargestellten Wohnplätzen der Kam tschadale n
und der Kurilen sind dagegen, ebenso wie bei uns, die Namen der 20, der 30, der 50 u s.w.
identisch mit 2 Zehner, 4 Zehner, 5 Zehner u. s.w., und der Name der 5 ist von dem eine
Hand eben so radikal verschieden, wie die Ausdrücke für 2U und für Mann unter einander."
Die hierauf von dem Vortragenden angefangene Darstellung seiner Wahrnehmungen bei
den ersten Besuchen der Niederlassung der Si tchaer Koljuschen bezog sich auf deren Bau-
werke und häusliche Einrichtungen und behandelte von den befremdenden Gebräuchen und
Sitten dieses Volkes nach einander die vprophetischen?) Morgensitzungen auf einer Strandklippe,
die Beschaffenheit, die Einbringung und die vermutliche Bedeutung des Lippenschmuckes (der
sogenannten Kaljuga) der Ko I juschischen Mädchen und Frauen und die auf deren Men-
struation bezüglichen diätetischen Vorstellungen und Vorkehrungen.
Herr Jagor übergab der Gesellschaft zum Geschenk:
Einen Sarg mit einem Skelet , an welchem noch Reste von Muskelfasern und Haut
und Spuren von Geweben wahrzunehmen sind, aus der Höhle von Nipa-Nipa auf
den Philippinen,
einen Kindersarg von Molave, einer dem Teak verwandten Holzart,
eine Anzahl Schädel und Knochen,
Scherben von bemaltem Steingut, die er mit den Särgen zusammen in der erwähnten
Felsenhöhle gefunden.
Sämmtliche Gegenstände stammen aus den Philippinen.
Ferner eine Sammlung von etwa WO Photographien aus Ostasien sammt den negativen
Platten. (Diese Photographien waren früher einstweilen der geographischen Gesellschaft übergeben.
Sollten aber, sobald sich in Berlin ein anthropologischer Verein bildete, an diesen übergehen.)
Der Geber sprach die Hoffnung aus, dass die der Vollendung nahen Copieu dieser Photo-
graphien dazu dienen möchten, der hiesigen Gesellschaft durch Tausch mit ausländischen Ver-
einen eine reiche Sammlung von Abbildungen fremder Rassen einzutragen. Zu demselben Ende
148
•
habe er Professor Huxley, dem Präsidenten der Londoner ethnologischen Gesellschaft, eine Suite
der grösseren Rassenbilder überreicht, wofür von diesem ein Aequivalent in Aussicht stehe.
Herr Jagor machte darauf aufmerksam, dass auf Herrn Huxley 's Veranlassung alle briti-
schen Konsuln und Kolonialbeamte von den betreffenden Staatsministern amtlich aufgefordert
werden sollten, typische Individuen der in ihrem Gebiet vorkommenden Volksstämme photogra-
phiren zu lassen, und zwar genau nach gewissen von Prof. Huxley gestellten Vorbildern (von
denen Proben vorgezeigt wurden), und nach einer Anweisung, in welcher die Punkte klar ge-
macht werden, auf welche es bei diesen, zu anthropologischen Studien bestimmten Abbildungen
wesentlich ankommt. Es sei dies nur eines der vielen Mittel, die seit kurzem in England von
der Regierung und den gelehrten Gesellschaften wetteifernd angewendet werden, um die Kolo-
nien und namentlich das bisher so sehr vernachlässigte Indische Reich nach allen Richtungen
culturliistorisch zu erschliessen. —
Mit Hinweis auf eine grosse Karte und die im Saale aufgehängten Zeichnungen und Photo-
graphien, welche Tagalen, Bicols, Bisayer, Negritos, Palaos, einige wilde Bergstämme, und Bei-
spiele hinterindischer Pfahlbauten und flottirender Häuser darstellen, spricht Herr Jagor über
die Philippinen und ihre Bewohner.
Die Philippinen liegen zwischen 5° und 21° N. , 115° und 124° 0. von Paris. Die Zahl
der grösseren Inseln pflegt auf 20 angegeben zu werden, die kleinen sind unzählig. Die Haupt-
'nsel Luzon zieht sich als längliches Viereck von 18°40'N. bis zur Bai von Manila 14°36' und
biegt sich dann nach Osten. Vergleicht man die Insel mit einem gebogenen Arm, so liegt Ma-
nila im Ellenbogen. Das dem Unterarm entsprechende Stück wird durch 2 tiefe, von N. und
S. einander entgegenstrebende Buchten in 2 fast gleiche Theile geschnitten. Das westliche und
ein grosses Stück des daranstossenden nördlichen Gebietes ist von Tagalen, das östliche von Bi-
cols bewohnt, die auf diese Halbinsel und die unmittelbar davor liegenden Eilande beschränkt
sind. Auf den südlich und östlich davon gelegenen Inseln wohnen Bisayer.
Alle diese Volksstämme sind von malayischer Rasse; sie reden verschiedene, aber nahe
verwandte Sprachen, und stimmen in ihren Gesichtszügen, ihrer Haltung, ihrem "Wesen so sehr
überein, dass man sie erst bei längerem Umgange unterscheiden lernt und den Gesammteindruck
empfängt, dass die Bicols, die zwischen den Tagalen und Bisayern wohnen und eine Sprache
reden, die zwischen der der Tagalen und Bisayer mitten inne liegt, auch in körperlicher und
geistiger Beziehung zwischen ihren Nachbarn die Mitte halten, den Bisayern im Allgemeinen
überlegen sind, den Tagalen aber nachstehen. Es ist zu hoffen, dass die vergleichende Ethno-
logie, wenn ernste wissenschaftliche Forschungen, ihr das jetzt gänzlich fehlende Material liefern,
das Dunkel über den Ursprung dieser Völker mehr oder weniger lichten wird.
Von einem Reisenden darf man nur erwarten, dass er die auffallendsten Züge, die sich Je-
dem bemerklich machen, hervorhebt. Und es dürfte wohl Keinem, der die Philippinen besucht,
entgehen, dass ihre Bewohner, obwohl ohne Zweifel von malayischer Rasse, doch von den eigent-
lichen Malayen sehr merklich verschieden sind, und diese geistig sowohl als körperlich beträcht-
lich überragen.
Ein anderer Umstand , der Jedem auffallen muss , ist, dass der Menschenschlag am schön-
sten und ausgebüdetsten ist in den grossen Verkehrscentren. wo wahrscheinlich zahlreiche Ver-
mischungen mit Chinesen und Japanesen, später mit Spaniern stattgefunden haben. Mit Erste-
ren bestanden schon in sehr früher Zeit rege Handelsbeziehungen.
In den alten Chroniken der Kolonie sind die Nachrichten über die Herkunft der gegenwär-
tigen Eingeborenen äusserst ungenügend, doch scheint es danach, als wären die Bicols vor den
Tagalen in das Land gekommen.
Schon aus dem blossen Anblick der Karte ergiebt sich, wie reich der Archipel gegliedert
ist, aber ein Umstand, der aus der Karte nicht ersichtlich wird, ist die ganz ausserordentliche
Menge kleiner Flüsse mit weiten Mündungen. Diese bevorzugten Oertlichkeiten haben von jeher
eine grosse Anziehungskraft für Ansiedler gehabt. Der Fluss ist eine von der Natur gegebene
Strasse, auf der Lasten bis an den Fuss der Berge befördert werden können. In vielen beträcht-
lichen Inseln sind bis auf den heutigen Tag keine anderen vorhanden. Dort gedeihen die Cocos-
und die Nipapnlme am besten, hinter ihnen breiten sich die Reisfelder aus, dort ist der Fisoh-
fang am ergiebigsten, sowie das Sammeln von Muscheln und Krabben und essbaren Algen.
149
An solchen Orten errichtet der Eingeborene sein Haus auf Pfählen an der Grenze zwischen
Ebbe und Fluth. Die malayischen Pfahlbauten entspringen so natuigemäss aus den örtlichen
Verhältnissen, dass ihre Zweckmässigkeit auf den ersten Blick in die Augen springt, während
der Zweck der vorgeschichtlichen in unserer Heimath vielleicht noch lange den Scharfsinn der
Forscher beschäftigen wird.
Solche Verhältnisse fanden schon die Spanier bei ihrer Ankunft vor :;0O Jahren: Ueberall
an den Flussuiündungen seefahrende , unter vielen Ideinen Häuptlingen disciplinirte Völker-
schaften, die leicht überwunden wurden oder sich freiwillig der überlegenen Rasse unterwarfen;
es gelang ihnen aber nicht, die unabhängigen Stämme im Innern zu besiegen; noch heut giebt
es solche auf allen grösseren philippinischen Inseln.
Ganz ähnliche Zustände bestehen an vielen Orten des indischen Archipels: Die Handel
und Seeraub treibenden Malayen besitzen die Gestade, dort herrscht auch ihre Sprache; die
Eingeborenen sind von ihnen unterjocht, oder in die Wälder gedrängt, wo sie ein kümmerliches,
aber unabhängiges Leben führen und durch die Unzugänglichkeit ihrer Wohnsitze und durch
Armuth vor weiteren Nachstellungen geschützt sind.
Die Bewohner des Irarog gehören solchen unabhängigen Stämmen an. Aber vielleicht sind
weder die Bergvölker, noch die Indianer, wie die Spanier alle tributzahlenden christlichen Ein-
gebornen nennen, die ursprünglichen Bewohner des Landes. Als solche werden die Negritos
angesehen, kleine zierliche behende Schwarze mit krausem Haar, die im Norden Luzon's in
grösserer Anzahl, vereinzelt auch weiter südlich vorkommen Aber auch dieser Annahme scheint
jede sichere Grundlage zu fehlen. Die Bewohner des lriga scheinen Mischlinge von Negritos
und Indiern zu sein.
Es ist Herrn Jagor gelungen, eine nicht unbeträchtliche Zahl von älteren Schädeln an
verschiedenen Orten der Philippinen zu erwerben. Einige derselben, welche leider sämmtlich
stark zerbrochen sind, stammen aus einer Höhle in Caramuan (Insel Luzon) , einer vom Isarog.
alle übrigen sind von der Insel Samar, westlich von Luzon.
Samar ist fast nur an seinem Rande von civilisirten Indiern bewohnt und zwar von Bi-
sayern. Im Innern, das mit dichtem Walde bedeckt ist, giebt es keine Strassen und keine
Dörfer , es dient aber vielen unabhängigen Stämmen zum Aufenthalt. Negritos sind auf der
Insel nicht vorhanden.. Ein Schädel nebst den dazu gehörigen Knochen ist im Walde an der
Ostküste bei Borangan gefunden und stammt vermuthlich von einem heidnischen Eingeborenen.
Daran schliesst sich ein Fund aus einer Höhle bei Lanaug (Ostküste von Samar), die der
Vortragende nicht selbst besucht hat Sie liegt angeblich am Ufer des Flusses, dem Dorfe
gegenüber und ist in der dortigen Gegend wegen ihrer flachgedrückten Riesenschädel ohne Kopf-
nähte berühmt. Einer von diesem Fundort, der mit einer dicken Kalksinterkruste überzogen,
kann noch jetzt als ein gutes Beispiel gelten. Die noch übrigen Schädel sind aus Höhlen in
Felsen, die dicht vor der Südküste von Samar, dem Dörfchen Nipa-Nipa gegenüber, aus dei
schmalen Meerenge hervorragen, welche diese Insel von Leyte trennt. Die Umstände, untei
welchen sie gefunden worden, sind bereits im I. Heft der Ethnologischen Zeitschrift geschildert,
weshalb hier nur kurz erwähnt wird, dass es Sitte der heidnischen Bisayer war, ihre vornehmen
Todten in dergleichen Höhlen beizusetzen, in gutschliessenden Särgen, umgeben von Hausrath
und Mundvorrath, zuweilen auch von Sklaven, die zu dem Zweck getödtet wurden. Da deren
Grabstätten bis in die Neuzeit Gegenstand abergläubischer Verehrung waren, so hatte ein Geist-
licher die Särge zertrümmert, die Skelete in's Meer geworfen, es war nur eines der letzteren,
einige Schädel und viele Scherben von Schüsseln übrig geblieben.
Sämmtliche Schädel sind Herrn Virchow zur genaueren Untersuchung übergeben und
werden von demselben später besprochen werden.
Der Vortragende citirt mehrere Stellen aus älteren Schriftstellern, in welchen die Art der
Todtenbestattung vor der christlichen Zeit beschrieben wird; sie stimmen durchaus überein mit
den Verhältnissen, unter welchen die Särge und Schädel gefunden wurden. . . . „sie legten ihre
vornehmen Todten in eine Kiste, die aus einem ausgehöhlten Baumstamme bestand mit einem
gut zugespannten Deckel . . und stellten sie . . . auf einen erhabenen Ort oder einen Felsen am
Ufer eines Flusses, damit sie von den Frommen verehrt werde." (Informe sobre las lslas Filipi-
nas. Madrid 1843. Bd. I. 21) . . . „Sie stellten ihnen Mundvorräthe, Schüsseln und Näpfe in die
Gräber . . . auch pflegten sie Sklaven mit den Vornehmen zu begraben , um sie in der anderen
150
Welt zu bedienen." (Gaspar de San Agustin Conqnistas Madrid 1698. S. 100) Die Greise
-tarben in dieser Eitelkeit (nach ihrem Tode angebetet zu werden); wie Einer auf der Insel
evte, der sich am Rande des Meeres beisetzen Hess, damit ihn die vorüberfahrenden Schiffer
als Gott anerkennen und verehren möchten." (Relation des Isles Philippines par un religieux qui
y a demeure IS ans. Tbevenot, Paris 1664. Fol. Bd. II. p. 21 . . .
Wie am Westrande des Archipels der lange Verkehr mit China, Japan. Hinterindien und
später mit Europa den Typus der Rasse heeinflusst zu haben scheint , so mögen am Ostrande
polynesische Beziehungen in ähnlicher Weise gewirkt haben: Palaos- und Carolineninsulaner
waren ein Jahr vor der Ankunft des Vortragenden durch Stürme nach Samar verschlagen worden.
In Guiuan auf der Südostspitze dieser Insel erhielt er den Besuch von Palaos -Insulanern,
die seit 14 Tagen beschäftigt waren, bei Sulangan, auf der schmalen Landzunge südöstlich von
Guiuan. nach Perlmuscheln zu tauchen, und eigens zu dem Zwecke die gefahrvolle Reise unter-
nommen hatten. Sie 'waren aus I'leai (Uliai). 14 1° 40' 0. von Paris, mit 5 Booten, jedes mit
9 Mann Besatzung ausgelaufen, in jedem Boote waren 40 Kürbisse voll Wasser, Cocosnüsse und
Bataten. Jeder Mann erhielt täglich eine Cocosnuss und 2 Bataten, die in der Asche der Coeos-
schalen gebacken wurden. Sie fingen einige Fische unterwegs und sammelten Regenwasser auf.
Ein Sturm zerstreute die Boote: nur eines erreichte 2 Wochen nach der Abfahrt Tandag an der
Ostküste von Mindanao, 8,'. Wahrscheinlich waren diese die einzigen Geretteten : Zwei Boote
gingen sainmt ihrer Mannschaft vor den Augen der Uebrigen zu Grunde. Bei der Schifffahrt
richteten sie sich bei Tajre nach der Sonne, Nachts nach den Sternen. In Tandag hlieben sie
2 Wochen und verrichteten Feldarbeit für Tagelohn, von da fuhren sie nordwärts die Küste ent-
lang nach Cantilang, 8° 25' N., Banouan (bei Coello irrthümlich Bancuan), 9C 1' N.. Taganaan
9° 25' N., von da nach Surigao au der Nordspitze von Mindanao. und dann gerade nach Guiuan
mit Ostwind in :' Tagen.
In der deutschen Uebersetzung von Captain Salmon's Historie der orientalischen In-
seln, Altona 1733, heisst es S. G3: .Man hat neulicher Zeit noch andere Inseln ost-
wert s von den Philippinischen entdecket und selbigen den Namen der neuen Philippinischen
beigeleget, weil sie in der Nachbarschaft der alten und bereits beschriebenen liegen. Der Pater
Clan (Ciain) bringt in einem Brief aus Manila, welcher den Philosophical transactions ist ein-
verleibet worden, folgenden Bericht von denselben: Es trug sich zu, als er in der Stadt Gui-
uam auf der Insel Samar war, dass er daselbst 29 Palaos (es waren 30, einer starb bald darauf
in Guiuan) oder Einwohner von gewissen erst neulich entdeckten Inseln antraff, welche von den
westlichen Winden, welche hier vom December bis an den Majum wehen, dahin waren verschla-
gen worden. Sie hatten 70 Tage lang nach ihrem Bericht vor dem Winde geseegelt, ohne eini-
ges Land in's Gesicht zu bekommen, bis sie vor Guivam angelandet waren. Als sie aus ihrem
Vaterlande geseegelt, waren ihrer zwey Boote gestopft voll, und mit deren Weibern und Kindern
in allen 35 Seelen gewesen; unterschiedliche aber waren von dem unter Weges erlittenen Un-
gemach crepiret. Als einer von Guivam zu ihnen an Bord kommen wolte, wurden sie in eine
solche Angst gesetzet, dass alle Kerls, die in dem einen Fahrzeug waren, mit ihren Weibern
und Kindern über Bord Sprüngen. Wiewohl sie doch zuletzt am besten zu seyn befunden, in
den Hafen einzulaufen, so dass sie den 28. December lb96 aus Land kamen. Sie assen Cocos-
nüsse und Wurt/.elii, welche ihnen raildiglich zugetragen, und geschenekt wurden: aber den ge-
kochten Reis, die allgemeine Speise der asiatischen Völker, wollen sie gar nicht einmal kosten.
Zwo Weiber, welche vormals aus denselben Inseln dahin verschlagen waren,
dieneren ihnen zu Dolmetscherinnen. . . . Die Leute des Landes gehen halb nackt und die Män-
ner schildern (malen) ihre Leiber mit Flecken und machen allerhand Figuren darauf. ... So
lange sie auf der See waren, lebten sie von Fischen, welche sie in einer gewissen Art von Fisch-
körben fingen, die einen weilen Mund hatten, unten aber spitz zuliefen und hinter ihren Booten
hergeschleppet wurden. Das Regenwasser, so sie etwa auffingen (oder wie in dem Briefe selber
stehet, in den Schalen der Cocosnüsse aufhüben), dienete ihnen zum Getränk.
Als sie vor den Pater sollten gebrachl werden, welchen sie wegen der Hochachtung, die
man ihm erwies, für den Gouverneur hielten, färbeten sie ihren Leib gantz gelb, welches sie
für den grössten Staat halten, in welchem sie für ansehnlichen Leuten erscheinen können. Im
Tauchen sind sie sehr erfahren und finden unterweilen Perlen in den Muscheln, die sie heranl
bringen, welche sie aber als unnütze Dinge wegwerfen."
151
Eine der wichtigsten Stellen in Pater Clain's Brief hat Capt. Salmon ausgelassen : rDer
älteste dieser Fremdlinge war schon einmal an die Küste derProvinz Caragan
in einer unserer Inseln (Mindanao) geworfen worden, da er aber nur Ungläubige gefunden hatte,
die in den Bergen und auf dem öden Strande wohnen, war er in sein Vaterland zurückgekehrt."
In dem Briefe des Pater Cantova an den I'ater D'Aubenton, Agdana (d. Ii. ^garia), Marian-
nen 20. März 1722, der die Carolinen- und Palaosinseln beschreibl heissl es: r^as -!. Gebiet
liegt westlich . . Yap (auf span. Karten Uyap, auf engl Gouap, Oua i 2.V Y. 138° :' 0. Gr.)
welches die Hauptinsel ist, hat über 10 Leguas Umfang. . . Ausser den verschiedenen Wurzeln,
die bei den Eingeborenen der Insel die Stelle des Brodes vertreten, findet man Bataten, welche
sie Camotes nennen und welche sie von den Philippinen erhalten haben, wie mir einer von
unseren Carolinen-Indianern mittheilt, der von dieser Insel gebürtig ist Er erzählt, dass sein
Vater, Namens Coorr . . , 3 seiner Brüder und er selbst durch den Sturm nach
einer der Provinzen in den Philippinen verschlagen worden, welche man Bi-
sayas nennt, dass ein Missionar unserer (iesellschaft (Jesu) sie freundlich aufnahm . . . dass
sie. nach ihrer Insel zurückkehrend, Samen verschiedener Pflanzen dahin brachten, und unter
andern Bataten, dass diese sich so sehr vermehrten, dass sie genug hatten, um die andern In-
seln dieses Archipels damit zu versehen." . .
Dies sind, abgesehen von der freiwilligen Reise, i uugesucht sich darbietende Beispiele von
Eingeborenen der Palaos, die nach den Philippinen verschlagen wurden. Es würde vielleicht
nicht schwer sein, noch mehrere aufzufinden; aber wie oft mögen vor und nach Ankunft der
Spanier Fahrzeuge der Palaos in den Bereich der Nordoststürme gerathen und von diesen un-
widerstehlich an die Ostküsten der Philippinen getrieben worden sein, ohne dass die Kunde da-
von aufbewahrt worden!
Nach Pigafetta (Paris, l'An IX. S liO.) besassen die Bewohner der Ladronen die Kunst, ihre
Zähne schwarz und roth zu färben; dasselbe wird von den alten Bisayem erzählt und scheint
auf frühen Verkehr zwischen beiden Völkern zu deuten.
HerrVirchow sprach
üeber die Schädel der älteren Bevölkerung der Philippinen, insbesondere über künstlich
verunstaltete Schädel derselben.
„Als Herr Jagor mir die Mittheilung machte, dass er eine grössere Anzahl von Schädeln
von den Philippinen mitgebracht habe, welche er meiner Untersuchung unterziehen wolle, machte
ich mich alsbald daran, um wenigstens Einiges über ihre anatomische Beschaffenheit seinem
Vortrage hinzufügen zu können. Der erste Blick zeigte jedoch, dass eine der seltensten
künstlichen Verunstaltungen des Schädels, welche überhaupt bekannt ist, in ausgezeichneten
Exemplaren hier vorliegt, und dass diese Schädel ein ganz besonderes Interesse in Anspruch
nehmen. Ein Theil von ihnen hat wesentlich dieselbe Form, welche sich im nordwestlichen
Nordamerika findet, und unter dem Namen des Flachkopfes (Flathead; bekannt ist. Namentlich
einer der von Herrn Jagor mitgebrachten Schädel aus der Höhle von Lanang ist ein Flachkopf
von musterhafter Ausbildung; er ist von oben und vorn her flachgedrückt, wie ein Kuchen, und
von den weit nach hinten geschobenen Seitenbeinhöckern (Tubera parietalia^ läuft das fast ganz
abgeplattete Hinterhaupt in einer Ebene schräg nach unten gegen das grosse llinterhauptsloch.
Einige der anderen Schädel verhalten sich ähnlich, wenngleich ihre Verunstaltung keinen so
hohen Grad erreicht hat.
Dass auf den Inseln Asiens ähnliche Gebräuche geherrscht haben, wie \,i Amerika, ist aller-
dings, wie sich bei genauerer Nachforschung gezeigt hat, von einzelnen Schriftstellern berichtet,
indess ist die Thatsache doch so verborgen geblieben, namentlich ist sie so wenig durch authen-
tische Funde belegt worden, dass davon auch in den Werken der Specialschriftsteller kaum die
Rede ist. Nur Thevenot, dessen Werk*) am Ende des IC. Jahrhnuderts erschienen ist, lässt
einen Geistlichen in einer Beschreibung der Philippinen berichten, dass die Eingebornen auf
einigen dieser Inseln die Gewohnheit hätten, den Kopf ihrer neugebornen Kinder zwischen zwei
Bretter zu legen und so zusammenzupressen, dass er nicht mehr rund bliebe, sondern sich in
die Länge ausdehne. Kr fügt hinzu, dass sie auch die Stirn abplatteten, indem sie glaubten,
*) M. Theveuot, Relations de divers voyages eurieux. Paris 1591.
152
dass diese Forin ein besonderer Zug von Schönheit sei. Eine genauere Betrachtung der vorlie-
genden Schädel ergiebt in der That deutlich die doppelte Compression, welche einerseits schräg
\on hiuten und unten her, andererseits von vorn und oben her auf den Schädel ausgeübt ist,
und man braucht sich diese beiden Druckflächen nur verlängert zu denken, so bekommt man
die nach vorn zusammengehende Stellung der Druckbretter, welche noch heute bei gewissen
wilden Stämmen der nordamerikanischen Westküste im Gebrauch ist.
Die Sache hat gegenwärtig eine ganz besondere Bedeutung, weil die Zahl der Fundstellen
solcher verunstalteter Schädel im Laufe der letzten Jahre immer grösser geworden ist, und zwar
auch in Europa. Was insbesondere Deutschland anbetrifft, sc sind am meisten bekannt die in
der Nähe von Wien gefundenen difformen Schädel, über welche lange und gelehrte Streitigkeiten
stattgefunden haben, indem die eine Partei meinte, es handele sich um Awarenschädel, möglicher
Weise um direkte Ueberreste der alten Hunnen, während auf der anderen Seite sogar die Frage
auftauchte, ob nicht bei der grossen Aehnlichkeit, welche diese Schädel mit gewissen Peruaner-
Schädeln zeigen, anzunehmen sei, dass durch die Beziehungen der Habsburger zu Peru Schädel
von da nach Deutschland gekommen und hier verloren gegangen sein könnten.
Diese letzte Frage, die immerhin discussionsfühig war, hat ihren Boden gänzlich verloren,
seitdem in den letzten Zeiten ähnliche Funde auch an anderen Orten Europas gemacht worden
sind. Nachdem schon Blumenbach in seiner berühmten Schrift De generis humani varietate
nativa 1770, p. 63 eines derartigen Schädels aus einem Göttinger Grabe gedacht hat, ist neu-
lich von Hrn. Ecker in Freiburg im ersteu Bande des „anthropologischen Archives" S. 70 ein
solcher Fund aus Rheinhessen genauer beschrieben worden. Der Schädel wurde gefunden in der
Nähe von Niederolm, zwischen Mainz und Alzey, innerhalb einer grösseren Gräberreihe, welche
dort aufgedeckt worden ist. Diese Beschreibung hat Hrn. Barn ard Davis Veranlassung ge-
geben auf einen schon früher von ihm in seinen Crania britannica bezeichneten Schädel auf
merksam zu machen (Archiv f. Anthropologie II. S. 17), welcher auf einem seiner Meinung nach
angelsächsischen Kirchhof zu Harnhain bei Salisbury, Wiltshire, aufgefunden worden ist.
Es wird daher wohl kaum noch zweifelhaft sein können, dass in der That auch in Europa
einheimische Stämme ähnliche Gebräuche gehabt haben , und wenn wir nun auf der anderen
Seite das Gebiet dieser Difformitäten sich weit über die bisher gekannten Grenzen auf die Inseln
Ostasiens ausdehnen sehen, — bisher war Tahiti der von Osten her am meisten vorspringende
Punkt von welchem derartige Schädel bekannt waren, — wenn wir sehen, dass dasselbe Verfahren
auf den Philippinen geübt worden ist, so wird man sich wohl darein finden müssen, anzuneh-
men dass durch eine gewisse Uebereinstimmung des menschlichen Geistes, wie sie uns auch
sonst oft genug überrascht, derartige Gebräuche sich an den verschiedensten Orten festgestellt
.haben, ohne dass man daraus Folgerungen auf einen direkten Zusammenhang der Völker ziehen
darf, und ohne dass man, was meiner Meinung nach das Wichtigste ist, von dem Vorkommen
gewisser Schädel-Difformitäten berechtigt ist auf die Abstammung der Völkerschaften und auf
prähistorische Wanderung derselben zurückzuschliessen. Ich betone dies namentlich gegenüber
den Ausführungen des Herrn Gosse (Mem. de la soc. d'anthrop. de Paris. 1861. T. II. p. 667),
welcher aus gewissen übereinstimmenden Verunstaltungen der Schädelform darthun will, dass
von Florida eine alte Bevölkerung in Mexiko eingewandert sei und sich später bis nach Peru
ausgebreitet habe.
* Von besonderem Interesse sind die sehr ähnlichen Schädel, welche in der Krim gefunden
worden sind, und die Herr v. Baer zum Gegenstande einer besonderen Abhandlung**) gemacht
hat. Fs ist dies eine klassische Gegend, denn schon Hippokrates hat uns Nachrichten von
einer Völkerschaft an der östlichen Ecke des schwarzen Meeres hinterlassen, welche er Makro-
cephalen nennt, die sich nach seiner Aussage durch die Gestalt ihres Schädels von allen anderen
Völkern auszeichnete. Durch Anlegung von Binden nnd Maschinen zwangen sie, wie er sagt,
schon den Kopf des neugebornen Kindes, in die Länge zu wachsen, und zwar deshalb, weil
sie die Länge des Kopfes für ein Zeichen des Adels hielten. Nach Hippokrates haben ver-
schiedene andere Schriftsteller über diese Völkerschaft berichtet.
Ueberall, von wo wir seitdem Nachrichten über die Entstehung dieser DifTormität erhalten ha-
**) Die Makrocephalen ioi Boden der Krym und Oestcrreichs. Mem. de l'acad. irap. des
scieuce!» de St Petershourg. Ser. VII. T. II. No. 6.
153
ben, kommen sie darin überein, dass die ueugebornen Kinder entweder auf ein Bretl gelegt werden
und ihnen dann durch Binden der Kopf gegen dasselbe angezogen wird, oder dass ihr Kopf
zwischen zwei Bretter gezwängt und dadurch ein Druck auf zwei Punkte desselben ausgeübt
wird, oder endlich, dass an bestimmte Stellen des Kopfes Compressen augelegl und darüber Bin-
den in allerlei Zirkeltoureu um den Kopf herumgeführt werden, so dass durch die Compresse
eine Abplattung, durch die Binden circuläre Eindrücke hervorgebracht werd<
Die ersten ikonographischen Mittheilungen über diese Verhältnisse hat der berühmte ame-
rikanische Reisende Catlin veröffentlicht; bei ihm finden wir auch Abbildungen der Compres-
sionsmaschinen. In seiner Beschreibung der Chiuook's an der Westküste Nordamerikas zeichnet
er auf der einen Tafel eine flachköpfige Dame, welche ihr neugebornes Kind im Druckapparat
hält, auf der nächstfolgenden Tafel ein kleines kahnartiges Werl ■ ug, in welchem das Kind einge-
wickelt liegt, und welches so eingerichtet ist, dass es au! deu Bücken gehängt werden kann, um
so die Wanderungen mitzumachen, welche diese wenig sesshafteu Völkerschaften unternehmen,
Dass ähnliche, wenn auch uichl so complicirte, abei doch nicht minder wirksame Operatio-
nen noch gegenwärtig in Europa vorgenommen werden, ist namentlich durch verschiedene Be-
obachtungen in südfrauzösischen Departements festgestellt worden. Man kennt 3 — 4 solche Ge-
benden, wo noch gegenwärtig durch Druckeinwirkungeu der Kopf der Neugcbornen ver-
unstaltet wird. ]>a nun auch in verschiedenen Gegenden Deutschlands ähnliche Schädel ge-
• unden worden sind, so erlaube ich mir ganz besonders die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu
lenken, da es wünschenswert!! wäre, darauf Acht zugeben, ob etwa Rückstände dieser Gebräuche
auch in der norddeutschen Bevölkerung anzutreffen sind, worauf eine Notiz hei Blumenbach
(De generis huraani varietate nativa, p. WO speciell für Hamburg hindeutet.
Nachdem wir die Analogie der difformen Schädel von den Philippinen mit denen der
Chinooks und verschiedener anderer flachköpfiger Bevölkerung constatirt haben, so fragt es sich:
Was mag der Volksstamm, welchem diese Schädel angehörten, für eine primäre Gestaltung des
Schädels besessen haben? wie würden diese Schädel ausgesehen haben, wenn sie nicht küustlich
missstaltet worden wären?
In dieser Beziehung bemerke ich, dass Herr Gosse, ein Genfer Arzt, der eine sehr ver-
dienstvolle Abhandlung über die künstliche Verunstaltung des Schädels*) geschrieben hat, die
schon von Hippokrates aufgestellte Meinung wiederholt hat, es könne sich allmählich eine
erbliche Fortpflanzung dieser Form einstellen, und es bedürfe in der Folge der Generationen
nicht mehr einer ausgiebigen Einwirkung, um sie zu erzeugen; sie erhalte sich von selbst auf
dem Wege der Heredität. Dagegen sprechen alle sonstigen Erfahrungen: bei Catlin sind
Chinook-Indianer abgebildet aus der neueren Zeit, wo diese Bräuche nicht mehr herrschen, deren
Schädel sich nicht difform zeigt; ja, unter den östlicheren Stämmen giebt es einzelne, wie die
Choctaw's, die ursprünglich mitten in dem jetzt cultivirten Nordamerika gewohnt haben, unter
denen früher ähnliche Sitten herrschten, und in deren Gräbern man noch abgeflachte Schädel ge-
funden hat, bei denen jedoch jetzt jede Spur dieser Schädelform geschwunden ist, nachdem sie
die Compression aufgegeben haben. Dazu kommt, dass in manchen Stämmen die Verunstaltung
ein Vorzug der männlichen und zwar der adeligen männlichen Bevölkerung war und dass ausser
den Sklaven auch die Frauen davon ausgeschlossen waren, — ein Umstand , welcher der Ver-
erbungstheorie keineswegs günstig ist. Man darf nirgends annehmen, dass sich diese Difformität
von selber fortgepflanzt hat,, und es wird überall, wo man sie antrifft, die Frage entstehen: giebt
es Schädel, aus welchen mau die ursprüngliche Form erkennen kann?
Für die Erörterung dieser Frage an den Philippinen-Schädeln ist ein Umstand von besou
derem Nutzen. Ausser dem Eingangs erwähnten Muster-Schädel -.hören noch 4 andere dem.
selben Fundorte an. Sie sind sämmtlich in der Höhle bei Lanang unter Verhältnissen gefunden,
welche ein grosses Alter andeuten. Ich erwähne zuerst einen ringsum mit starken Kalkmassen
inenistirten und dadurch colossal vergrösserten Schädel, welcher ein ganz formidables Aussehen
darbietet und als richtiger fossiler Schädel erscheint. Trotz der Kalkmassen, die ihn um
hüllen, kann man sehr wohl erkennen, dass er wesentlich derselben abgeplatteten Form
angehört oder ihr jedenfalls sehr nahe steht Au einem dritten Schädel dagegen ist keine Spul
*) L. A. Gosse, Essai sur les deformations artiticielles du eräne. Anual. d'hygiene pu-
blique et de med. legale. Paris 1855. Juill.
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgaug 187U. 11
154
jener abweichenden Form vorhanden, so dass durchaus Urin Zweifel darüber bestehen kann, dass
er niemals einem Druckverfahren unterlegen hat. und da er an derselben Stelle mit den anderen
gefunden worden ist, so ist meiner Meinung nach auf dies Verhältniss ein grosser Werth zu
legen. Endlich die letzten beiden Schädel, obwohl sie deutliehe Spuren der Abplattung an sieh
tragen, zeigen dieselbe doch in abnehmendem Maasse, so dass man, wenn man einen nach dem
andern mit jenem ersten vergleicht, eine ziemlich regelmässige Stufenfolge der Verunstaltung er-
kennt. Ich hahe oiu diesen letzteren Schädeln den Kalküberzug grossentheils abgesprengt, worauf
sieh ergab, dass man schon auf eine mehr natürliche Form gelangt, welche weit davon entfernt
ist. eine augenfällige Aehnlichkeit mit den Chinook-Köpfen darzubieten; freilich der sehneile und
ebene Abfall des Hinterhauptes deutet immer noch darauf hin, dass eine künstliche Einwirkung
stattgefunden hat.
Noch wichtiger ist es. dass aus einer anderen und zwar aus einer von der eben erwähnten
ziemlich entfernten Lokalität, nämlich aus der von Herrn Jagor (Zeitschrift für Ethnologie I.
S. 80) beschriebenen Felsklippe von Nipa-Nipa, welche in der Strasse zwischen Samar und Leyte
gelegen i~-t, zwei andere Schädel von ihm mitgebracht worden sind, von denen der eine dieselbe
Vi runstaltung in hohem Maasse darbietet, wie die besprochenen. Ich erwähne nur aus der Mitthei-
ung des Herrn Jagor, dass vom Meere aus eine Art Thor in die Klippe hineingeht, durch
welches man in eine innere Bucht gelangt, die von steilen Felswänden umgeben ist; an einer
der letzteren befindet sich hoch über dein Meere eine schwer zugängliche Höhle, aus welcher die
Schädel genommen sind.
Auch an diesen beiden Schädeln aus der Höhle von Nipa-Nipa zeigt sich eine entschiedene
Differenz: an dem einen bemerken wir eine positive Abplattung, einen steilen Abfall von den
Tubera parietalia nach unten, wie er niemals an einem natürlichen Schädel vorkommt, und von
unmittelbar derselben Lokalität rührt ein anderer Schädel von übrigens ganz ähnlicher Färbung
und Beschaffenheit der Knochen her, der vielleicht einer leichten Abplattung unterlegen hat,
worauf eine gewisse Verschiebung nach der einen Seite hin deutet, der aber im Uebrigen ganz
offenbar dem gewöhnlichen oder ursprünglichen Zustande sich nähert.
Auf diese Weise kann man, wie mir seheint, seinen Weg von den künstlich erzeugten zu
den ursprünglichen Verhältnissen zurückfinden, und es ist möglich, zu Schädelformen zu gelan-
gen, bei welchen man wenigstens annähernd richtig gewisse Verhältnisszahlen aufstellen kann,
welche zur Yergleichung mit anderen Befunden dienen dürfen. Unsere Zuversicht in die Rich-
tigkeit der Schlussfolgerungen ist um so grösser, als die Zahlen beider Beobachtungsreihen sich
:j ege i iseitig controliren.
Für diejenigen Herren aus der Gesellschaft, welche nicht Anatomen sind, bemerke ich, dass
es in neuerer Zeit Gebrauch geworden ist, die ethnologisch wichtigsten Maassverhältnisse des
Schädels zunächst in der Weise zu bestimmen, dass man Verhältnisszahlen zwischen Länge,
Breite und Höhe des Schädels sucht, in der Art dass die Länge = 100 gesetzt und Breite und
Höhe darnach reducirt werden. Der Kürze wegen kann man die gefundene procentische Zahl
für die Breite als Breitenindex, diejenige für die Höhe als Höhenindex bezeichnen. Das Ver-
hältniss von Höhe zu Breite wird gleichfalls auf eine Breite von 100 berechnet und die Zahl
für die Höhe als Breitenhöhenindex aufgeführt. Thut man dies nun an den am wenigsten dif-
formen Schädeln der Philippinen, so kommt man immer noch auf einen Breitenindex, welcher
nach den bisher bekannten Erfahrungen für die ostasiatische Inselbevölkerung ganz unerhört ist.
Hei dem einen relativ normalen Schädel aus der Höhle von Nipa-Nipa beträgt der Breitenindex 89,1,
der Höhenindex 78,9, der Breitenhöhenindex 88,5; bei dem einen Lanang-Schädel ist der Breiten-
index 80,1, der Höhenindex 77.8, der Breitenhöhenindex 97,1. Solche Breitenverhältnisse sind
überall ungewöhnlich; z.B. die äusserste Grenze der Breitenverhältnisse in Europa rinden wir
bei den Lappen, wo sie zwischen 82 und 83 schwankt.
Es ergiebl sich zunächst aus diesen Verhältnissen in ganz unzweifelhafter Weise, dass diese
in ausgezeichnetem Sinne brachycephale Bevölkerung, die doch, wie es scheint, einer lange
vergangenen*) Zeit angehört, nichts zu thun hat mit den Negritos, denn diese stehen, soviel bis
*) Da seit Thevenot kein neuerer Autor von der Klathead-Mode auf den Philippinen spricht,
-.. wnd man diese Schädel mindestens nicht hinter das IG. Jahrhundert verlegen. Die Kalk-
incrustation könnte sich in einigen Jahrhunderten ganz wohl gebildet haben, doch ist es auch
denkbar, dass nach ihrer Bildung die Schädel beliebig lange unverändert bleiben, und dass sie
dennoch einer .sehr viel älteren Zeit angehören.
155
jetzt bekannt, mit den Australnegern in Beziehung, welche sich alle auszeichnen durch die re-
lativ geringe Breite ihres Schädels im Vergleich zu einer relativ beträchtlichen Länge. Einige
andere polynesische Stämme sind geradezu ausgezeichnel durch die geringe Breite des Schädels
bei einer ungewöhnlichen Höhe und Länge CHypsistenocephali).
Man ist daher für unsere Schädel darauf angewiesen, andere Verwandtschaften aufzusuchen,
und die nächste Frage, welche sich hier aufwirfl ist dir: j>t es eine malaische Bevölkerung
gewesen, mit der wir es Zu thun haben? Auch füi dir malaische Race liegen die angeführten
Verhältnisse ausser aller Erfahrung; - giebl ein ,paar Punkte im Gebiete der Malaien, an wel-
chen erheblich breite Schädel gefunden worden sind. Welcker (Archiv für Anthropologie II.
S. 154—156) hat die extremsten Verhältnisse an dm von Madura, einer nördlich von Java ge-
[egenen Insel, hergebrachten Schädeln Dachgewiesen, bei drum aber doch solche Verhältnisse
tdchl vorkommen, wie wir sie hier vor uns finden. Nach seinen Mittheilungen betrug der
Breitenindex derMaduresen, der übrigens dem Höhenindex gleich war, 82*). Nächstdem stehen
n der Liste von Welcker dir Menadaresen mit einem Breitenindex von 80 und einemHöhen-
index von 81. Für die Javanesen berechnet er einen Breitenindex von 79, wahrend freilich an-
dere Autoren 82—84 Italien Immerhin ist durch die neuere Untersuchung constatirt, dass inner-
halb der malaischen Reihe eine gewisse Breite der Schwankungen nach Stammen existirt, und
dass man bei einzelnen derselben zu Breitenindices kommt , welche denen der Lappen nahezu
analog sind.
unter dm vorliegenden Schädeln stammt nur einer, derjenige nämlich, welchen Herr Jagor
•im Vsarog auf der Insel Luzon ausgegraben hat, nach den Nachrichten, welche er erhielt, von
einem der heutigen Eingebornen; es war bekannt, dass der betreffende^ Mann, ein Cimarone,
durch einen Hieb am Hinterhaupte sein Leben verloren hat. Dieser Schädel ist unglücklicher-
weise der einzige unter den von Herrn Jagor mitgebrachten, von welchem man sicher ist, dass
er einer noch jetzt bestehenden Race angehört, und da wir auch sonst wenig Nachrichten über
die Craniologie der Philippinen**; haben, so bin ich nicht in der Lage, etwas Bestimmtes über
seine Stellung zu sagen. Sein Breitenindex betragt 70,9, der Höhenindex 76,1, der Breitenhöhen-
index 98,9, die Capacität 1315 Cub.-Cm. Auch wenn man die einzelnen Schädelknochen mit
denen der Lanang- und Nipa-Nipa-Schädel vergleicht, so sind die Verhältnisse so wesentlich
abweichend, dass in der That keine Beziehungen des modernen Schädels zu den Höhlen-Schä-
deln aufgefunden werden können. Dagegen kann ich allerdings nach den sonst vorliegenden
Messungen sagen, dass der Cimaronen-Schädel eine gewisse Aehnlichkeit mit Malaien-Schädeln
von den benachbarten Sunda-Inseln, namentlich mit Dajak-Schädeln***) darbietet.
Es bleibt aber noch eine Reihe von Schädeln, 6 an der Zahl, zu betrachten, welche zwar
sämmtlich aus einer anderen Höhle genommen sind, als die bisher besprochenen, aber doch von
demselben Felsencomplex von Nipa-Nipa stammen, in welchem die eine der vorhin erwähnten
Höhlen liegt. Diese Schädel haben namentlich durch die häufige Erhaltung der Unterkiefer
einen besonderen Werth. Sie gehören ihrer ganzen Erscheinung nach einer anderen Kategorie
an und machen, namentlich durch ihre gute Erhaltung, den Eindruck einer mehr modernen
Gruppe. Für das chronologische Datum, welches man ihnen beilegen kanu, tragen sie noch ein
besonderes Indicium an sich: es sind nämlich zwei de. seihen exquisit syphilitisch, so dass sie
wirklich als Musterspecimina in einem pathologischen Museum aufgestellt zu werden verdienen.
An dem einen findet sieh eine Durchbohrung des harten Gaumens und eine Zerstörung im Um-
fange- des Naseneingauges an dem Oberkiefer und den Nasenbeinen, welche jedoch offenbar ge-
heilt gewesen ist; der andere bietet ein mustergültiges Beispiel von t'aries sicca, welche die
*) Kur zwei Schädel von Madura bei J. van der Hoeven (t'atal. craniorum p. 38) berechne
ich den Breitenindex zu 80,4 und 78,4, den Höhenindex zu 79,7 und 84,6.
**) Meyen (Nova Act. Acad. Leon. Car. 1834. Vol. XVI. suj.pl. 1. p. 47), der auch den
Schädel einer Tagalin von Manila abbildet, rechnet diesen Stamm nebst den Bewohnern derCa-
rolinen, Marionen u. s. w. zur Kasse der Oceanier. Sc bete I ig (Transact EthnoL Soc. 1868.
VII.) stellt die Luzonesen bestimmt zu dm Malaien. Nach seinen Messungen hat ihr Schädel
einen Breitenindex \<>n $4,\,:> bei einem Höhenindex von 77-, Davis habe bei Bisayer-Schädeln
so und 79 berechnet.
**•) Welcker berechne! für diese einen Breitenindex von 75 bei einem Höhenindex von 77.
Ciner der Dajak-Sehädel bei'van der lloeven hat einen Breitenindex von 75,2, ein zweiter
E
von 78,7
11*
15H
(iegend der Stirn einnimmt und von da auf die Nasenwurzel übergreift, so dass kein Zweifel
sein kann, dass es sich um eine chronische Periostitis gummosa des Stirnheines und der Nasen-
beine gehandelt hat.
Nun flieht es freilich über das Alter der Syphilis verschiedene Meinungen, indess ist bis
jetzt weder die .Meinung aufgestellt worden, dass die Syphilis ursprünglich auf den Philippinen
sieherrscht hahe, noch ist irgend eine Thatsache an einem alten Schädel entdeckt worden, welche
darthäte, dass syphilitische Veränderungen in der alten Zeit bestanden hätten. Man wird also
immerhin annehmen können, dass diese Schädel erst zu einer Zeit in die Höhle gebracht worden
sind, als schon ein längerer Gontact mit europäischen Völkern stattgefunden hatte, also wahrschein-
lich nach dem Anfange des 1K. Jahrhunderts. Andererseits darf man nicht wohl annehmen,
dass eine christianisirte Bevölkerung noch diese Höhle benutzt habe, da, wie Herr Jagor be-
richtet, die christlichen Priester mit grosser Heftigkeit sieben diese l'eberreste gewüthet haben.
Es lüsst sich daher wohl mit ziemlicher Sicherheit schliessen, dass die Zeit, innerhalb deren
diese Leichen in der Höhle von Nipa-Nipa deponirt worden sind, nicht allzu lauge nach dem-
jenigen Zeitpunkte zu suchen ist, in welchem eine häufigere Beziehung mit Europäern herge-
stellt worden war, und man wird vielleicht annehmen dürfen, dass die Schädel dem Ende des
16. oder dem Anfange des 17. Jahrhunderts angehören; denn diese Zeit ist es, wo die spanische
Herrschaft sich ausbreitete, und es ist nicht wahrscheinlich, dass derartige Gebräuche von dieser
Zeit ab gerade unter der Küstenbevölkerung, von der ein grosser Theil -vorher muhamedanisirt
worden war, weiter fortbestanden haben.
Da nun die Stämme, welche an der Küste ihren Sitz haben, mit denjenigen im Innern des
Landes in loserer Berührung stehen, so wird in der Regel wohl der Fundort der Schädel dem
Sitze der Bevölkerung , von welcher sie stammen, entsprechen. Handelt es sich also , wie bei
der Höhle von Nipa-Nipa, um eine Küsten-Lokalität, so wird man auch annehmen können, dass
der betreffende Yolksstamm an der Küste gewohnt hat. Es liegt daher nahe zu schliessen, dass
diese Gruppe von Schädeln eine Beziehung zu den noch jetzt vorhandenen Malaienstämmen der
Küste hat, und in der That, wenn man diese Schädel betrachtet und damit die Physiognomien
der Leute auf den Abbildungen des Herrn Jagor vergleicht, so zeigen sich gerade bei den Bi-
sayos gewisse Eigenschaften, welche an allen diesen Schädeln wiederkehren: die verhältniss-
mässige Kürze bei relativer Breite der Schädel findet sich bei der Vergleichung der Profil- und
Frontalansichten der Bisayerinnen leicht wieder; dazu kommt die charakteristische Bildung der
Stirn- und Nasengegend, die von der kaukasischen gänzlich verschieden ist, insofern die stärkste
Wölbung der Stirn gerade da liegt, wo bei uns eine flache Vertiefung (Glabella) besteht; endlich
sind die ungewöhnliche Niedrigkeit der Nase und der stark prognathe Zustand der Kiefer überall
deutlich zu erkennen. Wenn man die Profile mit einander vergleicht , so ist so viel Aehnlich-
keit vorhanden, wie man überhaupt zwischen einem Schädel und einem lebendigen Gesichte nur
erwarten kann.
Auch diese Schädel besitzen eine ungewöhnliche Breite; sie haben im Mittel gerechnet einen
Breiteninde* von 83,3 bei einer Höhe von 76,5, ein nach den Messungen von Davis undSche-
telig auch bei Bisayos-Schädeln gefundenes Verhältniss, welches sonst noch von keiner andern
hinterasiatischen Bevölkerung bekannt ist. Noch weniger findet es sich bei der Bevölkerung der
polynesischen Inseln; in Australien, Neukaledonien , Neuseeland, Tahiti treten ganz andere
Stammeseigenthümlichkeiten hervor, so dass dieser Theil der Bevölkerung der Philippinen als ein
ganz eigenthümlicher und charakteristischer erscheint. Ich bemerke zu ihrer Charakteristik noch,
dass sie eine Höhlung von durchschnittlich 1 282 Cub.-Om Inhalt besitzen, dass der Breiten-
llöhenindex ihrer Orbitae 94,7, der Höhenbreitenindex ihrer Nasen 41,3 und der Breitenhöhen-
index ihrer Schädel überhaupt 91,7 beträgt Auch ist erwähnenswert!), dass weder an diesen
Schädeln, noch an den übrigen etwas von künstlicher Feilung der Zähne zu bemerken ist, die
doch sonst bei Malaien so häufig vorkommt und die auch von Thevenot noch erwähnt wird.
\ui an einzelnen zeigen die Zähne die Betelfärbung.
Ich verzichte auf die weiteren Details der Schädelfrage; ich will nur noch auf ein besonders
wichtiges Verhältnis» hinweisen. Wenn es sich feststellen lassen sollte, dass innerhalb des Ge-
bietes der malaischen Kasse eine in so eminentem Grade brachycephalische Bevölkerung an
einer verhältnissmässig gut gegen fremde Einwanderung geschützten Stelle sich lange erhalten
hat, während nicht bloss auf den benachbarten Inseln (Borneo, Java, Sumatra) eine sich mehr
157
den Dolichocephalen annähernde Bevölkerung vorkommt, sondern auch dichl daneben im Innern
von Luzon noch jetzt nicht civilisirte, dolichocephalische Stämme leben, wie der beschriebene
Cimarouen-Sehädel zu beweisen scheint, so würde man anerkennen müssen, das- in eitiei und
und derselben Kasse die aussetzten Schwankungen der Schädelformen vorkommen, und es würde
damit ein sehr erheblicher Einwand gegeben sein gegen die Bemühungen, ganzen Rassen durch
die Aufstellung der Breitenindices ihre Stelle anzuweisen; es wurde vielmehr auf das [Jnzwei
deutigste dargethtn sein, dass nur durch eine grössere Menge von Vergleichungszahlen die
ethnologische Position eines Schädels gefunden werden, kann.
Es sind endlich noch zwei Schädel zu erwähnen, welche von den bisher besprochenen we
sentlich verschieden sind. Der eine ist in der /weiten Höhle von Nipa-Nipa unmittelbar bei
einem Holz-Sarge gefunden wurden, welchen Herr Jagor mitgebracht hat, und in welchem
noch ein zum Theil mit mumineirteu Resten von Weichtheileu und Fetzen zerfallender Beklei-
dung bedecktes, jedoch schädelloses Skelet liegt.*) Dieser Schädel zeichnet siel: durch eine
grössere Längenentwickelung aus , aber nichtsdestoweniger beträgt sein Breitenindex 80,2 (bei
einem Höhenindex von 76): er schliesst sich auch sonst in vielfacher Beziehung, namentlich
wegen seiner beträchtlichen Capacität von 1450 Cub.-Cm. , der zuerst besprochenen Gruppe an.
Der andere Schädel ist ungewöhnlich klein: seine Capacität beträgt nur 1160 Cub.-Cm. Er ist
nebst anderen Knochen in einem Walde auf Samar, 1 Legua landeinwärts von Borangan, ausge-
graben worden und von unbekannter Abkunft Manches trenut ihn in s. iner Entwicklung von
den anderen Schädeln, aber auch sein Breitenindex beträgt 79,3 bei einem Höhenindex von 75,".
Diese ziemlich grosse Reihe untereinander verschiedener Schädel hat jedoch in sich eüie
nähere Beziehung, als sie zu irgend einer der benachbarten Rassen hat. und wenngleich die ein-
zelnen (»nippen wieder so viele Differenzen haben, dass ich wohl geneigt bin, anzunehmen, dass
die Stämme, von welchen sie stammen, unter sehr verschiedenen Verhältnissen gelebt haben
müssen, so wird man doch nicht umhin können, sie einer grösseren Familie zuzurechnen. Von
den beiden Hauptgruppen der Höhlensehädel kann man sagen, dass die aus der zweiten Nipa
Nipa-Höhle, welche durchweg geringere Dimensionen haben, den Eindruck einer zarteren, sess-
haften und mehr civilisirten Bevölkerung machen, während an den Schädeln aus der ersten
Nipa Nipa- und denen aus der Lanang-Höhle sich eine grosse Energie, eine gewisse Massen-
haft igkeii und Kräftigkeit der Entwickelung zeigt, welche einem mehr wilden Volke anzugehören
scheint.
Was die Grössenverhältnisse betrifft, so zeigt der erste Blick, dass die Schädel der letzteren
(iruppe bei ihrer grossen Breite auch eine relativ grosse Höhe haben. Auch die künstliche Ver-
unstaltung hebt dies Verhältniss nicht, ganz auf, denn selbst der am stärksten abgeplattete
Schädel hat hei einem Breitenindex von 94,8 noch immer einen Höhenindex von 80. Dies be-
gründet einen wesentlichen Unterschied von den Chinook-Schädeln. Mit dieser Grösse hängt
zusammen die beträchtliche Capacität der Philippinen-Flachköpfe. Die in der That makroeepha-
len Schädel von Lanang besitzen eine durchschnittliche Capacität von 1J10 Cub.-Cm., die aus
der ersten Höhle von Nipa-Nipa von 1380, während die mehr runden Schädel aus der zweiten
Höhle von Nipa-Nipa, wie erwähnt, im Durchschnitt nur 1282 Cub.-Cm. fassen. Es sind dies
Grössen-Differenzen, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf.
Ich will für diesmal nicht genauer darauf eingehen, inwiefern die künstlichen Veränderungen
des Schädels einen Eintluss auf das Gehirn haben. Ganz kurz erwähne ich, dass derselbe Herr
Gosse, welcher die schon erwähnte Monographie geschrieben hat, die Meinung vertritt, welche
sich hauptsächlich auf tahitisehe Tradition stützt, dass es möglich sei, durch die Gestaltung des
Schädels den psychischen Eigenschaften eines Individuums eine ganz bestimmte Richtung zu
geben. Es wird nämlich erzählt, dass man auf Tahiti zwei Arten von Deformation des Schädels
erzeugt habe: den Kriegern habe man die Stirn eingedrückt, dagegen, wie sieh ein Redner in der
anthropologischen Gesellschaft zu Paris ausdruckte, den Senatoren das Hinterhaupt. Herr Gösse
erklärt dies so, dass man beabsichtigt habe, bei den Kriegern die energischen Eigenschaften des
hinteren, bei den Staatsmännern die mehr intellektuellen Eigenschaften des vorderen Abschnitts
des Gehirns ganz besonders zur Ausbildung zu bringen, und er ist ernsthaft der Meinung, dass
dieser Versuch als Muster für moderne Pädagogik empfehlenswert! sei. Ich kann dieser Ansicht
*) Schädel und Skelet gehören jedoch offenbar nicht zusammen.
158
Dicht beistimmen, insofern il ie Erfahrung ergiebt, dass auch das Gehirn so gut wie der Schädel
dislocirl werden kann, dass also das Vorderhirn sich zurückschiebt, wenn die Stirn zurückgedrängt
wird, und ebenso die hinteren Theilo dos Gehirns sich vorschieben bei einer Abflachung der hin-
teren Partie des Schädels. Wie ich früher nachgewiesen habe, pflegt einer Verkürzung des Schä-
dels eine com pensa torische Verbreiterung und umgekehrt zu entsprechen. Es kann wohl
kein Zweifel darüber bestehen, dass eine Abflachung einzelner Schädeltheile an sieh eine
Verminderung der Hirnmasse nicht zur nothwendigen Folge hat, und es stimmt damit tiberein
die Angabe namhafter Beobachter, dass die Flatheads in der That keinen Mangel an Intelligenz
wahrnehmen lassen."
Herr Friede] machte vorlaufige Mittheilungen ül>er
Paiaolithische Flintwerkzeuge aus dem Haveldiluvium zwischen Potsdam und Brandenburg.
„Längst schon sind aus der Niederung des Havelflusses zumal zwischen Potsdam und Bran-
denburg und insbesondere von da, wo der Strom sich sein Bette in denjenigen Ablagerungen
ausgehöhlt hat, welche einer Periode angehören, als die hydrographischen Verhältnisse von denen
der geschichtlichen Zeit sehr verschieden waren, Funde von Knochen der Thiere bekannt, welche
damals unser Vaterland bevölkerten und von welchen das Elch, das wilde Pferd, der Ur, der
Wisent, das Mammuth und das Nashorn die bekanntesten sind. Zahlreiche Funde, namentlich
vom Mammuth, sind von dem verstorbenen Director von Kl öden sorgfältig aufgezeichnet wor-
den: Belagstiicke zeigt das Berliner Museum.*)
Neu, aber durchaus nicht überraschend ist es, dass in den ungestörten Kies-, Lehin-
und Thon-Ablagerun gen, in denen derartige Knochen entdeckt werden, sich auch Reste
menschlicher Cultur von völlig gleichem Alter vorfinden. Ich sage: nicht über-
raschend, denn nachdem im ganzen westlichen Europa, anfangend von Frankreich, wo Boucher
de Perthes 1841 die ersten, damals von der gesammten gelehrten Welt mit Misstrauen, ja Ver-
achtung aufgenommenen Driftwerkzeuge in der Picardie entdeckte, die erwähnten Thierreste mit
Artefacten aufgefunden worden sind, durfte man schon a priori mit einiger Berechtigung ein
ähnliches Ergebniss auch bei uns erhoffen, wo namentlich der Elephant ein ziemlich gewöhnli-
ches Thier gewesen zu sein scheint.**) Allein man interessirt sich, wie es scheint, bei uns in
weiteren Kreisen für die Merkmale der ältesten Vorgeschichte bei Weitem noch nicht so lebhaft,
wie es sein sollte und wie es in Frankreich, England, Skandinavien, der Schweiz, theilweise selbst
in Italien, Spanien und Portugal der Fall ist; es existirt in unseren Museen zur Zeit noch nicht
ein einziges paläolithisches Werkzeug, und da nur Derjenige über die paläolithischen Artefacte
ein sicheres Urtheil gewinnen kann, der sie nicht bloss aus Abbildungen kennt, sondern in ihren
Lagerstätten gesehen und in der Hand gehabt, oder doch mindestens in einem Museum betrachtet
hat, so ist man bei uns zur Zeit noch gezwungen, weite mit Opfern verknüpfte Reisen zu unter
*) Dr. G. Berendt: Die Diluvial-Ablagerungen der Mark Brandenburg, insbesondere der
Umgegend von Potsdam. Berlin 1863. — Ueber derartige Knochenfunde aus dem Kreuzberg bei
Berlin vgl. Lyell: Antiquity of Man, Kap. 9.
*•) Die frühere Ansicht, dass die im Diluvium Deutschlands gefundenen Mammuth- und Nas-
horn-Reste vom Meere und von fern her (Ural?) angeschwemmt und abgelagert seien, verliert
immer mehr Anhänger. Einmal spricht dagegen, dass die bezüglichen diluvialen Kies-, Lelnn-
und Thonbetten keine Meeresconehylien , wohl aber zahlreiche Schneeken und Muscheln des
S ü sswassors enthalten, die mit den noch jetzt bei uns vorh'ndlichen Genera als Planorbis,
Paludina, Bythinia, Valvata, Cyclas, Pisidium, Anodonta, vielfach sogar mit denSpecies über-
einstimmen, und dass bei uns Ur, Wisent und Elch, deren Reste oft durchaus vermischt mit
Mammuth und Nashorn hierorts vorkommen, gerade wie in anderen Theilen Europas, wo man
nicht mehr zweifelt, dass dort diese Dickhäuter lebten, bis in die geschichtliche Zeit reichen.
Wie jene zarten, äusserst zerbrechlichen, zum Theil noch mit der Epidermis und der Farbe ver-
sehenen Schalthiere die bei der alten Schule so beliebten Kataklysmon und den Transport durch
Meeresfluthen und Wellenschlag zwischen scharfem Sand, Grand und Kies auf Hunderte von
Meilen ausgehalten haben sollen, bleibt jedem Malakologen unerklärt. Vollends unbegreiflich ist
es, wie hei diesem angeblichen Wälzen und Schleifen beispielsweise die Wirbel vom Nashorn und
Mammuth mit völlig intacter Knochenhaut und dem schönen Wachsglanz, der das Periosteum
wilder Thiere kennzeichnet, erhalten werden konnten und vor Allem, wie es kommt, dass gar
nicht so selten bei uns die Wirbel eines und desselben Thieres, hinreichend zur mehr oder minder
vollständigen Reconstruction des Schwanzes, des Halses etc. gefunden werden, wenn diese Thiere
nicht bei uns gelebt haben.
159
nehmen, will man überhaupt erst einmal einen dieser rkwnrdigeu Culturreste de« Menschen
zu Gesichl hekommen. Vielleichl mag bei uns entschuldigend noch hinzukommen, dass die
Nachforschungen und Nachgrabungen nach diluvialen Thierknochen und gleichzeitigen Cultur-
ersten gewöhnlich ebenso kostspielig wie undankbar sind.
Für unsere vorgeschichtliche Untersuchung genügl eSj wenn wir die Diluvialschichten, in
denen dergleichen Reste auftreten, dem Vorgange der Engländer folgend, nach ihrer Farbe Grau
kies- und Rothkies - Betten (gray gravel-beds and red gravel-beds) nennen.*) In Beiden
glaube ich unter völlig ungestörten Lagerungs-Verhältnissen ausser Resten paläo-
zoischer Thiere gleichalterige Culturreste bestehend in bearbeiteten Kieseln, vielleichl auch in
bearbeiteten Knochenstficken, gefunden zu haben. Meine Nachforschungen sind noch keh
abgeschlossen: vor der Hand begnüge ich mich, einige Funde aus dem Rothkiese und dem
ihn begleitenden Diluvial-Lehm vorzulegen. Weit ausgesponnene Betrachtungen über das
Leben, das Thun und Treiben des Driftvolkes, wie sie so sehr beliebt sind, werde ich uichi an-
knüpfen, da ich mich der Vorstellung nicht zu erwehren vermag, dass die meisten derselben zur
Zeit noch verfrüht sind und mehr oder minder auf Selbsttäuschung und Trugschlüssen beruhen.
Die einfachen Thatsachen ohne Raisonnements dürften zur Zeit der Vorgeschichte am Förder-
lichsten sein.
Der Rothkies scheint seine Farbe Eisenhydraten zu verdanken. Die in ihm eingeschlossenen
Knochen und Culturreste haben im Wesentlichen seine Färbuno. Es ist dies ein gutes Kenn-
zeichen dafür, dass die Knochen und Culturreste nicht neuerdings hineingelangt sind, auch mag
die rostbraune Färbung der ganzen Ablagerung erst nachmals, d.h. nachdem sie mit den in ihr
eingebetteten Resten bereits zur Ruhe gekommen war. und mittels Durchdringung der Schichten
durch Regen-, Schnee- und Quellwasser erfolgt sein, welche etwa Ortstein, Raseneisenstein oder
ähnliche Substanzen**) auflösten, allmählig den Kies durchfilterten und durchsickerten und hier-
bei färbten. Der Ton der Farbe ist häufig sehr verschieden an derselben Stelle. Steine, die
weich sind oder ein starkes Aufsaugungsvermögen besitzen, sind dunkler gefärbt, dünne Feuer
steine stärker als dicke Feuersteine und Knochen, welche an besonders nassen Stellen (unter dem
Einfluss \<m Quell- und Rieselwasser) lagern, stärker als solche, die zufällig an -trockenen Orten
stecken Im Allgemeinen habe ich Rothkieslager noch jetzt viel nasser, als die Graukieslager
gefunden, in welchen die Thierknochen sich deshalb na*h meiner Wahrnehmung besser erhalten,
als in dem nassen Rothkies, worin die Knochen gleichsam ausgelaugt, mürbe und morsch wer-
den, so dass sie trotz ihrer colossalen Dicke, ähnlich den vorgeschichtlicnen Urnen und Töpfen,
«eiche man aus feuchter Erde aushebt, leicht zerbröckeln. Schlecht erhalten zeigen sich ferner
auch die Knochen aus dem Lehm. Sie sind, vielleicht, weil der Lehm fester als der Kies an-
schliesst, meist nicht mit Dendriten***) oder doch mit schwächer entwickelten bedeckt, als die
Knochen aus dem Kiese.
In solchen Kies- und Lehmlagern, von denen ich Proben vorlege, habe ich mehrere Feuer-
steine, in ungestörter Lagerung in einer von 7 bis etwa 20 Fuss wechselnden Tiefe gefunden,
welche eine Einwirkung von Menschenhand erfahren haben. Einzelne mögen einfache Absplisse
sein, wie sie beim Zerschlagen einer grossen Feuersteinknolle abfallen, andere sind Werkzeuge
gewesen.
Zwei Steinmesser sind besonders anziehend, da sie den den ältesten Steingerätheu, also den
sogen. Driftwerkzeugen eigentümlichen Typus zeigen. Ich will versuchen seine Diagnose in der
Kürze zu geben.
Die Driftwerkzeuge sind im Allgemeinen grösser, schwerer und derber, als die der sogen.
neolithischen Menschheitsepoche. Sie sind hier und da wohl abgeriehen, mögen also mit
*) Auch der diese Kiesbetten begleitende Diluviallehm und Thon enthält Fundstücke
zeichneter Art.
**) Ortstein, ein durch Brauneisenstein verkitteter Sand, der da, wo der Sand in diesem
Gemenge mehr und mehr zurücktritt, zu sogenanntem Raseneisenstein, einem sehr phosphor-
haltigem Eisenerze wird. Es bilden sich diese Massen besonders in den Niederungen der Haide-
ebene und verdanken ihre Entstehung ebenfalls dem Kinthisse der Vegetabilien, welche den Eisen-
gehalt des Sandes an ihren Wurzeln concentriren. (Nach Dr. Hermann Guthe: Die Lande
Braunschweig und Hannover. . Hannover 1867.)
**") Dendriten sind baumartige, schwarze oder dunkelbraune Zeichnungen, die hauptsächlich
von Manganoxyd herrühren.
160
dem sie bedeckenden Kif-se durch Wasserkraft längere Zeil hin und her gerollt seins mitunter aber
auch so wohl erhalten, dass bic uoch heul gehraucht werden könnten. Die Verfertiger verrathen
darin eine gewisse technische Unsicherheit, dass ihre Werkzeuge meist Kant- ober Schaalstücke
sind, d. Ii. bedeutende Reste der äusseren Kinde des Steins an sieh behalten haben, und dass sieh
der Künstler bei der Anfertigung des Werkzeugs mit einer gewissen Aengstlichkeit an die zu-
fällige äussere Form des Steins anschmiegt. Dies ist in der neolithischen Zeit ungleich we-
niger der Fall, auch hier sind freilieh fast säm rot liehe rotiere. Werkzeuge Kantstüeke, allein die
Keste der stehengelassenen Rinde sind in der Regel viel kleiner als hei den paläolithisehen Werk-
zeugen. Deutet dies schon auf eine mein freie, ich möchte sagen, mehr künstlerische Behandlung
des Steins, so documentirt sieh diese noch weit deutlicher bei den feineren Steinsachen, die sich
durch eine saubere Bearbeitung, durch elegante Form und durch schöne Politur auszeichnen und
gewöhnlich der Bliithe der sogen. Steinzeit oder der sogen, älteren Bronzezeit zugeschrieben
werden. Diese letzteren Werkzeuge sind stets aus dem Kern des Steins gearbeitet und zeigen
keine Spur von der Rinde. Eine gewisse Rohheit der Cultur erseheint ferner darin, dass man
häufig fehlerhafte oder solche Stücke benutzt hat, in denen lvhiniten, Belemniten und Amino-
niten, Terebrateln, Muscheln, Schnecken und andere Versteinerungen vorkommen, was in der
neolithischen Zeit wohl auch hier und da, jedoch im Ganzen weit seltener der Fall ist, vielleicht,
weil man wusste, dass dergleichen Vorkommnisse den Hieb oft unsicher machen.
Nur die sogen. Feuerst einspähne, welche durch die ganze Menschenzeit vom Diluvium
bis ins Eisenalter reichen und die zum Theil zum Schaben und Schneiden gedient haben mögen,
zeigen eine gewisse Uebereinstimmung, die ein genauer Beobachter gleichwohl nicht eine voll-
ständige nennen wird: dagegen ist die Art, wie die etwas künstlicheren Driftwerkzeuge, d. h.
diejenigen, welche nicht als blosse Spänne oder Splitter erscheinen, bearbeitet, sind, sehr wesent-
lich von der der neolithischen verschieden. Die Seh lag marken zeigen, dass das Driftwerkzeug
durch viel heftigere Hiebe zugerichtet, die Steinmasse in grösseren Fragmenten abgesprengt und
tiefer angegriffen wurde. Folgeweise zeigen die neolithischen Werkzeuge viel mehr Uebereinstim-
mung als die Driftwerkzeuge, die letzteren dagegen oft wunderlich verschobene und verzerrte
Formen, weil der Künstler den Stein weniger in der Gewalt hatte und oft gezwungen wurde,
wie es scheint, von seinem ursprünglichen Plane abzuweichen. Vielleicht sind die Werkzeuge,
mit welchen man die Driftsachen zubereitete, anders gestaltet, vielleicht anders gehandhabt wor-
den; die Schlagmarken der neolithischen sind viel kiir/.er und muscheliger, die der Driftwerk-
zenge länger und splittriger. Vielleicht verstand man in der neolithischen Zeit besser den
Flintstein vor der Bearbeitung chemisch zu präpariren, etwa sei es durch Eingraben in
feuchte Erde, wo man ihn dem Muttergestein, der Kreide, die gewöhnlieh feucht ist, nicht un-
mittelbar entnehmen konnte, sei es durch Einwässern, sei es durch allmähliges Erhitzen und
langsames Abkühlen, wodurch dem Feuerstein ein Theil seiner glasartigen Sprödigkeit genommen
zu werden scheint. Ich habe, um dies festzustellen, Feuersteine zerschlagen, welche ich aus der
natürlichen Kreide, oder a\is feuchter Erde, oder aus trockenem Sande, oder von der freien Ober-
fläche, oder aus dem Wasser entnommen, oder im Wasser gekocht, oder schnell erhitzt und
schnell abgekühlt, oder endlich langsam erhitzt und langsam abgekühlt hatte, und habe bemerkt,
dass die Bolchergestall verschiedenartig vorbereiteten Steine beim Zerschlagen auch verschiedene
Bruchflächen, verschiedene Sprünge und Risse, verschiedene Splitter zeigten.*) Endlich scheint
man es in der Driftzeit viel weniger Schäfte, Griffe und andere Zuthaten ans Hörn, Holz oder
Knochen, als dies später geschah, an die Steinwerkzeuge gefügt und diese womöglich gleich so
gTOSS und massiv aus einem Stück hergestellt zu haben, dass man sie ohne Weiteres gebrauchen
konnte.
Trotz der erwähnten relativ roheren Technik müssen diese plumpen Werkzeuge den ein-
fachen Bedürfnissen der Urmenschen genügt und in Verbindung mit vermuthlich entsprechend
rohen Knochen- und Holzgeräthen für den damals gewiss harten Kampf um das Dasein ausge-
reicht haben, was am so bewundernswürdiger erscheint, als der Nordeuropäer zu einer Zeit, wo
er bereits viel vollkommuere und wirksamere Werkzeuge besass, mit einer weniger unfreundlichen
•) Möglich, dass fortgesetzte Erhitzung und Abkühlung bei einem so empfänglichen Stein
wie der Flint ist, die Lagerung und Öruppirung der Moleküle und damit das Widerstandsver-
mögen der ganzen Masse ändert.
161
Natur und vor Allem mit im Allgemeinen schon etwa« kleineren und schwächlicheren Ihier
gattungen (denn Nashorn, Mammut!:, Löwe und Tiger waren hereits verschwunden oder verdrängt.)
/n kämpfen hatte.
Die beiden erwähnten Werkzeuge sind unter den von mir bisher entdeckten di<
ristischsten. Das eine scheinl eine An von Messer vorgestellt zu haben, welches nicht ganz
vollständig erhalten ist. Die Schneide durfte nämlich sehr dünn umi zerbrechlich gewesen sein,
ist deshalb jetzi schartig und ausgebrochen: jedoch ist das Werkzeug bereits in diesem Zustande
in den Kies eingebettet worden. Es besteht aus einem ächten Schalstück und steckl mehr als
zur Hälfte noch in der Rinde.
Besser erhalten (und auch wohl Jemand, der noch nie ein Driftwerkzeug in nVr Band g<
habt hat, auffallend), ist der andere Feuerstein. Oberflächlich betrachtet scheint es nur eine kräf
tige Lanzenspitze gewesen zu sein. Ich halte ihn jedoch ebenfalls für ein fertiges, ohne weiten'
Zuthal gebrauchtes Messer, weil er nur auf einer Seite zugeschärft, auf der anderen keine
Schneide zeigt, vielmehr fast einen kleineu Finger dick ist, während wirkliche Lanzenspitzen
zwei Schneiden führen. Ausserdem hat man unten ein Stück des naturlichen Steins absichtlich
stehen lassen, so zwar, dass es einen ganz zweckmässigen Griff bildet, welcher fest in der Hand
liegt. Von der Spitze ist heim Atisgraben ein unbedeutendes Stückchen abgebrochen, im Debri-
gen ist die etwa 2 '/a Zoll lange Schneide nur unbedeutend beschädigt und noch heut brauchbar.
Ks stimmen zwar unter den Driftwerkzeugen, wie bei der erwähnten rohen Technik zu erwarten,
selten zwei ganz überein, indessen ähnelt das Messer B denen aus den postpliocenen Kiesgruben
so auffallend, dass, wenn man es unter eine grössere Anzahl französischer Driftmesser legte, es
wohl kaum möglich wäre zu unterscheiden, um es scherzhaft auszudrücken, welches einem
Manunuthjäger von den Ufern der Sommc oder der Havel gehör! habe. Die Arbeiter in den
Kiesgruben von Amiens haben in diesen Messern eine Aehnlichkeil mit dei Form einer Katzen
zunge gefunden und nennen sie deshalb langue de chat. Im das Innere des Steins zu zeigen,
ist das letzterwähnte Messer bald nach der Auffindung und als es noch von der Feuchtigkeit des
Bodens durchdrungen war, in der Queraxe durchgeschlagen worden Her llieh ist vorzüglich
gelungen, so dass kein Splitterehen abgeplatzt ist. sicherlich nur deshalb, weil der Stein noch
noch feucht war Die Bruchfläche ist beachtenswert , sie ist matt, während die Bruchfläche
trockener Feuersteine glänzend ist Der an sieh «lasige Feuerstein ist etwas erdig geworden.
Beide Werkzeuge sind tief von Eisenoxydhydrat imprägnirt. Beides, die innere Structurverän
derung des Steins und die energische Färbung, sind gute Zeichen do^ enormen Alters der Werk
zeuge. Mau hat in der Gegend von Boulogne sur Mer und Amiens diese Driftwerkzeuge nach-
gemacht, da die reisenden Engländer für sie unglaubliche Preise zahlen, allein die beiden er-
wähnten Kennzeichen lassen sieh nicht nachmachen, sie erfordern Jahrhunderte, vielleicht Jahr-
tausende. Ein Durchschlagen würde jedes verdächtige Driftwerkzeug sofort entlarven
Was schliesslich das Alter der Werkzeuge betrifft, so versucht man in der langen Periode,
die man als Diluvial- oder Postpliocen-Zeit zu bezeichnen pflegt, bereits zwei Abschnitte, eine
jüngere und ältere Epoche, zu unterscheiden. Die jüngere wird als die sog. Rennthier-
E poche bezeichnet: ihre Reste werden vornehmlich in Felshöhlen gefunden, unter denen die
südfranzösischen eine grosse Berühmtheit erlangt haben. Die ältere Epoche, deren Culturreste
in der That \on der jüngeren theilweise auffallend verschieden sind, wird als die sogen. Drift-
zeit bezeichnet und soll bis an die jüngsten Tertiärschichten hinabreichen"), in welchen mau
bekanntlich ebenfalls schon Spuren menschlicher Thätigkeil entdeckt hatten will.
*) ("eher die Rennthier-Epoche, die Funde von Aurignac, Tarascon, Perigord u. s. f. vergl.
Archiv für Anthropologie, Bd. III 1868— 69.« Sir John Lubbock bemerkt (1868 übei
den Höhlenmenschen: „These cavemen were very ingenious and excellent workers in Mint, bu1
though their hone pins etc are beautifully polished, this is never the case with their flini wea-
pons. — On the wnole these remains probably belong to an epoch somewhal I"-- ancient than
the implements of the St. Acheul gravels." Ueber die Driftzeit bemerkt derselbe: „The antiqui-
ties referable to this period are usually found in beds of gravel and loam, or, as it is techni-
cally called „„loess", extending along our Valleys, and reaching sometimes to a height of 200
feet above the present waterlevel. These beds were deposited by the existing rivers. which then
ran in the same directions as at present and drained the same areas. In each river-valley they
contain fragments of those rocis only which oeeur in the area drained by the river itself." —
Die besten mir bekannten Abbildungen von Driftwerkzeugen in natürlicher Grösse «ieM Lubbock
in seiner Uebersetzung von Nilsson's Steinalter, London lötiS. p. XVII. u. XIX.
162
Theile von Gerippen dieses Driftvolks sind his jetzt äusserst spärlich vorhanden: auch wer-
den die wenigen bezüglichen Skelottreste noch von manchen Gelehrten angezweifelt. Diesem
Driftvolk würden die \on mir beschriebenen Artefacte angehören. 0'> überhaupt ein einzelnes
speciell so zu nennendes Driftvolk existirt hat, oder ob nicht die Driftwerkzeuge vielmehr eine
allgemeine Culturstufe kennzeichnen, auf der zu einer gewissen Zeit die gesammte Bevölkerung
nach anthropologischen und psychologischen Gesetzen stehen musste, das sind Fragen, die sieh
rli na Forscher aufdrängen, deren Entscheidung aber vor der Hand noch ausstehen muss.
Sollte diese kleine Mittheilun« . deren Dürftigkeit ieh zu entschuldigen bitte und die nichts
weniger denn apodictische Urtheile involviren soll, andere Freunde der Vorgeschichte zu weite-
ren Nachforschungen anregen, so würde ich mir erlauben, die Aufmerksamkeit auf die vielen
Ziegeleien in unserer Nähe zu richten, den an Ort und Stelle gefundenen Dilu vialthon , der ge-
wöhnlich mit Kies- oder Lehmhetten vergesellschaftet ist, zu verarbeiten. Hier lassen sieh Unter-
suchungen mit dem geringsten Geld- und Zeitaufwande vornehmen: auch habe ich die Besitzer
bisher immer zugänglich und gefällig gefunben.
Sitzung vom 12. Februar 1870
Vorsitzender: Herr Virehow.
Der Vorsitzende macht Anzeige von einer Mittheilung der Anthropological Society, wonach
dieselbe ihre Schriften als Geschenk überreichen wird.
Herr v. Dücker übersendet zwei bei Saarow und Storkow gefundene Steinäxte, deren Ma-
terial Hr. Beyrich für ein (ieiniseh von Fehlspatb, Quarz, Glimmer und Hornblende (Hornhlende-
gneiss) erklärt, wie dasselbe sieh in nordischen Diluvialgeschieben öfter vorfindet.
Herr Kunth berichtet über vorgelegte Mammuthfraginente, die in den Kollbergen bei
Berlin gefunden wurden
Hr. V i rc h o w spricht
Ueber Rennthierfunde in Norddeutschland.
Die bis jetzt in Norddeutschland nachweisbaren Rennthierfunde lassen sich dem Vorkommen
nach in drei Kategorien Iheilen: 1) diejenigen, welche in Torfmooren gemacht worden, zugleich
diejenigen, welche immer am besten erhalten sind; 2) diejenigen, welche der Angabe nach in
Mergelschichten entdeckt sind und endlich 3) die bis jetzt noch verhältnissmässig wenig be-
kannt gewordenen Höhlenfunde
Die grösste Ausbeute, welche bis jetzt überhaupt in irgend einem norddeutschen Gebiete
erreicht worden ist, befindet sich im Alterthumsmuseum zu Schwerin vereinigt, wo schon seit einer
Reihe von Jahren zwei sehr verdiente Forscher, die Herren Boll und Lisch diesem wichtigen
Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zugewendet haben. Es sind darunter namentlich viele Ge-
weihe. Ein grosser Theil dieser Funde, für welche Herr Lisch (Mecklenb. Jahrb. 1864. Bd. 29,
S 282) vor mehreren Jahren schon 20 verschiedene Fundorte angeben konnte, ist in Torfmoo-
ren gemacht
Auf preussischem Boden ist bisher verhältnissmässig wenig hierher Einschlagendes bekannt
geworden. Ich habe am 19. October v.J. in der Gesellschaft naturforschender Freunde (Sitzungs-
bericht 1869, S. 31) das erste Rennthiergeweih, das aufzutreiben mir gelungen ist, vorgelegt,
und ich habe es hier noch einmal mitgebracht, da es in der That der Grösse und Ausbildung
wegen ein besonders interessantes Stück darstellt. Es ist, obwohl unvollständig, 1,25 Mtr. lang;
die Stange hat durchschnittlich 14 — 15 Cent, im Umfange, die Schaufel 9 — 10 Cent. Breite; an
letzterer sitzen noch 2 Zacken, von denen der eine, gut erhaltene 10 Cent, lang ist. Leider ist
die Stange beim Ausgraben in der Mitte zerstossen worden. Trotz dieser Verletzungen erseheint es
als ein sehr entwickeltes Geweih, ungleich grösser als Alles, was in unseren Sammlungen an Renn-
thiergeweihen vorhanden ist Ich fand es zufällig auf einer meiner antiquarischen Reisen bei
einem pommerschen Gutsbesitzter, Herrn Mereker zu Woltersdorf bei Freienwalde i. P., der
es mir bereitwillig überliess. Bei weiterer Nachforschung stellte es sich heraus , dass es bei
Mellenau in der Nähe von Boitzenburg in der Uckermark ausgegraben war, und zwar 4 Fuss
tief in einem kleinen modrigen Bruch, in welchem ausserdem Birken, Elsen und einzelne Eichen
163
versenkt waren.*] Das Geweih soll unmittelbar ober einer schwachen Kalkschichl gelegen ha-
ben, welche dem alten Seeboden zu entsprechen scheint. Bis jetzt hal sich in Beziehung
den Untergrund noch nichts weiter ermitteln lassen; beim Ausgraben selbst hatte man der
Schichtung keine Aufmerksamkeit zugewendet. Vielleicht wird sich nachträglich durch Grabun-
gen feststellen lassen, ob in den tieferen Lagen dieses Moores aretische Vegetation vorkommt.
Ich hatte bei Mittheilung dieses Falles in der Gesellschaft dei naturforschenden freunde
darauf aufmerksam gemacht, dass ein paar ältere Notizen vorhanden seien, welche auf .las Voi
kommen von Rennthieren in unseren Gauen hinweisen. Si hrehcr'j hat nämlich vor längerer
Zeit angegeben, dass bei Baruth in der Lausitz in derselben Lage mit Sumpfeisenerz Geweihe
vorkämen, welche Rennthieren von mächtiger Grösse anzugehören scheinen; dann hat Hensel")
bei der Beschreibung der älteren Fauna Schlesiens angegeben, dass einzelne Geweih-Fragmente
gefunden seien, welche wahrscheinlich dem Rennthier angehörten. Hr. Göppcrt glaubt, dass
in der Nahe von Sprottau in einer Mergelgrube bei Witgendorf ausser einem [iöwenzahne Renn-
thierreste ausgegraben seien.
Ich habe seitdem Gelegenheit gehabt, weitere Thatsachen zu sammeln, welche darthun, dass
offenbar viel häufiger derartige Funde bei uns vorkommen müssen, als man nach dem bisheri-
gen Schweigen irgend annehmen durfte. Zunächst erhielt ich durch die Güte des Hrn. Fürsten-
berg in Eldena die Notiz, dass Hr. Oberförster Seeling in Borntuchen bei Morgenstern [Hin-
terpommern) an den Forstmeister Wiese in Greifswald Theile eines Rennthiergeweihes geschickt
habe, welche sich gegenwärtig auf dem zoologischen Museum daselbst befinden. Hr. Seeling
hai auf mein Ersuchen mir dann eine weitere Nachricht zugehen lassen, wonach schon vor 12
bis 15 Jahren in der Nähe des Gutes Golzow im Kreise Karthaus im alten Pomerellen, dicht
an der Bütower Grenze, ein Thiergerippe im Mergellager ausgegraben sei Kr begab sich da-
mals alsbald selbst an Ort und Stelle und fand, dass mehrere mit Auswerfen von Mergel in
einem Bruche, das jedenfalls in der Vorzeit ein See gewesen war, beschäftigte Arbeiter, ein
Skelel herausbefördert hatten, welches jedoch schon so mürbe war, dass die meisten Theile zer-
fielen; nur die unteren, tiefer gelegenen Theile waren noch etwas fester und er erhielt die eine
Stange des Geweihes, welche er nach Greitswald geschenkt hat. Das Mergellager wai 8 10'
mächtig, und hat das Thier, wie er meint, „beim FHehen über das damals wohl noch weiche
durchbrüchige Moor" seinen Tod gefunden.
Ich habe mich darauf an Hm Prof.Münter in Greifswahl, den Vorstand des zoologischen
Museums, wegen weiterer Mittheilungen gewendet Derselbe giebt an, dass verschiedene, wahr
scheinlich dem Rennthiere angehörige Geweihstücke sich im zoologischen Museum befinden, ins
besondere ein grösseres, welches aus Gülzow bei Kammin in Pommern herstamme, wo es beim
Graben von Gartenerde gefunden worden sei. Er hat eine kleine Beschreibung davon im Briet.'
gegeben, woraus allerdings hervorgeht, dass es sich um ein mächtiges Geweih handelt . welches
nach der Zeichnung unzweifelhaft einem Rennthiere angehört. Dasselbe ist an beiden Enden
unvollständig, jedoch 1,07 Met. lang; die Stange hat unten zwischen Augen- und Eissprosse 17.
höher hinauf 19 Cent. Umfang. Die Eissprosse ist 37 Cent, lang, obwohl gleichfalls unvollstän-
dig; ihr schaufeiförmiges Ende trägt 3 Seitenzacken. Hr. Munter ist im Zweifel, ob andere
Stücke des Museums dem irischen Riesenhirsche oder dem Rennthiere angeln, reu: er ist zur
Annahme des ersteren geneigt. Mir ist indess nicht bekannt, dass positiv sichere Ueberreste
dieses Thieres in Deutschland gefunden worden sind, und es wäre recht wohl denkbar, dass auch
diese Stücke den Rennthierfunden zuzurechnen sind.
Weiterhin haben die Herren Professoren August Müller und v. Witt ich in Königsberg
mir Mittheilungen zugehen lassen, wonach sich herausstellt, dass in letzter Zeit in der Provinz
Preussen an verschiedenen Stellen Rennthiergeweihe gefunden worden sind. Zur Zeit als
Hr. \. Baer seine Schrift: De fossilibus mammalium reliquiis in Prussia. Regiom. 1823. ver-
öffentlichte, war noch kein Specimen bekannt; das älteste der jetzt veröffentlichten ist vom Jahre
*) Graf Arnim- Boitzenburg hat mir seitdem mitgetheilt, dass das ganze Gebiet noch
bis vor 20 Jahren Wald gewesen und erst damals urbar gemacht worden ist.
*) Schreber, Säugethiere V. l, S. 1041
") Denkschriften zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens der Schlesischen Gesellschaft.
Breslau 1853 S. 245.
164
1S4S. die anderen stammen sämmtlich aus den letzten Jahren. Indess gehen daraus doch schon
tj verschiedene Fundorte hervor. Ich stelle dieselben kurz zusammen:
1) Die älteste Nachricht -teilt in dem .">. Berichte des Vereins für die Fauna Preussens in
rlen Neuen Preussiscben Provinzialblättern, 1848. Bd. V., S. 385. Fs wird daselbst über das
halbe Geweih eines Rennthieres beruhtet, welches 13 Fuss tief in einer Mergelgrube hei Heili-
genbeil gefunden worden ist Hr. A Müller vermuthet, dass das Exemplar sich im zoologischen
Museuro befinden dürfte.
2) Ein in einer Mergelgrube bei Dulzen in der Nahe von Pr. Eylau gefundenes, sehr gut
erhaltenes, natürlich abgeworbenes Geweih, welches dem anatomischen Museum gehört, hat Hr.
Müller früher erwähnt. (Die Provinz Preussen. Festgabe für die Mitglieder der XXIV. Ver-
sammlung deutscher Land- und Forstwirthe in Königsberg in Pr. S. 147.)
3) Dieselbe Sammlung besitzt ein anderes, noch grösseres, jedoch unvollständiges Geweih,
welches bei Germau in Samland im Torf gefunden ist
•i) Das zoologische Museum enthält, ein ziemlich kräftiges Bruchstück eines Geweihes, wel-
ches 5 Fuss tief (3' Moor und 2' Wiesenmergel) auf dem Gute Emilienhof bei Rosenberg in
Westpreussen ausgegraben wurde.
5) und 6) Die Alterthumssammlung hat folgende 2 Stücke: Journal p. 4. Nr. 37 eingesandt
\pril IS69 ein vohlerhaltenes Rennthiergeweih, gefunden in Grumbkowkeiten von Ober- Amt-
mann Heydenreieh auf Grumbkowkeiten bei Stallupönen.
Journal p. 31. No. 145 eingesandt 24 September 18(39 ein Fragment eines Rennthiergeweihs.
gefunden beim Mergelgraben 5 bis 6 Fuss tief in Brasnicken bei Preul von Herrn Rauschning.
(Ics. henk des Dr med. ( 'asteil.
Fs ergiebt sich demnach ein grosses, von der Elbe bis zum Niemen reichendes Gebiet für
die Torf- und Mergelfunde Norddeutschlands. Mecklenburg, die Mark und Lausitz, Pommern,
West und Ost-Preussen sind vertreten. Daran schliessen sich die russischen Länder an, über
welche Hr. Brandt (Zoogeographische und paläontologische Beiträge. St. Petersburg 18U7, S.
38) berichtet.
Was nun die ftöhlenfunde betrifft, so haben wir schon ältere Nachrichten von ganz be-
sonderem Interesse über eine westphälische Höhle, die von Balve, in der Nähe von Altena.
Nach Akten, die mir vorgelegen haben, sind schon im Jahre 1845 bei Untersuchungen, welche
Seitens des Rheinischen Oberhergamtes, namentlich des Herrn v. Dechen veranstaltet wurden,
allerlei Thierüberreste gefunden worden und darunter auch Rennthierüberreste. Auch einige
Menschenknochen wurden ausgegraben Hr. Nöggerath hat späterhin weiter darüber berich-
tet*). Schon aus dem damaligen Berichte ist für diese Höhle etwas besonders Interessantes her-
vorgegangen, indem nehmlich festgestellt wurde, dass auch solche Thierkuochen, insbesondere Hirsch-
geweihe und Rippen von Ochsen gefunden waren, welche unzweifelhaft Spuren menschlicher Be-
arbeitung zeigten. Die Hirschgeweihe waren eingeschnitten, durchbohrt, polirt u s. w. Ich
hatte durch Zufall gerade in den letzten Tagen durch die Güte des Hrn. Apotheker v. d. Mark
zu Hamm ein paar andere Stücke zur Ansicht bekommen, welche aus derselben Höhle stammen,
zunächst einen gehauenen Stein, dessen Schlagmarken überaus evident sind, sodann den Boden
eines gebrannten Thon-Gefässes, von welchem seinem mehr modernen Habitus nach wohl nicht
anzunehmen ist, dass er derselben Schicht angehört, endlich noch ein drittes kleines Fragment
von schwarzem rohen Thon, welches aus einer roheren Masse besteht. Die Sachen sind bis jetzt
meines Wissens noch nicht recht übersichtlich; auch ist es möglich, dass noch genauere Funde
gemacht worden sind, was mir indess nicht bekannt ist. Ich wollte nur die Aufmerksamkeit,
auf diesen Punkt lenken, weil allerdings eine nähere Beziehung der einzelnen Gegenstände zu
einander vorhanden ist, als sich bisher an irgend einer anderen Stelle gezeigt hat. Denn kein
Torf- oder Mergelfund hat irgend etwas ergeben, was Spuren menschlicher Bearbeitung dargebo-
ten hätte.
Ganz ans der Nähe der Balver Höhle nun hat im Herbst v. J. Hr. v. Duck er Sachen mit-
gebracht, welche er in der Krusensteiner Höhle bei Rüdingliaiiseu und in deren nächster Umge-
bung gefunden hatte; unter diesen befand sich eine Reihe von Geweihstücken, die nach dem Aus-
sehen vollkommen den Eindruck von jungen Rennthiergeweiheu machten, die sich jedoch damals
*) Archiv für Mineralogie, Geologie, Bergbau und Hüttenkunde von Karsten und von
Dechen. 184*;. Bd. 20, 8. 328, 341.
165
uichl genauer bestimmen Messen, weil unsere Sammlungen keine- parallelen Stücke besassen. Die
Mehrzahl von ihnen war etwa 10 — 14 Cent, lang; der Umfang des Stammes betrug nur £ — 0
Cent. Durch die Güte des Hrn. Hilgendorf in Hamburg ist mir seitdem eine Reihe jugend-
licher Rennthiergeweihe zugesandt worden. Nach einer Vergleichung beider kann kau
Zweifel darüber besteben, dass es sich in der That um Rennthierknochen handelt Namentlich
ein Stück ist meiner Meinung nach in hohem Grade bezeichnend, sowohl in Beziehung auf dio
stark nach rückwärts gehende Richtung des Hauptastes, als auch in Beziehung auf den Winkel,
in welchem die Augensprossc und Eissprosse angesetzl sind
An nicht wenigen derKrusensteiner Knochen finden sieh Zeichen unzweifelhafter Benagung, zum
Theil in grosser Ausdehnung. Nur an einem Punkte kann es etwas zweifelhaft sein, ob nur die
Einwirkung von Zähnen vorliegt. Wenn man das Geweihstück schlug gegen das Licht hält, so
sieht man eine Reihe parelleler, schräg stehender Linien, von welchen man glauben könnte, dass
sie durch irgend ein Instrument erzeagf worden wären. Indess die Regelmässigkeit derselben
möchte gerade darauf hindeuten, dass es Nagelinien seien, hervorgebracht durch scharte
Zahnspitzen.
Sonderbarerweise gehören sämmtliche stücke, welche Hr \. Dücker mitgebracht hat. der
Grösse nach ziemlich zusammen; keines war darunter, welches einem älteren Thiere angehört zu
haben scheint. Er berichtet darüber: „ „Ich fand die Rennthiergeweihe am 12. October v. J. in
einer steil aufsteigenden schmalen Kluft des devonischen Kalkfelsens am rechten Gehänge des
Hönnethales bei Klusenstein unfern Rüdinghausen im Kreise Iserlohn in Westfalen. Die Kluft
steigt mit einer offenen Seite aus dem Thalgrunde so steil auf, dass man annehmen inuss, der
Fluss, die Hönne, habe durHi Unterspülung noch ein Felsstück zum Absturz gebracht, Beitdem
die Geweihe darin deponirt wurden, denn die Steilheit derselben ist jetzt zu gross, als dass die
ursprüngliche Deposition darin geschehen konnte. Die Stücke, deren ich an 100 während einer
Stunde sammelte, lagen in trockenem, scharfkantigem Kalksteinschutt. Alle Stücke sind sehr
dünn und wahrscheinlich von jungen Individuen; alle sind zu Bruchstücken von '2 — 4 Zoll Länge
zerschlagen und eigentümlich beklopft oder benagt. Von anderen Thierresten wurde nur sein
wenig damit zusammengefunden. Dicht über der betreffenden Felskluft liegt eine kleine, jetzt schwer
zugängliche Höhle, die Ziegenhöhle genannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat in derselben eine
menschliche Familie gewohnt, welche die Rennthiere hegte und deren Geweihe vorzugsweise in die Kluft
warf. Das ganze Vorkommen ist nicht anders zu erklären Spuren menschlicher Thätigkcit sind
an einigen Stücken mit Bestimmtheit zu erkennen. Ein zerschlagener Rennthierknochen wurde
in selbiger Kluft gefunden, das untere Ende des linken Hinterschenkelknochens. In nächste] \a< h
barschaft der Felskluft sammelte ich in einer Felsennische die Reste eines menschlichen Skeletes "
Ich bin nicht ganz sicher, ob die letzten Auffassungen schon jetzt vollkommen an-
zuerkennen sind. Sehr merkwürdig ist die Sache jedenfalls, indess halie ich mich nichl
überzeugen können, dass an den Rennthierknochen mit Sicherheit etwas festzustellen war,
was auf menschliche Thätigkeit hindeutete. Die Nagespuren können sehr wohl von Thieren
herrühren; es ist sogar wahrscheinlich, wenn man die KleinheU der Eindrücke und die Schärfe
ger Begrenzungen in's Auge fasst, welche diese Nagespuren hinterlassen haben. Sie sprechen
für viel mehr spitzige Zähne, als der Mensch besizt. Auch ist es nicht nothwendig, die
Existenz der Bruchstücke auf Zerschlagen durch Menschen zu beziehen, da keine Zeichen von
instrumentaler Einwirkung vorhanden sind.
Von dem in der Nähe gefundenen menschlichen Skelet hal>e ich die Ceberzeugung, dass es
nicht aus dieser Periode stammt; es macht einen mehr modernen Eindruck. Auch ist es
unter Verhältnissen gefunden worden, welche nicht einen notwendigen Zusammenhang mit
jenen Knochen darthui1. Trotzdem ist der Kund geeignet, diesem Gegenstände eine grössere
Aufmerksamkeit zuzuführen, und es wäre möglieh, dass er dazu beitragen könnte, auch auf un-
serem Boden parallele Funde mit denen, wie sie in Süddeutschland und Frankreich gern» bl
worden sind, herbeizuführen.
Ueberblicken wir diese immer noch sehr fragmentarischen Thatsachen, so erscheint das Voi
kommen von Rennthierknochen in Mergelschichten, soweit ich es beurtheilen kann, am wenigsten
geeignet, einen sicheren Anhalt zu geben. Offenbar ist es in der Mehrzahl der Fälle zweifel-
haft, ob die Thiere an der Stelle gelebt haben, wo man ihre Ueberreste gefunden hat. Wenn
man sich vorstellt, dass während der Eiszeit eine Bewegung von Eisblöcken ülier das deutsche
166
Meer stattgefunden hat, so ist klar, dass manches angeschwemmt sein kann. Anders verhalt es
sieh mit den Torf- und Höhlenfunden, denen man gewiss eine grosse Bedeutung zuschreiben
inuss. Sie beweisen meiner Meinung nach mit Bestimmtheit, tlass das Rennthier wirklieh in
Norddeutschland gelebt hat, und es ist nach dem Höhlenfunde mindestens sehr wahrscheinlich,
dass es ein Zeitgenosse des Menschen war."
Hr. Beyrich maeht darauf aufmerksam, dass eine ansehnliche Menge von Knochen ans
Balve sich in der Sammlung der Bergakademie befindet Sie sind nie genauer untersucht wor-
den. Er erinnert sich nicht, ob Rennthierreste dabei sind, wohl aber, dass sehr verschieden-
artige Dinge darunter waren, Knochenreste von Bären u s w. Nach oben hin befand sich ein
Gemisch von jüngeren Sachen, welehe sieh als einer spateren Zeit angehörig erkennen Hessen.
Es hatten damals die Resultate der Grabungen ein geringes Interesse, weil man nicht ausein-
anderzuhalten verstand, was jung und was alt war
Hr. Günther berichtet, dass eine reiche Sammlung von Gegenständen aus ben Kalkschich-
des Hönne-Thales im Besitze des Hrn. Apotheker Seh mit/, zu Letmathe sieh befindet -
Herr Hartmann überreichte der Gesellschaft als Geschenk den zweiten Band der Mernoires
de la Societe d'Anthropologie de Paris und machte auf den bekannten darin enthaltenen Auf-
satz P. Broca's über Anstellung anthropologischer Untersuchungen aufmerksam. Er übergab fer-
ner zwei ihm vom norddeutschen Viceconsul für Aegypten, Herrn Dr. Nerenz, zur Verfügung-
gestellte orientalische Manuscriptwerke, deren eines in arabischer, eines in amharischer Sprache
abgefasst ist. Er verlas sodann briefliche Mittheilungen des Herrn Jeitteles (St. Polten) über
dessen Pfahlbaufunde in Mähren. —
Freiherr von Ledebur trug darauf vor
lieber die meisselartigen Bronze-Werkzeuge der vaterländischen Alterthnmskunde.
„Es liegt hier aus der reichhaltigen Sammlung der hiesigen königl. Museen eine Reihen-
folge von Werkzeugen vor, die, so mannigfaltig an Form und Grösse sie auch sind, nichts
desto weniger zu einer und derselben Klasse von Alterthümern gehören, und eine nicht un-
wichtige Stellung in der gesammten heimathlichen Archäologie einnehmen.
Fragt man zunächst nach dem Namen dieser Werkzeuge und vernimmt man die zahlreichen
Deutungen und Bezeichnungen, die man ihnen beigelegt hat, so berührt man sofort eine der
schwächsten Seiten unserer Alterthümerkunde, welche beweiset, dass dieselbe noch sehr in der Kind-
heit ruht Der Mangel einer feststehenden Terminologie, einer übersichtlichen Nomenclatur auf die-
sem Gebiete ist gross in Deutschland, auch oft und schmerzlich empfunden worden. Vielfache
Anregungen zur Beseitigung dieses Mangels sind seitens des Gesammt-Vereins der etwa 60 ver-
schiedenen deutschen Geschieht?- und Alterthums- Vereine seit fast 20 Jahren gegeben — und
doch sind wir noch nicht einmal dahin gelangt, eine alphabetisch geordnete Uebersicht aller in
der heimathlichen Alterthümerkunde in einer sehr umfangreichen Literatur vorgekommenen Be-
zeichnungen zu besitzen mit Hinweisung auf die Tausende von Autoren und dem Sinne, in welchem
sie sich der oft in Widerspruch stellenden Bezeichnungen bedienen. Eine solche Vorarbeit, wäre
nöthig, um, womöglich auf Abbildungen gestützt, zahllose Missverständnisse und Verwechselun-
gen zu vermeiden
Bei zweifelhaften oder verschiedenartig gedeuteten Gegenständen vermeide man doch mög-
lichst bestimmte Gebrauchs-Bezeichnungen, wenn der Gebrauch selbst noch problematisch ist.
In dieser Beziehung ist besonders bei der hier zur Anschauung gebrachten Klasse von Alter-
thümern, der man wenigstens 20 verschiedene Namen hat zu Theil werden lassen, gesündigt
worden. Und doch könnte mau diese Klasse, ohne ihrer vielleicht mannichfaltigen Gebrauchs-
Bestimmung vorzugreifen, sowohl ihrer Allgemeinheit nach, als mit Berücksichtigung ihrer For-
men-Uebergänge, vollkommen deutlich und richtig charakterisiren, wenn man sie umschriebe als :
meisselartige Werzeuge von Bronze: a) mit Schaftloch und Oehr, mit breiter, mit
schmaler, mitgerader, mi1 halbmondförmiger Schneide; b) mit Schaftriemen, mit oder
ohne Oehr, mit breiter, mit schmaler, mit gerader oder mit halbmondförmiger Schneide;
e) mit Schaftrinnen, mit aufstehenden Seitenwangen n. s. w.
.Ausser den zahlreichen Gebrauchsbezeichnungen, welche man diesen Werkzeugen gegeben
hat, als da sind: Abhäute Instrumente, Keil, Hobel, Meissel, Palstaf u. a. m. ist auch die ethno-
graphische Bezeichnung < 'elt vielfach angewendet, wohlberechtigt in Gross- Britannien, insofern
als damit nur angedeutet werden soll, dass dies Instrument in diejenige Periode falle, welche
167
dort keltische Bewohner hatte; aber Bchon bedenklich iu Dänemark und mein- noch, weil der
Keltomanie Vorschul» leistend, in Süd- Deutschland.
Dann hatte man in diesen Instrumenten bald den malleolus odei Feuerpfeil der Römer, die
securis missilis oder das Wurfbeil des Sidonius Apollinaris, das vas futile des Terenz u a. in.
erkennen wollen; die ineisten Autoren haben »sich aber dahin vereinigt, in diesem Werkzeuge
die Frainea des Tacitus, mithin die National-Waffe der Germanen zu erkennen. Betrachten wir
daher die Stellen in des Tacitus Germania, wo der Framea gedacht wird, etwas näher.
„Ausser den grösseren Lanzen führen sie Spiesse, welche sie Frameen oeunen (hasta
ipsarum vocabulo frameas gerunt), mit schmaler und kurzer S bneidi h und
zum Gebrauch so handlich, dass sie mit derselben Waife, je nach Umständen aus der Nahe
sowohl als aus der Feme kämpfen (Cap. 6). — Der Reitersmann begnügt sich mit Schild und
Frainea, die Fusskämpfer entsenden auch Wurfgeschosse (ibd.). — In Volksversammlungen ge
ben sie ihre Zustimmung, indem sie die Frameen zusammenschlagen, als ehrendste Art des
Beifalls gilt es, mit Waffenklang zu loben (Cap. 11). — Die Aufnahme in die Gemeinde ge-
schieht, indem der Fürst, der Vater, oder ein Verwandter denJüngling mitSchild und Framea
schmückt; das ist ihre Toga, das die erste Ehre der Jugend, bis dahin achtet man sie dem
Hause angehörig, dann der Gemeinde (Cap. 13). — Berechtigt ist das kriegerische Gefolge der
Fürsten, von deren Freigebigkeit jenes Boss zu erwarten, das sie in die Schlachten tragen, ji n
Framea, die den blutigen Sieg erkämpfen soll (Cap. 14). — Strenge sind dort die Ehen, und
von keiner Seite möchte man ihre Sitten mehr lohen — Mitgift bringt nichl die Frau dem
Mann, sondern der Mann der Frau — Geschenke, nicht den kleinen weiblichen Neigungen ent-
sprechend gewählt, noch zum Schmuck der jungen Frau bestimmt, sondern Stiere, ein gezäum-
tes Pferd und ein Schild nebst Framea und Schwert. Auch die Frau hinwiederum bringt
dem Manne einige Waffenstücke zu. Dies, meinen sie, sei das festeste Band; dies seien geheime
Heiligthümer, dies die Götter der Ehe" (Cap 18) Wohl bezieht sich auf diese Framea, als
die Nationalwaffe der Germanen auch die Stelle, wenn Seneca (Brief 36) sagt: .Ware ich in
Parthien geboren, würde ich gleich als Kind den Bogen haben spannen, wenn in Germanien,
sofort als Knabe den dünnen Speer haben schwingen können."
Es wäre doch wunderbar, wenn unter allen den .zahlreichen in Deutschland aufgefundenen
Waffen, gerade diejenige sich nicht finden sollte, deren Tacitus so oft und so bestimmt bezeich-
nend, ja mit einem der deutschen Sprache entlehnten Namen Framea (Pfriem) erwähnt; wenn
aber irgend eines dieser Waffenstücke den Forderungen entspricht, welche zusammentreffen müssen,
um als Framea gelten zu können, so sind es eben diese meisselartigen Werkzeuge von Bronze.
Die in den Schaftlöchern und Schaftrinnen oftmals vorgedrungenen hölzernen Schaftreste,
die nicht minder wahrgenommenen Spuren von Lederriemen, welche mittelst der Oehre befestigt,
für den Kampf in der Nähe als Stoss-, in der Ferne als zurückzuziehende Wurf- Waffe geeignet
waren, entsprechen durchaus der Taciteischen Beschreibung. Fragen wir weiter nach der
geographischen Verbreitung eben dieser Werkzeuge, so ergiebt sich allerdings, dass sie zwar
keineswegs auf Deutschland sich beschränken, dass sie vielmehr über ganz Europa verbreitet zu
finden sind, ja darüber hinaus bis in das nordöstliche Sibirien sich erstrecken*); allein nichts
desto weniger macht sich für Deutschland, worauf wir vielleicht später eingehender zurück-
kommen, in quantitativer Beziehung ein so ausserordentliches numerisches Uebergewichl geltend,
dass auch in diesem umstände sich bestätigt, was Tacitus sagt, dass die Framea die National-
waffe der Deutschen sei. Zum Theil liesse sich ihre sonstige Verbreitung genügend durch die
Wanderungen und Kriegszüge der Germanen erklären, so /.. B. der Vandalen (in Andalusien;
nach Spanien, wo ebenfalls diese Werkzeuge gefunden werden, und wo das Wort Framea in
der spanischen Sprache sich noch erhalten hat.
Von grosser Bedeutung ist es endlich, dass gerade in Deutschland wir mehrfach auf Guss-
*) Auf dem im Sept. 1868 zu Bonn abgehaltenen internationalen Congress für Alterthums
künde und Geschichte hielt der Russische Staatsrath von Eich waldt eineu Vortrag übei
Tschudische Alterthümer- und Gräberfunde, unter denen sich knöcherne Nadeln /um Nahen
der Rennthierfelle, Steinkeile und steinerne Lanzen zusammen mit diesen meisselartigen Bron-
zen mit Schaftloch, wie mit Schaftriemen in ein und demselben Grabe gefunden haben, mithin
Gegenstände beisammen, die nach der nordischen Perioden-Theorie weit au» einander liegenden
Epochen angehören.
168
statten und Gussformen dieser Werkzeuge, die nach den angestellten chemischen Analysen ziem-
lich coustant 85 bis 90pCt. Kupfer und 15 bis lOpCt. Zinn ergeben haben, gestossen sind.
Von besonderer Erheblichkeit ist der in den zwanziger Jahren bei Pestlin zwischen Anclam
und Dem min an der Peene gemachte Fund von etwa 150 dergleichen bronzener Werkzeuge, die
mit grossen Metallkuchen, aus reinem Königskupfer bestehend, alsu noch unlegirt mit Zinn, ge-
funden wurden, und von denen der grössere Theil an das Museum gelangte. So gross auch die
Zahl dieser Werkzeuge ist, so findet sich doch in Form, Grösse, Verzierung etc. eine solche
Mannichfaltigkeif vor, dass auch nicht ein einziges Stück dem anderen so gleich ist, dass beide
aus ein und derselben Form hervorgegangen sein können. Die Fabrikation muss hiernach au
Ort und Stelle vor sich gegangen und, wie es scheint, mittelst irdener oder thönerner For-
men, die mit vollendetem Guss ihre Zerstörung fanden, verfertigt sein.
Eine zweite Vit der Herstellung geschah mittelst Giessformen, wie solche vor einigen Jahren
bei Müncheberg im Lande Lebus aufgefunden und in der Versammlung des Gesammt- Vereins im
September 18GS zu Erfurt vorgezeigt wurden. Drei mit ihren Flachseiten aufeinanderpassende,
den Bau-Ziegelsteinen ähnelnde, feinkörnige Sandsteine oblonger Form enthielten die nach zwei
Seiten hin eorrespondirenden hohlen Hälften des zu giessenden Körpers, zu welchem von den
Seiten aus die Gusskanäle führten.
Noch eine dritte Gattung erblicken wir hier, bestehend aus einer in zwei Hälften zerfallen-
den Metallform. Von diesen wurde die nur in einer Hälfte bestehende unvollständige Form
vor einigen Jahren zwischen Sehlieben und Herzberg im Kreise Schweinitz (Regierungsbezirk
Merseburg) gefunden und später von einem Bauer dem Museum geschenkt; die zweite vollstän-
dig erhaltene Gussform dieser Art ist bei Gnadenfeld im Reg.-Bez. Oppeln gefunden worden.
Eine daraus hergestellte Framea von Gyps liegt bei. Stände es nun aber fest, dass eben diese
meisselartigen Werkzeuge von Bronze, die zu den am meisten speeifisehen Kennzeichen der so-
genannten Bronzeperiode gehören, wirklich die Framea darstellen, so würde damit auch das an-
dere Problem mit Sicherheit gelöset werden, nämlich welcher Periode das Broneezeitalter angehört;
dass sie nämlich noch in diejenige Zeit falle, von der Tacitus redet; freilich in der Uebergangs-
zeit von der Bronze zu dem Eisen, von welchem Tacitus (Cap. 6) ausdrücklich sagt: „Eisen ha-
ben sie nicht in Ueberfluss".
Herr Virchow dankt im Namen der Gesellschaft dafür, dass ein so kundiges Mitglied
ihr zugleich das Verstäudniss für das Museum eröffnet, und behält für eine spätere Sitzung die
Gelegenheit vor, auf diese Verhältnisse zurückzukommen. Es werde namentlich interessant
sein, eine üebersicht der Fundstellen für die Gussgeräthe herzustellen. Er erinnert sich, so-
wohl in Kopenhagen, als in Schwerin Gussplatten gesehen zu haben.
Herr von Quast meint, es sei wesentlich, die geographischen Verhältnisse zur Klarheit zu
bringen; wo und in welchen Localitäten diese Gegenstände gefunden sind Wenn Herr von
Ledcbur sage dass Deutschland vorzugsweise der Fundort dieser Dinge sei, dass sodann England,
Frankreich und Spanien kommen, so wäre erst statistisch nachzuweisen, in welchem Verhältniss
dies der Fall ist. Was die Einführung dieser Instrumente durch Vandalen betreffe, so scheinen
doch in der Zeit, in welcher die Völkerwanderung stattgefunden hat, die reinen Bronzeinstru-
mente nur ausnahmsweise vorgekommen zu sein. Namentlich sei unter den altfränkischen Sachen
am Rhein das Eisen doch vorherrschend gewesen, und so dürfte anzunehmen sein, dass die
Vandalen, als sie dorthin gekommen, eiserne Instrumente besessen hätten. Man müsse zeigen,
dass diese Dinge durch die Vandalen dorthin gekommen seien. Das Vorhandensein derselben
Instrumente auch in Sibirien spreche gegen einen gemeinschaftlichen Zusammenhang.
Herr Jagor bemerkt, dass solche Gussformen auch in England vorhanden sind, es dürfte
daraus wohl folgen, dass derartige Instrumente and, dort verfertigt wurden.
Ben \. Ledebur hielt die genaue Registrirung jedes einzelnen Fundes für sehr
wichtig und ist damit auch bereits selbst vorgegangen. Wenn sich nun, meint er weiter, dabei her-
ausstellte, dass diese Werkzeuge sich hauptsächlich in den Gegenden finden, in denen Germa-
nen gelebt und in zweiter Linie dort, wohin sie gekommen, so könnten jene doch in der Zeit
dorthin gelangt sein, welche der V öl ker wand er un g entspricht. Tacitus erklärt sich dahin,
dass Eisen in Deutschland selten gewesen sei, und wenn dies der Fall, so muss statt des Eisens
sich noch etwas anderes gefunden haben, und die Framea muss aus einem anderen Material ge-
wesen sein. Man spricht allerdings auch von eisernen Spitzen, aber Werkzeuge mit eisernen
169
Spitzen sind nicht gefunden worden. Nach Plinius ist in Deutschland Kupfer bearbeitet wor-
den. Nichts desto weniger ist zu Tacitua Zeit die Bronze mit Eisen verbunden gewesen; dies
wird also schon gleichzeitig und überholt die Rronze. Wenn wir nun von den antiken Volkern
keine Nachrichten hierüber haben, se würde doch Tacitus diesen Instrumenten keinen deutschen
Namen gegeben haben, wenn er nicht eine deutsche Waffe damit gemeint hat. Herr v.Eich-
waldt nimmt für den ganzen Norden Deutschlands eine Tschudische Bevölkerung an, wobei er
aber entschieden zu weit zu gehen scheint; wir müssen es vorläufig dahin gestellt sein lassen,
ob die erwähnten Formen Nachbildungen solcher sind, die in anderen Ländern bereits früher
existirt haben1 (wofür jeder Anhalt fehlt) oder nicht; wir können nur sagen: „Hier in Nord-
deutschland finden wir sie weit häufiger als südlich von der Donau."
Hr. Meitzen hält die Fraraea wesentlich für ein Jagdinstrument. Es sei nicht anzuneh-
men, dass ein Meissel mit Oehr, an welchem sich ein Riemen befindet, wesentlich und zuerst
als Kriegsinstrument gedeutet werden müsse, weil hierzu der Riemen keine Dienste geleistet
haben, ja im Gegenthcil hinderlich gewesen sein würde. Bei den Eskinio's fände man noch jetzt
derartige mit Oehren versehene Jagdinstrumente. Diese würden dem Thiere in den Leib ge-
stossen, man ziehe den Stab zurück, nun könne das Thier noch einige Schritte verwärts laufen
und hänge dann an der Spitze wie an einer Angel fest Dies Instrument sei vorzugsweise bei
solchen Thieren von Nutzen, die unter das Wasser tauchen wie Seehunde.
Hr. Maurer macht auf die von Weber etwa vor einem Jahre in den wissenschaftlichen
Beitagen der Vossischen Zeitung gegebene Definition der Framea aufmerksam, welche sich
auf einen Fund beziehe, wel'hem zufolge die Framea gleich geeignet zum Hieb als zum Wurf
gedient. Er spricht sich auch für die Benutzung als Beil aus und bezieht sich auf die von
Nilsson gelieferte Abbildung einer noch am Stiel befestigten Bronzeaxt aus dem Salz-
werke von Reichenhall. Von beilartigen Frameen gebe Klemm eine Abbildung in seinem
Buche über Waffen und Geräthe. Diese Abbildungen liefern vielleicht den Beweis, dass nicht
ein Riemen, sondern eine Kette au diesen Instrumenten sich befunden.
Nach Herrn v. Ledebur's Gegenbemerkung ist nicht diese Kette, wohl aber der Riemen
gefunden. Man habe allerdings ähnliche Instrumente mit und ohne Schaft, aber das seien ganz
andere Instrumente, und hierin beruhe eine der Gefahren, das Ding gleich mit einer bestimm-
ten Bezeichnung zu versehen; wenn wir uns den Schaft anders denken, so wird es eine Stoss-
waffe. Man dürfe hier also nicht generalisireu, sondern müsse jene Dinge einfach für meissel-
artige Werkzeuge aus Bronze ohne speeiellere Gebrauchsbestimmung erklären,
Hr. Hart mann erwähnt des Vorkommens eiserner, ungefähr an die beilartige Framea er-
innernder Instrumente bei Altägyptern, bei verschiedenen neueren centralafrikanischen Völker-
schaften und bei Südseeinsulanern.
Nach Hrn. Jagor werden bei den malaischen Stämmen solche Meissel ganz in derselben
Weise beilartig gebraucht.
Hr. v. Quast wirft noch einmal die Frage auf, ob es sicher festgestellt sei, dass die frag-
lichen Bronzegeräthe gerade Speere sind? Er findet, dass es für eine Stosswaffe vorteilhafter
ist, wenn sie vorn spitz, als wenn sie breit ist. Man müsse es daher vorläufig noch unbe-
stimmt lassen, welcher Art die Verwendung gewesen, denn bei der Framea, wenn wir sie in
der Bedeutung von Pfriem nehmen, müsse gerade die Spitze charakteristisch sein. —
Herr Er man vollendete seinen in der vorigen Sitzung begonnenen Vortrag über Aleuten
und Koljuschen.
Als Geschenke wurden der Gesellschaft in der Januar- und Februarsitzung ferner über-
reicht: Im Namen des Herrn Crampe Urnen und Knochenpfeilspitzen aus der Lausitz.
Scientific Opinion No. 62. — Ch. Borget: Cours d'Anthropologie appliquee ä l'enseignement
des Beaux Arts Paris 1869. — Durch Herrn Virchow: Vrolik en van der Hoeven Be-
schrijving en Afbeelding van denen te Pompeji opgegraven Menschelijken Schedel. Amsterdam
1859. — J. Schade: De singulari cranii cujusdam deformitate Gryphiae MDCCCLVHI. —
Boogard: De Indrukking der grondvlakte yan den Schedel door de Wervelkolom. - Verzeich-
niss des Museums schlesischer Alterthümer zu Breslau. Juli 1869. 2 Hefte.
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrga^ 1670. 12
170
Sitzung vom 12. März 1870.
Vorsitzender: Herr Virchow.
Der Vorsitzende verliest ein Schreiben des Herrn Dr. Beigel, Vicepräsidtnten und Vor-
sitzenden des Finanz- und Publications-Komitee's der Londoner anthropologischen Gesellschaft'
in welchem der Konstituirung des Berliner Schwestervereins in anerkennender Weise gedacht
wird. Das Schreiben ist von einer sehr reichen Sendung der von der Anthropological Society
of London herausgegebenen Schriften, Geschenken für die Berliner Gesellschaft begleitet.
Der Vorsitzende legt eine Sammlung von Fundgegenständen des Hrn. v. Dücker nebst fol-
gendem Schreiben desselben vor:
Der Berliner Anthropologischen Gesellschaft beehre ich mich, hiermit einige Reste aus west-
phälischen Kalkhöhlen s. p. o. vorzulegen, welche Zeugniss ablegen von der ältesten Existenz
des Menschen in Norddeutschland, die bisher constatirt werden konnte.
Es sind meistens versteinerte Knocheureste , die entweder selbst Spuren menschlicher Thä-
tigkeit an sich tragen, oder die in solcher Zusammenlagerung mit menschlichen Kunstproducten
gefunden wurden, dass man nach der Gesammtheit der Erscheinungen gleiches Alter für sie an-
nehmen muss.
A. Aus der Balver Höhle.
(Sehr grosse Höhle bei dem Städtchen Balve; /.um grössten Theile ausgeräumt 1848— 18.'. 2
und zu einem Schützenplatze eingerichtet; Reste von mir gesammelt in selbigen Jahren.)
1. Versteinerte längsgespaltene Knochenstücke, wie solche massenhaft, mit anderem Schutt
aus der Hölue auf die Felder gefahren worden sind.
2. Zähne vom Höhlenbär, Pferd, Schwein etc.
3. Zwei Stücke eines Kinderschädels; von einigen Skeletten herrührend, welche im hin-
teren Theile der Höhle einige Fuss tief im Schutt gefunden wurden.
B. Aus der Klusenstemer Höhle.
(Sehr grosse Höhle bei dem alten Schlosse Klusenstein; theilweise ausgeräumt 1866— 1669.
Reste von mir gesammelt 1867 — 1869.)
4. Streitaxt aus Feuerstein von der Grösse einer grossen Manneshand; roh geschlagen,
älteste Form. Feuerstein kommt in der Nähe der Höhle in der Natur nicht vor. Ich erhielt
die Axt aus der Hand des Besitzers der Höhle, Herrn Feldhof.
5. Feuersteinwerkzeug; unverkennbar künstlich geschlagen; wahrscheinlich eine Lanzen-
spitze.
6. Steinmesser; aus Hornstein oder Kieselschiefer roh geschlagen.
7. Zähne von Höhlenbären, geschwärzt, zum Theil deformirt, anscheinend durch Feuer.
8 Knochenstückchen, offenbar mit Feuer schwarz gebrannt.
C. Aus der Friedrichshöhle.
(Knochenbracefe unter voriger Höhle; Reste von mir gesammelt 1867 und 1869.)
9. Stück vom Unterkiefer eines Tigers; allem Anscheine nach durch Menschenhände zer-
schlagen.
10. Grosser versteinerter Knochen mit unzweifelhaften Spuren des Zerschlagenseins auf
einer Gelenkfläche.
11. Ein weisser und ein geschwärzter Höhlenbären-Backzahn.
12. Kleine Höhlenbären-Backzähne.
13. Kleine Knochenreste.
14. Kieferstück mit Backzähnen vom Höhlenbär.
D. Aus dem hohlen Stein.
(Grosse Höhle bei Rödinghausen; untersucht durch mich 1849, 1867 und 1869.)
15. Backzahn eines grossen Wiederkäuers aus oberster Schicht.
16. Knochenstücke mit unzweifelhaften Spuren menschlicher Thätigkeit.
17. Fuss- und Flügelknöchelchen vom Feldhuhn; auffallend häufig und in guter Erhaltung
0)60—l,60 Meter tief im Schutt gefunden, so dass man vermuthen darf, sie seien wegen ihrer
Zierlichkeit von den Höhlenbewohnern werth gehalten worden.
18. Kleine Knöchelchen, darunter ein sehr auffallendes Kieferstück von Eidechse oder Fisch
mit einem sehr grossen Zahn.
171
19. Fussknochen eines sehr grossen Zweihufers.
20. Knochensplittern; zum Theil anscheinend durch Gebrauch geglättet; wahrscheinlich
Pfeilspitzen.
21. Splitter von Steinen der Localität, wahrscheinlich als Messer benutzt.
22. Sandstein; Flussgeschiebe der Localität mit einem Streifen, der auf das Schleifen klei-
ner Werkzeuge hindeutet; auch anscheinend künstlich abgesplittert.
23. Sehr rohe Steinmasse aus Kieselschiefern der Localität.
24. Kleine unzweifelhaft künstlich geschlagene Messer aus Feuerstein, der nicht an der
Localität vorkommt, stark durch Verwitterung gebleicht.
25. 4 Stück Scherben rohester, ältester Topferwaare mit Einsprengung von Kalkspath-
trümmern.
26. Versteinertes Kieferstück von einem Höhlenbären.
27. 4 versteinerte Zahnstücäe von Rhinoceros.
28. Versteinertes Stück eines Elephanten-Gelenkknochens; allem Anscheine ebenso aufge-
schlagen wie obiger Knochen aus der Friedrichshöhle Die letzteren Reste wurden in 1 — 1,60
Meter Tiefe in unzweifelhafter Zusammenlegung mit den Kunstprodukten gefunden.
Zur genaueren Prüfung der übersandten Gegenstände wird eine Kommission ernannt, be-
stehend aus den Herren ßeyrich, Hartmann, Kunth und Virchow.
Hr. Virchow macht im Anschlüsse an diese Vorlage folgende Mittheilungen:
Ich habe inzwischen in Folge der in der vorigen Sitzung gemachten Bemerkung des Hrn.
Beyrich über die Existenz von Fundstücken aus den Westphälischen Höhlen im Museum der
Bergakademie Gelegenheit genommen, mir einen Ueberblick über die Sachen zu verschaffen.
Sie sind noch nicht übersichtlich geordnet, indess glaube ich doch ein paar Stücke vorlegen zu
müssen, weil sie charakteristische Specimina menschlicher Einwirkungen darstellen; sie sind
aus der Räsenbecker Höhle Es finden sich darunter ausgezeichnete Specimina , Geweihstücke
vom Hirsch, welche unzweifelhaft gesägt und geschnitten sind, so dass man über die Natur der
Operation, welche hier vorgenommen ist, keinen Zweifel hegen kann. Es sind auch die Ober-
flächen, was das Alter betrifft, so vollständig übereinstimmend mit den andern Oberflächen,
dass kein Zweifel existiren wird, dass die Schnitte gemacht wordeh sind, bevor die Knochen
in die Lage kamen, aus welcher sie später herausbefördert worden sind. Auch ein Stück einer
grössern Rippe, wahrscheinlich vom Ochsen, welche deutlich eingeschnitten ist, liegt vor. Ich
behalte mir vor, auf die Sache später noch zurückzukommen, wenn es gelungen sein wird, die
Sammlung genauer zu durchmustern.
Herr Fr i edel legt eine Anzahl zum Theil sehr gut gearbeiteter zwischen Rummelsburg und
Köpenick 3$' tief im Heidesande gefundener Bronzesachen vor, darunter ein von Hrn. Virchow
für ein abgekniffenes Gussstück erklärtes Fragment.
Hr. Jagor zeigt ein axtartiges , der beilartigen Framea ähnelndes Werkzeug aus Java vor
und macht auf die Abbildung entsprechender Geräthe in Klemm's Abhandlung aufmerksam.
Hr. A. Kuhn:
Ich habe nur eine kurze Mittheilung zu machen, welche den Gebrauch der ältesten Schneide-
werkzeuge betrifft.
Unter den indischen Opferrequisiten ist das sogen. Barhis, eine Streu von Kucagras, einer
langhalmigen Grasart, die getrocknet unserm Weizenstroh ähnlich sieht, nur grössere Blätter
hat. Dies dient dazu, die Opfergeräthe darauf zu legen und die Gaben für die Götter darauf
niederzusetzen; zugleich werden die Götter eingeladen, sich darauf niederzulassen, um in Ruhe
die ihnen dargebrachten Gaben zu verzehren, ganz also, wie wir dies auch bei den römischen
Lectisternien finden. Dieses Barhis wird nun also von Kucagras gebildet und es heisst in den
Vorschriften, der Opferpriester solle sich dazu eines Asida, d. h. einer Sichel bedienen, oder
eine avvaparcus oder adavutparcus d. h. eine Pferde- oder Kuhrippe dazu nehmen. Diese
Schneidewerkzeuge, die er anwenden soll, müssen wir uns wohl in irgend einer Weise geschärft
denken, um die Dienste verrichten zu können, zu denen sie gebraucht wurden. Eine Rippe
wird, so latitet die Erklärung des Brähmanam hierfür deshalb genommen, weil das Auge des
Prajjäpatis, des Herrn der Geschöpfe, sich (nach vielfältig vorkommenden Erzählungen) in ein
Pferd verwandelt habe, und mit diesem heiligen Werkzeuge, das die Pferderippe darstellt, das
Gras sich besser schneiden lassen werde Das Wort Parcus, welches Rippe bedeutet, heisst
172
nun zugleich offenbar wegen dieses Gebrauches auch „die Sichel" und war an einigen andern
Stellen als Metallwerkzeug erwähnt. Danehen steht ein anderes Wort Paracus (c sprich eh.)
Dies heisst im spätem Sanskrit allgemein Beil oder Axt; es ist dies c „(ch)" durchweg im
Sanskrit aus älterem k hervorgegangen, so dass an die Stelle des spätem Paracus ein älteres
Parakus zu setzen ist. Dies entspricht aber genau dem griechischen vfkexus und wir haben
also den Fall, dass aus einem Worte, das ursprunglich Rippe heisst , der Begriff des Beiles bei
Indern und Griechen hervorgegangen ist. Ob auch die übrigen Völker des Alterthums dieses
Wort gebraucht haben, lässt sich nicht entscheiden, nur sehr wahrscheinlich ist allerdings, dass
auch vom Lateinischen dasselbe Verhältniss gilt. Ais Wurzel hätten wir, da c auf älteres k
zurückführt, „Park" anzusetzen; mit dieser nahe verwandt ist aber eine Wurzel „Falk", welche
statt der Tenuis im Anlaut die Aspirata zeigt und ausserdem an die Stelle des r ein 1 gesetzt
hat, aber ursprünglich r gehabt haben muss, da das älteste Indogermanisch kein 1 gekannt
hat und erst in den aus demselben entwickelten Einzelsprachen 1 aus r hervorgegangen ist.
Diese Wurzel „Falk" liegt nun in dem griechischen tfdkxris, welches „Schiffsrippe" bedeutet,
vor und ihm steht das lat. falx, die Sichel, von gleicher Wurzel (Stamm falei — ) zur Seite.
Das Resultat ist also kurz dies, dass die Rippe bis in historische Zeit als Schneide- oder Hau-
werkzeug bei den Indern gebraucht worden ist, und dass das dafür dienende Wort in älterer
Zeit gleichzeitig Sichel und schneidendes Instrument aus einer Rippe bedeutet.
Hr. Fritsch: Die Fortschritte der neuem Anthropologie sind grossentheils zurückzu-
führen auf die Verbesserung der dabei in Anwendung kommenden darstellenden Methoden. Die
selben verdienen daher eine besondere Berücksichtigung und es dürfte nicht uninteressant er-
scheinen, zwei der wichtigsten in technischer Hinsicht eingehender zu vergleichen.
Die gedachten Methoden sind: das geometrische Zeichnen mittelst des Lucaeschen Appara-
tes und die Photographie. Beide haben ihre Vortheile und Nachtheile, Beide ihre Freunde und
Gegner. Um das Gute und Schlechte derselben leichter erkennbar zu machen, hat der Vortra-
gende dieselben anthropologischen Objecte nach beiden Methoden abgebildet und erlaubt sich,
diese Proben der Gesellschaft vorzulegen.
Die früheren Darstellungen solcher Objecte sind der wissenschaftlichen Vergleichung kaum
zugänglich, da meist aus freier Hand gezeichnet wurde, und um möglichst viel mit möglichst
wenig Mitteln zu geben, eine willkührliche Stellung gewählt ist. Zu dieser Klasse ge-
hören z.B. die Blumenbach'schen Schädelabbildungen und noch in neuerer Zeit hat man west-
afrikanische Schädel ebenfalls zum Theil in beliebiger Stellung abbildeu lassen.
Es ist dringend zu wünschen, dass diese Art der Darstellung gänzlich verlassen wird: da
nur mehrere Aufnahmen in geraden Ansichten ein der Vergleichung zugängliches Material lie-
fern. Diese aus freier Hand zu zeichnen, ist kaum ohne bedeutende Fehler auszuführen nud
man braucht also dazu mechanische Ilülfsmittel, unter welchen der Lucaesche Apparat und die
Photographie obenan stehen.
Mit dem ersteren werden bekanntlich die Umrisse auf horizontaler Glasplatte aufgezeichnet
wie ein senkrecht darüber hingeführtes Diopter dieselben auf die Platte projizirt. Das Aufzeich-
nen soll mit Copirdinte geschehen und das Bild von der Glastafel dann auf Papier abgedruckt
werden. Es hat dies Verfahren den fjebelstand, dass die Gontouren leicht breit werden, nahe
aneinander hinlaufende Linien verschmelzen gern, ausserdem wird durch das Abdrucken Rechts
zu Links und das Original geht verloren. Diese Uebelstände lassen sich vermeiden, wenn man
sich des Glaspapiers zum Aufzeichnen bedient, welches auf die Platte aufgeklebt wird, worauf
die Umrisse mit der Kalkirnadel eingeritzt werden. Man erhält so ein Bild mit äusserst feinen
Contouren, welche mit dunklen Farbstoffen eingerieben auf Weiss leicht sichtbar erscheinen,
sich beliebig Rechts oder Links nachzeichnen lassen und der originale Entwurf bleibt erhalten,
in solchen Aufnahmen ist die Perspeethe durch den Apparat ganz beseitigt und Distanzen,
welche genau parallel der (ilasplatte lagen, müssen darin der Theorie nach der natürlichen
Grösse vollständig entsprechen Es ist aber einleuchtend, dass bei den in Frage kommenden
Gegenständen (wie Schädel, Becken etc.) sieh keine Stellung finden lässt, in welcher alle sym-
metrisch sich entsprechenden Punkte dieselbe Lage zu der «ilasplatte hätten, da eine gewisse
Schiefheit den Objeeten als Regel eigen ist, die Protection wird also alle der Tafel nicht pa-
rallelen Dimensionen verkürzt erscheinen lassen, und wenu diese Abweichungen auch gering
sind, so muss es doch wünschenswert!) erscheinen, neben der Zeichnung Messungen zu
173
haben. Es wurde hier vorausgesetzt, dass der Apparat wie Zeichner vollkommen arbeite, aber
man kann nicht leugnen, dass dies ideale Anforderungen sind; will man nur einigermassen
exact zeichnen, so ist die Arbeit unter allen Umständen zeitraubend und der längere Gebrauch
des Diopter's strengt die Augen sehr an. Wird schneller gearbeitet, gehen die Details verloren,
scharfe Vorspränge, Ecken etc. werden leicht abgerundet, und die Linien bekommen einen ge-
wissen arabeskenartigen Schwung, der den Knochen wahrhaftig nicht eigen ist; manche Publi-
cationen solcher Schädelzeichnungen lassen diesen Fehler aber deutlich erkennen.
Die angestellte Controlle der Zeichnung mit den gemessenen Dimensionen (die letzteren
waren als Linien in die vorgelegten Proben an den betreffenden Stellen eingetragen) ergab trotz
der aufgewandten Sorgfalt doch öfters nicht unbedeutende Abweichungen.
Endlich ist ein berechtigter Einwand gegen die Lucaesche Methode, der auch von andrer
Seite (Welcker) erhoben worden ist, dass durch dieselbe das Physiognomische des Bildes ver-
loren geht und wir keine Anschauung erhalten, die sich mit unseren durch direkte Betrachtung
des Objectes gewonnenen Vorstellungen vergleichen Hesse, indem wir auf der Netzhaut perspec-
tivische, aber keine geometrischen Bilder erhalten. Die Zeichnung mit dem Lucaeschen Apparat
ist also eher eine graphisch dargestellte Zahlentabelle als ein Bild, besonders da sich dieselbe
mehr oder weniger auf die l'mrisse beschränken inuss und die weitere Ausführung doch der
Auffassung des Zeichners anheimgegeben werden wird.
Bei photographischen Aufnahmen ist dies nicht der Fall. Hier bleibt die Perspec-
tive im Bilde, man erhält Umrisse und Flüchenansichten gleichzeitig, und die Darstellung macht
daher einen natürlicheren Eindruck.
Freilich hat die Photographie auch ihre grossen Uebelstände. Es wird der Einwand gegen
dieselbe erhoben, man könne häufig Portraits von Personen sehen, die absolut unkenntlich seien,
was allerdings aus verschiedenen Gründen vorkommen kann. Der Portraitphotograph sucht ein
schönes Bild zu liefern und wählt daher eine Projection, welche er vom künstlerischen Stand-
punkte aus für die günstigste hält; diese ist aber vielleicht der aufzunehmenden Person ganz
fremd, das Gesicht wird also künstlich entstellt; oder die gewählte Beleuchtung täuscht durch
grelle Contrast Wirkung etc. eine abweichende Gestaltung vor; oder die Perspective ist über-
trieben worden; oder endlich die benutzten Objective sind ungeeignet gewesen.
Dies Alles ist für wissenschaftliche Darstellungen möglichst zu vermeiden: Künstlerische
Auffassung ist durchaus unerwünscht, indem man hier erst recht gerade Ansichten zu be-
nutzen hat; die Beleuchtung wählt man am besten möglichst von vorn, um die schädliche
Contrastwirkung zu vermeiden; die Objective müssen frei sein von sphärischer Aberration und
dürfen keinen sehr grossen Oeffnungs winkel haben.
Das letztere Moment ist von besonderer Wichtigkeit, weil die Objective mit grossem Oeff-
nungswinkel die Perspective stark übertreiben und dadurch die scheinbaren Verzerrungen in die
Bilder bringen. Den geometrischen Zeichnungen am ähnlichsten sind Aufnahmen mit Stein-
heil's Aplanat und Dallmeiers Triple- oder recto-linear Lens; weniger empfehlenswerth wegen
der grossen Oeffnungs winkel sind Dallmeiers wide-angular Lens oder Busch's Universal triple,
sowie die Pantoscop- und Augenlinsen.
Das Steinheil'sche Aplanat entspricht im allgemeinen den hier in Frage kommenden Bedür-
nissen am besten. Bei der Aufnahme ist noch besonders zu berücksichtigen, dass die Entfer-
nung des vorderen Focus stets eine gewisse Grösse haben sollte, und man also dem Objecte
unter keinen Umständen näher als höchstens auf 4 Fuss mit dem Apparat kommen sollte; will
man daher Bilder erzielen, welche über J natürlicher Grösse hinausgehen, so muss man schon
die Objective von bedeutenderem Durchmesser anwenden. Für } natürlicher Grösse wurden eine
grössere Reihe von südafrikanischen Schädeln mit Dallmeier's Triple-Lens No. 2 aufgenommen,
in welchen zwar die perspectivische Verkürzung immer deutlich messbar ist, deren Habitus sich
aber doch der geometrischen Zeichnung schon sehr nähert. Diese Annäherung ist aber aus-
reichend, da der physiognomische Eindruck nicht gänzlich vernichtet werden sollte, und es ge-
eigneter erscheint, die genauen Dimensionen durch ausführliche Messungen derselben Objecte
festzustellen. Die Betrachtung der photographischen Tafeln ergiebt zugleich als einen in die
Augen springenden Vortheil, dass die ganze Reihe der Abbildungen mit demselben Objectiv, in
derselben Entfernung aufgenommen, sofortige Vergleichung unter sich erlaubt, da die Perspec-
tive in allen ganz in gleicher Weise wirken musste. Die perspectivische Verkürzung, welche
174
ein bestimmtes Objectiv giebt, ist endlich so gut zu controlliren, dass die Basis der Verglei-
cbung auch für andere Aufnahmen leicht gefunden werden kann, sobald man nur genau weiss,
mit welchem Objectiv sie gemacht worden sind.
Werden die photographischen Aufnahmen in geringerer Entfernung als die oben augegebene
ausgeführt, was nothwendig ist, um mit den Objectiven mittleren Durchmessers ein Bild auf {
der natürlichen Grösse zu bringen, so ers-heint die Photographie der geometrischen Zeichnung
schon sehr unähnlich und macht auch auf normalsichtige Augen wegen der übertriebenen Per-
spective einen fremdartigen Eindruck, es ist aber auch dann falsch von Fehlern zu sprechen,
welche das Objectiv in das Bild brächte, da die Abweichungen durchaus den Regeln der Cen-
tralperspective entsprechen, so lange die Linse (wie die oben genannten es thun) überhaupt cor-
rect zeichnet, Das Unnatürliche entsteht nur dadurch, dass der Augenpunkt im Bilde
für normale Sehweite zu nahe liegt.
Um die Unterschiede solcher photographischen Aufnahmen von der geometrischen Zeich-
nung sichtbar zu machen, wurden die mit dem Lucaeschen Apparat gewonnenen Umrisse pho-
tographisch auf die Hälfte reducirt und dieselbe Ansicht des Objectes (Racenbecken) zugleich in
\ der natürlichen Grösse mit demselben mittleren Focus aufgenommen. Durch Auflegen der
Pause der reducirten Umrisszeichnung auf die Photographie wird die perspectivische Verschie-
bung in den einzelnen Theilen sofort ersichtlich. Abweichende Ansichten desselben Beckens erschei-
nen, obgleich mit demselben Objectiv und in gleicher Entfernung aufgenommen, von verschiede-
ner Grösse, je nachdem die Hanptmasse der Knochen vor oder hinter dem mittleren Focus ge-
legen hat
Für Darstellungen in so grossem Maasstab dürfte es sich daher empfehlen, wie der Vor-
tragende es bereits praktisch durchführt, beide hier behandelte Methoden in der Weise zu ver-
binden, dass man den photographisch reducirten geometrischen Umriss zu Grunde legt und die
Ausführung der Flächen alsdann nach einer ebenso gefertigten Aufnahme derselben Ansicht
hinzufügt.
Unter allen Umständen wäre eine solche Reduction des geometrischen Umrisses bei allen
Objecten von grösseren Dimensionen bei weitem der gebräuchlichen Verkleinerung mittelst des
Storchschnabels vorzuziehen , da die letztere keineswegs sehr leicht in correcter Weise auszu-
führen ist, während jedes gute photographische Objectiv so frei ist von sphärischer Aberration,
dass es, so lange man nur Sorge trägt, die optische Axe genau senkrecht gegen die aufzuneh-
mende Fläche zu stellen, abgesehen von den Rändern des Gesichtsfeldes, unmöglich ist, die
Fehler durch Messung zu constatiren
Schliesslich sei noch erwähnt, dass der Uebelstand der Photographie zu viel unwesentliche
Details in Bezug auf die Structur der Oberflächen zu geben und Farbenunterschiede in den Ob-
jecten in gleicher Weise wie Schatten auszudrücken, gewiss ein sehr störender ist, zumal wenn
man solche Aufnahmen als Vorlagen für den Zeichner verwerthen will. Man lernt aber sehr
bald die Bilder richtig zu erkennen, um das Störende daran zu eliminiren, und wenn auch an-
fänglich zuweilen missglückte Versuche zu Tage kamen, so hat der Vortragende doch stets
schliesslich Künstler gefunden, welche den Anforderungen gerecht zu werden verstanden und sich
ihrer Aufgabe zuweilen mit bewunderungswürdiger Leichtigkeit erledigten.
Herr Virchow hält einen Vortrag
üeber Gesichtsurnen.
(Vergleiche Bericht Seite 73 dieses Heftes.)
Hierzu bemerkt Ilr v. Ledebur, dass nach seiner Ansicht auf den Vasen aus Pommer-
ellen das Oblongum in dem untern Theile der Dekorirung wohl den Grundriss des Grabes dar-
stellen solle, und es solle in der Reihenfolge der Figuren von unten nach oben ohne Zweifel
«las Unterirdische, das auf der Erde Lebende und das Planetarische, das Ueberirdische angedeu-
tet sein.
Hr. Bastian scbliesst sich der Ansicht des Hrn. Virchow an, dass nur aus einer grössern
Menge des Materials S( blässe gezogen werden dürfen, worauf die Uebereinstimmung an ganz ent-
fernten Gegenden gefundener Vasen beruhe. Sobald nicht specielle Anhaltspunkte für einen
Contakl 'lieber verschiedenen Völkerschaften vorhanden seien, müsse man stets aus Aehnlichkeit
in der Form ihrer Gefässe auf einen gleichen Ideengang schliessen. Aehnliche Formen be-
175
gegneten in Polynesien und Mexico , besonders aber in Peru , wo auffallender Weise eine Klasse
der Hausgötter auch Kanoben genannt werde. Für den hier gegebenen Fall sei die bereits
von dem Vortragenden angeregte Bemerkung festzuhalten , dass die sonst aus Etrurien und Ae-
gypten bekannten Formen sich auf beschränkter Localität am Ausgang einer alten Verkehrsstrasse
wiederfinden, die schon seit ältester Zeit betreten war Solche Knotenpunkte alter Handels-
verbindungen bieten stets schwierige Complicationen , bei denen man sich hüten muss sogleich
auf ethnologischen Zusammenhang zu schliessen. Reiche Handelsplätze bilden überall Anzie-
hungspunkte für Priester der verschiedensten Culte, die dort Filialen errichten für Colonien oder
Factoreien ihrer Landsleute oder vielleicht auch nur für die Kaufleute und Schiffer aus den-
selben, die dort vorübergehend verweilen. So zeigen die Häfen Vorder- und Hiuterindien's stets
eine bunte Sammlung aller möglichen Tempel und Kirchen, die Brahmanen werden selbst bei
den Petroleumquellen Baku's und Astrachan's getroffen. Schon Namen werden in solcher Weise
auf weitesten Kreuz- und Querwegen um hergetragen, wie viele Beispiele beweisen.
Der Vorsitzende legt folgende schriftliche Mitteilung des Hrn Prof. Göppert sen. in
Breslau vor.
Bemerkungen über das Vorkommen des Elen in Schlesien.
Wie ich aus der sehr interessanten Abhandlung des Hrn. Prof. Dr. Virchow über die
Pfahlbauten im nördlichen Deutschland ersehe, fehlt es in Pommern und vielleicht auch in
der Mark an begründeten Nachrichten über das Vorkommen des Elenthieres in historischer Zeit. .
Aus frühester Zeit liegt für Schlesien auch nur eine, aber sehr unzuverlässige Angabe vor.
Nach Friedrich Schmaus (Historisches Staats- und Heldenkabinet. Schlesien, 1649) hätte Schlesien
im 12ten Jahrhunderte ausser Litthauen damals den stärksten Elenwildstand gehabt. Boleslaw I. habe
1186 in einer zweitägigen, mit 1205 Treibern veranstalteten Jagd bei Oppeki nicht weniger als 860
Elenthiere erlegt. Jedoch ist es mir ebenso wenig wie Hrn. v. Havigwitz, der sich mit histori-
schen Untersuchungen über das Vorkommen des Elenthieres beschäftigte, gelungen, diese Schrift
zu verschaffen, von deren Existenz wir auch nur durch J. K. v. Train (Neues Taschenbuch für
Natur-, Forst- und Jagd-Freunde, von Schultes und Schultze 13 f. auf D. I. 1»53, Weimar 1S53
bei B. F. Voigt) Kunde erhielten. Unser überaus kundige Staatsarchivar Herr Prof. Dr. Grün-
hagen, den ich darüber befragte, bezweifelt die Wahrheit dieser Angaben. Er habe das histo-
rische Material soweit es Schlesien betrifft, bis zum Jahre 1250 ziemlich genau kennen gelernt
und nichts über das Vorkommen des Elenthieres darin gefunden, wohl aber zahlreiche Stellen
über das Vorkommen von Bibern.
Unter allen Umständen war das Andenken an einstige heimathliche Existenz des Elen in
Schlesien so erloschen, dass es selbst Schwenkfeld, der die erste Fauna Schlesiens 1603
schrieb, gar nicht einfällt, darauf zurückzukommen, sondern er sich nur begnügt, es zu nennen
und Ungarn, Litthauen und Preussen als seine Heimath zu bezeichnen, woher häufig Haut und
Klauen nach Schlesien gebracht wurden, welche letztere man damals, wie leider auch noch heut,
zu allerhand abergläubischen sympathischen Kuren gebrauchte.
Pastor Herrmann, der Verfasser der, zu ihrer Zeit geschätzten und heut noch in paläo
graphischer Hinsicht werthvollen Maslographie erwähnt in seiner Schrift : Ueber einen in Massel
gefundenen Elenthier Oels 1729, dass 1675 ein Elent in der Baron Bibra'schen Heide bei
Modlau, 4 Meilen nördlich von Liegnitz erlegt und auf der Tafel des letzten der Piasten, Her-
zog Georg von Brieg, am Michaelistage verspeist worden sei. Von 2 im Oelsnischen 1661 und
1663 erlegten Elch oder Elend berichtet Sinapius (Olsnographia , Leipzig 1707, S. 24). Die
Thiere erschienen dort überall als seltsame, ja unheimliche Wesen und gaben zu vielerlei Be-
fürchtungen und Ahnungen Veranlassung*), woraus wohl hervorgeht, dass es schon damals zu
den grössten Seltenheiten gehörte. Inzwischen werden noch in dem nächsten Jahrhundert drei
Fälle notirt, die wohl ebenfalls wie die vorigen als Einwanderer aus den Nachbarländern zu be-
*) „Vor dem Absterben des geliebten Herzog's Sylvius von Oels say Anno 1663 den 7. Ok-
tober ein Elend im Fürstenthume Oels gefällt und Tags darauf in die fürstliche Residenz ge-
bracht worden, von welchen an diesen Orten sonst unbekannten und seltsamen Thieren die
wenigsten etwas Gutes, sondern das darauf erfolgte Elend und Wehklagen ominirt hätten."
In Brieg war man ebenfalls über das plötzlich zum Vorscheine gekommene Thier erschrocken
und fand die Besorgnisse ganz gerechtfertigt, da 6 Wochen darauf der letzte Piast, die dama-
lige Hoffnung des Landes, schnell von den Blattern dahingerafft wurde.
176
trachten sind, nämlich 1725 bei Stein in der freien Standesherrschaft Wartenberg, dann 1743
den 25. September in Lampersdorf bei Oels, dessen Andenken der damalige Besitzer von Ko-
witz durch ein grosses Oelgemälde zu feiern suchte, welches heut noch im Schlosse vorhanden
ist; und. nach Mittheilungen des Hrn. v. Haugwitz zu Dralin im Lublinitzer Kreise 177C
(v. Haugwitz: Letzte Spuren des Vorkommens des Elen in Schlesien. Jagdzeit, von Albert
Hugo, 1864, S. 507). Im Anfange des vorigen Jahrhunderts, 1729, wurde auch ein vollständi-
ges, fossiles Elenthier 18— .»O F. tief im Weingarten bei Massel bei Trebnitz gefunden und von
dem Pastor zu Massel, wie oben erwähnt, beschrieben und abgebildet, von dem jedoch nichts
auf unsere Zeit gekommen ist. Einzelne Geweihreste fand ich 1827 in einer Mergelgrube zu
Wittgendorf bei Sprottau, dann später v. Prittwitz eines von bedeutender Grösse zu Cavallen
bei Trebnitz, welche ich 1828 beschrieben imd dem hiesigen anatomischen Kabinet übergeben
habe. In Galizien ist nach Prof. Dr Zawadsky (Fauna der Galizisch-ukrainischen Wirbelthiere)
Stuttgart 1840, S. 33 und Temple: Die ausgestorbenen Säugethiere in Galizien. Pesth 1869.
1760 das letzte Thier dieser Art geschossen worden. Dass es mir einst auch gelang, Knochen
des Rennthieres und Riesenhirsches - letztere in einer Mergelgrube zu Wirrwitz bei Breslau
— zu ermitteln, ist schon früher von Dr Mensel erwähnt worden.
Hr. Virchow bemerkt, dass auch er bei seinen Nachforschungen nach Friedrich Schmaus
in der Königlichen Bibliothek keinen Erfolg gehabt habe. Vielmehr hat sich herausgestellt,
dass Johann Jacob Schmaus das historische Staats- und Delden-Cabinet, Halle 1718—19 heraus-
gegeben habe. In den III Eröffnungen desselben sei es ihm jedoch unmöglich gewesen, irgend
ein Wort vom Elen zu finden, und es müsse daher wohl angenommen werden, dass der erwähnte
Hr. v. Train keine sehr lauteren Quellen gehabt habe. Auf alle Fälle sei es wünschenswerth,
die historischen Thatsachen über alle aussterbenden Jagdthiere zu sammeln, und die Gesellschaft
werde gewiss ähnliche Aufklärungen gern entgegennehmen. —
Herr Hart mann hielt einen Vortrag über die physische Beschaffenheit der Denkastämme
und erläuterte denselben durch Zeichnungen
Druck von Ciebr. Uu|jer (Th. (irimin) iu Berliu, Friedrichsstr 24.
Zeitschrift fiiT E UinoJo'g ic
Taf. JH.
MI ANWn ad nat Jith
A'erlac v\Yiesa:ndt>;Hempe] n.Bethji.
Zeil schritt für KtliiioJodii
Tai IV
20-
7/ k.Ue\ ii H fi jrat . lith.
/i'riii'. / //lcciunü' -Jlenipel m Berlin-
Zeitschrift f'ir Kthnulo^jp
Taf V
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WA.Wemad n&1 . l-ith
Verla-'fi v VnesaiidK- Hempäh Berlin.
■ ■
177
Zur Amazonen -Sage.
Bei dem Kriegszustande*) wechselnder Hegemonie, in welchem in
Afrika die in ihren Geheimbünden intriguirenden**) Geschlechter leben, ist eine
Trennung, wie sie besonders auf weiblicher Seite bei den Amazonen hervor-
treten würde, nichts so fernliegendes. "Auf den Antillen wurden die in die
Berge geflohenen Eingeborenen von den Caraiben als Cavres (Waldmen-
schen) bezeichnet, hiessen aber in der Weibersprache (also bei ihren eigenen
Frauen, die jetzt zur Vermählung mit den Eroberern gezwungen waren) Eyeri
oder Männer (als ihre früheren Männer). Eine Ermordung der Männer wie
unter Hypsipyle*s Leitung auf Lemnos (als thracische Sklavinnen bevorzugt
waren), könnte also eine Genossenschaft der Frauen an der Küste gebildet haben,
die (vielleicht früherer Knechtschaft eingedenk) sich nicht wieder so unmittel-
bar mit ihren vormaligen Männern vermählt hätten, sondern (bei der Not-
wendigkeit die Fortpflanzung aufrecht zu halten) sie nur zeitweis zugelassen
haben würden, wie die auf der Insel Mandanina (Martinique) die Canibales
(s. Petrus Martyr.). Die Frauenregimenter Dahomey's, die als vom König be-
günstigt, die Männer tyrannisiren, halten sich diesen gleich, und auch die
Amazonen Hinterindiens tragen keine Scheu sich neben ihnen nackt zu baden
(s. Game), da mit dem Gefühl untergeordneter Schwäche, das derSchaam wegfällt.
Die mit den Männern in den Krieg ziehenden Frauen müssen wie die der Cimbern
oder mehrere Indianerstämme Brasiliens***) zur Kriegsführung fertig sein, wiih-
*) In den von den Aegineten hei den Orgien der Göttinnen Auxenia und Damia eingeführ-
ten Chören wurden nur die Frauen, (nicht Männer) verspottet und ähnliche Gebräuche bostan
den (wieHerodot zusetzt) hei den Epidauriern und sonst. Den der Bon^Dea gefeierten C'-ereino
nieu durfte dagegen kein Mann beiwohnen. ^
••) Als Orpheus mit thrakischen Männern in einem Gebäude die Mysterien feierte, wurde cm
von den auflauernden Weibern, die sieh der Warten bemächtigt hatten, zerbackt Zurbestäu
digen Strafe und Erinnerung an die Ermordung Orpheus tättowirten die Thracier ihre Weiher
(nach Phanokles). Nach Arrian fährte Koni:: Phanokles hei den Thraciern die Polygamie ein.
***) Naeh der japanischen Encyclopaedie (Wa-kan-san-sai-dzon-ye) lag das Königreich der
Frauen (Nyo-nin-yok) im Osten von Pousang [s. de Rosny). Nach Mela zogen die Weiher der
Sarmuten, denen desshalb gleich nach der Geburt die rechte Brust ausgebrannt wurde, mit den
Mannern in den Krieg. Die Amazonen jenseits Albanien begatteten sieh periodisch mit Gar-
gaueern im Gebirge Ceraunia (s. Strabo).
Zeitschrift dir Ethnologie, Jahrgang Wu. 13
178
rem! daheim Zurückgelassene in fremde Gewalt fallen mögen, wie die der
Scythen, die bei deren Rückkehr befreit werden niussten. Das Reich der
Chorasmier, die das Joch der Perser abgeworfen hatten, erstreckte sich bis
zu den Grenzen von Colchis, uud dem Land der Amazonen, wohin König
Pharasmanes sich erbot, Alexander zu führen.
Unter den früh (schon vor der Zeit des Homer) Asien durchziehenden
Eroberern fand sich auch ein Volk, in dem (wie es häutig geschieht) die
Flauen am Kampfe Theil nahmen und vielleicht (in der Rivalität der Ge-
schlechter) eine zeitweise Oberhand über ihre Männer (wie es bei südafrika-
nischen »Stämmen vorkam) erhielten (unter einer der Königin'1) Gingha in Ma-
tiambo gleichenden Virago) und so Anlass zu der Sage von den Amazonen gaben,
die Ephesus, G'umae, Smyrna, Myrinae, Paphos (s. Strabo) gegründet. Mit
Herkules in Beziehung gesetzte Kriegszüge der Griechen bekämpften diese
(ihre Colonien molestirenden) Barbaren (s. Diodor) und Herodot erzählt, wie
die (wahrscheinlich nach Tödtung der Männer durch die Sieger) auf einem Schiff
fortgeführten Frauen die (ihrer kriegerischen Natur nicht gewärtige) Mannschaft
niedermachten und dann an die Küste Scythien's getrieben seien, wo sie mit
den Jünglingen der Scythen (unter Bewahrung einer Doppelsprache) ein ähn-
liches Verhältniss eingingen, wie umgekehrt (unter Hegemonie der Männer)
die Caraiben mit den Frauen der Antillen. Themiscyra**) am Thermodon
gilt für ihre alte Hauptstadt, und Hippoerates berichtet von den Sauromaten
am mäotischen Sumpf (die er in der allgemeinen Bezeichnung der Scythen
einbegreiffc), dass sie ihren Mädchen mit glühendem Kupferblech (wie sich auch
Scythen I) rannten) die rechte Brust vertrockneten (ähnlich sonstigen Entstel-
lungen an Lippen und Ohren) und ihnen nur nach Erlegung dreier Feinde
das Heirathen gestattete. Priamus unterstützte die Phrygier gegen die Ama-
zonen.
Wenn sich die Städtegründungen der Amazonen in Kleinasien besonders
auf äolischen Gebieten bewegen und vorwiegend an äolische Siedelungen an-
*) Von Derceto oder Atorgatis geboren, dehnte Semiramis (Gemahlin des Oannes) ihre
Eroberungen (nacb Ninus Tode) auf Indien aus (s. Ctesias). Von Saminuramit, Gemahlin des
Houlikhous III.. wird Babylon verschönert. In Egypten, wo (nach Herodot) die Frauen die
Geschäfte der Männer besorgten, führte Brinothris (Ba-neter-en) die weibliehe Thronfolge ein
MI. Dynast.). Die Ainazonenkönigin Myrina war (nach Diodor) Freundin des Horus, Sohn
der Isis.
") Nach Diodor wann die Gorgonen ein Weibervolk des westlichen Libyen (im Kampf mit
den Amazonen). Die eingeborenen Gorgonen wurden (im Gigantenkampf) von Pallas besiegt (s.
Euripidi Die Graeen waren die ungestalteten Töchter des Phorcys und der Ceto (Deno, Pem-
phredo, Enys). In Armenien lag die Landschaft Gorgodylene. Der Gorgonenkopf als ixonuokvxnov
Schreckbilder) diente zu Amuletten [yoQyöviop). Jam cohabitantibua Anglicis et Normannis et
alterutrum uxores ducentibus vel nubentibus, sie permixtae sunt nationes, ut vix discend possit
hodie (de liberis Impior) quis Anglicus, <juis Normannus sit genere, exceptis dumtoxat ascriptitiis,
qui villani dieuntur, quibus nun *it liberum obstantibus dominis suis a sui status conditione
discedere (unter Beinrieb. II.).
179
schlicssen, so folgt dies schon aus dem höheren Alter des äolischen Stammes,
indem damals, als Jonier und Dorier ihre ( 'olonien anlegten, die von Belle-
rophon und Herakles in Asien, von Theseus*) in Europa bekämpften Amazo-
nen schon aus der Geschichte in die Sage zurückgetreten waren.
Oie uralte Stadt Kyme in Aeolis leitete ihren Namen von der Amazone
Kyme her und ihre italienische Filiale Cumae rühmte sich ebenso Sitz der
Sibylle zu sein, wie (nach Strabo) Erythrae**) "der Knopupolis unter den io-
nischen Städten Kleinasiens. Nach der Eroberung von Ephesus, wo
(wie hei dem Cultus auf Paphos) die Naturgöttin in Uhren Tempel ein-
geführt wurde (wie Ares in den der Insel Arethias durch die Amazonenköni-
ginncn Otrere und Antiope) wurde die äolische Stadl Smyrna, die später zum
jonischen Bunde übertrat, durch die Amazone Smyrna erbaut, die äolische
Stadt Myrina durch die Amazone Myrina; in Annaea in Carien war die Ama-
zone Anaea begraben (Sieph. Byz.) und die aeolische. Stach" Oisthene lag
(nach Aeschylus) auf den gorgonäischen Feldern, so auch in Asien**') die in
Afrika mit den Amazonen kämpfenden Gorgoncn (die unter ihrer Königin
Medusa von Perseus besiegt wurden) belebend. Der Muttersitz der Amazonen
concentrirte sich indess am Thermodon, wo die Königin des von Weibern
beherrschten-]-, Volkes die Männer zu weibischenff, Arbeiten degradirtyff, und
Themiscyra am Pontus gebaut hatte, neben den Amazonenstädten Lycastia
und Chalybia in der Nähe der Geiilde des Doreas ( s. Pherecydes ). Die
Kriegszüge ihrer Tochter verbreiteten den Schrecken des Amazonen -Namens
bis nach Thracien, Herakles aber bezwang §, die stolze Hippolyta, und wenn
*) Die Amazonia gehörte zu der Atthis, ein Epos von den Gründungssagen Athens.
*•) Kaulonia (Colonie der Krotoniaten) von Kaulos, Sohn der Amazone Klete, gestiftet.
***) Vorher Bduui (s. Suidas). Battus war der afrikanische Königstitel der Griechen in Cy-
rene. Die Bottiaer bei Tharma stammten von Kreta. Zeus Bottiaeus ward in Pella verehrt.
Die phrygische Sibylle heisst Sarysis (Cassandra) oder Taraxandra, die sainisehe '/tim, die chal-
däische (Noah's; Sambethe. Von Teresias stammend hiess Manto 2.(ßv).Xa &triakri. Der Arkadier
Evander kam von der weissagenden Nymphe Themis (Carmenta oder Thespiadas) begleitet zu
Faunus in Italien (s. Dionys.) und angeblich nach dem neugegründeten Cnopus. Der Dienst des
Gottes Kneph in Memphis war ein geistiger, der vor dem mit den Aethiopiern eingeführten
Thierdienst zurücktreten musste.
t Nach Alex. Polyhistor erhielten die Hebräer ihre geschriebenen Gesetzi von ilei
genannten Frau. Nach ITerodot versahen die Frauen Aegyptens männliche Geschäfte, und nach
Nymphodorus hatte Sesostris die Männer an weibische Beschäftigungen gewöhnt (wie Cjrus die
Lydier), um Empörungen zu verhindern. Die Königinnen als mit einem Bart dargestellt, können
nicht häufig in ihrem Geschlecht auf den Monumenten erkannt werden. Unter den Thaten des
Thutmosis I. werden die Seefahrten nach Pun der gleichzeitig regierenden Königin beigelegt
(die in Aethiopien Caudake heisst). Diese Königin Misaphris von den Edlen aus Pim als Aten
(Sonnendiscus) angeredet, wurde durch Thutmosis III. auf vielen Monumenten ausgelöscht.
tt Bei der Zerstörung der Kschattriya durch Rama fanden -ich unter den Geretteten
Einige der Haihayas, die von der Knie als Finnen verborgen wurden (nach dem ßadjadharma).
ttt Hesiod klagt über das Unglück, das dem Menschen durch das Dasein des Weibes er-
wachse, das von Aphrodite mit Eitelkeit, von Hermes mit der Lüge ausgestattet.
§ Nach dem LIeirathscontract besassen in Egypten die Frauen Controle über ihre Männer
(s. Diodor.). Bei den Dichtern hiessen die Frauen Friedeweberinnen (Ettmüller).
13*
180
auch Penthiselea nach Troja Hülfe senden mochte, so erlag doch dann das
Weibervolk den Hellenen in der Schlacht am Thermodon, und die durch
Ermordung der Mannschaft befreiten Gefangenen, die auf ihren, Wind und
Wellen preisgegebenen Schiffen nach Kremnoi am Mäotis trieben, vermochten
nicht langer die Suprematie ihres Geschlechtes behaupten, sondern mussten
suh begnügen mit scythischen Jünglingen, das Mischvolk der Sauromaten zu
bilden, in dem die Amazonen zwar noch ihre kriegerischen Sitten bewahrten
(nach llerodot), aber doch nur an der Seite*) der Männer kämpften und sich
*) Der Häuptling der Mundrucus war in der Schlacht von seinen Frauen (wie Ainenhotep
1\. von Beinen Töchtern) umgeben, die die auf ihn geworfenen Geschosse auffingen. Nach Nice-
tas Choniata (1149) waren die Alamanen von Amazonen begleitet. Mta i)Y xtä v7tf£ygtTQ
:i«i> ixtlvaig xaS-ctneg ally uz Htvihaiktia r/ng yovaönovg ntc^uivo^ci tio. Korrat-aFain,
T'"-hTer des llogtehid von Kazwyn, schloss sich der Secte des 1850 hingerichteten Bab an, um
den Frauen (die sich auch unverschleiert zeigen durften) dieselben Rechte, wie den Männern
zu verschaffen. Sie wurde (nach Gobineau) verbrannt i iu Teheran). Der Brustpanzer von
kriegerischen Frauen wurde (nach Wagner) bei Schweidnitz gefunden, (ebenso bei Braunfels,
Cottbus;. Kart/en, Kobelwitz). In Quito nahmen die Frauen am Kampf gegen die Conquistadores
Theil. Unter den für Khalid ebn Said's Verstärkung durch Abu Bekr in Medina zusammen-
gezogenen Truppen fanden sich (nach Wakedi) die von Dhoul-Kela geführten Himyariten mit
ihren Frauen, .Niederlassung in den eroberten Ländern beabsichtigend. Scotorum natio uxo-
res proprias non habet (Hieron.) Die alte Kriegersecte Shiva's oder Rudra's ist die der tanzen-
den Pfauen, mit ihren Helmbüschen, wie seine Krieger heissen, oder der Kampfhähne (Kukku-
tas), die auch seinen amazonischen Genossinnen eignen (s. Eckstein). Im Cauca-Thal (in
Cali) kämpften die Weiber im Kriege mit (in Neu-Granada). Die kriegerischen Jungfrauen (oio-
pata) der Slaven brannten die rechte Brust. Libussa war von streitbaren Jungfrauen umgeben.
Lege etiam institutum esse, apud Etruscos ut communes sint mulieres, has vero diligentissimam
cm am habere corporis saepeque exerceri cum viris, saepe vero etiam inter se ipsas, nee enim turpe
illis haben nudas conspici (Timaeus). Bei den Goiatakazes (in Brasilien) oder Waitaynazes
kämpfen Männer und Frauen (s. Laet) b. Espir. Sant. Im Griinnismal wählen sich Frigg und
ihr Gemahl Odin jeder seine eigene Schützlinge, auf die sie Hlidscialf herabschwuren. Frea
(Wodan's Gattin) verschafft durch Verschiebung des Bettes den begünstigten Longobarden den
Sieg tnach Paul. Dial.) In der Oberpfalz trägt Woud den Gürtel des Herrschers (s. Schönwerth),
als Gatte der Freid (wie Thor den megingiord der Stärke). Maori (Jungfrau) entspricht (goth.)
mouve (mhd.) oder die Vette (nach Grimm). Every Buccaneer had his chosen and declared com-
panion, between whom property was in common and if one died, the survivor was the inheritor
of the whole. This was called by the French Matelotage" (s. Burney) Statt der Laren oder
Genien der Männer, hatten die Frauen weibliche Hausgötter oder Junonen Ante Deucalionis
tempus regem habuere Cercopem , quem, ut omnis antiquitas fabulosa est, biformem tradidere,
quia primns marem foeminae inatrimonio junxit (Justin.) Bei Hof erscheinen die Weiber, als
Gewaffnete (in Aracan), während ihre Männer das Haus halten (s. Ritter). Bei der Edda
treten die männlichen Formen Fro und Niord hervor, bei Tacitus ihre frühen weibliche Wand-
lungen als Kreya) mater deuin ut formae aprorum als Eber (Gullinborsti) und Nerthus (Yörd
der Erde.) Rerefrenorum (Rerefenorum) et Sirdifenorum (Geogr. Rav.) patriae homines, ut ait
Aithanarit, Gothorum philosophus, rupes montium habitant et per venationes, tarn viri , quam
mulieres vivere. Hitler sieht in den kriegerischen Frauen der Kurden (nach Hallabji) die Nach-
kommen der \on Atropate dum Alexander zugeführten Kriegerinnen. A(i§tav6i <5i iot?s ;"c'
MHiOTTOMtfilav 'Aaooijtovt Itytif x«9m 'A/uaCüves iaiQaJtvaav, EoqvjivXijs r,yovy.ivi\t avimv
Amazone (nach Ostrokerki) von am' a/.zon (kräftige Frau). Während Boleslaus vor Kiew lag,
ergaben sich die (wie sie sagten, von ihren Männern verlassenen) Frauen der Adligen, den
unter Olgierd aufgestandenen Bauern (in Polen), bis die aus dem Kriegslager zurückkehrenden
Adligen .sie besiegten (wie die Seythen ihre Knechte) und die zuchtlosen Frauen (nach Qallus)
mit jungen Hunden au der Brust ausgestellt wurden, auf des Königs Befehl.
181
( ach Mola) die Brust ausbrannten, wie die Scythinnen am Mäotie (nach
Hippocrates). Mit ihren Sitzen fallen zum Theil die Amazonen Alhaniens
zusammen, die (nach Strabo ) mit den benachbarten Gargarenern verkehrten
und Paläphatus meint, die Amazonen seien überhaupt unbärtig gewesen, mit
langen Gewiindern, die ein weibisches Aussehen gaben. Bei Polygamie und
wenn die Adligen, wie im feudalen Europa und Schottland (wenigstens
erstes ) Hecht) auf jedes Mädchen hatten, lag die Bildung der Frauen-Re-
•) In Polen dagegen berechtigte Nothziichtigung seitens des Grundherrn die Leibeigenen des
ganzen Dorfes zum Fortziehen, und dort galt der Satz uxor sequitur maritim Von der Erbfolge
waren dagegen Frauen ausgeschlossen, als meist in eine andere Sippe (ITerb oder Erbe) über-
tretend (8. Düppel). Dans plusieurs iles grecques, le bieii de la ligne feminine passe aux filles
sous le nom de dot, ä Lesbos entre autre (n. Giraud-Teulon). In Feudalverhältnissen verhin-
derte die mit dem Saalgut ursprünglich verknüpfte Heerespflicht die weibliche Nachfolge. One
of the peculiarities of the Mongolian (and American) race consists in the oecurrence of a femi-
niue aspect in both sexes. In the absence of any striking difference in stature and dress, the
stranger is often at a loss to distinguish inen from women (n. Pickering.). Theseus in langem
Gewände und geflochtenem Haupthaar von Trözen kommend, wurde von den Werkleuten in
Athen als Jungfrau verspottet, bis er seine Stärke bewies (n. Pausan). Wallace bezieht auf
die Uaupes die Sage der Amazonen wegen ihres weibischen Aussehens (mit einem Kamm im
gescheitelten Haar). Baraza kennt Amazonen bei den Tapacures. La face des homines (che/.
les Itonamas) esst effeininee. Die Stimme des Hermaphroditen, Katharine Iloinann ändert im
26. Jahr von weiblicher zur männlichen mit Halsbeschwerde (n. Friedreich). Muliebre nomen
Beghina seu Begutta, antiquius est virili Beghinus et Beghardus. Illud deeimo jam seculo in
Germania et Belgio adhibebatur, hujus nulluni vestigium ante duodeeimum saeeulum extat (Mos-
heim). Herodot erwähnt Frauengemeinschaft bei den Nasamonen und Ausäern, wie bei den
Massageten, Diodor bei den Troglodyten, Nicolaus Damascenus bei den Liburnern. La misere
et l'inconstance des hommes unterhalte les habitudes de libertinage de quelques tribus du Sahara
(s. Olivier). Die Vandalen haben in ganz Afrika die Schande der Weibermänner beseitigt und
die Gemeinschaft mit Dirnen aufgehoben (n. Salviau). Bei den Agathyrseu, bei "Völkern des
Kaukasus und Indien fand sich (n. Herodot) allgemeines Beiwohnen. Kaiser Fangti (G00 a. d.)
bildete sich eine berittene Leibwache aus tatarischen Weibern. Als die Awaren im Gefolge
der Slawen Constantinopel angriffen (G57 p. d.) fand man unter den Erschlagenen slavische Frauen,
(n. Niceph. ). Justin nennt die Amazonen als Frauen der Skythen. Der Parther (Parthi oder
Flüchtlinge im Skythischen) stammten (Pomp.) von den Asien als Eroberer durchziehenden Gothen
(unter König Tanausis, der den ägyptischen König Vesosis besiegt). Die während der Abwesen-
heit der Männer von einem Nachbarvolk angegriffenen Frauen der Gothen schlagen diese zurück
und erwählen sich zwei Fürstinnen, von denen Lampeto das Land hütet, wogegen Marpesia er-
obernd nach Asien zieht (n. Jornandes). Nach Orosius (bei Jornandes) waren die nunneu das
wildeste der Völker. Hunnen (Ammian). Ovitioi (n. Eratorth), Oriioi ( n. Herod. ). Bei
den hunnischen Kuturguren folgten die Frauen in den Krieg (n. Procop.). As enterprising and
indefatigable as their inen, the Koordish women are always on the alert, ever ready to
jump on the saddle (s. Meilingen). An den Kämpfen Ragnar Lodbroks (Sohn des Sigurd
Reng) mit Pro nahm die Schildjungfrau lladgerd von Gaulthal in Mänuerkleiduug Theil. at
yvi'aixff Innä^OViai lt y.n'i iSuitravai xcc\ axoni^ovai anv iwr In Jim V, xett uu/oricci joToi
nokifilotoi, ?<uf av nagütvoi läoi (Hippocr.) Columbus fand auf Guadalupe die Frauen der
Caraiben in Abwesenheit der Männer die Insel vertheidigend. Huna skialdmeyiar (Atlaquida in
Groenlenzka). Bei den Triballern bildeten die Frauen die Nachhut (Damasc ) Scylas erwähnt
Gynaicocratie bei den Liburnern, die sich nach Belieben die (freien) Männer zulegen und mit
Sklaven oder Nachbarn mischen. Nicolaus Damascenus erwähnt kriegerische Frauen bei den
(scythischen) Galactophagen.' Die Sauromaten gehorchten ihren Frauen, als Königinnen.
Die Alam. und Bair Gesetze geben den Weibern im Vergleich mit den Männern doppelte Busse
182
gimenter (wie iu Siam und Dahomey) nulie, um den Schutz des Palastes er-
gebenen Händen anzuvertrauen.
und Wcrgeld. Nach dem alten sächsischen Gesetz hat die Jungfrau doppelte, die enixa ein-
fache lius.se. Im Sachsenspiegel wird der verheiratheten Frau eine halbe Busse und Wergeid
ihres Mannes, der Jungfrau eine halbe Busse und Wergeid, nach dem sie geboren, zugesprochen.
Bei den Westgothen ist die Busse zu Ungunsten der Frau. Die Gesetze der Kalmükken bevor-
zugen die Frauen (Pallas). Das GO. Jahr bildet (im Sachsenspiegel) den Zeitpunkt, wo der Mann
über seine Tage gekommen ist. Die Hinzufügung der väterlichen zu der mütterlichen Geburt hat
die Bedeutung ^Icn 'söhn aus einem unilateralis zum bilateralis, d h. zum echten Sprössling
eines bestimmten Vaters zu erheben. Das Mittel, dessen man sich zu diesem Zwecke bedient,
isl die Fiction (wie bei den Tibarenern), kraft welcher der Vater als zweite Mutter gedacht und
dargestellt wird (s. Bachofen), wie bei dem Kindbett des caraibischen Vaters, oit^ovmt noQtt Qoi^ly
ot evyevtii nalätg, *«) naga /'e'iuig ot äovkoi ( Artemidor). In ihrer Beschränkung auf die
Frauen erscheint die Tättowirung als ein Ausdruck des mütterlichen Adels, als avv&i\utt u)g
tvytvihii (cf. Chrysostomos). Im Dorfe Mbourouma bebauten die Männer (gleich den Frauen)
das Feld (Livingstone). Die etruskischen Sepulcralinschriften zeigen häufiger den Namen der
Mutter, als den des Vaters (s. Krause). Wenn ein Feldherr, der vom Fürsten aus den Xatrya
beherrschten Maharashtra oder Maliratten eine Schlacht verloren hatte, wurde er (cf. Hiouenthsang)
weiblich gekleidet In Malabar erwirbt sich Eigenthum nur die weibliche Linie (makkal santan).
Im Vertrage mit Hannibal wurde ausgemacht, dass Klagen der Iberer von den carthagrischen
Beamten, Klagen der Carthager von den Frauen der Iberer entschieden wurden. Nach Hageck
18 a. d.) zogeu in Böhmen eine Menge alter weissagender Weiber umher, (Dojka oder Säug-
amme genannt). Zlota Baba (goldene Amme) ist Lebensmutter der Slawen (Schwenck). Eporium
nannten dieSabiner das weibliche Saatfeld, den y.r,noi, woher spurii, die Gesäeten, von antiQta
(nach Plutarch;. Indem das Priucip des Lebens in der Verwundung (von der der Erde durch die
Ptlugscha.ir) liegt, führt Amor den Pfeil (s. Backofen). Scythius heisst (b. Servius; das erste
Pferd, das (auf Poseidon"s Gebot) aus der Erde hervorspringt. Mit dem alten Herkommen der
Erinnyen, stürzt der junge Gott Apollo das Mutterrecht (b. Aeschylus), indem Athene, als ohne
Mutter geboren, für Orestes stimmt. Die Kreter sagten ur\iod (Mutterland) statt naiyts das
Vaterland (nach Plut.). Als Cecrops abstimmen Hess, siegten die Frauen, deren Eine mehr war,
über die Männer, und deshalb Athene über Poseidon, der gesühnt werden musste, indem mau
den Frauen das Stimmrecht entzog (nach Varro). Den Böotiern wurde in Dodona durch Män-
ner geweissagt, als sie die Priesterin, die ihnen (aus Freundschaft für die Pelasger) befohlen,
gottlos zu handeln, verbrannt (nach Ephoros). Die Aethiopier ehrten besonders ihre Schwestern (Nie.
Dam.). Diodor erwähnt die Nachahmung des weiblichen Geburtsactes (als Adoptionsformel), bei
den Barbaren Der von der Mutter 'llga Geborene hiess 'lIo«xlTJi. Dionysos wird jlt/x>)iiog ge-
nannt, weil er zweimal zur Welt kam, und nicht nur von der Mutter, sondern später auch vom
\ ater geboren wurde (Bachofen). Der Gott, nach seiner ersten Erscheinung einseitiger Mutter-
sohn, wird durch den Uebergang auf den Vater, zum thtf vis. Das makedonische Königshaus
(in Egypten) erblickte in dem Gott Dionysos), mit dessen Symbolen geschmückt, Alexander der
Welt erschienen war, seine Archegeten (s. Backofen). Dionysische Symbole erscheinen auf den
Denkmalen der Lagiden-Zeit und aus Indien. La chevre Amalthea, la nourrice de Jupiter, repre-
sentail la force nutritive, et son lait etait la pluie bien faisante, de meme que sa peau, l'Egide,
figurait le nuage orageux que secoue Jupiter pluvius pour en faire jailler les eaux fecondantes
(-. Pictet) (im Plu der Beschunen). Erculus se ent (Heracles gigas) und Apollinis (Apollo) werden
neben Thor und Eooöen in angelsächsischen Homilien als falsche Götter aufgeführt. Nach den
Caraiben isl der Schöpfer der Männer grösser, als der der Frauen. Le pays des femmes oriental
B'appelle Seu-fa-la-niu-ko-scbu-lo. II est habite par une tribu des Khiang ou Tubetains. Sur
les bords de la mer occidentale (Gaspienne), il y a egalement, des femmes qui gouvernent en roi
neli Jen Chroniken der Soui und Thang). Im Westen der Berge Throung-ling liegt das west-
liche Königreich der Frauen (8. Klaproth). Die berittenen Frauen, die Atropates dem Alexander
zuführte, «raren (nach Arrian) die im Reiten geübten Frauen barbarischer Völker, nach Art der
Amazonen ausgerüstet. Nach der Geschichte von Ivashmir (bei Wilson) zog der König Salita-
183
Der provencalische Frauendienst, wie er in den Liedern des Troubadours
hervortritt, mag sich an die gynaikokratischen Verhältnisse des alten Eberien
ditya nach der Eroberung von Pradjotech [Gohati in Assam) gegen Striradjyan, da K d
der Frauen. Bei den Issedouen genoss die Frau gleiche Rechte mit dem Mann (Berodot). Am
Flusse Puassa (Arm des Oyapoke) wohnten (nach Condamine) die langohrigen Indianer. Nach
Mahanarwa (Cazik der Caraiben) besiu'hcn die Felsen am Wara-Fluss bewolmenden Amazonen
den Caraibeu8tamm der Teyrous in Cayenne. Nach dem Arawak erlauben die Amazonen oder
Wirisamoca den Besuch der Männer nur einmal jährlich. Nach Peter Martyr kämpft
Onadelupe) die Frauen neben den Männern Bei der Neger-Revolution (1823) begleiteten die
Flauen (bei den Caraiben) die Männer in den Krieg. Bei den Ixamaten (an der Mündui
Tanais) easdem artes feminae, quas viri, exercent, adeo ut ne militia quidem vacenl (lieb).
Maeotfdae, gynecocratouineni (regna Amazonum). Schiltherger spricht von einer heidnischen
t'n>\\en. die vinv tusent junekfrowen hat! (bei den Edigi) und das sie und ir frowen an den -tut
ritten und schlissen Yachten mit dein handbogen als die man. Zarina oder (ef. NicoL Dam.)
Zarinaea führte die mit den Parthern verbundenen Scythen gegen die Meder (s. Ctesias) nach
dem Tode ihres Gatten Marmareus (in Roxanaee). Sardanapalus, Mr\dtct ynv>] ßtaiXüog (König
der als Meder bezeichneten Assyrer) verbrannte (von den als Perser bezeichneten Medern angegrif-
fen) in seinem durch Blitz angezündeten Pallast (s. Xenophon). Die grünen Amazonensteine
(Lapis nephriticus (oder Piedras hijadas) die von den Caraiben (nach Barrere) höher, als Gold
geschätzt werden, stimmen (nach Clavigero) wie die (durch Sahagan) hei der Eroberung Mexico's
unter den Analmacs entdeckten (als Quetzalitzli oder Xouxouque tecpatl) nberein. Die Amazonen
(Coignantese couima oder Aikeambenanos) wurden (vom Gili) an den Cuchivero versetzt. Die Ca-
riben bezeichneten die Amazonen als Wori-samacos oder Frauen ohne Ehemänner (nach Schom-
burgk). Die Tapuyos assen einen Theil ihrer verstorbenen Angehörigen, als das letzte Zeichen der
Anhänglichkeit (s. Brett). Die Spanier unter Almagro erfuhren von den Einwohnern in Chili,
dass das nur von Frauen bewohnte Land zwischen zwei Flüssen durch die Königin Gabay milla
(Goldhimmel) regiert werde (Zarate). Als die Vorfahren der Tscheikessen noch am Sehwarzen
Meere wohnten, kämpften sie mit dem Weibervolk der Kmmetsch, bis auf Vorschlag ihres An-
führers Thulme ein Zusammenleben vereinbart wurde (Reineggs). Nordwestlich von Fiji lau die
Insel der unsterblichen Frauen. L'ile des femmes (isola delle Femiue) s'appellait Fimi (Caussin).
Nach Pausanias war es den Frauen untersagt, zur Zeit der Olympien den Alpheos zn überschrei-
ten und der Feier zuzusehen. Ungehorsame wurden vom tupäischen Fels gestürzt (aber das
Verbot trifft nur die verheirateten Frauen, nicht die Mädchen). Als die rhodische Callipateira
oder Pherenike sich verkleidet unter die Gymnasten gemischt, um ihren Sohn Pisidorus, als Sie-
ger, zu bewillkommenen, wurde verordnet, dass fernerhin auch die Gymnasten nackt bei den Spie-
len erscheinen sollten. Die Nachstellungen des römischen Befehlshaber in Ghäroneia b
Dämon zum Räuberleben Sappho bemühte sich um die Liebe der Weiber, Socrates pflegte die
der Männer und Beide gestanden, dass sie Viele liebten und von allen Schönen gefesselt wür-
den (s. Maximus Tyrius). Das Haupt des in Thracien getödteten Orpheus wird auf Lesbos be-
stattet. Kein Mann durfte die von samnitischen Frauen, die durch Bachus begeistert wurden,
bewohnte Insel vor der Mündung des Ligeris betreten. Les Saintes Femmes (Sanctos Bennos,
Bennos Sacrados) predisent l'avenir (XVIII. Jahrh.) dans los Pyrenees (Fondeville-Sabatut). Auf
der Inschrift v. Metz ist Antistita die Vorsteherin der Druidinnen (Fröret). Bei den Nasamonen
wohnten die Eingeladenen der Braut bei gegen Geschenke (Herodot). Bei den Balearen folgte
der Bräutigam den Eingeladenen (Diod). Ebenso auf Cuba. In der Moldau muss die Braut
rohe Scherze anhören. Bei den Machlyern (in Libyen) verband sich das Mädchen beim FYst
einem der Gäste (Nie. Dam). Gyptis (Nann's Tochter) wählte den phoeäischen WiMngerhäupt-
ling beim Fest (nach nordischer Sitte). Bei den libyschen Byäem herrscht ein Mann über las
männliche, eine Frau über das weibliche Geschlecht. Durch Orpheus wird dem mächtigsten der
Triebe eine neue, edlere Richtung gegeben Auf die S^Qtvte ?p<ot*s gründete der apollinische
Prophet die Erhebung des Menschengeschlechts aus dem Sumpfe hetärischer Sinnenlust zu einer
höheren Stufe des Daseins (wahrend den thracischen Frauen zur Strafe für die Ermordung die
Stigmata des Tättowirens auferlegt werden, indem was früher ein Zeichen der tvytvtia war, in
184
anschliessen, die sich am längsten in Navarra erhielten, und die bei den Ger-
manen von Tacitus bezeugte Achtung der Frauen führte dann jenseits der
Sitonen zur Aufstellung eines Frauenreichs (das auch böhmische Sagen in
einheimischer Localisirung kennen), wogegen in Hellas eine unnatürliche Zu-
rücksetzung des weiblichen Geschlechts, mit Bevorzugung des andern, ein-
trat. Durch strenge Gesetze wurde der weibliche Verkehr*) in Jomsburg
und den Wikinger Gesetzen geregelt, wie aus den Sagas hervorgeht.
Schande verwandelt wird, wie bei den Sklaven der Geten). Als Beförderung der Tugend wurde
der männliche Eros von den Alten, insbesondere den Aeolern und Dorern in ihr öffentliches
Leben aufgenommen (nach Plutarch) und Sokrates knüpfte an die «öotj'f ? fQMes die erste Er-
hebung des Menschen an, an ihnen die Befreiungen der Herrschaft, dos Stoffes, den Uebergang
von dein Leibe zur Seele erkennend, in welchem sich die Liebe über die geschlechtlichen Triebe
erhebt (Bachofen). Die birmanische Königin lässt die Männer tättowiren, um die unnatür-
liche Lust zu unterdrücken. Der Häuptling von Tonga vergass den Sinn des Tättowirens und
Hess Männer statt Frauen tättowiren. Unter Kaiser Wuti (25 — 57 p. d.), der die von einer
Amazonin geleitete Revolution in Cochinchina unterdrückte, liefen die ersten SchifTr aus Indien
in Kanton ein (n. Kruse). "Eihvog de ywav/.Hov ctl ' Aunüvsg noog ko Ghj/luöJoi'ti, tf/ö x<*i
eino fir]i^ou)v tytvtukoyovvTo, xndujitQ 'jLd&Htvog lampf?. Nach Combes lebten bei den Cu-
banos auf Mindanao Männer in Weiberkleidern, aber geehrt und keusch, von weibischem An-
sehen. Die Uritaos auf den Marianen lebten (nach Le Gobien) in Zügellosigkeit mit den Mäd-
chen zusammen. Bei den Juruna macht der Vater von seinem Schwiegersohn gewisse Proben
von Muth oder Geschicklichkeit zur Bedingung, entweder muss eine Unze oder Tapir verschallt,
der Zahn des erlegten Feindes heimgebracht werden, oder es wurde z. B. (in Tavaquara) ver-
langt, während des Tanzen eine Cigarre zu verfertigen und zum Rauchen hinzureichen (bemerkt
Prinz Adslbert bei seiner Reise nach Brasilien). Die Scythen wurden bei Plünderung des Tem-
pel von Askalon mit der Krankheit der Philistaer geschlagen, wie oft aphrodisische Heiligthümer
besuchenden Pilger mit der syphilitischen. Die maltesische Colonie Achulla (n. Byzacium) heisst
Kir. Mulieres Iberorum agros colunt, et quum peperere suo loco viros decumbere jubent , iis
ministrant (Posidonius). Pigrizia degli uomini, operosita delle donne (Antinori) b. d. Nyam-Nyam.
*) Die Saporoger oder Wasserfall - Kosaken entführten aus Kleinrussland, Polen, den türki-
schen und tatarischen Ländern Knaben, Weiber und Mädchen Die letzteren behielten sie nur
bis zu ihrer Niederkunft in ihren Winterlagern, war das geborene Kind ein Knabe, so behielten
sie es bei sich, wenn ein Mädchen, so schickten sie es zusammen mit der Mutter in die Hei-
math [zurück (nach Engel). Als Myrina's Amazonen Cerna eroberten, tödteten sie die waffen-
fähigen Männer, Frauen und Kinder in die Gefangenschaft führend (Diod ). Der allein zurück-
kehrende Athener wurde von den Frauen mit ihren Spangen erstochen. No podian compre-
hender (los Carives) como los Espanoles obedecian las ordenes de zu gefe ni como se sujeta un
hombre mas fuerte ä un otro mas flaco o como un solo podia mandar ä muchos, aunque sus
mugeres como sexo debil, estaban sometidas ä sus maridos como unas verdaderas esclavas (Val-
ladanes de Sotomayor). Die Tecpaneker zwingen die mexicanischen Gesandten die vom König Maxt-
laton geschenkten Frauenkleider anzuziehen, um sie zu insultiren (wie bei den Delawaren). Der
Aphroditentempel der Höhen (uy.<mm) auf der brustförrnigen (««arof/J^s) Spitze des cyprischen
Olympus durfte von Frauen nicht betreten werden. Nur Männer (aus den drei oberen Kasten)
können die Vedas studiren (nach Madhava). Als die Geten von den Bastarnen besiegt waren,
befahl König üroles, dass sie ihren Frauen dienen (und verkehrt im Bette schlafen) sollten
(Justin). Some females (of the Nut) are always set apart for regulär marriage. They are not
taughl Performances of any kind , but their duty to the tribs is to bear as many children as
possible (Kay). Pour se debarasser plus aisement des maitresses, qu'il repudiait [Dahoraey],
Miloch avait interdit ä tous les jeunes gens de sa garde de recevoir leur femmes d'une autre
main que de la sienne, l'oukase de 1834 sur ce sujet est formel (n. Robert). VVhen Prajapati,
Buddha's, foster-mother, asked (with the other princesses) permission to enter the priesthood,
185
Von den verschiedenen Berichten über die Amazonen I stehen die die
sauromatischen betreffenden, der historischen Zeit am nächsten and sie brau-
chen auch, der ganzen Passung nach in keiner \\ eise bezweifeil zu werden,
da Alles das von ihnen Erzählte sich noch heutzutage bei asiatischen Rei-
tervölkern findet und immer linden wird. Die Bilanz der durch das Recht
des Stärkeren begründeten Superiori tat schwankt zwischen beiden Geschlech-
tern in der Reihe des Thierreiclies. Bei den Vögeln liegt das schwerere
Gewicht meist auf der Seite des weiblichen, bei den Säugethieren gewöhnlich
beim männlichen, und so beim Menschen, doch ist im Ganzen ihr in der
Natur selbst begründete Unterschied nur ein geringer, so dass man hei nicht
allzugenauer Abwägung ein Gleichgewicht annehmen kann. Beim ansäss
Leben, wird durch den zunehmenden Luxus und die Verfeinerung der Sitten
allerdings das weibliche Geschlecht vornehmlich betroffen, und dadurch rasch
in solcher Weise verändert, dass es fortan unfähig ist, die Mehrzahl der
männlichen Beschäftigungen*^ zu versehen, im Nomadenleben dagegen ver-
Buddha rebuked thein, saying: ,Women do not try lo enter my immaculate priesthood"*, but rc-
ceived thein afterwards. Nach Tansanias war der Tempel des Apollo Ama/.onios, sowie der Diana
i.in Pyrriehos) durch die vom Thermodon stammenden Frauen gegründet.
*) Unter den Eigenthiimliehkeiten , die Aegypten zur verkehrten Well machten, erwähnt
Herodot, dass dort abwärts statt aufwärts geweht wird, und Männer Lasten auf den Kopf, Krauen
dagegen auf den Schultern tragen Gewöhnlich findet sich allerdings das Gegentheil, dass näm
lieh in Gegenden, wo Frauen harte Arbeit obliegt, die Gewohnheit vorwiegt, auf dem Kopf zu
tragen, als der weiblichen Natur mehr entsprechend. .Schultern und Itückeu sind bei Frauen
der Urliste wegen empfindlicher als bei Männern, weshalb sie auch in dm Zeiten. wo das weile
liehe Geschlecht noch körperlichen Züchtigungen unterworfen war, verschont wurden, einei alten
Regel gemäss, die auch von den Beichtvätern in der Application der diseiplina sub deorsura be-
leuchtet wurde. König Pheron (Phuron oder Menephtah) oder (b. i'linins' Neucoreus, der Pharaoh
des Exodus (n. Lepsius), der seinen Speer in den geschwollenen Fluss schleudernd , erblindete,
liess die Frauen, mit deren Urin er sich vergeblich gewaschen, bei Erythrabolus (Roth-Erde) ver-
brennen Abraham musste Sarah und Alexander (Paris) Helena abtreten (in Egypten).
**) Die Weiber der Guaycurus pflegen in der Jugend die Nachkommenschaft künstlich ab-
zutreiben, um leichter die Strapazen des Reiterlebens zu ertragen. Erst wenn ein Alter von
25 Jahren erreicht ist, üben sie die Mutterpflichten (s v. Martius). Dohrizhoffer erklärt die
schweren Geburten bei Reitervölkern aus einer Missbildung und Verhärtung des Steissbeins.
Nach Castelnau schlichten die Frauen der Guaycurus im geschlossenen Kreise der Horde ihre
Streitigkeiten mit Faustkämpfen. Jenseits des Weiberlandes (b. Ad. Brem.) Wilzi, Mini, Lami,
Scuti et Turci habitare feruntur usque ad Ruzziam (Tracia oder Tricatia über der Düna). Im
Dolmen zu Gierum wurde neben einem weiblichen Skelette eine Axt gefunden. I >ie Frauen, die
sich in dorischen Röcken brüsteten (tßgvaCov), halb nackt und zur leichten Bewegung ueschickt,
wurden von den Athenern in lange Gewänder (unter Beraubung der Spangen) gehüllt, nach der
aeginetischen Niederlage (n. Duris). Die Amazonenkönigin am Thermodon wies (n. Diodor den
Männern Wollarbeit zu. In Aegypten sitzen die .Männer am Webestuhl n. Sophokles), während
die Weiber dranssen schaffen. Ze Kiinis (Tunis) erbent auch die wib, und nichl die mau. In
den Streitigkeiten der Kurden stellen die Frauen den Frieden her. Die Tovan in Centralasien
folgen in Allem den Frauen. Zinunouttim itu; j i raj-i nt'iviu nn'&ovito w; ihnnüiyais
(Nie. Dam.) Nach Strabo wurden nördlich von Caucasus Amazonen gesestzi (n. Theophanes am
Merraadalis gekannt). Die Horiti wohnen neben Maegdhaland (n. Alfred;. Paul Diacs hat ge-
hört usque hodie in intitnis Germaniae finibus ^entern harum existere femiuarum Nach Scylax
hatten die Frauen grossen Einfluss bei den Illyriern. Circa haec litora Baltici maris ferunt
186
richten beide Geschlechter ziemlich dieselben Arbeiten und sind an gleiche
Obliegenheiten gewöhnt, wenn nicht aus anderer Quelle geflossene Bestim-
mungen, wie bei den Mohamedanern, darin eine Aenderung herbeirufen. Bei
den Hirtenvölkern ziehen die Frauen mit den Heerden umher, wie die Män-
ner, und sind sie bei der Weiterwanderung in gleicher Weise behülflich, bei
Stämmen, die an Krieg und Kaub gewöhnt sind, die stets mit den Waffen
in der Hand gegen ihre Feinde gerüstet sein müssen, werden die Frauen
ebensowohl in den Kampf ziehen, wie die Männer, und schon durch die Noth
gezwungen an ihrer Seite kämpfen, wie die Gallierinnen mit ihren weissen
Armen (nach Amin. Marc.) an der Seite der Ehehälften dreinschlugen. Bei
kriegerischen Stämmen findet sich oft die Bestimmung, dass erst eine blutige
Waffenthat vollführt sein muss, ehe der Jüngling in die Reihen der Männer
eintreten darf. Die Germauen konnten allein dann ihr Haar scheeren und dem
Kuki ist die Heirath erst erlaubt, nachdem er seinen pflichtmässigen Men-
schenkopf eingeliefert hat. Sind also von einem Volk beide Geschlechter gleich-
massig zum Kriege geschickt, so mag dieselbe Bestimmung auch beide betreffeu,
und llerodot's Erzählung, dass bei den Sauromaten keine Jungfrau zur Ver-
mählung zugelassen werde, die nicht einen Gegner getödtet, hat um so we-
niger etwas überraschendes, da sich ganz analoge Bestimmungen unter den
Kiinak linden, bei denen heutzutage einem Mädchen der Ehestand verschlossen
ist, ehe sie nicht eine tapfere That ausgeübt hat. Auch von den Frauen der
Hazzarah, bemerkt Ferrier, dass sie ebenso verwegen seien, wie die Männer
und stets in den vordersten Reihen kämpften. Nach den chinesischen Ge-
schichtsbüchern der Tang -Dynastie nahmen die Frauen von Kustana oder
Khotan an der Gesellschaft der Männer Theil und ritten, wie diese auf Pfer-
den oder auf Kameelen. Bei den Molathemiah der Morabethun (Almoraviden)
soll der Gebrauch des Schleiers oder Letham durch Abdallah Ben Bassin
eingeführt sein, in Folge einer Schlacht, an der die Frauen mit ihrem nach
gewöhnlicher Weise verdecktem Gesicht theilnahmen und die Männer darin
nachgeahmt hätten, damit der Feind die Geschlechter nicht zu unterscheiden
vermöge (ähnlich der von Longobarden gegen Vandalen verwandten List).
Bei Völkern, bei denen beide Geschlechter in solcher Weise auf gleichem
esse Amazonas, quod nunc terra feminarum dicitur (Ad. Brem ) Die Königin Mancochisane
('fochtet d( - Sebituane) wollte sich alle Männer ihres Stammes zueignen (n Livingstone). In
Morauma ha1 der Bräutigam der Schwiegermutter zu dienen. Die (1700) Inseln Wakwak sollen
vou einer Frau beherrscht Bein. Musa ben elmubarek behauptet, er sei zu ihr herangetreten
und habe sie auf einem Throne sitzend gesehen, ganz nackt, mit einer goldenen Krone auf dem
B.iupte, und uehen ihr 4000 Sklavinnen, lauter nackte Jungfrauen (n. Kazwini). Unter der An-
fiihrung einer Frau Gaichonarioski im nördlichen Amerika umherirrend, wurden die Iroquesischen
Agniei nach der Lage von Quebec geführt, begaben sich aber von dort (als zu kalter und zu
i nach Agnie, wo Ackerbau möglich war (Le F.eau). The eondition of tlie fe-
among the Nehanrries (ruled by a woman) stand much higher, than among the American
Indians generally (n. [sbister). Im Kali -Alter werden (n. d Vishnu-Purana) die Kanakas im
Amazonenlande (Stri-rajya) herrschen. Im Amazonenkampf auf der Volcentischen Cysta finden
sich ge/ackle .Schwerter.
187
Niveau standen, mussten an sich die Frauen ebenso gut ein Erbrecht auf <lie
Krone Iniben, wie die Männer, und dasjenige, was die Berichte der Alten
über Gynaikokokratien und Weiberregimenter ofi so eigenthümlich färbt,
scheint sich auf einen Mangel des salischen Gesetzes zu reduciren, das später
überall zur Gültigkeit gelangl sein wird, da die Semiramis der Assyrier, die
Zarina der Saker, die Tomyris der Massag ten, die Thalestris Hyrcaniens
u. s. w, in historischen Zeiten mein- und mehr verschwinden. Kami weibliche
Nachfolge statt, wie sie Binothris oder Ba-neter-au in Aegypten einführte
unter der II. Dyn.,*) so war es natürlich, dass eine Königin auf dem Throne
schon an sich die Aufmerksamkeit (wie jetzt Englands Victoria bei ihren asi-
tischen Vasallen und Verbündeten) auf siel; zog, bei allen umwohnenden Völ-
kern, die das bei ihnen vielleicht verachtete Frauengeschleclit solcher Aus-
zeichnung unfähig hielten, und war jene Königin also thatkräftig und unter-
nehmend, so musste alles von ihr Vollführte mit übertriebenen Farben aus-
gemalt und rasch nach ihrem Tode liesige Dimensionen annehmen (gleich
der Kaiserin Jingu, die unter den Mikado's als Mutter des Kriegsgottes dei-
licirt wurde). Die früher weitere Verbreitung des Mutterrechtes**) zeiiit sich
in den bei Locrern, bei Lydiern und sonst erhaltenen tti sten desselben, und
lehrreich ist die hellenische Mythe der Atalanta, die die Uebergaugsstufe zu
markiren seheint, indem schon solche Antipathie gegen Gleichstellung der
Frauen eingetreten ist, dass mit Ausnahme des ritterlichen Meleager die übri-
gen Helden Bedenken tragen, die mit allen Eigenschaften einer tapferen Ama-
zone ausgerüstete Jungfrau bei der Eberjagd zuzulassen und die Sohne des
Thestius (nach Apollodor) die Vonechte ihres Geschlechtes für genügend er-
achten, um den Preis für sich in Anspruch zu nehmen.
Die in Tibet aus der grösseren Zahl geborenen Knaben erklärte Polyan-
drie (wie sie sich in Cochin bei den Nairs findet), erwähnt Strabo bei den
Medern, wo die Frauen dahin strebten, möglichst viele*'*) Männer zu haben
wo möglich fünf (also die Pancha-Pandu), wogegen bei den Bergvolkern der
*) Auf den Hieroglyphen finden sich Titel, wie die göttliche Gattin (des Gottes Gattin) oder
die Mutter des Gottes. Im Tempel zu Theben empfing, wie in dem von Patara in Lycien und
dem Belustempel Babylons, eine eingeschlossene Frau den Besuch des Gottes (nach Herodot)j
so dass es an Gottessöhnen nicht mangeln konnte.
*") Die epizephy rischen Leerer rechneten den Adel von mütterlicher Seite. Die Lycier nann-
ten sich von der Mutter her. Die zur Zeit des Crösus erhaltene Sage von Atys, dessentwegen
die Watren aus den Gemächern der Männer in die der Frauen entfernt seien, deute auf frü-
heren Gebrauch durch die letzteren. Die Mysterien des Osiris waren durch die Töchter des Ha-
naus in Griechenland eingeführt (s. Herodot). Wie Amenhotep IV. ist Danaus von seinen Töch-
tern begleitet, und die in Argos Wassersuehende schiesst auf den Satyr einen Pfeil ab. Als (nach
syrischer Sage) böse Geister den Wald von Mabug unsicher machten, sandten die Priester die
Simi (Iladad's Tochter), um durch Ausgüsse von .Meerwasser die bösen Geister und dir Brunnen
k/.u bannen.
***) Bei den Gindanen (in Afrika), war es ein Stolz der Weiber von vielen Männern beschla-
fen zu sein, und trugen sie zum Zeichen jeder neuen Begattung eine., Riemen um das Bein (He-
rodot). Zur Deisidämonie (eine abergläubige Scheu vor dämonischen Mähten, von denen man
keine bestimmte Vorstellung hatte) kam zur Zeit der Perserkriege die Magie nach Griechenland
188
König verpflichtet gewesen, fönf Frauen*) sieh zu vermählen. In Aethiopien
verhält sieh die Frauenregierung wie in Arabien, und als die dortige Königin
nach Niuiveh Gesandte geschickt, setzte Assarhaddon**) eine Frau aus dem
Pallast in das Königthum Arabien ein.
s. Wacbsinuth). In answer to the objectiou (against the marriage of The tive Pandavo hrethern to
Draupadi) Yudhisthir observes, that they only follow in this polyandrian marriage, the path trod bv
other princes (aec. to the Mahabharata). The powerfid Yanadhipa (amongst Jarasandha's allies) is
said (in (ho Mahabharata) to possess boundless authority and to reign over the West like another
Varnna. In Sacala (the chief city of the Bahieas) a female demon (Raeshasi) on d. 14. day of
the dark fortnighl sings aloud: I will feast on the flesb of kine and quaff the in ebriating spirit,
attended bj fair and graceful females (acc. to the Mahabharata). Die Vielweiberei scheint Lei den
Troern 'ine königliche Prärogative gewesen zu sein (s. E. Müller). Bei den Persern fand (nach
Struho} Beischlaf mit den Müttern, bei den Arabern (nach Hammer) mit deu Stiefmüttern statt,
und auch die Inguschen (s Potocki) heirathen ihres Vaters Frau. Die auf Doppelschlitten (wie
die Urjangckuti Pischeh oder Wald-TJrjangckuten) fahrenden Türken (östlich von den Ilakas oder
Chirkiz) oder Tukhus werden als auf hölzernen Pferden beschrieben. Kiptsehak vor dem ügetai
Churdschi (zur Zeit des Hulagu) aus der Dschelair (der Tartaren) verwandt. But-Tengri (Sohn
des Gugdschis) ein Stamm der ürnaut (zur Zeit des Temudschin) ritt auf einem Schimmel in
den Himmel und wählte den Namen Dschinggizchan (der Unerschütterliche) auf Gottes Befehl.
Hei den Waraus kommt sowohl Polygamie wie Polyandrie vor. und Brett hört von einer Frau
mit drei Ehemännern. Die Königin Zingha in Congo hielt sich viele Männer und gestattete
Wiederverheirathen (mit Tödtung der Kinder 1(340. In Targa geniesst die Frau Vorrechte über
den Wann (Duveyrier). Bei den Beni Jara (in Wadi Nedjran) lässt der Mann heim Verreisen
der Frau im Raus eines Freundes, der alle Pflichten des Ehemannes leistet (Bnrckhanlt). Beim
\mi Stamm der Merekede wird dem eingekehrten Fremdling ein weihliches Glied der Familie zur
Fjagergenossin wahrend der Nacht gegeben. Bei den Nachbaren der (libyschen) Nasamonen wird
der Fremdling erst von der Frau oder Tochter bewirthet. Kathai on bien Katha ete forme par
eorruptionj «In Khilat, commc l'ecrivent les Mongols, ou de Kithai on Kithait, comme ils le
prononcent, tio lanl ainsi la Chine entiere (s. Visdelou). Les Khitan (de Leao) perdirent l'em-
pire 1125 p. .1.). Vamxechim war Hauptstadt der nomadisirenden Yetho, hei denen die Frauen
nach der Zahl der .Männer Knoten an der Haube trugen Die Weiber der Tokhari eines zum
Buddhismus bekehrten Stammes der Sakhi (bei dem aus Mangel an Weibern Vielmännerei ein-
geführt wurde) tragen auf ihren Mutzen so viele Ilörner, als sie Männer haben (s. Tschihatcheff),
und ebenso bei den Dschcta (ihren Vorfahren) oder Vit (nach Vivien de St. Martin), Die
Weiher der Okkal am Libanon tragen hornartige Mützen, tortur genannt Der Kopfschmuck
esthnischer Weiber heisst Törk. Nach Strabo tragen die Frauen in Ilispanien einen Schleier
über den Hörnern. TlaXtafiov (Ringer) wurde später Herakles genannt. Chittier waren die Ur-
einwohner Palästinas Im Mittelmeer durfte nach dem Frieden des Cimon kein bewaffnetes
Fahrzeug der Phönizier über Phaseiis hinaus die griechischen Gewässer befahren. Die canniba-
lischen Sumbas drangen (unter ihrer Königin Dumha) bis nach Sierra Leone vor (XVI. Jahrh. p.).
Nach Theophanes (der auf Pompejus Feldzuge Albanien besuchte), trennte der Mermadalis von
den gethischen und legischen Scythen die Amazonen, die Scepsis und Hypsikrates an die Grenze
dei Gargaräer und die nördlichen Alihänge des dort Oeraunia genannten Gaucasus-Gebirge.
") Diebus ejus incepil regnum mulierum, quaa Amazonas vocant, quorum historia ita habet.
Bello tentavit uihs orbero, cumque cives Amazonum ad internecionem fuissent caesi, defuneto-
rnm \ Miliar spiculis sive laneeis arreptis strenue cum hostibus pugnarunt, adeo ut evaderent
superiores et regnum suum longe continuarent (Schalsch. Nakkab). Elmazin setzt die babyloni-
schen Amazonen in die Zeit des ägyptischen Königs Reim (mit der (iynokratie der Sabäer).
Futychidcs erwähnt der Frauenherrschafl in Saba. Tempore Abrahami fuit rex in Oriente, cui
uomen Horesch, qui extruxil Armisatum, Claudiam, Frakum, qua etiam aetate regnavit Chalib,
iixor Sin, sacerdotis Monas, quae Nezibin aedifleavit et Rohan, eamque muro munivit. Extruxit
etiam templum magnum Charris, fecitque Imaginem auream nomine Sin, quam in medio templi
colloravit, mandavitque omnibus incolia Charraeis, ut eam adorarenl (Patricides).
**) Phineus, von Agenor nach Thrazien gesendet (s. Nonnus), vermählte sich mit der Ama-
189
In India intra Gangem nennt Plinius die Pandae ein von Weibern be-
herrschtes*) Volk, in Meroe folgen sich die Königinnen unter dem Titel
zoiie Oreithyia Nach Apollodor wurde Orithyia, Tochter des Brechtheus (Sohn des Paudion) von
Boreas geraubt. Die Mädchen (in den Töchtern des Brechtheus Bowohl, wie den des
Byacinthus) schlachtenden Athener fraternisirten (trotz des Krieges) noch später mit .Im Ama-
zonen iiinl der Amphictyon (der Crauaus gestürzt hatte) vertreibende Erichthonius war von
Athene gehören, als Vater des Pandion. Bei den indischen Pandae galt Weibej Elegiment, wie
Polyandrie bei den Pandu. Vanda herrscht in Krakau. Preiya (die Ergänzung zu Freyr)
heisst Wanadis (nympha Wanarum). In der littli Mythe verwüsten dir Kiesen Wandu und
Weja (Wasser und Wind) die Erde. Mil AU. ml heissl der Name Vindili (bei Tac.) Vandilii
(Vandali) von vindan (winden) oder wantalon (wandeln), vandjan (s. Zeuss , als OväfJakoi (bei
Olymp.) oder BavdClot (Zosim.). Der Tanaqvisl (Vanasqvisl), als Grenzscheide zwischen Äsen
und Vanen, gilt als Tanais (in d. Yngl. saga). In finnischer Zunge heissl dei Busse noch jetzt
Wen&läinen (esthn. Wennelane), seihst der Marne der Wenden könnte anklingen (Grimm). Der
den Nomaden geläufige Name Tanais (oder Don.) zeigt sieh im Gothenkönig Taunasis, in einer
männlichen, in Tanaitis in weihlicher Wandlung. Strabo bezeichnet Tanais, dem zu Ehren
die Sakaen gefeiert wurde, als patrium aumen (ätög naunui) der Perser. Anaitis oder Ta-
nais hiess (nach Polyb.) Al'rrj in Ecbatana (s. Movers). Aphrodite Tanais vom Flnss Tanais)
wurde mit Pharuuchos (Pharnakes) und Pharsiris (Oitasyris) verehrte. Lydus erklärte Astarte von
icoio und dotit), Athen von aaiv x«i it,oyr\v. Theseus ordjiete in Amatus ein Fesl an, bei wel-
chem ein auf der Erde liegender Jüngling die Bewegungen einer in den Wehen liegenden Frau
nachahmte. Astarte oder Nemanun gebar dem Malcander den phönizisohen Linus (Plut.). Has-
dingi (Astingi oder Hasdingi) hedeutet Männer mit Frauenhaar, indem das vandalische Königs-
geschlecht ehemals zu dem Cultus des Stammes in demselben Verhältniss stand, wie die Yng-
linge und Skiöldunge zu dem Cultus des Freyr in Schweden und Dänemark (s. Möllenhoflf). Dem
Dienst der nahanavarlisehen Brüder (dem Gastor und Pollux verglichen) stand (nach Tacitus)
ein sacerdos muliebri ornatu vor. Die Tarentiner stellten die Frauen und Mädchen ihrer be-
siegten Feinde einen Tag lang nackt im Tempel aus, für Jedes Gebrauch (muh Klearchos).
") Die Gynaikokratie im Gebirge Azyr (wie im heidnischen Yeinen) wurde durch dieWecha-
biten zerstört Die Wittwe Ghalye, die die Hegum-Araber anführte, wurde von den Türken für
eine Zauberin gehalten (Burckhardt). The government of Napata, like thal of Meroe, was
offen committed to the band of women. who höre the title of Candace, and in the kingdom of
Schendy Burckhardt fouud a similar regimen (n. Donne). Roxane, the daughter of [deines and
half-sister of Terituchmes, is noted (by Ctesias) a thouroughly well skilled in the use of the bow
and the javeliu (ltawlinson). Bei der Ehe trat der Mann (in Nicaragua) in eine abhängige
Stellung (n. Navarrete). Die Weiber (von Panama) kämpften im Kriege mit (nach Gomara). „Die
Kleidung die die Statuen der Athene schmückt, sowie ihre Aegis haben die Griechen von den
libyschen Frauen entlehnt. Denn nicht nur sind die Kleider der Libyerinnen von Leder, mit
Kränzen behangen, in der Form von Sehlangen, sondern sie sind auch sonst in gleicher
Weise gekleidet. Auch zeigt der Mann, dass die Bekleidungsweise der Pallas-Statuen von Li-
byen kam, da die Libyerinnen unbehaarte Ziegenfellkleider, an den Enden gefranzl und roth gefärbt,
über ihr Gewand tragen, und von diesen Ziegenfellen erhielten die Griechen das Wort Aegis (Ziegen-
panzer). Auch scheinen die lauten Schreie in den Oeremonien von dort zu stammen, denn die
libyschen Frauen sind darin sehr geübt und stossen sie rechl hübsch hervor61 (Herodot), wie in
dem Ritual der Fetischwidder. Im Soudan besteht die Kleidung (nach Lyon) uaeisl aus Leder.
Nach llesiod dämmte Orion das Zwischenmeer Rhegium's durch das Vorgebirge von Pelorias ein,
im Tempel des Poseidon wurde die Leibwache des Königs der Beins am weissen MI nur von
Frauen gebildet. Die von Ferguson nach den Dolmen Katli Croghau (Bretagne) entzifferte
Schrift (im Ogham spricht von der Amazonenkönigin Medf (Ossian's) Nach Aristoteles ge-
horchten alle kriegerischen Völker dem Weibe. Bei dem hannibalischen Bündniss mit den Gal-
liern wurde die Entscheidung den Matronen überlassen. Bei den Cantabrern wurde (n. Strabo)
die Brüder von den Schwestern dotirt. Nach der Sacralbestimmung waren alle weiblichen Opfer
der Gottheit genehmer. Bellerophou (der Besieger der Amazonen), durch Zeus vom Pegasus
190
Canda.ce, aus Süd-Arabien kam Balkis oder (aas Abyssinien) Maqueda zu
Salomo und ebenso lässt Eutrop die Sabäer von Königinnen beherrscht sein,
während Tiglatt - Pilsaer II. (769 a. d. ) von der Königin der Iduniaeer und
Araber Tribut empfängt.
Im Norden wird feinina domin atur bei den Sitonen (nach Tacitus) er-
wähnt, bei den Kwenen kennt Adam Brem, terrae feminaruni, Pau-
lus Diaconus ein Frauenvolk in intimis Germaniae finibus, Cosmas von Prag
ein Maegdhaland neben den Horiten Nach dem Tode der Libussa (Tochter
des Krak) brach der Mädchenkrieg aus, der unter Wlasta von Dewyn aus
gegen die Männer geführt wurde. Noch in der scandinavischen Sagenzeit
sind die Schildmädchen eine gewöhnliche Erscheinung in den Reihen der
Krieger*). In der Brawallaschlaeht befehligte die Harald's Banner tragende
Wisma ein grosses Heer Wenden, oder (nach Saxo Grammatius) eine slavische
Schaar, Webjorg ein Heer südlich von Gothland, Hetha ein tapferes Gefolge
von Kriegern und neben ihnen andere Jungfrauen. Auch hier markirt sich die
lteaction. Weil die Walkyrie Sigrdrifa oder Brynhild den Heermann Hialm-
gunnar erschlagen, stach sie Odhin mit dem Schlafdorn, bis sie von Sigurdh
befreit wird und sich vermählen inuss (nach der Volsungasaga). Herakles
„vernichtete die Gorgonen und die Amazonen, weil er glaubte, wenn er der
\\ ohlthäter des gesammten Menschengeschlechtes werden wollte, so dürfte
er es nicht dulden, dass es noch von Weibern beherrschte Völker gäbe".
In der griechischen Sage dient Herakles (der Stammherr des heraklidischen
Kriegsgeschlechtes in Sardis) der Omphale von Lydien, vom lydischen Dop-
pelgänger Sandon (Sardan-apala oder Ninip**) dagegen wird erzählt, dass er
gestürzt, behielt ein hinkendes Bein (n. Steph Byz) Auf der Ruveser Vase unterstützen die
Amazonen den Bellerophon in Bekämpfung iler Chimära. Die Nasamonen wohnten (wie die
Massageten) beliebig den Frauen bei, und ebenso die Auser und Libumer dextram mammam iis
virilem, laevam muliebrem esse habe Aristoteles von den Machlyern gesagt (Plinius). Pandaeam
gentem foeminae tenent, cui prior regina Herculis tilia (Martianns). Nach Nie. Dam. herrschten
bei den Sarmaten die Frauen. Die Tage (Freitag und Montag) der Frauen -Promenaden sind
(in Bosnien dem Aschyklik J)ainendienst) gewidmet, welcher Brauch an das in Oberösterreich
und Steiermark übliche Fensterin erinnert (n. koskiewies) Das goldene Zeitalter in Wynngolff
(Sil/, der Göttinnen) wurde durch die Weiber aus Jotunheimr's (Cyclopenstadt) vernichtet. Mit
Penthesilea, (die letzte der Amazonen,) verschwand diese Nation und wurde seitdem mythisch
betrachtet (nach Diodor). There are instances of women für some particular Services, either of
themselves or of their family, being promoted to the rank of captain, and in the late invasion
of the Appollonian territory, a brave Amazon of Dixcove marched at the head of her Company
(n. Craickshauk) 1853, Virgines et mulieres equitant, et agiliter currunt in equis, et viri (Car-
pin) bei den Mongolen. Argos wurde durch die anter Telesilla kämpfenden Frauen gerettet,
Spartaner unter Cleomenes gesiegt hatten.
*) Die Kureten sollten so genannt sein, weil sie nach Art der Jungfrauen (Korae) weibliche
Kleidei trügen, wozu Strato die Jaonen im Schleppgewande (b. Homer) vergleicht. Sonst von
dem jugendlichen Scheeren des Kopfes. Achill (in Frauenkleidern gedeckt) winde neben der
\stai te-Tanil verehrt.
*') Nach rlerodot's Berechnung fällt die Gründung des lydischen Reiches 1221 a. d. und in
dem 1314 a, d. von Venus gestiftetem Reich Assyriens bestieg l'2ü0 a. d. Ninippallasar, Sohn
oder Nachkommen des Ninip (des assyrischen Herakles) den Thron, von dem in der Inschrift
191
die Amazonen unterworfen und das Beil ihrer Bamiginn den lydi scheu Königen
als Reichs-lnsiguie hinterlassen. Die Amazonia securis (bei Horaz) ist auf
dem Sarcophage von Salonichi dargestellt und (nach Nilssou' finden sich dop-
pelschneidige Amazonen-Aexte aller Grössen in den westgotbischen Gräbern
der Steinperiode, zum Theil ähnlich der Securicula auceps, die die Jungfrau
Palästra (bei Plautus) als Amulet trägt.
In all diesen Berichten über kriegerische Frauen und ihre Theilnahnic
an den Geschäften der Männer liegt nichts aussergewöhnliches, weil wir sie
sämmtlich mit Analogien belegen können, die uns aus jetzt noch beste-
henden Verhältnisse zugänglich sind. Eigentümlicher schon ist unter den
Gynaiko-Kratumenoi (wie die Emmetsch bei Taveinierl das Weiberreich am
Pontus, wo geradezu eine Umkehr*) in der gegenseitigen Stellung der Ge-
schlechter zu einander bestanden haben soll, und Aehnliches scheint Herodot
mit einer Bemerkung über Aegypten haben andeuten zu wollen. Es ist nun
jedenfalls beachtenswerth, dass dieser sonderbare Bericht, den man im ersten
Augenblick dem Fabellande in verkehrter Welt zuzuschicken geneigt sein
könnte, sich in Diodors. Erzählung an Afrika anknüpft, gerade denjenigen Con-
tineut, wo, wenn überhaupt, derartiges allein statthaben kann und auch allein
stattgehabt hat. Nachdem Myriua ihren Sieg über die Gorgonen durch Er-
richtung der Amazonenhügel**) verewigt und in Aegypten mit Horus ein
gesagt wird, dass er zuerst das Land Assur in Ordnung brachte und als der erste das assyrische
Heer aushob, Unter seinem Sohn Assurdayan hörte, der noch 1150 a. d. von Rhamses XII.
eingeforderte Tribut auf, als in Egypten der Hohenpriester llerr-IIor den Thron usurpirte Die
Gorgonen lebten in der Stadt Tithrasus am Triton und Tithras war Dennis in Attiea. KaXoüoi
J£ IqV 'AUtjvov y.unrjfuidi I'ony<ö, COOTlto 1 tjv Ainftuv ©oäxig HivSuccV, . frtxiXrti UOViOi i?e
Ovmr. Das im assyrischen Pallast von Nemrod gefundene Basrelief (bei Layard) stellt einen
König vor, mit einem Beil als religiösem Symbol (wie bei Jeremias beschrieben . Labrandeus
wurde in Mylasa verehrt (als Gottesbeil) Die Münzen von Tenedos zeigen ein Doppelbeil, die
Münzen von Mylasa in Carien den labrandischen Zeus (bei Plutarch) mit einem Beil. Nach
Theopompus von Chios führte Alexander, Tyrann von Pherä in Thessalien, den Cult des Bacchus
mit dem Beil von Pagasa ein (zliörvaoi' rbv h> Ilnyaoalg o? (xu).tno rif'Xrxo;). Auf einem
chaldiüschen Cylinder ist ein Priester dargestellt, ein Beil verehrend (Longperier). Dans le
Systeme hieroglyphique egyptien le mot nouter, dieu, s'exprime toujours par un signe, qui n'est
autre que la figure d'une hache. Die Frauen der Solon-Tataren reiten und führen Waffen
(Grosier). Le vetement de ceremonie de Chamone esl souvent de pendeloques de fer, en
forme de hachettes, de crotales, de tubes, de feuilles de sauge, de disques, d'anneaux, d'animaux
etc. Le tout extremement curieux pour l'explication des objeets de inetal qu'on retrouve dans
les fouilles de la Ganle et de la Germanie. Les robes des figurines de Chamanes soni seinees
de petites plaques de fer angulaires suspendues au moyen dun beliere.
*) Die alten Missionäre sprachen von den Erniedrigungen, dir die Männer im Reiche der
Königin Gingha von Matiambo zu erdulden gehabt, und Aehnliches bcrichtel Livingstone von den
Banyai.
**) KoXtovti, xoXwvös, Aoltovla heisst Grabhügel, früher aber, wie aus xöXos, xoXoanög,
xiokov und coluinna hervorgeht, Säule, aus dem Begriff des Grabhügels entwickelt sieh der der
des Hügels (collis) überhaupt (n. Müller). In dem durch sein Orakel berühmten. Zu Colophon
besiegte Mopsus den Kalchas Mopsusia ( \i ,> w eat(u) I am Pyramus in Cilicien. Auch die cari-
schen Milesierinnen verbanden sich durch einen gewiss lad gegen die jonischen Männer, ihre
Eroberer (n. Herodot). In Rom wurden den Frauen bei ihrem Feste der Bona dea Ausgelas-
senheiten nachgesehen.
192
Bündniss geschlossen, zog sie nach Besiegung der Araber und Syrer, den
Ciliciern ihre Freiheit lassend, in Kämpfen mit den Tauriern durch Grossphrygien
zum Meer, ausser Myrina, die Städte Kuna, Pitana und Priene erbauend, sowie
Mitylene auf Lesbos, auf Samothrace Altäre errichtend und auf dem Festlaude
Korybauten genannte Sühne als Mysterienleiter einsetzend, (um afrikanische
Fetischgebräuche in den Oult europäisch-asiatischer Götter einzuführen). Nach
den Kriegen*) mit dem Thracier Mopsus**) und Sipylus aus Scythien sei das
Reich geschwächt worden und der Rest der Amazonen nach Libyen zurück-
gekehrt.
Dort in Libyen erzählt Diodor von den staatlichen Einrichtungen, bei
denen die Frauen die Herrschaft führten und in Sehlangenhautpanzern ins
Feld zogen, während die Männer auf häusliche Geschäfte angewiesen waren
und die mit den dienstuntüchtigen Frauen gezeugten Kinder mit Milch auf-
fütterten. Es sind diese Zustände ein Abbild derjenigen, wie sie Livingstone
in Süd-Afrika fand, und wie sie bei der Rivalität der sich in ihren Mysterien-
bünden bekämpfenden Geschlechter jeden Augenblick in der einen oder andern
Localität Afrikas noch jetzt, eintreten können. In Banam in Baghirmi wurde
die Feldarbeit nicht (wie sonst im Sudan) von Frauen verrichtet, sondern von
den Männern, da jene die Oberhand***) erhalten hatten (n. Barth).
*) Damit vereinigt sicli der athenische Sieg über die Amazonen. Attica olim dieta erat
Mopsopia, filia Oeeani (n. Euphorie-) Der Lapithe Mopsus heisst Aunvy.iörii (bei Hesiod.) Mopsia ist
alter Name Pamphyliens (bei Pliuius).
"*) Mopsus (Sohn der Nymphe Himantis) findet auch in Afrika Feinde, wo er mit den Ar-
gonauten anliegend, am Sehlaugenbiss stirbt Mopsus (der mit Amphiloehos die Stadt MallOs
gebaut) trifft (als Gegner des Calchas) mit ihm in (der joniseheu Stadt) Colophon zusammen,
denn [mit Kor y bauten /.usammenkliugender) Name auf dem (slavischen) Kolos oder Rundträger
(der Neger) führt. Die Troglodyten am rothen Meer sollten naeh der Reschneidung Colobos
(Verstümmelte) heissen. Smyrna heisst (b. Herodot) eine Gründung Colophons (durch die Ver-
bannten)- Nach Diodor war Korybas (mit der Tochter des Cilix vermählt) Sohn des Dardanus
und Cybele. Kobarnas war den Juden heilig und die Kobyner werden zn Kobolden. Die, wie
Basilea des Westens, klagend umherschweifende Cybele führt die llandtrommel der Neger.
***) Am Leeba traf Livingston mit den Häuptlingen zusammen, die unter dem weibliehen
Fürsten Manenko standen, der über die Balunda oder Balonda herrschte. Als er im Dorfe Nya-
moaua's (Schwester des Sliinte oder Kabompo) seine Anrede an den Gatten richtete, deutete
dieser auf seine fürstliche Krau, als zu der Ehre berechtigt, neben der er sass. Unter den Ban-
yai kann ein .Mann nichts ausführen (b. Tete), ohne zuvor seine Frau gefragt zu haben (b. Li-
vingston) Manenka, weiblicher Häuptling an dir Grenze der Balonda, wurde durch ihren Manu
als Zauberer begleitet. Die Geschichte der Zegzeg (in Haoussa) beginnt mit den Eroberungen
einer Kran (Aminah). In Arr Festung der Denulem wurde ein weibliches Götterbild verehrt.
I'in sieh gen, -ii den Missbrauch der männlichen Herrschaft zu sichern, nehmen bei einigen Stäui
inen Afrikas die Weiber ihre Zuflucht zu einem bestimmten CllltuS und setzen so dem Miinncr-
reeh! das Ansehen der Initiation entgegen, eine Idee, die sich in (ieni Verhältniss der römischen
Matrone zu t'.uuieuta, derlnitiation der Athenerin und allgemein in dem Schutze des Weibes durch
die Mutler Knie auch bei den klassischen Völkern findet (Bachofen) In Jarkand nimmt die
Krau den Ehrenplatz ein. In Formosa bekleiden die Krauen das Friesterthum. Urduja, die in
Kailuknri residirende Tochter des Königs zu Tawalisi (jenseits der stillen See oder ul Bahr ul
Kahil) zog (ii. Ihn Batuta) mit ihren Fraueil in den Krieg und wollte nur denjenigen ihrer Be-
werber heirathen, der sie besiegen wurde. Ibn Batuta horte , wie ein Besucher des Shaikh von
Sinkalan sich mit einer Krone auf dem Kopf im Lustgarten gesehen, aber als er einen Apfel
193
Ist noch keine Staatsgewalt organisch zum Durchbruch und sittlichen An-
erkennung gekommen, so muss sich zur Erhaltung einer sittlichen Gesellschafts-
ordnung, die Lebensbedingung für jede menschliche Existenz ist, die Selbst-
hülfe constituiren und in allen Theilen der Welt einen ähnlichen Ausdruck
zeigen, den Ausdruck des Volkswillens mit der Herrschergewalt bekleidend,
und so auch hier den Verbrecher durch die Macht des Stärkeren, durch dessen
Recht bezwingend. Daraus gingen in Afrika die im Dunkel der Fetischwäl-
der tagenden Geheimbünde hervor, der Purrah-Orden bei den Timmanis, der
der Semo bei den Susus, der Mumbo-Yumbo bei den Mandingoes, das Bunda-
Gericht bei den Bullamern, der Belli-Bund bei den Quojah, die Egbo-Freimauer-
schaft am Alt-Calabar u. s. w. Aus gleichen Verhältnissen sicherte sich das
junge San-Francisco sein Bestehen durch die Vigilance-Comittee, die aufblü-
henden Staaten Colorado, Idaho und Montana durch die Vigilanter, indem in
diesem Zufluchtsort aller Gesetzesflüchtigen, Beidler, auf den Gesamnitwillen*)
gestützt, die meuchelmörderische Bande der Road-Agents niederwarf und das
Lynch-Gesetz**) übte.
Wie bei anderen Naturvölkern hat sich auch in vielen Gegenden Afrika's
die gesellschaftliche Ordnung noch nicht über die Familie hinaus gegliedert,
kaum in der ersten Erweiterung durch fictitive agnatio zur gens, mit Aufnahme
essen wollte, wieder in der Hohle gefunden haben und ausgelacht sei. Die Gynaikokratie hat
sich überall in bewusstem und fortgesetztem Widerstand der Frau gegen den sie erniedrigenden
Hetärisraus hervorgebildet, befestigt, erhalten Dein Missbrauche des Mannes schutzlos hinge-
geben und (nach der arabischen Tradition bei Strabo) durch dessen Lust zu Tode ermüdet,
empfindet sie zuerst und am tiefsten die Sehnsucht nach geregelteren Zuständen uud einer
reinen Gesittung, deren Zwang der Mann im trotzigen Bewusstsein höherer physischer
Kraft nur ungern sich bequemt (Bachofen). Indem das demetrische Princip als die Beeinträch-
tigung ins entgegengesetzte ursprünglichere, der Ehe selbst als die Verletzung eines Religious-
gebotes erscheint, so erklärt sich (nach Bachofen) der Gedanke, dass die Ehe eine Sühne jener
Gottheit verlangt, deren Gesetze sie durch Ausschliesslichkeit verletzt. Zur Ausrottung des Hetä-
rismus war die Aussteuerung des Mädchens seitens ihrer Familie erforderlich (n. Backofen).
Das Vaterrecht verdankt seine Durchführung dem römischen Staatsprincip des männlichen Im-
perium (mehr, als dem delphischen Apoll). Den Befehlen ihrer Priester gehorchen die Leute in
Arkhang (mit dem Hafen Tschuttagon) blindlings (nach Abul Fasel). Die Weiber sind die Sol-
daten dieses Landes. Ihnen sind die Männer untergeben (s. Bernouilli). Nach Vardan lebten
zur Zeit des Abraham die Amazonen, deren Königin zu Alioa residirte. Dodschaima. Nachfolger
des Azditen Malec ben Fahm, wurde durch die amalekitische Königin Zabba (Schönhaar) ge-
tödtet, die Eichhorn mit Zaba (b. Vopisc), Schwester der Zenobia (von Palmyra) identificirt. Die
Sage von den Amazonen, (Ycamiaba), die am Rio Nhamunda mit Orellana gestritten (auch bei
den Mavay-asu lebend) wird durch Weiber von der zu den Omaguas gehörigen Horde der Sori-
mao bezogen.
*) This indefinite unsoen, unmeasurable power seems to have ever stricken tiie most cou-
rageous thieve.s und murderers neverless, when its sudder and fatal grasp was thrown around
them. They would fight scores of meu for their lives in any ordinary attempt to arrest them,
but they seemed weakened, when the Citizen confronted them in the naiue of publir safet] (Mc
Clure). No formalities were known.
••) Wird ein Missethäter auf frischer That oder (nach westphälischer Sprache) mit habender
Hand, blickendem Schein und gichtigen Munde von wissenden Schoppen (des Femgerichtes) be-
troffen, so konnten sie ihn ohne weitere Prozessförmlichkeit überzeugen, verurtheilen und bestra-
fen (s. Berek)
Zeitschrift für Ethnologie, Jahryaug ls7u. 14
194
der Clienten in die Clanship. Bei den Kru tritt das Patriarchenthum in sol-
cher Entschiedenheit hervor, dass selbst die Kastenabstufungen nach den
Alterklassen tixirt sind, also im Wechsel steter Erneuerung-, von den Jüng-
lingen (Kedibo oder Knappen) durch den Kriegsadel der Männer (Sedibo) bis
hinauf zum Seuatus der Seniores (Gnekbade). Duces ex virtute suniunt (Tac),
gilt auch bei den brasilischen Indianern, wo nur persönliche Eigenschaften
zum Anführer*) der Horde erheben (s. v. Martius), und dieser deshalb oft mit
zunehmender Altersschwäche im Zweikampf von Stärkeren weichen muss. Ist
dagegen die geistige Ueberlegung der Weisen oder Greise anerkannt, so
sichern solche sich den Fortbestand ihrer Würde durch verschaffungsraässigen
Vertrag mit den übrigen Mitgliedern der Volksgemeinde dadurch, dass diese
durch regelmässigen Nachschub in die Rangordnungen hineinwachsen und
also Alle allmählig in die Stelle des Herrschers kommen werden. Hat der
Knabe die Prüfungen**) der Mannbarmachung überstanden, so erhält der den
Ritterschlag, mit der Toga virilis der Männer, und rückt dann mit diesen all-
mälig weiter auf. Eine gefährliche Klasse von Unterthanen bilden dann die
von allen Rechten ausgeschlossenen Frauen und Sklaven, und um die inneren
Feinde im Zaume zu halten, schliessen sich die Männer in ihren Mysterien
zusammen, deren Ausplauderung dem Verräther den Tod bringt (durch ver-
mummte Agenten bei den Purrah). Erscheint der Repräsentant des Grossfetisch
in den Dörfern, so fliehen Frauen und Sklaven, und ebenso müssen sie die
Strassen meiden, sobald am Calabar ein Egbotag proclamirt ist, da sie beim
Betreten niedergehauen werden würden. Laufen klagen von den Ehemännern
ein, so wird in Senegambien ein Gericht des Mumbo Yumbo angezeigt und
alle Frauen haben sich auf dem Dorfplatz zu versammeln***). Mit dunkel-
*) Persönliche Tüchtigkeil ist dem (homerischen) König nothwendig und wem diese abgeht,
der thut gut, dem Thron zu entsagen (wie Laertes auf Ithaka). Auch von Peleus besorgt sein
Sohn, dass er als schwacher Greis nicht mehr im Stande sein möge, die königliche Würde zu
behaupten (Schoemann).
**) Von Senegambien bis zu den Ländern der Betschuanen und Kaffern finden sich durch
ganz Afrika die vorbereitenden Ceremonien der Yirilität, indem die gereifte Altersklasse der Kua-
ben in abgelegene Wälder fortzieht und dort schwere Peinigungen untergeht, bei denen auch
Geissehingen (wie im spartanischen Kringel) nicht fehlen. Sie kehren dann als „Wiedergeborene"
zurück und sind fortan unter die Bürger reeipirt. Aehnliches findet. in Nord- und Süd-Amerika
statt und in den Amazonasländern (bei den Indianern zu Cumana u A. m.) müssen auch die
Mädchen (wie es ebenso in manchen Theilen Afrika's vorkommt) einen gleichen C'ursus an Ge-
duldspriifungen durchmachen, bei denen ihnen weder Fasten, noch Peitschen, noch Gefangenschaft
noch andere Qualen gespart werden. In Ukami müssen die Mädchen Ameisenbisse ertragen, wie
am Orinoco die Knaben. Les garcons mandingues sont circonsis ä l'äge de quinze ä vingt ans,
les fillr> subissent l'excision quand elles sont nubiles, souvent en la retarde jusqu'au moment ou
elles sonl promises en mariage, j'ai meine ou une femme mariee, ayant dejä eu un enfant, qui
sViait soumise a cette Operation (Caillie). Le jour de la circoncision est nn jour de rijouissauce.
Des le lendemain et les jours suivans, les filles circoncises sont, aecompagnees d'une vieille
femme, se promener dans le vülage.
***) Bei den alten Dorfgerichten, wo nach dreimaligen Angang mit dem Strick das ausersehene,
aber nur den Eingeweihten bekannte Opfer gehängt wurde, hatte nach vorhergegangener War-
nung Jeder die Freiheit fortzugehen, aber dann war alT sein Gut verfallen.
195
werden kommt der Popanz aus dem Waldheiligthum hervor, die Strafwerkzeuge
tragend, und während der aufgeführten Tänze wird die Schuldige von seinen
Trabanten ergriffen und je nach ihrem Vergehen härter oder leichter gezüch-
tigt. Zum Schutz gegen solche Tyrannei bildeten die (beschnittenen) Frauen
bei den Quo j ah (dem Belli-Paato gegenüber) den Nesogge-Bund (mit. dem
Sandy-Tanz als Anerkennungsz eichen), und dem von Nda präsidirten < >rden
der Männer (unter den Mpongwe) gegenüber, den der Njembe oder ähnliche
Weihebünde, deren Belauschen Du Chaillu fast das Leben gekostet, wenn
nicht die übrigen Männer durch hohe Sühnen sein Vergehen abgekauft hät-
ten. Bei den Kumbasser wurden die adligen Mädchen in einem gemeinsamen
Hause erzogen und die unter Aufsicht des Blitzgottes stehenden \\ eiber des
Zo (s. Steinmann) leben in einem Kloster beisammen, die nur ihnen verständ-
liche Sprache der Agbui redend. A. B.
Die Schädel der Coroados.
Von
Reinhold Heu sei.
Ich habe in einer früheren Mittheilung über die Coroados von Rio Grande
do Sul*) erwähnt, dass ich zwei Gräber derselben geöffnet und ihnen die
Schädel entnommen hatte. Auch die Skelete zu sammeln, hatte die Zeit ge-
fehlt, da ich fürchten musste, von den Indianern überrascht zu werden.
Diese beiden Schädel, welche ich mit I und II bezeichnen will, sind von
besonderem Interesse, da der eine derselben I, wie ich dies schon in der
früheren Mittheilung bemerkte, von einem bei seinen Stamuiesgenossen sehr
angesehenen Individuum herrührt, das zu den Häuptlingen des Stammes zählte,
und ein Alter von ungefähr 40 Jahren erreicht haben mag. Der andere Schä-
del, II, ist der eines Coroado gemeiner Rasse und hat einem Burschen von
einigen zwanzig Jahren angehört.
Beide Schädel sind wohl als "ausgewachsen" zu betrachten, wenn auch
an dem jüngeren die Nähte noch sehr deutlich sind. Sie unterscheiden sich
aber wesentlich von einander, indem an dem älteren alle Formen viel eckiger
und ausgeprägter sind, ohne dass man hierin Altersunterschiede sehen kann,
*) S. diese Zeitschrift Bd. I, p. 124.
196
denn auch der jüngere Schädel gehört einem Alter an, in dem durchgreifende
Veränderungen nicht mehr am Schädel auftreten. Man muss wohl die er-
wähnten Differenzen als individuelle ansehen, denn auch die Abstammung
kann zu ihrer Erkläruug nicht herbeigezogen werden, da der Schädel I ent-
schieden ein viel mehr elementares Aussehen hat, als der andere.
Der ältere Indianer, welcher den Brasilianern gegenüber den Namen Do-
mingo führte, hatte von der Regierung um seiner Eitelkeit zu schmeicheln
und ihn willfähriger zu machen, den Titel eines Majors erhalten. Er war
nach dem Zeugniss der Beamten der Militärcolonie mit einem hohen Grade
von Intelligenz begabt gewesen, und Padre Branco, der Leiter der Indianer-
Angelegenheiten auf der Colonie von Monte Caseros, erz hlte, welches Ver-
gnügen ihm stets die Unterhaltungen mit dem intelligenten Indianer bereitet
hatten, der auch des Portugiesischen soweit mächtig war, um sich in dieser
Sprache verständlich machen zu können.
Das jüngere Individuum war ein roher und uncultivirter Bursche und
zugleich arger Säufer gewesen, von dem sonst nichts Besonderes zu bemer-
ken ist.
Das Aussehen der beiden Schädel ist im Allgemeinen Folgendes: Bei
dem Schädel I sind die Nähte noch grösstentheils deutlich sichtbar. Die
Kronennaht ist stellenweise, namentlich an den äusseren Theilen, verwachsen,
obgleich ihr Verlauf sich noch erkennen lässt. Die Sagittalnaht beginnt am
Ende des ersten Drittels und im letzten Drittel zu verwachsen. Die Lambda-
naht ist noch vollständig offen. Unter den Nähten des Jochbeins ist die ge-
gen den proc. zygom. des Oberkiefers ganz verschwunden. Seiner Form nach
ist der Schädel breit zu nennen. Die Stirn zunächst den Augen ist ziemlich
schmal, die Scheitelbein-Höcker sind deutlich entwickelt, an ihnen ist der
Schädel breiter als nach den Proc. mast. hin. Die Region der Pfeilnaht ist
etwas erhöht, zu beiden Seiten derselben sind die Scheitelbeine ziemlich flach,
so dass der Contour des Schädels von hinten gesehen ein deutliches Pentagon
vorstellt, dessen grösste Breite zwischen die Tuber. pariet. fällt.
Die Leiste, welche die Schläfengrube gegen die Fläche des Stirnbeins
abgrenzt, ist ausserordentlich scharf und deutlich entwickelt, namentlich un-
mittelbar hinter der Orbita oder auf dem Proc. zygom. des Stirnbeins. Das
Maass für die Breite der Stirn in dieser Gegend wird daher sehr unzuver-
lässig, da es zum grossen Theil von dem Grade der Entwicklung der Lineae
tempor. abhängt. Noch vor der Kreuzung mit der Kronennaht verflacht sich
jene Leiste zur normalen linea temporal. Dieselbe geht auf den Scheitelbei-
nen ziemlich hoch hinauf, ist aber doch im Ganzen nicht sehr deutlich. Sie
nähert sich der Pfeilnaht ungefähr bis auf 50 Mm. Am Hinterhaupt sind
die Lineae nuch. deutlich, doch ist die Spina oeeip. nicht besonders stark
entwickelt. Ueber ihr befindet sich eine kreisförmige besonders rauhe Stelle,
•welche zugleich bei horizontaler Stellung der Basis das äusserste Ende des
Schädels nach hinten zu bildet. Die Sinus frontales sind ohne Zweiiel sehr
entwickelt, wie man aus der Stärke der Arcus supercil. schliessen muss.
Diese sind durch eine flache Einsenkung von einander getrennt, in der man
noch die Spuren der Stirnnaht erkennen kann. Nach aussen zu erstrecken
sie sich bis hinter die sehr breite und flache Incis. supraorbit. und endigen
ungefähr in der Mitte zwischen dieser und dem Aussenrande der Orbita.
Der Gesichtstheil des Schädels ist etwas defect. Es fehlen die Nasen-
beine, die Schneide- und Eckzähne des Oberkiefers und die äussere Lamelle
ihrer Alveolen. Wie ich schon in meiner früheren Mittheilung über die Co-
roados erwähnt habe, war das Grab des Indianers von seinen Stammesgenos-
sen durchsucht worden, und wahrscheinlich hatte man bei dieser Gelegenheit
den Schädel etwas gewaltsam aus dem festen Lehmboden herausgebrochen,
so dass die genannten, leicht zu verletzenden Theile des Gesichts zerstört
wurden. An diesem fällt zunächst die breite Scheidewand zwischen den Au-
genhöhlen auf. Die Apert. pyriform. ist schmal wie bei dem Europäer. Die
Wangengegend ist sehr entwickelt, da der Proc. zygom. des Oberkiefers eine
bedeutende Höhe hat. Die Fossa maxill. zeichnet sich durch eine besondere
Tiefe aus. Die Jochbogen sind kräftig und stark abstehend. Der Zahnfort-
satz des Oberkiefers ist, soweit er die Schneidezähne enthielt, stark nach vom
geneigt, so dass diese schief gestellt waren. Die Basis des Schädels zeigt
keine in die Augen fallende Merkmale.
Der Unterkiefer ist sehr kräftig gebaut. Der aufsteigende Ast breit und
bei horizontaler Stellung der Zahnreihen deutlich schräg nach hinten aufstei-
gend. Der horizontale Ast ist verhältnissmässig hoch. Das breite Kinn steht
stark hervor, so dass an Stelle der Tuber. ment, mehr breite und stumpfe,
einen Winkel bildende Kanten erscheinen. An der Vorderseite fällt die
starke Entwickelung der Protuberantia mentalis auf. Im Ganzen sind alle
Kanten und Leisten, so wie die Muskelansätze des Unterkiefers kräftig aus-
gebildet.
Der Schädel Nr. II ist, wie schon bemerkt wurde, jünger und von abge-
rundeten Formen. Die Nähte der Schädelkapsel sind, natürlich die spheno-
basil.-Naht ausgenommen, noch nicht verwachsen. Auch die Nähte des Joch-
beins sind noch deutlich sichtbar und würden vielleicht noch eine Trennung
des Knochens zulassen. Im Allgemeinen erscheint, der Schädel schmäler als
der vorhergehende und das Pentagon der hinteren Ansicht ist mehr abgerun-
det. Die Arcus superc. sind wohl deutlich ausgebildet, vereinigen sich aber
in der Mittellinie, so dass ihre stärkste Wölbung unmittelbar neben diese
kommt. Sie verschwinden auch bald etwas nach aussen von der Senkrechten
der Incis. supraorb.
Im Gesichtsschädel machen sich die gefälligeren Formen ebenfalls be-
merkbar. Die Nasenbeine sind massig lang, an der Sutura nasofront. schmal,
im Uebrigen dachförmig oder gegen einander aufgerichtet. Die Wangengegend
ist weniger breit und vorstehend als bei Nr. I, die Fossa maxillaris ganz
flach. Der untere Rand des Proc. zygom. des Oberkiefers geht nicht in einem
198
Winkel, .sondern wie bei Nr. I in einem sanften Bogen in den Proc. dent.
über. Bei horizontaler Stellung des harten Gaumens, liegt wie bei Nr. I die
Ebene desselben ungefähr 3 Mm. unter dem vorderen Rande des Foram. oc-
cip. magn. Her Zahnfortsatz ist, soweit er die Schneide- und Eckzahne ent-
hält, weniger schief nach vorwärts gerichtet als bei Nr. 1 .
Der Unterkiefer ist in allen Stücken zierlicher und zeigt alle Hervor-
ragungen und Muskelansätze nur undeutlich. Der aufsteigende Ast ist schma-
ler, der horizontale niedriger, namentlich in seinem vorderen Theile, da hier
sein unterer Rand weniger kräftig entwickelt ist.
Was die Zähne betrifft, so machen sich hier einige Eigenthümlichkeiten
bemerkbar. Bei Nr. I sind oben nur noch 7 Zähne vorhanden, rechts p 2, p 1,
m 1 u. m 2, links p 2 u. p 1. Die Schneide- und Eckzähne sind wie schon
oben bemerkt wurde, durch Zufall bei dem Ausgraben des Schädels entfernt
worden. Die übrigen Backenzähne hat jedoch ihr Besitzer schon während
seines Lebens verloren, denn ihre Alveolen sind vollständig verschwunden.
Hinter m '2 der rechten Seite befindet sich eine rauhe und etwas uuregelmäs-
sig vertiefte Stelle, wahrscheinlich von m 3 herrührend. Doch kann mögli-
cherweise dieser Zahn sich niemals entwickelt haben.
Im Unterkiefer bilden die ^Schneiden der Vorderzähue eine grade Linie,
die Eckzähne stehen in der That an der Ecke der nicht im Bogen sondern
winklig verlaufenden Zahnreihe. Der letzte Backenzahn m 3, namentlich der
der linken Seite, ist etwas kleiner, als er bei uns gewöhnlich zu sein pflegt.
Im Allgemeinen sind die Zähne fast gar nicht abgekaut, denn nur an den
Schneidezähnen macht sich eine kleine Kaufläche bemerkbar.
Merkwürdig ist bei dem Wilden das Vorkommen der Caries an den Zäh-
nen des Unterkiefers, (die fehlenden des Oberkiefers sind wahrscheinlich auch
durch sie zerstört worden) und zwar in durchaus symmetrischer Anordnung.
Nicht bloss sind die beiden Eckzähne stark angefressen, sondern sie sind es
auch an ganz genau symmetrischen Stellen. Auf der rechten Seite ist m 1
fast ganz zerstört, nur die Wurzeln stecken noch in der Alveole, m 2 ist auf
der Aussenseite unterhalb der Zahnkrone stark ausgehöhlt. Links sind eben-
falls m 1 und m 2 cariös und genau an den entsprechenden Stellen der
Aussenseite nur in geringerem Grade.
Bei Nr. II finden sich im Oberkiefer einige Anomalien, die man auch
bei einem Wilden nicht so leicht erwartet. Es sind nämlich bloss 2 Schneide-
zähne entwickelt, ohne Zweifel die beiden mittelsten. Sie sind zwar sehr
breit, bleiben aber durch einen beträchtlichen Zwischenraum von einander und
durch einen kleineren von den Eckzähnen getrennt. Auf der rechten Seite
fehlt m 3 vollständig und der enge Raum hinter m 2 lässt vermuthen, dass
der Zahn niemals ausgebildet war. Links ist wohl m 3 vorhanden, aber nur
als ein kleines rundliches Zähnchen.
Im Unterkiefer bildet die Zahnreihe einen normalen Bogen. Alle Zähne
sind kräftig entwickelt und wie die oberen durchaus gesund.
100
Was das Princip betrifft, nach welchem bei der Messung der Schädel
verfahren wurde, so dürften wohl einige Bemerkungen zur Verständigung über
diesen Punkt nicht überflüssig sein. Die Anthropologie bat zui Begründung
einer wissenschaftlichen Eintheilung der Menschenrassen besonderen Werth
auf die Verhältnisse des Schädels gelegt. Man hat daher schon seit län-
gerer Zeit sich bemüht, dieselben durch Messen zu ergründen. Zu einer
besseren Verwerthung der gefundenen Maasse sind in neuerer Zeit Versuche
gemacht worden, eine Grundlinie zu finden, auf welche alle übrigen Maasse
bezogen oder reducirl werden können. Als solche ist im Allgemeinen und
mit geringen Abweichungen die Basis des Schädels oder der Längsdurch-
messer der Körper der drei Schädelwirbel angenommen worden. Doch ist
man bei der Wahl dieser Grundlinien nicht bloss von dem Streben nach einer
möglichst unveränderlichen Dimension ausgegangen, sondern man hat auch eine
Basis haben wollen, die als ein wesentlicher Faktor des Hirntheiles am
Schädel augesehen werden muss. Mag die Linie, welche von dem vorderen
Rande des Foram. occip. mag. in der Sutura nasofront. (Virchow, Welcker)
oder im Foram. coec. (Aeby) oder im hinteren Rande der Siebbeinplatte
(Huxley) enden, immer soll sie ausser ihrer Constanz auch eine Beziehung
zum physiologisch wichtigsten Theile des Schädels, zum Gehirn, besitzen.
Die Anthropologie bemüht sich nämlich in der Lehre von den Menschenrassen
vorzugsweise solche Maasse, zu gewinnen und zu verwerthen , welche dem
Eirntheil des Schädels entnommen sind. Die Länge, Höhe und Breite der
das Gehirn umschliessenden Kapsel entweder direct oder durch Reduction
auf die Basis gemessen, sollen die Grundlagen für die Unterscheidung der
Menschenrassen bilden. Eine solche Richtung der Anthropologie kann nicht
auffallen, wenn wir uns erinnern, dass diese ursprünglich nicht aus der Zoo-
logie sondern aus der Physiologie und zwar zunächst aus der Lehre vom
„Bau und der Verrichtung des Gehirnes'' hervorgegangen ist, Ja man wird
nicht umhin können, darin ein .Moment zu sehen, welches an einen, in der
Physiologie längst überwundenen Standpunkt erinnert, der psychische Po-
tenzen allein auf Volumen- nicht auch auf Structur- Verhältnisse des Ge-
hirnes zurückführen wollte.
Der Zoologe, welcher sich bemüht, die Verhältnisse des Schädels als
Grundlage für eine Unterscheidung der Species zu verwerthen, wird sehr
bald die Erfahrung machen, dass ihn hierbei der Hirntheil des Schädels als
solcher vollständig im Stich lässt. Es ist durchaus unmöglich zwei Species
durch das Gehirn oder die von ihm abhängigen Dimensionen des Schädel-
gewölbes zu unterscheiden. Wo dieses venverthbare Merkmale liefert, da
kommen nur solche Verhältnisse in Betracht, die seine Beziehungen nicht
zum Gehirn, sondern zu den übrigen Theilen des Körpers, Kaumuskeln,
Nackenmuskeln etc. ausdrücken. Nur der Gesichtstheil des Schädels liefert
dem Zoologen Merkmale zur Unterscheidung der Species. In ihm verkörpern
sich vorzugsweise die Lebensbedingungen der Art. Nicht als ob das Nerven-
200
röhr vollständig c-mancipirt wäre von dem Einfluss natürlicher Verhältnisse ,
allein uns fehlen nur Organe, seine subtilen Differenzen wahrzunehmen. Da-
her muss es wie eine Anomalie erscheinen, wenn die Anthropologie sich be-
müht, bei der Systematik der Menschenrassen vorzugsweise solche Momente
in Betracht zu ziehen, welchen in allen übrigen Fällen, soweit es die Species
betrifft, ein Einfluss auf das System abgesprochen werden muss. Ausserdem
geben uns auch die gebräuchlichen Methoden der Schädelmessung nicht ein-
mal eine genaue Darlegung der Verhältnisse des Gehirnes selbst, sondern
nur einzelne unbestimmte Maasse desselben, nicht einmal direct, sondern erst
durch eine dicke und höchst variable Hülle hindurch gemessen.
Nicht selten findet der Zoologe da noch höchst werthvolle Charaktere
der Species, wo für den physiologischen Anthropologen möglicherweise völlige
Identität herrscht. Man denke nur an die systematische Bedeutung der
Gestalt und Lage des Zwischenscheitelheins bei den Murinen, bei denen
vielleicht die Proportionen des Hirntheiles nach den Durchmessern desselben
völlig gleich sein können, während doch das Zwischenscheitelbein nach den
•Species die wesentlichsten Differenzen aufzuweisen hat.
Vielleicht wird man zu Gunsten der gebräuchlichen Schädelmessungen
den Einwand geltend machen, dass die Theorie von der Praxis unterstützt
werde, und dass die Classification der Menschenrassen, wie sie aus den Ver-
hältnissen der Hirnkapsel hervorgehe, eine durchaus befriedigende und natur-
gemässe sei. Um den Werth dieser Behauptung ermessen zu können, wird
es nöthig sein, einen Blick auf die Resultate jener Messungen zu werfen. Es
wird zu dem Zweck genügen, diejenige Eintheilung der Menschenrassen zu
prüfen, welche Aeby*) geliefert hat, da er sich ohne Zweifel der rationellsten
Methode der Schädelmessungen bedient hat. Aeby hat das Unzulängliche der
von Retzius angewandten Begriffe der Dolichocephalie und Brach) cephalie
richtig erkannt, indem er in Bezug darauf (jL c. p. 30) bemerkt. „Wie kann
denn auch ein System ein ethnologisch verwerthbares Material liefern, das
eine allen natürlichen Verwandtschafts- Verhältnissen so offenkundig wider-
sprechende Gruppirung der Völker aufstellt, wie die von Retzius gegebenen."
Vergleichen wir nun aber die Resultate, zu denen Aeby**) selbst gelangt ist,
so finden wir, um einzelne Beispiele hervorzuheben, den Chinesen als nächsten
Verwandten des Neuholländ-jrs, der Däne der Steinperiode, der Hottentotte,
Buschmann und Zigeuner gehören derselben speciellen Gruppe an, der Grieche
steht neben dem Botocuden und der Russe nahe bei dem Caraiben, während
der Paraguaner nicht seinen übrigen Südamerikanischen Stammesgenossen zu-
gezählt wird, sondern seinen Platz neben der Aegyptischen Mumie erhält. Solchen
Resultaten gegenüber wird man wohl Bedenken tragen müssen, die Richtigkeit
des Princips, welches diesen Gruppirungen zu Grunde liegt, anzuerkennen.
*) Die Schädelformen des Menschen und der Affen. Leipzig 1867, p. 38.
**) 1. c. p. 38.
201
Man wird zugeben müssen, dass damit nur eine Classification der Hirnkapseln,
nicht aber eine solche der Menschenrassen gegeben ist. Schon oft hat man
versucht, ein einzelnes Moment als Prinzip der Classification aufzustellen,
aber man hat ein „System der Säugethiere nach dem Gehirn" <>der „nach
der Placenta" genannt, was in Wirklichkeit nur eine Eintheilung der Gehirne
oder Placenten gewesen ist.
Es ist schon oben bemerkt worden, dass die Organe der Ernährung und
Bewegung weit brauchbarere Charaktere für die speziellen systematischen
Einheilen liefern, als das Nervenrohr. Fs wird daher auch bei Schädelmes-
sungen zum Zweck der Gruppirong der Menschenrassen ein grösseres Ge-
wicht auf die Verhältnisse des Gesichtsschädels zu legen sein, als das bisher
geschehen ist. Schwerlich wird man die blosse Schädelkapsel eines Hotten-
totten als solche mit Bestimmtheit ansprechen, während Jemand, der dessen
Gesichtsschädel nicht erkennen oder mit dem des Zigeuners verwechseln
würde, kaum berufen sein dürfte, in ethnographischen Fragen sein Urtheil
abzugeben.
Auf den nachstehenden Tabellen habe ich die wichtigsten Maasse der
beiden Coroados-Schädel mitgetheilt. Dass hierbei auch der Gesichtsschädel
mit dem Unterkiefer berücksichtigt worden, wird wohl nach dem bereits Ge-
sagten keiner besonderen Rechtfertigung bedürfen. Als Grundlinie wurde die
Entfernung des Foram. occ. magn. von der Sutura nasofront. angenommen,
obschon wegen des geringen Vergleichungs:Materials eine Reduction der übri-
gen Masse auf diese Grundlinie nicht ausgeführt worden ist. Diese Grund-
linie hat hinreichende Constanz innerhalb des so engen Kreises, in dem sich
die Unterschiede der Menschenrassen bewegen. Bei Vergleichungen allge-
meineren Charakters, wie zwischen Menschen- und Affenschädeln, würde
dieser Grundlinie eine hinreichende Beständigkeit mangeln, und man müsste,
wie dies auch Aeby 1. c. gethan hat, auf jene Grundlinien zurückgreifen, die
den Körpern der Schädel wirbel mehr oder weniger vollständig entlehnt sind.
Maasse der Schädel (in Millimetern).
a. Hirntheil. I II
1. Von dem vorderen Rande des Foram. oeeip. mag. bis zur Sutura nasofrontal. 100 100
2. Von ebendaher bis zur Mitte des Stirnbeins (die Horizontale des oberen Ran-
des der Orbita als vordere Grenze desselben gedacht) .... 129 131
3. Von ebendaher bis zum vorderen Ende der Sutura sagittalis . . .138 138
4. Von ebendaher bis zur Mitte der Sutura sagittal. (der höchste Punkt des
Schädels, wenn die Grundlinie (Nr. 1) horizontal steht) . . . .136 13"
5. Von ebendaher bis zum hinteren Ende der Sut. sagitt. . . . . 116 118
6. Von ebendaher bis zu demjenigen Punkte des Hinterhauptes, welcher bei
horizontaler Stellung der Grundlinie als der äusserste erscheint . .01 99
7. Von der Sut. nasofront. bis zum hinteren Rande des Foram. oeeip. mag. nach
der Krümmung des Schädels mit einem Faden gemessen . . . 373 365
8. Von ebendaher bis zum Anfange der Sut. sagittalis . . . . . 124 131
9. Von da bis zu deren Ende 131 119
1 18
115
185
178
145
13G
104
100
320
330
36
3.»
32
31 ,5
'202
10. Von da bis /um hinteren Ramie des Foram. ooc. magn. (8, !) u. 10 eben-
falls nach der Krümmung gemessen) .......
ii. Von der Glabella bis zu nVro äussersten Punkte des Hinterhauptes (vergl 6)
l -.. Grössb Breite rles Schädels .........
13. Entfernung der Spitzen der Proc. mastoid. von einander ....
14. Vom oberen Rande der äusseren Geböröffnung Ins zu dem der anderen Seite
(über die Tub. pariet. gemessen) . .......
15. Länge des Foram. occ. magnum . . .....
16. Breite1 desselben ...........
17. Entfernung der äusseren Gehöröffnungen von einander (an der Interseite des
Schädels gemessen) . . . . . . . - • .112 103
b. Gresichtstheil.
1. Grösste Breite an den Jochbogen ........
2. Vron der Sutura nasofrontalis Ins zum unteren Rande der Nasenöffnung (Aper-
tura pyriformis) seitwärts von der spina nas. ant. . ....
3. Von ebendaher bis zum äussersten Rande des Oberkiefers zwischen den 1 »ei-
den mittelsten Schneidezähnen ........
•!. Höhe der Orbita, ungefähr in der Mitte gemessen .....
5. Breite der Orbita ...........
ti. Geringste Entfernung der Orbiten von einander ....
7. Von dem Aussenrande der einen Orbita in grader Linie zu dem der anderen
8. Länge" der Nasenbeine (in der sagittalen Naht gemessen) ....
9 Ihre Breite am freien Ende in grader Linie gemessen ....
10. Grösste Br< ite der Apertura pyriformis .......
11. Länge der Naht, welche vorn die Oberkiefer mit einander verbindet (bis auf
die obere Seite der Spina nas. ant. gemessen') .....
12 Vom unteren Rande der Orbita bis zum unteren Rande des Joeht'ortsatzes
des Oberkiefers etwas nach innen vom Tuber zygomaticum
13. Vom Tuber zygomat. der einen Seite l>is zu dem der anderen Seite .
14. Breite der Oberkiefer an der Aussenseite der Alveolen des ersten Mahlzah-
nes m 1 ...........
15. Vom vorderen Rande des Foram. oeeip. magn. bis Spina nasalis post.
16. Von ebendaher bis zum Ausschnitt neben dieser Spina ....
17. Von ebendaher bis zum hinteren Ende der Sutura incisiva
18. Von eoendaher bis zum vorderen Ende derselben zwischen den beiden mit-
telsten Schneidezähnen .........
id. Von ebendaher bis zur spina nas. ant. .......
20. Von ebendaher bis zum unteren Rande der Apertura pyriformis neben der
Spina nas. ant. ........... 89 86, o
21. Von ebendaher bis zu iner Querlinie, welche die hinteren Ränder der Al-
veolen für m 2 jederseits mit einander verbindet .....
22. Von der Spina nas post. bis zur Spina nas ant. . ....
2:i. Von ebendaher bis zum vorderen Ende der Sutura incisiva zwischen den
mittelsten Schneidezähnen .........
24. Breite der Choanen am hinteren Rande des knöchernen Gaumens gemessen
25. Abstand der 2 Mahlzähne, m 2, jeder Seite von einander, an den inneren
Rändern der Alveolen gemessen . . . . . . . . — 41
26. Vom hinteren Rande der Alveole des m 2 bis zum vorderen Rande der Al-
veole des vordersten Prämolarzahnes p 2 . . . . . . 32, & 34
27. Von der Spitze dei Proc. mastoideus bis zu m 2, an der Alveole gemessen 70 70
28. Vom Alveolar-Rande des Oberkiefers zwischen m 1 und m2 bis zum unteren
Rande der Orbita .......... 44 43,5
145
133
53,5
51
75
70
38
36,5
40
38,5
25
27
105
104
—
21
—
14,5
26
25
24,5
22
26
22,5
102
104
*
58
45,5
46
48,:*
51
62
61
100
94
92,5
91
56
48
47
56
49
27
29
JIM
c. II n 1 e r k ie fe r.
[ II
l Breite des Ramus perpendicularis, seukrechl zu seiner Längsrichtung
messen . . . . . . . . . .34,5
2. Vota vorderen Rande der Alveole des Zahnes p 2 bis zum hinteren R.
des Etam. perpend. in der Höhe des Alveolar Randes des Unterkiefers ge
messen . . . . . . • • ■ • . . ■ i 70,5
3. \ im ilrr Querlinie, welche diese Punkte an den beiden Ram. perpend. mit
einander verbindel bis zum hinteren Rande iler Alveolen für die mittelsten
Schneidezähne ...........
4. Länge dieser Querlinie ..........
5. Abstand der Gelenkköpfe von einander . .....
•'>. Der Querdurchmesser eines Gelenkkopfes .......
7. Grösste Breite der [ucisura sigmoidea .......
8. Von dem unter Nr. 2 angenommenen Punkte am hinteren Rande des Rain.
perpendic. Ins /.nm Hinterrand der Alveole des letzten Backenzahnes m 3
!'. Entfernung der Prof. coronoid. von einander ......
10. Vom Angulus |d. h. vom unterem Rande des Körpers oder Ram. lioi i/.ont.)
bis zur Spitze des Proc. eoron. . . .....
11. Von ebendaher ins zur [ncis. sigm. .......
12. Von ebendaher bis zum höchsten Punkt des Geleukkopfes
13 Höhe des Ram. horizont. hinter m 3 ......
14. , , m 2
15. „ , ,, in 1
16 • , „ , p 1 ...
17- „ , „ Pa . .
in. „ , zwischen c u. p 2 .
13. „ „ „ zwischen den mittelsten Sehneidezähnen
20. Länge der fünf Backenzähne (rechts an den Alveolen gemessen .
21. Abstand der letzten Backenzähne m 3 von einander an den Alveolen gemessen
22. Abstand der ersten Backenzähne p i von einander .....
23. Breite der Sehneiden der 4 Vorderzähne ......
Zur unmittelbaren Vergleichung lagen mir f> männliche Schädel von der Berliner Anatomi
also mit einiger Wahrscheinlichkeit germanischen oder slavischen Ursprungs, vor. Keiner unter
diesen hat einen so hohen und kräftigen Unterkiefer und so entwickelte Wangengegend wie der
Coroado Nr. 1. Doch würden sich bei grösserem Material ohne Zweifel auch bald solche Schä-
del finden, die ihn darin nicht bloss erreichten, sondern noch überträfen. Der Coroado Nr. !1
liegt aber vollkommen innerhalb des Typus, den jene Schädel repräsentiren. Nur ist bei ihm
wie auch bei iNr. I der untere Rand des Proc. zygoin. des Oberkiefers bogenförmig verlaufend,
während bei den 5 Berliner Schädeln der Proc. niedriger und daher am unteren Rand mehr
winklig ausgeschnitten ist. Einer dieser Schädel, die meistens orthognath sind, ist aber sehr
schiefzähnig und erreicht hierin vollkommen die Coroados. Ich glaube daher nicht, ilass man
im Stande ist, irgend ein specifisches Merkmal für die Schädel der Coroados aufzufinden, und
dass dieselben, namentlich der Schädel Nr. 11, ebenso gut als germanische angesprochen werden
konnten. Es liegt daher auch kein Grund vor, jenen Indianerstamm uns gegenüber als eine be
sondere Species im Sinne der systematischen Zoologie zu betrachten.
77
74
104,
104
83
83
21
21,
25 5
II
40,5
40
108
10S
72
72
54
54
75
7i'.
32,
32,;
:;■;
32
34
34
36
35
37
37
37
36,5
36
35..
45
47
54,
53
30
30
23
23
Taf. VII.
Eig. 1. Schädel des Coroado Nr. 1.
Fig. 2. Schädel des Coroado Nr. II.
204
Der Uglei.
(Zur Kunde und Vorgeschichte des ostholsteinischen Seegebietes.)
Von den zahlreichen ostholsteinischen Seen erfreut sich keiner eines sol-
chen allgemeinen Ansehens wie der eine Meile nördlich von Eutin, im olden-
burgischen Fürstenthuni Lübeck belegene Uglei-See, kurzweg der Uglei
genannt Es ist nicht Grösse, die ihn auszeichnet, denn hierin übertreffen
der Plöner. Selenter, Waterneversdorfer, Keller und Eutiner See ihn bei Wei-
tem, sondern die vorzügliche Anmuth seiner Lage, die Schönheit seiner Uler
und vor Allem die geschäftige Sage, welche seinen dunkeln Wasserspiegel
mit dem Reize des Geheimnissvollen umkleidet. Viele Mitglieder der Philo-
logen-Versammlung, welche 1869 in Kiel tagte, haben auf einer Extrafahrt,
die nach Eutin, der Geburtsstätte Carl Maria von Webers veranstaltet wurde,
den Uglei besucht und seinen Eindruck als eine werthe Erinnerung und mit
ihr zugleich eine Ahnuug der Naturschönheiten, welche das östliche Holstein,
diese freilich abseits der Hauptpulsader belegene und im übrigen Deutsch-
land so gut wie unbekannte Halbinsel birgt, in ihre Heimath mitgenommen.
Auf jene dem Erdkundigen, dem Naturforscher und dem Alterthümler
noch manche Ausbeute verheissende Gegend wollen diese Zeilen, welche zu-
nächst dem vom Verfasser wiederholt in den Jahren 1868 und 1869 unter-
suchten Uglei gewidmet sind, zugleich mit aufmerksam machen.
Hydrographisch interessant ist der Uglei, indem er, obwohl nicht 3 Mei-
len von der Neustädter Bucht belegen, zu dem ostholsteinischen Seegebiet
gehört, welches mittels der Wilsau und Schwentine in die Kieler Bucht ab-
fliegst. So liegen über den Ostsee-Spiegel:
der Stendorfer See .... etwa 116 Fuss
„ Sibbersdorfer See ... „100 „
„ grosse Eutiner See . . „ 96 „
„ Uglei „ 90 „
„ Keller-See „ 86 „
„ Diek-See „ 84 „
„ Behler-See „ 82 „
„ grosse Plöner-See ... 80 w
„ Lanker See „ 73 „
„ Post-See „ 65 „
Ist die Tiefe des Uglei so bedeutend, wie man behauptet, und wie eine
solche bei vielen holsteinischen Seen in der Gegend von Segeberg beobachtet
wird, wo namentlich flache Gründe mit jähen Abstärzen der Seeboden wech-
205
sein, so bietet der Untergrund der Gegend hierzu eine Erklärung. Er be-
steht gerade wie in der Mark Brandenburg zum TheiJ aus Gyps-, Kalk- und
Salzlagern, und es ist den Geologeu eine wohlbekannte Thatsache, dass zu
den den Gyps, den Kalkstein, das Kreide- und Salzgebirge besonders be-
zeichnenden Erscheinungen, die oft ziemlich tief im Boden vorhandenen, an
Gestalt und Grösse sehr mannigfachen Höhlungen (Kalk- und Gyps-Scblotten)
und die unmittelbaren Begleiter derselben, die über den Höhlen oder in der
Nähe ihrer Züge vorkommenden Erdfälle, gehören. Letzter. • haben nur
zwei ganz entschiedene und immer wiederkehrende Formen; sie sind entwe-
der trichterförmig oder verkehrt kegelförmig, zum Tlieil einen umgekehrten
abgestumpften Kegel darstellend, oder sie sind kesseiförmig mit scharfen Rän-
dern. Sodann zeigen sich die Erdfälle theils als trockne Gj üben oder Ein-
senkungen des weiteren Seebodens, theils als kleine runde für sich abge-
schlossene Seen, deren ganze Umgegend zuweilen flach ist und deren Ufer
meist in der Waage mit der Wasserfläche steht, die aber dessenungeachtet
fast ohne Vorland schroff bis zu einer bedeutenden Tiefe abfallen und auf
dem Grunde voll Holz liegen. (Vgl. Berghaus: Landbuch der Mark Bran-
denburg. I. 1854. S. 73.) Solche Erd- und Seefälle sind noch in histori-
scher Zeit vorgekommen, ereignen sich bei uns noch hie und da, und mögen
mit Veranlassung zu den schauerlichen Namen, den solche Seelöcher mitunter
führen, gegeben haben.
Der Uglei wird durch ein Rinnsal vom Lebeben-See gespeist, während
er selbst wieder Abfluss nach dem Keller-See nimmt. Er bildet in ostwest-
licher Richtung etwa ein Eirund, hat meist Sand-, an einigen Stellen Moor-
Boden und weiches Wasser, was indessen meist dunkel erscheint, da die
Ufer zum Theil steil und mit hohen Buchen bestanden sind, die hier in üp-
piger Fülle, wenn auch nicht in solcher Masse vorhanden sind, wie in den
Zeiten, wo nach Rantzow in den Rendsburger Holzungen jährlich 14,000, in
den Waldungen um Segeberg über 19,000, in denen von Bordesholm 10,000,
von Reinfeld 8000, von Ahrensbök 4000, in manchen Gehölzen auf Alsen
über 5000, und auf Kekenis 17,000, endlich in den fürstlich Gottorfer Hol-
zungen '. 0,000 Schweine Mast fanden und wo, wie der alte Neocorus, der
Chronist der Dithmarsen berichtet, ein Eichhörnchen von Meldorf im Westen
bis zu den Grenzpfählen im Osten auf eitel Bäumen springen möchte, ohne
den Boden zu berühren.
Dieser Waldkranz giebt dem Uglei eine feierliche, fast schauervolle Um-
gebung, die an den Baa-See bei Freienwalde a. O. und den Hertha-See
auf Rügen erinnert, welche beide ebenfalls ein Buchenhain umfasst und ein
reicher Sagenschatz schmückt. An Majestät überragt der Hertha-See, den
seine abgerundetere Form auszeichnet, freilich beide.
Der Uglei gehört, antiquarisch betrachtet, zu der Klasse von Landseen,
die im Brandenburgischen und anderen Theilen des deutschen Nordens nicht
selten bedeutsame Namen, als: der heilige See, der Heiden-See, der
206
Burgsee, der Teufels-See, die Hölle, die blanke Hölle, der Gott-
seibeiuns u. s. \v. zu führen pflegen und dem Alterthumsforscher längst als
Sitze vorgeschichtlicher Cultur bekannt sind. Es sollen diese Bezeichnungen
auf alte Cultusstätten hinweisen, die ihren geweihten Namen dann behielten,
wenn christliche Ansiedlungen (Einsiedeleien, Kapellen, Kirchen, Klöster) an
ihre Stelle traten, entgegengesetzten Falls jedoch von den christlichen Send-
boten als verfluchte und dem Teufel verfallene, sowie als Eingänge zur Hölle
dienende heidnische Oertlichkeiten gebrauutmarkt wurden. Kundliche Gestalt,
hohe Ufer, sumpfiger, schwarzer Grund und, wo die Axt noch nicht um sich
gefressen, stattlicher Eichen- oder Buchenwuchs eignet diesen stillen, strom-
losen Wassern, deren Spiegel jetzt nicht selten bereits derartig eingeschrumpft
ist, dass er nur noch als Weiher oder Teich gelten kann. Die Sage macht
diese Seen grundlos, lebende Thiere, namentlich Fische, sollen in ihnen nicht
hausen. Grundlos soll der Hertha See sein, dessen Tiefe gleichwohl mit
50' ausgelothet zu sein scheint; zahlreiche Fische, wie ich mich selbst über-
zeugt, Frösche, Tritonen, Schnecken und Muscheln, dagegen keine Krebse
die auf ganz Rügen fehlen), birgt sein Schooss. — Bei Damsdorf, nahe
Plön, soll der Teufelssee grund- und fischlos sein. -- Der Ramsee in
Schwansen, auch vom Teufel angelegt, ist unergründlich und enthält kein
lebendes Geschöpf. — Unergründlich ist der Teich „blaue Damm" bei
Flensburg, wo ein gottloser Ritter mit seinem Schloss versank. Aehnlich
sind der kleine See bei Segeberg und derKuhlsee nicht weit von der-
selben Stadt unergründlich tief und vom Teufel angelegt. (Vgl. Müllenhoff:
Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und
Lauenburg.)
So soll auch der Uglei unergründbar uud fischlos sein. Leider besteht
auch hier der Volksmund vor dem Naturkundigen nicht. In den Theilen sei-
nes Grundes welche moorfrei, kiesig und fest sind, bemerkte ich zahllose
Muscheln (Unio tumidus und Anodonta piscinalis) eingebohrt; an
Steinen haften zierlich gebänderte Neritinen und Napfschnecken (An-
cylus lacustris), während an den verschlungenen Ranken von Myriophyl-
lum und C eratophyllum zahlreiche Planorben, Physen, Paludinen
und Limnäen berumkletterten*). Ein Kieler versicherte mir Fische (Aale?)
im Uglei gefangen zu haben, wie denn sein Name schon auf einen Fisch
weist, den Ugley, Ukley, lkley, Ykley, auch dreisylbig geschrieben,
(Uklea auf Russisch), die slavische Bezeichnung des Weissfisches (Al-
b u in us lucidu s).
Zwar sagt P. H. K. v. Mauck (Urgeschichte des Schleswig-Holsteinischen
Landes. I. 2. Aufl. S. 101): „Was bedeutet das Wort Ugley? Die erste
') Lieber die Fauna des Ugley vergleiche meine Aufsätze: Zur Kunde der Weich thiere
Schleswig-Holsteins, in den Alalaeozoologischen Klätteru für 1869, S. 30 uud den
2. Nachtrag dazu im Jahrgang 187U.
207
Sylbo dos Wortes kommt in mehreren Ortsnamen des Landes vor, /.. B. die
Uggel-Harde (im Amte Flensburg), das ehemalige Kirchdorf Huglstedt, das
Wort ist keltisch und entspricht dem deutschen Hügel; die zweite Sylbe ey
bedeutet Insel, also ist Ugley die Hügclinsel." - Allein diese Erklärung --r-
schein! eine höchst gezwungene, wogegen bekannl ist, dass die Slaven, in
Sonderheit die Wenden, welche recht eigentlich ein Fischervolk sind, und
sich ;ds solches uoch Lange auf den sogenannten K i .-t x*-n abgesondert von
den deutschen Einwanderern erhalten haben, zahlreichen Seen, nach den darin
befindlichen Fischen, Namen, die noch heut gelten, verliehen haben. So fal-
len mir im Augenblicke <'in: die Ugley-Pfuhle /.wischen Rixdorf und
Sc-hmökewitz (2 Meilen südöstlich von Berlin), der Ugley-Fluss, Ugley-
See (kurzweg der Ugley genannt) und das Korst haus zum Ugley
Qj Meilen südöstlich von dem letztgenannten Dorf), die Plötzen-Seen, bei
Ratzeburg im Lauenburgschen , bei Berlin und bei Biesenthal
(3J£ Meile nördlich von Berlin) von dem bekannten Fisch Leuciscus ruti-
lus (Plotiza auf Kussisch), der Karutz-See (eine Meile südlich der Rü-
dersdorfer Kalkberge), der Karass-See (eine Meile südlich von der Stadt
Storkow in der Mark) von der Karausche [böhmisch Karassek], Caras-
sius vulgaris, also benannt. -■ Hierzu kommt, dass nicht das umliegende
Land, wie man nach v. Maack's Deutung erwartet, sondern der See den Na-
men Ugley führt.
Die germanischen Eroberer haben häufig die slavischen Fischnamen all-
mählig reeipirt, was um so leichter geschah, als die Slaven keineswegs aus-
gerottet, vielmehr nur amalgamirt wurden und lange Zeit, hier und da bis
heutigen Tags, die Haupt-Fischlieferanten für die deutsche Bevölkerung ge-
blieben sind*). Die Kämpfe zwischen Deutschen und Slaven waren aber in
der ostholsteinischen Seegegend gerade sehr erbittert, es bieten die dortigen
Vorgänge wiederum einen der mehrfachen parallelen Züge zu der noch so
vielfach im Dunkel gehüllten deutschen Colonisation der Mark Brandenburg.
Albrecht der Bär, der i. J. 1144 den Namen eines Markgrafen von Bran-
denburg annahm, 1157 Brennibor eroberte, colonisirte hierauf (etwa gegen
1162) das Land Spirawani (Spreegau) mit Deutscheu. „Er unterjochte,
schreibt Helmold in der Chronik der Slaven, das ganze Land der Brizanen,
der Stoderanen und vieler Völker, welche an der V vel und Elbe wohnten,
und zügelte die Aufsässigen unter ihuen. Zuletzt, da die Slaven allmählig
verschwanden, schickte er nach Utrecht und den Rheingegenden, ferner zu
denen, die am Oceau wohnen und von der Gewalt des Meeres zu leiden ha-
ben, nämlich zu den Holländern, Seeländern und Flämingeru. und zog von
dort gar viele Ansiedler herbei, die er in den Städten und Flecken der Slaven
wohnen Hess".
") Das merkwürdige in den Hauptwendenstädten Spandau, Potsdam, Cöpenick und
Brandenburg noch bestehende Institut der Pritzstapel (Wasservögte) beweist noch heut
die Wichtigkeit des altwendischen Fischergewerbes.
208
Aehnlich machte es Graf Adolf von Holstein mit dem ostholsteinischen
Seegebiet. „Weil das Land menscheuleer war, so sandte er Boten aus in
alle Lande, nach Flandern und Holland, nach Utrecht, Westfalen und Fries-
land, und Hess alle die, welche um Land verlegen waren, auffordern, mit ihren
Familien hinzukommen, sie würden sehr gutes, geräumiges, fruchtbares, Fisch
und Fleisch im Ueberfluss darbietendes Land und vorteilhafte Weiden erhal-
ten. Den Holzaten und Sturmaren liess er sagen: „Habt ihr nicht das Land
der Slaven unterworfen und es mit dem Blute eurer Brüder und Väter er-
kauft? Warum säumt ihr es in Besitz zu nehmen? Seid die Ersten in das
erwünschte Land hinüber zu wandern, und bewohnt es, und nehmt Theil an
den Genüssen desselben, da Euch das Beste davon gehört, weil ihr es aus
Feindeshand gerissen habt." - Diesem Aufruf folgend erhob sich eine unzäh-
lige Menge aus verschiedenen Völkern, und sie kamen mit ihren Familien
und mit ihrer Habe ins Land der Wagrier zum Grafen Adolf, um das Land,
das er ihnen versprochen hatte, in Besitz zu nehmen. Zuerst erhielten die
Holzaten Wohnsitze an sehr sicheren Orten im Westen bei Segeberg an der
Trave, auch das Schwentinethal und Alles was sich vom Sualenbache bis
nach Agrimesau und bis zum Plönersee erstreckt. Das Darguner Land be-
zogen die Westfalen, das Eutiner die Holländer, Süssel die Friesen. Das
Plöner Land war noch unbewohnt". (Helmold a. a. 0. I. 57.)
Zuvor war das ostholsteinische Seegebiet, wie es scheint, bis zu den
letzten sächsichen Kaisern bereits germanisirt gewesen, die deutsche Bevölke-
rung aber nachmals verdrängt worden. „Noch giebt es, schreibt um 1172
Helmold, der selbst in jenem Seegebiete, nämlich zu Bosow, einem wagri-
schen Kirchdorf am grossen Plöner See, Pfarrer war, mehre Spuren jener
alten Bevölkerung, zumal in dem Walde der sich von der Stadt Lütjenburg*)
in sehr weiter Ausdehnung bis Schleswig hin erstreckt. Die weite Einsam-
keit und das tiefe, fast undurchdringliche Dickicht desselben bieten noch
Gränzlinien dar, durch welche • einst die einzelnen Aecker abgetheilt waren.
Auch die Anlage von Städten oder festen Orten ergiebt sich aus dem Bau
der Wälle. Ebenso zeigen sich die Dämme, welche, um das Wasser zum
ßehufe der Mühlen aufzustauen, an den meisten Bächen aufgeführt sind, dass
jener ganze Wald einst von Sachsen bewohnt war." (a. a O. I. 12.)
Diese Stelle ist äusserst wichtig, weil sie klar zeigt, zu wie verschiede-
nen Zeiten wir uns die Entstehung der alten Erdaufwürfe, Burg-
wälle u. s. f., an denen sich noch heut die Forscher abquälen, zu denken
haben. Und merkwürdiger Weise fanden die von dem Askanier Albrecht in
die Marken gerufenen niederdeutschen Siedler ähnliche Werke germanischer
Vorbevölkerung bei ihrem Einzüge, zumal in der Alt-Mark, vor, was Helmold
(a. a. O. I. 88) bezeugt. Man sieht, wie bequem es sich diejenigen machen,
•) Bei Lütjenburg habe ich verschiedene grosse HfinonpTäber von schöner Glockenfonn be-
merkt, /.um Theil nach Rügenscher Art mit Eichen bestanden.
209
welche diese Dämme und Verwallungen kurzweg den Slaven zuschreiben.
Dem Geschichtsschreiber der Slaven, der um die Mitte des 12. Jahrhunderts,
mitten unter slavischer, zum Theil noch heidnischer Bevölkerung lebte, der
über Land und Volk genaue Kunde sammelte, erschienen jene zum Theil ge-
waltigen Erdwerke, bereits als stumme Zeugen längst vergangener Zeiteil,
längst verstorbener Völker. — Oskar Schuster, der in seiner Schrift über die
alten Heiden schanzen Deutschlands (Dresden bei Türk, 1869, gr. 8.)
die letzteren fast ausschliesslich Deutschen zueignet, jedoch die von uns an-
geführten wichtigen Belagsstellen nicht zu kennen scheint, erhält durch diese
eine wenigstens theilweise und locale Bestätigung seiner Hypothese. — Schanz-
züge jener Art finden sich auch in der Nähe unseres Uglei.
Der Uglei-See würde zu dem Gebiete der sechs Nerthus- Volke r
des Tacitus gehören, wenn v. Maack's Annahme (a. a. 0. S. 54), dass 01-
denburg-Fe hm am die lange vergeblich gesuchte, im grauen Alterthum
hochheilig gehaltene Nerthus- (Hertha-Insel, und der vier Meilen vom
Uglei entfernte ehemalige Siggen-See der Nerthus- (Hertha-) See ist,
zutrifft. In der Slavenzeit wurde in der Nähe des wagrischen Uglei verehrt
Prove, recht eigentlich der Nationalgott des Stargarder (Oldenburger)
Landes, wie Siwa, als Göttin der benachbarten Polaben und Radi gast
als Gott der Obotriten (Mecklenburger). „Diesen waren, belehrt uns
Helmold (I. 52) Priester geweihet und wurden besondere Opfer dargebracht,
und man verehrte sie auf mancherlei Weise. Ferner macht der Priester nach
Anweisung des Looses Anzeige, welche Feste den Göttern zu feiern seien.
Dann kommen Männer, Frauen und Kinder zusammen und bringen ihren
Götzen Opfer dar, bestehend in Rindern und Schafen; ja sehr Viele opferu
auch Menschen, Christen nämlich, weil sie erklären, am Blut derselben hät-
ten die Götter Wohlgefallen. Nachdem das Opferthier getödtet ist, kostet
der Priester von dem Blute desselben, um sich zum Empfange göttlicher Wei-
sungen mehr zu befähigen. Denn, dass die dämonischen Wesen durch Blut
leichter anzulocken sind, ist die Meinung Vieler. Wenn dann das Opfer dem
Brauche gemäss vollzogen ist, so wendet sich das Volk wieder zu Schmaus
und Freude." — Eine solche Opferstätte und vielleicht die wichtigste des
ganzen Landes, liegt eine Meile nordöstlich vom Uglei, der Rungs-Berg,
mit 554 Fuss der höchste Berg Holsteins, von dessen Aussichtsthurm ich eine
der schönsten Aussichten, welche Norddeutschland bietet, genossen.
Von all jenen düsteren Seen, zu deren Klasse der Uglei gehört, gehen
düstere Mähren und Sagen. Gottlose Städte, Schlösser und Dörfer sind in
ihnen versunken, Kirchen, deren Thürme man wohl ab und zu noch sieht,
(Irren Glocken noch hin und wieder mahnend ertönen. Wälder wurzeln auf
ihrem Grunde, an denen der Fischer nicht selten seine. Netze zerrissen haben
will. Die wenigen bis jetzt vorgenommenen Untersuchungen solcher Gewäs-
ser haben in der Thal tust immer vorgeschichtliche Menschenspureu in ihnen
entdeckt, hie und da Pfahl- oder luselbauten, wie auch an ihren Ufern niclil
Zeitschrift für Elhuologio, Jahrgang 187U .r
210
selten Opferblöcke, Steine mit Fusstapfen und ähnlichen Zeichen (beides am
Hertha-See bei Stubbenkammer), Graburnen, Scherben, steinerne, thönerne
und erzene Geräthe, Thierknochen u. a. m. gefunden worden. Sie sind alle
gründlicher Nachforschung dringend zu empfehlen.
Vom Uglei berichtet die Sage: „Oben auf dem Hügel, wo jetzt das Som-
merhaus steht, stand früher eine Burg, in der ein junger schöner aber wilder
Ritter hauste". — Er habe einem Bauermädchen die Ehe versprochen, aber
eine Grälin geheirathet. Die Kapelle sei bei der Trauung unter Donner und
Blitz versunken und der See entstanden. — „Nur der Prediger, die Braut
und ein kleines unschuldiges Mädchen, die auf die hölzernen Stufen des Al-
tares getreten waren, wurden gerettet. Zuweilen aber bei stillem Wetter klingt
noch der Ton des Glöckleins der Kapelle aus dem Wasser herauf". (Preetzer
Wochenblatt, 1831, Nr. 46, 47 u. 48). Dichterisch bearbeitet sind die Sagen
vom Uglei neuerlich von Christian Rode (Der Uglei-See. Altona 1869. Lehni-
kuhl u. Co. 8. 15 sgr)
Der Hügel am Westufer des Sees, mit dem gedachten Sommerhause, zeigt
Spuren menschlicher Umformung, bei einer flüchtigen Nachgrabung im Hügel,
ingleichen an seinem Fuss im See begünstigt durch den ungewöhnlich niedri-
gen Wasserstand des Sommers 1808 fand ich mehre Steinwerkzeuge, als
prismatische Messer, Meisselfragmente, Schaber und Kieselabsplisse, ähnliches
Geräth im Jahre 1869 in der Nähe des Uglei auf dem Wege zum Keller und
Plöner-See. Der See wie der bezeichnete, eigentümlich gestaltete Hügel
scheinen hiernach eingehenderer Untersuchung, gewähre sie auch nur ein
negatives Resultat, wohl werth. Möge eine solche jetzt, wo das östliche Hol-
stein, von Norden her durch die Kiel-Neustädter Bahn zugänglich ist und
auch von Süden her durch die Lübeck-Eutiner Bahn geöffnet wird, nicht zu
lange auf sich warten lassen. Als trefflicher Leitfaden in jenem Seegebiet
kann empfohlen werden: Bruhns, Führer durch die Umgebungen der osthol-
steinischen Eisenbahn. (Eutin, 1868, 8. 1 Thl.)
Berlin, "23. Februar 1870.
Ernst Friedel.
211
Studien zur Geschichte der Efansthiere.
Von Robert Hart mann.
V. Das Rennthier.
Das Renn tili er (Cervus tarandus Lin.) ist bekanntlich eines derjenigen
Geschöpfe, von denen es sehr wohl bekannt, dass sie direct aus dem wil-
den in den domesticirten Zustand übergeführt worden, welcher Vorgang, schon
vor Alters begonnen, auch heut noch fortgeführt wird. Wir haben es hier
nicht nur mit einer durch Menschenkunst bewirkten ephemeren Z äh m u n g, son-
dern mit einer wirklichen Domesticirung eines ursprünglich wilden
8 äuget hie res zu thun.
Das Rennthier gewinnt eine täglich sich mehrende Bedeutung für unsere
vorgeschichtlichen Untersuchungen. Schreiber Dieses hielt es daher für nicht
unangemessen, seine unter obigem Titel begonnenen Arbeiten über Hausthiere
zunächst mit einer Betrachtung eines jetzt gerade in anthropologischer
Beziehung so vielgenannten Geschöpfes fortzusetzen. Zwar kennt Verfasser
selbst das Rennthier nur nach in Menagerien uud zoologischen Gärten ge-
haltenen Exemplaren, hofft aber trotzdem mit der hier folgenden Zu sammen -
Stellung das Interesse des Lesers anregen und weiter auf den betreffenden
Gegenstand hinlenken zu können, welcher zugleich einen Anknüpfungspunkl
an den in Aussicht gestellten, zweiten Aufsatz über Pfahlbauten u. s. w.
gewähren wird.
Das Renn- oder Renthier, auch kurzweg Renn oder Ren*) genannt,
dessen äussere Form und dessen Stellung im Systeme ich als bekannt vor-
aussetze, erreicht im Allgemeinen eine Körperlänge von A\ — 6', eine Schul-
terhöhe von 2' 8" — 3' 4". Die Farbe hält sich bei den wilden Individuen
(wie bei wilden Säugethieren überhaupt) in constanterer Weise, d. h. graufahl,
bei gezähmten dagegen variirt sie ungemein, von Graufahl in Graugelb, Grau-
braun, Braunschwarz, Schwarz, Hellgrau und Weiss. Leichtere Farbenunter-
schiede bringt überdies der Wechsel des Sommer- und Winterhaares mit sich.
Pas bekanntlich beiden Geschlechtern dieser Thiere zukommende, wiewohl
beim 9 schwächer entwickelte Geweih**) bietet hinsichtlich der Grösse und
*) Schwcd. Reen, angelsächs. hrän, engl Rein (-Deer), daher am richtigsten eigentlich
Renthier zu schreiben. Indessen hat sich die usuelle Schreibweise Renn, Rennthier
bei uns hinlängliches Bürgerrecht erworben und kann daher auch im Vorstehenden beibehalten
werden.
"') Bei den Tscheremissen soll e* ungeweihte V geben. Bulletin de la Societe des natu-
ral, de Moscou, 1840, p. 58. Es dürften diese übrigens vielleicht auch an noch anderen Oert
lichkeiten vorkommen ?
15*
212
Stellung seiner einzelnen Sprossen beträchtliche individuelle Abweichungen
dar. Gar nicht selten wächst der rechte erste Spross unregelniässig über Stirne
und Auge hinüber, ja zuweilen biegt sich eine ganze Stange nach einwärts
und vorwärts, in solchem Falle den Kopf vollständig überdachend. Eine
höchst augenfällige Asymmetrie bot ein im zoologischen Garten zu Brüs-
sel gehaltener Rennthierbock dar, welcher im Herbste 1863 nur auf einer
Seite aufgesetzt hatte, 1864 auf der linken Seite einen Augenspross, auf der
rechten eine blosse Stange zeigte*). Das Thier wirft durchschnittlich in der
Mitte Winters ab, setzt in der zweiten Hälfte des Winters auf und fegt im
Spätsommer. Im zoologischen Garten zu Berlin hatten die Rennthiere um
Mitte August 1862 und 1864 noch nicht vollständig gefegt. Andere 1854 oder
1855 in Berlin gezeigte setzten Anfangs Februar auf.
Das wilde Rennthier bewohnt noch gegenwärtig den Norden der alten,
wie der neuen Welt. Iu Europa findet es sich etwa vom 60 — 61° n. Br., in
Asien vom 46° (Sachalin oder Oko-Jeso) ab. In Amerika reicht es bis zum
80° Br. nordwärts, südlich reicht es bis zum 50° n. Br. und selbst noch süd-
licher.
in Norwegen kommt es auf den Fjelds, den hohen kahlen Bergregionen,
zwischen 2500 — 4000 Fuss M. IL vor, im Dovre-Fjeld, in den Aemtern Söndre
und Nordie Bergenhuus u s. w. A. Brehm schätzt ihre Anzahl im Dovre-
Field nach Angabe des Jägers Erik Svensen auf noch mindestens 4000
Stück**).
G. Berna und seine Begleiter jagten es am Sneehätten ***) und beobach-
teten es (wild) am Pippertindf). Nach Island soll das Thier erst um das
Jahr 1770 von Skandinavien aus eingeführt, später daselbst aber massenhaft
verwildert sein. Im letzteren Zustande soll es übrigens nur noch im Osten
der Insel vorkommen ff). Auf Spitzbergen, woselbst diese Wiederkäuer ganz
wild sind, gewähren ihnen u. A. einige schöne moosige Ebenen und Thäler
an der Ostseite des Stourfjord's Aufenthalt f ff). Nach Gh. Martins zeigen
sie sich auf dieser Insel nicht in grossen Rudeln, sondern nur in kleinen,
vereinzelten Trupps*f).
*) Der Zoologische Garten. 1864, S. 392. Einzelne andere interessante Abweichungen hat
Graf Mellin in seiner Geschichte des ltennes zusammengestellt (Schriften der Berlinischen Ge
Seilschaft naturforschender Freunde. VI. Bd. G. Cuvier sagt in Bezug auf diese Verhältnisse
sehr treffend: „II en est des bois du renne comme de son pelage; non-seulement ils varient
selon 1 age et le sexe mais presque aucun individu ne les a absolument semblables ä ceux du
meme sexe et du meine äge". Ossements fossiles. IV. Edit., T. VI, p. 128.
♦*) Illustrirtes Thierlebcn. I, S. 435.
'") Nordfahrt auf dem Schooner Joachim Hinrich, erzählt von C. Vogt. Frankfurt a. M.
1863. S. 116 ff.
t) Das. S. 185, nebst farbiger Darstellnng eines flüchtenden Rudels nach der Zeichnung
von II. Hassel hörst.
ft) Finsterwalder Zeitschrift für die gesammten Naturwissenschaften. 26 Bd., S. 323.
ttt) J. Lamont in Zeitsclir. f. allgemeine Erdkunde. N. F. 11. Band, S. 62.
•f) Von Spitzbergen zur Sahara. Deutsche Ausgabe, Jena 1868. I, S. 119.
213
In anderen Theilen Europa'« und in Asien ist zunächst das Vorkommen
des Hennt.hieres (im wilden und zahmen Zustande) im östlichen Kussland, in
vergleichungsweise sehr gemässigten Gegenden, nämlich in den Gouvernements
Twer, Nowgorod und Orenburg, interessant*). Nach v. Eichwald geht es
vom Ural zuweilen bis in die Gegend Orenburg's hinab. In strengen Win-
tern soll es sich auch im kasan'schen Kreise Zarewokoktschaisk bemerkbar
machen**). Man findet diese Thiere im südlichen Fortläufer des Ural zwi-
schen Don und Wolga bis zum 46°, am Fusse des Kaukasus, am Kumaufer,
fast zwei Grade südlicher, wie Astrakhan.
In Ost-Sibirien zeigt es sich nach Angabe des trefflichen Radde im öst-
lichen Sajan und bei den S'ojoten zur Zeit schon recht selten. Die S'ojoten
erbeuteten bis zum Winter 1858-1859 jährlich noch etwa 5—6 Stück der
Mann: jetzt sollen aber diese Thiere hier fast ganz verschwunden sein. Sie
waren besonders im Jechoi-Thale über die hohe Alpenkette gestiegen und auf
mongolisches Land, zu den Urjänchcn und Darchaten ausgewandert. Bei die-
sen Völkern, namentlich aber bei den Dshoten wird nicht nur das zahme
Rennthier in grosser Zahl gezüchtet (es soll Besitzer von 300 Stück geben),
sondern es kommt auch das wilde noch weiter südwärts, als ein Bewohner
der oberen Reviere der Baumgrenze und über diese hinaus bis zur Schnee-
grenze überall vor. Wenngleich nun Berichterstatter weder bei den S'ojoten
noch bei den Burjäten des oberen Irkut- und Okalaufes genaue Angaben über
das Vorkommen des wilden Rennthieres südlich von dem Lande der Dar-
chaten erfragen konnte, da diese Leute dorthin nicht leicht kommen, so erfuhr
Jener doch soviel, dass es auf den Hochgebirgen noch lebe, und glaubt es
auch für den Tangnu und vielleicht als alpinen Bewohner selbst für einen
Theil des Khangai-Gebirges annehmen zu dürfen. Vom Selenga-Thale bleibt,
es ausgeschlossen, nimmt aber im NO.- Winkel des Baikalsees an Häufigkeit
zu und wird von den Tungusen dort noch alljährlich in 5—7 Exemplaren (von
jedem guten Schützen) getödtet. Auch hier findet indessen ein allmähliges
Verarmen dieser „braven" Waldmenschen in Folge der Abnahme an Renn-
thieren statt. Seltener ist das Rennthier im Apfelgebirge, und über sein Vor-
kommen im Kentei wusste Niemand etwas zu berichten. Im Chingan wird
es erst an den Quellen des Flüsschens Eksema 85 Werst unterhalb Gorbiza.
wild gefunden. Vom Amur-Thale bleibt es, wie Radde glaubt, als wildes
Thier in dem nördlicher gelegenen Theile ausgeschlossen, kommt aber auf
beiden Seiten des Stromes im Innern der Gebirge noch vor. Am Südabhange
des Apfelgebirges und Stanowoi bleibt es nach Middendorf und Schrenck nur
um die Quellen der grösseren links dem Amur zufallenden Flüsse. Die Birar-
Tungusen im Bureja-Gebirge kannten es nur dem Namen nach, wussten, dass
es bis zu den Quellen der Bureja (Njumen) vorkomme. Vom Shotar, von den
") Brandt in Petermann's Mittheilungen, 1868, S. 204.
*•) Faana Caspio-Caucasia. Petropoli (Berolini) 1841, p. 31 Anm.
214
Uferhöhen des Bureja-Gebirges, sowie von den Knotenpunkten, von denen die
Rachsysteme entquellen, dein Lagar und dem Murgil, war es ihnen unbekannt
geblieben. l>as Vorkommen desselben im unteren Amurlande war ihnen in-
dessen bekannt*).
In Grönland scheinen sie sich nach den von A. v. Etzel zusammenge-
heilten Nachrichten an die grösseren geschlossenen Parthien des Landes zu
halten, die auf der einen Seite durch das Meer in Form grosser Eisfjorde,
auf der anderen aber durch das Eis, welches das Inland bedeckt und eiue
Kommunikation zwischen den Halbinseln über die Fjorde weg unmöglich
macht, von einander geschieden sind. Die nicht gar zu breiten Fjorde dage-
gen bereiten den Wanderungen unserer Thiere im Winter kein Hinderniss.
Sie halten sich auf diesem Landstriche meist im Innern, streifen indessen
auch^ au den Küsten hin und von da nach den nächsten Inseln. Zwischen
den verschiedenen .,Kennthierdistricten" dehnen sich bedeutende Landstrecken
aus. Der reichste südliche District, die vom Neksotuk- und Anleitsivik-Fjord
umgebene Halbinsel, steht in Beziehung mit dem ebenfalls reichen Districte
von Holsteenburg in Südgrönland, woselbst keine Eisfjorde, wo sich das In-
landeis nicht bis in die Fjorde hinabsenkt und die Inseln, wie in Nordgrön-
land, voneinander scheidet. Die Rennthiere besuchen verschiedene Inseln,
z. B. Tuttulik und Simioak. Sie gehen nordwärts in die höchsten Gegenden
der Baffinsbay, über die dänischen Niederlassungen hinaus. Auch auf Disko
Hnden sie sich**).
Auf dem Festlande von Nordamerika wird das Renn „Caribou", nach
einer dem Canadisch-Französischen entlehnten Bezeichnung, genannt. Das
Caribou***) bildet nur eine climatische Varietät des europäischen und asiati-
schen Kennthieres. Bekanntlich bieten die Faunen der nördlichen Regionen
dieser Erdtheile vieles Uebereinstimmende dar, unbeschadet gewissen örtlichen
Eigentümlichkeiten innerhalb einzelner P'ormen. Der braune Bär, der Wolf,
der Biber, das Elen, das Renn u. a. m. gehen durch die nördlichen Striche
dei erwähnten Kontinente. Vielfach hat man versucht, die identischen For-
men wenigstens des Nordens der alten und der neuen Welt artlich von ein-
ander zu sondern, doch aber immer nur auf Merkmale hin, welche die neuere
auch dem Studium der „Variation" zugewandte Zoologie als durchschlagende,
als speeifische, nicht überall mehr anerkennen darf und anerkennen
wird.
[leisen im Süden von Ost-Sibirien. Bd I. St. Petersburg 18G2, S. 286— 288.
**) Grönland geographisch nnd statistisch beschrieben. Stuttgart 1SG0. S. 223 ff.
***) Wie Audubon seine Meinung: „aecording to our oppinion, two species of this genus
exist, — one in the old world (Rangifer tarandus), comuionly called the Lappland Reindeer, a.
the Caribou (H. caribou a. its varieties, the Reindeer of tlie American continenf, eigentlich
/u \ertheidigen gedachte, ist mir aus seiner Darstellung nicht klar geworden. The Quadrupeds
of North Am.riia. New York. Vol. III, p. 111. Nach meiner Ansicht führt uns keine Musterung
des Ge8ammthabitus, der Baarfärbung, kein Studium des Knochenbaues hier auf Differenzen,
welche eine artliche Trennung rechtfertigen Hessen.
215
Das Caribüu nun findet sich in New-Foundland, Labrador, durch da*
ganze oördüche Amerika, an der atlantischen Küste übrigen» südlicher, als
an der pacifischen, immer nur wild, nirgend gezähmt, ein ausschliess-
licher Gegenstand der Jagd.
A. E. Brehm, welcher den Norden Europa1 s bereist hat, sagt: das wilde
Rennthicr sei „ein stolzer Beherrscher des Hochgebirges, ein gemsenartig
lebender Hirsch, mit allem Adel, welcher diesem schönen Wilde zukomme."
Dasselbe geht meist rudelweise, zuweilen in gewaltiger Anzahl (vgl. S. -MJ i
unter Führung alter Böcke, ganz wie sonstige Hirsehthiere. Das Kenn, gleich
viel ob wild, ob gezähmt, nährt sich im Sommer von mancherlei Gräsern und
Kräutern, von den zwerghatten Weiden und Birken des hohen Nordens, es
scheut aber auch die Pilze nicht, nicht einmal die Fliegenpilze, dann nicht
die Zeitlosen, es frisst gelegentlich mit Behagen selbst Animalisches, z. B,
Lemminge, die berüchtigten nordischen Wandermäuse, ferner Käfer, Käfer-
larven u. a, Insekten. Bodinus beobachtete, wie die Rennthierc des Kölner
zoologischen Gartens frisch getödtete Sperlinge mit Gier verspeissten**). Im
Winter dient diesem Geschöpfe hauptsächlich die Flechte Cenomyce ran-
giferina Ag. zur Nahrung, deren schwefelgelb überflogene Flocken den das
Eismeer begrenzenden Tundras eine recht charakteristische, wiewohl sehr
monotone Färbung verleihen.
Das 5 des wilden Renn (der Bock) wird in der zweiten Hälfte Sep-
tembers brünstig. Alsdann setzt es schwere Kämpfe zwischen' den zur Ku-
delanführung sich drängenden Böcken. Das V wirft nach etwa siebenmonat-
licher Trächtigkeitsdauer nur ein Kalb.
Diese Geschöpfe unternehmen grosse Wanderungen. In Nordsibirien
fliehen sie zur Sommerszeit aus den offenen Stellen auf die waldigen Berge,
hauptsächlich um den sie schwerplagenden Biesfliegen zu entgehen, unter denen
eine Art, Oestrus trompe Fabr., das Renn ausschliesslich heimzusuchen
scheint. Die Larven dieses Plagegeistes wühlen sich in die Haut ein und
selten sieht man ein Rennthierfell, welches nicht zerfressen, nicht narbig wäre.
Vogt ist der Meinung, dass sich diese Thiere gerade der genannten Larven
wegen so gerne im Schnee herumwälzen und darin einwühlen***). Im \\ inter
besuchen unsere Wiederkäuer in der oben genannten Gegend wieder die moos-
bewachsenen Ebenen, sie durchschwimmen bei derartigen Ortsveränderungen
an stets gleichgewählten Stellen breite Flüsse, den Anadyr, die Lena, den
Ob, sie treten bei solchen Wanderungen mit ihren breiten Schalen an den
Böschungen der Ufer grabenähnliche Gänge ausf). Immer schliessen Männ-
chen diese Züge. Auch in Grönland unternehmen sie innerhalb der Grenzen
*) Illustrirtes Thierleben. II, S. 432.
**) Der Zoologische Garten in Köln. Vom Direktor Dr. Bodinus. Köln 1864, S. 5.
"•) Nordfahrt u. s w. 'S. 120.
t) Pallas im Stralsuudischen Magazin. I, 17G9, S. 394. Zoographia Rosso-Asiatica 1. p. 20t5
216
der von ihnen bewohnten Districte weite Wanderungen, besonders in den süd-
liehen Landschaften, indessen weiss man doch nieht, dass sie von einem Di-
strict in den anderen übergetreten wären. Ihr nördlichster Zug war am Eis-
Ijorde von Jacobshavn stehen geblieben*).
Nach Richardson zieht das „Barren-ground-Caribou" (eine Varietät —
var. et Arctica — ) im Winter von der aretischen Küste in die zwischen dem
63 und 66° N. Br. gelegenen Wälder, und weidet daselbst Usneen, Alectorien
und andere von den Bäumen herabhängende Flechten, sowie langes Moorgras,
alt. Ende April, wenn der alsdann theilweise geschmolzene Schnee die Cetra-
rien, Corniculaten und Cenomycen aufgeweicht, von denen die Barren-grounds
wie mit Teppichen bedeckt werden, machen sie kurze Ausflüge aus dem Ge-
hölz, kehren aber bei kaltem Wetter wieder dahin zurück. Im Mai rücken
die 9, um Ende Juni auch die an die Seeküste. Um diese Zeit sind die
Flechtenteppiche der Barren-grounds verdorrt und das Renn nährt sich dann
lieber von den frischen Gramineen sumpfiger Theile an den arktischen Ge-
staden und Inseln. Bald nach ihrer Ankunft an der Küste verlassen die >'
ihre Jungen; sie beginnen ihre Rückkehr nach Süden im September, gewin-
nen die Gehölze wieder gegen Ende Oktober und vereinigen sich da mit den
ö- Mit Ausnahme der Brunstzeit lebt der grössere Theil der 6 und Q getrennt.
Die Böcke ziehen sich zur Winterszeit tiefer in die Wälder zurück, während
Kudel der hochbeschlagenen „Thiere" an den Säumen der Barren-grounds wei- .
len und im Frühjahre zeitig an die Küste gehen. Capt. Parry sah Böcke an
der Melville-Halbinsel am 23. September, die „Thiere" erschienen mit ihren
Jungen zuerst am 22 April. Die Böcke gehen nicht so weit nördlich als die
Thiere. An der Hudsonsbay-Küste wandert das „Barren-ground-Caribou" süd-
licher, als der Kupferminen- und Mackenziefluss, nicht aber südlicher als
Churchill.
Richardson unterscheidet dann noch eine andere Varietät, das „Wood-
land-Caribou" (var. fi sylvestris), welches angeblich grösser als das „Barren-
ground-Caribou" sein, kleinere Geweihe besitzen, und, wenn auch feist, doch
ein schlechteres Wildpret abgeben soll, wie jenes**).
Bären verschiedener Art, Wölfe, Vielfrasse und Luchse stellen diesem
Thiere unausgesetzt nach, am meisten freilich der Mensch, der das wilde
Renn auf mannigfache Weise zu erlegen trachtet. Die üblicheren Jagdmetho-
den verdienen unsere Aufmerksamkeit. Nur wenige Völker des Nordens wen-
den hierzu noch Bogen und Pfeil, Speere und Fallen an. Zu des alten Schef-
fer Zeit (um 1670) bedienten sich die Lappen z. Th. des Bogens, ein zahmes
9 zur Heranlockung am Wechsel festbindend. Man birschte sich übrigens auch
schon damals mit Hülfe von Schneeschuhen an***), wie dies noch jetzt in
*) A. v. Etzel a. a. 0. S. 225.
*") Fauna boreali-americana; or the zoology of the northern parts of British America.
London 1829 ff. Quadrupeds p. III, 114, 118 etc.
'") Lapplund. Strasbourg 1675, S. 256.
217
Asien und in Nordamerika, bier bei der Bison-. Caribou- und Orignal-Jagd ge-
schieht. Auch benutzte man damals Schlingen und ausgedehnte Corrals oder
Verzäunungen mit Graben an deren Enden. Letztere .seheinen etwa wie die
Hopo's der gegenwärtigen Südafrikaner construirL gewesen zu sein").
Die Rennthiere schwimmen sehr geschickt und mit grosser Ausdauer.
Manche Stämme der nördlichen Gegenden treiben dies Wild in das Meer oder
in die Ströme hinein; fahren in ihren Kanoes hinter den flüchtig Davon-
schwimmenden her und erlegen die zur Beute auserkorenen Stücke mit Har-
punen und Fangmessern.
Am häufigsten dient gegenwärtig das Feuergewehr zur Jagd auf das
wilde Kenn. Mau benutzt diese Waffe bei verschiedenen Jagdarten, auf dem
Anstände, beim Anschleichen (auch mit Schneeschuhen), vom Birschschlitten
aus, beim Buschiren, auf der Treibjagd, auf der Parforcejad mit Hunden, im
Corral, letztere Art nach Whymper noch bei den Ko-Yukon des Alaschka-
Gebietes, nach Maack auch bei Orotschonen, üblich**).
Uas zahme Renn ist bei gewissen nordischen Völkern Europas und
Asien's in Gebrauch. ]n Europa beschäftigen sich die Lappen mit Reunthier-
zucht. Die Lappen benutzten bisher als Hausthier wenig das Rind, des-
sen kleine verkommene Nordlands-Schläge in der dort so ungemein kargen
Natur kaum noch Nahrung finden können und deren Haltung der nomadisi-
renden Lebensweise jenes Volkes weniger zusagte. Für diese schien das mit ge-
ringer Intelligenz begabte, störrische, aber genügsame und ausdauernde Renn-
thier recht geeignet. In früheren Zeiten hat es in den Aemtern Finmar-
ken, Nordland und Lappmarken viele Familien gegeben, welche, im Besitze
von je 400 bis 500 Kopf Rennthieren für arm galten. Erst der Besitz von
1000 ja 2000 und mehr Kopf charakterisirte das wohlsituirte Familienhaupt.
Gegenwärtig scheint sich dies allmählich zu ändern. Soll doch überhaupt das
ganze Lappenthum nach und nach abnehmen unter dem Einflüsse der Civi-
lisation, welche dem unabhängigen Nomadenwesen Schranken auferlegt, die
Sesshaftigkeit, die rationelle Viehzucht, den Landbau, die Industrie im Ge-
folge hat, welche ferner dem Branntweine und anderen Dingen Eingang ver-
schafft, die sich einmal mit der urwüchsigen Lebensweise des Lappen nicht
gut vertragen. Bei der wenigen Milch, welche die 2 geben, bedarf eine Lap-
penfamilie wenigstens 100 Stück, um davon leben zu können. Wenn die
Heerde unter diese Zahl herabsinkt (durch Schneestürme, Seuchen u. s. w.),
so muss der unglückliche Lappe, will er nicht Hungers sterben, sich mit einem
anderen associiren. Er leistet diesem alsdann alle Dienste und erhält dafür
einen Antheil an dem Gewinnste, der im Verhältnisse seines Zuschusses zu
der Heerde berechnet wird. Nach den Angaben***) Chaudordy's, Sekretärs
*) Charakteristische Abbildungen solcher Hopo's in Livingstone's Jlissionsreisen und For-
schungen in Südafrika, auch in Le Tour du Monde 1866, I, S. L2.
*•) Travel and adventures in the territory of Alaska - formerly Russiau Amerika — uow
eeded to the L'nited States a. in various other parts of the North Parific. London 1868.
***) C. Vogt in: Nordfahrt u. s. w. S. 165.
218
der französischen Legation in Kopenhagen, leben in Finmarken etwa 32 Men-
schen auf der Quadratmeile. In ganz Finmarken existiren etwa (iO,00() Renn-
thiere ; der Besitz von je 300 bedeutet Wohlhäbigkeit, derjenige von (!()() Stück
aber bereits Reichthum in einer Familie*). Es mag übrigens auch jetzt noch
in anderen Districten manche Ausnahme geben, wie z. B. Vogt von einem
Lappen bei Tromsü erzählt, der nicht zu den reichen, aber doch wohlhabenden
Lappen gehörte und etwa 2000 Stück besass. Im Durchschnitt je 60 Franken
an Werth, repräsentirteu sie ein Vermögen von etwa 60,000 Franken in
Vieh**).
Nach Chaudordy kommen im russischen Lappland nur 4 — 5 Menschen
auf die Quadratmeile. Den Lappen dieses Gebietes war durch die russische
Regierung neuerlich die Freiheit des Umherwanderns verkürzt worden, was
einen sehr degradirenden Einfluss auf das Wohlbefinden derselben ausübte.
Die sesshaften, mit Fischerei beschäftigten Lappen halten ürigens immer nur
wenige Rennthiere.
Die Mesen'schen Samojeden wohnen in der östlichen Hälfte des Gouver-
nement Archangelsk auf 11,600 □ Meilen nur 4900 Individuen stark, der
Mehrzahl nach in Zelten, nur wenige in festen Sitzen. Dieselben halten oft
an 10 — 20,000 Stück Rennthiere, mit denen sie umherwandern***). Das Renn-
thier wird in mongolischem Lande bei Urjänchen, Darchaten und namentlich
bei Dshoten zu je 300 Stück gezüchtet. Vom Iltschirsee auf russischem Ge-
biete südwärts findet man das zahme Rennthier mit dem Pferde und Rinde.
Ersteres muss im Sommer in 7000 8000 Fuss der Hochgebirge, letztere dür-
fen nur in tieferen, 1000 — 5000 Fuss hoch gelegenen Thälern zum Weiden
emporgetrieben werden. Manche Tungusen besassen vor 25 — 3().Jahrennoch über
100, die aber theils an Seuchen starben, theils in Hungerjahren geschlachtet,
wurden. Bei den Orotschonen ist es gewöhnliches Hausthierf). Diese Leute
benutzen nach Maack dergleichen meist nur zum Ziehen, selten zur Nahrung,
opfern ihrer jedoch guten und bösen Geistern. Zu Pallas' Zeit galten die
Korjaken als sehr rennthierreich.
Das zahme Rennthier variirt in der Färbung sehr viel häufiger als das
wilde, es kommt auch gescheckt vor und zwar in allen möglichen Abwechs-
lungen. Auch ist die Grösse dieses Geschöpfes im Hausstände bedeutenden
Schwankungen unterworfen, es giebt von ihm, wie vom Rind und anderen
Hausthieren, kleinere verkümmertere und grössere stattlichere Schläge. Diese
unterscheiden sich oft wesentlich von einander. So zeigte man z. B. O. Vogt
zu Hammerfest grosse, prachtvolle Winterkleider, wie sich deren die Norwe-
ger bei ihren Schlittenfahrten bedienen; dieselben stammten aus Archangel,
wohin sie aus den östlichen Gegenden gebracht werden. Man könnte solche
') Bulletin de la Societe d'acelimatation, 1862, p. 10;').
M) Das. S. 164.
*••) Q C. HeigeJ in der Gartenlaube, 1862, S. 214.
t) Radde a. a. O. S. 286-288.
219
Pelzröcke, dte aus je einem Stücke bestehen, keineswegs aus den Kellen wil-
der oder zahmer lappischer Rennthiere verfertigen, namentlich wären aber die
Letzteren zu klein dazu").
In manchen Districten Nordeuropa's werden sie gehütet, in anderen wei-
den sie frei umher; das Erstere mit Hülfe kleiner, spitzohriger, zottiger Hunde.
Im Winter nimmt man sie mehr in Obacht, versieht sie alsdann wohl auch
mit einer Marke**). Die Paarung erfolgt gewöhnlich Anfangs Oktober, die
Satzzeit ist im April. Nach Pallas (1. c.) kommen auch Zwillingsgeburten
Cbei zahmen R.) vor. Demselben Gewährsmanne zufolge werden sie nach zwei
Jahren reif und setzen jedes Jahr. Wie Brehm (a. o. a. 0. S. 443) mittheilt,
vermischen sich die zahmen mit den wilden, zur grossen Freude der Heer-
denbesitzer, welche hierdurch eine bessere Zucht erzielen. Sie fegen im Herbst
und werfen im Januar ab. Castrirte Böcke werfen nach Pallas alljährlich
ab, fegen aber nicht. Bekanntlich behalten die an beiden Hoden durch Scbuss
oder dgl. verstümmelten llothhirsche den Bast für unbestimmte Zeit, wer-
fen auch gar nicht oder doch nur höchst unregelmässig. Das Thier des
llenn wirft immer einige Tage nach dem Satze ab.
Nach dem Satze, im Sommer, wird gemolken. Ein anonymer Berichter-
statter beschreibt die Procedur des Melkens bei den Lappen (von Stockholm
aus) sehr genau im Globus, IV. Band, S. 152. Die im Süden der Lappmar-
ken am unteren, etwa 15 Meilen breiten Küstensaume des Bottnischen Meer-
busens umherziehenden Waldlappen, haben kleine eingehegte Plätze (Kerda)>
in welche sie während der Zeit des Mückenschwürmens, Juli und Anfang
August, die Heerde täglich zwei bis dreimal treiben und ausräuchern. Hier
wird auch täglich einmal gemolken. Um dies Geschäft mit einiger Ruhe aus-
führen zu können, muss jedes einzelne Thier eingefangen und von einer Per-
son gehalten werden, während die andere melkt. Dies geschieht, weil das sehr
lebhafte Kenn alle Augenblick seine Stellung ändert, immer stehend und nur
mit einer Hand, mit der anderen muss das Melkgefäss, die Nappe, gehalten
werden. Aus den beiden kleinen Zitzen kommt nur ein sehr feiner Strahl,
auch giebt jedes Q nur sehr wenig, so dass acht bis zehn Q ihre Milch lie-
fern müssen, um ungefähr ein preussisches Quart zu füllen. Demselben Be-
richterstatter zufolge macht das Melken bei den Berglappen (schwedisch
Fjäll-Lappar, norweg. Fjeld-Finner) der hohen Gebirge der nördlichen schwe-
dischen und norwegischen Lappmarken, noch grössere Schwierigkeiten. Man
treibt hier die Heerde einmal täglich auf den Sjaljo, den Oit, wo das Zelt,
Kota, steht, und fängt ein Thier, Vaja, nach dem anderen mittelst einer um
das Geweih geworfenen Schlinge aus Tannen hast. Einer hält das Renn, der
Andere melkt dasselbe. Die Lappen haben für jedes Stück einen besonderen
Namen, selbst wenn die Zahl derselben auf mehrere Tausende steigt. I >er
*) Bulletin de l'Instit. Genevois. T. XV, p. 22 IT.
'*) Chaudordy 1. c. p. 105.
220
Milchertrag kann nicht immer der Anzahl der Thiere entsprechen. Ein Fjäll-
Lappe gewinnt von 700 — 800 Vajor oft bei weitem nicht soviel Milch, als ein
Waldlappe von nur 50 — 60 Vajor. Letztere sind nämlich zahmer und lassen
sich leichter melken, wie jene, die häufig nur theilweise gemolken werden.
Manche Berglappen melken ihre Thiere auch gar nicht, sondern überlassen
die Milch den Kälbern. Diejenigen Thiere, welche ihre Kälber verloren ha-
ben und Toptjah heissen, werden jedoch immer gemolken. Vogt sah die Zitzen
mit vom Pelze ausgerupften Haaren reiben, um sie zu entwickeln und fand
Haare und Mist in der mit wenig Vorsicht gemolkenen, fetten Flüssigkeit
(S. 170). Nach Angabe des obigen Berichterstatters im Globus ist die Milch
sehr fett, süss und schwer. Man kaut dazu den Stengel der als antiskor-
butisch geltenden Engelwurz (Archangeli ca officinalis Hoffm.), oder
isst sie mit Mülte- oder Moltebeeren (Rubus Chamaemorus Lin.) und
mit Preisseibeeren. Sie giebt viel Butter von weisser Farbe und Talgkon-
sistenz. Hauptsächlich üblich ist die Käsebereitung; Rennthiermilch ist weit
caseinreicher als Kuhmilch. Dieser Käse ist ein hauptsächliches Nationalge-
richt der Lappen, derselbe dient als Provision auf Reisen u. s. w., auch mit*
Mehl und Wasser zur Käsesuppe. Rennthierkäse wird übrigens nur im Juli
und August bereitet. Schon im September wird die Milch spärlicher. Man
sammelt wohl kleine Vorräthe davon in Fässern, unvermischt oder mit Jobmo,
Sauerampfer, auch Preisseibeeren vermischt und bewahrt diese als Kittan-Ase,
Frühlingskost, auf. Die noch im Oktober und im November gewonnene Milch
lässt man frieren und verwendet sie so als besondere Leckerei (A. o. a. O.
S. 153).
Im Herbste werden einige Stück geschlachtet. Ein gutes Renn giebt
nach Chaudordy 60 Kilogramm Fleisch und 20 Kilo Talg*). Das Fleisch dient
bei den Lappen gelegentlich als Tauschartikel für Mehl. Dies Produkt, wel-
ches von Einigen für vorzüglich an Geschmack erklärt wird, bildet ein wich-
tiges Volksnahrungsmittel in Grönland, woselbst man dasselbe roh und ge-
kocht verzehrt, in gefrornem und in gedörrtem Zustande aufbewahrt. Sehr
beliebt ist die Zunge des Thieres. In Grönland soll der mit zum ersten Male
gekautem Futter gefüllte Magen als Delikatesse gelten. Das zahme Renn
nährt sich ganz so wie das wilde. In Norwegen hat man eine gewisse Moos-
schonung einführen müssen, da sich dieses Cryptogam nur langsam wieder
erzeugt. Nach A. v. Etzel's Bericht giebt ein grosses Rennthier 8—12 Pfund
Talg, was obiger Angabe Ohaudordy's widerspricht. Die Geweihe dienen zu
ähnlichen technischen Zwecken, wie „Hirschhorn", d. h. das Geweih unserer
Rothhirsche.
') Man hat Rothhirsche bis zu 600—700, ja 000 Pfund Gesammtgewicht erlegt. Ge-
meinhin beträgt das ganze Kürpergewicht dieses Thieres 200—300 Pfd. Ein zahmes Renn wiegt
durchschnittlich I8u— ->50 Pfd.
221
In Südgrönland verbraucht man davon jährlich etwa 3000 — 4000 Pfund.
An 100,000 Pfund lagen zu Holsteeuburg in Vorrath*).
Sehr bedeutend ist der Verbrauch der Folie. Der Rennthierpelz hart
zwar leicht, ist aber weich und warm. Er giebt für die Nordlander weit bes-
seres Bekleidungsmaterial ab, als Robbenpelz. Manche nordische Bewohne i,
z, B. die Samojeden, tragen Alles, Mütze, Hemd, Hosen, Strümpfe und Schuh
von Rennthierfell**).
Das Produkt dient ferner zu Reit-, Schlaf- und Schlittendecken, sowie
zur inneren Bekleidung der VViuterhütten. Zwischen 1845 — 1841) sind in Nord-
grönland jährlich 4300 Rennthierfelle in den Handel gebracht worden, in den
ersten beiden Jahren £, in den letzten dagegen £ der ganzen Menge. Die
Sehnen dienen zum Nähen, z. B. der Fellkleider***). Nach Chaudordy ver-
fertigt man in Schweden gute Handschuhe aus den Häuten ungeborener Jun-
gen. Aus dem Darm dreht der Lappe zähe Saiten, die auch in England ge-
schätzt werden f).
Das zahme Renn giebt endlich auch ein für des Nordens unwirthliche
Gefilde sehr wichtiges Reit- und Zugthier ab. Zum Reiten wird es vor-
nehmlich von Tungusen benutzt, die ihm einen Sattel auf den Vorderrücken,
gerade über den Widerriss, legen. Weiter hinten ist der Rücken zu schwach,
um einen Erwachsenen tragen zu können. Der Reiter lässt die Beine herab-
hängen und lenkt das Thier mit einem Zaume. Zum Fahren werden die
Renns paarweise vor den Schlitten, den Akjja der Lappen, gespannt. Die Art
des Anschirrens ist in den einzelnen Gegenden etwas verschieden. Die Me-
sen'schen Samojeden schlingen die Leine an das Geweih der links gehenden
Rennthiere, mögen ihrer noch so viele vorgespannt sein. Der Schlitten selbst
wird mit einem langen Stocke gesteuert. So fahren sie das petersburger Pu-
blikum Winters auf dem Eise der Neva spazieren ff). Zwei Schweden, wel-
chen ich während der Weltausstellung 1867 zu Paris begegnete, schilderten
mir das Schlittenfahren mit Rennthieren als etwas sehr Unvollkommenes,
Ermüdendes und häufig sogar Verdriessliches. Diese Zughirsche trotteten, so
hiess es, kein Hinderniss achtend, wild darauf los, Hessen sich nur mit Mühe
auf der richtigen Bahn erhalten, würfen bald einmal um, stutzten leicht, sprän-
*) Vergl A. v. Etzel: Grönland. Es werden in Nordgrönland jährlich 800—900 Renn-
thiere getödtet und zwar 75 pCt in den südlichsten, 20 pCl in den nördlichsten, kaum 5 pC't
in den mittleren Rennthierdistricten. Im Districte Julianehab waren .seit vierzig .Jahren keine
mehr geschossen wurden und doch war die Jagd daselbst sein bedeutend gewesen. Zwischen
1840—45 mögen in nainimo an 10,000, zwischen 1851-185.) alljährlich an 8500 Stück ge-
schossen worden sein.
**) Eine prachtvolle Serie von mit den Haaren gegerbten Reunthierbäuten („Norsk Reene)
hatte u. A. Stamm von Drontheim 1807 zu Paris ausgestellt.
**♦) A. v. Etzel das.
t) L. s. c. p. 105.
tt) Heigel a. o. a. 0. S. _'14.
222
gen wirr durcheinander, wenn fremde Gegenstände, Thiere u. s. w., ihre Scheu
erregten und so gäbe es der Unzuträglichkeiten mehr.
So ist unser Renn, so ist seine Nutzung zur Jetztzeit. Ein besonderes
Interesse erregt, aber das Vorkommen dieses Geschöpfes in den frühen Pe-
rioden des Menschengeschlechtes. Rennthierknochen und Rennthier-
geweihe mit und ohne Spuren menschlicher Einwirkung sind in verschiedenen
Ländern des gemässigten und wärmeren Europas aufgefunden worden, häufig
im Verein mit den Resten anderer z. Th. gänzlich erloschener, z. Th. aus
unserem Kontinente ausgewanderter Thiere.
Es kommt mir hier übrigens nicht in den Sinn, alle gegenwärtig bekann-
ten Rennthierfunde zu erwähnen, ich will hier nur etliche derselben hervorhe-
ben und damit den weiten Kreis der ehemaligen Verbreitung dieses Wieder-
käuers andeuten. In Grossbritannien z. B. fand Blackmore in einer auf weis-
ser Kreide auflagernden Ziegelerde des Wileythales bei Salisbury Reste des
Kenn neben denen des Mammont, Knochenscheidewand-Nashorn, des Schwei-
nes, Höhlenlüwen, Ur, der Höhlenhyäne, des Fuchses, Pferdes, Bison, Hasen,
Lemming's*). Man traf dergleichen ferner im schottischen Blocklehm bei
Croftaraie in der Grafschaft Dumbarton im Endrickbette, 18 Fuss unter der
Oberfläche. In anderen Gegenden lieferte der Blocklehm Elephantenzähne,
die man dem Mammont zugeschrieben. Nach Falconer's tabellarischer Ueber-
sicht waren Rennthierfunde in den Höhlen der Gower-Halbinsel, Glamorgan-
shire, Südwales, welche von ihm und Oberstlieutenant Wood untersucht wur-
den, wenig reichlich in Bacon-, Minchin-, Long-Höhle, auch im Spritsail-Tor,
sehr reichlich dagegen in Boscos Den und in Raven s Cliff gemacht wor-
den***). Von einem durch diesen Gewährsmann als Varietät a. des Reims
aufgeführten Thiere (Cercus Guettardi Desm.) fanden sich gleichfalls viel
Ueberbleibsel in Bosco's Den, von einer Varietät b. (Cerons priscus) desglei-
chen, von einer dritten Varietät c. (Ccrvus Bucklandi Owen) fanden sich Spe-
cimina in Bosco's Den, zu Paviland und Spritsail-Tor. Dabei waren z. B.
in Bosco's Den Reste vom Fuchs, Rhinoceros hemitoechus, vom Reh, in Ba-
con's Höhle waren Reste vom Hermelin, vom Hirsch, Reh, in Paviland und
Spritsail Tor Reste vom Dachs, gemeinen braunen Bären, Iltis, von Höhlen-
hyäne, vom Höhlenbären, Mammont, Rhinoceros tichor/vinus, Pferd, Esel, ( er-
rvs euryeeros 8. megaceros, Rothhirsch, Reh, Cercus strongyloceros, Bison, in
Raven's Cliff Reste von Felis spelaea, Wildkatze, llippopotamus major', Dachs,
Wolf, Fuchs, Wassermaus, Eleph. antiquus, Rhinoc. hemitoechus, Pferd, Wild-
schwein u. s. w. gefanden worden. Beim Autwerfen der Folkestone-Batterie
*. Lyell: Das Altei des Menschengeschlechtes auf der Knie u. s. w. Deutsche Ausgabe,
Leipzig 1811 1, S. 115.
•' Das. s im.
***) Palaeontological töemoirs, II. p. ;'>2,rj.
223
wurden Rennthier-Thcile mit denen von Hippopotamus major, Cervus euryceros
{Megac&ros hibernicus) Bisonpriscus, Rhinoceros, Sus etc. entdeckt*). MitRhinoce-
ros-, Höhlenbär-, Höhlenhyiinenresten u. s. w., sowie mitFeuersteinmessern
wurden Rennthiertheile aus der Brixham-Höhle heraufgebracht**) u. s. w.
In Frankreich sind Rennthierknocheti und zwar angeblich von Menschen-
band zerschlagene, zusammen mit verschiedenen menschlichen Erzeugnissen,
in den Höhlen von Rize und Salleles (Aude), von Bruniquel (Tarn et Ga-
ronne), Aurignac und Lourdes (Hautes-Pyrenees), La Yache bei Tarascon
(Ariege), Espalungue (Rasses-Pyrenees) und Eyzies (Dordogne) vorgekommen.
Diese Funde***) sind häufig von denen anderer Thiere begleitet gewesen. So
z. B. in der Aurignachöhle von denen eines Elephanten, des Ochsen, Rhino-
ceros, der Höhlenhyäne, des Höhlenbären, des Wolfes, Fuchses u. s. \\\, so-
wie von Menschenskeletenf). Ferner im Perigord von Knochen des Höhlen-
bären, Höhlenlöwen, des Wisent, Pferdes und Ri sam ochsen ff ). In der
Rizer-Höhle fand schon P. Tournal i. J. 1827 Menschenknochen und Topf-
scherben neben den Knochen verschiedener grosser Säugerfff).
M. de Serres*f), der, wie aus dem unten angeführten Memoire von Ger-
vais und Rrinckmann über die Rizer Höhle hervorgeht, manche hier gefundene
Thierreste unrichtig bestimmt hatte, zählte ausser Fledermäusen, Hasen, Ka-
ninchen, Maus (? Myoxsuis?) , Pferd, grossen Repräsentanten des Genus Bos,
Wolf, Fuchs, Serval u. s. w., u. s. w., noch die Hirsch- Arten ( 'erous Reboulii,
('. Leufroyi und C. Tournalii auf, welche letzteren drei mit dem Renn voll-
kommen identisch sein sollen **f).
A. Arcelin berichtet über Auffindung von Knochen des Renn, Pferdes,
Riesenhirsches, Wisent, Elephanten, Fuchses, Menschen, sowie menschlicher
Industrieerzeugnisse auf Feuerstätten und in Gräbern unter den Felsen von
Solutre ***f). Die Existenz des Renns in Altfrankreich wird dann noch durch
zahlreiche Arbeiten neuen Datums, u. A. von Chantre über Höhlen in der
Dauphine" etc.f*) von Longuemar über die Grotten von Chaffaudf**) bestätigt.
*) L. c. II, p. 568.
**) L. c. II, p. 491 ff.
***) Cf. P. Gervais Zoologie et Paleontolooie Francaises p. 145. Recherohes sur l'anoiennete
de l'homme et la periode quaternaire. Paris 1867, p. 100.
f) The natural history review, 1861, p. 53.
ft) Lartet in Annales des seienees naturelles T IV, Ser. V, 1865, p. 355.
ttt) Considerations theoriques sur les cavernes ä ossements de Bize, pr> s tle Narbonne
(Aude) etc. in Annal. des scienc. nat. T. XVIII, I Ser., 1820.
*f) Notice sur les cavernes ä ossements du departement de l'Aude. Montpellier 1839.
**f) P. Gervais et J. Brinekmann in Memoires de l'Academie de Montpellier, 1864. Recher-
ches etc. p. 52 ff.
***+) Etudes d'archeologie prehistorique, 1'horaine quaternaire en Mäconnais, la Station de
Tage du Renne ä Solutre (Saone et Loire). Lyon 186.S. H. de Kerry et .\. Arcelin: L'Age du
renne en Mäconnais. Memoire sur ia Station du (.'los du Charnier a Solutre. Mäcoii 1868.
t*) Etudes paleo-ethnologiques, ou recherches geologico-archeologiques sur l'industrie et le>
inoeurs de l'homme des temps prehistoriques dans le Nord de la Dauphine et les environs de
Lyon. Ann. Soc. des seienees industr. de Lyon, 1867 Nr. 3, p 114 — 144.
t**) Exploration methodique des grottes du Chaffaud (Vienne). Paris 1868.
224
Für Belgien bildet die Höhle von Furfooz bei Dinant eine der reichsten
Fundstätten von Rennthierknochen. Die Grafschaft Namur enthält ferner noch
einige Punkte von untergeordneter Bedeutung. Eine resumirende Zusammen-
stellung der belgischen Rennthierfunde überhaupt liefert uns ein coinpilatori-
sches Werk von Xavier de Reul*). .
In Skandinavien hat man viele Rennthierreste entdeckt. Nilsson theilt
darüber Folgendes mit : „Die Rennthierskelete, welche wir in den schoonischen
Mooren finden, gehören übrigens einer ganz anderen Rasse an als das lapp-
ländische. Es kam wahrscheinlich aus südlicher gelegenen Ländern (Gebirge
des südlichen Festlandes) und gehörte vielleicht zu der Rasse, welche noch
zu Cäsars Zeit im hercynischen Walde lebte" u. s. w. — „Dass dies Renn-
thier sich nicht von Schoonen allmälig nach Lappland zurückgezogen hat,
erhellt daraus, dass in den Zwischenstationen kein Renntkierskelett, nicht
einmal ein Rennthierknochen gefunden ist. Das lappländische Rennthier ist
in einer verhältnissmässig viel späteren Zeit über Finnland nach den norwe-
gischen Hochalpen gekommen, wo es sich noch jetzt aufhält"**). Vogt sucht
nachzuweisen, dass das heutige domesticirte Renn beträchtlich vom wilden
abweiche. Letzteres sei kleiner, seine Knochenkanten seien deutlicher aus-
geprägt, seine Backzähne nutzten sich frühzeitiger ab. Die Hausrennrasse der
Samojeden des weissen Meeres sei nicht identisch mit derjenigen der Lap-
pen. Die Rennthiere des weissen Meeres seien grösser und hätten ein ande-
res Haarkleid. Nilsson hat dann noch einmal die Unterschiede zwischen dem
fossilen skandinavischen und dem heutigen wilden Renn des Nordens be-
tont***).
Viele Rennthierreste sind auch am Mont-Saleve, Savoyen, entdeckt wor-
den, und zwar im Verein mit Resten von Pferd, Rind, Hirsch, Steinbock,
Gemse, Alpenhase, Murmelthier, Bär, Wolf, Fuchs, Storch, Schneehuhn f).
Denen des Rennthieres sehr ähnliche Geweihe sind ferner bei Benken, Can-
ton Zürich, gefunden ff). Dagegen vermisst man unser Thier gänzlich in der
Fauna der Schweizer Pfahlbauten und in Italien.
In Deutschland existiren zahlreiche Spuren der früheren Anwesenheit
unseres Thieres. Darunter haben die zu Schussenried zwischen Ulm und
Friedrichshafen aufgefundenen mit Recht grosse Berühmtheit erlangt. Die
') L'Age de la pierre et l'homme prehistorique en Belgique. Paris et Bruxelles 18Ü8.
") Das Steinalter oder die Ureinwohner des skandinavischen Nordens. Deutsche Bearbei-
tung von J. Mestorf. Hamburg 1868, S. 183, Anna.
*•') Discussion sur les aniinaux emigres. Im Congres international d'anthropologie et d'ar-
cheologie prehistoriques. Compte rendu de la 2. session, Paris 1867. Paris 1868, p. G7.
f) F. Thioly. Lepoque du renne au pied du Mont-Saleve. Revue savoisienne d'Annecy,
1868. Dere. Documents sur les epoques du Renne et de la pierre polie dans les envirous de
Geneve etc. Precedee d'une introduetion de Mr. C. Vogt. Description d'objetfi de l'epoque de
a pierre trouves sur l'emplacement lacustre des Kau\-vives. Kxtiait du Tome XV du Bulletin
de riustitul genevois. Gene-ve 1869.
|t) o. Heer: Die 1'rwelt der Schweiz. Zürich 1865. S. 542.
225
hierselbst ausgegrabenen Reste sind meistenteils von Menschenhand bearbei-
tet, sie treten auf im Verein mit Rennthieimoos. mit Resten von Vielfrass,
Bär, Wolf, Goldfuchs, Eisfuchs, Pferd, Ochs, Hase, Singschwan.*)
Tri Nordwestdeutschland sind einestheils die in der Balver Höhle in West-
falen, anderntheils die in Holstein und iu Mecklenburg vorgefundenen Reste
benierkenswerth. In letzterer Landschaft existirten nach der Darstellung von
Lisch allein 20 verschiedene Fundorte.**) Ueber die in den älteren preussi-
schen Provinzen gewonnenen Rennreste berichtete ausführlicher R. Vi rchow ***)
Ich darf wohl in dieser Hinsicht auf die in unserer Zeitschrift bereite publi-
cirten Angaben unseres berühmten Fachgenossen verweisen. Ein bei Mellenau
unfern Boitzenburg aufgegrabenes Geweih rnuss einem ungewöhnlich kräftigen
und alten Thiere angehört haben; die in unseren Museen enthaltenen Reun-
thiergeweihe sind durchweg um mindestens % kleiner. Die Mecklenburger
Funde sind fast sämmtlich in Torfmooren und Brüchen gemacht worden. An-
dere in Deutschland aufgedeckte gehören dagegen Höhlenresten an Ueber
die Authenticität der angeblich in Mergel aufgedeckten dagegen lässt sich,
wie Virchow mit Recht hervorhebt, f) noch streiten.
Die in Russland neuerlich gefundenen Rennreste sind von Brandtff)
und Grewingkfff) näher besprochen worden. In den Ostseeprovinzen zeig-
ten jene sich selten; Grewingk kennt bis jetzt nur ein unzweifelhaft fossiles
Rennthiergeweih aus Südlivland; andere, die Dondangener, können nach sei-
ner Ansicht auch aus dem gegenwärtigen oder vorigen Jahrhundert stammen,
zumal owohl in Schottland und Pommern, als auch in Kur- und Livland
(verunglückte) Accl imatisations vers uche mit dem Rennthiere an-
gestellt worden sind. Verf. erklärt übrigens, dass er die Seltenheit der Funde
fossiler Rennthierreste in den Ostseeprovinzen noch nicht als beweisend für
die Seltenheit ihres Vorhandenseins ansehen könne. Reste dieses Geschöpfes
würden leichter übersehen und verkannt, erhielten sich weniger gut, könnten
älter und daher weniger zugänglich , aber ebenso zahlreich vorhanden sein,
als gewisse der dortigen, zufolge ihres Vorkommens und Erhaltungszustandes
als fossil bezeichnete Elenreste u. s. w. Es sei ferner wenig wahrschein-
lich, dass dies Thier .bei seinen Wanderungen nach und in West-Europa jene
Provinzen besonders gemieden habe und gewöhnlich umgangen sei (Brandt
a. a. O. S. 117). Denn nichts berechtige zur Annahme, dass das 1760 Qua
*) 0. Fraas im Archiv für Anthropologie, II, S. 34.
**) Bericht des geognostischen Yweins für die baltischen Länder. Lübeck 1851, S. 5.
Mecklenburger Jahrbuch 1864, Band 29, S. 282.
***) Sitzungsbericht der Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin vom 19 Oktober
18<i9. Sitzungsbericht der Berliner anthropologischen Gesellschaft vom \2. Februar 1S70.
f) Sitzungsbericht der Berliner anthropologischen Gesellschaft vom 12 Februar I87<i
S. diese Zeitschr. 1870, Heft II, S. 165.
ff) Verhandlungen der mineralogischen Gesellschaft, zu St. Petersburg, Serie II, Md. 2,
ISGT. Petermann, Geographische Mittheilungen, l si;t, _ S. ?o->.
ttt) Schriften der gelehrten estnischen Gesellschaft. N" »'• hnrpat . ' ■'
Zeititcbrift für Ktlmologie, Jabrgaug l!)7u. j lj
226
dratmeilen messende, zwischen 56 und 00 Grad Br. belegene, mit ausgedehn-
ten Wäldern und Mooren versehene Areal (der Ostseeprovinzen) der Existenz
des Rennthieres während der Quartärperiode mehr Hindernisse dargeboten,
als die Gouvernements Nowgorod und Twer, wo das Kennthier sich nocli
jetzt zuweilen zeige, oder als Litthauen. Pommern und Mecklenburg u. s. w.
Eine für die ganze Quartärzeit geltende Lückentheorie des Rennthiervorkom-
mens im mittleren Theile Europas sei überhaupt nicht zu halten, seit mau
Reste des Rennthieres in Irland, Englaud, Dänemark und, wenn auch selten,
/wischen Schoonen und Lappland kennen gelernt habe.
Soweit die Funde, welche uns hier vorläufig interessiren könnten, lieber
•las gleichzeitige Vorkommen des Menschen und des Renns im
alten Europa darf ein Zweifel jetzt nicht mehr Platz greifen. Die vielen in
Höhlen mit Rennthierknochen beisammen gefundenen Produkte einer wenn
auch noch rohen menschlichen Industrie, die so viele Spuren unmittelbarer
Bearbeitung zeigenden Geweihstücke dieses Thieres selbst in Bodenschichten
von nachweisbarem Alter, endlich auch mancherlei eingekratzte und relief-
artig ausgeschnitzelte figürliche Darstellungen unseres Thieres auf Geweih-
fragmenten und Knochen vom Renn geben beredte Zeugen für jene (Koexistenz
ab. Man hat häufig die Echtheit, der erwähnten alteuropäischen Thierbilder
des Mammont, Renn, Wisent, Ur's, Pferdes u. s. w. in Zweifel gezogen, die-
selben sogar ohne Weiteres für auf die Mystificirung leichtgläubiger Gelehr-
ter berechnete Produkte einer neueren Fälschungsindustrie erklärt. Diese
Thierbilder, hiess es hier und da, seien in viel zu.correcten Umrissen aus-
geföhrt, als dass ein roher al+europäischer Steinmensch sie ohne genauere
uaturgeschichtliche Kenntnisse hätte schaffen können. Man gab z. B. an, dass
die bekannte Zeichnung des Mammont auf Mammont-Elfenbein aus der Höhle
La Madeieine, Perigord, Departement der Dordogne, an welcher der Nacken
eine unnatürlich tiefe Einsattlung zeige, nach den Umrissen eines entfleisch-
ten Elephantenschädels, vielleicht gar nach der Abbildung eines solchen in
l'uviers ossements fossiles copirt sein könnte. J Dagegen Hesse sich freilich
der Einwand erheben, dass ein alter Darsteller sich wohl auch nach einem
entfleischten Mammontkopfe hätte richten können. Sodann hat Brandt auf
die in der betreffenden Zeichnung berücksichtigte, für Elephas primigenius
Blumen!), charakteristische, so sehr erhabene Stellung der hinteren Kopfpar-
thie mit Recht aufmerksam gemacht.**)
Wer möchte nun freilich für die unanfechtbare Echtheit solcher
Gegenstände mit vollkommenster Sicherheit einstehen? Könnten jene der an-
erkanntesten Hochachtung aller Fachgenossen theilhaftigen Forscher, welche,
*) E v. Jlartens in dem Sitzungsberichte der Gesellschaft naturforsehendev Freunde zu
Berlin vom 19. Juni 1 8t;*;.
**) Melanies biolog-iques V, pag\ 733 und Tafel. Vielleicht hat der Urheber der firavirung
gerade diese Höbe des Hinterkopfes so recht hervorheben wollen und den Nacken uubedachtsam
K'iedei etwas /u niedrig gemacht.
■i-n
wie ein E. Lartet, ein H. Christy, derartige Dinge beschrieben und in ge-
treuen Abbildungen wiedergegeben, selbst trotz aller angewandten Vorsicht
nicht Opfer eines frivolen Betruges geworden sein? Liegen nicht genug ab-
schreckende Beispiele vor, dass sich selbst die gewiegtesten Alterthumskun-
rligen durch geschickt ins Werk gesetzte Betrügereien haben foppen lassen?
Obne derartige Möglichkeiten ganz ausser Acht zu lassen, behaupte ich doch
zunächst, dass selbst sehr rohe, völlig in der Kindheit stehende Völker
naturgetreue Umrisszeichnungen von Tbieren, Pflanzen und anderen Natur-
produkten anzufertigen verstehen. Trifft man nicht auch unter den Kritzeleien
der Diarien talentvoller Schulbuben des zarteren Alters zuweilen ganz tref-
fende Sudeleien von Menschen und Thielen au, Fratzen, denen eine gewisse
schlagende Charakteristik kaum abgeht. Ich will nicht weiter von den an-
erkannt prachtvollen Zeichnungen und Skulpturen der Aegypter, Assyrer,
Perser, von den weniger guten, aber immer noch leicht erkennbaren anderer
alter Kulturvölker, wie Inder, Birmanen, Chinesen, Yukateken , Mexikaner,
Peruaner u. s. w. reden. Ich mache nur auf di^ Thierdarstellungen der rohen
Betschuanen, Buschmänner, Mountbuilder, Garamanten. Jorubaner. Dahomier,
Aleuten, Grönlands-Esquimeaux u s. w. aufmerksam. Auch in diesen höchst
groben Thierzeichnungen und Thierskulpturen erkennt man die dem speci-
tischen Habitus der darzustellenden Bestien gewidmete, dem Wesentlichen
desselben zugewandte Naturauffassung. Danach könnten auch jene eingekratz-
ten und ausgeschnitzten Figuren von Rennthieren z. B. der Stationen von
lAugerie-Haute (Commune de Tayac, Arrondissement Sarlat)*) und TAugerie
hasse daselbst*"); ferner von La Madeleine ***j sehr wohl die ehrwürdigen Zeu-
gen des primitiven künstlerischen Streben s alteuropäischer Rern-
thierjäger sein. An der Echtheit jener zahlreichen, zum Theil mit ein-
gekritzelten Figuren geschmückten, auch zu allerhand Geräthen, zu Schmuck-
gegenständen u. s. w. umgearbeiteten Geweihfragmente des Renn von der
Schussenquelle, deren 0. Fraas nicht wenige mit der peinlichsten Sorgfalt
hat abbilden lassen, f) kann kein vernünftiger Mensch mehr zweifeln. Aber
selbst die so vielfach angefochtenen Funde einer aus Renngeweih gearbei-
teten, mit Widerhaken versehenen Pfeilspitze der Breccie von Eyzies,ff)
dann sogenannter, aus der gleichen Substauz verfertigter Kommandostäbe und
löffelartiger Instrumente zeugen für das ältere gleichzeitige Zusam-
menleben von Menschen und Rennthieren im mittleren und sogar im
südlicheren Europa.
* Cavernes du Perigord. Objets graves et sculptes des temps prehistoriques dans I Em
i-ope occidentale par E. Lartet et H Christy. Kxtrait de la Kevin- arcbeologique, Paris 1864,
patr. 34.
••) Auf Schiefer eingekritzelt, im Besitze Hrn. Vibrayc's - höchst charakteristisch. < f.
Gervais. Recherches, pag. 35, Fig. 1.
•**) Reliquiae Aquitanicae PI. II.
i) Archiv für Anthropologie. II. Fig. IG -30.
|-| Lallet el Christy: l'averne» du Perigoid, pag. 1(5, AMiildiing
16*
228
Die Uebereinstimmung einer nicht unbedeutenden Menge verbürgter That-
sachen führt uns jetzt, allgemein zu der Annahme hin, dass auf die warme
Tertiärzeit eine Zeit folgte, während welcher unter starker Abnahme der Tem-
peratur ungeheure Gletsehermassen, zunächst von den Gebirgen aus, sich
über grössere Strecken Europas ausbreiteten. Eine unwirtbliche arctische
Natur entwickelte sich an vielen Stätten, an denen noch zur Miocenzeit son-
derbare plumpe, z. Th. den Tapiren verwandte Dickhäuter unter den Fächer-
blättern stattlicher Palmen Schatten suchten, wo riesige Hyaenaeluren, wahre
Tiger der Molasse, den behenden Schlankaffen nachgestellt, wo vom Rande
der Wasserpfützen her das dröhnende Gequake der Riesenfrösche ertönt.
Nunmehr mussten bei uns die kargen Gewächse des hohen Nordens ihr
Dasein an und zwischen den Felsblöcken, den Schollen des auf weite Strecken
hartgefrornen Bodens fristen. In Oberschwaben deckten z. B. Moose hoch-
nordischer und alpiner Standorte, wie Hypnum sarmentosum, H. aduncum var.
groenlandicum und H.fiuitans, z.B. um Schussenried die Oberfläche.*) Schwim-
mende Eismassen verhreiteten die Pflanzen von Grönland und Island nach
den Inseln, den Küsten Europas, nach Schottland, England, Deutschland u. s. w.
Zugleich mit den arctischen Pflanzen wanderten damals auch arctische
Thiere in die eisstarrenden Länder des nun jetzt wieder gemässigten, selbst
wärmeren Europa ein. Das Rennthier zog sich, wohl von Nordasien her,
das einen" grossen Theil Deutschlands bedeckende östliche Meer umgehend,
nach der Schweiz und nach Frankreich. Eine Zeit lang trennte kein Kanal
das letztere Land von Grossbritannien. Auch hierher konnten daher Renn-
thiere gelangen, und es hielten sich dieselben dort allem Anscheine nach
noch bis in eine verhältnissmässig ganz neue Zeit, lange noch, nachdem sich
die Isolirung der britischen Inseln von dem Festlande bereits vollzogen hatte.
Allmählich erreichte aber selbst die \ Gletscherperiode ihr Ende. Das
Hennthier, welches, wie wir oben kennen gelernt, auch in nicht arctischen,
in weniger kalten Ländern auszudauern vermag (8. 213), blieb noch hier und
da in Mitteleuropa zurück. Viele, viele Rudel mögen in jenen Zeiten nach
Norden und Nordosten hin ausgewandert sein. Ein sehr grosser Theil dieser
Geschöpfe ist jedoch den sich fernerhin, wiewohl langsam vollziehenden kli-
matischen Umwandlungen und den Jagdwaffen seines mächtigen Zeitgenossen,
des Menschen, erlegen. So ist es denn in vielen Theilen der Welt, in denen
es ehedem häufiger vorgekommen, vollständig verschwunden, weit spä-
ter freilich, als der Mammont, das langborstige Knochennashorn und andere
jener grossen von uns früher als der Rennthierzeit angehörig erwähnte Säuge-
thiere.
Hut das Rennthier in unseren'Gegenden noch in geschichtlicher Zeit
existirt? Die alten Griechen warfen unter der Bezeichnung cü^avöo^ die ihnen
') Vergl \. Braun Sitzungsbericht der (iesollschaft naturforscbender Freunde zu Berlin
% um 19. März l»G7.
229
nur sehr mangelhaft bekannten Hirschthiere Kenn, Elen und vielleicht auch
^chelch zusammen. Diese Thiere gehörten dem fernen ,,Scythien" an. Auch
Plinius unterschied Renn und Elen nicht deutlich (VIII, 34). Caesar erwähnt
de belle Gallico VI, WJ(! des damaligen Vorkommens hirschähnlicher Ochsen
bos cervi figura - im hereynischen Walde, deren 6 und 9 je ein ver-
ästeltes Gehörn trügen. Unter dieser Angabe vermuthen G. Cuvier,*) Oken,**)
Nilsson,***) Brandt, (a. a. 0.) und Andere die schlechte Beschreibung eines
Rennthieres, und dies, wie mir scheint, mit allem Hecht. Maack fügt dem
nur die Bemerkung hinzu, dass die angeblich von der lappländischen ver-
schiedene schoonische Rasse-]-) in einem minder kalten Klima gelebt habe
und dass dadurch der Anstoss beseitigt werde, dass zu Caesar's Zeit das
Kenn noch in Deutschland gelebt haben solle, welches Land, wenn auch käl-
ter als jetzt, doch kein lappländisches Klima gehabt haben werde. ff) Nils-
son's Annahme zufolge wäre das Thier in einer verhältnissmässig viel späte-
ren Zeit über Finnland nach den norwegischen Hochalpen gekommen.
Man hat früher fast allgemein geglaubt, unser Geschöpf habe noch bis
ins 14. Jahrhundert hinein in den Pyrenäen existirt. Denn Gaston Phoebus 111.,
Graf von Foix und Herr von Bearn, geboren 1331 und gestorben 1390, hatte
in seinem „Miroir de Phoebus des deduits de la chasse" das Renn, Rangier,
und seine Jagd sehr genau beschrieben. Da nun aber die Ländereicn des
Gaston Phoebus am Fusse der Pyrenäen gelegen, so hatte Buffon daraus auf
die Anwesenheit des Thieres in den Frankreich von Spanien trennenden
Bergen noch zu jener späten Zeit geschlossen und Mellin, Schreber und An-
dere hatten sich seinem Urtheile angeschlossen. Nicod hat im Tresor de la
Langue p. 537, art. rangier, die Stelle aus Gr. Phoebus in folgender Weise
commentirt: rPhoebus dit que de rangier il n'en a point vu en Romains pays;
trop bien en Mauritanie, oü il l'a vu prendre ä force de chiens qu'on nomine
baulx."
Erst G. Cuvier vermochte Licht über diesen Gegenstand zu verbreiten.
Er hat mehrere Ausgaben des Miroir de Phoebus geprüft, sowie verschiedene
andere auf das ganze Verhältniss bezügliche Schriften. Der grosse Anatom
hat nun daraus die Ueberzeugung gewonnen, dass G. Phoebus auf den Hülfe-
ruf des Hochmeisters des Deutschen Ordens, Winrich von Kniprode hin mit
anderen Rittern die feindlichen Litthauer bekämpft und in Skandinavien per-
sönlich Rennthiere beobachtet. Gaston Phoebus sagt ja selbst in einem an
Messire Philipp le Hardi, Duc de Bourgogne gesandten Exemplare seines
Buches unter der wohl erkennbaren Figur eines Rennes: „J'en ay veu en
Nourvegue et en Xuedene et en ha oultre mer, mes en Romains pays en ay
*) Ossements fossiles, VI. pag. 117.
*•) Allgemeine Naturgeschichte, VII. Band, 2. Abtheilung, S. 1298.
*••) Das Steinalter u. s. w., S. 184 Anm.
t) Nicht Species, wie' Maack fälschlich schreibt. Vergl. S. 214.
t+) Urgeschichte des Schleswig-Holsteinischen Landes, Theil I, Kiel 1869, S. 155.
230
je peu veu." Der jagdkundige und, wir man bemerkt, durchaus wahrhaftige
Graf v. Foix ist ako von etlichen Auslegern nur falsch commentirt worden.')
Es fällt, demnach jene auf seine Autorität gestützte Angabe von der Existenz
des Reims in den Pyrenäen zur Zeit König Philipp f II . gänzlich zusammen.
Es hatte bereits Vinceuz von Beauvais die Heimath des von ihm genau
characterisirtenRangifer nach Skandinavien verlegt.**) Während nun Alber-
tus Magnus***), C. Gessner und Belon sich sehr mangelhaft über unser Thier
unterrichtet zeigen, weiss Aldrovandi dasselbe ganz gut darzustellen und vom
Elenu zu unterscheiden.-)-) was jenen Anderen weit weniger möglich gewesen.
Die beste ältere Beschreibung des Renn verdanken wir übrigens Olaus Magnus,
dem wohlbekannten naturkundigen Upsaler Bischöfe, ff)
In Grossbritannien scheint das Thier vergleichungsweise spät aus-
gedauert zu haben (S. 222). Die noch gegenwärtig wildreichen schottischen
Hochlande gewährten ihm angeblich bis in die Mitte des 12. Jahrhunderts
ein Asyl. Es bildete hier immer nur einen Gegenstand der Jagd, niemals
des Hausstandes. fff)
Wann ist nun das Thier im dänischen Gebiete erloschen? Die hiesi-
gen Kjoekkenmoeddinger, welche den Haushund als Begleiter des Menschen
nachweisen, enthalten keine sicheren Spuren desselben. Nilsson bemerkt hier-
über: „Als das Rennthier seine Wanderungen über Land zwischen Nord-
deutschland und Scandinavien nach dem Eintreten des oft benannten Natur-
ereignisses *f) nicht mehr unternehmen konnte, scheint es hier bald danach
ausgestorben zu sein. Und um diese Zeit scheint auch in Dänemark erst
jene Bevölkerung existirt zu haben, welche die oft beschriebenen Küchen-
abfälle hinterlassen und dies erklärt uns, warum in denselben keine Renn-
thierknochen gefunden wurden, da sie sowohl in dänischen als in schoo-
nischen Mooren vorkommen. Ist das Rennthier, nachdem es seine jährlichen
Wanderungen einstellen musste, bald ausgestorben, so hat sich der Ur um
so länger hier erhalten" u. s. w. **f)
Ueber das Aufhören des Rennthieres in Deutschland fehlen uns eben-
falls irgendwie sichere Spuren. Zu Caesar s Zeit soll es also noch Bewohner
des hereynischen Waldes gewesen sein. — Wie lange aber noch nach Cae-
sar, das lehrt uns freilich keine Angabe eines Chronisten. Grewingk's An-
*) Ossem. foss. 1. c p. 119 Anm. Vergl. ferner die kritische Darstellung dieses Gegen-
standes bei Oken a. a. 0. S. 1300.
**) Speculuin naturale, XX, 103.
'**) „In partibus aquilunis, versus poluui areticum et etiam in partibus Norvegiae et Sueviae."
t) Bisulca 1621, p. 857, auch 863.
tt) De gentibus septentrionalibus 1562, p. 133.
ttt) Hibbert: On the question of the existence of the Rein-deer, during the 12 Century
in Caithness. Edinb. Joum. of scienc. New ser. V, p. 50.
*t) Grosse Meeresfluth , die der Ostsee ihre heutige Begrenzung, den anliegenden Küsten
ihre Gestaltung verlieh. Nilsson fügt hier hinzu: „Es ist überhaupt gar nicht erwiesen, dass
die Katastrophe zu einer Jahreszeit stattfand, als die Rennthiere sich in Schoonen aufhielten"
* **t) Steinalter u. s. w., S. 188 ff.
231
merkung. dasR nach Mittbeilung seines Freundes Dr. E. Boll zu Neubranden-
burg siel) das Lpben dieses Thieres in Mecklenburg auf etwas mehr als 1000
Jahre zurückschieben bisse (S. 11), findet sich ohne weitere geologische oder
historische Begründung vor. Der verehrte Dorpater Verfasser fahrt dann
weiter fort: „Die genauere Untersuchung der einzigen Localität unserer Ost-
seeprovinzen, wo vor 20 Jahren ein Rennthier in 20' Tiefe eines Moores*)
ausgegraben wurde, liegt nicht vor und wird schwer nachzuholen sein. Geht
man von der, im vorliegenden Falle wenig brauchbaren Zahl von 50 Jahren
Bildungszeit für eine Torfschicht von 1' Mächtigkeit aus, so würde unser
Fund auf ein Leben des Kennthiers vor 600 Jahren führen. Legt man da-
gegen die Berechnung des Pfahlbauten-Torfs (100 Jahr per Fuss) zu Grunde,
so hätte das Rennthier von Neu-Kaipen vor 1200 Jahren gelebt. Dergleichen
Zahlen lassen sich selbstverständlich nicht verwerthen, so lange nicht andere
Momente für Bestimmung der Zeit des Rennthierverschwindens herbeigezogen
sind. Dieses Verschwinden wird aber in den Ostseeprovinzen, wo es weder
durch hinreichend grosse Veränderungen der äusseren Natur (soweit sie nicht
vom Menschen abhängen) und namentlich nicht durch ungeeignetes Klima,
Nahrung oder durch innere, das Aufhören der Propagati onsfähigkeit bedin-
gende Gründe zu erklären ist, einestheils den Erbfeinden des Reu nthi eres
aus dem Thierreiche, anderntheils aber namentlich dem Menschen als Ver-
uichter, sowie dessen zunehmender Zahl und CuJtur zuzuschreiben sein."
Nach Grewingk's ferneren Untersuchungen liefert „keine Geschichtsquelle der
Ostseeprovinzen eine Andeutung von der früheren Existenz des Rennthieres
in denselben." Es sei dem gründlichsten Kenner des Estenvolkes, Dr. Kreuz-
wald in Werro, nach Allem, was er von dessen Sprache und Erinnerungen
wisse, bis jetzt nichts vorgekommen, das auf eine frühere Bekanntschaft die-
ses Volkes mit dem Rennthier hinweise, während das Elen schon im Jahre
1000 bei den Liven genannt Werde und kein Grund vorliege, das damalige
livische Eleu (pudrs) für etwas anderes zu halten, als das heutige.
Eine sehr alte Benennung — pedru — für das Rennthier finden wir
nach Grewingk bei den Kareliern, jenem Finnenvolke, welches im eigent-
lichen Grenzgebiete der Verbreitung des Renns und Elens lebend, mit bei-
den Thieren zufolge den in Granit geritzten Bilderschriften am Onegasee**)
bekannt ist, dieselben auch gegenwärtig noch jagt.** ':) Uebrigens werde das
*) Bei Neu-Kaipen in Südlivland, Kreis Riga, wurde das oben erwähnte vollständige, doch
aus sehr mürben, auseinanderfallenden Knochen bestehende Gerippe eines Rennthieres gefunden,
von welchem eine, an der Luft erhärtende Geweihstange in das Rigaer Museum gelangte (a. a.
O. S. 4).
**) Melanges Russes de l'Ac. des sc. de St. Petersbourg, II, p. 427—434.
***) Nach A. v. Nordmauu streift das „circumpolare Rennthier, welches seine nördlichste
Aufenthaltszone mit dem Eisbären und dem Eisfuchse theilt, und an einigen Orten des neu-
erworbenen, weitläufigen Amufgehietes mit dem bengalischen Tiger zusammentrifft, - ia ver-
wildertem Zustande bis in das eigentliche Finnland hinein und kommt namentlich zur Winter-
zeit rudelweise bis zum Ladogasee und zu dessen Inselgruppen. Einzeln vorkommend ist es
232
Rennthier iu den alten Liedern und Sagen der Eisten gänzlich vermisst
so ■/.. B. in der Kalewipoeg-Sage, in welchem doch andere Jagdthiere wie
der Waldochse (Metsärg - Ur, d. b. Boa prinbigenius) mit Elen, Bär, Wolf
und Hase zusammen aufgeführt würden.
Dürfen wir nun dem oben Mitgetheilten zufolge auch das Vorkommen
des Kennthieres in gewissen Theilen Grossbritanniens und Deutsehlands noch
zur geschichtlichen Zeit für wahrscheinlich halten, so können wir doch
aber dieses Vorkommen nur für ein vereinzelteres erklären, da sich das gänz-
liche Verschwinden unseres Geschöpfes in anderen europäischen Ländern
schon zu eben jenen Zeitläuften als völlig erwiesen darstellt. Die vielen lehl-
geschlagenen Acclimatisationsversuche unseres Renn in Deutschland, Gross-
britannien, Frankreich u. s. w. zeigen, dass jenes Geschöpf im gemässigten
Europa heut keineswegs mehr die zu seinem Fortkommen erforderlichen
Bedingungen und Nahrungsmittel vorfindet.
Es fragt sich nun, ist das alte Renn Mitteleuropas bereits Hausthier
oder ist dasselbe nur Jagdthier gewesen? P. Gervais hat neuerdings mehr-
fach die Ansicht vertreten, es sei das Rennthier von aus Norden gekomme-
neu Völkern, von hyperboräisehen Lappen, von skythischen Finnen in
unsere Gegenden eingeführt worden. Die heutigen Finnen müssten als Ab-
kömmlinge früher sehr- zahlreich gewesener Horden gelten, die dann später
durch Mongolen, Türken und Slawen zurückgedrängt und unterjocht worden
seien. Im fünften Jahrhundert der christlichen Aera seien die Finnen noch
unabhängig gewesen und habe man, wiewohl mit Unrecht, behauptet, Attila
sei einer der ihren gewesen. Die Eroberungen dieser nordischen Völker
und ihr mögliches Auftreten an den Ufern des Mittelmeeres, wohin sie das
Renn eingeführt, woselbst sie es zur Verwendung gebracht, würde den älte-
sten geschichtlichen Documenten, dem Erscheinen der Aryas, vorauf gegan-
gen sein. Noch ehe die Finnen den Kampf gegen Mongolen, Türken und
Slaven begonnen, müssten sie bereits dem bedrängenden Einfluss einer all-
mählich erstehenden keltischen Cultur gewichen sein. Die Arbeiten Die-
trichs lehrten, dass die Finnen vor Ankunft der germanischen Völker in
Europa nur Pferd und Renn besessen, dass ihnen dagegen Ziege, Schaf und
selbst Rind (ohne Zweifel der echte Boa taurua) durch (indogermanische)
Scandinavier zugeführt worden wären.*) Gervais sagt ferner an einer andern
Stelle: Im Süden Frankreichs müsse der Mensch sehr viel Rennthiere ge-
schlachtet haben. Das gehe aus der Masse und Verschiedenheit der Kno-
chen hervor, so namentlich der in der Grotte von Bize gefundenen (p. 70).
auch in dem mittleren Theile von Finnland, in Sawolax und zwar unfern Kuopio erlegt worden.
Auf der Insel Walamo, 61)6° n. Br., welche Verf 1856 besuchte, findet sich auch eine Anzahl
von Rennthieren, die keineswegs verpflanzt worden ist." Das dem Verf. aus Lappland reichlich
zu Gebote stehende fossile Renn ist bis jetzt in Russland nicht aufgefunden worden, zumal
Cervus leptoceros Eichwald aus dem Bug in der That unterschieden zu sein scheine. (Palae-
ontologie Siidrusslauds. Helsingfors 1858—62, S. 24:j.)
•) Annal. d. scienc. nat. 1. c. p. 72. Recherches etc. p. 58 ff.
233
Grewingk bemerkt, dass Tacitus, bei seiner doch sonstige Verhältnisse
des Hausstandes berührenden Schilderung der .Finnen" nichl des Ronnthieres
erwähne. Es gehe aus dieser Schilderung hervor, dass die Finnen nicht mit
Rennthieren nomadisirt hätten, weil diese zu auffällig gewesen wären, um
übersehen zu werden. Ohne hier übrigens die rein anthropologische Seite
der von Gervais vertretenen Ansicht einer tschudischen Einwanderang und
einer durch Tschuden vermittelten Einführung des Renns näher erörtern zu
wollen, möchte ich hier auf einen, wie mir scheint, sehr wohl begründe-
ten, von Vogt aufgestellten Einwand aufmerksam machen. Dieser Fach-
genosse Gervais1 bemerkt nämlich, dass Gervais Einführungstheoric unstatt-
haft sei, weil das Rennthier ohne den Hund nicht als Hausthier ge-
dacht werden könne, der zur Hütung der Heerden ganz unumgänglich
nöthig sei und überall, wo Rennthiere gezüchtet würden, als Hausthier vor-
komme. Wer jemals Rennthiere gesehen, werde mit ihm - Vogt — darin
übereinstimmen, dass der Mensch ohne den Hund nicht eines einzigen Renns
Meister werden könne, geschweige denn einer Heerde. Nun habe man aber
bis jetzt keine Spur eines zahmen Haushundes oder überhaupt eines II aus -
thieres bei den Knochen der Rennthierperiode gefunden, während unmittel-
bar nachher in den dänischen Küchenabfällen der Hund und später in den
Pfahlbauten noch weitere Hausthiere vorkämen, die — wie Ruetimeyer nach-
gewiesen habe — sehr wohl von den wilden Racen durch das Gefüge ihrer
Knochen unterschieden werden könnten.*) Wenn aber der Mensch aus dem
Norden, der in späterer Zeit den Haushund besessen, Züge mit seinen Renn-
thierheerden durch den ganzen europäischen Continent gemacht hätte, so wäre
gewiss der Hund ebenfalls mit von der Reise gewesen. Ferner spreche gegen
diese Annahme die ganze nordische Hochgebirgsfauna, die das Rennthier be-
gleite. Der Mensch nehme auf seinen Wanderungen stets mit oder ohne Ab-
sicht einige Thiere mit sich und bekanntlich habe manche wilde Art, beson-
ders kleinerer Säugethiere , wie z. B. Nager, sich in dieser Weise über die
Erde verbreitet. Aber dass eine ganze Fauna, Gemse und Steinbock, Moschus-
ochse und Vielfrass, Bison und Lemming nun auch mitgewrandert wären, das
gehe denn doch über alle Erfahrung hinaus. Diese ganze Fauna wäre viel-
mehr naturwüchsig auf dem Boden, mit dem Menschen und dem
Rennthiere und hätte sogar in unmittelbarer Nähe von Arten existiren
können, die jetzt nur im Süden vorkämen; in ähnlicher Weise, wie jetzt in
einem Inselklima wie Neuseeland Tropenvegetation und Gletscher sich un-
mittelbar berührten u. s. w.**)
Ich glaube, man darf Vogt hierin nur beistimmen. Aus dieser seiner
*) Es ist übrigens eine bereits altbekannte Erfahrung, dass die Knochen eines zahmen
Schweines, Esels u s. w. sich durch Dichtheit, glattes, fettes Wesen und Schwere von den
dünneren, hervorragendere Kanten und Musttelfortsätze zeigenden, trockneren und leichteren
Knochen der entsprechenden wilden Thiere ganz gut unterscheiden lassen.
•*) Archiv f. Anthropologie, I, S. 38.
234
Deduction . der wir kaum irgfind Etwas hinzuzufügen wüssten. sjeht zur Ge-
nüge hervor, das« an die Einführung des Hausrenns von zur Eisperiode nach
Europa eingedrungenen Tschnden schwerlich gedacht werden könue. Das
Renn scheint damals, wie noch jetzt im Norden Amerikas u. s. w., nicht
Hausthier, sondern ausschliesslicher Gegenstand der Jagd von Seite der
menschlichen Zeitgenossen gewesen zu sein, welchen letzteren Haut, Sehne,
Fleisch, Talg, Knochen und Geweih ebenso vieles für den Unterhalt, ver-
wrrthhares Material geliefert haben mochten, wie noch heut Trappers und
f'oureurs des Bois, Hundsrippenindianern, Ko-Yukons, Orotschonen u. s. w.
Mag auch die Domesticirung dieses Geschöpfes sich an gewissen
Oertlichkeiten in eine sehr ferne Vorzeit verlieren, uns fehlen leider alle ge-
naueren Anhaltspunkte über diesen Zeitpunkt. Ich finde nur eine Stelle
Aelian's, welche in dieser Hinsicht Beachtung verdient: Wilde Skythier rit-
ten auf gezähmten Hirschen wie auf Pferden — sehr wahrscheinlich doch die
alten Tungus en des Angara, Wilui und Lena! —
Berichtigung.
S. 224 Z. 15 v. u. lies: Pfahlbauten und derer Italiens.
Miscellen.
Wichtige Beiträge zur afrikanischen Ethnologie haben uns neuerdings wieder Dr. Seh wein -
furth (Zeitschr. der Gesellschaft f. Erdkunde, Band V, Heft 1, 2) und auch Dr. Nachtigall
(das. Heft :i) gebracht.
Schweinfurth schildert zunächst die Schilluk nach körperlicher Erscheinung, Tracht und
Sitte.. W. v. Harnier's bildliche Darstellungen*) gewähren eine treffliche Illustration zu dieser
Schilderung. Auch bei den Djanghe, einem bedeutenden, um die Maschera-el-Rek herumwohnen-
den Theile der grossen Denka-Farailie, verweilt sich Verf. und macht uns endlich noch mit den
physischen Eigentümlichkeiten der zum grossen Dorvolke gehörenden Bongo bekannt. Wir
haben über die letzteren und die Njam-Njaro, nach des Reisenden an uns direkt gerichteten
Briefen, bereits in Heft I. dieses Jahrganges unserer Zeitschrift berichtet. Bekanntlich gewinnen
die Dor ein nicht geringes Interesse durch ihre nationale Verwandtschaft mit den Eroberern von
Baghirmi. Dr. Schweinfurth hat letzthin eine bedeutende Anzahl von Schädeln der Schilluk,
Oenka, Djur und Bongo, sowie auch andere Skelettheile dieser Völker nach Berlin gesandt, ein
unvergleichliches Material, wie es zur Zeit nur in dem von dem Kartumer Banditengesindel
verwüsteten Gebiete des weissen Niles und des Gazelleuflusses gewonnen werden konnte. Ueber
die wissenschaftliche Verwerthung dieser kostbaren Sammlung wird unsere Zeitschrift gelegent-
lich berichten.
Dr. Nachtigall unterhält uns in sehr eingehender Weise, weit eingehender, weit einleuch-
tender, als es irgendwie früher geschehen ist, mit dem bisher noch unzureichend bekannten
Volke der Tibbu. ", Verf. zergliedert die Namen dieser Nation, ferner ihre ethnographische
*) Reise am oberen Nil. Darmstadt unt) Leipzig 186t;.
**) So schreibt Nachtigall und so schrieb Referent schon früher nach directer Aufzeichnung
des sehr gebildeten Furer's Idris-Jmam zu Siut.
235
Stellung, die sie, was Ref. schon froher nach manchem Anderen kaum zweifelhaft erschienen,
den Berbern, sogai den nubischen Beräbra und ihren Verwandten, nahe bringt; endlich schil-
derl N mit jenei überlegenen Sicherheit der Methode, die dem Ethnologen um gute medicinisch
naturwissenschaftliche Schulung zu leihen vermag, auch di( physisch' Bes baffenbeil
dei Tibbu Dem Schlüsse dieser wichtigen Abhandlung sehen wir mit ungetheiltem Intere »e
entgegen. Wir können dem muthigen Heisenden nur von Herzen Glück auf neinci mit so viel
wissenschaftlichem Sinne eingeschlagenen Bahn wünschen. H.
Kim- Ergänzung zu der Affenherkunft indischer Rajafamilieu bildet folgende Notiz: «Ihm- to the
Banian tree (on the Sookulteruth island near Broach) was a yoang boj (chained bj the neck),
who was begotten by a monkey, who had ravished one of the Faquiers' wives. He was aboul
■I feet high, all the gestures of a monkey, speechless, hairy, and his forehead ahnosl overgrowu,
His complexion was rather darker, than any ot the women seen there One of his hands was
considerabiy shorter, he seemed very weak on his legs and walked with great caution, for feai
of falling. The hair of his body and armpits especially was prodigiously long, but (hat of his
head rather woolly and tied in the centre into a bunch (Hove) 1788. From tbe Mss. in the
Banksian library, in der officiellen Ausgabe (durch Alexander Gibson) 1855 (mit begleitender Ab-
bildung). B.
Im Archaeological Journal (Vol. XXVI) findet sich ein Bericht (durch W. 0. Stanley) über
Ancient Circular Habitations, called Cyttiaur Guyddelod, at Tej. Mawr in Holyhead is'.and (1869),
Neben Steinmörsern einer Hütte wurden gefunden (indications of melting), quantities of eharcoal,
thick masses of iron slag or (according to Sir R. Griffith) portions of the metallic lode, inixed
with the stone and floor of the hut In einer andern Hütte: stone-hammers were found (grooved
and notched in the centre), dann Bronze- Waffen , römische Münzen. Die Martellos de pedra
descobertos em trabalhos antigos da mina de cobre de Ruy Gomes no Alemtejo zeigen, das>
technische Gründe den Steinhammer auch selbst au der Fundstätte der Metalle bewahren
konnten.
In dem Recueil des Notices et Memoires de la Societe Archeologique de la Province de
Gonstantina findet sich ein Bericht de Boysson's über die Tombeaux Megalythiques de Madrid.
die als Reste eines Steinregens galten, wodurch die gottlose Rasse der zwerghaften Beni-Sfao
vertilgt wurde. Eine ähnliche Sage wird von den Panda-Kulis im Dekkban erzählt und kommt
auch im Kaukasus vor.
In der Beschreibung des Landes Turuchansk durch Tretjakow, aus den Berichten dei
K. R. Geographischen Gesellschaft wird von den dortigen Ostjäken oder Tundiget ein neuer
Belag gegeben zu dem weit verbreiteten Gebrauch des gegenseitigen Vermeidens von Schwieger-
eltern und -Kindern, wie es sich bei Omaha, Mandan, Abiponen, Caffern u. s. w. rindet.
In Sibirien noch bei den Katschintzen. Bei der unumschränkten Gewalt des Hausherrn, wie
es Dixon auch bei den patriarchalischen Verhältnissen in Russland hervorhebt, soll die Schwieger-
tochter gleichsam für ihn nicht vorhanden sein, um nur ihrem Manne anzugehören, dessen
Eigentumsrecht auf sie dadurch begünstigt wird. B.
In dem letzten Hefte der Zeitschrift für Erdkunde (Band V, Heft III.) rindet sich der von
Herrn Dr. Kupfer in der Sitzung der Anthropologischen Gesellschaft April 2, 1870 gehaltene
Vortrag über die Cayapo- Indianer in der Provinz Matto Grosso, der ausser einer Beschreibung
ihres physischen Habitus, sowie ihrer Sitten und Gebräuche, auch ein kurzes Vocabularium
aus ihrer Sprache bringt.
23«
Büeherschan.
Orton: The Andes and the Amazon, London 1870, aus den Ergebnissen
der von der Kmithsonian-Institution aiisgesandten Expedition nach den äqua-
torialen Anden und dem Amazonas.
Die im Flussgebiet des Napo übliche Präparationsweise der Schädel dient zur Erläuterung
der sog. Aztekenköpfe, die letzthin mehrfach über Guayaquil oder auch über Panama nach
Europa gekommen sind. The Jivaros have the custom and art of corapressing the heads of
their notable captives, taking off the skin entire and drying it over a small mould, they have
a hideous mumtny which preserves all the features of the original face, but on a reduced scale.
They also braid'the long black hair of their foes into girdles, which they wear as mementoes of
their prowess (s. Orton). Auch Bates bemerkt: The Mundrucus used to sever the head with
knives made of broad bamboo, and then, after taking out the braiu and fleshy parts, soak it in
bitter vegetable oils and expose it several days over the smoke of a fire or in the sun.
Estratte le cervella pel foro occipitale, ei lava accuratamente il cranio, lo rimpie di cotono,
e dopo averlo asciugato e ben ripulito dal saiigue, lo appende al disopra del focolare onde ri-
ceva quel grado di calore sufficiente alla perfetta essiccazione e conservazione delle carni cavan-
done soltanto gli occhi, ai quali sostituisce della bambagia colorata. Fatto questo, la tiene es-
posta al di fuori della capanna o la porta sulla punta d'una lancia quando ei celebra qualche
festa. In tal modo e conservano eziandio le teste dei loro parenti, tenenendole perö separate
da quelle dei nemici e portandole in solennita differenti (Osculati). Quando il Mundrucus (taglia-
teste) guinge ad uccidere un suo nemico, saluto gli recide la testa (preparata). Auch Villavi-
cencio spricht davon: Los Jivaros acostumbran en sus guerras contar las cabezas de sus ene-
migos y llevarlos ä sus casas para hacer un aniversario con la piel de la cara y cuero cabelludo
que sacan intacto y secan en unos moldas de piedra caliente, despojan el cabello largo de
sus enemigos para formar trenzas y atärselas ä la cintura desnuda. Das lange Haar rindet sich
wieder in Yukatan, bei den nach Herrera die Köpfe abplattenden Indianern. Their hair was
long like woraen and in tresses, with which they made a garland about the head and a tail
hung hehind, wie auch die Chinesen ihren Zopf bei der Arbeit oft um den Kopf schlingen. Bei
den Napo-Indianern bemerkte Orton rothe Bemalung (mit Achote oder Anatto), Usually they draw
horizontal bands from the mouth to the ears and across the forehead. B.
Perrin: Etüde prehistorique sur la Savoie, specialement ä l'epoque la-
custre (age du Bronze), Paris Chambery 1870. Les nombreuses decouvertes de ces
dernieres annees placent l'existence de nos bourgades lacustres (les palafittes du Bourget) ä l'age
du bronze. L'äge du pierre ne parait pas y avoir precede l'äge du bronze, bien que l'on retrouve
des couteaux, des grattoirs et des pointes de fleches en silex eclate et des haches en pierre polie,
mais en petit nombre , et comme continuation des anciens usages, les memes instruments se re-
trouvent d'ailleurs employes encore ä l'äge du fer (S 25). La decouverte de quelques debris de
l'epoque romaine a Chätillon et ä la petite Station de Gresine n'a pas une portee plus grande,
que celle des obiets modernes, que nous y avons trouves. Der beifolgende Atlas giebt auf der
ersten seiner 20 Tafeln einen Knochen, decore de gravures au trait, representant d'un cote un
bouquetin, et de l'autre un rameau de fougeres aus Thioly's Funden bei Veyrier.
Noe: Dalmatien, Wien 1870. Anziehende Schilderungen , weniger geographisch als
dichterisch. Doch besitzt auch diese Auffassungsweise für die Ethnologie ihre Bedeutung, —
wenn man Zeit dafür hat.
237
Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie
und Urgeschichte.
Sitzung vom 2. April 187<i
In Abwesenheit des Herrn Virchow eröffnet Herr Bastian die Sitzung.
Derselbe überreicht als Geschenk des Herrn Jagor für die Bibliothek: Le Dänemark ä l'ex-
position universelle de 1867, publiee par la commission danoise.
Herr Lisch übersendet folgenden Brief
über die Framea.
In der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie", Sitzung vorn 12. Februar 1870
ist die Betrachtung der bronzenen „Framea" wieder aufgenommen, über welche schon so
endlos viel geschrieben ist.' Ich will mich über die Richtigkeit dieser Benennung, welche ich
selbst, beiläufig gesagt, seit 40 Jahren gebrauche, nicht weiter auslassen, ich will nur einen
Punkt berühren, welcher für die Erklärung von Wichtigkeit sein dürfte.
In der Sitzung ist wiederholt ausgesprochen, dass man bei zweifelhaften oder verschieden-
artig gedeuteten Gegenständen möglichst „bestimmte Gebrauchs-Bezeichnungen vermeiden möge "
Nun ist aber in der Sitzung auch wiederholt das Wort Framea durch Pfriemen erklärt.
Diese alte Erklärung kann aber nicht richtig sein, denn ein Pfriemen ist eine kleine spitze
Nadel mit Griff zum Bohren eines kleinen Loches. Dazu passt die Wortform Framea nicht,
um so mehr, da im Altdeutschen das Wort phrimo sehr selten und vielleicht von zweifelhaftem
Alter ist. Tacitus nahm das Wort ohne Zweifel so auf, wie er es hörte Nun giebt es in allen
germanischen Dialekten ein uraltes Wort fram, welches noch in den nordischen Dialecten und
im Englischen in der Form from (= von) existirt, und selbst noch im Deutschen fromm.
Fram heisst aber ursprünglich vorwärts; davon kommt ein Zeitwort fram Jan, jetzt frommen,
d. i. fördern; auch fremd gehört demselben Stamme au.
Framea ist also: ein Werkzeug zum Vorwärtsstossen oder Vorwärts werfen = tfinni
misslle. Eine althochdeutsche Glosse erklärt die Framea des Tacitus durch: stafswert.
Ich habe diese Erklärung, bei einer Behandlung der Waffe, schon im Jahre 1832 in einer
Zeitschrift und ausführlich im Friderico- Francis ceum , Erläuterung, S 3^ ff., IS37, aus-
führlich behandelt —
Herr Kunth spricht
Deber Fände ans vorhistorischer Zeit in der Umgegend von Berlin nnd Rom.
M. H.I Ehe ich zu dem eigentlichen Gegenstande meines Vortrages übergehe, bin ich in
der Lage, zwei interessante Steine, welche deutliche Spuren menschlicher Bearbeitung zeigen,
aus unserer nächsten Umgegend, nämlich aus dem Diluvium des Kreuzberges, vorzulegen. Die
Notiz, welche diese Sachen abhandelt, ist schon alt, sie findet sich in Karstens Archiv vom
Jahre 1835. Damals hatte der jetzige Geheimrath Low in den Schichten des Kreuzberges ein
Sandsteinstück gefunden, welches deutliche Spuren der Bearbeitung zeigte, und von Arbeitern
war ihm ein Feuersteinstück übergeben worden, welches polirt ist und jene keilförmige Gestalt
besitzt, wie man sie bei sogenannten Feuersteinäxten häufig findet. Die vorliegenden Stücke
befinden sich noch im Besitz des Herrn Low, dessen Güte ich verdanke dieselben hier vorlegen
zu können und dem ich ausserdem für mündliche Mittheilungeu \erprlkhtet bin. Die Schich-
ten, die damals die beiden Stücke geliefert haben, fanden sich in den grossen Sandgruben un-
terhalb der Hopf scheu Brauerei; das Schichtenprofil, welches Low giebt, ist folgendes- Zu
238
• ibersl ist Dammerde und Flugsand, unter diesem befindet sich Diluvialsand ohne Geschiebe,
welcher eine Mächtigkeit von 8 — 12' besitzt, und es folgt dann eine Schicht von Gross und
Kies, hierauf Diluvialsand und Thonmergel. Das Kieslager zeigte auf der oberen und unteren
Seite eine Brauneisensteinrinde und in der untern fanden die Arbeiter diesen Feuerstein; er
war anfangs vollständig, die Arbeiter versuchten jedoch Feuer daran anzuschlagen, wobei eine
Ecke abgesprungen ist Später hat Herr Low ein Sandsteinstück gefunden, welches wie ein
Schleifsteinstück aussiebt. Die Sache hat damals grosses Aufsehen erregt; es ist eine Oom-
mission an Ort und Steif' gewesen, und soweit es möglich war, ist constatirt worden, dass diese
beiden Stücke in unverletztem Gebirge gefunden worden sind. Es ist dies die früheste Notiz
und meiner Ansicht nach die einzige über das Vorkommen von Feuersteinwaffen in älteren Erd-
schichten unserer Gegend: denn obgleich Herr Friedet solche ans der Umhegend Brandenburgs
yezeigt hat, so wird es Ihnen doch zum Theil so gegangen sein wie mir; Sie werden vielleicht
nicht völlig überzeugt sein, dass seine Stücke Kunstprodukte sind.
Das zweite, was ich mir erlaube Ihnen mitzutheilen, sind Berichte von Ponzi und de Rossi
über Funde aus der Umgegend von Rom, welche Spuren menschlicher Thätigkeit theils aus der
älteren, theils au< der neueren Steinzeit, wie aus der Bronze- und Eisenzeit nachgewiesen
hallen.
Die ältesten Spuren menschlicher Thätigkeit, Spuren der alten Steinzeit sind gefunden wor-
den bei Ponte molle Der Tiber hat sich an dieser Stelle nach und nach ein tiefes Bett einge-
rissen, und man findet in der Höhe über dem Fluss Schichten aus Mergel und Süsswassergebilde
bestehend, welche zum Theil Feuerstein waffen enthalten. Bei Ponte molle zeigt ein Profil zu-
nächst eine untere Schicht aus grobem Kies bestehend, darüber ■jine mergelige Schicht, welche
Süsswasserptlanzen enthält und darüber eine Schicht aus feinerem Kies bestehend. In den bei-
den Kiesschichten sind Feuerstein waffen gefunden worden, und die grosse Mehrzahl derselben
zeigt deutlich den Charakter schlechter Bearbeitung aus der älteren Steinzeit Drei dieser Dinge
sind \on feinerer Bearbeitung, sie stammen nach Ponzi aus der obern Schicht, während die
andern alle in der untern gefunden worden sind.
Ein zweiter Punkt, wo sich solche Geräthe fandeu, ist Monticelli, wo die Sachen in ganz
ähnlichem Verhältniss auftreten. Es hat hier ein Fluss der Quartärzeit einen tiefem Einschnitt,
im alten Gebirge gemacht wie an der vorigen Stelle des Tieber, und man hat in Schichten, die
ebenfalls Anlagerungen dieses Flusses sind, Feuersteinwaffen gefunden, und, mit diesen gleich-
zeitig, Kos primigenius, Elephas, Rhinoceros tichorhinus etc.
Ausser diesen beiden Stellen sind Produkte der älteren Steinzeit noch auf dem äusseren
Abbange des Vulkan von Latium gefunden worden. Die äussere Wand desselben ist von vul-
kanischen Produkten gebildet, fast über den gan::en Vulkan verbreitet ist dann eine Humus-
schicht, welche diese Dinge enthält und über dieser kommen neue vulkanische Massen.
Es haben sich auch in der Umgegend von Rom Waffen der neueren Steinzeit gefunden und
zwar besonders in der Umgegend von Vicovaro, wo ein Nebenfluss des Anio hauptsächlich l -ji
der Bildung der heutigen Oberfläche thätig gewesen ist. Es findet sich nun an einem Hügel,
eine Travertiu-Masse und in derselben mehrere Grabstätten. Die eine der letzteren, welche etwa
7 M. über der jetzigen Thalsohle liegt und jetzt beinahe 3 M. in die Oberfläche eingesenkt, ist,
hat die Schädel dreier Menschen geliefert, welche entschieden dolichocephal sind, und von be-
gleitenden Thieren Sus scropha, Cervus elaphus und andere, eine Fauna, die jünger zu sein
scheint, als die vorher erwähnte. Etwas über diesem unteren Grabe fand sich eine zweite Grab-
stätte, welche 2 Skelette enthielt, und merkwürdigerweise haben die Schädel derselben die Ge-
stalt der Brach ycephali, ausserdem fanden sich in ihr noch eine Vase aus Thon, die ohne
Scheibe fabricirt ist, und die in ihrem Material Brockeu von Lawa, Glimmer, kurz Gestein der
Umgegend zeigte, wie dies in unsern alten Vasen ebenfalls vorkommt. Dabei fanden sich Feuer-
äteinwaffen der neueren Steinzeit. Diese beiden Gräber sind nur ein geringer Theil eiuei
grösseren Gräberreihe, welche Gegenstand der Untersuchungen Ponzi's sein werden.
Die Bronzezeit ist nur sehr ungenau untersucht; es finden sich in den Bergen überall Bronze
geräthe, aber nirgends eine genaue Angabe der Fundstätte. Nur bei einem einzigen Geräthe
dieser Ut giebt es eine sichere Angabe des Ortes, an dem es sich fand, es ist ein Beilmessei
aus Bronze.
Ich schliesse mich in Folgendem der Eintheüung de Rossi's an, obwohl sich einige beiner
kenswerthe Eigentümlichkeiten in derselben finden.
239
Die folgenden Fuadpunkte rechnet de Rossi zur Eisenzeit, obwohl Bisen an ihnen nicht
gefunden ist, sondern nur deshalb, weil die Thonvasen derselben den Typus der Eisenzeit au
sich tragen sollen. Ich bin zu wenig mit dergleichen Dingen bekannt, um zu wissen, ob die
Form dieser Geräthe in den verschiedenen Perioden bestimmte Eigentümlichkeiten besitzt: die
Urnen enthalten Bronze-Gegens'ände, Heftnadeln aus Bronze, Bernsteinarbeiten u. s. w.
Bereits im Jahre lg 17 sind die ersten derartigen Funde in der Nähe des Albanersec's ge-
macht worden. Der Ort. ist später von de Rossi selbst im Jahre 1867 untersucht worden und
diese Untersuchung hat zu folgenden Resultaten geführt.
In der Nähe des Albanersees, wo eine Decke von Peperin die oberste Schichte des Gestein^
bildet, J£— IM. dick, und unter welcher sich eine Abtheilung vulkanischen Sandes findet l— i,5M.
mächtig und unter der abermals eine Peperin-Schichl sieh befindet sind in dem vulkanischen
Sande zahlreiche thönerne Geräthschaften, z. Th. sehr schön erhalten, gefunden worden und
zwar unter gewissen eigentümlichen Umständen, besonders ist dies der Fall in der Nähe von
Rocca di papa, man hat da die Gefässe auf viereckigen Abschnitten, welche mit schwarzer Damm
erde bedeckt waren, stehend gefunden Das Feld auf welchem man dieselben antraf, nmfasst
112ö^M. und innerhalb dieses Terrains ist es mir gelungen, ein einziges Skelet zu finden: der
Schädel hat gezeigt, dass es einem alten Manne angehört hat.
Es ist nun von Interesse einige Bemerkungen über die Z< it. au diese Funde zu knüpfen.
Ponzi hat nachgewiesen, dass der Krater von Uatium drei Epochen durchgemacht bat: die erste,
in welcher der grosse Kranz der Berge ringsum entstand, die zweite, ,vo der Kegel in der
Mitte dieses grossen Kraters sich bildete und drittens, die Bildung des Albanersees. Es be-
weist nur der Umstand, dass mau in den Aussenabhängen des Vulkans von Uatium Spuren
menschlicher Thätigkeit findet, dass die Menschen bereits in jener ersten Epoche auf dem Ab-
hänge des Vulkans gelebt haben, es wurden also alle Vorgänge, welche während der Bildung
des Vulkans geschahen, von Menschen gesehen, bis die letzten vielleicht bei der Bildung des
Albanersees ähnlich umgekommen sind wie die Bewohner von Pompeji. Her römische Ritus
zeigt mehrfach, dass die Römer eine Erinnerung an die alte Zeit gehabt, haben. Bei gewissen
Opfern mussten steinerne Messer, bei dem Bau der Tempel stets Bronzegeräthe gebraucht wer
den. Es ist ferner darauf aufmerksam zu machen, dass die Umgegfnd des Vulkans von Latiuin
die ist., die als der alte Sitz des latinischen Volkes angegeben wird. —
Hr. Friedel: Es hat sich allerdings bei nachträglicher Untersuchung herausgestellt, da-
von den Sachen, die ich in der zweiten Sitzung vorzeigte, zwei von eineiu Stücke herstammen
und, wie Hr. Kunth bereits sagte, nicht von Menschenhand, sondern wahrscheinlich von der
Natur getrennt sind. Es kommt jedenfalls darauf an, ob bei uns Funde aus der alten Steinzeit
vorkommen, und da haben wir Alles zu untersuchen. Was die beiden heute von Herrn Kunth
vorgelegten Stücke betrifft, so will ich bemerken, dass dieselben aus der palaeolitischen Zeit
keineswegs stammen können, wenigstens nach dem, was man bis jetzt darüber annimmt, denn
der Steincelt ist polirt und solche sind bis jetzt noch nicht im Diluvium gefunden. —
Herr Fonck giebt
Mittheilangen über chilenische Indianer.
Der Vortrag wird später ausführlich erscheinen. Die gleichzeitig vorgezeigte Sammlung
chilenischer Steinwerkzeuge wird der Gesellschaft als Geschenk überreicht.
Der Vorsitzende dankt im Namen der Gesellschaft für das werthvolle Geschenk und macht aut
die wichtigen Erläuterungen aufmerksam, die, wie der so eben gehörte Vortrag beweise, dis
Anthropologie aus ethnologischen Beobachtungen gewinnen werde.
Herr Kupfer spricht über die
Cayapos.
welche- er in einem aus Lehmhäusern gebauten Dorfe von Santa Anna de Parauahyba, einem
kleinen Städtchen in der Provinz Matto Grosso aufsuchte. Die Eingebomen führten einen Tanz
auf, an welchem auch der bemalte Häuptling Theil nahm, zum Empfange der Reisenden, die
dann iu einem offenen Rancho einquartirt und bestens verpflegt wurden.
240
Die Mänper zeigten sich wohlgenährt, mit schräg nach Innen geschlitzten Augen. Die
grosse Zehe ist sehr kurz , so dass der sonst schön gewölbte Fuss ein plumpes Ansehen erhält.
Der Frauenschmuck besteht aus, an Bast und Baumwolle befestigten, Zähnen. Die ärmlichen
Lehmhütten entbehren fast jedes Geräth und ist die Gewinnung oder Bearbeitung von Metallen
ihnen unbekannt. Sie schlafen auf Matten und schieben dabei einen Holzklotz unter den Nacken.
Sie treiben keinen Ackerbau , nutzen auch die bei ihnen wachsenden vielen offizinellen Pflanzen
nicht aus Von religiösem Cultus zeigen sich nur schwache Spuren. Obwohl sie ein ein Wort
für Gott und Himmel haben, verehren sie besonders die bösen Waldgeister, Hempiampiam ge-
nannt. Sie haben ausser Kuhhörnern keine Musikinstrumente, rauchen Tabak und trinken gern
Branntwein. Der Wald liefert ihnen Alles zum Leben Benöthigte.
Es fanden sich etwa 150 Personen am Orte, darunter aber keine heiratsfähigen Weiber.
Die Alten haben nämlich das Recht zur Polygamie und occupiren alles Weibliche vorweg. Auch
über ihre Sprache wurden einige Mittheilungen gemacht. Sie haben nur drei Zahlwörter, nämlich
1, 2 und viele. Ihre Anzahl vermindert sich zusehends und sie werden in nicht ferner Zeit von
der Erde verschwinden, woran ihre Indolenz in Krankheitsfällen wohl mit Schuld sein mag. —
Die in der vorigen Sitzung ernannte Commission (Beyrich, Hart mann, Kunth, Vir-
chow) berichtet über die von Herrn Baron v. Dücker eingesandte Sammlung
Westfälischer Höh'enfande.
Die aus sehr mannichfaltigen und interessanten Fundgegenständen bestehende Sammlung
hat in Beziehung auf die Frage von der Existenz des Menschen in den westfälischen Höhlen
einen entschiedenen Werth. Die unter Nr. 4, 5 und 8 aufgeführten Gegenstände aus der Klusen-
steiner Höhle zeigen deutliche Spuren menschlicher Einwirkung : No. 4, eine grosse, blattförmige
Lanzenspitze (nach Herrn v. Dücker eine Streitaxt) ist ein noch unfertiges, vielfach angeschla-
genes, altes Stück; Nr 5 ein geschlagenes Feuersteinstück ohne erkennbare Bedeutung. Ebenso
finden sich aus dem Hohlen Stein bei Rödinghausen unter Nr. 24 geschlagene Feuersteine, unter
Nr. 25 Topfscherben und aus der Balver Höhle unter Nr. 3 Stücke vom Schädeldach eines Kindes.
Manche Stücke, welche Herr v. Dücker als von Menschenhand bearbeitet ansieht, sind
der Commission nicht so erschienen. Aus der Klusensteiner Höhle ist das unter No. 6. aufge-
führte Stück aus Kieselschiefer freilich sehr scharfkantig, jedoch ohne bestimmte Spur menschlicher
Einwirkung Die unter Nr. 7 aufgeführten Zähne sind zur genaueren Prüfung auf die Natur der fär-
benden Substanz Herrn Dr. Liebreich übergeben worden. — Aus der Friedrichshöhle liegt ein
Stück Unterkiefer von Felis spelaea vor, aber die Brüche an demselben sind unvollständig und die
Spalten mit Lehm durchsetzt, wie wenn es in dem Schlamm zerquetscht wäre (Nr. 9). Das un-
tere Ende eines mächtigen Os femoris (No. 16) zeigt scharfkantige Bruchstellen, aber ohne künst-
liche Einwirkung. — Aus dem Hohlenstein bei Rödinghausen sind die Knochenstücke (No. 16)
allerdings bemerkenswerth. Es sind 3 ihrer Natur nach ganz verschiedene Stücke: ein sehr
schwarz aussehendes, scharfkantiges frisches Bruchstück von einem dicken Röhrenknochen, und
zwei sehr leichte, an der Zunge klebende Stücke, von denen eins einen Dornfortsatz, das andere
ein Rippenstück darstellt. Alle 3 tragen kleine, geradlinige, zu mehreren parallel neben einander
gestellte und zum Theil durch andere durchsetzte, kurze und oberflächliche „Kritze* oder Ker-
ben, die man für Einschnitte halten kann. Sie sind offenbar alt; eine sichere Entscheidung ge-
statten sie jedoch nicht, da sie weder die Natur des einwirkenden Körpers, noch eine bestimmte
Absicht erkennen lassen. Noch weniger ist d^e Beschaffenheit der Knochensplitter Nr. 20 be-
weisend; die meisten von ihnen tragen unverkennbare Spuren von Benagung; einige erscheinen
überdies abgerundet und wie gerollt Eine künstliche Glättung ist nicht ersichtlich, vielmehr
gehören die glatten Flächen den Stellen an, wo der Knochen, wahrscheinlich unter dem Gebiss
eines mächtigen Thiers, gesprungen ist Auch die scharfkantigen Steinstücke (No. 21 und 23)
sind weder durch Form noch durch Grösse von anderen zufälligen Bruchstücken der zerfallen-
den Felsmasse unterschieden. Der Sandstein Nr. 22 könnte möglicherweise zum Schleifen be-
nutzt sein, doch ist es nicht sicher. Das Oberschenkelstück Nr. 2K hat scharfe Brüche ohne
Zeichen menschlicher Beihülfe Endlich die Knochen vom Feldhuhn (Nr. 17), ferner von
Hypodaeus amphibius, Talpa europaea, die Fragmente eines Hühnervogels und das Kieferstück
eines Iltvhtes (Nr. 18) gehören offenbar neuerer Zeit an, als die Knochen des Rhinoceros,
Mainuiuth, Höhlenbären, welche in derselben Höhle gefunden sind.
Obwohl daher nach der Meinung der Commission nur ein kleiner Theil der verzeichneten
241
Fumle unzweifelhaft auf die Anwesenheit und die Thätigkeit des Mensehen in den Höbleu hin-
weist, so hält sie diesen Hinweis doch für einen sehr werthvollea Sie bedauert nur, dass
Herr v. Dücker keine vollständige Fundbeschreibung geliefert hat, aus welcher die Lage der ein-
zelnen Objekte sicher erkannt und ihre ursprüngliche Beziehung zu den übrigen Kunden der
selben Localität nachgewiesen werden könnte. Schon Nöggerath (Karsten's An Im Bd. 20)
hat erwähnt, dass in der Bai ver Höhle Münzen Kaiser Otto's I., in der Rösenbecker Höhle neben
römischen Alterthümern eine englische Münze vom Jahre 1594 gefunden sind. Alle solche Funde
haben keinen absolut beweisenden Werth. Sie gelten nur für nie Schicht, in der sie liegen,
vorausgesetzt, dass diese Schicht nicht durchgraben, umgewühlt oder sonst wie nachträglich ver-
ändert ist. Dass ein Thei] der westfälischen Höhlen bewohnt gewesen ist, haben schon die
früheren Ausgrabungen nachgewiesen; die Aufgabe der Gegenwart ist zu zeigen, wann dieses
Bewohnen angefangen hat. Die Funde des Herrn v. Dücker sprechen dafür, dass dies schon
in der Steinzeit der Fall war, aber sie lassen die Frage unentschieden, ob der Mensch der Stein-
zeit hier schon lebte, als die grossen Säuger lebten, deren Knochen der Höhlenschutt umschliesst. —
Herr Die bleich berichtet über einen von ihm untersuchten Zahn (Nr. 7) aus der Daher Höhle
\on eigentümlich schwarzem Aussehen; derselbe enthält keine Kohle, wohl aber Eisen und Mangan.
Sitzung vom 14. Mai 1870.
Der Vorsitzende, Herr Virchow widmet nach Eröffnung der Sitzung dem
verstorbenen Mitgliede Prof. Magnus ehrende Worte uud verliest den Abmeldungs-
brief des nach Dresden übergesiedelten Mitgliedes, Generalarzt Dr. Koth.
Die Herreu Geheimräthe Dr. Ho ussel le und Dr. Nagel, Fabrikbesitzer Solt-
mauu, Banquier Berth. Richter, Stabsarzt Dr. Hahn, Dr. v. Martens, Dr.
Loew und Dr. Beuster werden als neue Mitglieder genannt.
Als Gescbenke werden vorgelegt:
von Herrn Friedel: WibeFs Abhandlung über den Gangbau des Denhoogs auf
Sylt, von Herrn Virchow dessen Abhandlung über die altnordischen Schädel zu
Kopenhagen (Archiv f. Anthropologie Bd. IV), ferner dessen Vortrag über Menschen-
und Affenschädel, Berlin 1870, von Herrn Bastian Sprachwissenscbaftliche Stu-
dien u. s. w., von Herrn B. Davis dessen von einer Zuschrift begleiteter Thesaurus
crauiorum, von Herrn Langkavel mehrere kleinere Schriften, von Herrn Jagor
eine grosse Reihe sehr werthvoller, ethnologisch wichtige Typen Asiens darstellen-
der Photographien.
Herr Virchow macht darauf Mittheilungen über die kürzlich in Mainz statt-
gehabte constituirende Versammlung der deutscheu Gesellschaft für Anthropologie,
Ethnologie und Urgeschichte. Die erste Nummer des neu gegründeten Correspon-
denzblattes, welche einen Bericht über die Versammlung und die in derselben be-
schlossenen Statuten enthält, wird vorgelegt; das Blatt wird künftig allen Mitglie-
dern unentgeltlich zugesendet werden. Der Wiener Lokalverein "hat sich dem all-
gemeinen deutschen Vereine nicht angeschlossen, vielmehr ein eigenes Blatt zur
Publikation seiner Arbeiten gegründet. Die erste allgemeine Versammlung der
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 1870. t'j
242
deutschen anthropologischen Gesellschaft beginnt am 22. Sept. d. J. zn Schwerin.
Herr Lisch ;st zum örtlichen Geschäftsführer erwählt worden and hat die Vor-
bereitungen übernommen.
Darauf verliest der Vorsitzende die Einladungsschreiben des Präsidenten Grafen
Gozzadini zur Theilnahme an dem internationalen Congresse für prähistorische
Anthropologie und Archäologie zu Bologna, der am 1. October beginnt, sowie eine
Einladung zur Theilnahme am internationalen Gongresse für Geographie, Kosmogra-
phie, Forderung der Haudelsinteressen u. s. w. zu Antwerpen, welcher im August
stattfinden soll.
Im Einverständnisse mit der Redaction (Bastian und Hartmann), sowie der
Verlagsbuchhandlung Wiegandt uud Hempel (P. Parey), wird beschlossen, die
Zeitschrift für Ethnologie zum Organ der Berliner Gesellschaft zu erklären und
dieselbe jedem Mitgliede unentgeltlich zu liefern. Der Vorstand wird ermächtigt,
den Vertrag darüber abzuschliessen. —
Herr v. Martens zeigt
Gerätschaften und Schnitzereien von Dayakern im Innern von Borneo.
Er hat dieselben auf seiner Reise im Frühjahr 1863 an dem See Danau Sriang
im obern Gebiet des Kapnas- Stroms erworben. Während die Niederlassungen der
Malaien, Chinesen und Holländer sich an den Lfern der Flüsse befinden, welche
die Verkehrsstraasen in Borneo darstellen , finden sich die Wohnstätten der altein-
heimischen Dayaker, wenigstens gegenwärtig, gern abgelegen davon auf bewaldeten
Anhöhen; gefällte Baumstämme, einer hinter den andern gereiht, einige Fuss über
dem Boden und von dem dichten Unterholz desselben getragen bildeten den ein-
zigen Pfad zu einer solchen vom Vortragenden besuchten Wohnstätte. Dieselbe
besteht aus einer y^on zahlreichen Baumstämmen in einer Höhe von 30—40 Fuss
getrageneu, ebenfalls aus Baumstämmen gebildeten Platform, auf deren einer Seite
die niedrigen Wohnungsräume, von Einem gemeinschaftlichen Dache bedeckt, aber
im Innern getrennt, auf der andern die noch niedrigeren Vorrathskammern sich be-
finden. Alles ist aus Holz Rotaug (Calamus. spanisch Rohr) und andern einheimi-
schen Produkten des i'flanzeureichs gemacht. Der unter dem Gerüste befindliche
natürliche Boden empfängt alle Abfälle von oben und dient den zahmen Schweinen
zum Aufenthalt, welche neben wenigen Hunden und Hühnern die Hausthiere der
Dayaker bilden. Zur Bearbeitung dienen eiserne Werkzeuge, welche die Einge-
bornen sich selbst schmieden, namentlich ein verhältnissmässig schwaches mei-
sel förmiges, nur an der Schneide etwas mehr verbreitertes Beil, mittelst Rotang-
streifen an einem hölzernen Stiel befestigt. Zum Emporzieheu der Baumstämme
dienen aus Rotang geflochtene nicht stielrunde, sondern bandförmige, noch nicht
handbreite Taue. Die gewöhnliche Watte der Dayaker ist ein schweres gerades
einschneidiges Schwert oder Haumesser, an der stumpfen Kante gegen die Spitze
zu abgestuft; sein Griff, für europäische Hände etwas klein, ist aus Hörn zierlich
geschnitzt, die Scheide besteht aus rechtwinkligen Holzstücken, welche durch Ro-
tangstreifen eng zusammengebunden sind; sie ist oft mit den langen schwarzen
dicken Haaren erlegter Dayaker verziert und wird mittelst eines um die Mitte des
Leibs gehenden Strickes und eines viereckigen hölzernen in der Mitte durchbohrten
Knopfes so getragen, dass die Schneide des Schwertes nach oben gerichtet ist.
Au der Seite der Scheide steckt in einem besondern aus Palmfasern gebildeten
Futteral ein Messer, zu kleineren Manipulationen bestimmt, an das Messer zur Seite
der japanischen Schwerter erinnernd. Zur Vergleichung zeigt der Vortragende noch
andere Hiebwaffen ans dem iudischen Archipel, namentlich eiu Seeräuberschwert
243
und den javanischen Klewang, ferner den /.an» Stecheu bestimmten Kris der javani-
schen Häuptlinge vor. Ein nicht gering >.u schätzender Kunstsinn zeigt sich auch
in den Holzschnitzereien, welche theils ganz frei, theils als Relief verschiedene ein-
heimische Thiere kenntlich darstellen, so das Krokodil, die grosse Sumpfeidechse
(Varanus) welche den Hühnern nachstellt, und den Nashornvogel. Wenn bei letz-
terem an abergläubische Zwecke gedacht werden kann, da die Dayaker aus dein
Kl Micken dieses durch seine laute Stimme und grelle Färbung sich sein- bemerk-
lich machenden Vogels Vorzeichen für das Gelingen oder Misslingen ihrer Unter-
nehmungen abnehmen zu können glauben, ähnlich dem bekannten römischen Aber-
glauben, so scheint doch bei den andern Thieren nur die Lust an den ihnen ver-
trauten Formen als Schmuck der Wohnungen das Motiv der Darstellung zu sein.
Ferner legt Hr. v. Martens einige ohne Zweifel von Menschenhand geformte Steine
vor, die er auf der kleinen Insel Adenare an der Gstseite von Flore?, unweit
Timor, von den Eingebomen als von ihnen werthgehaltene, von ihren Vorfahren
überkommene Stücke erhalten, ohne über deren jetzigen Gebrauch etwas zu er-
fahren; einzelne derselben gleichen auffallend alten Steinwerkzeugen.
Herr Virchow bemerkt in Bezug auf die zuletzt erwähnten Steinwerkzeuge,
dass das eine entschieden als schneidendes Werkzeug angesehen werden müsse; es
entspricht nach Material und Form ganz den bei uns vorkommenden, namentlich
den sächsischen. Die andern sind allerdings ungewöhnlicher Natur und machen
den Eindruck, als hätten sie als Schleifwerkzeuge gedient. Ein Theil der vorge-
legten Waffen hat auffällig kurze Griffe, was auch bei den alten Bronceschwertern
Europas sich vielfach wiederholt; es führt das auf die Frage, ob das Volk über-
haupt kleine Hände hat. Es würde erwünscht sein, wenn unsere Reisenden in den
«"istlichen Gegenden, wo sie kurzgriffige Werkzeuge antreffen, zugleich Untersuchun-
gen darüber anstellten, ob die Kürze der Griffe in den wirklichen anatomischen
Verhältnissen der Hände begründet ist, oder ob irgend ein anderes Motiv vorliegt.
Herr v. Martens erklärt, dass die Hände der Dayaker im Durchschnitt eher
kleiner seien, als die unsrigen.
Herr Hartmann: Alle Schwerter und Dolche der Centralafrikaner haben auf-
fallend kleine Griffe, und habe ich allerdings bemerkt, dass die Gondjara und
Funje, welche schlank gebaut sind, auch wirklich kleine Hände haben.
Herr Koner: Die erste von Herrn v. Martens vorgezeigte Dayakwaffe
ist auf griechischen Vasenbildern ganz ebenso abgebildet, namentlich iu der eigen-
tümlichen Form des Griffes, ein Griff, der nach der einen Seite schnabelförmig
gebogen ist. Sie kommt nicht allein mit der Scheide vor, sondern auch ohne die-
selbe und hat dieselbe Form wie diese. Sie ist wohl von Osten her eiugeführt
worden. —
Herr Meitzen hat folgenden Antrag gestellt:
In der Sitzung unserer Gesellschaft vom 2. d. Mts. hat Herr Fonck in seinem
interessanten Vortrage über die chilenischen Indianer erwähnt, dass bei einem
dieser Stämme die jungen Männer sich nicht verheirathen . bevor sie nicht durch
Fällen eines Baumes ihre zur Erhaltung eines Hausstandes nöthige Kraft und Fer-
tigkeit nachgewiesen; zugleich haben uns die scharf geschliffenen schweren Keile
aus (ineiss vorgelegen, welche wahrscheinlich für diesen Zweck benutzt werden.
17*
244
Ich erlaube mir bei dem geehrten Vorstande zu beantragen:
derselbe wolle die Vermittelung des Herrn Fonck für eine bis in alle we-
sentlichen Einzelheiten der Handgriffe und Hülfsmittel ausgedehnte Feststel-
lung des Verfahrens in Anspruch nehmen, nach welchem diese Arbeit des
Baumfällens vorgenommen wird.
Vielleicht würden auch andere Herren, welche wilde, bis zur neueren Zeit nur mit
Steinwerkzeugen bekannte Volksstämme beobachten konnten, wie Herr Kupfer,
bereit sein, diese, wie mir scheint, für unsere Begriffe von der Urzeit sehr erheb-
liche Ermittelung zu unterstützen und zu ergänzen.
Der Vorsitzende erklärt, dass ähnliche Bestrebungen allerseits sehr dankbar
aufgenommen würden, und wünscht eine lebhafte Bethätigung der Mitglieder an
denselben. Für den vorliegenden Fall hat er sich schon mit dem neu ernannten
Generalconsul für Peru, Herrn von Bunseu iu Beziehung gesetzt, der auch zuge-
sagt hat, wenn möglich, peruanische Gesichtsurnen für die Berliner Sammlungen
zu erwerben.
Herr Fonck hat in Erfahrung gebracht, dass in Chile die Steinwaffen schon
seit langer Zeit nicht mehr in Gebrauch gewesen. Derselbe erklärt, die Herren
Prof. Philippi und Dr. C. Martin zur Fortsetzung ähnlicher Studien aufmuntern
zu wollen und erwähnt der reichhaltigen Sammlung chilenischer und peruanischer
Alterthümer des Nationalmuseums zu San Jago de Chile.
Herr Kupfer berichtet, dass die alten Brasilianer die Holzflächen erst mit Feuer
verkohlten, dann mit Steinwerkzeugen abkratzten, und auf diese Weise Bäume
fällten und Canoes zurichteten. —
Herr Mannhardt sendet aus Danzig schriftlich folgende Mittheilungen
über die Pomerelüschen Gesichtsurnen.
Die Pomerellischen Gesichtsurnen, welchen Herr Prof. Virchow den Haupt-
theil seines Vortrages v. 12. März d. J. widmete, haben seit langer Zeit mein lu-
teresse in Anspruch genommen. An Förstemann's und Strehlkes Unter-
suchungen von Anfang an betheiligt, versuchte ich 1851 die Aufmerksamkeit der
deutschen Gesellschaft in Berlin auf jene Alterthümer zu lenken; ein von mir im
.1. 1866 verfasster kleiner Aufsatz über einige besonders interessante Stücke ist in
der Zeitschrift der archäologischen Gesellschaft zu Moskau B. I. 1868. S. 57 — 60 in
russischer Uebersetzung von Abbildungen begleitet gedruckt, und vom Akademiker
Kunik iu Petersburg mit einer Nachschrift versehen worden. Es war mir zu mei-
nem Bedauern seit Jahren nicht möglich durch Ausflüge in die Umgegend von
Danzig das bisherige Material über diesen Gegenstand zu erweitern und Arbeiten
anderer Art verhinderten mich überhaupt demselbeu eine eingehendere Fürsorge zu-
zuwenden: doch veranlassten mich 1868 einige neue Beobachtungen an älteren Fuud-
stücken bei Uebersendung einer Anzahl grösserer Zeichnungen von Gesichtsurnen
gegen den Sekretär des Reichsmuseums in Stockholm H. 0. Hildebrand brieflich
über die sich aufdrängende Frage nach etwaigem phönikischem Ursprung dieser
Alterthümer mit Bezug auf Nilsson's Hypothese mich auszusprechen und Gründe
und Gegengrüude abzuwägen. Nunmehr vermehrt ein ganz neuerdings gemachter
Fund unsere Kenntniss in erwünschter Weise. Durch diese Umstände bin ich in
den Stand gesetzt, Virchow's ebenso lichtvolle, als fast erschöpfende Darlegung
245
schon jetzt durch einige wenige, doch, wie ich hoffe, weder ganz unwesentliche,
noch unwillkommene Mittheilungen zu vervollständigen.
Mag die Frage nach ihrem Ursprünge schliesslich zu beantworten sein, wie
sie wolle, so haben die Pomerellischen Gesichtsurnen sicherlich schon dadurch
hohe Bedeutung, dass sie uns ähnlich i\*'n von andern Fundorten her bekannten
Hausurnen durch ihr Bildwerk über die Körperbeschaffenheit, Tracht und Lebens-
weise der ihnen gleichzeitigen Menschen eine ganz neue und eigentümliche Kunde
vermitteln. Von hervorragender Wichtigkeit sind solche Exemplare, welche eine
Physiognomie in feinerer und sorgfältiger Ausarbeitung bis in einzelnes Detail hin-
ein oder andere Körpertheile mit Kleidung und Schmucksachen angethan erkennen
lassen und in diesem Falle deutlich die Anwendung der letzteren vergegenwärtigen.
Vorzüglich lehrreich sind die nachstehenden Fandstücke:
1. Die sogenannte Brücker, eigentlich Pogorsser Urne (vgl Virchow Se-
paratabdruck S. 8 Anm., Strehlke N. Pr. Prov. Bl. III F. 185.r> B. VIII S. 45;
1856 B. IX S. 272 N. T)5). Ich fand sie schon 1850 im Besitz des Herrn Lehrer
Adler zu Brück, der sie 1852 dem Danziger Museum einverleibte (Taf.VIII. Fig. 1).
Ausgegraben war sie in Gesellschaft einer anderen Gesichtsurne zu Pogorss am Ab
hange der Oxböfter Kämpe gegen das Kniebauthal. Ihre Eigentümlichkeit beruht
nicht allein darin, dass sie überhaupt ausser Augen '), Nase und Ohren mit Bronze
ringen das bisher einzige Beispiel einer Andeutung der Zähne durch parallele senk
rechte Striche, sowie eines Kinnbartes gewährt, sondern in der Beschaffenheit dieses
Bartes selbst. Derselbe besteht nämlich aus drei senkrechten, parallel laufenden
Strähnen in erhabener Arbeit, welche durch vier ebensolche Strähne in wagerechter
Richtung durchkreuzt und begrenzt sind, so dass in den Zwischenräumen viereckige
Vertiefungen entstehen.
Bei der Unzulänglichkeit literarischer Hilfsmittel in der Provinzialstadt vermag
ich nicht anzugeben, ob auf den etrurischen Kanopen ähnliche Barte sich finden;
die rheinischen bei Lindenschm.it sind sämmtlich bartlos. Auch die von Wilde
(A descriptive catalogue of the antiquities in the Museum of the royal Irish Aca-
demy Dubl. 1863 p. 156) publizirte Urne aus Irland, welche ein Gesicht in Relief-
bildung und von diesem frei herabhangend einen Bart zeigen soll, bin ich nicht in
der Lage zu vergleichen. Dagegen fällt auf den ersten Blick die Aehnlichkeit des
Bartes der Brücker Vase mit den etagenartig geflochtenen, häufig aus falschen
Haaren künstlich hergestellten Barten der Assyrer und Perser in die Augen (vgl.
Weiss Kostümkuude I S. 206. Fig. 122. S. 270. Fig. 150 a. c; S. 272); so wie
mit der Kinnklappe einzelner ägyptischer Würdenträger (Weiss a. a. 0. S. 40.
Fig. 28 i.). In weiterem Abstände vergleicht sich die gemeinägyptische Sitte, den
Bart zopfartig zu flechten, während die westasiatischen Semiten zwar auch ein
grosses Gewicht auf die Pflege des Barthaars legten , den ei*haltenen Denkmälern
zufolge jedoch den natürlichen Wuchs durch keine künstliche Zuthat oder Anord-
nung zu verbessern suchten. (Weiss a. a. 0. 178. 335. 417.) Indem ich diese
Beobachtung in meinem angeführten Aufsatze mittheilte, konnte ich nicht umhin
noch eine andere Thatsache zu erwähnen , welche auf die Möglichkeit hindeutete
geflochtene, oder vielleicht durchflochtene Barte von der Art desjenigen, der auf
unserer Urne dargestellt ist, den ältesten Slaven zuzuschreiben. Von einem kriegs-
gefangenen Serben aus dem Banat hatte ich 1866 erfahren, dass man in seiner Hei-
mat beim Ernteschluss die letzten übriggebliebenen Halme des Erntefeldes mit Gold-
') Die Nasenspitze ist leider abgebrochen, der untere Rest derselben bildet gegen das Pilum
einen stumpfen Winkel.
246
borten durchfleehte, wie sie Hie Mädchen als Besatz um ihre Sonntagsröcke zu tra-
gen pflegen. Man nennt diese Ceremonie ..den Bart des Herrgotts flechten- und
lasst den auf solche Weise geschmückten Getreidebäschel auf dem Acker stehen.
Kurz darauf brachte A fan asie w's Buch „Poetisch" Naturanschauungen der Russen
B. I S. HOT die Mittheilung, dass in weiter Verbreitung in Russland (in den Gu-
bernien Archangelsk, Kostrowo, Kursk, Woronesch u. s. w.) die letzten Aebren des
Feldes an der Wurzel zusammengeflochten und mit Blumen verziert zu werden pfle-
gen Man sagt, es werde der Roggenbart gewunden, dem h. Elias der Bart ge-
bunden, man winde für Christus, St. Nicolaus u. s. w. einen Bart. Nach einem
Aufsatze des Oberpopen Sabnin werde zuweilen auch „ dem Wolosch der Bart ge-
bunden"'. In den bei dem Rrnteschluss gesungenen Schnitterliedern, deren Text
Herr Afanasiew mir handschriftlich mittheilte, ist jedesmal ausdrücklich davon
die Rede dass der Bart von Gold, Silber oder Seide umwunden sei Ausser der
mythologischen Beziehung (s. d. M. Korndämonen in Berlin 1868. S. 22) scheint
durch diese Gebräuche eine altslavische Volkssitte verbürgt zu werden, einen mit
Bändern durchflocbtenen Bart zu tragen. Staatsrath Kunik hat bemerkt (a. a. 0.
S. 61), es finde sich zwar in sonstigen Quellen für diese Annahme kein direkter
Anhalt, wohl aber werde in den unverächtlichen Angaben der arabischen Chroni-
sten über die ältesten Russen etwas derartiges erwähnt Ibn Haukai (im J. 976)
erzählt, dass die Russen zum Theil den Bart scheeren, zum Theil ihn flechten,
ähnlich wie man die Mähnen der Pferde zu flechten pflegt, und sodann mit Safran-
farben schmücken. (Frähn-Ibn Fozlan p. 248.) Noch Edrisi (f 1154) drückt
sieb ähnlich aus: Les Rouss brülent leurs r.iorts et ne les enterrent pas. Quelques-
uns se rasent la barbe, d'autres la reunissent et la tressent ä la maniere des Arabes
du Douab.u (Lelewel Geograph, du moyen age T. IU— IV p. 185) Aus sorg-
fältiger Erwägung aller in Betracht kommenden Umstände hat Herr Kunik die
Ueberzeugung gewonnen, bei diesen arabischen Schriftstellern sei unter den Russen
nicht der herrschende Stamm der skandinavischen Waräger, sondern deren slavi-
sche Unterthanenschaft zu verstehen.
2. Das von Strehlke a. a. 0. IX S. 272 N. 5 verzeichnete Gefäss von schwär
zemThon ist im Jahre 1855 zuWarmhof bei Mewe ausgegraben worden (Taf.VIII. Fig. 2).
Die Technik desselben ist eine vorzüglichere, als in allen übrigen Beispielen von
Gesichtsurnen. Der Verfertiger hat den Versuch gemacht ein menschliches Gesicht
nicht nur anzudeuten, sondern in Ohrmuschel, Augäpfeln, Nasenflügeln, Nasen-
löchern und Lippen naturgetreu auszuformen. Auffällig steht die fast thierische
Stumpfheit der Nase und die wulstartige Anschwellung der Lippen, sowie die Grösse
des einen erhaltenen Ohrs (von dem zweiten ist nur der Ansatz übrig) von den
Formen dieser Gesichtstheile auf den sonst bekannten Gesichtsurnen ab. Der die
Kopfbedeckung darstellende mützenförmige Deckel, der in der Mitte einen Bruch-
schaden hat, ist mit Einritzungen versehen, welche bekannten Ornamenten der
Bronzezeit entsprechen.
3. Vielfach besprochen ist die im Besitze der naturforschenden Gesellschaft zu
Danzig (Taf.VIII. Fig. 3) befindliche sogenannte Runenurne, wegen der um ihren Hals
laufenden Reihe von unbekannten Characteren, welche den Eindruck von Schriftzügen
machen Ueber sie handelten am vo'lständigsten Giesebrecht in den Balt. Stu-
dien XII 1846 S. 1—27 und Förstemann N. Pr. Provinzialbl. 1857 XII S. 411 —
413. Gefunden ist sie im Anfange des 18. Jahrhunderts eine Meile von Danzig auf
der Höhe. Bisher war es nur bekannt, dass an ihrem Halse sich in gleicher Höhe
drei längliche, sanft gewölbte senkrecht herablaufende Erhöhungen von ungleicher
Länge und in ungleichem Abstände von einander befinden. (Förstemann a. a. 0.
247
411). Als ich im ■'. 1868 den Gewerbeakademiker A. Scheibe! zu einer sorgfäl-
tigen Zeichnung d< • Gefässes veranlasste und zu diesem Zwecke mit einem nassen
Schwamm behutsam die noch immer anklebenden Reste des fremden Grabhügel
sandes entfernte, traten zu beiden Seiten des mittleren Hockers die Ver-
tiefungen eines Augenpaares deutlich hervor, so dass nun auch die
sogenannte Runenvase in die Reihe der Gesichtsurnen eintritt. Hie-
mit ist für das relative Alter der eingegrabenen Cbaractere eine si-
chere Zeitbestimmung, für die Epoche der pomerellischen Kanopen.
falls die Legende als Schrift sich bestätigen sollte, ein der Enträtb
seiung harrendes Sprachdenkmal gewonnen.
Eine Inschrift liegt deutlich hierin vor, denn die stehenden althergebrachten
und symmetrischen Ornamente der übrigen Gesichtsurnen lehren, dass zum blossen
Zierrat ganz ander.' Formen verwandt wurden. Auch lösen sich aus dem sehein
baren Gewirre eine Anzahl deutlich erkennbarer zum Theil mehrfach wiederholtet
/eichen al>, so bald mau sich überzeugt hat, dass mehrfach eiue lueiiiauderverschlin-
gungvon Gharactereu stattgefunden hat (Fig. 3a). Die Inschrift ist aber weder aus
irgend einem sonst bekannten europaischen Alphabete, sei es einem altgriechisch-
italischen, oder aus einem Futhork altgermanischer Stabrunen lesbar. Giese-
brecht's Versuch einer Deutung aus den ganz jungen stablosen Runen darf eben
sowohl aus paläographischen als aus sprachlichen und sachlichen Gründen als ge-
scheitert angesehen werden. Die Einritzungen zweier Pomme'rischer Grabgefässe,
welche man für Schrift hat erklären wollen, des Kolbitzower (Ball. Stud. XI H. 2.
S. 113) und des Bnkower (Bali Stud. VII H. I. S 230. IX H. 2. S. 35) zeigen, wie
nuter sich Verschiedenheit, so mit der Danziger Urne keine Uebereinstimmung. In
einzelnen Characteren vergleicht sich der letzteren dagegen die einer erneuten
Untersuchung würdige Mecklenburgar Urne aus Käbelich (Memoires de la Societe
royale des antiquaires du nord 1845 — 4'J. Copenhague 1852 S. 353—357. Sitzungs
ber. d. böhm. Gesellsch. der Wissensch. zu Prag 1853. VIII 34. 35), von deren In-
schrift Harnisch im Archiv f. Kunde österr. Geschichtsquellen B. VIII, soviel ich
weiss, die neueste und beste Abbildung gegeben hat.
Trägt das Alphabet der Dauziger Urne ein eigentümliches, in seiner Gesamuit
heil von deu mit meinen Hilfsmitteln vergleichbaren Schriftarten abweichendes Ge-
präge, so enthält es doch Züge, welche auf eine Entwickelung aus der gemeinsa-
men Quelle europäischer Schreibekunst, den altphönikischen Buchstaben hindeuten,
sobald man zwei wohlbekauute Erfahrungen aus der Geschichte der Graphik be-
achtet, die häufige Veränderung der Richtung und Lage der einzelnen Lautzeichen,
und ihre Differenzirung durch Hinzufagang von Strichen und Häkchen zu dem über-
lieferten Buchstabenkörper. Ich vermeine gewisse Zeichen auf unserer Inschrift
unterscheiden zu können, denen die möglichen Gleichungen aus dem phönikisch-
puropaischen Schriftsysteme leicht an die Seite zu setzen sind ').
Ich will mit dieser Bemerkung nichts beweisen, sondern nur die Aufmerk-
samkeit berufener Forscher auf das in Rede stehende Denkmal der Paläographie
gelenkt haben. Ist aber in meinen Beobachtungen irgend ein richtiger Kern , so
wird man sich dem Eindrucke kaum entziehen können, dass die Schrift der Dan-
ziger Urne auf einer selbständigen, von der griechisch -italischen und altgermani-
schen verschiedenen Vermittelang aus dem Altphönikischen beruhe.
') Anm. des Protok. Herr Mannhardt, der in der Sitzung anwesend war, erläuterte diese
Bemerkungen durch Kreidezeichnungen, in denen er einige der correspondirenden Zeichen, aus
dein Phünikisehen, Hebräischen, Elischen, Menapischen, Etruskischen, neben einander setzte.
248
4. Im Jahre 1857 wurden in einem Steinkasten gewöhnlicher Art bei Stangen-
walde. Ki. Karthaas, 7 Urnen entdeckt, deren zwei menschliche Gesichtszüge dar-
stellten. Dieser Fund ist vom Oberforstmeister Grunert in den N. Pr. Provinzialhl.
1868 III l\ B. 1. S. 18G — 191 beschrieben und abgebildet. Die grössere Gesichts-
arne von schwarzem Thon zerbrach leider beim Aufgraben. Die kleinere aus feinem,
graurothem Thone gearbeitet zeigt ein menschliches Gesiebt ohne Mund. Die Augen-
brauen und die Nase sind erhaben, Pupille und Nasenlöcher durch Eindrücke be-
zeichnet. Die Ohren sind je mit zwei Löchern versehen. Um deu Hals der Urne
läuft ein einfacher eingeschnittener Ring. Den hutförmigen Deckel durchkreuzt
ein«' Einritzung von 4 Strahlenbündeln, von 9, 10 und 11 Strahlen. Die beiden
Zwischenräume des einen Halbkreises füllt ein von einer einfachen Linie getheiltes
wellenförmiges Ornament aus, während die beiden Felder des anderen Halbkreises
keine weitere Zeichnung enthalten. Eigentümlich ist der Urne ein sonst noch
nicht beobachteter Untersatz in Form einer Schale, in welche ihr flacher Boden
genau hinein passt; ausserdem aber im rechten Ohre ein interessantes
Gehänge, das aus zwei mit blauen Glasperlen besteckten Bronzerin-
gen besteht, von deren unterem eine weisse Kaurischnecke (Schlan-
genköpfchen, Cypraea moneta) herabhängt. Da diese Oonchylie aus
dem Oriente (Afrika, Indien) stammt, kann sie nur durch einen der
Gesichtsurnenperiode gleichzeitigen Handel mit dem Morgenlande
an die Ostsee geratben sein, durch den auch wohl die Glasperlen ih-
ren Wog hieb er gefunden haben.
5. Schliesslich ist noch über einen neuerdings gewonnenen Zuwachs des Vor-
ratlies poraerellischer Kanopen zu berichten. Auf der F'eldmark des Gutes Schä-
ferei bei Oliva (l'/3 Meilen von Danzig) wurde am 30. October 1869 beim Graben
einer Kartoffelmiete eine Steinkiste aufgedeckt, welche eine einzige Urue mit Kno-
chenfüllung enthielt. Durch den Eifer eines jungen Handlungseleven, W. Kauff-
mann, der sich seit einiger Zeit um Sammlung von Grabalterthümeru bemüht, ist
diese Vase aufgespürt und seit einer Woche nach Danzig geschafft, leider nicht
ganz unversehrt, indem ausser mehrfachen kleineren Verletzungen ein grösseres
Stück ausgebrochen ist (Fig. 4). Sie zeigt eine wohlgebildete Nase mit mittlerem
Gesichtswinkel, vertiefte Nasenlöcher, erhaben gearbeitete, über der Nase zusam-
menstossende Augenbrauen; ebenso sind die Lippen durch eine leise Erhöhung an-
gedeutet. Augen scheinen nicht vorhanden gewesen zu sein, denn die Vertiefungen,
welche man als solche ansehen könnte, machen den Eindruck zufälliger Ausbrüche.
Zwei Eigenthümlichkeiten des neuen Fundes sind besonders bemerkenswerth.
a. Die ohne Naturtreue durch eine niedrige Erhöhung von auffalleuder Länge
dargestellten Ohren, welche denjenigen der Redischauer Vase des Berliner Museums
(Virchow Separatabdr. S. 7. Fig. 1) genau entsprechen, enthalten je 5 Ohrlöcher,
in deren jedem auf der rechten Seite noch ein Bronzering erhalten ist. Von dem zweit-
obersten dieser Ringe hängen, vermittelst eines kleineren Ringes verbunden, zwei
ausserordentlich fein gearbeitete Bronzekettchen hinab, die noch 24 und 16 Glieder
zählen und beinahe bis zu demjenigen Theile des Gefässes hinunterreichen, der
die Stelle des Schulterblattes vertritt. In dem obersten Ringe desselben Ohres
haften, jedoch ohne Mittelglied, noch einige Glieder zweier gleichartiger Ketten und
mindestens an dem dritten Ringe lässt eine stark oxydirte Stelle auf das ehema-
lige Vorhandensein des nämlichen Schmuckes schliessen. Auf dem linken Ohre
sind nur die drei unteren Ringe ohne weiteren Zierrat erhalten. Man darf wohl
vermuthen, dass die Ketten ehedem nach nnten hin miteinander zusammenhingen
249
oder wahrscheinlicher in irgend ein Schaustück ausliefen der Art, wie die Gürtel-
gehänge fränkischer Gräber (Lindenschmil Alterth IV 7, ■>. 6).
I>ie erwähnten Bronzeketten gleichen genau einer im Danziger Musen ro auf-
bewahrten, welche in meinem oben erwähnten Aufsatz Fi:;. G abgebildet ist. Der
Leuchtthurmswärter Schultz auf Heia übergab sie mir 1859 mit der Angabc, eine
von ihm und Anderen in Redischau ausgegrabene Gesichtsurne, die beim Ausheben
zerfiel, habe diese Kette in der Nase getragen. Diese L'rne, verschieden \un der
Berliner ans Redisohau (Virchow, Separatabdr. S. <". Fig. I), ist wohl dieselbe, id»er
welelie bereits Körst eman n (N. Pr. Prov. Bl. I85U IX 268) Nachricht erhielt; des
Mittinders mir erstattete Mittheilungen sind verwerthet (N. Pr. Prov. Bl. 1856 B. IX
275 N. 24. 1855, B. VI J I S. 43). Auf einem von diesem nach dem Gedächtniss ent-
worfenen Risse beruht die im Danziger Museum befindliche Zeichnung der Urne
mit dem Nasenschmuck (N. Ur. Prov. 1856, B. IX S. 274, 4, 1. M. Mosk. Aufs.
Fig. H.). Es darf jedoch nach dem Krgebniss des neuen Fundes von Schäferei ge-
fragt weiden, ob nicht die Erinnerung täuschte. Denn wiewohl Gehänge in der
Nase (z. B. bei Arabern und Hebräern) im Alterthum nicht beispiellos sind, dünkt
es mich doch wahrscheinlicher, dass auch die Redischauer Bronzekette ein n Theil
des Ohrgehänges bildete, das ausserdem aus mehreren Bronzeringen mit (ilasperlen
bestand. In der Zahl von 5 Ohrringen stimmt das Gefäss von Schäferei genau mit
einer Gesichtsurne überein, welche 1656 auf dem iSilberberge bei Danzig ausgegra-
ben ist. (Vgl. N. Pr. Prov. Bl 1851, XI 271; 1855 VIII 48.)
Ohrgehänge finden sich in den Gräbern der Bronzezeit selten. (Weiss,
Kostümkunde II S. 628.) Denkt man sich die unsrigen auch unten mit einem
Schaustück behängt, so muss doch auffallen, dass sie — in ihrer Art und Ausdeh-
nung zunächst an den assyrischen Ohrschmuck, sodann an lydische, ägyptische und
etruskische Sitte erinnernd — durch geschmachvolle Form vor den in Bildwerk
oder Natur übriggebliebenen Crotalien dieser Völker sich auszeichnen.
b. Um den Hals der Urne schlingt sich eine aus freier Hand eingeritzte un-
vollkommene Zeichnung, ein Band von 3 Streifen, das von einer Zickzacklinie durch-
zogen ist. Unzweifelhaft soll es einen Halsschmuck bedeuten (vgl. die Halsringe
bei Lindenschmit VIII 5, 1. 2 der Aethiopen, Aeg-pter, Assyrer und Etrusker.
(Weiss a. a. 0. I, Fig. 90. 92; 31c, 120 cc; II S. 982. 984.) Denn erst unterhalb
seiner oder vielmehr innerhalb des untersten Streifen sieht man auf jeder Seite des
(iefässes eine fast kreisförmige, das Schulterblatt darstellende Erhöhung, aus der
ein in die Hand mit ihren fünf Fingern auslaufender Arm hervorgeht. Der wohl-
erhaltene Unterarm der linken Seite weist sechs Einschnitte auf. Auf der rechten
Seite ist der Unterarm leider ausgebrochen, aber am Rande gewahrt mau noch deut-
lich die Spuren gleichartiger Einschnitte (Fig. 4a). Dieselben stellen augenscheinlich
einen Zierrat dar, sei es den spiralförmigen Armring (Worsaae, Afbildninger.
Kjöbenh. 1854 p. 48. n. 201. Lindenschin. X, 1, 6. 9. 10) oder die gerippte
Armschiene (Worsaae 50 n. 206. vgl. Li ndenschm. V 4, 3. 4. Weiss, Kostümk.
II 626. Fig. 227. q). In häutigster Anwendung während der Bronzezeit,
haben sich die gewundenen Armbänder, zumal die Spiralen (die einst
auch bei Etruskern im Gebrauch waren, Weiss II, Fig. 406 b.) bekanntlich auch
während der beiden Eisenalter (hier vornehmlich in Silber und Gold) erhalten:
in der Heldenzeit der Germanen und sicherlich auch bei deren östlichen Nachbarn
waren sie ein begehrtes Gut, die Gabe der Könige (vgl Grimm, Schenken und
Geben 139 fgg. Kl. Sehr. II 197, Weinhold, Altnord. Leben 186).
Die pomerellischen Kanopen lassen deutlich zwei verschiedene Gesichtstypen
unterscheiden: dereines zur kaukasischen Race gehörigen Volkes ist der häufigere;
250
seine Nasenbildung steht gleichweit von der gebogenen Spitznase der Semiten als
von der edeln Form an griechischen und römischen Köpfen ab, während doch die
stark ausgebildeten über der Nase zusammenstossemlen Augenbrauen eher einem
sudlichen, als einem nordischen Stamme ahnlich sehen. Der andere, durch die
Urne von Warnihof vertretene Typus — falls wir es hier nicht mit einer singulären
Missbildung zu thun haben - nähert sich mehr mongolischem Character (man sieht
sich unwillkürlich an Lappen und Samojeden erinnert), doch ist nicht ersichtlich,
ob der auffallend hohen einwärts gebogenen Stülpnase auch stärker hervortretende
Backenknochen entsprachen. Unter den mir bekannten Volkstypen ist keiner ge-
nau vergleichbar.
Das Volk, welches diese Gesichtsurnen verfertigte oder zuerst verfertigen
lehrte, trug eine bald hutl'örmige, bald mützenartige Kopfbedeckung; beide Ge-
schlechter verzierten ihre Ohren mit Bronzeringen und Glas- oder Bernsteinperlen,
zuweilen mit tief auf die Schulter herabhängenden Kettchen, an denen möglicher
Weise die aus Gewanduadeln bekannten Klapperbleche (vgl. von Sacken, Leit-
faden S. 99 Fig. 39) befestigt waren. Den Hals umgab ein mit einfachen Orna-
menten in mannichfaltiger Weise verziertes Band; den Unterarm schmückten aus
mehreren Reifen bestehende Armbänder. Ein langer Kinnbart, kunstvoll geflochten,
bildete den Stolz des Mannes.
Virchow hat den Ursprung der Gesichtsurnen in die Zeit des Ueberganges
von der Bronzezeit zum älteren Kisenalter gesetzt. In der That ist kein eiuziges
sicheres Beispiel von Auffindung eisernen Geräthes mit einer Gesichtsurne zusam-
men bekannt geworden; doch kam solches, wenn auch nur vereinzelt neben Brouze-
geräth in ganz naheliegenden Gräbern zum Vorschein. Die Urneu selbst tragen
viele der characteristischen Ornamente der Bronzezeit. Von diesen ist die
Sonne (Nilsson, Bronzealter S. 13) dreimal, auf zweien der Urnen von Katz
(Förstern. Fig. X. XIII) und auf dem Deckel eines Grabgefässes aus Reckau, der
sich im Berliner Museum befinden soll, zum Vorschein gekommen (N. Pr. Prov.
Bl. 1855, B. VIII S. 45) Auch begegnet man dem eiufachen und punktirten Kreis
(Katz), dem Rade mit 4 Speichen (Warmhof), der einfachen und doppelten Zick-
zacklinie (Katz; Schäferei), den durch parallele Strichreihen gedildeten Streifen
(vgl. von Sacken S 102. Fig. 41. h. = Katz). Fs fehlt aber auf den bis jetzt
bekannten Gesichtsurnen das entscheidendste Ornament, die Spirale, (cf. Nilsson,
Brouzealter S. 4. 5. v. Sacken, Leitfaden 102) ')• Da ausserdem der Gebrauch
') Auf gleichzeitigen Urnen z. ß. aus Redisehau (Förstern. N. Pr. Prov. Hl. 1850. IX
Tab. 1. Fig. 1) begegnet das von Nilsson sogenannte Ornament des Palmzweigs, das er aus der
Grotte von Newgrange nachgewiesen hat (Broir/.ealter xNachtr. 2. II S. 114). Auf den Deckeln
anderer Urnen, deren Verhiiltniss zu Gesichtsurnen aus den Fundberichten jedoch nicht hervor-
geht, tritt es noch deutlicher hervor. Z B. auf dem Deckel einer Urne aus Pemgau
2.r>]
Her Mehrzahl jener Ornamente auch in der Elisenzeil aul Gefässen vielfach in
L'ebung blieb (v. Sacken, Leitf. S. 153) und «Im unser. ■ bisherigen Fnndberichte
zu ongenan und unvollständig sind, nm bei uns Grabet der Bronzezeit und des
Bisenalters schon jetzl von einander scheiden zu können, darf die obige Zeitb«
Stimmung nur als wahrscheinlich, keinesweges als vollkommen gesichert angesi
hen werden.
Wann für die baltischen Küstenländer der [Jebergang von der Bronzecultnr in
die Eisenzeit anzusetzen sei, las»! sich aus pomerel tischen Kunden bis jetzt noch
nicht genau feststellen. Nur ans Analogien ist ein, wahrscheinlich ziemlich zutref-
fender Schluss darüber zu ziehen Das ältere Bisenalter fällt für Skandinavien
und Deutschland zusammen mit Münzfunden römischer Denare ans Saec. 1 I
(Titus — Alexander Severus); wenn unsere Gesichtsurnen auf eine etwas frühere
Zeit hinweisen, insofern ihre characteristischeh Kennzeichen der von Nordischen
Archäologen sogenannten jüngeren Bronzeperiode zu entsprechen scheinen, so darl
man für sie spätestens die letzten Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung in An-
spruch nehmen. Hiemit stimmt — wie es scheint — der durch Münzen des zwei
ten Jahrhunderts p. Chr. (Trajan . Hadrian, Faustina) dat-irbare Fund von I rnen
zu Polwitten im Samlande (N. Pr. Prov. Bl. F. III. B. III 1859 S. r;4 fgg.) Denn
auf diesen sieht man noch theilweise dieselben Ornamente, wie auf uuseren Ge
sichtsuruen (vgl. Fig. d. g. mit den Katzer l rnen), aber auch bereits andere Zeich-
nungen. Eines dieser (iefässe lässt deutlich in dem I rnenhalse die Nachbildung
eines menschlichen Halses, und unteihalb dessen einen auf der Schulter liegenden
Halsring (vgl. Worsaac, Afbildniuger S. 171) erkennen (Fig. c), aber ohne son
stige Andeutung eines Gesichtes oder anderen menschlichen Körpertheiles Man
gewinnt den Kindruck, dass hieran das Modell einer Kanopnsvase eine nur dunkel.'
Erinnerung bewahrt sei. Auch finden sich hier die kleinen Oehre, welche ein
characteristisehes Kennzeit hen vieler l'rnen der jüngeren Bronzezeit bilden (Wor-
saae a. a O. S. 54. Fig. 220. 222. v. Sacken. S. 106. Fig. 48) und als nnver
standene Nachbildung der Henkel von Metallgefässen betrachtet werden müssen, in
so völlig von den Grundmustern abweichender Lage als blosse Verzierungen ange-
bracht, dass daraus, wie ich glaube, auf eine dem Bronzealter nahestehende, aber
spätere Zeit geschlossen werden darf. Farbige Glaskorallen, Bronzesacheu, aber in
vorwiegendem Masse Eisengeräthe und Eisenwaffeu wurden mit diesen l'rnen
zusammen gefunden. Alle diese Umstände miteinander sprechen dafür, dass die
pomerellischen Gesichtsurnen einer dem Funde von Polwitten nicht allzufern lie-
genden, aber ihm vorausgehenden Periode angehören Eine genauere Untersuchung
des in der Sammlung der Prussia zu Königsberg aufgehäuften Alterthümerschatzes
müsste zeigen, ob diese Annahme sich bestätigt ')
Ist das angenommene Zeitalter richtig, so fällt es ungefähr mit derjenigen Zeit
') Augenscheinlich hat auch in dem Bronzealter vielfach eine AbSchwächung, Versetzung
und Vermischung der künstlerischen Motive stattgefunden. Auf eine solche vermeine ich die
räthselhaften viereckigen Zeichnungen am Bauche der beiden Katzer l'rnen (1410 u. IUI) zu-
rückführen zu sollen Sie sind, wie ich glaube, den Hausuruen entlehnt — die bekanntlich
ebenfalls der Bronzecultnr angehören — und vertreten die Stelle der Thür. Die uralte Vor-
stellung bes Leibes als Haus der Seele könnte mitgewirkt haben, die Vermischung beider Fir-
men (der Kanopusform und der Domizilienform) zu befördern. Man möchte fragen, ob die auf
vielen Exemplaren beobachtete Stellung der Thür dicht unter dem Dache der Hausuruen (s.
Lisch, Hausurnen S. 5 fgg) nicht etwa statt Vorbildern in der Wirklichkeit dem Niehtver-
Ständniss älterer Muster ihre Entstehung verdanke''
252
zusammen, in welcher man gewohnt ist, germanische Gothen als Anwohner der
Bernsteinküste westlich der Weichsel zu denken In Bezug hierauf ist zu consta-
tiren, dass die Inschrift der Danziger Gesichtsurne eine Schrift bezeug!, welche
vom altgerraanischen Rnnenalphabete durchaus verschieden ist, das wir als Gothen
und skandinavischen Goten gemeinsam aus den dem älteren Eisenalter gehörigen
Denkmälern von Snderbrarnp (Bronzeschwert mit Inschrift), Tondern (goldenes Hörn)
und Bukarest (Goldring), sowie aus vielen der Solidusperiode angehörigen Brak-
teaten und einer Anzahl von Runensteinen nachweisen können, und als die Grund-
form sowohl des jüngeren nordischen als des angelsächsischen Futhorks erkennen.
Dieser scheinbare Widerspruch mit der Geschichte wird indessen schon durch des
Tacitus und Ptolemäus Nachrichten beseitigt, nach welchen die Gpthonen damals
südöstlich der Weichsel, an der Mündung des Flusses bereits Wenden sesshaft
waren, (cf. Grimm, Gesch. d. D. Spr. 722. C. Zeuss, die Deutschen u. ihre Nach-
barst. S. 135.) Weitergehender Vermuthungen über den Ursprung der Gesichts-
urnen Pomerellens enthalte ich mich, so lange nicht ein ausreichenderes Material
zur völlig entscheidenden Lösung der Vorfrage nach ihrem Zeitalter im Lande selbst
gewonnen sein wird. Durch die Anwendung der vergleichenden Methode auf die
nordeuropäische Archäologie wurden neue und überraschende Gesichtspunkte er-
öffnet, der Zusammenhang der Kulturen des Steinalters wie der Bronzezeit mit
südeuropäischen, afrikanischen und asiatischen Ländern darf als sicher festgestellt
betrachtet werden; auch ein bedeutender Antheil des Welthandels an der Verbrei-
tung der Industrieerzeugnis.se beider Epochen wird von Niemandem mehr bezwei-
felt werden können. Innerhalb dieser allgemeinen Umrisse bestimmtere, geschicht-
liche Anknüpfungspunkte zu fixiren , ist in den meisten Fällen noch verfrüht; un-
sere Hauptaufgabe bleibt für jetzt noch die sorgfältige Sammlung von Beobachtun-
gen und die möglichst vielseitige und weitreichende Erörterung von Analogien,
ohne aus denselben sofort voreilige Schlüsse zu ziehen.
Die von Professor Virchow zuerst im Zusammenhange beleuchtete Thatsache
der Uebereinstimmung unserer pomerellischen Gesichtsurnen mit ähnlichen Ge-
fässen Etruriens und einer gewissen Art ägyptischer Kanopen ') in der Idee, die
Leichenreste in einem dem menschlichen Körper nachgebildeten Gefässe zu ver-
wahren und auf diese Weise gewissermassen dem ganzen Leibe des geliebten Tod-
ten Fortdauer zu sichern, verdient freilich um so mehr Beachtung, als in den Haus-
urnen ein zweites Beispiel gleichartiger Gefässbildnerei aus Altitalien und dem euro-
päischen Norden während der Bronzezeit vorliegt. Zwar scheint es sicher, dass
die preussischen Gefässe nicht in Masse fabrikmässig nach der Schablone, sondern
je nach Bedürfniss aus freier Hand im Lande selbst gearbeitet wurden. Die enge
Begrenzung und geographische Lage des Fundbereiches unserer Gesichtsurnen drän-
gen jedoch den Gedanken an den Einfluss einer fremden, auf dem Seewege ver-
mittelten Cultur gleichsam von selbst auf; diese Einwirkung scheint eine länger
andauernde gewesen zu sein und dürfte am ehesten einer Handelsniederlassung zu-
geschrieben werden. Deutet die Uebereinstimmung mit den rheinländischen, etrns-
kischen und ägyptischen Kanopen auf die Möglichkeit eines südlichen Ausgangs-
') Bekanntlich dienten andere Kanopen als heilige Wasserkrüge zur Reinigung des Nilwas-
sers. Gefässe mit Menschenköpfen aus Gold oder anderem Edelmetall, zu Tafelaufsätzen dienend,
erhielten die Aegypter als Tribut von Kypern und Palästina (?) S. Weiss, Kostümkunde I S. 105
Fig. 75. Sind diese Geschirre der Form nach den Gesichtsurnen zu vergleichen, so entspricht
«leren Idee den in Gestalt menschlicher Körper gearbeiteten Mumiensarkophagen, von denen das
Berliner ägyptische Museum mehrere Exemplare aus Stein und Holz aufzuweisen hat.
253
puuktes dieser eounnerciellen Beziehungen hin, so wird durch die Cypraea nioneta
der Urne von Stangenwalde das thatsächliche Vorhandensein einer irgend wie ge-
arteten Verbindung mit Sndenropa oder dem Orient zur Gewissheit. Der eigen-
tbüm liehe Bart der Vase von Brück könnte möglicher Weise eine altwendische
Sitte nachbilden, erinnert jedoch noch bestimmter an morgenländische Muster. Die
Inschrift der Danziger Urne scheint ebenfalls einen Zusammenhang mit der am
Siidostrande des Mittelmeers erfundenen Buchstabenschrift zu veirathen; jedenfalls
ist die Aehnlichkeit der Zeichen gross genug, um eine eingehendere Untersuchung
zu verdienen.
So viel, aber auch nur soviel wird sich ohne Gefahr ernstlichenW nk'rspruches be-
haupten lassen. Denn welchemVoIke die Einführung jener fremdländischen Civilisation
der Weichselmündung wäbrend der an den Anfang der christlichen Zeitrechnung
grenzenden Jahrhunderte beigemessen werden dürfe, darüber zu entscheiden fehlt
es noch an sicheren Anhaltspunkten. Nur der Bernstein, soviel ist klar, lockte
den Ausländer nach Preussens Gestaden. Bernsteinperlen in goldene Halsbänder
eingereiht bot schon der sidonische Schiffer zu Homers Zeit in griechischen Häfen
feil, doch kein Zeugniss bewährt, dass er von der Ostsee diese Waare holte, die schon
an Schleswigs und Jütlands Westküste zu beziehen war Später finden wir Münzen aus
Rhodos, Thasos, Oyzikus, Cyrene, ebenso aus Aegina und Athen, nicht minder je-
doch aus Italien (Neapolis, Syrakus, Panormos) durch den Bernsteinhandel an die
südöstlichen Gestade des baltischen Meeres geführt (Wiberg S. 94), aber dieser
Handel, der zwischen 400 — 100 v. Chr. blühte und von dem Herodot nur durch
ein dunkles Gerücht erfuhr, er habe seinen Endpunkt an der Mündung eines Stro-
mes Eridanos (der Weichsel?), ging wahrscheinlich über Land vom schwarzen
Meere aus und wurde durch Zwischenhändler vermittelt (Wiberg S. 41). Der
westlichste Punkt jener Münzfunde ist Samlaad, am Ausflüsse der Weichsel selbst;
in Pomerellen hat sich noch keine Spur davon gezeigt.
Die Etrusker (ihrer Abstammung nach wahrscheinlich Semiten), ein in seinen
Culturverhältnisseu durch Griechenland stark beeinflusstes gleichzeitig aber auch
mit Assyrern (L'Etrurie et les Etrusques par Noel de V ergers I S. 102 fgg.), Phö-
nikern und Aegyptern sich berührendes Volk, haben den meisten Anspruch auf die
Ehre, für die Verbreiter und Tonangeber der Bronzeindustrie und ihrer Erzeugnisse
in Nord- und Mitteleuropa angesehen zu werden (Wiberg S. 15 fgg.). In ihren
Gräbern trifft man auch Bernsteinschmuck. Immerhin wäre es nicht unmöglich,
dass ihre Schiffe die Weichselmündung aufgesucht hätten; möglich, aber nicht
wahrscheinlich. Denn war dies der Fall, warum wäre den Erben ihrer Civilisation
und Industrie, den Römern, unsere Gegend bis zum Beginne der Kaiserzeit unbe-
kannt geblieben? warum traf mau in Pomerellen auf keine Denkmäler unzweifel-
haft etruskischer Abstammung (Inschriften, Münzen u. dgl.)?
Wollte man au eine Phönikische Handelsfactorei an der Ostsee denken , so
könnte doch wohl nur die Niederlage irgend einer westlichen Pflanzstadt der Punier
(Gades u. s. w.) in Betracht kommen. Nilsson hat meines Erachtens überzeugend
nachgewiesen — und dies macht sein Hauptverdienst aus — , dass die gewerblichen
Erzeugnisse der Bronzezeit einen gemeinsamen technischen Character, einen gerueiu-
samen Vorrath ornamentaler Verzierungen verratheu und dass wegen der L ebereiu-
stimmung mit diesen gewisse Steindenkmale des skandinavischen Nordeus und Ir-
lands der nämlichen Kulturepoche zuzuweisen seien (die Monumente von Ki\ik,
Dowth, Newgrange); auch zeigte er vereinzelte Aehnlichkeiten mit entsprechenden
Kuustformeu südlicher Länder z. Theil semitischer Nationalität. Den Beweis einer
Herkunft der gesammteu Bildung des Bronzezeitalters aus Phöuizieu hat er auch
254
nicht einmal annähernd erbracht. Namentlich der eine Haupttheil seines Bewei-
ses, der reügionsgeschiohtliche, schlug völlig fehl. Nur durch ein Gewehe irri-
ger Schlussfolgerungeu aus Namen und durch ganz Europa verbreiteten leben-
digen Volksgebräuchen verlieh er dem Phantom eines nordischen Baaldienstes eini-
gen Schein. Dieses l'rtheil an diesem Orte näher zu begründen ist nicht meine
Aufgabe; ich spreche es aus, um nicht durch die oben hervorgehobene Ueberein-
stimmung der Sonnenbilder uud des zweigartigen Ornamentes auf unseren
l'rnen mit den nämlichen Figuren in den Grotten von Newgrange und Dowth mei-
nerseits die Forschung auf eine falsche Spur zu leiten.
Eine preussische Oolonie irgend einer Stadt der phonikisch-punischen Well
müsste unabhängig von Nilsson's Hypothese durch stichhaltige Gründe oder Funde
erwiesen werden.
So deuten manniebfache Verhältnisse auf eine Verbindung des späteren Pome-
rellen während der Zeit der Gesichtsurnen mit den Ländern rings um das Becken
des Mittelmeeres hin, aber erst weiteren Funden dürfte es vorbehalten sein, die
Art und den Ausgangspunkt dieser Verbindungen deutlicher zu erhellen. —
Zu obigen schriftlichen Mittheilungen fügt der in der Sitzung erschienene Hr.
Mannhardt noch weitere mündliche Zusätze:
Die in meinem Aufsatze erwähnte Gesich turne mit Bart war bis zum An-
fang dieser Woche die einzige Urne dieser Art. Allein eben bevor ich abreiste,
brachte mir Hr. Kau ff mann am 9. Mai eine von ihm selber ebenfalls im Neustädter
Kreise bei Starzin ausgegrabene Urne, die, wie alle diese Dinge, in einem steiner-
nen Sarge sich befand, bestehend ans 4 Feldsteinen, die ein Oblong bildeten uud
mit einem Feldstein als Deckel versehen waren. Es fanden sich 2 Urnen darin,
die eine zeigte ein Gesicht, die andere keines. Unter der Nase des Gesiebtes, die
gebogen ist und spitz zugeht, befindet sich ein Bart, der allerdings keine Spur
eines Flechtwerkes zeigt, sondern vielmehr zugespitzt ist (Taf. VIII. Fig. 5).
Dieser Fund ist gleichzeitig von nicht geringer Bedeutung in Bezug auf die
Zeit , in welche man die Gesichtsurnen zu setzen hat. Es fand sich nämlich iu
dieser Urne selbst ein überaus merkwürdiges Stück, ein gespaltenes Schädelfrag-
ment, in welchem ein Stück Eisen steckt, das wie ein Nagel aussieht. Es wäre
mir dies weniger aufgefallen, wenn es eine platte Gestalt gehabt hätte; denn als-
dann würde man an eine Pfeilspitze haben denken können, durch welche der Ver-
storbene seinen Tod fand. Hierdurch, glaube ich, ist es wahrscheinlich gemacht,
dass diese Urnen einem verhältnissmässig jüngeren Zeitalter angehören, einer Zeit,
in welcher das Eisen schon im Gebrauch war, und man würde die letzten Jahr-
hunderte vor oder die ersten Jahrhunderte uach Christi Geburt als die Zeit ihrer
Entstehung annehmen müssen.
Herr Virchow legt verschiedene einschlagende literarische Werke vor und be-
merkt Eolgendes:
Unter den von Hrn. Mannhardt erwähnten, ihm jedoch nicht zugänglich ge-
wesenen Schriften befindet sich der Katalog von Wilde1). In demselben sind aus
der Sammlung der irischen Akademie zu Dublin 7 Krüge aus glasirtem Thon er-
wähnt, die unter dem Namen Graybeards oder Bellarmines bekannt seien. Einen
') W. K. Wilde, ('atalogue of the antiquities of stone, earthen and vegetable materials in
Hu- Museum of Um- Irish Academy. Dublin l s.r 7. j>. l&G.
255
davon bildet er ab (Fig. 111); derselbe ist allerdings für uns von besonderem In-
teresse, weil daran im Relief ein bärtiger Kopf dargestellt ist. welcher mit dem von
Hrn. Mannhardt beschriebenen einige Aehnlichkeit hat. Nur ist der Kart aus
ziemlich dicken, glatt herabhängenden Strängen gebildet, als wären die Ilaare ge-
kämmt oder in Strähnen geflochten. Obwohl das Gefäss in das Gebiet der Gesichts-
urnen gehört, so zeigt es doch einen ganz anderen Typns; nnter einem engen Hals
befindet sich hinten ein dicker Henkel, vorn ein vollständiges Gesicht mit grossen
runden Augen, einer langen und starken Nase und einem breiten Munde, jedoch
ohne Ohren; an das Kinn schliesst sich der erwähnte Bart Um die Mitte des
weiten Bauches läuft eiu Doppelstrich, in dessen Mitte vorn, wie an einem Gürtel
ein grosser rundlich viereckiger Stern sitzt, der in gewisser Beziehung an die \ier-
ec.kige Zeichnung erinnert, die sich an unsern Gesichtsurnen befindet. D r Bodeu
des Gefässes ist verhältnissmässig eng.
Sodann erwähne ich, dass sich in einer alten Königsberger Inaugural -Disser-
tation von dem nachher viel genannten Reusch ') vom Jahre 1724 eine eingehende
Beschreibung und eine Abbildung der Danziger Runenurne findet, von der Hr.
Mannhardt gesprochen hat, namentlich auch eine weitere Beschreibung des Fun-
des selbst, welche von Interesse ist. Nach seiner Mittheilung bat ein Pastor Fr omni
iu Marienburg zuerst 1714 in einem Schreiben an Fischer sich darüber ausge-
sprochen und eine Beschreibung davon geliefert. Es geht daraus hervor, dass 2 Ur-
nen zusammen in einer Steinkammer standen, nämlich die Runen-Urne und ausser-
dem eine Gesichtsurne mit freilich sehr einfacher Zeichnung, die jedoch Ohren und
in dem einen derselben Ringe trug. Schon damals ist der Punkt in PYage gekom-
men, ob die Zeichen Runen seien oder nicht. Sonderbarerweise wird dabei ange-
geben, dass bei diesen Urnen ein Gefäss sich befunden habe, welches mit einem
Getränk, das als Bier bezeichnet wird, gefüllt gewesen sei, welches eine dicke Haut
gehabt habe, jedoch noch trinkbar gewesen sei. Ohne weitere Bedenken deducirt
Reusch daraus, dass, da das Bier erst durch die deutschen Ritter in Preussen ein-
geführt worden sei, das betreffende Grab erst nach der Occupation Premsens durch
den Orden hergerichtet sein könne. — In derselben Schrift (p. 33) ist noch eine
Beschreibung geliefert von einem grossen Gräber-Funde, der 1711 bei Dirschau ge-
macht wurde und dessen ich schon in meinem ersten Vortrage gedacht habe. Das
Grab fand sich auf einem nahe bei der Weichsel gelegenen Hügel. In einer grossen,
aus geschlagenen Steinen gebildeten Kammer (Taf. I. Fig. 2) standen 14 grössere
und kleinere Urnen, die grösseren hinter den kleineren in aufsteigender Reihe ge-
ordnet, sämmtlich mit dem mützenförmigen Deckel, jedoch nur eine mit einem
Henkel. Eine darunter fesselte schon damals besonders die Aufmerksamkeit, und
sie verdient sie um so mehr, als durch Hrn. Mannhardt jetzt ein ähnlicher Fund
von Oliva mitgetheilt ward. Reusch beschreibt an dieser Urne, welche gebrannte Kno-
chen, — darunter einen kleineren Unterkiefer, also wohl die Gebeine einer Frau
enthielt. — eine kleine Nase, zwei Augenpunkte und zwei Ohren. Von einem Ohre
uach dem andern geht, wie Hr. Mannhardt es von der Olivaer Urne als wahrschein-
lich vermuthet hat, über den Bauch der Urne fort ein zusammenhängendes Ohr-
gehänge. Dasselbe bestand aus einem biegsamen Bronzefadeu. welcher mit blauen
Glaskorallen besetzt war. Am Bauche der Urne zeigt die Abbildung eine vier
eckige Figur, wie die Gesichtsurnen unseres Museums. Zwischen den Knochen-
resten in der Urne fand sich ein zum grössten Theil geschmolzener Ring. Reusch
') Christian. Frid. Reusch, De Unmilis et urnis sepulcralibns in Prussia. Regioin 17. 4.
p. 31. Tab. II. fig. 2.
256
(p. 31) beschreibt noch eine dritte Grabstätte vom Heidenberg bei Danzig, wo 8
einfachere, jedoch offenbar derselben Zeit und Bevölkerung angehörige Urnen in
einer ans geschlagenen Steinen gebildeten und mit Erde beschütteten Kannner bei-
gesetzt waren (Tat 1. Fig. 1), genau so, wie es noch neuerlich Grunert (Neue
Preuss. Prov. Blätter 1858. III. Foige. Bd. I. S. 187) von dem Grabe bei Stangen-
walde im Kreise Carthans schildert, in dem 7 Gesichtsurueu standen. Es sind
dadurch manche werthvolle Anhaltspunkte für die Vergleichung gegeben. Es wird
demnach kaum bezweifelt werden können, dass die Urnen äussersten Falles bis in
die späteste Bronzezeit zurückdatirt werden dürfen.
Immerhin bleibt es in hohem Maasse bemerkenswerth, dass keine dieser Urnen
ähnliche Zeichen besitzt, wie die üanziger Runen-Urne. Freilich hat Hanus (Ar-
chiv für Kunde österr. Geschichts- Quellen. Wien 1857. Bd. XVIII. S. 114) die
Meinung aufgestellt, dass auch die Einzeichnungen an den Katzer Urnen, die ich in
meinem Vortrage besprochen hatte, „runenartige Bilder" seien, indess hat er kei-
nen Versuch gemacht, sie zu deuten, und mindestens haben sie keine Aehnlichkeit
mit den Zeichen des Ringes an der sogenannten Runen-Urne. Letztere erinnern
dagegen, wie Hr. Mannhardt mit Recht hervorhebt, in Einzelheiten an die Zei-
chen der im Jahre 1852 auf dem Felde von Neu-Käbelich bei Stargard in Mecklen-
burg-Strelitz beim Sandgraben gefundenen Urne, von deren Inschrift Wo cel (Mem.
des antiquaires du Nord 1845—49. p. 353) eine Deutung versucht hat, welche wie-
derum von Hanus (a. a. 0. S. 22) mit scheinbar guten Gründen bestritten wird.
Preusker (Beschreibung einiger bei Radeberg im Königreich Sachsen aufge-
fundenen Urnen mit unbekannten Charakteren. Halle 1828) hat eine alte Grab-
kammer bei Radeberg, 3 Stunden nordöstlich von Dresden, beschrieben, in der
unter Anderem zwei Urnen mit doppeltem Henkel und eigenthümlichen, buchstaben-
artigen Zeichnungen, sowie einem eingegrabenen Pfeil u. s. w. (Taf. I. fig. 1 — 11)
gefunden wurden. Allein, abgesehen davon, dass in der Nähe römische Kaiser-
müuzen lagen, haben die Zeichnungen auch nicht die mindeste Aehnlichkeit mit
den uns hier beschäftigenden. Eine weitere Untersuchung der Danziger Urne muss
erst feststellen, ob in der That Beziehungen zu anderen Funden nachzuweisen sind,
oder ob die pomerellischen Alterthümer einem in sich abgeschlossenen Gebiete an-
gehören. Jedenfalls können wir Hrn. Mannhardt Glück wünschen, dass es ihm
gelungen ist, bestimmt darzuthun, dass die Runen-Urne zu den Gesichts-Urnen ge-
hört, und es lässt sich wohl erwarten, dass diese Entdeckung nicht ohne Frucht
bleiben wird.
Zur Ergänzung desjenigen, was ich früher über die rheinischen Gesichts-
uruen beigebracht hatte, kann ich noch mittheilen, dass ich auf meiner letzten
Reise im Museum in Wiesbaden drei weitere Exemplare gefunden habe, welche im
Wesentlichen demselben Typus angehören, welcher schon früher von den rheinischen
Gelassen dieser Art bekannt war. Die eine derselben ist bei Bingerbrück, jenem
durch römische Alterthümer so berühmten Orte, ausgegraben worden; sie ist weit
grösser, als die früher erwähnte Urne von Kastei, und enthielt einen Eisennagel
und zahlreiche gebrannte Knochen. Die sehr grossen Augenbrauen laufen in der
Mitte zusammen und sind durch starke, derbe Schrägstriche ausgezeichnet. Eine
sehr viel kleinere Urne, in der alten römischen Niederlassung von Heddernheim
1863 gefunden, hat Ohren, einen grossen Mund, schräge prominente Augen, um
den Bauch einen gürtelförmigen Ring, oben einen erhabenen Rand ohne Deckel.
Am merkwürdigsten aber ist eine in Wiesbaden selbst 1828 ausgegrabene, sehr
grosse I ine mit enger Basis, weitem Bauch und kurzem, engem Halse, an welchem
oben drei runde feste Ansätze sitzen, genau von der Gestalt, wie das obere Ende
257
unserer Leuchter. Zv«ei von dieseu Ansätzen sind nach unten blind, der diitte
durchbohrt, so dass er in das Innere der Urne fährt. Unter dem Halse am An-
fange des Bauches kommen in Relief die Nase, die Augenbrauen, die Augen und
eine Verzierung, wie ein Palmzweig.
Auch in der Mainzer Sammlung sah ich noch einige kleinere Gefässe mit Ge-
sichtstheilen. Es seigt sich daher, dass das Gebiet dieser Gegenstände sich schnei!
v ergrösser t; trotzdem bleibt es ein aus der grossen Gruppe der alten Thongefasse
abgelöstes, so dass ich hoffe, dass sich ihm ein grosseres Interesse zuwenden werde.
Sollte es gelingen, dadurch zu einer chronologischen Feststellung zu gelangen, so
würde ein erheblicher Schritt vorwärts gethan sein. Selbst so unscheinbare Beob-
achtungen, wie die des Hrn. Grunert (a. a. 0. S. 186. Fig. 1 d.) über das Vor-
kommen einer Kauri- Muschel an dem Ohrgehänge der Stangenwalder Urne können
von grösster Wichtigkeit für die endliche Lösung unserer Zweifel werden.
Herr Hartmann bemerkt zu der Mittheilung des Hrn. Mannbardt: Ich habe
mich überrascht gefunden von der Aehnlichkeit gewisser an der Urne dargestellter
Zeichen mit älteren und neueren Schriftzeichen (Tefinagh) der Tuarik, sowie mit
deneu einiger, von Göngora y Martinez in dessen Antiguedades de Andalucia ab-
gebildeter Felseninschriften.
Herr Mannhardt übergiebt der Gesellschaft eine in grossem Maassstabe ausge-
führte Zeichnung der von ihm besprochenen Runen-Urne als Geschenk. —
Herr Virchow spricht
über die gebrannten Steinwäile der Oberlausitz.
In den letzten Ferien habe ich unter andern Dingen eine Frage in Angriff genom-
men, welche speciell angeregt worden war durch die sehr schätzeuswerthe Schrift
«die alten Heideuschanzeu Deutschlands mit specieller Beschreibung des Oberlau-
sitzer Schanzeusystems" (Dresden 1869) des sächsischen Hauptmanns Schuster.
Diese Arbeit geht wesentlich von dem militärischen Standpunkte aus und gelangt
st. zu der Conclusb u, dass in alten Zeiten Aveither \on der gegenwärtigen Provinz
Posen durch Schlesien und die Lausitz bis tief nach Sachsen hinein ein ausge-
dehntes System von Befestigungen sich erstreckt habe, welches möglicherweise so-
gar Beziehungen gehabt haben könne mit gewissen Steinwällen in Westfalen und
der Rheinprovinz Vorwiegend bezieht sich die Darstellung des Hrn. Schuster
jedoch auf ein System, dessen Mittelpunkt er in der Oberlausitz sucht. Betrachtet
man die seiner Schrift angehängte Karte, so gewinnt es allerdings sowohl in Be-
ziehung auf die Anlage gewisser Langwälle und Wassergräben (Landwehren), als
auch in Beziehung auf Rundwälle und Schanzen den Anschein, als ob ein wirk-
liches Befestigungs system vorliege, welches seineu ersten Stützpunkt an der Krüm-
mung der Warthe bei Schrimm findet, sich dann schräg über die Oder erstreckt
und von hier über die Elbe bis an die Saale reicht. Hinter eiuem vorgeschobenen
System von Langwällen zeichnet Hr. Schuster eine immer dichter werdende An-
ordnung von Rundwällen, welche sich am meisten gegen die Lausitz hin concen-
triren, uud den Kern dieses Systems findet er wiederum in gewissen Steinwällen
auf den hervorragenden basaltischen Kuppen, die sich nördlich vor dem oberlau-
sitzischen Gebirge erheben. Unter diesen Steinwällen treten insbesondere 3 oder
4 hervor, welche dadurch ausgezeichnet sind, dass die Steine, aus denen sie er-
richtet sind, in geringerer oder grösserer Ausdehnung gebrannt, oder wie der alle
Ausdruck lautet, „verglast" sind.
Zeitschrift für Ethnologie., Jahrgang 1870. ,o
258
Die Kenntniss solcher „Glasburgeu u, wie man sie in Schottland genannt,
oder Schlackenwälle, wie man sie später vielfach bezeichnet hat, ist auch für
diese Gegenden schon seit läugerer Zeit angebahnt. Es war im Jahre 1837, wo
auf der Naturforscherversammlung in Prag Prof. Zippe über das Vorkommen eines
Sclilackenwalles auf dem Schafberge bei Bukowetz in der Nähe von Pilsen im west-
lichen Böhmen berichtete. Daran schlössen sich die Mittheilungeu eines unserer
bedeutendsten Geologen, Bernhard Cotta1), der auf das Vorkommen dieser Art
von Wällen in der Oberlausitz aufmerksam machte und namentlich vier derselben
bezeichnete: auf der Landskrone bei Görlitz, auf dem Rothstein bei Sohland, auf
dem Schafberge bei Löbau und auf dem Stromberge bei Weissenberg. Auch in
Böhmen und zwar theils im Mittelgebirge, theils südlich von Prag wurde bald eine
grössere Zahl aufgefunden. Seitdem sind dieselben wiederholt besprochen worden,
besonders von militärischem Standpunkte aus, so namentlich durch General von
Pe ucker2). Dagegen waren die einheimischen Schriftsteller mehr geneigt, in den
Schlackenwällen die Ueberreste alter heidnischer Opferstätten zu sehen3). Eine
Entscheidung dieser Differenzen ist nur möglich, wenn man einerseits die beson-
deren Einrichtungen der einzelnen lausitzer und böhmischen Wälle genauer er-
forscht, andererseits die offenbar ganz analogen Verhältnisse in Schottland und Frank-
reich in Vergleichung zieht.
In Schottland ist die Aufmerksamkeit auf die Glasburgen (vitrified forts oder
sites) schon seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts gerichtet gewesen. Es sind
dies sehr umfängliche Werke in den nördlichen Theilen des Landes. Zahlreiche
Streitschriften sind darüber erschienen, die allmählich zu einer gewissen Einigung
der Ansichten geführt ha en. Obwohl im Anfang mancherlei Zweifel darüber herrschten,
ob die Schlacken nicht möglicherweise als natürliche Produkte anzusehen seien,
oder ob sie ihre Entstehung nicht einem blossen Zufalle verdankten, so sprachen
.sich doch schliesslich die sorgfältigsten Untersucher für die künstliche Erzeugung
derselben aus. Eine sehr vollständige Uebersicht des Gegenstandes hat v. Leon-
hard4) geliefert. Es ergiebt sich daraus, dass in einer Beziehung die geologischen
Verhältnisse in Schottland die Frage einfacher gestalten, als sie gerade in der Lau-
sitz liegt. Während es hier durchweg basaltische Erhebungen sind, auf denen die
Brandwälle liegen, finden sie sich in Schottland auf Oranit, Gneiss, Glimmer- und
Thonschiefer, Quarz, Old-red und Trappconglomerat, also auf Gesteinen, bei denen
die Analogie mit vulkanischen Bildungen nicht so nahe liegt, wie in der Lausitz.
Häufig kommen die Uniwallungen auf der Höhe an sich schwer zugänglicher Berge
vor. Ihre Ausdehnung ist sehr verschieden, und manchmal zeigen sich die Brand-
spuren nur an gewissen Stellen des Walles. Bei einzelnen bildet die Schlacken-
masse die Basis des Walles, bei andern findet sie sich mehr au der Aussenwand.
während sie im Uebrigen durch unveränderte Steine oder erdige Umhüllungen ver-
deckt ist. Schliesslich ist man in Schottland zu der Auffassung gekommen, die
dann auch für die Werke der Oberlausitz angenommen worden ist, dass zuerst ein
') Cotta, Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geognosie, Geologie und Petref. von v. Leon-
hanl und Bronn. 1837. S. 67;J. Erläuterungen zu Section VI der geognost. Karte des K. Sachsen.
Drescl. und Leipz. 1839. Ö. 6i Neues Lausitzisches Magazin. Görlitz 1839. Bd. XVII (Neue
Folge Bd. IV) S. 122.
2) v. Peucker, Das deutsche Kriegswesen der Urzeiten. Berlin 1860. Bd. II. S. 391.
3) Preusker, Blicke in die vaterländische Vorzeit. Leipzig 1841. Bd. 1. S. 82, 92. K.
Haupt, Neues Lauöitzisches Magazin. 1868. Bd. XLIV. S. 387.
\ v. Leonhard, Basaltgebilde. Stuttg. 1832. Abth. II. S. 023.
259
Steinwall ohne Mörtel und sonstige Bindemittel aufgebaut sei, dass man sodann
um diesen herum einen Erdwall aufwarf, den Zwischenraum zwischen beiden mit
Holz füllte, es anbrannte, wieder neues Holz hineinschaffte, welches ebenfalls an-
gezündet wurde und so fort, um auf diese Weise das mächtige Feuer zu erzeugen,
durch welches man die unteren und äusseren Theile in den Zustand der Verglasuug
versetzte; schliesslich sei dann der äussere Wall entfernt worden Diese umständ-
lichen Arbeiten sollen aber desshalb unternommen sein, um dem Walle eine solche
Festigkeit, den Steinen einen solchen Zusammenhalt zu verleihen, dass sie gegen
äussere Einwirkungen den festesten Schutz gewähren könnten.
In neuerer Zeit sind auch in Frankreich einige solche Werke gefunden wor-
den und zwar zuerst ') in der Bretagne bei Peran (Cötes du Nord) und in der Nor-
mandie bei St. Suzanne (Mayeune), sodann-) in Maine bei Courbe (Dep. de l'Orne),
also sämmtlich in dem nordwestlichen Winkel Prankreichs, dem durch seine mega-
lithischen Monumente berühmtesten Sitze uralter keltischer Bevölkerung. Beson-
ders interessant ist das Lager von Peran (10 Kilom. südlich von St. Brieux), von
dem Geslin de Bourgogne einen Plan veröffentlicht hat. Es trägt den sehr
charakteristischen Namen der pierres brulees, und eine alte Sage berichtet, dass
das Feuer daselbst 7 Jahre lang unterhalten sei. Ein durch Gräben geschützter
Doppelwall umschliesst einen elliptischen Raum von 134 und 110 Meter Durch-
messer. Der äussere Wall bestand nur aus aufgeworfener Erde, der innere war im
Centrum gebrannt, und es liessen sich daran Lagen von Steinen, abwechselnd mit
Schichten von Kohle und Asche, nachweisen.
Meine literarischen Nachforschungen über die Verhältnisse in der Oberlausitz
hatten mich zu keiner bestimmten Anschauung darüber geführt, wie die dortigen
Schlackeuwälle aufzufassen seien. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes entschloss
ich mich zu dem Versuch, durch eigene Anschauung mir ein Urtheil zu verschaffen.
Wie ich hoffe, wird das Mitzutheilende etwas zu der Aufklärung des dunklen Ge-
genstandes beitragen.
Schon in Görlitz wurde mir erzählt, dass auf der Landskrone ßasalt-
sch lacken vorkämen und in der Sammlung der dortigen Naturforschenden Gesell-
schaft zeigte mir der verdiente Conservator, Herr Peck schöne Stücke davon. In
der That erwähnt Cotta, dass sich am westlichen Abhänge des Berges einzelne
Schlacken und auf der Höhe geringe Spuren eines Walles finden. Indess wusste
keiner der Herren, welche mich begleiteten, etwas von einem solchen Walle anzu-
geben. Die früher vorhanden gewesenen Schlacken sind verschleppt, und als ein-
zigen l'eberrest fand ich einen kleinen Schlackenhaufen mit verschmolzenen und
gebrannten Basaltstücken am westlichen Abhänge der (1304 Fuss hohen) Kuppe.
Derselbe ist erst nachträglich an einer Stelle zusammengetragen, wo offenbar ur-
sprünglich nichts existirte, Niemand weiss mehr, dass ein Wall da war; vielmehr
war die Meinung in Görlitz allgemein verbreitet, welche schon Cotta andeutet,
dass das alte Schloss Landskrone in seinen Grundmauern aus Basalt gebaut ge-
wesen, dass es später durch Brand zerstört und die Schlacken als letzte Rudimente
übrig geblieben seien. Zum Beweise, dass bei einem Brande eine derartige Ein-
schmelzung stattfinden kann, hat mau allerdings in der Sammlung der Görlitzer
') Geslin de Bourgogne, Mein, de la Soc. des Antiquaires de France. Paris 1846.
Nouv. Serie. T. VIII p. 283. PI. V p 303. Merimee, Ebendas. p. 312.
2) F. Prevost, Mem. sur les aneieunes eonstructions militaires connues sous le nom de
forts vitrifies Saumur 1863. •, mir nur bekannt durch eine Abhandlung von R. Haupt in d^tn
Neuen Lausitzer Magazin. 1868. Bd. XLIV. S. 379.
ls'
260
naturforschen den Gesellschaft ein Stück von der Basaltmauer einer abgebrannten
Kirche aufbewahrt . welches in ein derartiges Schmelzstück verwandelt ist. Auch
mir schien diese Erklärung plausibel, und ich wandte mich daher alsbald zu audereu
Lokalitäten.
Die nächste Bergkuppe in westlicher Richtung, welche einen Steiuwall tragen
soll, ist der Rothstein (1590 Fuss hoch). Da jedoch meine Gewährsmänner auch
hier wenig Ausbeute in Aussicht stellten, so lenkte sich unsere Aufmerksamkeit
auf den in der Reihe folgenden Schafberg bei Löbau (1359 Fuss hoch), eine
auch in geologischer Beziehung sehr merkwürdige Kuppe, weil sie nach den Unter-
suchungen G um p recht's (1836) aus Nephelin-Dolerit besteht. Der Löbauer Berg
hat nämlich zwei Köpfe, die durch einen Sattel mit einander verbunden sind. An
dem südwestlichen Kopfe steht Basalt an; der nordöstliche dagegen, der erwähnte
Schafberg, zeigt durchgehends Nephelin-Dolerit, und seine Kuppe ist es, an wel-
cher ein Schlackenwall beschrieben ist. Hr. Dr. Schneider, ein geborner Löbauer,
der seit vielen Jahren diesen Berg untersucht1), theilte mir jedoch mit, es sei
nichts mehr von Scldacken an dem Wall vorhanden; es fänden sich nur noch ein-
zelne an dem Abhänge des Berges. Alles Andere scheine verschleppt, um in Gärten
und Parkanlagen erwendet zu werden. Es schien daher, als ob auch hier nichts
Erhebliches zu sehen sei. Ich wandte mich, begleitet von den Herren Dr. Schneider
und Dr. Kleefeld, sofort zu dem Berge, welcher am weitesten von den Stätten
menschlicber Thätigkeit entfernt ist, und von welchem Niemand mir etwas mitzu-
theileu wusste, zu dem niedrigen basaltischen Vorbeige Stromberg bei Weissen-
berg, etwa 2 Stunden nordöstlich von Löbau mehr gegen die Ebene zu gelegen, in
der Nähe des berühmten Dorfes Hochkirch. Dieser, 988 Fuss hohe, gleichfalls
doppelkuppige Berg besteht aus sehr dichtem Basalt, der an zwei Stellen, nament-
lich an der östlichen, dem Gebirge zugekehrten Seite gebrochen wird. Diese Seite
fällt auch ohnehin mit einem scharfen Rande steil gegen die Ebene ab. Von dem
Rande aus, welcher der höchsten Erhebung der südöstlichen Kuppe entspricht,
senkt sich der Berg gegen NNW. ziemlich schnell bis zu einem Sattel, welcher die
eben erwähnte Kuppe mit einer zweiten niedrigeren nördlichen verbindet. Jene
südöstliche Kuppe ist nun gegen NNW. d. h. gegen den Sattel bin durch einen
halbmondförmigen Querwall vollständig abgeschlossen; derselbe endigt beiderseits
da, wo der steile Abfall beginnt. Nachdem ich eben erst auf einer Reise um Rügen
Irische Erinnerungen von dem Aussehen Arcona's gesammelt hatte, so kanu ich
mit voller Ueberzeugung sagen, es giebt nichts, was der Stromberg- Anlage ähn-
licher sieht, als der Burgwall von Arcona.
Am besten übersieht mau das Gesaramt-Verhältniss, wenn man die nördliche
Kuppe besteigt. Man erblickt dann über den Sattel hin gerade vor sich die SO.-
Kuppe, hinter welcher links der Rothstein, rechts der Löbauer Berg und neben
ihm im fernen Hintergrunde der lsarkamm hervortreten. Die drei umwallten Berge
bilden die Endpunkte eines beinahe gleichschenkligen Dreiecks. Au dem Strom-
berge ragt zu höchst der scharfe Ostrand hervor, an welchem nach rechts (Süd)
ein Sigualstein der trigonometrischen Vermessung Sachsen'* vom Jahre 1861 sich
erhebt. Unter dem Rande sieht man einen Theil des Innenraumes, in dem ausser
zwei jüngeren Bäumen (B, B) kein erhabener Gegenstand befindlich ist und der
durch den Wall (Hierüber abgeschlossen ist. Nach rechts zeigt sich an dem auch
hier ziemlich jähen Abhänge ein kleinerer Basaltbruch. Wendet man sich noch
') (i. Schneider, Abhamlll. der Naturforsch. Gesellschaft zu <i<irtö»z. ihgs. Bd. XIII. S. l.
weiter nach Westen, so erblickt man aber die Höhe von Hochkirch hinweg den
durch seinen Namen auf altwendischen Götterdienst hinweisenden Berg Czernobog.
Der umwallte Kaum bildet ein unregelmässiges Halboval; der Wall selbst stellt
einen länglichen Halbkreis dar, während der freie Rand des Berges in einer nur
wenig gekrümmten Linie verläuft, [n querer Richtung (NNO. — SSW.) misst der
Innenraum 73, in senkrechter (W'NW.— OSO.) 41 Schritte; die Länge des Walles
beträgt etwa 200 Schritte. Letzterer ist von sehr verschiedener Höhe. Nach Sü-
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den zu verflacht er sich, nach Westen steigt er allmählich bis zu einer Höhe von
3—5 Fuss an, gegen Nordost wird er noch etwas höher Aeusserlich ist er, wo
er nicht durch Ausbrechungen und Grabungen angegriffen ist, überall mit kurzem
Rasen und darunter mit schwarzer Erde bedeckt. Nach aussen fällt er steil ab,
nach innen ist er sanft abschüssig. Auf diese Weise entsteht eine grosse kessel-
artige Vertiefung, welche gegen den Ostrand ansteigt und unmittelbar hinter dem
Westrande am tiefsten ist.
Wir untersuchten die Beschaffenheit des Bodens und des Walles an 8 Stellen.
Innerhalb des Raumes (bei a und b) fand sich nichts, als schwarze Erde und zahl-
reiche rothe Basaltstücke1). An dem freien Rande (bei 1 und 2), in der Nähe des
Signalsteines (c), kamen kleine Holzkohlenstücke, rotbgebrannte Erde und äusser-
lich durch Feuer geröthete Basaltstücke zu Tage. Am südwestlichen Rande stiessen
wir auf eine grosse Brandstelle (3) mit zahlreichen, bis über Faust grossen Stücken
von noch fester Eichenkohle, welche zwischen grossen, äusserlich geschwärzten
Basaltstücken, von schwarzer Erde bedeckt, bis zu einer Tiefe von 2 Fuss la-
gen , ohne dass jedoch die Steine erhebliche Brandspuren zeigten. Nach Norden
(5) bestand der Wall gleichfalls aus Erde und Steinen, zwischen denen jedoch po-
röse Schlacken vorkamen. An der nordöstlichen Ecke (6) lag sehr schwarze Erde;
die Steine waren gebrannt, stellenweise sogar porös Gegen NNW. (i) dagegen,
262
also in der Richtung gegen den Sattel des Berges hin, fand sich in längerer Er-
strecknng der eigentliche verschlackte Theil.
Es ergab sich daher sofort, dass die Beschaffenheit des Walles nicht in allen
Theilen gleich ist, dass derselbe vielmehr nur da, wo er gegen den Sattel gerichtet
ist, unter einer dünnen Erdkrume in vollkommen gebranntem Zustande sich be-
findet. Weiterhin, an den Seitentheilen des Berges, kommt allmählich immer mehr
Erde hinzu und obwohl auch hier Basaltstücke immer noch die Hauptmasse bil-
den, so zeigen sie doch keineswegs so starke ßrandspuren, dass man araus die
Bezeichnung eines Schlackenwalles ableiten könnte.
Wir concentiirten daher unsere Arbeit wesentlich auf den nordwestlichen
Punkt (4), wo ich einen vollkommenen Durchschnitt durch die ganze Dicke des
Walles machen Hess. Es war dies mit grossen Schwierigkeiten verbunden, da die
Massen überaus fest zusammenhielten, trotzdem dass sie doch schon manches Jahr
hindurch den Angriffen der Witterung ausgesetzt wird. Die Cohärenz, nament-
lich in der Tiefe war so gross, dass es einer höchst anstrengeuden Arbeit bedurfte,
um nur zunächst einen Durchschnitt von 3 — 4 Fuss Breite zu erlangen. Von die-
sem aus wurde dann nach den Seiten zu gearbeitet.
Der Wall zeigte an dieser Stelle an der Basis eine Breite von 15 Fuss und
eine Höhe von 4 — 5 Fuss über dem natürlichen Felsboden. Zu oberst unter dem
Rasen und von humoser Erde durchsetzt lagen lose, theils unveränderte, theils ge-
brannte Basaltstücke in grosser Menge; in der Tiefe von l'/2 — 2 Fuss kam, wie es
auch in Peran und in manchen der schottischen Glasburgen beobachtet ist, ein zu-
sammenhängender Kern von Brandmassen, die fast durchweg, jedoch verschieden
fest zusammenhingen. Dieser Kern hatte sehr verschiedene Breiten und Höhen.
An einer Stelle war er nahezu 4 Fuss breit und 21ji — 3 Fuss hoch, so dass er
nach völliger Blosslegung wie eine mächtige gebackene Mauer aussah, allein sehr
bald verschmälerte sich diese Mauer und lief in eine Art Spitze aus, neben welcher
sich jedoch schon wieder der Anfang einer neuen Mauer zeigte. Nach der äusseren
Seite des Walles war der Brand offenbar stärker gewesen, denn hier waren die
Massen stellenweise völlig geschmolzen und geflossen.
So nahe nun auch die Interpretation liegen mag, dass man um den Steinwall
nach aussen herum noch einen Erdwall errichtet und den Zwischenraum zwischen
beiden mit Holz ausgefüllt habe, welches angezündet wurde u. s. w., so ist dieselbe
meiner Meinung nach doch für den Stromberg ganz unmöglich: es ist kein Platz
mehr für einen zweiten Wall da; er würde sich wegen der Abschüssigkeit des Ber-
ges nicht haben halten können. Vielmehr zeigte es sich, dass innerhalb der ge-
brannten Masse selbst zahlreiche kleinere und grössere, meist länglich-eckige Höh-
lungen oder Lücken vorhanden waren, deren Untersuchung uns die Ueberzeugung
gab, dass wenigstens ein grosser Theil derselben dadurch entstanden sein inuss,
dass Holz zwischen die Steine gesteckt und durch den Brand zerstört worden sei
An zahlreichen dieser Höhlungen zeigte die innere Oberfläche deutlich die Abdrücke
von Holzstücken. Ja, wir fanden mitten in einem grossen zusammengebackenen
Klumpen in einer tiefen, gangartigen Aushöhlung einige Esslöffel voll pulveriger
Holzkohle, so dass für uns auch nicht der leiseste Zweifel blieb, dass sich zwischen
den Steinen Holz befunden hat.
') Auch Preusker (a. a. 0. S. 95) berichtet, dass Urnen-Bruchstücke, Thierknochen und
ähnliche Gegenstände hier so wenig, als auf dem Löbauer Berge gefunden seien. Dagegen er-
zählt Schneider (a. a. 0. S. 66), dass Hr. v. Gers he im auf dem Gipfel des Stromberges
alte thönerne Gefässe ausgegraben hat.
263
Die Frage, ob alle Aushöhlungen durch die Anwesenheit von Holz bedingt ge-
wesen, ist freilich nicht so einfach zu beantworten und ich bekenne, dass in dem
Masse, als ich mich länger mit der Sache beschäftigte, ich immer wider in Zweifel
gerathen bin. Es finden sich namentlich in dem Werke von Leonhard's über
die Basaltgebilde einige Abbildungen (Taf. I. fig. 9 — 11), welche in vielfacher Be-
ziehung übereinstimmen mit denjenigen Bildern, um welche es sich hur handelt.
Der berühmte Autor bespricht diese Sachen aber nicht etwa bei den Glaswällen,
die er in einem besonderen Capitel darstellt, sondern er beschreibt1) auf der Ober-
fläche gewisser Schlacken „leisten-artige Hervorragungen. unter Winkeln verbunden,
welche spitzige oder stumpfe sind und theils den rechten sehr nahe stehen. Die
einer Richtung folgenden Leisten laufen einander so parallel, dass das Ganz«- ein
ziemlich regelvolles, jedoch grobes, netzähnliches Gewebe, eine Art Fachwerk dar-
stellt-. Die dazu gehörigen Abbildungen sind in der That bemerkenswerth. Wenn
das Abgebildete, wie Leonhard meint, ein blosses Produkt natürlicher Erstarrung
ist, dann würde es höchst zweifelhaft sein, ob man das, was ich am Stromberge
fand, auf Holzüberreste beziehen darf.
Von den Schlacken, welche Leonhard bespricht, stammt die eine von der
Insel Bourbon (Taf. [. fig. 9); er discutirt dabei die Frage, ob die Massen in ihrem
flüssigen Zustande nicht, wie ein Lavastrom, über pflanzliche Theile hinweggegangen
seien, so dass sich die Struktur des Holzes an der Oberfläche d ;s Basaltes abge-
drückt habe. Er macht dabei die sonderbare Fragestellung: ob das gitterförmige
Relief Pflanzenzelleu wiedergebe? Es erhellt aber auf den ersten Blick, dass das
Gitter dem anatomischen Bau der Pflanze nicht entspricht und dass am wenigsten
Pflanzen zellen mit diesen grossen Figuren in Beziehung gebracht werden können.
Hierin kann man ihm ganz beistimmen. Er beschreibt dann eine zweite Schlacke
von der erhabensten Stelle des Heimberges bei Fulda (1262 Fuss hoch), wo
der Basalt den Muschelkalk durchbrochen hat. Hier finden sich in dem Ausgehen-
den der basaltischen Masse Stücke, deren Oberfläche mit parallelen Rippen besetzt
ist, welche vou Querleisten unter rechten Winkeln durchsetzt werden (Taf. I. fig. 1 1).
Endlich spricht er davon, dass die Wandungen grosser Blasenräume in den Lagen
des Pariou- Stromes unfern Clermont mit sehr dünnen, oben ausgezackten, fran-
sichten, parallelen Schlackenleisten besetzt gewesen seien, — Jedenfalls geht aus
diesen Beschreibungen hervor, dass die erwähnten Schlacken mancherlei Analogie
darbieten mit den oberlausitzischen, und es dürfte sich wohl der Mühe verlohnen,
den Heimberg bei Fulda einer genaueren Prüfung zu unterziehen, ob er nicht in
dieselbe Kategorie gehört. Auch v. Leonhard hat die Aehnlichkeit der Zeich-
nungen seiner Schlacken mit denen von künstlichen Brandstellen nicht übersehen.
Fr vergleicht sie sogar direct mit den Schlacken der verglasten schottischen Bur-
gen und denen vom grossen Brande des Heidelberger Schlosses. Auch bildet er
eine solche künstliche Schlacke (Taf. I. fig. 10) ab, wo „um eine zapfenförmig
hervorragende Schlackenmasse sich kreisförmig gewundene Reifen'' mit zahllosen
Querleistchen anschliessen und dadurch eine Menge sehr kleiner Fächer entsteht.
Sonderbarerweise vergleicht er jedoch dies Aussehen mit dem Querschnitte von
Nummuliten, während es ganz klar ist, — ich provocire auf unsere Botaniker —
dass es dem Durchschnitte eines jungen Baumstammes täuschend ähnlich ist.
Aber man muss sich wohl verständigen. Die im mineralogischen Sinne aller-
dings feinen Vorsprünge und Leisten der Schlacken sind im botanischen doch so
') v. Leonhard, Basaltgebilde. Ahth. 1. S. 172.
264
grob , dass sie allerdings keinem gewöhnlichen Strukturverhältniss einer Pflanze
entsprechen: es sind vielmehr offenbar Spalten und Zerklüftungen in dem Holze,
in welche die schmelzende Masse eingedrungen ist1)- Solche Spalten entstehen
sowohl durch das einfache Austrocknen, als namentlich bei der Verkohlung im
Feuer, und die Kohlenstücke, welche ich (von der Stelle 3.) mitgebracht habe, zei-
gen ein System von Spalten und Rissen, ganz den Figuren vergleichbar, welche
die Höhlen der Schlackenmasse an ihrer inneren Oberfläche darbieten. Es sind aber
fast sämmtliche Höhlungen an den Stromberg -Schlacken ihrer Gestalt nach nicht
auf natürliche Formen der Aeste oder Stämme zu beziehen, sondern sie zeigen viel-
mehr künstlich gespaltene oder durchhauene Holzstücke, in der Regel
wahre Holzscheite mit ganz platten Längsflächen und schräg oder rechtwinklig
daran stossenden Endflächen (Querschnitten). Gerade die winkelige Begrenzung
der End- und Seitenflächen ist in hohem Masse charakteristisch. Au einer solchen
gehauenen Endfläche eines Holzscheites sieht man noch ganz feine, faserige Vor-
sprünge, zerrissenen Holzfasern entsprechend. Solche Zeichnungen finden sich in
aller möglichen Abwechselung, stellenweise mit solcher Zartheit der Linien, dass
meiner Meinung nach dadurch Alles wiedergegeben wird, was in Beziehung auf das
Wiedergeben von Holzkohle nur möglich ist. Besonders merkwürdig ist in dieser
Beziehung ein grosses Schlacken-Oonglomerat mit zwei grösseren Gängen oder Höh-
lungen; der eine dieser Gänge, dessen Durchschnitt zu */s durch eine runde, zu
',., durch eine gerade Linie begrenzt ist, zeigt am Ende eine rechtwinklig anschlies-
sende, fast ebene Endfläche, auf welcher, theils durch verschiedene Färbung, theils
durch eine gewisse Unebenheit charakterisirt, die Ringe eines Baumstammes oder
Astes deutlich zu sehen sind. Offenbar war derselbe an der einen Seite gespalten
und am Ende durchgeschlagen.
Obwohl wir Holz selbst nirgends gefunden haben, und Kohle, abgeschlossen
in einer solchen Höhle, nur an einer einzigen Stelle, so trage ich doch kein Be-
denken, zu behaupten, dass überall die Steinmassen des Walles mit zerschlagenem
Holz durchsteckt waren. Dieses Holz ist durch den Brand zerstört und seine Asche
ist in die schmelzende Masse mit aufgenommen. So entstanden die Höhlungen,
deren Innenflächen freilich nur hie und da eigenthümliche weissliche und gelbliche,
möglicherweise durch Aschentheile gefärbte Beschläge zeigen. Stellenweise ist die
Wand der Höhlungen in wirklichen Fluss gerathen; meist war sie nur so weit ge-
schmolzen, dass sie in die Spalten und Klüfte des Holzes eindrang und Abgüsse
derselben bildete. Nicht selten zeigen auch die noch in der zusammengebackenen
Masse erhaltenen ßasaltstücke tiefe Sprünge und wenn man das Geschmolzene
davon ablöst, so erscheinen an letzterem äusserlich gleichfalls ebene Flächen mit
vorspringenden Leisten. Diese haben jedoch nicht die Regelmässigkeit der in-
neren Oberflächen derjenigen Höhlungen, welche ich auf Holzscheite deute.
Die Basaltstücke selbst zeigen alle Grade der Feuerwirkung. Einige sind nur
äusserlich bis auf einige Linien geröthet und oft gesprungen; in anderen sieht man
auf Bruchflächen ganz feine und vereinzelte Blasenräume; andere sind ganz und
gar grossblasig, wie Bimstein. Zuweilen sieht man alle diese Zustände hinter ein-
ander in demselben Stücke, welches am Ende in einen Fluss übergeht, der in Bän-
der- und Tropfenform erstarrt ist.
In einem Punkte unterscheiden sich unsere Beobachtungen am Stromberge we-
') Auf diese Art der Entstehung scheint zuerst der Maler Fischer in Dresden aufmerk-
sam gemacht zu haben (Schneider a. a. 0. S. 66. Anm.).
265
seotlicb von der Mehrzahl (\ei früheren Angaben. Fast von allen Brandwällen wird
angegeben, die Steine seien lose, ohne jedes Bindemittel, auf einander gehäuft und
erst die schmelzenden Massen des Gesteins selbst hätten eine Vereinigung zu Stande
gebracht. Allerdings hat auch am Stroniberge eine Schmelzung im ausgezeichneten
Masse stattgefunden; wir fanden nicht selten in Tropfenform heruntergeflossene
und so erstarrte Tbeile. allein das (Geschmolzene und Gebrannte war offenbar nicht
bloss Basalt. Vielmehr zeigten gerad : solche in Fluss gerathene Theile oft genug
neben der eigentlichen Ilasaltmasse noch eiue besondere Zwischensubstanz, und ich
habe mich überzeugt, dass wenngleich nicht durchweg, so doch an den meisten
Stellen neben und zwischen den Steinen noch ein anderes Material vorhanden ge-
wesen sein muss, welches mit verbrannt ist. Es ist diess eine rothe, häufig sehr
brüchige, stellenweise jedoch sehr corapakte ') Substanz, in welcher kleinere und
grössere <,)uarzstücke eingeschlossen sind, wie sie in dem anstehenden Busalt nir-
gends zu finden sind. An einer Stelle löste ich mit eigener Hand aus der Kitt-
substanz in der Tiefe des Braudwalles eineu zerschlagenen und gebrannten Feuer-
stein aus. Als wir auf unserem Rückwege bei einer Ziegelei am Fusse des Berges
vorübergingen und den dort anstehenden Lehm untersuchten, so zeigte sich, dass
die Zusammensetzung desselben so viel Aehnlichkeit mit der Mischung der ge-
brannten Zwisclieumasse darbot, dass wir keinen Anstand nahmen, die Meinung
auszusprechen, dass wirklich Lehm als Bindemittel angewendet ist und dass in
dieses Holzscheite eingelegt wurden. Es sind daher bei dem Brande nicht bloss
Basaltstücke zum Schmelzen gekommen, sondern es ist auch der Lehm gebrannt
worden. So erklärt sich wahrscheinlich die grosse Feinheit der Zeichnung, welche
die Innenfläche der geschilderten Höhlungen darbot
Aehuliches berichten Prevost von der Mauer von Courbe, wo Kalkbestaud-
theile vorhanden sein sollen, Preusker und Haupt-) von dem Rothstein bei Sohland,
wo eiue Beimischung von Erde und Kies stattgefunden haben soll. Bei den schotti-
schen und böhmischen Brandwällen scheint nichts Aehnliches beobachtet zu sein.
Am Stromberge dagegen war durchweg eine rothe Kittsubstanz vorhanden; stellen-
weise war sie sogar zu einem wirklichen weisslichen oder grünlichen Glase ge-
schmolzen.
Es kommt endlich noch ein Umstand in Betracht, welcher mir am meisten
Schwierigkeit gemacht hat. Nicht überall an den Höhlungeu sind die Linien so
fein und scharf, wie vorher beschrieben; vielmehr zeigen sich ziemlich derbe rund-
liche Parallellinieu, so dass die betreffenden Flächen vollständig canellirt er-
scheinen. Manche dieser Längserhebungen sind hohl; manche gehen am Ende in
feine, abgerundete Vorsprünge oder Lücken aus. Hier kann meiner Meinung nach
allerdings kein Zweifel sein, dass es sich nicht mehr um blosse Abdrücke von zer-
klüftetem Holz handelt. Ich werde darauf gleich nachher zurückkommen und will
hier nur bemerken, dass ich diese Figuren, welche am meisten der Abbildung von
v. Leonhard auf Tat. 1. fig. 11 entsprechen, auf einen höheren Grad der Schmel-
zung und Verflüssigung beziehe.
Zur Vervollständigung des Befundes am Stromberge habe ich nur noch zu be-
richten, dass sich hier ein ähnliches Verhältniss zeigt, wie es von Geslin in Peran
') Wie ich aus Seh neide r's Mittheilungen (S. 64) ersehe, hat schon Glocker vom Strom-
berge angegeben, dass daselbst in manche blasige ^asaltstiicke Stücke von der Beschaffenheit
und Farbe rother Ziegel und in manche Ziegelstücke umgekehrt auch kleine eckige Basaltstücke
eingemengt seien.
*l Preusker a. a. 0. Bd. I. S. 95. Haupt a. a. 0. S. 381.
266
unter der Bezeichnung von Oefen (fournaise) beschrieben ist. Die Brandmasse bil-
dete gewisse Heerde von beträchtlicher Grösse, deren Zwischenräume mit we-
niger oder gar nicht gebrannten Steinen gefüllt waren. Tin Innern dieser Heerde.
gab es stellenweise grössere Höhleu, 1 — P/2 Fuss hoch und so tief, dass ich den
ganzen Arm in ausgestreckter Haltung hineinbringen konnte. Dieselben waren
tbeils ganz leer, theils mit losem, graurothem Brandschutt gefüllt. Ihre Wandun-
gen erschienen stets in hohem Grade verschlackt. Gegen die Aussenseite des
Walles zu war die Schmelzung und Verglasung meist stärker, jedoch reichte die
Schlacke hier nicht bis dicht unter die Erdkrume, vielmehr fand sich zunächst
unter dieser ein loserer rothgebrannter lehmiger Schutt. Gegen die Innenseite des
Walles zu dagegen schlössen sich an den harten Kern grosse, künstlich aufge-
schichtete Basaltblöcke an, deren oft grosse Zwischenräume von gebranntem Grus
eingenommen waren. Diese Eigenthümlichkeiten dürften mehr, als alles Andere,
beweisen, dass es sich um eine absichtliche Anlage handelt, welche gebrannt wer-
den sollte.
Nach diesen Ermittelungen kehrten wir nach Löbau zurück und begannen die
Untersuchung des grossen Steiuwalles. auf dem Schaf berge. Trotz aller ungün-
stigen Prophezeiungen gelang es bei etwas hartnäckiger Forschung auch hier,
noch anstehende Schlacken zu finden und damit die Meinung zu widerlegen, als
sei Alles fortgebrochen oder herabgefallen. Die betreffende Stelle liegt an der nord-
westlichen Ecke des Steinwalles neben einem alten Einschnitte (Eingange). Preus-
ker1) hat, wie ich nachträglich ersehe, eine ähnliche an der südwestlichen Ecke
getroffen2).
Als wir an dieser ziemlich verborgenen Stelle die äussere Schicht von losen
Steinen hatten abtragen lassen, welche durchaus unverändert waren, stiessen wir
im Kern des Walles auf eine in grossen Klumpen zusammenhängende Brandmasse.
Für die Geologen ist es vielleicht von besonderem Interesse, zu erfahren, dass ähn-
liche Zeichnungen, wie wir sie an dem Basalt des Stromberges kennen gelernt ha-
ben, an dem Nephelin -Dolerit des Löbauer Berges sich wieder finden. Nur die
rothe Kittsubstanz schien hier zu fehlen.
Manche Doleritstücke waren ebenso porös, ja blasig und stellenweise glasig und
geflossen, wie die Basalte des Stromberges. Jedoch sah ich keinen einfachen Holz-
abdruck, während Preusker (a. a. 0. S. 93) einen solchen gesehen zu haben an-
gibt. Dagegen erwiesen sich viele Stücke ganz besetzt und durchsetzt von ecki- •
gen Höhlungen, deren Innenfläche meist mit den 1 ruh er -erwähnten gröberen, pa-
rallelen und an der Oberfläche abgerundeten Kelieflinien versehen war. Nicht sel-
ten waren diese Linien jedoch nicht glatt, ondern mit feinen queren oder schiefen
Querlinien besetzt Ich kann nicht behaupten, dass diese Art von Zeichnungen in
irgend einer Weise einer mir bekannten Holzart entspräche. Auch giebt es Höh-
lungen, an welchen deutlich zu sehen ist, dass ihre Innenwand geschmolzen, und
das Geschmolzene heruntergeflossen und zu Stalactiten-ähnlichen Bildungen erstarrt
ist. Aber ich möchte desshalb die Möglichkeit nicht ausschliessen, dass dieselben
Höhlungen, welche durch die Anwesenheit und die Zerstörung von Holz bedingt
waren, späterhin durch weiteres Einschmelzen an ihrer Oberfläche von Neuem ver-
') Preusker a. a. 0. I. S. 92.
2) Auch bei der schottischen Burg Gataere-House in Soropshirc, die jetzt zerstört ist, tru-
gen nur die gewissen Weltgegenden zugekehrten Mauern Spuren der Feuer-Wirkung (v. Leon-
hard II. S. 526).
267
ändert sind und dass namentlich früher scharfe Leisten und Vorsprünge bei stär-
kerer Erhitzung halbflüssig geworden sind und sich unter Abnahme ihrer Höhe ab-
gerundet haben.
Auf diese Weise löst sich vielleicht der scheinbare Widerspruch zwischen bei-
den Arten von Zeichnungen, der feineu und der gröberen. Es ist dies ein Punkt,
der auch geologisch von grosser Bedeutung ist. Hr. Schneider hat gegen Glocker,
welcher die Zeichnungen iu den Wallschlacken als natürliche Erzeugnisse ansah,
eine Reihe von Gründen beigebracht, welche für die künstliche Schmelzung spre-
chen. Ich will im Allgemeinen darauf verweisen, kann jedoch noch einen neuen,
meiner Meinung nach entscheidenden Grund hinzufügen. Soweit ich sehe, sind alle
natürlichen Blasenräume in den basaltischen Gesteinen rundlich; hier dagegen be-
sitzen die Höhlungen ein so eckiges und winkeliges Aussehen, sie haben so ebene
Wandungen und diese stossen unter so scharfen Winkeln gegen einander, dass man
überall auf künstlich zerspaltene oder zerschlagene Holzstücke geführt
wird. Dazu kommt, dass hie und da die geschmolzene Masse in langen Zügen über
benachbarte Steine herabgeflossen ist, wie mir dies sehr überzeugend von Hrn Dr.
Schneider an einer aus derartigen Schlacken aufgerichteten Pyramide in den An-
lagen der Stadt Löbau (am West-Umfange) gezeigt wurde.
Der Löbauer Steinwall zeichnet sich vor dem Stromberge noch durch zwei Um-
stände aus. Er liegt an. den meisten Stellen noch jetzt völlig frei, so dass die
Steine nackt zu Tage treten '). Ausserdem ist er von sehr beträchtlicher Grösse.
Denn er umgiebt in einer Erstreckung von über 8000 Fuss einen Raum von 20
Morgen, gross genug, um Tausende von Menschen aufzunehmen. Seine Höhe
schwankt zwischen 3—7 Fuss Höhe, und er folgt überall den Seitenrändern der
Bergkuppe. Noch jetzt ist er fast ganz geschlossen und seine Gestalt ist im Gros-
sen eine viereckige mit ziemlich scharfen Ecken.
Nachdem so an zwei Orten die Existenz von Brandstellen in den Steinwällen
dargethan war, so durfte ich die Frage aufwerfen, ob nicht auch auf der Lands-
krone die Verhältnisse anders tu erklären seien, als es bisher geschehen ist. Eine
Nachforschung über die Geschichte des alten Schlosses hat in der That ergeben, dass
dasselbe niemals abgebrannt ist, sondern auf friedliche Weise durch die Thätigkeit
der Bürger im Jahre 142*2 abgetragen wurde, nachdem seine Besitzer dem Könige
von Böhmen und der Stadt mannichfache Unbequemlichkeiten bereitet hatten3). Dass
es vorher abgebrannt sei, davon ist wenigstens bis jetzt nirgends eine Nachricht zu
finden gewesen. Späterhin hat man wiederholt versucht, die von Natur so feste Po-
sition wieder zu militärischen Zwecken zu benutzen, aber erst in der neuesten Zeit
sind die Pläne zum Wiederaufbau zur Ausführung gekommen; nirgends ist. auch aus
späterer Zeit, irgendwie berichtet, dass dort ein Brand stattgefunden habe. Bei wei-
terem Nachfragen hat sich vielmehr herausgestellt, dass an verschiedenen Punkten
des Berges noch Schlacken vorkommen, und es ist möglich, dass weitere Nachfor-
schungen noch etwas Genaueres über die Existenz eines Brandwalles ergeben werden.
Wie verhält es sich nun mit der chronologischen Deutung und dem Zwecke
dieser Stein wälle?
Nach Cotta sind dieselben als slavische, nach v. Peucker und Schuster als
germanische Befestigungen anzusehen. Dass dieselben gegen die andrängende Fluth
der Slaven gerichtet gewesen seien, folgt nach diesen Schriftstellern aus militärischen
Gründen, insbesondere aus dem offenbaren Zusammenhange des ganzen Systems. Ein
') Eine etwas rohe Abbildung hat Preusker a. a. 0. Taf. II. fig. 6.
*) Jancke, Abhandl. der naturf. Gesellschaft zu Görlitz. 1838. Bd. II. S. 119.
268
Mitglied unserer Gesellschaft, Hr. v. Ledebur hat das Verdienst, die Aufmerksam-
keit zuerst auf diesen Zusammenhang einer grossen Reihe von Schanzen und Wällen
gerichtet zu haben. So auffällig dieses Verhältniss ist, so würde es doch in der
That überraschend sein, wpnn man annehmen müsste, dass auch die Schlackenwälle
mit dem übrigen Schanzen- und Wallsystem zusammengehören, und dass ein so gross-
artiger Plan der Verteidigung ausgedacht und ausgeführt worden wäre, um einem
sich zurückziehenden Volke Schritt für Schritt neue Haltpunkte zu gewähren. Ge-
genüber der weiten Ausdehnung des gesammien sogenannten Systems erscheinen die
letzten Refugia in den Steinwällen unverhältnissmässig klein. Mag auch der Löbauer
Berg Tausende von Menschen fassen, mögen die benachbarten Brandwälle abermals
Tausenden Schutz gewähren können, so darf man sich doch nicht vorstellen, dass ein
grosses Volk, welches zu seiner Vertheidigung von der Warthe bis zur Saale Schan-
zen errichtet hatte, auf wenigen und verhältnissmässig kleinen Bergen eine Stätte der
Zuflucht gesucht habe. Die Umwallung des Stromberges ist so eng, dass sie auch
nicht für einen einzelnen Stamm ausreichend sein konnte, und die Möglichkeit, diesem
Stamme im Falle einer Belagerung Trinkwasser zu verschaffen, ist gänzlich ausge-
schlossen.
Es würde überaus wichtig sein, wenn es gelänge, aus bestimmten einzelnen Fun-
den weitere Anhaltspunkte für Erwägungen über das Alter und die Benutzung dieser
Anlagen zu gewinnen. Mir ist es leider nicht gelungen, irgend etwas Wesentliches
zu ermitteln. Ich habe auf dem Stromberge an mehreren Stellen gegraben, aber
nichts entdecken können, was irgendwie für chronologische Beziehungen verwerthet
werden könnte; ausser der erwähnten Eichenkohle, die vielleicht einige Bedeutung
gewinnen kann, haben meine Grabungen gar nichts zu Tage gefördert: keinen Topf-
scherben, keinen Thierknochen oder sonst irgend etwas, was auf ein früheres Bewoh-
nen hingedeutet hätte. Auf dem Löbauer Berge, der sehr ausgedehnt und mit gros-
sen Bäumen bestanden ist, habe ich bei der geringen, mir zur Verfügung stehenden
Zeit keine Nachgrabungen veranstaltet. Preusker1) legt besonderen Werth auf
einen daselbst im Jahre 1802 gefundenen Bronce-Celt von 7 Zoll Länge, und er er-
wähnt ausserdem, dass in der Nähe des sogenannten Goldkellers, einer Höhle dicht
unter der südöstlichen Ecke des Schafberges, mehrere Drahtringe. Nadeln und ähn-
liche Broncegegenstände vor Jahren zufällig entdeckt seien Auch daraus hat man
auf eine germanische Bevölkerung geschlossen.
Meiner Meinung nach bieten derartige vereinzelte Funde durchaus keinen sicheren
Anhaltspunkt dar. Geslin') hat in dem Rundwall von Peran Spuren einer römischen und
einer mittelalterlichen Ansiedelung nachgewiesen. Trotzdem nimmt er, und gewiss
mit Recht an, dass die Anlage vor-römisch oder, was für ihn gleichbedeutend ist,
celtisch war. Anderson1) stiess in schottischen Glasburgen auf grosse Kohlenlager
mit Gebeinen von Pferden, Rothwild und Schweinen. Derartige Reste können eben
so gut die Caledonier, als die Römer oder Dänen hinterlassen haben. Man muss da-
her in der Beurtheilung solcher Funde in höchstem Masse vorsichtig sein. Zumal
das Beispiel der Landskrone fordert zu einer solchen Vorsicht auf. War hier ein
alter Schlackenwall, so würde daraus gewiss nicht folgen, dass das Schloss Lands-
krone und der Brandwall von einem und demselben Volk errichtet worden sind.
'; Preusker, Neues Lausitzisches Magazin. 1827. Bd. VI. S 519. Taf. I. %. 1. Blicke in
die Vorzeit, Bd. 1. S. 81 Taf. I. %. 43.
-) Memoires des Antiquaires de France. XV1I1. p. 311.
3) v. Leonhard, Basaltgebilde II. S. 526.
269
Gerade für diesen Punkt is1, es mir gelungen, ein bisher ganz unbekanntes Ver-
hältniss aufzuklären, das in anderer Beziehung sehr wichtig erscheint. Als ich mich
nach den Umgehungen der Landskrone erkundigte, erzählte man mir, dass am Kusse
des Berges eine alte Schweden- oder Hussitenschanze ') sei. Wir begaben uns als-
bald dahin und es ergab sich iu der That, dass am Westabhange des Berges, etwas
unter der halben Höhe desselben, ein sehr umfangreiches, ganz und gar künstlich
aufgeschüttetes Erdwerk lag, welches sich halbmondförmig an den Abhang anschloss
und dessen südlicher Schenkel sich in langer Erstreckung bis zu der niedrigeren,
zweiten (südlichen) Basaltkuppe des Berges hinaufzog. J)er Band des Walles war
bereits abgegraben und auf die benachbarten Felder gefahren . dadurch aber zugleich
in günstigster Weise das gesammte Terrain aufgeschlossen. Nicht der mindeste Grund
ergab sich für die Annahme, dass Hussiten oder Schweden etwas mit der Anlage zu
thun gehabt hätten Vielmehr lehrte eine Reihe von Nachgrabungen . die wir sofort
veranstalteten, das- in dem losen, humosen und vielfach geschwärzten, stellenweise
8 — 10 Fuss hohen Erdreich grosse Mengen theils unversehrter kleiner, theils zer-
schlagener und ganz scharfkantiger grosser Knochen zerstreut lagen. Letztere waren
stellenweise stark geschwärzt, und einzelne so stark gebraunt, dass sie angefangen
hatten, weiss zu werden. Unter den Bruchstücken Hessen sich namentlich Rinder-
und Schweineknochen von gezähmten Rassen unterscheiden. Mit Ausnahme einzel-
ner Knochen von kleineren Thieren fanden wir nichts, was wilden und am wenigsten
älteren, später verschwundenen Arten zugeschrieben werden konnte. Kohlenstücke
lagen an vielen Orten, jedoch stiessen wir auch auf grössere Brand- oder Heerdstelleu,
an welchen ganz grosse Stücke von Eichenkohle in Massen zusammenlagen. Hie und
da kamen auch Klumpen von rohem gebrannten Lehm vor. Ferner sammelten wir
eine reiche Anzahl von Urnenscherben, sowohl Rand- uud Mittel-, als Bodenstücke.
Obwohl ihre Grösse und Gestalt grosse Manniclifaltigkeit darbot, so gehörten sie doch
nach Material und Bearbeitung im Grossen derselben Gruppe an, welche ich in einer
früheren Sitzung von unseren Burgwällen beschrieben habe. Keines von ihnen war
gebrannt; sie hatten durchweg jenes schwärzliche, nur an der Oberfläche häufig röth-
liche oder, wo sie an der Luft gelegen hatten, grauweissliche Aussehen, wie wir es an
dein Topfgeräth der Burgwälle Pommerns und der Mark finden. Grobe Bröckel von
Quarz, Glimmer u. s. w. traten sowohl an der Oberfläche, als auf dem Bruche deutlich
hervor. Einzelne bestanden aus dichterem und etwas feinerem Material. Fast alle Ober-
stücke waren mit einem gutgeformten, stark umgelegten und zuweilen noch weiter
abgeglätteten Rande verseben. Daran schlössen sich bei der Mehrzahl Ornamente
mit ausschliesslich horizontaler Richtung der Verzierungen, welche bald einfache,
breitere oder schmälere, dichter oder weiter von einander stehende, bald schlangenförmig
gekrümmte Parallellinien, bald eine Reihe schräger Nageleindrücke, bald endlich zier-
liche, wie durch Einpressen eines grob gedrehten und geflochtenen Fadens erzeugte
Figuren zeigten Die sehr dicken Bodenstücke waren sämmtlich einfach gewölbt
und glatt. Metall wurde von uns nicht aufgefunden. Um so mehr charakteristisch
ist ein rohes Knocheuwerkzeug, nämlich ein in der Diaphyse zerschnittener und zu-
gespitzter, thierischer Metatarsalknochen , der vollkommen übereinstimmt mit den
Spitzbohrern, die in fast allen unseren Pfahl- und Wallansiedelungen vorkommen.
Ich habe nach diesen Ergebnissen keinen Zweifel darüber behalten, dass wir es
iu der That hier zu thun haben mit einer, lauge Zeit hindurch bewohnt gewesenen
') Preusker (Blicke in die Vorzeit II. S. 114) scheint dieselbe zu meinen, wenn er von
einem kleinen Walle am Bergabhauge spricht, der erst bei Besetzung des Berges 1467 durch
die Görlitzer aufgeworfen sei.
270
Ansiedelung, welche in dieselbe Periode zu versetzen ist, welcher unsere weiter in
die Ebene hineingelegenen Burgwälle angehören. Diese Periode würde sich schon
jetzt genauer bestimmen lassen, wenn die früher auf der Landskrone gemachten und
zum Theil in den Görlitzer Sammlungen aufbewahrten Funde1) nach ihren Fund-
stellen genauer beschrieben wären. In der Sammlung der dortigen Gesellschaft der
Wissenschaften sah ich einen dicken Bronce-Ring und eine noch ganz neu erschei-
nende Lanzenspitze von Bronce ohne alle Patina, die auf der Landskrone gefunden
sein sollten, aber ich konnte nichts Genaueres darüber erfahren. Dia Sammlung
der naturforschenden Gesellschaft enthält zahlreiches Eisengeräth (grosse und
kleine Schlüssel, Pfeile mit Widerhaken, Messer, Panzerplatten, Ketten, Sporen, Huf-
eisen), Lederstücke mit Kupfer -Mosaik, Pferdezähne und zahlreiche Scherben von
Thongefässen, darunter auch solche mit Pfahlbau-Ornamenten, aber Alles ohne Fund-
scheine. Die Ergebnisse weiterer Forschungen werden hoffentlich mit mehr Sorgfalt
registrirt werden.
Ich selbst zog es vor, um eine breitere Grundlage zur Vergleichung zu gewinnen,
weiter gegen die Ebene hin einige der lausitzischen Schanzen zu untersuchen. Ich
begann mit zwei seit langer Zeit bekannten Schanzen, welche sich in der Nähe des
Dorfes Schöps befinden, wo die alte Heerstrasse von Dresden und Bautzen nach Breslau
(von Deutschland nach Polen) den schwarzen Schöps, ein Nebenflüsschen der Spree,
überschreitet.' Hier liegt zu jeder Seite der Strasse unmittelbar am Flusse und zwar am
rechten Ufer desselben eine mächtige Schanze2). Beide sind auf natürlichen Granit-
Hügeln angelegt, dann aber weiter durch Erdschüttungen so erhöht, dass die südliche
bis zu 30, die nördliche bis zu 50 Fuss Höhe aufgethürmt ist. Letztere hat oben
300 Schritte im Umfange, trägt gegen die Landseite hin noch einen mächtigen halb-
mondförmigen Erdwall auf der Höhe ihres Randes, ist dagegen nach der Uferseite
hin ohne besondere Schutz wehr. Preusker hatte darin Gefässbruchstücke gefun-
den, sonst nichts. Auch unsere Nachgrabungen, obwohl durch die Unterstützung des
Hrn. Gutsbesitzer Schröber in grösserer Ausdehnung ausgeführt, ergaben nur we-
uige Resultate. Ausser ganz spärlichen und kleinen Bruchstücken von Knochen, dar-
unter ein Zahn vom Schafe, sowie kleinen und scheinbar geschlagenen Feuersteinen
erlangten wir nur eine grössere Menge von Kohlenstückeu und zwar von Nadelholz,
sowie von Urnen. Einzelne der letzteren waren von colossaler Dicke und äusserst
roher Beschaffenheit, alle jedoch ungebrannt, unglasirt und von dem bekannten rohen
Material der Burgwall -Urnen. Entscheidend erwies sich auch hier die Ornamentik,
welche in hohem Maasse ähnlich, ja stellenweise fast identisch mit der oben beschrie-
benen der Gefässe von dem Erdwall der Landskrone war. Somit wurde jeder Zweifel
über den Parallelismus dieser Anlagen gehoben.
In Gemeinschaft mit den Herren Dr. Blau uud Dr. Böttcher, welche mich an
diesem Tage begleiteten, begab ich mich von da zu dem viel besprocheneu Burg-
berge von. Döbschütz, der in einer ganz ähnlichen Lage und gleichfalls auf einer
niedrigen Granitkuppe weiter abwärts am rechten Ufer des schwarzen Schöps gele-
gen ist. Die lausitzischen Gelehrten haben in dieser Gegend das im Mittelalter er-
wähnte Schloss Meer, Meran oder Meerane gesucht3). Der sehr hohe und steile, je-
doch wenig umfangreiche (kaum 50 Schritt im Durchmesser haltende) Burgwall liegt
') Man vergleiche auch Preusker II. S. 114.
'') Preusker (a. a. 0. L S. 115. Taf. II. fig. 1 u. 12) hat Beschreibung und Abbildung davon
gegeben.
:1) Käuifer, Neue Lausitzische Monatsschrift. 1803. Bd. I. S. 8. Crudelius, Ebendaa.
S. 05. Worbs, Ebenda*. S. 213. Schulz, Ebemlas. Bd. II. S, 17.
In
gerade gegenüber dem Dorfe Melaune. Ausser einzelnen Urnenfragraenten und zahl-
reichen Kohlenstellen fanden wir nichts. Ein früherer Besitzer hat den ganzen ln-
nenraum ausgrabeu und 600 Fuder davon zur Wiesendüngung fortfahren lassen. Bei
dieser Gelegenheit sind zahlreiche Lagen von Asche, Buchen-Kohlen, abwechselnd
mit Schichten von Erde, geschmolzene Eisenstücke, rohe Thongeräthe, Thierknochen
und grosse Mengen von verkohltem Getreide (Weizen, Koggen, Gerste, vielleicht Ha-
fer, sowie kleine, für Hirse oder Wicken gehaltene Körner), stellenweise in Haufen
von i — 2 Scheffeln gefunden worden1). In der Sammlung der Görlitzer naturfor-
schenden Gesellschaft sah ich solches Getreide, namentlich Weizen- und Roggenkör-
ner, ferner schwarze Trnenstücke mit ringförmigen Linien, auch ein Eisenstück; in
der Sammlung der oberlausitzischen Gesellschaft fand sich eine eiserne Pfeilspitze
mit Widerhaken und Feuersteinspähne von da. Hier wird wohl nicht der mindeste
Zweifel übrig bleiben können. Wir haben es mit einem Burgwalle der Eisenzeit
zu thun, der in jeder Beziehung unseren mehr nördlichen Burgwällen anzuschlies-
sen ist.
Welchen Grund sollten wir nun aber haben, diese Erd wälle, Schanzen und Burg-
berge für Werke der alten Deutschen zu halten? Ich sehe in der That bis jetzt
noch keinerlei Anknüpfungspunkte für eine solche Annahme. Vielmehr scheint mir
die Ausführung, welche schon vor 65 Jahren Rösch'1) von den Schanzen der Lau-
sitz gegeben hat, dass es Werke der Wenden seien, am meisten begründet zu sein.
Dagegen scheint mir nichts dafür zu sprechen, dass die Schlacken wälle etwas mit
slavischen Völkern zu thun haben. Vorläufig fehlt hierfür jede Anknüpfung. Ich bin
daher der Meinung, dass man trotz ihrer räumlichen Beziehung vorläufig die Stein-
wälle und die Erdwälle gänzlich aus einander halten muss. Mag immerhin von dem
militärischen Standpunkte aus, den die Herren Schuster und v Peucker vertre-
ten, der einheitliche Ursprung beider Arten von Wällen und ihr germanischer Ur-
sprung sehr wahrscheinlich sein, so halte ich doch dafür, dass diese Ansicht eine
irrige ist. — Die Erdschanzen sind, wie die Burgwälle, allem vorliegenden Material
nach, slavische Anlagen, und als solche allem Anschein nach bald überwiegend zu
religiösen, bald mehr zu militärischen Zwecken errichtet. Die Stein- und Brandwälie
dagegen, welche sich in dieser Form nirgends in der norddeutschen Ebene finden,
obwohl es doch in derselben an Steinen aller Art nicht fehlt, die dagegen in Böhmen
in grosser Zahl, in Nord-Frankreich und in den schottischen Hochlanden vorkommen,
mögen von einer germanischen Bevölkerung errichtet sein, aber es wäre auch möglich,
dass sie noch älter sind und dass sie einer vorgermanischen, also vielleicht eiuer
celtischen Bevölkerung angehören. Jedenfalls muss man Angesichts so kleiner Brand-
wälle, wie der des Stromberges, und gegenüber so beschränkter Brandstellen inner-
halb der betreffenden Wälle, wie sie auch einzelne schottische Glasburgen nur be-
sitzen, von der Meinung ablassen, dass diese Anlagen lediglich oder vorwiegend im
militärischem Interesse errichtet worden seien. Manche Steinwälle mögen diese Be-
deutung haben; andere sind gewiss vorzugsweise zu religiösen Zwecken hergestellt
worden.
Die Herren Braun und Beyrich erklären sich bereit, die vom Vortragenden vor-
gelegten Schlacken-Fragmeute einer genaueren Untersuchung zu unterwerfen.
') Preusker a. a. 0. III. S. 125, 132. Taf. III. nV. 20.
*) Rösch, Neue Lausitzische Monatsschrift. 1805. 1. S. IH. (Hier rindet sich wohl die
ersto Aufzählung- der oberlausitzischen Schanzen.)
272
Herr von Dücker übersendet nebst einer grösseren Sammlung von Geweihstücken
u. s. w. folgende briefliche Mittheiluug über
Die Rennthierreste aus dem Hönnethale.
„Der hochverehrte Vorsitzende des Berliner Anthropologischen Vereines hat iu
seinem Vortrage über Rennthierreste in Norddeutschland die Frage der Coexistenz
des Rennthieres mit dem Menschen offen gelassen. Auch in Betreff der von mir im
Hönnethale gefundenen Reste erwähnte derselbe, dass die Beweise für die Herstam-
mung derselben aus Menschenhand nicht vorlägen. Dies war auch ganz richtig, denn
in den Händen des Herrn Redners befanden sich nur einige wenige Stücke, die nicht
zu diesem Zwecke ausgewählt waren.
Hiermit beehre ich mich nun, dem Vereine eine Suite von 53 Bruchstücken von
Rennthierge weihen uud Knochen vorzulegen, welche ich sämmtlich aus der in obi-
gem Vortrage erwähnten Felskluft im Hönnethale in Westfalen am 12. October vori-
gen Jahres gesammelt habe. Es bleiben hiernach noch 47 ganz ähnliche Reste iu
meinen Händen und über 10 Stück habe ich bereits verschenkt. iJas Zusammen vor-
kommen einer so grossen Zahl, in ganz gleicher Weise zerschlagener Geweihstücke
des Rennthieres in einer Felsenkluft an einem schroffen Thalgehänge unterhalb einer
Höhle ist au und für sich nicht füglich ohne die Annahme menschlicher Thätigkeit
zu erklären.
Ausserdem sind in der vorgelegten Suite zu bemerken:
12 Stück längsgespaltene Geweihestücke, darunter zwei mit deutlichen Schlag-
eindrücken, ferner 7 Stück mit Spuren menschlicher Thätigkeit, darunter fünf mit
Schlageindrücken, eins mit Spuren des Bestrebens zum Längsaufspalten und eins mit
einem Einschnitt, endlich ein Knochenstück (unteres Ende eines hinteren Oberschen-
kelknochens vom Rennthier) mit Schlagspuren, auch zwei Stücke mit starkem Mi-
neralansatz, welcher für das hohe Alter der Stücke spricht
Zum Vergleich mit den obigen Stücken ist ein Bruchstück von einem Rehge-
hörn beigefügt, welches ich am 'AQ. August vorigen Jahres aus dem Kjöckenmödding
zu Sölager auf Seeland aufgehoben habe; dasselbe ist in gleicher Weise zerschlagen.
Nach meinem Dafürhalten kann es keinem Zweifel nnterliegen. dass diese sämmt-
licheu Geweihe zerschlagen sind, um die geringe Quantität Nahrungsstoff, welche
sich in denselben befand, nutzbar zu machen. Die Rennthiergeweihe scheinen den
Thieren im jugendlichen Zustande abgeschlagen zu sein, weil dieselben in höherem
Alter nicht so viel Nahrungsstoff boten. Auf andere Weise vermag ich mir nicht zu
erklären, warum an der betreffenden Stelle ausschliesslich so kleine, jugendliche
Exemplare angehäuft waren."
Die frühere Commission wird über die zugesendeten Gegenstände berichten.
Druck vmi Qebr, linder (Tb. Grimm) in Berlin, KriedrlouMtr. 84.
Zeitschrift f .Et]
^ .-
r.ifYin
>
w
-1
p5
>*
Beiträge zur vergleichenden Ethnologie.
Von Prof. P. Strobel in Parma.
(Fortsetzung und Schluss.)
Waffen. Vor der Entdeckung und theilweisen Eroberung Südamerikas
durch die Europäer scheinen alle die wilden, barbarischen oder halbbarba-
rischen Völkerschaften, die es bewohnten, Bogen und "Pfeile gehabt zu haben.
Allein weder die Araucaner noch die Indianer der Pampasie bedienen sich
derselben heutzutage, so viel ich weiss; die Tribü der Huilliches (auszuspr.
Uilitsche8) ausgenommen; wohl aber gebrauchen sie noch, wie in den vor-
geschichtlichen Zeiten, die Bolas oder Schleudersteine. Auch der Lazo oder
die Schlinge dient vielen als Waffe. Durch die von den Eroberern bewirkte
Einführung und Acclimatisation des Pferdes in Reitervölker umgewandelt,
mussten jene Indianer ihre Pfeile in Speere umändern. Hingegen im Süden
und im Norden der von jenen Nomadenstämmen durchstreiften Länder, d. h.
im Feuerlande gen Süden und im Gran Chaco (auszuspr. Tschaco) und Bra-
silien gegen Norden begegnen wir, vorzüglich in bewaldeten, dem Schützen
Verstecke gewährenden Gegenden mehr oder minder wilden Stämmen, die
jetzt noch Bogen und Pfeile führen. Allein die Indianer des Chaco verfer-
tigen sich nicht, wie die Pampas und Patagonier in vorhistorischen Zeiten, ihre
Pfeilspitzen aus Stein, sondern schneiden sich Stiel und Spitze ihrer Pfeile aus
demselben Holzstücke eines Baumes, der dieser seiner Verarbeitung halber
palo de lanza, Lanzenholz genannt wird. Anderswo schon habe ich diese
Thatsachen näher erörtert und weitläufiger auseinander gesetzt.*) — Zu Ende
des vorigen Jahrhunderts hatten die Patagonier Yacana-cunis (auszuspr. Dscha-
cana-cunis) an der Magellanstrasse noch Bogen und Pfeile.**)
Lazo. — Ich habe soeben gesagt, dass die Indianer Südargentiniens
auch von dem Lazo (auszuspr. Lasso) Gebrauch machen. Allein er ist eigeut-
*) Materiali di Paletnokigia comparata raccolti in Südamerika. S. 10—12.
♦*) Falkner, Tomas. - Descripcion de Patagonia. Traduccion Castellana. Buenos Aires
1835. — «.,44.
Zeitschrift für Etliuologie, Jahrgang 1870. 19
274
lieh mehr ein charakteristisches und unentbehrliches Instrument des Gaucho
oder argentinischen Hirten, und der Indianer, der sich dessen bedient, hat
ihn nur von jenem angenommen. Berühmt ist die Gewandtheit, womit der
Gaucho ihn schleudert, und in jedem Buche, welches der Gebräuche der Ar-
gentiner erwähnt, kann man die bezüglichen Schilderungen nachlesen.*) Es
giebt aber auch Hirten in der alten Welt, die hierin den Gauchos nicht nach-
stehen. — Der Lazo ist aber nicht nur ein Werkzeug, sondern zugleich auch
die fürchterlichste Waffe des argentinischen Hirten, mehr noch als sein lan-
ges Messer; und gegen dieselbe hilft nur die Vorsicht, die Schärfe der Seh-
kraft, die Geistesgegenwart, die gute Schneide des Seiteugewehrs und die
Behendigkeit, mit der man die Schnur des Lazo durchzuschneiden trachten
muss, widrigenfalls man durch ihn, am Halse oder anderswo am Körper er-
iässt, vom Feinde zu Tode geschleift würde, der im strengsten Galopp oder
in Carriere davoneilt. — Der Lazo ist ein Strick aus geflochtenen Fellstrei-
fen, an dessen einem Ende ein Eisenring befestigt ist, durch welchen das
andere gezogen wird. Dieses andere Fmde wird am Sattel befestigt, wenn der
Gaucho zu Pferde steigt.
Bolas. — So nennt man in Argentinien die Schleudersteine. Wenn sie
frei mittelst der Honda oder Schleuder geworfen werden, heissen sie Bolas
perdidas oder verlorene, d. h. verworfene Schleudersteine. Auch zur Zeit der
Eroberung Argentiniens wurden solche von den Indianern als Waffen ge-
braucht. — Nach De la Cruz**) hatten zu Anfang dieses Jahrhunderts die
Peguenches (auszuspr. Pegentsches) den Quinchunlaque (auszuspr. Kintschun-
lacke), d. h. einen mit Fell überzogenen Schleuderstein, der an einem Stricke
hina und mit diesem geworfen wurde. — Von dieser Waffe unterscheidet sich
der Laque (auszuspr. Lacke), den Molina beschreibt,***) dadurch, dass die-
ser anstatt aus nur einem, aus zweien an beiden Enden eines Strickes be-
festigten derlei Schleudersteinen besteht. Der Strick aus Lederstreifen ist
fünf bis sechs Schuh lang. — Die Boleadora endlich, die De la Cruz zu den
Laqnes zählt, hat drei Steine oder Metallkugeln, die in Fell gekleidet und
mit einander verbunden sind, und zwar entweder durch drei lederne Streifen
oder durch drei, von mehreren ledernen, in einander verflochtenen Streifen
gebildeten Stricken, oder durch drei Seile aus andern zähen, sei es auch
vegetabilischeu Stoffen. Diese Stricke laufen an einer gemeinschaftlichen
Stelle zusammen, sind entweder gleich lang oder einer davon ist länger. Die
täustgrossen Bolas haben gewöhnlich alle die Kugelform, manchmal aber ist
eine von ihnen walzenförmig oder länglich; und wenn ein Strick länger ist
*) /.. B. in Mantegazza -- Sulla America meridionale, Lettere mediche. Milano 1858.
I. Band, S. 42.
**) De la Cruz, Luis — Descripcioo de la Daturaleza de los terrenos, y costumbres de los
Peguenches. Buenos Aires lHiiö. S. 4t>.
***; Molina, (Jiov. lgu. — Sag^io Sulla storia naturale del Chili. Seconda edizioue. Bo-
logna 1810. S. 261.
275
als die andern, so wird an ihn eben jener ungleiche Stein oder der kleinere
davon befestigt, so wie alsdann dieser Stein beim Schleudern angefasst wird.
— Laque und Boleadora werden auf dieselbe Art geworfen. Wie geschickt
hierin die Indianer zur Zeit der Eroberung Argentiniens waren, erhellt aus
den Erzählungen und Beschreibungen der alten Chronisten und Schriftsteller,
wie eines Schmidel, Ramirez*) u.a. Von der Gewandtheit derselben in spä-
teren Zeiten erzählen Azara, Molina, "-j Falkner u. a. Auch der Gaucho, der
von ihnen die Boleadora angenommen hat, steht ihnen jetzt hierin nicht nach.
Mau tödtet mit ihr den Feind oder das Thier, oder man nimmt sie lebendig
gefangen, je nach V, misch und Geschicklichkeit desjenigen, der sie schleudert.
— ■■ Schleudersteine wurden auch in den Pfahlbauten der Schweiz, in den
Terramaralagern Oberitaliens, in den Gräbern von Hallstatt und anderwärts
unter den Ueberresten aus vorhistorischen Zeiten entdeckt. Mehrere darunter
haben eine äquatoriale Hohlkehle, während ich eine solche an keinem argen-
tinischen Schleuderstein der Neuzeit deutlich ausgeprägt gesehen habe. Von
den vorgeschichtlichen Schleudersteinen Argentiniens haben hingegen einige
eine solche Rinne, andere einen äquatorialen Kiel. Sie sind kugelig oder
gedrückt kugelförmig, einige haben eine glatte, andere eine rauhe Oberfläche.
Auch ganz kleine Bolas für Knaben, zu deren Einübung im Schleudern, fand
ch in den Paraderos Patagoniens, so wie Steine mit Aushöhlungen, in die
man die Schleudersteine hineinpasste, um sie bei ihrer Bearbeitung festhalten
zu können. — Einige Palethnologen sind der Meiuung, dass die vorgeschicht-
lichen, ausgekehlten Steine mittelst eines Strickes an einen Stock gebunden
wurden, um sich deren, nach mittelalterlichem Brauche, als Waffe (Casse-
tete) zu bedienen. Andere hingegen glauben, dass es Klopfer oder Hämmer
waren, die mit einem Holzstiel oder mit einem aus Ochsensehnen versehen
wurden.***) WTenn ihre Oberfläche Zeichen von Schlägen oder Stössen an
sich trägt, dann ist diese Auslegung wahrscheinlich die richtige. Im ent-
gegengesetzten Falle aber halte ich dafür, dass jene Steine die Bolas der
Quinchunlaques, der Laques oder der Boleadoras unserer vorhistorischen wil-
den Ahnen gewesen sind; oder wohl auch, je nach der Form, Gewichte von
Webstühlen, von Netzen oder dergleichen.
Chuza oder Chuzo. — W7ie Anfangs angedeutet wurde, sind die Pam-
pas und Patagonier, d. h. die Indianer der Pampasie oder Grau Pampa, heut
zu Tage mit Speeren oder Chuzos (auszuspr. Tschussos) bewaffnet. Während
meines Aufenthaltes in Bahia blanca hatte ich das Glück, einem Camaricuu,
einer Art von Triduum, beizuwohnen, das eine freundliche Tribü Pampa,
welche in der Nähe jener Stadt ihre Toldos, d. h. Zelthütten, aufgeschlagen
hatte, eben hielt. Seit langem war kein Regen gefallen, ihre Priesteriu, die
*) Siehe Mantegazza op. cit. I, S. 44.
**) Strobel — Viaggi nell' Argenthüa uoeridionale, I, 1. Heft, S. 53 Anui.
*) Siehe hierüber Strobel — Oggetti dell' eta della pietra levigata della prov. >ü Sau
Luis. Parma 1867. S. G u. 10, Anin. 4.
19*
***\
276
zugleich Zauberin und Arzt ist, beschloss also, ihn von Gott zu erflehen.
Um diese Gnade zu erhalten, tanzten Männer und Weiber, jung und alt, drei
Tage hindurch, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, ununterbrochen fort.
Und da man den Reihen um eine doppelte Reihe von in die Erde gesteck-
ten Lanzen tanzte, so hatte ich Müsse genug, deren eine ziemliche Anzahl
zu besichtigen, denn es waren ihrer beiläufig siebenzig. Der Lanzenschaft ist
ein Rohr des Coligüe oder chilesischen Bambü (Ghusquea fauszuspr. Tschus-
l< e a | coleu Desv., Phil.), gegen 5 Meter lang. An dessen Spitze wird so
gut als möglich was immer für ein spitziges Eisenstück, als da wäre die
Klinge eines Messers oder einer grossen Scheere, ein langer starker Nagel,
ein Bajonett oder dergleichen befestigt; und das untere Ende dieser schein-
bar verächtlichen Lanzenspitze wird mit einem Büschel Federn des Avestruz
oder amerikanischen Strausses (Rhea americana) geziert. Von seinem
Bruder in Araucanien bezieht der Indianer der Pampa das Bamburohr zum
Schafte seines Spiesses, und von ihm bekommt er wohl auch oft die Eisen-
stücke zu dessen Spitze in Tausch für das, in den argentinischen Nachbar-
provinzen geraubte Vieh. Gewöhnlich aber verschafft er sich dieselben durch
Tausch oder durch Raub von den Argentinern.
Wirtel. Sowohl in Chili als in der Provinz Mendoza wird, vorzüglich
auf dem Lande, mit Wirtein, Torteras, gesponnen. Ich habe mehrere solcher
Torteras von dorther mitgebracht, einige sind von Holz, andere von gebrann-
tem Thone, andere von Stein. Sie sind mehr oder minder scheibenförmig,
entweder flach oder rund erhaben, manchmal im Umkreis ausgekehlt; einige
sind verschiedenartig geziert, andere einfach. Ein Rohrhalm oder ein länge-
res Stück leichten Holzes wird durch's Loch getrieben, aber so, dass auf
einer Seite nur ein ganz kurzer Theil davon herausragt, und beim Spinnen
hängt dieser natürlich nach unten herab. — In der Klemm'schen Sammlung
in Dresden sah ich hölzerne Wirtel, wie sie noch jetzt in Schlesien in Brauch
sind; einer, von Serpentin und mit geometrischen Figuren geziert, in dersel-
ben Sammlung, war aus Sachsen, und in diesem Lande, nach Klemm's Aus-
sage, bediente man sich im vorigen Jahrhundert bleierner Spinnwirtel. —
In der ethnographischen Abtheilung des königlichen Museums in Berlin giebt
es Steinwirtel aus Polinesien (No. 494), sowie einen hölzernen Spinnwirtel
der Coroados von Brasilien, dessen hölzerne Spindel sehr dünn und bearbei-
tet ist. — Man findet Wirtel aus alten, sowohl historischen als vorgeschicht-
lichen Zeiten, mehr wohl aus den vorhistorischen. In einer Privatsammlung
in Aquileja sah ich deren von gebranntem Thon, von Glas, von Bernstein
und andern Steinen, von Bein, alle aus der Römerzeit. Hölzerne altägyptische
Wirtel sind in der genannten Berliner ethnographischen Sammlung aufbewahrt;
und in derselben Sammlung sieht man unter den mexikanischen Alterthümern
thönerne Wirtel von verschiedener Grösse und Form und mit mannigfaltigen
Zieirathen. Klemms Sammlung enthält eine scheibenförmige Tortera von
Thonschiefer aus Neu-Granada. Im öffentlichen Museum in Santiago de Chile
277
werden mehrere Spinnwirtel aus vorgeschichtlichen Zeiten aufbewahrt, einer,
aus Thon, von den alten Huilliches der Pampa, die übrigen von den alten
Indianern (Araucanern) Chili's. Zwei von diesen sind aus Schiefer und einer
aus leichtem Hol/.e. Der thönerne ist röthlich und mit eingegrabenen Punkten
geziert; einer der steinernen hat geometrische, eingeriffelte Zierrathen, der
andere ist roth angestrichen. An diesem und am hölzernen steckt noch die
hölzerne Spindel. — Ausserdem enthält jene Sammlung noch andere sechs
VVirtel; allein diese sind sehr gross und mit weitem Loche versehen; alle
sind von Stein, einer darunter von Lava. Solche Wirtel aus der alten India-
nerzeit habe ich auch anderswo in Chili bei Landleuten gesehn, die sie ihren
Kindern anstatt der Wagenräder zum Spielen gaben. Aehnliche grosse vor-
historische Wirtel giebt es auch allenthalben in Europa, aber sie sind fast
immer von gebranntem Thon und konnten also nicht zu demselben Zwecke
verwendet werden , wie die erwähnten grossen Torteras in Chili. — Kleine
Wirtel der Menge und von allerhand Formen, von Thon, von Stein, von Bein
entdeckt man in unsern Terramaralagern und Pfahlbauten,*) sowie unter den
Ueberresten vorgeschichtlicher Völkerschaften in Europa. — Aus dem Ge-
sagten erhellt, dass die Wirtel schon seit der Steinzeit und in beiden Welt-
theilen in Brauch waren, und wenn es erlaubt ist, von der Gegenwart auf
die Vergangenheit zurückzuschliessen, so müssen wir annehmen, dass sie zum
Spinnen gebraucht wurden. Allein damit will ich durchaus nicht gesagt haben,
dass auch alle Wirtel zu diesem Zwecke oder zu diesem Zwecke allein ge-
dient haben, sondern je nach der Form und dem Stoffe als Senksteine für
Netze,**) als Gewichte, als Räder (die grösseren), als Kern von Kleiderquasten,
als Knöpfe, zu Bein-, Arm- und Halsschnüren, zum Zählen, zum Beten (wie
bei den Rosenkränzen der Katholiken und der Mahometaner), selbst als Arau-
lete in Brauch waren.
Nahrungsmittel. Mazamorra. — Dieser Speise aus Mais habe ich
schon dort Erwähnung gethan, wo ich von den Mörsern und Stösseln gespro-
chen habe. Um sie zuzubereiten, werden die Maiskörner mittelst hölzerner
Stössel in Holzmörsern grob gestossen, dann gesichtet und in Wasser oder
Milch gekocht. Dieses Gericht ist ziemlich unverdaulich, aber demungeachtet
eine Lieblingskost der Landbevölkerung Argentiniens, Chilis und Perus. In
chilenischer oder araukanischer Sprache heisst die Mazamorra Copullea oder
Muda. Es scheint also, dass die Indianer Chilis, von denen die Pampas ab-
stammen sollen, diese Speise vor der Ankunft der Spanier in Südamerika
gekannt hätten, und dass diese, nachdem sie sich dort niedergelassen, sie in
ihre Küche eingeführt, die Milch, die die Indianer nicht hatten, an die Stelle
des Wassers dazu gethan und ihr den Namen Mazamorra gegeben hätten, der
dem französischen Worte Mächemoure und dem italienischen Mazzamuro
*) Unsere Bäuerinnen stecken solche uralte Wirtel, wenn sie gerade deren finden, an ihre
Spindeln, sonst aber hat ihre dickbäuchige Spindel keinen Wirtel.
**) Wie heut zu Tage noch in einigen Orten Siciliens und am See von Lugano
278
gleichluiitet und Biskuitgebröckel bedeutet. Die Mörser und Stössel aus vor-
geschichtlichen Zeiten, die man in Argentinien entdeckt, bekräftigen diese.
Meinung, sowie jene, dass der Mais schon seit uralten Zeiten in Amerika
angebaut wurde. In Gräbern aus Zeiten, die in eine ältere Epoche als die
,1er Incas zurückreichen, findet man zweierlei ausgestorbene und jetzt in Peru
unbekannte Sorten dieses Korns. Auch Darwin entdeckte an der Küste des
Stillen Ozeans mit 18 Arten Meerconchilien vergrabene Maiskolben au einer
Stelle, die nun mehr als 85 Schuh ober der Meeresfläche sieh befindet.
Bei den Argentinern (wie bei den Ungarn) sind die Maiskolben ein Gemüse,
sowohl zu ihrer Sopa, als zu ihren Pucheros, Carbonados, Cazuelas und wie
alle die Gerichte heissen mögen, bei denen das gesottene Rind-, Kalb-
oder Hühnerfleisch der nicht eben vorwiegende thierische Bestandteil ist.
Auch Brod und Getränke werden aus Mais bereitet.
Gofio. — Wie bekannt, war der Golio eine Mehlspeise der Guanches
auf den Kanarischen Inseln, und er wird noch jetzt von ihren Abkömmlin-
gen, den Bewohnern jeuer Inseln, gegessen. Um ihn zu bereiten, giesst man
zu dem im Ofen gerösteten und dann gesalzenen Maismehl, je nach Umstän-
den und Geschmack, Wasser oder Milch, und richtet somit auf der Stelle
einen Brei zu. — Nach De la Cruz rösteten auch die Peguenches zu Ende
des vorigen Jahrhunderts ihr Weizenmehl und nannten es dann Mirei, und
mit solchem Mehle bereiteten sie zwei verschiedene Breie, den einen mit
kaltem und den andern mit heissem Wasser, und gaben dem ersteren den
Namen Ulpo und Checan dem letzteren.*) — Auch die argentinischen und
chilesischen Landbewohner, die Gauchos und Huasos, essen etwas ähnliches,
wenn es ihnen an Brennstoff oder an Feuer oder an Zeit fehlt, sich eine
warme Speise zuzurichten. Sie begnügen sich dann mit einer Faust voll ge-
röstetem Weizenmehl, das sie in ihren Chifle (auszuspr. Tschifle) oder Kuh-
horn, das des Bechers Stelle vertritt, hineinwerfen, mit zugegossenem Wasser
zu einem Brei einrühren und mit dem Löffel herausessen. Wenn es ihnen
aber weder an Feuer, noch an Zeit gebricht, sondern an andern Speisen,
dann ziehen sie es vor, jenen Brei warm einzunehmen. Um sich ihn, wenn
es Noth thut, bereiten zu können, führen sie stets auf Reisen das Mehl dazu
in ledernen Säcken mit.**)
Brod. — Die Gauchos essen jetzt gern auch Brod und backen sich es
auch. Bei Rio Quinto (auszuspr. Kinto) in der Pampa, wo wir einen ganzen
Tag lang auf Postpferde warten mussten, sah ich zwei Backöfen neben ein-
ander. Die Backöfen unserer vorhistorischen Ahnen werden sicherlich nicht
einfacher gebaut gewesen sein, als jene in der Pampa. Der eine davon hatte
die Basis von Steinen, der andere von Adobones,***) und der Ofen selbst
war ein hohler, getrockneter Lehmkegel mit einer pentagonalen Oeffnung. Die
*) De la Cruz, op. cit. S. 04.
•*) Man vergleiche das Gesagte über die Werkzeuge aus Fell.
***) Siehe die Erklärung dieses Wortes im Paragraphen von den Wohnungen.
279
Ofenschaufel glich ganz einem jener hölzernen Instrumente, die ich in der
Pfahlbaute von Castione, in der Provinz Parma, entdeckte und für Flachs-
brecher hielt.*) Es könnte also wohl auch eine Ofenschaufel gewesen sein
da die Bewohner jener Pfahlbauten, aus der ersten Bronzeperiode, sicherlich
eine Art Brod sich gebacken haben werden, ähnlich jenem aus den Pfahl
bauten der Steinperiode der Schweiz.
Fleisch. Her Gaucho isst rohes Fleisch, wenn er sehr hungrig isl
und nicht abwarten kann, bis es gekocht sein wird. Um so anstandloser issl
er es roh, wenn ihm das Feuer oder die Zeit zum Kochen fehlt; — und na-
türlich, minder noch haben die Indianer Abscheu vor rohem Fleische. — Ge-
wöhnlich aber essen es die einen wie die andern gebraten, Asado (auszuspr.
Assado). Zu dem Ende spiesst man das Fleisch auf den Asador oder eiser-
nen Bratspiess, und diesen steckt man in den Boden hinein, mehr oder min-
der senkrecht und in der Mitte des Feuers. Das Fleisch wird entweder zu-
vor gesalzen oder wahrend des Bratens mit salzigem Wasser begossen. Auf
Reisen, wenn man, wie gewöhnlich, keinen Bratspiess bei sich führt, spitzt
man einen Stecken zu und dieser vertritt dessen Stelle. Natürlich darf dann
nicht in der Flamme, sondern nur im Kohlenfeuer gebraten werden. Das fette
Fleisch wird vorgezogen, sowohl weil das Fett anstatt der Butter zum Bra-
ten dient, als weil es anstatt der seltenen oder fehlenden stickstofflosen Nah-
rungsmittel aus dem Pflanzenreiche zur Wärmeerzeugung nothwendig ist.* i
— Der Gaucho zieht den Rindbraten allen andern vor,- der Indier hingegen
isst den Pferdebraten lieber, jener einer jungen Stute ist ihm ein Leckerbissen.
Für die Psychologie der Racen ist diese Thatsache nicht ohne Interesse, denn
es ist sonderbar, wie das Fleisch eines eingeführten Thieres gerade die Lieb-
lingsspeise des Indianers seit langer Zeit schon***) geworden ist. — AVenn
das Fleisch eines geschlachteten Thieres nicht bald aufgezehrt werden kann,
und es an Vieh keinen solchen Ueberfluss giebt, dass es erlaubt wäre, das
Fleisch zu verwerfen, so wird es gesalzen, nicht aber geräuchert, sondern an
einem Baume oder sonst wo starke Zugluft weht, aufgehängt und sehr bald
getrocknet. Alsdann heisst es Charque (auszuspi*. Tscharke), vom Quichua-
nischen Worte Chharqui, das gedörrtes Fleisch, magerer Mensch bedeutet.-]-)
Die Indianer Südamerikas assen also vor der Entdeckung dieses Landes der-
*) Mittheilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich. Pfahlbauten, b. Bericht. Zü-
rich 1863. Taf. III, Fig. 5.
**) Der Asado con cuero oder ein Stück Fleisch, das noch mit dem behaarten Felle be-
deckt gebraten wird, soll ein Leckerbissen sein.
♦♦♦) Falkner, op. i it. S. 43 und De la Cruz, op. cit. S. 63. Sonderbarer Weise kann
dieses Factum ein Analogon in der Thierwelt aufweisen. Die einheimischen, argentini-chen, phy-
tophagen Insekten sind über die in Argentinien akklimatisirten Pflanzen hergefallen und zeigen
eine besoadere Vorliebe für dieselben.
t) Charquican heisst ein Gericht, das eben aus gebratenem, klein gehacktem Charque he-
steht, dem Erdäpfel, Kürbisschnitze und anderes Gemüse beigemengt und das mit Pfeffer und
Goldäpfelbrühe gewürzt wird.
280
art zubereitetes Fleisch — und rohes Fleisch, Asado und Charque waren
sicherlich auch die allerersten Speisen unserer Ureltern in der Steinzeit.
Gebräuche. Als Brennmaterial zum Braten des Fleisches werden
nicht nur Holz, Reisig, dürre Kuhfladen und Pferdemist, sondern selbst Kno-
chen verwendet, und manche augebrannte Knochen der Pfahlbauten und
Terramaralager werden wohl auch die Ueberbleibsel eines Bratenfeuers sein.
- Viele, wenn nicht alle Gauchos schneiden nicht das Stück Fleisch,
welches sie in den Mund nehmen wollen, ab, bevor sie es in denselben
stecken, sondern nehmen ein grösseres Stück, schieben davon in den Mund,
was er zu fassen im Stande ist, und schneiden das übrige, den Lippen und
Zähnen entlang, mit ihrem scharfgeschliffenen Messer ab. Es giebt wilde
Völker, die denselben Brauch haben.
Von den Steigbügeln des Gaucho haben wir schon gesprochen. Er hat
und braucht oft gar keine, wie der Indianer. Manchesmal hat er deren nur
einen, um sich in den Sattel zu schwingen. Die Knaben können natürlich,
wenn sie einmal aufs Pferd gestiegen sind, ihre Fussspitzen nicht mehr in
den Bügel schieben. Sie nehmen alsdann die Schnur desselben zwischen die
grosse und die zweite Zehe, und stützen so den Fuss auf den Bügelbogen.
Viele Gauchos behalten diese Jugendgewohnheit, auch wenn sie gross ge-
worden sind, bei, so wie, nach Gratiolet, es auch die abyssinischen Reiter
thun, und dem Gaucho ist das auch dann möglich, wenn er Stiefel an hat,
da seine Botas de potro, wie wir bereits wissen, mindestens die ersten Zehen
unbedeckt und frei lassen. — Ueberdies bedient er sich der Zehen auch, um
Gegenstände von der Erde aufzuheben, ohne sich eben die Mühe zu nehmen,
sich hinabzubücken, d. h. er bedient sich bis zu einem gewissen Grade des
Fusses statt der Hand, wie mehrere barbarische und wilde Völker anderer
Gegenden und Welttheile. Derlei Thatsachen wären Belege für die Hypo-
these, dass der zweihändige Mensch von dem vierhändigen Affen abstamme.
Vieh. Fast alle zahmen Thiere Europas findet man in Argentinien, wie
Katze, Hund, Schwein, Esel, Pferd, Kaninchen, Schaf, Ziege, Ochs unter den
Säugethieren, Taube, Huhn, Pfau, Perlhuhn, Ente, Gans, Schwan unter den
Vögeln. Hier will ich nur von zweien zahmen Säugethi er arten sprechen,
nehmlich vom Schweine und vom Ochsen.
Schwein. — In den südlichen Theilen der Provinz Mendoza habe ich
fast keine Schweine, Chanchos (auszuspr. Tschantschos), gesehen. Demunge-
achtet giebt es deren, wie z. B. in San Carlos, zwei Racen, eine grössere
mit kleinen aufrecht stehenden Ohren, die viel Fleisch und wenig Speck lie-
fert, und eine kleinere mit herabhängenden Ohren, die umgekehrt fetter wird
als jene. In Graubünden habe ich auch zwei ähnliche Schweineracen ge-
sehen, mit dem Unterschiede aber, dass die mit herabhängenden Ohren die
grössere und die andere die kleinere ist. Diese, wie bekannt ist, stammt ver-
muthlich vom kleinen Torfschweine, Sm palustris RüL, und jene vom grosse-
281
ren Wildschwein, Svs scrofa /.in , ab. -- Nach Molina*) wären die Schweine
gewöhnlich weiss in Chili und schwarz in Peru. Derselbe Schriftsteller ist
der Meinung, dass jene Schweine rrichl von Europa eingeführt, sondern in-
ländisch seien, da das Schwein im spanischen Südamerika den oben ange-
führten indianischen Namen führt.
Ochs. — Da auf dem Lande die Ochsen im Freien geschlachtet und
nach Abnahme von Fell und Fleisch liegen gelassen werden, hat es mir
nicht an Gelegenheit gefehlt, Ochsenschädel untersuchen zu können, und ich
habe es zu thun auch nicht unterlassen. Bei einigen Schädeln läuft die Hin-
terhauptskante in fast gerader Linie von dem einen zu dem andern Horn-
zapfen, wie bei Bos primigenius Boj., bei anderen hingegen erhebt sich in der
Mitte der Occipitalwulst ziemlich nach oben, so dass er rasch nach den Horn-
ansätzen abfällt, fast so wie man es bei der Torfkuh, Bos brachyceros Rüt,
beobachtet. Die erstere Schädelbildung habe ich an grösseren, vermuthlich
Ochsenschädeln, die andern bei kleineren, vermuthlich Kuhschädeln beobach-
tet. Jene hatten auch grössere, längere Hornzapfen, die wie bei Bon taurm L.
entschieden nach aussen, vorn, oben und rückwärts gelichtet waren, bei den
kleineren Schädeln waren sie fast nur nach aussen und vom gerichtet. —
Von den Vacas natas (nicht niatas oder natas) oder stumpfnasigen Kühen
der Pampa spricht Darwin in seinen klassischen Werken. — Lichthäutige
Ochsen mit dunklen Querstreifen, wie Zebras, oder getigerte Ochsen sind in
Argentinien nicht selten.
Einwohner. Indianer. - Martin de Moussy vereint alle Indianer-
stämme Argentiniens, vom 34. Grad südl. Br. bis zur Magellansstrasse , in
zwei grosse Gruppen, die Patagones und die Pampas, jene südlich und diese
nördlich vom Rio Negro. Und ich folge dieser Eintheilung, da auch die Ar-
gentiner keine andere kennen. Einige Schriftsteller, dem Laute des indiani-
schen Wortes Pampa, das Ebene bedeutet, folgend, geben den Namen Pam-
pas-Indianer oder Pampeaner allen jenen, welche die eben zwischen dem an-
gegebenen Breitengrade und der Magellanstrasse sich ausdehnende Pampasie
oder Gran Pampa durchwandern, und vereinen mit den eigentlichen Pampas
auch die Patagonier. Andere zählen die Pampas zu den Indianern Paraguays,
obwohl sie von diesem Lande durch einen von einer civilisirten Bevölkerung
bewohnten Raum von vier Breitengraden getrennt sind. Diese Schriftsteller
haben sie vielleicht verwechselt mit den Eingebornen des Gran Chaco (aus-
zuspr. Tschako), einer ausgedehnten Ebene im Westen von Paraguay, die
man also auch eine Pampa nennen könnte.**) — Auf der Reise vom Planchon
nach Mendoza habe ich keine unabhängigen Indianer gesehen, obwohl ich
über zwei Tage lang, von Los Animas bis Agua de los Castanos, längs der
Grenze des Gebiets der freien, wilden Pampas reiste. Bei Agua caliente
*) Molina, op. cit S 22G.
'*) Näheres in den schon angeführten Material] di paletnologia, S. 11 u. \'2.
282
fürchtete ich wohl, dass unser Lagerfeuer während der Nacht das Augenmerk
irgend einer Indiada oder Indianertruppe auf uns ziehen könnte, und meine
Furcht war eben nicht ungegründet, denn kurze Zeit nach meiner Durchreise
kamen jene Wilden in einer Streiferei bis zur nahen Laguna blanca, die ent-
fernter und westlicher von ihrer Grenze gelegen ist als Agua caliente, zer-
störten eine seit kurzem dort angelegte Estancia oder Meierei und raubten
deren Vieh. Und hätten sie uns erspäht, so würden sie uns überfallen haben
und ich würde wohl schwerlich jetzt diesen Aufsatz schreiben, da sie, nach
dem Rechte der Gegenseitigkeit, alle weissen Männer tödten und nur deren
Frauen und Kinder gefangen mit sich führen; und weil unser drei, zusammen
mit nur drei Messern, zwei Pistolen und einem Revolver bewaffnet, unmög-
lich uns gegen dreissig oder mehr solcher Mordskerle hätten wehren .können,
schwerlicher noch ihnen entfliehen. Sonst hätte ich nicht ungern, selbst als
Gefangener, ihre persönliche Bekanntschaft gemacht, um ihre Sitten und Ge-
bräuche studiren zu können. Bei solchen Umständen aber zog ich es vor,
mich mit dem Besitze zweier ihrer Schädel zu begnügen.*) Beide Schädel
gleichen sich , selbst in der grösseren Entwicklung des linken Scheitelbeins
im Vergleich zum rechten, was den Schädel, von oben gesehen, asymmetrisch
erscheinen lässt; in der Grösse sind sie etwas weniges verschiedeu. Sie ge-
hören dem brachykephalen Typus an, und ihr Gesichtswinkel misst 72 Grad.
In der Form der Hirnschale und vorzüglich des Hinterhauptbeins nähern sie
sich dem Typus von Disentis (Germaneukopf), aber in der Enge des Kopfs,
in der Entwicklung der Augenbrauenbögen und in der Vertiefung der Nasen-
wurzel gleichen sie mehr dem Typus von Sion (althelvetische Form). Von
ihnen unterscheiden sich die von mir gesammelten Patagonierschädel vorzüg-
lich durch die Hypsokephalie; ihr Gesichtswinkel misst 78 Grad.**) — Die
Farbe der Pampas ist grau-grün-gelb-bräunlich; Mantegazza***) vergleicht
sie mit der Farbe des thonigen Schlammes oder des lohgaren Leders. Mit
dieser Färbung vergleicht Henself) auch die Farbe der Coroados Brasiliens.
*) Diese hatten zweien Individuen angehört, welche in einem Scharmützel gefallen waren,
das sie vier Monate früher mit den argentinischen Trnppen bei einem ihrer Einfälle in die nörd-
licher gelegene Provinz San Luis gehabt hatten. Ich verdanke sie der Güte des Statthalters
jener Provinz , Don Justo Darak. Als ich ihm meinen Wunsch ausgesprochen hatte, einige In-
diarierschädel mir zu verschaffen, so schickte er einen jener Soldaten, die gegen jene Pampas
gekämpft hatten, auf das Schlachtfeld, und dieser hieb zweien der dort unbeerdigt liegen geblie-
benen und grösstentheils schon verwesten Indianerleichen die Köpfe ab und brachte sie mir
noch theilweise mit der eingeschrumpften, dürren Haut und mit Haaren bedeckt. Ich habe diese
Schädel in den schon angeführten Viaggi nell' Argentinia, I. Bd., 1. Heft, nach Tatti's Photo-
graphien abbilden lassen, und sie sind nun mit andern von mir gesammelten südamerikanischen
Schädeln im Museo craniologico nazionale in Turin aufgestellt.
•) Sie sind in den Atti della Societä Italiana di Scienze Naturali in Milano, Vol. X, 1867,
Taf. I, nach Photographien abgebildet worden und ebenfalls im Museo craniologico in Turin
aufbewahrt.
**♦) Mantegazza, op. cit. II. Bd., p. 297.
t) Uensel — Die Coroados der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul. In der Zeit-
schrift für Ethnologie, I, S. 128. — Berlin 18G9.
283
Mit Ausnahme einiger Indianerstämme Nordamerikas scheinen alle anderen
Indios keine Rothliäute zu sein. Ihr Kopf ist verhältnissmässig nicht klein.
Das Haar ist schwarz, nicht foin , straff, von mittlerer Länge und fällt fast
dachförmig vom Scheitel herunter. Die Stirn ist nicht hoch, die. Nase breit.
Das Gesicht ist etwas breit und die Backenknochen sind mehr oder weniger
vorstehend, so dass das ganze Gesicht an den mongolischen Typus erinnert,*)
obwohl eine schiefe Stellung der wenig offenen Augen sich kaum bemerken
lässt. Nur wenige Barthaare wachsen um die Lippen und ums Kinn des
Pampa, allein aus Schönheitssinn rupft er sich dieselben mit einer Kneipzange
aus. Nach Mantegazza**) lassen sich einige Pampas eine sehr schmale Linie
davon oberhalb der Oberlippen wachsen. Ihre Zähne sind kaum schärfer ge-
stellt als bei Weissen. Von Gestalt sind sie kräftig, eher klein, manches
Mal stämmig und fett, andere Male dünn und hager. Die Weiber sind stets
klein und nicht unschön. Beide Geschlechter zeichnen sich, wie alle India-
ner, durch kleine Hände und Füsse aus. — Das Gesicht der Weiber hat ge-
wöhnlich einen sanften Ausdruck, das der Männer ist apathisch und drückt
manchmal Gemeinheit, andere Male selbst Grausamkeit aus. — Von der In-
telligenz, vom Charakter und Temperamente, von den Sitten und Gebräuchen,
von der Religion, von der Industrie, sowie von der eben nicht anziehenden
Art, wie die sogenannte Civilisation an die Indianer herangetreten ist und
die civilisirten Menschen sie behandeln, werde ich in einem andern Auf-
sätze sprechen. Hier will ich nur bemerken, dass man die verehelichte India-
nerfrau von der ledigen an der Stecknadel, womit sie ihr Ueberwurftuch auf
der Brust befestigt, unterscheidet; denn bei ihr vertritt eine grosse Metall-
scheibe die Stelle des Nadelkopfes. Von dieser Stecknadel hängen metallene
oder Glasperlen-Schnure herab, an deren Ende allerlei Münzen und Medail-
len angebracht sind.***). So geziert, sagt De Mortillet,f) haben diese Brust-
nadeln grosse Aehnlichkeit mit gewissen alten Fibeln von Hallstatt.
*) Und weil an den Mischlingen zwischen Ein^ebornen und Weissen noch die Spuren
jenes Typus erkenntlich sind, nennt man sie in den südlichen Provinzen Argentiniens Chinos
(auszuspr. Tsehinos), d. h. Chinesen, in den nördlichen Provinzen heisst man sie Cholos (aus-
zuspr. Tscholos).
**) Mantegazza, <>p. cit. II, p. 30t).
***) Siehe Yiaggi nelT Argentinia u. s. w., I Bd , -2. Heft, Tat'. 1.
t) De Mortillet, Materiaux pour l'histoire primitive et philosophique de l'homme. Pari>
1868, IV, p. 242.
284
Die Indier des südlichen Chile von sonst und jetzt.
Vortrag gehalten in der anthropologischen Gesellschaft am 2. April d. J.
von Dr. Fonck.
Das Gebiet, auf welches sich meine direkten Beobachtungen und Erfah-
rungen beziehen, umfasst die Provinzen Chiloe, Llanquihue und Valdivia.
Dieselben erstrecken sich vom 38. Grad bis zum 43. Grad südl. Br. an der
Westküste des Grossen Oceans entlang; nördlich schliesst sich an sie das
Gebiet der unabhängigen Araukaner. Innerhalb dieses Theiles von Chile fin-
det der für die Configuration des Landes so bedeutungsvolle Uebergang vom
Festlande zu den Inseln statt, indem nämlich das grosse Längsthal unter das
Niveau des Meeres herabsinkt, während die Küsten-Cordillere als Inselkette
aus demselben hervorragt und der Fuss des Andes-Gebirges von da ab bis
zum Cap Hörn von ihm bespült wird. Das Klima ist milde; in Folge der
kalten Meeresströmung, welche die Küste trifft, sogar verhältnissmässig kühl;
die Regenmenge ist sehr bedeutend, in Valdivia und Chiloe wahrhaft exces-
siv. Einige grössere Flächen im Araukaner Gebiete und einzelne durch Cul-
tur gewonnene Strecken abgerechnet, ist das ganze Land mit einem undurch-
dringlichen, immergrünen Urwalde bedeckt. Ferner erinnere an mehrere grös-
sere Seen, welche diese Provinzen schmücken und das celossale Anden-Ge-
birge mit seinen Vulkanen und Schneebergen, welches sie überragt. Endlich
erwähne in Betreff der Geologie, dass, abgesehen vom vulkanischen, pluto-
nischen und metarnorphischen Gestein der Anden und Küsten-Cordillere, alles
Uebrige der Tertiär-Formation angehört. Der Theil davon, den ich in der
Umgebung von Puerto Montt beobachtet habe, scheint zur sogenannten Drift-
Periode, d. h. zur jüngsten Abtheilung der Pliocene-Formation zu gehören.
Es scheint, dass die einheimische Bevölkerung von ganz Chile ein
und demselben Stamme angehörte: sie waren wenig zahlreich, setzten der
Eroberung geringen Widerstand entgegen und haben sich mit den Abkömm-
lingen der spanischen Eroberer und Kolonisten derart vermischt, dass sie
nicht mehr kenntlich sind. Die durch Volksmenge und Tapferkeit ausgezeich-
neten Stämme südlich vom Maula haben bis zum Archipel von Chiloe und
wahrscheinlich noch weiter nach Süden dieselbe Sprache. Wir finden hier
zunächst am Ufer des Maule die längst verschwundenen Promaucans, von
denen nur so viel bekannt ist, dass sie den Peruanern und Spaniern tapferen
\\ Hierstand leisteten. Südlich von ihrem ehemaligen Gebiete wohnen die be-
rühmten Araukaner; östlich von letzteren die Pehuenchen, welche ur-
sprünglich die Cordillere bewohnten und von den Früchten der Araukaria-
Fichte („Pehuen'1) lebten - daher ihr Name — jetzt aber mit den Pual-
285
ches, einem Stumme derselben Familie, vereinigt, die Pampas bis zum Rio
Negro im Süden bewohnen. An die Araukaner sehliessen sich die Cuncos
in den Provinzen Valdivia und Llanquihue und an diese die Chiloten. Die
Araukaner und die Pehuenchen fasst man wohl unter dem Namen der Mo-
luches, die Cuncos und Chiloten unter dem der Huiliches zusammen,
während die Araukaner selbst Epicuntus oder Picunchcs, die Cuncos
auch Mapunches genannt werden. Auf die Deutung dieser verschiedenen
Namen hier einzugehen, würde zu weit führen Nur sei bemerkt, dass der
Name Araukaner, welcher von den Spaniern den Picunches beigelegt wor-
den, kein Volksname ist, sondern sich nur auf die Bewohner der Landschaft
oder des Gaues Arauco bezieht, welcher der Grenzhauptstadt Concepcion zu-
nächst lag.
Die Araukaner kenne nicht aus eigner Anschauung: ihre Geschichte,
Sitten und Eigentümlichkeiten zu schildern, würde eine besondere Aufgabe
sein, die mir hier fern liegt. Ich beschränke mich darauf, flüchtig auf einige
Gebräuche aufmerksam zu machen, die bei einem Vergleiche mit denen des
Urzustandes anderer Völker vielleicht von besonderem Interesse sein könnten.
Ihre Waffen bestanden ursprünglich in Pfeilen und Bogen, welche man
bei allen Stämmen bis zum Feuerlande herab findet, ferner in sogenannten
„Macanas" (eine Art Streitkolben oder Keulen), in Piken und „Lazos"
(Wurfschlingen) aus Schlingpflanzen gemacht. Jetzt ist das ganz anders; viel-
leicht schon seit 150 bis 200 Jahren ist die Lanze ihre vorzüglichste, wenn
nicht einzige Waffe. Diese vollständige Umgestaltung in der Art ihrer Krieg-
führung, ja ihrer ganzen Lebensweise wurde veranlasst durch die Einführung
des Pferdes. Waren sie anfangs dem Häuflein der Eroberer durch ihre grosse
Zahl furchtbar gewesen, so wurden sie es später durch ihre Schnelligkeit und
Flüchtigkeit. Im Jahre 1685 — 44 Jahre nachdem die Spanier zuerst festen
Fuss in Chile gefasst hatten — führte der junge Toqui Noncunahuel die
erste 150 Mann starke Reiterschaar ins Feld. Ich kann nicht umhin, bei die-
ser Gelegenheit auf den merkwürdigen und von Grund aus umwälzenden Ein-
fluss aufmerksam zu machen, den das Pferd auf die indischen Volksstämme
Nord- und Süd-Amerikas überall da gehabt hat, wo die Bedingungen zu sei-
nem Gedeihen vorhanden waren, also in den Länder-Gebieten mit waldlosen
und nicht allzu hoch gelegenen Ebenen. Es ist höchst interessant, dass der-
selbe in vollständig getrennten Ländern der gleiche gewesen ist. So finden
wir in der südlichen Hälfte Süd-Amerikas die Araukaner, Pehuenchen, Paui-
pas-Indier, Patagonier u. s. w., welche eine den Beduinen, Kirgisen und an-
dern zu Pferde nomadisirenden Völkern der alten Welt ähnliche Lebensweise
angenommen haben, und ganz ebenso in Nord-Amerika die Apaches, Coman-
ches, Sioux und andere. Ohne das Pferd würden diese Völker längst dem
Einflüsse der Civilisation unterlegen sein, so aber ist es ihnen gelungen, sich
zu erhalten, sich den Weissen durch ihre Raubzüge noch bis heute furchtbar
286
zu machen und dabei in grösserer Zahl ihre Wohnsitze auf Gegenden auszu-
dehnen, die ohne das Pferd unbewohnbar sind.
Die oben erwähnten Waffen (Keulen und Piken) waren vermuthlich von
Holz. Der Dichter Ereil la erwähnt auch Aexte, doch waren diese jedenfalls
wenig gebräuchlich uud wissen wir nicht, von welchem Material sie gewesen
sind. Dagegen führten die Toquis oder obersten Heerführer im Kriege, eine
Art Diktatoren, welche aus den Tüchtigsten des ganzen Volkes gewählt wur-
den, als Zeichen ihrer Würde eine schwarze marmorne Axt.*) Was den Mar-
mor betrifft, so möchte dies bezweifeln, da man bis jetzt noch keinerlei Kalk-
stein im südlichen Theile von Chile gefunden hat. Wahrscheinlich war diese
Insignie von demselben schwarzen Stein, vielleicht Basalt oder Melaphyr, von
dem auch mehrere andere indische Gegenstände gesehen habe.
Zu den barbarischen Kriegsgebräuchen der Araukaner gehörte auch der,
aus den Schienbeinen der erschlagenen Feinde Flöten zu machen und ihre
Schädel bei festlichen Gelagen als Trinkgefäss zu gebrauchen. Das letz-
tere erinnert an den gleichen Gebrauch bei den Gothen und Longobarden,
wenn ich nicht irre.
Um ihre Feinde zu schrecken, nahmen sie auch aus Holz geschnitzte
Masken vor; ich habe einige dieser Masken gesehen, welche recht sauber
gearbeitet waren.
Ein sowohl den Araukanern als auch den Pehuenches und Huilliches
gemeinschaftlicher Gebrauch ist das Chuera oder Linao-Spiel, welches
mit dem englischen Crickett die grösste Aehnlichkeit hat, man möchte sagen
identisch ist.
Die Araukaner und Cuncos rauchten Tabak. Ob die gewöhnliche Ta-
bakpflanze oder eine der einheimischen Species von Nicotiana, lässt sich
nicht bestimmen. Ein Schriftsteller über Chile versichert, dass ihr Tabak viel
stärker sei wie der gewöhnliche. Daher mag es kommen, dass die Pfeifen,
woraus sie rauchen, einen so kleinen Kopf haben. Doch erinnere daran, dass
auch die in Süd-Amerika allgemein gerauchten Papier-Cigarren viel kleiner
sind, als die bei uns gebräuchlichen „Puros", ohne dass darum der Genuss
und die Leidenschaft dazu dort geringer wären. Jetzt haben diese Indier kei-
nen andern Tabak als den, welchen sie von den Weissen erhandeln.
Zur Zeit der Spanier hatten alle diese Indier als Hausthier das „Chili-
hueque'", dessen Wolle sie spannen und welches sie bei Festen opferten.
Es gehörte zur Familie der Kameel-Schafe ; man hatte es in verschiedener
Farbe und Zeichnung, gerade wie die Peruaner noch jetzt das Llaiua uud
vermuthlich ist es mit diesem, welches, wie es scheint, als das gezähmt»1
Guauaco zu betrachten ist, identisch. Jetzt ist das Chilihuoque längst aus-
gestorben und an seine Stelle unser Schaf getreten. Einige Getreide- Arten,
*) Diese Axt führte ebenfalls den Namen Toqui; sie wurde im Lager als Feldzeichen in
die Erde gesteckt, war also vermuthlich lang gestielt.
287
die sie angebaut haben sollen, sind ebenfalls abhanden gekommen und durch
die europäischen verdrängt, worden; nur die Kartoffel, dieses köstliche Pro-
dukt der Westküste von Süd-Amerika, ist geblieben.
Die Cuncos,*) obgleich ursprünglich nicht minder tapfer und zahlreich
wie die Araukaner, haben ihre Nationalität nicht 60 gut zu bewahren gewusst.
Nach der Zerstörung der Städte Valdivia und Osorno und der Vertreibung
der Spanier (1602) durch dieselben konnte die nächste spanische Ansiedelung
Chiloe, wo Rindvieh selten ist, ihren etwaigen Raubzügen nichts bieten; auch
ist die Wald- Vegetation in diesen Provinzen so ausserordentlich mächtig, dass
die Wege, nachdem die Verbindung mit den Spaniern aufgehört hatte, sehr
bald davon überwuchert wurden, so dass ein schnelles Vordringen zu Pferde
ganz unmöglich war und die Uebergänge über die Cordillere nach den Pam-
pas bald aufhörten gangbar zu sein. Auch wirkten die Pocken und andere
epidemische Krankheiten wahrhaft verheerend unter ihnen, so eine grosse
Seuche im Jahre 1638 (ßrouwer), welche ein Drittel der Bevölkerung hin-
raffte. So finden wir denn dieselben in geringer Zahl und friedlich lebend in
der Provinz Valdivia und in dem nördlichen Theile von Llanquihue, und so
ist es wohl auch gekommen, dass der ganze südliche Theil des Festlandes
von Osorno bis Puerto Montt, in dessen Mitte der See Llanquihue liegt, den
sie früher ebenfalls inne gehabt hatten, gänzlich unbewohnt war, als die deut-
schen Colonisten sich dort ansiedelten. Diese fanden dagegen dort viele und
mannigfache Reste dieses zahlreichen und fleissigen Volksstammes, von denen
mehrere gesammelt und mitgebracht habe.
Ausser diesen gleich vorzuzeigenden Gegenständen fanden sich eine in
den weichen Saudstein gehauene Wohnung,**) sehr viele Feuer stellen,
Kohlen, Spuren von Wegen, Gräben, Brücken, künstlich gefassten Quel-
len, einzelne Dinge von Eisen, so ein Meissel, ein Theil eines Steigbügels,
viele irdene Töpfe***) zum Kochen und auderm häuslichen Gebrauche, viele
sogenannte „ Ha rina" -Steine, auf welchen der mit heissem Sande geröstete
Weizen zu „Hanna" zerrieben wird, welche eins der vorzüglichsten Nahrungs-
*) Vergl. eine sehr anziehende Schilderung derselben von Professor R. A. Philippi in San-
tiago im Auslande 1869, No. 9 und 10.
**) Der Kolonist A. Püschel fand (1860) in der Nähe des sogenannten kleinen Hafens an
der Ostseite des Sees Llanquihue einen durch einen schmalen Hügelzug mit senkrechten Wan-
den gehaueneu niedrigen Gang, welcher zu einer kleinen Fläche ebenen und trockenen Landes
führte, die ringsum von steilen Abhängen und nach dem Ufer zu von Sumpf begrenzt, also
sonst von allen Seiten unzugänglich war. In der einen Bergwand fand sich eine vorn weit offene
Höhle, eine frühere indische Wohnung, mit einer Fenerstelle und vielen Strichen und anderen
nicht zu deutenden Zeichen an den Wänden. In dein Gange lagen zwei irdene Tupfe.
***) Die grosse Zahl irdener, noch brauchbarer Töpfe und Krüge, welche man 'gefunden bat,
bedürfen, wie es scheint, einer besonderen Erklärung. Man könnte daraus schliessen, dass diese
Bevölkerung ihren Wohnsitz plötzlich verliess und dabei genöthigl war, ihr Hausgeräth im Stich
zu lassen. Dagegen wäre allerdings zu bedenken, dass der Transport so zerbrechlicher Dinge auf
diesen Waldwegen schwierig ist und demnach dieses Geschirr auch mit Vorbedacht zurückge-
lassen worden sein kann.
288
mittel ist und noch jetzt die Stelle des Brodes vertritt und namentlich ein
haltbarer und unentbehrlicher Reiseproviant ist. Auch erhielt von dort eine
sehr- zierlich gearbeitete Pfeilspitze von schwarzem Stein; dieselbe war
last 2 Zoll lang und wenig über £ Zoll breit. Die Pfeilspitzen, welche vom
Feuerlande gegehen habe , waren von durchsichtigem Stein oder Glase und
breiter und kürzer. Ferner erhielt von verschiedenen Fundorten zwei ganz
bleiche Kugeln von der Grösse eines kleinen Apfels, von demselben schwar-
zen Stein, sauber gearbeitet und geglättet. Ich habe nicht in Erfahrung brin-
gen können, wozu dieselben gedient haben mögen; zu Wurf kugeln („Bolas,
Laques"), welche als Waffe und zum Erlegen der Thiere auf der Jagd noch
jetzt von Pehuenchen und andern Stämmen gebraucht werden, sind sie einer-
seits zu klein, andererseits ist auch die sorgfältige Bearbeitung dazu durch-
aus überflüssig. Eine Indierin erzählte mir, dass die Zauberer („Brujos, Ma-
chis") ihres Volkes solchen Kugeln Feuer und Funken entlocken — also eine
elektrische Erscheinung — relata refero. Endlich erwähne noch, obgleich
diese nicht selbst gesehen habe, alte Befestigungs-Anlagen mit Gräben
und Wällen in den verschiedensten Theilen des Landes, auch an Orten, wie
auf den Huaitecas-Inseln, wo sie nicht von den Spaniern herstammen können;
sowie auf die Spuren ehemaliger Goldwaschereien u. s. w.
Diese Reste gehören theils einer Periode vor Ankunft der Spanier, als
diese Indier sich noch ihrer einfachen Steinwerkzeuge bedienten , theils der
nächsten Zeit nach der Eroberung an. Ihre Frauen spannen sehr fleissig, wie
die vielen Spinnwirtel beweisen: von einem Kolonisten erhielt b Stück der-
selben auf einmal. Ueberhaupt waren die von ihnen hintex-lassenen Gegen-
stände recht sauber gearbeitet; die Steine dazu wussten sie sich aus grösse-
rer Entfernung zu beschaffen und jedes Werkzeug war aus einer besonderen
Steingattung gearbeitet. So waren die Harina-Steine aus einem Blasen ent-
haltenden Steine, ganz ähnlich den Nieder-Mendiger Mühlsteinen, wodurch
sie bei der Abnutzung immer scharf blieben.
Als einen in der That seltsamen Fund muss noch folgenden erwähnen.
Der 3 Meilen breite Isthmus, welcher den See Llanquihue von der Seeküste
bei Puerto Montt scheidet, besteht aus stufenförmig über einander liegenden
Ebenen bis zu etwa 1 Meile Entfernung vom See, wo ein unregelmässiger
Höhenzug auftritt, welcher bis in die Nähe des Sees streicht und dann eben-
falls terrassenförmig zu demselben abfällt; zu beiden Seiten dieser Hügel
setzt sich die Ebene bis in die Nähe des Sees fort, ohne ihn jedoch zu er-
reichen. Auf dieser Fläche wachsen mehr als 1000 jährige Alerce - Bäume,
während der Höhenzug ebenfalls höchst corpulente Bäume trägt. Letzteren,
der von Norden nach Süden streicht, habe mir öfter als die Moräne eines
früheren, aus der Cordillere hervortretenden riesigen Gletschers vorgestellt.
Etwa in der Mitte desselben und fast auf der Höhe grub ein Kolonist einen
Brunnen und stiess dabei in der Tiefe von 22 Varas — etwa 60 Fuss — auf
einen irdeuen Topf derselben Art, wie mau sie jetzt dort sowohl noch in
289
Gebrauch hat — als auch, wie eben erwähnte, zuweilen verlassen findet. Die
untere Hälfte des Topfes steckt noch jetzt in der Wand des Brunnens. Da
die Vorrichtung zum Herablassen in den Brunnen nicht die beste war, so
habe es allerdings nicht mit eignen Augen constatirt, allein ich zweifle durch-
aus nicht an der Wahrheit; einige der herausgebrachten Scherben habe selbst
gesehen. Im Falle es für wichtig gehalten werden sollte, das Faktum genauer
festzustellen, wird mein werther College und Nachfolger Dr. C Martin in
Puerto Montt dies gewiss gern besorgen. Es ist nicht anzunehmen, dass Men-
schen den Topf in eine solche Tiefe vergraben haben und war auch keine
Spur davon zu erkennen. Man kann also kaum anders annehmen, als dass
dieser Topf vom Wasser erfasst zum Geschiebe geworden ist und dann glei-
ches Schicksal mit dem Gerolle hatte, das über und unter ihm liegt. Hier-
nach wäre das Alter desselben ein unglaublich hohes und dürfte er zu den
ältesten bekannten Funden menschlicher Thätigkeit gehören. Nötigenfalls
würde bereit sein, einige Notizen über die Geologie und Configuration der
nähern Umgebung jenes Fundortes zu geben.')
Nach Süden zu forschreitend, finden wir am Ufer des Golfs von Re-
loncavi dieselben Spuren einer untergegangenen Bevölkerung: auch dort
findet man die Steinmeissel und Krüge aus Peru verlassen im Walde liegend
und Furchen, wo früher Kartoffeln gebaut worden waren, auf jetzt bewalde-
tem Lande. Das Gleiche scheint auf der Insel Chiloe' der Fall zu sein. Da-
gegen begegnen wir einer neuen Erscheinung: die vielen Inseln und lang-
gedehnten Küsten und Kanäle beherbergen eine Menge essbarer Schal-
thiere, ausserdem Fische, Krebse, Seesterne u. s. w , kurz alle Produkte
des Meeres in reichlichstem Maasse. Die Bevölkerung hat dort von uralten
Zeiten her das Meer als Nahrungsquelle ausgebeutet. Auch jetzt noch, wo die
Bewohner Ackerbau (vorzüglich Kartoffeln) und Viehzucht (Schweine, Schafe)
treiben, siedeln sie sich dennoch fast nur in unmittelbarer Nähe des Ufers
an, um täglich ein oder zwei Mal zur Zeit der Ebbe Schalthiere zu sammeln.
An Punkte, wo dieselben besonders reichlich vorhanden sind, ziehen sie mit
ihren Booten hin, um dort grösseren Vorrath davon zu machen. In früheren
Zeiten lebten sie ohne Zweifel hauptsächlich von dem Ertrage des Meeres
und ich glaube, dass sie in der Urzeit einzig und allein darauf angewiesen
waren und dass sie ursprünglich dieselbe Lebensweise führten wie ihre Nach-
barn, die jetzt ausgestorbenen Chonos-Indier und wie noch jetzt die
Feuerländer, welche bekanntlich mit ihren Kanoes aus Rinde nomadisirend
von einer Uferstrecke zur andern ziehen. Da aber Chiloe fruchtbares Land
hat, war es leicht, dass sie von ihren Nachbarn des Festlandes den Acker-
bau lernten, was bei der Beschaffenheit der Chonos-Liseln und des Feuer-
landes unmöglich gewesen wäre, wo für uneivilisirte Menschen in der That
") Dieser Bruuueii liegt beim Hause des Kolonisten Mädinger am Wege von Puerto Montt
nach dem See.
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang ls7u. 20
290
keine andere Art der Existenz denkbar ist. Diese frühere Lebensweise scheint
sich auch in dem Typus der Chiloten auszusprechen, denn obgleich mit
ihren festländischen Nachbarn von einer Sprache, unterscheiden sie sich von
ihnen durch noch etwas niedrigere Statur, niedrigere Stirn, plumpen Fuss
und eingedrückte Nasen, während wir bei jenen meist Adlernasen, stärker
vorspringende Backenknochen und einen zierlich gewölbten Fuss linden. Auch
zeigen die Chiloten, verglichen mit den Araukanern und frühern Cuncos, eine
grosse Verschiedenheit im Charakter; während diese Waldbewohner kriege-
risch, ernst und stolz sind, sind jene Insulaner unterwürfig, friedlich und zu-
vorkommend und haben kaum je gegen die spanischen Eroberer rebellirt.
Sehr anregend dürfte die Untersuchung der Frage sein, inwiefern die ge-
schilderte Lebensweise und vor Allem der beständige Genuss von Sckal-
und andern Seethieren die erwänte Harmlosigkeit des Charakters der Chilo-
ten, im Gegensatz zu dem hochfahrenden Temperament ihrer sprach- und
stammverwandten Nachbarn, von Einiluss ist. Ich glaube, dass die Chiloten
sehr grosse Aehnlichkeit mit den Feuerländern haben und vielleicht ursprüng-
lich von einem Stamme mit ihnen sind. Interessant ist, dass an der Küste
der Wüste von Atacama, am äussersten Nordeude von Chile, ein kleiner
Volksstamm von nicht vollen 500 Seelen, der längst seine Sprache vergessen
hat, die Changos,*) noch jetzt dieselbe Lebensweise wie die frühem Chi-
loten und die Feuerländer führen, indem sie von Strand zu Strand ziehen,
um Schalthiere zu sammeln, zu fischen u. s. w. Ich halte es für wahrschein-
lich, dass in vergangenen Zeiten dieser auf das Meer angewiesene Volksstamm
die ganze Küste von Chile entlang lebte und also muthmasslich sich von der
Grenze der heissen Zone bis an das äusserste Ende Süd-Amerikas erstreckte.
Es gehören demselben zugleich die am meisten nach dem Südpol zu vorge-
schobenen Bewohner der Erde an. So ist es also äusserst merkwürdig, dass
dieselben viele nicht zu verkennende Analogien mit den andern Endbewoh-
nern der Erde auf der nördlichen Halbkugel, den Eskimos, bieten.
Um zu den jetzigen Chiloten zurückzukehren, bemerke, dass alle Chri-
sten sind und ihre Sprache vollständig durch die spanische verdrängt ist, so
dass nur noch einzelne alte Leute dieselbe verstehen. Neben der Physiogno-
mie kennzeichnen ihre Namen den indischen Ursprung.
In Chiloe hatte Gelegenheit, die Anfertigung der irdenen Töpfe,
welche jetzt noch ebenso wie vor Zeiten im Gebrauch sind, zu sehen. Sie
geschieht ohne Töpferscheibe: der angemachte Thon wird mit einem grob-
körnigen Pulver, welches man durch Zerstossen von stark glimmerhaltigen
und vorher in Feuer geglühten Granitsteinen erhält, gemischt — alle alten
Topfscherben enthalten diese Beimischung und soll in der That der beste
Thon ohne dieselbe unbrauchbar sein. Aus dem so zugerichteten Teige rol-
leu sie lange, wurstähnliche Rollen mit den Händen aus, nehmen darauf ein
*) Siehe die Reise io die Wüste von Atacama von Prof. R. A. Plnlippi.
291
rundes, glattes Stück zum Boden des Topfes und legen auf den Rand eine
jener Rollen rund herum, indem sie mit den Fingern das Stück seitlich platt
drücken und die Fugen zusammenstreichen. Darüber legen sie dann ebenso
eine zweite Rolle, auf diese eine dritte und so fort, bis das Gefäss im Rohen
gebildet ist; dann werden noch die Fugen zwischen den Rollen in- und aus-
wendig mit einer Culerg genannten Muschel geglättet und schliesslich die
Töpfe im Rauche getrocknet und am offnen Feuer gebrannt
Interessanter und wichtiger noch sind die mannigfachen Eigenthümlich-
keiten, welche der Verkehr der Chiloten auf dem Meere zwischen ihren In-
seln und am Ufer desselben ergiebt. Hierhin gehören besonders ihre früheren
Fahrzeuge, Piraguas genannt, deren Beschreibung hier zu weit führen
würde, vor Allem aber die gewaltigen Haufen und Bänke von Muschel-
schalen, welche man am Ufer findet, die ganz genau eine Wiederholung
der „Kjökenmöddings" der dänischen Inseln sind. Dieselben entstanden da-
durch, dass die Bewohner an gewissen, besonders geeigneten Stellen die ge-
sammelten Schalthiere zubereiteten und verzehrten. Die Zubereitung geschieht
in sogenannten „Curantos", in welchen die Muscheln, Fische, Kartoffeln
und Speisen jeder Art durch im Feuer erhitzte und dann mit Erde bedeckte
Steine gar gekocht oder vielmehr gebacken werden. Jene grossen Muschel-
bänke, welche wohl bis zu 20 Fuss Höhe und 100 und mehr Fuss Länge
vorkommen mögen, sind nach und nach durch solche Curantos*) entstanden.
Man findet daher in ihnen ausser den Schalen der vorzüglichsten essbaren
Muscheln (Species von Venus, Mytilus und Solen) rundliche Steine, Kohlen
und verkohltes Holz, Knochen von Fischen, Schalen von Seeigeln, Krebsen
u. s. w. und nicht selten auch ganze Gerippe und Schädel. Diese Bänke sind
gewöhnlich mit uralten, riesigen Bäumen bewachsen, zwischen denen die neue
Generation noch fortfährt, Curantos zu machen. Kleinere Curantos und Muschel-
haufen findet man bei jedem Hause. Ich glaube, dass Darwin diese selben
Muscheln als von der Erhebung des Landes über das Meer herrührend be-
trachtet, was für irrthümlich halte; ich habe in einem Aufsatze in Petermann's
Mittheilungen (18G6) etwas darüber rnitgetheilt.
Die schon erwähnten, jetzt ausgestorbenen Chonos-Indier, südlich von
Chiloe, hatten die eigenthümliche und den übrigen Indiern Chiles fremde
*) Die Gestalt dieser früheren Curantos ist sehr charakteristisch und überraschend, sie
gleicht genau einem Vulkan en miniature mit sehr sanft ansteigenden Wänden und bildet eine
hauptsächlich aus Muschelschalen bestehende Erhöhung von verschiedener Höhe, in deren Mitte
sich eine mulden- oder nabeiförmige, runde Vertiefung befindet, deren Grund unregelmäs
durch darin liegende rundliehe Steine von durchschnittlich Faust-Grüsse. Sind die Muschelthiere
in einem solchen Backofen — unstreitig die älteste und einfachste Art desselben — weich Lre
worden, so verspeist sie die Familie rinus herum sitzend, wobei die leeren Schalen rings um die
in der Mitte gelegene und durch Herausnahme des Inhalts etwas vertiefte Feuerstelle liegen blie-
ben, unter welchen dann wohl noch die Hunde und Schweine eine Nachlese halten. Wo sich,
wie in den erwähnten Muschelbänken, diese Curantos über- und nebeneinander gehäuft haben,
ist ihre Form nicht mehr so deutlich. Später sind diese Stellen, ausser durch ihre Form, auch
durch den hellgrünen Rasen, der sie bedeckt, und einzelne Kalk liebende Pflanzen kenntlich
20*
292
Sitte, ihre Todten, in Rinde von „Cipres" (Libocedrus tetragona) gehüllt, in
Höhlen beizusetzen, wo sie zu Mumien vertrockneten. In Betreff ihrer Werk-
zeuge erwähnt ein spanisches Dokument vom Jahre 1729, dass sie von Stein
sind und dass sie von diesem Material Aexte, Hohlbeile (üechsel), Meissel und
Messer haben. Als Waffen scheinen also diese Art Werkzeuge nicht gedient
zu haben.
Ein Russe, der diese Inseln vielfach besucht und durchstreift hat, er-
zählte mir, dass er eine steinerne Schüssel und eine Vorrichtung zum
Schärfen der Steinmeissel auf denselben gefunden habe.
Ich komme endlich zur Besprechung der von mir mitgebrachten Gegen-
stände.
Unter den zumeist im Gebiete der Cuncos gefundenen Dingen erwähne:
1) Einen sehr beschädigten Schädel, Reste eines Gerippes und ein
kleines Töpfchen, zusammen gefunden auf einer deutschen Farm im Frutil-
lar am See Llanquihue in einiger Entfernung vom Ufer desselben, beim Ab-
graben eines Platzes für ein Haus. Das Töpfchen giebt eine gute Idee von
der Art dieses Geschirres. Zugleich beweist es die Allgemeinheit der Sitte
unter den Indiern Süd-Amerikas, ihren Todten Zehrung mit ins Grab zu ge-
ben. In Peru geschah dieses in sehr künstlichen und eigenthümlich verzier-
ten Gefässen von feiner Masse. Der Abstand zwischen letztern und diesem
höchst einfachen Töpfchen, dessen einzige Verzierung in schräg verlaufenden
schwarzen Streifen besteht, lässt uns einen ungefähren Schluss thun auf den
grossen Unterschied in der Bildung zwischen den peruanischen und chileni-
schen Urbewohnern.
2) Sechs einfache Steinmeissel verschiedener Grösse, von 0,09 bis
0,28 Meter Länge. An dem kürzesten darunter könnte vielleicht, da er ver-
liältnissmässig breit und sein oberes Ende unregelmässig ist, ein Theil des-
selben abgebrochen sein. Bei zwei von ihnen ist die scharfe Schneide recht
gut erhalten. Die jetzigen Bewohner wissen über den Gebrauch dieser Meis-
sel nur so viel, dass sie zum Behauen des Holzes dienten; also zur Anfer-
tigung ihrer Pivaguas und Kanoes und ihrer Häuser, zum Abhauen der Bäume
und Spalten des Holzes beim Urbarmachen des Waldes u. s. w. War es
doch Sitte, dass kein junger Mann eher heirathen durfte, bis er nicht durch
Umhauen eines Baumes bewiesen hatte, dass er hinlänglich kräftig und ge-
schickt sei. In Betreff der Handhabung wird angegeben, dass das obere rauhe
und sich allmählich verschmälernde Ende in das Loch eines Stieles befestigt
oder mit starken Schlingpflanzen au ein passendes Holz gebunden wurde.
Doch sind diese Angaben keineswegs als zweifellos zu betrachten und ich
halte es für möglich, dass sie bloss mit der Hand geführt wurden.
3) Eine Steinaxt mit einem Loche am oberen Ende. Dieselbe ist mir
von meinem Freunde Herrn Alfred Tysska zur Vorzeigung geliehen worden.
Derselbe erhielt sie vom Nordufer des Sees Llanquihue. Die Schneide ist be-
deutend breiter wie bei den Meisseln. Die hier vorliegende ist von verhältniss-
293
massig weichem Stein. Ich hatte früher eine ehen solche, jetzt im Museum
von Santiago befindliche, welche etwas länger und breiter wie diese und von
einem sehr harten, grünlich raarmorirten Steine war; das Loch daran lief von
beiden Seiten trichterförmig /.u. Interessant ist, dass sowohl die Meissel wie
diese Aexte genau die Form und das Princip der jetzt gebräuchlichen nord-
amerikanischen llolzäxte einhalten, indem nämlich die Dicke von der Mittel-
linie zu nach allen Seiten hin abnimmt; diese Eigenschaft hat nämlich den
Vortheil, dass die Axt sich nie einklemmt. Wozu das Loch didht, habe eben-
falls nicht in Erfahrung bringen können; jedenfalls diente es zum Anhängen
der Axt, wenn man sie bei sich trug; möglicherweise erleichterte es auch
ihre Befestigung an einem Stiele; jedoch ist dies wohl nicht wesentlich ge-
wesen, da man keinerlei Abnutzung an den Löchern findet und ihre oben
erwähnte Trichterform sie zur sicheren Befestigung wenig geeignet macht.
4) Zwei irdene Tabakspfeifen verschiedener Form. Ich erwähnte schon
oben etwas über das Rauchen. Eine dritte Pfeife, welche besass, war dieser
fast, gleich, hatte aber an dem der Spitze gegenüberliegenden Ende auch eine
Oeffuung, welche durchging.
5) Ein Spinn- Wirtel. Es scheint, dass sie meistens aus Topfscherben
gemacht wurden. Unter denen, welche besessen habe, hatte einer auf einer
Seite eine weisse Glasur, stammte also von einem glasierten Topfe europäi-
scher Herkunft.
6) Ein Stückchen gewebtes Zeug, welches Herr Professor Philipp] beim
Nachgraben in einem indischen Grabe nebst Knochen. Glasperlen und silber-
nen Nadeln, denselben, welche noch jetzt die Indierinnen tragen, fand. Er
hatte die Güte, mir diese Probe davon abzulassen. Es würde nicht uninter-
essant sein, zu bestimmen, ob das Zeug von Schaf- oder Guanaco-Wolle ist.
7) Ein am See Llanquihuc gefundener Krug aus Peru: diese Art Krüge
mit engem Halse, dickem Bauche und abgerundetem Boden, so dass man sie
nicht stellen, sondern nur legen kann, von fester und sehr dauerhafter Masse,
wurden und werden noch jetzt in dem Hafen Pisco an der peruanischen
Küste gemacht. Sie sind mit wahrscheinlich aus Zuckerrohr dargestelltem
Branntwein gefüllt, welcher ebenso wie auch, die Krüge selbst nach dem Orte
der Herkunft Pisco genannt wird. So wurden sie zur Zeit der Spanier zu
Schiffe nach dem Hafen Chacao auf der Insel Chiloe, vielleicht auch nach
Valdivia geführt, dort gegen Bretter und andere Erzeugnisse der Bewohner
umgetauscht und fanden von dort ihren Weg über das ganze Land , da die
Leidenschaft für das Feuerwasser bei diesen Indiern eben so stark wie irgendwo
anders ist Der Strand des jetzt verlassenen Hafens von Chacao ist noch jetzt
mit einer Menge von Scherben dieser Töpfe besät. Ich habe über ein Dutzend
solcher im Urwalde gefundenen Krüge gesehen.
8) Ein Stück eines messingenen Leuchters, ganz nahe bei dem unter
No. 1 erwähnten Gerippe gefunden. Ein weiterer Beweis, dass die jetzt aus-
gestorbenen Bewohner mit den Spaniern in Verbindung standen.
294
Ich komme zu den von den Insel-Bewohnern stammenden Gegen-
ständen, worunter
9) ein wohlerhaltener Schädel eines jungen Individuums von Mechi,
einem Punkte an der Küste des Golfs von Reloncavi, östlich von Puerto
Montt. Derselbe fand sich in der Mitte einer Muschelbank nebst mehreren
Gerippen, welche quer über einander lagen. Obgleich ganz Laie in der Cra-
niologie, hebe hervor, dass der Schädel verhältnissmässig schwer, die Kno-
chenentwickelung besonders am Hinterhaupte sehr stark ist, dass die Zitzen-
fortsätze klein sind, so dass der Schädel beim Aufliegen nicht auf ihnen,
sondern auf der Umgebung des Hinterhauptes aufruht, und dass die Schläfen-
fläche der Keilbein-Flügel schmäler als gewöhnlich ist. Die Sprünge an den
Scheitelbeinen können durch die Hitze der über ihm angemachten Feuer ent-
standen sein.
10) Vier gleiche Knochen'.stücke eines mir unbekannt gebliebenen
Thieres aus dem Meere, von denen drei in einem alten Muschelhaufen gefun-
den wurden, während das vierte frische selbst am Strande aufgelesen habe.
Es wäre vielleicht interessant, festzustellen, von welchem Thiere sie stammen/1)
11) Ein Stück von einer alten Piragua, welche im Jahre 1794 von
Missionären am Ufer des Nahuelhuapi-Sees zurückgelassen wurde und
von der dort im Jahre 1856 einige Reste fand. Eine solche Piragua bestand
aus mehreren breiten und langen Brettern, welche am Rande mit einer Reihe
von Löchern versehen waren, durch welche die Bretter vermittelst Schnüren
von Rohrbast aneinander genäht wurden, während man die Löcher mit Alerce-
Werg verstopfte. Diese Piraguas waren bei den Indiern der patagonischen
Westküste von Chiloe bis in die Nähe der Magelhaens-Strasse im Gebrauch
und eigneten sich vortrefflich für die Beschiffung des Binnenmeeres zwischen
der Inselkette und der Cordillere. Gelangten die Indier dabei an eine Land-
enge, wie z. B. an den Isthmus von Ofqui, so nahmen sie das Fahrzeug aus-
einander, trugen die Bretter herüber bis an das andere Ufer und nähten sie
dort wieder zusammen.**)
Endlich benutze diese Gelegenheit, auf die Abbildung einiger arauka-
nischer Alterthümer hinzuweisen, welche sich in Gay's Atlas zur politischen
und physischen Geschichte von Chile findet, und zu welcher keine Erklärung
gegeben worden ist. Vielleicht findet sich unter den Archäologen von Fach
ein Kenner, der sie deuten kann. Zwei derselben glaube nach der Verglei-
chung mit den von mir vorgelegten Tabakpfeifen als solche ansprechen zu
können.
*) Herr Dr. Hensel erkannte diesen Knochen als Theil des Schädels eines zur Gattung
Epliip/ius gehörenden Fisches. Merkwürdiger Weise findet sich dieses Genua nicht in der Be-
schreibung der chilenischen Fische von Gay. Brama und Scorpis sind die einzigen von Letz-
terem verzeichneten Arten der Familie, wozu Ephipptu gehört.
*•) Verfasser hat die vorstehend besprochenen Gegenstände (mit Ausnahme von No. 3 u. 11)
der im Entstehen begriffenen Sammlung der anthropologischen Gesellschaft geschenkt, mit der
Bitte an den Vorstand, sie einer sachverständigen kritischen Untersuchung unterwerfen zu lassen.
295
Ethnograph i sehe Wahrnehmungen und Erfahrungen
an den Küsten des Berings-Meeres
von A. Er man.
(Hierzu eine Karte.)
Kur die allgemein eD Fragen der Anthropologie, denen man sich jetzt mit
gebührendem Eifer hingiebt, ist die Kenntniss des Urzustandes der Bewohner
der amerikanischen Küste des Berings-Meeres und der Inseln desselben
von einleuchtender Wichtigkeit. Zunächst so wie dergleichen Kenntniss von
jeder anderen Stelle der Erde, welche erst spät, oder in gelinderem Maasse
von Europäern beeinflusst worden ist, sodann aber noch im Besonderen, weil
hier die Wahrscheinlichkeit einer Wanderung der vorgefundenen Bevölkerung
von einem (kontinente zum andern sehr gross, über die Richtung derselben
aber vielleicht noch durch Thatsachen zu entscheiden möglich ist.
Das Sammein und Erhalten des ethnographischen Materials welches sich
manchen Reisenden und den ansässigen Russen durch Anschauungen und
unwillkürliche Studien seit etwa 130 Jahren auf den Aleutischen Inseln
und seit 50 bis 60 Jahren auf Sitcha*) dargeboten hat, ist aber jetzt auch
deswegen zeitgemäss, weil den Objecten desselben ein beschleunigter Unter-
gang bevorsteht.**) Wollte man nun nur dem europäischen Sprachgebrauche
genügen, unbekümmert um dessen Ursprung und Bedeutung, so hätte man
die zu sammelnden Notizen zu beziehen auf die Aleuten als den üblich
gewordenen Namen aller Bewohner derjenigen Inseln, welchen man, wiederum
nach einem Gebrauche von unerwiesener Berechtigung, denselben Gesammt-
namen zu geben pflegt, und auf die Kolj uschen, die man dann einfach als
die Bewohner der Insel Site ha und deren näheren Umgebungen zu definiren
hätte, unter Vorbehalt etwa von ergänzenden Einschaltungen über die Be-
wohner der nördlicheren Theile des jetzigen Staates Aljaksa oder der mit
diesem identischen früheren Besitzungen der sogenannten Russisch-Ame-
rikanischen Compagnie.
Eine leichtsinnige Nomenclatur ist aber in der Ethnographie doppelt
fehlerhaft, weil erstens, in diesem wie in jedem andern Gebiete der Natur-
beschreibung, die zu gewinnenden Gattungscharaktere oder deren Aequiva-
lente nur insoweit von Werth sind, als sie zu einem Namen von bestimmter
Begränzung gehören, und weil zweitens ethnographische Namen auch an und
für sich folgenreich wären, wenn sie wirklich einmal den ihnen gewöhnlich
*) Die Cursiv-Buehstaben S, s, J,j sind wie im Französischen, S, s, J, j aber wie im
Deutschen auszusprechen.
*•) Vergl. was darüber in dem Auszuge meines Vortrages vom 15. Januar 1870 in dem
Sitzungsberichte der Berl. Gesellsch. für Anthropologie gesagt ist.
296
beigelegten Ursprung hätten, d. h. eine Erfindung des zu beschreibenden Vol-
kes wären.
Aus diesem Grunde habe ich festzustellen versucht:
1) was das Wort Aleut (Plural Aleuty) in russischer Sprache und
Schrift ursprünglich und was nach einander bedeutet habe und wo
es herstamme,
und sodann das Entsprechende zu erlangen
2) für das Wort Kolju/i oder Koljusehi und
3) für die Bezeichnungen, die man den Bewohnern der nördlichen Di-
strikte der ehemaligen Russisch-Amerikanischen Compagnie-Besitzun-
gen beilegte.
Wer sind und was heisst Aleuten?
Unter den abenteuernden russischen Seefahrern, die, wie ich früher ge-
schildert habe,*) von Ochozk ausgingen, ist die Benennung Aleut für einen
Bewohner beliebiger Inseln des grossen Oceans zwischen Asien und Ame-
rika, mit denen sie oft ausser deren geographischer Reihenfolge in Berührung
kamen, gangbar geworden, ehe noch einige dieser Inseln von mehr oder we-
niger wissenschaftlichen oder doch schreibekundigen Reisenden besucht wur-
den. Auch diese haben sich dann dem Sprachgebrauche den sie an ihrem
Einschiffungsorte in Ochozk oder auf Kamtschatka herrschend fanden, be-
quemt und ihn sogar rückwärts als Gesammtname auf die Inselkette übertra-
gen, die ausserdem in 6 bis 7 Gruppen getheilt wurde.**) Die zu ihrer Zeit
vielleicht noch lösbare Frage nach der Entstehung des Namens Aleut finde
ich bei keinem dieser ältesten Beschreiber, wie Bering, Schelechow, Saryt-
schew u. A. erwähnt. Seitdem sie aber zur Sprache gekommen ist, hat sich
nur ihre Unlösbarkeit ergeben. Wenjaminow, der erste unter den Beschrei-
ben! des betreffenden Landes dem ein zehnjähriger Umgang mit den Bewoh-
nern von Unalaschka und der übrigen Fuchs -Inselgruppe und die da-
durch erworbene Sprachkenntniss zur Seite standen, sagt darüber um 1840
an zweien Stellen, die ich hier wegen der Wichtigkeit des Gegenstandes und
*) Reise um die Erde durch Nord-Asien und die beiden Oceane u. s. w. von A. Erman.
Histor. Bericht, Bd. 3, S. 34.
**) Es sind diese von Westen gegen Osten gezählt:
1) Komandorskie ostrowa = die Commodore-I. — Zur Erinnerung an Capitata Bcring's
Schiffbruch benannt und der Aleutischen Kette theils zugetbeilt, theils von ihr getrennt,
2) Bli/nie ostrowa = die nahen Inseln.
3) Krysji ostrowa - die Ratten-Inseln.
4) Andrejanowskie ostrowa = die Adrian-Inseln, nach einem Ocho/.ker Schiffer Andre
jan Tolstych.
5) Tschetyresöpotschnie ostrowa = die viergipfligen Inseln.
6) Lisji ostrowa = die Fuchsinseln.
7) Schumäginskije ostrowa = die Schurnaginer Inseln, denen Bering den Namen sei-
nes auf einer derselben gestorbenen Matrosen Schumagin beilegte.
297
zugleich als Probe <)<t naiven über unkritischen Breite ihreä Verfassers in
buchstäblicher Uebersetziing wiederhole.*)
Vol. 1, pag. 2 alle Inseln weiche das Beerings-Meer vom stillen
Ocean trennen, nennt, man im Allgemeinen die Aleatischen Inseln oder
den Aleatischen Archipel und die '/um Unalaschkaer Bezirke gehö-
rigen, d. h. von Amuchta bis Aljak.va reichenden Inseln, so wie auch
alle, jenseits (soll wohl heissen östlicher als die Westspitze von) Aljak-a
gelegenen die Fuchs in sein.
Vol. 2, pag. 1. Die Bewohner der hiesigen (d. h. zum Unalaschkaer
Bezirke gehörigen) Inseln, welche von den Russen und von allen Europäern
Aleuty genannt werden, nennen sich selbst Unängan. Dieses Wort be-
deutet auf Kussisch gar nichts uud lässt sich von keinem anderen Aleutischen
Worte ableiten. (Freilich giebt es ein Aleutisches Wort Unängan, wel-
ches der russischen Präposition sa [dem Deutschen für, hinter, jenseits |
entspricht, z.B. in tschau uuangän = hinter der Hand ; aber hieraus kann
man schwerlich irgend etwas schliessen. Anm. d. Russ. Verf.) Die hiesigen
Einwohner haben den Namen Aleuty ursprünglich von Russen, namentlich
»Sibiriern, erhalten. Weshalb aber diese letzteren sie Aleuten genannt haben,
ist schwer darzuthun. Wenn man die Sprache der Aleuten und ihr Benehmen
kennt, so kann man wohl glauben dass sie, bei ihrer ersten Begegnung mit
den Russen, als ihren ersten Besuchern und den ersten Leuten die sie ausser
sich selbst und ihren Nachbarn sahen, aus begreiflicher Verwunderung zu
einander gesagt haben: alik uaja oder abgekürzt aliuaja, das heisst: Was
ist das? und dass sie ferner auf jede Frage der Russen, die in jedem Fall
der Aleutischen Sprache unkundig waren und welche sie daher nicht verstan-
den, mit denselben Worten alik oder aliuaja geantwortet (!!) haben, welche
auch im gewöhnlichen Gespräche oft gebraucht werden und bisweilen wie
eine Angewöhnung.**) Indem nun die Russen diese Laute sehr oft hörten,
konnten sie glauben, dass die Eingebornen sich selbst so nannten (!!) —
oder sie mögen, wegen der Unmöglichkeit deren wirklichen Namen zu erfah-
ren, angefangen haben, dieselben Aliuty und nachher Aleuty zu nennen.
Diese selbe Hypothese über den Namen der Aleuten stellt auch Chamisso
auf, der 1817 auf Unalaschka war."
„Ausser der allgemeinen Benennung Unängan haben die Hiesigen
(d. h. die Insulaner des Unalaschkaer Bezirkes) auch noch örtliche
Benennungen, und namentlich werden die Bewohner vonUnga und alle
*) Sapiski ob ostrowach Unaläschkinskago Otdjela, J. Wenjarainowa, Tsch.
1 i II. und: Sapiski ob Atchinskich Aleutach iKoloschach, Tsch. III., d. h. Aufzeich-
nungen über die Aleuten des Unalaschkaer Bezirkes, Bd. 1. u. 2. und Bd. ;;. oder Zugabe von
Aufzeichnungen über die Atchaer Aleuten und die Koloschen.
**) Im Russischen lautet diese kaum glaubliche Versicherung: kak prislöwie, d. h.
wie eine angewöhnte Redensart oder wie ein Sprichwort, und es wäre unbegreiflich,
wenn wirklich die Frage: was ist das? irgendwo zu dieser Rolle gekommen wäre.
298
übrigen bis Uniinak: Khägan Tajagungin, d. h. östliche Leute
oder Männer*) genannt.
Die Unimaker nennt man Unimgin.
Die Bewohner der Krenizyninsel und einiger Dörfer auf Unalaschka:
khigigun, d. h. nordöstliche.
Die übrigen Unalaschkaer und die Bewohner von Uinnak: Khau-
1 j an gi n oder K a g u 1 j a n g i n.
Die Bewohner der tschetyrech aopotschnie ostrowa nannte
man ehemals akügan, d. h. dortige, die der kry*ji ostrowa: kaghun.
Die Bewohner der zunächst an Kamtschatka gelegenen Inseln Sa-
> i g n a n ,
und die der Andrejanow'schen Inseln überhaupt bisweilen Namigün,
d. h. die Westlichen."
Ob die hier zur Auswahl gelassenen zwei Vermuthungen über den Na-
men der Aleuten von Chamisso so ernstlich gemeint Maren, wie der russische
Beschreiber annimmt, bleibe dahin gestellt. Es ist aber gegen die erste der-
selben einzuwenden, dass doch die Fremden vernünftiger Weise nicht vor-
aussetzen konnten, die Insulaner haben ihnen vor Allem den Namen mit
dem sie bezeichnet sein wollten, zugerufen. — Gegen die zweite Ableitung,
nach welcher den neuen Bekannten irgend ein oft gehörtes Wort ihrer Sprache
als Spitzname beigelegt worden wäre, spricht alsdann ebenso entschieden der
Umstand, dass aus dem gehörten aliuäja das accentuirte und (nach Wen-
jaminow's ausdrücklicher Erklärung |Aleutsk. Grammat. § 6|) gedehnte äja
nicht wegfallen und durch ein kurz abgestossenes t ersetzt werden konnte,
um so weniger, als die Russen, nach dem was sie in vielen ähnlichen Fäl-
len gethan haben, einen durch öfteren Gebrauch des betreffenden Wortes
ausgezeichneten Menschen aliuäkatschik oder allenfalls auch aliuäkatsch
genannt haben wüiden Die Unwissenheit der ältesten russischen Ansiedler
über die Bedeutung des kurz vor ihnen aufgekommenen ethnographischen
Sprachgebrauches folgte übrigens schon aus den Aufzeichnungen welche
iSchelechow über seine Reisen und Aufenthalte in den amerikanischen Com-
pagniebesitzungen zwischen 17G1 und 178G hinterlassen hat,**) und eben diese
haben dann auch jenem Gebrauche eine äusserst wichtige Begränzung hinzu-
gefügt, w'elche von allen späteren Beschreibe™ und unter ihnen auch von
Wenjaminow an einer andern Stelle seines Buches, anerkannt worden ist.
Schelechow hat nämlich, wahrscheinlich schon um 1761 auf Unalaschka
*) In Wenjaminow'sAleutischer Grammatik und Vokabular (Opy t Grammatiki aleutsko-
lisjewskago jasyka, Petersburg 184(1) treliupt es durchaus nicht, diese Angabe zu verificiren.
Für östlich von Unalaschka wohnende steht daselbst pag. 43: khigadaghinan — und dem
Tajagungin kommt am nächsten: Tajagunakh = ein Läufling oder Räuber, so dass
oben etwa khiga tajagungin stehen und die Erklärung: nach Osten Entflohene lauten
müsste.
**) Puteschestwie G. Schelechowa w'dwuch tschastjach. Sankt Petersburg 1812. Vergl.
auch Erman, Reise u. s. w., Histor. Ber. Bd. 3, S. 36.
200
gehört, I7s.r) aber durch viele genau geschilderte eigene Erlebnisse dargethan,
dass die postulirte Verbreitung von einerlei sogenannten Aleuten über die
ganze Kette der asiatisch-amerikanischen Inseln auf der letzten un.l
grössten von ihnen, das ist auf Kadjak oder Kyktjak (also bei -r>''»
bis 58° Breite, mit 203° bis 20(i° O. v. Paris) entschieden aufhöre.*) Er
Ix 'weist auf das unleugbarste, dass zwischen den östlichsten Bewohnern
der Fueh sin sein (bei 102° 0. v. Paris) und denen von Kadjak (203
O. von Paris) eine totale sprachliche Trennung bestehe, zu welcher bis-
her zwischen 170" und 102 O. von Paris dunhaus nichts Aehnliches vor-
gekommen war. Nach Wenjaminow soll die Kadjaker Sprache mit dem
Unalaschkaer Aleutischen nicht mehr als die zwei Worte: adakh =
Vater und tangakh = Bär gemein haben. Den Namen Konjagi, unter dem
Schelechow die Bewohner von Kadjak als einen neu bekannt gewordenen
Volksstamm aufführte und sehr gründlich beschrieb, hat er wie mehrere ähn-
liche Stellen seines Buches mit der bedeutungslosen Phrase: tak oni ime-
nujutsja, d. h. denn so werden sie genannt, begleitet. Sein Konjagi
mag aber wohl mit Konägikh zusammengehangen haben, welches nach Wen-
jaminow in der aleutischen Sprache so Viel als das russische Kadjak zi, d. h.
die Bewohner von Kadjak bedeutet. Es ist jedenfalls jetzt, neben der allein
üblichen letzteren Bezeichnung, in Vergessenheit gerathen. -- Zur Sache ist
aber festgestellt worden, dass zu der von dem Aleutischen streng geschiede-
nen Sprache dieser Kadjaker, an der ("istlichen oder amerikanischen Küste
des Berings-Meeres zwischen 60° und 66° Breite, viele ihr nahe ver-
wandte Dialekte gefunden werden, und dass dieselbe Kadjaker Sprache end-
lich auch auf der asiatischen Seite der Berings - Strasse von denjenigen
Tschuktschen-Geschlechtern bequem verstanden wird, denen die Sprache
der östlichen Aleuten durchaus fremd erscheint.
Alles Vorstehende fasse ich demnach dahin zusammen:
Aleut ist eine bedeutungslose und werthlose Benennung, welche auch
zu conventioneller Bezeichnung nur für die Bewohner der zwischen 170
und 102° 0. v. Par. an der Südgrenze des Berings-Meeres gelegenen Inseln
gebraucht werden darf.
Nichts beweist dass weder die Gesammtheit dieser Insulaner noch irgend
ein Zweig derselben jemals sich selbst einen generischen Namen gegeben
habe. Es ist höchstens vorgekommen, dass je einer dieser Zweige seine ver-
schiedenen Nachbarn nach der Lage ihrer Wohnplätze gegen den seinigen
bezeichnet hat.
Wer sind und was heisst Koljuschen?
Bei den Erklärungsversuchen über die von den Russen jedenfalls indistincl
verwendeten Ausdrücke Koljuschi, Koloschi und Koljuyi begegnet man
•) Schelechow, a a. 0. Th. 1, S. 3 bis 55.
300
zunächst demselben Mangel an historischen Relegen, wie bei der vorigen
ethnographischen Frage. — ausserdem aber einer Assonanz des zu deutenden
Namens an bekanntes, die man sich schwer entschliesst für so zufällig und
trügerisch zu halten, wie von ihr neuerdings behauptet worden ist.
Während meines Aufenthaltes auf »S'itcha und lange nach demselben
habe ich, wie gewiss viele meiner Vorgänger, nicht bezweifelt, dass in dem
Namen der Koljuschi oder Kolju/i der Begriff der russischen Verbalfor-
men kolju, ich durchsteche oder spalte, koljus, ich steche mich, sowie
von deren Derivirten: koljutschi oder kolj utsch, stechend, und dem durch
seine (ichthyologische) Diminutivform Kolju seh ki = Stichlinge odergaste-
rostei, völlig autorisirten Kolj uschi = die Stechenden oder Spaltenden ent-
halten sei , welcher dann natürlich auf die Lippendurchschneidung der
Koljuschinnen zu beziehen gewesen wäre. Die Russen hätten dann durch die
von ihnen eingeführte Benennung diese bemerkenswerthe Volkssitte eben so
deutlich hervorgehoben, wie es durch den von den französischen Canadiern
eingeführten Namen der Nez perces mit einer ähnlichen Sitte bei den näch-
sten südwestlichen Nachbarn der Koljuschen geschehen ist.*)
Dieser anscheinend so genügenden Ansicht wird nun aber von Wenja-
minow widersprochen, in einer Stelle seiner Beschreibungen, von der ich, wie-
der aus den oben genannten Gründen, eine genaue und vollständige Ueber-
setzung folgen lasse:**)
„Die Koloschi nennen sich selbst Tlinkit mit dem Beisatze antukuän,
also Menschen von überall oder Menschen aller Ortschaften.***)
Woher sie aber die Benennung Koloschi oder Kolju/i erhalten haben, ist
nicht bekannt. Von den Engländern werden sie bald Indians im Allgemei-
nen genannt, bald Street-Indians, d. h. Anwohner der Prince of Wales
Street und anderer Strassen. Bisweilen hört man zwar auch einen Koloschen
sich selbst oder einen seiner Landsleute Kon 6 seh a nennen, aber dieser Aus-
druck ist nur das entstellte russische Koloscha. Welcher von den Namen
Koloscha (Plur. Koloschi) und Kolju/a (Plur. Koljuyi) ist nun der
richtige? In den früheren Beschreibungen findet man immer Kolju/a, und
wenn dieses das richtige ist, so hat man die Koloschen wohl des-
wegen Kolju/i oder auch Kalju/i (?!) genannt, weil ihre Frauen die Ka-
lu/ki tragen, d. h. die bekannten Verzierungen ihrer Gesichter. Das Wort
Kalu/ka stammt von dem aleutischen Kaluga, mit dem man ein jedes
hölzerne Geschirr bezeichnet und welches von den dort lebenden Russen
schon längst angenommen ist."
*) Vergl. über diese die Karte zu Catlin, letters and notes on the Northameri-
can Indians, Vol. I, bei 43° Br., 240° 0. v. Par., und Vol. II, pag. 108.
**) Sapiski i. pr. Wenjaminowa, Tsch III, Str. 28.
,1") In dem russiseh-koljuschischen Vokabular desselben Verfassers finde ich von zur Er-
klärung dieser Angabe Passendem : Mensch = tlinkit (aber wenn für Mann = hka), Wohn-
platz (russisch Selenie) - an, und vielleicht auch aller, e, es -- iltakat. — Cf. Sa-
mjetschanija o Koloschenskora i Kadjakskom j asykach. St. Petersb. 1846, 8vo. 81 S.
301
Was zunächst den letzten Theil dieser Behauptung betrifft, dass die nach
.Sitcha übersiedelten Russen für den doch nicht neuen Begriff eines belie-
bigen hölzernen Schnitzwerks den aleutisclien Ausdruck uls den ihnen
passendsten und geläufigsten angenommen haben sollen, so verliert er freilich
seine äusserste Unwahrscheinlichkeit durch die Erinnerung an ganz ähnliche
und sehr häufige Vorgänge in Nord-Asien. Auf dem Landwege von der Ost-
see zum grossen Oceau beobachtet man fast als einen eigentümlichen and
charakteristischen Hang der russischen Einwanderer, dass sie zugleich mit
den Geräthen und auderweiten gewerblichen Leistungen der Urbewohuer, die
diesen Gegenständen von den Letzteren gegebenen Namen in ausschliesslichen
Gebrauch genommen und also zum Beispiel in verschiedenen Gegenden von
-Sibirien, immer unter Aufgebung der .slavischen Benennungen, ihre Wohnun-
gen nach einander y'urty, tschumy, uru<si, schalaschi, barabari, ba-
lagani, ihr Oberkleid: maljza, parka, kukljanka, kamlejka, ihre Stie-
fel puimi, Aari, torbaai u. s. w. genannt haben. Wird aber auch die Mög-
lichkeit der vorstehenden Etymologie hiernach zugegeben, so spricht doch
gegen ihre Wirklichkeit der seltsame Umstand, dass in dem aleutisch-russi-
schen Vokabular desselben Verfassers die Form kaluga nirgends vorkommt,
und von Vergleichbarem nur kaliigin, welches nicht ein hölzernes Geräth,
sondern eine Decke (russisch odjejalo) bedeutet, sowie endlich khaljukh
mit der Erklärung: ein Tisch oder der Platz auf dem man isst und
der vorhergegangenen Bemerkung, dass das Consonantzeichen kh von dem
reinen k wohl zu unterscheiden und wie ein etwas gutturales ch zu sprechen
sei. Es folgt dass wenn man die Bewohner von 6'itcha wirklich die Tisch-
träger (nicht die Geschirrträger) hätte nennen wollen, diese Absicht
durch einen etwa wie Chaliuchschi lautenden Namen erreicht worden
wäre, d. h. durch einen möglichst weit von der Schreibart Koloschi abste-
henden, für die sich doch Wenjaminow im Contexte seines Buches durchaus
entschieden hat. Schliesslich darf aber noch als Argument für unsere erst-
genannte ungezwungenere Etymologie nicht unerwähnt bleiben, dass schon von
den ältesten sibirischen Russen an der Eismeerküste (bei 67' bis 67°,5
Breite, 182° bis 184° 0. v. Par.) eine Insel und eine angräuzende Meeres-
strasse respective Koljütschin ostrow und Kolj ütschinskji proliw be-
nannt worden sind. Es steht fest dass man diese Stellen der Küste von jeher
für besonders ergiebig an Walfischen, Seehunden und Walrossen gehalten bat.
Ob sich ihr Name auf das Harpuniren oder Stechen dieser Thiere be-
ziehen sollte, ist mir zwar nicht aufzufinden gelungen, wohl aber dass von
denselben »Sibiriern auf den an das Eismeer gränzenden Mooren nicht bloss
das Stechen der Rennthierheerden, die zuvor mit Hunden in Seen gehetzt
und auf Kähnen angefahren werden, durch das Verbuni kolotj (1. Pers. Präs.
kolju) bezeichnet wird, sondern auch mit einer, der angeblich aleutisclien
völlig gleichlautenden Wortform : po kaljuga, entweder dieses Jagdv erfah-
ren oder eine bei demselben gebrauchte eigenthümliche Art von Lanzen. In
302
seinem Bericht über die Anwohner der Eismeerküsten schreibt nämlich Ile-
denström mich Schilderung jener Rennthierhetzen bei den nördlichen Juka-
giren und Jakuten wörtlich: icli koljatj uskimi kopjami (pokaljuga),
d. h. sie stechen sie dann mit gewissen schmalen Lanzen (pokaljuga). — *)
Nachdem in dieser Weise die Benennung Koljuschen jedenfalls für eine
russische Erfindung erklärt, ihre Beziehung auf den Gebrauch der Lippen-
durchbohrung festgestellt und nur für die Etymologie derselben die Wahl
zwischen einer anscheinend nahe liegenden älteren und einer gezwungeneren
ueuen Annahme gelassen ist, versuche ich noch, als ungleich wichtiger, die
Umstände und die Zeit ihrer Entstehung und die geographische Begrenzung
ihrer Anwendbarkeit zu ermitteln.
Nach Schelechow's Reiseberichten'**) wurde im Frühjahr 1788 von Kad-
jak, als dem damaligen Hauptsitz der russisch-amerikanischen Handelsgesell-
schaft, auf einer damals sogenannten Galeote unter dem Commando der zwei
Steuerleute Ismailow und Botscharow eine russische Mannschaft expedirt, mit
dem Auftrage, an der nächstgelegenen amerikanischen Küste und längs deren
östlicher und südöstlicher Fortsetzung 1) neue Inseln zu suchen und deren
Bewohner unter russische Botmässigkeit zu bringen, und 2) den gesammten
amerikanischen Theil der Compagnic-Besitzungen mit den üblichen Zeichen
dieser Unterwerfung zu versehen, d. h. Kupferplatten mit entsprechenden In-
schriften und Darstellungen theils an wiederfindbaren Punkten zu vergraben,
theils den Einwohnern zu übergeben. Zwei Aleuten des Unalaschkaer Bezir-
kes und vier Kadjaker, die als Dollmetscher zu dieser Gesellschaft gehörten,
verhalfen ihr zu denkwürdigen Aufschlüssen über ethnographische Verhältnisse.
So verkehrten sie zueiöL mit den Eingeborenen derjenigen Küsten und In-
seln, welche sie der bereits benannten Tschugätscher Bucht (tschu-
gatskaja guba) hinzuzählen, und namentlich auf der Insel Tschalcha,
von der sie der später mit einem gleichnamigen russischen Fort versehenen
Stelle den Namen der Constantin- und Helenen-Einfahrt beilegten. Es
war hiernach das etwa zwischen G0°,25 und G0°,9 Br. bei 210°,5 und 211°,0
O. von Paris gelegene Land, dessen Bewohner sie ohne alles weitere als
Tschugät sehen aufführen. Sie berichten aber über dieselben unter Ande-
rem, dass sie die Sprache der Kadjaker reden und in Geissei- Verbänden
stehen (russisch aman jät atsj a), sich also nicht für homogen halten, mit
einem gegen Westen an sie grenzenden Stamm der Keuajen (russisch Kc-
naizi, Kinaizi und auch Kinaji) und mit den ihnen gegen Osten benach-
barten Ugalachmj uten. Auch von diesen beiden Stämmen werden die Na-
men wie etwas anderweitig Bekanntes erwähnt, und in ebenso befremdlicher
Weise ungenügend verfahrt Schelecbow endlich auch, indem er, nach dem Ismai-
low scheu Tagebuch, anführt,, dass man bei östlicher Fortsetzung der Fahrt.
*) Opisanie lierogow ledowitago inorja in <S'il>irskji wjestnik na 1823 god. Tscb. '?, str. 2t).
'*) Putesebestwie Scbelecbowa, Tbl. 2, S. 1 bis 90.
303
die Umgegend einer „auf heidnisch so genannten" (po inowjer-
tscheski na s y waj emaj a) Bucht Jakutat (mithin, wie wir jetzt, wissen,
etwa 59°,6 bis (;0'J,0 Breite bei 217°,5 bis 218°,0 O. von Paris) erreicht
und daselbst einen Umgang mit Eingeborenen gehabt habe, die ausführlich
und mit ganz unverkennbaren Zügen geschildert werden denn er schliesst
daran wörtlich folgende Aussage:*)
„Hiese Geschlechter werden Kolju/'i genannt. Sie wohnen auf dem
Festlande an verschiedenen kleinen Flüssen. Sie haben ausser vielen
kleinen Häuptlingen auch einen gros&eu, dem sie alle gehorchen . . .
u. s. w."
Die Verständigung und ausführliche Unterhaltung mit diesen Kolju/en
oder Kolju sehen gelang den Russen, wie sie ausdrücklich versichern, nur
durch Vermittlung eines Knaben der auf Kadjak geboren, darauf von Kenai-
jen gefangen genommen und durch successiven Verkauf zuerst an die Tschu-
gatschen, darauf an die Ugalachmjuten und von diesen an die Koljuschen,
die ihn den Russen überliessen, übergegangen war. Er hatte zu der Sprache
seines Stammes (der kadjakischen) die koljuschische hinzu gelernt und ver-
mittelte demnach eine russisch-kadjakisch-koljuschische Uebertragung.
Die Küste um die Bucht Jakutat wird sodann als das westliche und zu-
gleich nördliche Ende der koljuschischen Wohnplätze und als deren Grenze
gegen ein Geschlecht oder gegen einen Stamm von sogenannten Ugaljach-
rajuten angegeben.
Der vornehmste Häuptling der Koljuschen, den Ismailow bei Jakutat mit
einer von 170 Leuten seines Stammes bemannten Bootflotte antraf, hatte seine
festere VVinlerwohnung um 45 bis 50 geogr. Meilen weiter gegen Sü, noch
jenseits der Bucht Ltuja, bei der Mündung des Flusses Tschilkat d. h.
an einer Stelle des Continents, welche von der Verlängerung der Ostküste
der Admiralitätsinsel, d. i. der östlichsten des Sitchaer Archipels getroffen
wird — mithin etwa bei 5^,5 Br., 222°,5 O. v. Par.
Wir wissen jetzt dass diese Stelle von dem nordwestlichen Ende des
von Koljuschen eingenommenen Landstriches vielleicht um nicht mehr als ein
Fünftel, in jedem Falle aber um weniger als ein Drittel des grössten Durch-
messers desselben absteht. Das Erstcrc würde der Fall sein, wenn man ge-
radezu, nach der einen von Wenjaminow's einander widersprechenden An-
gaben, annehmen könnte, dass die Wohnsitze der Koljuschen von ihrer nörd-
lichen Grenze unter (!0,5U Breite ununterbrochen bis zu 45 Breite rei-
chen**) und zwischen diesen Parallelkreisen alle dem Continente vorgelager-
ten Inseln und einen Küstenstrich von unbekannter Breite einnehmen. Die
Anwohner des Columbia-Flusses, die auf Sitcha Kolumbjizy genannt, von
den Engländern und Anglo-Amerikanern alter dem Stamme der Klatheads
*) Putechestwie u. s. w. Scheleeliowa, Thl. 2, S. 4C>.
**) Sapiski u. s w. YVenjauiiuova, Thl. 3, S. 20.
304
zugerechnet werden, würden dadurch für Koljuschen erklärt, auch behauptet
YYenjaininow ausdrücklich, dass unter den Ätchaer Koljuschen viele der so-
genannten Kalgi, d. h. der ärmeren und dienstbaren Familien dergleichen
Kolumbjizy seien.*) Ich werde auf diese Angabe bei Betrachtung der Ein-
zelheiten zurückkommen, bemerke aber schon jetzt, dass der Verf. sie gerade
durch eine anscheinend bestätigende Ausführung äusserst zweifelhaft gemacht
hat. Wenjaminow fügt nämlich hinzu, dass zum Beweise ihres Columbischen
Ursprungs die niederen Koljuschen (Kalgi) auf Sitclm gewöhnlich einen
nach oben spitzen Schädel hätten und noch häufiger einen, dessen linke
Hälfte proenjinire. Für dieselbe Zeit auf welche sich diese angebliche Wahr-
nehmung bezieht (die .Jahre 1832 bis 1839), sagt aber nun Catlin von den
Flatheads, die in zahlreiche Gesellschaften (bands) getheilt, am unteren
Columbia wohnen: sie verdanken zwar ihren Namen unzweifelhaft der Sitte,
ihren Kopf flach zu drücken; es giebt aber unter den so Benannten nur
äusserst wenige, welche diese seltsame Sitte wirklich ausüben.-1*)
Eine Eigenschaft, die an dem ganzen Stamm nur äusserst selten vorkommt,
konnte aber unmöglich an einem dem Zufall überlassenen Auszuge aus dem-
selben als eine gewöhnliche, ja sogar als eine noch häufiger als ge-
wöhnlich vorkommende erscheinen!
Erheblich verengert erscheint dagegen die südliche Begrenzung des be-
treffenden Landes durch eine speciellere Nachweisung desselben Beschreibers,
in welcher zuerst an Koljuschen innerhalb des Gebietes der russischen Com-
pagnie die in 16 Ortschaften zwischen Jakutat (60° Breite mit 218,2°
0. v. Par.) und <S'anajan (bei 55° Breite mit 220,6° 0. v. Par.) wohn-
haften aufgeführt und deren Zahl bis um das Jahr 1835 auf 10000, nach
einer Verheerung durch die Pocken um das Jahr 1839 aber nur noch auf
5800 bis 6000 angegeben, sodann aber zu denselben gegen 14000 auf eng-
lischem Gebiete wohnhafte Koljuschen gezählt werden. Von den letzteren
sollten namentlich 6000 in einem Districte Nasa oder Nasy (w'Nasje ili
Nasach) leben, d. h. offenbar an dem Naasriver der von Dali compilirten
amerikanischen Karte, an dessen Mündung das Fort Simpson gelegen ist,***)
♦) Ibid. S 30 Aniu.
•*) Catlin, letters aml notes &c, Bd. 2. S. 108.
***) Die Bekanntschaft der Sitchaer Koljuschen mit dieser Gegend folgt aus einer gelegent-
lichen Mittheilung von Wenjaminow (Sapiski n. s. w. Bd. «5, S. 37). Nach dieser versetzen die
i'itchaer Sagen den Ursprung des Ostwindes (bei dem der später zu besprechende Gott El sich
aufhalten soll) an die Quelle des Flusses Nasa, welcher sich in die Bucht Nas auf der Grenze
der russischen und englischen Besitzungen ergiesst. Eben deshalb heisst auch der Güttersitz
auf Koljnschisch: Nas-schakiel von Nas = dem Namen des Flusses, Schaki von aschak
- die Quelle und El = dem Namen des Gottes. — Durchaus irrtlnimlich ist hiernach Catlin's
Angabe, welcher den Naas-Stamm an die Mundung des Columbia, d. i. um 150 geogr. Meilen
zu weit südlich versetzt (letters and notes, Vol. '2, pag. 113: In the vicinity of the luouth ol
lli-' Columbia there are besides the Chinooks, the Klickatacks, Chechaylas, Naas and manj
othera , zugleich aber von den Frauen dieser Naa.s die Durchbohrung und Ausstattung der Un-
terlippe in einer auf die Sitchaer Koljuscbionen ununterscheidbar passenden Weise abbildet.
305
Hie übrigen 8000 aber auf der Queen Charlotte- oder Tschirikow-
Insel. Die hierdurch zu etwa 5J° Breite bestimmte Südgrenze der Ko-
ljuschen wird aber schliesslich noch einmal gegen Süden auf 49° bis 50°
Br. versetzt, durch die resumirende Angabe von Wenjaminow, dass die Ko-
ljusclien selbst sich mit Einschluss aller Bewohner des Festlandes von Jaku-
tat bei 60u Breite bis zu den Indianern von New -Albion, d. h. bis zur
Juan de Fucas- Strasse und 49", 5 Breite, in die zwei Stämme Kiksati
und Zitkujati, d. h. in den Raben- und den Wolfs-Stamm theilen. Die
Einschränkung auf die conti nentale Küste gilt aber offenbar nur zwischen
49°, ü und 50°, 5 Br., um die Wakasch oder Eingebornen der Vancouver-
lusel von den Koljuschen auszuschliessen, welche dagegen zwischen 51°
und 60° Breite recht vorzugsweise die dem Festlande vorgelagerten Inseln
besitzen
Zu der Darstellung dieser ethnographischen Nomenclatur auf der beige-
gebenen Karte habe ich die entsprechende für die nördlicheren amerikanischen
Küsten des Berings-Meeres (zwischen 60° und 66° Breite) und für die asia-
tischen Küstenländer (von 70° bis 46° Br.) gefügt.
Namen der nördlichen amerikanischen und asiatischen Küsten-
bewohner.
Man hat hiernach in den ersteren oder nordamerikanischen Küstenländern,
ausser den Aleuten und Koljuschen, nur noch zwei sprachlich selbständige
Völker: die auf Russisch sogenannten Kodjakzy oder auch Konjagy und
die Ttynai zu unterscheiden und deren ursprüngliche geographische Verthei-
lung etwa so anzunehmen, wie sie die Colorirung unserer Karte angiebt. Das
erstere dieser Völker erstreckt sich längs der amerikanischen Küste minde-
stens bis zum Polarkreise, ausserdem aber gegen Westen über die Berings-
Strasse und mehr als 100 geogr. Meilen weit durch Nord-Asien. Es wird
Eine so arge Verwirrung wäre unerklärlich, wenn nicht Catlin ausdrücklich sagte (a. a. O. p. 108),
dass er Alles was er über diese westamerikanischen Stämme berichtet, nur durch Hören-
sagen, die von ihnen herstammenden und auf seinen Tafeln 210 und 2101t, ab-
gebildeten Gegenstände aber nur durch indirekte Einkäufe für seine Sammlung
erhalten habe. Dieser Umstand ist nicht bloss in Betracht der hier in Rede stehenden südlichen
Begrenzung der Koljuschen bemerkenswerth , sondern auch weil er zugleich für die mit so be-
sonderem Interesse aufgenommenen Zeichnungen von Schädeleindrückungen und die dazu ge-
brauchten Vorrichtungen gilt. Vergl. was darüber noch neuerdings von Hrn Virchow gesagt
wurde im Sitzungsber. der Berl. Gesellsch für Anthropologie vom 15. Januar 1870, pag. 8. Es
sind gerade diese die einzigen Darstellungen des vortrefflichen Werkes, zu denen Catlin jede
Angabe ihres Ursprunges, den er doch sonst so' sorgfältig zu schildern pflegte, unterlassen hat.
Der angebliche Compressionsapparat der Columbier ist aber nach Form und Beschaffenheit so
durchaus identisch mit den tragbaren Wiegen, welche wandernde Samojeden und Tungusen ge-
brauchen (vergl. meine Reise u. s. w , bist. Ber., Bd. 1, S. 707 und Bd 2, S. 420), dass Catlin's
seltsame Deutung eines Theiles desselben nur durch eigene Anschauung seiner Anwendung be-
glaubigt werden konnte. Ueber eine Schädelform , die scheinbar durch Compression entstan-
den, nach Catlin aber sich selbständig forterben soll, bei den Hinitari am obern Missur
vergl. letters and notes, Vol. I, pag. 193 und pl. 77 u. 7 8.
Zeitschrift für Ethuologie, Jahrgaug 1870. 21
306
daselbst innerhalb seines etwa 5000 Quadratmeilen einnehmenden Verbreitungs-
bezirkes, je nach seiner nomadischen oder mehr sesshaften Lebensweise, mit
den zwei gleich willkürlichen Namen Tschuktschi und Naniolli belegt,
aber mit Recht unterschieden von den gegen Süden, längs der Küste und
auf den Inseln des Berings-Meeres und des offenen Oceans wohnenden so-
genannten Korjaken, Kamtschadalen und Kurilen.
Für das andere der beiden nordamerikanischen Hauptvölker scheint der
Name Ttynai der passendste, denn Capitäu Sagoskin hat dieses Wort bei
seinem Umgang mit den mittleren und am meisten unverändert erhalteneu
Stämmen desselben sowohl für den Begriff Mensch in Gebrauch gefunden,
als auch zur Beantwortung der üblicher Weise auch von ihm gestellten Frage
nach ihrem Eigennamen.*) Ich werde auf dieses Wort bei Gelegenheit einer
sehr charakteristischen Eigenthüiulichkeit des betreffenden Volkes zurückkom-
men. Hier ist aber zu bemerken, dass wohl auch der Name Kenai oder
Kinai (russisch Kenai zy und Kinaizy), den man dem zuerst bekannt ge-
wordenen Stamme desselben an der Kenajer Strasse und Kenajer Bucht zu
geben pflegt, durch eine etwas verschiedene Aussprache oder Auffassung der
Laute eutstanden ist, die Sagoskin durch Ttynai zu bezeichnen suchte.
Wenn man mit Hrn. Schott voraussetzt, dass das Tt des russischen Schrift-
steller nur eine Verstärkung des Zungen-Gaumenlautes T bedeuten solle, so
wäre freilich dessen Uebergang in die Kehllaute Ke oder Ki nicht wahr-
scheinlich. Sagoskin selbst hat aber bei der Mittheilung seiner später zu er-
wähnenden Sprachproben über die Bedeutung der betreffenden Schreibart jede
erklärende Angabe unterlassen.
Ueber die in Europa allgemein gangbaren Benennungen der nordasiati-
schen Küstenvölker ist hier zu erinnern, wie schon Steller deren Ursprung
durchweg willkürlich und werthlos gefunden hat. Den Namen Tschuktschi
erkannte er für eine Entstellung von Tschautschu, das ist von einem Aus-
druck den die sogenannten Korjaken für die sesshaften Stämme ihres eignen
Volkes gebrauchen. Seine jetzige Anwendung involvirt demnach einen dop-
pelten Mißbrauch, weil er von einem Zweige eines nicht kadjakischen
Volkes auf den eines kadjakischen übei tragen worden ist und ausserdem
von sesshaften Leuten des erstem auf nomadische des andern. Nach dem
jetzigen russischen Sprachgebrauche werden nämlich vorzugsweise unter
Tschuktschi die mit ihren Rt nnthierheerden wandernden Geschlechter des
gleichbenannten Stammes und unter Namolli diejenigen verstanden, die nach
dem Verlust ihrer Heerden zu ansässigen Fischern und Jägern geworden sind-
Die Korjaken sind von den Russen wahrscheinlich nach dem Worte chöra
benannt worden, mit dem sie selbst ein Rennthier bezeichnen und welches
daher bei den Verhandlungen der Eindringlinge mit eleu Eingeboruen zuerst
•) Yergl. L. Sagoskin's Heise und Entdeckungen im russibclien Amerika im Arcb. fül
»issenscli. Kunde von Russland, Bd. VI, S. 499 u. tU3, Bd. VII, S. 429 u. 480.
:i07
und vorzugsweise gebraucht wurde Cnter dem zu benennenden Volke selbst
soll muh An eines Gattungsnamens das Wort Tumugutu üblich gewesen
sein, offenbar aber nur. wie immer in ähnlichen Füllen, zur Bezeichnung eines
Stammes desselben durch einen andern.
Noch unberechtigter sind bekanntlich die Benennungen Kamtschadalen
und Kurilen. Die Cl'Stere ist ausser jedem Zusammenhange mit dem Auf-
druck Iteljmen. den das zu bezeichnende Volk von jeher für jeden mensch-
lichen Einwohner und daher auch für die ihrem Laude angehörigen ausschliess-
lich gebraucht hat Er wird noch näher erklärt durch das sogenannt kamt-
schadalische Wort itelachsa ich wohne oder lebe. Dass aber die Sylbe
inen für sich einen Mann bedeutet (wie Krascheninikow angeblich nach
Steller zur Erläuterung des Iteljmen angiebt), scheint auf einem Irrthum
zu beruhen.*) Zu einiger Erklärung des Ausdrucks Kamtschadal oder
K am t seh ad a le z, der schon in den Berichten der ältesten Reisenden vor-
kommt, hat man angenommen, dass? ihn diese dem einigermassen gleichlau-
tenden ehontschala nachgebildet haben, welches bei den Korjaken zur Be-
zeichnung ihrer südlichen Nachbarn in Gebrauch war. Einen Zusammenhang
mit dem kanitschadalischen Worte kam/a oder ksamsan = Mensch halte
ich aber für etwa in gleichem Maasse wahrscheinlich (s. die vorige Anmer-
kung), wenn auch ebenso unerweislich wie den bisher angenommenen.
Die russischen Namen Kurili und Kurilskie ostrowa sollen endlich
aus einem Worte Kuschi oder Kusch in entstanden sein, mit dem die be-
tielbnden Insulaner von den Kamtschadalen bezeichnet wurden. Es ist kaum
zu glauben, dass dieses Wort rein appellativisch gebraucht wurde. Seine ur-
sprüngliche Bedeutung ist aber eben so unbekannt, wie sein Uebergang in
den fast allzu weit abstehenden russischen Namen Kurili unvermittelt ge-
blieben.
Auf der nun schliesslich noch eiumal zu betrachtenden amerikanischen
Seite des Berings-Meeres werden die ethnographischen Namen bei weitem
zahlreicher, wenn mau zu dem bisher Erwähnten die Augaben von Einwan-
derern und Reisenden über Stamme s unterschiede der Eiugebornen hinzu-
nimmt. Ein jedes der vier als sprachlich selbständig aufgezählten Völker zer-
fällt dann entweder in einige Abtheilungen, deren Dialecte man bereits nach
*) Opisanie Kamtsehatki Step. Krascheninikowym 1755, ito, Tsch. 3, str. 3, uuü Eruaau,
Reise ii. s. w., liistor. Ber., Bd. 3, S. 251 u.422, wonach l>ei den jetzigen Bewohnern von
Kamtschatka der Ausdruck Iteljmen wie Itenemeii lautete, ti'ir den Begriff Men sc li aber
um in Gebrauch waren bei
den nordwestlichen den mittleren
sogenannten Kamtschadalen
die Worte Ksänisan , , .
tisch kain/a.
und lisch kämya I
Das räthsel hafte Kamtschadal der russischen Einwanderer könnte somit von ihnen auch wohl
/ur Annäherung an die Worte Ksamsan und Käm/a gebildet worden sein, welche sie zugleich
mit dem Iteljmen und nahe gleichbedeutend anwenden hörten
21*
308
eingehenderer Untersuchung als verschieden erkannte, oder in weit zahlrei-
chere Stämme, die nur selbst sich für einander fremd und ihre Verbreitungs-
bezirke meist für nicht grösser erklärt haben sollen, als die jedesmaligen Ab-
stände der Wohnplätze in dem Lande dem sie angehören.
Als Unterabtheilungen der ersteren Art erwähnt Wenjaminow und sind
auf unserer beiliegenden Karte zu finden:
bei den Aleuten die Unalaschkaer
und Atchaer,
bei den Koljuschen die Jakutater unter 4,
„ «Sitchaer „ 5,
„ Kaiganer „ 6,
bei den Ttynai „ Atachtani „ 3a, die als Anwohner der
mjednaja rjeka (d. h. des Kupfer-
flusses) auch unter dem Namen
Mjednöwzy aufgeführt werden,
„ Koltschani unter 3 b,
„ Kuskokwimjuti unter 3 c,
„ Kwichpagmjuti „ 3d,
bei den Kadjakern (Ka-
nägikh) oder Konjagi „ eigentlichen Kadjaker unter 2a,
„ Aglegmjuti unter 2 b,
„ Tschugatschi unter 2 c,
„ Tschuagmjuti „ 2d,
„ Malegmjuti „ 2e,
„ Tschuktschi „ 2 f.
Von den Stammesnamen der andern Art habe ich nur einige verzeichnet,
zu welchen entweder bemerkenswerthere ethnographische Angaben vorliegen,
"wie die von Sagoskin über die kadjakischen Stämme Asjagnijuti und Kaug-
julit und der ttynaischen: lnkilik und J ugclnj ut, oder aber einander wi-
dersprechende, die einer Ausgleichung bedürfen. Es gilt dies namentlich von
den Ugalachmjuti, die, wie schon oben erwähnt, von den ältesten Beschreibem
als ein an die Koljuschen grenzender, aber ihnen entschieden fremder Stamm
geschildert, von Wenjaminow dagegen den Jakutater oder nördlichen Kolju-
schen als iutegrirend und gleichartig zugezählt werden. Es ist um so wahr-
scheinlicher dass in dieser Gegend die späteren und jetzigen ethnologischen
Verhältnisse erst durch Entstellung aus den ursprünglichen entstanden sind,
da auch Wenjaminow's gesammte Unterscheidung zwischen mittleren oder
»S'itchaer Koljuschen und nördlichen oder Jakutater Koljuschen der ausdrück-
lichen Versicherung der älteren Reisenden, dass beide identisch seien (vergl.
u\>vu S. 303), widerspricht.
309
Auf dem Ocean zwischen Kamtschatka und -Sitcha.
Auf dem 5fi(! deutsche Meilen betragenden Wege, den wir zwischen dem
]:» October und f>. November von Petropaulshafen (d. i. 53° 0',5 Br , l.r>f>° I9',8
0. v Par.) nach Neii-Archangelsk (d. i. 57° 2',7 Br, 222° U',3 0. v. Par)
in einein bis 47" Hr. gegen Süden reichenden Bogen zurücklegten, haben
wir 14 Punkte durch sorgfältige astronomische Beobachtungen bestimmt. Die
Vcrgleichung dieser Punkte mit den entsprechenden welche das Schiff ohne
jeden Einfluss von Meeresströmungen erreicht haben würde, hat zu
einem auch in ethnologischer Beziehung beachtenswerthen Resultate geführt.
In der .Gesammtheit der bezeichneten Gegend des grossen Oceans fand sich
nämlich die Meeresoberfläche während der genannten Jahreszeit in einer nach
Ost zum Süd gerichteten Strömung, welche erst nahe bei Amerika in eine
nach Norden gerichtete überging.*) In beiden Districten wurden durch den
vorherrschenden Wind, d. h. durch einen westlichen in dem ersteren und
durch einen südlichen in dem anderen, diese Wasser -Bewegungen nicht
allein erklärt, sondern auch ihre Wirkungen auf die Schifffahrt erheblich ver-
stärkt. Ich habe mich aber ferner durch Rechnungen über andere Schiffstage-
bücher überzeugt, dass während des Sommers eine jede der genannten Be-
wegungen in ihr Entgegengesetztes übergeht
Es folgt hieraus, dass sowohl absichtliche wie zufällige Uebergänge von
Asien nach Amerika im Spätherbst und. Winter durch die Naturverhält-
nisse erleichtert werden, freilich aber nicht mehr, als dergleichen von ent-
gegengesetzter Richtung im Sommer.**)
Unsere meteorologischen Messungen während der Ueberfahrt haben fer-
ner etwa für die Mitte des genannten Weges, das heisst für
den 26. Oct. bei 51°,1 Breite, i das Tagesmittel der Lufttemperatur - f 5°J R.
187°,5 0. v. Par. J „ „ „ Wassertemper. = 4- 6°,4 R.
und mithin die erstere um 4°, 9 R grösser ergeben, als an demselben Tage
sowohl bei Petropanshafen, als auch (wegen der fast nord-südlichen Richtung
des betreffenden Elementes einer Isotherme) bei 51° Breite auf Kamtschatka.
Dieser höchst merkliche Unterschied scheint geeignet, um reisefähige Thiere
eben dahin zu locken, wohin ihnen zu Anfang und während der kalten Jah-
reszeit auch die genannten Luft- und Wasserströmungen förderlich sind.
Meerwärts ziehende Schnepfen haben wir denn auch wirklich neben und auf
*) Vergl. meine „Ortsbestimmungen bei einer Fahrt durch den Grossen und den Atlan-
tischeji Ocean auf der Corvette Krotkoi u. s. w." im Archiv für wissensch. Kunde von Russl.,
Bd. X, S. 496, 512 u. 5o9
**) Zur Bestätigung dieses Resultates und namentlich der zweiten Hälfte desselben werden
alljährlich von der amerikanischen Küste ungeheuer viele Baumstämme an die Ostseite der Mat-
w ei -Insel (61° Breite, 185° 0. von Paris) und der ihr zunächst gelegenen unbenannten klei-
nen Insel gespült, während an den Westseiten derselben keine Spur von Treibholz zu finden
ist. Schon Sarytschew sah hierin mit Recht den Beweis einer zur Sommerzeit im Berings-
Meere herrschenden Strömung von der amerikanischen gegen die asiatische Küste.
310
unserem Schiffe zuletzt noch bei 30 deutsche Meilen von iler nächsten kann
schatischen Küste gesehen, sowie auch bei 8 deutsehe Meilen von dieser
Küste einen sie verfolgenden Wanderfalken (Falco peregrimis) , den östliche
Windstösse ermattet zu uns trieben, gefangen und von da ab einen Mona!
lang beherbergt. Als acht Wochen später ein dne Schnepfen und Ctrandläti-
fern genau so wie der genannte kamtschatische nachstellender F. <pei'egnnu8
der erste war, den ich an der californischen Küste schoss, mag dieser Zufall
uns bestärkt haben, die Herkunft von Asien auch denjenigen Schnepfen,
Tringa- Arten, Enten, Kampfbahnen und den zahllosen wilden Gänsen zuzu-
schreiben, die man dort im December ebenso wiederfand, wie man sie im
Sommer an ähnlich gelegenen Stellen von Kamtschatka gesehen hatte.
Zu der Annahme so ungeheurer Wanderungen wurden wir aber geneig-
ter, als wir nahe an der Mitte und am südlichsten Punkte unserer dermaligen
Fahrt sowohl Seepapageien [Lunda arciica J'all., L. j.wutacida Pall.), wie auch
kamtschatische Urily (Phalao'ocora.v bicristatus Pull.) trafen, mithin zweierlei
Vögel, welche bei den nordischen Seefahrern für untrügliche Landboten gel-
ten.*) Wir vermutheten in jener Gegend eine Insel, auf die manche Angaben
früherer Reisenden deuteten, und so wurde denn auch trotz sehr stürmischen
Wetters und daher nicht ohne Beschwerde des Nachts gelothet, um eine un-
angenehme Berührung mit den nahe geglaubten Herbergen jener Vögel zu
vermeiden. Wir fanden aber weder damals noch am folgenden Tage irgendwo
weniger als 600 engl. Fuss Tiefe und auch sonst keinerlei Spur von Land
oder Felsen. Die für sesshaft gehaltenen Thiere mussten also entweder für
Wanderer erklärt werden, die sich von ihrem Ausgangspunkte und von ihrem
Ziele gegen 300 geogr. Meilen entfernt befanden*'"'') oder für unfreiwillig Ver-
schlagene. Es wäre ihnen im letzteren Falle nicht anders wie den japanischen
Schiffern ergangen, welche von ihren Küstenfahrten längs der Kurdischen
Inseln weit in den Ocean hinaus getrieben wurden und dann theils bei den
Aleuten landeten, theils, nach langem Umherirren, an der Ostküste von Kamt-
schatka. Unter fünf Irrfahrten dieser Art, die sich in den Jahren 1729, 1785,
1790, 1796 und 1811 ereigneten, haben die zweite und vierte mit der Ankunft
der Japaner auf den aleutischen Inseln geendet, die erste zwar mit einer
Landung an der Südspitze von Kamtschatka, jedoch erst im Sommer (18. Juni),
nachdem die Reisenden ihren Mast uud ihr Ruder verloren und während 211
Tagen (seit 19. Novbr.) willenlos wohl bis nahe an eine amerikanische Küste
irctrieben hatten. Strom und Wind haben um das Ende dieser Fahrt — den
Jahreszeiten gemäss — die Wirkung wieder aufgehoben, welche sie auf die
*) Auch in dem amtlichen Logbuch der Corvette wurde damals verzeichnet: „halten uns
für nah an Land, wegen der l'rily, die um uns fliegen."
**) Wenn man nämlich eine Wanderung derselben von Kamtschatka nach Amerika an-
nahm. Die nächste aleutische fnsel Amtschitka lag naher, jedoch immernoch 81 Meilen
nördlich von unsenn damaligen Orte.
311
erste Hälfte derselben geübt hatten *) Von den Japanern die um 1790 nach
rinn russischen Küste verschlagen, 1792 durch den jüngeren Laxmann zu
den Ihrigen zurückgebracht und bei diesen wegen unerlaubt weiten Eleisens
zu ewiger Einsperrung veiurtheilt wurden, halte ich nicht erfahren können,
ob sie in Amerika oder, wie die von 1811, auf Kamtschatka strandeten. Zu-
fällige Uebergünge von Asien nach den amerikanischen Inseln und Küsten
halten sich aber wählend des letzten Jahrhunderts jedenfalls häufig genug er-
eignet, um «lass man deren Vorkommen iu weit früheren Zeiten für an sich
nicht unwahrscheinlich erklären rnuss.
Nachdem wir am 4. Novbr. Mittags bei frischem Südostwinde die ameri-
kanische Küste gerade so wie unsere Rechnung erwarten Hess, erblickt hat-
ten (denn die Sitchaer Festung sollte damals 6,7 geogr. Meilen von uns nach
NG7°0 hiu, der Edgecomh neben ihr und beträchtlich näher liegen), verging
noch der folgende Tag und die Nacht zum 6. Novbr. mit Behauptung des er-
reichten Ortes unter einem wüthenden Winde aus S und SW. Erst am 6.
kurz vor Mittag hatten wir näher an der S'itchaer Einfahrt beigelegt und mit
der Flagge einen Lootsen gefordert.
Empfang und Landung auf <Sitcha.
Was bald darauf vom Saling des Hauptmastes gemeldet und sodann auch
vom Verdeck ans sichtbar wurde, erschien täuschend wie zwei schmale
schwarze Fische von seltenster Länge, die ungehindert über die Kämme der
Wellen hinweggli'teu. Ein zierliches europäisches Boot bewegte sich zwischen
ihnen und der schäumende Bug desselben zeigte schon aus der Ferne die
Anstrengung seiner vier Ruderer, um sich neben den cylindrischen Wesen
zu erhalten. Es waren diese die ersten dreilukigen Lederboote
(Baidaren) die ich sah, nachdem ich die einlukigen oder Baidarkeu
schon iu Ochozk und Petropaulshafen kennen und bewundern gelernt hatte."")
Die aleutischeu Ruderer in der vorderen und hinteren Luke eines jeden
dieser Fahrzeuge und der Lotse in der mittleren Luke des einen von ihnen
waren, wie erwartet, mit der sogenannten Kamleika bekleidet und mit deren
Rand in das Verdeck gebunden, während eingenähte Schnüre sie auch um
den Hals und die Handgelenke wasserdicht schlössen; denn hier war es Ernst
geworden mit der oft gehörten Behauptung, dass die Kleidung der Baidaren-
fahrer einen unerlässlichen Theil ihres Schiffes ausmache, und dass sie in den
über das Verdeck wie über einen Fischkürper schlagenden V\ eilen auf die
Undurchdringlichkeit ihres durchscheinenden Rockes ebenso zu rechnen hat-
ten, wie der Luftschiffer auf die seines Ballons. Auch verstand sich von
*) Bekanntlich zum Unglück der betroffenen siebzehn Manu, die bei den Aleuten gut auf-
genommen worden wären, bei den Russen auf Kamtschatka aber von einem räuberischen Be-
amten (dem sogenannten Pjatidesjatnik oder Kosakeniuhrer Schtschinikow) und dessen Bande
geplündert und bis auf zwei erschlagen wurden.
**) Vergl. meine Reise um die Erde u. s. w., histor. Ber., Bd. 3, S. 67 ff.
312
selbst, dass hier nach uuverderbter Landessitte die Baidaren aus den Fellen
der Phoca nautica (den sogenannten Lachtaki der Russen) genaht waren,
die Kamleiki aber aus den Därmen des »Siwutsch (Phoca leoiiina) oder
aus Walfischdärmen, anstatt wie die werthlosereu Surrogate der russischen
Händler aus den Schleimhäuten des Halses der Robben, die nach echter
Landessitte nur zur Fussbekleidung dienen sollen.*) Die Aleuten hatten den
Fremden zu Ehren auch einen andern Theil ihrer merkwürdigen Traoht so
vollständig wie in den Zeiten ihrer Freiheit und Blüthe angelegt. Sie trugen
die hölzernen Hüte, deren lange Schirme die Augen der Baidarensehiffer vor
der Wellenspreu zu schützen bestimmt, welche aber ausserdem mit geschnitz-
ten und bemalten Figuren und über der linken Seite des Kopfes mit Büscheln
von Barthaaren des Seelöwen höchst geschmackvoll und sinnreich verziert sind.
Trotz ihres unentstellten Ansehens waren jedoch diese Insulaner, wie alle
ihre Landsleute auf »Sitcha und wie die Seeleute auf dem europäischen Boote
welches sie geleiteten, nur übersiedelte und dienstbare Untergebene der rus-
sischen Handelscompagnie.
Die eingebornen und freien Bewohner von »Sitcha, die Koljuschen, hat-
ten sich zwar auch und weit zahlreicher zu dem üblichen Empfange der
Fremden aufgemacht. Sie verlassen aber nicht die Meeresstrassen, von denen
der Theil von Amerika den sie bewohnen, überall durchsetzt und für ihre
Wanderungen und Jagdzüge wie eigens vorbereitet erscheint. In einer dieser
Strassen, die von dem Ocean auf die »S'itchaer Rhode führt, fanden wir, dicht
neben dem gewaltigen Seegang der draussen von den letzten Stürmen noch
blieb, ein kaum bewegtes WTasser. Auf diesem und mitten in dem prachtvol-
len Walde, von dem wir nun, noch unter Segel, rings umgeben waren, hiel-
ten in zahlreichen Gruppen die offenen hölzernen Boote der Koljuschen, mit
Männern und Frauen, die nur zur Hälfte bekleidet, mit seltsamst geschmück-
ten Gesichtern, die Ankommenden theils nur mit aufgehobenen Rudern be-
grüssten, theils schon die Gastgeschenke entgegenhielten, durch welche sie
wie andere Handelsvölker jeden neuen Umgang zu einem freundschaftlichen
und später vortheilhaften zu machen gewohnt sind.
Unter Anschluss an eine auf der Rhede gezeichnete Gesammtansicht und
an einige Vegetationsbilder aus der Umgebung von Neu- Ar changelsk**)
habe ich schon früher über das Klima des Koljuschenlandes, insofern es des-
sen Vegetation und die Lebensart seiner Bewohner bedingt, und sodann über
die Trennung der »S'itchaer Niederlassung in eine europäisch-aleutische
Hälfte und in die den eingebornen Herren des Landes verbliebene (dem so-
genannten Koljuschen- Dorf) das Wesentlichste erwähnt.***) Es folge
•) So wie Quappenhäute bei den ichthyophagischen Ostjakenstämnien am Obj. Vergl.
meine Reise u. s. w., histor. Ber., Bd. 1, S. 570, 547.
•*) Nach F. 11. v. Kittlitz, Vegetationsansichten von Küstenländern der Südsee.
•••) Sitzungsber. der Beil. Gesellsch. für Anthropol. vom 15. Januar 1870, pag. 2. Um die
klimatischen Bedingungen und die Vegetationsverhältnisse der nordamerikanischen Küstenländer
313
daher nun, was ich in diesem, seinem ursprünglichen Zustande mich nicht
entfremdeten Thcile. der Insel nach einander gesehen und durch manche münd-
liche und schriftliche Mittheilungen der russischen Nachharn der Koljuschen
zu ergänzen gesucht habe. Zu den Erfahrungen der erstcren Art ist zu er-
wähnen, dass sie mir, wie alle späteren bei meiner Rückkehr von Kamtschatka
nach Europa auf der Corvette Krotkoi, in steter Gemeinschaft mit dem jetzigen
Adiniral und damaligen Midshipman der nissischen kaiserlichen Flotte Herrn
Eugen Bereits zuTheil wurden. Dieser ausgezeichnete Seemann hat mir aber noch
vor wenigen Wochen geschrieben, dasa viermalige Reisen um die Erde und
ebenso zahlreiche Aufenthalte auf Sitcha sein Interesse für unseren ersten
Verkehr mit den Koljuschen nicht zu schwächen vermocht oder unsere Ur-
tbeile über dieselben wesentlich geändert haben.
Die Koljuschen auf »Sitcha.
Mit der gewünschten Ausschliessung der Eingebornen aus der europäi-
schen Niederlassung wurde es nicht allzu streng genommen, denn in der Nähe
der am Strande gelegenen russischen Häuser sah man oft ein einzelnes Boot,
in dem einige Koljuschen anscheinend absichtslos ruhten. Sie waren aber
dann immer mit den Einwohnern des Hauses, in das sie nicht eintreten durf-
ten, in Unterhandlung um die Steinbutten, die Enten, das Wildschaf u. dgl.,
die sie gezeigt und dann wieder versteckt hatten und welche sie erst nach
mehrmaliger Erhöhung des gebotenen Preises losschlugen. Die koljuschischen
Frauen, denen der Handel wie alle ökonomische Thätigkeit von ihren Män-
nern übertragen ist, zogen diesen heimlichen Verkehr dem erlaubten vor, der
auf einem dazu bestimmten Marktplatz zu verabredeten Zeiten gewünscht
wurde. Eine wesentlichere Ausnahme von jener Ausschliessung stand aber
auch vertragsmässig fest. Sie betraf den Besitz einer Oertlichkeit, die ganz
nahe bei den Grenz-Palisaden, aber noch auf der russischen Seite derselben
liegt. Es ist diese ein kleines felsiges Vorgebirge, welches vom Lande aus
einen bequemen Zugang hat, gegen das Meer aber als eine senkrechte Klippe
abfallt. .In den Morgenstunden war nun immer die breite Oberfläche dieses
Felsens von einem Haufen koljuschischer Männer und Frauen eingenommen,
die regungslos auf den Fersen hockend und die Schultern in ihre wollenen
Mäntel gehüllt in das Meer hinaus sahen. Sie schienen mir immer in fest-
licher Tracht und hatten oft auch bemalte Gesichter. Man hat bei diesen
mit den ihnen entsprechenden nordasiatischen zu vergleichen, bemerke ich noch, dass bei glei-
cher Breite auf 5itcha
die jährliche Mitteltemperatur um 4°,2 grösser,
die Temperatur des kältesten Tages um 8°,8 grösser
und dagegen nur die Temperatur des wärmsten Tages um 1°,0 kleiner ist als aut Kamt-
schatka. Vergl meine Reise u s. w., histor. Ber , Bd. 3, S. :T8 u 5G0 — sowie über den ebenso
schönen, als von dem Sitchaer verschiedenen landschaftlichen Habitus und die Vegetation kamt-
schatischer Wohnplätze an der Westküste und im Innern der Halbinsel: a. a. 0. S. 135, 156,
310 u. a. und im Atlas zu S. 351, 4t',n,. :, n, ,51.
314
seltsamen Sitzungen, welche von Alters her die Aufmerksamkeit und die Be-
sorgnis«; der Kusseu erregl haben, an blosse Wetterbeobachtungen gedacht,
nach denen die Koljuschen etwa ihren Fischfang und andere Geschäfte ein-
richten wollten. Die geringe Höhe ihres Sitzplatzes macht aber denselben zu
solchen Beobachtungen kaum merklich geeigneter wie jeden andern Punkt
des Strandes. Einigen Aufschluss über die Meinung oder den Glauben welche
diesem auszeichnenden Gebrauche zu Grunde lagen, gewährt dagegen die
ausdruckliche Erwähnung solchen Sitzens auf der Klippe in denjenigen
Sagen der Kolj tischen, von denen eine wörtliche Uebersetzung vorliegt Das-
selbe wird dort einerseits als ein Genuss genannt, den man sich nur bei
glücklichster Müsse gönnen könne und ausserdem als Folge der Trauer oder
eines Unglücks, bei dem dann dem Betroffenen in wunderbarer Weise vom
Meere aus Hülfe zu Theil wird (vergl. unten über Religion und Sagen
der Kolj us eben).
Die 20 bis 30 Wohnhäuser des Sitchaer Koljuschendorfs unterschieden
sich durch leichtere und zierlichere Bauart vor den Balkenhäusern, die man
in Sibirien und auf Kamtschatka als Winterwohnungen ansässiger Stämme
zu sehen gewohnt wurde, ohne doch weder mit den Sommerwohnungen die-
ser Stämme überein zu kommen, noch mit den stets kegelförmigen trag-
baren Stangenbauten (Zelten), welche die wandernden Nord-Asiaten in
überall gleicher Weise mit Decken aus Filz, aus Rennthierfellen, aus genäh-
ten Streifen von Birkenrinde oder von Fischhäuten belegen.*)
Die Wände dieser /S'itchaer Häuser bestehen aus behauenen Bohlen, die
/.wischen vier Eckpfosten mit ihrer längsten Seite senkrecht neben einander
gestellt sind und daher mit ebenfalls senkrechten Fugen auf den Wänden
sichtbar bleiben. Die Dächer sind (vierflächig pyramidal) ziemlich stumpf ge-
neigt und bestehen gleichfalls aus brettartig behauenen Hölzern, ohne die
bei den jakutischen und anderen Winterjurten übliche Beschwerung mit Stei-
nen oder Erde. In der einen der kürzeren Wände dieses oblongen Gebäudes
bildet eine elliptische Oeffnung die Thüre, zu der meistens einige Stufen so-
wohl von aussen als auch von dem etwas tieferen Fussboden des Wohnrau-
mes führen. In diesem sind die der Thüre gegenüber und zur Seite gelege-
nen Wände wie in allen nordasiatischen Winterwohnungen von den auf rus-
sisch sogenannten näry eingenommen, d. i. von mannslangen, 4 Fuss breiten
und etwa \}2 Fuss hohen Schlaf bänken, die ausserdem am Tage von den
[•'lauen bald als Tische, bald als Sitze gebraucht und von denen je mehrere
durch zwei Matten oder Felldecken zu einem Abschlage für eine der zum
Hause gehörigen Familien verbunden werden. Bei gleicher Anordnung des
\ ergl. beziehungsweise Ermau, Reise; u. s. w , histor Ber., Bd. 1, S. 425; Bd. 2, S. 103;
Bd. l, S 693; IM. 2, 8. 300, 339, 362, 307; Bd, •->, S. ±00 u. 420 über diese Anordnung bei den
Baschkiren, den ßuräten, den Samojeden, den Jakuten und den Fiseh-Tungusen, und die Zeich-
nungen zu Catlin, letters and notes u. s. w. über deren häufiges Vorkommen im Osten der
Rock] Mountains zwischen 50° und 45° N. Br.
810
Innern fehlte also hier vollständig diejenige Ucberschüttung des hölzernen
Gebäude« mit eiuern Erdhügel, die Kamtsohadaleu und Aleuten nach ursprüng-
licher Tradition, die Kangjulil am Norton-Sunde (63" bis fiö" Breite, 107"
( ). von P.u-i.s) bis in die acueste Zeil für ihre Winterwohnungen gebrauch
ten*) und welche man sodann aufs bemerkeuswertheste und vollständigste
übereinstimmend — am oberen Missuri bei den sogenannten Mandan
und den ihnen zuuächsl lohnenden Stämmen wiederfindet (etwa 47,5" Ib.,
335" O. v. Par.).**J
Gewisse grössere und auch im Innern wesentlich anders eingerichtete
Gebäude, die von den Russen sogenannten Kasim oder Kay im <\<:>, Dorfes,
leinten wir eist bei einigen späteren Gelegenheiten kennen.***) - Zwischen
die Wohnhänser eingestreul stehen aber ausserdem die zu Trockenanstalten
und Vorrathskammern dienenden Bauwerke, d. i. kastenförmig durch senk-
rechte Bohlen begrenzte und überdachte Räume, welche 10 bis 15 Fuss über
dem Erdboden liegen und mittelst eines leiterartig eingekerbten Baumstammes
erstiegen werden. Der untere, nur durch den Boden dieses oberen Stockwer-
kes bedeckte Raum dient , wie die Unterhälfte der Balagane auf Kamtschatka
und wie die Wjescheläk bei Ochozk,f) zur Bereitung des Jukola - flenn
mit diesem auf Kamtschatka üblichen Ausdruck haben die Russen das an der
liiit'i getrocknete Fischfleisch auch in ihren amerikanischen Colonien überall
benannt. Die Anordnung und Verwendung dieser Bauwerke sind hei den
nördlicheren Anwohnern der amerikanischen Küste genau dieselben wie auf
Sitcha und ebenso auch mitten in Nordasien bei den Ostjaken am Obj.ffJ —
Der kanitschatische Gebrauch ihres oberen Stockwerkes zu den nestartig ein-
gerichteten Sommerlagern, die man Luft-Pfahlbauten nennen könnte, ist aber
hierher eben so wenig gelangt wie irgend eine Erinnerung an die vielbesag-
ten Wasser-Pfahlbauten oder an schwimmende Wohnungen.
Dem Häuptling des Rabenstammes derKoljuschen, Nauschket,fff) hatten
wir bei unserem ersten Aufenthalt in ihrer Niederlassung den Besuch zu er-
wiederu, den er unserem Schiffe, sobald es vor Anker gegangen, gemacht
hatte. Er war nun vor Allem bedacht, uns die Reichthümer bewundern zu
lassen, welche er und die Seinigen theils unabhängig von den russischen
Kaufleuten, theils gegen deren Willen und ihnen zum Trotz zu erlangen wussten.
*) Vergl. Sagoskin im Archiv für wissenschaftl Kunde von Russl., Bd. VI, S. öüC.
**) Vergl. Catlin, letters aud aotes u. s. w., Vol. I, tab. 47, 69, pag. 81 u. a
***) Die Benennung Ka/im ist zuerst auf Kadjak für dieselbe Art von Gebäuden üblich
gefunden worden.
t) Vergl. meine Reise u. s w., bistor. Der., Bd. 3, S. IM, 307, 414, 410 und S. 13.
"HO Sagoskin a. a. U. und Erman, Reise a a. 0., Bd. 1, S. 567.
ttt) Dass die »Sit. haer Russen diesem wie allen andern angesehenen Männern eines belie-
bigen l rvolkes den Titel Tojön beilegten, isl bedeutungslos, denn die Annahme dieses jakuti-
schen Wortes (Erman, Reise, bistor. Ber., Bd 2, S 246) gehurt zu den oben erwähnten miss-
bräuchlichen Verallgemeinerungen ihrer Erfahrungen auf dem Landwege durch Nordasien. ,\gl
auch unten über Freiheit und Sklaverei bei den Koljuschen.)
316
Zu den letzteren zählten vortreffliche Doppelflinten und Büchsen, die aller-
dings aufs überraschendste abstachen von den sogenannten Wintowki, d.h.
den am Ural gearbeiteten groben Stutzen, den einzigen die sowohl durch
Nord-Asien als auch hierher durch den russischen Handel verbreitet, wurden.
Die Koljuschen erhielten jene kostbaren Gewehre bei ihrem Pelzhandel mit
amerikanischen Schiffern in den Strassen, oder auch durch indirekte Ver-
bindung mit ihren Verwandten auf der Vancou ver-Insel. Sie jagen auf
dem Festlande, betreiben aber auf dem Meere so vorzugsweise den eigent-
lichen Fischfang, dass sie das Walfischfleisch, die vorzüglichste Ausbeute
der Seejagden und die Lieblingsspeise der Aleuten, sogar für unrein und
verboten erklärt haben. Aus eben diesem Grunde haben sie die Vorzüge der
Feuerwaffen eben so schnell und so willig anerkannt, wie die meisten nord-
asiatischen Stämme. Sie unterscheiden sich auch hierdurch von den Aleuten,
welche auf der Baidare ihre Wurfwaffen von uralter und ihnen durchaus
eigentümlicher Einrichtung beibehalten, gegen die europäischen aber einwen-
den, dass der Knall und der Pulvergeruch das schon an sich äusserst em-
pfindliche Seewild und namentlich die Seeottern bleibend vertreiben würde.
An die Landjagden der Koljuschen erinnerte ferner eine sehr schöne Art
von schlanken weissen Wolfshunden, die den Strand und die Umgebung der
Häuser belebten.
Auch zu den Feicrkleidern welche Nauschket in kostbaren japanischen
Kisten aus Kampherholz aufbewahrte, schienen jetzt europäische Stoffe häu-
figer verwendet wie die Zeuge aus mühsam gezwirnter, theils weisser, theils
mannigfaltig gefärbter Wolle des Argali, die von jeher und noch immer zu
den wunderbaren Kunstleistungen der Koljuschinnen gehörten. Hier zeigte
man uns Mäntel von landesüblichem Schnitt, aber aus scharlachrothem oder
schwarzem Tuch, das, wenn überhaupt von den Russen, doch nur zu entsetz-
lichen Preisen zu erhalten und welches mit platten Perlmutterstücken und
andern einheimischen Zierrathen sehr kunstvoll besetzt und ausgenäht war.
Weit merkwürdiger schienen uns indessen unter diesen Reichthümern die
zweischneidigen, mehr als fusslangen kupfernen Dolche, die der Besitzer
nur gelegentlich sehen Hess, sowohl durch ihre eigenthümliche Form wie durch
ihre vollendete Ausführung. Ich erinnere vorläufig nur, dass meine Zweifel
an der einheimischen Erfindung und Anfertigung dieser Kunstwerke sich völ-
lig grundlos gezeigt haben und werde im Verfolge auf die Metallarbeiten und
sonstigen industriellen Leistungen der Koljuschen mehr im Zusammenhange
zurückkommen.
Die Frauen dieses Hauses, von denen wir später vier als die ehelich
anerkannten des Häuptlings kennen lernten, waren, offenbar im Verhältniss
ihres Alters, mit Lippeneinsätzen oder Kaljugi von verschiedener Grösse
versehen. Bei der ältesten war das von der ausgereckten Unterlippe umge-
bene und mit dem etwa ^ Zoll hohen Holzklotz gefüllte Loch von kaum un-
ter 3 Zoll Länge and dabei der Kreisform schon weit näher als bei jüngeren
317
Frauen. Bei diesen ist der Einsatz und daher auch seine fleischige Umgebung
elliptisch gestaltet und mit der kleineren Axe nach vorn vom Körper abge-
wendet. Die nach oben gekehrte Fläche der Kalj ugi ist bei den elliptischen
nach Art eines Löffels, bei den runden aber tellerartig ausgehöhlt, und beim
Gebrauche liegt der Rand horizontal, so dass die untere Zahnreihe völlig un-
bedeckt bleibt. Auch die Seiten- oder Mantelfläche des cylindrischen Körpers
ist vertieft, d. h. in der Hälfte ihrer Höhe von kleinstem Durchmesser, nach
Art eines Knopfes. Das Einbringen und Herausnehmen der Kaljuga sind
daher jedesmal mit beträchtlicher und wie man glauben sollte schmerzhafter
Ausweitung und Zusammenziehung der Lippen verbunden. Ich sah sie den-
noch wiederholentlich und ohne Widerwillen oder Anstrengung vollziehen,
namentlich zu Ehren der europäischen Speisen, mit denen die vornehmen
Koljuschen und ihre Frauen während des üblichen Festes auf unserem Schiffe
bewirthet wurden. Mehrere der älteren Frauen hatten während dieses Mahles
die hölzernen Teller aus ihren Lippen neben die europäischen, von denen
sie assen, gelegt. Um sich nun endlich von dem Sinne dieses seltsamen
Gebrauches Rechenschaft zu geben, konnte man annehmen, dass die Kolju-
schen zwar auch die arge Entstellung bemerken, die sie ihren von Natur
sehr schönen Frauen anthun, dass sie aber dazu durch eine Eifersucht ver-
anlasst würden, die mit der Dauer des ehelichen Besitzes zunähme; etwa so
wie die Korjaken, deren Frauen sich bei der Ankunft von Fremden durch
schmutzige Oberkleider entstellen mussten.*) Gegen Bewerbungen von Euro-
päern und wohl auch von anderen fremdstämmigen Männern sind die Kalju-
gen-Trägerinnen in der That im directen Verhältniss zur Grösse ihrer wider-
wärtigen und bei alten Frauen sogar ekelhaften Ausstattung gesichert —
aber jene Erklärung ist dennoch unbegründet Die erwachsenen Mädchen und
Frauen die wir mit undurchbohrten Lippen sahen, empfanden diese Erhal-
tung ihrer Schönheit nicht als einen Vorzug, sondern als eine Zurücksetzung.
Sie gehörten zu den armen und unfreien Familien oder den von den Russen
sogenannten Kalgi. Den Töchtern der Reichen oder Vornehmen wird da-
gegen die Unterlippe schon sehr früh und jedenfalls längst vor ihrer Verhei-
ratung durchbohrt.
Auf Erkundigung nach diesen Verhältnissen hörten wir von unserem *b'it-
chaer Begleiter, dass gerade jetzt die betreffende Operation an der Tochter
eines anderen Vornehmen (Tojon) vollzogen worden sei und wurden zur
Besichtigung derselben in ein Kayim, d. i. wie wir nun erfuhren, ein Ge-
*) Krascheninikow, Opisanie Kamtschatka Tsch. III, S 148, wo es unter Anderem heisst:
„Die Rennthier-Korjaken sind über die Massen eifersüchtig und deshalb suchen ihre Frauen sieb
auf alle Weisen zu entstellen. ... Sie tragen ein schmieriges und zerfetztes Oberkleid. Wozu,
sagen die Männer, sollten sie sich schmücken, als um Andern schön zu scheinen, da wir sie
auch ohnedem lieben. Bei den ansässigen Korjaken und Tschuktschen ist es dagegen eine todes-
würdige Beleidigung, wenn ein Gast der ihm als äusserste Freundschaftsbezeigung angebotenen
Frau oder Tochter seines Wirtues nicht beiwohnt." Vergl. auch Ermau, Reise u. s. w., bist.
Ber., Bd. 3, S. 425.
318
meindehaus, geführt, in welchem alle festlichen Versammlungen abgehalten,
Fremde untergebracht und bewirthet und ausserdem häusliche Arbeiten, die
einen grösseren Kaum erfordern, ausgeführt werden.
Das Innere dieser Gebäude ist über den gewöhnlichen Näry oder Schlaf-
stellen mit einer zweiten Reihe von Abschlägen oder nach vorn ganz offenen
Logen versehen, deren Fussboden etwa mannshoch über dem der ersteren
liegt. Auf dem Boden dieses oberen Raumes und etwa in der Mitte desselben
sass nun heute das operirte Mädchen, lautlos und unbeweglich, offenbar zur
Schau für Vorübergehende oder Besuchende, während in den seitlichen un-
teren Theilen des Gebäudes Frauen und Männer ihrer Familie ohne Bezie-
hung auf sie beschäftigt schienen oder sich doch erst mit uns zu ihr begaben.
Die Grösse und das Ansehen dieses gefeierten Individuums Hessen, mit Rück-
sicht auf den hohen und kräftigen Wuchs der Koljuschinnen , auf ein Alter
von kaum über 12 Jahren schliessen. Sie war vollständig und offenbar sehr
sorgsam bekleidet, während wir doch vielen eben so grossen Knaben und
Mädchen, ganz nackt am Strande und zwischen den Häusern begegneten. Ich
habe nicht erfahren seit wie viel Tagen der Schnitt in ihrer Unterlippe aus-
geführt worden war. Er blutete aber nicht mehr, sondern erschien wie ein
etwa b' Linien langer, horizontaler Spalt, der nur in der Mitte merklicher
klaffte, welcher aber jetzt ohne Einsatz, die natürliche Lage der Mundtheile
nur wenig geändert hatte. Das Fest und die allgemeine Bewirthung, mit de-
nen die Einbringung der ersten Kaljuga verbunden sein soll, mochte in die-
ser Familie noch bevorstehen. Weit zweifelhafter ist mir dagegen deren Ver-
hältniss zu dem anderen gynaekologischen Gebrauche geblieben, der den Ko-
Ijuschen mit ihren nördlichen Nachbarn an der amerikanischen Küste und mit
den Aleuten gemein ist, sie aber von vielen anderen Völkern ebenso bedeut-
sam unterscheidet, wie ihre Vorliebe für hängende und vergrösserte Unter-
lippen.
Von dem letzten koljuschischen Wohnhause über den ziemlich weiten
Platz, auf dem bis zu dem Ausgangsthor der Palisaden nur noch einzelne
Ambary oder Vorratshäuser stehen, geht man an einer Reihe einander be-
rührender, 6 bis 8 Fuss hoher Hütten oder Käfige vorüber, die gegen die
See und die Strasse mit einem vergitterten Lichtloch versehen, sonst aber
von oben, ringsum an den Seiten und namentlich auch, soviel man sehen
konnte, von hinten an der Landseite mit grünenden Nadelholzzweigen dicht
bedeckt und abgeschlossen sind. In mehreren dieser Ställe oder grossen Kä-
fige befand sich je ein Frauenzimmer, meist sitzend und mit abgewandtem
Gesicht — in dem einen aber ein schlankes und jüngeres Mädchen, das eben
aufgestanden war und uns ansah, offenbar ohne wesentliche Störung durch
die seltsame Beschaffenheit ihres Gesichtes. Dieses war nämlich durchweg
geschwärzt, und zwar hier nicht, wie sonst, durch sorgfältige Bemalung, son-
dern, wohl mit Russ oder Kohlenstaub, fleckig und unsauber beschmiert.
Naeli unseren hergebrachten Vorstellungen glaubte ich mich vor den Gefäng-
319
nissen der Ortschaft zu befinden und hörte daher von unserem Sitchaer Be-
gleiter, auf die Frage: was die Eingesperrten verschuldet hätten, nicht ohne
Verwunderung die Worte: „tolko tscho u nich inj ävatsc Im oe " , d. Ii.
„Nichts weiter, als dass sie eben menstruiren." Es wurde dann fer-
ner ausgeführt, dass verheirathete und unverheirathete Frauenzimmer dieser
Behandlung in ganz gleicher Weise unterworfen werden und dass von einer
schweren Sünde, und zwar für beide Theile, erst dann die Rede sei, wenn
etwa eine dieser Eingeschlossenen dennoch von einem Manne besucht werde.
Wenjaminow giebt an dass die erste solcher Einsperrungen die ein
Mädchen erlebe, nach altem Gebrauche ein Jahr gedauert habe und dass
sie "von der Durchschneidung der Unterlippe und dem mit dieser verbunde-
nen Feste unmittelbar gefolgt wurde. Bei den £itchaer Kolj tischen sei diese
Zeit zwar auf drei bis sechs Monate heruntergesetzt, die sonstigen Lieblich-
keiten während derselben aber vollständig beibehalten. So werde namentlich
der Betroffenen eine Art von Hut mit sehr langen Krampen aufgesetzt, da-
mit sie nicht durch ihre Blicke den Himmel verunreinige. Die Kalga oder ,
Dienerin, welche dem endlich für genesen erklärten und dann sogleich der
Lippendurch6chneidung unterworfenen Mädchen ihr Festkleid anlegt, werde
freigelassen. Ich weiss nun, wie gesagt, nicht, ob der behauptete Zusammen-
hang zwischen der Lippendurchschneidung und der ersten Menstruation mit
dem geringen Alter des Mädchens vereinbar ist, an dem wir die erstere voll-
zogen sahen. Nach demselben russischen Berichte soll aber jede spätere Ein-
sperrung für die koljuschischen Mädchen nur drei Tage dauern, und ebenso
lange die gewöhnliche Einsperrung der Frauen, vor deren unheilvoller Nähe
die menschliche Gesellschaft nach jedem Gebären noch ausserdem 10 Tage
lang in der besagten Weise geschützt wird. — So lange ich von dieser selt-
samen Sittenpolizei nur die dazu gebrauchten mühsamen Vorkehrungen ge-
sehen, über die jedesmalige Dauer ihrer Anwendung aber sehr übertriebene
Angaben gehört hatte, schien sie entweder das Fortbestehen des Koljuschen-
Stammes räthselhaft zu machen oder mit denjenigen Massregeln gegen Ueber-
völkerung unvereinbar, welche anerkannte Physiologen noch neuerdings vor-
geschlagen haben. Jetzt sind diese Zweifel insoweit beseitigt, als man die
Augabe einer nur dreitägigen Dauer der Absperrungen für richtig hallen
darf*) und es blieb zunächst nur bemerkenswerth , dass sich ein so eigen-
thümlicher Gebrauch, der anscheinend auf einer diätetischen Erfahrung die
überall gelten müsste, beruht, sich in einzelnen Districten der Erdoberfläche
auch bei nicht stammverwandten Völkern eingefunden und erhalten habe,
während er in andern spurlos fehlte. Dieselbe Vorsichtsmassregel winde näm-
lich auf den aleutischen Inseln in ebenso strenger Weise wie auf Sitcha be-
obachtet.**) Nach Wenjaminow bestand sie dort sogar in Absperrungen, welche
*) Nach Bischoft' wären solche Zweifel erst bei zwei- bis dreimal längerer Dauer der A.Ü
sperruug begründet; — vergL aber da* Folgende.
**) Wie unter Anderm aus eiiM-r unten näher zu erwähnenden Sage der Uualaschkaer zu
ersehen ist.
320
für Frauen und ältere Mädchen jedesmal sieben Tage dauerten, nach der
ersten Menstruation aber zweimal, resp. 40 und 20 Tage. Sie ist dort erst
durch die immer häufigeren Bekehrungen zum Christenthum obsolet gewor-
den. — Bei den Ttynai (etwa 65" Breite, 200° 0. von Paris) sah und
beschrieb Capitän Sagoskin dieselbe Sitte noch 1842 wie folgt: „In dem
Wohnorte Kadichljakakat befanden sich jetzt nur zwei Frauen (die
Männer waren zur Jagd ausgezogen), eine alte und eine jüngere. Die letz-
tere war aber in der Menstruation begriffen und deshalb mit schwarz be-
maltem Gesichte unter einer ledernen Zeltdecke eingesperrt." Der
Reisende erwähnt diese Erfahrung ohne jeden Commentar, offenbar weil sie
ihm seit seiner Ankunft auf Sitcha geläufig und wie von selbst verständlich
geworden war.
Bei den Völkern der Osthälfte von Nord-Amerika scheint dagegen Cat-
lin durchaus nichts mit diesem Gebrauche der Küstenvölker Vergleichbares
gesehen zu haben, und es steht jedenfalls fest, dass niemals weder derselbe,
noch auch der ihm zu Grunde liegende diätetische Glaube bei den Kamt-
schadalen oder bei einem der tungusischen, türkischen und mongolischen
Stämme des mittleren »Sibirien geherrscht hat.*) Erst unter den samojedischen
Rennthiernomaden am Eismeere bezieht sich auf einen gleichen Glauben die
schon von Pallas erwähnte Verachtung der menstruirenden Frauenzimmer,
und deren Räucherungen mit verbranntem Rennthierhaar und mit Castoreum,
sowie auch die deshalb stattfindende Ausschliessung der Weiber von
einem Theile des Zeltraumes und die angeblichen Nachtheile von ihrer Nähe
während der Jagd eines edleren Wildes.**)
Sowohl am Eismeer, als auch bei den alten Bewohnern vou Palästina,***)
bei den Parsen auf Ceylon, nach einer Angabe von Orlichs, und in Süd-
Amerika bei den Macusis-Indiancrn nach Schomburg hat man sich aber
gegen die vermeinte Gefahr doch nur durch weit laxere Massregeln wie auf
»Sitcha geschützt.
Bei einem andern Morgenbesuche des Koljuschendorfes hörteu wir aus
einem der Wohnhäuser einen wilden vielstimmigen Gesang und gingen des-
sen Ursprünge um so eifriger nach, als unser dollmetschender Begleiter zu-
gab, dass er zu einer Art von Scham an stwo, d. h. nach sibirischem und
hiesigem Sprachgebrauch zu einer religiösen oder poetischen Ceremonie ge-
höre. Wir fanden nur einige Weiber, die in den verschiedenen Abschlägen
des betreffenden Hauses ihre gewöhnlichen Arbeiten betrieben, aber mitten
in der Wohnung über dem Feuerplatz einen mit Vorhängen abgeschlossenen
Raum, in dem sich die Musizirenden befanden, die nun nacheinander und ab-
*) Auch nicht in Polynesien nach Allem was ich auf Otaheiti gesehen und nach dem
\\ ;is ich später zu erfahren gesucht habe.
*') Ermau, Reise u. s. w., histor. Ber., Bd 1,8. 700 u. 681.
•••) Moses üb. III, cp. 18, v. 19 — während ibid. cp. 15, v. 19 freilich auch eine Absper-
rung gemeint sein konnte.
321
wechselnd das Rasseln einer wahrscheinlich hölzernen Trommel, eine einzelne
Mannsstimme und einen höchst leidenschaftlichen Chor von dergleichen ver-
nehmen Hessen. Das Ganze wurde mehrmals durch eine Pause unterbrochen,
welcher kreischende Ausrufe von Einzelnen vorhergingen. Dann hob sich
einer der Vorhänge und die Sänger traten nackt, schweisstriefend und mit
dunkelrother Haut aus dem auf Koljuschisch sogenannten Chägh, d. i. dem
Dampfbade, welches sie sich mit Steinen die in dem gewöhnlichen Heerd-
feuer geglüht werden, bereitet hatten. Es waren etwa zehn Männer von rie-
sigem Ansehen, die sich jetzt, wieder schreiend und singend, in das nahe
eiskalte Meerwasser stürzten, das von der Schwelle ihrer Wohnung nur um
wenige Schritte absteht. Wir haben sie leider bald darauf verlassen und sie
nur aus der Ferne im Wasser springen oder tanzen, sich einzeln gegen den
Strand und wieder meerwärts bewegen und endlich, vielleicht zur Wieder-
holung des Schwitzbades, alle zusammen in das Haus zurücklaufen gesehen.
Dass sich diese Uebungen jetzt (im Novemb'er) täglich bei ihnen wieder-
holten, haben uns die Koljuschen ausdrücklich versichert. Ich halte dagegen
nur für äusserst wahrscheinlich, aber nicht für erwiesen, dass die Theile der-
selben die unserer zufälligen Amvesenheit vorhergingen und diejenigen die
uns durch den Vorhang verdeckt blieben, das Ganze zu vollständiger Ueber-
einstimmung mit Wenjaminow's mir weit später zugekommenen Beschreibung
eines der auszeichnendsten Gebräuche der Koljuschen ergänzen. Von dieser
Beschreibung, die der aleutische Missionar, wie alles auf <S'itcha Bezügliche,
durch einen russischen Dollmetscher von koljuschischer Abkunft erhalten hat,
lautet das Wesentliche in wörtlicher Uebersetzung wie folgt: „Ehe die Ko-
ljuschen erfuhren, dass eine von der schwächsten Frauenhand abgeschossene
Flintenkugel selbst den Tapfersten tödte, galt es Jedem von ihnen als un-
verbrüchliche Regel sich zu geissein, um seinen Muth zu bewähren und
um Körper und Geist zu stärken. Jetzt werden diese Uebungen seltener. Die
Geisselung geschieht*) im Winter des Morgens zur Zeit der strengsten Kälte,
zugleich mit den Seebädern, die sie gerade in dieser Jahreszeit nehmen. Der
Aelteste eines Geschlechtes lässt einen Haufen Ruthen an den Strand brin-
gen, an dem er sich darauf mit einer Handvoll von denselben aufstellt. Dann
läuft der Muthigste der Badenden aus dem Wasser auf ihn zu, hält ihm die
Brust entgegen und lässt sie schlagen, bis dem Tojon die Hand müde wird
oder bis ein anderer der Badenden sich, vor Eifersucht und Ruhmbegier, aus
dem Wasser an seine Stelle drängt. Die Tapfersten nehmen nach dieser
Geisselung auch noch in jede Hand einen scharfen Stein oder ein Messer,
schneiden sich damit bis aufs Blut und bisweilen sehr tief, in die Brust und
in die Arme, und setzen sich darauf wieder in das kalte Wasser, bis dass
sie vollständig erstarren. Dann legt man sie auf eine Decke und trägl sie in
die Wohnung an das Feuer, welches während des Seebades so stark wie
*) Notabene: das Praesens wie auch im Verfolge der Beschreibung.
Zeitschnlt liir EtlinuloKie, Jabrgau* ltiTu. 22
322
möglich erhalten wird.*) Diese Morgengeisselung ist, wie man sagt, nicht
sehr schmerzhaft, weil sie auf dein erstarrten Körper nur ein (Gefühl von)
Brennen venu sacht. Eine andere viel seltener ausgeübte Art der Geissehui",
erklären dagegen die Koljuschen selbst für entsetzlich. Sie geschieht des
Abends im Hause, vor 'lern Feuer, um das sich die Männer gesetzt und an
dem sie sich stärkstens durchwärmt haben. Auf ein Zeichen des Aeltesten
werden dann plötzlich Ruthen gebracht, von denen er zwei bis drei ergreib
und aufspringt, um Freiwillige aufzufordern. Der Tapferste der Hausgenossen
wirtt seinen Mantel ab und lässt sich abwechselnd auf die Brust, auf den
Kücken und auf die Seite schlagen — oft bis der ganze Körper geschwollen
ist. Dabei stösst er keiuen Schmerzenslaut aus, verzieht kaum das Gesicht
u. s. w." .... „Durch solche Probe gewann der Mann, der sie ertrug, den
Ruhm unerschütterlicher Tapferkeit. . . . Nach einem Augenzeugen war diese
Ahendgeisselung so entsetzlich, dass es bei dem Geräusche von angeschlepp-
ten Ruthen die Muthigsten kalt überlief, denn sie wollten sich der Peinigung
aichl entziehen, um nicht für feige zu gelten und dazu war noch der Ruf der
lapteikeit keineswegs vorteilhaft/1'*) Uebrigens bleibt es bei beiden
Arten der Geisselung einem Jeden überlassen, sich ihr zu unterwerfen oder
nicht, und Niemand wird namentlich aufgerufen."***)
Nachdem wir durch diesen Gebrauch und durch einige der früher erwähn-
ten an den Koljuschen die Einflüsse eines träumerischen Nachdenkens zu er-
kennen geglaubt hatten, das über die direkten Bedürfnisse und die gewöhn-
lichen Leistungen einer wandernden Jagdgesellschaft weit hinausgeht, mach-
ten wir die erste Bekanntschaft eines der Urheber und Erhalter dieser Selt-
samkeiten; ich meine eines von den Russen als Schama.11,7) von den Ko-
ljuschen aber durch die Benennung ichet bezeichneten Gelehrten und Wür-
*) Hier sind vielleicht die koljuschischen Ausdrücke chägh für das Dampfbad und kc hau
im das gewöhnliche Heizungsfeuer mit einander verwechselt worden.
•*) Nämlich wegen des noblesse ol/ligc, mit dem auch die Koljuschen solche Hehlen
von Profession bei ihren Kriegszügen zur Todesverachtung instigirten.
"**) Man vergleiche hiermil Catlin, letters and notes u. s. w., Vol. I, pag. 1G9, tat). f>8. 69
ulier die noch weil entsetzlicheren, aber ebenso bis zur Ohnmacht fortgesetzten Peinigungen,
deren sich die sogenannten Mandan (bei 47°,.r) Br., 3U5° 0. v. Par.) jährlich unterwerfen und
/■.war gleichfalls um die Lieberzeugung von ihrer Tapferkeit sowohl sich selbst zu verschaffen als
ihren zuschauenden Landsleuten.
■J-) lieber den Ursprung dieses durch die sibirischen Russen wiederum missbräuchlich ver-
schleppten Wortes vergleiche man die Untersuchung von Herrn W. Schott im Arch f. wissen-
schaftl. K Ie von Bussland, Bd. Will, s. 207. In dein Sinne welchen der Ausdruck Scha-
ni au in der russischen Sprache und darauf durch ganz Europa als ethnographisches Kunstwort
erhalb n hat, ist derselbe nur etwa bei den Tungusen gebräuchlich, allen übrigen nordasiatischen
ibev durchaus unbekannt gewesen. Ks darf ferner nicht angenommen werden, dass
das bei reifende tungusische Wort mit einem sanskritischen von gleicher Bedeutung in der Weise
verwand! sei, dass es Buddhapriester nach Nord-Asien gebracht hätten! — Ks wird vielmehr
wie dei lungn ische und anderweitig uordasiatische und nord amerikanische Zau bei eultus
ersl durch die lungusisrhen Mand/u zu den Chinesen, welche sie sich unterworfen hatten, ge-
brachl und seitdem (namentlich seit 1717) als eine der Staats-Kirchen des himmlischen Reiches
sanetionirt worden ist.
323
denträgers. — Es war ein ältlicher Mann, der auch heute, in gewöhnlicher
Landestracht, durch «las wesentlichste Zeichen seiner Begabtheii auffiel, näm-
lich durch Kopfhaare, die ihm bis auf die Waden reichten. Kr trug
sie über dem Kücken weit ausgebreitet und ungebunden herabhängend, doch
zeigten sie sich hei näherer Betrachtung zu Strehnen vereinigt oder verfilzt,
ohne dass ich entschieden habe, ob sie diese Beschaffenheit an und für sich,
wie die sogenannten Weichselzöpfe, angenommen hatten oder durch ab-
sichtliche Anwendung irgend eines Leimes. Das letztere ist bei weitem wahr-
scheinlicher, denn viele der verfilzten Stellen der Ilaare waren mit einem
Ueberzuge von weissen Flocken bedeckt, die ich für den Pappus eines Syn-
genesisten oder andere wollähnliche Pflanzentheile gehalten habe. Nach [smai-
low, /Sagoskin, Wenjaminow u. A. sollen aber Flaumfedern von Vögeln zu
diesem Gebrauche verwendet werden.*) Ich erfuhr leider erst spater, dass
Kschholz hei seinem, dem unsrigen längsl vorhergegangenen Aufenthalte aui
Nitcha auch einen eigentümlichen Staphylinus oder Raubkäfer auf dem
Haare eines hiesigen Schamanen gefunden und denselben, zu Ehren dieses
abweichenden Vorkommens, StapJi. pech'culus genannt hatte. Mag aber dieses
Vorkommen zufällig oder absichtlich herbeigeführt gewesen sein, so fehlte es
dem fraglichen Wohnorte dieses Käfers wenigstens nicht an Ruhe, denn die
Schamanen lassen die Haare ihres Hinterkopfes während ihrer gan-
zen Lebenszeit unverkürzt. Als Zeichen der Trauer um Verstorbene
wird daher auch von ihnen nur das Vorderhaar über der Stirn, von den übri-
gen Koljuschen dagegen der ganze Kopf geschoren. — Ich habe seither oft
an diesen Gebrauch und die ihm zu Grunde liegende Ueberzeugung der ko-
ljuschischen Seher oder Weisen gedacht, wrenn es mir wieder einmal auffiel,
dass sich sporadisch aber über die ganze Erde und zu allen Zeiten der Glaube
au eine Abhängigkeit der geistigen und körperlichen Kraft des Mannes von
der Beschaffenheit seines Kopfhaares eingefunden hat. In die jetzige euro-
päische, d. i. in die christliche Welt ist dieselbe offenbar durch den jüdischen
Mythus von Simson übergegangen, in dem ja geradezu das Scheereu des
Kopfhaares der Männer als ein Widerspruch gegen den göttlichen Willen,
d. h. ein äusserst wichtiger Eingriff in die Entwicklung des menschlichen
Körpers betrachtet wird.**) Dass die Juden unter dieser Annahme nicht Alle
versuchten, sich zu langhaarigen Helden zu machen, ist freilich autfallend,
aber doch um Nichts mehr als bei den Koljuschen die Ueberlassung der von
den Haaren ausgehenden Weisheit an einige Schamanen. Die in Europa pe-
k tsmailow bemerkte unter den ersten Koljuschen, mit denen er an der Jakutater Bucht
zusammentraf (oben S. 303), Männer die ihr Haai mit einer rothen Farbe bestrichen und dann
mit Vogelflaumen bestreut hatten — und Oapt. Sagoskin erwähnl die verfilzten und mit Flaum
Federn bestreuten Haare von dem Chorführer einet tanzenden Gesellschaft am Tlegon 64 1
Bi bei 202°,2 o. v. Par.) Archiv fni wissensch. Kunde von llussland, Bd. VI. 8 62-i \:n
oberen Missuri (47°,5 Br. bei.256 0. v. Par.) Hessen die sogenannten Minatari ihre Haare bi*
/um Erdboden wachsen, jedoch ohne Verfilzung; nach Catliu, letters and notes, Vol I, pag. 133
**) Buch der Richter, Ca)). 13, v. 5; Cap. 1C; v. 17 ff.
22*
324
riodisch vorgekommenen Anwendungen dieser biblischen Vorstellungen wider-
sprachen dann einander in sehr humoristischer Weise, so dass man z. B.
bei uns einen langhaarigen Mann bald für einen von turnerischen oder alt-
teutschen Grundsätzen, eine Art von Simson, bald für einen frömmelnden My-
sten (etwa einen christlichen Schamanen) zu halten hatte oder noch hat, bei
den Griechisch-Katholischen aber theils Geistlichen mit mehr als ellenlangen
hellblonden Haaren von sehr widerlichem Ansehen begegnet, theils eben so
religiösen Männern, die sich Strigolniki, d. i. Kahlscheerer nennen, weil
sie sich den Oberkopf scheeren und epiliren.*) — Etwas bedeutsamer ist es5
dass im Norden von Europa und namentlich in England auch die ursprüng-
liche, d.h. antebiblische Ueberzeugung dieselbe war, welche die Sitchaer
Ich et unter ihren Landsleuten zu erhalten wissen. So schildert noch Shake-
speare gewisse, mit grossem Erfolg bettelnde Männer, die sich das Haar
verfilzten („als ob Elfen es unter gehabt hätten"), und dann Nadeln, Nä-
gel, Baumzweige u. dgl. in ihre Arme bohrten, bald unter wahnsinnig klin-
genden Flüchen (lunatic bans), bald mit (christlichen) Gebeten.**) Diese leg-
ten mithin sehr ähnliche Proben von Unverletzbarkeit ab, wie alle sibirischen***)
und nordamerikanische Schamanen und wie die koljuschischen Weisen durch
den später zu erwähnenden passiven Theil ihrer Leistungen. Ueber deren
activen Theil, d. i. die mimischen Darstellungen durch die sie eine unbe-
gräuzte Macht über alle ihre Landsleute und namentlich die Gewalt über
Leben und Tod von vielen derselben erhielten, folge aber hier zuerst, was
wir selbst gesehen haben.
Es war am 12. November, dem ersten Tage nach Eintritt des Vollmon-
des, um b Uhr Abends oder 4£ Stunden nach Sonnenuntergang und etwa
.' Stunde nach dem Ende der letzten Dämmerung, als uns der mehrerwähnte
Dollmetscher abholte, um in dem Koljuschendorfe dem was er ein grosses
Schamunisches Fest nannte, beizuwohnen. Aus dem Ka/'im hörten wir darauf
schon aus der Ferne Paukenschläge und singende oder taktmässig schreiende
Stimmen, die aber verstummten, als unser Begleiter an das Thürbrett schlug,
mit dem man das runde Eingangsloch zugesetzt hatte. Nach einiger Unter-
handlung wurde von innen geöffnet und wir sahen nun in dem unteren Räume
des Gebäudes Hunderte von nackten Männern, die ein in der Mitte des Fuss-
bodens brennendes Feuer umstanden. Nur an einer der längeren Wände wa-
ren die oberen Nary oder Logen von bekleideten Koljuschen eingenommen,
unter denen sich einige der früher gesehenen Tojone und viele Frauen be-
fanden. Die riesigen Gestalten des unteren Raumes schienen mir auch dies-
mal, wie früher nach dem Schwitzbade, ganz roth oder braunroth, und es
mögen dazu der Feuerschein und die Erhitzung beigetragen haben, vielleicht
•) Ermaii, Reise u s. w , histor. Ber., Bd. I, S. 106, 141.
**) Shakespeare, Kin£ Lear, Act. III, Sc. 3.
***) Ermaii, Reise a. a. 0. S. 672. »S'arytschew und Lütke im Archiv für wissenschaftliche
Kunde von Kussland, Bd. III, S. 457 u. v. A.
325
aber ausserdem der Umstand, dass die Hautfarbe der Männer auch bei den
Koljuschen dunkler wäre als die der Frauen, so wie dies bei den Chinesen
nach deren eigenen Schilderungen in höchst auflallender Weise vorkommen
soll.*) Die meisten von ihnen hielten einen der prachtvollen kupfernen Dolche
gebrauchfertig in ihrer Rechten und so war es fast bedenklich, als wir uns
gleich auf der Schwelle des Eingangsloches von einigen derselben ergriffen,
an andere ausgehändigt und über die Köpfe der übrigen befördert fühlten.
Diese unfreiwillige Wanderung endete aber schnell in einer der oberen Lo-
gen, in die man uns absetzte. Eben so schnell hatten sich auch viele der
nackten Gestalten in die unteren Nary zurückgezogen, so dass das Feuer
nur von einer kleineren Zahl derselben und zwischen diesen von einem freien
Ringe umgeben blieb. Der Gesang, der in eintöniger, anfangs langsamer und
dann immer lebhafterer und lauterer Ausstossung einzelner Sylben bestand,
fing wieder an und nach einigen Paukenschlägen hob sich ein Vorhang, durch
den das dem Eingangsloche gegenüber gelegene Ende des Hauptraumes von
dem übrigen getrennt war. Der Schaman erschien in demselben mit fliegen-
den Haaren und allerhand buntem Behang seines Mantels, der sich aber je-
der näheren Betrachtung entzog durch die ausserordentliche Schnelligkeit, mit
der er nun sogleich um das Feuer zu laufen anfing. Die Sänger schwangen
ihre Dolche und schienen durch ihr leidenschaftliches Geschrei ihn hetzen
und dann fangen zu wollen, während er durch künstliche Luftsprünge und
Verdrehungen des Körpers diesen Verfolgungen auswich. Unter Anderem zog
er einen brennenden Holzscheit aus dem Feuer und warf ihn bis an das Dach
des Hauses, wodurch der Enthusiasmus der Verfolger vermehrt schien. Sie
kehrten bei der nächsten Declamation ihre Dolche bald gegen die Alten und
Vornehmen in den Logen, bald wieder gegen den rasenden Seher, den sie
dann endlich mit einer Wurfschlinge fingen und banden. Er wurde mit einer
Matte bedeckt und von einigen seiner Verfolger hinter den Vorhang geschleppt.
Man hörte ihn stöhnen, während der an dem Feuer gebliebene Theil des
Chores seinen Gesang wieder leiser und langsamer fortsetzte.
Derselbe Hergang von Recitativen, die wohl Drohungen gegen den Scha-
manen enthielten und von Bemühungen ihn zu fangen, wiederholte sich bei
seiner zweiten und seinen folgenden Darstellungen, zu denen er von hinter
dem Vorhang offenbar den ihn Haltenden entsprungen scheinen sollte, jedoch
mit dem Unterschiede, dass er jedesmal eine andere Gestalt angenommen
hatte. Sein Kopf war nun immer in eine ringsum geschlossene Maske ge-
steckt, welche das erste Mal den Kopf eines reh- oder schafartigen Thieres
darstellte, dem auch das Fell welches ihn bekleidete, zu gehören schien. In
diesem umkreiste er das nun leider ziemlich schlecht brennende Feuer eben
so schnell und so geschickt wie früher, aber seiner Rolle gemäss auf allen
Vieren, bis dass er wieder gebunden und röchelnd oder stöhnend hinter die
*) Vergl. meine Reise u. s. w., histor. Ber., Bd. 2, S. 139.
326
Scene geschleppt wurde. Als er zum letzten Mal entsprungen war, trug er
dagegen ein Raubthier- oder vielleicht auch verzerrtes Mensehen-G esicht, von
blauer und rother Färbung, mit weissen Zähnen in dem offnen Rachen, wel-
ches wohl einem fabelhaften Wesen angehören sollte. Er lief nun, theils auf-
recht, theils wiederum auf Händen und Füssen, bald rückwärts, bald vorwärts.
Auch war dieser Akt noch dadurch ausgezeichnet, dass von dem Zauberer
selbst oder von einem der ihn verfolgenden Gehülfen eine brennbare Flüssig
keit in das Feuer gegossen wurde, welche dasselbe hoch aufflammen und vor-
trefflich leuchten machte. Nach der darauf folgenden Ueberwältiguug und
Fortschaffung verstummte der Gesang vollständig. Alle Zuschauer in den
Logen, die bis dahin in gewisse Theile des Cboi'gesanges eingestimmt hatten,
geberdeten sich höchst erwartungsvoll, und der Ich et Hess sich von hinter
dem Vorhang zuerst durch das frühere Stöhnen, darauf aber endlich in ab-
gestossenen Sätzen einer prophetischen Rede vernehmen. — Der
Dollmetscher, den wir über deren Bedeutung befragten, sagte nacheinander:
„Ich sehe den Jek oder Geist — er ist auf dem Meere — sein Boot
kommt zu uns." — Manches andere könne er nicht sogleich angeben, weil
es für koljuschische Reden (d. h. wohl Vorstellungen) nicht immer russische
Worte gebe. Es sei aber die heutige Prophezeiung sehr günstig, namentlich
für den kranken Tojon, denselben den unser Schiffsarzt (Herr Dr. Peter«)
vor einigen Tagen besucht und bei dem man ihm bereits einen zum even-
tuellen Todtenopfer ausersehenen Diener oder Kalga vorgestellt hatte. Der
Schaman habe auch noch von der Zufriedenheit des Jek mit der Ankunft
unseres Schiffes gesprochen. — Besonders angelegentlich wurden wir aber
endlich auf die wunderbare Begabung dieses Zauberers aufmerksam gemacht,
mit den hölzernen Masken, durch die er nicht sehen könne, um das Feuer
zu laufen, und wir fanden in den gemalten Augen von einigen, die man uns
zeigte, in der That nur äusserst kleine Oeffnungen. Sie schienen sogar von
der Pupille des Tragenden so weit abzustehen, dass sie ihm, selbst beim Vor-
wärtslaufen, nur wenig helfen konnten.
Zu vollständiger Einsicht über das was sich die Koljuschen bei diesen
Darstellungen dachten, wäre das Verständniss des sie begleitenden Gesanges
- falls derselbe wesentlich mehr als leidenschaftliche Interjectionen von un-
bestimmter Bedeutung enthielt — erforderlich gewesen. Sie sind mir aber
auch ohnedem, schon auf »Sitcha und noch bis diesen Augenblick, höchst
merkwürdig erschienen, durch ihre Uebereinstimmung mit der Homerischen
Erzählung von den Erlebnissen die Menelaos und seine Begleiter, eine da-
malige Tagesfahrt vor der Nilmündung, auf der Insel Pharos mit dem wahr-
sagenden Proteus gehabt hätten. Hier wie dort muss dem Wissenden sein
Ausspruch gewaltsam abgerungen werden, indem man seinen, an beiden Or-
ten in gleicher Weise vorkommenden Verwandlungen durch ein Verfahren
ein Ende macht, das von Homer ein nicht nachlassendes Halten und
Drücken (y(oXe(.iecog iy^if.isv und aoxB(.i(pitog ejfjfyie»', ftfikkor te nti-Ceiv) ge-
327
nannt, von den Koljuschen aber buchstäblich ebenso gehandhabl and Doch
durch das Binden und Einwickeln in eine Matte verstärk! wird Vuctli du
Verschiedenheit, dass die Weissagung bei Homer von einem tuil übcmalüi
liehen Eigenschaften bleibend begabten Wesen ausgehe, auf Sitcha du
viiu nur zeitweilig insnirirten Männern, 1 ; i 11t aber fort, wenn man mit Lucian
den Proteus für Nichts weiter als einen höheren Tänzer ('' [■ •;/.'/■' ',' nvii) er
klärt, der vermöge seiner mimischen Kunst allerlei Thiere und sonstige Natur-
erzeugnisse ganz so dargestellt habe, als ob er zu denselben wirklich gewoi
den wäre.') — I riese Auffassung einmal zugegeben, wird dann historisch ge
nommen das mythische Wesen (nicht, wie abgeschmackte Scholiasten gewollt
haben: ein ägyptischer König mit einem Lustschloss auf Pharos, son-
dern) in der That zu einen ergrauten und bis zur Unfehlbarkeit erfahrenen
Seemann (ysQiav aAiog vrtfUQtijg), der auf der öden Insel Pharos verkehrte,
und verlegnen Schiffern sowohl die unschätzbarsten Lootsenkunden mitzutheilen
wusste (rrdorjg 0-aÄdooqg rlivifta o'idt), als auch zu ihrer ferneren Reise die
Curse und Längen der einzelnen Fahrten (oöav y.c.l (.Utqo. y.sXeli>oi>). — Zur
Verherrlichung und Beglaubigung solcher Aufschlüsse und seiner anderweiten
Wahrsagungen dienten ihm sein ablehnendes Sträuben und seine Verwand-
lungen. Homer nennt diese geradezu Trug- oder Schamanen-Künste, denn
das heisst ganz genau sein oAnqpcJia, wenn es, der Wahrscheinlichkeit ge-
mäss, zu eXsrpaiviü gezogen wird.**) Die dem ägyptischen Wunderthäter zu-
geschriebene Leistung, die Phoken, in deren Mitte er sich zu sonnen pflegte,
wie ein Hirt zwischen seiner Heerde, gezählt, mithin vorher gezähmt zu ha-
ben, wäre freilich künstlich gewesen, jedoch genau von derselben Art und
kaum in demselben Masse wie die Leistungen der koljuschischen Schamanen.
welche Ottern und andere Thiere des Waldes und Meeres bei der ersten
Begegnung durch gewisse Zurufe ihrem Willen geneigt machen sollten (vgl.
unten). Wenn aber dann endlich Menelaos, nachdem er ihn zur Annahme
seiner wahren Gestalt gezwungen, vom Proteus hören will, welcher der Göt-
ter ihm zürne, so verfährt er genau wie die Koljuschen, indem sie ihren Ichet
im Namen des Urhebers des von uns gesehenen Festes befragten, welcher
der Jeks, d. i. der übermenschlichen Geister, ihn beschädigt und von wo
er etwa Hülfe zu hoffen habe.***)
_. (Fortsetzimg folgt.)
*) fllegl 6<jx>}nfo)c, cap. 19. (Luciani opera, edit. stereot , Lipsiae 1829, Tom. II, pag.311.)
**) Wie dagegen die koljuschischen Wahrsager bei den sie Befragenden den relif
(Jlauben erhalten, dass die von ihnen dargestellten Verwandlungen wirkliche seien; ist unten
etwas näher zu erwähnen.
***) Durch diese anscheinende Uehereinstimmung in einem prophetischen Verfahren,
welches zwei im Raum so weit als es auf der Erde möglich ist und in der Zeil durch mehrere
Jahrtausende von einander getrennte Volksstämme ausübten, wird man an die durchaus erwie-
sene Gleichheit einer industriellen Erfindung erinnert, die unter beinahe ebenso verschie-
denen räumlichen und zeitlichen Bedingungen wie jene vorgekommen ist, für welche man aber,
ihrer Seltsamkeit wegen, an eine zweimalige Entstehung ohne Tradition zwis hen ihren Urhebern
noch weit weniger glauben möchte. Ich meine die Fiscb warten, die Strabo an der afrika-
328
Die Goajiro- Indianer.
Eine ethnographische Skizze von A. Ernst, Caracas.
(Mit Karte und Abbildungen.*)
Im äussersten Norden des südamerikanischen Continents liegt die Goa-
jiro-Halbiusel, die in der Punta de Grallinas bis 12° 30' N. ßr. reicht. Oest-
lich begrenzt sie der Golf von Venezuela, westlich jener Theil des Caraibi-
schen Meeres, welcher Neugranäda's Nordküste bespült. Zwischen Rio Hacha
im Westen und Sinamaica im Osten beträgt ihre von NW nach SO laufende
Basis etwas mehr als 15 geographische Meilen, während sie sich in der Länge
von den Montanas de Oca bis zum Cap Chichibocoa in südwestlich-nordöst-
licher Richtung ungefähr 24 Meilen weit ausdehnt.
Obgleich das Innere noch wenig bekannt ist, so steht doch fest, dass es
grosse Grasfluren enthält, aus denen sich nur hier und da unbedeutende Hö-
hen erheben. Zu diesen gehören die Teta Goajiro (167 Meter hoch), und die
857 Meter (?) ansteigenden Berge der Sierra Aceite.
Wenig weiss man von den Naturprodukten dieses Gebiets. An der mit
gefährlichen Untiefen umgürteten, in zahlreiche Buchten ausgeschnittenen
Küste wachsen Dividive (Cacsalpinia C'oriaria, Willd.) und Campecheholz
(Jlucinatoxylon Campcchianum, L.) in bedeutender Menge und sind Gegen-
stand des Tauschverkehrs zwischen den Indianern und den Holländern von
Curacao.
Die Halbinsel gehörte früher zu dem Vicekönigreiche von Neu-Granäda,
von dem vergebens ihre Eroberung versucht wurde, wie weiter unten bei der
Erzählung der historischen Schicksale ihrer Bewohner berichtet werden soll.
Seit der Spaltung der Republik Colombia in die 3 Schwesterfreistaaten haben
sich Neu-Granäda und Venezuela durch einen Strich auf der Karte in die
Halbinsel getheilt; doch hat keine von beiden bis jetzt irgend welche Hoheits-
rechte gegen die unbezwungenen Goajiros geltend machen können, obgleich
dieselben bereits mehrfach Gegenstand eines diplomatischen Notenwechsels
zwischen Caracas und Bogota gewesen sind. Auf venezolanischer Seite wird
in Sinamaica ein Grenzposten unterhalten, einerseits um den Handelsverkehr
mit den Indianern zu vermitteln, andererseits um etwaige feindliche Gelüste
derselben zurückzuschlagen.
So weit unsere jetzige Kunde reicht, sind die Bewohner der Goajiro
nischen Küste des Mittelländischen Meeres genau so gesehen und beschrieben hat, wie sie jetzt
dicht am Grossen Ocean von den Kamtschadalen gebraucht werden. Vergl. meine Abhandlung
„Ueber ein optisches Mittel zum Fischfang" im Archiv für wissenschaftl. Kunde von Russland,
Bd. XXI, S. 155 ff.
*) Werden später folgen.
329
wahrscheinlich desselben Stammes. Die Gesammtbevölkerung wird auf 100,000
Köpfe geschätzt. Man nennt zwölf verschiedene Stämme: Ipuanas, Urianas,
Urariyüs, Jusayüs,*) Jarariyüs, Epiayüs, Pusainas, Paraujanos, Arpusianas,
Fpinayüs, Zaposanas, Arpureches, zu denen man noch als Anhang di<; Co-
cinas hinzufügen muss. Mit Ausnahme der letzteren haben sie bestimmte
Wohnsitze. So wohnen die Zaposanas in der Nähe der Montes de Oca, die
Paraujanos nahe der Lagune von Sinamaica und am Fluss Limon, die Uria-
nas an der Küste bei Cqjoro, die Arpusianas in der Gegend von Bahia Honda
und des Portete, die Pusainas finden sich bei Macuire. Die Cocinas, vielleicht
anderen Stammes als der Rest der Bevölkerung, sind ein vagabundirendes
Raubgesindel, das alle Wege unsicher macht.
Die Goajiros sind durchschnittlich ein kräftiger Menschenschlag, welcher
in der gleichgültigen Erduldung von Entbehrungen aller Art keinem der übri-
gen amerikanischen Urvölker nachsteht. Sie sind verhältnissmässig klein von
Wuchs und erreichen selten eine Höhe von mehr als fünf Fuss. Das Gesicht
erscheint gross durch die fleischigen Backen. Drei durch die Güte des Herrn
Vicente Urdaneta aus. Maracaybo an die Sociedad de Ciencias fisicas y na-
turales de Caracas eingesandte Schädel ergaben die nachstehenden Messungs-
resultate, bei deren Ermittelung ich mich des thätigen Beistandes des Herrn
Dr. Juan Cuello, eines hiesigen Arztes, der in Berlin studirt hat, zu erfreuen
hatte. Die Messungen wurden nach Virchow's System ausgeführt (Vogt, Vor-
lesungen über den Menschen, Giessen J 863, I, 72).
Benennung.
Angabe der Richtung und der Punkte, durch
ädel
. 1.
alt.
ädel
. 2.
alt
"3 . bc
-C P5 C
welche das Maass bestimmt ist.
«izHO
t»z-IO
Mm.
Mm.
Mm.
500
480
480
Theil des Horizontalumfangs zwischen den Kro-
165
135
145
Mittellinie des ganzen Schädels (von der vorde-
ren Mitte des Oberkieferrandes unter dem
Nasenstachel über den Scheitel nach dem
4:il
120
400
115
400
110
Pfeilnath
Bis Hinterrand des foramen magnura
110
130
110
110
120
107
Hinterhauptsschuppe . .
165
140
148
Länge der Wirbelkörper
Vom Vorderrand des foramen magnum bis zur
Nasennath in gerader Linie
98
90
87
Rechts (den Biegungen derselben folgend) ....
102
100
101
„ (in gerader Linie von Ende zu Ende) .
100
—
—
Links (ebenso)
102. 100
100
101
*) Alle Namen sind nach spanischer Orthographie geschrieben; man spreche also hier
das spanische j aus, ein starkes gutturales h.
330
Benennum;
Lambdanaht
Basaler Querumfang. .
< Iberer Querumfang . . .
Diagoualumfang
Längsdurchmesser A. . .
B. ..
Höhendurchmesser A...
B...
Querdurchmesser, unte-
rer frontaler
Querdurchmesser, oberer
frontaler
Querdurchmesser,tempo-
raler
Querdurchmesser, oberer
parietaler-
Querdurchmesser, unte-
rer parietaler
Querdurchmesser, oeeipi-
laler
(,>uerdurchmesser , ma-
stoidaler
Angabe der Richtung und der Funkle , durch
welche das Maass bestimmt ist.
Rechts
Links
In gerader Linie von der Kante des Jochfort-
satzes über der Ohröffnung zu demselben
Punkte an der anderen Seile über die Schä-
delbasis
Zwischen denselben Punkten über' den Scheitel.
Vorn Gehörgang zur vorderen Fontanelle
Von Nasennath zur Lambdanath
Von der Glabella zur grössten Wölbung des
Oeciput
Vom Hinterrand des foramen maguum zur Vor-
derspitze der Pfeilnath
Vom Vorderrand des foramen maguum zum
höchsten Scheitelpunkt
3 O I -C o ;— o —
o
Zwischen den Kanten der Jochfortsätze des
Stirnbeins
Zwischen den Stirnhöckern
Zwischen den Spitzen der grossen Keilbeinflügel ,
Zwischen den Scheitelhöckern
Oberhalb der Mitte der Schuppennaht
Zwischen den hinteren äusseren Winkeln der
Scheitelbeine
Zwischen den Spitzen der Zitzenfortsätze
Schiefe Maass e
Von Stirnhöcker zu Scheitelhöcker, rechts . . . .
„ „ „ , links
„ „ „ Jochfortsatz, rechts
» » » -, links
, Zitzenfortsatz zu Scheitelhöcker, rechts...
, links
, , „ Jochfortsatz, rechts
r, , „ „ links
, Scheitelhöcker zu Uinterhauptshöcker, rechts
•> n r> r. ÜldiS.
, Zitzenfortsatz „ „ rechts
nB» n links.
Linie l>x (Vorderrand des foramen maguum zu
Nasenstachel)
Linie bn (Vorderrand des foramen magnum zu
Nasennath)
Linie nx (Nasennath zn Nasenstachel)
Im.
Mm.
Mm.
95
1)0
100
101)
85 '
96
145
290
305
160
180
Uo ' 14. >
275 I 200
282 | 312
160 I 160
105
138 | 130
125 ! 120
100 j 05
55 I 49
127 I 110
13.
1 23
140 106
105 ! 110
101
110
95
100
55
50
55
50
108
90
108
96
100
96
100
95
110
115
107
125
140
90
150
95
87
87 j
98
90 |
57 |
i
52 1
168
130
125
95
50
117
148 130 140
105
105
95
105
55
55
110
105
90
95
120
115
110
110
83
88
47
331
lenennung.
Angabe der Richtung und der Punkte, durch -?-'•= eo« -;
welche das Maass bestiuiuil ist.
Winkel bnx (Nasenwinke]) • • • • 62°
( lamperscher Gesichtswinkel (Stirn, Nasenstachel
Ohr)
(■amperscher Gesichtswinkel (Stirn, ol>erei Zahn
rand, Ohr) I 72"
/ '
70
68
62
69
77 '
72
1012 i 12D0*)
Innere Gapacität, in Cubikcentirnetern | 1211
Verhältniss der Breite zur Länge (nach Davis,
im 'J'hesaurus craniorum) 0,83 0,is 0,« .
Verhältniss der Höhe zur Lauge 0,77 0,77 [ 0,7t
Der sehr kleine Gesichtswinkel des Schädels No. 2 und die damit über-
einstimmende geringe Capacität desselben lassen mit Recht Idiotismus ver-
muthen. Die Schädel 1 und 3 sind brachycephal in dem Sinne, wie J. B. Davis
(Thesaurus craniorum, pag. XV) dieses Wort nimmt.
Die beigegebenen Ansichten sind von dem Schädel No. 1 entnommen.
Ich verdanke sie der gütigen Mitwirkung des hiesigen trefflichen Photogra-
phen F. Lessmann, der mit seiner Kunst stets bereit ist, der Wissenschah
zu dienen.
Das Gesicht der Goajiros ist plump, der allgemeine Ausdruck mehr krät-
tig als roh. Die stets dunklen Augen stehen ziemlich schief; die Nase isi
breit und stumpf, der Mund gross, das Haar grob und straff, pechschwarz
von Farbe. Der Querdurchschnitt des letzteren unter dem Mikroskop ist bei-
nahe kreisförmig mit sehr undeutlich zu erkennendem Kern. Der Bart ist
stets schwach, die übrige Körperbehaarung spärlich.
Die Hautfarbe der meisten Goajiros ist eher hell als dunkel zu nennen,
hell lohfarbig scheint mir am zutreffendsten. Ich kann nicht recht verstehen,
wie Galindo (Journ. Roy. Geogr. Society III, 290, bei Waitz, Anthrop. III,
;>(>6) von ganz schwarzer Haut der Goajiros sprechen kann. Er mag vielleicht
recht schmutzige Cocinas im Sinne gehabt haben. Die Haut transpirirt stark ;
doch habe ich an den von mir beobachteten Individuen nichts von einem
speciellen Hautgeruche gemerkt.
Die Brust ist meistens breit. Bei den Weibern sind die Brüste oft sehr
gross, doch selten oder nie schlaff hängend. Die Hüften stehen seitlich be-
deutend vor und erhöhen das gedrungene Aussehen des Körperbaues.
Ich bin nicht im Stande, auch nur Vermuthungen auszusprechen über
den Zusammenhang der Goajiros mit anderen Indianerstämmen Süd-Amerikas.
Es wäre indessen mehr wie seltsam, wenn keiner vorhanden sein sollte. Ich
*) Da die Nähte etwas aufgetrieben waren, ist diese Zahl nicht zuverlässig, sondern zu gross.
332
darf vielleicht hoffen, dass meine Arbeit für die anthropologischen Forscher
genügendes Material enthalten werde, um diesen Punkt ins Reine zu bringen.
Die Goajiros wissen absolut nichts von ihren Vorfahren. Unter ihnen
lebt keine Sage, keine Ueberlieferung. Kein Denkmal aus alten Zeiten giebt
Ausschluss oder Andeutung über ihre Vergangenheit. Die persönliche Erin-
nerung des Individuums ist rückwärts geschichtliche Grenze. Ein Gefühl nur
hat den Untergang der hingestorbenen Generationen überdauert, der Hass
gegen die Spanier und deren Abkömmlinge. Was ältere Schriftsteller uns von
ihnen berichten, ist dürftig und trägt mehr den Charakter gelegentlicher Be-
merkung. Ich beschränke mich demnach auf den gegenwärtigen Zustand, und
will in Folgendem eine eulturhistorische Schilderung der Goajirostämme ver-
suchen.
Schon der Umstand, dass die Goajiros sich durch Jahrhunderte energisch
und erfolgreich der unterjochenden Givilisation widersetzten, erregt Interesse
und lässt vermuthen, dass wir es hier nicht mit ganz rohen Völkern zu thun
haben.
Die Goajiro-Halbinsel ist in nur wenigen Punkten zum Ackerbau geeig-
net, da es ihr an Wasser fehlt. Der Landbau ist demnach auf wenige bevor-
zugte Punkte und auf das allernothwendigste beschränkt. Die Banane ist ein-
geführt worden; denn die Namen purana und guinea sind fremden Ur-
sprungs. Die Batate dagegen (JBatata edulis, Choisy) heisst j äisch, die Baum-
wolle mauri. Der Name des Mais (mäique) könnte aus Hayti stammen;
Wassermelonen und Melonen verrathen sogleich durch ihre Benennung die
spanische Herkunft. Dagegen zeigen die Namen für Kürbis (uir, jetzt in Ve-
nezuela aullama, ein caribisches Wort) und die Cassavepflanze (Jatropha uti-
/issima) keine Aehnlichkeit mit sonst mir bekannten Namen dieser Gewächse.
Dasselbe gilt von dem Namen des Tabak, yül-li*) oder yuri; die Aehnlich-
keit mit dem aztekischen yetl ist doch kaum nennenswerth.
Weniger noch als für den Ackerbau eignet sich die Halbinsel fär die
Jagd; denn es fehlt an Wild. Dagegen treiben die an der Küste wohnenden
Stämme Fischfang, wenn auch nur in beschränktem Grade.
Die Hauptbeschäftigung der Goajiros ist die Viehzucht. Die von Europa
eingeführten Hausthiere (Pferd, Esel, Maulthier, Ziege, Huhn) haben die ehe-
malige, uns nicht bekannte Lebensweise dieser Völker sicherlich weit mehr
umgestaltet, als dies betreffs der Bewohner Europas durch die Erfindungen
und Entdeckungen der Neuzeit geschehen ist. Die heutigen Goajiros müssen
in der That sich sehr von ihren Vorfahren unterscheiden, die als Hausthiere
nur ihre Weiber hatten. Die reichen Paraujanos besitzen zahlreiche Heerden
und bringen jahraus jahrein Thiere, Felle und Käse zum Austausch nach dem
Grenzposten von Sinamaica. Ich führe beispielsweise die Ziffern für das ve-
*) Mil /-/ bezeichne ich hier und im Wörterverzeichniss die sehr markirte Aussprache
beider Consonanten, fast mit trennender Pause, etwas guttural lind nicht unähnlich dem gestri-
chenen 1 (1) der Polen.
333
nezuelanische Finanzjahr 1852 — 1853 (1. Juli 1852 bis 30. Juni 1853) an:
2079 Rinder, 916 Pferde, 220 Maulthiere, 162') Esel, 1906 Häute von Rin-
dern, 2819 Kalbsfelle, 9750 Pfund Käse (Memoria del Ministerio de lo Inte-
rior y Justicia, Caracas 1854). Es ist natürlich, dass diese Thiere Namen
haben, welche der spanischen Sprache entnommen sind; doch weiss ich den
des Pferdes (amma, jama) mir nicht zu erklären.
Die Hauptnahrung der Goajiros besteht demnach aus Fleisch. Sie sind
wie alle Indianer in Betreff ihrer Mahlzeiten gleich dem Condor der Cordil-
leren. Ist Nahrung im Ueberfiuss vorhanden, so werden erstaunliche Mengen
verschlungen; fehlt es an Nahrungsmitteln, so wird der Hunger mit der gröss-
ten Gleichgültigkeit ertragen, und die starke Constitution leidet nicht sonder-
lich dabei. Bei den westlichen Goajiros scheint die Coca bekannt zu sein,
wenn nämlich der Hayostrauch das Erythroxylum Coca, Lam. ist. Die öst-
lichen Stämme kennen nichts derartiges. Sie rauchen Tabak, aber nicht mit
der Nase, wie die Bewohner von Hayti es thaten, und bereiten sich aus Mais
berauschende Getränke.
Doch nicht alle Stämme gründen ihre Existenz auf Viehzucht und damit
in Verbindung stehende Beschäftigungen. Einige leben vom Raube, wobei sie
weder Freund noch Feind unterscheiden.
Die äussere Ausstattung des Lebens steht selbstverständlich in Beziehung
zu der Beschäftigung. Die Hütte ist selten etwas anderes als ein auf einigen
Pfählen ruhendes Dach aus den Stämmen und Blättern der Typha angu*ti-
folia, welche enea genannt wird und in den zahlreichen Sumpfgegenden des
Südens die sogenannten eneales bildet (die Endung al nach Pflanzennamen
entspricht bekanntlich im Spanischen dem etum der Lateiner). Die an der
Meeresküste oder an den Lagunen lebenden Fischerstämme wohnen theilweis
auch in Hütten, die auf einem Pfahlwerk in einer 3 bis 4 Fuss tiefen Stelle
des Wassers erbaut sind. Die beiliegende Ansicht, die ich meinem kunst-
verständigen Freunde, dem Ornithologen A. Goering, verdanke, stellt das so
gebaute Dorf La Rosa bei Maracaybo vor. In dem vorderen niederen Theile
der Hütte ist die Küche; der hintere Theil ist Wohn- und Schlafplatz. Ur-
sache dieser Wasserbauten ist wahrscheinlich der Umstand, dass über dem
Wasser die entsetzliche Plage der Mücken und sonstiger Insekten weniger
gross ist. Wir haben hier also moderne Pfahlbauten. Diese Sitte fiel
schon den spanischen Entdeckern auf. Als Alonzo de Ojeda 1499 den Golf
von Maracaybo auffand, „sah er an der östlichen Seite ein Dorf, dessen Bau-
art ihn mit Erstaunen erfüllte. Es bestand aus zwanzig grossen glockenför-
migen Häusern, die auf Pfählen standen, welche in den flachen und reinen
Seegrund getrieben waren. Jedes Haus hatte eine Zugbrücke und die Bewoh-
ner verkehrten in Booten mit einander." (W. Irving, Voyages of the Comp,
of Columbus, Alonzo de Ojeda, Chapt. IV.) Alonzo fand bekanntlich hierin
eine Aehnlichkeit mit Italiens altberühmter Lagunenstadt und nannte darum
334
die Gegend Golf von Venezuela (d. h. Klein- Venedig); der indianische Name
war Coquibacoa.
Die Kleidung besteht zunächst aus dem guayuco (perizonium) und so-
dann einem baumwollenen Hemd oder Mantel ohne Aennel oder mit sein
kurzen Aermeln. Der Stoff ist gewöhnlich weiss und roth gestreift. Die Wei-
ber haben dieselbe Tracht. Die gebrauchten Stoffe wurden früher von ihnen
selbst gewebt; doch weiss ich nichts über das dabei angewandte Verfahren
Viele Stämme tauschen jedoch auch diese Stoffe in Sinamaica gegen ihre
Landesproducte ein. Als Putz dienen ausser gleichfalls durch Tausch erwor-
benen Schnüren von Glasperlen , Corallen und anderen Artikeln dieser Art
Hals- und Armbänder aus farbigen Samenkernen, Fingerringe aus Palmen-
früchten (einer in meinem Besitze scheint von einer Bactris herzustammen);
Federschmuck wird dagegen selten gefunden. Die Goajiros kennen das Tät-
towiren nicht, auch haben sie kein Oel, um sich damit einzureiben.
Ihre Hausgeräthe sind höchst einfach. Die Schale der Frucht des Ca-
lebassenbaums dient ihnen, wie zahlreichen anderen Stämmen Venezuelas, als
hauptsächlichstes Geräth. Sie nennen dieselbe nicht mit dem caribischeu Na-
men totuma, sondern ita. Sie ist ihnen Krug, Glas, Teller, Schüssel, Tasse
und Flasche.
Mannigfaltiger sind die Waffen und sonstigen Geräthe, welche die
Männer bei ihrer Arbeit benutzen. Zu ersteren gehört vor allem der Bogen
(jurasch), aus festem, elastischem Holze, gewöhnlich 4 Fuss lang und in
der Mitte über einen Zoll dick. Die Sehne (jurachapo) an allen denen, die
ich gesehen, war aus Pitahanf, den Fasern der Fovrcroyu gigantea. Die Pfeile
sind gewöhnlich 2 Fuss lang. Ihr unterer Theil ist aus Rohr, dem Stengel
der Blüthenrispe des Gynerium saccharoide* (parala); in das obere Ende wird
ein Holzstückcheu fest eingebunden, an welchem oberhalb der Schwanzstachel
des Stechrochens (Tryyon spec.) befestigt ist. Dieser Stachel ist gegen 3 bis
4 Zoll lang, scharf spitzig und an beiden Seiten mit scharfen, dichtstehenden
Widerhaken versehen. Man schreibt der Verwundung mit demselben giftige
Eigenschaften zu; doch ist diese Behauptung wohl ohne Grund, da der Sta-
chel vollkommen massiv und knochig ist. Die Wunde ist jedenfalls sehr
schmerzlich und kann wegen ihrer Tiefe und der von den Seitenstacheln ver-
ursachten Zerfleischung des Randes in einem heissen Klima sicherlich gefähr-
liche Zufälle mit sich führen. Die Pfeilspitze wird von den Goajiros vergiftet.
Das Gift (jimalä) ist thierischen Ursprungs. Der gewöhnliche Bericht, wie
ich ihn aus dem Munde von Indianern gehört habe, lautet wie folgt: Man
tödtet eine grüne auf • Bäumen lebende Schlange (jirül-li), nimmt die Gift-
druse heraus und steckt diese durch eine kleine Oeffnung in eine Calebassen-
frucht. Nach 15 bis 20 Tagen ist das Innere der Frucht eine dunkele schlei-
mige Masse, mit der man die Pfeilspitze bestreicht. Einen anderen Bericht
giebt Kamon Paez in seinem lesenswerthen , wenngleich nicht immer zuver-
lässigen Werke Wild Scenes iu South America (New-York 18G2), S. 40G:
335
„Eine Menge todter Reptilien, Schlangen, Kröten, Eidechsen, Scorpione und
Taranteln weiden in eine Totuma geworfen und darin gelassen, bis alles in
Verwesung übergegangen ist.u Dann soll eine gelbliche Flüssigkeil sich am
Grunde des Gefässes ansammeln, in welche die Pfeilspitzen getauchl werden.
Beide Berichte mögen wahr sein. Dem erstgenannten steht die neulichsl von
J. Escobar gemachte Mittheilung zur Seite, dass einige (welche?) Indianer
Neu-Granadas ihre Pfeile mit dem weisslichen, milchigen Safte vergiften, der
unter gewissen Manipulationen aus dem Kücken eines Laubfrosches, l'ht/llo-
batcs melanorhinvs, ausschwitzt (Comptes rendus, Juni 21, 1869, tom. 68, p, 148?
und in The Annais and Magazine of Natural History, Aug. 1869, p. 135).
Die Goajiros gebrauchen ihre vergifteten Pfeile nur im Kampfe, nicht
auf der Jagd. Das Holzstück wird gewöhnlich ringsum eingeschnitten, um
das Abbrechen der Spitze zu erleichtern. Nach den Angaben von Augen-
zeugen soll die durch einen vergifteten Pfeil gemachte Wunde unheilbar und
binnen wenigen Tagen tödtlich sein, wenn mau nicht gleich ihre Cautensa-
tion vornehmen kann. Der Verwundete stirbt unter stets sich steigernden,
heftigen Convulsionen. In Gemeinschaft mit Herrn Dr. J. Cuello machte ich
Versuche mit einem vergifteten Pfeile an einem Meerschweinchen, um tue
physiologischen Wirkungen des Giftes näher zu beobachten. Sei es nun, dass
die übersandten Pfeilspitzen entweder gar nicht vergiftet waren, oder dass
die sie bedeckende schmutzig graue Masse bereits kraftlos geworden war, das
Thier litt nur in Folge der mechanischen Verletzung und die Versuche gaben
kein Resultat.
Ausser Bogen und Pfeilen haben die meisten Goajiros auch Feuer-
waffen (carabus, vom spanischen arcabusa). Die venezuelanischen Gesetze
verbieten aus leicht zu errathenden Gründen den Verkauf von Schusswaffen
und Pulver an die Goajiros, die diese Artikel von Jamaika und namentlich
von Curacao erhalten. Paez berichtet in dem oben augeführten Buche (S. 406).
dass sich die Goajiros bleierner Spitzkugeln bedienen.
Neben den Schusswaffen ist das Waldmesser (charaj uta), die machete
der Venezuelaner, zu nennen.
Jetzt sind die Goajiros überdies in Besitz von Messern (ruli), Sehcereii
(parajus), eisernen Nägeln (cachuer), Kesseln (siguarali). Nadeln
(uchiye oder atia) und anderen Metallgegenständen. Der Name für Gold
(oro) ist vollkommen mit dem spanischen Worte übereinstimmend.
Der Angelhaken der Fischcrstämme ist heutzutage ein europäisches Pro-
dukt; er beisst curia, die Angelschnur guarara (wahrscheinlich identisch
mit dem gleichbedeutenden caribischen Worte guaral). Die Kähne werden
aus den dicken Stämmen der Ochroma Lagopus gemacht; doch sind die Na-
men ihrer Fahrzeuge: lancha, anua (von canoa) weitverbreitete Wörter
Alle Küstenanwohner sind vortreffliche Schwimmer, die des Binnenlandes
gewandte Reiter. Sie haben weder Sattel noch Steigbügel. Eine einfache baum-
wollene Decke ersetzt den ersteren. Die Pferde sind nicht schön, aber uu-
336
gemein ausdauernd und werden von den W eissen gern gekauft. Da der In-
dianer uicht leicht dem verlockendeu Preise, der ihm geboten wird, wider-
stehen kann, so schneidet er lieber seinem Lieblings pferde die Ohren ab, um
sicher zu sein, dass kein Weisser ihm ein Gebot dafür mache.
(Schluss folgt.)
Büeherschau.
Bartle: Hades and the Atonement. London 1869.
Bei der Erörterung über „The point of the Universe in which Hades is situated", wird aus den
Schriftstellern geschlossen: Hades is always represented as being underneath the earth (divided
into two compartments). In Hades at this moment are all the souls that have ever lived in
this world. Hades one day will be our abode. Es stimmt diese, sich an das jüdische Scheol
anschliessende Auffassung des würdigen Vorstehers des Walton College (Liverpool), mit
den Vorstellungen der Indianer und Eskimos überein, die ihre Jagdgründe in die Unterwelt
verlegten, wie auch der Griechen. Der für die höchsten Fragen der Menschheit gleichgültige In-
differentismus unserer Zeit giebt sich selten über diese Dinge klare Rechenschaft, wie sie die
liekenutniss einer Religion verlangt, und besonders fühlt man sich bei dem jetzigen Weltsystem
über die Localisirung des Himmels in grösserer Verlegenheit,*) als seiner Zeit Dante, wenn
man nicht (wie einige neuere Theologen im Anschluss an Lafontaine und Brewster) den Auf-
enthalt der Seeligen an die verschiedenen Sternenkörper anschliesst. Solche Unentschiedenheit
ist besonders den Missionären nachtheilig, von denen die Neubekehrten Auskunft zu erlangen
.suchen, besonders wenn sie eine frühere Religion verlassen haben, die, wie z. B. die buddhi-
stische, die ganze übersinnliche Welt genau in ihren Kosmos eingepasst hat und über jede ge-
wünschte Einzelnheit die genaueste Auskunft zu geben weiss.**) Ueber dem Caelum stellatum
erhebt sich das Caelum empyraeum, aber die Zahl der Himmel schwankt zwischen drei (Paulus
in tertium caelum raptus), fünf oder Caelum quiutuplex (Meisn.) und neun. ***) Nach Augustin
reichte das Wasser der Fluth mcht an die caeli caelorum (superiores in firmamento), obwohl
XV cubitis super montes asceudens. Die Wasserzerstörung der Buddhisten erhebt sich dagegen
bis zu der unteren Brahmanen-Terrasse , die viele Millionen Meilen über dem Gipfel des Meru
erhaben ist. Rudloff fasst die letzten drei der sieben Himmel als Paradies t) zusammen. Tertia
*) Auch über die Weltgegenden. Damascenus statuit ex orientali coeli plaga Christum
ad Judicium venturum, denn das Gericht (nach Gregorius) erit in valle Josaphat.
**) Ultra firmamentum quod octavum orbem nostris faciunt, est regio felicissima, ubi cor-
pus Christi degit (Petrus Martyr).
***) Secundum majorem computationein novem numerantur caeli largissime accipiendo,
aereum, aethereum, olympium igneum, coelum planetarum, firmamentum, aqueum, empyraeum,
coelum Trinitatis, und Auetores concordantiarum edit. Francof anno 600 unterscheiden sieben
Himmel (bis zum Coelum novum). Suarez ist das Caelum empyraeum am höchsten.
t) Hie probanaum nobis imumbere videtur, paradisum supra firmamentum esse consti-
tutum (Lampadius) und dieses würde dem Paradies des Amitabha entsprechen oder dem Rohutu
noa noa der Areoi auf Tahiti nach der Beschreibung von Bellarminus : In prato quodam floren-
tissimo lucidissimo, odorato amoeno degant animae, quae nihil patiuntur, sed tarnen ibi manent,
quia nondum idoneae sunt divinae visioni (Bellarminus).
337
caeli regio a süleribus ad aquas illas superiores patet, quae est aedes beatorum spirituum et ho-
minuui (Sohnius). Die schwebenden Paläste *) wiederholen die Vimana der Bhjamma,
doch scheint ebenso die spiritualistische Auffassung *•) ihr Recht zu haben. Wenn Luther
auch animalcula et catellos, quorum cutis erit aurea et pili de lapidibus pretiosis in den
Himmel setzt, so entspricht das der Fiji- Auffassung, nach der selbst jedes Insect fortlebt.
Ibi formicae, ciniphes et omnia foetitia et male olentia animalia merae diliciae erunt et
optimum udorem spirabunt. Das konnte zur Phthirophagie verleiten , da die Beschäf-
tigung***) der Beati eine sehr einförmige scheint, wie (nach Burneh) die Umgebung,
„ohne Berg, ohne Meer,f) ohne Klippen." Sonst heisst es: Edemus de ligno vitae, und
Augustin erörtert, dass die Esswerkzeuge zwar nicht mit der Noth wendigkeit, aber doch mit
der Möglichkeit des Kanens vorhanden sein würden, sowie sonstige, scheinbar unnütz gewordene
Eingeweide. Die Auferstehung des Fleisches ist es überhaupt, die schwer lösliche Schwierigkeiten
verursacht, und die gelehrten Kirchenväter (nicht nur die altenft) hatten ihren ganzen Scharfsinn
nöthig, zu erklären, wie sowohl den Raubthieren, die Menschen zerrissen haben könnten, ihr
Raub abzujagen sei, sondern auch den Würmern, die den Leichnam im Grabe gefressen Jedes
Atom der Elemente, aus denen der erste Lehm-Mensch geformt war, ist aber zu retten, denn:
resurget carno, et quidem omnis et quidem ipsa et quidem integra (Tertullian). Securae estote
caro et sanguis, usurpastis et coelum et regnum Dei in Christo. Gautama's scheinbar verwickelte
Lehre der Metempsychosen hatte es in ihrer Erklärung viel leichter, da die Rupa- Formen nur
Accidentien sind, die die moralische Verantwortlichkeit in jeder Existenz neu gestaltet. Boni-
facius zwang bekanntlich einen Fuchs, die gefressene Henne zurückzugeben, und Germanus er-
weckte „asellum , qui obierat et vitulum , quem ipsius familia comederat." Die Vielfachheit (s.
Delitzsch) der Mansiones im Himmel gab zu einer Vielfachheit von Ansichten Veranlassung, denn
non omnes aeque beati sunt (Beccanus). Ex fide est illa adsertio, alios majorem beatitudinem
*) Crediderim ampla admirabiliaque esse in ipso coelo palatia, amplaque alia aedificia
ex incorruptibili materia ipsisque margaritis pretiosore fabricata. Forte enim prata amoe-
nissima, nemora, similiaque alia, quae beatorum oculis ipsa varietate offerant oblectationem
et civitatem illam coelestem exornent. Habebunt beati mansiones, ut ex evangelio constat (Bar-
radius). Vero similius enim est, quod illic fiant choreae ac saltationes. Omnia enim , quae ad
ehoream sufficiunt et requiruntur , ibi inveniuntur: Locus spatiosus, qui datur in coelo, locus
speciosus, locus luminosus, locus firmus, jueunditas, tranquillitas, satietas, ebrietas, corporis for-
mositas, vigorositas corporis, corporis levitas, corporis ornatus (Bernhardinus). Plateae auro
mundo sternuntur, portae ex sapphiro, et smaragdo aedificantur , et lapide pretioso omnis cir-
cuitus muri ejus, super turres , super muros custodes constituti sunt, qui die noctuque nomen
Domini laudare non cessant, sed et per plateas vicosque mirabili exsultatione ab universis Alle-
luia cantatur (Laurentus Just.). Suavissimum odorem exhalaturum ex corporibus glorificatis,
qui summam delectationem olfactus adferat (Thomas). Indicibilis dulcedo omnium delectabilium
melliflua quadam et jueunda satietate oris faginabit palatum (s. Laurent.). Intra ipsum coe-
lum empyraeum ad conversum usque beatorum palatia admirabiliter summi artificis manu con-
strueta sunt, ordineque ita disposita, ut alia sint inferiora, alia superiora, alia aliis sint pul-
chriora ac pretiosiora. In celsissimo caeli loco palatium summi regis Christi est, quod omnem
superat admirationem. Eo inferius Deiparae virginis palatium alterum, quäle tantae reginae
dignitas poscit. Ordines sequuntur alia pene innnita tarn angelis quam hominibus attributa.
Habent enim angeli quoque peculiares sedes atque palatia quibus alii ab aliis seiungantur loco
(Cajetanus). Laokun weilt in Tae-tsing-kun (im Pallast höchster Reinheit).
**) Corpus nostrum agilius tenuiusque et quod aura vehi possit, futurum adserit (Chryso-
stomos). Nach Sartorius haben die himmlischen Leiber die zauberische Gewalt, leichter durch
entgegenstehende Hindernisse hindurch zu dringen (wie die Tischgeister zeigen).
***) Die Seligkeit besteht in dem Befreitsein von allem Uebel und in der Gemeinschaft mit
dem höchsten Gut, dem Anschauen und Preisen der heiligen Dreieinigkeit (was mit hörbarer
Stimme und derselben Sprache, vielleicht der hebräischen, geschieht), dann im Verkehr mit den
Engeln und allen Seligen (s. Gerhard). Una remanebit lingua, sei. nebraica (Cajetanus).
f) Aqua in novo mundo erit sicut cristallus (Barradius).
tt) Bei (dem Lutheraner) Gerhard werden die Fragen erörtert: Bis zu welchem Grade der
Fötus entwickelt gewesen sein müsse, wenn er an der Auferstehung Theil nehmeu solle? Wie
es sich mit dem Abortus in Bezug auf die Auferstehung des Fleisches verhalte? Wie die Voll-
ständigkeit der Auferstehungsleiber unter menschenfressenden Völkern oder im Fall des Gefressen-
seins des Menschen durch ein Thier möglich werde? Ob das vom Menschen durch Essen assi-
milirte Rindfleisch an der Auferstehung und Verklärung Theil nehme oder ausgeschieden werde?
Ob die Haare und Nägel der Seligen im Himmel noch wüchsen? Welchen Zweck Magen und
Gedärme bei den Leibern der Seligen hätten? u. dgl. m. (s. Gerlach).
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 1870. 23
338
accepturos, quam alios (Gregor). Man unterschied eine duplicem coronam (magnam et minorem).
Ejusmodi aureolas tres statuunt, quarum unam martyrilms, alteram virginibus, tertiam doctori-
bus assignant. Wie Augustin mitzutbeilen befähigt war, trug der heilige Hieronymus eine
Kinne mit zwei Zinken, Johannes Bapt mit drei. Die Rangordnung der ciselirten Kronen er-
örtert Rabanus. Die Leiber werden glänzend*) sein (wie in den Abhassara-Himmeln), und dies
sowohl bedingt die Unterschiede, als weil caeli angelis, throni potestatibus, lumina ministris
gefüllt sind. Die Beati gelten als toäyyflot. Beati nudi erunt (Anshelm). Quidam ex schola-
sticis statuunt, beatos liabituros vestes. Oswald schreibt den Seeligen verschiedenes Geschlecht**)
zu mit distinctiveu Gliedmassen. In den Buddhistischen Phroma-Lok leben die Frauen dagegen als
Männer auf. auch sind die Phroma, absque sexu, intestinis et viis excretoriis. Im Paranimit-
llimiiiel wird tue Speise sogleich durch den ganzen Körper verbreitet, unde fit ut non sint
faeces neque excrementa (Pallegoix). Die verstorbenen Gottlosen sind entweder (nach Sartorius)
in ein festes Gefängniss gebannt wie einst auf den Mariauen), oder sie treiben sich im Zwi-
schenreich flüchtig umher, wie vielfach die Dämone. Unter diesen erscheinen bei den Malayen
die Hexen als Funken und Irrlichter. Corpus nostrum ita leve et agile Deus efriciet, ut instar
scintillae in sublimi feramur (Luth.). Gott wird die Sonne („um der Menschen willen halb fin-
ster, rassig und besudelt") »wieder ausfegen und reinigen durchs Feuer*, eine Ansicht, die sich
vielfach in den Mythologien und Volksauschauungen wiederholt. Nach Canz ist der subtile
Leib der Seele aus dem gröberen, „wie ein Branntwein aus alten Weinhefen ausgezogen" (1747
p. d.i. Die Buddhisten kennen einige Hunderte von Höllen und Nebenhöllen, genau ihrer Lage
und Bestimmung nach beschrieben, und ähnlich haben es uns die Patres***) überliefert, obwohl
•; Futurum siquidem est, ut facies justorum fulgeant tanquam luna, tanquam coelum,
tanquam stellae, tanquam fulgura, tanquam lilia, tanquam lampades (s. Galatin).
**) Abortus inanimes et informati non vixerunt,- er^o nee raori potuerunt et per consequens
resurgent. Foetus autem abortivi qui formati fuerunt er vitam habuerunt, etiamsi in utero
exstineti iuerint, resurgent ab omni tarnen defectu et infirmitate liberati (1780 p d.). Si partes
principales (Monstri) sunt hominis, si vixit, habuit animam humanam et ideo ordinatum est ad
resurrecrionem et resurget homo seeundum totum (Bonaventura).
***) Dubitandum non est, ipsas poenas, quibus cruciabuntur, qui regnum Dei non posside-
bunt, pro diversitate criminum esse diversas et alias aliis acriores (Aug.). Damnatorum locus
non sub ipso globo, ut Isidorus putat, sed in ipsius globi terrestris medio, tellure ipsa siniun
i quasi alvcum aperiente, credendus est (Baptista Mantuanus). Interna sub terra esse nemo
j;im utnbigat (s. Hieronym.). Probabile est, infernum in profundioribus terrae marisque spelun-
ris esse (s. Keckermanus). Nach Laurentius Surius sind am Feuerberg Aetna tartari ostia, wie
an den Seliwefelgruben des Ilecla (lä:i7 p. d.). Ponderosi peecati locus velut naturalis tartarus
est (Barradius) Hieronymus detiuirt das Infernum als locus (in quo animae recliiduntur). Fa-
teri cogens in inferno esse paradisum (Olaudianus). Internus est locus igne et sulphure horri-
dus, inferius dilatatus superius coangustatus (Anshelmus). Os velut os putei habet (Hildegardis).
Tribuitur igni iufernali llamma, sulphur, ligna, utique ergo est ignis corporeus, materialis proprie
dictus. In inferno est ferocitas bestiaruin, dilaceratio immortalium vermium (s. Haym.), als
Schlangendrachen (nach Anshelm.). Etiaui sulphur ac picem veram in inferno fore tum quia
necessaria ut aliqua materia, in qua ignis infernalis accendatur, tum ne odoratui damnatorum
sua desint tormenta, meint Thyräus (s. Gerh.). Farne ac siti proprie dieta damnatos torquen-
dos esse plurimoruin est opinio (Gerh.). In inferno esse latissimum frigidissimarum aquarum
reeeptaculum instar maris, in quod ex igne transeant damnati a daemonibus rapti, post ar-
dorem patiuntur frigns, ex quo Stridor deutium oriatur, wird behauptet uach Hugo Victor's Vor-
gang Ibi vermis, qui non moritur, ignis qui nuuquam exstinguitur atque Stridor semper den-
tinm sentituy, gehenuae letli.de frigus, et glacies indeficiens, fames pessima, et sitis immensa,
dolor perpetnus (s. (Jassianus). Odoratus sulphureo foetore torquebitur. Cum damnatis enim
omues üu jus seculi feces, sterquilinia, foetores, in infernum seu in cloacam quandam descendunt
Dionysius Carthus.). Paradisus coelestis est regio lucis, theatrum gaudii, conclave quietis et
laumiv omnis felicitatis (Gerhard). Ignis inferni non clarus et splendidus, sed fumosus et qun-
dammodo lenebricosus adnritur, veruntamen inodicum quid sortitur de luce in tantum, ut dam
iin.ti ad calamitatis suae argnmentuirj se invicein adspicere queant (Dionys. Carth.) Constat
autem inultos homines in medio ignium per bonitatem creatoris illaesos fuisse servatos (Alver-
uu.s), ohne Schmerz, und so würden die Körper der Verdammten im ewigen Feuer erhallen, mit
Schmerz, was Tertullian den Feuerbergen vergleicht (und Augustin den animalia, quae in mo-
dus ignibiis vivimt). si «| ii is dicit aut .sentit, temporanea esse daemonum et-impiorum hominum
tormenta, finemque ea tempore aliquo babitura, sivo restitutionem daemonum aut impiorum bo-
niiiiuin futuram, anathema Bit (Syu. oec.) &52 p. d. Das höllische Feuer ist schwefelfarben und
brennt, olme Stoff zu bedürfen und ohne den Körper dei' Verdammten zu verzehren, die durch
güttli« Im- Allmacht solche Beschaffenheit erhalten, dass sie das Feuer fühlen, aber nicht dadurch
333
weniger systematisch. Varia sunt tormentorum loca (Ephremuß). Duplex damnatorum po< u >
(Isid.). Die Fortdauer dei Qual erklär! sich folgenderujassen: ..Im Allgemeinen wird n
Umwandlung bei den Verworfenen als eine Härtung »der Verfestigung (Pctrifaction) der Lcibei
sich vorstellen müssen. Im Einzelnen aber wird die Unverweslichkeil und in deren Folge di<
Unsterblichkeit der verklärten Leiber bei denen, die dem zweiten ewigen Tode verfallen sind,
gleichsam in ein ewiges Sterben umschlagen, in ein ewiges Verwesen und Anfaulen bei leben-
digem Leibe" (s. Oswald). Der zauberhafte Lichtschein, der von den Leibern der Verklärten ab
strahlt, setzt sieh bei den Verworfenen in einen abstossenden Ekel um. Die Seeligen erkennen
wie sich unter einander, so auch denjenigen Verdammten, die sie auf Erden gekannt haben,
aber ohne Mitleid, da ihre Seligkeit durch den Anblick jener nur erhöht wird (n. Gerhard). Im
Jahre 18G3 bemerkt Oertel, Pastor zu Storkwitz: „Als ueutestamentliche Anschauung über den
Zwischenzustand ergiebt sich, dass der Aufenthalt der abgeschiedenen Seelen zum Theil uutei
der Erde zu suchen ist, dass dieser Raum in zwei von einander getrennte Räume (einer für die
relativ Seeligen, der andere für die relativ l'nseeJigen) geschieden ist, dass der Zwischenzustand
nur ein einstweiliger, dass alle abgeschiedenen Seelen dem Zwischenzustand entweder auf dei
Erde oder im Himmel anheimfallen, dass die Abgeschiedenen leiblos sind, Selbstbewußtsein,
Rückerinnerung, die Fähigkeit, wahrzunehmen und Eindrücke zu empfangen, mit einander zu
verkehren, an Erkenntniss zu wachsen und auf der im Diesseits begonnenen Lahn fortzuschrei-
ten, behalten und selbst die Möglichkeit ihnen geblieben ist, jenseits von der hier betretenen
Bahn entweder zum Guten oder zum Bösen abzulenken."
Manchem scheinen derlei Erörterungen unnütz oder selbst kindisch. Das bleibt dei Ansicht
eines Jeden überlassen. Da sich solch' ernsthafte Leute, wie die obigen Autoritäten, damit be-
schäftigen, giebt es jedenfalls zwei Seiten der Betrachtung. Wollen wir indess in der Ethuo
logie ein objeetives Bild des Normalmenschen gewinnen, so müssen wir ihn auf allen Theilen
der Erde mit gleichem Massstab messen- Wenn uns Reisende von den mythologischen Vor
Stellungen wilder Stämme erzählen, so werden wir diese im Grunde ganz identisch linden mit
dem Hexen- und Gespensterglauben, der in der grossen Masse unseres Volkes fortlebt oder doch
bis ganz vor Kurzem noch fortlebte, wie Gerichtsverhandlungen und Zeitungsnachrichten bis in
das Jahr 1870 p. d. beweisen. Das gebildete Publikum, die Klasse der Lesenden und Schreibenden,
ist im Grunde eine sehr kleine Fra'ction, und in unseren übervölkerten Ländern wahrscheinlich
eine verhältnissmässig noch kleinere, als in den ausser-europäischen, denn in jedem Negerdorfe
oder polynesischen Districte giebt es der Aufgeklärten oder der Spötter, je nach der Part hei
Ansieht, genugsam. Sie finden es aber gewöhnlich in ihrem Vortheil, den religiösen Dogmen,
wie sie die Priester aufstellen, nicht weiter entgegen zu treten, und verhalten sich passiv gegen
dieselben, obwohl, wenn die Sprache darauf kommt, jeder, der sich zu den Gebildeten rechnet,
sie freigeisterisch für Fabeln erklärt, die des Volkes wegen erfunden seien, selbst in den buddhisti-
schen Ländern, wo tue Hierarchie mächtiger zu sein scheint, als irgendwo sonst. Handelt es
sich also um unpartheiische Vergleichungen, so haben wir die Ansichten der Gebildeten*) dei
verbrannt werden. Auch die Teufel werden durch das Feuer gequält, vermehren selbst aber durch
ihr Heulen und Zähnefletschen die Qual der Verdammten (Gerhard). Das Zähneklappen rührt
aus Neid und Wuth her. Justi videbunt malos in poena, ut magis gaudeant, quod hanc eva-
serant poenam (Anshelm.).
*) There is no evidence of creation, it is only a tradition; why not aecount for it by
the self-producing power of nature? meint (b. Alabaster) der siamesische Buddhist (Chao Phya
Thipakon, der Minister des Auswärtigen) in einem Gespräch mit Gützlaff, der darüber ärgerlich
wurde und fortging (when I had said this, the missiynary became angry, and saying, l was
hard to teach . left me). Als bei einem weiteren Gespräche der Herr Heide nicht beg
wollte, dass der Dewa im Himmel aus purer Liebe zu den kleinen Kindern dieselben tüdtete,
antwortete Dr. Gützlaff: „lf any one spoke like this in Europaean eountries, he would be pul
in prison." InSiam ist das nicht der Fall, da Verfolgung (wie der Mildster anderswo bemerkt)
den Principien des Buddhismus überhaupt zuwider ist, und so werden die Verunglimpfungen
Buddha's durch die christlichen Missionäre von den Siamesen apathisch hingenommen, denn
nach dem Worte des ungläubigen Königs würde sich doch Niemand zu einer Religion bekehren,
deren Lehren den Eindruck des Unverständigen machen (s. Alabaster)- Dr. Gützlaffs Version über
diese Gespräche ist in seinen Tagebüchern nachzulesen. Sein Langmuth war zu Ende, als der
starrköpfige Siamese Zweifel" hegte über die Folgen, die aus Eva's Apfelbiss entstanden waren.
The missionary replied: „It is waste of time to converse with evil men, who will nol be taught,"
and so left me (schreibt Sr. Excellenz Thipakon).
23*
340
verschiedenen Lander unter einander (wie in Raker's Gespräch mit dem Negerkönig) , die An-
sichten der unteren Volksschichten mil einander, und die Ansichten der Priesterklassen mit ein-
ander in gegenseitige Parallele zu setzen. Oftmals ziehen die letzteren allerdings vor, ihre Be-
griffe über alle diejenigen Dinge, worüber es eben ihre Pflicht wäre, Auskunft zu geben, in so
vager Unbestimmtheit zu halten, dass sie es einfacher hätten, sich zum Glauben der Daeotahs
zu bekehren, die das Göttliche und Uebersinnliche einfach Tahuwakan (das Unbegreifliche) nennen.
B.
Hamy: Paleontologie humaine, Paris 1870. Den Cerauniern (S. 12) kann man
die Malleolos joviales*) zufügen, deren Gebrauch erst König Magnus, der 1139 p. cl. den Thron
bestieg, abschaffte. Von den verschiedensten Volksstämmen ist es bekannt, dass sie bei Gewit-
tern ihre Pfeile zum Himmel schössen, bald die Dämonen zu bekämpfen, bald die mit diesen
kämpfenden Götter zu unterstützen. Wie Salmoneus im dynastischen Uebermuthe den Donner
des Zeus nachzuahmen suchte, so Hess der letzte König von Madagascar beim Gewitter seine
Kauonen lösen, und antwortete den ihn darum befragenden Missionaren, dass [wie der König
des Himmels donnere, so er auf Erden. Tuckey hörte den verehrten Stein (am Zaire) Taddi-
engazzi (Blitzstein) benennen. Das Buch enthält 114 Abbildungen und verschiedenen Abschnit-
ten sind Erörterungen aus der vergleichenden Ethnologie beigefügt , freilich nur sehr kurz ge-
halten. Die Behandlungen der Ethnologie und der menschlichen Paläontologie scheinen augen-
blicklich in der Mehrzahl ihrer Bearbeitungen in einem grossen Missverhältniss zu einander zu
stehen. Bei Botanik und Zoologie ging die systematische Behandlung dieser Wisseuschaften
der Paläontologie vorauf, und die zerstreuten und zusammenhanglosen Zeugnisse dieser, die für
sich allein kein abgeschlossenes Ganze hätten liefern können, zeigten sich darin fruchtbringend,
dass sie bereits feststehende Sätze zu bestätigen oder zu erweitern vermochten. Beim Menschen
dagegen haben wir die Behandhuig seiner fossilen Reste begonnen, ehe noch aus den lebenden
Repräsentanten der Völkerstämme ein Normalbild gewonnen ist. Alle bisherigen Systeme der
Ethnologie haben sich als gänzlich unzulänglich bewiesen , und mussten es bei dem Mangel an zu-
verlässigem Material. Dieser Mangel selbst aber rührt nur aus der Vernachlässigung eines ernst-
lichen Studiums her, denn vorhanden ist (oder war wenigstens) das ethnologische Material in
Hülle und Fülle. Nimmt man die Ethnologie als den sicheren und auf breiter Basis gegebenen
Ausgangspunkt, so mögen die disjeeta membra des fossilen Menschen die werthvollsten Auf-
schlüsse zu Tage fördern; bilden sie dagegen den einzigen Gegenstand der Betrachtung (höch-
stens mit gelegentlichen Seitenblicken auf die Ethnologie), so bedarf es für ihre Verknüpfung
eines solch' wahnsinnigen Wustes willkürlichster Hypothesen, dass dadurch jede Controle der
induetiven Methode unmöglich wird. B.
Waring: Stone-Monuments, Tumuli and Ornaments of Remote Ages. Lon-
don 1870. Wenn auch die Ausführungen der 108 Tafeln, sowie die beigefügten Beschreibun-
gen wissenschaftlichen Anforderungen nicht genügen, so wird sich doch für Vergleichungen die
übersichtliche Zusammenstellung der verschiedenen Formen nützlich und bequem zeigen. Die
Gleichheit der circassischen Gräber auf Tafel LIX, fig. 10 (ebenso XLV, 3 b) mit denen aus dem
Carnatic (statt Bengalen), Tafel LIX, fig. 12 (dann Tafel LXIII, fig. 3. 4, Tafel LX1V, fig. 6),
*) Tarn obstinatissimo animo Deorum suorum eultum observabant, ut concitato in nubi-
bus fragore, sagittas ex areubus in aera excutientes, ostenderent se opera afferre velle Diis suis,
3uos tunc ab aliis oppugnari putabant. Nee ea temeraria superstitione contenti, inußitati pon-
eris malleos (quos joviales vocabant) ingenti aere complexos, magnaque religione eultos, ad eum
usum habebant, ut per eos tanquam per Claudiana tonitrua et per usitatam rerum similitudi-
nem, coeli fragores, quos malleis cieri credebant exprimerent, tantique sonitus vim fabrilium
specie imitantes, Deorum suorum bellis sie adesse admodum religiosum existimarent. Durabat
is jovialium malleorum usus usque ad annum a Christo nato MCXXX, quum Magnus Gothorum
rex Christianae diseiplinae studio paganam superstitionem perosus et fanorum eultu et jovem
insignibus spoliare sanetitatis loco habuit, qui propterea ad multa tempora a Gothis perinde ac
coelestium spoliorum sacrilegus raptor reputatus est (s. Joh. Magnus) 1558. Die Donnersteine
oder Keile sind (am narz) Schutz gegen Gewitterschlag, auch gegen Rose und gegen Entzündung
der Brüste und des Euters bei Kühen (s. Schumann) 1869. Ebenso in Frankreich und verschie-
denen Theilen Asiens. Das Haus des in Alba donnernden Alladios traf der Blitz.
341
erstreckt sich bis auf die runde Oeffnung, die ebenso bei den Tafel LX dargestellten Gräbern
wiederkehrt, sowie bei dem französischen, Tafel I.IX, fi^. N, dem Dolmen von GHsors, Tai«! XU1
Gg. 5, dann den durchbohrten Steinen ans Irland (I.IX), Persien (LX, J), dem Dekkhao (LXIII,
LXI V) n. s. w. An den Fundorten selbst kann man hierüber eben so wenig Auskunft geben, wie öbei
die Monumente überhaupt; die vergleichende Ethnologie leint indess leichl genug, dass es sich
hier um das aus den magischen Operationen der Madegassen, Tschai li, Irokesen u. s. w w oM
bekannte Seelenloch handelt. li.
Brasseur de Bourbourg: Manuscrit Troano (Mission scientifique en fcfe-
xique), Paris 1870, T. I. & II. Die Copie eines in Madrid erhaltenen Manuscriptes,
von seinem Eigenthümer Juan de Tro benannt, gab Veranlassung zu einem weiteren Studium
des von Landa mitgetheilten Maya-Alphabets und dann zu einem Versuche der Entzifferung.
Wenn die yucatanesisehe Bilderschrift gleichzeitig alphabetische, syllabisehe, ideographische Zei
Oben einschliesst (neben den noch hinzugefügten Determinativen), so ist dadurch bereits der
Willkür jedes Thor geöffnet, wenn sie sich nicht selbst in der Erklärung vorsichtige Fesseln
anlegt, wie z. B. bei der Interpretation der Keilschriften durch die gegenseitige Controle nam-
hafter Forscher. In dem vorliegenden Falle steht der Herausgeber aber allein, dessen Kopf (wie
seine letzten Schriften beweisen) eben nicht der kühlste ist, und ausserdem handelt es sich um
eine Sprache, von der de Bourbourg selbst sagt, dass sie erst noch zu erlernen sei. Alle diese
Indulgenzen, die der Abbe für sich in Anspruch nimmt, geben aber noch nicht genügende Frei-
heit, denn sie lassen bei der Auslegung, wie er gesteht, gänzlich im Stich. Es werden nun
also noch soviel neue Hypothesen zur Zerlegung der Kalenderzeichen hinzugefügt, wie es riöthig
ist, um eine Lesung zu Wege zu bringen, und wenn es dann nicht damit gehen sollte, so wäre
es allerdings mehr wie ein Wunder. Das schliesslich^ Resultat ist nun aber allerdings auch
ein derartig überraschendes, dass all solche Mühe und Arbeit wohl belohnt sein würde, und
wenn die syntactische Verknüpfung der Sätze etwas dunkel bleibt, ist der Eindruck des
Mysteriösen desto* gewaltiger. Durch die Enthüllungen des indianischen Weisen, gleichsam
die letzten Worte einer gleich darauf untergegangenen Civilisation, werden wir in die tiefste
Urgeschichte unseres Planeten hineingeführt, nicht etwa in die mythologische Spielerei der vier
Weltalter, sondern in paläontologische Schichtungen und Umwälzungen frühester Vergangenheit,
und wenn schon bei unserer wissenschaftlichen Construction derselben einige Confusion zu herr-
schen scheint, so wirbelt in jenen mexicanischen Conceptionen ein wahrer danse Maccabre. Cata-
clysmen folgen auf Cataclysmen, die Erde wird verschlungen, aufgetaucht, wieder verschlungen.
Vulcane sprühen empor, ihre Lava überschwemmt, neun Mal, drei Mal, nochmals drei Mal (S. 14G),
an 19 Punkten steigen Berge hervor (S. 151), 4 Krater (S. 161), drei Krater (163), 17 Feuer-
heerde, 12 Ausbrüche (167), 12 Länder versunken (169), 13 Ausbrüche mit 10 Öffnungen (173),
10, 4, la terre est ivre! (S. 181), und wüthet fort: 13 Berge steigen hervor mit 4 Kratern
(S. 182), 13, 11. Die Vulcanthätigkeit ist erschöpft (S. 192), dennoch: 18 Länder wieder
verschlungen (193), 13 Krater, Erdbeben, 3 Vulcane, Lava, zerreissen, zittern, — so weit
die Erklärung bis Folio V. Dreissig sind übrig, die nach dem Aussehen der grimmigen Figuren
auf denselben noch die furchtbarsten Geheimnisse einschliessen dürften. Möge die Welt, ihrer
Seelenruhe wegen, mit deren Enträthselung verschont bleiben. In einem Nachtrag hören wir
von den Gletschern (schon früher in dem Worte „annoneaut l'ere du salut aux populations epar-
ses sur les glaciers"); 19 Länder erheben sich, Anhäufung der Gletscher im Norden, mit Befrei-
ung von 2 Gipfeln, Gletscher im Osten, 15 Länder, Gletscher in Osten, 9 Länder, Gletscher im
Westen, 16 Länder, Gletscher im Norden u. s. w. Dazu gehört das Symbol Tecpactl (couteau
de pierre). Dazwischen spielen der Nil, der ammonische See, die Syrien Afrikas, der Etna. Si-
cilien, Italien, Rhea, Cybele u. s. w. Es ist (von dem eingestampften Buche des Abbe Dome-
nech und dem von der Academie an das Zuchtpolizeigericht transferirten Manuscripten-Process
abgesehen) wohl das Tollste, was jemals mit Unterstützung einer Kaiserlichen Regierung an das
Licht trat. Doch sind manche unserer anthropologischen Phantasien noch toller, da sie von
Männern ausgehen, die an die strenge Denkmethode der exaeten Wissenschaften gewöhnt sein
sollten, während Brasseur de Bourbourg nur Ansprüche darauf macht, Historiker oder Sprach-
forscher zu sein, und in seiner mexicanischen Geschichte in der That höchst werthvolle Bei-
342
träge geliefert hat, für den, der sie zu benutzen versteht. Auch das vorliegende Bueh ist durch
die sorgfältige Wiedergabe des dariii behandelten Manuscriples .^ohi schätzbar. Der zweite Thei)
ßiebl Grammatik und Vocabular der Maya-Sprache. lt.
Benfey: Geschichte der Sprachwissenschaft, München 1869.
Nächst der Naturwissenschaft giebt es keinen andern Zweig der Forschung, auf dem die
letzten 50 Jahre so glänzende Erfolge zu verzeichnen haben, als auf dem der Sprachwissenschaft.
Ihre Umgestaltung war eine nicht weniger radicale, als die der Chemie, in mancher Hinsicht
eine noch raschere, und von allen philosophischen Disciplinen wird es die Sprachwissenschaft wahr-
scheinlich zuerst erlauben, die exacte Methode der Induction auf ihre Behandlung anzuwenden.
Ks isi deshalb sehr erfreulich, dass von der mit Unterstätzung des Königs von der königlichen
kademie der Wissenschaften in München herausgegebene Geschichte der Wissenschaften in
Deutschland die Geschichte der Sprachwissenschaft in die Hände Prof. Benfey's in Göttingen
gelegt ist, der durch seine umfassenden Kenntnisse in allen Theilen der Philologie und Lin-
guistik, durch seinen schon so vielfach bethätigten Scharfblick und seine gewandte Darstellungs-
weise mehr wie ein Anderer befähigt war, diesen schwierigen Stoff zu bewältigen. Hauptsäch-
lich waren es die drei grossen Abtheilungen der klassischen Philologie, der germanischen Sprach-
forschung und der besonders auf die aus dem Studium des Sanscrit gewonnenen Resultate ba-
hrten Sprachvergleichung, die ihre ausführliche Darstellung erforderten und sie mit gleicher
l npartheilichkeit erhallen haben. Die klassische Philologie ist der alte Stamm, auf dem alle
die Irischen Blüthen der Gegenwart emporgesprosst sind, und sie darf sich nicht beklagen, wenn
ihr Iniher alleiniges Monopol, als die Wissenschaft der Sprache zu gelten, durch jüngere Kin-
der beeinträchtigt wird, da ihr stets die Ehre verbleibt, die ernährende Mutter gewesen zu sein.
Ks lieg! in der Natur der Sache, dass die mit F. Bopp's Grammatik begründete Sprachfamilie
lies Indo-europäischen in den Vordergrund trat, mid ihr sind auch die meisten Specialarbeiten
Benfey's zugewandt. Derselbe stimmt mit andern Forschern darin überein, dass die Sprache,
111 di r die allen Heldenlieder gedichtet waren, einst die Volkssprache bildete. „Der Untergang
des Bharala Iteiches führte zunächst auch das Aussterben ihrer Sprache mit sich", und das
dem Volke entschwindende Verständniss der alten Lieder erhielt sich nur in dem Gedäehtniss*)
der vereinzelten Priester- und Sänger-Geschlechter. „Der Zusammenhang zwischen der Sprache
dei Ved( ulicdcr, der der Brahmanas oder überhaupt der spätem Vedenliteratur und dem eigeni-
i päteren) Sanskrit war kein naturwüchsiger, kein auf einer volkstümlichen Entwicklung
beruhender, sondern ein mehr künstlicher", wofür die Rolle des Altgriechischen bis heute, des
Mthebräischcn (noch jetzt in Polen und Russland), der lateinischen Gultursprache im Mittelalter
u.s. w. Aufklärungen biete). Die in allen Feldern der weiten*') Sprachwissenschaft auf Detailstudien
eingehenden Forschungen dieses lehrreichen Werkes entziehen sich einer kurzen Besprechung. Es
sei nur bemerkt, dass Benfey die Erforschung des genealogischen Verhältnisses der Sprache mit
den jetzt zu Gebote stehenden Mitteln für noch nicht ausführbar hält und den Schluss von der
*) „Indem diese Studien und der Antheil daran immer zunahm, behauptete und verbreitete
•ich die Vedensprache als Religions- und Cultur- oder überhaupt heilige Sprache immer weiter,
wurde von denen, welche sich an jenen Studien betheiligen wollten, neben ihrer volkstümlichen
Muttersprache erlernt, konnte aber nicht umhin, im Fortgange der Zeit diejenigen Veränderun-
gen xu erleiden, welchen eine ausgestorbene Volkssprache, wenn sie sich als Gultursprache be-
haupten will, nicht entgehen kann."
* ) Uebcr die Differenziirungen einer und derselben Sprache, welche sich durch sociale Ver-
hältnisse, wie gleichen Hang, Stand, Gewerbe, Thäligkeit, Gebrauch ergeben, z. B. verschiedene
Rangsprachen 'in Java), Sprachen verschiedener Stände, wie z. B. in Deutschland der Studen-
leu, Slang and <an t in England und ähnliches sonst vielfach, 1 laudelssprache, wissenschaftliche,
Verschiedenbeil der Frauen- und Männersprache (bei den Karaiben), Verschiedenheiten, die sich
durch den Gebrauch ergeben) poetische, prosaische, Unterhaltungssprache u. s. w. ist keine um-
endi Vrbeil erschienen (S. 794). Es ist die Vernachlässigung dieses Punktes jedenfalls ein
Mangel der gegenwärtigen Sprachwissenschaft, die (wie nach LyeU's Reform der Geologie) die
jetzt Statt habender] Veränderungen aus früher statt gehabten erklären könnten Nicht mit Un-
rechl Bagt Rosa (1858): Sprachvergleichung, ohne dass man den organischen Klang der vergli-
chenen Sprachen kennt, Mos mit dem Lexicon und der Grammatik, bringt meistens nur todt-
gebonie Kinder zu Wege.
343
Sprachverwandtschaft auf ursprüngliche Rassenverwandtschaft in Frage zieht. Ueber den begriff -
lichen Werth von Lauten ist seit Abfassung des platonischen Kratylos bis auf den heutigen Tag
mehr Unvernünftiges als Vernünftiges zu Tage gefördert (S. 791), doch räth Benfey, alle dahin
gehörigen Fälle zu sammeln und genau zu erörtern.
Bei den Thieren ist die Veränderungsfähigkeit der von ihnen hervorf d Laute in eiuem
engen Cirkel umschrieben; der meisten Modulationen ist (vom Singender Vögel abgesehen) vielleicht
das Bellen des Hundes fähig. Die .Menge der producirbaren Laute ist keine unbeschränkte, indem die
Gränzen der Hörbarkeit (nach Savart) zwischen 7-24000 (16—18000) Schw. in derSecunde liegen.
Ausdrückbar ist alsonur eine bestimmte Reihe von Worten, deren Zahl sich berechnen lassen würde.
wenn die Zusammenwirkungsfahigkeiten der verschiedenen Theile der Sprechorganc bekannt wären.
Tbausing scheidet die Geräusche 'gutturales verae) von dem natürlichen Lautsystem aus und von den
Vocalen lässt u die tiefste i die höchste Schwingungszahl hören. Nur in diesem Sinne, da in dem
weitesten Kreise schliesslich immer dieselben Laute wiederkehren müssen, Hesse sich von einer
Ursprache reden, nicht in dem geschichtlich aufgefassten einer philologischen Descendenz. Die
Zahl der überhaupt möglichen Laute wird sich ohnedem nach dem allgemeinen Naturgesetz dei
Trägheit oder des Beharrungsvermögens sein beschränken, da überall die Neigung voi
rouss, nur die am leichtesten modulirbaren Worte zu reden und die an den Grenzen der Hör-
und Sprachfähigkeil gelegenen schon aus Nützlichkeitsgründen unbenutzt bleiben werden. Auch
der diesen Lauten zuertheilte Inhalt wird insofern nicht von sogenannter Willkür des Zufalls
abhängen, weil für diese Verbindungen natürlich gegebene Motive vorliegen, und ebenso wie
dem Trauernden das Aechzen, dem Fröhlichen das Jubeln näher liegt, werden wir auch fast
durchgängig für das Kleine i oder e, für das Grosse a oder 0, für das Trübe dumpfe, das Freu-
dige helle Vocale verwandt sehen. Die Naturnotwendigkeit spielt hier in derselben Weise wie
in allen andern menschlichen Verhältnissen. Bei allen Stämmen, soweit wir .sie auf der Knie
treffen, sehen wir stets dieselben Waffen sich innerhalb einer beschränkten Peripherie bewegen,
ohne dass man diese deshalb auf eine Urwaffe zurückleiten würde. Ausser durch Schlingen.
Fangen, Netze, Vergiftung u. s. w. können die dem Menschen gefährlichen oder zu seinem Ge-
brauch nützlichen Thiere besonders durch Stich oder Hieb getödtel werden, und demgemäss
werden wir überall darauf berechnete Mordwerkzeuge in mehr oder weniger identischer Form
wiederkehren sehen, als Speere (zum Stoss), Pfeile (zum Schuss), Keulen (zum Hieb), Säbel (zum
Schnitt) u s. w., "der Lassos, Bolas, Dreizacken, Blasröhre u. s. w. Die Speere und Pfeile,
mit zugehörigen Bogen, sind häufig genug in den verschiedenen Welttheilen so völlig ü herein
stimmend, dass sie sich nur nach dem in dem jedesmaligen Lande für ihre Anfertigung geböte
neu Material unterscheiden lassen, und bei sorgsamer Arbeit vielleicht nach dem Stil der (aul
den unteren Stufen aber nur in gleichartigen Ornamenten wiederkehrenden) Verzierungen. Die
Knobkerrie der Kaffern wird auf den Sandwich-Inseln in derselben Form gebraucht, und das
polynesische Patu-Patu ist mit dem der Orinoco-Indianer identisch, der nmu der Sagartier
oder (nach Suidas) der Parther in Amerika verbreitet. Dass, wie der Macusi, der Dayak in dem
dichten Gebüsch das Sumpitan gebraucht, ist ebenso deutlich, als die Verwendung der Bolas in
dem baumlosen Flachlande der Patagonier. Auch bei der weiteren Vervollkommnung der Wal
Ben Folgt aus der Natur der Sache das Wie und Warum. Um dem Wurfspiess weitere Trag
weite zu geben, winde das römische Amentum auch von den Neu-Caledoniern erfunden, und
\iellach das Wurfbrett. Die Umspinnung des ßogens zur Vermehrung seiner Klasticität lag den
Aht ebenso nahe, wie den Aethiopiern. Es treten dann später Entlehnungen der Wallen von
einander ein (wie zwischen Tongu und Fidschi), ein Lernen und ein Lehren, so dass es bei
dem unvollkommenen Einblick nicht immer möglich ist, den weiteren Verbesserungen Schritt
für Schritt zu folgen; aber das Princip liegt klar genug zu Tage, und ebenso in dei Sprach
bildung. Die existirenden Lautmöglicbäeiten werden in grammatische Verknüpfung gesetzt, wie
sie die Logik der Denkgesetze vorschreibt, in an sieh unveränderlich nolhwendiger, aber der
äusseren Erscheinung nach vielfach differirender Fonn. Die primären Grundlagen des'Psyobischen
sind, wie die Zellbildungen im Pflanzen-Organismus, dieselben, entfalten sieh aber, je nach dei
geographisch-historischen Umgebung, zu verschiedenen Manifestationen, und es ist wiedei eine
natürliche Folge des Trägheitsgesetzes, dass jedes Volk so lange als möglich bei der von ihm
gewählten oder der ihm zukommenden Sprachform verharren wird. B.
»44
G. L. von Maurer: Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, Er-
langen 1869, l. Theil.
Das grosse Lebenswerk des Verfassers, den Abschluss bildend zu seinen früheren Arbeiten
(Einleitung 7.ur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Ge-
walt. IS54: Geschichte der Markenverfassung in Deutschland, 1856; Geschichte der Fronhöfe,
der Bauernhöfe und der Hofverfassung in Deutschland, 1S62; Geschichte der Dorfverfassung in
Deutschland, 1SG6), die gewissermassen die Einleitung bilden und das weite Feld dieser For-
schungen in langsamen, aber überall durch Quellenstudium gesicherten Schritten durchmessen
Die schon von Tacitus in Deutschland erwähnten Castelle (burgum vocant b. Veget.l werden
nach Art des britischen Oppidum Verhaue dargestellt haben, ähnlich den Pa der Maori. Der
römische Veteran erhielt auf seinen von den Agri decumates zugetheilten Feldern häufig das
Burgrecht, als castellanus. Die Germanen pflegten (weil für ihre Kriegsführung gefährlich) die
gallischen Städte zu zerstören, neben deren Ruinen sie Julian wohnen sah, und bei ihrem Wie-
deraufbau unter den fränkischen Königen wichen dann die römischen Namen (Argentoriatum,
Yangiones, Nemetes u. s. w.) den deutschen (Strassburg, Worms, Speier u. s. w.). In den Sachsen-
kriegen werden firmitates und civitates (castra oder eastella) genannt, Erfurt (b. Bonifacius) als
olim urbi paganorum rusticorum. In Karl M. Königshöfen (curtis imp.), in seinen Palatien oder
den unter den Neubekehrten fundirten Bisthümern war der Grund zu befestigten Wohnsitzen
gelegt , aber ' auch die deutschen Könige bauten Städte schon vor Heinrich dem Städtegründer
(s. S. 19). Den mit der grossen Wanderung eingetretenen Völkerstämmen waren die in den
neuen Wohnsitzen vorgefundenen Steinburgen ebenso fremd, wie den Indianern die Werke derMound-
builder, von denen sich keine Tradition bewahrt hat. Im Siegeslied auf den Bischof Anno wird
die Erbauung der Burgen (in Deutschland) „den grimmen Heyden" zugeschrieben. Köln
heisst „der heristin bürge ein". Eticho (Stammvater des österreichischen Hauses) wohnte mei-
stens (Köuigshoven) auf heidnischen Burgen, genannt Hohenburg (s. Pfister). Die Purusc liuti
heissen (bei Ulfilas) baurjans. B.
Schumann: Die Missionsgeschichte der deutschen Harzgebiete, Halle 1869.
Neben dem allemannischen Stamme in seinem neuen Zusammenschluss unter Herzogen bil-
dete vor Allen das „ruhmreiche Geschlecht der herrlichen Sachsen" (Luitprand) den Kern des
deutschen Reiches, dessen Macht über die slavischen Länder jenseits (und auch noch diesseits)
der Elbe ausgebreitet wurde. Das mit den Gründungen der Bisthümer und Klöster am Harz
eng verbundene Privatleben der sächsischen Kaiser bietet unter den Wirren damaliger Zeitläufte
freundliche Blicke in die Vermählung echt germanischen Sinnes mit den trotz vielfach zwischen-
laufenden Aberglaubens wohlthätig mildernden Lehren des neu verkündeten Christenthuins.
B.
Burgen: The Temples of Satrünjaya, Bombay 1869.
Historische und beschreibende Einleitung zu 45 photographischen Aufnahmen (durch Sykes
und Dwyer) auf dem den Jainas heiligen Hügel Satrünjaya (bei Palitana), dessen Legende, Mä-
hätmya, das älteste Document der Jaiua-Literatur darstellt und von A. Weber (in seiner gelehr-
ten Erörterung über das Catrunjaya Muhätonyam) 598 p. d. angesetzt wird. B.
Von J. G. F. Riedel ist erschienen und freundlich übersandt: De Landschappen nolontalo,
Liinoeto, Bone, Boalemo en Kattinggola, of Andagile, durch welches 'Schriftchen aufs Neue die
keimt niss der noch so wenig erforschten und doch so erforschungswürdigen Insel Celebcs durch
geographische, statistische, historische und ethnographische Untersuchungen bereichert wird.
B.
Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie
und Urgeschichte.
Sitzung vom 11. Juni 187U.
Der Vorsitzende, Herr Virchow theilt mit, dass Herr Dr. Mannhardt eine
Anzahl von Fragen, welche mythologische Gebräuche betreffen, gedruckt eingesendet hat;
er empfiehlt die Berücksichtigung derselben bei Gelegenheit von Reisen der Mit-
glieder der Gesellschaft.
Derselbe übergiebt eine Basaltschlacke vom Heimberge bei Fulda, welche er von
Hrn. Dr. Speyer daselbst erhalten hat und welche der in der vorigen Sitzung er-
wähnten Fundstätte Leonhard's entnommen ist. Einen weiteren Bericht über die
dortigen Verhältnisse behält er vor.
Ferner schenkt er der Bibliothek der Gesellschaft Lubbock, Prehistoric Times.
Herr Virchow macht
Weitere Mittheilungen über Gesichtsurnen.
Die grosse Zeichnung der sogen. Runen-Urne, welche uns in der letzten Sitzung
von Herrn Mannhardt übergeben worden ist, hat seitdem zweien Sachverständigen,
den Herren Professoren Müllen hoff und Rüdiger, vorgelegen. Herr Müllenhoff
äussert sich darüber folgendermassen :
„Nachdem ich von dem Aufsatze Dr. Mannhardt's und den beigegebenen Zeich-
nungen Kenntniss genommen, gestehe ich gerne, dass ich mich von dem Schriftcha-
rakter der auf der Danziger Urne vorkommenden Zeichen nicht habe überzeugen
können, dass ich diese für blosse Verzierungen und nicht für Schrift halte, schon
weil dieselben Zeichen sich allzu oft und ohne jegliche Unterscheidung wiederholen.
Selbst wenn die Aehnlichkeit altsemitischer oder phönikischer Buchstaben grösser
wäre, als sie in der That ist, würde ich anstehen, darauf eine Hypothese zu gründen
oder auch nur ein Gewicht zu legen, da ich nicht absehe, wie jene unvermittelt au
die Ostsee gekommen sein sollten, weil, nach meiner festen und wie ich meine wohl
begründeten Ueberzeugung, der Glaube unserer Gelehrten au eine so weite Ausdeh-
nung der Fahrten der Phönizier jegliches Grundes entbehrt und an keinem alten
Zeugnisse «ine Stütze findet."
Das Urtheil des Herrn Rödiger weicht, wie es bei einem so schwierigen Gegen-
stände nicht überraschen darf, nicht unerheblich von dem eben mitgetheilten ab. Er
schreibt:
„Die ganze Sache war mir neu, sie hat mich sehr interessirt, besonders auch
die Inschrift. Dass dies wirklich Schriftzüge sind, daran lässt sich kaum zweifeln.
Aber welcher Art sie ist und wie zu lesen, das ist mir bei der kurzen Zeit, die ich
auf die Besichtigung verwenden konnte, bis jetzt noch durchaus nicht klar geworden.
Dazu gehört, wenn es überhaupt gelingt, wiederholte Betrachtung und — ein glück-
licher Moment, der auf die richtige Spur leitet. Einige Zeichen haben Aehnlichkeit
24**
346
mit älterer semitischer Schrift, aber das kann täuschender Zufall sein und berechtigt
noch nicht zu weiteren Schlüssen. Hrn. M.'s Versuch ist eben ein Versuch, und ein
solcher musste gemacht werden; doch fand ich darin Einiges unsicher, eine. Angabe
geradehin irrig. Die ganze Abhandlung des Hrn. M. ist aber so gelehrt, gediegen und
besonnen, dass ihr baldiger Abdruck auch mir, dem Laien in dieser Branche der
Alterthiimer, sehr wünschenswerth erscheint; sie regt, wie schon Ihre Schrift, Fragen
au, die alhnählig zu einem Resultat führen müssen."
Die Veröffentlichung der Mittheilungen des Herrn Mannhardt wird bald erfol-
gen und weitere Untersuchungen werden alsdann feststellen, was aus der „Inschrift"
zu machen ist.
Inzwischen hat Herr Walter Kauffmann (Danzig), den wir das Vergnügen
haben, unter uns zu sehen, einen neuen Fund gemacht. In Gr. Czapielken (Kreis
Carthaus) hat er wiederum eine Gesichtsurne ausgegraben. Obwohl einfacher Art, ist
6ie insofern von Interesse, als ihr Deckel eine andere Varietät von „Mütze" zeigt,
als die bisher bekannten; auch besitzt sie einen vollkommeneren Gürtelschmuck als
die früheren. Herr Kauffmann hat ausserdem ein paar Bruchstücke von Perlen mit-
gebracht, welche von den Ohrgehängen der Gesichtsurnen stammen, eines von Bern-
stein und eines von blauem Glase. Letzteres wird einer chemischen Analyse unter-
worfen werden, um wo möglich weitere Anhaltspunkte für das chronologische Urtheil
zu gewinnen.
In Beziehung auf die Mütze will ich noch bemerken, dass mir bei einer Durch-
sicht von MadsenV) „Dänischen Steinalterthümern" aufgefallen ist, dass eine ver-
hältnissmässig grosse Zahl von Urnen der Steinzeit existirt, welche ähnliche Deckel
haben; ebenso giebt Klemm2) in seinem Buch über deutsche Alterthümer die Ab-
bildung eines der Träger des sog. Crodo-Altars, die dieselbe Mützenform zeigt. Diese
Form kann also nicht füglich eine typische sein, und man darf auf diese Einzelheit
einen entscheidenden Werth für die Zeitbestimmung der Urnen-Anfertigung nicht le-
gen In dieser Beziehung ist der schon von Herrn Mannhardt erwähnte Fund des
Hrn. Kauffmann in Starzin (Kreis Neustadt) sehr werthvoll, indem er in einer Ge-
sichtsurne ein von einem Nagel durchbohrtes Schädelfragment gefunden hat. Nach der
mündlichen Mittheilung des Herrn Finders handelt es sich hier um einen langen Na-
gel, dessen Knopf über dem Scheitelbogen lag, während seine Spitze unten au der
Basis wieder zum Vorschein kam. Aehuliche Funde sind auch an anderen Orten ge-
macht worden, und da sich dieses Schädelfragment in der Urne befand, so ist es aus-
gemacht, dass es mindestens der Uebergangszeit zum Eisen angehört.
Herr Rector Luchs in Breslau theilt mir mit, dass auch schlesische Gesichts-
urnen en miniature existiren, und Herr de Mortillet am kaiserlichen Museum zu
St. Germain schreibt mir, dass dieses Museum 6 vollständige Vasen von gelbem und
z. Th. schwarzem Thon mit menschlichen Figuren auf dem Bauch besitzt. Sie haben
die grösste Aehnlichkeit mit den Urnen, welche Lindenschmit abbildet. Ausser-
dem sind ebendaselbst noch Fragmente von Gefässen vorhanden, die dieselbe Beschaf-
fenheit in noch mehr ausgeprägter Form haben und im Walde von Compiegue (Dep. de
l'Oise) gefunden sind. Offenbar gehören diese sämmtlich dem rheinischen Typus an. —
') Madsen, Antiquites prehistoriques du Dänemark. Copenh. IS(U>. PI. IC, Hg. 6; pl, 43,
fit; | et 4; pl. 4.0, fig. 24 e1 25.
*) Gl. Klemm, Hamllnn-h der germanischen Alterthumskunde. Dresd. 18Ü0. Tuf. XIX, fig. :i.
347
Es wird sodann der weitere Bericht der Commission verlosen
übt r die westfälisch! n Renn'hiertinde.
Die von f Im von Dücker der Gesellschaft vorgelegte Sammlung, welche fasl
ganz und gar aus Bruchstücken junger ßennthiergeweihc besteht, zeig! an einigen
Stücken deutlich die erwähnten dendritischen Zeichnungen, und die Beschaffenheit
vieler Bruchflächen lässt erkennen, dass die letzteren schon zu einer Zeit vorhanden
wiiien, ;ils die Stücke in die Erde gelangten. Indess gill dies nicht von allen Bruch-
flächen, aamentlich nicht von den Längsgespaltenen Stücken. Manche Oberflächen der
letzteren sehen frisch aus, und da sich allerlei Uebergänge von blossen Sprüngen
und Spalten bis zu vollständiger Trennung zeigen, so erscheint es wahrscheinlich,
dass im natürlichen Gange der Verwitterung derartige Veränderungen eingetreten
sind. Bei zahlreichen anderen Stücken sieht man trichterförmige Eindrücke und läng-
liehe Abschärfungen, nicht selten beides nebeneinander und zusammenhängend; auch
sind die Enden einzelner Geweihstücke durch wiederholte Einwirkungen der Art ver-
kleinert und zugeschärft. Alle diese Einwirkungen machen den Eindruck, dass sie
durch Nagen und Beissen von Raubthieren hervorgebracht sind. Allerdings zeigt auch
das Geweihstück von Sölager einen ähnlichen trichterförmigen Eindruck, aber nichts
berechtigt zu der Vermuthung, dass liier ein menschliches Werkzeug angesetzt sei.
Wenn Herr v. Dücker in solchen Eindrücken die Spuren „des Bestrebens zum Auf-
spalten" der Geweihe sieht, so ist dagegen zu sagen, dass die gewöhnlichen Arten
des Aufspaltens von Knochen mit meissclförmigen Werkzeugen vorgenommen wurden.
die längliche Kindrücke geben, und dass die Geweihe nicht zum Ausnehmen von
Mark bestimmt sein konnten, da sie ein ganz dichtes spongiöses Gewebe enthalten
Wirkliche Spuren der Bearbeitung fehlen hier ganz, wenigstens ist nirgends eine be-
stimmte Operation erkennbar. Ein einziges Stück hat einen IG Millimeter langen,
ganz geraden Eindruck, der quer über dasselbe verläuft und ganz alt erscheint; die
Möglichkeit, dass dies ein Einschnitt ist, lässt sich nicht leugnen. Aber von der
Möglichkeit bis zur Wirklichkeit ist ein grosser Schritt, und die Commission fühlt
sich nicht berechtigt, auf Grund dieser einzigen Wahrnehmung die Deutung des
Hrn. v. Dücker als erwiesen anzuerkennen. Vielmehr ist sie der Meinung, dass die
frühere Zusendung ungleich bestimmtere Merkmale für die Anwesenheit des Menschen
in den betreffenden Höhlen geliefert hat, als die gegenwärtige.
Hierauf sprach Herr Koner
über die Framea.
Anknüpfend an die in der Februar- Sitzung gemachte Vorlage einpr reichen Samm-
lung meisselförmiger Instrumente aus Bronze des hiesigen Museums und an die da-
mals von Herrn v. Ledebur daran geknüpften Bemerkungen über die Framea der
alten Deutschen, versucht es Herr Kon er, die UnWahrscheinlichkeit darzulegen, dass
auf diese Geräthe die taciteische Beschreibung der Framea angewendet werden könne.
Der Vortragende unterzieht zunächst die auf diese Waffe bezügliche Stelle des Ta-
citus einer genaueren Untersuchung, indem er die Worte: „rari gladiis aut majoribus
laneeis utuntur", welche allerdings mit anderen Angaben desselben Schriftstellers über
die mächtigen Lanzen einzelner deutschen Stämme nicht in Einklang zu bringen sind
und deshalb bei den Erklärern manche Bedenken erregt haben, statt wie gewöhnlich
„selten bedienen sie sich etc." also übersetzt: „einige wenige Völkerschaften (rari sc.
populi) bedienen sich etc."; in dieser Weise würde sich der scheinbare Widerspruch
bei Tacitus ausgleichen lassen. Sodann geht derselbe über zu der von Tacitus über-
lieferten Beschreibung des Speereisens der Fiamea, welches dort charakteristisch und
von der Form römischer Wurfwaffen gänzlich abweichend als eine schmale, kurze
348
und scharfe Eisenspitze geschildert wird, gleich anwendbar für den Nahe- wie für
den Fernkampf. Jene nun nicht nur in germanischen Ländern, sondern auch iu den
von keltischen und romanischen Stämmen bewohnten Gebieten vielfach vorkommen-
den meisselartigen Geräthe, welche fast überall iu ihrer Form eine seltene Ueberein-
stimmung zeigen und nur in ihrer Grösse von einander verschieden sind , rechtferti-
gen nach genauer Prüfung mit den taciteischen Worten auch nicht im Entferntesten
ihre von vielen Archäologen gebrauchte Bezeichnung als Framea; vielmehr müsse
man annehmen, dass diese Instrumente, gleichviel ob an einem geraden oder kuieförmig
gebogeuen Holzgriff befestigt, für gewisse Manipulationen im Alltagsleben, wie zum
Schaben, Aushöhlen, Behauen und Hacken benutzt worden seien, wobei es jedoch
keineswegs in Abrede gestellt zu werden braucht, dass die grösseren dieser Werk-
zeuge gelegentlich wohl auch als Waffe ihre Verwendung gefunden haben. Ganz ähn-
lich gestaltete und in gleicher Weise auf einem knieförmig gestalteten Holzgriffe be-
festigte Werkzeuge würden noch jetzt von mongolischen Völkerschaften zum Aushöh-
len der Tröge verwendet. Was die Länge der Framea betrifft, so macht der Vortra-
gende darauf aufmerksam, dass Tacitus dieselbe mit der römischen Hasta vergleicht,
nicht aber mit dem damals bei allen Legionen gleichmässig eingeführten Pilum, und
dass daraus mit Recht ein Schluss auf die Länge der Framea gemacht werden könne.
Mit der Umgestaltung der römischen Heeresorganisation von der Servianischen Pha-
lanx bis zu der Caesars gehe die Umänderung der Bewaffnung in gleichem Schritt,
beide hängen organisch mit einander zusammen, und schildert der Redner iu kurzen
Umrissen die Veränderung der Lanze von der Zeit des altrömischen Phalangiteu-
Speeres bis in die spätrömische Kaiserzeit, indem er gleichzeitig die von Linden-
6chmit mit so vielem Glücke versuchte Reconstruction des Caesariauischen Pilum
zur Anschauung bringt. Schliesslich erwähnt derselbe der von den alten Schriftstel-
lern erwähnten Schleuderriemen (amentum, «y.-.i .'.',), deren Gebrauch nach den Wor-
ten des Ovid: „inserit amento digitos" aus einem im British Museum befindlichen
Vasenbilde deutlich wird, während das auf wenigen anderen Monumenten (auf dem
unter dem Namen der Alexanderschlacht bekannten pompejanischen Mosaik und auf
einem von Stuart und Revett, Antiquities of Athens, T. III, p. 47 publicirten Bas-
relief) vorkommende Amentum für die richtige Erklärung desselben einen grossen
Spielraum gewähre.
HeiT v. Cohausen: Ich kann mich den Ausführungen des Herrn Koner nur an-
schliessen; ich halte diese Erz-Keile durchaus nicht für die Framea. Es kommt noch
der eigenthümliche Umstand in Betracht, dass mit dem Auftreten des Eisens dieser
Keil ganz aufhörte, während Tacitus ausdrücklich sagt, dass die Framea eine eiserne
Spitze gehabt habe. Ich glaube, dass diese Form in der Eisenperiode nur sehr we-
nig vorkommt, wenn auch einzelne Stücke davon vorhanden sind.
In Bezug auf das Pilum ist zu bemerken, dass es notorisch eine viereckige Waffe
war, was man sowohl aus dem pyramidalen Ansatz, als auch aus der Beschreibung
sehen kann. Es ist das Pilum das gewesen, was die Franken Angun nannten, eine
Art von Harpune, während ich diese Erz-Meissel für das antike Taschenmesser halte,
wofür auch die an demselben befindliche Oese spricht.
Herr Meitzen: Ich habe nur zu wiederholen, was ich schon bei der früheren
Besprechung der Framea vorgetragen habe. Es müssen hierbei noch andere Fragen
in Betracht kommen. Zunächst hat mau denselben Meissel auf einem Schafte gefun-
den. Der Meissel hat eine Oeffnung und ausserdem eine Tülle, welche wenig geeig-
net ist, auf einen Stab gesteckt zu werden. Wenn man diese Meissel alle mit ein-
349
ander vergleicht sii gebe ich gern zu . dass man '/ davon mit einer Tülle finden
wird, welche genügend ist, einen Stab aufzunehmen; , davon aber sind gänzlich
ungeeignet, einen Stab ernsthaft daran zu befestigen Wenn man nichts desto wem
ger einen solchen Meissel auf einem Stabe befestig) gefunden hat, wenn man audrei
Beils auch nicht lilnss einen Hing, sondern sogar mehrere Hinge an dieser Tülle bän
genil gefunden hat, so ist man meine-, lürachtene durchaus noch nicht berechtigt,
diese hinge für die Framea zu erklären; ich halte sie vielmehr für ein Instrument)
welches für den Kriegsgebrauch ungeeignet ist. Die Lanze ist kurz und nach der
Bezeichnung vielleicht •'!' lang, was wohl zu berücksichtigen ist, wenn man annimmt,
dass das Instrument dazu gedient habe, auf einem Schaft befestigt zu werden. Mau wird
mir Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn ich behauptet habe, dass dies Instrument als
ein solches bezeichnet werden muss, welches zu allen möglichen Arbeiten benutzt
wurde, wenn es vielleicht auch gelegentlich einmal als basta gebraucht wurde. Der
wirklich nützliche Gebrauch, den man von demselben machen konnte, ist der, dass
man es einem Thiere in den Rachen stösst; der Stab fällt alsdann heraus, das Thier
beisst entweder auf den Ring oder den Riemen und wird so erlegt. Als Jagdinstru-
meiit ist es sehr brauchbar.
Nun wollte ich noch darauf zurückkommen, dass in der That ein solches Instrument
auf einem Stabe und ein Ring in der Oese gefunden worden ist; dabei lässt es sich
denken, dass der Ring benutzt worden ist, um es aufzuhängen, und dass es zugleich
als ein Instrument zum häuslichen Gebrauch gedient habe, zum Schneiden, Schaben u. s.w.
Herr Bastian: Bezüglich der Etymologie der Framea in der schätzbaren Zuschritt
des Herrn Archivar Lisch hörte ich von Herrn Prof. Müllenhoff, dass dieselbe
Eierleitung auch von ihm gegeben- sei in Haupt's Zeitschr. f. d. A. Wackernagel
erklärte das Wort aus adchrainire, Isidorus als ferramentum in allgemeiner Bedeu-
tung, mit besonderem Bezug auf ein Stossschwert. Stossscbwert (Stockdegeu), und
holländisch Mordt-priem, als Dolch, würde wieder auf Pfriem führen.
Was die meisselartigen Werkzeuge betrifft, so war die ursprüngliche Erklärung
von Thom. Hearne (1709) diesem Namen entsprechend, den er dem mittelalter-
lichen Wort Celtis oder Celtes (Meissel) entnahm, das von der afrikanischen Celtis-
Pflanze, deren Wurzel (nach Plinius) zu Griffen für Instrumente diente, entnommen
sein mochte, und dann mit der celtischen Volksbezeichnung zusammengeworfen wurde.
Nach ihm trug jeder römische Soldat ein solches Instrument für seinen Gebrauch,
besonders bei den Umwallungsarbeiten des täglich auf dem Marsche aufgeschlagenen
Lagers, zum Glätten der Steine u. s. w., und wenn das Material dafür weich er-
scheinen mag, war es bei der kostbaren Seltenheit gut gestählten Eisens doch viel-
leicht vorzuziehen. Dieser Ansicht stellte sich später die antiquarische Beobachtung
entgegen, dass die fraglichen Werkzeuge in grossen Mengen in Gegenden getroffen
wurden, die nie von römischen Armeen betreten waren. Obgleich jedes noch rohe
Volk begierig ist, Metalle bei sich aufzunehmen (wie die Berichte der Nowgoroder
über ihren sibirischen Handel, der polyuesischen Entdecker, der Holländer in Süd-
Afrika, der Wogulen (1590) u s. w. beweisen), und den Gebrauch derselben dann bald zu
einem allgemeinen machen (wie jetzt die amerikanischen Indianer), so stehen dem
doch oft Schwierigkeiten entgegen. Der schon ldlXi a. d. in den chinesischen Auna-
leu genannte Stamm der Y-lin brachte noch 2Go p. d. Steinwerkzeuge an den Hof
als Tribut, und auch die eifersüchtige Politik Japans Hess Sachalin, Süd-Kamtschatka
u. s. w. trotz regelmässigen Verkehrs lange metalllos. Die friedlichen Beziehungen
der Römer mit dem germanischen Norden, wie sie sich in dem Handel der (thürin-
gischen) Hermunduren (bis nach Rhätien) kundgaben, wurden seit Errichtung des
350
Marcomannen-Reicbs und den folgenden Wirren durch einen fortdauernden Kriegszustand
unterbrochen , so dass die Kaiser wiederholt Verbote; gegen die Ausfuhr von Warten
(die auch Sacrovir mangelten) und von Eisen überhaupt erliessen Häufig wurde dasselbe
erst dann, als sich die Kranken und Alleraanuen in den Besitz der römischen Waffenfabrikeu
in Rheims, Trier n. s. w. gesetzt hatten. In der Zwischenzeit konnte mm vielleicht
*"ln leicht zu erlangendes Bronze-Werkzeug die vornehmliche Form sein, in welcher
die Kaufleute auf Schleichwegen dem Wunsch der durch ihre Raubzüge bereicherten
Barbaren nach Metall genügten 'und auch vielleicht durch im Lande verfertigte Guss-
formen nachahmten). Wir hätten dann nur eine Anticipation der Rolle, die in spälerei
Wiederholung Eisennägel am Cap (im Austausch für Heerden) spielten, oder in Poly-
nesien, wo sie (wenn von Schiffern erworben) ein Regal der Häuptlinge bildeten und
von diesen zum Löcherbohren u. dgl. m. vermiethet wurden, was auf Tahiti (nach
Cook) und den Carolinen (nach Cardena) eine reiche Quelle der Einkünfte gewesen
sein soll. Man hätte das wert h volle Product deshalb gern acelimatisirt. und die Ein-
gebornen pflanzten die exotischen Nägel in ihre Gärten, ob sie vielleicht zum Kei-
men zu bringen wären. Dass bei erster Einleitung eines Verkehrs gewöhnlich weniger
das reine Metall, als vielmehr ein aus demselben gefertigtes Geräth zum Austausch
gedient hat, zeigen (neben dem Hufeisengeld am Niger) die sonderbaren Dinge, die
man oft in i\on sog. „Pacquets" West-Afrikas findet, obwohl dort später die Harre
/u nomineller Abschätzung diente. Ausser zum Einschmelzen können solche Gegen-
stände dann auch immer erst in der ihnen schon gegebenen Form gebraucht werden,
und dienen meist den Naturvölkern zu den verschiedensten Zwecken, die häufig sehr
weit von demjenigen abweichen, für den sie durch ihre Verfertiger eigentlich be-
stimmt sind.
Herr Meitzen: Die Meissed, um die es sich hier handelt, haben eine so gleich-
massige Form, dass mau in der That darauf kommen muss, dass sie aus dem Süden
eingeführt sind. Wie die sichelförmigen Messer, welche in den etruriseben Sammlun-
gen gefunden werden, so bin ich auch überzeugt, dass diese ausgeführt worden sind:
die ganze Art des Gusses ist derart. Diese künstliche Meisselform mit der einen
Oese i^t auch zur Befestigung nicht geeignet; trotzdem lege ich aber immer einen
Werth darauf, dass man das Metall mit dem Schafte zusammen gefunden hat. Man
wird also immerhin darauf kommen müssen, dass diese Meissel zu einem Gebrauch
dienten, zu welchem eine Verbindung mit dem Holze noth wendig war, und zwar eine
sehr leichte Verbindung.
Herr v. Cohausen: Es besteht noch heute in unserer Technik ein dem Meissel
sehr ähnliches Instrument, Palzer genannt, ein meisselartiges Instrument mit einer
Schärfe und einem Oehr. In dasselbe wird ein Pfahl gesteckt, 9—10' lang, und eine
Leine daran befestigt. Dies Instrument dient zum Holzflössen. Wenn ein Floss auf
den kleinen Flüssen des badischen Landes vom Schwarzwalde herunterkommt, so
werden an die Nadelhölzer immer die Eichenstämme befestigt; sie gehen leicht zu
Grunde, und um den Stamm wieder heraufzubringen, dazu dient der Palzer. Man
sondirt erst den Grund, indem man das Instrument an der Leine hinabsenkt, um zu
sehen, wo sich das Holz befindet; alsdann stösst man es in den Stamm hinein und
zieht ihn so in die Höhe. Der Name Palzer ist auch deshalb interessant, weil die
dänischen A Iterthumsforscher dem Instrument den Namen Paalstaf gegeben haben.
Was die Tülle anlangt, von welcher hervorgehoben ist, dass sie wenig tief ist,
60 läßsl sich dagegen allerdings nichts sagen, aber wir haben auch noch ein Instru-
ment, in welchem sich ein Loch befindet, das nicht gebraucht wird, an welchen sich
351
das Loch vielleicht aus einem alten Gebrauch fortgepflanzt hat, wie ich es auch für
diese Tülle glaube, ich meine nämlich die Axt unserer Zimmerleute. Die Tülle, um
welche es sich hier handelt, mag einstmals einen wesentlicheu Nutzen gehabt haben,
indem sie zur Befestigung eines 6tuck.es gedient hat, oder vielleicht auch, wie an-
derswo gezeigt worden ist, indem sie bestimmt war, einen krummen Ast aufzuneh-
men, um das Ding als Beil zu gebrauchen. Das Loch in der Stossaxl unserer Zim-
merleute ist in der heutigen Form viel zu klein, um einen Stiel aufzunehmen, und
ich vermutlie, dass .las Loch nur zur Bequemlichkeit darin geblieben ist, so dass der
Mann jetzt Bein Winkeleisen hineinstecken kann.
Line andere Art der Befestigung ist die, dass man das Holz spaltete, das Instru-
ment hineinsteckte und mit Binden umwand, wie es in den Gräbern von Ilallstadt
gefunden worden ist.
Nun kommt bei den meisten Werkzeugen noch eine Eigentümlichkeit vor: es
ist entweder ein Loch vorhanden, oder es ist gespalten, oder es öffnet sich auch Hin-
durch ein kleines Rudiment, eine Thatsache, welche uns einen Blick in die Technik,
auch vielleicht in den Gebrauch dieser Instrumente geben könnte.
Herr Virchow: Ls ist nicht zu übersehen, dass gerade die beilförmige Befesti-
gung des Instrumentes an einem Stiele, eine Befestigung, die von vielen der früheren
Forscher vermuthet war, im Salzbergwerk von Reichenhall wirklich gefunden worden
ist. Liue Nachbildung dieses Instrumentes ist im Mainzer Central-Museum, eine Ab-
bildung hat Lindenschmit in der Zeitschrift des Mainzer Vereins zur Erforschung
der rheinischen Geschichte und Alterthümer (1868, Bd. III, S. 8, Taf. II, fig. 6) ge-
geben. Diese Art der Schaltung wird also als feststehend angesehen werden müssen
Es kann sich daher nur noch darum handeln, ob sämmtliche meisselförmige Instrumente
als zu diesem Typus gehörig anzusehen, ob es lauter beilartige Instrumente sind oder
ob diese letzteren nur eine besondere Gruppe bilden. Es ist ganz richtig, was Herr
v. Ledebur gesagt hat, man dürfe noch keinen generellen Namen wählen, um der
Forschung nicht vorzugreifen. Aus einem ähnlichen Grunde hat Desor (Les pala-
fittes, p. 41) die verschiedenen Unterarten nach einzelnen Männern bezeichnet und
die Directum der Revue archeologique (18G8, Janv.) hat eine noch weitere Classifi-
cation versucht. Es lässt sich sehr wohl denken, dass man das mit einem offenen Stielloch
versehene Instrument als Beil geführt hat, die anderen aber nicht. Mir scheint jedoch
die Ansicht des Herrn v. Cohausen auch für die Varietät mit umgelegtem Lande
die wahrscheinlichere zu sein, die näadich, dass man ein Holz gespalten und das In-
strument darin beilartig befestigt hat. Die Beziehung zu dem Palzer trifft jedoch nicht
zu, denn die Dänen sprechen das Wort „Paalstaf mit einem o (Polstaf). „Paal"
heisst „Spaten", bezeichnet also ein Instrument zum Graben.
Ausserdem muss ich noch bemerken, dass Herr v. Ledebur davon ausging, dass
überall, wo die germanischen Völker hingekommen sind, diese Instrumente sich tiu-
den, und er legte einen Werth darauf, dass überall, wo sie gefunden worden sind,
auch Gussstätten sich nachweisen liessen. Wilde (Catal. Mus. Irish Academy, p. 91,
tig. 72 — 74) berichtet jedoch von mehreren solcher Gussformen und bildet .meh einige
ab, welche in verschiedenen Gegenden Irlands gefunden worden sind, wo niemals
eine germanische Bevölkerung sesshaft gewesen ist; man wird daher wohl aufhören
müssen. Celto und Polstäbe als specilisch germanische Ligeut bünilichkeiteii anzusehen
Herr Koner: Ich will noch hinzufügen, dass, wenn man die Instrumente als Frame»
erklären wollte, es doch merkwürdig wäre, dass die Grössen derselben in su auffal-
lender Weise variiren, nämlich von 2" bis über 12". Nuu sind aber auch bei den
352
cohesten Völkern die Lanzenspitzen stets von fast übereinstimmender Länge, und
wäre solche variable Länge bei der Framea doch wunderbar. Dass diese Instrumente
aber als Waffe ungeeignet sind, beweist ein solches in den römischen Alterthümern
unseres Museums befindliches, bei dem die sogenannten Federn oder aufwärts gebo-
genen Kanten sich bis zur Schneide fortsetzen, so dass man das Instrument mit einem
sehr flachen Hohlmeissel vergleichen könnte. Dieses Instrument kann unmöglich als
Waffe angesehen werden, da ein tieferes Eindringen in einen Körper vermöge eines
Stosses oder Wurfes eben durch die Kanten verhindert wird.
Herr Hartmann: Ich will nunmehr noch einmal kurz darauf aufmerksam machen,
dass die Form, welche Herr von Co hausen beschrieben hat, die eines gewöhnlichen
Instrumentes vieler Afrikaner ist, und dass letzteres auch bei den Malaien, wie Herr
Ja gor uns mitgetheilt hat, in ganz ähnlicher Form vorkomme. Diese Instrumente
gebraucht man in Afrika, um den Boden zu beackern, um Holz zu fällen, die zur
Korbflechterei dienende Rinde der Akazien u. s. w. abzuschälen, um grössere Thiere
zu tödten; man bedient sich ihrer aber auch wie der Streitäxte im Kampfe. Diese
Eisen sind häufig nicht lang und ihre Tülle ist immer nur eng; der knieförmig ge-
bogene Schaft wird in die Tülle gesteckt und das Eisen oftmals noch mit Leder,
Strickwerk, Bast u. s. w. am Schafte befestigt. Manchmal hat aber das Eisen hinten
noch einen Dorn, der in den Schaft selbst eingefügt wird. —
Herr Virchow spricht über
Lagerstätten aus der Steinzeit in der oberen Havel-Gegend und in der Nieder-Lausitz.
Im Februar d. J. erhielt ich von Hrn. Niessing in Zehdenick die Nachricht,
dass in der Nähe dieser Stadt, nicht weit von der Mecklenburger Grenze, seit eini-
gen Jahren zahlreiche kleine Feldstein-Haufen, vom Winde blossgelegt, zu Tage trä-
ten, welche in ihrer Mitte eine Anhäufung von Holzasche, Russ und Kohle enthiel-
ten, während sich „zwischen diesen Feuerheerden eine Menge Splitter von dort
nicht häufigen Feuersteinen, sowie mannichfaltige Bruchstücke von Thongefässen
fänden". Hr. Niessing, der die Bedeutung dieses Fundes vollständig erkannte,
hatte mir verschiedene der gefundenen Sachen mitgeschickt, darunter insbesondere
eine ausgezeichnete Sammlung von sogen. Feuerstein-Spähnen , oder wie Manche ge
radezu sagen, Messern, sowie einen zerbrochenen Streithammer von schön polirtem
Stein und Scherben von groben, vollständig schmucklosen Thongefässen.
Diese merkwürdige Mittheilung, namentlich aber die sehr charakteristische Be-
schaffenheit der Fundgegenstände veranlassten mich, die betreffende Oertlichkeit wäh-
rend der letzten Oster-Ferien selbst in Augenschein zu nehmen, und ich muss in der
Tliat sagen, dass sie zu den wunderbarsten gehört, welche ich in dieser Art gesehen
habe. Ich werde versuchen, dieselbe etwas genauer zu beschreiben.
Nicht fern von ihrem Ursprünge verlässt die Havel das Gebiet des Grossherzog-
thums Mecklenburg-Strelitz, und nachdem sie einen langgestreckten, schönen Grenz-
see, den W'entow, durchströmt hat, tritt sie mit einer fast rechtwinkligen Biegung
nach Süden in die Mark Brandenburg ein. Ringsumher erstreckt, sich ein noch jetzt
sehr ausgedehntes Waldgebiet, welches nur auf dem rechten Ufer des Flusses mehr
gelichtet worden ist, sich aber nach Norden und Osten hin meilenweit fortsetzt. Es
sind dies alte, berühmte Jagdgründe, welche in älteren Urkunden viel genannt wer-
den. Hier lag die Silva Besunt, wahrscheinlich vom Wisent so genannt, und daran
schloSS sieb die grosse Merica Werbelin mit der noch jetzt erhalteneu Grimnitz, wo
die alten Markgrafen verschiedene Jagdschlösser hatten. Es lässt sich daher wohl
nicht bezweifeln, dass die ganze Gegend noch bis in späte Zeiten hiueiu Wald war.
353
Ich möchte zugleich darauf aufmerksam machen, dass nach der Beschreibung der
karolingischen Schriftsteller in der Zeit, wo sich zuerst das I'unkel der Ethnographie
dieser Gegenden lichtet, hier ein slavisches Volk, die Linoneo (Linones, Lini. Lino-
ges, Linai), wohnte, ein Volk, das auffallender Weise bis jetzt die Aufmerksamkeit
der Korseber weniger gefesselt hat, obwohl die Dörfer Linow und Linum, welches
letztere durch sein grosses Torfmoor berühmt ist, den Namen erhalten zu haben
scheinen. Seine Wohnsitze erstreckten sich bis an die Grenze der Morizauer (am
Müritz-See im heutigen Mecklenburg).
In geringer Entfernung abwärts von der erwähnten südlichen Biegung der Havel
liegt auf dem rechten Ufer derselben, umgeben von der Zehdenicker Forst, ein klei-
ner Ort, der den auffälligen Namen „Burgwall" führt. Da meine Zeit sehr kurz
war, so habe ich ihn nicht besucht, zumal da die mich begleitenden Herren nicht
wussten, ob daselbst wirklich ein Burgwall sei. Indess versprachen sie genauere Nach-
suchungen.
Etwas unterhalb von ßurgwall, am andern Ufer des hier schon ziemlich breiten
Stromes, in der Nähe der Dörfer Ribbeck und Mildenberg liegt ein Platz, welcher
den Namen „Jägerlake" trägt. Es ist ein niedriges Hügelwerk aus losem Flug-
sand, ganz ähnlich den an so vielen Stellen unserer Provinz vorhandenen Dünen-
zügen. Eine kümmerliche Grasnarbe und wenige Sträucher bedecken die Oberfläche
der noch stehen gebliebenen Stellen, deren Höhe über dem festen Boden durchschnitt-
lich 4 — 8 Fuss betragen mag. Nach Süden und Westen ist der Dünenzug von aus-
gedehnten Wiesen und Mooren umgeben, die sich bis Zehdenick erstrecken und die
wahrscheinlich in früherer Zeit ganz unter Wasser standen. Bis vor einigen Jahren
war der Dünenzug unversehrt geblieben. Damals entstand jedoch in Folge eines
Dorfbraudes ein grösserer Bedarf an Mauersand, und die Leute begannen an verschie-
denen Stellen der Hügel Löcher zu machen und Sand zu graben. Die Löcher wur-
den sehr bald durch den Wind vergrössert, so dass gegenwärtig ein grosser Theil
der früheren Hügel gänzlich verschwunden ist. In dem Masse, als der Sand weg-
gefegt wurde, trat eine grosse Menge von Steinhaufen zu Tage, in der Regel von
flach konischer Gestalt, jedoch von geringer Höhe. An einzelnen Stellen lagen sie
ausserordentlich dicht. Ich habe in einem Viereck, welches 3 Seiten zu 22 Schritt,
die vierte Seite zu 11 Schritt hatte, 27 solcher Haufen gezählt. An anderen Stellen
waren grössere Entfernungen dazwischen, doch lagen sie meist gruppenweise. Die
vom Winde blossgelegte Strecke betrug etwa 280 Fuss in der Länge (parallel dem
Havel-Ufer) und 110 in der grössten Breite. In der Regel bildeten die Haufen kleine,
1 '/a — 2'/2 Fuss hohe, an der Basis 2 — 3 Fuss im Durchmesser haltende Pyramiden
aus geschlagenen Steinen, meist Granit, Gneiss und anderen erratischen Geschieben.
Warf man die Steine auseinander, so zeigten sich die Zwischenräume mit Kohlen-
resten und schwarzer, kohliger Erde ausgefüllt. Die Steine erwiesen sich vielfach
gebrannt. Ueberall zwischen diesen Haufen, wo der Wind kleine Thäler gebildet
hatte, waren Feuersteinsplitter in grosser Zahl aufgehäuft, meist jene dünnen, langen,
scharfen, messerartigen Spähne von l'/3— 2 Zoll Länge, viele jedoch auch beträcht-
lich kleiner, fast alle mit einer breiteren Fläche und einem bald scharfen, bald ab-
gestumpftem Rücken, so dass ihr Querschnitt entweder drei- oder viereckig war.
Einzelne breitere, mehr blatt- oder zungenförmige Stücke und eine gewisse Zahl so-
genannter Nuclei mit langen, parallelen Absplitterungsflächen fehlten nicht. Der Feuer-
stein war überwiegend hellgrau, manche Stücke schwärzlich, wenige gelb- oder roth-
braun. Von solchen geschlageneu Steinen konnte ich in kürzester Zeitfrist eine be-
trächtliche Zahl sammeln. ' Ausserdem fand einer meiner Söhne auch ein Stück von
iener zerbrocheneu, grob polirteu Streitaxt, sowie einen glatten, wetzsteiuförrnigen,
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 1S50. 24
3.r>4
schmäler bearbeiteten Sandstein von 4 Zoll Länge. In weit geringerer Menge trafen
wir Scherben von äusserst rohem Topfgeschirr aus der bekannten Mischung von Thon
mit Quarz und Feldspath. Die Mehrzahl derselben war schwärzlieh, wenigstens auf
• lein Bruch; ihre äusseren Flächen zeigten sich öfter durch Brand geröthet. Manche
waren sehr dick, die .Menrzahl jedoch verhältuissinässig dünn. Nirgends, auch nicht
an den sehr einfach auslaufenden Randstücken fand sich eine Spur von Verzierung
oder Glätte. Einzelne festere, schwarzgraue Stücke schienen einer späteren Periode
anzugehören.
In verhältuissinässig geringer Menge zeigten sich gebrannte Knochen und ge-
brannte geschlagene Feuersteine, erstere zerschlagen und in so kleineu Bruchstücken,
dass ihre Bestimmung mir nicht möglich war. Es schienen mir Thierknochen zu
sein. Dagegen gab es ziemlich beträchtliche Stellen in der Nähe, wenngleich ausser-
halb des eigentlichen Pyramiden-Gebietes, wo beim Aufgraben ganze Kohlen-Heerde
blossgelegi wurden. Fs war durchweg Coniferen - Kohle, wahrscheinlich von Pinus
sylvestris, welche in Schichten von ';■ Fuss und darüber aufgehäuft war. Grössere
Stücke von 1-1',., Zoll Dicke und 2 — 3 Zoll Länge waren nicht selten. Endlich
fanden wir. und das ist dasjenige, was einige Zweifel über das Alter der Lagersteile
erregen kann, ein paar kleinere Schlackenstücke, die offenbar von reisen herrühr-
ten. Da hier und da kleine, braune, röhrenförmige Körper in dem Sande steckten,
die auf den ersten Blick wie versteinerte Räucherkerzchen aussahen, und wohl Aus-
scheidungen von Eisen auf verwitternden Prlanzenwurzeln siud, so darf man anneh-
men, dass das Erdreich ziemlich eisenhaltig ist, und es erscheint nicht nöthig, zumal
bei der geringen Zahl und Grösse der Schlacken, zu weitgreifeuden Schlussfolgerun-
gen zu greifen.
In der Nähe dieses Ortes, aber keineswegs in Verbindung damit, ist früher eine
grosse, schön polirte Axt von hellbrauuem F'euersteiu gefunden, von der es dahin
gestellt bleiben muss, ob sie für die vorliegende Frage irgend eine Bedeutung hat.
Ich habe dieselbe mitgebracht.
Ueber die ursprüngliche Situation der einzelnen F'undstüeke bin ich nicht in der
Lage etwas angeben zu können, weil sich bei unserer Nachgrabung keine Stelle fand,
welche den Eindruck der Integrität machte. Nur gewisse Stellen, au denen über-
wiegend Kohle oder kohlige Erde ohne Steine und ohne anderweitige Einschlüsse vorhan-
den war. machten den Eindruck, als ob eine nach unten zu sich allmählich in eine
Spitze zuziehende Grube vorhanden gewesen sein müsse, welche durch Zusammen-
sinken der Ränder ausgefüllt worden sei; ein Durchschnitt ergab in der Regel die
Gestalt eines mit der Spitze nach unten gerichteten Kegels von kohliger Erde,
durchsetzt von weissen oder röthlichen Sandschichten. Ich kann aber nicht sagen,
ob in gleicher Weise auch die Steinpyramiden zu erklären sind, denn ich war nicht
so glücklich, irgeudwo einen noch mit Sand umhüllten Steinhaufen zu treffen. Immer-
hin könnte man sieh denken, dass es kleine Heerde in Erdlöchern gewesen seien.
In der That ist kaum eine andere Erklärung möglich, als dass man Löcher grub, in
denselben kleiue Feuer- Heerde anlegte, auf denen das erbeutete Wild zubereitet
wurde, während man daneben die Feuersteine schlug und die Werkzeuge herrichtete.
Vielleicht darf man auch annehmen, dass die Feuersteine in dem Feuer zum Schla-
gen vorbereitet wurdeu.
Jedenfalls ist die Sache deshalb von besonderem Interesse, weil nur äusserst
wenige Lokalitäten in unserem Vaterlande bekannt sind, wo so wenig Material ge-
funden ist und wo die gaDze Linrichtung so sehr den Eindruck der Rohheit macht
Wenn man erwägt, dass Eisenschlacken in wenigen und ganz kleinen Exempla-
ren gefuudeu wordeu sind, so scheint es mir mindestens sehr zweifelhaft, ob man sie
355
derselben Bevölkerung zuschreiben darf, von welcher die übrigen Sachen berstaj
Bis jetzt habe ich wenigstens noch keine Kunde davon, dass in einer Zeit, wo man
schon Eisen zubereitete, noch in so gn sser Masse Feuersteine geschlagen worden
wären. L> scheint mir daher wahrscheinlich zu sein, dass diese Schlacken einer
späteren Zeit angehören, oder dass sie zufällig hei dem Brande entstanden sind.
Für die Feststellung der Zeit, in welche ias Lager auf der Jägerlake zu setzen
ist, haben die Steinsachen offenbai eine entscheidende Bedeutung. Die grosse Zahl
von Feuersteinspähnen uud von Nuclei beweist, dass hier eine Werkstatt« für die Be-
reitung von Stein eiät.li war. Die beiden polirten, aber zerbrochene! ; ixte zei-
gen, dass man in der Kunst d< r Glättung solcher Waffen schon sehr vorgeschritten war.
Das eine, voii meinem Snluie Lm>t eoiundene Stück ist freilich ziemlich roh; e hat
eine plan-convexe Gestalt und nur die Schneide und die convexe Fläche sind wirk-
lich geschliffen. Vielleicht ist es auch nicht weiter bearbeitet, weil es zerbrach. Das
andere, von lim. Niessing gesammelte Stück dagegen ist von grosser Vollendung.
Ls ist eine I Zoll lauge, sehr schön polirte Axt mit scharfer und regelmässig gerun-
deter Schneide. Letztere ist I : .. Zoll breit, während der Körper der Axt nur 1, das
hintere Ende nur -\ .. Zoll Breite hat. Die grösste Dicke beträgt in der Mitte 1, am
hinteren Ende etwas über \, Zoll. Sämmtliche Flächen siud abgerundet, und zwar
die beiden breiten Seitenflächen convex, die beiden schmalen Seiten- und die End-
fläche flach-concav, und zwar mit schart' vorspringenden Begrenzungslinien. Ls ent-
steht so eine überaus gefällige, um nicht zu sagen, zierliche Form. Das übrigens
gauz solide Werkzeug ist l1/; Zoll vor dem hinteren (dünneren) Ende durch einen
splitterigen Querbruch in zwei Stücke zertheilt. Beide Steinäxte bestehen nach der
Bestimmung des Herru Kunth aus sehr dichtem Diorit.
Bald nachher kam ich nach Görlitz und war nicht wenig überrascht, in di i
Sammlung der dortigen gelehrten Gesellschaft eiue ziemlich beträchtliche Auswahl
von allerlei Alt- Sachen zu finden, welche die äusserste Aehnlichkeit mit dem dar-
boten, was ich aus Zehdenick mitgebracht hatte. Diese Sachen stammten aus der
Niederlausitz und zwar aus der Nähe von Golssen von einer einzigen Fundstelle,
welche Hr. Apotheker Schumann seit Jahren sorgsam überwacht hatte. Dieser
eifrige Lorscher hat eine grössere Reihe von Nachrichten über seine Funde in dem
Organ der Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz1) veröffentlicht, auch einen
übersichtlichen Bericht darüber in den .Mittheiluiigeu des thüringisch-sächsischen Alter-
thums- Vereins**) niedergelegt. In Folge dieser Erfahrung nahm ich kürzlich Ver-
anlassung, mit Hrn. Dr. Voss diese Lokalität aufzusuchen, uud ich habe mit einiger
Ueberraschung gesehen, dass in der That in vieler Beziehuug ähnliche Verhältnisse
wie auf der Jägerlake vorliegen.
Auch in Golssen handelt es sich um eine grosse Sanddüne. Dieselbe stösst un
mittelbar an ein weites Torf- und Wiesenbruch, aas mit der Dahuie, einem kleinen
Nebenflüsschen der Spree, in Verbindung steht und offenbar ein grosses alte- - .
hecken darstellt. Die Düne, auf welcher die Mehrzahl der Sachen gefunden ist,
schliesst sich gegen Osten au einen Waldconiplex, welcher den Namen Geh mutz
trägt; sie selbst hat den Namen der Rauchen oder rauhen Berge. Von da führt
ein Weg über das Moor zu dem „ K i rc hhors t " , also zu einer Lokalität, welche
wahrscheinlich schon in heidnischer Zeit eine Bedeutung gehabt bat. Di. Rauche u-
* Neues Lausitzisches Magazin. 1843, Bd. 21, s :M4. 1*46, Bd. 23, s. 127, Taf. I. II
I8äö, Bit 32, S. 83.
* ') Neue Mittheiiuugen uns dem (iebiet liistor.-autiqiiarisehei Forschungen. Balle 1846
Bd. VIII. Heft 2, S. 21. 158.
V4'
356
berge bilden die letzten Ausläufer, gewissermassen das Vorgebirge eines '/s Stunde
langen Dünenzuges, welcher sich von Osten her, von einer „die Pforte" genannten
Stelle aus in das Moor hinein erstreckt. Auch hier, wie auf der Jägerlake, ist durch
den Wind allmählich ein grosser Theil der Düne aufgeräumt worden. Allerdings
scheinen sich nicht in der vorhin geschilderten Regelmässigkeit Kegelhaufen von
Steinen gefunden zu haben; indess erwähnt Hr. Schumann*), dass im Umfange
der Düne von ihm Brandstellen mit Kohle auf zusammengehäuften oder gepflasterten,
in starkem Feuer gewesenen Steinen in einer Tiefe von l'/j — 2 Fuss beobachtet seien.
Im Uebrigen waren allerlei Gegenstände vorhanden, namentlich eine grosse Menge
von geschlagenen Feuersteinen, rem denen ich selbst zahlreiche messerartige Spähne
und Nuclei sammelte. Das Interessanteste an dem Golssener Funde aber ist, dass
Hr. Schumann in früherer Zeit an einer bestimmten Stelle der Düne ein Häufchen
von Feuerstein-Pfeilspitzen aufgenommen hat, welche in der That zu den vorzüglich-
sten gehören, die ich aus unserer Gegend gesehen habe. Es sind 4 grössere von
1j.i — 3/4 Zoll Länge, unpplirt, mit zahlreichen feinen Schlagmarken, am hinteren Ende
ausgerandet, und 2 kleinere. Dazu kommt ein fast 2 Zoll langes und über ll2 Zoll
breites Bruchstück von einer blattartigen Lanzenspitze aus Feuerstein, und ein paar
grössere plattrundliche Steine mit eigenthümlicher dreiflächiger Zuschleifung auf bei-
den Flächen, endlich ein Sandstein mit Rinnen, welche aussehen, wie wenn sie zum
Schleifen benutzt worden wären.
Wir selbst waren nicht glücklich im Finden feiuer bearbeiteter Steine, weil einer-
seits der Sand längst verweht ist, andrerseits seit 30 Jahren Alles mit grosser Sorg-
falt von Hrn. Schumann gesammelt worden ist. Wir fanden ausser den erwähnten
Feuerstein-Spähnen nur grobe Bruchstücke von Thon - Gefässen , einzelne Knochen-
fragmente, kleine Kohlenstücke und mit Asche gemischte humose Erde. Es zeigte
sich, dass fast durchweg über einer dicken Schicht rothen Sandes eine verschieden
starke Lage torfiger Erde folgt, welche von weissem Flugsande überwellt ist. Die
Kohlen reichen nirgends bis über die torfige Lage hinab. Hr. Schumann selbst
hat jedoch alle möglichen Dinge gesammelt, welche anzeigen, dass sich hier offenbar
nach und nach vielerlei Leute aufgehalten haben müssen. Er hat im Innern der
Düne Bronze, eiserne Geräthe und zwar z Th. ziemlich moderne, Schlacken und
Urnenscherben, in den äusseren Abschnitten zwei ovale Mahlsteine aus Granit, einen
Steinkeil, einen Schleifstein, eine eiserne Pfeilspitze u. s. w. gesammelt. Ausserdem
führte uns Hr. Schumann an der nördlichen Seite der Düne zu einer Stelle des
alten See -Ufers, wo er eine bronzene Sichel gefunden hatte; wir trafen auch hier
Kohleustellen, zahlreiche Urnenscherben, und meine Tochter hob ein Stück einer ge-
bogenen Bronzeplatte auf, das von einem zerbrochenen Armringe herzustammen schien.
Auch an einigen anderen Stellen des südlichen Randes der Gehmlitz kamen wir auf
angebrochene Dünen, in denen Feuersteinspähne und Urnenscherben in grösserer Zahl
zerstreut lagen. Hr. Schumann besitzt ausserdem von den Aussenwerken sehr
schöne und zum Theil sehr grosse farbige und bunte Thonwirtel, Glaskorallen und
Glasperlen, manche halb oder ganz geschmolzen, andere noch gut erhalten.
Leider ist ein grosser Theil dieser schönen Sachen gesammelt worden unter Ver-
hältnissen, wo von Genauigkeit in Beziehung auf die Lagerung nicht die Rede war;
das Meiste ist nicht durch regelmässige Aufgrabung gewonnen, sondern wie der
Wind es blossgolegt hatte. Nichtsdestoweniger lässt sich nicht verkennen, dass die
beiden von mir beschriebeneu Stellen in vielfacher Beziehung übereinstimmen, und
ich habe mich deshalb beeilt, auf diese Fundstellen aufmerksam zu machen. Die
*) Thüringisch-sächsische neue Ifittheilungen Bd. VIII, lieft 2, S. 24.
357
Aehnlichkeit dieser beiden Orte mit manchen anderen Dünenzügen unseres Landes
führt auf die Vennnthung, dass auch audei'Bwo ähnliche Funde gemacht werden könn-
ten. In Rügen, namentlich an der Lietzowcr fähre und auf den Banzel witzer Ber-
gen am Jasmunder Budden habe ich selbst ganz ähnliche Stellen, auf welche mich
Hr. Rosenberg aufmerksam gemacht hatte, besacht: alte Feuerstein -Werkstätten,
in deren Nähe Kohlenstellen mit Uruenscherben, auch Gräberreste vorkommen. Da
nun dünenartige Bildungen bei uns im Lande vierfach vorhanden sind, so dürfte es
sich wohl der Mühe verlohnen, die Aufmerksamkeit auf dieselben zu lenken.
Ich erwähnte vorhin, dass auf den rauhen Bergen zwei Steine mit dreiflächiger
Abschleifung ihrer beiden convexen Oberflächen gefunden worden sind, welche den
Anschein einer künstlichen Zurichtung an sich tragen. Aehidiche Steine sind in je-
ner (legend ziemlich häufig. Die Sammlung der Görlitzer naturforschenden Gesell-
schaft besitzt deren eine grössere Zahl. Auch unser Museum hat vor einiger Zeit
durch unser Mitglied Hrn. Friedel ein paar dergleichen Steine von der Insel Sylt
bekommen. Wir fanden ein Paar ziemlich grosse ganz zufällig, als wir einen frisch
aufgeschütteten Landweg in der Nähe von Golssen verfolgten, um die dortige alte
„Landwehr", den Rest eines früher sehr ausgedehnten Erdwalles*), aufzusuchen. Die
aufgeschüttete Erde war nach der Angabe des Hrn. Schumann von dem durch ein
altes Gräberfeld und verschiedene andere Funde, darunter auch eine römische Münze,
ausgezeichneten Sagritzer Berge angefahren. Die uns interessirenden Steine bestehen
aus rothem Quarzit, und namentlich der eine von ihnen ist von grosser Regelmässig-
keil, indem er auf jeder Seite 3 glatte oder flachruudliche Flächen mit zum Theil ganz
scharfkantiger Begrenzung trägt. Er ist im Grossen herzförmig, 4 Zoll lang, 3'/a
Zoll im grössteu Querdurchmesser breit und von der einen seitlichen Zuspitzung bis
zur anderen 2 Zoll dick.
Die andern Steine dieser Art, welche ich gesehen habe, waren in der Mehrzahl
kleiner, zeigten aber zum Theil noch schärfere Flächen. Letztere stimmen so wenig
mit irgend einer bekannten, sei es krystallinischen . sei es oryctognostischen Form
überein, dass ich vorläufig wenigstens die Meinung aussprechen muss, dass es sich
um eine künstliche Zuschleifung handelt. Ich habe von derselben Stelle einen rohen
Stein mitgebracht, der im Grossen dieselben Flächen und zum Theil auch scharfe
*) Schumann, Neues Lausitzisches Magazin 1843, Bd. 21, S. 375.
358
Konten besitzt, nur Alles unregelmässiger; wenn ein solcher Stein noch ein wenig
bearbeitet wird, so ist es gewiss leicht, ihm die beschriebene Gestalt zu geben. Es
ist daher leicht denkbar, dass man ein präexi stiren des natürliches Verhältnis benutzt
hat. Da diese Können noch nicht besprochen zu sein seheinen, so möchte ich
sie der Aufmerksamkeit sowohl unserer Mineralogen als Archäologen empfehlen
Stellt man sich vor, dass eine künstliche Zubereitung stattgefunden hat, so liegt der
Gedauke nahe, dass diese Steine bestimmt gewesen sind zum Glatten oder Poliren.
Um als blosse Schleudern zu dienen, dazu scheint die Arbeit zu schwierig zu sein,
falls überhaupt eine Arbeit daran ist, dagegen lässt sich bei der Gestalt der Steine
der Gedanke nicht zurückweisen, dass sie zum Poliren gedient haben.
Herr Reinhardt: Ich will nicht versäumen, auf eine andere Lokalität in unserer
Nähe aufmerksam zu machen, an welcher sich ebenfalls rohe Feuerstein -Sachen
Hilden : das sind die .lahnberge bei Nauen. ich hatte neulich Gelegenheit, mit Hrn.
Friede! eine Excursion dahin zu machen, wo wir sie ganz in derselben Weise, wie
der Vortragende es beschrieben hat, antrafen. Die Jahnberge machen gleichfalls den
Eindruck einer Düne; sie sind bewaldet, aber die oberste Schicht ist abgeweht. An
einer Stelle lagen bearbeitete und auch Stücke von gebraunten Feuersteinen. Auch
rohe Urnei'stücke habe ich dort gefunden. Es ist übrigens in der Nähe noch eine
zweite Lokalität, nehmlich die Ritsche bei Paulinenaue. wo sich auf einem ähn-
lichen Haufen dieselben Sachen wiederholen.
Herr Virchow: ich habe noch zu erwähnen, dass Hr. \. Dücker in einem Briefe
d. d. fsfimptsch, 2. Juni, auf eine analoge Stelle aufmerksam macht. Er berichtet, dass er
im Kreise Nimptsch au den Ufern des Lohe-Haches bei Trebnig, Jordansmühle und Biseh-
kowitz „sehr ausgedehnte Lagerplätze, aller wilder Menschen gefunden habe Die Plätze
charakterisiren sich durch ungeheure Aschenmassen, welche den Boden weithin graufarben
und durch häutig darir liegende Scherben rohester Töpferwaare, wie auch durch Knochen-
icste. Werkzeuge finden sich ausserordentlich selten. Au den bezeichneten Stellen konnte
i.h von solchen nur einen Mühlstein von 16 Zoll Durchmesser und eine bearbeitete
Hirscbhornzacke erkennen. Die Töpferwaare, zuweileu mit Strichen verziert, stimmt
genau mit derjenigen der Seestationen (stations lacustres) überein, welche ich zu
Potzloh, Komgswalde, Saarow, Fürstensee und auf Rügen gefunden habe. Das ganze
Vorkommen stimmt überhaupt mit dein dortigen genau überein und stammt aus roher
Steinzeit, speciell anscheinend aus der Pfahl bauperiode. Die Dicke der Massen fand
ich bei Trebnig 1 — 2'/a Fuss unter der Ackererde. Bei Jordansmühle fanden sich
die Beste bis zu 12 Fuss tief in einer torfigeu Sumpfausfüllung."
FiS sind in dieser Mittheilung Widersprüche, die nicht recht aufzuklären sind.
Vi »ii Feuerstein-Sachen erwähnt Hr. v. Dücker gar nichts; nichtsdestoweniger ver-
legt er die Dinge in die Steinzeit. Die Ansiedlungeu von Potzlow und Königswalde,
welche ich seihst untersucht habe, gehören aber einer späten lMsenzeit an; die Grä-
ber von Saarow, wie ich nachgewiesen habe, stammen aus der Bronzezeit. Ich muss
mich daher enthalten, zu entscheiden, wohin die neuen Fundstellen zu rechnen sind;
immerhin scheint die Lokalität werth, im Auge behalten zu werden. -
Herr Virchow berichtet
über einen Besuch der westfälischen Knochenhöhlen.
Nachdem ich schon einige Male die Wichtigkeit der westfälischen Höhleu be-
sprochen und einzelnes daraus in früheren Sitzungen vorgelegt hatte, bin ich gegen-
wärtig in der Lage, aus persönlicher Erfahrung darüber zu berichten. Auf dem
3.r)9
Rückwege von Mainz nahm ich zu Anfang April dir; Gelegenheit wahr, einen Theil
der Höhlen selbst zu untersuchen, und obwohl gerade in der letzten Zeil di< Nach-
richten über dieselben sich geinehrt haben, so kann ich doch das, was ich beob-
achtet habe, nicht für unerheblich halten. Abgesehen von den Mitthei luugeu des
Hrn. v. Dücker liegen namentlich von Prof. Fuhlrott, dem Kinder des Neandei
thal-Schädels, mehrere Publicationen vor*). In einer kleinen ßroehure i hat er eine
Skizze der kürzlich im Lennethal oberhalb Betmathe erschlossenen Dechen-Höhle, die
jetzl am meisten berühmt ist, und eine, wenn auch nicht täuschend ähnliche, so doch
immerhin plastische Darstellung einer der schönsten Tropfsteiustellen derselben ge-
liefert.
Gegenwärtig ist der Gang der Reisenden gewöhnlich so, dass man sich zunächst
zu der Dechenhöhle wendet, welche von der Bahn am Leichtesten zugänglich ist und
durch ihre landschaftliche Schönheit in der That den am meisten her' agendeu
Platz einnimmt. Ich hatte zufällig den umgekehrten Weg eingeschlagen, indem ich
von Werdohl aus zuerst nach Balve ging, und ich habe es nicht bereut, denn es
stellte sieh heraus, dass die Dechenhöhle zu den am wenigsten dankbaren in Bezie-
hung auf Kunde gehört, wenngleich sie durch ihren Tropfsteinschmuck sieh in so
wunderbarer Weise auszeichnet, dass ich mit höchstem Vergnügen mich einige Stunden
darin bewegt habe. Auch die Mehrzahl der übrigen Höhlen, welche ich gesehen
habe, namentlich die Keldhofshöhle im Hönnethal und die Höhlen von Sundwig, sind
verhältnissmässig unbequem für die Untersuchung, weil an den meisten Theilen der-
selben so viel Sickerwasser durchtropft, dass noch gegenwärtig immer neue Absetzun-
gea von Tropfstein-Massen sich bilden und namentlich so dichte Horizontal-Schich-
ten davon vorhanden sind, dass eine sehr erhebliche Arbeit nothwendig ist, durch
dieselben hindurchzukommen.
In der Regel kommen diese horizontalen Tropfstein-Schichten mehrfach vor, ge-
trennt durch losen Behin. Gerade die Thierüberreste finden sich vorwiegend in
den oberen Schichten dieses Lehms und in den Tropfstein -Lagen. f.- i>t daher
schwer, aus dieser Breccie ein Stück vollständig auszulösen leb habe einen grossen
Unterkiefer vom Höhlenbären mitgebracht, den wir in der Keldhofs-Höhle am Klusen-
stein ausgegraben haben, aber es war nicht anders möglich ihn zu gewinnen als in
Bruchstücken, die leider kein vorzügliches Bild von seiner Beschaffenheit darbieten.
ludess kam es mir weniger darauf an, Thierkuochen zu erlangen, als vielmehr die
Krage von der Existenz des Menschen in den Höhlen zu prüfen.
Unter sämmtlichen Höhlen, die ich besucht habe, ist nur eine einzige trockene;
das ist die schou lange bekannte prachtvolle Balver Höhle im oberen Hönne-Thal.
Es finden sich darin sehr wenige Stellen, au welchen irgend ein Tröpfeln stattfindet,
so dass man von oben bis unten die fast trockenen Schichten mit Bequemlichkeit
durchgraben kann. Obwohl seit einer Reihe vou Jahren die Räumung dieser Höhle
zu Ackerbau-Zwecken bewerkstelligt wird, indem daraus sehr fruchtbare, an phosphor-
saurem Kalk und organischen Stoffen reiche Erde gewonnen wird, und obwohl gegen-
wärtig von der überaus geräumigen Höhle in der That der grössere Theil ausgeräumt
ist, so war ich doch insofern überaus glücklich, als einerseits durch diese Arbeiten
die Schichteulage bis auf den Boden blossgelegt ist, andererseits in verschiedenen
Ecken es noch möglich war, selbst die obersten Schichten uoch genau kennen zu
lernen.
*) C. Fuhlrott, die Höhlen und Grotten in Rheinland und Westfalen. Iserlohn is£9 —
Sendschreiben in den Verhandlungen des naturhistorisehen Verein: der Rbeinlande. 1870, S. 119.
*•) Fuhlrott. Führer zur Dechen-Höhle. Iserlohn ,'ohne Jahreszahl).
360
Die Höhle, deren mächtiges Portal 20 Fnss hoch und beinahe 60 Fuss breit ist,
hat eine Ticfcnausdehming von etwa 200 Fuss; in ihrem hinteren Abschnitte
erweitert sie sich in der Breite nicht unbeträchtlich. In den rJ heilen, wo sie bis auf
den Boden ausgeräumt ist, beträgt ihre Höhe bis zu 40 Fuss und darüber. Sie ist
daher wohl die grösste und trotz ihrer Einfachheit die imposanteste Höhle, welche
wir in Deutschland besitzen. Schon ihr vorderer Theil genügt, um Hunderte von
Menschen aufzunehmen. Noch vor f>0 Jahren war sie so weit mit Absätzen aller Art
erfüllt, dass die Decke kaum 5 Fuss von dem Niveau der Ausfüllungsmasse entfernt
gewesen sein soll. Der hintere Abschnitt ist noch jetzt zum grössten Theil gefüllt.
Er spaltet sich in zwei, durch einen mächtigen Vorsprang des devonischen Kalksteins
getrennte, nach oben aufsteigende Kammern, durch welche wahrscheinlich früher Was-
ser eingetreten ist. Diese Nebenkammern sind noch ziemlich unberührt, dagegen ist
der Hauptraum, namentlich auf der rechten Seite bis nahe an den Vorsprung ausge-
eert. Hier steht gegenwärtig eine 20 Fuss und darüber hohe Wand von Ausfüllungs-
masse, welche bis unmittelbar auf den alten Kalkstein-Boden niedergeht; an ihr sieht
man noch den grössten Theil der Schichten vor sich. Von den oberen Lagen ist
verhältnissmässig am meisten fortgeräumt, so dass eine Untersuchung derselben nur
an den äussersten Rändern möglich war. Diese Untersuchung habe ich unter thäti-
ger Mithülfe des Hrn. Ehrenamtmann Plassmann am 4. und 5. April möglichst
sorgfältig veranstaltet.
Schon 1843 — 44 ist auf Veranlassnng des Bonner Oberbergamtes eine of6cielle
Ausgrabung in der Balver Höhle vorgenommen worden. Dabei hatte man 4 verschie-
dene Schichten unterschieden*): zu oberst eine 1 Fuss mächtige Schicht von soge-
nannter Asche, einer feinen, dunkel schwärzlich grauen Erde, welche zahlreiche Kno-
chen von Wiederkäuern, namentlich vom Hirsch, Reh, Ochsen, ferner einzelne vom
Schwein und vom Menschen, alte Urnen, Münzen, endlich scharfkantige Stücke
aus Kalkstein, häufig auch aus sandsteinartiger Grauwacke in grosser Menge enthielt.
Dann kam eine zweite, 4 — 5 Fuss mächtige Schicht aus lehmartiger, ockergelber
Erde mit Knochen älterer Thierarten, namentlich Mammuth, meist verbrochen und
etwas abgerollt, sowie mit Bruchstücken von Kalkstein, Grauwacke und Kieselschie-
fer. Eine dritte Schicht, 2 Fuss mächtig, sollte, wie die erste, aus einer dunkelge-
färbten fetten Dammerde bestehen und sowohl Gesteinfragmente, als Knochen ein-
schliessen; endlich eine vierte, mehr lehmartige Schicht, 8 Fuss mächtig, in welcher
Knochen, besonders Mammuthzähne, und Kalksteinstücke, jedoch keine Grauwacke
und kein Kieselschiefer vorkommen sollten. Unter den Thieren, welchen die Kno-
chen in den 3 unteren Schichten angehören, wurden genannt der Höhlenbär, das
Mammuth, das Nashorn und das Flusspferd, das Pferd, der Hirsch und zwar Cervus
Elephas, scanicus (Tarandus fossilis) und Guettardi. Die dritte Schicht schien gegen
das hintere Ende der Höhle auszufallen, so dass hier die zweite und vierte in Eins
zusammenflössen.
Meine Beobachtung hat ergeben, dass die Zahl der wohl zu unterscheidenden
Schichten eine viel grössere ist. Möglicherweise erklärt sich diese Differenz aus der
weiter zurückgelegenen Stelle der jetzigen Grabungen, welche den erwähnten End-
Ausläufern der Höhle näher liegen. In dieser Gegend setzt sich von dem beschrie-
benen Vorsprunge aus an dem Boden der Höhle eine flache Erhebung fort, und es
lässt sich denken, dass früher von beiden Ausläufern her Wasserströme durchgegan-
gen sind. Die undichte Beschaffenheit des durch Hebungen zerklüfteten Kalkes macht
*) Nöggerath im Archiv für Mineralogie, Geognosie, Bergbau und Hüttenkunde von Kar-
sten und v. Dechen, 1846, Bd. XXVI, S. 334.
361
dies in hohem Maasse wahrscheinlich. Noch jetzt verschwindet selbst die Hönne
unterhalb Balve im Sommer stellenweise so vollständig im Boden, dass ihr Bett auf
gewisse Strecken ganz trocken wird. Andererseits sieht man gerade unter der Feld-
hofshöhle am Klusenstein, welche in einer Höhe von I 10 Pubs über dem Hönnethal
liegt, einen mächtigen, rauschenden Bach direkt aus dem Felsen in die Hönne ein
strömen. Nimmt man an, dass früher in der Balver Höhle ähnliche Verhältnisse,
wenn auch nur zeitweise, bestanden, so lässt sich denken, dass die Ansätze an ver-
schiedenen Stellen der Höhle sehr verschieden geschahen. Jedenfalls bilden die
tiefsten Lugen des gegenwärtigen Profils der Ausfüllungsmassen convexe, über den
erwähnten Felsvorsprung sich schalig anlegende Schichten, und erst in der dritten
Lage (von unten) nehmen die Ansätze eine mehr horizontale Richtung an. Letztere
erhält sich dann, soweit ich ersehen konnte, bis zur Oberfläche, so dass es wahrschein-
lich ist, dass in späterer Zeit der Zufluss durch die früheren Schlünde aufgehört hat.
Es ergaben sich nun als für unsere Frage fast allein wichtig die beiden obersten
Schichten, welche ungefähr der ersten Schicht der früheren Grabung entsprechen
mögen. Zu oberst, in den noch den Höhlenwanduugen ansitzenden Schichten, welche
bröcklig, ungleichmässig, im trocknen Zustande bräunlichgrau aussahen, fanden wir
verschiedene Einschlüsse, die auf die Anwesenheit des Menschen hinweisen, insbeson-
dere sehr häutig kleine Stücke von Holzkohle, so häufig, dass gar nicht davon die
Rede sein konnte, dass sie durch einen Zufall, z. B. einen Waldbrand dorthin ge-
kommen seien. Diese Kohle haftet sehr fest in der umgebenden Erde und ist daher
nicht leicht auszulösen. In ähnlicher Weise findet sich der Erde manches Andere
beigemischt, so dass dies Zusammenvorkommen durchaus kein zufälliges sein kann. So
löste ich aus dem noch anstehenden Erdreich wiederholt, wenngleich sehr vereinzelt,
kleinere Feuerstein-Splitter, die allerdings nicht den positiven Eindruck absicht-
licher Arbeit erregen, aber die Gestalt geschlagener Feuersteine, namentlich den drei-
eckigen Querschnitt zeigen. Wenn man erwägt, dass gerade in diesen Gegenden
Westfalens Feuerstein ausserordentlich selten ist, so kommt gewiss auf einen solchen
Fund gar viel an. Weiter zeigten sich verhältnissmässig kleine Bruchstücke ge-
schlagener Knochen von solcher Schärfe, dass die Vermuthung sehr nahe liegt,
sie seien von Menschen zerschlagen. Es waren dies, mit Ausnahme einiger kleinen
Längssplitter von Cervus-Horn, durchweg kurze Bruchstücke der sehr festen und
dicken Corticalis von Röhrenknochen grosser Thiere; ein einziges Stück hob ich auf,
das von einem Schädeldachknochen eines grossen Thieres herstammt. Au einigen
dieser Bruchstücke zeigte sich eine Abrundung der Bruchflächen, welche auf Bewegung
im Wasser deutet. Biss- oder Nagestellen, die auf Thiereinwirkungen bezogen wer-
den können, Hessen sich nach sorgfältiger Reinigung der Knochen hier und da wahr-
nehmen, dagegen habe ich nichts gesehen, was irgendwie auf eine Bearbeitung zu
technischen oder artistischen Zwecken hingedeutet hätte. An einem einzigen Frag-
ment sieht man an einer kleinen Stelle scharfe, wie geschnittene Linien von geradem
Verlauf, die sich kreuzen, allein dicht daneben ist ein stärkerer, trichterförmiger Ein-
druck wie von einem Zahn. Jedenfalls ist die Sache zweifelhaft Ebensowenig habe
ich unter den vielen scharfkantigen Kalksteinstücken, welche in dieser Schicht vor-
kommen, irgend eins bemerkt, das nicht auf natürliche Weise hätte entstanden sein
können. Endlich zeigten sich in der oberflächlichen Lage sehr zahlreiche Knochen
von Fledermäusen, insbesondere Handknochen, sowie vereinzelt Vogelknochen,
unter denen die Metatarsalknochen vom Rebhuhn zu erkennen waren.
Dass in der Oberfläche dieser Höhle seit Jahren mancherlei gesammelt worden
ist, was auf menschliche Thätigkeit hinweist, ist bekannt. Namentlich kommt ein
ganz besonderer Fund in Betracht: ich sah nämlich im Museum der naturforschenden
362
Gesellschaft zu Bonn ein paar Stücke, welche von Hrn. Bergmeister Hu n rl t aus Sie-
gen eingeliefert sind und aus der Balver Höhle stammen sollen, und zwar einen
grossen, schön geschlagenen, nicht poiirten Dolch ans Feuerstein mit zierlich ausge-
schweiftem Handgriff, und einen am Ende sehr scharfen, poiirten M eissei ans der
Diaphyse eines Extremitäten-Knochens ei:ies grössere!] Thieres (Hären?1). Hr. Hundt
hat mir darüber auf meine Anfrage folgende Mittheilung gemacht:
„Ich ergreife gern die Gelegenheit, um Ihnen über den Kund in der ßalver
Höhle, soweit mir die Sache noch erinnerlich ist, Näheres mitzutheilen. \nfaug der
(Hier Jahre habe ich selbst und auch durch Andere iu dem Höhlenschutt, 2t» bis 2.r>
Schritt vom Eingang der Höhle, suchen lassen. Es fanden sich in der 4 bis (i Fuss
hohen Geröllmasse fossile Knochen von Bären, Hyänen und anderen schon bekannten
Thieren. Etwa 2 Fuss unter dem Boden, bestehend aus thonig-kalkigen Erdmassen,
befand sich zwischen dem Gerolle ein alter, zerbrochener Topf, kohlige Massen zei-
gend, und in dessen Nähe, 1 bis 2 Fuss davon entfernt, lag das Steinmesser und
der Knochenmeissel. Vom Topfe verwahre ich noch einen Scherben. Wie alle irde-
nen Gefässe aus der Urzeit besteht er aus roth gebranntem Thon mit eingemengten
feinen Quarz- und Kalkspathstüekchen. Dass der Topf hier eingegraben gewesen,
durfte ich wohl annehmen und damit auch den früheren Aufenthalt unserer Urbevöl-
kerung im Höhlenraume. Die Waffen scheinen mehr zufällig unter die Gerölhnassen
gelangt zu sein. Sie lagen zwischen ssilen Knochen, die in die Balver Höhle mit
den Geschieben wohl unzweifelhaft \ in Wasser hineingetragen sind. Schon früher.
zu Anfang der 10er .Jahre, hat man Gefässe mit Kohlen im vorderen Höhlenraum
gefunden, leider aber zu wenig darauf geachtet. So fanden sich auch im Schutt der
Rosen becker Höhle bei Brilon einige 3— -5 'II lange kupferne Griffel, welche wohl
mit Unrecht für römische Schreibstifte, erklärt, aber auch nicht weiter beachtet wur-
den Sind in die Balver Höhle die beiden Messer hineingeflösst, und dieses ist bei
direr Lage zwischen Geröllsteinen wohl anzunehmen, so rühren sie aus einer Zeit
her, die noch viel weiter hinaufreicht als die, wo der Mensch d$u trockenen Boden
berührte."
Immerhin ist die Sache noch nicht ganz klar Die Isolirtheit des Fundes
ausserdem ist nichts Analoges gefunden worden — macht die Deutung desselben an
sich etwas bedenklich. Wenn man erwägt, dass in dieser Schicht auch eine Silber-
münze des Kaiser Otto 1. aus dem 10. Jahrhundert und eine andere Silbermünze vom
Jahre 100 1 gefunden worden ist"), so wird man in hohem Maasse vorsichtig sein
müssen, so lange nicht jedp Einzelheit des Fundes und der Fundstelle nachgewiesen
ist. Dass die Höhle noch bis in die historische Zeit Menschen zum Aufenthalt, ge-
dient hat, ist unzweifelhaft; wie weit daher die in den oberflächlichen Lagen vor-
kommenden Gegenstände als vorhistorische zuzulassen sind, hängt von der Bestim-
muug der neben ihnen in jungfräulichem Boden liegenden Thiei Überreste ab. Diese
scheinen mir jedoch wenig charakteristisch zu sein.
Auch bei Hrn. von der Mark in Hamm, aus dessen Sammlung ich schon in
einer früheren Sitzung einzelne Gegenstände vorlegte, sah ich aus der Balver Höhle
einige neue Objecte Ich erwähne daraus Spinde.'steine und irdene Topfscherben von
grobem Material und grosser Dicke (:■'. 4'"). Der obere Rand war bei einigen in
regelmässiger Weise wellig eingebogen; in kurzer Entfernung darunter lief ein hori-
zontaler Gürtel von kurzen, tiefen, senkrechten Eindrücken um das Gefäss. Vielleicht
werden solche verzierten Stücke später eine bessere Vergleicbung gestatten, wenn
Nöggeratb :i, 0. -. '■'■ '■< Pub Ir ott, Hohlen und Grotten, S. 92 Anu).
363
andere westfälische Funde in Beziehung dazu gebracht werden. Heber die Fund-
fcellen dieser Urneusrheiheii selb«! war leider nichts Genaues hekannl.
Von ungleich grösserer Bedeutung ist nach meinen Untersuchungen -\\p zweite
*«hich1 W;i nach Jen Inihereu Ermittelungen wnlirscheinlich, jedoch durch keine
fip* früheren Grabungen wirklich constatirl war, das ergab sich mil grösstei Bestimmt-
heit: eine Rennthiersch tcht. Diese, stellenweise bis zu :; Fnss mächtige Lage
bestand aus einer schwärzlichgrauen, hier und da graubräunlichen, ziemlich feinen
und gleichmässigen mürben Erde, die in horizontalen Lagen abgesetzt war. Auf s\<
passl wohl am meisten die früher erwähnte Bezeichnung der Aßcbenschicht. An
manchen Stellen war die Masse offenbar durch das Eindringen von Sickerwasser festei
geworden: hier hatte sie ein mehr weissliches Ansehen und die Ein chlüsse waren
unter einander und mit der umgebenden Mass«, fest zusammen gekittet, fn kurzer
Zeil gelang es mir, daraus eine grosse Masse von Bruchstücken von Rennthiergewei-
hen zu gewinnen; manchmal fanden sie gich haufenweise zusammen. Die Mehrzahl
davon gehörte jüngeren Thieren an, jedoch galt es auch recht starke Stücke darunter.
Ihr Verhalten erwies sieh je nach der Lagerung sehr verschieden: während einige
mehr verwittert aussahen und verhältnissmässig leicht waren, hatten andere eine grosse
■»chwere und eine wirklich steinerne Consistenz. An einer geringen Zahl liessei
Nagespuren erkennen; namentlich zeigt ein grösseres, starkes Fragment an allen En-
den so tiefe und ausgedehnte Abnagung, dass sich daraus vielleicht für die Beurthei-
rnng desjenigen Thieres, von dem die Benagung ausging, einige Anhaltspunkte ge-
winnen lassen machten. Trotz der grossen Mühe, welche ich mir gegeben habe, an
diesen Kennthierknochen eine Spur menschlicher Einwirkung zu sehen, bin ich doch
nicht im Stande gewesen, irgend etwas zu entdecken, was auch nur mit Wahrschein-
lichkeit auf eine solche Einwirkung hätte bezogen werden können, was irgend ein
bestimmtes Geräth, das gemacht werden sollte, .oder eine bestimmte Absicht des Spal
tens oder Zerbrochens andeutete. Wohl fanden sich alte Längs- und Querbruche,
zuweilen von einer mehr ebenen Oberfläche, jedoch keine, welche bestimmt als ge-
schnitten hätten bezeichnet werden können. Einzelne geradlinige Eindrücke auf dei
Oberfläche vermag ich ebensowenig als durch Menschenhand erzeugt nachzuweisen.
In dein obersten Theil dieser Schicht kamen einige Geweihstücke vor, die durchweg
oder nur in der Rinde eine fast ziegelrothe Farbe besassen und auf den ersten Blick
wie gebrannt aussahen, indess verdankten sie ihre Färbung ebenso, wie gewisse
s. hwärzliche Fragmente, wohl nur einer Infiltration mit metallischen Verbindungen.
So interessant dieser Fund in Beziehung auf das Vorkommen des Rennthiers ist,
so mager erscheint er in Beziehung auf die anthropologische Frage. Nichtsdestowe-
niger bin ich vollständig überzeugt, dass zu der Zeit, als die Rennthierknochen hier-
her gelangten, die Höhle von Menschen besucht war. Indem ich eigenhändig mit
aller Sorgfalt wiederholt die Schichten ganz frisch abstach und aus einander legte,
so stiess ich immer wieder auf Kohlenstellen, welche in zweifellos unversehrtem Erd-
reich unter und zwischen Stellen mit Rennthiergeweihen lagen. Auch fanden sich
darin viele schart zerschlagene und nicht abgerollte Knochenreste.
Was die Kohle betrifft, so waren die Bruchstücke etwas grösser, als in der ober-
sten Schicht, und ihr heerdweises Vorkommen sprach entschieden dafür, dass die Ver-
brennung des Holzes an Ort und Stelle vor sich gegangen ist. Hr. Alex. Braun
hat festgestellt, dass es Kohle von Laubholz ist. jedoch hat die grosse Brüchigkeit
derselben nicht gestattet, die Species genau zu erkennen. Hr. Braun vermuthet.
dass es Ulmenholz war. Ebensowenig vermag ich genau anzugeben, welchen Thieren
die zerschlagenen Knochen angehörten. Die Bruchstücke waren fast durchweg
klein. Ob der Höhlenbär, dessen Leberreste sich in tieferen Lagen zahlreich finden,
364
noch mit dem Rennthier zusammenlebte, ist erst weiter festzustellen; ich. fand in die-
ser Schicht nur ein sehr mächtiges Fragment von eiuem Extremitäten-Knochen, das
seiner Grösse nach wohl dem Bären angehört haben mag. Tiefer kommen Zähne,
Kiefer und andere Knochen des Bären iu grosser Zahl und Schönheit vor.
Unter der Rennthier- Schicht kam als dritte I-agc eine bis 3 Fuss dicke Lage
von Lehm mit sehr zahlreichen, scharfkantigen Steinen, meist Bruchstücken von Kalk-
stein, und ebenfalls scharfkantigen Kuochenfragmentcn. Dann erst folgt als vierte
eine deutliche Rollschicht, in welcher sowohl die Steine, als die Knochenstückc
derart abgerundet sind, dass man deutlich erkennt, wie sie im Wasser hin- und her-
gewälzt sind. Einige haben noch scharfe Kanten, aber keineswegs in der Weise, wie
sie die Steine und Knochen der oberen Schichten besitzen. Es kann also kein Zwei-
fel darüber sein, dass, als diese Schicht abgesetzt worden ist, von der äusseren Oeff-
liuiig, also vom Hönnethal her, Wasser in die Höhle gegangen ist, und die Knochen
hin- und hergeworfen worden sind. Es ist dabei zu erwähnen, dass auch hier noch
vereinzelte Geweihfragmente vom Rennthier vorkommen, dass daneben jedoch Kuo-
chenstücke von grösseren Thieren häufiger sind. Kohlen fehlen unter der Rennthier-
schicht, soviel ich sehen konnte, gänzlich.
Demnächst kommt eine etwa 2 Fuss starke Lehmschicht, dieselbe Schicht,
welche man in den meisten der westfälischen Höhleu findet. Dieser Lehm ist als
der sogenannte Knochenlehm bekannt und es ist wohl nicht zu bezweifeln, dass er
durch Anspülung von aussen hereingelangt ist. In der Balver Höhle ist er verhält-
nissmässig arm an Knochen und die darin enthaltenen Steine sind durchschnittlich
sehr viel grösser, als in den oberen Lagen, aber auch sehr viel weniger zahlreich.
Weder die Knochen, noch die Steine tragen Spuren der Rollung in solchem Grade,
wie die vorigen; wenn man das Ganze im Zusammenhang betrachtet, so erweist sich
ein solcher Gegensatz, dass es nicht zweifelhaft sein kann, dass diese Schicht in einer
mehr ruhigen Weise abgesetzt worden ist. Die Knochen, welche ich aus der Lehm-
schicht sammelte, trugen durchweg in höherem Grade den fossilen Charakter; es
waren kleine, aber sehr schwere Bruchstücke, meist von Extremitätenknochen. Ein
einziges Schädelfragment mit Stirnfortsatz schien einem juugen Rennthier anzugehö-
ren; auch fand ich eine Scheibe von einem Mammuthzahn. Einzelne Knochenstücke
waren abgerundet durch Rollung, die meisten scharfkantig. Spuren von Benaguug
waren selten.
Erst unter dieser Schicht folgt die 10 — 12 Fuss hohe Lage, in welcher das Mam-
mute häufig vorkommt, ja die vorwiegende Masse der Einschlüsse geliefert hat. Mäch-
tige Bruchstücke äusserst starker Knochen, die wahrscheinlich grösstentheils dem
Mammuth angehören, sind überaus häutig. Die meisten tragen die Zeichen des Hiu-
und Herrollens an sich, namentlich zeigen manche sehr auffällige Abruudung der
Kanten. Die Mehrzahl ist an der Oberfläche mit ausgezeichueteu Dendriten bedeckt.
Indess fehlen auch keineswegs kleine, ganz scharfkantige Bruchstücke von langen
Knochen; an keinem konnte ich Biss- oder Nagespuren bemerken. Nur einige der
grösseren Stücke zeigten feinere, geradlinige Eindrücke an der Oberfläche, und na-
mentlich an einem derselben traten nach sorgfältiger Waschung zahlreiche, äusserst
feine und scharfe, theils parallele, theils schräg gegen einander gestellte Linien her-
vor, gauz ähnlich denjenigen, welche durch scharfe Steinmesser hervorgebracht wer-
den. Da die Dendriten über diese Linien fortlaufen, so kann kein Zweifel darüber
bestehen, dass sie sehr alt sind. Auch fand ich iu der Mitte dieser Schicht, unter
einem grossen Stosszahn vom Mammuth, einen glatten, scharfkantigen Kieselschiefer,
dessen Kanten allerlei Ausbuchtungen, wie Schlagmarken, darboten. Ich erwähne
dies, ohne den Fund für entscheidend zu halten. Immerhin war derselbe auffallend,
365
da sonst an dieser Stelle nur Kalksteintrümmer und zwar solche von massiger Grösse
vorhanden waren; indess ist zu bedenken, dass Kieselschiefer in nicht grosser Ent-
fernung von der Höhle ansteht.
Unter der Manmiuth-Schicht kommen endlich noch zwei deutlich zu unterschei-
dende Schichteü, nämlich ganz zu unterst unmittelbar auf dem Vorspruug des Fel-
sens eine braune, ziemlich feste, feuchte, lehmige Schicht von [jt — */4 Fuss Dicke,
in welcher wenig Knochen vorhanden waren, und nächstdem eine mehr helle, gelb-
liche, sandig»', '/8 — 1 Fuss mächtige Schicht, die ebenfalls Knochen enthielt. Steint'
fehlten hier fast gänzlich, wenigstens grössere Stücke. Auch von Mammutliüberresteu
habe ich nichts bemerkt. Die von mir direkt aus diesen Schichten entnommenen
Knochen waren zum Theil kleinere, noch ganz erhaltene Knochen, wie es schien, von
der Hand- oder Fusswurzel, zum Theil Bruchstücke und zwar viele ganz scharfkan-
tige ohne Nagespuren.
Begreiflicherweise macht das, was ich mitgetheilt habe, keinen Anspruch auf
Vollständigkeit. Weitere Untersuchungen werden vielleicht wesentliche Erweiterun-
gen und Correkturen ergeben. Insbesondere bin ich nicht im Stande, mit Sicherheit
über das Fehlen oder Vorkommen der einzelnen Thierspecies in jeder Schicht zu be-
richten*). Indess geht aus dem Mitgetheilten hervor, dass ohne Schwierigkeit min-
destens 8, ihrer Bildung und Zusammensetzung nach verschiedene Schichten zu un-
terscheiden sind. Von diesen zeigen meiner Meinung nach nur zwei, nämlich die
beiden obersten, deutlich die Anwesenheit des Menschen: die oberste Schicht, deren
Einschlüsse vielleicht bis ins Mittelalter zu verfolgen sind, und die zweite, welche
wesentlich der Rennthier-Zeit angehört.
Dass in der Zeit, wo das Mammuth existirte, selbst in der 3. bis 5. Schicht,
wo vom Mammuth noch verhältnis'smässig wenig zu sehen ist, Menschen in der Höhle
gelebt haben, darüber kann ich kein Zeugniss ablegen. Ich habe in den tieferen
Schichten weder Kohle gefunden, noch etwas, das bestimmt den Eindruck des Zer-
schlageus durch Menschen gemacht hätte. Einige scharfkantige Bruchstücke von lau-
gen Thierknochen , ferner die erwähnten linearen „Einschnitte" des einen grossen
Knochenfragments und das scheinbar geschlagene Stück Kieselschiefer**) können auf
menschliche Einwirkung hindeuten, aber sie beweisen sie nicht. Alles Uebrige macht
den Eindruck des blossen Zerfalles, und ich muss gegenüber den Mittheilungen des
Hrn. v. Duck er namentlich hervorheben, dass scharfe Steine und Felsstücke so häu-
fig und in so grosser Zahl vorkommen, dass man schon aus diesem Umstände zu
grosser Vorsicht im Urtheil genöthigt wird. Wenn man diese scharfen Stücke ge-
nauer betrachtet, so erweisen sie sich durchweg als Stücke desselben Gesteins, aus
welchem die Wand der Höhle besteht; sie entsprechen in jeder Beziehung den Bruch-
stücken, welche man aussen an den Abhängen der Kalkfelsen sich ablösen und her-
unterstürzen sieht, und aus welchen die grossen Schutthaufen herstammen, welche
überall den Fuss der steilen Thalwände begleiten. Auch von der Decke und den
Wänden der Höhle lösen sich solche Stücke ab und fallen auf den Boden, aber kei-
nes von allen den scharfkantigen Stücken spricht dafür, dass ein Mensch es zerschla-
gen hat. Mau kann ähnliche Stücke im Hönnethal an jedem Abhänge finden, uud
*) Beiläufig erwähne ich, dass ich in der Sammlung des Hrn. Apotheker Krem er in Balvo
einen Rückenwirbel des Bären fand, welcher durch Arthritis deformans in ausgedehntem Maasse
verunstaltet war.
**) Dasselbe hat viel Aehnlichkeit mit einem Hrn. von der Mark gehörigen uud in einer
früheren Sitzung vorgelegten Stück, welches nur etwas grösser ist und hei welchem die künst-
liche Anfertigung noch wahrscheinlicher ist.
36fi
ich kann daher sagen, dass ;dle Schlüsse, welche man ans der Form dieses oder je-
nes Steins oder Knochen-Bruchstückes gezogeu hat, unzulässig sind, so lange nicht
ein bestimmter Zweck oder eine bestimmte Methode der Bearbeitung ersichtlich sind.
Jedenfalls muss ich in Betreff der Balver Höhle meine Ueberzeugung dahin ausspre-
chen, dass, wenn nicht noch ganz besondere Stellen entdeckt werden, die Existenz
des Menschen mit Sicherheit nur bis zur Reunthierzeit zurückgeführt werden kann.
Was nun die anderen von nur besuchten Hohlen angeht, so kann ich über die,
Mehrzahl derselben nichts Analoges berichten Wie schon erwähnt, sind diese an-
deren Höhlen so sehw er zu untersuchen, dass man ohne lange Arbeit nicht zum Ziele
kommen kann; namentlich erschweren die Tropfstein-Absätze die Nachgrabungen in
hohem Maasse. Ausserdem sind diese Höhlen meist niedriger und sie haben daher
eine viel geringere Ausfüllung. Auch ist von manchen der benachbarten Höhlen, wie
es scheint, ziemlich sicher anzunehmen, dass ihre Einschlüsse nicht einmal bis in die
Mammuth-Zeit reichen, und dass ihre Eingänge verschlossen oder sie selbst gänzlich
ausgefüllt waren in der Rennthier-Periode "). Dagegen finden sich sehr häutig Kno-
chen des Höhlenbären und der Höhlenhyäne, welche letztere in der Balver Höhle gänz-
lich zu fehlen scheint. Es ist dies um so mehr bemerkenswerth, als ganz in der
Nähe, etwa eine Viertelstunde oberhalb Balve am rechten Ufer des Hönnethales, in
der Nähe des Dorfes Frühlinghausen, eine bis jetzt noch wenig bekannte Höhle liegt,
aus welcher ich selbst zwei schöne Bruchstücke vom Unterkiefer der Hyäne mitge-
bracht habe. Diese Höhle ist vollständig ausgefüllt gewesen: gauz zufällig ergab sich
vor einigen Jahren beim Abgraben der Erdmassen, dass der Fels hier ausgehöhlt sei.
Auch unterscheidet sie sich dadurch von der Balver Höhle, deren Eingang 5 Lachter
über der dicht darunter fliesseuden Hönue liegt, dass sie nur wenig über der Thal-
sohle ansetzt. Ich erwähne dabei, dass sich in der Balver Sammlung aus der Früh-
iinghauser Höhle mächtige Geweihstücke befinden, die dem Megaceros anzugehören
scheinen.
Die einzige Höhle, wo ich durch eigene Untersuchung noch einen unzweifelhat-
ten Beweis für die. Existenz des Menschen in vorhistorischer Zeit gewinnen konnte,
ist die Klusensteiner oder genauer gesagt, die Feldhofs-Höhle'"""). Es wird dieser
Beweis geliefert durch ein rohes Werkzeug aus Bein, dessen Bestimmung etwas zwei-
felhaft ist. Dasselbe besteht ganz aus compakter Knochensubstauz, die überdies von
grosser Dichtigkeit und Schwere ist, und offenbar von einem starken Säugethier,
wahrscheinlich vom Bären stammt Eine Seite des Instruments zeigt noch die natür-
liche Oberfläche, die anderen sind künstlich durch Zerschlagen hergestellt, und nur in
einer schmalen Furche lässt sich der Ueberrest der alten Markhöhle erkennen. Das
Instrument ist .5'/« Zoll lang, '/,— '/,. Zoll dick, im Allgemeinen dreikantig, jedoch
uicht regelmässig; an beiden Enden läuft es in etwas breite, aufsteigende Flächen
aus, so dass es, von der Seite gesehen, die Gestalt eiues Kahnes hat Indess ist nur
das eine Ende weiter bearbeitet: man sieht hier von der inneren Seite her eine durch
Schneiden oder Schaben zugeschärfte und geglättete schräge Fläche von über '/» Zoll
Länge, welche fast schneidend ist. Ich lasse dahin gestellt, ob das Werkzeug wirk-
lich zum Schneiden bestimmt war oder ob es, wozu es sehr geeignet erscheint, zum
Glätten und Ausarbeiten von Thongeschirr gedient haben mag. Ich habe dasselbe
*) Am nächsten der Balver Höhle scheint die Feldhofe-Höhle in Beziehung auf Einschlüsse
zu stehen.
*♦) Bei Klusenstein, am linken Ufer der Hönue, unterhalb Balve, giebt es zwei Höhlen:
eine direkt unter dem Schlosse, die Klusensteiner im engeren Sinne des Wortes, und eine zweite,
etwas weiter oberhalb, die Feldhofs-Höhle. Beide werden leicht mit einander verwechselt.
3fi7
eigenhändig aus einer Lehmschicht ausgelöst, welche mit derjenigen fortlaufend zu-
sammenhing, über welcher ich den Eingangs erwähnten Kiefer des Höhlenbären ge-
wonnen habe, so dass man. wenn nicht ganz absonderliche Verhältnisse vorliegen
sollten, scbliessen muss, dass mindestens zur Zeit des Höhlenbären auch der Mensch
in der Höhle gewesen sei.
Allerdings giebt «'s auch in dieser Höhle stark abgerundete und offenbar gerollte
Knochenstücke, was um so weniger befremden kann, als die Höhle zwei Eingänge
und zwei sehr lange Ausläufer bat, von denen der eine breit in die Höhe steigt. Ich
fand jedoch das Werkzeug in der Nähe eines Felsvorspi unges, der den zweiten, kleineren
Eingang von der Haupthöhle abgrenzt, an einer Stelle, wo die sonst durchweg vor-
handene Tropfsteindecke fehlte, in den oberen Lagen der Lebnischicht unter einer
Schiebt von grossen und /.abdeichen Steinen. Nach dem Berichte des Hrn. Fuhl-
rott ) und nach den uns früher gemachten Mittheilungen des Hrn. v. Dücker sind
übrigens schon früher Steingeräthe in dieser Höhle aufgefunden worden.
Darauf beschränken sich meine anthropologischen Erfahrungen in den westfäli-
schen Höhlen. In den wundervollen Tropfsteinhöhlen von Sundwig und Letmathe
habe ich nichts gesehen, was auf die Anwesenheit des Menschen hindeutet. Aller-
dings sind gerade hier die Schwierigkeiten des Grabens besonders gross, und trotz
der ausserordentlichen und überraschenden Gefälligkeit, mit weicher die Herren von
der ßecke in Sundwig, Hr. Overweg in Letmathe und die Directum der Bergisch-
Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft mir ihre Hülfe zur Verfügung stellten, musste ich
darauf verziehten, da ohne eine sehr lange und ausgedehnte Nachforschung ein er-
hebliches Ergebniss nicht zu erwarten war. Indess auch so ist ein Schritt vorwärts
gethan. Wenn wir annehmen dürfen, dass der Mensch mit dem Reunthier ued dem
Höhlenbären in den Hohlen des Hönuethals gelebt hat, so ist eine gewisse Grund-
lage gewonnen auch für die Erforschung der übrigen Höhlen. Diese Erfahrung wird
dazu beitragen, die Aufmerksamkeit zu schärfen. Bei der tumultuarischen Ausräu-
mung mancher dieser Höhlen ist es in der That die höchste Zeit, dass auf derartige
Funde die grösste Sorgfalt verwendet wird; sonst könnte es dahin kommen, dass in
Kürze die Mehrzahl der Höhlen ausgeräumt ist, ohne dass man zu solchen Ermitte-
lungen gelangt ist, wie diejenigen, durch welche die französischen Höhlen zu so denk-
würdigen Fundstätten der Urgeschichte geworden sind.
*) Fuhlrott, die Höhleu und (-Trotten u. s. w., S. 39
Druck \ou Gebr. Unger (Th.Oriuiui) iu Berlin Kriedriihsstr. 24.
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Ethnographische Wahrnehmungen und Erfahrungen
an den Küsten des ßerings-Meeres
von A. Er man.
(Hierzu eine Karte.)
(Fortsetzung.)
Die Religion und Sagen der Koljuschen.
Von den mir zugekommenen Angaben über das Verhältniss der kolju-
schischen Hierarchen zu dem übrigen Volke und die Mittel,, die sie noch
ausser ihren mimischen Künsten zur Erhaltung ihres Einflusses gebrauchten,-
ist etwa Folgendes hinlänglich sicher begründet. Die Würde der Ichet oder
Schamanen — von denen es bei den Koljuschen nicht mehr als jederzeit
Einen an jedem ihrer Wohnplätze gegeben hat — war doch nur in soweit
erblich, als sie an den Besitz eines kostbaren. Apparates gebunden blieb.
Sie ging somit, bei dem Tode eines jeden von ihnen, an Denjenigen über,
dem er seine Masken, Thierfelle, Pauken, die mit magischen Riemen, mit
Thierbälgen und anderem buntem Behänge verzierten Mäntel u. s. w. hinter-
lassen hatte. Die koljuschischen Weisen sollen aber ihre Söhne oder son-
stigen näheren Verwandten nur dann zu Nachfolgern gewählt haben, wenn
sich diese, als zweites Erforderniss ihres Berufes, zu dem Umgange mit den
Jeks oder Geistern, also zu dem, was man in Europa ihre Inspiration oder
Besessenheit genannt hätte, geneigt und geeignet erwiesen. So erzählten die
Ätchaer, dass von zweien Söhnen eines berühmten Ichet in Jakutat (etwa
55 deutsche Meilen NW von Neu-Archangelsk) der eine sich vergebens um
solche Inspiration und die von ihm gewünschte schamanische Würde bemüht
habe, während der andere gegen seinen Willen von den Geistern besessen
und für auserwählt erklärt worden sei. Dieser soll sogar vergebens versucht
haben, sich den ihn heiligenden und plagenden Jeks durch die ärgste Ver-
unreinigung und die schwerste Sünde, d. i. „durch den Einbruch zu men-
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 1870. 2ö
370
struirenden Frauen", zu entziehen. — Sobald ein lebet die Ueberzeugung
von seinem Verkehr mit deu unsichtbaren Wesen verbreitet und vielleicht
auch selbst gewonnen hatte, beglaubigte er dieselbe durch Wunder, von
theils herkömmlicher, theils je nach Umständen merkwürdigst variirter Be-
schaffenheit. Zu den ersteren gehört seine Entfernung aus der menschlichen
Gesellschaft in den Urwald. Er vollzieht nämlich diese ohne Jagdwaffen und
lebt demnach auch mehrere Wochen lang nur allein von der Rinde eines
gewissen Dorn- oder Rosenstrauches (des Nesamainik der »Sitchaer Russen)
in Erwartung einer ihm von den befreundeten Jeks zuzusendenden Fluss-
otter. Diese begegnet ihm endlich und wird durch einen gewissen magischen
Zuruf nicht bloss zum Stillstehen gebracht, sondern auch zum Umfallen und
Verenden unter Vorstreckung ihrer Zunge, die für ein gewaltiges Zauber-
mittel gilt. Als Zeichen seiner Würde nimmt und bewahrt der nun Geweihte
aber nur den Balg der Otter, während deren Zunge in einem Korbe mit
allerlei Zierrath an einer möglichst unzugänglichen Stelle des Waldes vergra-
ben wird, wo sie Jeden, der sie dennoch findet und aufnimmt, mit Wahnsinn
bedroht. — Ein sehr gefürchtetes, begreiflicher Weise aber öfter angedrohtes
als ausgeübtes Wunder der Ichet sollte ferner in dem sogenannten „Anwer-
fen eines Jek" bestehen, d. h. in einer lang dauernden Erstarrung oder
Ohnmacht, die sie über ungläubige Zuschauer ihrer prophetischen Ekstase
verbreiten, und etwa eben dahin gehört die Tradition, dass auch ein Jek,
also ein übermenschliches Wesen, mit Erstarrung bestraft werde, wenn er
es mit dem Glauben an die eigentliche Gottheit (den Jel der Koljuschen)
nicht streng genug nähme. Zum Beweise dieses Satzes zeigte ein mächtiger
Schamane der Tschilkater Niederlassung, *) wie die Maske, durch die er sich
zur Personification eines bestimmten Geistes Namens Takpek zu machen
pflegte, nachträglich und plötzlich versteinert sei. Er versicherte, sie üb-
licher Weise ganz aus weichem Elsenholz verfertigt zu haben, und dennoch
sah man ihre linke Hälfte „nach Härte und Bruch zu Stein geworden", seit-
dem sich Takpek unterfangen hatte, bis zu dem unnahbaren Göttersitz an
den Quellen des Flusses Naas (oben S. 304) vorzudringen.**) — Unter den
Beweisen von wunderbarer Unverletzlichkeit der Ichet führte man an , dass
einmal derselbe, den wir in der >Sitchaer Niederlassung wirksam fanden, an
vier ihm verwandte Männer befohlen hatte, ihn in die Mitte einer tiefen und
felsig begrenzten Meeresbucht hinauszurudern und ihn daselbst, ihrem Er-
barmen zum Trotz, mit gehörigem Ballast in eine Matte geschnürt, über Bord
zu werfen. Ein langer Riemen, der an seine Banden befestigt und dessen
*) Auf dem Continent zunächst nördlich von »Site ha.
**) Es wird \on »S'itcha aus nicht schwer und nicht ganz ohne Interesse sein zu unter-
suchen, ob zu diesem frommen Wunderwerke, welches sich bei demselben Schamanen und bei
passenden Gelegenheiten auch an einigen andern Theilcn seines Apparates vollzogen hatte, eine
kalkabsetzende (Quelle mitgeholfen hat oder die in gewissen Braunkoblentlotzen nicht seltenen
Staramstücke, die halb petrihzirt, halb holzig geblieben sind.
371
anderes Ende mit einer Thierblase als Boje versehen war, zeigte zuerst, dass
der Ausgeworfene so schnell wie ein Stein versank und dann, als jene Bucht
an drei auf einander folgenden Tagen besucht wurde, dass er fest auf dem
Meeresgrunde liege. Erst am vierten Tage war die 15oje verschwunden, der
vermeintliche Tndte aber wieder erwacht. Heine trauernden Freunde hörten
ihn nämlich in der Ferne singen und sahen darauf vom Meere aus, dass er
mit blutbedecktem Gesichte, den Kopf nach unten gekehrt, aber lebend, an
einem unzugänglichen Felsenabhange der Küste lag oder schwebte. Dass
sich eine Schaar von Waldvögeln um ihn versammelt und seinen Gesang
mit dem ihrigen begleitet hatten, konnte man seiner gewöhnlichen Macht
über die Thierwelt zuschreiben, während seine Unversehrtheit von denjeni-
gen, die sich mit äusseister Mühe einen Weg zu ihm bahnten und ihn nach
Sitcha zurückbrachten, als neues Zeichen seiner Heiligkeit gepriesen wurde.
Ein anderes Mittel, durch welches die koljuschischen Ichet zu ihrem
Ansehen gelangt zu sein schienen und es aufrecht erhielten, war eine äus-
serst reiche Legende. Sie haben diese als ergötzende Sagen (russisch:
•vkaski) wohl meistens selbst ihren Landsleuten vorgetragen, jedenfalls aber
theils selbst erfunden, theils als Erbtheil ihrer Vorgänger in gebührender
Reinheit erhalten und vor Vergessenheit geschützt. — Es war in vielen Ge-
genden von Nord-Asien, besonders aber auf Kamtschatka ganz gewöhnlich,
dass Missionare die heidnischen Sitten und Thaten für viel besser als alles,
was sie »von Christen gesehen hatten, erklärten, und sich deshalb vor Euro-
päisirung und Bekehrung der Eingebornen scheuten.*) Dasselbe sagt Pater
Wenjaminow über die Aleuten in dem Capitel seines Werkes, welches in
30 Paragraphen eben so viele Vortreffliche Charakterzüge dieses Volkes auf-
zählt, die durch Bekehrung und beginnende Civilisirung gefährdet oder auch
schon entstellt worden seien.**) Weit seltener mag es sich aber ereignet
haben, dass — so wie eben dieser russische Schriftsteller bei den Koljuschen
— ein christlicher Apostel die theologisch-kosmogonische Lehre der heidni-
schen Eingebornen Punkt für Punkt mit der, die er zu verbreiten wünschte,
identisch fand. Herr Wenjaminow macht in dieser Beziehung zuerst auf die
Gleichheit der Namen El aufmerksam, den Koljuschen und Hebräer ihrer
llauptgottheit beilegten,***) bemerkt aber dann als weit bedeutsamer, dass
nach kolj uschischer Tradition der amerikanische El so wie Christus von
einer Jungfrau ohne Zuthun eines Mannes, also durch eine immaculata
coneeptio virginis, geboren, von den Seinigen verfolgt und getödtet,
durch ihm wunderbar inwohneude Kraft wieder aufersteht und andere Todte
erweckt; dass er darauf seinen im Finstern weilenden Landsleuten das
Licht bringt und endlich selbst, nach Art der Transfiguration und As-
*) Vergl. u. a. meine Reise u. s. w., histor. Ber., Bd. III, S. 305, 263. 471.
**) Sapiski ob ostrowacii Aleutskago otdjela, Tsch. 2, Str. 11) — 6ö.
***) Er giebt jedoch zu, dass Andere diesen Namen wie Je 1 j verstanden und geschrieben
hätten.
26*
372
eension, gegen Osten entweicht, woher uns das Sonnenlicht kommt, um
daselbst ewig zu leben, den Gläubigen aber (unter Vermittlung der Jek und
der Ichet, d. i. der Kirche) allmächtig beizustehen. — Seine Ansicht zusam-
menfassend, sagt Herr Wenjaminow weiter: „Dieses Alles beweist deutlich,
dass die Geschichte -von El, welche nicht allein den Koljuschen, sondern
auch anderen amerikanischen Völkern bekannt ist, nichts anderes enthält als
neutestamentliche Begebenheiten (nowo bibleiskija sobytia), die durch Fictio-
nen etwas verdorben sind. Wie und woher sie zu den Koljuschen kamen,
ist noch unentschieden." *) Ich erwähne diese Aussprüche als Beweis für die
unschätzbare Unbefangenheit des Berichtenden, lasse aber nun zu selbststän-
diger Würdigung derselben (zunächst in buchstäblicher Uebersetzung) das
Wesentliche von dem folgen, was die Schamanen in verschiedenen koljuschi-
schen Niederlassungen durch ihren dolmetschenden Landsmann diktirt haben.**)
„Es gab eine Zeit, wo kein Licht war auf der Erde, so dass Alle im
Finstern gingen und arbeiteten. In dieser Zeit lebte ein Mann und bei ihm
seine Frau und seine Schwester. Die Frau liebte er so sehr, dass er sie
durchaus Nichts arbeiten liess und dass sie daher den ganzen Tag mit Still-
sitzen hinbrachte, sei es im Hause, sei es vor den Häusern auf der Klippe.***)
An ihrem Leibe trug aber diese Frau acht von den kleinen rothen Vögeln
Kun.f) zu vier auf jeder Seite. Nach Anderen waren es im Ganzen nur
vier Kun, von denen zwei an den Brüsten neben den Armen und die bei-
den andern weiter unterhalb sassen. Sie verliessen aber ihre Plätze augen-
blicklich und flogen davon, sobald die Frau, sei es auch auf das Sittsamste,
mit einem anderen Manne als ihrem eignen zu thun bekam. Ihr eigner Mann
war nun so eifersüchtig, dass er sie, wenn er von Hause ging, in einen Ka-
sten einschloss. Er ging aber täglich zur Arbeit in den Wald, wo er ein-
stämmige Boote (Baty) machte und war Meister in dieser Kunst. -J-J-) Seine
Schwester hiess Kitchuginsi, d. i. die Nordkaper-Tochter. f ff) Sie hatte,
man wusste nicht von wem, einige Söhne und diese wurden von ihrem arg-
wöhnischen Mutterbruder einer nach dem andern getödtet. Nach Einigen soll
er einen solchen Neffen, sobald derselbe heranwuchs und etwa anfangen
konnte, nach seiner Tante zu blicken, mit sich zur See genommen und dann
weit von der Küste das Boot, worauf er sass, mit dem Kiel nach oben ge-
♦) Sapiski etc., Tsch. 3, Str. 31.
••) Ibid. Tsch. 3, Str. 38.
***) Vergl. oben S. 314.
t) Das ist von den glänzend rothen Colibris (Trochilus rufus L.), die noch jetzt in den
Sitchaer Wäldern ihren Sommeraufenthalt nehmen.
tt) Die Anfertigung der von den Sitchaer Russen mit dem kamtschatisch-russischen Worte
bäty bezeichneten Fahrzeuge erfolgt hier genau so wie ich sie auf Kamtschatka gesehen und
beschrieben habe (vergl. meine Reise u. s. w., histor. Ber., Bd. III, S. 167); nur wird die in
Asien dazu angewendete Pappel auf Sitcha durch die sogenannte tschäga, d. i. die califor-
nische Riesenfichte, ersetzt.
tft) Im Russischen: dotsch kosätki, d i. aber die Tochter von balaeno-glaciolis oder dem
Nordkaper.
373
kehrt haben. Die 6'itchaer Koljuschen erzählen dagegen, dass der eifersüch-
tige Onkel seine Neffen in die trogartig ausgehauenen Stämme, die er zu
Baty ausweiten wollte, gesteckt und darin verspundet habe. Auf die eine
oder die andere Weise waren mehrere dieser Jünglinge getödtet, und die
Mutter klagte hülflos über den Verlust ihrer Kinder. So sass sie weinend
auf der Klippe,*) als ganz nahe am Strande eine Schule von Nordkapern
(kosätki) vorbeizog, von denen der eine stehen blieb und ein Gespräch mit
der trostlosen Mutter anfing. Nachdem er die Ursache ihrer Trauer gehört
hatte, befahl er ihr ins Wasser zu steigen, einen kleinen Stein vom Grunde
zu nehmen, ihn zu verschlucken und Wasser nachzutrinken. Einige Kolju-
schen (namentlich die Kukchan**) erzählen, dass der Nordkaper selbst ihr
den Stein gegeben und andere, wie der Schaman Akutazyn, dass sie ihn
gefunden habe. Genug, Kitschuginsi verschluckte einen Stein und trank
danach von den Wellen, die der Abzug der Wallfische hinterliess. In Folge
davon wurde sie schwanger und gebar schon nach acht Monaten einen Sohn,
den sie für einen gewöhnlichen Menschen hielt, der aber der El war. Wäh-
rend der Schwangerschaft hatte sie sich vor ihrem Bruder an einem abgele-
genen Orte verborgen gehalten."
„Schon in seiner frühesten Jugend machte seine Mutter diesem El einen
Bogen und Pfeile und sobald sie ihm deren Anwendung gezeigt hatte, wurde
er ein so geschickter Flug -Schütze, dass er keinen vorbeifliegenden Vogel
verfehlte. Nur allein von den Kun oder Colibris erlegte er so viele, dass
die Mutter sich aus deren Bälgen ein ganzes Oberkleid nähete***) und um
seiner Jagdlust zu genügen, baute er sich dann auch eine kleine Schiess-
hütte. Als er in dieser einmal während der Morgendämmerung versteckt
war, setzte sich dicht vor die Thür ein grosser Vogel, der wie eine Elster
gestaltet, einen langen Schwanz hatte und einen sehr langen, dünnen, glän-
zenden Schnabel, der fest war wie Eisen. f) Es war der Kuzgatüli, d. h.
der Himmelsvogel. El schoss ihn, nahm ihm den Balg ab und zog ihn sich
über — worauf er sofort Lust und Fähigkeit fühlte zu fliegen und dann auch
grade aufstieg bis an eine Wolke, in die sich der Schnabel so fest einbohrte,
*) Aus dem Koljuschischen buchstäblich ins Griechische übertragen, wird dies das Ho-
merische tnnxTTJs xlait xctStjuevos wie Od. E, v. 22; vergl. auch oben S. 314.
**) Vielleicht contrahirt für Kuchonton, welches das zahlreichste Geschlecht des Wolfs-
stammes bezeichnet, ein Geschlecht, das selbst wieder in die Sippschaften Kutschi-tan, Aniki-
gaisch-tan, Kukisch-tan u. A. zerfällt.
***) So wie jetzt namentlich bei den Aleuten nur von Colymbus arcticus und anderen ge-
meinen und grossen Vögeln. Da der Colibri offenbar das koljuschische Symbol der Liebenswür-
digkeit ist, so besass die Gottesmutter nun diese in weit höherem Masse wie ihre berühmte
Schwägerin.
t) Dass das Eisen bei den Koljuschen jetzt den ganz selbstständig scheinenden Namen
kies führt, ist anderweitig bekannt und unten näher zu erwähnen. Eine vorhistorische Ent-
stehung ist aber für diese El-Sage oder doch für ihre vorliegende Version nicht sicher genug
bewiesen, um Bie auf Grund der obigen Worte auch von der Bekanntschaft der Koljuschen mit
dem Eisen behaupten zu dürfen.
374
dass er ihn kaum zurückziehen konnte. Er liess sich aber herunter, ging in
sein Haus, zog den Balg aus und verbarg ihn sorgfältig. Ein anderes Mal
schoss er eine grosse Ente und bekleidete mit ihrem Balg seine Mutter, die
dann sofort auf dem Meere schwimmen konute."*)
„Als El herangewachsen war und von seiner Mutter die Unthaten ihres
Bruders gehurt hatte, ging er, wahrend sich dieser im Walde auf Zimmer-
arbeit befand, in sein Haus, öffnete den Kasten, in den die Frau gesteckt
war und liess ihre Colibri davon fliegen. Den gekränkten Ehemann erwartet
er ruhig, wird von diesem zu einer Seefahrt aufgefordert und über Bord ge-
worfen, geht aber ungesehen auf dem Meeresgrunde landwärts, wo er nach
vier Tagen wohlbehalten wieder auftritt und seinen Mutterbruder zu dem
Rufe: „dann komme das Diluvium" (russisch potöp, d. i. die Mosaische-
oder Sünd-Fluth) veranlasst. El entgeht auch dieser nachdrücklicheren Verfol-
gung seines menschlichen Verwandten, indem er mit Hülfe des Himmels-
vogel-Balges an die Wolken fliegt, sich daran aufhängt und das Fallen der
Gewässer, „die alle Berge überfluthen und ihm sogar den Schwanz
benetzen", abwartet. Nach seiner Rückkehr zur Erde soll er, nach einer
Version, ins Meer auf einen Haufen Seekohl**) gefallen und durch eine
Seeotter ans Land gezogen worden sein — nach einer andern (bei den Sta-
diner Koljuschen) aber auf die Tschirikow- oder Charlotten-Insel, von
wo er in seinem Schnabel einige fruchtbare Zweige der Tschaga oder Rie-
sentanne brachte, die jetzt auf verschiedenen Inseln des Küsten-Archipels
sporadisch vorkommt und, wTie die grosse Pappel auf Kamtschatka, das un-
schätzbare Material zu den einstämmigen Booten liefert.
Die etwas phantastische oder transcendent-philosophische Weise, in der
die Fortsetzung dieser Geschichte des Gottes das Verfahren schildert, durch
das er Sterne, Mond und Sonne, die latent geblieben waren, sensibel
gemacht hat, kann man theils mit der Mosaischen Fabel, theils und vollstän-
diger mit der griechischen Prometheus-Sage vergleichen — denn wie in der
ersten lassen auch die koljuschischen Weisen jene Lichter erst nach und für
die Erde entstehen und wie in der anderen geschieht dies sogar zum Ge-
brauch für die längst vorhandenen menschlichen Bewohner der Erde durch
List und Kühnheit eines Heroen. Eigenthümlich ist nur, dass El nicht selbst
die drei Kasten stehlen konnte, in denen ein fern wohnender Mann die dreierlei
Lichter versteckt hielt. Der Gott El zeugt vielmehr der aufs Strengste be-
wachten Tochter dieses abgünstigen Reichen einen Sohn, indem er sich, iu
einen Grashalm verwandelt,***) ihrer Speise beimischt, und es ist der ver-
*) Die Verwandlungen der Ichct durch Masken und Tliierfelle sollen demnach ebenfalls
für reell und der Gottheit, die sie genau ebenso vollführte, abgelernt gehalten werden.
**) Fucus esculentus oder eine verwandte Species. Vergl. meine Reise u. s. w., histor.
Ben, Bd. III, S. 47, 82.
*••) Auch bei dieser Gelegenheit werden von der Sage Efs Verwandlungen in die ver-
375
zogenc Enkel des Lichtbesitzerfl oder richtiger der zum zweiten Mal jung-
fräulich geborne El, der mich einander ein jedes der drei kostbaren Be-
bälter zum Spielzeug erhall und sie zum Besten des aoch unerleuchteten
Menschengeschlechts öflhei.
Seine Todtenerweckung vollzieht El bei einer von seinen auf die grosse
Fluth folgenden Wanderungen gegen Osten durch den gesunden Ge-
schlechtstrieb, indem er gewisse Jünglinge, die er ertrunken oder sonst
verstorben auffindet, mit Haaren eines Mädchens unter der Nase berührt.")
Dass der Gott sich jetzt gegen Osten auf die Quellberge des Naas zurück-
gezogen habe und den Menschen und Geistern schwer zugänglich geworden
sei, wurde oben erwähnt (S. 304 Anm.).
An diesen El- oder Gottes-Sagen waren die Koljuschen so reich,
dass es, wie einer ihrer Ichet sich ausdrückte, niemals einen Menschen, dem
sie alle bekannt waren, gegeben hat. Bemerk enswerth ist zunächst, dass
viele der übernatürlichen Leistungen, welche die hiesige Tradition der Gott-
heit zuschreibt, von den Priestern genau nachgeahmt werden, wie z. B. das
Versenken und viertägige Verschwinden auf dem Meeresgrund (oben S. 370
und 371) und die Verwandlungen, durch die sich El seinen Verfolgern, die
lebet aber der Wissbegierde ihrer Gemeinde entziehen. Von den heiligen
Comödien des christlichen Mittelalters unterscheiden sich demnach die scha-
inanisch-ainerikanischen wohl nur dadurch, dass sie etwas vollständigeren
Glauben an die Wirklichkeit des Dargestellten und dadurch an die göttliche
Mission der Priesterschaft beanspruchen. Die Aeusserung der koljuschischen
Laien, dass auch sie sich bemühten, gerade so zu leben, wie man von El
erzählte, bezieht sich dagegen besonders auf eine Klasse ihrer Götter-Sagen,
die in ihrer didaktischen Natur mit ähnlichen, die ich auf Kamtschatka ge-
hört habe, übereinkommen. Auf die Frage nach der Bedeutung von Kutcha,
d. i. von dem alten landesüblichen Namen der Gottheit, wurde mir dort das
eine Mal eine bemerkenswerthe Vorsicht , deren es beim Bärenstechen be-
darf, und ein anderes Mal eine kluge Art von Treibjagd auf Ovis Argali
mitgetheilt, mithin zwei Jagdregeln, die man durch eine dichterische Ein-
kleidung nur eindringlicher und unvergänglicher gemacht hatte.**)
Von den heiligen Traditionen der Koljuschen gehört aber zu dieser Klasse
z. B. die Erzählung, wie El den kleinen Fisch, den sie^Sak***) nennen und
sehiedensten Thiere und Pflanzen als besonders göttlich hervorgehoben und dabei seine Vorliebe
für die Gestalt eines Raben, der auf koljuschisch el heisst, und den die eine Hälfte der Ko-
ljuschen (der sogenannte Rabenstainm) als Gesehleehts-l'enaten anerkennt und abbildet.
*) Vgl. dieselbe metaphorische Wendung in einer nnten zu erwähnenden aleutischen Sage.
**) Vgl. meine Reise u. s. w., histor. Ber., Bd. III, S. 281 und 457.
***) Nach Wenjaminow soll dieser «Sak geradezu die russische Koljüschka, d. i. Salmo
Ei>erlanus oder der europäische Stint sein, und man kann ihn daher jedenfalls für eine mit
diesem nahe verwandte kleine Lachsart halten — nicht aber für den Stichling ( Gaster acanthus
cataphraclus Pallas), der unter dem Namen Chächeltsche auf Kamtschatka in einer der
oben geschilderten sehr nahe kommenden Weise gefunden wird. Vergl. Erman a. a. 0. S. 345.
376
aus dem sie das Fett, welches eines ihrer wesentlichsten Nahrungsmittel aus-
macht gewinnen, „den Menschen dadurch geschenkt", d. h. ihn fang-
bar gemacht habe, „dass er Feindschaft zwischen den Möwen und
dem Reiher stiftete". Von gewissen dem Meere nahen und mit ihm
communicirenden Süsswasserstellen werden nämlich nun die langschnäbligen
und daher tief fischenden Reiher durch die Möwen verjagt, so dass die
Schwärme jener stintähnlichen Fische ungestört aufsteigen und dem Menschen
zu Theil werden können. Die Fabel lehrt aber nützlicherweise, dass man
den £ak nur da zu suchen habe, wo sich keine Reiher halten und
zu den Ausschmückungen gehört dann nur, dass El, als Dank für sein di-
plomatisches, d. h. kriegstiftendes Verfahren in der Thierwelt von
einem Greise, welcher den (jetzt wohl stintreichen) District des Koljuschen-
landes, den man -Sik nennt, bewohnte, eine ganze Batladung von jenen da-
mals neuen Fischen und das Bat dazu zum Geschenk erhalten habe. —
In einigen dieser Sagen, von geographischer oder lokal -kosmogonischer
Bedeutung, ist von Kämpfen des El mit Wesen die Rede, die ihm an Macht
und Unvergänglichkeit nicht nachzustehen scheinen, z. B. mit einem gewissen
Kanuk, dem El das diesem zugehörige Quellwasser auf einer sehr kleinen
Felsinsel in der Nähe von Sitcha abzugewinnen hatte, der bei dieser Gelegen-
heit den Gott in Verwandlungen überbietet und sogar, als El seine ursprüng-
liche weisse Rabengestalt angenommen hatte, ihn in seiner Wohnung ein-
gesperrt, über dem Heerdfeuer geräuchert und dadurch für immer geschwärzt
hat. Eine wesentlich monotheistische Beschaffenheit könnte man indessen der
kolj uschischen Religion wohl trotz dieser kleinen Anomalien zuschreiben.*) —
Etwas schwieriger für das europäische Verständniss scheint dagegen die Lehre
von den Jek oder Geistern, welche die kolj uschischen Schamanen ebenso
wie die vielen nordasiatischen Stämme als Dispensatoren des göttlichen Wil-
lens darstellen. Sie selbst nennen sich, wie schon erwähnt, nur Werkzeuge
dieser Wesen und Vermittler zwischen ihnen und den Menschen. Die Jeks
haben — was der christliche Missionar bewundert — durchaus nichts von
teufelischer Beschaffenheit an sich. Es bedarf dagegen gewisser tugend-
haften Observanzen um sie geneigt zu machen. So ist jede Art von Rein-
lichkeit eine stete Pflicht für den Ichet der beständig mit ihnen umgeht und
für das Volk eine besondere, während es seiner Begeisterung beiwohnt. Die
bisweilen vorkommende Erwähnung von Jeks unter neuen Namen und die
Behauptungen der Ichet, dass sie sich vergeblich bemühen oder dass es ihnen
endlich gelungen ist, mit einzelnen dieser Geister, die schon ihren Vätern
oder Vorgängern beistanden, in Berührung zu kommen, machen es wahrschein-
*) Kanuk wird ausserdem von den Koljuschen für den Stammvater ihres Wolfs Stam-
mes ausgegeben, obgleich sein Name mit dem Worte Khutsch, welches-auf Koljuschisch einen
Wolf bedeutet, nichts gemein hat. Für die zweite Hälfte des Volkes oder den Rabenstamm
führen dagegen, wie schon bemerkt, der Gott, der Stammvater und das benennende Thier den
Namen El gemeinsam.
377
lieh, dass diese ganze Lehre mit ihren Vorstellungen von einer Fortdauer
nach dem Tode zusammenhängt. Ein unsichtbares Vorhandensein ihrer Ver-
storbenen wird aber von den Koljuschen jedenfalls und für so unzweifelhaft
angenommen, dass die Neugebornen , welche Mattermale oder andere Abnor-
mitäten mit einem ihrer Voreltern gemein haben, ohne Weiteres für umgestal-
tet Wiedergekommene erklären, und durch den Namen, den sie ihnen geben,
an den, den sie dann früher geführt hätten, erinnern. Auch geht eben dahin
der von sogenannten Kaigen oder Proletariern oft geäusserte Wunsch zu
sterben, um in Gestalt eines neugebornen Reichen wieder zu kommen.
Unter den Aehnlichkeiten zwischen Einzelnem aus diesem coniplizirten
Sagen- oder Religions-System. der Koljuschen und aus anderen schamanischen
Lehren in Nordasien und in Nordamerika, von denen wir dürftigere Nachrich-
ten besitzen,*) scheint doch die des ersteren mit dem Gottesdienst der Ost-
jaken am unteren Obj sehr ausgezeichnet und kaum für zufällig zu erklären.
Die Ostjaken in Obdorik bewaffneten sich zu einer Art Tanz bei ihren scha-
manischen Festen mit Säbeln und Lanzen, die sie sich nur zu diesem Zwecke
verschafft hatten und aufbewahrten und an welche nun die in gleicher Weise
gebrauchten Dolche der Koljuschen ebenso bestimmt erinnerten, wie das Ver-
fahren mit den wahrsagenden Priestern am Obj an das entsprechende auf
6'itcha. **) Man konnte aber dann ferner kaum anders als durch gemeinsamen
Ursprung erklären, dass die Ostjaken den Gott, dem sie in dieser Weise
dienen, Jelan, die Koljuschen aber den ihrigen El und nach Anderen sogar
Jel nennen (oben S. 371). Ich habe schon vor langer Zeit darauf aufmerk-
sam gemacht, dass die Sprache der Ostjaken und von ihren Gebräuchen ge-
rade diese Waffentänze mit der Sprache und alten Sitte der Ungarn aufs
nächste übereinstimmten und diese Thatsache ist seitdem durch Reguly, Cas-
tren und andere madjarische Forscher zum unzweifelhaftesten Beweis eines
gemeinsamen Ursprunges dieser beiden Völker erhoben worden. Die jetzt
wahrscheinlich gewordene U eberein Stimmung wichtiger Sitten bei den Kolju-
schen und Ostjaken wäre demnach gleichbedeutend mit einer solchen, die
(nicht, wie so oft, durch die Gleichheit menschlicher Instincte, sondern durch
*) So mit der Lehre und Wirksamkeit der Tadybi oder Schamanen bei den Samojeden
nach Erman, Reise u. s. w., histor Ber., Bd. I, S. 661 und Arch. für wissenschaftl. Kunde von
Russland, Bd. IV, S. 597 ff., und der Schamanen bei den Tschuktschen, selbst nach den sehr
befangenen Schilderungen im Arch. f. wissensch. Kunde von Russl , Bd III, S. 459 und F. von
Wrangel, Reise längs der Nordküste von Sibirien u. s. w , Berlin 1839, Thl I, S. 286 ff. Ueber
die verwandten Erscheinungen in Amerika ist u. A. das zu vergleichen, was Catlin von den reli-
giösen Sagen der Mandan erfahren hat, die mit den Sitchaern durch bestimmte Beziehung
auf eine grosse Fluth übereinstimmen, in Letters and Notes, Vol. I, pag. 163 ff. Dies geschieht
noch specieller, da die Koljuschen neben der Fluth nach der obigen El-Sage auch von dersel-
ben oder einer späteren, ihr gleichen Fluth aussagen, dass sie gewisse Menschen betroffen habe.
Diese sollen sich auf einem grossen Fahrzeuge gerettet haben, durch dessen Spaltung beim
endlichen Stranden aber in Tlinkit, d. i. Koljuschen und in Andersredende geschie-
den worden sein.
••) Erman, Reise a. a. 0. S. 673 ff.
378
nachweisbare uralte Tradition) zwischen dermaligen Oesterreichern und nord-
westamerikanischen Eingebornen entstanden ist. Erklärt würde hierdurch zu-
gleich, wie die madjarische Sprache, nach den Untersuchungen von Gyarma-
thi, einem nordamerikanischen Dialecte (dein des einst sogenannten Algon-
kinen-Stammes in Ganada) in einer noch entscheidenderen Weise verwandt
sein könne, wie vielen mit ihr verglichenen asiatischen.*)
Es stehen hier schliesslich einige Ergänzungen über Sitten und Eigen-
Ihümlichkeiten der Kolj tischen, deren Vorhandensein meine Erfahrungen auf
Sitcha zwar aligedeutet, alter theils ganz unklar, theils genauerer Untersuchung
bedürftig gelassen hatten.
Freiheit und Sklaverei bei den Koljuschen.
Die bei den Sitchaer Russen übliche Bezeichnung eines angeblich be-
vorrechteten Standes unter den Koljuschen durch das jakutische Wort
Tojon beruhte theils auf Täuschung durch die Begriffe, welche Europäer
noch überall mit sich zu bringen pflegten, theils auf falscher Auslegung einer
vorhandenen, aber ganz anders gemeinten Unterscheidung. Auf Sitcha und
in den übrigen koljuschischen Gemeinden gaben ursprünglich ebenso wie auf
Kamtschatka nur das Alter und die Anstelligkeit gewissen Männern einen
Vorrang, der in nichts weiterem bestand, als dass man ihrem Käthe folgte,
sowie auch bei Kriegszügen, gemeinsamen Jagdunternehmungen und dergl.
ihrer Führung.'") Die vollständigste Freiheit jedes Eingebornen wurde aber
hierdurch nicht beeinträchtigt, weil es kaum verbotene Handlungen, in kei-
nem Falle aber auf dergleichen gesetzte Strafen oder gar mit deren Ausfüh-
rung vorzugsweise Berechtigte gab'**) und weil endlich von Niemand Abga-
ben gezahlt oder empfangen wurden. Auf Kamtschatka, wo Steller und Kra-
scheninikow diesen primitiven Zustand noch wie einen kaum vergangenen
geschildert haben, f) hatte man ihn doch bereits, durch Belegung jener Ver-
trauensmänner in den Ortschaften mit dem .sibirisch-russischen Ehrentitel To-
jon, in den noch jetzt bestehenden Zustand umgewandelt, d. h. durch Ver-
anlassung dieser Männer zur Einsammlung des jährlichen Tributes, zu dem
sich ihre gutmüthigen Landsleute verstanden hatten.ff)
*) Erman, Reise a. a. 0 S. 666.
*») Erman, Reise u. s. w., histor. Ber., Bd. III, S. 421.
***) In den sehr seltenen Fällen von Tocltschlag, Ehebruch oder anderweitigem Diebstahl
suchte jeder nichl die Bestrafung, sondern die Sühne zu erlangen, so wie er konnte und wie
ihm beliebige freunde dazu verhalten. Wenjaminow, Sapiski pr., tsch. III, st.r. 40. Vergl.
auch über das heidnische Mittel gegen Verbrechen auf Kamtschatka meine Heise a. a. 0. S. 263
Anmerkung.
t) Opisanie Kamtschatkie, tsch. HI, str. 14. „Bis zur Unterwerfung unter die Russen hat
dieses Volk in voller Freiheit irelebt .... Ausser den Alten und Erfahrenen, deren Bathschläge
sie vorzogen, waren Alle gleich, Niemand befahl oder Hess sich befehlen und Niemand wagte
einen Andern zu strafen."
tt) Siehe ibid. pag 253 ein V*erzeicbni88 von :!<) Männern und deren Wohnorten, denen
mau neuerdings (um 1730) zu dem Verhauen, welches sie bei den Kamtschadalen genossen, den
379
Während ich die Koljusehen gesehen habe, gehört« q sie nun, sowie einige
andere Stämme der amerikanischen Westküste, zu denjenigen freien aber ver-
bündeten Völkern, bei denen man das unter den tributpflichtigen so wirksam
gefundene Mittel vorläufig und vielleicht vorbereitend anwendete. Man hatte
die sogenannten Tojone auf Micha, indem man neben ihrem itolzen Selbst-
gefühl auf ihre kindliche Eitelkeit rechnete, durch Verleihung von kupfernen
Medaillen verpflichte! und zum Theil auch durch wahre N< 3 sus- Kleider,
d. i. durch alte Uniformsröcke, die sie wohl bei friedlichen Besuchen des
russischen Gebietes ad Ihren übrigens uackten Körper zogen, bei dm Rück-
kehr zu den Ihrigen aber gebührend verhöhnten und verabscheuten.
Die Einsicht in diese Verhältnisse machte es um so auffallender, dass
unter den Koljusehen, mit denen man täglich umging, ganze Familien von
Sklaven sein sollten, von denen manche bei namhaft gemachten Gelegenhei-
ten durch die Herren, denen sie angehörten, getödtet würden. Ausser dem
Maugel der Kaljuga bei den Frauen dieser Familien können sich dieselben
von den Freien wohl kaum durch ein auffallendes Zeichen unterschieden ha-
ben, noch viel weniger aber durch die Begegnung, die sie von diesen, so oft
ich beide zusammen gesehen habe, erfuhren. Von den Russen wurden sie
Kalgi genannt und es ist merkwürdig, dass dieses Wort weder der kolju-
schischen Sprache angehört, in der vielmehr kuch für einen Dienenden ge-
braucht werden soll, noch der auf andere Sitchaer Begriffe übertragenen ale-
utischen. In dieser heisst ein Diener oder Sklave Täljakh.*) -- Dennoch
scheint die Versicherung der auf Niteha Ansässigen richtig, dass diese Zurück-
setzung der einen Klasse des Volkes ebenso alt wie die Gleichheit der Uebri-
gen, die sogenannten Kalgi aber theils durch ihre Besitzer selbst erbeutete
Kriegsgefangene oder deren Abkömmlinge seien, theils dergleichen von
benachbarten Stämmen gekaufte. Das meist völlig gleiche Aeussere der Freien
und Kalgi erklärte sich dann durch die Beschaffenheit ihrer sogenannten
Kriege, bei denen es sich weit öfter um Eifersuchten und Missverständnisse
zwischen zwei koljuschischen Dörfern gehandelt hat, als um dergleichen mit
anders redenden Stämmen**) — aber um desto seltsamer erscheint die Ge-
duld, mit der sich diese Sklaven theils augenblicklich, theils viele Generatio-
nen hindurch in ihr zufälliges Schicksal gefunden haben. Bei den nomadi-
schen und bei den ansässigen Tschuktschen an der Eismeerküste von Kolju-
tschin gegen die Beringsstrasse hat Capitain Wrangel ein gleiches Yerhält-
niss ebenso unklar gefunden. Erst nach längerem Umgang mit diesem frei-
heitsliebenden und tapferen Volke bemerkte er mit Verwunderung, dass es
Titel Tojon hinzugefugt hatte, sowie die Angabe des jährlichen Fell-Tributes, den sie zu sam-
meln übernahmen.
*) Der Begriff des ITerrschens oder Befehlen.^ scheinl aber auch dort so Fremd gewesen
zu sein, dass das russische Z a r durch das offenbar moderne Fabrikat: Tanamagügu Erden-
gott von dem aleutischen Tanakh = Erde und agugukh Gott ausgedrückt werden musste.
*•) VergL Er man. Reise u. s. w., bistor. Ber., Bd. III, S. 20S über dergleichen Kriege bei
den Kamtschadalen und Catlin, letters and notes, Vol 1, pag. 130 u v. A.
380
unter ihm wahre Leibeigene gäbe, indem gewisse dienstthuende Familien kein
Eigenthum hatten und sich von den Wohlhabenden, von denen sie abhingen,
nie entfernen durften. Sie erhielten von diesen "Wohnung und Kleidung, ver-
standen sich aber dagegen so vorzugsweise zu den schweren Arbeiten, dass
sie neben den Schlitten herlaufen mussteu, um die Hunde anzutreiben. "We-
der die Tschuktschen noch die Dollmetscher wussten auf Erkundigungen nach
dem Ursprung dieses Zustandes mehr zu erwidern, als dass es immer so ge-
wesen sei und deshalb so bleiben müsse. Nur vermuthungsweise sagt daher
Wrangel, dass auch diese tschuktschischen Sklaven wohl Abkömmlinge
ehemaliger Kriegsgefangenen seien.*)
Die Tödtung der koljuschischen Kalgi ist auf Äitcha von jeher und ein-
stimmig für einen religiösen, d. h. von den Schamanen aufrecht erhaltenen
Gebrauch erklärt worden, den man namentlich bei der ersten Gedächt-
nissfeier für einen Verstorbenen ausübte. Diese Feier erfolgt erst
beträchtliche Zeit nach dem Tode des Betreffenden, nämlich zugleich mit der
Verbrennung seiner Leiche, welcher man, offenbar zur Erleichterung
des Processes, eine genügende Verwesung oder doch Austrocknung vorher-
gehen Hess.**) Nachdem dann die Angehörigen des Verstorbenen ihr Kopf-
haar geschoren oder es an demselben Feuer wie die Leiche bis auf die Wur-
zeln abgebrannt, bei dem, seiner Frömmigkeit wegen berühmten, Stamm der
Kaiganer Koljuschen auch sich die Gesichter mit scharfen Steinen zerschnit-
ten hatten, wurden von ihnen und von den aus anderen Ortschaften eingela-
denen Gästen laute Klagerufe und Trauergesänge angestimmt und während
derselben ein oder zwei Kaigen umgebracht.***) Auf »Sitcha sagte man uns,
dass dazu die Zusammendrückung des Halses mittelst eines über denselben
gelegten Balkens, also ein bekanntlich auch in China beliebtes Verfahren, an-
gewendet werde. Herr Wenjaminow versichert aber, dass man sich dieser
Art der Hinrichtung nur bediente, wenn der Gefeierte an einer Krankheit
gestorben war, während zum Andenken an einen Ertrunkenen oder ander-
weitig gewaltsam Umgekommen den ihm geweihten Kaigen auch die ihm zu-
gekommene Todesart bereitet wurde. Er behauptet ferner, dass die bei die-
ser Leichenfeier geopferten Sklaven durchaus nicht zu denen, die dem
Verstorbenen gedient hatten, gehören durften, sondern von den Trau-
*) P. v. Wrangel's Reise längs der Nordkiiste von (Sibirien, Berlin 1 839, Bd. II, S. 229.
**) Wo und wie man die Leichen bis zur Verwesung aufbewahrte, haben die Russen selt-
samer Weise nicht berichtet oder doch nicht erfahren.
***) Ich theile übrigens über diese Gebräuche nicht die Ansicht des vortrefflichen und zu
früh verstorbenen Th. Simpson, der nach Nachrichten, die er über die Leichenverbrennung bei
den sogenannten Neu-Galedonieru, d. i. den Anwohnern der Mündung des Columbia und ande-
ren noch unmittelbareren Nachbarn der Koljuschen erhielt, auf deren asiatischen Ursprung
schliessen und in der dortigen Gewohnheit der Wittwe und sonstigen Angehörigen des Verstor-
benen, sich an dem Scheiterhaufen zu versengen, eine bedeutungsvolle Erinnerung an die hin-
dostanische Wittwenverbrennung erkennen wollte. Vergl. Thomas Simpson, Narrative of the dis-
coveries on the north coast of America from 183G to 39 &c, pag. 159 u. 160.
381
ernden aus ihrem eigenen Besitz geliefert werden mussten und dass das
Tödten von Kaigen auch bisweilen bei zweien anderen Gelegenheiten vor-
gekommen sei, nämlich bei dem Beziehen einer neuen Ortschaft oder Woh-
nung und bei einer zweiten, von der Leichenverbrennung unabhängigen Art
von Erinnerungsfesten an gewisse Verstorbene. Diese letzteren Feste waren
mit einer so anhaltenden Bewirthung vieler Eingeladenen aus anderen Ort-
schaften verbunden, dass die Veranstalter dadurch für lange und oft für immer
verarmten. Die Koljuschen rechneten sie zu den von ihnen sogenannten
Kchataschi, d. h. grossen Festen, haben aber wörtlich „eine Aufrich-
tung der Verstorbenen" (podnimanie pokoinikow) als den besondern
Zweck derselben angegeben. Es ist wahrscheinlich, dass sie dabei, etwa so
wie die Griechen u. v. A. bei ihren Bestattungen an eine Hülfe gedacht ha-
ben, deren die Geister zum Antritt ihrer selbständigen Existenz bedürfen.*)
Nimmt man noch hinzu, dass die Leichen der Ichet oder koljuschischen
Schamanen"nie verbrannt, sondern sorgfältigst bekleidet, das Gesicht mit einem
Korbgeflecht (offenbar gegen den Angriff der Vögel) bedeckt, auf einem un-
zugänglichen und überdachten Pfahlgerüst im Walde ausgesetzt wurden, dass
für sie mit der Verbrennung auch die Tödtung der Kaigen ausdrücklich
fortfiel und dass endlich die Körper dieser Schlachtopfer ohne jede Bestattung
geblieben sein sollen, so dürfte über das Thatsächliche dieser bemerkens-
werthen Hergänge kaum Weiteres zu erfahren sein. Von direct mit densel-
ben Vergleichbarem scheint bei den östlicheren Völkern von Nord-Amerika
Nichts vorgekommen zu sein. Diese stimmen zwar mit den Koljuschen in
den Grausamkeiten gegen ihren eignen Körper (oben S. 321) vollständig über-
ein, haben aber dergleichen gegen Andere und namentlich das beliebte Skal-
piren zwar sehr häufig und in Menge, jedoch nur in der Hitze des Gefechts
oder doch in Folge derselben, sowie auch, nach Catlin's ausdrücklicher Ver-
sicherung, nur an bereits Getödteten ausgeübt. Auch gegen eine Vergleichung
mit manchen andern Leichenopfern und namentlich mit der berühmten, von
Achilleus bei Patroklos' Bestattung vollzogenen Abschlachtung von zwölf Tro-
janern ist einzuwenden, dass diese für einen im Kriege Umgekommenen an
gefangenen Landsleuten seiner kriegerischen Mörder vor sich geht. Man könnte
weit eher glauben, dass die Koljuschen bei ihrer friedlichen Opferung von
friedlichen Kaigen an Aehnliches gedacht haben, wie die Griechen bei der
ihrer Lieblings- oder Tischhunde nach der Homerischen Schilderung,**)
nämlich an das Aufgeben eines geliebten und doch nicht ganz unentbehrlichen
Besitzes. Dieses ist weit wahrscheinlicher als die gewöhnliche Vermuthung,
nach der die, doch übrigens nicht absurden Ichet auf die Notwendigkeit einer
Bedienung der herrischen Seelen durch die Seelen von Kaigen gedeutet hätten
*) Vergl. u. A. Homer, Ilias '/', v. 71 seq. und v. 114 seq., wo auch noch etwas deutlicher
die Schwierigkeit in dem Auskommen einer i/'i'^'j ohne (pytvsg, d. h einer Seele ohne zugehö-
riges Zwerchfell nebst Eingeweiden gefunden wird.
•*; Ibid. v. 183.
382
und es entspricht ausserdem einem in den reflektirenden Berichten über das
betreffende Verhältniss überall wiederkehrenden Nachtrag. Ich meine die
A.ufzählung der Umstände, die das Loos der koljuschischen Sklaven milder-
ten und von der anscheinenden Grausamkeit ihrer Herren das Wenigste übrig
dessen.
Zunächst ist nämlich der zum Tode ausersehene Kalge stets ganz frei
ausgegangen, sobald es ihm gelungen war, sich während der Leichen-
verbrennung versteckt zu halten. Sodann soll bei der zweiten Art
von Erinnerungsfeier das Wesentliche darin bestanden haben, dass der Fest-
geber den Besitz einiger Sklaven, die er den versammelten Gästen vorführte,
aufgab, während es einem durch den Schamanen vermittelten Orakel über-
lassen blieb, ob er diesen Verlust durch Tödtung oder durch Freilassung
derselben zu erfahren hatte. Solche Freilassung von Kaigen erfolgte
aber ferner bei mehreren ein für alle Mal dazu ausersehenen Gelegenheiten,
z. B. wie schon oben- erwähnt (S. 318), bei der Einsetzung der Kaljuga und
ebenso während der Feste, welche die allmälige Ausstattung der Knaben und
heranwachsenden Männer mit sechs kleinen Ohrlöchern begleiteten und beim
Tode vieler Reichen, welche ihren Erben die Freilassung geradezu auftragen
und es wird endlich in mehreren Berichten hinzugefügt, dass die Koljuschen,
trotz der Gewalt über Leben und Tod ihrer Sklaven, dieselben „wie ihre
eignen Kinder hielten und behandelten". Dieser letztere Ausdruck bedeutet
aber weit mehr als gewöhnlich für ein Volk, bei dem die Liebe zwischen
Intern und Kindern den europäischen Nachbarn oft bis zum Unverständ-
lichen stark erschienen ist. Auf »Sitcha wie auf den aleutischen Inseln
haben die Russen von jeher bewundert, dass die eingebornen Kinder ohne
Kuthe erzogen und überhaupt von ihren Eltern niemals geschlagen wurden.
Die bei beiden Völkern herrschende Sitte, die Erziehung der Knaben den
Grossvätern zu überlassen, schien aber den Äitchaer Russen sogar darin be-
gründet, dass ein koljuschischer Vater zu zärtlich sei, um das Geschrei sei-
nes Knaben bei den ersten winterlichen -Seebädern, zu denen man sie alle
anhält und Anfangs zwingen muss, zu ertragen. Unterstützung der Alten
und Gebrechlichen durch ihre Kinder hat man gleichfalls bei den Koljuschen
ohne jede Ausnahme gefunden. Die unbegrenzte Polygamie der Koljuschen
und die sonstige Freiheit ihrer Ehen, bei denen nur etwa feststand, den Frauen
aus einem anderen Geschlecht oder Wohnplatz den Vorzug vor den näheren
Verwandten zu geben, und vor der Heirath den Vater der Erwählten durch
Arbeit oder Bezahlung zu entschädigen, hat also ihren Familien keineswegs
geschadet. Kinder und Mütter wurden übrigens immer zu dem Stamme, dem
der Vater angehörte, gerechnet, so wie auch frei gewordene Kaigen zu dem
ihres früheren Herrn.
383
Das Aeussere der Koljuschen.
Es ist beraerkenswerth, dass den meisten Beschreiben] der Koljuschen
gewisse Ungleichheiten ihrer Hautfarbe aufgefallen sind. So sagt schon I-
mailow (obeD 8.302) von den ersten, die den Russen bekannl wurden, sie
seien von ansehnlichem Wuchs, von eben so dunkler Hautfarbe («muglie)
wie die Kad jaker gewesen,*) doch habe man unter ihnen auch weisse mit
blonden oder röthlichen Haaren (rusic) bemerkt — und noch in neue-
ster Zeit haben Admiral Lütke und seine Begleiter sogar allen Üitchaer Ko-
ljuschen eine Hautfarbe zugeschrieben, die um Weniges dunkler sei als die
europäische und eine von der der sogenannten Rothhäute beträchtlich abwei-
chende Gesichtsbildung. Eine etwas breite Gesichtsform , grosse schwarze
Augen und volles schwarzes Haar schienen ihnen am beständigsten vorzu-
kommen, und es sind dann dazu noch als den Koljuschen stets zugeschrie-
ben eine gerade Haltung und eine breite und gewölbte Brust, sowie im \ er-
gleich mit der aleutischen Physiognomie der Mangel eines Vorragens der
Backenknochen zu erwähnen. Mir selbst schien 'die Hautfarbe der Männer
röther als die der Frauen, gewisse individuelle Unterschiede in derselben bei
den Koljuschen aber mit ähnlichen, die ich bei den Kamtschadalen bemerkt
hatte, vergleichbar. **)
Man wird bei Beurtheilung dieser Erscheinung unter Anderem auch auf
Catlin's Wahrnehmungen über dieselbe und über Verschiedenheiten der Haut
bei den Man den zu achten haben, durch die er sich zu einer höchst aben-
teuerlichen Hypothese über den Ursprung dieses seltsamen Volksstammes ge-
zwungen glaubt.***)
Die Industrie der Koljuschen und der benachbarten* Stämme.
Das Wichtigste über die Industrie und einige Kuustleistungen der Ko-
ljuschen soll hier mit dem Entsprechenden zusammengestellt werden, was sich
bei den Aleuten vor ihrer Unterwerfung unter die Russen, sowie auch bei
andern Anwohnern des Berings -Meeres und des angrenzenden Oceans vor-
gefunden hat. Auf manche aleutische Leistungen dieser Art, die von denen
der Koljuschen gänzlich abweichen und doch mehr als eine oberflächliche Er-
wähnung verdienen, will ich aber weiter unten besonders zurückkommen.
Bekleidung und Stoffe zu derselben.
Die Kleidung der Koljuscheu ist ihrer Form nach von Allem, was
man in Nord-Asien zu sehen gewohnt wird, verschieden. Mau kann I. et /.le-
res in der That, trotz der zahlreichen Unterschiede bei den 15 bis 20 Natio-
nen, die von der Wolga bis an die Ostküste von Kamtschatka widmen, unter
*) Das schwarze Haar .hat er offenbar für diese als hinlänglich bekannt betrachtet
"*) Reise u. s. w., histor. Bei., Bd. III, S. 243, 408, 201) u. a.
***) Catlin, letters and notes &c., Vol. I, p 94 seq.
384
die zwei Klassen eines runden, sackförmig geschlossenen und eines
auf der Brust offenen A ermelrockes zusammenfassen. Neben diesen
erscheinen die ärmellosen, viereckigen Mäntel, mit denen die Kolju-
schen bisweilen beide Schultern, meist aber nur eine bedecken, ebenso auf-
fallend, als sie auf dem amerikanischen Continent und an dessen Westküste
bis zu 60° Bieite gewöhnlich sind. Sie werden auf *Sitcha wie bei den mei-
sten ihrer sonstigen Vorkommen von Männern und Frauen ohne Unterschied
angewendet. — Die asiatische Kleiderform, welche die Russen bald mit dem
ostjakischen Namen park oder parka, bald mit dem auf Kamtschatka üb-
lichen kukljanka bezeichnen, ist dagegen in ausschliesslichem Gebrauche
bei den Aleuteri und (vielleicht von ihnen ausgegangen) bei den Kadjakern
sowohl auf der Insel, nach der sie benannt sind, als an der amerikanischen
Küste bei ihren Stammesgenossen und bei den Ttynai von 61° Breite bis
zur Beringsstrasse,*) sowie dann wieder gegen Westen bei den Tschuktschen.
— Ueber den Stoff der koljuschischen Mäntel wussten die Ätchaer Russen
nur anzugeben, dass er aus Wolle des wilden Schafes**) bestehe, die aber
zuvor zu Fäden verzwimt, darauf theilweise äusserst dauerhaft und verschie-
dentlich gefärbt, und endlich zu einem Zeuge verwebt oder verflochten wer-
den, dessen Festigkeit und geschmackvoll farbige Muster in gleichem Grade
bewunderungswürdig seien.***) —
Cook und seine Begleiter haben an der Westküste der Vancouver-Insel
bei den sogenannten Wakasch (49°,6 Br., 235°,G 0. v. Paris) genau dieselbe
Industrie in uralter Ausübung gefunden und sich überzeugt, dass von den
auf koljuschische Weise getragenen Mänteln, die sie lieferte, die eine Art,
aus Fuchswolle , so dicht war wie gröbere englische Bettdecken, die andere,
aus der Wolle eines braunen Luchs, den feinsten dieser Decken an Dichtig-
keit nicht nachstand und dass ausserdem beide Arten weicher und warm-
haltender waren als die europäischen. Sie haben ausserdem ihre anfäng-
liche Voraussetzung, dass diese Zeuge auf irgend einer Art von Webstuhl
gemacht würden, nur deswegen aufgegeben, weil dann die Mannichfaltigkeit
der künstlichen Figuren aus hellgelben und braunen Fäden, die sie enthiel-
ten, unerklärlich geblieben wäre. Sie fanden diese farbigen Muster ebenso
vollendet wie auf den besten englischen Teppichen und sahen dennoch bald
*) Vergl. über die Kleidung der Anwohner der Tschugätskaja gubä: Cook, third voyage
<fec. zu 1778, Mai 13 u. f. — und der Kangjulit und Ttynai am Norton-Sunde: Sagoskin im
Arch. für wissensch. Kunde von Russl., Bd. VI, S. 533.
*) Bestimmter der auf Sitcha unter dem Namen Jaman bekannten Thiere, zu denen,
wie es scheint, sowohl Ovis Argali Patt., als auch missbräuchlich die durch längeres weisses
Haar von ihm unterschiedene Capra americana Richardson gezählt worden sind. Nach den
Berichten der russisch-amerikamseben Compagnie wurden im Jahre 1848 350 Felle des Jaman
oder wilden Schafes gegerbt, aber leider nicht untersucht, ob sie dem in Ost-<Sibirien und auf
Kamtschatka so wohlbekannten Argali angehörten.
*) Ob die Besetzung mit Perlmutterplatten, die ich auf den weissen Decken der Äitchaer
Koljuschen in Anwendung fand, auch auf den jetzt seltneren gemusterten gebraucht wurde, wird
nicht erwähnt.
385
darauf, dass zum Weben des so kunstvollen Wollenzeuges, ebenso wie zu
dem eines Zeuges aus dem hanfähnlichen Bast einer Tanne, von den Frauen
der Wakasch nur ihre Hände und ausserdem ein festgestellter und zwei be-
wegliche Stöcke gebraucht werden, über welche sie das zu verzwirnende und
dann zu verknüpfende Material ausbreiteten.*)
Während sich die Koljuschen durch die Verarbeitung von Thierwolle zu
Zeugen sowohl von den Aleuten wie von allen nordasiatischen Küstenvölkern
unterschieden, hatten sie mit diesen den Gebrauch von allerlei Pelzwerk zu
Kleidern gemein, denen sie aber dieselbe Mantelform wie den gewebten gaben
und die sie auch mit vielen seltsamen Zierrathen vorzugsweise gebrauchten,
um sich im Kriege und bei religiösen Festen ein fremdartiges Ansehen zu
geben. Sie scheinen dagegen in der Lederbereitung hinter den Kennthier-
besitzern und andern inländischen Völkern zurückgeblieben zu sein, indem
sie das bei allen diesen im Ueberfluss vorhandene sämische Leder (die vöw-
dugi der sibirischen Russen) sowohl auf dem Continent von ihren eingebor-
nen Nachbarn als auch in späterer Zeit von den Sitchaer Händlern begierig
kauften.
Schiffbau.
Ihre Seefahrzeuge bauten die Koljuschen, wie schon erwähnt (oben S. 372)
in der Weise, die auch auf Kamtschatka, sowohl auf den Flüssen als auf
dem Meere an beiden Küsten der Halbinsel südlich von 60° bis 61° Breite,
ausschliesslich üblich gefunden worden ist: indem sie einen Baumstamm zu-
erst muldenförmig aushöhlten, dann aufweichten mit Wasser, welches in die-
ser Höhlung durch glühend hineingeworfene Steine kochend erhalten wurde,
und endlich mittelst eingetriebener Querstreben aus Holz oder Knochen zu
der gewünschten Gestalt ausweiteten und verfestigten.
Das Vorkommen der Riesentanne an vielen ihrer Wohnorte erlaubte ihnen,
diesen sogenannten baty für gewöhnlich 26 Fuss Länge, 4 Fuss Breite und
3 Fuss Tiefe zu geben, zu besonderen Zwecken aber weit ansehnlichere Di-
mensionen, so dass sie für 50 bis 60 Mann bequem wurden. Sie waren theils
ganz ohne Haut oder Bretterbekleidung, theils nur zur Erhöhung der Borde
mit einer solchen versehen, sowie auch am Spiegel und Schnabel mit künst-
lichsten Skulpturen, die dann wohl mit Namen wie Sonne, Mond, Walfisch u. 8. w.
*) Vergl. Cook, third voyage u. s. w. zu 1778, April 1 u. f. Nur mit der Bereitung der
Fäden bei diesem merkwürdigen Geschäfte ist das Verfahren der Kamtschadalen mit dem Brenn-
nesselbast zu vergleichen, den sie zuerst durch Reiben zwischen den Handflächen und darauf
mittelst eiuer aufrechten Spindel verzwirnten Sie haben aber von den so gewonnenen Fäden
nur die kürzeren zum Nähen und die längeren zu Fischnetzen verwendet, von zeugähnlichem
dagegen nie mehr als ein Geflecht aus einem mannshohen Triticum (Gmelin, Flore Sil 'ir. p IIP)
bereitet, welches neben der gewöhnlichen Anwendung zu Vorhängen und Matten auch wie ein
Regenmantel über den Pelzkleidern gebraucht wurde. Nur als Zierrath wurden einzelne Fäden
von gefärbter Thierwolle solchen Geflechten aus ganzen Pflanzenfasern , sowie auch gewissen le-
dernen Erzeugnissen bei den Kamtschadalen und den Aleuten eingenäht
Zeitschrift für Etlinolugio, Jahrgaug 1870. 26
386
in Beziehung standen, mit denen einzelne dieser Fahrzeuge von ihren Be-
sitzern belegt waren. Weder Segel noch Ausleger waren jemals auf diesen
koljusohischen Fahrzeugen in Gebrauch, die Dimensionsverhältnisse derselben
aber so zweckmässig, dass sie genügsame Steifigkeit und doch, wie Admiral
Liitke versichert, durch nur 5 Fuss lange, über beide Borde gebrauchte Hand-
ruder einen eben so guten Gang erhielten wie die besten europäischen
B00te. — Manche Einzelheiten dieses primitiven Schiffbaues sind bei den
Koljuschen wohl nahe ebenso vorgekommen wie auf Kamtschatka, wTo man
sie genauer beachtet hat, so namentlich, dass die Aushöhlung eines Stammes
mit den damals allein üblichen Beilen aus Jaspis oder aus "Walfischknochen
drei Jahre erforderte*) und dass zum Gebrauche bei der Walfischjagd an
der Ostküst'e der Halbinsel der Boden der Baty absichtlich durchschnitten,
die künstlichen Spalten aber mit Moos gedichtet und mit Fischbein vernäht
wurden, um das Bersten des Pappelstammes durch den Wellenschlag zu ver-
hindern. — Es ist aber sodann besonders beachtenswerth, dass sich auch
diese koljuschische Industrie auf der amerikanischen Seite des grossen Oceans
zwar an der Jakutater Bucht (bei den westlichsten Angehörigen ihres Stam-
mes) und bei den Wakasch auf der Vancouver-Insel von jeher gefunden, dass
aber der für die Aleuten so auszeichnende Gebrauch von Baidaren oder
ledernen Fahrzeugen auch überall westlich und nördlich von dem
Koljuschenlande bei den kadjakischen und Ttynai- Stämmen der amerikanischen
Küste und bei den Tschuktschen der asiatischen ausschliesslich geherrscht hat.
Metallurgie.
Die Koljuschen haben ferner vor jeder Berührung mit Europäern ebenso
wie bis« zum Ende ihres Umganges mit den Russen Metalle besessen und
zu verwerthen gewusst: am häufigsten und von jeher zur Darstellung kupfer-
ner Gegenstände, in späteren Zeiten aber auch zur Erlangung von derglei-
chen aus Eisen. Das auffallendste Resultat dieses Besitzes und dieser Fer-
tigkeiten waren die oben erwähnten Dolche (S. 316 u. 325), von denen ich
auf Sitcha nur ganz aus Kupfer bestehende gesehen habe. Diese waren gegen
anderthalb Fuss laug, 4 bis 5 Zoll breit, in eine Spitze auslaufend und theils
säbelförmig mit convex gekrümmter Schneide, theils grade und zweischneidig,
nach Art der alten römischen Schwerter. Ueber der dünner gehaltenen Hand-
habe endeten sie entweder in einen Knopf, dem dann sehr zierlich die Ge-
stalt eines Vogelkopfes oder dergleichen gegeben war, oder in eine zweite kür-
zere Klinge; auch war das Ganze stets blank und schien, sorgfältigst
polirt.
♦) Aach Kochgefässe, die ebenso wie die Baty angefertigt wurden (vergl. unten), erforder-
ten eine mehr als einjährige Arbeit, wenn sie zur Bewirthung mehrerer Gäste dienen sollten
und zählten daher zu den seltneren Reichthümern. Ich habe auf Kamtschatka nur noch die
Auskochung des Lachsfettes in hölzernen Gefässen vollziehen und dazu eben jene einstämmi-
geu Fahrzeuge (Baty) gebrauchen sehen. Vergl. meine Reise u. s. w , histor. Ber., Bd. III, S. 337.
387
Auf dieselbe Art von Produkten bezieht sich offenbar J. Wenjaminow's
bedauerlich dürftige Angabe, dass die Koljuschen bei der Verarbeitung von
Kupfer zu Lanzenspitzen und zu Dolchen eine noch höhere Kunst ent-
wickelten, als bei ihren merkwürdigen Skulpturen, Webereien u. s. w. , sowie
seine Erwähnung einer aus Kupfer getriebenen Maske, die einen Wolfskopf
darstellte und zu dem Festschmuck der Kuchontani oder Koljuschen des
Wolfsstammes gehörte.*) Auch ist es wohl nur von kupfernen Waffen zu
verstehen, wenn Adiniral Lütke berichtet, dass die doppelschneidigen Dolche
der Sitchaer Koljuschen von wunderbarer Vollendung und oft mit kleinen
glänzenden Muscheln verziert seien,**; denn die dazu nöthige Ein-
legung einer zerbrechlichen und partiell verbrennlichen Substanz ist in bieg-
sames Kupfer ganz wohl, in Eisen dagegen äusserst schwer zu vollziehen.
Dass aber dennoch neben diesen kupfernen Dolchen auch eiserne bei den
Koljuschen in Gebrauch waren, hat unter Anderen II. v. Kittlitz gesehen,
während er gleichzeitig mit Adiniral Lütke auf »S'itcha verweilte. Er sagt,
dass die eiugebornen Männer, denen er um Neu- Archangelsk im Walde be-
gegnete, fast immer unter ihrem Mantel eine ganz eigentümliche Waffe ge-
tragen haben, nämlich zwei grade, ziemlich breite, doch ungleich lange Dolch-
klingen von gut gehärtetem Stahl, die durch einen in Kupfer gefassten
hölzernen Griff so verbunden waren, dass sie in einer Hand gehalten, nach
allen Seiten hin verwunden konnten. Jede dieser Klingen haJbe natürlich
einer besonderen Scheide bedurft.***)
Auch diese merkwürdigen Industrieprodukte sind an der Jakutater Bucht
bei den Koljuschen selbst von Ismäilow um 1788 gefunden worden, als die
Russen zum ersten Male mit ihnen umgingen, bei den beiderseitigen Nach-
barn der Koljuschen, d. i. den Wakasch gegen Süden und den Tschugatschen
gegen Westen, aber sogar schon 1778 von Cook und seinen Begleitern Von
den Jakutater Koljuschen sagt Ismäilow, dass ein Jeder unter dem Mantel,
mit dem sie nur eine Schulter bedeckten, eine Art „Speer" getragen habe
der mit seiner Scheide an einem Riemen um den Hals gehängt war. Eine,
solche Waffe sei 14 engl. Zoll lang, in der Mitte 5J engl. Zoll breit und so-
wohl an der Spitze als an beiden Seiten scharf gewesen. Bei Vielen habe
sie auch von dem Gürtel bis an die Knien gereicht und sie seien immer,
von ihren Besitzern selbst, auf einem Steine geschmiedet worden.
Dass hier unter dem russischen Worte kopio, welches ich durch Speer
übersetzt habe, ein Messer oder Dolch von einer der auf Nitcha vorgekom-
*) J. Wenjarninowa, Sapiski ob ostrowach Unalaschkmskago otdjela i. pr., tsch. III. str. IM.
**) Puteschestwie wokrug .swjeta i. pr. Flota-Kapitanom F. Litke, tsch. 1. str. 163. Herrn
Lütko's Ausdruck: obojudno ostrie, der oben durch doppelschneidig übersetzt i>t .
wörtlich ebensowohl beiderseits scharf wie beiderseits spitz, und lässt daher zweifel-
haft, ob nur eine Klinge mit zwei Sohneiden gemeint sei, oder zwei zu beidi
meinsamen Heftes gelegene Klingen.
***) F. H. v. Kittlitz, Denkwürdigkeiten einer Reise nach dem russischen Amerika u. s. w.
Bd. I, S. 214.
26*
388
raenen Formen zu verstehen sei, folgt zunächst aus den Angaben, dass sie
gänzlich geschmiedet, also nicht mit einem Stiele versehen, und dass sie ihrer
ganzen Länge nach zu beiden Seiten schneidend waren, sodann aber noch
aus einer ferneren Beschreibung ihrer Form, die trotz einiger Unklarheit ganz
wohl von einer langen Klinge, aber durchaus nicht von einer Lanze zu ver-
stehen ist. Es heisst nämlich noch an der betreffenden Stelle des russischen
Tagebuchs: „Diese Speere haben auf einer Seite vorragende Streifen und
sind auf der anderen Seite wie ein Brett mit einer inneren (oder mittleren)
Rinne.*)
Die complizirte Gestalt, welche dieser Beschreibung entspricht, macht
es sehr wahrscheinlich, dass die Jakutater Klingen ebenso wie die meisten
»Sitchaer aus Kupfer bestanden haben, obgleich, nach andern Angaben des-
selben Reisenden, von den westlichsten Koljuschen auch damals schon Eisen
verarbeitet wurde So sahen die Russen bei ihnen unter verschiedenen me-
tallenen Bildwerken, die als Amulete getragen wurden, auch dergleichen in
Gestalt eines Rabenkopfes, von denen ausdrücklich gesagt wird, sie haben
aus Eisen bestanden, in welches man kupferne Augenbrauen eingelegt,
mithin die sogenannte Kerb arbeit (nasjötschena rabota) angewendet
hatte, die bei mehreren asiatischen Stämmen in ursprünglichem Gebrauch ge-
wesen und erst von diesen zu den Russen übergegangen ist.**)
In gleicher Weise sind bei den Tschugatschen (um 61° Breite, etwa 8°
westlich von Jakutat) schon zehn Jahre früher von den englischen Reisenden
Lanzenspitzen aus Kupfer, aus Eisen und nur weit seltener aus Hörn oder
Knochen in Gebrauch gesehen worden, ausserdem aber Messer, von denen
manche nahe wie ein Schiffsdolch gestaltet, fast 2 Fuss lang und in der Mitte
mit einer Furche versehen waren. Diese wurden in einer Scheide aus Thier-
fell an einem Riemen um den Nacken getragen, so dass die Beschreiber nicht
anstanden, sie für "Waffen zu erklären. Sie hielten dagegen andere weit klei-
rere und verschiedenartig gestaltete eiserne Klingen, die in lange Holzhefte
gesetzt waren, für die Werkzeuge, mit denen die Tschugatschen bewunderns-
würdige Schnitzwerke hergestellt und sich in ihrer gesammten Industrie allen
Küsten- und Inselbewohnern des grossen Oceans an Geschicklichkeit ent-
weder gleich oder überlegen gezeigt hatten.
Die koljuschische Metallurgie kam übrigens bei diesen Tschugatschen
mit Schiffbau und Bekleidung nach rein aleutischer Sitte in Ver-
bindung vor und nach Ismailow mit einem kadjakischen Dialekt, den die
Tschugatschen zwischen den, respective gegen Osten und gegen Westen von
ihren Wohnplätzen, herrschenden koljuschischen und Ttynai-Sprache bewahrt
hatten.
Noch auffallender waren der Besitz und die Verwendung von Metallen,
*) Im Russischen : Kopja rii s'odnoi storony s'wypuklymi doljami , a s'drugoi wnutrje
doskoju na podobje lq/biny, vergl. Puteschestwie G. Schelechowa, tsch. III', str. 51.
'*) Vergl. Erman, Reise u. s. w., histor. Ber., Bd. II, S. 367.
389
die man in demselben Jahre (1778) an der Westküste der Vancouver-Insel
(49°,ß Breite) bei den Wakasch vorfand. Vor Cook und seinen Begleitern
war nie ein europäischer Seefahrer zu diesem Volke gelangt. Es waren aber
daselbst — neben Streitäxten, die durch einen dickeren Ansatz an das
obere Ende ihres hölzernen Stieles und durch die Zungenform ihres 7 bis 8
Zoll langen steinernen Theiles wie ein Menschenkopf gestaltet und demselben
durch Verzierung mit Haarbüscheln oder einem Skalp noch ähnlicher gemacht
waren — wiederum Dolche wie die der Koljuschen und Tschugatschen, die
als Kriegswaffen dienten. Sie hatten gebogene, an ihrer convexen Seite
schneidende Klingen, von einer für Europäer so ungewöhnlichen Form, dass
die Engländer ihre inländische Anfertigung für unzweifelhaft, wenn auch die
Herkunft des dazu verwendeten Eisens für räthselhaft erklärten Auch klei-
nere messer- und meisselförmige Eisenstücke wurden damals von den Wakasch
wie längst Gewohntes angewendet und weit seltener durch knöcherne Werk-
zeuge von derselben Form vertreten, während ausser dem Eisen auch noch
rothes Kupfer und, wie es schien, eine bronzeartige Legirung bei ihnen
in Gebrauch waren. Aus diesen bestanden namentlich die meisterhaft gear-
beiteten Ringe und andere Zierrathen, welche die dortigen Männer in ihre
durchlöcherten Ohren, sowie auch an ihre Nasenscheidewand theils nach
Durchbohrung, theils durch Einklemmung derselben hingen. Zum Ausschmie-
den der Metalle war ein steinerner Hammer in Gebrauch und zu deren Schlei-
fen, Poliren und stetem Blankhalten Wetzsteine und die Haut eines
Fisches.
Als vergleichbare Thatsache sei hier noch erwähnt, dass die Unalasch-
kaer Aleuten nicht bloss ursprünglich ihren Jagd- und Kriegswaffen nur knö-
cherne und steinerne Schneiden von äusserst sinnreicher Einrichtung gegeben,
sondern auch später für eiserne Beile, zu denen ihnen nun das Material
durch die Russen zukam, die Form und die Anordnung ihrer steinernen bei-
behalten, d. h. fortgefahren haben, den schneidenden Theil derselben durch
Riemen mit dem Stiel zu verbinden. Die westlicheren oder Atchaer Aleuten
erzählten dagegen von Kupfer und Eisen, welche sich schon längst vor An-
kunft der Russen bisweilen an ihren Küsten gefunden haben und sie behaup-
teten, dass dergleichen seltene Schätze damals nur im Geheimen und wider
den Rath ihrer Schamanen von einzelnen Künstlern zu Pfeilspitzen, Messern
und dergl. verschmiedet worden seien.*) —
Für die Koljuschen* und deren nähere Nachbarn ist jetzt jeder Zweifel
über den Ursprung und die Beschaffenheit ihrer metallurgischen Leistungen
beseitigt. Es war ein, in geologischer Beziehung durch seine Massenhaftig-
•) Die Vermuthung, dass dergleichen von der See ausgespülte Metallstiieke verunglückten
Schiffen gehört hätten und dass diese japanische gewesen seien, rührt nicht von den aleutischen
Erzählern her, sondern von den Russen, welche sie befragten Sie ist daher nicht wahrschein-
licher wie die Herkunft jener Stücke von einer amerikanischen oder asiatischen Küste.
390
kcit höchst merkwürdiges Vorkommen von gediegenem Kupfer, mit dem
sie von jeher in Verbindung gestanden haben und welches sie zu kunstvollem
Ausschmieden der ihm entnommenen Stücke veranlasste. Die »Sitchaer Rus-
sen haben . offenbar in Folge unbestimmter Nachrichten über dieses Verhält-
nis», einen Fluss, der sich bei etwa 60°,3 Breite, 21 1°, 4 0. v. Par. in den
Ocean ergiesst, von jeher die mjednaja rjeka, d. h. den Kupferfluss
genannt und auch den Anwohnern seines oberen Laufes als einem besonders
bemerk enswerthen Stamme den Namen mjednöwzy, d. i. die Kupferleute
gegeben. Die Koljuschen sollen übrigens diesen Stamm Alachtan genannt
und zu ihrem Handel mit demselben die Vermittelung eines anderen Stammes,
welchen sie Kon lau nannten, gebraucht haben. Jedenfalls war aber auf
Äitcha bekannt, dass die Koljuschen überhaupt oder doch die Ugaljachmutische
Abtheilun«? ihres Volkes und die Tschugatschen, also die beiderseitigen Nach-
barn jener Kupferleute, Verbindungen mit ihnen unterhielten, während die
Russen sich noch nie bis zu denselben, sondern von der Mündung der mjed-
naja rjeka nur gegen 15 geogr. Meilen stromaufwärts bis zu einer daselbst
angelegten odinötschka, d. h. einem einsamen Vorposten, gewagt hat-
ten. So wusste mau dann auch noch 1862 auf »Sitcha nicht mehr über die
Mjednöwzy zu sagen, als dass sich ihre Zahl auf 3000 bis 5000 beliefe und
dass sie zu den völlig unabhängigen Stämmen zu gehören fortführen. In der
That war aber bei einer um 1848 unternommenen Expedition zur Aufnahme
des mittleren und oberen Laufes der mjednaja rjeka der Steuermann «Sereb-
rjennikow, der sie anführte, mit allen seinen Begleitern von den Eingebornen
erschlagen, zugleich aber der Metallreichthum derselben genugsam veran-
schaulicht worden. Man hatte Blöcke oder grosse Klumpen von gediegenem
Kupfer gesehen, die sich daselbst angeblich lose, jedenfalls aber in einem
leicht von ihrer Lagerstätte trennbaren Zustande finden und nach allem über
die kupfernen Waffen und sonstigen Kunstwerke bei den Koljuschen und
Tschugatschen Gesagten war es daher nun so gut wie erwiesen, dass diesel-
ben aus solchen Stücken ohne alle Schmelzung durch Ausschmieden
und Treiben dargestellt wurden. — Man hat bekanntlich erst in neuerer
Zeit erfahren, dass ein dem von der Mjednaja ähnliches amerikanisches
Kupfervorkommen 470 bis 480 geogr. Meilen von dem ersteren auf der öst-
licheren Seite der Rocky mountains ebenfalls in uraltem Gebrauche gewesen
ist, indem sich beim Absteifen eines Schachtes der Minnesotah-Gruben unter
einem Blocke von gediegenem Kupfer sowold von demselben abgebrochene
Stücke, als auch bergmännische Werkzeuge aus Holz, aus Stein und aus
einem harten, d. h. wahrscheinlich legirten Kupfer gefunden haben.
Diese unzweifelhaften Beweise einer Förderung mit primitiven Hülfsmitteln
haben auch dort eine weit ältere ethnographische Erfahrung erklärt, die man
trotz ihrer Wichtigkeit nur gelegentlich und* oberflächlich erwähnt hatte. Ich
meine einen dem koljuschischen ähnlichen Besitz von Kupfer und kupfernen
391
Werkzeugen, der bei den sogenannten Indianerstammen in Canada von den
ersten Europäern, die mit ihnen umgingen, gefunden wurde.*)
Selbst nach diesen Erfahrungen bleibt aber freilich noch dunkel, woher,
neben dem Kupfer, auch schon Eisen zu denjenigen der oben erwähnten
Stämme gelangt war, die zum ersten Mal in directe Berührung mit Europäern
traten. Cook hat für die Wakasch gewiss mit Rechi vermuthet, dass der Han-
del, den er sie mit den nächsten ihrer inländischen Nachbarn unterhalten sah,
sich (1778 und schon lange zuvor) durch mehrfache ähnliche Verbindungen
gegen Osten bis zu Stämmen fortsetzte, welche Eisen und andere europäische
Waaren von den canadischen Pelzhändlern und von denen der Hudsonsbay-
Compagnie erhielten. Durch dergleichen mehrfachen Tausch konnte aber
dann auch zu den Tschugatschen und Koljuschen sowohl 1788 bei Ismailow's
Besuch, als sogar schon zehn Jahre früher, als Cook mit den ersteren um-
ging, einiges Eisen aus Sibirien durch Vermittelung der Tschuktschen über
die Beringsstrasse und dann südwärts längs der amerikanischen Küste gelangt
sein — und diese Annahme wird äusserst wahrscheinlich, wenn man beach-
tet, wie schon .r»0 Jahre früher in den gegenüberliegenden asiatischen Küsten-
ländern das Eisen von demselben Ursprung Anerkennung und einige Verbrei-
tung gefunden hatte und wie eifrig schon damals seine Bearbeitung von den
Kamtschadalen, Korjaken ftnd Tschuktschen betrieben wurde.
Auf Kamtschatka war es zu Steller's und Krascheninikow's Zeit noch in
frischer Erinnerung, dass, unmittelbar nach der Ankunft der ersten Russen,
jeder Besitzer eines Bruchstückes von Eisen für reich gegolten hatte und man
sah die Eingebornen selbst aus dergleichen Stücken Pfeilspitzen, die
Schlagmesser zu den sogenannten Kljepzy oder Bärenfängen,**) Beilsurrogate
und viele andere Werkzeuge herstellen. Die Beschreiber haben es mit Recht
bemerkenswerth gefunden, dass zu diesem Zwecke das zu verarbeitende Stück
ohne jede Anwärmung nur auf einen Stein gelegt und mit einem
steinernen Hammer anhaltend geschlagen wurde. Die Kamtscha-
dalen gebrauchten dieses Mittel sogar, um an einer von den stählernen Näh-
nadeln (welche allmählich anstatt der bis dahin üblichen aus feinen Zobel-
•) Noch 1838 und 1839 haben die verdienstvollen Reisenden der Hudsonsbaycompany
kupferne Lanzenspitzen bei denen unter 70° Br., 210° 0. v. Pur. in Gebrauch gesehen, Messer
und andere Werkzeuge aus gediegenem Kupfer bei den Eskimo unter etwa G8C Br. , 2-42° 0. v.
Par., sowie die letzteren zugleich mit russischen eisernen Messern, die offenbar aus dem tsehuk-
tschischen Verkehr über die Beringsstrasse stammten (vergl. unten). Auch das Kupfer konnten
aber die Besitzer an der zuletzt genannten Stelle viel eher von dem nur 120 geogr. Meilen ab-
stehenden Vorkommen an der Mjednaja, als von dem 512 geogr. Meilen entfernten \on Minne-
sotah erhalten haben — wenn nicht etwa von irgend einem den beiden genannten ähnlichen
dritten Vorkommen in den Rocky mountains. Diese Stelle liegt nämlich, wie ich l>ei anderen
Gelegenheiten gezeigt habe, nicht wek von dem Nordabhange des dort nahe westlich streichen-
den Systems des Anden- oder Felsen-Gebirges. Vergl Th. Simpson, Narrative of the discove-
ries from 1836 to 39, pag. 264 und 123 und Archiv für wissenseh. Kunde von Russl., Bd. VI,
S. 229, Bd. XX, S. 311.
**) Vergl. Erman, Reise u. s. w., histor. Ber., Bd. 111, S. 491.
392
knochen in Gebrauch kamen) das abgebrochene Oehr durch ein neues zu er-
setzen und um diese Operation so oft zu wiederholen, bis dass von dem kost-
baren Besitzthum kaum mein- als die Spitze im ursprünglichen Zustande ge-
blieben war. Noch Unerhörteres soll aber damals dasselbe Verfahren bei den
Tschuktschen geleistet haben, denn als man diesen noch gefürchteten Feinden
durchaus kein zu Waffen brauchbares Schmiedeeisen zukommen Hess, den für
unschädlich gehaltenen Verkauf von gusseisernen Kochtöpfen und Kesseln
aber nicht gänzlich inhibirte, sollen sie diese gegen das kostbarste Pelzwerk
eingetauscht und Stücke desselben zu Lanzeneisen umgeschmiedet ha-
ben! Auch das sogenannte Tempern oder Adouciren des Roheisens wäre
.ihnen also theils durch oftmaliges Erhitzen in Berührung mit Wasser, theil^
durch Compressions wärme weit mehr gelungen, als man in Europa für
möglich hält. Dass aber später ganz Aehnliches bei den Koljuschen vorkam,
beweist noch ein seltsames Ereigniss während ihres mehrerwähnten ersten
Verkehrs mit den Russen. Bei der Bucht Ltuja war, wie Ismailow erfuhr,
von einem europäischen Schiffe, welches etwa 2 Jahre zuvor (also 1786 oder
1787) daselbst gelegen hatte,*) ein 800 Pfund schwerer Anker verloren wor-
den. Die Koljuschen hatten ihn mühsam aufs Land gezogen und im Walde
verborgen und als man ihn ihnen für werthlose Spielereien abgehandelt hatte,
zeigte sich, dass sie alle dessen Theile von massiger Dicke bereits abgeschla-
gen und verschmiedet hatten. Auch für den schlechten Tausch, zu dem sie
sich, anscheinend aus Leichtsinn, überreden Hessen, wussten sie sich aber
bald schadlos zu halten, indem sie in der folgenden Nacht von den zwei
Dreggankern, vor denen die russische Galeote gelegt war, den einen abschnit-
ten und entführten und somit anstatt des unbehülflichen Stückes, welches sie
aufgegeben, ein für sie zur Zertheilung und Verarbeitung weit geeigneteres
erhielten.
Die genannte anomale Behandlung des Eisens und ihre uner-
warteten Erfolge erinnern einerseits wieder einmal an die Leistungsfähig-
keit, welche sogenannte Wilde oder Urvölker durch ihre unbegrenzte Müsse
und die daraus folgende Geduld und Unermüdlichkeit erlangten. Sie bewei-
sen aber andererseits, dass die Völker, bei denen sie vorkamen, mit den
mittelasiatischen Stämmen und selbst mit den nordasiatischen bis zu 62° oder
63° Breite entweder nie in Verbindung gestanden haben oder doch sehr früh
von ihnen getrennt wurden. Namentlich aber vor dem 12. Jahrhundert un-
serer Zeitrechnung von jeder bis zu den Mongol-Türken reichenden Tradition
und sogar — respective nach zweien in etwa gleichem Grade begründeten
Angaben chinesischer Geschichtsschreiber - vor dem 4. oder dem 12. Jahr-
hundert u. Z. von jeder bis ins Innere von China reichenden. Schon zu
•) Es war dieses wahrscheinlich eines der Fahrzeuge der ostindischen Compagnie, die
gich in Folge der dritten Cook'schen Reise nach einem von Capitain King entworfenen Plane
um den Pelzhandel an der nordamerikanischen und au der nordasiatischen Küste beworben
haben. •
393
diesen Zeitpunkten übten nämlich die genannten asiatischen Völker diejenige
vollendete Schmelz- und Schmiedekunst, die ihnen das Stahl zu zweien von
ihnen erfundenen Operationen, das Feuerschlagen und die Anfertigung
und geographische Verwendung von Magneten, lieferte*) und welche sich
bis in die Gegenwart bei so isolirten Gliedern ihres Stammes wie die Jaku-
ten an der Lena erhalten hat.**) — Für die Geschichte der Metallurgie bei
den Koljuschen und einigen ihrer Nachbarn ist aber endlich auch der Um-
stand beachtenswerth , dass die Sprache der ersteren von jeher ein Wort für
schmieden besessen hat und ein mit diesem etymologisch zusammenhangen-
des für Kupfer. In dem koljuschischen Worte at-ik hi = schmieden scheint
nämlich unverkennbar das kol. Wort ikh = Kupfer zu liegen, insofern nur
der ersten Sylbe von jenem ein ähnlicher Begriff zuerkannt wird, wie der-
selben in den koljuschischen Worten: at~chuth = zimmern und at-igakük
= ein Künstler oder Meister. Jedenfalls hat aber das jetzige koljuschische
Wort kies = Eisen mit dem Worte für schmieden keine Aehnlichkeit. —
Bei den Aleuten verhält es sich umgekehrt, denn erst von ihrem Worte
khumljagukh = Eisen ist bei ihnen khumljaguch sinak ein Schmied
gebildet, und beide moderne Benennungen eines neuen Begriffes haben nichts
gemein mit dem aleutischen Worte känujakh = Kupfer. Dieses letztere ist
dagegen identisch mit' dem Namen des Kupfers bei allen kadjakischen
Stämmen bis einschliesslich zu den Namollen jenseits der Beringsstrasse,
gerade so als ob in dieser metallurgischen Beziehung eine aus dem Innern
von Amerika sowohl nach Asien als südwärts längs der Küste reichende Tra-
dition sich auch, von Kadjak und Aljaksa aus, noch einmal westwärts zu den
Aleuten gewandt habe. Die entsprechende selbständige Kunde der Ko-
ljuschen hat sich dagegen an der Küste ohne Uebergang zu den ferneren
westlichen Inselbewohnern erhalten.
(Fortsetzung folgt.)
*; Vergl. meine „Bemerkungen über ein bei den Jakuten und in Andalusien gebräuch-
liches Feuerzeug" im Arch. für wissensch. Kunde von Russl., Bd. XIX, S. 310. Dass die Ko-
ljuschen und die Aleuten zu der weit überwiegenden Majorität des Menschengeschlechts gehört
haben, die sich selbständig nie über das hölzerne Reibefeuerzeug erhoben, ersieht man aus
dieser Abhandlung* möge aber hier noch ausdrücklich erwähnt sein.
**) Arch. für wissensch. Kunde von Russl., Bd. XI, S. 308.
394
Die Goajiro-Indianer.
Eine ethnographische Skizze von A. Ernst, Caracas.
'Mit Karte und Abbildungen.)
(Schluss.)
Schon oben wurde des in Sinamaica stattfindenden Verkehrs mit den
Weissen gedacht. Der Handel ist Tausch und wird durch Dolmetscher
vermittelt. Es wäre unzweifelhaft im wohlverstandenen Interesse Venezuela's,
diesem Gegenstande mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, als wenigstens jetzt
der Fall ist. An den Küsten erscheinen nicht selten holländische und eng-
lische Fahrzeuge, welche Landesproducte, namentlich Campecheholz, Dividive
und Vieh gegen europäische Kurzwaaren und Waffen austauschen. Zu gegen-
seitiger Sicherstellung geben sich beide Partheien Geissein, die nach beendig-
tem Geschäfte wieder ausgeliefert werden. Trotz dessen werden die Indianer
stets auf das Schändlichste betrogen. Eine hierher gehörige Geschichte, die
viel von sich reden machte, ist die des Sehooners Loinaz, in dem ein Mann
aus Puerto Cabello, Namens Laroche, nach der Küste der Goajiros segelte,
um Tauschhandel zu treiben. Da die Indianer sich übervortheilt sahen, und
überdies auch Nachricht erhalten hatten, dass Laroche zwei als Geissein an
Bord befindliche Töchter des Häuptlings prostituirt hatte, erschlugen sie ihrer-
seits den Bruder des Laroche, der sich bei ihnen als Geissei befand, und
nahmen seinen Begleiter nach dem Innern, ohne dass man weitere Kunde
von ihm erhalten hat. Laroche setzte die Behörden in Maracaybo und in
Caracas in Bewegung; Zeugen wurden vernommen und lange Actenstücke
geschrieben, die sich im Archiv des Regierungsgebäudes in Caracas befinden
(Legajo VII, carp. 6, esped. 1). In der unangemessensten Weise verfügte
man eine Expedition gegen die Indianer; Colonel Escolästico Andrade befeh-
ligte den Zug. Die ersten besten Indianer wurden niedergemetzelt, ohne zu
untersuchen, ob sie dem betheiligten Stamme (der sogenannten parcialidad
del Crespudo) angehörten. Die ganze Sache hatte nur Misshelligkeiten im
Gefolge und war sicherlich das beste Mittel, um die Indianer von allem Ver-
kehr mit den Weissen abwendig zu machen.
In anderen Fällen scheinen die Goajiros allerdings der Ausübung des
Strandrechts sich schuldig gemacht zu haben, obgleich es mir unwahrschein-
lich ist, dass sie wie ehedem die Bewohner von Helgoland Gott um einen
gesegneten Strand angerufen hätten ! Hierher gehört der Schiffbruch der Brigg
La Silla im Jahre 1845 und des französischen Schiffes Frontier Calais (Juli
ik:«).
Wie bei allen Indianerstämmen ist das Weib auch bei den Goajiros
39$
Gegenstand des Ankaufs. Der gewöhnliche Preis ist fünf Kinder oder «in«
entsprechende Menge Baumwollenstoffe , Branntwein oder dergleichen. Der
Bruder der Mutter eines Mädchens hat das Verkaufsrecht und
erhall auch den Preis. Die Goajiros meinen uämlich, betreffs des Vaters
könnten Zweifel obwalten; diese seien allerdings mit Beziehung auf die Mut-
ter nicht vorhanden, doch habe diese als Weib eben keine Rechte, diese
ständen ihrem Bruder zu. Tst der Kaufpreis Branntwein, so wird er gewöhn-
lich noch am Tage des Kaufs von den gesammteu Anverwandten consuniirt.
Eine besondere Hochzeitsceremonie findet nicht statt. Die Frauen sind im
Allgemeinen treu. Vielweiberei kommt nur bei den Reichen vor. Eine Frau
kann von ihrem Manne Verstössen, auch wieder verkauft werden, und kann
sie sich im ersteren Falle mit einem anderen verheirathen. Die Frauen be-
sorgen die häuslichen Angelegenheiten und den geringen Feldbau. Bei Wander-
zügen sind sie die Lastthiere, doch werden sie von den Männern nicht son-
derlich hart behandelt. Es ist sogar der Fall vorgekommen, dass ein Stamm
eine Frau zur Anführerin hatte. Der Name dieser Amazone war Rosa und
sie soll sich der unzweifelhaften Gunst eines dermaligen Commandanten in
Sinamaica erfreut haben.
Es scheint nicht, dass die Eltern viel Liebe zu ihren Kindern hegen,
da sie dieselben häufig nach Sinamaica zum Verkauf bringen. Der Preis ist
gewöhnlich 10 bis 15 Thaler für einen Knaben oder ein Mädchen von 8 bis
9 Jahren. Das Geschäft wird gerichtlich abgeschlossen; der Käufer unter-
zeichnet ein Document, in welchem er als Vormund (tutor) des Kindes
bezeichnet wird, und verpflichtet sich, dasselbe in die katholische Kirche auf-
nehmen und in der Religion unterweisen zu lassen. Dafür hat der Indianer
bis zu seinem 17. Jahre im Dienste seines Vormundes zu verbleiben. Die
Massregel ist durchaus nicht zu verwerfen. Die indianischen Dienstboten,
deren es in Maracaybo und auch in Caracas viele giebt, werden sehr gut
behandelt, da sie in der That auch viel besser sind, als die grosse Mehrzahl
der Mulatten und Zambos. Jedenfalls ist jener Brauch ein vernünftiges Mittel,
um wenigstens einige Goajiros zu civilisirten Menschen zu machen. Sie keh-
ren allerdings nur in den seltensten Fällen wieder in ihre Heimath zurück,
und die, welche es thun, haben sicherlich bis jetzt noch keinen Samen der
Civilisation ausgestreut.
Die Kinder scheinen gegen ihre Eltern ebenfalls keine besondere Liebe
und Anhänglichkeit zu besitzen. Ein Knabe von vielleicht 12 Jahren vom
Stamm der Pusainas, der als Laufbursche in dem Hause meines Freundes
Cuello lebt, spricht von seiner Mutter nie, und weiss von seinem Vater nur,
dass ihn ein Cocina erschlug.
Die Stämme zerfallen in Abteilungen (parcialidades oder rancherias).
Jede hat ihren Anführer; doch hat derselbe keine bedeutende Gewalt. Alle
Stämme hassen und verfolgen sich gegenseitig. Die Blutrache erscheint
bei ihnen in einer sonderbaren Form. Der Mörder hat nämlich den Ver-
396
wandten des Erschlagenen das Blut des letzteren zu bezahlen („pagar la
sangre"). Der Preis ist verschieden und schwankt von 1 bis 5 Rindern.
Diese Regel wird selbst nach einem Kampfe zwischen zwei Stämmen beob-
achtet, und es ist vorgekommen, dass der eine trotz überlegener Gewalt sich
zurückzog, weil er sich nicht reich genug glaubte, die Todten zu bezahlen.
Das äussere Benehmen des nüchternen Indianers ist ernst und schweig-
sam. Sie reden wenig und ohne Gesticulation. Im Zustande des Rausches
dagegen ist es gerade das Gegentheil. Die meisten hassen die Spanier und
deren Abkömmlinge; weniger feindlich stellen sie sich anderen Fremden
gegenüber. Wer die Reise von Maracaybo nach Rio Hacha zu Lande macht,
thut am besten, sich irgend einem Stamme anzuschliessen, und wird dann
für die Reise (etwa 3 Tage) als einer der Ihrigen betrachtet, was sogar ge-
wöhnlich eine temporäre Verheirathung im Gefolge hat.
Die Goajiros sind leidenschaftliche Säufer. Ausserdem tanzen sie gern,
doch stets einzeln, nach dem Tone einer Rohrpfeife, einer Art Trommel und
der Maraca. Die letztere ist die an einen Stock befestigte leere Schale der
Calebassenfrucht, die mit 30 bis 50 Erbsen, Maiskörnern oder kleinen Stein-
chen angefüllt ist. Durch rhythmisches Schütteln wird ein Geräusch hervor-
gebracht, welches als nothwendige Begleitung aller Musik (auch bei der nie-
deren Klasse der Creolen) angesehen wird. Die Pfeife ist ungefähr zwei
und einen halben Fuss lang, besteht aus mehreren Rohrstücken von verschie-
dener Dicke und ist nach dem Princip der Clarinette oder mehr noch des
Fagotts construirt. An dem dünnen, oben geschlossenen Mundstück befindet
sich seitlich ein vibrirendes Blättchen, welches einen nach unten freien Aus-
schnitt deckt. Die andern Stücke sind dicker; sie werden in einander ge-
schoben und die Verbindungsstellen dicht mit Schnur umwickelt. Etwas unter-
halb der Mitte hat die Pfeife vier Löcher und am Ende ein aus einer halben
Calebassenschale gebildetes, einfach aufgeschobenes Schallstück. Die Töne
des Instrumentes haben einen schnarrenden Charakter und liegen nahe bei
einander, gewöhnlich in der Nachbarschaft des eingestrichenen g. Der Pfei-
fer tanzt bei seiner Musik in wilden Sprüngen.
Im Falle ausbrechender Feindseligkeiten wird keine Kriegserklärung ge-
geben ; man sucht den Gegner vielmehr zu überrumpeln. Ursache zu Käm-
pfen ist gewöhnlich Raublust oder Hunger. Die Cocinas sind die schlimm-
sten von allen. Sie sind erklärte Feinde der übrigen Indianer und aller
Fremden, vagabundirend , unbezähmbar, rachsüchtig, grausam und viehisch.
(Sollten sie eine Art unterdrückter Ureinwohner sein ?)
Es ist seltsam, dass die Goajiros durchaus keine religiösen
Vorstellungen haben. Ich habe zahlreiche Individuen in allen möglichen
Formen darüber befragt, aber nie das geringste erfahren können. Dasselbe
berichten auch Andere, die Gelegenheit hatten, sie länger zu beobachten.
Nur in einem aus Maracaybo erhaltenen Glossar finde ich eines guten Geistes
(marsiba) und eines bösen (yarfä) Erwähnung gethan. Der Name piache
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ist ihnen nicht bekannt und wird nur von den Venezuelanern auf ihre ouc-
tesch oder Beschwörer angewendet. Nach Casanova (Diario de Avisos de
La Guayra, 27. Februar 1858) soll sich dieser durch den Rauch einer aus
Zeuglappen gemachten Cigarre inspirii;en und Orakelsprüche abgeben.
Ich glaube von der Sprache der Goajiros, diesem wichtigsten Element
für ethnographische Kritik, keine bessere Anschauung geben zu können, als
durch Mittheilung eines Glossars, welches nach Materialien entworfen wurde,
die theils in Caracas von Herrn Dr. J. Cuello, theils in Maracaybo von Herrn
J. V. Urdaneta gesammelt sind. Wenngleich das Wörterverzeichniss dürftig
ist, so ist es vielleicht doch genügend, um einen Schluss auf Abstammung
und ethnographische Verwandtschaft der Goajiros ziehen zu können. Ich will
hierbei en passant bemerken, dass ich in J. A. de Plaza, Memorias para la
historia de la Nucva Granada (Bogota), gelesen habe, es existire in Stock-
holm ein handschriftliches vollständiges Wörterbuch der Goajirosprache.
Könnte nicht ein Ethnograph daselbst weitere Nachsuchungen anstellen?
Mit Bezug auf die historischen Schicksale der Goajiros sind die
Quellen, wie bereits oben bemerkt, sehr spärlich. Die Spanier rersuchten
selbstverständlich mehrfach ihre Unterjochung, aber stets ohne irgend welchen
Erfolg. Unter der Regierung des Vicekönigs von Bogota, Jose de Solis
Folch de Cördova (1735 — 1760) wurde D. Bernardo Ruiz de Noruega mit
der Eroberung betraut (Relaciones de los Vireyes del Nuevo Reino de Gra-
nada, compiladas por el Dr. Jose Ant. Garcia y Garcia, Nueva York, 1869,
pag. 15). Die Sache kam indessen nicht zur Ausführung. Kleinere Streif-
züge dauerten auf beiden Seiten fort, bis unter dem Vicekönig Antonio Ca-
ballero y Göngora, Erzbischof von Cördova, ein gewisser Antonio Arevalo
die Cocinas zur Ruhe brachte (op. cit. 183).
Aus dem Bericht des letztgenannten Vicekönigs theile ich die nachfol-
gende interessante Stelle in Uebersetzung mit (pag. 260. 261 des cit. Werks):
„Die Provinz Rio Hacha wird noch von einer erstaunlichen Anzahl Goajiros
und Cocinas bedroht, und behauptet man, diese hätten 10,000 Krieger. Die
Furcht vor ihren Einbrüchen dauert fort, obgleich D. Ant. Narvaez, der lange
Jahre hindurch Gouverneur dieser Provinz war, der Meinung ist, dass, wenn
die Unsrigen sie nicht verletzten und plagten, oder den Diebstahl einer Kuh
sofort mit dem Blute vieler Indianer rächen wollten, diese ihrerseits ruhig
bleiben und das mit ihnen bestehende friedliche Verhältniss nicht zerstören
würden. Dies würde die geeignetste Gelegenheit sein, sie zu einem civili-
sirten und staatlichen Leben zu bringen, dem allerdings die herumstreifende
und wilde Lebensart der Indianer widerstrebt, die sich in kleine Abtheilun-
gen oder Haufen theilen, wegen der Notwendigkeit, von Berg zu Berg und
von Fluss zu Fluss ihren Unterhalt zu suchen." Um sie sesshaft zu machen,
schlug Narvaez vor, Jedem einige Ziegen, eine oder zwei Kühe und einige
Hühner zu geben, ihnen Häuser zu bauen und beim Urbarmachen ihrer Fel-
der behülflich zu sein.
308
In der Relacion de Ezpeleta (op. cit. S. 363) heisst es von ihnen: „Sie
greifen selten au, obgleich sie gelegentlich einige kleine Räubereien in un-
seren Besitzungen ausüben. Wenn aber der Diebstahl eines Pferdes oder
die Zerstörung eines Saatfeldes durch ein Bhitvergiessen gerächt werden sol-
It-n, so ist es sicher, dass der Indianer sich wiederum rächen wird und zwar
mit Wucher."
Trotz dieser jedenfalls sehr vernünftigen Ansichten fuhr man fort, die
gewaltsame Unterwerfung zu betreiben. Die Erfolge waren aber so wenig
erfreulich, dass Mendinueta (1803) in seinem Berichte sagt (S. 549 der Rela-
ciones): „Der Plan, sie mit Gewalt zu unterwerfen, ist nicht gelungen. Es
ist gleichfalls beinahe unmöglich, sie durch Sanftmuth, Unterweisung in un-
serer Religion und unseren Gesetzen zu eivilisiren-; denn sie sind durch den
Verkehr mit Fremden und die Freiheit ihres Handels schon sehr gewitzt
(„resabiados") und wollen sich mit unsernl System nicht vertragen."
In der darauf folgenden Periode des Unabhängigkeitskrieges verlor man
natürlich die Goajiros ganz aus dem Auge, und erst durch ein Gesetz vom
13. September 1833 wurde ein neuer Versuch zu ihrer Unterwerfung („re-
duccion") angebahnt. Man ernannte Caporales oder Häuptlinge für die ein-
zelnen Stämme. Später berief man spanische Capuciner als Missionäre. Diese
erreichten indess gar nichts, und die venezuelanische Regierung hatte nichts
als Klagen, Beschwerden und Unannehmlichkeiten von dieser Pfaffeneinfuhr.
In der neuesten Zeit hat man sich auf die Regulirung des Grenzverkehrs in
Sinamaica und die Ueberwachung der Rinderausfuhr beschränkt. Wo wäre
auch Venezuela, das leider aus seinen ewigen inneren Unruhen nicht heraus-
kommen kann, im Stande, etwas Nachhaltiges gegen die Goajiros zu unter-
nehmen! Es scheint, dass augenblicklich einige diplomatische Misshelligkeiten
betreffs der Halbinsel zwischen Venezuela und Neu-Granäda in der Schwebe
sind, und es hat wirklich ein angesehener Mann den mehr als seltsamen Plan
vorgeschlagen, die Goajiros sämmtlich gewaltsam in andere Gegenden Vene-
zuela^ zu schaffen, um sich ihrer als Feldarbeiter zu bedienen. Glücklicher-
weise wird aus alle dem nichts, und bei den eigenthümlichen Verhältnissen
der beiden Nachbarstaaten ist den Goajiros noch eine lange Unabhängigkeit
beschieden. Sollen wir das beklagen oder uns dessen freuen? Die Antwort
ist nicht leicht. So viel aber ist gewiss, dass die Civilisation, die Venezuela
oder Neu-Granäda jetzt ihr geben könnten, nicht die Anstrengungen und
Opfer einer Eroberung werth ist.
399
Verzeichnis von Wörtern aus der (jioajiro-Sprache.*)
A.
Abend, ariuea.
Abendstern, joröt.
Acacie (Acacia forty osa, UV/A/.), aipia.
acht, niesquisar.
alt, muilleu, araurä.
Angelhaken, curia.
arbeiten, acütjasch.
Arm, tatuna.
arm, camamisa (letztes a sehr dumpf).
Armadill (Dasypus), querü.
Auge, toüj.
Axt, chajaruta, pöruj.
B.
Banane (Musa paradisiaca, L.), purana;
(Musa sapienlum, L.), guinea (span.).
Bart, teima.
Batate (Batatas edulis, Chois), jäisch.
Baum, unü.
Baumwolle, mauri.
Bär, cayuri (wahrscheinlich Ameisen-
bär).
Berg, üchi.
Beutelratte (Didelphys), uariuj.
Bienenstock, mapässe (cfr. Honig).
Blatt, sipana.
blau, nits.
bleib, yajt.
bleib hier, yajt yayä.
Blitz, acäpalla, schiiräjuya.
Blume, jussi.
Blut, guaschä.
Bogen, j urach.
Bogensehne, jurachäpo.
Bohne, schwarze, carsälia.
Bohne (frijol d. Spanier), quepeschüna).
Boot, lancha, anua (von canoa).
böse, majiis.
bring, saja, painca.
bring mir, sajama, paincama.
Bruder, tajap.
Bruder, älterer, tapaya.
Bruder, jüngerer, temaliyi, temursc.
Brust, tanitälu, huaitupua.
Brüste, tachira.
C.
Cactus, yorü
Cassave, assüjal-lü.
Chinchorro (Art ordinärer Hängemat-
ten), siri.
Cocosnuss, cöco.
Coralle, cururasch.
D.
Daumen, jouschu, schiqui. tajäpira.
Dieb, caluarala.
dieser, tu (u sehr dumpf).
Donner, jiiye, aturs.
Dorf, pichi.
dort, chayä.
drei, apuni.
du, piä.
E.
Ebene, nachuä.
Ei, juschucu.
Eidechse, caranirschari.
einäugig, machauri.
eins, guane.
Eisen, cachuer (Nagel).
siguarali (Kessel).
Enkel, tarin.
Enkelin, tariu jier.
er, chirä.
Erde, muä.
*) Die Aussprache ist nach spanischer Weise gegeben worden.
400
erzürnt, tatuj.
Esel, pulico (sparj. burrico).
essen, ecussa.
Excremente, chaä.
Faden, sipata.
faul, schucurass.
Feder, lange, jitiinna.
Feder, kurze, sumurera.
feig, cainpijess.
Feind, taanü.
Feuer, sigui.
Fieber, porona.
Finger, tajapira.
Fisch, jime.
Flasche (irdene), japuinca.
Flasche (grosse mit Korbgeflecht be-
deckt), mesana.
Fledermaus, pusichi.
Fleisch, jiirco,päa (letzteres span. vaca).
Fliege, juyümule, jurconurer.
Flinte, carcoso, carcabus (span.).
Floh, jayapa
Fluss, ruop.
Frau, jier. (Quandt giebt hiäru als
arawakisch für Frau.)
Freund, tatansjut.
Frosch, iper.
fröhlich, anastain.
Frucht, gi.
Fuchs, narir.
Füllen, potr (span. potro).
fünf, j arare.
Fuss, uöli, guagüi.
G.
gebären, jemeyus.
geben, püpanümai.
ich gebe, pap.
ich gebe dir, pap pir.
gieb mir, papma.
gehen, aunusch.
ich gehe fort, auni tayä.
du gehst fort, auni chipia.
er ging fort, unts.
geh fort, pünata.
lasst uns gehen, jauyö.
Geist, guter, marsiba.
Geist, böser, yarfa.
gelb, poroinsia.
Geld, ner (span. di-ner-o).
geschwind, camora.
Gesicht, oupuna.
gestern, soncaricaica.
gesund, anainchi.
Gewebe, anion.
Gold, oro (span.).
Gras, arama (span. grama).
gross, moröi.
grün, yotas.
gut, hanas.
H.
Haar, taval-la, guaguara.
Hängematte, jamäa.
hässlich, majus (siehe böse).
Häuptling, alagla, jaraura.
Hahn, garina (span. gallina, Henne).
Haifisch, peryuri.
Hals, tanulo.
Hammel, arner (span. carnero).
Hand, huajapa.
Haus, pichi.
Herz, guani.
heut, joucäl-li, noncacaicaichi.
hier, yayä.
Himmel, siruma.
Holz, unü (siehe Baum).
Honig, mäpa.
hübsch, anachon.
Hut, uon.
Hund, erro (span. perro).
I.
ich, tayö.
401
Iguana, iguana.
ihr, jaya.
Indianer, guayü.
Indianerin, huaricha (ist caribisch und
zweifelhaft für die Goajirosprache).
ja (durch Wiederholung der Frage aus-
gedrückt).
Jaguar, caraira.
jener, niasa.
jetzt, jöru.
Jungfrau, jimaalo.
K.
kalt, jimieis.
Kamm, posuta, pastä.
Kaninchen, alpana.
Kinn, teiyalima.
Klapperschlange, mara.
klein, jintuf-li, morsachon.
Knabe, tepuich.
Knochen, jüalse, schimschia.
Knopf, carura.
Kohle, puschüscha.
Kohle, glühende, sigui (Feuer).
kommen, schuschi.
er kam, scheisch.
komm, areche.
komm du, arechipia.
Kopf, tequi.
Körper, huatapa.
krank, ayurs.
Krebs, jororo.
Krieger, guayabas.
Kröte, acors.
Kürbis, uir.
Kuh, pa (span. vaca).
lachen, asül-lejisch.
lahm, schatsch.
lang, jaapu.
Zeitschrift für Ethuologie, Jahrgang 1S70.
Lapa (Coelogeny j Paco), paüia.
laufen, taguachirassa.
Laus, mapui.
lebendig, catauchi.
leer, jotuso.
Leuchtkäfer (Elater ■noctilucus), canä.
lieben, älschi, aisinipura.
liegen, sarain.
es liegt mir nicht daran, aiteire.
M.
Made (im Käse), jocoma.
Mädchen, kleines, jintor.
Mädchen, erwachsen, isas.
Mädchen (unverheirathete Person), ma-
juyen.
Mais, mäique.
Maisbrod, yäja.
Mann, guayü, jarich.
Maus, uiyel-ligua, pichauri.
Meer, parä.
Melone, meruna (span.).
Messer, ruli.
milchig, coyu.
Mond, cäschi.
Morgen (Subst.), hualtachö.
morgen (Adv.), gualtä.
Mücke, marir.
Mund, teimata.
Mutter, mama.
N.
Nacht, älpaa, aipä.
Nadel, uchiye, atia.
Nagel (unguis), tapatäuscha.
nahe, pejess.
Nase, teichi.
nein, napor.
Nest, sura.
neun, jivana.
0.
oben, uimpuä.
27
40i
Ochs, tola, oebij (span. toro, novillo).
öffnen, päcara.
Ohr, tache.
Papagei, calesch, oroyorü.
Papier, cararanta (span. carta, Brief).
Peitsche, gurara (carib. guaral, starke
Schnur).
Perlen, caeuna.
Pfeil, jatii, jimula (vergiftet).
Pferd, amma, jama.
Puma, nasasch.
R.
rauchen, asinasch (Tabak).
Reh, iraraa.
reich, guaschir.
reiten, ama-usch.
Rinde, jütta, susta.
Rochengift, imarö.
Rohr, parala.
roth, schoeö.
Kücken, tasappo.
Sack, tarega (span. talega).
sagen (was sagst du, casa puche).
Salz, chi, ichi.
Sandfloh (ist unbekannt).
Schabe (Blattete spec.), sipul-la, caschap.
Schädel, bisqui.
Scheere, parajus.
Schildkröte, sihuanira, saguair.
Schlaf, tuuques
schlafen, jatüneussu.
Schlange, uül-li, güiri.
schliessen, serera (span. cerrar)
Schmetterling, guaguache.
schreien, auartass.
Schuh, sapat (span. zapato).
Schwager, taresch.
schwanger, ipüol.
schwarz, morsiya.
Schwertfisch (Xipkias), yatara.
Schwester, taschumii
Schwester, ältere, tapaya jier.
Schwester, jüngere, temalirua, temuima.
Schwiegerin, tarinu.
schwimmen, catanasch.
Scorpion, yauru.
sechs, aipirü.
sehen, terajäin, terin.
ich habe ihn nicht gesehen, napor
terin.
setzen, joyetüsch, sorö.
sie (3 Pers. Plur.), nayä.
sieben, acarare.
singen, eirjasch, ayäguajas.
Sohn, tachöu.
Sommer (trockene Zeit), muriofantari.
Sonne, cäli.
sprechen, yoiirnutüss, auschujass.
stark, caroläisch, pataeuna.
stehen, schavatüsch, schaurts.
stehlen, al-luäjisch, armasch.
Stein, ipä.
Stern, ciliguäla.
stinkend, quejuns
Stinkthier (Mepkiti«), yarina.
Stirn, teiporü.
stumm, maneisai.
Stute, jama jier.
Tabak, yül-li, yuri.
Tag, jocal-li, cari.
tanzen, oyarnojassa.
taub, macheisai.
Taube, iruli, guaguas.
Thal, jiiehi.
Tochter, tachöu jier
todt, autsch,
tödten, autusch.
Totuma (Schale der Frucht des Calebas-
sen-Raums, Crescentia C-ujete^ L.), ita.
403
traurig, justain
trinken, assüssa, tasiu.
Urin, schira.
unten, napuä.
ü.
V.
viel, maima.
vier, pienchi.
Vogel, uchi.
vorgestern, uanecalica.
W.
Wärme, guaraschisa.
Wald, ünu, uniiquigua.
Waldraesser, charajuta.
wann, jauja.
warm, jeisch.
was willst du? casa puchequi?
Wasser, ui, uin.
Wassermelone (Citrullvs), calapasa
(span.).
Weide (/'asan/m^, arama (span. grama,
eine Art Gras),
weiss, uulejtalli, casuto.
weisser Mann, alijun-na.
weit, uartass.
wer, jaun.
wie heisst? casa ton?
wie viel? jer?
wie viel mehr? jer ma?
Wind, joutäl-li.
Winter (Regenzeit), juyap
wir, guayä.
wo ist? jaraschia?
wohlriechend
jemets.
wohlschmeckend
Wurm (in den Maiskörnern), raligua.
Yuca ( Yanipha vtilisstma), süsse, uol-
gona, aya.
Yuca, bittere, guayamala.
Zahn, tali.
Zehen, japira töli, siehe guagüi.
zehn, porö
Ziege, caura (span. cabra).
Zunge, meine, taye; eines anderen niye.
zwei, piamo.
Ethnologische Beiträge.
Bei den von Fahian (399 p. d.) besuchten Uiguren erkennt*) Yam-Yen-Te
(981 p. d.) tiefliegende Augen und lange Nasen, zu einer Zeit, wo sie unter
*) Von den 'obwohl an Dialecten verschiedenen) in Sitten übereinstimmenden Völkern
der Ta-Wan, Ta-Hia und Ansi (Asi) bemerkt Ssemathien (100 a d.), dass sie tiefliegende Vugen,
starken Hart und Schnurrbart haben 'von den Chinesen im Metallschmelzen unterrichtet). Zur
/fit der Thang werden die Bewohner von Khangkiu beschrieben als grossäugig und lang
und ebenso heisst es im Wen hian thoung khao von Khan^kiu (mit der Stadt Alouti), dass die
Bewohner tiefliegende Augen und vorstehende Nasen haben-, sowie starken Bart D.is Gebiet
27*
404
der Herrschaft der besonders unter Wang-lou-ching (1001 p. d.) mächtigen
Hoeihe (Kaotche der uigurischen Hauptstadt Kiao tschin's) standen. An die
(759 p. d.) unterworfenen (und als gelbrothe Hakas nach Norden getriebenen)
Kian-kuen ging (841 p. d.) der Stammsitz der Hoeihe (am Arkhon) verloren,
und beide Völker mischten sich nun (wie früher in längeren Kämpfen, jetzt)
durch ihr Zusammenwohnen, so dass die Besetzung der (vormals chinesischen)
Provinz Si-tscheou (im Lande Khamil und Turfan) von einem zwar Hoeihe
genannten , aber aus Hoeihe und Hakas gemischten Volke (962 p. d.) aus-
ging. Als diese (durch ihre uigurischen Unterthanen, sowie die früheren Be-
ziehungen der Hakas zu chinesischer Civilisation gebildeten) Herrscher dann
durch die in China aufstrebenden Kutan nach Westen gedrängt wurden
(während die eigenen Könige der Uigur-Kaotschang in chinesischer Vasallen-
schaft verblieben), trieben sie dorthin die Keime der späteren Usbeken-Macht
(schon vorher in friedlicher oder feindlicher Berührung mit den übrigen Tür-
kenstämmen). Von den kriegsgefangenen Turk, die an dem Hofe der Sassa-
niden zu Ehrenstellen (unter Persern und Arabern) befördert wurden (wie
die uigurischen Schreiber an dem Hofe Djingiskhan's), verbreitete sich rasch
der Islam, so dass der Name der Hoeihe oder Hoeihoei den Chinesen bald
zu allgemeiner Bezeichnung der Mohamedaner diente.
Die Vorfahren der Uiguren (oder Khou-li-fi-lo) wohnten am Flusse Arkhon
(im Karakorum- Gebirge entspringend), und ihr Reichsstifter Boucou-Khan,
der (745 p. d.) die Thukiu besiegte, soll (nach den chinesisch gelesenen In-
schriften seiner Residenz am Arkhon) der Abkömmling von zwei Bäumen
gewesen sein (s. Djouveini), wie auch (nach Klaproth) Ouigour-Kkan von
einem Baume, der im nördlichen Paradiese wuchs, geboren gewesen. Bhou-
cou-Khan war der Erste, der die Uiguren in die Ebenen von Turkistan führte,
ein (847 p. d. von Kirgisen und Chinesen zerstörtes) Reich im Osten grün-
dend, und die von ihm erzählte Abrichtung drei wunderbarer Krähen im Spre-
chen deutet auf die dann durch ihre höhere Cultur (in Bischbalig oder der
Fünfstadt unter dem Idi-cout oder Landesherrn betitelten Fürsten) und Schrift,
erlangte Superiorität des Uigurischen (Osttürkischen), worin Rubruquis des-
halb die Wurzel der türkischen und kumanischen Sprache findet, indem diese
lingua U^oresca für die tuikomanischen Wandervölker eine ähnliche Bedeu-
tung erlangte, wie die arabische des Koran für die semitischen. Die Ab-
stammung von dem am Boden wurzelnden Baume*) zeigt den Eingebornen
im Gegensatz zum Wandrer, der in dem unstäten Thier seinen Ahn erblickt.
der Usiun lag am oberen Etzina in Kantscheou, Soutscheou und Schatseou am Nordfuss des
Bchneeigen Nan-Shan und am Ufer des Boulounghir. Die langen Pferdegesichter lagen (für die
Chinesen) westlich von Turfan. Kaiser Hiawuti hörte von der Flucht der Yueitchi, deren König
vmi den lliorignu getödtet war. Der allein übrige Königssohn der von den Hiongnu vernichteten
Usiun wurde (durch ein Wunder erhalten) von den Tschen-yu zum Könige des noch übrigen
Volkes einge.sit/.t.
*) Die (bei der Trennung) nach dem Irtisch gezogenen Uiguren (um dort von der Jagd
zu leben, wahrend diu andern sich- in Bish-balig niederliessen) könnten (nach Fischer) die Vor-
405
Bei Beschreibung der Usiun als einer blonden Rasse erwähnt der chine-
sische Geschichtschreiber zugleich ihre im Aeussern deutliche (wie bei den
Hunnen für Ammian , dem sie als zweibeinige Thiere erschienen) Herstam-
mung von den Affen, eine auf ihre alte Heimath zurückführende Sage (auf
die Grenzgebirge Tibet's, wo dieselbe heimisch ist), während die hellen Haare
und Augen grösstenteils auf Rechnung der unterworfenen Eingebornen in
ihren neuen Sitzen (wohin sie gleichfalls von den Hiongnu gedrängt, den
Yueitchi folgten) zu setzen sein werden, so dass hier unter sibirischen Blon-
den die dunkle Varietät (wie die Nachkommen des Chinesen Li-ling bei den
Kian-Kuen) die adlige Minorität bilden mochte (während umgekehrt bei den Kai-
sak-Kirgisen die helle, in den weissen Knochen, den schwarzen gegenüber steht).
Die von den Yueitchi im Lande getroffenen und (als ihre indoskythischen
Vorgänger) nach Bactrien (als Sacaraulen, neben Asiern, Pasianern und das
durch den Hindukusch von Kabul getrennte Tocharistan benennende Tocharer)
getriebenen Sai entsprechen den nach Iran vorgeschobenen Posten der Sky-
then, wodurch der Name Sacae zum allgemeinen geworden war, und wenn
Strabo später in den Bergfesten des Issikul die Aufenthaltsorte der Sacae
kennt, so ergeben sich diese als die Reste der in unzugängliche Zufluchts-
plätze (auch von den Kara-Kirgisen , als heutige Sitze, bei der sibirischen
Eroberung gewählt) Geflüchteten, ähnlich wie die Garamanten, die früher die
Troglodyten jagten, sich jetzt selbst als Fels-Tibboo verstecken. Die Sai ge-
boten (vor Ankunft der tangutischen Zuwanderer) als Herren im Lande, und
die grosse Masse des Volkes wird aus den als weitest (vom Baikal bis west-
lich vom Ob und Irtysch) verbreitet geschilderten Tingling gebildet sein,
bei denen vor allen die Eigentümlichkeiten der nordisch hellen Rasse als
characteristisch erwähnt werden. Auch bezeichnete ihr Name in der Usiun-
Sprache geradezu die „alten Leute", und wenn sie sich im Norden unabhän-
gig hielten, bis (48 a. d.) in die Gewalt Tschi-tschi's (der bei der Ergebung
des Tschen yu Houhansie an China ein westliches Reich der Hiongnu er-
richtete) fallend, so wird sich die gleichartige Färbung doch von ihren Sitzen
aus bis über die der Hiongnu erstreckt haben, da in Kashgar (Choule oder
Khin-cha) wieder eine blonde Bevölkerung Erwähnung findet, wie auch die
westlich an die Usiun grenzenden Hou-te oder Khou-te dazu gerechnet wer-
den (bis an die Sitze der Massageten, die sich dann in den Alanen oder
Yan-thsai fortsetzen). Die jetzt im Süden der Oststeppe wohnende Grosse
Horde der Kirgisen führt den Namen Uisun. Viele der dienenden Horden
werden damals (wie später unter den Thukiu und weiter) den Namen Ki-li-
ki-szu (Ki-ku oder Khin-wu) geführt haben, und wenn allerdings zu Zeiten
die Kraft des Volkes einen selbständigen Schwerpunkt finden mochte in einem
fahren der Wogulen sein. Obwohl tatarisch redend, heissen die Baschkiren (als andern Ursprungs)
Uschtäk (Ostjäken) oder Fremde (bei den Kirgisischen Kosaken). Tschud bedeutet (bei den
Russen) in allgemeiner Weise die Fremden (Fischer).
406
Midydjito (medischeu Midgard, wie im indischen Madhyadesa), wenn selbst
gläuzeudc Triumphe, wie der Hakas über die Hoeihe, dein Oje den Titel
eines Khakhan verleihen konnten, so stellte sich doch periodisch immer wie-
der das Niveau der schütz- und machtlos wandernden Nomadenstämme her,
wo dann (s. Klaproth) die Horden der Kiankuen mit denen der Thing-ling
untermischt lebten. Der Name Ki-ku in analogen Formen seheint, wie in In-
dien, auch im Westen gebräuchlich zu sein, wo er an den uralten Kikonen
haftet, und die Kilikier treten durch ihre gleichzeitige Bezeichnung als Hy-
pachaer (s. Herodot) in eine mannigfaltige Reihe von Beziehungen. Bei den
Kian-kuen, die (wie die Agathyrsen und andere pictische Nationen Europas)
das Tättowiren übten, übertraf die Zahl der weiblichen Geburten die der
männlichen, eine den Chinesen wahrscheinlich durch die Nachbarschaft der
Usun, bei denen (wie in Tibet) das Gegentheil Statt rinden mochte, auffällige
Beobachtung. Die (tättowirenden) Tungusen, deren eigentlicher Name (nach
Strahlenberg) Tingis war, gelten (nach Abulghasi) als die ursprünglichen Ta-
taren und werden (in den See-Mongolen oder Wasser-Mongolen) mit (homeri-
schen Abiern (Ab, das Wasser) oder Gubiern des Biurnauer Landes der Dauria
(Scythia extra lmaum) identificirt. Der (auf König ) gedeutete) Titel Kuen-mi
oder Kuen-mo (bei den Usun) führt auf das im Siamesischen (und tibetischen
Dialecten) gewöhnliche Khuu ^Khun luaug) und hier würde eher Kuen-ti das
männliche Geschlecht ausdrücken (mia dagegen weibliche Endung bei Thie-
ren). Auch Ongh ist (siamesisch) königlicher Titel (wie im späteren Ung-
khan, als chinesischer \V an oder Fürst von Kara-Kitai). Der Nömadenfürst,
bei dem Fa-IIian auf dem Wege nach Khotan verweilte, hiess Kung sun,
worin Kitter das germanische König findet (in den alten Sitzen der Usun).
Bei den nordwestlich von Sogdiana an den endlosen Sümpfen bis zur Grenze
des Uömer-Reiches lebenden Yanth sai oder (iL Jahrhund. p. d.) A-lan-na
(A-lan-liao oder A-lan) wird von den Chinesen (wie in römischen Kriegen)
ihre Geübtheit im Bogenschiessen erwähnt. Doch waren sie, ausser einer
nomadisirenden, auch eine Städte bewohnende Nation, und unzweifelhaft eine
Handel treibende, worin ihre weiten Wanderungen (in Wagenburgen) bis zum
Ganges (b. Amm.) natürliche Erklärung finden, zumal ihnen die Chinesen als
(raj putischen) Handelsleuten in den Ländern der Liang den Namen Sout (Southe)
beilegen, also den indischer Kaufleute (Setthi oder Soutthe). Ihre Selbstän-
') f)ii appelait les habitans de l'Estie les petits rois, Kuni^s, de leurs villes (au notnhre
d'environ cinquante , ils avaicut pour boisson le Kumiala, pienas et Medos, dans la ceremonie
dos obseqnes ils faisaienl des gueriras (<_riart , boire ä rasades). Une de leurs villes, appelee
Trakas, etail bätie au milieu d'un lac, eile etait entouree de prairies, ainsi qu'une autre, nommee
Lida, Mir nn teil .Uli \ni in des forets, qu'ils exploitaient (890 p, d ). Les Estes (au temps de
Vulfstan) avaienl un boisson fait avec le lait de cavalle (eornuie les Tatares et les Calmouks).
Kumiala s'appelle (en Lituanien) cavalle, quenas signifie lait Kuuigas sijruifle ,ea Lituanien)
pretre, Kuiii^aystas priuee. Medos est une boissou faite de miel chez tous les Slaves. Trakas
en lituanien a le aom d'une prairie qui eutourait la ville de Troki, bätie au milieu d'un lac.
Liditnas veut dire eü Lituauien bois exploite (Siestrzeucevicz).
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digkeit endete mit der Herrschaft des Wang-Houni (Königs der Hunnen),
wie auch vor den Hunnen Attilas zuerst die Alanen fielen. Wie bei der
Besiegung der Usun (156 p. d.) die Sianpi nach Westen vordrangen, mögen
auch früher dort verwandte Stämme geherrscht und die griechischen Erzäh-
lungen von (kalmükkisch) geschorenen Argippäern veranlasst haben. Ihrer
Hegemonie folgte die der Juan -Juan, und da diese (seit Vertreibung der Liang)
Uiguren unter ihren Vasallen zählten, liegt das Hervortreten der Namen Utnr-
guren, Kuturguren, Bulgaren, Ugern bei westlichen Historikern nahe. Als
die Juan-juan selbst vor den Thukiu zu fliehen hatten (554 p. <L), erschienen
sie vor Byzanz als (falsche) Avaren (Sogoren).
Von den Usiun wird bald gesagt, dass sie aus ihren ursprünglichen
Sitzen den vor den Hiongnu retirireuden Jueitchi gefolgt seien, bald dass sie
von diesen in bereits festen Sitzen am Ili angetroffen wären, immer aber
wird einer zweiten Begegnung erwähnt, indem die in diesen Sitzen am Ili
aufs Neue von den Hiongnu bedrängten Usiun auf die Jueitchi im Süden des
Jaxartes gestossen seien, und diese dann (aus Tawan oder Schasch in Fer-
ghaua aufbrechend) auf die ihnen nach Süden (ins bactrisch-griechische Reich)
vorangezogenen Sai gefallen, und sich (Khangkui oder Sogdiana, als das Land
zwischen Samarkand und Bokhara durchziehend) zuerst (unter Tahia oder
Dahae) in Transoxiana (am Nordufer des Oxus) niedergelassen hätten, dann
in Bactrien (und als Eroberer von Kabul oder Kiphin, Kandahar oder Kian-
thowei, Belludschistan oder Foe-leoutscha, Sind oder Jat und sonst in den
Formen der Indo- Skythen) angetroffen wären. Es Hesse sich deshalb an-
nehmen, dass das von den Jueitchi am Ili getroffene Reich ein einheimisches
gewesen, dessen Name sich auf die später anlangenden Eroberer (mir dem
ihrigen amalgamirt) übertrug, so dass diese jetzt fortan als Usiun auftraten,
wogegen er ursprünglich nähere Beziehung zu den Sai (Sakae) gehabt haben
mochte, deren sämmtliche Gebiete deshalb auch dann von den Usiun in An-
spruch genommen wurden. Mit dem Namen der Sai würde dann ferner der
der Asi (Gantsai oder Parther) zusammenhängen, die anfänglich die südwest-
liche Verbreitung der Sai darstellend, sich nach dem Falle ihrer Stammsitze
desto energischer aufrafften, und in geschlossener Macht dem westlichen \ or-
dringen der Jueitchi wehrten, so dass diese nach Süden ablenken mussten,
nach Indien oder Chintou (von wo das Thsian hau chou von dem alten Han-
del durch das Land der Tahia*) berichtet). Wenn Strabo also unter den aus
*) Habitant in partibus oeeidentalibus propter Armeniam Caspii, infra quos est Margiana
juxta totum Assyriae latus, ad mare autetn Cadusii et Gelae [I '<• ) et Dribyces. post quos
porrecti in mediana terram Araariacae et Mardi. Ineoluut deinde regiones quae sunt prope Ca-
dusiorum terram Carduchi et Marundae usque ad Margianum lacum, quae introrsum sunl si
Gelis Margasi, post quos Tropateue extenditur Amariacis tenus, et orientem versusa Zayio inonte
Sagartii (s. Ptol.). Byltae ad Imaum montem cPtol ) Paseuis utuntur desertae terrae in por-
tibus meridianis Patichae et Chuthi, quae media sunt ZadanophydreSj latus ad septentrioues et
oeeasum vergens dicitur ilodomartiee in Carmaniae desertae situs). Incolunt Carmaniae partes
prope deserta »itaa Camelobosci qui vocantur Soxotae ^Zw|öi«i), infra hos a mari extenduntur
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Sogdiana hervorbrechenden Völkern, durch welche das griechisch-bactrische
Reich gestürzt -wurde, der Asi erwähnt, so mögen damit die von den Jueitchi
aus den Usiunländern weiter südlich getriebenen Sai bezeichnet sein, wäh-
rend ihre Verwandtschaft mit den Parthern, die unter den Erwerbungen in
Persien schon einen sie im besondern characterisirenden Typus gewonnen
hatten, aus den Augen blieb, und wenn es (bei Justin) heisst, dass die Asi
die Fürsten der Tocharer gewesen (wie der Name Usbeken den Fürstentitei
der Kiuszu oder Ghuz einschliesst in Beg), so zeigt sich ein in Thouholo
oder Tokharistan ehrender Titel involvirt (während die Bewohner der asischen
Hauptstadt Alanmi sich unter den Thang des Preisnamens der Tokie oder
Tapferen rühmten). Wenn nun die Sai (früher Sakae) oder (anaptyxisch)
Asai (Asi) in das Land der (nach Amin.) bis zum Ganges wandernden Ala-
nen (bei Ptolem.) fallen, so lassen sich weitere Namenveränderungen verfol-
gen. Der auch den Osseten des Kaukasus bekannte Uebergang der Assi in
Alani wiederholt sich (unter den Thang) in Khodjend, wenn bei der Erhe-
bung des Fürsten zum Thseusse der Name seines Staates aus Alan in Asit-
cheou (District der Asi) verändert wird. Gleichzeitig (660 p. d.) erhielt das
aus dem Geschlecht der Grossen Jueitchi beherrschte Königreich von Cha-
sepi (Kesch bei Samarkand) den Namen Sse (Sai) oder Che, so dass auch
hier eine Erneuerung der alten Bezeichnungen Statt fand. Die Yanthsai hat-
ten unter den Han ihren Namen in Alanna verändert, bis zum caspischen
Meer (nach Ssemathien) wohnend. Der jüngste Uebergang des Asen-Namens
nach Europa (zur Zeit der Völker mischenden Kriege des Mithridates) ge-
wann in Aspurgium den Ausgangspunkt für den Norden, aber schon früher
hatte er (vom troischen Askanien oder Askenaz aus) in etruskischen Asoi
und gallischen Hesus die Völker des Westens durchweht.
Wie die Usiun in dem durch sie besetzten Lande der Sai (im Gegen-
satz als Assai) oder Sacae (durch den Jaxartes von den Sogdiern getrennt,
wie diese durch den Oxus von den Bactriern), konnten die Jueitchi den ihri-
gen von ihrer Herrschaft im Lande*) der (n. Strabo) als östlich an die Da-
hae (Tahia) grenzenden Massa-Geten (ein bis zu Timur's Zeit unter den
Geten am Saisan-See und der Westseite des Altai fortdauernder Name) er-
halten haben, und Strabo unterscheidet unter den Bactriana besetzenden Wan-
derhirten die Asier, Pasianer, Tocharer und Sacarauler von den aus der Ge-
gend jenseits des Jaxartes (unter Saken und Sogdianern) Ausgezogenen, wobei
Rhudiana et Agdenitis, deinde Paraepaphitis, infra quam Arae et Charadrae gentes, deinde Ca-
badene et Canthouice atque ad mare Pasargadae et Chelenophagi (Ptol.). Amarispi in Bactriana
(Ptol.). 'Tntg <5l A\a üviov oixtovai Ziy.üücu dpojrjgts (Herod.). Tdva'Cv dk noiet/uoy dia-
ßavii , ovxfu ZxvUixrj , älk' r, ptv nouJTtj iwi' In'iduv ZuvfjOjuaT^iof laii (Herod.). i^f«J
(jionice), das Loos A«J/{, das durch das Loos zuertheilte (Land). A«f/? ex antiquo läyio vel
luy((» (Schweigh.). kd/oi, Loos, Schicksal. Cech ist in böhmischen Sagen ein Lech oder (edler)
Mann. Auf die Hyutae (in Serica) folgen als äusserste die Ottorocorrhae (nach Ptol.).
•) Weitsi meint auch in der That, dass die vielfach, wie die Yetha, mit den Yueti (Yuetchi)
zusammenfallenden Yinthian (Yita) am besten als sogdianischen Ursprunges angesehen würden.
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die letzteren die aus der Ferne herbeigekommenen Stämme bezeichnen, die er-
steren dagegen die vorwärts gedrängten einheimischen, die (obwohl in ein-
zelnen Stammesnamen unterscheidbar) sich im Allgemeinen als Sacae oder
Sai (Sse) zusammenfassen Hessen. Sie scheinen nach ihrer Ankunft in Bac-
trien unter den inneren Verwirrungen und den Kriegen mit den ihnen stamm-
verwandten Parthern zum Theil in griechische Dienste getreten zu sein und
werden zu Alexanders Eroberungen in Indien (deshalb auch später zu dem
nationalen Triumphe Vicramaditya's über die Sakas) beigetragen haben, aber
erst die auf ihren Spuren folgenden Fürsten aus tangutischen Ländern (an
der Grenze Tibet's) errichteten ein organisirtes Reich mit gläubiger Hinge-
bung an buddhistischen Mönchskultus. Die unter den Dahern genannten
Stämme der Aparner, Xanthier, Pisurer führen (ihrer geographischen Lage-
rung gemäss) den verwüstenden Grenzkrieg mit persischen Ackerbauern (in
Strabo's Beschreibung), wie heute die Turkmanen, ohne an jener weltgeschicht-
lichen Bewegung Theil zu nehmen. Die Derbiccae*) oder Derbices beobach-
teten die vegetabilische Diät der buddhistischen Bikkhu aus dem benachbar-
ten Ladakh (oder Khotan).
Die Sai (Sacae oder Scytbae) oder Massageten (die durch die Thyssa-
geten und Skoloten bis zu den Geten reichten) kämpften (als Turanier) mit
den Persern, gründeten aber dann, durch die (stammverwandten) Jueitchi
verdrängt, das parthische Reich (der Asi), während die Alanen oder As (Asa,
als Kanskische Tataren, und As-jach als Wogulen mit Ostjäken) nach Europa
zogen Auf der frei gewordenen Strasse der Steppen breiteten sich dann
*) Die gerechten Dyrbaei (Derbikken) Hessen sich durch religiöse Bestimmungen leiten
und assen nur Vegetabiüen (nach Ktesias). Les Parthes (des Dyrbaei) etaient les enfants d'Ashek
(Aresh ou Ashkesh) en Arsaces et Ashkanyans (s. Gobineau). Nach Strabo tödteten die Der-
bikken die Alten (die Greise essend). Südlich von den Derbikken (zwischen Parsen und Dahae)
an der Mündung des Oxus wohnten die Tapuren oder Marden. Bertas oder Pertas (Sohn des
Kemany, Enkel des Nouh) war Ahn der Berdeh (Derbyssen oder Dyrbaei) oder (indisch) Paradas
(Pouroutas), die (zur Zeit Djemschid's) Hyrcanien (als Scythen) besetzten (bis Damgham oder
Hekatompylos herrschend), aus Ladakh kommend (s. Gobineau). Bei der Theilung mit Afrasiab
erwirbt Aresh (König der Parther) Hyrcanien für Menoutshehr, indem sein auf dem Gipfel des
Demawend abgeschossener Pfeil bis an das Ufer des Djihun flog Fradeshwad-Gher oder Fersh-
wad (Parthyene) erstreckte sich (nach Abdallah-Mohamed) von Azerbeidschan bis Gourgan ;zur
Zeit des Menoutshehr). Menoutshehr verlegte die Residenz von Amal oder Temysheh nach Ragha
oder Pehlou (s. Gobineau). Pehlu, Vater des Fars, war Sohn des Sem (Sohn des Noah). Les
Indes connaissaient les gens de l'Iran sous le titre commun de Pahlawas (Pehlewans). Tourany
(de Tur) signifie Turk ou Tjyny. L'origine de la langue turk est attribue ä Aous, fils de Ter
(Tourya). Cette denomination veut dire ennemi (s. Gobineau). Les Afghans appellent Tour les
populations brunes ou noires, telles que les negres et les Ilindous et par apposiüon Sour (Sy-
riens) les peuples non noirs, Turks, Ouzbeks, Europeens, Chinois et Mongols (d'apres Mir-Elera-
Khan). La race de Tour est celle.de rois arians-scythes (Gobineau). Amour habitait primitive-
ment dans le nordest (d'apres Masoudi). Key-Ghobad (Gomata) se transporta de l'Elburz (inonde
par les envahisseurs) dans les provinces du Sud et fit de la Perside le centre de l'empire, choi-
sissant pour capiüüe Istakhar (Persepolis). Die Derbiccae (Jtoßi'y.xai oder dtQßixot) oder Der-
bices, die (nach Strabo) die Erde verehrten, assen (nach Aelian) die Greise, nachdem sie im
Opfer geweiht waren.
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von den Issedoncn her stammverwandte Horden der Hiongnu aus, bis die Hun-
nen an der Wolga erschienen, und gleichzeitig kamen die Völker im süd-
lichen Sibirien (längs des nördlichen Altai) in Bewegung, durch den Ural
Europa betretend, als Bulgaren (von Theoderich in Mösien bekämpft), und um
den Caspi nach Süden gewandt, die Chazaren, die im 5. Jahrh. ihre Einfälle
in Persien (als östliche Türken) begannen und im 7. Jahrh. Heraklius gegen
Chosroes unterstützten, während sich das centrale Reich der Thukiu am Fusse
des Altai erhob (und die Avaren nach Westen trieb). Dieses wurde von
dem Kaotsche oder Chuiche genannten Zweige der Uiguren gestürzt, und
unter den eintretenden Stämmen wandten sich die Petschenegen oder Bessi
(Bassiani oder Tatar-kuschha bei Madjar) gegen Russland (915 p. d), und
ihnen folgend (9. Jahrh.) die Cumanen oder Kiptchaken (Usen oder Guss),
als Polowczer. Mit Verfall der arabischen Herrschaften in Asien überschrit-
ten dann die aus Khowarezm zurückgedrängten Türken wieder den Oxus
und eroberten (1034) Khorasan, als Seldschukken.*)
*) Gleich den Seldschukken wurden die Osmanen von Oghuz-Chan hergeleitet, während
alle Türken (gemeinsam mit den Scytheu) ihren Ahn in Targitaus finden (und Japhet oder Ja-
petos). Ein unter inneren Kämpfen nach dem Bergthal Irgene-khoun (am Argoun mit dem hei-
ligen Dalai-Nor-See) versprengter Zweig türkischer Tataren schmolz sich unter Burteschiuo durch
die Eisenfelsen und begründete seine Macht unter mongolischen Ruräten (mit jakutischer Ver-
wandtsrhaft), von dem Lande der (den Mandjuren verwandten) Tungusen aus die stammfeind-
lirhen Tataren im Westen bekämpfend (dann aber in den Usbeken mit ihnen gemischt), und
das Reich Kiptschak stürzend (sowie die türkische 'Dynastie bis zu ihrer Wiedererhebung). Der
Stamm Tulg-a (oder Aschina, als Zweig- der nördlichen Hunnen) der Ta-hiui befreite sich (an
der Südseite dev Altai nomadisirend) von der Herrschaft der nach Norden gezogenen Schushan
(deren Stifter Tscheluchu von den Hao-hiui stammte) und der bisherigen Zwangsarbeit in Eisen-
iiiinen unter Tumyn, der 552 p. d. den Titel Ui-Chan annahm. Auf seinen Nachfolger Muhan-
Chan Zyphin folgte (572 p. d ) Tobo-Chan, der seinen Sohn Ruli-Chan in die westliche (und
Mim-Chan in die östliche) Mongolei einsetzte [den Disabulos der Griechen]. Unter seinem Nach-
folger Sehabolju-Chan Schetu machten sich die Aboer (unter Abo-Chan) unabhängig, die aber
von Mochö-Chan (f 588 p. d ) besiegt wurden [und Bezug haben könnten zu dem Streit um
die Genuität der Avaren]. Theophylact leitet die vielen Völkern gemeinsame Bezeichnung War
und Chuni von den 'Oytotj her, und die von den Tulgaern vertriebenen Shushan standen auch
in der That in einem Verwandtschaftsverhältniss zu den Hao-huie (Hochwaglem) oder Toloe,
die vor der Macht der Tulgaer eine Zeitlang zurücktraten, aber als dieselbe durch die Einfälle
der stammverwandten Sse-Janto (Sse) oder Ilitschi (nördlich am Urumji nomadisirend) geschwächt
war, in der Verbindung der Choicher (Uiguren), Hölolu und Bassimi (mit Hülfe China's) die
Herrschaft der Tulgaer stürzte. Der an dem chinesischen Hofe mit dem Heldentitel belehnte
Bölö-Chan (f 759 p. d.) wird die Kirgisen (758 p. d.) unterworfen haben, und unter seinem
Nacf,folger Dynli-Chan verloren sich in Folge des steten Verkehrs mit den Chinesen die ein-
fachen Sitten der Choichorer, unter zunehmendem Glänze des Reichthuins und der Rildung (mit
ihrer Literatur). Dann durch mehrere Jahre von Post und Kälte geschwächt, fiel das Reich der
Choichorer an die nördlich am Tarbagtai wohnenden Chagass, die (kühn und muthvoll, mit
Adlernase, rothem Haar und blauen Augen) den ehoiohorisehen Kössi-Chan (8-10 p. d.) besiegten
(als Kirgisen). In China gründeten (9'29 p. d.) die von den ostmongolischen Dun-chu (die schon
im t. Jahrh. a. d. neben Jueitschi und Chunnu genannt werden stammenden Kidan die Leao-
Dynastie und während ihrer Kämpfe mit den Niutschiern bildeten sich Söldnerbanden aus den
schwarzgekleideten Tatan, die, ein Zweig der (aus amurischen Ssuschen und mandschurischen
Ilu entstandenen) Mochö, sich in die vier Stämme der Tatar, Taischut, Ohörö uud Mongol (mit
iJjingis; theilten. Von den ÄTSlau-Chauen (Schi-Zsy-Wan) der Choichoren (in Pitschan) mögen
411
Die (von den Türken) wegen ihrer wilden Wolfsnatur*) Kurdi oder
Kurti genannten Räubervölker am chwarzen Meer wir in Kurdistan) biessen
(nach Chardin) sonst Lazi (oder Lesghier am Kaukasus), was einen Piraten
bedeute und (nach Strahlcnberg) sich (von Laez oder Laes) als Waldmensch
(Laessnoi Ludi) erklären lasse, so dass Sheringshamus den Namen auf die
Kimmerier (der Krimm oder Ghazaria) oder die (aufComari Seeraub treiben-
den) Kimbern übertrage, und damit eine Anknüpfung zu den barbarischen
Hilfstrappen der Laeti (Lazzen oder Lassen) bilden würde' (in den römischen
Garnisonen), welcher Name später das vielfach erprobte Schicksal erfuhr, nach
neuer Eroberung an den unterworfenen zu haften. Unter den Kämpfen der
Araber gegen die Turkoniannenstänime war der Titel Grhasie beliebt, als ein
gegen die Ungläubigen streitender Held, der sieh durch sein Ghasia oder
Rhazzia (Lazzia mit Kudelka's Murmellaut) furchtbar machte. Auf anderen
Analogien-Reihen zweigt dann der Name der Chazaren ab (in Korsaren auf
khorasanische Kurden zurückführend). Ki(.i€QOvg snovofACe. ovqi n'i TsQfiavol
Tovg XrjOTog. Wie die Tschelayr, Tataren, Ouyrat, Ungut. Kerayt, Na v man und
andere Stämme zu Raschid- eddin's Zeit sieb als Mongolen zu bezeichnen liel -
ten, so hatte man früher (wie derselbe hinzufügt) nach den durch Eroberungen
berühmten der Tataren gesucht, und aus solcher Erinnerung war dann eine
besondere Horde der Tataren**) unter den Mongolen verblieben, wie jetzt der
Nayinan, Kiptschak u. s. w. unter den Kaisak-Kirgisen.
die Selclschukken ihren Titel genommen haben. Resl'e der Tulgaer, die nach Norden an den
Amur genächtet, erneuten ihre Mythen des lüisenhandwerks und <\ei: alten Hass gegen die Hao-
huier (wie auch Privatfeindschaft zwischen Mogol und Tatar bestand). In der westlichen Aus.
dehming der Sse-Janto als Sse (oder Sacae) fand schon früh Berührung mit den blonden Völ-
kern statt, die dann wieder in den Chagass hervortraten uud (während früher die Türken die
Cherkess unterworfen) im südlichen Sibirien die Obermacht bewahrten, bis zur Ankunft der
(russischen) Kaisaken, worauf sich die Burut in die Berge zogen, in den Ebenen jedoch das
Mischvolk der Kirgis-Kaisaken erwuchs.
*) The name Ilyrcanians siguifies Tthe wolves" in Zend, and is exactly represented by
the modern Persian Gurgan (s. H. Rawlinson). Jetzt noraadisirt der Taimuni- Stamm in den
Wüsten Hyreaniens 'aus chazarischen Khorassans) oder Parthiens, aus denen fl4. Jahrh. p. d.)
die,Eusofzye nach dem kabulis^hen Abhänge des Hindukusch zogen, wie für die ->eiter in In-
dien siedelnden Patanen (oder für Perser) nördlicher 'von Apak eder Norden iu Bachter oder
Bactrien), Ruhilkend, das Gebirgsland (der Afghanen". So werden die Siaposh verdrängt sein,
die früher in vier Stämmen (Kamoze, Hilar, Silar und Kamoje) um Kandahar sassen. Zum
Tribut an die Tu-kju wurde das (nach dem Uang-hui thu) vom Himmel geregnete Eisen in
Kirgisien verarbeitet. Die Tataren leiten sich von Türk als Stammvater. Die Chinesen bezeich-
nen alle ihre Nachbarn als Ta-ta oder Ta-dse (s. Fischer).
**) Jener Tata-Name (der unter neu übergelagerten Erobererschichten in die Verachtung
der Tadjik oder Ta dse hinabsank) mochte sich an die siegreichen Wallen der Ta-Hiä in den
(von ihnen stammenden) Tiaotschi oder Perser knüpfen, in Steigerung ihres Epithet als Grossen,
obwohl er schon in früheren Geschichtsphasen erschienen war, in armenischen) Titanen, (assy-
rischen) Teuthranen, germanischen) Teutonen u. s. w. spielend. Er hat zu verschiedenen Epo-
chen anderen Rivalen (die ihn dann mehr oder weniger in seiner Bedeutung niederdrückten)
weichen müssen, in dem für die Geschicke der asiatischen Steppenländer massgebenden Central-
gebiete besonders unter dem Aufschwünge der ThuMu-Macht, als die Bewohner von Alanmi (der
Hauptstadt der Asi in Bokhara) sich den Titel der Tokie oder Tapferen beilegten (wie Amin
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Plinius nennt (hinter dem caspischen Meer und den Skythen) an der
Grenze der Inder und dem Emodusgebirge, die Tochari (neben Attacori,
Phyuri u. s. w.), die sonst (bei Dionys. Perieg. und Eusth.) mit Saken am
Jaxartes und Serern vergesellschaftet werden (s. Ritter). Neben den Thyssa-
geten (am Tanais und riphäischen Gebirge) stehen (bei Plinius) Turcae*)
oder (nach Herod.) 3lx>Qxat.
die Tochari das ausgezeichnetste der den Bactrianern gehorchenden Völker nennt), und bald
mit Ghazneviden, Seldschukken, Osmanen u. s. \v. der Name der Türken weithin Schrecken ver-
breitete. Seine indess bereits in der alten Scheidung zwischen Iran und Turan (mit Turk als
Diminutiv) involvirten Anfänge sind in (tyrrhenischen) Tursci, in Tokabara (den asiatischen
Griechen auf den Keilschriften) oder der Helmträger (wie Terk im Persischen den Eisenhelm der
Thukhiu bedeutet) und anderen Klängen (der pluralischen Atrak, Atta u. s. w.) schon früh, dann
in Turcilingae, (finnischen) Turci, (arischen) Turcae (Yrkae) u. s. w. in Europa bekannt geworden,
wohin die auch in Asien aufgeführten Thracier (mit Wiederholung der Dahae oder Dai und Daci)
den Uebergang vermittelten, und sind ebenso durch die Turuschka (Tocharistan's) Indien nicht
fremd (oder als dorische Taurier westlichen Bergen), gleich den Dhurani in Ghor (und Berdu-
rani mit Yusufszye). Die Zamurris und Sheraunis wohnen auf dem Tukhti Scliman. Verschie-
den von den Spin-Kafärs (weissen Kafirn) waren die Tor-Kafir (schwarze Kafirn) oder Siaputh
(Siapusch) ein gefürchtetes Gebirgsvolk, dem die Mohamedaner Badakhan's jährlichen Tribut
zahlten, ehe Timur ihre Macht (in dem Gebirgssitze Kueter oder Kuttone) brach, " so dass sie
jetzt durch die Eusofzyes, die sie für die Sklavenmärkte Kabul s zu jagen pflegen, bei ihrer An-
siedlung verknechtet werden, um das Feld zu bauen oder das Vieh zu hüten. Die Stellung der
(wie im Kaukasus aus Flüchtlingen neu recrutirten) Gebirgsvölker hängt von den politischen
Verhältnissen ab, ob sie wie jetzt die Kurden (die zu Zohak's Zeit sich in die Felsschluchten
versteckten) die umliegenden Gegenden schrecken oder von diesen tyrannisirt werden. Unter
den Kafir im Gebirgssitz Kueter (Kuttone) findet sich der Stamm Kuttaur, und der Fürst von
Chitral (den las Kunduz vorgedrungenen Usbeken tributpflichtig) betitelte sich Shah Kuttone
(s. Burnes). Der türkische Name mag den tangutischen Völkern angehört haben, die bei den
westlichen Zügen nach ihren Sitzen am Lande der Sai (Sacae) und Massageten den Namen
Usun oder Yuetchi empfingen, aber den eigenthümlichen Tokharestans oder Thukolo's in dem
Berglande (nach ihrem Abzüge nach Indien oder ihrem Aufgehen in Hiongnu und Thukhiu) be-
wahrten, wo die tibetische Sitte der Polyandrie und (nach Matuanlin) auch dasselbe Verhältniss
der Geschlechter herrschte. In den Kämpfen der späteren Indoskythen mit den Asi oder Par-
thern wurde König Artabanus von den Tocheri oder Thogari besiegt, und obwohl ihr Name an
diesen Sitzen später wieder zeitweis (bei ihren südlichen Eroberungen) verschwand, so weiss
doch Menander, dass er vor dem nochmals neu auftauchenden der Saken bestanden, und meint
deshalb, dass Tourkoi ein älterer Name der Tocharer gewesen, und im Hinblick auf eine älteste
Phase der Wanderungen (die mit den türkisch-tyrrhenischen in Europa zusammengehangen) mag
es so gelten, obwohl sich sonst würde sagen lassen, dass ein noch älterer der der Sakae gewesen.
Nachdem dann aus Resten der (mit Usun und Yuetchi verwandten) Hiongnu (und wahrschein-
lich unter Assimilation solch türkischer Usiun selbst) die Thukhiu oder Türken am Altai her-
vorgegangen , erwuchsen die schon vorher als /jtyn fcJVoj bezeichneten Tocharoi oder
Türken zu jener weit ausgedehnten Völkerkette, wie sie den die Oxusländer betretenden Arabern
erscheinen musste und von Ibn Haukai (10. Jahrh. p. d ) beschrieben wurde, als auf der einen
Seite das chinesische Meer berührend, auf der andern in einzelnen Stämmen bis zu den Bulghar
und Russ (im Westen) sich forterstreckte. Doch bewahrt sich die einmal geltende Unterscheidung
von Tokharestau noch bei Edrisi, für den das Land Al-Tork oder Turkestan dagegen erst im
Norden des Gihon beginnt. Odin führt (in der Hervararsaga) die Türken nach Norden.
*) Strabo kennt die Tocharer unter den Saken und iiör Tovoxwy, lmv Ztnxwv xeckov-
/uiyoy tö jidlai (b. Menander). Gegen die Tochari (b. Trog.) oder Thogari (b. Just.) fällt der
parthische König Artabanus (Vater des Mithridates). Bei Ptol. stehen T«/«(>or (neben Jatae)
am Nordufer des Jaxartes, aber die Toyctoot, ^.iya Uvos sind an den Oxus (südlich von den
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In Pouho oder Bokhara (westlich von der kleinen An oder Ngan) heissen
die tapfersten Krieger Tsche-kiei oder Tokiei, was in der Sprache des mitt-
leren Königreiches (Ta-Ngan, als grosses Mittel Ngan) Helden bedeute (nach Ma-
tuanlin). Ssemathien unterscheidet die Ansi, als festgesiedelte Ackerbauer, von
den nomadisirenden Ta-Yueti*) im Osten (100 a. d.). Im Westen der Ansi
(die Silbermünzen mit dem Bilde eines Königs prägten und bei seinem Tode
den Stempel wechselten) wohnten die Tiao tchi (Tadjik oder persisch Redende),
im Norden die Yanthsai und Liban (Alan).
In den Berggauen Dizak (Uratippa's oder Osruschnah's) und Masikha traf
Baber die Sarten noch im Besitze grosser Heerden von Schafen und Pferden
(gleich den Turk). Sarten**) waren auch die Bewohner von Marghinan, aber
Zariaspen) gesetzt. Nach Macedonien's Besetzung durch Friga trennen sich Francions Franken
von Turchot's Türken (Fredegar). Verschieden von Turkistan, begreift Tokharestan (b. Ebn Hau-
kai) Taikan, Anderab, Badakshan und Penghir. Die Turkstämme, noch in Chin (auf chinesi-
schem Gebiete) liegend, sind (gleicher Sprache mit Kirgiz und Kaimak) weit nach Westen ver-
breitet, selbst bis Bulgar und Russ (in einzelnen Stämmen), im Osten bis zum chinesischen
Meer (980 p. d.). Gegen sie steht ein mohamedanischer Posten in Awasch. Mit seinem aus
Turk, Chaldschi, Inder, Afghanen, Araber, Gaziden zusammengesetzten Heere besiegte Mahmud
von Ghazna (Beherrscher von Tokharestan) den Turkfürsten Mekkhan, der (aus Turkestan und
Transoxiana herabkommend) den Gihon überschritten (Mirkhond). Kabul liegt in der Nähe von
Tokharestan, aber das Land AI Tork oder Turkestan beginnt (nach Edriei) erst im Norden des
Gihon mit zahlreichen Nomaden, als Tibeter, Bagharghar, Khirkhir, Kimaki, Khizildis, Turkechs,
Arkechs, Khiftschahs, Khilks, Bulgaren (1154 p. d.) Das chinesische Thuholo bezieht sich auf
das (durch Mawaralnahar oder Transoxiana von Turkestan getrennte) Tokharestan vom oberen
Oxus (als Badakshan und Talikhan bis Wachan an der Südseite des Pamer), östlich von Balkh
(s. Ritter). Die Bewohner von Thuholo oder (unter den Wei) Thuhulo verkehrten (unter den
Sui) mit China (U. Jahrh. p. d.), mit Yta (Yitä) vermischt lebend (nach Tuyeou) in der Religion
des Foe. Die Brüder nehmen zusammen eine Frau, weil (nach Matuanlin) es mehr Männer als
Frauen gäbe. Bei 5 Männern trägt die Frau 5 Hörner an der Mütze. Nördlich stiess Tocha-
restan (mit Schrift, wie in Khotan) an das (zur Zeit der Hau) Ta-Wan genannte Land (nach
Matuanlin), und war früher Land der Ta-Hia genannt, mit Ye oder She hu Wüte, als Titel des
Königs (s. Neumann). Die Nachfolger des Assena, Königs vou Tocharestan, werden (in der
Hauptstadt Yueichifu) zu Königen der Yta (Yeyita) erhoben. König Assena (von Tocharestan)
schickte seinen Sohn mit Tribut nach China (650 p. d.).
*) Bei den Yetha, die (nach Matuanlin) von den Kaotsche oder (wie die Yita) von den
Ta-Yueti stammten, herrschte Polyandrie (nach dem Suischu). Die Yetha, deuen Khangkiu
(Sogdiaua), Khotan, Sule (Kaschgar) und Asi unterworfen waren, verschwägerten sich mit den
Juanjuan (nordischen Sianpi), wurden aber (559 p. d.) von den Turk besiegt. Der Volksname
Yitha war (nach den Chinesen) aus Yetha entstanden, dem Namen der Fürstenfamilie im Lande
Hoa, dem (144 p. d.) alle Nachbarstaaten (wie Persien, Hoeipan, Kophene, Koueitsiu, Sule,
Kume, Khotan u. s. w.) unterworfen waren. Die Yithian sind (nach dem Sifanki) sogdianischen
Ursprungs, als durch die Kriege zur Zeit der Han zersprengt. Tammuz (der bis zur vierten
Hinrichtung wieder auflebte) gehörte weder zu den Kasdäern (Chaldäern, denen die Nabathäer
in der Bewohnung Babylon's vorangingen), noch zu den Kenaanäern, noch zu den Hebräern,
noch zu den Geraraiqah (Assyrern), sondern zu den alten Ganbasäern (s. Makrizi). Dimeschqi
erwähnt (neben Chaldäer, Assyrer u. s. w.) das alte Volk El-Gauban. Nach Chwolsohn sind
die Ganban (Ganbar) die riesenhafte Urbevölkerung Chakläa's, die von den semitischen Naba-
thäern vorgefunden wurde. Livius bezeichnet Alpenvölker als semigermanae. Nach Ptolemäos
stand in Spanien (wo Germaui zu Oretani rechneten) eine germanische Legion.
**) Die Badakshan (mit Lagern wandernder Usbeken im Westen) bewohnenden Tadjik heis-
sen Badakshi (nach Elphistone) und die Einwohner der von Murad Bey (der von Kuuduz auch
414
Ferghana war (zu Baber's Zeit) von Turk bewohnt und alle Einwohner ver-
standen das Turk in der guten Schriftsprache. Obwohl die Sprache Kokan's
türkisch ist, bemerkt Mir Isset (1818 p. d.), dass die Stadtbewohner Tadjik
(persisch Redende) sind. Nach dem Thai-thing y-thoung-tschi (1790 p. d)
sind die Einwohner Khokan's (persischer Sprache) von derselben Rasse wie
die Burut. Vambery unterscheidet in Chiwa die Sart-tili (der Städte) und
Uezbeg-tili.
Die Länder um Yarkand heisseu Mogulistan, indem das Landvolk von
den Städtebewohnern Mogul genannt wird, ein wahrscheinlich von den Mo-
hamedanern den Feueranbetern (wie in Mogestan) gegebener Name, der dann
in der Bezeichnung von Heiden (Gentiles) mit dem Volksnamen zusammen-
fiel (ähnlich wie bei Aramäer). Der von den Mohamedanern gesprochene
Türk-Dialect wird sich mit Entwicklung der Schrift in dem civilisirten Reiche
der Uiguren herangebildet und als rectificirende Norm über die auseinander-
Badakshan erobert hatte) beherrschten Gebiete waren (nach Burnes) grösstenteils Tadjik, als
die auch in Badakshan (wohin eine Einwanderung aus Balkh Statt gefunden) vorwiegenden Ein-
gebornen. Durwaz (ganz von Tadjik bewohnt) wurde (nach Burnes) durch einen unabhängigen
Tadjik-Fürsten beherrscht (am Bergpass von Bolor und Pamir). Edrisi beschreibt die Turk-
Sklaven (die die Türk-Tibeter Kaschgar's nach Ferghana brachten) von frischester Hautfarbe,
schlanker Gestalt, schönsten Gesichtszügen. Nazarow (auf dem Wege nach Khokand) nennt die
östlichen Perser (in den Bergengen bei Dari) Goltschi oder (nach Meyendorff) Ghaltschi von
Karatigin, im Süden der Asfera-Kette bis zum Pamir-Passe (bei Baber), welches Gebirgslandes
Landesfürsten (durch den Derwaz beherrschenden Tadjik-Fürsten besiegt) sich von Alexander M.
herleiten, ebenso wie (nach Marco Polo) die Zulcarnaim betitelten Fürsten von Baudascia (Ba-
laschan oder Badakshan) oder (nach Baber) von Sekander Filkus (Alexander, Philipp's Sohn).
Wie sein Nachbar meint der König von Derwaz von Alexander M. zu stammen (Elphinstone).
Die das Hochland im Süden und Südosten von Badakshan bewohnenden Siapusch werden von
den kriegsgefangenen Sklaven (auf dem Markte Bokhara's und Kabul V Siknan genannt (nach
Meyendorff) und die Gebirgsbewohnenden Shignan (Cheghanian oder Siknam) Wurden durch
Ueberfälle aus Khokand und Badakshan in die Sklaverei geschleppt (s. Timkowsky), indem im
Menschenhandel Badakshan's dem Khan seiue Unterthanen die gangbarste Münze sind (s. Ritter)
und Murad Bey hatte (nach Moorcroft) mit seinem Vezir darüber einen Contract abgeschlossen.
Die von Xeriffeddin als Riesen geschilderten Siapush (von den Badakshanern in die Sklaverei
geführt) sind ihrer Schönheit wegen weit berühmt, wie auch Fräser die Schönheit der Siapush
oder Kafir im Süden von Badakshan hervorheben hörte Badakshan's Tribut an Kunduz (oder
die Kudghum-Üsbeken) war in Sklaven zu zahlen unter Murad Bey, der auch in Chitrat und
Kaferistan Sklavenjagden anstellte. Nach Ferishta führten die Könige von Badakshan ihren
Stammbaum bis auf Alexander (Philipp's Sohn), wie sich (nach Elphinstone) die Fürsten von
Durwaz. solches rühmen, und solche Herkunft wird (ausser von Chitral, Gilgit, Iskardo, Durwaz,
Badakshan) auch von den östlich von Durwaz wohnenden Häuptlingen und denen von Kulab,
Sheghanian und Wakhan (im Norden des Gihon) in Anspruch genommen (nach Burnes). Diese
Fürsten (in dem sonst Bakhtur Zemin oder Bactriana genannten Lande) verheirathen sich nur
innerhalb der Genealogie Zulkarnaim's. In dem (von Yusufzi bewohnten) Sewad und Bijore
[nördlich vom Kabulfluss) nannte sich der (lö. Jahrh p. d.) aus Kabul (wo Secander seinen
Nachkommen einen Schatz hinterlassen) nach dem Hindukusch gewanderte Stamm (zu Abul Fazil's
Zeit) der Königliche oder Sultan, weil von einer Tochter Zulcarnaim's Secander stammend. Wie
unter den Bewohnern Thokharestan's (zwischen Belut-Tag und Hindukusch) bestand unter den
Tungani-Stämmen in Yarkand (den von griechischen Kriegen stammenden Söldnertruppen) eine
Alexandersage. Das (Keulen tragende) Bergvolk der Sibas oder Sibus (Siaposh im Kaukasus)
wurde (nach Strabo) von Herakles abgeleitet, Sarten von Serer.
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gehenden Idiome im Austausch des Verkehrs fixirt haben. Die in Yarkand
und lli zum sesshaften Leben übergehenden Kalmüken fallen in ihrem (Ge-
trennte oder Uebrige bedeutenden) Namen mit den als (nach Weise der Mani-
luken und Janitscharen ehrlosen) Grenzsoldaten fungirenden Tunganen zu-
sammen, die sich als „Zurückgelassene" erklären aus dem Heere Alex. M.,
wie die Kotheu Karen (in Rirma) aus einem chinesischen.
Neben den Mongolen als Ausdruck der Steppen der Gobi (mit den Cul-
turstaaten China's verknüpft), den (türkischen) Uiguren, die in der Seeregion
des Thianschan-Nanlu wandern, den Kirgisen zwischen Aral und Kaspi, den
(in semitische Reiche auslaufenden) Beduinen Arabiens begreifen die als
Ariana zusammengefassten (und oft in dem engeren Sinne eines medischen
Aria bei Herat verstandenen) Flächen (von Beluchistan, unter Kohistan und,
in Persien, Kerman bis zur Steinerhebung in Mangyschlak, wo türkisch mo-
dificirte Turkomannen mit hyperboräischen Kirgisen zusammenstossen) die
Wurzeln der iranischen Bilduugsvölker, die sich sowohl nach dem westlichen
Europa, wie südlichen Indien verbreitet. Als die Turanier noch von den
Hochlanden Khorassans aus mit den Pehlewaneu stritten, erschienen sie als
(alanische oder albanische) Taurier der Toukhara (touchara im Sanscr.), wie
später in Tokharestan oder Badekchan. Die Tapyren stehen zwischen Der-
bikker und Hyrcaner (Strabo).
Aehnlich der türkisch- (uigurisch-) mongolischen Mischung*) in den Us-
*) Als Oghus (Sohn des Kara-chan), weil er mir den einigen Gott verehrte, mit seinen
Verwandten siegreich Krieg führte, versammelte er seine Verbündeten und legte ihnen den Na-
men l'igur bei, welcher tfn türkischer Sprache) sich mit einander verbinden und Hülfe leisten
bedeutet (nach m Raschid -eddin). Dieser Name wurde nachher auf dieses ganze Volk, dessen
Stämme, Söhne und Familien übertragen, und obgleich einige dieser Stämme, jeder durch irgend
einen besonderen Umstand, einen anderen Namen bekamen, wie Karbik, Kilidsch, Kaptschak
u. dgl. m., so blieb ihnen doch der Name Uigur. Auf diese Weise stammt das ganze Volk der
Uiguren von diesem ab. In der Zeitfolge aber wurde die Art und Weise, wie sich ihre Stämme
und Geschlechter in verschiedene Zweige vertheilt habeu, hinsichtlich ihrer ursprünglichen Be-
nennung und näheren Bezeichnung unbekannt, man hält sie daher überhaupt, ohne Rücksicht
auf die früheren Ereignisse, für einen türkischen Stamm. An den Flüssen des Berges Kuttak
neben dem Berge Karakorum (zwischen den Bergen Tukratu Bosluk oder Bukara Tuluk und dem
Berge Oskunluk Bikrim oder Oschkunluk) im Lande Uiguristan finden sich die Wrohnsitze der
Völker Uigur (die On-Uigur an den 10 Flüssen und die Tokus-Uigur an den 9 Flüssen). Das
Volk Ung wohnt am Flusse Kamlandschu, und die Kuman-ati am Flusse Ufkan. Die uignrischen
Stämme (ohne Beherrscher lebend) erwählten (auf dem Landtag) den Menkutai (aus dem Volke
Ischkel) als II Ilterir, und einen gelehrten Mann aus dem Volke Uskider als Köl Irkin, indem
sie diese Beiden zu Königen der gesammten Völkerschaften machten. In späteren Zeiten nann-
ten die Uiguren ihren König Idi-kut (Besitzer des Reichs). Zur Zeit des Djingiskhan war Ba
wardshik der Idikut (König) der Uiguren, und er unterwarf sich sich gegen Kara-t'hatai empö-
rend) dem Gurchan und heirathete eine Tochter des Djingiskhan, der ihm einen hohen Platz
unter seinen Vasallen anwies. Das Vaterland der Mongolen (mil dem Eoflager des Djingiskhan
am Orchon) hiess Onam cherule (Onou und Kurulum) oder Mancherule (nach Rubruquis) Ka-
rakum ist der tatarische Name aller sandigen Wüsteneien. Die weissen Tataren wohnten süd-
östlich vom Altai (Gaub.). Die Tungusen am Penschinischen See heissen Lamuten (von Lam
oder Meer). Die Samojeden neuneu sich selbst khasovo (Menschen), lieber die khasischeu Berge
führen (b. Ptolem.) die Handelsstrassen zu den Serern
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beken beginnt der arabische Einfluss (im Pehlewi durch die arische Schich-
tung Irans verbreitet) in Belutchistan (wo der Iraam von Muskat über die
Westhälfte der Küste herrschte) durch die Wüste in die jüdisch-persische
Bildung der Bhatti in Jessulmer und Bhikanir einzudringen, sowie anderer
Rajputen, deren Rajas von Jeypur über die Raubhorden der Shekawutty, Be-
sieger (arabischer Herkunft) des Hindustamnies der Kyaokhani, Oberhoheit
üben. In den Amir von Sindh begründete das Belludschen Geschlecht der
Talpuri (seit den aus Belludschistan gezogenen Söldnern) seine Herrschaft
in Hydrabad und entriss Omerkote dem Rajah von Jhundpur. Das Gesicht
der Eingebornen von Kutch erinnert (nach Burnes) an jüdische Bildung und
das Pferd ist dort (wie in Kuttiwar) arabischer Herkunft.
Im Norden von Tibet und Tangut nomadisiren die Siraigol oder Scha-
raigol genannten Mongolen, die (bei den Tibetern) Kor oder Chor heissen,
und die aus dem Tangut ausziehenden Völker übertrugen den Namen der
Kuru in Kuruxetra, vor dem ihre Heimath als Uttara-Kuru der 'OxzoQoxoftQOi
in die xäoia oq?] oder Khasagairi (östlich von Kashgar) zurücktrat, nach
Sogdiana, und dann nach Khorassan (mit Chowaresm), und weiter nach In-
dien, wo sie, als gleichfalls persischer Herkunft (oder Durchzugs), die (per-
sisch-medischen) Madra in eine verachtetere Stellung am Indus zurückdräng-
ten. Dass ähnliche Züge, wie sie von den Juetchi Tangut's historisch be-
kannt sind, schon in früher Zeit Statt gefunden haben, zeigen die Sitze der
Massageten und der den Chunnu an Sitten verwandten Issedonen, und die
Erhebung der Perser unter Cyrus wird damals ihre Stütze an den dortigen
Nomadenvölkern gefunden haben, wie bei den späteren Wiederherstellungen
ihres Reiches. Von alakmak (zerstören) bilden sich (heldenhafte) Alaman.
Maotun, Sohn des Tchenju (der Hiongnu) Theuman, unterwarf (208 a. d.)
die Juetchi (am oberen Hoangho und den Zuflüssen des Bulangghir in Kansu),
die (bei einer Erhebung) von seinem Nachfolger Laoshang (165 a. d.) besiegt
und (nach dem Fall ihres Königs) zur Auswanderung*) nach dem Ili gezwun-
*) Euthydemos (f 206 a d.) rief Antiochus zu gemeinsamem Handeln auf gegen die von
den Nomaden drohende Gefahr, indem damals Theuman's Eroberungen und Begründung der
Hiongnu-Macht den Osten bereits in Bewegung gesetzt hatten. Der parthische König Phrahates
wurde von den scythischen Söldnern, die er gegen Antiochus Sidetes (f 130 p. d.) zu Hülfe
gerufen, (128 a. d ) getödtet und die reiche Beute, die damals gemacht wurde, scheint die Juetchi
zu ihrer weiteren Bewegung veranlasst zu haben, indem Artabanes (Nachfolger des Phrahates)
gegen die Tocharer oder (nach Justin.) Thogarii fiel (125 a. d.). Die Chinesen berichten, dass
die Juetchi nach Besetzung Tahia's die Antzu besiegt hätten. Mithridates II. (t 88 a. d.) führte
verschiedene Kriege mit den Scythen, der von Mnaskires vertriebene Sinatroukes wurde von den
Sakaraulern (62 a. d.) auf den parthischen Thron zurückgeführt und Phrahates IV. flüchtete vor
den Skythen zu Augustus in Syrien (37 a. d.). Unter den griechisch-bactrischen Kriegen nahm
Eukratides, der seine indischen Eroberungen bis zum Hyphasis ausdehnte, zuerst auf seinen
Münzen den Gebrauch arianischer Schrift an (f 160 a. d.), als Maharaja. Die Bactrianer unter-
stützt« Demetrios Nicator gegen die Parther, aber nach dessen Niederlage fiel das bactrische
Reich (mit Archebios) und Mithridates (f 176 a. d) omnes praeterea gentes, quae inter Hydas-
pem fluvium et Indum jacent, subegit, ad Indiam quoque cruentum extendit imperium. Das
in Indien von den Griechen (seit Apoliodotos die indischen Länder seines Bruders Heliokles,
417
gen wurden, wo sie die Sse (mit den Horden Hieu-siun und Kuento) nach
Sogdiana drängten und dann von den (gleichfalls von den Hiongnu besieg-
ten) Usun über den Jaxartes getrieben, die Sse weiter südwärts (nach Kipin
und nordöstlicher Arachosien) schoben, während sie selbst durch Tawan (Fer-
ghana oder Khokhand) ins Land der Tahia zogen (124 a. d.), in fünf Hor-
den (Hieurni, Shoangmi, Kueischuang, Hitun und Tumi) getheilt (mit der
Hauptstadt in Lanschi). Nachdem Kieu-tsieu-kio (Vater von Jenkaotchin)
als Fürst von Kueischuang die andern Horden besiegt, unterwarf er (24 a. d.)
Kipin (Kophen) und Pota, in Thien-tschou (Indien) eindringend (nach Ma-
tuanlin), als Vorgänger (Kadphises II.) der Turushka-Könige (nach Lassen),
die (nach dem Iiaja Tarangini) in Kashmir herrschten (wo Nagarjuna in die
Zeit des Kanishka fällt).
Die mit den Bactriern verbundenen Sogdier (Sughdhai), neben denen
(und Ariern Herat's) die (unter gleichem Befehlshaber mit den Parthiern*)
Sohn des Eukratides , besetzt hatte) gegründete Reich (der Indoskythen) bestand bis Hermaios
(85 a. d.), wo die turanischen Völker eindrangen. Nach Trogus Pompejus (der unter den skythischen
Völkern, die Bactrien und Sogdiana besetzten, Sarancae und Asiani nennt) hatten die Tocharaner
und Sarducher) Fürsten aus dem Stamme der Ariani. 'F.vitiOtv JLuxamc.n'j Säxav Zxu-
:nZr >) y«) llu{<iTay.i]iij (Is. Ch.) odei lfcioi'iTttxrii'i't, östlich von Drangiana, als Tuiuxr\vi\ (bei
Ptol.) oder (skythischer) Tatarensitz. Indem der ganze Verlauf der Begebenheiten in Kurzem
dahin zusaramengefasst wird, entsprechen die Sakarauler (Sarakauler) oder Sarauker den voran-
ziehenden Saka oder Sse, die Tocharer (mit den Pasianern im späteren Praitakene) oder (wenn
nach der usiunischen Herrscherfamilie genannt) die, Asiani den beiden Türkenstämmen, die von
Osten her in die Ili-Länder eingezogen waren. Ihre Eroberungen folgten den parthischen, die
bereits die bactrisehen Könige ihrer Macht beraubt hatten. Bactriani per varia bella jaetati,
non regnum tantum, verum etiam libertatem amiserunt, siquidem Sogdianorum et Arachotorum
et Drangianorum Indorumque bellis fatigati, ad postremum ab invalidioribus Parthis, velut ex-
sangues, oppressi sunt (Justin).
*) Als die glücklichen Kriege Mithridates II. (s. Justin.) die Skythen unter Mayes (der
das Reich der Soter auf Kabulistan beschränkte) zu Eroberungen in Indien (mit der Hauptstadt
Nikaia am Hydaspes) zwang, bildete sich in Kipin eine parthische Nebendynastie seit Vonones
(s. Lassen). Unter den Nachfolgern des Mayes dehnte Azes das indoskythische Reich bis Kasch-
mir (von Damodara beherrscht) aus. Auf Azes folgte Spalirisos, als letzter König der Skythen
oder Saka, die (57 a. d.) von Vicramaditja (in Ujhjhajini) besiegt wurden. Als Zeitgenosse des
Azes herrschte (im westlichen Kabulistan) Kozoulo Kadphises, König der Su oder Suti unter
den Juetchi, die (südlich vom Hindukusch erobernd) den letzten griechisch -indischen König
(Hermaisos) verdrängten (85 a. d.), als Vorgänger des Kadaphes (von Yndopherres vertrieben).
Die nach dem Tode Mithridates II. in das Reich der Arsakiden einfallenden Skythen wurden
von Yndopherres oder (bei den Chinesen) Utaiao, der (90 a. d.) in Kipin herrschte, vertrieben
(worauf er sich „Siegreicher Retter" benannte). Auf seinen Nachfolger Abdagases (f 30 a. d.)
folgte Jimmofu. Auf Kieu tsieu-kio oder Kadphises II., der die Eroberungen (22 a. d.) der
Juetchi bis Indien (16 a. d.) ausdehnte, folgten (in Kashmir) die Turuschka-Könige (30 p. d.),
als Hushka, Gushka und Kanishka Unter Abhimanju (Nachfolger des Kanishka) wurde die
brahmanische Religion wieder hergestellt (f 65 p. d.). Kadphises II. oder Kieutsieukio (Kuei-
shuarcg) eroberto Pota (Patau oder Pakhtan, als östliches Afghanistan), Kipin (nordöstliches Ara-
chosien) und (bis Malava) Indien) Nach Töiltung der Könige setzten die Juetschi ihre Häupt-
linge ein in Indien (bis 221 p. d.) regierend. Die unter Jenkaotchin (Sohn des Kadphises II.)
durch den „Grosser Retter" betitelten Indier aus der Pentapotaraie (gleichzeitig mit dem bud-
dhistischen Ainoghabuti zwischen dem Fünfstroralaud und der Jamuna) geschwächte Macht der
Juetchi wurde durch die Turuschka-Könige (von Kashmir aus) hergestellt in Indien. Aus der
Zeitschrift für Ethnologie Jahrgang lt!70. 28
418
stehenden) Chorasmier (Khairizaos), die (b. Strabo) unter Sacae und Massa-
getae gerechnet werden, in derselben Satrapie*) (b. Herodot) vorkommen (in
der Wüste Kharesm), zeigen die nördliche Ausbreitung der (den ßergstämmen
Tocharistans Herrscher gebenden) Reitervölker Arianas (mit südlichen Sagar-
tiern) in der Namensmodilication als Asier (und eine weitere in Usiun ähn-
lich der durch einheimische Massagetcn bei einwandernden Jueti oder Jueitchi
hervorgerufenen) und verschwinden dann (nach Westen zu) in der allgemei-
nen Bezeichnung (persischer) Parther, die (bei Darius) mit Sarangier, Arier
und Sagartier (in der Inschrift von Behistun mit Hyrcaniern) vereinigt sind.
von Kad in Bactrien gestifteten Dynastie der Juetchi stammend , eroberte Hushka oder Hoerki
(gleichzeitig mit Kadphises II. und Amoghabuti) Kaschmir, wo (nach seinem Nachfolger Gushka)
Kanishka oder Kanerki herrschte, der östlich vom Tsongling eroberte, sowie Kanyakubja in In-
dien. Nach Ralhana Pandita blühte unter den Turuschka-Königen (Hushka, Gushka und Ka-
nishka) der Buddhismus in Kashmir. Nach den Si-jü-ki wurde Kanishka bei Purushapura (Pes-
hawer) zur Religion des Cakjabuddha bekehrt und (unter dem Vorsitz des Vasumitra) wurde
(nach Fabian) die vierte Synode in Jalandhara abgehalten Auf Balan (Nachfolger des Kanishka
in Kanekpura) folgte Balan, Vorgänger des Üer (während in Kashmir Abhimanju sich selbstän-
dig machte)- Zur Zeit des Periplus gehörten Abiria und Syrastrene zum Reich der Indoskythen,
deren Hauptstadt Minnagara von den Parthern besetzt war (nach dem Tode des Kanishka). Pa-
kores unterstützte die Parther in Indien gegen die Indoskythen. Salivahana besiegte (78 p. d.)
die Saka. Nach den letzten Königen in Indien (3. Jahrh. p. d.) erhielt sich die Macht der
Juetchi im Norden des Hindukusch. Die kleinen Juetchi eroberten (5. Jahrh.) in Indien. Auf
den Münzen der parthischen Nebendynastie (in Kipin) finden sich (neben griechischen und ari-
schen Legenden) Herakles, Zeus, Athene (Dreizackträger). Die indoskythischen Münzen (mit
griechischen und arischen Legenden) zeigen Poseidon, Pallas, Victoria, Zeus mit Donnerkeil,
Athene, Herakles, Hermes, Apollo. Die Münzen der Juetchi-Könige (mit griechischen und ari-
schen Legenden) zeigen Herakles, Zeus (im älteren Yueitchi-Reich). Die Münzen des (Kadphi-
ses II. oder) Kieutsieukio zeigen (neben griechischen und arischen Legenden) Siwa (mit Drei-
zack) und Feueraltar, Halbmond, Stier (Nandi). Die Münzen der Turushka - Könige (mit Titel
im griechischen und indischen Dialect) zeigen Mithra oder Helios, Mond (Mao und Oami), Ma-
nao bagho, Nauaia, Arthro (Ardetho), Oado (Vado), Pharo, Ordagno, Okro (Ugra oder Siva mit
Trommel und Dreizack), Ardokro, Nandi (Stier), Trimurti, Kumara oder Ikando (Skando oder
Kartykeja), Odi Bod (Adhibuddha oder Samantabhadra), Sramana, Gebeträder u. s. w. In spä-
teren Versionen wird Salivahana, der Sakenfürst zum Sakenzwinger.
*) Die (mit Daher, Marder und Dropicer) nomadischen Stämme (neben den ackerbauenden
Persiens) der Sagartier oder Asagarta, die (auf Darius' Inschrift) in Medien stehen (als Nach-
barn der Sarangier am Etymaudrus oder Heimond, am Mechila Rüstern oder See des Rüstern
in Seistan in gleicher Satrapie mit Thamanaeer, Utier und Mykier) bildeten den Grundstock des
arianisehen Wandervolkes, also (neben den ".J%hioi Herat's oder Hariva's) die eigentlichen "Joint
(oder Ari), im Gegensatz mit den nach ihrer Ansässigkeit zur Herrschaft im Mittelreiche Ma-
dhyadesa's gelangten Medier (Aryanem vaejo's). Wie die vorwiegend die Reiterei des persischen
Heeres bildenden Sagartier auf der einen Seite durch die Wüste in Persien hineinragten, so
berührten sie sich auf der anderen mit den zu Bactrien (Bahli oder Bakhdi) führenden Hoch-
landen der Pactyer, die, als von dort (in späteren Zeitumläuften) über die Ebenen ausgebreitet
(nachdem die Reste der Sagartier nach Asterabad Bay in Mazenderan getrieben waren) als Pahlu
(Aussi oder Asi) oder Parther (der Pehlewane) erscheinen (in Ausbreitung des bei Herodot süd-
lich von Elburz auf den Distrikt Atak beschränkten Namens) und (nach Aufnahme semitischer
Mischung in Belludschistan) in ihren Abzweigungen nach (kabulischem) Afghanistan, als Patau
(Fashtun oder Pakhtun) zurückkehren, wo die aus den Thälern vertriebenen Bewohner (unter
einer in der Zwischenzeit ans Indien verbreiteten Herrschaft) nun ihrerseits zu Kohistans (Berg-
bewohnern) werden.
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Die Arrintzi-Tataren am Jenissei (die in ihrer symbolischen .Sendung au
die Russen die scythisohe Botschaft an Darius wiederholten) erklärten Strah-
lenberg ihren Namen aus Arr und „Ära hiesse bei ihnen so viel wie ein Hör-
niss, so in der schwedischen und gothischen [getischenj Sprache Geting ge-
nannt wird, welche Creatur die Art hatte, dass sie Menschen und Vieh mit
ihrem Stachel plagte, und wenn ihrer viel beysammen, sogar Menschen und
Vieh todt stächen. Weil sie nun in denen alten Zeiten ein gross und mäch-
tiges Volk gewesen, welches viele Leute todt geschlagen oder todt gestochen,
so hätte man sie dahero mit den Hornissen verglichen, und ihnen deshalb
solche Namen Arr (Arinci) beigelegt [ähnlich den von hebräischen Propheten
gebrauchten Vergleichungen]. Zu einer gewissen Zeit aber wären eine Menge
grausamer Schlangen in ihr Laud kommen, welche Köpfe wie Menschen ge-
habt und hätten geglänzt wie die Sonne, nfit diesen hätten sie zwar Krieg
geführt, aber sie wären von denen Schlangen überwunden, ruiniret, und ihrer
sehr viele von ihnen todt gestochen worden. Worauf die übrigen von ihnen
sich aus dem Lande, wo sie damahls gewohnet, wegbegeben müssen.'' Die
yofjTig oder (am Nurskazemja-See) von dem Noor (See) genannten Neuri fal-
len durch ihren Wohnsitz am Tyras (mit Ophiusa oder der Schlangenstadt
Tyras) in das Gebiet der bis zu den Thyrigetae (Thyssigetae) ausgedehnten
Sarmatae (s-rrn is the same roat as s-rb) und verbinden sich, bei der medi-
schen Herkunft dieser, mit den Asien durchschwärmenden Arii oder Medern.
Die (Gott als Mador bezeichnenden) Wotjäken (Arr oder Ari) nennen ihr
Land Arima, zu den (obischen) Ostjäken*) gehörig, die wenn gewaltsamen
Todes sterbend, sogleich zum Himmel steigen, sonst aber vorher bei dem
strengen Gott der Erde dienen müssen, ehe sie in den Himmel kommen.
Bei den- Sianpi (deren Reste sich in Korea finden), die (mit den U-huan)
am Sunggari wohnten, pflegten sich die Männer bei der Vermählung den Kopf
zu rasiren. Ihr mächtigster Stamm war der der Yu-wen, die einen Haar-
büschel auf dem geschorenen Kopfe Hessen. Unter dem wunderbar geborneu
Fürsten Than-chy-hoai besiegten die Sianpi die Ting-ling (im südlichen Si-
birien), sowie die Fu-yu im Osten und die Usun im Westen, ein mächtiges
Reich (unter Kämpfen mit China) stiftend (156 p. d.), das sie also in Ge-
genden führte, wo schon früher Herodot von kahlköpfigen (und plattnasigen)
*) Verschieden von den Ostjäken (am Ohi) zerfallen die Jenisseier (Jenisseiischen Ostjäken)
in Konnigung, Arinzi, Assanen (Kottuen), Kotowzi und Denka, aus dem sajanischen Gebirge
stammend (nach Castren), wie die Samojeden). Unter den (Turm oder Turum verehrenden Ost-
jäken (bei denen der Bär heilig- ist) halten die Geschlechter »ihr Yerwandtschaftsverhältniss unter
den Angehörigen aufrecht, so dass sie keine Ehen unter sich abschliessen und gegenseitig hei
fen (wie die Samojeden). Die obdorschen Ostjäken zerfallen in Rennthierbesitzer (die sich Sitten
und Sprache der Samojeden angeeignet haben) und in Fischer. Als die von Sonnenuntergang
nach Osten an den Tasnuss gelangende Horde der Ostiäken dem Verhungern nahe war. lernten
sie von einem Tschwotschibuikub (erleuchteten Wahrsager) den Fischfang (s. Erman). Die (den
Ostjäken am Jenissei der Sprache nach ahnlichen) Ariner unter Tulka (im Lande Tulkina am
Jenissei bei Krasnojarsk) haben sich grösstenteils unter den Kirgisen verloren (J. E. Fischer).
2d*
420
Argippäern zu erzählen wusste und dem (Helheim's) der Hellenen und Jonier
(Javanen) dorthin. Im Albanesischen bedeutet June „unsere", und mag so
zuv allgemeinen Volksbezeichnung (unsere Leut1) dienen. Der Gouverneur
von Kaschgar führte den Titel Yuni-Wang und in Annam erscheinen die Ja-
vana (oder Hindu) als Juen*) (und jüngste) oder Jonaka (Yune der Inschrift
von Behistuu).
Für Persien (wo der aus der Po-Familie stammende König in Suli oder
Shuster auf einem goldenen Throne residirte) kam unter den Wei der Name
Posse (Po-ssii oder Parsi) auf (nach Tuyeou), während das Land früher
Tiaotschi (Tadjik oder Tata der Ta-Hia) gewesen, indem der parthische Name
(der Exules bei Justin.) seit dem aus dem Stamme der Dahae*) (s. Mannert)
und also des Tahia hergeleiteten Stifter Arsaces (den Strabo Parthien erobern
lässt, als König der Dahae) mft den Sassaniden vor dem persischen zurück-
trat, der indess in noch älterer Zeit gleichfalls schon in Gebrauch gewesen.
Indem dann weiter gesagt wird, dass das Volk des Königreichs Posse (das
frühere Königreich Tadschik) vom Stamm der Ta-Yue gewesen, so wird auf
das Verweilen der Ta-Yuetchi in den Ländern der Ta-Hia Rücksicht genom-
men sein, mit besonderer Rücksicht auf das Reich der (mit den Ta-Yuetchi
verwandten) Yeta (in Tokharestan), die (5. Jahrh. p. d.) in mehrfachem Ver-
kehr mit China standen. Die sonst als Parther erklärten Asi entsprechen
den durch die Ta-Yuetchi in das Land der Ta-Hia und weiter über seine
Grenzen hinausgedrängten Sai (als Asai oder Assi), während die in Persien
zur Herrschaft gelangten Wanderstämme (aus den Ta-Hia von vielleicht Statt
habender Mischung mit verwandten Sai) in den Specialnamen der Tiaotschi,
die diesen Namen Tadjik oder Tata zu einem allgemeinen westlicher Noma-
den machten, auch die Araber (Tache) einbegriffen (wie zu Djingiskhan's Zeit
die mohamedanischen Feinde des Westens allgemeiner als Tadjik zusammen-
gefasst wurden). Persia olim nomen regionis omnis quae non intra finem
Arabiae vel magnae Tatariae continebatur (Meninski), und Hyde leitet von
Taj oder Krone (als Thron in Taj Soliman) den altpersischen Namen Tag-
jik. Dass derselbe in Folge der Eroberung eines Reitervolkes eingeführt sei,
geht auch aus dem Buudehesch hervor, in dem Tadj unter den Vorfahren des
Zohak genannt wird, und die Araber (Tadji) wurden (nach d'Ohsson) von den
alten Persern als Tazi, von den Armeniern als Dadjik benannt, als Tasian
oder Tazian von Taz und Taze, Kinder des Fervaks. Nach Leyden könnten
die Reste der alten Bevölkerung seit der Tazi-Regierung (der Araber-Zeit)
in Mawaral nahar von den Turk den Namen Tazi oder Taji erhalten haben.
*) Unota (jnnota oder jinoch) oder Jüngling von ime (jung oder uny) statt juti (in Li-
Imsa's Gericht). Junose, juvenis (Mater verborum).
*) The Dahi, whose name is equivalent to the Latin „Rustici", were spread over the
whole country froni the Caspian to the Persian gulf and the Tigris. They are even mentioned
in Scripture among the Samarian colonists, being classed with the men of Archoe (Erech or
0(>xorj), of Babylon, of Susa und of Elam (s. ttawlinaon).
421
Bei der Blüthe des Tiaotchi- Reiches verbreiteten sich die höher gebildeten
Handelsleute der Tadjik oder Sartcn , aber mit dem Sturze sank auch der
Name in den Sklavenstand der That (im Siamesischen) hinab, als der Name
(Tat oder Tatas), „den die Nachkommen der Seldjukiden als Sieger den Be-
siegten gaben, den sich die alten Einwohner der Bucharei von ihren usbeki-
schen Eroberern gefallen lassen müssen, den aber auch die herrschenden Sun-
Diten den unterdrückten Aliden geben" (s. Ritter). In Shirvan und Daghestan
werden die persisch redenden Aliden von den si* umgebenden persisch re-
denden Sunniten so genannt, und bis in die Kriinm finden sich Tat, die, ob-
wohl sie dort türkisch sprechen, dennoch nur als Unterworfene so genannt
werden. Die Tadjik (in Kabul) werden auch Sartes genannt (nach Burnes).
In Chiwa wird der Name der Sarty (Sarteu) oder Sarter (der Karavanen aus-
sendenden Städtebewohner) gleichbedeutend mit Tata gebraucht (nach Mura-
view), wie schon früher in Kharesmien und das Erbtheil Tschagatai's (Sohnes
des Djingiskhan) in grosser "nd kleiner Bucharei hiess (bei den Mongolen)
Sartohl (s. Timkowski) oder Sartenland. „Sart bezeichnet ausserhalb Persiens
dieselbe gewerbetreibende Classe persisch Redender, welche im Persischen
selbst auch Sogdager oder Sudagr (Handelsleute, wie indische Banig-jana)
genannt werden, und so sind die Sarten die Abkömmlinge*) der antiken Ur-
•) Ueber die Kaste der Ackerbauer (der Panthialaei, Derusiaei und Germanii) und die
der Nomaden (der Dai, Mardi, Dropici und Sagartii) herrschte (in Persien) die der Krieger, aus
den Pasagardae (mit der königlichen Familie achäischer Achämeniden von Hakha oder Sakha,
des Perseus aus Chemmis), der Maraphier (von Maraphus, Sohn des Menelaos und der Helena
hergeleitet mit ägyptischen Namensformen) oder Mafee (s. Rawlinson) und der Maspii, die (von
aspa oder Pferd) als Gross-Rossige auf die Aspasii (der Paropamisadae) oder (bei Strabo) 'f.nnä-
m.„ führen würde, durch Pferdezucht berühmt, wie (bei den Indern) die Kamboja (s. Lassen),
als Kamoje (der Siaposh) später in die Berge gedrängt. Die Pasargadae oder (b. Curtius) Par-
sagadae, bei llaaaauyttiat oder (nach Steph. Byz.) das Lager der Perser in Farsistan, bildete
den Mittelpunkt der persischen Monarchie, die (wie gegenwärtig) auf Ansässigen (Tat oder Tad-
jik) und Wanderstämmen (Iliyat) begründet war und in ihrer Herrscher-Dynastie (wie jetzt in
den Kadjaren) eine Verwandtschaft zu den umwohnenden Reiterhorden (die von den nächsten
Nachbarn Sakae genannt wurden) zeigte. Solche unstät schweifende Sacae (der Scythen) oder
Sse wurden zu Sagartier, wenn ein Gorod (wie Pasargata) in ihrem Gebiete einschliessend (als
Burgunder) und bei der durch die Parther eintretenden Völkerschiebung (in der die Sagartier
nach Asterabad gedrängt wurden) konnte sich der Name der Maspier oder Maha-Aspier (Aspa-
sier) in Aspurgianer des Nordens verwandeln. Damals erneute sich (wie zu verschiedenen Malen
der periodisch untergegangene Name der Türken) die Bezeichnung der Parther, die sich bereits
von den Steppen aus über die farsischen Thalländer verbreitet hatten, als flüchtige Fürsten-
geschlechter der von Cyaxares besiegten Sakae (die schon früh als Achäer Egypten bedroht hat-
ten in einer später diese als Ansässige von den Schweifenden unterscheidenden Namensform)
sich unter den Persern (als Achämeniden) festsetzten und dann mit Hülfe der dort einheimi-
schen Nomadenvölker (der Maspier unter den Sagartiern) das Joch medischer Tyrannei in Cyms
Aufstande abwarfen (in anfänglich feindlichem Gegensatz zu den' im Culturstaate Bactrien oder
Bahli ihren Schwerpunkt findenden Parther oder Pahlu). Dieser Zusammensturz des medischen
Reiches (unter Ästyages oder Dahak) wurde von den bactrischen Gesängen als Verdienst ihres
Feridun (in Verknüpfung mit einheimischen Schmiedesagen des Ostens) gefeiert, der ohne Be-
ziehung (und eher im Gegensatz) zu (dem im Westen thätigen) Cyrus stand Als jedoch die
Ausdehnung des Arsacidenreiches beide Landestheile in eine Nationalität vereinigt h3tte, fanden
422
sassen des alten Sogdianas, indem (nach Sultan Baber) alle Einwohner von
Marghinan (Ferghana) Sarten waren, und selbst die Bewohner des Asferah-
Gebirges (südöstlich von Ferghana) seien Bergvölker oder Sarten" (s. Ritter).
Muraview beschreibt die europäischen Gesichtszüge der den Usbeken unter-
worfenen Tadjiks (Nachkommen der alten Sogdianer) in Buchara, wo sie seit
Iskanders (Alexanders) Zeiten gewohnt, und St. Martin führt den Namen
der Tadjik, welchen Turk und Tataren den persisch Redenden in Persien, Afgha-
nistan, Tokharestan und Transoxiana geben, auf die alten Dahac zurück, die
sich einst vom Danubius bis Bactrien ausgebreitet.
Vor Ankunft der tangutischen Stämme wird also eine arisch redende (im
Gegensatz zu Anarier oder medische) Nomadenbevölkerung (die ihre Analo-
gien in den jetzt auf Berge beschränkten Kurden findet) die See-Steppen be-
wohnt haben und Reiche im Westen gestiftet (so dass Darius seine arische
Abkunft hervorhebt), worauf dann (nach der Religionsreform) die das Wan-
derleben bewahrenden Verwandten als Magier (Moghestan's in einer auf mon-
golische Benennung der Moho fortwirkenden Generalisirung) stigmatisirt
wurden, und Astyages in der Sage mit dem turanischen Afrasiab zusammen-
fiel, als der (in Tokharestan's Bergen schon seit den Yueti bewahrte) Name
der Türken seit den Thukhiu, und dann besonders der seit dem neuen Erschei-
nen der (uigurische Bildungselemente bewahrenden) Hoeihe unter arabischen
Eroberern in Sogdiana verbreitete Name der Türken ein allgemeiner wurde
und (trotz ephemerer Unterbrechung durch die Mongolen) so geblieben ist.
Die sibirisch tingirten Stämme, zu denen die allgemeine Bezeichnung der
Sakae (b. Perser) und (europäischer) Scythen einen Uebergang bildeten, schlös-
sen sich dann an die finnische Rasse an.
Von Aram unter den Nachkommen des Haig (Sohn des Taglath oder
Thogorma) erhielten die Haiayanier den Namen Armenier und bei den Er-
oberungen, die Aram (in seinem Bündniss mit Ninus) über Medien, Nord-
Assyrien und Cappadocien ausdehnte, wird sich der Name der Aramäer ver-
breitet haben, den Strabo mit dem der Armenier zusammenstellt. Der Name
der Arimer oder Arimanen kann dann zu dem allgemeinen die (medischen)
Wandervölker umfassenden der Arii (Asi) in einem ähnlichen Verhältniss ge-
standen haben, wie Turkmanen zu Turk. Die herrschende Bezeichnung der
Asi oder Assi (wie in den Assireta) im Gegensatz zu den beherrschten Ein-
gebornen Iran's (des Landes Ir oder Er) könnte der Name der Assyrier ge-
bildet haben, wozu dann im Gegensatz die Sirier (Syrier) gebildet wurden
auch die Khosru-Sagen im Epos ihren Platz unter der von Firdusi in Ghazna vorgefundenen
Verknüpfung, und aus der nördlichen Herkunft arabischer Bujediten stellte sich (in Erinnerung
der letzten Eroberungen des Islam) die Verwandtschaft Zohak's zu den Aditen her, Für die
Städte Bactriens hatten Meder, so lange ihre verwandten Stämme die Kbenen Sogdianas durch-
streiften, die Turanier gebildet, wie spater die Türken. Mttnäcfioi t&vog Iv UtQOtdi , an 6
Maoni/ (o» ßaaikfoj (Steph. I'yz.). Ztr/madt, ynjnr,r,^rK nunä rj} K«nn(« Onknnnrj, 10
t'Jvty.'iv ZtayixQTiot (Steph. Byz.).
423
(als serische Sarten). Die skythischen Völkerschaften, von den Persern Sa-
ker genannt, führten bei den Alten den Namen Aramier (nach Plinius).*)
Mit Gross- und Klein-Poliu (Purut**) bezeichnen die chinesischen Geo-
*) Ante divisionern imperii Assyrios et Syros ab Aram (Semi nlio) dictos esse Syros Ara-
maeos, testatur Josephus Hör noinen apud Syros desiisse deineeps. quod nomen Aramaei pro
gentili idolaträ asurpatum ftrit, nt in Gemara Talmud Babylonici, ubi Samaritanus sive Cuthaeus
medius ponitur inter Judaeum et Aramoeum, vel idolatram gentilem. Apud Onkelos (Lev.) Ara-
rnaeus ponitur pro Idolatro. Et in versione Nov. Test, Syriai :a [pro gentibus ei graecis) legunt
aramaeos. Die Götter Syriens heissen (bei Jes.) Elhei Aram.
**) Im Namen Burut (mit mongolischer Plural -Endung) liegt (auch siamesisch) der all-
gemeine Ausdruck für Mensch und ist derselbe (im Anschluss an die, durch die < (riechen bore-
adisch modificirten Bcr-Sagen des Nordens) den kirgisischen Resten am Issykul sowohl, wie den
mongolischen am Baikal geblieben. Als mit Buruten früher vereinigt gelten die Jakuten (As
oder Sacae), die sich bei ihrer Herleitung aus Tangut (s. Strahlenberg) den Kouten oder Houten
(Nachbarn tangutischer Usunen) zur Seite stellen würden, und gewissermaassen (ähnlich wie die
Sai oder Sacae nach den Issykul-Bergen flüchteten) als die nach Norden retirirten Reste einer
späteren (aus unterworfenen Sacae und herrschenden Usun zusammengemischten) Schichtung,
als die Usun den Thukiu , Toraxtn •' iü tija ttpus oder (b. Theophanes) Chazaren (die gemein-
sam den muhamedanisch und chinesisch bezeugten Gebrauch der Chan-Drosselung übten) er-
lagen. Neben dem (bis zu -den Hiongnu gleichartigen) Gebrauch des Himmelsopfer beim Feuer
(b. Isbrand Ives) verehrten die Jakuten in dem Gott Tangara (Schugo-teugon und Artengon) den
Tengri-Himmel. Gemeinsam wird die göttliche Dreiheit Sumans (der Samanäer Schigeinuni's)
oder der Heilige genannt. Der Hauptstamm der Jakuten heisst Boro-Ganiska. Unter Deptzi
Tarchan tegin (worin sich neben dem bedeutsamen Tarkhan Anklänge an Tengri-khan, dem Er-
oberer der Hoeihe, finden) theilten sie sich von den Buräten, aber ihr berühmter Nationalfürst
wird Zacha genannt, was bei der früheren Nachbarschaft zu Chokend oder Alexandreia ultima
unter dem auch sonst in Asien, z. B. in Badekshan" (nach Baber), bei den Fürsten der Tagik
(nach Marco Polo) und Malayen, als Stammherrn geltenden Dhulkarnaim oder Alexander M.
(Sacha in russischer Modification) führen würde. Diejenigen so in der Stadt Jakuhtski sterben,
lassen sie auf den Gassen liegen , dass die Hunde die todten Körper zum öfftern fressen (nach
Strahlenberg), wie in Bactrien (bei Strabo). „Sonst hat und hält ein jedes Geschlecht eine ab-
sonderliche Creatur heilig, wie Schwan, Gauss, Raben u. s. w., und dasjenige Thier, welches ein
Geschlecht für heilig hält, wird von demselben nicht gegessen; die andern aber mögen es essen"
(wie in Amerika und Afrika). Wie Klaproth bemerkt, können die (91 p. d.) von den Chinesen
in die Quellen des Irtysch zerstreuten Hiongnu nicht den von Deguignes vermutheten Zusam-
menhang mit den Hunnen haben, doch zeigt sich in dem Namen der Hunnen, auf den die west-
lichen Schriftsteller so vielerlei Völker zurückzuführen suchen, der nachbleibende Ruhm einst
weithin gefürchteter Herrschaft, obwohl es bei dem beweglichen Element der Wandervölker, die
sich auf ihren offenen Steppen unter den Händen des Historikers selbst verändern mögen,
schwer und oft unmöglich ist, zu entscheiden, wieviel Procent des ursprünglichen Blutes eine
an anderm Ort und zu andrer Zeit auftretende Horde gleichen Namens noch besitzen dürfte.
Wiewohl die vermeintliche Ausrottung der Juan-Juan durch Moukan-Khan (558 p. d.) die edlen
Geschlechter vorwiegender als das ganze Volk betroffen haben muss, so werden doch in der
avarischen Bewegung weniger ihre Personen, als die glänzende Erinnerung an dieselben gespielt
haben, wo sie, als die Erben der Hiongnu (und der Sianpi), wie den Namen der Hunnen auch
den der Avaren bewahrten, der sich schon in Varhatchan, Hauptstadt der Armenien benach-
barten Hunnen (Hounk) zeigt und später von den Uuarkhoniten usurpirt wurde. Hüni wird
(Diut.) für Pannonii gebraucht oder für Vandali (s. Grimm) und als Riese. Das tatarisch-mon-
golische Wort Uigur oder Vigur bedeutet L'niti (Verbrüderte) oder Confoederati im alten Namen
der Hunnen, der bei der Trennung des Volkes in Unn-Oigur und Nokos-Oigur entstand (s. Strah-
lenberg). Im Gegensatz zu Tokos -Uigur (Neun - Uigur) würden sich dann die Uu-Uigur oder
Zehn-Uigur (bei Abulghasi) an die (westlichen) Huu (als Hundert oder Centenarii) schliessen (im
Bellen mit Gerichtsbarkeit verbunden). Der bei den Uiguren erbliche Fürstentitel eines (godischen)
424
graphen der Thang-Dynastie ein zwischen Kaschgar und Kaschmir gelegenes
Ländergebiet (s. Remusat), also das Gebirgsland südwestlich von Yarkand
gegen den Puschtikhur und Karakorum, sammt Klein-Thibet, nämlich Balti-
stan und Ladakh (nach Kitter). Gross-Purut (dessen König in Ladakh resi-
dirte) wurde von den Tibetern unterjocht, aber (747 p. d.) von den Chinesen
besetzt. Der in Nie'ito am Soi-Fluss (Gilgit oder Chitral) residirende König
von Klein-Pourout vertheidigte sich mit Hülfe der Chinesen gegen die Tibe-
ter (713 p. d), trat aber später mit diesen in verwandtschaftliche Verhältnisse.
Im Thsing-y-thoung tschi (1790 p. d.) wird von den Burut gesagt, dass sie
früher (unter den Thang) in kleine und grosse Pulu oder Poliu (Pourut)
getheilt, ihre Wohnsitze im Süden von Türkestan gehabt (in den Südgebir-
gen oder dem Kuenlün), später aber sich in der Nordkette (im Thiansehan-
System) festgesetzt hätten. Bei den aus der Zerstreuung der Kirgisen im
Issykul hergeleiteten Kara-Kirgisen oder Burut fand Radioff keine auf einen
nördlichen Ursprung hindeutenden Traditionen, da dieselben eher nach Süden
wiesen. Tschao-hoei (1459) setzt die Purut-Ertschien oder (nach Amiot)
Antschüen (Andidjan) westlich von Kaschgar. A. B.
(Fortsetzung folgt.)
Zustände und Vorfälle in den Niederländisehen Colonien
in den Jahren 1867 und 1868.
Von Dr. Friedmann.
A. Niederländisch Indien.
I.
Grundgebiet. — Bevölkerung Java's und des übrigen Archipels. — Berlehte über elnielne Länder
und Provinzen.
Die ausgestreckten Ländermassen und zahlreichen Inselgruppen des ostasiatischen Archipels,
obwohl innerhalb der Tropenzone gelegen, sind dennoch von jenem excessiven, für den Menschen
Kuht tritt dann in Idi-Kuht (s. Abulghasi) mit vielfach gekreuzten Reihen mythologischer Be-
zeichnungen zusammen. Les Polonais ont fait de leur nom propre d'Obry (synonyme d'Avares)
leur appellatif obrzym, qui veut dire geant (Siestrzencewicz). Les anciens Slaves appelaient les
geans Woloty (Wilzen oder Basken des Vasgau). Nestor beschreibt die Obren (Awaren) als
hohen Wuchses.
425
verderblich wirkenden Klima verschont, das wir in anderen Tropenländern, besonders auf dem
afrikanischen Cöntinenl bemerken Denn die zahlreichen Meere und Meeresarme, die sieh zwi-
schen den Inseln hinziehen, bewirken, dass die kleinern Inseln in ihrer ganzen Ausdehnung von
den kühlen und reinen Seewinden durchstrichen weiden, während dieselben auch tief in das
Innere der grossen Inseln dringen, deren Centraltheile überdies aus fielu^s/iisren verschiedener
Formationen bestehen, welche gewöhnlich weil in die Region dei gemässigten Zone hinaufreichen,
so dass auf deren Hochebenen und Bergrücken ein ewiger Frühling ^elageri ist.
Die Niederländer beherrschen fast den ganzen Archipel, und zwar steht der grösste Theil
desselben unter ihrer unmittelbaren Verwaltung, während die Herrscher vieler Stämme im Lehns-
verhältniss zur niederländischen Regierung stehen "der durch Contracte mit derselben verbunden
sind und die Oberhoheit derselben anerkennen. Aus den von dort kommenden Berichten ent-
nehmen wir, dass Cultur und Humanität unter den dortigen \ölkern bei der milden und wei-
sen Regierung der Niederländer von Jahr zu Jahr fortschreiten, indem die Bevölkerung bedeu-
tend zunimmt, die sanitätischen Verhältnisse sich verbessern, Ackerbau, Handel und Industrie
rasch sich ausbreiten, die Sitten der Bevölkerungen sich veredeln und selbst die Wissenschaften,
besonders die naturhistorische und geschichtliche Erforschung der Länder, mit Eifer gepflegt
wird.
Das Ländergebiet betreffend, über welches die unmittelbare Herrschaft der Holländer
sich erstreckt, so unterlag dasselbe in dei betreffenden beiden Jahren keiner Veränderung.
Ueberhaupl erfolgte seit dem Jahre 1864, wo das grosse Reich von Banjermassin aut Borneo
dem niederländischen Gebiete einverleibt wurde, kein Zuwachs von Bedeutung zum ostasiatischeu
Ländergebiet der Niederländer. Nur geschah im Jahre 1866 in Folge von Plünderungen und
Raubzügen, welche sich die Bewohner der l'asuma-Länder auf Sumatra zwischen Benkulen und
Palembang erlaubten, die Einverleibung dieses kleinen Gebietes, welches nun durch holländische
Beamte verwaltet wird. Die topographischen und statistischen Aufnahmen der erworbenen Be-
sitzungen, sowie die Entwerfung von Special-Land- und Seekarten ist dem Corps der Ingenieure
der Landmacht sowie den Seeofficieren übertragen, welche ihre Function eifrig betreiben. Es
wurden von 1866 — 69 nicht weniger als 2000 sogenannte Dessatanten oder Specialkarten ein-
zelner kleinen Districte im Maassstabe von 1 : 2500 ausgegeben, während die Zahl der Seekarten
mit genauen Tiefenangaben, welche seit drei Jahren von den Officieren einzelner Kriegsschiffe
verfertigt wurden, ebenfalls nicht unbedeutend ist. In Folge der trigonometrischen Aufnahmen
der meisten Districte von Sumatra und Celebes stellte sich heraus, dass die Angaben der klei-
neren Regenten und Distriktsvorsteher über die Ausgestrecktheit der bebauten und besteuerten
Felder vielfach unrichtig, in der Regel zu gering waren, so dass der Staatskasse in Folge dieser
genauen Aufnahmen und Richtigstellung der Grösse der zu besteuernden Felder eine bedeutende
Vergrösserung des jährlichen Einkommens zufloss.
Die Oberfläche der Inseln Java und Madura sammt mehreren kleinen Küsteninseln stellte
sich nach den neuesten Aufnahmen heraus zu '2390.8 geographischen Qu. -Meilen, und zwar be-
trägt die Oberfläche Javas sammt den Küsteninseln 2294.8 Qu.-Meilen , jene von Madura 96.0
Qu.-Meilen. Hierdurch wird die frühere Aufnahme dieser Inseln vom Jahre 1849 berichtigt,
nach welcher die Insel Java berechnet wurde auf 2334 Qu.-Meilen,
die Küsteninseln „ 13.3 „
Madura „ 97.3 „
2444.6 Qu.-Meilen.
Die Oberfläche der ostjndischen Besitzungen ausserhalb Java und Madura beträgt nach den
Berichten von 1868 ohne das Reich Banjermassin 26,500 geographische Qu.-Meilen.
Wohl in keinem europäischen Lande werden so häufig Volkszählungen vorgenommen, als
auf dem indischen Archipel, und besonders auf Java, Madura, der Westküste Sumatras, den
Zinninseln Billiton, Banka und Celebes. Die Regierung ist daher im Stande, alljährlich die
Zahl der Einwohner in den verschiedenen Ländern des Archipels mit ziemlicher Genauigkeit
anzugeben und werden die Listen über die Uevölkerungsbewegung alljährlich nach dem Mutter
lande gesendet" und veröffentlicht. Java und Madura, die beiden am dichtesten bevölkerten
Inseln des Archipels, zeigten in den fünf Jahren 1864 — 1868 folgende Bevölkerungszunahme:
426
1864 13,917,400
1865 14,168,400
1866 14,552,500
1867 14,945,900
1S68 15,477,700
Den Racen nach vertheilt sich die Bevölkerung Javas von 1868 in folgender Weise:
Europäer . . . 28,500
Chinesen . . . 167,600
Araber .... 11,500
Andere Asiaten 4,200
Eingeborne . . 15,265,900
15,477,700
Da nun die beiden Inseln einen Flächenraum von etwa 2391 Quadratmeilen einnehmen, so
stellt sich eine Dichtigkeitsbevölkerung von G470 Menschen auf eine Quadratmeile heraus, die
den dichtest bevölkerten Ländern Europas gleich kommt. Erwägt man nun, dass etwa % der
Oberfläche Javas noch aus Urwäldern und unbebauten Allangflächen besteht, sowie dass ein
grosser Theil der bebauten Felder für den europäischen Markt bestimmte Producte liefert, so
kann man sich eine Vorstellung von der ungeheuren Productionskraft dieses gesegneten Eilandes
machen, welches nicht mit Unrecht die Perle der niederländischen Besitzungen genannt wird.
Die Bevölkerung in den übrigen unter niederländischer Herrschaft stehenden Ländern des
Archipels stellt sich nach der Zählung von 1868 folgendermassen heraus:
Sumatras Westküste 1 ,565,039 Seelen
Benkulen 131,151 »
Lampang'sche Districte 102,346
Palembang 457,095
Insel Banka 58,986
Billiton 18,773
Riouw 30,523 ,
Westlicher Theil Borneos 341,300
.Südlicher und östlicher Theil Borneos 842,330
Südcelebes 338,718 ,
Nordcelebes nebst den Sangir- und Ta-
laut-Inseln 491,974
Amboina, Banda nebst dem Reiche von
Gorontalo, den Ländern der Tomini-
Bucht, sowie den Key-Aru-, Tenin-
ber- und Südwestinseln nebst Ceram
und Buru 534,688 „
Ternate 81,425
Timor 500,0001 un-
Bali 700,000jgenau
6,204,348 Seelen
Hierzu die Bevölkerung von Java und Madura 15,477,700 „
21,682,048 Seelen
Für die noch unabhängigen Völkerschaften kann man füglich noch 5 Millionen Seelen rech-
nen, die vorzüglich im Innern Borneos und auf vielen wenig besuchten Inseln wohnen, so dass
die Gesammtbevölkerung des indischen Archipels sich etwa auf 26)6 Millionen Seelen beläuft.
Unter den Mortalitätslisten finde ich auch Verzeichnisse der in verschiedenen Ländern des
Archipels vorgekommenen gewaltsamen Todesarten, die wohl einiges Interesse bieten. Auf Java
und Madura kamen im Jahre 1868 im Ganzen 2480 gewaltsame Todesarten vor, und zwar star-
ben 236 Personen durch Blitzschlag, 906 ertranken, 417 verunglückten durch einen Sturz von
einer Höhe, 210 wurden durch Tiger, 50 durch Krokodille, 5 durch Schlangen und 48 durch
andere Thiere getödtet , während 145 Selbstmorde vorkamen und 563 Personen durch anderes
Unglück das Leben verloren. Ausserhalb Java und Madura kamen in jenem Jahre 3616 ge-
waltsame Todesarten — abgerechnet die in den Gefechten und bei Aufständen gefallenen Per-
427
sonen — vor. worunter 457 durch Tiger, 187 durch Krokodille, 11 dui tilgen und 60
durch andere Thiere umkamen
Die Beziehungen de-; indischen Archipele mit dem Auslände betreffend, isl anzuführen, dass
der General - Gouverneur P. Meyei im Jahre 1867 Pebereinkünfte traf mit dem norddeutschen
Bunde und dein Königreich Siam, gemäss welchen an grossen Bandeisplätzen des Archipels
Consuln <h'r genannten Staaten ihren Sitz haben sollten Im Jahre 1868 kam ein Oonsul von
Bayern nach Samarang, sowie ein solcher des norddeutschen Bundes nach Batavia.
Dnter den einzelnen Völkerschaften sowohl auf Java als den übrigen Ländern des Archipels
herrschte während der beiden Jahre im Allgemeinen Hohe und Friede und kamen ausser eini-
gen später anzuführenden kleinen aufständen keinerlei politische Unruhen \<>r. hie Bevölkerun-
gen fühlen sich glücklich, indem sie durch eine humane Regierung geschlitzt werden und jene
Akte der Gewalt und der Despotie allmählich schwinden, welche die einheimischen Regenten
früher gegen ihre eigenen Unterthanen auszuüben für gut fanden Deshalb ist es auch nie die
Masse des Volkes, auf welche die Urheberschaft von Widerstand gegen die Regierung fällt, son-
dern es sind ausser einzelnen religiösen Schwärmern die ehemaligen Fürsten oder ihre Ver-
wandten, welche hier und da sich auflehnen, da sie ihre frühere despotische Herrschaft gerne
wieder fortzusetzen wünschten.
Im Jahre 1868 kam nur ein kleiner Aufstand in der Residentschaft Batara vor, der zwei
Beamten das Leben kostete, aber schon durch das Erscheinen von Truppen unterdrückt wurde,
ohne dass von den Waffen Gebrauch gemacht wurde.
Von den ausserjavanischen Ländern des Archipels wird berichtet, dass fast allenthalben in
den beiden Jahren die Reisenite theils befriedigend, thcils vortrefflich ausfiel, so dass bei reich-
lichem Vorrath dieses Haupt-, ja fast einzigen Nahrungsmittels mancher Stämme auch der Wohl
stand des Volkes sich hob.
Der nördliche Theil Sumatras wird bekanntlich noch von unabhängigen Stämmen bewohnt
Nach dem Vertrage der Niederländer mit England vom Jahre 1824 soll die sogenannte Pfeffer
küste, d. i jener Theil Sumatras, der sich von Baros und Sakel nordwärts erstreckt, neutrales
Gebiet bleiben und sollte es jeder Nation gestattet sein , dort Handel zu treiben , insbesondere
Pfeffer zu holen. Dennoch übt die niederländische Regierung einigen Einfluss auf das dort ge-
legene Reich Atjeh *) aus , so wie sie vor wenigen Jahren auch zu Deli , an der Grenze dieses
Reiches ein Fort erbauten. Südlich von Atjeh wohnen die berüchtigten Battan, zwischen Sakel
und Tapanuli, ein noch der Anthropophagie ergebener Volksstamm, dessen Sitten wir in dem
illustrirten Werke „Ostasiatische Inselwelt" (Leipzig 1867, bei Otto Spamer) sküzirten. Bei dem
geringen Zusammenhalt dieses Volksstammes, bei welchem fast jeder kleine District, ja selbst
einzelne Dörfer einen kleinen Staat für sich bilden, so dass jede Centralisation und daher auch
die Bildung einer grösseren Streitmacht fehlt, wäre es ein Leichtes, mit ein paar Compagnien
europäischer Truppen den ganzen Stamm in Botroässigkeit zu erbalten und ihnen aufs strengste
die barbarische Sitte der Menschenfresserei zu verbieten. Es ist daher auffallend, dass bei dem
löblichen Streben der holländischen Regierung nach Hebung der Cultur und Humanität unter
den ihrer Leitung anvertrauten Völkern die Battan noch immer jene Anthropophagen sind, wie
sie uns von Reisenden des vierzehnten Jahrhunderts schon geschildert werden.
Die oben erwähnte Acquisition der zwischen Benkulen und Palembang gelegenen Districte
Ampat-Lawang, Pasuma und Redjang erweist sich als eine nutzbringende, indem diese Gegen-
den grosse Quantitäten Damar-Harz produziren, aus welchen Kerzen fabrizirt werden und unter
andern Handelsartikeln allein 200 Pikul Kaffee alljährlich nach Padang verführt werden.
Die Osthälfte Sumatras wird von verschiedenen Volksstämmen bewohnt, deren Regenten als
Vasallen der Regierung betrachtet werden. Nicht selten kommen dort Aufstände vor, welche
gewöhnlich von Verwandten der Fürsten, die sich Anhänger zu verschaffen wissen, angezettelt
werden. So gelang es im Jahre 1868 einem solchen Abkömmling eines Regenten, Namens Pi-
rasun , einige Districte an sich zu ziehen und halle er den Plan, sich zum Radja von Palem-
*) So -wird der Name dieses Landes in niederländischen officiellen Berichten geschrieben,
während die Engländer ihn „Atcheen" schreiben und nach ihnen deutsche Schriftsteller oft. der
englischen Aussprache folgend, das Land ,Atschina nennen. Auf diese Weise kommen durch
die englische Schreibweise und Aussprache mehrfache Korruptionen in die geographischen Be-
nennungen.
428
bang aufzuwerten. Durch das Aufgebot einer kleinen Militärmacht, bestehend aus den Besatzun-
gen der nahen Stationen, gelang es jedoch den Aufruhrer zur Unterwerfung zu bringen, so dass
er gegenwärtig als einfacher Oekonom auf seinem Gute hei Palerubang wohnt und sich mit der
Anpflanzung von Kokosbäumen beschäftigt.
Von mehr Wichtigkeit sind die Nachrichten \on Borneo. An der Nordseite dieser Insel
hat bekanntlich vor mehreren Jahren JimeS Brooke als Privatmann, dem nur ein kleiner Kriegs-
dampfer zu Gebote stand. Einfluss auf die staatlichen Verhältnisse des Sultans von Brunai sich
verschafft, so dass er von diesem zum Radja von Serawak und Labuan ernannt wurde, welchen
Posten der kühne Unternehmer benutzte, um sich ziemlich unabhängig von seinem Lehnsherrn
zu machen und das ihm anvertraute Gebiet im Namen der englischen Regierung zu verwalten.
Die Holländer widersetzten sich dieser Handlungsweise nicht, um nicht in Conflict mit der eng-
lischen Regierung zu kommen und betrachteten James Brooke wie einen der inländischen Rad-
jas, deren viele neben dem niederländischen Gebiet ihren Sitz haben und ziemlich unabhängig
sind. Nach dem Tode von Brooke wurde von der englischen Regierung ein Nachfolger dessel-
ben unter dem Titel eines Gouverneurs von Nordborneo ernannt, der mit den benachbarten
niederländischen Residenten von Sintang und Sambas auf freundschaftlichem Fusse steht. Es
wird berichtet, dass er im Juni 1869 mit seinem Sekretär am Bord des Kriegsdampfers Slarey
dem Residenten von Sintang einen Besuch abstattete, die Bergwerke und Seeplätze von West-
borneo besichtigte und sich mit seinem holländischen Collegeu über die Mittel zur Abwendung
des Seeraubes berathschlagte. Was den letzteren betrifft, so hat sich derselbe in den jüngsten
Jahren im ganzen indischen Archipel, Dank den energischen Massregeln der niederländischen
Regierung gegen denselben, welche mit kleinen, flachen Kriegsdampf booten zahlreiche Expedi-
tionen gegen die R-äuberschiffe unternahm und dieselben in den Grund bohrte, sowie die Mann-
schaften zu Gefangenen machte, so bedeutend vermindert, dass gegenwärtig nur selten mehr ein
Seeraub in den Gewässern des Archipels ausgeführt wird. Dennoch ist der Sitz der indischen
Seeräuber, die Insel Mindanao sowie noch einige der unter spanischer Herrschaft stehenden
Philippinischen Inseln, noch nicht aufgehoben, so dass das wachsame Auge der holländischen
Regierung die alljährlich zu unternehmenden Expeditionen noch nicht einstellen kann. Im
Jahre 1868 kreuzte das Dampfschiff Den Briel an den Küsten von Borneo, sowie einige Schoo-
ner und Kreuzboote der iudischen Flotte die Küsten von Lombok, Flores, Bali, dann die Natuna-
Inseln besuchten, jedoch kein Raubschiff entdecken konnten, obgleich sie Kunde von hier und
da durch Räuberprauen gepflogenen Strandraub erhielten. Die Abwendung des Seeraubes durch
gemeinsame Unternehmungen der britischen und holländischen Regierung bildete auch den
Gegenstand der Besprechung zwischen dem englischen Gouverneur von Serawak und dem hol-
ländischen Residenten.
Dem Beispiele Englands, auf dem indischen Archipel festen Fuss zu fassen und sich eine
Besitzung zu erwerben, suchte in neuester Zeit auch Nordamerika nachzuahmen, ohne dass
jedoch bis jetzt der Plan gelang. Mehrere amerikanische Colonisten haben sich in den Jahren
1867 und 1868 in Nordborneo niedergelassen, nachdem sie Ländereien sich erworben und suchen
diese Herren die Bekanntschaft mit dem Sultan von Brunai und anderen einflussreichen Perso-
nen zu erwerben, um, wie es scheint, Einfluss in politischen Dingen zu gewinnen. Auch wurde
zu Brunai ein amerikanischer Consul mit dem Titel „General-Consul von Borneo" angestellt,
der jedoch alsbald in Conflict mit dem Sultan gerieth, dem er den versprochenen Tribut nicht
entrichtete. Die Sache wurde von dem amerikanischen Consul zu Shanghai in China, welcher
• persönlich nach Brunai kam, in der Art beigelegt, dass das Consulat von Brunai wieder auf-
gehoben wurde.
In der Süd- und Ostabtheilung Borneos hatten die Holländer noch vollauf zu thun, um
Aufstände zu unterdrücken und die Anhänger der früheren Dynastie von Banjermassin zur
Unterwerfung zu bringen. Unter den letzteren waren der Pangeran Kurba und sein Sohn Dja-
nal, sowie Butapi, fürstliche Personen, die noch bedeutenden Einfluss auf die Bevölkerung aus-
übten, Forts errichteten und sich die Herrschaft über einen Theil des Landes wieder zu erwer-
ben suchten. Doch glückte es den Bemühungen der Regierung, die Aufstände zu unterdrücken,
und hob sich zum Theil wieder der Handel und der Landbau. Der letztere beschränkt sich auf
Borneo freilich nur auf die von den Eingebornen begehrten Culturpflanzen , als Reis, Kokos-
palmen, Katjang, Tabak, Betel, Pinang, und konnten bis jetzt keine bedeutenden Quantitäten
429
der für den europäischen Markt bestimmten Erzeugnisse erzielt werden; doch kann durch fort-
gesetzte Bemühungen der Regierung auch dieses ausgestreckte Land einer bedeutenden Zukunft
entgegengehen, da seine Fruchtbarkeit jener Javas kaum nachsteht. —
Der bedeutende Umfang der einzelnen Residentschaften und die geringe Zahl der europäi-
schen Civil- und Militärpersonen machten es bis jetzt unmöglich, die barbarische, unter den
Dajaks bestehende Sitte des meuchlerischen Kopfabschlagens gänzlich zu unterdrücken, obgleich
schon vor mehreren Jahren energische Massregeln und die nöthigen gesetzlichen Bestimmungen
gegen diese Mordanfälle getroffen wurden. So berichtet der Resident von Sambas (Westborneo),
dass in seiner Residentschaft im Jahre 1868 ungefähr 50 Personen meuchlerisch getödtet wur-
den. —
Auf Celebes fanden im Jahre 1868 zwei Aufstände statt. Der gewesene Regent vonljamba
in der Landschaft Maros machte bekannt, dass bei ihm die früher plötzlich verschwundenen
Reichsinsignien, deren Besitzer nach dem Volksglauben der rechtmässige Regent des Landes
sein soll, sich , niedergelassen" haben. Hierdurch verschaffte er sich zahlreiche Anhänger, er-
oberte verschiedene Ortschaften und kämpfte auch gegen die wider ihn aufgebotenen holländi-
schen Truppen Anfangs mit Glück. Ferner erhob sich auch im Reiche Boni ein gewisser Bonto-
Bonto, um die Unabhängigkeit des Landes wieder herzustellen. Beide Aufstände waren jedoch
im Monat September 1868 unterdrückt und die Urheber derselben unschädlich gemacht. Der
Lehnfürst von Boni benahm sich bei dieser Gelegenheit ebenso wie die Fürstin von Tanatte zur
Zufriedenheit der Regierung, indem sie zur Unterdrückung des Aufstandes mitwirkten. Auch
zu Goa kamen ähnliche Aufstände vor. Celebes ist in eine grosse Anzahl kleiner Reiche ver-
theilt, die unter sich in keinem politischen Verbände stehen, alle aber die Oberherrschaft der
Niederländer anerkennen. Erhebungen einzelner dieser kleinen Reiche können daher unmöglich
eine grosse Bedeutung gewinnen und werdeu leicht durch eine geringe Macht unterdrückt.
Die Berichte von den Sangir-Inseln, den Molukken, dann von Bali, Lombok, Flores, sowie
von der Küste von Guinea über die Jahre 1867 und 1868 sind theilweise von keinem besonde-
ren allgemeinen Interesse, sowie sie anderntheils ähnliche Vorfälle von Zwisten einzelner Volks-
siämme unter sich und von Aufständen schildern, wie sie von oben genannten Ländern berich-
tet wurden.
In mehreren Gebieten des Archipels herrschten wie alljährlich Cholera -Epidemien, welche
oft Tausende von Menschen dahinrafften. Der Umstand, dass kein Jahr vergeht, in welchem
nicht in einzelnen Theilen des Archipels solche Epidemien vorkommen, ferner die erwiesene Ab-
nahme der Intensität dieser Epidemien von der Aequatorialzone nach den höheren Breiten, dann
die bestehende Polargrenze dieser Krankheit, jenseits welcher sie sich nicht mehr zeigt, ebenso
die vorhandene vertikale Grenze, die in der Tropenzone bei einer Höhe von 6000 Fuss über der
Meeresfläche eintritt, endlich die Thatsache, dass nicht weniger als 93 Prozent aller Cholera-
Epidemien in den subtropischen und gemässigten Zonen auf den Spätsommer, nämlich die Mo-
nate August und September fallen, auf welche Momente wir zuerst in den betreffenden Organen
aufmerksam gemacht haben, beweist zur Evidenz die Abhängigkeit dieser Krankheit von den
klimatischen Verhältnissen, insbesondere der Temperatur. Jenseits der Isotherme von + 10° R.
zeigt sich keine Cholera mehr, und selbst jene Länder, deren Jahrestemperatur relativ hoch ist,
aber mit einem Sommer von unter + 10° R. betheilt sind, entbehren diese Krankheit, während
andere Länder von niedrigerer Jahrestemperatur, aber mit relativ warmen Sommern, also mit
einem Continentalklima vers%hen, von dieser Krankheit noch heimgesucht werden.
i
IL
Die indische Landmacht. Gesundheitszustand derselben. Die Seemacht und ihre Verrichtungen. Der
Verkehr Im Innern des Archipels und mit dem Auslande, (hristlicbe und iiiuhaiuedanistbe Schulen.
Kultusangelegenhelten. Leistungen Im Gebiete der Wissenschaft.
Die Stärke der Heeresmacht in Indien ist im Ganzen so gering, dass sie kaum in einem
gehörigen Verhältniss zur Ausgestrecktheit der zu verwaltenden Länder und der Zahl der Ein-
wohner steht. Es bestand die Landmacht in Niederländisch-Indien am 31. Dezember 1868 aus
i:>06 Offizieren und 27,325 Unteroffizieren und Soldaten. Diese kleine Armee genügt, um Län-
der, welche zusammen ungefähr 2^mal so gross sind als Frankreich mit 2l^ Millionen unter
direkter Herrschaft der Niederländer stehenden Einwohnern vor inneren und äusseren Feinden
430
zu schützen. Es «riebt diese Thatsaclie das beste Zengniss von der zweckmässigen und vermint
tigen Administration der holländischen Regierung, die es sich angelegen sein lässt, die Völker
auf der Basis ihres angestammten Nationalcharakters und ihrer Sitten zu einer höheren Cultur-
Stufe emporzuschwingen, ohne gewaltsame Massregeln anzuwenden oder der Denkweise, den re-
ligiösen und staatlichen Verhältnissen, wie sie sich im Laufe der Geschichte gebildet haben,
Zwaug anzuthun. Das genannte Oftiziercorps besteht aus 1 Generallieutenant, 2 Generalmajors.
lu Colonels, 26 Lieutenant -Colonels, 47 Majoren, 269 Capitänen, 504 ersten und 447 zweiten
Lieutenants.
Die Unteroffiziere und Soldaten bestehen aus 11,722 Europäern, 54 j Afrikanern, 872 Am-
boinesen und 14 ,:;io anderen Eingebornen aus dem Archipel. Im Jahre 1868 wurden im Gan-
zen 434ö Soldaten, theils in Niederland, theils in Indien, sowie an der Guineaküste geworben.
Da Niemand gezwungen werden kann, Militärdienste in Indien zu verrichten, sowie auch keine
Detaschirungen europäischer Regimenter nach den Colonien stattfinden, wie solches in England
der Fall ist, so müssen alle für die Colonien bestimmten Truppen durch Handgeld geworben
werden. Das letztere beträgt je nach der Dienstdauer, für welche ein Soldat sich anwerben
lässt, für Europäer 80—160 Gulden, für Eingeborne 50—120, für Afrikaner 60—150 Gulden.
Als Chef der indischen Truppen fungirte bis zum 18. Juli 1869 der Generallieutenant An-
dresen, welcher seiner Bitte gemäss zu jener Zeit das Commando niederlegte und wurde das-
selbe dem zum Generallieutenant ernannten Generalmajor Kroesen übertragen.
Besondere Sorgfalt wird von Seite der Regierung auf die sanitätischen Verhältnisse der
Truppen und der Marine verwendet. Die ungeheure und wahrhaft erschreckende Mortalität,
welche bis zum Anfange dieses Jahrhunderts unter den indischen Truppen herrschte, bei wel-
chen jährlich über % ausstarben, veranlasste die Regierung, energische und zweckmässige Mass-
regeln zur Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse der Truppen in Niederländisch -Indien zu
treffen. Es bestanden diese Massregeln, an deren Verbesserung noch immer gearbeitet wird, in
der Anstellung zahlreicher wissenschaftlich gebildeter Aerzte, zu welchen besonders die Deutschen
ein bedeutendes Contingent lieferten; ferner in möglichster Schonung der Truppen, Aufrecht-
erhaltung der Disciplin und einer regelmässigen Lebensweise, Errichtung zweckmässig eingerich-
teter Hospitäler und Sanitarien in den hochgelegenen, eines gemässigten Klimas sich erfreuen-
den Hochebenen und an Bergabhängen. Hierdurch gelang es, die Mortalität unter den Truppen
allmählich bedeutend zu verringern, so dass gegenwärtig dieselbe sich noch etwas günstiger her-
ausstellt, als jene der Truppen in Britisch-Indien. Dennoch ist dieselbe noch immer ziemlich
bedeutend in Vergleichung mit der Mortalität unter den in europäischen Ländern stationirten
Truppen, da ein guter Theil der Soldaten in Indien aus herabgekommenen Individuen besteht,
welche schon in Europa entweder beim Militär oder im bürgerlichen Stande ein unmässiges und
schwelgerisches Leben führten und endlich als letzte Zuflucht sich zum Dienste in Indien mel-
deten. Diese gewöhnlich der Trunksucht und der Schwelgerei ergebenen Individuen werden am
leichtesten von perniciösen Fiebern, von Leber- und Milzkrankheiten und Dysenterien befallen,
und erliegen häufig als Opfer dieser Krankheiten, während jener, der einer massigen, dem Klima
entsprechenden Lebensweise sich hingiebt, in der Regel von den der Tropenzone eigenthüm-
lichen Krankheiten entweder verschont bleibt oder alsbald seine Gesundheit wieder erlangt.
Vorwaltende Pflanzenkost, kühles Verhalten, häufige Bäder, Vermeidung spirituöser
Getränke sind die Ilaupterfordernisse zur Erhaltung der Gesundheit in der Tropenzone, und
selbst bei eingetretenem Unwohlsein sind es die sämmtlichen Frifchte, der Gebrauch des Reis
und des Cacao als Nahrung, welche den Anzug einer ernstlichen Krankheit aufzuhalten und
Genesung herbeizuführen im Stande sind. Gewöhnlich aber werden selbst von gebildeten Rei-
senden in solchen Fällen unzweckmässige Mittel, wie Fleischkost, Opium und andere narkotische
und reizende Medikamente angewandt, welche nothwendig das Uebel verschlimmern müssen.
In den Jahren 1864 — 1868 incl. war die Zahl der Erkrankten, Genesenen und Gestorbenen
unter den Truppen auf Java und dem übrigen Archipel folgende:
431
Verhältniss der Gestorbene n
i8t;-i
1865
1866
1867
1868
Behandelt.
28189
28124
29076
26514
30394
Genesen. Gestorben, zu den Behandelten,
a) J a va u ad M ad ura.
1 -.27,3 oder 3,65 pCt.
/in Garnisonsstärke.
25720
26029
27307
24652
27735
1031
787
54!)
508
911
1 : 35,7 „
1 : 52,9 „
1:52,1 „
1 : 35,36 „
2,79
1,88
1,91
3.00
1
: 14,02
oder 7,12 pCt,
1
: 18,5
„ 5,11 ,
1
: 25,6
„ 3,9
1 :
; 29,08
» 3,43 .,
1 :
: 15,98
„ 6,25 „
1
: 30,8
oder 3,32 pCt
1
: 30,3
. 3,29 ..
1
: 33,6
• 2,97 .
1
:39,7
. 2,51 „
1
; 33,86
, 2,95 „
l>) Im übrigen Archipel.
1864 28468 27322 391 1 : 72,8 oder 1 ,37 pCt.
1865 30955 29711 380 1:81,4 „ 1,22 n
1866 28941 27719 383 1:75,5 „ 1,32 „
1867 25292 24333 267 1:94,7 „ 1,05 „
1868 237J6 22687 293 1:81,07, 1,23 ,
Sowohl auf Java als im übrigen Theile des Archipels war daher das Jahr 1867 das gün-
stigste in Bezug auf Morbilität und Mortalität. Dass die Mortalität in den ausserjavanischen
Besitzungen durchgängig günstiger sich herausstellt als auf Java, darf nicht auf Rechnung eines
etwa ungünstigeren Klimas auf letztgenannter Insel, sondern vielmehr dem Umstände zugeschrie-
ben werden, dass die kränklichen oder an chronischen Krankheiten leidenden Individuen in der
Regel in einem der Hospitäler Javas behandelt und nicht nach auswärtigen Garnisonen geschickt
werden. Ein bedeutender Unterschied besteht in der Mortalität der Küstenländer in Verglei-
chung mit den in den Centraltheilen der Inseln gelegenen Stationen, und zwar zu Gunsten der
letzteren. Die Ursache hiervon ist einleuchtend, da die Küsten nicht nur eine viel höhere Tem-
peratur besitzen, als die hochgelegenen, oft die Region der gemässigten Zone erreichenden Orte
der gebirgigen Centraltheile , so wie auch an den Küsten sich oft Sümpfe vorfinden, deren Ex-
foliationen der Gesundheit nachtheilig sind, während in den Binnenländern solche Sümpfe feh-
len, die Luft daher von fremdartigen Dünsten und Gasen frei ist. Die folgende Zusammenstel-
lung der Küsten- und Hinnenstationen auf Java und Madura zeigt den Unterschied der Morta-
lität bei den verschiedenen Racen:
Europäer
he
Afr
i k a n e r.
J a v a u e n.
..
Küsten-
Binnenländisi
Küsten-
Binnenländische
Kästen-
Binnenländis'
ll 1*1*1111 gü.
orte.
Stationen.
orte.
Stationen.
orte.
Stationen.
1864
1 : 7,6
1 : 17,2
1 : 4,0
1 : 9,4
1 : 21,02
1 : 29,6
1865
1:11,3
1 : 15,2
l : 2,4
1 : 26,5
1 : 31,8
1 : 42,2
1866
1 : 14,9
1 :28,7
1:5,6
1 : 70,6
1 : 38,4
1 : 74,1
1867
1 : 20, 1
1 : 24,2
1 : 4,6
1:47,0
1 : 39,8
1 : 125
1868
1: 9,7
1: 17,3
1 :4,8
1:31,4
1 : 19,8
1 :37,7
Die ungünstige Mortalität in den Jahren 1864, 1865 und 1868 ist vorzüglich den in jenen
Jahren geherrscht habenden Choleraepidemien zuzuschreiben, indem resp. 58, 38 und 49 Prozente
der Gesammtmortalität in dem betreffenden Jahre auf Cholera kommen. Die Verbesserung der
Gesundheitsverhältnisse unter den Truppen in Indien bildete sowohl in der zweiten Kammer in
Holland, als bei der sanitätischen Commission auf Java in den jüngsten Jahren den Gegenstand
ernster Berathungen. Es wurde beschlossen, die aus Europa und anderen Welttheilen ankom-
menden Truppen, welche in der Regel eine Akklimatisations-Krankheit durchzumachen haben,
nicht, wie bisher, in Weltevreden bei Batavia, sondern zu Campong Makassar auf dem Wege nach
Buitenzorg zu Stationiren. Auch soll die projectirte Eisenbahn von Batavia nach Buitenzorg
schleunig in Angriff genommen werden, um die neu angekommenen Truppen so schnell als mög-
lich nach den hochgelegenen, gesunden Stationen bringen zu können.
Um die Truppen besonders bei Expeditionen stets mit gutem Trinkwasser zu versehen,
wurde in neuerer Zeit die .Brunnenbohrmaschine des Amerikaners Morton eingeführt, durch
welche in kürzester Zeit ein Brunnen von bedeutender Tiefe mit gewöhnlich reichem Wasser
•ströme hergestellt werden kann.
432
Die maritime Macht von Indien betreffend, so waren Ende 1868 30 Kriegsschiffe der nieder-
ländischen Marine auf verschiedenen Stationen anwesend. Hierzu kommen noch eine ansehn-
liche Zahl Schiffe der einheimischen indischen Marine, welche in Indien gebaut wurden und
auch dort stets stationirt bleiben. Die genannten 30 Kriegsschiffe waren von 4035 Mann (3065
Europäern, 970 Eingeboruen) besetzt. Die Hauptstationen der Kriegsschiffe in Indien bilden
Sumatras Ost- und Westküste, dann die Meere von Riouw und Lingga, die Küsten von Celebes,
Borneo und die Molukkischen Inseln, ausser den Inseln Java, Madura, Bali, Lombok, Flores.
Im September 1869 wurde der Kriegsdampfer Curacao nach dem arabischen und persischen
Meerbusen geschickt, um dort Erkundigungen über das Schicksal und das Benehmen der zahl-
reich aus Indien gehenden Mekkapilger einzuholen. Auch sollte dieses Kriegsschiff der Eröffnung
des Suezkanals beiwohnen, was auch geschah.
In Anbetracht der vielen schädlichen Einflüsse, denen die Mannschaften der Marine aus-
gesetzt sind, indem viele Stationen der Gesundheit sehr nachtheilig sind und die reinen und
kühlen Gebirgslüfte ihnen nicht zu Theil werden, konnte der Gesundheitszustand der Marine,
Dank vielen Verbesserungen , die in Bezug auf Ernährung und Lebensweise der Matrosen und
Soldaten eingeführt wurden, befriedigend genannt werden. Es wurden im Jahre 1868 6151 Euro-
päer und 2012 Eingeborne der Marine ärztlich behandelt, von welchen 103 Europäer und 38
Eingeborne starben.
Die Marine-Etablissements zu Surabaja und zu Onrust entsprechen vollkommen ihrer Be-
stimmung, indem daselbst nicht bloss Reparaturen von Dampf- und Segelschiffen vorgenommen
werden, sondern auch neue Schiffe, besonders für die einheimische Marine gebaut werden.
Anlangend die Verrichtungen der Marine, so werden die Dienste derselben gelobt sowohl
bei Landung von Kriegsschiffen an fernen, von noch wenig abhängigen Stämmen bewohnten
Küsten, bei Reisen ins Innere von Borneo auf den Strömen, dann bei der Unterstützung der
Operationen der Landmacht. Insbesondere aber ist es der Seeraub, den die Marine so ziemlich
zu unterdrücken Gelegenheit hatte. Das Dampfschiff Surinam nahm im März 1867 eine Zahl
von 23 Räuberprauen im Bangaai-Archipel bei der Insel Batjoa gefangen und übergab die Mann-
schaft den Behörden zu Amboina. Ebenso zeichneten sich die Kriegsdampfer Reteh und Sta-
voren durch emsige Untersuchung der Gewässer zwischen Celebes und Nordborneo aus, wobei
sie 10 Frauen, die sich mit Strandraub beschäftigten, gefangen nahmen.
Der Sultan des Suluh- Archipels, derselbe, von dem es vor zwei Jahren hiess, dass er mit
Freussen und dem norddeutschen Bunde einen Handelsvertrag abschloss, wird schon seit langer
Zeit für den Beschützer der indischen Seeräuber gehalten und lief deshalb schon einige Male
Gefahr von der holländischen Marine überfallen und seines kleinen Thrones für verlustig erklärt
zu werden. Doch er kam jedes Mal demüthiglich dem Kommandanten der Flotte entgegen und
versprach Sorge zu tragen, dass das niederländische Gebiet von Raubanfüllen verschont bleibe.
Dennoch aber wiederholten sich die letzteren; der Sultan aber, darüber zur Rede gestellt, lehnte
jede Verantwortlichkeit für, die ausgeübten Raubanfälle ab, indem er versicherte, dass er mit
den Anführern der Räuberflotte in keiner Beziehung stehe.
Auch europäische Schiffe anderer Mächte wurden durch die holländische Marine geschützt.
Im Februar 1869 entstand am Bord der französischen Brigg Tamaris 60 Meilen vom Ausgang
der Sundastrasse ein Aufruhr, welcher durch die anwesenden chinesischen Kulis angezettelt
wurde. Letztere bemächtigten sich des Schiffes, nahmen den Kapitäu gefangen und setzten die
übrige europäische Mannschaft auf einer Insel aus. Das Schiff wurde durch den Stationscom-
mandant der Westküste Sumatras angehalten und der Regierung hiervon Anzeige erstattet. —
Wenden wir uns nun von den Kriegsunternehmungen und den Massregeln zur Sicherheit
im Innern zu den friedlichen Werken zur Förderung der Kenntniss der Länder und des Wohl-
standes der Bevölkerung. Ausser den zahlreichen Spezialkarten der einzelnen Districte Javas
wurde auch Südcelebes in den Jahren 1866 — 70 topographisch und statistisch aufgenommen.
Die kleinen Reiche Boni , Soppeing, Wadjo und Sidering wurden 1867 in Karten nach dem
Massstab 1 : 10,000 trigonometrisch aufgenommen und umfassen diese Reiche einen Umfang von
166 Quadratmeilen (engl.). Im Jahre 1868 wurden weitere 213 Quadratmeilen der Insel ver-
messen. 1869 waren 2 Ingenieure mit der Fortsetzung der Landesaufnahme beschäftigt, wovon
der eine in der Residentschaft Bulekomba eine Fläche von 60, der andere in der Abtheilung
Bikeru. Im Ganzen wurden in den 3 Jahren 700 Quadratmeilen kartographisch aufgenommen.
433
Einer iler Ingenieure wurde leider im Jahre 18G7 meuchlerisch durch Eingeborne ermordet,
worauf ein anderer Offizier dessen Amt übernahm. Es wurden bei dieser Gelegenheit im Di-
stricte Tanamea Steinkohlenlager entdeckt. Auch wurden gute Landstrassen zur Verbindung
der Ost- und Westküste angelegt, die Insel Salain topographisch untersucht und die Resident
schaft Makassar in Karten gebracht nach dem Massstab von 1 : 2000. Ein Zeichen fortschrei-
tender Kultur bildet auch die Vermehrung und Steigerung des inneren Verkehrs, was an der
Zunahme der Zahl der von der Post beförderten Briefe zu erkennen ist. 1866 wurden 1,467,384
Briefe von den Postexpeditionen im Archipel befördert, 1867 stieg die Zahl auf 1,548,967, 1868
auf 1,635,974. Die Briefportos betrugen resp. 173,600, 182,469, 191,733 Gulden. Durch Post-
nachnahme wurden in den 3 Jahren Geldsummen befördert fl. 1,493,609, 1,724,854 und 1,807,827.
Hierunter sind die sogenannten Seebriefe oder die nach Europa und anderen Welttheilen ge-
schickten und von dort empfangenen Briefe, deren Zahl ebenfalls von Jahr zu Jahr steigt, nicht
einbegriffen. An gedruckten Werken und Schriften wurden 1866 627,770 Druckbogen, 1867
655,794 und im folgenden Jahre 665,239 Bogen versendet. Es befinden sich auch auf Java und
einigen anderen Inseln zahlreiche Telegraphenlinien. Mehrere Dampfschiffe besorgen in regel-
mässigen Fahrten theils im Auftrage der Regierung, theils in Folge von Privatunternehmungen
sowohl den Transport von Personen, als Briefen und Frachtgütern nach den einzelnen Stationen
des Archipels, sowie nach Manilla, Makao, Canton, Calcutta, Madras und nach der arabischen
Halbinsel. Es wurde selbst in neuester Zeit eine regelmässige Dampfschifffahrt von Batavia
nach Sidney eingerichtet. Auch geht man mit dem Plane um, eine regelmässige Dampfschiff-
fahrt durch den Suezkanal von Niederland nach Java ins Leben zu rufen.
Wie die niederländische Regierung von jeher im Miitterlande die grösste Sorgfalt auf Er-
ziehung und l'nterricht der Jugend legte und in Holland zu jeder Zeit Koryphäen der Wissen-
schaft, besonders der Physik, Astronomie und Medizin lebten, so ist es auch ihr Bestreben, in
den Colonien den Unterricht der Jugend in sorgfältiger Weise zu pflegen.
Es besteht zu Batavia ein Gymnasium, das nach dem gegenwärtigen König der Niederlande
Willem III. benannt ist, in welchem die Zöglinge ohne Unterschied der Nationalität und der
Confession in einem sechsjährigen Cursus in Sprachen und naturhistorischen' Wissenschaften
gründlichen Unterricht von ausgezeichneten europäischen Lehrern erhalten. Einer Verordnung
vom 21. August 1867 gemäss wurde diesem Institut noch eine neue Abtheilung für indische
Sprach-, Land- und Völkerkunde beigefügt, besonders für diejenigen Zöglinge, welche dem Be-
amtenstande in Indien einst angehören sollen. Die Leitung und der Unterricht der Anstalt ist
einem Direktor, zwölf Professoren, drei „Erziehern" (opvoeders), einem Administrator und noch
einigen europäischen Dozenten übertragen. Die Zahl der Zöglinge belief sich 1868 auf 91. Im
Laufe des Jahres stieg die Zahl derselben auf 100. Die Ausgaben für das genannte Jahr be-
trugen fl. 121,383. Ebenso besteht zu Surabaja eine höhere Bürgerschule, welche 1868 von 70
Zöglingen besucht wurde, von welchen die durch Talent und Fleiss sich auszeichnenden Jüng-
linge zur weiteren Ausbildung nach Niederland geschickt und dort auf Kosten der Regierung
verpflegt werden.
Oeffentliche, durch die Regierung unterhaltene Schulen für Europäer und Kreolen bestanden
im Jahre 1868 69, und zwar 50 auf Java und 19 in den ausserjavanischen Besitzungen. Es
functionirten in diesen Schulen 112 Lehrer und zahlten denselben 3962 Zöglinge. Verausgabt
wurden für diese Schulen 410,028 Gulden.
Abgesehen von diesen öffentlichen Schulen bestehen noch zahlreiche Privatinstitute und
bedarf es einer Verordnung vom Jahre 1867 gemäss zur Errichtung einer Privatschule keiner
besonderen Erlaubniss der Behörden, sondern nur einer Prüfung des Institutsvorstehers, damit
er den Beweis liefert, dass ihm auch die nöthigen Kenntnisse zur Leitung einer Schule zu Ge-
bote stehen.
Schullehrer - Seminare befinden sich ausser in den grosseren javanischen Städten auf Fort
De Kok und Tanah Batu in Sumatra und zu Tänawangko auf Celebes. Ebenso sollen zu Ku
pang (Timor) und auf Amboina Lehrer-Seminarien errichtet werden.
Die Kinder der inländischen Bevölkerung erhalten ihren L'nterricht iu den sehr zahlreichen,
von unuhamedanischen Priestern geleiteten Schulen, und obwohl die Regierung über diese Schu-
len nicht die unmittelbare Leitung führt, so stehen dieselben dennoch unter ihrem Schutze und
ihrer Aufsicht. Das reiche Verzeichnis» der seit L8Ö0 erschienenen, \ou Europäern verfassteu
Zeitschrift für Kthuologie, Jahrgang ls7u. 99
434
und lediglich für die Eingebornen bestimmten Schulbücher in javanischer, sundaischer. bugine-
sischer. malaiischer, battaischer und maduresisclier Sprache, welche allenthalben zu sehr niedri-
gen Preisen zu haben sind, siebt Zcugniss für die Sorge der Regierung für zweckmässigen Un-
terricht der inländischen Jugend. In diesen Lehrbüchern finden sich als Uebungsstiieke zum
Lesen mehrere Auszüge aus dem Koran, ebenso Blumenlesen aus der javanischen Literatur, so-
wie überhaupt die Lehrbücher im Sinne der betreffenden Nationalität und der religiösen An-
schauungen der eingebornen Völker abgefasst sind. Ebenso sind in den genannten Sprachen
Lehrbücher «für Erwachsene über Geographie, Arithmetik, Physik, über Geschichte der Völker
des Archipels und andere Wissenschaften abgefasst, um dem Volke zur Belehrung und Unter-
haltung zu dienen.
f>ie Zahl der christlichen Missionäre in Niederländisch-Indien ist zwar nicht bedeutend und
ist es überhaupt der Regierung weniger darum zu thun, eine grösstmögliche Zahl von Indivi-
duen dem Namen nach zu Christen zu machen, als vielmehr wahre Sittlichkeit und Cultur zu
fördern, was auch auf der Basis der angestammten Religion geschehen kann; dennoch haben
in Indien die Missionäre folgender Gesellschaften Zutritt und Erlaubniss, ihre religiöse Lehre zu
verbreiten :
1. Die Genossenschaft für in- und ausländische Mission zu Batavia.
2. Niederländisch-indische Missions- und Bibelgesellschaft.
3. Niederländische Missionsgesellschaft zu Rotterdam.
4. Missionsvereinigung zu Amsterdam.
5. Rheinische Missionsgesellschaft zu Barmen (Preussen).
6. Gossnersche Missionsgesellschaft zu Berlin.
7. Utrecht'sche Missionsgesellschaft.
Es fungireu gegenwärtig in ganz Niederländisch- Indien 70 Missionare auf verschiedenen
Orten, und zwar auf Java 14, auf Sumatras Westküste 13, auf Süd- und Ostborneo 5, auf Nord -
celebes 13, auf den Sangirinsein 6, in den Molukken 5, an der Guineaküste 7, auf Halmaheira
4, auf Timor, Rotti und Bali je 1.
Die Zahl der zum Christenthum übergegangenen Eingebornen in Niederländisch-Indien ist
im Ganzen nicht bedeutend. Die meisten Christen unter den Eingebornen befinden sich auf
Menado (Xordcelebes), den molukkischen Inseln und auf Timor. Es folgt hier eine Liste der
Ende 18G8 in Niederländisch-Indien befindlichen Christen unter den Eingebornen:
Java 3.433
Westküste Sumatras . . Klö
Banka 6
Stiruw 3
Westborneo .... 5
Süd- und Ostborneo . . 216
Südcelebes 12
Menado 70,350
Amboina 44,553
Banda 796
Ternate 425
Timor _. 13,835
134,249
Wegen der grossen Zahl der eingebornen Christen auf Menado und Amboina befinden sich
dort eine ziemlich grosse Zahl christlicher Schulen, nämlich 92, welche durchschnittlich von
etwa 50 Schülern besucht werden. Selbst von den Sangir- und Talaut-Inseln wird berichtet,
dass dort nicht weniger als 20, theilweise von Missionären geleitete Schulen für Eingeborne sich
befinden, in welchen Unterricht in den Elementar-Gegenständen und in Religion ertheilt wird.
Nach den vorhandenen Listen besuchen im ganzen Archipel etwas über 28,000 Kinder der
Eingebornen die öffentlichen Schulen. Diese Zahl wäre für eine Bevölkerung von 26 Millionen
freilich gering; doch muss man in Anmerkung nehmen, dass, wie oben erwähnt, die bei weitem
grösste Zahl der Eingebornen ihre Kinder durch die einheimischen Priester und Lehrer unter-
richten lassen.
Die Mitglieder der wissenschaftlichen Akademie zu Batavia fuhren fort, in ihren verschie-
435
denen Sparten ihre Thätigkeit zur Förderung der Wissenschaften an den Tag zu legen. Prof.
Wilkens arbeitet noch an einem umfangreichen javanisch - holländischen Wörterbuch und wa
1868 bis zum 18. javanischen Buchstaben ,Ba" gekommen. Wenn diese Arbeil nur langsam
vorwärts geht, so ist als Ursache zu betrachten der Maugel an Vorausgängen] und Vorarbeiten,
so dass das ganze Material erst aus dei javanischen Literatur und dem persönlichen Verkehr
geschöpft werden rauss. Auch ein sunda'sches Wörterbuch wird von Koordens bearbeitet, so-
wie Dr. Mathes mit einer buginesischen Chrestomathie beschäftigl war. In Bezug auf archäo-
logische Fiirsi liunevn war bis /um Februar 1869 Dr. Friedrich, ein Deutscher, im Auftrage dei
Regierung thätig, sowohl die javanischen und balinesischen Inschriften und zahlreiche Manu-
scripte zu erklären, als auch im südlichen Sumatra die dorl zahlreich sich findenden Eilschriften
auf Stein zu entziffern. Zur genannten Zeit trat Friedrich wegen geschwächter Gesundheit in
den Ruhestand und statt seiner übernahm der ^rchäolog Cohen Stuart die Fortsetzung der
Untersuchung genannter Länder.
Der schönste und best erhaltene alt-indische Tempel auf Java ist der in der Residentschaft
Kadu gelegene, unter dem Namen der „Riuneu von Boro-Bodur" bekannte. Kr ist ungemein
reich an Statuen aus Trachyt und die Wände sind bedeckt mit prachtvollen Basreliefs, Scenen
aus der buddhistischen Mythologie darstellend. Von diesem Tempel li'tsst die Regierung sätnmt-
liehe Statuen und Relief-Bilder photographisch aufnehmen und sie in einem Werke sammeln,
welches durch Kupferstich vervielfältig! wird. Im Jahre ] S68 war die Vollendung dieses Wer-
kes in Grossfolio nahe bevorstehend.
Die meteorologischen Beobachtungen werden mit Eifer an verschiedenen, mit ein-
ander in Correspondenz stehenden Stationen des Archipels fortgesetzt, und erstrecken sich die-
selben bis zum Eiland Deziina in Japan, dessen Observatorium seine Berichte ebenfalls wie die
andern Stationen des Archipels nach der Hauptstadt Batavia sendet. In Bezug auf die Inkli-
nation der Magnetnadel wurden im Jahre 186S allwöchentlich Stundenbeobnchtnngen von Mor-
gens 7 Uhr bis Abends 10 Ihr angestellt. Man fand bei dieser Gelegenheit, dass die Inklina-
tion auf Java von 7—10 Uhr Morgens abnimmt und ihr Minimum erreicht, von dieser Zeit an
bis 7 Uhr Abends zunimmt, wo sie ihr Maximum gewinnt, um dann um 10 Uhr Abends wieder
denselben Stand wie um 4 Ihr Nachmittags zu erreichen.
Die eigentlichen naturhistorischen Wissenschaften finden seit langer Zeit auf Java eine
sorgsame Pflege. Die prachtvollen botanischen Gärten zu Buitenzorg, die sich bis zur Spitze
des Salakberges erstrecken, schliessen nicht nur alle bekannten Tropenpflanzeu von 4 Weltthei-
len in sich, sondern es werden auch in den verschiedenen Höhen die Gattungen der gemässig-
ten und selbst der kalten Zonen, wie das Rennthiermoos und andere Cryptogamen und Phane-
rogamen der Alpen- und Polarflora eultivirt, und steht die Direktion mit verschiedenen Bota-
nikern anderer WTelttheile beständig in wissenschaftlichem Verkehr. Für die. Zoologie ist das
nun vollendete Prachtwerk von Bleeker: „ Atlas Ichthyologique des Indes Neerlandaises" von
Wichtigkeit.
Die zu Batavia bestehende, sehr thätige und verdienstvolle „naturhistorische Vereinigung
für Niederländisch- Indien", welche von der Regierung eine jährliche Subvention von rl. 8000
erhält, hat den 33. Band ihrer „Verhandlungen" und den 18. ihrer „Zeitschrift" veröffentlicht.
Wir erwähnen hier auch, dass durch die Nachforschungen der Mitglieder dieser Gesellschaft im
Jahre 1868 reichhaltige Lager von Kupfererz auf Timor mit einem Metallgehalt von 15 Procent
gefunden wurden. Ebenso wurde im District Palembang eine alaunhaltige Mineralquelle entdeckt.
Man kann nicht sagen, dass in Niederland und seinen Colonien dei' protestantische Glaube
der herrschende sei, da vielmehr für die Bekennet' aller Confessionen vollkommene und nicht,
wie in manchen andern Ländern, bloss theoretisch aufgestellte Gleichheit der Rechte in jeder
Hinsicht besteht; aber es bilden allerdings die Protestanten die Mehrzahl unter den Europäern.
Es sind in Niederländisch-Indien im Ganzen :ii; e\angelische Prediger angestellt, welche an
grösseren Orten ihren Hauptsitz haben, öfters aber Reisen zu auswärtigen Gemeinden unterneh-
men, um dort zu predigen und Religions- Unterricht zu ertheileu.
16 katholische Geistliche, an deren Spitze ein Bisehof steht, üben in Indien die Seelsorge
bei den Gemeinden dieser Confession aus.
Die bei weitem grösste Zähl der Bewohner des Archipels bekennt sich zur mohamedanischen
Religion, und bestehen namentlich die 15 Millionen Einwohner Javas, mit Ausnahme eines klei-
29*
436
nen Districtes, wo der alte Hinduglaube noch besteht, aus Muhamedanern , deren Kultus unter
besonderem Schutze der Regierung und theilweise auch unter Aufsicht derselben steht. Nach
den Listen von 1868 sind auf Java allein nicht weniger als 95,670 inubatnedanische Priester
und 121,590 angehende Priester oder Studirende. Von den ersteren empfangen jedoch die we-
nigsten einen fixen Gehalt, sondern sie betreiben theils Ackerbau, theils gewinnen sie ihren
Unterhalt durch freiwillige Gaben ihrer Gemeindemitglieder , sowie durch Ertheilen von Unter-
richt in Religion und in Lesung des Koran.
Das Pilgern nach Mekka, welches die Muhamedaner als ein besonders verdienstliches Werk
betrachten, wird auch häufig von den Bewohnern des Archipels ausgeführt, und da diese Pilger-
fahrten, wie die Erfahrung lehrt, nicht ohne politischen Einfluss sind, indem die von der Reise
Zurückkehrenden oft von revolutionären Gedanken und von Plänen zur Losreissung des Landes
von der Herrschaft der „Ungläubigen" erfüllt sind, so hat die Regierung ein wachsames Auge
auf diese Pilgrime und führt auch ein genaues Register über dieselben. Wir erfahren aus den
betreffenden Listen, dass im Jahre 1868 von Java und Madura 1986 und von anderen Inseln
des Archipels 1299 Personen nach Mekka pilgerten. Unter diesen Pilgern waren 33 hochgestellte
Eingeborne. Die Mekkapilger unternehmen ihre Reise nach Arabien entweder direkt von Java
oder Sumatra aus, oder sie benützen die von Singapur ans zahlreich dahin segelnden arabischen
Schiffe.
III.
Bodenkultur. Zahl der ackerbautreibenden Bevölkerung auf Jaia. Die Reiskultur. Die Kokospalme.
Tabakkultur, l'ultur des Caffees. Verschiedene Arten nach den Standplätzen. Zuckerkultur. Hinnahmen
in Niederland für verkaufte Colnnlalprodukte. Landbau und Productlon in den ausserjavanlschen Ländern
des Archipels. Pioducte aus dem Mineralreich. Die Zlnmulnen Bankas. Steinkohlenlager. Petroleum-
quellen. Die Salzgewinnung Im indischen Archipel. Bändel und Schulfahrt.
Die meisten Völker des Archipels sind ackerbautreibende. Insbesondere blüht der Acker-
bau auf Java und Madura in einer Weise, wie sich solches selbst in manchen europäischen
Ländern nicht in gleichem Grade findet. Die Ausgestrecktheit des mit Culturpflanzen bebauten
Landes vermehrt sich hier von Jahr zu Jahr, so dass allmählich der Urwald den Reisfeldern
und der Cultivirung anderer Nutzpflanzen sein Terrain abzutreten genöthigt sein wird. Von
den aus über 15 Millionen bestehenden Eingebornen Javas beschäftigten sich im Jahre 1868
nicht weniger als 12,472,096 Personen mit Ackerbau, während der Rest der Gesammtbevölke-
rung dem geistlichen, dem Beamten- oder dem Handels- und Handwerkstande angehören oder
sich mit Jagd und Fischerei beschäftigen. Die Javanen bewohnten im Jahre 1867 33,598 Dör-
fer oder Dessas, von welchen die Bewohner von 32,481 sich mit Feldbau beschäftigten und die
von 1117 sich durch Fischerei ernährten. Auch von der Zahl der zur Landwirthschaft verwen-
deten Thiere werden genaue Verzeichnisse gehalten und betrug die Zahl der zum Pflügen ver-
wendeten Thiere (Rinder, Pferde, Maulesel) 2,261,877. Die Ausgestrecktheit der auf Java zum
Reisbau verwendeten Felder betrug 2,782,935 Bouw (1 Bouw = 500 rheinl. Ruthen oder 72,000
Quadratfuss, also etwa 1% bayrischen Tagwerkes). Von diesen Feldern wurden 50,505 für Rech-
nung der Regierung bebaut. Alle diese Felder brachten eine Ernte von 39,552,606 Pikul Reis
(1 Pikul = 125 Amsterdamer Pfunde) zu Stande. Der grösste Theil dieser Ernte, nämlich 28
Millionen Pikul, wurde von Feldern gewonnen, welche künstlich, durch Wasserleitungen bewäs-
sert wurden, in welcher Arbeit der Javane eine grosse Geschicklichkeit an den Tag legt. 9 Mil-
lionen Pikul wurden von Feldern gewonnen , deren Bewässerung dem Regen überlassen wurde.
Obwohl nun die künstliche Bewässerung in Bezug auf die zu erwartende Ernte gegen die natür-
liche Bewässerung durch den Regen viele Vortheile bietet, so ist sie doch vom sanitätischen
Standpunkte aus weniger wünschenswerth , weil durch die künstliche Bewässerung das Land in
einen Sumpf verwandelt wird, der der menschlichen Gesundheit nachtheilig ist. Durchschnitt-
lich lieferte im Jahre 1868 jeder Bouw 20,08 Pikul Reis. Die Ernte in den Jahren 1867 und
1868 wird im Ganzen als günstig angegeben. Auf den javanischen Märkten wurde der Pikul
Reis durchschnittlich für 2 — 3$ Gulden verkauft.
Zu den landwirtschaftlichen Produkten, welche im Inlande verzehrt werden und höchstens
nach andern Ländern des Archipels oder nach der asiatischen Festlandsküste versandt werden,
gehören die Kokosnüsse, welche dem Bewohner des Archipels nicht nur das Brennöl liefern,
437
sondern auch die Stelle der Butter versehen, indem zürn täglichen Gebrauche die ölige Schale
in siedendes Wasser geworfen wird, wo dann das Fett obenauf schwimmt. Besondere Kokos-
gärten, wie sie in anderen Theilen des Archipels gefunden werden, wo besonders die kleinen
felsigen Inseln zum Anpflanzen von Kokospalmen verwendet werden, findet man auf Java nicht,
und sind die Palmen in einzelnen Höfen, an felsigem Strande und besonders in den Waldgür
teln zerstreut, welche jedes javanische Dorf umgeben , aus Fruchtbäumen verschiedener Art be-
stehen und die Umgebung des Dorfes schattig und kühl erhalten. Die sich jährlich mehrende
Zahl der auf Java zerstreuten Kokospalmen betrug 18(58 zusammen 26,399,000, im vorausgegan-
genen Jahre 25,694,000, von welchen ungefähr zwei Fünftel fruchttragend sind. Ein Kokoäbaum
trägt durchschnittlich jährlich 50 — 60 Nüsse, von welchen 100 Stück in Indien zu .0-8 Gulden
verkauft werden. Wer daher im Besitze von ein paar Tausend Kokosbäumen ist, welche mit
wenig Mühe auf einem Stück Land von einigen Bouw gezogen werden können , geniesst schon
ein ziemlich reiches jährliches Einkommen.
Zu den für Rechnung von Privatpersonen auf Java angebauten Culturpflanzen gehört noch
der Tabak, dessen Qualität zwar nicht jene des Mauilla-Tabaks erreicht, aber doch zu den bes-
seren Sorten gehört; dann der Kattun (aus verschiedenen Sträuchern und Kräutern des Ge-
schlechts Gossypium) und der Indigo, der früher ebenfalls zu jenen Culturpflanzen Javas ge-
hörte, welche der Regierung als Monopol gehörten, gegenwärtig aber freigegeben sind, so dass
der Verkauf des Produktes an allen Märkten und an Privatpersonen gestattet ist. Hingegen
werden noch gegenwärtig folgende Produkte für Rechnung der Regierung angepflanzt, die das
Monopol über dieselben sich vorbehält. Doch sind die Ländereien in den Residentschaften Ba-
tavia, Buitenzorg, dann die "Fürstenländer Djokjokarta und Surakarta, ebenso viele andere Land-
güter vom Monopol der Regierung ausgeschlossen und dürfen die Produkte dieser Länder in be-
liebiger Weise verkauft werden. Das vorzüglichste hierher gehörige Produkt ist der Caffee.
Man unterscheidet auf Java je nach dem Standorte der Produktion dreierlei Caffee, nämlich
1) Gartenkaffee, der in regelmässigen Reihen angelegt ist und wovon jeder Strauch von einem
Dadap-Baume (Erythrina indica) zur Abwehr der zu grossen Sonnenhitze beschattet ist. Auf
solche Weise wird der meiste javanische Kaffee producirt. 2) Waldkaffee, der an den einst mit
Urwald bedeckten Orten gezogen wird und wovon die Sträucher von den noch stehen gebliebe-
nen Waldbäumen beschattet werden. Endlich 3) Bagger- oder Dorfkaffee, der in dem jedes
javanische Dorf umgebenden Waldgürtel cultivirt wird und von besonderer Güte ist, da solchen
Orten viel Dünger zugeführt wird.
Der Kaffeestrauch verliert auf Java im Alter von 30 — 40 Jahren seine fruchttragende Kraft
und vegetirt nur noch ohne Blüthen und Früchte. Die Ursache dieser Unfruchtbarkeit in spä-
teren Jahren scheint mir weniger in dem Mangel an Kali des Bodens, wie nach den Ansichten
der chemischen Schule behauptet wurde, die alle Vorgänge des Lebens, bis auf die Seelen-
zustände des Menschen, aus chemischen Vorgängen erklären wollen, zu liegen. Vielmehr ist
nicht einzusehen, dass die chemischen Bestandtheile des Bodens, welche hinreichten, den Baum
bis zum 40. Jahre zu ernähren und zur Blüthe- und Fruchttragung zu bringen, jetzt zu seinem
weiterem Bestände nicht mehr ausreichen sollten. Die Ursache des früheren Alterns des Kaffee-
baumes auf Java liegt vielmehr in den eigenthümlichen Lebensverhältnissen und Lebensgese«tzen
desselben. Man vergesse nicht, dass der Kaffeebaum iirsprünglich ein Produkt der gemässigten
oder subtropischen Zone ist und seine Ueberpflanzung in die eigentliche Tropenzone auf künst-
liche Weise geschah, so dass er hier immerhin als Fremdling erscheint und sich hier auch
nicht vollkommen akklimatisirt.
Die Ernte im Jahre 1867 war auf Java eine ziemlich günstige, was jedoch vom darauf fol-
genden Jahre nicht behauptet werden kann, indem die damalige Ernte gleich jeuer von den
Jahren 1864, 1849 und 1838 zu den ungünstigsten seit 30 Jahren zählten. Die anhaltende
Dürre in den ersten Monaten von 1868 und die darauf folgenden heftigen Regen, welche die
Blüthen zerstörten, werden als Ursache der geringen Kaffeeernte jenes Jahres bezeichnet. Die
folgende Liste giebt die während eines fünfjährigen Zeitraumes auf Java anwesende Zahl Kaffee-
bäume, den Ertrag derselben, die Kosten für die Gewinnung des Produktes und den Erlös an,
den die Regierung in Holland erzielte.
438
Jahre.
Zahl der frucht-
tragend. Bäume.
225,956,544
Gewonnene
Quantit. Kaffee.
l'ikul.
Kosten auf
den Piknl.
rt.
Netto-Erlös
in Holland,
it.
1864
434,240
13.61
44. 54
1865
223,261,717
949,419
13. 28V,
45 85
1866
230,103,030
1,094,097
13. 49V,
43. 54
1867
233,272,384
1)20,057
14.28
41. 73
1868
234,051,454
588,616
15. 26
35. 24
Der Gewinn, den daher die Regierung bei diesem Produkte erzielt, ist ziemlich bedeutend
und betrug derselbe im Jahre 1866 über 33 Millionen Gulden. Im Jahre 1869 war die Kaffee-
ernte eine mittelmassige und betrug dieselbe ungefähr 850,000 l'ikul. Bis /um Monat August
wurden in Holland bereits 37V.839 Pikul Javakaffee zum Preise \ou 38 — 46 Gulden verkauft.
Ausserdem fanden auch Verkaufe durch die Regierung in Indien statt.
Das Zuckerrohr wird auf Java und im übrigen Archipel noch in grosser Ausgestrecktheit
cultivirt und hat sich die Produktion des Zuckers daselbst in den jüngsten Jahrzehnten nicht
vermindert, obgleich mau in Europa und Amerika den Zucker aus einheimischen Pflanzen zu
produziren versteht. Dieses Produkt bildet nur theilweise ein Monopol der Regierung, indem
nur ungefähr die Hälfte des gewonnenen Zuckers den Regierungsmagazinen eingeliefert wird.
Im Jahre 1868 waren auf Java 97 Zuckerfabriken und beschäftigten sich mit der Cultur
des Zuckerrohrs 207,024 Familien, welche eine Fläche von 39,636 Bouw bearbeiteten, so dass
2,027,750 Pikul Zucker gewonnen wurden. Ein Bouw lieferte daher 51.15 Pikul Zucker. Der
Regierung wurde von obiger Quantität 1,025,042 Pikul Zucker eingeliefert, wofür fl. 5,115,670
für die Arbeiter verausgabt wurden. Eine Familie erhielt demnach durchschnittlich fl. 24. 71.
Die (iesammtausgabe für die Zuckerkultur von Seite der Regierung betrug fl. 9,535,000, so dass
ein Pikul auf fl. 9. 30. zu stehen kam. In Holland war der Erlös für den Pikul fl. 18. 16, der
Gewinn für die Regierung daher ungefähr 9 Millionen Gulden.
Der Kaffee und der Zucker bilden, ausser dem Zinn, welches die Inseln Bauka und Billiton
liefern, diejenigen Produkte von Niederländisch-Indien, welche in finanzieller Hinsicht der Re-
gierung die meisten Vortheile gewähren. Mehrere andere Produkte, welche früher ebenfalls zum
Monopol der Regierung gehörten, sind gegenwärtig frei gegeben und ist der Handel mit den-
selben keiner Beschränkung unterworfen. Unter diese Artikel ist der Indigo zu rechnen, dessen
Cultur viele Austrengung und Mühe erfordert, im Ganzen wenig Gewinn der Regierung brachte
und deshalb grossentheils den Privatpersonen überlassen wurde. Auch die Theekultur, die
Zimmtkultur, selbst jene der Gewürznelken und der Muskatnüsse auf den molukkischeu Inseln,
welche im 17. und 18 Jahrhundert so sehr gewinnbringend waren, ist nicht mehr dem Mono-
pol der Regierung unterworfen und ist der Handel mit diesen Produkten frei gegeben.
Die folgende Liste giebt die Quantität der in Niederland im Jahre 1868 öffentlich verkauf-
ten ostindischen Produkte an, sowie den bei dem Verkaufe erzielten Gewinn -.
1 Netto-Ein-
Gegenstände. j Quantität, "ahme (Abz. Einnahme.
aller Kosten).
Kilo^r. il.
Kaffee 50,280,414
Zucker ' 41,843,396
Bankazinn 3,244,756
Indigo 12,717
Muskatnüsse 636,1 59
31,342,645 l, Kilogr. 0. 36 fl
10,539,519 1 „ 0. 34 .
3,323,707 50 „ 54. 56 .
14:4,757 % „ 6. 20 „
340,602 : „ „ 0. 62 „
140,928 j „ „ 1. 10 ,
Muskatlilüthe 75,j84
Gewürznelken .... 63,609
Muskatseife 2,539
Bilitonzinn 46,271 I 49,722 50 , 54
Gewürznelken 63,609 20,191 j „ , 0.24
Muskatseife 2,539 6,925 i , „ 1.52
05,904,978 , 45,904,920
439
Ausser den oben angegebenen, Produkte verschiedener \it liefernden Flächen giebt es auf
Java noch solche dem Landbau gewidmete Felder, welche die i;> . nen ent
weder verpachtet oder lebenslänglich zum Gebrauch überlässt. I>ie Felder der letzten
hid.cn eine Ausgestrecktheit von 1,560,845 Bouw und werden von 1,131,399 Menschen bewohnt
Sie liefern einen jährlichen Ertrag von fl. 379,257.
Unter den genannten Produktionen auf Java sind die Fürstenländer Djokjokarta und Sura
karta ebenfalls nicht einbegriffen. Die Residentschaft Surakarta allein lieferte im Jahre 1868
83,430 Pikul Kaffee, 02,761 Pikul Zucker, 103,615 Pfunde Indigo und 747,285 Pfunde Tabak,
welche Produkte keinem Monopol anheimfallen.
Dass auch die ausserjavanischen Länder des Vrchipels bedeutende Quantitäten Produkte
verschiedener Arl liefern, ist wohl keinem Zweifel unterworfen; doch übertrifft die Insel Java
alle ihre Schwesterländer an Fruchtbarkeit, sowie ihre Bewohner den meisten Fleiss auf die
Bebauung ihrer Felder verwenden. An der Westküste Sumatras erntet.' mau 1808 eine Quan-
tität von 4,471,000 Pikul Reis, sowie auf dem Markte zu Padang in jenem Jahre 181,000 Pikul
Kaffee von einheimischen Produzenten verkauft wurden. Ebenso werden auf Sumatra bedeutende
Quantitäten Kattun, Tabak, Cassia, Muskatnüsse, Gambir, Zucker und Indigo produzirt. Der
Pfefferstrauch hat seine eigentliche Heimath in Nordsumatra, dessen Küsten deshalb die Pfeffer-
küsten genannt werden. Von dort holen fast alle seefahrenden Volker den Pfeffer und ist der
Handel mit diesem Produkt vollkommen frei gegeben. Auch das wohlriechende Benzoe, der
echte Kampher kommt aus den Wäldern Nordsumatras , von wo auch mehrere feine Tischler-
hölzer in den Handel gelangen.
Die Inseln Banka und Billiton liefern ausser den Erzeugnissen rtus dem Mineralreich auch
die meisten der eben genannten Produkte Sumatras. Insbesondere werden die Muskatnüsse von
Banka sowie der dort produzirte Gambir gerühmt.
Von Westborneo werden folgende, auch in ethnographischer Hinsicht bemerkenswerthe No-
tizen gemeldet. Wer dort ein Feld zuerst bebaut, wird unter der Bedingung, dass er dem Für-
sten den zehnten Theil des Ertrages in natura oder in Geld einliefert, als Ei^enthümer betrach-
tet. Es machen aber die Uajaks wenig Gebrauch von ihrem Rcichthum an Feldern, indem sie
in der Regel nur ein- bis zweimal ein Feld mit Reis bebauen, dann aber wieder brach liegen
lassen. Auf diese Weise gewinnen sie bei geringer Mühe verhältnissmässig mehr Reis, als wenn
ein Feld mehrere Jahre nacheinander bearbeitet wird. Auch wird aus der Zuckerpalme (Arenga
saccharifera) Zucker gewonnen, so wie auch die Sagopalme benutzt wird. Die Abgaben an den
Fürsten können auch durch eine gewisse Summe abgelöst werden. Von den landwirtschaft-
lichen Thieren sind es vorzüglich Ziegen und Schweine, welche gehalten werden. Rinder findet
man nur bei den Vornehmen und Reichen. In der Residentschaft Sambas wird auch Kaffee,
Tabak und Kattun produzirt, doch kommt hiervon kaum etwas nach den europäischen Märkten.
In Süd- und Westborneo werden hingegen ausser den für einheimischen Gebrauch bestimm-
ten Culturpflanzen, wie Reis, Sago, Kokosnüsse, Betel, Gambir etc. auch Erzeugnisse für den
europäischen Markt geliefert. Besonders wird in der Abtheilung Ainunthai viel Kaffee, Tabak,
Indigo und Kattun gepflanzt.
Ziemlich blühend ist der Landbau auf Celebes Auf dem bedeutenden Markte von Makas-
sar häufen sich Waaren verschiedener Art in beträchtlichen Massen. Es gehen von dort grosse
Quantitäten Reis nach China, den Molukken und nach Riouw. Von dortiger Rhede gehen auch
mehrere europäische Schiffe mit Kaffee nach Europa. Denn in den gebirgigen Distrikten von
Nordcelebes ist die Kaffeekultur eine Verpflichtung der Bewohner und ist jede Familie gehalten,
alljährlich eine Anzahl Kaffeesträucher zu pflanzen und zu unterhalten. Von Makassar wurden
1868 44,000 Pikul Kaffee nach Europa geschickt. Ebenso wird auf Celebes viel Zucker, Kattun
und Tabak produzirt Der Kaffee von Menado hat in neuerer Zeit in Europa eine besondere
Beliebtheit erlangt und ist derselbe mehr gesucht, als selbst der beste Javakaffee. Die Zahl der
Kaffeebäume auf Menado betrug im genannten Jahre 10,285,900 Menado hat auch eine be-
trächtliche Anzahl Cacao-Bäume, sowie dort auch ganze Wälder von Muskatnussbäumen gefun-
den werden.
Da die Gewürznelken auf Amboiua nicht mehr unter Aufsicht der Regierung produzirt und
von derselben nicht mehr angekaiift werden, ist die Produktion gegenwärtig eine geringere und
auch der Preis des Produktes ist gefallen. Es sollen im Jahre 1868 auf der Insel 933,000 Pfd.
440
Gewürznelken, 105,000 Pfund Muskatbliithen und 463.000 Pfund Muskatnüsse erzeugt wor-
den sein.
Als Produkte der Inseln Timor und Ternate werden vorzüglich genannt: Reis, Mais,
Kokosnüsse, Sago, Kaffee, Kattun, Dammarhar? (aus welchem man Kerzen bereitet), Tabak und
Indigo. —
Der Zinnproduktion der Inseln Banka und Billiton und dem Erlös hieraus auf dem euro-
päischen Markte ist bereits Erwähnung geschehen. Der indische Archipel birgt auch an ver-
schiedenen Orten Steinkohlenlager und werden besonders einige Steinkohlenminen auf Bor
neo für Rechnung der Regierung bearbeitet. Die Mine Oranje- Nassau hei Penganon auf West-
borneo liefert jährlich durchschnittlich öOOO Tonnen gute, für Dampfschiffe brauchbare Kohlen,
und soll durch Verbesserung der Bearbeitung nach dem Urtheile der Ingenieure die Mine bis
zu einem Ertrage von '20,000 Tonnen jährlich gebracht werden können. Geringer ist der Er-
trag der Mine Pelarang in der Landschaft Kutei auf Ostborneo, die auch von geringerer Qualität
ist. Es werden auch die Kohlenminen von Pulu-Laut an der Westküste Borneos bearbeitet,
sowie auch zu Siboga an der Westküste Sumatras Steinkohlenlager sich befinden. Auch an
Petroleumquellen ist im indischen Archipel kein Mangel, obwohl bis jetzt noch wenig Unter-
suchungen und Nachgrabungen in dieser Hinsicht unternommen wurden. In einem Berichte
an die Akademie der Wissenschaften zu Amsterdam vom Jahre 1869 heisst es hierüber: „In
unseren ostindischen Besitzungen findet man an vielen Orten Petroleumquellen. Obwohl unter
den untersuchten, nahe an der Oberfläche geschöpften Oelen, die durch Einfluss der Luft, durch
Verdampfung und Oxydation ihre flüchtigen Bestandteile verlieren und zähe und dickflüssig
werden, so hat doch die genaue chemische Untersuchung gelehrt, dass das Petroleum von Che-
ribon und Rambang 'Java) zu den besten Sorten gezählt werden muss, sowie auch erfahrungs-
mässig diejenigen Quellen, welche nahe bei der Erdoberfläche ein theerartiges Oel liefern, in
grösseren Tiefen viel dünnflüssiger werden und bedeutende Quantitäten Oel geben. Man kann
daher die Ueberzeugung aussprechen, dass, wenn die Nachforschungen nach Erdöl in Ostindien
eifrig und systematisch fortgesetzt werden, alsbald ein neuer ergiebiger Zweig des Handel« und
der Industrie geschaffen wird, wodurch Viele sich Wohlstand und Reichthum erwerben werden."
Aus einer Petroleumquelle im Distrikte Palembang wurden 1868 2000 Fässer Oel gewonnen,
obgleich dieselbe noch nicht gehörig bearbeitet ist und das Oel nahe an der Oberfläche gewon-
nen wird.
Zum Schlüsse dieses Abschnittes mögen einige kurzen Notizen über die Salzgewinnung im
indischen Archipel angeführt werden. Wie in den meisten Tropenländern wird auf dem Ar-
chipel das Kochsalz ebenfalls aus dem Meerwasser durch Vertrocknung der in das Land ein-
gelassenen Teiche gewonnen Der Verkauf von Kochsalz gehört in Indien ebenfalls zu den Mo-
nopolen der Regierung, doch wird dasselbe zu verhältnissmässig sehr niedrigen Preisen der Be-
völkerung übergeben. Im Jahre 1868 wurden auf diese Weise 77,856 Tonnen Salz gewonnen.
Nach einer Beschlussfassung der Regierung sollte in Zukunft nur an einem Orte, nämlich in
dem Etablissement zu Tanara in der Residentschaft Bantam von Regierungswegen Salz gewon-
nen werden. Durch den Verkauf von Salz empfängt die Regierung alljährlich 6—7 Mill. Gulden.
Der Zustand des Handels nnd der Schifffahrt wird sich am deutlichsten zeigen, wenn wir
aus den Jahresberichten der einzolnen Provinzen die Summen der Ein- und Ausfuhr, die Zahl
der angekommenen und abgereisten Schiffe, ihre Grösse und Befrachtung u. s. w. zusammen-
stellend.
Auf Java und Madura wurden im Jahre 1867 für Rechnung von Privatpersonen eingeführt
an Kaufmannsgütern für fl. 51,715,265, an geprägter Münze für fl. 2,139,391. Für Rechnung
der Regierung wurden an Kaufmannsgütern für fl. 4,198,397, an geprägter Münze aus Holland
für fl. 15,700,000 eingeführt.
Die Ausfuhr für dasselbe Jahr betrug für Rechnung von Privatpersonen an Gütern:
fl. 59,313,449, an geprägter Münze (meistens nach den Ländern des übrigen Archipels)
fl. 6,031,446. Für Rechnung der Regierung wurden ausgeführt: Waaren im Betrage von
fl. 49,683,705 (meistens landwirtschaftliche Produkte), Münze im Betrage von fl. 3,078,102.
Die Einfuhr für Privatpersonen bestand vorzüglich aus Leinen- und Kattunwaaren, Ess-
waaren, Weinen, Eisengeräthen und Maschinerien. Es wurden nämlich eingeführt an
441
Leinen- und Kattunwaaren für fl. 2'j,O32,10O.
Esswaren , , 3,372,200.
Weinen, Liqueuren .... , „ 2,421,800.
Eisenwaaren, Maschinen . . , „ 766,200.
Die Ausfuhr aus Java und Madura im Jahre 1 8<i7 betrug an verschiedenen Artikeln fol-
gende Quantitäten :
a) für Privatpersonen: h) für Rechnung der Regierung:
Reis 493,900 Pikul. Kaffee 932,000 Pikul.
Kaffee "30.3co „ Zucker ....
Zucker 1,267,800 . Indigo ....
Tabak 146,400 .. Thce
Indigo 68s,700 Pfund. Muskatnüsse
Thee . . .
6/00 Pikul
Pfeffer . .
24,100
Zimmt . .
140
Muskatnüsse
8,700
Muskatblüthe
420
Gewürznelken
25
25.500
Die Zahl der
Schiffe
betreffend, we
18,400
„
13,000 Pfund.
2.700
Pikul.
5,700
„
1,300
.
2,100
,
Muskatblüthe
Gewürznelken .
Zinn 52,000
:he die Häfen von Java und Madura berührten, so
kamen im Jahre 1867 anter niederländischer Flagge an 2660 Schiffe mit 152,982 Lasten und
unter anderen Flaggen 157"Schiffe mit 33,771 Lasten. Abgereist sind in demselben Jahre 2852
Schiffe mit 200,7*8 Lasten unter niederländischer Flagge, und unter fremden Flaggen 171 Schiffe
mit 40,287 Lasten. Von den Häfen des Archipels ausserhalb Java liegen Berichte vom Jahre
1866 vor, aus welchen hervorgeht, dass in jenem Jahre in sämmtlichen Häfen für fl. 24,517,073
an Waaren und für fl. 1,647,606 an Münze eingeführt wurde, und zwar durch 4926 Schiffe mit
165,335 Lasten. Die Ausfuhr erreichte einen Betrag von fl. 22,838,145 an Waaren und 1,499,057
an Münze und wurde derselbe durch 5667 Schiffe mit 162,549 Lasten bewerkstelligt.
Die einheimische niederländisch -indische Kauffahrteiflotte b; stand im Jahre 1868 aus 368
Schiffen mit. 30,741 Lasten.
Zum Schlüsse mögen noch einige Berichte über den Zustand der so verdienstlichen Kultur
des Chinabaumes auf Java folgen, welche die Regierung seit 1851 sich angelegen sein lässt.
Damals unternahm nämlich der Botaniker Hasskarl eine Reise nach Südamerika, um einige junge
Chinapflanzen und Chinasamen zu gewinnen, was ihm auch trotz der Schwierigkeiten, die ihm
von Seite der dortigen Behörden entgegentraten, gelang. Ebenso erhielt die indische Regierung
einige Chinabäumchen von holländischen botanischen Gärten sowie aus Paris 'und wurde mit
diesen Pflanzen und Samen auf Tjibodas im Salakgebirge eine erste Pflanzung angelegt, die
ziemlich gut gedieh. Von Jahr zu Jahr vermehrte sich die Zahl der Chinabäume und erreich-
ten mehrere Tausende derselben eine Höhe von 15 — 18 Fuss, so dass sie in die Wälder unter
andere Waldbäume verpflanzt werden konnten. Gegenwärtig können die Chinapflanzungen auf
Java als gelungen betrachtet werden und hofft man binnen wenigen Jahren nicht nur den Be-
darf an Chinin für Indien und Holland aus den auf Java gepflanzten Bäumen gewinnen zu
können, sondern auch noch einen kleinen Handel mit Chinin und Chinarinde zu unterhalten.
Es befinden sich gegenwärtig 12 verschiedene Chinapflanzungen auf Java, und zwar säinint-
lich auf Hochebenen oder an Gebirgsabhängen, da die Natur diese Pflanze auch in ihrem Vater-
lande nur in Höhen von 4 - 7000 Fuss über der Meeresfläche wachsen lässt. Die älteste , von
Hasskarl angelegte Chinapflanzung auf Java ist die schon erwähnte zu Tjibodas, welche 1430
Meter über dem Meere liegt. Es folgte 2) die Pflanzung zu Lembang (1251 Meter über dem
Meere), dann 3) jene zu Nagrak im Tangusan-Peasu-Gebirge (1625 Meter hoch); 4) die Pflan-
zung von Tjibitung im Masanz - Gebirge (1527 Meter hoch); 5) Tjibeurum im Malawan-Gebirge
(1566 Meter hoch); 6) Tjiniruan, 15C0 Meter hoch, im Malawan-Gebirge; 7) Steung Gunang im
Kendeng-Gebirge, 1625 Meter hoch; 8) Kawa Tjiwedei im Kendeng-Gebirge , 1950 Meter hoch;
9) Tjirandja Bolang, 1917 Meter hoch, im Patua Kendeng-Gebirge; 10) Telaga Patengan, 1576
Meter hoch, ira'Gebirge Patua Djambang; 11; Worodjampi, 2219 Meter hoch, im Ajang-Gebirge
12) Düng, 2046 Meter hoch, im Diing-Gebirge.
442
Es sind vorzüglich 7 Arten von China in den javanischen Pflanzungen vertreten, wovon
einige an Alkaloiden sehr reiche Arten, wie die China Calisaya. Ch. Condaminea, Cli. succirubra,
wahrend die Ch. Pahudiana, caricolata, micrantha, carcifolia weniger reich an Alkaloiden sind.
Im Jahre 1868 waren nun in sämmtliehen Pflanzungen vorhanden:
a) Grössere im Walde aus Stecklingen gewonnene Bäume . 42,998
li) Im Walde stehende, aus Samen gezogene Bäume . . 1,333,863
c) Noch junge Pflanzen in den Gärten 263,420
(I) Bewurzelte Pflanzen aus Stecklingen 1.076
e) Stecklinge, eben eingelegt 9,022
1 ,650^384
Es waren daher im Jahre 1868 bereits über \±> Millionen Chinapflanzen und Bäume vor-
handen, wobei wohl in Anmerkung zu nehmen ist, dass über 400,00(1 Pflanzen und Bäume zu
der edlen Sorte Calisaya gehören, welche eine bedeutende Quantität Chinin liefert. Die minder
edlen Arten, besonders die Pahudiana. weiden in den jüngsten Jahren nicht mehr vermehrt
.Man befolgt auf Java die vortheilhafte Praxis, eine Quantität Chinasamen auf ein Feld zu säen,
dieselbe zwei Jahre lang keimen und wachsen zu lassen, um dann die jungen Pflanzen auszu-
ziehen, wo sie eine verhältnissmässig bedeutende Quantität Chinin und Cinchonin liefern. Die
höchsten Bäume waren im Jahre 1S6S 11 — 12 Meter hoch. Der grösste Umfang des Stammes
war 0.40 Fleier. Den meisten Gehalt an Alkaloiden erhielt man 1868 von einer Cinchona sueci-
rubra, nämlich 6.49 Prozent aus 100 Theilen getrockneter Rinde. Aus Cinchona Calisaya er-
hielt man durchschnittlich 3 — 4.9 Prozent, aus Pahudiana nur 1 — 2.7 Prozent Im Monat De-
zember I&68 kamen zum vierten Mal seit. 1864 Samen von Ch. Calisaya aus Amerika. Die von
der ersten Sendung (ingelegten Samen haben sich bereits zu 6 — 8 Meter hohen Bäumchen ent-
wickelt. Die Direktion der Chinakultur steht auch mit den ähnlichen Etablissements am süd-
lichen Abhänge des Himalaja -Gebirges, auf den Fidschi -Inseln und in Algier in Verbindung
und werden von den Direktionen gegenseitig Samen und Bäumchen verschiedener Chinchona-
Arten ausgetauscht. —
B. Nioderländisch-Westindien.
Bot sich uns bei Bettachtung der Zustände im Ostasiatischen Archipel das erfreuliche Bild
des Fortschrittes in Cultur und Humanität dar, und ergab sich, dass die dortige einheimische
Bevölkerung von Jahr zu Jahr einen bedeutenden Zuwachs erhält, Ackerbau, Handel und Schiff-
fahrt in blühendem Zustande sind, und auch die Gesundheitsverhältnisse der europäischen und
einheimischen Bevölkerung befriedigend genannt werden können, so sehen wir in Niederländisch-
Westindien, wenigstens in den ausgestreckten Alluvialebenen Surinams, von all diesem das
Gegentheil. Der Umstand, dass die Holländer bei der Colonisirung dieser Länder keine autoch-
thone, bildungsfähige Bevölkerung vorfanden, und die jetzt noch übrige Urbevölkerung wie vor
Jahrhunderten ohne Ackerbau odeY Gewerbe ein wildes Naturleben in ihren Wäldern fortführt,
hatte zur Folge, dass die verhältnissmässig wenigen europäischen Einwanderer bei Bearbeitung
ihrer Plantagen nur auf sich selbst und vorzüglich anf die von der afrikanischen Küste herbei-
gebrachten Sklaven angewiesen waren, so dass zwar eine ziemliche Menge von Colon ialwaaren
produzirt wurde, doch nie der Grund zu einer selbständigen und glücklichen Bevölkerung gelegt
werden konnte. Als nun endlich in neuester Zeit die fortschreitende Cultur und die sich aus-
breitende Herrschaft humaner Ideen das längere Bestehen der Sklaverei als eine Unmöglichkeit
erscheinen Hessen, beeilte sich auch die niederländische Hegierung, sowohl in Ost- als West-
indien nicht nur jeden Sklavenhandel, sondern auch das Halten von Sklaven strenge zu ver-
bieten. Die Niederländer warteten selbst nicht einmal die Zeit ab, wo auch die meisten übrigen
seefahrenden Nationen die Sklaverei in ihren Colonien abschafften, sondern sie bereiteten die
Emanzipation der Neger bereits vor 20- 30 Jahren vor, indem sie zweckmässige Gesetze schufen,
welche die Willkür der Sklavenhalter gegenüber ihren Leibeigenen einschränkten und letztere
wo möglich zu brauchbaren Mitgliedern der Gesellschaft allmählich umzuschaffen im Stande
waren. Zuerst wurde durch ein Gesetz jedem Sklavenbesitzer die eigenmächtige Ausübung von
Strafen, insbesondere die körperliche Züchtigung untersagt und Behörden ins Leiten gerufen,
443
welche in Fällen von Klagen der Herren gegen ihre Knechte, aber auch bei Klagen rler letzte
ren gegen ihre Herren den Richterspruch zu füllen hallen. Es wurden ferner Vorschriften er-
lassen über die Quantität und Qualität der den Sklaven au reichenden Kost, über das Mass
der ihnen täglich aufzutragenden Arbeiten, dann über ihre Kleidung, Wohnung ^uiA sonstige
Behandlungsweise , sowie emilich den Plantagen besitzern aufgetragen wurde, ihre Sklaven von
den Herrnhutern in der christlichen Religion und im Lesen und Schreiben unterrichten zu
lassen. Die Vorschriften der Regierung fanden williges Gehör von Seite der Plantagenhesitzer
and zeigten sich auch günstige Erfolge hei den Negern, indem nicht nur die meisten derselben
die christliche Religion annahmen, sondern sich auch i\^)i Elementarunterricht in den Schulen
zu Nutze machten und manche Neger selbst mit Erlaubniss ihrer Herren sich in dem ron den
Herrnhutern errichteten Seminare zu Schullehrern ausbildeten und ihre Genossen in den Ele-
mentargegenständen unterrichteten Nachdem auf diese Weise der Emanzipation der Sklaven
vorgearbeitet wurde und man hotten konnte, dass die Freigelassenen gemäss der bereits erreich-
ten Culturstufe nicht mehr nackt in den Wäldern gleich den Indianern herumlaufen und sich
dem Massiggang hingeben winden, schritt man im Jahre L8C3 endlich zur Freierklärung der
Neger in Surinam. Aber auch dieser Akt war nur ein Schritt vorwärts auf dem schon längst
betretenen Wege, indem die Freigebung nicht ohne von der Vorsichtigkeit und dem Zwecke der
Civilisirung der Neger gebotene Einschränkungen begleitet war. Ks wurde nämlich mit dein
Emanzipationsgesetz zugleich angeordnet, dass die Neger nzch während zehn Jahre, also bis zu
1873 unter Aufsicht der Behörden bleiben, die über ihre Lebensweise zu wachen haben. Zu-
gleich wurden die ehemaligen Sklaven verpflichtet, mit den Besitzern von Plantagen Contrakte
zu schliessen, gemäss welchen sie gegen Bezahlung diejenigen Arbeiten als freie Männer ver-
richten sollten, welche sie früher als Sklaven ausführten. Trotz all dieser Vorsicht glückte es
der Regierung dennoch nicht, die für alle Colonien gefährliche Krisis der Sklavenemanzipation
ohne empfindlichen Schaden zu überstehen. Abgesehen, dass nach den neuesten Berichten die
Plantagenbesitzer durchgängig die Klage führen, dass die Arbeit der Freigelassenen bei weitem
nicht mehr jene der einstigen Sklaven au Umfang und Genauigkeit erreicht, gesteht auch der
jetzige Gouverneur von Surinam Van Idsinga, dass selbst diese geringere Arbeit nur der Auf-
sicht zu danken ist, welche die Behörden über die Freigelassenen ausüben, und dass zu befürch-
ten sei, wenn einmal die Zeit dieser Beaufsichtigung beendet sein wird, die Plantagen gänzlich
der nöthigen Arbeiter entbehren werden. Deshalb schlkgt dieser Gouverneur der Regierung vor,
dass sie für's Erste bis zur Zeit des Ablaufes der Beaufsichtigung der Neger von Seite der Re-
gierung Sorge tragen möge, dass hinlängliche Arbeitskräfte nach Surinam von anderwärts ge-
bracht werden. Seitdem von den chinesischen Häfen aus zahlreiche Auswanderer von dort nach
der Westküste Amerikas gebracht werden, hat sich der Strom der Auswanderung auch nach
den westindischen Inseln und nach Surinam gewendet und zählte man im Jahre 1868 fi 14 chi-
nesische Emigranten auf Surinam. Doch ist die Zahl dieser Einwanderer lange nicht bedeutend
genug, dass sie selbst in mehreren Jahren sämmtliche Plantagen, die wenigstens 40,000 Ar-
beiter nöthig haben, versehen könnten.
Ein zweiter Vorschlag des Gouverneurs besteht darin, dass man nach Ablauf der zehnjäh-
rigen Frist für die Beaufsichtigung der Neger dieselben noch nicht der gänzlichen Freiheit in
ihrer Handlungsweise hingeben soll, sondern es sei Pflicht der Regierung, die noch einer Bevor-
mundung bedürfenden Freigelassenen auch ferner noch unter einer gewissen Aufsicht zu halten.
Hierin muss auch dem Gouverneur vom Standpunkt vernünftiger Regierungs-Prinzipien aus voll-
kommen beigestimmt werden. Denn die Gesetzgebung muss sich notb.wen.dig nach dem Cha-
rakter und der Bildungsstufe der zu regierenden Individuen richten. Nicht alle Völker und
Volksstämme können nach ein und derselben Schablone regiert werden, und so wenig beispiels-
weise die freie englische oder nordamerikanische Constitution für die Kaffern in Südafrika oder
die Maoris in Neuseeland passend wäre, indem diese Völker nicht den rechten Gebrauch von
den ihnen zugestandenen Freiheiten zu macheu wüssteu, ebensowenig kann das allgemeine Prin-
zip der persönlichen Freiheit in demselben Masse und derselben Form bei freigelassenen Neger-
sklaven wie bei einem intelligenten und gebildeten Volke germanischer Race angewendet wer-
den. Die Freiheit gleicht einem muthigen Rosse, das den kundigen und geübten Heiter ergötzt
uud ihm nützt, aber den Ungeschickten herabwirft, und beschädigt. Es gehört ein gewisser
Grad von moralischer Höhe und Bildung dazu, um das volle Mass der persönlichen Freiheit
444
zum eignen Heil benützen zu können Zu dieser Höhe der Bildungsstufe und Intelligenz scheint
aber die vor Kurzem emanzipirte Sklavenbevölkerung nicht gekommen zu sein.
Die Idee, die Negerbevölkerung durch europäische Einwanderer zu ersetzen, ist, wenigstens
für ein tropisches Alluvialland, wie Surinam ein solches ist, eine unglückliche, und musste sol-
ches die holländische Regierung durch traurige Erfahrungen inne werden
Hat man doch vor 23 Jahren den wahnsinnigen Plan zur Ausführung zu bringen gesucht,
die Negerbevölkerung Surinams, deren allmähliche Emanzipation schon damals beabsichtigt war,
durch europäische Colonisten, und zwar durch Geldern'sche Bauern zu ersetzen, ohne zu be-
denken, dass der Bewohner der kälteren Länder sich nie im flachen, tiefgelegenen, besonders
sumpfigen Lande in der Weise akklimatisiren kann, dass er durch Feldarbeit seinen Unterhalt
zu gewinnen im Stande ist. Nur die in der gemässigten Zone angelegteu Colonien, ebenso die
auf den Hochebenen und den Bergabhängen in der Tropenzone, 3—4000 Fuss über dem Meere
gelegenen Ansiedelungen europäischer Colonisten können sich eines dauernden Erfolges und
eines glücklichen Gedeihens erfreuen. Denn dort bebaut der eingewanderte Europäer das Land
wie im Heimathlande, ohne durch klimatische Einwirkungen tödtlichen Krankheiten unterworfen
zu sein. Im heissen Tropenlande aber bedarf er zur Erhaltung seiner Gesundheit einer beson-
deren Pflege und Schonung, die wohl Beamte und viele Private in Anwendung bringen können,
nicht aber der Landbauer, der in der heissen Tageszeit das Feld zu bestellen hat. — Von den
nach Surinam verpflanzten Geldern'schen Bauern unterlag kurze Zeit nach ihrer Ankunft ein
grosser Theil den endemischen Fiebern, während die Ueberlebenden noch eine Zeit lang, von
der Regierung unterstützt, in ihren von Negern ihnen erbauten Häuschen den Landbau trieben,
bis endlich die meisten der noch Lebenden sich anderen Beschäftigungen und Gewerben hin-
gaben und die Colonie als ackerbautreibende sich auflöste. Wären der Regierung beim Ent-
würfe dieses unglücklichen Unternehmens kundige Rathgeber zur Seife gestanden, man hätte
viele Menschenleben und bedeutende Geldsummen ersparen können
Die Bevölkerung Surinams bestand im Jahre 1868 ungerechnet die Indianer und sogenann-
ten Buschneger, die aus ehemaligen entlaufenen Sklaven bestehen, aus 50,778 Personen, worunter
22,000 Einwohner der Stadt Paramaribo. Geboren wurden in jenem Jahre 1859 Kinder, wäh-
rend 1850 Todesfälle stattfanden. In der Regel aber übertrifft in der Colonie die Zahl der
Todesfälle jene der Geburten, so dass nur durch die Emigration das Gleichgewicht der ohnehin
sehr sparsamen Bevölkerung hergestellt wird.
Beschützt wird die Colonie durch eine nur geringe Militärmacht von einigen Compagnien
Infanterie und Artillerie, die ungefähr 700 Mann ausmachen. Es giebt zu Surinam keine inne-
ren Aufstände niederzudrücken, noch drohen auswärtige Feinde. Die Indianer und Buschneger,
gegen welche in früheren Zeiten öfters Gefechte statthatten, leben gegenwärtig in Eintracht und
Frieden mit den Colonisten, nachdem ihre Zahl sich sehr*verminderte und sie in keiner Bezie-
hung mehr zu fürchten sind.
Bei der Landmacht kamen im Jahre 1868 1275 Erkrankungen und 17 Todesfälle vor, so
dass die Mortalität zur Garnisonsstärke wie 1:36 verhielt, was als ein günstiges Resultat be-
trachtet werden muss.
Auffallend ist das bedeutende Uebergewicht der unehelichen Geburten zu den ehelichen in
Surinam. In der katholischen Gemeinde zu Paramaribo wurden 75 eheliche, dagegen 235 un-
eheliche Kinder im Jahre 1868 getauft. Ebenso waren in der evangelisch-lutherischen Gemeinde
unter 131 Kindern 103 aussereheliche. Es werden nämlich alle aus nicht eingesegneten Ehen
entsprossenen Kinder als uneheliche betrachtet.
Zur Herrnhuter Gemeinde zählten 1868 in Surinam 24,833 Personen, worunter der grösste
Theil aus freigelassenen Sklaven besteht. Zu Paramaribo befinden sich 2 jüdische Gemeinden,
nämlich eine portugiesisch-jüdische, deren Mitglieder Abkömmlinge der am Ende des 15. Jahr-
hunderts aus Spanien und Portugal vertriebenen und zum Theil nach Amerika geflüchteten
Juden sind und aus 661 Personen besteht, und dann eine niederländisch -jüdische Gemeinde,
deren Mitglieder aus 633 Personen bestehen. Sie geniessen dieselben bürgerlichen und staats-
bürgerlichen Rechte als die christliche Bevölkerung.
Der Handel und die Schifffahrt in Surinam kann nicht unbedeutend genannt werden. Die
Ausfuhr nach Europa und Nordamerika besteht vorzüglich aus Kaffee, Zucker, Baumwolle, Kakao,
feinen Hölzern und Medikamenten. Im Jahre 1868 kamen in der Colonie 164 Schiffe von 11,443
445
Tonnen Gehalt an. Hiervon waren aus Niederland 23, aus Nordamerika 31 und von anderen
Ländern 111. Der Werth der Einfuhr betrug-.
aus Niederland . . fl. 1,735,756.
„ Nordamerika. . „ 926,470,
„ anderen Ländern . 1,310,592.
A. 3,975Mfnr
Die Ausfuhr geschah durch KJl Schiffe, welche 11,146 Tonnenlasten enthielten mit einem
Qesammtwerth von h\ 3,054,647.
Ks wurden folgende Waaren hauptsächlich ausgeführt:
72,593,182 Pfund Zucker.
520,209 „ Kattun (Baumwolle).
41,908 „ Kaffee.
1,303.760 „ Cacao.
61,374 Gallons Rum.
Die Gesammtausgaben für die Colonie betrugen im Jahre 1869 fl. 1,185,638. Die Einnah-
men blieben unter den Ausgaben zurück, so dass das Mutterland zur Deckung der letzteren
fl. 435,059 beilegen musste. Ein ähnliches Defizit ergiebt sich alljährlich bei der Verwaltung
der Colonie; doch spricht der Gouverneur die Hoffnung aus, dass durch allmähliche Vermehrung
der Produktion, was besonders durch Herbeischaffung von Arbeitern geschehen kann, die Ein-
nahmen der Colonie die Ausgaben decken werden.
Nach den Untersuchungen eines Herrn Rosenberg rindet man in den Oberländern des
Surinamstromes in dem gelben, lehmartigen, mit Quarzstücken vermengten Boden der dortigen
Gegend Goldkörner, welcher Umstand vielleicht Anlass zur baldigen Entdeckung eines bedeuten-
den Goldlagers geben kann.
In der Nähe des südamerikanischen Festlandes besitzen die Holländer noch sechs kleinere
Inseln, nämlich Curacao, Bonäri, Aruba, St. Eustasius, Saba, St. Martin, welche besonders in
klimatologischer und sanitätischer Beziehung bemerkenswerth sind und in letzterer Hinsicht
einen direkten Gegensatz zu dem ungesunden Klima Surinams bilden. Wir können durch die
Vergleichung dieser verschiedenen Verhältnisse und der sie bedingenden Ursachen am deutlich-
sten erkennen, worauf es bei Beurtheilung der sanitätischen Verhältnisse eines Landes ankommt
und welchen Umständen vorzüglich viele Tropenländer die Ungesundheit ihres Klimas verdanken.
Während an vielen Punkten Surinams das gelbe Fieber und andere pernieiöse Tropenkrankhei-
ten endemisch sind und die europäischen Mannschaften so bald als möglich diese Gegenden ver-
lassen müssen, um nicht durch Krankheiten aufgerieben zu werden, kennt man auf den genann-
ten Inseln das gelbe Fieber nicht als einheimische Krankheit, sondern es wird dasselbe nur hie
und da durch Schiffe eingeschleppt und erlischt nach kurzer Zeit. Ebenso finden wir auf die-
sen Inseln eine auf Surinam unbekannte Longävität der Einwohner und übertrifft die Zahl der
Geburten jene der Sterbefälle in der Regel um das Doppelte. Die Ursache dieser Verschieden-
heit der sanitätischen Verhältnisse der Inseln und des Landes von Guyana besteht für's Erste
und hauptsächlich in dem ausgebreiteten Alluvial- und Sumpfboden des letzteren. Sümpfe aber
aber wirken um so nachtheiliger auf die menschliche Gesundheit, je höher die Temperatur des
betreffenden Landes ist, da nach physikalischen Gesetzen sich eine um so grössere Quantität
der Dünste und Gase, Produkte der sich zersetzenden organischen Stoffe des feuchten Bodens
in der Luft auflösen kann, je höher die Temperatur der letzteren. Während daher an den Mün-
dungen der Lena und anderer Ströme der Polarländer sich noch keine Spur von endemischen
Wechselfiebern findet, zeigen sich dieselben schon in Holland an den Mündungen des Rhein,
der Scheide und der Maass, sie werden pernieiöser an den Mündungen der Donau oder des MI
und zeigen sich am gefährlichsten in den Tropenländern, an den Mündungen des Ganges, des
Orinoko, des Surinam u. s. w. Auf den genannten kleinen Inseln, die aus tertiären Kalkhügeln
oder aus vulkanischem Grunde bestehen, zeigen sich nirgend Stagnationen von Gewässern oder
Sümpfe und entbehren sie daher der Quelle der krankmachenden Ursachen. Ausserdem liegen
diese Inseln im Passatstrorae 'und werden daher das ganze Jahr hindurch von den reinen See-
lüften durchweht, die keine fremdartigen, der Gesundheit nachtheiligen Bestandtheile enthalten.
446
Der Luftwechsel rindet demnach auf solcher Insel stets in lebhafter Weise statt, so dass etwa
der Lvift zufällig beigemengte fremdartige Bestandteile sogleich vom Luftzüge hinweggeschwemmt
werden. Selbst dem menschlichen Gefühle ist eine, wenngleich eben so heisse. aber reine und
in Bewegung begriffene Luft lauge nicht so lästig, wie die weniger reine und mehr stillstehende
Luft. Deshalb kann man auf den genannten Inseln, wie ich selbst öfter gethan, während der
heissen Tageszeit ohne Belästigung Spaziergänge und Spazierritte längs des Strandes oder auf
den Kämmen der Hügel und Berge unternehmen, während solches in Guyana nicht wohl mög-
lich ist.
Die Bevölkerung der genannten sechs Inseln, welche von einem Gouverneur im Namen der
holländischen Regierung verwaltet werden, war anno 1868 folgende:
Männ-
liche.
Weib-
liche
G
bei
esammt-
rölkerung.
Curaeao . . 9;'i35
Bonäre . . 1,788
11.509
2.02S
20.844
3,816
Aruba . . . 1.8 1 7
1,975
3.792
St. Eustasius 750
1,140
1,890
Saba ... 857
975
1,832
St. Martin (hol-
länd.Theil) 1,235
1,618
2:8;.:t
15,782
Bekenntniss vertheilt si<
19,245
•h diese Bev<
35,027
jlkerung fo
Reformirte .
. 7,696
Methodisten
300
Katholiken .
. 26,126
Israeliten .
905
Nai
35.027
Die überwiegende Zahl der Katholiken hat ihren Grund in dem Umstände, dass alle ehe-
maligen Sklaven dieser Confession angehören. Die protestantischen Holländer wollten mit ihren
Sklaven nicht zu derselben Religion sich bekennen und in dieselbe Kirche mit ihnen gehen,
weshalb sie es vorzogen, ihnen katholische Missionäre zu ihrer Bekehrung zu senden.
Die Zahl der Geburten betrug anno 1868 auf den sechs Inseln 1414, die Zahl der Todes-
fälle 964.
In Folge des Mangels an Regen herrschte auf den Inseln, insbesondere aber auf dem ohne-
hin brunnen- und quellenarmen Curaeao, grosse Trockenheit, so dass der Landbau, der in der
Cultur von Mais, Reis, Baumfrüchten und Erdbohnen (Arachis hypogaea) besteht, sehr beein-
trächtigt wurde und eine grosse Zahl landwirtschaftlicher Hausthiere zu Grunde gingen. Im
Reiche der Passate gelegen, haben diese Inseln ohnehin in keinem Jahre viel Regen. Nur zur
Zeit der Windstille, d. i. zur Zeit des Zusammenstosses der der Sonne folgenden Luftmassen
der nördlichen und südlichen Hemisphäre, der in der Breite von Curaeao auf den Monat Okto-
ber fällt, ist die Quantität der Niederschläge bedeutender, doch fällt sie in manchem Jahre
sehr spärlich aus.
Die Militärbesatzung besteht aus 350 Mann, die sich wenig mit den Schrecken des Krieges
zu beschäftigen haben. Ihnen liegt es ob, ein ankommendes Kriegsschiff durch Salutschüsse zu
begrüssen, täglich zur Parade zu ziehen, zuweilen zu exerciren und ihre Kasernen und Pulver-
magazine zu bewachen. Hiermit ist der Wirkungskreis dieser Seidaten so ziemlich begrenzt.
Der Gesundheitszustand unter ihnen ist im Allgemeinen sehr günstig, doch erkrankten 1868
einige unter ihnen am gelben Fieber, im Ganzen in jenem Jahre 12 Mann oder etwa 4 Prozent
der Besatzung. Es besteht auf Curaeao ein gutes Hospital, in welchem auch Matrosen und
Civilpersonen behandelt werden.
Für den Handel und die Schifffahrt zeigt sich in Bezug auf die Inseln das Jahr 1868 we-
nig günstig, da die L'nruhen in Venezuela und auf Cuba und anderen amerikanischen Staaten
den Handel einschränkten. Es kamen auf Curaeao 915 Schiffe an mit 47,191 Tonnen Gehalt.
Im Hafen zu Bonäre kamen 605 Schiffe au mit 10,057 Tonnen.
Der Besitz dieser Inselgruppe ist für die Regierung ebeu so wenig eine Quelle des pekuuiä-
447
ich Ertrages, als solches hei Surinam der Fall ist. Im Gegentheil bedarf die Verwaltung einen
jährliche« Zuschuss vom Mutterlande und betrug derselbe lötifl die Summe von H. I'J9,"99.
C. Die Küste von Guinea.
An der westafrikanischen Küste besitzen die Holländer und Engländer ein ausg
Land, welches in Bezug auf sanitätische Verhältnisse all< %- eines von frischen •
winden und dein Passate nur sehr wenig durchströmten, dabi i niedrig gelegenen und mit Sümpfen
versehenen Tropenlandes in sich vereinigt. Es ist die Lage der Küste von Guinea viel ungün-
stiger in sanitätischer Beziehung als jene von Guyana in Südamerika, da in letzterem Lande
die kühlen und frischen Nordostwinde die Lüfte der See tief ins Land tragen und das Klima
einigermassen begünstigen, während an dieser westafrikanischen Küste während eines grossen
Theils des Jahres der Hermattan oder Landwind von ftordosl und Ost weht, welcher pemi-
ciöse Krankheiten hervorruft. Die Temperatur steigl hier sehr häufig auf 30 — 33° K. im Schat-
ten, endemische Fieber wirken sehr nachtheilig auf die Einwohner und noch mehr auf die dort
sich aufhaltenden Europäer, und der Aufenthalt an dieser Küste wird auch von der Regierung
so sehr als ungesund betrachtet, dass die dahin gesandten Beamten und Offiziere schon nach
5 Jahren Anspruch auf Pension haben, während solches in den übrigen Colonien erst nach
•20 jährigem Dienste der Fall ist. Auch bei den Engländern ist die (Jngesundheit von Sierra
Leone, insbesondere aber der Benins-Bai sprichwörtlich geworden, und drücken sie solches un-
gefähr in folgenden Worten aus:
Kommst, du von Benin's Bai. so rechne dies als Glück.
Denn zwanzig sterben dort, bis einer kommt zurück.
Die Sterblichkeit der aus 170 Manu bestehenden Besatzung ist, obgleich der grösste Theil
aus Afrikanern besteht, ziemlich bedeutend und auch die Offiziere und Beamten sind in der
Kegel nach kurzem Aufenthalt in der Golonie geuöthigt. zur Herstellung ihrer Gesundheit nach
Europa zurückzukehren. Wir finden Folgendes in den Berichten von 1-07 und 18G8: „Der
Gesundheitszustand unter den europäischen Beamten und Offizieren war im Allgemeinen sehr
ungünstig. Zwei Beamte und der Kapitän der Besatzung starben Anfangs 1867, während auch
is,;s ein Beamter und ein Offizier der Seemacht (unter 7 Seeoffizieren; starben. Mehreren Be-
amten musste Urlaub ertheilt werden, damit sie sich in Europa kuriren lassen können. Auch
kamen mehrere Beamte von den übrigen Orten nach Elmina. um dort einer ärztlichen Behand-
lung sich zu unterziehen. Von den an der Küste wohnenden Europäern unterlagen ebenfalls
viele."
Das Jahr 1868 zeichnete sich auch durch Kriege der eingebornen Stämme unter sich aus,
wobei die niederländische Regierung einige Kriegsschiffe aus Holland sandte, um ihren Bundes-
genossen Beistand zu leisten. Es gelang mit Hilfe des englischen Gouverneurs, welcher häufige
Conferenzen mit dem holländischen Gouverneur unterhielt, den Frieden zwischen den Einwoh-
nern von Elmina und jenen zu Aschantyn wieder herzustellen.
448
Bücherschau.
Beiträge zur Theorie der natürlichen Zuchtwahl. Eine Reihe von Essais
von A. R. Wallace. Aut. deutsche Ausgabe von A. B. Meyer. Erlangen 1870.
Wie alle Arbeiten des thätigen Naturforschers (dessen Forschungsfeld jetzt von seinem
Uebersetzer besucht wird) von einer Fülle der interessantesten Details strotzend, die durch eine
feine und scharfsinnige Beobachtung mit einander verknüpft sind. Unter den Essays beschrän-
ken wir uns hier auf einige Bemerkungen über den neunten (die Entwicklung der Menschen-
rassen unter dem Gesetz der natürlichen Zuchtwahl). „Von der Zeit an, in welcher soziale
und sympathische Gefühle in thätige Wirksamkeit traten und intellektuelle und moralische Fähig-
keiten sich gut entwickelten, würde der Mensch aufgehört haben, in seiner physischen
Form und Struktur von der natürlichen Zuchtwahl beeinflusst zu sein u , am meisten aber
noch immer derselben unterworfen bleiben in dem Schädel, dessen Aufstellung als Kriterium
für Eintheilungen deshalb besonders bedenklich ist, und während in der Knochenstruktur des
menschlichen Körpers die genaueste anatomische Aehnlichkeit mit den Anthropoiden-Affen vor-
handen ist, ist er des Kopfes und Gehirns wegen (nach Owen) in eine distinkte Unterklasse
der Säugethiere zu stellen, „was die Bestimmung des Unterschiedes zwischen Homo und Pithe-
cus zu einem Kreuz des Anatomen macht". Die von Wallace mit Recht bei gegenseitiger Hilfe
innerhalb der menschlichen Gesellschaft (zum Unterschiede von den Thieren) hervorgehobene
Sympathie wird indess auch (ebenso wie die mögliche Arbeitsteilung) die „Vernichtung" der
andern Klasse durch die höhere (je nach Umständen mehr oder weniger) verhindern, obwohl
jene allmälig in diese nothwendig aufgehen müsse. Wallace meint, rdass die Differenzen, welche
jetzt das Menschengeschlecht von andern Thieren trennen, entstanden sein müssen, ehe es in
den Besitz eines menschlichen Intellekts oder menschliche Sprache gelangte", übersieht aber,
dass die Einflüsse des Milieu in den geographisch umschriebenen Provinzen auch jetzt noch
fortdauern, obwohl ihre Wirkungen verschieden sein werden, je nach der Resistenzfähigkeit oder
der Verwandtschaft des aus der Fremde in ihre Mitte verpflanzten Materials, auf das sie zu
wirken haben. Lange Zeit an der Westküste Afrikas lebende Europäer nehmen oft schon in
laufender Lebenszeit eine Hinneigung zum Mulattentypus an, der noch mehr in ihrer Nachkom-
menschaft (am stärksten natürlich in der gekreuzten) hervortreten wird, und ähnliche Beispiele lie-
fern Creolen, Liplap, Yankee u. s. w., so viele man deren bedarf. Die von Darwin nur bei-
läufig für Erklärung von Krankheitserscheinungen herbeigezogene Farbe spielt deshalb auch eine
viel eingreifendere Rolle. Beim Vorwalten des Lebersystems im heissen Afrika ist die schwarze
Färbung durch Ablagerung des überschüssigen Kohlenstoffes deutlich genug, und aus der Cor-
relation des Wachsthums folgt dann weiter die trägere Tbätigkeit des durch weniger arterielles
Blut gespeisten Gehirns. Die Natur hat nun noch andere Wege,*) die in den Tropen beschränkte
Respiration auszugleichen, wie sich bei den gelben Rassen, Polynesiern des Aequators, braunen ,
Orinoco-Indianern u. s. w. zeigt, immer aber wird derjenige, dessen Lunge für nordische Kli-
mate gebaut war , in den Tropenländern leicht Krankheiten seiner Leber unterworfen sein , da
sie für die vielfachen Ansprüche, die jetzt an ihre Thätigkeit gemacht werden, nicht vorbereitet
war, und umgekehrt verfallen die Neger in gemässigten Klimaten in Lungenkrankheiten. Die
in verdünnter Luft der Sierra und Puna peruanischer Cordillere lebenden Quechuas bringen
ihren viereckig erweiterten Brustkasten mit, wie ähnlich die untersetzten Tibeter, und obwohl
*) Oder vielmehr als Gesammtresultat aus den den Charakter der ethnologischen Provinz
constitairenden Agentien (neben der Temperatur, die mit, aber nicht allein in Frage kommt)
ergiebt sich ein Produkt, bei dem die Schwarzfärbung der Haut durch Pigment nicht eine not-
wendige Folge in der Correlation des Wachsthums ist.
449
der intelligente Europäer mancherlei Vorrichtung treffen kann, um die für ihn feindlichen Ein-
flüsse unschädlich zu machen, wird er sich doch nie einer gewissen Umwandlung in seiner
Eörperconstitution durch die Acclimatisation entziehen können, um im vollen Zustande der Ge-
sundheit zu bleiben. Diese Fundamental-Wirkungen des Milieu, um überhaupt die Existenz in
dem jedesmaligen Areal zu ermöglichen, müssen deshalb in den verschiedenen Theilen der Erde
genau constatirt sein, und wird dies wahrscheinlich nur durch die vergleichende Zoologie ge-
schehen können, auf deren Hilfe die Ethnologie deshalb zu warten hat. B.
R. Lepsius: Ueber die Annahme eines sogenannten prähistorischen Stein-
alters in Aegypten (mit einer photogr. Doppeltafel). Besonderer Abdruck
aus der Zeitschrift für ägyptische Sprache und Alterthumskunde (Aug. 1870).
Die Arbeit eines Meisters, deren Durchlesung wir allen Anthropologen empfehlen. Es liegt
in der Natur der Sache, dass die Anthropologie die verschiedensten Wissensgebiete berühren
muss, oder vielmehr, da sie die Wissenschaft vom Menschen darstellt, alle Gebiete in Natur
und Geschichte, in denen der Mensch mithandelnd oder mitleidend auftritt, und es ist deshalb
eine natürlich daraus niessende Folgerung, dass der Anthropologe unmöglich auf allen diesen
Feldern mit gleicher Sicherheit zu Hause sein und diejenige eingehende Detailkenutniss besitzen
kann, wie eine solche von der Inductionsmethode bei Lösung wissenschaftlicher Fragen verlangt
wird. Die Anthropologie ist deshalb auf die Mitwirkung der Fachmänner in den verschiedenen
Forschungszweigen hingewiesen, und da, wo solche noch nicht gewährt ist, müssen sich die
Anthropologen selbst verständige Fesseln in ihren Muthmassungen anlegen, nicht aber etwa
glauben, dass keine Schwierigkeiten vorhanden sind, weil sie aus mangelndem Verständniss der
Einzelnheiten keine auftreten sehen. Prof. Lepsius macht zunächst darauf aufmerksam, ein wie
hohes Interesse sich an den Nachweis einer prähistorischen Steinzeit in Aegypten knüpfen
müsste. „ Die Aegyptische Geschichte ragt wie ein weit vorgeschobenes Vorgebirge über die
geschichtliche Zeit aller übrigen Völker in das Nebelmeer der menschlichen Vorgeschichte hin-
aus, und wird diese Stellung zu ihren Nachbarn aller Wahrscheinlichkeit nach für alle Zukunft
behalten." Nach den Steinfunden Arcelin's bei Abu-Mangar, sowie bei El-Kab, bei Theben,
Gizeh u. s. w. war es Herrn Lenormant vorbehalten, mit seinem Begleiter Hamy jene über-
raschende Entdeckung zu machen, über die bereits zu viel Lärm in den Blättern geschlagen ist,
als dass wir hier darauf zurückzukommen brauchten. Der deutsche Egyptologe fasst die Sache
kühler auf und stellt sie durch seine eingehende Bekanntschaft mit dem von ihm nach allen
Richtungen hin historisch und geographisch durchforschten Lande in ihr richtiges Licht. Er
• macht zunächst auf das dort häufige Vorkommen der Feuersteinfelder in den Kalksteinregionen
aufmerksam („ namentlich in den libyschen Thalufern von Theben und in ganz Aegypten, welches
vom Meere an bis fast zu seiner Südgrenze an der Katarakte von Assuan Kalkfels zu beiden
Seiten zeigt"), und dann auf das der Textur der Masse entsprechende Springen der Knollen,
wenn zu Tage liegend und dem Temperaturwechsel ausgesetzt. Morgens oder auch Nachts nach
Sonnenuntergang hört man in der Wüste „oft ein ferneres oder. näheres Knacken und Knistern,
was ohne Zweifel nur vom Springen einzelner Steine herrühren kann". Auf ähnliche Ursachen
würde das Tönen der Memnonsstatue , das nach der Reparatur (wahrscheinlich unter Septimius
Severus) verschwand , zurückzuführen sein. Interessante Parallelen bietet das Zerspringen von
Feuersteinen in nordischen Mährchen, worüber der Verfasser aus Ad. Kuhn's Sammlung Bei-
spiele anführt. In Betreff des li!)0i AWiojiixös (bei Herodot) macht Prof. Lepsius auf die vage
Unbestimmtheit in Bezeichnung der Felsarten bei den Griechen aufmerksam Exemplare von
Feuersteinmessern, wie sie in den Gräbern vorkommen, finden sich im Berliner Museum. Der
berühmte Alterthumsforscher stellt das, auch im besonneneren England mehrfach ausgesprochene
Verlangen auf, dass die älteste Species von Feuerstein-Instrumenten nicht eher der Technik zu-
zuweisen sei, bis die Orte ihres Vorkommens nochmals genauer untersucht seien, „ausdrücklich
von dem Gesichtspunkte aus, ob diese rohen Instrumente, die man erst gefertigt und dann lie-
gen gelassen haben soll, nicht sämmtlich einfache Naturprodukte sind*. Boucher de Perthes
kämpfte lange allein mit ungebrochener Ausdauer gegen die Gleichgültigkeit an, die ihn auf
allen Seiten umgab; als dann aber das Eis plötzlich gebrochen war, überschwemmte die Fluth
Zeitschrift für Etbuologie, Jahrgaug 1S70. 3y
450
des ersten Enthusiasmus alle vernünftigen Grenzen. Wie wir schon früher bemerkten, wird es
vorher Sache der Geologen sein, eine sichere Entscheidung zu treffen, ehe die Anthropologen
sich /" weiteren Folgerungen berechtigt fühlen dürfen, und es wäre zu wünschen, dass ihre
Aegypten betreffenden Studien noch öfter von dieser hohen Autorität geleitet würden, der wir
die gegenwärtige Mittheilung verdanken. B.
Gobineau: Histoire des Perses. Vol. I. & II. Paris 1869.
Es war eine sehr enge Welt, ans der man früher in Weltgeschichte zu machen dachte.
Dass drei Erdtheile fast ganz ausser Krage blieben, war entschuldbar, aber auch in den beiden
Geschichtscontinenten musste das genügen, was die Historiker des kleinen Griechenlands, die
der nicht viel grösseren Halbinsel Italiens oder eines palästinensischen Bergvolkes in ihren po-
litischen Horizont hatten eintreten sehen Die Annalen Chinas wurden nicht beachtet und des-
halb als nicht vorhanden angesehen, auch auf die Sagen und Epen Indiens einen Blick fallen
zu lassen, wurde sorgsam vermieden, und die Werke des Orients, der Gelehrten von Isfahan,
Bagdad, Samarkand, Merw, Kairo u. s. w. sprachen in einem zu plebejisch-familiären Ton, als
dass die höhere Kritik sich damit befasst haben würde. Was gab es ohnedem Bequemeres, als
mit einem strengen und definitiven Urteilsspruch über kritiklose Unzuverlässigkeit den Anspruch
hundert dickleibiger Bände zu vernichten, deren Studium viele Jahre, vielleicht ein halbes oder
ganzes Lebensalter erfordert hätte. Zugleich geben unserer fastidiosen Kritik ihr Häuflein Clas-
siker genug zu thun, und sie scheint dieselben in einer Art Tretmühle zu verarbeiten, da sie
trotz tausendjährigen Gestampfes damit keinen Schritt aus der Stelle rückt. Wer sich über
eine zweifelhafte Stelle im Caesar oder Tacitus zu unterrichten wünscht, mag die ganze Reihe
der Commentatoren durchlesen vom 16. Jahrhundert bis heute und wird als Lohn der geopfer-
ten Zeit vielleicht die theuer erkaufte Erfahrung heimtragen, dass die jüngste Conjectur wieder
auf die ursprünglich zuerst ausgesprochene zurückführt und trotz aller Gelehrsamkeit die Er-
klärung ebenso schwankend bleibt, wie bisher. Ob sich aus Masudi, Mirkhond, Jacut, Albufarag
u. s. w. gerade viele genaue chronologische Data bis auf den Monat, die Woche und den Tag
des Geschehens werden gewinnen lassen, steht dahin und diesem Mangel bleibt vielleicht nicht
abzuhelfen. Was wir aus ihnen indessen lernen würden, und was wir bis jetzt leichtsinniger
Weise zu lernen verschmähten, ist der Einblick in die Weltanschauung hochbegabtester Cultur-
volker, deren geschichtliche Rolle, nicht viel weniger bedeutsam als die unsrige, nicht nur mit
der unsrigen gleichzeitig verlief, sondern auch schon lange vor dieser sich abspielte. Um aus
diesen orientalischen Schriftstellern fassliche Ergebnisse zu gewinnen, wird die Vergleichungs-
methode zur Anwendung kommen müssen, indem man vom Gesichtspunkte eines jeden derselben
den ganzen Zusammenhang construirt, und dann durch gegenseitige Controle diese vorläufigen
Hypothesen so lauge mit und durch einander rectificirt, bis sie schliesslich beim Ineinanderschieben
sich als ein wohl zusammengefügtes Ganzes herausstellen. So lange sich darin noch irgend
welche Mängel zeigen, darf man sich die Arbeit des Neumachens nicht verdriessen lassen. Es
wird deshalb genug zu thun bleiben, und bis jetzt ist kaum der Anfang gemacht. Gobineau hat
sich eine ähnliche Aufgabe bei seinem Aufenthalt in Persien gestellt und von dieser speeiel-
len Seite aus vielfach gefördert, wie sich z. B in seinen Mittheilungen aus Azery's Kousch-
nameh (14. Jahrb. p. d.) zeigt. Hätten wir ähnliche Versuche vom Standpunkt der chinesischen,
indischen, assyrischen, babylonischen, egyptischen und anderen Quellen aus, so möchten sich,
wenn man dann gleichzeitig die griechischen und römischen Geschichtsschreiber daneben ver-
wendete, schon jetzt manche neuen Perspectiven für die Entwicklung des Menschengeschlechtes
eröffnen. B.
Das Archiv für Anthropologie in seinem kürzlich ausgegebenen vierten Bande (erstes und
zweites Vierteljahrsheft) enthält: Kau, Steinerne Ackerbaugeräthe der nordamerikanischeu India-
ner (Angabe von Fundstätten, wo die Flintvorräthe vielleicht absichtlich vergraben wären, um
durch die Feuchtigkeil leichtere Spaltbarkeit zu erzielen). Wiberg: Ueber den Einfluss der Etrus-
ker und Griechen auf die Bronzecultur mit nachträglicher Bemerkung der Redaction (indem
L. Liiidenscliinit der ausgesprochenen Anerkennung des altitalischen Ursprungs vieler skandina-
451
vischer Bronzefunde weitere Nachweise aus seinem reichen Beobachtungs-Material beifügt). Lin-
denschmit: Bemerkungen zu der antiquarischen Untersuchung von Dr. v Maak (Sind 'las .Stein-,
Bronze- und Eisenalter der vorhistorischen Zeit, nur die Entwicklungsphasen >\<-* Cultur/.ustandes
Eines Volkes oder sind sie mit dem Auftreten verschiedener Völkerschaften verknüpft?). Vir-
chow: Die altnordischen Schädel zu Kopenhagen. (Während des internationalen Congresses in
Kopenhagen angestellte Messungen, die als auf langen Reihen basirend, zum ersten Male eine
jeste Grundlage für weitere Untersuchung der Steinschilde] abgeben.) v Erantzius: Die Ein-
gebornen von Costa-Rica. (In dem Rio-( brande Thal berührten sich die Grenzen dreier, ihrer
Gesittung und Abkunft nach verschiedenen Stämme, nämlich die Cherotegas und zwei andere
den Cuevas und Chontales verwandte Stämme.) Ecker: Die Höhlenbewohner der llennthierzeit
von les Eyzies (Höhle von Cro Magnon) in l'erigord. (In seinen Bemerkungen über das Ver-
hältniss der Oraniologie zur Ethnologie warnt der Herausgeber mit Recht vor dem Aufstellen
unzeitiger Diagnosen und hall es für wünschenswerth, vorläufig jederzeit craniologische und eth-
nologische Classification scharf auseinander zu halten.) Referate, kleine Mittheilungen, Verhand-
lungen wissenschaftlicher Versammlungen, Verz.eich.niss der anthropologischen Literatur. B.
Memoirs on tbe History, Folk-lorc and Distribution of the llaces of the
North-Western Provinces of India, by Sir Henry M. Elliot etc., edited, re-
vised and rearranged by .John Beames, London 1S69, Triibner Sc Co., Vol. I.
& II. als erweiterte Ausgabe des 1845 erschienenen Supplemental Glossary
of terms.
Besonders wichtig ist die Besprechung der Kasten Verhältnisse und die statistischen Nach-
weise über ihre Vertheilung, indem gerade sie tief in die indische Ethnologie eingreifen und
das Verständniss dieser nur durch das ihrige möglich wird. Die H> Abtheilungen der Brah-
nianen zerfallen in die fünf Dravira und die fünf Gaur, welche letzteren die Kanaujia ein-
seh Hessen mit 5 oder (nach dem Tambihnl Jahilin) 16 [Jnterabtheilungen. Darunter werden
die Gautam (mit Garg und Sande! als die bedeutendsten) aufgeführt (ebenso Misr). Die
Gautam-Rajput, besonders zahlreich in Ghazipur, werden unter die :5G königlichen Geschlechter
gerechnet. Unter der Bezeichnung Kshatriya werden 175 Clane der Rajputen aufgeführt
im Census von 1865, der die Zahl der Brahmanen (in den N. W. P.) auf 2,311,887 an-
triebt in (58 Rubriken. In einem üeberblick der verschiedenen Kasten werden die Brahmanen
auf 3,510,103, die Rajputen auf 2,816,815 angesetzt (S. 182). Die Bevölkerung von ganz
Indien stellt sich (S. 369): Hindus 110,000,000, Musulman 25,000,000, Eingeborne (Nicht
Arier) 12,000,000, Buddhisten :5,000,000, Asiatische Christen 1,000,000 (März 1869). Dazu
kommen Parsis (180,000), Eurasier (91,000), Europäer (150,000), Juden (10,000), Armenier (5000).
Nach Plowden werden in den vier Hauptkasten (der Nordwest-Provinzen) den Brahmanen (3,451,692)
70 Untcrabtheilungen zugewiesen, den Kshatriya (2,827,768) 175, den Variya (1,091,250) 65 und
den Sudra (18,;504,:J09) 230, neben Sikh, Jain (6 Abtheilungen), Gosain, Jogis, Sannyasis u. s. w.
(14 Abtheilungen) und 8 weitere (S. 28:5). Unter den von Mathura hergeleiteten Ahir gelten
die Khoro für die vornehmsten. In den Gautam, bei ihrer Verbindung mit den von Salivahana
stammenden Bais, werden die Nachkommen der Shakya vermuthet. Der Maharaja von Benares
gehör! zu der Familie Gautara unter den (nach Champaran eingewanderten) Bhuinhar oderTha-
kur, den ackerbauenden Brahmanen, die Parasurama an stelle der vernichteten Kshatriya setzten.
Steel theilt die Bhat (Jaga) in Bhal Elajpul oder Kavi (in nindustan) und Bhal Kunbi (in
Mahratha). B.
Appun: Unter den Tropen. Erster Band. Jena 1871, Costenoble.
Ein unterhaltendes und unterrichtendes Buch, das für seinen /.weiten Band mancherlei
Aufschlüsse über noch wenig bekannte [ndianerstämme verspricht. Schon der vorliegende be-
handelt einheimische Rassen neben der in diesen Ländern gewöhnlichen Mischung. „Die Creo
linnen haben einen seltenen, schwer zu beschreibenden Teint, dei sich je nach der Tageszeil
verändert. Am Morgen, kurz nachdem sie aufgestanden sind, ist das Weiss desselben am gelb-
30*
452
liebsten und die Augenränder wohl noch um zwei gelbliche Farbentöne tiefer; gegen Mittag hat
das Gelb, das am Morgen gleich einem Pigment die weisse Haut überzog, an Durchsichtigkeit
gewonner., welche die Haut dem Alabaster gleichkommen lässt, so dass das weisse Fleisch wie
mit der zartesten gelblichen Lasurfarbe überhaucht erscheint, am Abeud jedoch ist der Teint
das reinste durchsichtigste Weiss, in welchem die grossen, feurigen, schwarzen Augen in feuch-
tem Glänze schwimmen, umrahmt von der üppigsten Fülle der schwärzesten Seidenhaare". So
in Venezuela. In den westlichen Theilen Südamerikas sind diese Nüancirungen zum Theil von
künstlichen Färbungen abhängig, deren richtige Verwendung sehr umständliche Proceduren
voraussetzt. B.
H. von Schlagintweit-Sakünlünski: Reisen in Indien und Hochasien.
Zweiter Band: Hochasien. Jena 1871, Costenoble.
Zerfällt in 1. Gebirgssysteme, Reiche und Rassen Hochasiens ; 2. der Buddhismus (besonders
begründet auf E Schlagintweit : Buddhismus in Tibet); 3. Bhutan; 4. Sikkim; 5. das nordwest-
liche Himalaya. Die Besprechung der Rassenfragen in Indien wird auf später verschoben (S. 64\
Beachtenswerth ist Folgendes (S. 75): „Architektonisches in Aufrissen ohne Perspektive, auch
menschliche Porträts werden in Indien einigermassen geschätzt und verstanden, und die in ihrer
Art ausgezeichneten Ornamente der Moscheen und Grabdenkmäler sind nicht ungewürdigt ge-
lassen. Aber für keine Art von Gruppirung von Figuren, noch weniger für Landschaften findet
man dort ein Verständniss; die Skizze einer Landschaft ohne Gebäude oder ohne sehr deutliche
Vegetation, welche zugleich im Vordergründe leicht ausgehend gehalten war, wurde einem In-
dier der Probe wegen verkehrt in die Hand gegeben, ohne dass er sogleich merkte, wo die Luft
oder der Boden sei , so lange noch kein Grün oder keine Figur auf dem Bilde war. Noch we-
niger sind die Indier im Staude, mit einiger Bestimmtheit die einzelnen, eben contourirten
Theile eines grösseren Bildes mit dem betreffenden Objecte in der Natur zu identificiren , so
lange nicht ein bedeutender Theil des Bildes vorliegt. Die Gebirgsbewohner dagegen zeigten
sich darin ungleich gewandter." Ueber die Schwierigkeiten der Indier, sich in europäische Bil-
der hineinzufinden, hört man bei dortigen Reisen allerlei komische Geschichten. Die rasche
Auffassung derselben durch die Indianer an der Nordwestküste Amerikas wird dagegen wieder
in den neuesten Berichten über dieselben hervorgehoben. 7 landschaftliche Tafeln in Tondruck
und 3 Tafeln topographischer Gebirgsprofile begleiten den vorliegenden Band B.
Di ulteriore scoperte nell' antica Necropoli a Marzabotto nel Bolognese
ragguaglio del Conte Giovanni Gozzadini. Bologna 1870.
I crani etruschi (di Vejo, Tarquinia, Cere, Vulci, Perugia, Chiusä, Volterra) comprendono
un maggior numero di dolichocefali chen non que' di Marzabotto (Nicolucci). Comune e negli
etruschi il prognatismo, della mascella superiore, ne' felsinei rarissimo e quasi eccezionale (1870),
und wird deshalb auf Umbrier geschlossen, während Gozzadini das Auffinden etrurischer Schrift
entgegenhält, obwohl durch umbrische Mischung der Typus des circumpadanischen Etruskien von
Central-Etruskien abweichend gewesen sein möchte. B.
Archivio per l'Antropologia e la Etnologia (pubblicato per la parte An-
tropologica dal Dottor Paolo Mantegazza, per la parte Etnologica dal Dottor
Feiice Finzi) ist der Titel einer neuen Zeitschrift, die überall einen willkommenen Empfang
finden wird, da in den Namen ihrer Herausgeber die Bürgschaft für Tüchtigkeit ihrer Leistun-
gen liegt. "•
Dr. von Maclay begiebt sich auf einer russischen Corvette nach Oceanien, um zunächst
seinen Aufenthalt in Neu-Guinea zu nehmen, und dort, wie bereits auf seinen früheren Reisen,
besonders zoologischen und anthropologischen Studien obzuliegen. B.
Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie
und Urgeschichte.
Sitzung vom 9. Juli 1870.
Vorsitzender Herr Virchow.
Nachdem die Namen neu vorgeschlagener Mitglieder genannt sind, spricht
Herr Virchow
über eine besondere Art geschliffener Steine.
Ich habe im Anschluss an die in der vorigen Sitzung von mir gezeigten geschliffe-
nen Steine aus der Niederlausitz (Golssen) eine kleine Sammlung ähnlicher Steine
vorzulegen, welche sich in dem Besitz der uaturforschenden Gesellschaft zu Görlitz
befinden. Ich erwähnte schon neulich, dass dort eine grössere Zahl analoger Steine
vorhanden sei. Die Herren in Görlitz haben auf meine Anfrage die Güte gehabt,
6 derselben zu schicken, und der Conservator der naturforschenden Gesellschaft,
Hr. Peck, bemerkt dabei: „Dr. Kleefeld und ich, wir sind beide der Ansicht,
dass es Geschiebe sind, wobei jedoch nicht "ausgeschlossen ist, dass sie vorher
kunstlich bearbeitet waren, ehe sie in das Wasser gelangten. Für die GeBchiebe-
Natur sprechen die Stücke No. 5 und 30, wo die härteren Quarzadern der abschlei-
fenden Kraft des Wassers länger widerstanden haben als die übrige Gesteinsmasse;
bei einem künstlichen Abschleifen würde doch wohl eine glatte Fläche entstan-
den sein. Die bei den meisten Stücken vorhandene eine scharfe Kante spricht
dagegen für eine künstliche Bearbeitung. Die Gesteinsraasse ist verschieden und
zwar, so weit es sich ohne frische Bruchfläche beurtheilen lässt, Granit, Gneis-
granit (nordisch), Thonschiefer, Feuerstein, gemeiner Quarz und Diorit. Leider ist
der Fundort nicht bezeichnet; auch das sonst sehr vollständige Verzeichniss unse-
rer Alterthümer enthält nichts, ebenso wenig konnte ich bei der Durchsicht der
Acten etwas darüber auffinden."
So sehr dieser Mangel zu beklagen ist, so wird doch schwerlich zu bezweifeln
sein, dass die Steine aus der Lausitz stammen Auch ist klar, dass, wenn auch in
sehr roher Weise, sie doch im Grossen und Ganzen eine auffällige Analogie der
Bearbeitung mit den früher aus der Lausitz vorgelegten Steinen darbieten. Wenn
bei letzteren wegen der übereinstimmenden Natur des Gesteins, aus dem sie ge-
fertigt waren (Quarzit), in Krage kommen konnte, ob nicht einfach eine natürliche
Form oder Eigenschaft des Gesteins hervortrete, so wird es bei der überaus man-
nichfaltigen Beschaffenheit der Gesteine, welche hier vertreten sind, nicht zweifel-
haft sein, dass es sich um eine rohe Bearbeitung und Schleifung handelt. Es liegt
freilich auf der Hand, dass man bei einer solchen Bearbeitung die natürliche Form
verwerthet hat, aber ebenso klar ist, dass diese natürliche Form nur eine Vorberei-
tung für die künstliche darstellt;, gewissermassen das Muster, wonach die Steine
zugerichtet sind. Daher ist diese Form auch mannichfaltiger, ßh die früher er-
454
wähnton Stücke, welch** meist Sechsflächncr waren, vermuthen Hessen. Zwei der
Görlitzer Steine (No 3 und 11) sind länglich-keilförmig, mit schwacher Abschlei-
fung der Flächen, und der eine (No. 11) auf dem einen Ende ganz spitz, auf
den» andern stumpf, so jedoch, dass sich auch hier auf jeder Seite 3 schräge Flä-
chen erkennen lassen. Diese Steine machen mehr den Eindruck von Spitzhämmern.
Ein dritter, kleinerer (Nun 30), aus demselben rothen Quarzit, wie die früher er-
wähnten, ist fast dattelförmig, mit abgerundeten Enden. Zwei andere (No. 24 rother,
No. 27 weisser Quarz) sind gleichfalls länglich und mit gerundeten Enden, jedoch
mit schärferen Kanten und Flächen, zumal auf der einen Seite. Der letzte (No. 1<>,
rot her Quarzit) ist gleichfalls länglich und am Ende abgerundet, jedoch mehr platt
und jederseits mit 2 in der Längsaxe durch eine scharfe Kante geschiedenen Schliff-
flachen versehen. Der kleinste dieser Steine (No. 30) inisst in der Länge fast S,
in der Breite 3,8 Centim., der grösste (No. 8) in der Länge 12, in der grössten
Breite .r) Centim. Es geht daraus hervor, dass sie unmöglich zu einem einzigen
Zweck gedient haben. Es würde aber, wie mir scheint, wichtig sein, in Bezug auf
das Vorkommen derartiger Funde näher unterrichtet zu werden, da sie zu dem
rohesten Steingeräth gehören, welches bekannt ist.
Herr von Ledebur: Unser Museum besitzt aus verschiedenen Gegenden unseres
Vaterlandes durchaus Aehnliches, namentlich die scharf gekanteten, besonders drei-
eckig gebildeten Steine. Doch kommen auch andere vor, die den Anschein bieten,
als habe die Natur selbst das Stück zu einem bestimmten Zweck geeignet gemacht,
z. B. dazu, mit einer Durchbohrung versehen zu werden. Wir haben solche Steine,
welche nur durch die Durchbohrung als Werkzeuge, etwa als Steinhammer, kennt-
lich gemacht sind. —
Herr Virchow legt verschiedene, durch den Oberlehrer Dr. Zelle übersendete
Gegenstände vor aus einem
Pfahlbau im Lübtow-See bei Göslin.
Erst gestern sind mir durch Hrn. Zelle in Cöslin verschiedene, sehr bemer-
kenswerthe Gegenstände zugegangen. Es hat sich beim Senken eines oberhalb von
Cöslin gelegenen Sees, der merkwürdigerweise denselben Namen trägt, wie das
Dorf, bei welchem der erste Pfahlbau in Pommern aufgefunden wurde, Lübtow, und
zwar an verschiedenen Stellen des Ufers Mancherlei gefunden, von dem es wenig-
stens sehr wahrscheinlich ist, dass es mit Pfahlbauten zusammenhänge. Hr. Holtz
in Bonin, einem Dorfe am Westufer des Sees, hat Pfähle in regelmässiger Reihen-
folge blossgelegt gesehen. Bis jetzt hat noch keine genauere Untersuchung statt-
gefunden, dagegen sind die von Hrn. Holtz gefundenen Gegenstände von hohem
Interesse. Es sind zwei vortreffliche Knochenwerkzeuge: ein durchbohrter Hammer
aus dem Geweih eines offenbar sehr starken Hirsches oder Elchs, und ein sogen.
Knochenmeissel aus dem Extremitäten-Knochen eines grossen Thieres von der Form,
wie sie allerdings für einen älteren Pfahlbau passen würde. Der Hammer oder die
Streitaxt ist von hell gelbbrauner Farbe, äusserlich sorgfältig geglättet, 15 Centim.
lang, 4,5 breit und 3 dick, im Ganzen von länglich viereckiger, etwas abgeplatte-
ter Gestalt, am hinteren Eude von beiden Seiten her verschmälert und leicht ab-
gerundet, am andern von den Seiten her zugespitzt, jedoch wegen der spongiösen
Beschaffenheit des Innern derart gespalten, dass er in 2 Spitzen ausläuft. Fast
genau in der Mitte ist er durch ein kreisrundes Loch von 2,8 Centim. Durchmesser
durchbohrt, an dessen Umfange einige Schnittstellen zu bemerken sind. Der Meissel,
wie es scheint, aus einem Metutarsal-Knocheu gearbeitet, ist 17 Centim. laug, und
455
an seinem einen Ende, wo die etwas verletzte Gelenkfläcbc lag, f>,4 Oentim. breit
und .r) ('entim. dick. An dein andern Knde zeigt sieb eine 8 Oentim. lange, schräge
Durchschnittsfläche \on grosser (Uätte, welche die Markbühle durchsetz! und in
eine scharfe Schneide ausläuft. Dieser Knochen ist von schwärzlich branner, Regen
das ^denkende mehr gelbbrauner Farbe. Seine Corticalis bat eine Dicke von
6— ö Millim.
Die übrigen Sachen sind von Hrn. Knop in Wisbuhr, am Ostufer des Sees im
(jollenberge gefunden. Ausser zwei bronzenen Armringen und einem Spindelstein
von blaugrauem Thon zeigt sich eine Anzahl von Thierknochen, die in ausgezeich-
neter Weise das schwärzliche Torfaussehen haben, darunter Zähne vom Pferd und
Kind, eine Geweihzacke vom Hirsch, die, wie es scheiut, am Knde Spuren von
Bearbeitung zeigt; dann einige grössere, theils zerschlagene, theils zerbrochene
Stücke, namentlich Schulterblatt und Metatarsalknochen eines Wiederkäuers (Hirsch?),
an deren Oberfläche sich eine Reihe scharfliniger Eindrücke (Einschnitte?; findet.
Ich mache auf diese letzteren besonders aufmerksam, weil sie auffallend ähnlich
denjenigen sind, welche Hr. v. Duck er bei seinen Vorlagen als evidente Spuren
menschlicher Einwirkung bezeichnete. Die grosse Zahl dieser Linien oder Schram-
men hat mich etwas zweifelhaft gemacht, ob sie überhaupt etwas Besonderes be-
zeichnen. Es wird ja hoffentlich nicht an weiteren Untersuchungen fehlen; jeden-
falls stimmen die vorgelegten Gegenstände vollkommen mit dem, was sonst aus
Pfahlbauten bekannt ist. Was die Bronzeringe betrifft, so geht aus dem mir Mit-
geteilten nicht bestimmt hervor, dass sie in dem alten Seebette gefunden sind,
und es ist wohl möglich, dass sie nur aus der Nähe herstammen. Der eine, klei-
nere ist ganz glatt und ziemlich dünn; der andere, grössere ist regelmässig ver-
ziert, indem Reiben von parallelen Querstrichen mit kürzeren oder längeren, grup-
penweise gestellten Schrägstrichen abwechseln. —
Herr Bastian legt
zwei altperuanlsche Schädel
nebst einem dabei gefundenen bearbeiteten Steine vor, welche käuflich für die
Sammlung der Gesellschaft erworben sind. Die zum Theil mumificirten und noch
mit langen Haaren besetzten Schädel sind gut erhalten. Der Finder und Ueber-
bringer derselben, ein Hamburger Schift'scapitain, Hr. Benecke (Führer der nord-
deutschen Barke Carolina), berichtet darüber in einem Briefe d. d. Hamburg, 28. Juni,
Folgendes:
„Der genaue Fundort ist circa 6 englische Meilen südlich von Yquique, auf
dem ersten Plateau, wenn man vom Meere nach dem Innern gehen will. Wir rit-
ten von Yquique dort hin, da mir meiu Stauer erzählte, dass durch das letzte Erd-
beben auch eine Stelle Erschütterungen erlitten hätte, wo früher Menschen gelebt
hätten, als dort noch trinkbares Wasser aus jetzt lange versiegten Quellen geströmt
sei. Es ist dieses ein scharfer Einschnitt in die Vorgebirge der hinter liegenden
hohen Ebene und wird „Molle" genannt, was, wie man mir gesagt, gleichbedeutend
mit „Quelle" sein soll in der alt-peruanischen Sprache. Obgleich nun die jetzigen
Leute dort dies von einem anderen Dinge, nämlich einem „Molo" oder einer Brücke,
die ins Meer gebaut war, um Salpeter abzuladen, herleiten wolleu, so kann ich dies
doch nicht glauben, denn ähnliche Brücken sind ja in Yquique, in Mexillones, Pi-
sagua etc. gebaut und man nennt die Plätze doch nicht Molle. Ueberdies habe ich
mich überzeugt, dass da früher Menschen an der Küste gelebt haben müssen. Da-
für spricht erstens die Menge von einzelnen Menschenknochen; zweitens die alten
Traditionen der dort lebenden Indianer, wonach sie die uralten Bewohner in zwei
456
Classen eintheilten, nelimlich eine Classe, die Fische assen und daher den Namen
„Fischesser" erhielten, und eine audere, die tiefer im Lande von Wild etc. lebten
und „Fleischesser" genannt wurden; drittens die Masse von halbverkohlten Gegen-
ständen, die man 2 — 3 Fuss tief unter der sandigen Oberfläche an einer Stelle auf
einem kleinen flachen Terrain findet, die sich sehr wohl zu einem Fischerdorfe ge-
eignet haben mag. Alles dieses im Verein mit der Fähigkeit des Klimas, in Ab-
wesenheit jeder Feuchtigkeit Gegenstände sehr lange, ja Tausende von Jahren zu
conserviren, deutet darauf hin, dass diese Küsten dermaleinst von einer ziemlich
starken Bevölkerung bewohnt gewesen, die erstens die Fischerei zu ihrem Lebens-
unterhalte, zweitens einen gänzlich verschiedenen Boden gehabt haben muss , da
sie Quellen von gutem Trinkwasser, ohne welches kein Mensch existiren kann, be-
sass. Ich habe nach Wurzeln von Bäumen oder Pflanzen geforscht, aber leider
nichts gefunden, trotz der Menge von Holzstückchen etc., welche halb verkohlt
dabei lagen. Die Gräber selbst zeichnen sich nur hin und wieder durch eine kleine
Erhöhung aus. Nach dem Skelet eines Mannes, namentlich nach den Beckenkno-
chen zu urtheilen, können sie nur klein gewesen sein, circa 4 Fuss. Es thut mir
jetzt leid, dass ich nicht noch einen Maulesel miethete, um das noch ziemlich com-
plete Gerippe mitzuschleppen, aber die Sonne brannte überaus heiss, jeder von
uns war vom Arbeiten sehr ermüdet, mit Schaufeln und Hacken beladen, wir hat-
ten noch einen scharfen Ritt vor uns, um wieder an Bord nach Yquique zu kom-
men, und so konnte ich nichts mehr mitschleppen. Der Stein mit dem Loch darin
wurde wahrscheinlich von den Leuten benutzt, ihre Fischleinen zu drehen, wovon
Proben im Grabe zu finden waren. Es scheint, dass sie den Todten in Rücksicht
auf ihren Broderwerb in der Zukunft, wie man dies ja bei so vielen Urnationen
findet, allerlei Geräth mitgaben, was also auch bei diesen Menschen Gedanken von
Ewigkeit, Himmel und zukünftigem Leben voraussetzt. Die furchtbare Trockenheit
der ganzen Gegend, deren Boden mit Salpeter, Salz und Sodatheilchen geschwän-
gert ist, macht das Leben für Menschen, die nicht ihren Wasserbedarf weit, weit
herholen oder aus dem Meere destilliren, wie es jetzt geschieht, auf Meilen weit
zur reinen Unmöglichkeit. Man kann das Versiegen der Quellen, wenn map es
nicht einer langsamen Austrocknung zuschreiben will, durch vulkanische Einflüsse
erklären. Jedenfalls erstreckt sich der Fund ins graue Alterthum und es müssen
viele Jahre vergangen sein, seitdem die Menschen gestorben sind, deren Schädel
ich Ihnen übersenden kann." Eine früher zahlreichere Bevölkerung der jetzt mit
Ausnahme der Oasen wüsten Küste ergiebt sich aus den Geschichtsbüchern Garci-
lasso's de la Vega.
Herr Virchow, der eine weitere Besprechung der Schädel vorbehält, bemerkt:
Es handelt sich hier um starke künstliche Verunstaltungen, ähnlich wie wir sie vor
Kurzem bei den alten Schädeln von den Philippinen gesehen haben, nur dass die
Druckfläche mehr schräg gegen die Stirn liegt und dadurch der Schädel in der
Scheitelgegend stärker erhaben geworden ist. Es ist dies aber nicht die am mei-
sten berühmte, nach hinten cylindrisch verschobene Form, sondern eine mehr
breite Form, von der wenig zu uns gekommen ist. Daher ist es besonders an-
genehm, dass wir mit dieser Erwerbung eine würdige Grundlage für die Ethno-
logie Amerikas in unserer Sammlung gelegt haben. —
Hr. Bastian überreicht als Geschenk des Hrn. Jagor die Photographie des doppel-
köpfigen Adlers, der auf verschiedenen Monumenten Kleinasiens sculptirt gefunden
ist und Gelegenheit zu mehrfachen Erörterungen gegeben hat. Hamilton sah ihn
(1836) bei Euyuk und (wieTexier) bei Boghaz-kieu, das er für Tavium (Hauptstadt
457
Her trocmischen Gallier) erklärte. Der Adler ist als Wappen in der ganzen Welt
verbreitet. Der deutsche Doppeladler soll zuerst 1452 bei der Kaiserkrönung ge-
tragen und aus den zwei Adlern Ludwig IV. zusammengesetzt sein. Der russische
Doppeladler wird auf den byzantinischen bezogen, den die späteren Paläologen
führten. Auch in Birma, Ceylon, Amerika kommt diese Zusammenstellung vor.
Gobineau findet den Prototyp des Doppeladlers auf Agaten der Arsaciden.
Herr Virchow verliest folgende Mittheilung des Hrn. Professor Hosius in
Münster über
Rennthier-Reste auf dem Akademischen Museum zu Münster.
„1. Die rechte Seite eines Geweihes, Fig. 1.
Dieselbe hat in ihrem jetzigen unvollständigen Zustande eine Länge von 1,15
Meter, zwischen der Augen- und der Eissprosse einen Umfang von 16, im L'ebrigeu
durchschnittlich einen Umfang von 14 Centimeter. Am unteren Ende sind der
Stirnzapfen und ein Theil der Schädelhöhle noch erhalten. Die Augensprosse ist
abgebrochen, war jedoch nach der Grösse der Bruchfläche ziemlich stark entwickelt.
Die stark nach Innen gebogene Eissprosse ist bis zu den Zacken 34 Cent, lang
und hat einen Umfang von 10 Cent. Die Stange sowie die Eissprosse sind in ihrem
unteren Theil sehr gerundet, erst über der kleinen, nach hinten gerichteten Zacke
plattet sich die Stange ziemlich ab; "der grösste Querdurchmesser der Stange be-
trägt hier 41/., Cent., der kleinste 3'/'» Cent. Von der Schaufel sind leider nur ein
Theil der Fläche und 2 nach vorn gerichtete Zacken erhalten. Dies Geweih ist
bereits vor mehreren Jahren im Bette der Ems etwa '/a Meile unterhalb Telgte,
ca. 2 Meilen von Münster gefunden. Der Fund blieb jedoch unbekannt und erst
vor 3 Jahren gelang es mir, denselben für das hiesige Museum zu erwerben, nach-
dem das Geweih, bis dahin in einem Baume aufgehangen, nicht unerheblich durch den
458
Einfluss der Witterung gelitten hatte Die ursprüngliche Lagerstätte habe ich Hoch
nicht genau ermitteln und untersuchen können, ich zweifle je och durchaus nicht,
dass es in den tieferen diluvialen Ablagerungen gefunden ist, die hier dem Kreide-
gebirge unmittelbar auflagern; in der gelblich braunen Farbe, sowie in der sonsti-
gen Beschaffenheit stimmt es durchaus mit den Knochen übereiu, die in diesen
Schichten gefunden werden.
2. Die Stange der rechten Seite eines Geweihes, Fig. 2.
Die Länge dieses Bruchstücks beträgt 34 Cent., der Umfang am unteren Ende
6, höher hinauf ca. 5 Cent. Die Stange ist schon am unteren Ende stark abge-
plattet, der grösste Durchmesser beträgt hier 2,5 Cent., der kleinste 1,6. Eine
Augensprosse war nicht vorhanden. Dies Bruchstück stimmt vollständig mit dem
(ieweih eines jungen weiblichen Rennthiers, womit ich es vergleichen konnte.
Gefunden ist dasselbe bei der Correction des Flussbettes der Ems, welche im
Sommer 1869 beim Bau der Brücke der Paris -Hamburger Bahn ca. l'/2 Meilen
nordöstlich von Münster ausgeführt ist. Mit diesem Stücke wurden in denselben
Schichten gefunden:
Das Bruchstück eines Topfes von sehr roher Arbeit, den ältesten hier gefun-
denen Formen zugehörig.
Eine Feuersteinspitze und ein Beil von Grünstein, beide schon ziemlich gut
gearbeitet.
2 Hacken oder Beile aus dem unteren Ende von Hirschgeweihen gearbeitet.
Ellenbogenbein, Schienbein und Bruchstück eines Beckens vom menschlichen
Skelet.
Das untere Stück vom Oberschenkel eines Mammuth.
Der Kopf eines Bibers.
Bein- und Fussknochen vom Pferde.
Mehrere Kopf- und Fussknochen vom Hirsch, Reh, Ochs, Schwein, namentlich
Hirschgeweihe sehr zahlreich.
Upter den Fussknochen können einige noch dem Rennthier angehören, da sie
den Fussknochen des Rennthiers, welche Cuvier, Recherches sur Ies ossemens fos-
siles, tom. VI, pag. 188, pl 168, beschreibt und abbildet, sehr ähnlich sind.
Ausserdem fand sich der Stamm einer Eiche und Holz von Coniferen.
Sämmtliche Reste wurden in einer Tiefe von etwa 20' unter der Oberfläche des
Thals in einer Schicht gefunden, die noch jetzt bisweilen bei sehr seichtem Was-
ser blossgelegt wird. Die durchsunkenen Schichten bestanden aus einem grauen,
bald feinkörnigen, bald grobkörnigen Sand. Die sehr feinkörnigen Massen, welche
mit Bestimmtheit als das Lager der Reste angegeben wurden, bestanden vorherr-
schend aus durchsichtigen oder weiss und gelb gefärbten Quarzkörnchen, zwischen
denen sich einzelne rothe Feldspathkörnchen und feste graue Thonmergelstückchen
fanden, welche letztere sehr wahrscheinlich dem grauen Thonmergel der Kreide
entstammen. Ob und in welcher Tiefe dieser Kreidemergel erreicht ist, habe ich
nicht feststellen können. Nester von sehr thonig kalkiger Beschaffenheit, sowie
eisenschüssige Stellen fanden sich unregelmässig zerstreut Foraminiferen der
Kreide oder sonstige Versteinerungen älterer Formationen habe ich nicht gefunden,
dagegen fanden sich in den feinkörnigen sandigen Schichten zahlreiche kleine
Schnecken und zwar: Pupa muscorum , Limnaeus minutus, Limnaeus albus?, Suc-
cinea amphibia? und 2 bis 3 andere nicht bestimmbare Arten. Die beiden ersten
sicher bestimmten Arten sind am zahlreichsten vertreten und, wie auch die beiden
andern, noch hiesig. In der Beschaffenheit zeigen die gefundenen Knochenreste
459
einige Verschiedenheit; die Reste vom Mammutb, Renntbier, sowie einige Hirsch-
geweihe scheinen älter zu sein, als die vom Schwein und Biber.
'■). Ein drittes noch mehr verletztes Stück wurde im Jahre 1865 in der Lippe ge-
funden bei Werne, 2 Meilen unterhalb Hamm, ebenfalls bei der durch den Bau
einer Brücke veranlassten Correction des Flussbetts. Es besteht nur aus dem Theil
der Stange, welcher in Fig. 2 durch die Buchstaben übe bezeichnet ist. In seinen
Dimensionen stimmt es vollständig mit dem Bruchstück Fig. 2 überein, nur erreicht
das untere Ende von der Eissprosse abwärts bei diesem Stück eine Länge von 6
('ent., während es bei dem Stück» Fig. 2 nur 4 Cent, lang ist. Auch ist noch eine
Spur der Augensprosse vorhanden.
Eine Beschreibung der Schichten, worin dies Stück gefunden, sowie eine Zu-
sammenstellung der übrigen dort gefundenen 'Beste ist von den Herren Borggreve,
Köuigl. Baurath in Hamm, und Geisberg, Gerichtsassessor in Münster, gegeben
worden in der „Zeitschrift für Vaterland. Geschichte und Alterthumskunde, heraus-
gegeben vom Verein für Geschichte und Alterthumskunde Westfalens, 3. Folge,
Bd. 8, S. 309. Münster, Regensberg, 1869." Nach dieser Mittheilung ist das tiefste
Glied, welches erreicht wurde, ein blauer, thoniger, ziemlich fester Kalkmergei —
vermuthlich schon zur Kreideformation gehörend. Auf demselben lagerte eine 5'
mächtige Sandschicht, unten ziemlich grobkörnig in sogenannten Kies übergehend,
oben dagegen feinkörnig. Dieser Schicht folgte eine 9 Zoll starke braune Sand-
schicht mit Resten von Gräsern und Eichen, in derselben fanden sich auch einige
nicht weiter bestimmte Schnecken Auf dieser Schicht lagerte wieder Sand von
gewöhnlicher Beschaffenheit, je nach der Gestalt der Oberfläche von verschiedener
Mächtigkeit. Mergelschmisse fanden sich überall im Sande unregelmässig vertheilt.
Die braune Sandschicht trat nicht überall auf, sie fehlte namentlich da, wo die un-
ter No. 1 genannten Reste gefunden sind. Die unter No. 2 genannten Reste sollen
jedoch sämmtlich aus dem Sande unter der braunen Schicht, meistens aus dem
Kies stammen, welcher der blauen Mergelschicht unmittelbar aufgelagert ist. Die
Reste sind:
No. 1. Ein aus 26 Pfählen bestehendes Bauwerk, vermuthlich ein Wehr. Die
Pfähle standen in 2 parallelen Reihen, waren 81/» — 12 Fuss lang und 6—10 Zoll
stark, oben und unten zugespitzt. 2 ausgehöhlte als Nachen benutzte Baumstämme,
von 22' Länge, ziemlich gut und regelmässig bearbeitet. 3 Krüge. 2 Schwerter aus
dem 14. Jahrhundert und ein menschlicher Schädel.
No. 2. Ein Topf und Ringe aus Thon, sehr roh gearbeitet. Verschiedene Ge-
räthe aus Hirschgeweihen, ein sehr verletzter menschlicher Schädel. Atlas und Zahn
vom Rhinoceros. Verschiedene Knochen vom Ochsen, Schwein, Hund, Hirsch, Ziege,
Pferd.
Unter den zur Gattung Bos gehörigen Resten fanden sich ein Atlas und einige
andere Knochen von sehr bedeutender Stärke, jedenfalls zu den ausgestorbenen Arten
dieser Gattung gehörig, sowie ein kleiner, aber deutlich erkennbarer Schädel des
Auerochsen. Die Beschaffenheit der einzelnen Stücke ist sehr verschieden, nament-
lich machen die Reste vom Schwein, Hund, Pferd und zum Theil auch vom Ochsen
entschieden den Eindruck eines jüngeren Alters, so dass, wenn dieselben wirklich
mit den übrigen in gleicher Tiefe gefunden sind, das Ganze eine verhältnissmässig
junge Bildung ist, iu welcher ältere wieder ausgespülte Reste mit jüngeren zusammen-
geschwemmt sind."
Herr Virchow hebt im Anschlüsse an das Verlesene die Aehnlichkeit des zuerst
beschriebenen Geweihstückes mit dem vor einiger Zeit von ihm aus der Uckermark
460
vorgelegten hervor, uud betont die Wichtigkeit dieser westfälischen Funde für die
Frage von der Coexistenz des Menschen und des Rennthiers in jener Gegend. Er
legt seinerseits mehrere Geweihstücke vom Rennthier vor, welche er auf seiner letz-
ten Reise in Minden erworben hat. Er bemerkt dazu: „Es sind ziemlich kräftige,
jedoch meist kürzere Stücke, 21—27 Fuss tief im Flussthale der Weser, südlich von
der Porta, auf der Grenze zwischen den alluvialen und diluvialen Schichten in einem
Terrain gefunden, in dem auch sonst mancherlei Thierknochen vorkommen, in dichtem
Anschlüsse an die Hügelkette, welche auf dem rechten Ufer des Stromes bei dem Dorfe
Holzhausen ansteigt. Hier ist namentlich viel vorrfMammuth gefunden worden, sowie
eine Menge verschiedenartiger Knochen, die noch nicht genauer bestimmt worden
sind. Ich werde Gelegenheit haben, auf die Fundstelle zurückzukommen. Ich hatte
sie besucht, weil gerade über den Rennthierschichten ein alter ßegräbnissplatz liegt,
auf welchem zahlreiche Urnen ausgegraben worden sind. Die Eisenbahn-Verwaltung
benutzt diesen Platz seit Jahren, um von dort Kies zu beziehen, und hat ihn bis zu
einer grossen Tiefe und in einem Umfange von etwa 20 Morgen ausgefahren. Ich
hatte das Vergnügen, die beiden wahrscheinlich letzten Urnen am Rande des Hügels
ausheben zu können.
Ich will ausserdem noch aufmerksam machen auf eine mir von Hrn. v. Martens
übergebene Schrift über die frühere Existenz des Rennthiers in den russischen Ostsee-
provinzen von Grewingk, in welcher wenigstens zwei bestimmte Funde vom Renn-
thier in Liefland constatirt sind. Von diesen ist besonders einer bemerkenswerth aus der
Nähe von Kaipen im Kreise Riga, wo vor 20 Jahren in einem Torfmoor das Gerippe
eines Rennthiers gefunden worden ist, also ein Fund, der durch die Vollständigkeit
der Knochen an jenen, früher von mir besprochenen erinnert, der auf der Grenzscheide
zwischen Pommern und Pomerellen gemacht ist. Man wird daher wohl nicht mehr
zweifeln können, dass das Rennthier im Bereiche der norddeutschen Ebene von dem
äussersten Osten bis zu den westfälischen Gebirgen hin gelebt hat."
Herr Lazard: Die Hügel bei Holzhausen, in denen die Rennthierknochen gefun-
den worden, enthalten Diluvial- und Alluvialschichten. Die Porta westphalica war
früher eine zusammenhängende Thälerkette, durch welche Versteinerungen und Steine,
welche von Norden kamen, aufgefangen« worden sind. In der Sammlung der Berg-
akademie finden sich verschiedene Steine aus der Juraformation, welche an denselben
Hügeln gefunden worden sind. Die Thiere brauchen also nicht an der Stelle gelebt
zu haben, an der ihre Reste gefunden werden, sondern sie können von Norden dort-
hin gelangt sein.
Herr Virchow*: Die Rennthiergeweihe liegen nicht in den Hügeln, sondern un-
mittelbar unter dem Dorfe Holzhausen, zwischen der Eisenbahn und dem rechten
Ufer der Weser, also in dem eigentlichen Weser-Thal. Das Land ist dort ganz flach.
Nur an einer Stelle, eine Viertelstunde hinter Hausberge, am Rande des Alluviums,
fand sich eine seichte, sandige Erhöhung, die, wie es scheint, wesentlich für den Be-
gräbnissplatz gedient hat. Leider habe ich nicht mehr Gelegenheit gehabt, die tief-
sten Schichten, in denen die Rennthierüberreste vorkamen, zu sehen. Die benach-
barten Hügel habe ich nur deshalb erwähnt, weil darin zahlreiche Mammuth-Knochen
gefunden sind ; es ist mir nicht bekannt, dass dort gleichfalls Rennthierreste vorkom-
men. Die von mir vorgelegten Stücke habe ich durch die Güte des Hrn. Baumeister
Schneider, eines sehr zuverlässigen Mannes, erhalten, der bei jedem Stück die Tiefe,
in der es ausgegraben wurde, sorgfältig notirt hat. Hr. Dr. C ramer, dessen Ver-
461
mittlung ich diese Bekanntschaft verdanke, schildert das fragliche Terrain folgender-
massen :
a) Ackerkrume und sehr feiner Alluvialsand, 3 — 4 Fuss tief.
b) Schichten von schwerem, thonartigem Lehm, 2 — 2'/3 Fuss tief.
c) Kies mit grossen Rollsteinen und Kuocheu von Diluvialthieren, gegen "20
Fuss tief aufgeschlossen.
Mag daher immerhin eine Einschwemmung von Norden her erfolgt sein, so wird
mau doch schwerlich genöthigt sein, anzunehmen, dass die Rennthiergeweihe von
weither eingeführt sind. Das Vorkommen zahlreicher Ueberreste des Rennthiers iu
den westfälischen Höhlen Leweist ja hinlänglich, dass eine nordische Fauna im Lande
selbst vorhanden gewesen ist. —
Herr Hauchecorne berichtet
über die chemische Untersuchung der Schlacken von den oberlausitzischen Brandwäilen.
Unser Herr Vorsitzender hat in der Sitzung vom 14. Mai über die gebrannten
Steinwälle in der Oberlausitz gesprochen und eine Anzahl von Gesteinsproben aus
denselbeu vorgelegt, aus deren Beschaffenheit auf das Verfahren geschlossen wurde,
vermittelst dessen die Alten jene als schanzenartige Befestigungen gedeuteten Wälle
zu Stande gebracht haben möchten. Es wurde angenommen, dass grössere und klei-
nere Stücke des die befestigten Bergkuppen bildenden basaltischen Gesteins mit Lehm
zusammengeschichtet, mit sehr vielem zerhacktem Holz durchsteckt, wohl auch um-
geben worden seien und dass man dann durch Verbrennen des Holzes die Massen
zum Zusammenschmelzen oder doch Zusammensintern gebracht habe, um ihnen die
gewünschte Festigkeit zu geben. An den Belagstücken, welche ich hier wiederholt
vorlege, wurde gezeigt, dass sich in den zusammengebacknen Massen Eindrücke und
Abdrücke finden, welche nur von den zu dem Brande verwendeten Holzstücken her-
rühren könnten, und dass der Basalt nicht nur äusserlich gebrannt, sondern auch in
seinem Innern verändert, blasig geworden, ja sogar wirklich zum Schmelzen ge-
langt sei.
Bei der Besichtigung dieser Stücke waren nun Zweifel darüber geäussert worden,
ob die erwähnten Eindrücke in der That von Holzstücken herrühren möchten, und
andererseits darüber, ob man annehmen dürfe, dass bei jener Art und Weise der
Brände eine Temperatur von solcher Höhe habe erzeugt werden können, dass Basalt
bis zum Aufblähen, ja sogar bis zu völligem Schmelzen und Abtropfen erhitzt wor-
den sei. Die an den Stücken wahrzunehmenden Erscheinungen schienen die Annahme
zuzulassen, dass die stark blasigen und die ganz geflossenen Parthien nicht wirklich
veränderter Basalt, sondern etwa durch Schmelzung des vielleicht besonders leicht-
schmelzigen Lehms zwischen den Basaltstücken entstanden seien. Sie haben grosse
Aehnlichkeit mit dem sogenannten Schmolz, welcher in Ziegeleien bei zu hoher Brenu-
hitze leicht entsteht, wenn der Ziegelthon reich an Kalkerde und Alkalien ist.
Mit Rücksicht auf diese Zweifel sind die von dem Herrn Vorsitzenden vorgeleg-
ten Gesteinsproben, welche von den Basaltkuppen des Stromberges und der Lands-
krone und von der Nepheliu-Doleritkuppe des Löbauer Berges entnommen sind,
inzwischen in Gemeinschaft mit dem Herrn Professor Braun näher untersucht worden.
Vergleichsmaterial zu diesen Gesteinsschlacken fand sich in den Sammlungen der
hiesigen Bergakademie zunächst in der Reihe solcher hüttenmännisch erzeugter
Schlacken, welche sich in geschlossenen Oefen als Producte der Schmelzung von Si-
likaten unter Anwendung von Holzkohle als Brennmaterial bilden. Weiter besitzt
die Bergakademie eine Sammlung von Stücken aus dem grossen Brande zu Hamburg
im Jahre 1842, Schlacken, welche in der Gluth dieses Brandes unter freiem Himmel
462
aus de,m Mauerwerk uud durch Zusammenschmelzung von allerlei Gegenständen ent-
standen sind, also unter Bedingungen, die einige Aehnlichkeit besitzen mit denjeni-
gen, unter welchen sich das Material der Steinwälle bei deren Herstellung befunden
haben mag.
Sowohl unter den Hamburger Schlacken als besonders unter den Hüttenschlacken
linden sich zunächst Stücke, bei welchen Holzkohle von der erstarrenden Schlacke
umschlossen worden ist und theils noch in derselben steckt, theils nicht mehr vor-
handen ist, sondern nur Abdrücke hinterlassen hat. Diese zeigen sowohl die Struc-
tur der sog. Hirnseite der Holzkohle mit ihren concentrischen Jahresringen, als die-
jenige der Längsfasern aufs Schärfste abgeformt. Auch treten die Querrisse, welche
sich in verkohltem Holze zahlreich bilden, in der Gestalt feiner Querleisten auf den
Abdrücken der Längsflächen des Holzes abgeformt sehr characteristisch hervor. Diese
Erscheinungen bei den Schlacken nun stimmen aufs Vollkommenste überein mit den-
jenigen, welche sich bei den Stücken aus den Schlackenwällen zeigen, so dass Herr
Braun keinen Anstand genommen hat, die Abdrücke bei den letzteren ebenfalls als
von verkohltem Holze herrührend zu bezeichnen.
Eine Lösung des Zweifels, ob die in den Stücken aus den Schlackenwällen ent-
haltenen stark blasigen und geflosseneu Partieen wirklich das Product der Schmel-
zung der basaltischen Gesteine seien, liess sich nicht durch eine äusserliche Prüfung
erlangen. Es war vielmehr nöthig, durch die chemische Analyse zu untersuchen, ob
die blasigen und geschmolzenen Theile die gleiche oder eine andere Zusammensetzung
haben, wie das feste Gestein, woran sie haften. Im ersteren Falle muss angenommen
werden, dass sie mit dem festen Gestein identisch und nur ein veränderter Aggregat-
zustand desselben sind; im anderen Falle nur können sie als ein Product der Schmel-
zung anderen Materials der "Wälle angesehen werden. Es wurden deshalb chemische
Untersuchungen von recht charakteristischen Stücken von drei Lokalitäten, vom Strom-
berg, vom Löbauer Berg und von der Landskrone in dem Laboratorium der Berg-
akademie ausgeführt. Das Stück vom Stromberg ist ein rundliches, faustdickes Stück
dichten Basaltes, auf welchem eine Partie ganz geflossener, einer Eisenfrischschlacke
ähnlich abgetropfter Schlacke aufsitzt; zwischen beiden liegt theilweise noch ein Hauf-
werk kleiner zusammengefritteter, rothgebrannter Brocken. Das Basaltstück ist im
Innern ganz dicht und unverändert, au der Oberfläche, auf welcher die Schlacke und
das Brockenhaufwerk angebacken sind, nur rothbraun gefärbt, wie geröstet Die in-
nere Textur der geflossenen und blasigen Masse ist eine von derjenigen des dichten
Basaltes sehr abweichende.
Das Stück vom Löbauer Berg ist ein kopfgrosser Klotz von Nephelin-Dolerit, im
Innern dicht krystallinisch, frei von Blasen; nach der Aussenfläche zu treten kleine
Blasen ein, die je mehr nach aussen desto grösser und häufiger werden. In der Ober-
fläche finden sich sehr charakteristische und deutliche Abdrücke von Holzkohle. Da-
bei ist jedoch weder wirklich abgeflossenes Material vorhanden, noch ist das Gestein
in der Nähe der Oberfläche in der inneren Textur der Zwischenräume zwischen den
grösseren Blasen von wesentlich anderer Beschaffenheit als in dem nichtblasigen,, dich-
ten Theil des Stücks.
Das dritte Stück, von der Landskrone, besteht aus einem kleinen Stück Basalt
von der Dicke eines mittleren Apfels, kubisch mit gerundeten Ecken, auf welchen
eine stark blasige, schlackige Partie aufsitzt. Beim Anschlagen zeigt sich, dass der
Basalt an der der Schlacke abgewendeten Seite dicht ist, in dem ihr zugewendeten
Theile wird er erst ganz fein, dann gröber blasig und scheint gauz in die Schlacke
überzugehen. In der letzteren sind die Wände der Blasem'.ellen von vollkommen
schlackiger innerer Textur.
463
Von jedem dieser drei Stücke wurde eine Probe des festen Gesteins, und zwar
von der dichtesten Stelle, und eine zweite des schlackigen Theiles von desseu am
meisten geschmolzen erscheinender Stelle untersucht. Zunächst wurde nur der Kiesel-
Bau regehalt bestimmt. Derselbe betrug:
Stromberg. Löbauer Berg. Landskrone.
in dem dichten Gestein: 43,89 pCt. 40,87 pCt. 41,03 pCt.
in der Schlacke: 43,99 „ 42,31 „ 58,52 „
Dadurch stellte sich heraus, dass bei dem Stück von der Landskrone, welches
von allen am meisten den Anschein hat. als gehe das feste Gestein in die geflossene
Schlacke über und sei mit ihr identisch, beide jedenfalls verschiedene Körper sind
und letztere nicht aus ersterem entstanden sein kann, da die Dillen:!/, im Kieselsäure-
gehalt viel zu erheblich ist Sollte bei der Landskrouer Schlacke dennoch Basalt
zum Schmelzen gelangt gewesen sein, so müsste ein anderes, kieselsäurereicheres
Material mit demselben zusammengeschmolzen sein, was bei der völligen Homogenei-
tät der Löbauer Schlacke nicht wahrscheinlich erscheint.
Bei dem Nephelin-Dolerit des Löbauer Berges bestätigt die nahe Ucbereinstiin-
mung des Kieselsäure-Gehaltes die Identität der festen und der oberflächlichen, mit
Eindrücken verseheneu Gesteinssubstanz, welche das Aussehen vermutllen lässt. Es
scheint bei dem vorliegenden Stück angenommen werden zu können, dass das Ge-
stein durch die Hitze nicht ganz zum Fluss gebracht, sondern nur äusserlich so weil
erweicht worden, dass es die Eindrücke der Holzkohle empfangen konnte und dass
es bei dieser Erweichung zugleich etwas blasig geworden ist. Mit dieser Annahme
stimmt es überein, dass die Holzkohleneindrücke weit weniger scharf und deutlich,
mehr rundkantig sind, als bei der ganz flüssig gewesenen Schlacke vom Stromberg.
Bei dem Stück vom Stromberg, bei welchem der Zustand des festen Gesteins,
das Ansehen der geflossenen Schlacke und der Mangel jedes Ueberganges aus erste-
rem in die letztere au dem vorliegenden Stück es ganz und gar nicht vermutheu
lassen, dass die Schlacke geschmolzener Basalt sei, zeigte sich dagegen ein so glei-
cher Kieselsäuregehalt, dass ich fast an eine Verwechselung bei der Analyse glaubte.
Ich liess dieselbe deshalb wiederholen uud zugleich auf die übrigen Elemente aus-
dehnen. Diese zweite Analyse ergab folgende Zusammensetzung:
beim festen Basalt: bei der Schlacke:
Kieselsäure . 44,65 44,66
Eisenoxyd . 19,75 19,68
T honerde. . 14,9« 14,89
Kalkerde. . 11,23 11,17
Magnesia . . 6,84 6,81
Hie Alkalien wurden nicht bestimmt. — Die Analyse ergab also eine so voll-
kommene üebereinstimmung, dass an der Identität beider Körper nicht der leiseste
Zweifel bleibt. Wenn die Schlacke nicht aus dem Basaltstück selbst entstanden ist,
auf welchem sie sitzt, was der Augenschein anzunehmen nicht zulässt, so ist sie das
Produkt der Schmelzung eines benachbarten Basaltstückes und auf ersteres abgeflossen.
Hiernach scheint mir die Thatsache festzustehen, dass in den Schlackenwällen
basaltische und ähnliche Gesteine zum Zusammenschmelzen gebracht worden sind,
eine Thatsache, die wohl bezweifelt werden durfte mit Rücksicht darauf, dass die
Art des Brandes die Hervorbringung einer dazu ausreichenden Hitze kaum voraus-
setzen liess. Gegen die Annahme jener Thatsache Hesse sich noch allenfalls der Ge-
danke aufstellen, ob nicht die schlackigen Gesteine ursprüngliche, der Eruption der
Basalte und Dolerite augehörige Bildungen seien, welche zur Zeit ihres Emportretens
an die Oberfläche durch irgend einen Zufall mit Hölzern oder Liguiteu in Berührung
464
gekommen seien und dabei jene Eindrücke empfangen hätten. Die ganze Zusammen-
setzung der Stücke vom Stromberg lässt indessen diesem Gedanken keinen Raum.
Was nun die zur Schmelzung des Basaltes erforderliche Temperatur betrifft,
welche bei der Ausführung der Schlackenwälle nach dem Erwähnten erreicht worden
ist, so finde ich die einzige Angabe über eine effective Bestimmung dieser Tempera-
tur in einer Mittheilung von Gustav Bischof über Schmelzuug von Basalt, welche er
in Gemeinschaft mit dem verstorbenen Geh. Bergrath Althaus zu Saynerhütte im
Jahre 1836 ausgefbhrt hat.*) Zum Guss einer Basaltkugel von 2 Fuss Durchmesser,
an welcher Erkaltungstemperaturbeobachtuugen gemacht werden sollten, wurden in
einem Cupolofen 720 Pfund Basalt mit 2-10 Pfund Koks innerhalb einer Stunde nie-
dergeschmolzen. Der geschmolzene Basalt floss, aus dem Ofen abgestochen, „ruhig
in einem gleichförmigen Strom von Syrupsconsistenz". Die Temperatur dieses flies-
senden Basaltes wurde durch Schmelzung eingetauchter Drähte verschiedener Metalle
als höher wie die Schmelzhitze des Kupfers, also mindestens als 1118° R. direkt be-
stimmt, demnächst aber nach den Abkühlungsversuchen auf ungefähr 1250° R. be-
rechnet. Mögen nun auch nicht alle Basalte gleiche Schmelztemperatur haben, so
kann doch immerhin angenommen werden, dass bei dem Brennen der Steinwälle eine
ganz ähnliche Temperatur erzeugt worden sein muss. Dies im Freien in der vorhin
angegebenen Art und Weise zu Stande zu bringen, mag seine grossen Schwierigkei-
ten gehabt haben. Dass aber solche Temperaturen im Freien unter Umständen ent-
stehen können, beweisen die hier vorliegenden Stücke aus dem Hamburger Brande.
Unter denselben befinden sich selbst vollständig zusammengeschmolzene Porzellan-
massen, was auf eine noch beträchtlich höhere Temperatur als die angegebene Schmelz-
hitze des Basalts schliessen lässt.
Der Basalt vom Stromberg ist endlich auch in dem Laboratorium der Bergaka-
demie ohne Schwierigkeit zum Schmelzen gebracht worden. Ein haselnussdickes
Stückchen wurde im Gasgebläse im Platintiegel innerhalb P/j— 2 Minuten in Fluss
gesetzt.
Schliesslich bemerke ich noch, dass sich in einer Abhandlung von v. C oh aus eu,
welche sich nicht sowohl speciell mit den Schlackenwällen, als vielmehr mit ähnlichen
Fortificationen der Alten im Allgemeinen beschäftigt, eine etwas abweichende Auf-
fassung der Entstehung der „gebrannten Wälle" findet, v. Cohausen bestreitet,
dass man die Steine und Hölzer in der Absicht zusammengefügt habe, durch den
Brand der letzteren die ersteren zusammenzuschmelzen. Er behauptet vielmehr und
stützt diese Behauptung auf Angaben des Cäsar und des Tacitus, dass die Alten die
Wälle aus wechsellagernden Schichten von Steinen und von Stammholz und Faschi-
nen zusammengebaut hätten, künstlich und fest^dann seien wohl bei Erstürmung der
Schanzen durch den Feind oder bei dem Aufgeben der Lager diese Wälle in Brand
gerathen oder absichtlich durch Feuer zerstört worden und so die Steinlage zu theil-
weisem Schmelzen gebracht. Abgesehen von der Frage, ob wirklich die Alten in
solcher Weise Schanzen gebaut haben, scheint mir die Erklärung des gebrannten Zu-
standes der Wälle nach der v. Cohausen'schen Auffassung nicht wahrscheinlich.
Denn wenn wirklich es gelungen .zu sein scheint, durch ein absichtliches sorgfältiges
und vielleicht lange fortgesetztes Feuern die Gesteinstücke und ihre Bindemittel zum
Zusammenbacken zu bringen, so wird doch bei einem zufälligen Braude der Schan-
zen schwerlich die nöthige Hitze entstanden sein.
♦) G. Bischof, die Wärmelehre des Erdkörpers. Leipzig 1837. S. 443 ft".
465
Herr Alex. Braun: Die Herren werden sieb erinnern, dass unter den von Hrn.
Virchow vorgelegten Stücken das eine aus einer geschmolzenen, röthlich- braunen
Masse bestand, in welcher die Holzeindrücke noch zu erkennen waren. Schon damals
hatte es keinen Zweifel, dass bei diesen Stücken wirklich Holzabdrücke vorhanden
sind, dagegen waren bei den stärker geschmolzenen, schwarzen Stücken diese Ein-
drücke keineswegs derart, dass man an ihnen deutlich die Struktur des Holzes hätte
erkennen können. Allein die Exemplare vom Hamburger Brande haben ganz ähn-
liche Verhältnisse gezeigt, und zwar noch zum Theil mit der unverbrannten Holz-
kohle in Verbindung, so dass nicht der geringste Zweifel mehr bestehen kann, dass
alle diese eigenthümlich gestreiften Höhlungen Räume waren, in welchen sich Holz
befand, wobei aber durch die schmelzende Masse die Oberfläche so verändert ist, dass
sie nicht mehr einen genauen Abdruck des Holzes liefert. Unter den Stücken, welche
mir jetzt vorgelegt worden sind, befindet sich namentlich eines, welches einen wun-
dervollen Abdruck des Querschnittes eines Holzstückchens zeigt, bei dem man das
Centrum und die umliegenden Jahresringe deutlich sehen kann. Die ersten Ringe
sind nicht die stärksten, sondern der dritte und vierte sind breiter; dann kommen
schmälere Ringe, ganz nach dem Gesetze des Holzwachsthums, wo dann wieder eine
Abnahme in der Breite der Ringe stattfindet. Diese Verhältnisse der einzelnen Ringe
zu einander sind so deutlich, dass sie keinen Zweifel mehr übrig lassen. Das Ganze
ist eine glasige Masse, in welcher Holz die Eindrücke hinterlassen hat. Ebenso ist
es bei einem andern Stück, welches eigentlich nur Kohle ist, in deren Sprünge die
verglaste Masse eingedrungen ist, so dass man im Innern der Kohle Schlacken-La-
mellen findet. Bei den andern Stücken ist die Struktur des Holzes weniger deutlich
zu erkennen; es ist auch nicht deutlich mehr Kohle zu erkennen, jedoch sind un-
zweifelhaft diese Eindrücke dem Holze zuzuschreiben.
Uebrigens ist es mir unwahrscheinlich, dass ein Wall, der aus mehr Erde und
Steinen als Holz besteht, sich von selbst entzündet, und daher halte ich die von un-
serem Hrn. Vorsitzenden gegebene Erklärung für die zutreffende.
Herr Virchow : Ich habe mich bemüht, weitere Aufklärungen über die Sache zu
verschaffen. Als ich in der Sitzung vom 14. Mai verschiedene Stücke von den Stein-
wällen des Löbauer Berges und des Stromberges vorlegte, machte ich darauf aufmerk-
sam, dass der Wall des Stromberges mit Hülfe einer Bindemasse aufgemauert scheine,
der Löbauer Wall aber nicht. Indess in Beziehung auf den letzten Punkt war ich
meiner Sache nicht ganz sicher. Hr. Oscar Schneider hat auf meine Bitte die
Verhältnisse noch einmal genauer untersucht und schreibt mir darüber d. d. Dresden,
12. Juni: „Während meines Aufenthaltes in Löbau im Laufe der letztvergangenen
Woche habe ich mich bemüht, zur Klärung der Ihnen zweifelhaft gebliebenen Punkte
nochmals an Ort und Stelle zu beobachten, habe zu solchem Zwecke zunächst am
zweiten Feiertage die von uns auf dem Löbauer Berge ausgegrabenen und die in den
Promenaden anlagen der Stadt aufgestellten Schlackenmassen durchgesehen, dabei jedoch
keine Spur eines mitverschmolzenen Binde- oder Ausfüllmittels gefunden. Von Inter-
esse war für mich ein in einen engen Kluftraüfm der Schlackenrinde eines von uns
ausgegrabenen Blockes locker eingezwängtes, etwa l1 /< Zoll langes, schmales Knochen-
fragment, das, obgleich keine Spur von Verkohlung zeigend, wohl schwerlich erst in
späterer Zeit dort hineingekommen sein dürfte; vielleicht, dass das Knochenstück erst
hineinfiel, als die sqhlackige Masse bereits mehr oder weniger abgekühlt war, viel-
leicht auch, dass die verkohlten Aussenränder abgebröckelt und durch Wasser weg-
gespült sind. Glocker in seiner „geographischen Beschreibung der preussischen
Oberlausitz" erwähnt (S. 119) sowohl den verschlackten Basalt des Stromberges, wie
Zeitschrift für Ethnologie, Jahrgang 1870. 31
466
auch die mitverschlackte Binde- (oder besser Ausfülle-?) Masse, letztere als „rothe
Ziegelstücke", uud knüpft daran die nach den localen Verhältnissen wohl etwas
drollige Hypothese, dass die, ^iegelbrocken einschliessenden , verschlackten Basalt-
niassen „jedenfalls von einer künstlichen Schmelzung herrühren", die porösen und
blasigen StiiVke ohne fremdartige Einmengung aber, „gleich maucheu Basalten des
Löbauer Berges, natürlicher Basalt" seien. Hauptmann Schuster aber hat, wie aus
S. 11 seiner Abhandlung über „die alten Heidenschanzen Deutschlands" hervorgeht,
die Ausfülhnasse im Steinwalle des Stromberges übersehen; auch Cotta kann von
dieser den Wall zu einer compacten Masse machenden Ausfüllmasse Nichts gewusst
haben, da er, von den Lausitzer Schlackenwällen insgesammt sprechend, sagt, dass
„die verschlackten Massen locker übereinander liegen". Ich kenne nur noch einen
Punkt in hiesiger Gegend, der ähnliche Schlackenmassen und daneben noch Scher-
bon und andere Reste birgt, — das ist ein kleiner Wall bei Koschütz am oberen Ab-
hänge des Plauenschen Grundes."
In Beziehung auf die von Hrn. v. Co hausen aufgestellte Theorie möchte ich
darauf aufmerksam machen, dass, nach den Fundstücken, welche ich sowohl vom
Stromberge als vom Löbauer Berge mitgebracht habe, zu urtheilen, unzweifelhaft das
Holz gespalten und zerschlagen war. Es handelt sich da um Holzscheite, welche
längere Spaltflächen und kürzere, scharfe Durchschnittsflächen hatten, und zwar so,
dass Spalt- und Durchschnittsflächen winklig gegen einander stiessen. Nicht wenige
Stücke aber waren ganz kurz und klein ; manche mochten nicht mehr als etwa 1 Zoll
in jedem Durchmesser haben. Ich meine, diese Beobachtung widerlegt entschieden
die Möglichkeit, dass man mit Stücken von so geringen Dimensionen einen Bau habe
aufführen wollen; das passt nicht für fortificatorische Constructionen. Ausserdem muss
man in Betracht ziehen, Uuss dieses so eigenthümliche Verhalten der Brandwälle sich
nur an bestimmten Stellen findet, und zwar gerade an denjenigen, welche am leich-
testen zugänglich waren und daher eine verhältnissmässig grössere Festigkeit nöthig
hatten.
Ich habe mir schon in der vorigen Sitzung erlaubt, ein Stück Basaltschlacke von
dem früher erwähnten Heimberge bei Fulda vorzulegen, von dem bis jetzt nicht fest-
gestellt ist, ob auf ihm ein Steinwall existirte oder nicht. Ich erhielt das Stück von
Hrn. Dr. Speyer in Fulda, der dasselbe aus dem Nachlasse von Schneider erwor-
ben hat, und der ausserdem noch ein anderes grosses Basaltstück mit vollständigem
Glasflusse besitzt. Sie wurden vor etwa 40 Jahren, als man einen Steinbruch auf dem
Heimberge anlegte, gewonnen. Von derselben Stelle stammen die Stücke, welche
v. Leonhard erhalten und beschrieben hat. Seitdem ist die Spitze des Heimberges
dicht mit Wald bewachsen und fast unzugänglich geworden. Hr. Speyer hat mir
jedoch zugesagt, gegen den Winter hin, wenn das Laub gefallen sein wird, die Stelle
genauer zu untersuchen. Ich will dabei bemerken, dass unzweifelhaft eine grössere
Zahl von Bergen in der Rhön und ihrer Umgebung Steiuwälle trug, und dass nach
dem, was ich selbst gesehen habe und was mir Hr. Hassenkamp in Fulda mit-
theilte, die Möglichkeit ähnlicher Verhältnisse, wie in der Oberlausitz, auch in der
Rhön mehrfach vorliegt. Hr. Hassenkamp schreibt, dass er ähnliche Basalt-Schlacken-
bildungen östlich von Hilders am Westabhange der hohen Rhön gefunden habe, doch
liefere diese Stelle nicht so schöne Belegstücke wie der Heimberg. „Von grossem
Interesse war für mich", schreibt er, „das Auffinden von primitiven Mauern am Pferds-,
köpf; dieselben machten auf mich den Eindruck von primitiven Wohnuugsüberresten.
Hünengräber sind mehrfach vorhanden und auch theilweise geöffnet worden. In
denen links der Fulda wurden Bronzegegenstände gefunden, in einem vor einigen
Jahren rechts der Fulda geöffneten fanden sich nur Kohlen."
4(57
Ich selbst habe in Gesellschaft des Hrn. Dr. Speyer zu Pfingsten die berühmte
Milseburg (unweit von Fulda) besucht; es zeigte sich, dass um den Fuss dieses mäch-
tigen, 2GÖ3 Fuss hohen PhonoHthkegels in grosser Ausdehnung ein offenbar künstlich
aufgeschütteter Ringwall von Steinen sich befindet, welcher eine umfangreiche Berg
wiese, die sogenannte Danzwiese umfriedigt. Derselbe hat eine solche Breite und
Höhe unil schliesst so vollständig das Feld ab, dass kein Zweifel darüber sein kann,
dass es ein künstlicher Aufbau ist. Die Masse der zusammengehäuften Steine aber
ist so enorm gross, dass man sich kaum vorstellen kann, es sei dies geschehen, um
einen kleinen Weideplatz zu erzielen. Allerdings könnte man daran denken, da auch
anderswo in der Rhön die von den Bergkuppen herabgestürzten Steinblöcke in regel-
mässigen Linien zu Vierecken oder kreisförmigen Aufschüttungen zusammengelegt
worden sind, um den Boden für das Pflanzen wachsthum und die Weide frei zu machen.
Um die Milseburg liegt aber eine so grosse Masse und es sind so mächtige Blöcke,
dass der Gewinn, der durch das Zusammentragen erzielt werden konnte, in gar kei-
nem» Verhältnis zu der Arbeit stellen würde. Ich bezweifle daher nicht, dass es
sich um eine Einschliessuug handelt, die zu bestimmten Zwecken der Zuflucht oder
der Andachtsübung hat dienen sollen. Brandspuren habe ich an dem Ringwalle nir-
gends wahrgenommen, obwohl ich ihn fast seiner ganzen Länge nach durchwan-
dert habe.
Dagegen bin ich durch ein Citat bei Lubbock) darauf aufmerksam geworden, dass
auch in Nordamerika, in Wisconsin, am westlichen Arme des Rock River ein gebrannter
Erdwall, in neuerer Zeit Aztalan genannt, existirt. Nach der Skizze, welche Squier
und Da vis"*) davon geliefert haben, gleicht die Gesammtanlage in höchstem Maasse
gewissen unserer Burgwälle, z. B. dem von Pansin. Nach der Beschreibung Lapham's
besteht der Wall aus hartem, röthlichem" Thon voller Höhlungen, in welchen man
deutliche Eindrücke von Stroh oder Heu entdecken kann, „welches der Masse vor
dem Brande beigemischt sein musste". Obwohl die Bewohner diese Wrälle als brick
walls bezeichnen, so ist doch von eigentlichen Ziegeln nichts daran zu bemerken.
Die Indianer hatten zur Zeit, als diese Stelle zuerst (183G) die Aufmerksamkeit
erregte, keine Tradition übar die Benutzung und Bedeutung dieses Walles, so
dass es höchst wahrscheinlich ist, dass es sich um eine vorhistorische Anlage handelt.
Auch von einem andern Orte, bei Bourneville, Ohio, und zwar von einem sehr aus-
gedehnten Steinwalle auf der Höhe eines Berges berichten Squier und Davis***),
dass an einzelnen Stellen deutliche Spuren von Feuer bemerkt, ja dass die Oberflächen
der Steine theilweise verglast gefunden wurden.
Ich habe diese Analogien deshalb angeführt, weil daraus hervorgeht, dass der
Gedanke, durch Feuer festere Umwallungen herzustellen, sich unter verschiedenen
Verhältnissen realisirt findet, also jedenfalls nicht Eigenthum eines bestimmten Volkes
gewesen ist. Um so mehr empfiehlt es sich, bei unseren Wällen viel mehr Aufmerk-
samkeit auf die Eigenthümlichkeiten ihrer Herstellung zu richten.
Was die Zeit ihrer Herstellung betrifft, so will ich noch hervorheben, was aus
dem Nachweise der scharf gehauenen Holzstücke unmittelbar hervorgeht, dass die
Wälle nicht einer ganz alten Zeit angehören können. Es ist nicht denkbar, dass
man so scharfe und ausgedehnte Flächen in Eichenholz hat hervorbringen können
mit Stein-Instrumenten. Ebenso wenig dürfte Bronze dazu geeignet sein. Die Zeichuuug
und Form der Löcher in der Schlacke macht es wahrscheinlich, dass das Holz mit
*) John Lubbock, Prehistoric Times. Lond. 1869. pag. 256.
•*) Smithsonian Contributions 1848. Vol. I, pag. 131. PI. XLIV, No. \.
**•) Smithsoniaa Contrib. I, p. 12. PI. IV.
31'
468
Eisenwerkzeugen gespalten und zerhauen worden ist. Es ist daher wahrscheinlich,
dass die Anlage der "Wälle der Eisenzeit angehört.
Herr Wetzstein führt in Beziehung auf die Schmelzbarkeit basaltischer Gesteine
eine Erfahrung aus Syrien auf. In den dortigen Dörfern fabriciren die Weiber Ge-
fässe, welche zur Aufbewahrung des Wassers gebraucht werden und/2— 3 Met. hoch,
1 Met. weit und etwa einen Finger dick sind, aus Dolerit. Das Gestein wird ge-
pulvert, mit Hauranerde und Dünger gemischt und dann mit Wasser angemacht; das
daraus geformte Gefäss trocknet man zuerst an der Sonne und brennt es dann einen
Tag und eine Nacht lang in einer in die Erde gemachten Grube mit Häcksel. Diese
Gefässe sind etwas porös und erhalten das Wasser frisch. —
Herr Hartmann erstattet Bericht über die von den Mitgliedern Herren Deegen,
Friedländer, Hartmann, A. und E. Kuhn, Kunth, Langerhans, Munter,
Raschkow und Voss unternommene Excursion nach Müncheberg am 13. Juni zur
Untersuchung der Schanze am Däber See.
Es handelte sich hier um die Fortsetzung von Nachgrabungen an von Dr. Voss
zuerst bezeichneten Stellen. Die Theilnehmer der Excursion fanden von Seite
des Vereins für Heimathskunde Müncheberg's am dortigen Bahnhofe die liebens-
würdigste Aufnahme und begaben sich unter Leitung derselben zur Stätte der Aus-
grabungen. Ueber die Lagerungsbeschaffenheit der letzteren giebt der beifolgende
Bericht des Herrn Kreisgerichtsrathes Kuchenbuch, d. d. Müncheberg, den 4. Juli,
Auskunft. Es heisst darin: „Die in der hiesigen Gegend ohne anderen Zusatz ge-
wöhnlich nur „Schanze" genannte Halbinsel zwischen dem grossen und kleinen Däber-
see und einer sumpfigen, beide Seen trennenden Wiese bildet schon von Natur einen
zur Verteidigung oder festen Ansiedelung sehr geeigneten Ort. Die ganze Umgegend
besteht aus sehr hügeligem Lande, zum Theil mit steilen Abhängen, besonders auf
den Südseiten und häufigen Seen, Lachen, Luchen u. dergl. dazwischen in den Nie-
derungen. Die Halbinsel der Schanze streift von West nach Ost und hängt durch
einen Rücken mit dem übrigen Lande zusammen, über welchen etwa 500 Schritt
vom ersten (westlichen) Wall ein Fussweg von der Bahn nach Buckow läuft. Die
Schanze fällt ebenfalls nach Süden und gegen den grossen Däbersee auch nach Nor-
den hin steil ab, und bilden diese Abhänge zum Unterschied gegen die übrigen um-
liegenden Hügel mit dem Plateau eine scharfe Kante. Die ganze Schanze ist durch-
schnittlich 500 Schritt lang, da, wo sie mit dem Hügelrücken zusammenhängt, 150
Schritt breit, erweitert sich beim zweiten Wall auf 300 Schritt, wird dann wieder
200 Schritt breit und erreicht bei der Wiese im Osten wieder gegen 300 Schritt,
alles von der ganzen Halbinsel von See zu See gemessen. An der schmälsten Stelle
ist ein Wall von See zu See künstlich aufgeworfen, der in neuerer Zeit namentlich
auf der Nordseite zu Culturzwecken auseinander geworfen wurde, jetzt wie die andere
Fläche mit beackert wird, aber doch noch eine Erhöhung und ein gegen das Uebrige
schwärzeres Erdreich erkennen lässt. Noch vor etwa 10 Jahren war der Wall
unberührt, mit Rasen bewachsen und damals durchschnittlich wohl 10 Fuss hoch.
Beim Auseinanderwerfen wurden Steine und Urnen, Grabgefässe gefunden, die leider
zerbrochen und weggeworfen worden sind. Auf seiner höchsten Stelle, welche 40 bis
50 Fuss vom Seespiegel hoch liegen mag, ist ein Hügel von etwa 24 Schritt Durch-
messer befindlich. Bei der von Westen her angefangenen Durchgrabung bis zur
Hälfte hat sich zwar ergeben, dass er in seiner ganzen Höhe von etwa 12 Fuss künst-
lich aufgeschüttet ist; es sind aber ausser Holzkohlen, wenigen Thierknochen und
einigen Gefässscherben keine bemerkenswerthen Sachen gefunden. Der Hügel liegt
469
dicht am steilen südlichen Abhang, nach Norden zu verläuft der Boden nur allmäh-
lich zum See. Ziemlich parallel mit diesem Wall läuft durchschnittlich 150 Schritt
davon entfernt ein zweiter Wall, der jetzt noch bedeutend höher ist, als der erste,
und gleichzeitig den Abhang des breiteren Plateaus der Schanze bildet. Dass auch
am Rande dieses Abhanges ein Wal! aufgeworfen war, ist noch deutlich an der Er-
höhung zu sehen, obgleich auch hier schon das Erdreich geebnet und beackert ist.
Vor 10 Jahren war auch dieser Abhang noch berast. Dieser zweite Wall oder Rücken
läuft von dein südlichen steilen Abhang des Plateaus in nördlicher Richtung und
endet in eine in den See vorgeschobene Spitze. Die Plumpe und die Däberseen
sind ziemlich tief; von der gedachten Spitze aus läuft aber auch ein Rücken durch
das Wasser bis aus jenseitige Ufer, der etwa 40 Schritt Breite hat und über den
das Wasser beim niedrigsten Stande 2 bis 3 Fuss steht. Er ist auch mit Schilf und
Rohr bewachsen. Vor jenem zweiten Walle scheint auch noch ein Graben gewesen
zu sein, dessen Spuren namentlich auf der Höhe noch deutlich sichtbar sind. Vor-
dem Graben hat anscheinend das Wasser eine kleine Schlucht in deu südlichen Ab-
hang gerissen. Das durchschnittlich 300 Schritt lange, 110 Schritt breite Plateau,
etwa 60 bis 70 Fuss über dem Seespiegel, verflacht sich allmählich nach der Ost-
seite hin und fällt hinter dem Wall an der Nordwestseite etwas weniger steil ab wie
sonst. An der nordöstlichen Spitze nähert sich die Schanze den jenseitigen Höhen
auf etwa 20 Schritt, und wird von ihnen durch das sog. Kreuzfliess, das, von Münche-
berg kommend, durch den grossen Däbersee nach dem Stobberfliess geht, getrennt.
An dieser äussersten Spitze ist noch ein Hügel von circa 20 Schritt Durchmesser,
der von der Schanze durch einen noch deutlich sichtbaren Graben getrennt war. Die
vorerwähnte Spitze am zweiten Wall ist circa 150 Schritt vom jenseitigen Ufer ent-
fernt, ebenso die südöstliche Spitze. Auch das Land zwischen beiden Wällen fällt
nach Norden hin nur allmählich ab. Hier sind die Nachgrabungen gemacht, welche die
Funde ergeben haben. Schwarze Stellen im sonst gelblichen Boden lassen auf die
Reste des Alterthuins schliessen. Früher war jedenfalls die Schanze mit Wald be-
standen. Vor 15 Jahren standen noch am südlichen Rande sehr alte Kiefern, unter
deren Wurzeln ich schwarze Erde, Knochen, Scherben u. s. w. gefunden habe. Ein
Mühlstein ist ebenfalls hier gefunden. Von Pfahlbauten in den Seen bis jetzt keine
Spur. Sagen auch nicht vorhanden."
470
Der diesem Berichte beigefügte Situationsplan der Schanze ist nach filier Karten-
skizze des Herrn Kuchen buch angefertigt worden.
Mi! Hülfe einiger nrtsangehörigen Vrbeitsleute und theils mit den Händen der
Excursionstheiluehmer, rheils mit geognostisehen Instrumenten wurden nun an Ort
und stelle verschiedene Lager aufgedeckt, an denen viele schwarze, reichlich mit
Kohle geschwängerte Erde vorhanden war, und in welcher sieh interessante Fund-
stücke zeigten. Von dem ziemlich reichhaltigen Material an Thierknochen legte der
Berichterstatter einiges in der Gesellschaft vor. das übrige hatte derselbe noch im
anatomischen Museum zurückgelassen, um die Bestimmung fortzusetzen. Unter den
interessantesten ausgelegten Stücken zeigten sich Reste von z. TL in ihrer Kontinui-
tät erhaltenen, /.. Th. verletzten Knochen des Haushundes (ziemlich vollständiger
Schädel nehst dazu gehöriger Unterkieferhälfte, sowie ein Unterkiefer, zu dem nichts
weiter gefunden worden ist), eine Menge von Kiefer- Fragmenten, Zähne und Schulter-
blatt des Wildschweins und einige Stücke vom Schaf, Rind, von der Ziege. Stücke
von Extremitäten-Knochen des Rindes, Hirsches, ferner Wirbel von Hirsch, Rind und
Pferd. Unter den zugleich mit aufgedeckten Erzeugnissen menschlichen Kunstfleisses
befinden sich zwei sorgfältig gearbeitete Knochenpfrieme, eine F^isensichel und Topf-
seherben, letztere Rand-. Boden-, Seitenwand- und Deckelstücke. Einige dieser
Scherben sind mit netten Zeichnungen versehen, nett im Hinblick auf den niederen
Culturznstand, in welchem doch die Bevölkerung gelebt haben muss. Alle genann-
ten Scherben zeigen sich aus grobem Thon verfertigt; es sind viele kleine Fragmente
granitischen Gesteines darin eingeknetet, die namentlich auf der Bruchfläche sehr
deutlich zu sehen sind. Viele haben äussere und innere Brandspuren. Endlich ist
noch die Phalanx eines Säugethiers zu erwähnen, welche nach des Berichterstatters
Ansicht dem Bären zugehört. Auch vom Elen scheinen (unvollständige) Reste vor-
handen, indess muss deren Untersuchung erst noch genauer controlirt werden.
Die Stadt Müncheberg besitzt eine im dortigen Rathhause aufgestellte Sammlung
vaterländischer Alterthümer und geschichtlich merkwürdiger Gegenstände aus neuerer
Zeit, welche von den Mitgliedern der Excursion, wiederum unter gefälliger Führung
des Vorstandes des oben erwähnten Müncheberger Vereins, in Augenschein genommen
wurde. Einige hervorragende Stücke der Sammlung, z. B. eine Lanzenspitze mit
Runenzeichen, Gussformen von Sichelmessern, das Modell eines daselbst aufgedeckten
Packwerkes, angefertigt von Herrn Kuchenbuch, erregten das grösste Interesse.
Es verlohnt sich wahrlich der Mühe, die Herren in Müncheberg zu besuchen, wozu
sie denn auch wiederholt eingeladen haben.
Nach einem in Gemeinschaft mit den Vorstandsmitgliedern eingenommenen Mahle
begaben sich spät am Abend die Theilnehmer der Excursion in befriedigter und
heiterer Stimmung nach Berlin zurück.
Herr Virchow constatirt, dass die Beschaffenheit und namentlich die Ornamen-
tik des Topfgeschirrs ganz dem von ihm wiederholt erwähnten „Burgwalltypus" un-
serer Gegenden entspricht, und er trägt daher kein Bedenken, die Schanze des Dä-
ber-Sees chronologisch den wahrscheinlich slavischen Erdbefestigungen an die Seite
zu stellen. —
Herr Virchow berichtet
über alte Höhlenwohnungen auf der Bischofsinsel bei Königswalde.
Ich untersuchte vor Kurzem eine merkwürdige Stelle an der Ostgrenze der Neu-
mark, bei der es sich, nach meiner Vorstellung, um alte Höhlenwohnungen bandelt.
Nicht weit von Schwerin (Provinz Posen), ziemlich genau südlich von Landsberg an
471
der Warthe, im Lande Sternberg, liegt die kleine Stadt Königswalde in einer von
Natur ziemlich abgeschlossenen Gegend. Während nördlich von der Warthe unmittel-
bar die neumärkische Hochebene ansteigt, erstreck! sich auf dem Südufer des Flu e
das Warthebruch in grosser Breite. In demselben ist hier keine einzige ältere Strasse
von Landsberg aus erkennbar, Fs darf daher wohl angenommen werden, da
südlich vom Warthebruch gelegene Land in frühere] Zeil von Norden her wenig zu-
gänglich war. Noch jetzt führeu keine anderen Wege durch das Bruch, als schmale
Vicinalstrassen, die gewöhnlich unter rechtem Winkel von einem Hof» zum andern
abbiegen; sie stammen erst von der im vorigen Jahrhundert begonnenen Colonisation.
Jenseits des Bruches bebt ein sandiges, flaches Hügelland an, das weithin mit Wald
bedeckt ist. Erst aachdem man einen 400Ü Morgen grossen sterilen Kiefernwald
passirt hat, erreicht man Stadt und Schloss Königswalde, welche n-cht hübsch am
östlichen Ufer eines beträchtlichen Sees gelegen sind. In diesem See und zwar am
entgegengesetzten Ende desselben beiludet sieh die Bischofsinsel, von welcher hier
die Rede sein soll. Herr von Waldaw-Reitzenstein, der Besitzer des Schlosses,
des Sees und der Insel, hatte die Güte gehabt, mir in eingehender Wn'se von den
früheren Funden Mittheilung zu machen. Unter dem 20. April theilte er mir Fol-
gendes mit: „Auf der mir gehörigen 14 Morgen grossen Sandinsel (Generalstal Karte
Seite 171, Landsberg a. W., Bischofsinsel), welche sich über den Spiegel des Lübins-
Sees 30 Fuss erhebt, habe ich auf gelbem Sande eine graue Frdschicht „efunden,
welche dem Anscheine nach aus Sand, Asche und Kohle besteht. Diese Schicht be-
deckt den südöstlichen Abhang der Insel in einer Ausdehnung von .'> b • 4 \Iorgen
und wechselt in ihrer Mächtigkeit zwischen zwei bis sechs Fuss. Di' erst u Auf-
grabungen habe ich auf Veranlassung des Herrn Berg- Assessor von Duck' r vor-
genommen, welcher mir gesagt hat. dass er Ihnen Mittheilung davon -gemacl t habe
und Ihnen neben den Urnen -Scherben auch die Köpfe von zwei me schlichet Ske-
leten, welche wir in der grauen Frdschicht freigelegt hatten, vorge'egt habe.
Später habe ich die Ausgrabungen fortgesetzt und etwa .r>0 Quadratruthi n der
grauen Erdschicht bis auf den Sand umgraben lassen. Dabei habe ich etwa zwei
Scheffel Knochen verschiedener Grösse gefunden, von denen die Röhrenknoche i und
die stärkeren Kinnbacken sämmtlich aufgeschlagen sind; die Knochen rühren s igen-
scheinlich von grösseren und von kleineren Thieren her und 'inden sich unter den-
selben eine Elchschaufel, Stücke von Hirschgeweihen, von Rehgehörnen und Sch^eine-
zähne. Daneben finden sich ziemlich viele Steine, von denen viele augenscheinlich
dem Feuer ausgesetzt gewesen sind, so dass sie leicht zerfallen. Ferner ist die Erd-
schicht mit vielen Scherben von gebranntem Thon vermischt, von denen einige mit
rohen Verzierungen versehen sind. Dann habe ich kleine Anhäufungen von Fisch-
schuppen und Gräten, sowie von zwei verschiedenen Samenarten gefunden.
Von Werkzeugen habe ich gefunden:
1. Einen Mühlstein aus Granit.
2. Feuersteinwerkzeuge.
3. Einen als Pfriemen zugespitzten und einen durchbohrten Knochen.
4. Einen Röhrenknochen, welcher anscheinend als Schlittschuh benutzt worden ist.
5. Stücke von Geweihen, an denen geschnitten ist.
fi. Kleine Spindeln aus gebranntem Thon.
7. Stücke von gebranntem Thon, welche wie die Eckkacheln von eii em Ofen
geformt sind. Dieselben sind auf der inneren Seite glatt, auf der äusseren rauh, so
dass es den Anschein hat, als ob eine Höhle mit Strauch ausgesetzt gewei u wäre,
um den Sand festzuhalten, und als ob der Thon von innen gegen denselben angetra-
gen gewesen wäre.
472
8. Ein kleiner Schleifstein, 3" lang, ' ... " breit. ',.," stark,* offenbar für Knochen
und Hörn.
Metall i»t ausser einigen ganz, kleinen Stückchen Eisen und einem Messer mit
Knoclieuscliale, welche wohl später dorthin gekommen sein mögen, nicht gefunden."
Hr. v. WaUlaw lud mich ein, eie Sache anzusehen, und da ich allerdings schon
im Jahre 1868 von Herrn von Docker ausser einer Mittheilung über die ersten
Aufgrabungen zwei menschliche Schädel erhalten hatte nebst der Angabe, dass
menschliche Skelete dort zu haben seien, so entschloss ich mich sehr leicht, die
Reise zu unternehmen.
fn Beziehung auf die von Herrn von Duck er mir übergebenen Schädel will
ich bemerken, dass dieselben entschieden doliehocephal sind. Sie haben einen Breiten-
Index von 71,9 und 72,5 bei einem Höhen- Index von G(.),5 und 78,1. Ich werde
vielleicht bei einer anderen Gelegenheit mir erlauben, dieselben vorzulegen. Jeden-
falls haben sie nichts an sich, was nach der herrschenden Meinung an Slavenschädel
erinnert.
Ausserdem hat es vielleicht Interesse zu erwähnen, dass früher wiederholt in
dieser Gegend alterthümliche Funde gemacht worden sind. So sind namentlich eine.
Silbermünze des Trajanus Decius und in einem Sandhügel 1855 silberne Schmuck-
sachen gefunden*).
Als ich nun in Königswalde ankam, so ergab sich allerdings, dass Herr v. Wal-
daw eine sehr beträchtliche Masse von Knochen aufgehäuft hatte, und ich muss nach
ihrer Durchsicht im Wesentlichen bestätigen, was er angegeben hat. Insbesondere
zeigte die Mehrzahl derselben denselben zerschlagenen Zustand, welcher uns in un-
seren alten Ansiedelungen so häufig begeguet und von dem sich nicht bezweifeln
lässt, dass er absichtlich zur Erlangung des in den Knochen enthaltenen Markes her-
beigeführt worden ist. Die von Herrn von Waldaw angegebeneu Thierarten sind
richtig. Ich habe nur noch hinzuzufügen, dass ein grosser Bärenkiefer darunter war.
Elenknochen zeigten sich in ungewöhnlicher Zahl und Grösse, insbesondere einige
Kieferstücke gehören zu den kräftigsten, welche aus dieser Zeit vorhanden sein mögen.
Ebenso waren Kieferstücke vom Wildschwein in besonderer Stärke vorhanden. Es
fand sich ferner eine sehr beträchtliche Quantität von Knochen einer gezähmten
Schweinerace, die in den wesentlichen Stücken mit dem Torfschwein übereinstimmt;
eine grosse Masse von Schaf- und Rindsknochen , Weniges von der Ziege , eine ver-
hältnissmässig nicht grosse Menge vom Hirsch und Reh, ■vereinzelte Knochen vom
Fuchs, ein halber, jedoch auffallend kleiner Unterkiefer von einer Katze, mehrere
Schädelstücke von Hypodaeus amphibius (der Wasser-Mühlmaus) von ungewöhnlicher
Grösse, sodann eine nicht unbeträchtliche Zahl von Vögelknochen, unter denen die
Gans, die Ente und das Huhn vertreten sind, endlich grosse Quantitäten Fischüber-
reste, sowohl Schuppen, als Kopf- und Wirbelknochen, Gräten u. s. w., wie sie Herr
von Walcia w schon gesammelt hatte und wie ich nachher durch eigene Ausgrabung
selbst in der Lage gewesen bin zu constatiren. Was die in dem Schreiben des Hrn.
von Waldaw erwähnten beiden Arten von Samen betrifft, so habe ich Specimina
davon mitgebracht, welche Herr Braun die Güte gehabt hat, näher zu bestimmen.
Nach seiner Angabe ist der eine Hirse, welche ganz genau in Grösse und Form mit
dem jetzt eultivirten Panicum miliaceum (Rispenhirse) übereinstimmt, deren Vorkom-
men von Heer auch in den Schweizer Pfahlbauten angegeben wird; der andere Buch-
weizen oder Heidekorn (Polygonum Fagopyrum), jedoch die Früchtchen viel kleiner,
*) J. Friedländer, Märkische Forschungen. Bd. VII. S. 108.
473
als bei dein jetzt cultivirten. In den Schweizer Pfahlbauten ist nach Heer Buch-
weizen nicht gefunden worden.
ich bin nicht in der Lage, eine grossere Zahl von bearbeiteten Sachen vorzu-
legen, da Hon von Waldaw dieselben zu behalten wünschte und ich es wenigstens
für jetzt nicht für nothwendig gehalten habe, dieselben zu erbitten. Er würde sie
aber gern zur Ansicht vorlegen. Ich habe nur Kleinigkeiten, namentlich Geweih-
stücke vom Elch, Hirsch und Heb, sowie verschiedene Knochen des Stammes und der
Extremitäten, welche deutliche Spuren kunstinässiger Schnitt.' zeigen. Ein paar eiserne
Messer, welche ich seihst auf der ln>el gefunden habe, sind von geringerer Bedeutung,
da sie mehr oberflächlich lagen und Zweifel darüber bestehen können, ob sie nicht
erst später daliin gelangt sind. Im Grossen und Ganzen stimmen sowohl die Kunst-
produkte als die Thierknochen mit dem überein, was sonst in unseren Burgwällen
und Pfahlbauten vorkommt. Nur der Bär ist bisher nirgends unter den von der
alten Bevölkerung verwerteten Thieren erkannt worden; sollte sich jedoch der vor-
her vom Däber-See vorgelegte Zehenknochen, den Herr Hartmann als wahr-
scheinlich vom Bären abstammend angegeben hat, als solcher bestätigen, so würde
auch hier eine Analogie festgestellt sein. Dagegen ist es für unsere Gegenden voll-
kommen neu, dass so grosse (Quantitäten von Körnern aufgefunden sind. Hinwiederum
ist das Vorkommen von Fischüberresten, namentlich von Schuppen, nichts Neues
da ich ganz Aehnliches früher in dem Wallberge bei Garz (Camin) nachgewiesen
habe. Auf der Bischofsinsel sind Fischschuppen in grossen Mengen so häufig, dass
ich in kurzer Zeit eine ganze Schachtel voll davon ausgegraben habe.
In Beziehung auf das Alter der Königswalder Ansiedhing sind meiner Meinung
nach wieder die Topfgeschirre entscheidend, von denen sehr grosse Quantitäten mit
Leichtigkeit gewonnen worden sind. Das Material, aus dem sie gearbeitet sind, un-
terscheidet sich in Nichts von den gewöhnlichen groben Thongeräthen unserer Vor-
zeit. Es ist ein schwärzlich grauer, mit Quarz- und Glimmerstiicken gemengter
Thon, der hie und da aussen, auch wohl innen durch Brand geröthet ist Durchweg
sind die Geräthe sehr dickwandig und ohne Glätte. Aber nicht wenige von ihnen
zeigen einen höheren Grad von Kunstsinn an und bieten überaus maunichfaltige
Formen dar. Die Ornamentik daran stimmt in vielen Stücken überein mit demjeni-
gen, was ich früher wiederholt aus unseren Pfahl- und Wall- Ansiedelungen erwähnt
habe und was eben erst wieder aus der Schanze am Däber-See vorgelegt worden ist.
Von speciellem Interesse. ist namentlich ein Fund, der lebhaft erinnert an das, was
ich in einer früheren Sitzung von den Pfahlbauten im Soldiner und Daber-See an-
geführt habe. Es findet sich nämlich eine gewisse Zahl von Bodenstücken, welche
besondere Zeichen haben, gewöhnlich allerdings nur einen einfachen runden Eindruck;
ein Topfstück aber besitzt an seiner unteren Fläche eine Art von Stempel mit erha-
benen Linien. Es ist ein zierliches Kreuz, dessen Winkel durch Linien mit gekrümm-
ten Enden durchsetzt sind. Wenn ich nicht ganz irre, so findet sich im hiesigen
Museum ein ähnlicher Abdruck von Königsberg i. N. Sodann ist noch das Bruch-
474
stück eines Topfdeckels da, dessen Ausstattung weit über dasjenige hinausgeht, was
wii sonst aus unseren alten Ansiedelungen der Art keunen. Derselbe besitzt einen
grossen platten Knopf, der auf einem dicken, konischeu Süel sitzt: er ist auf seiner
oberen Fläche mit regelmässigen, in zwei Ringen angeordneten, durch Kindrücke
scharfei Gegenstände hervorgebrachten Verzierungen besetzt. Aehuliche Formen sind
auch sonst wohl bekannt, aber sie setzen doch einen höheren Grad künstlerischer
Ausbildung voraus, als er an der Mehrzahl unserer Gräber- und Burgwall-Uruen zu
erkennen ist.
Indem ich mich nun zu einer Beschreibung der Lage und Beschaffenheit des be-
treffenden Terrains wende, sage ich zuerst einige Worte über die Bischofsinsel selbst.
Diese, wie erwähnt, etwa II Morgen gross, hat eine rundliche Gestalt und bildet
einen niedrigen, etwas schiefen Kegel, dessen Spitze einige 3U Fuss hoch ist uud
dem nördlichen Bande näher liegt. Hier fällt daher das Ufer etwas steiler ab, wäh-
rend es sich Dffmentlich nach Süden zu iu einer längeren Abdachung allmählich ver-
flacht. Dem entsprechend ist auch der umgebende See nach Norden hin sehr tief
und das nächste Ufer entfernt, während nach Süden hin das Ufer nur durch eine
zum grossen Theile seichte und schmale Fuhrt getrennt ist. Jenseits dieser Fuhrt
steigt eine sandige Fläche ziemlich schnell zu einem massigen Landrücken empor.
Sowohl in der Fuhrt, als an dem nördlichen Ufer der Insel sind unter dem Wasser-
spiegel einzelne Pfähle ergründet, jedoch so vereinzelt, dass an wirkliche Pfahlbauten
bis jetzt nicht zu denken ist.
Trotz wiederholter Grabungen an den verschiedensten Stellen der Insel fanden wir
nirgends weiter Spuren älterer Thätigkeit des Menschen, als auf der flacheren südlichen
und südöstlichen Abdachung, übrigens der einzigen, nicht mit Gesträuch bestandenen
Gegend der Insel. Die alte „Culturschicht" machte sich hier leicht kenntlich durch
die sehr lockere, schwärzlich graue Erde, in welcher schon oberflächlich Topfscherben
in grösserer Menge bemerklich waren. Sie beginnt etwas unterhalb der Spitze, setzt
sich dann aber Ins nahe an das Ufer hin fort. Diese ganze Fläche ist äusserlich
eben und nur gegen die schmälste Stelle der Fuhrt hin lag eine grössere Anhäufung
von mächtigen Geröllsteinen, welche den Eindruck eines Hünengrabes machte, deren
Aufschliessung uns aber keinerlei wichtigeie Ergebnisse lieferte. Einzelne Scherben
und Knocheustücke in der kohligen Erde bildeten hier unseren ganzen Erwerb.
Durch meine weiteren Ausgrabungen wurde nun zunächst festgestellt, dass die
Skelete, von denen unter meiner Leitung noch weitere vier ausgegraben wurden,
sich nur auf einer beschränkten Stelle der Culturschicht, mehr gegen die erwähnte
Fuhrt hin, jedoch höher als die Steinsetzung, vorfanden, und dass sie unzweifelhaft
einer anderen Periode angehören, als die ganze übrige Masse der Funde. Man konnte
nehmlich erstlich bei einem Skelet noch Holzfragmente unterscheiden, Ueberreste eines
Sarges, in den offenbar die Leiche hineingelegt worden war. Sodann zeigte sich,
dass die Erde über und unter den Skeleten zerstreut dieselben Gegenstände, nament-
lich Bruchstücke von Thierknochen und Topfgeschirr-Trümmer enthielt, die an den
anderen Stellen in besonderer, noch zu beschreibender Weise gefunden wurden. Es
war also unzweifelhaft, dass die Leichen in eine Erde gelegt worden sind, welche
schon so beschaffen war, wie an den übrigen Stellen, woraus wiederum folgt, dass
sie einer ungleich späteren Zeit zugerechnet werden müssen. Es ist jedoch vorläufig
nicht zu sagen, Welcher Zeit sie angehören.
Bei den Skeleten ist Nichts gefunden worden, welches irgend einen Anhalts-
punkt darbietet, und es ist daher wohl möglich, dass die -Leichen erst in neuerer
Zeit begraben worden sind. Dafür spricht namentlich der Umstand, dass sie durch-
weg sehr oberflächlich, zum Theil wenig über Fuss tief lagen, und dass äusserlich
475
keinerlei Zeichen, wie Bodenerhöhungen, Steinkränze u. dergl. auf ihre Anwesenheil
hindeuteten. Ich erwähne ausserdem noch, dass die Leichen sämmtlich in horizon-
tale! Lage, den Kopf nach Westen, die Füsse nach Osten gerichtet, in Reihen hintei
einander hestattet waren, und dass' die \fehrzahl der Knochen vorzüglich erhalten
war: nur die tiefer gelegenen Theile, namentlich die Wirbel und die hinteren Ab-
schnitte der Hecken, waren stellenweise gänzlich zerfallen. I»i<- meisten diesei Kno-
chen hatten eine gelblichbraune Farbe und unterschieden sich dadurch erheblich von
dem einzigen, in grösserer Tiefe ausgegrabenen Deberrest eine- menschlichen Kno-
chens, nämlich einem vorderen Bruchstück von der rechten Hälfte eines ehi hohen
und starken Unterkiefer mit sehr tief abgeschliffenen, so nst jedoch vorzüglich erhal-
tenen Zähnen. Die Bruchflächen dieses Stückes waren ganz alt. jedoch keineswegs
scharf, und ich möchte daher ans seiner Existenz keine Schlüsse auf anthropophage
Neigungen der alten Bewohner machen.
Das eigentliche [nteresse des Ortes knü[ifte sich daher vorläufig nicht so sehr
au die menschlichen Reste, sondern vielmehr an das vorher in seiner Lage geschil-
derte alte Kulturland, von dem ich annehmen zu dürfen glaube, das» darauf oder
darin eine gewisse Zahl -von Erdwohnungen existirt haben muss. Denn obwohl
hei der ersten Grabung der Anschein entstand, als sei'der ganze Boden Ins zu einei
Tiefe von 4 — ti Fuss mit Trümmern menschlicher Cultur durchsetzt, so ergab sich
bei genauerer Aufmerksamkeit doch bald, dass die Zusammensetzung des Bodens eine
in kurzen Zwischenräumen sehr wechselnde sei. Insbesondere liess sich erkennen,
dass gewisse Vertiefungen in bestimmten Entfernungen von einander existirt haben
müssen, die später durch Nachstürzen von oben und zum Theil von den Seiteu her
ausgefüllt worden sind. Der natürliche, aus gelbem Sande bestehende Boden lässt
sich leicht unterscheiden. Er war jedoch von Stelle zu Stelle unterbrochen durch
grössere, keilförmig in die Tiefe gehende Massen von schwärzlicher Erde, welche 5 —
6 Fuss unter der Oberfläche grosse, zum Theil haufenweise liegende Stücke von Holz-
kohle. Asche, zerschlagene und gebrannte Heerdsteine umschloss. Innerhalb diesei
Trichter fanden sich die verschiedenen Gegenstände, namentlich der Küche, in gros
ser Menge, während der Sand daneben frei davon war. Es fanden sich ferner ganz
im Grunde der Trichter noch einzelne mehr zusammenhaltende Töpfe und Topfreste,
und in dem einen derselben eine so grosse Masse blätterig auf einander geschichte-
ter, ganz reiner Fischschuppen, dass sie beinahe zwei Hände hätten füllen können.
Wahrscheinlich hat sich die alte Ansiedelung auf die andere Seite der Fuhrt er-
streckt. Wenigstens fanden wir auch an dem gegenüber liegenden Abhänge zerstreute
Kohlenheerde, verzierte Topfscherben, zerschlagene Thierknochen und einzelne, jedoch
sehr unreine Eisenschlacken. Wir waren jedoch hier in unseren Untersuchungen be-
hindert, da das betreffende Ufergebiet einem anderen Besitzer gehörte, dessen Er-
laubniss wir nicht einholen konnten. Immerhin lässt sich kaum bezweifeln, dass der
gewöhnliche Zugang zu der Insel über die Fuhrt herüber stattfand und dass der
Stamm, welcher die Insel bewohnte, wenigstens ie rnhigen Zeiten auch auf dem Fest-
lande Ansiedelungen besass. Möglicherweise diente die kleine Insel mehr als eine
letzte Zufluchtsstätte.
Jedenfalls handelt es sich auf der Insel nicht wesentlich um einen Begräbniss-
platz, sondern wesentlich um eine Ansicdlung. auf deren Boden ein späteres Geschlecht
Todte bestattet hat. Die Natur der Ansiedelungen trat besonders klar hervor, als
ich einen längeren, dem Uferrande parallelen Querschnitt von etwa 6 Fuss Tiefe und
3 — 4 Fuss Breite ausgraben Hess. Mit grosser Regelmässigkeit wiederholten sich hier
die schwarzen Trichter in der gelben Sandschicht. Erwägt man nun. dass gerade
die Trichter die wichtigsten und reichsten Fundstücke enthalten und zwar gegen die
476
Tiefe hin die am vollständigsten erhaltenen, so wird man sieh der Vorstellung nicht
entziehen können, dass diese Gruben nicht bloss Keller unter den Wohnungen, son-
dern selbst bewohnt waren, wenigstens die. Küche mit enthielten.
Eine solche Art der Existenz bei alteuropäischen Stämmen ist an verschiedenen
Orten nachgewiesen worden. Ich erinnere erstlich daran, dass in der Nahe des Zü-
richer Sees durch Hrn. Escher von Berg am [rchel schon 1851 und 18H2 tieflie-
gende Erdwohnungen constatirt worden sind, in welchen ähnliche Sachen sieh fanden,
wie in den benachbarten Pfahlbauten. Sodann hat Hr. Lisch sich wiederholt mit
dem Gegenstände beschäftigt und an verschiedenen Stelleu Mecklenburgs Höhlen-
Wohnungen, namentlich bei Dreviskirchen und Roggow in der Nähe von Neu-Bukow,
sowie auf dem Wehrkamp bei Pölitz nachgewiesen, und es ist für unsere Verhält-
nisse von besonderem Interesse, dass dieser erfahrene Korscher, während er die er-
steren Ansiedelungen der Steinzeit zurechnet, die bei Pölitz der letzten Heidenzeit
zuzählt und sie mit den Burgwällen in dieselbe Periode setzt. Endlich hat vor zwei
Jahren Hr. Friederich eine Lokalität in der Nähe von Wernigerode am Harz be-
schrieben, wo auf zwei Stellen: am Kölderbrink und am Stukenberge (Krebswarte)
ähnliche Verhältnisse angetroffen worden sind, und es ist namentlich wichtig zu er-
wähnen, dass hier von eiuer ganz übereinstimmenden Art von Ofen-Einrichtung, wie
sie Hr. v. Waldaw beschreibt, vortreffliche Stücke aufgefunden sind, nämlich Steine
aus rothgebranntem Thon mit hohlen Röhren und Rinnen, die offenbar bestimmt wa-
ren, Rauch in die Höhe zu leiten. Hr. Friederich beruft sich auf die schon von
Tacitus, Germania cap, 17, gemachte Angabe, wonach die Germanen unterirdische
Höhlen als Zuflucht im Winter und als Aufbewahrungsort für Früchte benutzten.
Fndess folgt aus dieser Angabe nicht, dass auch unsere Erdwohnungen durch alte
Germanen angelegt sind, denn eine derartige Sitte ist zu natürlich, um sich nicht
unter ganz verschiedeneu Verhältnissen zu wiederholen.
Selbst aus unserer Nähe kann ich noch eine andere, in vieler Beziehung ähnliche
Lokalität erwähnen, über welche ich mir vorbehalte, später einmal genauer zu be-
richten. Es ist eine ebenfalls von Hrn. v. Dücker*) früher besuchte und beschrie-
bene, von ihm der Steinzeit zugerechnete Ansiedluug bei Potzlow in der Uckermark,
welche nach meinen Untersuchungen verhältnissmässig jung ist und gleichfalls der
Burgwall-Periode augehört. Eine dritte Lokalität, die wahrscheinlich eine ähnliche
Bedeutung hat, ist der Wallberg bei Garz in der Nähe von Camin in Pommern. Ich
zweifle nach diesen Erfahrungen nicht daran, dass Verhältnisse, wie sie sich in Meck-
lenburg an verschiedenen Orten gezeigt haben, sich in grösserer Zahl auch bei uns
finden werden. Nur muss ich in Beziehung auf die Zeit dieser Erd- Ansiedelungen
von der Mehrzahl der früheren Auffassungen abweichen, insofern meiner Meinung nach
kein Zweifel darüber bestehen kann, dass die Anlage unserer Höhlenwohnungen nicht
weit zurückliegen kann von der Zeit, wo die Burgwälle, Schanzen und Pfahlbauten
unserer Gegenden im Gebrauch gewesen sind.
Herr v. Ledebur: An dem einen Topfscherben ist interessant das auf der untern
Seite befindliche Töpferzeichen, zwei über ein Kreuz gelegte Stäbe. Dies ist das
Wappen der Bischöfe von Lebus. Freilich sieht man noch mehr als bloss zwei
Krummstäbe; sie sind nach zwei Seiten gedreht, so dass, wie man das Stück auch
drehen mag, immer dasselbe Kreuz vorhanden ist. Ich erinnere mich keines anderen
•) Baron P. F. von Dücker, Vorgeschichtliche Spuren des Menschen am Wege nach
Rügen und auf der Insel Rügen selbst. Berlin 1868.
477
ßischofswappens, auf welchem sich zwei Kreuzstäbe befinden. Darnach möchten diese
Ueberreste der historischen Zeit angehören.
Herr Ascherson: Ich will mir eine Bemerkung erlauben, die vielleicht zu einer
ähnlichen Con Sequenz führen wird. Das Vorkommen des Buchweizens ist ausser-
ordentlich merkwürdig, und es würde dieser Fund, falls sich aus anderen Indicien
ein hohes Alter des Platzes herausstellen sollte, für die Geschichte dieser Pflanze
von grosser Wichtigkeit sein. Andernfalls würde er ein verhältnissmässig junges Al-
ter der Ansiedelung beweisen; denn Buchweizen ist eine Culturpflanze welche erst
in verhältnissmässig neuer Zeit nach Europa gelangt ist, wofür schon der Umstand
spricht, dass sie einen deutschen Namen trägt. Der lateinische Name (Fagopyrum)
ist bloss eine Uebersetzung des Deutschen. Es lässt sich durch historische Nach-
richten feststellen, dass der Buchweizen erst im Mittelalter in Europa eingeführt wor-
den ist; insbesondere hat der auf dem archii fischen Gebiete so bekannte Hr. Lisch
nachgewiesen, dass der Buchweizen in Mecklenburg nicht über das 15. Jahrhundert
hinausreicht. Es würde dies also wahrscheinlich machen, mit andern Umständen zu-
sammengerechnet, dass dieser Fund einer verhältnissmässig späten Zeit des Mittel-
alters angehört.
Herr Alex. Braun: Diese Körner haben zwar vollkommen die Form des Buch-
weizens, sind aber doch bedeutend kleiner. Es wäre also denkbar, dass eine andere
Polygonuni-Art in früherer Zeit ähnlich benutzt worden wäre. Ich habe die Körner
mit denen von Polygonum Convolvulus verglichen, dem sie sehr analog sind, aber
mit dem sie doch nicht ganz übereinstimmen. Im Vortrage des Hrn. Vorsitzenden
ist mir noch etwas aufgefallen, n;imlich die Erwähnung der Hühnerknochen. Die
Hühner gehören in Europa ebenfalls einer sehr" späten Zeit an, es müssten denn wilde
Hühner oder Auerhühner sein. Indess wäre es denkbar, dass sich auch unter den
übrigen Dingen Einiges findet, das einer neueren Zeit angehört.
Herr Virchow: Was die Samen betrifft, so bin ich nicht in der Lage, aus eige-
ner Anschauung zu constatiren, an welcher Stelle si^ sich befunden haben. Für die
Fischschuppen kaun ich stehen, da ich sie mit eigener Hand mit dem thönernen
Topfe, in dem sie enthalten waren, aus einer Tiefe von 5 Fuss genommen habe;
ebenso für die Vögelknochen. Ich habe nicht verglichen, welche Hühner darunter
begriffen sind; jedenfalls ist es nicht das Rebhuhn. Soviel ich jedoch sehe, stimmen
die Knochen am meisten mit denen des Haushuhns überein. Es ist mir aber von
letzterem nicht bekannt, dass seine Einführung in Europa eine so späte sei; die
Nachrichten der griechischen und römischen Schriftsteller können für Norddeutsch-
land nichts entscheiden. Ich muss einen besonderen Werth auf das legen , was ich
selbst constatirt habe. Darnach bin ich der Meinung, dass man mit grosser Evidenz
schliessen kann, dass es sich um Erd- oder Höhlenwohnungen aus vorhistorischer
Zeit handelt. Durchmustert man die Gesammtheit der Fundgegenstände, so wird sich
Jeder leicht überzeugen, dass unter den erweislich späteren Ueberresten iu unseren Ge-
genden nichts ist, was dem hier Vorliegenden parallel gestellt werden kann. Der
eine oder andere Scherben mag aus einer höheren Erdschicht aufgehoben und erst
nachträglich hinzugekommen sein, wie die Leichen, von denen ich berichtet habe.
An der Oberfläche habe ich hie und da, wie an so vielen später beackerten und ge-
düngten Orten, selbst glasirte Topfscherben gesehen. Ich will also nicht für jedes
einzelne Stück stehen, aber der Gesammt-Charakter des Fundes ist so, wie ich ihn
beschrieben habe.
478
Herr Meitzen: Ich wollte unsern Hrn. Vorsitzenden bitten, ob er uns nicht eine
genauere Beschreibung des Charakters der Wohnungen geben könnte. Ich habe nehm-
lich die von Hrn. Fried er ich bei Wernigerode aufgedeckten „Höhleuwohnungen"
gesehen, und bin zu der Ueberzeugung gekommen, dass man auf diese Dinge den
Namen von Wohnungen nur sehr uneigentlich anwenden kann. Es sind offenbar
Heerde, die auch ein wandernder Stamm, selbst ein Heer zum Kriegslager errichtet
haben könnte. Dieselben befinden sich keineswegs in einer besonderen Tiefe, sondern
es ist da eine flache Anhöhe, die auf der einen Seite vielleicht 5 Fuss abgestochen
ist. In dieser Wand sind grosse Feldsteine zusammengelegt, so dass sie einen Heerd
bilden; über sie ist augenscheinlich eine Lehmscbicht gestrichen worden. Nun steht
fast regelmässig an jeder Seite je ein Ziegel, welcher konisch zugeht, wie ein Obe-
lisk, und man sieht, dass er mit einer gewissen Absicht der Verzierung verfertigt
ist: es sind mit den Fingern vier Riefen daran gemacht worden. Ausserdem ist an
ihm ein Loch vorhanden, welches zum Hiudurchstecken eines Hratspiesses sehr wohl
geeignet ist. Dabei fanden sich Urnen in erheblicher Masse, Feuersteine, es fanden
sich auch Knochen, aber man kann doch nicht schlechthin behaupten, dass zwischen
allen diesen Dingen eine Beziehung existirt und dass dies auf eine Bewohnung in
alter Zeit schliessen lasse. Ich kann es mir nicht anders vorstellen , als dass man
über eine Grube ein Holz- oder Strohdach gelegt hat, und dass, wenn es überhaupt
Wohnungen gewesen sind, sie in der Art benutzt wurden, wie heute noch die Klein-
Russen wohnen. Denken lässt es sich allerdings, dass man sie mit einem Dache von
Holz oder Stroh, wie eine Veranda, bedeckt und so bewohnt hat; ich vermochte mich
aber nicht davon zu überzeugen, dass sie zu einem dauernden Aufenthalte gedient
haben. Ich kann mir wohl denken, dass auf einer Insel, die als Refugium dienen
sollte, solche Anlagen gemacht wurden, die wie ein Lager mit Koch- Vorrichtungen
versehen waren; ob es aber nothwendig Höhlen zum Wohnen waren, darüber würde
ich Hrn. Virchow bitten, noch genauere Mittheilungen zu machen.
Herr Virchow : Der Abhang der Insel, welche übrigens erst in neuerer Zeit den
Namen der Bischofsinsel erhalten zu haben scheint *), geht ziemlich glatt bis zum
Wasserspiegel herunter. Auf der anderen Seite der Fuhrt steigt das Terrain ziemlich
schnell bis zu einer beträchtlichen Erhebung. Die Culturzone reicht auf der Insel
bis nahe an die Spitze; ebenso zeigen sich auf dem Lande in einiger Höhe ebenfalls
einzelne Fundstellen. Die Skelete lagen, wie erwähnt, weiter abwärts an dem Ab-
hänge, durchschnittlich 1'/«— 2 Fuss unter der Oberfläche. Die Schicht, welche die
Oberfläche der Culturzone bildet, ist im Ganzen schwärzlich und mit feiner Kohle
durchmengt; darüber sitzt eine beträchtliche Grasnarbe, stellenweise mit Gesträuch
bestanden. Wenn man nun eingräbt und die schwärzliche Schicht durchstösst, so
kommt man au gewissen Stellen auf gelben Sand, an andern auf schwarze und immer
schwärzer werdende Schichten, in welchen sich Kohlenlagen befinden. Diese Schich-
ten füllen gewisse Vertiefungen, die sich nach unten verjüngen, nach oben breiter
sind und die in gewissen Abständen von einander stehen. In der Tiefe, in den unter-
sten Abschnitten dieser umgekehrten Schuttkegel liegen hauptsächlich grosse, zuweilen
beerdweise zusammengehäufte Kohlenmassen, gebrannte Feldsteine, Topfreste mit Fiseh-
Bchuppen, zerschlagene Knochen, bearbeitete Gegenstände u. dergl. Allerdings sieht man
stellenweise, dass das Ganze einmal zusammengestürzt ist und dass sich von den Rän-
dern her Erdmassen abgelöst haben und in die Vertiefungen nachgesunken sind, aber an
*) Hr. v. Waldaw theilte mir mit, dass einer seiner Vorfahren Bischof von Lebus gewesen
sei, dass aber erst in dem gegenwärtigen Jahrhundert der Name der Bischofeinsel auftrete.
479
anderen Stellen stösst man auf zusammenhängende Massen schwarzer Erde, die bis 5
Fuss in die Tiefe reichen. Was sollten die Leute mit der Kohle, mit den Topfen, den
Knochen vorgehabt haben , wenn sie sich tiefe Löcher in die Erde gruben und diese
Gegenstände in dieselben hineinbrachten? Es ist doch nur denkbar, dass sie wirklich
in den Gruben gekocht haben. Fasst man die grosse Zahl dieser Löcher ins Auge.
die Regelmässigkeit ihrer Anordnung — denn in einer Entfernung von 3 — 4 Fuss
kommt man immer wieder an eine neue Stelle — so ist keine andere Deutung zu-
lässig, ich denke mir allerdings, dass über den Gruben etwas Dachartiges gewesen
ist, sei es ein grösserer oder kleinerer Aufbau, aber sicher muss man doch annehmen,
dass diese Höhlen nicht bloss zum Kochen da waren. Dazu hätte man sie nicht so
tief auszugraben gebraucht. Ebensowenig lässt sich vermuthen, es seien Keller ge-
wesen, denn in Kellern der Art pflegt man nicht zu kochen. Auch wäre es dann
wohl wahrscheinlich, dass man einen grösseren Theil der Gegenstände in der Höhe
finden würde, während er jetzt eben in den Löchern liegt. Für die künstliche Her-
stellung der Gruben oder Höhlen spricht aber bestimmt, dass unmittelbar neben
ihnen der reine gelbe Sand ansteht. Allerdings macht der sehr geringe Umfang der
Höhlen es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie zu dauernder Bewohnuug angelegt ge-
wesen sind, aber auch die Wohnungen vieler gegenwärtigen Naturvölker sind nur
kleine Löcher, die uns mit unseren modernen Ansprüchen nicht sehr behaglich er-
scheinen würden.
Herr Meitzen: Die Königswalder Höhlen unterscheiden sich von denen in Wer-
nigerode allerdings dadurch, dass die Gruben tief hineingehen. Die Leute lagen
demnach in tiefen (hüben, in welchen sie vor Wind geschützt waren. Bei denen in
Wernigerode aber ist auf der einen Seite freies Feld gewesen.
Herr Jagor: In Granada und zwar im Albaicin, einem Berge westlich von der
Stadt jenseits des Darro, wohnen die Zigeuner noch heute in solchen Höhlen, und
in Gran Ganaria giebt es ebenfalls solche Höhlen, die z. Th. hübsch möblirt sind,
und die vielleicht 2 — 3000 Fuss hoch über dem Meere liegen. Die Höhlen sind
vorn offen; manche haben noch ein Vestibulum, sind mit Spiegeln ausgerüstet u. s. w.
Solche Höhlen werden für 3 — 4 Dollars verkauft und für '/, Dollar jährlich vermiethet.
Ich habe sie im obern Theil der Schlucht gesehen, die bei der Hauptstadt Las Pal-
mas in's Meer mündet. L. v. Buch sagt in seiner Beschreibung von Gran Ganaria
(Descriptiou physique des iles Canaries. Paris 1836. S. 21): . . . . le village d'Arte-
nara: (c')est Tendroit le plus eleve de l'ile, il se trouve ä 3694 pieds au-dessus de
la mer .... Mais ce village est invisible; on se trouve au milieu sans qu'on puisse
s'en appercevoir, et l'eglise sur la hauteur est le seul objet, qui puisse annoncer, que
ce Heu est habite; c'est que toutes les maisons, meine celle du eure, sont excaves
dans le roc, on n'en voit que la porte, et encore souvent avec peine." Im Regen-
stein, am Harz, sollen auch permanent benutzte Höhlenwohnungen vorhanden sein.
Herr Koner: In Bezug auf den Stempel, den Hr. v. Ledebur besprochen hat,
will ich bemerken, dass man in neuerer Zeit auf die Stempel römischer und grie-
chischer Topfgeschirre grosse Aufmerksamkeit verwandt hat. Mau ist dadurch zu
ganz interessanten Resultaten gekommen in Bezug auf den Ort der Fabrikation. Ich
bin in den vaterländischen Alterthümern zu wenig zu Hause; da aber auch unsere
Gefässe solche Stempel tragen, so wäre es interessant, eine Zusammenstellung der
letzteren zu machen. Es würde sich dann vielleicht ergeben, dass gewisse Gegen-
stände aus bestimmten Gegendeu stammen. Da wir von vielen im Museum be-
480
findlichen Gegenständen nicht wissen, woher sie stammen, so wäre es lohnend, diese
Zeichen einmal zusammenzustellen.
Herr v. Ledebur: Bis jetzt ist die Aufmerksamkeit nur auf die Zeichen auf den
Böden der Gefässe gerichtet gewesen, welche wohl meist eingeritzt wurden, als die
Gefässe schon fertig waren. Hier ist das Zeichen aber erhaben, was den Gebrauch
eines vertieften Stempels voraussetzt; das Einritzen kann mit einem Spahu gesche-
hen. Daher trägt dieser Topfboden den Charakter einer späteren Zeit. Wenn auch
der Thon selbst das Material der alten Töpfe zeigt, so macht doch der Stempel durch
seine Reliefuatur die Sache sehr auffallend und erregt den Verdacht, dass diese Gegen-
stände einer späteren Zeit angehören. Ich weiss kein Beispiel aus der Zeit der heid-
nischen Alterthümer, wo Derartiges wahrgenommen ist.
Herr Virchow: Ich hatte schon bei Gelegenheit meines Vortrages über die Pfahl-
bauten (in der Sitzung vom ll.Decbr. v. J.) erwähnt, dass ich an den Böden der
Töpfe aus den pommerschen und neumärkischen Pfahlbauten „allerlei Fabrikzeichen"
bemerkt habe, und ich will ausdrücklich hinzufügen, dass sich auf einem solchen
Topfboden aus dem Soldiner See das Kreuzeszeichen in halb erhabenem, halb ver-
tieftem Abdruck gefunden hat.
Herr Koner: Auch der hier vorliegende Abdruck hat Aehnlichkeit mit dem Mo-
nogramm Christus. —
Herr Dr. Oscar Liebreich berichtet über
die chemische Analyse einer alten Glasperle.
In der Sitzung vom 11. Juni wurde mir eine von Hrn. W. Kauffmanu aus Dan-
zig mitgebrachte blaue Glasperle zur Untersuchung übergeben, welche von einer po-
merellischen Gesichtsurne stammte. Dieselbe wurde auf Kobalt und Kupfer untersucht,
aber mit negativem Erfolge, weil die Masse zu gering war. Wegen der grossen In-
tensität, mit welcher die Metalle Glasflüsse färben, bedarf es bei schwach gefärbten
Gläsern grösserer Massen, damit die qualitative Analyse zum Resultat führe. Die
Farbe, dem Ansehen nach zu urtheilen, spricht für Kobalt-Färbung; es würde daher
von Interesse sein, eine grössere Quantität solcher gleich gefärbten Perleu zu haben,
um die Anwesenheit dieses Metalles definitiv zu entscheiden.
Druck von Q«br. Uugtr (Tb. Oriinui) in Berliu, V riedrioUstr. 24.
n
11
ta
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mm
Karlen- Skizze der Halbinsel
GOAJIRA,
nach Codazzi. Atlas von Venezuela
Zril.si linl'l im Etlmologie
Taf. XI
GETTY CENTER LIBRARY
3 3125 00701 7144