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VOM WERDEN DER
NATIONEN
VON
MAX LENZ
„In den Kationen sefßst ersd>?int die
Gescßictte der Mensc£fieit." Ranke.
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MÜNCHEN UND BERLIN 1922
DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG
KLEINE HISTORISCHE SCHRIFTEN
BAND I.
Alle Redite, einschließlidi des Qbersetzungsredites, vorbehalten
Printed in Germany
Conrad Varrentrapp
ZUM GEDÄCHTNIS.
Vorwort zur ersten Auflage.
Von den hier vereinigten Schriften ist bereits ein Dutzend
als »Ausgewählte Vorträge und Aufsätze« in Arnold Reimanns
Deutscher Bücherei (Bd. i8) erschienen. Diese werden darin, nach-
dem sie in drei starken Auflagen verbreitet wurden, nicht mehr
ausgegeben werden, so daß die vorliegende Sammlung für sie die
vierte Auflage bedeutet. Maßgebend für die Auswahl war jetzt
wie früher der Gesichtspunkt, nur dasjenige zu geben, was einen
weiteren Leserkreis gewinnen kann. Ausgeschlossen blieben darum
Polemik und Spezialuntersuchung; auch da, wo von diesem
Grundsatz abgewichen ist (Nr. 3, 10, 23), darf wohl nach der
Natur des Stoffes ein allgemeineres Interesse vorausgesetzt werden.
Fortgelassen sind ferner mehrere Aufsätze, die bereits in Sonder-
ausgaben erschienen sind, sodann solche, die eins der Themen
dieser Sammlung zum zweiten Male behandelt haben oder, wie
ein längerer Aufsatz über Marie Antoinette (in den Preußischen
Jahrbüchern, Bd. 78), unvollendet blieben; während noch andere,
die nach Inhalt und Anlage wohl hineingehört hätten, gestrichen
wurden, weil der Band zu sehr anzuschwellen drohte.
Den Anstoß zur Veröffentlichung gab mein Freund Arnold
R ei mann, der mir bereits die ältere Sammlung für seine
Deutsche Bücherei abgewann, und der, wie früher, so auch jetzt
die Last der Korrekturen in liebenswürdigster Bereitwilligkeit
auf sich genommen hat.
Berlin, im November 1910.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Dem mehrfach von meinen Rezensenten ausgesprochenen
Wunsch, die Sammlung meiner kleinen historischen Schriften
noch durch andere bereits gedruckte Vorträge oder Aufsätze er-
gänzen zu wollen, kann ich leider nur in beschränktem Umfang
nachkommen. Denn sie in die vorliegende Reihe einzuschieben
machten äußere Gründe unmöglich, und sie anzuhängen verbot sich
bei den meisten deshalb, weil dadurch die innere Einheit gestört
wäre, M'elche die Sammlung haben soll. Nur bei den beiden
Stücken, um die ich heute das Buch vermehre, war dies möghch.
Denn die Rede über Rankes biographische Kunst und die Auf-
gaben des Biographen knüpft an den Anfang an und schheßt
so die Kette, welche das Ganze bildet, während die Ansprache
an meine Berhner Kommihtonen bei ihrem Festkommers zu
Ehren unseres Kaisers am i8. Juni dieses Jahres, dem Tage von
Waterloo, wohl als Epilog des Buches gelten darf.
Berechtigter vielleicht und jedenfalls erfüllbar war der
Wunsch, dem ich gern nachkomme, nicht bloß das Jahr, sondern
auch die Stelle, an der jeder Beitrag zuerst veröffentlicht wurde,
anzugeben. Es erschienen: Nr. i in der »Gartenlaube«; 2 im
»Hamburger Korrespondenten« ; 3 in der »Plistorischen Zeit-
schrift« ; 4 in der »Deutschen Wochenschrift« ; 5 in den »Schriften
des Vereins für Reformationsgeschichte« ; 6 in der »National-
zeitung« ; 7 und 9 in der »Deutschen Gedenkhalle« ; 12 in der
»Schlesischen Zeitung« ; 25 in der »Allgemeinen Deutschen Bio-
graphie« ; 33 in den »Berliner Akademischen Nachrichten« . Aus
den »Preußischen Jahrbüchern« stammen 10, 11, 13, 14, 19,
24; auch die beiden Universitätsreden 8 und 32 sind dort der
weiteren Öffenthchkeit zunächst zugänglich gemacht worden, sowie
die Akademierede über Wilhelm I, (26) in der » Cosmopohs« .
Vorwort zur zweiten Auflage. VII
15, 20, 21, 28, 30 standen ursprünglich in der »Woche«; 16, 18
und 29 \\äeder in der »Cosmopohs« ; 17, 22 und 27 in »Velhagen
und Klasings Monatsheften«; 23 und 31 in der »Deutschen
Rundschau«.
Vor drei Jahren, als das Buch erschien, konnte ich es noch
dem Manne, dessen mir und vielen teuren Namen das erste Blatt
trägt, in die Hände geben, als meinem Lehrer und Freunde,
von dem ich schon auf der Universität in Bonn und dann erst
recht als junger Dozent in Marburg gelernt hatte. Vieles von
dem, was darin steht, haben wir in zwölfjährigem gemeinsamen
Wirken, in täghchem Umgang durchgedacht und durchgesprochen ;
und wenn uns dann das Leben auseinandergeführt hat und auch
die Anschauungen nicht in allem und jedem die gleichen ge-
blieben sind, so bin ich doch, wie seiner Freundschaft, so der
gemeinsamen Grundansicht über das Wesen und die Ziele unserer
erhabenen Wissenschaft gewiß geblieben. An jene Zeiten sollte
den Lebenden dies Buch erinnern. So möge es in der neuen
Gestalt dem Gedächtnis des treuen und tapferen Mannes ge-
widmet bleiben.
Berlin, im Oktober 1913.
Max Lenz.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
1. Leopold Ranke '
2. Zum Gedächtnis tage Johann Gutenbergs 14
3. Janssens Geschichte des deutschen Volkes 22
4. Humanismus und Reformation yS
5. Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß zur Zeit
der Reformation gi
6. Dem Andenken Ulrichs von Hütten 109
7. Martin Luther 123
8. Luthers Lehre von der Obrigkeit 132
9. Der Bauernkrieg 150
10. Florian Geyer 161
11. PhiHpp Melanchthon 193
12. Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen 208
13. Gustav Adolf dem Befreier zum Gedächtnis 223
14. Nationalität und Rehgion 234
15. Wie entstehen Revolutionen? 261
16. Die französische Revolution und die Kirche 272
17. Die Bedeutung der Seebeherrschung für die PoUtik Napoleons . 304
18. Napoleon 1. und Preußen 315
19. 1848 345
20. Bismarcks Religion 360
21. Bismarck und Ranke 383
22. Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein 409
23. König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863 429
Inhaltsverzeichnis. IX
Seite
24. Heinrich von Treitschke 475
25. Constantin Rößler 493
26. Wilhelm 1 508
27. Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben 525
28. Das russische Problem 547
29. Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt 569
30. Ein BUck in das zwanzigste Jahrhundert 589
31. Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart . 596
32. Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen . 609
33. Ansprache an die Berliner Studentenschaft auf ihrem Kommers
zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums
Seiner Majestät des Kaisers 623
Leopold Ranke.
(1885).
Das erste Buch, das Leopold Ranke geschrieben hat, öffnete
ihm, dem Dreißigjährigen, mit einem Schlage die Schranken
der akademischen Laufbahn, der sein stilles Sehnen und Hoffen
galt, und die allein ihm die Muße und Bewegungsfreiheit geben
konnte, die zur Tat strebenden Kräfte seiner genialen Natur
in ungestörter Forscherarbeit breit zu entfalten. Bis dahin war
er ein der gelehrten Welt so gut wie unbekannter Gymnasial-
lehrer zu Frankfurt a. 0. Hier hatte er jenes Werk aus der sonst
nicht benutzten Bibliothek eines Professor Westermann heraus-
gearbeitet; ohne Honorar zu empfangen, hatte er es Georg Reimer
zum Druck übergeben. Das Buch verschaffte ihm alsbald Namen
und Stellung. Wenige Monate später, Ende März 1825, ward er
als außerordenthcher Professor der Geschichte nach BerHn berufen,
in den Kreis der Savigny und Hegel, an die Universität, welche,
wie er selbst rückblickend gesagt hat, »noch unmittelbar in jenem
Geiste, in welchem sie gestiftet worden war, lebte, in der Ver-
einigung der preußischen Strenge und Zucht mit der Vielseitig-
keit und Tiefe der deutschen Nation«: in dem Kampf der beiden
Parteien, welche damals in allen Disziplinen miteinander rangen,
der philosophischen und historischen, hat er dann über zwei
Menschenalter hindurch als Vorkämpfer der historischen Rich-
tung für die politische Historie hier im Zentrum der deutschen
Wissenschaft und Staatsidee gewirkt. Entfernte er sich von Ber-
lin, so geschah es fast immer, um neue Schätze aus den Archiven
der Staaten, deren Leben er erforschte, zusammenzutragen. Sonst
Lenz, Kleine historische Schriften. I
2 Kleine historische Schriften.
aber, bis zu einem Alter, wo er das Ziel, welches der Psalmist
setzt, längst überschritten hatte, lebte er ganz daheim unter
seinen Büchern, in der Wohnung, die seit Jahrzehnten seine Ar-
beitsstätte war, in immer gleich geregelter und unermüdlicher
Tätigkeit, zurückgezogen von dem Getriebe der Welt, dem er
doch mit freier und lebendiger Aufmerksamkeit folgte — und
unter dem Blicke des Greises entrollten sich noch einmal die all-
gemeinen Geschicke; aus den echtesten Quellen schöpfend, durch-
schritt er mit jugendlicher Kraft, ja mit stürmischem Eifer
den Kreis der Nationen, in deren »lebendiger Gesamtheit« das
allgemeine Leben hervortritt , die Geschichte der Menschheit
erscheint.
Alle Welt spricht davon, daß Leopold Ranke die moderne
historische Methode ausgebildet oder doch wenigstens auf die
mittlere und neuere Geschichte übertragen habe; vier Genera-
tionen deutscher Forscher nennen ihn darin ihren Meister. Er
selbst aber ist nicht in dieser historischen Methode groß gewor-
den: Historiker von Fach ward er erst mit dem Buch, in dem
er die Bahnen seiner Lebensarbeit und die nicht zu vertilgenden
Grundlinien der deutschen Geschichtswissenschaft gezogen hat.
Weltgeschichtlich allerdings waren die Ereignisse, welche die
Jahre seiner Ausbildung begleiteten. Geboren in der Zeit, wo
das vulkanische Feuer, welches den morschen Staatsbau des
alten Frankreichs verzehrt hatte, in furchtbaren Ausbrüchen über
die Grenzen hinwegschritt (zu Wiehe im Unstruttal am 21. De-
zember 1795), erlebte er elf Jahre später, ^\^e die revolutionäre
Lava seine thüringische Heimat erreichte : die Donner der Schlacht
von Jena dröhnten aus der Feme dumpf an das Ohr des Knaben;
er sah die Fliehenden, die Versvundeten, wie sie in dem Hause
der Eltern kurze Rast und Erquickung fanden, und wie dann die
übermütigen Sieger raubend den friedlichen Ort durchzogen.
Als der Vater ihn auf die Schule nach Pforta brachte, stand
Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht; und eben war die Über-
macht des Gewaltigen auf den Feldern von Leipzig zerbrochen
worden, als der Jüngling in derselben Stadt wieder von dem
Vater bei seinen Universitätslehrern eingeführt wurde. Hier
Leopold Ranke. 3
studierte er, während auf den Schlachtfeldern jenseits des Rheins
wie durch die Verhandlungen von Wien und Paris die Karte
Europas umgestaltet wurde, und mußte zusehen, \vie sein Heimat-
land von Sachsen losgerissen und Preußen zuerteilt ward; und er
hatte kaum seine Studien beendigt, als die vaterländische Ro-
mantik der deutschen Bursche sich in dem Enthusiasmus des
Wartburgfestes Luft machte.
Doch dürfte man nicht glauben, daß Ranke durch die ele-
mentaren Kräfte, welche in dieser Epoche zum Durchbruch kamen,
und von denen jene Feier ein weithin wirkender Nachhall war,
unmittelbar gepackt und beeinflußt wäre. Friedhchere Geister
haben sein Leben gestaltet. In den patriarchalisch engen Ver-
hältnissen eines kursächsischen Landstädtchens wuchs er auf.
Einige Edelleute, die Offiziere einer Husarenschwadron, die Pfarrer
und wenige Beamte, dazu etwa noch Rektor und Apotheker, das
waren die Honoratioren des Ortes. Zu ihnen gehörte Gottlob
Israel Ranke, der als Anwalt und Gerichtsdirektor dreier adliger
Familien wirkte. Noch steht das Wohnhaus, nahe der Stadt-
mauer, dort wo die Ranke'gasse sich zum Riesbach hinab-
senkt, an dessen umbuschten Ufern in den Frühlingsnächten ein
Heer von Nachtigallen schlägt. Ein stattliches Anwesen, mit Hof
und Garten, Stall und Scheuer; denn zu ihm gehörte ein Land-
gütchen, der »Berg«, welches der Vater durch seinen Knecht,
den treuen Dietsch, bewirtschaften ließ. Der Geist der Arbeit
und Pflichttreue, des Frohsinns, der Wahrhaftigkeit waltete in
dem Hause. Der Ernst des Vaters, die Milde der Mutter begeg-
neten sich in der gleichen Liebe zu den aufblühenden Kindern.
Ein sonniger Glanz des Glückes, selten vom Kummer getrübt,
lag über diesen Jahren im Elternhause gebreitet. Lebendige
Religiosität, in den alten strengen Formen erhalten und genährt,
durchdrang das Ganze. Mit ungemeiner Sorgfalt widmete sich
der Vater der Erziehung seiner Knaben; staunend bemerkte er
die Begabung und Schwungkraft des Erstgeborenen, den selb-
ständigen Sinn, mit dem dieser das Heilsame und Rechte erkannte.
Früh gab er ihn aus dem Hause. Zunächst nach Kloster-Donn-
dorf, das nur eine Stunde weit auf einer Höhe vor dem Walde
4 Kleine historische Schriften.
liegt. Oft noch sah Leopold hier die Seinen. Wenn er dann dem
Bruder Heinrich auf dem Heimwege das Geleite gab, erzählte
er ihm wohl mit wundervoller Lebendigkeit von den Geschichten
des trojanischen Krieges, die er in der Klasse gelernt hatte: der
hellenischen Vorwelt »silberne Gestalten« umfingen da die jugend-
hchen Seelen. Doch auch die Geister einer großen nationalen
Vergangenheit weben über den frischen Wiesen, den wogenden
Kornfeldern der Güldenen Aue, über dem raschen tiefen Strom,
der sie durchzieht, über den prächtigen Laubwäldern, die das
Gelände ihrer Berge krönen: sie umschwebten den Knaben, wenn
er auf oder, wie man dort sagt, in dem »Berge« stand (denn es
war ehemals ein Weinberg), unter dem uralten Birnbaum, der
seit tausend Jahren, hieß es, seitdem die christliche Gesittung
hier gepflanzt ward, seine schweren Fruchtzweige über diesen
Abhang breitete. Das sind die Gefilde, die Wälder, wo nach der
Überlieferung König Heinrich der Sachse am Hebsten geweilt
und gejagt hat. Flußaufwärts sucht das Auge jenes Ritteburg,
auf dessen Feldern wohl der König die Magyaren schlug; dort
im Pfarrhause hat die Wiege von Rankes Vater gestanden. Weiter-
hin, in mäßiger Entfernung, wölbt sich der turmgekrönte Gipfel
des Kyffhäusers. Im Osten aber, eine gute Stunde unterhalb
Wiehe, erinnert wieder Memlebens schöne Ruine an die Todes-
stunde des Sachsenkönigs. Die Schatten des Begründers unseres
alten Reiches und seines glänzendsten Helden walten über diesem
Tale.
Auch auf der Pforte umgaben den Knaben, der hier zum
Jüngling heranreifte, die begrenzten Verhältnisse des heimat-
Hchen Lebens. Die Anstalt zeigte noch ganz den Charakter, der
ihr eingepflanzt war, humanistischer Schulung und konfessionell
gebundener Religiosität: die Lehrer, an ihrer Spitze der gestrenge
Rektor Ilgen, sämtHch Theologen und gewiegte Lateiner; einer
unter ihnen trug gar noch Zopf und Perücke: Hausordnung und
Unterricht waren in klösterlicher Gemeinsamkeit straff geregelt.
Aber in den engen Formen pulsierte doch wieder jugendlich frisches
Leben, gezügelt nur durch die pflichtstrengen Vorschriften, ange-
spornt durch die wetteifernde Gemeinschaft des Umgangs und
Leopold Ranke. 5
der Arbeit, und durch das eifrigste Studium des klassischen Alter-
tums mit Idealität und Schönheitssinn erfüllt. Die großen Welt-
begebenheiten berührten freilich nur mit leichtem Wellenschlage
die klösterhchen Mauern. Selbst als der sächsische Boden unter
den ersten Schlägen der großen Erhebung erdröhnte, und der
Sturm hart an der Gemarkung des Ellosters vorüberzog, konnten
sich die Jünglinge schwer von dem inneren Widerstreit lösen, in
den sie die Haltung ihres Landesherm bringen mußte, der auch
damals noch sein Geschick mit dem Napoleons verknüpft hatte.
Erst die Leipziger Schlacht nahm von den jugendlichen Gemütern
den Bann, unter dem ihr nationales Empfinden gehalten war.
So wirkte denn auch auf der Universität vor allem der Geist
des Altertums auf Ranke ein. Hatte er aber in Pforta sich be-
sonders mit den griechischen Tragikern beschäftigt, so zog ihn
in Leipzig vornehmlich Thukydides an. Es war, wie er sagt, der
erste große Historiker, durch den er in der Tiefe ergriffen \\airde;
mit äußerstem Fleiße habe er in seiner kleinen Stube in der Hain-
straße sich der Lektüre desselben hingegeben. Nächst ihm habe
er Niebuhrs Schriften mit nicht geringerem Eifer zu studieren
begonnen. Eine andere Richtung habe ihn bald darauf zu den
Werken Luthers geführt, durch die er keinen geringen Impuls
erhalten habe. Der antike und der zeitgenössische, kritische
Historiker also, welche mit staatsmännischem Blick und in einer
klassischen Form die Geschichte von Hellas und von Rom schrie-
ben, und Thüringens größter Sohn, der deutsche Reformator, der
auf dem ewigen Grunde des Evangelium die Scheidung des Welt-
lichen und Geisthchen vollzog, »der das große Gespräch begann,
das die seitdem verflossenen Jahrhunderte daher auf dem deut-
schen Boden stattgefunden hat« — das sind die drei Geister,
denen Ranke die Grundelemente verdankt, aus denen sich seine
historischen Studien auferbaut haben. Nach ihnen nennt er als
vierten Fichte, den sittlich-kühnen Denker, dessen religiös-ethische
und national-politische Ideen, wie sie an Luther erinnern, so auch
mit Rankes Auffassung sich innerUch nah berühren.
Wie hätte aber Ranke, von diesen Heroen der Klarheit und
der Kraft geleitet, sich in den phantastischen Nebeln der Ro-
Q Kleine liistorische Schriflen.
mantik verlieren mögen, welche damals Kunst und Leben, Lite-
ratur und Politik mit strebender Unruhe erfüllte! Daß er sie
begriffen hat, dafür zeugen seine Werke; niemand hat ihren Geist
in Vergangenheit und Gegenwart wärmer, glänzender, wahrer ge-
schildert. Aber sie vermochte ihn nicht mehr zu übermannen.
Da sie in der Vollkraft ihrer berauschenden Blüte stand, trat
er ihr klaren Auges, mit der überlegenen Objektivität des Histo-
rikers entgegen. Gerade in den Jahren ihrer Herrschaft, eben in
Frankfurt, schrieb er jenes erste Werk, welches in Kritik und
Auffassung bereits den vollen Stempel seines Geistes trägt, die
»Geschichte der romanischen und germanischen Völker«,
In dem Titel ist schon der Grundbegriff, in dem alle Werke
Rankes gedacht sind: die Einheit der romanischen und ger-
manischen Nationen, im Gegensatz zu den bisher vorherrschen-
den Anschauungen: einer allgemeinen Christenheit, der Ein-
heit Europas, endlich auch der analogsten, einer lateinischen
Christenheit; denn zu dieser gehören auch slawische, lettische,
magyarische Stämme, welche eine eigentümliche und besondere
Natur haben. In der Völkerwanderung ward jene Einheit be-
gründet , in dem Zusammentreffen der nationalen , staathchen
und kirchlichen Kräfte, welche auf dem Boden des westlichen,
des lateinischen Imperium lebten. In dem Kreise dieser Völker
wuchs fort, was sich von den Kulturelementen der alten Welt
durch jene Jahrhunderte der Stürme hindurch gerettet hatte;
sie haben in der päpstlichen und der kaiserlichen Gewalt, in
ihren kirchHch-politischen Kolonisationen, in allen Formen ihrer
staatlichen , geselligen und kirchlichen Organisation , in allen
Äußerungen ihres künstlerischen und literarischen Geistes ge-
meinsam die mittleren Jahrhunderte erfüllt und gestaltet. Die
fremden Nationen an den Grenzen werden abgewehrt oder
unterworfen und assimiliert , aber auch dann sind sie nur
nebengeordnete, dienende Glieder: Träger der welthistorischen
Entwickelung bleiben die sechs Nationalitäten, in welchen die
romanischen und germanischen Elemente unter dem Vorwalten
des einen oder des andern gemischt sind, eine in Kampf und
Verkehr unablässig bewegte, hin- und herflutende, schließüch
Leopold Ranke. 7
doch fortschreitende Gemeinschaft. Indem Ranke in der Ein-
leitung jenes Buches diese Einheit durch die Geschichte des Mittel-
alters hin verfolgte, faßte er als besondere Aufgabe nur die Epoche
ihrer Zertrennung ins Auge, welche das neue Weltalter bedingte:
die Ausbildung des spanisch-habsburgischen und des französischen
Machtsystems sowie die Spaltung durch die Reformation war
das Thema; der erste Gang dieser Entwicklung, bis 1535, sollte
betrachtet werden; was zunächst erschien, umschloß die 20 Jahre
von 1494 bis 1514, »gleichsam den Vordergrund der neueren Ge-
schichte «.
Das Buch blieb in dieser Form Fragment und hat daher
in dem Kreise der Rankeschen Werke eine Stellung für sich. In
Kraft und Fülle der Anschauung, in der lebensvollen Darstellung
steht es einzig da; eine Gestalt z. B. wie Savonarola ist mit
einer Schärfe der Linien und einer Leuchtkraft der Farben ge-
schildert, welche unmittelbar an den künstlerischen Konf rater
des feurigen Prädikanten, an Fra Bartolomeo erinnert. Doch
fehlt es nicht in Sprache und Gruppierung an Elementen der
Gärung, welche besonders durch die literarischen Vorbilder und
die Materialien der Forschung bedingt waren; mit deren Erweite-
rung, mit der wachsenden Erkenntnis mußten sie sich abklären;
der Grundbegriff selbst gestaltete sich unter dem vergrößerten
Gesichtskreise umfassender. Den Übergang bemerken wir nach
Form und Inhalt in dem zweiten Buch, »Die Osmanen und die
spanische Monarchie im 16. und 17. Jahrhundert«, das als erste
Abteilung eines umfassenderen Werkes, »Fürsten und Völker von
Südeuropa« in der gleichen Epoche, 1827 zur Ausgabe kam; wie
es denn auch bereits aus archivalischen Quellen geschöpft ist.
Die »Geschichte der Päpste« sodann, noch als Ausführung jenes
Gesamttitels gedacht, nach der Rückkehr von der epochemachen-
den italienischen Reise (1831) vollendet, zeigt das volle Ge-
präge der Meisterschaft. Staunend bemerken wir, daß Ranke in
dieser Höhezeit seines Schaffens, in den Jahren, wo er die
»Historisch -politische Zeitschrift« herausgab (1832 bis 1836),
seine Lebensarbeit in ihrem vollen Umfange erfaßt und vorge-
zeichnet hat.
g Kleine historische Schriften.
Das Fragment über die »Großen Mächte«, welches den zweiten
Band jenes Unternehmens eröffnete, enthält, wenn wir von der
Weltgeschichte absehen, deren Vollendung Ranke leider vom Ge-
schick nicht gegönnt worden ist, das Programm aller späteren
Werke, ja mehr als dies: einzelne Gedanken darin harrten ver-
gebens der Ausführung. In Verbindung gebracht mit den Grund-
linien der früheren Arbeiten, steht in diesem Aufsatz die Ent-
wicklung der europäischen Großmächte, des S3'stems und seiner
Glieder, so wie Ranke es später ausgeführt hat, in voller Deut-
lichkeit vor Augen: das Frankreich Ludwigs XIV., katho-
lisch und national, monarchisch zentralisiert und doch feuda-
listisch geartet, uniform und stets doch voller Gärung, nach
Glanz und Herrschaft begierig; ihm gegenüber das protestantisch-
nationale, germanisch - maritime England, in dem gewaltigen
Ringen seiner beiden aristokratischen Parteien, die doch immer
einen durch das nationale Interesse und die populäre Tendenz
bestimmten, legal umschriebenen Kreis innehalten, in deren poli-
tischem Wettstreite erst der Strom der englischen Nationalkraft
weltgestaltend hervortritt; Österreich sodann, wirtschaftlich und
national so vielgestaltig und doch religiös wie politisch so
stabil , kathohsch - deutsch , wohlbewaffnet , voU unversiegbarer
Lebenskräfte; Rußland, wie eine Naturgewalt plötzlich und
furchtbar sich erhebend: die griechisch-slawische Macht, jetzt
erst europäisch; Preußen endlich, in dem die deutsch -pro-
testantischen Überlieferungen einen späten Anhalt und Ausdruck
fanden, nachdem Schweden zusammengebrochen war. Wir lesen
da bereits, was alle folgenden Bände ausführlich beweisen, wie
modern diese vier letzten Mächte sind, nicht bloß der Staat Peters
des Großen und die norddeutsche Großmacht, sondern auch das
parlamentarische Großbritannien und die scheinbar älteste, legi-
timste Älonarchie, das erst durch die Eroberung Ungarns kon-
stituierte Österreich: ihre Ausbildung ist die Summe der hundert
Jahre von der »glorreichen« bis zum Ausbruch der großen Revo-
lution, das Resultat die Verdrängung Frankreichs von der Stel-
lung, die es bis 1688 errungen hatte. Und unter dem Einfluß
dieser Kraftgruppierung zeigen nun auch die Literaturen, die
Leopold Ranke. 9
religiösen und philosophischen Systeme, die rechthchen und poli-
tischen Theorien, die ganze Sitten- und Empfindungswelt, alles,
was man Kultur des i8. Jahrhunderts nennt, ihre zersetzenden
wie ihre positiven Tendenzen! Ausführungen, welche aber keines-
wegs in so blassen Linien der Abstraktion gegeben werden, son-
dern mit der Fülle des Details, plastischer Anschauung, schärfster
persönlicher Zeichnung. Auch über die Revolutionsepoche selbst
ergreift Ranke das Wort; und was er in seinen späteren Werken
darüber ausgeführt hat, originale bahnbrechende Gedanken, über
den explosiven Charakter der Bewegung, die Notwendigkeit ihres
Kampfes mit den umgebenden Mächten, des Zusammenbruches
der mechanisierten Staatsgebilde des Kontinentes unter dem Stoß
jener eisernen, in vulkanischen Gluten geschmiedeten Gewalt
— das alles stellt er hier auf wenigen Seiten augenscheinlich dar.
Die Stärke Frankreichs beruhte in der nationalen Einheit, in der
Zentralisation aller Kräfte, die es in der Zertrümmerung selbst
durchführte. So konnte es für Europa ■ — und damit tritt die
Abhandlung schließlich in unser eigenes Jahrhundert — keine
Rettung geben, ehe es »dieser Forderung der Weltgeschicke Ge-
nüge zu leisten, die schlummernden Geister der Nationen zu selbst-
bewußter Tätigkeit aufzuwecken begann«. Das ist die Aufgabe,
in deren Lösung wir noch begriffen sind.
Kein Historiker, kein Politiker auch sollte es versäumen,
diese Abhandlung, und zugleich die letzte jenes Bandes, das
»PoHtische Gespräch«, wieder und wieder zu lesen. Beide ent-
halten die Summe der neueren Geschichte und damit auch die
Grundlage, auf der alle Politik sich bewegen wird. Alles aber luht
auf dem obersten Begriff der romanisch-germanischen Nationen
und der Verkörperung ihres Wesens in dem System ihrer Staaten.
Gerade daß Ranke als Staatsmann schreibt, hat man ihm
gern zum Vorwurf gemacht. Daraus leite sich sein Talent ab in
der Entwirrung diplomatischer Truggewebe, überhaupt die Meister-
schaft in der Behandlung aller auswärtigen Pohtik, aber auch
ein Mangel an Verständnis populärer Strömungen, der inneren
Entwickelung, Empfindungskälte gegenüber den sittlichen Forde-
rungen, welche der strebende, reifende, fortschreitende Volksgeist
10 Kleine historische Schriften.
an die Regierung stelle: Vorwürfe, welche, wie man sieht, dem
Begriff des Staates den der Regierung unterstellen und dann
einen Unterschied konstruieren zwischen Staat und Volk, Re-
gierung und Regierte jedoch einander so entgegensetzen, daß
diese als die Regulatoren der ersteren in bezug auf die sittlichen
Ziele und Mittel des staatlichen Lebens erscheinen. Das aber
ist nicht, was Ranke meint. Sowenig wie allerdings nach seiner
pohtischen Überzeugung die Regierung eine leere Form, der kraft-
lose »Indifferenzpunkt« im Gewoge der Parteien und ihrer Theo-
rien sein soll, sondern eine lebenerfüllte Macht, »eine Wesenheit,
ein Selbst«, ebensowenig ist ihm der Staat ein von der Nationali-
tät lösbares Gebilde, Produkt allgemeiner Theorien, hergeleitet
aus der philosophierenden Konstruktion eines Vertrages, sondern
ein Lebendiges, Innerlich-Wachsendes, eine machtvolle Gemein-
schaft, »moralische Energie«, enger gemeinhin als die Nation,
aber ruhend auf ihrem Grunde, solange noch Leben darin ist.
Wie sollte eine solche Individualität nicht auch nach äußerer
Entfaltung streben! Da aber begegnet sie im ganzen Umkreis
anderen Gebilden, analog und doch wieder eigentümlich geartet,
Modifikationen der Nationalität, lebensvoll, strebend wie sie selbst.
So müssen denn alle miteinander ringen. »Denn der Kampf,«
sagt ,HerakHt', »ist der Vater aller Dinge.« Dennoch aber bleiben
sie, eben in ihm, in Aktion und Reaktion, eine lebendige Gemein-
schaft. Denn sie stehen gemeinsam unter den Abwandlungen
der großen Verhältnisse, als ein Abglanz des Ewigen überschattet
von dem gewaltigen Schicksal, das in ihrem Dasein an dem
lebendigen Kleide der Gottheit wirkt.
Wenn Ranke vornehmlich die auswärtige Politik ergriindet
hat, so ist auch das nur wieder eine Folge seiner Fragestellung:
das erste Ziel mußte auf die Entwickelung des Systems, also
auf den Zusammenhang und Kampf seiner Glieder gerichtet
sein. Gerade darin offenbart sich am deutlichsten, wie sehr
innere und äußere Entwickelung sich bedingen; niemals aber
begreift unser Historiker die auswärtige PoHtik eines Staates
anders, denn als seine Kraftentwickelung innerhalb seines Um-
kreises.
Leopold Ranke. H
Man redet so oft von Rankes Objektivität. Diese besteht
eben in jener Auffassung vom Staate und ist nur eine andere
Form seines Forschungsprinzipes, das, wenn man es auf seinen
Grund prüft, die mit philosophischem und rehgiösem Tief sinn
erfüllte, freiheithche, universale, das heißt wissenschaftliche An-
schauung der historischen Erscheinungen sein will. Diese zu
sehen und zu schildern ist die Aufgabe: »die Begebenheit selbst
in ihrer menschlichen Faßbarkeit, ihrer Einheit, ihrer Fülle«.
Alles hängt von dem obersten Gesetze ab: die sorgfältigste Er-
forschung des Einzelnen und die kühne, unbeirrte Erfassung des
Ganzen; die Würdigung der Grundkräfte, wie alle Schätzung der
Persönlichkeit; denn »die großen Begebenheiten reißen Gemüt
und Handlungsweise gewaltsam sich nach«, nur unter den Schick-
salsmächten ihrer Epoche können wir die Individuen begreifen.
Und nun dürfen wir wohl auch nicht mehr von der Teil-
nahmlosigkeit oder der verstandesmäßigen Technik dieser objek-
tiven Forschung sprechen, die sich in einer gewissen Kälte der
Darstellung zeige. Der Schaden wäre schließlich zu ertragen,
wenn nur das Prinzip gewahrt würde: »strenge Darstellung der
Tatsachen, wie bedingt und unschön sie sei, ist ohne Zweifel das
oberste Gesetz.« Für uns Jüngere übrigens ist ein Mangel an
patriotischer Empfindung, wenn wir nur eben das Prinzip wahren,
nicht mehr zu befürchten, nachdem sich die nationalen Gärungen
unter der Doppelwirkung wissenschaftlicher Erkenntnis und poli-
tischer Tat im nationalen Staate abgeklärt haben: sie ist die
Lebensluft, in der wir atmen; wie sollte sie also nicht auch unsere
Versuche, die Vergangenheit neu zu denken, beleben! Nimmer-
mehr aber dürfen wir darum für die Darstellung versäumen, was
wir für die Forschung fordern: beides hängt unlöslich zusammen;
gemeinsam erst macht es einen Widerglanz der Weltereignisse
möglich. Denn nur eben dies ist unsere Aufgabe, nicht Aus-
übung des Weltgerichtes, das Gottes ist und jenseits der Geschichte
liegt. Wohl aber können Avir die »göttlichen Geheimnisse« ahnend
fassen, wenn wir ihre irdische Erscheinung zu erkennen trachten.
Mögen wir unsere Seele dafür empfänglich stimmen! Allzuviel
nur des Persönlichen wird ja an den Gebilden unserer Erkenntnis
^2 Kleine hislorisclie Schriften.
haften bleiben, da sie durch unsere Persönhchkeit hindurchgehen.
Unsere Seele ist nun einmal der Spiegel, in den die Urgestalten
hineinfallen, aus dem sie wiederkehren müssen. So besitze sie
also die kristallene Klarheit der Wahrhaftigkeit! Sollten wir aber
nicht hoffen dürfen, daß die Bilder um so schärfer, farbiger, be-
seelter erscheinen werden, je heller ihre Spiegelfläche ist ?
Freilich ist die Aufgabe für uns eine andere geworden als
für den Begründer unserer Wissenschaft. Er konnte in stür-
mischer Bewegung die großen Linien ziehen, die Fundamente
legen des Bildersaales der Zeiten. Er hat dann auch die Mauern,
Pfeiler, Hallen errichtet und eine Fülle des Schmuckes hinzu-
getan; an allen Wänden prangen seine Gestalten. Wir können
nur weiter daran bauen und schmücken. Zahllos aber sind die
Geschlechter, welche über den Erdball dahingingen, unermeßlich
ist die Summe ihres Wollens, ihrer Arbeit, ihres Glückes und
ihrer Schmerzen. Soviel davon auch klanglos untergegangen ist,
unendlich bleibt immer noch die Fülle des Erkennbaren. Uns
mag nun wohl besonders die innere Geschichte der Nationen
interessieren, die literarische, die wirtschaftliche Bewegung und
so fort; aber wir wollen nicht wähnen, daß ^vir von neuen Prin-
zipien her, jeder etwa für sich, das Weltganze und die Einzel-
erscheinungen begreifen können, sondern wollen zunächst den
Meister verstehen lernen. In dem Maße wie unter uns die Er-
kenntnis seiner Prinzipien zunimmt, welche nicht die Schabioni-
sierung überaler oder konservativer Theorien, sondern die Fest-
stellung historischer Kräfte sind und darum eine ewige Dauer
haben werden wie Keplersche Gesetze, in dem Maße wird auch
der Zusammenhang, der Überblick und die Gemeinsamkeit der
historischen Arbeit wachsen, werden ihre Jünger, wie Ranke an
seinem fünfzigjährigen Doktor Jubiläum sagte, »gewssermaßen
eine große Familie bilden, zusammengehalten durch den gemein-
samen Kultus der Wahrhaftigkeit«.
Damals (1867) hat er im Kreise der Freunde und Schüler selbst,
»gewissermaßen als sein historisches Testament«, wie er sich aus-
drückte, demutsvoll das Zukunftsideal deutscher Geschicht-
schreibung kundgegeben, welches ihm stets vorgeschwebt habe:
Leopold Ranke. 13
die Verbindung der nationalen, kraftvoll den Moment erfassenden
Historie der uns benachbarten Nationen mit der universalhisto-
rischen Betrachtung, die dem deutschen Genius gemäß sei: er
bücke, wie Moses, in das gelobte Land einer zukünftigen deutschen
Historiographie, wenn er es auch nicht betreten sollte. Halten
wir mit ihm an der Hoffnung fest, daß wir ein noch höheres Ziel
vor Augen haben, aber lassen wir von dem Wahn, daß wir es
schon etwa gar erreicht hätten oder auf einer anderen Straße er-
reichen könnten, als die er gebahnt hat. Ist unsere Aussicht und
somit Kraft und Wille auch begrenzter, so mögen wir uns damit
trösten, daß wir auf dem rechten Wege, »der Wahrheit, die nur
eine sein kann«, dahergehen.
68^^=^^5^
Zum Gedächtnistage Johann Gutenbergs.
{1900.)
In dieser festesfrohen Zeit endlich einmal ein Tag, an dem
es sich lohnt, vergleichend Rückschau zu halten, und der von
uns heischt, daß wir in frohem Selbstbewußtsein des hohen Namens
dankbar uns erinnern, dem er gewidmet ist! Es ist der Gedenktag
eines deutschen Bürgers, und darum ziemt es sich, daß vor allem
die Bürgerschaften in den Zentren deutscher Arbeit das Fest be-
gehen; es ist die Erinneiiing an die Siegeszüge des weltverbin-
denden Gedankens, und darum bedarf es bei dieser Feier nicht
so sehr, wie an den Tagen nationaler Siege, der Teilnahme und
pomphafter Manifestationen der staatlichen Organe. Und den-
noch ist dieser schlichte Mainzer Bürger, dessen Leben in der
Enge zweier deutscher Reichsstädte hinging, dessen persönliches
Gedächtnis bald so sehr in den Schatten trat, daß erst mühsame
Forschung aus dürftigen Urkunden es neu beleben konnte, dessen
Züge wir nicht einmal kennen (denn alle Bilder, die wir von ihm
haben, sind Phantasiewerk), ein Weltbezwinger gewesen, dessen
Siege alle Eroberungen der Weltgewaltigsten hinter sich lassen,
und das Blei der Lettern, die er goß, hat nach dem alten Worte
wahrhch kräftiger gewirkt, als das der Kartätschen. Mit Recht
rühmt sich unser Jahrhundert der Triumphe seiner Technik und
läßt sich vor andern gern als das Zeitalter der Erfindungen und
Entdeckungen feiern. Sie erst haben es ermöglicht, daß der Erd-
ball den europäischen Nationen und wer ihres Geblütes ist, völlig
Untertan wurde. Alles, was an der herrschenden Zivilisation teil-
haben, was sein Selbst behaupten will, muß sich ihnen unter-
Zum Gedächtnistage Johann Gutenbergs. 15
werfen, die Naturvölker kaum erforschter Kontinente ebenso-
wohl wie die Rassen von uralter Kultur; rascher als in irgend-
einer früheren Epoche pulsiert unter dem Druck ihrer von außen
stoßenden, unwiderstehlichen Kräfte das historische Leben; immer
eiliger laufen in dem großen Gewebe die Fäden, immer neue
treten hinzu, immer wirrer schießen sie durcheinander, und den-
noch tritt uns immer einheitlicher und geschlossener das Ganze
vor Augen. Aber was will das alles sagen gegen die Grund-
bedeutung, die Gutenbergs Erfindung gehabt hat, gegen den Um-
schwung des allgemeinen Lebens, der von dem Momente ab be-
gann, als er im Sommer 1450, genau vor 450 Jahren, mit seinem
Mitbürger, dem kapitalkräftigen Johann Fust, den Vertrag schloß,
der es ihm ermöglichte, wie es in einem seiner Drucke heißt, die
Bücher »nicht mit Hilfe des Schreibrohrs, des Griffels oder der
Feder, sondern durch das wunderbare Übereinstimmen, Verhältnis
und Maß der Älatrizen und Formen zu drucken und zu vollenden«.
Diese Erfindung war es, welche die europäischen Nationen mit dem
vornehmsten Werkzeuge, um sich den Erdball zu unterwerfen,
ausgerüstet hat, die allem, was sie schufen und vor sich brachten,
erst die Möglichkeit, wenn nicht des Werdens, so doch des
Wirkens gewährte; sie ist uns, wie jüngst treffend gesagt wurde,
das geworden, was die Elemente für die Natur sind, etwas
Unentbehrliches, ohne das zu leben wir uns gar nicht denken
können^).
Auch der andere Bahnbrecher, der mit Johann von Guten-
berg an den Pforten der neuen Zeit steht, der Entdecker der
»Neuen Welt«, Christoph Columbus, er, der so viel Züge mit
jenem gemein hat • — ■ den einsamen, grüblerisch-bohrenden Geist,
den Eifer, der nicht ruht noch rastet, durch keine Enttäuschung
sich beugen läßt, und so auch das tragische Entdeckerlos, den
Undank der Welt und den Raub der Erfolge durch die Neider
und Rivalen — , muß dennoch vor dem Pfadweiser in die Welt
der Gedanken zurücktreten. Denn von allem andern abgesehen,
') Meißner und Luther, Die Erfindung der Buchdruckerkunst, Leipzig
1900. Auch die anderen Zitate in diesem Essay verdanke ich diesem aus-
gezeichneten Buch.
16 Kleine historische Schriften.
wie lange doch hat es gewährt, bis die andere Hemisphäre in die
allgemeine historische Bewegung hineingerissen wurde, und wie
spät hat sie selbst sich rückwirkend zur Geltung gebracht! Die
Inseln, die Colon entdeckte, und die Eroberungen der Cortez und
der Pizarros haben auf die Pohtik Karls V. weniger Einfluß ge-
habt, als unsere Besitzungen in Afrika und der Südsee auf die
unserer Regierung. Mochte er sich Herr beider Indien nennen,
der Umkreis seiner Interessen beschränkte sich für Kaiser Karl
wesentlich auf Europa; nicht einmal das Edelmetall der neuent-
deckten Länder, das schon Columbus zu seiner verwegenen Fahrt
anreizte, und das nach ihm immer neue Scharen von Con-
quistadoren über das Meer trieb, war für ihn wie für seinen Nach-
folger von großer Bedeutung. Erst mit der Besiedelung des neuen
Kontinentes durch die germanisch-protestantische Rasse, mit dem
Eintritt Englands in den Kampf gegen Spanien und die ihm fol-
genden kolonisierenden Nationen beginnt die Rückwirkung; doch
auch noch im 17. Jahrhundert wird die europäische Welt wesent-
lich durch die in ihrem Umkreis wirkenden Elemente bewegt,
und neue Generationen mußten vorübergehen, ehe sich die Neue
Welt von ihrer geistigen und selbst der wirtschaftlichen Abhängig-
keit hat losreißen und originale Kräfte hat entfalten können. Die
Erfindung Gutenbergs dagegen wirkte von Anfang an mit über-
wältigender Kraft. Seitdem die Schüler und Gesellen des alten
Meisters, nach der Eroberung von Mainz durch Erzbischof Adolf
(1462), in alle Welt zerstreut waren, eroberte die »deutsche Kunst«
wie im Fluge alle Länder abendländischer Kultur; im dritten Jahr-
zehnt nach der Erfindung saßen schon deutsche Drucker und
Buchführer, glücklicher als ihr Lehrherr, in Paris und Rom, in
London und Toledo, in den Hauptstädten Italiens, überall im
Reich und bis hinauf nach Dänemark und Schweden ; auf 25 000
berechnet man heute die Zahl der Bücher, die noch im 15. Jahr-
hundert gedruckt wurden, auf 12^L_ Millionen ihre Exemplare. Dann
aber, in dem neuen Jahrhundert, das den Sturz der alten Kirche
sah, kamen erst die wahrhaft großen Erfolge. Für die Ausbrei-
tung der neuen Ideen wurde die Entdeckung des Mainzer Bür-
gers der gewaltigste Hebel. Nur die Druckerpresse hat es er-
Zum Gedächtnistage Johann Gutenbergs. 17
möglicht, daß die 95 Thesen Martin Luthers in 14 Tagen, »als
ob Engel die Boten wären«, durch Deutschland getragen wurden;
und sie war die Fackel, deren weithin zerstiebende Funken in den
12 Artikeln der rebellischen Bauern den ungeheuren Brand ent-
fachten, der das Leben der Nation einen Moment mit Vernich-
tung bedrohte: als ob das pessimistische Wort, mit dem Luther
sie nannte, wahr werden sollte, daß sie das letzte Auflodern der
Welt sei vor ihrem Erlöschen. Aber zu gleicher Zeit öffnete sie
tausend Wege, auf denen das Wort, an das der Reformator glaubte,
in die Herzen seiner Deutschen einzog, und die Gedanken, die
die Welt erneuert haben, Macht und Leben gewannen. So hat
sie die Gedankenwelt jener Tage befruchtet und beflügelt, daß
sie wie eine Windsbraut über alle Lande dahinfuhr, und ist eine
Kraft geworden gleich groß zum Schaffen und zum Zerstören,
wie alles, was Menschenwitz erfindet.
Nicht als ob die Reformation ausgebHeben wäre, wenn
Gutenberg nicht gelebt hätte. Deren Ursachen liegen tiefer. Alle
geistigen und politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kräfte,
die unaufhaltsam auf sie hinarbeiteten, waren bereits da, als jener
über seine Erfindung sann, und reichen weit über seine Lebens-
zeit zurück. Er selbst aber blieb von dem neuen Geist, wie ge-
waltig dieser sich regen mochte, unberührt. Nehmen wir wahr,
daß seine Erfindung in die Epoche fällt, da der Humanismus in
Italien in seiner Vollkraft stand und nördlich der Alpen seine
ersten Blüten trieb! Eben Gutenbergs Generation hat in unserem
Vaterlande seine ersten Träger gestellt; und gerade in den Reichs-
städten des Westens und Südens finden wir die frühesten Re-
gungen des neuen Geistes auf deutschem Boden. Längst war
die Opposition gegen Rom erwacht; ja, sie hatte sich niemals
radikaler und in aUen Schichten und Provinzen der Kirche all-
gemeiner gezeigt als in den Jahren seiner Jugend und Mannheit
zur Zeit des Konstanzer und des Baseler Konzils; die Städte,
in denen er wirkte, waren fast die Zentren dieses Widerstandes
gewesen, und zu seinen Landsleuten zählten IMänner wie Johann
Wessel, die als wahrhafte Vorläufer Martin Luthers bezeichnet
werden können. Aber nichts in seiner Arbeit und in dem, was
Lenz, Kleine historische Schriften. 2
13 Kleine historische Schriften.
wir von ihm wissen, deutet darauf hin, daß er diesen Neuerern
nahe gestanden hätte. Es ist wahr, das erste Buch, das er unter
die Presse brachte, war eine lateinische Grammatik; aber es war
der Donatus, das unzälüigemale abgeschriebene Handbuch des
Mittelalters, gegen dessen geistlose Methode alle Humanisten
eiferten. Das zweite Druckerzeugnis, das seine Presse verließ,
war ein Ablaßbrief, in dem ein geistlicher Rat König Lusignans
von Cypern im Namen des Papstes allen den Christgläubigen die
Vergebung der Sünden verhieß, die innerhalb dreier Jahre das
Kreuz gegen Türken und Sarazenen nehmen würden. Es folgten
eine Mahnung zum Kampf wider die Ungläubigen, Bibeldrucke,
jedoch der Vulgata, des Textes der Kirche, Psalterium und Mis-
sale, scholastische Schriften theologischen oder juristischen In-
halts; aber der große Meister war längst aus seiner Werkstatt
verdrängt, als Fust und Schöffer zum erstenmal ihr Glück mit
einem klassischen Werk, den Officien Ciceros, versuchten. Wir
erkennen, w^as diese ersten Drucker anstrebten, was Gutenberg
selbst zum Erfinder gemacht hat: das, was alle Welt gebrauchte,
wollte er ihr geben; nicht sowohl die Verbreitung der Ideen als
die Befriedigung des Massenbedürfnisses war sein Ziel; wie es
schon die Absicht der Briefmaler, der Holztafeldrucke und Block-
bücher gewesen war, die vor oder auch nach der Entdeckung
des Druckes mit den beweglichen metallischen Lettern sich auf-
taten. Nichts ist hierfür bezeichnender, als daß die ersten Einzel-
blätter des Holztafeldrucks Heiligenbilder waren — und Spiel-
karten. Überhaupt aber sind die Drucke, welche die Mainzer
Presse verließen, ein redendes Zeugnis dafür, wie eng noch zu
ihrer Zeit das deutsche Leben von den hierarchischen Formen
umschlossen war, wie selten und ungehört die Humanisten und
wie gering das Bedürfnis war nach reinen Quellen der Bildung.
In Italien lebte der neue Geist schon weit über loo Jahre; Schrift-
steller hatten dort geblüht, zu denen alle Jahrhunderte seither
mit Ehrfurcht emporschauen ; alle Stufen von dem engen Anschluß
an die mittelalterliche Weltanschauung bis zur zersetzenden Skep-
sis hatte der Humanismus dort bereits durchlaufen. Auffallend
genug, daß die Itahener, die alle Klosterbibliotheken Deutsch-
Zum Gedächtnistage Johann Gutenbergs. j[9
lands nach den alten Codices durchstöberten und selbst so uner-
müdlich im Abschreiben der Klassiker und in der Füllung ihrer
Bibliotheken waren, dazu Beobachter und Forscher von größter
Sicherheit und feinster Spürkraft, unter denen die reichsten Künste,
wenn nicht des Griffels, so doch des Pinsels und des Meißels
blühten, und die mit einem Wort die Bahnbrecher der neuen
Bildung waren, nicht dies gewaltigste Werkzeug zu ihrer Aus-
breitung erfunden haben. Aber freilich, die italienische Bildung
selbst war nur die einer Klasse, einer dünnen und von dem Kör-
per der Nation fast losgelösten Schicht: ihre Träger hatten gar
nicht das Bedürfnis, in die Tiefen herunterzusteigen; sie wollten
weniger lehren als genießen; sie waren die feinste Blüte ihrer
Nation, aber es fehlte der breite und tiefe Boden, in dem sie
hätten Wurzel schlagen können. Und diese geistigen Aristokraten
glaubten, da sie den Fürsten und Magistraten und endlich auch
dem obersten Hirten der Christenheit und seinem ganzen Hof so
nahe standen, daß sie die Masse übersehen und entbehren könnten.
So mußten sie wohl absterben, sobald sich ihre Freunde von ihnen
trennten und der Boden, der sie alle trug, sich wieder mit dem
nie ganz überwundenen Geiste erfüllte, dem am Ende auch sie
sich wieder unterwerfen mußten. In Deutschland hingegen war
von jeher, wie in den Benediktiner- und Zisterzienserklöstem des
Mittelalters, so jetzt in den Städten ein zunächst freilich engerer,
in sich gekehrter, aber auf den Kern gerichteter, ernst und me-
thodisch arbeitender Geist lebendig. Er ward auch dann nicht
ertötet, als der volle Strom der italienischen Bildung vor allem
doch wieder kraft der neuen Erfindung nach dem Norden hinüber-
drang. Denn nun bemächtigte sich das literarische Italien der
deutschen Kunst. Aldus Manutius errichtete in Venedig die
Druckerei, aus der die Klassiker in Masse hervorgingen. Aus
seinen schönen Ausgaben haben die Deutschen, mochten sie in
ihren Städten bleiben oder in das gelobte Land der Bildung hinüber-
wallen, gelernt, bis der neue Geist in ihrem Vaterlande selbst er-
starkt war und die deutschen Drucker die Klassiker unter ihre
Presse brachten. Auch jetzt büeb den meisten der deutschen
Humanisten der bürgerlich-beschränkte, methodisch-lehrhafte Sinn
20 Kleine historische Schriften.
eigen; von Anfang an richteten sie ihr Augenmerk auf die Be-
lehrung des Volkes, auf die Errichtung und die Reform der Schulen.
Und so erwuchs aus der Verschmelzung der von italienischem
Geiste befruchteten Antike und des tiefsinnigen, auf die Quellen
religiöser Bildung gerichteten deutschen Charakters die Refor-
mation, die den Genius unseres Volkes zu seiner höchsten Ent-
faltung und zur universalen Erneuerung des christlichen Geistes
geführt hat.
Johann Gensfleisch zum Gutenberg aber, der Mainzer Bür-
ger, war ein Handwerker, und so ist auch seine Kunst ein Werk-
zeug geblieben. Die positive, frei mrkende, von innen her schaf-
fende Kraft war nicht in ihm und seinem Werke, es müßte denn
sein, daß die Massen Wirkung, die es gehabt und von Anfang her
angestrebt hat, selbst als eine positive Kraft gelten sollte. Aber
der Geist, der die Tiefen bewegt, führt auf Quellen zurück, die
jemseits aller Technik hegen. Das Altertum, das die Kunst des
Drückens noch nicht kannte, hat dennoch in den Künsten und
auf allen Gebieten des geistigen Schaffens Formen und Gedanken
hervorgebracht, in denen wir noch heute unsere erhabensten Vor-
bilder verehren; und das 19. Jahrhundert, so glänzend und viel-
gepriesen es um seiner technischen Errungenschaften willen da-
stehen mag, hat nur Ursache, auf die vergangenen, so viel ärmeren
und beengteren Zeiten, in denen aber der Geist seine mächtigen
Flügel geregt hat, mit Ehrfurcht zurückzuschauen. Die Technik
kann die Güter gewaltig vermehren, sie mag die Kräfte des Men-
schen in ungeahntem Maße beflügeln, aber sie vermag nicht aus
eigener Kraft das Reich des Idealen zu gestalten. Ihre Kunst
bewährt sich, um die Massen zu bezwingen, die Ideen zu verbrei-
ten. Stärke in allen Sphären des Daseins zu erzeugen; aber dem
Reiche der Ideen gegenüber ist sie an sich neutral: unermeßlich
in ihrer Bedeutung als Hilfskraft, ist sie an sich selbst ohnmächtig,
sobald es gilt, den Tiefen des Lebens nachzugehen. Sie kann
schaffen, hemmen und zerstören, den Geistern des Fortschritts
dienen und denen der Verneinung. All die assimilierende, völker-
verbindende Kraft, die man ihr wohl zuschreiben möchte, ist
nicht imstande gewesen, die Ideale des Weltfriedens und der
Zum Gedächtnislage Johann Gutenbergs. 21
Humanität, die das i8. Jahrhundert hervorrief und predigte, zu
erhalten: vielmehr haben alle Errungenschaften ihrer Art nur
dazu gedient, den Streit, der die Welt erfüUt, unerbittlicher und
ungeheurer zu machen als je und den nationalen Egoismus, der
heute das Wort führt, mit immer stärkeren Waffen auszurüsten.
Aber nicht auf Verbreiterung des menschlichen Wissens und
Könnens, die nur zu leicht Verflachung wird, kommt es in letzter
Linie an, sondern auf ihre Vertiefung. Und nur wer die Idee um
ihrer selbst willen liebt, in den Studien wie im Leben, wird die
Kraft ermessen können, die in der Tiefe ruht, und die zuletzt
auch der Welt der Erscheinungen, dem Leben der Staaten und
der Nationen wie jedem Einzeldasein zugrunde liegt und sie im
Innersten zusammenhält.
8832-^^^
Janssens Gesdiichte des deutsdien Volkes.
(1883.)
»Ich vermiß mich nit, über die hohen tannen zu fliehen;
verzweifel auch nit, ich müg über das dürre gras kriechen.«
Martin Luther 1518.
»Denn es war alles ein einziges Gebilde, aus den Keimen,
\Nelche die früheren Jahrhunderte gepflanzt, eigentümlich empor-
gewachsen, in dem sich geistliche und weltliche Macht, Phantasie
und dürre Scholastik, zarte Hingebung und rohe Gewalt, Reli-
gion und Aberglaube begegneten, ineinander verschlangen und
durch ein geheimes Etwas, das allen gemeinsam war, zusam-
mengehalten ^^^lrden, — mit dem Anspruch der Allgemeingültig-
keit für alle Geschlechter und Zeiten, für diese und jene Welt,
und doch zu dem markiertesten Partikularismus ausgebildet,
unter allen den Angriffen, die man erfahren, und Siegen, die man
erfochten, unter diesen unaufhörlichen Streitigkeiten, deren Ent-
scheidungen dann immer wieder Gesetze geworden waren«: in
diesen Zügen faßt Ranke das Gesamtbild der Weltverfassung
welche durch Luthers Reformation zusammenbrach, in dem Augen-
blick zusammen, wo er sich der Darlegung der Kräfte zuwendet,
welche die Zerstörung gebracht haben. Eines der wenigen Worte,
die wir bisher von ihm über das Mittelalter besitzen: niemals ist
dieses kürzer und erschöpfender charakterisiert worden. Keines-
wegs aber zieht Ranke sein Urteil von den Jahrhunderten ab, die
wir als die Blüteepoche der mittelalterlichen Welt zu bezeichnen
pflegen, sondern gerade von den Zuständen und Persönlichkeiten,
in deren Mitte Luther aufgewachsen ist, zu denen er in den eng-
Janssens Geschichte des deutschen Volkes, 23
sten Beziehungen gestanden, mit denen verbündet oder kämpfend
er die neuen Grundlagen des Daseins geschaffen hat. Wenn
neuerdings mehrfach und durchaus richtig als Notwendigkeit
betont worden ist, die Denk- und Lebensweise der vorreforma-
torischen Epoche zu ergründen, das bis an Luthers Auftreten
unvermittelte Heranreichen des Mittelalters in Kultur und Po-
litik zur Anschauung zu bringen, so wird, wer sich immer diese
Aufgabe stellt, auf jene Skizze Rankes über die »rehgiöse Stel-
lung des Papsttums« zurückgreifen müssen; er möchte wenige
wesentliche Züge seinem Bilde hinzufügen können, welche dort
nicht gestreift sind.
Das Buch, welches hier nochmals einer zusammenfassenden
Besprechung unterzogen werden soll, gibt selbst dafür in seinem
ersten Teil den besten Beweis. Denn wie verschieden auch der
Standpunkt Janssens von dem Rankes sein mag — und es gibt
keine feindseligeren Gegensätze — , welche Mühe von jenem an-
gewandt sein mag, um die seiner Stellung angemessene Beleuch-
tung und Gruppierung der Tatsachen zurecht zu bringen, so
lesen sich doch ganze Partien bei ihm wie Ausführungen jener
Rankeschen Sätze: das scholastische Treiben z. B. an den Univer-
sitäten, die Statistik der Bautätigkeit, der Skulptur und Malerei,
soweit sie noch auf dem Grunde mittelalterlicher Kirchlichkeit be-
ruhten, und der Gebetbücher, die Schilderung der Pilger-, Wunder-
und Reliquiensucht, von der alle Schichten der Nation beherrscht
waren, und so fort.
Indem nun Janssen sich auf jeder Seite zu den Idealen dieser
Epoche, wie er sie eben deutet, bekennt, sie als die sittliche und
materielle Glanzzeit unseres Volkes bewundert, ihre Vernich-
tung durch Luther und sein Werk aber als das kläglichste Un-
heil, das uns jemals widerfahren ist, bejammert, können wir
ihm gegenüber unmittelbar mit den Worten fortfahren, welche
Ranke an jene Betrachtung vor bald fünfzig Jahren gehängt hat:
»Ich weiß nicht, ob ein vernünftiger, durch keine Vorspiegelungen
der Phantasie verführter Mann ernsthaft wünschen kann, daß
dies Wesen sich so unerschüttert und imverändert in unserem
Europa verewigt hätte: ob jemand sich überredet, daß der echte,
24 Kleine historische Schriften.
die volle und unverhüllte Wahrheit ins Auge fassende Geist da-
bei emporkommen, die männliche, der Gründe ihres Glaubens
sich bewußte Religion dabei hätte gedeihen können.« Das gerade
ist der Eindruck, den die Lektüre dieses Buches immer wieder
erweckt: der Zweifel, ob der Verfasser an die Ideale, die er in
der Vergangenheit findet, wirklich ernsthaft glaubt und seinen
Lesern im Ernst den Glauben an seine Beweisführung zumutet;
oder ob die Vorspiegelungen der Phantasie ihn so verführt haben,
daß er nicht mehr imstande ist, das Wahre von dem Falschen
und der Lüge zu unterscheiden und die Dinge zu sehen und zu
schildern, wie sie gewesen sind.
Er selbst hat uns freilich laut genug den Ernst seines Glau-
bens und die Integrität seiner Forschung gepriesen: nur die
Darstellung der Tatsachen sei seine Tendenz; gerade darum habe
er diese allein sprechen lassen; jedes theologisch-polemische oder
politisch-polemische Ziel habe er vollständig ausgeschlossen;
jedes subjektive Urteil habe er, der Freund protestantischer Männer,
der Eiferer für die gegenseitige Duldung der Konfessionen, der
Schüler des protestantischen Historikers Böhmer, vermieden,
und mit der ihm eigentümlichen Sanftmut vergelte er den Kriti-
kern, die seine Ehre angegriffen haben, nicht Gleiches mit Gleichem i).
Aber gerade die Art, wie Janssen hier seine Verteidigung
führt, verstärkt wieder den Eindruck, daß er es mit seiner Art,
Geschichte zu schreiben, nicht ernsthaft meinen kann. Denn wie
käme er sonst zu der Naivetät, in einer Sammlung von Buch-
ausschnitten aus Quellen und Darstellungen verschiedenster Epochen
den »objektiven Tatbestand« zu erblicken! Als ob der Bericht
über die Tatsache diese selbst sei, oder als ob eine Häufung von
Einzelheiten auch bei dem besten Willen zur Erkenntnis jemals
eine Idee von dem Gesamtbilde geben könne! Hat Janssen
auch nur einen Schimmer von dem Ernst historischer Methode,
so muß er an jenem Ort unbedingt auf Leser gerechnet haben,
welche nicht zu unterscheiden wissen zwischen den kümmerlichen
Resten der Überlieferung und dem dahinter ruhenden Grunde der
^) An meine Kritiker, erster Brief.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 25
Erscheinungen, welche nicht ahnen, daß die Sammlung jener die
allererste Vorarbeit ist, daß die Arbeit beginnt, sobald wir durch
ihre wirre und lückenhafte Hülle hindurch den Tatbestand zu
entdecken suchen. Glaubt er aber in Wahrheit, daß die Unsumme
seiner Anführungen »die reinen, objektiven Fakta« selbst sind, so
stellt er sich damit eben das Zeugnis aus, daß er den Rudimenten
der historischen Kritik ahnungslos gegenüber steht.
Übrigens kann niemand richtiger als er selbst seine Arbeits-
weise bezeichnen. Was er gibt, ist in der Tat nur eine Auswahl
von Daten, Exzerpten und Ausschnitten nach dem von Döllinger
früher aufgestelltem Muster, welche ihm geeignet erscheinen,
die ihm von seiner Weltauffassung diktierte Geschichtsbetrach-
tung zu belegen: so daß die Gegner derselben in jeder Weise
diskreditiert, die Anhänger in jeder Weise herausgestrichen werden.
Es fehlt nicht an eigenen Ausführungen; aber abgesehen davon,
daß sich ihr Inhalt auf wenigen Seiten rekapitulieren läßt, wer-
den sie auch äußerlich von dem fremden Material vöUig über-
wuchert. Man wird gering rechnen, wenn man von den fast
1900 Seiten der drei Bände 14 bis 1500 auf Kosten der fremden
Federn setzt.
Es versteht sich, daß auf ein solches Buch der Satz »in dem
Stil der Mensch« nicht Anwendung finden kann. Denn dazu
würde die Stileinheit gehören, während die Eigentümlichkeit
dieses Schriftstellers gerade die Stilvielheit ist. Urkunden, Briefe,
Zeitungen, Streit- und Lästerschriften, Chroniken des 16. und
Geschichtschreiber des 19. Jahrhunderts haben ihm die Seiten
füllen müssen. Im Gegensatz zu Döllinger hängt er die Zeug-
nisse nicht als Belegstellen Vorbemerkungen an, sondern setzt sie
mitten in den Fluß der eigenen Erzählung, als Abschnitt, Satz,
Satzglied, oft als einzelnes Wort. Meist sind es Zitate aus Schrift-
stücken der geschilderten Epoche selbst, doch wählt er auch gerne
moderne Zeugnisse. Es ist die bunteste Gesellschaft, die zu uns
redet, Papisten und Protestanten, Ausländer und Deutsche, Men-
schen des 16. und 19. Jahrhunderts, Verehrer der päpstlichen
Unfehlbarkeit und die nach nichts als Wahrheit suchenden Ver-
treter der modernen Geschichtsforschung — sie alle müssen her-
26 Kleine historische Schriften.
halten, um die Wunderblüte des römisch-katholischen Deutsch-
lands zu erheben und das Unkraut und Gift des lutherischen
Schismas bloßzustellen. Kaum eine Seite wird statt dieses bunt-
scheckigen Farbengewirres nur Janssens Feder zeigen. So sehr
hat er sich von dem fremden abhängig gemacht, daß er selbst
da, wo er keine Nebenabsichten verfolgt und ohne Mühe aus dem
eigenen Sprachschatz ausreichende Wendungen schöpfen konnte,
sich mit Gänsefüßchen vorwärts hilft ^).
Niemand wird nun sagen dürfen, daß für eine Epoche so ge-
waltiger geistiger und politischer Umwälzungen, wie die von Janssen
geschilderten hundert Jahre, 1500 Druckseiten eine große Vor-
arbeit darstellen, und daß die Literaturverzeichnisse, welche an
der Spitze der Bände prunken, einen ungewöhnlichen Aufwand von
Gelehrsamkeit bezeichnen. Die Verwertung von archivalischem
Älaterial ist für die vorliegenden Bände geradezu dürftig zu nennen ;
sie beschränkt sich auf wenige Aktenstücke aus den Frankfurter,
Luzerner und Trierer Sammlungen. Wenn Janssen für die folgen-
den drei Bände 300 durchgearbeitete Konvolute zählt, so wird
auch das auf Kenner geringen Eindruck machen: 300 Archive mit
30 000 Konvoluten möchten dem Umfange des Forschungsgebietes
vielleicht genügen. Selbst wenn uns der ungeheure Stoff in der
gedrängtesten Verarbeitung geboten wäre, dürften \vir über den
Umfang nicht erstaunen und nur in der Neuheit von Tatsachen
und Auffassung das eigentümliche Verdienst zu suchen haben.
Nimmt doch die Gedankenfülle, welche Ranke allein über die
zweite Hälfte des Zeitalters in seiner Deutschen Geschichte aus-
gebreitet hat, kaum weniger Raum in Anspruch. Da nun aber
bloß etwa der vierte Teil des Inhaltes auf Janssens eigene Rech-
^) Um die Bedeutung der Schlacht von Pavia zu kennzeichnen, schreibt
er: »Auch für Deutschland war der Sieg bei Pavia ,ein gar wichtig und er-
folgreich Schlachtenglück' . . . Aber Karl war ,von seinem Glücke in keinem
Wege betaumelt' . . . Der Kaiser wollte die Gefangenschaft seines lang-
jährigen Gegners nicht ,zu dessen Vernichtung benutzen', sondern den-
selben nur so schwächen, daß er nicht fürder mehr als .Störenfried der
Christenheit' die allgemeine Ruhe Europas gefährden könne . . . Aber die
Furcht, daß Karl auch Mailand mit seinen Reichen vereinigen könne, .be-
herrschte die Seele des Papstes'.« 3. Band, S. i — 4.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 27
nung kommt, so hat er kaum etwas anderes als einen kurzen Abriß
geben können, der äußerlich sogar von der betreffenden Partie
in dem großen Weber übertroffen wird ^).
Es ist die Skizze eines Zeitraums, der so vielseitig und
gründlich durchforscht worden ist, wie kaum ein anderer der
Geschichte: von dem Moment der Ereignisse ab bis auf unsere
Tage mit stets neuem Interesse, denn noch heute wirkt die Schei-
dung der Geister, welche sich damals vollzog, hundertfach um-
gebildet und doch in den gleichen Grundformen, in dem Gesamt-
^) Ich würde auf diese augenfälUgen Mängel des Werkes nicht so aus-
führhch aufmerksam machen, wenn die Gelehrsamkeit desselben bloß von
den namenlosen Skribenten in Tages- und Unterhaltungsblättem betont
wäre, von wo sie durch die Reklamen des Verlegers und der Parteipresse
nach allen Seiten verbreitet sind und das urteilslose Pubhkum vielfach
kaptiviert haben. Leider aber haben auch wissenschaftliche Zeitschriften
und sogar gelehrte Werke diesem Buche die Ehre wissenschaftlicher Be-
handlungsweise zuteil werden lassen oder gar die Tiefe des Studiums und
die Originaütät und Kunst seiner Darstellung lobend hervorgehoben. Hier
sei nur das Urteil Maurenbrechers in seiner »Geschichte der kathoUschen
Reformation« 380 Anm. zu S. 62 zitiert: »Das Lob ausgedehnter Belesen-
heit und sorgfältiger Studien wird man dieser Darstellung nicht bestreiten
dürfen, wenn man auch die einseitige Tendenz, der das ganze Unternehmen
dient, nicht bilhgt. Ja, ich halte es geradezu für verdienstHch, daß J. die
reformatorischen Bestrebungen vor Luther und die geistigen wie kirch-
üchen Zustände in Deutschland beim Ausgang des Mittelalters zu schildern
versucht in völliger Selbständigkeit von dem Urteil der protestantischen
Reformatoren : daß auf diese Weise die Dinge vielfach sich günstiger dar-
stellen als in der bisher üblichen Beleuchtung, stimmt mit den Ergebnissen
meiner eigenen Arbeiten überein. Aber J. übertreibt das günstige Bild,
indem er alle Schatten unterdrückt oder abschwächt, alles Licht steigert
und erhöht.« Wenn M. weiterhin meiner Anzeige in der H. Z. (37,523)
ein »Übermaß der Polemik« vorwirft, weil ich es getadelt, daß J. nicht
von Erasmus, Hütten, den epist. obsc. viror. und ähnhchem geredet habe:
»es lag auf der Hand, daß nach J.s Plan alles das Vermißte dem 2. Bande
vorbehalten sein mußte; und dort hat es seine Stelle gefunden« — so ver-
kennt er den Sinn des betreffenden Satzes und der Anzeige überhaupt.
Daß J. die sog. »jüngere Humanistenschule« aus seinem Werke heraustun
würde, habe ich weder gesagt noch geglaubt, sondern nur ihre Entfernung
aus dem Zusammenhang, in den sie gehören, bloßstellen, die Zerreißung
der historischen Kontinuität nach willkürhchen Gesichtspunkten, eben den
»Plan« J.'s charakterisieren wollen.
28 Kleine historische Schriften.
umfang des politischen und geistigen Lebens als der bestimmende
Grundzug fort. Noch immer freilich befinden wir uns auch vor
dieser Epoche in den Anfängen der Erkenntnis. Ist es richtig,
daß die kombinierende Tätigkeit eigentlich erst beginnen sollte,
sobald das gesamte auffindbare Material zur Hand ist, so brauchen
wir nur auf die unermeßlichen Quellenschätze zu sehen, welche
von jeder Forscherhand unberührt in allen Archiven Europas
ruhen, um die Entfernung zu bezeichnen, in der wir noch heute
vom Ziele stehen, und zu begreifen, daß alle zusammenhängen-
den Darstellungen nur vorahnende Versuche sein können, welche
durch die Fülle der zukünftigen Detailuntersuchungen zu er-
proben und ohne Frage in tausend Einzelheiten, wie auch wohl
in den Grundrichtungen selbst zu verbessern sind. Trotzdem aber
brauchen wir uns nur den Reichtum der bisherigen Spezialfor-
schungen über die Reformationszeit vorzustellen, um nur ein
Beispiel zu nennen, die gewaltigen Aktenmassen, welche von
Molini, Ribier und Brewer über den zweiten Krieg zwischen Karl V.
und Franz I. zusammengebracht und teilweise schon detailiert
verarbeitet sind, und hiermit die wenigen Exzerpte, aus denen
Janssen das ihm passende Bild dieser Ereignisse zusammensetzt,
vergleichen, um die Dürftigkeit seiner Sammelarbeit zu erkennen.
Den Lesern der Historischen Zeitschrift gegenüber wird es
kaum mehr nötig sein, was an anderer Stelle immerhin noch einmal
gesagt werden mochte ^), auf die Unvereinbarkeit des Zieles,
welches wir der Geschichte setzen, mit demjenigen hinzuweisen,
nach dem ein Historiker wie Janssen durch seinen Glauben zu
arbeiten gezwungen ist. Wenn er unser Forschungsprinzip für sich
beansprucht, so tut er das aus Opportunitätsgründen, da man
nun einmal heutzutage ohne dasselbe nicht gut bestehen kann.
In Wahrheit würde er der Objektivität in unserem Sinne, selbst
wenn er es wollte, gar nicht dienen dürfen, ohne seiner höchsten
Pflicht untreu zu werden. Was diese aber darunter versteht, ist
ganz kürzlich in dem hervorragendsten Organ seiner Quasi- Wissen-
schaft, dem Historischen Jahrbuch der Görres- Gesellschaft, rund
^) Politische Wochenschrift 1882, 28. Oktober.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 29
heraus gesagt worden: »Ein katholischer Autor muß es geradezu
als seine strenge Pflicht erkennen, die prinzipiell allein richtige
und deshalb objektive Auffassung der Kirche von der Glaubens-
spaltung zum klar betonten Grundgesetz der eigenen historischen
Anschauung zu machen und von diesem Gesichtspunkte aus die
kirchenpolitischen Vorgänge der Zeit maßvoll und gerecht in ihrem
wahren Pragmatismus zu würdigen« ^).
Wir selbst würden das Ziel der ultramontanen Geschichts-
forschung nicht schärfer bezeichnen können: mit den Zielen Roms
ist der Wille Gottes in der Weltentwickelung für jedes Jahr seit
Christus umschrieben, und Aufgabe der Geschichte lediglich, die
ewig gleiche Heiligkeit derselben durch die Jahrhunderte hindurch
nachzuweisen und die häretischen Abweichungen von ihnen zu
brandmarken. Die Erkenntnis ist nicht erst zu suchen. Der Wille
Roms reguliert so Glauben wie Wissenschaft; diese hat nur zu
beweisen, wovon jener befiehlt, daß es sei — wie Kardinal Man-
ning sagte: »Die Dogmatik hat die Geschichte überwunden.«
Aus dieser prinzipiellen Differenz ergibt sich die Form der
Kritik, welche wir einem solchen Gegner zuzu\\-enden haben.
Sonst richtet sich diese in erster Linie mit an den Autor , den
wir durch unsere Einwendungen zu überzeugen hoffen. Das ist
bei Janssen nicht möglich, er müßte denn unsern Standpunkt
annehmen; der Belehrung hätte die Bekehrung voranzugehen;
sein Wollen, nicht sein Verstehen müßte sich ändern. Wie nutz-
los aber eine Beurteilung in den gebräuchlichen Formen ihm
gegenüber ist, hat die umfängliche Replik gezeigt, mit welcher er
auf einige Kritiken hervorgetreten und worin er nur wieder zu
seiner alten Darstellungsform zurückgekehrt ist; er wird, wenn
er auf die zahlreichen Nachweisungen, die man darauf seinen
Mißverständnissen und Umstellungen gewidmet hat ^) , ant-
1) Anmerkung der Redaktion zu einer Rezension vonLossens »Köl-
nischem Krieg«, worin dessen »ruhige Objektivität« lobend hervorgehoben
war, 3, 707.
*) Vor allen K ö s 1 1 i n mit seiner gerade in ihrer Schüchtheit ver-
nichtend wirkenden Kritik »Luther und Janssen. Der Reformator und ein
ultramontaner Historiker. «
30 Kleine historische Schriften.
Worten will, doch immer wieder zu seinen gewohnten Künsten
greifen ^).
Und so mag hier von der leichten Mühe, einzelne Unter-
stellungen und Verdrehungen nachzuweisen, abgesehen werden.
Wohl aber wird es sich, zumal dies sonst nirgends geschehen
ist, auch an dieser Stelle lohnen, den Inhalt und Zweck der Aus-
führungen und Zwischenbemerkungen, mit denen Janssen seine
Sammelstellen verbindet, ausführlicher zu besprechen, um so die
Stellung des Buches in der historischen Literatur zu bezeichnen.
Noch interessanter Nvürde es hierfür sein, wenn wir zugleich den
Zusammenhang der darin herrschenden Geistesrichtung mit der-
jenigen einer früheren Epoche, aus der sie sich entwickelt hat,
nachweisen könnten; wenigstens eine Vergleichung beider soll in
Kürze versucht werden.
Ein Rezensent der Antikritik Janssens hat seinem Werke
eine gewisse Verhüllung des Standpunktes gemäß seiner eigenen
Behauptung völliger Tendenzlosigkeit nachgesagt. Ich kann
nicht finden, daß gerade dieser Vorwurf verdient wäre. Im
Gegenteil, man kann die eigene Stellung kaum deutlicher be-
zeichnen, als Janssen es direkt und indirekt in jedem Absatz seines
Buches tut. Gleich das Symbol, mit dem der Originaleinband
geziert ist, der österreichische Doppeladler als das Wahrzeichen
des deutschen Volkes, dessen Niedergang durch den Protestan-
tismus geschildert wird, offenbart mit wünschenswertester Deut-
lichkeit die wissenschaftliche und politische Meinung des Verfassers :
die Verehrung des Hauses Habsburg als Vormacht der römisch-
katholischen Gedanken, das ist der Grundakkord aller Ausfüh-
rungen und Anführungen, dasselbe Thema, welches uns aus allen
Geschichtswerken dieser Richtung, aus allen Jahrgängen der
Historisch -politischen Blätter, aus allen literarischen und politi-
schen Organen der Partei bis zum borniertesten Kaplanblatt
herunter, in tausend Variationen ewig die gleiche Monotonie,
entgegenklingt. Schade nur, daß der heutige Flug des Doppel-
adlers schon nicht mehr ganz die Richtung einhält, welche in
^) Das hat er, seitdem dies geschrieben wurde, in einem » Zweiten
Wort an meine Kritiker« getan.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 31
früheren Jahren den romantisch-kathohschen Idealen eine reale
Bedeutung gab.
Jedermann kennt die Idee des Imperiums, wie die Vorstel-
lungen des Mittelalters sie geformt haben: vielleicht das wunder-
barste Gebilde seiner Phantasie, in dem alttestamentliche und
antike, mittelalterliche und moderne Elemente sich durchdringen:
von jeher halb Traum, halb Wirklichkeit, niemals realisiert und
niemals aufgegeben, ein Glaubenssatz nicht für die individuelle
Erlösung, aber für das allgemeine Bewußtsein, soweit Roms Ge-
bote galten. Nur in dieser Form ist jenem Zeitalter die Welt-
entwickelung überhaupt vorstellbar, in dem Rahmen der über
alle nationalen Schranken hinausreichenden Monarchie, deren
vier die Geschichte bis an das Weltende ausmachen, in deren
vierter die Welt steht, an deren Grenze der jüngste Tag, das Welt-
gericht und die Welterneuerung gesetzt ist. Noch immer ist
Schauplatz der Geschichte der alte orbis terrarum, die mappa
mundi, die um das Mittelmeer gelagerte Welt, wie sie von Rom
seit Augustus zusammengehalten, von den Barbaren des Nordens
und Ostens zertrümmert worden ist, und deren Herstellung nun
als das höchste politische Ideal gilt. Es gibt noch kein Europa;
weder Rußland noch die um den Bosporus gruppierten Nationen
gehören zu ihm; nur der Occident ist der Machtkreis des Im-
periums, aber wo sich innerhalb desselben irgend überschüssige
Kraft entwickelt, bietet sich ihr zur Deckung und Förderung dar
die Monarchie. Neben und über ihr als Nebenbuhlerin die Kirche,
die ihr feindlichste und innerlich doch verwandteste Gewalt: in
denselben Grenzen sich ausdehnend, die gleiche Universalität, gleich
absolute Ansprüche unermüdlich in der Propaganda wiederholend
und behauptend, anknüpfend in der Geschichte an dieselbe Epoche,
denselben Staat, dieselbe Stadt — Rom ist für beide Ausgang
und Ziel der Herrschaft. Es erwacht wohl die Ahnung einer tiefe-
ren Begründung der politischen Gewalt, der Scheidung zwischen
den Sphären des geistlichen und weltlichen Schwertes, aber auch
sie knüpft nur wieder an die überlieferte Vorstellung an, die sie
mit neuen hohen Phantasien umkleidet. Mögen dann diese aus
den Regionen einer universal gestalteten prophetischen Poesie in
,"^2 Kloine hislorischo Schriften.
die Hörsäle der l'niversitäten und die Kanzleien der Regierungen
hinabdringen, zu Programmen des politischen Handelns werden,
so treten sie doch niemals aus den überlieferten Denkformen
heraus. Daß die Walil zum Imperium in den Händen der deut-
schen Kurfürsten ruhe, konnte deutsches Staatsrecht werden
und die Anerkennung des Abendlandes finden, aber nirgends,
auch in Deutschland nicht, kam man dahin, daß das Kaisertum
nicht in Rom seine Vollendung finde: selbst die Imperialisten
Ludwigs des Bayern setzen an die Stelle des Papstes und der
Peterskirche doch nur wieder das römische Volk und das Kapitol.
Nicht einmal die Neubelebung des antiken Geistes vermag den
Bann zu brechen. Denn sie will nur wieder die Reinigung der
vorhandenen abendländisch-römischen Kultur von den scholasti-
schen Trübungen bedeuten; sie weiß nicht, daß das Geistesleben der
römischen Zeit unvollkommener Abglanz einer höheren Bildung,
selbst eine Renaissance ist ; in unbestimmter Feme, kaum gekannt,
schimmern ihr die Koryphäen des hellenischen Geistes, und ganz
verschlossen vollends bleibt ihr die Erkenntnis, daß auch das
Griechentum national bedingt und nur die Fortbildung älterer
Kulturen war, Obschon selbst bewußter Ausdruck nationalen Er-
wachens, wie jeder echte geistige Fortschritt, strebt die Renaissance
doch über die nationalen Grenzen hinweg das allgemeine Ideal
an, welches sie in der Römerkultur verwirklicht glaubt. Und so
kann sie der politischen Einheit derselben so wenig feindlich sein
wie ihr selbst: indem sie das Imperium zu antikisieren meint,
umgibt sie es nur mit einem neuen phantastischen Schimmer,
glaubt aber an seine Realität ebenso fest wie an die klassischen
Ideale.
Diese so widerspruchsvolle und oft gewandelte Idee ist nun
das politische Ideal, zu welchem Janssen sich bekennt und dessen
Nachblüte unter dem Kaisertum Maximilians er bewundert,
dessen Verfall unter Karl V. er beklagt. Auch er glaubt an seine
Realität ebenso wie an seine göttliche Begründung, freilich nicht
als Schüler Petrarcas und Dantes, aber als Zögling des hl. Thomas
von Aquino. Seine historische Verwirklichung sieht er nach der
Vorstufe unter Karl dem Großen in der Epoche, welche mit der
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 33
Kaiserkrönung Ottos des Großen anhebt und mit dem Unter-
gang der Hohenstaufen abschließt. Das Kaisertum, so lauten
seine Ausführungen, aus päpstlicher Verleihung entstanden, all-
zeit der freien Verfügung des Papstes anheimgegeben und an
sich nicht einer einzelnen Nation gehörig, ist doch seit 962 wie
durch ein vertragsmäßig zugestandenes Vorrecht an die Deutschen
übergegangen. Seitdem war die jedesmalige Krönung gleichsam
eine Besiegelung dieses Vertrages. Schutz der Kirche gegen Un-
gläubige, Irrlehrer und Schismatiker ist das Gelübde des Ge-
krönten, der durch den Nachfolger Christi auf Erden zu dem
höchsten weltlichen Oberhaupte erhoben, der Eck- und Grundstein,
gleichsam die Verkörperung der Idee alles rechtlichen Besitzes,
aller irdischen Rechtsordnung wird, wie fern auch dem Gottes-
reich auf Erden der Gedanke liegen mag, neben sich noch ein
gleichförmiges, alle Nationen unterwerfendes, alle Verschieden-
heiten verwischendes Weltreich aufzurichten. Vielmehr ist eben
die Erhaltung der nationalen Eigenarten, der volkstümlichen
Sondergestaltungen, die Wahrung des Friedens und der Ord-
nung im Innern der Christenheit und ihre gemeinsame Betäti-
gung im Kampf gegen alle Feinde des Kreuzes die gottgewollte
Aufgabe des Kaisertums. Keine Nation konnte sich besser da-
zu eignen als die unsere, welche schon in sich selbst, in ihren ein-
zelnen Stämmen gleichsam ein Volk von Völkern ist. Blinde
Eroberungsgier lag so wenig in ihrem Wesen, daß sie trotz ihrer
Übermacht die ganze weite Reichsgrenze gegen Frankreich von
den Ausflüssen der Scheide bis zu denen der Rhone unverrückt
bestehen ließ. Das Kaisertum einigte den Verband der Stämme,
und der durch seine Romzüge erfolgte großartige Aufschwung
des nationalen Bewußtseins führte zu jenen kühnen Unterneh-
mungen auswärtiger Kolonisation, die selbst nach dem Verfall
der kaiserlichen Macht noch länger als ein Jahrhundert fort-
dauerten. Doch wurden deshalb keineswegs die zum Reich ge-
hörigen Slawen vergewaltigt, ebenso wie auch den romanischen
Stämmen unter dem Imperium ihre Sonderentwickelung unbe-
kümmert blieb. Um so besser konnten unter der kaiserlichen
Schirmherrschaft die christlichen Völker ihre gemeinsamen Auf-
Lenz, Kleine historische Schriften. 3
34 Kleine historische Schriften.
gaben nach außen erfüllen: gingen die Kreuzzüge auch nicht vor-
zugsweise auf das unmittelbare Eingreifen des Kaiserreiches zu-
rück, so wären sie doch unmöglich gewesen, wenn nicht während
derselben jenes für die Aufrechterhaltung der europäischen Staaten-
ordnung eine sichere Bürgschaft geboten hätte. Der Grundgedanke
der ganzen Kreuzzugspolitik, »Friede und Einigkeit unter den
christlichen Völkern behufs Vereinigung ihrer Gesamtkräfte zum
Kampf gegen den Glaubensfeind«, war nur durchführbar, weil
die Macht und Festigkeit des Kaisertums jeden eroberungs-
gierigen Staat des Abendlandes, vor allen also Frankreich
daran hinderte, die durch die auswärtigen Unternehmungen
in Anspruch genommenen christlichen Völker in der Heimat
zu bedrängen ^),
Man muß es bedauern, daß Janssen die Allgemeinheit dieser
Sätze nicht durch einige Beispiele illustriert hat, aus denen diese
Verwirklichung der thomistischen Staatslehre im Mittelalter be-
sonders hervorginge: dann möchten wenigstens den Lesern seines
Buches, welche auf allgemeinere Bildung Anspruch machen, einige
Bedenken an der Gelehrsamkeit und Originalität des Verfassers
gekommen sein.
In erster Linie werden ihm wohl in seinem Geschichtsbilde
die machtvollen Regierungen eines Ottos des Großen und Hein-
richs HL vorgeschwebt haben — mithin die Zeiten, welche den
Glanz der kaiserlichen Herrlichkeit auf dem dunkelsten Grunde
römischer Venvorfenheit wiederspiegeln. Er selbst datiert ja das
Blütenalter der Menschheit von der Übertragung des Kaisertums
an Otto L und erinnert damit an den Sohn des Tyrannen Albe-
rich, für den jener Akt die Vorstufe zum eigenen Fall wurde,
und dem der Kaiser, da er ihn richtete, Verbrechen nachweisen
konnte, welche damals und in allen Zeiten zu den verruchtesten
gehört haben. Ohne Frage hat dann die Kraft und Zucht des
deutschen Wesens in der »aufgelösten und verfaulten Kultur«,
als deren Repräsentant Papst Johann XIL erscheint, wie ein
erfrischender Luftzug gewirkt, aber ebenso gewiß ist es, daß die
^) I, 421 — 423. 494 f. 501 f., alles wörtliche Anführungen.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 35
Verstrickung des Sohnes Ottos in die italienische Politik dem
rüstigen Vordringen des Deutschtums in den slawischen Gebieten
unter den beiden Vorfahren eine furchtbare Katastrophe und
einen durch fast zwei Jahrhunderte fortwirkenden Rückgang
gebracht hat. Zu keiner Zeit ist das politische Ideal Janssens
wörtlicher erfüllt gewesen als in den kurzen Jahren, wo Otto III.
als »Knecht der Apostel« auf dem Aventin residierte, in dem
starren Prunk byzantinischer Etikette, eng verbunden mit dem
deutschen und mit dem französischen Papst und mit jenem slawi-
schen Heiligen, gleich ihnen erfüllt von den Träumen einer neu-
römischen, universalen Theokratie und durchglüht von dem Feuer
weltentsagender Askese und welterobernden Bekehrungseifers —
und niemals ist der undeutsche Charakter des mittelalterlichen
Kaisertums krasser zutage getreten als unter diesem Sohn einer
griechischen Kaisertochter, welcher dem ungarischen und sla-
wischen Volkstum auf Kosten der deutschen HerrschersteUung
nationale Kirchenzentren schuf und trotzdem hinter dem sächsischen
Erneuerer und dem fränkischen Begründer des occidentalischen
Imperiums an universaler Macht ebenso weit zurückstand wie an
persönlicher Kraft und nationaler Empfindung. Nur in größerem
Stil wiederholt das ii. Jahrhundert dieselben Erscheinungen:
glänzende Machtentfaltung des durch deutsche Kraft zusammen-
gehaltenen Kaisertums neben tiefstem moralischem wie politischem
Verfall der römischen Kirche: das Machtgebot des sittenstrengen,
mit den romanischen Reformatoren verbündeten deutschen Herr-
schers führt in den kranken Leib der Papstkirche neues Leben:
kaum aber fühlt diese sich erstarkt, so benutzt sie ihre Kraft, um
die Laienärzte zu erwürgen. Will Janssen sich an der kirchhch-
weltlichen Machtstellung Heinrichs III. patriotisch ergötzen, so
muß er mit ihm und seinem Suidger von Bamberg das römische
Sündenleben verdammen. Erhebt er hingegen, seiner Pflicht und
Neigung gemäß, die pontifikalen Triumphe Gregors, Urbans
und Paschais, so erwächst ihm die Aufgabe, die haltlose Schwäche
der französischen Kaiserin, die ungetreue Vormundschaft der geist-
lichen, den Eidbruch der Laienfürsten, den Kampf und tückischen
Verrat Konrads und Heinrichs V. gegen den kaiserlichen Vater
3*
36 Kleine historische Schriften.
als Ausfluß römischen Gottessegens zu rechtfertigen. Oder er
muß eben das ganze salische Jahrhundert als Ausnahmezustand
aus seiner mittelalterlichen Weltordnung hinausvveisen. Mit
Heinrich V. rührt er aber schon an das neue Kaisergeschlecht,
das nach ihm durch seine heidnisch-römische Auffassung des Kaiser-
tums, seiner schismatischen und cäsaropapistischen Bestrebungen,
die Italianisierung der Regierung, durch die Zertrümmerung der
Stammesherzogtümer und die Beförderung der Territorial-
gewalten zum Schaden der eigenen Hoheitsrechte die Auflösung
der wunderbaren Herrlichkeit eines römisch-deutsch-nationalen
Weltstaates herbeiführte; beraubt sich mithin selbst, weit über
ein Jahrhundert vor Thomas von Aquino, der Möglichkeit, in
der großartigsten Epoche des Papsttums die Verwirklichung
seines Staatsideals zu erblicken. Dieselbe Epoche brachte erst
die gewaltige koloniale Ausbreitung der abendländischen Völker-
familie, welche das Baltische und das Mittelländische Meer zu
Binnenseen der romanisch-germanischen Nationen machte. Janssen
versteht diese Bewegung nur unter dem Gesichtspunkt seiner
kaiserlich-päpstlichen Verbrüderung, welche Europa befriedet und
zum Kampf gegen die Heidenwelt vereinigt habe. Aber die Kreuz-
züge, welche, aus einer elementaren Erschütterung der romanischen
Welt hervorgegangen, niemals den immerwährenden Bürgerkriegen
des Abendlandes ein Ziel setzten, wurden erst in der staufischen
Periode Sache der deutschen Herrscher, und die nordöstliche Ko-
lonisation entfaltete sich gerade unter der Ägide des deutschen
Fürsten, der das Kaisertum unter Friedrich Barbarossa aufs
tiefste gedemütigt hat. Mit rastloser Energie, im Kampf gegen
die baltischen Heiden und dänischen Christen, von den Kaisern
oft befeindet, selten gefördert, gewinnen die Deutschen die Mün-
dungsgebiete der Ostseeströme; am Schluß des ersten Jahrhunderts
gebieten sie von der Trave bis zur Newa: die Befestigung ihrer
Herrschaft im Norden und Osten bringt aber doch erst die groß-
artige wirtschaftliche Revolution im folgenden Jahrhundert,
welche das alte Reich zersprengt, dem Leben der Nation hingegen
einen nicht zu ermessenden Zufluß reichster, überall freilich terri-
torial bedingter Kräfte zuführt.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 37
Verzeihe man alle diese Wiederholungen aus der Schulstube.
Aber es gibt hier keine andere Arena, auf der man diesem Histo-
riker entgegentreten kann. Denn seiner christlich - germanischen
Weltbetrachtung ist verborgen, was die gesamten historischen
Wissenschaften seit fünfzig und mehr Jahren mit immer größerer
Deutlichkeit erkannt und zum Gemeingut der Gebildeten gemacht
haben: daß, wenn wir überhaupt von dem Übergewicht einer
Nation in der Kultur des Mittelalters sprechen dürfen, dies nur
von der französischen gelten darf. So lange wenigstens der Geist
der Kreuzzüge lebendig blieb, erhielt auch das geistlich-ritter-
liche Wesen, das mit ihnen zur einheitlichen Lebensform der
abendländischen Nationen emporwuchs, in Frankreich die neuen
Antriebe und bewahrte überall die französische Färbung. Mit
einem stets wachsenden Detail gewahren wir, wohin wir immer
in Kultur und Politik blicken, dies Übergewicht des französischen
Namens: die Ritterorden, die Kriegskunst, Waffenkunde, Tur-
niere, Kleidermoden und alle Umgangsformen, der Bau der
Burgen und der Kirchen, die Sprache und die Dichtung, kurz
alle Lebensäußerungen der mittelalterlichen Blütezeit weisen in
Ursprung und Ausbildung auf Frankreich hin und widerlegen
die romantische Legende von dem christlich-germanischen Helden-
zeitalter.
Dieser romanischen Kultur streift nun freilich die fortschrei-
tende Erkenntnis ihres Wesens mehr und mehr den idealen Schim-
mer ab, mit dem die romantische Verehrung früherer Tage sie
um woben hat. Indem wir die Burgen aus den Trümmern, welche
die poetische Verklärung des Mittelalters mit den Erinnerungen
an die verklungene Herrlichkeit ritterlicher Weltfreude, keuscher
Minne, inniger Religiosität zu beleben sucht, so rekonstruieren,
wie sie an den militärisch stärksten Punkten, auf den steilsten
Bergkegeln oder zwischen unnahbaren Sümpfen wirklich ge-
standen haben, so erkennen wir, wie eng und bedrückt, wie ganz
auf Kampf und Herrschaft das Leben in ihnen gestellt war, wie
entbehrungsvoll, rauh und begehrlich das Geschlecht gewesen sein
muß, das in jenen rauchgeschwärzten, gegen Wind und Wetter
offenen Hallen gehaust hat. Nur die hervorragendsten dieser
3g Kleine historische Sdniilen.
Bauten, die Fürstensitze, sind durch das Andenken an eine Dicht-
kunst geweiht, in der die Romantik die historische VerwirkUchung
ihres poetischen Ideals erbhckte. Aber schon hier zeigen sich
dem vorurteilslosen Blick Zustände, welche, besonders wo es
den Dienst der »Frouwe Venus« angeht, sich als das gerade Ge-
genteil jener Vorstellungen und diese nur als Selbstbespiege-
lung in einer willkürlich konstruierten Vergangenheit offenbaren.
Selten durchbricht einmal helleres Licht den Nebelschleier, der
über den mittleren und unteren Schichten der Nationen ausge-
breitet liegt; aber die dürftigen Notizen der Annalisten über die
Verheerungen durch Hungersnot, Kälte, Überschwemmungen,
Seuchen lassen uns das Elend der Massen ahnen und erklären
mehr als alles andere die religiösen Erschütterungen, welche von
Zeit zu Zeit den ganzen Organismus der abendländischen Christen-
heit wie Fiebergluten ergriffen.
Wie hätten aber die Generationen unter dem Druck solcher
materiellen und geistigen Unkultur und Not die einheitlichen
Gedanken der abendländischen Christenheit in dem Umfang, wie
es die ultranomtanen Phantasien wähnen, erkennen und zur Richt-
schnur ihres Wollens und Vollbringens machen, jedem Druck
von Rom her als einem sittlichen, religiösen und politischen Macht-
gebot mit willigem Gehorsam folgen können! In der Tat löst
denn auch die aufklärende Geschichtsforschung die kirchlich-
politische Einhelligkeit und die geistige Allmacht der Kurie in
den mittleren Jahrhunderten mehr und mehr als ein phantasti-
sches Nebelbild des neunzehnten auf. Der päpstHche Bann hat
nicht bloß heute seine Schrecken verloren: er hat sie niemals in
dem ]\Iaße, wie geglaubt ist, gehabt; seine Wirkung war allezeit
durch Faktoren bedingt, deren Analogien den Vatikan auch heute
noch stark machen; wo er nicht auf lokale Interessen, persönliche
Leidenschaften, Begehrlichkeiten meist niedrigen Ranges stieß,
da hat er auch im Mittelalter nicht gezündet. Schon tritt weit
deutlicher als vordem der rivalisierende Einfluß der großen Mächte
auf die römische Politik hervor. In der Staufenzeit vermag nur
er das jähe Schwanken des päpstlichen Stuhles zwischen trium-
phierender Hoheit und unterwürfiger Ohnmacht zu erklären. Je
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 39
tiefer wir in das Getriebe der päpstlichen Diplomatie hinein-
sehen, so wie sie jetzt für die ersten Jahre Innozenz' IV. in seinem
Registrum vorliegt, um so deutlicher erkennen wir, wie sehr die
Kurie unter dem Druck der antikaiserhchen Parteiströmungen
stand, statt daß sie dieselben beherrscht hätte. Ohne den Rückhalt
an Frankreich hätte sie den Kampf niemals aufnehmen können,
und ihre Katastrophe unter Bonifaz VIII. bewies, daß sie »das
welthche Schwert dem Kaisertum nur entrissen hatte, um es dem
französischen Königtum auszuliefern«. Noch tiefer, in unbe-
stimmtem Zwielicht, gewahren wir die mächtigen Unterströmungen
der wirtschaftlichen Kräfte. Aber gerade deren Studium zeigt
überall, in wieviel tausend kleinen Kreisen und Wirbeln der
Strom des historischen Lebens sich im Mittelalter fortbewegt.
Es gibt in der allgemeinen Zersplitterung ge^visse Grundrichtungen,
welche die Einzelkräfte zusammenführen und in die gleiche Bahn
drängen; eine zentrale Gewalt bildet sich aus, welche ihnen einen
Halt und Ausgleich bietet; indem sie jeden, der sich an sie wendet,
schützt und erhebt, empfängt sie von jedem einen Teil seiner
selbst und herrscht bald über alle; um sie her, hoch über dem
Getümmel der streitenden Interessen, ihr phantastischer Abglanz
und doch wieder für alle der Richtpol, mit ihnen sich wandelnd,
verzweigend und zusammenfassend, das System ihrer Ideen: aber
niemals sind diese unmittelbar die Machtfaktoren in der Gestaltung
der Welt : die einzelnen gehen auf in den Kleinkreisen ihres Wirkens ;
sie ahnen wohl den Zusammenhang, können ihn aber nicht be-
greifen; halb willenlos folgen sie dem allgemeinen Zuge, den sie
nur in der Beschränktheit ihres Horizontes überblicken; erst aus
der Summe der partikularen Absichten bestimmt sich die Rich-
tung, welche sie in der allgemeinen Bewegung nehmen.
Keine bessere Probe auf die Richtigkeit dieser Realisierung
des Mittelalters kann es geben als die wachsende Klärung des
Verständnisses für die eigentümlichsten Schöpfungen seines Geistes.
Die Majestät seines Gottes- und Weltbegriffes, die Universali-
tät seiner theokratischen Ideale, die harmonische Vielheit seiner
hierarchischen Formen, die Großheit und Innigkeit seiner Kunst
ist noch nie so deutlich beschrieben und so lebhaft bewundert
40 Kleine historische Schriften.
als von uns Modernen; wir schwärmen nicht mehr mit gestalt-
loser Andacht für die verfallenden Ruinen der christlich-germa-
nischen Vorzeit, aber wir stellen sie her und bauen sie aus zu
der vollen Hoheit, in der sie von ihren IMeistern und Bauherren
gedacht waren ; sucht man doch heute sogar die Ideale der Ver-
gangenheit den Aviderstrebenden Lebenszwecken unserer Kunst auf-
zudrängen.
Wir werden es immer zu den großen Zügen des Rankeschen
Geistes rechnen müssen, daß er, der mit seiner Entwickelung in
der Blütezeit der Romantik wurzelt, von seinen ersten Anfängen
ab, mitten in ihrer Kraft sie nicht bloß überwunden, sondern vor
allem, ihre Bedeutung wahrend, ihre Idealzeit in jener Doppel-
seitigkeit, in der Mischung von Kultur und Barbarei mit voller
Schärfe erkannt hat. Noch heute gilt sein Wort von der »wunder-
samen Physiognomie jener Zeiten, die noch niemand in ihrer
ganzen FüUe und Wahrheit vergegenwärtigt hat«; von der »außer-
ordentlichsten Kombination von innerem Zwist und glänzendem
Fortgang nach außen, von Autonomie mid Gehorsam, von geist-
lichem und weltlichem Wesen«. Kein Romantiker könnte zugleich
herzlicher und wahrer als an jener Stelle Ranke den Charakter
der mittelalterlichen Frömmigkeit schildern, »die sich zuweilen in
das rauhe Gebirge, in das einsame Waldtal zurückzieht, um alle
ihre Tage in harmloser Andacht der Anschauung Gottes zu widmen :
in Erwartung des Todes verzichtet sie schon auf jeden Genuß,
den das Leben darbietet; oder sie bemüht sich, wenn sie unter
den Menschen weilt, jugendlich warm, das Geheimnis, das sie
ahnet, die Idee, in der sie lebt, in heiteren, großartigen und tief-
sinnigen Formen auszusprechen«; — und kein Moderner dürfte
die fanatische Wildheit, worin diese Glaubensinnigkeit ausarten
kann, treffender bezeichnen, als es die wenigen Worte tun, welche
Ranke über die andere, unmittelbar neben jener ersten sich äußernde
Frömmigkeit hinzufügt, »welche die Inquisition erdacht hat, und
die entsetzliche Gerechtigkeit des Schwertes gegen die Anders-
gläubigen ausübt: keines Geschlechtes, sagt der Anführer des
Zuges wider die Albigenser, keines Alters, keines Ranges haben
wir verschont, sondern jedermann mit der Schärfe des Schwertes
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 41
geschlagen.« Janssen gibt sich den Anschein, als ob er in den
Kreuzzügen die glorreichste Betätigung seines Glaubens erblicke;
die Wiedergewinnung der Stätte, wo der Heiland gelitten hat,
durch die römischen Glaubensheere ist ihm einer der Höhepunkte
der christlich-germanischen Heldenzeit. So muß also von seiner
Religion gelten, was Ranke ebendort als hervorstechendstes Bei-
spiel für den barbarisch - christlichen Charakter des Mittelalters
erzählt: »bei dem Anblick von Jerusalem stiegen die Kreuzfahrer
von den Pferden und entblößten ihre Füße, um als wahre Pilger
an den heiligen Mauern anzulangen; in dem heißesten Kampfe
meinten sie die Hilfe der Heiligen und Engel sichtbar zu erfahren.
Kaum aber hatten sie die flauem überstiegen, so stürzten sie
fort zu Raub und Blut: auf der Stelle des salomonischen Tempels
erwürgten sie ^'iele tausend Sarazenen; die Juden verbrannten
sie in ihrer Synagoge; die heiligen Schwellen, an denen sie anzu-
beten gekommen waren, befleckten sie erst mit Blut«. — Ge-
wiß, nichts kann wahrer sein als die Summe, welche Ranke aus
diesen Sätzen zieht: »es ist ein Widerspruch, der jenen religiösen
Staat durchaus erfüllt und sein Wesen bildet«.
Man muß weit zurückgreifen, um die Vorbilder zu treffen,
nach denen Janssen sich seine Auffassung der christlichen Welt
geformt hat. Vielleicht am frühesten, jedenfalls vollständiger und
anziehender als irgendwo anders ist sie ausgedrückt in jener dichte-
risch bewegten Phantasie, welche Novalis, angeregt durch Schleier-
machers Reden über die Religion, im Kreise seiner Jenaer Freunde
am Schluß des vorigen Jahrhunderts von den »echt katholischen
und echt christlichen Zeiten« des mittelalterlichen »Europas« ent-
worfen hat. Möge es erlaubt sein, den Eingang der merkwürdigen
und seltenen Schrift wegen der frappanten Ähnlichkeit mit der
Janssenschen Konstruktion zu wiederholen ^).
^) Zuletzt herausgegeben von J. M. Raich, NovaUs' Briefwechsel mit
Friedrich und August Wilhelm, Chariotte und KaroUne Schlegel, 1880.
Die Ängstlichkeit der Freunde Hardenbergs hat den Druck lange verhin-
dert. Erst in die vierte Auflage (1826) fand er auf Andrängen Fr. Schlegels
Aufnahme, aber die fünfte, von Tieck besorgte, Heß ihn schon wieder fort.
Vgl. Reichs Vorbericht und Haym, die romantische Schule S. 463 Anm.
42 Kleine historische Schriften.
»Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christ-
liches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten
Weltteil bewohnte ; e i n großes gemeinschaftliches Interesse ver-
band die entlegensten Provinzen dieses weiten geisthchen Reiches.
Ohne große welthche Besitztümer lenkte und vereinigte e i n
Oberhaupt die großen politischen Kräfte. — Eine zahlreiche Zunft,
zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter dem-
selben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer, seine
wohltätige Macht zu befestigen. Jedes Glied der Gesellschaft
wurde allenthalben geehrt, und wenn die gemeinen Leute Trost
oder Hilfe, Schutz oder Rat bei ihm suchten und gerne dafür
seine mannigfaltigen Bedürfnisse reichlich versorgten, so fand es
auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehen und Gehör, und alle
pflegten diese Auserwählten, mit wunderbaren Kräften ausge-
rüsteten Männer wie Kinder des Himmels, deren Gegenwart
und Zuneigung mannigfachen Segen verbreitete. Kindliches Zu-
trauen knüpfte die Menschen an ihre Verkündigungen. — Wie
heiter konnte jedermann sein irdisches Tagewerk vollbringen, da
ihm durch diese heiligen Menschen eine sichere Zukunft bereitet
und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede mißfarbige Stelle
des Lebens durch sie ausgelöscht und geklärt wurde. Sie waren
die erfahrenen Steuerleute auf dem großen unbekannten Meere,
in deren Obhut man alle Stürme gering schätzen und zuversicht-
lich auf eine sichere Gelangung und Landung an der Küste der
eigentlichen vaterländischen \\'elt rechnen durfte. — — — —
Emsig suchte diese mächtige, friedenstiftende Gesellschaft alle
Menschen diesen schönen Glaubens teilhaftig zu machen und
sandte ihre Genossen in aUe Weltteile, um überall das Evan-
gelium des Lebens zu verkündigen und das Himmelreich zum
einzigen Reiche auf dieser Welt zu machen. ]\Iit Recht wider-
setzte sich das weise Oberhaupt der Kirche frechen Ausbildungen
menschlicher Anlagen auf Kosten des heiligen Sinnes und un-
zeitigen gefährlichen Entdeckungen im Gebiete des Wissens. So
w'ehrte er den kühnen Denkern, öffenthch zu behaupten, daß die
Erde ein unbedeutender Wandelstern sei; denn er wußte wohl,
daß die Menschen mit der Achtung für ihren Wohnsitz und ihr
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 43
irdisches Vaterland auch die Achtung vor der himmHschen Heimat
und ihrem Geschlechte verlieren und das eingeschränkte Wissen
dem unendlichen Glauben vorziehen und sich gewöhnen würden,
alles Große und Wunderwürdige zu verachten und als tote Ge-
setzwirkung zu betrachten. An seinem Hofe versammelten sich
alle klugen und ehrwürdigen Menschen aus Europa. Alle Schätze
flössen dahin, das zerstörte Jerusalem hatte sich gerächt und
Rom selbst war Jerusalem, die heilige Residenz der göttlichen
Regierung auf Erden geworden. Fürsten legten ihre Streitig-
keiten dem Vater der Christenheit vor, willig ihm ihre Kronen
und ihre Herrlichkeit zu Füßen, ja sie achteten es sich zum Ruhm,
als Mitglieder dieser hohen Zunft den Abend ihres Lebens in
göttlichen Betrachtungen zwischen einsamen Klostermauern zu be-
schHeßen, Wie wohltätig, wie angemessen der inneren Natur
der Menschen diese Regierung, diese Einrichtung war, zeigte das
gewaltige Emporstreben aller anderen menschlichen Kräfte, die
harmonische Entwickelung aller Anlagen, die ungeheure Höhe,
die einzelne Älenschen in allen Fächern der Wissenschaften des
Lebens und der Künste erreichten, und der überall blühende
Handelsverkehr mit geistigen und irdischen Waaren in dem Um-
kreis von Europa und bis in das fernste Indien hinaus.« —
Das ist, wenn auch nicht die beste, so doch gewiß wahre
Poesie. Und gerne verzeihen wir dem liebenswürdigen Träumer
die krause Phantastik seiner Geschichtsbilder, die Naivetät, mit
der er z. B. das Klosterleben der alten Langobarden- und Franken-
herrscher mit den Kolonisationen des ausgehenden Mittelalters
und dem Prozeß Galileis als Segnungen der »echt christlichen
Zeiten« preist. Denn sein Glaube an die Wunderzeit ist nur der
Glaube des Poeten. Alle Energie, mit der er Natur und Geschichte
in ihren geheimsten Offenbarungen, in ihrem All-Eins zu ergreifen
glaubt, die Phantasie- und Gedankenwelt in einander zu ver-
schhngen strebt, führt ihn doch nicht weiter als den »geheimnis-
vollen Weg nach innen«, wird ihm »Selbstbesprechung«, »Selbst-
offenbarung«. Indem er sich »in die Flut des menschlichen Wissens«
versenkt, »um in diesen heiligen Wellen die Traumwelt des Schick-
sals zu vergessen«, wird ihm alsbald das Denken zum »Traum
44 Kleine historische Schriften.
des Fülileiis« und entdeckt er in allem Werden und \'ergelien
nur wieder »die Abwechselungen eines unendlichen Gemütes«.
Einer solchen Philosophie, deren Kern sein will, »daß Poesie das
absolut Reelle, alles um so wahrer, je poetischer es ist«, und daß
»das Märchen gleichsam der Kanon aller Poesie«, »der erste Märchen-
dichter ein Seher der Zukunft ist«, sind historische Widersprüche
nicht nur natürlich, sondern notwendig. In der schwärmenden
Seele finden sie ihre Einheit; deren Kinder sind sie, ihre Abspiege-
lungen im Meere des Geschehens. Je reicher und bunter die Farben-
brechungen, um so inbrünstiger die Gemeinschaft: »Die Welt
wird am Ende Gemüt; am Ende wird alles Poesie.« Nichts kann
solcher Anschauung ferner liegen als der W^unsch nach urkund-
licher Begründung. Würden die Traumgebilde in das Licht des
historischen Tages gerückt, das Reich der Phantasie wäre zer-
stört. Auch jenem Fragmente würden wir mit voller Zustimmung
Novalis das Motto seines »Heinrich von Ofterdingen« vorsetzen
dürfen: »ein Märchen will ich erzählen — - horche wohl!«^)
Gerade die Übereinstimmung mit diesem Phantasiegemälde
beweist daher aufs beste die Ungereimtheit der Janssenschen
Wahnbilder. Aber, wenn diese den Charakter der Geschichte ver-
lieren, so werden sie darum nicht mehr Poesie. Denn dazu fehlt
ihnen jener Glaube, der in der Geschichte und den Lehren der
christlichen Religion nur »die symbolische Verzeichnung einer all-
gemeinen, jeder Gestaltung fähigen Weltreligion« erblickt. Im Aus-
gangspunkt, in der \^erklärung des I\Iittelalters stimmen der Ro-
mantiker und der Ultramontane überein, dann aber weichen
sie voneinander. Jenem ist die neue Christenheit die Kirche der
reinen Geistigkeit, »eine neue goldene Zeit mit dunkeln, unend-
lichen Augen, eine prophetische, wundertätige und wunden-
heilende, tröstende und ewiges Leben entzündende Zeit«: »die
zufälhge Form ist so gut wie vernichtet; das alte Papsttum liegt
im Grabe, und Rom ist zum zweitenmal eine Ruine geworden«:
»die süße Andacht des gottbegeisterten Gemütes, der alles um-
armende Geist der Christenheit« wird die neue Kirche bilden —
1) Vgl. Haym S. 325 ff.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 45
Janssens Ideal ist die auf die wandellos göttliche Prophetie des
Papstes gegründete Kirche des vatikanischen Konzils. Deren
Zwecken will er den enthusiastischen Geist der Romantik unter-
würfig machen: den Glauben der Dichtung stempelt er zum
Glauben Roms, das Individuellste zum Allgemeinsten, das Freieste
drückt er in die beengendsten Fesseln. Alle Widersprüche kann der
romantische Glaube vertragen, nur nicht den mit sich selbst: gerade
den aber bringt Janssen hervor, da er zu Realitäten macht, was nur
als Phantasie gelten will. Und, was schlimmer ist, er versucht es,
diese Fälschung auf Beweisformen zu gründen, welche nur unter der
Voraussetzung unbefangenster Beobachtung Geltung haben können.
Unmittelbare Folge dieser Zerstörung der Romantik mußte
die Entgeistigung ihres schönsten und mächtigsten Organs sein,
das alle Wallungen ihres Gemüts- und Phantasielebens staunens-
wert biegsam und farbenprächtig wiederzugeben vermochte,
der bezaubernden Gewalt ihrer Sprache. Noch in Görres be-
wundern wir den lebendigen Pulsschlag echter Begeisterung. Es
hat auch für uns etwas Packendes, wenn dieser von der Zeit
spricht, »wo der religiöse Enthusiasmus eben noch wie ein glühen-
der Sommer über Europa hing und Heerhaufen und Nationen
wie Gewitter hinübertrieb zum heiligen Grabe, um dort auf die
Ungläubigen sich zu entladen«. Gegen die Glut dieser Worte halte
man nun, was Janssen über den Grundgedanken der ganzen Kreuz-
zugspolitik zu sagen weiß : »Friede und Einigkeit unter den christ-
lichen Völkern behufs Vereinigung ihrer Gesamtkräfte zum Kampf
gegen den gemeinsamen Glaubensfeind«, und man sieht hand-
greiflich, in welchem Zusammenhang die ultramontane Geschichts-
auffassung mit der romantischen steht: sie ist ihre Entartung.
Noch erkennen wir immerhin in dieser Scholastik den einst so
bunten Flor der romantischen Traumwelt — so, wie er unter
dem römischen Gifthauch verdorrt ist.
Die Analogie zwischen der römischen und der romantischen
Phantastik zeigt sich, wie in der Bewunderung des Mittelalters,
so auch in der Art, wie beide die Überleitung zu der »revolutio-
nären Epoche finden«. Allerdings darf die erstere nicht von der
/jfi Kleine historische Schriften.
»unendliclien Trägheit« reden, der sich nach der romantischen
Auffassung die »sicher gewordene Zukunft der Geistlichkeit« er-
geben haben soll. Novalis läßt die Zerstörung der christlichen
Jugendblüte aus den »niedrigen Begierden «der Geistlichen entstehen,
aus »der Gemeinheit und Niedrigkeit ihrer Denkungsart«, aus
der »Vergessenheit ihres eigentlichen Amts, die ersten unter den
Menschen an Geist, Einsicht und Bildung zu sein«. Ist es doch
die besondere Eigentümlichkeit Janssens, in dem Zeitalter Ale-
xanders VI. die Hauptepoche der katholischen Reformation zu
sehen. Zu den »klugen Maßregeln«, mit denen sie »den Leich-
nam der Verfassung vor zu schleuniger Auflösung bewahrten«,
rechnet Novalis vorzüglich die Priesterehe — »eine Maßregel, die,
analog angewandt, auch dem ähnlichen Soldatenstand eine fürchter-
liche Konsistenz verleihen und sein Leben noch lange fristen könnte«.
Aber daß dann eben hieran ein »Zunftgenosse« Feuer fängt, daß
seine »Insurrektion« das »Untrennbare, die unteilbare Kirche«
frevelnd zerrissen und die Anarchie, die »Revolutionsregierung«
permanent gemacht habe, daß die »Fürsten sich unglücklicher-
weise in diese Spaltung gemischt«, sie zur »Befestigung und Er-
weiterung ihrer landesherrlichen Gewalt und Einkünfte erhoben«
und »die Religion irreligiöserweise in Staatsgrenzen einschlössen«
— das sind auch für die ultramontane Reformationsgeschichte
die Angelpunkte der Auffassung.
Ein Moment aber, welches letzterer wesentlich ist, war, wie
der Romantik, so lange sie unverfälscht blieb, überhaupt, so vor
allem dem Herausgeber der »Jahrbücher der preußischen Mon-
archie unter der Regierung Friedrich Wilhelms III.« immer fremd
— die ausschließende Verehrung für das Haus Habsburg als
Träger der »echt katholischen Gedanken«. Für eine solche histo-
risch-politische Fixierung des romantischen Ideals war der Graf
v. Hardenberg nicht nur ein zu guter Poet, sondern auch ein zu
guter Protestant. Ihm, der das herrliche Wort wagte, daß »wahr-
hafte Überzeugung das einzige wahre, Gott verkündende Wunder«
sei, welcher »Staatsverkündiger, Prediger des Patriotsimus« auf-
stellen möchte, dem der Staat bei allem Abscheu vor dem »fürchter-
lichen Soldatenstande« nicht als ein »Polster der Trägheit«, son-
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 47
dern als eine »Armatur der gespannten Tätigkeit« erschien, konnte
die preußische Monarchie nicht die poHtische ReaHsierung der
protestantischen Insurrektion heißen. Jede positive Form ist ihm
auch auf poHtischem Gebiet relativ\ Gerade dem jungen preußi-
schen König und seiner schönen Königin legt er die »Blumen«
zu Füßen, welche ihnen die holde, beglückende Mission ihrer
Herrschaft deuten sollen: Friedrich Wilhelm und Luise seien
die »Genien«, das »klassische Menschenpaar«, das die neue goldene
Zeit heraufführen werde. Nichts liegt ihm ferner als tendenziöse
Vergröberung. Er würde sich selbst untreu werden, wenn er nicht
auch die Persönlichkeiten und Institutionen des politischen Lebens
in die luftigen Regionen seiner poetischen Traumwelt erheben wollte.
Der ultramontane Historiker dagegen vindiziert mit der Miene
vollkommenen Ernstes dem Hause Habsburg seit seinem Stifter
die Vertretung des christlich - germanischen Staatsideals. Wo
nur immer ein Habsburger auftaucht, erhebt sich seine Sprache
und die Auswahl seiner Exzerpte zu höherem Schwung. In König
Rudolf war dem Reiche der Reformator gegeben. »Wäre nun
nach früherem Herkommen die Thronfolge in der regierenden
Familie erblich gewesen, so hätte Österreich zum Heile Deutsch-
lands dem neuen Königsgeschlecht die verlorenen Reichsdomänen
ersetzen und durch seine Kraft dem Vaterlande ein selbständiges,
die Nation umfassendes Königtum erhalten können.« Aber die
Selbstsucht der Königswähler woUte keine festgeschlossene Einheit,
deshalb wählten sie den machtlosen Adolf von Nassau. Albrecht I.
schien die deutschen Hoffnungen wahr machen zu sollen; aber
er fiel als »Opfer einer Fürsten Verschwörung«, als »Märtyrer für
die einheitliche Macht des deutschen Königtums«. Unter den
bayerischen und luxemburgischen Herrschern ging dem Reich
alles verloren, was die ersten beiden Habsburger gepflanzt hatten.
Eine Zeit neuer Kraft schien Albrecht IL bringen zu sollen: »ein
gewaltiger Herr, im Kriege erfahren, unermüdlich tätig«, »ein
König von deutschem Gemüt«, der Bürger Freund, Feind aber
der eigensüchtigen Fürsten: zum »Verhängnis Deutschlands«
raffte ihn ein jäher Tod in der Blüte der Jahre hinweg. Nur
Friedrich III. hat doch auch Janssens Beifall nicht: seltsam ge-
/^p, Kleine historische Schriften.
nug, da ja sein deutsches »Reforniationszeitalter« zum größten
Teil in dessen Regierung fällt.
Dafür ist König Max um so mehr der Mann seines Herzens.
Alles Lob, was er bei dem Vater zurückhält, häuft er auf das
ritterliche Haupt des Sohnes: die heldenhafte, oft an abenteu-
ernde Verwegenheit streifende Kühnheit und die Hochherzigkeit,
mit der Max nach der Schlacht die Verwundeten, gleichgültig ob
Freund oder Feind, pflegt, seine fromme Barmherzigkeit gegen
menschliches Elend — dem sterbenden Bettler reicht er selbst den
Labetrunk, deckt ihn mit dem eigenen Kleide, eilt zur Stadt und
holt den Priester, der dem Armen die letzten Segnungen der
Religion bringen soll — und die gehorsame Treue gegen den alten
Vater: es ist Sankt Georg und Sankt Martin in einer Person. Dem
Adel der Seele entspricht die äußere Erscheinung: »seine edle
Gestalt, sein fester sicherer Gang, der Adel und die Würde in
all seinen Bewegungen, der Ausdruck unverkümmerten Wohl-
wollens auf seinem Antlitze, seine herzgewinnende Rede, die
manchen feindlich Gesinnten oft bei der ersten Begegnung ver-
söhnte«. Auch die »unversiegbare Heiterkeit seines reinen Ge-
mütes« wird zu den äußerlichen Vorzügen gerechnet. Unbegrenzt
ferner der Wissensdurst, unversieglich die Kraft zu lernen, zu
streben, der Wille zu helfen und zu bessern, eine wahrhaft refor-
matorische Herrschernatur. Der waffenfähigste Fürst der Christen-
heit ist zugleich der wissenschaftlich höchststehende. Geschichte,
Mathematik, Latein, Französisch, Wallonisch, Italienisch, Englisch,
Spanisch, alles treibt der geniale König neben einander; dazu die
schwierigsten Künste : Geschütze gießen und bohren und Harnische
anfertigen wie der geschickteste Augsburger Waffenschmied.
Und damit ist das Tugendregister noch lange nicht erschöpft.
Die edelste, die Grundtugend, ist der kathohsch gläubige Sinn:
Ȇberhaupt bezeichnete man schon damals (so lange vor Ferdi-
nand n. !) als besondere Eigenschaften des habsburgischen Herrscher-
hauses »Seelenruhe und Gott vertrauen beim Mißgeschicke; viel
Not, viel Ehr'«.
Eigentlich hatte der herrliche Mann nur einen Fehler, der
aber auch wieder fast wie ein Überschäumen seiner offenen und
Jansscns Geschichte des deutschen Volkes. 49
glänzenden Natur erscheint: das war neben übermäßiger Ver-
schwendung sein gutmütiges Vertrauen auf die Ehrlichkeit und
Vaterlandstreue der deutschen Fürsten, die ihn dafür zum ewigen
Schaden von Reich und Nation aufs schändlichste hintergingen.
Vergebens richtet ^Maximilian sein unablässiges Streben darauf,
die deutsche Volkskraft auf hohe nationale Ziele zu lenken, durch
große kriegerische Erfolge das Bewußtsein der Zusammengehörig-
keit und Einigkeit aller Deutschen aufs neue zu »erkräftigen«.
Vergebens ist er bemüht, wirksamere Organe des Rechtes und der
\'erfassung zu schaffen. Die Einsichtigsten und Besten der Nation
haben keine anderen Ziele als der König. Alle \'aterlandsfreunde
sind gleich ihm überzeugt, daß »nur die monarchische Gewalt
in ihrem früheren Bestände Recht und Frieden sichern, selbst
aber nur durch ruhmvolle Betätigung ihrer Stellung nach außen
sich über das vielköpfige Fürstentum wieder erheben könne«.
In männlicher, patriotischer Sprache mahnen Männer wie Wimphe-
ling, Sebastian Brant, Nauclerus und Pirckheimer an die Herr-
lichkeit des alten Reiches und begrüßen den Kaiser als Wahrer
der deutschen Einigkeit und als Wiederbegründer des christlich-
germanischen Reiches, der Weltherrschaft im Abend- und Morgen-
lande. Die Erblichkeit des Reiches im Hause Habsburg ist ihr
heißer Wunsch, und kein höheres Streben ist ihnen wie ihrem
König eigen als der Kampf gegen den Unglauben, den Türken
da draußen und den »falschen Glauben und Schisma« im Innern.
Es ist alles vergebens. Die Reichsstände, von den römischen
Juristen beraten, haben keinen Sinn für die Ehre des Reiches.
Herzlos sehen sie den mörderischen Einfällen der Türken zu;
sie lassen es geschehen, daß Schlesien und IMähren von den Böhmen
losgerissen, daß Preußen von Polen unablässig bedrängt wird,
daß Livland an den ]\Ioskowiter verloren geht; es kümmert sie
nicht, daß die Schweizer den Reichsverband zersprengen und
offen den Gehorsam aufkündigen, mit den Franzosen Soldverträge
schließen, daß diese den »Schild des Reiches«, Mailand, rauben.
Sie selbst lassen sich mit Frankreich auf reichsverräterische Um-
triebe ein; schon droht die Gefahr, daß ihre Sonderbündelei das
Elsaß den Rheingelüsten des Erbfeindes ausliefere. Alle ihre
Lenz, Kleine historische Schriften. 4
50 Kleine historische Schriften.
Gedanken bei der Reformarbeit gehen nur auf Einengung der
monarchischen Gewalt, auf Erhöhung ihrer eigensüchtigen Macht-
stellung: die wenigen Erfolge, welche der Organisation des Reiches
daraus erwachsen, das Kammergericht, den ewigen Landfrieden,
verdankt es der selbstlosen Nachgiebigkeit, dem unermüdlichen
Eifer des Königs. Und alle diese Arbeit und Hoffnung — das
ist schließlich die Summe seines Lebens — umsonst! Die Selbst-
sucht hat die Pflichttreue besiegt, und der Herrscher, der nichts
kennt cds die Arbeit für Frieden und Recht, Sicherheit und Kraft
des Reiches, hat das tragische Geschick, für die allgemeine Ver-
wirrung selbst verantwortlich gemacht zu werden. »Mir ist auf
der Welt keine Freude mehr«, ruft er aus, »armes deutsches Land!«
Schon aber ist ihm der Erbe erwachsen, der mit dem Ein-
satz einer weit größeren Macht vielleicht vollbringen wird, woran
der alte Kaiser verzweifelt.
Nichts anderes als der Großvater erkannte Karl V. als die
Aufgabe seines Lebens: »den Frieden unter den christlichen
Völkern aufrecht zu erhalten und den Schutz der Christenheit
gegen die immer mächtiger heranwachsende Türkengefahr zu über-
nehmen, womöglich durch Vertreibung der Türken die Weltherr-
schaft des Christentums wieder herzustellen«. Keiner konnte fried-
licher gesinnt sein als der junge Monarch, der einer unaufhör-
lichen Kette von Kämpfen entgegenging. In »Charakter und
Denkart« war er allen eroberungssüchtigen und gewalttätigen
Plänen fremd. Nur zur Verteidigung des überkommenen Erbes
wollte er die ihm zu Gebote stehenden Mittel verwenden und
dankte Gott, daß ihm solche Mittel geworden. Der Schutz und
die Erhaltung des Bestehenden und die Abwehr jeglichen fremden
Übergriffes ist der Grundgedanke seiner ganzen politischen Tätig-
keit; die Ausführung dieses Gedankens hat ihn in die vielen
Kämpfe und Gefahren seines Lebens verwickelt. Zu seinem
Schutzgebiet gehörte seiner kaiserlichen Aufgabe gemäß die Kirche,
Dem Eide, den er dafür am 23. Oktober 1520 schwur, »ist er
während seines ganzen Lebens treu geblieben. Er faßte im vollen
Sinne des Wortes das Kaisertum noch in seiner alten Bedeutung
auf, wie als Grund- und Eckstein alles menschlichen Rechtes
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 51
auf Erden, so als Schirm vogt ei der christlichen Kirche und ihres
Oberhauptes«.
Also Wiederkehr des politischen Ideals, welches die Glanz-
zeit der »Kirche« verwirklicht gesehen hat, und alles, was uns
vom Tun und Lassen Karls V. erzählt wird, nur Modulation des
einen Themas. Es ist wahr, der Kaiser bleibt seiner hohen Auf-
gabe nicht immer treu, und selbst die Päpste werden zeitweise
durch äußeren Zwang oder gar eigensüchtige Bestrebungen ab-
gelenkt. Das sind dann immer die Epochen, in denen Türken
und Ketzer ihre zerstörenden Angriffe auf das göttliche Weltsystem
machen. Aber im ganzen bleiben doch beide Gewalten in den
Bahnen der gegenseitigen Liebe und väterlicher Sorge um das
Wohl der Christenheit.
Und so wäre ge^^iß Großes erreicht, jene Hoffnung auf Wieder-
herstellung der mittelalterlichen Kraft und Heiligkeit erfüllt
worden, wenn nun nicht alle Dämonen der Zerstörung gegen
das unglückliche deutsche Volk durch den ^^'ittenberger Mönch
entfesselt wären.
Hat Janssen bei Kaiser Max gezeigt, wie glänzende Farben
ihm für seine Lieblingsgestalten zu Gebote stehen, so tritt uns
bei Martin Luther der strafende Ernst seiner historischen Muse
entgegen.
Schon auf der Herkunft des Mannes, der den Ruin unseres
Volkes verschuldet hat, ruht ein dunkler Makel: er war der Sohn
eines Totschlägers. Aus der furchtbar harten Erziehung durch
seine jähzornigen Eltern ging Luther mit einer gedrückten, ängst-
lichen Gemütsstimmung hervor; niemals wußte er von freudigem
Gehorsam. Der natürliche Rückschlag erfolgte schon auf der
Schule in Eisenach, wo er das Leben von anderer Seite kennen
lernte, bei einer jungen adeligen Dame, die ihn in ihr Haus auf-
nahm und ihn bei Lauten- und Flötenspiel den Ausspruch hören
ließ: »es gibt kein lieber Ding auf Erden denn Frauenliebe, wem
sie kann zu Teil werden«. Nach solcher Vorbildung an der Wir-
kungsstätte des seligen Tannhäuser ahnen wir leicht, wie der
Student es auf der Erfurter hohen Schule bei Musik, Ritterspiel
und Saujagd weiter getrieben hat; die heidnischen Schriftsteller
4*
f)2 Kleine historische Schriften.
wurden da die Bildner seines Leben?. Hin- und hergeworfen
zwischen Sinnenlust und Gewissensängsten findet er in einem
Moment plötzlicher Verzweiflung den Weg in das Kloster.
Aber immer ohne Demut und Hoffnung, und ohne die Grund-
tugend des Mönches, den Gehorsam, ein überspannter Skrupu-
lant, kann er natürlich den Frieden nicht finden, den ihm in
den heiligen Mauern die Kirche bietet. Und so führen ihn seine
innere Zerrissenheit und Gewissensfolter zu dem entgegenge-
setzten Extrem, zu der entsetzlichen Lehre ^•on der völligen Ver-
derbtheit des Menschen, der gänzlichen Knechtschaft des Willens,
der Rechtfertigung ohne eigenes Zutun, allein durch den Glauben.
Darin ist er aber nicht einmal original. Es sind nur die alten,
von der Kirche längst zerbrochenen Waffen eines Wiclif und
Hus, die auch er wieder aufnimmt: jenen Irrlehrern folgt er,
wenn er nun zum Angriff schreitet auf die Siebenzahl der Sakra-
mente, auf die Priesterweihe, auf alle gottesdienstlichen Ord-
nungen, und zu der brutalen Lästerung, in dem Nachfolger Christi
auf Erden den Antichrist zu sehen. Schon aber stehen die Ge-
nossen seines Tuns bereit: die nach den sinnlichen Freuden
lüsternen Mönche und Pfaffen, die nach dem Kirchengut wett-
feiernd gierigen Stände und ihre reichsverräterische Selbstsucht,
die revolutionäre Begehrlichkeit der doch so gut situierten Bauern-
schaften und Zünfte, alle, welche die sanften Segensfesseln der
Kirche und des Kaisertums zersprengen wollen, an ihrer Spitze
eine geschlossene Revolutionspartei, die höhnenden Spötter auf
alles, was Kirche und Glauben heißt, unter Führerschaft des
physisch und moralisch gänzlich verkommenen Ulrich von Hütten.
Mit diesem Menschen, der durch den Arm seines ihm ähnlichen
Ziszka-Sikkingen mit Feuer und Schwert das ganze Reich von
oben zu unterst kehren will, in enger Kameradschaft beginnt der
Mönch den Aufruhr. Jede Waffe ist ihm da recht. Er scheut
sich nicht vor Mord, Brand, Gelübdebruch und Verrat. Zur
Hintergehung und zum Verderben des Papsttums, schreibt er,
sei alles erlaubt. Die zartesten Empfindungen zieht er in den
Schmutz; die Ehe wird ihm eine Anstalt zur Befriedigung ge-
meiner Sinnlichkeit. Von einer Reform der unleugbaren Ge-
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 53
brechen des geistlichen Standes will er nichts hören. Alles soll
mit der Wurzel ausgetilgt werden. Die Folge ist Aufwiegelung
des Volkes bis in seine tiefsten Schichten. Mit der Kirche zer-
fallen die Studien, die unter ihrer Pflege so herrlich gediehen
waren, aller Unterricht vergeht, von den Universitäten, welche
Luther als Mördergruben, als Molochtempel, als Synagogen des
Verderbens, wert, daß man sie alle zu Pulver mache, verruft,
bis zu den Volksschulen herab, ungezählte Kirchen und Klöster
mit dem \vundervollen Schmuck ihrer Kanzeln und Altäre fallen
der Plünderungswut zum Opfer, alles »charitative Leben« macht
schrankenloser Selbstsucht Platz: es ist das wüsteste Aufschäumen
der von der Kultur der Kirche in die Tiefe gebannten Barbarei.
Entsetzt sieht Luther allmählich ein, welche Geister er entfesselt
hat, welche Gedanken sich in den konsequenteren Anhängern
seiner Lehren entwickeln: Leugnung aller Sakramente, der Gott-
heit Christi, Gottes selbst, eine wahnwitzige Inspirationstheorie,
nihilistische Raserei gegen alle staatliche Ordnung, Kommunis-
mus bis zu den zügellosesten Orgien der Weibergemeinschaft.
Wohl regt sich ihm nun die Reue über das gräßliche Aufgehen
seiner Saat — bis zu Selbstmordgedanken und gänzlichem Auf-
geben seiner selbst. Er bemerkt, daß der Beifall, den er anfangs
gefunden, sich überall in Gleichgültigkeit oder gar Abneigung
und Haß gegen ihn verkehrt habe. Er selbst glaubt nicht mehr
an das, was er andern predigt. Aber er vermag sich nicht mehr
aus den trüben Fluten der Verzweiflung und Gotteslästerung
herauszureißen, sondern wühlt sich nur immer tiefer hinein. Es
bildet sich in ihm eine krankhafte Furcht vor Verfolgung und
Meuchelmord bis zur förmlichen Monomanie aus. Um sich vor
den Qualen des Schuldbewußtseins zu retten, denkt er wohl (und
wagt es, seinen Anhängern das gleiche zu raten) an die Freuden
der Sinnenlust, ein »schönes Mädchen, Geiz oder einen Rausch«,
oder er schilt in Entsetzen erregender Weise, so daß die humansten
Gegner, seine einstigen Freunde, ihn für besessen halten. Er kann
nicht mehr beten, ohne zu fluchen. Voll Fluchens und Verzweif-
lung sind seine letzten Lebenstage. So tritt er, körperlich und
geistig erschöpft, vor den ewigen Richter.
54 Kleine historische Schriften.
Der Bauernkrieg bringt die anarchische Wut auf ihre Höhe:
er ist zugleich der Wendepunkt in Luthers Haltung. So lange
die Wage zwischen der Revolution und den Obrigkeiten noch
schwankte, verteilte auch er seinen Zorn auf beide Parteien,
redete die Bauern mit »Herren und liebe Brüder« an und schalt
die Hartherzigkeit der Fürsten. Nachdem diese aber einmal ge-
siegt, tat es ihm niemand gleich an gräßlicher Erbarmungslosigkeit
gegen die unglücklichen Verführten. Denn nun sah er, daß nur
die Auslieferung seines Werkes an die Territorialherren einen
Halt auf der schiefen Ebene geben könne. So führte die Knecht-
schaft des Willens zur Knechtschaft der Kirche. Die Fürsten
und Stadtherren wurden als Landesgötter angebetet, und die
Revolutionäre die ärgsten Reaktionäre, Feinde der Gewissens-
freiheit, heuchlerische Anbeter des Cäsaropapismus, Lobredner
der Leibeigenschaft und des vsillenlos passiven Gehorsams.
Umsonst waren alle bis an die äußerste Grenze der Tole-
ranz gehenden Gnadeerbietungen und Friedensversuche des Kaisers
und der Kurie: nur immer trotziger wurden die Stände, immer
starrer die Ausbildung ihres Landeskirchentumes, immer größer
die Zerstörung. Niemals gab es friedfertigere Gesinnungen als
damals am kaiserhchen und päpstlichen Hof, und niemals eine
offensivere Politik als die der evangelischen Insurrektion. Und
da nun die katholischen Stände teils kaiserfeindlich, teils ohn-
mächtig und zaghaft, teils sogar Verräter am Glauben waren,
da die Türken und Franzosen im Bunde mit den Kirchenfeinden
immer furchtbarer drängten, so kam es endlich dahin, daß Kaiser
und Papst sich mit den Waffen zum Schutz der Religion aufstellten,
nicht früher aber als nachdem die Protestanten den Krieg be-
gonnen hatten. Der Kreuzzug warf die Empörten nieder und brachte
den Kaiser auf die Höhe der Macht. Deutschland und die Kirche
waren gerettet. Da mißbrauchte Karl durch autokratische Er-
hebung über den unfehlbaren Herren der Kirche seine Gewalt und
den herrlichen Sieg. Er hörte nicht auf die väterlichen Ermah-
nungen des Papstes, auf die Warnungen der braven Jesuiten, bis er
einsehen mußte, daß seine Konzilspolitik und Interimsreligion
nichts als Widerspruch erregte und die Revolution in greuelvollerer
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 55
Form als jemals früher erweckte. Und so war das Ende der großen
Bewegung der Triumph der dämonischen Gewalten, die Zertrüm-
merung der Kirche und des Reiches, die materielle und geistige
Verödung, und der »Friede«, den die »Religion« schließlich fand,
eine neue Quelle unsäglichen Jammers.
Nach der Skizze, die oben zur Beleuchtung der Janssenschen
Vorstellungen über das Mittelalter einen Platz fand, wird es dem
Referenten wohl erlassen werden, die Tatsachen, welche die eben
angeführten Schmähungen und Absurdidäten berichtigen könnten,
zu repetieren. Bei der Ausführlichkeit, mit der Janssen in diesen
Abschnitten sein Thema variiert, würden wir uns zu sehr auf
die Einzelheiten, von denen abgesehen werden soll, einlassen
müssen. Auch darf ich hier auf die zahlreichen Widerlegungen
venveisen, welche die früheren Kritiker gegeben haben. Nur
einige Grundzüge, die allen jenen Verdrehungen gemeinsam und
für den Verfasser besonders charakteristisch sind, mögen noch
ihre Besprechung finden.
Schon anderswo ist bemerkt, daß Janssen sich seine Auf-
gabe unnötig erschwert habe, indem er sich für gewisse Ideen
erwärmt, die seiner Grundanschauung gar nicht nötig sind und
eigentlich sie nur stören können ^). Dahin gehört vor allem sein
Nationalgefühl. Er ist ein so schwärmerischer Patriot, daß er
mit den deutschen Ansprüchen weit über unsere Grenzen hinaus-
schweift: Mailand ist altes deutsches Gut, dessen Verlust nimmer
genug zu beklagen ist; Böhmen und Ungarn, die Niederlande,
die Schweiz und Burgund sind vor Janssens Annexionslust nicht
sicher. Und dieser Chauvinismus ist um so auffallender als er
nicht Worte der Entrüstung genug finden kann, um die fran-
zösischen Rheingelüste zu brandmarken. Freilich müssen wir
im Auge halten, daß die deutsche Hegemonie das nationale Leben
der unterworfenen Nachbarn nicht stören soll; nur daß sie selbst
nicht die Bestimmung darüber haben: so wie es in Janssens
jüngeren Jahren unter der Herrschaft seines Doppeladlers in
Italien der Fall war. Immerhin mußte ihn dieser nationale Ehr-
^) In dem genannten Artikel der Politischen Wochenschrift.
56 Kleine historische Schriften.
geiz, wie geschickt er auch meist die selbstgeschaffene KHppe
vermieden hat, mehrfach in die Lage bringen, die päpsthche Pohtik
zu tadehi, wo er sie sehr viel leichter und rechtmäßiger aus ihren
universalen Aufgaben hätte erklären können, vor denen die natio-
nalen Differenzen verschwinden müssen.
Während er aber den fremden Nationen die politische Ein-
heit mißgönnt, ist er ein glühender Verehrer der deutschen unter
Habsburgs Führung. Allerdings mit der Reserve, daß die Stam-
meseigentümlichkeiten gewahrt bleiben. Aber das ist ein poli-
tisch und historisch so undefinierbarer Ausdruck (man müßte
denn in das 9. und 10. Jahrhundert zurückgehen), daß Janssen
diesen Standpunkt ohne allzu auffallende Wendungen behaupten
kann. Lebten wir zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, so würden
wir ihn im Lager Ferdinands IL und als Gegner der katholischen
Liga sehen. Auch in der Reformationszeit ist ihm nichts wider-
wärtiger als die bayerische Politik und deren diplomatischer Re-
präsentant Leonhard v. Eck, obschon er ihren dogmatischen
Interpreten Dr. Johann Eck als Vorkämpfer der christlich-ger-
manischen Herrlichkeit verehrt. Diese Haltung bringt ihn von
neuem in Konflikt mit den römischen Interessen; denn so wenig
abzuleugnen ist, daß Bayern unter allen deutschen Ständen am
einseitigsten die »Libertätspolitik« vertrat, am wenigsten die
magyarisch-türkische und die französische Freundschaft ver-
schmähte, ebenso liegt es am Tage, daß KlemensVII. und Paul III.
mit dem München-Landshuter Hof regelmäßig viel freundlicher
verkehrten als mit dem des Kaisers und ihm dann immer am
nächsten standen, wenn die Herzoge und ihr durchtriebener Mi-
nister mit dem Woyda und König Franz, ja selbst mit dem Land-
grafen von Hessen ihre eifrigsten »Praktiken« trieben.
Möchte sich Janssen doch einmal den Effekt ^•orstellen, wenn
seine Gesinnungsgenossen in Italien, Frankreich, Spanien, Polen
und Ungarn die Geschichte ihrer Nationen ebenfalls in dieser
Verbindung römisch-katholischen und patriotisch - chauvinistischen
Hochgefühls schreiben wollten. \Me oft würden sie da gegen die
Übergriffe der Deutschen protestieren müssen, welche er zu den
höchsten kirclilichen und nationalen Triumphen rechnet! Sie alle
Janssens Gcscliichte des deutschen Volkes. 57
würden Gelegenheit finden, die römische Pohtik tadelnd zu kriti-
sieren, und ihre Vorwürfe, sonst wirr durcheinander tönend, würden
dann am einhelligsten und lautesten sein, wenn ihr deutscher Ge-
sinnungsgenosse die Weltstellung unserer Nation in ihrem Segen
für die Kirche am höchsten erhöbe. Ohne Frage aber würden sie
alle kirchlich nicht bloß, sondern auch historisch korrekter handeln,
wenn sie die patriotischen \'elleitäten über Bord werfen und, los-
gelöst von allem nationalen Empfinden, die Politik des römischen
Stuhles von Rom aus beurteilen wollten. Denn keine These wird
von der historischen Wissenschaft einmütiger beantwortet, als daß
die ]\Ionarchie, welche vom Vatikan aus gelenkt wird, unter allen
sich der längsten Dauer, der straffsten Einheit und Konsequenz,
der schärfsten Einsicht in ihre Lebensbedingungen rühmen darf.
Das Reformationszeitalter gilt als die Epoche, wo die Päpste
den pontifikalen Zielen am wenigsten treu geblieben sind. Und
gewiß wird auch die innigste Verehrung für das römische Gottes-
reich die Flecken nicht tilgen können, welche die heillose Nepoten-
wirtschaft von dem ersten Borgia-Papst bis zu Paul IV. Caraffa
dem Andenken des Papsttums gebracht haben. Aber so wenig
sich leugnen läßt, daß die Begehrlichkeiten nach kirchlichem und
fremden und auch nach »Reichsgut«, wie dem Herzogtum Mailand,
die päpstliche Politik zum Schaden ihrer oberpriesterlichen Auf-
gaben schwer beeinträchtigt haben, gehen diese Anklagen häufig
doch wohl weiter als die objektive Auffassung zulässig macht.
Regierten die Päpste des 15. und 16. Jahrhunderts wie italie-
nische Dynasten, so hatte das Exil von Avignon und das Schisma
gezeigt , was bei dem Gegenteil herauskam. Die territoriale
Politik war seit Martin V. für Rom eine Notwendigkeit gewor-
den, weit mehr als sie es in unserem Jahrhundert gewesen ist,
wo das Papsttum durch die Lösung seiner Kirchen von staat-
licher Selbständigkeit seine W^urzeln in die Staaten selbst tief
hineingetrieben und einen unermeßlichen Zuwachs an konzen-
trierter Kraft gewonnen hat. Selbst Klemens' VIL schwankende
Haltung würden wir wahrscheinlich gerechter als Janssen be-
urteilen können, wenn sie, wie wir hoffen dürfen, ihre Beleuchtung
vom römischen Standpunkt erhalten haben wird.
58 Kleine historische Schriften.
Freilich ist die Kontinuität der päpstlichen Politik für die
Wissenschaft nicht eben diejenige, welche ihr die offizielle römische
Auffassung zuschreiben muß. Daß die Geschichte der Päpste nicht
historisch bedingt sei, aus dem Kausalzusammenhang, ohne den
für uns keine Forschung denkbar ist, und den sie doch wieder
auf allen Gebieten reguliere, herausfalle, \\ird auch die kuriale
Auffassung bleiben, und alle aufklärenden Ergebnisse über die
Divergenz zwischen dieser Theorie und der Wirklichkeit müssen
daher auch gegen diesen Standpunkt gerichtet sein. Aber jenem
wüsten Durcheinander patriotischer und römischer Vorstellungen
begegnen N\ir nicht mehr, wenn wir von dem begrenzten Horizont
des deutschen Zentrums hinweg uns unmittelbar Rom gegen-
überstellen. Alles gestaltet sich fortan weit einfacher. Die Folge-
richtigkeit der römischen Politik können wir viel unbefangener
anerkennen; für weite Strecken der Geschichte werden wir den
pontifikalen Älachtbesitz und sogar seine Übereinstimmung mit den
allgemeinen Idealen dieser Epoche zugeben. Vielfach wird die
Differenz nur darauf hinauslaufen, daß wir den Gegnern Roms
eine tiefere geistige Erfassung derselben oder verwandter religiöser
und politisch-nationaler Probleme zuerkennen müssen.
Auch mit Janssen wird aber bis zu gewissen Grenzen immer
noch eine Art Auseinandersetzung möglich sein, wenn wir uns
über die Deutung seiner Wendungen und Vorstellungen ver-
ständigen.
Er hat gar nicht so unrecht, wenn er von Karl V. sagt, daß
ihm als Lebensziel nichts anderes als Friede in der Christenheit
imd Kampf der geeinigten gegen den türkischen Erbfeind bis
zur Wiederherstellung des Abendlandes in dem weitesten Um-
fange der staufischen Periode vorgeschwebt habe. Und dieser
Behauptung wird an Wahrheit nichts abgezogen werden, wenn
wir hinzufügen, daß sie an Trivialität ihresgleichen sucht. Den
»Frieden der Christenheit« betonte der Kaiser in den Verträgen
von Cambray und Crespy, wie in denen von Barcelona und Aigues-
mortes ; als er die Protestanten mit Religionsvergleich und National-
konzil zum Kampf gegen Frankreich köderte, und als er, um
sie niederzuschlagen, mit den Türken Stillstand und mit dem
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 59
Papst den Waffenbund schloß; das Edikt von Worms und das
Ausschreiben zum Augsburger Reichstag, die Regensburger
Konkordatsverhandlungen und die Kriegserklärung gegen die
Schmalkaldener atmen denselben Geist des »Friedens in der
Christenheit«, wie Karl ihn verstand. Und aufs innigste ver-
band sich ihm damit der Gedanke an die Kreuzfahrt gegen den
Islam. Konstantinopel und Jerusalem erobern, die christlichen
Kronen des Orients sich auf das Haupt drücken lassen, die alte
Welt wie die neue beherrschend zu vereinigen — es war der
höchste Traum seines Lebens. Das war sein erster Gedanke,
als ihm der Kurier die Nachricht von Pavia brachte: »Ich will,
so viel mir möglich, Diligenz haben, daß in der Christenheit ein
gemeiner Friede werden möge, und daß ich dem Könige von
Polen, meinem Bruder, und anderen wider die Ungläubigen
möge Hilfe tun: ich bedenke auch nichts anderes denn das i).«
Wie mag dem jungen Herrscher das Herz geschlagen haben, wenn
er, noch inmitten der spanischen Empörung, mit seinem Beicht-
vater in dem Königszimmer von Toledo auf- und niederging,
»von einer Ecke in die andere«, und der Prophezeiungen gedachte,
welche in aller Welt, bei Mohren und Christen laut waren von
dem Kaiser, der die Ungläubigen besiegen und die Monarchie
gewinnen würde! Selbst Papst Klemens bekannte sich einmal
vor Loaysa zu dem Glauben, daß Karl dieser Kaiser sein werde:
»Nun, ich will Euch sagen, vor zwei Tagen las ich eine Prophe-
zeiung, die im Jahre 80 geschrieben war und buchstäbhch er-
zählt, was vorgegangen ist, und angibt, es werde der König von
Frankreich wiederum sterben oder gefangen werden, und der
Kaiser, der König von Spanien, werde mit diesem Hause des
Türken ein Ende machen und ihn in einer Schlacht besiegen;
ich werde Euch diese Schrift senden, damit Ihr selber sie sehet.«
»Heihger Vater«, entgegnete freudestrahlend der Kardinal, »haltet
für gewiß, daß, wenn die kaiserliche Majestät diese Monarchie
hat, Eure Heiligkeit wahrer und unumschränkter Herr der Welt
sein und Euren Befehlen von allen gehorcht werden wird.« Wor-
auf Klemens, gleich als wäre er ganz außer sich, die Hände zum
^) Janssen 3, 3.
60 Kleine historische Schriften.
Himmel erhoben: »gebe Gott, daß der Kaiser Alleinherrscher
Nvürde; ich schwöre zweimal zu Gott, wenn es für seine Mon-
archie nötig wäre, daß ich der Papstwürde entsagte, ich würde
es mit der größten Bereitwilligkeit tun ^).«
Die Frage wird überall nur sein, wie wir im Sinne Karls den
»Frieden in der Christenheit«, die »Einheit der Kirche«, den »Kampf
gegen die Ungläubigen« aufzufassen haben.
Daß ihm kaum etwas so am Herzen gelegen hat als der Kampf
gegen den Halbmond, ist eine nicht abzuleugnende Wahrheit.
Gelang es, die Sturmangriffe des Islams abzuschlagen, so waren
die Grundbedingungen des »Friedens in der Christenheit« ge-
geben. Dann war Frankreich gefesselt; niemals hätte Franz I.
an Neapel und Mailand denken können. Auch die Niederlande
waren dann gesichert und die Aussicht vermehrt, den Norden
ihren Interessen dienstbar zu machen; das burgundische Erbe
wäre leicht zu erringen gewesen; und hätten die deutschen Fürsten
es jemals wagen dürfen, sich der Umklammerung durch die habs-
burgische ]\Iacht zu entziehen ?
Ganz richtig auch, daß Karl überall private Rechte geltend
machte: Dänemark mit den skandinavischen Reichen, Geldern,
Burgund und Mailand, Neapel, Aragon und Kastilien, alle seine
Besitztitel gründete er auf das Blut, das in seinen Adern floß.
Sogar das ist nicht unbekannt, daß er von der Vorstellung dieser
persönlichen Rechte aufs lebhafteste durchdrungen war. Wie
oft appelliert er daran in seinen Briefen! Im Zweikampf will
er den großen W^eltkampf mit dem französischen Rivalen in einer
Stunde beendigen.
Nur diesen persönlichen Standpunkt nimmt auch Janssen
ein, wenn er \'on der friedfertigen, konser\ati\en Politik des
Kaisers spricht, von seiner Abneigung gegen alle Gewalttaten
und Eroberungen innerhalb der Christenheit, von seinem festen
^) Loaysa an Karl V., 30. November 1531, bei Heine S. 197 (468).
»Glaube Ew. Majestät,« fügt der Beichtvater hinzu, »daß man etwas darauf
geben kann, denn bei keinem Anlaß sah ich jemals den Papst so viele
Schwüre tun. A lo menos paresce claro que tiene perdida toda mala vo-
Ixintad con vuestra imperial persona.«
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 61
Willen, »nur zur Verteidigung des ihm überkommenen Erbes
die ihm zu Gebote stehenden Mittel zu verwenden«. Weil Karl V.
der Enkel Maximilians und der burgundischen Maria, Ferdi-
nands und Isabellens war, weil sein Schwager von Ungarn und
seine Schwägerin \-on Österreich die Erben Wladislaws waren,
weil seine Schwester die Krone Dänemarks, an der die skandi-
navischen hingen, getragen hatte, gibt ihm Janssen die freie Ver-
fügung über die Geschicke fast des ganzen Europas.
Damit treffen wir auf die Grundnaivetät des Buches, aus
der sich die meisten anderen ableiten lassen, auf den Punkt, von
dem aus wir am allerbesten seine Konstruktionen aus ihren Fugen
heben können. Diesen gewaltigen Ringkampf der in ihren Tiefen
aufgewühlten Nationen Europas faßt der ultramontane Historiker
unter dem Gesichtspunkt des Erbstreites einiger Familien über
private Rechtsobjekte, und wie der Richter im Prozeß entscheidet
er über Recht und Unrecht ihrer Ansprüche.
Die sieben Kurfürsten haben den rechtmäßigen Besitzer aller
jener Titel zum römischen Kaiser deutscher Nation gewählt, folg-
lich sind alle Deutschen bei ihrer Seelen Seligkeit verpflichtet,
für die Politik, welche ihm ihre Vertretung auflegt, Gut und
Blut darzustrecken. Sie sind Reichsverräter, sobald sie sich
weigern, gegen die Türken und Magyaren zu kämpfen, in Frank-
reich einzubrechen oder die Kronen Karls in Italien zu sichern.
Ob das der Nation zugute komme oder den Pflichten, welche die
Stände in ihren besonderen Wirkungskreisen zu erfüllen haben,
oder nur den Interessen, die ihnen ihre eigene Stellung, persön-
licher Wille und Ehrgeiz vorschreiben, kann bei Janssen über-
haupt nicht in Frage kommen. Denn die höchste religiös-moralische
Leistung, die Kreuzfahrt und der Gehorsam gegen Kaiser und
Papst, ist im Einklang mit den höchsten nationalen Interessen,
Aus demselben Idealbegriff muß aber auch die Stellung der üb-
rigen Mächte, soweit sie christlich heißen wollen, beurteilt wer-
den; und so handeln denn Franz I., die Venetianer, die Ma-
gyaren, die Bayern, die Protestanten aus schmählicher Selbstsucht,
wenn sie den Kaiser im Glaubenskriege verlassen oder angreifen;
sie verraten die Christenheit und treten alle — nur der Papst
ß2 Kleine historische Schriften.
nicht, wenn er es gleich mit ihnen hält — den Osmanen als die
»christlichen Türken« zur Seite. Selbst falls Karl V., ohne durch
die Erbschaften dazu berechtigt zu sein, Vorkämpfer der Christen-
heit gegen die Ungläubigen geworden wäre, würde es die allseitige
Pflicht der Gläubigen gewesen sein, das heroische Unternehmen zu
unterstützen. Um wie viel mehr, da er nach Gottes wundervollem
Ratschluß durch die gerechtesten Ansprüche dazu berufen ist!
Und in der Tat, es ist eine der wunderbarsten Fügungen,
welche die Geschichte kennt, daß sich in diesem Hause, welches
nach einer Epoche kurzen Glanzes weit abseits von dem Mittel-
punkt der allgemeinen Entwickelung gestanden hatte, in wenigen
Jahrzehnten eine so blendende Machtfülle zusammenhäufen konnte.
Als Enkel Isabellens und Ferdinands hatte Karl V. die Aufgaben
zu erfüllen, welche dies Fürstenpaar im Kampf gegen Portugal,
Granada und Frankreich zur Gründung der spanischen Welt-
stellung geführt hatten. So war er Herrscher der beiden Sizihen
geworden, die von den Normannen den Griechen und Arabern
abgerungen, von den Hohenstaufen lange gewaltig aufrecht er-
halten, doch schließlich an eine französische Dynastie verloren
waren. Einst hatte ein König beider Länder die Krone Jerusa-
lems gewonnen, nachdem sein Vater in dem Augenblick, da er
ausziehen wollte, die Reiche des Ostens auf den Bahnen Robert
Guiscards und Boemunds zu erobern, jäh gestorben war: jetzt
hatte Karl denselben Glauben in Spanien, Nordafrika und Italien
zu bekämpfen. Es war eine Lebensbedingung für seine Herr-
schaft in Spanien und Italien, für sein Kaisertum selbst, die
Flagge Barbarossas aus den westlichen Gewässern zu verjagen.
Und keine geringere war es für die Ziele, die er oder sein Bruder
als Könige zu Ungarn, Dalmatien und Kroatien zu erfüllen
hatten, den türkischen Schutzherrn des Korsaren an der Donau
und Drau abzuwehren. Wieder andere Aufgaben erwuchsen
ihm aus der Erbschaft Karls des Kühnen: der Kampf gegen
Franz I. und die Eidgenossen, an deren Widerstand jener ge-
scheitert war, die Ausbreitung der burgundischen Gewalt am
oberen und niederen Rhein, wo Neuß zu rächen war, bis hin
zur Weser und Elbe und weiter dem Norden zu gegen den Sund
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 63
und das Baltische Meer, wo es das Übergewicht des niederlän-
dischen Handels zu sichern galt. So hatte er als Erzherzog zu
Österreich, als Graf zu Tirol, Habsburg, Flandern Traditionen
von Jahrhunderten zu vertreten — jedes Glied seiner langen
Titelreihe bedeutete eine besondere Machtsphäre, die ihren Träger
stützte, förderte nach der ihr eigentümlichen expansiven Ten-
denzen, aber auch wiederum hemmte und einengte, sobald er
aus den anderen Kreisen seines Wirkens eine Richtung erhielt,
die mit jenen nicht zusammenfiel. Hundertfach sind zwischen
ihnen die Divergenzen, hundertfach treten aber dem Blick auch die
Gemeinsamkeiten entgegen. Burgund und Österreich reichten sich
die Hand gegen die Eidgenossen; Spanien und Österreich gegen
die Osmanen und in ihren italienischen Plänen, So hatten Spanien
und Burgund in Frankreich den ärgsten Feind, und wie sehr auch
ihr Verhältnis zu England schwanken mochte, zeigten die Oscil-
lationen doch immer beide auf einer Seite. Nichts konnte
den niederländischen Kommunen in ihrem Wettstreit mit den
Hansen wünschenswerter sein als die Rückendeckung durch
ihren Ruewart zu Flandern, oder den kastilischen Großen gegen
die Comunidados, als die Hilfe des burgundischen Herzogs. In
I tauen trug es doch nicht bloß die Kriegskunst Gonsalvos und
die Tapferkeit seiner spanischen und deutschen Infanterie über
die Franzosen davon, sondern auch seine Unterstützung seitens
der einheimischen Parteien, welche in der Bekämpfung Frankreichs
und der Franzosenfreunde ihre eigene Stellung sichern wollten.
Und w'enn die Spanier die Herren Italiens wurden, so erhielt dies
damit einen Damm gegen die Türken, die schon gerufen und un-
gerufen, wie einst die Griechen, Ancona und Otranto bedroht
oder erobert hatten, und denen Rom ohne die spanische Okku-
pation vielleicht ebenso zur Beute gefallen wäre, wie einige Jahr-
zehnte zuvor Konstantinopel.
Und zu allen diesen Rechten und Stützen nun die in der
Theorie alles zusammenfassende kaiserliche Würde. Gewiß, das
größte Wunder wäre gewesen, wenn der jugendliche Herrscher
sich nicht mit den erhabenen Phantasien, welche die allgemeinen
Vorstellungen daran knüpfen, erfüllt hätte.
64 Kloine hislorischc Sdiriflc-n.
Das al)cr war das Geschick, vor das Deutschland nach dem
Tode Maximilians gestellt war: die Entscheidung zu treffen, auf
welcher Seite es stehen solle in dem Weltkampf zwischen den
beiden europäischen Machtsystemen, den es bis dahin immer noch
vermieden, dem es aber fortan nicht mehr ausweichen konnte.
Überall unterlagen sonst die Reiche dem Rechte des Erbes oder
des Schwertes. In Deutschland allein begründete Wahl die
Herrschaft; das war die Freiheit des Reiches. Was jetzt ge-
schah, war ein Spott auf dieses Wort. Nicht nach den Interessen,
welche der Nation eigentümlich waren, hatten die Kurfürsten
zu wählen. Wenn einen Augenblick dieser Gedanke in der Kandi-
datur des Beschützers Luthers auftauchte, so verging er wie Rauch.
Was wäre auch das Königtum Friedrichs des Weisen anderes
geworden als ein neues Schattenregiment gleich dem Ruprechts
und Günthers, ein Körnchen zwischen den Kolossen der habs-
burgischen und französischen Macht, deren Reibungen nun be-
ginnen mußten! Nur zwischen Karl I. und Franzi., dem König
von Spanien und dem von Frankreich, hatte Deutschland seinen
Herrn zu küren. Die Wahl war seine Unterwerfung unter die
spanisch-burgundisch-österreichische Politik. Als mächtigste Pro-
vinz trat es in das Universalreich ein, gebend und empfangend,
fördernd und hemmend; aber die Selbstbestimmung, die Freiheit
war dahin: mit Gut und Blut mußte es helfen, Mailand den
spanischen Gobernadoren zu unterwerfen, Neapel der spanischen
Krone, die Kurie der spanischen Kirche willfährig zu erhalten,
Burgund dem französischen Hof zu Brüssel, Ungarn dem zu Wien
anzugliedern, die französische, italienische, ungarische Nation und
sich selbst zu zersplittern und zu demütigen, um das Kaisertum
Karls V. groß zu machen.
An keinem Punkte erkennen wir deutlicher als an dieser
privatrechtlichen und religiös - moralischen Betrachtung der wohl
universalsten und tiefstgreifenden Bewegung, welche Europas
Geschichte kennt, die Nachwirkung der Romantik auf die ultra-
montane Geschichtsauffassung. Es ist noch ganz die von aller
pohtischen Reahtät losgelöste Phantastik der Dichtung: nur daß
sie dann doch wieder ganz bestimmten politischen Zwecken unter-
Janssens GeschicKte des deutschen Volkes. 65
würfig gemacht wird. So ist oder erscheint Janssen auch ohne
jede Vorstellung von den Wirkungen der elementaren, tausend-
fachen Kräfte, welche in jener Epoche sich zusammenfanden oder
in Kampf miteinander gerieten, und deren vielgestaltige, wechsel-
voUe Konstellationen in den dynastischen Verbindungen einen wie
zufälligen Ausdruck fanden.
Und so kann er freihch auch nicht den weiteren Schritt tun,
die Einwirkungen dieser politischen Kraftgruppierungen auf die
Entwickelung der religiösen Gedanken und der durch sie bedingten
Kirchen zu untersuchen.
Ein solches Unternehmen würde ja eine direkte Feindsehg-
keit gegen den Begriff seiner Kirche sein, welche zwar eine immer-
währende Einwirkung auf die Gestaltung der Welt und das Recht
der Herrschaft über dieselbe für sich beansprucht, selbst aber frei
von den Bedingungen des Irdischen in Form und Wirksamkeit
das Walten Gottes unmittelbar darzustellen wähnt. Wir Ketzer
hingegen sind des Glaubens, daß diese Behauptung, milde aus-
gedrückt, auf einer Verkennung des Höchsten beruht. Das Ewige,
meinen wir, kann nicht endlich sein; hoch über Raum und Zeit
schwebend kann es nicht der Geschichte anheimfallen. Es mag
wie ein Sonnenblick über die Erde hinleuchten, aber alles, was
am Werden und Vergehen, an dem Geschick der Menschheit Teil
nimmt, kann nur wie ein Abglanz seines Wesens sein. Die Vor-
stellungsformen des Höchsten selbst wandeln sich auf Erden mit
den Schöpfungen, denen sie ins Leben halfen, und entstehen ver-
jüngt aus ihren Trümmern. Wollen wir mehr begreifen, ohne
den Anspruch und die Form der empirischen Erkenntnis aufzu-
geben, so verirren wir uns in der Trugwelt der Scholastik. Nur
was der Entwickelung unterworfen ist, dem Leben und dem Tode,
»Menschheit wie sie ist«, nicht das Evangelium, kann Gegenstand
der historischen Forschung sein. Die unbefangene Übung dieses
Grundsatzes verdient allein den Namen Objektivität.
Gerade die Epoche, welche Janssen in seinem ersten Bande
schildert, hat die Meinung angeregt, daß die geistigen Strömungen
oder doch die »religiösen Volksbewegungen« in den politischen
Verhältnissen ihre Wurzeln haben, nur ein Widerhall, ein Nach-
Lenz, Kleine historische Schriften. 5
ßß Kleine historische Schriften.
zittern starker politischer Impulse sein ^). Eine Vorstellung, deren
Nachprüfung auch dann fruchtbar sein würde, wenn sie, wie ihre
Argumentierung, nicht in dem gewünschten Maße Anerkennung
finden sollte -). Denn sie schließt den vollberechtigten Protest
ein gegen das noch immer nur zu weit verbreitete Bemühen, das
Dogma bloß aus dem Dogma begreifen und dann doch die Er-
eignisse seiner unmittelbaren Einwirkung unterstellen zu wollen;
während es doch das Grundproblem aller historischen Forschung
sein muß, die Wechselwirkung zwischen der Welt der Ideen und
den übrigen Kraftfaktoren der »Politik«, dem Erdboden, in den
jene einfallen und aus dem sie sich wieder erheben, bis an die
Grenze der Erkennbarkeit klarzulegen.
Wenn aber irgendeine Epoche, so fordert die Reformations-
zeit dazu auf, den Zusammenhang zwischen der geistigen Be-
wegung und der politischen Gestaltung bis in die feinsten Ver-
ästelungen des sozialen und persönlichen Lebens zu erforschen.
Zunächst ist es vollkommen deutlich, daß Luthers Evan-
gelium den herrschenden Begriff der Kirche umdrehte — so wie
Kopernikus die geltenden Vorstellungen über das Verhältnis der
Erde zur Sonne auf den Kopf stellte. Seine \\'urzelechtheit be-
wies es eben, indem es das herrschende S3'stem in der Wurzel
traf. Und da dieses nun alle Ordnungen des Daseins umspon-
nen hielt und beherrschte, so mußte freilich eine allgemeine Er-
schütterung die unausbleibliche Folge sein, wo nur immer der
Versuch gemacht wurde, sie aus den Fesseln zu befreien. »Die
Gewohnheiten, die Meinungen, die Ordnungen in Staat und
Familie, das ganze Leben der Menschen, unermeßliche Güter,
alles stand in diesem hierarchischen System, das nun in seinen
Grundlagen bebte. Es gab nichts, das nicht mit erschüttert,
bis in sein innerstes Wiesen, in dem Gedanken seines Daseins ge-
troffen wurde. So begann ein unabsehbares Werk ... Es
hat nie eine Revolution gegeben, die tiefer aufgewühlt, furcht-
^) Gothein, Politische und religiöse Volksbewegungen vor der Refor-
mation. 1878.
^) Es ist klar, wie hiernach der deutsche Ultramontanismus aufzu-
fassen wäre.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 67
barer zerstört, unerbitterlicher gerichtet hätte. Wie mit einem
Schlage war alles gelöst und wie in Frage gestellt, zuerst in den
Gedanken der Menschen, dann in reißend schneller Folge in den
Zuständen, in aller Zucht und Ordnung . . . Alles Geistliche
und Weltliche zugleich war aus den Fugen, chaotisch.«
Janssen hat diese Worte, welche in der Tat das Problem
der Reformationsgeschichte ebenfalls in der Wurzel treffen, zum
Motto seines zweiten Bandes gemacht, wie er es denn überhaupt
liebt, Droysen unter den Zeugen seiner Geschichtsauffassung zu
zitieren. Daß er die folgenden Sätze, ohne welche jene nicht ver-
standen werden wollen, ausläßt, ist eins der Beispiele seiner Quellen-
benutzung, die man von jeder Seite auflesen kann ^). Dennoch
bleibt es unbestreitbar, daß die römische Weltverfassung in ihren
1) »Joh. Gustav Droysen über .Luthers Werk' in der Geschichte der
preuß. Poütik 2^, 100,« so unterschreibt J. das Zitat. Auch einige Zwischen-
sätze verschweigt er, ohne dem Leser ihre Stellen durch Punktierung zu
verraten. »Und die erste Wirkung,« heißt der eine, »war, daß die gewohnte
Bewegung der Dinge stockte und ihr reich entfaltetes Leben welk wurde;
die zweite, daß die toten Blätter, Äste und Stämme im nächsten Wetter
niederbrachen.« Diese Worte hätte Janssen noch ungefähr gebrauchen
können, obgleich »das nächste Wetter« auch nicht mehr in seinen Zusam-
menhang gehörte. Dann aber kommt ein Satz, den er ganz vermeiden
mußte, und mit dem er auch den vorigen hat fallen lassen: »Lasset die
Toten ihre Toten begraben.« Nicht so charakteristisch ist die zweite Aus-
lassung, die aber auch durch die Verwandtschaft einiger Worte mit den
verfehmten Nachsätzen motiviert werden kann. Diese selbst lauten: »Und
in dieser unermeßüchen Gärung gab es keinen festen Punkt als das lautere
Wort Gottes, keine ungebrochene Kraft als die ,aus dem Glauben allein'.
Staunenswert ist der Ernst, die Tiefe, die Wahrhaftigkeit des Geistes, der
in sich gerungen, bis er jene Erkenntnis fand und begriff und sich mit ihr
erfüllte. Staunenswürdiger, daß er angesichts der ungeheuren Bewegung,
die sich auf ihn berief, der Verirrungen und Zerrüttungen, die sich rings
um ihn her auftaten, auch nicht einen Augenbhck irre geworden ist. ,Wenn
das Werk von Gott ist, so wird es bestehen.' Aber es trat diese neue Predigt
in eine Welt, die tief zerrüttet, von Leidenschaften zerrissen, voll Trug und
Wahn, in Gier irdischen Genusses versunken war. Sie konnte nicht wie
ein Zauber wirken, der die Menschen plötzüch zu Heihgen gemacht hätte.
Den innersten Kern des Menschen treffen, erschüttern, ihm nicht Ruhe
lassen, bis er das eine ergriffen, was not tut, das nur konnte sie. Nicht auf
Wunder noch Zwang war sie gestellt, sondern auf Freiheit.« Und so fort.
5*
68 Kleine historische Schriften.
Grundfesten erbeben mußte, sobald es einmal Ernst wurde mit
dem Worte Gottes, welches Martin Luther bekannte. An alle,
welche sich nach Christus nannten, erging der gleiche Ruf; vom
Papst und Kaiser abwärts bis zum ärmsten Pfarrer und Bauer
sollten sie auf ihn hören, Pfaffen und Laien, einer wie der andere,
bei ihrer Seelen Seligkeit. Auch durfte Luther nicht schweigen,
weil er fürchtem nußte, alles Bestehende zu erschüttern. Denn
Gott nicht bekennen hieß ihm schon ihn verleugnen; und nicht
das Dasein als solches hatte für ihn irgendwelchen Wert, son-
dern auf den Zweck im Dasein kam ihm alles an. Nicht als Men-
schenwerk griff er daher die römische Kirche an; aber die Ketten,
mit denen sie ihre Lenker an den Thron Gottes geschmiedet hatten,
mußte er zerreißen. Daß sie vorgaben, Gottes Wille präge sich
in ihren Ordnungen anders aus als im Staat, in der Familie, in
dem Wissen und Gewissen jedes einzelnen, in aller Kreatur, war
ihre Sünde, die Fesselung Gottes, das »babylonische Gefängnis«.
Nicht durch Gewalt jedoch soll dieses zerbrochen werden: Gott
bedarf menschlicher Hilfe nicht, weder zum Angriff noch zur
Verteidigung. Ist er es doch allein, der »das Rädlein treibt«;
so will er auch allein die Ehre haben. Will die Welt wider ihn
streiten, so tue sie es auf ihre Gefahr. Wie darf sie dann aber
das Wort Gottes anklagen, wenn das Leben in ihr stockt und
das nächste Wetter sie niederreißt ? Oder wie darf sie von den
Gläubigen Gottes in ihrem Kampfe wider das Wort Hilfe er-
warten ? Das heiße, sich teilhaftig ihrer Sünde machen, Gott
verlassen und ihren Göttern dienen. »Lasset die Toten ihre Toten
begraben.«
Denn »was heißt Gott haben; oder, was ist Gott? Antwort:
ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten,
und Zuflucht haben in allen Nöten; also, daß einen Gott haben
nichts anderes ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben;
wie ich oft gesagt habe, daß allein das Trauen und Glauben des
Herzens machet beide, Gott und Abgott. Ist der Glaube und
das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht; und wieder-
um, wo das \^ertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte
Gott nicht. Denn die zwei gehören zuhauf, Glaube und Gott.
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 69
Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängest und verlassest, das
ist eigentlich dein Gott«i). Das erste Gebot, die Lehre von Gott,
trennte Luther von der römischen Kirche; und »das erste Gebot
soll leuchten und seinen Glanz geben in die andern alle. Es soll
durch alle Gebote gehen, als die Schale oder Bögel im Kranze,
das Ende und Anfang zuhauf fügen und alle zusammenhalten,
auf daß man's immer wiederhole und nicht vergesse« 2).
Aber war es nicht denkbar, daß alle Christen den einen Gott
bekannten ? Kein höheres Zeugnis für die Festigkeit des Glau-
bens Luthers kann es geben, als daß er, der sich der Schwierig-
keiten des Weges und der Stärke des Widerstandes mehr als
jeder andere bewußt war, niemals an dem Siege durch das Wort
allein irre geworden ist. Vergegenwärtigen wir uns aber die Fülle
der alten Ordnungen, die Tiefe und Kraft der Wurzeln, welche
sie in Staat und Gesellschaft, in das Leben der Gesamtheit und
jedes einzelnen getrieben hatten: die sakramentalen Fesseln,
welche um jedes Dasein von der Geburt bis zum Tode geschlagen
w'aren, die klösterlichen Gemeinschaften, welche das höchste
Lebensideal darstellten und breiten Schichten des Volkes eine
Stätte boten, die theologischen und philosophischen Sj^steme,
alle Doktrinen von Staat und Kirche, Welt und Gott, Recht
und Freiheit umschlossen von der einen Weltanschauung, die
Universitäten von diesem Geist getragen, die Kirchen in ihrem
bunten Schmuck, in ihrem Baugedanken selbst dadurch beseelt,
das Gepränge des Kultus, das Heer der Heiligen, das Diesseits
und das Jenseits in täglich - persönliche Beziehung zueinander
gesetzt — so begreifen wir freilich, daß eine allgemeine Stockung
des noch kräftigen Lebens, Verwirrung und Zusammenbruch die
nächste Folge sein mußte. ' '
Sollte Luther aber schw^eigen, w^eil er überall die Verw^üstung
sich an seine Schritte heften sah ? Gewiß — wenn er der ]\Ieinung
gewesen wäre, daß das Bestehende, weil es nun einmal dasteht,
zu erhalten und nicht vielmehr auf den Gottesgedanken in ihm
zu gründen sei; wenn er den Duldungsbegriff gehabt hätte, der
1) Luthers Großer Katechismus, Erstes Gebot, die ersten Worte.
*) Aus dem »Beschluß der zehen Gebote«.
70 Kleine historische Schriften.
Janssen den Wunsch nach gemeinsamer Pflege »dessen, was bei
den einzehien Parteien \om Christentum noch auf lebendiger
Wurzel grünt«, eingibt: eine Freundschaft, die letzteren freilich
nicht an dem Versuch hindert, auf den Mann, mit dem die Be-
rechtigung der »Kirchenspaltung« des i6. Jahrhunderts steht und
fällt, allen nur denkbaren Schmutz zu werfen, den Ast, auf dem
seine protestantischen Freunde sitzen und unter dem Sankt Peters
Netze ausgespannt sind, durchzusägen.
So führt uns also auch hier der Streit mit dem ultramon-
tanen Historiker zuletzt auf eine Frage der Interpretation, auf
eine ethische Grenzberichtigung zurück. Wenn konservativ sein
mit stabil sein identisch ist, so hat jener gewonnen Spiel. Dann
war Luther der größte Revolutionär aller Zeiten. Sind es aber
die »dauernden Gedanken«, welche die Welt befestigen, so ist
vor allem andern darüber zu streiten, ob die Gedanken Luthers
beständige oder zerstörende waren, ob sie innerlich verwandt
waren mit denen, von welchen die Revolutionäre und Anarchisten
und alle falschen Freunde sich leiten ließen oder nicht. Das ist
die Aufgabe des Biographen Luthers. ^)
^) »War hingegen jene Frage (.was sollen wir tun, daß wir selig wer-
den ?') in einen ursprüngüch-lebendigen Boden gefallen, so daß im Ernst
geglaubt wurde, es gebe eine Seligkeit, und der feste Wille war da, selig
zu werden, und die von der bisherigen Religion angegebenen Mittel zur
SeUgkeit mit innigem Glauben und redUchem Ernste in dieser Absicht ge-
braucht worden waren, so mußte, wenn in diesen Boden, der gerade durch
sein Ernstnehmen dem Lichte über die Beschaffenheit dieser Mittel sich
länger verschloß, dieses Licht zuletzt dennoch fiel, ein gräßliches Entsetzen
sich erzeugen vor dem Betrüge um das Heil der Seele und die treibende
Unruhe, dieses Heil auf andere Weise zu retten, und was als in ewiges Ver-
derben stürzend erschien, konnte nicht scherzhaft genommen werden.
Ferner konnte der einzelne, den zuerst diese Ansicht ergriffen, keineswegs
zufrieden sein, etwa nur seine eigene Seele zu retten, gleichgültig über das
Wohl aller übrigen unsterbUchen Seelen, indem er, seiner tieferen Religion
zufolge, dadurch auch nicht einmal die eigene Seele gerettet hätte: sondern
mit der gleichen Angst, die er um diese fühlte, mußte er ringen, schlecht-
hin allen Menschen in der Welt das Auge zu öffnen über die verdammliche
Täuschung. Auf diese Weise nun fiel die Einsicht, die lange vor ihm sehr
viele Ausländer wohl in größerer Verstandesklarheit gehabt hatten, in das
Gemüt des deutschen Mannes, Luther. An altertümlicher und feiner Bü-
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 71
Bevor hierüber die Entscheidung feststeht, können alle Ruinen,
die sich rings um Luther unter dem Anhauch seines Geistes auf-
taten, nichts beweisen — ganz davon abgesehen, daß uns überhaupt
noch jede moral-statistische Grundlage zur Vergleichung der Zeit
vor und nach seinem Auftreten fehlt. Denn nicht um das, was
in Folge, sondern was als Folge seiner Lehre geschah, darf es
sich hier handeln. Vielmehr, wird nachgewiesen, daß diese Gedanken
in einem innerlichen Gegensatz zu den radikalen Abweichungen
und häufig zu den Interessen, denen sie dienstbar wurden, selbst
standen, so kann die Persönlichkeit des Reformators nur um so
höher wachsen, je unerschütterlicher er inmitten der Zerstörung
und der Angriffe von rechts und links auf seinem Grunde ge-
bheben ist. Alles, was er über die fundamentale Feindschaft
seines Evangelium zu dem römischen Kirchenbegriff als dem
Antichristentum sagt, kann dann nur für die Konsequenz seines
Systems zeugen; der Zorn, mit dem er gegen Priestertum und
Gottesdienst, Gelübde und Sakramente, Bildungsformen und
Bildungsstätten des römischen Geistes auftritt, nur für die Kraft
seiner Überzeugung; die Intoleranz, mit der er seine Lehre allein
als die Christi bezeichnet — für Janssen der Gipfel seines blas-
phemischen Hochmuts — nur für die Felsenstärke seines Glaubens ;
die Festigkeit, mit der das alte Kirchentum wurzelte, der Wider-
stand, den er fand, die Zersplitterung, die Entfesselung der Leiden-
schaften, die Zerrüttung selbst nur für die großartige Selbstän-
digkeit und Strenge seines Pflichtgebotes. Und nichts kann dann
düng, an Gelehrsamkeit, an anderen Vorzügen übertrafen ihn nicht nur
Ausländer, sondern sogar viele in seiner Nation. Aber ihn ergriff ein all-
mächtiger Antrieb, die Angst um das ewige Heil, und dieser ward das Leben
in seinem Leben und setzte immerfort das letzte in die Wage und gab ihm
die Kraft und die Gaben, die die Nachwelt bewundert. Mögen andere bei
der Reformation irdische Zwecke gehabt haben, sie hätten nie gesiegt, hätte
nicht an ihrer Spitze ein Anführer gestanden, der durch das Ewige begei-
stert wurde; daß dieser, der immerfort das Heil aller unsterblichen Seelen
auf dem Spiel stehen sah, allen Ernstes allen Teufeln in der Hölle furchtlos
entgegenging, ist natürUch und durchaus kein Wunder. Dies nun ist ein
Beleg von deutschem Ernst und Gemüt.« (Fichte in der sechsten seiner
Reden an die deutsche Nation.)
72 Kleine historische Schriflon.
die erhaltende Kraft seiner Gedanken mehr beweisen als das zer-
störende Walten derjenigen, welche sich mit Unrecht die Vollender
seines Werkes nannten.
So wenig nun jemals eine Wahlverwandtschaft Luthers mit
Münzer nachgewiesen werden wird, ebenso gewiß und allbekannt
ist, daß das Wort Gottes fast nirgends so in der Welt gewirkt
hat, wie es seine Predigt verlangte: daß die kirchliche Umwand-
lung überall von revolutionären Zuckungen und rohen Gewalt-
taten begleitet wurde; daß nicht bloß die Anarchisten, welche
den Reformator gleich Janssen als Vater Leisetritt und Fürsten-
diener anschwärzten, sondern auch diejenigen, welche mit ihm
oder ihm folgend die alten Ordnungen evangelisch umgestalteten,
wohl ausnahmslos durch politische Interessen und persönliche
Leidenschaften beeinflußt worden sind; daß ihm selbst auch wohl
in der Hitze des Kampfes der klare Blick getrübt worden ist. Diese
Wirkungsformen der lutherischen Idee nachzuweisen, ihr Ein-
treten in die wildbewegte Welt, deren Gegensätze und Konstel-
lationen nun auch für sie maßgebend wurden, ihre Verwand-
lung in politische Kraft, indem sie einen Teil ihrer Freiheit ver-
loren, zahllose Brechungen des einen Lichtes — darin faßt sich
die Summe der allgemeinen Reformationsgeschichte zusammen,
in deren Anfängen wir heute noch stehen.
Die besondere Schwierigkeit der Aufgabe liegt in dem Grund-
gedanken Luthers selbst.
Alle früheren Reformatoren der Kirche — und die Geschichte
der katholischen Kirche ist eine Kette von Reformationen — waren
darin übereingekommen, in der Weltflucht das höchste Ziel des
religiösen Lebens zu sehen. Das Irdische als Besitz, Genuß, Herr-
schaft (Eigentum, Ehe, Staat) ist ihnen das Verderbliche. Von
dieser Welt der Sünde die Menschheit loszureißen, ist ihr un-
ablässiges, in der Glut der Askese genährtes Streben; gelingt
nur bei einem Bruchteil die Fesselung an das Lebensideal selbst,
so soll doch alle Welt die Heiligkeit desselben und seiner Diener
anerkennen. Luther hingegen stellt den »Christenmenschen« mitten
hinein in die Welt. Anstatt den Staat zu fliehen, sucht er ihn
auf. Er will ihn nicht unterdrücken, sondern erhöhen, Er be-
Janssens Geschichte des deutschen Volkes. 73
darf seiner, denn \\de wäre die Freiheit, welche er anstrebt, die
christhche Lebensführung möghch, wenn nicht starke Rechts-
schranken diesen persönHchen Gottesdienst sicherten! Indem er
die Sphäre der Religion abgrenzt, findet er zugleich — und nichts
war ihm bewußter, als daß er der Entdecker war — die Gott-
gewolltheit der weltlichen Existenz in den Formen des Staates,
der Gesellschaft, des Einzellebens ^) .
Das ist die »Einschließung der Religion in Staatsgrenzen«,
welche Janssen mit dem unschönen Wort »Cäsaropapismus« zu
brandmarken sucht, indem er als identisch nimmt, was höchstens
kongruent genannt werden kann, und dabei doch wieder an einen
Begriff der Rehgionsfreiheit appelliert, der erst auf dem Boden
des protestantischen Staates erwachsen konnte ^). Eine Ver-
1) »Daher auch achte ich, wir Deutschen Gott eben mit dem Namen
von Alters her nennen (feiner und artiger denn keine andere Sprache) nach
dem Wörtlein gut, als der ein ewiger Quellbrunn ist, der sich mit eitel
Güte übergeußt und von dem alles, was gut ist und heißet, ausfleußt. Denn
ob uns gleich sonst viel Gutes von Menschen widerfähret, so heißet es doch
alles von Gott empfangen, was man durch seinen Befehl und Ordnung
empfähet. Denn unsere Eltern und alle Obrigkeit, dazu ein jeglicher
gegen seinen Nächsten, haben den Befehl, daß sie uns allerlei Gutes tun
sollen, also daß wir's nicht von ihnen, sondern durch sie von Gott empfahen.
Denn die Creaturen sind nur die Handröhren und Mittel, dadurch Gott alles
giebt; wie er der Mutter Brüste und Milch giebt dem Kinde zu reichen,
Korn und allerlei Gewächs aus der Erden zur Nahrung; welche Güter
keine Creatur keines selbsten machen kann. Derhalben soll sich kein
Mensch unterstehen, etwas zu nehmen oder zu geben, es sei denn von Gott
befohlen, daß man's erkenne für seine Gaben und ihm darum danke, wie
dies Gebot fordert. Darum auch solche Mittel, durch die Creaturen Gutes
zu empfahen, nicht auszuschlagen sind noch durch Vermessenheit andere
Weise und Wege zu suchen denn Gott befohlen hat. Denn das hieße nicht
von Gott empfangen, sondern von ihm selbst gesucht. « Großer Kate-
chismus, erstes Gebot. — Vgl. A. Ritschi, Prolegomena zu einer Ge-
schichte des Pietismus (in B riegers Zeitschrift für Kirchengeschichte
Bd. 2), und mehr noch dessen Geschichte des Pietismus, die Einleitungen.
*) Denn Toleranz in unserem Sinne ist Kraftbetätigung. Eine Toleranz,
wie sie Theoderich der Große und Georg Podiebrad übten, war Schwäche.
Auch die römische Kirche kann, wo sie die Gewalt hat, tolerant sein, wenn
sie will. Sie will nur in der Regel nicht, während der Staat immer will —
beide, weil sie müssen. Das Merkwürdige aber ist, daß auch die Toleranz
74 Kleine historische Schriften.
drchung, die eben deshalb so leicht war, weil ja, wie bemerkt,
die lutherischen Gedanken in ihrer politischen Ausprägung nur
allzu häufig Trübungen und Fälschungen erlitten haben.
Trotz alledem bleibt es die vornehmste Aufgabe jedes Kefor-
mationshistorikers, die Gedankenarbeit der Reformatoren der
Papisten und der Revolutionäre gegen einander abzugrenzen;
und alle die, welche wie Janssen, sei es aus Gründen der Un-
wissenheit oder scholastischer Unfreiheit, ohne diese Vorarbeit ge-
macht zu haben, die Sekundärerscheinungen und Primärkonse-
quenzen durcheinander wirren, bleiben außerhalb der wissen-
schaftlichen Diskussion.
Das schUeßt nicht aus, daß selbst diese Reformationsgeschichte
eine nicht unwesentliche Bedeutung behaupten wird. Nur hat sie
dieselbe nicht für die Geschichte der Reformation selbst oder gar
des Mittelalters, dem Janssen zu huldigen vorgibt, zu dessen Geistes-
gewaltigen er sich aber verhält wie etwa Canisius zu Albertus
Magnus. Die unzweifelhafte Geistesverwandtschaft mit Canisius
wird ja auch er nicht ableugnen wollen. Seine und seines Buches
eigentümliche Bedeutung liegt vielmehr auf einem ganz andern
Felde. Wenige historische Aufgaben haben ein gleich akutes
Interesse wie der Nachweis, wodurch sich die geistig so hoch-
bedeutende Romantik in den Ultramontanismus verkehren mußte.
Und unter diesem Gesichtspunkt wird die » christhch-germanische
Weltanschauung«, welche Janssen als die Grundmaterie des Mittel-
alters betrachtet, wirklich eine bedeutende Stellung in der all-
gemeinen Entwickelung finden. Ihre Charakterisierung würde
zugleich ein gutes Stück deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert
sein; und niemand, der sich deren Darstellung widmet, wird daher
an dieser »Geschichte des deutschen Volkes« vorüber gehen können.
des Staates ihr Dasein weniger dem Nachdenken einiger Berufsphilosophen
als politischen Zwangsverhältnissen verdankt, mithin aus der Toleranz
der Schwäche sich entv\-ickelt hat.
m^^^^^
Humanismus und Reformation.
(1891.)
Es gab eine Zeit, wo das Interesse an Fragen, wie sie uns
hier beschäftigen sollen, fast wie erstorben war. Wohl brachte
man der Epoche der Reformation, als des Durchbruchs der mo-
dernen Gedanken, vielfache Sympathien entgegen, nicht bloß
seitens der Evangelischen, sondern auch der Katholiken, der
Gebildeten, Unabhängigen wenigstens unter ihnen; man sprach
mit Wohlwollen von der »Glaubensverbesserung«, von der Ab-
lösung der dunkeln Zeiten des Aberglaubens und pfäffischer
Tyrannei, dem Aufblitzen der Gedankenfreiheit, der vernünf-
tigen Klarheit, deren Licht nun alles überleuchtete, in deren
reinem Glänze man sich behaglich sonnen und sich freuen konnte,
daß man es so herrlich weit gebracht — aber, um schärfer hin-
zusehen oder gar mit persönlichem Eifer sich dem Studium jener
Epoche zu widmen, dafür lag sie dem Selbstgefühl dieser Gene-
ration zu weit dahinten, galt sie zu sehr als überwunden.
Auf diese Stufe folgte eine andere, in der die Zeiten des
Mittelalters wie in der Verklärung erschienen, von einem ma-
gischen Glänze Übergossen, der doch nur eine Wiederspiegelung
war von der in den Umwälzungen der Gegenwart an jener Ver-
nünftigkeit irre gewordenen, nach neuen Quellen für Gemüt und
Phantasie sich sehnenden Zeitstimmung. Nun begann man wohl
zu klagen über den Untergang des Mittelalters: als Sphäre der
Religion und Poesie, gottinniger Spekulation, reinster, höchster
Ideale in allen Lebensformen erschienen die mittleren Jahrhun-
derte: man sprach von einer Wiedervereinigung der getrennten
70 Kleine liis(orische Schriften.
Kirchen, von einer Versöhnung zwisclien Wissen und Glauben.
Daß die Kirche, wie sie gewesen, mit allen ihren Ansprüchen
auf Staaten- und Geisterzwang je wieder erwachen könnte, daß
Rom ein ausschlaggebender Faktor in der europäischen Politik
werden würde, ahnte niemand. »Denn was ist es heutzutage
noch,« so schrieb selbst Ranke in der Vorrede zu seiner Geschichte
der Päpste 1834, »das uns die Geschichte der päpstlichen Gewalt
wichtig machen kann ? nicht mehr ihr besonderes Verhältnis zu
uns, das ja keinen wesentlichen Einfluß weiter ausübt; noch auch
Besorgnis irgendeiner Art: die Zeiten, wo wir etwas fürchten
konnten, sind vorüber; wir fühlen uns allzu gut gesichert.«
Aus diesen Stimmungen sind wir heute heraus. Heute gibt
es kaum eine andere Epoche der europäischen und vor allem
imserer eigenen Geschichte von so allgemeinem und so akutem
Interesse. Denn nicht bloß die höheren Regionen, theologische
oder philosophische Spekulation, die Phantasie des Künstlers,
die Anschauung des Historikers sind jener großen Institution
zugewandt, sondern ihr Dogma, ihr Kultus, ihre Verfassung und
alle ihre Ansprüche sind das Ferment geworden für eine politische
Partei. Diese Kirche, die vor 100 Jahren noch in den Händen
der Aristokratie oder des Staates war, ist heute unabhängig von
der politischen Zentralgewalt und demokratisiert; Bürger- und
Bauemsöhne nehmen die Bischofssitze ein, welche einst dem
hohen und höchsten Adel vorbehalten waren; nicht bloß die Kan-
zel und der Beichtstuhl, sondern Presse, Volksversammlung und
Vereine sind Mittel geworden, mit denen die Kirche arbeitet;
ihre Kapläne, Lehrer, Professoren sind poHtische Agitatoren;
jede Annäherung an die feindlichen Konfessionen, jeder Versuch
der Versöhnung wird geflissentlich vermieden; jedes Resultat
der Forschung (sei es Philosophie oder Historie oder gar Natur-
^\•issenschaft) wird nur anerkannt, sobald es den kirchlichen Stem-
pel erhalten hat. Das Ergebnis liegt vor jedermanns Augen. Die
katholische Menge ist vöUig disziphniert, eine Herde, welche dem
Hirten folgt, ob er sie nun zur Wahlurne oder zur Wallfahrts-
stätte geleiten mag. Unsere Wahlen beweisen, was die römische
Kirche vermag. Und wie tiefgründig das kathohsche Wesen in
Humanismus und Reformation. 77
dem Volke Martin Luthers am Ende des 19. Jahrhunderts wieder
geworden ist, das hat der schier endlose Pilgerstrom aufs neue
gezeigt, der sich im vergangenen Sommer vor dem Hochaltar
zu Trier vorüberwälzte. Nichts aber verriet doch die Machtstel-
lung Roms im heutigen Reiche besser als das Schweigen der geg-
nerischen Presse. Denn das stammte nicht etwa bloß aus Ver-
achtung oder Gleichgültigkeit, sondern mehr noch aus Vorsicht.
Konnten wir doch schon froh sein, daß nicht auch protestan-
tische Regierungsbeamte es für ihre Pflicht gehalten haben, vor
den »lückenhaften Stoff teilen« ihre Knie zu beugen! Wo einmal
in der Presse eine Stimme für den gesunden Menschenverstand
eintrat und etwa von Gimpelfang sprach, hatte sie sich flugs vor
dem Richter zu verantworten; der Staat ist alsbald für diese
Institution einer von ihm anerkannten Kirche eingetreten. Wahr-
lich, wenn das Deutsche Reich von heute, wenn der nationale
Staat der Hohenzollern zu Martin Luthers Zeiten schon bestan-
den hätte, er hätte es nicht wagen sollen, gegen den Seelenmord
der Ablaßkrämer seine Stimme zu erheben.
Auch das Problem, das ich heute der Betrachtung unter-
breiten will, ist in den großen Streit des Tages mit hinein-
gezogen worden. Merkwürdig aber, hier vereinigen sich die Gegner
von rechts und von links in den Angriffen auf die Reformation.
Denn wie auch immer deren Verdienst um den Fortschritt des
Menschengeschlechtes formuliert und anerkannt werden möge —
den Vorwurf will ihr doch die Aufklärung unserer Tage nicht
ersparen, daß sie die freiere Geistesbildung, die soeben auch auf
deutschem Boden zur Entfaltung gelangte, in der Blüte geknickt
habe: die alte Scholastik habe sie nur zerstört, um alsbald eine
neue an ihre Stelle zu setzen, sie selbst sei das Mönchtum nicht
völlig los geworden, der Geist sei aufs neue im Dogma eingeengt,
der Staat und alle Bildung nur noch enger an klerikale Zwecke
geschmiedet worden.
Etwas anders lauten die Anklagen von selten der Ultra-
montanen. Denn diesen Herren können die weltfrohen Spötter,
die Halbheiden vom Schlage eines Celtes oder Crotus Rubeanus
doch unmöglich ganz sympathisch sein. Indessen manche von
78 Kleine historische Schriften.
ihnen haben die Zerstörung ja gar nicht mehr erlebt, andere die
Zugeliörigkeit zur Mutter Kirche immer behauptet und Hterarisch
betätigt, wieder andere, und gerade die größten Weltkinder, haben
ihre Sünden, da sie die Folgen sahen, bereut, und verteidigt, was
sie einst gelästert hatten. Wer aber verzeiht den Reuigen lieber
als die Mutter Kirche! Und so sind sie einer nach dem andern
absolviert und zu Gesinnungsgenossen Ecks und Ortuins und aller
jener dunklen Männer gestempelt worden, über die sie sich im
Leben so weidlich lustig gemacht haben, alle die Lehrer und
Freunde der Reformatoren, nicht bloß die Philister unter ihnen,
sondern gerade die lockersten Vögel, neben Wimpheling und
Reuchlin auch Celtes und Erasmus, Pirckheimer und Rubeanus,
so daß es denn selbst den Verehrern des heiligen Rockes möglich
geworden ist, über den Geistesfrühling unter der Pflege der Kirche
zu frohlocken und über den Frühreif der Ketzerei, der ihn ver-
nichtet habe, zu jammern.
Auch ich hoffe auf Absolution, wenn ich davon absehe, mich
mit der Widerlegung solcher Gegner abzugeben. Die Ärmsten
dürfen ja gar nicht anders glauben, denken und beweisen. Ein
höherer Wille zwingt sie, die A^ergangenheit sich so vorzustellen,
wie es seinen Zwecken entspricht, heute so, morgen vielleicht
ein wenig anders. Sie stehen mit ihrem Urteil und Erkennen
nicht unmittelbar vor Gottes Angesicht, sondern dazwischen
drängt sich herrisch die Kirche und ihre Tradition. Und also
müssen sie übermalen oder hinwegtuschen und ergänzen, wo
immer etwas in dem Bilde nicht passen will zu dem hierarchischen
Ideal, für dessen Herrschaft in aller Welt sie kämpfen.
Nur mit denjenigen wollen wir diskutieren, welche in wahr-
haftiger Überzeugung über die Ertötung oder doch Erstarrung
der Humanität und Weltfreudigkeit, der Geistesfreiheit, wie wir
sie heute besitzen, durch die Reformation Klage führen.
Nehmen wir einen Moment an, daß diese recht hätten, so
stehen wir alsbald vor einem Rätsel. Wie (müssen wir fragen)
ist es dann zu erklären, daß unsere heutige Kultur lediglich aus
protestantischer Wurzel entsprossen ist? Denn nicht nur unser
Rechtsbewußtsein, unser sittliches Empfinden (wenn wir es anders
Humanismus und Reformation. 79
höher schätzen als jene Beklagenswerten, die vor dem Reliquien-
schrein in Trier Heilung ihrer seelischen oder auch leiblichen
Gebrechen suchen), nicht nur unser Staat, sondern auch unsere
Dichtung und Philosophie, jegliche Wissenschaft und die Mutter-
sprache selbst, alle die großen Güter, welche den Kern unserer
Nationalität ausmachen, wuchsen auf protestantischem Boden.
Blicken wir auf das \-orige Jahrhundert! Wo war der deutsche
Kathohzismus, vor dem im Dreißigjährigen Kriege uns nur fremde
Hilfe hatte erretten können ? Im Lager Österreichs, das durch
das protestantische Preußen dreimal überwältigt wurde, oder in
der Verrottung weltHcher und geistlicher Kleinstaaten, völlig
abseits von dem reichen geistigen Leben, das überall, wo evan-
gelische Schulen und Kirchen standen, von Riga bis Zürich empor-
blühte. Selbst die Wiederbelebung der mittelalterlichen Welt-
auffassung in der Romantik beruhte auf einer Abwandlung dieser
protestantischen Kulturbewegung. Den Reigen führten da wie-
derum Protestanten, und erst nach ihnen traten, nun auch wohl
durch Überläufer aus solchen Kreisen verstärkt, aber genährt
von protestantischem Geiste, katholische Männer wie Joseph Görres
auf, um triumphierend auf die Erhabenheit und Ewigkeit der
gesellschafterrettenden Kirche hinzuweisen.
An ein zufälliges Zusammentreffen ist hier nicht zu denken.
Wir können gar nicht anders schließen, als daß eine innere Ver-
bindung statthatte, daß die uns teuersten Güter unserer Nation
in der Tat auf die Gedankenarbeit der Reformatoren zurückzu-
führen sind, und können unsern Gegnern von links höchstens
den Ausweg lassen, daß der Humanismus jene Ideale, die eine
spätere Zeit entwickelte, noch rascher zur Entfaltung gebracht
haben würde, daß die Reformation nur einen Teil von ihnen un-
mittelbar verwirklicht, ihre freieren Formen aber durch ihre dog-
matisch-scholastische Verengung in der Entwickelung zurück-
gedrängt habe.
Erinnern wir uns, bevor wir hierauf die Antwort geben, daß
der Humanismus nur eine Teilerscheinung ist der Renaissance,
und daß diese nicht dem deutschen Geiste, sondern dem Italiens
entsprang, auf dessen Boden sie in der gleichen Epoche wieder
C^O Kleine historische Schriften.
abstarb, in der das Papsttum seine neuen Siege errang. Diese
Schuld wird man ja doch wohl nicht auch noch der deutschen
Reformation aufbürden wollen. Behalten wir auch im Gedächt-
nis, daß die bildende Kunst der Renaissance in Deutschland erst
zu Luthers Zeit heimisch geworden ist, parallel mit ihm sich ent-
wickelt hat, daß der Humanismus, der sie bei uns vorbereitete,
in Wissenschaft und Künsten überall auf die alten Anschauungen
und Formen stieß, daß sich diese Invasion des italienischen Geistes
ferner in zwei kurzen Generationen vollzogen hat, und endlich,
daß der Humanismus damals in Italien bereits auf seiner Höhe
war, eine Entwickelung von zw^ei Jahrhunderten durchmessen
hatte, — daß mithin die Bedingungen, die ihn erklären, um zwei
volle Jahrhunderte vor der Reformation zurückliegen.
Das Italien des 14. Jahrhunderts haben wir uns also vorzu-
stellen, wenn wir den Schöpfer und größten Heros des Humanis-
mus, wenn wir Petrarca begreifen wollen, den ersten »Individual-
menschen«, wie man ihn heute hat taufen w'ollen, »der die Schran-
ken des korporativen Daseins und Empfindens durchbrochen«,
der »zuerst sein Ich zum Spiegel der Welt erhoben«, »sein Selbst
entdeckt habe«, und so »der Prophet der neuen Zeit, der Ahnherr
der modernen Welt« geworden sei.
In dieser Epoche blieb, äußerlich wenigstens, in ItaUen wie
überall das, was das Mittelalter ausmacht, erhalten, die Kirche,
das Imperium, die Mehrzahl der feudalen Ordnungen. Niemals
sind die papalen Theorien schroffer betont worden als zur Zeit
der Päpste von Avignon. Keins der alten Dogmen ging verloren;
vielmehr kam ein neues hinzu, in dem sich die spezifisch mittel-
alterliche Romantik ausprägte, und das eben darum heute end-
gültig bestätigt worden ist, das von der unbefleckten Empfängnis
der Mutter Gottes. Versuche wurden freilich gemacht, von innen her,
durch Umwandlung der rehgiösen Prinzipien die alte Weltauffassung
zu zerstören : Wiclif und Hus traten auf, hier und da ein deutscher
Grübler, Sekten aller Art und allerorten. Aber sie alle w^urden be-
siegt, und nicht bloß durch brutale Gewalt, sondern, wie wir zugeben
müssen, durch die Reaktion des öffentlichen Willens, des allge-
meinen Kulturbewußtseins : man wollte so glauben, wie man mußte.
Humanismus und Reformation. ^\
In der Wissenschaft war es nicht anders. Die neuen Uni-
versitäten, die erst jetzt nach dem Vorbilde Bolognas oder Paris'
in größerer Anzahl entstanden (in Deutschland gehören nur drei
dem 14. Jahrhundert an), waren durchweg geisthche Organi-
sationen, in allen Fakultäten an Papst und Hierarchie gebunden,
auf dem Grunde der Scholastik. Was ist deren Sinn ? Sie will
beweisen, was sich bereits offenbart hat: Gott selbst in den For-
men, die sein Wesen angezogen hat, von der Trinität abwärts
bis in die tausendfachen Verästelungen des hierarchischen Willens,
der die Welt beherrscht mit dem Anspruch, das Göttliche, das
Ewige, das Unaussprechliche, das Erhaltende, Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft in allen Femen Verknüpfende zu sein —
das soll schulmäßig, in den dialektischen Beweisformen darge-
stellt, nicht dem Herzen, sondern dem Verstände soll es nahe
gebracht werden. Diese Weltauffassung kennt kein Fragezeichen
vor jeder Aufgabe der Forschung, sie kennt nur ein Definieren
dessen, was zu glauben ist. Wovon der Glaube befahl, daß es
sein sollte, das also hatte die Wissenschaf t (in Natur und Geschichte,
Empirie wie Spekulation) zu beweisen, nicht mehr und nicht
weniger. Weh ihr, wenn sie es nicht tat, wenn sie ablenken und
Dinge beweisen wollte, die nicht im Kreise der Glaubenstheorien
beschlossen und ihr feindlich waren! Jeder Versuch solcher Ab-
irrung war Auflehnung gegen ein System, das alles göttliche und
irdische Wesen ineinander verwirrt und gefesselt hielt.
So sehr man nun dies zu betonen hat, muß man auf der
andern Seite doch wiederum festhalten, daß die eigenthche schöpfe-
rische Zeit des mittelalterlichen Geistes vorüber war. Die Kraft
der abendländischen Nationen sammelte sich nicht mehr, um
sich in gewaltigen Stößen gegen den Orient zu entladen, viel-
mehr rissen die Türken immer neue Stücke des neuen wie des
alten Herrschaftsgebietes ab. Auch neue Orden wollten sich nicht
mehr bilden, wie weitverzweigt und lebensvoll die alten auch
noch sein mochten. Das Papsttum selbst erlebte von allen Seiten
schwerste Angriffe, von dem Kaisertum und von dem Allerchrist-
lichsten König, von den Minoriten, von den Kardinälen und dem
Episkopat, von der ganzen offiziellen KLirchenvertretung. Die
Lenz, Kleine historische Schriften. 6
32 Kleine historische Schriften.
Nationen traten auseinander, in sich selbst zunächst zerfallend
und doch gewaltig erstarkend; jedes Volk rang nach eigentüm-
licher Gestaltung seines politischen und geistigen Lebens; ver-
gleichen wir Deutschland mit Italien oder beide mit Frankreich
und England, so sehen wir ganz verschiedene Welten. Sichtbar
wird der \\'andel der Zeiten besonders in den Verfassungen;
überall bemerken wir ein Erschlaffen der Feudalformen, über
und zwischen ihnen aber moderne Bildungen des staatlichen
Lebens. Vor allem in Italien, wo neben Stadtstaaten wie Florenz
mit dem unaufhörlichen Wechsel seiner politischen Repräsen-
tationen sich auf den Trümmern der bürgerlichen Freiheit zahl-
reiche Tyrannen erhoben hatten; Klugheit, Verwegenheit und
Glück gründeten hier die Throne oder stürzten sie; nirgends galt
Vasallentreue oder Untertaneneid, nichts band über den Tod
hinaus; nur die Betätigung der persönlichen Kraft ward gefor-
dert und anerkannt; alle politische Gewalt erschien ephemer,
wie auf Flugsand gestellt. Und dabei gerade hier der mittel-
alterlichste aller Staaten, die wunderlichste Verquickung hier-
archischer und politischer Zwecke, der Territorialstaat der mittel-
alterhchen Kirche! Der Widerspruch zwischen Altem und Neuem,
zwischen Sein und Wollen mußte aber in Italien um so tiefer
empfunden werden, als nun die Kurie von Rom entfernt, in
Avignon der französischen Politik dienstbar geworden war, ohne
doch irgend einen Anspruch auf ihr Land aufzugeben; Italien
sah sich von ihr beiseite gelassen und doch beeinflußt.
War aber das Ringen nach nationaler Selbstbestimmung das
Geheimnis der Epoche, das Innerste in dem Umwandlungsprozeß,
den die romanischen und germanischen Völker im 14. und 15. Jahr-
hundert durchmaßen, so läßt es sich für Italien kaum anders vor-
stellen, als daß es seine Wiedergeburt in den Formen der Antike
zu vollziehen trachten mußte. Hier eben war der Boden der an-
tiken Herrlichkeit, römische Siedlungen fast alle größeren Städte
von den Alpen bis an das Sizilische Meer. Die italienische Sprache
stand der lateinischen Zunge am nächsten, sie erschien fast nur
wie ein Dialekt, als das Volgare gegenüber dem Idiom, dessen
Reinheit, Gedankenklarheit, Formenfülle und melodische Schön-
Humanismus und Reformation. 83
heit in den Reden eines Cicero, in den Gesängen eines Vergil das
Ohr entzückten. In allen Städten sah man die stummen Zeugen
der eigenen Vorzeit: die ragenden Wölbungen der Viadukte, der
Bäder und Paläste, die harmonischen Gliederungen der Säulen-
hallen in Portiken und Tempeln, die gewaltigen Denkmäler der
politischen Macht in den Amphitheatern, Ehrensäulen und Tri-
umphbögen. Und unter dem Boden nun die Marmorgestalten
der toten Götter und Helden, deren stummer Mund beredter
fast als die Pergamentbände der Redner und Poeten den Geistes-
adel antiker Menschheit verkündigte. Klassischer Boden war es,
wohin man trat, und überall der nationale. Wenn also der Geist
Italiens sich auf sich selbst besann, seiner Kraft bewußt, nach
neuen Formen seiner selbst begierig wurde — mußte er da nicht
den BUck auf die Vergangenheit richten, an der er sich nur empor-
heben mochte, die er nur wiederherzustellen brauchte, um (so
schien es) alle Kraft, Weisheit und Schönheit wieder zu gewinnen ?
Zumal da ja der lateinische Geist auch in der Gegenwart noch
mächtig war, in der Sprache und Literatur, in aller Wissenschaft
die Herrschaft ununterbrochen behauptet hatte. Nur die Fesseln,
so glaubte man, galt es zu zerbrechen, in welche die Hierarchie
den Geist der Antike geschlagen hatte, nur den Schutt hinweg-
zuräumen, den barbarische Jahrhunderte darüberhin gehäuft
hatten.
Diesem Sehnen seiner Nation als erster den literarischen
Ausdruck, eine neue künstlerische Form verliehen zu haben, ist
der Ruhm Petrarcas. Niemand hat den Druck des scholastischen
Denkens härter empfunden und herber verspottet als er, niemals
sind leidenschaftlichere Worte gegen die Kurie gewagt worden
als in jenem Sonett, worin er des Himmels Blitz auf »das Haupt
voU Trug« herabruft:
Du sonst vom Quell genährt und Eichelfrucht,
Die jetzt von andrer Armut Reichtum sucht.
Durch so viel ^Missetaten reich genug.
In Dantes Prophetenmantel gehüllt trat er vor Karl IV. und
mahnte ihn, dem zerrissenen Italien die Einheit wiederzugeben,
es unter dem Banner des Kaiserreiches um sich zu sammeln.
6*
g4 Kleine historische Schriften.
Aber über Worte ist er nie hinausgekommen. Alle seine
Jahre hat er in Avignon zugebracht^Joder an den Höfen, gegen
die er sein Italien zur Freiheit und Einheit aufrief. Sein Eifern
gegen den Sündenpfuhl an der Rhone hinderte ihn nicht, selbst
Priester und Domherr zu werden und unablässig um Pfründen
zu betteln für sich wie für seine beiden Kinder, die er trotz der
W^eihen besaß. »Auf die Taten,« schreibt er, »richte deinen Geist!
In den Worten ist eitel Großtun, mühseliges Stammeln und hohler
Klang, im Tun allein ist Ruhe, Tugend, Glück.« Und an heroi-
schen Erklärungen, den Tod für die Wahrheit und für die Auf-
crweckung der römischen Größe erleiden zu wollen, ließ er es
nicht fehlen: aber er hat nie den Finger danach gerührt. Er war
ein Patriot ohne persönliche Opfer. Er war angesehen bei Höfen
und Republiken; man wetteiferte um seinen Besitz, wie spätere
Zeiten um Erasmus und Voltaire: aber wie diese ward er stets
als Schöngeist behandelt.
Es war jedoch nicht bloße Tatenscheu und Gewissenlosig-
keit, was ihn in den alten Ordnungen festhielt: seine Ideen reichen
doch schließlich nirgends über die Schranken des katholischen
Empfindens hinaus. W^o die höchsten Wahrheiten der Rehgion,
so bekennt er selbst, wo das ewige Heil in Betracht komme, da
sei er weder Ciceronianer noch Platoniker, sondern Christ. Und
in der Tat, wenn der Gedanke der Welt flucht das Grundprinzip
der mittelalterlichen Weltanschauung ist, so begegnen wir gerade
darin der Lieblingsidee Petrarcas. Das Buch über die Verachtung
der Welt oder »von den geheimen Kämpfen seiner Seele« hat er
selbst als den Schlüssel und die Krone seiner Werke bezeichnet.
Wie er aber diese Kämpfe schildert, als das ewige Schwanken
zwischen Weltfreude und Entsagung, zwischen Himmelssehn-
sucht und Todesängsten, erscheint in ihnen nirgends ein wesent-
lich neues Moment. Eben das unvermittelte Nebeneinander über-
schäumender Lebenslust und pessimistischen Verzagens am Dasein
ist ja für das Mittelalter charakteristisch. Der Überdruß an dem
irdischen Getriebe, das Gefühl von seiner Nichtigkeit und Leere,
die Sehnsucht nach dem »Ruhen und Schauen«, das Petrarca
in seiner Schrift von der ]\Iuße »der Klosterbrüder« preist, trieb
Humanismus imd Reformation. 85
ja die Tausende in die klösterliche Stille oder in völlige Wildnis
und Waldeinsamkeit. Auch ist es nicht wahr, daß er als der erste
in solcher Seelenmalerei sich versucht und damit etwa den »Bann
der Korporation« durchbrochen und der »modernen Individuali-
tät« die Bahn bereitet habe: des heiligen Bernhard Briefe und
Traktate sind voll von verwandten Empfindungen, und man
braucht nur die Schriften der deutschen Mystiker vor und nach
Petrarca zu lesen, um auch hier eine Sprache voll persönlichster
Inbrunst wiederzufinden. Gerade darin, daß er den Besten
seiner Zeit genug tat, daß ihm ein Gott zu sagen gab, was er
litt, daß er dem allgemeinen Empfinden als ein ganzer Dichter
den vollen Ausdruck gab, liegt Petrarcas Größe. Freilich, er tat
es »mit etwas anderen Worten« als es herkömmlich war, wenn
er die Anmut und Süßigkeit eines Lebens fern von dem Lärm
des Tages im Schöße der Natur schilderte und das Versenken
der Seele in ihre Schönheit oder in das Studium der Alten und
der christlichen Väter pries. Die Kirche pflegte dieselben Ge-
danken etwas ernster zu nehmen, und darum konnte sie den
Poeten trotz seiner Zornepisteln gegen ihre Entartung vornehm
tolerieren. Sie hat ihn niemals für gefährlich gehalten.
So waren auch seine Angriffe gegen die Scholastik ziellos
und noch hohler als diejenigen gegen die Kurie von Avignon oder
seine dantesken Deklamationen für die Restauration des Kaiser-
tums. Er kannte die Systeme nicht, welche er bekämpfte. Viel
tiefer, als er glaubte, reichten die Wurzeln der mittelalterlichen
Philosophie, und ihre Spekulationen standen im engsten Zusam-
menhang mit der Kirche, von der doch auch er umschlossen blei-
ben woUte. Eine Summe praktischer Erfahrung war auch in den
besonderen Disziplinen enthalten. Viel eher doch aus ihnen heraus
als aus seinen Diatriben haben sich die modernen Wissenschaften
entwickelt, die sehr viel dankbarer auf sie herabsehen als ihr
humanistischer Zeitgenosse. Nur den Boden hat Petrarca überall
gelockert, aber nirgends die in den Dornen der scholastischen
Spekulation verstrickten positiven Gedanken fortgebildet. Mehr
ein künstlerisches als ein ethisches Ideal war sein Ziel, der Genuß
eines schönen Lebens, die Vollendung der Persönlichkeit; aber
86 Kleine historische Schriften.
er stellte sich damit nicht auf einen neuen Boden, sondern suchte
nur immer Anlehnung an die antike Bildung, die doch ein Grund-
element auch der hierarchischen war und niemals wieder zu einem
selbständigen Leben erwachen konnte. Die klassischen Ideale
in Literatur und Leben wollte er der hierarchischen Kultur ent-
gegensetzen, ohne doch etwas Weiteres zu erreichen, als deren
Umdeutung nach der Gedankenwelt der Antike.
Daraus erklärt es sich, daß Rom und die Renaissance den
innigsten Bund miteinander geschlossen haben, und daß Martin
Luther den Weckruf an das Gewissen der Christenheit gegen
denselben Papst erheben konnte, der als der Eponymos für die
Höhezeit der Renaissance gelten darf. Im Zusammenhang damit
ist auch die Gleichförmigkeit zu verstehen, welche die humani-
stischen Ideale durch beide Jahrhunderte hin behauptet haben:
daß Petrarca zwar eine Menge Nachfolger, aber keine rechten
Fortsetzer gehabt hat. Die Studien wurden freilich intensiver,
die Vorstellungen von der Antike geläuterter, die Gleichsetzung
des eigenen Daseins mit dem antiken Ideal trat unverhüllter
hervor, die Lust, mit der man sich ihm ergab, ward heißer und
nackter, also daß der stoische Tugendmantel Petrarcas ganz
fadenscheinig und rissig wurde, die Gleichgültigkeit gegen die
Hierarchie nahm zu in demselben Maße, wie sich die Erbitterung
verringerte. Wenn wir aber prüfen, worin das Eigentümliche,
worin der Fortschritt in dem späteren Humanismus über Petrarca
hinaus liegt, so finden wir ungemein wenig; und nichts von den
großen Gedanken, welche vom i6. Jahrhundert ab die Welt er-
schütterten und umgestalteten.
Denn Weltentwickelung heißt immer Umbildung der Natio-
nalitäten, ist Artverwandlung. Dazu aber sind zuguterletzt Ideen
nötig, welche jeden einzelnen, alle und jeden, welche die Massen
packen: die Gesellschaft muß bis in die Tiefen erregt sein, wenn
ihr Bau und Antlitz insgesamt umgeformt werden soll. Mit dem
zarten Gespinst humanistischer Bildungs- und Schönheitsideale
sind die breiten IMassen mit ihrer oft barbarischen Unbildung,
ihren niedrigen Trieben und Bedürfnissen, ihrer Arbeit, die nur
auf die Stunde berechnet sein kann, nicht zu fangen. Ein enger
Humanismus und Reformation. 87
Horizont umgibt sie. Sie müssen den Hunger vertreiben. Das
Elend des Lebens tritt ihnen unmittelbar nahe. Sie haben keine
Zeit zu erlauchten Gefühlen, erhabenen Gedanken. Nun aber ist
es doch die Aufgabe, eine Idee zu finden, die ihnen das Leben
erträglich macht, die ihnen Freude zur Arbeit gibt und ihre Her-
zen über die Sorgen des Tages und das Erdenleid zu erheben
vermag. Dazu gehören stärkere Netze, gleichartig geknüpfte,
nach den großen Gleichartigkeiten, die das Leben durchwalten —
Tod, Krankheit, unverschuldeter und verschuldeter Jammer,
Angst und Liebe gegen sich selbst und gegen Gott. Solche Netze
sind diejenigen, welche von Sankt Peter her viele Nationen um-
hüllten; Jahrhunderte haben daran geknüpft, und Millionen Hände
arbeiten unermüdlich daran weiter; gleichartig sind sie und doch
vielgestaltet, aus einem Plane heraus und mit einem Ziele,
die Menschheit und jeden einzelnen umstrickend; und Masche
auf Masche wird an der Peripherie angesetzt, die ins Grenzen-
lose strebt, bis (so will es der Glaube) das Erdenrund eingesponnen
sein wird.
Wie hätten die paar ItaUener, die an der Imitation des Alter-
tums ihre Freude hatten, daran denken mögen, diese Weltmacht
umzustoßen! Sie waren nur ein kleiner Ausschnitt der Gesell-
schaft, eine Aristokratie des Geistes, entfremdet ihrer Zeit um
so mehr, je wörtHcher sie die Antike ihrer Weltauffassung
gleichsetzten; um so mehr sie selbst der Wirklichkeit entrückt,
um so phantastischer sie, die Skeptiker und Kritiker der hier-
archischen Phantasien.
Von hier aus erkennen wir den Gegensatz Luthers zu der
Bildung der Renaissance, wie zu allem, was sich innerhalb der
Hierarchie hielt. Gewiß stand auch er unter dem Anhauch des
humanistischen Geistes; aber er hat viel tiefer gegraben, um den
Quell zu finden, aus dem er die Erneuerung seines Lebens trank.
Jene Philosophie, die Petrarca von vornherein negierte, hat er
bis in die feinsten Verzweigungen ihrer Spekulation, bis auf die
schärfste Schneide ihrer Skepsis verfolgt; die Weltflucht, welche
jener so idyllisch gepriesen — zwei Diener jedoch und einen Koch
reservierte er sich dabei — hat der deutsche Reformator mit dem
gg Kleine historische Schriften.
unbarmherzigsten Ernste betrieben; die Skrupel der Seele, über
die der Humanist so schön zu schreiben wußte, hat er in der Ein-
samkeit der Klostermauern bis zur Verzweiflung an sich selbst
durchgekostet; auch die Gottinnigkeit, in die Petrarca sich so
behaglich zu versenken liebte, hat Luther damals wohl geteilt
und bis zu ekstatischer Verzückung, ja zu fanatischem Grimm
gegen jeden, der anders dachte, gesteigert. Das ganze System
in Theorie und Praxis bis zur Selbstaufliebung seiner selbst hat
er durchgedacht und durchlebt, immer darauf aus, den Gott zu
sehen und an sich zu ziehen, der ihm in den Schriften und Lehren
der Kirche, in der Verfassung und im Kultus, mit seinem Leibe
und Blute selbst zu greifen und zu schmecken, als das Unwider-
sprechliche und Absolute gepredigt, dargeboten, aufgedrängt
wurde — und alles Martern des Hirnes und des Herzens, alle
Selbstentäußerung brachte ihn dem Höchsten auch nicht um eine
Linie näher: nirgends der Gott, den er suchte; jenseits alles
irdischen Denkens und Vorstellens sein Reich, unnahbar jeder
Anstrengung der Vernunft oder des Willens — ein Spott, ein
Nichts, ein Griff in die Luft jeder Versuch, ihn intellektuell zu
erfassen oder in sittlichem Bemühen ihm genug zu tun.
Und das alles, ohne zu wissen, was er tat — abgeschieden,
abgestorben der Welt gleich tausend anderen Klosterbrüdern.
Was wußte er, der Bauemsohn aus einer kleinen deutschen Graf-
schaft, von dem deutschen Staate, was von dem Sündenleben in
Rom ! Und wenn er es wußte, was kümmerte es ihn ! Das war die
Welt da draußen, die irdische Sphäre, von der er eben los wollte,
hin zu dem einen, dem Ewigen; und alle Verwirrung und Sünde
der Welt war nur ein Beweis mehr für die Kluft zwischen der
unnahbaren Majestät Gottes und der Welt des Staubes. Luther
dachte nur an sich — nur an den Frieden , den die Welt
nicht gibt.
Ich brauche nun nicht mehr zu schildern, denn wir wissen
es alle, wie er ihn gefunden hat, wie sich allmählich die dunkeln
Schatten um ihn legten, wie vor der Sonne, da sie sich durch
Nacht und Nebel hindurchrang, die Spukgestalten der mittel-
alterlichen Nacht hinweggescheucht sind, wie er die feste Burg,
Humanismus und Reformation. 89
das »steinern Ufer« gefunden hat, an dem alles Wüten der
Feinde, alle Wogen der Welt Verwirrung zerschellten.
Nicht an das Ideal schöner ]\Ienschlichkeit, an die Vollen-
dung der Persönlichkeit im Sinne Petrarcas dachte dieser Mönch,
sondern nur daran, seinem Selbst den Boden zu bereiten, auf
dem es sicher ruhen konnte gegenüber dem in Zeit und Ewig-
keit Allmächtigen.
Diesen Kampf ihm nachzukämpfen ist evangelisches Leben,
In ihm gilt kein Unterschied von Rang und Person. Das aller-
erste ist es für einen jeden, und das Bedingende in seinem Ver-
hältnis zu allem, was irdisch ist, in Staat und Kirche, in Gegen-
wart und Geschichte, in Gesellschaft und Familie, in Recht und
Sitte. In diesem Sinne hat Luther, und kein anderer, den Grund
gelegt für die moderne Individualität, und damit (denn aus Indi-
viduen bestehen diese) für Staat und Gesellschaft. Nur in diesem
Rahmen, der diamanten ist, kann Arbeit und Besitz, Liebe zu
Frau und Kind, der Stolz auf das Vaterland, die Freude am Da-
sein für uns sittlich genannt werden. Und daher die Todfeinschaft
der reformatorischen Idee zu derjenigen der römischen Kirche,
die eben darum ihre Wurzeln in alle Fundamente der Gesellschaft,
in Staat und Recht, Wissenschaft und alle Bildung hineinge-
trieben hat, weil sie jeden einzelnen von der Wiege bis zur
Bahre in allen Lebensregungen sakramentlich siebenfach an
sich gefesselt, unentrinnbar mit ihrem Sein und Wollen ver-
strickt hält.
Gewiß, die Welt ist anders geworden: andere Aufgaben sind
uns gestellt in Staat und Gesellschaft als im i6. Jahrhundert,
andere Formen und Ziele unseres Erkennens und Lebens sind in
Geltung; unermeßlich ist der historische Horizont wie der der
Natur, der Begriff des Menschengeschlechtes selbst erweitert. In
der Engigkeit des damaligen Weltbegriffes mußten die Ideen
Luthers enge Formen annehmen, sich staatlich und kirchlich,
wissenschaftlich und dogmatisch gleichsam verkapseln.
Behalten wir dennoch den Glauben, daß nur die Schalen
zerbrochen sind, der leuchtende Kern aber bleiben wird, daß es
in allem Anfang für die Individuen und für die Gesellschaft auf
90 Kleine historische Schriften.
jene höchste Fundamentierung der Sittlichkeit ankommt, daß
Recht und Wirtschaft, Arbeit und Liebe, Staat und Nationahtät,
daß auch das Gebiet der Forschung, ja selbst das Reich des
Schönen schließlich an jenes Firmament geknüpft ist. Halten
wir im Gedächtnis, daß unser Staat auf diesem Boden gebaut,
daß die heiligsten Güter unserer Nation ihm entsprungen sind —
und lassen Sie uns das bekennen auch vor denen, die aus Gleich-
gültigkeit oder Furcht oder aus sogenannter Politik davon absehen
möchten. Erinnern wir uns daran, daß die Pfadfinder, die Bahn-
brecher unserer Kultur im vorigen Jahrhundert über nichts sich
klarer waren als über ihre Verbindung mit der Reformation;
und beherzigen wir den Spruch, mit dem der freieste dichterische
Genius unseres Volkes, mit dem Goethe das dritte Säkularfest
der Reformation begrüßte:
Auch ich soll gottgegebne Kraft
Nicht ungenutzt verlieren.
Und will in Kunst und Wissenschaft,
Wie immer, protestieren !
m^:^^^
Geschichtssdireibung und Geschichtsauffas-
sung im Elsaß zur Zeit der Reformation.
(1895.)
Nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Leben des Elsaß und
seiner hochberühmten Hauptstadt sind die Jahre der Refor-
mation, nur ein enger Kreis aus der Gestaltenfülle, die alle Jahr-
hunderte ihrer Geschichte beleben, die Männer, welche Straß-
burg für eine Zeit zum Mittelpunkt des europäischen Protestan-
tismus erhoben haben: in den Mauern dieser Stadt umschweben
uns die Schatten Meister Erwins, Johann Gutenbergs und des
jungen Goethe; mehr als ein Jahrtausend deutscher Geschichte
ist mit ihr und ihrem Lande verwachsen; auch unter der Fremd-
herrschaft fanden sich im Elsaß immer noch Männer, die eine
innige Liebe zur Heimat mit treuer Anhänglichkeit an deutsche
Bildung und deutschen Glauben vereinten. Freihch aber hat der
Strom deutschen Lebens zwischen Rhein und Vogesen niemals
voller geflutet als in den Jahren, da Straß bürg für ganz Ober-
deutschland das Bollwerk und der Pflanzgarten des Evangeliums
war und eine neue »Herberge der Gerechtigkeit« für. die Verbann-
ten aller Nationen, die dem deutschen Glauben, von seiner Kraft
getroffen, Vaterland und Familie und alles, was sie an die Heimat
band, willig geopfert hatten.
Es war die Zeit, da vor dem als wahr erkannten Glauben
alle Unterschiede der Nationalität und Politik zurückwichen und
nur nach dem Maße Geltung behielten, als sie dem religiösen
Gemeingefühl entsprachen; und nirgends ist die allbesiegende
Kraft des Bekenntnisses stärker empfunden und bezeugt worden
92 Kleine historische Schriften.
als in Straßburg; wie von jenen Emigranten, so auch von den
einheimischen Predigern und Professoren, die ihren fremden
Freunden an den Kirchen und Schulen ihrer Stadt eine neue
Heimat und Wirksamkeit bereiteten. Dennoch aber, wer will es
leugnen, daß diesen Söhnen des Elsaß ein starkes Empfinden
für den Ruhm des großen Vaterlandes wie für die engere Heimat
eigen war! Ja mehr als das, auf diesem Grunde waren sie auf-
gewachsen; es war das lebendigste Element in ihrer Bildung.
Sie alle waren Humanisten, Schüler Wimphehngs und seiner
Freunde, groß geworden in der Bewunderung deutscher Tugenden,
genährt an den Idealen einer Vergangenheit, die sie auch dann
noch, als alle religiösen Werte umgeschmolzen wurden, hoch-
hielten und verfochten. In dieser Verbindung vaterländischen
Hochgefühles und einer Rehgiosität, welche über aUe nationale
Beschränktheit hinausreichte, liegt recht eigenthch der Charakter
der deutschen Reformation und also die Bedeutung der Männer,
die im Elsaß ihre Vorkämpfer waren. Sei es mir darum vergönnt,
solche Doppelseitigkeit ihres Wesens an einem Zweige ihres Wir-
kens, in ihrer Stellung zur Historie, darzulegen.
Ich nannte den frommen und gelehrten Mann, den wir als
den Patriarchen des elsässischen Humanismus verehren: Jakob
Wimpheling von Schlettstadt, den Stadtgenossen des Beatus
Rhenanus und Martin Bucers, den Lehrer und väterlichen Freund
Jakob Sturms. Ihm gebührt der Ruhm, als erster eine deutsche
Geschichte geschrieben zu haben. Was dies bedeutete, lehrt ein
Blick auf die frühere Historie, wie sie im Elsaß und in Straßburg
und so überall im Reiche gepflegt worden war: Denkwürdigkeiten
einer Stadt oder einer Landschaft, Klostergeschichten oder an-
nalistische Weltchroniken waren genug geschrieben worden; aber
noch niemals war der Versuch gemacht, die Geschichte des ge-
samten Volkes und lediglich unter dem Gesichtspunkt der Natio-
nalität zu schildern. Auch Wimpheling bewahrt ein starkes Ge-
fühl für seine engere Heimat; aber ihren größten Ruhm erbhckt
er in ihrem deutschen Charakter, in der Zusammengehörigkeit
mit dem großen Vaterlande. Auch er ist erfüllt von der univer-
salen Stellung des Kaisertums; aber in erster Linie sieht er in
Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß etc. 93
den Kaisern doch immer die deutschen Fürsten, vor allem in
Kaiser Max, den er als den Helden Deutschlands und als seinen
Rächer gegen die Welschen preist. Er ist nicht der Entdecker
dieser Idee gewesen, wie denn überhaupt wenig Besonderes an
ihm wahrzunehmen ist; plötzlich und allseitig taucht sie auf.
Er ist nur eine Stimme in dem starken Chor gleichgesinnter Ge-
nossen, die, aus allen Ständen und Landschaften Deutschlands
gemischt, sich auf dem Boden einer neuen Bildung zusammen-
fanden und in einer glänzend ausgemalten Vergangenheit das
politische Ideal zu entdecken glaubten, das in der Zerrissenheit
der Gegenwart verloren war.
Auf dieser Stufe der Entwickelung wurde der deutsche
Humanismus von dem Stoße der Reformation getroffen, und sah
sich ein jeder der Poeten vor die Frage gedrängt, ob er Ernst
machen wolle mit der Lobpreisung der Monarchie und den Ver-
dammungsurteilen über Papst und Klerisei. So kam es zu der
großen Scheidung der Geister. Erschreckt vor der wachsenden
Verwirrung und dem Zusammenbruch der alten Religion, von
der er trotz oppositioneller Regungen sich tief durchdrungen
fühlte, zog sich der alte Wimpheling in die Einsamkeit zurück
und sank gramerfüllt in das Grab. Wie er waren auch Jüngere
gesinnt, sein Lieblingsschüler Beatus Rhenanus, sein Neffe Jakob
Spiegel, der kaiserüche Sekretär, und andere Freunde; die hei-
mischen Beziehungen zu den habsburgischen Herren haben offen-
bar auf ihr Verhalten zurückgewirkt, wie sie schon Wimphelings
Stellung zu Maximilian beeinflußt hatten. Denn es ist nicht wahr,
daß diese Trennung, wie man so oft liest, die der älteren und der
jüngeren Generation gewesen sei; gerade unter den Jüngeren
finden wir ebenso hitzige Gegner wie Verteidiger der neuen Lehre,
und manch älterer Humanist steht an Freiheit, ja Zügellosigkeit
der Gesinnung auch dem Jüngsten nicht nach; je nach Charakter,
Temperament und lokalen Einflüssen verschob sich ihre Stellung
zu den Parteien in Kirche und Staat. Auch kann ich mich nicht
entschHeßen, rückhaltlos in die gewohnten Vorwürfe einzustim-
men, daß es mit dem echten Humanismus fortan zu Ende ge-
wesen sei. Von itahenischer Freigeisterei und Schönheitsdurst
94 Kleine historische Schriften.
war in den deutschen Humanisten niemals viel zu spüren ge-
wesen. Sie waren von jeher in erster Linie Pädagogen und hatten
fast alle etwas Schulmeisterlich-Philiströses an sich. Freilich ist
durch den Glaubenssturm manche Blüte geknickt worden, und
von dem vagantenhaften Hauch, der uns aus Celtes' und Huttens
Dichtungen anweht, war nicht mehr viel die Rede; doch dichtete
und trank Eobanus wenigstens auch noch als Professor in Mar-
burg. Jedermann kennt die Klagen, die von den deutschen Refor-
matoren, Luther und Älelanchthon voran, über den Verfall der
Schulen und der alten Zucht erhoben worden sind. Aber um
hier von anderen Beziehungen zu schweigen und nur von der
Historie zu reden, die allein zu meinem Thema gehört, so kann
man da gewiß nicht von Stillstand und Verkümmerung reden.
Vielmehr treffen wir auf ihrem Felde das reichste Leben, eine
durch den Anteil an der Gegenwart nur gesteigerte Auffassung
der Vergangenheit. Welch ein Unterschied zwischen Wimphelings
gut gemeinten, jedoch recht trockenen Diatriben in der Germania
und Aventins stürmischer Beredsamkeit in seiner Schilderung
etwa des Kampfes Kaiser Heinrichs IV. mit Gregor VH., welche
Klarheit und Kraft der Charakteristik in dessen Darstellung der
türkischen Macht, und welch ein Ernst und Eifer in seinen
wissenschaftlichen Grundsätzen und allen seinen Arbeiten! Auch
vergessen wir nicht, daß die Humanisten, die der Lutherei feind
wurden, ein Pirckheimer, Beatus, Cuspinian, nicht nur tätig
blieben, sondern erst jetzt mit ihren wertvollsten historischen
Arbeiten zutage getreten sind. So Cuspinian mit seiner Kaiser-
geschichte, die in Straßburg eine deutsche Übersetzung fand;
ein Amtsbruder Martin Bucers, der wackere Kaspar Hedio, der
selbst als erster protestantischer Kirchenhistoriker bezeichnet
werden kann, hat 1541 dies Werk vollendet, zu dem Melanchthon
eine Vorrede schrieb. Erst am Ende seines Lebens entschloß sich
Pirckheimer zu seiner Germania. Und recht in den Jahren des
Kampfes, vielleicht durch den AnbHck des Bauernkrieges mit
veranlaßt, machte sich Beatus Rhenanus daran, mit dem kri-
tischen Sinn, der ihn auszeichnete, die Nachrichten über die An-
siedelung und Wanderungen der germanischen Stämme und ihr
I
Geschichtsschreibung nnd Geschichtsauffassung im Elsaß etc. 95
Einleben auf dem deutschen Boden in der älteren Kaiserzeit zu
sammeln. Sein Vorbild dabei war Aventin, der ihn durch eine
Schilderung seiner Arbeitsweise und Grundsätze direkt ange-
trieben hat, gleich ihm die Bibliotheken und die Topographie des
deutschen Landes zu durchforschen. Der Zuspruch der gelehrten
Freunde, mit denen Beatus auf dem Reichstage in Augsburg
zusammentraf, darunter Peutinger und Bucer, vielleicht auch
Aventin selbst, hat ihn veranlaßt, das epochemachende Werk
rasch zu vollenden; bereits 1531 ist es erschienen.
Mochten nun aber auch diese Gelehrten ihren Unmut über
die neuen Pfaffen und den Niedergang der Bildung unter sich
äußern, so warf sich doch keiner von ihnen zum Verteidiger des
römischen Systems auf, weder Wimpheling noch Rhenanus, weder
Pirckheimer noch Peutinger noch Cuspinian. Nur widerwillig,
mehr um sich selbst gegen die wachsenden Vorwürfe zu decken,
als aus eigener Überzeugung wagte Erasmus einen Waffengang
mit dem Reformator; und auf armselige Klopffechter und Streber
wie Cochläus und Johann Faber sah sich Rom unter den Huma-
nisten in Deutschland angewiesen. Die Ohnmacht der alten Welt-
anschauung wird fast am deutlichsten in diesem völligen Ver-
sagen ihrer literarischen Waffen. So wie die alte Kirche auch
dort, wo niemand ihr zu Leibe ging, wo ihr vielmehr, wie in
Bayern und Österreich, die Staatsgewalt mit brutalen Mandaten
gegen die Ketzer zu Hilfe kam, vermorscht in sich zusammenbrach,
kam es auch zur Massendesertion unter den Gelehrten in Schulen
und Klöstern. Ein Zustand, der weit über die Reformation hinaus
gedauert hat; erst in der dritten Generation, lange nachdem die
protestantische Zucht ein Geschlecht hartköpfiger Pastoren und
Schulmeister herangebildet hatte, fanden sich auf der römischen
Seite auch unter den Deutschen in größerer Anzahl Talente,
welche den italienischen und spanischen Mönchen und Professoren
mit Eifer und — wir spüren es noch heute — mit Erfolg zur
Seite traten.
Aber auch die Ohnmacht einer Historie, die mit dem Papst
in Frieden bleiben wollte, mußte sich jetzt herausstellen, und
nur immer mehr, je heftiger die Geister in dem religiösen Kampfe
96 Kleine historische Schriften.
aufeinander trafen. Sie mußte ja überall da den Blick verschließen,
wo Rom einen Nebel um seine Vergangenheit gezogen und ein
Interesse daran hatte, ihn nicht zerreißen zu lassen. Denn die
Weltanschauung der Hierarchie forderte eine ihr analoge Auf-
fassung der Vergangenheit, durch die ihre Herrschaftsrechte in
Gegenwart und Zukunft unterbaut und gerechtfertigt wurden;
jeder staatsrechtliche Anspruch, jeder Satz ihrer Dogmen hatte
sein Gegenbild in der Vergangenheit, das als Faktum und Funda-
ment des Glaubens und Gehorsams galt und keine Anzweifelung
duldete. Wenn also am Altar auf Geheiß des Priesters Brot und
Wein vor den Augen der gläubigen Menge sich in den Leib und
das Blut des Herrn wandelte, so durfte kein Zweifel obwalten, daß
dies in allen Jahrhunderten so gewesen sei. Wenn auf allen Ka-
thedern gelehrt und in tausend Darstellungen der heiligen und
profanen Geschichte wiederholt wurde, daß Christus der erste
Papst gewesen, daß er Petrus als Nachfolger eingesetzt, daß dieser
von Rom her die Kirche regiert habe, daß Konstantin den Päpsten
die halbe Welt geschenkt, daß ein Papst die Kaiserkrone von
Byzanz auf den fränkischen König übertragen, daß ein anderer
das Kollegium der Kurfürsten gestiftet habe, daß das moderne
Rom zu seiner geistlichen ]\Iacht noch die VoDgewalt über alle
Reiche der Welt besitze, so lagen dem aUem Nachrichten und
Dekrete zugrunde, deren historische Echtheit ebensowenig be-
zweifelt werden durfte wie ihre dogmatische Gültigkeit. Den
universalen Ansprüchen Roms entsprach eine universalhistorische
Auffassung; so wie Kirche und Staat, Gott und Welt, Himmel
und Erde in diesem System durcheinander verschlungen waren,
waren auch die Jahrhunderte, Gegenwart und Vergangenheit
ineinander venvirrt.
Man mag fragen, ob es nicht möglich gewesen wäre, auf dem
Wege vorurteilsloser Forschung, der geistigen Freiheit, die sich
unter dem erschlafften Kirchenregiment der letzten Generationen
herausgebildet hatte, allmählich die Scheidung herbeizuführen und
eine vernünftige Klarheit an Stelle dieser Phantasien zu setzen.
Jedenfalls aber doch nur dann, wenn die Kritiker in diesem Ge-
schäft ungestört gebheben wären. Sobald die Kirche, welche
Geschichtschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß etc. 97
alle Fakultäten gegründet hatte und beherrschte und ebenso
den Schlüssel zum Wissen wie zum Glauben beanspruchte, nicht
wollte, kam man mit dem bloßen Besserwissen nicht aus. Das
hatte bereits Laurentius Valla erfahren, als er mit tadelloser Me-
thode die Fabel der Konstantinischen Schenkung erwiesen und
darüber in Konflikt mit der Inquisition zu Neapel geraten war;
und er selbst hatte ein Beispiel für die Unkraft der Aufklärung
gegeben, als er wider alle bessere Überzeugung, nur um einen
persönlichen Vorteil zu erhaschen, sich den Befehlen der Ketzer-
richter beugte. In Deutschland war ja der Zwiespalt mit den
klerikalen Kreisen von Anfang an sehr viel heftiger, die Ziele
der Humanisten viel positiver gewesen als in Italien, wenigstens
in dieser Epoche der römischen Renaissance. Aber auch ihre
literarischen Fehden (ich erinnere nur an den Zank Wimphelings
mit den Augustinern, Reuchlins mit den Dominikanern und Pirck-
heimers mit Johann Eck) verliefen im Sande; allem Lärm zum
Trotz verlegten sich die streitbaren Herren schließlich doch nur
auf das Prozessieren und Bitten oder gar, wie der selbstbewußte
Ratsherr von Nürnberg sich bequemen mußte, aufs Verleugnen
und Widerrufen. Denn so lebhaft sie die Schäden in Staat und
Gesellschaft zu bekritteln pflegten, richteten sich ihre ernsteren
Absichten doch wesentlich auf die Umgestaltung der gelehrten
Bildung; die breite Masse der Nation blieb außerhalb ihres Ge-
sichtskreises und diente ihnen nur etwa als Folie für ihre sar-
kastischen Angriffe auf die beschorenen Gegner. Als Historiker
und Publizisten wurden sie gerne von den Regierenden verwandt:
als Parteiführer aber in den realen Kämpfen der Gegenwart, wie
noch Nikolaus von Cues und Gregor von Heimburg, traten die
Poeten vor Luther nicht auf; und ihre politischen Ideen selbst,
so geistvoll und feurig sie sie vortrugen, und so anregend sie
damit wirken mochten, waren doch nur zu oft ziellos und phan-
tastisch. Niemals griffen sie in ihren Fehden zur deutschen
Sprache; erst als Hütten mit Rom gebrochen und sich als Schild-
träger dem geistlichen Helden von Wittenberg zur Seite gestellt
hatte, warf er das gelehrte Gewand ab und sprach Deutsch zu
seinen Deutschen. Das nationale Empfinden allein aber, so kraft-
Lenz, Kleine historische Schriften. 7
98 Kleine historische Schriften.
voll es in den Humanisten pulsierte, reichte nun, da es Ernst ge-
worden, nicht mehr aus, zumal da ein Hauptelement darin, die
FeindseUgkeit gegen die italienische Kirche, gar nicht mehr laut
werden durfte. Nur wer den »Löwenmut« hatte, »unerschrocken
die Wahrheit wider des Papstes Heuchler zu sagen«, konnte hoffen,
den Wust der Überlieferung, mit dem Roms Kirche sich deckte,
zu zerstören. So Luther in einem berühmten Satze, worin er
seine Stellung zur Geschichtsschreibung charakterisiert hat. Und
von neuem zeigt sich uns die zentrale Stellung, welche der Re-
formator in dem Leben der Nation, ja in der Entwickelung der
Welt einnimmt: der Bruch mit Rom war auch für die Fortent-
wickelung der Historie die Vorbedingung, wie für jeden sittüchen
und wissenschafthchen Fortschritt.
Wer war weiter von solchen Konsequenzen entfernt als, da
er begann, der Mönch von Erfurt! Die Ohnmacht der Erkenntnis
war gerade der Punkt, von dem er ausging, von wo ihn unnenn-
bare Seelenstürme auf das Meer des Zweifels hinaustrieben. Hier
nun, losgelöst von allem, was zeitlich war, weltentrückt, wandte
er sein Auge dem E\\igen zu, griff er über die Zeiten hinweg auf
die Persönhchkeit Christi zurück und die heihge Urkunde, die
das unschuldige Leiden und Sterben des Herrn schilderte und
ihm den Einklang, nach dem er rang, offenbarte, zwischen dem
Zorn und der Liebe, der Gerechtigkeit und der Gnade Gottes.
Auch sein Glaube stützte sich also auf historische Tatsachen und
auf die Quellenschrift, die sie enthielt, eine Urkunde freilich älter
und heiliger als alle Kanones und Kirchenväter und die tausend-
fach zitierte Quelle und Rechtfertigung aller Gebote und Überhefe-
rungen der Kirche selbst. Daß er von ihr aus mit allen Mächten
in Staat und Kirche ringen, eine ungeheure Weltven\drrung herauf-
führen, daß er die ganze Vergangenheit Roms als Fälschung der
Urgeschichte des Christentums enthüllen würde, ahnte Luther
nicht : aber dennoch hatte er bereits den Grund gefunden und den
Anker geworfen; was er besaß, war unantastbar, die Grundlage
seines Selbst — wehe dem, der daran zu rühren wagte ! Es war
die Grundwahrheit, vor der alles, was sich als wahr ausgab, hin-
wegmußte, wenn es nicht seine Vereinbarkeit damit nachwies:
Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß etc. 90
mochte es nun religiöse Vorstellung oder politische Forderung
oder historische Annahme sein.
Luther wähnte damit anfangs nur die eigentHche Meinung
der Kirche selbst auszusprechen: er deckte sich geflissenthch mit
der Autorität des Papstes und seiner Dekrete und klammerte
sich an sie fast länger, als er selbst daran glauben konnte. Danach
als er mit steigendem Entsetzen den unlöshchen Zwiespalt und
die ungeheure Fälschung erkannte, also daß er die Züge des Anti-
christ selbst im Papsttum zu entdecken wähnte, wollte er doch
nur eine Verdunkelung der jüngsten Zeiten, der letzten loo, und
dann 400 Jahre annehmen; den heiligen Bernhard glaubte er
noch für sich beanspruchen zu können, als er Johann Eck in
Leipzig gegenüberstand. Aber keinen Augenblick zögerte er, noch
weiter zurückzugehen und alle Autoritäten preiszugeben, sobald
ihm ihre Unvereinbarkeit mit seiner Auffassung nachgewiesen
ward: die Dekretalen, die er läppisches Machwerk, auch die Väter
des Konstanzer Konzils, die er Heuchler und Buben Hus gegen-
über nannte, und alle die selig und heilig gesprochenen Schrift-
gelehrten der hierarchischen Jahrhunderte. Eine Erweiterung des
historischen Horizontes, vor der alle Errungenschaften der huma-
nistischen Aufklärung verschwinden. Mit der Faust eines Riesen
zerriß dieser Mönch die Nebel, welche ein Jahrtausend verhüllten.
Aber alle diese Erkenntnisse wurden nicht durch das methodische
Vorgehen wissenschaftHcher Forschung gewonnen, sondern stoß-
weise, unter immer neuen Ängsten des Gewissens, durch ein sitt-
hches, seelisches Ringen: so zerteilte sich dem Reformator das
Dunkel der Geschichte, fiel Binde auf Binde von seinen Augen —
weil er mit jenen Autoritäten seinen Glauben nicht erhalten
konnte.
Hier jedoch ist für Martin Luther die Grenze der historischen
Aufklärung. An der Ohnmacht der Vernunft, des »Meisters Klüg-
lin«, von der er ausgegangen war, hielt er fest; er verachtete und
verdammte die Neugier einer Forschung, welche unbekümmert
um religiöse Empfindungen und Ziele, nur um aufzuklären, Bresche
in die hergebrachten Vorstellungen zu legen versuchte. Ein Jahr-
tausend gab er als die Epoche des römischen Antichrist preis;
7*
100 Kleine historische Schriften,
aber an der evangelischen Reinheit der ersten Jahrhunderte der
Kirche hielt er fest. Er wehrte die zudringlichen Versuche einer
Mittelpartei, welche auf den Gemeinbesitz dieser Zeiten eine Ver-
söhnung der streitenden Parteien gründen wollte, mit instinktiver
Abneigung von sich ab; aber an die Dogmatik des Altertums
hat er doch nicht gerührt. Hätte man ihm nachgewiesen, daß
die hierarchischen Tendenzen schon damals lebendig gewesen, daß
auch sein geliebter Augustinus von ihnen nicht frei zu sprechen
und keineswegs seinem Paulus so ähnlich sei, daß in dem Kanon
der heiligen Schriften selbst der Einklang, so wie er ihn glaubte,
nicht existiere — er würde auch dann nicht gezögert haben, zer-
störend fortzuschreiten und seine Glaubensstärke dennoch zu be-
wahren. Aber von seinem Standpunkt und unter dem allgemeinen
wissenschaftlichen Horizonte der Epoche fand er in jener alten
Zeit nichts, was den Einklang zwischen Glauben und Schrift,
an dem ihm alles hing, störte, und so stellte er sich um so fester,
mit beiden Füßen gleichsam, trotzig und kampfgerüstet vor ihren
Pforten auf. Er hatte wahrlich genug zu tun, um seine Kirche
nun, wo alles ins Schwanken geraten war, unter Dach zu bringen,
um die gewaltige Umwälzung, die er nötig gemacht, dogmatisch
und historisch zu begründen. \"on allen Seiten erwuchsen ihm
Gegner, Jahr für Jahr sich mehrend, hier die Radikalen, dort
die Verteidiger der alten Lehre. Und alle strebten die historische
Begründung ihres Glaubens an, beriefen sich auf historische Tat-
sachen und Urkunden. So entstand in der Geschichtsauffassung
der Zeit ein immer reicheres Leben; überall aber gab die große
Frage des Tages Antrieb und Charakter, und nur wer Partei
nahm, fand Anerkennung.
Wer aber über den Parteien stehen wollte, geriet nach allen
Seiten in Konflikte und vereinsamte völlig. Keiner hat das mehr
erfahren als Sebastian Franck von Donauwörth. IMerkwürdig
genug, daß sich doch ein Standpunkt herausbilden konnte in
dem Zerfall der alten Ordnungen, in dem Getriebe der um den
Preis ringenden Parteien, von wo jemand mit einer gewissen Un-
parteilichkeit auf die durcheinander wirbelnden Strömungen hin-
blicken konnte. Nur in der Unruhe Oberdeutschlands, wo die
Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß etc. 101
politische und kirchliche Zersplitterung am größten war, wo die
Altgläubigen in den Bistümern und österreichischen Vorlanden,
die Evangelischen in den vielen Reichsstädten die Vorhand hatten,
die Radikalen durch städtische Wirrsale und die blutige Nieder-
lage der Bauern besonderen Zulauf fanden, war es möglich. Zu
ihnen allen hatte Franck, halb oder zeitweise ihr Anhänger, Be-
ziehungen, kannte sie alle, studierte sie eifrig, wußte sie unüber-
trefflich zu schildern: kein Zunftgelehrter, jedoch den gelehrten
Kreisen nahe stehend, kein Wiedertäufer, doch nicht ohne Sym-
pathie für sie, kein Katholik mehr, aber auch mit dem evange-
lischen Älagistrat, bei dem er Dienste genommen, zerfallen. So
hoffte er, von seiner fränkischen Pfarre vertrieben, als Buch-
drucker und freier Literat in Straßburg eine Zuflucht zu finden.
Hier kam die ihm eigentümliche Richtung zum Durchbruch, in
Berührung mit den täuferischen Kreisen. Hier gewann er die
Möglichkeit, die Geschichtsbibel zu drucken, worin er mit theo-
sophischem Tiefsinn die Rätsel der Menschheitsentwdckelung zu
lösen glaubte. Und hier geriet er in den neuen Kampf mit der
offiziellen Kirche, der ihn in die Verbannung und die Einsam-
keit hinauswarf.
Führer seiner neuen Widersacher war kein Geringerer als
Martin Bucer, der Gründer der evangelischen Kirche in Straß-
burg selbst. Unduldsam und mit dem vollen Nachdruck der
politischen Macht, die ihm Jakob Sturm und seine Freunde zur
Verfügung stellten, wandte sich dieser gegen den einflußlosen
Fremdling, der nichts verlangte als seine Bücher in Ruhe schrei-
ben zu können. Heute (denn noch leben wir unter dem Zeichen
der Toleranz) stehen wir wohl dem geistvollen Schwaben sym-
pathischer gegenüber als der Verfolgungssucht der Prädikanten,
die soeben noch im Namen der Gewissensfreiheit gegen die römi-
schen Seelmörder aufgestanden waren; und wir würden es mit
Recht borniert finden, wenn unsere Regierungen aus Angst vor
dem Umsturz die Kritik an den überlieferten Vorstellungen,
auch wo sie zu den Waffen des Zornes und sittlicher Leiden-
schaft greift, nicht ertragen könnte. Hüten wir uns jedoch, vor
allzu großer Objektivität ungerecht zu werden gegen die Männer,
102 Klcinf liislorisclio Sclinf'en.
denen wir die Einwurzelung der evangelischen Religion in der
Nation und dem alten Reiche verdanken. Als Sebastian Franck
nach Straßburg kam, hatte man hier erst kürzUch, nicht ohne
den Druck der bürgerlich-zünftischen Klassen auf den Magistrat,
die Messe abgeschafft und die neue Kirche ins Leben geführt.
Noch bebte der Boden. Von allen Seiten zogen gerade nach
Straßburg die Täufer hin, um ihre auf den Umsturz oder wenig-
stens die \'erleugnung der politischen Gewalt gerichteten Ideen
auszubreiten. Keine Regierung würde heutzutage die staats-
feindlichen Gedanken selbst so gemäßigter Männer wie Johann
Denk und ]\Iichael Sattler dulden, sobald sie sich in Taten um-
setzen wollten; auf die Bildung einer Partei, die Gewinnung der
Massen, die Überwältigung der bestehenden Gewalten gingen
aber alle diese Hitzköpfe aus, auch wo sie es nicht gestehen
wollten. Und keineswegs begnügten sich die Prediger damit, den
Arm der Obrigkeit anzurufen: auf der Kanzel und in der Rats-
stube, in Briefen und Flugschriften trat Bucer diesen Gegnern
geradeso wie den Pfaffen unter die Augen; niemand wußte ihnen
im Gespräch besser zu begegnen, tiefer ihre Lehrsätze zu er-
fassen und ihre Bibelargumente mit gleicher Dialektik aus der
Fülle der Schriftkenntnis aufzulösen. Wie häufig ist dem Uner-
müdlichen der schöne Sieg gelungen, die ungelehrten, jedoch
oft so gutherzigen und nur in ihrem Gewissen verwirrten Leute
oder gar einen der Führer selbst zu gewinnen und in ehrliche
Verteidiger seines Bekenntnisses umzuwandeln! Wer von uns
Gebildeten wagt es heute überhaupt, mit dem gleichen Mut und
solcher Überzeugungstreue den Radikalen unserer Tage, ich will
nicht sagen in der Presse oder der eigenen Partei, aber offen in
der Volksversammlung Rede zu stehen! Sind wir es nicht viel-
mehr, die immer nur auf die Obrigkeit hinsehen und von ihr
hoffen, daß sie die Bewegungen der Tiefe in Ruhe erhalten werde ?
Während aber im Innern der Straßburger Kommune die
neue Kirche kaum unter Dach gebracht war, Prediger und Lehrer
fehlten, Bischof und Kapitel in und außer den Mauern mächtig
waren, Widerwille oder Gleichgültigkeit Regierende und Volk
spalteten, war der Horizont der großen Politik von den schwer-
Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß etc. 103
sten Wolken verdunkelt. Kaiser und Reich hatten sich eben in
Augsburg gegen die neue Kirche erklärt; mit knapper Not und
nicht ohne diplomatische Schmiegsamkeit war es Bucer gelungen,
die Hartnäckigkeit der Wittenberger zu besiegen und sie zur
Duldung wenigstens des politischen Bündnisses zu vermögen.
Aber erst wenige Fürsten Norddeutschlands und ein paar Städte
hatten sich zusammengefunden; in jedem Moment mußte man
fürchten, von der Übermacht der Katholischen im Reiche unter
Führung von Kaiser und Papst überwältigt zu werden.
Daß Bucers Streit mit Franck nicht die Unterdrückung der
wissenschaftlichen und insbesondere der historischen Arbeit be-
deutete, bewies er noch in demselben Jahr, als er Aventin nach
Straßburg einlud, um hier seine deutsche Geschichte zu vollenden.
Und es braucht keiner Worte, daß Straßburg damit einen wür-
digen Ersatz für die Geschichtsbibel Francks gewonnen hätte,
dessen rasch zusammengeraffte Berichte und unbekümmertes Ab-
urteilen sich weder der Gründlichkeit noch dem Feuer der Dar-
stellung und kaum dem sittlichen Ernste Aventins vergleichen
lassen. Hier fand sich Bucer aufs neue mit dem alten Freunde
Beatus Rhenanus zusammen. Sie beide und Jakob Sturm sind
es gewesen, welche die Berufung des deutschen Herodot an ihre
Schule betrieben haben; als ein vaterländisches Interesse be-
zeichnet es Bucer in einem Brief an Beatus, daß Aventin das
große Werk in Straßburg ausführen könne ; und noch heute müssen
wir es tief beklagen, daß der Ruf vergeblich gewesen, und daß
es Aventin nicht mehr vergönnt gewesen ist, seine evangelische
Überzeugung in einem gesinnungsvenvandten Kreise frei zu be-
kennen.
Bucer selbst hat an mehr als einer Stelle seiner Briefe und
Schriften einer scharf ausgeprägten Geschichtsauffassung Worte
geliehen. Aber auch damit war er, wie in allem seinem Tun,
immer auf die Gegenwart gerichtet, auf die evangelische Reform
der Reichsveriassung : das Ziel, dem er nachlebte, seitdem Luthers
Feuergeist den jungen Dominikaner auf der Disputation zu Heidel-
berg überwältigt hatte, bis zu der Stunde, wo er, fast am Ende
seiner Tage, das Vaterland dahinten ließ, um seinem Gotte treu
lO'i Kleine historische Schriften.
zu bleiben. Ich kenne keine liistorisch-politische Deklamation
eines Zeitgenossen von größerem Wert als den Brief Bucers an
Bullinger aus dem Dezember 1543, von dem er selbst gesagt hat,
daß er die Summe seiner politischen Auffassung enthalte^). Auf
wenigen Seiten charakterisiert er hier die großen Persönlichkeiten
der Zeit, an der Spitze Martin Luther selbst, dann den Kaiser,
seine Minister und seinen Bruder, die Kurfürsten und andere
Stände, König Franz und die Gesamtheit der europäischen Poli-
tik, so gerecht und mit solcher Feinheit der Zeichnung, daß noch
heute jedes Wort gelten kann, und zugleich mit einer patriotischen
Wärme und einer Kraft und Klarheit der Sprache, daß man an
klassische Muster, ich möchte sagen an Tacitus selbst erinnert wird.
Diese Denkschrift des Straßburger Reformators macht uns
erst die Gesinnung und den Eifer recht verständlich, mit dem er
sich kurz darauf bei seinem fürstlichen Freunde, dem Landgrafen
von Hessen, für die Gewinnung Sleidans zum Historiker der Re-
formation verwandt und damit ein Verdienst erworben hat, das
ihm in der Geschichte der deutschen Historiographie für immer
die ehrenvollste Stelle sichert.
Auch Sleidan ward zum Geschichtschreiber ausschließlich im
Hinblick auf den Kampf der Gegenw'art: er bezeichnet sich selbst
einmal als von Gott dazu berufen. Wie wäre das anders mög-
lich gewesen bei einem Manne, der, wie er, seitdem er heran-
gereift war, mit Wort und Feder, daheim und in der Fremde für
die Partei des Evangeliums eingetreten war. Auch er stammte
aus der deutschen Westmark, fast von der französischen Grenze
her; zweisprachig von Jugend auf, in katholischer Umgebung
zu Löwen und Köln gebildet, darauf jahrelang zu Paris und
Orleans im Dienst der französischen Diplomatie, atmete seine
Seele dennoch nichts als protestantischen Eifer und die leben-
digste Liebe zur Heimat. Seitdem Hermann Baumgarten, dessen
allzu frühen Heimgang unser Verein aufs schmerzlichste beklagt,
die Korrespondenz Sleidans, soviel oder sowenig davon übrigbHeb,
sammelte und herausgab, haben wir erst den rechten Einblick
^) Gedruckt in seinem Briefwechsel mit Landgraf Phihpp dem Groß-
mütigen, II, 225 ff.
Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß etc. 105
gewonnen in die weitreichenden Verbindungen, die ihn mit allen
europäischen Größen der Partei verknüpften, in die Einheit und
Festigkeit seiner Überzeugungen und in die Deutschheit seiner
Gesinnungen, die sich nirgends schöner hervortut als in dem mann-
haften, wohlgebildeten Deutsch seiner Briefe vom Trientiner
Konzil.
Als er das Buch begann, konnte man noch hoffen, daß die
evangelische Partei, deren Gefährdung freilich niemand klarer
sah als er und seine Straßburger Freunde, siegen würde: in zwei
bis drei Jahren hoffte Sleidan fertig zu werden, und schon auf
dem Reichstage zu Worms 1545 präsentierte er seinen hohen
Auftraggebern den Abschnitt über die ersten Jahre Luthers. Die
Katastrophe des Bundes unterbrach die Arbeit ; und erst nach dem
Siege Moritz' und seiner Alliierten nahm er sie, nach der Vollen-
dung begierig, wieder auf. Im Herbst 1554 war das Buch fertig,
1556 ward es ausgegeben. Der Erfolg war unermeßlich. In eine
Reihe von Sprachen ward es übersetzt, auch sogleich ins Deutsche,
zu Sleidans großem Kummer nicht von ihm selbst, sondern von
einem literarischen Freibeuter in Basel. Noch gegen Ende des
18. Jahrhunderts ist es neu aufgelegt und bearbeitet worden.
So lange hat es die Literatur beherrscht. Als moderner Klassiker
ward der Verfasser gefeiert; man stellte ihn neben die großen
Historiker des Altertums. Er wurde nachgeahmt, fortgesetzt,
angegriffen, erhielt Gegenschriften und hat alle in den Schatten
gestellt; auch gegen die neuesten Angriffe hat er Verteidiger ge-
funden und sich siegreich behauptet.
Der Grund liegt neben der klaren lateinischen Sprache und
der archivalischen Grundlage (dem Straßburger Archiv sind die
Akten entnommen, und Jakob Sturm selbst — noch tragen sie
seine Signatur — hat sie dem Freunde übergeben) vornehmlich
doch in der universal-politischen Auffassung. »Kommentarien
über die Lage der Religion und des öffentlichen Wesens unter
dem Kaiser Karl V. « nannte Sleidan sein Buch. Nur von einer
Res publica weiß er, der allgemeinen der Christenheit unter der
Vorherrschaft des Kaisers. Es ist noch ganz die Vorstellung der
hierarchischen Jahrhunderte von den vier Monarchien als den
\()Q Kleine historische Scliriftcii.
Weltzeitaltern gemäß der Prophezeiung Danielis. Sleidan selbst
hatte eine Universalgeschichte unter diesem Titel und Eintei-
lungsmodus geschrieben, die, wie seine Kommentarien, ihre Herr-
schaft bis ins i8. Jahrhundert behauptet hat und in 70 Auflagen
verbreitet gewesen ist; noch Friedrich Wilhelm I. von Preußen
hat die Weltgeschichte daraus gelernt. Der evangelische Glaube,
der doch im Prinzip die mit der römischen Hierarchie verknüpfte
Idee des universalen Kaisertums aufhob und auf die nationale
Gestaltung der Monarchie hindrängte, war nicht imstande, jene
historisch-pohtische Phantasie zu zerstören. Über englische, spa-
nische, italienische und französische Verhältnisse werden wir in
den Kommentarien gerade so gut unterrichtet wie über deutsche.
Wenn diese doch im Vordergrunde des Interesses bleiben, so
kommt es daher, weil unsere Nation in der Tat noch im ]\Iittel-
punkt der Ereignisse stand und der große Kampf hier sein Haupt-
schlachtfeld hatte.
Die Forderung der nationalen Monarchie als die Konsequenz
des Evangehums, die mehr oder weniger im Bewußtsein aller
Führer der Partei lag, konnte gewiß niemand schärfer formu-
heren als Martin Bucer, er, der in jenem Brief an Bullinger
schreibt: »Imperator posset multum, si vellet Germaniae impe-
rator esse et Christi servus.« Aber frei von der alten Vorstellung
war doch auch er nicht. Nur daß die Idee der respublica christiana
bei ihm und seinen Parteigenossen im Sinne ihres Glaubens um-
gebildet war. Der Kampf, in dem sie lebten, war für sie alle,
ganz wie Luther ihn geschaut und in dem großen Schlachtliede
des Protestantismus aufgefaßt hatte, der an nationale und poli-
tische Grenzen nicht gebundene Streit zwischen Christus und
dem Antichrist in Rom. Und während die Christenheit durch
ihn gespalten war, drohte von Osten her, wie seit Jahrhunderten,
die'Macht der Ungläubigen, der »Geisel Gottes, des Türken wider
das gottlose Wesen in Deutschland, vornehmlich xrider die falsche
Religion«. So Bucer in einem Brief an den Landgrafen. Von
diesem Gesichtspunkt aus beurteilte er (auch darin nur die All-
gemeinauffassung wiedergebend) die Kreuzzüge: als ein Ver-
brechen des römischen Antichrist, der Deutschland und Frank-
Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung im Elsaß etc. 107
reich dadurch venvüstet, Kaiser und Könige und unzählige Hel-
den zugrunde gerichtet, die Staaten daheim ausgemergelt und
damit seine Gewalt erhöht habe; die eroberten Länder aber habe
man schließlich doch dem Mahomet mit Spott müssen lassen.
»Wer von dem Türken und dem Papst,« schreibt Sleidan seinem
Jakob Sturm, »nicht das Schlechteste denkt und erwartet, dem
fehlt es an jeder gesunden Auffassung.«
Es war das Gegenbild zu der römischen Anschauung von der
Führung der christlichen Welt durch den Nachfolger Christi
gegen Ungläubige und Ketzer und also den Weltverhältnissen
nur zu sehr entsprechend. Nirgends aber konnte man sich der
Intemationalität dieses Kampfes klarer bewußt werden als eben
in dieser Grenzstadt, wo sich der französische und deutsche Prote-
stantismus die Hände reichten, und wo alle protestantischen
Emigranten, von Polen bis Spanien hin, zusammenkamen.
Gewiß liegt in dieser Geschichtsauffassung nicht die volle
Wahrheit. Uns ist es gegeben, die Zeiten noch besser zu unter-
scheiden. Wir würdigen heute die historische Größe auch der
kathoHschen Weltanschauung; wir begreifen die Notwendigkeit
des mittelalterhchen Papsttums und preisen die Segensströme,
die von der durch Rom erhaltenen christlichen und antiken Kul-
tur zu den nordischen Barbaren hinüberfluteten. Auch erkennen
wir die Engigkeit und Un Vollkommenheiten der pohtischen,
\vissenschaf fliehen, ja selbst der sittlichen und religiösen Ideen
der ersten protestantischen Zeiten an. Und wir lassen uns nicht
hindern, die Schlacken in der Bewegung von dem Golde, das
sie mit sich führte, zu sondern, auf die Gefahr hin, daß die ultra-
montanen Widersacher unsere Ergebnisse zu dem schlechten Ge-
schäft benutzen, das Andenken unserer Helden zu besudeln. Ja
wir gönnen es ihnen, wenn sie sich damit vergnügen, die »Vir-
tuosen des Verbrechens«, die damals am Tiber sich als die von Gott
eingesetzten Träger seiner sittlichen Weltordnung betrachteten,
nach Kräften weiß zu waschen. Denn wir erfahren es in unsern
Studien täglich, daß der Kern unseres Glaubens und seiner Re-
formatoren um so heller blinkt, je gewissenhafter ^^^r ihn von
allen Schatten reinigen. Und wir wissen, daß wir damit nur im
IQg Kleine historische Schriften.
Sinne dieser Heroen des Geistes handeln, daß elniiclie Forsclunif,'
eine Fordenuig der protestantischen Geistesfreiheit und ein rech-
ter Gottesdienst ist. Wir wollen, um mit Sleidan zu sprechen,
»ohn Ruhm zu reden, lieber unter dem Grunde liegen, dann
wissentlich etwas Unerfindliches reden, viel weniger ausschreiben.«
Denn wir sind des Glaubens, daß nur aus dem Löwenmute der
Wahrhaftigkeit die \\'ahrheit, der wir nachtrachten, geboren wird.
m^^^^
Dem Andenken Ulrichs von Hütten.
(1888.)
Zu der Gedenkfeier, welche das protestantische Deutsch-
land vor fünf Jahren seinem Reformator widmete, hat sich an
diesem Pfingstfeste eine andere gesellt, welche es einem zweiten
Vorkämpfer der Nation gegen Rom veranstaltete, dem ritter-
lichen Humanisten Ulrich von Hütten. Mittelpunkt war eine
Burg in einem der schönsten Nebentäler unseres Rheines, nahe
der Stätte, wo Frau Germania schirmend über dem deutschen
Strome steht: eine Burg, die heute in Trümmern liegt, erobert
von drei Fürsten, deren einer ein Erzbischof und Kurfürst, doch
eben kein Eiferer für die Kirche war; während ein anderer von
ihnen bald der tatkräftigste Schutzherr Luthers und der mäch-
tigste Vorkämpfer seines Bekenntnisses wurde, Philipp von Hessen,
dem schon die dankbare INIitwelt den Beinamen des Großmütigen
gegeben hat. Es war die Burg eines Freundes von Hütten,
die Ebernburg Franzens von Sickingen, dessen Gast er ein paar
Monate hindurch dort gewesen. Wenn jene Fürsten auch noch
zum alten Glauben hielten, traten sie doch diesmal so wenig wie
sonst als seine Verteidiger auf: nicht für die reformatorischen
Ideen ward die Feste eingeäschert, sondern infolge persönlicher
Feindseligkeiten und als verdiente Rache für verwegenen Raubzug.
Denn seine Dienstherren waren es, gegen die Ritter Franz aus-
gezogen war, in jähem Überfall, mit räuberischer Hand und kecker
Wagelust — und dafür ereilte ihn die Strafe: eine Fehde war es,
wie sie Deutschland seit Jahrhunderten zu unzähligen Malen ge-
sehen hatte.
]\0 Kleine historische Schriften.
Während aber die Kanonen der Fürsten gegen Fels und Mauern
donnerten, war Hütten fern der Heimat: ein landloser Flücht-
ling, als Rebell von den Fürsten und dem Reichsregiment ver-
folgt, von den Seinen gemieden, zurückgestoßen von den lite-
rarischen Genossen, mit denen er einst so siegesfreudig die Pfeile
seines übennütig-genialen Spottes auf die Dunkelmänner herab-
geschüttet, schmählich vor allen von dem großen Erasmus be-
handelt, dem er doch tausendfachen Weihrauch gestreut hatte,
von allen Mitteln entblößt, von unheilbarer, selbstverschuldeter
Krankheit verzehrt — so hauchte er, wenige Monate nachdem
der Freund mit seinen Burgen gefallen war, auf einer Insel des
Züricher Sees unter Ulrich Zwingiis treuer Obhut die trotz allem
bis ans Ende unverzagte, glutenvolle Seele aus.
Beide Männer, auf denen ganz Deutschlands Augen geruht
hatten, waren bald so gut wie vergessen. In der Zeit, wo die evan-
gelische Lehre sich befestigte, die ersten Siege erfocht und die
ersten Katastrophen erlebte, wurden sie kaum genannt. Die
Söhne Sickingens, Hans und Schwieker, standen meist im Dienst
des Kaisers, oder wer sonst für Geld ihre Arme, ihre Kriegser-
fahrung und ihren Kredit verlangte: Kriegsobersten waren sie,
wie ihr Vater selbst und hundert andere ihrer Standesgenossen.
Huttens Angehörige hielten zu dem oder jenem Fürsten und Be-
kenntnis, wie ihr Lebensgang sie gerade führte; einer, j\Ioritz von
Hütten, der Ulrichs Bibliothek erbte, ein leidHch gebildeter Herr,
war Bischof von Eichstädt und kathohsch zur Zeit, als sieben
Achtel der Deutschen protestantisch dachten.
Als aber das Gedächtnis der alten Zeiten wieder reger
wurde, ward auch das Andenken Huttens und Sickingens aufs
neue lebendig. Und heute steht jener neben Luther als Vor-
kämpfer des protestantischen Deutschlands. So hat man sich
denn vereinigt, ihm und seinem großherzigen Freunde, Ritter
Franz, ein eigenes Denkmal zu setzen, auf jener »Herberge
der Gerechtigkeit« eine nationale Feier zu veranstalten, wie
die dem Reformator vor sechs Jahren geweihte. In allen Gauen
unseres Vaterlandes sind die Gelder gesammelt worden; unsere
Fürsten, unser Kaiser selbst standen voran, um dem Ritter,
Dem Andenken Ulrichs von Hütten. IJI
dem Rebellen gegen Kaiser und Fürsten, ihre Huldigung dar-
zubringen.
Weshalb dies alles? Die Gesinnung, in der die Nation es tat,
zeigt es an: dem rastlosen Kämpfer für Deutschlands Ehre, dem
Manne, der in guten wie in bösen Tagen und bis ans Ende die
großen Namen Freiheit und Vaterland tief im Herzen trug, der die
Sehnsucht nach einem einigen, mächtigen Deutscliland, über-
strahlt von dem Glänze edelster Bildung, in glutatmenden Worten
ausströmte und, was immer eigene Verschuldung hinzutat, doch
auch dafür gelitten hat und gestorben ist — ihm galt die Feier.
Das war es eben auch, was ihn einige Jahre hindurch vor
Deutschland neben dem Reformator emporhob, als Vorkämpfer
— oder wie er selbst es bescheiden auffaßte - — als Schildknappen
des großen Helden erscheinen ließ; was ihn, den Humanisten,
den Ritter, hinüberriß an die Seite des Mönchs, des Bauernsohnes;
was ihn antrieb, seine Freunde, den fürstlichen Mäzen, die Eltern,
alles Behagen eines sicheren und ehrenvollen Lebens aufzugeben:
er konnte wirklich wähnen, daß seine Ideale Wahrheit werden,
daß Martin Luther das goldene Zeitalter für Deutschland, von
dem er träumte, heraufführen werde. Es war sein Geschick, den
Zwiespalt zwischen Traum und Wirklichkeit an sich selbst zu
erleben. Er hatte für Ernst genommen, was nur in der Sphäre
der Phantasie gelten konnte: unklar, widerspruchsvoll und ver-
wirrend wurden seine Ideen, sobald er sie in das Leben einführen
wollte; und so mußte er in den revolutionären Wirbeln, die das
Zusammentreffen feindlichster Strömungen hervorrief, auch er
um seines Glaubens wiUen, untergehen. Versuchen wir es, im
engsten Rahmen das Bild des Ritters und seiner Zeit zu umspannen
und so die Tragik seines Lebens zu verstehen.
Alles hängt davon ab, daß der Geist, in dem Hütten aufwuchs,
in Deutschland selbst nicht heimisch, sondern aus der Fremde
übertragen war. Und selbst in Italien entstammte der Huma-
nismus nicht den Tiefen der Nation, sondern von Anfang an trat
er mit heftiger Feindseligkeit den überheferten kirclilichen Bil-
dungsformen entgegen, als Nachahmung einer untergegangenen
Welt, antiker heidnischer Ideale. FreiHch kam ein besonderes
112 Kleine historische Schriften,
nationales Element hinzu: diese verschollene Welt war doch die
des heimatlichen Bodens; als Vorfahren wurden die Alten ge-
feiert. Seit Petrarca gab es keine glühenderen Patrioten als eben
die Humanisten; Wissenschaft, Sprache und Kunst der Gegenwart
erschien ihnen nur als Entartung unerreichbarer Vergangenheit;
und so hoben sie den eigenen wie des Vaterlandes Ruhm, wenn sie
die alten Heiden imitierten. Ihr Gegensatz aber gegen die über-
kommenen, in Kirche und Wissenschaft herrschenden Formen
wuchs von Generation zu Generation. Je vertrauter sie mit der
Antike wurden, um so unabhängiger und selbstbewußter traten
sie auf; und mit souveräner Aufklärung behandelten sie alles,
was sich \-om scholastischen Geist erfüllt zeigte.
Auf dieser Höhe der Ausbildung kam der Humanismus über
die Alpen nach dem Norden, um die Mitte des fünfzehnten Jahr-
hunderts, in eine völlig fremde Welt.
Niemals bis auf unsere Tage ist in unserem Vaterlande eine
größere Summe von Kraft vereinigt gewesen als in dieser Epoche
völliger Zersplitterung. Sprichwörtlich war der Reichtum der
deutschen Städte. Verbündet boten sie Fürsten und Kaiser
Trotz; der Osten und Norden, ja wohl auch Flandern und Eng-
land waren wirtschaftlich, zum Teil gar politisch von ihnen ab-
hängig. Doch auch ihre fürstlichen Gegner und selbst die Ritter
wußten sich zu behaupten. Franz von Sickingen nahm es mit
jedem Fürsten auf: unablässig vermehrte er seine Burgen, Dörfer,
Weinberge und Wälder; die Reiter und Knechte liefen ihm lieber
zu als dem Kaiser; von allen Mächten sah er sich umworben; er
trotzte der kaiserlichen Acht, und selbst ein Kurhut war kein zu
hohes Ziel für seinen Ehrgeiz.
Das Ganze aber in der Zersphtterung. Jeder wollte voran,
doch auf Kosten der Nächsten. Es feUte das Interesse, welches
alle W^ünsche vereinigte, das Gesetz, welches die Einzelwillen
beugte, der nationale Wille, die nationale Politik — es fehlte der
deutsche Staat. Die Folge war immerwährender Hader. Wenn
das Reich gegen die Hussiten und darauf gegen die Türken auf-
geboten wurde, erlitt es schmähliche Niederlagen. Im Innern
stritten die großen Häuser untereinander, für oder gegen den
Dem Andenken Ulrichs von Hütten. 113
Kaiser, wider Städte und Adel. Keine dieser Gewalten war in
sich geschlossen, alles in Fluß und Bewegung. Die Fürsten in Streit
mit ihren Ständen, Städten, Edelleuten, Geistlichen; in den Städten
der alte Zwist zwischen Geschlechtern und Zünften, Kapital und
Arbeit. Darunter die Masse des Landvolkes, in trotziger Ungebun-
denheit, und doch wieder preisgegeben der Willkür ihrer Herren.
Immer tiefer wühlte sich der Haß ein in den »armen Leuten«
gegen Pfaffen und Adel; immer umfassender und wilder wurden
die Empörungen, in denen sie das Joch abzuschütteln versuchten.
Der Kaiser war fern, und indem die Herren siegten, grub sich ihre
Gewalt um so fester, verschärfte sich um so mehr der Zwiespalt.
Darüber hin nun die Kirche, der ein Drittel des deutschen Bodens
gehörte: Bistümer, Abteien, Mönchs- und Ritterorden, Univer-
sitäten, Brüderschaften; territorialisiert auch sie, von den gleichen
sozialen Konflikten durchsetzt, aber zuletzt doch alle an Rom ge-
fesselt, das in jeden Hader eingreifen, für Geld die Parteien ge-
winnen konnte und Ströme deutschen Goldes über die Alpen zog.
In wildphantastischen Ausbrüchen machte sich die allgemeine
Erregung Luft, in Wallfahrten, in dem Wahnsinn der Flagellanten,
im Auftreten von Stigmatisierten und wundertätigen Marien-
bildern. Es ist die Stimmung des Suchens und Sehnens, halt-
losen Verzagens und heißen Aufflammens: in der Farbenglut der
Mystik, im Marienkultus, in den Klosterreformationen (Tausende
drängten sich in die Konvente), in der Überfüllung der Univer-
sitäten, in den Kirchen und Kapellen, die allerorten mit Reli-
quien, Bildern und kunstreichem Schnitzwerk überladen wurden,
fand sie den mannigfaltigsten Ausdruck.
In diese verschnörkelte und verkrauste, noch völlig mittel-
alterliche Welt trat nun vom Süden her, aus dem Mutterlande
der Kirche, von ihren Dienern ausgehend, an der Spitze ihr Legat
(der dann Kardinal und Papst wurde) Enea Silvio selbst, der Geist
weltfroher Aufklärung, selbstgewisser Kritik, reinster Form,
heidnisch-antiker Ideale, in dem Stadium der eigenen vollen Reife
und gänzlicher Abwendung von allem Mittelalter.
Was kommen mußte, ist klar. Zwei Ströme waren es ent-
gegengesetzten Laufes: die Fluten müssen zusammenstoßen,
Lenz, Kleine historische Schriften. 8
1^4 Kleine historische Schriften.
durcheinanderwirbeln; kaum unterscheidbare Mischungen ent-
stehen ; bald da, bald dort treffen die neuen Wogen an und kreuzen
sich wohl in derselben Brust.
Sehr erklärhch, nur allzu menschhch, daß die Ungebunden-
heit und Lüsternheit der neulateinischen Poeten zunächst und
besonders Anklang fand. Denn von der altgermanischen Sitten-
einfalt dürfen wir uns eben auch in dieser Zeit nicht gar zu große
Vorstellungen machen. Aber auch darin waren unsere Vorfahren
gröber, täppischer und im Grunde ehrhcher als die formgewandten
Italiener. An den Hochschulen kam der neue Geist anfangs über-
haupt nicht auf. In Privatschulen sammelte sich wohl um ver-
ehrte Lehrer ein Kreis von Schülern — zumeist nüchterne, ernst-
hafte Männer, recht schulmeisterlich-phihströse Naturen, die am
alten Glauben, deutscher Art und Sitte trotz des modischen Ge-
wandes festhielten. Doch band sich die neue Bildung nicht an
Ort und Stand, sondern aus den verschiedensten Schichten drängte
man sich mit wachsendem Eifer herzu. Vielfach waren es Städter,
doch auch Bauernsöhne, wie Konrad Celtes, Edelleute, wie Rudolf
von Langen und Ulrich von Hütten, Bischöfe, wie Johann von
Dalberg, und Äbte, wie Trittheim: als Humanisten waren sie
Gegner oder Freunde, aber nach Stand und Stamm nicht ge-
schieden: sie waren Deutsche schlechthin. Das aber in einem
Lande, dem die Zersphtterung in Staat und Kirche das Gepräge
gab. Sonst überall tiefe Gärung und Zerklüftung : hier eine gewisse
Einheit in der Lebensanschauung und Gesinnung.
Wie weit nun auch Deutschland sich von Italien unterschied,
hatten sie doch wieder verwandte Schicksale von einer, wie Fürst
Bismarck es einmal ausgesprochen hat, »ergreifenden Analogie«.
Beide waren frei geworden von der einigenden Gewalt, die sie
im Mittelalter gebändigt hatte, dem Kaisertum, und an der gleichen
Not der Gegenwart mußten sich die Geister entzünden. Auch die
Macht, welche überall als das störende Element erschien, zugleich
als die tyrannische Vertreterin der feindHchen Richtung, war
die gleiche: Rom.
Und gerade an die deutschen Kaiser hatten die Väter _^der
Renaissance, Dante und Petrarca, als die Schirmherren der Ein-
Dem Andenken Ulrichs von Hütten. 115
heit und Freiheit ihres Itahens appelliert. So mußte auch in den
deutschen Humanisten das Bewußtsein nationaler Zusammen-
gehörigkeit erstarken und die Sehnsucht aus der Stickluft der
Scholastik und Kleinstaaterei nach einer großen nationalen Wirk-
samkeit erwachen ; gerade gegen die Italiener und ihre gottlose Kirche
gaben sie sich als Anwälte deutscher Ehre, Macht und Freiheit.
Schon war auch der Mann gefunden, dem sie ihre Ruhmes-
kränze winden konnten: Kaiser Max, der sich in der Enge der
ständischen Interessen vergebens abmühte, der ritterliche, deutsch-
empfindende, hochbegabte, rastlose, lebensfrohe, phantasievolle
Kaiser, der immer auf dem Kampfplan stand gegen die fremden
Mächte auf den Bahnen der Saher und Staufen einherging, der
Hort deutscher Kunst und Bildung. Waren die Humanisten
eine Klasse, für die Stand und Namen nichts bedeutete, Deutsche
schlechthin, so stellte sich ihnen hier eine politische Persönlichkeit
dar, wie sie für sich und Deutschland sie ersehnten. Nach Einheit
verlangte die strotzende Kraft Germaniens: hier schien sich ein
Organ zu bieten, durch das die Fülle seines Lebens in die Welt
ausströmen konnte. So mußten sich wohl Kaiser und Poeten finden.
Und so stimmten sie denn die höchsten Töne ihm zu Ehren an,
Wimpheling und Pirckheimer, Langen, Brant, Dalberg, Trittheim —
Abt, Bischof, Bürger, Edelmann, aUe mit dem gleichen Hochgefühl
und Kampfeseifer, in denselben Formen der Sprache und Poesie.
Unter ihnen, einer nur unter vielen, wenn auch der talent-
vollste und formenreichste, Ulrich von Hütten. Eines fränkischen
Ritters Sohn. Der Vater ein herber, mürrischer Herr, der den
Knaben in die Klosterschule steckte, um etwa einen Abt oder
gar einen Bischof aus ihm zu machen. Aber den Brausekopf litt
es nicht in den dumpfen Klostermauern; er brach aus und verlief
in die Welt. Denn die Welt und ihre Freude kennen lernen, das
war der Drang des Rastlos- Stürmischen. Und so zog er umher
als fahrender Geselle. »Ich wohne«, so ruft er aus, »nirgends Heber
als überall; meine Heimat ist allerorten.« Von Köln wandert er
nach Erfurt und Frankfurt a. O. ; weiter nach Greifswald, zur
Universität der »hyperboräischen Pommern«, und tief in den
Süden nach Italien, in das Waffengeklirr des kaiserlichen Lagers,
8*
[\ß Kleine historische Schriften.
bis Rom hin, wo sich ihm Übermut und Laster der Kirclie in aller
Nacktheit zeigen — fast immer mittellos, umhergestoßen, vom
Vater mit \'or\vürfen überhäuft, als verlorener Sohn behandelt,
aber in allem Elend ungebrochen, glühend von Lebenslust, vater-
ländischer Freudigkeit, dichterischer Phantasie und Formfülle,
siegessicher im Angriff, den er in immer wiederholten Stößen,
leidenschaftlich, schonungslos zu führen weiß, und mit wachsen-
dem Haß sich erfüllend gegen alles, was der Größe des Vater-
landes und der neuen freien Bildung mit engherziger Herrschsucht
hemmend und verdunkelnd in den Weg tritt.
Wenden wir von Hütten einmal den Blick hinweg nach dem
Mönch, der in demselben Erfurt, wo auch jener eine Zeit lang
weilte, aus der gleichen studentischen Ungebundenheit heraus sich
in den engen Klostermauern barg. Der ganze Gegensatz beider
Naturen tritt, wie man bemerkt hat, hier zutage: Hütten flieht aus
dem Kloster in die Welt, Luther flüchtet sich aus der Welt in das
Kloster. Wohl ist gesagt worden, daß der Humanismus auch für
Luther bestimmend gewesen sei, wie denn erst der Bund der beiden
die Reformation oder die Revolution erzeugt habe. Doch wird
damit nur ein Teil für das Ganze erklärt. Nur eine unter vielen
Anregungen verdankt Luther dem Humanismus: tiefverborgene
Quellen lebten in ihm ; nach schwerstem Ringen, wie aus granitenem
Gestein, mit Urgewalt brachen sie ans Licht. Wollen wir begreifen,
was Luther sein Evangelium nannte, so müssen wir zurückblicken
bis in sein Kloster, ja noch in die Zeit vorher: in das Dämmer-
licht seiner Jugendjahre, seine Studien und Zweifel, die Ängste,
die den Jüngling vor dem Gericht, dem Zorn Gottes durch-
schauerten und ins Kloster trieben ; in die Mühsal aller Bußübungen
und Selbstentäußerung, der Qual mit den guten Werken, der
vergeblichen Beichtnot — und wie er mitten in der Pein sich das
Bewußtsein erringt, daß der allmächtige, unerforschliche fessel-
lose Gott den Tod des Sünders nicht will, daß unmittelbar aus
dem göttlichen Schöße das Erbarmen quelle, daß keine Kreatur
ein solle zwischen der Seele und ihrem Schöpfer.
Dem Andenken Ulrichs von Hütten. W]
Von solchen Kämpfen gewahren wir in Hütten nichts. Ihm
gilt es nur immer die Ehre des Vaterlandes. Als Patriot und
im Namen der Aufklärung führt er den Kampf gegen Rom.
Deutschland Roms Beute, darum los von Rom — das ist der
Refrain aller seiner Epigramme und Dialoge, seiner Satire und
seines Zorns. Hütten war eine unkirchliche, ja mehr, eine un-
religiöse Natur, ^^'ie schlecht stehen ihm die theologischen Zitate
und Bibel verse zu Gesicht, die er in der späteren Epoche unter
Luthers Einfluß seinen Schriften beimischt! »Man glaubt«, be-
merkt sein Biograph D. Fr. Strauß treffend, »stellenweise Hütten
in Kutte und Kapuze sich vermummen zu sehen, den doch nur
Harnisch und Lorbeer kleideten.« Auch verkannte er anfangs
Luthers Absichten und das Ziel der Bewegung durchaus. Er war
am Hofe Kurfürst Albrechts und sonnte sich in seiner Gunst, als
dieser Tetzel aussandte. Noch auf dem Reichstage in Augsburg
1518, wenige \\'ochen bevor Luther dort vor Cajetan trat, hielt
er seinen Handel für ein ]\Iönchsgezänk, über das sich jeder Ver-
ehrer der neuen Bildung freuen müsse: möchten sie sich doch,
schrieb er damals, untereinander zugrunde richten!
Und doch hatte Luther längst mit Rom gebrochen. Und
von Anfang an hatten die Gegner erkannt, daß hier der Feind,
daß der Mönch ein Ketzer sei, weil er sich gegen Rom auflehne.
Wider \Mllen war Luther dahin gekommen, den Zwiespalt als
unversöhnlich zu erkennen. Und so, indem die Nebel sich all-
mählich um ihn lösten, trat er zurück auf sein Evangelium, wie es
seit Erfurt in ihm lebte: kein Priester zwischen ihm und Gott:
ganz persönlich sein Glaube: frei er selbst vor der Welt als Gottes
Knecht und doch unteru^orfen den Ordnungen von dieser Welt;
denn alles, was da lebt und webt, ist Gottes Kreatur; in ihm allein
hat es die Kraft des Bestehens, in ihm aber auch das Recht dazu,
den Frieden: jedermann, ob Priester, König, Bürger oder Bauer,
ledig oder Ehemann: ein Amtmann an Gottes Statt, am Werk,
das seine Schöpfung ist und darum vor ihm, in seinem Namen,
auch gut, heilsam, edel, menschlich-^vürdig. Das in einer Summe
die Lehre des Reformators: immer deutlicher ward sie ihm selbst,
in immer neuer, strömender Gedankenfülle, unter stets wachsen-
Hg Kleine historische Schriften.
dem Beifall der Freunde, stets lauterem Toben der Gegner gab
er sie hinaus in die Welt.
Gewinnen \\dr den Eindruck des historischen Momentes, in
dem es geschah.
Kaiser Max war ein siecher Mann, und schon begann der
Streit um seine Erbschaft. Zwei Erben nur kamen in Frage: sein
Enkel Karl von Spanien und Franz I. von Frankreich. Jener,
der Herr jenseits der Pyrenäen und der Alpen, in Burgund und
den Niederlanden, dieser sein Rival wie an allen Grenzen so nun
auch in Deutschland selbst. Dem Kaiser war es letzter Lebens-
zweck,. seinem Enkel und Erben Österreichs die Krone Karls des
Großen zu verschaffen; für ihn sprach das Herkommen, das Blut,
das in seinen Adern floß, die nationale Erregung gegen Frankreich
und das mit ihm verbündete Rom. Die Humanisten, Hütten
voran, forderten stürmisch den Habsburger. Das burgundische
Geld, große Versprechungen halfen nach: ganz Deutschland geriet
in fieberhafte Bewegung. So stand es schon zur Zeit des Augs-
burger Reichstags. Cajetan war nur deshalb nach Deutschland
gekommen, um die deutschen Fürsten für Frankreich zu gewinnen.
Da bheb auch Luther von der allgemeinen Stimmung nicht un-
berührt. »Wagt es,« schreibt er, »jener tölpelhafte Sophist Silvester
(sein erster römischer Gegner) mich mit seinem Gewäsch noch ein-
mal zu reizen, so will ich dem Geist und der Feder freie Bahn lassen
und ihm beweisen, daß es in Deutschland Leute gibt, welche die
römischen Kniffe kennen. Möge es nur bald geschehen. Denn zu
lange schon äffen uns die Römer mit schamloser Stirn als ihre Hof-
narren und Buffonen durch Schliche und Tücken ohne Maß und Ziel.«
Bald genug traten die Ereignisse ein, welche die mühsam zu-
rückgehaltenen Stürme entfesseln mußten: der Tod Maximilians
im Januar 1519 und der Wahlkampf, aus dem im Sommer sein
Enkel als Kaiser hervorging.
Darin finden wir sofort auch Luther, und bald schlägt um
ihn das ganze Gewoge zusammen. Auf den brausenden Fluten
der nationalen Erregung wird er emporgetragen, aller Welt vor
Augen, dem einen der fluchwürdigste Ketzer aller Jahrhunderte,
dem andern der Prophet der Nation. Für ihn aber blieb es die
Dem Andenken Ulrichs von Hütten. IIQ
Aufgabe, in dem Gebrause die Idee, in der er stand, mit aller
Stärke festzuhalten, an ihrer Norm nun, wo alles krachte und
barst, alle irdischen Aufgaben, die sich an ihn herandrängten, zu
messen und sie, sei es zu erhalten, sei es abzustoßen oder umzu-
gestalten. Im Sommer 1520 finden \vir ihn auf der Höhe, damals,
als er in seiner Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation«
darlegte, wie die deutsche Frage evangelisch zu lösen sei. Eine
Kriegserklärung war es, wie Rom sie noch nie gehört hatte. Gegen
alles, was seit Jahrhunderten gefestigt und geheiligt schien, erhob
der gewaltige Mann seine Stimme: das gesamte geistliche Steuer-
system, Ehegesetze und Zölibat, Indulte und Privilegien, Scho-
lastik, geistliches Recht, hoher und niederer Unterricht — aUes
sollte hinweggeräumt oder von anderem Geiste belebt, auf neuem
Boden hergestellt werden.
Dies der Moment, wo Hütten in Luthers Lager überging,
wo Humanismus und Reformation sich trafen oder abstießen,
wo die große Scheidung der Geister sich vollzog. Die Mehrzahl
der Humanisten blieb zurück. Den Italienern war der neue Geist
fast unverständlich; in England trat Thomas Monis für die alte
Kirche ein; in Deutschland gerade die Aufgeklärten, die Spötter,
wie Erasmus, Crotus Rubeanus, selbst Wilibald Pirckheimer.
Hütten aber zauderte keinen Augenblick. Der Sturmatem der
Zeit zog mehr als je durch seine Schriften. Den Kaiser und seinen
Bruder Ferdinand rief er an; er schürte und warb für den Mönch;
alles hielt er für gewonnen: die Freiheit sei gefesselt und verbannt
gewesen, er führe sie zurück. Daß er so ohne Besinnen sich auf
des Reformators Seite stellte, den Erzbischof verließ, mit dem
Vater aufs neue brach und Unruhe, Armut und Kampf für sich
wählte, das ist das Echte in seiner Natur.
»Wiewol mein fromme mutter weynt,
Do ich die sach hett gfangen an:
Gott wöir sye trösten, es müsß gan,
Und solt es brechen auch vorm end.
Wils Gott, so mags nit werden gwend,
Darumb wil brauchen füß und hend.
Ich hab's gewagt!
\'20 Kleine historische Schriften.
Fragen wir aber nacli seinem Programm, so gewahren wir
überall nur das gestaltlose Sehnen nach Freiheit, die Satire und
das revolutionäre Stürmen gegen die Kurtisanen und alle ihre
Helfer. Und vergleichen wir damit Luthers Schriften, jenen Appell
an den christhchen Adel der Nation, die umstürzenden Gedanken
in der »Babylonischen Gefängnuß« oder die hehren Töne in dem
Traktat von der »Freiheit eines Christenmenschen«, so erkennen
wir die elementare Gewalt und die positive Kraft der reforma-
torischen Idee im Gegensatz zu dem Humanismus selbst da, wo
dieser sich in den Dienst der Reformation stellt.
W'underbar ist der Kontrast zwischen der unbeugsam-starren
Energie, mit der Luther das Prinzip behauptete, und der Gleich-
gültigkeit, ja der souveränen Unbekümmertheit, womit er alle Ver-
fassungsformen, die kirchlichen so gut wie die staatlichen, ansah.
Das alles war für ihn dem Wandel unterworfen; von Menschen-
hand für die Menschen und doch wieder Gottes Werk — wie die
Erde selbst und alles, was sie trägt, aus seiner Hand hervorging und
seinen Namen preisen soll, vor ihm also gut ist: ihm zu Ehren
mögen die einen regieren, die anderen gehorchen und keiner den
anderen verachten. Aber von Gottes Werk ist Gottes Wort, das
wandellose, an Zeit und Stätte nicht gebundene, zu unterscheiden;
von seinen Kreaturen der Schöpfer, dem jene nur die »Hand-
röhren und Mittel« sind, »dadurch er alles gibt; wie er der Mutter
Brüste und Milch gibt dem Kinde zu reichen, Korn und allerlei
Gewächs aus der Erde zur Nahrung«. Niemals hat Luther eine
Theorie über die beste \'erfassung von Staat und Kirche auf-
stellen wollen. Ganz patriarchalisch war noch seine Vorstellung
vom römischen Reich; für Kaiser Karl bewahrte er allen Ent-
täuschungen zum Trotz eine herzliche Verehrung. Er wollte in
jener Sturmschrift an den »christlichen Adel« selbst zugeben, daß
auch die kirchliche Verfassung bleiben möge, mit Bischöfen und
Kapiteln und dem Papste selbst, als die über die Nation hinweg-
reichende Weltordnung — wenn nur eben Papst und Bischöfe
evangelisch w^erden wollten.
^^'ie aber wäre eine so blitzschnelle Wirkung möglich ge-
wesen! Wo waren die Formen in Staat und Kirche, die das Neue
Dem Andenken Ulrichs von Hütten. 121
aufnehmen, schützen, ausbilden konnten ? Der \' ertreter spanischer,
burgundischer, österreichischer, itahenischer Interessen, der war
jetzt Deutschlands Herr und Meister. Bald genug, und früher
als jeder andere, schon auf der Wartburg, bemerkte Luther, daß
der Zusammenbruch unvermeidlich, eine fürchterliche »Tragödie
des Satans« im Anzüge sei, und daß auf ihn dann aller Haß der
Machthaber wie der enttäuschten Menge fallen werde. Groß-
artig wie sein Prophetenblick ist seine Haltung dagegen. Seine
Waffe nur das Gebet: Gott möge Gnade üben, das Furchtbare
nicht zulassen, x^ber ein Zurückweichen kennt er so wenig wie
früher: »Es geschehe,« spricht er, »es geschehe der Wille des
Herrn ! «
Der Zerfall der deutschen Kirche war das nächste. Es ge-
schah unter lautestem Beifall. Jubelnd begrüßte von Nürnberg
her Hans Sachs die »Wittenberger Nachtigall«, die den jungen
Tag nach langer \\'internacht heraufführe. Albrecht Dürer ver-
körperte in seinen Aposteln den Tiefsinn, die Treue, die jugend-
liche Hingebung und die männliche Kraft des neuen Glaubens.
Luther selbst mochte einen Moment wähnen, daß die Erschüt-
terung, wenn Gott »das Rädlein treibe«, vorübergehen und sein
Glaube friedlich einwurzeln werde.
Aber sein Beten wollte nichts nützen. Dem Sturz der Kirche
drohte die Zertrümmerung der Gesellschaft zu folgen. Zuerst
die ritterliche Erhebung. Franz von Sickingen, das ist kein Zweifel,
bestimmten vor allem Unzufriedenheit, Begehrlichkeit, Rach-
sucht und Ehrgeiz. So fand die allgemeine Gärung des deutschen
Adels in ihm den bereiten Führer; und damit verbanden sich dann
übelverstandene evangelische Gedanken und der allgemeine Un-
wille der unteren Schichten gegen Kirche und Fürsten. Von vorn-
herein war die Bewegung unklar und ziellos. Hütten warf sich
mit stürmischer Leidenschaft liinein. Aber bevor noch der Schlag
gegen Sickingen gefallen war, mußte er aus der Heimat weichen
und ging ins Elend und in den Tod.
Dann aber kam erst das Ungewitter der Tiefe, der große
Bauernkrieg von 1525, die höchste Gefahr, die Luthers Ideen zu
bestehen hatten — sie wären vernichtet worden, hätte er nach-
122 Kleine historische Schriften.
gegeben, wäre er in die Bahnen Karlstadts und Münzers ge-
raten.
I Die bestehenden Gewalten siegten. Nicht der Kaiser, sondern,
Mie sonst, die Stände. Seite an Seite kämpften Altgläubige und
Evangelische; erst infolge der Revolution traten sie auseinander.
Jeder sah oder glaubte sich vor die Existenzfrage gestellt. Die
einen konnten sich nur mit, die anderen, wie sie meinten, nur
gegen das »Evangelium« erhalten. Die alte Kirche selbst suchte
Schutz vor den feindseligen Strömungen durch Anschluß an die
pohtischen Gewalten, gab einen Teil ihrer Macht auf und rettete
den Rest. Seitdem gab es in Deutschland zwei geschlossene kon-
fessionelle Parteien unter den Ständen, in der offiziellen Vertretung
des Reichs. Und so blieb es fortan: der religiöse Gegensatz %vurde,
je weiter er um sich griff, um so mehr territorial: alle religiösen
Kämpfe wurden Machtfragen der ständischen Politik. Und da
der große Kampf keine Einheit des Reiches durch Unterdrückung
der einen Partei brachte, war das Ende der Westfälische Friede,
d. h. eben das Eingeständnis, daß eine nationale Lösung unmög-
lich sei.
Heute stehen wir am Ziel, das freilich im Sinne des sech-
zehnten Jahrhunderts auch noch keines ist. Weder Luthers noch
Huttens Ideale sind erreicht worden. Immerhin aber, der Staat,
der auf Luthers Religion und Staatsbegriffen ruht, hat sich ent-
wickelt zum neuen Reich. Er zwingt unter seine Gewalt, wer
ihm immer angehört, welches Bekenntnis sonst auch trennen
oder hemmen mag. Doch zwingt er nicht bloß zum Gehorsam,
zur Hingebung an seine Zwecke, sondern er findet auch in Älillionen
deutscher Herzen ohne Unterschied die Hingebung, den Glauben
an ihn, die Freude an seiner Größe, die Treue bis in den Tod.
Der Glaube Huttens an das Vaterland, mit dem er jammervollen
Schiffbruch litt, würde heute triumphieren, und so würde auch
er gewiß jubeln wie damals, da er den Kaiser Älax anrief, da er
sein Jahrhundert pries, in dem es eine Lust sei zu leben.
Martin Luther.
(1904.)
Als der Reformator der Kirche, der Gründer der gereinigten,
der ihrer selbst gewissen, männlichen Religion, als der Erwecker
evangelischer Freiheit, so hat Martin Luther von jeher der Mit-
welt und Nachwelt, soweit sie ihm gehuldigt, vor Augen gestan-
den. Als der ärgste der Revolutionäre, der Zerstörer aller gött-
lichen und sittlichen Ordnungen, der Vater des Nihilismus und
jeder Zügellosigkeit, als der Erzketzer gilt er bis heute allen
seinen Feinden.
Wohin werden wir, wird sich die Historie, der nichts ver-
haßter ist als die Parteiung, mit ihrem Urteil stellen?
Schauen wir die Ereignisse an, welche, sei es die Folge, sei es
die Begleiterscheinung der Lehre Luthers waren, so müssen wir
in der Tat bekennen, daß die romanisch-germanische Völkerwelt
niemals eine Umwälzung von gleichem Umfang und gleicher Tiefe
erlebt hat, seitdem sie sich auf den Trümmern des römischen
Weltreiches erhob. Was wollen gegen die Katastrophen, die sich
an das Auftreten dieses deutschen Bettelmönches anscliließen,
die Taten und Schöpfungen der Staatsmänner und Feldherren
besagen, die seither die Welt mit dem Glänze ihres Namens er-
füllt haben ! Die große französische Revolution, wie tief sie Frank-
reich und in ihren Folgen Europa umgewühlt haben mag, in die
Tiefe des Zwiespaltes, den das 16. Jahrhundert gerissen, griff
sie nicht hinab; nichts glich sie darin aus, wie sehr sie darum be-
müht war, sondern sie konnte ihn nur vergrößern: an dem Fels-
gestein der Kirche scheiterte ihre Kraft; und weil die Kirche
124 Kleine historische Schriften.
stärker war als sie, ist der Staat, den sie bauen wollte, bis heute
unfertig geblieben. Und ist es uns Deutschen anders gegangen ?
Dahin sind alle Hoffnungen, alle Versuche früherer Zeiten, den
Zwist der Geister in einem höheren, freieren Gottes- und Mensch-
heitsbewußtsein auszugleichen.
Es ist \yahr, schon vor Luther hatten sich in dem System
und in der Weltanschauung der mittelalterlichen Hierarchie Risse
gezeigt, die einen nahen Zusammenbruch ahnen ließen: die auf
dem Boden der Antike erwachsene Bildung hatte weite Kreise
ergriffen und mit Verachtung gegen den in den Schulen herr-
schenden Geist erfüllt, tiefgreifende Reformen waren versucht
worden, und revolutionäre Stöße hatten das gesamte Gefüge er-
schüttert. Aber hatte alles dieses vermocht, auch nur ein Stein-
chen aus dem Wunderbau zu lösen ? War irgendein Dogma ab-
geschafft, der Kultus vereinfacht, die Inquisition gemildert, die
Scheiterhaufen ausgelöscht, das Heer der Kuttenträger, die
Scharen der Gläubigen verringert ? Wurde weniger gewallt und
gebetet, Reliquien gesammelt und Ablaß gekauft, weniger eifrig
an Kirchen und Kapellen gebaut, weniger Geld für Kirchenbilder
und Altäre und tausend fromme Stiftungen fortgegeben ? Hatte
in Italien selbst, in dem Italien Savonarolas, die Bildung der
Renaissance den Kreis der Auserwählten überschritten ? Hatte
sie bereits an das Herz des Volkes gerührt, verflachend oder zer-
setzend auf seine religiöse Phantasie oder auch nur mäßigend
und korrigierend auf die Ansprüche der Hierarchie eingewirkt ?
Niemals vielmehr, man darf es aussprechen, ist die Papstkirche
einheitlicher regiert und ihre Ruhe von außen weniger gestört
worden als unter der Regierung der Rovere und der Borgia. Die
stürmischen Zeiten des Schismas und der Reformkonzilien, wicli-
fitischer und hussitischer Ketzerei waren vorüber; durch Kon-
kordate hatte Rom sich der großen Mächte versichert; die kleinen
Gewalten hielt es unter dem Daumen. Eben jetzt erhielt der
kathoHsche Genius in dem Aufschwung der iberischen Nationen
einen gewaltigen Zuwachs; unter ihrer Führung überschritt er
den Ozean, und der Schiedsspruch des Papstes teilte zN\'ischen
ihnen die Neue Welt auf. Welch ein Abstand Roms unter
Martin Luther. 125
Julius II. von dem Rom Cola Rienzis! Damals eine Beute der
Fremden und der Anarchie, eine Stätte der Verwüstung und des
Unglücks, war die Stadt der Cäsaren wieder das goldene Rom
geworden. Eine Macht, die auch von den Großen respektiert
w^urde, finanziell kräftiger als jede andere, so dehnte sich der
Staat der Kirche von ^leer zu Meer. Anstatt das Papsttum zu
zerstören, hatte die Renaissance den Glanz der Kirche nur erhöht.
Aller Feinde war diese mächtig geworden, und ein nie gekanntes
Gefühl der Sicherheit hielt an der Kurie seinen Einzug: »Laßt
uns,« so sprach der Mediceer, als er zur dreifachen Krone erwählt
war, »das Papsttum genießen, welches Gott uns gegeben hat.«
Ob nun Luther selbst gewußt hat, was er tat, als er seine
Bauernfaust gegen diese Herrlichkeit erhob ? Ob er ahnte, daß
die Feder, mit der er die Thesen niederschrieb, so wie es jene
Legende von dem Traum seines Kurfürsten erzählt, weiter wach-
sen und die Krone des Nachfolgers Petri selbst ins Wanken brin-
gen würde ? Gewöhnlich wird es geleugnet : auch Luther habe
den Handel nicht viel anders als einen Schulstreit aufgefaßt und
begonnen; wie ja Hütten anfangs wirklich nur einen neuen Zank
der !\Iagistri nostri darin hat sehen wollen. Aber nicht so unbe-
wußt seines Tuns ist der Genius. Wie gleich die erste der Thesen
mit dem Johanneischen Worte »Tut Buße« — denn das ganze
Leben muß Buße sein — in den Kern der neuen Lehre einführt,
so offenbaren diese in mehr als einem Satze das Vollbewußtsein
des Reformators von der Kluft, die zwischen seinem Evangelium
und dem Leben wie der Lehre des Papstes und seiner Kirche be-
stand. »Dieser Handel,« so schreibt er seinem Spalatin, noch be-
vor er sich Johann Eck in Leipzig zum Kampfe stellte, »wird,
wenn er von Gott ist, nicht eher enden, als bis, wie Christus seine
Jünger, so auch mich alle meine Freunde verlassen und die Wahr-
heit allein bleibt, welche sich errettet mit ihrer Rechten, nicht
mit meiner, nicht mit deiner, noch mit der irgendeines Menschen.
Und daß diese Stunde kommen wird, habe ich von Anfang an
gewußt.« Daß er die herrschende Kirche fast in Trümmer schla-
gen, daß er die halbe Christenheit von ihr losreißen würde, ahnte
er freilich nicht. \'ielmehr, daß er von aller Welt verlassen wer-
-j Ofi Kleine historische Schriften.
den würde, wie einst der Herr verraten war, meinte er bald
zu erleben; und daß Gott allein dann seine Sache liinausführen
werde, mächtiger und herrlicher, als es Menschenwitz vermöchte,
war seiner Seele Hoffnung.
So wie er nur an sich gedacht, für sich gearbeitet und ge-
rungen hatte, als er ins Kloster ging und die Himmelspforte suchte,
nach der ihn die Kirche hinwies. Er hatte dort alles erprobt, um
den Weg zu finden, alle Mittel, die ihm der Glaube Roms an die
Hand gab: Buße und Beichte, Fasten und Kasteiung und jede
Anleitung des Studiums und scholastischer Spekulation, Gehor-
sam und Ergebung und heiße Gebete, Herzensangst und die Gluten
der Ekstase — und nichts hatte helfen wollen : immer femer nur,
immer entrückter allem Menschenwitz und Menschenkraft der
Gott, den er suchte, immer breiter und tiefer die Kluft, nicht zu
überfliegen und nicht auszumessen, die ihn von seinem Ziele
trennte. Bis dann, nicht plötzlich, wie es Sankt Paulus vor Da-
maskus erlebte, sondern allmählich und mit wachsender Klar-
heit, und unterbrochen von neuen Kämpfen, die Gewißheit in
seiner Seele aufkeimte, daß es gerade der fessellose, der uner-
forschlich allmächtige Gott sei, der den Tod des Sünders nicht
wolle, daß die Worte Gerechtigkeit und Gnade zusammenfallen
und in dem »sola fide« sich reimen. Da hatte er den Boden unter
den Füßen, den ihm weder Hölle noch Teufel verrücken konnten.
Und käme ein Engel vom Himmel und wollte ihn einen anderen
Glauben lehren, auch diesem wird er antworten: sei verflucht!
Diese allerpersönlichste Religiosität, dies Bewußtsein uimiittel-
barer Abhängigkeit von dem Schöpfer gehörte dazu, um eine
so universal gerichtete Religion wie die römisch-kathoHsche zu
entwurzeln. Weil die Hierarchie vor allem anderen auf das Indi-
viduimi ihr Absehen gerichtet hatte, weil sie jedes Einzelleben
von der Wiege bis zur Bahre mit ihren Sakramenten siebenfach
gebunden, hatte sie ihre Wurzeln so tief in Gesellschaft, Staat
und Volkstum hineingetrieben und hielt alles. Persönliches wie
Allgemeines, Himmlisches und Irdisches in ihren Stricken. Das
war das »babylonische Gefängrüs«, aus dem es die Kirche zu be-
freien galt. Nur wer ein Prinzip aufstellte, das die Seele noch
Martin Luther. 127
fester an Gott band, sie noch unmittelbarer zu ihm hinführte,
ihr eine noch stärkere Gewißheit der Erlösung bot, als es die rö-
mische Kirche vermochte, konnte hoffen, den Papst aus seiner
Gewalt zu stoßen und (um in der Sprache jener Zeiten zu reden)
dem Drachen von Babel die schweren Flügel zu zerbrechen.
Man pflegt wolil den defensiven Charakter der Religion Luthers
zu betonen. Und gewiß dachte er noch lange nicht daran, aus
dem Kloster herauszugehen, und hätte wohl anfangs der Kirche
gerne alles gelassen, was sie besaß, Bistum und Mönchtum und
den Papst selbst mit allen seinen Kardinälen. Aber seine Gegen-
forderung war sogleich, daß man auch ihm sein Bekenntnis gönne.
Und das verstand er nicht so, als ob das Licht des Evangeliums
nur für ihn selbst, wie das Lämpchen in seiner Klosterzelle, bren-
nen sollte: sondern von Anfang an wollte er es auf den Leuchter
stecken und der Welt offenbaren. Den Doktor der Heüigen Schrift
ließ er sich nicht nehmen und duldete nicht, daß ihm Junker
Tetzel in die Hürde einbrach, die ihm von Gott zu hüten an-
vertraut war. Auf die Lehre aber kam es der Kirche ebenso
an wie ihm; auch sie stellte das Bekenntnis, das Prinzip, von
dem ihre Macht und Ansehen abhingen, allem voran. Hätte sie
den Ketzer auch tolerieren wollen, so durfte sie es nicht, wenn sie
sich treu bleiben wollte.
So begann der Kampf, dessen drei erste Etappen Augsburg,
Leipzig und Worms waren. In wenig mehr als drei Jahren war
Luther dorthin gelangt, wo er sich im Geiste von Anfang an ge-
sehen hatte: verlassen »wie die Blume auf dem Felde« stand er
vor seinen Richtern. Dem Bann der Kirche folgte die Acht des
Reiches. Der fromme Kurfürst, dem er Trost in die Seele gesenkt,
den er ganz für sich gewonnen hatte — vor der Welt mußte auch
dieser seinen Doktor Martinus verleugnen. Das Martyrimn brauchte
Luther darum nicht zu fürchten; ja, die Romanisten hatten fast
eher um ihre Haut zu sorgen als er. Die Masse der Nation er-
bhckte in ihm ihren Führer, und die Stände des Reiches dachten
eher daran, ihn zu benutzen als zu bestrafen. Sie bauten ihm zum
Rückzuge goldene Brücken, und nur, weü er, nicht rechts noch
links blickend, unerschütterhch bei seinem Glauben blieb, wurde
128 Kleine historische Schriften.
er schließlich nach Kirchen- inid Reichsrecht verurteilt. Ihn
selbst bekümmerte es fast, daß er für sein Bekenntnis nicht, wie
die alten Väter, mit seinem Blute zeugen durfte, daß er sich seinen
Richtern, nachdem er ihnen den Hals dargeboten hatte, entziehen
sollte, und ungern gab er dem Drängen seiner Freunde nach, die
ihn auf der Wartburg verbargen. Die Ängste, die er empfand,
gingen nach einer ganz anderen Richtung. In dem Beifall der
Menge, der ihn umdröhntc, in den Begehrlichkeiten, die überall-
her aufschössen, in der Ohnmacht der kirchlichen Gegner selbst
und dem Haß, der sie plötzlich umloderte, vernahm sein geschärftes
Ohr ein neues Wüten des Satans, das Getöse des Aufruhrs.
Von hier aus muß man den Blick auf den Reformator rich-
ten, um ihn in seiner vollen Größe zu erfassen. Die Geister, die
nun entbunden wurden, hatte er wahrlich nicht gerufen, und
nichts wurde ihm leichter, als ihnen abzusagen und den Unter-
schied zwischen ihren und seinen Wegen aufzudecken. Seine
Freunde in Wittenberg waren ratlos, als ihnen Thomas Münzers
Gesellen aus Zwickau das Evangelium von der Freiheit des Chri-
stenmenschen nach ihrer Weise vortrugen: Luther aber erkannte
die Art der neuen Propheten, ohne sie nur mit einem Auge ge-
sehen zu haben. »Erforsche,« so schreibt er von der Wartburg
seinem Magister Philippus, »ihren eigenen Geist, frage, ob sie die
geistlichen Ängste, die göttlichen Wehen, Tod und Hölle gefühlt
haben. Und schildern sie Dir ihre Empfindungen als friedfertig
und erquickend, andächtig und gelassen, so verwirf sie, und wenn
sie sagen, daß sie in den dritten Himmel entrückt seien. Weil
ihnen dann das Zeichen des Menschensohnes fehlt, der einzige
Prüfstein für die Christen, der die Geister sicher unterscheiden
lehrt. Willst Du wissen Ort und Zeit und Art der göttlichen Ge-
spräche ? So höre : Wie der Löwe, so hat er meine Gebeine zer-
schmettert; und: Ich bin verworfen vor deinen Augen; und:
Meine Seele ist mit Pein erfüllet, mein Dasein mit Vorgeschmack
der Hölle. Nicht so unmittelbar, daß der Mensch ihn sehe, spricht
Gottes Majestät zu ihm — nein: Nicht sehen wird mich der
Mensch, und wird leben. Nicht einen Funken seiner Rede er-
trägt die Kreatur. Denn deshalb spricht er durch die Men-
Martin Luther. 129
sehen, weil wir alle es nicht ertragen könnten, wenn er selber
spräche. «
Diese Teufel (er kannte sie nur zu wohl) fochten Luther nicht
mehr an. Es waren andere Sorgen, mit denen er sich quälte. War
es nicht seine Lehre, unter deren Anhauch die Welt eines Jahr-
tausends zusammenstürzte ? ^^■ ar er allein auf dem rechten Wege ?
Durfte er noch weiter die Sclileusen der Zerstörung öffnen ? »Wie
oft,« schreibt er seinen Augustinern zu Wittenberg, »hat mein
Herz gezappelt, mich gestraft, und mir furgeworfen ihr einig
stärkist Argument: Du bist allein klug? Sollten die andern alle
irren und so eine lange Zeit geirrt haben ? Wie, wenn du irrest
und so viel Leute im Irrtum verführest, w- eiche alle ewiglich ver-
dammet würden ? Bis so lang, daß mich Christus mit seinem
einigen gewissen Wort befestiget und bestätiget hat, daß mein
Herz nicht mehr zappelt, sondern sich widder diese Argument
der Papisten als ein steinern Ufer widder die Wellen auflehnt
und ihr Dräuen und Stürmen verlachet.«
Und soweit die Stimme Luthers und der Wille der Fürsten,
die ihm ihren Arm liehen, reichten, ward wohl die Ruhe gewahrt
oder wiederhergestellt und blühte die Saat des Evangeliums
fröhlich auf. Aber den Zerfall des Reiches konnte er so wenig
aufhalten wie den der Kirche. Nicht zur Einigkeit, sondern zur
Zerspaltung der Nation führte schließlich sein Evangelium; es
ward zur Fahne einer politischen Partei; und statt die Welt-
kirche zu erfüllen, fand es zwischen den engen Mauern der Landes-
kirche dürftige Pflege. In ihrem Dienste hat auch Luther fortan
gestanden. Unemiüdlich hat er an ihrem Aufbau gearbeitet, auf
der Kanzel und dem Katheder, in Gottesdienst und Seelsorge,
mit seinen Kirchenliedern und Katechismen, Sermonen und Po-
stillen, und nicht am wenigsten durch das Beispiel seiner in Gott
geführten gesegneten Ehe. Immer noch wurde sein Rat in den
Angelegenheiten seiner Kirche vor andern gehört; unter den ge-
meinsamen Kundgebungen der Partei stand sein Name an erster
Stelle. Aber neben ihm kamen andere Lehrer auf, mit einer wach-
senden Zahl von Schülern und Anhängern auch Gegner und Ri-
valen. Ein jeder Prädikant nahm etwas von der Natur des Bodens
Lenz, Kleine historische Schriften. 9
130 Kleine historische Schriften.
an, auf dem er gerade stand. Auch Luther bheb niclit von den
Einflüssen seiner Umgebung, der Engigkeit sächsischer Staats-
interessen unberührt. Männer, die, wie Ulrich ZwingH und Martin
Bucer, an Plätzen wirkten, welche der Gefahr mehr ausgesetzt,
den großen Strömungen der Politik näher lagen, erwiesen sich
wohl nicht nur als weltverständiger, sondern auch als freisinniger;
in der freieren Luft gewannen sie einen weiteren Gesichtskreis.
In der Tiefe aber war Luther kein anderer geworden. Und
wer da sagt, daß der Reformator durch die Revolution in die
überwundenen papistischen Anschauungen zurückgeworfen sei, der
hat ihn nicht verstanden. \\'ie eigensinnig und engherzig er zu-
zeiten sein mochte, die Kirche des spezifischen Luthertums ist
niemals seiner Weisheit letzter Schluß gewesen. Der Entwurf
zu einer Reichskirche, den er im Jahre 1545 für die geplante
Nationalsynode mit seinen Wittenberger Kollegen unterzeichnete,
zeigt noch am Ende seiner Tage die großgedachten Züge einer
Kirchenverfassung, wie sie ihm auf der Höhe seines Lebens vor-
geschwebt hatte. Daß der freie Zusammenscliluß der Gläubigen
zur Gemeinde die beste Form der Kirche sei, blieb seine Über-
zeugung allezeit. Freilich hatten der Herr Omnes und das Heer
der Rottengeister ihn gelehrt, daß der Teufel allzu leicht, wenn
der Acker ungepflegt und ungeschützt bleibt, seinen Samen zwi-
schen den Weizen sät. Jede Form der Kirche hatte für ihn nur
so weit Wert, als sie der gläubigen Seele den Zugang zu Gott öff-
net. Er konnte sich sehr wohl ein Leben in Gott denken, für das
es einer Kirche gar nicht mehr bedürfe. Vor allem der Gegen-
satz gegen den Antichrist zu Rom blieb ihm sein Leben lang vor
Augen. Diesem gegenüber kannte er kein Kompromiß, und der
Gedanke, einen Bund mit den Papisten, und wäre es gegen den
Teufel selbst, zu schließen, wäre ihm Blasphemie gewesen. Das
»Erhalt uns Gott bei deinem Wort und steur' des Papst und
Türken I\Iord« blieb der Grundton seines Lebens. Er war bis
zuletzt der Kämpfer, als der er auf den Plan getreten war.
Man sieht nun wohl: nicht so leicht zu entscheiden ist die
Frage, die wir an die Spitze stellten. Und solange man die
Begriffe Reformation und Revolution einander schroff entgegen-
Martin Luther. 131
setzt, wird man sich schwerlich einigen. Keine Idee, welche
Menschen zusEimmengeführt, Herrschaft über die Gemüter und
Form in der Welt gewonnen hat, kam kampflos zum Siege.
Wo ^Menschen bauen, müssen sie zunächst zerstören, und niemals
bisher hat bloße Überzeugung, Einsicht der Vernunft und guter
Wille des Herzens die neuen Ordnungen in Staat und Kirche
herausgebildet. Immer noch waren Unruhe und Kampf, ein Heer
streitender Leidenschaften und Interessen Folge und begleitende
Erscheinung, ja oft genug Weg und Mittel. Um so tiefer wurde
der alte Boden aufgewühlt und drang die Zerstörung ein, je mehr
der Ideengehalt der Epoche verändert, je stärker das Prinzip
getroffen war, das die ältere Weltordnung getragen hatte. Damm
sind d i e Revolutionen immer die größten gewesen, die eine Um-
bildung der Weltanschauung anstrebten und heraufführten. Eine
solche Weltumwandlung war diejenige, die an Luthers Namen
und Lehre anknüpfte. Auch von ihm gilt das Wort seines Herrn
und Meisters: Ich bin nicht in die Welt gekommen, den Frieden
zu bringen, sondern das Schwert. Und nur dem Evangelium
selbst kann sich die Reformation in ihren zerstörenden Wirkungen
vergleichen. Nur ihm auch in ihrer nachwirkenden, aufbauenden
Kraft. Ob und wie jemals die Kluft, die sie riß, ausgefüllt werden
wird, liegt heute, wie vor vier Jahrhunderten, im Dunkel der
Zukunft, und nur der Glaube, die überzeugende Kraft des Ge-
wissens, vermag heute, wie damals, die Gewißheit des rechten
Weges und dereinst des Sieges zu geben.
m^^^^
Luthers Lehre von der Obrigkeit/)
(1894.)
Wir sind es in heutiger Zeit wenig gewohnt, Stimmen des
Stolzes über die Gegenwart und des freudigen Vertrauens in die
Zukunft zu hören. Und doch fordert dieser Tag, der mit uns die
Millionen unserer Brüder von den Alpen bis ans Meer und über
die Meere hin festlich vereinigt, wenn irgend einer, von uns, daß
wir uns des Besitzes freuen und unter der starken Hand unseres
kaiserlichen Herrn unverzagt den Stürmen entgegensehen, die
der dunkle Schoß der Zukunft bergen mag. Gestatten Sie mir
darum, daß ich Ihre Blicke zurücklenke in die größte Zeit unserer
Geschichte, da der Keim in den Boden der Nation gesenkt wurde,
aus dem der Baum erwuchs, der heute ihr Erdreich mit starken
Wurzeln ganz durchdringt, in dessen Schatten wir alle wohnen
dürfen, und dessen Stamm hoch emporragt über alle Nationen
der Erde : vielleicht gelingt es uns, an dem Anblick, den die Werde-
zeit unserer größten Güter uns gewährt, die Freude am \'ater-
lande neu zu stärken und den Glauben an seine Zukunft.
Wie sehr aber würden wir uns enttäuscht fühlen, wenn wir
in der Epoche Martin Luthers das Gefühl selbstsicheren Be-
hagens suchen wollten, das heute jedermann entbehrt! Niemals
\ielmehr gab es eine Zeit größerer Unruhe, verwegenerer Gedanken,
stürmischerer Leidenschaften; niemals sind die Klagen und An-
klagen von den Parteien rücksichtsloser erhoben worden; und
^) Rede zur Feier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und
Königs, gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Univer-
sität zu Berlin.
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 133
niemals in der Tat wurde unser Volk gewaltiger erschüttert als
in dem chaotischen Zeitalter der Reformation. Denn da die geist-
liche Gewalt, welche jedes Leben von der Taufe bis zum Tode
mit den Sakramenten umstrickt hielt und darum erst allen Ord-
nungen in Staat und Gesellschaft das Gepräge gab, in ihrem Grund-
gedanken geleugnet, ja für die Umkehrung des reinen Christen-
tums erklärt wurde, mußte freilich die Welt in den Tiefen er-
griffen und, wo immer die Umwälzung gelang, im Innersten ver-
wandelt \\erden. Und so kam es bei uns in Deutschland zu der
Auflösung aller Ordnungen der alten Kirche, zu der Revolte des
Rittertums, zu der ebenso gedankenarmen wie unheilvollen Em-
pörung der Bauern, zu den kommunistischen Sekten mit ihren
anarchischen und nihilistischen Exzessen, zu hundertjähriger
mörderischer Feindschaft zwischen Kaisertum und Ständen, zur
Ausbildung der Territorien in souveräne Staaten — und in den
ewigen Fragen zur dauernden Trennung der Nation. In allen
diesen Erschütterungen, welche vom deutschen Boden sich zu
den benachbarten Nationen verbreiteten und weiterhin auch die
fremden Erdteile ergriffen, wirkten tausendfach unreligiöse Mo-
mente mit: aber nirgends fehlte die Beziehung zu jener Grund-
frage des Zeitalters; und diese allein bildet den Gesichtspunkt,
unter dem die Gesamtheit der Erscheinungen, das allgemeine
ebenso wie das persönliche Leben, dem Historiker erst sichtbar
und verständlich A\ird. Heute, wo sich, von obenhin gesehen,
die Weltbewegung in der Sonderung der Nationen oder in dem
Kampf der Klassen zu vollziehen scheint, wo nur noch wirtschaft-
liche Fragen (möchte man fast sagen) als die internationalen
gelten sollen, wo man selbst die Wissenschaften, die Geistes-
wissenschaften wenigstens nicht mehr durchweg und ausschließlich
nach universalen Gesichtspunkten regeln möchte, wird es uns
schwer, die durchschlagende Gewalt zu begreifen, womit sich
damals die Frage nach des Lebens tiefstem Rätsel in den Vor-
dergrund jedes Daseins drängte. Wie fremdartig muten uns zum
Beispiel die geistlichen Kongresse an, welche von dem ersten Auf-
treten Luthers ab auf allen Schauplätzen der Bewegung so zahllos
zusammenkamen, um die brennende Frage zu vermitteln oder
134 Kleine historische Sclmften.
ZU entscheiden! Von den Machthabern werden sie veranstaltet;
Kaiser oder Könige, deutsche Fürsten und Stadtmagistrate laden
dazu ein, sichern den Parteien das Geleit, stellen das Präsidium
oder treten selbst in die Schranken; bisweilen kommt auch von
Rom ein Legat herbei: aber die Wortführer sind immer die Ge-
lehrten, die Schulhäupter auf beiden Seiten. In lateinischer
Sprache, unter den gewohnten Formen schulmäßiger Dialektik
wenden sie in leidenschafthcher Debatte die scharfgeschüffenen
Dogmen hin und her — Formeln, deren Differenzen der Masse
gutes Teils un\'erständlich oder gleichgültig geworden sind,
an denen uns Modernen oft das Gemeinsame einer gleichgear-
teten Zeitanschauung fast mehr entgegentritt als dasjenige, was
sie trennte: damals aber folgten dem Wortgefechte die Fürsten
und ihre Räte mit gespannter Sorge, und an den Dekreten der
Theologen hingen die Geschicke der Staaten und das Leben der
Nationen.
Wer waren denn diese Männer, deren Theorien so gewaltig
auf das irdische Getriebe ein\\irkten ? Wir finden sie geschart
aus allen Nationen und allen Ständen. Bei uns in Deutschland
sind es in der Regel Söhne von Bürgern oder Bauern, ausgetretene
Mönche, Pfarrer, Professoren, unter den Fremden oft höhere
geisthche Würdenträger und Träger vornehmster Namen. Meist
w'aren sie durch die himianistische Schulung gegangen. Alle waren
von der Kirche gebannt, viele daheim geächtet, von ihrer Familie
verstoßen, von Land zu Land gejagt. Und wie mancher hat das
furchtbare Los auf sich nehmen müssen, das in dem Schlacht-
gesang unserer Reformation die Streiter Christi sich erwählen,
Leib, Gut, Ehr', Kind und Weib dahinzugehen, um dem Reiche
Gottes treu zu bleiben! Denn vor der beherrschenden Idee tritt
ihnen alles zurück, was das Leben teuer macht: Freundschaft
und Vaterland, bürgerliche Ehre und alle irdischen Güter, ja
die Famihe selbst. Das Bekenntnis macht aus ihnen und den
Ihrigen ein \'olk und ein Lager: mit lebendigem Anteil ver-
folgen sie zwar jedes pohtische Ereignis in dem ganzen Um.kreise
der Christenheit — aber immer nur unter dem Gesichtspunkt des
großen Kampfes, dem ihr Leben geweiht ist.
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 135
Und dennoch wurden die Träger eines so ganz persönlichen
und universal gerichteten Prinzips die Erwecker ihrer Nationen.
Niemals vergaßen die Italiener Occhino und Vergerio, der Pole
Lasco und der Spanier Enzinas ihrer Heimat; alle ihre Ge-
danken richteten Calvin und Beza auf die Unterwerfung Frank-
reichs; nur das Rüstzeug holte sich John Knox in Genf, um seine
schottischen Berge zu erobern, und mit ihnen die Schüler, die
von dort in alle Welt hinausgingen. Nicht alle haben das Ziel
erreicht: Frankreich und Polen wurden nur halb erobert und
wieder verloren; Ungarn und Deutschland blieben gespalten; und
mit Leichtigkeit zertrat die Inquisition in Spanien und Italien
die wenigen Funken des neuen Glaubens. Wo sie aber zum Ziel
gelangten, folgte den Reformatoren auf dem Fuße eine Epoche
nationaler Größe. So in dem England Elisabeths und Shakespeares,
CromweUs und Miltons; so unter Gustav Adolf in Schweden;
so ward in HoUand Staat und Volk durch die neuen Ideen recht
eigentlich erst erschaffen; und unvertilgbar sind bis heute in
der amerikanischen Nation die typischen Züge geblieben, welche
die Pilgerväter von jenen Küsten her der fremden Erde brachten.
Und ziehen wir die Summe der Entwickelung seither, so hegt es
ja vor aller Augen, wem der Sieg geblieben ist. Schon in der Mitte
des vorigen Jahrhunderts war der Kampf entschieden. Heute er-
streckt sich die Kultur der protestantischen Nationen rund um
die Erde; die weltgeschichtliche Führung liegt in ihren Händen.
Von hier aus begreift sich das Interesse, womit man nach
dem Verhältnis der reformatorischen Doktrinen zu dem Begriff
der politischen Gewalt geforscht hat. Eine Frage, die recht ver-
schieden beantwortet w-urde und in der Tat nicht so ganz leicht
zu entscheiden ist, schon darum nicht, weil jene Theoretiker selbst
solche Spekulationen nur in zweiter Linie anstellten. Ihre Ge-
danken richteten sich zunächst immer auf die Sphäre der Religion,
auf das Gebiet der Kirche, das sie von der Befleckung durch
irdische Zwecke reinigen wollten: gerade in der Beseitigung der
136 Kleine historische Schriften.
Welt Verwirrung, die dadurch entstanden sei, sahen sie ihre Auf-
gabe: dies war die Welt des Antichrist, die sie bekämpften.
So hat auch Martin Luther die Lostrennung des Reiches
Gottes von dem der Welt als seine Aufgabe betont und immer
behauptet, daß nur sein Evangelium sie ermögliche. Freilich hat
er selbst es eine große Kunst genannt, diese zween Reiche wohl
zu unterscheiden: es seien wenige, die es recht treffen könnten.
Machen wir dennoch den \'ersuch, in genauer Auslegung seiner
Gedanken Ursprung, Umfang und Zweck zu bestimmen, die er
der politischen Gewalt hat geben wollen, um sie in Einklang mit
seiner Kirche zu bringen.
Niemals aber werden wir auch mir einen Gedanken Luthers
verstehen lernen, wenn wir nicht an die rechte Schmiede gehen,
zurück in die Klostermauern, in die Zeit, da der junge Mönch
in vulkanischem Ringen sich die Waffe schuf, womit er die alte
Welt zerstörte und seinem Gotte die Bahn brach; da er sein gei-
stiges Zentrum fand, in dem ihm alles, Lehre und Leben, wurzelte
und also auch seine Vorstellungen über Wesen und Recht der
politischen Ordnungen ruhen müssen. So wenig es nun meine
Aufgabe sein kann, jenen Kampf zu schildern, läßt es sich doch
nicht umgehen, die Verbindungslinie anzudeuten, die von Luthers
Grundidee zu seinen politischen Vorstellungen hinüber führte.
Luther wollte, wie jedermann weiß, zu Gott kommen, zu dem Gott,
den die Philosopliie ihm als den Unergründlichen, Namenlosen,
Ewdg\^erhüllten, als die absolute Willkür bezeichnete, und der
dennoch auf allen Gassen verkündigt, im Kultus und allen Ord-
nungen der Kirche sinnlich, sichtbar, greifbar gemacht, in tausend-
facher A'erwandlung ihm angetragen, aufgedrängt, im Sakrament
verbrodet eingeprägt w urde. Daß dies der Gott sei, den er suche,
bestätigte seinem Gottesdurste die Philosophie: Gehorsam war
ihr letzter Schluß; was der Intelligenz unmöghch war, vollbrachte
die Gabe, das Opfer, das Werk — und die Unterwerfung. Dann
aber öffneten sich die Pforten, und die Hallen taten sich auf, um
den Milhonen Unterkunft zu bieten, jedem Beladenen Platz und
Tröstung zu geben: jedes Rätsel schien fortan gelöst, jeder Wunsch
befriedigt; ^'on Stufe zu Stufe ging es aufwärts zu den seügen
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 137
Chören. Als Luther ins Kloster ging, tat er darum nichts
anderes als die Millionen vor ihm und nach ihm; und man weiß,
daß er nichts unversucht gelassen hat in Verleugnung der Erden-
lust und in Unterwerfung unter die Kirche, wie im Studium ihrer
Bücher, um den Einklang zwischen ihrem Gott und dem seiner
Philosophie zu gewinnen. Aber was allen gelang, w'ard ihm ver-
sagt: Gott ließ sich von ihm nicht fesseln, blieb unergründlich,
unbeweglich für ihn und tot. Da packten ihn die Ängste, von
denen er später gesagt hat, daß keine Zunge sie aussprechen, keine
Feder sie beschreiben, kein Mensch ohne Erfahrung daran glauben
könne: das Gefühl der Gottverlassenheit, völliger Einsamkeit,
des Schwebens zwischen Himmel und Erde. Doch da war kein
Aufhalten. Immer weiter wich Gott ihm aus den Formen hinweg,
die er angezogen haben sollte: aus Gebräuchen und Verfassung,
allen Gaben und Verheißungen der Kirche, aus ihren Rehquien,
ja schon auch aus ihren Sakramenten; und nichts mehr blieb
übrig, woran die Seele sich klammern konnte, um den Höchsten
zu ergreifen; nackt und bloß, frei wie die Blume auf dem Felde
stand sie vor der fessellosen Allmacht. Bis endlich aus unnenn-
baren Agonien sich in dem Mönch die Idee hindurchrang, daß
dies und nichts anderes Gottes Wille sei, daß er der fessellos All-
mächtige bleiben wolle und doch allgütig sei, daß er vergeben
w^oUe, statt zu zürnen, und nichts \'erlange als das herzliche Ver-
trauen des Sünders auf seine in Christus offenbarte Gnade. Da
begann für Luther der Namenlose Gestalt zu gewinnen, und der
Unbewegliche ward ihm lebendig. Mitten im Kampf und in der
Sünde war Gott in Christus ihm ganz gegenwärtig.
Indem er sich aber der Ohnmacht seines Willens vor der
götthchen Allmacht und der Nutzlosigkeit aller Werke der Ent-
sagung bewußt wurde, war ihm schon der Wertunterschied ent-
schwunden, den die Kirche zwischen dem Genuß des irdischen
Lebens und dem Verzicht darauf machte; und indem er die Nähe
des erbarmenden Gottes mitten im Kampf unmittelbar empfand,
sanken zugleich die dunkeln Schatten vor ihm hinweg, mit denen
jene Lehre das Erdendasein umhüllt hatte, und wuchs alle Kreatur
gleichsam mit ihm, \\ie \'on neuem Lichte Übergossen, Gottes
138 Kleine historische Schriften.
Angesichte frei entgegen. Hier stoßen wir auf den Begriff, den
wir suchen, der Gottesordnung in der dem Menschen anbefohlenen,
zu rechtem Gebrauch unterworfenen Schöpfung. Es ist der Kor-
relatbegriff zu Luthers Grundidee und ihr unmittelbares Ergebnis;
niemals hat er ihn wieder aufgegeben. Gott, der in freier Allmacht
Allgütige, ist es auch seiner Kreatur gegenüber, als ihr Schöpfer,
ihr Former und Ordner, »ein ewiger Quellbrunn, der sich mit eitel
Güte übergeußt, und von dem alles, was gut ist und heißet, aus-
fleußt«. »Alle Kreaturen sind Gottes Heer.« Es ist das ganze
Reich irdischer Güter und Notwendigkeiten: weitab von Gottes
Wort, das nicht Zeit noch Stätte kennt, aber ebenso unmittelbar
an Gottes Willen geknüpft und Ausdruck seiner Gnade, nach
seinem »Rate« da, seine »heimliche Ordnung«, und darum voll
ursprünglichen Lebens: der Verkehrung, dem sündigen Gebrauche
tausendfach ausgesetzt, aber in Ursprung und Beruf wohlgefäUig
dem Schöpfer: dem Tode verfallen, dem Wechsel unterworfen,
fernab von dem Höchsten, ein Nichts vor ihm und seinem Worte,
ohne Macht, ihn je von sich aus zu erreichen oder in sich hinab-
zuziehen — und dennoch ruhend in seiner Hand, Lobpreisung
seines Namens: »Larven Gottes«: nirgends ist Gott in ihnen und
steht doch hinter allem.
An diesem Ort wird der Abgrund, den Luthers Grundidee
zwischen ihm und der Hierarchie aufgetan hatte, besonders sicht-
bar, da diese ja die wahre Heiligung, die rechte Gottesnähe erst
in die Abtötung des kreatürhchen Lebens als des Bereiches der
Sünde setzt. Luther aber nennt es eine Vermessenheit, die Güter,
W' eiche wir von Gott durch seine Kreaturen als seine »Handröhren
und Mittel« empfangen, auszuschlagen und »andere Weise und
Wege zu suchen, derm Gott befohlen hat. Denn das hieße nicht
von Gott empfangen, sondern von ihm gesucht.« Keine Brücke
führt von der Höhe dieser Weltanschauung auf das alte Ufer
hinüber, und kein Gleichklang der Namen und überlieferter Formen
wird jemals darüber himvegtäuschen können.
Indem Luther nun in den Bereich der gottgewollten irdischen
Existenz, irdischer Güter und Zwecke auch, alle sozialen Ord-
nungen — Besitz, Ehe und obrigkeitliche Gewalt — einfügte,
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 139
hatte er bereits den Staatsbegriff der Hierarchie zerstört, die ihn
nur, wenn er sich der Kirche unterordnet, als gottgeweiht an-
erkennt und ihn lieber ohne Gott wünscht, als ihrem Willen wider-
strebend. Luther leugnet, daß die Obrigkeit von sich aus irgend
etwas mit dem Christentum zu schaffen habe; und dennoch, sagt
er, ist sie göttlichen Rechtes, von Gottes Gnaden, durch seine Zu-
lassung, seinen Schöpf er willen da, irdische Notwendigkeit, für die
menschliche Bedürftigkeit gegeben: und in der Erfüllung dieses
Berufes tut sie Gottes Willen. Es ist also nicht wahr, daß Luther
der Obrigkeit an sich vorschreibt, irgend etwas für die sittHche
Besserung, die Erziehung der Untertanen zum Reiche Gottes zu
leisten. Ihr Amt ist es lediglich, den Frieden zu erhalten, die Guten
zu schützen, die Bösen zu strafen, das Recht zu wahren, die ir-
dische Wohlfahrt zu fördern. Dazu hat sie die Gewalt, das Schwert.
Das ist ihr Rechtsboden vor Gott, sie bedarf keines besseren. Ihr
Reich ist ein Reich des Zornes, ein rechter Vorbote des Endchristes ;
sie kann die Strafe nicht vergeben, sondern höchstens sie feiern
lassen. So weit ist der Abstand menschlicher von göttHcher Gnade.
Darum kann die poHtische Ordnung an sich niemals das Ideal
werden der menschhchen Entwickelung ; denn ihre Funktion ist nur
negativ, Notwehr gegen das Elend und die Bosheit. Das ideale
Ziel Luthers wäre Staatlosigkeit ; es ist auf Erden so unerreich-
bar, wie wenn man Essen und Trinken entbehren woUte. Welche
Form die Gewalt hat, ob Monarchie, ob Republik, ist gleichgültig:
nur daß das Amt überall an Personen geknüpft ist, vom Herrscher
bis zum letzten Büttel herab: alle Beamten, die im Namen des
Schwertes handeln, Verwalter und Richter, Soldaten und Henker,
jeder ist persönhch Gott verantwortlich und vor Gott gerecht im
Sinne seines Amtes.
Mit Vorliebe nimmt Luther, der es sich immer als Verdienst
angerechnet hat, der Obrigkeit dies »göttHche natürhche Recht«
erstritten zu haben, seine Beispiele aus dem Heidentum, von
dem Jäger Nimrod, den alten Römern, den Türken. Gleich-
gültig ist ihm der historische Ursprung der Gewalt. Die Türken
sind Räuber; wir Deutschen selbst besitzen im Kaisertum ge-
stohlenes Gut: der Papst hat es dem rechten Herrn entwandt
j/fQ Kleine historische Schriften.
und uns geschenkt: dennoch haben wir es jetzt, durcli Gottes
Zulassung, zu Recht. Vor ihm ist ja die welthche Macht dem
Staube gleich; leicht ist es ihm, die Reiche der Erde durchein-
ander zu werfen; er gibt sie, wem er will, wie er Reichtum gibt
und Armut, Gesundheit und Krankheit: alles aus Gnaden —
und wer will sagen, wo die größere Gnade sei ? Wer also will Gott
widerstreben, und nicht vielmehr herbeieilen, um dem Schwert,
das er gesetzt hat, zu helfen! Alles ist dabei Gottes Dienst: wer
den Mörder straft, den Rebellen niederschlägt, den Feind abwehrt,
wer dem Rechte hilft, erfüllt Gottes Willen; also, daß man so mit
Blutvergießen den Himmel besser verdienen kann denn andere
mit Beten.
Wie aber, fragen wir, wird es werden, wenn die so geordnete
politische Gewalt sich mit dem Christentum verbindet oder, was
auch für Luther dasselbe ist, mit der Kirche? Sogleich aber er-
hebt sich die weitere Frage, mit welcher Kirche ? Die Antwort in
Luthers Sinne ist, daß es sich nur um die Kirche handeln kann,
welche allein diesen Namen in Wahrheit verdient, allein das Recht
hat auf ewige Existenz: die unsichtbare Kirche. Nur mit ihr ist
die prinzipielle Lösung der Frage möglich: alles andere ist Not-
kirche und Notbehelf. Wer zu ihr gehört, kann leben, wo er will,
unter dem Türken sogar und dem Papst ; denn er fühlt sich eins
mit seinem Haupte, Christus: sie ist die Gemeinschaft, der heilige
Leib aller, die wahrhaft an ihn glauben. Wer kann sagen, ob er
ein wahrer Christ sei ? Dennoch sollen wir glauben, daß wir es
sind, und daß die Kirche überall da ist, wo das Wort Gottes im
Schwange geht und die Sakramente recht verwaltet werden. So
hat Luther für seinen Kirchenbegriff völlig mit der Idee einer
sichtbaren unpersönlichen Rechtsordnung gebrochen: alles ist auf
persönliche Verantwortung vor Gott gestellt.
Dem Christen aber ist sein Verhältnis zur Obrigkeit ge-
geben. Er kann nicht anders, als sie ehren; denn er weiß, daß
sie Gottes Ordnung ist. Er mag sie für sich nicht gebrauchen
— dennoch wird er ihr helfen, das Recht zu schirmen und das
Schwert zu handhaben. Und wenn er der Großvezier des Türken
sein müßte, es wäre ihm erlaubt. Und wenn er dem ungläubigen
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 141
Herrn helfen müßte, seine Gewalt gegen christliche Aufrührer
oder christliche Landesfeinde zu erhalten, er dürfte sich keinen
Augenblick besinnen. Und wenn der Tyrann das Evangelium
selbst bedrohen wollte, kein Christ, den Gott seiner Gewalt unter-
worfen hat, dürfte ihm widerstehen: sowie Christus durch seinen
Tod selbst willig die Gewalt anerkannte, da sie doch das Evan-
gelium in ihm morden wollte; und wie er Petrus mit der Rache
des Schwertes bedrohte, als der Apostel das Evangelium in ihm
mit dem Schwerte verteidigen wollte. Es ist die Idee der Religions-
kriege, die mit diesem Satze ausgestoßen wird, der Lehre von der
Ausbreitung und Erhaltung des Christentums durch die Gewalt.
Als ob der Glaube, sagt Luther, anders kommen könne als unge-
zwungen, und als ob Gott nicht selbst über der Erhaltung seines
Reiches zu wachen habe!
Er kann die Gewalt geben, wem er will, und er wird wissen,
zu welchem Zweck; wir greifen ihm in sein Amt, wenn wir drein-
fahren, wir mißtrauen seiner Macht und verletzen seine Ordnung.
Freilich sollen wir nicht dulden wie stumme Hunde, son-
dern den Mund auftun und bekennen, die Tyrannen ermahnen
und mit dem Worte Gottes strafen, und sollen Gott bitten, daß
er die Rache vollbringe über ihre Frevel — sonst aber erleiden,
was sie über uns und den Glauben verhängen. Gott kann uns er-
hören, wenn er will, oder uns mit der Tyrannei strafen, wenn
er es so beschlossen hat, gleichwie mit Unwetter, Hungersnot
und Pestilenz: es ist alles in seinen Händen. Ja das Elend
selbst ist nötig für die Welt, als Zuchtrute zum Reiche Gottes:
die Welt kann nicht ohne Tyrannen sein, und Gott straft einen
Buben mit dem andern.
Umgekehrt verlangt Luther von der Obrigkeit an sich keinerlei
Verhältnis zur Kirche. Denn Christus ist das Haupt der Seinen,
nicht der Herr der Erde; wer nicht unter ihm ist, dem will er nicht
befehlen: beugte er sich doch selbst unter sie weltliche Gewalt.
Von hier aus ist es in Luthers Sinne möglich, zwei, drei und mehr
Kirchen unter sich zu haben, über Heiden und Christen, Ketzer
und Türken zu regieren, jeden nach seiner Fagon selig werden
zu lassen; sowie die Römer es übten, als sie in ihrem Pantheon
142 Kleine historische Schriften.
alle Götter vereinigten. Freilich ist für Luther eine Regierung
mit grundsätzlicher Parität nichts anderes als heidnisch. Aber
dennoch bleibt sie auf dem gottgewollten Rechtsboden der
natürlichen Ordnung: ihre Träger sind zwar ohne Gottes Wort,
aber nicht ohne Gottes Rat, ohne seine heimliche Ordnung; sie
bleiben seine Kreaturen, seine »Handröhren und Mittel«, Amts-
leute an Gottes Statt. Es ist nicht nötig, daß sie fromm seien.
Diese Situation verändert sich jedoch von Grund aus, sobald
die Obrigkeit Christ geworden ist, Diener des Herrn, Mitglied
seiner Kirche. Denn nun beginnt ihre Pflicht gegen das Wort
Gottes. Nicht als ob ihre Stellung irgendwie angetastet werden, als
ob gar etwas Neues an ihre Stelle treten sollte. Alles bleibt viel-
mehr, wie es war. Aber es tritt ein zweites Pflichtverhältnis hinzu.
So wie der christliche Untertan in freiem Gehorsam herbeieilt, um
den Frieden zu sichern und die göttliche Ordnung der Gewalt
zu erhalten, so wird der christliche Regent der Kirche helfen wollen,
weil es dem Nächsten gilt: nicht um den Glauben gewaltsam und
unmittelbar auszubreiten (denn das ist Gottes Amt und nicht
das der Menschenkinder), sondern um die von Gott ihm anver-
trauten Untertanen dazu anzureizen, einen Zugang zu Gott
hin zu eröffnen: um der Liebe willen, damit er den Nächsten
von Sünde und Tod errette. Darum kann er es auch wohl unter-
lassen. Er sündigt dann vielleicht, aber bleibt doch Christ, da
ihm nur die Liebe mangelt und nicht der Glaube. Aber freilich
wird der Glaube den Regenten dazu antreiben (es wird sein
innerstes Bedürfnis werden), alle seine Macht dranzusetzen, um
dem Reiche Gottes Bahn zu machen.
In diesem doppelten Verhältnis der christlichen Obrigkeit:
in ihrer negativen Funktion, den Frieden zu sichern, das
Recht zu erhalten, das irdische Leben zu fördern, und in ihrer
positiven Pfhcht, dem Evangelium den Zugang zu sichern,
glaube ich die Lösung des vielumstrittenen Problems zu sehen
und den so oft vermißten Gleichklang in Lehre und Leben des
Reformators. Das Amt an sich schließt das Christentum weder
ein noch aus, es wird aber bestätigt durch das Wort. Erde
bleibt Erde, aber wie Sonnenglanz leuchtet das Evangelium darüber
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 143
hin. Die Gottesordnung der Kreatur bleibt in ihrem Wert, als
das Reich irdischer Zwecke, irdischer Notwendigkeiten: aber
der Glaube tritt als eine neue Kraft hinzu, verklärt alles gemeinsam
in einem Lichte und treibt jedermann an, Obrigkeit und Untertan,
seinen Beruf unmittelbar und ganz persönlich auf Gott zu richten.
Zwei Reiche, beide von Gott gestiftet, sind durch die Welt hin aus-
gebreitet, Kreatur und Evangelium: ununterscheidbar in jedem
Christen beisammen und doch prinzipiell ganz auseinander zu
halten, wie Seele und Körper, Idee und Erscheinung; aber das
»Wort« bleibt, der Glaube an ein von aller Erdenschwere dereinst
befreites Ideal, an das Reich Gottes.
Alles liegt daran, dorthin den Zugang zu bahnen. Brücken
zu bauen, Tore zu öffnen. Ringsum sollen die starken Schranken
errichtet werden, um den Kampfplatz zu bereiten, auf dem jeder-
mann ganz persönlich den heißen Streit beginnen kann mit den
höllischen Mächten, Das ist die Freiheit des Christenmenschen:
aus der falschen Sicherheit, deren Unwert er an sich erlebt, will
Luther jedes Menschenherz gerissen sehen; frei wie die Blume
auf dem Felde, ganz er selbst, soll ein jeder stehen vor seinem
Schöpfer.
So wenig wußte Luther von einer freien Kirche im freien
Staate, im Sinne des modernen Liberalismus. Die Korporation
als solche ist Menschenwerk: nicht zu entbehren, aber erst das
Zweite, das Nebensächliche. Ihre Formen sind vergänglich; man
kann sie setzen, ordnen und fallen lassen und wird nicht lange
streiten mögen über die beste: nur auf den Zweck, dem jede dient,
wird alles zu richten sein. In dem Gotteshause und auf der Straße,
im Lehren und Forschen, im Arbeiten und Genießen, im Gewühl
des Marktes, auf den Höhen der Berge und inmitten der Wasser-
wüste, in Krankheit und Not und in den Schauern des Todes
— überall ist die Kirche und die Verheißung: wo das Evangelium
gepredigt wird und die Sakramente recht verwaltet werden; ja
wenn diese gefesselt und entrissen sind, dennoch bleibt das Wort
Gottes in Ewigkeit.
Nun werden wir nicht mehr sagen dürfen, daß Luther seinem
religiösen Ideal untreu geworden sei, als er die Landeskirche baute,
144 Kleine historische Schriften.
daß ihm Wankelmut und Widersprüche in der Grundfrage seines
Lebens nachzuweisen sind. Er hat noch auf der Höhe seines
Schaffens, in der Zeit vor Worms, der Hierarchie mit Papst und
Kardinälen das Leben lassen wollen, wenn sie evangelisch werden
wollten: wie ein Rauch verschwand ihm diese Illusion. Er hat
dann seine Kirche auf den breiten Grund der Gemeinde mit Kirchen-
kasse und Bann stellen wollen, inmitten der Zerstörung, als noch
eine leise Hoffnung auf eine gemeinsame Lösung war und ilun
Gott selbst in der Zerrüttung der alten Kirche das Rad dorthin
zu treiben schien: wie bald kam er auch von diesem Glauben zu-
rück! Sein ganzes Leben hindurch hat er an dem Traum von
einer deutschen Nationalkirche mit bischöflicher Verfassung
festgehalten, und bis ans Ende an der Möglichkeit, doch noch
einmal ein wahrhaft freies, christliches Konzil zu bekommen. In
jedem jMoment war er derselbe. Das Wort Gottes war gekommen,
wie ein fahrender Platzregen: so mußte alles helfen, was Hände
hatte, und die Gefäße herbeibringen, um das Himmelsmanna auf-
zufangen. Aber immer von neuem ward er enttäuscht. Nichts von
einer nationalen oder gar universalen Gottesordnung war zu er-
langen. Es gab keinen Staat, wie er ihn brauchte. Nur in den
Territorien war die Obrigkeit stark genug, um seinem Evangelium
den Schutz zu gewähren. Und so schuf er die Landeskirche.
Nicht um Gottes Wort zu retten — das konnte Gott ohne
ihn: sondern die Gläubigen, die ihm anhingen: ihnen mußte
er in der Not beispringen, die Tore öffnen, um sie hineinzubringen
und zu -dringen; das erste beste Mittel war gerade recht, da es
nur auf das eine ankommt, jedermann die Stelle zu sichern, wo er
sich mit Gott auseinandersetzen kann.
Das Ideal freilich war es nicht, das lag in der Freiheit von
aller Korporation in Staat und Kirche. Aber wann wäre das
zu erlangen \or dem Jüngsten Tage ? Und vor allem war die Ge-
fahr des Rückfalls in das Antichristentum zu vermeiden, wenn
man das Wort Gottes binden wollte an Formen und Formeln
einer bestimmten Verfassung. Als ob das die Kirche Christi sei
und nicht die ärgsten Buben und Heuchler in ihr wären! Wann
und wie die rechte Form gefunden werde — wer wollte das sagen!
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 145
Luther hat immer gern an die freie Gemeindekirche gedacht.
Jedoch, »Ich habe die Leute nicht«, pflegte er zu bemerken. Er
konnte ja nicht einmal von sich selbst mit der Seelenruhe der
sicheren Christen behaupten, daß er zur wahren Kirche Christi
gehöre. Doch glaubte er daran und hatte das naive Vertrauen, daß
auch andere dazu gehörten, und daß die Kirche überall da sei,
wo das Wort von Gott gepredigt und seine Sakramente stiftungs-
gemäß und frei gespendet würden.
Wer heute über diese Dinge redet, denkt selten an die Zu-
stände zurück, welche Luther vorfand oder die seine Lehre herbei-
führte, an die kirchliche und soziale Verwirrung, aus der heraus
er seine Kirche zu bauen hatte. Nicht bloß Papst und Kaiser
machten ihm zu schaffen, sondern mehr fast der Unverstand
und die Rohheit, die Selbstsucht und Gleichgültigkeit im eigenen
Lager: ein türkisch, teuflisch und tatarisch Volk hat er seine
Deutschen genannt. Wir müssen ein, ja zwei Jahrhunderte weiter-
gehen, um die Früchte seines Tuns zu erblicken und mit denen
seiner Gegner zu vergleichen. Nation und Christenheit bheben
gespalten, mühselig erhielten sich die souverän gewordenen deutschen
Stände zwischen den großen Mächten; aber in ihren Grenzen
hatte das Bekenntnis Stadt und Land, Regierende und Regierte
in gemeinsamer Gesinnung fest zusammengeschlossen. Ehren-
hafte Lebensführung, bürgerliche Tüchtigkeit, ein in bescheidenen
Verhältnissen dem Ewigen zugewandter Sinn waren lebendig ge-
worden. Und welche Fülle herzlicher Andacht, wie erhabene
Vorstellungen von göttlicher Majestät und Liebe noch im vorigen
Jahrhundert in den engen Kreisen deutscher Bürgerschaften
heimisch waren, dafür genügt es, auf den einen Namen Johann
Sebastian Bach hinzuweisen.
Doch war es nicht mehr möglich, des fremden Glaubens
Herr zu werden. Die Konfessionen hatten sich aneinander matt
gerungen, und jede war froh, die Stelle, die sie besaß, zu be-
haupten. So tauchte aus der Not der Zeit ein Gedanke auf, dem
Lenz, Kleine historische Schriften. lO
146 Kleine historische Schriften.
Luthers Staatslehre schon Raum gegeben hatte: den feindlicheü
Glauben, der sich nicht niederzwingen ließ, zu tolerieren. Wir
begegnen ihm im ganzen Umkreis der römischen und protestan-
tischen Welt; den verschiedensten Motiven entspringend, führt
er doch überall zu ähnlichen Bildungen. Maßgebend waren offenbar
die großen Wandlungen in der poUtischen Konstellation: die
Unentschiedenheit des Dreißigjährigen Krieges, der Zusammen-
bruch der spanischen Macht, die Niederwerfung Ludwigs XIV.,
das Emporkommen des parlamentarischen Englands und der
preußischen Krone. Im Innern war der Anteil an der Staats-
macht meist noch an die Einheit des Bekenntnisses geknüpft;
aber auch da trieb der Zwang der Verhältnisse ab und an zu neuen
Ordnungen. Und da der Druck von außen aufhörte, so begannen
bald allgemein grundsätzliche Änderungen.
Schon hatte sich die Theorie, den poUtischen Notwendig-
keiten folgend, des Gedankens bemächtigt und ihn systematisch
begründet; und so ward er das Ferment einer neuen Bildung,
welche mehr und mehr die leitenden Kreise der europäischen Ge-
sellschaft durchdrang. Die Staaten blieben zwar im wesenthchen
konfessionell geordnet, die IMassen der Bevölkerung lebten weiter
in den überlieferten Anschauungen und fanden darin ihr Genüge;
aber darüber hin bildete sich in den oberen Schichten eine Ge-
sinnung aus, welche mit um so keckerem Wagemut die Gesell-
schaft zu reformieren unternahm, je mehr sie von der Echtheit
ihrer Erkenntnisse und Absichten überzeugt sein konnte. Die
neuen Weltvorstellungen waren in sich wieder sehr verschieden
gefärbt, je nachdem sie auf protestantischem oder katholischem
Grunde envuchsen — Abstände, die wir durch die Namen \^oltaire
und Lessing, Rousseau und Herder, Diderot und Goethe bezeichnen
können; aber gemeinsam war dieser Kultur das frohe Bewußt-
sein der eigenen Kraft, die Zuversicht auf ihre vernünftigen Ge-
danken und der Trieb, sie über die ^^'elt in friedlichem Wett-
eifer zu verbreiten. Niemals sind dieser Weltauffassung prangen-
dere Worte gewidmet worden als in den Versen Schillers, da
er an der »Neige des Jahrhunderts« die edle stolze Männlich-
keit, die durch Vernunft gesicherte Freiheit, den aufgeschlos-
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 147
senen Sinn und die durch Gesetze verbürgte Stärke seines Zeit-
alters pries.
Er hatte"den Tag vor dem Abend gelobt. Denn in dem-
selben Jahr noch brach die Revolution aus, die über die von ihm
verherrlichte Kultur erst wahrhaft das Fin du Siecle brachte.
Heute, am Abschluß des neuen Säkulums, das aus jenen
Wirren ans Licht trat, hat sich die Stimmung geändert. Der
Schleier, welchen die selbstgefällige Blindheit des achtzehnten
Jahrhunderts zwischen sich und der Wirklichkeit gezogen hatte,
ist längst von unsern Augen gerissen; schon sinkt auch rings-
umher der verklärende Nebel, den die Romantik über der Kluft
zwischen den feindlichen Bekenntnissen ausgebreitet hatte, und
von einem kalten, scharfen Lichte werden Gegenwart und Ver-
gangenheit beschienen. Die alten, von der Aufklärung verachteten
und fast vergessenen Ordnungen haben sich mit neuem Leben
erfüllt und sich mit trotziger Kraft mitten in unsern Staat, ja in
die Wissenschaft selbst hineingedrängt. Schon aber sind die
Massen in neue Erregung geraten und fordern Anteil an dem
Wissen der Geistesmächtigen und an den Gütern der Besitzenden.
Die Wogen einer neuen und nur vertieften Aufklärung prallen
bereits allerorten an sie an, und von rechts und links erheben
sich die Unglückspropheten, um uns mit allen Farben des Schreckens
die Hölle an die Wand zu malen.
Die Zeiten sind andere geworden — und, wie es im Sprich-
wort heißt, andere Vögel, andere Lieder.
Wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben. Den-
noch dürfen wir sagen: Die Melodie, welche Martin Luther an-
gestimmt hat, ist durch die Jahrhunderte her nur immer stärker
und harmonienreicher geworden, und ihre gewaltigen Akkorde
fluten heute durch das Leben der Nation. Niemals wird es möglich
werden, die Entwickelung in die engen Formen zurückzuspannen,
welche unter einem völlig andern Welthorizont, in Natur und
Geschichte, entstanden sind, und die ihnen schon entweichenden
Massen wieder an sie zu fesseln. Dennoch aber sind die Gedanken
Luthers unter uns lebendig geblieben, geistige Kräfte, sittliche
Energien in unserem Volke. Sie sind nicht erstorben in seiner
148 Kleine historische Schriften.
Kirche und wirken fort in unserem Staate. In ihnen wurzelt
das Recht unseres Schwertes, seine Macht und unser Gehorsam.
i\Iit zwingender Gewalt fesseln sie jedermann an den öffentlichen
Willen, und in freiem Eifer dienen ihnen, ohne Unterscliied des
Bekenntnisses, die Millionen. Sie sind verwachsen mit jedem
öffentlichen Amt, mit unserer Ehe und Familie, mit Sitte und
Recht, mit der Idee unseres Krieges und aller Arbeit des Friedens.
Auf ihrem Grunde erwuchs ganz unsere klassische Literatur, und
noch immer beherrschen sie weite Gebiete unserer Kunst. Nur
von ihnen aus ist die echte Toleranz und die freie Forschung möglich
geworden. Und mit einem Worte, sie sind noch immer das Lebens-
mark in unserem Volke.
Hier ist auch uns der Platz gegeben, um auf das nationale
Leben einzuwirken, falls wir nur unserem Berufe treu bleiben und
nichts wollen als lehren und forschen, hier die Aufgabe vor allem
der historischen Wissenschaften, die an unserer Universität in
drei Fakultäten gepflegt werden und wenn irgend etwas ihrer
Geschichte wie dem Jahrhundert den Charakter geben. Ihre
gottverliehene Kraft ist es, die Wurzeln unserer WeltvorsteUvmg,
alle ihre Verzweigungen, in der Vergangenheit zu erforschen,
unbekümmert um die Folgen, welche sich für die Anschauungen
und Ordnungen von heute daraus ergeben könnten, in der be-
scheidenen Meinung, daß sie damit nur Menschenwerk üben,
und in dem gewissen Glauben, daß es Gottes Rat ist, seine Kreatur,
die Vernunft, voll auszunutzen. Der Anstoß, den Luther seiner
Zeit gegeben hat, ist wahrlich stärker gewesen als aUes, was wir
\ermögen. Mit bebender Angst sah er die alte Welt unter dem
Anhauch seines Geistes zerbersten und in immer neuem Sturz
die Trümmer ringsum sich häufen. Wie oft hat er da geseufzt:
»Ich hoff, der Jüngste Tag sei vor der Tür. Er wiU und muß
kommen!« Mit Hoffnung sah er ihm entgegen. Denn nicht die
Sündflut, sondern das Reich Gottes war ihm das Ziel der Ge-
schichte,
Dies männliche Vertrauen, diese unbeugsame Siegeszuversicht
mitten in der Zerstörung ist doch das Größte in jener heroischen
Zeit. In tausend Wendungen klingen uns solche Stimmen aus
Luthers Lehre von der Obrigkeit. 149
ihr entgegen. Wenn etwa Ulrich Hütten seinem Sickingen
nicht eine fröhliche , sanfte Ruhe wünscht , sondern große,
ernstliche, tapfere und arbeitsame Geschäfte, darin er vielen
Menschen zugute sein stolzes, Jieldisch Gemüt brauchen und
üben möge; wenn Zwingli seinem fürstlichen Freunde, dem
Landgrafen von Hessen, zuruft, mit fester Hand den Pflug vor-
wärts zu führen: »Halt an, frommer Ackersmann, halt an!«; oder
wenn Luther die Deutschordensherren ermahnt, ihre närrischen
Gelübde abzutun: »Nur frisch und getrost hinan, Gott für Augen
gesetzt im rechten Glauben und der Welt ihrem Rumpeln,
Scharren und Poltern den Rücken gekehret, nicht hören noch
sehen, wie Sodoma und Gomorrha hinter uns versinken, oder wo
sie bleiben. «
Alle diese Männer fürchteten Gott und sonst nichts auf der
Welt.
Wohlan, lernen wir von unsern Vätern! Wir wohnen ja in
einem festeren Hause als sie. Seine Fundamente sind lange vor
der Reformation gelegt worden, und das Wort, wie Luther es
lehrte, hat sie bestätigt. In seinen starken Mauern findet jeder-
mann Raum, der »Erdenkinder höchstes Glück«, die Persönlichkeit
frei zu entfalten und zu behaupten und um alle Palmen zu ringen
der Sittlichkeit und der Schönheit. Seine Bauherren haben, seit-
dem der Ahnherr den Spaten in dem märkischen Sande einsetzte,
sich allzeit betrachtet als Amtmänner an Gottes Statt und als
die ersten Diener ihres Staates.
Das ist der Wahlspruch Hohenzollerns. Es ist das eigenste
Bekenntnis unseres kaiserlichen Herrn und die beste irdische
Gewähr für alle Zukunft. Vereinigen wir uns denn mit einem
starken Vertrauen in dem Gedanken, der heute jedes deutsche
Herz erfüllt :
Gott schütze und segne den Kaiser!
m^^^^
Der Bauernkrieg.
(1904.)
»Das größte Naturereignis des deutschen Staates«, so hat
Ranke die agrarische Revolution genannt, welche im Frühling
1525 alle Ordnungen in Staat und Kirche Deutschlands mit Ver-
nichtung bedrohte. Wie eine Naturgewalt in der Tat, \\ie ein
»Ungewitter der Tiefe« brach die Empörung ans Licht, Wenige
Monate nur erzitterte die deutsche Erde: ein plötzliches Auf-
bäumen, unwiderstehhch im ersten Anprall, dem aber ebenso
rasch das Zurückschleudern folgte. Kein luftreinigendes Ge\\itter,
sondern ein Feuer, welches rasend um sich greifend Wohlstand
und Leben vieler Tausende vernichtete, um, nachdem es ausge-
brannt war, nichts zurückzulassen als Asche.
In dem Momente entzündete es sich, wo die Nation vor der
größten Aufgabe stand, die ihr je gestellt worden war, vor der
Frage, ob sie fähig sein würde, ihren Staat und ihre Kirche auf
dem Grunde einer Religion neu aufzubauen, die soeben aus der
Tiefe des deutschen Herzens ihr größter Sohn geschöpft hatte.
Daß beides, der Aufruhr und die Reformation, miteinander zu-
sammenhängen, versteht sich danach von selbst. Indem Luther
den Weckruf an das Gewissen der Nation, das »Los von Rom«,
erschallen ließ, schnitt er auch dem politischen Deutschland, das
mit dem geistlichen durch die Geschichte eines Jahrtausends bis
in das Mark verwachsen war, in die Wurzel. In jede Fuge des
Reichsbaues war der Zwiespalt eingedrungen. Die Edikte des
Kaisers, die Beschlüsse der Reichstage, die Gebote des Reichs-
regiments hatten die Verwirrung nur gesteigert, auch die strengsten
Der Bauernkrieg. 151
Mandate die Zersetzung der Kirche nicht aufhalten können; ver-
morscht wie sie war, fiel sie, kaum daß einer zu stoßen brauchte,
in sich zusammen. Also geschah das Unvermeidliche: da der Boden,
die schützende Decke der Macht zerbarst, brachen die Tiefen auf.
Noch war Luther der Wortführer der Nation. Auf ihn richteten
die Empörer ihre Blicke ; für sein Evangelium, so sagten sie, wollten
sie fechten; ihn und seinen gottsehgen Herrn, den Kurfürsten
Friedrich den Weisen, riefen sie als Schiedsrichter an; und ihm,
als dem Verräter an der eigenen Sache, dem Fürstenknecht, dem
Vater Leisetritt, fluchten sie, als er sich gegen sie auf die Seite
des Herrn gestellt hatte und das erbarmungslose Schwert der
Sieger unter ihnen fraß.
Wie begreiflich aber die Wut der Enttäuschten über den
Reformator sein mochte, ebenso ungerecht war ihr Vorwnirf, mag
er ihnen auch von Feindschaft und Unverstand tausendfach nach-
gebetet sein, daß Luthers Lehre wirklich des Aufruhrs Wurzel
gewesen sei. Wäre dem so, so hätten die Gegenden, die von seiner
Lehre besonders angesteckt waren, von dem revolutionären Gift
mehr als andere infiziert werden müssen. Aber gerade dort, wo-
hin sein unmittelbarer Einfluß reichte, in und um Wittenberg
und Torgau, in dem eigentlichen Sachsen, blieb alles ruhig; nur
in den thüringischen Ämtern, die mit kleineren Herrschaften,
mit mühlhausischen, kurmainzer und anderen Bezirken im Gemenge
lagen, und die von den alten Gegnern Luthers, Münzer und Karl-
stadt und ihren Trabanten, aufgewühlt waren, wurde das Landvolk
wild und ließ sich mit fortreißen. So ward auch Hessen, dessen
junger Landgraf vor kurzem entschlossen auf die Seite der Re-
formation getreten war, in Ruhe gehalten. Die paar Dorfschaften,
die sich im Fuldatal erhoben, bändigte Philipp mit leichter Mühe;
rasch gelang es ihm auch, in den benachbarten Abteien Hersfeld
und Fulda die hier arg erschütterte Ordnung herzustellen, so
daß er bald sein Land im Rücken lassen und sich nach Thüringen
gegen die fanatisierten Scharen Thomas Münzers wenden konnte.
Beide Fürsten aber, Kursachsen und Hessen, waren gerade die zur
Verständigung geneigten: Landgraf Philipp rechtfertigte auf dem
Landtage zu Alsfeld durch den Beschluß, daß den Bauern keine
152 Kleine historische Schriften.
neuen Lasten auferlegt werden sollten, zum erstenmal den Bei-
namen, den ihm sein dankbares Volk gegeben hatte, des Groß-
mütigen; Friedrich der Weise aber, der unter dem Toben des ent-
fesselten Aufruhrs starb, hat noch auf dem Totenbette die armen
Leute und ihre harten Lasten beklagt. Die Goldene Aue war über-
haupt der nördlichste Punkt, den der Aufstand erreichte; über
den Harz kam er nicht hinaus.
Auch in Bayern hielten die Herzoge Wilhelm und Ludwig,
diese freilich mit härtester Gewalt, die Ordnung aufrecht. Weniger
glückte es den habsburgischen Regierungen in ihren weitgedehnten
Herrschaften, trotz der Strenge, mit der auch hier Kirche und
Staat vereinigt gegen die Empörten vorgingen: von Steiermark
bis ins Inntal waren die Alpenländer in tiefer Erregung, und selbst
in der Eidgenossenschaft forderten die Untertanen Freiheit von
Zinsen und Fronden. Immerhin waren das alles nur Ausläufer
der Bewegung, deren Herdfeuer in den Vorbergen der Alpen,
rechts vom Rhein und im südlichen Schwarzwald, um Waldshut,
in der Stülilinger Landschaft, am Bodensee und im Algäu bis
zum Lech hin lag Hier brach der Aufruhr schon im Frühsommer
1524 aus. Lange schwälte der Brand, halb gestillt und wieder
neu entfacht, bis er im Februar und März des folgenden Jahres
mit plötzlicher Wut aufflammend in wenigen Wochen vom Lech
her bis an die Vogesen und vom Bodensee bis hin über den Thü-
ringer Wald alles Land überdeckte.
Es waren die Gebiete, auf denen das alte Reich recht eigent-
lich geruht hatte, in denen die großen Kaisergeschlechter, die
Salier und die Hohenstaufen, ihre Stammburgen gebaut und ihre
Kraft gewonnen hatten. Auch das jetzt regierende Haus hatte
dort von alters her Besitzungen gehabt ; immer hatte es in Gegen-
sätzen, wie die jetzt neu entbrannten, gestanden, und die ihm
Verbündeten und Verwandten, die schwäbischen Abteien und
die um den Bodensee angesessenen Herrengeschlechter waren es,
gegen die sich die Bauern zuerst erhoben. Seit dem Untergange
der Staufer hatte sich z^nschen Alpen und Main keine große Ter-
ritorialmacht mehr bilden können, und die Elemente, welche im
Norden und Osten überall zur Einheit des Staates zusammen-
Der Bauernkrieg. 153
gezwungen wurden, Ritter und Herren, Städte und Stifter, waren
hier ungebunden geblieben und mußten jeder für sich und gegen
den anderen Luft und Licht zu gewinnen suchen. So war dies der
klassische Boden der Städte- und Ritterbünde, ihrer Kriege und
Fehden geworden. Noch hielt der Adel eng zusammen. Gerade
in dieser Epoche bildete die Reichsritterschaft jene engeren Verbände
aus, in denen sie sich bis an das Ende des deutschen Reiches er-
halten hat. Noch hielten auch, wie vor alters, die Freien und
Reichsstädte ihre besonderen Tage ab, und der Haß gegen die
Pfeffersäcke, die »vermauerten Städtebauern«, war im Herren-
stande immer noch, und bis hoch hinauf, verbreitet. Aber je mehr
ein jeder sich abschloß, um so mehr war er gezwungen, sich der
Umgebung anzubequemen, den Schutz, den der Bund mit den
Standesverwandten nicht mehr sicherte, durch Übereinkünfte mit
den Nachbarn zu erhalten. Diesen Zweck verfolgte seit mehr als
einer Generation der Schwäbische Bund, der bereits alle Stände
des südlichen Deutschlands bis über den Main weg vereinigte.
Auch er aber, eine der stärksten Gewalten im Reiche, konnte der
allgemeinen Zerrüttung nicht wehren. Im Bunde selbst stritten
von jeher die verschiedensten Interessen, und die kirchlichen
Irrungen brachten täglich neuen Zündstoff hinzu. Nicht einmal
die Sicherheit der Straßen konnte er gewährleisten und nur durch
erhöhten Druck auf die eigenen Hintersassen die Mittel schaffen,
um die Widerspenstigen im Zaume zu halten. Die Untertanen
aber, die Bauern, waren in jedem Falle die Geschädigten. Sie
mußten reisen, bauen und steuern; an ihren Gütern erholten sich
Freund und Feind; auf ihren Höfen gardeten die Reiter und die
Knechte, wenn sie auf einen Herrn warteten, und in ihre Ställe
und Scheunen warfen sie die Brandfackel, wenn die Fehde sie
auf eine feindliche Dorfmark führte.
Ziehen wir die Summe. Wo die Macht war, wohnte der Friede.
Den Norden, die Gebiete der großen Fürstenhäuser, welche in
der Bildung ihres Staates bereits weiter vorangekommen waren, er-
reichte darum der Aufstand überhaupt nicht, und das mittlere
Deutschland nur an wenigen Punkten. Und ebenso gelang es im
Süden den starken Regierungen, sich zu behaupten. Die Stellung
154 Kleine historische Schriften.
zur Reformation kam dabei kaum in Frage. Herzog Georg von
Sachsen hielt seine Untertanen ebenso in Schranken, wie seine
Vettern Friedrich und Johann in den benachbarten Kreisen die
ihrigen. Schwierig war es nur dort, wo der neue Geist mit dem
alten bereits im Kampf lag. Wo aber, wie im Wittenberger Kur-
kreise, die Kirche Luthers schon festere Formen gewonnen hatte
und der alte Sauerteig durch eine evangelische Visitation ausge-
fegt war, gab dies eine stärkere Bürgschaft für die Ruhe als die
brutalen Mandate, durch welche die Bayern und Österreicher sich
der Revolution in Staat und Kirche zu wehren suchten. Wie
sehr es in jedem Falle auf die gesammelte Macht ankam, zeigt
das Schicksal der größeren Reichsstädte im Hauptgebiete des
Aufruhrs. Auch in Straßburg, Augsburg, Ulm, Nürnberg gab es
revolutionäre Elemente genug: die Führer, wie Thomas Münzer
im Sommer 1524 in Nürnberg, haben wohl gerade dort versucht,
den Hebel anzusetzen. Aber der Boden war ihnen zu heiß gewesen;
und als nun der Aufruhr über das Land hinwogte, vermochten
die Magistrate dieser großen Gemeinwesen nicht nur die unruhigen
Köpfe in ihren Mauern, sondern sogar ihre Bauernschaften meilen-
weit vor der Stadt in Zucht zu halten und zu schützen.
Hieraus ergibt sich, daß es nicht ausreicht, die letzte Ursache
des Bauernkrieges in den wirtschaftlichen Verhältnissen zu suchen.
Wir wissen noch gar nichts Genaueres über die wirtschaftliche
Lage der unteren Klassen in j ener Zeit. Statistische Untersuchungen
sind kaum gemacht worden, und nur diese würden uns bestimmtere
Folgerungen gestatten. Wo einmal nähere Beobachtungen an-
gestellt sind, glauben wir, sehr im Gegensatz zu der herrschen-
den Vorstellung, statt wachsender Verarmung eher das Gegenteil
zu bemerken. Gewiß gab es unter den Bauern, wie unter Rittern
und Bürgern, zahllos verlorene oder wirtschaftlich bedrängte
Existenzen, und diese sind sicherlich mit unter den vordersten
der Aufrührer zu denken. Aber als einen Ausbruch schreiender
Not, als den Verzweiflungsschritt ausgehungerter Massen haben
wir uns die Erhebung nicht vorzustellen. Nichts ist gewisser,
als daß jene Epoche für Süddeutschland, mehr vielleicht als für
den Norden, eine Zeit des wirtschaftlichen Aufstrebens war: die
Der Bauernkrieg. 155
Zunahme der Bevölkerung, die intensivere Bebauung des Landes,
das Wachstum der Städte, der steigende, oft beklagte und bekämpfte,
dadurch aber nicht verringerte Luxus aller Klassen, ebensowohl
auf dem Lande wie in den Städten, das Anwachsen des Kapitals,
das innerhalb und außerhalb der Mauern, an den Fürstenhöfen
wie auf den Bauerngütern Unterkunft suchte, der immer regere
Handel daheim und in der Fremde sind dafür vollgültige Beweise.
Wäre die wirtschaftliche Not oder auch nur der Druck, der nicht
geleugnet werden soll, wirklich die primäre Ursache gewesen, so
hätte der norddeutsche Bauer wohl eher Anlaß zum Aufstande
gehabt. Denn dieser hatte an dem grundbesitzenden Adel, der
schon seine Güter selbst zu bewirtschaften und abzurunden be-
gann, einen meist überlegenen Konkurrenten. Im Süden dagegen
war der Herr fast durchweg Rentenbesitzer geblieben. Fälle von
Abmeierung und Bauernlegungen, wie im Norden, kamen dort
nicht vor; der Bauer mußte zinsen und fronden und sein Gut
»bauen«, d. h. im zinsfähigen Stand erhalten, er war auch wohl
leibeigen geworden, im übrigen aber wirtschaftlich unabhängig.
Die Führer des Aufstandes waren fast immer die wohlhabenden
Leute, die Angesehensten im Dorf, die Bürgermeister, die Wirte,
die Müller. Auch die Pfaffen, Schreiber und Keller, die an der
Spitze erscheinen, wie Wendel Hipler von Öhringen und Friedrich
Weigand von Miltenberg, waren keine hergelaufenen Buben, sondern
Männer von Besitz und Ansehen. Die Vermögenslisten der ge-
straften Bauern zeigen oft Einkommen von überraschender Höhe
und für den Durchschnitt eine gewisse Wohlhäbigkeit oder doch
wenig direkte Armut. Es ist — und darin liegt wirklich eine Ana-
logie — wie heute bei unserer Sozialdemokratie. Auch diese nennt
sich die Partei des Proletariats, wie die aufständischen Bauern
sich als die »armen Leute« bezeichneten. Und doch stellt niemand
in Abrede, daß in dem sozialdemokratischen Lager viel weniger
der Druck von oben als das Machtstreben von unten zur Geltung
komme. Revolution ist Kraftäußerung, selbst dann, wenn sie
nicht zum Ziel kommt: wer die Macht nicht hat, wird sich auch
nicht regen. Gerade von den Bauern des Algäus und am Bodensee,
die zuerst aufstanden und am längsten aufreclit blieben, wissen
156 Kleine historische Schriften.
wir, daß sie, wie ihr Historiker sagt, im ganzen wohlhabend, tat-
kräftig, selbstbewußt und waffengeübt waren. Noch hatte jede
Dorfschaft ihre gemeinsame Gemarkung, Ordnung und Verwaltung,
zuweilen selbst Mauern und Tore. Unter der Gerichtslinde oder
auf dem ummauerten Kirchhof, der eigentlichen Burg des Dorfes,
trat die Gemeinde zusammen, auf das Zeichen der Kirchenglocke;
läutete sie Sturm, mit der Wehr zur Seite, gemeinhin aber ohne
die Waffe, die sonst jedermann trug. Dort suchten und fanden
sie nach ihren Bauernregeln das Recht, dort berieten sie über
die Angelegenheiten der Gemeinde, über Weide, Wiesen und Wald,
Ackerung, Aussaat und Ernte; dort wählten sie ihre Bauermeister
und bestellten die Ämter des Fronboten und des Flurschützen,
des Holzwächters, des Kirchners und des Schreibers, des Hirten
und des Turm Wächters ; dort nahmen sie wohl auch die Weisungen
ihres Grundherrn in Empfang — und dorthin liefen sie zusammen,
als die Sturmboten des Aufruhrs kamen und der \'om Brand der
nahen Klöster und Schlösser gerötete Horizont ihnen das Morgen-
rot ihrer vollen Freiheit zu verkünden schien.
Wäre ihnen nun geworden, was sie in ihren zwölf Artikeln
forderten: Eigenwahl des Pfarrers, den ihnen bis dahin der Grund-
herr oder das benachbarte Kloster gesetzt hatte, Freiheit der
Holzung, der Jagd und der Gewässer, Fortfall des kleinen Zehnten,
der Leibeigenschaft und des Todfalls, dazu ^linderung so vieler
Dienste und Gülten, so wären sie frei genug geworden, freier fast
als ihre Herren, die doch dem Kaiser und dem Reich oder einer
anderen Herrschaft direkt verpflichtet waren. Und hätten sie
vollends erreicht, was im Laufe der Bewegung sich immer mehr
als das Programm des Aufruhrs heraushob, Ausreutung aller
Stifter und Niederbrechung aUer Burgen, also daß es im ganzen Land
nur Bauern und Bauernhäuser gegeben hätte, so wären sie so frei
geworden wie der Vogel in der Luft, wie das Wild des Waldes:
es wäre die Freiheit der Anarchie, die Staatslosigkeit gewesen,
die sie erreicht hätten. Der Herr, dem sie dienten, verkörperte
für sie den Staat, mochte es ein bloßer Reichsritter sein oder ein
Graf, ein Abt oder der Magistrat einer Reichsstadt. Nicht der
Bauer unmittelbar, sondern der Grundherr war dem Reiche selbst
Der Bauernkrieg. 157
oder einem Temtorialherrn verantwortlich, sowie er seine Bauern
innerhalb der ihm zustehenden Grenzen zu schützen hatte. Beides
machte er gewiß sclilecht genug. Aber es war doch nicht immer
böser Wille, sondern sich selbst zu erhalten und voranzukommen
war auch für ihn, wie für jedermann und jedes Gemeinwesen,
das zwingende Gesetz. Zumal da er in eine Welt gestellt war,
die, von halbfertigen staatlichen Gebilden erfüllt, von jeher durch
Kampf und Eigennutz regiert war, und in eine Zeit, welche die
bisher einzige einheitliche Gewalt, die Kirche, rettungslos in sich
zusammensinken sah. Das scUießt natürlich nicht aus, daß viele
unter den Herren den Bogen allzu straff gespannt haben, und
daß die wirtschaftliche Abwandelung den Wert der Natural-
abgaben und Dienste weit über Gebühr erhöht hatte. Aber es
bleibt dabei: auch die Herren handelten mehr unter dem Zwang
als ans Willkür, und die politische Lage, nicht die wirtschaft-
liche Not war die bestimmende Ursache.
Dadurch erklärt es sich, daß manche unter den Herren, und
wohl gerade die Leuteschinder am ersten, lieber Hammer als
Amboß sein wollten und sich dem reißenden Strom der Empö-
rung anvertrauten, wo sich dieser gegen Gewalten im Reiche
lichtete, mit denen sie selbst einen Span auszutragen hatten. So
rechnete der verjagte Herzog Ulrich von Württemberg, der einst
den »armen Kunz« so grob niedergeschlagen und niemals als ein
Bauernfreund hatte gelten können; jetzt aber w^artete er auf
dem Hohentwiel, mitten unter den gärenden Bauernschaften von
Stühlingen, ungeduldig auf das Signal zum Losbrechen; und nur
ein höchst unvorhergesehenes Ereignis, die Niederlage König
Franz' bei Pavia, die seine eidgenössischen Freunde zwang, den
Zulauf ihrer Knechte zurückzuhalten, nötigte den verbannten
Herzog, den schon begonnenen Zug abzubrechen und noch einmal
stillzusitzen. Und wohl möglich, daß auch Götz von Berlichingen
ähnlich spekulierte, als er im Kloster Schönthal und in Neckars-
ulm mit den Bauernfeldherrn des Öhringer Haufens zusammen-
traf und sich zu ihrem obersten Hauptmann sei es werben oder
pressen ließ. Aber auch der städtische Ehrgeiz wurde vielfach
durch die ersten Erfolge der Empörer angeregt; ja selbst die ganz
^58 Kleine historische Schriften.
Großen, wie die Bayernherzoge und die Habsburger, oder wie
Casimir von Brandenburg, oder die Eidgenossen von Basel, blieben
nicht frei von der Versuchung, Stücke der Bauernbeute für sich
selbst in Sicherheit zu bringen.
Wenn schließlich das große Wasser wieder ablief, ohne die
alten Grenzen wesenthch zu verrücken, so lag das einmal an dem
bald sich ermannenden und dann unmittelbar siegreichen Wider-
stände der geordneten Gewalten, im Süden vor allem des Schwä-
bischen Bundes, in Mitteldeutschland der verbündeten Fürsten
von Sachsen, Hessen und Braunschweig, sodann aber an dem
Radikalismus, den die rasch anwachsende Anarchie der Bauern-
heere emportrieb. In dem Haufen, den der BerUchinger anführte,
und der die Grafen von Hohenlohe und von Werthheim wie den
Adel des Odenwaldes mit sich fortriß, war von Anfang an, noch
bevor Götz mit ihm seine Praktiken trieb, eine gemäßigtere Ten-
denz ; auf die Zerreißung der Burgen hatten es hier auch die bäueri-
schen Führer nicht abgesehen. Es kam ihnen zunächst darauf
an, das Geschütz zu bekommen, die Herren aber zu dem Eintritt
in den Bund oder zum Stillsitzen zu bewegen; dafür versprachen
sie ihnen Sicherung ihrer Häuser und Besitzungen. Mit Edel-
leuten, Geistlichen und Städten schlössen sie ^^erträge solches
Inhalts. Die zwölf Artikel, die auch sie annahmen, milderten
sie erheblich und geboten gegen Leibesstrafen allen Untertanen
in Städten, Dörfern und Flecken, Gehorsam gegen ihre Obrigkeiten
zu üben. Wir haben darin wohl neben Götzens Einfluß auch den
Wendler Hiplers zu erkennen, der mit Weigand von Miltenberg
in dem sogenannten Heilbronner Entv^oirf jene weitreichenden
Pläne einer Reichsreform entwarf, die unter der Ägide der kaiser-
Uchen Älajestät auf Grund allgemeiner Säkularisation der geist-
lichen Güter eine Umgestaltung der Gerichtsverfassung und der
gesamten Organisation und Venvaltung des Reiches verlangten.
Aber diese Politik der Mäßigung erlitt bald Schiffbruch. Unter
den Neckarbauern selbst, die über den Odenwald hin nach Würz-
burg dem fränkischen Heere zu Hilfe zogen, hatte von Anbeginn
her eine extreme Gruppe bestanden, von der der Anstoß zu dem
Sturm auf Weinsberg und zu der Ermordung des Helfensteiner
Der Bauernkrieg. 159
Grafen, den die Bauern durch die Spieße jagten, ausgegangen
war. Diese gewann nach der Vereinigung beider Heere im Lager
vor dem Frauenberg alsbald die Oberhand. Denn der Radikalis-
mus der Franken ging weit über jenes gemäßigte Programm hinaus.
Sie wollten von den zwölf Artikeln nichts hören: alle Burgen,
wie auch die Klöster sollten gebrochen werden; kein Schloß, kein
Turm, der in ihre Gewalt fiel, wurde verschont; in ganz Franken,
mainauf und mainab, loderten die Feuer; niemand sollte fortan
einen gerüsteten reisigen Gaul halten dürfen, jeder Edelmann auf
seinem Gute wie ein Bauer leben. Vergebens kämpften Götz und
seine Anhänger gegen diese Strömung an. Ein Versuch von ihnen,
auf ihre Bedingungen hin der adeligen Besatzung des Frauenberges
den Abzug zu bewilligen, scheiterte an dem Widerstände der
Franken und der mit ihnen stimmenden Radikalen ihres eigenen
Haufens. Die Stürme aber, die von den Bauern darauf gegen die
Würzburger Feste gewagt wurden, scheiterten, und damit zogen
sie die Katastrophe über sich herbei.
Denn in derselben Stunde, w^o der Anlauf gegen die Mauern
des Frauenberges zerschellte, ward Thomas Münzer bei Franken-
hausen vernichtend geschlagen und damit seiner kommunistischen
Revolution das blutigste Ende bereitet. Und schon nahte den Bauern
in Franken von Süden her das Verderben. Bis in den März hatte
der Schwäbische Bund mit den drei Haufen südlich der Donau
Verhandlungen gepflogen; sobald er aber die Waffen bereit hatte
und die Gefahr vor Herzog Ulrich geschwunden war, schlug er
los. Den Algäuern und Seebauern freilich konnte der Bundes-
feldherr, Graf Jürgen Truchseß von Waldburg, auch dann nichts
Rechtes abbrechen. Aber nachdem er durch einen vorläufigen
Vertrag mit ihnen sich den Rücken gedeckt, zog er gegen die in
Württemberg und am Schwarzwald versammelten Haufen und
schlug sie am 12. Mai bei Böblingen aufs Haupt. Hierauf wandte
er sich gegen Norden. Am 2. Juni ereilte er die Odenwälder, die
ihren Dörfern zu Hilfe kommen wollten, bei Königshofen an der
Tauber; so fest ihre Stellung war, wurde ihr Heer fast ohne Gegen-
wehr vernichtet. Zwei Tage darauf wurden auch die Franken
bei Sulzdorf und Ingolstadt südlich von Würzburg zertrennt und
\ßO Kleine historische Schriften.
niedergemetzelt. Hierauf beugte sich alles Land vom Fichtelberg
bis zu den Vogesen. Bei Pfeddersheim nahm der Pfalzgraf an
seinen Bauern, die ihn vorher zum Vertrage gezwungen hatten,
seine Rache; im Elsaß trat Anton von Lothringen, nachdem er
schon im Mai bei Zabern ein Bauernheer vernichtet hatte, er-
barmungslos auch die letzten Funken des Feuers aus. Länger
dauerte es, bis die tapferen Bauern im Algäu, in Tirol und im
Salzburgischen zum Gehorsam gebracht wurden. Aber endlich
gelang es allerorten, und die Freveltaten der Betörten wurden
von den unbarmherzigen Richtern in Strömen von Blut gesühnt.
68^-^^^
Florian Geyer.
(1896.)
Man wird, denke ich, von mir nicht fürchten, daß ich mich
mit der interessanten, aber unholden Dichtung abgeben werde,
welche jüngst bei uns ein kurzes Bühnendasein gehabt und die
Federn unserer Tagesliteraten durch ein paar \\'ochen in Be-
wegung gesetzt hat. Ich beabsichtige nichts weiter als festzu-
stellen, was in den Quellen, soweit sie gedruckt sind, über den
fränkischen Ritter überhefert ist, der seit Generationen ein Lieb-
ling unserer romantischen Poeten war. Bisher haben über ihn
nur diese das Wort gehabt. Denn auch der Historiker des
Bauernkrieges, Zimmermann, der in Ritter Florian und seiner
schwarzen Schar seiner kranken Zeit Idealbilder eines demo-
kratischen Deutschlands vorhalten wollte, ist ihnen zuzurechnen,
und wahrlich nicht an letzter Stelle. Er hat, kann man sagen,
die Gestalt des ritterlichen Volksfreundes erst geschaffen und
ihr mit der Leuchtkraft seiner farbenreichen Kunst den Hauch
revolutionärer Romantik verliehen, der wie über seinem Buch,
so über dem Sturm und Drang seines eigenen, an Kampf und
Hoffen reichen Zeitalters ruht und die Gestalt des fränkischen
Edelmannes den Poeten wert gemacht hat. Dennoch kann ich
nicht unterlassen, gegen die Mär zu protestieren, welche von
den namhaften Kunstkritikern, die Hauptmanns Dichterruhm
unter ihre Fittiche genommen, verbreitet wird, als ob dessen
Naturalismus mit historischer Treue gleichzusetzen sei. Viel-
mehr zeigt seine Dichtung weder in den Persönlichkeiten noch
in der Abschilderung der Zustände und Anschauungen noch auch
Lenz, Kleine historische Schriften. II
Iß2 Kleine' historische Schriften.
in der Sprechweise selbst etwas von dem Geist der Quellen, trotz-
dem er diese offenbar sehr viel fleißiger studiert hat als einer
seiner Vorgänger, und die Redewendungen, mit denen er die
Sprache des i6. Jahrhunderts nachbildet, sich vielleicht sämt-
Hch in der Literatur nachweisen lassen mögen. Ich kenne manche
Chronik und manche Rede jenes bäuerischen Zeitalters und weiß,
daß unsere Vorfahren nicht zimperhch dachten und sprachen.
Aber niemals benahmen sie sich, wie ich sie kenne, weder Edel-
leute noch Bürger und Bauern, so rüde wie Hauptmanns Helden
in jeder Szene, ganz davon zu schweigen, daß die Alten ihre Derb-
heiten mit einem kernigen Humor vorzubringen pflegten, wovon
bei ihrem Imitator nichts zu spüren ist; und nirgends fand
ich in der oft ungefügen Sprache unserer Reformationszeit
soviel stihstische Gespreiztheit, wie das Bemühen des mo-
dernen Naturalisten, aus den gedruckten Überresten sich die
alte Redeweise zurechtzumachen, naturgemäß mit sich bringen
mußte.
Im übrigen hat Hauptmann das Schicksal seines Helden
dem äußeren Verlauf nach in den Zügen dargestellt, welche
Zimmermann ihm gegeben hat, und die diesem seither nacher-
zählt wurden. Danach gilt es als ausgemacht, daß Florian Geyer
auf beiden Schauplätzen des Aufstandes, bei den Ereignissen
um Weinsberg und Heübronn ebenso wie bei den Kämpfen vor
Würzburg, dabei gewesen und eine führende Stellung eingenom-
men habe. »Als der Ohrenbacher Haufe,« so erzählt Zimmermann,
»nach dem Schupf er Grunde zog, fanden sie unterwegs einen
tüchtigen Anführer. Sie kamen nicht weit von der starken Burg
Giebelstadt vorüber, die dem edlen Gesclilecht der Geyer von
Geyersberg gehörte. Einer dieses Geschlechtes legte, wie einst
Graf Rudolf von Werdenberg unter den Appenzellem, den Ritter-
mantel ab und trat zu den Bauern, freiwiUig, als ihr Bruder. Es
war Florian Geyer, der schönste Held des ganzen Kampfes. <C
Die Ohrenbacher gehörten zu den Bauern in der Landwehr
der Stadt Rothenburg, die in Franken zuerst die Fahne des Auf-
ruhrs erhoben. Sie trennten sich, wie Zimmermann und mit
ihm alle anderen annehmen, im Taubergrunde von den anderen Ge-
Florian Geyer. 163
meinden und zogen ins Jagsttal zum Kloster Schönthal hinüber,
wo damals Georg Metzler die Bauern vom Odenwald und Neckar-
tal zu sammeln begann. Mit diesen wären sie nach Öhringen ge-
kommen. Während von dort aber einige Fähnlein an die Tauber
zurückgingen, soll Florian Geyer mit einer Kemtruppe, der
»schwarzen Schar«, bei Metzler geblieben sein. »Es waren,« sagt
Zimmermann, »meist Bauern der Rothenburger Landwehr, ein-
gelernte Kriegsmänner, die schon mehr dabei gewesen waren,
wo es galt, Mauern zu stürmen und zu brechen.« Gleich die Er-
oberung von Weinsberg ist ihr Werk: während die anderen die
Stadt umzingeln und berennen, ziehen sie im Grünen vor das
Schloß und haben es bald erstürmt und erstiegen. Nach der ent-
setzlichen Exekution jedoch, welche Jäcklein Rohrbach und seine
Mordgesellen über die gefangenen Edelleute, Graf Ludwig von
Helfenstein und die Seinen, verhängen, trennen sich die Tapferen
von dem mordgierigen Haufen. Zimmermann ist im Zweifel,
ob Florian dabei von der Mißbilhgung der Blutrache Jäckleins als
einer unpolitischen Maßregel oder noch mehr durch den Wider-
spruch gegen die Wahl des Ritters Götz von Berlichingen zum
Obersten geleitet worden sei. Jedenfalls bezeichnet er es als die
schlimmste Frucht, die aus der Blutsaat Jäckleins aufging: der
helle Haufen habe mit ihm die mihtärische Intelligenz, den tüch-
tigsten, treusten und redhchsten Führer und mit seiner Schar
ihren kriegerischen Kern eingebüßt. Dennoch bheben die Schwar-
zen, wenn wir ihm folgen, zunächst noch in der Nähe: sie eroberten,
den Weinsbergern voranziehend, Neckarsulm, mit dessen Ge-
schütz der feste Scheuerberg und Schloß Horneck bei Gundels-
heim gebrochen wurden; und durch den Odenwald hindurch-
gehend, nahm Florian Geyer die neun Städte des Mainzer Ober-
stiftes ein und heß sie dem fränkischen Heere huldigen; bei Bi-
schofsheim an der Tauber zog er zum Stift hinaus und vereinigte
sich wieder mit seinen Franken.
Auch vor Würzburg haben nach Zimmermann und der all-
gemeinen Meinung die Schwarzen das Beste getan: bei dem Sturm
auf den Frauenberg sind sie allen voran und erleiden die stärksten
Verluste. Leider sei Ritter Florian damals nicht zugegen ge-
164 Kleine historische Schriftert.
wesen. Er verhandelte damals neben anderen Gesandten des Heeres
in Rothenburg über den Anschluß dieser Stadt an die Empörung.
Und so war er auch in den Stunden der Entscheidung, als bei
Königshofen bereits die blutigen Würfel gefallen waren, wieder
in dieser Stadt. Zimmermann begründet diese Entfernung von
dem Schauplatz des Krieges mit der Eifersucht der bäuerischen
Befehlsleute gegen die sittliche und intellektuelle Überlegenheit
des Edelmannes: »Dieser edle Geist, durch Tugend und Wort
und militärische Kenntnis überlegen, hatte bei dem Bauernrat
zu Würzburg geniert, und sie hatten ihn ausgeschickt auf diplo-
matische Reisen und ihm das Schwert aus der Hand gewunden.«
Ein Motiv, das Hauptmann aufgegriffen und das ihm vielleicht
zu der Figur des dicken Bauemobersten Georg Kohl den Anstoß
gegeben hat. Die Botschaft von dem Anmarsch des Bundes-
heeres unter Georg Truchseß riß, so erzählt Zimmermann,
Ritter Florian wieder aufs Pferd, er ritt die ganze Nacht hindurch
und war vor Tagesanbruch des 4. Juni im Lager zu Heidingsfeld.
Hauptmann hat das Heldenhafte in Geyer geschickt gesteigert,
indem er dem Ritt die Nachricht von der Niederlage des Weins-
berger Haufens bei Königshofen vorangehen läßt. Zimmermann
hält sich hier an die Quelle, wenn er sagt, daß das Heer aus dem
Lager aufgebrochen sei, ohne von dem Untergange ihrer Brüder
etwas zu wissen; sorglos seien sie in den sonnigen Pfingstmorgen
hineinmarschiert. Mit allem Glänze seiner Farben umgibt er aber
seinen Helden in dem letzten Kampf. Geyer ordnet die Wagen-
burg, als die feindlichen Reiter heransprengen. Er führt die
Schwarzen aus dem Getümmel der Flucht und dem Gemetzel
in die Burgruine von Ingolstadt und schlägt von hier aus mit
seiner Handvoll Tapferer Sturm auf Sturm der Ritter und Knechte
ab. Als die Feinde endlich über Graben und Mauer hineinbrechen,
entkommt er dennoch im Dunkel der Nacht. Nicht um zu fliehen!
Von neuem setzt er sich in einem nahen Gehölz fest, an 200 der
tapfersten und stärksten Männer um ihn, und schlägt sich schließ-
lich, fast allein gelassen, noch einmal durch, bis ihn endhch bei
dem Versuch, im Rücken der Fürsten im Württembergischen die
Versprengten zu sammeln und den Brand neu anzufachen, das
Florian Geyer. 155
Verhängnis ereilt. Sein eigener Schwager, ein Gnimbach, überfällt
ihn; er sinkt fechtend und alle die Seinen mit ihm im hoffnungs-
losen Kampfe. »Nicht Geiz nach Ehre, Einfluß oder Beute war's,«
so schließt Zimmermann seine pomphafte Charakteristik, »was
ihn handeln ließ, auch der Feinde keiner hat dieses ihm nach-
geredet ; und ruhmlos fiel er und schlief lange fast vergessen. Einst
wird auch seine Zeit und sein Lohn mit ihr kommen, wenn auf
der ganzen befreiten deutschen Erde der Vater den Söhnen und
Enkeln erzählen wird von denen, die mit ihrem Blute den Baum
gepflanzt haben, in dessen Schatten der Landmann und der Bür-
ger ein schöneres, ein würdigeres Dasein genießen; dann wird
man auch reden und sagen von Florian Gej^er, dem Hauptmann
der schwarzen Schar.«
Indem ich nun diesem poetischen Gemälde die nüchterne
Wirklichkeit entgegensetze, bedaure ich dabei zunächst nur ge-
druckte Quellen benutzen zu können. Ohne Frage werden die
Archive, zumal die der kleineren Städte und Herren in Ober-
deutschland, noch manche Nachricht über den Ritter und seine
bäuerischen Brüder liefern. Immerhin sind wir, wenigstens über
die Ereignisse zu Würzburg und Rothenburg, durch die, wenn
nicht unparteiischen, so doch gut orientierten und von zahlreichen
Urkunden kontrollierten Chronisten Lorenz Fries von Würz-
burg und Thomas Zweifel, den Rothenburger Stadtschreiber,
hinreichend gut unterrichtet, um die Gestalt des ritterlichen
Bauemfreundes und seine Stellung in ihrem Lager einigermaßen
zu bezeichnen; freihch, um es gleich zu sagen, mit dem Ergebnis,
daß von dem Bilde, wie es die Poeten und die Historiker bisher
entworfen haben, das wenigste übrigbleiben wird.
Zunächst muß die schwarze Schar als eine besondere Garde
Florian Geyers aus der Überlieferung gestrichen werden. Bei
Fries und Zweifel kommen die »schwarzen Bauern« überhaupt
nicht vor, weder im Text noch in den Urkunden, geschweige denn,
daß ein eigenes Korps so genannt wäre. Dort werden die frän-
kischen Bauern geradeso wie die vom Neckartal und Odenwald
als der helle, der gemeine helle, der helle Hechte, der helle
christliche Haufen und ähnlich bezeichnet. Hell ist zunächst
[QQ Kleine historische Schriften.
in der Bedeutung von ganz (heil) zu nehmen. So hießen daher
alle größeren Ansammlungen im Revolutionsgebiet südlich vom
Main, der Haufen von Ellwangen-Dinkelsbühl, der um Gailsdorf,
der im Bruhrain, auch die im speierischen Bistum und andere.
So schreiben z. B. die fränkischen Bauern noch Ende April selbst
von sich: »Wir, die hauptleut, veldweibel, venderich und ganz
versamblung des hellen, hechten Haufen, so in Rotenburgischer
landwer ausgezogen, bekennen offenthch etc.«
Im Mai pflegten die Franken sich jedoch offiziell nach ihrer
Landschaft zu bezeichnen, deren Vertretung sie beanspruchten. So
ist z.B. ein Brief vom ii. dieses Monats unterzeichnet: »Haupt-
leut und rethe der versamleten baurschaft im Land zu Francken,
itzo zu Haidingsfeld.« Und damals, als beide Haufen vor Würz-
burg lagerten, ward der Odenwälder als der helle oder helle hechte
unterschieden. »Auch, lieben herren und brudere,« schreiben die
Franken einer Nachbargemeinde am i6. Mai, »geben wir euch
zu verstehen, das unser und der ander häuf, den man den hellen
häufen nennet, einmutig und eines sinnes sein.« In dieser Zeit
mag auch der Name des »schwarzen Haufens« aufgekommen sein,
doch wohl, um ihn dem hellen gegenüberzustellen. Und nun
wird man vielleicht mit diesem, zumal durch den Zusatz des
hechten, auch den Nebenbegriff des Glänzenden verknüpft haben.
Schwarz aber hat in dieser Zeit auch die Bedeutung des Grau-
samen. Man nannte daher so die fränkischen Bauern, die sich im
Gegensatz zu dem gemäßigteren Vorgehen der Odenwälder durch
ihr schonungslos verheerendes Auftreten hervortaten ; sie brannten
alle Klöster und Schlösser auf ihrem Wege nieder.
So gang und gäbe heute nun auch diese malerische Bezeich-
nung sein mag, ebenso selten findet man sie in den Quellen. Ich
wenigstens vermag kaum ein halbes Dutzend Stellen namhaft
zu machen. Zwei davon finden sich in den Annalen des Rothen-
burger Barfüßermönches Michael Eisenhart, der unter dürf-
tigen und zum Teil recht falschen, erst nach Jahren verfaßten
Aufzeichnungen hier und da wertvollere Notizen bringt. »Item,«
schreibt er das einemal, »die paum vor Würzburg haben gehapt
zwen häufen, der ain genant der hell häuf, der ander genant der
Florian Geyer. 167
schwarz häuf. « Ebenso werden die beiden Haufen unterschieden von
Lutz, dem Herold des Truchsessen, den Holz wart in seiner
lateinischen Chronik nur ausschreibt, und von Ambrosius Geyer
in ihren kunstlosen Aufzeichnungen, die sie über den Zug des
bündischen Heeres und die letzten Kämpfe gemacht haben. Die
andere Notiz bei Eisenhart lautet: »Donerstag nach Crucis
(4. Mai) sein die bäum, der schwarz häuf genant, vonHaylprun gen
Bischofsheim kommen, haben begert das gschoß, das zu Boxberg
ist gewesen. Die Nacht davor sein sy gelegen zu Buchaim (Buchen).«
Hier liegt offenkundig eine Verwechselung vor mit den Odenwäl-
dem, die um jene Zeit, noch ein paar Tage früher, über Buchen
durch den Odenwald gezogen waren; möghch, daß eine Streif-
schar von ihnen Bischofsheim einen Besuch gemacht hat, mit
dem sie sich damals verbrüderten. Die Tauberbauern aber, an die
Eisenhart, der eben nur diese als die schwarzen kennt, allein
denken kann, lagerten in diesen Tagen weit hinter Würzburg,
bei Ochsenfurt am Main. Eine Verwechselung mit den Odenwäl-
dern hegt auch zweifellos vor an einer Stelle in dem Tagebuch
des Wolfgang Königstein in Frankfurt, mag sie nun von ihm
erst hineingebracht sein oder dem Moment des Ereignisses selbst
entstammen: am 5. Mai, erzählt er, habe sich das Gerücht in der
Stadt verbreitet, die schwarzen Bauern kämen; sie lägen schon
bei Miltenberg. Es waren in Wirklichkeit die Odenwälder, welche
an jenem Tage da umher lagerten und in der Tat den Marsch
gegen Mainz in Erwägung gezogen haben.
Dennoch hat es, wenigstens in den Kämpfen um Würzburg,
ein besonderes Korps taktisch geschulter Kriegsmänner gegeben,
und sind es gerade diese gewesen, welche in der Burgruine von
Ingolstadt so heldenmütig fochten und dort bis auf den letzten
Mann niedergemacht wurden; und \^dr sind über diese sogar recht
gut, von zwei Seiten her unterrichtet, von Magister Lorenz Fries
und einem andern Würzburger Chronisten, der den städtischen
Kreisen angehörte und von seinem Herausgeber für den in den
Aufstand verwickelten Stadtschreiber Martin Cronthal gehalten
wird. Es waren zwei Fähnlein sog. freier Knechte, »Fußbuben«,
wie Fries verächthch schreibt, »die vor krieg gebraucht haben
168 Kleine historische Schriften.
mogten und itzund den burgern wider ir aigen herren umb sold
dieneten«. Zu Florian Geyer standen sie in keinerlei Beziehung
und sind offenbar von Würzburg, außer auf ihrem Todesgang,
niemals weg gewesen. Sie lagen in der Stadt und traten zu den
Bauern über, mit denen sie sich nun gegen ihren alten Kriegs-
herrn auf Leben und Tod verbrüdern mußten.
Davon aber kann gar keine Rede sein, daß von dem Tauber-
haufen jemals ein besonderes Korps, möge es geheißen haben,
wie es wolle, sich abgezweigt, mit den Odenwäldern Weinsberg
erstürmt und danach vor ihnen her das Mainzer Oberstift durch-
zogen habe. Wir dürfen dies schon jetzt mit aller Bestimmtheit
behaupten, da wir die Bildung und Marschrichtung der beiden
großen Heerhaufen bis zu ihrer Vereinigung \or \\'ürzburg am
8. Mai Tag für Tag verfolgen können und nirgends einem deta-
chierten und hin und her ziehenden Korps begegnen.
Gerade über die Ohrenbacher Bauern sind wir durch den
ungemein ausführlichen Bericht Zweifels und seine Urkunden
vorzüghch unterrichtet ; Tag für Tag können wir sie verfolgen, seit
dem sie am 21. März ihre beiden Dorf meist er in das nahe Rothen-
burg schickten und das Stadtvolk aufwiegeln ließen, wie sie von
Dorf zu Dorf in der Landwehr umherziehen und die Nachbarn
von allen Feldern ihnen zulaufen; wir kennen ihre Hauptleute
und Räte, ihre Waibel und Profosse und bis ins kleinste die
Forderungen, mit denen sie den Rat in Rothenburg ängstigten,
und die Verhandlungen, die sie mit Stadt und Landschaft führten.
Anfangs, bis Ende März, hatten sie ihr Absehen nur auf das
Rothenburger Gebiet und die Befriedigung ihrer eigenen Be-
schwerden gerichtet. In den ersten Tagen des April aber rückten
sie über die Landwehr hinaus, um die Untertanen Zeisolfs von
Rosenberg, die ihnen selbst vorher Hilfe gebracht hatten, gegen
ihren Herrn zu unterstützen; auch hohenlohesche Bauern, nicht
die von Öhringen, sondern die im Taubergrund, wohin sich hier
die Grafschaft ausdehnte, hatten sich zu ihnen geschlagen. Ritter
Zeisolf saß mit mehreren seiner Freunde und Vettern auf Schloß
Haldenbergstätten, als die Bauern sich auf der Wiese am Burg-
berg lagerten; er ward alsbald zum Vertrage genötigt. Von da
Florian Geyer. 169
zog der Haufe weiter zu den Bauern des von Finsterlohr und
Ritters Hans von Rosenberg, da auch diese den Rothenburgern
geholfen hatten, ihren Rat zu überziehen; es geschah aber bereits
gegen den Willen des Hauptmanns Peter Kerner und einer Min-
derheit, die von den anderen Hauptleuten und Bauern überstimmt
wurden. Sie fielen in das Kloster Scheftersheim ein, wo sie die
Keller leerten und übel hausten. Hier strömten auch die Bauern
aus den würzburgischen Ämtern, von Grünsfeld, Lauda, Mergent-
heim, Bütthart und anderen Flecken und Dörfern ringsumher
zusammen, die alle umgefallen waren, der Tauberhaufe, wie ihn
Zweifel kurzweg nennt. Beide schwuren einander Treue zu; aber
die Tauberbauern, als die weitaus stärkeren, nahmen gleich das
Regiment in die Hand, setzten die Hauptleute und Räte der
Rothenburger ab und wählten einen neuen Kriegsrat, in den auch
von diesen einige, z. B. der große Lienhart, der Pfaffe von Schwar-
zenbronn, und Lienhart Denner, der Pfarrverweser von Leuzen-
bronn, eintraten. Von Florian Geyer aber und seinen Schwarzen
ist in alledem nicht ein Wort zu lesen. Allerdings trennten sich
jetzt die Ohrenbacher und ihre Nachbarn aus der Rothenburger
Landwehr von dem Tauberhaufen — aber nicht, um Georg Metzler
und den Seinen zuzuziehen, sondern um in die Heimat zurück-
zugehen! Es geschah auf Geheiß der Tauberbauern, die ihnen
nur die Verpflichtung abnahmen, sich auf neue Aufmahnung
wieder bei ihnen einzufinden. »Blieben auch still sitzen,« erzählt
Zweifel, »ungefährlich bei acht tagen.« Um die Mitte des Monats
wurden sie wieder aufgefordert, »doch nur viertelsweise«, wie
unser Chronist sagt, also nicht mit der ganzen Macht; sie schick-
ten damals trotz der Abmahnungen seitens ihrer Stadt ein Fähn-
lein hinaus, das dann wohl im Lager blieb. Als endlich das Ge-
schrei von dem Anzüge der Bündischen erscholl und die Lärm-
glocken ringsum die Bauernschaft nach Königshofen zur Hilfe
der bedrängten Brüder zusammenriefen, erhoben sich auch die
Rothenburger von neuem und kamen herbei. Unterwegs jedoch,
erzählt Zweifel, »vernahmen sie den Wind von den Fliehenden
und andern, wie die Paurn zu Königshofen geschlagen und die
christlichen Brüder jämmerlich niedergelegen wären, zugen dem-
170 Kleine historische Schriften.
nach wieder zunick, und ein jeder wieder anhciims, alda sie auch
furter blieben, und kamen also derselben Schelmen keiner mehr
hinaus noch sunst in einige Schlacht, das nit allein bei Fürsten,
Herren und gemeinem Adel, sonder auch bei ihren selbs Herr-
schaften nit kleinen Mißfall, Verdrieß und Neid pracht, daß sie
als die Anfänger der Aufrur in dieser Art (Gegend) also ungeschlagen
und ungestraft darvon komen sollten«.
Wir müssen es uns überhaupt nicht so vorstellen, als ob die
Bauern, indem sie einem der Haufen zuliefen, sich von ihrer
Scholle ganz losgerissen hätten; von der ]\Iasse wenigstens wird
man dies nicht sagen dürfen. Sie suchten den Zusammenhang mit
ihren Dörfern und Flecken möglichst lange zu erhalten; schon um
Weib und Kind, die daheim blieben, nicht ganz verlassen zu müs-
sen, auch um Proviant vom eigenen Hofe bekommen und einmal
selbst nach Acker und Vieh sehen zu können. Vielfach ist in den
Quellen von dem »Abwechsel« und dem »Ausschuß« die Rede.
Man ahmte damit das Landesaufgebot nach, bei dem auch nur
ein »Ausschuß« aus der wehrhaften Mannschaft gemacht \\'urde.
Damit ward alle 14 Tage oder in längeren Fristen abgewechselt.
Auch die Abgeordneten im Rat wurden meist von Zeit zu Zeit
neu bestimmt. Die Nachbardörfer sammelten sich unter einer
Fahne, oder größere Flecken warfen wohl ein eigenes Fähnlein
auf; ein Schultheiß oder ein Dorfwirt wurden zu Befehlsleuten
erwählt und saßen mit den Ortspfarrern im Kriegsrat. Von fester
Ordnung kann natürlich nicht die Rede sein; auch blieben gewiß
zuweilen (wie zumal im Odenwälder Haufen, der so weit herum-
ziehen mußte) ganze Einwohnerschaften im Lager, aber im allge-
meinen werden dies die charakteristischen Züge sein: die Dorf-
schaften beieinander, und zwischen den Haufen und ihren Heimats-
orten eine rege Verbindung, ein immerwährendes Ab- und Zu-
laufen. Undenkbar aber und unmöghch wäre es gewesen, daß
bei so lockerer Verbindung sich in wenigen Wochen ein taktisch
geschultes, kriegsmännisch geordnetes und gerüstetes Korps, wie
die sogenannte schwarze Schar, hätte bilden können.
Weniger gut als über die Tauberbauern sind wir über die
vom Odenwald und Neckar imterrichtet, die nach der Weins-
Florian Geyer. 171
berger Greueltat auch als die Weinsberger bezeichnet werden.
Aber ihre Zusammensetzung läßt sich doch auch gut genug er-
kennen, um einen größeren Zuzug von dem Tauberhaufen her
für ausgeschlossen zu erklären; und schlechterdings keinen Platz
lassen auch die Quellen von dieser Seite für ein besonderes Korps,
das neben und vor dem Hauptheere weg am Neckar und im Oden-
walde marschiert und gestürmt hätte.
Die Aufständischen sammelten sich hier an zwei Punkten.
Bei Kloster Schöntal an der Jagst Hefen die Bauern aus der Zehnt
von Krautheim und Ballenberg zusammen. Dies waren die Oden-
wälder; ihr Rädelsführer Georg Metzler, der Wirt von Ballen-
berg. Ihre Absicht war von Anfang an auf das Mainzer Stift,
dem sie Untertan waren, gerichtet. Schon am 6. April schrieben
sie an Bischofsheim und andere odenwäldische Städte und for-
derten sie zum Beitritt auf. Sie vereinigten sich hier mit den
Untertanen der Grafen Albrecht und Georg von Hohenlohe, die
in denselben Tagen um Öhringen gegen ihre Erbherren aufge-
standen waren, und zwangen die Grafen zur Bewilligung ihrer
Forderungen und zum Eintritt in ihren Bund. Am lo. April
waren sie von Schönthal, an 8000 Mann stark, nach Neuenstein,
dem Sitz der Grafen, gekommen, am 11. mrd schon Georg Metz-
ler als der Oberste bezeichnet, der Haufe aber als »der helle Hechte,
so aus Oringau gezogen«. Erst später, nachdem sie aus aUen
Tälern Zulauf erhalten, traten sie als die Bauern vom Odenwald
und Neckartal auf. So brachen sie, nachdem sie Weinsberg und
Heilbronn, auch Neckarsulm sowie die Schlösser der Deutsch-
herren bezwungen hatten, gegen das Mainzer Oberstift auf, dessen
südHchsten Ort, Neidenau an der Jagst, sie schon am 20. April
in ihre Einung aufnahmen. Der Statthalter des Erzstiftes, Bischof
Wilhelm von Straßburg, ein Graf von Hohenstein und Verwandter
Bertholds von Henneberg ruhmreichen Angedenkens, hatte ge-
hofft, von Miltenberg aus die Odenwälder in Ruhe erhalten zu
können. Aber vergebens bemühte er sich um Reisige; nicht mehr
als 120 Pferde brachte er zusammen. Auch Richard von Greifen-
klau, der Erzbischof von Trier, an den er sich um Hilfe wandte,
konnte zunächst nicht aufkommen, während der Rheingau abge-
\ 72 Kleine historische Schriften.
fallen war und das Oberstiit bereits durch Sendboten der Bauern
unterwülilt wurde. So sah sich Wilhelm gezwungen, nach Aschaf-
fenburg, der bischöflichen Residenz, zurückzuweichen, während
die Weinsberger von Gundelsheim und Neidenau her einbrachen
und mit leichter Älühe die neun Städte zu sich brachten. Auch
in Aschaffenburg ward dem Bischof bald der Boden zu heiß. Als
er aber am Freitag nach Misericordiä (5. Mai) aufbrechen wollte,
ließen ihn die eigenen Bürger nicht fort ; sie versperrten die Straßen
mit Fässern und Karren und hielten ihren Herrn, von den Spessart-
bauern unterstützt, drei Tage im Schloß gefangen, bis die Weins-
berger herankamen und auch ihn zum Vertrage zwangen. Er
mußte versprechen, bis zum 21. Mai 15 000 Gulden zu zahlen;
acht Abgesandte gingen \'on dem Bauernheer am Main abwärts,
um die Mainzer und Rheingauer zum Beitritt aufzufordern und
die ZaUung des Geldes zu betreiben. Der Vertrag von Aschaffen-
burg ist als eine der wichtigsten Wendungen in der bäuerischen
Revolution zu bezeichnen; denn nur so kaufte sich der Bischof
von dem Zuge der Bauern an den Rhein los, wo auf dem Lande
und in den Städten, Frankfurt und Mainz voran, der gemeine
Mann es mit den Rebellen hielt und die Fürsten zurzeit noch
fast ungerüstet waren; indem sich die Odenwälder aber gegen
Würzburg wandten, kam das Feuer der Empörung in diesen Land-
schaften nicht auf oder blieb isoliert und ließ sich leicht ersticken.
Wir sind über diese Ereignisse durch die Korrespondenz der
genannten Fürsten, wozu noch die Apologien Götzens von Ber-
lichingen und andere Urkunden kommen, recht gut unterrichtet
und müßten also, wenn wirküch Geyer mit einer Abteilung der
Frankenbauern vor dem Hauptheere sengend und brennend, wie
seine Gesellen pflegten, durch den Odenwald hin gefegt wäre
und die neun Städte dem fränkischen Haufen verpflichtet hätte,
zweifellos etwas davon hören; aber mit keiner Silbe wird von
anderm als dem Zuge des Odenwald-Neckartaler Heeres ge-
sprochen. Schon darum könnten wir getrost die Geschichte von
der schwarzen Garde ins Reich der Fabeln verweisen. Zimmer-
mann hat seinen buntschillernden Bericht hierüber ledigHch aus
zwei Stellen zusammengewebt, aus der Notiz Eisenharts über
Florian Geyer. 173
den Zug des schwarzen Haufens nach Bischofsheim, die wir be-
sprachen, und aus einer urkundlich gesicherten Behauptung Geyers
oder eines Mitgesandten, die am 14. Mai in Rothenburg fiel: jener
habe die neun Städte auf dem Odenwald vor den Weinsbergern
persönlich zur Huldigung an das fränkische Heer gebracht. Wann
und wie das geschehen ist, ob auf einer Gesandtschaft Florians
dorthin, oder ob die Städte ihrerseits die Huldigung im Lager
haben aussprechen lassen, wissen wir nicht, es läßt sich schlecht-
hin nichts darüber behaupten; möghch aber, daß es in der Zeit,
als der fränkische Haufe um Mergentheim und Lauda, an der
Grenze des Mainzer Stiftes lag, in der zweiten Aprilwoche ge-
schehen ist.
Muß nun aber nicht, wenn der Mantel fällt, auch der Herzog
mit? Bleibt für Florian Geyer selbst bei Weinsberg, Heilbronn
und Neckarsulm überhaupt noch Platz, wenn seine schwarze
Garde nie existiert hat ? Soviel ich sehe, nennt ihn nur eine Quelle
bei den Ereignissen im Neckartal gegenwärtig, eine anonyme
badische Chronik, dieMone in der Quellensammlung zur Badischen
Landesgeschichte herausgegeben hat; doch berichtet diese nur
nach Hörensagen, und die Notiz steht mitten unter ganz irrigen
Angaben und führt sich selbst unter einem »wie man sagt« ein;
wir werden sie kaum zu berücksichtigen haben. Zimmermann
gibt nirgends eine Quelle an. Was er von der Ersteigung des
Schlosses schreibt, hat er aus Zweifel, der aber von Florian Geyer
keine Silbe sagt. Auch hat jener seine Quelle falsch gelesen;
denn statt »im Grünen«, wie er poetisch schreibt, heißt es dort:
»im Grimmen erstiegen, erstürmten und eroberten die Bauern
das Schloß und nahmen danach die Stadt Weinsberg ein«; wir
können getrost annehmen, daß der Historiker des Bauernkrieges
hier wie anderwärts lediglich seiner blühenden Phantasie gefolgt
ist. Heyd in seiner Biographie Ulrichs von Württemberg zitiert,
indem er dieselbe Tatsache meldet, Bensen und Oechsle, von
deren Hand wir zwei größere, oft ausgeschriebene Darstellungen
des Aufruhrs in den schwäbisch-fränkischen Gebieten besitzen.
Von diesen beruft sich Bensen nur wieder auf die Stelle bei
Zweifel, die er mit demselben Lesefehler anführt; Oechsle, der
174 Kleine historische Schriften.
älteste von diesen Historikern (1830), weiß zwar von allen Taten,
die Zimmermann seinem Helden zuschreibt, nichts, nennt ihn
aber doch im Bauernrat nach der Eroberung Weinsbergs anwesend
und legt ihm dabei ein ihm oft nachgeschriebenes Wort in den
Mund, das sich in der Tat, wie wir sehen werden, mit dem Pro-
gramm Geyers und der Tauberbauern deckt: er habe gesagt,
man solle alle Schlösser ausbrennen, und ein Edelmann sollte
nicht mehr als eine Türe haben, wie ein Bauer. Eine Quelle gibt
aber auch dieser keineswegs kritisch feste Forscher nicht an;
und wir müssen allen unsern Gegengründen gegenüber zunächst
auch an dieser Angabe Zweifel hegen. Zwei Lokalhistoriker, die
noch vor Oechsle schrieben und sich auf handschriftliche Quellen
berufen, Justinus Kerner und ein anderer Schwabe, ein Pfarrer
Jäger, wissen von Florian Geyer nichts, obgleich sie, wie man bei
Kern er wenigstens kaum zu sagen braucht, es an romantischem
Beiwerk nicht fehlen lassen und so unkritisch sind wie alle anderen.
Jäger hat die Ereignisse bei Weinsberg und Heilbronn später
noch einmal in größerem Zusammenhang und ausführhcher dar-
gestellt. Hierfür hat er die Untersuchungsakten im Heilbronner
Stadtarchiv und die Schwäbischen Bundesakten im Staatsarchiv
zu Stuttgart recht fleißig benutzt und manche wertvolle Notiz
beigebracht ; aber Florian Gej'ers Namen hat er nirgends gefunden.
Wir besitzen mehrfach gedruckte Listen der Edelleute, Klöster
und Städte, '\\elche von den Odenwald- und Neckarbauern in diesen
Wochen in ihren Bund aufgenommen worden sind: der Name
Florians fehlt in allen. Nirgends nennt Götz von Berlichingen
ihn in seinen Berichten über den Aufruhr, obgleich er ihn sehr
wohl gekannt hat; denn Geyer war es, der den Ritter mit der
eisernen Hand 15 19, als er das Amt Möckmühl für Herzog Ulrich
von Württemberg verwahrte, in dem Zuge des Schwäbischen
Bundes gegen diesen mit anderen Gesellen vom Adel überfallen
und in den Gewahrsam des Bundes gebracht hatte. Götz hat
uns selbst diese Notiz in seiner Selbstbiographie mitgeteilt —
beiläufig das einzige, was wir aus dem früheren Leben Geyers
^^^ssen. Thomas Zweifel zählt einmal die Hauptleute des Weins-
bergischen Haufens auf, Götz und Metzler an der Spitze, Florian
Florian Geyer. 175
Geyer aber ist nicht darunter; und gerade diesen hätte Zweifel,
der ihn persönhch so genau kannte, doch dabei aufführen müssen.
In keiner der Urkunden, welche Berlichingen und Metzler aus-
stellten (und wir haben deren eine ganze Reihe), kommt der Name
vor, keine Spur davon in allen Akten von ihrem Heerzuge. Wenn
Zimmermann berichtet, daß Geyers Schwarze das Geschütz in
Neckarsulm genommen und damit den Scheuerberg gebrochen
hätten, so steht bei Oechsle, den er hier wohl ausschreibt, nichts
davon. Dieser hat aus den Untersuchungsakten die Namen der
Ortschaften ausgezogen, die an der Erstürmung jenes Schlosses
teilgenommen haben: es sind lauter Dörfer vom Odenwald und
Neckartal. Unverständhch endhch wäre es, was Florian Geyer
überhaupt zu den Odenwäldern geführt haben könnte; nur bei
seinen fränkischen Landsleuten ist er zu vermuten.
In der Tat weisen die Urkunden ihn hier zuerst nach. Am
6. und 7. Mai lagerte der Tauberhaufen bei Ochsenfurt und brachte
von hier aus das nahe Kitzingen, das schon markgräfhch war,
in den Bauernbund. Damals hat Florian Geyer mit Lienhart
Denner, dem Pfarrverweser zu Leuzenbronn, von der Rothen-
burger Bauernschaft, und zwei anderen Genossen die Verhand-
lung geführt; am 8. Mai ritt er dem Haufen, der schon am Abend
vorher von Ochsenfurt aufgebrochen war, in das Lager von Hei-
dingsfeld oberhalb Würzburgs nach; als er ankam, rückten ge-
rade die Odenwälder in ihr Lager vor dem Würzburger Schlosse
ein. Und in dieser Stellung finden wir den Ritter fortan. Gleich
am nächsten Tage erschien er mit anderen Botschaftern beider
Haufen vor Rat und Gemeindeausschuß zu Würzburg, um sie
zum Anschluß an ihre Sache zu bewegen. Es wird uns ausdrück-
lich bezeugt, daß er dabei das Wort geführt und das Programm
der Bauernschaft entwickelt habe. Wir können daher wohl an-
nehmen, daß er auch schon in Kitzingen den Vortrag gehabt hat,
zumal da wir ihn auch später in dieser Rolle finden. Denn schon
wenige Tage nachher, am 13. Mai, kam er mit den Rothenburger
Gesandten und von anderen Bauerndeputierten (darunter wieder
Lienhart Denner, der ein Stadtkind, eines Ratsherrn Sohn war)
begleitet nach Rothenburg, um Rat und Gemeinde auf das frän-
176 Kleine historische Schriften.
kische Programm zu verpflichten und das schwere Geschütz der
Stadt für die Beschießung des Frauenberges zu gewinnen. Hier
war er wieder der Sprecher, erst vor den Räten und dem Aus-
schuß, dann vor den Bauern, die man vom Lande hereingerufen
hatte, und schHeßhch, am 15. Mai, in der Kirche vor der ver-
sammelten Gemeinde. Er trug die Forderungen des fränkischen
Heeres vor und las die Artikel und die Schwurformel ab : zu Gott
dem Allmächtigen und auf das heilige Evangehum, mit aufge-
reckten Fingern schwuren die Bürger, die Artikel der Bruder-
schaft halten zu wollen.
Unterdessen nahte bereits von Süden her das Unheil. Am
12. Mai schlug Jörg Truchseß die württembergische Bauernschaft
vernichtend bei Böblingen; am 20. traf Weinsberg für den Frevel
vom Ostertage sein schreckliches Strafgericht: es ward ausge-
plündert und verbrannt, die Einwohner, nur Weiber und Kinder
fand man im Städtchen, in das Elend getrieben; am 26. ward
Neckarsulm, in dem sich zwei Bauernfähnlein zur Wehr setzten,
erstürmt, die Bauern gefangen, zum Teil enthauptet. Nun beugte
sich alles Land bis an die Jagst. Die Odenwälder, welche von
Würzburg her zur Hilfe geeilt und schon bis Neckarsulm gekom-
men waren, wichen erschreckt zurück bis Krautheim und dann
in die feste Stellung bei Königshofen. Hier ereilten die Bündischen
sie am 2. Juni und vernichteten fast ohne Gegenwehr ihren Hau-
fen; und zwei Tage darauf, am Pfingstmorgen, wurden auch die
Franken bei Sulzdorf und Ingolstadt zertrennt und niederge-
metzelt.
Florian Gej^er aber hat an allen diesen Bluttagen keinen
Anteil gehabt. Er war mit seinen Ratsfreunden in Rothenburg,
als die Bauern vor Würzburg in der Nacht zum 16. ]\Iai den ersten
Sturm auf den Frauenberg wagten, bei dem sie den Kern ihrer
Leute in dem Graben liegen lassen mußten. Am 17. kehrten die
anderen Gesandten in das Lager zurück, mit den Rothenburger
Notschlangen, welche die Mauern der Würzburger Feste brechen
sollten. Ritter Florian aber bHeb in Rothenburg, auf Betreiben
Stephans von Menzingen, der mit ihm zu i\Iarkgraf Kasimir reiten
wollte, um womöglich den HohenzoUerfürsten in die Bruderschaft
Florian Geyer. 177
■ZU bringen; aber sehr gegen den Willen der anderen Gesandten,
die ihrem Genossen den Ritt geradezu untersagten. Er mußte
erst durch einen besonderen Brief aus dem Lager heimgefordert
werden, ehe er am 19. Mai sich dazu verstand, nach Heidingsfeld
zurückzugehen. Ein noch bedenklicheres Licht als diese Insub-
ordination wirft auf sein und Menzingens Treiben die Tatsache,
daß dieser ihm damals ein kostbares Meßgewand aus den Kirchen-
schätzen, die \om Rothenburger Rat eingezogen waren und in
einer Truhe auf dem Rathause verwahrt \\Tirden, verehrt hat;
auch Hans Bezold, der Schultheiß von Ochsenfurt, mit dem Gej^er
viel zusammensteckte, nahm eins der Ornate an, die von Seide
und Samt und mit silbernen und goldenen Kreuzen und Em-
blemen reich verziert waren. Menzingen suchte den Handel vor
dem Bürgermeister Georg Bermeter und dem Altbürgermeister
Erasmus von jMusloe damit zu entschuldigen, daß man es Florian
und seinen Mitgesellen im Lager zu Heidingsfeld habe versprechen
müssen, da sie Geld nicht nehmen dürften. Die Tat ist dem Rothen-
burger Volksmann verhängnisvoll geworden; denn in dem Prozeß,
der ihm den Hals kostete, ward ihm besonders diese Unterschla-
gung des Stadtguts angerechnet.
Als die Odenwälder von \\'ürzburg an Jagst und Neckar
zurückgegangen waren, schrieben die Franken zum i. Juni einen
Landtag nach Schweinfurt aus, zu dem sie auch die Nachbarn
im ganzen Kreis, darunter Nürnberg und den Markgrafen Kasi-
mir, einluden. Mit anderen ward auch Geyer von dem hellen
Haufen dorthin abgeordnet. Verhandelt wurde nichts; der Schrek-
ken lähmte allen die Glieder. Von Schweinfurt nun kam Florian
Geyer mit Stephan von Menzingen, der seine Stadt dort ver-
treten hatte, und vielen anderen, ohne das Lager zu berühren,
am 3. Juni nach Rothenburg, wieder in der Absicht, mit dem
Markgrafen, der nicht weit von der Landwehr bei Bergel mit
seinen Reisigen lagerte, in Unterhandlung zu treten. Diesmal
hatte man ihnen in Schweinfurt wirklich den Auftrag dazu ge-
geben. Sie hatten sich von Kitzingen aus an den Fürsten um
Geleit gewandt und warteten nun darauf in Rothenburg. So
berichtet uns mit dürren Worten Zweifel, und es ist durch nichts
Lenz, Kleine historische Schriften. 12
'l 78 Kleine historische Schriften.
gerechtfertigt, wenn Zimmermann, und mit ihm alle Welt, an-
nimmt, daß der edle Ritter auf die Nachricht von der Gefahr
seiner Brüder sich, kaum daß er angekommen, wieder aufs Pferd
geworfen habe und die Nacht durch geritten sei, um Not und
Tod mit jenen zu teilen. Am 4. Juni, dem Pfingst- und Schlacht-
tage von Ingolstadt selbst, kam überhaupt erst das Schreiben
der fränkischen Bauern nach Rothenburg, in dem sie von dem
Anzüge der Bündischen gegen Würzburg Meldung taten und zur
Hülfe mit dem »Feldgeschoß, Reiswägen, auch Handbüchsen,
langen Spießen und Hellenparten« aufforderten.
Am Freitag war allerdings schon das Geschrei in Würzburg
verbreitet gewesen, daß die Brüder in Königshofen bedrängt
wären, und daß man ihnen zu Hülfe ziehen müsse. Aber keiner
wollte recht heran, am wenigsten die Hauptleute und Pfennig-
meister, die sich zum Teil schon jetzt verloren; zuletzt war ein
Teil des Volkes doch aus der Stadt, wo jetzt alles lag, in das alte
Lager von Heidingsfeld hinausgezogen, aber am Samstag morgen
liefen sie schon wieder zurück. Als nun gemeldet wurde, daß die
Uffenheimer kämen und schon im Lager von Heidingsfeld wären,
zog man nachmittags wieder hinaus. Erst in der Frühe des
Pfingstmorgens, als das Ave-Maria geläutet wurde und ein Vor-
trupp der Bündischen schon bis nahe an die Mauern des Schlosses
herangeritten war, brach das Heer auf, und von allen Seiten
kamen jetzt die Nachbarn herbei, bis von Ochsenfurt und Kitzin-
gen her. Daß bei Königshofen bereits alles entschieden war, wuß-
ten diese armen Kriegsgesellen noch immer nicht; sie meinten
nicht anders, als die christlichen Brüder, »die nunmehr längst
erkalt waren«, wie der Chronist schreibt, zu retten. Vor ihnen
her war Jörg Spelt der Junge, der die Stadt Rothenburg zu Schwein-
furt und im Lager mit vertreten hatte, an demselben Morgen
von Würzburg fort und heimwärts geritten. Unterwegs sah er,
wie hinter ihm auf dem Gäu um Giebelstadt her fünf, sechs Feuer
aufgingen; daß dort seine bäuerischen Brüder in dieser Stunde
geschlachtet wurden, wußte er doch noch nicht dem Rat zu be-
richten, so wenig wie er von der Niederlage der Odenwälder
Kunde hatte.
Florian Geyer. 179
Doch kam an diesem Tage das Gerücht in die Stadt von
dem, was bei Königshofen geschehen war; die Gewißheit konnte
der Rat erst am zweiten Pfingsttage nach außen melden. In dieser
Stunde trat Menzingen noch vor Räten und Ausschuß mit einem
Bericht auf über das, was in Schweinfurt beschlossen oder viel-
mehr nicht beschlossen war, und noch immer hielt er an dem
Plan, mit dem Markgrafen zu verhandeln, fest. Auch suchten
er und die Seinen sich noch zu behaupten, als immer gewissere
und schlimmere Meldungen von dem Unglück im Felde in die
Stadt kamen und unter dem Eindruck des Schreckens und der
drohenden Rache des Bundes die Ratspartei wieder ihr Haupt
erhob und Bürger und Bauern den Mut verloren; er forderte,
denn er spielte jetzt um sein Leben, daß man Kriegsvolk bestelle
und sich gegen eine Belagerung wehre, um einen guten Vertrag
zu bekommen. Aber die Konservativen und die Ängstlichen
trugen es über ihn davon. Am 7. Juni kamen die Abgeordneten
Rothenburgs, darunter Thomas Zweifel, der Stadtschreiber, selbst,
in das Lager von Heidingsfeld, wo es sich jetzt die Bündischen
wohl sein ließen. Als sie einritten, wurden sie von etlichen Kriegs-
leuten, die sie kannten, angeschrien: »Ei, kumpt ir, kriecht ir
zum kreuz, es ist eben zeit, wir wollten sunst selbst sein komen
und euch daheim gesucht haben.« Es kostete ihnen noch Mühe
genug, den Groll der hohen Herren zu besänftigen, und ihrer
Stadt manchen schweren Batzen. Bevor aber Rat und Gemeinde
sich zu diesem schweren Schritte entschlossen, mußten sie be-
zeugen, daß sie mit der Bauemsache nichts mehr zu tun haben
wollten. »So ward,« heißt es daher in unserer Chronik, »Florian
Geyern und andern der paum hauptleuten darvor gebotten,
sich hinwegk zu tun.« Es ward ihnen befohlen, und sicherlich
nicht eher, als Menzingen und seine Partei ihre Sache verloren
hatten, d. h. also nicht vor dem 5. und wahrscheinlich erst am
6. oder gar am 7. Juni. Mithin ist das Ahbi Gej^ers für die Schlacht
bei Sulzdorf und Ingolstadt festgestellt, und alle Romantik, die
Zimmermann über den letzten Kampf ausgebreitet, hat er, so-
weit es wenigstens seinen Helden angeht, sich aus den Fingern ge-
sogen. In der Tat berichten unsere Quellen von dem Ritter in der
180 Kleine historische Schriften.
Schlacht ledigHch nichts, und das, was sie über den Angriff auf
die Wagenburg, die Erstürmung der Burgruine und das Gemetzel
im \\'alde erzählen, lautet überhaupt ganz anders als das farbige
Gemälde, das Zimmermann daraus gestaltet hat. Von irgend-
welcher Ordnung oder gar von Widerstand war gar nicht die
Rede. Sondern wie nur die Reisigen ansetzten, nachdem nur ein
paar Geschütze abgefeuert waren, zertrennte sich die Wagen-
burg, hinter der man Deckung gesucht, und ergoß sich die Menge
in wilde Flucht. Hinter ihnen her die Reiter mit Schlagen und
Stechen. Pardon wurde nicht gegeben. Auf dem weiten Felde
war kein Entrinnen. Zu Tausenden lagen auf Wegen und Äckern
meilenweit die toten Körper.
Unterdes irrte der verjagte Ritter zwischen den brennenden
Dörfern und den Fliehenden und Verfolgern, seinen christlichen
Brüdern und seinen adeligen Verwandten umher. Er hatte sich
nach Norden gewandt und ist noch über den Main gekommen.
Aber auf dem Felde bei Schloß Rimpar ward er von den Knech-
ten Wilhelms von Grumbach am 9. Juni überfallen, erstochen
und beraubt. Es beruht auf einem Lesefehler, wenn Zimmer-
mann und ihm nach viele andere ihn in der Grafschaft Limburg,
im Württembergischen, sterben lassen, und was Zimmermann
über den letzten Kampf zu sagen weiß, entstammt nur wieder
seiner Phantasie. Hauptmann hat auch hier bewiesen, daß
er die Quellen kennt, wenn er das Schloß Rimpar als Schauplatz
nennt.
Woher Zimmermann die Nachricht hat, die auch jener
adoptierte, daß Wilhelm von Grumbach Florian Geyers Schwaiger
gewesen sei, weiß ich nicht; die zwei Quellen, die uns seinen Tod
melden, haben davon nichts.
Man sieht nun wohl, daß Ritter Florian kein unbedeutender
Mann gewesen ist, da ihn die Bauern überall zu ihrem Wortführer
gemacht haben. Die diplomatischen Missionen, von denen uns
die Quellen berichten, werden wohl nicht die einzigen gewesen
sein; ich denke, daß er z. B. auch Ochsenfurt zu den Bauern ge-
Florian Geyer. 181
bracht hat; und vielleicht war er, wie wir sahen, mit dieser Auf-
gabe auch bei den neun Städten im Odenwald betraut. Militärisch
tritt er nirgends hervor; es läßt sich also auch nicht sagen, ob die
Heeresordnung, die sich die Bauern in Ochsenfurt gaben, auf ihn
zurückzuführen ist, und es ist bare Willkür, wenn man ihn als die
militärische Intelligenz des Heeres hat ansehen und seine diplo-
matischen Sendungen gar mit der Eifersucht der bäuerischen
Kriegsleute hat motivieren \A'ollen. Er nahm, wie es scheinen
möchte, im Bauernheere ungefähr die gleiche Stellung ein wie
sein Standesgenosse Stephan von Menzingen in Rothenburg, der
auch nur in Verhandlungen, nicht als Kriegsmann auftritt. Doch
bleibt ganz ungewiß, was etwa oder ob irgend etwas in dem Pro-
gramm des fränkischen Bauernheeres, das er zu vertreten pflegte,
auf ihn speziell zurückgeht, und nur das ist sicher, daß er sich
mit demselben völlig identifiziert hat.
Hierin liegt nun aber eine höchst bemerkenswerte und bisher
nie recht beachtete Differenz der Tauberbauern zu ihren Alliierten
vom Odenwald und Neckartal. Ihre Artikel waren viel radi-
kaler. Sie wiederholen immer folgende Punkte. Erstlich soll
das heilige Wort Gottes, die evangelische Lehre, aufgerichtet wer-
den; und was das heilige Evangelium aufrichtet, soll aufgerichtet
sein, was es niederlegt, soll niedergelegt sein und bleiben. Dazu
sollen Hochgelehrte der heiligen, göttlichen, wahren Schrift be-
hülflich sein. Sie sollen eine »Reformation« aufrichten dessen,
was man geistlicher und weltlicher Oberkeit schuldig sei zu leisten
oder nicht, und danach soll sich hinfort jedermann richten. In
diesen Sätzen erschöpfte sich das geistliche Interesse des frän-
kischen Haufens. Das erfuhr Karlstadt, als er von Rothenburg
her mit der Kolonne, die das Geschütz ins Lager führte, zu Hei-
dingsfeld erschien ; die Bauern wollten ihn weder sehen noch hören.
In Rothenburg hatte er sich einen Anhang gemacht ; Kaspar
Christian, der Pfarrer und Kommentur vom Deutschen Hause,
predigte auf seine Weise vom Sakrament, und an dem alten
Ehrenfried Kumpf und Jörg Spelt besaß er hitzige Gönner. Aber
in anderen Kreisen, trotzdem sie bäuerisch gesinnt waren, miß-
fiel seine Agitation; als er damals aus der Stadt ritt, hätte ihn
132 Kleine historische Schriften.
ein Söldner, der Schäferhans, beinahe erstochen, wenn nicht Jörg
Spelt zu Hülfe gekommen wäre ; und als der Professor dann, im Lager
abgewiesen, nach Rothenburg bei Nacht und Nebel zurückkam,
verdankte er es nur Stephan von Menzingen, daß man ihn durch
das Tor einließ. ÄhnUch erging es, wie es scheint, im Bildhäuser
Haufen nördlich vom Main einem Münzerschen Jünger, einem
Kürschner, welcher von Thüringen her erschien und seine anar-
chischen Lehren, daß man alle Obrigkeiten totschlagen müsse,
vortrug. Alsbald stand der Pfarrer, der im Lager war, gegen
ihn auf und beeilten sich die Hauptleute, von Neustadt a. S.
zwei Prädikanten, die als besonders schriftgelehrt berühmt waren,
zu Hülfe zu rufen. Hier, in den Vorbergen des Thüringer Waldes,
nahe dem Kemlande der deutschen Reformation, wurden aller-
dings auch kirchlich-reformatorische Forderungen laut. Die Mei-
ninger wünschten z. B. Unterdrückung des Konkubinats der
Priester und Ausweisung aller Ehebrecher, deutschen Gottes-
dienst und freien Schulunterricht, den man, wie auch das Pfarr-
amt, von den geistHchen Gütern unterhalten müsse. So verlangten
auch die von Münnerstadt, der Stadt Sylvesters von Schaumburg,
daß man statt der bisherigen Pfafferei und Möncherei zwei vor-
nehme, redliche, gelehrte Männer nach der Lehre Pauli zu Pre-
digern und Verkündem des Wortes Gottes wähle, denen zwei
»Leviten« für freien Schulunterricht zur Seite treten möchten;
sie fügen den merkwürdigen Wunsch hinzu, daß die Prediger und
Lehrer, wenn sie ehelich werden wollten, ihre Frauen für den
Unterricht der Mädchen anweisen sollten »domit bede, menhch
und weiblich geschlegt, von Gott zugleich beschaffen, des gesatzes
und glaubens desto kundiger werden mochten«. An die Spitze
ihrer Artikel stellten beide Städte die freie Predigerwahl. Und
so forderten auch die Rothenburger Bauern im Anfang das Recht,
ihre Pfarrer zu setzen und zu entsetzen.
In dem Programm des fränkischen Haufens aber steht nichts
davon. Wenn Florian Geyer in Rothenburg erklärte, das Evan-
gehum solle frei, lauter, klar, ohne menschliche Zusätze gepredigt
und nicht mehr, wie bisher, unterdrückt werden, damit der ein-
fältige Mann zur rechten, wahren Erkenntnis desselben kommen
Florian Geyer. 133
möchte, so ging der Sinn dieser Phrase, die seit Jahren auf allen
Gassen im Reich wiederholt wurde, bei ihm und seinen Freunden,
zunächst wenigstens, nur auf Säkularisation. Sie wollten den
Pfaffen an ihre Güter. Wo sie auf ein Kloster trafen, flog der
rote Hahn aufs Dach; was sich an geistlicher Habe vorfand, ge-
hörte dem Profossen, der es verbeutete, wenigstens den Wein in
den Fässern und das Getreide auf den Böden, oder dem hellen
Haufen zugut inventarisierte und verwahrte. Auch hierüber
kamen Geyer und seine Mitgesandten mit den Herren von Rothen-
burg hart aneinander. Denn diese hatten sogleich selbst Hand
auf die Güter ihrer Geistlichkeit gelegt und waren nicht gewillt,
dem hellen Haufen die Verfügung darüber zu lassen; sie boten
anfangs dem Profossen loo Gulden als Entschädigung an; und
ge\\iß nur, weil die Bauern das schwere Geschütz der Stadt haben
mußten, gaben ihre Deputierten endlich nach, daß Räte und Aus-
schuß die Güter in Verwahrung behielten, »nit zu verstören, son-
dern gemeiner Stadt und dem ganzen hellen Haufen damit zu
gewarten.« Deshalb vielleicht hat es sich der Ritter nicht übel
genommen, jenes kostbare Kirchenomat einzustecken, da es im
Grunde ja nicht der Stadt Rothenburg, sondern dem hellen Hau-
fen zur Beute fallen müsse. Von einer religiösen Erhitzung im
Sinne Münzers oder taboritischer oder auch nur Karlstädtischer
Meinungen, wie man so oft gesagt hat, kann bei den Franken
nicht die Rede sein. Auch wollten sie die Geistlichkeit nicht ver-
tilgen; ausdrücklich bestimmten sie, daß diese, da sie auch Chri-
stenleute seien und ihre Leibesnahrung haben müßten, auch mit
schnöden Worten und unbiHigem Handeln nicht belästigt werden
dürften, ausreichend unterhalten werden sollten.
Sonst aber sollte niemand Renten, Zinsen, Gülten oder Zehn-
ten geben, weder geistlichen noch weltlichen Herren, bis die Sache
nach der Meinung des Evangeliums ausgeführt wäre. Denn wie
den Klöstern, so war auch den Adelshäusern das Verderben ge-
schworen. Der fränkische Haufen war hierin unerbittlich: kein
Schloß, kein Wasserhaus, kein Turm, der in ihre Gewalt fiel, blieb
verschont. Sie duldeten auch nicht, daß das Gebälk und die Steine
von der Nachbargemeinde zu eigenem Nutz verwandt würden:
|g4 Kleine historische Schriften.
alles wurde niedergebrochen und verbrannt. Es war wie in den
alten Zeiten, als die sächsischen Bauern aufgestanden waren, um
die Burgen König Heinrichs und seiner Ministerialen zu zerreißen.
Das Geschütz ward dem hellen Haufen ausgeliefert. Niemand
sollte fürderhin einen gerüsteten reisigen Gaul halten, jeder Edel-
mann sollte wie ein Bauer leben und ungefährdet fortan der Land-
mann seinen Acker bestellen, der Bürger seine Straße ziehen.
Doch darf man nicht glauben, daß das Bauernprogramm die
Lehre eines agrarischen Kommunismus verkündigt habe. Aus-
drücklich und wiederholt erklärte Florian Geyer den Rothen-
burgern, daß man nicht daran denke, die geistlichen und welt-
lichen Bürden abzustreifen, denn das wäre nicht christlich, nicht
brüderlich, billig und recht, oder das Regiment in Städten und
Herrschaften völlig umstoßen wolle. Auch sollten, so lange, bis
die Gelehrten der Heiligen Schrift festgestellt hätten, was christ-
lich und recht sei, alle Steuern und Dienste eingehalten werden.
Femer blieben den Edelleuten, im Gegensatz zu der Geistlichkeit,
ihre Güter zu eigen, die liegenden sowohl, wie auch ihre fahrende
Habe; und mehrfach geschah es, daß der Bauernrat zugunsten
edler Herren und Frauen eintrat, wenn sie mit der Klage kamen,
daß die Bauern ihnen, nachdem ihre Häuser zerstört wären, noch
ihr Vieh fortgetrieben oder Wein und Getreide verzehrt hätten.
Solchen Übeltätern galt der Galgen, der im Namen des hellen
Haufens auf den Marktplätzen der Städte errichtet wurde. Nur
wer sich widersetzte, ward seiner Habe beraubt.
Wir wissen nichts darüber, wann und wo das fränkische
Programm aufgekommen ist und wer es ausgedacht hat. Erwähnt
finde ich den Satz von dem Evangelium, das niederlegen und
aufrichten müsse, zuerst in den Artikeln der Rothenburger Bauern
vom 7. April und zwei Tage darauf in den Verhandlungen, welche
Bischof Konrad und seine Ritterschaft am Palmsonntag mit dem
Tauberhaufen, der damals zu Mergentheim lag, führen ließ. Ob
nun aber Florian Geyer oder irgend ein Pfaffe, etwa Bubenleben
von Mergentheim oder Lienhart Denner, den Zweifel neben zwei
anderen Geistlichen aus der Rothenburger Landwehr als Kanzler
und Schreiber, Prediger, Vorgeher und Verführer der Aufrührer
Florian Geyer. 135
bezeichnet, oder wer sonst immer das Schlagwort aufgebracht
hat, läßt sich nicht ausmachen.
Der Gegensatz zwischen den Odenwald-Neckar-Bauern und
den Franken zeigt sich besonders in ihrem Verhalten zu dem
Adel. Jenen kam es darauf an, das Geschütz zu bekommen und
etwa noch Geld, die Herren aber zum Stillsitzen oder zum Ein-
tritt in den Bund gegen Sicherung ihrer Häuser und Besitztümer
zu vermögen. Wohin sie kamen, schlössen sie Verträge dieser
Art mit den Edelleuten, wie auch mit Städten und Geistlichen.
Während die Franken von den 12 Artikeln nichts wissen wollten,
nahmen Äletzler und seine Gesellen sie in ihr Programm auf, so
jedoch, daß sie dieselben in der Amorbacher Deklaration vom
5. Mai noch erheblich milderten; am Schluß erklären sie darin,
daß die Untertanen in allen Städten, Dörfern und Flecken ihren
Obrigkeiten gehorsam bleiben und sich ihnen zu Recht stellen
sollen, und drohen jedem, der sich widersetze und rottiere, im
Namen des hellen Haufens »gebührende und ernstliche Leibes-
strafen« an. ]\Ian wird dies gewiß zum Teil dem Einfluß Götzens
von Berlichingen zuschreiben dürfen, der Anfang Mai die Haupt-
mannschaft neben Georg Metzler übernahm. Er selbst hat das
natürlich stets betont, schon lange vor seiner Lebensbeschreibung
in der »wahrhaftigen Verantwortung«, die er am 13. Januar 1527
ausgehen ließ. Er klagt, daß er sich deshalb den Haß der Bauern
zugezogen habe, und beschuldigt vor andern den Hauptmann
der Bischofsheimer, einen gewissen Alexius, und den »Böswicht
Nisius von Schwabach« als diejenigen, welche sie zu ihren tyran-
nischen Handlungen verführt hätten. Seinen ganzen Groll hatte
er zumal auf diesen letzteren, Dionysius Schmidt von Schwappach
im Neckartal, geworfen; denn der war es, dessen Urgicht ihm selbst
verhängnisvoll geworden ist; ihr verdankte er seine jahrelange
Haft. Dieser, behauptet Götz, habe den Vertrag, den er mit dem
Adel auf dem Frauenberge schon halbwegs zustande gebracht,
umgerissen und die Bauern gegen ihn aufgehetzt, ihn als einen
Verräter ausgeschrieen, also daß er in Gefahr geraten sei, durch
die Spieße gejagt zu werden. »Und in summa,« so schreibt er,
»so weiß ich fürwahr, das ohn' Gottes Hilf und mich weder der
136 Kleine historische Schriften.
Stift Mentz noch die Grafen dieser Landart oder auch der Adel
des Otenwalds, Jagst, Kocher und Neckarthal im Schwaben-
land und Kraichgau kein Schloß unverherget behalten hätten.«
Berlichingen hat aber nicht allein das Verdienst für die mil-
dere Haltung der Odenwälder zu beanspruchen. Es ist freilich
herkömmlich, gerade die Weinsberger des Blutdurstes und der
Zügellosigkeit zu zeihen. Zimmermann hat das Wort, das Florian
Geyer in Rothenburg bei jenem Ausfall gegen sie gebrauchte,
es seien »meist zugelaufene Buben«, in seiner Weise aufgeputzt
und in Umlauf gebracht. Die Tat von Weinsberg war ein plötz-
licher Ausbruch der von den Führern nur mit Mühe in Zaum
gehaltenen Leidenschaft und Brutalität der Menge, welche übri-
gens durch das Gemetzel, das kurz vorher die Weinsberger Be-
satzung unter ihrem Nachzuge angerichtet hatte, schwer genug
gereizt war. Die Briefe der Obersten aus den nächsten Tagen
zeigen deutlich, wie deprimiert sie sich, zumal bei den drohenden
Nachrichten aus dem Süden, durch die Freveltat fühlten, die sie
nicht hatten verhindern können. Schon vorher aber, in den Ver-
trägen mit den Grafen von Hohenlohe, zeigen sich die Führer
dieses Haufens durchaus gemäßigt und vertreten gerade solche
Forderungen wie nachher unter Götz. Von Georg Metzler wissen
wir, daß er bei Weinsberg einen Knecht vor dem Tode rettete.
Vielleicht hat Wendel Hipler schon damals auf diese Haltung
eingewirkt, und diese Politik war es eben, die ihn und Metzler
auf den Gedanken brachte, den Ritter von Berlichingen an die
Spitze ihres Haufens zu stellen.
Dem entspricht es, daß der Plan einer Reichsreform, wie er
in dem sog. Heilbronner Entwurf vorliegt, nur bei Hipler und
seinen Freunden aufgetaucht ist. Die Franken wiesen den Ge-
danken an eine politische Umwälzung von sich ab. Florian Geyer
erklärte den Rothenburgern ausdrücklich, ihre Bruderschaft sei
allein eine Bruderschaft zur Vollstreckung des Evangeliums, des
Gottesworts und der Gerechtigkeit ; man denke daher nicht daran,
Rothenburg vom Reich zu dringen. Nirgends kommt auf ihrer
Seite der leiseste Anklang an eine Umgestaltung des Reiches vor,
etwa gar an eine Zusammenfassung der nationalen Kräfte in einer
Florian Geyer. 187
starken Monarchie, wie die Poeten und Historiker davon zu
phantasieren pflegen. Daß aber die Einziehung des Pfaffengutes
und die Austilgung des Adels als eines besonderen Standes zu
einer Umwälzung des deutschen Staates von Grund aus führen
müsse, blieb ihrem blöden Blick, der über ihre Landschaft nicht
hinausreichte, verborgen. Auch die poHtische Vernunft des »Heil-
bronner« Reforment Wurfes, dessen Verfasser, wie ich glaube,
XA'^eigand, der mainzische Keller zu Miltenberg, und nicht Wendel
Hipler war, hat man gewaltig übertrieben. Wie eng auch sein
Horizont war, zeigt z. B. der Paragraph, der die Abschaffung
aller Steuern anordnet außer einer zehnjährigen Abgabe an den
römischen Kaiser, unter Berufung auf Matth. 22, und ein anderer,
welcher die privilegierten Münzstätten für Österreich, Bayern,
Schwaben, Franken »oder« Rheinstrom fordert, Niederdeutsch-
land also gar nicht in Betracht zieht; der Kurfürst von Sachsen
wird zu den »ausländigen Fürsten« gerechnet. Immerhin lag in
dieser Politik noch ein Moment, von dem aus, ich will nicht sagen
ein Gelingen der Bewegung, aber doch ein Einlenken in gemäßigtere
Bahnen denkbar schien, und war sie nicht bloß, wie die fränkische
Empörung, ein wüstes Aufbäumen der Unterdrückten.
Es konnte nicht fehlen, daß dieser tiefe Gegensatz von dem
Moment ab, wo die beiden Heerhaufen vor Würzburg zusammen-
stießen, sich in schweren Konflikten entlud. Schon in den ersten
Tagen trat er hervor, als die Weinsberger, von Götz und Metzler
geleitet, die Edelleute im Schloß auf die 12 Artikel verpflichten
und ihnen gegen eine Geldzahlung den Abzug bewilligen, das
Schloß aber unzerbrochen lassen wollten. Die Franken bestanden
darauf, daß das Schloß vom Berg herunter müsse. Und selbst
in ihrem eigenen Haufen fanden die beiden Obersten Widersacher
und wurden überstimmt; man versetzte sich darauf, die Zwing-
burg der Stadt und des Bistums zu Boden zu schleifen, und verbiß
sich in die Belagerung so lange, bis die Bündischen herankamen.
Die Katastrophen wären gewiß nicht abgewehrt worden, wenn
die Besatzung, die im ersten Schrecken ganz bereit dazu war,
sich ergeben hätte, sie wären nur um ein paar Wochen hinaus-
gezögert ; denn bei der Kläglichkeit der bäuerischen Kriegführung
138 Kleine historische Schriften.
wäre an einen Sieg ihrer Sache niemals zu denken gewesen. Moch-
ten sie noch so gut mit Feldgeschütz und Hakenbüchsen, Spießen,
Harnischen und Reisvvägen gerüstet sein (und man darf sich die
Masse keineswegs unbewehrt, wie auch ohne jede taktische Ord-
nung vorstellen), so zerstoben sie doch, wo sie :ich auch stellen
mochten, bei dem ersten Stoß der feindlichen Reiterei, der ade-
ligen Waffe, die ihnen selbst ja völlig abging, der »Bauernpest«,
wie man sie in grimmigem Hohn nannte. Aber freilich würde
der Aufstand größere Dimensionen angenommen haben, wenn
man die Kapitulation angenommen hätte. Die Franken würden
zunächst wohl mit den Brüdern in der Markgrafschaft sich ver-
einigt haben und der Stadt Nürnberg und dem Brandenburger
auf den Hals gerückt sein. So erklärten es wenigstens als ihre
Absicht die Gesandten des fränkischen Haufens, welche in den-
selben Tagen, wie Geyer in Rothenburg, in Nürnberg erschienen
und dem Rat ihre Forderungen vortrugen; sie verlangten Pro-
viant, Pulver und Geschütz und traten zunächst recht gemäßigt
auf, spielten sich auf die Freunde der Städte hinaus und wiesen
auf die gemeinsame Abneigung gegen die adeligen Bedränger der
freien Straßen, besonders auch den Markgrafen hin. Erst als die
Herren vom Rat ihre Forderungen unter allerhand entschuldi-
genden Wendungen ablehnten, denn auch ihnen gebot das Ver-
hältnis zu ihren armen Leuten drinnen in der Stadt und draußen
auf den Dörfern große Vorsicht, traten die Bauern »prächtig
und stolz, als ob ihnen die ganze Welt gehöre«, auf und sprengten
unter dem Volk auf der Straße aus, man gedenke im Bauern-
lager kein Haus im ganzen Lande zu dulden, das besser sei als ein
Bauernhaus. Die Weinsberger wünschten vor allem Schwäbisch-
Hall heimzusuchen, das sich im Württembergischen noch allein
aufrecht in dem Tosen des Aufruhrs erhalten hatte. Doch würden
sie vielleicht zunächst sich west\\-ärts gewandt und das ]\Iainzer Stift
überzogen haben ; so hatten sie wenigstens dem Bischof Wilhelm in
Aschaffenburg gedroht, wenn die 15 000 Gulden nicht zum bestimmten
Termin in ihren Händen sein würden. Die Mainzer und Rheingauer
aber dachten gar nicht daran, soviel eigene Beschwerden sie gegen ihre
Herrschaft haben mochten, das schöne Geld aus dem Lande zu lassen.
Florian Geyer. 139
Alle diese Pläne wurden durch jenen Streit im Lager zu
Würzburg und seine Folgen zunichte. Er würde, denke ich, auch
wenn die Bündischen nicht so rasch gekommen und das Schloß
wirklich erstürmt wäre, für die gemäßigte Partei und die Bauern-
sache überhaupt unheilvoll geworden sein. Denn es ist wohl an-
zunehmen, daß die anarchischen Elemente auch unter den Weins-
bergern die Oberhand gewonnen und die Führer mit sich fort-
gerissen oder überwältigt haben würden. Götz, von Argwohn
stets umlauert, fühlte sich seines Lebens niemals sicher; und auch
Ge3'er und seine Mitgesandten wiesen die Rothenburger, als diese
gegen den Artikel von der Einhaltung der Steuern Einwendung
machten, mit der Erklärung ab, daß sie an den Willen des ge-
meinen Haufens gebunden seien; man würde sie im Lager er-
schlagen, wenn sie dem Rat darin zu Willen wären. Das gemäßigte
Programm Götzens und Metzlers hätte also schwerlich behauptet
werden können. Um so weniger, da der Konflikt über das Mainzer
Oberstift noch völlig ungelöst war und sich in den widersprechen-
den Befehlen, die aus dem Lager an die dortigen Städte und
Flecken erlassen wurden, immer mehr verschärfte. Gerade Geyer
finden wir auch hierbei ganz auf selten der Franken und als den
heftigsten Gegner der Odenwälder. Ich kann mir daher nicht so
unbedingt den Bericht Lorenz Fries' von seiner Haltung bei
dem Streit über das Schloß von Würzburg aneignen, der bisher
von jedermann als Tatsache nacherzählt und auch von Haupt-
mann verwertet worden ist. Fries stellt hier Florian mit Götz
auf eine Seite, indem er ihm das Wort in den Mund legt: hätte
er der Taubertalischen und derer, die von dem Gäu wären, ge-
sch\\inden Sinn anfänglich gewußt, so hätte er sie lieber erstochen
werden lassen, als daß er zu ihnen gekommen wäre; er sehe wohl,
daß es des Teufels Bruderschaft und dem Evangelio nit gemäß
wäre. Er soll mit Bubenleben, dem Pfarrer von Mergentheim, in
ein »zänkisch Gefecht« gekommen sein, weil dieser den Vertrag ge-
hindert habe. Da sei ihm das Wort entfallen: »es sollte kein Pfarrer
in diesem Rat sitzen.« Worauf der Pfarrer: »man sollte keinem
Edelmann in diesen Sachen getrauen.« Fries schrieb erst nach
Jahren, und jene Stelle steht auf einem der nachträglich einge-
190 Kleine historische Schriften.
lugten Stücke. Auch darf man dem redseligen Manne, wie ein
Vergleich mit Zweifel lehrt, keineswegs in jedem Satze aufs Wort
glauben. Vor allem aber steht die Angabe mit dem, was wir sonst
von Florian Geyer wissen, so sehr im Widerspruch, zumal mit
der Haltung, die er unmittelbar darauf in Rothenburg einnahm,
daß ich nicht wagen möchte, sie nachzuerzählen;
So zahlreich nun auch die Erklärungen von Herren und
Grafen für den Bund der Odenwälder gewesen sein mögen, ist
es doch völlig abwegig, wenn Lamprecht von dem Nachzittern
der Sikkingischen Rebellion unter dem fränkischen Adel phanta-
siert und von dessen Lust, noch einmal »das Haupt zu erheben
und, dann freilich rettungslos revolutionär, mit Bauern und Städten
Sturm zu laufen gegen die Fürsten zur Befreiung des Kaisers,
zur Errichtung des geträumten neuen, glänzenden, großen Reiches
deutscher Nation«. Er schreibt, so scheint es, hier wie anderswo,
Bezold nach, dessen etwas zu weitgehende Angaben er in seiner
Manier aufbauscht und verzerrt. Vielmehr müssen \\ir sagen, daß
die Edelleute, die mit den Bauern paktierten und ihre 12 Artikel
unterschrieben, geradeso wie die hohen Herren, die Grafen von
Hohenlohe, die von Löwenstein, Bischof Wilhelm und der Pfalz-
graf, in der Mehrzahl dazu gezwungen worden sind. Sie wurden
terrorisiert, wie Tausende unter den Bauern selbst, die von der
lodernden Flamme des Aufruhrs mit fortgerissen wurden. Sie
kauften sich von der Rache der Rebellen los; das Schicksal der
Ermordeten von Weinsberg stand ihnen vor Augen. Sie mußten
sich ducken, bis das Wetter vorüberging; und Verwegenere unter
ihnen mochten denn auch wohl vorziehen, den Hammer zu spielen
statt des Ambosses. Doch weiß ich noch gar nicht, ob die Anschul-
digungen gegen Götz von BerUchingen, die heute, seitdem Sar-
torius sie mit dreistem Mut ausgesprochen, trotz der wackeren
Verteidigung des Ritters durch Oechsle allgemein wiederholt
werden, gerechtfertigt sind. Auch er verstand seine Verpflichtung
jedenfalls nur auf Zeit und machte, als die vier Wochen herum
waren, daß er davonkam; sein Glück wollte, daß es gerade der
Tag vor Königshofen war, an dem er das Weite suchte. Direkt
als Rebell und Bauernhauptmann wird in der Liste, die den Adel
Florian Geyer. 191
des Neckargebiets umfaßt und noch vor Götzens Eintritt auf-
gesetzt ist, ein Hans von Thalheim genannt, ein alter Diener des
Pfalzgrafen. Er ward von den pfälzischen Reisigen auf ihrem
Zuge nach Würzburg in einem Dorf nicht weit von Heidelberg
aufgegriffen; über sein Schicksal wird nichts gesagt, man hat
ihn vermuthch laufen lassen.
In dem eigentlichen Franken aber, den Landschaften am
Main, in den Bistümern, wo der Hauptanhang Sikkingens
saß und jetzt die Frankenbauern hausten, wird es uns wirklich
schwer, außer Florian Geyer einen Edelmann namhaft zu machen,
der zu ihrem radikalen Programm geschworen hätte. Unter den
Hunderten von AdeUgen und Beamten, die in der Fries' sehen
Chronik vorkommen, sind es, wenn ich recht gezählt habe, kaum
ein halbes Dutzend, und diese fast sämtHch gezwungen; im Gebiet
der Tauberbauern finde ich überhaupt keinen. Auch in Zweifels
Buch begegnet uns außer Stephan von Menzingen, der ja aber
längst in Rothenburg das Bürgerrecht hatte, keiner vom Adel
im Bauernlager.
Gerade die Anhänger der Reformation, die Vettern und
Freunde Ulrichs von Hütten, auf die er für seinen Pfaffenkrieg
gerechnet hatte, waren jetzt die festesten Stützen Bischof Kon-
rads. Sj'lvester von Schaumburg, der im Mai 1520 Luthern ein
Asyl auf seiner Burg gegen die Romanisten angeboten hatte,
verhandelte namens der würzburgischen Ritterschaft am Palm-
sonntag mit den Bauern in Mergentheim, neben ihm für den Bischof
der Hofmeister und Dr. iur. Sebastian von Rotenhan, er, dem
Hütten einst seine Trias Romana mit jenem herrUchen Bekenntnis
für die deutsche Freiheit zugeschrieben hatte. Beide waren im
Kriegsrat auf dem Frauenberg, und vor allem die Umsicht und
Energie Herrn Sebastians hat, nach dem Zeugnis des Chronisten,
das Schloß dem Bischof erhalten. Auch den dritten großen Namen
unter dem reformfreundlichen Adel des Mainlandes finden wir
auf der Fürstenseite, Hans von Schwarzenberg, der mit Mark-
graf Kasimir gegen die Bauern zog; und das Würzburger Schloß
ward von den namhaftesten Mitgliedern des Stiftsadels, den Zobel,
Thüngen, Bibra, Aufseß, Castel und vielen anderen, verteidigt.
192 Kleine historische Schriften.
Dort treffen wir auch I.orcnz von Hütten, wahrscheinlich den
Bruder Ulrichs, der ihn auf der Ebernburg um sich hatte, und
Sebastian Geyer, den Amtmann von Bütthard, dessen Bauern
in der Feldmark von Ingolstadt saßen; beide waren über eine
Rotte im Schloß gesetzt. Ein anderer Verwandter Florians, Am-
brosius Geyer, führte die würzburgischen Reisigen unter Jörg
Truchseß und machte mit den Bündischen die Schlachten von
Königshofen und Sulzdorf mit. Er hat, wie bemerkt, eine kurze
Chronik von dem, was er erlebt, verfaßt, ohne seines rebelHschen
Verwandten nur mit einem Wort zu gedenken; schwerlich, weil
er sich schämte, seinen Namen zu nennen, sondern weil ihm die
Tatsache nicht den Eindruck machte, wie uns Nachgeborenen.
Auch die Senioren derer von Hütten, Frowin und Ludwig, an
denen Ulrich so gute Gönner besessen hatte, standen den Bauern
gegenüber; jener als Hofmeister des Mainzer Erzstiftes und Führer
seiner Reisigen unter dem Truchseß, dieser unter dem Mark-
grafen als der mildgesinnte Amtmann von Kitzingen, der bei
seinem brutalen Herrn vergebens ein Wort für die unglücklichen
Amtsverwandten einlegte. Es wäre auch wirklich nicht zu be-
greifen, wie diese Edelleute, deren Existenz auf der Verbindung
mit ihrem Bistum in dem Kapitel und der ganzen geistlich-welt-
lichen Verfassung beruhte, und deren ganzer Stand von den ra-
senden Bauern mit Vernichtung bedroht war (hunderte frän-
kischer Schlösser gingen in Flammen auf), dazu hätten kommen
sollen, ihre Sache mit den Rebellen zu verbinden. Das w^äre in
der Tat rettungslos revolutionär gewiesen.
Was schließhch Florian Geyer dazu bewogen haben mag,
ein Bauernbruder zu werden, ob wirklich die idealen Ziele, die
man ihm ohne weiteres zugeschrieben hat, oder irgend welche
ganz persönhche, vielleicht sehr untergeordnete Motive ihn ge-
leitet haben — w^er mag das sagen! Die Historie weiß darüber
nichts zu berichten. Wohl möglich, daß auch er nur ein »Ver-
dorbener vom Adel« gewesen ist, wie jener »Thoma Bauer«, der
den Rebellen in Bayreuth die Fahne vorantrug.
Philipp Melandithon.
(1897.)
Uns Deutschen ist es selten vergönnt, unsere Feste gemeinsam
zu begehen. Jede Erinnerung an die Epochen, welche die Mark-
steine in unserer Entwickelung setzten, an die Bildner unserer
Nationalität, die Helden des deutschen Geistes reißt alte Wunden
auf; und schmerzhch können wir an der Gleichgültigkeit und Ab-
neigung oder auch dem Hasse aller Gegner der Reformation jedes-
mal ermessen, wie tief die Kluft in unserem Volke geworden ist,
seitdem Luther und seine Freunde es unternahmen, die lateinische
Kirche zu den Quellen der Religion und der Bildung zurückzu-
führen. So an dem Tage, als die protestantische Welt in freudiger
Bewegung das vierte Säkularfest ihres Reformators feierte, und so
auch jetzt wieder, da wir uns zu der gleichen Ehrung Melanch-
thons vereinigten. Und wenn unsere Widersacher, welche
damals die Reformation und ihre Helden mit Wogen von
Schmutz Übergossen, diesmal stiller gebHeben sind, so ver-
danken wir das vielleicht nur dem Verhalten unserer Regierung,
welche vor ein paar Jahren zu Ehren eines tschechischen Schul-
meisters, dessen Name die wenigsten kannten, einen ganzen Apparat
in Szene setzte, heute aber, da es dem Schildträger Luthers, dem
Verfasser der Augustana, dem Reorganisator, ja dem Schöpfer
der protestantischen Schule und Gelehrsamkeit, dem Praeceptor
Germaniae galt, sich mit der Anweisung begnügen zu können
glaubte, der Verdienste des Mannes gelegentlich im Laufe der
Unterrichtsstunden zu gedenken.
Lenz, Kleine historische Schriften. I3
194 Kleine historische Schriften^
Freilicli würden wir weder die historische Wahrheit noch die
eigene Meinung des selbstlosen Gelehrten treffen, wenn wir Melanch-
thon als einen religiösen Heros, ebenbürtig seinem großen Freunde,
schildern wollten. Solche Rolle hat ihm von allen Zeitgenossen
nur noch Luther in bescheidener Selbstverkennung zuschreiben
wollen. Melanchthon selbst ist fern davon gewesen, seine Gaben
so hoch einzuschätzen. Und wenn man in unserm Jahrhundert
einen Fortschritt der religiösen Idee gegen Luther in ihm hat
wahrnehmen wollen, wenn man ihm einen freieren und lichteren
Geist vindiziert, seine tolerante Natur der starren Lehre und Un-
beugsamkeit Luthers gegenüber gepriesen hat, so hat man damit
mehr von ihm behauptet, als er selbst ohne Frage zugegeben
oder auch nur gewünscht haben würde. Zum Teil wenigstens
entsprang seine Friedensliebe, gestehen wir es nur, eher augen-
bhckhcher Schwäche als einer freien oder gar tieferen Auffassung
der religiösen Probleme; und mehr als einmal ging bei ihm die
Nachgiebigkeit gegen altgläubige Gegner Hand in Hand mit un-
duldsamer Gesinnung gegen die geringen Lehrdifferenzen, welche
Wittenberg von Straßburg oder Zürich schieden.
Als er nach Sachsen kam, im Sommer 15 18, begann Luther
eben aus seinem theologischen Winkel herv^orzutreten und die Auf-
merksamkeit weiterer Kreise zu erregen. Kürzhch erst war er in
Heidelberg gewesen, Melanchthons alter Hochschule, wo er dem
Kreise seiner Jugendfreunde und Lehrer nahe trat, und schon
hatte er mit Johann Eck und anderen Vorkämpfern des Papstes
seine ersten Fehden ausgefochten. Auch ein vatikanischer Theologe,
Silvester Prierias, hatte bereits einen Pfeil gegen den deutschen
Ketzer abgeschossen, und soeben war in Wittenberg die Zitation
eingelaufen, welche ihn nach Augsburg ziun Verhör vor Cajetan
beschied. Hinter ihm lagen die Jahre des Klosters, der Zeit, »da
er den Kampf in banger Brust verhüllt trug, der bald der Erde
halben Kreis erfüllen sollte« ; die Universität stand ihm treu zur
Seite; und der Kurfürst, von Spalatin beraten, hielt die schützende
Hand über seinem Professor. Aber niemand konnte bereits ahnen,
welche Stürme so bald aus diesem Kreise von Gelehrten über Staat
und Kirche Deutschlands daherbrausen würden, und in voller
Philipp Melanchthon. |95
Pracht ragte noch der Dom der Hierarchie himmelan; kein Stein
war bis jetzt aus dem wie für die Ewigkeit gegründeten Gemäuer
losgebröckelt.
Am wenigsten sah wohl der junge Gelehrte, den Spcdatins
Eifer für die Elb-Universität gewonnen hatte, in die Zukunft.
Recht im Gegensatz zu Luther, dem schon als Knabe in die Welt
Hinausgeworfenen, war INIelanchthon niemals von den Latein-
und Hochschulen seiner Heimat und aus der Obhut der Verwandten
und väterhcher Freunde weggekommen. Bretten, Pforzheim und
die beiden Neckar-Universitäten, die anmutigen Täler Ober-
deutschlands, waren die Stätten seines Lebens und Lernens ge-
wesen und die klassischen Autoren des heidnischen und des kirch-
lichen Altertums seine geistige Welt. Niemals hatte er das Be-
dürfnis eines Bruches mit den alten Ordnungen in sich empfunden,
jenen Widerwillen gegen Wissenschaft und Welt, der Luther von
dem bunten Treiben an der Universität in das Kloster, von der
Jurisprudenz zur Theologie getrieben hatte.
Begabung, Erziehung, die Verwandtschaft mit Reuchlin, vor-
züghch aber die angeborene Neigung hielten Melanchthon im ge-
wohnten Geleise fest. Er kannte nicht Süßeres als die Schul-
triumphe, durch die er schon als Knabe in Pforzheim das Erstaunen
seiner Lehrer erweckt und die Liebe seines Großoheims gewonnen
hatte. Und niemals ist er glücklicher gewesen als in den Jugend-
jahren; nie vergaß er die Stunde, da ihn Reuchlin mit dem Segen
Abrahams in die Fremde gesandt hatte, und noch unter den
Schrecken des Schmalkaldischen Krieges erinnerte er sich seufzend
des Tages, da er in das sächsische Land gekommen sei, »un-
wissend, wie süß das Vaterland ist«.
Es waren die Jahre, da der Humanismus auf deutschem Boden
seine Blüte fand, da sich die Schar der Poeten sammelte zur lustigen
Fehde gegen die Dunkelmänner; zu keiner Zeit waren sie kecker,
übermütiger, selbstzufriedener gewesen. In ihrem Kreise hatte
auch Melanchthon, so jung er war, eine ehrenvolle Stelle gewonnen.
Lebte er doch gleichsam als Schildknappe in der Nähe des würdigen
Gelehrten, zu dessen Schutz sich die Humanisten damals zusammen-
scharten. Von ihm stammt die Vorrede zu den Briefen der Berühmt-
13*
1^96 Kleine historische Schriften.
heiten aus dem gelehrten Lager, die als Ehrengabe dem schwer
gekränkten Manne dargebracht wurden; und in den Episteln der
obscuri viri wird er selbst als einer der ärgsten Theologen feinde
geschildert.
Noch immer spukt in unserer historischen Literatur die Vor-
stellung von einem ausgesprochenen Gegensatz zwischen der
älteren, korrekt-kirchlichen und der jüngeren Humanistenschule,
den Stürmern und Drängern, die berauscht von dem Schönheits-
sinn und Geistesadel der Antike der hierarchischen Weltanschauung
grundsätzhch den Krieg erklärt hätten. Luther habe, so pflegt
man weiter zu sagen, diese freie Weltauffassung, die jung erwachte
Lust am Schönen und an der Kritik, durch seine starre Theologie
geknickt oder doch eingeschnürt in die Fesseln der Konfession;
und man hat wohl gar gemeint, daß erst das achtzehnte Jahr-
hundert die humanen Ideale eines Hütten und Erasmus wieder
aufgenommen habe. Sogleich sind dann unsere römischen Freunde
geschäftig gewesen, den von uns geschaffenen Riß zu erweitern:
weil die jungen Humanisten, die Glaubenslosen, die Revolutionäre
von der Kirche abgewichen wären (so schallt es in dem Chor, den
Janssen führte), sei die Wissenschaft, die unter dem Schutz der
Kirche fromm und frei emporgeblüht, verkommen; ihres Geistes
sei Luther schon \-or der Klosterzeit gewesen, und sie seine Bundes-
genossen geworden in der Zerstörung der Kirche und damit aller
wahrhaft freien Studien.
Wenn irgendwo, so läßt sich bei dem Lebenslauf Melanch-
thons die Verworrenheit solcher Anschauungen klarmachen. Zu
den Geschorenen stand er, wenn nicht schon in Heidelberg, so
doch gewiß in Tübingen kaum anders als der Spötter Erasmus,
dem er, wie die Humanisten ohne Ausnahme, eine grenzenlose Be-
wunderung widmete, und der die seinem Ohr so süßen Kosenamen
mit nicht weniger glänzenden Zensuren vergalt. Nirgends waren
die Dunkelmänner heftiger gezwackt worden als in jenen Briefen,
worin sie ihre eigene Barbarei zur Schau stellen mußten; und
derbere Possen über die faulen und geilen Mönche hatte auch
Erasmus niemals drucken lassen als in den Fazetien Heinrich
Bebel, Melanchthons Kollege und Lehrer, »der Vater der Schwarz-
Philipp Melanchthon. 197
Wälder Musen«, wie er ihn in der griechischen Totenklage, die er
ihm ^^•idmete, nennt. Aber derselbe IMelanchthon war in Heidel-
berg Schüler des gefeierten Theologen Pallas Spangel gewesen,
der noch ganz im Bann der scholastischen Doktrinen stand; zeit-
lebens hat er ihm das treueste Andenken bewahrt. Auch in Tü-
bingen hat er noch den scholastischen Studien Zeit gewidmet; er
hat damals versucht, zwischen dem nominalistischen und dem rea-
listischen Sj'stem, die beide dort recht friedlich miteinander aus-
kamen, eine Brücke zu schlagen, und dabei schon die Klarheit der
Disposition und die Leichtigkeit der Begriffsbestimmung entwickelt,
welche wir in seinen protestantischen Lehrschriften bewundern. Und
wenn er auch den scholastischen Spitzfindigkeiten keinen Geschmack
abgewinnen konnte, gab es doch kaum einen eifrigeren Freund
theologischer Studien. Aufs tiefste ergriff ihn die Lektüre des
Neuen Testaments in der Ausgabe des Erasmus: »welche Blitze!«,
schreibt er bewundernd, indem er sie mit der Vulgata vergleicht.
Auch darin stand er nicht allein. Denn der Ruhm jenes großen
Humanisten gründete sich nicht bloß auf seine Angriffe gegen
die überlieferte Theologie und die Trägheit ihrer berufenen Lehrer,
sondern viel mehr noch auf seine Studien in den heiligen und
kanonischen Schriften. Seit frühester Jugend war Melanchthon
in diesem Sinn erzogen worden. Noch in seinem Alter gedenkt er
des tiefen Eindruckes, den die Zeremonien der alten Kirche auf
sein Kinderherz gemacht hatten. In dem Eltemhause lebte der
Geist schlichter Frömmigkeit, dem wir so oft in den deutschen
Bürgerhäusern vor der Reformation begegnen. Von seinem Vater
wird erzählt, daß er in jeder Mitternacht vom Lager sich erhoben
und auf den Knien ein Gebet verrichtet habe; als er starb, er-
mahnte er seine Kinder, immerdar der Kirche treu zu bleiben.
Und nicht anders empfand Reuchlin trotz aller Angriffe, die ihm
von der Inquisition her widerfuhren. An einen Bruch mit der
Hierarchie im Sinne Luthers dachte in diesen Kreisen niemand.
So also kam ]\Ielanchthon nach Wittenberg — und von der
ersten Stunde ab steht er an der Seite des Mannes, der schon zu
den vernichtendsten Streichen gegen den Bau ausholt, an dem die
Jahrhunderte gearbeitet hatten.
j^93 Kleine historische Schrifteu.
Und nicht anders wird er aufgenommen. Vor allem Luther
neigt sich neidlos vor den herrhchen Gaben des JüngHngs. Er
eignet sich fast die Überschvvenglichkeiten der Humanisten an,
wenn er von ihm spricht: er sei ein wunderbarer Mensch, nichts
sei an ihm, was nicht übermenschlich wäre. Aber niemals gab es
eine reinere, überzeugtere Begeisterung. Der Reformator vergleicht
sich dem »groben Waldrechter <( , der die Bahn brechen müsse:
»aber Magister Phihppus fährt säuberlich stille daher, säet und
begießt mit Lust, nachdem ihm Gott gegeben seine Gaben
reiclilich«. »Ach«, sagt er ein andermal, »Magister Philippus ist
ein fromm Herz, ich verstehe ihn wohl; er versucht mit ruhigen
Worten die Gegner zu bekehren; er ahmt den Propheten Joel
nach; er braucht die Hacke, ich die scharfe Streitaxt«.^) Nicht
die leiseste Spur von Widerspruch gegen den Geist, in dem der
junge »Grammatist«, der » Graecanissimus « aufgewachsen war,
atmen Luthers Briefe aus dieser Zeit ; und keinen Augenblick war
Melanchthon sich bewußt, daß er in ein ihm fremdes Lager über-
gegangen sei. Also können wir getrost sagen, daß ein solcher
Z\nespalt überhaupt nicht bestand ; daß die Bildung, aus der er
herkam, in Wittenberg einmündete; daß die Reform von Schule
und Kirche, die sie anstrebte, sich wenigstens aufs leichteste
verbinden ließ mit dem Geist, der in Wittenberg eben zur Herr-
schaft kam.
Daß Erasmus und so viele andere Gelehrte, Pirckheimer und
Crotus Rubeanus, Beatus Rhenanus, ja selbst ein Wimpheling,
zurückwichen, kann kein Gegenbeweis sein, sowenig wie die Zer-
störung und Verödung mancher Schulen und Universitäten Deutsch-
lands unter den unvermeidlichen Stürmen der Revolution, welche
Staat und Kirche in ihren Grundfesten erschütterte. Der Humanis-
mus ist doch wahrlich nicht mit der Reformation zu Ende gegangen.
Wo immer die protestantische Kirche in Europa sich erhob, kamen
ihre Wortführer gerade aus den humanistischen und geistig an-
geregten Kreisen hervor: Zwingli und Vadian, le Fevre, Calvin
und Beza, Johann Laski und Dryander sind die Zeugen; und so
^) Zitiert von O. Vogt, Melanchthons Stellung als Reformator,
Studien und Kritiken, XL, 90.
Philipp Melanchthon. 199
waren auch die analogen Bestrebungen im katholischen Lager,
man denke an Männer wie Contarini und seine Freunde, mit den
literarischen Idealen Melanchthons verwandt : als einer der größten
Gelehrten im ganzen Abendlande ward er gerade in den Witten-
berger Jahrzehnten gepriesen.
Als er kam, hatten diese Studien dort noch kaum Eingang ge-
funden. Auch in Erfurt war Luther, wie wir jetzt bestimmt sagen
dürfen, von ihrem Geiste kaum gestreift worden. In die Tiefen,
in die ihn seine Spekulationen geführt hatten, reichte dieser
überhaupt nicht hinab, weder die historischen noch die philo-
sophischen oder gar die theologischen Vorstellungen, die sich an
der Wiederbelebung der klassischen Welt entzündet hatten. Die
Humanisten glaubten, des scholastischen Systems durch Igno-
rierung Herr zu werden ; sie meinten, indem sie es beiseite schoben,
es schon mit allen Wurzeln ausgerissen zu haben; sie verkannten,
daß es mit dem Wurzelgeflecht der Hierarchie zusammenhing,
und daß sie also den Ast absägten, auf dem sie doch sitzen bleiben
wollten. Luther hatte die kirchliche Philosophie von Grund aus
studiert. Er dachte nicht an eine Vermittlung ihrer beiden Schul-
systeme, sondern versenkte sich mit allem Ernst und ausschließlich
in die fortgeschrittene, die nominalistische Doktrin, die zur Skepsis,
zur Selbstauflösung der Scholastik hinführte. Und indem er die Un-
vereinbarkeit einer Philosophie, welche auf die Ergründung der gött-
lichen Geheimnisse durch die menschliche Vernunft ausging, mit der
Gottesvorstellung erkannte, zu derer sich in den einsamen Kämpfen
seiner Seele, ganz er selbst dem Ewigen gegenüber gestellt, hindurch-
rang, hob er sie mit der Wurzel aus dem Boden, den sie ganz über-
wuchert hatte und tausendarmig umklammert hielt. Von seinem
Gottesbegriff aus zerstörte er den Gottesbegriff der Kirche, dem
auch ihre Philosophie und alle ihre Wissenschaften unterworfen waren.
Dies war ein Angriff, so in der Front und gegen die stärksten
Bollwerke der römischen Kirche ausgeführt, daß die literarischen
Fehden der Humanisten dagegen wie ein bloßes Geplänkel und
wie Scheingefechte erscheinen müssen.
Denn sie wollten ja die lateinische Bildung, welche als das Erbe
Roms von den Barbaren, die es zerstörten, dennoch festgehalten
200 Kleine historische Schriften.
war und sich immer dichter mit den Anschauungen und Ordnungen
der herrschenden Kirche verwebt hatte, behaupten und dachten
nur eben daran, sie in ihrer alten Reinheit herzustellen. Und wenn
sie schon darüber hinaus zu den noch tieferen Quellen des antiken
Geistes vordrangen, traten sie auch damit nur auf einen Boden,
in dem die lateinische Kirche selbst wurzelte, und den sie nie
ganz verleugnet hatte. Wie hoch sie aber auch die Kenntnis der
beiden originalen Sprachen des christlichen Altertums schätzen
und wie begeistert sie das Lob des hellenischen Geistes, Homers und
Pindars, verkünden mochten, sie blieben dennoch weit entfernt,
diese nationalen Kulturen in ihrer Eigenart und ihren Ursprüngen
zu verstehen oder auch nur von der Latiums recht zu unterscheiden.
Den Hauptton legten sie nach wie vor auf die lateinische Schulung,
die Sprache der Kirche. In ihr lehrten, schrieben und dichteten sie;
fast als die Hauptaufgabe für jeden Kenner der griechischen und
hebräischen Sprache galt es, ihre Schriftsteller in das lateinische
Idiom zu übertragen; und ebenbürtig standen in ihren Augen
Cicero und Terenz neben Demosthenes und Aristophanes, oder
Ovid und Vergil neben Pindar und Homer. Nicht einmal ihre
Methode wich in Unterricht und Forschung so sehr ab von der
herkömmlichen, und nie waren sie imstande, mit ihren moralisieren-
den und allegorischen Deutungen den Sinn der Alten recht zu er-
fassen. Trivium und Quadrivium bUeben die Wege, auf denen sie
zum Verständnis der Antike zu gelangen strebten; und die Philo-
sophie und Eloquenz, welche Melanchthon als das Endziel aller
humanen Studien hinstellte, war doch, mag man sie nun an ihren
klassischen Vorbildern oder an der Religion Luthers und Roms
oder gar an der FüUe und Freiheit moderner Wissenschaft und
Dichtung messen, nicht viel mehr als hausbackene Moral und
trockene, eklektische Imitation. Eine freie und selbständige
Bildung haben die deutschen Humanisten niemals angestrebt.
Sie waren von Anfang her Pädagogen und stellten in letzter
Linie ihre Bemühungen um reine Latinität und die Her-
stellung der alten Literatur in den Dienst der Schule und der
Kirche. Wenn irgend einer, so ist Melanchthon allein unter
diesem Gesichtspunkt zu verstehen. Darin gleicht er ganz
Philipp Melanchthon. 201
Jakob Wimpheling, der alle Fragen in Kirche und Welt, wie ein
geistreicher Schriftsteller gesagt hat, mit dem Schulmeister lösen,
alle Schäden pädagogisch heilen wollte; wie denn auch sein Lehrer
in Pforzheim, Simler, der ihm in Tübingen als Kollege wieder
nahetrat, in Wimphelings Heimatsort zu Schlettstadt, an der
Quelle des elsässischen Humanismus seine Bildung erworben hatte.
Ganz so leitet auch Melanchthon in der Rede, mit der er sich in
Wittenberg einführte, und die ihm mit einem Schlage die Be-
wunderung der neuen Kommilitonen gewann, den Abfall und das
Verderben in der Kirche von dem Untergange der echten Studien
ab: in den ersten vier Jahrhunderten der Kirche, meint er, in
ihrer unrömischen, glaubensreinen Zeit seien auch Philosophie
und Eloquenz und alle Wissenschaften auf ihrer Höhe gewesen;
erst mit dem Untergange des Römischen Reiches und dem Auf-
kommen des Papsttums sei die Bildung erstickt worden. Darum
stellt er es als seine Lebensaufgabe hin, die Wissenschaften zu
pflegen; denn unrettbar sei sonst die Welt der Barbarei, der
geistigen und sittlichen Verödung verfallen^). Und darum ward
er in den Jahren der Revolution, die den Ahnungslosen über-
raschte, so vom Schrecken ergriffen, als er die Schulen und
Universitäten unter der allgemeinen Verwirrung leiden und Ver-
wüstung an Stelle des frischen und frohen Treibens seiner jungen
Jahre treten sah.
Hier aber ist der Punkt, wo er sich mit Luther treffen mußte.
Auch dieser hatte die scholastische Barbarei bekämpft, und viel
radikaler noch als jemals Melanchthon und alle Poeten: er hatte
ein Prinzip aufgestellt, das, wenn es durchgeführt ward, die in
^) So unter vielen andern Stellen in einem Briefe an Spalatin, 22. Juli
1520 (Corpus Reformatorum I, 207): »Nam ego aliud nihil sequor, quam
quod ex re literarum esse judico, quas nisi fideUter prudenterque tuebimur,
rursus barbaries irruet.« Und weiterhin: »Non ignoras tu, quae rerum
omnium bonarum vastitas literarum ruinam sequatur. Religionem, mores,
humana divinaque omnia labefactat literarum inscitia. Propterea. si quid
potes, te adhortor in hanc incumbas curam deüberesque, qua possit ratione
rectissime consuli rebus. Meum Studium nuUa in re vobis defuturum est.
Et ut quisque optimus est, ita vehementissime cupit salvas esse literas,
quod videt nullam esse inscitia capitaliorem pestem.«
232 Kleine historische Schriften.
di?r herrschenden Theologie dicht verwebten Elemente antiker
Bildung und christlicher Spekulation voneinander lösen mußte
und wenigstens die Möglichkeit für eine freie und eigenartige Ent-
wickelung in beiden Sphären, der Forschung und der Religion,
si;huf: üb^r die Jahrhunderte hinweg war er bis zu den Quellen
der Offenbarung, die ihm in den heiligen Schriften bloßgelegt
lagen, vorgedrungen. Und so mußte er, der die Religion zu ihrem
Ursprung zurückführte, in jenen auf die echten Quellen der Theo-
logie gerichteten Studien einen Strom lebendigen Wassers er-
blicken, der auf die neuentdeckten Fruchtgefilde des evangelischen
Glaubens geleitet werden konnte. Man weiß, wie instinktiv Luther
jt'den ihm feindhchen Geist gewittert und wie unbarmherzig er
ihn dann bekämpft hat. Aber keinen Augenblick zögerte er, dem
jungen Gslehrten das Gastrecht an seiner Universität zu gewähren.
Nicht das Neue und Originale, sondern gerade die Klarheit, die
Hhigebunjj und der Nachdruck, mit der jener sein Programm in
tier Antrittsrede entwickelte, war es, was ihn entzückte und ganz
Wittenberg zur Bewunderung hinriß. Ein Arsenal von Waffen
brachte ihnen der Sohn des Waffenschmiedes von Heidelberg
herbei.
Melanchthon selbst aber ward überwältigt von der Tiefe und
Fülle der Religion, die ihm in Luthers Lehre entgegentrat. Eben
jetzt, wo Luther stürmischer als je vordrang und Stück auf Stück
der Hieiaxhie unter seinen Schlägen zusammenbrach, schloß sich
Melanchthon enger an ihn an als jemals später. Er wolle lieber
steiben, schreibt er, als je von Luther weichen, und alles für ihn
ertragen. Er nennt ihn seinen EUas, seinen besten Freund, seinen
Lehrer und Meister; er vergleicht ihr Verhältnis mit dem des
Alcibiades zu Sokrates; jugendüch schwärmend bekennt er, daß
ihm Martinus Heber sei als sein Leben, daß ihn nichts Traurigeres
treffen k()nne, als ihn zu missen; er möchte ihn höher stellen als
die Kirchenväter aller Jahrhunderte. Er fürchtet nicht die Dro-
hungen der Romanisten und den Bann des Papstes. Wenn Gott
für uns ist, ruft er aus, wer kann wider uns sein! Vergebens suchen
wii in dieser Zeit nach einem Lehrunterschiede z^\ischen ihm und
seinem großen Freunde, Auch in den Loci communes hat er doch
Philipp Melanchthon. 203
nur Luthers Gedanken mit der ihm eigenen klassischen Knappheit
und Klarheit zusammengefaßt. Mag es denn sein, daß er in späteren
Jahren von der Starrheit Lutherscher Lehrsätze in mehr als einem
Punkte abgewichen ist oder, besser gesagt, gewünscht hätte, sie
mildern zu können, und zwar nicht bloß aus Schwäche, sondern
auch von dem Gefühl getragen, welches die klassischen Studien
in ihm nähren mußten, daß die theologischen Formeln doch nicht
allen Problemen und der Fülle des sittlichen und geistigen, ja des
rehgiösen Lebens ganz gerecht würden: so ist er sich doch eines
tieferen Unterschiedes in der Lehre auch dann noch nicht bewußt
gewesen; an den Kerngedanken Luthers hat er Zeit seines Lebens
festgehalten, auch in den bitteren Stunden, die ihm die Reizbarkeit
des alternden Reformators und die Streitsucht seiner orthodoxen
Nachfolger bereitet haben. Er blieb bis ans Ende sein treuer
Schüler, und ganz vom Herzen kam ihm das Wort, das er ihm ins
Grab nachrief: er habe, wie alle Freunde und Schüler des Ent-
schlafenen, in ihm den Vater verloren.
Jedoch auch seinen geliebten Alten ist Melanchthon in jedem
Moment seines Lebens treu geblieben. Nur Aristoteles, dessen
Ausgabe er früher als sein Lebenswerk betrachtet hatte, setzte
er anfangs, auch darin dem Einfluß Luthers weichend, beiseite;
die Dichter hingegen vergaß er niemals, und bald genug ist er auch
zu dem Stagiriten zurückgekehrt. Das Ziel aller seiner Bemühungen
war stets, die humanistischen Studien und die evangehsche Theo-
logie gemeinsam zur Herrschaft zu bringen. Hierin hatte er in
Luther und Spalatin nie fehlende Bundesgenossen. Noch hatten
die Humanisten nirgends wirklich gesiegt, wie hitzig sie auch überall
vorgehen mochten. Vielmehr ist gerade Wittenberg die erste
Universität gewesen, wo die Scholastik gründlich ausgefegt wurde.
Durch die Konflikte mit Rom und dem Kaiser ließen sich die drei
Baumeister nicht aufhalten, nur um so rascher gingen sie vorwärts;
alle Disziplinen, auch die medizinischen und juristischen Lehrstühle
wurden mit Anhängern der neuen Richtungen besetzt. So ward
hier die festeste Burg für den protestantischen Humanismus er-
richtet, ein Vorbild, nach dem alle evangelischen Schulen und
Universitäten des neuen Glaubens sich fortan entwickelt haben. Zwei
204 Kleine historische Schriften.
Jahrhunderte protestantischer Gelehrsamkeit ruhen auf diesen
Fundamenten. Und unermüdUch arbeitete Melanchthon weiter,
um sein System in den verschiedenen Stufen, von der Volksschule
bis zur Universität, auszubauen; immer war es dieselbe Verbindung
zwischen humanistischer Bildung und evangehscher Religiosität.
Großartig ist die Tätigkeit und das organisatorische Geschick,
das er dabei entfaltet hat. Nach seinen Plänen wurden die
Universitäten gegründet oder reformiert, Marburg, Königsberg,
Rostock, Leipzig usf., auch Tübingen und Heidelberg und selbst
noch Jena, das dann die Hochburg seiner flacianischen Gegner
werden sollte. Seine Lehrpläne und Lehrbücher lagen den Vor-
lesungen überall zugrunde, auch für medizinische und juristische,
mathematisch-astronomische und historische Professuren; und
er entschied über die Berufungen weit über die deutschen Grenzen
hinaus. Mit demselben Eifer umfaßte er den Unterricht auf allen
Stufen und in allen Fächern. Sein Weltruhm als Gelehrter hat zu
keiner Zeit geschwankt. Darin wenigstens wurde er niemals ent-
täuscht; und auch in den Jahren, da er sich vor der Rabies Theo-
logorum und aus den Wirren der Politik nach der Ruhe des Grabes
sehnte, fand er in den geliebten Alten immer wieder den Nektar,
der seine Seele erquickte. Er war ein Professor ohnegleichen.
Tausende von Schülern hat er nach Wittenberg gezogen: und
gerade in den späteren Jahren, zumal vor dem Schmalkaldischen
Kriege, sah er wieder die Auditorien dichter gefüllt als je; er hat
immer größeren Zulauf gehabt als Luther selbst. Aus der ganzen
Christenheit kamen die Hörer herbei, oft ältere und hochgelehrte
Männer, denen es eine unvergleichliche Freude gewährte, an dem
bescheidenen Tisch des be^vunderten Meisters als Gäste weilen zu
dürfen. Er hatte jetzt eine Stellung gewonnen wie weiland Erasmus;
so fest gegründet, daß er sogar aus dem katholischen Lager,
wie vom Kardinal Sadoletus, preisende Briefe erhielt. Seine
Korrespondenz war ganz so ausgebreitet wie die des alten Huma-
nistenkönigs; mit seinen Gutachten umschließt das, was von ihr
gedruckt wurde, schon weit über zehn Quartbände, und an 2000
Briefe harren noch der Veröffentlichung. Kein größeres Ver-
gnügen aber kannte er, als auf dem Katheder zu sitzen und vor
Philipp Melanchthon. 205
seinen Studenten den Römerbrief zu interpretieren oder aus dem
Pindar zu übersetzen oder mit ihnen Prosodie und Grammatik zu
treiben.
Hat er es doch sogar fast als Zeitverschwendung betrachtet,
daß er heiraten mußte. Beim frühesten Morgengrauen war er
des anderen Tages schon wieder am Schreibtisch, um, wie er Spalatin
scherzend schreibt, die Ansicht der Freunde zu widerlegen, daß es
mit seinen Studien nun aus sein werde. ,,Eher will ich Leib und
Leben verlassen," ruft er aus, ,,als die echten Wissenschaften."
Eben die Freunde aber waren es gewesen, die ihn, wie er von sich
bekennt, fast wider Willen verheiratet hatten, zumal Luther, der
seinem zarten Körper die häusUche Pflege verschaffen und ihn
auch wohl damit — denn er verschmähte solche Diplomatie nicht —
an die neue Heimat fesseln wollte. Es war die Tochter des Bürger-
meisters von Wittenberg, ^l/MTEQivr] Kqcitttl, väe. Melanchthon
ihren Namen sofort gräzisiert, die sie ihm ausgesucht hatten. , .Nie-
mals ist mir kühler ums Herz gewesen als eben jetzt", gesteht
der junge Ehemann wiederholt. Aber er ergab sich in sein Schicksal
und hat danach Jahrzehnte in glücklichster Ehe gelebt.
Es ging ihm wie Luther, der am liebsten auch sein lebelang
im ^^inkel geblieben wäre, des Dienstes an seiner Gemeinde ge-
wartet hätte. So ward Melanchthon am wohlsten bei seinen Büchern
und Studenten; außerhalb der Universität schien ihm das Leben
wertlos zu sein. Aber öfter noch als jener mußte er hinaus, um seine
Kirche zu vertreten. Nur bei den Visitationsreisen im sächsischen
Lande, bei den Reformationen benachbarter Gebiete oder bei
Verhandlungen mit den Glaubensverwandten, wie in Marburg
und Schmalkalden, durfte ihn sein Freund begleiten. Vor Kaiser
und Reich auf dem Tage in Augsburg oder bei den großen ReHgions-
gesprächen mit der altgläubigen Partei konnte der Geächtete und
Gebannte nicht wolil erscheinen, und so mußte hier überall Melanch-
thon für ihn einspringen. Es waren Geschäfte, bei denen die PoUtik
ebenso sehr mitsprach wie religiöse Erwägung, und die dem empfind-
samen Gelehrten durchaus unsympathisch waren. Oft hielten sie
ihn monatelang von Wittenberg fern. Aber immer war er bereit,
wo es der Sache galt, der er sein Leben gew^eiht hatte. Unent-
20ß Kleine historische Schriften.
behrlich und wahrhaft großartig war die Arbeitskraft, die er dann
bcwälirte, und die Hingabe, womit der kränkhche Mann allen Un-
bilden der Reise und den Feindschaften zalüloser Gegner trotzte.
Ciewiß, er ist manchmal kleinmütiger gewesen als nötig war und
wohl auch ungerecht gegen den Fürsten, der ihn erhielt und das
eigene Schicksal mit den hohen Gedanken verknüpft hatte, die in
\\'ittenberg ans Licht getreten waren. Aber an sich hat er dabei
zuallerletzt gedacht. Nur die Furcht für seine Schöpfung, die
Angst, daß seine junge Pflanzung vernichtet werden und die Bar-
barei wiederkehren könnte, hat ihn dann und wann zur Nach-
giebigkeit oder Ungerechtigkeit verleitet. Man muß diese brennende
Liebe zu seinem Beruf im Auge behalten, wenn man über solche
Schwächen leichthin den Stab brechen will. Wo es galt, für die
Studien und die Universität einzustehen, da war Melanchthon
tapfer und entschlossen wie kein anderer. Als einmal nicht lange
vor seinem Tode unter seinem Rektorat Studentenunruhen aus-
brachen, da ist das kleine graue Männlein mit seinem Degen allein
den Tumultuanten entgegengegangen. Auch dürfen wir nicht
vergessen, wie engherzig und borniert die regierende Gesellschaft
war, auf deren Einfluß und Unterstützung die Gelehrten damals
angewiesen waren. Wie oft bricht Melanchthon über die Zentauren
und Zyklopen an den Höfen in bittere Klagen aus! ,,Wir Pro-
fessoren," schreibt er einmal, ,, werden auf das hochmütigste ver-
achtet, und nicht allein von den Ignoranten, den Pfeffersäcken
und den Krautjunkern, sondern auch von jenen Halbgöttern,
welche in den Regierungen sitzen. Ja man verachtet uns nicht
bloß, man haßt uns geradezu."^)
In ihm selbst war nichts als Hingabe an die Aufgabe, der er
sein Leben geweiht hatte. Darum hielt er in dem Lande, wo er
nie recht heimisch werden konnte, bis ans Ende aus und lehnte
jeden Ruf, so noch den letzten an seine Jugenduniversität, ab.
Auch mit solchen Anschauungen aber stand er nicht allein. Uns
^) »Adde, quod superbissime contemnimur, non solum ab imperitis,
a mercatoribus, centauris, sed etiam ab illis semideis, qui regnant in aulis.
Postremum non tantum contemnimur, sed etiam in odio sumus.« Zit.
Hartfelder, Philipp Melanchthon, S. 80.
Philipp Melanchthon. 207
wird es heute, wo die banausischen Interessen von allen Seiten
auf uns einstürmen, schwer, die Heldenkraft einer Gesinnung
zu begreifen, welche sich nicht scheut, nur um der Idee willen,
an die sie sich gebunden hält, das System eines Jahrtausends zu
zertrümmern und nach den Gedanken, an die sie glaubt, die Welt
neu zu gestalten. Aber die Reformation wäre nie möglich geworden,
wäre nicht die weltverachtende Sicherheit dieses Glaubens in
ihren Bahnbrechern mächtig gewesen. Zu diesen Helden des Ge-
dankens aber rechnet auch Philipp IMelanchthon, und darum vor
allem wollen wir seine ehrwürdige Gestalt in treuem Gedächtnis
bewahren.
^^=^P^
Die geschichtliche Stellung der Deutschen
in Böhmen.
(1899.)
Der geschichtliche Prozeß, dessen Hauptmomente hier skiz-
ziert werden sollen, umschließt schon beinahe einen Zeitraum
von zweitausend Jahren, und weniger als je können wir heute
sein Ende absehen; denn niemals haben sich die NationaHtäten,
welche einander den Boden Böhmens innerhalb desselben Staats-
verbandes streitig machen, mit größerer Feindseligkeit gegen-
übergestanden als in unseren Tagen. Nehmen wir uns dennoch
vor, an der zeitgemäßen Bedeutung unseres Themas die Unpartei-
lichkeit seiner Auffassung nicht scheitern zu lassen! Denn nur so
wird es möglich sein, die Bedingungen, Befürchtungen oder Hoff-
nungen für die nationale Zukunft der Deutschen in Böhmen recht
zu beurteilen: die Erkenntnis der Wahrheit allein gibt die Ge-
währ eigenen Wachstums und Gesundens.
Böhmen reicht bis an das Fichtelgebirge, bis an das Herz
unseres Volkes: mit breitem Einfallstor öffnet es sich, sonst berg-
umringt, hier den Kernlanden Deutschlands, in denen der Strom
unserer Geschichte inomer am vollsten geflutet hat. Umschreiten
wir den Bergrand, der Böhmen umgibt, so treffen wir überall
Deutsche: in Schlesien, in Sachsen, in Franken, in Bayern; auch
die Südgrenze ist ganz von Deutschen besiedelt, und selbst im Osten
gehören große Sprachinseln unserem \'olkstum. Städte mit
sla^\^schen Namen, wie Iglau, Zwittau, Olmütz, Brunn, also die
Hauptstädte Mährens, sind die Brennpunkte von kernigen, mit
\\ irtschafthcher und geistiger Kraft erfüllten deutschen Kreisen.
Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen. 209
Auch wenn wir in das böhmische Land hineintreten, durchschreiten
wir zunächst noch einen Kranz deutscher Städte und Dörfer,
vielfach deutschen, doch auch slawischen Namens, und nur in der
Mitte sitzt eine festgeschlossene slawische Masse. Wären auch
hier unsere Volksgenossen heimisch, so würde der deutsche Name
von den Quellen der Oder bis zum Einfluß der March, von Ratibor
bis Preßburg reichen, und von Ratibor bis Metz, von der Memel
bis zur Mur wäre alles unser. Nicht ganz ausnahmslos freilich, da
im Norden ja die Polen eingesprengt sind; aber diese leben in
einem ihnen feindseligen, sie verdrängenden Staate. Im Süden
aber, in Österreich, würde dann das Deutschtum in breiter Masse
lagern. Und was würde Zisleithanien für die Südslawen bedeuten,
welche beherrschende Stellung würde dann hier unsere Nation
dem slawischen und magyarischen Osten gegenüber besitzen!
Das steht den Tschechen vor Augen; wahrhaftig, es ist leicht
zu begreifen, wenn sie, rings umstellt, die Gunst eines geschicht-
Hchen Momentes benutzen wollen, um diese Fluten zurückzudrängen.
In den ältesten Zeiten der deutschen Geschichte war es aber
so, \\ie die Tschechen fürchten. Die Völkertafel, welche Tacitus
vom alten Germanien entwirft, umfaßt wie das Stromgebiet der
Elbe so auch das der Oder, und gerade in Böhmen ist, wie er es
beschreibt, der erste Versuch gemacht worden, mit den Formen
der römischen politischen Kultur die germanische Urkraft zu ver-
schmelzen und die so gesammelte Macht gegen Germanen und
Römer zu werfen. Das ist die Tat Marbods, dessen Andenken
dadurch, wie unglückhch auch der Versuch für ihn geendet, un-
vergeßlich geworden ist. Später kam wieder von denselben Land-
schaften aus die große Völkerbewegung in Fluß, der das Römer-
reich erlag; denn seit Mark Aurel in den Markomannenkriegen
die barbarischen Völkerschwärme mühseUg von den Grenzmarken
des Weltreiches abwehrte, haben diese Angriffe nicht aufgehört.
Aufs beste aber war die Angriffsstelle gerade hier gewählt. Denn
nur wenige Meilen von der Südgrenze Böhmens zog sich lang-
gestreckt die Donaulinie der römischen Befestigungen hin. Es
war der nächste und der bequemste Weg nach Rom — nirgends
waren die Alpen leichter zu überschreiten — und es war die Stelle,
Lenz, Kleine historische Schriften. I4
210 Kleine historische Schriften.
wo die Ost- und die Westhälfte des Imperiums am leichtesten aus-
einanderzureißen waren : man brauchte eben nur das sclmiale Land
von Carnuntum bis Aquileja zu besetzen, so konnten die römischen
Legionen des Orients und des Abendlandes lediglich auf dem
Seewege zueinander kommen. Es ist also erklärlich, daß in den
folgenden Jahrhunderten diese verwundbarste Stelle in immer
wiederholten Stößen von den Barbaren getroffen wurde. Böhmen
war gleichsam das Becken, in dem sich der Strom der germanischen
Volkskraft sammelte, bis er über die Berge hinflutete; hier er-
starkten auch die letzten Eroberer Italiens, die Langobarden.
So ward die Kraft der Ostgermanen, welche zuzeiten vom Finni-
schen bis zum Schwarzen Meer, ja bis zum Don und zur Wolga
hin die Herren gewesen, in weltverwandelnden Kämpfen ausge-
schüttet. Ihnen nach, mit und hinter den Hunnen, welche nur
wie eine Springflut über Europa hinwogten, drängten die Slawen
und nahmen alle Gebiete ein, welche jene verließen: die russischen
Steppen und die Tiefländer der Weichsel und der Oder; über die
Elbe hin breiteten sie sich bis zur Saale aus und siedelten hart
an jenem Strome bis Harburg hin; sie besetzten den Osten Hol-
steins, gerade den fruchtbarsten Teil zwischen den Seen und Buchen-
wäldern der Halbinsel; sie erfüllten Böhmen und ergossen sich
durch das Egertor in den Fichtelwald; in alle Täler der Ostalpen
bis zur Etsch drangen sie vor, ja sie drangen weit abwärts bis
an das Ostgestade des Adriatischen Meeres.
Es waren die Jahrhunderte, da die Germanen das römische
Imperium stürzten. Im Westen und Süden, in dem größten
und reichsten Kulturgebiete der W^elt gewannen sie, was sie im
Osten verloren. Freilich nicht auf die Dauer: niemals hat unser
Volk eine größere historische IMission erfüllt — ■ zerstörend doch
die politische Kraft zu bringen, durch welche sich die von ihnen
zertrümmerten und umgeschaffenen Nationen gegen die neuen
Welteroberer von Osten her, gegen Hunnen und Araber, erhalten
konnten — und niemals hat es größere Verluste erlitten. Die
römischen Provinzen waren nicht nur an Kulturkraft, sondern,
was man nicht übersehen darf, auch an Volkszahl den Eroberern
überlegen; nicht lange, so lebten von den germanischen Bildungen
Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen. 211
nicht viel mehr als die Namen. Romanische Nationen erhoben
sich fast im ganzen Umkreise des weströmischen, des lateinischen
Imperiums. Doch darf man diesen relativen Sieg der antiken
Kultur nicht nur \-on dem Standpunkte des universellen Fort-
schrittes gutheißen: die germanischen Nationen selbst konnten
nur durch Annahme der Kultur der Unterjochten ihr pohtisches und
selbst ihr nationales Dasein zu erretten hoffen. Bestehen und
Fortschreiten ist in der Geschichte überall nur möglich durch
Aufnahme höherer Kulturkräfte. Die Stämme, welche, wie Ost-
goten und Vandalen, in ihren kirchlichen und militärischen In-
stitutionen sich von den Provinzialen spröde absonderten, gingen
alsbald unter: der deutsche Stamm aber, welcher die Gleich-
berechtigung der Römer in Staat und Kirche von Anfang an
und ohne Rückhalt anerkannte, der fränkische, errang die Ober-
herrschaft über alle anderen, vereinigte unter seiner Gewalt das
weströmische Imperium und trug dessen Formen und Ansprüche
weit über die alten Grenzen in den Osten. Auch auf die slawische
Welt wirkte bereits unter den Merowingern diese Verschmelzung
germanischer Kraft und römischer Gesittung zurück, in dem Reich,
welches ein fränkischer Kaufmann, des Namens Samo, aus den
lockeren Elementen slawischer Stämme schuf. Seinen Fürsten-
sitz errichtete dieser Abenteurer in Böhmen; aber von Meißen
bis Kärnten gehorchte alles seinem Gebote. Zum zweiten Male
seit Marbod sehen wir in diesen Landschaften östlich von den
kerndeutschen Stämmen eine monarchische Gewalt erstehen,
welche jenen geschlossen und dominierend gegenübersteht; denn
nicht bloß gegen die Avaren, sondern auch gegen die Franken
wandte sich Samo mit glücklichem Erfolge. Träger dieser Kraft
ist diesmal das Slawentum, aber nur eine Generation vermag
sie zu dauern, und ein Fremder ist es, der sie schafft; es ist sein
ganz persönliches Verdienst: sowie der Franke gestorben, zerfiel
auch sein Reich, und gleich beim Eintritt in die Geschichte zeigten
die slawischen Stämme, daß sie nicht aus sich heraus zur Einheit
und Macht gelangen konnten.
Auch war Samo nach dem Westen hin nur darum glücklich,
weil das Reich der Merowinger zerrüttet war. Denn dieser Staat,
14*
212 Kleine historische Schriften.
dem im 6. Jahrhundert ganz Mittel- und Süddeutschland ge-
horcht hatte, so daß fränkische Besatzungen in den deutschen und
slawischen Alpen standen, Italien sich bedroht fühlte und schon
die Kaiserkrone von Byzanz dem Ehrgeiz seiner Könige vorschwebte,
war in volle Auflösung geraten; und erst im schwersten inneren
Ringen konnte sich aus ihr die fränkische Kraft in der karolingi-
schen Monarchie vertieft und erweitert emporarbeiten. In dieser
finden wir die gleiche Mischung der Grundelemente wie in dem
alten Königtum. Vor allem den Dualismus zwischen der romani-
schen Kultur, deren Hoheit in Kirche, Kunst und Literatur un-
bedingt anerkannt wird, und den Zielen des germanischen Staates.
Indem das Netz der fränkischen Grafschaften das Reich überspannt,
\\ird die Individualität der Stämme gebrochen. Je mehr aber die
Stammeseinheiten zurücktreten, um so mehr muß die oberste
Gewalt ihres Charakters als Volkskönigtum beraubt werden. Und
so tritt die Idee des Imperiums, die doch auch wohl schon in dem
alten Volkskönig Chlodwig und seinen nächsten kraftvollen Nach-
folgern sichtbar wird, wieder hervor. Es war dieselbe Gewalt,
welche alle diese Länder vereinigt und gegen die Barbaren ver-
gebens verteidigt hatte: unter den neuen Welt Verhältnissen, dem
Widerstreit der neugebildeten Nationalitäten, der territorialen
Interessen, bei dem Gegensatz zwischen Adel und Königtum,
zwischen Kirche und Staat ohne Frage eine nur ephemere
Schöpfung, aber zunächst nun doch von einer Einheit und Kraft,
vor der alles zurückwich. So mußten, nachdem die Missionen sie
erschüttert, die deutschen Stämme sich aufs neue beugen, zuletzt
auch die bis dahin freien Sachsen. Und nun fand sich das ger-
manisch-romanische Kaisertum Karls des Großen der slawischen
Welt unmittelbar gegenüber. Es kannte, wie das alte Imperium,
keine Grenzen. Wie seine Vorfahren von Rom wollte Karl all-
zeit Mehrer des Reiches sein; ihm war es gleich, ob Römer oder
Deutsche, ob Slawen, Dänen und selbst Araber ihm gehorchten,
wenn sie nur seine Herrschaft, die Kaiserkrone anerkannten. So die
Stellung Karls. Anders die der Sachsen, der Thüringer, der Bayern
gegenüber ihren slawischen Nachbarn ; indem sie eingeordnet ^\^lrden
in das Weltreich, woirden ihre alten Grenzkämpfe dessen An-
Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen. 213
gelegenheiten : der fränkische Heerbann kam ihnen jetzt zur Hilfe,
und der Sieg über die Erbfeinde ward der Lohn ihrer eigenen
Unterwerfung. In den nördhchen Gebieten kam es so zu einer
Stauung der slawischen Flut. Feste Marken sicherten unter ihren
Grenzgrafen von der Eider bis zum Bayerischen Wald das deutsche
Gebiet; dem Namen nach wenigstens gehört auch Böhmen in
dieses Sj'stem. An der Donau aber brach die deutsche Kraft
völlig hindurch; nachdem die Avaren besiegt und die Slawen
hin weggedrückt waren, nahmen die Deutschen alles Land zu beiden
Seiten des Stromes bis Ödenburg ein. Wieder wirkten das frän-
kische Schwert und das Wort der Missionare zusammen: Rom
und das Kaisertum haben gemeinsam gearbeitet, um das Land
zu gewinnen, welches Jahrhunderte hindurch der Eckstein des
römisch-deutschen Kaisertums gewesen ist.
Das Karohngerreich zerfiel, und wie bei der Zerrüttung des
Merowingeneiches geschah es auch jetzt — die slawische Welt
fand wieder ihren Einiger und Reformator: schon nicht mehr
einen Deutschen, sondern einen Slawen, den Mähren Swatopluk,
der auch Böhmen beherrschte und die pohtische Gewalt auf kirch-
licher Grundlage zu befestigen trachtete. Da ist es nun aber inter-
essant, in dem i\Ioment, wo das slawische Christentum ins Leben
tritt, ein Schwanken desselben zu bemerken zwischen dem byzan-
tinischen und dem römischen Glauben. Die Begründer und ersten
Organisatoren der mährisch-böhmischen Kirche waren zwei Mönche
von Thessalonike, IMethodius und Cyrillus; es geschah offenbar
im Gegensatz zu dem drohenden römischen Einfluß, wenn sie
der neuen Kirche eine slawische Liturgie gaben. Da sich nun
Swatopluk, der den Deutschen immer feind war, zugleich von
den heidnischen ^Magyaren bedroht sah, kam er zu der Erkenntnis,
daß Rom doch mächtiger und vor allem näher sei als Konstanti-
nopel, und gewährte der abendländischen Kirche schließlich den
größeren Einfluß. Deren Missionare waren aber doch eben wieder
Deutsche; ein Schwabe namens Wichmann gewann allen Einfluß
am Hoflager des Slawen, und mit ihm die deutsche Kirche. Aber
auch dieser Versuch Swatopluks verlief unglückhch. Mit Kaiser
Arnulf, von dem ihn der alte Zwist über die Ostmark schied, könnt?
214 Kleine historische Schriften.
er sich nicht verständigen; die Magyaren zerstörten sein Reich,
und das böhmische Land war wieder isohert. So setzten sich die
drei leitenden Nationen des heutigen Österreichs gegeneinander
fest. Ihre Gruppierung hat seitdem oft gewechselt, meist war sie
jedoch so wie zu Arnulfs Zeiten: bei allem Hader untereinander
haben doch im großen und ganzen Ungarn und Deutsche gegen
die Tschechen zusammengehalten. Damals war es den Deutschen
nicht zum Segen. Die Älagj'aren bedrängten die einen nach den
anderen, während Deutschland in seine Stämme zerfiel. Welch
ein anderes Bild bieten die Deutschen jener Tage als ihre Vor-
fahren im Kampf mit Rom ! Einst waren kleine Bruchteile der ger-
manischen \'ölkerwelt imstande gewesen, die ausgebildetste Mihtär-
macht der Welt, ein Reich, das fast seine ganze kriegerische Kraft
hier gesammelt und in enormen, durch Natur und Kunst gesicherten
^^erteidigungsstellungen aufgehäuft hatte, mit immer neuen An-
läufen zu erschüttern — jetzt zitterte alles Volk von der ]\Iarch bis
an die Rheinmündungen hinter Burgwällen und Klostermauern
vor wenigen Tausenden asiatischer Reiter, die wie der Sturmwind
durch das Land flogen. Das ist der Gegensatz zwischen barbarischer
Vollkraft und der bändigenden Gewalt der Kultur; es war die
langhin nachwirkende Rache des Römertums. Eine dünne Schicht
der Kultur lag über den Urboden gebreitet ; aber sie reichte gerade
hin, ihn zu entmannen. Einem kleinen Bruchteil der Nation
kam sie zugute; schwer und doch kraftlos gegen große Stürme,
lasteten wenige bewehrte Hände auf dem waffenlosen, aus der
Staatsmacht getriebenen Volke.
Die Rettung konnte doch nur in der Fortbildung Hegen,
nicht in der Umkehr: in der Erneuerung der karolingischen In-
stitutionen, in der \^ereinigung aristokratischer, imperialer und
hierarchischer Kräfte, nun freilich auf dem Grunde bestimmterer
Nationalität und der in der Verwirrung neu erstarkten deutschen
Stämme. Das ist die Arbeit Heinrichs L und Ottos des Großen
geworden. Beide besiegten die Magj'aren so, daß sie das Wieder-
kommen vergaßen. Doch war dies nur Abwehr: der Angriff jener
Herrscher galt den Slawen. Und damit nahmen sie gerade die
Ziele des alten Stammesehrgeizes auf. Vor allem kamen jetzt
Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen. 215
die Sachsen voran: über die Elbe hin bis zur Oder, zwischen der
Saale und dem Erzgebirge wurden sie die Herren ; darüber griffen
sie hinweg auch nach Böhmen, hier vereinigt mit den Bayern, denn
nur so konnten die aufeinander stoßenden Interessen beider Stämme
ausgeglichen werden. Diesem Andrang gegenüber wagten die
Böhmen einen Versuch des Widerstandes unter Boleslav I., der
soeben als Führer der nationalen Partei seinen Bruder, den König
Wenzeslaus, gestürzt hatte, als dieser bayerische Missionare unter-
stützen wollte. Er selbst hatte den tödlichen Axthieb gegen das
Haupt des Bruders geführt, der diesen an die Spitze des böhmi-
schen Heiligenkalenders gebracht hat. Aber im Besitze der Gewalt
mußte auch er in die gleichen kirchlichen Bahnen einlenken, mußte
auch er anerkennen, daß nur die Anlehnung an die Römerkultur
die nationale Erhaltung der Tschechen ermöglichte — und das
bedeutete eben die Duldung deutscher Missionare und Kirchen-
sprengel. Aber auch politisch war Boleslav gegenüber der neuen
Weltstellung unserer Nation ohnmächtig. Otto der Große bändigte
seinen Trotz. Gegen die Magyaren jedoch verband sie das gleiche
Interesse; daher wir denn auf dem Lechfelde eine böhmische
Hülfsschar unter deutschem Banner fechten sehen. Böhmen aber
kam danach ganz unter die deutsche Kirche, Prag ward die Diözese
eines deutschen, des Mainzer Erzbistums; und so ward Böhmen
eingegliedert in das römische Reich deutscher Nation,
dem es bis in den Beginn unseres Jahrhunderts angehört hat.
Die Gewalt der lateinischen Kultur, der Böhmen sich ge-
beugt, war jedoch auch den autochthonen Kräften der deutschen
Politik noch weit überlegen. Wie tritt das in Kaiser Otto III.
hervor, in dem keine Spur von dem Sachsentum ist, das wie in
der Sage so auch noch in den lateinischen Phrasen der Kloster-
historie die Gestalten seiner Ahnherren verklärt! Der Sachsen-
haß und der Herrenstolz gegen die Knechte, die Slawen, sind in dem
kaiserlichen Jüngling, der zu Rom auf dem Aventin in starrer
byzantinischer Etikette, von südländischen Frauen und Geist-
lichen umgeben, Hof hielt, wie ausgelöscht. Sein Freund war
vielmehr der böhmische Fürstensohn Adalbert, der von seinem
Bischofsitze in Prag aus auf der Missionsfahrt nach Preußen den
216 Kleine historische Schriften.
Märtyrertod suchte und fand : auf dem Grabe des Heiligen in Gnesen
legte der Enkel des großen Sachsenkaisers den Grund zu dem
Erzbistum, das bis in unsere Tage das nationale Kirchenzentrum
des Slawentums gegen Deutschlands Staat und Kirche geblieben
ist. Seitdem trat Böhmen aus dem Zusammenhang der Reichs-
geschichte auf lange Zeit zurück, um an dem Aufschwung der
slawischen Nationen teilzunehmen. IMehrfach ward es Provinz
oder Mittelpunkt eines auch Polen umfassenden Slawenreiches,
das in die deutschen Ostmarken feindhch eingriff. Der Zusammen-
hang mit Rom ward mehr und mehr befestigt, und nur dadurch
war es möglich, die nationale Kraft staatlich zusammenzufassen.
Während Rom so ein hoher Machtzuwachs wurde, erlitt Deutsch-
land Verluste. Aber es war und blieb uneins, und das Kaisertum
griff oft zu dem verzweifelten Ausweg, böhmische Hilfe gegen
deutsche Rebellen herbeizurufen. Als Lohn solcher Verdienste
hat Heinrich IV. dem böhmischen Herzog die Krone verliehen.
Das zwölfte Jahrhundert war auch für Böhmen eine Epoche
politischer Zerrüttung. Dynastische Parteiungen und mehr noch
aristokratische Machtstrebungen gegen die Krone erfüllten alles
mit Verwirrung. Daher suchten die Herrscher Anlehnung bei
den deutschen Kaisern, so schon bei Lothar, besonders aber bei
den Staufem, auf deren Kriegsfahrten nach Itahen und dem
Orient daher oft starke böhmische Heerscharen mitzogen. Hier-
auf ward das Königreich in die welfisch-staufischen Bürgerkriege
hineingerissen, und diese Zerrüttung des Reiches ward der Boden,
auf dem eine neue Dynastie, die der Premysliden, sich
erhob. Unter diesen ragt vor allen der zweite Ottokar hervor,
dessen Sturz die Macht des Hauses Habsburg begründet hat.
Ihn, und nicht König Rudolf, müssen wir als den Schöpfer Zislei-
thaniens betrachten: nicht von dem deutschen Herrscher, sondern
von jenem Slawen ist dies Ländergebiet vereinigt worden, nicht
von Österreich aus, sondern von Böhmen her. Im weifischen
Lager und unter dem Zeichen Roms hat Ottokar in Jahrzehnten
politischer und kriegerischer Anstrengung das Erbe der Baben-
berger gewonnen, so daß wir ihn in Wahrheit als den Vorgänger
Rudolfs von Habsburg bezeichnen können. Die Bedingung seines
Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen. 217
Emporkommens war die Zersetzung des Deutschen Reiches: was
er erwarb, löste er aus dem Reichs verbände, um ein großes Mittel-
reich zu schaffen, das von der Ostsee bis zur Adria Einfluß übte ;
so wie später das burgundische Reich in analoger Bildung, ebenso
zweisprachig, halbdeutsch, feindselig den nationalen Monarchien,
von der Nordsee nach dem Mittelmeer zu sich zwischen den fran-
zösischen und deutschen Staat eingedrängt hat. Aber man darf
diese Kraftentwickelung nicht als tschechische Reaktion gegen
deutsches Wesen auffassen. Im Gegenteil, nur deutsche Kräfte
befähigten Ottokar zu seinem Werk. Deutsch war die Sprache
seines Hofes; Deutschlands Minnesang und ritterliche Art blühten
in Prag; Reinmar von Zweter hat dort gedichtet; der König selbst
und seine Verwandten versuchten sich in den deutschen Reimen.
Auch kamen auf sein Geheiß Scharen deutscher Kolonisten ins
Land, meist Niederdeutsche, ein Bruchteil jener neuen Wande-
rung unseres Volkes, die in diesem Jahrhundert alles Land bis
in die Niederungen der Weichsel erfüllte und den ganzen Osten
sich zinsbar machte: Bergleute, die im Erzgebirge und mitten
in Böhmen die reichen Bodenschätze hoben, Handwerker, Kauf-
leute und um die neuen Städte her die breite Masse der Bauern.
]\Iit dem König wetteiferten Herren und Geistlichkeit, die Johanni-
ter besonders und die Zisterzienser ; auch die slawischen Dörfer und
Städte suchten deutsches Recht zu erlangen. Der große Staatsmann,
der Ottokar in allem zur Seite stand, Bischof Bruno von Olmütz,
war selbst ein Niederdeutscher, ein Graf von Holstein- Schauenburg.
Auch König Rudolf hat die Vereinigung ganz Zisleithaniens
angestrebt, sein Sohn Albrecht sie zeitweise verwirklicht; und
dynastisch war auch die Pohtik Habsburgs seit dem Begründer
seiner Größe. Aber die allgemeine Konstellation fügte sich so,
daß die Interessen dieses Hauses mit der Wiederherstellung des
Deutschen Reiches zusammengingen. Und Rom, dem das Kaiser-
tum immer unentbehrlich war, wandte sich dorthin : Gregor X.
verließ Ottokar, um Rudolf zu erheben. Doch die Verbindung der
zisleithanischen Gebiete war so nicht denkbar. Gegen den öster-
reichischen Träger der deutschen Krone erhob sich die Krone
Böhmen. Zwar kündigte sich hier bereits eine nationale Reaktion
218 Kleine lüstorische Schriften.
gegen das deutsche Übergewicht an, aber beide Parteien fanden
sich doch durch den gemeinsamen Gegensatz gegen Habsburg
gebunden: die Idee Böhmens siegte; einem deutschen Geschlecht,
dem luxemburgischen, ward die Krone anvertraut. Das bleibt
nun aber der Grundzug der luxemburgischen Herrschaft: auf
die Versöhnung der slawischen und der deutschen Bestandteile
eine einheitliche böhmische Macht zu gründen, die sie wieder nach
allen Seiten zu erweitern strebt. Darauf beruht vor allem die
Stellung, welche Karl IV. einnimmt, eine internationale Persön-
lichkeit, Zögling eines Papstes, Freund Frankreichs, Gönner human-
nistischer Bildung und wieder mystischen Stimmungen ergeben,
allezeit aber als Politiker und Wirtschafter der kühlste Rechner.
Auf die Hierarchie gestützt, wollte er Prag zum Mittelpunkt seiner
Hausmacht, die er unablässig vermehrte, wie des Reiches machen.
Aber wie hätte er so weitgespannte Ziele anders als durch Deutsche
erreichen können! Die Universität, die er in Prag stiftete, füllten
deutsche Studenten und Professoren; deutsche Baumeister bauten
ihm seinen Dom zu St. Veit und den Karlstein ; Karl selbst förderte,
wie er konnte, deutsches Wesen, dessen wirtschaftliche Tüchtig-
keit seinen Wünschen am besten diente.
So ist es erklärlich, daß mit der wachsenden Kultur die slawi-
schen Ansprüche wuchsen, daß ein immer schärferer Gegensatz
der Tschechen gegen die deutschen Mitbewerber um den böhmischen
Boden sich ausbildete, den diese doch erst seit hundert Jahren
besaßen. Die Dynastie, welche haltlos zwischen den Parteien
schwankte, erlag darüber, und die tschechische Bewegung siegte.
Ihr Führer war diesmal ein Mann aus dem Volk, ein Professor
der Theologie an der neuen Universität, Johann Hus, der mit
seinem Anhang 1409 sich in den Besitz der Universität setzte;
was, wäre er ungestört geblieben, zum Alleinbesitz der böhmischen
Kirche hätte führen müssen. Hus aber, der schon ketzerisch dachte,
geriet mit den Häuptern der Hierarchie aneinander; mit der natio-
nalen Erhebung verschmolz die religiöse, und zum ersten Male
gelang es einem Reformator, eine ganze Nation auf evangelischem
Grunde gegen Rom zu vereinigen. Ohne Frage sind die Lehren
Johann Hus' mit denen Luthers verwandt. Hat also das Tschechen-
Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen. 219
tum den hohen Ruhm, aus seinem Geiste die Ideen geboren zu
haben, die ein Jahrhundert später, mit deutscher Kraft gesättigt,
die \\'elt ver\\andelt haben ? Heute ist diese Frage in verneinendem
Sinne entschieden. Hus hat nie behauptet noch behaupten dürfen,
daß er seine Gedanken aus dem eigenen Herzen, aus der Tiefe des
tschechischen Volksgemütes erzeugt habe: er übernahm Wiclefs
Ideen, so wörthch, daß er vielfach, wie erwiesen, als Abschreiber
zu bezeichnen ist. Was aber dem englischen Reformator unmög-
lich war, gelang dem Tschechen, dem der Haß gegen die Deutschen
die Seele schwellte und die Genossen zutrieb — die Losreißung
seines Volkes von der römischen Kirche, mit der die Deutschen
im engen Bunde waren. Da kam es zu einem IMacht- und Rassen-
kampf, wie ihn unsere Geschichte noch nicht erlebt hatte, zu
unerhörten Triumphen der Tschechen gegen die von der ganzen
öffentlichen Meinung des Abendlandes getragene deutsche Nation.
In fürchterlichen Ausbrüchen entlud sich die revolutionäre Lava:
die Feuerströme, von den Geistern nationaler, religiöser, sozialer
Leidenschaften genährt, rangen in dem böhmischen Bergkessel
untereinander und strömten wildverwüstend über die Grenzen.
Ein tragischer Anblick, das Ringen einer von Haß und Wut um-
ringten kleinen Nation um Existenz und Anerkennung — denn
anerkannt zu werden von der römisch-kirchlichen Staatenwelt
blieb doch das Ziel der Böhmen in all dieser Verwirrung. Un-
überwindliche ]\Iächte hielten das Land umlagert. Aber wir dürfen
hinzusetzen, daß die Geister slawischer Maßlosigkeit auch durch
die evangeHschen Gedanken, an die man sich anlehnen wollte,
nicht gebändigt wurden; die eigene Haltlosigkeit hat mindestens
soviel zum Ruin der Nation beigetragen wie der Haß der Feinde.
Und so brannte der Krater in sich aus. Erfolg hatten nur die
großen Barone, mochten es Tschechen oder Deutsche, Katholiken
oder Utraquisten sein; und in die Asche fielen aufs neue dichte
Keime deutscher Kolonisation : es ist bezeugt, daß die Deutschen
am Ausgang des 15. Jahrhunderts in Böhmen einflußreicher waren
als je. Am Ende entstand ein neues eigenartiges Staatsgebilde,
das Königreich Georg Podj ebrads, eines Vollbluttschechen,
der danach rang, dem hussitischen Staat von dem Papsttum
220 Kleine historische Schriften.
eines Pius II. die Duldung abzutrotzen. Dem zerbröckelnden
Deutschen Reiche gegenüber war die Stellung König Georgs ge-
waltig; mehrfach konnte er als Führer der ständischen Interessen
gegen den Kaiser auftreten, die römische Königskrone selbst schien
nicht zu hoch für seinen Ehrgeiz. Schließlich aber war all sein
Ringen doch nur Sisyphusarbeit : Rom hielt an Habsburg fest, und
was einem Friedrich III. traumhaft vorgeschwebt hatte, die Vereini-
gung der zisleithanischen und magyarischen Gebiete, die kaiserliche
Vollgewalt seines Hauses, das ward unter seinem Sohne und seinem
Urenkel zur Wirklichkeit. Seitdem ist Böhmen im Besitz der habs-
burgischen Krone gebheben, ein Stück Zisleithaniens, seit derselben
Epoche, da die deutsche Kultur in einem autochthonen Prozeß noch
tiefer, seelischer befruchtet ward mit den evangehschen Gedanken,
denen Johann Hus hatte Bahn brechen wollen. Der nationale
deutsche Staat aber, das innerste Ziel der religiösen Umwandlung,
ward nicht erreicht, vielmehr die ständische Organisation, welche das
Reich umspannt hielt, nur tiefer begründet, mit höherem Inhalt
begabt ; das Reich ward erfüllt mit untilgbarem Haß und Hader.
Nun hatte ja aber auch in Böhmen die religiöse Bewegung
nicht zur Einigung geführt. Die Parteien standen hier wie in
Deutschland gegeneinander; so wie dort förderte das Herrscher-
haus die katholischen Interessen. Da traten, wie überall in der
Welt, die nationalen Gegensätze auch in Böhmen zurück; Kon-
fession hielt zu Konfession, die katholischen Barone zu den Habs-
burgern, die evangehschen zu den gleich gesinnten Ständen im
Reiche. So war die Opposition beschaffen, welche sich im 17. Jahr-
hundert gegen Habsburg bildete, einen Pfälzer Kurfürsten zum
König machte und den Kampf wagte, der auf dem Weißen Berge
bei Prag mit dem Siege des deutschen Katholizismus endigte,
den religiösen Bürgerkrieg aber in Deutschland entfesselte. Wieder-
um nicht als tschechische Reaktion ist der Aufstand anzusehen,
sondern als eine protestantisch-ständische. Beide Nationalitäten
finden wir in dem böhmischen Lager — neben den Bubna und
Kinsky die Thurn, Fels, Hohenlohe — nirgends treten die alten
nationalen Ansprüche hervor; man kann oft schwanken, welchem
Stamme man den oder den Führer zurechnen will. Selbst d^s
Die geschichtliche Stellung der Deutschen in Böhmen. 221
konfessionelle Element trat im Laufe des Krieges vor dem aristo-
kratisch-persönlichen zurück, und so kam unter den böhmischen
Großen, ja in dem Heere, das Ferdinand seine Siege erfocht, unter
den Offizieren, die ihm die Söldner geworben, von neuem die
Idee auf, daß gegen Habsburg Böhmen als solches sich erheben
müsse, daß von allem religiösen und nationalen Hader abzusehen
sei. Zum zweiten Male seit Podjebrad appellierte die böhmische
Politik an die religiöse Toleranz, und wieder war es ein böhmischer
Edelmann, der unter ihrem Zeichen seinem Vaterlande und dem
Reiche den Frieden geben wollte. Wallenstein. Aber hüten wir
uns, diese erhabene Idee in den Händen des dämonischen Mannes
als die hohe Kraft zu preisen, welche auf dem Grunde protestan-
tischer Staatsgewalt und in späteren Weltkämpfen erwachsen
ist. Dem Friedländer war sie nur die berückende Hülle, unter der
er den Eidbruch gegen seinen kaiserlichen Herrn beschönigen, die
Parteien im Reiche gewinnen, die Unersättlichkeit seines Ehrgeizes
verbergen wollte, er, der in Wahrheit nur die barbarische, ideenlose,
von der Scholle losgelöste Gewalt der durch Geld geworbenen und
durch niedrigste Leidenschaften zusammengehaltenen Soldateska
vertrat. So verschwand ihm die Krone seines Landes wie ein Phantom
nebelgleich in dem Abgrunde, in den er stürzte, als er, zitternd vor
Begierde und Furcht, mit unsicheren Händen danach greifen wollte.
Das Jahr der Schlacht am Weißen Berge und das der Er-
mordung Wallensteins, 1620 und 1634, sind die Gründungsjahre
der modernen habsburgischen Gewalt über Böhmen. Seitdem
hat hier weit über 200 Jahre ein System der Herrschaft bestanden,
dasjenige, welches überhaupt den modernen österreichischen
Großstaat zusammenhielt, bis ihn die preußischen Siege in neue
Bahnen zwangen. Das Fundament war die Einheit der Religion
und des Herrscherhauses sowie eine über nationale Unterschiede
hinwegsehende imperiale Autorität; die IMachtmittel die zentraH-
sierende Bureaukratie und die Armee; der nationale Boden aber,
auf dem Krone, Klerus, Beamtentum und Heer dieses Habsburgs
ruhten, das Deutschtum. Dies ist die Epoche gewesen, in der
katholische Politik und deutsche Nationalität den engsten Bund
geschlossen, die größte Älachtsumme gebildet und die höchsten
222 Kleine historische Schriften.
Erfolge errungen haben; Magyaren und Tschechen hatten es
gleichmäßig zu empfinden. Ohne Frage also hatte unser Volks-
tum in Böhmen davon den größten Nutzen. Niemals hat es von
den Tschechen weniger zu leiden gehabt als im i8. Jahrhundert.
Alle leitenden Kreise im Lande waren von Deutschen erfüllt ; deutsch
war die Sprache des Umganges und der Geschäfte, der Literatur
auch für die tschechischen Schriftsteller. Der tschechische Name
schien verlöschen, Böhmen eine deutsche Provinz werden zu wollen.
Da kam die Zeit einer neuen Wandlung, das 19. Jahrhundert,
das mit der Revolution anhebt, welche den alten französischen
Staat in Trümmer schlug. Der Genius der europäischen Nationen,
den die alten Ordnungen gefesselt hielten, befreite sich in welt-
verwandelnden Kämpfen. Die Grenzen, welche die alte Diplo-
matie gezogen, wurden überall zerbrochen ; die Ideale des vergange-
nen Jahrhunderts, jene Träume von Weltbürgertum und Welt-
frieden verflogen. Jede Nation ist nun in sich geeinigt oder strebt
danach, sich politisch auszugestalten; nationale Leidenschaften
führen allerorten das Wort, und die Welt starrt in Waffen. Noch
stehen wir mitten in dieser Entwickelung. Wie sie enden wird
— wer mag es ausdenken! Und am wenigsten bei dem Völker-
gemisch Österreichs, das ja erst seit kurzem in diesen Umwandlungs-
prozeß hineingerissen wurde, dürften wir eine Prophezeiung wagen.
Vielleicht, daß uns für Böhmen die Vergangenheit einen Finger-
zeig bieten kann. Niemals, so lehrt sie uns, haben die Tschechen
aus eigener Kraft ihren Staat erbaut; immer haben sie sich bei
den deutschen Nachbarn, bei deutschem Geiste Hilfe holen müssen.
Selbständig und stark nach außen waren sie stets nur zuzeiten,
da Deutschland zerrissen war; und die Blüteepochen ihres Landes
\vurden von Herrschern herbeigeführt, die, waren es nun Tschechen
oder Deutsche, aus allen Kräften deutsches Wesen hoben. Als
sie es aber unternahmen, ganz auf sich gestellt und in herber Feind-
schaft gegen die Deutschen Staat und Kirche Böhmens zu gestalten,
schufen sie am Ende nichts als Ohnmacht und Elend, und auf den
Trümmern ward erst recht der deutsche Einfluß mächtig. Zum Ver-
zagen bietet also unseren Volksgenossen in Böhmen die Geschichte
ihres Landes keinen Anlaß.
Gustav Adolf dem Befreier 2uni Gedäditnis.
(1894.)
Die protestantische Christenheit rüstet sich, das Andenken des
nordischen Helden zu feiern, der in den dunkelsten Zeiten der
deutschen Geschichte, in dem Gewirr blutigster Kämpfe rettend für
den schon unterliegenden Glauben Martin Luthers aufgetreten ist — ■
und schon erheben sich aufs neue die Stimmen des alten Hasses,
die aus dem Lager Roms und Habsburgs dem fremden Sieger
einst entgegenklangen. Zwar ist der politische Hader, der Deutsch-
land in jenen Jahren durchwühlte und verwüstete, verschwunden:
machtvoll und geeinigt steht die Nation da, entschlossen, jeden
Angriff abzuwehren; längst sind die fremden Zwingherren, die
ihre Machtkämpfe auf deutschem Boden ausfochten und unsere
Grenzen, unsere Ströme zu ihren Gefangenen gemacht hatten,
gerade Schweden zuerst, von uns abgeschüttelt und hinaus-
getan: die alten Marken sind wieder gewonnen und gewaltiger
denn je befestigt, und vor der neuen deutschen Krone ist der
fremde Glanz verblichen. Aber ungestillt ist der religiöse Zwist,
der mit dem politischen gepaart war, und mit fanatischem Eifer
suchen die modernen Römlinge alles hervor, um den Ruhm des
großen Königs zu schmälern, der sich dem alten Glauben auf seiner
Siegesbahn entgegenwarf und noch sterbend über ihn triumphiert
hat. Nicht als ob sie dem Helden aus seinem Bekenntnis einen
Vorwurf machen wollen, das ihre Vorfahren im römischen Glauben
mit einem ehrlichen Hasse verfolgten. Dafür sind unsere Apo-
logeten Roms und der römischen Politik zu tolerant geworden.
Ihre Anklagen sind nur gegen die politischen Absichten gerichtet,
224 Kleine historische Schriften.
die sich in Gustav Adolf mit der Konfession verbündeten: von
der Höhe des nationalen Selbstgefühls her verurteilen sie die
eigensüchtige Politik des Eroberers, und über ihrer patriotischen
Entrüstung vergessen sie fast, daß noch die jüngsten Historiker
aus ihrem Lager, ein Onno Klopp und seine Gesellen, mit
all ihrem Forschen niemals etwas Weiteres bezweckt haben, als die
Ziele Habsburgs und Roms historisch zu rechtfertigen und den
neuen Staat, in dem sich die protestantisch-deutschen Ideale
verkörperten, zu bekämpfen.
In der Tat aber hat es kaum einen Moment in der deutschen
Geschichte gegeben, wo das alte Kaisertum größere Erfolge er-
rungen hat und der Herstellung der Glaubenseinheit näher ge-
kommen ist als in den Jahren, da Wallenstein und Tilly ihre
großen Siege erfochten und Kaiser Ferdinand mit der Liga sich
anschickte, alle Zusagen und Verträge, die ihnen der deutsche Pro-
testantismus abgerungen hatte, zu widerrufen. Als Ende 1627 die
letzten dänischen Besatzungen aus Mecklenburg und der cim-
brischen Halbinsel verjagt waren, schien es mit der deutschen
Ketzerei aus zu sein. Bis zum Ottensund war der kaiserliche
General Meister geworden. Seine Gedanken erhoben sich jetzt
zum höchsten Fluge, bis zum Zuge nach Konstantinopel, den er
mit der vereinigten Kraft der deutschen Heere und der Hülfe
Spaniens, Venedigs und des Papstes ausführen wollte: in drei
Jahren müsse der Türke aus Europa verjagt und sein Reich unter
der kaiserlichen Krone den Eroberern ausgeteilt sein. Es waren
die imperialistischen Ideale, denen auch Karl V. unter allen
Kämpfen mit Papst und Ketzern, Franzosen und Türken nach-
gehangen hatte, und die noch immer den äußersten Horizont der
kathohschen Politik bildeten; Tilly selbst erging sich gerne mit
dem Friedländer in diesen Phantasien. Zunächst aber galt es für
beide doch, die nordischen Küsten und ihre Meere zu bezwingen.
Elbe und Weser waren bereits in ihren Händen; und auch an der
Ems und am Rhein standen ihre Regimenter, willkommene Nach-
barn für die Spanier, die von Belgien her die Niederlande be-
drängten. Durch das ganze Reich hin, bis an die Alpen, dehnten
sich ihre Quartiere aus. Furchtsam duckten sich unter dem Macht-
Gustav Adolf dem Befreier zum Gedächtnis. 225
wort der katholischen Generale die evangelischen Fürsten und
Städte, triumphierend erhoben die Pfaffen ihr Haupt, und gierig
griffen die hohen Offiziere nach den fetten Stiftsgütern der Ketzer,
die ihnen der Richtspruch Ferdinands preismachte,
^.r: Schon damals haben sich die Katholischen mit den Motiven
gebrüstet, welche man heute in ihrem Lager, ja, seltsam genug, bis-
weilen auch von anderer Seite her für die Politik Ferdinands und
Wallensteins anzuführen pflegt — als ob die nationalen Interessen
durch diese Anstalten Schutz gefunden hätten. Auf den Hansetagen
zu Lübeck entwickelten die Sieger ein hohes Programm natio-
naler PoHtik, eröffneten sie dem deutschen Kaufmann die Aus-
sicht auf Herstellung der alten Handelsgröße: es sei schimpfUch
für das deutsche Reich, so führten sie in einer Denkschrift aus, sich
auf den eigenen Meeren und Strömen von den fremden Nationen
Gesetze vorschreiben zu lassen; die Deutschen ließen sich be-
handeln, als ob sie lauter Kinder wären ; mitten in das Nest hätten
sich ihnen die Engländer mit ihren Monopolien und Propolien
gesetzt, und so viele Millionen aus Deutschland gezogen, daß sie
jetzt Kaiser und Reich Trotz böten. Und was sei der Zoll im Sunde
anders als ein schädlicher und schändlicher Tribut aus ganz Deutsch-
land an die Dänen! Im Namen der nationalen Ehre und Wohl-
fahrt, deren Schutz der Kaiser als seine heiligste Verpflichtung
vor Mit- und Nachwelt auffasse, wTirden die Hanseboten auf-
gefordert, den fremden Einfluß im Baltischen Meere zu zerbrechen.
Wer aber waren diese Versucher? Neben dem kaiserlichen,
fast noch dringender als er, der spanische Gesandte, der Vertreter
der Macht, welche seit 70 Jahren Staat und Religion Hollands
zu vernichten trachtete und länger noch das Reich in alle Aben-
teuer ihrer weltumspannenden Politik hatte verstricken wollen.
Also hätten die Städte ihre Häfen und das deutsche Meer nur
einem neuen Herren geöffnet und den Rest ihrer Selbständigkeit
aufgeben müssen; nichts anderes als dienende Glieder der spani-
schen W^eltmacht wären sie geworden, allen ihren politischen und
religiösen Plänen Untertan, in ihre Siege, vielleicht aber auch in
ihre Niederlagen verstrickt, und immer der Gefahr ausgesetzt, bei
einer neuen Schwenkung der imperialen Politik die Kosten zu
Lenz, Kleine historische Schriften. 15
226 Kleine historische Schriften.
bezahlen. Denn noch lagen die Gegner Habsburgs mit nichten
am Boden. Wenn England durch seine inneren Wirren gelähmt
war, so faßten sich die Holländer um so stärker zusammen; sie
siegten zur See, in Westindien und daheim auf dem Lande ; niemals
waren sie eifriger zum Kriege gewesen. Und schon konnte
Richelieu hoffen, mit der Unterwerfung Rochelles die Hände im
Innern frei zu bekommen und die ruhmreiche Pohtik Heinrichs IV.
zu erneuern. Auch der Norden war noch aufrecht, der Dänen-
könig ungebeugt auf seinen Inseln, und unerreichbar für die kaiser-
lichen Waffen und Feuerbrände die Schiffe und Häfen Gustav
Adolfs, \^'ohl rüstete Wallenstein jetzt zum Seekriege, 24 Orlog-
schiffe ließ er erbauen: zunächst aber blockierten die Dänen die
Mündung der Trave. So ist es wohl erklärlich, daß die Hansen
jene Versucher, die ihnen gleichsam die Schätze dieser Welt zeigten,
um ihre Seele zu erkaufen, von sich wiesen. Sie hofften noch,
ihre Neutraütät zu behaupten. Das aber war auf die Dauer un-
möglich. In einem neuen Waffengange ward Christian IV. abermals
aufs Haupt geschlagen, und nun blieb Norddeutschland völlig
sich selbst überlassen. Schwerer als je legte sich die katholische
Verfolgung auf das Geburtsland der Reformation, und das Resti-
tutionsedikt Ferdinands drohte Vernichtung. Vor Stralsund ab-
gewiesen, okkupierte der Herzog von Friedland doch die andern
pommerschen Häfen. Rostock und Wismar und ganz Mecklenburg
hielt er durch Zitadellen und starke Garnisonen gefesselt; und
noch vom Sunde her schickte er seine besten Regimenter unter
seinem vertrauten Oberst Hans Georg von Arnim nach Preußen,
um den Polen gegen Schweden zu helfen.
In dieser Gefahr, die ihn schon selbst bedrohte, hat sich Gustav
Adolf, wie jedermann weiß, zu dem deutschen Kriege entschlossen.
Gewiß nicht aus reinem Idealismus. Er vertrat Schwedens Macht
so wie Ferdinand die Habsburgs, begierig sie auszubreiten; un-
löslich war in beiden, wie in allen Politikern jener Epoche, Reli-
giosität und politischer Ehrgeiz verflochten. Auch die dynastischen
Interessen nahmen in dem Schwedenkönig den breitesten Raum
ein; er setzte nur das Werk seines heldenmütigen Vaters fort, der
die Macht der protestantischen Wasas im Kampf gegen den pol-
Gustav Adolf dem Befreier zum Gedächtnis. 227
nisch-katholischen Zweig seines Hauses behauptet und neu ge-
gründet hatte. Und beide bewährten sich darin als die echten
Sprossen der Wasabrut, daß ihre persönHchen Interessen sie immer
auf den Bahnen der schwedischen Größe und des Protestantismus
führten.
Altdeutscher Boden war es, das Gebiet der Hanse und des
deutschen Ordens, auf dem Gustav Adolf die Herrschaft Schwedens
feststellte; wohin seine Fahnen getragen wurden, überall hatten
der deutsche Kaufmann und das deutsche Schwert regiert ; deutsche
Arbeit hatte erst die Kultur in die Barbarenländer des Ostens ge-
tragen, Deutsche die Mission. Damals, in den Jahrhunderten der
Hierarchie, waren unsere Vorfahren die Vorkämpfer des römischen
Glaubens gewesen, den sie rund um das Baltische Meer pflanzten,
und hinter dessen Grenzen das lettische Heidentum und die Mos-
kowiter lange im Dunkel zurücktraten. Dann war ihre politische All-
macht und bald auch die religiöse Einheit zerbrochen worden. Aber
diese wenigstens hatte sich schnell und entschieden hergestellt in dem
neuen Geiste. Es war, als ob diese entlegenen Regionen, diese
letztge\\onnenen Pro\'inzen Roms ihrer Natur nach sich ihm
leichter hätten entfremden müssen: nicht ohne Kämpfe, aber im
wesentlichen doch ohne tiefere Erregung der Massen war es ge-
schehen, gar nicht vergleichbar den tief auf wühlenden Erschütte-
rungen, denen Staat und Gesellschaft Mittel- und Süddeutsch-
lands oder des europäischen Westens ausgesetzt waren; von der
großen Krisis, die der deutsche Protestantismus im Schmalkal-
dischen Kriege und im letzten Jahrzehnt Karls V. durchzumachen
hatte, war diese nordische Welt kaum gestreift worden; mitten
im Siege, an ihrer Grenze, in Wittenberg selbst, wandte ihr der
Kaiser den Rücken.
Und dieser Glaube, der hier auch stärker einwurzelte als
irgendwo anders, w-ar der deutsche. Niemals vorher und
nachher haben deutsche Gedanken in den nordischen Reichen so
tief und nachhaltig geherrscht, als im sechzehnten und siebzehnten
Jahrhundert. Alle Lebensäußerungen in dem weiten Gebiet von
Wittenberg bis Upsala und von Lübeck bis Dorpat trugen ihre
Farbe. Vor allem die Religion selbst ward in der ursprünglichsten
15*
223 Kleine historische Schriften.
und deutschesten Form in allen Pfarrhäusern und Kirchen ver-
kündigt ; unvermischt mit reformierter Lehre und presbyterianischen
Ordnungen regierte in Predigt und Verfassung der Kirche der Geist
von Wittenberg. Mit Nachdruck und wissenschaftlichem Eifer ward
er an den Universitäten hochgehalten, zwischen denen ein reger
Austausch von Lehrern und Lernenden stattfand. Wie oft sind
in den Zeiten eines Chemnitz und Pufendorf deutsche Professoren
an schwedische Universitäten berufen worden, und \\ie vielfach
findet man in den Matrikeln Greifswalds, Wittenbergs oder Frank-
furts die Namen schwedischer Studenten! Doch war die Verbin-
dung keineswegs bloß geistiger Natur. Auf dem großen Geldmarkt
des Nordens, dem mächtig emporstrebenden Hamburg, begegneten
sich die schwedischen und die deutschen Werber, und nirgends
diente der norddeutsche Adel lieber als unter den blaugelben
Fahnen. In den Heeren Gustav Adolfs standen unterschiedslos
deutsche Offiziere neben schwedischen Kameraden, selbst in den
höchsten Chargen, neben Baner und Hörn Falkenberg und Knyp-
hausen; und in der Kanzlei des Königs arbeiteten, während des
deutschen Krieges w^enigstens, fast mehr deutsche als schwe-
dische Federn. Als Oberst und Diplomat zugleich diente dem
König, schon in Livland und Preußen, der vielgewandte Hans
Georg von Arnim, der am Berliner Hof für ihn als Werber um die
Hand der Hohenzollemschen Prinzessin auftrat. Gustav Adolf
selbst sprach und schrieb das Deutsche wie seine ]\Iuttersprache
und erschien unter seinen deutschen Vettern fast wie ihresgleichen.
Auch wirtschaftlich behauptete unsere Nation in ihrem alten
Herrschaftsgebiete vor allen Rivalen noch immer den Vorrang;
und wie sehr der deutsche Kaufmann auf den baltischen Märkten
durch die Eifersucht der nordischen Nachbarn und durch das rück-
sichtslose Eindringen der protestantischen Westmächte gehemmt
sein mochte, blieben doch diese Konflikte durch den religiösen
Hader unvergiftet, seitdem sich unter Ehsabeth und den Oraniern
der protestantische Charakter ihrer Staaten entschieden hatte.
Wo waren nun die Gefahren, die diesem so fest geschlos-
senen und einmütigen Kulturkreise drohten ? Sie kamen ein-
mal aus dem Osten, von den Russen, die mit barbarischer Wild-
Gustav Adolf dem Befreier zum Gedächtnis. 229
heit schon in dem sechsten und achten Jahrzehnt des sechzehnten
Jahrhunderts sich auf die zersphtterten und verlassenen Heim-
stätten der deutschen Bürger und Ritter in den baltischen Pro-
vinzen geworfen hatten. Wo aber hätten diese Rettung finden
können, wenn Gustav Adolf nicht eingegriffen hätte ? Nicht für den
deutschen Staat, der hier kaum existierte, aber für den deutschen
Glauben, für die im ganzen Norden mächtige Eigenart des deutschen
Geistes und damit doch auch für die Grundlagen deutscher Macht
ergriff er das Schwert. Und wenn die baltischen Provinzen heute
gegen den neuen Ansturm der moskowitischen Barbarei noch aus-
zuharren vermögen, so verdanken sie das keinem mehr als dem
schwedischen Eroberer, der damals ihre Bedränger über den Em-
bach zurückwarf. Drohender noch als die russische Gefahr, die
wie ein Waldstrom die deutschen Pflanzstätten überflutet hatte
und ebenso wieder ablief, war der Angriff der andern slawischen
Macht, des mit Habsburg und Rom befreundeten, ja durch die
Eigensucht deutscher Bürger und eines slawisierten Adels begün-
stigten Polens, das sich längst schon weichsel-abwärts in das
Kemgebiet der deutschen Kolonisation hineingeschoben hatte und
nach allen preußischen Küsten, ja über das Meer nach Schweden
selbst hinübergriff. Wer kann übersehen, daß auch hier Gustav
Adolf in Abwehr und Angriff die deutsche Art gegen das katho-
lische Slawentum gewahrt hat ? Und hierzu jetzt die dritte Gefahr,
furchtbarer an sich schon als die anderen, und um so größer, als
Habsburg und Polen in Religion und Politik eng verwandte Ziele
verfolgten.
So traten sich hier an den Gestaden des Deutschen Meeres die
beiden Bekenntnisse, die seit hundert Jahren miteinander gerungen,
kämpf gerüstet gegenüber: ans Meer gedrängt, fand das Luthertum,
sonst die Religion norddeutscher Trinkfürsten und Hofprediger,
jetzt endlich seinen Helden und rüstete sich zum Ansprung gegen
den schonungslosen Gegner : ein Kampf auf Leben und Tod war es,
zu dem sich der lutherische Glaube bereiten mußte: denn jenseits
seiner Grenzen gab es nichts mehr als eisige Wüsten.
Mehr als einmal war Gustav Adolf versucht gewesen, neben
Christian IV. in den deutschen Krieg einzugreifen, vor allem im
230 Kleine historische Scliriften.
Jahre 1624, als der Dänenkönig, begünstigt durch eine antihabs-
burgische Konstellation der großen Mächte, den Kampf aufnahm;
aber die Verhandlungen hatten sich stets zerschlagen; zwischen
den beiden Rivalen war ein Bund nicht möglich. Auch war damals
im Reich für den schwedischen König, der klare und einfache Ver-
hältnisse um sich haben mußte, alles noch zu zerfahren: dieses
W'irrsal von Zank, Kleinmut und Ohnmacht konnte nicht die
Rückenlehne bilden, die er brauchte und die er sich später geschaffen
hat. »In Euren Ratschlägen,« schrieb er seinen deutschen Ver-
wandten, »ist keine Eintracht, sondern lauter discordiae, dadurch
große Dinge zerfallen; denn was Ausgang ist sonst zu hoffen, da
der niedersächsische Kreis nur Tagfahrten hält und deliberieret, auf
was Weise sie still sitzen mögen und praeda victoris werden können. «
Un^^■illig sah er auf die bornierte Selbstsucht seiner Vettern im
Reich, die in dem Kampf der großen Weltmächte, während ihnen
das Messer an der Kehle saß, nach dem nächsten kleinen Vorteil
ausschauten und die Gefahr nur immer mit Papier statt mit dem
Eisen abwehren wollten: »Werben und rüsten sollen sie!« Dann
werde er ihnen zu Hilfe kommen mit einem königlichen Heere
und Flotte, und mit Gottes Hilfe den Feinden das Noh me tangere
weisen. In ihm lebte ganz die Energie eines nationalen Staats-
wesens, das auf dem universalen Elemente des protestantischen
Glaubens ruhte. Verächtlich erschien ihm das wüste Treiben an
den deutschen Höfen, wo auf ein Bankett mehr draufgehe als ein
Kriegsschiff kosten würde: »und wäre doch E. L. mit einem mehr
als mit dem andern geholfen.« Auch in ihm, bemerkten wir,
waren die persönlichen Antriebe, Machtstreben und Tatendurst
wirksam: aber niemals ließ er den allgemeinen Zusammenhang
aus den Augen, immer blieb er sich bewußt, daß er auf der Wacht
stehe gegen das Papsttum, in dessen Bekämpfung er aufgewachsen
war, so \ne sein Held und Vorbild Moritz von Oranien, dessen
Taten und Worte er so gern im Munde führte. Furcht war ihm
fremd, tollkühn fast suchte er die Gefahr auf, aber auch der per-
sönliche Mut war bei ihm stets geadelt durch die Kraft eines
Glaubens, dem das ewige Leben gewiß ist. Wie sehr verkennt
man doch die Heldennatur Gustav Adolfs, wenn man ihm keine
Gustav Adolf dem Befreier zum Gedächtnis. 231
anderen Beweggründe zuschiebt, als daß er Vorwerke für Schweden
auf der deutschen Küste habe gewinnen wollen ! Er habe, schreibt
er, ein viel zu enges Gewissen, um Landes und Leute halber Krieg
zu führen; ja er wolle keinen Krieg, in welchem er nicht wie ein
Kriegsmann seUg sterben und vor Gottes Angesicht fröhlich er-
scheinen könne.
Wo er aber auftrat, da wollte er auch selbst befehlen. Und
wo seine Eisenfaust zupackte, da hielt sie fest. Das bemerkte so-
gleich nach seiner Landung Hans Georg von Arnim, der seinen
alten Herrn kannte. Zunächst galt es damals, dem König die
deutsche Küste zu gewinnen, Pommern, das er sich von Anfang an
als den Preis des Sieges ausgesucht hatte, erst die Inseln und die
Mündungen der Oder, dann mit raschem Griff die Hauptstadt und
die anderen Plätze des Landes; langsam sodann arbeitete er sich
an der Oder aufwärts. Er hätte wohl Knyphausen in Neubranden-
burg entsetzen können und, wie ich glaube, auch IMagdeburg, so wie
er es dem treuen Falkenberg versprochen hatte, erretten. Aber er
woUte nichts dahinten lassen, den Oderstrom nicht preisgeben und
vor allem sich Kurbrandenburgs und seiner Festungen versichern.
Schritt für Schritt geht er vorwärts, immer bedacht, sich die Ver-
bindung mit der Küste zu erhalten. Dann, nach dem Lorbeer von
Breitenfeld, den er doch auch nur zögernd gepflückt hat, beginnt
er den rascheren Lauf. Nun bricht er, von den Ernestinern vielleicht
gestachelt, über den Thüringer Wald in das Maintal ein und stürmt
in dieser Pfaffengasse zum Rhein und wieder zurück nach Franken,
wirft sich von neuem auf den weichenden Tilly und bringt ihm an
der Pforte des Bayerlandes die zweite Niederlage und den Tod.
Und nach dem Siegeszuge durch das kathoHsche Kernland im
raschesten Entschluß die letzte Wendung, gegen den Herzog von
Friedland, dem er bei Nürnberg die Stirn bietet, bis er selbst auf
dem Felde von Lützen im Siege gegen den Gewaltigen den Tod
findet, der ihn so oft im Donner der Schlacht vergeblich umbraust
hatte.
Was seine letzte Absicht gewesen, ob er von Anfang an einen
festen Punkt im Auge hatte oder, wie Oxenstiema später gemeint
hat, nur \-on Stufe zu Stufe weiter gezogen wurde, unbekannten
232 Kleine historische Schriften.
Zielen zu; und wohin ihn der Riesenkampf, in dem doch auch sein
Auftreten und der ganze deutsche Krieg nur eine Episode war, ge-
trieben hätte — wer vermag das zu sagen! MögHch, daß sein
Sieg jenes Herrschaftsgebiet des lutherischen Glaubens und der
schwedischen Macht noch fester abgeschlossen und auch politisch zu
einem Corpus Evangelicorum zusammengefügt hätte. Die Ver-
fassung des Reiches hätte sich dann schwerlich erhalten lassen und
wäre dem Schicksal verfallen, das ihr Chemnitz weissagte. Habs-
burg und Rom haben kaum je einen gefährlicheren politischen
Gegner gekannt als den schwedischen König, und also ist der Haß
verständlich, mit dem ihn ihr Anhang im Leben und Tode verfolgt
hat. Sein Dasein war auf Kampf gestellt, gleich dem des prote-
stantischen Helden, dem er nachstrebte. Solange das alte Kaisertum
\\^affen hatte, war ein Friede mit dem nordischen Löwen nicht
möglich. Niemand wußte das besser als Gustav Adolf selbst. »Was
ist das für ein Ding: Neutralität? Ich verstehe es nicht«, herrschte
er den brandenburgischen Gesandten an, der ihm die zaghaften
und zweideutigen Anträge Georg Wilhelms in das Lager vor Stettin
überbrachte.
Heute, wie gesagt, ist die politische Spaltung, welche damals
den religiösen Frieden verhindert hat, verschwunden und die Welt
ist verwandelt : kaum irgendwo noch eine Spur von den djTiastischen
oder politischen Interessen und Absichten, welche die Staatsmänner
jener Epoche beherrschten. Aber wenn es wahr ist, daß unser
Preußen als der Eckstein des neuen Reiches auf den religiösen Ge-
danken ruht, die in dem Herrschaftsgebiet Gustav Adolfs vor-
walteten, und die nach dem Rankeschen Wort in der Monarchie
Friedrichs des Großen einen späten Anhalt und Ausdruck fanden,
so haben wir in dem Könige, der dem alten Reiche Zerstörung
drohte, den Unsrigen zu verehren. Nationale Interessen im heutigen
Sinne galten zu jener Zeit, wo alles mit privaten Anschauungen
durchsetzt war, überhaupt nichts. Nicht an der deutschen Ge-
sinnung Friedrich \Vilhelms ist das Projekt, ihn zum Erben Gustav
Adolfs und zum Herren in seinem deutsch-schwedischen Macht-
bezirk zu machen, gescheitert ; und gern genug hat später der Große
Kurfürst mit dem Gedanken an die polnische Krone gespielt: er
Gustav Adolf dem Befreier zum Gedächtnis. 233
wäre bereit gewesen, die kaum erkämpfte Souveränität in Ost-
preußen dafür zu opfern. Aber niemals hätte er sich dazu ver-
standen, was die Polen von ihm verlangten, gleich den Albertinern
seinen Glauben preiszugeben, um den weltlichen Vorteil zu er-
haschen. Nicht die wechselnden Verhältnisse staatlicher Kom-
binationen oder dynastischer Interessen ist das Letzte, was die
Staatenwelt des siebzehnten Jahrhunderts bewegte, sondern
überall stoßen wir auf den sitthch-religiösen Kern, der, seitdem
ihn die Reformatoren in das allgemeine Leben eingesenkt hatten,
dem persönlichen Ehrgeiz erst Farbe und Haltung gab, die poli-
tischen Parteien ohne Unterschied der Nationen aneinander band
und die Idee der Nationalität selbst mit neuem Inhalt begabte. Auf
diesem gemeinsamen Boden, dem Grunde unseres Daseins, steht
mit den Schöpfern unseres Staates vereint der schwedische König.
Die Heroen des deutschen Geisteslebens in dem Weimarer
Kreise haben wohl gewußt, was sie dem nordischen Helden ver-
dankten, dessen gewaltiger Arm dem Andrang der katholischen
Hochflut wehrte und die Deiche verstärkte, hinter denen die
sprießenden Saaten religiöser Freiheit sicher aufwachsen konnten.
Und so hat der Freiste und Reinste unter ihnen, SchiUer, selbst
mit historischem Tiefsinn ihm das herrliche Denkmal gesetzt.
Seien auch wir daher dem fremden Herrscher dankbar, unbe-
kümmert um die paar Landstriche, die er von dem vermorschten
Reiche für ein paar Jahrzehnte losgelöst hat, und geben wir dem
Eroberer den Platz zurück, den er unter den Gründern unseres
Staates verdient: zwischen dem treuen und beherzten Landgrafen,
der als erster den Kampf für den Glauben Martin Luthers gegen
das römisch gewordene Habsburg wagte, und dem Großen Kur-
fürsten, der die schwedischen Bastionen an Pommerns und Preußens
Küste mit schmetterndem Schwertschlag anfiel und zurückgewann,
steht Gustav Adolf mitten inne.
m^=^^^
Nationalität und Religion.
(1907.)
I.
Will man nach einer beherrschenden Formel suchen, einem
Stichwort, das die Fülle der Kämpfe zusammenfaßt, die seit der
französischen Revolution die Welt erschüttert haben, so wird
man kaum ein besseres, prägnanteres finden, als die Idee des
nationalen Staates. Jede Nation Europas will heute ihrem Genius
gemäß ihr Leben gestalten, d. h. ihre Gesellschaft entwickeln,
ihren Staat bilden, ihre Macht entfalten. Sie ist nicht damit zu-
frieden, daß man ihr Raimi gewähre, um ihre Sprache, ihre Lite-
ratur und etwa ihre religiösen Ideale zu kultivieren, sondern sie
will mehr: sie will in erster Linie ihre Selbständigkeit behaupten,
sich selbst die Gesetze und alle Lebensformen geben, in dem ganzen
Umkreis, den sie einnimmt, und womöglich darüber hinaus will
sie herrschen. Diese Tendenz ist stärker als alle anderen, welche
sonst etwa in dem Kulturkreis der europäischen Nationen von
alters her mächtig gew'orden und noch lebendig sind, stärker selbst
als diejenigen, welche aus dem Schöße unserer Zeit selbst neu ge-
boren wurden. Als sie ins Leben trat, war der Horizont der euro-
päischen Bildung noch beherrscht von internationalen, ja, man
möchte fast sagen antinationalen Gedanken. Die Idee der Humani-
tät, eines die Grenzen zwischen Ständen, Staaten und Nationen
überbrückenden Weltbürgertums und Weltfriedens nahm die
Köpfe ein; die Fehde zwischen den Bekenntnissen, welche drei
Jahrhunderte erfüUt hatte, schien begraben, und man träumte
von einer Religion, die befreit von allem Zwiespalt der Konfessionen,
Nationalität und Religion. 235
ihre Grenzsteine weit jenseits der dogmatischen Differenzen in
Regionen setzte, in denen menschhche Freiheit und der Glaube,
Vernunft und Gottesverehrung den engsten Bund geschlossen
hätten.
Von diesen Gedanken getragen erhob sich die französische
Nation, um den Staat zu schaffen, in dem ihr Genius den ad-
äquaten Ausdruck fände, und eröffnete gerade damit die Aera der
Nationalitätenkämpfe. Denn indem die Krone der Bourbonen
zerbrach und ihre Staatsordnung in Trümmer sank, entwichen
jene Traumgestalten, die über der Zeit geschwebt hatten; und als
wolle das Schicksal mit dem Beginnen, das so leichten Herzens
unternommen war, seinen Spott treiben, so verwandelten sich jene
Ideale unter den Händen ihrer Bekenner in das Gegenteil: aus
den Propheten des Weltfriedens und idjdlischer Gottesverehrung
wurden Eroberer und Despoten. Zugleich aber erhob sich die
Großmacht der überwundenen Kulturepoche, und die mit ihr be-
graben schien, die katholische Kirche, zu neuer Kraft. Während
die protestantische Welt noch unbekümmert, in dem Gefühl der
vererbten Kräfte, mit den Ideen des Jahrhunderts aufs engste
verschwistert blieb, war bereits der Kampf zwischen den katho-
Hschen Regierungen und Rom auf der ganzen Linie entbrannt.
Schon vor dem Ausbruch der französischen Revolution hatte
das Papsttum die schwächlichen Versuche unterdrückt, welche
die bourbonischen Höfe in Itahen und Spanien sowie der Hof
von Lissabon gemacht hatten, die klerikalen Fesseln zu zerbrechen.
So gering wie Roms eigenes Ansehen in dieser Zeit auch war, hatte
es doch dies mit leichter ■Mühe durchgesetzt. Schwerer ward der
Kampf, den es gegen die revolutionären Machthaber in Frank-
reich zu führen hatte. Nicht um das Dogma handelte es sich in
diesen Konflikten. Kein Tüttelchen des tridentinischen Bekennt-
nisses griffen die neuen Gesetzgeber Frankreichs an; sie fesselten
die Kirche nur noch enger an das Dogma und beschränkten sie
auf ihre geistliche Mission mehr als je der alte Staat es getan hatte.
Aber sie forderten von ihren Dienern Anerkennung der nationalen
Souveränität als des Grundgedankens des neuen Staates und
muteten dem Papste zu, der französischen Kirche eine Konsti-
236 Kleine hislorische Schriften.
tution zu bewilligen, welche ohne seine Mitwirkung zustande ge-
kommen und mit der Verfassung des nationalen Staates ganz
und gar kongruent war. Kein Mittel scheuten sie, um den Wider-
stand, der sich alsbald in dem französischen Klerus zeigte, zu
zerbrechen. Ströme von Blut wurden auf beiden Seiten darüber
vergossen. Aber das Ergebnis war, daß die Kirche sich mächtiger
er\vies als die Revolution. Nur durch ein Kompromiß, durch das
Konkordat, das der Erste Konsul mit Rom schloß, konnte der Staat
der Revolution sich Ruhe und den Gehorsam seines Klerus er-
kaufen. Zum wirklichen Ausgleich kam es auch dann nicht, und
insofern kann man sagen, daß auch heute der nationale Staat in
Frankreich noch nicht fertig geworden ist. Alle Regierungen Frank-
reichs im 19. Jahrhundert haben unter diesem Zwiespalt gelitten,
die klerikalen nicht weniger als die liberalen. Denn auch die Krone
der Bourbonen wie das zweite Kaiserreich ruhten auf den Funda-
menten, welche die große Revolution gelegt und Napoleon I.
ausgebaut hatte und die eben in den Prinzipien des nationalen
Staates, ja der nationalen Souveränität \vurzelten. Gerade der
Bund mit der Kirche wurde diesen Regierungen darum gefährlich.
Daran entzündete sich die Revolution von 1830, der das bour-
bonische Königtum erlag ; und so waren es wesentlich auch die Kleri-
kalen, welche Napoleon III. in den Krieg gegen Deutschland ver-
lockten, den er selbst so gern vermieden hätte. Auch Louis PhiUpp,
der das Recht seiner Krone auf die Revolution selbst zurückführen
mußte, fiel dem Bestreben, den Klerikalismus zu versöhnen, zum
Opfer; wie auch die zweite Republik durch ihre Verflechtung mit
den klerikalen Machtansprüchen und Tendenzen sich selbst das
Grab gegraben hat. Erst unter der dritten Repubhk hat sich die
Nation von den klerikalen Fesseln zu befreien versucht. Heute
steht sie genau auf dem Fleck, den die erste Republik schon
einmal erreicht hatte. Sie wiederholt den Versuch, der da-
mals gemacht wnirde, Staat und Kirche voneinander ganz zu
trennen und die Kultusgemeinschaften auf sich selbst zu stellen.
Wie wird es ihren Lenkern damit ergehen ? Etw^a so wie ihren
Vätern, welche nach wenigen Jahren reumütig zu den Altären
zurückkamen und den Bund mit der Verstoßenen suchten, nach-
Nationalität und Religion. 237
dem diese ihre frei gewordenen Kräfte nur zu neuem und un-
erhörtem Wachstum benutzt und den Staat nur in um so größere
Verwirrung und Ohnmacht gestürzt hatte? Oder können wir
annehmen, daß die französische Nation unter ihrer jetzigen Ver-
fassung, deren Dauer ja diejenige aller anderen Regierungen seit
1789 bereits weit übertrifft, das Problem des nationalen Staates
für Frankreich endlich lösen wird, ohne die Einheit des fran-
zösischen Geistes zu zerstören ? Wer könnte es wagen, auf solche
Fragen die Antwort zu geben in einem Moment, der erst den An-
fang der neuen Phase bedeutet, welche Frankreich mit seinen
neuen Kirchengesetzen beschritten hat ? Immerhin triumpliiert
in Frankreich heute die nationale Idee über die der Kirche und
offenbart damit ihre das Jahrhundert beherrschende Kraft.
Ähnlich wie in Frankreich, in Parallele mit ihm und unmittel-
bar unter seinem Einfluß, hat sich die Entwicklung Italiens
vollzogen. Der junge Held, der (1796) die Herrschaft Österreichs
südhch der Alpen zerbrach und Italien an Frankreich kettete,
brachte ihm gleichsam als Älorgengabe des Bundes die Idee der
nationalen Einheit; und als er sich selbst zum Herrscher über die
Unterworfenen machte, ließ er ihnen doch den Namen ihrer Nation
und die nationale Krone. Darum blieben ihm die Italiener im
Jahre 1S13 treu, als alle anderen Untertanen und Bundesgenossen
bereits abgefallen oder von den alten Herren zurückerobert waren
— denn im Kampf gegen Österreich verteidigten sie die eigene Na-
tionalität. Anhänger Napoleons waren die Patrioten, die auf der
Halbinsel unter der neuen Herrschaft der Deutschen die itahenische
Idee lebendig hielten ; und der Neffe des Kaisers, der seinen Thron
in Frankreich erschlich, betrachtete es von Jugend auf als ein
Erbteil seines Namens, für Italiens Einheit seine und Frankreichs
Macht einzusetzen. Wenn Napoleon III. diese größte Aufgabe
seiner Politik nicht durchgeführt hat, so lag das wieder an der
Verflechtung der Idee der nationalen Demokratie, die doch auch
für seine Herrschaft die Grundlage bildete, mit den Ansprüchen
der klerikalen Partei, die ihm zum Thron verholten hatte und von
der er sich nicht zu lösen vermochte. Dies war es, was die Italiener
dazu brachte, die preußische Hilfe anzurufen, um Österreich aus
238 Kleine historische Schriften.
Venetien zu verdrängen; und dies hielt sie ab, in dem Kriege, den
Napoleon um seine Existenz und Frankreichs Zukunft mit dem
geeinigten Deutschland führen mußte, ihre Geschicke mit den
seinigen zu verbinden. So führte der Sturz des zweiten fran-
zösischen Kaiserreichs und die Herstellung der französischen
Republik die Itahener nach Rom. Auch danach ist der Parallelis-
mus zwischen Frankreichs und Italiens Entwicklung nicht
zu verkennen: je antiklerikaler die Pariser Regierung geworden
ist, um so inniger ward ihr Verhältnis zu dem römischen Hof, —
und heute stehen beide Nationen herzlicher zueinander als zur Zeit
Napoleons III. und Vittorio Emanueles.
Jedoch fehlt es auch nicht an tiefgreifenden Unterschieden
zwischen den Geschicken beider Nationen. In Frankreich ist die
Idee des nationalen Staates durch die Entwicklung von Jahr-
hunderten vorbereitet worden; ja, man kann in gewissem Sinne
sagen, daß sie bereits von der alten Monarchie vertreten wurde:
denn der Zusammenschluß der nationalen Kräfte um das König-
tum bildet den Inhalt der französischen Geschichte, seitdem es
eine französische Nation gab. Die alte Monarchie ging unter,
weil sie diese Entwicklung nicht weiterführen und vollenden konnte,
\\eil sie den Willen zur ]\Iacht, der in den breiteren Massen der
Nation sich ent\nckelt hatte und die demokratische Form des
Staates forderte, verkannte oder nicht anerkennen woUte. In
Italien aber ging die Gründung des nationalen Staates Hand in Hand
mit der Befreiung des nationalen Bodens. Darum setzte diese
Nation, wie der junge Treitschke einst bewundernd schrieb, ihr
alles an ihre Einheit. \'or diesem Ziel mußte ihr jedes andere
Interesse und jede Tradition zurückweichen. Das Haus Savoyen
gehörte zu den klerikalsten und reaktionärsten Dj^nastien Europas :
aber es gab alles auf, was es an die Vergangenheit fesselte, um
die nationale Krone zu gewinnen; es scheute nicht zurück vor
dem Bunde mit dem Radikalismus, so wie dieser selbst unter
Preisgebung seiner republikanischen Ideale sich in den Dienst
der D3'nastie stellte, die für die Einheit Italiens focht und ihre
alte Krone in den Schmelztiegel der nationalen Revolution hinein-
warf. Die Idee des nationalen Staates zerstörte wie eine wilde
Nationalität und Religion. 230
Flutwelle alle staatlichen Gebilde, die sich noch auf der Halbinsel
behauptet hatten.
Auch der älteste Staat der Halbinsel, dessen Ursprünge höher
hinaufreichten als die irgendeiner Monarchie in Europa, bis zurück
in die Epoche der Ausbildung der romanisch-germanischen Na-
tionen, der Staat der Kirche, verschwand unter der alles mit sich
fortreißenden Flut. Rom ward der Schlußstein des nationalen
Staates; keine Ruhe fand die Nation, bis ihr König im Quirinal
residierte und auf dem Kapitol die nationalen Farben wehten.
Wie wäre es da anders möglich, als daß der Herr der Kirche
den Räubern seines Staates zürnen muß! Und dennoch, merk-
würdig genug, sind jene Konflikte zwischen Staat und Kirche, die
in Frankreich mit der Revolution selbst einsetzten und bis heute
nicht zur Ruhe kamen, in Italien ausgeblieben. Nirgends leistete
in den Territorien, welche die Piemontesen und ihre Bundes-
genossen den Habsburgern oder den Bourbonen entrissen, die
Kirche nennenswerten Widerstand. Eher wohl stand die Geist-
lichkeit mit ihren Sympathien auf Seiten der Nationalen. Erst
heute, in der zweiten Generation der Itaha unita bemerken Vvir
die Bildung einer kleinen klerikalen Gruppe im römischen Par-
lament.
War doch die Kurie selbst noch in diesem Jahrhundert der
Idee eines einigen Italiens nicht ungeneigt gewesen. Pio Nono
selbst hatte einen Moment mit dem Gedanken kokettiert, und
das Gedächtnis eines seiner größten Vorfahren, Julius IL, war
mit diesem Programm verknüpft. An das Dogma rührten die
italienischen Patrioten so wenig wie die französischen Revolu-
tionäre. ]\Iochten die liberalen Wortführer der Nation aUer Reli-
gion ledig sein, so haben ihre Könige doch niemals die alte Gläubig-
keit ihres Hauses verleugnet. Das Klostergut freilich wurde ein-
gezogen, denn man bedurfte seiner zum Ausbau des nationalen
Staates; aber die alten Insassen wurden nicht vertrieben, und
unter der Hand ließ man es wohl geschehen, daß sich die heiügen
Hallen aufs neue mit Novizen füllten. Und im übrigen hat man
die alten Formen der Hierarchie (die in Frankreich von Grund
aus zerstört und ganz und gar auf die inneren Linien des Laien-
2/jO Kleine historische Schriften.
Staates gelegt und danach zugeschnitten waren) in Itahen nicht
angerührt. Keiner der Hunderte alter Bischofssitze ist aufgehoben
worden; kein italienischer Politiker hinderte die hohe Prälatur
daran, es Pio Nono zu ermöglichen, durch ihre Überzahl auf dem
Konzil das Dogma der Unfehlbarkeit von der allgemeinen Kirche
sanktionieren zu lassen; und niemand unter ihnen hält das Volk
von den Altären zurück, um die es sich heute noch so gläubig
schart wie zu der Väter Zeiten. Man könnte beinahe sagen, daß
die Repräsentanten des nationalen Staates die universalen An-
sprüche der römischen Kirche mit Sympathie betrachten, die,
wenn sie auch keineswegs eine Schöpfung italienischen Geistes
ist, so doch im Laufe der Weltentwicklung auf italienischem Boden
sich ausgebildet hat und von Itahenern ausgeübt wird.
Uns Deutsche führte jeder Aufschwung des nationalen Geistes
gegen Rom. Schon der größte unserer Lyriker im Mittelalter,
Herr Walher von der Vogel weide, fand die vollsten und eigensten
Töne seiner hell klingenden Leier, wenn er seine Landsleute zum
Kampfe gegen die \\elschen Pfaffen aufrief. Der Humanismus,
obschon genährt von itahenischem Geiste und voll itahenischer
Formen, wurde dennoch sofort zum Kampfruf des nationalen
Geistes gegen die Römer, Seinen lieben Deutschen das Evan-
gehum zu bringen und sie aus dem römischen Gefängnis zu führen,
erhob Luther seine gewaltige Stimme. Und auf dem Boden der
Reformation ruht alles, was der deutsche Geist auf seiner Höhe
im i8. Jahrhundert geschaffen, ruht der Staat selbst, der unserem
Genius das feste Haus gebaut hat, in dem er seine Wohnung hat.
In Italien dagegen hat sich die Kulturbewegung niemals in
einem inneren Gegensatz gegen die Kirche vollzogen. Die herr-
lichste Blüte und Offenbarung des nationalen Genius, die Renais-
sance, suchte und fand nur zu bald Fühlung mit den Herren der
Kirche und erhob sich gerade unter ihrem Schutze zu ihren schön-
sten Schöpfungen. Die Opposition, welche der oder jener unter
den großen Geistern Italiens wohl gegen Rom gewagt hat, trug
immer, man möchte sagen, einen lokalen Charakter. Das gilt
von den großen Florentinern Dante und Macchiavelli so gut wie
\on Petrarca und Savonarola, von einem Friedrich IL und Alfons
Nationalität und Religion. 241
von Neapel ebenso wie von den populären Helden, einem Arnold
von Brescia, Cola Rienzi und Garibaldi. Nicht gegen die uni-
versale Kirche, sondern gegen die Kurie und ihren Staat kämpfte
der ghibellinische Geist, der in der nationalen Politik des Hauses
Savoyen eine neue Form gefunden hat.
Solange die Kirche an dem Satze, der zwar kein Dogma für
sie ist, aber durch die Geschichte eines Jahrtausends geheiligt und
bestätigt wurde, festhält, daß sie ihre Aufgabe ohne den Besitz
weltlicher Souveränität, und zwar in der Hauptstadt der alten
Welt, deren Namen sie übernommen hat, nicht erfüllen könne,
ist ein Friede zwischen ihr und dem nationalen Staate Italiens
nicht zu erwarten: das ,,Roma intangibile" hat für den nationalen
Staat wahrhaft dogmatische Bedeutung.
Und so dürfen wir im Hinblick auf Italien und Frankreich
wohl fragen, ob sich die Ansprüche des nationalen Staates und
der römischen Kirche miteinander jemals werden ausgleichen
können. Denkt man das Problem ganz durch, vergleicht man
Ziel und Wesen eines Staates, der alles, was er schaffen will, auf
den Grund der Nation stellt, nur in ihr die Richtlinien seiner
Macht und seines Geistes sucht, mit einer Kirche, die, wie das
Papsttum, von der Wurzel her bis in alle Verzweigungen ihres
tausendfachen Geästes von dem Gedanken der Katholizität ge-
tragen wird, für welche die Nationen nur Provinzen sind, und die
jeden Willensakt, mag er der Sphäre des geistigen oder des mate-
riellen Lebens, des Staates oder der Kirche, dem Einzelleben oder
der Gesammtheit entstammen, gegebenenfalls vor ihr Forum
ziehen kann, so wird man in der Tat zugeben müssen, daß zwischen
beiden Gev/alten ein Gegensatz besteht, der in ihren Keimgedanken
bereits enthalten und in ihrem Lebenskern beschlossen ist, und
daß also, mögen ihre Wege noch so lange nebeneinander hergehen,
irgendwannn eimal der Zeitpunkt eintreten muß, wo sie sich be-
kämpfen und die eine vor der anderen weichen muß.
Dennoch sehen wir heute, in dem Zeitalter der NationaHtäten-
kämpfe, selbst Nationen, die sich in den Schoß der Kirche völlig
eingebettet haben und in ihren schützenden Armen wirklich das
Bewußtsein ihrer Einheit und Eigenart pflegen und erhalten, ja
Lenz, Kleine historische Schriften. l6
242 Kleine historische Schriften.
für welche die Kirche die beste Helferin geworden ist, um ihre
Macht auszubilden und das Ziel eines eigenen Staatslebens zu
erlangen. Gegenüber dem Sturm und Wogenprall der Zeiten,
unter dem Andrang feindseliger Kulturen, ja unter der Herrschaft
fremder Gewalt wird ihnen die Kirche gleichsam zur Arche, welche
ihre heiligsten Güter, ihre Erinnerungen und ihre Hoffnungen
erhält und sichert.
Schon der Anfang des vorigen Jahrhunderts erlebte dies der
damaligen Welt so fremd gewordene Schauspiel, als Napoleon
dem spanischen Volke eine neue Verfassung aufzudrängen
versuchte. Die Konstitution von Bayonne enthält Grundsätze,
welche die französische Revolution zu ihren Grundgedanken
rechnete und die in dem Spanien des 19. Jahrhunderts selbst
Wirklichkeit und die Fundamente des Staatslebens geworden
sind. Sie waren also an sich gewiß nicht der Idee des nationalen
Staates feindsehg; und wenn Napoleon von den Spaniern die Ge-
folgschaft in dem Kriege gegen England forderte, so verlangte
er nur die Fortsetzung einer Politik, welche der Madrider Hof
das ganze 18. Jahrhundert hindurch befolgt hatte und die der
Nation die Erhaltung ihrer Kolonien, sonst eine Beute Englands,
in Aussicht stellte. Aber die Spanier wollten nicht die Segnungen
der Freiheit aus den Händen des Protektors. Die Ideale, für deren
Rettung sich jedes Tal ihrer Sierren mit Waffenlärm erfüllte,
waren noch dieselben, denen die alten Könige und Heiligen ihrer
Nation, ein Dominikus und ein Arbues, nachgetrachtet hatten.
Diese verbanden sie mit den Ideen der nationalen Selbständig-
keit, so wie ihre Vorfahren es in den Kämpfen mit den Mauren,
Juden und allen Ketzern von jeher getan hatten: NationaHtät
und Kirchenglaube fielen auch für sie noch zusammen. Sie riefen
lieber die enghschen Ketzer, die Besieger Spaniens, die Eroberer
der spanischen Meere und Kolonien, gegen die einst Philipp II.
seine Flotten und Heere gesandt hatte, in das Land, als daß sie
es den Franzosen auslieferten.
Das Schauspiel, welches das damalige Spanien darbot, einer
von der Kirche getragenen Nationalität, bieten uns heute, und
schon seit Generationen, die Polen. In der Epoche der Revo-
Nationalität und Religion. 243
lution und Napoleons war bei ihnen dieser Zusammenhang ge-
lockert; denn indem sich Frankreich, dessen Schützlinge sie von
jeher gewesen waren, mit antiklerikalem Geiste durchdrang, trat
auch bei ihnen die Verbindung mit Rom zurück. Aber dies blieb
doch nur, wie es schon einmal im i6. Jahrhundert der Fall gewesen,
eine Episode in der Geschichte der polnischen Nation. In dem
Wettbewerb mit den anderen Mächten des europäischen Ostens und
Nordens, unter denen nur eine, Österreich, katholisch, die anderen
aber Ketzerstaaten waren, mußte für Polen die katholische Kirche
der Fels sein und bleiben, an den es sich klammerte und zu dem
es daher zurückzukommen trachtete, sobald der Protektor gestürzt
war. Heute bildet die katholische Kirche, wie zu den Zeiten des
falschen Demetrius, für die polnische Nationalität, den Russen wie
den Deutschen gegenüber, den stärksten Halt. Katholisch und
polnisch sind in unseren Ostmarken gleichbedeutend, und in der
russischen Revolution hält sich zur Zeit das katholische Element
bei den Polen nur deshalb im Hintergrunde, weil die Russen, die
Regierung sowohl wie die Revolutionäre, sich scheuen, dies heiße
Eisen anzugreifen.
Trotzdem sind selbst in Polen und Spanien die liberalen
Strömungen nicht versiegt, und man kann also nicht sagen, daß
hier wie dort die nationale Idee auf immer hinter derjenigen der
Kirche zurücktreten und niemals der Zeitpunkt eintreten wird, wo
sich auch in diesen Nationen beider Wege scheiden. In Spanien
hat der Kampf zwischen beiden das ganze vergangene Jahrhundert
erfüllt und ist heute so lebendig wie je; imd in Polen ist er noch
bei jeder Revolution hervorgetreten, so wie er auch im Frieden
bei der Erregung der Wahlen zum Vorschein kommt. Wir er-
lebten es soeben in Oberschlesien, wo die Kirche vor der Wucht
des nationalen Impulses ganz zurückwich, freilich eine Folge ihrer
Taktik, den Gegensatz der Nationalitäten überbrücken zu wollen.
Wir sehen, daß der logische Widerspruch zwischen der Idee
des nationalen Staates und der universalen Kirche sogar durch
das Beispiel Polens und Spaniens nicht beseitigt ist. Denn nur
den Unterdrückten kam die Kirche zu Hilfe, nicht den Mächtigen
und den Siegern: den Spaniern, und nicht Napoleon, trotzdem er
i6*
244 Kleine historische Schriften.
das Konkordat geschlossen und \on der Hand des Papstes gesalbt
worden war; den Polen, und nicht uns, wie freundlich wir uns
auch mit den katholischen Bischöfen unserer Ostprovinzen stellen
möchten. Wer des Schutzes bedarf, der findet an der Kirche die
Mutter, die für ihn sorgt - — wie die Einzelseelen so auch die Na-
tionen: nur muß man ihr vertrauen und die Liebe zu ihr durch
kindüchen Gehorsam beweisen.
II.
Und das ist nun ein Teil der historischen Mission, der in allen
Jahrhunderten bewährten Kraft der römischen Kirche: die Rettung
und Erhaltung der Nationen, die in dem Kampf der Staaten, dem
rastlos flutenden, den Mächtigeren erlagen und verblutet wären,
hätte ihnen nicht die Kirche die Hand geboten und sich an die
Stelle der vermorschten Hülle ihrer politischen Organisation ge-
setzt. Doch ist nicht bloß der Kirche Roms diese Energie zu eigen.
Sondern wir dürfen es als ein allgemeines historisches Gesetz an-
sprechen, daß jede Kirche, ja jede religiöse Gemeinschaft im Gange
ihrer Geschichte mehr oder weniger einmal jenen Beruf erfüllt
hat. Man pflegt wohl von der Erstarrung zu sprechen, die sich
der griechischen, der orthodoxen Kirche seit mehr als
einem Jahrtausend bemächtigt hat. Aber gerade in dieser Ver-
steinerung hat jene Kirche Aufgaben erfüllt, deren welthistorische
Bedeutung erst in diesem Jahrhundert recht sichtbar geworden
ist. Die harte Schale, die sie über sich zog unf durch die nun frei-
lich kein Lichtstrahl der Aufklärung und des Fortschrittes drang,
war nötig, um dieser Kulturwelt auf den Konfinien Asiens und
Europas die Widerstandskraft zu verleihen, welche Jahrhundert
um Jahrhundert durch die wild andrängende Kraft asiatischer
Barbaren auf die Probe gestellt ward. Unter den immer wieder-
holten Stößen war nach wahrhaft heroischen Kämpfen ihre Staaten-
welt zertrümmert worden. Macht- und rechtlos waren nun diese
Nationalitäten der Willkür ihrer barbarischen Herren ausgesetzt.
Aber in ihrer Kirche barg sich ihr Genius. Sie schuf ihnen ihre
Rechtsordnung, sie erhielt und pflegte ihre Sprache und Literatur,
Nationalität und Religion. 245
die Verbindung mit ihrer Vergangenheit, das Gemeinbe\\aißtsein,
die Fülle ihrer sittlichen Kräfte und Ideale. Es war eine Defensiv-
stellung \-on unzerbrechlicher Kraft. In ihr haben diese Nationen
sich erhalten können, bis die Stunde der Befreiung schlug und
auch sie in dem Jahrhundert der Nationalitätenkämpfe abermals
einen Platz an der Sonne sich suchen konnten.
Und wie könnten wir hier an dem Judentum vorbei-
gehen, an dem sich die erhaltende Kraft der Religion am aller-
stärksten offenbart hat. Die Sage von dem ewigen Juden, der
nicht Ruhe und Rast findet, nirgends eine Heimat und nicht ein-
mal den Tod, ist nicht auf jüdischem Boden erwachsen und ent-
spricht nicht dem Sinne der Geschichte dieses Volkes. Der Wille
zum Leben war es vielmehr, der die Nation aufrecht erhielt und
den sie auch dann nicht verlor, als die Weltmächte des alten Asiens
und Europas ihren Staat zerbrachen, ihren Tempel zerstörten
und das Volk wie eine Herde Vieh mit sich führten: das Land,
das ihre \'äter gebaut, ging verloren, zerstreut und verfolgt, ein
Fluch der Völker, irrte sie durch die Jahrhunderte hin. Aber in
ihren Riten und ihrem Recht und in ihren heiligen Büchern besaß
sie Formen und Vorstellungen, die ihr die Einheit ihres Stammes
und das Bewußtsein ihrer Geschichte bis auf die Zeiten der Erz-
väter zurück lebendig erhielten.
Stärker noch als die römische Kirche umklammern diese
nationalen Religionen die politischen Organisationen. Wie aus
einer Wurzel erscheinen in ihnen Kirche und Staat, politisches
und religiöses Leben entsprungen, und ihre Schicksalswege sind
aufs engste ineinander verschlungen. Darum sind auch die Krisen
dieser Nationen jedesmal Krisen für ihre Kirche, und niemals
stehen beide enger zusammen als in nationalen Gefahren. Ruß-
lands Geschichte bietet auf jeder Seite dafür die Belege. Wie
der Zar Herr ist über Staat und Kirche zugleich, so sammelte
sich noch jedesmal um ihn und die Heiligen Rußlands einmütig
sein Volk, mochten es nun Tataren oder Türken, Polen oder
Franzosen sein, denen der Kampf galt. Hier liegt das tiefste Pro-
blem für die Revolution, von der das Reich des Zaren seit drei
Jahren heimgesucht wird. Würde sie durchdringen, so würde
246 Kleine historische Schriften.
dies nicht bloß den Zerfall des Staates in die Nationalitäten be-
deuten, die dem Zartum unterworfen sind und deren Autonomie
die Revolutionäre bereits zugeben, nicht bloß die Zersetzung des
gesamten staatlichen Organismus, in dem die kirchlich-politische
Doppelstellung des Zaren den Kern ausmacht, sondern auch eine
Abwandlung des nationalen Genius, die einer Loslosung von dem
Boden, der ihn trug, ja einer völligen Umkehr und Verleugnung
seiner ganzen Vergangenheit gleichkäme. Noch ist die Kirche in
der russischen Revolution kaum zu Worte gekommen. Man hat
fast den Eindruck, als ob sie in dem ungeheuren Getöse schlafe.
Sollen \\ir nun annehmen, daß sie sterben wird, ohne zu erwachen ?
Daß die Revolution siegen wird, ohne daß diese mit dem russischen
Genius geborene und emporgewachsene Macht auch nur ein Lebens-
zeichen von sich gibt ? Daß sie es dulden wird, wenn Polen seine
Autonomie zur politischen Selbständigkeit, zum Wiederaufbau
seiner Nation ausbilden und ihre Todfeindin, die römisch-katho-
lische Kirche, dabei aufs neue trotzig und siegreich ihr Haupt er-
heben wird ? Offenbar, wir sehen erst die Anfänge der Bewegung
vor uns, welche Rußland ergriffen hat, und es würde zu einer
Neubelebung jener tiefsten historischen Mächte kommen, wenn
wirklich die Revolution ihren Gang vollenden sollte.
Die römische Kirche hat eine weit größere Span-
nung. Sie hat den Untergang der römischen Welt erlebt und die
Entstehung der romanisch-germanischen Nationen; alle Ab-
wandlungen von deren Geschichte hat sie überdauert. Die Koloni-
sationen dieser Nationen hat sie begleitet, ja, wohl selbst ver-
anlaßt und geführt. Sie gab den stärksten Ansporn zu den Kreuz-
zügen. Mit ihrem Segen ausgerüstet gingen auch die Konquis-
tadoren Spaniens und Portugals über die Meere. Sie teilte die
fremde Welt auf zwischen den Eroberern, und für sie arbeitete
ein Heer von Missionaren in beiden Hemisphären. Keine Macht
der Erde hat so viel Kriege geführt, so oft um die Existenz ge-
stritten und so viel Siege errungen. Politische Gewalt, Ketzerei
und Aufklärung haben ihr die tiefsten Wunden geschlagen, und
es hat Zeiten gegeben, wo alle Energie aus ihr selbst gewichen
zu sein schien und sie selbst der Duldung bedurfte, die sie jedem
Nationalität und Religion. 247
andern versagte. Aber sie hat alle Spaltungen, außer der einen
großen letzten im i6. Jahrhundert, überwunden, und in keinem
Moment hat sie den Anspruch und die Hoffnung aufgegeben,
das höchste Ziel, die Alleinherrschaft auf Erden, zu erreichen.
Aus der tiefsten Ohnmacht ist sie jedesmal zu größerer Kraft
und verdoppelter Energie zurückgekehrt, — und niemals hat sie
größere Kraft, stärkere Konzentration, höhere Ansprüche und
heißere Hingebung bei ihren Gläubigen gefunden als in dem Jahr-
hundert der Nationalitätenkämpfe. Sie hat in dieser Epoche den
Altar dicht an den Thron gerückt und sich als die beste Stütze
für die Legitimität angepriesen: aber heute so wenig wi^ jemals
hat sie sich mit einer Nation oder einer politischen Partei völlig
identifiziert; den Republiken und jeder demokratischen Forderung
hat sie sich gerade so angeschmiegt wie anderswo der Reaktion
und dem Absolutismus. Immer hatte sie eine Existenz für sich.
Als ein Organismus, der nach eigenen Gesetzen lebt, hat sie sich
Organe geschaffen, die in der Mischung monarchischer, oligarchischer
und demokratischer Elemente von allen politischen Verfassungen
etwas enthalten und doch keiner gleichen. Sie darf sich die all-
gemeine Kirche nennen, insofern sie die Welt umspannen, die
Idee der Menschheit in ihrer sittlichen Vollendung zur Dar-
stellung bringen will. In ihr, so sprechen ihre Kinder, hat der
Wille des Stifters unserer Religion, das Gesetz, das er gab, die
Macht, die ihm im Himmel und auf Erden verliehen war, Form
gewonnen.
Wie stellt sich nun uns Deutschen das welthistorische
Problem dar, das sich in dem Verhältnis der Idee des nationalen
Staates zu der Idee der Kirche vor uns aufrollte ? Nahezu in allen
Nationen Europas gehören die Bürger des Staates im wesent-
hchen derselben Kirche an; überall sind es nur Minoritäten, für
die beide Sphären sich nicht decken. Das gilt auch für Groß-
britannien, denn noch immer sind dort die Iren so weit zurück-
gedrängt, daß die Macht des Staates und seine Organe durch den
vom Protestantismus neu gestalteten Genius des Angelsachsen-
tums getragen und belebt werden. So sind, wenn wir von den
Magyaren absehen, wir Deutschen es ganz allein, durch die der
248 Kleine historische Schriften.
Riß, wclclier die abendländische Kirche im i6. Jahrhundert
spaltete, mitten hindurchgeht. Es ist wie eine Rache des Geschicks,
daß die Nation, von der die große Kircheatrennung ausging, bis
heute im Glauben ungeeinigt bleiben mußte. Den nationalen
Staat haben wir nach unendlichen Kämpfen, die alle von daher
sich ableiteten, endlich erlangt. Aber die kirchliche Spaltung
reicht bis auf den Grund unseres sozialen Lebens, bis in die Ge-
meinde, die Schule, die Familie hinein — und dürfen wir in Wahr-
heit von nationaler Einheit sprechen, so lange wir in den heiligsten
und persönlichsten Anliegen uneins sind, so lange unser Herz-
schlag nicht der gleiche ist?
Oder \\äre es zu glauben, daß die nationale Einheit mit der
religiösen Gemeinschaft nichts zu schaffen habe ? Daß das Bewußt-
sein, einem Staat anzugehören, eine Sprache zu sprechen,
die gleichen Feinde zu haben und die gleichen wirtschaftlichen
Vorteile zu genießen, genüge, um ein Volk zu sein, und die Summe
der nationalen Güter bereits ausmache, von denen, als den ver-
lorenen und neu zu gewinnenden, unsere Väter träumten ? Es ist
wahr, das neue Reich ist auf den Gedanken gegründet, den Willen
zur Macht, der in der Nation lebte und der in den alten Formen
gehemmt war, zu befriedigen, und darum hat sein Schöpfer seine
Ordnungen so aneinandergefügt, daß alles, was politische und
wirtschaftliche Kraft heißt und verbürgt, in ihnen zum Ausdruck
gebracht ist. Die Sorge für die Pflege der geistigen Güter der
Nation überwies er den Einzelstaaten, den Gemeinden, den Fa-
milien und dem persönlichen Gewissen.
Hängt also, so fragen wir, die Zukunft unseres Reiches und
die nationale Idee von nichts anderem ab, als von der Konser-
vierung der politischen Form ? Der i\.nblick des Weltlaufes, wie
er heute erscheint, könnte uns fast dahin führen. Keinen Augen-
blick hat die Entwicklung unserer Kräfte im neuen Reiche still-
gestanden. In dem Wettstreit um den Erdball, den die großen
Nationen miteinander führten, stehen wir in der vordersten Reihe;
und dieser Kampf selbst, bietet nicht gerade er den Anblick eines
unaufhörlichen Ringens um den Besitz der Erde, ihr Gold und
ihre Güter, statt um die Ziele des Glaubens, der Bildung und der
Nationalität und Religion. 249
Gesittung? Hat es in der Geschichte unserer Nation eine Epoche
gegeben, in der sie ihre Macht so gewaltig und sturmgleich aus-
breitete wie in diesem Jahrhundert ? Was die idealen Antriebe
früherer Zeiten, der religiöse Eifer oder die Gedanken des Welt-
friedens und der Humanität niemals vermochten, hat das Jahr-
hundert der Nationalitätenkämpfe zustande gebracht. In un-
aufliörlichem Wettkampf miteinander, unter der stärksten An-
spannung des nationalen Egoismus haben sich unsere Nationen
in ihrer Gesamtheit zu den Herren der Erde gemacht. Zugleich
sehen wir, daß, je weniger eine jede von ihnen dem Nachbar gönnt,
den sie eher unter die Füße treten möchte als ihm einen Zoll-
breit des eigenen Bodens abzutreten, um so mehr die materiellen
Zwecke und Ziele ihres Ehrgeizes zunehmen und um so schatten-
hafter und ohnmächtiger die idealen ^Momente zu werden drohen.
Kein Wunder daher, daß bereits in Wissenschaft und Politik
eine Geschichtsanschauung wirksam werden konnte, welche in
dem ganzen Lauf der Geschichte, in allem, was in Staat und Kirche
Form gewinnt, nichts anderes sehen möchte als das Auf- und
Abwogen eines von wirtschaftlichen Impulsen belebten Daseins.
III.
Eine Ansicht freilich, zu deren Widerlegung der kürzeste Blick
auf jene Zeiten genügen muß, in denen die Religion selbst das
beherrschende Interesse unserer Nationen war. Oder was war es
sonst, was die Hugenotten dazu trieb, Vaterland und Freunde im
Stich zu lassen ? Wirtschaftlich hatten sie gewiß keine Not. Aller-
orten kamen sie voran, wenn auch nicht im Dienst des Staates,
der sie von sich ausschloß und um ihres Glaubens willen ver-
folgte, so doch in Gewerbe und Handel und in allen freien Künsten.
Eine INIesse hätte auch für sie, wie einst für ihren hochgeborenen
Führer, genügt, um diesen grausamen Staat zum gnädigen Herrn
zu machen. Aber sie bedachten das Wort der Schrift: Was hülfe
es euch, wenn ihr die ganze Welt gewönnet und nähmet Schaden
an eurer Seele? Sie machten Ernst mit dem schweren Gelöbnis
des Lutherliedes: Ehr' und Gut und die Heimat selbst fahren zu
250 Kleine historische Schriften.
lassen, um das „Reich" zu ererben. Nicht weil sie das Vaterland
dort suchten, wo es ihnen gut ging, verließen sie die Heimat,
sondern um dem Glauben treu zu bleiben, auf den sie getauft
waren, dem wahren Vaterlande, dem Reiche Gottes nachzutrachten.
Bis in das i8. Jahrhundert, bis hart an die Schwelle der Auf-
klärung heran währt dies Ringen zwischen religiöser Intoleranz
und dem Beharren auf den religiösen Meinungen. Zwei volle
Jahrhunderte hindurch drängte die religiöse Idee in der Form
des schroffsten Bekenntnisglaubens jedes andere Motiv des poli-
tischen Handelns beiseite.
Nicht als ob die pohtische Welt jener Tage materieller An-
triebe bar gewesen wäre. Das Problem, welches diese Zeiten dem
Historiker stellen, ist vielmehr überall dieses: das ]\Iischungs-
verhältnis darzulegen zwischen den politischen, sozialen und nicht
zum wenigsten auch den nationalen Motiven auf der einen und
den schlechthin religiösen auf der anderen Seite. Aber niemeds
reicht eins jener drei Motive allein oder reichen sie alle zusammen
aus, um den Fortgang der Ereignisse und die Stellung der Per-
sönhchkeiten zu erklären; und immer ist das Bekenntnis der
Prüfstein für die Politik der Regierungen, die Abgrenzung der
Parteien und die Entwicklung wie die Schicksale ihrer Führer.
Vor allem die Stifter der neuen Konfessionen und die Vor-
kämpfer der alten Kirche sind internationale Persönhchkeiten. Zu
der Zeit, als Deutschland noch die Führung der Reformations-
bewegung hatte, fanden dort alle um der Religion willen in der
Fremde Verfolgten ihre Zuflucht. So wurden Wittenberg und
Straßburg, so später Genf die Brennpunkte, in denen sich die
Strahlen der reformatorischen Bewegung trafen. So sammelte
Ignatius Loyola, noch bevor sein Orden vom Papst bestätigt
wurde, aus den Nationen, deren Herrscher in tödlicher Feind-
schaft lebten, die Männer um sich, die seine vom hispanischen
Geiste ganz durchglühte Rehgion aufs neue zur Herrschaft über
die Abgefallenen bringen wollten. Je weiter die Zersetzung um
sich griff, je stärker der Angriff, und je hartnäckiger die Ver-
teidigung der Papstkirche wurde, um so tiefer auch die politische
Zerklüftung Europas. Nicht nach den nationalen Gruppen, sondern
Nationalität und Religion. 251
nach der kirchlichen Parteiung gestalteten sich die Konstellationen
der europäischen Politik. Vor ihr traten sogar die alteingewnirzelten
nationalen ^"o^urteile und Gegensätze zurück. Gegen das offenbare
Interesse Frankreichs verband sich die Partei der Guisen mit dem
spanischen Habsburger, der alles daran setzte, um Spaniens Sieg
über Frankreich herbeizuführen.
Da geschah es nun, daß einige Nationen von Anfang an, sei
es in der Bewahrung des alten, sei es in der Annahme eines der
neuen Bekenntnisse, einig wurden. So in Spanien, Dänemark und
Schweden. Andere, wie Polen, Frankreich und England, erreichten
dies Ziel erst nach langen und tief erbitternden Kämpfen, die
zum Teil bis an das Ende der Epoche reichten, um dann wohl
den besiegten Elementen bereits einen gewissen Spielraum zu
gewähren. Und nur ims Deutschen haben diese Kämpfe die natio-
nale Geschlossenheit nicht wiederbringen können.
Wieviel gewaltiger erscheint solchen Tatsachen gegenüber die
Macht der rehgiösen Idee im Vergleich zur Idee der Nationahtät,
zumal wenn diese sich in nichts anderem auswirken will, als in
der Expansion ihrer wirtschafthchen ]\Iacht. Der Glaube jener
Zeiten war nach einem Rankeschen Wort eine Kraft, welche
zugleich schuf und vernichtete. Er hat nicht bloß die alten Na-
tionen zerbrochen oder sie auf neue Grundlagen gesteht, sondern
er hat sogar neue Nationen ins Leben gerufen. Ein SpHtter unseres
Volkes, Blut von unserem Blut war es, was an den Mündungen
des Rheins, zwischen Ems und Scheide zu einem neuen Volke,
zu dem seegewaltigen Holland zusammenwuchs. Und weniger
noch als dieses, ein Häuflein von Expatriierten, Engländern und
Niederländern, hat in der indianischen Wildnis jenseits des Ozeans
den Grund gelegt zu der nationalen Großmacht, deren ungeheuere
Entwicklung die Welt von heute mit steigender Bewunderurxg
betrachtet.
Zwei Beispiele, wie geschaffen, um uns einen Einblick in den
Bildungsprozeß der Nationalitäten zu gewähren. Lange vor der
Reformation waren die politischen und wirtschaftlichen Vor-
bedingungen für die Abtrennung der Niederlande vom
Reiche gegeben. Aber zur Ausbildung der holländischen Nation
252 Kleine historische Schriften.
kam es erst, seitdem das neue Staatswesen auf den Grund des
reformierten Bekenntnisses definitiv gestellt war. Auch jetzt noch
blieben die \'ereinigten Provinzen Staaten für sich, mit parti-
kularer Organisation und Regierung, engherzig und eigensinnig
und erfüllt \on vielfachem Gegensatz und Hader. Dennoch bil-
dete sich in ihnen ein durchaus eigenartiger und gemeinsamer
nationaler Typus aus, der sich in der Musik wie in der Literatur,
in der ]\Ialerei, in dem S3'stem der Theologie und des Staatsrechts
fest geprägte Formen schuf.
Noch wunderbarer erscheint uns die Entwicklung der ameri-
kanischen Nationalität. Losgerissene Blätter und Zweige
vom englischen Stamm waren es, die hier am fremden Ufer zu-
sammengeweht wurden. Was ist es nun, das sie organisch zu-
sammenwachsen ließ und ihnen jene ungeheure Wurzelkraft
verlieh, die in immer neuen Schößlingen diese weltüberschattende
I\Iacht emporgetrieben hat ? Anhänglichkeit an das Mutterland
gewiß nicht. Denn dies hatten die Kolonisten verlassen, weil
es ihnen nicht die gesellschafthchen Formen gewähren wollte,
die sie von ihrem Glaubensgrunde her anstrebten. Auch war es
nicht einmal das Blut, das die Ausgewiesenen zusammenfügte.
Denn von Anfang an hatten sich den Engländern Fremde zu-
gesellt, und im Laufe der Zeit kamen neben neuen englischen
Einwanderern Ankömmlinge aus aller Herren Ländern in ]\Ienge
ins Land. Nicht einmal die Sprache kann als das wesentlichste
Merkmal der neuen Nationahtät angesehen werden. Haben doch
diese Republikaner im i8. Jahrhundert einen Moment geschwankt,
ob sie nicht die deutsche Sprache zur Staatssprache erheben sollten.
Und diese Mischung aus fremden Nationen hat sich seitdem nur
fortgesetzt und immer größere, fast groteske Dimensionen und
Formen angenommen. Schon kann man kaum noch von ger-
manischem Blut, ja, nicht einmal von europäischer Rassenmischung
sprechen, nachdem zu den Tausenden und Hunderttausenden
von spanischer, italienischer, slawischer, finnischer Abkunft auch
noch die Millionen freigelassener Neger Bürger der Vereinigten
Staaten geworden sind. Und dennoch trägt der amerikanische
Typus unverkennbar noch immer die Spuren der Epoche, da die
Nationalität und Religion. 253
paar tausend Puritaner ihr Gemeinwesen nach den Geboten ihrer
Kirche gründeten. Unvertilgbar war der Charakter, den die ReH-
gion, zu der sie sich bekannten, dem Staate und der Gesellschaft
der Yankees aufgedrückt hat. Noch heute halten die gesell-
schaftlichen Formen die Nation in allen ihren Teilen fester und
enger zusammen als der Staat. Noch heute waltet die Tendenz
vor, der öffentlichen Gewalt nur gerade so viel Macht und Spiel-
raum zu lassen, als es mit der persönlichen Freiheit und der sozialen
Selbständigkeit irgend vereinbar ist. Noch heute herrscht das
Prinzip, den Kirchengemeinden volle Unabhängigkeit gegenüber
dem Staatswillen vorzubehalten. Und heute wie in den ersten
Zeiten vermögen es die Kirchen, vor allem diejenigen, in denen
die Gedanken des 17. und 18. Jahrhunderts am lebendigsten ge-
blieben, die Baptisten und Methodisten, ihre Angehörigen an
sich zu fesseln, ihre Meinungen und ihre Sitten in Zucht zu nehmen
und zu beherrschen.
Wahrlich, wenn wir dieses alles überschauen, so begreifen
wir den Tiefsinn des Rankeschen Wortes, daß ,,die Nationalitäten
nicht durchaus naturwüchsig sind, nicht sowohl Schöpfungen
des Landes und der Rasse, als der großen Abwandlungen der
Begebenheiten".
Ranke stellt diese Betrachtung an im Hinblick auf die Aus-
bildung der italienischen und der französischen Nationalität. Und
in der Tat, die Entstehung der romanischen Völker-
welt läßt uns an der Hand der Quellen einen analogen Pro-
zeß beobachten, wie denjenigen, den wir in der neuen Welt täg-
lich erleben. Auch damals bedeutete sicherlich die Blutmischung
das wenigste und die Prägung, welche die Kirche gab, das meiste.
Wenn von oben her germanische Staatsformen die eroberte römische
Welt zusammenhielten, so war das ein Ergebnis der politischen
und kriegerischen Kraft der Eroberer, aber nicht ihrer Volks-
zahl, ihres Blutes, das nur in ganz kleinen Wellen den Provin-
zialen beigemischt war und zum größten Teil bald ganz ausgetilgt
wurde. Auch das Römerblut aber füllte keineswegs die Adern
der westeuropäischen Bevölkerungen, sondern auch hier war es
das Römertum, der römische Geist, die römische Kraft,
254 Kleine historische Schriften.
die Göttenvelt und der Staat Roms, was Etrusker, Rätier, Kelten
und Iberer in einer Arbeit von Jahrhunderten nach Sprache,
Geist und Glauben zu Römern gemacht hatte. Diese römische
Welt ward in den Jahrhunderten der Völkenvanderung, da die
staatlichen Formen zerbrachen, von der Kirche zusammengehalten:
in ihr, der letzten und fast größten Schöpfung der Antike, aus
hellenischem und orientalischem Geiste geboren, fand das römische
Nationalbewußtsein seinen letzten und stärksten Anhalt und Aus-
druck. So hat also die römische Kirche dem Römertum den-
selben Dienst geleistet wie ihre griechische Schwester viele Jahr-
hunderte hindurch den unter dem Drucke der Ungläubigen seufzen-
den christHchen Nationen. Doch tat sie noch mehr. Sie war es,
welche die Barbaren sich unterwarf und damit dem Geiste ihrer
Schutzbefohlenen assimilierte: unter den Faktoren, welche die
romanischen Nationen Europas geschaffen haben, gebührt ihr ohne
Frage die erste Stelle.
Nur eine Fortsetzung dieser Offensive war es, wenn diese
Kirche, sobald sie die in das Reich gedrungenen Barbaren be-
kehrt und damit die Nationalitäten in den Provinzen des römischen
Westreiches begründet hatte, die Grenzen überschritt und auf
die Eroberung der germanischen Welt, den Pfaden Cäsars folgend,
ausging. Wir mssen, wie es ihr gelungen ist, und wie sie auch
dann nicht Halt machte, sondern aus den eben Unterworfenen
die Sendboten gewann, welche Nordgermanen, Slawen und Ma-
gyaren dem gleichen System angliederten. Sie hat den Genius
dieser Nationen mit leichtester Mühe bezwungen und dadurch
auch sie zum Bewußtsein des eigenen Geistes erhoben.
Nationalität und Religion, wir verstehen es
jetzt, lassen sich nicht voneinander trennen.
Sie sind Scheide und Schwert zugleich. Sie durchdringen sich
nicht nur, sondern schaffen sich wechselseitig. Es sind Formen,
welche das Menschengesclüecht anzieht, in denen es sein histo-
risches Leben führt: unablässig quillt und fließt es aus dem Born
der Kirche, auch wenn sie in den starren Fesseln des Dogmas
liegt und mit dem Anspruch auf unbedingte Herrschaft dem Staate
entgegentritt, in alle Organe der Nation hinüber: in die Funda-
Nationalität und Religion. 255
mente der Nationalität sind religiöse Urkunden hineingelegt : der
Idee der Nationalität selbst ist religiöses Empfinden beigemischt ;
und weil dies ein Teil ihres Wesens, ihres Keimens und Wachsens
ist, durchdringt es alle Formen der Gesellschaft und des Staates,
die auf dem Grunde der NationaHtät ruhen. Darum stirbt die
Rehgion auch nicht, wenn die Formen der Kirche sich wandeln,
so wenig wie die Nationen mit den Staaten untergehen, die ihnen
entstammen. Vielmehr teilt sich der Geist, den die Dogmen ein-
hüllen, und der sie selbst erst gebildet hatte, wenn die allzu starr
gewordenen zerbrechen, um so ungemessener und inniger dem
Leben der Nation mit, die ihm vertraut.
IV.
Und nun können wir die Antwort auf die Frage finden, welche
uns Deutschen das Schicksal steht, ob wir in dem Zwiespalt, der
seit vier Jahrhunderten durch unser Volk geht, ewig stehen können.
Wir würden, müssen wir sagen, es bald genug am eigenen
Leibe empfinden, ja, wir spüren es bereits alle Tage, wohin wir
geraten, wenn wir nationale Politik machen wollen, ohne uns um
den Riß zu bekümmern, der zwischen den Bekenntnissen in unserem
Volke klafft. Die nationale Einheit ist nicht fertig, so lange unsere
Gottesverehrung noch nicht auf gemeinsamem Boden ruht. Der
Wille zur Macht selbst, der unser Reich schuf, würde erlahmen,
der Lebensmut, der Glaube an das Vaterland müßte versiegen,
wenn nicht in dem Innersten, in dem Adyton gleichsam unseres
nationalen Bewußtseins dieselben Heiligtümer, die- gleichen Gottes-
gedanken ihren Platz fänden. Es hegt also eine zugleich politische
und sittliche Notwendigkeit vor uns, jene Lebensmächte zu suchen,
welche der Nationalität den eigentlichen Inhalt geben.
Wie aber dahin gelangen?
Auf dem Wege der Unterwerfung der einen Kirche unter die
andere ? Oder durch Ausgleichung ihrer Dogmen, der Annäherung
ihrer Kulte, der Verbindung ihrer Verfassungen? — Das sind die
Wege, welche Jahrhunderte hindurch, von dem Ursprung der
Spaltung ab, begangen worden sind. Zum Ziele geführt haben sie
256 Kleine historische Schriften.
nicht : vielmehr jeder dieser \'ersnche, mochten nun Diplomaten
des Staates und der Kirche oder die Wortführer unserer Bildung
daran arbeiten, haben nur verstärkten Hader zur Folge gehabt.
Denn die Union zwischen den beiden evangelischen Bekennt-
nissen, die nach schweren Kämpfen und unter wahrlich nicht
geringer Nachhilfe der politischen Gewalt zustande kam, kann
nicht als Beispiel für diese Möglichkeit angewandt werden. Ihre
Differenzen wurzelten nicht im Zentrum ihres Glaubens, und
viel eher auf dem Boden des Kultus und der Verfassung als in
dem Dogma; und nur der politische Hader war es, der den Zwie-
spalt so tief hatte einwurzeln lassen: da jener sich ausglich, konnte
auch dieser beseitigt werden. Gegenüber der römischen Kirche
aber, den Papisten, trat dieser Streit weit zurück und standen
die Streitenden jederzeit auf dem gleichen Boden. Denn dieser
Widerspruch liegt in den Prinzipien und der Idee der Kirchen
selbst. Eine Kirche, welche das Individuum auf jeder Station
des Lebens sakramentlich fesselt und dadurch die Gesellschaft
bis in ihre Tiefen hinein durchwuchert, für welche im Vergleich
mit ihr selbst alles, was Welt heißt, Staub vom Staube ist, die
jeden Satz ihrer Verfassung, jedes Stück ihres Kultus in dog-
matische Substanz, in sittliche Verpflichtung verwandeln kann,
eine Kirche, die in dem Gange der Menschheit ihren eigenen Weg
vorgeschrieben sieht und damit den freien Lauf der Entwicklung
vergewaltigt und die Geschichte selbst dogmatisiert, und die mit
einem Worte die Gewalt beansprucht, in göttlichen und mensch-
lichen Dingen zu binden und zu lösen — eine solche Kirche läßt
sich nicht versöhnen mit einer \\''eltanschauung, welche keine andere
Bindung anerkennt, als die durch das Sittengesetz in unserer Brust,
und welche jede an menschliche Ordnung und Menschtum geknüpfte
Mittlergewalt von sich weist. Es ist wahr, unter der Wucht des
Wissens, das unser Jahrhundert aufgehäuft, vor allem unter der
zersetzenden Kraft der historischen Aufklärung, die mit immer
neuen und immer schärferen Mitteln und Methoden die von den
Schleiern der Legende und der Unwissenheit verhüllten Jahr-
tausende in helles Licht taucht und das Weltbild der römischen
Kirche an jedem Punkte korrigiert, drohen die Dämme des Kirchen-
Nationalität und Religion. 257
glaubens hinweg zu schmelzen. Schon dringt diese Aufklärung,
in unzählige Kanäle verteilt, in die kirchlichen Bezirke, in die
Herde der Gläubigen selbst hinein. Und so nehmen wir wahr,
daß die Verteidiger der Kirche selbst sich zur Anerkennung der
Ergebnisse verstehen, welche unsere moderne Forschung zutage
bringt, ja, daß sie in oft redlichem Eifer sie fördern helfen. Sie müssen
es, denn der Strom der Erkenntnis, dessen Bett wir gegraben
und der sich aus tausend Quellen täglich nährt, würde sonst über
sie hinweggehen. Und so geschieht es wohl, daß auch die höchste
Autorität ihrer Kirche ihnen einigen Spielraum läßt. Sie kann
es ohne Schaden, so lange ihr nicht selbst vor ihrer Gottähnlich-
keit bange wird und das Band nicht zerreißt, das jene an sie fesselt.
Noch aber hat sie kein Stäubchen ihres jus divinum aufgegeben.
Sie hat manches von dem, was sie früher forderte, vielleicht bei-
seite gestellt, aber nichts beseitigt, und keinen der Sätze, den sie
jemals kraft ihrer Vollgewalt amtlich formulierte, hat sie wider-
rufen. Sie würde sich selbst verleugnen müssen, wenn sie es täte;
sie würde es machen müssen wie Petrus, dessen Nachfolgerin sie
sein will, der hinausging und bitterlich weinte, nachdem er seinen
Herrn dreimal verleugnet hatte: aber noch sind solche Tränen
in Rom nicht geflossen.
Keine Brücke führt von dem einen Ufer zu dem anderen.
Es ist ein Gegensatz wie zwischen Nacht und Tag, zwischen Knecht-
schaft und Freiheit.
Vielleicht aber mag ein Blick in die Vergangenheit auch hier
dazu dienen, um uns die Zukunft auszudeuten.
Es gab doch einmal eine Zeit, wo die Dogmen der Konfessionen
ins Schwanken gerieten und zum erstenmal seit der großen Kirchen-
trennung eine gemeinsame Religiosität über alle Schranken hin-
weg sich in Deutschland ausbilden zu sollen schien. Nur ein Jahr-
hundert, eben das der NationaHtätenkämpfe, steht zwischen uns
und dieser Zeit. Es war, wunderlich genug, gerade die letzte Gene-
ration in dem alten Reiche, es waren die Jahre, in denen Kaiser-
tum und Papsttum zu Boden sanken, welche diese Annäherung
der Gedanken und Empfindungen in allen Kreisen deutscher
Lenz. Kleine historische Schriften. 17
258 Kloine historische Schriften.
Bildung sahen. Schon wollte man in den dogmatischen Systemen,
welche mit oder auch gegen jene obersten Gewalten entwickelt
waren, nichts mehr sehen als gleichgültige Meinungen vergangener
und überwundener Parteien, und nicht bloß Duldung, sondern
Anerkennung der jenen Systemen gemeinsamen oder in ihnen
verborgenen oder auch über sie hinweg reichenden Wahrheiten
war die Losung des Tages geworden. Dürfen wir aber sagen,
daß das Gemeingefühl innerhalb der Nation, ich meine nicht das
politische, sondern das die Herzen durchdringende und erwärmende,
die Gesellschaft in sich verknüpfende und aufbauende Gemein-
gefühl, damals schwächer gewesen sei als heutzutage? Heute,
wo die alte Kirche die Ihrigen aufs engste um ihre Altäre geschart
hat und geflissentlich jede Berührung mit den Andersgläubigen
in der Gesellschaft und dem geistigen Leben zu unterbinden trachtet ?
Woher stammten nun die Kräfte, welche damals in Lebens-
führung und Weltauffassung die deutschen Herzen so stark und
einhellig zusammenklingen ließen? Aus den Klöstern, den katho-
lischen Universitäten und Pfarrhäusern? Die katholische Kultur
hat sicherlich auch nach der Kirchenspaltung volle Blüten ent-
faltet; aber was davon deutschem Boden entsproß, wenig genug,
war nichts als Übertragung aus der romanischen ^^'elt, die darin
die Führung hatte. Die Dichtung und Philosophie unserer klassi-
schen Periode, die Belebung aller Wissenschaften dagegen schöpf-
ten wir Deutschen aus protestantischen Quellen. Jene Vorstellung
von der Teilnahme der anderen Konfessionen an den wesentHchen
Wahrheiten, und der Wunsch nach Ausbildung eines gemeinsamen
Ideals, sie waren selbst Äußerungen des protestantischen Bewußt-
seins in unserem Volke: ein Voltaire besaß sie nicht; sein Ecrasez
l'infame galt ebensowohl den protestantischen wie den katho-
lischen Dogmen. Jene Ansichten ruhten auf Voraussetzungen,
die nur in der Weltanschauung der deutschen Aufklärung Bestand
hatten und das Widerspiel w^aren der in den tridentinischen Fesseln
gebliebenen Weltanschauung der römischen Kirche. Sie waren
Äußerungen des Kraftgefühls, das der Sieg verlieh, den diese An-
schauungen bereits auf der ganzen Linie, auch innerhalb der katho-
lischen Staatenwelt und Gesellschaft, erfochten hatten.
Nationalität und Religion. 259
Aber noch mehr: die Romantik selbst hat sich aus Quellen
genährt, die auf dem Boden protestantischer Bildung entsprangen.
Schleiermacher und Novalis, Tieck und beide Schlegel, Adam
Müller und Gentz, alle die Anfänger und ersten Führer der neuen
Bewegung stammten daher. Auch die Überläufer unter ihnen, wie
sehr sie die verlassenen Ideale schmähen mochten, konnten nie-
mals ihre Ursprünge ganz vergessen machen. Ihre Weltansicht
selbst barg Elemente in sich, die erst die Aufklärung geschaffen
hatte, und erscheint bereits uns Nachgeborenen vielfach mehr
als eine Abwandlung der von ihr abgelösten Epoche denn als
ihr Gegensatz. Die katholischen Kreise waren auch hier die nach-
folgenden und empfangenden. Erst in der zweiten Generation,
als der politische Kampf den zarten Schmelz der Romantik ab-
streifte und zerstörte und hinter ihrem weichen Antlitz die
harten Züge des Ultramontanismus hervortraten, stellten sich
unter Joseph Görres Söhne der kathoHschen Kirche an die Spitze.
Und nun begann die allseitige Versteifung, die Repristinierung aller
Organe und Dogmen, die in Trient geschaffen oder neu gebildet
waren. Das aber geschah in engster Verbindung mit dem Kampf
der politischen Parteien, den der ^^^erdegang des nationalen Staates
hervorrief. Er ist es gewesen, mehr als alles andere, der der Wieder-
belebung der alten Formen Vorschub geleistet hat. Indem die
Massen in Bewegung gesetzt wurden und in das Staatsleben hinein-
fluteten, Anteil an ihm gewannen und in den Formen seiner Ver-
fassung selbst Organe für ihre Machtentv/icklung erhielten, strömten
aus ihren religiösen Empfindungen, die noch ganz unter der Herr-
schaft ihrer Priester standen, der alten Kirche neue Kräfte zu.
Die Mittel, welche die demokratischen und die nationalen Ideen
des Jahrhunderts zu ihrer eigenen VerwirkHchung gebrauchten,
kamen auch der reaktionärsten Gewalt zugute: die Kirche selbst
wurde demokratisiert.
Niemals wird die Vergangenheit, wie mächtig sie auch fort-
wirken mag, die Gegenwart wieder ganz beherrschen. Vergebens
ist die Sehnsucht, zur neuen Wirklichkeit zu machen, zu neuem
Leben zu ervvecken, was einst in Kraft und Blüte stand. Es sind
nur Schatten, die wir beschwören ; und aller Glanz der Verklärung,
17*
260 Kleine historische Schriften.
mit dem wir sie umgeben, kann sie nicht zu den Unseren machen,
unseren Herzschlag ihnen mitteilen. Aber so wenig die Geschichte
zu ihrem Ausgang zurückkehren wird, so wenig folgt sie einem
gestreckten Lauf: in vielfachen Windungen zieht ihr Strom durch
die Jahrhunderte hin. Nur wenn wir auf den Boden zurückkehren,
auf dem die Ideale unserer klassischen Periode erwuchsen, dürfen
wir hoffen, den festen Grund zu finden, auf dem ein von gemein-
samen Ewigkeitsgedanken bewegtes Nationalbewußtsein sich bilden
kann. Und nur in solchen Formen kann es geschehen, welche die
alten Grenzlinien, die der politische Parteigeist unseres Jahr-
hunderts fast künstlich neu gegraben hat, abermals auslöschen
und überschreiten werden. Aufnahme jener Gedankenwelt in
das Bewußtsein und damit in alle Organe der Nation — auf dieser
Verbindung und ihrer Weiterbildung beruht die Zukunft unseres
Volkes.
68^=^?^
Wie entstehen Revolutionen?
(1900.)
Das fluchwürdige Attentat, das den Lebensfaden des guten
Königs Umberto so jäh durchschnitt, hat, wie die früheren, denen
die Kaiserin Ehsabeth und Präsident Carnot erlagen, es unserer
Gesellschaft von neuem zu erschreckendem Bewußtsein gebracht,
wie wilde Leidenschaften in ihren Tiefen schlummern; gleich
grellen Blitzen haben jene Taten eines verbrecherischen Wahn-
sinns die Abgründe beleuchtet, die unter der Decke unserer Zivili-
sation verborgen sind. Dennoch ist heute die Sorge, daß diese
sich auftun und den glänzend und machtvoll gefügten Bau unserer
Kulturwelt in sich hinabziehen könnten, auffallend gering; und
wo sie einmal laut wird, spricht aus ihr mehr der Eifer der Par-
teiung, dem daran liegt, Furcht zu verbreiten, als wirklicher Glaube
an die Gefahr. Die tiefe Trauer, in die der Tod des neuen Mär-
tyrers der Monarchie ganz Italien gesenkt hat, die kaum gestörte
Einmütigkeit, mit der sich alle Klassen der Nation um die Bahre
des Gemordeten scharten, und die Einstimmigkeit, womit die
Presse aller Länder die Tat verurteilt hat, beweisen uns, daß
unsere Zuversicht berechtigt ist; sogar diejenige Partei, die sich
als den besonderen Anwalt der Darbenden und Unterdrückten
ausgibt, und die so oft Gewalttat und Revolution als die berech-
tigten Mittel zur Erreichung ihrer eigenen utopischen Ziele an-
gerufen hat, hielt sich angesichts der Tat zurück und verleug-
nete jede Gemeinschaft mit dem Mörder. Jene Verbrechen sind
Blitze gewesen, welche die Gipfel trafen: aber der Boden, der
252 Kleine historische Schriften.
diese trägt, ist zu tief und fest gegründet, als daß sie ihn durch-
dringen und in Flammen setzen könnten. Der Steuermann stürzte
über Bord, aber schon steht ein anderer an seiner Stelle, und
sicherer noch als vorher durchschneidet das Schiff die Wogen.
Nicht immer sind pohtische Mordtaten so wirkungslos ge-
bheben. Man weiß, wie tief sich Napoleon III. durch das Attentat
Orsinis getroffen fühlte und daß es nicht das geringste ]\Iotiv
für ihn war, um die Revolution in Italien zu entfesseln und das
Joch, unter dem Österreich es hielt, zu zerbrechen. Und so waren
auch die Mordanschläge, \-on denen sein Vorgänger auf dem fran-
zösischen Thron, Louis Philipp, sich jahrelang unaufliörlich um-
droht sah, nur die Vorspiele zu der Revolution, die ihn schließ-
lich von seinem Thron stürzte. Zu seiner Zeit — es war die Jugend-
zeit unseres großen Reichskanzlers, und dieser hat es von sich
selbst in seinen Memoiren berichtet — galt die Republik auch den
Gemäßigten als die ideale Form des Staates; auf den Gymnasien
feierte man die Tyrannenmörder Harmodios und Aristogeiton als
die Vorbilder männlicher Tugenden und die edelsten Helden der
Freiheit; ein Sand gewann das INIitleid unserer besten Männer,
der Alten wie der Jungen; und dem armen Kotzebue, den sein
Messer niederstieß, folgten die Verwünschungen der Nation ins
Grab. Damals regte der pohtische Mord wirkhch die Tiefen der
Gesellschaft auf und bereitete die Revolutionen vor, die das Ant-
litz Europas verwandelt haben. Seit dem Jahr des Frankfurter
Friedens ist diese Kraft gebrochen geblieben. Der Aufstand der
Communards in Paris war das letzte Ausbrechen des revolutio-
nären Geistes: aber wenn die Flammen, die an der Seine auf-
gingen, früher jedesmal halb Europa in Brand gesetzt hatten,
so blieben sie jetzt auf ihren Herd beschränkt; sie wurden durch
die Armee, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war, durch
die Besiegten von Metz und Sedan erstickt, während unser Heer
in den Provinzen Frankreichs lag. Wie die Epoche der Kriege
im Umkreis unserer Nationen damals zu Ende ging, so auch die
der Revolutionen, die in Wechselwirkung mit ihnen fast durch
drei Menschenalter den Erdteil erschüttert hatten. Selbst die
NihiHsten in Rußland haben nichts erreichen können; auch dort
"Wie entstehen Revolutionen? 263
standen die Wirkungen, die sie erzielten, im umgekehrten Ver-
hältnis zu der Zahl und zu der Größe ihrer Mordtaten wie ihres
Opfermutes; nur um so schroffer schloß sich das Zarentum gegen
die Staatsformen des Westens, denen sie mit Dolch und Dynamit
Bahn brechen wollten, ab und stellte sich um so fester auf die
Grundlagen des starren Moskowitertums. Im Bereich der Ver-
fassungsstaaten aber haben die politischen Meinungen niemals
größere Freiheit genossen als seither. Bis auf den Grund unserer
Nationen sind die öffentlichen Rechte ausgedehnt worden: der
vierte Stand hat sich Organisationen schaffen dürfen, in denen
seine pohtischen und sozialen Kräfte, die wir im täglichen Wach-
sen sehen, sich aufs gewaltigste regen; seine Presse hat volle Frei-
heit, die ausschweifendsten Ideen zu verkündigen; sogar den
anarchistischen Lehren gewährt unsere Regierung Raum, solange
sie sich innerhalb der Schranken der Doktrin halten, und sie hat
auch nach dem letzten Attentat der Versuchung widerstanden,
sie zu unterdrücken. Nichts kann unseren Glauben an die Festig-
keit unserer Institutionen besser bezeugen als diese Toleranz;
sie ist das stärkste Zeichen unseres Kraftgefühls: sobald wir jene
Phantasten fürchten müßten, würden wir nicht zögern, sie mund-
tot zu machen.
Dieser Friede, den wir genießen, gibt uns die Möglichkeit
und, wie ich dächte, auch ein Recht dazu, mit der Ruhe objek-
tiver Anschauung das heiße Eisen der Frage anzurühren, die
sich unsere Betrachtung gestellt hat: wie entstehen Revo-
lutionen? Welche Klassen kommen in ihr zu Wort ? Wann
beginnen die Gefahren und wann .werden sie sichtbar ? Dürfen
wir hoffen, daß sie für uns wenigstens auf immer gebannt bleiben ?
Vertreten die Freiheiten, die uns die Epoche der Revolutionen
gebracht hat, die Chancen, die der einzelne hat, sich in der Ge-
sellschaft zu betätigen, bereits die Stelle von Sicherheitsventilen,
durch welche die Spannungen der Tiefe, wie stark sie sein mögen,
machtlos entweichen werden, ohne den Gang der Maschine zu
stören ? Oder ist die Ruhe trügerisch ? Bereiten sich am Ende dort
unten schon neue Kräfte vor, die einst nach einem unvermeidlichen
Verhängnis in vulkanischem Ausbruch ans Licht treten werden?
264 Kleine historische Schriften.
Fragen, deren Beantwortung uns zunächst auf eine tiefere
zurückführt, diejenige nach dem Wesen und Begriff der
Revolution überhaupt. Wir verstehen heute darunter gemeinhin
die gewaltsame Umwälzung der sozialen und politischen Grund-
lagen unserer modernen Staatenwelt. In diesem Sinn sprechen
wir von der Zeit von 1789 bis 1871 als von dem Zeitalter der
Revolutionen, das im Verein mit den gleichzeitigen Kriegen die
Gegenwart, das Zeitalter der nationalen Staaten Europas, vor-
bereitet und heraufgeführt hat; mit der Erhebung des dritten
Standes in Frankreich begann es, mit der Schöpfung des Deutschen
Reichs, der Herstellung der Republik in Frankreich, der Erobe-
rung Roms durch die ItaUener fand es seinen Abschluß. Dabei
pflegt man wohl die Umwälzungen, die sich innerhalb des reli-
giösen Lebens vollziehen, von den politisch-sozialen zu trennen,
ja sogar oft genug Reformation und Revolution in Gegensatz
zu stellen, als schließe jene nur eben die Abwandlungen der Welt-
anschauung, der ethisch-religiösen Ordnungen ein und entbehre
des eigentlich revolutionären Elements der Gewalttat und Em-
pörung. Indessen die Männer des dritten Standes, die sich im
Juni 1789 als die konstituierende Versammlung Frankreichs er-
klärten, dachten an nichts weniger als an blutige Gewalttat. Waren
sie doch nach Versailles gar nicht auf eigene Faust gekommen,
sondern vom Könige selbst berufen, der ihrer Hilfe gegen gemein-
same Gegner bedurfte. Dies waren die Privilegierten, Klerus und
Adel, eben die Stände, welche die französische Krone zwar ge-
beugt, aber noch nicht ganz unterjocht hatte und die sie jetzt
mit Hülfe des Bürgertums willfährig machen wollte, dieselben,
aus deren Niederhaltung die preußische Monarchie ihre stärkste
Kraft gezogen hatte. In den Generalständen saßen bereits die
meisten der Älänner, die in wenigen Jahren die Geißeln Frank-
reichs werden und alle Greuel des Despotismus entfesseln sollten.
Dennoch plante niemand unter ihnen, auch Robespierre nicht,
den Königsmord: sie begannen vielmehr ihr Werk, getragen von
der zustimmenden Begeisterung ihrer Zeitgenossen, welche davon
die Erfüllung aller Ideale des Friedens und des weltbürgerlichen
Glückes erwarteten; viel weniger ihr Durst nach der Gewalt als
Wie entstehen Revolutionen? 265
die Angst vor der Reaktion hat die revolutionären Akte hervor-
gerufen, unter denen im Sommer und Herbst jenes Jahres die
alte Monarchie Frankreichs zusammenstürzte. Und brauchen wir
auf der anderen Seite noch zu sagen, wie tief die Abwandlungen
des religiösen Lebens auf den sozialen und pohtischen Boden
zurückgewirkt haben ? Der deutsche Mönch freilich, der in dem
Kloster zu Erfurt und zu Wittenberg sich abmühte, das Dies-
seits mit seiner Lust und Qual zu vergessen, ahnte die Kata-
strophen nicht, die sich an seine Spuren heften sollten; er meinte,
der Welt abgestorben zu sein : nur das Ewige, das Unvergänglich-
Jenseitige stand ihm vor der Seele. Und doch schuf er sich schon
damals in den reUgiösen Ideen, zu denen er sich hindurchrang,
die Kräfte, welche, gleich stark im Schaffen und Zerstören, die
Welt verwandeln sollten.
Mithin ist jene Definition zu eng. Sie ist lediglich abstra-
hiert von einer Epoche, in der Staat und Gesellschaft sich von
der Kirche emanzipiert hatten oder zu haben glaubten. Bereits
heute trifft sie nicht mehr zu; denn vor Augen liegt, wie sehr
sich seit dem Epochenjahr des Vatikanischen Konzils und unseres
letzten großen Krieges die religiösen Interessen in den Vorder-
grund des öffentlichen Lebens gedrängt haben. Und sie paßt
sogar im Grunde kaum auf die Periode, die nach ihr bezeichnet
wird; denn ohne Mühe muß dem schärferen Blick deutlich wer-
den, daß auch damals das kirchliche Element, wenn es auch nicht
immer an der Oberfläche sichtbar wurde, einer der stärksten
Kraftfaktoren war. BUcken wir aber über das Jahr 1789 zurück,
so nehmen wir wahr, daß Jahrhunderte hindurch alle Umwäl-
zungen in Staat und Gesellschaft von religiösen Erschütterungen
nicht nur begleitet, sondern hervorgerufen wurden. Schon die
englische Revolution, die so oft mit und ohne Grund zu der
großen französischen in Parallele gebracht ward, ist ohne das
rehgiöse Moment gar nicht zu verstehen; sie gehört durchaus
noch zur Reformationszeit und ist von der Ideenwelt der fran-
zösischen abgrundweit entfernt; die ganze Kulturbewegung des
18. Jahrhunderts liegt zwischen ihnen. An Umfang und Energie,
an Verwirrung und Wildheit stehen diese alten Revolutionen den
25ß Kleine historische Schriften.
modernen wahrlicli nicht nach. Die Leidenschaften, die sie ent-
fesselten, machten vor den Mächtigsten der Erde so wenig Halt,
wie heute der Fanatismus der Anarchisten; die Mörder aber wur-
den von ihren Parteien gefeiert und gesegnet, sie galten ihnen
als Märtyrer des Glaubens, und alle Bluttaten dienten nur dazu,
die Wut des Kampfes zu vertiefen. Nicht eine Klasse stritt
gegen die andere, sondern alle Schichten der Gesellschaft wurden
gleichmäßig gepackt, in die entgegengesetzten Lager gedrängt,
bis in die Familien hinein zerspalten, durcheinander geschüttet.
Die Schranken des Staates und der Nationalität selbst zerbrachen
unter der Wucht des religiösen Gedankens, und die Konfession
ward überall das oberste der politischen Interessen; Meinungen
wurden entwurzelt, an die ein Jahrtausend geglaubt hatte; alle
Vorstellungen von Rechten und Pflichten, von Gott und der
^^'elt wichen aus den Fugen. Es ist wahr, die Wortführer in jenen
Kämpfen kümmerten sich nicht unmittelbar um die Formen der
politischen Verfassung, die ihnen oft sehr gleichgültig waren,
wenn sie sie nur beherrschten, noch um die materiellen Interessen
der Gesellschaft, die sie zum Teil als den Bereich der Sünde und
der Verdammnis ansahen; auch wandten sie sich zunächst gar
nicht an die Sozietät, sondern an jedermann, nicht an den irdischen
Vorteil, sondern an das Heil der Seele; sie beanspruchten gerade,
die göttliche und die menschliche Sphäre zu trennen und den
Bezirk abzugrenzen, in dem die Seele ihres himmlischen Ursprungs
und Zieles gewiß werden, ihre Rechte frei genießen, ihre Pflichten
ungehemmt erfüllen könne. Aber wie sie sich immer das Ziel
setzen mochten, ob als Welt Verneinung oder als Weltdurchdrin-
gung, in jedem Fall wollten sie die Welt um sich her, Staat und
Gesellschaft und alle Lebensverhältnisse, in diejenige Form gießen,
die dem Charakter ihres Bekenntnisses gemäß war.
Von hier aus gewinnen wir einen Zugang zu der Frage, die
wir uns stellten. Halten wir also zunächst daran fest, daß die
von den kirchlichen Regionen her eingeleiteten Umwälzungen der
alten Zeiten in keinem Wesensunterschied stehen zu den moder-
nen Revolutionen, so wenig wie sich die Bereiche des religiösen
und des staatlichen Lebens jemals voneinander lösen lassen wer-
Wie entstehen Revolutionen? 267
den. Beides hängt in der Wurzel zusammen; es sind Versuche,
die Gesellschaft neu zu ordnen, und die geltenden Kategorien,
die sie trennen wollen, sind nur Anschauungsformen, die wir von
Teilerscheinungen ableiten, dem vollen Weltbilde gegenüber aber
aufgeben müssen. Jede Weltanschauung, mag sie auf Buddha
oder jMohammed, auf Christus oder Confucius zurückgehen, hat
ein ethisches Ideal, das sie zur Anschauung, zur Darstellung brin-
gen will; sie muß es wollen, wenn sie sich selbst treu bleiben will;
sie muß darum kämpfen oder untergehen. Und wenn das Humani-
tätsideal des i8. Jahrhunderts nach einem Staat verlangte, in
dem alle Bekenntnisse friedlich nebeneinander wohnen könnten,
während er selbst völlig losgelöst von ihnen leben wollte, so lag
auch diesem Ziel die Hoffnung auf die Herausbildung des Ge-
meinsamen, einer höheren Einheit zugrunde: man weiß, \\elche
Anstrengungen gemacht worden sind, um es zu erreichen, und
welche Gegenkräfte geweckt wurden. Sodann aber bemerken
wir, daß die Erschütterungen um so tiefer greifen, je unmittel-
barer die Persönlichkeit getroffen und ins Spiel geführt wird,
mag nun die wirkende Kraft im Anwachsen oder im Absterben
begriffen sein. Denn so wie diejenige Weltanschauung, die ihre
Bekenner am stärksten an sich fesselt, naturgemäß die tiefsten
Wurzeln in die Gesellschaft, die an sie glaubt, hineintreiben wird,
so muß auch die letztere, sobald jene sich zersetzt und wandelt,
wiederum auf das tiefste aufgewühlt werden. Daran liegt es,
daß die kirchlich charakterisierten Revolutionen soviel durch-
greifender gewesen sind als die Klassenkämpfe des 19. Jahrhun-
derts. Zwar verkennt auch deren Charakter durchaus, wer in
ihnen nichts als soziale Verschiebungen sehen will. Mit dem bloßen
Willen zur Macht wären die Männer des dritten Standes in der
großen französischen Revolution nicht weit gekommen, hätten
sie nicht die Ideen für sich gehabt, welche die Zeitgenossen er-
füllten, und dazu die großen Notwendigkeiten und Aufgaben,
die dem Staate und der Nation gestellt waren und die von der
alten Krone nicht mehr gelöst werden konnten. Und so würde
uns auch das Verständnis unserer eigenen Revolution verschlossen
bleiben, wenn wir darin nichts als den Kampf des Bürgertums
268 Kleine historische Schriften.
gegen die Macht der Junker erblicken wollten. Anderseits waren
freilich seit 1789 die Gebildeten der Nationen vorzugsweise Träger
der Bewegung; und da diese meist den Schichten des mittleren
Bürgertums entstammten, so verflochten sich ihnen die Ziele, die
sie dem Staat und ihrem Volk steckten, mit ihren Interessen und
den Idealen ihrer Bildung. Darum sind sie aber auch nicht im-
stande gewesen, die Weltanschauungen der alten Zeiten, welche
die Massen hinter sich hatten, zu stürzen; viel zu zart und fein
bereitet war das Gespinst ihrer Ideen, um die robuste Kraft der
alten Überlieferungen, die der Menge das Ideal waren, in sich zu
fassen. So ist es gekommen, daß, seitdem sich die unteren Klassen,
durch die Revolution des dritten Standes selbst herangelockt,
hervorgedrängt haben und einen Platz an der Sonne begehren,
auch die alten Religionen, soweit sie noch ]\Iacht über sie be-
sitzen, zu neuem Einfluß erwacht sind. Nur die Religionen, so
scheint es in der Tat, sind imstande, das Antlitz der Gesellschaft
von Grund aus zu verändern: wie sie noch im 16. und 17. Jahr-
hundert neue Nationen ans Licht brachten, so sind sie auch heute
das einigende und erhaltende Element für unterworfene und zer-
splitterte Völker. Nur die Ideen, die bis auf den Grund der Gesell-
schaft reichen und, indem sie jeden einzelnen ergreifen, ein ge-
meinsames Band der Weltanschauung um die Höhen und die
Tiefen schlingen, vermögen den organischen Zusammenhang und
das Wachstum der Nationalität zu sichern. Ein Beweis, wie ge-
ringwertig das materielle Interesse für die Geschicke der Mensch-
heit ist, und daß nur die Güter, für die man das Leben gern opfert,
das Leben zu gestalten die Kraft haben. Die Welt der Ideale,
mit einem Wort, ist der Boden, der die Gesellschaft trägt, und der
Glaube das Band, das sie zusammenknüpft. Erst wenn dieser
erschüttert ist, wenn die geistigen Führer der Nation an den über-
lieferten Idealen irre werden, beginnen die Gefahren. Es kann
lange währen, bis diese ans Licht treten; denn in dem Kampf
nimmt sich auch das Alte zusammen und entwickelt neue Triebe,
und zu den interessantesten Aufgaben des Geschichtsforschers ge-
hört es, solche Ubergangsepochen, die Inkubationszeiten der neuen
Ideen, zu studieren. Jahrhundertelang hat es gedauert, bis die
Wie entstehen Revolutionen? 269
christliche Kirche stark genug war, um den Kampf mit dem
römischen Weltreich aufzunehmen und in einer Kette von Revo-
lutionen es sich völlig zu unterwerfen. Aber der Sieg war auf dem
geistigen Schlachtfeld längst für sie entschieden, ehe sie an die
Gewalt appellierte; die Ohnmacht der alten Weltanschauung war
schon Generationen vorher in der Annäherung an die neuen Ideen
offenbar geworden, die sie von sich aus versuchte, Anleihen gleich-
sam, die sie bei der jungen Kraft machte, um durch das neue
Blut den welken Körper zu erfrischen. Eine Erscheinung, die in
allen großen Revolutionen wiederkehrt, und die es macht, daß
für uns Nachgeborene die Unterschiede zwischen den einst kämpfen-
den Parteien so oft sich verwischen und die erbittertsten Gegner
uns als miteinander verwandt, als Söhne eines Zeitalters erscheinen.
So gingen der Reformation eine lange Reihe von Reformversuchen
voraus, um das Alte und das Neue zu verquicken; noch im Zeit-
alter Luthers und Calvins wurden sie fortgesetzt. So suchten die
Reformer des i8. Jahrhunderts die überlieferten Institutionen mit
den Formen des neuen Geistes zu verschmelzen. So lebten auch
in der deutschen Romantik Elemente, die den in der nationalen
Bewegung tätigen Kräften näher verwandt waren als den Tradi-
tionen des patriarchahschen Staates, den sie damit stützen wollten ;
nur in diesem Licht wird die Persönlichkeit und Politik eines
Friedrich Wilhelm IV., des Romantikers auf dem Thron der
HohenzoUern, verständlich.
Noch an einem anderen Moment dürfen wir nicht vorüber-
gehen, wenn wir den Ursprüngen der Revolutionen nachforschen.
Sie sind fast immer begleitet von großen Kriegen oder doch jeden-
falls bedroht von äußeren Gefahren. Denn selten hat ein Staat
das Glück, unbeachtet von rivalisierenden Mächten seine Ange-
legenheiten ordnen zu können. Wie er im Kampf seine Existenz
gegründet und behauptet hat, und wie er selbst seiner Natur
nach die eigene Macht auszubreiten beflissen ist, so weckt die
Not, die ihn trifft, den Ehrgeiz der Nachbarn; der inneren Ge-
fahr gesellt sich sofort die äußere hinzu, und schon der Wunsch,
ihr zu begegnen, wird oft für ihn selbst ein Antrieb, sich die neuen
Ordnungen zu schaffen. Statt die Beispiele zu häufen, sei nur
270 Kleine historische Schriften.
an zwei Tatsachen der neuesten Geschichte des äußersten Ostens
erinnert. Als die Japaner die Unmöghchkeit einsahen, die Ab-
sperrung ihres Landes zu behaupten, machten sie ihre Revolution;
und unaufhörlich sehen wir sie seitdem bemüht, in bewunderungs-
würdiger Anstrengung die Machtmittel des Westens ihrer Nation
zu erwerben; nur so können sie hoffen, dem Strom der abend-
ländischen Kultur gegenüber, der, von den Weltmächten getragen,
heranrauscht, ihre Existenz zu behaupten; wäre diese Gefahr
nicht so übermäßig gewesen, so hätte sich wohl ihre feudale Staats-
ordnung noch lange erhalten können. Und so hätte der Beamten-
staat Chinas gewiß noch lange ungestört weiter vegetiert, hätte
nicht der Stoß von außen, die Angriffe der großen Mächte, die
wetteifernd die besten Stücke aus dem ver\\'itterten Reich heraus-
rissen, auch dort eine nationale Bewegung herv^orgerufen, die
sich in den barbarischen Exzessen der letzten Monate Luft ge-
macht hat.
Sollen wir es nun noch wagen, nach einer Antwort auf die
Fragen zu suchen, die sich auf die Gegenwart beziehen und an
die Zukunft selbst gestellt sind ? Ich müßte fürchten, den \\'ider-
spruch, den vielleicht schon die hier vorgetragenen Gedanken
erweckt haben, noch zu vermehren. Und wer vermöchte über-
haupt der Fülle ungelöster Probleme, die unsere Epoche vor uns
ausbreitet, die Richtung zu geben! Indessen dürfen wir es wieder-
holen, daß das \'ertrauen auf den Boden, der uns trägt, heute
unvergleichlich viel stärker ist als noch vor vierzig Jahren. In
gewaltigen Staatsgebilden hat sich die Kraft der großen Nationen
gesammelt; niemals ist die vereinigte Macht der abendländischen
Kultur stärker gewesen; rivalisierend und doch nicht im Kampf,
erfüllt von gleichartigen Kräften und Tendenzen, beherrscht sie
aUe Meere und alle Kontinente; machtlos weicht die Barbarei
vor ihr zurück.
Auch läßt sich nicht verkennen, daß es noch Ideale gibt, die
alle Klassen der Gesellschaft miteinander verbinden, und daß das
Leben auch für uns noch nicht der Güter höchstes geworden ist.
Eine Idee ist darunter, die, mag sie auch allzusehr mit den
Interessen von dieser Welt gepaart sein, dennoch bis in die Tiefe
Wie entstehen Revolutionen? 271
reicht und alle Heizen mit der Kraft der Religion erfüllt. Das
ist die der Nationalität. Es ist die große Idee des Jahrhunderts,
das mit der Revolution von 1789 begann. In allen Umwälzungen
unserer Tage ist sie lebendig gewesen und ist seither nur immer
gewachsen. Von dem dritten Stande ging sie aus, aber von An-
fang an erhob sie den Anspruch, alle Schichten der Gesellschaft
zu durchdringen. Leuchtend stieg sie vor den Besten unseres
Volkes auf in den Donnern des herrlichsten der Kriege, des Kampfes
um die Freiheit des deutschen Bodens. Jahrzehnte währte es,
bis sie die Partikulargewalten, die sich aus dem verfallenden Reich
erhoben hatten, sich dienstbar gemacht hatte, und nur durch
Revolution und Krieg war es möglich. Aber vor einem Menschen-
alter empfing sie in dem Kriege gegen den Erbfeind unseres Volkes
eine Weihe, so glorreich und erhebend, wie sie keinem Volk der
Erde je zuteil geworden ist. Und sie hat fortgefahren, ihre Kraft
unablässig zu bewähren. Sie hat selbst die Parteien, die ihr von
Grund aus feindlich sind, ihren Prinzipien zum Trotz, zur Aner-
kennung gezwungen. Alle Institutionen unseres Staates werden
von ihr getragen, und nicht bloß in rauschenden Festen, sondern
mit der Tat selbst zeigt unser Volk, daß es sie seiner Väter wert
im Herzen trägt. Sie befähigt die Besatzungen unserer Kriegs-
schiffe, wenn sie scheitern, mit einem Hurra auf den Kaiser in den
Tod zu gehen; sie bändigte den Kleinsinn der parlamentarischen
Fraktionen, als es galt, die Flotte zu vergrößern; und sie schuf
es, daß die Tapferen, die freiwillig nach China hinausgingen, alle
den einen Gedanken im Herzen tragen: ihr Leben einzusetzen
für die Ehre und die Größe des Vaterlandes.
m^=^^^
Die französische Revolution und
die Kirdie.
(1896.)
Wenn ich als Deutscher es wage über ein inneres Problem der
Geschichte Frankreichs das Wort zu ergreifen, so geschieht es,
weil der Versuch der französischen Revolution, die römisch-
katholische Kirche Frankreichs dem nationalen Staate zu unter-
werfen, trotz seiner internen Natur von universaler Wirkung
gewesen ist und nur von universalen Gesichtspunkten aus be-
griffen werden kann; und weil, wie ich meine, wir Deutsche,
deren Geschichte durch einen analogen Prozeß seit Jahrhunderten
bestimmt wird, wohl vor anderen berufen sind, über Fragen dieser
Art nachzudenken und zu urteilen.
Die Revolutionäre wollten damit in ihrer Weise das nach-
holen, was im 16, Jahrhundert den Hugenotten mißglückt war,
wogegen sich damals in einem allgemeinen Aufruhr der Elemente
ihres Staates alle reaktionären Kräfte und der Genius der Nation
selbst siegreich erhoben hatten. Und sie schritten dabei nur auf
den Bahnen fort, welche von dem alten Königtum seit längerer
Zeit eingehalten waren, und die es noch jüngst zu nicht unbedeu-
tenden Erfolgen geführt hatten: die Verjagung der Jesuiten, die
Aufhebung der Edikte Ludwigs XIV. gegen die Hugenotten, die
erst zwei Jahre vor der Revolution erfolgte, und viele andere
Eingriffe in die Rechte und Besitztitel der Kirche waren Etappen
auf diesem Wege gewesen. Es war derselbe, auf dem wir seit den
Friedensschlüssen von Hubertsburg und Paris die bourbonischen
Die französische Revolution und die Kirche. 273
Höfe in Spanien und Italien, Portugals Regierung unter Pombal
und Österreich unter Joseph II. sehen, gerade die katholischen
Staaten, die auf der Gegenreformation beruhten, die Bundes-
genossen und \'er\vandten des französischen Hauses. Überholt wie
sie sich sahen von den germanisch-protestantischen Mächten,
hatten sie alle ihre Kräfte in der gleichen Richtung eingesetzt.
Die feudalen Schranken, die ihrer Krongewalt noch entgegen-
standen, galt es hin wegzureißen oder doch zu erniedrigen, und da
konnten sie vor der stärksten Organisation, der Kirche, unmöglich
haltmachen.
Jedermann weiß nun, wie teuer den Revolutionären dieser
Kampf, den sie so leichten Herzens begannen, zu stehen gekommen
ist. Nichts ist klarer, als daß die Kirche der Fels wurde, an dem die
Wogen der Revolution zerschellten; daß sie die eigentliche Macht
der Reaktion war, welche dem optimistischen Taumel entgegen am
frühesten sich auf sich selbst besann und schon vom Herbst 1789
ab ihre Kräfte zu einem prinzipiellen, unbeugsamen und immer
schrofferen Widerstände zusammenfaßte; daß sie die Parteien,
welche anfangs in der selbstgefälligen Blindheit des Jahrhunderts
an die Untrüglichkeit und Allmacht ihrer Ideale geglaubt hatten,
alle nacheinander und jede in ihrer Weise gezwungen hat, mit ihr
zu rechnen, Königtum und Emigranten, Feuillants und Giron-
disten, Hebert, Danton und Robespierre, und so fort durch das
Direktorium hin, bis endlich Bonaparte den Frieden schloß, der
Staat und Kirche aufs neue ineinander fesselte und verstrickte und
doch keinem von beiden genug tat. Keine Partei hatte jemals vor
der Kirchenfrage Ruhe: die Vernunftreligion und der Kult des
höchsten Wesens waren ebenso eine Anerkennung ihrer Macht, wie
die Zivilkonstitution und das Konkordat, die Gleichsetzung des
politischen und religiösen Daseins im Sinne Robespierres ebenso,
wie die affektierte Gleichgültigkeit in der Toleranz aller Kulte, zu
der sich das Direktorium verstehen mußte. Verfolgung konnte
die Kirche nicht zerbrechen, und Duldung ward nur der Appell
zur Sammlung ihrer Kräfte und zu erneuten Angriffen. Dem
Idyll des Wahnwitzes, das Robespierre mit blutbefleckten Händen
aufführte, und dem blasphemischen Sinnenkultus Heberts hielt
Lenz, Kleine historische Schriften. 18
27/| Kloinc liistnriscbo Schriften.
sie stand; aus allen Schichten der Nation, aus allen Parteien
strömten ihr neue, lebendige Kräfte zu. Die revolutionäre Kirche
selbst, in die Katastrophen der Revolution hineingerissen, schmückte
sich mit Märtyrerkronen für den römischen Glauben, während sie
noch von der alten Kirche zurückgestoßen wurde; und jubelnd
umdrängten die Bekenner aus beiden Lagern den jugendlichen
Helden, der im Glänze unerhörter Siege den Frieden mit Rom her-
beiführte. Es war wie in der Sintflut gewesen, durch ein Meer von
Blut waren die Heiligtümer des alten Glaubens, von der Kirche
wie in der Arche geborgen, unverletzt hindurchgebracht; und
alle Verirrten und Verstoßenen, die Getreuen Roms und die Re-
volutionäre, die Aufgeklärten und die Mystiker, Ultramontane und
Jansenisten, scharten sich wieder um den Felsen Petri.
Nicht die Kurie war es, die den Kampf gegen die Revolution
begann. Längst war er in Frankreich selbst entbrannt, ehe sich
Papst Pius VI. zum Einschreiten entschloß. Sobald er sich aber
auf die Seite der Reaktion gestellt, richtete er ihr damit das Banner
auf, um das sich alle ihre Anhänger sammeln konnten. So kam
Rom in dem Weltkampfe wieder zu der Macht, die es in dem Jahr-
hundert des Friedens eingebüßt hatte. Wohl trug es auch jetzt
noch schwere Wunden davon; schhmmer, als von Kaiser Joseph,
und als Clemens und Benedikt von den bourbonischen Höfen,
ward Pius von den französischen Republikanern behandelt. Sie
raubten ihm sein Land, sie plünderten seine Städte aus und führten
ihn selbst mit über die Alpen; als ihr Gefangener ist er gestorben.
Aber zwei Jahre darauf war der Triumph der Kirche entschieden,
vmd der Nachfolger führte sie, unter Schwankungen freilich, zu
immer neuen Siegen. Denn auch Napoleons \\'eltreich konnte
nicht ohne Rom bestehen, so sehr er es geknebelt hielt. Er, der die
liberalen Ideen, wohin er kam, entfesselte, war doch im letzten
Grunde so unprotestantisch wie die Revolution, die er vollendet
hatte: er konnte Roms so wenig entraten, wie Ludwig XIV. und
Karl V., oder wie Karl der Große, als dessen Nachfolger er sich
so gern bezeichnete. Jedoch auch die Gegenkräfte, die im Kampf
gegen den Weltherrscher frei wurden und das Kaiserreich am
Ende zerstörten, zeigten sich Rom und dem römischen Geist nicht
Die französische Revolution und die Kirche. 275
gefährlich, trotzdem die germanisch-protestantischen Nationen
und das griechisch-gläubige Rußland die Führung hatten. Im
Gegenteil, erst die Siege der Schismatiker brachten Pius VII. die
Freiheit. Tilsit drohte Knechtschaft: Spaniens Aufstand, der doch
nur durch Englands Hilfe möglich war, ^'erhieß Rettung. Neue
Siege des Gewaltigen drückten den Papst abermals aufs tiefste
herab ; und niemals hat er sich schwerer demütigen müssen, als in
dem Konkordat von Fontainebleau im Januar 1813, worin er sich
zur Residenz in Frankreich verpflichtete. Die Zeiten des Exils
von Avignon schienen sich für die Kirche erneuern zu sollen. Noch
stützte sich Napoleon auf den Bund mit Österreich. Aber wenige
Wochen später brach Preußen los, und die Siege, welche die Ver-
bündeten nach Paris führten, brachten den Papst nach Rom
zurück. So wie einst Urban VIII. über Gustav Adolfs Siege hatte
frohlocken können, und Clemens VII., der Mediceer, durch den
Angiiff Philipps des Großmütigen auf Württemberg von dem
Druck der Habsburgischen Macht befreit worden war. Seitdem
aber ist der katholische Geist erst wahrhaft mächtig geworden,
in Regierungen und Völkern, im politischen und im geistigen Leben.
Die liberalen Ideen, welche unser Jahrhundert beherrschen, haben,
statt ihm zu schaden, vielmehr seine Kräfte, die nur unterdrückt,
nicht erstorben \\'aren, überall gelöst: je demokratischer die Ver-
fassungen, um so stärker wurde zum Erstaunen und sehr gegen den
Willen ihrer Schöpfer der Einfluß der klerikalen Parteien. Als
Romantik bemächtigte sich der mittelalterliche Geist aller Künste,
in denen er zum Teil noch heute nachwirkt, und ergriff die Wissen-
schaften selbst, Philosophie und die historischen Disziplinen, mit
eigentümhcher Gewalt, hemmte sie wohl hier und da, aber lieh
ihnen doch auch wieder die fruchtbarsten Antriebe zur Erkenntnis.
Nichts hat über ihn die grandiose Entwicklung der Naturwissen-
schaften vermocht noch die Beherrschung der natürlichen Kräfte;
und nicht einmal die historische Aufklärung, welche die kirch-
lichen und profanen Überlieferungen mit allseitigem Eifer durch-
forscht und sie des Nimbus, mit dem Dogma und Romantik sie
umgaben, täglich mehr entäußert, hat den Verteidigern Roms
viel anhaben können. Nur um so trotziger und selbstbewußter,
18*
276 Kleine historische Schriften.
um kein Mittel je verlegen, wenn es zum Zwecke führt, treten sie
auf allen Gebieten der Geisteswissenschaften der ehrlichen For-
schung entgegen, die nichts will als die Wahrheit und sich außer-
halb der den Horizont verengenden Strömungen des Tages stellt.
Sehr im Gegensatz zu uns andern sind sie auch die Wortführer in
den politischen Kämpfen und bilden mit ihrem Anhange heute,
bei uns in Deutschland wenigstens, die einzige große Partei,
welche Hoch und Niedrig, Gelehrte und Ungelehrte in der
gleichen Weltanschauung vereinigt und den idealen Werten
noch den Vorrang vor den wirtschaftlichen Interessen läßt.
Stärker denn je stürmen die Wogen der Aufklärung und der
Demokratie gegen alles, was fest war in Staat und Kirche,
heran, aber nur um so tiefer und breiter senkt sich der
römische Fels in den gelockerten Boden hinein: die Pilgerzüge
nach Lourdes und Trier und alle Wahlen bei uns oder in
Belgien beweisen es immer aufs neue.
Also, soUte man meinen, müßte der Klerikalismus der fran-
zösischen Revolution eigentlich dafür danken, daß sie ihm diese
Riesenkräfte entfesselt hat. Leider aber hat er die Schmerzen, die
dabei der Kirche angetan wurden, nicht vergessen und nimmt
noch immer die Miene an, als ob sich die Gesellschaft vorher viel
wohl er befunden habe, und daß es ein gar nicht gut zu machendes
Unrecht der Revolution gewesen sei, die Kirche ihrer Freiheit,
ihres Besitzes und ihrer Verfassung zu berauben. Noch auffallender
ist es, daß diese Anschauung den lebhaftesten Widerhall in dem
entgegengesetzten Lager findet. Zwar Edgar Quin et nehme ich
aus. Er nennt es geradezu das Unglück Frankreichs, daß die
Revolution die Kirche nicht besiegt habe, und daß »die großen
Ideen der Gerechtigkeit und der Wahrheit « nicht den Staat und die
Nation vom Herzen her ergriffen und verwandelt haben. Heute
aber glauben unsere Liberalen, dies Urteil des Denkers, der unter
seinen Landsleuten die Probleme der großen Revolution am tiefsten
ergründet hat, als eine Überspanntheit beiseite schieben zu können,
und die maßgebenden Autoritäten, ich nenne nur die Großen,
\ne Tocqueville und Sybel, Sorel und, nicht zu vergessen,
Hippolyte Taine, stimmen mit den Delbos, Theiner und
Die französische Revolution und die Kirche. 277
Sei out völlig darin überein, daß sie es als den schwersten Fehler
der Revolution und eine Verletzung aller Grundsätze der Religion
wie der Toleranz bezeichnen, an die »Freiheit« der Kirche gerührt
zu haben. Es ist darin noch ganz so wie zu der Zeit, da Edmund
Burke mit Barruel und Maury auf einer Seite focht, und also kein
Zufall, daß noch der jüngste Nachfolger Barruels, der gelehrte Abbe
Sicard, sich mit Vorliebe auf das Zeugnis Tocquevilles und
T a i n e s beruft. ^) Ein literarischer Friedestand, der sein politisches
Gegenbild in dem offiziellen Frankreich von heute hat, wo trotz
Demokratie und Laienschule Staat und Kirche ganz wohl mit-
einander auskommen und Gambettas kühnes Wort gegen den Kleri-
kalismus wie vergessen ist. Kann doch sogar ein Aulard, der
auf Grund breitester Quellenkenntnis zu den treffendsten Urteilen
über den Zusammenhang der politischen und kirchlichen Entwick-
lung und die Notwendigkeit, mit der das eine aus dem andern
folgte, gelangt, es nicht unterlassen, von dem »Fehler« zu sprechen,
den die Revolution mit dem Priestereide gemacht habe • — • als ob,
sie die Freiheit gehabt hätte, diesen Schritt zu vermeiden.
Dem entgegen möchte ich zeigen, daß die angeblichen
Mißbildungen, welche nach der überwiegenden Meinung die Ge-
schichte der Revolution entstellen sollen, in Wahrheit alles frei-
lich recht borstige, aber doch fast durchweg normale Über-
gangsformen zu der Kirche des 19. Jahrhunderts gewesen sind;
daß sowohl die Zivilkonstitution als die Kirchenpolitik der Legis-
lative und sogar des Konventes, wie die des Direktoriums und
Napoleons, in dem Konkordate eine Fülle verwandter Formen
und positiver Fortbildungen enthalten; und daß diese ebenso
sehr mit den andern parallelen Schöpfungen der Revolution ver-
wandt, wie der Kirche der alten Monarchie entgegengesetzt waren:
daß also die heutige römisch-katholische Kirche auch positiv auf
der französischen Revolution ruht, ja daß die Bedingungen und
das Wesen ihrer Macht gerade in den von der Revolution allseitig
gelösten Kräften, in der Konzentrierung der politischen Ord-
nungen und in der Demokratisierung des nationalen Staates be-
stehen.
^) So zitiert auch schon Sei out häufig Tocqueville.
278 Kleine historische Schriften.
Fassen wir, um uns dies klar zu machen, einmal die Unter-
schiede ins Auge, welche die drei Hauptformen der Kirche Frank-
reichs in dieser Zeit, diejenige des Ancien Regime, die Zivilkon-
stitution und das Konkordat Napoleons, gegen einander zeigen.
\'or 1789 deckt sich das Bild der Kirche genau mit dem An-
blick des alten Staates. Sie hatte, wie dieser, ihren ersten und
dritten Stand, ihren höfischen und provinziellen Adel; und wie in
der Administration, der Armee und dem Hofdienst stuften sich
in ihr \\'ürden, Besitz und Einfluß nach der gesellschaftlichen
Stellung ab. Die Masse der Cures, dem Landvolk oder mehr noch
dem kleinen Bürgerstande entnommen, war kärglich besoldet,
bis zu 600 oder 700 Fr., hatte nirgends mitzusprechen und war
nicht imstande hoch zu kommen; sogar der Zehnte entging ihnen
häufig und ward den Besitzern der großen Benefizien zu Teil.
Diese aber wurden von denselben Familien verwaltet, welche
den Staat in Händen hielten. Sie waren erblich oder wurden nach
.Gunst und Laune von oben vergeben. Es war eine Überzahl,
viel zu groß für die geistlichen Bedürfnisse: 134 Bistümer, an
100 mehr als im alten Deutschland, mit Einnahmen, die von
460 000 Frs. (soviel zog der Kardinal Rohan jährlich von Straß-
burg) bis auf 6000 und 7000 herunter gingen. Doch fehlte viel
daran, daß die Bischöfe Herren ihrer Diözesen gewesen wären.
Schon die Kapitel an ihren Kathedralkirchen, die bis zu 40 Kurien
zählten, alles Präbenden mit oft Tausenden an Einkünften, be-
saßen Einfluß und L^nabhängigkeit. Dazu kamen die 800 Mönchs-
orden und Abteien, auch diese zum Teil mit fürstlichen Reve-
nuen ausgestattet und alle Sprengel durchsetzend, 300 Kollegiat-
kirchen, reiche und ärmere, und dann noch die Patronatsrechte
des Königs, der Seigneurs und der Magistrate. Ein Viertel oder
ein Fünftel der Priester mochte durchschnittlich dem Bischof
direkt unterstehen; auch diese aber waren ihm nicht schlechthin
unterworfen, sondern gegen jede Willkür geschützt und unabsetz-
bar, wenn nicht durch ein kanonisches Verfahren ihnen eine Pflicht-
\-erletzung nachgewiesen war. So zerspalten und uneins diese Kor-
poration nun auch sein mochte, trat sie doch nach außen, Freund
wie Feind gegenüber, geschlossen auf. Besitzerin des größten Ein-
Die französische Revolution und die Kirche. 279
kommens im Reich, hatte sie im Prinzip gegen alle Angriffe der
Krone die Steuerfreiheit behauptet. Die Abgaben, zu denen sie
sich verstand, waren, wie der Ausdruck bezeichnend lautete, dons
gratuits, Almosen, die sie dem Staate gab, der ihr dafür zum Schutz
aller ihrer irdischen und geistlichen Interessen verpflichtet war.
Es war ein Bund zweier Gewalten, und die Kirche betonte gern,
daß sie auf dem gallischen Boden vor der Krone bestanden und
daß diese ihre Würde und ihren Glanz erst von ihr, seit Chlodwigs
Taufe, erhalten habe. Ihr ungeheures Vermögen verwaltete sie
durch eine vielgegliederte Beamtenschaft selbst, und auch ihre
Steuern, zumal die Millionen an jährlichen Zehnten, erhob und
verwandte sie nach ihrem Ermessen. Alle fünf Jahre traten ihre
Deputierten zu einer kleinen, alle zehn zu einer großen Konvo-
kation zusammen. Diese zweite berief der König und ließ sich
durch seinen Kommissar vertreten; aber die Wahl und Abord-
nung ihrer Repräsentanten, die Bildung der Bureaus und der
Kommissionen, die Umlegung der Steuern, die man bewilligte,
erfolgten selbständig im Schöße der Versammlung; und in einem
Cahier, das dem Vertreter der Krone überreicht wurde, faßten
die Prälaten alle ihre Wünsche und Beschwerden in geistlichen
und weltlichen Angelegenheiten zusammen. Doch waren noch
immer nicht alle Diözesen Frankreichs in diesem Parlament ver-
einigt; die 12 Episkopate der eroberten Provinzen rechneten
noch nicht zur französischen Kirche und entschieden selbständig
in den wirtschaftlichen Fragen, gaben ihre eigenen dons gratuits.
Dies war die Kirche, welche die Hugenotten besiegt und
unter Bossuets Führung die Besiegten vom Boden Frankreichs
verjagt hatte, dies die Priesterschaft, die mit dem großen König
vereinigt die gallikanischen Freiheiten gegen Rom behauptet
und mit ihm von neuem sich der Kurie unterworfen hatte. Mit
den Jesuiten verbündet, hatte sie die Jansenisten und alle freien
Meinungen in ihrem Schöße unterdrückt. Unerschüttert hatte
sie in dem Ansturm der Aufklärung die römische Dogmatik be-
hauptet; der theologische Nachwuchs an der Sorbonne und allen
geistlichen Schulen war in ihren Händen ; und mit der Volksschule,
dem Beichtstuhl und der Kanzel hielt sie die Massen in Stadt
2^0 Kleine historische Schriften.
uikI Land in Unterwerfung. Wie ohnmächtig die hberalen Ideen
gegen diese tiefe und weitverzweigte Macht waren, erfuhr Diderot,
als er für seine Libertinagen in Vincenncs büßen mußte, und der
greise Voltaire, als er, der Patriarch der Aufklärung selbst, am
Ende seiner Tage jene Farce vor dem Priester aufführen mußte,
um nur nicht wie ein Ungläubiger und Ketzer auf den Schindanger
geworfen zu werden. Und wie gründlich der Protestantismus
in der Heimatsprovinz Calvins und in der südlichen Hochburg
der Hugenotten ausgetilgt war, wie fest noch selbst die städtische
Bevölkerung, und nicht bloß das Landvolk und die untersten
Schichten, in der Gegenreformation wurzelte, zeigten jene Blut-
prozesse in Abbeville und Toulouse, bei denen Voltaires rast-
loser Eifer nichts weiter gut machen konnte, als daß er die Kas-
sation des Urteils über den unglücklichen Jean Calas, als eines
offenkundigen Justizmordes, erreichte. Dann freilich erlahmte
der Geist des Angriffes und es schien fast, als ob der Klerikalismus
unter dem Andrang der neuen Zeit allmählich absterben sollte.
Die Klöster begannen sich zu leeren; von 1770 ab wurden sie in
20 Jahren um ein Drittel der Mönche ärmer und alle Reformen,
die man versuchte, wollten sie nicht wieder füllen. Nicht als ob
der katholische Sinn in dem Heer der Geweihten durchaus er-
loschen und die Massen gleichgültig geworden wären. Noch immer
hielten die Trappisten peinlich ihre strenge Regel und behaupteten
die Bettelorden sich in der Gunst des Volkes; nach wie vor ar-
beiteten die Benediktiner an ihren großen Sammlungen über die
kirchliche und weltliche Geschichte Frankreichs. Mit Recht haben
die klerikalen Historiker, auch hierin von Taine eifrig unterstützt,
auf die Übertreibung in den Spöttereien hingewiesen, mit denen
die ungläubigen Literaten die Abbes des Parquets und die Nonnen
ä la mode attackierten. Aber auch sie geben zu, daß der Indif-
ferentismus in der Kirche des alten Frankreichs vor der Revo-
lution mächtig geworden und eine Erneuerung des alten katho-
lischen Feuers notwendig gewesen sei.
Nun wissen wir alle, wie gründlich die Zivilkonstitution mit
dieser bunten Fülle feudaler Ordnungen aufgeräumt hat. Wie
die bisherige Kirche dem alten Staat, so sollte die reorganisierte
Die französische Revolution und die Kirche. 281
dem neuen genau entsprechen. Alles in ihr ward zugeschnitten
nach der administrativen Einteilung, zu der man geschritten
war. Über jedes Departement ward ein Bischof gesetzt, so zwar,
daß, wo es ging, die alten Sitze beibehalten, der Rest aber be-
seitigt wurde. Wie die Departements, so wurden auch die Metro-
politanbezirke, deren man zehn kreierte, nach geographischen
Gesichtspunkten ausgewählt. Innerhalb der Diözesen ward die
Einheit hergestellt: gleich den Klöstern schaffte man auch die
Kollegiatkirchen aus der Welt. Es blieben nur der Bischof und
die Pfarrer, von denen je einer über 6000 Seelen gesetzt war. Auch
die Kathedralkirche war nicht mehr die alte reiche und unab-
hängige Korporation, sondern unmittelbar unter den Bischof
gestellt, der allein ihr Pfarrer war; alle andern Priester an ihr
waren nichts als seine Vikare, 16 oder 12, je nach der Größe seiner
Stadt. Auf jede Diözese kam ein Seminar, auch dies ganz an
die Person des Bischofs herangerückt; ausdrücklich bestimmte
ein Artikel des Gesetzes, daß es, wenn irgend möglich, neben der
Kathedrale, ja innerhalb der Mauern der bischöfhchen Residenz
errichtet werde. An seiner Spitze stand ein dirigierender Vikar
mit drei Kollegen, aber sie sämtlich wieder dem Bischof unter-
geben. Sie bildeten nebst den Vikaren an der Kathedrale das
Konseil, mit dem jener seine Diözese regierte.
Es liegt auf der Hand, wie sehr der geistliche Einfluß des
Bischofs in seinem Sprengel durch die neue Ordnung erhöht wurde.
Im Seminar lenkte er die Erziehung seines Klerus, den er ebenso
in der Disziplin wie in der Lehre zu überwachen hatte; die Zög-
linge waren gehalten, mit ihren Direktoren an allen kirchlichen
Handlungen in der Kathedrale teilzunehmen und jeden Dienst
zu tun, den er oder sein oberster Vikar verlangte. Alle Ämter
wurden aus der Diözese besetzt: der Cure mußte 5, der Vikar 10,
der Bischof 15 Jahre amtiert haben. Also daß der oberste Hirte
Wesen und Wirken eines jeden seiner Priester von Jugend auf
kennen lernte. Nur die Pfarrer und der Bischof selbst waren der
Kreierung durch die Wähler des Departements unterworfen;
seine Vikare, also seine höchsten Beamten, ernannte er selbst
nach freiem Ermessen, sowie die Cures die ihrigen. Das Dogma
2^2 Kleine historische Schriften.
blieb unverrückt. Wer gewählt war, hatte sich erst der Prüfung
zu unterziehen in Lehre und Wandel; der Cure vor dem Bischof
und seinem Konseil, der Bischof vor seinem Metropolitan oder
seinem Vorgänger im Amt, ebenfalls in Gegenwart seiner Vikare.
Erst danach erfolgte die Einsetzung auf das Bekenntnis zur »katho-
lischen, apostolischen und römischen Religion«. Auch der geist-
liche Zusammenhang mit dem Papst sollte erhalten bleiben; denn
so sehr es verpönt war, die Bestätigung von Rom zu erbitten, hatte
doch der Erwählte ein schriftliches Bekenntnis seiner Einigkeit
mit dem »sichtbaren Haupt der allgemeinen Kirche« im Glauben
und in der Kommunion dem Papste einzusenden.
So ward die französische Kirche von den irdischen Geschäften
hinweg- und ganz auf ihre geistlichen Aufgaben hingedrängt. Dies
w^ar immer das Ideal der katholischen Weltanschauung gewesen,
und jede Reform in der Kirche, nicht am wenigsten die letzte zu
Trient, auf der die Hierarchie der neuen Jahrhunderte ruht, hatte
diese Tendenz ausgeprägt. Aber niemals war das Prinzip so streng
durchgeführt w^orden wie durch die Revolution. Was brauchte
es in dieser Kirche noch der Jesuiten und aller mönchischen Welt-
entsagung, da Pfarrer und Bischöfe selbst von Staat und Ge-
sellschaft geschieden und auf die strikte Förderung der hier-
archischen Zwecke beschränkt waren.
Je isolierter die neue Korporation aber der Laienwelt gegen-
über stand, um so enger war jetzt, recht im Gegensatz zu der
alten Zersplitterung und Ungleichheit, die Einheit und Inter-
essengemeinschaft in ihrem eigenen Schöße geworden. Hier-
für waren die stärksten Hebel die gleiche Ordnung in jeder Diözese,
die Mechanik der geistlichen Bureaukratie und das unbeschränkte
Avancement, das jedem Bauernsohn die Aussicht eröffnete, zum
Kirchenfürsten emporsteigen zu können. Die alte Kirche war
durch ihre Verbindung mit der französischen Gesellschaft in allen
ihren Abstufungen, mit den Provinzen und der Krone, mit tausend
in dem französischen Boden wurzelnden Interessen, mit den Tra-
ditionen einer vielhundertjährigen Geschichte an Frankreich
geknüpft, auf die Rivalität mit der Kirche von Rom fast an-
gewiesen und darin erzogen: die neue, aus der man alle inter-
Die französische Revolution und die Kirche. 283
mediären Organe hinweggeschnitten hatte, ward von Anfang an mit
dem Gesicht nach Rom gewendet. An den Staat sah sie sich nur
noch durch die Wahlen und den Treueid gefesselt, aber durch
kein spezifisches Interesse. Sie hatte nur die Pflicht, ihn anzu-
erkennen, als den Herrn von dieser Welt, in dessen Gewalt sie
gegeben war, dessen Geist und Ziele ihr fremd waren und unter
Umständen feindlich werden konnten. Und dabei kaum eine der
Klammern, welche sie an ihre universale jMission band, gelockert,
weder Dogma noch Zölibat noch Sittenzucht, vielmehr alles noch
uniformer gestaltet und im Geiste der Trientiner Reform fester
geschmiedet. Es ist der Geist von heute, der Ultramontanismus,
den die Revolution recht geflissentlich eingeimpft hat, und alles,
was nach Gallikanismus und nationalgerichteter Religiosität
schmeckte — auch der Jansenismus, der damit platt zu Boden fiel
— ist seitdem in ihr ausgetilgt.
So schroff die neue Konstitution der alten Verfassung ent-
gegentrat, ebenso nahe kam sie der Napoleonischen. In dieser
sehen wir die Zahl der Sprengel noch karger bemessen, auf 50
Episkopate und 10 IMetropolitansitze. Auch war die Gewalt der
Bischöfe über ihre Cures größer, die sie einsetzen konnten, ohne
ihr Konseil zu fragen; sie waren aber dafür an die Zustimmung
des ersten Konsuls gebunden. Es stand in ihrem Belieben, sich
mit einem Kapitel zu umgeben und ein Seminar zu gründen
oder selbstherrlich ihre Diözese zu regieren, wie ein Präfekt sein
Departement ; aber der Regierung waren sie durch den alten Königs-
eid und eine Reihe anderer Bestimmungen eng verpflichtet; auch
die Errichtung der Kapitel war an deren Erlaubnis geknüpft
worden. Sehr geringfügig waren die Unterschiede beider Ver-
fassungen in Hinsicht der Besoldungen, während ihr Abstand
gegen die alte Kirche darin so groß war wie in allem andern. Das
wesentlichste war dabei wohl die Teilung der Cures in zwei Klassen
zu 1500 und 1000 Fr., welche Napoleon festsetzte, gegen den
Einheitssatz der Zivilkonstitution, der, dem Prinzip der Gleich-
heit mehr entsprechend, auf 1200 Fr. normiert war. Aber beide
Gesetze offenbarten ihre demokratische Natur in der Erhöhung
der Pfarrgehälter und i]i der Beschneidung der hohen Pfründen,
284 Kleine historische Schriften.
worin Bonaparte noch weit über die Zivilkonstitution hinaus-
ging. Lehre und Zucht waren in seiner Verfassung ganz so römisch
geartet wie in dem Werk der Konstituante; kein Ausbiegen von
dem vorgeschriebenen Wege war fernerhin möghch.
Eine wesentliche Differenz beider Gesetze begründen nur zwei
Punkte. Einmal die Nomination zu den Ämtern, welche nach
der Konstitution von 1790 durch Volkswahl erfolgte. Und hierauf
haben sich die Angriffe ihrer Gegner von jeher mit Vorliebe ge-
richtet. Zumal Taine kann sich nicht genugtun in dem Spott
über den Nonsens eines Gesetzes, \\'elches die Kirche in die Gewalt
von Protestanten, Juden und Mohammedanern gegeben habe.
Er wiederholt damit nur ein Argument, das man schon in den
Reden ]\Iaurys und in den Hirtenbriefen und Pastoralinstruktionen
der rebellischen Bischöfe findet, nur daß diese es mit sehr viel
gründlicherer Kenntnis und Distinktion der kanonischen Rechts-
sätze anwenden. Auch die Beschuldigung, daß die Revolutionäre
presbyterianische Prinzipien in die katholische Kirche hinein-
getragen hätten, welche Taine und Sorel, um von andern zu
schweigen, in gänzlicher Verkennung des Gemeindeprinzips der refor-
mierten Kirche erheben, stammt aus dieser Schule. Nun kann
man zugeben, daß an der Wahl zum Pfarramt und Episkopat
grundsätzlich Ketzer und Ungläubige teilnehmen konnten, und
die Entwicklung der Revolution mag manchen von diesen dahin
gebracht haben, sein Wahlrecht auszuüben. Mohammedaner freilich
wird man schwerlich unter den französischen Wählern ausfindig
machen. Auch Juden gibt und gab es in Frankreich wenig genug;
und dafür, daß die Gefahr von Seiten der Protestanten nicht groß
war, hatten die Franzosen selbst in früheren Zeiten gesorgt. Unter
normalen Verhältnissen wäre es aber sicherlich keinem Huge-
notten eingefallen, sich an den katholischen \^^ahlen zu beteiligen.
Denn wie die zu unseren evangelischen Synoden waren sie mit
festen kultlichen Schranken umgeben und offenbar nur auf katho-
hsche Wähler berechnet. Sie erfolgten des Sonntags in den Kirchen
(die des Bischofs in seiner Kathedrale) nach dem Hochamt, an
dem jeder Wähler teilzunehmen verpflichtet war; auch die Pro-
klamation des Gewählten ward vor einer feierlichen Messe in Ge-
Die französische Revolution und die Kirche. 285
genwart von Volk und Klerus vollzogen. An und für sich — d. h.
wenn man von dem Anspruch der Kirche, bei solchen Verfassungs-
änderungen mitzusprechen, absehen will — verstieß die neue Form
der Nomination gewiß nicht gegen das klerikale Prinzip. Es war
die Verfassung der ältesten Zeit; und noch im ii. Jahrhundert
hatten die Gregorianer den Kampf gegen die Einsetzung der
Bischöfe durch den König unter dem populären Schlachtruf »Clerus
et populus« begonnen. Und daß die weltliche Macht die Bischöfe
ernannte — denn um nichts weiter handelte es sich, nicht um die
Institution, die Übertragung der geistlichen Funktionen • — ■ war
das Altherkömmliche in Frankreich, seit 1516, seitdem Franz I.
jenes Konkordat mit Papst Leo X. geschlossen hatte, das die
Bischöfe seines Landes in seine Hände gab. Nur daß bisher von
der Krone ausgeübt war, was jetzt die Electeurs beanspruchten.
Der Souverän hatte gewechselt: nicht mehr der König war es,
sondern das Volk. Ganz so wie bei der Administration und der
Justiz: viel weniger gegen Rom wandte sich die neue Kirchen-
verfassung als gegen die Krone. Der erste Konsul aber kündigte
die Herstellung der Monarchie vor allem darin an, daß er zu der
alten Ordnung zurückkehrte.
Einen fundamentalen, in das Wesen des Katholizismus ein-
schneidenden Unterschied beider Verfassungen können wir also
auch hierin nicht erblicken. Denn daß der Staat sein Verhältnis
zum Klerus ordnete, so wie es ihm bequem war, ohne sich viel
um die Kurie und den Willen seiner Bischöfe zu kümmern, war
nichts Neues, und wie wir sahen, gerade in der letzten Zeit von
der alten Monarchie häufiger als je geübt worden. Manchmal
war sie damit gescheitert, oft aber hatte sie auch ihren Willen
durchgedrückt. Das Entscheidende war immer nur die Macht
gewesen; gemurrt hatte die Kirche immer, jedoch, wo sie nicht
anders konnte, am Ende nachgegeben oder nachträglich bestätigt.
Konnten sich doch die Revolutionäre gar auf einen Spruch des
Pariser Parlamentes berufen, der einem Juden das Patronats-
recht über eine katholische Pfründe bestätigt hatte ! Ihr Versuch,
das Emennungsrecht zu den kirchlichen Stellen in die Hände
der Wähler zu bringen, war nichts weiter als ein neuer Schritt auf
29,0 Kleine historische Schriften.
dem \\'ege, der sich für die Krone seit Jahrzehnten gangbar
erwiesen hatte — freihch ein solcher, der alles, was diese gewagt
hatte, hinter sich ließ. Es fragte sich also, ob die Revolution die
Macht, ihn bis zu Ende zu gehen, haben würde.
Eine grundsätzliche \'erschiedenheit gegenüber dem Kon-
kordat zeigt die Zivilkonstitution nur in einem Punkt, in der
Institution der Bischöfe durch den Metropolitan und des Metro-
politans durch»den nächstältesten Bischof in seinem Bezirk. Napo-
leon überließ diese dem Papst. Eifersüchtig hielt er die Rechte,
welche die alte nationale Kirche Rom gegenüber erworben hatte,
fest und suchte seinen Klerus an seine Gewalt zu fesseln — aber
das Band mit Rom hat er doch von neuem geknüpft.
Die Revolution dagegen wagte es, die Kette des geistlichen
Amtes, welche die französische Kirche mit dem Zentrum der
katholischen Hierarchie umschlang und vereinte, zu zerreißen.
Auf das ängstlichste suchte auch sie den römisch-katholischen
Charakter festzuhalten, also daß es die erste Pflicht des Gewählten
war, dem Papst seinen römischen Glauben zu bekennen — aber
in die Konfirmation sollte der Träger der Tiara so wenig hinein-
reden wie in die Nomination der König.
Denn auch das hätte dem Begriff der souveränen Nation wider-
sprochen, der in der Assemblee nationale verkörpert war. Es
war der Grundgedanke der Revolution, das neue Recht, das im
Juni 1789 und durch den Bastillesturm erobert war. Auf dieser
Basis hatte sich die Vereinigung mit dem Klerus vollzogen; kein
anderer Rechtstitel, wenn es einer war, stand der Revolution zu
Gebote. Alles hing davon ab: die Beschlüsse vom August 1789
wie die Aufhebung der Annaten und der paar Vorrechte, welche
die alte Kirche Rom noch gelassen hatte, die Ablösung der Zehnten
und der Sportein, dann die Säkularisation der Kirchengüter,
die Vernichtung der Klöster und — was aus alledem mit Not-
wendigkeit folgte — die Neueinteilung der Diözesen und die ein-
heitliche Regelung der Verwaltung und Besoldung, das will sagen,
die zivile Konstitution. Torheit ist es, immer nur von den Vol-
tairianern, Legisten und Jansenisten zu sprechen, die in der Kon-
stituierenden Nationalversammlung das große Wort geführt
Die französische Revolution und die Kirche. 287
haben sollen: sie hätten es Rom versetzen wollen, die »Infame«
ausrotten, die Ideen des Jahrhunderts im Sturm verwirklichen,
die Kirche des Deismus oder gar einer gottlosen Vernunft gründen
woUen. Man braucht darum noch nicht zu leugnen, daß manch
einer in der Versammlung mit Vergnügen seinen Voltaire und
Diderot gelesen haben wird, unter den Prälaten und Kavalieren
gewiß so gut, vielleicht noch lieber, als unter den Advokaten vom
dritten Stande: auch heute pflegen die Politiker, welche mit Rom
die Konkordate schließen, nicht lauter Kopfhänger und Kirch-
gänger zu sein, noch die Kurie sonderlich nach ihrem Glaubens-
bekenntnis zu fragen. Aber in den Debatten der Nationalver-
sammlung war der Ton des Candide und des Mikromegas nicht
gebräuchlich. Zugegeben auch, daß ein Mann wie Mirabeau (um-
gekehrt, als man es bei uns zu erzählen pflegt) zu einer radikaleren
Politik hinneigte ; er zog aus dem Prinzip der nationalen Souverä-
nität, in dem seine Seele lebte und all sein Tun verständlich wird,
mit der wundervollen Kraft seiner Logik gern die letzten Kon-
sequenzen und hat in seinen Briefen und Denkschriften oft genug
über den »Aberglauben von i8 Jahrhunderten« und die »Bar-
barei des Zölibats« geeifert. Aber auf der Tribüne holte er solche
Argumente selten hervor und verschmähte es nicht, sogar mit
Waffen aus den kanonischen Rüstkammern zu fechten; wobei
er freilich Fiasko zu machen pflegte, auch wenn ihm seine Reden
geistliche Freunde ausgearbeitet hatten. Wenn wirklich im Sommer
1790 der Gedanke an die Aufhebung des Zölibats und die Änderung
der Ehegesetze laut werden konnte, so waren das doch zunächst
nur zornige Schreckschüsse und Kampfmittel gegen den wach-
senden Widerstand der noch immer unterschätzten Gegner. Die
Männer aber, welche den maßgebenden Einfluß in der Kirchen-
frage hatten, waren keineswegs Gesinnungsgenossen des großen
Tribunen; auch Robespierre nicht, dessen Name unter der Zivil-
konstitution steht. Wer konnte abstrakter denken als der Abbe
Sieyes, wer hatte die Idee der Nationalsouveränität schärfer ent-
wickelt und mehr zu ihrem Siege beigetragen ? Dennoch trat er
im August in der Zehntenfrage, und so auch im Oktober, als Talley-
rands entscheidender Antrag über das Kirchengut debattiert
2g^ Kleine historische Schriften.
wurde, gegen IMirabeau und die Mehrheit der Versammlung für
seine Korporation und ihre Güter in die Schranken. Niemand ist
von den Partisans der alten Kirche mit größerer Erbitterung an-
gegriffen worden als Camus, der Jansenist, der »Vater« der Zivil-
konstitution, wie er genannt wird; und es ist wahr, er hat sich
aufs eifrigste bemüht, den römisch-katholischen Charakter der
neuen Verfassung mit kanonischen Argumenten von der Tribüne
her wie in Zeitungen und Flugschriften zu beweisen. Aber im
Oktober 1789 stellte er sich zu dem Antrage Talleyrands gerade
so wie Sieyes. Neben ihm hat man vielfach Gregoire als den Schöpfer
der Konstitution bezeichnet, den frommen Pfarrer von Ember-
mesnil, dessen Appell an seine Amtsbrüder am 10. Juni den Anstoß
gab zu ihrer Vereinigung mit dem dritten Stande, und der dann
in der Tat der rechte Typus eines konstitutionellen Bischofs ge-
worden ist ; zu keiner Zeit ward er seinen Prinzipien untreu, den
Blutgerichten Heberts und Robespierres hat er ebenso uner-
schrocken standgehalten wie dem Zorn Napoleons. Aber bei der
Beratung der Verfassung hielt er sich ganz im Hintergrunde. Er
gehörte nicht zu dem Komitee, das sie vorbereitete. Niemals hat
er in der Generaldiskussion die Rednerbühne betreten. Und wenn
er in den Verhandlungen einmal das Wort ergriff, geschah es, um
zu mäßigen. So forderte er unter anderm den Ausschluß der
Akatholiken bei den Wahlen, plädierte für die Ausstattung der
Pfarreien mit liegenden Gütern und brach für die bedrohten Orden,
auch für die Jesuiten, eine Lanze. Man sieht, wie auch die radi-
kaleren Köpfe nur allmählich die Konsequenzen ihres ersten
Schrittes und nur halb freiwillig zogen. Zu leicht vergißt man die
Menge der geistlichen Herren, die in den Generalständen ein volles
Viertel ausmachten und zur Nationalversammlung meist mit
hinüber kamen, 200 Cures und an 100 Prälaten; an den August-
beschlüssen nahmen sie gerade so teil wie die andern; sie waren
von dem allgemeinen Taumel ergriffen. Prüfen wir das kirch-
liche Komitee, das am 28. August eingesetzt wurde und aus dessen
Schoß die Zivilkonstitution hervorging, so finden wir unter seinen
15 Mitgliedern mehrere von der Rechten, darunter zwei Bischöfe,
Clermont und Lu9on, drei Cures, den Prinzen von Robecq und
Die französische Revolution und die Kirche. 289
andere, neben angesehenen Kanonisten, wie Durand de Maillane,
der die Geschichte des Ausschusses geschrieben hat. Janseni-
stische Neigungen mochte dieser und jener haben, aber alle waren,
wie die Gegner selbst zugeben, Männer von Überzeugung und
sittlichem Ernst; als Voltairianer dürfte man kaum einen be-
zeichnen, auch Treilhard nicht, mag dieser sich auch später radi-
kaler entwickelt haben. Als sich das Komitee infolge des Be-
richtes Treilhards über die Aufhebung der Orden spaltete, ward
es von der Versammlung verdoppelt, um die Majorität für die
Konstitution zu sichern, ohne doch die Gegner hinaus zu drängen,
und als diese hierauf ihren Austritt anboten, nahm man ihn nicht an.
Auch unter den Neugewählten waren noch Apologeten der alten
Ordnung, wie der geistreich beredte Abbe de Montesquiou, und
jedenfalls durchweg Männer von Charakter und innerem Anteil
an den kirchlichen Fragen, so der grundkatholische Karthäuser
Dom Gerle, der als Staatsmann und Theoretiker gleich bedeu-
tende, stets gemäßigte Dupont de Nemours und die späteren
Bischöfe Massieu, Expilly und Thibaut, denen auch die Gegner
den Ruf geistlichen Wandels nicht absprechen können. In den
Oktoberdebatten ward Camus bei seinem Auftreten für die Kirchen-
güter von mehr als einem Gesinnungsgenossen unterstützt und
später haben wieder Jansenisten neben den Römischgesinnten die
Zivilkonstitution literarisch bekämpft.
Wer konnte aber gegen das Argument ankommen, womit
Chapelier die Säkularisation verteidigte: daß die Überlassung der
Güter und ihrer Verwaltung an den Klerus nichts anderes heißen
würde, als ihm den Charakter der Korporation, eines Staates
im Staate reservieren? Sollte wirklich im Neubau des Reiches
für die Kirche eine Ausnahme gemacht werden? Oder sollte man
etwa versuchen, mit der höchsten Autorität einen Pakt zu
schließen, den Papst auf die Seite der Revolution hinüberzuziehen ?
So rief es der Abbe Älaury der Majorität höhnend entgegen:
»Wartet doch die Antwort des Papstes ab!« Aber Heß man sich
in Unterhandlungen mit dem heiligen Stuhl ein, so räumte man ihm
damit das Recht ein, zu diskutieren, Kritik an allen bisherigen
Beschlüssen zu üben und Bedingungen zu stellen; nur durch einen
Lenz, Kleine historische Schriften. ^9
290 Kleine historische Schriften.
Kompromiß war von dieser Seite Hülfe zu erwarten. Das aber
hieß das Prinzip durchbrechen, auf dem die Nationalversammlung
ruhte, das neue Recht, mit dem alle Beschlüsse seit dem 4. August
begründet waren. Und wie hätte man erwarten können, durch
Hülfe der Kurie den Widerstand des eigenen KJerus zu brechen,
ohne nach beiden Seiten hin die höchsten Preise zu zahlen! Wenn
Pius nun aber Kritik ausübte und seinen Preis forderte, etwa
die Annaten oder die Zehnten für die französischen Prälaten,
oder die Erhaltung der Mönchsorden oder gar die der Kirchen-
güter — was dann ? Wohl hatte man ein Pfandobjekt in der Nähe,
Avignon, und wiederholte mit der Einziehung dieses Gebietes
nur, was das alte Königtum seit Philipps des Schönen Tagen
mehrfach und nicht ohne Wirkung versucht hatte. Jedoch selbst
diese Maßregel wäre kaum rückgängig zu machen gewesen, da
auch dort die Revolution sofort gewaltig eingesetzt und die alte
Ordnung umgestürzt hatte, unter dem Jubel und der eifrigen
Hülfe aller radikalen Dränger. So wenig wie es mit den Rechten
und Besitztiteln der deutschen Fürsten im Elsaß denkbar ge-
wesen wäre, deren Einziehung ein Keim der Revolutionskriege
geworden ist, trotz des zweifellos guten Willens der Nationalver-
sammlung und des Ministeriums, die Sache friedhch und durch
reiche Geldzahlungen zu schlichten. Der Ursprung und Kern der
Revolution lag aber in der Unmöghchkeit, den Staat weiter zu
regieren, in der Notwendigkeit, durch eine Neuverteilung der
öffenthchen Lasten und Institutionen Geld herbeizuschaffen.
Deshalb hatte der König den dritten Stand zu Hülfe gerufen gegen
die Privilegierten, die sich ihm für jede Reform versagt hatten.
Der Staat war bankerott, und in der Umwälzung der Kirche, der
Einziehung ihrer Güter winkte einzig die Rettung.
Und vor allem — Papst und Nationalversammlung standen
sich nicht allein gegenüber. In seiner nächsten Umgebung, unter
den Kurialen und Kardinälen, die sich durch die Augustbeschlüsse
selbst geschädigt sahen und unter der geistlichen Aristokratie
Frankreichs viele Freunde hatten, fand Pius VI. eine Partei, die
ihn zum Widerstände und zur strengen Behauptung seiner Stellung
antrieb. Der Vertreter der französischen Krone, Kardinal Bemis,
Die französische Revolution und die Kirche. 291
unstreitig »der zweite Mann in Rom«, wie er selbst mit persön-
lichem und nationalem Selbstgefühl schreibt, und seit Jahrzehnten
auf dem römischen Boden heimisch, war durch seine Gesinnung,
seine kirchliche und politische Laufbahn und seine Verbindung
mit dem hohen Adel der Heimat ein Verfechter der alten Kron-
gewalt und wenig geeignet, im Sinne der Majorität vermittelnd zu
\\drken. Noch schwieriger aber mußte es für Plus sein, die fran-
zösische Prälatur für die Unterwerfung unter die neue Ordnung
zu gewinnen. Denn wir wissen, wie sehr die Bischöfe mit dem
Adel, den Emigranten und denen, die noch in Frankreich zurück-
gebheben, verwachsen, ja identisch waren. Auch waren sie der
Sympathien der fremden Höfe und der vornehmen europäischen
Gesellschaft sicher, wo auch die liberalen Kreise, die Monarchen
und Minister selbst, während sie zum Teil noch mitten in analogen
Reformen begriffen waren, stutzig wurden über diese unvermutete
Wendung der freisinnigen Ideen. Und nicht minder mußten die
unteren Chargen der französischen Geisthchkeit in ihrer Haltung
unsicher werden, als die Revolution sich zu allererst gegen ihre
Vorgesetzten richtete, in deren Gehorsam und Verehrung sie
aufgewachsen waren, und unter ihnen selbst Tausende zur Selbst-
entäußerung zwang. Sie hatten, getragen von der öffentlichen
Meinung, der großen Bewegung zugejubelt: jetzt sahen sie sich
häufig von ihren Gläubigen selbst verlassen und den Bischöfen
und Edelleuten wieder zugedrängt; denn die patriarchalische
Herrschaft war schließlich den Bauern doch noch vertrauter und
Heber als die der Reformer, in deren Gefolge statt der erträumten
Segnungen Verwirrung, Ohnmacht, Haß und Elend in allen Pro-
vinzen um sich griffen. Der Widerstand, den überall die hohen
Prälaten organisierten, setzte da und dort schon im Soixuner 1789,
in den Wochen der ersten Emigration an; im Herbst war er tief
eingewurzelt^); und im Jahr darauf gab es für die Revolution
keinen Ausweg mehr: sie mußte nachgeben oder unterdrücken.
Und in diesen Bedrängnissen hätte der Vater der Gläubigen
den Revolutionären zu Hülfe eilen und die abgewichenen Kinder
*) Wer die Beweise suchen will, findet eine reiche Fülle in dem Ur-
kundenwerke von Chassin, »La pr6paration de la Guerre de Vendee«.
19*
292 Kleine historische Schriften.
in ihren Werken der Zerstörung noch unterstützen sollen? Schon
wankten allerorten die romfeindlichen Reformen in den katho-
hschen Staaten. Mit Genugtuung bemerkte der Papst, wie in dem
Nachbarlande Frankreichs, in den belgischen Provinzen, die
klerikale Rebellion gegen Kaiser Joseph, der ihm fast das Schwerste
angetan hatte, ihr Haupt erhob, und wie auch in Ungarn dem
ungläubigen Bruder ^larie Antoinettes tausend Verlegenheiten
erwuchsen. Würde er nicht selbst dieser willkommenen Wendung
entgegengewirkt haben, wenn er die neue und radikalste Reform
geduldet hätte ? Er sah die Tage der Vergeltung über seine Feinde
herankommen; die Zeiten des Nachgebens waren vorüber. In
Rom jedoch pflegt man nicht sich zu überstürzen und rasch Partei
zu ergreifen. Und Pius VI., durch lange Erfahrungen gewitzigt,
mild gesinnt und ängsthch wie er war, zögerte noch länger als
leidenschaftlichere Vorgänger auf dem Stuhl Petri wohl getan
hätten. Erst am 29. März 1790, wenige ^^'ochen nachdem Joseph II.
unter dem Scheitern aller seiner hochfliegenden Entwürfe dahin-
gegangen war, und gewiß nicht ohne die Einwirkung dieser Kata-
strophe, wagte der Papst in einet Allokution an die Kardinäle
Worte der Klage und des Tadels über die kirchliche Verwirrung
in Frankreich und die Verletzung der pontifikalen Rechte. Noch
entschuldigte er es fast unter vielen Lamentationen und Schrift-
zitaten, daß er sein langes Schweigen breche: aber er fürchte den
Zorn des Höchsten. Er erinnerte an das Wort des Propheten:
Vae mihi quod tacui! Damals gelang es Bernis, der hierin den
\^^eisungen seiner Regierung, d. h. Montmorins und seiner Hinter-
männer in der Nationalversammlung, folgen mußte, die \'eröffent-
lichung zu verhindern ; und erst ein volles Jahr später, lange nach-
dem sich die klerikale Partei in Frankreich zusammengeschlossen
und das päpstliche Losungswort herbeigesehnt und erbeten hatte,
erschienen die entscheidenden Breven.
Es war in denselben Tagen, auf welche ursprünglich die Flucht
der französischen Königsfamilie an die Grenze festgesetzt war,
die den Bruch der Krone mit der Revolution herbeiführen sollte.
Und damit treffen wir auf den Angelpunkt, um den sich die Ent-
wicklung, wie der Revolution überhaupt, so auch der kirchlichen
Die französische Revolution und die Kirche. 293
Frage dreht, die Feindseligkeit der Tuilerien gegen das Werk,
das die Mirabeau und Lafayette begonnen hatten. Wir wissen
heute, daß Ludwig XVI. und seine GemahHn in keinem Moment
den ernsten Willen gehabt haben, mit der Nationalversammlung
zu paktieren, daß auch der Eid des Königs auf die Verfassung,
in dem sogar noch Ranke einen Versuch, mit der Revolution zu
gehen, erbhcken möchte, nichts war als eine neue Maske in dem
Spiel der Verstellung und ^"erschwörung, zu dem die gekrönten
Gefangenen gegriffen hatten, und in dem ihnen jede Rolle recht
sein mußte. Über die Konzessionen vom 23. Juni 1789, die auf
die Erhaltung der drei Stände gerichtet waren und die Revo-
lution erst entfesselt hatten, wären sie niemals hinausgegangen.
Dies war ungefähr das Programm, an dem sie noch festhielten,
als sie den Fluchtversuch machten ; aber ob sie es mit den Ständen
oder den Parlamenten oder irgendeiner andern \^ertretung der
Nation oder gar aus eigener Autorität durchführen sollten, wußten
sie damals nicht; und jedenfalls woUten sie zunächst nichts als die
Macht, die voUe diskretionäre Gewalt über den Staat, wenn es
sein mußte, mit der Hilfe des Auslandes, wieder erringen, und die
Verhaßten, in deren Gewalt sie waren, der Rache überliefern. Sie
rechneten auf die öffentliche Meinung, die, wie sie alles zerstört
habe, so auch alles wieder herstellen könne, auf die Schwäche
und den Zwiespalt ihrer Feinde, die wachsende Anarchie, die
Hülfe ihrer Verwandten, schheßHch gar auf den Eroberungskrieg
der fremden Höfe und nicht am wenigsten von Anfang an auf den
Klerikahsmus und alle seine Helfer diesseits und jenseits der Alpen.
Und wer hätte damals die vulkanischen Kräfte ahnen können,
die in dem stürmischen Wogen der in ihren Tiefen bewegten Nation
lebten und zum Ausbruch drängten ?
Die Revolutionäre selbst waren von der Schwäche ihrer Posi-
tion fast ebenso überzeugt wie die fremden Kabinette und die
Tuilerien. Daher auch die Versuche, die von den Führern der
Nationalversammlung gleich nach der Publikation des Gesetzes
gemacht wurden, dem Papst heimhch die Hand zu reichen, die
man ihm offen nicht geben konnte, um noch nachträglich seine
Billigung zu erlangen, und die oft wiederholten Proteste gerade
294 Kleine historische Schriften.
der Kleriker in der Versammlung, daß man an nichts weniger
denke als an das Schisma. Damals hat Bischof Gobel, der als
Bischof von Paris Märtyrer der konstitutionellen Kirche in dem
großen Schreckens] ahre werden sollte, den Schlußsatz in die
Konstitution gebracht, der dem König die Sicherung und Durch-
führung ihrer Dekrete, d. h. eben die Verhandlung mit der Kurie
anempfahl; und Gregoire setzte es durch, daß in den Paragraphen,
der den Einfluß jeder fremden Gewalt in der nationalen Kirche
ausschloß, der abschwächende Satz aufgenommen wurde: »Alles
ohne Beeinträchtigung der Einheit im Glauben und der Kom-
munion, die mit dem Haupt der universalen Kirche aufrecht er-
halten werden wird.« Friedfertigkeiten, die geradeso die Be-
sorgnis der Revolutionäre vor Rom verrieten, wie die Gewaltmaß-
regel gegen Avignon und die Drohungen mit der Priesterehe.
Von hier aus muß die Dürftigkeit der herrschenden Meinung,
welche die Politik der Nationalversammlung meistern will, deutlich
werden. Es liegt darin eine Überhebung, die man durch Unkenntnis
entschuldigen möchte, wenn sie nicht von Schriftstellern ausge-
sprochen wäre, deren Forschung und Erzählung als klassische
Muster gelten. Neuerdings hat man die Lösung des Rätsels be-
sonders gern in der Trennung von Staat und Kirche suchen wollen
und es als den »Fehler« der Nationalversammlung bezeichnet,
daß sie im Jahre 1790 versäumt habe, dieselbe zu dekretieren.
So z. B. Albert Sorel und Seche in seinem wertvollen Buch
über die Entstehung des Konkordats, und lange vor ihnen schon
Pressense, in dessen Urteil sich hugenottische und liberale For-
derungen vermischen. Dies ist ein Gedanke, der in alle E\vigkeit
chimärisch bleiben wird, weil die Kirche ihrer innersten Natur
zufolge danach dürstet, auf die Zusammenfassung der Gesellschaft
im Staat, in allen seinen Gliedern und in dem Prinzipe seines
Daseins selbst, einzuwirken; sie würde sich selbst aufheben, wenn
sie darauf verzichten wollte. Vollends unmögHch war der Plan
im Jahr der Zivilkonstitution, in einem Zeitalter, da alle euro-
päischen Staaten noch eng mit ihren Kirchen verknüpft waren
und nach immer festerem Zusammenschluß strebten — zumal
da die Kirche selbst an nichts weniger dachte als sich aus der
Die französische Revolution und die Kirche. 295
wechselseitigen Umschlingung zu lösen. So liberal die geistlichen
Abgeordneten in den Cahiers zu den Generalständen sich gaben,
war doch für alle die selbstverständliche Voraussetzung, daß die
kathoUsche Kirche die des Staates bleiben würde. Eine Trennung
beider Gewalten wäre damals eine ungeheuerhche Vorstellung
gewesen und hätte eine Kraft anstrengung der Revolution er-
fordert, wogegen die Einführung der Zivilkonstitution ein Kinder-
spiel gewesen wäre. Umgekehrt, die Klerikalen waren entschlossen,
den Charakter ihrer Kirche als der nationalen, vom Staat allein
garantierten, an ihn geknüpften Religion, koste es was es wolle,
aufrecht zu erhalten. Wie hätten sie sich auch freiwillig der Stütze
berauben sollen, die sie gehalten hatte, seitdem es einen gallo-
fränkischen Staat gab, und die Waffe zerbrechen, welche Theorie
und Praxis der Jahrhunderte auf jeder Seite haarscharf geschliffen
hatten! Und sie brauchten in den Beratungen über die Zivil-
konstitution sie nur zu zeigen, so beeilten sich ihre Gegner schon,
zu Kreuze zu kriechen. Als im Februar 1790 der Bischof von Nancy
eine Erklärung darüber verlangte, daß der Katholizismus die
Rehgion des Staates sei, antwortete Dupont de Nemours, an das
Gegenteil denke kein Mensch; und Roederer rief entrüstet aus,
man beleidige die Nationalversammlung, wenn man die Rehgion
in Gefahr erkläre. Dom Gerle nahm nur den Antrag des Bischofs
wieder auf, als er in der großen Sitzung vom 11. April noch ein-
mal, »um den Verleumdern den Mund zu schheßen und die
Gewssen derjenigen, welche die Zulassung aller Sorten von
Religion in Frankreich fürchteten, zu beruhigen«, zu einem Dekret
dieses Sinnes aufforderte ; und die Antworten von den Bänken der
Linken, die Art, wie unter dem Druck der populären Agitation
schheßhch die Tagesordnung motiviert wurde, zeigten aufs neue
die ganze Ratlosigkeit der Liberalen jener Grundfrage gegen-
über. Mitten in der Revolution und im Zentrum der Haupt-
stadt wagte es Monsieur de Pancemont, der Cure von St. Sul-
pice, dem jungen Spötter Paul Desmoulins seine Bosheiten in
den »Revolutions de Brabant« heimzuzahlen und ihm die Einseg-
nung der Ehe zu verweigern. Und der »Anwalt der Laterne« gab
klein bei und stellte eine Erklärung aus, die er niemals zu halten
296 Kleine historische Schriften.
gewillt war; Pction und Robespierre aber waren seine Zeugen!
Ströme von Blut haben vergossen werden müssen, ehe nur das
Zi^'ilstandsregister durchgesetzt werden konnte.
Im November 1792, als die Heere der Republik ihre ersten
Siege erfochten, und inmitten der heißen Debatten über den Prozeß
des Königs taucht dann freilich der Gedanke auf, den Klerus
nicht mehr zu bezahlen und alle Kulte sich selbst zu überlassen.
Cambon brachte ihn, zunächst im Jakobinerklub, im Namen des
Finanzausschusses vor. Aber von allen Seiten ward ihm Wider-
stand geleistet. Bazire rief aus: Bei einem abergläubischen Volke
sei ein Gesetz gegen den Aberglauben ein Staatsverbrechen! Und
Robespierre nannte den Antrag schlecht für die Revolution, poli-
tisch gefährlich und nicht einmal finanziell von Vorteil; das revo-
lutionäre Dogma sei in der Religion selbst enthalten, in der er-
habenen und rührenden Lehre von der Tugend und Gleichheit,
die der Sohn Marias seinen Mitbürgern gepredigt habe: wir hören
bereits die Anklänge an die Lehre und den Kult, womit der Tyrann
die Welt später überrascht hat. Diesen Kultus angreifen, heiße
die Moral des Volkes verletzen. »Denn, \\enn ihnen die Priester
fortgerissen werden, so werden die Armen das ganze Gewicht
ihres Elends fühlen, das ihnen alle Güter, bis zur Hoffnung selbst,
zu rauben scheinen wird. Darauf kommt nichts an, ob die reli-
giösen Meinungen des Volkes Irrtümer sind oder nicht; man muß
sich nach seinem System richten^)!« Das heißt, die Religion ist
eine Hülfskraft für den Regenten — genau die Politik, auf der die
Staatsmänner der Gegenreformation ihren Staat aufgebaut haben,
und die Napoleon mit dem Konkordat von neuem zum Siege ge-
führt hat ; eine Lehre also, mit der die katholische Kirche zufrieden
sein kann oder doch sich oft zufrieden gegeben hat, die aber Luther
und alle Reformatoren verabscheut haben würden.
Ein Jahr darauf hatten die Jakobiner dennoch mit der Kirche
in jeder Form gebrochen, und in dem Blutgeruch, der von hundert
Schlachtfeldern und Richtstätten aufstieg, verkündigten sie nach-
einander die beiden neuen Religionen, die ebensolange bestanden,
^) QuinetI, 184. Vgl. Aulard, »Le Culte de la Raison et le Culte
de l'Etre supreme« (1892) S. 265.
Die französische Revolution und die Kirche. 297
als den Tyrannen die Köpfe festsaßen, und mit ihnen in den Staub
stürzten. Aber ihren Staat wollten sie von ihren »Prinzipien der
allgemeinen Moral« oder von ihrem »Höchsten Wesen« nicht
losreißen, vielmehr in ihnen Hülfe für ihre Politik suchen und
beide Sphären nur um so fester aneinander knüpfen. Im Namen
des französischen Volkes predigten die Kommissäre des Kon-
ventes die »Prinzipien des Republikanismus und der allgemeinen
Moral«, und gegen niemand wandte sich Robespierre mit fana-
tischerer ^^'ut als gegen die »Philosophen«, die ihm das Herz des
Volkes, um das er buhlte, entrissen.
Ihren halben Kreislauf mußte die Revolution durchmessen,
ehe sie sich zu dem Grundsatz der Neutralität gegenüber allen
Konfessionen bequemte. Damals war die erste Koahtion zer-
sprengt, und mühsam hielten sich Österreichs Heere gegen die
siegreiche Republik aufrecht. Ringsum türmte sich ein Wall
eroberter Provinzen oder engverbündeter Freundesstaaten, und
im Innern erhob sich eisengepanzert die Gewalt des neuen Staates,
siegreich über jeden Gegner. Und was war das Resultat der neuen
Politik der Toleranz ? Daß die konstitutionelle und die roya-
listische Kirche binnen kurzem zusammenwuchsen; wenn nicht
die Heißsporne, so doch die weniger Kompromittierten und die
Masse des Volkes ; und nur noch ein paar Jahre, so war ganz Frank-
reich mit Rom versöhnt und vereinigt.
Im Sommer 1790 jedoch die Trennung von Kirche und Staat
aussprechen, hätte, wie die Dinge lagen, nicht bloß geheißen, den
Grundsatz verleugnen, auf dem alles ruhte, sondern den mäch-
tigsten Komplex des feudalen Staates bestehen lassen in einem
Staat, der sich von Grund aus nach demokratisch-nationalen
Normen umschuf. Viel mehr noch: man würde die Gegner, die,
mit allen Feinden und Rivalen Frankreichs verbündet, nur auf den
Moment lauerten, um dem neuen Staat alle Glieder zu zerbrechen,
mit den stärksten Waffen ausgerüstet haben; man hätte ihnen
für einen Kampf, in dem alle Welt sie schon als die Sieger erblickte,
zwei Milliarden an Gütern und die Millionen an kirchlichen Steuern
ausliefern müssen, die schon in den Abgrund des Defizits geworfen
waren, ohne ihn schließen zu können. Denn die Kritiker der revo-
293 Kleine historische Schriften.
lutionärcn Politiker wollen doch nicht etwa gar behaupten, daß
diese die Kirche erst hätten desorganisieren und ihrer Güter wie
alles andern Einflusses auf Staat und Gesellschaft berauben, dann
aber auf die Straße setzen sollen?
Der Sinn der Zivilkonstitution war aber gerade, den Gegnern
die kirchlichen Waffen aus der Hand zu schlagen. Geradeso wie
in der Administration, der Justiz und der Armee. Nur weil die
Feindseligkeit so brennend wurde, brach man aus der Verfassung
alle Bestimmungen heraus, welche die Macht der Krone und der
Privilegierten stützen oder herstellen konnten. Anfangs war man
kaum gewillt, so weit zu gehen; erst allmähhch, im Streit der Par-
teien, in dem Arg^vohn gegen die Krone (und hatte man damit
unrecht?) und unter dem fortwirkenden Druck der eigenen
Schöpfungen wurde man vorwärts geschoben. Nichts ist verkehrter,
als die Tragödie der Revolution, die in jedem Szenenwechsel
eine furchtbare Verflechtung von Schuld und Schicksal, ein un-
geheures Getümmel von Interessen, Leidenschaften und Not-
wendigkeiten und den Kampf einer tausendjährigen \'ergangenheit
mit der gärenden Gegenwart darstellt, rein räsonierend und
abstrakt aus den Ideen der französischen Philosophie des Jahr-
hunderts ableiten zu wollen; als ob sie nicht gekommen wäre,
wenn Voltaire und Rousseau nicht gelebt hätten. Das ist der
Grundirrtum in Taines großem Werk, so reich an Geist und Wissen
es sein mag, daß er seine Philosophie nicht los werden kann und
die Geschichte der Revolution, das Ergebnis von Jahrhunderten,
behandelt wie einen dialektischen Prozeß. So gelangt er dazu,
sie als das Werk einer kleinen Sekte aufzufassen, die, um ihre Prin-
zipien geschart, Frankreich ihrer Afterreligion unterjocht habe,
und zu dem Nonsens, Napoleons Riesengestalt und Werk aus
den paar Ideen zu konstruieren, die er sich aus der Kulturwelt
der Renaissance abstrahiert oder zurechtgemacht hat. Niemals
wird die Revolution ohne die Wechselwirkung der auswärtigen
und der inneren Verhältnisse begriffen werden können, welche in
jedem Moment sichtbar wird. Davon ist aber bei Taine über-
all nicht die Rede. Nicht durch eine Deduktion aus jenen Ideen
der jüngsten Vergangenheit wird der Fortgang der Bewegung
Die französische Revolution und die Kirche. 299
umschrieben, sondern in den Tatsachen selbst Hegt, wenn man
will, die Logik : in dem Kampf der Parteien bildeten sich die Kräfte
aus, welche ihre Schöpfer mit eisernen Armen unentrinnbar um-
klammerten und auf ihrer Bahn forttrieben, immer weiteren
Konsequenzen und grausigeren Notwendigkeiten entgegen. Sie
selbst, und was sie Besonderes an sich haben mochten, lebten nur
für den Tag; sie wurden von den Wellen, die sie erhoben, ver-
schlungen; ihre Interessen, ihre Reden, ihr Haß, ihre Kämpfe
waren nur wie das Schaumspritzen des in seinen Tiefen aufge-
wühlten Meeres. Für sie persönlich waren auch ihre Gesetze, die
durch Verwirrung und Kampf ohnegleichen Frankreich zur Einheit
und nie gesehener Kraft hindurchtrieben und erhoben, nur Not-
behelfe und ein Beweis ihrer Schwäche; so wie die tausendfachen
Bluttaten weit mehr dem Entsetzen entsprangen, als der Berech-
nung. Mit bebenden Händen vollbrachten sie unerhörte Taten
der Tyrannei. Und selbst wo Berechnung im Spiel war, wie bei den
Prozessen im Konvent, geschah es nur, weil sie so schwach waren.
Gleichwie die Barbareien des mittelalterlichen Prozesses dem un-
bändigen Trotz der Gesellschaft entsprachen, den sie niederhalten
wollten. Akte der Verzweiflung waren der Kultus der Vernunft
und die Religion wie die letzten Bluttaten Robespierres, der,
um die ihm entgleitenden Massen an sich zu fesseln, Gott wieder
auf den Thron setzte, dessen Namen er nicht einmal zu nennen wagte.
Handschläge von Knaben gegen die Wand, ein Rennen mit dem
Kopf gegen die Mauer, die in allen Ecken wohlgefügt war, seitdem
der Hugenottenfürst die Krone Frankreichs einer Messe wert
geachtet hatte. Und so zitierten sie jetzt die Philosophen des
Jahrhunderts und weckten die blutigen Schatten der Ermordeten
auf, stellten die Büsten Voltaires, Marats und Lepelletiers in ihren
Tempeln auf, um gegen die Heerscharen der Heiligen und Märtyrer,
unter denen die alte Kirche und ihre Bekenn er fochten, Helfer zu
bekommen.
Während aber Robespierre betete und köpfte, trieben im
Norden die gewaltigen Massen des nationalen Aufgebots die Werbe-
heere des alten Europas vor sich her und ward bei Fleurus das
Übergewicht der Repubhk über ihre Feinde entschieden. Und
300 Kleine historische Schriften.
alsbald war es mit dem Tyrannen zu Ende. Die Gefängnisse öffneten
sich und die Blutgerüste wurden abgebrochen. Fleurus hatte
Robespierre getötet samt seiner Religion.^) Frankreich stieß
ihn von sich und was ihm angehörte, weil es jetzt stark genug war,
um Toleranz zu üben, die alte Kirche wieder zu ertragen.
Nun will ich den Leser nicht weiter durch das ermüdende
Auf und Ab der Verhandlungen und Kämpfe hindurchführen,
welche das Direktorium noch jahrelang mit Rom und der Kirche
durchzufechten hatte. Solange der Papst den Sieg der Koalition
noch hoffen konnte, hielt er den Anerbietungen und Gewalttaten
der Republikaner stand. Aber im Sommer 1800 entschied sich
aufs neue das Übergewicht Frankreichs, und nun neigte auch die
Kurie zum Frieden. Unmittelbar fast vom Schlachtfelde bei
Marengo sandte Bonaparte den Bischof von Vercelli nach Rom.
Noch ein Jahr und länger hat es gedauert, ehe der neue Papst,
Pius VII., in die gebotene Hand einschlug. Endlich war man doch
so weit. Und nun ward (wer sollte es glauben!) von der Kurie
genau das bestätigt, was sie immer als unmöglich und allen kirch-
lichen Prinzipien widersprechend bezeichnet hatte: der Verkauf
der Güter und mit geringen Änderungen die ganze Organisation
der revolutionären Kirche; die emigrierten Bischöfe aber sahen
sich geradeso zur Entsagung aufgefordert wie die Konstitutio-
nellen und, wer sich weigerte, abgesetzt ; und aus beiden Lagern die
neuen ernannt und bestätigt. Vergebens erging sich Louis XVIII. ,
wie Monsieur sich nannte, von Warschau her in Protesten und
Drohungen. Er hatte nichts als Worte; der Papst konnte ihn
preisgeben, weil er völlig ungefährlich war, und er mußte es, weil
Napoleon die Gewalt hatte auf beiden Seiten der Alpen.
Kann man nun noch daran zweifeln, daß die Kurie auch
nachgegeben haben würde, wenn die Nationalversammlung die
Macht, die dazu gehörte, besessen hätte ? An der Institutions-
frage hätte sich der Friede schwerlich gestoßen. Das war ein
Pfandobjekt, was man gelegentlich preisgeben konnte, wie Na-
poleon es ohne Schaden seiner Politik preisgegeben hat, oder wie
^) So unwiderleglich Aulard in dem angeführten bahnbrechenden
Werke S. 362.
Die französische Revolution und die Kirche. 301
Bismarck seine Kampfgesetze gegen unseren rebellischen Klerus
abbrach, als er sie nicht mehr nötig zu haben glaubte. Wenn nur
der Papst ja gesagt hätte! Daß aber die Kurie nachgab und wider-
rief, was sie für unumstößlich erklärt hatte, war in der Geschichte
der Kirche nichts Neues. Clemens V. war ganz in der gleichen
Lage gewesen, als er sich zur Verleugnung der Bulle Unam Sanctam
vor Philipp dem Schönen bequemt hatte. Gerade dies Beispiel
wurde damals hervorgeholt, und zwar nicht von den französischen
Republikanern, sondern von dem General der Dominikaner, einem
Spanier, dem gelehrtesten Mönch seines Ordens, durch und durch
orthodox, wie sich versteht, und eine Säule der Kirche. Er bewies
seinem Gesandten und dem Papst selbst aus den kanonischen
Vätern und an der Hand der Geschichte wie der Grammatik,
daß das Direktorium mit seiner Forderung, die feindseligen Breven
zu desavouieren, nichts verlange, was seiner unfehlbaren Autorität
und dem Glauben widerspreche. Damals (es war im Jahr 1796)
kam freilich der Mönch bei Pius VI., dem er seine Argumente
persönlich vorzutragen wagte, übel an; denn noch meinte Pius,
trotz der Siege des jungen Bonaparte und obgleich Spanien (daher
der Eifer des Pater Quinones!) schon Frankreichs Seite hielt,
standhalten zu können.
Ich bemerkte vorhin, daß die Revolutionäre mit ihrer Kirchen-
politik hätten nachholen v/oUen, was den Hugenotten mißglückt
war; jedoch in ihrer Weise, im Sinne des 18. Jahrhunderts, das
von den religiösen Tiefen absehen zu können glaubte und nur nach
Zusammenfassung der Macht und in Frankreich nach der Ein-
heit des nationalen Staates verlangte. Jetzt aber sehen wir, daß
sich die Umbildung der französischen Kirche, die dadurch er-
reicht wurde, an Kraft und Erfolgen gar nicht vergleichen läßt
mit der Revolution, welche das 16. Jahrhundert erlebte, oder
gar mit der größten von allen, der Ausbildung der altkatholischen
Kirche. Die französische Bewegung blieb völlig an der Ober-
fläche der kirchlichen Ordnungen; und Desmoulins hatte ganz
recht, wenn er in seiner ergötzlichen Manier, den Stil der Hirten-
302 Kleine histoiische Schriften.
briefe parodierend, schrei ot: »Ich habe es euch bereits gesagt,
meine teuersten Brüder : sollte man nicht glauben, daß man einige
Sakramente unterdrücken will, wie Luther und Calvin getan
haben? Nichts von alledem, keine Prozession, kein geweihtes
Brot ist unterdrückt; nein, die Nationalversammlung hat auch
nicht ein Halleluja gestrichen!« Wirklich, es war nicht viel mehr
als eine Frage der Geograpliie, eine Neuordnung der Diözesen.
Da verstanden unsere Landsleute im i6. Jahrhundert, die Ma-
gistrate der Reichsstädte und die deutschen Bauernfürsten, ihr
Metier doch besser, als sie, um in ihrem Stil zu reden, den Papst
samt all seinen abgöttischen Greueln aus ihren Kirchen ausfegten.
Sie wußten, ihre Professoren und Prädikanten hatten sie es so
gelehrt, daß der Kirche mit Änderungen bloß der Verfassung
nicht beizukommen war: weil ihre Älacht auf der Lehre beruhte,
in dem Prinzip des Daseins wurzelte. Und daß sie darum in dem
Kern ihres Wesens, in ihrem Dogma selbst getroffen und ent-
wTirzelt werden mußte. Denn die römische Kirche wendet sich
nicht bloß an die Besitzer der Macht, sondern zunächst an die
Gläubigen, diejenigen, welche sich ihr unterwerfen. Diese fesselt
sie an sich durch das siebenfache Band der Sakramente, das ihr
Leben in Zeit und Ewigkeit umschhngt, und darum erst erstreckt
sie ihre Wurzeln, wie tausend und abertausend Arme, in das Gefüge
aller bürgerlichen Ordnungen hinein. Darum kennt sie auch keine
Rücksicht auf die Form der Verfassungen und keine nationalen
Schranken. Und darum konnten ihr nur Ideen schädlich werden,
welche, wie sie, über die Grenzen der Nationalität und der poli-
tischen Zwecke hinwegsahen. Das wußten auch die Franzosen
und die EvangeHschen aller Nationen, welche im i6. Jahrhundert
ihre Herzen vAWig den deutschen Gedanken öffneten und es für
keinen Raub an ihrem Volke hielten, wenn sie Staat und Natio-
nahtät der Heimat auf ihrem Grunde umzuformen versuchten.
So bedachte es Coligny in jener Nacht, als er mit seiner Gemahlin
das Schicksal erwog, das ihnen drohte, wenn sie für ihre Kirche
und die Brüder eintraten; als er sie fragte, ob sie mit ihm das
gemeinsame Schicksal der Protestanten, Not und Verfolgung,
auf sich nehmen wolle? Und Charlotte von Laval antwortete,
Die französische Revolution und die Kirche. 303
Verfolgung sei das Los der Gläubigen zu allen Zeiten gewesen
und werde es bleiben bis ans Ende der Tage. So dachten auch
noch die Hugenotten, welche vor Ludwigs XIV. Edikten den
Himmel Frankreichs und alles, was sie an die Heimat fesselte,
verließen, um ihrem Gotte treu zu bleiben »bis zum letzten Seufzer«.
Nicht das bißchen politischer Forderungen oder wirtschaftlicher
Interessen und irdisch-oberflächlicher Begehrlichkeiten ist es,
was die Welt im Innersten verwandelt, das Antlitz der Völker
umprägt und neue Nationen aus dem ewig kreißenden Schoß der
Geschichte hervorgehen läßt.
Das wußte auch Dr. Luther, als er von der Wartburg heim-
gekehrt war, um dem Satan von Zwickau zu wehren, der in seine
Hürden eingebrochen war, und nun seinen Wittenbergern von
der Kanzel her das Wort Gottes auslegte: »Was meint ihr wohl«,
sprach er, »daß der Teufel gedenkt, wenn man solch Ding will mit
Rumor ausrichten ? Er sitzt hinter der Höllen und gedenkt also :
o wie sollen mir die Narren so ein fein Spiel zurichten ! Also wollt'
ichs haben ! Mir wird mein Teil aus der Beut' wohl werden ! Laßt
sie also fortfahren! Das ist eben ein Spiel für mich, an dem ich
meine Lust habe. Mit solchem Stürmen geschieht dem Teufel
kein groß Leid. Sondern dann macht man ihm bange, wenn wir
das Wort treiben und dasselbige allein wirken lassen. Dasselbige
ist allmächtig und nimmet die Herzen gefangen. Wenn aber das
Herz gefangen ist, so muß das Werk von ihm selbst abfallen und zu
Trümmern gehn«.
Die Bedeutung der Seebeherrschung
für die Politik Napoleons.
(1906.)
Daß die Seegewalt für die Macht der Nationen, für ihre Stellung
im Rate der Völker entscheidend sei, ist uns Deutschen mit Bezug
auf unsern Staat eine ganz moderne Vorstellung. Denn niemals
haben wir sie bisher in den Kämpfen, die wir um unsere Existenz
zu führen hatten, nötig gehabt. Von der Völkerwanderung her
haben sich unsere Geschicke immer in Schlachten auf dem Fest-
land entschieden und gewandelt. ^lit dem Schwert haben wir
uns gegen die Römer verteidigt, die römische Weltherrschaft
zerbrochen, das Römerreich von der Nordsee bis Konstantinopel
und bis an den Fuß des Atlas unterworfen, mit dem Schwert das
Kaisertum des IMittelalters gewonnen und behauptet. Nur wie
eine Episode in diesen Festlandskämpfen erscheinen die Meer-
fahrten eines Geiserich; und wenn in den Zeiten der Hansa die
»Koggen« unserer norddeutschen Handelsstädte die Dänen und
Schweden von der Ostsee hinwegfegten und selbst in der Nord-
see und bis an die spanische Küste ihre Flagge wehen ließen, so
waren auch das nur vorübergehende und für den Aufbau unserer
nationalen Gewalt unfruchtbare Siege; niemals, wie man weiß,
hat die Reichsgewalt selbst darin die Hand gehabt oder ist sie
dadurch an irgendeinem Punkte wahrhaft gefördert worden.
Vollends in den neueren Jahrhunderten hat sich die nationale
Entwickelung abseits von der See und ihrer Beherrschung voll-
zogen. Beide Großmächte der deutschen Nation, Österreich und
Die Bedeutung der Seebeherrschung für die Politik Napoleons. 305
Preußen, haben ihre Kraft gegründet und entwickelt auf dem
Festland und durch die Gewalt festländischer Waffen. Konti-
nentale Interessen waren es, in die sie von Anfang an gestellt und
verwickelt waren, mochte der Kampf den Türken gelten oder
den Franzosen, den Russen oder selbst überseeischen Nationen,
wie Schweden und England. Das Meer selbst war ihnen, wenn sie
auch seine Gestade gewannen und bezwangen, verschlossen oder
diente, wie einst in den Kreuzzügen, kaum zu etwas anderem, als
zum Transport der Armeen, mit denen ihre Machtkämpfe aus-
gefochten wurden. Das war auch in den Kriegen des Großen Kur-
fürsten nicht anders, wie begierig gerade er nach dem Dominium
über die See war, geschweige in den Kämpfen, die Preußen zum
Großstaat machten und die Einheit der Nation, die Schöpfung
unseres Reiches selbst heraufführten. Von Mollwitz bis Sedan hin
ist der Zeiger unserer Uhr immer auf den Schlachtfeldern, und
meist auf deutschen Schlachtfeldern, vorwärts gerückt worden.
Auch bei den andern Nationen des europäischen Festlandes
ist es Jahrhunderte hindurch so gewesen. Mindestens in allen
Kämpfen des Mittelalters. Selbst die Kriege zwischen Frankreich
und England, welche die mittleren Jahrhunderte erfüllen, sind auf
dem Festland entschieden worden. Lanze und Schwert brachten
bei Hastings England in die Gewalt der Normannen; Lanze,
Schwert und Bogen streckten bei Crecy und Azincourt die Blüte
der französischen Ritterschaft nieder, als sie den Nachkommen
des Normannenkönigs den Boden Frankreichs streitig machte.
Mochte es auch dann und wann, bei Havre oder Honfleur, zu
Scharmützeln zwischen französischen und englischen Schiffen
kommen, die Entscheidung erfolgte doch immer im Felde oder
vor den Mauern französischer Burgen und Städte. Das Meer
bheb wie in alten Zeiten nur die Brücke, worüber die Ritter und
Bogenschützen ins Land kamen.
Für den Westen Europas und schon früher für den Süden,
die Gewässer des Mittelmeeres, änderte sich dies, als die Interessen,
um die gefochten wurde, die See selbst überschritten: als die
romanischen Staaten, Spanien und Frankreich, den Türken und
ihren nordafrikanischen Vasallen die Herrschaft über das West-
Lenz, Kleine hisJorische Schriften. 20
306 Kleine historische Schriften.
becken des Mittelmeeres abzuringen versuchten, und als dann
Frankreich, England und Spanien, dazu die Niederländer die
transozeanischen Länder auf beiden Hemisphären einander ab-
zujagen unternahmen. Aber sogar in dieser Zeit wurden die großen,
entscheidenden Katastrophen in den Kämpfen des europäischen
Festlandes herbeigeführt, denn mit den kolonialen Interessen-
gegensätzen kombinierten sich immerfort die Fragen der euro-
päischen Politik. Vor allem der Eintritt Rußlands in den Kreis der
europäischen Mächte verlegte das Schwergewicht der allgemeinen
Politik ganz auf das Festland. Bei Pultawa ward das Dominium
maris baltici, das Schweden auch nur wieder durch festländische
Siege errungen hatte, zerbrochen, und der große Kampf um die
Herrschaft auf der Balkanhalbinsel und den Besitz der Darda-
nellen wurde Generationen hindurch mit festländischer Waffen-
gewalt geführt. Sogar noch in den Kriegen, welche die Herrschaft
der angelsächsischen Rasse über den nordamerikanischen Konti-
nent entschieden, fielen die endgültigen Entscheidungen zu Lande.
Wie mächtig der Union -Jack auf den atlantischen Gewässern,
an den europäischen Küsten und in Westindien sich entfalten
mochte, konnten die Engländer dennoch nicht verhindern, daß
die Regimenter und Kanonen Frankreichs und seiner Bundes-
genossen nach Kanada und Pennsylvanien hinüberkamen: erst
Quebec hat Kanada für England, Yorktown seine Kolonien für die
Amerikaner gesichert.
Heute haben die Weltkämpfe ein anderes Gesicht, und nichts
ist gewisser, als daß auch die Zukunft das Bild von heute zeigen
wird. Der Krieg von 1870 konnte noch zu Lande entschieden
werden ; und so oft Deutsche und Franzosen oder Russen, Öster-
reicher und Italiener untereinander um den Vorrang, auch jenseits
der See, kämpfen, werden sie ihre größte und die entscheidende An-
strengung immer auf den Festlandskrieg verwenden müssen. Aber
auch sie werden von jetzt ab ihre Kräfte zur See miteinander
zu messen haben, denn sie werden niemals mehr unter sich allein
und nie mehr nur um kontinentale Fragen einander entgegen-
gehen. Der Welthorizont hat sich verändert. Neue Großmächte
haben sich jenseits der Ozeane gebildet und sind eingetreten in
Die Bedeutung der Seebeherrschung für die Politik Napoleons. 307
den Zusammenhang der allgemeinen Politik. Die Mächte unseres
Kontinents selbst aber sind nicht mehr mit ihren Interessen auf
seinen Umkreis beschränkt. Über die Meere hin strebt ihre Pohtik.
Die Herrschaft über die fremden Meere und die fremden Kontinente
ist das Objekt geworden. Nur wer sich hier behaupten, wer seinen
Ehrgeiz über die Grenzen Europas hinweg auszudehnen den Willen
und die Kraft hat, wird fortan unter den Mächten der Welt eine
Stelle haben.
Wenn wir so den Rahmen ziehen für das Thema, das wir uns
gesetzt haben, welche Stelle werden wir da den Kriegsfahrten und
der Politik Napoleons zuweisen? Alle seine Siege, von Monte-
notte bis Borodino, hat er über Mächte des Festlandes erfochten ;
und von Moskau bis Arcis sur Aube und weiter bis Waterloo hin
ward er auf dem Festland von Klippe zu Klippe geworfen. Was
also war das Ziel, das er seiner Politik gesteckt hatte? Wenn es
wahr ist, daß sein Ehrgeiz vor allem und von Anfang an darauf
ausging, den Kontinent zu erobern, so haben offenbar Abukir
und Trafalgar für ihn nur eine nebengeordnete Bedeutung gehabt.
War aber England der Feind, dem seine Kämpfe in erster Linie
galten, wollte er diesen Rivalen Frankreichs niederschlagen und
also den Kampf, in dem die beiden seit einem Jahrhundert be-
griffen gewesen und der England zur Herrschaft über die Meere
und die fremden Kontinente gebracht hatte oder zu bringen drohte,
zum Ziel führen, so können jene Niederlagen für ihn nicht hoch
genug bewertet werden. Mithin hängt die Beantwortung der
Frage, die wir uns gestellt, in erster Linie ab von der Entscheidung
über das Problem, in dem man mit Recht heute das Kernproblem
in der Geschichte Napoleons sieht: wohin nämlich die Front seiner
Politik gerichtet gewesen sei, ob das Verhältnis zu England oder
dasjenige zum Festland der Gesichtspunkt ist, unter dem wir
zum wahren Verständnis seiner Ziele und seines Schicksals ge-
langen können.
Nun ist in dieser Hinsicht mit Bezug auf seine Fahrt nach
Ägypten kein Zweifel möglich und besteht in der Tat nicht mehr
unter den Urteilsfähigen. Auf dem Festland gab es nach Campo-
308 Kleine historische Schriften.
formio und Rastatt für Frankreich keine Feinde mehr. Eng-
land allein war noch unbezwungen, und der Zweck der Ex-
pedition konnte kein anderer sein, als den Kampf über das
Meer und in die engUschen Kolonien, zu denen Ägypten die Brücke
war, hinüberzutragen. Auf der Stelle erhellt daraus die ungeheure
Bedeutung, welche die Niederlage von Abukir für diese Pläne Na-
poleons hatte. Die Vernichtung der französischen Flotte ließ Ägypten
nur die Bedeutung einer Festung, die ohne Hoffnung auf Ersatz
blockiert, also auf die Dauer verloren war. Nur wenn es ihm gelang,
nach Indien zu kommen, sei es von Syrien her zu Lande oder zur See
vom Roten Meer aus, konnte er noch die Situation retten ; und daß
wenigstens der Seeweg möglich gewesen wäre, dafür haben wir kein
geringeres Zeugnis, als dasjenige Nelsons, der dies aufs ernst-
lichste fürchtete. Denn auf dem Roten Meer und im Indischen
Ozean hatte England keine Kriegsschiffe, und der Suezkanal war
noch nicht gegraben. »Ein unternehmender Feind,« so schreibt
der enghsche Admiral am 29. Juni 1798 an Lord \'incent, »würde,
wenn er im Einverständnis mit dem Pascha von Ägypten und
Tippo Sahib wäre, mit Leichtigkeit eine Flotte von Suez nach der
Malabarküste schaffen können, wodurch Englands indische Be-
sitzungen in größte Gefahr kommen würden.« Aber Napoleon
dachte seit Abukir nicht mehr hieran und konnte nicht daran
denken, weil der Sultan sein Feind geworden war und den »heihgen
Krieg« gegen die Eroberer Ägyptens in allen seinen Provinzen
predigen ließ. Das aber war eben die Folge von Abukir. Wäre
Admiral Brueix, statt sich mit seinen schlecht armierten Schiffen
in jener flachen Bucht den Engländern zu stellen, vor ihnen weg,
wie Napoleon gewünscht hatte, nach Korfu oder Malta ausge-
wichen, so hätte Nelson schwerlich im Ostbecken des Mittelmeeres
bleiben können; dann aber wäre, wie man kaum anders annehmen
kann, Sultan Selim dem Sterne Frankreichs, dessen Freund er,
gleich seinen Vorfahren, immer gewesen war, gefolgt. So in der Tat
war die Rechnung Napoleons und seiner Auftraggeber gewesen:
die Stellung eines Freundes und Protektors am Nil und an den Dar-
danellen hatte Frankreich einnehmen und die Pforte, wie gegen
England, so gegen Rußland, ihren alten Erbfeind, wenden woUen.
Die Bedeutung der Seebeherrschung für die PoUtik Napoleons. 309
Abukir machte dies alles unmöglich. Die Feinde Frankreichs
erhoben aufs neue das Haupt; Rußland und die Türkei, Öster-
reich und Neapel traten England zur Seite. Nichts kann darum
falscher sein, als was man immer noch hört, daß Napoleon mit
seinem Marsch nach Syrien Angriffspläne, sei es auf Konstantinopel
oder gegen Indien, verfolgt habe. Auch wenn \\dr nicht sein direktes
Zeugnis aus dem Lager von Akkon hätten, würden wir nicht daran
zweifeln können, daß die syrische Expedition nichts als ein Vor-
stoß gewesen ist, um die Feinde von Ägypten abzuhalten.
Unterdessen aber geriet Frankreich, seines genialen Feld-
herm beraubt, durch den Angriff seiner Feinde an den Rand des
Abgrundes. Napoleon riß es zurück, stellte den Sieg her, zwang
die Mächte des Kontinents zum Frieden. Einen Moment schien
es, als würde ihm die Einigung des eben noch gespaltenen
Kontinentes gegen England gehngen, als könnten die Festlands-
mächte daran denken, ihre Meere gegen die enghsche Alleinherr-
schaft zu sichern. Ja die Aussicht tat sich auf, den Zug nach
Indien Seite an Seite mit Rußland zu unternehmen. Die Er-
mordung Kaiser Pauls machte diesen Kombinationen ein Ende.
Aber den Frieden weigerte England dennoch nicht mehr : die Herr-
schaft Frankreichs auf dem Festland hatte Napoleon durch Ma-
rengo erreicht; die Hoffnung auf die Beherrschung des Mittel-
meeres, die Eroberung Indiens mußte er aufgeben.
Über den Bruch des Friedens von Amiens, die Frage, wer
von den beiden Gegnern ihn herbeigeführt, ob Napoleons Interesse
in diesem Moment Krieg oder Friede gewesen sei, darüber zu
sprechen ist hier meine Aufgabe nicht. Wohl aber müssen wir den
Angriff auf England ins Auge fassen, den Frankreichs jugend-
licher Herrscher von Boulognes Küste her geplant hat, die Chancen,
die ihm das Gehngen des großen Unternehmens geboten hätte,
die Folgen, die sein IMißlingen für ihn gehabt hat. Länger als
zwei Jahre, vom Mai 1803 bis zum August 1805, stand Napoleon
England allein gegenüber; niemals vor- oder nachher haben ihm
seine Festlandsgegner so lange Zeit gelassen; und wenn es noch
immer Historiker gibt, die den Ernst der Absichten Napoleons
gegen England leugnen und dagegen behaupten, daß er von allem
310 Kleine historische Schriften.
Anfang an den Kontinent zum Felde seiner Eroberungszüge aus-
ersehen habe, so geschieht es vor allem im Hinblick auf die lange
Zeit, die er sich heß, um zu dem Schlage auszuholen.
Nun lassen es jetzt auch wohl die Anhänger letzterer Ansicht
gelten, daß Napoleon wenigstens bis zum Frühling 1804 mit vollem
Ernst den Übergang über den Kanal geplant habe: d. h. solange
die Festlandsgegner, Österreich voran, in ihrer friedlichen Haltung
beharrten. Sobald aber die Koalition sich aufs neue zu schließen
begann, mußte der Kaiser auch die Gegner im Rücken im Auge
behalten und alle seine Rüstungen so einrichten, daß sie in dop-
pelter Front verwendet w^erden konnten. Hier also könnte man
immerhin, auch dann, wenn man an den vollen Ernst seiner Ab-
sichten gegen England glaubt, zugeben, daß Napoleon mehr und
mehr von England abgelassen und schließlich das Lager von Bou-
logne und alle seine Stellungen gegen England dazu benutzt habe,
um unvermutet und mit voller Wucht über Österreich herzu-
stürzen. Ich freihch bin dennoch der Ansicht, daß er an dem
ersten Plane bis in die letzte Augustwoche 1805 und fast bis zu
dem Tage festgehalten hat, wo er seinen Bataillonen den Marsch-
befehl gegen die Donau zukommen heß; und daß er die Invasion
Englands über den Kanal hinweg deshalb so lange und so leiden-
schaftlich geplant hat, weil sie nicht bloß den kürzesten, sondern
auch den einzig möghchen Weg darstellte, um England nieder-
zuzwingen.
Denn an eine Wiederholung des ägyptischen Zuges war, wie
kaum gesagt zu werden braucht, nicht zu denken. Hannover
war von Frankreich okkupiert; aber ein tödlicher Schlag war die
Sperrung der norddeutschen Ströme für England nicht, und die
Besetzung des Kurfürstentums war wohl mehr erfolgt, um Preußen,
sei es zu gewinnen, sei es im Zaum zu halten. Noch weniger konnte
Napoleon daran denken, zunächst durch Flottensiege die See-
beherrschung zu gewinnen. Das hätte geheißen, das Glück auf
die schwächsten Karten, die er hatte, zu stellen; und daß der
Kontinent so lange in Ruhe bleiben würde, bis eine Flotte, die es
mit den see- und sieggewohnten Engländern hätte aufnehmen
können, fertig wäre, war nicht zu erwarten. Auch war die Herr-
Die Bedeutung der Seebeherrschung für die Politik Napoleons. 311
Schaft auf dem Meere noch nicht gleichbedeutend mit der Er-
oberung Englands. Um England auf die Knie zu zwingen, mußten
London und die Seefestungen, die Werften, die Arsenale, die Banken
und Fabriken des Inselvolkes in der Gewalt des Eroberers sein;
die Invasion, die Übermacht der französischen Armee über die
englischen Milizen, das Feldherrngenie des Kaisers selbst mußten
hinzukommen. Also war die Seebeherrschung nur so lange
nötig, um die Armee auf die feindliche Küste zu werfen: für
wenige Tage sie zu erlangen, darauf waren alle Gedanken und
Anstrengungen Napoleons gerichtet.
Die Zaghaftigkeit seines Admirals machte es ihm unmöglich,
und so warf er das Steuer herum.
Während aber der Kaiser neuen Siegen entgegeneilte, wagte
Villeneuve, durch Scham und Wut über das Mißlingen seiner
Aufträge und die Scheltbriefe Napoleons gestachelt, mit den ver-
einigten Flotten Frankreichs und Spaniens die Ausfahrt aus dem
Hafen von Cadix und suchte auf der Höhe von Trafalgar mit dem
Sieger von Abukir den Kampf, der seine Geschwader vernichten
und England zur Beherrscherin der Wogen machen soUte. Kein
Tag strahlt darum heller in Englands Geschichte und keiner seiner
Söhne hat größeren Ruhm gewonnen als der Held, um dessen
kalte Stime, so wie er selbst es sich gewünscht, sich zugleich Lorbeer
und Zypresse wanden. Niemals seitdem hat ein Feind Englands
es gewagt, sich seinen Söhnen auf dem Meere zum entscheidenden
Kampfe zu stellen, und in ihren eigenen Häfen konnte es die Flotten
der Gegner aufsuchen und vernichten. Man braucht diese Be-
deutung Trafalgars nicht zu leugnen, wenn man ihre Wirkung
auf die Kriegführung und Politik Napoleons dennoch weit geringer
anschlägt als die Abukirs. Weder die Operationen, in denen der
Kaiser gerade begriffen war, noch die politische Konstellation
wurden dadurch beeinflußt. Keinen Augenbhck heß er sich durch
die Nachricht von der Katastrophe seiner Flotte in seiner Sieges-
bahn aufhalten. Er war schon in Mähren, als sie ihn erreichte:
acht Tage später erfocht er auf den Feldern von Austerlitz den
Sieg, der die Macht beider Kaiserreiche des Ostens brach. Nicht
eine neue Koalition der Gegner Frankreichs, wie nach Abukir,
312 Kleine historische Schriften.
sondern die Zersprengung der kaum geschaffenen war die Folge:
Rußland beiseite geschoben, Österreich unterworfen, Preußen in
ein Bündnis gebracht, das fast schon der Vasallenschaft gleich
kam — so war die Stellung des Kaisers, in die ihn Austerlitz, trotz
Trafalgar, gebracht hatte: nicht isoliert und fast verloren, wie in
Ägypten, sondern als Herr des Kontinentes stand er da. Nicht
einmal in England selber wog der Eindruck Trafalgars den von
Austerlitz auf. Seinem großen Minister brach die Kunde das
Herz: im Gefühl des Besiegten ging WLUiam Pitt aus der Welt,
Seine Partei löste sich auf; mit Fox kam wieder die Fraktion an
das Ruder des Staates, die noch immer der Versöhnung mit Frank-
reich geneigt war, und schon schien es, als ob wirklich ein Friede
hergestellt werden könnte, in dem England die bei Trafalgar er-
kämpfte Alleinherrschaft zur See würde aufgeben müssen. Wenn
es dann doch nach längerem Schwanken am Kampfe festgehalten
hat, so mag das Gefühl der Unangreifbarkeit, die ihm Nelsons
herrhcher Sieg erworben hatte, darauf mit eingewirkt haben:
entscheidend waren doch der Entschluß des Zaren, unter den
Waffen zu bleiben, und der Eintritt Preußens in den Krieg.
In den Kontinentalkämpfen, die nun vom Herbst 1806 ab
in fast ununterbrochener Kette einander folgten, hat die durch
Abukir erkämpfte Seeherrschaft Englands eine stets wachsende
Bedeutung erlangt. Während es auf den Ozeanen und in den
fremden Kolonien Frankreichs und seiner Verbündeten fast un-
aufgehalten um sich griff, blieb es zugleich Herrin in den euro-
päischen Gewässern. Unmöglich für Napoleon, seine um ganz
Europa her ausgedehnten Küsten auf allen Punkten zugleich zu
schützen. Immer waren die englischen Schiffe schneller zur Stelle
als seine Truppen. So 1807 vor Kopenhagen, und wenige Wochen
darauf vor Lissabon. Sie wählten ihre Angriffspunkte, wo es
ihnen beliebte, vor Kolberg und vor Antwerpen, an der Küste
Galiciens und an der Mündung des Tajo, wie an der Küste
Neapels. Sie blockierten die Kriegshäfen, die großen Emporien des
Handels: Toulon und Brest, wie Marseille, Bordeaux und Hamburg;
und sie brachten ihre Waren der Kontinentalsperre zum Trotz
an hundert anderen Punkten der Küste von Petersburg bis Triest
Die Bedeutung der Seebeherrschung für die PoHtik Napoleons. 313
in das Land. Und brauche ich noch zu sagen, daß die Gegner
des Kaisers selbst nur durch diese Alleinherrschaft Englands zur
See in ihrem Kampf und in ihren Hoffnungen aufrecht erhalten
worden sind? Auf Englands Geld- und Waffenhülfe gründeten
Gneisenau und alle Patrioten Norddeutschlands ihre Pläne des
Befreiungs- und Rachekampfes. Nur Englands Kraft vermochte
Spanien in seinem Kampfe gegen Frankreichs Übermacht zu
helfen, ja es zum Abfall von seinem despotischen Alliierten selbst
zu treiben. Hätte Villeneuve bei Trafalgar gesiegt, so wäre Spanien,
man darf es aussprechen, Frankreichs Freund geblieben, dessen
AUiierter es fast in allen Kämpfen mit England gewesen war,
seitdem die Bourbonen in Madrid regierten. Denn es hätte dann
einen Preis des Kampfes vor sich gesehen, der seine Anstren-
gungen lohnte, die Behauptung seiner Kolonien und die Eroberung
vielleicht der englischen selbst. Was aber half es den Bourbonen,
wenn ihnen Napoleon zu Fontainebleau im Oktober 1807 die Teilung
der englischen Kolonien und das Kaisertum Indien versprach,
dabei aber die eigenen Besitzungen jenseits der See den Engländern
zur Beute fielen und Gut und Blut ihrer Untertanen in den Ab-
grund der Napoleonischen Kriege gezogen wurden ?
Dennoch, so müssen wir schließen, hätte das alles den Eng-
ländern auf die Dauer nichts geholfen, wenn Napoleon die ver-
einigte Kraft des Kontinents gegen sie hätte führen können. Im
Sommer 1807 glaubte er so weit zu sein : als er in Tilsit zum ersten
Mal einen Frieden schloß, der dem einen seiner Gegner nichts
nahm, sondern ihm ganze Provinzen gab und noch viel größere
Hoffnungen erweckte. Spaniens Abfall brachte ihn von diesen
Gedanken, die ihm schon eine Weile den Marsch nach Indien in
greifbar nahe Aussicht gestellt hatten, zurück: und das war
die stärkste Wirkung, die Trafalgar für ihn gehabt hat. Besiegt
und zu Boden gedrückt ward Napoleon dennoch nur durch das
Schwergewicht des Kontinenets, dessen Nationen er, da er es durch
Bündnisse nicht vermocht hatte, mit Gewalt, mit seiner eisernen
Faust hinter sich herzuziehen versuchte. Hierbei aber hat England
immer nur Hülfsaktionen geleistet : wo es allein gelassen war, brachte
es weder in Spanien noch vor Antwerpen etwas zustande ; und auch
314 Kleine historische Schriften.
von der See her hätte es ohne seine Freunde auf dem Festlande nie-
mals den Titanen in tödlicher Umarmung umfangen können. Es
wäre immer der Kampf zwischen Walfisch und Elefant gebheben.
Nur auf seinem eigenen Boden war Napoleon zu überwinden. Seinen
letzten und den entscheidenden Sieg über ihn hat doch auch Eng-
land zu Lande erfochten, und auch da nur mit Hülfe der Bundes-
genossen und Vasallen vom Festland; selbst auf den Höhen vor
Waterloo haben nur wenige schottisch-englische Divisionen neben
den niederländischen und norddeutschen Kontingenten gestanden,
die unter Englands Fahne kämpften.
Werfen wir von hier aus einen raschen Bhck auf die Gegen-
wart, so nehmen wir erst wahr, wie weit die Femwirkung des
Sieges Englands über den Herrn des Kontinentes reicht. Wenn
es wahr ist, daß das \\'esen einer Großmacht darin besteht, sich
auch neben dem Stärksten auf den eigenen Füßen behaupten zu
können, so gibt es seit Trafalgar zur, See nur eine Großmacht
in der Welt: England. Und wie zu Napoleons Zeiten, so ist es
noch heute: nur der vereinigte Kontinent würde hoffen können,
Großbritannien von der Höhe seiner Stellung, die es in den Welt-
kämpfen vor hundert Jahren errang, herabzustürzen.
88^-^?^
Napoleon I. und Preußen.
(1898.)
Vor einigen Jahren kam ein Blatt aus dem Nachlaß Leopold
Rankes heraus (kaum mehr als eine Druckseite), das unter den
Historikern von Fach ungemeines Aufsehen erregte. Es war eine
Antikritik gegen einen Aufsatz Max Dunckers über die Denk-
würdigkeiten Hardenbergs, worin dieser sich abweichend von der
Auffassung Rankes in der Biographie des Staatskanzlers geäußert
hatte, welche kurz zuvor veröffentlicht worden war. Ranke
pflegte in seinen Darstellungen nicht zu polemisieren, kaum in den
Anmerkungen ; er überließ die Wirkung seiner Gedanken ihnen selbst
imd verwandte seine Zeit lieber darauf, eigene Bücher zu schreiben,
statt andere zu kritisieren. Und so ist auch diese Notiz niemals
zur Veröffentlichung, sondern gleich vielen anderen nur zu seiner
eigenen Information bestimmt gewesen. Um so merkwürdiger war
es zu sehen, wie lebhaft er darin den Angriff erwiderte, und wie
tief er den Gegensatz zu den von D u n c k e r vertretenen Ansichten
empfunden hatte. Mit scharfen Worten äußert er seinen Un-
willen über die Kleinigkeitskrämerei seines Kritikers, der wohl
einiges Neue aus den Akten des Geheimen Staatsarchives bei-
gebracht, aber das, was in dem Buche geleistet und neu sei, kaum
gestreift habe. Statt dessen sei von ihm eine eigene Ansicht der
Begebenheit entwickelt worden, in der aber Napoleon in der »her-
gebrachten«, der »landläufigen« Auffassung erscheine, als habe
er sich von vornherein mit dem Plan der Welteroberung getragen
31ß Kleine historische Schriften.
lind diesen jeden Augenblick, der ihm günstig schien, zur Aus-
führung zu bringen gesucht. »Er erscheint, daß ich so sage, wie
eine Eroberungsbestie, auf den Augenbhck lauernd, wo er einen
nach dem anderen seiner Nachbarn verschlingen könne.«
Der Eindruck, den diese Stimme des alten Meisters aus dem
Grabe unter den Fachgenossen machte, war ebenso groß wie
berechtigt. Denn was Ranke an Duncker verurteilt, war
bis dahin von den maßgebendsten unter den deutschen Historikern
außer ihm allgemein vertreten worden. Geradeso schildert Hein-
rich von Treitschke den großen Kaiser vor seinem Feldzuge
gegen Rußland: »Der entscheidende Grund,« heißt es bei ihm,
»lag wieder in dem unzähmbaren Charakter des Weltherrschers.
^^'ie der Löwe nicht bloß aus Hunger mordet, sondern weil er nicht
anders kann, weil es seine Natur ist, zu rauben und zu zerfleischen,
so konnte dieser Allgewaltige nicht einen Augenblick bei einem
erreichten Erfolge sich beruhigen. Ins Grenzenlose schweiften
seine begehrlichen Träume; noch war ihm nichts gelungen, was
der Märchenpracht des Alexanderzuges gleichkam. Kaum war
mit Rußlands Hilfe Österreich unterworfen, so sollte der Zar mit
dem Beistand der Hofburg gedemütigt werden. « Und nicht anders
spricht Heinrich von Sybel von der Größe des dämonischen
Mannes, die ebenso abschreckend sei wie begeisternd, fortreißend
in ihrer Erscheinung, aber düster und unheimlich in ihrem Grunde.
»Denn überall hat sie nur sich selbst zum Zwecke. Sie steht
einsam in der Welt, sie ist herzlos für alle anderen, in denen sie
nur das Material für ihre eigene Erhöhung findet.« Nichts als die
glühenden Begierden eines schrankenlosen Ehrgeizes weiß er für
den Plan des Feldzuges gegen Indien und alles, was Napoleon ge-
schaffen oder zerstört hat, anzugeben.
Ranke hat uns sonst, soviel ich weiß, kein Gesamturteil über
Napoleons Politik hinterlassen. Aber er hat dem, was er dort
privatim gesagt, auch niemals wiedersprochen ; und wer seinen
Hardenberg oder seinen Consalvi oder irgendein Werk von ihm,
das diese Epoche streift, gelesen hat, wer überhaupt Rankes Auf-
fassung des Weltzusammenhanges kennt (was freihch nicht jeder-
manns Sache ist), wird finden, daß nur diese Ansicht über Napoleon
Napoleon I. und Preußen. 317
damit übereinkommt, und daß er sie an jener Stelle nur kürzer
und schärfer als sonst pointiert hat.
Heute ist dieselbe auch in Deutschland nicht mehr so unge-
wohnt; mehrfach, u. a. auch von dem Verfasser dieser Zeilen, ist
sie vorgetragen worden. Denn seitdem hat Albert Vandal
sie aus den ursprünglichsten und reichsten Quellen in breiter Dar-
stellung begründet. Aber daß sie weitere Kreise beherrschte, kann
man noch immer nicht sagen; die »landläufige« Auffassung
Napoleons möchte doch noch die von dem »selbstsüchtigen Aben-
teurer«, dem »gekrönten Scheusal«, dem »modernen Chingis-
Khan« sein, und wie die hergebrachten Titel lauten mögen, in
denen sich mehr löbliche patriotische Entrüstung als ein histo-
risches Verständnis genugtut. Ältere, aber sonst noch maßgebende
Bücher, wie die schöne Biographie Scharnhorsts von Max Leh-
mann, hängen ganz in den alten Vorstellungen, und selbst die
neuesten Arbeiten über die preußische Geschichte in der napoleo-
nischen Epoche haben sich noch nicht völlig freimachen können
von den Konsequenzen einer Auffassung, die, in der Zeit der
Unterdrückung selbst entstanden, in den Jahrzehnten, da wir
die Sehnsucht nach der nationalen Einheit mit dem Hasse gegen
Frankreich nährten, sich erhalten hatte.
Seitdem wir aber unsere Nachbarn zum zweite Male nieder-
warfen und, wenn auch in engen Grenzen, unsern nationalen
Staat erlangten, haben wir es w-ohl nicht mehr nötig, unsere Ver-
gangenheit patriotisch zu färben, und können wieder fremder Größe
gerecht w-erden, ohne ernstlich Gefahr zu laufen, der Unempfind-
lichkeit gegen die nationalen Ideale angeklagt zu werden. Und
so mag es mir erlaubt sein, die Politik, welche Napoleon gegen
Preußen unter dem Zwange seines Systems einhalten mußte, in
leichter Skizze objektiv zu schildern.
Ranke hat an jener Stelle schon die Lücke bezeichnet, welche
in Dunckers Auffassung klafft und jedes Verständnis Napoleons
unmögHch macht. »Dabei ist,« so bemerkt er, »das größte Welt-
verhältnis, in welchem sich Napoleon überhaupt bewegte, der
Kampf gegen England und der Zusammenhang desselben mit
den kontinentalen Angelegenheiten, so gut wie ganz aus der Acht
318 Kleine historische Schriften.
gelassen, also der eigentliche Faden, an den sich sein Tun und
Lassen anknüpft. Von dem allgemeinen Verhältnis aber sind alle
partikularen Unternehmungen ausgegangen, und man kann weder
den Angriff noch die Abwehr verstehen, ohne jenes zu gedenken.«
Bonaparte fand diesen Feind vor, als er seine Laufbahn be-
gann. Gegen ihn gewann er vor Toulon seine ersten Lorbeeren,
und durch ihn erfuhr er in Ägypten seine erste Niederlage. Nicht
von gestern war dieser Gegner, der alle Koalitionen und alle Nieder-
lagen der alliierten Mächte überdauerte, unverwundbar hinter
seinem breiten Graben, siegreich auf allen Meeren, Herr über
Indien und fast alle Kolonien, welche Frankreich und seine Alli-
ierten je besessen hatten, und stets bereit, den Kaiser an allen
Küsten, die er besetzt hielt, anzufallen. loo Jahre und darüber
hatte der Kampf zwischen den beiden Mächten bereits gedauert:
das alte Königtum hatte sich an ihm matt gerungen; die Revo-
lution, die es vernichtete, hatte ihn nur fortgesetzt; und ihr Erbe
war auch darin Napoleon geworden — um ebenfalls daran zu
scheitern.
Daß der Kampf seines Lebens England gelte, hat er zu allen
Zeiten und hundertfach ausgesprochen. Und niemand war tiefer
davon durchdrungen als er, daß er dabei unter dem Zwange des
Schicksals stehe. Er war persönhch verwachsen mit seinem Sy-
stem, so gut wie mit den ihrigen Cäsar und Alexander und andere
Gewaltige in der Geschichte, denen er allein vergHchen werden
kann. Aber wie jene, stand auch er unter dem Druck der Welt-
verhältnisse, unter Mächten, die er nicht geschaffen hatte und
nicht beherrschte, die älter waren als er und seine Zeit, tief ver-
zweigt in dem Leben der Nationen. Er rief die einen gefhssenthch
auf und hielt die anderen nieder; so hoffte er noch, sie alle bän-
digen und gegen das eine Ziel wenden zu können — und mußte
erfahren, daß sich fast alle vereinigten, um ihn in furchtbarer
Umarmung zu ersticken. Wie oft gedenkt er selbst, zwischen
den Schlachten oder in dem Moment der Verhandlungen, des
Systems, das ihn fessele, des Geschickes, dem er dienen müsse.
»J'ai un maitre qm n'a pas d'entrailles, c'est la nature des choses«,
schreibt er an Friedrich von \\'ürttemberg mitten aus dem pol-
Napoleon I. und Preußen. 319
nischen Winterfeldzuge heraus. »Ich weiß,« sagt er Josephinen,
»noch andere Dinge zu tun als Krieg zu führen, aber die Pflicht
geht allem vor. Mein ganzes Leben habe ich geopfert, Ruhe, Inter-
esse und Glück, meiner Bestimmung.«
Unsere patriotischen Historiker haben solche Erklärungen
und Bekenntnisse immer nur als Heuchelworte und Märchen des
»großen Lügners« bezeichnet. Heute, wo man sich schon wieder
gern in phantastischen Traumbildern von dem Zusammenschluß
unseres Kontinentes gegen die engHsche Weltmacht ergeht, sollten
sie uns schon darum gar nicht mehr so ungereimt erscheinen;
und wir möchten wohl eher die früher herrschende Meinung von
dem Kampfe Englands für die Freiheit Europas als eine Legende
bezeichnen, entstanden in der Epoche, da die Briten sich so gern
als die Hüter aller politischen Freiheiten von unseren Liberalen
preisen ließen. Denn wer sieht nicht, daß sie in dem Kampf
gegen die große Revolution und ihren Erben die Macht erst recht
eigentlich begründet haben, welche heute auf Europa drückt und
schon auf die RivaUtäten zwischen den Kontinentalstaaten aus-
gleichend einzmvirken beginnt ?
Freilich mußte auch Napoleon darauf bedacht sein, daß alle
Kräfte des Kontinents zu dem einen Ziel zusammenwirkten. Es
war auch für sein Genie und seine Macht unmöglich, einen Frieden
von England zu erzwingen, der die Errungenschaften der Revo-
lution gewährleistete und ihre Verluste deckte, wenn ihm auf
dem Festlande immer neue Gegner in den Rücken fielen. Nur
e i n System konnte er hier dulden. Nicht einmal Neutrahtät
durfte er am Ende gestatten. Denn es war nicht bloß ein Kampf
mit den Waffen, sondern von Markt gegen Markt: durch Hunger
und Elend wollte er den Feind ruinieren, dem er nicht an den
Leib kommen konnte. Wer nicht für ihn war, war wider ihn, und
ein Todfeind ward er jedem, der es wagte, sich ihm in den Weg
zu stellen.
Neutrahtät aber war die Politik Preußens, als es zuerst mit
Bonaparte in Beziehungen trat. Es hoffte, in dem Weltkampf
sich isolieren zu können, so wie es unter seinem ersten König in-
mitten des Nordischen und des Spanischen Erbfolgekrieges den
'1^90 Kleine historische Schriften.
Frieden behauptet hatte. Aber damals hatte es wirklich in einer
Neutralitätszone gelegen, an der jene beiden Erschütterungen
hatten vorübergehen können, ohne ineinander überzugreifen. Jetzt
hingegen war Rußland längst von dem allgemeinen Brande er-
griffen worden und alle Lebensinteressen Preußens im Osten und
Westen in Frage gestellt. Es war unmöglich, sich auf die Dauer
dem großen Kampfe zu entziehen.
Im März 1803 sah sich der König zum ersten Male vor die
Entscheidung gedrängt. Der Krieg Frankreichs mit England war
nach kurzer Pause wieder ausgebrochen, und wahrhch mindestens
gleich sehr durch die Schuld Pitts und seiner Freunde wie Bona-
partes. Das Meer war seit Abukir in den Händen Englands, ein
Angriff auf Älalta oder Ägypten unmöglich, und auch den Stoß
in der Front wollte der Konsul noch nicht wagen. Es gab für ihn
keine Stelle, um England zu verwunden, außer in Hannover.
Dort, an den Mündungen der deutschen Ströme, konnte er hoffen,
auch den englischen Handel schwer zu treffen; aber er griff damit
in die Zone der Neutralität ein, die dem preußischen Staat zu
Basel, freilich nicht von England, gewährleistet war. Es waren
die Landschaften, welche der große König in siebenjährigem Rin-
gen, damals gegen Frankreich, behauptet hatte. Aber hineinge-
rissen war auch er durch den Konflikt der beiden Westmächte,
der mit der gleichen Notwendigkeit, wie 50 Jahre später, das Land
zwischen Rhein und Elbe ergriffen hatte.
Man hat das ungünstige Urteil, unter dem Friedrich Wil-
helm in. heute steht, wesentHch abgeleitet von seiner Haltung
in den Jahren 1809 und 1811, als er vor dem Kriege um die Exi-
stenz, in den ihn die Patrioten hineinreißen wollten, zurückscheute.
Jedoch in der furchtbaren Pressung, in der sich der verstümmelte
Staat befand, hätte auch eine heroische Natur in der Stellung
des Königs wohl schwanken können; und man wird immer Mo-
mente finden, welche sein Zagen und schUeßHch die Unterwerfung
unter die erdrückende Übermacht entschuldigen, vielleicht sogar
rechtfertigen könnten. Im Frühhng 1803 dagegen hatte Friedrich
Wilhelm noch alle Karten in der Hand. Sein Staat war völlig intakt,
ja durch die neuen Erwerbungen, die man schon Bonaparte ver-
Napoleon I. und Preußen. 321
dankte, in besserer Lage als vor dem Kriege gegen die Revolution,
und blühte auf unter einer einsichtigen und sparsamen Verwal-
tung. Auch die Rüstung, in der Friedrichs Staat allen seinen
Feinden getrotzt hatte, war noch die gleiche, und kaum vermindert
der Glaube an die kriegerische Kraft des alten Preußens. Die
Macht der Krone war ungeschwächt, und kein Hauch revolutio-
nären Geistes machte sich bemerkbar: des Königs Wille entschied
und er allein trug alle Verantwortung.
Aber von dem Tage ab, wo ihm General Duroc die Besetzung
Hannovers ankündigte, fehlte ihm jede Kraft des Entschlusses.
Und während er zögerte und schwankte, ob er sich an Bonaparte,
ob an England halten sollte, kamen die Franzosen; in wenigen
Wochen hatten sie die hannoverschen Truppen umstellt und ent-
waffnet, waren die Herren geworden bis an die IMündung der Elbe.
Dies war die erste pohtische Handlung Friedrich Wilhelms HL
von Gewicht; sie war ihm völhg mißglückt. Er hatte das Spiel
aus den Händen gegeben, bevor es recht eigenthch begonnen war.
Auch jetzt gab es für Preußen noch eine MögHchkeit, aus der
gepreßten Lage herauszukommen und seine Stellung in der Welt
würdig der Vergangenheit zu behaupten: wenn der König den
Sprung zu Frankreich hinüber gewagt hätte. Es wäre die Rück-
kehr zu der Politik Friedrichs des Großen in den ersten Schlesischen
Kriegen gewesen. Napoleon wollte nichts anderes. Denn was
konnte ihm mehr am Herzen liegen als die preußische Armee zu
gewinnen! Er hätte vielleicht Rußland und Österreich in Schach
halten und alle seine Kräfte gegen England wenden können. Auch
war es nur die Fortsetzung seiner Haltung bei der deutschen Säku-
larisation und entsprach der Pohtik des neuen wie des alten Frank-
reichs, das immer die Führung der deutschen Fürsten angestrebt
hatte. Die Vertreter der friderizianischen Pohtik in BerHn, wie
Lucchesini, waren dafür, und wohl denkbar, daß der große König
dem Sohne der Revolution die Hand gegen Habsburg gereicht
haben würde. Aber der Geist Friedrichs war aus den Formen,
die er geschaffen, gewichen. Hardenberg übte Kritik an den
Vorschlägen Lucchesinis: vor der Besetzung Hannovers, meinte
er, wäre die Verbindung mit Bonaparte anzuraten gewesen,
Lenz, Kleine historische Schriften. 2 1
322 Kleine historische Schriften.
jetzt sei es zu spät. Denn der Krieg werde dadurch unvermeidlich
und nicht bloß gegen England, das unseren Handel schütze, zu
führen sein; man werde der Vasall Frankreichs werden. Die Unab-
hängigkeit müsse man behaupten, eine Macht für sich bilden;
»die wahre Präcaution sei, sich vergrößern, sich verstärken : Macht,
vor allem Macht!« Als ob Macht jemals ohne Anstrengung zu
gewinnen oder auch nur zu behaupten sei! Man war in Berün
nach fremdem Gut geradeso lüstern wie alle anderen : aber es sollte
nichts kosten, weder Blut noch Geld. Man hoffte, Hannover als
Geschenk zu bekommen, sowie Österreich Venetien: je nachdem
aus Englands oder Frankreichs Händen, durch Erpressung, als
Lohn dafür, daß man das Schwert in der Scheide behielt und nicht
dem einen oder dem anderen in den Rücken stieß. Hardenberg
dachte, den Frieden im Bunde mit Österreich behaupten zu können,
dem sich die übrigen deutschen Staaten anschheßen würden.
Chimärischer Gedanke! Denn wenn schon die erste Koalition der
deutschen Mächte gegen die Revolution so bald zerbrochen war,
wie hätte es nach allen Vorgängen seit Basel unter dem Druck
der neuen Konstellationen zu ihrem Zusammenschlüsse kommen
können! Vielmehr den Weltkrieg machte diese Haltung^von Tag
zu Tage unvermeidlicher.
Und so ließ Preußen es geschehen, daß die neue Koahtion
gegen Frankreich sich bildete, ohne selbst Stellung zu ihr zu ge-
winnen; von Mißtrauen und Feindseligkeit allseits umgeben,
kannte es keine andere Weisheit, als in dem Weltkriege — während
über das Schicksal des Kontinents die ehernen Lose geworfen
wurden — in der Isolierhaft seiner Neutrahtät zu verharren.
Der Bund mit Bonaparte im Jahre 1803 hätte vielleicht doch die
Feinde in seinem Rücken verscheucht und dem Konsul den An-
griff auf Englands Küste, zu dem er alles vorbereitet hatte, ermög-
licht. Jetzt aber, gedeckt durch die neutrale Haltung der Nord-
deutschen, wagten die Kaisermächte des Ostens den Angriff, der
den neuen Kaiser zwang, die englische Landung aufzugeben und
alle Kraft gegen jene zu kehren. So knüpfte Preußen den Knoten
seines eigenen Schicksals, indem es die größte Wendung in dem
Geschicke Napoleons herbeiführen half.
Napoleon I. und Preußen. 323
Ich will nicht darüber entscheiden, ob es auch dann noch
für den Staat Friedrichs denkbar gewesen wäre, seine Großmacht-
stellung an Napoleons Seite zu behaupten. Ihm selbst wäre nach
wie vor nichts lieber gewesen; aber in Berhn waren solche An-
sichten verstummt, und das preußische Gewissen begann stür-
misch die Vereinigung mit den Gegnern des Eroberers zu fordern.
Herstellung Deutschlands unter der alten Krone wurde das Ideal:
verschwommene Gedanken in romantischer Färbung, unpreußisch
in ihrem überalen und altdeutschen Enthusiasmus; aber es war
Wille, Tatkraft und Glaube in ihnen — die Kräfte beginnen sich
zu bilden, welche Preußens Wiedergeburt vorbereitet haben.
Der König und seine nächsten Ratgeber waren von ihnen
kaum berührt. WiderwiUig, gezwungen fast, ließ Friedrich Wil-
helm sich in Potsdam zu den Zusagen gegen Zar Alexander her-
bei, die er kaum in dem Momente, da er sie gab, zu halten gewillt
war. Und während seine Diplomatie zögerte und überlegte, ging
Napoleon zermalmend vorwärts: sein Sieg bei Austerlitz zerstörte
die werdende Allianz im Keim, warf Österreich zu Boden und
Alexander über seine Grenze, isoherte Preußen und schuf dem
Sieger aufs neue breitesten Raum in Deutschland. Niemals war
einer der alten Kaiser dort oder in Itahen mächtiger gewesen,
und keinem hatten die Stämme nördhch wie südhch der Alpen
je wiUiger Heeresfolge geleistet.
Auch jetzt wünschte Napoleon nichts weniger als den Krieg
mit Preußen. Er hatte keine Lust, seine Feinde auf dem Fest-
lande zu vermehren. Vielmehr wäre ihm noch immer nichts lieber
gewesen als den König zum Freunde zu haben, sowie die Kronen
des Rheinbundes und Italiens. Aber jetzt wäre es wirkhch nur
Vasallentum geworden. Jede Freiheit des Entschlusses war schon
für Preußen dahin, und die Krone hatte nur noch zu wählen zwi-
schen Kampf und politischer Ohnmacht. Um diesem Schicksal
zu entgehen, um die Großmachtstellung, das Erbe seines Ahn-
herrn zu behaupten, stellte sich der König endhch dem Über-
mächtigen. Ein Schlachttag entschied. Wenige Wochen und die
Reste der besiegten Armee, die Hauptstadt und die meisten Festun-
gen waren verloren; und ganz ohne Nutzen bheb der Kampf, den
324 Kleine historische Schriften.
die niedergeworfene Monarchie noch einmal an der Seite Ruß-
lands wagte: preisgegeben von Alexander, verlor sie die Hälfte
der Provinzen und geriet auf Jahre unter das härteste Joch des
Siegers.
In Tilsit erreichte Napoleon den Zenith seiner wunderbaren
Bahn; niemals hat er wieder so hoch gestanden. Schon das glän-
zende Schauspiel, das er ein Jahr darauf der Welt auf dem Hof-
tage zu Erfurt gab, an der Seite Alexanders und umgeben von
seinen deutschen Vasallen, bedeutete einen weiten Schritt zurück
und konnte mit allen rauschenden Huldigungen kaum eine Nieder-
lage verhüllen. Alle seine Anstrengungen waren seitdem darauf
gerichtet, die Position, die er in Tilsit aufgegeben hatte, wieder
zu erreichen; und alle Siege, die er noch über die Spanier und
Österreicher erfocht, waren nicht imstande, das Verlorene einzu-
holen; ja, nicht einmal der Erfolg der Rüstungen im Jahre 1812
und die neue Fesselung Preußens haben ihm solche Chancen ver-
schaffen können, wde er sie fünf Jahre zuvor gehabt hatte. In
Tilsit w^aren ihm alle Sterne günstig: Preußen lag am Boden und
der Kontinent gebändigt hinter ihm. Nur an einer Stelle, in Kon-
stantinopel, zuckte ein Flämmchen des Widerstandes auf. Dort,
in der Reaktion des alttürkischen Fanatismus gegen Sultan Sehm
und seine fränkischen Reformen, haben sich zuerst die Geister
nationaler Empörung geregt, deren gemeinsamem Ansturm Na-
poleon erliegen sollte. Aber noch wäre es auch hier leicht gewesen,
sie niederzuhalten. Wenigstens urteilte Sebastiani so, der Ver-
treter Frankreichs an der Pforte, in dem noch immer der offensive
Geist der Revolution glühte; er trieb seinen Herrn an, vorwärts
zu gehen, so werde man auch am Bosporus alles wiedergewinnen
und den neuen Sultan mit fortreißen. Und so taten auch die
Polen, die dem Kaiser noch in Tilsit, während schon der Friede
verhandelt wurde, den Aufstand in Litauen verhießen. Die
Grenzen Rußlands aber lagen offen vor ihm. Kein Zweifel, daß
der erste Stoß genügt hätte, um die Reste der russischen Truppen
jenseits der j\Iemel, aufgelöst wie sie waren, zu zertrümmern.
Alle Offiziere des Zaren, ihr Oberbefehlshaber General Bennigsen
und Großfürst Konstantin an der Spitze, forderten von Alexander
Napoleon I. und Preußen. 325
den Frieden; sie haben ihm das Schicksal seines Vaters angedroht,
wenn er nicht nachgebe. Seine Briefe und alle Nachrichten aus
diesen Tagen zeigen ihn völlig gedemütigt, fassungslos und bereit,
die schwersten Bedingimgen aus der Hand des Siegers anzunehmen.
\\'enn es noch eines Beweises bedürfte, daß Napoleon wirk-
lich nicht die sinnlos fortstürmende, blut- und beutegierige Er-
oberungsbestie gewesen ist, daß es ihm Ernst war mit dem Kampf
gegen England, ja mit den friedlichen Siegen, die er danach von
der Erneuerung der kolonialen Macht Frankreichs erhoffte, so
muß man ihn in diesem Moment beobachten, wo er dem waffen-
losen Gegner die Hand zum Frieden bot. Man weiß, wie erbar-
mungslos der Kaiser mit seinen Unterworfenen zu verfahren
pflegte; Friedrich Wilhelm sollte es in Tilsit erleben. Dem Zaren
aber nahm er keinen Rubel und keinen Fußbreit Landes ab,
vielmehr gab er ihm noch ein Stück aus der polnisch-preußischen
Beute; er verlangte nichts von ihm als den Beitritt zu seinem
System, den Bund gegen England. Ja mehr als das, er erregte
in Alexander die Hoffnung auf Finnland und die türkischen Pro-
vinzen, und \\iegte seine bewegUche Phantasie in den berauschenden
Plänen der Eroberung Indiens.
Doch dürfte man nicht sogleich sagen, daß der Imperator
in Tilsit nichts als Krieg gegen England im Sinne gehabt habe.
Er wollte nur seinen Zweck erreichen ; konnte es ohne Waffengewalt
geschehen, so war es ihm nur um so Heber. Und erwägt man, auf
welche Bedingungen hin er dem Inselreich den Frieden bewilligen
wollte — in dem geheimen Bündnisvertrage mit dem Zaren, der
vor ein paar Jahren ans Licht kam, sind sie verzeichnet — , so
möchte man \Wrkhch glauben, daß er sich einen Augenblick in der
Hoffnung gewiegt habe, den starren Gegner durch die bloße Ent-
faltung der gesammelten Macht des Festlandes auf die Kniee zu
z%vingen. Denn auch England soUte nichts von seinem eigenen
Besitzstande verheren; es sollte nur die Eroberungen seit 1805,
die französischen, spanischen und holländischen Kolonien heraus-
geben und die Freiheit der Meere für die Flaggen aller Nationen
zugeben, dafür aber Hannover zurückerhalten. Nicht einmal
Malta, auf das es in Amiens verzichtet hatte und um dessen willen
326 Kleine historische Schriften.
der Krieg neu entbrannt war, forderte der Kaiser, geschweige
Ägypten. Ob also England Frieden schließen wollte, darauf kam
es an.
Die Antwort, welche das neugebildete Torykabinett auf die
ersten Eröffnungen gab, die der Zar, wie verabredet war, nach
London gelangen ließ, war deutlich genug. Es war die Expedition
nach Kopenhagen, die Zerstörung der wehrlosen Stadt, die Ver-
nichtung einer neutralen Flotte — ein Rechtsbruch von einer
BrutaHtät, daß auch die ärgsten Gewalttaten Napoleons davor
in den Schatten treten. Aber ihren Zweck erreichten die Briten:
sie wollten den Krieg und zersprengten darum den eisernen Ring,
bevor er sich noch ganz um sie gelegt hatte ; alle Küsten der Ostsee
lagen ihren Angriffen nun offen.
Wie hätte Napoleon jetzt noch^an Frieden und Verhand-
lungen denken können! Alles mußte er daransetzen, um nicht
auch auf dem Unken Flügel gelähmt zu werden, sich des längst
schwankenden Spaniens versichern, in Lissabon den Beherrschern
der See — schon steuerten ihre Schiffe dorthin — zuvorkommen.
Und so wurde er in den Konflikt mit den spanischen Parteien, in
das Attentat von Bayonne und den Aufstand der bigotten Nation
mit allen seinen unheilvollen Folgen hineingerissen. Der Zar
schloß wirkUch seine Küsten und erklärte sich zum Gegner Eng-
lands — aber während er dann um sich griff, Finnland den Schwe-
den raubte und auch an der Donau seine Heere sich an Kampf
und Sieg gewöhnten, hielt er sich dem eigenthchen Feinde gegen-
über völlig aus dem Spiel; kein Russe hat für Napoleon geblutet;
der Freund Heß ihn in seinem Kampfe völlig stecken.
Solange die spanischen Sorgen den Kaiser nicht drückten,
fanden die Expedition nach Indien und die Aufteilung der Türkei
in seinen Plänen Raum. Noch im Februar 1808 ließ er, gereizt
durch eine neue kriegerische Thronrede der Engländer, die Auf-
forderung dazu nach Petersburg gelangen. Sie war zugleich darauf
berechnet, den Zaren an seine PoHtik zu fesseln. Auch ist es richtig,
daß er selbst, wie Alexander es oft betonte, in Tilsit die Pläne
gegen die Türken zur Sprache gebracht hatte. Dennoch war der
russische Ehrgeiz viel mehr als der seine auf die Donauländer und
Napoleon I. und Preußen. 327
den Bosporus gerichtet. Ihm konnte wohl daran hegen, den Bundes-
eifer des Zaren gelegenthch anzustacheln, aber im ganzen war er
offenbar der Zurückhaltende, und Alexander war es, der nicht
müde ward, gegen den französischen Gesandten, Grafen Caulain-
court, die Teilungspläne zu erörtern, die Donaufürstentümer, ja
Konstantinopel selbst als sein Los herauszubringen. Je mehr sich
aber die Lage im Westen verwirrte, um so mehr mußte Napoleon
darauf bedacht sein, die Dinge im Osten in der Schwebe zu er-
halten und sich nicht noch neue Feinde am Bosporus und an der
Donau zu verschaffen. Wie kann man nach alledem noch glauben,
daß er den Krieg gegen Österreich heraufgeführt, daß er auch
diesen Staat seinem »rasenden Ehrgeiz«, seinen »unzähmbaren
Leidenschaften« habe zum Opfer bringen wollen! Es ist dies
gerade so ungereimt ^^'ie das ebenso immer noch mederholte Mär-
chen, daß er schon in Tilsit die Entthronung der spanischen Bour-
bonen beschlossen habe — Memoirenklatsch, dem seine geheimsten
Korrespondenzen ebensosehr widersprechen wie die Vernunft der
Tatsachen. Ihm konnte gar nichts Schlimmeres begegnen als der
Angriff der Österreicher, während ihm die Spanier auf dem Halse
lagen. Als ihn im Sommer 1808 in Paris und Bayonne die ersten
Nachrichten von der drohenden Haltung des Wiener Hofes er-
reichten, mochte er kaum an ihren Ernst glauben. Danach meinte
er wohl, man rüste gegen ihn aus Furcht, und hoffte, daß der Ab-
marsch seiner Truppen aus den Stellungen an der Weichsel und
Oder, zu dem ihn die Niederlagen in Spanien nötigten, die Lage
bessern werde. Er trieb seinen Freund an der Newa an, eine scharfe
Sprache in Wien zu führen, um dadurch die Kriegslust zu dämpfen,
und erreichte von ihm in Erfurt wirklich das Versprechen, faUs
Österreich angreife, Bundeshülfe zu gewähren. Dafür mußte er
jedoch jenem die Donauprovinzen preisgeben, wodurch sich der Kon-
flikt mit Österreich natürlich verschärfte. Dennoch hoffte er
durch die Niederwerfung der Spanier, die er jetzt persönlich und
mit aller Kraft unternahm, dem feindseligen Hofe Respekt einzu-
flößen. Und man weiß, wie gut es ihm auf der Halbinsel gelang:
er zersprengte die spanischen Heerhaufen, zog als Sieger in Madrid
ein und warf das enghsche Hülfskorps gegen die Küste. Schon
328 Kleine historische Schriften.
plante er neue Unternehmungen über die See. 60 Linienschiffe
und ebensoviele Fregatten bildeten eine Streitmacht, mit der er
den Engländern wohl zu schaffen machen konnte. In den Häfen
von Vlissingen, Brest und Toulon lagen die Geschwader bereit,
um nach Indien oder Jamaika auszulaufen. Ein neues Lager von
Boulogne war in der Bildung begriffen und große Truppenmassen
nach jenen Kriegshäfen in Marsch. Aber umsonst waren alle seine
Bemühungen, den Zaren zu gemeinsamen Erklärungen in Wien
fortzureißen, die diesen Hof hätten einschüchtern können. Die
Haltung Alexanders war eher dazu angetan, die Österreicher zu
der Offensive im Frühjahr 1809 zu ermuntern, in deren Entwicklung
sie nur durch den furchtbaren Gegenstoß Napoleons in dem genial-
sten seiner Feldzüge jäh unterbrochen wurden.
Dahin war der große Kriegsfürst mit seinem System von
Tilsit geraten: statt der Vereinigung des Kontinents hatte es ihm
Aufstände und Kriege im Osten und Westen gebracht und seitens
des russischen Freundes nichts als Hinterlist und Enttäuschungen.
Napoleon erscheint wie ein ausgezeichneter Fechter, den von allen
Seiten die Gegner umringen. Wo sein Schwert hinfällt, trifft er
tödlich. Aber während er zum Streiche ausholt, fallen ihm andere
in den Rücken — wie hätte er nicht endlich erliegen müssen!
Nicht daß es ihm ganz an Freunden gefehlt hätte. Die Rhein-
bundstaaten und die Italiener halfen ihm gegen Österreich gern,
denn sie verteidigten ihre Existenz. In Itahen belebte er, wie in
Polen, die nationalen Hoffnungen, und auch im rheinbündischen
Deutschland waren die leitenden Schichten der Gesellschaft na-
poleonisch gesinnt und die Massen apathisch: aber nirgends fand
der Kaiser, auch in Frankreich nicht, den freien Gehorsam und
die gleiche angestammte Treue wie die alten Dynastien. Er bheb
der Emporkömmling, der Sohn der Revolution, die ihn in die
Höhe geworfen hatte, wie früher die Mirabeau und Lafayette,
die Danton und Robespierre. Immer hatte er mit den besiegten
Parteien, des alten wie des neuen Frankreichs, zu rechnen, und
gerade der heimische Boden bebte ihm unter den Füßen. Rück-
sichten auf Frankreich wirkten mit zum Frieden von Tilsit; und
man weiß, daß neben den Nachrichten aus Wien und Konstanti-
Napoleon I. und Preußen. 329
nopel die üble Kunde von der Opposition einheimischer Fak-
tionen ihn bewogen hat, seinen Siegeslauf in Spanien zu unter-
brechen. Nur wo er unbedingt herrschte, wo seine Zollwächter
und Di\d3ionen standen, hatte er Ruhe: Gewalt allein hielt ihn
aufrecht. Es nützte ihm nichts, seine Brüder mit den fremden
Kronen zu begaben: ihre Politik nahm sofort etwas von der Farbe
des Bodens an, über den sie gesetzt waren, und sie verfielen dann
dem Zorn des Imperators so gut wie die andern. Nur im Frieden
konnte er hoffen, sich auf die Dauer zu behaupten und eine Dynastie
zu begründen; das eigenste Interesse trieb ihn an, gleich Cromwell
und Wallenstein, von den erhabenen Idealen kolonialer Macht
und friedlichen Wohlstandes Frankreichs und der Welt als den
Zielen aller Kämpfe zu träumen. Er suchte seine Gewalt zu legaU-
sieren, die Legitimität unter den Fürstenhäusern Europas und den
Bund mit der Hierarchie zu erlangen: es war alles vergebens.
Seine Macht konnte ihren Ursprung nicht verleugnen: unabläs-
siger Kampf war sein Los, und eine Heldenlaufbahn, die so uner-
hört war wie die Blutopfer, die sie kostete. Er mußte die Völker
auspressen und die Länder rauben, sowie Robespierre und Saint-
Just hatten töten müssen, weil sie nur so sich hatten behaupten
können. Und so war denn im letzten Grunde — mag das Para-
doxon gewagt werden — die tyrannische Härte, mit der er jeden
Widerstand der Unterjochten niederhielt und bestrafte, nur ein
Ausdruck seiner Schwäche.
Inmitten seiner Todfeinde und lauen Freunde und Rivalen
erblickte Napoleon Preußen. Seine Freundschaft für Alexander
und die Liebe des Zaren zu den Seelenfreunden von Memel hatten
die Dynastie der Hohenzollern gerettet und ihr die knappe Hälfte
der Provinzen zurückgegeben. So ungefähr stand es in der Frie-
densurkunde und ward so der Welt immer von neuem verkündigt.
Doch wäre es naiv zu glauben, daß der Biedersinn Friedrich Wil-
helms und Luisens Liebreiz es über das leichtbeschwingte Herz
Alexanders davongetragen hätten. Nicht einmal das Scham-
330 Kleine historische Schriften.
gefühl gegenüber dem früheren Alliierten, den er preisgegeben,
hatte viel Raum in seiner zärtlichen Seele. Das Interesse an Preußen
war für ihn, und so auch für Napoleon, lediglich bedingt durch
ihre Stellung zueinander und durch den Gang der allgemeinen
Pohtik. An sich konnte ein Staat, der nicht viel größer \\ar als
Westfalen oder Bayern, für beide nur sekundäre Bedeutung haben.
Wenn sie ihm trotzdem größeren Platz in ihren Berechnungen
gewährten, so verdankte er das neben den Traditionen der Dynastie,
die sich doch nicht so leicht wie die Grenzen selbst verwischen
Heßen, seiner geographischen Lage. Es war die Zwischenmacht
zwischen den beiden Kaiserreichen. Napoleon duldete sie, weil
er durch die Ausdehnung des Rheinbundes bis an die Elbe den
verstümmelten Staat von zwei Seiten umklammert hielt und
durch die Herstellung Polens auch gegen Rußland eine starke
Stellung gewann. Es war eine der Konzessionen, die er dem neuen
Freunde machte, um ihn gegen England zu gewinnen. Und so-
lange dem Zaren an der französischen Allianz lag, blieb ihm das
Schicksal Preußens gleichgültig genug. Z^yar hörte er nicht auf,
Napoleon mit Bittgesuchen für seinen »unglückhchen alten Al-
hierten« zu bestürmen, Minderung der Kontribution und den Ab-
marsch der Truppen zu fordern. Aber damit diente er in erster
Linie sich selbst. Denn je weniger Franzosen in den Weichsel-
und Oderfestungen standen, um so leichter konnte er aufatmen
und um so eher darauf rechnen, in Preußen selbst wirksame Hülfe
zu finden, falls sich der Wind einmal drehen sollte. Deshalb war
er schon in Tilsit so übereifrig für die Restitution Magdeburgs
an Preußen eingetreten: in demselben Moment, wo er bei Napoleon
(natürhch im tiefsten Geheim vor den alten Freunden) um ein
großes Stück aus den polnisch-preußischen Provinzen bettelte und
sich sogar auf den Kreis von Memel Hoffnung machte. Ganz
entsetzt war er, als ihn der Kaiser im November durch seinen
Gesandten ersuchen ließ, ihm die Besetzung Schlesiens zu ge-
statten. Es war die Gegenforderung für die Donauprovinzen, die
der Zar für sich verlangt hatte; Napoleon wollte dadurch seine
Position im Osten auch Österreich gegenüber verstärken, das
durch den russischen Besitz der Donaumündungen aufs ärgste ver-
Napoleon I. und Preußen. 331
letzt wäre. »Die Forderung von Berlin,« schrieb damals Caulain-
court mit treffender Ironie, »würde die Herren in Petersburg nicht
so wild gemacht haben«.
Nun erkennen wir, weshalb Napoleon nicht daran denken
konnte, Preußen aus den Fingern zu lassen. Da er diesem Staat
in Tilsit die Unabhängigkeit garantiert hatte, besaß er kein anderes
Mittel, ihn niederzuhalten und sich die Verbindung mit Polen zu
sichern, als die Kontribution, die Festungen, die Etappenstraßen
und alle die anderen Foltern und Fesseln, in die er ihn einschnürte.
Vergebens waren alle Versuche der preußischen Regierung, Er-
leichterung der Lasten zu erreichen; nur immer drückender wurde
das Joch. Die Missionen Knobeisdorfs, Brockhausens und des
Prinzen Wilhelm nach Paris blieben ganz ohne Nutzen. Es war
nur zu wahr, was der Kaiser letzterem, als er ihn im Februar 1808
empfing, erklärte: »Das Arrangement Ihrer Angelegenheiten hat
seinen Platz unter den Kombinationen der allgemeinen Politik,
die in der Entmcklung begriffen ist. . . . Im Sommer werden viel-
leicht die großen Angelegenheiten arrangiert sein.« Und so war
es in der Tat nicht die größere oder geringere Geschicklichkeit
der preußischen Unterhändler, was die Wendung herbeiführte,
sondern der Umschlag in der allgemeinen Politik im Juli dieses
Jahres : die Kapitulation Duponts bei Baylen in Andalusien zwang
den Eroberer, seine besten Truppen aus Norddeutschland wegzu-
nehmen und in Erfurt dem Zaren Finnland und die Donaupro-
vinzen zu cedieren, ohne etwas anderes als das Versprechen zu
erhalten, eventuell gegen Österreich mitzuhelfen. Aber wenn er
hoffte, dadurch die Wiener Angriffslust zu hemmen, so geschah,
wie bemerkt, das Gegenteil. Und wie an der Donau, so erwachte
auch in Preußen alsbald die Hoffnung, das Joch vom Nacken zu
werfen.
In dem engen Rahmen dieses Essays kann ich leider nicht
die Agitation schildern, in welche sich der preußische Staat durch
den österreichischen Krieg im Jahre i8og gestürzt sah. Man
weiß, daß der König sich zweimal bis dicht vor die Erhebung
drängen ließ, im Mai, und zwar noch vor der Siegeskunde von
Aspem, und Ende Juli, nachdem Österreich schon bei Wagram
332 Kleine historische Schriften.
niedergeworfen war und in dem Waffenstillstand von Znaim den
Frieden mit Napoleon eingeleitet hatte. Auch will ich nicht da-
rüber richten, ob das Eintreten Preußens in den Krieg Aussicht
auf Erfolg geboten hätte, ob es denkbar gewesen wäre, rechtzeitig
neben den Österreichern dem Genie und der Kriegsmacht des
französischen Kaisers zu begegnen. Militärische Erwägungen allein
werden niemals darüber entscheiden können, da es dabei vor allem
auf politische Momente ankommt: auf die Fragen, ob Österreich
Treue gehalten hätte, ob der Aufstand in den westfälischen Be-
reichen ausgebrochen, ob von Alexander irgend etwas zu hoffen
und nicht eher zu fürchten gewesen wäre. Doch wird man zu-
geben, daß, wenn überhaupt, nur im Frühling, als Österreich noch
aufrecht stand, an einen Erfolg zu denken gewesen wäre. Nach
Wagram glaubten die Patrioten selbst kaum noch an den Sieg;
und als vollends das kriegsmüde Österreich die gebotene Hand
zurückstieß, war ihr Versuch, den König dennoch in den Kampf
hineinzustoßen, kaum mehr als ein Akt der Verzweiflung. Sie
sahen den Untergang vor Augen. Denn Napoleon hasse Preußen,
er wolle es vernichten und werde den letzten Streich führen, so-
bald er mit Österreich fertig sei — es bleibe nichts anderes übrig,
als mit Ehren kämpfend zu fallen.
Und freilich hatten der König und seine Ratgeber im Herbst
dieses Jahres Grund zur Furcht. Denn ihre Rüstungen und Ab-
sichten hatten sich nicht verbergen lassen, und im System Na-
poleons lag es, wie wir wissen, jeden Widerstand niederzuschlagen.
So war es denn ein saurer Gang für den preußischen Unterhändler,
Oberst von Krusemarck, als er am 5. November dem Kaiser den
Glückwunsch Friedrich Wilhelms zu dem siegreichen Frieden zu
überbringen hatte. Unsere patriotischen Historiker schäumen vor
Entrüstung über die Brutalitäten und Sottisen, die der »Korse«,
der »Nichtswürdige« bei jener Audienz dem Preußen ins Ge-
sicht geschleudert habe. In der Tat, liebenswürdig war der
Empfang, den 'Napoleon dem Gesandten bereitete, nicht zu
nennen; auch Bismarck, fürchte ich, würde im analogen Falle
einen französischen Unterhändler nicht eben glimpfHch behandelt
haben.
Napoleon I. und Preußen. 333
Aber das Ende der Zornreden gegen Schill und »Bluquaire«
und die revolutionierte preußische Armee entsprach dem pol-
ternden Ton keineswegs. Er habe zwar das Recht, Preußen den
Krieg zu erklären, werde es aber nicht tun. Denn wozu ? Etwa
um in Preußen einen Sprossen seiner Dynastie einzusetzen ? Das
würde keinen anderen Zweck haben, als eine entartete Nation
schneller zu regenerieren und ihr die für ihr Dasein erforderliche
Kraft zu geben. Oder um das Königreich Westfalen zu vergrößern ?
Er dächte nicht daran; denn wenn auch sein Bruder ihn nicht
bekriegen werde, so würden doch ihre beiderseitigen Nachkommen
miteinander in Kampf geraten. Darum wolle er sich mit dem
Könige von Preußen verständigen, sobald dieser auf dem Platz
sei, wohin er gehöre — er meinte: in Berlin. Kurz, diese Erklä-
rung war, wie schon Ranke bemerkt hat, durchaus friedlich.
Nur hatte der Kaiser freihch keine Ursache, nach solchen
Vorgängen die Fesseln zu lockern. Um so weniger, als in diesem
\Mnter sich die große Wandlung in seinem Verhältnis zu Rußland
vollzog: mit seiner Werbung um die Schwester Alexanders, durch
die er die AUianz hatte sichern wollen, hingehalten und schließlich
abgewiesen, wandte sich Napoleon in rascher Schwenkung dem
Kaiserhof an der Donau zu.
Unter dem Druck dieser Wendung hat er aufs neue, diesmal
direkt beim Berliner Kabinett, die Forderung erhoben, die Kontri-
bution mit der Cession eines Stückes von Schlesien abzukaufen,
ein Plan, der offenbar wieder ebensosehr gegen Rußland wie gegen
Preußen gemünzt war. Es ist bemerkenswert, daß Napoleon den
Gedanken an demselben Tage faßte, an dem er auf die russische
Heirat verzichtete und die Werbung um die österreichische Prin-
zessin eröffnete (6. Februar 1810).
In Preußen führte diese neue Forderung eine innere Krisis
herbei. Das Ministerium Altenstein, dem Schamhorst angehörte,
glaubte den Staat nicht anders retten zu können, als indem es
die Abtretung der größten Provinz gegen den Erlaß der Kontri-
bution und einen völligen System Wechsel, den engen Anschluß an
den unbezwinglichen Kaiser, anriet; wie denn gerade Scharnhorst
mehr als einmal für die preußische Politik die Alternative ent-
334 Kleine historische Schriften.
schlossensten Widerstandes oder wirklicher Verbindung mit dem
Eroberer gestellt und gefordert hat. Es war zunächst der König,
dessen dynastisches Gefühl sich gegen den Verlust seines besten
Besitzes sträubte; er entheß das Ministerium und beauftragte
Hardenberg, der sich anheischig machte, das Geld trotzdem herbei-
zuschaffen, mit der Führung der Geschäfte. Aber die Hauptsache
war doch (denn die Zahlungsschwierigkeiten bheben wie sie waren),
daß Napoleon nicht wieder auf jene Forderung zurückkam, die
eben nur jenem Moment des Zornes und der Abwendung von
Rußland entsprochen hatte. Denn den völligen Bruch mit Alexander
wünschte er trotzdem zu vermeiden, und selbst das neue Verhält-
nis zu Österreich duldete kaum die Annexion Schlesiens.
Seit dem Frühjahr 1811 aber spitzten sich die Verhältnisse
so zu, daß der Kampf mit der letzten Großmacht des Kontinentes,
die sich neben dem Eroberer aufrecht erhielt, unvermeidlich er-
scheinen mußte. Ja es schien einen Moment, als ob Alexander
ihn beginnen und die Rolle Österreichs wiederholen würde, als
er im Frühjahr in Verbindung mit Fürst Adam Czartorysky, dem
Führer der russischen Partei in Polen, in plötzHchem Anfall das
Herzogtum W^arschau zu überrennen dachte. Es waren die alten
preußischen Provinzen, dieselben, die er im Herbst 1805, den
Einflüsterungen desselben polnischen Magnaten, damals seines
Ministers, folgend, Friedrich ^^4lhelm zu entreißen lüstern ge-
wesen war. Jetzt hoffte er sie für sich gewinnen zu können, indem
er die preußische Armee selbst als Avantgarde gegen den Zwing-
herrn Preußens vorschickte. Ähnlich ist es ja später gekommen:
erst der Vertrag von Kaiisch, in dem Friedrich Wilhelm auf seine
polnischen Weichselprovinzen verzichten mußte, hat den gemein-
samen Kampf gegen Napoleon ermöghcht. Im Frühjahr 181 1
waren es die Polen selbst, die sich der »Befreiung« durch den
Zaren versagten, und darum scheute Alexander im letzten Moment
vor dem Wagnis zurück. Napoleon aber bemerkte die Gefahr erst,
als sie fast vorüber war, und der Zar sich mehr als je in die passive
Haltung zurückzog. Und auch in Preußen zitterte die Erregung,
in welche die Rüstungen hüben und drüben, die Anerbietungen
Alexanders und die Furcht vor einem vernichtenden Angriff Na-
Napoleon I. und Preußen. 335
poleons es gesetzt hatten, noch lange in stürmischen Verhand-
lungen der Kriegs- und Friedenspartei nach, als der Zar, der seine
polnischen Pläne in tiefes Dunkel gehüllt, sie schon wieder auf-
gegeben hatte.
Für Napoleon war die feindsehge Apathie Alexanders fast
noch unleidlicher als ein rascher Bruch. Denn in seinen Plänen
gegen England war er auch so gelähmt. Oder wie hätte er die
Landung wagen können, wenn er in jedem Moment den Rücken-
angriff seiner Gegner unter Rußlands Führung hätte befürchten
müssen! In Portugal hatte Wellington die Linien von Torres
Vedras gegen alle Sturmangriffe Massenas verteidigt und den
Vormarsch siegreich begonnen. Auch Frankreich begann, die
unaufhörHchen Opfer schwer zu empfinden. Man hörte, so be-
richtet ein russischer Diplomat schon im Januar 1811, den Kaiser
bisweilen rasch, mit gedämpfter Stimme und ungeduldig sagen,
wenn die Engländer es noch lange aushielten, so wisse er nicht,
was daraus werden und was er anfangen solle. Die Weigerung
Alexanders, das Edikt gegen die Neutralen auszuführen, hatte
die Kontinentalsperre für Rußland fast illusorisch gemacht, und
sein Zollgesetz gegen die französischen Weine und Seidenstoffe
war eine geradezu beleidigende und feindselige Maßregel gewesen.
Hätte er, was jeden Augenbhck zu fürchten war, die Häfen den
Engländern vollends geöffnet und seinen Frieden mit ihnen ge-
schlossen, so wäre das nicht bloß dem Bruche der Allianz, sondern
dem Bunde mit dem unversöhnlichen Feinde des französischen
Kaisers gleichgekommen. Auch dem Zaren gegenüber gab es für
Napoleon kein anderes Gesetz als gegen jeden Staat des Fest-
landes: er mußte ihn bei sich festhalten oder ihn niederwerfen.
Aber wie konnte er an ihn herankommen, wenn er sich be-
harrhch hinter seinen Grenzen hielt? Er mußte den Niemen
wieder erreichen, die Stellung von 1807. Dann erst durfte er darauf
rechnen, Litauen in Aufstand zu bringen, die Türken gegen die
Krim, und die Schweden, \vie er noch hoffte, auf Finnland und
Petersburg zu hetzen. & |^
Lag es nun in seinem Interesse, Preußen auf dem Wege anzu-
greifen ? Er hätte befürchten müssen, daß Alexander aus seinen
336 Kleine historische Schriften.
Grenzen herausbrach und Polen überrannte, bevor er selbst hinge-
langt war. Nun kann man vielleicht urteilen, daß er dann den
elementaren Mächten, die ihn in Rußland überwältigten, entgangen,
daß es ein Krieg für ihn geworden wäre, wie der Feldzug gegen
Österreich, gestützt auf die Festungen an der Oder und der Weichsel
und rings umgeben von hülfreichen Vasallen. So die Meinung
V a n d a 1 s , während von deutscher Seite neuerdings die Chancen
für eine preußische Erhebung an der Seite Rußlands im Jahre 1811
als recht günstig bezeichnet worden sind. Ich will mit meinem
Urteil zurückhalten. Jedenfalls rechnete Napoleon anders als der
Historiker der Allianz von Tilsit. Er hielt es für unabweisbar,
erst die russische Grenze zu erreichen. Wie ein Wildbach, sprach
er, wolle er über Preußen hinw-eg, d. h. ohne Aufenthalt bis an
den Niemen hinstürzen, um von dort aus mit der gesamten Macht
den letzten Gegner niederzustoßen.
Dazu bedurfte er aber mehr als je der Straßen und Festungen
des unterworfenen Staates. Und nur um so mehr, weil er damit
zugleich jede Regung des Widerstandes in ihm ersticken konnte.
Er mußte ihn völlig in seiner Gewalt haben.
So sahen die preußischen Patrioten aufs neue die schwerste
Wolke des Unheils herannahen. Diese endlosen Durchzüge von
Truppen, Munitionskolonnen und Zufuhren, die unablässige Ver-
stärkung der Besatzungen in den Oder- und Weichselfestungen,
die immer neuen Forderungen und dabei das Schweigen des Uner-
gründhchen auf alle Anfragen, das Ablehnen der Bundesanträge
selbst und das Ableugnen feindseliger Absichten gegen Rußland —
sprach das nicht alles für die Absicht, Preußen zu vernichten ?
Konnte es stärkere Beweise geben für die Unaustilgbarkeit seines
Hasses, die UnersättHchkeit seiner Herrschsucht ? So hatten sie
schon die ersten Vorbereitungen im Älärz und April gedeutet.
Je stärker aber die französischen Rüstungen wurden, um so größer
ihre Besorgnisse: man müsse sich dem Eroberer entgegenstellen,
solange man noch die Schlinge nicht ganz um den Hals habe,
Spandau, und wenn es dafür zu spät sei, Kolberg, Graudenz, Pillau
besetzen, mit dem Rücken gegen das Meer und gegen Rußland,
wie WeUington in den Torres Vedras, und Zar Alexander herbei-
Napoleon I. und Preußen. 337
ziehen. Auch jetzt glaubten die Patrioten kaum an den Sieg.
»Wenn die Vorsehung das Wunder tun will, Preußen zu erhalten«,
schreibt Scharnhorst schon am 15. April in einem Gutachten,
worin er den Krieg empfiehlt.
Den Heldenmut der Männer, die dem Staate lieber ein Ende
im hoffnungslosen Kampf als ehrlosen Untergang wünschten,
werden wir immer bewundem müssen. Und es kann wohl sein,
daß die Aussicht auf den Erfolg größer gewesen ist, als sie selbst
zu hoffen wagten — wenigstens im Frühjahr, solange Alexander
noch an die Offensive dachte. Aber ihre politische Einsicht, das
dürfen mr uns nicht verhehlen, war gering. Auf diesem Felde
waren sie Dilettanten. Sie rechneten niemals mit der allgemeinen
Situation, in der Zar und Kaiser zueinander standen, und mit den
Schwankungen, denen dieselbe unterworfen war. Daß Polen das
eigentliche Motiv war in der verschlagenen Politik Alexanders,
bheb ihnen ebenso verborgen wie die Wechselwirkung der Pläne
Napoleons gegen England mit seiner festländischen PoUtik. In
ihren Kreisen ist die legendarische Auffassung von der zwecklosen
Eroberungsgier des Kaisers recht eigenthch ausgebildet, welche
unsere Geschichtsschreibung so lange beherrscht hat. Indem sie
aber den Krieg predigten, beschworen sie gerade dadurch die Ge-
fahr des Angriffes herauf. Denn eine Hemmung auf dem Wege
zum Niemen wollte freilich Napoleon nicht erfahren; und alle
seine Rüstungen waren so getroffen, daß sie sich in jedem Moment
ebenso gut gegen Preußen wie gegen Rußland wenden konnten.
Im November 181 1 schien bereits die Stunde der Entscheidung
gekommen. Damals wartete Davout nur auf einen Wink seines
Herrn, um das rings umstellte Preußen zu überfallen, und nur die
schleunige Unterwerfung des Königs hielt die Schwerter in den
Scheiden.
Für die Ansicht der Patrioten beweist dies offenbar ebenso-
wenig wie die Rüstungen selbst. Daß Napoleon jeden Widerstand
niederschlagen würde, verstand sich bei ihm von selbst; er verfuhr
darin gegen Preußen nicht anders wie etwa gegen seinen Bruder,
König Louis von Holland, und jeden anderen seiner Bundesge-
nossen. Im Gegenteil, bei seinem Temperament möchte man sich
Lenz. Kleine historische Schriften. 22
338 Kleine historische Schriften.
fast über die Langmut wundern, mit der er den ganz offenkun-
digen Rüstungen und Winkelzügen des Berliner Kabinettes zusah.
Zum Teil trug hieran freilich die Schuld sein Gesandter in
Berhn, der seine Stellung, möchte man fast sagen, mehr im Sinne
Preußens als Frankreichs auffaßte. Es war der Älarchese di San
Marsano — oder Graf St. Marsan, wie der von Napoleon ihm
verhehene Titel lautete — , ein savoyardischer Edelmann, einst
Minister in Piemont und Gegner Frankreichs, der aber seinen
Frieden mit dem Allgewaltigen gemacht hatte und Ende 1808
von ilim nach Berlin gesandt war. Seine Berichte sind in einem
Grade wohlwollend, ja verblendet für Preußen, daß man wohl
gemeint hat und sich kaum des Verdachtes erwehren kann, er
habe sie absichtlich gefärbt und den Kaiser nicht aufrichtig be-
dient. Aber er erfüllte mit seiner konniventen Diplomatie wirk-
lich nur seine Aufträge. »Meinerseits,« schreibt er am i. Juü 1809,
in den kritischen Tagen zwischen Aspern und \\'agram, dem
Minister Champagny, »folge ich der Verhaltungslinie, die Ew. Exz.
mir vorgezeichnet haben, und beobachte die größte Mäßigung.
Ich unterlasse alle Klagen, die nicht dringhch sind, und bin in
meinen Antworten so liebenswürdig wie nur möghch.« — »Ich
werde,« bemerkt er in demselben Bericht, »mich aufs äußerste
bemühen, um die hier herrschende Idee zu zerstören, als dächte
man an eine zweite Invasion des Landes«. Er verdoppele, fügt
er am anderen Tage hinzu, seine Liebenswürdigkeit und Geduld
imd schließe soviel als möghch über das, was vorgehe, die Augen.
Daß der König loyal denke und eine aufrichtige Vereinigung mit
Frankreich wünsche, blieb bis zuletzt seine Überzeugung. Auch
an Hardenberg glaubte er felsenfest, und der Staatskanzler ver-
stand es vorzüglich, dies Vertrauen auszunützen, um die große
Wendung vorzubereiten. St. ]\Iarsan war es, der seine Rückbe-
rufung in das Ministeruim, aus dem er in Tilsit von Napoleon
gejagt war, bei diesem durchsetzte, und erst in Breslau sind ihm
die Augen aufgegangen.
Nun mag man sagen, daß der Kaiser sich vielleicht absichtüch
dies stumpfe Werkzeug ausgewählt habe, um desto sicherer und
verborgener seine Netze zu stellen. Er würde sich so in seiner
Napoleon I. und Preußen. 339
eigenen Schlinge gefangen haben. Aber dann müßte doch in den
Akten, die heute rückhaltlos aufgedeckt sind, irgendeine Notiz
oder Andeutung über seine schlimmen Absichten enthalten sein.
Aber nichts dergleichen findet sich darin. Das einzige Dokument,
das sie beweisen könnte, ein Gutachten Champagnys aus dem
November 1810, in dem er für die Vernichtung Preußens plädiert,
hat sich längst als gefälscht herausgestellt. Vielmehr entsprechen
die geheimen Schriftstücke, die Vorträge der Minister vor dem
Kaiser, die intimen Weisungen für den Gesandten im wesent-
lichen der Haltung, die dieser dem Berliner Kabinett gegenüber
beobachtete. Und wenn Napoleon einmal im Herbst 1811 über
die alJzu große Blindheit St. Marsans gegen die Intriguen und
Rüstungen in Preußen ärgerlich wurde und an seine Abberufung
dachte, bheben doch auch damals seine Instruktionen dieselben.
Ja man muß sagen, daß der Kaiser den preußischen Hof viel
aufrichtiger behandelt hat als dieser ihn und daß seine persön-
lichen und offiziellen Erklärungen sich mit seinen geheimen Be-
fehlen im wesenthchen deckten.
So kehrt z. B. die Sprache, die er nach dem Siege über Öster-
reich gegen Krusemarck führte, wörtHch wieder in einer Depesche
Marets, des Herzogs von Bassano, der Champagny im Ministerium
des Auswärtigen abgelöst hatte, aus dem Oktober 181 1, worin
er übrigens die allzu große Vertrauensseligkeit des Gesandten
aufs schärfste rügte. »Wenn der König von Preußen,« heißt es
hier, »endhch die Maßregeln annimmt, welche seiner Lage ent-
sprechen, so wird Seine Majestät sich nicht weniger auf Preußen
verlassen, als wenn der König von Westfalen in Berlin regierte;
aber die Aufrichtigkeit muß eine unbedingte und der Kaiser über
Preußen ebenso ruhig sein können wie über Westfalen und Bayern ;
er kann es aber nur, wenn Preußen auf seine alten Illusionen ver-
zichtet, seinen wahren Rang einnimmt und keine anderen Vor-
teile beansprucht als diejenigen, welche es erreichen kann.« Am
nächsten Tage gab Maret dem Gesandten genaue Instruktionen
über die Linie, die er fortan einzuhalten habe: »Seine Majestät,«
heißt es darin unter anderm, »hätte Preußen zerstören können.
Sie hat es nicht gewollt. Sie hat kein Interesse daran, es zu wollen.
340 Kleine historische Schriften.
wenn Preußen nicht aus seiner natürlichen Stellung heraustritt.
Sie will es durchaus nicht, weil sie ein System bilden will, in dem
Preußen den ersten Rang unter den Mächten zweiter Ordnung
einnehmen soll«. Und ebenso in einer konfidentiellen Note des
Ministers ein paar Wochen vorher: »Seine Majestät sieht mit
Vergnügen den König von Preußen im Besitz seiner Staaten.
Sie hat ein Interesse daran, daß er seine Macht bewahre, so wie
sie ist, und wird keinen anderen Wunsch haben, solange derselbe
fest auf der Ausführung des Kontinentalsystems besteht«.
Die Besorgnis der antifranzösischen Partei in Preußen fand
besonders ihre Nahrung in dem Schweigen des Kaisers auf alle
Bundesanträge und in dem Ableugnen der Kriegsgefahr. Dies
schien ihnen im krassesten Widerspruch zu stehen zu den unge-
heuren Rüstungen und der Weigerung, Glogau als Preis der Allianz
dem König zurückzugeben. Aber letzteres forderte doch das
gewiß gerechtfertigte Mißtrauen des Kaisers in die Aufrichtigkeit
jener Anerbietungen; und anderseits war es völhg richtig, daß
die Frage, ob Krieg oder Frieden, noch in der Schwebe war, und
daß Napoleon, wie sehr er auch alles auf den Zusammenstoß vor-
bereitete, ihn immer noch zu vermeiden wünschte. Es war in der
Tat schon ein Abweichen von dieser Linie, als er auf das Ulti-
matum Hardenbergs vom 26. August seinem Gesandten die Wei-
sung zugehen ließ, in die Verhandlung über die Allianz einzutreten.
Um die Hoffnung, welche St. Marsan auf eine »offene und
aufrichtige Union« zwischen Frankreich und Preußen setzte, ganz
zu verstehen, müssen wir auch der Stimmungen gedenken, die in
Preußen damals über Frankreich herrschten. In den Berichten
des französischen Gesandten werden diese nicht als besonders
feindselig geschildert. Die Masse der Nation erscheint ihm recht
gleichgültig; erleichtere man ihr die Lasten der Kontribution, so
werde sie sich leicht mit dem französischen System befreunden.
Die großen Besitzer, meint er im März 1809, also kurz bevor
Schill ausbrach, die Geschäftsleute und alle Vernünftigen wünschen
nichts als Frieden und Ruhe und würden mit einer Armee, die
gerade so groß wäre, um die Polizei im Lande auszuüben, sehr
zufrieden sein. Neben Hardenberg nennt er Beyme, Kalckreuth,
Napoleon I. und Preußen. 341
Tauentzien und eine Reihe anderer hoher Beamten und Militärs
als Gutgesinnte. Auch von der Königin vernahm er im Februar
1810 durch einen »guten Kanal«, sie sei in ihren Gefühlen gegen
Rußland sehr erkaltet und denke mit lebhaftem Vergnügen an
eine Reise nach Paris, um den Bund mit Frankreich enger zu
knüpfen. Und ebenso merkwürdig ist es, was er im August 1811
über den jungen Kronprinzen zu berichten weiß, der damals schon
den Einflüssen Delbrücks entzogen war und unter der Leitung
Ancillons stand. Derselbe habe sich über die Tugendbündler und
ihre altdeutschen Manieren lustig gemacht. Zum Beweise legte
er die Durchzeichnung einer Karikatur von der Hand des jungen
Prinzen bei, die ihm kein Geringerer als der General Tauentzien
übermittelt hatte. Von der Armee schreibt er im Herbst dieses
Jahres, sie wünsche zum größten Teil den Krieg gegen Frank-
reich nicht und glaube nicht an den Sieg, wenngleich sie sich
wacker schlagen würde; die Masse der Nation aber fürchte davon
die Auflösung des Staates und sehe den Ereignissen in einer Art
von Apathie entgegen. Diese Eindrücke verstärkten sich ihm nur,
als der Bund endlich geschlossen war. Das Volk sei glücklich
darüber und bezeuge laut seine Genugtuung; die Armee begrüße
den Kampf gegen Rußland als eine neue Bahn des Ruhmes. Den
w^enigen Offizieren, welche damals ihren Abschied forderten,
stellt er die Meldungen vieler anderer zum Eintritt in das Korps
Yorks entgegen, besonders von Gardeoffizieren, darunter des
jungen Neffen des Königs, Prinz Friedrichs, und seines Halb-
bruders, des Kapitäns Grafen Brandenburg von den Gardes du
Corps.
Solche Ansichten entsprechen wieder wenig der landläufigen
Überlieferung, die sich nicht genug tun kann in der Schilderung
des tiefglühenden Hasses, der das Volk in allen seinen Schichten,
vor allem in der Armee erfüllt habe; mit Mühe habe es sich im
Zaum halten lassen und dem Tage der Rache mit fiebernder Wut
entgegengesehen. Aber die Beobachtungen dieses Fremden wer-
den durch hundert unverdächtige Zeugnisse, sogar aus dem Lager
der Patrioten selbst, bestätigt, und ich zweifle nicht, daß sich bei
näherem Zusehen die gebräuchliche Farbengebung auch nur wieder
342 Kleine historische Schriften.
als ein Stück der legendarischen Tradition herausstellen wird,
welche das wahre Bild der Ereignisse dicht verschleiert hat. Der
materielle Druck und die Ungewißheit des Schicksals lasteten
schwer auf der Bevölkerung; aber die großen Gedanken: Ehre,
Freiheit, Vaterland sind in den Jahren der Unterdrückung unter
der Menge noch selten genug zu finden. Der Ruhm der Helden,
in deren Seele sie schon mit reiner Flamme glühten, wird dadurch
wahrlich nicht geringer. Indem sie König und Regierung endlich
in den rettenden Krieg hineinstießen, ward sich erst die Nation
unter dem mächtigen Eindiiick des Kampfes und der Siege ihrer
selbst bewußt und entzündete sich mit wachsender Glut an den
Leidenschaften und Idealen ihrer Führer.
Ein Erfolg Napoleons gegen Rußland hätte ohne Zweifel der
französischen Partei im Rate des Königs das Übergewicht ver-
schafft und ihn wie sein Volk in der Stimmung der Ergebung
unter den W'illen des Eroberers festgehalten. Ich möchte meinen,
daß auch Hardenberg, er, den »die allmächtigen Stunden beherrsch-
ten«, in solchem Falle seinen Anker nach dieser Seite ausgeworfen
hätte.
Soll man aber glauben, daß der Kaiser nach dem Siege den
Staat, an dessen Zerstörung er schon vorher kein Interesse hatte,
vernichtet haben, einen seiner Brüder damit ausgestattet oder
ihn in Stücke zerschlagen und unter Polen, Österreich und Sachsen
ausget>eilt haben würde? Als der König von Preußen ihm den
Krieg erklärte, hat er diesen Plan gefaßt. Aber keine Minute eher.
Er folgte in jedem Moment nur seinem Interesse, dem was sein
System ihm gebot. Wo aber lag sein Interesse an der Zerstörung
Preußens, wenn es in sein Fahrwasser hineingesteuert und der
Politik gefolgt wäre, zu der er es schon im Jahre 1803 hatte ver-
führen wollen? Nur wer ihm entgegentrat, war sein Feind. Der
Zar war es geworden: auf dessen Kosten hätte er seine Alliierten
entschädigt, schon um ihn mit seinen Nachbarn zu verfeinden.
Das beste Los würde gewiß Polen gezogen, Wilna und, wer weiß,
vielleicht Kiew wieder erlangt haben. Auch der österreichische
Schwiegervater hätte seine Belohnung erhalten, die ihm in dem
Bundesvertrage bereits versprochen war. Doch sehe ich nicht ein.
Napoleon I. und Preußen. 343
weshalb die sehr unbestimmt lautenden Worte darüber gerade
auf Schlesien bezogen werden müssen, wie man, offenbar unter
dem Eindruck der Vernichtungstheorie, anzunehmen pflegt. Man
könnte ebensowohl an die Donauprovinzen oder an die Länder
nahe der Adria denken; denn ich kann nicht glauben, daß die
Aufstellung Österreichs zwischen Polen und Sachsen für Napoleon
sonderlich angenehm gewesen wäre. Warum aber hätte Friedrich
\\^ilhelm leer ausgehen sollen ? Auch für ihn war eine Entschädi-
gung, freilich noch unbestimmter als für Kaiser Franz, in Aus-
sicht genommen worden. Ich denke, Schwedisch-Pommern (denn
Bemadotte mußte für seinen Abfall bestraft werden) und vielleicht
auch ein Stück der Ostseeprovinzen bis Mitau oder gar bis Riga
hinauf wären unserm Staate ausgehefert worden. Und wer weiß,
ob nicht Hardenberg in diesem Fall seine Hoffnungen noch höher
gespannt und die Personalunion mit Polen, welche Alexander für
sich begehrt hatte, für seinen König angestrebt hätte! Es war
ein Gedanke, den er schon im Frühling 1811 geäußert hatte und
den er auch gegen St. Marsan einmal durchschimmern ließ.
Halten wir daran fest, daß der wahre Feind Napoleons Eng-
land war, auf dessen Niederwerfung mitten in den Rüstungen
gegen Rußland sein Absehen mehr als je gerichtet war. Man lese
nur seine zahlreichen Weisungen an seinen Marineminister Admiral
Decres gerade aus diesen Jahren, wie unaufhörlich er darin die
Verstärkung seiner Marine betreibt und den Angriff in der Front
gegen die englische Küste im Auge behält. Dies war sein Plan,
und nicht etwa der Zug nach Indien über Moskau hinaus. War
er doch fast wider Erwarten zu dem Marsch gegen die russische
Hauptstadt durch die Rückzugsstrategie des Zaren gezwungen
worden. Er wollte Alexander in einem Feldzuge, mit einem oder
ein paar gewaltigen Stößen zu Boden werfen, dann aber die Wen-
dung gegen den Erbfeind Frankreichs machen. Denn dann durfte
er wirklich hoffen, auf der Pyrenäischen Halbinsel ohne Mühe
Herr zu werden und den Kontinent gegen England zu schließen,
ohne befürchten zu müssen, daß ihm ein Feind in den Rücken falle.
Nehmen wir einen Augenblick an, daß Napoleon über Russen
und Engländer gesiegt und die Dinge so sich gefügt hätten. Preußen
344 Kleine historische Schriften.
wäre dann ein Staat geworden von fast ausschließlich protestan-
tisch-deutschem Charakter, die baltisch-deutsche Vasallenmacht
Frankreichs, umgeben von dem vergrößerten Polen und den Staaten
des Rheinbundes, unter den Mächten zweiter Ordnung eine der
ersten — während Rußland tief in den Osten und das Binnenland
zurückgeschleudert wäre. Wie lange würde ein solches Europa
wohl bestanden haben ? Auf Legitimierung seiner Gewalt, auf
die Gründung einer Dynastie waren alle Absichten Napoleons
gerichtet. Ob ihm das Schicksal auch im Siege die Zeit gelassen
haben würde? Die Krankheit, die seinen stählernen Körper auf
St. Helena ro sasch zerbrach, hätte ihn auch auf dem Throne
schwerlich verschont. Und wie soll man glauben, daß die Vasallen-
reiche, daß die besiegten Parteien in Frankreich selbst eine solche
Katastrophe ruhig hätten vorübergehen lassen? Man wird viel-
mehr sagen dürfen, daß der Tod des Eroberers und die Thronfolge
des Knaben, den er hinterließ, alle seine Feinde, so gut wie seine
Niederlage in Rußland, gegen sein kaum festgewurzeltes System
in die Schranken gerufen haben würden.
Doch genug der unfruchtbaren Betrachtung von Eventuali-
täten, die so weit von allem Geschehenen abweichen. Das Schick-
sal hat es anders gefügt. Im Kampf gegen den Unterdrücker,
im Völkersturm, die deutschen Stämme hinter sich herziehend,
hat Preußen das Erbe seiner Väter, die Großmachtstellung in der
Welt neu erworben und unverwelkliche Lorbeeren den ruhm-
vollen Traditionen seiner Geschichte hinzugefügt. Unermeßlich
ist der Segen, den die folgenden Generationen, den die ganze
deutsche Nation davon gehabt hat. Der Staat Friedrichs des
Großen, die Vormacht des evangelischen Deutschlands, hat sich
dadurch erst recht den Anspruch erworben, der Führer zur deutschen
Einheit zu werden. Also, daß heute die Ruhmestaten, welche in
deutschen Bürgerkriegen Preußens Macht begründet haben, \vie
ein Gemeingut des ganzen Deutschlands betrachtet werden, und
daß die Siege von W'arschau und Roßbach, ja die von Leipzig
und Königgrätz in der nationalen Erinnerung fast schon dieselbe
Stelle einnehmen wie die Tage von Wörth und von Sedan.
1848.
(iSgS.)
In einem eigentümlichen Kontrast zu den rauschenden Fest-
lichkeiten, mit denen wir vor zwei Jahren und danach bei der
Zentenarfeier unseres geliebten alten Kaisers das Gedächtnis unseres
letzten großen Einheitskrieges und seiner Helden erneuerten, steht
die Art, wie wir heute der großen Ereignisse gedenken, die vor fünfzig
Jahren das Leben unseres Volkes erschütterten und an die uns jeder
Tag dieses Jahres erinnern müßte. Die Siege von Gravelotte und
Sedan, die Tage der Kaiserproklamation in Versailles und des
Friedens zu Frankfurt wurden mit dem ganzen Aufwände offiziellen
Pompes begangen; und mit den Behörden wetteiferte die Be-
völkerung, um Kaiser Wilhelm und seine Paladine zu feiern und
die blutigen Opfer zu segnen, mit denen wir unsere Einheit er-
kauft haben. Jubel erhob sich überall, wo Deutsche wohnten.
Neidlos und fast sehnsüchtig sahen unsere Brüder in Österreich
zu uns hinüber, und im Reich schienen die besiegten Parteien
kaum mehr daran zu denken, daß auch ihre Ideale, die klerikalen
wie die demokratischen, auf den Schlachtfeldern Böhmens und
Frankreichs erlegen waren. Nur wer, wie die Sozialdemokraten,
die Grundlagen unseres Staates, Monarchie und Nationalität,
verleugnet, bheb grollend abseits.
Heute dagegen sind es diese allein, welche sich zu unserer
Kevolution bekennen und sie zu lärmenden Demonstrationen
ausnutzen werden. Unsere Behörden hüllen sich geflissenthch
in Schweigen. Ängstlich sucht selbst der liberale Magistrat Berlins
das zahme Demonstratiönchen abzuwehren, mit dem sich die Väter
346 Kleine historische Schriften.
unserer ersten Stadt zu Ehren der Märzgefallenen herauswagen
wollen. In Italien sahen wir kürzlich, wie am Jahrestage der Sizilia-
nischen Revolution ihrem alten Führer, ihrem letzten Repräsen-
tanten, Francesco Crispi, enthusiastische Huldigungen dargebracht
wurden, und der Erbe des nationalen Thrones, der mit nach Palermo
gekommen war, trat neben dem alten Verschwörer ganz in den
Schatten. Bei uns, so scheint es fast, wird sich die offizielle und
korrekte Ehrung des »tollen Jahres« auf das Festmahl beschränken,
zu dem sich, wie die Zeitungen melden, am i8. Mai in Frankfurt
das Dutzend alter Herren vereinigen wollen, die noch von den Mit-
gliedern des ersten deutschen Reichstages am Leben sind. Sie
werden ohne Zweifel mit berechtigtem Stolz auf das an Geist
und reiner Leidenschaft größte Parlament in unserer Geschichte
zurückblicken und werden betonen, daß die Gedanken, welche
in der Paulskirche ans Licht traten, sich zur Gegenwart verhalten
wie die Aussaat zur Ernte. Und sie werden \delleicht sich dann
daran erinnern, daß alle ihre Hoffnungen und Entwürfe, von den
hohen Worten, mit denen Heinrich von Gagern die Verhand-
lungen eröffnete, bis zur Übertragung der nationalen Krone an
Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, getragen waren von derselben
Idee, auf welcher das moderne Italien ruht — und daß auch
die Barrikadenkämpfer am i8. Älärz für sie in den Tod gegangen sind.
Nicht als ob damit behauptet werden sollte, daß gerade der
Berliner Straßenkampf dazu gehört hätte, um den Widerstand
Preußens gegen die Revolution zu zerbrechen und das Frank-
furter Parlament herbeizuführen. ]\Ian könnte in der Tat viel
eher sagen, daß dies Blutvergießen ^^^rklich einem Mißverständnis
entsprungen sei, daß es nur ein Zwischenfall war in einer Ent-
wicklung, die auch sonst unaufhaltsam und kaum langsameren
Schrittes sich vollzogen haben würde. Aber die Idee, für welche
sich das bunte Heer der Revolution, Polen und Arbeiter, Spieß-
bürger und Studenten, hinter den Barrikaden scharte, war den-
noch die Basis auch des Frankfurter Reichstages.
Das war der Sinn der Leichenfeier und der tausendfachen
Kundgebungen der Sympathie, welche in allen Schichten der
Berliner Bevölkerung den unglücklichen Opfern des Kampfes
1848. 347
dargebracht wurden. Sie hatten nur an das letzte Recht, an die
ultima ratio desselben Herrscher\\dllens der Nation appelliert,
der auch in dem Verfassungswerke der Paulskirche und seinen
meisten Paragraphen, samt denjenigen von der Kaiserkrone,
zum Ausdruck gebracht wurde.
Denn nur durch den Druck und Stoß der Revolution, durch
die Übermacht des allgemeinen Willens konnte der Stein ins Rollen
gebracht und die Regierungen für die Reformen und die Einigung
der Nation gewonnen werden. Niemals hätte Friedrich Wilhelm IV,
aus freien Stücken in die konstitutionellen Forderungen gewilligt.
Von Anfang an war er vor der steigenden Flut zurückge\\ichen,
und seine ständischen Ideale selbst hatten sich bereits unter ihrem
Andrang gemodelt. Was er 1847 ausführte, entsprach nicht mehr
ganz seinen früheren Plänen, und was er dem ersten Vereinigten
Landtage mit äußerster Schärfe versagt hatte, die periodische
Berufung, das Petitionsrecht und andere konstitutionelle Rechte
mehr, mußte er bereits den vereinigten Ausschüssen im Januar
1848 für die Zukunft versprechen. Dann aber begann erst die
Bewegung mit voller Macht einzusetzen. Von Italien her ergriff
sie Frankreich, und allein gelassen von den verhätschelten Ultra-
montanen, versank in ihrem Strudel das Königtum Louis Philipps.
In wenigen Tagen hatte sie den Rhein überschritten und wogte
unauf gehalten durch den deutschen Westen und Süden hin. Donau-
abwärts dringend, warf sie in ein paar Stunden Mettemichs System
über den Haufen, und rings von der Brandung umtost, ward auch
der preußische Staat von dem gewaltigen Wogenschlage bis in
seine Tiefen erschüttert. Wie hätte sich der König jetzt noch frei
erhalten und die Monarchie auf ihren alten Grundlagen behaupten
können ? Von Moment zu Moment sah er sich weiter gedrängt.
Die Sendung Radowitz' nach Wien, die Einberufung des Ver-
einigten Landtages erst zum 27., dann zum 2. April, das Patent,
in dem dies am Morgen des 18. März verkündigt und die Ausbildung
der preußischen Verfassung, Aufhebung der Zensur und eine durch-
greifende Reorganisation des deutschen Bundes verheißen wurde,
waren nur die Etappen eines Weges, der den preußischen Staat
unabwendbar in die allgemeine L'mwälzung hineinführen mußte.
O^ Kleine historische Schriften.
Unter den Anklagen, die man gegen den unglücklichen Fürsten
aus der historischen Vogelperspektive zu erheben pflegt, figuriert
besonders oft der Vorwurf, daß er zu spät die Hand der Liberalen
ergriffen habe. Der König hätte, meint Heinrich von Sybel,
schon im Frühjahr 1847 einen vollen und ganzen Entschluß fassen
müssen, einen Entschluß, durch welchen eine rasche und warme
Einigung mit dem bevorstehenden Landtag erzielt worden wäre.
Unschätzbar hätte ein solcher Bund der Krone mit der Auswahl
der tüchtigsten und einflußreichsten Männer der Nation werden
können, ein Felsen, an dem die Wogen der aufgeregten Zeit zerschellt
wären. »Welch eine Ausdehnung«, ruft er aus, »des preußischen
Ansehens in Süd- und Mitteldeutschland, welch eine Vorbereitung
für die Wiedergeburt des deutschen Bundes zu einem deutschen
Reiche! Und wahrlich, dies alles wäre damals ohne große Opfer
erreichbar gewesen, lediglich durch die rückhaltlose Vollziehung
der Gesetze von 1815 und 1820 unter großherziger Auslegung
etwa unbestimmter Punkte.« Der große Historiker steht nicht
an, alle und jede Schuld an dem Scheitern der deutschen Reform
dem König zuzuschreiben: »Man darf es aussprechen: die ge-
schichtliche Verantwortung für alle wesentlichen Akte seiner
Regierung gebührt ihm und ihm allein.« Und in ver^vandter
Weise urteilt über den Besiegten Heinrich von Treitschke
fast auf jedem Blatte.
Wäre jedoch dies mitleidslose Urteil richtig, so würde es kaum
zu verstehen sein, weshalb denn nicht die opferlose Wiedergeburt
des deutschen Reiches auch noch im Frühjahr 1848 möglich war,
wenn nicht vor dem 18. März, so doch wenigstens in den Tagen
nachher, als Preußens König, mit den Farben der Revolution ge-
schmückt und umgeben von seinen liberalen Ministem, den Um-
ritt durch die Berliner Straßen machte, als er sich eins mit Deutsch-
land erklärte und alle Hberalen Wünsche auch für Preußen erfüllte.
Niemals hat er die nationalen Forderungen rückhaltsloser an-
erkannt. Aber mehr als je häuften sich gerade jetzt mit jedem
Schritte die Konflikte.
Denn es war nicht mögUch, die deutsche Frage auch nur an
einem Punkte zu lösen, ohne in die allgemeine Pohtik einzugreifen.
1848. 349
Das ist, was jene Kritik völlig übersieht. Wie das legitimistische
System zugleich die innere und die äußere Politik umfaßt hatte,
ebenso auch das Programm der Liberalen in allen seinen Schattie-
rungen. Der preußische König konnte nicht mehr der Freund
seines russischen Schwagers bleiben noch auch das langgepflegte
Verhältnis zu Österreich aufrecht erhalten, sobald er den natio-
nalen Forderungen irgendwie nachgab. Die Revolution war eben
nicht ein rein deutsches, sondern, wie schon Ranke sie bezeichnet
hat, ein europäisches Ereignis.
Vor fünfzig Jahren bedeutete liberale und nationale Politik
Feindsehgkeit mehr noch gegen Rußland als gegen Österreich.
Kaum saß David Hansemann, das Muster eines konstitutionellen
Ministers, im Sattel, so begann er mit General Willisen, dem liberalen
Adjutanten seines Königs, und mit polnischen Emigranten die
Polen gegen ihren Zwingherrn im Osten aufzuregen. Er scheute
sich nicht, die Absetzung des kommandierenden Generals in Posen
zu fordern, weil er sich der Deutschen in der Provinz gegen Willisens
Anordnungen annahm; und nicht an ihm hat es gelegen, wenn
die deutschen Kolonisten in der Ostmark sich damals aufrecht
erhielten. Jedoch tat er damit nichts anderes als was er schon
mit Vincke und allen Liberalen im Vereinigten Landtage gefordert
hatte und wozu die Wortführer der Nation im Vorparlament
die deutschen Regierungen feierlich aufriefen, als sie die Tei-
lung Polens für ein schmachvolles Unrecht erklärten und es als
die heihge Pflicht des deutschen Volkes bezeichneten, zu seiner
Wiederherstellung mitzuwirken. Sie zogen damit die Konsequenz
aus ihrem Prinzip und hatten auch pohtisch nicht so unrecht,
denn einen grimmigeren Feind als Zar Nikolaus konnte die Revo-
lution in der Tat nicht finden.
Friedrich Wilhelm hielt an der russischen Freundschaft fest,
aber in der Sympathie für die polnische Szlachta, wenigstens
soweit sie unter seinem Szepter stand, berührte er sich, wie in so
vielem, mit den Liberalen. Er hoffte, das vom Vater ererbte System
der Allianz mit den Ostmächten, die der Eckstein in dessen Politik
gewesen war, erhalten und dennoch seine deutschen Rechte und
Hoffnungen verfolgen zu können. Aber sowie er sie nur in Wien
350 Kleine historische Schriften.
angemeldet hatte, lange vor der Revolution, gleich nachdem er
den Thron bestiegen, war er hier den kältesten Mienen begegnet.
Metternich wußte sehr wolil, weshalb er jeden Hauch der hberalen
Ideen zu unterdrücken hatte; im Gefühl seiner Ohnmacht mußte
er brutal sein. Gerade in seinem Sturz bewies er die Richtigkeit
seiner Lehre: vor dem ersten vollen Atemzuge der Revolution
sank der Bau, den er länger als ein Menschenalter aufrecht er-
halten hatte, in Trümmer. König Friedrich Wilhelm aber hoffte
noch immer, mit dem Strome schwimmen zu können; er wollte
den Moment benutzen, um seine deutschen Pläne durchzudrücken.
Offenbar spekulierten dabei er und seine Ratgeber, Radowitz
ebenso gut %vie Heinrich von Arnim, auf die Macht der Revo-
lution und die Schwäche der befreundeten Regierung. So schon
in der Instruktion an den General für seine Reise nach Wien vom
I. März, mehr aber noch in dem Patent vom i8., das direkt unter
dem Einfluß der Nachricht von dem Sturze Metternichs zustande
kam, und vollends in der Proklamation vom 21. März, die von
der Leitung Deutschlands durch den preußischen Körüg sprach
und fast wie eine Kriegserklärung in Wien betrachtet werden mußte.
Wie sie dort wirkte, lehren uns die Briefe eines jungen sächsischen
Diplomaten, Vitzthums von Eckstädt : sie sei, schreibt er, wie ein
Akt des Wahnsinns aufgenommen worden. Und diese Stimmung
war in allen Schichten Österreichs gleichstark ; selbst die Radikalen
hatten für den König von Preußen nur Hohn und \'erwünschung.
So löste sich die langjährige Freundschaft der beiden \^or-
mächte Deutschlands. Der Kampf gegen die französische Revo-
lution hatte beide vereinigt, die deutsche trieb sie auseinander.
Wie die großen, so zwang sie aber auch die kleinen Staaten, so-
fort ihre Forderungen anzumelden und in den Kampf um die
Existenz einzutreten. Und mit einem Worte, alle Mächte der
deutschen Geschichte, auch die politisch noch ungebundenen,
uralte und eben geborene, die Geister der Tiefe, KlerikaHsmus
und Sozialismus, regten und rührten sich unter dem gewaltigen
Stoß und drängten ans Licht.
Daß die Regierungen sämtlich frei\\illig nicht weichen würden,
daß sie wohl paktieren, aber nicht bis zur Selbstvernichtung ge-
1848. 351
horchen würden, war selbstverständlich. Nichts war berechtigter
als das Mißtrauen in den Wetteifer, mit dem die deutschen Höfe
allerseits ihre Liebe zur Freiheit und Einigkeit der Nation be-
kannten. Sie folgten dem Strom, solange er sie fortriß. Wie es
Friedrich \\'ilhelm später in besserer Zeit gegen Leopold Ranke
mit seinem drastischen Humor ausgedrückt hat: »Wir lagen alle
auf dem Bauch.« Es war das Interesse der Revolution, sie in
dieser Lage zu lassen. Der Wille der Nation mußte der Herrscher
über sie bleiben. Nur so konnte man hoffen, die Zentralgewalt
zu schaffen, welche jeden Sonderwillen niederhielt. Hier also lag
die Stärke der Radikalen und die werbende Macht ihrer Ideen,
Sie waren die einzigen, welche die volle Einsicht in die Situation
hatten und die letzte Konsequenz daraus zogen. Weil die Re-
gierungen dem Willen der Nation zur Macht, Einheit und Frei-
heit widerstrebten, darum mußten sie untergehen in der einen,
unteilbaren Deutschen Repubük. Sie allein woUten jene Idee
zur Wahrheit machen, mit der die andern bloß spielten, Sie waren
wirkhch die Bekenner der Lehre von der Souveränität der Nation :
alle andern waren Heuchler, die nur mit Worten, niemals mit
der Tat ihre Prinzipien vertraten. Man spricht so gerne von der
Professorenpohtik im Frankfurter Parlament und verspottet
ihre unpraktischen Theorien, Aber die Professoren, die Beseler,
Dahlmann, Droysen, waren gerade die Opportunisten, die Poütiker
in der Versammlung, welche sie von den dürren Abstraktionen
der Theorie auf die realen Verhältnisse und die lebendigen Mächte
in der Nation hinzulenken versuchten. Die Radikalen waren jeden-
falls viel wildere Doktrinäre, obschon gewiß nicht ärgere als in
ihrer Weise Friedrich Wilhelm IV, und seine nächsten Freunde.
Aber gerade in ihren Theorien steckte für den Moment die stärkste
pohtische Kraft; in ihnen kam die volle Wucht des revolutionären
Willens zum Ausdruck, unter dem sich die Regierungen beugten,
und an den mehr oder weniger, sei es auch nur mit Bangemachen
und verstecktem Drohen oder sogar aus eigener Angst, aUe Liberalen,
auch die gemäßigtsten, appellierten. Und nur auf ihrem Wege
wäre es wenigstens denkbar gewesen, die Deutschen Österreichs von
ihrer Dynastie loszureißen und einer Zentralgewalt zu unterwerfen.
352 Kleine historische Schriften.
Es war die Idee, welche im Jahre 1789 ihre Kraft bewiesen
hatte: Frankreich war durch sie umgestaltet worden. Alles, was
diese große Nation seitdem geleistet hat, ihre Rumestaten und
ihre Niederlagen, alle ihre Schicksale sind dadurch bedingt worden.
Darauf kam es also auch in Deutschland an, ob die Idee der natio-
nalen Souveränität so wie in Frankreich, und wie es elf Jahre
später in Italien geschehen soUte, durchschlagen oder ob die Mächte
der Vergangenheit, die seit Jahrhunderten in dem Leben unseres
Volkes festgewurzelten Djmastien, sich behaupten würden. Die
ganze Geschichte der deutschen Revolution verläuft in diesem Kon-
flikt, und auf der Tatsache, daß jene Idee an der Kraft des Parti-
kularismus zerbrach, ruht seitdem unsere Entwicklung: unsere
Siege und unsere Verluste, die Einheitskämpfe des großen Jahr-
zehnts und die Preisgebung der österreichischen Brüder an Slaven
und Magyaren, Recht und Verfassung des neuen Reiches und
alle Parteiungen auf seinem Boden haben dadurch ihre charak-
teristische Färbung erhalten.
Preußen aber, der Staat, von dem aus das neue Reich ge-
schaffen wurde, hat zu allererst diese Kraft gegen die Revolution
bewährt — in dem Straßenkampf am 18. März. Nicht die Re-
volution siegte an diesem Tage, sondern die Armee. Überall war
jene kampflos zu ihrem Ziel gekommen: in Berhn wagte sie in
dem Moment, da sie es fast schon erreichte, den Kampf und erlag.
Dem alten Königtum in Frankreich war es, wie schon Ranke
betont hat, umgekehrt ergangen. Der Abfall der Truppen hatte
dort den Sieg der Revolution bei dem ersten Zusammenstoß ent-
schieden. In Preußen aber behauptete sich das Werk seiner alten
Könige: das stärkste Metall in ihrem »Rocher de bronce« hielt dem
Geiste des Jahrhunderts stand, auch in der nationalen Umbildung
der Freiheitskriege, die doch der absoluten Krongewalt nicht mehr
entsprach: bereits im Mai hielten die Gardelandwehrmänner fest
zu ihren Kameraden von der Linie, und auf allen Bahnhöfen
wurde auf seiner Heimkehr aus der Verbannung Prinz Wilhelm
1848. 353
von seinen alten Soldaten mit dem Liede von dem ,, Prinz von
Preußen" empfangen.
Aber damit war die Aufgabe der Armee erfüllt. Auch für
diesen »Militärstaat« galt das Wort, daß man mit den Bajonetten
wohl stechen, aber nicht darauf sitzen kann. Zur eigenthchen Lö-
sung aller der Aufgaben, welche im Innern und von außen auf
den König einstürmten, waren die Truppen unfähig, sie konnten
nichts, als ihn und seine Krone für den Moment erhalten; keinen
Schritt konnte er vorwärts tun, ohne sich mit den allgemeinen
Fragen, welche die Welt bewegten, auseinanderzusetzen. Jeder-
mann sah dies ein. Auch die Vertreter des alten Systems, wie
der Prinz von Preußen, der jetzt seinen absolutistischen Über-
zeugungen Valet sagte und sich in England durch seinen Koburger
Vetter und den Ritter von Bunsen von der Untrennbarkeit der
liberalen und der deutschen Ideen und der Notwendigkeit, sich
ihnen zu unterwerfen, überzeugen ließ. Was hätte Friedrich
Wilhelm auch sonst tun sollen ? Etwa bis 1840, auf das System
seines Vaters zurückweichen ? Dann hätte er seine eigenen Ideale,
alles, was er geschaffen und worauf er stolz war, seine heiligsten
Überzeugungen verleugnen müssen. Und was wäre damit ge-
wonnen worden ? Hätte er dann in dem Wirrwarr der deutschen
Dinge neutral bleiben soUen, während das eigene Volk in allen
Schichten von dem allgemeinen Fieber ergriffen war und die
deutschen Rivalen, so wie es die süddeutschen Kronen schon
früher gemacht hatten, den neuen Wind in ihren Segeln auffingen ?
Oder sollte er kämpfen, nach allen Seiten um sich schlagen, auf
die Rebellen in seinen Provinzen und auf alles, was von draußen
her sie verleitete und unterstützte? Nicht einmal Minister hätte
er, wie Leopold von Gerlach seufzend bemerkt, zu einer Politik
des Rückschrittes oder auch nur des Stillstandes bekommen.
Hier lag der tiefste Grund dafür, daß Friedrich Wilhelm im Siege
vor der Revolution zurückwich, daß er die Truppen entließ und in
Berlin bheb, hier die Erklärung für seinen Umzug am 21. März
und alle seine liberalen und deutschen Akte in den nächsten Wochen.
So blieb zunächst die Revolution überall im siegreichen Fort-
schreiten. Auch in Frankfurt auf dem Bundespalais wehte das
Lenz, Kleine historische Schriften. 23
354 Kleine historische Schriften.
schwarz-rot-goldene Banner sowie in W'ien vom Stephansturm
und auf dem Palais des Erzbischofs; selbst der alte, blöde Kaiser
Ferdinand mußte sich mit den Farben der Revolution am Fenster
der Burg vor seinen geüebten »\Veanern<( präsentieren. Willenlos
unterschrieben die Regierungen die Forderungen aller Adressen
und Deputationen, die an sie gelangten, und der Bundestag ließ
sich in jede Richtung treiben, die ihm das Vorparlament oder die
Komitees der Sieben und der Fünfzig anwiesen. Es waren die
frohen Tage der Erwartung, vorzüglich auch für die Radikalen;
unter deren Druck standen auch die mittleren Parteien, mehr als
sie es sich gestehen mochten.
Als das Parlament in Frankfurt zusammentrat, war die Hoch-
flut schon ein wenig verlaufen. Hecker und Struve hatten sich
im südlichen Schwarzwald bereits ihre Schläge geholt und mußten
jenseits der eiligst erreichten sicheren Grenze Rache schnauben.
Und im Posenschen hatte sich endhch die Regierung ermannt
und die Insurgenten zur Raison gebracht. Wieder waren es terri-
toriale Kräfte gewesen, an denen der revolutionäre Sturm er-
lahmt war.
Jedoch nicht bloß die Regierungen hatten sich stark gezeigt.
Im Gegenteil, in Posen wurden König und ^linister durch ihre
eigenen Untertanen vorwärts getrieben, entgegen den Frank-
furter Beschlüssen und ihren eigenen Idealen, mochten sie die
romantischen sein oder die konstitutionellen. Die Kraft also,
an der die deutsche Revolution sich brach, lag nicht bloß in den
Dynastien, sondern ebenso sehr in der Bevölkerung. Durch die
polnischen Rebellen in ihrer Existenz bedroht, dachten die Deut-
schen in der Provinz zunächst an sich selbst. Keine Theorie hielt
vor dem nächsten Interesse stand. Die Stettiner Kaufmannschaft
war gewiß hberal: aber sie beschwor im April den König, den
dänischen Krieg zu vermeiden, der ihren Handel vernichten müsse.
Vor dieser Tatsache kapitulierte auch der Radikalismus des jungen
Wilhelm Jordan, als er im September namens der durch die Blockade
zur Verzweiflung gebrachten preußischen Provinzen für den Waffen-
stillstand von Malmö eintrat, an dem sich die Revolution recht
eigentUch verblutete. Der Partikularismus beherrschte die Re-
1848. 355
volution in allen Gestalten. Alle Parteien des Reichstages waren
von ihm durchsetzt, bei allen Debatten, in jedem Beschluß und
je länger je mehr kam er zu Worte. Vor allem im zweiten Halb-
jahr, bei den Beratungen über die Verfassung und über die Kaiser-
krone. Aber schon früher trieb er die Parteien bald hierhin, bald
dorthin. Selbst Männer wie Dahlmann und die Beselers zollten
ihm ihren Tribut. Denn wer kann leugnen, daß nordalbingische
Interessen bei ihnen mitwirkten, als sie für das deutsche Recht
auf die Herzogtümer samt ihren dänischen Bezirken mit voller
Leidenschaft eintraten.
Doch würden wir vorbeigreifen, wenn wir nur das territoriale
Interesse als das dirigierende Moment in der Parteientwicklung
der deutschen Revolution bezeichnen wollten. Mehr noch bewirkte
der Druck der europäischen Konstellation. Der Sturz des Juli-
königtums hatte die deutschen Throne erschüttert, die Furcht, in
diesen Abgrund mit zu versinken, sie der Revolution unterworfen.
Als er sich schloß, mit der Straßenschlacht in Paris am 23. und
24. Juni, begann, wie Sybel treffend bemerkt, die Ebbe der Re-
volution für ganz Europa.
Wenige Wochen vorher hatte das Parlament, welches der
Nation Einheit, Kraft und Freiheit bringen wollte, seine Be-
ratungen begonnen. Es waren stolze Worte, mit denen Heinrich
von Gagern es eröffnete: »Wir sollen schaffen eine Verfassung
für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Voll-
macht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränität der
Nation.« Und gerne wiegten er und seine Freunde sich in dem
Gefühl, daß das Schicksal der Nation in ihre Hand gelegt sei.
Um so nachdrücklicher betonten sie ihr Recht und ihre Macht,
je eifriger sie nun doch bemüht waren, auch den anderen »Gliede-
rungen« des deutschen Volkes die gebührende Mitwirkung zu
sichern. Auch Dahlmann pries es an der Versammlung, daß »sie
allein und niemand sonst das Ungestüm der Bewegung gebändigt
und das Sonderleben der deutschen Staaten wieder zu Ehren
gebracht habe, indem sie hoch über ihnen die politische Einheit
aufstellte, als den Polarstern der deutschen Zukunft«. »Die Na-
tionalversammlung«, so schrieb er, »hätte die Einheit auf dem
23*
356 Kleine historische Schriften.
Wege der Revolution erreichen können, sie war stark genug dazu,
denn sie bildete lange Zeit den einzigen Mittelpunkt des vater-
ländischen Vertrauens, und viele wollten diesen Weg. Sie war
stark genug, ihn nicht zu wollen.« Und diese Auffassung färbt
im wesentlichen bis heute die historische Überlieferung, deren
Haupt Vertreter ja in jenem Jahre die Führer der Nation waren
oder die Grundrichtung ihres Lebens und Wirkens empfingen.
In Wahrheit entsprang die wachsende konservative Strö-
mung in der Versammlung dem Gefühl ihrer Ohnmacht und dem
Bedürfnis der Anlehnung an die erstarkenden Regierungen gerade
dem Radikalismus gegenüber. Das Verhältnis zwischen den Ge-
mäßigten und den Höfen war unklar und zweideutig von Anfang
an, von Argwohn und Intriguen ganz durchsetzt, und wenige
waren so sehr darin verstrickt wie die Gebrüder Gagern, die Lameths
der deutschen Revolution. Wie wenig die Frankfurter gegen die
Regierungen selbst in der Höhezeit ihres Einflusses vermochten,
zeigte ihr Versuch, die deutschen Truppen am 6. August zur Hul-
digung gegen den neuen Reichsverweser zu bringen, der völlig
fehlschlug, und der seine Beantwortung durch König Friedrich
Wilhelm beim Domfeste zu Köln fand, als er die Deputation der
Nationalversammlung daran erinnerte, daß es noch Fürsten in
Deutschland gebe und daß er einer sei. Ihr erster Versuch, in die
auswärtige Politik einzugreifen, war der Krieg um Schleswig-Hol-
stein, in dem Preußen das Schwert für sie führte. Er scheiterte
schmählich in dem Waffenstillstände zu ]\Ialmö, den der König
hinter dem Rücken der Reichsregierung und seiner eigenen Minister
zustande brachte. Gerade die Gemäßigten, die Freunde Preußens
wurden dadurch getroffen. Im tiefsten Herzen verwundet war
Dahlmann. Immer hatte er die Wogen gebändigt und niemand
hatte die nationalen Fragen ernster und tiefer aufgefaßt als er.
Jetzt stellte er namens des Ausschusses den Antrag, die zur Aus-
führung des Waffenstillstandes ergriffenen Maßnahmen zu sistieren.
»Unterwerfen wir uns,« so rief er aus, »bei der ersten Prüfung,
welche uns naht, den Mächten des Auslandes gegenüber, klein-
mütig bei dem Anfange, dem ersten Anblick der Gefahr, dann,
meine Herren, werden Sie Ihr ehemals stolzes Haupt nie wieder
1848. 357
erheben! Denken sie an diese meine Worte: Nie!« Aber was
war die Folge dieser prächtigen Apostrophe und dieses aus der
Tiefe hervorbrechenden Schmerzes? Ein Scheinsieg von wenigen
Tagen und danach die Unterwerfung der Versammlung und die
Auslieferung der nationalsten Frage an die Terroristen: Anarchie
und Bürgerkrieg wären der Weg geworden, um die Herzogtümer
zu gewinnen.
Auch der Radikahsmus aber war bereits machtlos. Ein wüstes
Aufschäumen des Pöbels und ein paar gräßHche Mordtaten, das
war alles, was er vermochte; wenige Kompagnien und Kanonen
genügten, um die Straßen Frankfurts rein zu fegen.
Sybel tadelt die Majorität, weil sie die Grundrechte vor der
Verfassung in Angriff genommen habe; sie hätte diese erst rasch
unter Dach bringen sollen. Ich sehe nicht ein, was dadurch ge-
wonnen wäre. Denn die dänische Frage wäre dadurch nicht anders
gelöst worden, und wenn es im Herbst und Winter wirklich so
scheinen konnte, als ob das Werk doch noch gehngen sollte, so
lag das wieder an Ereignissen, die völlig außer dem Bereich der
Versammlung lagen. Es war der Wiederausbruch der Revolution
in Österreich, die ihre Hoffnungen steigen heß und sie Preußen
zutrieb.
Dies scheint der Augenblick, da Preußen seine historische
Aufgabe hätte ergreifen können. Mit Friedrich Wilhelms deut-
schen Plänen ging die Mehrheit in Frankfurt jetzt eine Strecke
weit zusammen. In seinem eigenen Hause, wie unter den Ministern
und den hohen Offizieren fanden die Erbkaiserlichen Sympathien ;
nachdrücklich sekundierte ihnen die neue Kammer in Berlin;
man sprach davon, daß der König, wenn er das Programm nicht
durchführen wolle, wohl abdanken könne, wie Kaiser Ferdinand
in Olmütz.
Daß er sich widersetzte, ist die wichtigste Entscheidung ge-
wesen, die er je getroffen hat. Unendlich oft ist er darum an-
gegriffen worden, selten genug verteidigt. Und freilich, auch die
Katastrophe, die sein Staat danach erlitt und die sein Leben zer-
stört hat, hängt damit zusammen. Aber die deutsche Zukunft
hat dadurch die Richtung erhalten, die in Bismarcks Werk aus-
358 Kleine historische Schriften.
mündete. Denn nicht dieser und seine Partei würden das
neue Reich gebaut haben, wenn Friedrich Wilhelm aus den Händen
der Frankfurter Deputation die Kaiserkrone angenommen hätte,
sondern die Gagern und Simson, die Dahlmann, Beseler und
Vincke. Preußen hätte den Weg durchmessen müssen, der Sar-
dinien an die Spitze Italiens gebracht hat: es wäre schließlich
die Provinz geworden eines auf der Parlamentsmacht aufgebauten,
unitarisch gerichteten Nationalstaates. Ungeheure Aufgaben waren
ihm damit gestellt. Krieg gegen Österreich war das Erste und
fast das Geringste. Das Zweite die Bändigung der Kleinstaaten,
die nur aus Furcht vor der Revolution sich beugten und zitternd
vor dem preußischen Ehrgeiz schon jetzt mit Österreich verhandel-
ten. Wie hätte es anders geschehen können, als daß man aufs neue
den nationalen Willen gegen sie aufrief! Und doch wäre die Nöti-
gung nicht ausgeblieben, auch dessen wiederum Herr zu werden
und den Einfluß der parlamentarischen Theorie, die, ganz ab-
gesehen von dem allgemeinen und geheimen Stimmrecht, in dem
Suspensivveto und der Stellung des Parlamentes zu den Ministern
und der Gesetzgebung übermächtig entwickelt war, womögHch
zu zerbrechen. Damit aber noch nicht genug. Diesem Deutsch-
land galt es die Stellung zu erringen in der X^'elt. Der Bruch mit
Österreich war, man kann gar nichts anderes annehmen, auch der
mit dem Zaren, und noch schwebte die Frage um Schleswig-Hol-
stein. War es denkbar, die neue Ära mit dem Rückzuge hinter
die Eider einzuleiten? Noch mehr aber: ganz ungelöst waren die
Fragen der Tiefe, die mit immer stärkerer Gewalt herandrangen,
die soziale Frage und die der römischen Kirche, welche durch den
protestantischen Träger der deutschen Krone und die Loslösung von
Österreich aufs tiefste getroffen werden mußte und schon alle
hberalen Formen zu benutzen begann, um den Kampf mit den
Geistern der Freiheit und der Nationalität aufzunehmen: alle
Feinde des neuen Kaisertums hätten alsbald hier ihre stärkste
Stütze finden müssen.
Wahrhch, mehr als ein Friedrich der Große und ein Bismarck
hätten dazu gehört, um ein solches Programm zum Segen der
Nation durchzuführen.
1848. 359
Es war die eigenste Tat des Königs, daß er diese Krone zurück-
wies. Aus der Tiefe seiner romantisch-gefärbten Politik sprang
sie hervor. Für Deutschland wollte er, wie jemals, eintreten —
aber von Österreich sich nicht trennen und den Weg der Revo-
lution niemals beschreiten. Darin blieb er doch der Überlieferung
seines Vaters treu. Es war keine Politik der Tatkraft noch des
spezifischen Preußentums: ich bin kein Friedrich der Große,
sagte er zu Beckerath. Aber die Gefahren, welche die Annahme
der Krone unzweifelhaft über Preußen heraufgeführt hätte, hat
er vermieden und dadurch doch das spezifische Preußentum be-
hauptet. So hat er den Boden bereitgehalten, auf dem eben die
Männer, welche damals ihm ähnlich dachten, das neue Reich er-
richtet haben — den Bund der deutschen Territorialstaaten dies-
seits vom Inn und den böhmischen Bergen,
6©^=^?5^
Bismarcks Religion.
(1901.)
Der erste April hat die Gedanken der Nation von neuem auf
den Mann gelenkt, dem sie ihre Einheit, ihr neues Leben ver-
dankt, und er hat sie noch immer in dem alten Widerspruch der
Meinungen gefunden, den der Name des gewaltigen Kämpfers
von jeher in ihr erweckte. Immerhin ist, irre ich nicht, der Ton,
in dem Freund und Feind heute des großen Toten zu gedenken
pflegen, schon ein etwas anderer geworden als vor Jahren: die
Dissonanzen sind nicht mehr ganz so schrill wie früher; in Liebe
und Haß führt nicht mehr ausschließlich die Parteiung das Wort;
das reinere Licht historischer Auffassung beginnt den Reformator
unseres Staates zu umfließen. Man braucht aber kein Prophet
zu sein, um vorauszusagen, daß diese Stimmung sich mit der
Zeit noch verstärken, und daß Bismarcks heroische Gestalt um
so höher über dem Getümmel der Parteien und ihren Leiden-
schaften emporwachsen wird, je fester sich sein Volk in die Formen,
die er ihm schuf, einleben und zusammenschheßen wird. Es wird
ihm gehen wie allen wahrhaft Groi3en, die in dem Ahnensaal der
Nation stehen : das Trennende wird mehr und mehr zurückweichen,
das Gemeinsame hervorkommen; die Parteien, zwischen denen
er kämpfend seinen Weg fand, werden vergehen und die neuen,
die ihre Stelle einnehmen, auf dem Grund sich erheben, den er
gelegt hat; sie werden zu ihm als ihrem gemeinsamen Ahnherrn
emporschauen, wie zu den alten Helden, die mr als die Schöpfer
und Bildner unserer Nationalität verehren, und die im Leben
Bismarcks Religion. 361
weit mehr noch des Hasses und des Haders erweckt haben als
Bismarck selbst.
Daran wird nichts ändern, daß vermehrte Quellen die Einzel-
züge seines Bildes schärfer beleuchten, und daß die Kritik auch
die Schatten in ihm aufsuchen, Schwächen und Widersprüche
entdecken, den Anteil seiner Mitarbeiter betonen, den Ideen und
Zielen seiner Rivalen und Gegner gerechter werden wird, als es
ihm selbst und seinen Anhängern möglich war. Bismarck ist
groß genug, um ein objektives Urteil zu vertragen; ja er wird
der Nachwelt nur um so markiger und eigenartiger erscheinen,
je heller das Licht ist, das auf ihn fällt, und nur um so mäch-
tiger aus seiner Umgebung hervortreten, je sichtbarer diese
selbst wird.
Zu solchen Betrachtungen muß uns die jüngste Publikation
über sein Leben besonders anregen, die Sammlung seiner Briefe
an die Braut und Gattin, die sein Sohn, Fürst Herbert, uns vor
kurzem schenkte, ohne Frage der bedeutendste Quellenkreis,
den wir seit vielen Jahren über das Leben Bismarcks erhalten
haben, ja vielleicht durch seine Originalität und die überraschenden
Lichter, die daraus auf die Entwicklung des großen Staatsmanns
fallen, wertvoller als alles, was wir früher von und über ihn be-
saßen. Daß sich Fürst Herbert zu der Veröffentlichung entschlossen
hat, können wir ihm nicht genug danken; aber die Tat der Pietät
trägt ihren Lohn in sich selbst, denn die Briefe zeigen uns, wie
der Herausgeber schön und treffend sagt, daß das Gemüt des
Schöpfers unseres Reiches so groß und tief war wie sein Geist.
Sie führen uns nicht auf den Schauplatz der pohtischen Kämpfe,
in den Streit der Parteien, der vielmehr darin fast ganz zurück-
tritt, sondern in den Frieden des Hauses, in den Bereich des all-
gemein Menschhchen, in den Kreis der Empfindungen, die an
jeden von uns herantreten, in uns allen widerküngen und am
eigenen Herzschlag von uns gemessen werden können. Und wer
kann sagen, daß er jemals Briefe gelesen hat, die diesen gleich-
kommen an Echtheit und Ursprünglichkeit des Tons, an Kraft
und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, an Ernst und Wahrhaftig-
keit der Gesinnung? Schönere Briefe als Bismarck an seine Braut
302 Kleine historische Schriften.
hat nie ein Liebender geschrieben. Sie erinnern zugleich an den
jungen Goethe und an Luther: so vereinigen sich in ihnen Geist
und Tiefsinn und dichterischer Glanz der Sprache, überwallendes
und doch nie verletzendes, stets zart zurückhaltendes Empfinden,
reinste und oft rührend weiche Hingebung und leidenschaftlich
an die Geliebte sich klammernde Sorge mit tiefer, demütiger
Frömmigkeit und männlich fester Kraft und Willensklarheit:
Religion und Liebe bilden ihren Grundakkord und sind in un-
trennbarem Gleichklang wundervoll darin verschmolzen. Und
so werden diese persönlichsten seiner Briefe vielleicht mehr als
alles, was Bismarck uns gegeben hat und gewesen ist, dazu helfen,
ihm das Herz seines Volkes zu erobern, da sie eben selbst die reinste
Offenbarung des deutschen Herzens sind.
Unter den vielen neuen Zügen, die das Bild des jungen Bis-
marck aus den Briefen an die Geliebte für uns gewonnen hat,
ist einer der merkwürdigsten die strenge Bekenntnisgläubigkeit,
die aus ihnen spricht; sie hat, kann man sagen, auf viele Leser
fast verblüffend und wohl auf alle überraschend gewirkt.
Denn wenn wir auch im allgemeinen wußten, daß Bismarck in
den Jahren seiner Brautschaft und in der ersten Zeit seiner Ehe
sich näher zur Kirche gehalten hat als vorher und später, so ahnten
^^ir doch nicht, daß er mit solchem Ernst, ja solcher Inbrunst
die Dogmen des Luthertums in sich aufgenommen habe. Als
die Zeitungen bei dem Erscheinen des Buches den Werbebrief
um die Braut, der sie eröffnet, brachten, hörte man oft sagen,
daß es Bismarck mit dem Bekenntnis seiner Bekehrung nicht
völlig ernst gewesen sein könne, daß er schon in diesem Schreiben
den Diplomaten nicht verleugnet habe, der jene Sprache wählte,
weil er sich sagen mußte, daß er die Hand der Tochter von den
orthodoxen Eltern auf keine andere Weise erlangen könne. Wer
so urteilte, bewies freiUch, daß er die folgenden Briefe noch nicht
gelesen und jedenfalls sie nicht verstanden hatte, denn ein vollerer
Einklang als zwischen ihnen und dem Werbebrief ist nicht denk-
bar, und wir kämen, wenn jene recht hätten, zu der absurden
Annahme, daß Bismarck auch in den Briefen an die Braut und
die Gattin, als er schon in vollem und unantastbarem Besitz seines
Bismarcks Religion. 363
Glückes war, noch diplomatisiert hätte und ein blöder Heuchler
gewesen wäre.
Immerhin aber darf man so viel zugeben, daß die Liebe zu
Johanna von Puttkamer den Durchbruch des neuen religiösen
Empfindens in ihm bewirkt, und daß seine Religiosität sich
auch in seiner strenggläubigen Periode mit dem Glaubensleben
seiner neuen Verwandten nicht völlig gedeckt hat. Letzteres
deutet er in der Werbung wenigstens an und hat er in seinen
Liebesbriefen an die Braut nirgends verleugnet.
Wenn er der Einwirkung seiner Neigung auf das Erwachen
seines Glaubens dem Vater gegenüber nicht gedenkt, so wird
man in dem Puttkamerschen Haus doch wohl den Zusammen-
hang geahnt und es ihm eben nicht zu streng angerechnet haben,
daß er diesen zartesten Punkt umgangen hatte; niemals aber
hätte Bismarck in Reinfeld Aufnahme gefunden, wenn man dort
an der Aufrichtigkeit seines Bekenntnisses hätte zweifeln müssen.
Selbst die Tochter hätte ihn, wie sie ihm nach der Verlobung be-
kannte, korbbeladen abziehen lassen, wenn Gott sich nicht seiner
erbarmt und ihn wenigstens durch das Schlüsselloch seiner Gnaden-
tür hätte sehen lassen.
Die lutherische Orthodoxie, die später in Pommerns Kirche
ihr festestes Bollwerk gefunden hat und sie noch heute unge-
brochen beherrscht, war damals in ihr noch nicht lange heimisch
geworden, wenn auch schon im siegreichen Aufstreben begriffen.
Als ihr Begründer ist vor andern Adolf von Thadden auf Trieglaff
anzusehen, in dessen Familie Bismarck diese Rehgiosität und
mit ihr Johanna von Puttkamer kennen und lieben gelernt hat,
Thadden war kein Pommer, sondern ein Berliner, und hat in Ber-
Hn die Anregungen empfangen, die er in Pommern ausgebreitet
hat. Sohn eines höheren Offiziers und im Kadettenhaus erzogen,
hatte er nach dem Krieg, in dem er mit focht, einem Kreis junger
Offiziere und Juristen angehört, welche die rehgiöse Erregung,
die der Druck der Fremdherrschaft und der Kampf um die Frei-
heit erweckt hatte, festzuhalten und fortzubilden bestrebt waren;
die »Bibelhusaren« hießen sie darum bei ihren ungläubigen Kame-
raden. Es waren vor allem die Gerlachs, von denen Ludwig, der
364 Kleine historische Schriften.
spätere Präsident und Kreuzzeitungsrundschauer, der Schwager
Thaddens woirde, femer Lancizolle, Senfft-Pilsach, Plehwe und
andere; auch Clemens Brentano hat eine Zeitlang mit ihnen ver-
kehrt. Schleiermachersche Ideen, die auch auf sie gewirkt, hatten
sie bald abgestreift und unter herrenhuterischem Einfluß — Pastor
Anders von den böhmischen Brüdern ward von ihnen besonders
verehrt — einen in strengeren konfessionellen Formen festgebannten
Pietismus entwickelt.
Als Thadden nach Pommern und in den Besitz der Trieglaff-
schen Güter kam, durch die Heirat mit einer geistesverwandten
Dame, fand er die dortige Kirche noch völlig beherrscht vom
Rationalismus. Er war der Feind, dem sein Glaube aufs stärkste
entgegenstrebte, und sofort nahm er den Kampf mit allem Nach-
druck auf. Doch gründete er kerne Sekte, sondern als ein rechter
Pietist suchte er die herrschende Kirche zunächst von seinen
Konventikeln her zu unterhöhlen und zu erobern, in denen er
und seine Freunde, darunter als einer der ältesten und ihm eng-
verbunden der Herr von Puttkamer auf Reinfeld, selbst den
Gottesdienst leiteten, predigten, beteten und sangen und jede
Verbindung mit den aufgeklärten Pastoren vermieden.
Als Bismarck nach Pommern kam, stand der fromme Edel-
mann auf der Höhe seines Einflusses: die hinterpommerschen
Pfarreien waren bereits von seinen Anhängern erfüllt; zumal die
jungen Pastoren, die Schüler Hengstenbergs, die Eiferer für Thron
und Altar, scharten sich um ihn und sahen zu ihm als ihrem Führer
und Patron empor. Nicht bloß religiös, sondern auch pohtisch
und sozial eine festgeschlossene Schar, königstreu, altpreußisch,
von dem Geist eifriger Propaganda erfüllt, wenig duldsam gegen
Andersgläubige, aber auf dem gemeinsamen Grund eines friede-
vollen und selbstsicheren Glaubenslebens innig miteinander ver-
bunden.
Bismarck hatte schon mehrere Jahre auf dem Lande gelebt,
als er mit Thadden, der nicht zu seinen nächsten Nachbaren ge-
hörte, bekannt wurde; ein Schulkamerad, Moritz von Blancken-
burg, mit dem er die alte Freundschaft erneuerte, iind der als
Besitzer von Cardemin der nächste Nachbar von Trieglaff war.
Bismarcks Religion. 365
führte ihn in das fromme Haus ein. Bismarck war in dem Geist
erzogen worden, der in diesem Kreis verpönt war: im Elternhaus
wie auf der Schule hatte ihn noch die rationahstische Atmosphäre
umgeben, die so ganz dem Geist des alten Preußens entsprach;
Schleiermachers Religionsunterricht hatte ihn nicht tiefer be-
rührt; ohne große Kämpfe, wie es scheint, wenn auch nicht
ohne ernstes Nachdenken, hatte er schon auf der Schule mit dem
Glauben der Kinderjahre gebrochen; er habe, sagt er, bei seiner
Einsegnung an seinem sechzehnten Geburtstag keinen anderen
Glauben gehabt als einen nackten Deismus, der nicht lange ohne
pantheistische Beimischungen geblieben sei. Bei Spinoza und
Hegel, später, als er schon in Kniephof hauste, in den Schriften
von Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer suchte er den festen Boden
zu finden, den ihm die Kirche nicht mehr bot, und den nun doch
auch die Modephilosophen ihm nicht wiederzugeben vermochten.
In diesem Zustand der Leere und des Überdrusses, den das
ungestillte philosophische Grübeln, unbefriedigter Tatendrang,
die Langeweile und das Einerlei des Berufes und nicht zuletzt
die Sehnsucht nach dem Glück des Hauses und der Liebe selbst
in ihm hervorriefen, trat er in jenen Kreis ein, der ihm alles dar-
bot, w^as er vermißte: inniges FamiHenleben, treue Freundschaft
und eine feste, friedenschaffende Weltanschauung. Blancken-
burg, der ganz darin lebte, sich nie davon getrennt hatte und
bald durch seine Verlobung mit der Tochter Thaddens sich noch
enger mit ihm verband, suchte den Freund mit liebendem Eifer
für seinen Glauben zu gewinnen. Dennoch hat Bismarck, wie
sehr es ihm auch in dem frommen Haus, das ihm wie eine neue
Heimat war, behagte, und wie trostlos er sich oft in seiner Einsam-
keit fühlte, lange geschwankt, bis er sich unterwarf.
Auch die Bekanntschaft mit Johanna von Puttkamer, die
er auf der Hochzeit Blanckenburgs im Oktober 1844 kennen
lernte, hat ihn nicht sogleich dahin geführt. In Reinfeld ver-
kehrte er gar nicht; auch lag es von den Gütern seiner Freunde
zu weit ab, als daß er oft hätte Gelegenheit haben können, das
Fräulein zu sehen. Erst 1846 hat er eine Zuneigung zu ihr ge-
faßt, die ihn nicht mehr losHeß, auf der Harzreise, die er im August
366 Kleine historische Schriften.
mit ihr und Blanckenburgs machte; und erst der Tod der jungen
Frau von Blanckenburg, die im Oktober darauf dem Typhus,
der ihr schon Mutter und Bruder geraubt hatte, erlag, hat die
rehgiöse Krisis in ihm hervorgerufen, in der er sich mit den trauern-
den Freunden für Leben und Sterben eins fühlte, und aus der er
nun den ]\Iut schöpfte, die Hand der Geliebten von ihren frommen
Eltern zu erbitten.
»Mir ist die glückliche Ehe und die Kinder, die mir Gott
geschenkt hat, wie der Regenbogen, der mir die Bürgschaft der
Versöhnung nach der Sündflut von Verwilderung und Liebes-
mangel gibt, die meine Seele in früheren Jahren bedeckte« — in
diesen ergreifenden Worten, die er lange Jahre nach seiner Heirat
von Wien her an seine Gattin gerichtet, hat Bismarck ausgesprochen,
was ihm sein Glaube für das Glück, das er errungen, und was die
Liebe für den Glauben, den er gewonnen, ihm bedeutete: die
beseligende Gewißheit, in der Geliebten, in dem Glück des Hauses
den Frieden zu besitzen, den er in der Unruhe und der Einsam-
keit der Jugendjahre hatte entbehren müssen; in einem allmäch-
tigen Gefühl waren ihm Liebe und Religion zusammengeflossen.
»Ich habe Dich geheiratet,« schreibt er in den ersten Tagen von
Frankfurt, »um Dich in Gott und nach dem Bedürfnis meines
Herzens zu lieben und um in der fremden Welt eine Stelle für
mein Herz zu haben, die all ihre dürren Winde nicht erkälten
und an der ich die Wärme des heimatlichen Kaminfeuers finde,
an das ich mich dränge, wenn es draußen stürmt und friert«.
In immer neuen wundervollen Bildern hat er diesem Empfinden
Ausdruck gegeben, am schönsten vielleicht an einem Sommer-
tag des Jahres 184g zu Schönhausen, in einem jener Briefe, aus
denen es uns wirklich wie Goethes W^ertherstimmung und Luthers
Glaubensinnigkeit entgegenweht. Er war hinausgefahren nach
der Heide, um die neuen Schonungen anzusehen, die von der
Dürre gelitten hatten: »Ich nahm die Büchse mit, um Franziska
möglicherweise durch einen Spießer zu erfreuen, aber ich sah nur
Bismarcks Religion. 367
Mütter und Babies, die ich nicht voneinander trennen mochte.
Am Abend wollte ich Dir schreiben, aber es war so himmlische
Luft, daß ich wohl zwei Stunden auf der Bank vor der Garten-
stube saß, rauchte und die Fledermäuse fliegen sah, ganz wie
vor zwei Jahren mit Dir, mein Liebling, ehe wir unsere Reise
antraten. Die Bäume standen so still und hoch neben mir, die
Luft voll Lindenblüte, im Garten schlug eine Wachtel und lockten
Rebhühner, und hinten über Arneburg lag der letzte blaurote
Saum des Sonnenuntergangs. Ich war recht von Dank gegen
Gott erfüllt, und vor meine Seele trat das ruhige Glück einer
von Liebe erfüllten Häuslichkeit, ein stiller Hafen, in den von den
Stürmen des Weltmeeres wohl ein Windstoß dringt, der die Ober-
fläche kräuselt, aber dessen warme Tiefen klar und ruhig bleiben,
solange das Kreuz des Herrn sich in ihnen spiegelt; mag auch
das Spiegelbild oft matt und entstellt zurückstrahlen, Gott kennt
sein Zeichen doch.«
Wunderbare Vereinigung weltweiter Widersprüche! Dieser
Mann, der nach außen so kalt und verschlossen erscheint, der
harte ReaHst, der immer nur mit dem, was Macht ist und Inter-
esse, rechnet, das Ideale aber aus der Politik recht absichtlich
ausstößt, der Held, der keine Furcht kennt, der Kämpfer, der
nicht ruht, bis der Gegner am Boden liegt, der Herrschgewaltige,
der keinen WiUen neben dem seinen duldet, der Zornmütige,
der seinen Feinden mit unstillbarem Ingrimm begegnet und ihnen
gram bleibt, auch wenn sie vernichtet sind — sobald er in den
ihm geheiligten Bezirk eintritt, ist er wie ausgetauscht. Da atmen
seine Worte, seine Gedanken, seine innersten Empfindungen
nichts als Treue, Hingebung, Demut, Dank und Liebe. Und ist
er von ihm getrennt, so kommen alsbald wieder über ihn die alten,
trüben Gedanken. Da er von der Brautreise heimkehrt in das
Haus der Eltern und der Ahnen, während der Frühling durch das
Land geht — der Schnee ist schon fort, die Luft warm, die Leute
pflügen — , ist in ihm selbst der kurze Frühling wieder Winter
geworden; je näher er Schönhausen kommt, desto drückender
wird ihm der Gedanke, auf wer weiß wie lange wieder in die alte
Einsamkeit zu treten: »Die Bilder wüster Vergangenheit stiegen
363 Kleine historische Schriften.
in mir auf, als wollten sie mich von Dir fortdrängen. Mir war
fast weinerlich, wie wenn ich nach den Schulferien die Türme
von Berlin aus dem Postwagen erblickte.« Noch als Ehemann
preßt ihm der Abschied von Reinfeld Tränen aus. Sie kommen
ihm, wenn er des Nachts der fernen Geliebten gedenkt. Brennende
Unruhe erfaßt ihn, wenn ihre Briefe länger ausbleiben, als er
erwartet hat. Wie heiß und stürmisch, »mit fast unziemücher
Leidenschaft«, gesteht er selbst, dringt sein Gebet empor, wenn
er sich um die erkrankten Kinder ängstigt, und wie freudig sein
Dank, wenn er sie wieder gerettet weiß! Mitten in dem Getriebe
des politischen Lebens, wie leidenschaftlich er daran teilnimmt,
»friert und bangt« ihn doch nach seinen Lieben, dürstet ihn nach
einem »Tropfen Himmelsruhe in dieses fieberheiße Durcheinander,
etwas Feiertag in diese Werkstatt, wo Lüge und Leidenschaft
rastlos auf den Amboß des menschlichen Unverstandes hämmern«.
Noch auf der Höhe seiner Stellung, in den Tagen von Gastein,
fordert er die Geliebte auf, indem er sich der gemeinsamen Reise
vor achtzehn Jahren erinnert, mit ihm Gott zu danken für alles,
was er an ihnen Gutes getan habe, »daß ich aus der Wüste des
politischen Lebens im Geist nach dem häuslichen Herd blicken
kann, wie der Wanderer in böser Nacht das Licht der Herberge
schimmern sieht. Gott erhalte es so bis zur Einkehr!«
Dennoch sind alle diese Gegensätze, so disharmonisch sie
an sich sein mögen, untrennbar in ihm verbunden. Sie berühren
sich nicht nur, sie gehören zueinander — Luther würde gesagt
haben: »wie die Scheide zum Schwert, wie das Bögel zum Kranz«,
oder, um wieder Bismarcks Worte zu gebrauchen, »wie Tinte
auf weißes Papier, wie das starre Siegel auf das weiche Wachs«.
Ohne die Beimischung jener mildesten Tugenden würden die
heroischen Züge den Charakter des Harten und Abschreckenden
ge^\innen•. beide wurzeln sie in demselben Grund seiner mächtigen
Natur: erst vereinigt vollenden sie das Bild des Helden.
An dieser Stelle wird es uns deutlich, wie tief die Kluft war,
die Bismarck zu jeder Zeit auch von seinen Freunden schied,
und daß er auch ihnen gegenüber immer er selbst blieb. Auch
von Thadden haben wir den oder vielmehr die Werbebriefe —
Bismarcks Religion. 369
denn der fromme Ritter fand noch als Großvater den Mut, sich
aufs neue dem Ehestand zu ergeben; und auch sie sind viel mehr
Glaubensbekenntnisse als Liebeserklärungen. Es scheint fast,
als sei das so Stil in diesen Kreisen gewesen; und schon deshalb
hat wohl Bismarck zu dieser uns auffallenden Form seiner Wer-
bung greifen müssen. Aber wie weit weicht er darin nach Ton
und Auffassung von den Ergüssen seines väterlichen Freundes
ab! Wenn er es gegen Herrn von Puttkamer ausspricht, er hoffe,
daß die neue Regung seines Herzens, der Friede und die Zuver-
sicht, die sie ihm gegeben habe, was auch über ihn beschlossen
sei, nicht verloren sein würden, so hat er damit wohl mehr ver-
sprochen, als was er im Grunde des Herzens glaubte und sich selbst
gestanden hätte ; dies ist eine der Stellen des Briefs, in denen man
wirkhch etwas von Diplomatie entdecken möchte : sie war auf den
Empfänger berechnet. Wie Bismarck in Wahrheit damals zumute
war, und was er in jenen Tagen fürchtete, das hat er bald nach
der Verlobung seiner Braut in einem Traumbild geschildert, von
dem er geängstigt worden war: »Ich hatte einen so häßlichen
Traum, Moritz hatte Dir gesagt, das ginge nicht mit uns, wir
wären zusammen verloren, weil mein Glaube nicht recht und
fest sei, und Du stießest mich von der Planke, die ich im Schiff-
bruch gefaßt hatte, in die rollende See, aus Furcht, sie möchte
uns beide nicht tragen, und wandtest Dich ab, und ich war wieder
wie sonst, nur um eine Hoffnung und einen Freund ärmer.«
Von solchen Ängsten weiß der junge Thadden nichts. Im
Gegenteil, er tritt der Mutter, bei der er um die Tochter wirbt
— der Vater war tot — mit rechter Zuversicht entgegen und
möchte fast glauben, daß Fräulein Jette ihn erhören werde; sollte
er sich aber darin täuschen oder ein anderes wichtiges Hindernis
sich finden, so wird er, wiewohl mit Schmerz, darin die warnende,
züchtigende, aber liebende Führerhand seines Gottes erkennen,
sich seiner unzeitigen Wünsche begeben und mit Wehmut sprechen :
»Den meine Seele hebt, hat nimmer seinesgleichen, drum soll
auch dieser Lieb' aU andre Liebe weichen.« Und noch bei der
zweiten Werbung, als ihn die grauen Haare schon zaghafter ge-
stimmt haben, will er doch, falls ihm die Eltern die Hand der
Lenz, Kleine historische Schriften. 24
370 Kleine historische Schriften.
Tochter versagen werden, obwohl mit Tränen, sagen: »Behalten
Sie Ihr Kind, ich besitze es ja mit als Glied an dem großen, heiligen
Leibe der Kirche, davon unser Herr Christus das Haupt ist.«
Diese Rehgiosität kennt wohl Unruhe, aber keine Kämpfe, wie
Helden sie führen. Sie bildet zärtliche, rein gestimmte Herzen, sie
bindet ihre Bekenner innig aneinander und schafft ihnen den Frieden,
den sie draußen nicht finden. Aber sie schließt sie gegen die
Welt ängstlich ab; keiner unter ihnen verläßt die Reihen, um im
Einzelkampf den Gegner aufzusuchen und zu bestehen; je stärker
vielmehr sich ihr Gegensatz zur Umwelt entwickelt — denn erobern
wollen auch sie — um so enger tun sie sich zusammen. Sie sind
nicht ohne Unruhe und innere Bewegung, aber selbst der Kummer
und die Sorge um das ewige Heil äußern sich bei ihnen in weichen,
zärthchen Tönen, und in die Klage über die eigene Sündhaftig-
keit mischt sich das glückliche Gefühl, daß der Freund der Seele
ihnen näher ist als der Welt da draußen, und daß man sich ihm
nur um so inniger, sanftmütig und still, in willenloser Demut zu
ergeben habe, um seiner erfrischenden Gnade ganz teühaftig zu
werden.
In den vierziger Jahren war dieser Pietismus von der strengen
Haltung der alten Zeit, die Tanz, Spiel und Theater verpönt und
selbst noch das Rauchen für sündhaft gehalten hatte, schon freier
geworden; das persönliche Element in der Bewegung war zurück-
getreten, dafür aber das Gemeinsame um so stärker ausgebildet
und das soziale und politische Leben um so mehr nach den kirch-
Hchen Gesichtspunkten geordnet. Thadden selbst war nie ein
Kopfhänger gewesen; er hatte von jeher allgemeinere, auch lite-
rarische Interessen gepflegt, und so war auch Blanckenburg voll
Geist und Leben; auf den GeseUschaftsabenden in ihren Häusern,
an denen Bismarck teilnahm, wurden Shakespeare und Schiller
mit verteilten Rollen gelesen. Bei den Puttkamers dagegen war,
wie es scheint, die quietistische Tendenz, die der Pietismus von
Natur in sich trägt, fester gewurzelt, und auch Johanna neigte
noch sehr zu ihr hin.
Bismarck hat sich zu seinen Freunden, nachdem er sich ein-
mal unterworfen, rückhaltlos bekannt; wie er sich einst mit be-
Bismarcks Religion. 371
wußter Entschlossenheit von den Glaubensvorstellungen seiner
Kindheit losgerissen hatte, so ergriff er auch das neue Leben mit
der vollen Energie seines Willens, dem nichts verhaßter war als
Halbheit. Er disputierte mit ihnen über dogmatische Probleme
und verteidigte seinen neuen Glauben gegen ungläubige Freunde;
er betete des Morgens und des Abends; täglich suchte er in den
Spruchsammlungen der böhmischen Brüder, wie es die Sitte
seines Kreises war, sich die Losung des Tages; er las vor dem
Einschlafen Kapitel für Kapitel in der heiligen Schrift, be-
suchte jahrelang, auch in Frankfurt noch, die Kirche, und zwar,
wie es die Geliebte wünschte, besonders die strenggläubigen Pa-
storen. Er hatte Stunden bußfertiger Zerknirschung, die uns
fast an die Seelenängste des jungen Luther erinnern. »Ich freue
mich,« schreibt er im Februar 185 1, »daß wir beide zugleich zum
Tisch des Herrn getreten sind; möchte Dir unser Sauerchen (der
Pastor an der Kirche der Reinfelder) ebenso in die Tiefen des
Herzens gegriffen haben, wie mir Knaak; ich war fast hoffnungs-
und hilflos, als es so weit kam, und wollte die Kirche verlassen,
weil ich mich der Feier nicht wert fand, aber im letzten Gebet
vorm Altar gab mir Gott doch Erlaubnis und Beruf dazu, und
ich war recht froh danach.« So war auch unser Reformator vor
dem Altar von Angst durchschauert zurückgewichen, als er zum
erstenmal als Priester das heihge Opfer bringen sollte.
Aber bei alledem war Bismarck von Anfang her des Zwie-
spaltes zwischen seinem Empfinden und dem der Freunde sich
voll bewußt. Auch darin ging es ihm ganz wie dem Reformator.
Wie diesem, so war auch ihm der milde Glaube, den er in ihrem
Kreise fand, Balsam für das wunde Herz; die Sicherheit in ihren
Überzeugungen, die Herzensreinheit und der Friede, das Treu-
empfinden und Frauenhafte taten es ihm an. Aber gerade ihre
Kerngedanken, ihr für gar nichts Sorgen wollen und Sichabsondern,
ihre Willensertötung und Weltentsagung verwarf er. Er hat sich
darüber schon in den ersten Tagen seines neuen Glückes mit der
Geliebten ausgesprochen und in den Briefen der nächsten Wochen
die Diskussion mit Eifer fortgeführt. Es war der alte Streit über
Glauben und Werke. Gerade Johanna meinte den Glauben im
24*
372 Kleine historische Schriften.
Sinne Luthers zu besitzen, und Bismarck sprach dagegen für
den Wert der Werke; selbständig wie immer, trat er sogar für
den Brief Jakobi ein, den Luther selbst einst eine stroherne Epistel
genannt hatte. Er wollte es nicht wahr haben, daß ein Glaube,
der dem Gläubigen von seinen irdischen Brüdern sich abzusondern
gestatte, so daß er sich mit einer vermeinten isolierten Beschau-
lichkeit genügen lasse, der rechte Glaube sei; er nannte dies still-
sitzende Harren auf den Tag des Herrn, in Glaube und Hoffnung,
einen toten Glauben, denn es fehle das, was ihm die rechte Liebe
scheine. »Wo die ist, da ist auch, glaube ich, das Bedürfnis, sich
in Freundschaft oder durch andere Bande einem der sichtbaren
Wesen enger anzuschheßen als bloß durch die Bande der allgemeinen
christlichen Liebe. Jesus selbst hatte einen Jünger, den er ,lieb
hatte', d. h. noch inniger und in anderer Art als nach dem Worte
,liebet euch untereinander'; denn daß Du dieses letzte Gebot bei
dem caring for nobody nicht ausschließen willst, weiß ich wohl ; aber
Du soUst mehr tun. Du sollst Seelen haben, die Dir näher stehen
als andere, auch wenn Du einst ohne mich leben solltest; indessen
fatta sia la tua volontä, und käme es so, so denk daran, mein Herz!«
So mündet auch diese Betrachtung in dem Gefühl aus, das ihn
ganz durchglühte und sein Leben erneuert hatte. Brauchen wir
aber noch zu fragen, wer von beiden Liebenden den Ideen des
Reformators näher gewesen ist ? Auch Luther war, wie man weiß,
von dem Empfindungsleben der Mystiker tief berührt worden;
aber überwinden hat er sich niemals von ihm lassen; und je stärker
sein Glaubensbewußtsein sich entwickelte, um so mehr fühlte
er sich von ihm geschieden. Auch er hat den prinzipiellen Unter-
schied zwischen seiner ReHgion und der eines Staupitz klar er-
kannt und auf das entschiedenste betont : gerade das quietistische
Warten auf den Tag des Herrn, das völlige Versinken in Gott,
die »Gelassenheit in der Gelassenheit«, wie er es nennt, und dabei
doch die KampfessteUung gegen die als ungläubig aufgefaßte
Welt, jenes zugleich leidvoUe, demütig sich gebende und doch
selbstgefäUige, gerechttuende Wesen hat der Reformator grund-
sätzlich bekämpft: das ist ihm der Geist der Rottierer, der die
Schrift mit dem eigenen Geist meistern will und doch nichts anderes
Bismarcks Religion. 373
ist, als die alte Papisterei in einem neuen Kleid. »Ich kämpfe«,
fährt Bismarck an jener Stelle fort, »grundsätzlich in mir gegen
jede düstere Ansicht der Zukunft, wenn ich ihrer auch nicht immer
Herr werde; ich bemühe mich, zu hoffen, unter allen Umständen
das Beste, immer natürlich mit obigen italienischen Worten des
Vaterunsers als Grundgedanke.« Mangel an Glauben und Er-
gebung, Zweifel am Wiedersehen, am ewigen Leben, Zweifel an
Gottes Liebe nennt er den in Tränen schwimmenden, nicht zu
stillenden Schmerz seines Freundes um den Tod der Gattin. »Mit
dem Glauben, wie ich ihn verstehe, ist mir die Trostlosigkeit ganz
unfaßbar. Wenn ich an Moritz schreibe, habe ich Lust, ihn an
beide Schultern zu greifen und recht herzhaft zu schütteln.«
Ist es nicht, als ob wir Luthers Vers vernähmen:
»Ich komme, ich weiß woher,
Ich fahre, ich weiß wohin.
Mich wundert, daß ich noch traurig bin?«
Die Religiosität, die Thadden nach Pommern verpflanzt
hatte, wurzelte in dem Boden der Romantik, in der die Senti-
mentalität der Rousseauschen Gedankenwelt mit katholisierenden
Empfindungen, wie sie in der Reaktion gegen den Druck der
französischen Revolution überall erwachten, verwachsen war.
Bismarck aber hat auch in seiner Religion, wie in seiner Politik,
die Romantik ausgestoßen: sein Glaube war der demütig-starke,
weltfreudige und freie männliche Glaube des Protestantismus.
»In ergebenem Gottvertrauen«, so ruft er der Geliebten zu, »setz
die Sporen ein und laß das wilde Roß des Lebens mit Dir fliegen
über Stock und Block, gefaßt darauf, den Hals zu brechen, aber
furchtlos, da Du doch einmal scheiden mußt von allem, was Dir
auf Erden teuer ist — und doch nicht auf ewig.«
Wir sehen nun wohl, einen wie breiten Raum die Liebe zu
Johanna von Puttkamer in der neuen Lebensauffassung einnahm,
zu der Bismarck seit dem Herbst 1846 sich bekannte; daß sie
ihr nicht bloß den Anstoß gab, sondern gemeinsam mit ihr ans
374 Kleine historische Schriften.
Licht brach, ihre stärkste Wurzel, ja mehr als das, ein Stück ihrer
selbst war. Dennoch würden wir sein Glaubensleben nach Ur-
sprung und Wesen nur halb verstehen, wenn wir es lediglich aus
diesem persönlichsten Empfinden ableiten und nicht auch der
allgemeinen Momente gedenken wollten, unter denen es sich ent-
wickelt hat. Man hat längst erkannt, daß Bismarck die Ortho-
doxie seiner mittleren Jahre nicht immer bewahrt hat, vielmehr
gegen das Ende seiner Laufbahn zu einer freieren Religiosität
zurückgekehrt ist, so daß seine orthodoxe Periode beinahe wie
eine Episode erscheinen kann. Auch in den Briefen an seine Gattin
wird diese Entwicklung sichtbar; die dogmatischen Erörterungen,
die Angaben über Kirchenbesuch, Kommunion, Bibellesen und
Hausandachten treten in den späteren Jahren darin zurück. Es
fehlt auch da nicht an Aufblicken zu Gott, und jeder Gedanke
an die Lieben daheim wandelt sich ihm in Gebet ; aber die Kirchen-
luft der ersten Zeit atmen wir in den Briefen der späteren Periode
nicht mehr. Im Sommer 1851, in den ersten Monaten von Frank-
furt, herrscht noch die alte Stimmung vor; die Einsamkeit, die
Sorge um die Kinder, die mit der Mutter in Reinfeld geblieben
waren und dort erkrankten, gewiß auch der Mangel an Tätig-
keit, solange noch Herr von Rochow die Geschäfte der Gesandt-
schaft führte, hielten sie in Bismarck wach. Er merkt noch an,
wann er in der Kirche war, welchen Pfarrer er gehört, welchen
Eindruck die Predigt auf ihn gemacht hat; »mit System« Uest
er des Abends im Bett die Episteln des Neuen Testaments; auf
den Rheinfahrten hat er es bei sich ; wir finden ihn so in Rüdes-
heim auf dem Balkon seines Gasthauses mit einem Freund, dem
Grafen L^^nar, bei der Zigarre und einem Glas Wein, unter ihnen
der rauschende Strom: »Mein kleines Testament und der Stern-
himmel brachten uns auf christliche Gespräche, und ich rüttelte
lange an der Rousseauschen Tugendhaftigkeit seiner Seele, ohne
etwas anderes zu erreichen, als daß ich ihn zum Schweigen brachte.«
Mit Dank gegen Gott erkennt er daran, wie groß die Entfernung
zwischen seinem jetzigen Glauben und seinem früheren Unglauben
geworden ist: »möchte sie immer größer werden, bis sie das rechte
Maß hat.«
Bismarcks Religion. 375
Aber schon in dieser Zeit nehmen wir wahr, daß er sich fast
wider Willen freieren Gebräuchen und Vorstellungen anbequemt.
Zuerst besucht er noch die lutherische Kirche. Er findet einen
»zwar nicht sehr begabten, aber doch gläubigen Pastor« ; aber
»die Zuhörer waren außer mir genau zweiundzwanzig Weiber,
und mein Erscheinen war sichtlich ein Ereignis«. Das schreckt
ihn ab; am nächsten Sonntag versucht er es schon mit der refor-
mierten französischen Kirche, wo er wenigstens mehr Gemeinde
und Andacht, auch einen leidlichen Prediger antrifft; er wundert
sich über den hübschen Gesang dieser »nüchternen Reformierten«,
»fast nach der süßen katholischen Melodie, die Du immer spieltest« :
»aber ich kann nicht Französisch reden zu meinem lieben treuen
Herrn und Heiland, es kommt mir undankbar vor«. Acht Tage
darauf, am ersten Pfingsttag, muß er nach Heidelberg zu einer
Zusammenkunft mit dem badischen Minister: er hat Gewissens-
bisse darüber, daß er am Feiertag fahren muß, aber Rochow, sein
Chef in Frankfurt, hat es so gewoUt. Auf der Rückkehr, am zweiten
Pfingsttage, w^eiß er es so einzurichten, daß er in Bickenbach
an der Bergstraße, wo ein neues Rendezvous mit den Frank-
furter Freunden und Kollegen verabredet ist, in einer lutherischen
Kirche einen »sehr süddeutsch redenden, aber gläubigen Prediger«
hört. Aber schon am 26. Juni gesteht er der Gemahlin, die nach
den Konfessionsverhältnissen in Frankfurt geforscht hat: »Ich
werde hier etwas reformiert und rede noch immer Französisch
zu Gott, weil es mir jedesmal zu spät wird, um einen mir als sehr
gut empfohlenen lutherischen Prediger draußen in Sachsenhausen
zu besuchen.« Und Mitte August muß er gar den besorgten Rein-
feldern bekennen: »Ich bin ein rechter Heide, daß ich gar nicht
mehr in die Kirche komme und immer des Sonntags reise«. Und
wenn er auch hinzufügt, daß er ein recht schlechtes Gewissen
darüber habe, denn er diene Menschen an dem Tag, wo er nur
Gott dienen sollte, und habe immer dumme Nützlichkeits- und
Notwendigkeitsentschuldigungen dafür, so läßt sich dennoch ver-
muten, daß er sich trotzdem nicht gebessert hat; denn in
den späteren Briefen ist von den Kirchgängen kaum noch
die Rede.
376 Kleine historische Schriften.
In denselben Wochen (es waren die Tage, wo er ganz an die
Stelle des Generals von Rochow trat) bemerken wir aber auch
bereits eine leise Abwandlung seiner politischen Anschauungen.
Im Beginn seiner Frankfurter Tätigkeit war er noch ganz der
leidenschaftliche Reaktionär, der den Bruch mit dem konsti-
tutionellen Regime forderte. Kaum aber war der Sommer vorüber,
als er diesen Gedanken, mit dem sich der König und die Partei
der Reaktion, wie man weiß, sehr ernstlich trugen, widerrief,
»auf die Gefahr hin, von dem Minister für einen konstitutionellen
Renegaten gehalten zu werden«. Das Motiv, das ihn leitete, war
nicht sowohl aufkeimender Liberalismus, der ihm ganz fernlag,
sondern die Überzeugung, daß die Regierung auch so ihren Willen
durchsetzen werde, und daß die Rücksicht auf die deutsche Pohtik,
der Gegensatz Preußens zu Österreich, den er schon voll in sein
Programm aufgenommen hatte, es ratsam für die Krone erscheinen
lasse, die inneren Sch\\derigkeiten nicht ohne Not zu vermehren.
So genau also entspricht die rehgiöse Haltung Bismarcks der
politischen Richtung, in der er sich jeweilig bewegte: seine Er-
ziehung im Geist des RationaUsmus dem alt preußischen patri-
archalen Staat, mit dem diese Weltanschauung ganz homogen
war; die Unsicherheit und Skepsis der Universitätszeit und der
folgenden Jahre der allgemeinen Unruhe, die in Staat und Ge-
sellschaft seit der Juhrevolution um sich gegriffen hatte; die Hin-
wendung zum orthodoxen Bekenntnis der Reaktion seines Preußen-
tums gegen die deutsche Bewegung, \velche Krone und Staat in
ihren Grundfesten erschütterte und aufzulösen drohte ; und endlich
die Abkehr von der strengen Kirchlichkeit und die Wiederannäherung
an die Weltanschauung der jüngeren Jahre den Aufgaben, die ihm die
Politik seit seiner Berufung nach Frankfurt stellte, und die in der ^''er-
söhnung der preußischen Machtidee, in der er wurzelte, mit der natio-
nalen, von dem LiberaHsmus getragenen Bewegung gipfeln sollten.
Dieser Parallelismus kann kein Zufall sein; religiöses und
politisches Denken fallen nicht nur zeitlich in Bismarck zusammen,
sondern stehen in lebendiger W^echselwirkung.
Hierfür ist sehr bezeichnend, daß in dem Winter nach Olmütz,
eben in der Zeit der leidenschaftlichen Reaktion, sich auch seine
Bismarcks Religion. 377
Religiosität am strenggläubigsten zeigt. Damals war es, wo er
Knaak hörte und sich von seiner Bußpredigt so tief erschüttern
ließ, daß er es kaum wagte, in seinem Sündenbewußtsein vor
den Tisch des Herrn zu treten (Februar 1851). Aber sogar da
deckt sich sein religiöses Empfinden nicht mit dem seiner Freunde.
Ein paar Wochen später gesteht er es unumwunden ein, daß er
Büchsel doch lieber höre als Knaak, der ihm zu aufgeregt sei und
ihn so mutlos mache, daß sein ganzes Christentum in Gefahr gerate :
»ich kann ihn nicht vertragen, was ohne Zweifel ein schlechtes
Zeugnis für die Kraft meines Glaubens ist, und ich bitte Gott
um Kräftigung durch seinen Geist, denn ich bin wie eine lahme
Ente am Rande seiner Wasser, das sehe ich klar und kann mich
doch nicht ermannen, daß es anders werde« (29. März). Am folgen-
den Sonntag besucht er doch \\deder auf die Empfehlung der Ge-
mahlin den von ihr so verehrten Pastor; aber seine Opposition
wächst nur: Knaak überspanne die Saiten, indem er Tanzen,
Theater und alle weltliche Musik verdamme; das gehe zu weit,
sei Zelotismus. Freilich setzt er hinzu, daß er ihn persönlich den-
noch liebe und wohl wünsche, es gebe mehr solcher Zeloten, wenn
er auch seine Anschauung nicht teile: aber das ist eben doch die
Stellung, in der wir Bismarck von Anfang an dem Pietismus seiner
Freunde gegenüber sahen ; so sehr er sich von ihm angezogen fühlte,
blieb er doch grundsätzlich von ihm geschieden.
Und darin wiederholt sich nur auf religiösem Gebiet, was
wir in seiner politischen Haltung während der Revolution überall
wahrnehmen. Von außen gesehen, gehörte er ganz zu der Partei
der Kreuzzeitung und konnte wohl als ihr Heißsporn gelten; mit
gleichem Eifer trat er für Thron und Altar ein, sprach und schrieb
gegen Judenemanzipation und Zivilehe, kämpfte für den christ-
lichen Charakter des Staates, gegen das »Recht« der Barrikaden
und die heidnische, krebsfräßige Bureaukratie, und prophezeite,
daß das Narrenschiff der Zeit an dem Felsen der christlichen Kirche
scheitern werde. Aber diese Schlagworte der Partei haben in seinem
Munde einen andern Klang als in dem seiner Freunde und ordnen
sich alle einem Grundgedanken unter, der bei jenen hinter den
Doktrinen der Partei zurücktritt. Die Macht der Krone, als
378 Kleine historische Schriften.
deren getreuen Vasallen er sich gibt, deckt sich ihm in jedem
Moment mit der Interessensphäre des Staates, mit den
Machtansprüchen Preußens. Das Vaterland, das Land seiner
Könige und seiner Ahnen, stellt er auch in dieser Zeit höher als
die Partei. Es ist der Boden, in dem er wurzelt, auf dessen Um-
kreis sich sein politischer Wille bewußt beschränkt, der ihm den
Maßstab und die Grenze seines Handelns an die Hand gibt. Preu-
ßisch war immer die Grundfarbe seines politischen Empfindens
geblieben. Indem er nun Preußens Krone von der Revolution
bedroht sieht, erwacht dasselbe in ihm um so stärker, mit autoch-
thoner Kraft ; die liberalen und die nationalen Ideale seiner Jugend
treten davor zurück, da sie sich ihm überall mit unpreußischen
Tendenzen verbündet zeigen: Erhaltung Preußens und die Be-
siegung aller seiner Gegner ^^^rd das Zentrum seiner politischen
Gedanken.
So tritt für Bismarck die Politik nirgends aus der Sphäre
der Macht heraus, der historisch gewordenen Macht. Es ist kein
erträumtes Preußen, das er nach den Idealen seiner Weltanschau-
ung gestalten möchte, nach Maßstäben, die nicht von ihm selbst
hergenommen sind, sondern der Staat der Hohenzollern, der in
der Arbeit von Jahrhunderten erworben und er^vachsen war und
deutsches Leben ausbreitete, wohin er immer seine Wurzeln senkte.
Was Bismarck an den König und seine Partei fesselte, war im letzten
Grunde das Empfinden, daß das Gut, auf dessen Besitz es ihm
ankam, in ihren Händen besser geborgen sei als bei ihren Gegnern.
In Wahrheit stand er letzteren kaum ferner als seinen Freunden.
Denn auch diese waren nicht durchaus von preußischen Gedanken
getragen und zum Teil noch viel ärgere Doktrinäre als die Liberalen.
Romantiker waren die einen wie die andern: Bismarck allein
hatte der Romantik bewußt und völlig Valet gesagt.
Hier aber wird uns die Analogie, ja mehr als das, die innere
Verwandtschaft seiner Weltanschauung mit derjenigen Martin
Luthers aufs neue deutlich. Denn wenn es wahr ist, daß die Ideen
der Reformation in dem Staat der Hohenzollern Leben gewannen
und gerade die Epochen seiner Größe von ihnen getragen wurden,
so muß vor allen der Staatsmann, in dem sich der Genius des
Bismarcks Religion. 379
preußischen Staates recht eigentüch verkörperte, auf ihrem Grunde
gestanden haben. Er selbst ist sich des Zusammenhangs mit
Luther immerdar bcNviißt gewesen. Da Frau von Puttkamer ]\Iit-
leid äußert mit den ungarischen Rebellen, Graf Batthyany und
seinen Freunden, die der Rache Österreichs geopfert waren, ver-
weist er sie auf die lutherische Predigt über Matth. i8, Vers 21 ff.,
die er soeben mit seiner Frau gelesen, und die voll Liebe und Ver-
gebung sei: aber »weltliche Gewalten sollen nicht vergeben, was
man unrecht tut, sondern strafen,« sage der alte Luther aus-
drücklich am Eingang. Er nennt ihr [Mitgefühl eine Nachwirkung
der Rousseauschen Erziehungsprinzipien, in denen ihre Generation
aufgewachsen war, und bezeichnet damit genau den Zusammenhang,
in dem ihre Weltauffassung mit der Sentimentalität des 18. Jahr-
hunderts stand. Er fragt, ob sie nicht eher ^litleid habe mit den
vielen Tausenden unschuldiger Leute, deren Frauen und Kinder
durch den wahnsinnigen Ehrgeiz oder die Selbstüberhebung jener
Rebellen zu Witwen und Waisen geworden seien; das weich-
liche Mitleid mit dem Leib des Verbrechers trage die größte Blut-
schuld der letzten sechzig Jahre; die rechtmäßige Obrigkeit sei
ihren Untertanen, die Gott ihr anvertraut, den Schutz ihres
Schwertes gegen Übeltäter schuldig, die Rebellen aber bleiben
Mörder und Lügner, wenn sie jenes Schwert durch Gewalt an
sich reißen sollten, sie können töten, aber nicht richten. Wieder
ist es, als läsen wir Luthers Worte, jene Sätze, die auch heute
noch weichlichen Gemütern ein Entsetzen sind, in denen der
Reformator die Herren auffordert, in die mörderischen Rotten
der Bauern dreinzuschlagen, zu würgen, zu stechen, wer da könne:
»Bleibst du drüber tot, wohl dir, seligeren Tod kannst du nimmer-
mehr überkommen, denn du stirbst im Gehorsam göttlichen Wortes,
Römer 13, i ff., und im Dienst der Liebe, deinen Nächsten zu
retten aus der Hölle Banden.« Wie Dr. Martinus, so rechnet
auch Bismarck den Staat zur Sphäre des Staubes; niemand hat
je ein zutreffenderes Gefühl für den Unwert alles Irdischen ge-
habt als dieser Gewaltige, dessen Leben im Zerstören und im
Schaffen dahinging. Aber wie alles, was irdisch ist, ruht auch
ihm, gleich dem Reformator, weltliche Macht unmittelbar in
QQQ Kleine historische Schriften.
Gottes Hand. Dort ist der Ursprung ihres Rechtes, daher stammt
das Gottesgnadentum des Regiments. Nicht, als ob es einer be-
sonderen Weihe und Legitimation bedürfe, oder eine bestimmte
Regierungsform, etwa die absolute Monarchie, den Vorzug vor
anderen habe. Nichts lag Bismarck femer. Nicht wegen der monar-
chischen Idee an sich, sondern weil es Preußens Krone galt, stand
er gegen die Rebellen; er hat das Gottesgnadentum auch für den
konstitutionellen König sofort in Anspruch genommen. Er will
nichts weiter als den Gottesauftrag des Amtes, das götthche
Recht der Obrigkeit, so wie Luther es formuhert hatte: Recht,
Pfhcht, Verantworthchkeit vor Gott und den Menschen ent-
springen derselben Wurzel. Das hat Bismarck im Sinn, wenn
er, wie so oft, seinen Glauben, sein Christentum als den Urgrund
seines Pflichtgefühls, seiner Treue, seines Mutes und aller seiner
Handlungen bezeichnet, und nichts anderes schließhch, wenn
er von dem christhchen Charakter des modernen Staates und
von seiner Aufgabe spricht, christlicher Lebensauffassung die
Wege zu bereiten. Mögen seine Reden aus der Revolutionszeit
manchmal an die Hallersche Staatslehre anklingen, tatsächlich
hat er sie schon damals über\\'unden oder, besser gesagt, sie nie-
mals besessen. Das machte ihn zu dem geborenen Gegner rö-
mischer Staatsauf fassung, um so mehr, als er für jenes Preußen
einzutreten hatte, das von der Ecclesia mihtans, wie er schon
Ende 1853 an General Gerlach schrieb, »bis auf die Existenz
selbst als ketzerischer Mißbrauch bekämpft werde«.
Alle diese Gedanken aber besaß Bismarck bereits, als er
sich zu der Geliebten und ihrem Glauben bekehrte; wir finden
sie schon in seinen ersten Briefen an die Braut, er hat sie aus der
Zeit seines »Unglaubens«, seiner Unrast und »Verwilderung«
herübergebracht. Beweis, wenn es noch eines solchen bedürfte,
daß das Studium der unchristlichen Philosophie und die inneren
Kämpfe, die sie ihm brachte, doch nicht so unfruchtbar gewesen
sind, als es ihm in dem Glücksgefühl seines neuen Lebens erscheinen
mochte, und,, daß seine Weltanschauung mit den Einflüssen der
Schule und Universität^'und den Erziehungsprinzipien/ ja wohl
auch der Religiosität des elterhchen Hauses selbst enger zusammen-
Bismarcks Religioa 381
hing, als er es im Kampf gegen die Revolution eingestehen wollte.
Auch hat er sie nie wieder verloren, mochte er auch das viele Kirchen-
gehen mit den Jahren lassen und den spezifisch orthodoxen, an
den Mythus gebundenen Glauben mehr oder weniger abstreifen.
Mit seinen alten Freunden zerfiel er: sein einstiges Vorbild Lud-
wig von Gerlach ward Hospitant des Zentrums; Thadden selbst
wurde ein Tischgenosse dieser schlimmsten seiner Gegner ; von seinem
alten Gönner Senfft-Pilsach mußte er Vorwürfe über seine Glaubens-
losigkeit hinnehmen, und er mußte es erleben, daß auch sein wärm-
ster Freund, Moritz von Blanckenburg, der ihn einst zur Kirche
zurückgeführt hatte, sich von ihm wandte. Dennoch blieb er
im Kern derselbe. Er hatte ja niemals, wie sie, gewähnt, die Fülle
des Friedens und der Gewißheit bereits zu besitzen; nur eine
Station des Glaubens hoffte er bei seiner Bekehrung erreicht zu
haben, von der ihm Gott weiterhelfen werde, wie er ihm bisher
geholfen habe: er wollte ein Kämpfer sein, so im Glauben wie
im Leben.
Darum hat er auch zu keiner Zeit den Anspruch erhoben,
den Glauben anderer zu meistern; nur das göttliche Recht des
Staates wollte er schützen, denn das gebiete ihm sein Glaube:
er möchte, schreibt er der Braut, auch den Schein davon ver-
meiden, als wollte er sie irgendwie zu Glaubensregungen hinüber-
ziehen, wie sie gerade in ihm arbeiten: »Es ist mir so sehr heb,
wenn Du bei dem, was Du für wahr erkannt hast, unerschütter-
hch fest bleibst, und ich würde es mir zur Sünde anrechnen, wenn
durch meine Schuld das mindeste in Dir wankend werden könnte.«
Wie hoch ihn das Schicksal führte, vor der Majestät des götthchen
Namens verschwand ihm alle menschliche Gerechtigkeit und
Größe. Vor ihr verstummte auch sein Zorn und die lähmende
Sorge, und kam der Sturm der Leidenschaft zur Ruhe: »Wie
Gott will, es ist ja alles doch nur eine Zeitfrage, Völker und Men-
schen, Torheit und Weisheit, Krieg und Frieden, sie kommen
und gehn wie Wasserwogen, und das Meer bleibt. Was sind unsere
Staaten und ihre Mächte und Ehre vor Gott anders als Ameisen-
haufen und Bienenstöcke, die der Huf eines Ochsen zertritt oder
das Geschick in Gestalt eines Honigbauern ereilt?«
382 Kleine historische Schriften.
Noch im Alter, als er längst den Gipfel irdischen Ruhmes
erstiegen hatte, erfüllte zuweilen das Gefühl der Vergänglich-
keit, der Vergeblichkeit alles Strebens seine Seele mit den Schatten
der Schwermut. Aber an dem Gedanken an Gott fand auch sie
allzeit ihre Grenze; und wie wenig verstehen ihn alle diejenigen,
welche solche Stimmungen mit dem Modewort des Pessimismus
bezeichnen oder ihn einen Fatahsten schelten möchten. Es ist
nicht sowohl Resignation und Verzagtheit, als ein Ausruhen in
dem Gedanken an die Ewigkeit, eine »Station des Glaubens«,
das lebendige Empfinden der Abhängigkeit unmittelbar von
dem Willen des Herrn. Es war immer nur eine Stufe, auf der
Bismarck neue Kraft schöpfte, um die Last seines Amtes zu
tragen und seine Feinde zu bestehen, alle Rechte und alle Pflichten
die Verantwortlichkeit vor Gott und der Geschichte. Die dritte
Bitte des Vaterunsers, auf die er seine Braut an der Stelle, die
wir zitierten, hinwies, war bis ans Ende seines Glaubens letzter
Schluß. So hat es der Achtzigjährige gegen die deutschen Pro-
fessoren ausgesprochen, die ihm die Huldigungen unserer Hoch-
schulen darbrachten: »Unser Herrgott ist doch ein einsichtigerer
Regent, als irdische Fürsten sein können, und es gibt unter uns
viele Leute, die mit dem Regiment der Vorsehung innerlich, wenn
sie frei reden sollen, auch nicht vollständig zufrieden sind. Ich
bemühe mich, es zu sein, und das Gebet im Vaterunser ,Dein
Wille geschehe' ist mir immer maßgebend. Ich gebe mir Mühe,
ihn zu verstehn, aber verstehn tue ich ihn nicht immer.«
m^^^^
I
Bismardc und Ranke.
(1901.)
Es ist eine verbreitete Annahme, daß Bismarck ein großer
Leser historischer Werke gewesen sei und daß das Studium der
Geschichte auf seine poHtischen Anschauungen sehr eingewirkt
habe. Auf der Universität, so pflegt man zu erzählen, habe der
alte Heeren, der mit seiner historischen Bildung noch im 18. Jahr-
hundert, in der friderizianischen Epoche und den Anfängen der
Revolution, wurzelte, auf ihn besonderen Eindruck gemacht,
tieferen als seine anderen, zumal die juristischen Lehrer, deren
Auditorien er gern vermieden habe; später aber, in der Einsamkeit
des Landlebens, in den Jahren, da die Elemente seiner Politik in
seinem Geist gärend nach Gestaltung rangen, sei es vor allem
Ranke gewesen, dessen Werken Bismarck ein intensives Studium
gewidmet habe. Für den Historiker von Fach ist es gewiß eine
sehr schmeichelhafte Vorstellung, daß der größte Staatsmann bei
dem größten Historiker des ig. Jahrhunderts in die Lehre ge-
gangen sei, und daß die Elemente der Rankeschen Geschichts-
auffassung in Bismarcks Staatskunst Leben gewonnen haben.
Leider jedoch muß ich bekennen, daß ich weder in den Reden
und Denkschriften Bismarcks noch auch in seinen Erinnerungen,
die doch voll von historisch-politischen Betrachtungen sind, einen
direkten Hinw^eis auf besondere historische Studien, sei es Rankes
oder irgendeines zeitgenössischen deutschen Geschichtsprofessors,
gefunden habe. An der einzigen Stelle seiner Memoiren, die man
allenfalls so deuten könnte, gelegentlich eines Urteils über die Kon-
vention von Reichenbach, die Preußen und Österreich im Juli 1790
3g4 Kleine historische Schriften.
abschlössen, und mit der die Allianzpolitik gegen die französische
Revolution ihren Anfang nahm, spricht er doch nur ganz allgemein
von »geschichtlichen Urteilen chauvinistischer Landsleute«, zu
denen er sich in bezug auf jenes Ereignis in Gegensatz stellt; so
daß man im Zweifel bleibt, ob er dort überhaupt Historiker von
Fach im Auge hat. Dies Schweigen ist um so auffallender, als
Bismarck, ^^'ie man weiß, groß war im Zitieren; denn was ihn packte,
haftete auch in ihm und verschmolz mit seinem ganzen Sein und
Wesen. Wie lebte und webte er in William Shakespeare! Die
Verse des englischen Dichterfürsten begleiteten ihn durchs Leben,
sowie die heroischen Gestalten seiner Dramen ihm etwas von
der Kraft und Leidenschaft, die ihr Schöpfer ihnen einhauchte,
mitgeteilt zu haben scheinen. Der erste Brief, den wir von seiner
Hand besitzen, in enghscher Sprache geschrieben und an einen
englischen Studienfreund gerichtet, schließt schon mit einem
Zitat, den Hexenworten aus ]\Iacbeth, und das letzte Wort seiner
»Gedanken und Erinnerungen« ist eine gegen Gegner und Führer
der Fraktionen gerichtete Stelle aus dem »Coriolan«, dessen fin-
stere Züge auch das umschattete Bild des alten Fürsten in den
Jahren seiner eigenen Verbannung an sich trägt, jenes Wort voll
bitterer Verachtung, das der Römer, den die Vaterstadt verstieß,
den Demagogen Roms entgegenschleudert: »Get you home, you
fragments!« Neben Shakespeare war es vor allem Goethes »Faust«,
an dessen Geist Bismarck sich genährt hat. Mit ein paar
Bänden von Goethe, so sprach er unter seinen Tischgenossen in
Versailles, glaube er es wohl ein paar Jahre auf einer einsamen
Insel aushalten zu können. Seine Reden bezeugen uns, wie sehr
er auch in dem deutschen Dichter zu Hause war. Wie oft bhtzt
uns aus ihnen, gleich einem Edelstein in der Goldfassung, ein
Wort aus Goethes »Faust« entgegen! In der Waldeinsamkeit
von Friedrichsruh, in dem Sommer nach seiner Verstoßung, griff
Bismarck wieder zu Schiller, las seine Dramen noch einmal nach-
einander. Und wie immer, gewann, was er las, Leben und Beziehimg
zu ihm selber. Als er in den »Räubern« an die Szene kam, wo Franz
den alten Moor mit den Worten : »Willst du denn ewig leben ? « in
den Kerker zurückstößt, »da stand mir,« so erzählte er bald danach
Bismarck und Ranke. 385
einem Besucher, »mein Schicksal vor Augen!« Oder man ver-
gegenwärtige sich die Briefe des jungen Helden an seine Braut,
aus denen dem Leser allerorten, gleich Tautropfen aus blühendem
Gezweig, die Perlen deutscher und fremder Poesie entgegenglänzen.
Vergleicht man mit diesem Reichtum der Lektüre und ihrer
Präsenz in Bismarcks starkem Gedächtnis sein Verhältnis zu-
nächst zu den liberalen Historikern unserer Nation, so könnte
man beinahe zu dem Glauben gelangen, daß, wenn er sie über-
haupt gelesen hat, ihre Gedanken doch völlig von ihm abgeglitten
seien. Und doch kannte er manchen unter ihnen, gerade die Wort-
führer, persönlich und zu Zeiten mehr als ihm und ihnen selbst
Heb sein mochte. Aber nicht auf ihrem, sondern auf seinem eigenen
Boden waren sie ihm begegnet, in der politischen Arena. Denn
sie trieben ohne Ausnahme neben ihrem eigentlichen Metier auch
das der Politik; ja, es gab Zeiten, wo sie über der Teilnahme an
den politischen Geschäften ihren eigentlichen Beruf fast vernach-
lässigten. Und immer verfolgten sie in ihren historischen Werken
eine auf die Gegenwart, auf die politischen Aufgaben der Nation
unmittelbar gerichtete Tendenz: die Auswahl ihrer Stoffe, ihre
Darstellung und ihr Urteil, oft genug sogar die Kritik der Quellen
richteten sie danach ein; sie schilderten die Vergangenheit nicht
anders, als ob sie selbst an ihren Kämpfen teilgenommen hätten,
mit dem Eifer und der Gesinnung, die sie denen der Gegenwart
entgegenbrachten; sie haßten und verklagten die einen, als wären
sie ihre persönlichen Gegner, und priesen diejenigen hoch, in denen
sie die eigenen oder verwandte Überzeugungen wiederzufinden
glaubten; die Gegensätze und selbst die Schlagworte des Tages
übertrugen sie auf den Hader längst vergangener Geschlechter,
bis hinauf zu den fernsten Zeiten; selbst den Parteiungen in dem
alten Rom und Hellas liehen sie Farben, die sie der Gegenwart
entnahmen. Denn die Historie diente ihnen als Lehrmeisterin
der Politik; in dem Zusammenhang des Geschehenen suchten sie
die Wege aufzuweisen, welche die Mitwelt gehen müsse, die Recht-
fertigung ihres eigenen Meinens und Tuns und das Urteil über die
Schäden und Irrtümer der entgegengesetzten Richtung; ihre Ge-
schichtsschreibung selbst war ein Mittel und ein Stück ihrer Politik.
Lenz, Kleine historische Schriften. 25
336 Kleine historische Schriften.
Ja, sie \\aien recht eigentlich die Stimm führer der öffenthchen
Meinung, die Führer der Nation in ihrem Ringen um die Einheit;
und niemals hat die deutsche Geschichtsschreibung ein größeres
Pubhkum gehabt und tiefer auf die Parteien und die Presse ein-
gewirkt als zu der Zeit, da Politik und Historie von jenen so in-
einander gemengt wurden. Denn nur der Liberalismus hatte in
der Historie noch das Wort oder fand wenigstens allein Nachfolge
und Anklang; wo sich noch eine Stimme für eine reaktionäre, ja
auch nur unparteiische Auffassung der Geschichte erhob, ward
sie überhört; niemals hat Ranke einen geringeren Leserkreis ge-
habt als in dieser Zeit.
Es waren die Jahre, da Bismarck im Kampfe gegen die aus
ganz Deutschland andrängende Flut des Liberahsmus stand und
durch das Heer seiner Gegner liin die Bahn brach, auf der er Preußen,
Staat und Krone, an die Spitze Deutschlands brachte. So waren
denn die liberalen Historiker alle in dem ihm feindlichen Lager.
Schon in der Revolution Maren die älteren unter ihnen, Dalilmann,
Duncker, Droysen, die erklärten Gegner des Junkers von Schön-
hausen gewesen. Die Jungen, die neben und nach ihnen auftraten,
ihre Gedanken annahmen und fortentwickelten, bildeten den
Gegensatz nur schärfer aus, je mehr der Konflikt die Parteien
gegeneinander trieb und Bismarcks Politik die Aussicht auf das
Ziel, das alle verfolgten, zu verdunkeln schien. Sogar Männer
von so gemäßigter, durchaus preußischer, ja d^'nastisch-hohen-
zollernscher Gesinnung, wie ]\Iax Duncker, oder ein so energischer
Verfechter der IMilitärreorganisation, wie Theodor von Bernhardi,
standen gegen den Minister auf, als er, mit dem wieder reaktionär
gewordenen Österreich verbündet, das Schmerzenskind der Nation,
Schleswig-Holstein, dem Dänenjoche auszuliefern schien; Heinrich
von Sybel, der in den Anfängen des Konfliktes so eifrig zum Frieden
mit der Regierung geraten, war jetzt der erbittertste, leidenschaft-
lichste Gegner geworden, und selbst Heinrich von Treitschke
wandte sich für eine Weile von einem Preußen ab, das, wie auch
er wähnte, einer vaterlandsverräterischen Reaktion anheimge-
fallen zu sein schien. Bei solchen Gegensätzen ist es in der Tat
nicht zu erwarten, daß der preußische ]\Iinister liistorische Be-
Bismarck und Ranke. 387
lehrung bei Männern gesucht haben sollte, die sich in ihrer Ge-
schichtsschreibung so sichthch von ihren pohtischen Doktrinen
leiten ließen und aus ihr die Rechtfertigung ihrer staatlichen Ziele
zu gewinnen trachteten.
Zwar bedeutete die Höhe des Kampfes für diese Gegner
Bismarcks fast schon die Umkehr und die Versöhnung: die
Triiunphe des Ministers zerstreuten die Wolken des Mißverständ-
nisses, die seine Absichten verhüllt hatten; sein Sieg bekehrte
weitaus die meisten unter ihnen, und sie wurden die frühesten
und eifrigsten Lobredner seiner Taten. Denn am Ende des Weges
sahen sie oder glaubten sie doch zu sehen, daß Bismarck die-
selbe Richtung eingehalten habe, in die sie immer hingewiesen
hatten. So wurden sie die Herolde, ja die Geschichtsschreiber des
Mannes, den sie soeben noch befehdet hatten. Unter seinem maß-
gebenden Einfluß modifizierten sich ihnen die Bilder der Ver-
gangenheit in demselben Verhältnis wie ihre pohtischen Über-
zeugungen. Man vergleiche nur, wie Treitschke seinen Plan einer
deutschen Geschichte unter dem alten Bunde während der Kon-
fhktszeit auffaßte und wie er ihn später ausgeführt hat: ihm, der
die Bilder nationaler Zerrissenheit und stumpfer Reaktion, zumal
in Preußen selbst, seinen Zeitgenossen warnend vor die Augen zu
stehen gedacht hatte, verwandelte sich das Buch, als er nach dem
Siege über Frankreich an die Ausarbeitung ging, in eine Lob-
preisung der altpreußischen Monarchie. Den gleichen Abstand
nehmen wir wahr an den beiden großen Werken Sybels, dem
Zeitalter der französischen Revolution und der Wiederaufrich-
tung des Deutschen Reiches: jene, unter dem Eindruck des Schei-
terns der deutschen Revolution entworfen und in ihren Haupt-
bänden noch während der Kämpfe um die deutsche Einheit voll-
endet, trägt in Auffassung und Darstellung auch die Farben
jener streiterfüllten Epoche; während die deutsche Geschichte des
großen Historikers sowohl in der Anordnung des Stoffes, die von
den inneren Vorgängen fast absieht und nur die äußere Pohtik,
eben das Werk Bismarcks, voU umfaßt, wie auch in dem Urteil
und den Doktrinen selbst ganz den Stempel des Bismarckschen
Genius trägt. Kann man doch Bismarck fast als einen Mitarbeiter
25»
383 Kleine historische Schriften.
Sybels bezeichnen! Er hat ihm nicht nur den Zugang zu den
Quellen eröffnet, sondern, wie zu vermuten, auch die Korrekturen
gelesen oder doch jedenfalls den Fortgang des Werkes mit per-
sönlichstem Anteil begleitet; die Vergleichung der »Gedanken
und Erinnerungen« mit Sybels Werk lehrt uns, daß dieser an mehr
als einer Stelle, um nur ein Beispiel zu nennen : in der Darstellung
der spanischen Kandidatur, die Ansicht der Dinge zum Ausdruck
gebracht hat, an die der Minister selbst glaubte oder geglaubt
wissen wollte.
Wie nahe sich aber auch in der späteren Zeit die Wege des
großen Staatsmannes und der aus dem liberalen Lager stammenden
Historiker berührten, wie verwandt auch immer von jeher ihre
Ziele gewesen w^aren und wie eng verbündet sie nunmehr sein
mochten, blieb dennoch in Gesinnung und Urteil, ebensosehr
der Vergangenheit wie der Gegenwart gegenüber, zwischen ihnen
ein Abstand, der niemals ganz ausgefüllt ist. Zumal in der Auf-
fassung historischer Vorgänge läßt er sich wahrnehmen. Um so
leichter, da das besondere geschichthche Interesse Bismarcks
auf dieselbe Epoche gerichtet war, der sich auch die liberalen
Historiker mit Vorliebe zuw'andten, auf die Jahrzehnte der großen
französischen Revolution und der Befreiungskriege. Es war die
Zeit, in der die Gedanken, welche die Welt des 19. Jahrhunderts
bewegten, zuerst Form gefunden und von der die Kämpfe der
Gegenw^art ihren Ausgang genommen hatten. Wer diese beur-
teilen will, muß jene kennen, und wer, wie jene politischen Historiker,
mit den Lehren der Vergangenheit die Gegenwart meistern w^ollte,
konnte nirgends treffendere Parallelen für den Unsegen radikaler
oder reaktionärer Theorien , für die begeisternde Kraft vater-
ländischer Gesinnung oder für den Anspruch des reformierten
Preußens auf die Führung der deutschen Nation gewinnen als in
den erschütternden Kämpfen, in denen das alte Europa versank
und das neue heraufkam. Freilich hatte damals die preußische
Politik nicht in jedem IMoment die heroischen oder die liberalen
Züge an sich getragen, um derentwillen die politisch-historische
Schule ihm den Beruf, Deutschland zu einigen, vindizierte; und es
war nicht immer ganz leicht, die Schritte des preußischen Kabinetts
Bismarck und Ranke. 389
zu rechtfertigen und den Widerstreit, in dem es mit Österreich
stand, zu seinen Gunsten zu schHchten. Ein solcher dunkler Punkt
in der Geschichte der preußischen Diplomatie war z. B. der Friede
von Basel 1795, der Rücktritt Preußens von der ersten Allianz
gegen Frankreich gerade in dem Moment, da dieses die Übermacht
am Rhein gewann, wodurch ohne Frage der Verlust des linken
Rheinufers an Frankreich entschieden worden ist. An ihm ent-
brannte daher der Kampf zwischen den kleindeutschen Historikern,
den Preußenfreunden und den Vorkämpfern des österreichischen
Einflusses, den Großdeutschen und Klerikalen, in besonderer
Stärke: man weiß, welche Verdienste sich Häusser und Sybel
um die Würdigung der preußischen Politik in diesem kritischen
Moment unserer Geschichte erworben haben; aber auch, daß ein
objektives Bild jener Vorgänge erst gewonnen worden ist, seitdem
Ranke den Einzelfall, wie immer, unter das Licht der europäischen
Konstellation und der allgemeinen Politik gestellt hat. Auch
Bismarck hat, wie bemerkt, der Epoche des Baseler Friedens seine
Aufmerksamkeit zugewandt, und zwar nicht bloß in den »Ge-
danken und Erinnerungen«, wo er ihm einen ganzen Abschnitt
gewidmet hat, sondern schon lange vorher, ehe noch Sybel und
Häusser in ihren Büchern zur Darstellung des Baseler Friedens
gelangt waren. »Ich habe den Mut,« so schrieb er seinem Freund,
dem General von Gerlach, der die entgegengesetzte Richtung vertrat,
am 30. Mai 1857, »den Baseler Frieden nicht zu tadeln; mit dem
damaligen Österreich und seinen Thugut, Lehrbach und Cobenzl
war ebensowenig ein Bündnis auszuhalten wie mit dem heutigen,
und daß wir 1815 nur schlecht fortkamen, kann ich nicht auf den
Baseler Frieden schieben, sondern wir konnten gegen die uns
entgegenstehenden Interessen von England und Österreich nicht
aufkommen, weil unsere physische Schwäche im Vergleich mit
den andern Großmächten nicht gefürchtet wurde. Die Rhein-
bundstaaten hatten noch ganz anders ,gebaselt' wie wir und kamen
doch in Wien vorzüglich gut fort«. Für die Differenz zwischen
der historischen Anschauung Bismarcks und der der liberalen
Historiker kann die Art, wie der eine und die andern die Preußen
rechtfertigen, nicht charakteristischer sein. Letzteren ist bei allem
3P0 Kleine historische Schriften.
Eifer der Polemik doch nicht ganz wohl zumute ; sie erklären und
entschuldigen wohl die Politik Preußens, aber doch immer im Ton
leiser Klage und des Bedauerns, daß es in seinen deutschen Auf-
gaben durch Österreichs Perfidie gehindert worden sei; und sie
wenden sich gegen diese wie gegen die Vaterlandslosigkeit der
Rheinlandstaaten um so heftiger, je mehr sie den Zwang der Lage
für Preußen hervorheben. Denn sie beurteilen auch dies Ereignis
stets unter dem nationalen , dem gesamtdeutschen Gesichts-
punkt. Bismarck dagegen stellt sich ganz auf das preußische
Interesse; ihm ist Preußen nicht die deutsche Macht, sondern
die europäische Großmacht, und nur unter dem Horizont der
europäischen Konstellation weist er den preußischen wie den
österreichischen und den kleinstaatlichen Interessen ihre Stelle
an. Jene verleugnen auch in diesem Falle nicht ihre Parteistellung:
er dagegen sieht von Parteirechten und Parteipflichten ab und
behandelt alles von dem Standpunkt des Staatsmannes und unter
dem Gesichtspunkt der ]\Iacht; so \\ie er es in der Pohtik zu tun
pflegte: »mit kühler Würde und ohne Empressement«.
Wie ist nun das Verhältnis des großen Staatsmannes zu der
Historie Leopold Rankes gewesen, der gleich ihm in den Zeiten
der Revolution und des Konfliktes von den hberalen Wortführern
der Nation bekämpft oder übersehen wurde ?
Auch ihn kannte Bismarck persönlich; er hat ihn mehrfach
bei den gemeinsamen Freunden, den Manteuffels oder Gerlachs
oder auch am Hof Friedrich Wilhelms IV. gesehen. Aber näher-
getreten ist er ihm damals schwerHch; und auch in den späteren
Jahren werden sie nicht häufig zusammengekommen sein. Doch
hat Bismarck, er selbst hat es bezeugt, in den Werken Rankes ge-
lesen. In einem Glückwunschschreiben aus dem Januar 1877 hat
er es dem Altmeister der Geschichtsschreibung ausgesprochen,
daß er bisw'eilen nach seinen Büchern greife, um sich vergangene
Lagen zu vergegenwärtigen, und er hat auf den Einklang ihrer
historisch-poHtischen Anschauungen hingewiesen; an der Aus-
gabe der Hardenbergschen Memoiren, die Ranke damals ver-
anstaltete, nahm er lebhaften Anteil; und Ranke hat ihm ge-
dankt, indem er ihm dieses Werk wie seine Biographie des Staats-
I
Bismarck und Ranke. 391
kanzlers und die biographischen Skizzen Friedrichs des Großen
und Friedrich \Mlhelms IV., alles ^^'erke, in denen die vorbis-
marcksche Epoche Preußens beleuchtet wurde, überreichte. Prüfen
wir also, wie weit sich jener Einklang in Bismarcks Schriften er-
kennen läßt und ob \rir am Ende doch sagen dürfen, daß die
historischen Ideen Rankes in der Politik des Schöpfers unseres
Reiches lebendig geworden sind.
»Das Maß der Unabhängigkeit gibt einem Staat seine Stellung
in der Welt ; es legt ihm zugleich die Notwendigkeit auf, alle inneren
Verhältnisse zu dem Zweck einzurichten, sich zu behaupten. Das
ist sein oberstes Gesetz«: in diesen Worten, die den Wert eines
Axioms beanspruchen, hat Ranke einmal einen der Kemsätze
und fast schon die Summe seiner Geschichtsauffassung formuliert.
Denn das oberste Interesse ist aUemal die Erhaltung der Existenz;
wie der Meister an anderer Stehe sagt: »Jedes Leben flieht seiner
Natur nach den Tod und strebt nach Selbsterhaltung.« Jedoch
die Welt ist aufgeteilt: überall grenzen die Nationen, Staaten,
Stämme aneinander; es gibt keinen Raum mehr, den sie sich nicht
streitig machten, oder auf dem sie nicht rivahsierten ; wer vor-
wärts will, muß einen andern verdrängen; wer sich behaupten
will, muß darum kämpfen. Müssen doch selbst die Barbaren,
die Stämme der Wüste und der Wildnis, wenn sie leben wollen,
sich zusammentun und streiten, sei es auch nur gegen die Un-
bilden einer feindsehgen Natur; und auch ihre Institutionen,
wie primitiv sie sein mögen, werden sich bilden nach dem Maß
ihrer Unabhängigkeit, um so fester, je stärker der Widerstand,
um so loser, je schwächer der Gegner und je leichter die Bedin-
gungen der Existenz smd. Darum steht mit Recht die Staaten-
geschichte und in ihr die auswärtige Pohtik im Zentrum aller
historischen Betrachtung. Denn nur im Staat können sich die
Kräfte des Widerstands sammeln, nur organisiert können sie den
Feind bestehen, und alle inneren Organe müssen diesem obersten
Zweck angepaßt sein; im Entstehen, Wachsen und Vergehen sind
392 Kleine historische Schriften.
sie von ihm abhängig; immer ist es der Kampf, mag er nun Sieg
bringen oder Niederlage, unter dem sie sich wandeln: er ist der
Vater aller Dinge.
Übertragen wir diese Rankeschen Sätze auf die Ideenwelt
Bismarcks, so bemerken wir mit Erstaunen, daß sie sich mit dessen
Grundgedanken völlig decken. Als in der Konfhktszeit, kurz
vor dem Kriege gegen Österreich, der Führer der Opposition, Karl
Twesten, in der Kammer den Vorwurf gegen den Minister erhob,
daß er die äußere Politik nur als Mittel für die innere und für die
Förderung des Kampfes der Regierung gegen parlamentarische
Ansprüche benutze, erwiderte dieser, indem er jene Anklage aus-
drücklich zurückwies: »Mir sind die auswärtigen Dinge an sich
Zweck und stehen mir höher als die übrigen. « Er riet seinen Gegnern,
doch auch so zu denken wie er, da sie ja, was sie im Innern etwa an
Terrain verlieren möchten, später vielleicht unter einem liberalen
Ministerium sehr rasch wiedergewinnen könnten. Worte, die da-
mals nur Lachen erregten, denn man hielt sie für Ironie, und so
mochte Bismarck sie auch wohl gemeint haben; aber er hatte sie
dennoch im Ernst gesprochen. »Es ist dies, « fügte der große Minister
hinzu, »keine Einbuße auf ewig. In der auswärtigen Politik aber gibt
es Momente, die nicht wiederkommen«. »Ich habe«, bemerkte
er nach der Versöhnung im konstituierenden Reichstag des Nord-
deutschen Bundes gegen Lasker, der ihm ^^•ieder einmal mit dem
Zweifel an seinem LiberaHsmus gekommen war, »niemals in meinem
Leben gesagt, daß ich der Volksfreiheit mich feindhch entgegen-
stellte, sondern nur gesagt, und natürlich unter der Voraussetzung
,rebus sie stantibus': meine Interessen an den ausw^ärtigen An-
gelegenheiten sind nicht nur stärker, sondern zurzeit allein maß-
gebend und fortreißend, so daß ich, soviel ich kann, jedes Hindernis
durchbreche, das mir im Wege steht, um zu dem Ziel zu gelangen,
das, wie ich glaube, zum Wohl des Vaterlandes erreicht werden
muß. Das schließt nicht aus, daß auch ich die Überzeugung des
Herrn Vorredners teile, daß den höchsten Grad von Freiheit des
Volks, des Individuums, der mit der Sicherheit und gemeinsamen
Wohlfahrt der Staaten verträglich ist, jederzeit zu erstreben, die
Pflicht jeder ehrlichen Regierung ist«. Denn das oberste Gesetz
Bismarck und Ranke. 393
für Bismarck war die Förderung der Macht seines Staates. Wie viel-
fach sich der große Staatsmann gewandelt hat, dieser Grundidee ist
er immer treu geblieben: alle seine Ziele hat er ihr unterworfen:
der Kampf gegen die Revolution und die Niederwerfung Öster-
reichs, die Gründung des Reiches und der Ausbau seiner Verfassung,
der Streit um die Kirchenhoheit und die \\irtschafthchen Reformen,
Mäßigung, Vorsicht und rücksichtslos andrängende Energie,
Schonung oder Vernichtung des Gegners, kurz, die äußere wie die
innere Politik, das Große und das Kleine, Krieg und Frieden
richteten sich ihm nach diesem Pol seines Daseins. Er war in der
Tat nichts weniger als ein Anhänger des Absolutismus, mochte
er auch, später wenigstens, der Idee nach darin vielleicht die voll-
kommenste Staatsform sehen: denn niemals, sagte er, würden
alle Bedingungen beisammen sein, welche die Unumschränktheit
eines einzelnen zum Segen der Staaten werden Heßen; die UnvoU-
kommenheiten der menschlichen Natur, üble Einflüsse männ-
hcher oder weiblicher Günstlinge und eigene Schwächen würden
sich auch bei dem besten und einsichtigsten Regenten zum Schaden
des Ganzen geltend machen. Aber er hätte keinen Augenbhck
gezögert, auch zur Diktatur zu greifen und jede Freiheit der Mei-
nungen zu unterdrücken, hätte er keinen andern Weg vor sich
gesehen, um die Macht seines Staates zu erhöhen. Nichts war
ihm widerwärtiger als der reine Parlamentarismus, der Absolutis-
mus der Fraktionen, und er hat sein Leben darangesetzt, die dahin-
drängende Bewegung zu besiegen, es war die Basis aller seiner
Erfolge: aber als er den Kampf um die Einheit der Nation auf-
genommen hatte, war er entschlossen, im Fall der Not auch revo-
lutionäre Nationalbewegungen gegen die Feinde zu entfesseln.
Jeden Schachzug im Innern, so schreibt er in seinen >>Erinne-
rungen«, habe er nach 1866 danach eingerichtet, ob der Eindruck
der Solidität unserer Staatskraft dadurch gefördert oder geschädigt
werden könne. »Ich sagte mir, daß das nächste Hauptziel die
Selbständigkeit und Sicherheit nach außen sei, daß zu diesem
Zweck nicht nur die tatsächliche Beseitigung inneren Zwiespalts,
sondern auch jeder Schein davon nach dem Ausland und in Deutsch-
land vermieden werden müsse; daß, wenn wir erst Unabhängigkeit
394 Kleine historische Schriften.
von dem Ausland hätten, wr auch in unserer inneren Entwicklung
uns frei bewegen könnten, wie es gerecht und zweckmäßig er-
schiene; daß wir alle inneren Fragen vertagen könnten bis zur
Sicherstellung unserer nationalen Ziele nach außen«. Genau so
begegnet Ranke in dem »Politischen Gespräch«, worin er in Dialog-
form seine Staatsauffassung entwickelt hat, und woher der Satz
genommen ist, den wir an die Spitze unseres Abschnitts stellten,
dem Tadel des Kolloquenten, daß er mehr darauf zu denken scheine,
den Staat groß und mächtig zu machen, als die Bürger wahr und
gut, und mehr auf Kampf und Bewegung sinne als auf Frieden
und Muße. »Für den Anfang des Daseins, « erwidert er dem Freunde,
»für die Epoche, wo es die Erkämpfung der Unabhängigkeit gilt,
hast du nicht unrecht. Allmählich aber werden alle friedlichen
Bedürfnisse der menschlichen Natur sich geltend machen; dann
muß sich alles ausgleichen.«
Auch die Liberalen gingen wohl in ihrer Geschichts- und
Staatsauffassung von dem Satz aus, daß der Staat IMacht sei und
sich als Macht durchsetzen wolle. Und \\enn sie Preußen an die
Spitze Deutschlands bringen wollten, so geschah es vor allem,
weil sie dort die Macht erblickten, deren das ^^aterland bedurfte.
Aber, indem sie jenem Satz diese Anwendung gaben, negierten
sie ihn bereits. Denn für die gesamtdeutschen, nicht für die ihm
eingeborenen, nur ihm eigentümlichen Interessen sollte Preußen
sein Schwert gebrauchen. Sie stellten ihm größte Aufgaben und
erhabene Ziele ; aber sie verlangten dafür, daß es mehr oder minder
darin aufgehe, daß es, wie Sardinien, sein Selbst auslösche oder
doch im Innersten verwandle. Und selbst diejenigen in dem viel-
stimmigen Chor, die den HohenzoUem ganz Deutschland zu Füßen
legen und jede Eigengewalt neben ihnen vertilgen wollten, wollten
ihnen dennoch nur die eine, die nationale Krone bewilligen und
forderten die Beseitigung der alten.
Für Bismarck dagegen bheb die Basis seiner Politik alle-
zeit das Preußen, in das er hineingeboren war, der Staat, dem
seine Voreltern seit Jahrhunderten gedient, der ihm Gegenwart
und Vergangenheit miteinander verband, für den sein Herz seit
der Kindheit geschlagen hatte, und mit dem er sich in allen seinen
Bismarck und Ranke. 395
Traditionen und Überzeugungen verwachsen fühlte. Jene hatten
zur Grundlage nichts als die Prinzipien, die Doktrinen: das Vater-
land, zu dem sie schworen, war selbst erst eine Idee, und das Ver-
langen, ihr flacht und Gestalt zu verleihen, barg, es konnte nicht
anders sein, immer den »Embryo der Untreue«, wie Bismarck es
nennt, gegen den engeren Staat in sich, dem ein jeder von ihnen
angehörte; sie mochten sich geben, wie sie wollten, als Anhänger
Österreichs oder Preußens, großdeutsch oder kleindeutsch, radikal
oder gemäßigt, immer blieben sie doch Männer der Partei.
An diesem Ort bemerken wir abermals, ^^ie den gemeinsamen
Gegensatz zu den Doktrinären, so die Gleichheit der eigenen An-
schauungen z\nschen dem größten Historiker und dem größten
Staatsmann unseres Volkes. Auch Ranke hat seine Auffassung
recht im Widerstreit gegen die Parteien und die Schulmeinungen
ausgebildet. Daß die echte Politik eine historische Grundlage
haben müsse, und daß der Staat keine Doktrin sei, sondern eine
Wesenheit, ein Selbst, daß er eine die Generationen verbindende
und an ihn fesselnde Kontinuität des Lebens in sich trage, sind
Sätze, in denen Rankes ganze historische Auffassung hängt. Es
versteht sich aber, daß er sich damit in Widerspruch gegen jedes
Dogma setzt, mag es nun von der rechten oder der Hnken Seite
stammen. In der Zeit, da der LiberaHsmus den Ton angab, ward
seine Geschichtsschreibung wohl als die eines Tory bezeichnet.
In Wahrheit aber gehörte Ranke als Historiker so wenig einer
Partei an wie Bismarck als Staatsmann. Konservativ war seine
Staatsauf fassung nur insofern, als er die historische Grundlage
der Politik behauptete und die Macht als das Objekt des Staats-
lebens in Gegenwart und Geschichte ansah. Viel zu hoch stand
Ranke über den Begebenheiten, als daß ihn die Zeitereignisse,
kleine Wellenbewegungen für seinen die Jahrtausende umfassenden
Blick, hätten erschüttern können. Dieser »Tory« hat das Element
der Schuld in dem Kampf Marie Antoinettes gegen die Revolution
und damit die wahre Tragik ihres Geschicks ganz scharf bezeichnet
zu einer Zeit, da der gemäßigte Liberalismus eines Sybel mit den
feudalen Anhängern der unglücklichen Frau darin wetteiferte,
sie als das unschuldige Opfer revolutionärer Tyrannei von jedem
ogg Kleine historische Schriften.
Flecken reinzuwaschen. Niemals hat Ranke, wie Niebuhr, die
französische Revolution als eine bloße Kraft der Zerstörung, als
das große Weltverderben aufgefaßt, sondern vielmehr von jeher
die positiven, die aufbauenden Kräfte, welche unter anarchischen
Zuckungen ans Licht drängten, in ihr erkannt und die ungeheure
Weltwandlung, die sie in Aktion und Reaktion heraufführte, über
den Gegensatz der Parteien erhoben, dort wie überall in dem ewig
strömenden Fluß des Geschehens die festen Elemente, die Elemente
der Macht und die Kontinuität des Lebens enthüllend.
Nichts anderes ist es aber, wenn Bismarck dem Bemühen seiner
Partei entgegentritt, den Gegensatz gegen die der Revolution ent-
stammten Mächte, an ihrer Spitze die Monarchie Napoleons IIL, zu
einem prinzipiellen, zum Leitmotiv der PoUtik zu machen. Immer
ist es der Gesichtspunkt des Kampfes und der Macht, unter dem
er die Weltbegebenheiten ansieht: Europa ruht auf dem Schutt
vergangener Revolutionen; der Kampf hat alles Bestehende her-
vorgebracht; das europäische Recht, so schreibt er, wird durch
europäische Traktate geschaffen. Hier, wie so oft, nehmen wir
wahr, daß die Doktrinäre sämthch miteinander verwandter waren,
als sie selbst wähnten; sie waren, ob reaktionär oder überal, immer
noch von teils romantischen, teils selbst naturrechtlichen Vor-
stellungen beeinflußt. Während der Geist Rankes und Bismarcks
bereits ganz auf die Welt der Realitäten gerichtet war: erst sie
haben für uns Deutsche in Historie und Poütik Naturrecht und
Romantik völlig überwunden.
Wo aber die Grundbegriffe identisch sind, müssen sich auch
gleiche Formen und Methoden der Anschauung herausbilden.
Denn der gleichen Wurzel entsprechen gleichartige Blüten und
Früchte, und auf dieselbe Art der Fragestellung werden auch die
Antworten gleichartig ausfallen. Zwar, um es sofort zu sagen,
ist Rankes Weltbhck weit umfassender und dringt viel tiefer in
den Zusammenhang des Geschehens ein als das nur praktisch ge-
schulte Auge Bismarcks. Dennoch aber gehen sie auch im Einzelnen
der historisch-pohtischen Betrachtungsweise bis zu einer gewissen
Grenze nebeneinander her und immer in dem gleichen Abstand
von allen Meinungen der Schule.
Bismarck und Ranke. 397
Vor allem überrascht uns an beiden die Unbefangenheit des
Urteils, die Leidenschaftslosigkeit ihrer Anschauung. Nicht als
ob sie von sich aus der Welt indifferent gegenüberständen: viel-
mehr hat ein jeder von ihnen, wie alle erhöhten Naturen, seine
Aufgabe mit brennender Leidenschaft ergriffen. Diese selbst aber
ist in beiden verschieden geartet: bei Ranke beschränkt sie sich
auf das Gebiet der Forschung selbst; dem Erkennen bleibt alle
Energie zugewandt, kein anderes Ziel hat er vor Augen. Für
Bismarck dagegen ist dies nur ein Mittel, um zum Zweck zu ge-
langen. Sein Wille ist ganz auf das Handeln gerichtet. Aber die
Wege dahin muß er kennen; er muß wissen, welche Hindemisse
sich ihm entgegenstellen, muß die Kräfte messen können, die er
zu überwinden hat, das rechte Augenmaß dafür besitzen; nur so
kann er seines Zieles sicher werden. Darin offenbart sich der wahre
Staatsmann: kälteste Überlegung und der heiße Wille zur Tat
wohnen in ihm unmittelbar nebeneinander. All sein Absehen ist
auf den Moment berechnet, auf Kampf und Erfolg gestellt: aber
will er den Sieg erringen, so muß er das einzelne genau in dem
Zusammenhang erblicken können, in den es gehört; ganz wie es
die Aufgabe des Historikers ist. Darum ist die Betrachtungsweise
des Historikers und des PoHtikers in dem immerhin beschränkten
Umfang, den der pohtische Zweck setzt, die gleiche, und daher
kommt es, daß uns die politischen Berichte und zumal die »Ge-
danken und Erinnerungen« Bismarcks zuweilen anmuten können,
als läsen wir die kühle Berichterstattung Leopold Rankes, wäh-
rend sie von den leidenschaftlichen und pathetischen Deklama-
tionen eines Heinrich von Treitschke aufs weiteste abweichen.
Man weiß ja, wie grimmig dieser Vorkämpfer der preußischen
Macht die Kleinstaaten haßte, zumal seine eigene sächsische Heimat;
nur in der Vernichtung der Rheinbundkronen konnte er sich den
Weg zur deutschen Einheit denken.
Auch Bismarck hat scharf genug über den »gott- und recht-
losen Souveränitätsschwindel« der kleinen Höfe gewettert; aber
er hat doch im Grunde niemals verkannt, daß sie unter Napoleon
wie im deutschen Bund nur taten, wozu die Verhältnisse, ihr Inter-
esse, das Maß ihrer Macht sie drängten. Er konnte über Sachsen,
398 Kleine historische Schriften.
dessen ehrgeiziger Minister ihm überall in den Weg üef, dennoch
mitten in dem deutschen Konflikt das unparteiische Urteil fällen,
daß sein König in den Wiener Verträgen nur dafür bestraft sei,
weil er, 1813 allein in der Gewalt Napoleons befindlich, sich den
AUiierten nicht habe anschließen können. Heute legt die deutsche
Geschichtsforschung von verschiedensten Seiten her Hand an,
diese Nötigungen der kleinstaatlichen Politik aus den Urkunden
ans Licht zu bringen.
Alles entwickelt sich bei unserm Staatsmann aus dem Begriff
und dem Zweck, die seinem Handeln zugrunde liegen. Die An-
erkennung der Macht und des Interesses an ihrer Erhaltung und
Erhöhung als des eigentlichen Agens im staatlichen Leben führt
ihn dahin, die Notwendigkeiten, unter denen es steht, zu begreifen.
Dieser Gewaltige, der die Welt wieder einmal gelehrt hat, was die
Persönlichkeit in der Geschichte bedeutet, hat dennoch, auch
darin nur Ranke vergleichbar, unbefangener als alle Doktrinäre
anerkannt, daß in den Staaten Kräfte wohnen, die stärker sind als
jeder Einzel wüle : die konstanten Elemente, diejenigen, die mit
der Existenz des Staates, mit seiner Entstehung, seiner Lage,
seiner Zusammensetzung gegeben, die ihm, wie auch die Gegen-
sätze gegen die Nachbarn, eingeboren sind, hat Bismarck über-
blickt und dargestellt, so wie es nur Ranke verstanden hat. Wie
weiß er Österreichs Lage und Pohtik zu \\-ürdigen: die Schwäche,
in die es durch den Hader seiner Nationalitäten, durch die Stellung
in Italien und im Orient versetzt war, die Notwendigkeit, mit
der es, seitdem die heiHge Allianz durch die Revolution und den
Krimkrieg aufgelöst wurde, auf die Hegemonie über Deutschland
hingewiesen war, weil es nur so mit den 18 — 20 Prozent Deut-
schen unter der eigenen Bevölkerung die auf dies Element be-
gründete Zentrahsation durchzuführen hoffen konnte. Wie
durchschaut er die Persönlichkeit und Politik Napoleons III.,
sein Verhältnis zu den Parteien seines Landes, der Monarchie
wie der Revolution, zu Europa und zu den Traditionen der
Napoleoniden selbst. Wie klar übersieht er die Verhältnisse
Rußlands, Polens, Englands, die inneren so gut -wie die
äußeren. Lückenlos breitet sich vor ihm das europäische Macht-
Bismarck und Ranke. 399
System aus, und so schafft er sich erst die Bedingungen des
Handelns.
Wir sahen bereits, ^^^eviel die Hberalen Historiker, nach-
dem die Taten Bismarcks sie zu seinen Schülern gemacht, von
ihm für ihr eigenes Fach gelernt haben. Doch steht auch heute
noch die Auffassung der Vergangenheit, zumal seit der großen
französischen Revolution, an hundert Punkten unter dem Einfluß
der Vorstellungen, die eine von der Partei beherrschte Geschichts-
schreibung hineingetragen hat. Und es v\drd die Aufgabe der Zu-
kunft sein, ihr Bild von allen diesen Übermalungen zu befreien.
Dabei wird noch auf lange hinaus Bismarck unser Führer
bleiben; seine Staatsauffassung ist es, die auch für die historische
Erkenntnis seiner Epoche als ein Leitstern dienen wird.
Wie es wiederum Ranke ausgesprochen hat in dem Brief,
mit dem er jenes Anschreiben Bismarcks vom Januar 1877 be-
antwortete. »Der Historiker,« so schließt er, »kann von Ihnen
lernen, Durchlaucht.«
Ich nehme die Frage wieder auf, mit der ich den ersten Ab-
schnitt schloß : Ist die weitgehende Gemeinsamkeit der historisch-
politischen Anschauungen zwischen Bismarck und Ranke am
Ende doch aus einem direkten Einfluß des Älteren auf den Jün-
geren, des Gelehrten auf den Staatsmann zu erklären? Und hat
also wirklich einmal hier die Theorie ihre Form, haben die Bücher
Leben gewonnen ? Ranke hat seine Ansicht vom Staat, die freilich
in seiner ganzen Entwicklung und Weltauffassung bereits begründet
und vorgebildet war, endgültig formuliert und verkündigt in den
dreißiger Jahren, damals in der ausgesprochenen Absicht, un-
mittelbar auf das Leben, die Politik einzmvirken, als halbamt-
licher Pubhzist in der Historisch-Politischen Zeitschrift, die er
unter Protektion des Auswärtigen Ministeriums herausgab. In
den Jahren, da sie erschien, 1833 — 1836, war Bismarck in Berlin;
er beendigte dort seine Studien und war dann als Auskultator am
Kammergericht beschäftigt. Undenkbar also wäre es nicht, daß
^QQ Kleine historische Schriften.
er die Rankeschen Ideen schon damals in sich aufgenommen hat.
Man könnte sogar versucht sein, den Ort zu nennen, wo es ge-
schehen wäre: im Haus Savignys, wo Bismarck als Freund des
Sohnes viel verkehrte. Savigny aber war der vornehmste Mit-
arbeiter an jener Zeitschrift, der er zwei wertvolle Beiträge ge-
liefert hat, ja ihr Mitbegründer; sie entsprach ganz seiner Richtung;
auch stand Ranke damals keinem näher als ihm, sie sahen sich
beide täglich. Nun schreibt Bismarck freihch nach Rankes Tode,
1886, daß er mit ihm verbunden gewesen sei »durch die Über-
einstimmung der politischen Gesinnungen und durch mehr als
40 jährige persönliche Beziehungen«, also etwa seit 1845. Daß
aber der Freund des Sohnes den Freund des Vaters, den um 20 Jahre
älteren, schon weitberühmten Professor, in dessen Haus wenig-
stens gesehen hat, und daß die Gedanken, von denen beide Männer
erfüllt waren, den Jünglingen, denen sie als angehenden Diplomaten
besonders interessant sein mußten, gesprächsweise nahegekommen
sind, wäre auch dann wohl noch keine so fernUegende Vermutung.
In den Jahren seiner Landeinsamkeit wird Bismarck die
Zeitschrift, wenn er sie nicht schon früher in Händen gehabt hat,
kaum noch gelesen haben, denn sie war längst aus Mangel an
Abonnenten eingegangen; zu einer objektiven Auffassung des
Staatslebens war die Zeit nicht geschaffen. Man wird also, wenn
die Angabe über das viele Rankelesen Bismarcks in Kniephof
richtig ist, vornehmlich an die Geschichte der Päpste und die
Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation zu denken
haben, die eben damals herauskam. Aus diesen Jahren innerer
Unruhe und stiller Sammlung seiner Kraft wurde Bismarck im
Frühhng 1847 durch den Vereinigten Landtag in die Stürme des
Lebens hin ausgerissen. In demselben Jahr aber erschien der erste
Band von Rankes »Preußischer Geschichte«. Während das alte
Preußen zusammenstürzte und alle Interessen der Gegenwart
und der Zukunft des Staates zugewandt waren, vergegenwärtigte
der große Historiker, unbekümmert, wie er sagt, um die Neigungen
des Tages, zu, soviel möglich, objektiver Anschauung den Weg,
auf dem die Monarchie, nicht so sehr in bewußtem Ehrgeiz, wie
durch die Pflicht der Selbsterhaltung gedrängt, eine nach allen
Bismarck und Ranke. 401
Seiten unabhängige Stellung zu ergreifen versucht und sich zur
europäischen Großmacht ausgebildet habe: es war der Grund-
gedanke seines S3'stems, bewiesen durch die Geschichte des eigenen
Staates, der jetzt in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Daß
Bismarck die »Preußische Geschichte« gelesen hat, möchte man
auch ohne quellensicheres Zeugnis behaupten: nichts lag für ihn,
der selbst auf der Schanze gegen die ringsum flutenden Mächte
der Zerstörung stand, näher, als zu einem Werk zu greifen, das
die Fundamente des Staates und das Emporwachsen zu seiner
europäischen Größe enthüllte. Jedermann spricht heute davon,
daß in Bismarcks Pohtik die friderizianische Staatskunst zu neuem
Leben erwacht sei; und mehr als einmal hat er selbst während der
Revolution den Schatten des großen Königs gegen seine Wider-
sacher aufgerufen. Eben Friedrich der Große war es aber, der
im Mittelpunkt der Darstellung Rankes als der Schöpfer der preu-
ßischen Großmacht stand; noch im Revolutionsjahr erschienen
die beiden Bände, welche die Jugendtaten des könighchen Helden
schilderten. Man sieht, nicht ganz ohne Grund läßt sich ein Einfluß
Rankescher Ideen auf den Mann vermuten, der das Werk des
großen Königs durch die Schöpfung des Deutschen Reiches
vollendet hat.
Ist aber deshalb eine solche Annahme nötig? In der aka-
demischen Rede, die Ranke 1836, nach altem Brauch noch lateinisch,
zum Antritt seines Ordinariats an der Berhner Universität hielt,
über die Verwandtschaft und den Unterschied zwischen der Historie
und der Politik, und in der er, wie zum Abschied, noch einmal die
Summe der in seiner Zeitschrift vorgetragenen Anschauungen
entwickelte, spricht er es aus, daß, wer am Steuer des Staates
stehe, dessen Natur vollkommen erkannt und begriffen haben
müsse: nur der werde sich in der Pohtik auszeichnen können,
der mit dem Wesen des Staates, dem er vorstehe, die innigste
Verwandtschaft und Gemeinschaft gewonnen habe; diese Kenntnis
aber sei ohne ein Wissen des in früheren Zeiten Geschehenen nicht
denkbar. Dennoch will er damit nicht behaupten, daß es ohne
vollkommene Geschichtskenntnis überhaupt keine Politik geben
könne. »Denn,« so fährt er fort, »es gibt einen Scharfsinn des
Lenz, Kleine historische Schriften. 20
^Q2 Kleine historische Schriften.
menschlichen Verstandes, der gleichsam durch göttlichen Anhauch
in die Natur der Dinge eindringt.«
Dieser Anhauch des Genius war in Bismarck von der ersten
Stunde ab, da er auf die Bühne des pohtischen Lebens trat. Er
gab schon im Vereinigten Landtag dem jungen unbekannten
Landedelmann die zornigen Worte ein, die er den Vorkämpfern
der konstitutionellen Theorie entgegenvvarf, als sie die Erhebung
des preußischen Volkes gegen Napoleon von dem Verfassungs-
versprechen der Krone herleiten, dies gleichsam als Abschlags-
zahlung für die Befreiung von dem Joch der Fremden bezeichnen
wollten: »als ob«, rief Bismarck aus, »es eines andern Motivs zum
Kampf bedurft hätte als der Schmach, daß Fremde in unserm
Land geboten!« Es war die über den Gegensatz der Parteien
erhabene Idee des Vaterlandes, die der Junker von Schönhausen
anrief, das Preußentum schlechthin, mit dem er ganz verwachsen
war, das er vollkommen »erkannt und begriffen hatte«. Dies war
der feste Punkt, von woher alle Kräfte seines Genies, Leidenschaft,
Einsicht und Wille Antrieb und Richtung empfingen. Wie in
Luther der Grundgedanke seines Daseins, sein Gottesbegriff,
schon in der Einsamkeit des Klosters ausgebildet war und nur der
Gelegenheit, des Zusammenstoßes mit den Mächten der Welt,
gewartet hatte, um ans Licht zu treten und wirkende Kraft zu
werden, dem Funken gleich, den das Eisen aus dem Stein heraus-
schlägt, so war auch bereits in Bismarck, im Zentrum seines Geistes
die Idee lebendig, die ihn stark machen sollte, um den Kampf
mit jeder entgegenstrebenden Gewalt durchzuführen. Nun ist es
ja wohl möghch, daß sich dies Staatsbewußtsein unter dem Einfluß
Rankescher Ideen in ihm entwickelt hat, und daß wir dabei selbst
bis in jene frühe Zeit seines Verkehrs im Savignyschen Haus zu-
rückgehn dürfen; immer aber könnten wir darin nur eins der ]\Io-
mente annehmen, die zu seiner Ausbildung beigetragen haben,
sowie sich auch in Luther die mannigfachsten Kräfte verbunden
hatten, um den Kern seiner Weltauffassung zu formen. Merk-
würdig genug, daß das erste öffenthche Bekenntnis Bismarcks
zu seiner Poütik die Form eines historischen Urteils annahm;
aber langer Studien über die Befreiungskriege hätte er dazu nicht
Bismarck und Ranke. 403
bedurft: die Äußerung erklärt sich vollkommen aus einem Vater-
landsgefühl, das nicht wägt noch fragt, wenn es um das Ganze geht.
Überhaupt aber läßt sich auch in den eigentlich historischen
Kenntnissen und Ansichten Bismarcks, wie sie in seinen Reden,
Briefen und zumal in den »Gedanken und Erinnerungen« zer-
streut vorliegen, kaum eine direkte Abhängigkeit von dem großen
Historiker nachweisen: sondern auch sie tragen durchweg den
Stempel seiner eigenen Persönlichkeit; und nicht nur sein Urteil,
sondern sogar die Auswahl der Begebenheiten, denen sein Inter-
esse zugewandt ist, richtet sich nach den ihn beherrschenden
poHtischen Gesichtspunkten. Darin gleicht er doch wieder den
liberalen und deutschnationalen Historikern, von denen ihn sonst
die historische wie die pohtische Auffassung so weit schied ; während
er sich von Ranke darin in demselben oder in noch höherem Grad
entfernt. Das historische Problem an sich hat für ihn keinen Reiz;
nur soweit sein pohtischer Interessenkreis reicht, wird auch sein
historisches Denken angeregt.
So hat er sich immer viel um Polens Schicksale bekümmert;
in einer seiner großen Reichstagsreden hat er einen ganzen Abriß von
Polens Geschichte gegeben, von 1231, dem Jahr, da die deutschen
Ritter, von den Polen gerufen, ins Weichselland kamen, ab: um
die Unversöhnlichkeit der polnischen und deutschen Interessen
zu beweisen, bekanntüch einer der Hauptsätze seines Systems,
den er schon im März 1848, in der Zeit des blinden Polenenthu-
siasmus, vöUig ausgebildet hatte. Vor allem aber war es das letzte
Jahrhundert der preußischen Geschichte, das immer von neuem
seine Teilnahme erweckte. Weniger noch die Epoche Friedrichs
des Großen, dem er eher eine gewisse Abneigung gewidmet hat,
als die Zeit vom Todesjahr des großen Königs an, und darin wieder
vor andern die Epoche des Baseler Friedens, die Jahre der preu-
ßischen Neutrahtät von 1795 bis 1806. Wir lernten bereits aus
seiner Frankfurter Zeit das Urteil über jenen Friedensschluß
selbst kennen, das in seiner kühlen Ruhe so weit von den hitzigen
Anklagen oder Apologien der Parteihistoriker absticht. In den
»Gedanken und Erinnerungen« hat er der preußischen PoUtik
seit 1786 einen zusammenhängenden Rückbück gewidmet, den
26*
^Q4 Kleine historische Schriften.
er bis 1862 fortführt, und der offenbar gedacht ist als Präludium
für die Darstellung seines eigenen Ministeriums. Hier aber tritt in
der Beurteilung jener Periode ein neues Moment auf, eine Tendenz,
die dem früheren Bismarck fremd war. Die Geschichte Preußens
erscheint ihm nun auf lange Strecken hin als eine Kette verfehlter
Gelegenheiten: die Konvention von Reichenbach, der Nichteintritt
in die Allianz gegen Napoleon I. im Jahre 1805, die Krisen in der
deutschen Revolution, im Krimkrieg, im itahenischen Freiheits-
kampf sieht er so an. Auch den Frieden von Basel scheint er nicht
mehr verteidigen zu wollen: was 1786 planlos begonnen, habe
1806 traurig geendet; soweit die preußische Politik damals und
1842 — 1862 selbständig ihre Wege gesucht, könne sie vor der
Kritik vom Standpunkt eines strebsamen Preußens keine An-
erkennung finden. Sogar für die Zwischenzeit will er diese versagen ;
denn da sei Preußen von Rußland abhängig gewesen, dem es immer
nur Vasallendienste geleistet habe, um schließlich bei Olmütz mit
vollem Undank bezahlt zu werden.
Von Ranke kann Bismarck diese Auffassung nicht gelernt
haben. Sie steht aber auch nicht mehr in rechtem Einklang mit
seinen eigenen älteren Ansichten, die, wie man nicht anders sagen
kann, zumal in den Denkschriften aus der Frankfurter Periode
sehr viel unbefangener sind und die Dinge in eine richtigere Be-
leuchtung rücken. Zum Teil ist dies die Folge der Abwandlung
seiner eigenen Politik, nachdem er Preußen an die Spitze Deutsch-
lands gebracht hatte: der deutsch-nationale Horizont, unter den
er seitdem seine PoHtik gesteht, hat in den »Erinnerungen« die
spezifisch preußischen Gesichtspunkte zwar nicht verdrängt,
aber ihnen doch eine andere Richtung gegeben. Mehr aber noch
hat sich diese Betrachtungsweise unter den persönlichen Ein-
drücken und Stimmungen gefärbt, welche die Entlassung aus
seinen Ämtern, der Undank, den er für seine Dienste erfahren, in
dem greisen Staatsmann hervorgerufen hatten. Die Ursachen der
früheren Mißerfolge der preußischen Pohtik sucht er jetzt in den
Einflüssen, den unverantwortHche Ratgeber, »die verschieden-
artigsten Persönlichkeiten männhchen und weiblichen Geschlechts,
Adjutanten, Höfhnge und poHtische Intriganten, Schmeichler,
Bismark und Ranke. 405
Schwätzer und Ohrenbläser«, auf den Monarchen ausgeübt haben;
oder auch in der Sucht, in unfruchtbarem Selbstgefühl prunkende
und doch leere, zwecklose Schaustellungen der eigenen Macht zu
veranstalten. Man sieht, wohin diese Vorwürfe zielen: der Groll
über den neuen Kurs spricht aus ihm, wenn er von den Erben
Friedrichs des Großen schreibt, daß sie »von der Erbschaft des
alten Jahrzehnte hindurch zehren konnten, ohne sich über die
Schwächen ihrer Epigonenwirtschaft klar zu werden«; und die
Sorge, daß das Werk, das er unter tausend Kämpfen aufgerichtet,
durch die Fehler der Nachfolger zugrunde gehen könnte.
Es wäre nun ein leichtes, nachzuweisen, daß diese Urteile
fast durchweg auf falscher Grundlage ruhen. So wollte z. B. Friedrich
Wilhelm II. im Frühling 1790 keineswegs eine Politik des bloßen
Show of Power treiben, vielmehr war niemand über die Nach-
giebigkeit Österreichs unglücklicher als er: er hatte die ernsteste
Absicht, die alte Offensivpohtik seines Oheims wieder aufzunehmen;
und wenn er die Schwenkung zum Kaiser dennoch vollzog, so
geschah auch das \\ieder in der Hoffnung, auf anderm Feld, im
Westen, gegen Frankreich zu gewinnen, was ihm im Osten ent-
gangen war; nicht Willkür und Laune trieben ihn dazu, das Steuer
so gewaltsam herumzuwerfen, sondern die Übermacht der Ver-
hältnisse, der sich sein Staat unterwerfen mußte. Aber es ist
hier nicht der Ort, die historische Richtigkeit jener Ansichten
Bismarcks zu kritisieren. Genug, wenn wir ihre Tendenz und
ihren Ursprung erkannt haben. Er will durch sie die Pohtik
rechtfertigen, die er in seinem Ministerium, zumal Rußland und
Österreich gegenüber, durchgeführt hatte: daß sie bei allen jenen
Gelegenheiten versäumt sei, ist es, was er den früheren Regenten
Preußens vorwirft.
Immer aber sind es die realen Kräfte, die positiven Faktoren
der Macht, mit denen er rechnet. Darin denkt er im Alter so wie
in der Jugend. Ja, mehr noch als früher stößt er die idealen Mo-
mente, alles, was bloße Meinung ist und Doktrin, aus den Kom-
binationen der Pohtik aus. Auch darin zeigen sich wieder die
trüben und bitteren Stimmungen, die den Verstoßenen in der
Waldeinsamkeit von Friedrichsruh so oft überkamen: die herbe
406 Kleine historische Schriften.
Menschen Verachtung, die den Großen der Erde wie ein finsteres
\'erhängnis auf den Bahnen ihrer Siege zu folgen scheint, und die
auch in Bismarck vielfache Erfahrungen, mehr noch der Abfall
seiner Freunde als der Kampf mit den Widersachern, großgezogen
hatten. Er wollte nicht mehr in den Parteien auch nur einen Kern
von sittlichem Gehalt sehen: sie waren ihm nichts als Koterien,
die sich nach materiellen und persönlichen Interessen bilden und
wieder auflösen. Er glaubte nicht mehr an politische Grundsätze
und Überzeugungen, die in jedem einzelnen zu einer Gewissens-
frage und Notwendigkeit werden: die Parteiführer würden, meint
er, gar nicht darauf zu antworten wissen, wenn man sie nach
den Differenzpunkten zu anderen Fraktionen fragte; nicht ein
Programm, sondern eine Person, ein parlamentarischer Kondottiere
sei ihr Kristallisationspunkt. Als ein Kampf der Hungrigen und
der Satten, der Begehrlichen: der Redner, die die Instinkte der
immer stumpfen Masse aufzustacheln wissen, und der Besitzenden,
die an der Erhaltung der bestehenden Ordnung interessiert sind,
stellt sich ihm das innere Staatsleben dar.
Es ist charakteristisch, daß ihm auch entferntere Epochen
ebenso leer von moralischen Affekten erscheinen wie die Gegen-
wart selbst. Er spricht von den »angeblich« konfessionellen
Kämpfen des 30 jährigen Krieges oder will ein andermal lediglich
in konfessioneller Hartnäckigkeit, die den Gegner nicht anerkennen
mag, den Ursprung der Rehgionskriege erbUcken ; die ganze deutsche
Geschichte, von den rebellischen Herzögen der ersten Kaiserzeiten
bis zu den zahllosen reichsunmittelbaren Landesherren des ab-
sterbenden alten Reiches, baut sich ihm auf dem Egoismus der
Fraktionen, dem Ehrgeiz der Führer, der niemand über sich dulden
woUte, auf; selbst in der Bildung des Zentrums meint er den ger-
manischen Fraktions- und Parteigeist zu entdecken, demgegen-
über auch der päpstliche Wille nicht durchschlage.
Ich brauche nicht zu sagen, wie wenig alle diese Ansichten
von dem Geist Rankes getragen sind. Denn wie sehr auch Ranke
die politische Macht als das in der Krisis, im Kampf entscheidende
Moment in der allgemeinen Entwicklung betonen mag, ist er doch
fern davon, die Kraft der Ideen zu leugnen. Vielmehr sieht er in
Bismarck und Ranke. 407
ihnen das Ursprüngliche, das Dauernde und das Fortwirkende.
Die Staaten selbst ruhen auf ihnen: nur darum sind sie Indivi-
dualitäten, besitzen sie eine Wesenheit, ein Selbst, weil die ideellen
Kräfte in ihnen ihren Wohnsitz genommen, Form in ihnen ge-
wonnen haben. Sie sind Modifikationen der Nationalität und Ab-
wandlungen des allgemeinen Lebens, das selbst in ihrem Tod
niemals ganz mit ihnen untergeht, sowie es nicht erst mit ihnen
entstanden, sondern aus andern Welt- und Kulturepochen in
sie übertragen worden ist. So meint es recht eigentlich das
Rankesche Wort, daß vorzüglich in den Staaten die Kontinuität
des Lebens erscheine, die wir dem menschlichen Geschlecht zu-
schreiben.
Und wie könnten wir sagen, daß Bismarck mit seiner eigenen
Staatsidee in jenen grob-materialistischen Vorstellungen gewurzelt
habe, zu denen ihn die Bitterkeit des Alters und die Enttäuschungen
eines kampferfüllten Lebens zuweilen bringen mochten! Es ist
wahr, der harte Realist rechnete kaum mit der IMacht der Mei-
nungen und der Worte: mit Phrasen mache man keine Politik,
man schieße nicht mit der öffentlichen Meinung, sondern mit
Pulver und Blei. Er durfte wohl die Worthelden verachten, denn
seit der Revolution hatte er es erfahren, wie wenig schließlich der
Donner ihrer Beredsamkeit gegen die festen Bollwerke der preu-
ßischen Krone vermochte, sobald diese sich erst ihrer Kraft bewußt
wurde und den Glauben an sich selbst zurückgewann; sein ganzes
Leben war ein Kampf gegen die Theoretiker, die Doktrinäre ge-
wesen, die das historisch gewordene Gefüge des preußischen Staates
angegriffen hatten. Und doch hat er die Macht der Ideen auch an
sich erfahren; im Siege selbst mußte er sie anerkennen, und seine
eigene Bahn erreichte ihren Gipfel erst im Bund mit ihnen und
führte auch zu ihrem Triumphe. Und mehr noch: wenn Bismarck
den eigenwillig andrängenden neuen Ideen Widerstand entgegen-
gesetzt hatte, so war es wahrlich nicht aus ödem Strebertum und
brutaler Selbstsucht geschehen: der Glaube an die innere Kraft,
an die historische Mission der preußischen Krone, an ihre Fun-
damentierung in den altpreußischen Tugenden, der Ehre und
Treue, dem freien Gehorsam und der Hingebung an das Vaterland
4Qg Kleine historische Schriften.
bis in den Tod hatte ihn auf die Schanze gerufen, zum Führer
seiner Partei gemacht und bheb auch dann noch in ihm lebendig,
als er längst allen Parteischranken entwachsen war. So stand er
selbst im Dienste der Ideen, die er zu verachten schien: nur auf
ihren Schwingen hat sich seine Herrschernatur voll entfalten
können, denn sie waren im Innersten verwachsen mit den Reali-
täten, auf die er sich verließ und für die er eintrat; sie waren in
ihm selbst verkörpert. Und so bestätigt auch sein Leben und
sein Kämpfen nur wieder die Wahrheit Rankescher Geschichts-
auffassung.
egt^^^5"
Otto von Bismarck
und Freiherr Karl vom Stein.
Eine Parallele.
(1908.)
Man kann fragen, ob es richtig ist, den Versuch, den ich hier
wage, die beiden größten Minister, die Preußens Könige gehabt
haben, einander gegenüberzustellen, gerade als eine Parallele zu
bezeichnen. Mit besserem Recht und schärferer Distinktion könnte
man wohl von einem Kontraste sprechen. Denn in der Tat, selten
sind zwei Lebensläufe reicher an Kontrasten gewesen, als die der
beiden Staatsmänner, die wie zwei schildtragende Recken am
Eingang und Ausgang ihres Jahrhunderts stehen. Eine Gegen-
sätzlichkeit, die weit über ihre Lebensbahnen hinwegreicht und
die in ihrer Wirkung auf die Nachwelt, auf das Leben der Nation
ebensosehr wie in ihren Ursprüngen, ihrem Herkommen, ja in
ihren Vorfahren selbst sichtbar wird: dem tiefsten Kern ihres
Wesens entspricht sie, und sie durchdringt ihre ganze PersönHch-
keit, ihr Empfinden, Wollen und Vollbringen, die Welt ihrer Ideen
und ihrer Ideale.
In diesem Sinn wollen wir den Vergleich ziehen zwischen
dem Reformator Preußens, der sich immer nur als Deutscher
gefühlt hat und niemals ein rechter Preuße wurde, und dem Schöp-
fer des neuen Deutschlands, der niemals aufgehört hat, ein Preuße
zu sein, und sich noch den Mann seines Königs nannte lange
Jahre, nachdem er ihm die Kaiserkrone auf das greise Haupt
gedrückt hatte.
^IQ Kleine historische Schriften.
Wollen wir aber historische Persönlichkeiten in ihrem Zu-
sammenhang mit der Umwelt und in ihrem Unterschied von
anderen recht begreifen, so müssen wir vor allem den Boden kennen,
dem sie entstammen, in dem die Wurzeln liegen, welche Stamm
und Krone tragen. Nirgends trifft dieses historische Gesetz mehr
zu als bei Stein und Bismarck. Bei diesem ist es der Osten, bei
jenem der Westen des Reiches: hier der Boden der deutschen
Kolonisation, dort die Gaue des ältesten Germaniens. Auch Bis-
marcks Stamm wurzelte in altdeutscher Erde, echtes Sachsenblut
floß in seinen Adern: aber es war unseres ältesten Reiches Ost-
mark, hart an dem Grenzstrom, der jahrhundertelang deutsche
und slawische Gaue voneinander schied. Den Blick gen Osten
gewandt, im langen Kampf mit Liutizen und Hevellern war hier
unser Volk erstarkt: in den Zeiten, da der deutsche Norden zum
ersten Male leitend und entscheidend in die Weltgeschichte ein-
griff, als Sachsen und Franken, Alemannen und Bayern zu einem
Reiche zusammenwuchsen und sich ihrer nationalen Zusammen-
gehörigkeit bewußt wurden. Wohl möglich, daß auch Bismarcks
Vorfahren, ungenannte Generationen, einst an jenen Kriegsfahrten
gegen die slawischen Dörfer und Ringwälle teilgenommen haben,
von denen der Geschichtsschreiber der sächsischen Könige, Widu-
kind, der Mönch von Corve}', so manchen wilden Zug berichtet;
und daß sie mit unter den Kolonisten gewesen sind, die mit Schwert
und Pflug das Dunkel der märkischen Wälder gelichtet und das
Kreuz in ihnen aufgerichtet haben. Dahingegen der Freiherr
vom Stein fränkischen Geblüts, aus dem Stamme, der sich immer
nach Westen hin ausgedehnt, ganz Gallien seinen Namen aufge-
drückt hatte: in des Rheins »gesegneten Gebreiten« wuchsen ihm
seine Saaten, seine Reben; an dem Strom, der längst von den
neuen Franken bedroht gewesen, in den Westmarken des Reiches,
die von ihrem Stoß eben jetzt getroffen und schwer erschüttert
waren, war seine Heimat; dort lagen wie seine Güter so die Gräber
seiner Ahnen, seine Erinnerungen und Traditionen, was er besaß
und was er hebte.
Als Vasallen eines der rheinischen Grafengeschlechter waren
die Herren vom Stein emporgekommen; dienend, so wie es noch
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein. 411
heute die Trümmer der Burgen beider Geschlechter bezeugen: zu
Füßen der alten Nassau, am Abhang des Berges, dessen waldigen
Gipfel die Grafenburg krönt, liegt der Stammsitz ihrer Mannen.
Aber auch den benachbarten Erzbischöfen von Trier und Mainz,
den Fürsten von Hessen und der Pfalz, wie den Grafen von Wied
waren die Herren vom Stein verpflichtet gewesen, und niemals
hatten sie gleich den märkischen Edelleuten ihren Nacken ganz
unter die Landesfürsten gebeugt. Diese Überlieferungen waren
in Karl vom Stein noch ganz lebendig: sie gehörten zu den
Wurzeln seiner herben und stolzen Kraft , des Selbstgefühls,
mit dem er dem preußischen Adel wie seinem königlichen
Herrn selbst gegenübertrat; in seine politischen Grundsätze und
seine nationalen Ideale selbst ist etwas von ihrem Geiste über-
geströmt.
Auch in Otto von Bismarck steckte noch ein Stück des alten
Quitzowtrotzes. Nicht ungern erinnerte er daran, daß die Bis-
marcks schon vor den Hohenzollern in den Marken gesessen hätten,
und er hat es diesen niemals ganz vergeben können, daß sie der-
einst den Forst von Letzlingen seinen Vorfahren abgepreßt hatten.
Auch das war Tradition des Hauses. Man weiß, wie schlecht noch
Friedrich Wilhelm I. auf die »renitenten Junkers« der Altmark,
die Bismarcks, die Knesebecks und die Alvenslebens zu sprechen
war, denen man den Kitzel der Opposition austreiben müsse.
Aber wenn auch die Bismarcks bereits vor den Hohenzollern im
Lande saßen, so doch nicht vor den Askaniern. Die Herren vom
Stein waren längst unter dem Adel des Reichs, als Bismarcks
Vorfahren noch Mitglieder der ehrsamen Gewandschneidergilde
zu Stendal waren. Im Fürstendienst erwarben sie Adel und Güter,
um dann auf ihrer Scholle zu bleiben; erst seit Friedrich dem
Großen wird ihr Interesse am Staatsdienst stärker und finden
wir mehr Mitglieder des Geschlechtes als früher in den höheren
Rängen der Armee und Verwaltung.
Die Besitzungen Steins waren kaum größer als diejenigen
Bismarcks. Was davon auf dem rechten Rheinufer lag, und das
war der weitaus größte Teil, umfaßte an 2400 nassauische Morgen.
Aber sie setzten sich zusammen aus zwei Dutzend Gütern. Das
^12 Kleine historische Schriften.
größte darunter hatte nahe an looo, das nächste wenig über 200
Älorgen ; dann folgten ein paar Stücke von 200 bis herab zu 50 Mor-
gen, während der Rest noch darunter bheb. Alles aber mit fremden
Besitzungen im Gemenge und mit dem weiteren Besitz an Rechten
und Renten über 18 Quadratmeilen verstreut, in mehr als 50 Ort-
schaften, von dem wohlgepflegten \^^einberge bei Lorch bis herab
zum Westerwald und von Engers bis an die Limburg-Frankfurter
Straße. Ein kleines Reich für sich, das sich auch links des Rheins
erstreckte, von Steeg abwärts bis Osterspay und westlich bis
Hatzenport an der Mosel. Sein Mittelpunkt war das »Freiherr-
lich Steinsche Amt« im Städtchen Nassau an der Lahn, unweit
von ihrem Einfluß in den Rhein, unterhalb jener Burgen, in dem
Haus und Garten, die seitdem das Wallfahrtsziel für viele Tausende
und eine der heiligen Stätten für die Erinnerungen der Nation
geworden sind. Unmöglich, solchen Streubesitz wirtschaftlich
direkt auszunutzen. Er mußte in den Händen der Pächter, Bauern
und Hörigen bleiben, die von jeher auf diesen Äckern saßen. Nur
die Rechte und Renten, in Geldabgaben, Naturahen und Fronden,
galt es festzuhalten und zu verwerten: verwaltend und richtend,
schützend und schaltend, in steter Berührung, oft auch im Streit
mit den Untertanen und mehr noch mit den Nachbarn, vorzüg-
lich den Lehnsherren selbst, mit denen die Reibungen und Pro-
zesse nicht abbrechen wollten. Genaueste Kenntnis des Her-
kommens und der eigenen Ansprüche, des Reichs- und Fürsten-
rechts, der Weistümer und Urbare der Landschaft, der öffent-
lichen und privaten, der weltlichen und kirchlichen Gerichtsbar-
keit, an der man noch selbst Anteil hatte, war erstes Erfordernis :
nicht Landwirtschaft, sondern Regierung war die Kunst, die
der Besitzer verstehen und üben mußte. Er konnte sein Eigentum
auch aus der Feme administrieren, wenn er in der Stadt und im
Staatsdienste lebte und tätig war.
Dagegen der Bismarcksche Besitz: zwei oder drei Ritter-
güter, längst arrondiert und in straffe Eigenwirtschaft genommen,
unter Ablösung der meisten öffentlichen Rechte durch den Staat,
aber mit strikter Unterordnung der Bauern und Instleute unter
den Herrn, der persönhch auf Pflug und Acker sehen, Landmann
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein. 413
sein mußte, wenn er Genuß und Gedeihen von seinem Eigentum
haben wollte.
Nicht ganz Laune des Zufalls war es, daß Stein und Bismarck
dieselbe Universität bezogen haben. Denn auch die Schönhausener
folgten der Standessitte, als sie ihren Sohn nach dem nahen Göt-
tingen sandten, wo der norddeutsche Adel seit Jahrzehnten zu
studieren pflegte. Im übrigen aber war die Art, wie der eine und
der andere die akademische Freiheit ausnutzten, so verschieden
wie nur möglich. In den drei kurzen Semestern, die Bismarck
der Georgia Augusta widmete, ist er, wie bekannt, im Kolleg
kaum gesehen worden. Höchstens der politische Weitblick des
Historikers der Universität, des feinsinnigen alten Heeren, regte
ihn an; seine Fachprofessoren machten auf ihn keinerlei Eindruck.
Seine eigenen Erinnerungen an diesen Zwischenakt seiner Lauf-
bahn ranken sich im wesentlichen um Fechtboden und Kneipe.
Seine Freunde ein paar Ausländer: Amerikaner, Engländer, ein
baltischer Graf; dazu, jedoch zurücktretend, ein paar norddeutsche
Edelleute und die Korpsbrüder, diese fast ausschließlich aus bür-
gerhchen Häusern. In Berlin auf der Universität und bei der Re-
gierung in Aachen ward es kaum anders : weder zu den Professoren
der Hauptstadt, noch zu dem Präsidenten in dem rheinischen
Bezirk, obschon es ein Arnim-Boitzenburg war, gewann er ein
rechtes Verhältnis; nicht einmal der große Savigny tat es ihm an,
obschon er doch in seinem Hause verkehrte und den Sohn zu
seinen Freunden zählte. Nichts wurde ihm leichter, als den Bücher-
und Aktenstaub abzuschütteln, sobald sich ihm die Gelegenheit
bot, auf dem Lande als Herr und in der Freiheit zu leben.
Als der junge Stein mit seinem Hofmeister Dr. Salzmann
nach Göttingen kam, standen noch das alte Reich und sein Recht ;
nirgends wurden Begriff und Theorie derselben besser begründet,
historisch und juristisch gelehrter entwickelt als an der Universi-
tät der Gatterer und Meiners, der Pütter und Schlözer. Und
wohl selten hatten sie auf ihren Bänken einen eifrigeren Studenten
vor sich als den jungen Franken, der von ihnen das deutsche
Staatsrecht kennen lernen wollte, auf dem die Existenz auch
seines Hauses ruhte. Sieben volle Semester, seine ganze Studien-
414 Kleine historische Sclirifteii.
zeit, hat Stein an der Georgia Augusta verbracht. Dort fand er
die Freunde langer Jahre, vornehme, junge Herren vom Adel
oder Sühne gutbürgerlicher Beamten, meist Hannoveraner, West-
falen oder Rheinländer, die alle gleich ihm staatsrechtliche und
historische Studien trieben, um sie im Dienste des Reiches oder
ihrer engeren Heimat zu verwenden. Mit keinem Auge blickte
Stein nach Preußen hinüber; wie denn kaum ein Preuße damals
in Göttingen studierte, denn für die Untertanen Friedrichs galt
noch der gegen die anderen deutschen Hochschulen streng abschlie-
ßende üniversitätszwang. Seine Gedanken richteten sich nach wie
vor auf den Westen und Süden Deutschlands. Dort, im Reich,
vielleicht auch in Österreich wollte er Dienste suchen. So kam
er nach Beendigung seiner Studien, ohne einen akademischen
Grad erworben zu haben (denn als Herr vom Adel hatte er den
Doktortitel nicht nötig, er hat nie ein Examen gemacht), als Prak-
tikant an das Kammergericht von Wetzlar, wo wenige Jahre vor
ihm der junge Doktor Goethe gearbeitet und seinen Roman mit
der schönen Tochter des Amtmanns Buff erlebt hatte. In den
deutschen Süden führte ihn dann die Reise, die ihm Vertiefung
seiner Anschauungen und Anknüpfung neuer Verbindungen ver-
schaffen sollte; auch in das Elsaß und donauabwärts nach Öster-
reich und Ungarn. Vor allem aber war Regensburg sein Ziel,
als Sitz des Reichstags noch immer für den Sohn eines reichs-
ritterUchen Geschlechtes das Zentrum der Interessen.
Es waren Wege, die ihn, sei es unter die Regensburger Pe-
rücken, als Rat eines der deutschen Kleinfürsten, oder an den
Reichshofrat nach \Men hätten bringen müssen. Mehr ein Zufall
war es darum, wenn er 1780 doch den Weg nach Preußen fand.
Verbindungen der Familie mit dem klugen und ideenreichen
Minister Friedrichs des Großen von Heinitz gaben den Ausschlag;
mitwirkend aber waren, nach Steins eigenem Zeugnis, die Sym-
pathien, welche sich in eben diesen Jahren der alternde König
Friedrich im Reich durch die PoUtik des Fürstenbundes gewann,
die auf die Konservierung der von Kaiser Josephs Machtstreben
bedrohten Reichsstände gerichtet war. Zum preußischen Kammer-
herrn ernannt, ward der Dreiundzwanzigj ährige im Bergwerks-
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein. 415
departement, dem Minister selbst zur Seite, angestellt. Und nun
hoben ihn Verdienst und Gunst rasch in die Höhe. Weite Reisen,
meist mit dem Minister selbst, machten ihn mit dem Osten, dann
auch dem Westen des Staates bekannt ; sie führten ihn nach Königs-
berg und Warschau und bis zu den Salzwerken Galiziens und
später über die westliche Grenze hinaus nach Holland. Noch
immer nicht hatte er seine Stellung fest genommen; noch im Jahre
17S2 dachte er daran, den preußischen Dienst mit dem österreichi-
schen zu vertauschen, oder es reizte ihn wohl der Gedanke, auf
weiten Reisen (er dachte besonders an England) Blick und Kennt-
nisse zu erweitern. Erst die Anstellung beim Bergbau in West-
falen, der schon 1784 seiner Direktion unterstellt ward, zu Wetter
an der Ruhr, wo ihm die Heimat nahe und die sozialen Verhält-
nisse vertraut waren, hat ihn an Preußen ganz gefesselt.
Hier im Westen, von Anfang an in leitenden Stellungen,
bald Präsident, erst der märkischen, dann auch der klevischen
Kammer, als Oberpräsident seit 1796 in Minden und seit 1802
in Münster, hat Stein die Grundsätze gewonnen und zuerst ange-
wandt, die er in den Jahren der Krisis und der Katastrophe
auf das Ganze des Staates übertrug und die ihn zu dem Neu-
schöpfer seiner Verwaltung gemacht haben. Er entwickelte sie
sich aus der sozialen Struktur jener Provinzen, in der er selbst
wurzelte und die, im Gegensatz zu den im Osten erstarrten, durch
den Willen der Krone selbst festgehaltenen, ihr unterworfenen
Formen der Feudalität, bereits gelockert oder zerbrochen war,
zum Teil auch wohl in den Resten ihrer ständischen Organisation
ältere, freiere oder selbständigere Formen besser bewahrt hatte.
Im Osten waren Stadt und Land getrennt und das Land,
im Besitz des Adels oder der Krone, in große Eigenwirtschaften
zusammengefaßt; Latifundien, die, je weiter man kam, um so
mehr intensiver Kultur entbehrten; die Bauern noch in strenger
Hörigkeit gehalten oder (wie es gerade jetzt mehr als je geschah)
»gelegt«, d. .h. ihrer Eigenwirtschaft beraubt und in völlige Ab-
hängigkeit gebracht — und auf dieser sozialen Schichtung nun
aufgebaut wie die Wirtschaft so der Staat selbst, Armee und Bureau-
kratie, Organisation und Verwaltung. Auch im Westen (wir sahen
41 ß Kleine historische Schriften.
es an Steins eigenen Besitzungen) war noch die Hörigkeit weit
genug verbreitet; aber sie war doch schon provinzenweise auf-
gehoben, und vielfach waren die sozialen Schichten ineinander
geschoben oder genähert. Es gab wohl Rittersitze, aber kaum
Rittergüter, und die wenigen erst durch die Willkür der Regierung
selbst geschaffen. Es war ein Land der Bürger und der Bauern,
und die Edelleute selbst mit ihrem Streubesitz waren in diese
Wirtschaftsformen verflochten. Statt der Domänen Renteien;
Amtleute statt der Landräte, und Stadt und Dorf ineinander
verwachsen; die Gewerbe selbst auf das Land gewandert; und
alles, Ackerbau, Viehzucht, Gewerbe, Handel und Fabriken, voll
tüchtigen Lebens, kräftig erstarkend und durch den großen Strom
den Straßen des Welthandels und den Industriestaaten des euro-
päischen Westens zugewandt.
So die W^elt, in der Stein von Jugend auf gelebt, die ihm ver-
traut war und die nun seinem rastlos strebenden Eifer, seinem
Verwaltungsgenie, dem das Kleine so heb war wie das Große,
immer neue und mannigfachere Aufgaben stellte. Auf diesen Wegen
drang er vor: kein Revolutionär, aber ein Befreier, niemals den
Edelmann verleugnend (denn nichts lag diesem Aristokraten ferner
als Radikalismus) und stets im Bewußtsein, der Herr zu sein
und der Regierer, aber dennoch bemüht, das Alternde neu zu
beleben und nur das Abgestorbene hinwegzutun, die Gegensätze
zu mildem, den hohen Sinr^ für Selbständigkeit und Selbstver-
antwortung, der in ihm lebte, auf die ihm Befohlenen, gerade
auch auf die Bauern und die Bürger zu übertragen, Offenheit,
Liebe und Vertrauen zu beweisen und zu nähren: Anschauungen,
die in der Organisierung der Selbstverwaltung für Stadt und Land,
vom Kreis zur Provinz und von der Provinz zum Ganzen des
Staates ihre natürliche Ausmündung und Gipfelung fanden.
Wenden wir von hier aus den Blick auf Bismarck, so finden
wir ihn in den gleichen Lebensjahren auf seinem hinterpommer-
schen Gut, als den Junker von Kniephof. Er hatte gerade das
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein. 417
Lebensalter erreicht, in dem Stein in den preußischen Staats-
dienst eintrat, als er diesen quittierte und die Laufbahn, für die
er bestimmt war und zu der die für ihn ehrgeizigen Verwandten
ihn zu überreden suchten, an deren Ende er mit Sicherheit die
Excellenz erglänzen sah, wie ein lästiges Kleid von sich warf,
um ganz als freier Mann, fern von der Schreibstube und jedem
Vorgesetzten, nur Gott und seinem König Untertan, dazustehen:
auf dem Lande zu leben und zu sterben ward nun sein Ehrgeiz.
Denn dort allein konnte er das ausüben, was er wollte, wohin seine
innerste Natur ihn trieb, H e r r s e i n : Freiheitsgefühl und Herrscher-
sinn decken sich bei Bismarck, sind bei ihm ganz ineinander ver-
schmolzen. Während also Stein die steile Staffel der staatlichen
Hierarchie rasch erstieg, versenkte sich sein Antipode in die Mühsal
philosophischer und religiöser Skinipel und Zweifel, dachte er den
Grundproblemen des Staates, der Gesellschaft, der Religion, kühn
bis an die äußersten Grenzen des Rechtsbewußtseins und Gott-
empfindens vordringend, nach, einsam und oft wie verloren sich
fühlend inmitten rauschender Feste und des gedankenleeren Froh-
sinns adliger Genossen, bis er in der Engigkeit reaktionärer und
konfessioneller Parteianschauungen, jedoch auch zugleich in dem
Kreise treu teilnehmender Freunde und in der Liebe einer gleich-
gestimmten Mädchenseele einen Halte- und Ruhepunkt und nach
allen Stürmen, die ihn umhergeworfen, endlich den Hafen gefunden
zu haben wähnte. Aus diesem Frieden heraus riß ihn die deutsche
Revolution. Halb nur freiwillig, mehr dem Zufall folgend als
eigenem Ehrgeiz und Entschluß, nahm er Platz unter den Reprä-
sentanten des Staates, die sein König selbst berufen hatte. Nicht
als Beamter, sondern als Vertreter seines Standes, seiner Kaste
und ihrer Interessen, als freier Mann und Herrscher auch jetzt,
als Führer der Partei, welche die Krone, auch wohl gegen den
Willen ihres Trägers selbst, verteidigen wollte: der nationalen
Woge, den liberalen Strömungen, die in der Epoche, ja in dem
Wirken Steins ihren Ursprung hatten, warf sich der Jugendstarke
mit breiter Brust und mächtigen Armen entgegen.
Auch in Steins Leben hat eine Revolution entscheidend ein-
gegriffen: es war dieselbe, die das alte Frankreich umwarf, die
Lenz, Kleine historische Schriften. 27
^|g Kleine historische Schriften.
bourbonische Monarchie vernichtete. Als Deutschland, das Reich,
der heimatliche Strom von ihrem Stoß getroffen wurden, warf
er sich ihr in den Weg: im Herbst des Jahres 1792, als Custines
zuchtlose Regimenter über die Pfalz herfielen, Mainz eroberten
und auf und ab am Rhein und Main Schrecken und Zerstörung
verbreiteten. Niemand war damals eifriger, ihnen zu wehren, als
der kleve-märkische Kammerdirektor: von Wesel schaffte er Vor-
räte und Ausrüstung herbei, mit Hannover, Hessen, selbst mit
England setzte er sich in Verbindung; er eilte ins Hauptquartier,
und seiner Energie nicht zum geringsten verdankten die Deutschen
die Wiederge\vinnung Frankfurts. Er kämpfte für Deutschland,
für das alte Reich und für die eigenen Penaten. Auch für Preußen,
denn noch standen des Königs Regimenter im Felde. Jedoch war
schon der erste Riß in die Koalition gekommen; und dem Rück-
zuge, den sich häufenden Niederlagen folgte Preußens Abschwenken
von dem Bündnis gegen die Revolution, der Friede von Basel.
Eine Pohtik, über die das Urteil der Nachwelt nahezu ein-
mütig lautet, mag sie nun darin den Verrat am deutschen Vater-
lande oder den Zwang unüberwindlicher Verhältnisse erblicken:
als die kläglichste und schlaffste Periode der preußischen Pohtik
haben von jeher die Jahre zwischen Basel und Jena gegolten.
Wie Stein darüber urteilte, brauchen wir danach nicht mehr zu
sagen. Aber bemerkenswert ist es, daß Bismarck (er vielleicht
allein in seinem Jahrhundert) den Mut — so nennt er es selbst —
gehabt hat, den Baseler Frieden an sich nicht zu tadeln und nur
der Schwäche zu zürnen, die in dem gegebenen Moment, ein Jahr
vor Jena, in den Wochen vor Austerütz das schon gezückte Schwert
wieder sinken heß.
Immerhin, es waren Jahre, in denen gerade Steins Friedens-
werke gedeihen konnten: in ihnen hat er seine Präsidentschaften
geführt, an ihrem Schlüsse, seit 1804, schon als Minister, im Zen-
trum der Staatsverwaltung gestanden : gerade ihn berief der König
in den Tagen, als die Frage um Sein und Nichtsein zum ersten Male
an Preußen herantrat, Ende September 1805, zur Führung der
Geschäfte. Er sollte das Geld schaffen, ohne das die Armee des
friderizianischen Staates ein Körper ohne Muskeln war. Der
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein. 419
Weg aber, um die Macht zu sammeln, war für Stein kein anderer
als der ihm gewohnte: jene Reformen, die er in den Westprovinzen
eingeleitet hatte. Die sich überstürzenden Ereignisse der großen
Pohtik und des Krieges, Napoleons dämonisches Genie und Haug-
witz' und des Königs eigener Schwachmut machten alles unnütz.
Stein aber, abseits von dem Kabinett und den Geheimgängen
der Diplomatie, mußte in zornbebender Ohnmacht geschehen
lassen, was geschah. »Hätte eine große moralische und inteUek-
tuelle Kraft unsern Staat geleitet, so würde sie die Koahtion,
ehe sie den Stoß bei Austerlitz erlitten, zu dem großen Zweck
der Befreiung Europas geleitet und dieses wieder aufgerichtet
haben. Diese Kraft fehlt. Ich kann dem, dem sie die Natur ver-
sagte, so wenig Vorwürfe machen, als Sie mich anklagen, nicht
Newton zu sein: ich erkenne den Willen der Vorsehung und es
bleibt nichts übrig als Glaube und Ergebung« — in diesem Ge-
ständnis ratloser Resignation faßt er einem Freund gegenüber
sein Urteil über die versäumte Gelegenheit zusammen.
Daß nun Preußen so nahe vor dem gänzHchen Versagen aller
seiner Kräfte, vor dem völligen Zusammenbruch stand, hat doch
auch Stein so wenig geahnt wie irgendein Diener des Monarchen.
Erst Jena hat auch ihm die ganze Schwäche des alten Staates
enthüllt. Er stand nun als führender Minister dem König zur
Seite; ihm folgte er auf der Flucht nach Ostpreußen; auch in
dem Rat über die auswärtige Politik hatte er jetzt Sitz und Stimme.
Und gerade in diesem Augenblick, in den Januartagen, als die
Franzosen Königsberg bedrohten und die schwerkranke Königin
über die Kurische Nehrung in die äußerste Stadt des Reiches
flüchten mußte, kam der unvermeidliche Konfhkt zwischen dem
Monarchen, der Herrscher bleiben wollte, ohne die Kraft des
Herrschers zu besitzen, und dem Minister, der herrschen mußte,
wenn er den Staat retten sollte, zum Ausbruch: mit Schimpf
und Schande, schlimmer als ob er ein Bedienter wäre, jagte ihn
der König davon.
Ein halbes Jahr später und Preußens Geschick hatte sich
vollendet: seiner Festungen, seiner Heere, der Hälfte der Pro-
vinzen beraubt, an allen GUedern gefesselt, lag der verstümmelte
27*
AOQ Kleine historische Schriften.
Staat zu den Füßen des Siegers, der keine Gebote anerkannte als
die der Macht, des Schwertes und der Pohtik. Schon aber handelte
es sich für Preußen nicht mehr um die Künste der Diplomaten
imd die Kraft des Schwertes, sondern nur um die Wiederauf-
richtung aller Stützen, die wie Rohrstäbe zerknickt waren, um
die Erneuerung des Lebens, die Einflößung eines neuen Geistes:
um die Reformen, die man zwar allseitig und seit Jahren gewollt
und begonnen, jedoch niemals durchgeführt hatte. Nur eine
Stimme gab es noch im Rate und in der Umgebung des unglück-
lichen Trägers der Krone: Stein allein könne retten. So forderte
es Hardenberg, der von Napoleon Verstoßene, und Königin Luise,
so die Radziwills und Prinz Wilhelm von Preußen, Staegemann,
Niebuhr und selbst Beyme, der Geheime Kabinettsrat, in dem
Stein seinen stärksten Gegner grimmig haßte. Wie einen Messias
begrüßten ihn seine Freunde. Und so mußte der König sich zu
diesem Schritte verstehen, der für ihn fast demütigender war als
alles, was er seit Jena erfahren hatte. Und noch ein Jahr und
abermals mußte Stein von dannen. Wiederum war er nur An-
fänger gewesen, nicht Vollender; nur die Fundamente hatte er
legen können, auf denen ein glücklicherer Nachfolger weiterbauen
sollte. Gestürzt ward er aber diesmal nicht durch seinen König.
Der hielt ihn nur nicht, als er ins Schwanken kam. Stein selbst
gab den Anstoß: als er Napoleons Zorn durch eine unbegreifliche
Unvorsichtigkeit reizte. Doch hätte ihm auch das vielleicht noch
nicht geschadet: vom Platze stießen ihn erst der Haß des preußi-
schen Adels und der Neid höfischer Rivalen. Er war schon nicht
mehr Minister, als das Achtdekret des Kaisers nach Berlin kam,
das ihn in die Verbannung trieb, an die er bis dahin nicht gedacht
hatte. Und niemals ist er w^ieder preußischer Minister geworden.
Seine größte Zeit, in der er das meiste für Preußen und Deutsch-
land getan hat, erlebte er als Diener Zar Alexanders. So hat er
Ostpreußen zur Erhebung gebracht, so den Bund Rußlands und
Preußens vermittelt, so den Zaren durch die heiße Glut seiner
Rede und seines Wülens aus den Grenzen Rußlands heraus und
bis über den Rhein gebracht, so als der Mandatar sämtlicher
Alliierten im Zentralausschusse die deutschen Länder regiert, die
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein. 421
den Rheinbundfürsten entrissen wurden. Erst nach dem Abschluß
des Friedens hat er von seinem König den Orden erhalten, der ihm
seine Taten lohnen sollte.
Wir brauchen nur diese paar Daten an uns vorübergleiten
zu lassen, um von neuem den Unterschied zu Bismarcks Lebens-
weg und Lebenswillen, zu seinen Zielen und seinen Taten vor
Augen zu haben. Es ist wahr, auch der Junker von Schönhausen
hat Jahre gehabt, wo sein junges Herz für die deutsche Idee glühte;
burschenschaftliche Ideale erfüllten ihn, als er zur Universität
ging, und ständisch-liberalen Formen hing er noch in der ersten
Zeit von Kniephof an. Aber solche Gedanken und Stimmungen
traten zurück, sobald er merkte, daß sie, zum Ferment breiterer
Schichten geworden, das Wesen des Staates tangierten, mit dem
er und sein Haus seit Jahrhunderten verbunden waren, dessen
Ehre die seine und dessen Machtbewußtsein in ihm verkörpert
war. Hier haben wir den Schlüssel zum Verständnis seines Tuns
und Lassens, seiner Gesinnungen und seiner Taten, jeder Phase,
jeder Wendung seiner Politik. Als Preuße stellte er sich vor den
Thron seines Königs, dem die Revolution ihre Krone aufdrängen
wollte, um in sie das Gold der alten Hohenzollemkrone einzu-
schmelzen. Alles unterwirft er diesem obersten Interesse: die
innere wie die auswärtige Politik, das Verhältnis zu Österreich,
zu Rußland und zu Frankreich, zu den nationalen Fragen, zu den
Parteien von rechts und von links, die idealen Interessen wie die
materiellen. Er kannte, solange es nur erst ein Preußen gab und
noch kein einiges Deutschland, kein anderes Vaterland als das,
für das seine Väter gestritten, das seine Könige gebaut hatten,
dessen Fundamente die Königstreue, die Tapferkeit, der sich
selbst verleugnende Gehorsam und alle Ruhmestaten der Ver-
gangenheit waren: den Embryo der Untreue, des Vaterlands-
verrates entdeckte er in all den Plänen und Tendenzen, die in der
deutschen Idee die preußische untergehen lassen wollten. Aus-
land ist ihm in diesen Jahren alles, was jenseits der schwarzweißen
Grenzpfähle existiert, und er würde mit derselben Ruhe auf Bayern
/^22 Kleine historische Schriften.
und Sachsen, Hannoveraner und Hessen schießen lassen wie auf
Russen und Franzosen. Niemals werden wir die Politik Bismarcks
verstehen, wenn wir diesen Grundstein nur um eine Linie ver-
rücken. Er machte es ihm möglich, mit Österreich und der ganzen
Reaktion die Demokratie zu bekämpfen und gegen Österreich
den Kampf um die deutsche Hegemonie zu wagen ; e r band ihn
an Rußland, als der gesamte deutsche Liberalismus in Zar Nikolaus
den Todfeind der Freiheit haßte ; auf i h m stand er, als er im
italienischen Freiheitskrieg sich von Österreich abkehrte, als er
ihm die Versuche, das liberale Deutschland für sich anzuspannen,
in Gastein verdarb : als er im Bunde mit dem Kaiser, aber wiederum
gegen alle liberalen Parteien, den Krieg um Schleswig-Holstein
durchführte und die Herzogtümer seinem König gewann; mit
i h m behauptete er sich im Konfükt mit der preußischen Kammer
und noch in dem Kriege, der Preußens König und Heer nach
Königgrätz und Nikolsburg brachte. Ja, das neue Reich selbst
ruht auf diesem Fundamente: in jedem Satze seiner Verfassung,
in der Organisation des Bundestages, der Stellung der preußischen
und der ihr verbündeten Kronen, in dem Steuersystem und der
gesamten Gesetzgebung des Reiches und seiner Staaten, in dem
Charakter der kaiserlichen Krone selbst und dem Maße der Macht,
die sie ihrem Träger gegenüber seinen Mitständen im Reiche ver-
lieh, tritt dieses Prinzip zutage. Macht und abermals Macht ist die
Summe Bismarckscher Politik. Der Glaube an die Macht, an die
unzerstörbare Realität der Hohenzollernkrone gab ihm erst den
Mut, die Schwindelfreiheit, die dazu gehörte, um hart an dem
Abgrund her den Pfad zur Höhe zu suchen, umtost von dem Hasse
der Demokratie, umringt von der Eifersucht der europäischen
Mächte, unverstanden und bea^g^vohnt von der eigenen Partei,
von den alten Freunden, von den Kollegen im Ministerium, von
den Nächsten an der Krone, ihrem Erben, der Königin, ja zuweilen
von seinem königlichen Herrn selbst.
Einsam, in tiefer Verborgenheit schmiedete er seine Pläne.
Niemand anders übersah alle Maschen der Netze, die er spann.
Jedermann ward ihm zum Werkzeug und unaufhörlich mischte
er Mittel und Zwecke ineinander. Der König selbst folgte nur
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein. 423
zagend und oft widerwillig dem kühnen Jäger: dreimal wurde
er von ihm in den Krieg gerissen, ohne daß er ihn eigentlich wollte.
Ja, bei dem Bau des Reiches, bei den Friedensschlüssen, die
Preußens Größe, Deutschlands Einigung begründeten, den Bünd-
nissen, welche die neue Schöpfung sicherstellten, stieß der Ge-
waltige auf den Widerstand seines Herrn: die kaiserhche Krone
selbst nahm \Mlhelm nur ungern aus seinen Händen,
An Macht des Willens läßt Stein sich Bismarck vollauf ver-
gleichen. Und er hat in dem großen Jahre der Befreiung Mittel
angewandt und Ziele angestrebt, die an revolutionärer Kühnheit
alles hinter sich lassen, was Bismarck je versucht hat. Stein wollte
nichts Geringeres, als den Aufstand in Deutschland gegen seine
Dynastien selbst entfesseln. Die Fürsten des Rheinbundes waren
ihm Despoten; er wollte sie von ihren Stühlen stoßen; die Rache
des gerechten Gottes, des beleidigten Gewissens rief er auf sie
herab. Lange dachte er an eine Neugestaltung Deutschlands von
Grund aus, an eine Teilung zwischen Österreich und Preußen,
sei es in der Form von Annexion oder Protektorat ; und er wünschte
jenem eher die deutsche Krone als diesem. Doch galten ihm beide
im Grunde kaum als deutsche Mächte: er sprach wohl von den
15 Millionen Deutschen, die zwischen Rhein und Elbe wohnen,
und bewegte sich damit noch in den Vorstellungen vom alten
Reich. Aus dem ureigensten Geiste der Nation, so sagte er,
müsse das Reich neu errichtet werden: desto verjüngter und
lebenskräftiger werde Deutschland unter Europas Völkern wieder
erscheinen können. Die Jahrhunderte der sächsischen und der
salischen Kaiser, in denen die Fürsten vor der Kaisermacht nichts
gegolten, waren ihm die große Zeit der deutschen Geschichte.
Er fühlte sich ausschließlich als Deutscher. Deutschland, so sagt er,
ist mein Vaterland; ich kenne kein anderes. Und darüber hinaus
lebt seine Seele noch in den Vorstellungen des weltbürgerHchen
Jahrhunderts: das Ziel Steins sei das sittliche Wohl der Mensch-
heit, sein Grundsatz in allem Handeln die strengste Tugend, so
urteilt von ihm einer der ihm nächststehenden Räte^). Ein andermal
^) Beguelin, Denkwürdigkeiten. S. 109. Vgl. Lehmann, Stein, III
passim, und Fr. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 152 ff.
424 Kleine historische Schriften.
plant er (noch ganz im Geiste absolutistischer Kabinettspolitik)
eine Umgestaltung der Karte Europas, wonach Norwegen und die
dänischen Inseln an Schweden, Jütland an England fallen, die
Herzogtümer aber mit Deutschland vereinigt werden sollen;
England will er noch durch Holland vergrößern; von Rußland
aber meint er, es sei zu groß und zu gerecht, um sich zu ver-
größern, um das allgemeine Mißtrauen erregen zu wollen, es müsse
nur von seinen Verbündeten einen Beitrag zur Unterhaltung
seines Heeres fordern.
Phantasien, die uns lehren, wie unfähig Stein im Grunde
war, das Schwergewicht in der Politik, das historisch bestimmte
und darum konstante Interesse der Staaten zu erkennen, ihr indi-
viduelles Leben zu begreifen: wie sehr ihm das rechte Augenmaß
für die Realitäten fehlte, in dem Bismarck das Geheimnis des
politischen Erfolges sah. Auch gab es keinen schlechteren Diplo-
maten als ihn. Er selbst hatte einen Widerwillen gegen das Trug-
spiel der Diplomatie. Nur einmal, zurzeit des Fürstenbundes, hat
er diplomatisch eine Mission am Mainzer Hofe ausgeführt. Die
Gesandtschaften im Haag und in Petersburg, die man ihm anbot,
schlug er aus. Zweimal lehnte er auch das Auswärtige Ministerium
ab, das ihm der König im November 1806 geben wollte. Und
als er in seinem zweiten Ministerium auch dies Ressort in die
Hand bekam, hat er in den Verhandlungen mit dem französischen
Kaiser völlig Fiasko gemacht, und das Werk eines Stümpers,
noch dazu aufgebaut auf einer völlig falschen Vorstellung von
der Politik und den momentanen Absichten Napoleons, war jener
Versuch einer Konspiration gegen die französische Gewaltherr-
schaft im August 1808, der ihn im weiteren Verlauf seine Stellung
kosten sollte.
Dennoch dürfen wir wahrlich nicht sagen, daß Stein in dem
großen Jahre der Rache schlecht gerechnet habe. Nur einer die
Tiefen des nationalen Zornes, des vaterländischen Gemütes, die
heiligsten Interessen deutscher Herzen aufrufenden und aus-
schöpfenden Kraft konnte es gehngen, Deutschlands Fürsten
unter die Waffen zu bringen. Der Satz, daß Pohtik nichts sei
als die kluge Benutzung der gegebenen Umstände, ist falsch. Das
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein, 425
war die Politik Napoleons — und sie erlag. Die Kräfte, die
ihn besiegten, waren wirklich vorhanden. Aber sie schlum-
merten in dem Herzen des Volkes, und nur wer sie weckte,
konnte siegen: nur aus dem ureigensten Geiste der Nation
konnte in Wahrheit das erhabene Ziel, die Befreiung von den
Fremden, und mehr, die Einigung des Vaterlandes selbst, er-
reicht werden.
Auch Bismarck hat diese Kräfte nicht unterschätzt. Auch
er hat an sie, wenn es galt, appelliert. Es war die letzte Karte,
die er im Spiel hatte. Als er Deutschland unter Preußen brachte,
nutzte er sie noch nicht aus, aber er zeigte sie bereits allen Gegnern
diesseits und jenseits des Rheines und der Weichsel. Und er warf
sie auf das Spielbrett der Diplomatie hin, als er die Zeit gekommen
sah: und das Echo, das ihm in den Tagen von Ems mit gewal-
tigem Brausen aus allen deutschen Gauen entgegenschlug, der
Ruf »an den Rhein, an den Rhein« bewies der Welt und jedem
Verächter der deutschen Idee, daß der Geist der Freiheitskriege
in unserem Volke noch nicht erstorben war. Dennoch sollten
auch diese Wogen dem Schöpfer des Reiches die Grundmauern
nicht verrücken: nur in den gewaltigen Quadern, die er legte,
durften sie fortan kreisen und wirbeln.
So stehen die beiden Helden einander gegenüber: als der
Befreier des Vaterlandes der eine, als der Eroberer und damit
der Einiger Deutschlands der andere. Die Substruktionen, auf
denen Bismarck den Bau des nationalen Staates errichtete, waren
noch dieselben, die nach dem Zusammenbruch des alten Reiches
von Napoleon und von seinen Besiegern gelegt waren: Preußen
und die Rheinbundfürsten (so viele die Krisis von 1866 überdauert
haben) sind die Grundpfeiler unseres Reiches geworden. Auch
der Wille der Nation kommt zum Gehör: jedoch im Reiche selbst,
wenigstens nach seines Gründers Absicht, nur, soweit er Wille
zur Macht ist, soweit es die Einheit des Rechtes und des Verkehrs,
der Bedingungen für Arbeit und Produktion, der Steuern und
der Zölle, der Waffen und der Diplomatie verlangen. Alles, was
innere Administration und die geistige Kultur einschheßt, ist
Sache der Einzelstaaten, die, in Jahrhunderten aus dem vermor-
/^2(^ Kleine historische Schrifteni
sehenden Reich erwachsen, im Kampf miteinander sich gebildet
haben und nun dauernd im Frieden vereinigt sind.
Fragen wir, wer der größere beider Heroen ist, so müssen
wir ohne Besinnen sagen: der Schöpfer des Reiches. Er hat nicht
bloß begonnen, er hat vollendet; zerstört, was des Sterbens wert
war, und gesammelt und geordnet, was lebenskräftig war im
\''olke wie in seinen Dynastien. Immer tiefer senken sich die
Fundamente, die er gelegt, in den Boden der Nation ein. Bei jeder
Frage, welche die Politik des Staates stellt, treten sie in ihrer
Stärke und der Richtigkeit ihrer Maße neu hervor : sturmsicher nach
außen und im Innern von einer Kraft, gegen die alle Leidenschaf-
ten der Tiefe immer noch umsonst herantoben.
Wie aber Bismarck der größere Heros ist, so ist auch die
Tragik größer, die, \ne jedes Heldenleben, so auch das seine be-
gleitet. Tiefer wühlend auch die Leidenschaften, ohne die kein
Kämpfer denkbar ist. Auch Stein war ein Mann des Zornes, und
wen sein blitzendes Auge traf, erzitterte und verstummte. Aber
wie heiß sein Herz aufwallen konnte, von jenem Hauch der Fin-
sternis, der die Hagen-gleiche Gestalt des großen Kanzlers um-
wittert, war doch nichts in ihm. Die Freunde, die er in der Jugend
gewann, blieben ihm fast alle treu fürs Leben; wenige hat er ver-
loren und viele gewonnen. Das Herz der Massen hat er niemals
so besessen wie Bismarck, den die Liebe von Millionen immer
voller umrauschte, je weiter er von der Höhe der Macht entfernt
war — derselben Menge, die ihn anfänglich verspottet, dann ge-
fürchtet und gehaßt, und deren Herzen er sich auch erst erobert
und unterworfen hatte. Aber der Kreis der Freunde, der Stein
in wachsender Zahl umgab, ward um Bismarck immer kleiner,
nachdem er die Gefährten seiner Jugend, denen er das größte
Glück des Lebens und den Frieden seiner Seele selbst verdankte,
verloren oder von sich gestoßen hatte. Und wie schwer Stein
den Undank der Welt empfinden mochte, ist er doch niemals,
wie Bismarck, von jenem Geist der Menschenverachtung berührt
worden, der die letzten Jahre des Schöpfers unseres Reiches um-
düstert hat. Freundlich ging seine Lebenssonne unter. Bis ans
Ende bUeb er tätig und in führender Stellung ; versöhnt mit seinem
Otto von Bismarck und Freiherr Karl vom Stein. 427
König und mehr und mehr von herzlicher Verehrung für ihn er-
füllt; der Welt der Ideen und der Ideale, der er niemals untreu
geworden, mehr als je hingegeben.
Dennoch würden wdr auch Bismarck schwer verkennen, wenn
wir in ihm, dem großen Wirklichkeitsmenschen, einen Verächter
der Ideen erblicken wollten. Seine Idee, sein Glaube war der Glaube
an Preußens Kraft, an Preußens Recht, an jene Verbindung alt-
preußischer Tugenden und deutscher Größe, deutscher Hoffnungen,
die er glorreich wahr gemacht hat. Wenn einer, so ist er dem
Boden treu geblieben, der ihn trug.
An sein Innerstes aber würden wir auch hiermit noch nicht
herankommen. Der Mann, der imstande war, »den Gedanken,
daß einst Rechberg und andere ungläubige Jesuiten über die alt-
sächsische Mark Salzwedel mit römisch-slawischem Bonapartis-
mus und blühender Korruption absolut herrschen sollten, ohne
Zorn auszudenken und eventuell als Gottes Willen und Zulassung
zu ehren«, be^^^es damit, daß er seinen Blick über diese Dinge
hinaus richten könne, daß nicht die Macht von dieser Welt, wie
heiß er um sie kämpfte, das letzte war, was ihn gefangen hielt.
»Wie Gott wiU,« so schreibt er, »es ist ja alles doch nur eine Zeit-
frage, Völker und Menschen, Torheit und Weisheit, Krieg und
Frieden, sie kommen und gehen wie Wasserwogen und das Meer
bleibt.« Und an anderer Stelle: »Es ist ja nichts auf dieser Erde
als Heuchelei und Gaukelspiel, und ob uns das Fieber oder die
Kartätsche diese Maske von Fleisch abreißt, fallen muß sie doch
über kurz oder lang und dann \^drd zwischen einem Preußen
und einem Österreicher, wenn sie gleich groß sind, wie etwa
Schrenck und Rechberg, doch eine Ähnlichkeit eintreten, die das
Unterscheiden schwierig macht ; auch die Dummen und die Klugen
sehn, proper skelettiert, ziemlich einer ^vie der andere aus.« Worte,
die man, wie bitter sie lauten mögen, schlecht genug mit dem Mode-
wort des Pessimismus bezeichnet hat und an deren Horizont man
noch nicht heranreicht, wenn man die spinozistische Weltan-
schauung, mit der der junge Bismarck, wie einst der junge Goethe,
ein paar Jahre gespielt hatte und an die sie anklingen mögen,
darin wiederfinden wiU: sondern die in Regionen hinüberreichen,
^28 Kleine historische Schriften.
welche ihm von Kindheit an vertraut waren, in die Ideenwelt,
die seit drei Jahrhunderten sein Heimatland beherrschte. »Den
spezifischen Patriotismus,« so fährt dieser Sohn der preußischen
Erde an jener Stelle fort, »wird man allerdings mit dieser Betrach-
tung los, aber es wäre auch jetzt zum Verzweifeln, wenn wir auf
den mit unserer Seligkeit angewiesen wären.« Der Gott, an den
er denkt, »vor dem unsere Staaten und ihre Macht und Ehre nichts
anderes sind als Ameisenhaufen und Bienenstöcke, die der Huf
eines Ochsen zertritt oder das Geschick in Gestalt eines Honig-
bauern ereilt« — es ist der Gott, auf dessen Namen er getauft
war, zu dem er als Knabe gebetet hatte, der Gott seiner Väter,
der Gott Martin Luthers, der deutsche Gott.
Uns Deutschen ist es nicht gegeben, zu den Schöpfern unserer
Nationalität in einmütiger Verehrung emporzusehen. Der Riß,
der durch unsere Geschichte geht, geht auch durch unser Empfin-
den und spaltet alle Grundlagen und Ziele unserer Bildung und
des Glaubens selbst. Und alle Bahnbrecher unserer geistigen und
staatlichen Größe, die lange Reihe der Ahnherren des neuen
Deutschlands, haben die Kluft, die frühere Jahrhunderte gerissen,
nicht schließen können; sie haben sie eher vertieft.
Wir wollen nicht darüber klagen. Auch der Kampf hat sein
Gutes und Stillstand ist Tod. Doch kämpfen wir nicht um des
Kampfes willen. Das Ziel bleibt immer der Friede, sollten ihn
auch erst Enkel oder Urenkel schauen. So möge denn einmal
doch der Tag über Deutschland leuchten, an dem der Schöpfer
des Reiches allen Kindern deutscher Erde so entgegentrete wie
er uns erscheint, die wir ihn kämpfen und schaffen sahen: in der
heroischen Gestalt, die zu den Helden der deutschen Sage hinüber-
weist: als der Nibelungenenkel, den in der Morgendämmerung
der deutschen Einheit der Prophetenmund des deutschen Sängers
verkündigt hat.
eetg^^^^
König Wilhelm und Bismardc
in Gastein 1863.
(1906.)
Will man den Moment bezeichnen, in dem Bismarck von
der Fülle der Widerwärtigkeiten am schwersten bedrängt wurde,
so kann man kaum an dem Sommer 1863 vorübergehen. Nicht
als ob er selbst damals den Druck besonders stark empfunden
hätte. ]\Ian darf vielmehr umgekehrt sagen, daß er niemals \\deder
so leicht an der ungeheuren Last getragen hat, die er sich im Sep-
tember 1862 auf die Schultern hatte legen lassen. Je weiter er
vorwärts drang, um so zornmütiger ward der große Kämpfer,
um so persönlicher und grimmiger der Haß, mit dem er die Gegner
verfolgte, um so schwerer legte sich seine Hand auch auf alle die-
jenigen, die er zu Freunden und Mitarbeitern an seinem großen
Werke gewonnen hatte. Und nur die Verachtung, die er seinen
Feinden entgegensetzte, war in den Anfängen des Kampfes so
groß wie in seinen späteren Jahren. Ja, er hat diese Empfindung
niemals wieder so ungescheut an den Tag gelegt als in dem ersten
Jahr seines Ministeriums — damals, als er die Wortführer der
Nation im Parlamente und in der Presse wie Schuljungen behandelte,
die Abgeordneten auseinandertrieb, die liberale Beamtenschaft
unter ein unerhörtes System von Chikanen drückte und durch
die Preßordonnanz vom i. Juni die öffentliche Meinung selbst
zu knebeln versuchte. »Ich habe niemals geglaubt, daß ich in
meinen reifen Jahren genötigt werden würde, ein so unwürdiges
Gewerbe ^\ie das eines parlamentarischen Ministers zu betreiben.
430 Kleine historische Schriften,
Als Gesandter hatte ich, obschon Beamter, doch das Gefülü, ein
Gentleman zu sein. Als Minister ist man Helot. Ich bin herunter-
gekommen und weiß doch selber nicht, wie«: so schreibt er seinem
alten republikanischen Freunde John Motley aus jener Sitzung
im Abgeordnetenhaus am 17. April 1863 heraus, in der er, mitten
in der Debatte über Schleswig-Holstein, um der Rede Virchows
zu entgehen, sich in das Nebenzimmer begab und danach auf die
Beschwerde des Parlamentes über diese Brüskierung kein andres
Wort hatte, als daß er bei den sonoren Stimmen der Herren Vor-
redner auch hinter der Türe, am Tische arbeitend, ihre Reden
hören könne. Vielleicht war es gerade dieser Brief, an dem er
in jenem Moment schrieb, »in einem Augenbhck unfreiwilliger
Muße«, wie er darin sagt, zwischen den »ungewöhnlich abgeschmack-
ten Reden aus dem Munde ungewöhnhch kindischer und aufge-
regter Politiker«, die er anzuhören genötigt sei. Geflissentlich
fast vermehrte er die Zahl seiner Gegner. Es war darin etwas
von jener Freude am Kampf, die das Gefecht um des Gefechtes
selbst willen liebt; eine Stimmung wie diejenige, zu der er sich
nach dem Duell mit Georg Vincke in dem Briefe an seine fromme
Schwiegermutter bekannt hatte : während die andern, Sekundanten
und Zeugen, sich fast unter Tränen die Hand geschüttelt, habe
er Lust gehabt, das Gefecht fortzusetzen.
Sobald er seine ersten Siege errungen, schon im Mai 1864,
sah er eine stets wachsende Schar von Anhängern, bald Bewun-
derern um sich. Im Sommer 1863 dagegen stand er noch ganz
allein einer Welt von Feinden gegenüber. Wohin war es mit jenen
Stimmungen in Deutschland gekommen, von denen sich König
Wilhelm im Anfang seiner Regierung hatte tragen lassen! Nörd-
Hch und südÜch vom Main waren alle Herzen Preußen entfremdet.
Gerade die besten Freunde, und die auch jetzt noch nicht am
Staate der Hohenzollern verzagten, ein Heinrich von Sybel und
Heinrich von Treitschke, stemmten sich dem Minister am stärksten
entgegen. Im tollen Wirbel, so meinten sie, reiße der Übermütige
den Wagen des Staates dem Abgrunde zu. Nicht einmal die Partei,
auf die er sich allein stützen konnte, wußte, wohin er ihn lenkte.
Auch sie wäre ihm untreu geworden, hätte sie es ahnen können;
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 431
und niemals ward sie den Verdacht gegen ihn los; nur weil sie
hofften, durch den Minister die eigenen Ziele fördern zu können,
stellten sich ihm die Reaktionäre so eng zur Seite. In der Um-
gebung des Königs selbst begegneten Bismarck Argwohn und
Feindschaft; der Kronprinz hatte sich soeben vor dem Lande
gegen ihn und seine Politik erklärt, hatte sich von dem Vater um
des Ministers willen losgesagt. Wie glückhch war Wilhelm gewesen,
als er in Baden-Baden an der Spitze deutscher Fürsten für Deutsch-
lands Recht und Unabhängigkeit Napoleon gegenüber getreten
war! So war auch noch unter Bernstorf fs Ministerium die aus-
wärtige Pohtik in den Bahnen geleitet worden, die dem Programm
der neuen Ära entsprachen ; nur die Langsamkeit und das Zaudern
habe, die Opposition damals zu tadeln gewußt, nicht das Ziel,
in dem sie sich mit der Regierung eins wußte. Jetzt aber war der
König durch den starken Arm seines neuen Ministers aus dieser
Richtung weit hin weggeführt worden. Weder in der hessischen
Frage noch in der der Herzogtümer war die deutsche Note an-
geschlagen, sondern immer nur auf Preußens Interesse war der
Ton gelegt worden. Es war, als ob Bismarck es darauf angelegt
habe, den Staat zu der Isolierung zurückzuführen, die er im Krim-
kriege eingenommen hatte. Die Petersburger Konvention vom
8. Februar, die dem Zaren preußische Truppen gegen die polnische
Revolution zur Verfügung stellte, entfesselte nicht nur einen
Sturm des Unwillens im liberalen Lager, sondern sie beleidigte
auch Kaiser Napoleon und half dazu, daß sich abermals jene
Koalition Österreichs und der Westmächte zu bilden drohte,
vor der Wilhelm im Jahre 1854 so große Sorge gehabt hatte. Was
er damals als eine »Gymnasiastenpolitik« (des Frankfurter Ge-
sandten) bezeichnet und bekämpft hatte, das mußte er nun be-
folgen. Gerade zu Beginn des Sommers umdunkelte sich rings
der Horizont: als die drei Mächte auf Grund der Verträge von
1815 in strengen Noten von dem Zaren die Einführung liberaler
Verfassungsformen für Polen forderten. Ein Ausweg aber zeigte
sich nirgends. Auch Bismarck wußte keinen andern Rat, als
die Ereignisse abzuwarten und sich bis dahin auf die eigene Macht
furchtlos zu verlassen.
432 Kleine historische Schriften.
So war Preußens innere und äußere Politik beschaffen, als
König Wilhelm am 22. Juli mit seinem Minister, der von Berlin
her in Regensburg zu ihm gestoßen war, und seinen militärischen
Vertrauten, Manteuffel, Alvensleben und Steinäcker in Gastein
zur Nachkur der Karlsbader Wochen eintraf.
Dort kam es zu einer neuen Krisis, in der alle Schwierig-
keiten sich zu kumulieren drohten. Am 2. August erschien Kaiser
Franz Joseph in dem Alpenbade, um seinem könighchen Oheim
den Plan einer Bundesreform im Sinne der nationalen Bestrebungen
zu überreichen und ihn zu einem Kongreß aller deutschen Fürsten
in der alten Kaiserstadt Frankfurt einzuladen. Österreich schickte
sich frohgemut an, die Rolle zu übernehmen, auf die König
Wilhelm unter Leitung seines Ministers soeben verzichtet hatte,
den W^eg der »moralischen Eroberungen« in Deutschland zu be-
schreiten. Nicht in der Art, wie es noch im Jahre vorher dem
Grafen Bemstorff gegenüber versucht hatte, gegen dessen unio-
nistisch gerichtete PoHtik es den Bund selbst mobil gemacht hatte.
Diese Pläne waren bereits an dem stahlharten Willen Bismarcks
gescheitert, der die Wiener Diplomatie wie die Herren am Bundes-
tage keinen Moment darüber in Zweifel gelassen hatte, daß Preußen
jeden Versuch der Majorisierung mit dem Austritt aus dem Bunde,
d. h. mit dem deutschen Kriege beantworten würde. Der Bundes-
tag war in dem neuen Reformplan ganz beiseite gelassen. Aus-
drücklich war darin gesagt, daß es ohne Preußens bundesfreund-
Hche j\Iit Wirkung für die Aufgabe der Reorganisation des Bundes
keinen definitiven Abschluß gäbe; daß Preußen durch den Umfang
seiner Bundeslande und die Bestimmungen der Bundesverträge
die Reform der Gesamtverfassung Deutschlands faktisch und
rechtlich verhindern könne. Aber um so stärker w^ar betont worden,
daß Preußen mit einer rein negativen Haltung sich der Verant-
wortung aussetzen würde für alle inneren und äußeren Gefahren,
die aus dem Verfall des Bundes erwachsen müßten. Dieser Zu-
stand der Zerrüttung, »vollständiger Zerklüftung und allgemeiner
Zerfahrenheit« war in der Denkschrift mit den dunkelsten Farben
geschildert worden. »Man denkt in der Tat nicht zu nachteihg
von diesem Zustande,« so heißt es unter anderm, »wenn man sich
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 433
eingesteht, daß die deutschen Regierungen im Grunde schon
jetzt nicht mehr in einem festen gegenseitigen Vertragsverhältnisse
zusammenstehen, sondern nur noch bis auf weiteres, im Vorgefühle
naher Katastrophen, nebeneinander fortleben « Der Status quo
der deutschen Bundesverhältnisse sei schlechthin chaotisch; der
Boden der Verträge schwanke unter den Füßen dessen, der sich
auf ihn stelle; der Bau der vertragsmäßigen Ordnung der Dinge
in Deutschland zeige überall Risse und Spalten, und der bloße
Wunsch, daß die morschen Wände den nächsten Sturm noch
aushalten möchten, könne ihnen die nötige Festigkeit nimmer-
mehr zurückgeben. An die konservativen Grundsätze des Königs
appellierte die Wiener Regierung, wenn sie die deutsche Revo-
lution prophezeite, und an seine nationalen Empfindungen, wenn
sie die Ohnmacht Deutschlands schilderte, die aus dem Verfalle
seiner Verfassung hervorgehen müsse. Und sie verhehlte schließ-
lich nicht, daß, wenn Preußen sich versage, Österreich und seine
Freunde die Hand an ein Werk der Not legen und innerhalb des
Bundes nach ihrem freien Bündnisrechte partielle Reformen
unternehmen, das hieß den Weg beschreiten würden, den
Preußen mit dem Zollverein und den Militärkonventionen schon
gegangen, und den Bismarck unter Umständen selbst zu gehen
entschlossen war.
Bisher hatte König Wilhelm seinem Minister zur Seite ge-
standen. Die Konvention vom 8. Februar mochte ihm in Er-
innerung an den Krimkrieg Bedenken genug gemacht haben. Aber
dieses Abkommen war schließlich gar nicht realisiert worden,
und seitdem hatte weiteren Anträgen Rußlands gegenüber auch
Bismarck sich spröde gezeigt. Auch hatte die starre Haltung
gegenüber der liberalen Opposition, in der Bismarck ihn mit ganzer
Kraft unterstützte, auf die Haltung des Königs in der auswärtigen
Politik zurückgewirkt ; und gegen seinen Sohn war er fast schärfer
aufgetreten, als der Minister selbst es für gut hielt. Nun aber
sollte Wilhelm dem Rivalen die Stellung einräumen, die seinen
eigenen innersten Neigungen entsprach; er sollte vor der Nation
die Politik verleugnen, zu der er sich bereits vor der neuen Ära
bekannt, und die er in Baden-Baden, in Teplitz, in Compiegne
Lenz, Kleine historische Schriften. 2o
434 Kleine historische Schriften.
vertreten hatte. Noch niemals hatte der Pakt, den er im Park
von Babelsberg am 22. September 1862 mit Bismarck geschlossen,
eine so starke Belastungsprobe erfahren.
So kam es zum ersten Male zu einem schweren Konflikt zwi-
schen dem König und seinem Minister. Den Höhepunkt erreichte
die Krisis, wie man weiß, in Baden-Baden, als der alte würdige
Freund Wilhelms, König Johann von Sachsen, von Frank-
furt herübergekommen war und ihn im Namen des Kaisers und
aller Bundesgenossen einlud, seinen Sitz unter ihnen einzunehmen.
Bismarck selbst hat oft, zuletzt noch in den »Gedanken und
Erinnerungen«, von dem Kampfe erzählt, den er am 20. August
mit seinem königlichen Herrn gehabt habe. Im Gegensatz dazu
geht er in seinen »Erinnerungen« über die Tage in Gastein auf-
fallend leicht hinweg. Was er darüber sagt, ist eigentlich nur die
Einleitung zu der Szene in Baden und beschränkt sich auf eine
Anekdote, den Bericht von einem kleinen Erlebnis, das der Minister
um die Stunde hatte, als Franz Joseph jenen folgenschweren Be-
such bei seinem königlichen Oheim machte. Da das Geschichtchen,
ein wahres Kabinettstück Bismarckscher Erzählerkunst, für
unsre Untersuchung in jeder Einzelheit wichtig ist, so wird mir
der freundliche Leser gestatten, es liier wörtlich einzufügen:
»In Gastein saß ich am 2. August 1863 in den Schwarzen-
bergschen Anlagen an der tiefen Schlucht der Ache unter den
Tannen. Über mir befand sich ein Meisennest, und ich beobachtete,
mit der Uhr in der Hand, wie oft in der INIinute der Vogel seinen
Jungen eine Raupe oder anderes Ungeziefer zutrug. Während
ich der nützHchen Tätigkeit dieser Tierchen zusah, bemerkte ich,
daß auf der anderen Seite der Schlucht, auf dem Schillerplatze
König Wilhelm aUein auf einer Bank saß. Als die Zeit heran-
gekommen war, mich zu dem Diner bei dem König anzuziehen,
ging ich in meine Wohnung und fand dort ein Brief chen Sr, Maje-
stät vor, des Inhalts, daß er mich auf dem Schillerplatze erwarten
wolle, um wegen der Begegnung mit dem Kaiser mit mir zu sprechen.
Ich beeilte mich nach Möglichkeit, aber ehe ich das Könighche
Quartier erreichte, hatte bereits eine Unterredung der beiden
hohen Herren stattgefunden. Wenn ich mich weniger lange bei
I
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 435
der Naturbetrachtung aufgehalten und den König früher gesehen
hätte, so wäre der erste Eindruck, den die Eröffnungen des Kaisers
auf den König gemacht haben, vielleicht ein andrer gewesen.«
Das ist alles, was uns Bismarck von den Tagen in Gastein
zu berichten hat. Daß sich die Verhandlungen in dem Alpen-
bade noch bis tief in die zweite Augustwoche hineinzogen, sagt
er nicht; sowenig wie er daran denkt, daß sein Herr dem Kaiser
sogleich persönlich, wenn auch mit höfhchen und ausweichenden
Wendungen, eine Absage gegeben und jedenfalls die Einladung,
sobald sie schrifthch in seine Hände gelangt war, umgehend ab-
gelehnt hat. i\Ian erhält aus Bismarcks Bericht den Eindruck,
als sei die Abreise des Königs nach Baden gleich nach dem Besuche
des Kaisers erfolgt und die Absage nach Frankfurt überhaupt
erst in Baden ausgesprochen worden.
»Der König,« so fährt er an jener Stelle fort, »fühlte zunächst
nicht die Unterschätzung, die in dieser Überrumpelung lag, in
dieser Einladung, man könnte sagen Ladung, ä courte echeance.
Der österreichische \^orschlag gefiel ihm vielleicht wegen des darin
hegenden Elementes fürstlicher Solidarität in dem Kampfe gegen
den parlamentarischen Liberahsmus, durch den er selbst damals
in Berhn bedrängt wurde.«
Und daran schheßt er sogleich den Besuch bei der Königin
Ehsabeth im Wildbad und die weitere Fahrt durch den Schwarz-
wald nach Baden, »wo \rir im offenen, kleinen Wagen wegen der
Leute vor uns auf dem Bock die deutsche Frage französisch ver-
handelten«. Er glaubt, den Herrn überzeugt zu haben, als sie
in Baden anlangen. Dort aber finden sie den König von Sachsen,
der im Auftrage aller Fürsten die Einladung nach Frankfurt er-
neuert.
»Diesem Schachzug zu \viderstehen, wurde meinem Herrn
nicht leicht. Er wiederholte mehrmals die Erwägung: , Dreißig
regierende Herren und ein König als Courier!' Und er liebte und
verehrte den König von Sachsen, der unter den Fürsten für diese
Mission auch persönlich der Berufenste war. Erst um Mitternacht
gelang es mir, die Unterschrift des Königs zu erhalten für die Ab-
sage an den König von Sachsen. Als ich den Herrn verHeß, waren
28*
436 Kleine historische Schriften.
wir beide infolge der nervösen Spannung der Situation krankhaft
erschöpft, und meine sofortige mündliche Mitteilung an den sächsi-
schen i\Iinister von Beust trug noch den Stempel dieser Erregung.
Die Krisis war überwunden worden, und der König von Sachsen
reiste ab, ohne meinen Herrn, wie ich es befürchtet hatte, noch-
mals aufzusuchen.«
Man sieht, wie hier die Vorgänge von drei Wochen zusammen-
gerückt und die Erzählung mit künstlerischer Absicht bis zur
Höhe der Krisis, die zugleich ihre Lösung wird, gesteigert ist.
Gastein ist nur Vorspiel, wenn auch das Ganze auf dem Gedanken
aufgebaut ist, in dem Erlebnis in der Achenschlucht eine neue
Bestätigung des alten Satzes zu geben von der großen Wirkung
kleiner Ursachen.
Wenden wir uns jetzt der Kritik unseres Berichtes zu, so müssen
wir mit einer chronologischen Richtigstellung beginnen. Es kann
nicht am IMittag des 2. August gewesen sein, als Bismarck unter
den Tannen der Schwarzenbergschen Anlagen in Gastein saß.
Denn erst am Nachmittag dieses Tages hielt Kaiser Franz Joseph
seinen Einzug, und erst am 3. hat er die Verhandlungen mit König
Wilhelm begonnen.
Wir sind durch die Zeitungen über die äußeren Vorgänge
beider Tage recht genau unterrichtet. Am i. August war der
Kaiser von Wien nach Salzburg, damals der Bahnstation für Gastein,
gekommen und von da aus am 2. im Wagen in Begleitung zweier
Adjutanten weitergefahren. Um 5 Uhr traf er in Gastein ein und
stieg in der Villa der Gräfin von Heran, der Witwe des Erzherzogs
Johann, ab. Dort empfing er, während er noch die Anreden der
Behörden und die Blumenspenden und Poesien der weißgekleideten
Jungfrauen entgegennahm, den König. An den Gegenbesuch
des Kaisers im Badeschlößchen, Wilhelms Quartier, schloß sich
alsbald das Diner, bei dem der Kaiser des Königs Gast war und
Bismarck (»im schwarzen Frack«, wie ein Korrespondent zu be-
richten weiß) die Ehre hatte, an des Kaisers Seite zu sitzen. Der
Tag schloß mit einer glänzenden Illumination, bei der die beiden
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 437
Monarchen und ihre Begleitung bis 10 Uhr sich unter der festüch
gestimmten Menge bewegten.
So die Chronik des ersten Tages nach dem Bericht der Zeitungen.
Daß er zu pohtischen Besprechungen noch nicht verwandt wurde,
erfahren wir aus einem Berichte Bismarcks an den Botschafter
in Wien, Freiherm von Werther, vom 14. August. AusdrückHch
heißt es hier:
»Nachdem der Kaiser Franz Joseph am 2. d. M. hier einge-
troffen war, nahm Se. Majestät bei einem am 3. stattfindenden
Besuche bei unserm allergnädigsten Herrn Gelegenheit zur Be-
sprechung der deutschen Bundesverhältnisse, unter Vorlage des
Ew. Excellenz mit dem Erlaß vom 13. übersandten Promemoria.«
Bismarck bemerkt weiterhin, daß an demselben Tage noch
zwei Unterredungen zwischen den beiden Herrschern stattgefunden,
und daß der Kaiser unmittelbar nach der dritten abgereist sei.
Nun besitzen wir das Briefchen des Königs, dessen Bismarck
in seiner Erzählung gedenkt; es steht im Anhang der »Gedanken
und Erinnerungen« (Band I, S. 74) und ist ^\irklich unter dem
2. August abgedruckt. Aber das Datum ist dort nur am Rande
beigefügt und, wie mir der Herausgeber des Briefwechsels, Herr
Horst Kohl, auf meine Anfrage bestätigte, von dem Fürsten
nachträglich mit Bleistift beigeschrieben w^orden ; das Original hat
weder Tag- noch Ortsbezeichnung. Da es für unsern Zweck in jedem
Wort von Wichtigkeit ist, teile ich es wieder nachstehend mit:
Wenn Sie gelesen haben, wollen Sie mich auf der Schiller
Höhe aufsuchen, d.h. vor V22 Uhr.
Fürsten Congreß am 16. d. M. in F. a. M.
Execution a 5!
Delegierte dereinst; berathende Stimme.
Fürsten Collegium als Oberhaus. W.
Sofort bemerken wir eine schwerwiegende Differenz zwischen
dem Brief des Königs und dem Bericht des Fürsten Bismarck.
Zunächst setzt des letzteren Erzählung voraus, daß eine Unter-
redung der beiden hohen Herren überhaupt noch nicht stattge-
fimden hat. Ausdrücklich spricht er, es ist ja eben die Pointe
438 Kleine historische Schriften.
seiner Erzählung, von dem ersten Eindruck, den die Eröff-
nungen des Kaisers auf den König gemacht hätten. Wilhelm da-
gegen bezieht sich bereits auf diesen ersten Besuch selbst; und
wenn er Bismarcks Kommen zum Schillerplatz fordert, so ge-
schieht es, um ihn gerade deshalb vor dem Diner, zu dem er den
Kaiser auch an diesem Tage geladen hatte, zu sprechen. Auch
sonst bietet die Interpretation des Billetts wichtige Aufschlüsse.
Zunächst ist klar (die Worte : » Wenn Sie gelesen haben « machen
es ganz deutlich), daß der König noch ein Schriftstück beigelegt
hat, über das er sich eben mit seinem Minister vor dem Diner
unterhalten will. Und wir brauchen nicht lange danach zu suchen :
es ist kein anderes als das Promemoria über die Bundesreform,
dessen Hauptgedanken wir vorhin kennen lernten. Daß Franz
Joseph in der Tat eben dieses bei seinem ersten Besuche übergeben
hat, lasen wir bereits in dem vorhin zitierten Bericht Bismarcks
an Freiherrn von Werther.
»Zu demselben,« so fährt Bismarck darin an der zitierten
Stelle fort, »gab Se. Majestät der Kaiser die mündlichen Erläute-
rungen, daß zunächst ein Fürstenkongreß sich am i6. d. M. in
Frankfurt a. M. versammeln, daß an der Spitze des Bundes ein
Direktorium von fünf Fürsten stehen, daß der Bundestag fort-
fahren solle, die laufenden Geschäfte zu verhandeln, daß aber aus
sämtlichen Souveränen des Bundes ein zeitweise zusammen-
tretendes Oberhaus und aus Delegierten der Landtage der ein-
zelnen Staaten ein mit beratenden Attributionen versehenes
Unterhaus gebildet werden solle.«
Das sind genau die Punkte, die der König in den letzten vier
Zeilen seines Billetts anführt, und worin er also ein Resume der
mündlichen Eröffnungen des Kaisers gibt.
Daß letzterer erst an diesem Tage seine Eröffnungen gemacht
hat, bestätigen diese Worte. Doch wäre es immerhin denkbar,
daß Franz Joseph seinen Bundesfreund am Abend vorher auf seinen
Plan andeutend vorbereitet habe. Überhaupt aber wird man in
Gastein nicht so völlig überrascht gewesen sein, wie man nach
Bismarcks Erzählung vermuten würde. Der Besuch des Kaisers
bei dem König war längst geplant; er war schon in Karlsbad für
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 439
Ende Juni in Aussicht genommen, dann aber von Woche zu Woche
verschoben worden. Und ohne Frage sahen König Wilhehn und
seine Minister, worauf mir auch der Tenor des Briefes hinzudeuten
scheint, voraus, daß die Besprechung der deutschen Frage ge-
widmet sein würde. Waren doch schon seit zwei Tagen oder mehr
in der Wiener und der süddeutschen Presse ]\Iitteilungen ent-
halten, die direkt auf ein solches Programm der bevorstehenden
Monarchenbegegnung hinwiesen und ihren Ursprung offenbar
im Wiener Ministerium selbst hatten. Am i. August hatte die
Wiener »Presse« es offen ausgesprochen, daß der Besuch des Kaisers
den Zweck habe, den König persönlich für die deutsche Reform
zu gewinnen ; sei das nicht möghch, so werde Österreich selbständig
vorgehen. Daran knüpfte das offiziöse Blatt einen Artikel aus
dem »Nürnberger Courier«, dem der inspirierte Ursprung ebenfalls
auf der Stirn geschrieben stand: die erste Hälfte des August,
so war hierin ausgeführt, werde nicht vorübergehen, ohne daß
Österreich Ernst mit der Bundesreform mache; ein Delegierten-
parlament als Unterhaus, eine Fürstenkammer, Herausbildung
einer Zentralgewalt und andre Punkte waren darin bereits nam-
haft gemacht worden. Ich dächte, man darf annehmen, daß solche
Zeitungsstimmen Bismarck und seinem königlichen Herrn schon
vor die Augen gekommen waren, und daß sie eine Zusammenkunft,
die der Kaiser und König Max von Bayern kurz vorher, am
28. Juni, in Regensburg gehabt hatten, und bei der sich Franz
Joseph diesem über seine Absichten zuerst eröffnet hatte, eben-
falls darauf gedeutet haben.
Ich möchte aber nicht einmal so unbedingt annehmen, daß
König Wilhelm in dem Maße, wie Bismarck es erzählt, an dem Vor-
schlage seines Bundesfreundes Gefallen gefunden: das Ausrufungs-
zeichen, das er in seinem Brief hinter den Worten »Execution
ä 5« macht, spricht keineswegs dafür. Eine Exekutivgewalt, die
neben den beiden Großmächten drei Könige hatte, mußte das
Übergewicht ganz auf die Seite Österreichs legen. Es war ein Vor-
schlag, wie diejenigen, mit denen Fürst Schwarzenberg schon bei den
Verhandlungen vor und nach Olmütz Preußen bedrängt und die im
Prinzen von Preußen immer den schärfsten Gegner gefunden hatten.
440 Kleine historische Schriften.
Gehen wir jetzt dazu über, die Zeit zu bestimmen, in der
die Vorgänge, die wir kennen gelernt, passiert sind. Die Stunde
des Besuchs Franz Josephs bei dem König wie auch des Diners
hat uns der Korrespondent des Wolffsclien Bureaus aufbewahrt:
»Heute Morgen,« so schreibt er am 3. August, »gegen 11 Uhr,
stattete der Kaiser dem König einen Besuch ab. Um 2 Uhr wird
bei Sr. Majestät dem König Diner sein und abends 8 Uhr Se.
Majestät der Kaiser die Rückkehr nach Salzburg antreten.«
Nehmen wir an, daß der Besuch eine kleine Stunde gedauert
und der König unmittelbar darauf das Billett in die Wohnung des
Ministers gesandt hat, so wird Bismarck, den es ja nicht zu Hause
traf, etwa in der Mittagsstunde seinen Spaziergang gemacht und
in der Achenschlucht gesessen haben, sowie der König um die-
selbe Zeit noch einen Ausgang zur Schillerhöhe machte. Sein
Quartier kann Bismarck kaum viel vor ^/g 2 Uhr erreicht haben.
Dort also findet er das Billett vor, das ihn schon vor dieser Zeit
bei dem König auf der Schillerhöhe wünscht. ]\Ian kann denken,
welche Erregung sich seiner bemächtigt hat, wie rasch er das
Promemoria durchflogen, in wie fieberhafter Eile er sich in den
Gesellschaftsanzug geworfen hat, um wenigstens nun Seine Maje-
stät noch zu finden, bevor der Kaiser und sein Gefolge im Bade-
schlößchen einträfen.
Ist er noch zur rechten Zeit gekommen ? Eine Frage von
entscheidender Bedeutung, denn dort, während und nicht lange
nach dem Mahl, sind die entscheidenden Verhandlungen zwischen
beiden Herrschern geführt worden, und noch am Abend hat der
Kaiser seine Rückfahrt angetreten. War der Kaiser da, bevor
Bismarck eintraf, so hat, da sich während des Diners für Bis-
marck nicht die Gelegenheit gefunden haben kann, seinen könig-
lichen Herrn zu endoktrinieren, Wilhelm dem Kaiser seine Ant-
wort aus eigener Entschließung gegeben. Zum Glück hat uns der
Korrespondent der »Wiener Presse« den Tatbestand überliefert.
»Heute Morgen,« so schreibt er, »5 Uhr schon, sahen die
Bewohner den Kaiser einen Spaziergang machen. Während w i r
dies niederschreiben, steht der König mit
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 441
Bismarck in eifrigem Gespräch auf der Ter-
rasse des Schlosses, in welchem der Kaiser
eben erwartet und wo er um 2Uhr speisen
wird.«
Nun ist alles klar. In den »Geäanken und Erinnerungen«
Bismarcks lebt vor allem der Eindruck fort, den er in dem Moment
empfand, als er Billett und Promemoria in seiner Wohnung vorfand
und nun befürchten mußte, daß er, wie zum Schillerplatze, so
auch zur Besprechung vor dem Diner zu spät kommen würde.
In Wirklichkeit aber hat er den König noch allein getroffen und
auf der Terrasse des Badeschlößchens ihm über die Absichten
der Österreicher und den Weg, wie man ihnen begegnen müsse,
Vortrag gehalten.
Über den Inhalt der Besprechungen beider Herrscher er-
fahren wir aus den Zeitungen schlechterdings nichts. Ihre Be-
richterstatter wissen wohl zu erzählen, welche Uniformen Kaiser
und König bei ihren Besuchen getragen haben, was für Fahnen
geweht, schwarz-gelbe, rot-weiße, blau-weiße (auch ein paar
schwarz-rot-goldene hatten sich hervorgewagt, waren jedoch
noch zum Glück vierundzwanzig Stunden vor der Ankunft des
Kaisers entfernt worden, während schwarz-weiße nirgends er-
wähnt sind) ; sie nennen die gereimten Inschriften der Triumph-
bogen; sie schwärmen von der Pracht der Illumination der Wasser-
fälle: aber über den Inhalt und die Bedeutung der Begegnung
kann niemand auch nur ein Wort verraten.
Hier aber treten für uns die offiziösen und die offiziellen
Schriftstücke ein. Bismarck selbst drückt sich darüber in der
genannten Note an Freiherrn von Werther und im Anschluß an
die schon zitierten Worte folgendermaßen aus:
»Bei dieser und zwei an demselben Tage nachfolgenden Unter-
redungen sprach Se. ]\Iajestät der König die entgegenstehenden
Bedenken in dem Sinne des anliegenden Promemoria aus und
erklärte schließlich bei dem Abschiede beider Monarchen, daß
ein Fürstenkongreß mit Nutzen für die ganze Angelegenheit der
notwendigen geschäfthchen Vorbereitungen wegen keinesfalls vor
dem I.Oktober eingeleitet werden könne.«
442 Kleine historische Schriften.
Nähere Angaben hat der König selbst gemacht, eben in dem
von Bismarck hier genannten Promemoria, das er unmittelbar
nach des Kaisers Abreise, noch am Abend — es ist wenigstens vom
3. August datiert — niederschrieb, und das zusammen mit einer
amtlichen Absage der Einladung am 4. August an die Wiener
Regienmg gesandt wurde. Dies Promemoria war, wie Stil und
Komposition zweifellos machen, ganz von der Hand Sr. Majestät.
Inhaltlich aber hält es sich durchweg auf den Linien, die Bismarck
gezogen hatte, seitdem er im Spätherbst 1862 den Kampf gegen
die Reformpläne der Österreicher imd die Mittelstaaten aufgenom-
men, sowie es sich auch mit allen weiteren Schritten der kühnen
Politik des Ministers bis hin zu den Erklärungen vom 9. April und
IG. Juni 1866 deckt. Von einem Schwanken des Königs kann man
danach in jenem Augenblick nicht mehr sprechen. In fünf Punkten
faßt Wilhelm die Gründe zusammen, die er vor dem Kaiser gegen
eine Beteiligung Preußens an einem Fürstentage, der schon am
16. August beginnen solle, geltend gemacht habe. Zunächst ist
es der zu kurz gestellte Termin : die Fürsten würden sich auf diesen
»unendlich weittragenden Schritt« gar nicht vorbereiten können.
Aber auch bei weiterer Hinausschiebung nennt er es gewagt, die
Angelegenheit gerade einem Kollegium von Fürsten zu unter-
breiten, denen, wie das die Erfahrung öfter bewiesen habe, die
Arbeitsfähigkeit dazu mangele. Er würde es daher durchaus vor-
ziehen, daß zunächst die Minister der siebzehn stimmführenden
Staaten in einer vorläufigen Beratung die Frage geschäfts-
mäßig vorbereiteten, »w'elcher Arbeit dann durch die zu con-
vocirenden Fürsten die Sanktion erteilt werden könnte.« Gegen
die Berufung einer aus Delegierten der deutschen Kammern zu-
sammengesetzten Versammlung macht er das konservative Be-
denken geltend, daß die Abgeordneten, die daheim schon beschlie-
ßende Stimme hätten, mit bloß beratender niemals zufrieden sein,
sondern alsbald nach weiteren Attributionen streben würden.
Wenn er aber statt dessen im Namen der konservativen Inter-
essen für alle Bundesstaaten ein gleiches Wahlreglement aufstellen
möchte, d. h. ein direkt aus Volkswahlen hervorgegangenes Par-
lament vorschlägt, so wird er mit dieser Motivierung bei dem
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 443
Kaiser und dessen Ministern kaum Anklang gefunden haben.
Ausdrücklich war in dem Wiener Promemoria dieser Modus ver-
worfen worden, und zwar im Hinblick auf den gleichlautenden
Vorschlag, den Bismarck schon im Januar beim Bundestage hatte
einbringen lassen.
»Einrichtungen,« heißt es dort, »wie eine einheitUche Spitze
oder ein aus direkten Volkswahlen hervorgehendes Parlament
passen nicht für diesen Verein; sie widerstreben seiner Natur
und wer sie verlangt, will nur dem Namen nach den Bund oder
das, was man den Bundesstaat genannt hat; in Wahrheit will er
das allmähliche Erlöschen der Lebenskraft der Einzelstaaten, er
will einen Zustand des Überganges zu einer künftigen Unifikation,
er will die Spaltung Deutschlands, ohne die dieser Übergang sich
nicht vollziehen kann. Solche Einrichtungen wird Österreich nicht
vorschlagen.«
In Wahrheit, nichts konnte richtiger sein. Ein aus der Nation
unmittelbar hervorgehendes Parlament widerstrebte ebensowohl
dem deutschen Bunde wie dem Lebensprinzip des österreichischen
Staates. Es war der Gedanke, der, seitdem Bismarck im Januar
ihn aufgenommen hatte, aus seinem Programm nicht wieder
verschwand und der das Quecksilber werden mußte, das die
Fugen des bundestäglichen Deutschlands auseinandertrieb. Es
war die Idee der Revolution von 1848, die schon damals zur
Ausscheidung Österreichs, dem Willen ihrer Urheber selbst ent-
gegen, geführt hatte. Und wenn der König gar hinzufügte, daß
einem solchen Parlament, das sich die Kräftigung, aber nicht
die Lähmung der Regierung zur Aufgabe stelle, noch ausge-
dehntere als nur beratende Befugnisse verliehen werden könnten,
so mußte das in Wien fast als eine Kriegserklärung aufgefaßt
werden.
An dritter Stelle weist der König in seinem Memoire auf die
Schwierigkeiten hin, welche die Wahl der drei Glieder des Exkutiv-
direktoriums, die außer Preußen und Österreich darin sitzen sollten,
haben würde; und daß, je größer die Machtvollkommenheit der
Exekutive wäre, desto schwerer die Zustimmung der dabei
unbeteiligten Staaten zu gewinnen sein würde.
^44 Kleine historische Schriften.
Schließlich macht er noch auf die bedenkhchen Folgen auf-
merksam, die sich aus der bei der Übereilung des Planes drohenden
Uneinigkeit ergeben würden: je höher durch eine so außerordent-
liche Maßregel, wie sie seit dem Wiener Kongreß noch nicht ge-
troffen wäre, die Erwartungen gespannt wären, um so leichter
würde es der Revolution werden, das Ergebnis als ungenügend
darzustellen und die beteiligten Monarchen hierfür persönlich ver-
antwortlich zu machen.
Daß diese Erklärungen nicht bloß im Sinne Bismarcks waren,
sondern daß er sie in dem Gespräch, das sie beide vorher auf der
Terrasse des Badeschlößchens gehabt hatten^), im wesentlichen
inspiriert hat, wird man danach, denke ich, nicht mehr in Abrede
stellen können.
Die Zeit der Besprechungen zwischen beiden Herrschern
können wir wiederum einem Telegramm des Wolffschen Bureaus
(vom 4. August) entnehmen:
»Nach Beendigung des bei Sr. Majestät dem König von
Preußen stattgehabten Diners imterhielten sich beide Majestäten
längere Zeit auf dem Balkon des Schlosses. Abends 8 ^/g Uhr
verließ Se. Majestät der Kaiser Gastein, nachdem er Sr. Majestät
dem König einen Abschiedsbesuch gemacht hatte, den der König
mit seinem Gefolge erwiderte.«
Dazu die Angabe der »Presse«, daß der Kaiser nach 6 Uhr
seinen Abschiedsbesuch gemacht habe. Hiemach werden wir wohl
ohne Bedenken sagen dürfen, daß die beiden Nachmittagsunter-
redungen mit der auf dem Balkon und dem Abschiedsbesuch des
Kaisers zu identifizieren sind^). Wie lebhaft gerade die Szene
auf dem Balkon dem König in der Erinnerung bUeb, erfahren wir
aus einer Notiz in den Lebenserinnerungen Rudolf Delbrücks.
Delbrück hatte im Jahre darauf auf einer Reise, die ihn auch
^) Und vielleicht noch einmal in der Zwischenzeit zwischen dem Diner
und der dritten Unterredung. Das Diner dauerte eine Stunde.
*) Den Abschiedsbesuch des Königs setzt die »Presse« auf präzis
8 Uhr, der »Staatsanzeiger« auf 7V2 Uhr. Auch damals widmete man der
Sache gewiß noch ein kurzes Wort.
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 445
nach Gastein führte, die Ehre, hier von dem König zum Diner
geladen zu werden.
»Nach dem Diner,« so erzählt er, »trat der König mit mir
auf den Balkon nach dem Straubinger Platze. Heute vor einem
Jahre, sagte er, stand ich hier mit dem Kaiser von Österreich,
der gekommen war, um mich zum Fürstentage nach Frankfurt
a. 'M. einzuladen. Die Betrachtungen über den Unterschied zwischen
damals und heute, die er an diese Erinnerung knüpfte, waren charak-
teristisch für den hohen Herren durch die Dankbarkeit, die Gottes
Führung, und die Bescheidenheit, die seinem Heere und seinen
Räten die Ehre ließ. Befriedigung klang aus seinen Worten, nicht
Triumph. «
Wie nun aber alles im einzelnen verlaufen ist, ob die Erklä-
rungen Wilhelms, zumal bei der ersten Besprechung, nicht doch
vielleicht nachgiebiger gelautet haben, als es nach den amtlichen
Schriftstücken den Anschein hat, läßt sich nicht sagen. Hier nützen
uns auch die offiziellen Kundgebungen nichts, die vielmehr den
Tatbestand eher verwirren als aufklären. Die Österreicher hatten
natürlich das Interesse, den König nachgiebig erscheinen zu lassen.
So meldete die Wiener »Presse« gleich am 6. August im Anschluß
an die Meldung von dem Besuch: »Wir glauben hinzufügen zu
können, daß König Wilhelm zwar sein Erscheinen noch nicht
bestimmt zugesagt, aber noch weniger abgelehnt hat, zu kommen,
und daß man hier in Wien glaubt, der König von Preußen werde
bei dem Kongresse nicht fehlen.« Eine Woche darauf brachte die
ebenfalls offiziöse Frankfurter »Oberpostamtszeitung« einen aus
Wien vom 11. datierten Rückblick auf die Verhandlung, der da-
von ausging, daß der Zweck des Kongresses von beiden Monarchen
sehr eingehend und vom König von Preußen in durchaus ent-
gegenkommender Weise erörtert worden sei; seine definitive Er-
klärung zu geben habe sich der König indes bis dahin vorbe-
halten, wo er Muße haben werde, das unmittelbar vor der Ab-
reise ihm von dem Kaiser^) überreichte formelle Einladungs-
schreiben zu lesen.
^) Vgl. unten. Man bemerke die leise Abweichung von der Wahrheit.
446 Kleine historische Schriften.
Dementsprechend beeilte sich die Wiener Regierung, voll-
endete Tatsachen zu schaffen. Kaum war der Kaiser nach Wien
zurückgekehrt, so gingen am 5. August sämtliche Einladungs-
schreiben ab, begleitet von einem Expose des ]\Iinisters des Aus-
wärtigen vom 4. August über Veranlassung und Zweck; auf den
folgenden Tag lud Graf Rechberg die Gesandten der deutschen
Höfe zu sich, um ihnen nähere Mitteilungen über den Plan zu machen,
der am Morgen des 6. August in allgemeinen umrissen in der
»\A'iener Zeitung« angekündigt wurde. Graf Rechberg erwähnte
dabei, daß er selbst den Kaiser begleiten werde, und forderte die
Gesandten auf, ihren Höfen den Wunsch des Kaiserlichen Kabinetts
zu übermitteln, mit den Fürsten auch deren Minister in Frank-
furt zu sehen.
Umgekehrt die Preußen. Wenn Bismarck dem Absagebrief
vom 4. August das eigenhändige Memoire des Königs beilegte,
so war das eine Maßregel, offenbar dazu bestimmt, jedem Miß-
verständnis der mündlichen Äußerungen des Königs in Wien
vorzubeugen. Denselben Zweck hatte ein Zirkular an die preußi-
schen Gesandten, das gleich am 4. August telegraphisch nach
Berlin abging und schon am 5. August von Berhn aus versandt
wurde. Und entsprechende ]\Iitteilungen brachten die von Bismarck
inspirierten Zeitungen.
Zu voller Klarheit werden \\ir an diesem Punkte nicht ge-
langen können. Die Wahrheit wird hier wohl einmal (was ja sonst
keineswegs immer der Fall ist) in der Mitte hegen. Ohne Zweifel
haben die Österreicher übertrieben. Die Gründe, welche Wilhelm
in seinem Promemoria angibt, hat er sicherhch auch in dem Gespräch
mit dem Kaiser vorgebracht. Anderseits war die Form der Ab-
sage weder in dem Absageschreiben noch in dem Promemoria
ganz unumwunden, sondern der König verschanzte sich an beiden
Orten hinter der Unzweckmäßigkeit und der Unmöglichkeit,
die Dinge so rasch zu regeln. Für den Gedanken der Reform
selbst hatte er nur sympathische Worte, und selbst das Zustande-
kommen des Kongresses stellte er als sehr wohl mögHch hin, so-
bald nur jene Umstände beseitigt wären. Es klingt daher ganz
glaubhch, w^as die in BerUn erscheinende »Feudale Korrespondenz«
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 447
von sehr verläßlicher Seite, wie sie schreibt (man könnte an Stein-
äcker, Alvensleben oder Manteuffel denken), zu berichten weiß.
Als der Kaiser vor der Abreise dem König die Worte zugerufen
habe: »Ich darf Sie also, lieber Oheim, in Frankfurt a. M. er-
warten«, sei ihm vom König erwidert: »Jawohl, auf Wiedersehen
in Frankfurt a. M.!« Es fragt sich nur, worauf der König bei den
Besprechungen mehr den Akzent gelegt hat, ob auf die Gründe,
die gegen den Kongreß sprachen, oder auf den Wunsch, an den
Beratungen für Deutschlands Wohl teilzunehmen. Und ich halte
es nicht für unmöglich, daß Franz Joseph wirklich mit dem Ein-
druck geschieden ist, als könne der König am Ende doch noch
zur Reise gebracht werden.
Wie dem auch sei, so darf man doch immerhin annehmen,
daß König Wilhelm durch die überraschende Wendung chokiert
wurde, welche die Angelegenheit nahm, als gleich nach dem Ab-
schied des Kaisers sein Flügeladjutant die Einladung überreichte,
und daß er unter diesem Eindruck sowohl das Promemoria nieder-
geschrieben als den Absagebrief unterzeichnet hat. Denn mehr
noch als in dem Besuch und den Besprechungen selbst trat hierin
der Versuch einer Überrumpelung Preußens hervor; ich zweifle
nicht, daß Bismarck dabei das Seine getan hat, um diese Empfin-
dung der »Unterschätzung« in seinem könighchen Herrn zu ver-
stärken.
Leider hielt diese Stimmung bei König Wilhelm nicht an.
Sondern, wde es in seiner Art lag, nachdem er sich den Wegen seines
Ministers angeschlossen, kamen ihm erst recht die Bedenken.
Ich möchte diese Abwandlung schon in dem Wunsche ent-
decken, den Wilhelm gleich am Morgen des 4. August gegen seinen
Minister, zunächst schriftlich, zum Ausdruck brachte, durch ein
Telegramm an den Kaiser allen weiteren Schritten desselben zu-
vorzukommen.
»Was meinen Sie,« so schreibt er, »ob es nicht gut wäre dem
Kaiser gleich zu telegraphiren, daß nach unserer Unterredung
und dem heute erfolgenden Resume derselben, ich das Schreiben
4/,ft Kleine historische Schriften.
vom 31. July als non avenu betrachtete und envartete, daß ähn-
liche Schreiben daher nicht übergeben würden. So wäre es vielleicht
noch möglich, die Übergabe der Einladungen nach F. a/M. zu
sistiren. ^/a n Uhr bin ich zu Haus. W.«
Bismarck war gewiß eher dafür, den Konflikt zu verschärfen,
als ihm aus dem Wege zu gehen. Ob er sich in dem Sinne ausge-
sprochen hat, wissen wir nicht. Jedenfalls ging das Telegramm
ab. Da es uns im Wortlaut nicht vorliegt, bleibt auch der In-
halt zweifelhaft. In der mehrfach genannten Depesche an Frei-
herrn von Werther vom 14. August, die zur Veröffentlichung be-
stimmt war und noch vor Ende des Monats herauskam, bemerkt
Bismarck lediglich folgendes darüber:
»Um dem Kaiserlichen Kabinett Gelegenheit zu geben, seine
Entschließungen mit Kenntnis der diesseitigen zu treffen, richtete
Se. Majestät noch am 4. ein Telegramm an Se. Majestät den Kaiser,
in dem die Ablehnung der Einladung zum 16. bestimmt ausge-
sprochen wurde.«
Eine wesentlich andere Färbung hat hingegen eine Notiz der
Wiener »Presse« vom 9. August: Der Kaiser, schreibt diese, sei
kaum von Gastein zurückgekehrt, als ein Telegramm angekommen
sei, in dem der König das Erscheinen in Frankfurt aus Rücksichten
der Gesundheit abgelehnt habe. Und damit stimmt wiederum
auffallend überein, was uns von einem Handschreiben König
Wilhelms an den Kaiser mitgeteilt wird, das von preußischer
Seite völlig ignoriert wird, dessen Existenz aber gar nicht bezweifelt
werden kann. Schon am 9. August teilte die »Presse« ein Wort
darüber mit. Ein Telegramm aus Frankfurt, schreibt sie, bringe
heute »völlige Klarheit über den Entschluß des Ministeriums
Bismarck: es refüsiert; gleichwohl versichert man uns, daß noch
zwischen Kaiser und König eine persönliche Korrespondenz über
den Gegenstand fortdauert.« Näheres brachte dann wieder der
vorhin genannte Artikel der »Oberpostamtszeitung«. Nachdem
sie zunächst des Absagebriefes vom 4. gedacht, schreibt sie folgendes :
»Am 6. August traf ein zweites, diesmal ganz von der Hand
des Königs geschriebenes Schreiben ein, worin derselbe nach-
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 449
träglich geltend machte, daß es ilim nicht 'tunlich erscheine, un-
mittelbar nach beendeter Badekur sich den Anstren-
gungen einer Begegnung in Frankfurt zu unterziehen.«
Auch über ein Gegenschreiben des Kaisers weiß sie zu be-
richten :
»Am 7. August antwortete der Kaiser, daß er in der Über-
zeugung nicht wankend ge\\orden sei, wie gerade die persönliche
Begegnung der Fürsten sich am geeignetsten darstelle, eine Ver-
ständigung herbeizuführen, und daß die Einladungssclu-eiben
übrigens auch bereits abgegangen seien; er bitte daher den König,
falls sein Zustand ihn wider Verhoffen hindern
sollte, selbst nach Frankfurt zu kommen, einen Prinzen seines
Hauses dorthin zu senden.«
Nun wird uns erst eine Stelle in der Depesche Bismarcks
an Werther klar, welche an sich in den Zusammenhang dieses
Schriftstückes nicht recht hineinpaßt:
»Am 7. des Monats«, so schreibt der Minister in Anknüpfung
an den Satz über das Telegramm und den Absagebrief vom
4. August, »^^•u^de durch einen Kaiserhchen Flügeladjutanten
Sr. Majestät dem Könige eine erneute Einladung unter Beifügung
des abschrifthch anliegenden Promemoria überbracht. Dieselbe
enthielt mit Rücksicht darauf, daß Sr. Majestät des
Königs Badekur, wenn sie regelmäßig beendet
werden solle, Allerhöchstdemselben nicht gestatte,
am 16. in Frankfurt anwesend zu sein, den eventuellen
Vorschlag, einen der Königl. Prinzen in Vollmacht zu dem Kongreß
zu senden. Se. ^lajestät der König lehnte wiederholt in einem
eigenhändigen Schreiben vom 7. c. sowohl das eigene Erscheinen
als die Entsendung eines Königl. Prinzen ab. Hierauf beschränkt
sich der in der Sache bisher stattgehabte Schriftwechsel.«
Der bestimmten Absage vom 4. August gegenüber wäre eine
erneute Einladung durch den Kaiser ohne das Z\rischengHed
eines besonderen königlichen Briefes sehr auffallend gewesen.
Und noch auffallender wäre die in den von mir gesperrt gedruckten
Worten entwickelte Rücksicht auf die Badekur des Königs. Denn
das von Bismarck ervvähnte Promemoria, das zu den von preußi-
Lenz, Kleine historische Schriften. 2g
450 Kleine historische Schriften.
scher Seite später publizierten Aktenstücken gehört^), enthält
von diesen Umständen nichts und ist nur bestimmt, die in dem
Memoire des Königs vom 4. (3.) vorgetragenen Bedenken zu wider-
legen. Durch den Brief des Königs aber, bzw. durch das Tele-
gramm, wird der neue Schritt des Kaisers völlig erklärt.
Wir haben also drei Handschreiben der beiden Monarchen
anzunehmen, die noch in den Archiven verborgen sind: einen
Brief des Königs vom 5., die Antwort des Kaisers vom 6. (denn
so ist die Angabe der »Oberpostamtszeitung« zu verbessern) und
die Replik des Königs, die auf den 7. August datiert ist^).
Wie Bismarck über diesen Schritt des Königs gedacht hat,
brauchen wir kaum zu sagen; er wird ihm wenig Freude gemacht
haben. Ob es aber darüber zu einer Szene mit dem Monarchen
gekommen, ob Wilhelm am Ende diesen persönlichen Schritt
ganz auf eigene Hand getan und Bismarck nur darüber orientiert
hat, läßt sich wieder nicht ausmachen. Jedenfalls betrachtete
Bismarck diese Korrespondenz als non avenue und verv\ischte
in den amtlichen Kundgebungen nach Möglichkeit ihre Spuren,
Das zeigt uns ein Dementi des »Staatsanzeigers« (im nichtamt-
hchen Teil) vom 17. August, das jenen österreichischen Indiskre-
tionen ausdrücklich entgegengesetzt war und für die Diplomaten-
hand unseres großen Staatsmanns (denn daß es direkt von ihm
stammt, bezweifle ich keinen ^Moment) zu charakteristisch ist,
als daß wir es dem Leser vorenthalten möchten.
»Nachdem«, so lautet es, »die ,Wiener Presse' den Inhalt
eines von Sr. Majestät dem Kaiser am 6. an Se. Majestät den
König gerichteten eigenhändigen Schreibens teilweise veröffent-
licht hat, sind wir in den Stand gesetzt, über die . . . Einladung
zum Fürstenkongreß . . . Nachstehendes mitzuteilen: Nach-
dem im Laufe des 3. d. M. in Gastein zwischen Ihren Majestäten
dem König von Preußen und dem Kaiser von Österreich mehrere
Besprechungen über die Bundesre formfrage stattgefunden, wurde
am Abende, nachdem beide Monarchen sich voneinander ver-
abscliiedet hatten, Sr. Majestät dem Könige das die Einladung
^) Gedruckt Staatsarchiv, Bd. X, Nr. 1845.
*) Vgl. Anhang zu »Gedanken und Erinnerungen«, Bd. I, Nr. 79.
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 451
zum 16. d. M. nach Frankfurt enthaltende kaiserliche Schreiben
vom 31. V. M. durch einen Adjutanten überbracht. Am 4. d. M.
lehnte Se. Majestät der König definitiv, sowohl telegraphisch
als auch durch ein gleichzeitig nach Wien abgesandtes Aller-
höchstes Schreiben, die Einladung ab, unter Bekundung der
Genugtuung über die Anerkennung des Bedürfnisses einer Re-
organisation der Bundesverfassung sowie der Bereitwilligkeit,
zu derselben mitzuwirken, und mit Wiederholung der mündlich
schon geltend gemachten Bedenken gegen Form und Inhalt der von
Österreich in Aussicht gestellten Maßnahmen. Hierauf beschränkt
sich bisher die amthche Korrespondenz Preußens und Österreichs
über die von letzterem angeregten Ref orm plane. «
Dadurch, daß der Ton auf das Wort »amthch« gelegt ^^'ird
(aber freilich nur dadurch), korrespondiert die Mitteilung mit den
Tatsachen.
Wir bemerkten vorhin, daß das zweite Handschreiben des
Königs vom 7, August datiert war. Aber auch in bezug darauf
stimmen uns österreichische Mitteilungen bedenklich. Gleich die
»Oberpostamtszeitung«, hat wieder eine differente Mitteilung:
»Der Kaiserliche Flügeladjutant, der das Schreiben des Kaisers
nach Gastein brachte, kam ohne bestimmte Antwort zurück;
der Telegraph meldete am folgenden Tage, daß der König sich die
Antwort vorbehalte; bis gestern Abend (10. August) w^ar dieselbe
noch nicht eingetroffen.«
Und ähnlich noch mehrere Stimmen aus derselben Quelle.
Aber dem setzten sich sofort preußische Erklärungen ent-
gegen, die von Wien selbst in die Presse lanciert oder doch von
dort datiert waren. Es sei unbegreiflich, so lautet die eine, wie
die Generalkorrespondenz (ein hochoffiziöses Wiener Blatt) zu
der Angabe komme, daß noch keine definitive Ablehnung zu
der Einladung zum Fürstentage erfolgt sei; denn seit dem g. August
liege die definitive Ablehnung des Königs Wilhelm in Wien vor.
Widersprüche, zwischen denen man sich kaum auskennt.
Daß der Kaiserhche Flügeladjutant, der am 9. abends in Wien
wieder eintraf, das Handschreiben vom 7. mitbrachte, werden
wir allerdings festhalten dürfen; und insofern haben die Preußen
29*
452 Kleine historische Schriften.
recht. Aber \\as ist es mit dem Telegramm? Und hat vielleicht
der Adjutant über mündliche Äußerungen des Königs berichtet,
die den Österreichern noch gewisse Hoffnung ließen ? Oder waren
von König Wilhelm in den Brief Wendungen gebracht worden,
die so verstanden werden konnten ? So zwar, daß er für sich bei
der Ablehnung blieb, aber den Vorschlag des Kaisers, sich durch
den Sohn vertreten zu lassen, doch nicht ganz zurückwies?
Folgende Tatsachen führen uns vielleicht einer Antwort
näher.
Am 8. Juli, während also der Kaiserhche Flügeladjutant
noch in Gastein auf seine Antwort wartete, erhielt der Kronprinz
ein Telegramm, das ihn nach Gastein einlud, »um zu beraten«,
wie der Befehl sehr lakonisch lautete^). Es muß schon am Morgen
oder Abend vorher abgesandt sein, denn bereits abends 7 Uhr
reiste der Thronfolger, von seinem Adjutanten, dem Hauptmann
von Loucadou begleitet, von Potsdam ab, wohin er soeben erst,
am 5. August, mit seiner Familie aus Putbus zurückgekehrt war.
Am 10. abends 7 Uhr traf er, nachdem er in Salzburg übernachtet
hatte, in Gastein ein. Der König war ihm entgegengefahren,
und so legten sie von Hofgastein ab die Strecke gemeinsam zu-
rück. Niemand hat das Gespräch der beiden hohen Herren aut
jener Wagenfahrt belauscht, und wohl nur ihre Tagebücher oder
Briefe an ihre Gemahlinnen könnten uns einmal authentischen
Aufschluß darüber geben. Und doch brauchen wir nicht lange
zu fragen, was der Inhalt gewesen sei. Es war das erste Wieder-
sehen zwischen Vater und Sohn, seitdem der Kronprinz offen
gegen die Politik des Ministeriums Bismarck aufgetreten war
und seitdem der König ihn dafür mit seinem Zorn und seiner
Ungnade als Vater und Kriegsherr bedroht hatte. Schwerer viel-
leicht noch als der Sohn hatte Wilhelm an dem Konflikt getragen.
Seine Umgebung hatte versucht, die Indiskretion, welche die
Freunde des Kronprinzen durch die Bekanntmachung ihres Brief-
^) Philippson, Das Leben Kaiser Friedrichs III., S. 122.
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 453
wechseis in der »Times« begangen hatten, vor ihm zu verbergen.
Aber durch Zufall war ihm in Karlsbad am 14. Juli ein Artikel
der »Weser-Zeitung« mit dem Abdruck jener ^litteilung in die
Hände geraten, »und seitdem«, schreibt Bismarck seiner Frau am
22. Juli, »scheint die gute Laune fort; er ist still und in sich ge-
kehrt, forciert sich, heiter zu sein! Es tut einem das Herz weh,
ihn zu sehen, wie er sein Gefühl niederkämpft, aber die Einsam-
keit hebt.«
Wer kann hiernach zweifeln, daß Wilhelm seinem Sohne
vor allem deshalb entgegengefahren ist, um sich über das, was
z\\ischen ihnen vorgefallen war, mit ihm auszusprechen ? Damit
steht also die Berufung des Kronprinzen nach Gastein ohne Frage
in Zusammenhang. Hatte der König ihm doch schon in den Tagen
vorher einen Brief gesandt, worin eben das ausgesprochen war:
er wünsche ihn nach allem \'orgefallenen dort in der Stille wieder-
zusehen, ehe er ihm vor Fremden begegne. Auch mit Bismarck
hatte der Kronprinz noch in der Stunde der Ankunft eine Aus-
sprache. Der ^Ministerpräsident kam, wie ein Korrespondent
m.eldet, eine Viertelstunde später ins Schloß, und während er
bei dem Prinzen war, weilte der König auf dem Balkon. Bismarck
hat in den »Gedanken und Erinnerungen« dieser Begegnung ge-
dacht, und er macht hier ^Mitteilungen, die, wenn sie ohne Bedenken
hingenommen werden könnten, über die Haltung des Kronprinzen
mehr Licht verbreiten würden.
»In Gastein«, so schreibt er, »erhielt ich (!) im August den
Besuch des Kronprinzen, der dort, von englischen Einflüssen freier,
sein Verhalten im Sinne seines ursprünghchen ]Mangels an Selb-
ständigkeit und seiner Verehrung für den Vater bescheiden und
liebenswürdig aus seiner ungenügenden politischen Vorbildung,
seiner Femhaltimg von den Geschäften erklärte und ohne Rück-
halt in den Formen eines jMannes sprach, der sein Unrecht ein-
sieht und mit den Einwirkungen, die auf ihn stattgefunden hatten,
entschuldigt. «
Die Worte entsprechen der Stimmung, welche Bismarck in
den Jahren seiner Verbannung gerne über Kaiser Friedrich äußerte,
der es ihm, wie er ein paar Seiten vorher sagt, durch seine Liebens-
^^4 Kleine historische Schriften.
Würdigkeit und sein Vertrauen leicht gemacht habe, die Gefühle,
die er für seinen Herrn \'ater gehegt, auf ihn zu übertragen: alle
Behauptungen, daß zwischen Kaiser Friedrich und ihm dauernde
Verstimmungen existiert hätten, seien unbegründet. Nun haben
wir gleichzeitige Mitteilungen aus dem Kreise des Kronprinzen,
nach denen der Prinz bei seinem Vater einen gütigen, von ihm selbst
innig erwiderten Empfang gefunden habe; eine Versöhnung zwi-
schen ihnen sei damals erfolgt und, so heißt es weiter, infolge
davon sei der Kronprinz auch dem Minister freundlicher ent-
gegengetreten^). Das letztere bestätigt Bismarck in einem Brief,
den er zwei Tage darauf, kurz vor der Abreise des Kronprinzen,
an seine Gemahlin schrieb; von dem Verhältnis des Prinzen zum
König aber sagt er umgekehrt: »oben kühle Beziehung«. Jeden-
falls werden wir doch wohl sagen dürfen, daß die Entschuldigung
des Kronprinzen nicht so rückhaltlos gewesen ist \rie Bismarck
in seinen Erinnerungen annimmt, eine Annahme, die auch die
genannten IMitteilungen aus dem Kreise des Kronprinzen be-
stätigen.
Kann man nun aber glauben, daß hierin der einzige Zweck der
Reise des Kronprinzen zu seinem Vater zu suchen ist? Wenn
offiziöse Kundgebungen ein Evangelium wären, so müßten ^^^r
es wohl. Denn stärker noch als die Angaben über die persönliche
Korrespondenz zwischen Kaiser und König wurden die Nachrich-
ten der Wiener »Presse«, daß der Prinz wegen des Fürstenkon-
gresses berufen sei, in den Bismarckschen Journalen dementiert,
um so schärfer, als nicht bloß von Wien, sondern auch von Berlin
her ganz anders lautende Meldungen in die Welt gingen. Selbst
die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« meinte anfangs, daß es
wohl wichtige politische Beratungen seien, zu denen der Kron-
prinz nach Gastein berufen worden wäre. Die »Kölnische Zeitung«
ließ sich unter dem ii. aus der Hauptstadt melden, man halte es
dort für möglich, daß Se. Majestät sich durch den Kronprinzen
in Frankfurt vertreten lassen werde; daß die Berufung damit
in Verbindung stehe, werde in Berlin nicht bezweifelt. »Unbe-
^) Philippson, S. 122.
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 455
schreibliche Sensation«, so meldet ein Wiener Korrespondent am
10. der »Deutschen Zeitung«, »erregt hier die Nachricht, daß der
Kronprinz über Salzburg nach Gastein gereist ist; man versichert
auf das bestimmteste, daß er berufen sei, um den Beratungen über
den Kongreß beizuwohnen.« Es sei kein Zweifel, daß die Reise
mit der Verzögerung der Antwort des Königs auf des Kaisers
Handschreiben zusammenhänge. Sehr merkwürdig ist es, was
dieser Korrespondent von dem Freiherrn von Werther zu berichten
weiß. Derselbe sei vorgestern nach Gastein abgereist, ausgerüstet
mit allem INIaterial bezüglich der österreichischen Propositionen,
nachdem er vorher eine lange Unterredung mit Graf Rechberg
gehabt habe. Der Gesandte, der persönlich den österreichischen
Plänen zugetan sei, werde den definitiven Entschluß des Königs
zurückbringen. Ich lasse es dahingestellt, ob Werther diese Reise,
die auch noch an anderen Orten gemeldet wird, wirklich ange-
treten hat. Besonders interessant wäre, wenn richtig, die Angabe,
daß er den österreichischen Vorschlägen geneigt gewesen sei; er
würde damit dieselbe schwächliche Nachgiebigkeit bewiesen haben,
die ihm im Juli 1870, als er Preußen in Paris vertrat, seine Stel-
lung kostete. Zu seiner Anwesenheit in Gastein würde vortreff-
lich passen, daß auch Roon dorthin berufen war; am 7. nach-
mittags kam dieser an, am 8. August reiste er, wie Bismarck seiner
Frau schreibt, wieder nach Berchtesgaden zurück. Von ihm heißt
es in seinen Denkwürdigkeiten, daß er Bismarck damals beige-
standen und ihm viel geholfen habe.
Näheres noch wußte ein Berliner Korrespondent der Wiener
»Presse« zu melden, indem er die Reise des Kronprinzen mit den
Intentionen der Königin Augusta in Verbindung brachte. Sie
sei es, die das Erscheinen des preußischen Thronfolgers auf dem
Frankfurter Fürstentage dringend gewünscht habe, damit er da-
selbst in Gemeinschaft mit den Großherzögen von Baden, Weimar
und Oldenburg Opposition mache und die Vorschläge des Kaisers
von Österreich überbiete. Zumal diese Wendung erregte den Zorn
der preußischen Offiziösen und zog die stärksten Dementis über
sich herab. Ein BerHner Korrespondent konnte der »Kölnischen
Zeitung« »aus einer sehr zuverlässigen Quelle« versichern, daß
456 Kleine historische Schriften.
diese Nachrichten vollständig erdichtet seien: »Es ist nie davon
die Rede gewesen, daß Se. Königl. Hoheit der Kronprinz eine
Vertretung für Se. Majestät in Frankfurt übernehmen solle, und
ebenso wenig begründet, daß Ihre Majestät die Königin eine
solche Vertretung dringend gewünscht habe.«
Allen diesen Ableugnungen zum Trotz ist dennoch nichts
gewisser, als daß die Berufung des Kronprinzen auch wegen des
Kongresses erfolgt ist, und ebensowenig kann in Abrede gestellt
werden, daß die Königin Augusta sich für die Teilnahme, viel-
leicht nicht des Kronprinzen, aber des Königs ausgesprochen hat.
Für ersteres ist eine Denkschrift Max Dunckers beweisend, die
er als der persönliche Rat des Kronprinzen am 8. August auf-
gesetzt und seinem Herrn auf die Reise nachgeschickt hat; mög-
lich, daß dieser sie noch unterwegs, in Salzburg bekommen hat.
Darin hatte Duncker drei Wege der Abwehr gegenüber diesem
Angriff Österreichs vorgeschlagen; darunter an zweiter Stelle die
Beteiligung an dem Fürstentage, eben im Sinne jener Opposition:
der Kronprinz würde dann den König zu vertreten haben; Öster-
reichs liberale Anerbietungen müßten überboten, dem von Öster-
reich vorgeschlagenen Direktorium die Forderung einer zwischen
Nord- und Süddeutschland geteilten Exekutive entgegengestellt
werden. Und daß die Königin Augusta und die Kronprinzessin
mit dahintersteckten, bestätigen wieder die Mitteilungen, die
Philippson aus dem kronprinzlichen Kreise hat geben können.
Weiter aber als in diesen dürftigen Umrissen können wir
die Geschichte dieser Krisis nicht verfolgen. Ob die Königin
sich mit ihrem Gemahl direkt in Beziehung gesetzt hat oder von
diesem mit hineingezogen worden ist, ob Bismarck der Berufung
widerstrebt, ob Roon, der im Juli, als es sich nur um den Kon-
flikt mit dem Vater handelte, für die Zitation des Kronprinzen
gewesen war, jetzt noch in demselben oder in welchem Sinne
sonst gesprochen hat, was Werther geraten, wie das Telegramm
an den Kronprinzen zustande gekommen, ob es der König selbst
oder Bismarck aufgesetzt hat — das alles liegt noch unter Schleiern
verborgen, die vielleicht niemals, vielleicht, wie bemerkt, erst
dann gehoben werden können, wenn die Tagebücher und der
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 457
Briefwechsel der hohen Herren mit ihren Frauen ans Licht ge-
zogen sein werden.
So viel dürfen wir immerhin sagen, daß der Kronprinz sich
im Sinne der Beschickung des Kongresses ausgesprochen hat.
Ob er sich direkt zur Verfügung gestellt oder dafür eingetreten
ist, daß der König persönlich hingehe, bleibt zweifelhaft. Philipp-
sons Nachrichten sprechen für die letztere Alternative, die auch
mir als die wahrscheinliche erscheint: der Prinz habe in Über-
einstimmung mit der Königin und seiner Gemahlin die Anschau-
ung entwickelt, sein Vater solle sich nicht ausschließen, sondern
nach Frankfurt gehen, dort die Anschauungen und Pläne Preußens
offen darlegen und den Versuch machen, hierfür die deutschen
Fürsten zu gewinnen^).
Als Friedrich Wilhelm Abschied nahm, am 12. August, sah
er jedenfalls seine Hoffnungen gescheitert. So hat er sich auf der
Rückreise in Koburg gegen Herzog Ernst ausgesprochen, der
natürlich ebenfalls im Hintergrunde dieser Versuche, auf die
preußische Politik Einfluß zu gewinnen, stand. Am 14. August
traf er ^rieder im Neuen Palais ein. Am 17. August wurde die durch
jenes Intermezzo hinausgeschobene Reise nach Thüringen ange-
treten; von der Rosenau aus, wohin auch Königin Viktoria ge-
kommen war, mußten er und seine Gemahlin mit ihren Gedanken
die weitere Entwickelung der Ereignisse in Baden-Baden und in
Frankfurt verfolgen.
Bismarck aber hatte von neuem den König in die Hand be-
kommen. Die erste Krisis war über\\-unden. Er sah jetzt eine
freiere Bahn vor sich und zögerte keinen Augenblick, auf ihr vor-
zudringen, um den König noch fester an seine Politik zu fesseln.
Die Berliner Zeitungen meldeten in diesen Tagen überein-
stimmend, daß der Minister jetzt Urlaub nehmen, und daß der
*) Vgl. übrigens Wilhelm an Bismarck, Baden, 23. August (Anhang
zu den »Gedanken und Erinnerungen«, Nr. 74). Auch Duncker hatte in
seinem Gutachten an dritter Stelle die Ablehnung der Einladung als den
»einfachsten Weg« genannt.
458 Kleine historische Schriften.
König ohne ihn nach Baden gehen werde. Und in der Tat hat
Bismarck zunächst diese Absicht gehabt. Sein Sinn stand nach
der See, in erster Linie nach Biarritz, wo er im vorigen Jahre
mit den Orloffs so wundervolle Ferien genossen hatte. Er war
schon nach Karlsbad nur ungern mitgegangen. Und schon Anfang
Juli sprach man allgemein davon, daß er in das Pyrenäenbad
gehen wolle. Aber er hatte die Reise immer wieder ausgesetzt,
weil er den König nicht allein lassen und Wilhelm selbst ihn nicht
entbehren wollte. Dann suchte besonders Roon den Freund fest-
zuhalten, den er bereits gedrängt hatte, den König in die Alpen
zu begleiten. Beide fürchteten immer, daß der könighche Herr,
der im Juni leidend gewesen war, unter dem Druck seiner Stim-
mung und der rivalisierenden Einflüsse weich werden würde.
In Hinblick darauf war vielleicht von Roon selbst der Sommer-
aufenthalt in Berchtesgaden gewählt worden, von wo er leicht
nach Gastein hinüberkommen konnte. Bismarck war darum auch
in Karlsbad fast bis zuletzt beim König geblieben und nur auf
drei Tage (vom 15. bis 18. August) nach Berlin zurückgekehrt.
So beschloß er denn auch jetzt, seine Feriensehnsucht zu unter-
drücken und dem König nach Baden zu folgen. »Ich kann wegen
der Frankfurter Windbeuteleien nicht vom König fort«, so schreibt
er kurz und vielsagend seiner Frau am 12. August, eine halbe Stunde
bevor der Kronprinz den Wagen bestieg, der ihn von Gastein nach
Salzburg zurückbrachte. Der IMinister war in diesen Tagen in
rastloser Tätigkeit. »Gesund bin ich«, schreibt er schon am 8.,
»aber Zeit habe ich keine, Arbeit über Kopf, Österreich macht
Bocksprünge.« Am 12. : »Mir geht es wohl, mein Herz, aber Kurier-
angst in allen Richtungen.« Und am 14.: »Ich schreibe seit vier
Stunden und bin so im Zuge, daß die Feder nicht zu halten ist,
heiße Sonne, seit acht Tagen, abends Gewitter, der König wohl,
aber doch angegriffen vom Baden; er badet täglich und arbeitet
wie in Berhn, läßt sich nichts sagen! Gott gebe, daß es ihm
bekommt . . . Mir ist sehr wohl, aber Arbeit über Kopf! Zietel
ganz abgehetzt. Beiüegende Dame ist recht nett, Amerikanerin
(Nord!) von Geburt, ich Nddme ihr meine geringe Muße; ich
bin so beansprucht, daß ich wenig Leute sehen kann.«
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 459
Unter die Arbeiten dieser Tage gehören die beiden Erlasse
an Werther vom 13. und 14. August, die, wie bemerkt, von An-
fang an für die ÖffentHchkeit bestimmt waren; ferner auch
mit Sicherheit eine Reihe von Zeitungsartikeln, die der große
Journalist entweder selbst geschrieben oder seinem Zietel, wie
er seinen Adlatus, Regierungsrat Zietelmann, zu nennen liebte,
in die Feder diktiert hat. Denn das Eisen mußte geschmiedet
werden, solange es heiß war; statt abzuwarten, was in Frankfurt
geschehen würde, ging der Minister sofort angriffsweise vor. Wohin
seine Intentionen sich richteten, macht der Schluß des Erlasses
an Werther vom 14. deutlich. Anknüpfend an die Drohung der
Österreicher, mit partiellen Reformen im Bunde vorzugehen,
stellt Bismarck eine Anfrage an die Wiener Regierung in Aus-
sicht, ob sie und die Staaten, die an dem Frankfurter Kongresse
teilnähmen, die vertragsmäßigen Bundespflichten rückhaltslos
anerkennen wollten oder nicht: »Es ist einleuchtend«, schreibt
er, »daß die Entscheidung hierüber von dem wesentlichsten Ein-
fluß auf die maßgebenden Grundlagen unsrer Gesamtpolitik
sein muß«: ein Wink dahin, daß Preußen auch in seiner außer-
deutschen Politik Wege einschlagen könnte, die in Wien nicht
willkommen sein dürften. Der Botschafter erhielt den Auftrag,
in diesem Sinne mit dem Grafen Rechberg zu sprechen und unter
Mitteilung des gegenwärtigen Erlasses ihn um eine offene und
entschiedene Erklärung der kaiserlichen Regierung zu ersuchen.
Der Erlaß vom 14. August enthielt einen noch weiteren Vorstoß.
Ohne eine Erklärung über den Inhalt der beabsichtigten Reform-
vorschläge erbitten zu wollen, so hieß es hierin, wozu für den
preußischen ]\Iinister keine \'eranlassung vorliege, könne er doch
nur die schon am 22. Januar in Frankfurt ausgesprochene Meinung
wiederholen, daß er nur in einer nach dem Verhältnis der Volkszahl
der einzelnen Staaten aus direkten Wahlen hervorgehenden Ver-
tretung des deutschen Volkes, mit Befugnis zu beschließender
Mitwirkung in Bundesangelegenheiten die Grundlage von solchen
Bundesinstitutionen erkenne, zu deren Gunsten die preußische
Regierung ihrer Selbständigkeit in irgendwelchem erheblichen Um-
fange entsagen könnte, ohne die Interessen der eigenen Unter-
4(50 Kleine historische Schriften.
tanen und die politische SteDung wesentlich zu benachteiligen.
W'erther wurde ermächtigt, auch diesen Erlaß dem österreichi-
schen Älinister des Auswärtigen vorzulesen.
Gleichzeitig wairden die Zeitungen im Sinne dieser Erörte-
rungen informiert. Am 12. ward der »Ostdeutschen Post«, die
unter Kurandas Redaktion stand^), eine Notiz über die Beratungen
mit dem Kronprinzen gegeben, mit dem Zusatz, man stelle den
ev^entuellen Austritt Preußens aus dem Bunde in Aussicht. Der
»Deutschen Allgemeinen Zeitung« ging eine von Berlin, den
13. August datierte längere Zuschrift zu, deren Ursprung sicher
ebenfalls in Gastein zu suchen ist. Darin war das Zirkular vom
5. August referiert, femer waren Angaben über die mündlich
von dem Kaiser vorgebrachten Punkte des österreichischen Reform-
programms gemacht und zum Schluß wieder Preußens Aufgaben
im Sinne der Erklärung vom 22. Januar präzisiert. Unter Auf-
rechterhaltung der Bundesverfassung, so ward ausgeführt, könne
ein Delegiertenparlament nur beratende Stimme haben, das von
der öffentlichen ^Meinung längst abgetan sei. Preußen könne nur
an einer nationalen Vertretung festhalten, die nach Älaßgabe
der Bevölkerung aus unmittelbaren Wahlen erfolge, weil dieser
Gedanke ein Produkt jenes Verhältnisses Preußens zu Deutsch-
land sei, in dem Preußen sich durch Lage, Bevölkerung und
Geschichte befinde. Eine solche Reform sei aber mit der Auf-
rechterhaltung des Bundes unvereinbar, also sei die Berufung
des Fürstenkongresses nichts als ein neuer Schachzug gegen Preußen.
Man wolle die Unterordnung Preußens unter Österreich oder
seine Herausdrängung aus Deutschland. »Nun mag«, so schließt
der Artikel, »ein Deutschland ohne Österreich ein Übel sein ; Deutsch-
land ohne Preußen ist aber gewiß noch ein größeres übel.«
Wer erkennt nicht in diesen Preßäußerungen, die sich noch
vermehren ließen, die Hand des preußischen Ministers! Es
sind seine eigensten Gedanken. ]\Ian findet sie in seinen Briefen
und Denkschriften, aber nirgends sonst in dieser Ausprägung
bei einer der deutschen Parteien. Es ist das Programm, welches
^) Kuranda war selbst in Gastein.
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 461
er seinem Könige zuerst im Sommer 1861 in Baden vorgetragen
hatte, das er bereits im Januar 1863 am Bundestage kund-
getan und das er von nun an jedesmal wieder vor der Welt ent-
faltete, wenn Österreich den Kampf mit ihm aufzunehmen Miene
machte, bis es am 10. Juni 1866 Preußens Kriegsruf für den Kampf
um die Hegemonie in Deutschland werden sollte. Die preußische
Politik war dadurch bereits festgelegt. Eine Annahme der Ein-
ladung nach Frankfurt war ohne ein Zurückweichen nicht mehr
möglich: sie w^äre ein Eingeständnis der Niederlage, ein zweites
Olmütz geworden. Niemals hätte Bismarck sie mitgemacht.
Unter diesem Gesichtspunkt verstehen wir erst die Empfin-
dungen, die Bismarck durchzumachen hatte, als nun in Baden
sein Herr, »von Intrigen umlagert«, Miene machte, dem Drängen
der in Frankfurt versammelten Fürsten und seiner nächsten An-
gehörigen nachzugeben. Es handelte sich dabei für Bismarck
um Sein oder Nichtsein. Wäre Wilhelm nach Frankfurt gegangen,
so hätte er seinen Minister verloren. Bismarck wird in jenen Stun-
den gewiß nicht verfehlt haben, den König auf diese Konsequenz
aufmerksam zu machen ; und nichts wird Wilhelm mehr bestimmt
haben, dem Wege, auf den ihn sein eigenwilliger Minister in Gastein
hinübergeführt hatte, treu zu bleiben, als die Furcht, den Mann
zu verlieren, der vor einem Jahr fast als einziger und jedenfalls
als erster von allen sich ihm bedingungslos gegen seine inneren
Gegner zur Verfügung gestellt hatte: er wäre dadurch auch in
der inneren Politik in die Lage zurückgeschleudert worden, aus
der Bismarck ihn gerettet hatte: und wieviel größer wäre jetzt
die Demütigung für ihn geworden, nachdem er fast ein Jahr im
schärfsten und erbittertsten Kampfe ausgeharrt hatte! Die
Rücksicht auf die innere Lage, so haben wir zu schließen, hat
vor allem andern damals Wilhelm dazu gebracht, seinem Minister
auf die ihm noch ungewohnten und von seinen alten Ansichten
weit hinwegführenden Wege der deutschen Politik zu folgen.
Es würde nun eine fast noch reizvollere Aufgabe sein, die
Szenen in Baden zu schildern und den Kampf bis zu seinem Ab-
schluß im Oktober zu verfolgen, als Rechberg nach dem Abfall
seiner kaum erworbenen Frankfurter Freunde, auf alle Reform-
462 Kleine historische Schriften.
Projekte verzichtend, Bismarck die Hand reichte, an der ihn
dieser alsbald in den Krieg gegen Dänemark hineinführte. Aber
dies Thema wäre schwieriger und jedenfalls umfangreicher als
das, welches uns die Gasteiner Tage boten. Weil wir dann die
Verhandlungen des Fürstentages selbst und überhaupt den Kampf
der deutschen Parteien, der damit heftiger als je entbrannte,
mit heranziehen müßten: Ereignisse, denen die Aktion Bismarcks
in jedem Schritt parallel geht und ohne die sie nicht zu verstehen
ist. Nur in einem größeren Zusammenhang könnte diese Aufgabe
gelöst werden.
In die Zeit von Gastein hat Bismarck in seinen »Gedanken
und Erinnerungen«, und zwar an zwei Stellen (I, 311 und II,
62) , noch einen anderen Vorgang der großen Politik in j enem Sommer
verlegt, nämlich eine Verhandlung Preußens mit Rußland in dem
schweren Konflikt, in den letzteres damals mit den mit Öster-
reich vereinigten Westmächten geraten war. Es war die Zeit,
als die Westmächte und Österreich unter Frankreichs Führung
die russische Regierung zur Nachgiebigkeit gegen Polen nötigen
wollten; dreimal, im April, Juni und August, forderten die drei
Regierungen den Zaren in gemeinsam überreichten Noten zu
einer Milderung des Schreckenssystems auf, welches die Russen
dem Terrorismus der polnischen Revolutionäre entgegengesetzt
hatten, und zur Einführung einer liberalen Verfassung in dem
unterdrückten Lande auf Grund der europäischen Traktate von
1815. Danach müßte jene Verhandlung zwischen Rußland und
Preußen in die Zeit kurz vor Übergabe der dritten Note (12. August)
fallen; und so legt sie denn auch Bismarck ausdrücklich in die
Tage des Überrumpelungsversuches Kaiser Franz Josephs.
Auch Sybel hat das Ereignis in die Zeit von Gastein gesetzt,
aber etwas früher, in die Tage vor dem Besuch des Kaisers, also
in die letzte Juliwoche; jedoch, wie ich gleich bemerken muß,
nur in den drei ersten identischen Auflagen seines W^erkes; in
der vierten Auflage hat Sybel auf Grund genauerer Einsicht in
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 463
die Akten eine sowohl zeitlich wie inhaltlich vöUig verschiedene
Darstellung gegeben.
Vergleichen wir zunächst die erste Fassung in Sybels großem
Werke mit dem Text der » Gedanken und Erinnerungen «, so über-
rascht uns die Verwandtschaft beider. Sie stimmen nicht bloß
dem Gedanken und ihrer Verbindung, sondern an einer Stelle
auch dem Wortlaut nach überein. Zar Alexander, so erfahren
wir von beiden, trug in eigenhändigem Schreiben König Wilhelm
an, gemeinsam den Degen zu ziehen. Beide entwickeln ähnlich
die Vorteile, zumal die sichere Aussicht, Österreich niederzuschlagen,
bevor die französische Hilfe dagewesen wäre, und ebenso die
Bedenken, welche Bismarck gegen das Bündnis gehabt und dem
König bzw. dem Zaren selber in der Antwort auf den Antrag
vorgetragen habe. Es finden sich zwar Differenzen genug zwischen
den beiden Texten, aber die Übereinstimmung ist doch so groß,
daß man nicht umhin kann, an eine Quellen Verwandtschaft zu
denken, um so mehr, als Sybel den Zusatz macht, daß damals
außer dem Könige und Bismarck kein anderer Mensch von dem
Vorgange etwas erfahren habe.
Woher aber hat Sybel jene Nachrichten in ihrer ersten Fassung ?
In der Neubearbeitung drückt er sich darüber sehr unbestimmt
aus. In der Vorrede sagt er von den neu benutzten Akten ledig-
lich, er habe ihren Inhalt schon früher kennen gelernt, den Wort-
laut aber bis dahin nicht gesehen; und im Text: er habe in der
ersten Auflage des Buches nach Aktennotizen berichtet, die, wie
er jetzt nach Einsicht der Originale wahrgenommen, in der Haupt-
sache richtig, aber in einen falschen chronologischen Zusammen-
hang gebracht waren. Ich dächte nun, daß es, seitdem wir die
»Gedanken und Erinnerungen« des Fürsten Bismarck besitzen,
nicht schwer sein kann, den Gewährsmann Sybels zu erraten:
es war kein anderer als Bismarck selbst. Daß der Begründer des
Deutschen Reiches seinem Historiker nicht bloß Einsicht in die
Akten gewährt hat, sondern auch durch persönliche Mitteilungen,
sei es schriftlich oder mündlich, seine Kenntnisse bereichert und
seine Auffassung beeinflußt hat, ist bekannt, und es wäre eine
eigene, zum Teil wohl lösbare Aufgabe, an dem monumentalen
4ß^ Kleine historische Schriften.
Werke den Grad dieses Einflusses und bisweilen die Stellen selbst,
an denen er hervortritt, zu bezeichnen. Ich brauche bloß an die
Kapitel über die spanische Kandidatur und die Entstehung des
deutsch-französischen Krieges zu erinnern, worin Sybel bis zu-
letzt und trotz der Aufklärungen, welche von Seiten der Hohen-
zollern gegeben waren, an der von Bismarck akkreditierten Auf-
fassung festgehalten hat. Zu diesen Stellen eines direkten Ein-
flusses gehört auch die vorliegende Erzählung in ihrer ersten
Fassung, und daher möchte sich die diplomatische Form erklären,
in der Sybel in den späteren Auflagen des Buches seiner Quelle
gedenkt.
Nun ist aber die Differenz nicht bloß zeitlich, sondern auch
sachlich größer, als sie Sybel erschien. Zunächst bedeutet es auch
sachlich sehr viel, daß die Verhandlung zwei Monate früher, in
die Zeit zwischen den ersten und den zweiten Noten der drei Mächte
hineinfällt. Denn damals war die allgemeine Lage sehr viel ge-
spannter als Ende Juh und im August: der Aufruhr in Polen
ging in wildesten Wogen, die Russen aber waren, von nationalem
Ingrimm erfüUt, entschlossen, sowohl die Rebellen niederzuschlagen
als jeden Versuch der Fremden, sich einzumischen (man sprach
schon von Landungsplänen der Franzosen in der Ostsee), abzu-
wehren. In dieser Zeit ließe sich also ein Antrag, wie ihn der Zar
nach den Erinnerungen Bismarcks und der auf ihn zurückgehenden
Erzählung bei Sybel an König Wilhelm gestellt haben soll, wohl
verstehen, während die Dinge sich zwei Monate später bereits
weit mehr applaniert hatten.
Prüfen wir aber das Referat, das Sybel in der vierten Auf-
lage aus dem eigenhändigen Schreiben Alexanders an seinen könig-
lichen Oheim gibt, so nehmen wir wahr, daß der Zar den König
im Juni gar nicht zum Angriff auf Österreich aufgefordert hat,
sondern vielmehr lediglich dazu, das Wiener Kabinett durch
seinen Einfluß von den Westmächten hinwegzuführen und somit
den alten Bund der drei Ostmächte herzustellen. Nicht Öster-
reich, sondern Frankreich ist es, gegen das Alexander auf Preußens
Waffenhilfe rechnen möchte, und dazu bedarf er der Kenntnis
der Entschlüsse Preußens; so erst könne er den ganzen Umfang
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 465
seiner Stellung, ihrer Aussichten, ihrer Pflichten, ihrer vielleicht
nötigen Opfer übersehen. »Man könne sich,« schließt das Schreiben,
»nicht verhehlen, daß die entsetzliche europäische Krisis vom
Anfang des Jahrhunderts uns unter anderen Formen, Namen und
Mitteln aufs neue bedrohe.«
Trotzdem richtete, wie Sybel mit Recht hervorhebt, dieses
Handschreiben Kaiser Alexanders, das der preußische Militär-
bevollmächtigte Oberst v. Loen überbringen und mündlich ver-
vollständigen mußte, seine Spitze gegen Österreich. Denn wenn
Österreich sich aus der Verbindung mit den Westmächten nicht
loslösen Heß, so konnte in der Tat der Gedanke naheliegen, daß
dann eben Rußland und Preußen, bevor Frankreich hinzukäme,
über Österreich herfielen und auf diese Weise den Kampf um die
Vormachtstellung in Deutschland durchführten. Eine Aussicht,
die ebenso Bismarcks wie König Wilhelms Neigungen wider-
sprach. König Wilhelm stand, und damit rechnete man offenbar
in Petersburg, von jeher mit der Front gegen Frankreich, aber
er dachte sich dabei als Vorkämpfer Deutschlands mit Öster-
reich zur Seite. Bismarcks Politik richtete sich allerdings gegen
die Macht an der Donau; niemals, bevor er die Sache mit Öster-
reich im reinen hatte, wäre er gegen Frankreich losgegangen;
ihm wäre auch wohl der Gedanke, Österreich mit Rußlands Hilfe
niederzuschlagen, nicht durchaus antipathisch gewesen, insofern
er sich überhaupt nicht von gemütlichen Regungen, sondern
von politischen Erwägungen leiten ließ: aber eben diese hielten
ihn in jenem Moment von einem engeren Anschluß an die russische
Politik fem.
Demgemäß richtete er seine Schritte ein. Zunächst kam
er dem Antrag des Zaren wörtlich nach, indem er der österreichi-
schen Regierung eine Verständigung zwischen den drei Teilungs-
mächten anbieten ließ (9. Juni). In Wien aber wollte man nicht
von den Westmächten loslassen und gab eine ausweichende Ant-
wort. So daß nun der König sich genötigt sah, dem Zaren gegen-
über Farbe zu bekennen. Sybel hat das von Bismarck eigenhändig
redigierte, von Wilhelm selbst an einigen Stellen korrigierte Konzept
des königlichen Handschreibens vor sich gehabt. Leider hat er
Lenz, Kleine historische Schriften. 3^
466 Kleine historische Schriften.
dasselbe wiederum nicht im Wortlaut mitgeteilt, und ich weiß
nicht, ob sein Auszug in jedem Punkte richtig ist, ob darin so
bestimmt, wie er es angibt, von der Besorgnis, Österreich durch
einen Angriff in Frankreichs Arme zu treiben, die Rede gewesen
ist. Anknüpfend an die Schlußbemerkung seines kaiserhchen
Freundes über die europäische Krisis zur Zeit ihrer Väter, hob
\\'ilhelm hervor, daß er die Besorgnis vor einer französischen
Landung an der russischen Ostseeküste nicht teilen könne. Wenn
es dennoch geschähe, so würde ihn, den König, sein Herz zu so-
fortiger Waffenhülfe antreiben, einem solchen Einschreiten jedoch
die deutsche Bundesverfassung im Wege stehen. Denn nach dieser
würde sein Vorgehen als ein eigenmächtiger Angriff auf eine andere
flacht erscheinen und damit dem Bundestag einen scheinbaren
Vorwand geben, der preußischen Rheinprovinz seinen Schutz gegen
Frankreich zu entziehen. Er schrieb ferner von der Anfrage in
W'ien, daß er dort freilich dem alt eingewurzelten Arg^vohn begegnet
sei, dennoch aber hoffe, einige Keime des Vertrauens ausgesät
zu haben. Würde Frankreich angreifen, so würde er den W'iener
Hof zunächst für eine Rußland günstige Neutralität zu bestimmen
suchen und ihm weiterhin eine gegenseitige Garantie der pol-
nischen Provinzen der drei Teilungsmächte ans Herz legen.
Als Gegengabe seitens Rußlands schlägt der König eine Garantie
für Venetien vor und die Zusage, daß der Gedanke einer französi-
schen Allianz für immer von Alexander verurteilt sei. Zum Schluß
berührt der König noch einen »leidigen Punkt«, die Unpopulari-
tät einer russischen AlHanz in Preußen, und schlägt als Mittel
dagegen Milderungen des russischen Zollwesens vor.
Man sieht, diplomatischer und vorsichtiger konnte Preußen
sich nicht ausdrücken. Daß Bismarck, der sich selbst Öster-
reich gegenüber niemals zu einer Garantie Venetiens hat ver-
stehen wollen, nicht einmal in der Zeit der gemeinsamen Aktion
in der schleswig-holsteinischen Frage, es mit dem Garantieaner-
bieten für Venetien nicht ernst gemeint hat, brauche ich nicht
hervorzuheben; so wenig wie es ihm unklar gewesen sein wird,
daß auch sein Freund Gortschakoff wenig Lust verspüren werde,
sich auf solche Vorschläge einzulassen. Aber man mußte eben
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 467
antworten, und zwar in einer Form, welche die wahre Meinung
zwar verhüllte, aber nicht verkennen heß. Es war, und darin
trifft das Schreiben mit der Erzählung in den »Gedanken und
Erinnerungen« und der ersten Fassung Sybels überein, die Er-
klärung, daß Preußen sich neutral halten müsse. Im übrigen aber
kann die Differenz zwischen diesen beiden Texten und dem, was
Sybel in der vierten Auflage seines Werkes sagt, gar nicht größer
sein. Auch jene beiden weichen untereinander recht bedeutend
ab. Während z. B. Sybel die Erwägung Bismarcks, daß Rußland
bei einem Bunde mit Preußen an dem längeren Hebelarme sitzen
würde, nur ein Stück des Vortrages sein läßt, welchen Bismarck
dem König vor dem Entwurf der Antwort an den Zaren gehalten
habe, behaupten die »Gedanken und Erinnerungen«, daß dieser
Ausdruck in dem Briefe selbst vorgekommen sei. Beide aber be-
tonen auf das stärkste, daß Bismarck die Gründe der Entschei-
dung in dem Konzept mit voller Offenheit ausgesprochen habe.
Hat Bismarck an jener Stehe seiner »Erinnerungen« diese
Korrespondenzen im Auge gehabt, so hat er, wie v.ir nicht anders
sagen können, ihren eigentlichen Inhalt völlig aus dem Gedächtnis
verloren, und müßten wir demnach seine Erzählung ebenso opfern,
\vie Sybel es, nur noch mit allzu viel Reserven^), mit seiner ersten
Fassung gegenüber den später ihm vorgelegten Urkunden getan hat.
Nur ein Ausweg bhebe übrig, um den Text der »Gedanken
und Erinnerungen« zu retten: man müßte eine zweimaHge Ver-
handlung zwischen Petersburg und Berlin ansetzen, die eine also
im Juni und eine spätere, die dann eben Bismarck im Sinne ge-
habt haben müßte, in der Gasteiner Zeit, Ende Juli oder Anfang
August.
Ich will diese Möghchkeit nicht in Abrede stellen. Bismarck
spricht so bestimmt, daß es schwer fällt, an einen so starken
Irrtum zu glauben. Er habe den Text seiner Argumentation,
so sagt er, noch vor wenigen Jahren behufs unserer Auseinander-
setzung mit der russischen Politik wieder unter Augen gehabt,
^) Denn er hat in seinen neuen Text das, was er in den früheren
Auflagen als den Inhalt der Erwägungen Bismarcks auf den Brief des
Zaren angegeben, doch noch wieder mit aufgenommen.
30*
468 Kleine historische Schriften.
und sich gefreut, daß er damals die Arbeitskraft besessen habe,
ein so langes Konzept in einer für den König lesbaren Schrift
herzustellen, eine Handarbeit, die für den Erfolg seiner Gasteiner
Kur nicht förderlich gewesen sein werde. Er mag damit den Moment
der hohen Spannung zwischen Deutschland und Frankreich um
das Jahr 1887 und 1888 gemeint haben, gegen die er das Reich
durch den Rückversicherungsvertrag mit Rußland zu schützen
suchte. Damals, in seiner letzten großen Rede für die Neuorgani-
sation der deutschen Wehrkraft am 6. Februar 1888, hat er in
einem Rückblick auf die gesamte russische Politik Preußens seit
dem Jahre 1855 auch jener Verhandlung vom Sommer 1863 ge-
dacht, und zwar in Wendungen, die dem Text in den »Gedanken
und Erinnerungen« ganz nahestehen. Er spricht darin nicht aus-
drücklich von einem Briefwechsel zwischen seinem kaiserüchen
Herrn und dem Zaren, aber er sagt doch in fast wörtlicher Über-
einstimmung mit seinen »Erinnerungen«:
»Dem Kaiser Alexander riß die Geduld und er wollte den
Degen ziehen gegenüber den Chikanen von seiten der West-
mächte ... Er wollte sich die polnischen Intriguen von Seiten der
andern Mächte nicht mehr gefallen lassen und war bereit, mit uns
im Bunde den Ereignissen die Stirn zu bieten und zu schlagen.«
Und er knüpfte daran Ausführungen über die Motive, die
zur Ablehnung des Antrages geführt hätten, die denen, die er
in seinen »Erinnerungen« mitteilt, ganz ähnlich sehen. Auch die
Zeit gibt er ebenso an, als den Moment, da der Frankfurter Fürsten-
tag sich in der Vorbereitung fand; »es bedurfte«, sagt er, »nur
eines Ja statt eines Nein aus Gastein von Sr. Majestät und der
große Krieg, der Koalitionskrieg, v/ar 1863 schon vorhanden.«
In der Tat war gerade Ende Juli, als König Wilhelm und
Bismarck eben in Gastein eingetroffen waren, die Spannung zwi-
schen Petersburg und Wien wieder schärfer geworden. Zu An-
fang des Monats hatte der russische Gesandte am Wiener Hof
sehr beruhigende Meldungen über die Haltung Österreichs ein-
senden können; er hatte sogar die BereitwilHgkeit Österreichs
zu einer Übereinkunft der drei Teilungsmächte über Verwaltungs-
reformen in ihren polnischen Provinzen in Aussicht gestellt. Gor-
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 469
tschakoff hatte infolge davon bei der Beantwortung der zweiten
Note der drei Mächte sich nach Wien hin sehr freundlich ausge-
sprochen und die Verhandlungen zu dreien amtlich in Vorschlag
gebracht. In Wien aber bheb man diesen Lockungen gegenüber
so kühl wie im Juni gegen Preußen; in herber Weise gab Graf
Rechberg dem russischen Kollegen zu verstehen, daß sein kaiser-
licher Herr sich mit nichten von den Westmächten abdrängen
lassen werde. Dies könnte also der Moment gewesen sein, in dem
ehi neuer Versuch Rußlands, Preußen an seine Seite zu ziehen,
gemacht wäre. Der Zar hatte am 12. Juli, gleichzeitig mit den
Antwortnoten Gortschakoffs auf die zweite Intervention der drei
Mächte, Abschrift dieser Dokumente an König Wilhelm geschickt
und zugleich in einem neuen eigenhändigen Briefe den von uns
besprochenen Brief seines königlichen Oheims, etwas reserviert
zwar, aber sehr verbindlich und die Haltung Preußens nahezu
billigend, beantwortet. Man müßte also annehmen, daß er nach
der starken Enttäuschung, auf die seine Regierung in Wien ge-
stoßen war, sich mit einem neuen Brief an den König gewandt habe,
in dem er nun Preußen direkt aufforderte, Ernst zu machen und
seine Stellung an Rußlands Seite zu nehmen. Wirklich sprachen
die Zeitungen Ende Juh davon, daß die Russen sich massenhaft
an der galizischen Grenze konzentrierten. Auch in Paris, so meldet
eine Korrespondenz der »Kölnischen Zeitung« vom 27. Juli, war
die Stimmung so wie im April 1859; nian sprach allgemein vom
Krieg. Im englischen Oberhause sprach Lord Redcliffe seine
Freude über die Haltung Österreichs aus, das sich nicht mehr
als der Unterdrücker Italiens und der Gegner aller hberalen Mei-
nungen zeige. Im übrigen aber ward es gerade in diesen Tagen
klar, daß die Rußland gegenüberstehenden Mächte an eine Ver-
wirklichung ihrer Drohungen kaum noch dachten. Die moralische
Verpflichtung Englands, den Polen zu helfen, betonte der edle
Lord aufs stärkste, aber ebenso entschieden sprach er sich gegen
jede Politik aus, die einen Krieg mit Rußland wegen Polens zur
Folge haben könnte. Und Lord Ellenborough meinte zwar, die
Antwort Gortschakoffs mache aUen diplomatischen Versuchen
ein Ende, nur durch Krieg könne man noch etwas erreichen;
470 Kleine historische Schriften.
aber über polternde Worte kam auch er nicht hinaus und erklärte
ausdrücklich, daß die Engländer keine Feinde Rußlands wären.
Unter diesen Umständen zog man auch in Paris sehr bald die Hörner
ein. Frankreich, so hieß es hier, vertrete nur europäische Interessen,
nicht mehr, und nur ein europäischer Krieg sei möghch; noch
vor Abschluß des Monats markierten die offiziösen Blätter eine
friedliche Haltung, und in den ersten Tagen des August gab die
Pariser Presse sogar schon wieder der Möglichkeit eines engeren
Verhältnisses zwischen Frankreich und Rußland Raum. Vollends
in Wien war man beflissen, abzuwiegeln. Das »Fremdenblatt«
bemerkte in einem hochoffiziösen Artikel, die Langsamkeit, mit
der die neuen Noten an Rußland vorbereitet würden, beweise,
daß in diesem Jahre an Krieg nicht zu denken sei; und die halb-
amtliche »Wiener Abendpost <( fügte am i. August hinzu, daß in
den bisherigen Schritten der drei Mächte durchaus keine Provo-
kation zu finden sei, daß vielmehr in ihrer Vereinigung die Gewähr
einer friedlichen Lösung liege. Eine Haltung, die durchaus dem
großen Unternehmen entsprach, zu dem Österreich sich in seiner
deutschen Politik soeben anschickte: in jeder Weise suchte die
Wiener Diplomatie sich in der Balance zwischen den Westmächten
und Rußland zu erhalten; der europäische Friede war eine Vor-
bedingung für das Gelingen ihres deutschen Reformplanes. Ganz
in dem Sinne sprach sich auch Kaiser Franz Joseph zu König
Wilhelm gleich bei der ersten Zusammenkunft aus^).
Eine Lösung der interessanten Frage würde sich rasch genug
gewinnen lassen, wenn unsere Regierung sich entschlösse, die
betreffenden Akten freizugeben. Und darum wird man dem Histo-
riker ein Gefühl des Unbehagens nicht verdenken, daß es ihm
hier wie überall so schwer gemacht wird, die Geheimnisse, die
noch über der glorreichsten Zeit unserer Geschichte liegen, zu
entschleiern. Daß dies einmal geschehen möge, ist um so mehr
zu wünschen, als die Persönlichkeiten, die damals im Vorder-
1) Vgl. Sybel, IP, 524.
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 471
gründe der Ereignisse standen, fast alle dahingeschieden sind
und kaum eine von ihnen aus den bisher gewonnenen Aufklärungen
wesentlich Schaden genommen hat. Im Gegenteil, indem wir
die Gegensätze, die damals im Kampf lagen, schärfer erfassen,
werden uns auch die Übergänge, die von der einen zu der andern
Richtung führten, und die Verwandtschaft, in der die Gegner
von damals in ihrem Empfinden und selbst in ihren Zielen mit-
einander standen, deutlicher, als es die Zeitgenossen selbst in der
Leidenschaft des Kampfes empfanden. Ich will die Halbwahrheit
nicht wiederholen, daß alles erklären auch alles entschuldigen
heiße : aber die Männer, die damals im Vorkampf um die Einigung
unserer Nation standen, haben es wirklich nicht nötig, fortgesetzt
in dem trüben Lichte der Legende zu erscheinen, und werden
nur gewinnen, wenn ihre Bahn klar verzeichnet wird und die Ziele,
die sie sich steckten, scharf hervortreten. Auch diejenigen, deren
Pläne nicht verwirklicht wurden, die in dem großen Kampfe
unterlagen, haben selten genug das Licht zu scheuen. Nicht
immer und überall sind es die Ideale, die in der Welt Erfüllung
finden; nur zu oft muß sie sich mit dem Guten statt des Bessern
begnügen. Nicht weil er das höhere Ideal verfocht, hat Bismarck
gesiegt, sondern weil er das rechte Augenmaß besaß für die Wirk-
lichkeit der Dinge und die Grenze des Erreichbaren kannte.
Überdies wird die Geheimhaltung nicht viel nützen. Jahr
um Jahr schwillt, ganz abgesehen davon, daß der größere Teil
der Politik sich heutzutage in dem voUen Lichte der öffenthch-
keit abspielt, die Masse der Publikationen über unsere jüngste
Vergangenheit an. Ich erinnere nur an die Veröffentlichungen,
die noch die letzten Jahre über Radowitz, Bernstorff, Ludwig
von Gerlach, Schleinitz, Mittnacht, um nur einige zu nennen, und
damit auch über Bismarck selbst gebracht haben. Schon ist über
die Epoche unseres nationalen Neubaues mehr Licht verbreitet
als über die meisten Zeiten unserer Geschichte, mehr sicherlich
als z. B. über die auswärtige Politik Preußens im Zeitalter der
Restauration. So sehr es zu beklagen ist, daß der Schatz der
Petersburger Berichte Bismarcks noch immer hinter den Schlössern
des Geheimen Staatsarchives gehalten wird, sind uns doch be-
.472 Kleine historische Schriften.
reits die Grundgedanken seiner damaligen Politik und die Diffe-
renzen, in denen er mit seinen Chefs und dem Könige selbst stand,
sichtbar geworden, seitdem wir seinen Briefwechsel mit Schleinitz
und Graf Bemstorff besitzen. Auch die besonders eifersüchtig
bewachten Partien seiner Politik, wie das Verhältnis zu dem
Herzog v^on Augustenburg, zu Napoleon und Benedetti, die Ver-
handlungen in Nikolsburg, die spanische Kandidatur und die Tage
von Ems, sind durch eine Reihe von Enthüllungen und die Ver-
knüpfung, welche die kritische Forschung zwischen ihnen herge-
stellt hat, so weit ans Licht gebracht worden, daß nur noch Lücken
ausgefüllt und die Linien schärfer gezogen zu werden brauchen.
Und was die Deutschen nicht gebracht haben, ist von den Fremden
beigesteuert v/orden. Schon vor nahezu vierzig Jahren hat Lamar-
moras Indiskretion nicht nur »ein wenig«, sondern wahrlich recht
\del Licht über die Verhandlungen unseres großen Staatsmannes
mit Italien im Frühling und Sommer 1866 ausgebreitet und dabei
auch die Beziehungen Bismarcks zu Napoleon beleuchtet; und
heute sind gerade diese Dinge bis in den letzten Winkel aufgehellt, '
nachdem Chiala auch noch den Rest aus dem Nachlaß Lamar-
moras und Govones vor uns ausgeschüttet hat. Ähnlich ist man
in Frankreich vorgegangen, von den mit den intimsten Akten-
stücken ausgestatteten Apologien Gramonts und Benedettis an,
bis zu den zahlreichen Bänden Olliviers hin, der bis zuletzt so
viel zu reden und so wenig zu sagen wußte. Schon ist auch die
Zeit seit dem Französischen Kriege durch die Aufzeichnungen
und Erinnerungen Thiers', Gontaut Birons, durch das große Werk
Hanotaux' über das neue Frankreich, durch die neueste enghsche
Publikation über Lord Russell, um nur wieder ein paar Bücher zu
nennen, ungemein aufgehellt worden.
Schließlich hat, dächte ich, unsere Untersuchung über die
Tage von Gastein bevnesen, daß die moderne Diplomatie bereits
zum guten Teil in den Zeitungen zu finden ist; wie denn bekannt-
lich Bismarck selbst einmal gemeint hat, daß die Gedanken der
führenden Politiker in den öffentlichen Blättern oft besser zum
Ausdruck kämen als in den Instruktionen und Berichten der
Gesandten: besonders den letzteren legte der große Diplomat
König Wilhelm und Bismarck in Gastein 1863. 473
weniger Wert bei, als es gemeinhin geschieht. Die Geschichts-
schreibung, meinte er, würde aus den Gesandtschaftsberichten
recht wenig lernen. Eine Betrachtung, die übrigens dem Historiker
vom Fach geläufig genug ist, und deren Richtigkeit sofort ein-
leuchtet, wenn man et\\a das wenige durchmustert, was jüngst
aus dem Nachlaß des Grafen Bernstorff über die Jahre seiner
Gesandtschaft in London seit 1862 bekannt geworden ist; Bern-
storff wurde über die entscheidenden Vorgänge kaum jemals
instruiert, da der Wirkungskreis, dem er vorstand, außerhalb der
Sphäre lag, in der sich Bismarcks Diplomatie in jenen Jahren
besonders bewegte, so daß er z. B. über die alles entscheidenden,
mit Napoleon geführten Unterhandlungen im Juh 1866 sich erst
Ende August privatim von Goltz berichten lassen mußte. Bismarcks
eigene Depeschen freihch sind hiervon auszunehmen; sie sind in
jedem Worte bedeutungsvoll, obschon auch sie, wie alle Aktenstücke
seiner Hand, immer eine genaue Interpretation erfordern. Unser
Aufsatz hat uns aber gelehrt, daß wir die Zeitungen und was sie
sagen immer erst dann wirklich verstehen können, wenn wir das
Kontrollmaterial der Akten, wie in diesem Falle, bei der Hand
haben; und wie gerne würde man auf alle die Kunstgriffe der
Methode, die wir dabei anwenden mußten, verzichten, wenn wir
den Schlüssel zu den Zeitungen in den Aktenbeständen der Mini-
sterien fänden und vielleicht die inspirierten Zeitungsartikel selbst
noch aus den Aktenfaszikeln ans Licht ziehen könnten.
Gegen Bismarcks Sinn wäre das alles sicherlich nicht. Mehr
als einmal hat er gesagt, daß die Pohtik der Gegenwart keinen
Schaden davon haben würde, wenn alle ihre früheren Phasen
urkundlich festgestellt würden; und er selbst hat bereits vor fünf-
undzwanzig Jahren durch die Erlaubnis, die er Heinrich von Sybel
erteilte, seine Frankfurter Berichte zu publizieren, nach diesem
Grundsatz gehandelt ; daß aber durch ihre Veröffentlichung unsere
Politik irgendeinen Nachteil gehabt habe, ist meines Wissens
niemals behauptet worden. Unsere Diplomaten würden damit
nur tun, was unter den Mihtärs aller Kulturnationen längst der
Brauch ist. Denn in deren Kreisen gilt durchaus der Satz, daß
die Geschichte die beste Lehrmeisterin sei, »die einzig wahre Philo-
474 Kleine historische Schriften.
Sophie«, wie Napoleon in seiner Weise sagte. Wie rückhaltlos
ist die Kriegshistorie gerade der letzten Jahrzehnte von ihrer
Seite aufgehellt worden, ebensosehr von den Besiegten wie von
den Siegern! Müssen wir aber nicht zugeben, daß auch die all-
gemeine Politik nur gewinnen kann, wenn ihre Leiter über ihre
Geschichte im klaren sind ? Daß unsere Diplomatie selbst mit sehr
viel größerer Sicherheit ihre Schritte wird einrichten können,
wenn sie die Wege, welche die Vorgänger innegehalten haben,
übersieht ? Daß das Gesamtbewußtsein, das Gemeingefühl der
Nation um so mehr erstarken muß, je besser sie den Boden kennt,
auf dem sie ruht, und die Wurzeln ihrer Kraft ? Das eben ist die
Aufgabe des Historikers: von dem Druck der Vergangenheit,
der auf uns lastet, soll er sein Volk befreien, indem er es sie verstehen
lehrt: so erst können wir klaren Auges den Problemen entgegen-
gehen, die uns die Zukunft entschleiern wird.
Der Staatsmann, der sich dazu entschlösse, den Zugang zu
den Quellen der größten Epoche unserer politischen Geschichte
freizugeben, würde sich selbst dadurch den niemals verlöschenden
Dank der Mit- und Nachwelt erwerben.
m^=^^^
i
Heinridi von Treitschke.)
Wir sind zusammengekommen, um das Gedächtnis eines
Mannes zu ehren, der unter den Vorkämpfern unserer Einheit,
den Baumeistern unseres Staates allezeit als einer der Ersten
gelten wird. Der Name Heinrich von Treitschkes gehört ganz
Deutschland an und die Klage um ihn ertönt in diesen Frühlings-
tagen, wo immer Deutsche wohnen. Der Haß der Gegner selbst,
der den stolzen Mann im Leben so oft umtost hat, an seiner Bahre
ist er fast verstummt und hat sich in Huldigung verwandelt.
Wir aber stehen an der Spitze der Tausende und Abertausende,
die um ihn trauern. Denn uns gehörte er an als der Genosse der
Arbeit, als Freund und Lehrer; in unsere Herzen hat er unmittel-
bar die großen Gedanken gesenkt, die in ihm lebten. Wie mahnen
uns diese heut umflorten Fahnen an jene Stunde im vorigen Som-
mer, da wir das Gedächtnis des Krieges gegen Frankreich feierten
und da er uns mit der Zauberkraft seiner Rede den Schöpfungstag
des neuen Reiches noch einmal zurückrief. Das mächtige Haupt
mit den leuchtenden Augen, wie er pflegte, zurückgeworfen, ein
Bild des Geistes und der Kraft, so stand er zu den Füßen der
Germania, um ihn die Lehrer der Universität und Sie, Kom-
militonen, mit Ihren Bannern und Schlägern. Wie wuchsen sie
da vor uns auf, die Helden des Krieges, die hehren Schatten
Kaiser Wilhelms und seines herrlichen Sohnes, und ihres Kanz-
lers eiserne Gestalt, die Paladine und alle die Tapferen, die für
^) Ansprache an die Berliner Studentenschaft bei ihrer Trauerfeier
am 17. Mai 1896.
/J76 Kleine historische Schriften.
des Vaterlandes Ehre und Einheit in Kampf und Tod gegangen
sind: wie Glocken] ubelklang zog die Erinnerung durch unsere
Seelen.
Heute ist dieser tönende Mund verstummt, dies stolze Auge
ist gebrochen und dies Herz voll männlicher Gedanken hat auf-
gehört zu schlagen. Und mit der Trauer um ihn im Herzen mußten
wir das letzte Gedächtnisfest des großen Jahres begehen.
In der Fülle der Kraft, auf der Höhe des Schaffens ist Heinrich
\'on Treitschke von uns genommen. Immer tiefer, reicher, abge-
klärter erschien er uns, je weiter sein unvergleichliches Werk
voranschritt. Wir konnten schon hoffen, daß es bald mit vollem
Strom in die Gegenwart ausmünden würde. Unermüdlich war
er in der Arbeit. Zu Hunderten umdrängten Sie noch im Winter,
bis ihn die Krankheit packte, sein Katheder. An jedem Tage sah
man ihn im Archiv bei den Akten; bis in die letzten Stunden fast
war er beschäftigt, die Notizen und Exzerpte zur Darstellung
zurechtzulegen. Schon schieden und ordneten sich in seinem
Geiste die Massen des Stoffes und rundeten sich ihm die Vor-
gänge und Gestalten der deutschen Revolution; und so lange
er atmete — denn diese starke Seele konnte vom Hoffen nicht
lassen — , hat er den Gedanken festgehalten, daß er sein Lebens-
werk vollenden werde. Darum ward es ihm so schwer, an den Tod
zu denken. Daher die rührende Klage, in die er wohl unter dem
Druck der Krankheit einmal Freunden gegenüber ausbrach: Es
ist doch nicht möglich, daß mich Gott verlassen kann! Wer soll
dann meinen sechsten Band vollenden ? Und unsere Antwort
lautet: niemand. Das schönste Werk der deutschen Geschichts-
schreibung, ein Denkmal deutscher Prosa, wie wir kein ähnliches
besitzen, wird ein Torso bleiben. Denn wo fände sich der Histo-
riker, der eine gleiche künstlerische Kraft mit der gleichen poh-
tischen Leidenschaft verbände, der mit dem Stoffe persönlich
so verwachsen wäre, ^^'ie es Treitschke war! Das ist auch für uns
das Schwerste bei diesem Verluste. Wir anderen, wir Methodiker,
mögen dahin gehen. Wir stehen in Reih' und Glied und schieben
die Bastionen des Wissens vorwärts, langsam und geduldig. Wer
fällt, findet leicht seinen Ersatzmann; imd wenn ein besonders
Heinrich von Treitschke. 477
Starker umsinkt, so treten wohl drei und vier in die Lücke.
Treitschke aber war mehr als ein bloßer Gelehrter, ja mehr als
bloß ein Künstler: seine Phantasie, seine dichterische Kraft selbst
ward erst erweckt und beflügelt durch den belebenden Odem
seiner Zeit, die Sehnsucht der Nation nach ihrer Einheit, ihrem
Staate, die in ihm persönlich am gewaltigsten entwickelt war.
Er hat eine jede seiner Schriften mit seinem Herzblute geschrieben.
Er war verwachsen, wie nur je ein Dichter, mit seinem Stoff;
aus dem Sturm und Drang der großen Zeit, die er mit herauf-
führte, ist alles entstanden, und die Freude am Vaterlande in dem
Leser zu erwecken, hat er stets als seinen schönsten Lohn betrachtet.
O wenn mein Sohn einst sänge das Lied voll Stolz und Glanz
Von seiner Väter Größe, von unsrer Waffen Tanz;
In Stücke woUt' ich brechen die Harfe mein mit Lust,
Die ach! von ferner Größe zu singen nur gewußt.
Dann legt' ich froh zur Erde mein müdes Greisenhaupt,
Zur Wahrheit wäre worden, was ich so treu geglaubt:
Wir landen siegend wieder an Seelands Uferkies,
Kein Volk hat Gott verlassen, das sich nicht selbst verUeß.
In diesen Versen voll jugendlichen Überschwangs hat der
Zweiundzwanzigj ährige schon den Gedanken ausgesprochen, der
sein Leben erfüllte. Von ihnen gilt Miltons Wort, das Treitschke
selbst einmal anführt: die Jugend zeigt den Mann, gleichwie der
Morgen den Tag verkündet. Nur zur Hälfte freihch sind sie wahr
geworden. Denn den Sohn, den einzigen, den Gott ihm gab, den
begabten, blühenden Knaben riß ihm die tückische Krankheit
von der Seite: nie hat er diesen Schlag verwunden. Aber er selbst
hat die deutsche Herrlichkeit, die seine junge Muse nur in ferner
Vorzeit fand, in neuer Glorie gesehen und ihr volle Kränze des
Ruhmes gewunden. Das ist die große Freude seines Lebens, und
darum ist er trotz allem glückhch zu preisen. Er schaute, was er
geträumt hatte, was er prophetisch verkündigt und historisch
gerechtfertigt, wofür er mit lodernder Leidenschaft gestritten und
mit seiner Heimat, seinen Freunden und dem Vater selbst ge-
brochen hatte. Nun umgab ihn leibhaftig der Glanz deutschen
Heldentums, leuchtender, unvergängHcher noch als alle Großtaten
^yg Kleine historische Schriften.
der X'orzeit. Nun sah er, wie einst sein Milton von England ge-
träumt hatte, die eigene Nation einem Riesen gleich sich erheben
und die unsterbhchen Locken schütteln. Erinnerte er sich jetzt
der bitteren Schmach, die er seit dem Tage von Olmütz mit den
Besten seines Volkes durch so viele Jahre im Herzen getragen,
so war es ihm oft, als ob er träume. Ihm ward zumute, als ob
alle Menschen besser und reiner würden, als ob das Kleine und
Niedrige abfiele von den Geistern. Nun erst erfuhr er ganz die
Naturgewalt der nationalen Idee, stärker als selbst er in den
frühesten Träumen gehofft hatte. Er sah vor Augen, wie »der
mächtige Strom deutscher Volkskraft, der einst im Mittelalter
ausbrechend über die Slawenländer des Nordostens seine breiten
Wogen wälzte, jetzt zurückflutete gen Westen, um sein ver-
schüttetes altes Bette, die schönen Heimatlande deutscher Ge-
sittung, von neuem zu befruchten«. »0 Ludwig Uhland,« rief
er nach den ersten Siegen aus, »und Ihr alle, die Ihr einst in öden
Tagen den Traum vom großen und freien Deutschland träumtet!
Wie viel gewaltiger als Eure Träume sind doch die Zeiten, die
wir schauen!«
Vom ersten Tage an stand es ihm fest, daß wir siegen und
unseren deutschen Staat vollenden würden. »Fichte,« so rief er
in der ersten Vorlesung nach der Kriegserklärung seinen Heidel-
berger Studenten zu, »hat einst seine Zuhörer in den heiligen
Kampf mit den Worten entlassen: »Siegen oder sterben!« Wir
aber sprechen: »Siegen um jeden Preis!« »Wir haben,« so schreibt
er am Tage vor Weißenburg, »unsere Sache der ewigen Gerech-
tigkeit befohlen und werden nicht wanken in gelassener Zuver-
sicht, wenn auch der erste und der zweite und der dritte Schlag
des Krieges vergeblich geführt würden.« Und indem er angesichts
des Rheines, vor dem sich der lebendige Wall deutscher Volks-
kraft türmt, in feierücher Stimmung die Hoffnung ausspricht
auf die Rückkehr der deutschen Sitte zu dem alten Ernst und der
alten Rechtschaffenheit, schwillt ihm das Herz, wie jenem tapferen
Dichterjünghng, der einst heimkehrend aus dem eroberten Paris
beim Anbhck des deutschen Stromes hoch aufjubelnd rief: »Vater-
land, ich muß versinken hier in deiner Herrliclikeit ! «
Heinrich von Treitschke. 479
Das ist die historische Stellung des großen Toten. Wie Bis-
marcks Heldenzeit recht eigenthch das Jahrzehnt gewesen ist,
in dem er den nationalen Staat gebaut hat, so wird auch Treitschkes
Bild mit diesen Jahren verbunden bleiben: dem Reformator des
deutschen Staates steht er als sein Hütten zur Seite.
Die Herkunft beider ]\Iänner zeigt schon an, wie verschieden
ihre Entwicklung sein mußte, bis sie sich am gleichen Ziele trafen.
Der märkische Junker, dessen Vorfahren den preußischen Königen
in Staat und Krieg gedient hatten, brauchte nur fortzuwachsen
in den besten Traditionen seines Hauses und seiner Krone und
sich mit dem Willen zur Macht zu erfüllen, der in dem preußischen
Staate lebte — so mußte er unter dem Andrang der nationalen
Idee in die deutsche PoHtik hineinsteuem, so gewiß wie Preußen,
was es je für sich gewann, für Deutschland erworben hat. Treitschke
aber gehörte einem Staate an, der seit Luthers Tagen den Zielen
der Nation widerstrebt hatte, dem Lande der Albertiner, die erst
ihrem eigenen und dann ihres Volkes Glauben zum Trotz, seit-
dem Herzog Moritz ihn verraten, auf Seiten Habsburgs, ja selbst
Roms gestanden und im Dienst undeutscher Gewalten Kurhut
und Königskrone ersvorben hatten. So mußte er sich denn von
dem Staate, in den seine Geburt ihn gestellt und dem die Seinen
dienten, erst losreißen, wenn er der Herrlichkeit der deutschen
Einheit entgegenstreben wollte. Der Wille Deutschlands, zur
Nation zu werden, mußte sich in ihm zu persönHcher Leidenschaft
steigern und nur um so tiefer und feuriger in ihm glühen, je fester
sein Herz nun doch an der Heimat und den Seinen hing, je zärt-
lichere und reinere Bande ihn an den Vater fesselten, von dem er
die stolze Männlichkeit und die Kraft des edelsten Willens ge-
erbt hatte. ]\Iehr als einmal hat er in seinen Schriften die trau-
rigen Zerwürfnisse zwischen Vater und Sohn beklagt, »herz-
ergreifend traurig, weil jeder Teil im Rechte ist und das alte Ge-
schlecht die junge Welt nicht mehr verstehen darf« — Worte,
in denen jene Kämpfe sich widerspiegeln. Jedoch war in seinem
Hause seit Generationen ein Geist lebendig, der ihn wohl fähig
machen konnte, die deutsche Idee mit voller Seele zu ergreifen.
Entstammte er doch einem jener Exulantengeschlechter, die einst
480 Kleine historische Schriften.
in Böhmen für den Protestantismus fochten und, auf dem Schlacht-
felde geschlagen, ihren evangelischen Glauben in unseren freien
Norden hinüberretteten; und in einer strengen, jedoch freien
Gottesfurcht war er selbst erzogen.
Dann aber umfing doch auch im Elternhause den Knaben
jene lebendige deutsch-vaterländische Gesinnung, wie sie sich in
diesem Jahrzehnt überall in Deutschland kundgab, und unklar
freilich, doch in ursprünglicher Kraft erwachten in ihm, gerade
unter dem Einfluß des Vaters, die hehren Gedanken einer frei-
heitlichen nationalen Entwicklung. Damals hat er wohl die
»knabenhafte Ansicht,« die, wie er selbst bemerkt, in den vier-
ziger Jahren den deutschen Mittelstand beherrschte, als sei die
Republik im Grunde doch die beste Staatsform, gegen den königs-
treuen \'ater trotzig verfochten. So traf ihn an der Schwelle
des Jünghngsalters die deutsche Revolution, in der jene Sehn-
sucht der Nation gewaltig ausbrach und, so schien es fast, der
Kaisertraum zur Wahrheit werden sollte. Mit wachem Anteil
erlebte der Knabe den Anstieg der Bewegung und die erschüt-
ternde Enttäuschung; aufs tiefste ergriff ihn das blutige Schau-
spiel des Dresdner Aufstandes. Schon damals aber gehörte er
nicht zu den Kleingläubigen, die vor dem Anblick der fessel-
losen Leidenschaften zurückwichen und ihren Idealen Valet sag-
ten; den Gedanken der nationalen Einheit, der jenes Sturmjahr
in unserer Geschichte ewig groß und ehrwürdig erscheinen lassen
wird, Heß er sich nicht rauben. Als Fünfzehnjähriger hat er ihn
bereits in einer Schulrede gefeiert, also daß Herr von Beust, der
ihr als Unterrichtsminister beiwohnte, sich noch nach 1866 mit
Unbehagen daran erinnert haben soll. Und wie hätte nun der
junge Musensohn auf der Universität in Bonn unberührt von
diesem Geiste bleiben können, an dem Strom, dessen Ufer ihm
auf jedem Schritt von deutscher Herrlichkeit und deutscher
Schmach erzählten, in einer studentischen Verbindung, welche
die Ideale der Freiheitskämpfe hochhielt, und zu den Füßen der
Märtyrer des deutschen Gedankens, Arndts und Dahlmanns, die
jüngst erst als die Führer der Nation die deutsche Zukunft unter
Preußens Krone verkündigt und erstrebt hatten.
Heinrich von Treitschke. 481
Vor allem Dahlmann darf als der Lehrer Treitschkes gelten.
Dieser selbst hat uns den Eindruck geschildert, den der verschlos-
sene strenge Mann auf ihn und seine Kommilitonen machte, wenn
er vor den dichtbesetzten Bänken in dem großen Saale las, der
die Ausschau bietet über die Baumgänge des Hofgartens nach
den Gipfeln des Siebengebirges und vor Zeiten widerhallte von
dem festHchen Lärm des geistlichen Hofes von Köln: eine straffe
Gestalt, die Hand im Busen, die harten, ja grimmigen Züge fast
bewegungslos, das Gesicht ganz in sich hineingekehrt, bis dann
und wann ein leichtes Heben der Hand, ein Blitzen des Auges
die innere Erregung bekundete. Niemals, erzählt er, zogen die
Burschenschaften rheinaufwärts zum Kommerse, ohne vor Dahl-
manns Haus die Fahne zu schwenken und dem Professor ein Hoch
zu bringen, der, argwöhnisch von seiner Regierung beobachtet,
nur um so ernster die Pflicht übte, seine Schüler über den
Staat der Gegenwart zu belehren. Dieser Freimut, der das Gewissen
erschütterte, habe auf die Hörer des Alten eine noch tiefere Wir-
kung ausgeübt als der Reichtum der Gedanken und die Plastik
der Schilderung. Aber schärfer noch als der Lehrer und aus der
eigensten Erfahrung heraus begann schon der junge Student zu
erkennen, weshalb die Gedanken von 1848, die nationalen Ziele,
die er unentwegt im Herzen trug, hatten scheitern müssen: weil
die Männer von St. Paul die unendliche Bedeutung der Macht
im Staate verkannt hatten. Getragen von der nationalen Bewe-
gung, berauscht durch ihren mühelosen Sieg, vergaßen sie fast,
daß die Dynastien noch bestanden, daß in den überrumpelten
Kabinetten noch ein eigener Wille, eine historische Tradition fort-
lebten; die rauhe Wirklichkeit der Dinge war ihnen hinter dem
Schein der Macht und des Rechtes der Nation, auf das sie pochten,
verschwunden. Wo aber waren die Bataillone, um das Danewirk
und Düppels Schanzen zu stürmen, dem Neid des Auslandes und
der Leidenschaft der Radikalen zu trotzen, wo die Macht, um den
wachsenden Konflikt zwischen Preußen und Österreich zugunsten
der nationalen Einheit zu lösen, wo auch nur die Möglichkeit,
den preußischen König zur Annahme des deutschen Programms,
der Kaiserkrone zu bewegen ? Pathetische Reden und tönende
Lenz, Kleine historische Schriften. 3^
^2 Kleine historische Schriften.
Resolutionen, flammende Proteste und Anrufungen an die Maje-
stät des Volkswillens gab es genug, aber nirgends außer in der
Entfesselung der Rebellion und der Anarchie eine Spur von Macht.
Worte, nichts als Worte, und wohin man vorbrach, der harte
Fels, die »schreckliche Wahrheit der brutalen Tatsache«. Die
»Kluft zwischen politischer Stimmung und politischer Tat« war
aufgerissen und schaudernd sah der Jüngling in den Abgrund,
um so tiefer nur und um so klarer, je heißer sein junges Herz da-
nach lechzte, ihn zu schließen.
Nicht als ob Heinrich von Treitschke das Recht der Nation,
sich gegen die Feinde ihrer Einheit zu erheben und sie von ihrem
Boden zu fegen, jemals bestritten hätte. Vielmehr stand ihm
dieser Satz gerade so fest wie der andere, daß auch der Staat
des reformatorischen und, so es not tue, des durchgreifenden revolu-
tionären Willens bedürfe, solle nicht die Vernunft in ihm allmäh-
lich zum Unsinn werden. Sein Dichten und Trachten ruht auf
diesem Grunde. Die mattherzige Lehre einer besonderen und
transzendenten Legitimität der Kronen, welche die feiggesinnte
Reaktion jener Jahre einem verängstigten Geschlechte als die
Summe monarchischer Staatsweisheit zu predigen wagte, hat in
diesem Monarchisten allezeit den entschlossensten Gegner ge-
funden. Darum konnte er Milton preisen, der in einem Volke,
das einen ungerechten König entsetzt, mehr Göttliches fand denn
in einem Könige, der ein unschuldiges Volk unterdrückt. Von
hier aus hat er gegen die »Legitimität« der zusammengeraubten
Rheinbundskronen gedonnert und noch im Jahre 1864 die Halb-
heit der preußischen Unionspolitik verurteilt, welche die Ober-
leitung in Deutschland erstrebt, aber die Krone aus der Hand
des Plebejers verschmäht habe: sie habe das schlechthin Revolu-
tionäre auf legitimem Wege erreichen wollen. »Wollte der Him-
mel,« so ruft er aus, »es lebte bereits in unserem Volke eine so
heiße vaterländische Leidenschaft, daß auf die Kunde, die Ehre
Deutschlands ist gefährdet, Millionen Fäuste sich ans ISIesser ball-
ten!« Und noch nach dem Kriege gegen Österreich hat er es beklagt,
daß unser Volk nicht mit revolutionärem Entschluß den Prager
Frieden gebrochen habe, wie die Italiener den Frieden von Zürich.
Heinrich von Treitschke. 483
Denn das Höchste, das schlechthin Erste bUeb ihm die Ein-
heit der Nation, der Staat, der ihre Macht verbürgt, als das Funda-
ment, auf dem sich erst der Reichtum des deutschen Wesens,
die Welt aller Freiheit und Schönheit voll entfalten kann. Darum
bekannte er sich mit voller Entschlossenheit zu Macchiavelli,
als dem Politiker, der den Staat als den Ausdruck der Macht
und nur der Macht erkannt und seiner Nation als Ziel vorgehalten
habe. Worte des itaUenischen Denkers setzte er in deutschen
Versen als Motto vor seine Vaterländischen Gedichte:
Doch keiner sei so hirnlos ganz und gar.
Zu harren, wenn sein Haus den Einsturz droht,
Ob ihn ein Wunder rette vor Gefahr:
Ihn hascht in der Ruinen Sturz der Tod.
Auf diesen Ton ist auch seine Habilitationsschrift, die Studie
über die Gesellschaftswissenschaft, gestimmt, worin er Robert
von Mohls Versuch, die Lehre von der Gesellschaft aus der Lehre
vom Staat auszuscheiden, bekämpft hat. Und in demselben
Sinne las er die Klassiker unserer Philosophie. Merkwürdig genug,
daß auch auf ihn, wie auf Ranke, neben Hegel besonders Fichte
Einfluß geübt hat. Aber während der Großmeister unserer Wissen-
schaft aus dem System des Idealismus sein universales Weltbild
entwickelte, konzentrierte sich für Treitschke die weltferne Lehre
des Philosophen ganz auf die unmittelbare Gegenwart, die nationale
Idee. Ihr diente alles, was er schuf und trieb. Wie er es selbst
von sich und seiner Zeit ausgesprochen hat: »Jedes Buch, jedes
Kunstwerk, das den Adel deutscher Arbeit offenbart, jeder große
deutsche Mann, zu dem wir bewundernd auf bücken — alles,
alles, was den Ruhm deutschen Geistes verkündet, ist heute ein
Apostel des Einheitsgedankens, mahnet, die deutsche Einheit,
die in der Welt des Denkens besteht, auch im Staate zu schaffen,
verschärft den Schmerz, daß bei so großer Tüchtigkeit der Ein-
zelnen unser Volk als Ganzes von den Fremden verspottet wird.«
Und nun brauchte er nur den Glauben an den Staat Fried-
richs des Großen und Steins zu bewahren. Tausende hatten ihn
verloren. Daß er, der Sachse, stärker als jeder andere ihn fest-
gehalten, allen Enttäuschungen der Gegenwart zum Trotz, daß er
3X*
4g4 Kleine historische Schriften.
ihn mit immer neuer Leidenschaft verfochten, durch historische
und pohtische Beweise ihn den Besten seines Volkes und schließ-
lich den Massen selbst ins Bewußtsein gebracht und sie mit seiner
Leidenschaft erfüllt hat, darin liegt seine Größe.
Nun erst ward er recht eigentlich zum Historiker. Er war
dazu so wenig methodisch vorgebildet wie einst Leopold Ranke.
Aber während dieser von der Höhe religiöser und philosophischer
Ideen auf sein weltgeschichtliches Forschungsgebiet herabgeführt
wurde, stand Treitschke von allem Anfang an mit beiden Füßen
auf dem Boden des Vaterlandes, in dessen Vergangenheit er nach
den Männern suchte, die der deutschen Gedankenwelt die Bahnen
gewiesen, und den Staat erforschte, dessen historischer Beruf es
war, die Nation zur Einheit zu führen.
Inmitten dieser Studien und Kämpfe überraschte ihn und
sein Volk die Erhebung der italienischen Nation — ein Ereignis,
von dem er selbst gesagt hat, daß es ihm Mark und Bein erschüt-
tert habe. Hier offenbarte sich ihm ein Volk, dessen phantastische
Jugend die Bedeutung der Macht begriff, dessen Parteien ihren
Streit über dem höchsten Ziel vergaßen, hier jener unerschütter-
liche Glaube an die große Zukunft des eigenen Volkes, der, wie
er schreibt, auch über die Nüchternen etwas von der Weihe des
Sehers ausgießt, und der partikulare Staat, der seine Krone und
sein Alles wagte an die Einheit der Nation. Jetzt ward er bald
der Führer in dem vollen Chor deutscher Männer, die unter der
Wucht jener Vorgänge immer lauter und stürmischer auch für
Deutschland forderten, was die Italiener mit einer einzigen heroi-
schen Anstrengung erlangt hatten. Wirr genug war dieser Chor,
so voll er war, auch jetzt noch. Es galt, in den Konflikten zwischen
politischen Doktrinen und politischer Gewalt den Grundton fest-
zuhalten. Und wieder liegt darin Treitschkes Verdienst: der Satz
von dem nationalen Staat als der obersten Notwendigkeit blieb
ihm der Leitstern. So konnte er früher als jeder andere der Libe-
ralen und zum Entsetzen seiner alten Freunde, die bei aller
Schwärmerei für Erbkaisertum und deutsche Einheit drauf und
dran waren, einen neuen deutschen Kleinstaat gründen zu helfen,
Schleswig-Holstein für Preußen einfordern, weil nur Preußen die
Heinrich von Treitschke. 485
Macht und also den Beruf habe, zwischen den deutschen Meeren
die Wacht zu halten und ihre Küsten zu schützen. Und so ward
es ihm leichter als den meisten, neben Otto von Bismarck seine
Stellung zu nehmen, als der preußische Staatsmann mit der
Macht seines Staates auf Böhmens Schlachtfeldern die deutsche
Frage löste.
Auch dann noch ist Treitschke nicht immer der Interpret
Bismarckscher Ideen gewesen. Er blieb auch nach 1866 der Uni-
tarier. Das deutsche Königtum, für das er stritt, war die Krone
der Hohenzollem; die Mediatisierung der kleinen Staaten blieb
noch lange sein höchstes Ziel; und wäre es nach ihm gegangen,
so wären Elsaß-Lothringen heute preußische Provinzen. Man mag
darin doch noch eine Unterschätzung der »Wirldichkeit der Dinge«,
der historischen Berechtigung und Bedeutung der kleinen deut-
schen Staaten sehen, die wir heute willig als die Säulen unseres
Reiches anerkennen. Aber wer so urteilt, läuft wiederum Gefahr,
die Kraft jenes Willens zu unterschätzen, der mit der Stärke
persönlicher Leidenschaft die Einheit woUte und nichts als die
Einheit, und ohne dessen Ansturm die partikularen Gewalten
gewiß niemals sich der Idee des Reiches unterworfen haben
würden.
Doch kann es nicht meine Aufgabe sein, etwa poHtische Irr-
tümer zu korrigieren oder auch nur die Wandlungen klar zu
legen, welche Treitschke in den Einzelfragen der deutschen Pohtik
durchgemacht hat, sowie sich alle unsere Parteien und Pohtiker
unter dem Druck der nationalen Entwicklung gewandelt haben.
Genug, wenn wir den Pol erkannten, nach dem er in allem Sturm
und Wechsel der Zeiten unverwandt geblickt hat.
Wie zu den historischen Studien überhaupt, so ist er auch
zu ihren Stoffen durch sein politisches Glaubensbekenntnis ge-
führt worden. In der groß angelegten Studie über den Bonapar-
tismus kam es ihm darauf an, die Staatsform aufzudecken, die
den Willen der Nation, den sie zu vertreten vorgab, mit heuch-
lerischem Despotismus hintergehe und so das Beste in ihr töte;
und im Gegensatz dazu gewann ihn Cavours sonnige Gestalt, als
des Staatsmannes, der seinem Volke die Erfüllung seiner Träume,
yjgg Kleine historische Scliriftcn.
Einheit und Selbstbestimmung, gebraclit hatte. Und so zog ihn
naturgemäß in unserer Vergangenheit vor allem der Staat an,
der die I\Iacht hatte, die kleinen Höfe unter sich zu beugen,
und ihm durch seinen Charakter wie seine Geschichte bestimmt
schien, zum deutschen Staate auszuwachsen. Vor 30 Jahren hat
er bereits die Aufgabe bezeichnet, die er in seiner deutschen Ge-
schichte gelöst hat. »Der nachhaltige Prozeß der Verschmelzung
grundverschiedener Provinzen zu einem Staate,« so schreibt er,
»die segensreiche Einwirkung, welche die Versvaltungsgrundsätze
und das Heerwesen Preußens schon damals auf das übrige Deutsch-
land ausübten, haben ihren kundigen Geschichtschreiber noch
nicht gefunden.« Einen der ödesten und reizlosesten Abschnitte
der preußischen Geschichte nannte er damals das letzte Viertel-
jahrhundert Friedrich Wilhelms HI. Nun wir wissen, welche
Fülle von Licht und welchen Reichtum an Farben er über diese
Werdezeit unseres Staates ausgebreitet hat.
Und die eine Grundfarbe trägt auch die Form seiner Werke.
\^on ihr zeugt die unvergängliche Pracht solcher Gemälde wie
der Ausbruch des Befreiungskrieges und die Schlacht bei Belle-
Alliance, bei denen uns zumute wird, als hörten wir die schmet-
ternden Hörner der freiwilligen Jäger und das brausende Vive
l'empereur der französischen Garden. Durch jedes Urteil, jede
Schilderung zieht sich der mächtige Ton, in dem sich alle Har-
monien dieser reichen Seele zusammenfinden. Und wie hallt er
wider in dem edlen Pathos seiner Rede! Sie alle, Kommilitonen,
standen unter der Wucht seines Wortes und haben es an sich er-
fahren, daß der Entschlafene, weil er die Einigung der Nation
erstritten und erlebt hatte, sie schildern konnte ^^de kein Zweiter.
Der größte Redner des Jahrhunderts, hatte er doch gar nichts
an sich von einem Rhetor. Vielmehr in freier Rede packte er
uns stets am stärksten. Dann brach, was ihm im tiefen Herzen
lebte, strömend ans Licht: Liebe und Haß, Zorn, Satire und Hohn
gegen die Gegner; und jenen kernigen, köstlichen Humor schüttete
er vor uns aus, und in jedem Worte fühlten wir, daß hier ein in
sich geschlossener, unabhängiger und in jeder Faser wahrhafter
Mann sprach.
Heinrich von Treitschke. 487
Man versteht nur, was man liebt, so hat er selbst bekannt.
Und sicherlich hat er niemals besser aufgefaßt und packender
geschildert, als wenn es Charakteren galt, die seinen vaterlän-
dischen Stolz und seine freie Männlichkeit besaßen. Das zog ihn
zu Milton hin und zu Byron, wie fremd ihm sonst das enge Puri-
tanertum des einen und die geniale Zerrissenheit des anderen
Sohnes des eben nicht von ihm geliebten Albions sein mochten.
Denn beiden blieb auch in der Verstoßung und Verbannung ihr
Volk das erste der Erde. Und darum haßte er die Heine und die
Börne, die ihren Witz übten an ihrem Lande.
Gleichwie der Dichter in die Bilder seiner Phantasie etwas
von dem eigenen Sinn und Wesen zu legen pflegt, so haben auch
die Lieblingsgestalten Treitschkes in seiner Darstellung einen
Hauch seines Wesens empfangen. Wer erkennt nicht in der »lich-
ten und freien Mannheit« seines Lessings die ihm eigene Wucht
und Klarheit oder im Pufendorf seine protestantisch-branden-
burgische Staatsauffassung wieder! In jeder Zeile fast hat er sich
selbst gezeichnet, wenn er den Historiographen des Großen Kur-
fürsten also schildert: »Erst die Gegenwart urteilt gerechter. Sie
blickt zurück auf Jahrzehnte voll aufreibender Kämpfe, und die
mächtige Gestalt des alten Streiters rückt ihrem menschlichen
Verständnis näher: wie er so trotzig hereinbricht in unsere schlaffe
Zeit, keines Mannes Schüler, ganz auf sich selbst ruhend und doch
im ganzen lebend, stets zur rechten Stunde mit dem rechten Worte
bereit; wie er sich durchschlägt durch eine Welt von Feinden
und jederzeit recht behält; und immer, wenn der Adler auffliegt
und seine Schwingen im Lichte badet, dann flattern und krächzen
die Raben; und dazu jener erschütternde Kampf mit der trotz
alledem geliebten Heimat.« Und doch darf man sagen, daß diese
Essays volle PorträtähnHchkeit bieten: jene Männer waren ihm
verwandt.
Gott hatte ihn mit Plagen geschlagen wie Hiob. Er trug
das Schwerste, was ein Menschenherz treffen kann. Von Jugend
auf lastete auf ihm das körperliche Gebrechen, das den Knaben
in der Krankheit überfallen hatte und nun dieser stürmischen,
nach Leben und Schönheit dürstenden Seele »unsichtbar und
488 Kleine historische Schriften.
hinkend folgte, ein höhnischer Geselle«. Erschütternderes ist in
unserer Sprache nicht gedichtet worden als seine »Kranken-
träume«, darin er uns unnennbare Qualen geschildert hat.
Da stehst du vor mir, Zimmer traut bekannt,
Der Knabenkämpfe laute Schlachtenstätte!
Lichtstrahlen spielen an der gelben Wand,
Ich liege krank im engen Kinderbette:
Zur Ecke ward der kleine Tisch gerückt,
Der Säbel ruht, mein klirrender Begleiter;
Mein hölzern Rößlein starren Auges blickt
Wie fragend nach dem lang' entbehrten Reiter.
Die Eltern stehn um einen fremden Mann —
Ich wund're mich, was sie so leise sprechen. —
Er schaut sie ernst und achselzuckend an —
Die Mutter weint, als sollt' ihr Herz zerbrechen ....
Vom Fieber befreit, zieht er hinaus zu der Bank, da er zu
rasten pflegte, dem Baum, da er der Vogelbrut
Sehnsüchtig Zwtschern in dem Nest belauschet.
Warum wohl heut' das süße Tönen ruht?
Ist denn der Erde Fröhhchkeit verrauschet?
Die Mägde schaffen noch wie sonst im Feld.
Was singen sie nicht mehr die frohe Weise?
Im Winterschlafe liegt die Sommerwelt.
Nein, horch, jetzt tönt es — ach wie matt und leise!
Von fern, ein Fremdling, kam mir jeder Ton:
Da ward mir angst, ich floh nach Haus zurücke,
Bis mich der Vater rief: Mein armer Sohn!
Und mir erzählte von des Fiebers Tücke . . .
Und nun malt er weiter aus, wie ihn das wachsende Leiden
mehr und mehr absperrt von dem sangesfrohen Chor der Freunde,
dem süßen Wort der Liebe; immer schwerer legt sich die Fessel
um ihn, und erdrückt vom Gram hadert er mit seinem Gotte:
Was hast du nicht mit deinem Donnerstrahl —
Du bist ja reich an Schrecken — mich erschlagen?
O du bist hart! Ich soll die alte Qual,
Ein Sklave seine Fessel, ewig tragen!
Bis er sich emporrafft zum Kampfe des Lebens — denn
kampfeswürdig ist des Lebens Schöne!
I
Heinrich von Treitschke. 489
Und du, du wallst vergehn in deinem Schmerz?
Du nahst der Welt mit einer Welt voll Liebe:
— Dein Zauber ist das mutig freie Herz —
Wär's möglich, daß sie dir verschlossen büebe?
Nein, hören wirst du, was nicht einer hört.
Im Menschenbusen die geheimsten Töne:
Verstehen wirst du, was den BUck verstört
Und was die Wangen färbt mit heller Schöne.
Und schaffen sollst du, wie der Beste schafft:
Des Mutes Flammentröstung sollst du singen.
In kranke Herzen singen junge Kraft
Den Duldern, die mit dunkeln Mächten ringen.
Vor hellen Augen hellet sich die Nacht;
Kein Leid, das nicht die Tröstung in sich trüge,
Auf jedes Trittes Spur die Freude lacht —
O wie sie strahlet: — all dein Gram ist Lüge! —
Im Anblick dieser Kämpfe und dieses Sieges verstehen wir
erst die strahlende Kraft, die von seinem Wesen ausging, die
Reinheit der Leidenschaft, die ihn durchglühte, die Liebe und
Güte, die der warme Glanz seines Auges widerspiegelte. So lernte
er den Tiefsinn des evangelischen Wortes, daß denen, die Gott
lieben, alle Dinge zum besten dienen müssen, zu seinem und des
Vaterlandes Glück verstehen, und das Wort seines Lieblings,
Herrn Walthers von der Vogel weide : »Niemand taugt ohne Freude«
— und so die Albernheit der pesssimistischen Weltanschauung
verachten.
Und wie hat er es nun gelernt, die Schönheit dieser Welt
mit seinem Auge aufzufassen und zu schildern! Niemand kannte
das deutsche Land besser als dieser unermüdliche Reisende; jede
Stadt, jede Landschaft war ihm vertraut, und eine jede vermochte
er in ihrer besonderen Schönheit und in ihrer historischen Eigen-
art aufzufassen. Von den Wällen Schlettstadts, »am frischen
Morgen, wenn die Fetzen der Nebel noch an den Felskegeln hangen«,
schweift sein Bhck über das Elsaß: »Droben auf dem Gebirg der
dunkle Tann, den das entwaldete welsche Land kaum kennt;
weiter niederwärts jene hellen Kästen wälder, die niemand mehr
missen mag, wenn er einmal heimisch ward am Rheine; am Ab-
hang die Rebgärten und drunten jene schwellende duftige Ebene,
/j90 Kleine historische Schriften.
die dem alten Goethe noch in der Erinnerung überschwängliche
Worte des Preises für sein »herrliches Elsaß' entlockte.« Wie ein
Holzschnitt von der Hand seines Landsmannes, des trefflichen
Ludwig Richter, mutet uns in dem Essay über Uhland das Bild
des altvaterischen Tübingen an, mit des Dichters Hause, »nahe
der Neckarbrücke am Abhänge des Osterberges, dessen schön
geschwungene Formen der aus Italien heimkehrende Tübinger
Philolog mit dem Vesuv zu vergleichen liebt. Dort sah er Jahr
für Jahr jene denkwürdigen Ereignisse an sich vorübergehen,
welche die Ruhe dieses akademischen Flachself ingen unterbrechen.
Immer wieder zogen der Pauperpräfekt und die Armenschüler
in ihren großen Hüten singend durch die winkeligen, rinnsal-
reichen Gassen, das Vieh ward in den Neckar zur Schwemme ge-
trieben, die Stadtzinkenisten bliesen ihren Choral vom Turme,
und — das Wichtigste von allem — die berufenen Flößer, die
Jockeles, führten das Holz des Schwarzwaldes talwärts und wech-
selten mit den alten Erbfeinden, den Studenten, homerische
Schimpfreden.«
Auf allen seinen Landschaftsbildern ruht doch wieder der
vaterländische Hauch. Wie jauchzt er auf, da er an der frie-
sischen Küste auf ein Wirtshaus stößt, ganz schwarz und weiß
vom Dache bis zum Erdboden angestrichen, auf dem Schilde die
Inschrift »zum schwarzen Adler«; und in jedem ostfriesischen
Bauernhöfe dann die Bilder vom alten Fritz und Erinnerungen
an die preußische Herrschaft.
Auch ein Schimmer von Romantik liegt w^ohl auf seinen
Schilderungen, dem Geiste der Epoche entsprechend, in der er
aufwuchs. Aber nichts von der Traumseligkeit der kathohsierenden
Richtung, wie sie so viele geistvolle Männer seiner Jugendzeit
berückt hat. Solche weibischen Naturen wie Friedrich Schlegel
und Adam Müller sind ihm stets zuwider gewiesen. Auch darin
lebte in ihm Dahlmanns Geist, Er wandte sich gegen jeden Ver-
such, eine durch die ernste Geistesarbeit dreier Jahrhunderte
überwundene Weltanschauung wieder zu beleben. Mit voller
Ehrlichkeit nahm er das Geschick der Nation, in der höchsten
aller Fragen zwiespältig zu sein, als eine historische Notwendig-
Heinrich von Treitschke. 491
keit hin, der sich ein jeder beugen müsse, so gerne er auch sein
Volk ganz protestantisch gesehen hätte. Ja er konnte wohl gar
an den Segen dieses Zwiespalts glauben, da aus der vom Staate
erzwungenen Duldung allmählich die Gewohnheit und endlich
die Überzeugung der Duldsamkeit erwachsen sei. Lebte er doch
selbst in einer gemischten Ehe. Aber niemals hat er den Zusam-
menhang unseres Staates mit der Gedankenwelt des i6. Jahr-
hunderts vergessen oder »das eigenste Werk des deutschen Geistes,
die Reformation« verleugnet. Und in den Kern Lutherscher Ideen
trifft das Wort, das er in dem Kampf mit dem Kathedersozialis-
mus einem überalen Katholiken — der von der römischen Kirche
als »der Kirche« schlechthin gesprochen hatte — entgegen warf :
»Eine solche Weltanschauung ist ultramontan, gleichviel ob ihr
Bekenner sich persönlich zum Materialismus, zum Rationalismus
oder zu irgendwelcher anderen Überzeugung halte; denn das
unterscheidet die ultramontane Richtung von der Innerlichkeit
und Freiheit des Protestantismus, daß sie nach dem persönlichen
Glauben gar nicht fragt.« Darin besaß Treitschke nun doch ein
Angebinde seiner sächsischen Heimat und seines altprotestan-
tischen Geschlechtes. Auf eine bestimmte Konfession war er so
wenig jemals eingeschrieben wie auf eine politische Partei; aber
daß die Sittlichkeit unabhängig sei vom Dogma, daß das Gebiet
des Glaubens ein Gebiet absoluter Freiheit und die Kultur der
Gegenwart durch und durch weltlich sei, sind allerdings Glaubens-
sä.tze, an denen er unverbrüchlich festgehalten hat. Das goldene
Zeitalter der Humanität hat er jederzeit warm im Herzen ge-
tragen und jedem Versuch, uns die Schätze geistiger Freiheit
zu rauben, sich mit voller Entschiedenheit entgegengeworfen.
Das schuf in ihm auch die herzliche Sympathie für prometheische
Geister wie Lord BjTon, sowie es der Grund seiner Liebe war für
alle Helden und Denker, die uns die Bahnen protestantischer
Freiheit gebrochen haben. Er kannte sehr wohl das Schicksal
der Ideen: daß sie von der Gesellschaft aufgegriffen und als ihr
Eigentum behandelt, in den Kampf der Parteien, in das Gewirr
irdischer Interessen hineingezerrt und verwandelt werden. »Darum
soll,« so sagt er in seinem Selbstbekenntnis, in der Schrift über
492 Kleine historische Schriften.
die Freiheit, »wer heute die Kraft in sich fühlt, emporzuragen
über den Durchschnitt der Menschen, seine Seele frei halten von
dem unmännlichen Gefühle der Verbitterung und Verkennung
und sich fest stützen auf den freudigen Glauben edler Geister,
auf die Unsterblichkeit nicht des Namens, sondern der Idee.c
Er mochte wohl auch an sich denken, als er im Andenken an
Pufendorf, dessen markige Gestalt er selbst erst recht eigentlich
aus dem Schutte der Jahrhunderte ausgegraben hat, das Los
aUer pohtischen Kämpfer mit den Versen bezeichnete:
Denn es werden einst Geschlechter,
Die auf unsern Siegen stehn,
Ungerührt im wunden Fechter
Nur ein prächtig Schauspiel sehn.
Nun, Kommilitonen, Sie und wir alle, die wir hier versammelt
sind, werden unseres Heinrich von Treitschkes nicht vergessen.
Und ^^dr geloben es, daß wir seinen freien Glauben an das Vater-
land, den er auch in dem pohtischen Wirrsal der letzten Jahre nicht
verloren hat, daß wir seine Zuversicht auf die Ewigkeit unserer
Nation im treuen Herzen stets bewahren werden. Möge solche
Gesinnung als sein teuerstes Vermächtnis für alle Zeit seinem
Volke erhalten bleiben! Dann wird sein Name auf dem Schilde
Germanias, deren stolze und keusche Züge seine Muse trägt, neben
den Besten seiner großen Zeit durch die Jahrhunderte hin glänzen,
und Generationen werden in dankbarem Gedächtnis an den Pro-
pheten der deutschen Einheit mit frommer Zuversicht das Be-
kenntnis seiner Jugend wiederholen:
Kein Volk hat Gott verlassen, das sich nicht selbst verließ.
m^^^^
Constantin Rößler.')
(1907.)
Constantin Rößler stammte aus dem thüringischen Teil des
Königreichs Sachsen, der nach den Freiheitskriegen an Preußen
gekommen war; fünf Jahre war die Provinz im Besitz der hohen-
zollemschen Krone, als er zu Merseburg am 14. November 1820
das Licht der Welt erbhckte. Aber es hat wenige Männer ge-
geben, die sich so sehr als Preußen gefühlt und bekannt haben
wie Constantin Rößler. Sohn eines Predigers, wuchs er in seiner
Vaterstadt auf bis zu seinem Abgang zur Universität. Das Dom-
Gymnasium, das er vom Sommer 1834 ab besuchte, regierte da-
mals Karl Ferdinand Wieck, der geistvolle Pädagoge, dem Ranke
als Schüler der Schulpforta, wo Wieck damals Adjunkt war, nach
seinem eigenen Zeugnis fast das Beste verdankt hat ; auch Rößler
hat für alle Zeit seines Lebens entscheidende Einflüsse durch
ihn erhalten. Im Herbst 1839 S^^S ^^ nach Leipzig, um Theologie
zu studieren, vertauschte aber bald die altsächsische Universität
mit der altpreußischen in Halle und die Theologie mit der Philo-
sophie, zu der er dann die Staatswissenschaften hinzunahm. Schon
auf der Schule (1837) hatte er den Vater verloren. So kam es,
daß er nach beendigtem Studium zunächst nach Leipzig ging,
wo seine Mutter nach dem Tode ihres Gatten lebte, um sich dort
auf die Promotion und die Habilitation, die er ins Auge faßte,
vorzubereiten. Im Dezember 1845 promovierte er in Halle auf
Grund einer Dissertation über den Philosophen Friedrich Hein-
rich Jakobi; ging darauf noch für ein Jahr nach Tübingen, um
^) Aus der »Allgemeinen deutschen Biographie«.
494 Kleine historische Schriften.
schließlich in Leipzig die Vorbereitungen zur HabiUtation zu be-
endigen. Im nächsten Jahre suchte er Jena auf, um sich zu habili-
tieren, ein Plan, der durch eine längere Erkrankung verzögert
wurde und erst im Juli 1848 zur Ausführung kam. Auch dann
aber kam Rößler nicht dazu, das Katheder zu besteigen, denn nun
ergriff ihn die Bewegung des großen Jahres und riß ihn unwider-
stehhch in ihre Kreise hinein; er erbat Urlaub, um pubhzistisch
tätig zu sein. Zunächst trat er in die Redaktion der »Grenzboten«
ein, zur Seite Gustav Freytags, mit dem ihn bis ans Ende enge
Freundschaft verbunden hat Danach ging er nach Berhn, an
die von Hansemann und Weill begründete konstitutionelle Zeitung.
Erst im Oktober 1849 nahm er die Vorlesungen in Jena über philo-
sophische und staats\\'issenschaftliche Fächer auf. Nach acht
Jahren stiller Arbeit, in denen ein größeres Werk, »System der
Staatslehre. Allgemeine Staatslehre« (Leipzig 1857), reifte, wurde
er an seiner Universität zum außerordenthchen Professor der Philo-
sophie ernannt. Er hätte nun wohl gleich anderen eine sichere
Laufbahn als Universitätslehrer vor sich gehabt. Aber gerade
jetzt ergriff ihn der Drang, poHtisch zu wirken, aufs neue. Es
war der Clement, da die nationale Bewegung nach den Jahren
der Unterdrückung und dumpfer Gärung wieder in Fluß kam.
Die Erkrankung König Friedrich Wilhelms IV., seine Vertretung
durch den liberaler gerichteten Bruder, und bald die Regentschaft
desselben erweckten von neuem alle Hoffnungen und Anstren-
gungen der Patrioten, die von Preußen die Erhebung der Nation
erwarteten. Drei Jahre noch hielt Rößler, der sogleich mit mehreren
Broschüren in den Kampf eingriff, es auf dem Katheder aus;
Ostern 1860 aber brach er endgültig die Brücken zum Lehrfach
ab; einer Aufforderung des Ministeriums Auerswald folgend, das
ihn für die Verteidigung der Grundsteuern gewann, siedelte er
nach Berlin über und ward Pubhzist.
Rößler gehörte also zu den deutschen Professoren, die aus
ihrem Studium selbst die Gedanken schöpften, in denen sie die
belebenden Kräfte der Nation erkannten und deren Durchführung
in dem Aufbau des nationalen Staates sie fast den besten Teil
ihrer Lebensarbeit widmeten. Aber sein Wesen und Wirken unter-
Constantin Rößler. 495
scheidet sich doch, wie verwandt es sein mag, von seinen Mit-
kämpfern. Sybel und Treitschke, Droysen und Häusser, Duncker
und Mommsen, und wie sie alle heißen mögen, waren Historiker
oder Rechtsgelehrte, durchweg Jünger der historischen Schule,
die im Gegensatz zu den Einflüssen stand, unter denen Rößler
groß geworden war. Rößler war in ihrem Sinne weder Historiker
noch Staatstheoretiker. Er hat niemals eine historische Arbeit
gemacht, wie die Zunft sie verlangte, weder eine kritische Unter-
suchung noch eine Quellenedition noch eine größere oder gerin-
gere Darstellung spezieller Natur; auf solche Arbeiten der Klein-
kritik sah er. mit einer gewissen Geringschätzung herab. Lite-
rarisch-ästhetische Untersuchungen zogen ihn mehr an. Schon
unter den Thesen seiner Dissertation erscheint eine, welche auf
solche Studien ein Licht wirft: die Idee, so lautet sie, welche
Shakespeare in der Fabel vom König Lear geleitet habe, scheine
ihm von den Kritikern nicht richtig erfaßt zu sein. Auf diesem
Felde hat Rößler bis in sein Alter gerne kleine Arbeiten unter-
nommen, die sich zum Teil in kritisches Detail verlieren : ich nenne
die geistreichen Aufsätze über Kleists Robert Guiskard und die
Entstehung des Faust; oder die feinsinnige Analyse des Ringes
der Nibelungen von Richard Wagner (1874, unter dem Pseudonym
FeUx Calm). Aber dies und anderes waren für ihn doch nur
Parerga: das Zentrum seiner Studien war immer die Philosophie
gewesen, und zwar diejenige Philosophie, gegen welche die histori-
sche Schule ihre Kämpfe geführt hatte, die Philosophie Hegels.
Ihr ist Rößler auch treu geblieben als Poütiker und Pubhzist; ja
das war recht eigentlich der Sinn, den er in alle seine Arbeiten
für den deutschen Staat hineinlegte: die Ideen des großen Philo-
sophen in die Wirklichkeit überzuführen, seine Gedanken zur
Tat zu erwecken, Staat und Kirche mit ihrem Geiste zu erfüllen.
Schon auf der Schule war Rößler in ihren Bann gezogen wor-
den. Als Wieck mit Leopold Ranke den Thukydides und die
griechischen Tragiker las, war Hegels Gestirn erst vor kurzem
am Firmament der deutschen Bildung erschienen; auch der junge
Adjunkt an der Pforta war wohl noch nicht von seinen Strahlen
getroffen gewesen; Rankes Jugendbildung stand noch ganz unter
496 Kleine historische Schriften.
dem Zeichen des Rationalismus. Später aber ist Wieck ein be-
geisterter Anhänger des großen Philosophen geworden. Rößler
hat uns das Bild seines Direktors, als dessen ältester Schüler,
wie er sagt, Ranke, als der jüngste Ernst Häckel genannt werden
könne, überaus lebendig und anmutend gezeichnet. »Die em-
pfänglichen unter seinen Schülern,« so schreibt er, »bewahren
ihm ein aus Staunen und Pietät gemischtes Andenken. Dieser
Mann ghch einem Propheten, einem Seher. Er hatte uns Pri-
manern schon die Lehre Hegels von den Momenten auseinander-
gesetzt. Sein vorzugsweise gewähltes Beispiel war das Verhält-
nis der Jehova-Religion zur Christus-Religion, In wahrhaft flam-
menden Worten entwickelte er uns, wie der Stammesgott des
^'olkes Israel nach und nach unter den erhabenen Gesichten
der Propheten, gestützt auf die jüdische Zähigkeit, zu der über-
weltlichen Persönlichkeit, die alles Kreatürliche von sich abstreift
und sich zum Herrn aller Kreatur macht, entwickelt worden.
Aber der beständige Widerstand der Kreatur macht diesen Herr-
scher mit seiner schrankenlosen Macht zum ewig zornigen, ewig
strafenden Richter. Die wahrhaft weltüberwindende Macht ist
nur die Liebe, von Christus offenbart, die aber als Voraussetzung,
als aufgehobenes Moment, des Gedankens der schrankenlosen,
über alle Kreatur erhabenen Macht bedurfte. Denn die weltum-
fassende Liebe haftet nicht am Kreatürlichen. Wieck schloß
diese Ausführung zuweilen mit der Frage: Verstehen sie nun das
Wort Christi: ,ehe denn Abraham war, war ich?'«
Von solchen Erinnerungen an unvergeßliche Stunden erfüllt,
kam Rößler nach Halle, wo Johann Eduard Erdmann das philo-
sophische Katheder beherrschte. Es war das Jahrzehnt nach
Hegels Tode, in dem der Einfluß des großen Lehrers, von seinen
Schülern, den Herausgebern seiner Schriften, verbreitet, sich
weiter als jemals ausdehnte, zugleich aber auch durch das allseitige
Vordringen der empirischen Erkenntnisse die Opposition, die
sich bei Lebzeiten des Meisters erst kurz vor seinem Ende bemerk-
bar gemacht hatte, stärker anwuchs und in den Reihen seiner
Anhänger selbst Abfall und Bürgerkrieg ausbrachen. Halle aber
war der Boden geworden, auf dem der Kampf in der Schule selbst
Constantin Rößler. 497
am heftigsten tobte; hier hatten sich die JunghegeHaner, Arnold
Rüge und seine Genossen, in den Hallischen Jahrbüchern das
Organ geschaffen, in dem sie die Dialektik des Lehrers, statt sie
zur Rechtfertigung »alles Bestehenden« zu benutzen, vielmehr
dazu anwandten, »um aUes Bestehende auf seme Kraft und sein
Recht, zu leben, mit unfehlbarer Sicherheit zu prüfen.« Rößler
war bereits durch Wiecks Unterricht und durch eigene Anlage
so gefestigt, daß die bisweilen banale Form, in der Erdmann die
konservativen Anschauungen, wie Hegel selbst sie vorgetragen
hatte, gegen die jungen Stürmer verteidigte, auch ihm Wider-
willen erregte. Aber anderseits stießen ihn auch wieder die dialek-
tischen Manipulationen, mit denen die Junghegelianer ihre reli-
giösen und politischen Doktrinen ihren Hörern mundgerecht zu
machen suchten, und die Plattheiten, in denen sie selbst sich ergingen,
ab. Die Kreise, in denen er seine Freunde fand, darunter vor anderen
Adalbert Delbrück, der Sohn des Kurators der Universität, und
Albert Ritschi, dessen Vater als Bischof in Stettin die pommersche
Kirche gegen den Einbruch der neuen pietistisch-feudalen Ortho-
doxie verteidigte, hielten sich ebenso fern von dem Radikalismus
Ruges und seines Anhanges wie von der orthodoxen Leidenschaft-
lichkeit eines Leo und Tholuck und führten den jungen Studenten
auf einen Boden, auf dem er, ohne dem Geist des Meisters untreu
zu werden, den in Kirche und Staat sich aufdrängenden Fragen
der Epoche mit entschlossenem und klarem Blicke entgegenging.
So bildete er schon damals die Kraft der Kritik in sich aus, die
er später in glänzenden Streitschriften gegen die Verderber und
Verächter der Hegeischen Philosophie, gegen die triviale Skepsis
eines Strauß und den pessimistischen Hochmut eines Schopen-
hauer entfaltet hat. Rößler hat in reiferen Jahren die studentische
Kritik, die er an Erdmanns Vorträgen übte, als »vorschnelles
Urteil« bedauert, zumal da er das Verständnis der Hegeischen
Lehre an seinem Lehrer immer schätzte, dessen Reichtum an
mannigfaltigen Kenntnissen wie an dialektischer Kunst er und
seine Kommihtonen doch kaum hätten ermessen können. Aber
es war doch nicht bloß die Profanierung des Hegeischen Tiefsinns
und die dialektische Unbeholfenheit Erdmanns gegenüber den
Lenz, Kleine historische Schriften. 3^
498 Kleine historische Schriften.
Junghegelianern, was Rößler von jenem fernhielt, sondern mehr
noch die ablehnende oder besser indifferente und skeptische Hal-
tung gegenüber den politischen Idealen Deutschlands, für die
Erdmann als geborener Livländer von Haus aus keinen rechten
Sinn besaß. Darin glich Rößler doch wieder den jüngeren Rivalen
seines Lehrers, daß er, wie sie, das Hcgeltum in die religiösen
und politischen Probleme der Epoche hineinführen und diese im
Geiste des Meisters gestalten wollte; den Quietismus der Alt-
hegelianer hat er vielleicht noch schärfer und jedenfalls nach-
haltiger bekämpft als jene.
Indem er nun, gleich so vielen Universitätslehrern, sein Leben
der Arbeit für den nationalen Staat weihte, bewahrte er auch in
der Art, wie er focht und wie er sich die Aufgabe und das Ziel des
Kampfes setzte, die besondere Stellung, die wir bereits in seiner
Entwicklung den Mitkämpfern gegenüber wahrnahmen. Jene
blieben, so lebhaft sie an den pohtischen Kämpfen teilnehmen
mochten, dennoch fast alle ihrem Katheder treu, oder traten,
falls sie einmal die Lehrtätigkeit, immer nur auf Zeit, aufgaben,
vor aller Welt auf, sei es auf der parlamentarischen Tribüne oder
an der Spitze einer Zeitschrift oder, wie es in der Revolution
wohl vorkam und der Ehrgeiz manches unter ihnen war, auf einem
Ministerposten. Als Max Duncker im Jahre 1858 Leiter der halb-
amtlichen Presse unter dem Ministerium der Neuen Ära wurde,
verknüpfte er damit die Stelle eines vortragenden Rates im Staats-
ministerium. Und Treitschke habilitierte sich gerade in dem
Moment, wo er in die Reihe der Kämpfer erst eintrat; auf dem
Katheder selbst wollte er für die allgemeine Sache wirken. Rößler
aber brach alle Brücken hinter sich ab. Er verschmähte es, mit
dem Namen selbst hervorzutreten; er tauchte völlig unter in dem
Strom, den er dem Ziele entgegenlenken wollte: aUe seine Bro-
schüren, wie auch die w^eitaus meisten seiner politischen Artikel
in Zeitschriften und Zeitungen, sind anonym erschienen oder unter
einem Zeichen, das nur den Eingeweihten bekannt war. Darin
erfüllte er ganz seines Meisters Lehre, daß vor der wirkenden Kraft
der Idee das Individuum, das nur wie ein zerstiebender Funke
des allwaltenden Geistes ist, zurücktreten und verlöschen müsse:
Constantin Rößler. 499
niemand hat sie so ernst genommen wie er. Nicht daß Rößler
den Wert der Persönhchkeit und die Notwendigkeit ihres Er-
scheinens und Wirkens verkannt oder verachtet hätte. Vielmehr
war es ein Hauptartikel seines philosophischen Katechismus,
daß die reifende Idee sich eine Persönlichkeit, als das Gefäß ihrer
Kraft, unfehlbar formen müsse, und der Inhalt seines politischen
Glaubens, daß der Messias Deutschlands vor der Tür sei. Für
sich selbst jedoch nahm er nur die Kraft in Anspruch, daß er die
Zeichen, die ihn verkündigten, deuten könne. Und das ist nun
in der Tat der Ruhm, den die Nachwelt Constantin Rößler schul-
det. Er ist wirklich der Prophet Bismarcks gewesen, er hat früher
und deutlicher als irgendein anderer die Stelle bezeichnet, wo
der Stern der nationalen Hoffnung stand; und mehr noch, er hat
den Stern selbst gefunden und seine Bahn berechnet, als dieser
auch seinen Mitkämpfern noch hinter dem reaktionären Nebel
und Gewölke ganz verborgen war. Schon gleich zu Beginn der
Neuen Ära entwickelte er in dem » Sendschreiben an den Politiker
der Zukunft« ein Programm, das sich mit der Pohtik des Frank-
furter Gesandten deckte. Wie Bismarck in seinen Berichten so
oft, wendet sich auch Rößler gegen die allgemein herrschende, aus
Furcht und Unkenntnis geborene Ansicht, daß Preußen mit Eng-
land und Österreich zusammengehen müsse, um das Bündnis der
romanischen und slawischen Nationen zu verhindern. Um nur
einen Satz Bismarckschen Gepräges hervorzuheben, so heißt es
darin: »Ich gebe Ihnen zu, daß es strategische Positionen gibt,
an deren Besitz unter gewissen Umständen das Schicksal der
Welt hängt. Aber nur unter ganz bestimmten, nicht unter allen
Umständen. Konstantinopel in den Händen der Türken ist nichts
weniger als ein herrschender Punkt, für den Augenblick nur eine
defensive Stellung. Daß die strategischen Positionen das Schicksal
der Welt entscheiden, dazu gehört, daß sie von den kräftigsten
Nationen besetzt sind. Auch das reicht nicht aus, daß ein solcher
Punkt durch Zufall in die Hände einer kräftigen Nation fällt.
Das nur entscheidet, wenn ein mächtiges Volk sich der wichtigen
Punkte wider den \\'illen und trotz der vereinigten Anstrengungen
der übrigen Welt bemächtigt und sie behauptet. Ich kann das
32*
^00 Kleine historische Schriften.
Schicksal Europas noch nicht für besiegelt ansehen, wenn es auch
Rußland einmal gelänge, sich für einige Zeit in Konstantinopel
festzusetzen. Ich kann mich nicht überzeugen, daß Rußland die
nachhaltige Kraft besitzt, diese Position unauflialtsam vordringend
auszubeuten, und also auch nicht glauben, daß es sie lange be-
haupten würde.«
Ein halbes Jahr später ward Preußen vor die Versuchung
gestellt, vor der Rößler soeben gewarnt hatte; und man weiß,
wie nahe die Regierung des Regenten daran gewesen ist, Österreich
in Italien zu helfen, um dafür den hohen Preis der deutschen
Hegemonie zu erringen, und wie eifrig die Liberalen bemüht ge-
wesen sind, den Staat auf diesen Weg zu stoßen. Da hat Rößler
abermals seine Stimme erhoben, in einer Flugschrift, »Preußen
und die itaüenische Frage«, mit dem Motto, das er dem Fürsten
Felix V. Schwarzenberg entliehen hatte: »Die Welt soll erstaunen,
wie vortrefflich wir uns auf den Undank verstehen.« Es ist die
Schrift, von der damals alsbald gesagt wurde, daß sie von Herrn
von Bismarck, der soeben nach Petersburg versetzt war, herrühre,
und von der dieser erklärt haben soll, sie sei zwar nicht von ihm,
aber sie entspreche ganz seiner Auffassung. Es ist in der Tat er-
tsaunlich, wie sehr sich der Gedankeninhalt dieser Broschüre mit
den vertrautesten Briefen Bismarcks aus der damahgen Zeit deckt.
Man lese z. B. einen Satz, wie diesen: »Das ganze Gewicht des
Kampfes wäre sofort an den Rhein zu legen und den Kampf hätte
Preußen allein zu führen, denn Österreich hätte sich an Sardinien
zu rächen, müßte die befreundeten italienischen Regierungen
gegen die Revolution beschützen, müßte seine russische Grenze
decken, dürfte seine eigenen Provinzen Galizien, Ungarn, die
Südostgrenze nicht zu sehr entblößen. Unsere, die preußische
Küste aber würde von der französischen Flotte blockiert« —
und vergleiche ihn mit dem bekannten Briefe Bismarcks an den
Geheimrat Wentzel in Frankfurt vom i. Juli: »Man \\drd zuletzt
losschlagen, um die Landwehr zu beschäftigen, weil man sich ge-
niert, sie einfach wieder nach Hause zu schicken. Wir werden
dann nicht einmal Österreichs Reser\^e, sondern wir opfern uns
geradeswegs für Österreich, wir nehmen ihm den Krieg ab. Mit
Constantin Rößler. 501
dem ersten Schuß am Rhein wird der deutsche Krieg die Haupt-
sache, weil er Paris bedroht, Österreich bekommt Luft, und wird
es seine Freiheit benutzen, uns zu einer glänzenden Rolle zu ver-
helfen?« Ist es nicht, als ob Rößler Bismarck bei diesem Briefe
über die Schulter gesehen habe? Wie Bismarck, verlangt auch
Rößler, daß Preußen Österreich den Kampf in Italien allein be-
stehen lasse, so daß den Italienern die Einheit unverkümmert
bleibe, um welche sie kämpfen; man dürfe nicht den Habsburgern
helfen, Venetien zu behalten. Als eine unsitthche PoUtik brand-
markt er es, daß Deutschland für sich die nationale Einheit er-
halte und sie dem fremden Volke verkümmere. Er ruft, wie Bis-
marck so oft, den Schatten Friedrichs des Großen an, »die Helden-
weisheit, welche uns auf die erhabenen Pfade der Geschichte ge-
führt und die wir heute verleugnen sollen aus leerer Besorgnis,
daß man sie gegen uns anwende und das hnke Rheinufer uns
nehme«. »Wenn wir nicht Sorge tragen,« so ruft er aus, »unsere
Kraft so zu pflegen, daß wir den Rhein jederzeit behaupten oder
nach jedem augenbhckhchen Verlust wiedergewinnen können, so
werden wir ihn trotz der Verträge mit Recht verlieren«. Wenige
Wochen darauf, im April, hatte Rößler Gelegenheit, mit Duncker
die Frage zu besprechen. Er traf ihn auf der Reise nach Berlin,
wohin Duncker auf seinen neuen Posten eilte, und hatte während
der Fahrt, und dann die nächsten Tage in Berhn mit ihm die leb-
haftesten Auseinandersetzungen. Aber vergebens suchte er den
Leiter der offiziösen Presse zu seinem Plan zu bekehren. Der neue
Geheimrat Heß sich nicht von der Ansicht abhalten, daß Preußen
nach einigen Wochen der Neutrahtät, während Napoleon den Krieg
in Itahen eröffne, Südwestdeutschland besetzen, den Krieg an Frank-
reich erklären, den Oberbefehl über die deutschen Streitkräfte ohne
weiteres an sich nelmien und dafür nach einem siegreichen Frieden
sich die dauernde Führung Deutschlands ausbedingen müsse.
Ein Mann wie Rößler konnte natürlich auch nicht anders
als mit vollem Nachdruck für die Mihtärreorganisation im Sinne
der Regierung eintreten. Er hat es noch im Juli 1862 getan,
unmittelbar vor dem Ausbruch des Verfassungskonfliktes in
Preußen. In der Flugschrift »Die bevorstehende Krisis der preußi-
5Q2 Kleine historische Schriften.
sehen Verfassung« schlug er die Bildung eines Ministeriums vor,
in dem neben Georg von Vincke und General von Roon Bismarck
den Platz des Auswärtigen Ministers einnehme ; denn der habe das
echte Gefühl für die Ehre Preußens und wolle die Politik dieses
Staates auf die selbständige Kraft desselben stellen. Beide Dinge
seien unter den bisherigen preußischen Diplomaten etwas so Un-
gewöhnliches gewesen, daß sie eine außerordentliche Erwartung
rechtfertigten. Die Zweifel dagegen scheinen ihm sehr leicht zu
wiegen: »Es kommt nur darauf an, daß den Deutschen die Ge-
lehrsamkeit, die sie bei so vielen Gelegenheiten zeigen, auch zur
rechten Zeit einfalle. Hat nicht Pitt, der große Tor>% als Whig
begonnen, und Fox, der große Whig, als Tor}^ ? War Peel, der
Zerstörer der Torypartei, nicht zuvor ihr Führer? Und ist Pal-
merstons staatsmännische Jugend nicht einst die Hoffnung der
Tories gewesen ? Die Einseitigkeit eines Standpunktes überwindet
eine zur Freiheit befähigte Natur am sichersten durch die Kraft,
mit der sie sich in ihn hineinlebt.« Herr von Bismarck habe einst
erklärt, er wolle den Namen des Junkers, wie einst die hollän-
dischen Geusen den ihren, zu Ehren bringen; er sei vielleicht
nahe daran, sein Versprechen zu erfüllen. Rößler Heß sich auch
nicht beirren, als Bismarck im September seine Laufbahn als der
Minister der Reaktion begann. In der Broschüre »Preußen nach
dem Landtage 1862« wagt er es, »eine Überzeugung auszusprechen,
unberührt von dem Aufschrei des Widerspruchs, welchen sie her-
vorrufen wird. Wenn Herr von Bismarck der Regierung, an deren
Spitze er steht, den Impuls zu einer kühnen, fortreißenden Tat
in der deutschen Frage geben kann, so wird in wenigen Tagen
vergessen sein, was er noch heute und gestern gesprochen, getan
oder zugelassen hat. Dann ist es mit der Reaktion zu Ende, aber
auch mit der Opposition. Unter anfänglichem Widerstreben wird
lawinenartig durch die deutschen Provinzen der Ruf einer Nation
sich fortpflanzen, welche durch das Reden zur Verzweiflung ge-
bracht ist. Der veränderte Ruf eines verzweifelnden Tyrannen,
welcher angstvoll fragte: »Ein Pferd! Ein Königreich für ein
Pferd!« — Die deutsche Nation wird jubelnd rufen: »Eine Diktatur
für einen Mann!«
Constantin Rößler. 503
Wie Rößler im Jahre 1863, als Bismarck den Glauben der
Preußenfreunde an den Staat Friedrichs des Großen auf die stärkste
Probe stellte, über ihn gedacht hat, kann ich nicht sagen; es fehlen
mir dafür die Unterlagen. Jedenfalls haben ihn, wenn er sich über-
haupt von ihm entfernt hat, Düppel und Alsen alsbald zu seinem
Helden zurückgeführt. Und nun kam auch für ihn der IMoment,
der ihn persönlich mit Bismarck verknüpfte. Ostern 1865 erhielt
er von dem ^Minister den Antrag, nach Hamburg zu gehen, teils
um die Handelsverhältnisse Hamburgs einer möglichen politischen
Veränderung in Norddeutschland gegenüber zu studieren, teils
um die Entwicklung in den Herzogtümern unter dem preußisch-
österreichischen Kondominat zu beobachten. Im Herbst 1868
von Hamburg nach Berlin zurückgekehrt, privatisierte Rößler
wiederum längere Zeit, von dem Ertrage seiner Feder lebend.
Drei Jahre, von 1868 bis Ende 1871, war er Mitarbeiter am Staats-
anzeiger, gab diese Stelle aber, da sie ihm die persönliche Frei-
heit zu sehr beschränkte, wieder auf. Erst im Januar 1877 nahm
er eine feste Stellung an, als Leiter des Literarischen Bureaus,
also das Amt, welches einst Duncker einige Jahre verwaltet hatte.
Rößler jedoch verband damit nicht eine Stellung als Ministerial-
rat; erst nach Bismarcks Entlassung ist er, im März 1892, indem
er jene Stelle aufgab, als Legationsrat in das Auswärtige Mini-
sterium eingetreten. Am i. Januar 1894 ward er bei seinem vor-
gerückten Alter auf sein Ansuchen mit dem Charakter eines Ge-
heimen Legationsrates in den Ruhestand versetzt.
Auch als Beamter Bismarcks ist Rößler in der alten Stellung
und Tätigkeit geblieben. Er hatte neben dem Amt, die Presse
zu verfolgen und die Zeitungsausschnitte für den König und die
^linister zu besorgen, den Auftrag oder die Erlaubnis, im Sinne
der Regierung die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Zahllose
Artikel hat er an den verschiedensten Stellen, namentlich über
die auswärtige Politik, geschrieben. Weithin bemerkt wurden
seine Leitartikel in der »Post«; er war der ^''erf asser der Kometen-
briefe in den »Grenzboten«, deren »Zickzack-Bahnen« Treitschkes
Kreise mehrfach störten, und vom Juli 1884 bis zum November
1887 der \\'- Artikel in den »Preußischen Jahrbüchern«. Da ist
504 Kleine historische Schriften.
es nun höchst bemerkenswert, daß, trotz seiner amtlichen Stellung,
und obschon er seine Informationen von der leitenden Stelle erhielt,
nach Form und Inhalt Rößlers Aufsätze niemals kontrolliert
wurden. Wenn man bedenkt, wie eifersüchtig Bismarck bei seinen
Diplomaten darüber wachte, daß sie keine Pohtik auf eigene
Hand betrieben, und wie er Personen in ähnlicher Stellung,
z. B. einen Moritz Busch, ausnutzte, um seine Gedanken in die
Presse zu bringen, oft an denselben Stellen, wo Rößler arbeitete
(man denke an die »Grenzboten «-Artikel von Busch, welche
Bismarck soufflierte), so muß man wirklich erstaunen, daß
der Fürst Rößler völlig freie Hand ließ und anderseits niemals
von ihm verlangt hat, ihm seine Feder direkt zu leihen. Sogar
Arbeiten, wie den »Krieg-in- Sicht «-Artikel der »Post« 1875, der
in ganz Europa das weiteste Aufsehen erregte und allgemein als
von Bismarck inspiriert galt, oder den andern, »Auf des Messers
Schneide«, 1887, hat Rößler auf eigene Faust geschrieben. Bis-
marck sagte sich wohl, daß er Rößlers Feder verheren würde,
sobald er sie in Bahnen zwänge, die ihr widerstrebten; auch
^^'ußte er, daß sie niemals ganz aus seiner Bahn weichen würde,
während die Ideen Rößlers doch wieder zu eigenartig formuliert
waren, ich möchte sagen, zu spekulativ, zu pointiert, um dem
großen Praktiker ganz nach dem Herzen zu sein: genug, der
^Meister hat diesem Diener (ehrenvoll gewiß für beide Teile)
die Freiheit gelassen, ohne welche derselbe kein Wort hätte
schreiben können.
Vor aUem an einer Stelle, in einer Phase der Bismarckschen
Politik hat Rößler Bahnen verfolgt, die, wie von denen seiner
Freunde, so auch von denen Bismarcks, so verwandt auch sie
ihnen waren, dennoch weit hin wegführten und ihn abermals auf
eine einsame Höhe gebracht haben. Ich meine die Art, wie er den
Kulturkampf aufgefaßt hat. Er hat ihm, da er auf dem Gipfel
war, 1875, also nicht lange bevor er Bismarcks spezieller Diener
woirde, eine größere Schrift gewidmet, das zweite seiner Bücher:
»Das Deutsche Reich und die kirchliche Frage«. Ein Werk, in
dem Rößler die Summe seiner Spekulation, seines philosophischen
und religiösen Glaubens wie seiner historischen Erkenntnis
Constantin Rößler. 505
niedergelegt hat. In ihm hat er den Zusammenhang zwischen
dem Leben des Staates und des Geistes in der deutschen Nation,
so wie er ihn sich dachte, geschildert: die Linie, welche von
Luther zu Leibniz, von Leibniz zu Kant, von Kant zu Hegel
hinleite, wie Hegel Kants Ideen zur Vollendung gebracht habe
und mit ihm und Leibniz eine Trias bilde, welche die Prinzipien
des Protestantismus fortgeführt habe. Von da aus gibt er eine
Kritik aller Systeme und Parteien, die sich im deutschen Staats-
und Geistesleben emporgetan haben, ordnet er die Linien an,
auf denen das neue Leben, der neue Geist der Nation im Kampf
gegen alle Mächte des Unglaubens zum Siege vordringen müsse.
Den Anlaß zu dem Kampf führt er, für Bismarck wie für seine
Gegner, vor allem auf die auswärtigen Verhältnisse zurück; den
Grund aber sieht er in der Fortentwicklung unseres Volkes seit
der Reformation, in dem Drange unseres Genius, sich die Formen
zu schaffen, die den von Gott in ihn gelegten Kräften entsprechen.
Weitab weist er die platte xA.uffassung des Staates als einer Rechts-
ordnung, welche ohne Religion sei und sein könne. Auf dem Grunde
der Reformation ruht derselbe wie alle Bildung und aUe wahre
Kunst unseres Volkes. Sein Zweck umschließt die Sittlichkeit;
denn sonst hätte er ja nur das Amt, die sittHchen Kräfte gewähren
zu lassen, aber nicht, sie zu lenken. Er kann nicht ohne Glauben
sein, und die ReHgion kann ihn nicht zur Neutrahtät verdammen
wollen; denn es gibt nur einen Glauben und außer ihm ist alles
Unglaube, Aberglaube. Darum kann der Kampf gegen die katho-
Hsche Kirche nur dann zum glücklichen Ziel kommen, wenn die
Evangelischen sich aufmachen und ihre Missionare in die von ihren
eigenen Hirten verlassenen kathohschen Gemeinden schicken, um
ihnen das Evangelium zu predigen. Wird unsere Kirche die Geistes-
waffen besitzen: diese Kirche, »die dem Rüstzeug ihres Glaubens
wie einem Haufen von Antiquitäten gegenübersteht, dem ein Dienst,
so geistlos wie der kathohsche Rehquiendienst, gewidmet wird?«
Die Frage schließt für Rößler schon die Antwort ein. »Niemals,«
so lautet sie, »hat das Schillersche Wort eine traurig schlagendere
Anwendung gefunden: »aber der große Moment findet ein kleines
Geschlecht«.
506 Kleine historische Schriften.
Wir sagten, daß Röüler nicht eigentlich zu den Historikern
gehört habe, wenigstens nicht zu ihrer Zunft. Dieses Buch aber
lehrt uns, daß er historisch denken gelernt hat, und erklärt es,
weshalb er ein Bewunderer Rankes geworden ist, in einem Grade,
wie es jene Historiker von Fach, obschon sie sich Schüler Rankes
nennen konnten, niemals gewesen sind. Denn in der Tat, die An-
schauungen, welche Rößler in diesem Buche entwickelt und die er in
allen seinen Schriften wiederholt oder doch niemals verleugnet
hat, machen ihn zu einem Geistesverwandten Rankes. Wenn sie
beide Schüler Karl Ferdinand Wiecks gewesen sind, so mögen auch
darin vielleicht Keime des Einflusses fortgewirkt haben, den sie
von dem geliebten Lehrer empfingen. Rößler hat, obschon er
schwerlich je ein historisches Seminar besucht hat (ein Glück,
das ja auch Ranke, wie man weiß, nicht genossen hat), in Arbeiten
wie der große Essay »Graf Bismarck und die deutsche Nation«
den Charakter und die Politik des großen Staatsmannes in wahr-
haft Rankescher W^eise gedeutet; er hat Jahre hindurch auch eine
spezifisch historische Aufgabe in der Leitung der »Zeitschrift für
Preußische Geschichte« erfüllt, und hat über Bücher wie Sybels
Deutsche Geschichte und Rankes Weltgeschichte Referate und
Kritiken geschrieben, die jeder Fachzeitschrift zur Ehre gereicht
hätten.
Rößler lebte in einfachen Verhältnissen. Spät erst gelangte
er dazu, einen Hausstand zu gründen. Aber es geschah im Jahre
des Sieges, der Erfüllung seiner politischen Hoffnungen, 1866,
und er hat dann an der Seite einer geliebten Frau, der treuesten
Arbeitsgefährtin, und im Besitz guter Kinder noch dreißig Jahre
des reinsten Glückes genossen. Er starb zu Berlin am 14. Ok-
tober 1896.
Wenn die Wahrheit einer Lehre erst durch das Leben erhärtet
werden kann und wenn das W^erk des Lebens auch das Glück
des Lebens in sich schließt, so hat die Philosophie Hegels niemals
eine bessere Bestätigung gefunden als durch das Leben Constantin
Rößlers. Es war in ihm, wie Gustav Freytag dem Siebzigjährigen
schrieb, »eine Verbindung von Enthusiasmus und Milde, die sich
in der schwierigsten Stellung gegenüber Verkennung und gegen-
Constantin Rößler. 507
Über mächtiger Zumutung bewährte und dem Vielbeschäftigten,
mit amthcher Arbeit Überhäuften, mitten im pohtischen Streit
die Freudigkeit und die belehrende Einwirkung auch auf anderen
idealen Gebieten des deutschen Schaffens bewahrte.« Religion
und Philosophie fielen für Constantin Rößler zusammen. »Denken
und Glauben,« sagt er einmal, »sind Geschwister.« So hat er es
schon in den Sententiae controversae seiner Doktordissertation,
die \ne ein schöner Kranz das Denken und Fühlen, das Soll und
Haben seines ganzen Lebens in seiner Blütezeit zusammenfassen,
ausgesprochen. In der zweiten unter ihnen behauptet er, daß
Hegel die Philosophie Kants erst zur Vollendung geführt habe.
In der dritten nennt er den Geist frei in jeder Phase des historischen
Progresses. Die fünfte widerstreitet denen, welche von Spinozas
Lehre sagen, daß sie mit dem Geiste des Christentums nichts zu
schaffen habe. In der achten These nennt er Cartesius, Spinoza
und Leibniz eine Trias, die mit der Grundidee des Protestantismus
zusammenhänge. An der Spitze aber steht das Bekenntnis, dem er
sein ganzes Leben hindurch treu geblieben ist:
Nemo philosopho religiosior.
6832=^^5"
Wilhelm I/)
Die Woche der nationalen Feste neigt ihrem Ende zu, und
der hochaufwogende Jubel der Millionen ist fast verhallt, da auch
uns die gewohnte Stunde alter Sitte getreu zusammenführt, um
das Andenken des geliebten Kaisers zu erneuern, dessen starke
Hand und freier Sinn Jahrzehnte hindurch über den Arbeiten
der Akademie gewaltet hat. Und im Rückblick auf eine Feier,
zu der sich die ganze Nation vereinigte, über der die Parteien
für einen Moment ihres Haders vergaßen und einmal doch des
gemeinen Besitzes in gleichem Dankgefühle froh wurden, tritt
uns noch einmal mit übersvältigender Kraft und Klarheit die
Bedeutung des Werkes, dem sie galt, entgegen, und die ehrwürdige
Gestalt des Herrschers, dessen Name für alle Zeiten mit ihm ver-
bunden bleiben wird.
Ein Jahrhundert Hegt hinter uns so reich an Wandlungen
in dem Leben der Nation, daß wir es nur den größten Epochen
unserer Geschichte, wie der Bekehrung zum Christentum und
dem Bruch mit Rom im i6. Jahrhundert, vergleichen können.
Wohl traf die gereinigte Lehre von Wittenberg tiefer in das Herz
unseres Volkes, und die Elemente, welche im 8. Jahrhundert
unserer Nationalität eingefügt wurden, sind noch heute (wir spüren
es täglich) in lebendigster \\^irkung: Luther und Bonifatius sind
die beherrschenden Gestalten unserer Geschichte geblieben. Aber
die politische Form wenigstens, die sich an die Missionsfahrten
des angelsächsischen Mönches anschloß, die Verbindung des deut-
') Rede bei der Gedächtnisfeier der Berliner Akademie der Wissen-
schaften am 25. Mäxz 1897.
Wilhelm I. 509
sehen Staates mit der römischen Hierarchie, welche auch die
Reformation überdauerte und vor hundert Jahren noch zu Recht
bestand, ist seitdem beseitigt und von dem nationalen Kaisertume
abgelöst worden. Man möchte fast sagen: in der Stunde der Ge-
burt Kaiser Wilhelms erlosch der längst verbhchene Glanz der
Krone Karls des Großen und begann der Bau des Jahrtausends
aus allen Fugen zu weichen; damals, als auf den Schlachtfeldern
Italiens das Gestirn Napoleons sich erhob, der ihn zerstört hat.
Seine Siege über die Heere des letzten der alten Kaiser zerrissen
die Verbindung der beiden Völker, auf der das alte Reich geruht
hatte, und alsbald erkrachten auch auf deutschem Boden die
gewaltigen Schläge, welche das vermorschte Gemäuer in Schutt
und Trümmer warfen und alles, was klein und alt und kraftlos
w^ar, hinwegfegten.
Es waren die Kindheitsjahre unseres Kaisers. Unberührt
blieben er und die Seinen von weltverwandelnden Kämpfen.
Die INIonarchie, die unter Friedrich dem Großen einer Welt in
Waffen getrotzt hatte, blieb tatlos hinter der Wand papierner
Verträge. Koalitionen bildeten sich, lösten sich auf und traten
wieder zusammen: Preußen blieb, was es war. In einer schein-
bar stolzen Ruhe, unbesiegt und unerschüttert, wenn nicht be-
wundert, so doch noch gefürchtet, ganz in der Hand des Königs
und kaum gestreift von den Ideen, welche die Staatenwelt des
alten Europas überall sonst unterminiert und den Weltkampf
angefacht hatten — noch ganz der Staat, der unter dem großen
König der Schrecken und die Bewunderung seiner Feinde ge-
wesen war: aber nichts als dieser. Die Finanzen waren neu ge-
ordnet, in den Ministerien und allen Bureaus wurde angestrengt
gearbeitet, schon wurden auch Reformen angebahnt, um den
erstarrenden Institutionen ein freieres Leben einzuhauchen:
aber wer möchte behaupten, daß diese Friedensarbeit genügt
hätte, um Preußen seine durch die Waffen gewonnene Stellung
auch unter den Großmächten des 19. Jahrhunderts jemals zu
erhalten.
In solchem Frieden wuchs Kaiser Wilhelm auf, unter den
Augen des gerechtesten Vaters und einer Mutter, auf deren An-
510 Kleine historische Schriften.
denken \'oll Huld und Hoheit zugleich der milde Schimmer unserer
klassischen Kulturepoche und der Glanz preußischer Heldengröße
unvergänglich ruht. Es war die Höhezeit unserer Poesie: auch
Jena und Weimar lagen in dem Machtbereich, den die preußische
Krone deckte; und vielleicht darf man mit Ranke sagen, daß
der Friede von Basel dazu gehört habe, damit die Ideale des Jahr-
hunderts der Humanität in den erhabensten Schöpfungen unserer
Literatur noch einmal vor der Welt aufleuchten konnten, bevor
sie erloschen.
Aber von Dauer konnte dies Wesen nicht sein. Denn mit
der Macht, welche bereits den deutschen Strom überschritten
hatte und vom Süden wie vom Westen her um unsere Marken
flutete, ja schon tief in den deutschen Norden eingedrungen war,
ließ sich nicht paktieren. Interessen und Leidenschaften kamen
in ihr zu Worte, welche in den alten Monarchien wie erstorben
oder noch nicht lebendig waren. In Diplomatie und Kriegführung
war sie jenen so fremdartig wie in ihrer Rechtsordnung und Ver-
waltung. Unauflialtsam ihr Vorschreiten; und die Ideale des
Jahrhunderts, an welche sie selbst einst appelliert hatte und auf
die sie gegründet schien, entschwanden unter ihren ehernen Tritten.
Wer sich ihr unterwarf, mußte werden wie sie, und nur wo die
Regierungen tiefere Kräfte, den Geist ihrer Völker erweckten,
konnten sie hoffen, sich in dem unvermeidüchen Kampf zu be-
haupten.
So schlug auch für Preußen die Stunde des Schicksals, und
vor den Toren Jenas und Weimars wurde der Staat zerschmettert,
den Friedrichs Geist groß gemacht hatte.
Es kamen die Jahre der Schmach und der Trübsal. Wer
\vüßte nicht, wie tief sie in das Leben des Prinzen eingegriffen
haben! Die Schreckenskunde von Jena und Friedland, die Flucht
in den Osten, die Erniedrigung in Tilsit, der Raub der Provinzen
und aUe Demütigungen, welche noch folgten, der schreckliche
Druck, unter dem der erbarmungslose Eroberer den verstüm-
melten Staat gefesselt hielt und alle Glieder ihm aussog, der
hoffnungslose Kummer des Vaters, der Tod der geliebten Mutter
— das waren die Eindrücke, unter denen er zum Knaben, zum
Wilhelm I. 511
Jüngling heranwuchs. Und dann wieder das Erwachen der Nation,
der heihgste aller Kriege und nach dem gewaltigen Ringen auf
den deutschen und französischen Schlachtfeldern der Siegeseinzug
in Paris. Und im Pulverdampf der Schlachten, den Scharen
der deutschen Helden voranschreitend, erhebt sich die Gestalt
Germanias, der Traum deutscher Einigkeit und Größe.
Doch dürfen wir nicht glauben, daß Prinz Wilhehn, so freudig
er auch den Fahnen seines Königs gefolgt ist und so wacker er
sich in dem Kugelregen von Bar sur Aube gehalten hat, von den
Phantasien eines großen deutschen Vaterlandes, wie sie für uns
von dem Andenken der Freiheitskriege unzertrennlich sind, sonder-
hch ergriffen gewesen sei. In den Briefen, die er aus dem Feld-
lager in Frankreich an seinen jüngeren Bruder schrieb, würden
wir vergebens nach solchen Stimmungen und Idealen suchen.
Sie zeigen Freude am Kampf und das Glück des Siegers, be-
scheidene Zurückhaltung und die Harmlosigkeit der Jugend, aber
keinen Hauch des Geistes, den die Vaterlandsgesänge eines Arndt
oder Körner atmen.
Vergessen wir nicht, es war der preußische Prinz, der sie
schrieb, der Sohn des Königs, dem jene Ideale zeitlebens fremd
geblieben sind. Aufgewachsen in den Traditionen preußischer
Größe und der Rechte wie des Ruhmes der Dynastie, die sie ge-
schaffen hatte, konnte Prinz Wilhelm nur hohenzollemsche Empfin-
dungen in sich nähren. Ihnen galten selbst jene herrhchen Mahn-
worte Luisens, die sie in der schwersten Stunde des Vaterlandes
an die Söhne gerichtet hat: nicht bloß dem Andenken der Mutter
dereinst Tränen zu weihen, sondern zu handeln und ihr Volk
von der Schande zu befreien, Männer zu werden und nach dem
Ruhm großer Feldherren und Helden zu geizen — oder den Tod
zu suchen, wie Louis Ferdinand ihn gesucht habe.
Zwar waren die Männer, welche Preußens Größe neu ge-
gründet haben, Stein vor allen, tief ergriffen von der deutschen
Idee, wie denn ja die Größten unter ihnen dem Staate Friedrichs
von Geburt gar nicht angehörten. Aber wie deutsch das Werk,
das sie geschaffen und geschirmt hatten, sein mochte und wie
groß die Tragkraft seiner Fundamente auch für das neue Reich
512 Kleine historische Schriften.
geworden ist, kamen ihre Reformen dennoch zunächst Preußen
zugute.
Und nicht anders gestalteten sich die Aufgaben für den Staat
nach dem Kriege. Alles mußte er dransetzen, um seine Stellung
als Großmacht zu behaupten. Ihm ward es nicht so gut wie den
Kronen des Rheinbundes, deren Lebensinteresse es wurde, die
liberalen Institutionen anzunehmen oder fortzubilden und mit
dem nationalen Gedanken zu liebäugeln, weil ihnen das einen
Ersatz gewährte für den Rückhalt, den sie mit Napoleons Sturz
verloren hatten. Über seinen nationalen Aufgaben durfte Preußen
gar nicht seine europäischen vergessen, und diese führten es an
die Seite Österreichs und Rußlands. Daß unser Staat an und
für sich wohl imstande gewesen wäre, wie es ja die höhere Be-
amtenwelt fast einmütig forderte, repräsentative Institutionen
schon damals zu ertragen, bezweifle ich nicht; und ich kann es
nicht glauben, daß nur die absolute Krone die deutschen Land-
schaften, die im Kriege gewonnen waren, mit den alten Provinzen
habe verschmelzen können. Hat doch gerade der vereinigte Land-
tag von 1847, wie es noch kürzHch Fürst Bismarck selbst be-
zeugt hat, zuerst ein recht lebendiges staathches Gemeingefühl
zwischen dem Osten und dem Westen der Monarchie geschaffen;
und man sieht nicht ein, weshalb in Preußen der Erfolg hätte
ausbleiben sollen, der in den kleineren Staaten schon nach 1815
allenthalben eintrat. Aber mit den überalen Ideen waren untrenn-
bar verwachsen die nationalen; und jeder Versuch, auf diesem
Boden selbständig und im Sinne der deutschen Einheit vorzu-
gehen, trug den Konfükt mit den verbündeten Mächten im Schöße:
er hätte, wie die W'elt Verhältnisse lagen, unfehlbar zu einem früheren
Olmütz führen müssen.
Die persönliche Stellung des jungen Prinzen mußte ihn noch
mehr in diese Richtung führen. Als zweiter Sohn des Königs
hatte er nicht an die eigene Zukunft, an die Aufgaben des Thron-
erben zu denken, und als Soldat war er gewohnt, dem Willen seines
Kriegsherrn zu gehorchen. Nicht als ob er die zagende und ruhe-
liebende Natur seines Vaters gehabt hätte, der nur den Frieden
oder, sagen wir lieber, die Neutralität in den Stürmen des Jahr-
WiUielm I. 513
hunderts gesucht hatte und, fast \\'ider Willen, \vie in die Kata-
strophe seines Staates so auf die Höhe des Sieges geführt war.
Vielmehr schien dem jungen Prinzen nichts gefährhcher als ein
langer Friede. Sein letztes Ziel war ihm, wie den großen Herr-
schern seines Hauses, die Macht des Staates. Dem diente die
rastlose Arbeit, die eiserne Pfhchttreue, die unermüdHche Lem-
begier, womit er den preußischen Stahl zu schmieden und blank
zu erhalten bestrebt war. Er sehnte sich nach Taten, und mit
Schmerz und Ingrimm erfüllte ihn das weichende Ansehen der
Krone und der wachsende Kleinmut, der sich bald nach dem
großen Kriege wieder hervorwagte. Aber nur seinem Preußen
galt diese Klage. Gerade in diesen Jahren trat er für den engsten
Anschluß an Rußland ein. Er war ein Freund und Bewunderer
der Zaren, an deren Hof ihn wiederholte Missionen führten. Den
nationalen Bewegungen, welche unaufliörhch den Boden der
Verträge von 1815 erschütterten, begegnete er ganz vom Stand-
punkt der großen Alhanz; er faßte alles unter dem Gesichts-
punkt der Revolution, und nur im festen Zusammenschluß der
konstituierten, der »legitimen« Gewalten, meinte er, könne man
ihr begegnen. Ich kenne keine Äußerungen von ihm über die
Demagogen Verfolgungen, aber wir dürfen kaum daran zweifeln,
daß er den liberalen und nationalen Ideen auch nach 1830, da
sie stärker als je, und auch in Norddeutschland um sich griffen,
herb ablehnend gegenüberstand. Ganz verhaßt war ihm Louis
Philipp, der seinen Thron auf dem WiUen der französischen Nation
und den Erinnerungen an 1789 errichtet hatte; und mit tiefem
Unwillen erfüllte es ihn, als im Jahre 1837 seine Verwandte, die
Prinzessin Helene von Mecklenburg, dem »Thronräubersohn«,
wie er schreibt, die Hand gab.
Darum trat er auch seinem Bruder entgegen, als dieser den
Thron bestiegen hatte und sich mit dem absoluten Staat auf das
stürmische Meer der nationalen Pohtik hinauswagte. Jetzt, wo
er als Prinz von Preußen, wenn nicht die eigene, so doch des Sohnes
Zukunft mit der Krone selbst verknüpft sah, glaubte er so schwanken-
den Experimenten gegenüber sich für das System seines Vaters
erklären zu müssen. »Daß man mich verfolgt als den Träger
Lenz, Kleine historische Schriften. 33
5J^4 Kleine historische Schriften.
des alten Preußens und der alten Armee, rechne ich mir zur Ehre
an, denn ich kannte und träumte nur ein selbständiges Preußen,
eine Großmacht des europäischen Staatensystems, und für dies
Preußen paßte keine andere Konstitution.« So schreibt er noch
nach der Märzrevolution, in einem Brief, den er aus der Verbannung
in England an den nächsten Freund seines Bruders, General Leopold
von Gerlach, sandte. Aber wenn dieser Heißsporn des legitimen
Rechtes in ihn dringt, sich mit dem neuen Gouvernement nicht
zu »besudeln« und nichts zu beschwören, was er nicht halten
könne, so weist der Prinz solchen Rat von sich. Er scheut sich
nicht, dem König frei seine Meinung zu sagen, aber jeder Ge-
danke an eine Fronde ist ihm fremd. »Wenn die Konstitution
wie die Konstituante gemacht und der König beschränkt ist«,
antwortet er dem General, »wie kann ich da zurückbleiben, wenn
ich je in das Vaterland zurückkehren will!«
Hier haben wir den Unterschied zwischen dem HohenzoUern
und den Bourbonen. Die Brüder Ludwigs XVL konspirierten
mit den Emigranten und den fremden Mächten gegen die neue
Verfassung, die ihr König beschworen hatte; sie gaben eher ihr
Vaterland preis als ihre Privilegien und stürzten dadurch Thron
und Famihe, die sie retten wollten, nur um so tiefer in das Ver-
derben. Der Prinz von Preußen blieb auch in der Fremde seinem
König treu; den Gehorsam des Soldaten bewahrte er dem Bruder,
als dessen eigener Wille durch die Revolution gefesselt war. In
Frankreich war der Thron gestürzt worden, weil die Armee ihren
König im Stich Heß: Preußens Krone ward im Sturm der Revo-
lution durch die Armee gerettet. Aber die höchste Tugend des
Soldaten, die sich selbst verleugnende Treue, bewährte sie, als
sie knirschend vor Ingrimm auf den Befehl des Königs vor der
Rebellion zurückwich, die sie niedergeschlagen hatte. So zeigte
sich der Prinz von Preußen auch hier wieder als der erste
Soldat seines Landes. Er wußte, daß er damit die eigene Zu-
kunft fesselte, und die Größe des Staates, für die er gesorgt
und gearbeitet hatte, glaubte er gefährdet. Aber nachdem der
Träger der Krone sich gefügt hatte, gab es auch für ihn kein
Zurück mehr.
Wilhelm I. 515
Daß die alte Zeit begraben, war ihm schon jetzt viel klarer
als seinem Bruder, der immer in dem Wahn geblieben ist, die
patriarchale Krone mit einem. Zusatz freiheitlicher und deutsch-
tümlicher Institutionen behaupten zu können. Er aber war sich
schon bei der Berufung des vereinigten Landtages bewußt gewesen,
daß das alte Preußen zu Ende gehe und ein neues Preußen sich
bilden werde. »]\Iöge,« so rief er damals aus, »das neue so erhaben
und groß werden wie es das alte mit Ehre und Ruhm gewesen ist.«
Eben weil er die Unvereinbarkeit der absoluten Krone mit
den liberalen Forderungen erkannte, konnte er die Konsequenzen
klarer sehen als der König und um so leichter sich entschließen,
zu tun, was unvermeidhch war.
Und so geschah es gerade in England, unter dem Druck der
Revolution und der Flucht und im Verkehr mit Bunsen und dem
Prinzgemahl, daß er sich der deutschen PoUtik Preußens erschloß.
Er tat es mit blutendem Herzen, denn er fürchtete, daß der Staat,
dem sein Leben galt, sich selbst aufgeben müsse, wenn er in Deutsch-
land aufgehe. Das Ideal blieb ihm noch die alte Verfassung; aber
er sah die UnmögHchkeit ein, deutsche PoUtik ohne konstitutionelle
Ideen zu machen, und darum stellte er sich auf den Boden des
Frankfurter Parlamentes.
Er ist nach seiner Heimkehr, wie andere auch, von dieser
vorgeschrittenen Stellung, die in seiner Kritik des Dahlmann-
schen Verfassungsentwurfes gipfelte, wieder abgewichen und
hat sich mehr auf die ererbte Monarchie verlassen, deren Eigen-
kraft in den Stürmen der Zeit immer sichtbarer zutage trat. Das
Ministerium Brandenburg fand bei ihm wiUige Unterstützung;
auch die Ablehnung der Kaiserkrone hat er gebiUigt und mit
vollem Nachdruck den Aufstand in Baden niedergeschlagen.
Aber den romantischen Vorstellungen des Bruders von einem
habsburgischen Erbkaisertum, dem sich der preußische König
als der Schwertträger Deutschlands unterordnen müsse, trat
er auf das bestimmteste entgegen. Er verlangte vielmehr, denn
des Königs Plan müsse zur Mediatisierung des Staates führen,
die Hegemonie Preußens und den Ausschluß des Donaureiches
vom deutschen Boden. Das war der zweite große Gewinn, den
33*
516 Kleine historische Schriften.
er aus der deutschen Revolution zog: den Gegensatz der beiden
deutschen Vormächte, den erst sie voll ans Licht gebracht hatte,
nahm er in das Programm seiner Politik auf.
Er knüpfte damit nur an die eigene Vergangenheit an: das
Macht- und Ehrgefühl des preußischen Soldaten sprach sich darin
aus; alle Offiziere dachten wie er. Von Herzen schloß er sich
daher der Unionspohtik an, und als ein neues Jena hat er den
Gang nach Olmütz empfunden.
Die Armee hatte die Krone gerettet und die Rebellion zer-
treten. Aber vor dieser Demütigung hatte sie die Monarchie nicht
schützen können. Und in der Lösung der elementaren, der deut-
schen Frage hatte sie völlig versagt. Preußen war von ihr er-
halten, aber Deutschland nicht geeinigt worden; ja, sie hatte mit
der Revolution auch die erhabene Idee eines eigenen Vaterlandes,
die auf ihren Sturmfittigen herangeschwebt war, zurückgedrängt.
Und die Fülle lebendiger Kräfte, welche in den freiheithchen
und nationalen Wünschen lagen, hatte sie dennoch nicht ver-
nichten können. Das hatte der König schon am 19. März er-
fahren, als er im Siege vor den Rebellen zurückwich, ja schon
vor dem Aufstand, als er die Proklamation erließ, welche der
Nation die ersehnten Freiheiten versprach und also den Staat
in das Fahnvasser hinausstieß, das so lange ängstlich vermieden
war. Hatte er doch selbst solchen Gedanken, wie romantisch auch
immer sie sich bei ihm gestalten mochten, von jeher Raum ge-
geben. Und so ward er trotz der Besiegung der Revolution, und
durch sie, immer weiter von seiner alten Haltung abgetrieben;
und alle reaktionären Experimente, alle bureaukratische Be-
vormundung vermochten nicht mehr, die brausende Bewegung
zu ersticken. Immer tiefer senkte sich der Glaube an die baldige
Erfüllung der deutschen Träume, die Hoffnung auf ein einiges,
großes Vaterland in die Herzen, immer stärker hob sich die Not-
wendigkeit heraus, dem deutschen Volke den Staat zu bauen,
der ihm seine Stellung unter den großen Nationen der Erde ver-
bürgen konnte.
Da schieden sich vollends die Wege beider Brüder. Ver-
gebens mühte sich der König ab, die Geister, die er mit und widei
Wilhelm I. 517
Willen gerufen hatte, zu bannen ; und längst, bevor ihn die Krank-
heit niederschlug, verzehrte sich seine reiche Kraft in dem hoff-
nungslosen Kampfe. Prinz Wilhelm aber ließ sich von dem Strome
weiter treiben, dem er sich einmal anvertraut hatte.
Nicht daß ihn tiefere Hinneigung zu den Ideen des Liberalis-
mus erfüllt hätte: sondern in erster Linie trieb ihn wieder die
Sorge für Preußens Ansehen, das er durch Olmütz aufs schwerste
geschädigt sah. Noch immer hielt er an seiner Unterscheidung
des europäischen und des deutschen Standpunktes der preu-
ßischen Politik fest. Aus dem Umstand, daß die Regierung jenen
aus dem Auge verloren habe, leitete er ihre Verwirrung und Mut-
losigkeit während des Krimkrieges her, und von ihm aus forderte
er, des Rückhalts in der Armee von neuem sicher, in Widerstreit
mit seinem persönlichsten Empfinden die Wendung gegen den
Zaren und Anschluß an Österreich.
Dies altpreußische, in der Person des Regenten konzentrierte
Machtbewußtsein begleitete ihn auch in die hberale Ära und auf
den Thron. Wir würden daher den Konflikt, in den er mit seiner
Volksvertretung geriet, nur halb verstehen und den Anlaß mit
der Ursache verwechseln, wenn wir diesen schwersten Kampf
seines Lebens bloß aus Mißverständnissen, taktischen Fehlern
dieses oder jenes Ministers oder Parlamentariers ableiten wollten.
Und noch weniger dürfte man an einen poUtischen WeitbHck
des Herrschers glauben, als ob er schon damals die Lösung der
deutschen Frage im Sinne Bismarcks ins Auge gefaßt und dies
hohe Ziel nur vor den pohtischen Laien in der Kammer habe
verbergen wollen. Seine Befürchtungen galten in jenen Jahren
eher der abenteuernden Politik Napoleons IH. als dem habs-
burgischen Rivalen, und er dachte bei seiner Armeereform mehr
noch daran, Preußen stark zu machen, als Deutschland zu
einigen. Es war das Ziel, dem sein Leben gegolten hatte. Die
DringHchkeit der Reorganisation war seit Jahrzehnten, ja man kann
sagen, seit der Boyenschen Reform selbst behauptet und diskutiert
worden; Wilhelm hatte von Jugend auf dafür gestritten; und die
Ereignisse seit 1848 hatten ihre Notwendigkeit wenigstens^ in
den Kreisen der Offiziere allgemein zum Bewußtsein gebracht:
518 Kleine historische Schriften.
Preußen mußte besser gerüstet sein, wenn es sich in den ringsum
drohenden Stürmen behaupten und die ihm zukommende Stellung
in Deutscliland einnehmen wollte. Und so ging der Prinz-Regent
im Gefühl unabwendbarer Pflicht und mit einer durch die volle
Einsicht des Fachmannes gestählten Energie daran, den Plan,
für den er in Roon einen kongenialen Mitarbeiter gewonnen hatte,
ins Leben zu führen.
Er hatte sich in Wahrheit mit einem tiefen Widerwillen gegen
die reaktionäre Willkür der vorigen Regierung, zumal auf kirch-
lichem und geistigem Gebiet erfüllt und war ehrlich bereit, mit
den konstitutionellen Doktrinen, so wenig sie ihm behagen mochten,
zu regieren. Aber zugleich war er entschlossen, die Rechte seiner
Krone zu behaupten. Unter sie zählte er vor allem seine Stellung
zu der Armee. In ihr wollte er Herr bleiben, der Kriegsherr, wie
seine Vorfahren es gewesen waren. Diese stärkste Säule des Staates,
der unmittelbarste Ausdruck des königlichen Willens, durfte nicht
umgestoßen oder angebröckelt werden von den wechselnden
^lajoritäten parlamentarischer Regierungen.
Hier Hegt die Quelle des Konfliktes. Es war schließlich der-
selbe, an dem das Frankfurter Parlament gescheitert war. Und
gerade so kombinierte sich jetzt diese preußische mit der all-
gemeinen, der deutschen Frage. Denn die Souveränität der Na-
tion, w^elche den parlamentarischen Ansprüchen zugrunde lag,
w^ar auch die Theorie der Revolution gewesen; sie war der
Boden, auf dem am letzten Ende sogar ein Gagem und ein
Dahlmann gestanden hatten. Und sie war allezeit der stärkste
Hebel, der eigentHche Ausdruck für die Sehnsucht der Na-
tion nach ihrem Staate gewesen. Immer leidenschaftHcher war
dieser WiUe zur ]\Iacht geworden, je stärker der Widerstand
der Regierungen gewesen war, und er fand gerade in diesen
Jahren, unter dem Eindruck der siegreichen italienischen Er-
hebung, immer größeren Anklang. In der Idee der deutschen
Einheit lag die Stärke und das Recht der Bewegung, und
darum wurde die Opposition in der preußischen Kammer von
dem BeifaU aller Herzen getragen, die für Deutschlands Zu-
kimft brannten.
Wilhelm I. 519
Hier aber wallte das alte preußische Soldatenblut in dem
Herrscher auf. Er wollte in dem Anspruch der Kammer, auf die
Zusammensetzung und Dienstzeit der Armee einzuwirken, nur
deren Ruin sehen und damit den Sturz der Krone selbst. Nichts
hat er seinem Kriegsminister, dem General von Bonin, so sehr
verdacht, als daß er seinem Widerspruch gegen die Reform eine
hberale Färbung gab; er sah darin neben persönlichem Undank
nur den Ungehorsam des Offiziers. Und nichts hat er dem General
von Roon heißer gedankt, als die Unerschütterüchkeit seiner solda-
tischen Treue.
So stellte sich der Herrscher an der Schwelle des Greisen-
alters, von dem Boden her, den er sein Leben lang behauptet
hatte, noch einmal zum Kampf: den Ideen von 1848 warf er sich
entgegen.
Fortan war es für ihn unmöglich, seine Helfer für die deut-
schen Aufgaben Preußens unter den Wortführern der Nation
zu suchen : er konnte sie nur noch in den Kreisen finden, aus denen
sich einst der Widerstand gegen die deutsche Bewegung erhoben
hatte. Und so ist es gekommen, daß die Männer, welche Preußen
im Jahre 1848 errettet hatten, das Deutsche Reich erbaut haben.
Die Wege waren jetzt gewiesen und der Boden gewonnen,
auf dem der Monarch mit Roon und Bismarck den nationalen
Staat errichtet hat. Die unitarische Lösung unter Preußens König,
für welche jetzt bald die feurigsten Patrioten, allen voran der
Herold des neuen Deutschlands, unser Heinrich von Treitschke,
alle Leidenschaften aufriefen, war bereits unmöglich geworden.
Kein Aufgehen Preußens mehr in dem großen Vaterlande auch
nach den Vorstellungen der Paulskirche: sondern ein Zusammen-
streben Schulter an Schulter mit den Staaten, welche der Hege-
monie Preußens zu folgen gewillt oder fähig waren. Es waren die
Mächte, welche sich zu Anfang des Jahrhunderts aus den Spolien
des alten Reiches bereichert und die morsche Hülle zersprengt
hatten: dieselben, welche in dem Fürstenbunde unter Friedrich
dem Großen und unter Napoleon im Rheinbunde ihre Existenz
gesichert hatten: die Fürstenhäuser, deren Wurzeln in die alten
Zeiten deutscher Geschichte zurückreichten, die aber die moderner.
520 Kleine historische Schriften.
Grundlagen ihrer Macht erst unter Napoleon gewonnen und sie
soeben erst im Sturm der Revolution gegen den Einheitsstaat
durch Preußens Hilfe behauptet hatten.
Und nun fügte es der Genius, der über den Geschicken unseres
Volkes wachte, daß der König den Staatsmann gewann, dessen
titanische Kraft den Staat über Klippen und Abgründe hinweg
auf der schwindelnden Bahn hinanführte, dem Ziel der nationalen
Sehnsucht entgegen, dorthin, wo die neue Kaiserkrone glänzte.
Wie aber vermöchte ich hier in kurzen Worten Ihnen ein Bild
zu geben von der Größe jener Kämpfe und der Fülle der Ereig-
nisse, die uns allen mit der vollen Klarheit persönhchsten Erleb-
nisses gegenwärtig sind. Denn das ist das ewig Große an diesen
heroischen Taten : daß sie doch nicht bloß das Werk sind einzelner
Helden und Gewaltiger im Volke, welche die blöde Menge wider
Willen hinter sich herzogen; sondern wer immer die gewaltige
Zeit mit wachen Sinnen durchlebt hat, ist im Innersten erschüttert
worden und hat mitgerungen, um das erhabene Ziel zu erreichen.
Und über allem Wirrwarr und Irrtum der kämpfenden Parteien
glänzte doch immer das gleiche Ideal: ein mächtiges deutsche^
Vaterland. So hatte der Romantiker auf dem Throne der Hohen-
zollern doch recht gehabt, als er das Vaterland dem edelsten Erze
verghch, das aus vielen Metallen zusammengeflossen sei, »keinem
andern Roste untersvorfen als dem verschönernden der Jahr-
hunderte«. Was Wunder aber, daß die glühende Masse aufbrodelte
und zischte, als nun der IMeister den Zapfen ausstieß und sie in
die Form hinabschoß.
Die Theorie der Nationalsouveränität, welche das Werk
Cavours beherrschte, war in Deutschland besiegt worden, aber
der Wille der Nation triumphierte dennoch auch bei uns. Alle
die gärenden Kräfte, welche jahrzehntelang zurückgestaut
waren, ergossen sich jetzt tosend und in breitester Strömung in
das gewaltige Mauerwerk des neuen Reiches. Fert unda nee
regitur — so lautet der Sinnspruch, den Bismarck selbst unter
seinen Namen gesetzt hat. Und so hatten auch die Träumer und
Doktrinäre, die vielverhöhnten Professoren von der Paulskirche
recht bekommen. Was sie dort in den langatmigen Debatten
Wilhelm I. 521
Über die Grundrechte der Nation vergeblich begründet und gefordert
hatten, ein Heer, eine PoHtik, eine Zollgrenze und ein Markt,
ein Recht und eine Krone, das ward jetzt alles vollendet. Und was
unsere Historiker immer behauptet und aus allen Büchern und den
Akten selbst bewiesen hatten — daß es Preußens Mission sei, Deutsch-
land zu führen: jetzt war es das deutsche Grundrecht geworden.
»Moralische Eroberungen in Deutschland zu machen«, so
hatte in dem Programm gestanden, mit dem Wilhelm seine
Regierung eröffnete. Und wer will noch leugnen, daß Deutsch-
land von Berlin her moralisch erobert worden ist ? Die preußische
Staatsmoral ist die des neuen Deutschlands geworden: die ge-
waltigen Quadern, welche das Reich tragen, sind aus dem Granit
preußischer Staatsgesinnung geschnitten, und Blut und Eisen
haben als Mörtel und Werkzeug gedient. »Es gibt nichts Deut-
scheres als gerade die Entwicklung richtig verstandener preußischer
Partikularinteressen« : so lautete die Doktrin, mit welcher der
märkische Junker jetzt Schule machte, der »seinem Fürsten
treu war bis in die Vendee, aber gegen alle anderen in keinem
Blutstropfen eine Spur von Verbindhchkeit fühlte, den Finger
für sie aufzuheben«. Und sein erster Schüler ward der alte König.
Alle Romantik, die des Volkswillens sowohl wie die der Legitimität,
war dieser Lehre fremd. Sie kannte nur eine Legitimität,
die des preußischen Staates, die Macht, welche in der Arbeit von
Jahrhunderten gesammelt war.
Wenn aber Bismarck vielleicht gefürchtet hatte, daß er sich in
dieser Denkweise zu weit von seinem Herrn entferne, um ihm zum
Rate seiner Krone geeignet zu erscheinen, so täuschte er sich.
Denn die Macht und Größe Preußens war auch das Ziel allerWünsche
König Wilhelms gewesen; und so konnte es ihm nicht so schwer
fallen, von den Rücksichten der Legitimität, in denen er auf-
gewachsen war, zurückzukommen und sich ganz mit der Staats-
gesinnung seiner großen Vorfahren zu erfüllen. Preußens Größe
lag auf den Wegen, die ihn Bismarck führte. Preußens Interesse
verfochten beide in Schleswig-Holstein und im Kriege gegen
Österreich. Als Preußens König zog Wilhelm L noch an der Spitze
der deutschen Stämme über den Rhein und schlug die Schlachten,
522 Kleine historische Schriften.
unter denen Frankreich niedersank. Nur zögernd nahm er die
deutsche Krone an; und wir verstehen es ganz, wenn er noch
am Tage der Kaiserproklamation und unmittelbar unter ihrem
Eindruck seiner Gemahlin von der unsagbaren »morosen Emotion«
schreibt, in der er in diesen letzten Tagen gewesen sei, »teils wegen
der hohen ^^erantwo^tung, die ich nun zu übernehmen habe, teils
und vor allem über den Schmerz, den preußischen Titel verdrängt
zu sehen«. Er war am Tage zuvor drauf und dran gewesen, zurück-
zutreten und alles seinem Sohne zu übertragen. Nur im inbrün-
stigen Gebet hatte er Kraft und Fassung gewonnen. Ihm wäre
wohl auch jetzt noch solch ein Titel am hebsten gewesen, wie er
ihn als Prinz von Preußen im März 1849 ^^r seinen Bruder vor-
geschlagen hatte: »Wir Wilhelm, König von Preußen, Statthalter
von Deutschland.« Aber er nahm die Krone an, weil sie der Stel-
lung der deutschen Regierungen am besten entsprach imd als
das legitime Symbol, daß für Deutschland erworben war, was
Preußen gewonnen hatte. Und darum durfte der erste, der sie
trug, kein anderer sein als der Gründer des Reiches selbst.
Auch Kaiser Wilhelm ist das Schicksal, das jedem großen
Leben auf den Schritten folgt, nicht erspart gebüeben, das pro-
metheische Los, von dem der alte Roon einmal in bitterem Schmerze
schreibt, daß, wer das himmlische Feuer raube, sich auch die
Fesseln und den Geier gefallen lassen müsse. Und wie oft hat er
mit diesem Treuesten der Treuen Worte der Klage oder doch der
Sorge ausgetauscht über den allzu stürmischen Wogenschlag
der neuen deutschen Poütik! Er sah, wie die tieferen Schichten des
Volkes sich mehr und melir von den überheferten Formen in Staat
und Kirche loslösten; und wir mußten es schaudernd erleben,
daß der Wahnwitz des \'erbrechers die fluchwürdige Hand gegen
das weiße Haupt des Helden erhob. Alle Versuche, mit sozialer
Fürsorge oder durch den Zwang der Gesetze die entfremdeten
Massen für die erreichten Ziele nationaler Größe zu gewinnen,
sah er scheitern.
Aber in den Kämpfen seines Alters hat Kaiser Wilhelm den-
noch erfahren, was die Liebe des \'olkes zu seinem Fürsten be-
deutet. Auch hier bewährte sich Bismarcks Wort, daß die Woge
Wilhelm I. 523
nur trägt und nicht gelenkt wird. Mit elementarer Gewalt hob
sie ihn über seine Zeit empor, so hoch, wie es in dem absoluten
Staate niemals denkbar gewesen wäre. Sie schlug ihm donnernd
entgegen aus dem Hurra der Regimenter, die an ihrem Kriegs-
herrn vorüber in die Schlacht zogen, und blickte ihn noch an
aus den erlöschenden Augen seiner sterbenden Krieger. Sie war
sein Labsal in dem letzten dunkeln Jahr, da ihm sein einziger
Sohn, der strahlende Held unserer Kriege, der Stolz und die Hoff-
nung des Vaterlandes, an der tückischen Krankheit hinsiechte.
Und sie empfand er bis in die letzten Wochen seines Lebens täg-
lich, wenn er von dem Eckfenster da drüben auf die harrende
Menge herabschaute, die einen Blick aus diesen guten Augen zu
erhaschen suchte. Das Meer von Liebe, das ihn umrauschte,
kannte keine Grenzen: es überwand auch die Nationen; und als
der Patriarch der Fürsten genoß Kaiser Wilhelm die Verehrung
der Welt.
Und so schritt er hinüber in das Gedächtnis der Menschheit.
Seiner schlichten Größe hat die allzeit geschäftige Legende nichts
hinzuzufügen. Keinen Tag seines Lebens hat die Historie zu
verbergen. Nur die allbekannten Züge wird sie immer wieder
offenbaren: den edlen und reinen Sinn, Heldenmut, Wahrhaftig-
keit und Treue, eine tiefe und doch freie Gottesfurcht und eine
Bescheidenheit, die immer der eigenen Würde bewußt blieb —
Eigenschaften, welche unserm Volke immer die teuersten gewesen
sind, und die es den erhabensten Gestalten seiner Sagen ver-
liehen hat.
Es ist nicht unseres Amtes, die Zukunft auszudeuten, und
selbst die Gegenwart sollen wir von der hohen Warte der Wissen-
schaft unter dem Aspekt gleichsam der Vergangenheit, unbeirrt
durch Teilnahme und Leidenschaft, betrachten. Aber man braucht
kein Prophet zu sein, um kommende Stürme vorherzusagen,
und der müßte kein Herz im Busen tragen, wer ihnen nicht mit
Ernst und Sorge entgegensähe. Sollen wir uns jedoch vor ihnen
fürchten? Dcis hieße das Andenken des Helden, den wir feiern,
schmälern und die Lehren der Geschichte verachten. Denn in
Stürmen und gegen den Andrang zersetzender Gewalten hat sich
524 Kleine historische Schriften.
gerade die Kraft des preußischen Staates bewährt, und das Ein-
strömen der Massen, ihrer Interessen und ihrer Leidenschaften
selbst hat ihm erst die gewaltige Stärke gebracht, in der er noch
immer der Schrecken und die Bewunderung seiner Feinde ist.
Und alle Macht des Reiches, alle Wucht des nationalen Willens
und der Glanz der kaiserlichen Krone selbst haben nicht ver-
mocht, unser altes Preußen zu beseitigen. Nur immer tiefer hat
es sich in den Boden der Nation gesenkt, aus dem es emporwuchs,
und neben allen Säulen, die des neuen Reiches Hallen tragen,
ist dies doch der Grundpfeiler geblieben.
Unter dem Schirm der Krone Hohenzollern steht auch unsere
Akademie. Ihre Arbeiten sind nach Umfang und Wesen kosmo-
politisch geblieben, in dem Jahrhundert der Nationalitätenkämpfe
so gut wie in dem der Humanität. Das Wesen der Dinge zu erkennen,
ist ihr Zweck. So heischt es unser Wahlspruch, unsere Ehre und
unser Recht, und so ist es der Wille unserer Könige. Von hier
aus sehen wir der Zukunft, was sie auch bringen mag, getrost
entgegen. Der Stiftungsbrief der Akademie ist eingesenkt in
den Grundstein der Monarchie: zum Zeichen, daß diese, die auf
dem Grunde der Reformation ruht, mit uns desselben Geistes
sein wül — allzeit ein Hort der freien Gedanken.
8gS3^=^^5"
Die Tragik in Kaiser Friedridis Leben.
(1907.)
Unter den Paladinen Kaiser Wilhelms, die mit ihm das neue
Reich gebaut haben, bleibt doch die lichteste Gestalt des alten
Helden Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm, »unser Fritz«, wie
wir ihn in den Tagen von Weißenburg und Wörth nannten, Kaiser
Friedrich, wie ihn die Nachwelt seit den hundert Tagen nennt,
die ihm die ererbte und ersehnte, die glänzendste Krone der Welt
zur Leidenskrone wandelten. Wenn uns der alte Kaiser an die
ehrwürdigsten Herrscher des deutschen Mittelalters erinnern
wollte, an den Großen Karl oder an Friedrich Barbarossa, so er-
schienen in Friedrich Wilhelm die Eigenschaften verkörpert,
welche die deutsche Sage ihren Lieblingen unter Göttern und
Menschen verliehen hat: wie Held Siegfried, so sahen wir ihn
prangen in Jugendschönheit und Manneskraft, arglos und treu,
stark und unerschrocken, keiner Verstellung fähig, voll Mitleid
mit den Armen, den Wunden und den Kranken, und allem Hohen
und Edlen zugewandt. Wilhelm und die gewaltigen Recken, die
ihm Bahn schufen, Bismarck und Roon, mußten durch eine Welt
voll Haß und Abgunst hindurchschreiten, bevor ihnen ihr Volk
Heil zurief: sie mußten sich dessen Liebe erobern; erst der Sieg
und die Macht gewannen ihnen die Herzen. Friedrich Wilhelm
dagegen begleitete die Volksgunst vom ersten Tage seines Lebens
ab, um ihm bis zum Tode treu zu bleiben.
Seine Geburt fiel in die Tage, da die Nation ihre Blicke auf
Preußen zu richten begann, als vom Süden her, aus Schillers
Heimat, ein deutscher Dichter den Adler Friedrichs des Großen
526 Kleine historische Schriften.
anrief, daß er die Verlassenen, Heimatlosen mit der goldnen Schwinge
decke. Schon als Knabe war der Prinz, als der sichere Erbe der
Krone Friedrichs, der Träger der nationalen Hoffnungen und
in Wahrheit der deutsche Kronprinz. Als dann Preußen unter
dem Stoß der Revolution zusammenzubrechen drohte, der König
sich haltlos treiben ließ und sein Bruder, vor dem Haß des Volkes
zurückweichend, in die Verbannung gegangen war, da schien es
einen Moment, als sollte der Tag des Jünglings bereits anbrechen:
unter den Liberalen Preußens erwachte der Gedanke, ihm, unter
der Regentschaft seiner Mutter, die Krone Preußens zuzuwenden;
und wenn Bismarck, der es noch in seinen Erinnerungen erzählt,
richtig gesehen, so hat die Prinzessin von Preußen wirkHch
solchen Vorstellungen einen Augenblick Raum gegeben ^) »Mein
Sohn gehört der Gegenwart und Zukunft,« so schreibt sie in diesem
Sturmjahr einmal an den Major von Roon, der zum Erzieher
des Prinzen ausersehen war, »er muß daher die neuen Ideen in
sich aufnehmen und daselbst verarbeiten, damit er das klare und
lebendige Bewußtsein seiner Zeit gewinne und nicht außerhalb
derselben, sondern in und mit ihr lebe. Es gilt, sich von den Ante-
cedentien der älteren Generation abzuwenden, um dem jetzigen
Erziehungswesen ein zeitgemäßes Resultat zu sichern.«
Es war die deutsche Mission Preußens, an welche die Enkelin
Karl Augusts dachte, für die ihr der Gemalil und der König ver-
dorben und nur die unverbrauchte Kraft des Jünglings verwendbar
zu sein schien. Friedrich Willielm wäre damit in eine Stellung
gekommen, wie sie durch die Thronentsagungen in München imd
Wien Maximilian IL für Bayern und Franz Joseph für öster-
^) Gedanken und Erinnerungen I. 22. Vergl. Ludwig von Gerlachs
Tagebuch zum 11. Oktober 1848 (2 — 10): »Nachher Bismarck, mit dem
ich heute unter christhchen Gesprächen von Genthin nach Potsdam ge-
fahren war. Er erzählte: Vincke habe, zugleich namens seiner politischen
Freunde, im April auf dem Landtag ihm (Bismarck) den Antrag gemacht,
eine Adresse an den König zustande zu bringen: er und der Prinz möchten
abdanken und eine Regentschaft der Prinzessin eingesetzt werden.« Von
einer Verbindung Georg Vinckes mit der Prinzessin selbst scheint also
Bismarck zu Gerlach nicht gesprochen zu haben. Vergl. übrigens noch
ebd. S. 33 zum 8. Dezember.
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 527
reich erlangten. Auch sie unter dem Druck der Revolution: nur
daß sie für ihre angestammten Kronen und die Traditionen ihrer
Dynastien einzutreten hatten, während der preußische Prinz
die HohenzoUemkrone hätte belasten und vielleicht vertauschen
müssen. Schwerlich hat der junge Prinz etwas von dem Lose ge-
ahnt, das ihm damals zugedacht war, und das, wäre es verwirk-
licht worden, Preußen in eine Lage gebracht haben würde, für
die weder seine Kraft, noch die seiner Mutter oder der Partei-
führer, die hinter ihr standen, ausgereicht hätten.
Wie er selbst, der Achtzehnjährige, damals zu den großen
Problemen der Zeit stand, können wir uns kaum vorstellen, Bis-
marck gewann den Eindruck, als neige der Prinz mehr den konser-
vativen Anschauungen seines Vaters zu^) ; und noch aus später
Zeit haben \vir eine Äußerung des Kronprinzen selbst, die in die
gleiche Richtung führt: »Wie oft,« so schreibt er im Dezember
1866 seinem alten Lehrer Ernst Curtius, »haben wir in gemein-
schaftlichen Gesprächen der Zukunft Deutschlands gedacht,
ja wie oft redeten Sie zu mir von diesem Kapitel zu einer Zeit,
als ich in der lebendigen Regung der deutschen Gemüter nichts
weiter als Aufstandsnahrung finden wollte. « Mit Widerwillen folgte
er noch im Dezember 1856 dem Befehl des Königs, auf der Heim-
kehr aus England dem Tuilerienhofe einen Besuch zu machen,
und mit einem Gefühl des Grauens erfüllten ihn in der franzö-
sischen Hauptstadt die historischen Erinnerungen an die »revo-
lutionären Besudelungen, durch welche das Volk von Frank-
reich sich ein furchtbares, unmenschhches Denkmal seiner Be-
schaffenheit gesetzt habe«. Dem entspricht die ZärtHchkeit und
der heilige Respekt, den er vor den russischen Verwandten, Zar
Nikolaus und der Tante Charlotte, hatte. Tief erschütterte ihn
der Tod des Oheims; »denn ihn,« so schreibt er der verwitweten
Kaiserin, »sah man ja immer wie den Unsrigen an«. Aber so
wenig solche Empfindungen, die Friedrich Wilhelm mit dem Vater
teilte, den Anschauungen der Liberalen entsprachen, hat er sich
doch von den eigenthch reaktionären Kreisen, auch darin übrigens
^) S. Ged. u. Erinn. I. 40; und mehr noch Bismarck an sein© Frau,
12. 9. 1849, S. 154 der Briefe.
528 Kleine historische Schriften.
dem Vater folgend, schon seit der Revolution ferngehalten. Als
Wilhelm ihn 1853 in den Freimaurerorden einführte, äußerte
der Prinz, daß er diesen Wunsch schon vier Jahre vorher gehabt
habe. Auch den konstitutionellen Ideen war er schon in der Re-
volution nicht mehr feindhch. Das erfuhr Leopold von Gerlach,
als er um die Zeit, da es mit dem Frankfurter Parlament zu Ende
ging, sich dem Prinzen gegenüber eine abschätzige Bemerkung
über den Konstitutionahsmus erlaubte: er beneide den Prinzen
wegen seiner Jugend, da er wohl noch das Ende des absurden
Konstitutionalismus erleben würde. W^orauf Friedrich Wilhelm:
es müsse doch eine Volksvertretung sein. »Ich versuchte es,«
schreibt der General, »ihm klar zu machen, daß aus der Abwesen-
heit des Absolutismus noch nicht der Konstitutionalismus folge«.
Im allgemeinen werden wir sagen dürfen, daß die pohtischen
Vorstellungen des Prinzen in diesen Jahren noch recht ungeklärt
waren und daß er sich, wie am Ende auch der Vater und die Mutter
und im Grunde jedermann, von den Ereignissen hat leiten lassen
und mit ihnen sich gewandelt hat. Die Entwicklimg der Dinge
führte aber die Eltern zusammen; niemals sind sie einmütiger
gewesen als in den Jahren, da die Reaktion den König selbst
von seinen deutschen Idealen, die er noch während der Revolution
hatte realisieren wollen, hinwegführte und die Stellung Preußens
zu der nationalen Bewegung immer isolierter und verachteter
wurde. Der Prinz von Preußen \\airde, wie man weiß, in diese
Richtung vor allem durch die Politik von Olmütz gebracht. Sein
preußischer Ehrgeiz war durch diese Demütigung tief verletzt,
und das war es, was ihn den liberalen Tendenzen, die nun einmal
mit den nationalen verschwistert waren, näher brachte. In dieser
Gesinnung aber lebte auch sein Sohn. Mit Hochgefühl nahm er
den einmütigen Aufschwung des preußischen Volkes wahr, als
der König es im November 1850 zu den Waffen rief. Unvergeßlich
tief, so hat er gesagt, prägten sich diese Tage seinem Herzen ein;
und mit heißem Schmerz erfüllte es ihn, als das preußische Schwert
so unrühmlich \\-ieder in die Scheide gestoßen wurde.
Solche Eindrücke und Anschauungen mußten sich in ihm
nur befestigen, als er auf der Universität in Bonn von Männern
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 529
wie Ernst Moritz Arndt, Dalilmann und Löbell in die staatsrecht-
lichen und historischen Studien eingeführt wurde. »Hier war es,«
so hat er noch nach i8 Jahren beim Jubiläum der Universität
bekannt, » wo mein Blick auf Höheres hingelenkt, wo mir der Sinn
für die geschichtHchen Aufgaben unserer Zeit und unseres Vater-
landes erschlossen wurde.« Auch die Freunde, die er fand, der
Schwabe Otto Abel , der Hamburger Heinrich Geffcken , der
Badener Freiherr Franz von Roggenbach, Georg Bunsen, Karl
Josias' Sohn, den er besonders gern hatte, der jüngere Brandis,
dazu die Fürstensöhne Friedrich und Christian von Schleswig-
Holstein, die mit ihm studierten, teilten diese Gesinnungen. Fast
alles Nichtpreußen, waren sie nach Herkunft und Lebensziel dem
preußisch-deutschen Programme zugewandt, sahen sie in Fried-
rich Wilhelm den vom Schicksal bestimmten Führer der Nation.^)
So auch die eigenen Eltern: nur in dem Sohn erblickte der Prinz
von Preußen den Anwärter zur Krone. Daß ihm selbst die Zu-
kunft gehöre, daran dachte der Bescheidene nicht; das monarchische
Empfinden und die Pietät gegen den Bruder und König heßen
diesen Gedanken nicht in ihm aufkommen.
Die äußere Erscheinung Friedrich Wilhelms bot in der Bonner
Zeit noch nicht die Züge hoheitsvoller Schönheit, mit denen sein
Bild in unserer Erinnerung fortlebt. »Blaß und schmal gebaut,
hochaufgeschossen, mit mehr bleichem als imponierendem Ant-
Htz«, so hat ihn ein Kommilitone, Friedrich Spielhagen, später
geschildert. 2) Aber die ungeheuchelte Freundhchkeit, die offene
und ehrliche Art seines Auftretens, der Eifer, mit dem er den Stu-
dien oblag und alle Eindrücke in sich aufnahm, und die Begeiste-
rungsfähigkeit für alles Große und Schöne gewannen ihm jedes
Herz. »Er ist ein wahrhaft liebenswürdiger Mensch«, so schreibt
der Oberst von Moltke seiner Gemahlin von einer Übungsreise des
Generalstabes im August 1854, ^-uf der ihn der Prinz, der seit dem
Herbst 1852 als Kompagniechef Dienste tat, begleitete; »die
Stadt ist in einer großen Bewunderung für den Prinzen«, so der-
selbe ein paar Jahre später aus Breslau, wo er ihm als militärischer
^) Vgl. Philippson, Das Leben Kaiser Friedrichs III., S. 24 ff.
*) Philippson 24 ff. ; auch für die nächsten Zitate.
Lenz, Kleine historische Schriften. 34
c^30 Kleine historische Schriften.
Mentor zur Seite stand; »er gefällt hier allgemein«, so bemerkt
gleichzeitig Bernhardi in seinem Tagebuch. Die gleichen Stimmen
hören wir aus England, als der Prinz im Herbst 1855 dorthin
zur Brautschau kam. »Er gefällt mir sehr«, äußerte sich der
Prinz-Gemahl: »Seine besonders hervorragenden Eigenschaften
sind große Geradheit, Offenheit und Ehrenhaftigkeit. Er scheint
frei von Vorurteilen und mit ausnehmend trefflichen Absichten« ;
und nach der Verlobung: »Die Reinheit, Unschuld und Selbst-
losigkeit des jungen Mannes sind rührend.« So reserviert und
hochmütig die englische Presse, voran, wie immer, die Times,
sich über die preußische Heirat, die Verbindung mit der »russi-
schen Vasallenmacht« äußern mochte, für die PersönHchkeit
des Prinzen fand sie doch nur Worte des Lobes und selbst der
Bewunderung. Die Politik hatte das Band zwischen den Fürsten-
kindern geschürzt, aber eine von beiden Seiten sogleich empfundene
und wachsende Neigung knüpfte es mit jedem Tage fester; kein
Bürger hat das Glück des Hauses tiefer empfunden und inniger
gepflegt als dieser Fürstensohn.
Zwei Jahre darauf holte er die Erwählte heim, in dem Moment,
als die Reaktion in Preußen unrühmlich zusammenbrach und
die Neue Ära die Erfüllung jener Hoffnungen, deren Träger er
gewesen war, unmittelbar in Aussicht stellte; von Verehrung
und Teilnahme umgeben, im innigen Einvernehmen mit seinen
enghschen Verwandten und seiner anmutigen und klugen jungen
Frau, trat er dem Vater zur Seite, der nun die Aufgabe, für die
er den Sohn erzogen, zunächst auf die eigene Schulter nehmen
mußte.
Nicht lange aber, so erwachte der Hader der Parteien von
neuem und heftiger als je. Und nun trennte die Poütik Vater
und Sohn. Während Wilhelm dem andrängenden Ehrgeiz der
Kammer gegenüber auf die altpreußischen Grundlagen seiner
Staats- und Lebensauffassung, die er nie ganz verlassen hatte,
zurücktrat, befestigten sich in dem Thronerben die Anschauungen,
zu denen ihn die Ent\\dcklung der letzten Jahre, nicht zum wenigsten
vmter dem Einfluß seiner enghschen Gemahlin, geführt hatte.
Aber eben dadurch gewarm Friedrich Wilhelm die öffenthche
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 531
Meinung, welche bald stärker als je von der Notwendigkeit
einer nationalen Politik und dem Wunsch nach liberaler Gestal-
tung des Staatslebens bewegt war. Jubelnder Zuruf, demonstrativer
Beifall begrüßten ihn, wo der König eisigem Schweigen begegnete.
Es kam das Jahr, welches das deutsche Programm Preußens
erfüllte, anders freilich, als die Führer des Liberahsmus und mit
ihnen der Kronprinz es sich gedacht hatten: nicht auf dem Wege
friedhcher Überwindung und moralischen Zwanges, sondern mit
Blut und Eisen und durchgeführt von eben dem j\Iann, in dem
der Kronprinz den bösen Genius Preußens und der ganzen Nation
erbhckte, dem er sich entgegengestellt und der ihn von der Seite
des Vaters und jedem Anteil an der PoHtik vollends hin weg-
gedrängt hatte. Aber Friedrich Wilhelm trat darum vor seinem
Volke nicht zurück; mehr als je leuchtete er ihm voran als der
Vorkämpfer der nationalen Idee und einer der Führer in der
Feldschlacht. Wo seine Fahnen wehten, war der Sieg, und mit
zerschmetternden Schlägen bahnte er den Weg durch die schle-
sischen Pässe in das böhmische Land: bei Chlum kommt er den
schwer ringenden Brüdern zu Hilfe und wandelt die schon fast
gefürchtete Niederlage des Vaters in den größten Sieg des Jahr-
hunderts seit Waterloo: einer Abteilung seiner Armee glückt
der letzte Schlag dieses wunderbaren Feldzuges in dem glänzenden
Gefecht vor Preßburg. So auch in dem neuen Kriege, der uns
das Reich und seine Krone brachte. Aus seinem Lager erscholl
die Kunde von dem ersten Siege; und bis zu der letzten Schlacht
unter den Mauern der französischen Kapitale reihte sich wiederum
in seinem Ruhmeskranze Lorbeer an Lorbeer. Und dabei be-
wahrte der Held alle jene Eigenschaften, die ihm die Herzen zu-
geführt hatten: den Liberahsmus seiner poHtischen Gesinnung
und die schhchte Herzhchkeit seines Empfindens. Unerschrocken
in der Gefahr, ist er milde und gütig gegen seine Truppen, wie gegen
die Feinde selbst; dankbar und neidlos gegen seine mihtärischen
Ratgeber und voll Verständnis für ihre Pläne. Tiefes Erbarmen
ergreift ihn beim Anbhck des Schlachtfeldes und mit Sehnsucht
denkt er an die Heimat und das friedhche Glück des Hauses.
Niemals verläßt ihn der Gedanke an die Aufgaben, die dem freien
34*
532 Kleine historische Schriften.
und einigen Deutschland gestellt sein werden, noch der Schmerz
über den Verlust des Kindes, das ihm entrissen ward, als er zum
Kampfe aufbrechen mußte. »0,wie schön ist er, wie gut und tapfer
sieht er aus«, so hört man aus der Menge rufen, als er von Ver-
sailles aus im Februar 1871 nach Dreux kommt, um dort die Kathe-
drale mit dem Erbbegräbnis der Orleans zu sehen: »Hätten wir
doch einen solchen Prinzen, dann wären wir glücklich«^).
Angesichts von so viel Sonnenglanz, der auch dann nicht
verblich, als die Gestirne Kaiser Wilhelms und Bismarcks hoch und
höher stiegen, mag man fragen, wo denn die Schatten auf diesem
Leben liegen, und ob man von einer andern Tragik sprechen kann
als der des letzten Jahres, da die gräßliche Krankheit die Kraft des
Herrlichen zerbrach und alle Hoffnungen zerstörte. Dennoch
kann es dem schärferen Blick nicht entgehen, daß Kaiser Friedrich
nicht bloß den einen letzten vollen Trunk aus dem Becher des
Unglücks geschöpft hat, sondern daß er schon vorher, lange Jahre
hindurch, Zug um Zug Bitternis genug gekostet hat; und daß die
Tragik seines Lebens darum nicht geringer war, weil sie sich vor der
Menge hinter äußerem Glück und reichen Ehren verbarg, Sie
erscheint anfangs als ein leichtes Gewölk und auf der Höhe des
Lebens: das sich dann aber dicht und dichter dem Liebling des
Volkes um Haupt und Schultern legt, nicht eine Wetterwolke,
aus der es blitzt und donnert, sondern ein dicker, trüber Nebel,
bis es ihn schheßlich ganz in Nacht und Gram hinunterzieht.
Was war wohl die glücklichste Zeit in Kaiser Friedrichs Leben ?
Waren es die Jugendjahre, die er so frohgemut mit Heben Freunden
unter der sorghchen Leitung der Eltern und des edlen bedeutenden
Lehrers, fern von den politischen Geschäften, verbrachte ? Oder
die Jahre, in denen er mit den Unruhen und schweren Sorgen
des »tollen« Jahres auch der Aufgaben, die ihn er^varteten, inne
wurde, der großen Zukunft, die ihm aus dem Kampf der Gegen-
wart selbst entgegenleuchtete ? Die glückbekränzten Semester
*) Philippson 281.
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 533
am Rhein oder die sonnigen Reisezeiten in den Alpen und in Italien ?
Oder der blütenreiche Liebesfrühling in den Bergen des schottischen
Hochlandes ? Dies alles, wie reich es war und wie froh und dank~
bar Friedrich Wilhelm hinnahm, was Geburt und Stand ihm
mühelos gewährten, blieb dennoch weit zurück hinter dem Glücks-
empfinden, das ihn beseelte, als er nun wirklich an der Schwelle
des Amtes stand, zu dem er erzogen war, und zuerst mit dem Ge-
fühl der Sorge auch das des Mithandelns und der Verantwortlich-
keit an des Vaters Seite teilen durfte. So hat er es in dem Briefe
bekannt, mit dem er im Januar 1859 ^^ Glückwünsche seines
Lehrers zum Jahreswechsel erwdderte. Eins der wichtigsten und
glücklichsten Jahre seines Lebens nennt er das letztvergangene:
nicht bloß um des Glückes willen, das er im Besitz der Häuslich-
keit gefunden habe, sondern mehr noch wegen des großen Ver-
trauens, mit welchem der Vater ihn schon vor der Regentschaft
und dann nachher unausgesetzt in alle Verhältnisse eingeweiht
habe. Ein Wort, das auch für den Prinz-Regenten bezeichnend
ist, für die Auffassung, in der er sein Amt führte: noch immer
dachte er dabei weniger an sich, als an den Sohn und den kranken
Bruder. Friedrich Wilhelm vergalt ihm diese Treue mit wahrer
Pietät und rückhaltloser Hingebung. Bewundernd schreibt er
dem Freunde von der Ansprache seines Vaters an die Minister,
welche mehr sage, als hundert Zeitungsartikel zu definieren ver-
möchten. Niemand habe sie vorher gekannt und der Vater sie
nicht vierundzwanzig Stunden vor jener Sitzung niedergeschrieben.
»Ich hatte,« sagt er, »schon früher an der Seite meines Vaters
manchen wichtigen Augenblick erlebt, aber den, als er den Thron
vor versammeltem Landtage zum erstenmal bestieg, wie auch
den jener Anrede vergesse ich in meiner Sterbestunde nicht«.
Wie Wilhelm, so ist auch er überrascht und befremdet von der
hitzigen und vorlauten Art, mit der die Bevölkerung die Bot-
schaft aufgenommen und die neuen Wahlen vollzogen habe; er
spricht von unsinnig ultrahberalistischen Bewegungen, die niemand
so erwartet habe, und hofft auf größere Besonnenheit bei den
Beratungen des bevorstehenden Landtages. Auch in der itaHenischen
Frage teilt er ganz die PoUtik des Vaters, und ebenso bleibt er
534 Kleine historische Schriften.
ein überzeugter Anhänger der Armeereform, als des eigensten
\\'^erkes Wilhelms.
Erst in dem Winterhalbjahr von 1860 auf 61 bemerken wir
in der Stellung Friedrich Wilhelms zu seinem Vater den Beginn
einer Abwandlung. Es geschah im Zusammenhang mit der Zer-
setzung in der herrschenden Partei der Neuen Ära. Schon war die
Einigkeit im Ministerium gestört. Die konservative Richtung,
welche anfangs weit zurückgedrängt war, hatte in dem Kriegs-
minister General von Roon einen Verbündeten gefunden , der
alles daransetzte, um den nie ganz verklebten Riß zwischen der
Krone und den Ansprüchen des Liberalismus zu erweitern.
Ohne Frage ist auch der Tod des königlichen Oheims (2. Januar
1861) nicht ohne Einfluß auf die Trennung zwischen Vater und
Sohn gewesen. Indem Wilhelm selbst den Thron bestieg, nahm
die Auffassung seiner Rechte wie seiner Pflichten unwillkürlich
eine andere Färbung an. Das preußisch-monarchische Empfinden,
welches zurückgetreten war, solange er sich als den Hüter für
des Sohnes Zukunft betrachtet hatte, kam in ihm wieder mehr
hervor, seitdem er für sich selbst, nicht für den Bruder und den
Sohn, die Verantwortung trug; und um so mehr, je unklarer,
eigensüchtiger und unpreußischer ihm die Forderungen der Libe-
ralen auf dem Felde der inneren und der äußeren Politik erschienen.
Umgekehrt fühlte Friedrich Wilhelm, als der jetzt Nächste am
Thron, mehr als je das Gewicht der Aufgaben, der »heiligen Ver-
pflichtungen«, wie er an Curtius schrieb, welche ihm die neue
Stellung gebracht hatte: »Es ist die Wirkhchkeit ein ganz anderer
Gewissenswecker als die bloße Aussicht auf das Dereinst«. Noch
suchte er Anlehnung an den Vater, dessen deutsche Pohtik auch
die seine bheb, und dessen Arbeit für die Umbildung des Heeres
er nach wie vor verteidigte. Aber seine Stellung war genommen.
»Mir kommt's vor«, so schreibt er seinem Lehrer und Freunde,
»als sei ich im letzten Vierteljahr gereifter, klarer, auch vorurteils-
freier geworden. Möge es also fortschreitend bleiben«.
Während der Krisis im Sommer 1861, als der König, von
Roon und seinen Freunden angetrieben, durchaus auf der Huldigung
in der alten ständischen Form bestehen wollte (eine völlig un-
I
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 535
mögliche Anomalie in dem konstitutionell gewordenen Staate),
trat der Kronprinz offen und nachdrücklich für die Zeremonie
der Krönimg ein. Noch einmal gab der König, dem Sohn und
mehr noch der Gemahlin folgend, nach und täuschte so die Hoff-
nungen Roons, der darin schon den Keil gefunden zu haben glaubte,
um das Ministerium auseinander zu sprengen. Im März 1862
aber war der Konflikt unabwendbar geworden: das Hberale
Ministerium ward entlassen, die Neue Ära war zu Ende. Bis dahin
hatte der Kronprinz, der seit dem Frühling 1861 die einzige Stütze
des liberalen Älinisteriums in dem Königshause gewesen war,
im Kampfe ausgehalten. Fortan hielt er es für seine Pflicht zu
schweigen. Ein Wort des Vaters hatte genügt, um ihn dahin zu
bringen: »Nimm dich in acht«, hatte Wilhelm gesagt, »du bist
liberaler als ich«. Friedrich Wilhelm handelte dabei aus dem
Gefühl der preußischen Disziplin und Staatsräson heraus, worin
er erzogen war. Der Kampf zwischen dem König und seinem
Volke aber ging fort, bis er im September des Jahres zu jener
Krisis führte, für welche die Formen des geltenden Rechts keine
Lösung mehr boten.
Und dies ward nun der Moment, in dem sich das Schicksal
des Prinzen entscheiden soUte.
Unter dem Druck der parlamentarischen Majorität, vor dem
er nicht weichen wollte und den er doch nicht überwinden konnte,
faßte Wilhelm den Entschluß, dem Throne zu entsagen. Am 18. Sep-
tember, nachdem ein letzter Versuch, einen Ausgleich herbei-
zuführen, gescheitert war, rief er den Kronprinzen aus Reinhardts-
brunn, wo dieser mit den Seinen in der Gesellschaft der englischen
Königin weilte, telegraphisch herbei und forderte ihn auf, die
Krone fortan zu tragen, die ihm selbst durch die Ansprüche der
»Demokratie« (wie er die Opposition der Vincke und Simson
nannte) entehrt schien.
Daß Friedrich Wilhelm die Krisis für den Moment beseitigt,
den Frieden zwischen Krone und Parlament hergestellt haben
würde, unterliegt keinem Zweifel. Hatte das Abgeordneten-
haus schon dem König die Kompensationen mit einer an Ein-
stimmigkeit grenzenden Bereitwilligkeit entgegengetragen, wie-
536 Kleine historische Schriften.
vnel willfähriger würde es sich dem Sohne gezeigt haben, in dem
der Liberalismus seinen Führer erbhckte; zumal da die Majorität
der Abgeordneten die Stärke der Krone sehr wohl emp-
fand und der eigenen Macht keineswegs so sehr vertraute. Jeden-
falls hätte die Regierung unter dem neuen König keine schlech-
teren Bedingungen erhalten, als diejenigen, die ihr am 17. Sep-
tember angeboten waren und denen sogar Roon anfangs sich
hatte unterwerfen wollen. Aber es wäre ein Friede geworden,
der dennoch einer Niederlage der Krone nur allzu ähnlich ge-
wesen wäre. Und wenn auch König Wilhelm gewiß Disziplin genug
besessen hätte, um fortan in dem Schatten, den er freiwillig auf-
gesucht, zu bleiben , so würde die Partei, die ihn in den Kon-
flikt gedrängt hatte, die in dem Besitz aller hohen Stellen in der
Diplomatie, der Verwaltung und vor allem der Armee war, sich
kaum so leicht beruhigt haben. Wer mag die Gefühle ermessen, welche
damals den Prinzen durchstürmt haben ? Und wer die IMotive er-
gründen, die bei ihm den Ausschlag gaben, als er am IVIorgen des
19. September in Babelsberg vor den König trat und sich weigerte,
die Abdankungsurkunde, die vor ihnen lag und an der nichts als
die Unterschrift fehlte, auch nur einzusehen ? Wenn er bei seinem
Widerstand gegen den Vater, wie er gegen ihn selbst betont hat,
die Zukunft seines Hauses im Auge hatte, so konnte der König von
sich sagen, daß er die Traditionen der Dynastie wahre, und daß
der Weg, auf den die Liberalen den Kronprinzen führen wollten,
eben diese erschüttern würden. Friedrich Wilhelm selbst blieb diesen
Traditionen treu, als er jenen Entschluß faßte. Denn noch nie-
mals war es in der Geschichte dieses Geschlechtes vorgekommen
(wie in anderen Monarchien so oft), daß der Thronerbe oder über-
haupt ein Prinz des Hauses sich dem Träger der Krone offen ent-
gegenstellte. Nur durch die Flucht, als Deserteur, hatte sich ein-
mal ein Kronprinz dem \Mllen seines \^aters zu entziehen ver-
sucht ; und gerade dies war das klassische Beispiel dafür geworden,
daß der Gehorsam, der Offiziers- Gehorsam, als die erste Tugend in
dieser Monarchie zu gelten, und daß der Erbe des Thrones in der
Unterwerfung unter den Willen des Herrschers jedermann voran-
zugehen habe. Genug, Friedrich Wilhelm gab die Gelegenheit,
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 537
Über die er einen Moment Herr gewesen, aus der Hand und knüpfte
damit selbst den Knoten seines Schicksals.
Als er am Abend des 20. September nach Thüringen zurück-
reiste, hatte er weder die Hoffnung noch den Willen, die Rolle
des Vermittlers fernerhin auf sich zu nehmen. »Er verfluche
alles, was er getan habe, um den Zwiespalt zwischen dem König
und seinen Ministern zu verkleistern«, so erklärte er, als er in
Reinhardtsbrunn wieder anlangte. Sein vertrauter Rat Max
Duncker ^^'ünschte auch jetzt noch, daß er dem Kampfplatz nahe
bleibe und die Waffen nicht niederlege — denn er fürchtete, daß
der Boden, auf dem der Kronprinz mit seinem Hause stand, durch
die fortschreitende Reaktion ganz unter^vühlt würde, und daß
die Umgehung oder der Bruch der Verfassung durch keine Kon-
zessionen je wieder gutgemacht werden könne. Friedrich Wil-
helm aber folgte dem Rate seiner Umgebung in Reinhardtsbrunn,
die ihn allen Krisen und Kämpfen fernzuhalten wünschte, um
seine Kraft nicht vor der Zeit zu vernutzen. Er richtete, wie er
dem Vater später schrieb, sein ganzes Benehmen so zurückhaltend
ein wie möglich, damit nicht eine Art »Oppositions-Koterie«
sich seines Namens bediene und ein in anderen Ländern häufig
vorgekommenes Zerwürfnis zwischen dem Souverän und seinem
Nachfolger herbeiführe. So sprach er sich noch am 27. Mai 1863
gegen Max Duncker aus, nach jener Explosion in dem Abgeordneten-
haus, welche Bismarck dahin brachte, den Landtag in die Ferien
zu schicken und durch die Preß-Ordonnanz vom i. Juni die öffent-
liche Meinung zu knebeln. Dann aber, in plötzlichem Entschluß,
der eben durch jene Maßregel hervorgerufen wurde, ließ der
Prinz sich dennoch dazu bestimmen, den Kampf vor dem Lande
aufzunehmen. In Danzig erklärte er sich als den Gegner des Mini-
steriums: er habe von den Verordnungen nichts gewußt, er sei
abwesend gewesen, habe keinen Teil an den Ratschlägen gehabt,
die dazu geführt. Man weiß, wie der König diesen Schritt seines
Sohnes aufgenommen hat: bei seinem väterlichen Zorn gebot er
ihm Schweigen, drohte er ihm die Entlassung aus seinen Ämtern
538 Kleine historische Schriften.
an: es war nicht bloß der König, es war der Kriegsherr, der sich
in ihm beleidigt fühlte. In diesem Moment ist nicht nur die Königin,
sondern auch Bismarck für den Kronprinzen eingetreten. Aber
wenn der Minister forderte, daß der Kronprinz nicht bloß vor der
öffenthchkeit zu schweigen, sondern auch an den Beratungen
des Königs und seiner Minister teilzunehmen habe, was dann
auch Wilhelm selbst verlangte, so ließ sich Friedrich Wilhelm
dazu nicht bringen. Er werde, so schrieb er dem Vater, Still-
schweigen beobachten, mehr aber könne er nicht tun; zurück-
nehmen könne er nichts. Lieber lege er seine Stellung in der Armee
und seinen Sitz im Staatsrat dem Könige zu Füßen. Dieser möge
ihm dann einen Aufenthaltsort bestimmen oder ihm erlauben,
sich selbst einen zu wählen, sei es in Preußen oder im Ausland:
»Wenn es mir nicht gestattet ist, meine Meinung auszusprechen,
so muß ich natürhch wünschen, mich von der Sphäre der Politik
gänzlich zu trennen«.
Er ging nach England, wie einst der Vater, in eine Art frei-
williger Verbannung. »Ich suche mich zu verkriechen, wie ich
kann«, schreibt er von dort an seinen alten Lehrer.
Das schlimme Jahr war noch nicht zu Ende gegangen, als
er selbst bereits diese Stellung aufgab und nach Deutschland
zurückkehrte. Denn ein Ereignis war eingetreten, das ihn mit
dem Vater wieder zusammenführte und diesen wie Preußens
PoHtik mit der öffentlichen Meinung und den nationalen Hoff-
nungen versöhnen zu müssen schien : der Tod König Friedrichs VIII.
von Dänemark, der die schleswig-holsteinische Frage in Fluß
brachte und in Wilhelm selbst in dem ersten Moment keinen andern
Gedanken aufkommen ließ, als den, daß nun Friedrich von
Augustenburg, der Freund seines Sohnes, die Herzogtümer be-
kommen, Preußen aber mit ganz Deutschland vereint die ihm an-
gestammten Fürstentümer zurückgewinnen müsse.
Nur der eine, dem König Wilhelm sich vor Jahresfrist er-
geben, und der, wie er ihn gegen seine inneren Feinde aufrecht-
erhalten, so ihn nach außen von seinen früheren Wegen schon
hin weggeführt hatte, setzte alles daran, um den Strom der öffent-
lichen Meinung, der schon die Armee und sogar Männer wie Roon
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 539
ergriffen hatte, von dem entscheidenden Orte abzudämmen.
»Alles war gegen ihn«, so schrieb damals Moritz von Blanken-
burg, der fast jeden Abend bis tief in die Nacht bei Bismarck
war und, wie er wenigstens meinte, bis ins kleinste Detail von ihm
unterrichtet wurde, an Ludwig von Gerlach: »Die Armee- Auf-
regung wirkte auf den König sehr zurück. Er wollte Aktion und
alle Hunde waren los; aber der Lange blieb fest wie ein Koloß,
nur des Abends klagte er mir sein Leid^).«
Und so zerrann dem Kronprinzen auch diese Chance, seinen
Einfluß herzustellen, unter den Händen. Wohl benutzte ihn Bis-
marck gelegentlich, wie im Mai 1864, als er den Gedanken faßte
oder die ]\Iiene annahm, dem Prätendenten zu dem Seinen zu
verhelfen und ihn zum Dienste Preußens zu verpflichten; je-
doch nur, um später beide desto mehr bloßzustellen. Friedrich
Wilhelm aber blieb dem Freunde und der einmal ergriffenen Sache
treu, auch dann noch, als ein Teil der Liberalen zu Bismarck herum-
schwenkte und sein alter, ihm so treu ergebener Max Duncker
selbst von ihm abfiel. Um so mehr isolierte er sich, und um so
weniger fand Bismarck Veranlassung, sich um ihn zu kümmern.
Doch war es, wie der Prinz gegen Duncker im Jahre 1865 erklärte,
keineswegs bloße Freundschaft für den Herzog Friedrich, die
ihn zu dieser Haltung bestimmte, sondern vor allen Dingen seine
Liebe zu dem gemeinsamen Vaterland und die Überzeugung,
daß Preußens Geschicke auf den gegenwärtig betretenen Bahnen
nicht heilsam und förderhch geleitet würden.
Und so blieb er auch ganz abseits von den verschlungenen
Wegen, auf denen Bismarck Preußen in den Krieg gegen Öster-
reich hineinführte. Für ihn war der Krieg um die deutsche Krone,
der nun begann, ein Bruderkrieg. Er sah, daß der König den
Kampf so wenig wollte, wie er selbst, und daß niemand als eben
der Minister dahin trieb. Eine unerklärliche Tollkühnheit schien
es ihm, einen deutschen Krieg in deutschen Landen gegen die
Sympathien des engeren wne des weiteren Vaterlandes zu unter-
nehmen, bei der sicheren Aussicht, daß ein Napoleon in Deutsch-
^) Ludwig von Garlachs Aufzeichnungen II, 258.
540 Kleine historische Schriften.
land alsdann den Friedensstifter spielen werde. »Mit gebundenen
Händen«, so schreibt er dem Oheim in Koburg am 26. März,
ȟberantworten ^\^r uns einem blinden Schicksal! Ich werde
meinerseits nichts unversucht lassen, um dem Unheil zu begegnen,
abzumahnen, zu warnen, zu verhindern. Du weißt aber, wie wenig
ich vermag".
Bismarck seinerseits verschmähte, wo er sie gebrauchen
konnte, auch fernerhin nicht die Dienste des Kronprinzen. Un-
mittelbar nach Königgrätz, fast noch auf dem Schlachtfeld, in
Horsitz, am 5. Juli, entwickelte er ihm sein deutsches Zukunfts-
programm, um durch ihn auf den König zu wirken; und man weiß,
wie dann in den Tagen von Nikolsburg der Kronprinz dem Minister
geholfen hat, als dieser den Widerstand des Königs und seiner
Generale gegen den Frieden, den er im Sinne hatte, brechen
mußte. Bismarck hat den Beistand, den ihm der Kronprinz da-
mals leistete, immer anerkannt; und es bleibt eins der schönsten
Blätter in Friedrich Wilhelms Ruhmeskranz, daß er den Groll
gegen den Mann, der ihm so viel Leides zugefügt, der großen Sache
zum Opfer brachte, der er mit ganzer Seele anhing. Aber zu einem
wirklichen Einfluß gelangte der Prinz damit doch nicht gegenüber
einem Minister, der in jedem Moment seines Lebens die eigene
Bahn ging und jedermann nur als Werkzeug seines Willens ver-
wandte.
Das war ja nun auch das Schicksal der andern, die mit Bis-
marck in Kampf geraten waren: ob Konservative oder Liberale,
sie mußten ihm alle folgen; sie waren alle in Wahrheit Besiegte.
Aber das Los Friedrich Wilhelms blieb doch das schwerste. Denn
die Parteien brachten immerhin, jede an ihrer Stelle, etwas von
dem, wofür sie gekämpft hatten, in die neue Epoche hinüber.
Die Konservativen, die Bismarck vielleicht am schwersten ent-
täuscht hatte, sahen in ihm doch noch immer den Helfer
gegen die liberale Strömung und durften sich sagen, daß er sie
um so mehr berücksichtigen und an sich ziehen werde, je rück-
haltloser sie sich ihm anschlössen. Die Liberalen aber konnten
mit Recht behaupten, daß der Minister gutenteils ihr Programm
realisiert habe, und daß er ohne sie in Deutschland überhaupt
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 541
nicht vorwärts gekommen wäre. Sie alle hatten zwar nicht die
Herrschaft, aber doch ein Stück der Macht in den Händen. Und
darum fanden sie Gnade vor Bismarcks Augen. Denn Macht
war das, was er respektierte und womit er Kompromisse schloß.
Sie hatten ihre Presse und ihren Anhang in den sozialen Schichten,
die sie vertraten; und sie erhielten zum Teil in den Institutionen,
die Bismarck selbst geschaffen hatte, Machtmittel, welche oft
sehr viel anders wirkten, als er es sich vorgestellt hatte, und, nach-
dem sie einmal ins Dasein getreten, ein Eigengewicht entwickelten,
welches noch stärker war als sein Wille. In solchen Kämpfen
wurde das Reich gegründet und ausgebaut. Keine Partei setzte
ihren Willen ganz durch, aber jede gewann oder behauptete einen
Teil von dem, was sie erstrebte.
Auch der Kaiser mußte seine Anschauungen nach dem Willen
seines großen Ministers abwandeln. Aber wenn einer, so hatte
Wilhelm, wie das Recht, so die Macht, seinen eigenen Willen
zur Geltung zu bringen. Die Kämpfe mit ihm waren die schwersten,
die Bismarck zu führen hatte; auch deshalb, weil er sie dem Träger
der Krone abgewinnen mußte, deren Eigenmacht er gegen den
Andrang der populären Bewegungen gerade behaupten wollte,
und an die er sich anlehnen mußte, wenn er das Heer seiner Feinde
besiegen wollte: in des Königs und des Kaisers Namen führte er
alle seine Kämpfe; seinen Willen mußte er hinter sich haben; er
durfte ihn nicht ignorieren, er mußte den Träger der Krone über-
zeugen von dem Recht und der Richtigkeit der Wege, die er ihn führte.
Der Kronprinz allein hatte sich zu unterwerfen, ohne seinen
WiUen, seine Überzeugung zur Geltung bringen zu können. Hatte
er das schon in der Zeit nicht vermocht, als er noch im Einklang
mit der überwältigenden Majorität der Nation gewesen war, so
konnte er um so weniger daran denken in den Jahren, wo Bis-
marck die öffentliche Stimme in Deutschland für sich hatte und
als der Hort und Held der Nation, selbst von alten Parteigenossen
des Prinzen, und gerade von diesen am meisten, gefeiert wurde.
Indem der Kanzler die Institutionen schuf, an welche die Zu-
kunft Friedrich Wilhelms gebunden blieb, die Krone schmiedete,
die einst auf seinem Haupte glänzen soUte, hielt er ihn dennoch
542 Kleine historische Schriften.
von der Mitarbeit fern und gab dem neuen Reiche Formen, welche
sein Erbe als falsch erdacht und als Quelle zukünftiger Zerrüttung
bezeichnete.
Auch jetzt erinnerte sich Bismarck stets des Prinzen, wenn
er seine Dienste gebrauchen konnte, so bei den Verhandlungen
um die Kaiserkrone, als es den Widerstand des Königs und seiner
militärischen, altpreußischen Umgebung zu brechen galt. Aber
das, was Friedrich Wilhelm sich darunter vorstellte, ein auf der
Nation unmittelbar ruhendes, mit freiheitlichen Institutionen
unterbautes Kaisertum, unter dem Preußens Krone selbst nahezu
mediatisiert wäre, war es nicht, was Bismarck schuf, sondern
am Ende nur ein anderer Name für das alte Verhältnis : der Kaiser-
titel für das Präsidium des Bundes, den Bismarck 1866 gegründet
hatte und der im neuen Reich nur eben erweitert wurde. Auch
weihte Bismarck den Prinzen in den Kern seiner Verhandlungen
nicht einmal ein; er ließ ihn üeber in dem Glauben, daß er selbst
jener Idee noch fernstehe, als daß er ihm seine Gedanken ver-
raten hätte.
So bleibt es denn auch im neuen Reich. Selbst in dessen erster,
der liberalen Epoche hatte der Kronprinz weder auf die innere noch
auf die äußere Politik einen Einfluß. Auch war er mit der Art,
wie Bismarck sich der hberalen Ideen annahm, keineswegs zu-
frieden. So protestantisch er dachte, gefielen ihm doch nicht
die Gewaltsamkeiten, mit denen der Kanzler den Kampf gegen
den KlerikaHsmus führte; das Mißtrauen, welches die Liberalen
vom linken Flügel Bismarck dabei entgegentrugen, teilte er durch-
aus. Und Bismarck selbst hütete sich wohl, den Kronprinzen
hierfür heranzuziehen. Hatte er doch den Konflikt anfangs über-
haupt vermeiden und danach ihn zunächst mit Hilfe der Konser-
vativen durchführen wollen. Nur weil diese ihn im Stich ließen,
wandte er sich den Liberalen zu, deren Allianz ihm immer lästig
war und die er von sich abschüttelte, sobald die alten Sterne wieder
günstiger standen.
Nicht einmal die Stellvertretung des Kaisers, welche das
fluchwürdige Attentat im Juni 1878 dem Kronprinzen brachte,
gewährte ihm den Einfluß und die Selbständigkeit, nach der er
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 543
schmachtete. Die Regentschaft, die er sich wünschte, erhielt er
nicht. Nur im Namen des Vaters und in dessen, d. h. Bismarcks,
Sinn, führte er für ein paar Monate die Regierung. Die Entschhe-
ßungen, die er mit seinem Namen deckte, hatte er zum Teil be-
kämpft, — so die Verhängung der Todesstrafe über den
Verbrecher und die Auflösung des Reichstages. Dem Kon-
greß, auf dem in diesem Sommer unter Bismarcks Vorsitz der
Friede im Orient hergestellt \vurde, blieb er fern, und der totale
Umschwung, den Bismarck gerade jetzt in seiner inneren PoHtik
vorbereitete, vollzog sich vollends ohne sein Zutun. Als der Kaiser
mit erfrischter Kraft auf den Thron zurückkehrte, trat Friedrich
Wilhelm in den gewohnten Schatten zurück und blieb auch in
dem dritten Jahrzehnt, was er seit dem Tode des Oheims gewesen
war: der Kronprinz.
Der Kaiser gelangte nun in die Jahre, wo auch seine Kraft,
so bewunderungswürdig sie war, erlahmte. Aber dem Sohn kam
die wachsende Schwäche des Greises nicht zugute : niemals schaltete
Bismarcks Wille unbedingter als in den letzten sieben Jahren
der Regierung Kaiser Wilhelms.
Wohl waren die Differenzen zwischen Kanzler und Kron-
prinz im allgemeinen geringer geworden. Die Geniahtät der aus-
wärtigen Poütik Bismarcks erkannte Friedrich Wilhelm jetzt
willig an. Und so hatte er sich auch mit der föderativen Gestaltung
des Reiches, die er einst ein »kunstvoll gefertigtes Chaos« ge-
nannt hatte, ausgesöhnt, sowie ja auch seine liberalen Freunde
ihre unitarischen Programme mehr oder minder vergessen hatten.
Aber zu einer aufrichtigen Annäherung kam es zwischen den beiden
doch nicht. Mit tiefer Abneigung stand Friedrich Wilhelm den
immer wiederholten Versuchen Bismarcks gegenüber, die hnken
Gruppen des Liberalismus abzusprengen und sich von rechts
und links her einen Anhang zu sammeln, der auf seinen Namen
eingeschworen war. Seine Freunde suchte er auch jetzt unter
denen, die Bismarcks Haß verfolgte — wenn man nicht gar sagen
will, daß schon die Freundschaft mit dem Kronprinzen dem Miß-
trauischen genügte, um seinen Groll an ihnen und ihrem hohen
Protektor auszulassen. Friedrich Wilhelm mußte seine Anhänger
544 Kleine historische Schriften.
gleichsam durch die Hintertür zu sich hineinlassen; ja ein Mann
wie Forckenbeck hat in der Tat, als er mit dem Kanzler gebrochen
hatte, einen Nebeneingang des kronprinzlichen Palais benutzen
müssen, um zu dem Herrn zu gelangen. Konnte der Prinz doch
nicht einmal seine Freunde beschützen; er mußte es zulassen,
daß Ernst von Normann, sein Vertrautester in diesen Jahren,
von ihm getrennt und nach Oldenburg als Gesandter versetzt
wurde, und nur die ganz Harmlosen, Künstler und Gelehrte,
wie Anton von Werner und Ernst Curtius, blieben unbehelligt.
Er war nun einmal der Führer des »Lagers der Besiegten«, und
seine Devise blieb das Warten. Friedrich Wilhelm hatte immer
an der Entfaltung königlichen Glanzes ein Gefallen gehabt ;
und wer war mehr dazu berufen, die Herrlichkeit und Macht
des Reiches zur Anschauung zu bringen, als dessen Erbe in
seiner männhchen Schönheit und der bezaubernden Liebens-
würdigkeit seines Wesens? Solche Gelegenheiten woirden ihm im
neuen Reich in Fülle geboten, und um so öfter, je mehr der Vater
durch die Last der Jahre daran verhindert wurde, und je weniger
Bismarck Wert darauf legte, bei solchen Schaustellungen zu er-
scheinen. So kam es zu den Reisen nach Italien, England und
Rußland, welche den Reportern so reichen Stoff gaben und die
Bevölkerungen dieser Länder so oft zur Bewunderung des deut-
schen Kaisersohnes fortrissen. Ilim selbst aber, \\ie hätte es anders
sein können, gereichte am Ende dies unablässige Repräsentieren
nur zur Last und eher zur Demütigung als zur Erhebung: denn
nichts war mehr geeignet, ihm sein Schicksal vor die Augen zu
stellen, das ihm allen Schein der Macht verliehen hatte, aber
nichts von ihrem Wesen. Was Wunder, daß der helle Glanz,
der jahrelang über seiner Seele gelegen hatte, schließlich nur zu
oft von trüben Stimmungen überdeckt war, also daß er wohl
über sein verfehltes Leben in bittere Klagen ausbrach und kaum
an die eigene Zukunft denken mochte, ja zuweilen davon sprach,
im Falle der Thronerledigung auf die Krone selbst zu verzichten,
da er dann schon verbraucht sein würde.
Wer war pietätvoller als er? Wie hatte er vor Jahren ge-
zittert, wenn sein Vater einmal kränkelte 1 Aber hätte er in solcher
Die Tragik in Kaiser Friedrichs Leben. 545
Lage, nun da er die Höhe seines Lebens schon überschritten hatte,
Gedanken ausweichen können, die sein kindhches Zartgefühl
und sein sittHch reines Empfinden in sein Innerstes zurückdrängten ?
Nehmen wir einmal an, daß Friedrich Wilhelm gesund ge-
blieben wäre - — würde der Konflikt mit Bismarck, der drei Jahr-
zehnte lebendig geblieben war, nach seiner Thronbesteigung aus-
geblieben und erloschen sein ? Daß er ihn hat vermeiden, sich
von dem ^Minister seines Vaters nicht hat trennen wollen, hat
er oft genug ausgesprochen, und die ersten, lange vorbereiteten
Erlasse, die er als Kaiser gegeben, der Dank an den Kanzler und
das Programm seiner Regierung bewiesen es, daß es ihm Ernst
war mit diesem ^'orhaben. Auch hat er in den kurzen Wochen,
die ihm auf dem Thron vergönnt waren, sich mehr als einmal
den wohl erwogenen Ratschlägen des Kanzlers, zumal in der
Frage der bulgarischen Heirat, gefügt und im Widerspruch mit
seiner Gemahlin und der eigenen Tochter die Empfindungen des
Vaters den Pflichten des Regenten zum Opfer gebracht.
Dennoch läßt sich nicht annehmen, daß der tief innerliche
Zwiespalt auf die Länge verdeckt geblieben wäre, daß Friedrich
Wilhelm sich im Besitz der Krone von den Anschauungen, in denen
er seit Jahren gefestigt war, frei gemacht, oder daß Bismarck
seinen Willen gegen den seines kaiserlichen Herrn aufgegeben
hätte. Zu tief auch waren die Gegensätze in der politischen Welt
und zu stark drängten sie schon wieder zu einer neuen Verknotung
hin, die der Kanzler nur auf seine Art, den Zielen seines nie rasten-
den Wollens gemäß, zu lösen oder zu durchhauen versucht sein
mußte. Dann wäre also Friedrich Wilhelm endlich in die Lage
gebracht worden, den eigenen Willen zur Geltung zu bringen,
das Scepter, von dem er schon als Knabe geträumt hatte, endhch
zu führen. Die ]\Iacht dazu hätte er besessen, die Macht, welche
Bismarck im Dienste seines Vaters geschaffen hatte und die ihrem
Träger, wenn er nur wollte, solche Stärke verlieh, daß auch der
Wille des eisernen Kanzlers davor zurückweichen mußte. Wo-
Lenz, Kleine historische Schriften. 35
K/g Kleine historische Schriften.
nach Friedrich Wilhelm sich immer gesehnt, die Gelegenheit,
nach eigenem Ermessen zu handeln, wäre ihm endlich geworden.
Statt dessen wollte es das Geschick, daß er das Scepter er-
griff, als er bereits vom Tode gezeichnet war, und daß auch mit
der Krone mehr der Schein der Macht als die Macht selbst in seine
Hand gelegt wurde. 'Das Herz seines Volkes schlug ihm heißer
entgegen als je, und tief empfand er diese Treue, die ihm nicht
mehr den lauten Jubel bot, der den Sieger von Chlum und Sedan
umhallt hat, sondern die Tränen des überwallenden Mitleids, die er
in tausend Augen glänzen sah. Aber zugleich mußte er es er-
leben, daß der Hader der Parteien sich an sein Krankenlager
selbst herandrängte und wüster Zank seine Leiden begleitete —
ein Schauspiel, an dessen niederziehende Eindrücke man heute
nur mit einem Gemisch von Scham und Gram zurückzudenken
vermag. Wenn er in den Anfängen der Krankheit noch gehofft
hatte, daß ihm eine Zukunft beschieden sein könnte, so ging er,
als ihn die Nachricht von dem Tode des Vaters in die Heimat
zurückrief, klaren Auges dem Unabwendbaren entgegen. Der
immer genährte und nie gestillte Wunsch, mit eigener Kraft und
Verantwortung das Regiment zu führen, die hohen Pläne, mit
denen er sich auf allen Gebieten des Staates, der Wissenschaften
und der Künste trug, — das alles war nun, er woißte es, für ihn
aus und vorbei. Nichts war ihm geblieben als die stumme Helden-
größe des Dvüdens und der Ergebung.
m^^^^
Das russische Problem.
(April 1906.)
Mehr als ein Menschenalter ist bereits vergangen, seitdem
das romanisch-germanische Europa aus der Epoche der Revolu-
tionen und der Kriege, die ihnen folgten und ein Stück ihrer selbst
waren, heraustrat. Gewiß fehlt es seither unsem Nationen nicht
an Elementen der Zerrüttung und der Anarchie; vulkanische
Gluten ruhen in ihrem Schoß. Aber zur Herrschaft sind diese
nirgends mehr gekommen. Die nationalen und konstitutionellen
Formen, die sich in jenen Erschütterungen herausgebildet haben,
sind spannkräftig genug gewesen, um die zerstörenden Kräfte
zu bannen; gerade die Freiheiten, die dadurch geschaffen wurden,
der Presse, des Vereinsrechts, der Arbeit und der parlamentarischen
Vertretung, haben sich als die Ventile erwiesen, durch die die
heißen Dämpfe des Innern gefahrlos entweichen. Wenn einmal,
im Frühhng 1871, an der Seine, ebendort, wo 1789 der erste Aus-
bruch erfolgt war, die Lava durch die Oberfläche hindurchbrach,
so geschah das unter ganz ungewöhnlichen Verhältnissen, in einem
Staat, der in der Gewalt der Feinde war, unter einer Regierung,
die, kaum gebildet und von ihrer eigenen Hauptstadt ausgeschlossen,
nicht vermochte, dem Proletariat die Waffen zu nehmen, die ihm
im Kampf gegen die Deutschen von der Regierung der nationalen
Verteidigung selbst geliefert worden waren. Ja, der Aufstand der
Pariser Kommune zeigt gerade, wie ohnmächtig die europäische
Revolution in unserer Epoche geworden ist. Denn wie fanatisch
der Widerstand der Empörten sein mochte, dennoch gelang es,
35*
5^g Kleine historische Schriften.
ihn in wenigen Wochen niederzuschlagen ; und nirgends fand der
Aufruhr Nachahmung, er bUeb vöUig lokahsiert. Wie fest seitdem
der Boden unserer Staatenwelt geworden ist, läßt sich an dem
Eindruck ermessen, den die russische Revolution auf die europäi-
sche Welt ausübt. In der Epoche unserer Revolutionen pflanzte
sich jede Erschütterung mit Blitzesschnelle durch den ganzen
Umkreis unserer Staaten fort; die Luft war damals wie mit Elek-
trizität geladen. Heute dagegen vermögen unsere Sozialdemo-
kraten und Anarchisten, wie wild sie sich anstellen, nichts. Ihre
revolutionären Demonstrationen verpuffen wie Theaterdonner und
wirken lächerlich durch den Kontrast zwischen dem Aufwand an
Worten und der Ohnmacht im Handeln.
Es ist aber, als ob der Strom der europäischen Geschichte
seinen Lauf völlig verändert und rückwärts gewandt habe. Denn
während wir andern in Ruhe und sorglos dahinleben, nur darauf
bedacht, die Güter des Friedens zu wahren und zu mehren, wird
der Staat, der einst den Reaktionären, wie den Liberalen, als der
Hort der absoluten Monarchie galt, bis in seine Grundfesten er-
schüttert und erscheint allen Gewalten der Zerstörung ausgesetzt.
An inneren Feinden hat es ja auch in den alten Zeiten den rus-
sischen Herrschern nicht gefehlt; kein Thron Europas ist so oft
durch blutige Gewalttat erledigt worden. Aber damals sammelten
und entluden sich die Gewitter immer in den höchsten Regionen;
der Sohn, der Bruder, die Gemahlin, die Flügeladjutanten und
die Hofschranzen stießen die Träger der Krone von ihrem Sitz
herunter: die Tiefen des Volkes blieben unbeweglich; nur dann,
wenn der Landesfeind innerhalb der Grenzen stand oder dem
nationalen Ehrgeiz große Ziele gewiesen wurden, gerieten sie in
Erregung.
Und immer war es der Thron, um denn sich dann das Volk
scharte. Kein festeres Band gab es zwischen dem Zaren und
seinem Volk als die \'erteidigung der russischen Erde oder die
Ausbreitung der russischen Macht. Der Traum, das Kreuz auf
die Hagia Sofia zu pflanzen, ließ jedes Russenherz höher schlagen,
seitdem Peter der Große den Weg dorthin gezeigt hatte. Tausend-
stimmiger Jubel umbrauste noch Alexander IL, als er in Moskau
Das russische Problem. 549
den heiligen Krieg proklamierte. Niemals war er sicherer vor
Attentaten als im Feldlager vor Plewna; erst als der Friede her-
gestellt, erreichten ihn in der Heimat die Mordgeschosse der Nihi-
listen. Auch der Krieg gegen Japan ist keineswegs, wie die Revolu-
tionäre glauben machen wollen, allein der Ehrsucht und der Hab-
gier der Regierenden zuzuschreiben. Man erinnere sich an die
Einmütigkeit, mit der die russische Presse vor dem Beginn des
Krieges die Politik ihrer Regierung unterstützte, an den brutalen
Hochmut, mit dem sie, jedes Kompromiß ablehnend, Japan vor
den Verzicht auf allen Festlandbesitz oder den Krieg mit Ruß-
land stellte. »Ein Krieg Japans gegen uns«, so schrieb im Juli 1903
die »Nowoje Wremja«, die Stimmführerin der öffentlichen Mei-
nung, in einem fast grotesken Gemisch von heuchlerischen Frie-
densphrasen und nackter Gewaltgier, »bedeutet seinen Selbstmord,
den Schiffbruch aller seiner Hoffnungen, und deshalb sind wir
der festen Überzeugung, daß die friedliche Strömung in Japan
schließlich doch triumphieren wird. An der Macht des russischen
Riesen sind die Heeresmassen Napoleons zugrunde gegangen, und
nach dieser Prüfung sind Rußland keine andern mehr schreck-
lich. Rußland strebt nach der Wahrung des Friedens, aber nicht
aus Furcht vor einem Kriege, sondern aus Menschenliebe, die
auf dem Bewußtsein seiner Kraft beruht. Alle fordern wir auf,
gemeinsam mit uns für die Ideale der Wahrheit und der Zivili-
sation friedlich zu arbeiten; wenn aber jemand nicht denselben
Weg wandeln oder ihn uns versperren will, so werden wir deshalb
nicht auf einen Augenblick von der Erfüllung unserer historischen
Aufgaben ablassen«.
Weil die Dardanellen versperrt und die Straße nach Indien,
deren erste Etappen vom Kaspissee ab so rasch und glücklich
zurückgelegt waren, im afghanischen Grenzgebirge gleichfalls un-
gangbar wurde, lenkte die russische Politik in den Weg nach der
Mandschurei und Korea ein. Es war die Richtung, in der sich die
russische Kolonisation seit zwei Jahrhunderten am mühelosesten
entfaltet hatte; und so schien es auch jetzt noch, als ob hier die
Küsten des Weltmeers, denen die russische Macht mit Naturgewalt
zustrebt, auf die leichteste Weise gewonnen werden könnten.
^^Q Kleine historische Schriften.
Hätte diese Politik Erfolg gehabt, so würde sie in der Tat
zu einer Verstärkung nicht nur der nationalen Macht, sondern
auch des politischen Systems geführt haben, das Rußland zu-
sammengehalten und geschaffen hat. Da erlebte nun die Welt
ein unerhörtes Schauspiel: ein Volk, das vor kurzem noch abseits
von den Bahnen der welthistorischen Entwicklung gestanden und
eben erst in den Kreis der Kulturmächte, nur empfangend, ein-
getreten war, ein Zwerg dem Riesen Rußland gegenüber, ent-
wickelte Riesenkräfte. Was niemand erwartet hatte, am wenigsten
unsere Diplomaten, geschah: zu Lande und zu Wasser besiegt,
mußten die Russen um Frieden bitten. Hatten aber in den alten
Zeiten die Niederlage, der Einbruch der Feinde in die russischen
Grenzen Volk und Herrscher nur um so fester aneinander ge-
bunden, so war jetzt zum erstenmal in der russischen Geschichte
die Wirkung eine entgegengesetzte : zersprengend wie das Dynamit
der Bomben, welche die Revolutionäre ihren Feinden unter die
Füße werfen. Je stärker der Gegner drückte, um so allgemeiner
wurde die Erschlaffung, um so größer im Volk und Staate Ruß-
lands die Zersetzung. Als Bundesgenossen, als Helfer fast der
Revolution erschienen die Feinde des Landes, vor deren Ansturm
die Kraft des Volkes niedersank. Aus der Schmach des Vater-
landes suchen die Empörten die Herstellung ihrer pohtischen
Ideale, aus dem Abgrunde die Schätze der Freiheit zu gewinnen.
Unsere Tagesschriftsteller haben sich, seitdem die Revolution
in Rußland einsetzte, oft bemüht, darin Analogien und Par-
allelen zu der französischen Revolution aufzusuchen. Die weichen
Züge Zar Nikolais erinnern sie an die Unentschlossenheit und
Trägheit Ludwigs XVL; in dem Grafen Witte wollen sie den
russischen Necker sehen, der, wie sein französischer Vorgänger,
durch seine Verbindungen mit der Börse und den hberalen Ideen
die Finanzen und die Krone über Wasser halten möchte; die
Wirtschaft hohen Nöte der Bauern, die zahllosen Emeuten rufen
ihnen analoge Vorgänge in dem alten Frankreich zurück; die
Agitation der Semstwos läßt sie an die französischen Notabein,
die bevorstehende Reichsduma an die Generalstände denken, und
was dergleichen Äußerhchkeiten mehr sind. In Wahrheit ist die
Das russische Problem. 551
jüngste Epoche der russischen Geschichte viel eher das Wider-
spiel als die Wiederholung der französischen Revolution und so
weit von ihr entfernt, wie die Entwicklung Rußlands von der
des romanisch-germanischen Europas überhaupt. Und man braucht
kein Prophet sein, um vorauszusagen, daß die gleiche Differenz
sich in dem ganzen weiteren Verlauf der Bewegung widerspiegeln
wird; den Bedingungen müssen die Folgeerscheinungen ent-
sprechen.
Schon unter dem von uns angedeuteten Gesichtspunkte wird
es völlig deutlich, wie wenig im Grunde beide Ereignisse über-
einstimmen. Freilich war auch in Frankreich der alte Staat schwach
geworden und unfähig, seine Aufgaben zu erfüllen. Das Alte muß
vermorschen, um dem Neuen Platz zu machen; gegen eine feste
Regierung kann das Volk nicht ankommen; nur dem Starken
gehört der Sieg, nur dem Mächtigen die Herrschaft. So war es
in aller Geschichte, und so ging also auch dem Sturze des alten
Frankreichs eine Reihe von Niederlagen gegen seine inneren und
äußeren Feinde voraus. Aber die Nation war in Frankreich wahr-
Hch nicht gleichgültig gegen das Unglück ihrer Regierung oder
sympathisierte gar mit den Feinden des eigenen Staates. Viel-
mehr woirde den Bourbonen von ihren Untertanen nichts mehr
verdacht, als daß sie ihr Land nicht besser schützten, seiner Macht
und seinen Reichtümern die Sicherheit nicht gewährten, die es
verlangen durfte : die Trennung der dynastischen von der natio-
nalen Politik war die Summe aller Vorwürfe, welche die Revolu-
tionäre gegen Ludwig XVL und seine österreichische Gemahlin
erhoben. Diese Anklage war zunächst gewiß ungerecht; auch
die Bourbonen des i8. Jahrhunderts hatten, wie ihre Vorgänger,
den Wunsch und Willen, die Macht Frankreichs zu behaupten.
Der Gegner ihrer Krone, England, war auch der der Nation, und
der Preis, um den sie mit ihm rangen, wertvoll genug, um alle
Kräfte Frankreichs dafür anzuspannen: es handelte sich um den
Besitz der Kolonien in beiden Hemisphären, um die Beherrschung
der Ozeane und der fremden Kontinente. Die Allianzen, die sie zu
diesem Zwecke schlössen, lassen sich nicht tadeln; sie entsprangen
der allgemeinen Konstellation und ließen sich gar nicht vermeiden.
552 Kleine historische Schriften.
Auch führten sie Teilerfolge herbei und waren, als sie geschlossen
wurden, aussichtsreich genug. Gerade das Bündnis mit Öster-
reich von 1756, dem dann auch Rußland beitrat, schien den Sieg,
auf dem Festlande wenigstens, zu verbürgen. Aber Preußen
hielt sich in sieben schweren Kriegsjahren aufrecht, und Eng-
lands Flagge war nach wie vor siegreich auf allen Meeren. Und
dabei blieb es auch nach dem allgemeinen Frieden: das Bündnis
mit Österreich, trotzdem es durch die Heirat Maria Antoinettes
mit dem französischen Thronerben befestigt wurde, unfrucht-
barer als je; nutzlos und nur eine neue Quelle finanzieller Nöte
die Unterstützung der Amerikaner in ihrem Freiheitskampf gegen
England; nicht einmal vor den eigenen Toren, an der Scheide
und im Haag, konnte die Regierung ihre Ansprüche durchsetzen.
Während so die Krone Frankreichs an allen Punkten völlig
versagte, wuchs dennoch die wirtschaftliche Kraft der Nation
gewaltig an; und sie behauptete sich mehr als je in der geistigen
Führung Europas. Die Träger dieser breit andringenden Kraft
aber, die bürgerlichen Klassen, blieben ausgeschlossen von dem
Anteil am Staat. Und dabei war letzterer dennoch von ihnen
abhängig, zugleich ihr Herr und ihr Schuldner; seine Anleihen
waren in ihren Händen. Ein Punkt, an dem abermals die Gegen-
sätzlichkeit beider Revolutionen sichtbar wird. In Rußland geht,
während alles schwankt, die Zinszahlung ununterbrochen fort;
und sicherhch wird die Petersburger Regierung alles daran setzen,
um ihre Gläubiger zu befriedigen. Denn darauf beruht ihre Hoff-
nung, der Revolution Herr zu werden; die Insoivenzerkläning
würde nicht bloß ihr Ansehen im Ausland ganz untergraben,
sondern, wenn nicht alles täuscht, auch die Zerrüttung im Reich
vollenden. Um so weniger würden die Revolutionäre im Siege
geneigt sein, den Verpflichtungen, die die gestürzte Regierung
gegen das Ausland eingegangen, nachzukommen; ja, es möchte
dann vielleicht einer ihrer ersten Schritte werden , die Zins-
zahlungen an die fremden Gläubiger einzustellen: so bliebe das
Geld, das Rußlands Herrscher von der Armut seiner Bauern hatte
nehmen müssen, im Lande; die Revolution könnte sich keine
festeren Grundlagen ilirer ]\Iacht in der Nation wünschen, als
Das russische Problem. 553
wenn sie sich auf diese Weise mit den Interessen der Bauern ver-
bände. Umgekehrt war es in Frankreich. Dort hielt die Bewegung
Schritt mit der wachsenden Finanznot der Regierung. Denn der
französische Geldmarkt hatte die Anleihen hergegeben, für die
schon die Zinsen auszubleiben drohten; die Furcht, sie zu ver-
lieren, fesselte die Besitzer der Schuldscheine an die Revolution,
und die Sanierung der Finanzen, die Befriedigung der Gläubiger
war zunächst der alle Reformen beherrschende Gedanke. Aber
nur eine Umwälzung des Staates von Grund aus, eine Neuorgani-
sierung der politischen und sozialen Verfassung konnte die Hoff-
nung gewähren, das Dilemma zu überwinden, das aus dem Miß-
verhältnis zwischen einer ohnmächtigen Regierung und dem Kraft-
bewußtsein der von ihr ausgeschlossenen und ungeschützten Nation
entsprang. Die alten Formen mußten zerbrochen werden und
die neuen sich mit dem vollströmenden nationalen Leben erfüllen,
wenn Frankreich die Aufgaben durchführen sollte, die ihm von
der Weltlage gestellt wurden und seinen großen Traditionen ent-
sprachen. Hierbei aber versagte die Krone. Ludwig XVL ver-
mochte nicht, sich aus der Umstrickung durch die feudalen Organi-
sationen zu lösen, durch deren Überwindung seine Vorfahren doch
ihre Herrschaft aufgerichtet und deren Zwang er selbst auf das
drückendste empfunden hatte. So trennten sich seine Wege von
denen der Nation, und nun erweiterte jeder Fortschritt der Revolu-
tion den Riß. Um seine Stellung zu behaupten, rief der König
die Fremden in das Land und verriet die Verfassung, die er be-
schworen hatte. Und gleich ihm wurde jeder, der sich der Be-
wegung in den Weg warf, die Freunde des Königs wie seine Ri-
valen, ja die Anhänger der Revolution selbst und schließlich wer
immer der ^Mäßigung das Wort redete, den Feinden des Landes
in die Arme getrieben: die großen Gedanken nationaler Macht
und Einheit verbündeten sich mit dem Schreckensregiment eines
wüsten Radikalismus.
Der zarischen Regierung wird man ein solches Prognostiken
nicht stellen dürfen. Wie sie den Krieg begonnen, so hat sie in
ihm ausgeharrt, solange noch irgendeine Aussicht auf Erfolg be-
stand, und sie hat den Widerstand gegen die Revolution früher
554 Kleine historische Schriften.
aufgegeben als die Hoffnung auf den Sieg über Japan. Immer
war es die Eintracht des Volkes mit seinem Herrscher, die der
Zar als die belebende Grundidee des russischen Staats, als die
geschichtliche, gottgegebene Bestimmung Rußlands anrief; noch
in seinen Manifesten, die dem Volk die Reformen verkünden,
nennt er sie als deren Ziel, wie sie das Ziel seiner Vorfahren ge-
wesen sei: »Das Unterpfand der Einigkeit, der Integrität, des
materiellen Wohlstandes und der geistigen Entwicklung für Gegen-
wart und Zukunft«.
In der Tat lassen die Revolutionäre die Person des Zaren
aus dem Spiel. Während seine Offiziere und Beamten bis zu den
Polizeisergeanten herab unablässig von Attentaten bedroht und
getroffen werden, ist er, soviel wir wissen, davon frei geblieben.
Sie lassen ihn als Vertreter Rußlands gelten und suchen ihn eher
auf ihre Seite zu ziehen ; der Satz von der Souveränität der Nation,
der in der französischen Revolution alles trug, und vor dem die
Gewalt der Krone versch^^inden mußte, fehlt in ihren Programmen.
Nur seine Diener, die Tschinowniks, greifen sie an. Und wer kann
leugnen, daß hier der größte Schade, die wundeste Stelle des
herrschenden Systems Hegt? Es ist eine Verrottung ohne Bei-
spiel in der romanisch-germanischen Staatenwelt; auch in Spanien
finden wir nicht diese Verbindung von Brutalität und Hochmut,
von Willkür und vaterlandsverräterischer Selbstsucht. Jedoch be-
kämpfen die Revolutionäre nicht bloß die Träger des Systems,
sondern dieses selbst. Und damit schneiden sie auch dem Zartum
in die Wurzel. Denn der Absolutismus fordert Diener von abso-
luter Gewalt nach unten; als Delegierte seines Wülens müssen
sie die autokratische Macht, die von ihm ausfheßt, in ihrem Kreis
besitzen. Der Absolutismus aber ist die Urform des Zcirtums,
der Grund, auf dem es emporwuchs, die Bedingung seiner Größe,
das Band, das der Herrscher mit seinem Volk berknüpft, das die
Hingebung, die blinde Unterwerfung unter die von ihm hochge-
haltenen Ziele schafft und fordert, und mit einem Wort bis in die
Gegenwart hin der belebende Odem in Staat und Kirche, Gesell-
schaft und Geschichte Rußlands. Niemals lag, Mie in unserer
Staaten weit, dort eine Schicht feudaler Organisationen zwischen
Das russische Problem. 555
dem Herrscher und seinem Volk. Die Kirche selbst gipfelt mit ihrer
Organisation in der Person des Zaren und dem heiligen Synod,
den sein persönlicher Wille durchdringt. Mochten die Bojaren
und ihre Erben, die Spitzen des Tschins und der Armee, den Thron
nach Willkür und mit blutiger Hand erledigen und besetzen, in
der Idee waren sie dem Zaren gegenüber doch nur Knechte, wie
die Masse des Volks; das Amt bHeb, wie es war, und gerade die
Empörer, ein Boris Godunow und eine Katharina, stellten es
um so stärker auf die alten Grundlagen, faßten es um so kräftiger
zusammen, je mehr ihnen daran liegen mußte, den Ursprung
ihrer Herrschaft vergessen zu machen.
Als Peter der Große Rußland in den Kreis der europäischen
Großmächte einführte, waren deren Monarchen selbst im Begriff,
ihre Gewalt im Krieg und Frieden fester zu begründen, auf einer
nur ihnen verpflichteten Armee und Beamtenschaft neu aufzu-
bauen. So konnte es fast scheinen, als ob ihre Kronen eben jetzt
in ihrer Ent\\dcklung dorthin gelangen sollten, wo Rußland seiner
Natur nach und von Anbeginn seiner Geschichte stand; nichts
konnte die Eingewöhnung Rußlands in Europa, seine Assimilie-
rung an die großen Häuser besser fördern; im Hof- und Staats-
leben bildeten sich analoge Formen aus, und das Rußland Katha-
rinas und Alexanders I. erschien fast als wesensverwandt mit
den Höfen Europas. In Wahrheit war das nichts als eine Umge-
staltung der Oberfläche, und im Innern blieb aUes so gut wie
un verwandelt.
Denn bei den westüchen Nationen bheb zunächst allerorten
das korporative Leben bestehen, das in den alten Jahrhunderten
ausgebildet war; der Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts
erreichte nichts als die Unterordnung der feudalen Gesellschaft
unter seine Kronen, nicht ihre Vernichtung. Indem er aber auf
diesem Wege weiterzugehen suchte, verband er sich mit den mo-
dernen Ideen, die in den mittleren Schichten unserer Nationen
entfaltet waren und auf die Zerbrechung der privilegierten Organi-
sationen hinausgingen. Aus ihnen stammten die geistigen Führer,
deren Ideen die Monarchen benutzten, aus ihnen zum Teil ihre
Räte. So entwickelten sie Tendenzen, die erst in der Revolution
556 Kleine historische Schriften.
zum vollen Siege kamen. Wenn in Frankreich die Krone unter-
ging, so geschah es, weil sie auf dem Wege, den sie bereits be-
schritten hatte, einhielt, weil sie nicht den Mut, vielleicht auch
nicht die Kraft besaß, ihn bis zu Ende zu gehen: die Reformen,
die sie selbst begonnen, schlugen in Revolution um; das Volk,
das von ihr gegen die Privilegierten zu Hilfe gerufen war, wandte
sich gegen beide und schritt über sie hinweg.
Das Zartuni hingegen blieb bis an die Schwelle der Gegen-
wart immer mit den dumpfen und dunklen Instinkten des natio-
nalen Genius verbündet. Wird also Zar Nikolaus jetzt den Forde-
rungen, welche die Revolutionäre an ihn stellen, nachgeben, so wird
er sich von der ganzen Vergangenheit Rußlands losreißen, er wird
das Bekenntnis und die Grundsätze aller seiner Vorfahren ab-
schwören müssen.
Wären es nur die Fremdkörper im Leibe des russischen Staats,
die ihn mit Zersetzung bedrohen, so wäre dies weiter kein Wunder:
es wäre die Rache für die Unterdrückung, die gerade in den letzten
Jahrzehnten, seitdem unter Alexander III. das Zartum sich stärker
als je mit dem moskowitischen Geist verbündet und seine natio-
nale Grundfarbe herausgekehrt hat, zu immer krasseren Formen
entwickelt ward; sie würden sich der Tendenz nach nationaler
Gestaltung des politischen Lebens anschließen, die unsere Epoche
beherrscht. Das Besondere und für den Gesamtstaat Gefahr-
drohende liegt aber darin, daß mit den Polen, Finnen und Ta-
taren gleichzeitig, ja ihnen voraneilend, das Russen volk selbst
den Ruf nach Umgestaltung der Selbstherrschaft erhoben hat.
Gerade die alte Zarenstadt Moskau, das Zentrum des mosko-
witischen Geistes, wo alle Heiligtümer des russischen Genius ihre
Stätten haben, von wo aus seit dem Zarensohn Alexei so oft die
Reaktion des Moskowdtertums eingesetzt hat, die Stadt, deren
Flammenmeer im Jahre 1812 als der gewaltigste Opferbrand
dieser Hingebung an das heilige Rußland himmelan schlug, ist
der Mittelpunkt der Bewegung geworden. Und nicht eine Klasse,
wie das Bürgertum in den Revolutionen des westlichen Europas,
ist der Träger der Bewegung, sondern die ganze russische Gesell-
schaft von oben her bis imten hin. Gerade die Tiefen sind in die
Das russische Problem. 557
Erschütterung hineingerissen: die gleichen Menschen, die noch
heute vor den Heihgtümern ihrer Altäre inbrünstig auf die Knie
sinken, die bei der Krönungsfeier Alexanders III. im blinden
Taumel der Devotion sich zu Tausenden erdrücken ließen, die
Bauern und die Arbeiter, Soldaten und Matrosen. Die Schürer
und Treiber sind allemal die paar Prozent akademisch Gebildeter,
die Schicht, aus der sich einst die Nihilisten rekrutierten, vor
allen die Studenten. Aber mit ihnen vereinigt sehen wir die Pro-
fessoren, die Magistrate und die Semstwos; an der Spitze der
langen Namensreihen unter den Eingaben und Manifesten für die
neuen Freiheiten stehen Namen aus den ersten Familien des
Landes: die Trubetzkoi, Tolstoi, Dolgoruckow, Korff, Heyden,
Familien, welche zum Teil seit Jahrhunderten in Rußlands Ge-
schichte genannt werden. Soziale und politische Gegensätze tiefster
Art durchspalten sie : aber gegen den Tschin, gegen das alte Zar-
tum und seine Traditionen sind sie alle vereinigt.
Selbstverwaltung war der Schlachtruf, mit dem auch Frank-
reichs Revolutionäre ihren Sturmlauf gegen die alte Monarchie
begannen; und ebenso rüttelte unsere Revolution an der Armee
und der Bureaukratie unserer Monarchie, als an den stärksten
Säulen ihrer Macht. Aber mehr als alle die Schlagworte von Volks-
freiheit und Bürgerwehr galt in allen Revolutionen außerhalb
Rußlands der Gedanke an die Einheit der Nation und die Zu-
sammenfassung ihrer Macht. Darum eben knüpften sie an Ten-
denzen an, denen die alten ]\Ionarchien von jeher mehr oder
weniger gefolgt waren, und bewahrten die Tradition.
So kam es, daß in der großen Revolution Frankreichs die
nationale Einheit und die Zentralisation der Macht als das End-
ziel der Revolution gewonnen und ausgestaltet wurde ; daß Preußen
in Deutschland, Savoyen in Italien die nationale Krone erwarben;
daß Bismarck die friderizianischen Überlieferungen zum Siege
führen konnte. Die Bewegung war hier allerorten zentripetal;
auch die Fremdkörper wurden, in Frankreich wenigstens, durch
die revolutionäre Glut an den nationalen Körper angeschmiedet.
In Rußland aber droht der revolutionäre Wirbel die Teile, die
das Zartum zusammengebracht und unter seiner Gewalt bei-
558 Kleine historische Schriften.
einander gehalten hat, wieder auseinanderzureißen. Nichts kann
den Gegensatz gegen die Revolutionen des romanisch-germani-
schen Europas stärker zum Ausdruck bringen: was deren größte
Kraft gewesen ist und wohl als Rechtfertigung aller ihrer Gewalt-
taten gilt, die Durchsetzung der nationalen Idee als des Lebens-
nervs im modernen Staat — in Moskau wird sie verleugnet.
Wird also, das ist die Frage, von der alles Weitere, Rußlands
ganze Zukunft abhängt, diese auflösende Tendenz sich fortsetzen,
oder werden die Kräfte des Beharrens im Reich des Zaren stark
genug sein, um die Bewegung einzudämmen und die allgemeine
Zersetzung zu hemmen ?
Die Ereignisse des verflossenen Winters haben hierauf bereits
eine Antwort gegeben, welche die im Herbst so hochflutenden
Hoffnungen der Reformer und Revolutionäre arg enttäuschen
mußte. Als der Zar am 30. Oktober unter dem Druck des alles
lähmenden Generalausstandes das Manifest erließ, das seinem
Volk die bürgerlichen Freiheiten verkündigte und es in die Reihe
der parlamentarischen Nationen einzuführen verhieß, schien es
wirklich einen Moment, als ob dies Blatt ein Damm werden könnte
gegen die alle Deiche zerreißende Flut und eine Brücke aus dem
Reich der Knechtschaft in das gelobte Land der Freiheit. Wie
mit einem Schlage legten sich die Wogen. Jubel und Dank er-
schollen von allen Seiten, und Dithyramben wurden angestimmt
auf den Mann, der, wie er soeben dem Krieg, der nichts als Nieder-
lagen gebracht, zu einem \nder Verhoffen günstigen Abschluß
verhelfen, so jetzt den Frieden des Herrschers mit seinem Volk
hergestellt hatte. So die öffentliche Meinung, nicht bloß in St. Pe-
tersburg und Moskau, sondern, man kann sagen, überall, wohin
der Telegraph die frohe Mär trug; man \vird die Stimmen zählen
können, die gleich damals sie mit Mißtrauen und Zweifelsucht
aufnahmen. Jedoch keine acht Tage gingen ins Land, als alle
Welt erkennen mußte, daß man sich von einem gaukelnden Traum-
bild hatte narren lassen. Es war nur eine Pause, ein Atemholen
Das russische Problem. 559
der Revolution gewesen, und mit verdoppelter Kraft fuhr alsbald
die Windsbraut durch alle Gouvernements des Riesenreichs, von
Kronstadt bis Sewastopol, von Lodz bis Kasan und an der
sibirischen Bahn entlang bis Charbin und Wladiwostok. Als die
Mannschaften in den Kasernen und auf den Kriegsschiffen meu-
terten und der Regierung förmliche Schlachten heferten, die Garde
und selbst die Kosaken schwierig zu werden drohten, als die Bauern
im Süden die Edelhöfe ausplünderten und niederbrannten und
in den baltischen Provinzen Letten und Esthen ihrem Haß gegen
die deutschen Herren alle Zügel schießen Keßen , als der Aus-
stand von neuem mit aller Wucht einsetzte und das soziale Leben
zum Stillstand zu bringen drohte, da schien es wieder aller Welt,
als ob die Auflösung des Reiches nur noch eine Frage von Wochen
sein könnte.
Nun aber ermannte sich endlich die Regierung. Sie setzte
nicht mehr die Idee der Idee entgegen, sondern die Gewalt der
Gewalt. Und siehe da, was alle liberalen Verheißungen nicht ver-
mocht hatten, gelang der Ultima ratio regum. Vor ihren Argu-
menten verstummten die Empörten. Es bedurfte nur der Willens-
kraft und des Befehls von ein paar entschlossenen Männern, um
die schon wankenden Regimenter wieder in die Hand ihrer Führer
und gegen die Rebellen vorwärtszubringen. Der Kampf selbst
tat das übrige; sobald er einmal begonnen, hatten die Truppen
nur noch den einen Gedanken, die Gegner gut zu treffen und
niederzuschlagen .
Mit der Rückgewinnung der Macht aber ging — wie hätte
es anders sein können — Hand in Hand die wachsende Neigung
der Regierung, die Konzessionen vom 30. Oktober rückwärts zu
revidieren. Wie weit Graf Witte sich von der reaktionären Strö-
mung, die er niemals völlig überwunden, hat treiben lassen, und
wie weit er ihr überhaupt hat widerstreben wollen, ist ganz dunkel,
und es wird noch lange währen, bis wir über die innere Geschichte
der Petersburger Regierung in dieser großen Krisis Aufschluß er-
halten werden. So viel steht fest, daß die Einheithchkeit der ober-
sten Aktion, die das Manifest des Zaren als erste PfHcht und Er-
fordernis bezeichnet hatte, kaum in dem Moment bestand, in
r^f;f) Kleine historische Schriften.
dem sie verkündet wurde, daß alle miteinander, Zar und Minister-
präsident, Regierung und Parteien, von den vulkanischen Stößen
hin und her geworfen worden sind und die Anarchie im Ministerium
zuzeiten so groß gewesen ist, wie in den Massen. Ein erster größerer
Erfolg der Reaktion war bereits Mitte November die Ernennung
Durnowos zum \''erweser des Ministeriums des Innern, das ihm
dann im Januar unter ausdrücklicher Hervorhebung seiner aus-
gezeichneten Verdienste um die Beruhigung der Gemüter direkt
übertragen wurde. Auf ihn dürften daher die Beschlüsse über
die Ausführung des Manifestes zurückzuführen sein, welche die Re-
gierung faßte, als in den Weihnachtstagen der Aufstand in Moskau
niedergeschlagen, in Petersburg durch die Verhaftung der Führer
im Keim erstickt war und die Ausstandsbewegung in sich zu-
sammensank.
Vor allem die eigentümliche Art der Einfügung des Reichsrats
in die neue Verfassung. In dem ^Manifest vom 30. Oktober hatte
davon nichts gestanden; aber in dem vom 19. August, das zuerst
die Duma verhieß, und zu dem das Oktoberedikt die Ergänzung
bildete , war allerdings des Reichsrats als einer kontrolierenden
Instanz für die Volksvertretung gedacht worden; und daß man
den Gedanken daran nicht aufgegeben hatte, verriet eine Stelle
in dem Bericht, mit dem Graf Witte dem Zaren das zweite Mani-
fest einreichte, und der gleichzeitig damit veröffentlicht wurde:
»Vor allem sei es wichtig, eine Reform des Reichsrats auf dem
Wahlprinzip durchzuführen«. Dieser Satz erhielt nun aber durch
die »besondere Kommission«, die, aus Mitgliedern des Reichsrats
selbst gebildet und unter dem Vorsitz seines Präsidenten, des
Grafen Solskij, den Plan auszuarbeiten hatte, eine Interpretation,
wie sie nach dem Manifest vom 30. Oktober nicht erwartet werden
konnte. Nach Analogie und vielleicht im Hinblick auf unser
Herrenhaus wird danach das russische Oberhaus zu zwei gleichen
Hälften aus ernannten und präsentierten Mitghedem bestehen.
Im ganzen nahezu zweihundert. Also im Verhältnis zu anderen
Parlamenten eine sehr kleine , leicht zu beherrschende Ver-
sammlung. Der Zar wird die Pairs, die er kreiert, aus dem
alten Reichsrat herübemehmen, d. h. aus den abgedankten, aus-
Das russische Problem. 561
gedienten Würdenträgern des Reichs, den alten Spitzen des
Tschin, die im Besitz ihrer gut bezahlten Sinekuren immer nur
wie die Pagoden ihr Ja zu den Vorlagen der Regierung genickt
haben.
Da der Reichsrat zurzeit nicht viel über loo Mitglieder zählt,
so werden also die meisten dieser alten Perücken in der neuen
Kammer Aufnahme finden. Man kann nicht anders annehmen,
als daß sie, wie bisher, zumal da ihnen ihre Gehälter bleiben,
in der Hand der Regierung stehen und jedes Oppositionsgelüst
in der anderen Hälfte, die schwerlich ganz geschlossen sein wird,
überstimmen werden. Doch sind auch die präsentierten Mit-
glieder so zusammengesetzt, daß die konservativen Elemente in
ihnen überwiegen müssen. Es sind die Vertreter des Kapitals
und der Bildung, nach Handel und Industrie, Wissenschaft und
Kirche, Grundbesitz und Adel in kleine Gruppen geteilt, deren
jede von ihren Interessenkreisen und Korporationen zu küren ist.
Auf neun Jahre gewählt, muß ein Drittel von ihnen von drei zu
drei Jahren ausscheiden und neuen Mitgliedern Platz machen,
während die Ernannten ihre Sitze dauernd behalten. Da auch
das Präsidium vom Zaren ernannt wird und die Majorität das
Recht hat, die Wahlen zu revidieren, so ist es ihr leicht genug
gemacht, die ungewünschten Mitglieder fernzuhalten. Das Ganze
wird den ausgesprochenen Zweck, als Regulator für einen über-
stürzten Gang der Reichsduma zu dienen, vortrefflich erfüllen.
Mögen auch die gesetzgeberischen Rechte, der Initiative bei der
Einbringung von Gesetzen und der Prüfung und Sanktion der
Regierungsvorlagen, für beide Häuser gleichmäßig geordnet sein,
so wird doch der Reichsrat, dessen Präsident die Beschlüsse beider
Körperschaften dem Zaren vorzulegen hat, immer den Vorrang
behaupten.
Zugleich aber hat die Regierung dafür Sorge getragen, auch
die Zusammensetzung der Duma in einer Weise vorzubereiten,
die jede Besorgnis vor einem Konflikt *mit den Volksrepräsen-
tanten auszuschließen geeignet erscheint. Nach dem Manifest
vom 30. Oktober mußte man, so elastisch die Ausdrücke gewählt
waren, dennoch nicht nur annehmen, daß schon die Wahlen zur
Lenz, Kleine historische Schriften. 3"
562 Kleine historische Schriften.
Duma unter umfassender Beteiligung aller Klassen der Bevölke-
rung angeordnet, sondern daß unter Mitwirkung der Duma die
Durchführung des allgemeinen Wahlrechts angestrebt werden
würde; optimistische Gemüter mochten schon so etwas wie die
Einsetzung eines konstituierenden Reichstags herauslesen. Die
Wahlreglements, die seither publiziert, und die Ausführung, die
ihnen gegeben wurde, widersprechen jedoch jedem Interpretations-
versuch des freiheitlichen Manifestes; sie kommen seiner Ver-
leugnung gleich. Die Arbeiter und die Bauern, die kleinen Be-
sitzer und Steuerzahler werden durch dreifache Abstufung ihres
Wahlrechts in Urwähler, Vertrauensleute und Wahlmänner völlig
eingeengt und von ihren Brotherren und Vorgesetzten abhängig,
die Liberalen aber, und wer irgend den Machthabern verdächtig
und gefährlich erscheint, werden chikaniert, verhaftet, verfolgt
und auf jede Weise mundtot gemacht. Schon hat, wie die Zeitungen
melden, der Ministerrat die Herstellung der reaktionären Institution
des alten Ministerkomitees beschlossen und Verfügungen gegen
die Presse erlassen, die sie der Zensur und administrativen Willkür
aufs neue unterwerfen. AUes unter dem Vorwand, die Feinde
jeder Ordnung und der Grundgesetze des Reichs niederzuhalten
und die Ausführung der im Manifest vom 30. Oktober gewährten
Freiheiten zu sichern.
So die Lage von heute. Berechtigt sie uns bereits, die Ant-
wort auf die Frage zu geben, die wir an die Spitze stellten ? Ich
dächte, die Schwankungen, die wir in diesem Jahr erlebt haben,
dies Auf und Ab von Flut und Ebbe der Rev^olution, von Starrsinn
und Nachgiebigkeit der Regierung und dementsprechend das Hin-
und Herwogen der öffentlichen Meinung sollten uns zur Vorsicht
mahnen, auf daß wir nicht unter die falschen Propheten geraten,
deren Zahl Legion ist. So gewiß es in dem Leben eines Volkes
und der Völkerfamilien durchgehende Strömungen gibt, leitende
Gedanken, Notwendigkeiten, unter denen, wie unter beherrschenden
Gestirnen, ihre Geschichte steht, und die in neuen Gestaltungen
doch immer wieder verwandte Formen hervorbringen, so spielen
doch zu jeder Zeit und an jedem Ort Faktoren, persönHche und
allgemeine, mit, die sich nicht in festen Ansatz bringen lassen;
Das russische Problem. 563
das Unberechenbare, der Zufall selbst ^vird — wie oft! — zur
Ursache, der eine lange und abermals viel verschlungene Kette
weitreichender Wirkungen entspricht.
So sei es denn nur noch gestattet, an ein paar Beispielen
auf die Schwierigkeiten hinzuweisen, die sich den Parteien der
Linken entgegenstellen werden, auf die Konsequenzen, die ihre
Programme haben müssen, die Möglichkeiten, die im Schoß der
Zukunft ruhen.
Von den Sozialisten und den Fanatikern der Anarchie, die
sich selbst von dem Frieden ausschließen und den Krieg mit Bom-
ben, Dolch und Revolver und mit den neuerdings zur Spezialität
ausgebildeten Einbrüchen in die öffentlichen Kassen fortführen,
wollen wir absehen; ihre Utopien haben in dem agrarischen Ruß-
land noch weniger Aussicht auf Verwirklichung als in den Indu-
striestaaten des Westens. Gefährlich werden sie in den Momenten
allgemeiner Erregung; dann füllen sie mit ihrem Anhang die sonst
leer gelassenen Cadres der Revolutionsheere und sind die Vor-
dersten im Ausstand und auf den Barrikaden; aber ihre Waffen
nützen am Ende mehr ihren Gegnern als ihnen selbst: den Libe-
ralen, wenn es den Ansturm gegen die verfallenen Wälle des Ab-
solutismus gilt, den Reaktionären, wenn das Entsetzen über den
Schrecken und die Verwüstung, die sie um sich verbreiten, alle,
die für Besitz und Leben zittern, den Gesellschaftsrettern, den
Verteidigern der Ordnung zujagt. Nur mit jenen Richtungen
wollen wir uns auseinandersetzen, welche den Kampf auf dem
Feld, das die Regierung selbst abgesteckt hat, innerhalb der
Duma, ausfechten wollen.
Prüfen wir zunächst das Programm, mit dem die konsti-
tutionellen Demokraten, die »Partei der Volksfreiheit«, wie sie
sich nennen, auftraten. Es enthält Forderungen, die in West-
europa gutenteils verwirklicht oder von den bürgerlichen Klassen
selbst angestrebt werden, wie die Einschränkung der Arbeits-
zeit, Altersversicherung, progressive Einkommensteuer u. a. ; die
Partei lehnt, wie demokratisch ihre »konstitutionelle Monarchie«
gedacht sein mag, ebensowohl die Republik ab wie den Acht-
stundentag und andere Sätze des sozialistischen Programms.
36*
K^ßf^ Kleine historische Schriften.
Nun aber stelle man sich auf dem Grund eines extremen WahK
rechtes eine Volksvertretung vor, in der Küssen und Polen, Fin-
länder, Deutschbalten und die lettischen Mordbrenner, Armenier,
Grusiner und Tataren, Orthodoxe und Katholiken, Protestanten
und Mohammedaner und die Häupter der Sekten, die das Toleranz-
edikt vom vorigen Jahr befreit hat, vereinigt sind: die Feind-
seligkeiten, die das Reich seit einem Jahr durchwühlen und mit
Mord und Schrecken erfüllen, würden in den Sitzungssaal ver-
pflanzt werden, die Parteien sich danach bilden; wie Brandfackeln
würden die Reden wirken, tausend neue Keime der Zerstörung
in das Land hinausgetragen werden. Wir haben es an unserm
eigenen Leib erfahren, was das allgemeine, direkte und geheime
Wahlrecht ohne Unterschied der Religion und der Nationalität
vermag. Niemand ahnte, als wir es einführten, seine Wirkung.
Bismarck griff zu ihm als dem, wie er wähnte, besten Mittel, um
die Kleinstaaten an die neue Ordnung zu schmieden; denn er
glaubte, der Wille der Nation zur Einheit käme dadurch am
stärksten zum Ausdruck. Aber die Ironie der Geschichte, die »List
des Weltgeistes«, wollte es, daß ein Stimmrecht, welches weder
Nationalität noch Konfession berücksichtigte und nicht einmal
die Todfeinde des neuen Reiches ausschloß, die Kraft werden
sollte, um alle Elemente der Zersetzung und alle Residuen der
nationalen ZerspHtterung an das Licht zu bringen und Parteien zu
formen, welche selbst Bismarcks Macht und Staatskunst nicht
zerbrechen konnte. Nur die größte Homogenität und der stärkste
Trieb zu nationaler Zusammenschließung können so demokra-
tische Institutionen, wie jene Partei sie für Rußland anstrebt,
ertragen und sie dem nationalen Genius assimilieren; seit vierzig
Jahren arbeiten wir daran, unsere Parteien trotz des allgemeinen
Stimmrechts der nationalen Idee zu unterwerfen. Nur wenn die
Revolution, wie ihre Anhänger ja in der Tat wollen, dahin ge-
langt, den Teilen des Reiches, welche die Moskowiter unter Führung
ihrer Zaren in Kämpfen von Jahrhunderten unterworfen haben,
die Autonomie zu lassen, die sie tatsächlich bereits geschaffen
hat und die Unterworfenen zu behaupten entschlossen sind,
nur dann läßt sich die Möglichkeit einer nationalen russischen
Das russische Problem. 565
Demokratie wenigstens denken. Also müßte die Duma, welche
zur Reorganisation des Reiches berufen ist, zuallererst seine
Zerspaltung dekretieren und den Staat der absolutistischen Einheit
in eine Föderation von Demokratien verwandeln.
Eine Frage vor allem wird sie beschäftigen: Wie wird das
Verhältnis zwischen Russen und Polen sich gestalten ? Und dies
könnte vielleicht der Brennpunkt werden in der Entwicklung der
Revolution überhaupt. Seit iio Jahren gehört Polen mit seinen
Haupt Provinzen zu Rußland. Jahrhundertelang war es vordem
sein Feind gewesen und Generationen hindurch sein Herr und
Besieger; selbst Moskaus Heihgtümer waren eine Zeitlang in seine
Gewalt geraten. Im Kampf gegen Polen, mehr noch als gegen
die Heiden und die Söhne Allahs, hatte die russische Nation Kraft
und Selbstbewußtsein gewonnen, im vollen Gegensatz dazu Staat
und Kirche entwickelt; gerade die Stärke und Einigkeit beider
Institutionen hatten den Sieg Rußlands über das zerfallende
Nachbarreich herbeigeführt.
Und jetzt soll das alles wieder zertrennt und aufgelöst
werden.
Man sagt wohl, daß die wirtschaftliche Entwicklung Polens
ein neues, festes Band zwischen ihm und Rußland bilden werde;
die polnische Industrie bedürfe des russischen Agrarstaats, der
seinerseits von ihr abhängig sei. Und ein gewisses Moment der
Festigung mag darin gefunden werden. Aber stärker als alle
wirtschaftlichen Faktoren waren jederzeit die politischen Grund-
fragen: der Aufbau der Nationen, ihrer Staaten, ihrer Kirche,
ihrer Gesellschaft — ihre Traditionen und ihre Ideale. Und wenn
die Polen heute so geduldig und einträchtig auf die Losung harren,
die bald in Moskau gegeben werden wird, und die russischen Libe-
ralen ihrerseits so konnivent gegen die polnischen Wünsche sind,
so sind es die politischen Interessen, die beide bestimmen: gegen
den Zarismus sind sie Verbündete.
In Petersburg aber werden sie keine Unterstützung finden.
Die Einheit, so sahen wir, die Aufrechterhaltung der Grund-
gesetze des Reiches hatte die Regierung auch in ihren freiheit-
lichen Manifesten stets als das Ziel ihrer Poütik bezeichnet. Keinen
5(5G Kleine historische Schriften.
Moment ist sie darin anderen Sinnes geworden. Auch Witte hat
darin, soweit wir sehen, niemals geschwankt. Zum erstenmal
trat er der Bewegung offen entgegen, als im November der Semstwo-
kongreß in Moskau ein autonomes Polen gefordert hatte. In
schroffster Form beantwortete der Ministerpräsident die Er-
klärung dahin, daß der Zar niemals in die Absonderung der
»W^eichselgouvernements« einwilligen werde.
Nicht immer ist die zarische Regierung so unfreundlich gegen
die Herren in Warschau gewesen. Unter dem ersten wie unter
dem zweiten Alexander gab es Zeiten und Strömungen in der
russischen Politik, die alle Hoffnungen in den polnischen Herzen
entzündeten; und noch heute leben in der Umgebung des Zaren
Personen, welche einst in der Versöhnung der beiden Nationen,
in der Pflege der panslawistischen Idee ihre Aufgabe erblickten.
Heute sind die russischen Liberalen ihre Erben und Moskau der
Mittelpunkt ihres Kultus geworden.
Es liegt in dieser Politik ein Moment der Gefahr für den
Frieden Europas: die auflösende Tendenz, die im Innern wühlt,
sucht über die Grenzen hinwegzudringen, um dort Bundesgenossen
zu werben. Aber Aussicht haben diese Bestrebungen nicht. Zu
stark sind die Mächte, auf die sie hier stoßen; und vor allem die
Regierung in St. Petersburg wird alle Kraft dransetzen, sie nieder-
zuhalten. Denn sie würde sonst bei den Nachbarmächten allen
Kredit verheren; und den Kredit im Ausland aufrechtzuerhalten,
muß ihr erstes Anliegen bleiben. Darin läge also bereits eine Rück-
wendung zu dem alten Verhältnis der drei Kaisermächte gegenüber
der Revolution: ihre Interessen werden sie wieder zueinander
führen. Sie sind heute vielleicht bereits der stärkste der Reifen, die
noch das mit Zerfall bedrohte Reich des Zaren zusammenhalten;
und gelegentliche Schwankungen und Demonstrationen der Peters-
burger Regierung für ihre französischen Freunde, wie taktlos sie
gegen uns sein mögen, werden daran zunächst wenig ändern.
Sollen wir aber annehmen, daß in dem Russentum die heißen
Instinkte ganz ausgetilgt sind, die es einst zur Abstoßung des
fremden Joches und danach zur Unterjochung der Fremdvölker
führten, die es um den Zaren scharten und einem bis zum Krieg
Das russische Problem. 567
mit Japan nie gezügelten Drang nach Ausbreitung der russischen
Macht unterwarfen ? Wenn die Bauernschaft ganzer Gouverne-
ments sich in walder Jacquerie erhoben hat, so erinnern wir uns
daran, daß auch in Frankreich im Juh 1789 viele Schlösser des
Adels in Flammen aufgingen und ihre Archive von den wütenden
Untertanen zerrissen wurden — was aber nicht verhinderte, daß
vier Jahre später Bauern und Edelleute für die alten Altäre und
den alten Staat gegen die Revolution auf Tod und Leben kämpften.
Sollte wirklich die Kirche Rußlands so bar alles eigenen Lebens
geworden sein, daß sie das Schicksal, das ihrer von selten der
Liberalen harrt, aus allem Einfluß auf das Leben der Nation ver-
drängt zu werden, willen- und widerstandslos über sich ergehen
lassen wird? Hat sie die Herrschaft über die Massen so völlig
verloren, daß diese keinen Finger rühren werden, um ihrem
»Mütterchen« beizustehen ? Man spricht so oft von der Erstarrung,
dem geistigen Tode, dem die orthodoxe Kirche seit Jahrhunderten
verfallen sei. Und freilich kann sie sich an Kraft der Propaganda
mit ihrer katholischen Schwester nicht messen. Aber ihre De-
fensivkraft ist wahrlich nicht gering gewesen; sie war die unzer-
brechliche Schale, in der sich die christlichen Nationalitäten des
Ostens unter dem vernichtenden Ansturm und der Herrschaft
der Asiaten durch mehr als ein Jahrtausend erhalten haben. Und
diese Kirche, zu der die Millionen schwören, die einzige Form
für ihre Ideale, mit den Hunderttausenden ihrer Geweihten, sollte
am Ende ihrer Geschichte angelangt sein ? Daß die altmosko-
witischen Triebe in der Masse noch nicht erstorben sind, zeigen die
Judenmassakres, die sich gerade jetzt zu erneuern drohen, und
die Proklamationen, die, hier und da ins Volk geworfen, zur Aus-
tilgung der Juden, der Polen, der Armenier und des »andern Unrats«
aufrufen, im Namen aller Heihgen Rußlands und seiner Kirche.
Auch melden alle Berichte von den Wahlen einstimmig eine allge-
meine Apathie gegen die Fragen, die über das Schicksal des Reiches
entscheiden sollen; die Furcht vor der Reaktion wird dabei gewiß
nur von geringem Einfluß sein. f^
Man könnte sich sehr wohl eine reaktionäre Bewegung selbst
in dem Falle denken, daß zunächst alle Wünsche der Liberalen
563 Kleine historische Schriften.
erfüllt und die konstitutionellen Demokraten selbst die Leitung
des Staates in die Hand bekämen: wenn nämlich die Geister,
die sie riefen, ihrer selbst mächtig würden und die entfesselten
Kräfte Wege einschlügen, die fernab von ihren unrussischen Idealen
verliefen. Zunächst aber scheint es noch gar nicht so, als ob die
Stunde der Liberalen gekommen sei. Die Wahlen zur Duam
könnten, soweit man sie übersieht, schon jetzt zu einer reaktionären
oder doch der Regierung folgsamen, ihren »Reformen« geneigten
Majorität führen. Das Liebäugeln der Fortschrittler mit den
Arbeitern wird ihnen nicht viel helfen; den Bauern gegenüber
wird ihnen aber vielleicht die Regierung selbst die besten Trümpfe
wegzunehmen versuchen; und noch ist die für diesen Frühling
allseitig prophezeite Bauernrevolution nicht zum Ausbruch ge-
kommen.
Jedoch ich halte inne. Denn wir würden bei weiterer Er-
örterung aller Probleme, die sich dem Beschauer aufdrängen,
Gefahr laufen, uns doch wieder in Vermutungen und Prophe-
zeiungen zu verlieren. Und nur unter ein paar Gesichtspunkten
wollten wir die große Bewegung betrachten, welche die Welt in
Spannung hält. Bald genug wird die Bühne frei sein, auf der sich
die Parteien gruppieren und das Spiel beginnen werden ; schon will
sich der Vorhang heben. Dann wird es vielleicht Zeit sein zu
fragen, ob ihre Debatten nur ein Epilog, der Abgesang der wilden
Töne sind, die in diesem Jahr aus Rußland herüberschollen, oder
ob das alles nur ein Vorspiel war zu dem eigentlichen Schauspiel,
ja vielleicht zu einem ganzen Zyklus von Tragödien.
m^=^^^
Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren
und jetzt.
(1896.)
Wir leben in einem Zeitalter, das man nicht eben als ein behag-
liches zu betrachten pflegt, noch auch so betrachten kann. Un-
zufriedenheit mit der Gegenwart, Mißtrauen in die Zukunft ist
die Losung : die Orthodoxen so gut wie die Liberalen und die Gleich-
gültigen, die Verteidiger der Monarchie und der kapitahstischen
Ordnung, ebenso wie die Sozialdemokraten und die Anarchisten,
wie wirr auch immer ihre Klagen und Anklagen durcheinander
tönen mögen, darin stimmen sie doch überein, daß es keine Zeit
gab so voll von Verwirrung und Zersetzung wie die von heute.
Alltäglich liest und hört man es, daß eine Revolution vor der
Tür stehe, eine Umwälzung nicht bloß des Staates, sondern der
Gesellschaft und der Nationen, aller Lebensgewohnheiten, eine
Umschmelzung aller überlieferten Vorstellungen von Recht und
Sitte, der moralischen und der religiösen Begriffe; eine neue Re-
ligion prophezeien die einen, den baldigen Sieg der atheistischen
und materialistischen Weltanschauung die andern, während
die Anhänger des alten Glaubens nur um so starrer auf allen Sätzen
und Ansprüchen ihrer Kirche stehen bleiben, je höllengleicher
auch sie die Zukunft, Feind und Freund gegenüber, auszumalen
lieben.
Um so seltsamer berührt diese Fin-de-siecle- Stimmung,
je mehr wir uns kultureller Errungenschaften rühmen können,
je größer die Güter, je stärker der Staat, je reger der Anteil der
Massen am poHtischen Leben und je besser ihie soziale Lage ge-
570 Kleine historische Schriften.
worden ist — und welches Jahrhundert könnte sich in alledem
mit dem der Naturwissenschaften und des allgemeinen Stimm-
rechtes messen! Aber wenn zum Glück vor allem Zufriedenheit
und Behagen gehören, so haben alle Reichtümer und Rechte
es nicht herbeibringen können ; sie haben uns nur den alten Frieden
genommen und machen uns täglich nervöser.
Wohl ist oft genug gesagt worden, und nicht mit Unrecht,
daß solche Klagen uralt seien ; und noch vor kurzem hat ein geist-
reicher Opponent gegen den landläufigen Pessimismus Zeug-
nisse aus allen Generationen vereinigt, von den jammernden
Leitartikeln der Kreuz-Zeitung bis zurück zu dem seligen Nestor,
der mit seinen und seiner Jugendfreunde Heldentaten vor Ajax
und Achilles zu renommieren pflegte, zum Beweise, daß die »gute
alte Zeit« jeder Gegenwart als das entsch^^alndene Ideal vor-
geschwebt habe. Immerhin aber läßt sich doch kaum leugnen,
daß es Generationen gab, welche vergnüglicher über sich und
ihre Zukunft dachten als wir, und die in dem behaglichen Be-
wußtsein lebten, daß die Vergangenheit überwunden und das Leben
lebens- und liebenswert sei, daß die Gesellschaft wohl geordnet
oder doch leicht zu wandeln sei, daß also Gegenwart und Zu-
kunft in ihrer Hand ruhten. Und wir brauchen nicht weit in die
Vergangenheit zurückzugehen, um eine solche Zeit zu finden;
sie liegt nicht viel über hundert Jahre hinter uns. Wohl gab es
auch damals Unzufriedene genug, Stürmer und Dränger, ge-
scheiterte Existenzen und revolutionäre Geister, ein Gären und
Brausen in den Gemütern, wie immer in hoch bewegten Zeiten:
aber im ganzen und vor allem gegen den heutigen Tag gehalten,
ging es doch wie Frühlingsahnen durch die Welt. Ein Geschlecht
war es, voll von Selbstgefallen und Optimismus, eine Epoche idea-
Hstischen Aufwärtsstrebens, einer Annäherung zwischen den
Gebildeten aller Nationen und Bekenntnisse, also daß die allen
Religionen gemeinsamen Beziehungen aufgesucht, die Differenzen
verwischt, die Eigentümlichkeiten einer jeden verachtet und
Ideale gefunden wurden, welche über Zeiten und Nationen hinaus-
reichten. Das Zeitalter war es der »goldenen Humanität«, des
Weltbürgertums, einer Philosophie, welche kühnen Mutes die
Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. 571
Tiefen der Erkenntnis für die menschliche Vernunft erreichbar
glaubte, und einer Theologie, welche im brüderlichen Vertrauen
zu den Philosophen die Geheimnisse Gottes, unbeengt durch die
Mysterien des Bekenntnisses, mit der Kraft ihrer Spekulation
entschleiern zu können wähnte. Mit einem Gemisch von Wohl-
wollen und Verachtung sahen die Gebildeten jener Tage, die ihren
Gottesbegriff aller dogmatischen Färbung und Bestimmtheit
entkleidet und ihn mit ihren Idealen der Milde und Weisheit,
Gesetzlichkeit und Vernunft ausgestattet hatten, auf die Refor-
matoren des i6. Jahrhunderts herab. Daß Luther und Calvin
eine »Glaubensverbesserung« bewirkt und der vernünftigen Gottes-
verehrung den Weg gebahnt hätten, räumten auch wohl Katho-
liken, Geistliche wie Laien, gern ein; aber ebenso sehr betonten
die Protestanten, daß man jetzt über die alten Differenzen, über
den Zank der Konfessionen und Sekten hinaus sei, daß nur Priester-
trug, Aberglaube und Fanatismus sinnlose und grausame Kriege
erweckt und mit dem Glücke der Völker gespielt hätten: und von
beiden Seiten gab man sich das Wort, daß die Welt von nun ab
davon verschont bleiben, das Zeitalter der Vernunft, des all-
gemeinen Friedens und der Duldung heraufgeführt werden solle.
Alle unsere Klassiker sind die Propheten und Prediger dieser
Weltanschauung gewesen, und niemand hat das Lob seiner Zeit
begeisterter verkündet als der edelste ihrer Söhne, er, dem Urania
die höchste Muse war, Schiller, in der unsterblichen Strophe seines
Liedes an die Künstler, da er den Menschen preist, der mit dem
Palmenzweige in edler, stolzer Männlichkeit an des Jahrhunderts
Neige stehe:
Mit aufgeschloss'nem Sinn, mit Geistesfülle,
Voll milden Ernsts, in tatenreicher Stille,
Der reifste Sohn der Zeit,
Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze,
Durch Sanftmut groß und reich durch Schätze,
Die lange Zeit dein Busen dir verschwieg;
Herr der Natur, die deine Fesseln liebet,
Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet
Und prangend unter dir aus der Verwild'rung stieg.
572 Kleine historische Schriften.
Schiller schrieb diese Verse 1788; sie erschienen im »Deutschen
Merkur« von 1789, dem Jahre der französischen Revolution.
Dies Ereignis bedeutete aber der Zeit nicht den Bruch mit ihren
Idealen, sondern vielmehr deren Vollendung. Heute hält es schwer,
sich die Stimmung des Entzückens und des Jubels zurückzurufen,
mit der das gebildete Europa die Reden und Gesetze begrüßt
hat, die, in den Boden des alten Frankreichs gesenkt, Saaten
des Blutes und Entsetzens werden sollten. Wer konnte fried-
fertiger und humaner gesinnt sein als Joachim Heinrich Campe,
der ehrsamste aller deutschen Philister? Als er von den Vor-
gängen in Paris und Versailles vernahm, litt es ihn nicht in seinem
braunschweigischen »Vaterlande«. Er eilte hin zur Seine, um den
rührenden Sieg der Menschheit »über den Despotismus anzusehen
und ihn feiern zu helfen«. Schon in Aachen hörte er, daß ganz
Paris unter den Waffen und die Bastille erobert sei. Er hätte
keiner Fliege ein Leids antun mögen: aber die Nachricht von
den Bluttaten, welche der feige und mordgierige Pöbel von Paris
an Foulon und Flesselles und an den Invaliden de Launays be-
gangen hatte, machte auf den empfindsamen Deutschen so wenig
Eindruck wie auf Barnave und Robespierre. »Die Köpfe der aristo-
kratischen Tyrannen,« schreibt er an seine Tochter, die »liebe
Lotte«, »sollen wie Mohnköpfe fliegen und die könighchen Truppen
das Hasenpanier ergriffen haben. Freue dich, liebe Lotte; vier-
undzwanzig Millionen Sklaven werden das Joch der Unterdrückung
mutig abschütteln und aus gemißhandelten Lasttieren Menschen
werden, Wohl uns, daß wir diese große Weltbegebenheit erlebt
haben!« Diese Stimmung verläßt ihn nicht, nachdem er am Schau-
platz der Revolution angekommen und Zeuge der Debatten über
die Menschenrechte, der Beschlüsse in der Nacht des 4. August
geworden ist. Er bemerkt gar nicht, wie die Zerstörung täg-
hch neue Trümmer schafft und die Nation schon von den
Schauem der Anarchie geschüttelt wird: bhnd wie alle andern
taumelt er in dem allgemeinen Entzücken über die neue Weltära
dahin.
Er selbst und sein Reisegefährte — kein Geringerer als Wil-
helm von Humboldt — haben an ihrer Überzeugung von dem
Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. fi7.'^
Segen der Revolution auch dann noch festgehalten, als ihr zer-
störender Lauf längst die deutschen Grenzen überschritten hatte.
Aber im allgemeinen veränderte sich das Urteil der Zeitgenossen
in dem letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts vor den sich häufen-
den Greueln von Grund aus. Männer wie Hallet du Pan und Burke,
Gentz und Joseph de Maistre, die zum Teil selbst den Anfängen
mit Sympathie gegenübergestanden hatten, wurden jetzt die
Wortführer der Reaktion; und je weiter die Erschütterung um
sich griff, je mehr die humanitären Ideen sich ins Gegenteil ver-
kehrten, um so grimmiger ward der Haß, um so schroffer das
Urteil über die Männer wie über die Prinzipien der Revolution.
Nichts hat den Geist der Romantik, die Verehrung für die hier-
archischen Jahrhunderte mächtiger gefördert als der Schiffbruch,
den die Ideen der Aufklärung in Frankreich erlitten, und der Sieg,
den die mit aUen Schrecken der Verfolgung heimgesuchte katho-
lische Kirche davontrug: man darf es aussprechen, daß erst aus
diesem politischen Rückschlag jene Umprägung der Weltanschau-
ung, der tiefste Einschnitt in der modernen Geistesentwicklung,
sichtbar bis heute auf allen Gebieten der Kultur, zu erklären ist.
Doch waren damals ihre Anhänger, in unserm Vaterland wenigstens,
weder imstande noch auch gewillt, die erhabenen Ideale der älteren
Periode, deren Heroen noch in voller Kraft standen, ganz zu ver-
leugnen; vielmehr das Sichberühren, ja Sichdurchdringen beider
Geistesrichtungen gibt den nächsten Jahrzehnten ihre Signatur.
Es war die Zeit, da Europa unter dem Gestirn Napoleons stand,
der die Revolution zugleich bändigte und vollendete, sie über
Europa dahintrug, der sich mit der Kirche aussöhnte, ohne sich
ihr zu unterwerfen, und den Bund mit den legitimen Mächten
erstrebte, ohne den Boden, auf dem er emporgekommen war,
zu verlassen. Seitdem gewannen die Stimmen für die Revo-
lution in und außerhalb Frankreichs, überall wohin die Macht
des Welteroberers gereicht hatte, und darüber hinaus auf den
andern Kontinenten wieder Raum, und haben sich bis heute
behauptet; in ihrem Charakter und in ihren Wirkungen ist
die große Revolution das Gespräch des Jahrhunderts geblieben;
der Einfluß ist nicht auszudenken, den die Forschung und das
(^"74 Kleine historische Schriften.
wechselnde Urteil über sie auf die Meinungen und das politische
Leben dieser drei Generationen gehabt haben.
So offenkundig es nun sein mag, daß die staatlichen Formen,
die wir seit 1848, wenn nicht seit Montgelas und Stein-Harden-
berg, uns gegeben haben, unter dem Einfluß der Ideen von 1789
stehen, ist das Urteil unserer Historiker über die Revolution den-
noch mit der Zeit immer ungünstiger geworden. Es hat nichts
genützt, daß sich die liberalen Ideen tief und tiefer in unser Staats-
leben eingruben, und daß wir nach dem Vorgange Frankreichs
unsern nationalen Staat ausgebaut haben: nur um so herber hat
sich das Urteil über unsere Nachbarn gestaltet. Denn ihre Er-
hebung hatte die Zertrümmerung unseres alten Reiches und die
Knechtung unseres Volkes herbeigeführt, und wir mußten erst
unsere Fesseln abschütteln, um den Boden zu gewinnen, auf dem
sich die Nation nach den in ihr lebenden Trieben konsolidieren
konnte. Ganz einsam stand Ranke, der ohne Haß und ohne Liebe
das größte Ereignis der neueren Geschichte in seiner Wesenheit
zu begreifen suchte und ihm seine Stellung in dem Weltzusammen-
hange anwies. Sonst haben seit Niebuhr gerade die großen deut-
schen Historiker, die Schöpfer der monumentalen Werke über
das Zeitalter der Revolution, ein Häusser, Sybel, Treitschke,
gewetteifert, die Torheiten und Barbareien, die Eroberungsgier
und tausendfachen Rechtsverletzungen der Revolutionäre und
des Imperators, des »Korsen«, zu geißeln; diese Kritik und das
Nationalgefühl, das sich in ihr genug tat, ist der belebende Odem
ihrer Schilderungen geworden — ein Stück des Kampfes um die
Einheit der Nation, in dem sie zu den Wortführern gehörten.
Noch heute steht das historische Urteil in Deutschland unter
ihrem Einfluß. In allen Schulen, und so auch noch an den Uni-
versitäten, ^^•ird man ihre Auffassung vernehmen, sowie sie uns
aus tausend Zeitungsartikeln, auch der liberalen Richtung, ent-
gegenzutönen pflegt. Und wenn einmal von oben her das Stu-
dium der Revolution empfohlen wird, so geschieht es nur in der
Meinung, daß wir die IMächte des Unheils und der Zerstörung
daraus kennen lernen und uns um so fester um Monarchie und
Autorität scharen sollen.
Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. 575
Sehr viel wechselnder als bei uns ist von jeher die Auffassung
der Franzosen selbst gewesen: jede Phase ihrer Entwicklung
seit 1789 spiegelt sich in ihrer historischen Literatur ab. Heute
ist es jenseits der Vogesen politisch korrekt, sich zur Revolution
zu bekennen, als deren echte Erfüllung die dritte RepubHk gelten
will. Da wird wohl in offiziellen Reden das große Ereignis
als der »Durchbruch höchster moralischer Prinzipien durch die
träge Masse verrotteter Institutionen« gefeiert. Und dem Bedürf-
nis, die Verwandtschaft des neuen Staates mit dem von 1793
nachzuweisen und die Gegenwart in der Vergangenheit zu recht-
fertigen, verdanken wir die rastlose Arbeit, welche unsere Nach-
barn an die Erforschung der ersten Revolution, ihre äußere und
innere Geschichte, die Parteien und Persönlichkeiten, ihre fran-
zösischen und europäischen, geistigen und materiellen Bedingungen
und Formen gewandt haben, und deren reiche Früchte nicht bloß
ihrer, sondern auch der allgemeinen Geschichte zugut gekommen
sind. Aber die öffentliche Meinung ist dadurch mitnichten in
Frankreich gewonnen worden; und wir brauchen nur den geist-
reichsten und gelesensten Historiker in den letzten Jahrzehnten
zu nennen, Hippolyte Taine, der die Theorien und Exzesse der
Revolutionäre mit den Delirien eines Branntweinsäufers zu ver-
gleichen wagte, um uns zu erinnern, was für Variationen in der
Revolutionshistorie auch in Frankreich noch heute möglich sind.
Ein Wirrwarr der Meinungen, vor dem man fast daran zweifeln
möchte, ob es überhaupt je möglich sein ward, ein objektives
Urteil über die Revolution, ihre Stellung in der allgemeinen Ge-
schichte und ihre Bedeutung für die Zukunft zu gewinnen oder
doch zum Gemeingut der Gebildeten zu machen.
Erinnern wir uns indessen einmal, welche Zustände im 18. Jahr-
hundert noch möglich waren und durch den Geist beseitigt wurden,
der erst mit der Revolution zur Herrschaft kam. In Deutsch-
land sind in dieser Zeit noch Hexen verbrannt worden, die letzte
zu Glarus in der Schweiz, also auf protestantischem Boden, wenige
Jahre vor der Revolution ; und bis ans Ende der Epoche betrachtete
in Portugal und Spanien das gläubige Volk ein Autodafe als eins
seiner Feste. Ein Deutscher war jener Erzbischof von Salzburg,
c;^^ Kloine historische Schriften.
der 15 000 arbeitsame, friedfertige Untertanen zum Lande hinaus-
trieb, um die Glaubenseinheit herzustellen, und bis zur Mitte
des Jahrhunderts der Toleranz breiteten die katholischen Re-
gierungen im Reich ihre Religion mit den gewaltsamen Mitteln
der Gegenreformation aus; seitdem erst haben sich die Grenzen
der feindlichen Bekenntnisse bei uns nicht weiter verschoben.
Um Voltaires Haß und Bosheiten gegen die »Infame« zu ver-
stehen, müssen wir bedenken, wie tief gewurzelt die Macht der
römischen Kirche in seinem Vaterlande war, wo noch die Edikte
Ludwigs XIV. in Kraft standen und der Ketzerhaß und dumpfe
Fanatismus der Masse sich in Bluttaten wie die zu Toulouse und
Abbeville entlud. Voltaire selbst, so sehr ihn seine fürstlichen
Freunde vergöttern mochten : die Rückkehr in die Heimat konnten
sie ihm doch nicht verschaffen. Und weshalb hatte er als junger
Mann nach England flüchten müssen? Weil sich ein Edelmann
durch ein spitzes Wort von ihm beleidigt fühlte , wofür er
schon an dem jungen Literaten durch die Stockschläge seiner
Bedienten schmähliche Rache genommen hatte. Als »anstößig
der Religion, den guten Sitten und der Achtung gegen die Obrig-
keit zuwider« wurden danach Voltaires »Enghsche Briefe« vom
Henker zerrissen und verbrannt: eine Satire, so sanft und vor-
sichtig, daß sie auch in Rußland heute geduldet werden möchte.
Nicht einmal die religiösen und philosophischen ^Meinungen ge-
nossen volle Freiheit. Um ihretwillen mußte Diderot nach Vin-
cennes, woirde Rousseaus »Emile« verbrannt, ward er selbst von
da und dort vertrieben. Helvetius mußte die seinen widerrufen,
und gegen Priestley, den Dissenter-Prediger, den Gegner des
französischen MateriaUsmus, hetzten die Orthodoxen seines Landes
den Pöbel; er hat nach Pennsylvanien entweichen müssen. Denn
die protestantischen Pfaffen wetteiferten oft mit den katholischen
um den Preis der Intoleranz, und die Masse der Bevölkerung
lebte, den Aufklärern zum Trotz, noch in der Zeit, da Lessing seine
Fehden führte, unter dem Bann der alten Traditionen. Nur poli-
tischer Zwang, die Unmöghchkeit, die religiöse Einheit zu be-
haupten, hatte die Regierungen hier und da zur Indifferenz ge-
bracht. Doch waren das immer nur Ausnahmen; und die meisten
Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. 577
Staaten, protestantische wie katholische (von Rußland gar nicht
zu reden), blieben an ein bestimmtes Bekenntnis gefesselt, als
an ihre eigene, garantierte Religion ; und nur eben geduldet wurden
die abweichenden Kirchen, und ihre Bekenner, wenn nicht ganz
ausgesperrt von den Rechten des Staates und dem Anteil an seiner
Macht, doch nur ungern zugelassen.
Wie gering war überhaupt noch der Kreis derjenigen, die
in dem Organismus des Staates Aufnahme fanden! Den Bürger-
lichen standen gemeinhin doch nur die unteren Ränge offen;
es war immer eine Seltenheit, wenn sich jemand bis in das Zen-
trum der politischen Gewalt emporarbeitete, und alsbald pflegte
er durch Adel und Privilegien von seinesgleichen geschieden zu
werden. So war es in der kathohschen Kirche überall, so auch
in der Hochkirche von England, so durchweg in der Justiz und
der Administration und in der Armee. Die hohen und höchsten
Stellen, diejenigen, welche Einfluß brachten und Geld, waren in
den Händen des Adels. Bei ihm war auch der große Grund-
besitz, die Herrschaft auf dem platten Lande; die Bauern aber
und die Knechte überwiegend an ihre Scholle gefesselt.
Man spricht noch immer von jenem Zeitalter als dem der
absoluten Monarchie. Aber dieser Begriff ist doch nur im Gegen-
satz zu dem modernen Repräsentativsystem gültig; darin, daß
sich in den Monarchien des i8. Jahrhunderts der Wille des Staates
noch nicht mit dem der Nation deckte, die Bedürfnisse und Leiden-
schaften, die Intelligenz und der Wille der Masse von den Re-
gierenden noch nicht zu Rate gezogen wurden. Will man aber
darunter den im Zentrum des Staates zusammengefaßten und
von hier aus ihn durchdringenden Willen verstehen, dasjenige,
was jene Regierungen selbst jedenfalls anstrebten, so müssen
wir sagen, daß heute, und eben seit der Revolution, dieser Wille
imermeßlich viel konzentrierter und gewaltiger geworden ist.
Unter diesem Gesichtspunkt kann das Machtstreben der Kabinetts-
poHtik des i8. Jahrhunderts nur als die Vorstufe des heutigen
Staates betrachtet werden. Denn tatsächlich sahen sich diese
»absoluten« Kronen eingeengt und verstrickt in dem wirren und
zähen Gestrüpp feudaler Ordnungen, und aus ihm sich zu befreien,
Lenz, Kleine historische Schriften. 37
578 Kleine historische Schriften.
dahin giiif; das Streben aller der reformierenden Staatsmänner,
die man als die Vollender nnd Hauptvertreter des fürstlichen
Absolutismus zu bezeichnen pflegt. In WirkHchkeit sind sie alle
darin gescheitert, und erst die Revolution vollendete, was
sie gewollt liatten. Die Größe Mirabeaus, der doch gewiß ihres
Geistes war, liegt darin, daß er den Machtzuwachs der Krone
durch die Zerstörung der Privilegien wie kein anderer erkannte,
und darin die Kleinheit der reaktionären Politik, daß sie gegen
diese Einsicht blind blieb. Denn die Macht der französischen
Krone wollte ja auch (nistav III. von Schweden, als er mit den
Tuilerien gegen die Revolution konspirierte : weil er das Bündnis
mit Frankreich sich erhalten wollte und nur die alte Krone für
bündnisfähig ansah, begann er jene Intrigen. Darauf hoffte
auch, neben Landbesitz und anderm, Friedrich Wilhelm von
Preußen, als er den Krieg gegen die Revolution betrieb; und weil
Kaunitz umgekehrt auf die dauernde Schwächung der franzö-
sischen Macht spekulierte, unternahm der alte Schlaukopf jenes
verschmitzte Spiel, die Feuillants zu hätscheln und die Jakobiner
zu bedrohen, das ihn wider Willen in den Krieg hineinführte.
Blinder als blind war Marie-Antoinette, als sie Mirabeau zurück-
stieß und alle Parteien betrog, um die Macht ihrer Krone zu be-
haupten, die sie nur in der Verbindung mit der Kirche und, so
sehr sie diese beschränken wollte, auch mit den Privilegierten
gesichert wähnte. Und seine Unfehlbarkeit schützte Pius den
Sechsten nicht davor, mit aller Welt an die baldige Besiegung
der französischen Anarchie zu glauben und seine Kirche in den
Kampf mit ihr hineinzusteuern. Die ganze europäische Diplo-
matie richtete ihr Tun und Lassen nach diesem Trugschluß ein.
Wie die Revolutionäre ahnungslos über die Folgen ihres Tuns
die Riegel vor den Schleusentoren hin wegstießen, durch welche
die Fluten der Zerstörung über den alten Staat hinstürzten, so
gingen auch ihre Feinde mit verbundenen Augen in den Welt-
krieg hinein, der alle Berechnungen ihrer Diplomatie zuschanden
machen, alle Systeme ihrer Politik und ihre Staaten selbst über
den Haufen werfen sollte. Jahre des Kampfes und immer neuer
Niederlagen und fruchtloser Anstrengungen waren nötig, um es
Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. 579
ihnen überhaupt nur klarzumachen, daß der Untergang der alten
Monarchie nicht die Vernichtung der französischen Macht be-
deutet habe, daß in den gelösten Kräften, in den Gewalten der
Zerstörung positive Elemente walteten, daß die französische
Nationalität, statt sich in das Grenzenlose der weltbürgerlichen
Ideale zu verlieren, vielmehr sich auf sich selbst besonnen, breitere
und tiefere Bedingungen ihres Daseins aufgesucht hatte, und
daß aus den vulkanischen Gluten, die dieses Reich in Asche zu
legen gedroht, am Ende eine Gewalt entstanden war, so eisern
im Kern, so national im Wesen, so einheitlich geordnet und so
hingebend geliebt und verteidigt, wie weder die Franzosen noch
irgendein \'olk der Erde sie jemals besessen hatten.
Und die gleiche Probe mußte nun machen, wer immer in
der Welt bestehen wollte. Hineingerissen in die fürchterlichen
Umarmungen mit dem neuen Staate, mußte jeder andere sich
selbst im Innersten erneuern, die feudalen Ordnungen, in denen
er gefesselt gelegen, abstreifen und sich auf das Interesse und
den Anteil der breiteren Schichten stützen — oder er mußte unter-
gehen. Das war der Inhalt des Riesenkampfes, den die Revo-
lution und Napoleon mit dem alten Europa führten. So ver-
standen ihn philosophische Köpfe wie Altenstein, der spätere
Minister Preußens, als er in Tilsit den Gewaltigen und die be-
siegten Monarchen mit ihrem Gefolge sah. »Diesen«, so war
sein Gedanke, »werdet Ihr nicht zermalmen. Er ist von Gott
gesandt, die Schwäche zu zermalmen mid Kraft zu erregen.«
Es geschah dies auf sehr verschiedene Weise, hier durch
Reformen, dort durch Revolution und anderwärts gar auf dem
Wege der Reaktion, die sich wohl selbst revolutionär entlud. Sieg
und Niederlage haben darauf eingewirkt, je nach den Traditionen,
der Größe und der politischen Gruppienmg der Mächte. Graf
Montgelas z. B., der Reformator Bayerns, und wer, wie er, unter
den kleinstaatlichen Politikern im alten Reich das Heil im An-
schluß an Frankreich sah, führten die Arbeit von oben her durch,
wenig geniert durch klerikale und feudale Widersetzlichkeiten ;
der Sieg des Imperators gewährte ihnen Sicherheit: während in
Spanien die Zertrümmerung der alten Monarchie durch Napoleon
37*
5g() Kleine historische Schriften.
lind eine elementare Erhebung der Nation dazu gehörten, um
dem neuen Staat den Weg ins Leben zu bahnen. Nationale Ten-
denzen verbanden sich mit dem Werke des Kaisers in Italien
und Polen, und liberale überall, wo seine Adler flogen: seine Partei
war es, die in Spanien an die modernen Ideen, und zwar auf breitem
Grunde, appeUierte; und die liberalen Reformen Montgelas' würden
auch in Tirol Platz gegriffen haben, wenn nur Hofer und Speck-
liacher mit ihren Hirten und Bauern seinen bayerischen Beamten
Zeit gelassen hätten, sich in ihren Tälern einzunisten. Dort wie
in Spanien vermählten sich die klerikalen Tendenzen mit dem
neu erwachenden Selbstbewußtsein; und auch in Bayern ge-
wannen jene mit dem Abfall von Napoleon neue Kraft: während
Preußen wederum das wundervolle Los hatte, daß die protestan-
tischen Ideen, auf denen es ruhte, in seiner Staats- und Heeres-
ordnung, in der Königstreue und Gottesfurcht des Volkes und
in dem jugendfrischen Heldentum des Krieges für das Vater-
land von neuem ihre machtschaffende Gewalt und den nationalen
Beruf dieses Staates bewährten.
Und keineswegs hatte dieser Prozeß mit dem Siege Europas
über den großen Kaiser sein Ende erreicht. Tiefer nur wühlten die
Ideen von 1789 in dem Schöße unserer Nationen, und Reform
wie Revolution, Krieg und Friedensarbeit, naturwissenschaft-
liche Entdeckungen mit ihrem Gefolge von mechanischen Er-
findungen und die Vertiefung der historischen Erkenntnis, klerikale
Reaktion und die Demokratisierung der sozialen und pohtischen
Ordnungen — alles hat nur das eine Ergebnis gehabt (es ist der
Inhalt des Jahrhunderts), daß die Eigenart der abendländischen
Nationen und ihre Macht von Jahrzehnt zu Jahrzelmt unermeßüch
gesteigert worden sind.
Mögen nun auch die hohen Ideale, welche die Revolution
unter dem Jubel Europas in ihrem Beginn anrief, nicht alle er-
füllt oder gar in ihr Gegenteil verkehrt sein, das werden wir ihr
immerhin zu danken haben, daß sie zuerst die Kräfte befreit hat,
welche unsere Nationen auf eine noch niemals in der Geschichte
erreichte Höhe der Macht geführt haben. Vor hundert Jahren
reichte der Orient noch bis an Drau und Donau: ein dünner Firnis
jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. 581
europäischer Kultur deckte den barbarischen Urboden der mos-
kowitischen Völker: in Nordamerika war menschenleere Wildnis,
vom Mississippi und den Seen her bis an den Stillen Ozean; und
im Todesschlaf, kaum an den Küsten und in ein paar Flußtälern
von Europäern besiedelt, lag unter dem faulen Kolonialregiment
der Spanier und Portugiesen die Südhälfte dieses Kontinentes;
erst ein Stück Ostindiens war im englischen Besitz, und nocli
führten die Brüder Wellesley mit den einheimischen Fürsten
heiße Kämpfe; unberührt, von legendarischem Glänze umgeben,
lag China da, als eine antipodische Kulturwelt mit Achtung und
fast mit Bewunderung betrachtet. Heute steht Rußland, aus-
gerüstet mit allen Machtmitteln des modernen Staates, auf dem
Pamir und vor dem Hindukusch, vom Amur her bedrängt es China,
und in Korea bedroht es Japan. Damals verbanden sich mit
Sibiriens Namen Vorstellungen des Entsetzens und eisiger Wüstenei :
heute werden bald die Schienen den Stillen Ozean mit der Ostsee
und dem Schwarzen Meere verbinden und unerschöpfliche Schätze
aus jenen weiten Regionen heranbringen. Rund um den Erdball,
den sie völlig unterjocht hält, dehnt sich die Kultur der abend-
ländischen Nationen. Der Geist des Orients ist, wie Ranke sagte,
vor ihr verblichen. Nur durch die Eifersucht der großen Mächte er-
hält sich, was von den Türken in Europa noch da ist, die zu Be-
ginn der Revolution der vereinigten Macht Rußlands und Öster-
reichs standhielten und ein Jahrhundert zuvor noch Wien be-
droht hatten. Und nur im Annehmen und Nachahmen der Güter,
die wir geschaffen, können andere Rassen noch hoffen, sich zu
erretten. Selbst die Heere, welche die Revolution dem vereinigten
Europa entgegenstellte, waren doch erst wenige Hunderttausende
stark, und nicht viel über eine halbe Million führte Napoleon
über den Niemen. Heute würden von den Völkern, deren Streit-
kräfte er gegen Rußland nach jahreslanger Rüstung vereinigte,
in wenigen Wochen wohl 12 Millionen Krieger an einer Grenze
gegeneinander geführt werden können.
Wer aber mag leugnen, daß mit unserer Kultur auch sittliche
Ideen mächtig geworden sind? Toleranz und Freiheit sind in
einer Weise verwirklicht, wie sie das 18. Jahrhundert nur in seinen
532 Kleine historische Schriften.
Träuiiien schaute. Formell wenigstens sind doch die Staaten
von ihrem Bekenntnis getrennt und der Grundsatz anerkannt,
daß der Wille der Obrigkeit über dem der Kirchen stehe; nirgends
fast hindert die Religion an sich, die Stufenleiter weltlicher Ehren
bis zur höchsten Sprosse zu erklimmen. Formell ist auch die
soziale und politische Gleichheit in der Mehrzahl der Kultur-
staaten durchgeführt, gibt Intelligenz und Bildung die Macht,
kann jeder Arbeiter hinziehen, wohin ihm der Sinn steht, und
jeder Besitzende erwerben, was er will, hat jedermann die Möglich-
keit, seine sozialen Interessen und seine Auffassung des staat-
lichen Lebens nach dem Maße seiner Stimme zur Geltung zu
bringen. Ungescheut dürfen wir die Höhen und Tiefen der Welt
mit der Fackel der Vernunft beleuchten und die verwegensten
Theorien über Politik und Religion aussprechen; und mit Lächeln
.sehen wir auf die Selbstgefälligkeit eines Geschlechtes henmter,
das im Zeitalter der Postkutsche sich mit seiner Herrschaft über
die Natur brüsten konnte.
Eins vor aUem verdanken wir der großen Revolution, das,
was heute in aller \\'elt als das köstlichste Kapital, als das schöpfe-
rische Element nationaler Größe verehrt wird: imsere Hingabe
an die nationale Idee schlechthin. Ein zur Zeit unserer Klassiker
in Deutschland, wie man weiß, noch sehr ungewohntes Gefühl.
Damals konnte Schiller es als ein armseliges, kleines Ideal des
Historikers bezeichnen, für eine Nation zu schreiben : einem philo-
sophischen Geiste sei diese Grenze durchaus unerträglich; nur
für unreife Nationen sei das vaterländische Interesse wichtig,
für die Jugend der Welt. Und noch nicht hundert Jahre sind
es her, als Frau Aja ihrem Sohne aus Frankfurt schrieb: »Nur
Weimar ist der einzige Ort, woher mir meine Ruhe gestört werden
könnte. Geht es meinen Lieben dort gut, so mag meinetwegen
das rechte und Unke Rheinufer zugehören, wem es mll, — das
stört mich weder im Schlaf noch im Essen.«
Ich will nun nicht darüber diskutieren, ob der Wille, die
eigene Nation groß und gewaltig zu machen, dem sittlichen Ideal
genug tut, oder ob es nicht Gedanken gibt, vor denen auch dieser
Stolz hinsinkt, Gedanken, um derentmllen wir auch unserm
Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren imd jetzt. 583
A'aterlande entsagen müßten, ja in denen allein wir unser Ver-
trauen auf die Größe und Ewigkeit unseres Volkes gesichert halten
können. Dennoch bleibt es wahr, daß in unserm nationalen Selbst-
bewTißtsein sittliche Kräfte zur Geltung kommen, wie sie dem Zeit-
alter des Weltbürgertums fremd waren. Was bedeuteten denn die
Begriffe von nationaler Ehre und Königstreue den geworbenen
und gepreßten Heerhaufen, die Friedrichs Siege erfochten? Diese
Armee war wert, daß sie zugrunde ging, wie der Staat, für den
sie kämpfte. Heute genügt ein Wort des Kriegsherrn, und in
allen Gauen des \^aterlandes stehen die Massen auf, sammeln
sich die Millionen an den vorgeschriebenen Orten und wogen
gegen die Grenze hin : nicht bloß weil sie müssen : sondern sie alle
sind durchdrungen von der Idee des Vaterlandes: Einheit, Macht
und Freiheit der Nation sind jedem Arbeiter und jedem Guts-
knecht Lebensmächte geworden.
Und so beweist vor allem unser Heer, als der unmittelbarste
Ausdruck unserer Kraft, daß es erst sittliche Ideen sind, welche
die i\Iacht schaffen; daß dieses Wort, für sich genommen, ein
leerer Schall, ein Begriff ist ohne Inhalt; und daß es niemals eine
Macht gab, in der nicht sittliche Ideen gewaltet hätten, die nicht
von Idealen getragen wäre.
Daß wir nur diese Ideen im lebendigen Wachstum erhalten,
in rastloser Arbeit das Ewige, das in ihnen lebt, fortbilden möchten!
Es gehört nicht zum Amte des Historikers, die Zukunft aus-
zudeuten; und die Beispiele, welche uns die Zeitgenossen der
Revolution gaben, können nicht dazu verlocken: Politiker und
Weltbürger erlebten das Gegenteil von dem, was sie wünschten
oder fürchteten. Indessen ist es richtig, daß wir heute besser
sehen gelernt haben als unsere Vorfahren, wenigstens das, was
war, und ein wenig auch das, was um uns ist; und eine gewisse
Garantie mag immerhin darin liegen, um auch über das, was
kommen wird, urteilen zu können.
Sollen wir denn ein Moment bezeichnen, das zur Ausdeutung
der Zukunft dienhch sein könnte, so ist es die Tatsache, daß aus
allen Revolutionen seit 1789 die Nationalitäten nur immer selb-
ständiger her\'orgegangen, und daß die Summe der europäischen
534 Kleine historische Schriften.
Kräfte darum so groß geworden ist, weil sie national zusammen-
gefaßt und der nationale Ehrgeiz und Egoismus zu unerhörter
Schrofflieit ausgebildet wurden. Internationalere Ideen hat es
nicht gegeben als die Sätze der Menschenrechte, mit denen die
große Revolution begann; also daß der biedere Campe schon
das ganze weiße, rote, gelbe und schwarze Menschengeschlecht
aufrufen wollte, in das Te Deum laudamus einzustimmen, mit
dem die August-Besclilüsse zu Versailles gefeiert wurden. In
den Bestimmungen über Maß und Gewicht, Zeitrechnung und
Monatsnamen suchte der Glaube an die neue Weltepoche einen
Ausdruck; Robespierre appellierte noch mit seiner Verehrung
des höchsten Wesens an die Ideen des Jahrhunderts, und auch
die sozialistische Verfassung St.-Justs war ohne nationale Färbung.
Aber alles schlug den Revolutionären ins Gegenteil um, und statt
der Ära der Humanität kam die der nationalen Demokratien.
Auch heute gibt es eine Partei, die sich ihrer Intemationalität
rühmt und von einem Zeitalter ohne Kampf und Nationalitäten-
hader träumt, und die damit in dem Leben unseres Volkes jeden-
falls gewaltig rumort. Wenn es aber wahr wäre, daß die Sozial-
demokraten in ihrem Gesellschaftsideal, wie ihre Führer doch
noch behaupten, keine anderen als wirtschaftliche Probleme
lösen woUen und in ihrem Staate nur die Ausprägung der materia-
Ustischen Weltanschauung anstreben, so spotten sie mit jener
Prätension ihrer selbst und wissen nicht wie. Denn was würde ein
stärkerer Anreiz für den Abschluß der Staaten gegeneinander
sein, als wenn ihr ganzes Dasein nur von dem Wirtschaftsinteresse,
der materiellen Selbstsucht regiert würde? Es würde ein Wesen
werden, ähnlich dem unserer mittelalterlichen Städte, deren
Existenz und Absichten auch nur auf die Befriedigung wirtschaft-
licher Bedürfnisse gegründet und gerichtet waren. Aber einen
engherzigeren und grausameren Egoismus hat es nie gegeben,
als ihn diese Städte in sich ausbildeten, mochten sie nun oligarchisch
oder von den sozialistisch geordneten Zünften geleitet werden :
sie kannten in aller W^elt nichts als ihre »Nahrung«.
Zum Glück jedoch kennen wir keine Nation, ja nicht einmal
ein eigentliches Staatswesen, das jemals auf einem so banausischen
■ Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. 585
Grunde geruht hätte. Denn die Städte des deutschen Mittel-
alters waren nicht souverän, und der Bund der Hansa selbst,
wie gewaltig zu Zeiten seine Stärke sein mochte, hat es doch
niemals zu einer gemeinsamen Ordnung staatlichen Charakters,
zu einer PoHtik mit festen Traditionen und sicheren Zielen ge-
bracht: eine jede Stadt war zum Verrat der Bundesgenossen
bereit, sobald ihr Sonderinteresse Schaden zu leiten drohte. Recht
im Gegensatz zur Hansa steht in ganz der gleichen Zeit der Deutsche
Orden, obschon ihre geographischen und wirtschaftlichen Be-
dingungen nahe verwandt waren, eine Schöpfung deutscher Ritter,
Untertanen ihres Kaisers und des Papstes, wie die Hansa ein
Werk deutscher Bürger war. Aber wie festgefugt war dieser Staat,
aus einer Wurzel erwachsen, ein weit verzweigtes und harmonisch,
man möchte fast sagen, künstlerisch ausgebildetes Gemeinwesen,
mit einer Geschichte, reich an großen Persönhchkeiten, poütischen
Konflikten, tragischen Katastrophen: in einer reichgegHederten
Geschichtsschreibung spiegelt es sich ab, und herrhche Baudenk-
mäler, von seiner mönchisch-ritterlichen Romantik beseelt, ver-
kündigen bis heute seinen Ruhm.^)
Heute mag vielleicht der Anblick unserer Parteien, in denen
sich die banausischen Interessen allzusehr an die Oberfläche drängen,
jener Auffassung einen Schein des Rechtes geben. Dennoch be-
halten die in der Tiefe ruhenden, zusammenhaltenden Elemente
ihre Kraft und werden sie schon wieder offenbaren. Hat man ja
auch in der französischen Revolution an nichts weniger gedacht,
als daß der Ultramontanismus eine Zukunft haben könnte; das
Papsttum, das noch zuletzt, und zwar von den katholischen Staaten
selbst, aufs tiefste gedemütigt war, schien abgetan zu sein und
mit dem Mittelcdter begraben. Und doch ist die römische Kirche
die einzige Macht gewesen, welche dem Versuch, sie zu natio-
1) Höchst charakteristisch ist es, daß die Hansa vor ihrem Unter-
gang bei einer Geschichte von Jahrhunderten keine gemeinsame Darstel-
lung gehabt hat: es gibt auch im Norden Deutschlands bis ins 17. Jahr-
hundert nur Chroniken einzelner Städte; also daß wir heute ihre Geschichte
aus den Urkunden und Rezessen, denen das persönliche Leben fehlt,
schreiben müssen.
F^gg Kleine historische Schriften.
nalisieren, widerstand, l)ei der die international geprägten Prin-
zipien der Revolntion wirklich ein ihnen analoges, wenngleich
nnverhofftes Ergebnis hatten. Und so ist es geblieben bis heute:
der Klerikalismus ist die stärkste Macht unseres Jahrhunderts
geworden. Nachdem er sich in Frankreich der Regierung be-
mächtigt, schien er 1830 besiegt zu sein — um seit 1848 desto
gewaltiger aufzuleben. Napoleon III. hat seine Herrschaft auf
ein Bündnis mit ihm gegründet; zu den Altären flüchtete nach
1870 sein besiegtes Volk; und ein Noli me tangere bildet die Kirche
heute in Frankreich wie im neuen Deutschland; auf Granit beißt,
wer sich an ihr versuchen will. Ihre Kraft beruht auf denselben
Elementen, die durch die Revolution lebendig geworden sind:
weil sie demokratisiert ward, \\urde sie stark. Also haben wir
ihr gegenüber dieselbe Stellung einzunehmen wie zu den andern
Problemen, welche die Demokratisienmg der Gesellschaft mit
sich bringt, der sozialen Frage z. B. und dem allgemeinen Stimm-
recht. Wir müssen uns mit den unteren Schichten, die gegen
ims imd unsere Habe andringen und uns ihren Willen aufnötigen
wollen, auseinandersetzen. Wir alle sind an den breiten Boden des
^'olkes gefesselt. Es ist nicht mehr erlaubt, ein Wilhelm-Meister-
Dasein zu führen, sowie unsere Romane und Dramen nicht mehr
gern die lichten und idealen Höhen, sondern die harten und grau-
samen Konflikte des bürgerlichen Lebens aufsuchen. Die Zeit
der Pri^•ilegien ist \'orüber, und es ist Torheit, über die Errungen-
schaften der großen Zeit zu jubeln und sie zugleich um das Edle
oder Behagliche, was sie zerstörte, auszuschelten. Eins hängt
am andern. Heute wäre ein Königtum wie das Friedrichs des
Großen, der, von dem Boden deutscher Kultur losgelöst, das Leben
eines französischen Dichters und Denkers führen und zugleich
seinen Staat nach der patriarchalischen Weise seines Vaters re-
gieren konnte, unmöglich. Wir würden mit Recht jedes Kokettieren
unserer Monarchen mit einer fremden Nationaütät als eine blutige
Beleidigimg empfinden. Je selbstherrlicher der Fürst ist, um so
mehr gerade muß er dem Genius seiner Nation sich ergeben, mit
ihren Leidenschaften und Idealen verbündet sein. Nur in der
unmittelbaren Berührung mit den Interessen, Wünschen und
Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. 587
Bedürfnissen der Nation kann sich, wer auf den Höhen der Gesell-
schaft wandelt, erhalten.
Davor, daß die Ideen der Vergangenheit ihre Kraft ver-
lieren werden, brauchen wir uns nicht so sehr zu ängstigen. Wie
stark sie noch sein können , zeigte uns soeben die katholische Kirche :
sie schien erstorben, solange das Leben der Tiefen schlummerte;
indem es ans Licht brach, kam sie mit hervor. Sollen wir nun
glauben, daß nur die hierarchische Weltanschauung, deren histo-
rischen Ungrund wir erwiesen, die wir sittlich und religiös über-
wunden zu haben glauben, mächtig bleiben wird, und daß gerade
unsere Väter umsonst gelebt haben ? Oder sahen wir nicht viel-
mehr, daß auch solche Gedanken, an die wir glauben, ihre INIacht
bewiesen haben, daß gerade sie es waren, welche die Kultur unserer
Nationen rand um den Erdball trugen? Sie werden fortfahren,
ihre Macht auch dem Kleinglauben gegenüber zu bewähren. Daß
wir aber kämpfen müssen, um sie zu behaupten, kann doch kein
Grund sein zum Verzagen. Denn nur im Kampf schreitet das
Leben vorwärts. Hier gilt das Wort von dem Erwerbenmüssen
der Güter, die wir von den Vätern ererbt haben, und von jenem
Glauben, der früher oder später den Widerstand der stumpfen
Welt besiegt.
Nichts aber dürfen wir weniger besorgen, als daß unsere
Nationen, die in diesem Jahrhundert der Revolutionen ihre größte
Stärke erreicht haben, auseinanderfallen werden. Denn so weit
\nT in der Geschichte zurückblicken mögen, bis auf ihren Ur-
sprung hin, haben sie aiis der Berührung mit den auflösenden,
den universalen Ideen nur immer neue Kraft und ein Wachs-
tum ihrer Eigenart, ihrer »moralischen Energie« davongetragen.
Empfangend und gebend, kämpfend, unterliegend vielleicht
und zu neuen Siegen sich ^vieder aufraffend und sich verjüngend,
sind sie zuletzt immer noch fortgeschritten in der Festigung ihrer
Kraft und der Ausbildung ihres Wesens. Ja, das Beste, was sie
besitzen, das Prinzip ihres Daseins, empfingen sie erst aus der
Fremde, im Zusammenhang mit der weltgeschichtlichen Be-
wegung, aus dem Schatze der allgemeinen Kultur. Beruhen sie
doch, wie Rankes Tiefsinn es ausdrückt, nicht sowohl auf den
588 Kleine historische Schriften.
Bedingungen der Rasse und des Landes als auf den Abwand-
lungen der großen Begebenheiten. Niemals waren sie allein in
der Welt. In Stürmen sind sie gebildet und werden so sich be-
haupten.
Wenn wir derartig von oben her auf das »ewig unbefriedigte
gärungsvolle Wesen unserer Tage« herabschauen, so mögen wir
es wohl mit größerem Gleichmut, als es die Regel ist, betrachten
dürfen; und als kleine Wellenbewegung vielleicht wird sich uns
darstellen, was demjenigen, der mit den Fluten ringt, wie Wogen -
berge und ein Aufwallen der Tiefe, ja wie das Drohen der Ver-
nichtung erscheinen will.
68^-^?^
Ein Blick in das zwanzigste Jahrhundert.
(1900.)
Prophezeien ist ein mißlich Ding. Nicht bloß, daß die Pro-
pheten im eigenen Land wenig zu gelten pflegen : auch die Historie
lehrt, daß ihre Weissagungen niemals so erfüllt worden sind, wie
sie gemeint waren. Sie gingen alle in die Irre; und wenn einmal
die Zukunft an einen oder den andern von ihnen geglaubt hat,
so hat die mitleidslose Kritik noch immer nachweisen können,
daß die geträumte Identität zwischen Verheißung und Erfüllung
in Wahrheit nicht vorhanden ist, und daß der Glaube, um sie
anzunehmen, weniger im Auslegen als im Unterlegen frisch und
munter sein m.uß. Gerade der Historiker also sollte sich vielleicht
hüten, den Schleier der Zukunft lüften zu woUen und als Saul
unter die Propheten zu geraten. Indessen ist der Weg, den ich
einschlage, doch ein anderer als der hergebrachte und ein solcher,
der aus dem mir gewohnten Kreis kaum herausführt. Die Pro-
pheten von Beruf haben zu allen Zeiten aus der Gegenwart heraus
geweissagt. Das gilt von Bebel und Liebknecht, die noch kürzlich
die soziale Revolution vor Ablauf des alten Jahrhunderts kommen
sahen, ebensowohl wie von allen Propheten des Alten und des
Neuen Bundes. Sie alle waren Kämpfer, Parteihäupter, und zwar
stets Führer von Minoritäten. Weil die Zeitgenossen nicht auf
sie hörten, wandten sie sich zürnend und hoffend an die Nachwelt
und warfen ein phantastisches Spiegelbild der Gegenwart und
ihrer Kämpfe auf die Nebelwand der Zukunft. Wenn es dagegen
der Historiker unternimmt, die Zeichen der Zukunft zu deuten,
so wird er dabei von den Leidenschaften und Parteiungen des
^9Q Kleine historische Schriften.
Tages völlig absehen, ja er wird den Blick kaum auf den Moment,
in dem wir stehen, wenden wollen, sondern nur auf das vergangene
Leben, wobei allerdings zu bemerken ist, daü schon der gestrige
Tag zur \'ergangenheit gehört: durch die Jahrhunderte hindurch,
ein rückwärts gewandter Prophet, wird er den Gesetzen nach-
forschen, welche die Mächte der Geschichte in ihren Bahnen halten
— • so mag er hoffen können, ungefähr wenigstens die Konstellationen
zu berechnen, in denen sie in Zukunft zueinander stehen werden.
Das oberste Gesetz aber, das alle Staaten aller Jahrhunderte
bewegt und regiert, ist der Trieb zur Selbsterhaltung. Er ist gleich-
bedeutend mit dem Willen nach Wachstum und Ausbreitung,
nach Entfaltung aller Kräfte. Die Form des Staates ist dafür
gleichgültig: ob Monarchie oder Republik, Stadt- oder National-
staat, Theokratie oder Despotismus, jener Grundzug ist allen,
kleinen wie großen, gemeinsam: ins Leben selbst treten sie kraft
dieses Triebes. Wäre dieser Wille nur an einem Punkt der Erde
entwickelt und fände er nirgends Widerstand, so würde er (falls
seine Lebenskraft es zuließe und ewig wäre) fort wachsen, bis
am Ende das Erdenrund von einem Willen, einem Staatswesen
umschlossen wäre. Aber so weit der Blick in die Jahrhunderte
zurückreicht, sehen wir eine Fülle gleichstrebender Potenzen.
Und da jede von ihnen so weit vordringt, bis ihr die Grenze von
außen gesetzt wird, so ist die allgemeine Signatur ein unablässiges
Ringen um Dasein und Macht. \'on diesem Standpunkt aus braucht
die Frage, die so oft von der Historie bei dem Ausbruch eines
Konfliktes zweier Staaten gestellt wird, nach dem Urheber, dem
Angreifer, gar nicht gestellt zu werden; sie sind im Grunde alle
offensiv, und wer angreift, spielt oft nur das Prävenire, um den
Gegner zu verhindern, die Kraft zu sammeln, die ihm später selbst
gefährlich werden würde. Wir brauchen hierfür nicht lange nach
einem Beispiel zu suchen: wenn die Engländer heute die Buren-
staaten niederzutreten versuchen, so haben sie dies doch w^ohl
nicht bloß um der Goldfelder Transvaals willen unternommen,
sondern sie wollen das holländische Element in ihren südafri-
kanischen Gebieten, deren Beherrschung eine Lebensfrage für
ihre Weltherrschaft ist, unterdrücken, bevor es ihnen selbst über-
Ein Blick in das zwanzigste Jahrhundert. 591
mächtig geworden ist. Je geringer aber der Widerstand, um so
rapider das Wachstum. Das vor allem ist der Grund für die un-
hemmbare Ausdehnung solcher Reiche wie die Vereinigten Staaten,
China, Rußland und England. Nur dort, wo ihnen ein überlegener
Wille entgegengetreten ist, haben sie haltgemacht, um sich nach
den offenen Grenzen hin desto ungehemmter zu entwickeln. Wenn
unsere eigene Politik den Charakter der Friedfertigkeit und der
Defensive behauptet, so kommt es daher, weil wir von starken
Nachbarn rings umgeben sind: in den Jahrhunderten, da nur
schwache Gegner an unsern Grenzen hausten, haben auch wir
uns ungescheut auf ihre Kosten ausgebreitet; und wir würden
aufs neue um uns greifen, sobald es für uns wieder eine Macht
zum Teilen gäbe, wie vor hundert Jahren Polen. Jedoch steht
die politische Energie bei jenen Weltreichen nicht gerade im
Verhältnis zu ihrem Umfang. Wie gering war doch die Stofi-
kraft Englands, dem der Wille gewiß nicht fehlte, in dem Krieg
mit den Buren; es hat seine militärische Kraft fast erschöpfen
müssen, um nur die ersten Siege über die paar Tausend armer
Hirten und Bauern zu erringen. Im Krimkriege wurde die russische
Riesenmacht durch einen festen Griff, von einem Punkt der
Peripherie aus erdrosselt. Und wie ohnmächtig war das Reich der
Mitte, als das kleine Japan es angriff und mit ein paar geschickten
Fechterstößen auf die Knie zwang! Je stärker vielmehr der Druck
von außen ist, um so fester pflegt sich die Kraft zu konzentrieren,
die ihm entgegenwirkt. Kein glorioseres Beispiel gibt es hier-
für als Preußen, das durch die Gegner ringsum und die Aufgaben,
die ihm dadurch gesetzt waren, sich gezwungen sah, alle seine
Kraft zusammenzunehmen. Die Kraft der jüdischen Nationalität
(der stärksten, welche die Geschichte kennt) entspricht dem Druck,
dem das Volk Juda von den Anfängen ihrer Geschichte her
bis heute hin ausgesetzt gewesen ist. Und wenn in Europa, auf
dem kleinsten Raum, die größte Summe von Kraft sich ausge-
bildet hat (also daß sie den ErdbaU sich unterwarf), so kommt
dies eben daher, weil hier eine Reihe von ^Mächten entstanden,
die in unablässiger Bedrängung durch einander ihre Kräfte zu
entwickeln gezwungen waren.
592 Kleine historische Schriften.
Im Kampf aber entscheidet die Stärke. Darum ist es un-
abwendbar, daß die Weltentwicklung sich in dem Wetteifer der
großen Mächte vollzieht, daß ihre Konflikte die welthistorischen
Krisen hervorrufen, und daß das Schicksal der Kleinen nur im
Ansclüuß an sie sich wandelt und entfaltet: sowie im Reiche der
Sterne die Bahnen der Kleinen sich nach dem Lauf der Großen
richten müssen. In dem Anziehen und Abstoßen der historischen
Körperwelt können auch wir, gleich den Astronomen, säkulare
Abwandlungen beobachten. Ein naheliegendes Beispiel gibt
Holland, das seit dem lO. Jahrhundert zwischen den drei Groß-
mächten des Westens, Spanien, Frankreich und England, hin
und her gezogen wurde. Dies hat bis in unser Jahrhundert hinein
gewährt. Noch vor hundert Jahren wurde die kleine Nation auf
das gewaltsamste in dem Streit der Großen hin und her gerissen.
Seit 1866 aber hat sich im Osten von ihr ein neuer Stern erster
Größe gebildet, das Deutsche Reich — und schon sehen wir, wie
dieser Splitter unserer Nation aus jenen fremden Bahnen wieder
in die Richtung zurückgelenkt wird, aus der er nur durch das
Schwergewicht der Weltmächte und die Lockerung unserer eigenen
Kraft weggedrängt worden war. Wenn nicht alle Zeichen trügen,
so wird die Attraktion Hollands an das neue Deutschland sich
im 20. Jahrhundert nur verstärken, und Gott möge geben, daß
unsere Staatsmänner die Gelegenheiten, die sich daraus ergeben
werden, immer richtig zu benutzen verstehen!
Merkwürdig aber ist die Beharrlichkeit, mit der die großen
Mächte ihre Bahnen festhalten. Eben die Krisen der Weltgeschichte
machen dies immer aufs neue deutlich; sie bringen die eingebornen
Triebe mit ursprünglicher Gewalt an den Tag. So bewegt sich
die Politik Rußlands noch heute in den Bahnen, auf die Peter der
Große sie hingewiesen hat und die schon in dem alten Mosko-
witerreich vorgebildet waren: die slawische Welt und das Reich
Alexanders des Großen unter dem Scepter des Zaren zu versammeln,
ist der Antrieb, der ihr den stärksten Nerv gibt, das bindende
Gesetz, das in allen ihren Epochen sichtbar wird. Noch deut-
licher wird der einheitliche Charakter in der Geschichte Frank-
reichs: seitdem Chlodwig mit Hilfe der römischen Kirche den
Ein Blick in das zwanzigste Jahrhundert. 593
Boden Galliens unter der fränkischen Krone vereinigte, ist die
Verbindung römischen Glaubens und nationaler Einheit ihr be-
stimmender Grundzug geblieben. Keine ihrer Revolutionen
hat ihn austilgen können; noch in der Stellung der Parteien bei
der Dreyfusaffaire kehrte er, ins Possenhafte verzerrt, \vieder;
und was der Welt an der französischen Politik anfänglich wohl
als eine Ablenkung von ihrem Prinzip erschienen ist, hat bisher
immer noch am Ende auf die Verstärkung der ursprüngHchen
Tendenz hinausgeführt.
Die wdrtschaftlichen und sozialen Umwälzungen unseres
Jahrhunderts, so unermeßlich sie gewesen sind, haben diese Kon-
stanz nicht verändern können, sondern sie nur noch viel stärker
entwickelt. Gerade Rußlands Geschichte gibt wieder das beste
Beispiel: die Zurückdrängung aller nichtorthodoxen Elemente
ist dort niemals ärger gewesen als heute, und ganz unvermindert
ist die Lust, in den weiten Gebieten der altgriechischen Welt
die Macht des Zaren auszubreiten, wie weltbürgerlich er selbst
vielleicht empfinden mag. Oder wer möchte daran zweifeln, daß
sich das ganze Volk entflammen und fortreißen lassen würde,
sobald es, wie zur Zeit der polnischen Revolutionen oder noch
im letzten Kriege gegen die Türkei, von oben das Signal empfinge ?
Auch uns selbst dürfen wir von dem allgemeinen Gesetz nicht
ausschließen. Es ist oft gesagt worden (und nichts kann wahrer
sein), daß Bismarck die Traditionen Friedrichs des Großen in
Preußens Politik wieder aufgenommen habe: so hat er Öster-
reich zu Boden geschlagen und so Deutschland erobert; sie hat er
auch in dem neuen Reich zu behaupten gesucht, und sie wirken
in allen unsern Kämpfen nach; auf ihren Wegen liegt, so ist der
Glaube der Patrioten, das Heil unseres Volkes. Die wirtschaft-
liche Expansion, die Ausbildung unserer Industrie und alle Um-
wälzungen, die dadurch bedingt waren, haben die Grundkräfte,
die konstituierenden Elemente unserer Politik nicht verwandelt,
sondern sie in den Kämpfen der Parteien nur schärfer heraus-
gebracht. Noch merkwürdiger ist, daß auch Nationen, die ihren
Staat längst verloren haben, wie die Polen, unter demselben Zeichen
stehen. Aufgeteilt unter die übermächtigen Nachbarn, in den
Lenz, Kleine historische Schriften. 3°
594 Kleine historische Schriften.
Grundformen ihrer Wirtschaft und ihrer Gesellschaft ganz ver-
wandelt, hat dies Volk dennoch alle Überlieferungen seiner Politik,
alle Ziele seines Ehrgeizes bewahrt, und gerade sie verleihen ihm
die Kraft, die es fähig macht, das schwere Schicksal der Unter-
drückung ungebeugt zu ertragen.
Wenn dies aUes richtig ist (und die Beispiele ließen sich un-
gezählt vermehren), wird es wohl auch so bleiben. Und damit
sind die Phantasien derer, die aus wirtschafthchen Motiven, mit
denen sie alles erklären wollen, den Zusammenschluß der Mächte
unseres Kontinents (ich weiß nicht, ob gegen Amerika oder England
oder gegen beide zugleich) prophezeien, ebenso gerichtet wie die
Träume vom ewigen Frieden: Seifenblasen, welche ab und an
aufsteigen und den Diplomaten zum Spiel dienen mögen, die
aber durch jeden Stoß und schon durch ein Zittern in der poh-
tischen Atmosphäre zum Platzen gebracht werden. Und gerade
so schattenhaft sind aus demselben Grunde die Utopien unserer
sozialistischen Propheten. Sie alle knüpfen an die Voraussetzung
an, daß der Kampf der Mächte aufhören könne, der Weltfriede
möglich sei, daß die Interessen der Arbeiterwelt international,
ja, daß die wirtschafthchen und darum auch die politischen Kon-
flikte unmögUch gemacht wären, sobald erst die Welt nach ihren
Interessen eingerichtet wäre: als ob nicht vielmehr, wenn jedes
Volk alle seine sozialen Ordnungen lediglich nach wirtschaft-
lichen Interessen einrichten wollte, der nationale Egoismus am
allerbrutalsten sich entwickeln müßte. Zum Glück straft sie die
Geschichte ihrer eigenen Partei, ja die Antriebe, die in ihr leben,
selbst an jedem Tage Lügen. Wider Willen wandeln sich ihnen
ihre Schlagwörter und Programme. Auch sie sind eben dem obersten
Gesetz, das den Staat beherrscht, unterworfen; indem sie auf
ihren Parteitagen schon über die Fragen unserer Bewaffnung
und unserer Stellung zu den fremden Mächten fast in nationalem
Sinn debattieren, erkennen sie damit, ihren internationalen Prin-
zipien zum Trotze, an, daß deutsche Macht und Ehre auch für
sie Bedeutung haben. Schon heute dürfen wir mit voller Sicher-
heit sagen, daß der Umwandlungsprozeß in dieser Partei, er müßte
denn gewaltsam verhindert werden, sich fortsetzen wird. Um
Ein Blick in das zwanzigste Jahrhundert. 595
eine Ära der Revolution zu erwarten, wie die erste Hälfte des
alten Jahrhunderts sie gebracht hat, würde vor allem gehören, daß
die Eifersucht unter den Mächten und Nationen geringer würde,
als es heute der Fall ist. Aber niemals ist ihre Rivalität stärker
entwickelt gewesen. Gerade die Demokratisierung unserer Na-
tionen hat das Selbstbewußtsein einer jeden und das Streben,
es den andern zuvorzutun, gestachelt und unermeßlich gesteigert;
bei jedem kolonialen Erwerb, bei jeder Ausbreitung des Handels
und der Industrie, in jedem Zweige der nationalen Arbeit tritt
dieses Moment hervor. Der Kampf der großen Staaten um die
Herrschaft des Erdballs bändigt die Parteien in ihrem Schoß;
wer sich dem tiefsten Instinkt der Nationen, Macht zu gewinnen,
widersetzt, über den wird ihr Wille hinwegschreiten.
Eins freilich ist nötig: daß das oberste Gesetz, das Gemein-
gefühl, das in dem Staate lebt, der Wille zum Dasein und zur Macht
in ihm lebendig bleibe. Denn unsterblich ist er nicht.
68^=^?^
38*
Die Stellung der historischen Wissen-
schaften in der Gegenwart.
(1897.)
Das »naturwissenschaftliche Zeitalter«, so hat einmal Werner
Siemens in einem berühmt gewordenen Vortrage unsere Zeit
genannt, und unzählig oft ist ihm das Wort nachgesprochen worden ;
man pflegt es wie eine selbstverständliche Wahrheit zu wieder-
holen. Die gesamte Kultur unserer Epoche sieht er beherrscht,
ja heraufgeführt durch die Macht der mit der Naturwissenschaft
verbündeten Technik. Unzerstörbar nennt er ihre Triumphe,
unversiegliche Quellen nicht nur des Wohlstandes, sondern des
inneren Glückes und der idealen Güter; er möchte dem »neuen
Zeitalter der Menschheit« ewige Dauer verheißen. Und gewiß
war niemand berechtigter als er, sich zum Lobredner der AUianz
zwischen Naturerkenntnis und Technik zu machen, von der er die
Berechtigung seines Ausspruches herleitete. Jeder Knabe kann
die wunderreichen Wandlungen nennen, welche die über die Natur
gewonnene Herrschaft seit siebzig Jahren herbeigeführt hat :
das soziale wie das pohtische Leben sind dadurch auf das tiefste
beeinflußt worden; und der Name des genialen Technikers, der
seine Erfindungen auf einem tief dringenden Studium der
Naturkräfte aufgebaut hat, wird jederzeit mit der Geschichte
imserer Epoche verbunden bleiben. Aber so formuliert und be-
gründet, muß jene Bezeichnung dennoch als einseitig und über-
trieben bezeichnet werden. Ich will nicht wiederholen, was da-
gegen von berufenster Seite, von Wilhelm Waldeyer, eingewandt
Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart. 597
worden ist, daß auch das Jahrhundert der Newton und Linne,
der Lavoisier und Laplace Bahnbrecher in der Naturwissenschaft
gehabt hat, ja, daß gerade die DiszipHnen, welche heute die höchsten
Triumphe in der Umwälzung der Technik feiern, damals zum
Range einer Wissenschaft erhoben wurden. Ich will von meiner
Seite aus jenen Anspruch auf Alleinherrschaft bestreiten und
behaupte vielmehr, daß die historischen Wissenschaften an Um-
fang wie an Wirkung den Wettstreit mit denen von der Natur in
keiner Weise zu scheuen haben.
Denn niemals war die Lust, in den weiten Räumen der Ver-
gangenheit umherzu wandeln und sie uns gegenwärtig zu machen,
größer als heute. Es gibt keine Geisteswissenschaft, welche nicht
bemüht wäre, sich ihrer Entwicklung bewußt zu werden und
alle ihre Ziele in Zusammenhang zu bringen mit dem Gange der
Jahrhunderte, die sie durchmaß. Jurisprudenz, Nationalökonomie
und alles Wissen vom Staate wie alle Zweige der Theologie sind
mit historischer Forschung unterbaut. Die Ästhetik und die
Künste selbst wollen sie nicht mehr entbehren. Und unsere Philo-
sophen, soweit sie nicht bei den Naturforschern in die Lehre gehen
und auf ihrem W'ege der Empirie in die Geheimnisse des Seelen-
lebens einzudringen versuchen, sind heute mehr darauf aus, ältere
Systeme zu studieren, als eigene aufzustellen. Die Systematik
ist, ich will nicht sagen verdrängt, aber ganz durchsetzt mit Historie,
also mit einer Betrachtungsweise, die an sich dem systematischen
Denken abhold ist und zunächst jedenfalls zersetzend darauf
einwirken muß.
An Umfang unserer Studien könnten wir uns daher mit unseren
Rivalen sicherlich messen. Es fragt sich nur, ob wir gleichviel
gewonnen und gewirkt haben wie sie, und ob wir ein Anrecht
haben, uns auf unserem Boden ebenso sicher zu fühlen.
Nicht alle Zeiten haben an die Möglichkeit des historischen
Erkennens geglaubt. Das Wort von der »fable convenue« ist
erst im i8. Jahrhundert geprägt worden. Die römische Welt-
anschauung, die mächtigste vielleicht der Gegenwart, erkennt
es überhaupt nur so weit an, als es ihrem Willen und Horizonte
nicht widerstreitet; tausend Federn setzt sie täglich in Bewegung,
598 Kleine historische Schriften.
um Dogma und Historie miteinander in Einklang zu bringen
und. wo sie auseinander gehen, den Vorrang ihres Glaubens zu
erweisen. Aber auch in unserem Lager gab und gibt es bis in die
Reihen der Fachgenossen hinein Skeptiker genug, welche der
Historie den Anspruch auf vollwertige Gewißheit absprechen.
Vor allem die politische Geschichte hat von jeher unter dieser
Ungunst zu leiden gehabt. Denn, so sagen die Zweifler, und die
Römlinge helfen wacker mit, wir seien allzu fest mit dem Partei-
getriebe unserer Tage verwachsen, um uns darüber zu erheben ;
das Augenblicksleben mit seinen Leidenschaften, und Interessen
trübe unseren Bhck und erst eine ferne Zukunft könne Unklar-
heiten und Fehler unserer Beobachtung ergänzen.
Wäre dem so, so würde jeder Anspruch, der Systematik die
Wege zu weisen, in sich zerfallen. Denn es ist gar nicht abzusehen,
weshalb, was der politischen Historie verwehrt wird, anderen
Zweigen historischer Kritik zuerkannt werden soll, zumal da
die politische Geschichte sich an keinem Punkte von anderen
Gebieten der Kultur loslösen läßt. Oder wie könnte etwa die
moderne Kritik der Bibel Alten und Neuen Testamentes, ja des
ganzen Dogmengerüstes der christlichen Kirche imstande sein,
die Kontrole über die Behauptungen der Dogmatik auszuüben,
wenn sie ihrer selbst nicht gewiß wäre. Denn es läßt sich doch
wirklich nicht sagen, daß die Konsequenzen der kritischen Theo-
logie an praktischer Bedeutung hinter der Betrachtung etwa
der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert zurückstehen ;
gerade sie greift vielmehr am allertiefsten in die Weltanschauung
jedes einzelnen und in die gesamte Struktur unserer Gesellschaft ein.
Hätten jene Skeptiker recht, so würde das Wort von dem
»Geist der Zeiten« Wahrheit haben:
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Es ist der zweifelnde und fast verzweifelnde Faust, dem es
der Dichter in den ^lund legt: seinem Famulus wirft er es ent-
gegen.
Wie aber? Sollen wir die Sache des Pedanten vertreten,
das flache Selbstbewußtsein, dem das Pergament der heilige
Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart. 599
Bronnen ist ? Nun ja, es läßt sich eben doch nicht leugnen, daß
es unserer Zeit ein großes Ergötzen macht, sich in den Geist
der Zeiten zu versetzen; und also können wir nur, wenn wir uns
auf die Urkunden verlassen dürfen, dem höhnenden Urteil des
großen Grüblers, in dem schon Mephisto zu Worte kommt, mit
Fug begegnen.
Und dennoch würde Goethe auch mit jenem Worte vielleicht
recht behalten haben, und wir brauchen nicht lange nach den Herren
zu suchen, auf die es wie gemünzt erscheinen könnte. Oder was
war es anders als eine Abspiegelung der Vergangenheit in der
Herren eignem Geist, wenn die Romantiker den Nebelglanz des
Mittelalters in Leben und Dichtung neu heraufführen wollten, als
eine phantastische Fata Morgana, ein Gegenbild ihrer eigenen Stim-
mungen, das ihnen krankhafte Sehnsucht in den rauhen und
finsteren Jahrhunderten der triumphierenden Kirche vorzauberte.
Doch auch aus anderen Zeiten würde es Faust an Beispielen
nicht gefehlt haben, um einen Wagner zu widerlegen. Jahrhunderte
hindurch war Herstellung der Antike das Schlagwort der ge-
bildeten Welt. Niemals mehr als im Zeitalter Petrarcas und seiner
Jünger, welche das Leben Griechenlands und Roms nicht bloß
studieren, sondern nachbilden, ihr Jahrhundert und ihre Nation
mit dem Leben der Alten beseelen wollten. Tausend neue Keime
haben sie in ihre Zeit gesenkt, aber niemals erreichten sie, was
sie wollten ; sie konnten aus der Vermählung der Antike mit ihrem
eigenen Geist nur ein Neues schaffen, und ihre Lust an dem Sinn
und Leben der Alten entsprang nur wieder der Sehnsucht nach
Befreiung aus der Stickluft ihrer Tage, verkündete das Erwachen
der modernen Nationen. Mit Fausts Argument bekämpften sie
die Scholastik, die dem Geist des Altertums das eigene hippo-
kratische Gesicht unterstelle. Aber wenn sie dem Aristoteles
der Hierarchie ihren Plato entgegensetzten, so verschwand auch
ihnen wieder die Lichtgestalt des hellenischen Denkers in dem
mystischen Nebel neuplatonischer Ideen, die sie selbst in dem
Dunstkreise mittelalterlicher Weltanschaimng festhielten. Und
so mögen wir durch die Jahrhunderte vorwärts schreiten und
rückwärts — immer begegnet uns dies Gleichsetzen und Ver-
gOQ Kleine historische Schriften.
wechseln von Gegenwart und Vergangenheit und diese Ohnmacht,
das Abgestorbene in seiner Wesenheit zu begreifen. Nirgends
waren die Elemente christHcher und heidnischer Cberheferung
krauser gemischt und ihrer Eigenart mehr beraubt, als in der
mittelalterlichen Kirche. Und doch macht gerade sie den An-
spruch, den Willen der Gottheit, das Evangehum in seiner Ur-
sprünglichkeit zu besitzen; in jedem Moment will sie es noch heute
sichtbar machen, ja in der Hostie dem Gläubigen greifbar und
schmeckbar geben. Sie will den Geist Christi verkörpern und
gleicht doch nur dem Geist, den sie begreift.
Jedoch auch die Gegner des römischen Stuhls können sich
aus diesen Stricken nicht lösen. Ein historisches Faktum, die
Erscheinung und die Lehre Christi, ist die Basis ihres Glaubens.
Darin suchen sie ihre Rechtfertigung, und alle ihre Angriffe gegen
Rom gipfeln darin, daß sie den Herrn und sein Wort richtiger
zu begreifen meinen. Alle Sekten, die in der Kirche aufgetreten
sind, lassen sich in diesem Zirkel beschreiben. Sie alle verwendeten
Faustens Argument : als Zutaten späterer Jahrhunderte bezeichnen
sie die römischen Abweichungen, mag es Dogma oder Verfassung
betreffen; der Herren eigener Geist soll ihren Widersachern aus-
getrieben, das Ursprüngliche hergestellt werden. Luther und alle
Reformatoren geben sich nicht anders; das lautere Evangelium,
so wie es, aus Christi Mund und Gottes Geist in den heiligen Schriften
offenbart, jedermann in dem Volke vor Augen steht, wollen sie
aufs neue verkündigen. Und doch, wer will es leugnen, daß sie
alle die Überheferung mit Eigenem, ihrem Geist und ihrer Zeit
Angehörigem versetzten? Ja, unser Herr Christus selbst, wenn
er lehrte, daß er gekommen sei, um das Gesetz zu erfüllen und
die Verheißungen der Propheten, und daß kein Tüttelchen vom
Gesetze aufgelöst werden solle — oder die Juden nach der Heim-
kehr aus dem Exil, wenn sie von der alten Herrlichkeit Israels
dichteten und träumten und nach Moses' Namen ein neues Gesetz-
buch nannten: was taten sie anders, als daß sie das Bild der
Gegenwart mit all ihren Zweifeln und Hoffnungen auf den Nebel
der Vergangenheit projizierten! Alle Propheten aller Jahrhunderte
haben so gehandelt: immer waren es die \'^äter, die Verstorbenen,
Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart. QOl
die sie als Zeugen und Helfer anriefen. So tat Jean Jacques Rousseau,
da er den Jungbrunnen für das neue Leben jenseits aller Geschichte
in einem reinen Zustand der Natur zu entdecken wähnte: nie-
mals hat es ein traumhafteres Gegenbild aller Wirklichkeit ge-
geben; alles will er vernichten, was zwischen dort und hier liegt;
aus dem Schlamm der Zivilisation will er die Marmorstatue des
Kindes der Natur herausholen.
Die Ideen der Religion, der Kirche, des Staates, der Gesell-
schaft knüpfen sie an die Vergangenheit, ja an den Ursprung
der Menschheit; aber ihre Zwecke gehören immer der Gegenwart
an: die kranke Zeit soll geheilt und die alte Welt wieder jung
werden; des Rätsels Lösung wollen sie finden, den Gleichklang
für alle Lebensdissonanz, das Gesetz, das die Gewähr gibt auch
für die fernste Zukunft.
Solche Fülle von Tiefsinn steckt in jenem Faustischen Worte.
Das Größte, was die Menschheit geschaffen, stammt aus einem
Glauben, der die Zeiten verwechselt; dem tiefsten Bedürfnis
des Menschenherzens ist er entsprungen.
Und so ist es eine der Hauptaufgaben für alle Historie, das
Gespinst dieser Gedanken auseinanderzureißen, welche die Jahr-
hunderte miteinander vertauschen.
Wir setzen damit aber nur fort, was längst begonnen war.
Denn immer noch hat die Nachwelt das historische Bild, das die
vergangenen Generationen geschaffen, umgestoßen oder doch
vöUig korrigiert. Das Interesse trieb die Kritik hervor; in dem
Kampf gegen das Überlebte ergriff man auch diese Waffe. So
tilgte das Christentum den Pharisäerglauben aus, indem es den
Gott der Juden in dem Vater der Menschheit wiederfand. So
zerbrach Luther den historischen Untergrund, auf dem die römi-
sche Kirche ihre Lehren und Ansprüche in allen Jahrhunderten
errichtet hatte: niemand hat je ihr trugvolles System fester an-
gepackt und gewaltiger mit ihrer Fabelfülle aufgeräumt. Weit
zurück tritt alles, was die Humanisten vor ihm getan haben. Sie
hatten an den Ecksteinen nur gerüttelt: aus den Fundamenten
hoben den Bau erst Luthers Bauernhände. Nicht die Intelligenz
war es, welche den Fortschritt der historischen Erkenntnis be-
gQ2 Kleine historische Schriften.
dingte: sondern die sittliche Kraft und die Energie eines neuen
Lebensprinzipes. Ihm folgte erst die Kritik und blieb doch zu-
gleich in den Schranken, die jenes ihr setzte.
Und nicht anders in späteren Epochen. Das Zeitalter kon-
fessioneller Politik mußte absterben, bevor ein Pufendorf und
Bolingbroke die Grundlinien der politischen Geschichte des modernen
Europas entdecken konnten. Die Weltanschauung des i8. Jahr-
hunderts mit ihrer Voraussetzungslosigkeit gegenüber Natur
imd Geschichte gehörte dazu, um eine objektive Auffassung auch
der Kirchengeschichte zu ermöglichen. Und wieder war es erst
die Reaktion der Romantik gegen die Überhebung der Aufklärung,
welche die historische Größe der Kirche des Mittelalters ver-
stehen lehrte und dem Verständnis für die Eigenart der wechselnden
Epochen die Bahn brach.
Wie stehen wir nun zu dem Problem ? Können auch wir nichts
anderes, als die eben Verstorbenen kritisieren und vielleicht die
Erkenntnis der Geschichte um die paar Linien unseres Hori-
zontes weiterführen ? Wird uns vielleicht schon die nächste Gene-
ration von den Richterstühlen herunterstoßen, in denen wir uns
heute breit machen, und unsere Schilderungen auch nur wieder
zu Spiegelbildern unseres eigenen Geistes herabdrücken ?
Räumen wir zunächst ohne weiteres ein, daß uns noch vieles
fehlt, und daß zukünftige Geschlechter Methode und Urteil ver-
schärfen und vertiefen w-erden. Das ist eine Konzession, welche
auch die Naturforscher ohne Bedenken ihren Nachfolgern machen
werden. Danach aber halte ich jener Besorgnis entgegen, daß
wdr heute keine Nebenzwecke, keine besonderen Ideale verfolgen.
Wir wollen nur berichten, wie wir zu dem geworden sind, was
war sind, und behaupten gar nicht, daß wir es besonders weit
gebracht haben. Wir stehen der Vergangenheit gegenüber wie
der Naturforscher der Pflanze oder den Perioden unserer Erd-
geschichte, in denen er unsere Ursprünge bis zum Affen und unsert-
wegen noch weiter hinauf verfolgen mag. Wir wollen, solange
wir studieren, aus den alten Zeiten nichts heraufholen, was un-
mittelbar lebengestaltend wirke; wir wollen keine Geister be-
schwören. Wir würden nicht zurückscheuen, den Schleier zu
Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart. 603
heben, und ginge es uns wie dem Jüngling zu Sais. So wenig
wollen wir ein System und dogmatische Werte, daß wir im Gegen-
teil alle Systematik auflösen und die Bedingtheit alles irdischen
Wesens und Begehrens nachweisen. Wir wollen nichts als unter-
suchen und entdecken, Land gewinnen, wie es Faust als das be-
freiende Ende ziellosen Strebens begrüßte.
Und immerhin dürfen wir sagen, daß wir ein Stück Weges
zurückgelegt und dort tiefgründigen Kulturboden aufgedeckt
haben, wo frühere Generationen nichts als den wogenden Nebel
der Sage und das Gestrüpp verwirrter Überlieferung erblickten.
Wie flach gemalt erschien das Bild der römisch-griechischen Kultur
noch im Jahrhundert der Aufklärung und wie eng der Rahmen
der es hielt, bevor Winckelmanns schönheitsdurstige Seele das
Land seiner Sehnsucht, die Welt hellenischer Formen entdeckte!
Damals hatten sich Römertum und Griechentum in der allgemeinen
Auffassung noch kaum voneinander gelöst, ja die Griechen traten
hinter Cicero oder seinesgleichen weit zurück; und über allem
lag der matte Glanz der gleichen klassischen Erhabenheit. Heute
ist die Perspektive auf das Altertum durch Jahrtausende hindurch-
geführt: jede Epoche hat ihre Stellung erhalten; tiefe Schatten
zeigen sich, wo eine frühere Zeit nichts als Licht sah, und eine
Fülle von Leben tritt hervor, wo sonst alles im Dunkel lag. Troja
und M^^kene, Argos und Orchomenos sind uns nicht mehr bloße
Stätten sagenvollen Glanzes, sondern wir sehen die Staaten und
die Menschen vor uns, um deren Kämpfe die Sage der Hellenen
ihre goldenen Fäden spann. Aus den Scherbenhügeln der syrischen
Landschaften, aus den Urwäldern von Mexiko und Texas erheben
sich vor uns wie aus Grabesdunkel verschollene Kulturen. Und
bis ins 4. Jahrtausend und weiter zurück können wir in den Mutter-
reichen unserer Bildung am Nil und Euphrat, in Ägypten und
in Assyrien, die vergangenen Geschlechter bei ihrem täglichen
Leben und Treiben bis in das kleinste Detail, man kann sagen
bis in Küche und Keller, beobachten.
In allem aber dringen wir in das Wesen, die Eigenart der
Zeiten ein. Wir machen kaum den Anspruch, wie die Natur-
forscher, die »>dauemden Gedanken«, die Gesetze in der Erschei-
504 Kleine historische Schriften.
nungen Flucht nachzuweisen; nur das bunte Bild des Lebens
in allen Jahrhunderten wollen wir abschildern. Aber gerade darum
l^eginnt der Geist der Zeiten sich vor uns zu entschleiern.
An dieser Stelle merken wir recht, daß wir Historiker auch
in der Wirkung unserer Gedanken sehr wohl den Rivalen an die
Seite treten dürfen. Auch wir wollen so wenig wie sie »über den
Erdkreis hinweg die Augen blinzend richten <<, und nur »was sich
erkennen läßt, ergreifen«. Wir zittern vor keinen Konsequenzen,
welche dies allseitige Antasten und Nachprüfen unserer Welt-
vorstellungen nach sich ziehen könnte. Es ist ein Anblick, an
dem Mephisto beinah seine Freude haben könnte; vielleicht würde
ihm sein Giftwort einfallen vom Bangewerden um unsere Gott-
ähnlichkeit oder auch der ältere Spruch von seiner Muhme,
der Schlange. \\'ir nagen an jeder Wurzel, wir rütteln an jedem
Steinchen, das den kunstvoll verschlungenen Bau unserer Gesell-
schaft trägt. Keine Überlieferung, kein Glaube, kein Gesetz,
keine Urkunde, und trüge sie göttliche Siegel, ist vor unseren
Spürnasen sicher. Wir graben und graben, wie die Lemuren gruben,
als sie auf Faustens Geheiß die Kanäle zogen, um ihm von neuem
Land zu gewinnen; — aber Mephisto war ihr Werkführer, und
sie gruben dem Meister das Grab.
Wohl hören wir tausend Stimmen, einen lärmenden Chorus,
»halt ein!« rufen. Ihre Weisheit besteht im Festhalten dessen, was
steht, weil es einmal dasteht — sie nennen das konservativ. Aber
soweit dabei nichts als Angst vor der Zerstörung das Wort führt,
wird ihnen alles Geschrei wenig helfen. Denn unaufhaltsam schwillt
die Flut des Wissens empor. Und schon wächst sie mehr fast
in die Breite als in die Höhe. Von den Massen wird sie als Macht-
element begrüßt und erstrebt. Alle technischen Errungenschaften
wirken nur dienend und verstärkend mit; indem sie die Menge
zusammenführen und die neuen Gedanken mit der Schnellig-
keit des Blitzes über die Erde verbreiten, wirken sie gleichsam
wie Windstöße, welche mit immer stärkerer Gewalt die wogende
Macht vorwärts treiben.
Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart. 605
Vor der Wucht dieser Aufklärung tritt die des i8. Jahr-
hunderts tief in den Schatten. Damals gab es nur einen kleinen
Kreis von Wissenden, und die große Menge lebte in den gewohnten
Bahnen des staatlichen und kirchüchen Lebens dahin ; konfessionell
waren immer noch die Streitigkeiten, die sie etwa interessierten.
Es waren, zumal in Frankreich, dem Mutterlande der Aufklärung,
die Reichen und Vornehmen, »la bonne compagnie«, welche die
neue Bildung besaßen, als ein neues Vorrecht zu ihren alten:
das Privileg des Witzes; und selbst die Wortführer, wie Voltaire,
dachten lange Zeit nicht daran, der Menge, dem »Pack der Knechte
und Mägde«, den »Aberglauben« zu nehmen. Heute ist es eher
umgekehrt: die harten Fäuste ergreifen und entzünden an den
hin und her fahrenden Blitzen ihre Fackeln, und angstvoll sehen
wir die Besitzenden und Gebietenden herbeieilen und zur Ab-
wehr der feurigen Lohe ihre hölzernen Mauern besteigen.
Kein Zweifel, daß die nervöse Unruhe unserer Zeit, ihre Angst
vor der Zukunft, ja das Gefühl seehscher Verarmung, welches
weite Kreise zu ergreifen droht, zum guten Teil auf diese fort-
schreitende Kritik und Unterhöhlung aller unserer Überlifeerungen
zurückzuführen ist. Mit den Erfolgen der Naturerkenntnis finden
wir uns viel leichter ab, denn sie berühren nicht so unmittelbar
das Nervengeflecht der Gesellschaft und lassen sich viel leichter
ausmünzen, in politische und soziale Macht umsetzen, als das
historische Wissen. Auch sie fordern ungezählte Opfer, wie alles
menschliche Schaffen zugleich Zerstörung ist ; aber man sieht doch
bei ihnen das »wo und wie«, und die ungemessenen Vorteile, die
sie gewähren, lassen uns am Ende vergessen, was sie vernichteten.
An der historischen Aufklärung aber nehmen wir zunächst nur die
zersetzende Kraft wahr, und nicht die unwägbaren Güter, denen
sie nun doch vielleicht Raum verschaffen möchte. Kalt und scharf,
gleichsam elektrisch, ist das Licht, das sie ringsumher ausgießt.
Die Romantik, welche das sagen webende Dämmerlicht der Ge-
schichte liebt, gedeiht nicht mehr in dem Plein air unserer Tage.
Wo sie noch erscheint, ironisiert sie sich wohl selbst, wie bei Joseph
Viktor Scheffel, oder sie drapiert sich mit dem erborgten Flitter
religiöser Mystik und moderner philosophischer Ideen, wie bei
^06 Kleine historische Schriften.
Richard Wagner; oder sie verbündet sich direkt klerikalen Ten-
denzen, wie bei dem Dichter von Dreizehnlinden. Unnatürlich
und abstoßend wirkt sie, sobald sie sich in das grelle Tageslicht
liinauswagt, wie bei den spiritistischen Frauengestalten Ibsens
in der trockenen Stubenluft seiner bürgerlichen Trauerspiele.
Und so drohen, es ist schmerzlich zu sagen, vor diesem Hin- und
Herleuchten in alle Winkel des Erdenlebens, die guten Geister
aus Phantasus' Reich zu entweichen.
Glücklich die naiven Zeiten, denen ein paar Motive aus der
alten Kunst, Rundbogen oder Säule, genügten, um sie mit der
eigenen quellenden Phantasie zu verschmelzen und so eine Kunst
zu schaffen, welche, in sich abgeschlossen, das Können und Streben
der Epoche zu einem vollen und klaren Ausdruck brachte. Heute
sind unsere Architekten mit allen Epochen der Stilgeschichte
vertraut, und unsere jungen Mädchen wissen schon über die Maler-
schulen Hollands und Italiens zu sprechen. Wir sammeln in unsem
Museen die Kunstprodukte aller Länder und Zeiten, von den
Ägyptern und Assyrem herunter bis zu den Südseeinsulanem
und Kaffern. Auch sind wir bewunderungswert im Restaurieren.
Die Kirchen, welche unsere Väter unausgebaut ließen, stellen
wir wieder her, so prachtvoll und harmonisch, wie sie nur je ge-
dacht wurden. Wir sind unvergleichlich im Imitieren. Alle Stil-
gattungen wissen unsere Baumeister zu handhaben. Sie bauen
gotisch und romanisch, im Stil griechischer Tempel und arabischer
Moscheen, in deutscher und italienischer Renaissance, Barock
und Rokoko, \\ie es kommt, mit tiefer Kenntnis und oft vollendetem
Geschmack und Formsinn ; und ihnen nacheifernd füllen die Kunst-
handwerker unsere Zimmer nach analogen Musterzeichnungen,
wie es die wechselnde Mode mit sich bringt. Gewiß haben auch
frühere Epochen, wie das i8. Jahrhundert, überlieferte Formen
in Fülle verwandt; aber an der koketten Grazie des Rokoko und
an dem schwerfälligen Prunk der Barockkunst wird jedermann
leicht die Einheit und den Zusammenhang dieser Formen mit
der Gesamtkultur ihrer Zeit herausfinden. Wo aber ist in der reich
und glänzend entwickelten Architektur von heute der Typus,
der dem Zeitcharakter entspräche ? Ich wüßte es nicht zu sagen,
Die Stellung der historischen Wissenschaften in der Gegenwart. 607
man müßte ihn denn in der Stilvielheit, in der Eklektik selbst,
welche das historische Studium hervorrief, entdecken wollen.
Kein dramatischer Dichter würde es heute wagen dürfen, die
Zeiten und Menschen so durcheinander zu würfeln, wie es noch
unsere Klassiker oder gar Shakespeare ohne Sorge taten. Es
wäre für sie undenkbar, etwa den wackeren alten Haudegen,
den Prinzen von Homburg mit seinem silbernen Stelzbein, in
einen traumwandelnden Heldenjüngling, oder den kinderreichen
flämischen Familienvater Graf Egmont in einen jugendlich schönen
Liebhaber, oder gar den buckligen und halb verrückten Sohn
Philipps II. in die Idealgestalt eines für Freiheit und Humanität
schwärmenden Jünglings umzuwandeln — jeder Schuljunge
würde sie auslachen. Nicht ohne Grund hat man die Geschichte
die führende Muse Schillers genannt. Aber genau besehen, sind
alle seine historischen Gestalten, selbst diejenigen seiner Prosa-
werke, nur wieder Abspiegelungen der Vergangenheit in seiner
eigenen Seele, die mit allen Fasern dem i8. Jahrhundert ver-
knüpft war. Heute sind wir historisch so geschult, daß wir uns
sogar die losen Szenen Shakespearescher Dramen nur unter ängst-
lichster Beobachtung der Kostüme jener Zeiten gefallen lassen,
in die der Dichter sie zufällig verlegte; und wir bemerken gar
nicht, daß wir dadurch im Grunde den Riß zwischen dem Geist,
der sie beseelt, und dem historischen Aufputz, in dem sie erscheinen,
lediglich erweitern. In ihren eigenen historischen Dramen aber
müssen unsere Dichter sich ebensosehr dem Geiste der abge-
schilderten Epoche anschmiegen , wie ihren äußerlichen Um-
rissen.
Und so sehen wir, wie sie die modernen Geschichtsbücher
zur Hand nehmen oder gar die Quellen selbst studieren und die
Sprache der Vorfahren, falls die Geschichte in Deutschland spielt,
nachahmen. Der eine treibt die Annäherung an die Vergangen-
heit so weit, daß er ihr jeden Schleier abreißen und sie in natura-
listischer Nacktheit hinstellen möchte; andere wieder suchen
patriotische Klänge wachzurufen und die politischen Konflikte
der Gegenwart den heroischen Gestalten der Vorwelt anzudichten :
aber vor den Historikern vom Fach findet keiner rechte Gnade,
(^Qg Kleine historische Schriften.
und selbst die Rezensenten können das Nörgeln nicht lassen und
flicken ihnen ewig am Zeuge.
Wohin die Zeit mit ihrer Kritik geraten wird, und ob noch
einmal wieder Phantasie die mächtigen Flügel regen, Ruhe und
Friede, ein Glück und ein Glaube in die zerspaltene Welt ein-
kehren wird — wer will das sagen ? Das hieße Probleme berühren,
die jenseits unserer Aufgabe liegen. Wir wollen nur ergreifen,
was sich erkennen läßt, und uns unserer Schranken bewußt bleiben.
Doch bleibt in uns der Sehnsucht unnennbar schmerzliches Ge-
fühl, und so bleibe uns denn auch die Hoffnung auf des Himmels
schönste Tochter, die Erfüllung.
Nichts aber wäre törichter, als wenn wir uns aus Angst und
Sorge vor der Mühsal wegkehren und init archaisierendem Gelüste
trachten wollten, das Abgestorbene zu neuem Leben zu erwecken.
Nur um so heftiger und lauter würde die Kritik hinter uns her
geifern und die Sorge wahrlich nicht von uns weichen. Wir würden
uns selbst mit Unfruchtbarkeit schlagen. Denn die naive Zuversicht,
mit der die Alten dichteten und schufen, würde dahin sein. Der
Glaube an ihr Werk war es, was sie beseelte, und er allein half
ihnen im Schaffen. Machen wir es wie Faust, der Greis Gewordene,
und rufen wir der Sorge zu, daß wir am rechten Orte sind. Wir
wollen die Hand am Pfluge halten und das Haupt nimmer-
mehr wenden. So wird es einst nicht fehlen an Frucht und Schatten.
Wir wollen unserer Straße ziehen, und sollten wir das Land unserer
Sehnsucht auch ewig nur von ferne schauen.
m^=^^^
I
Rankes biographisdie Kunst
und die Aufgaben des Biographen.
Rede zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität
König Friedrich Wilhelms III.
(3. August 1912.)
Der Geburtstag ihres Königlichen Stifters ist der älteste und
war lange Zeit der einzige Festtag unserer Universität. Neunund-
zwanzigmal hat sie sich an ihm versammelt, um mit der Nation
vereint nach guter Preußensitte dem Lebenden ihre Glückwünsche
darzubringen und das Gelübde der Treue zu erneuern. Als er zum
dreißigsten Male wiederkehrte, war die sorgenschwere Stirn des
geüebten Herrschers erkaltet; der Tag der Freude war ein Tag der
Trauer geworden, und andere Tage gewannen seitdem im Reigen
der Jahre die Stellung des nationalen Festtages. Die Universität
aber bewahrte dem 3. August seinen festlichen Charakter, in dank-
barem Gedächtnis an den Monarchen, der in Preußens schwerster
Zeit sie ins Leben gerufen, und unter dem sie zur ersten Hochschule
Deutschlands erwachsen war; nur im Sterbejahr des Königs selbst,
unter dem Druck der Trauer, ist sein Tag ungefeiert geblieben.
So spiegelt sich in unserer Feier die Geschichte des Jahrhunderts
wieder und zugleich das besondere Verhältnis, in dem unsere Uni-
versität in hellen und in dunklen Tagen, unter dem Druck der
Knechtschaft und inneren Zwiespalts wie in den Zeiten leuchtender
Siege, zu ihren Königen gestanden hat: als »das geistige Leibregi-
ment des Hauses Hohenzollern«, um das stolze Wort zu wiederholen,
das einer unserer Rektoren, du Bois Reymond, an einem 3. August
geprägt hat, in der Stunde, da des vereinigten Vaterlandes Kraft
Lenz, Kleine historische Schiiften.. 39
gjQ Kleine historische Schriften.
an unserer Westmark versammelt war, bereit, einer verheerenden
Wettervvolke gleich über den Erbfeind des deutschen Namens
herzustürzen.
Unter allen diesen Stunden die dunkelste war doch die vor
hundert Jahren: als August Böckh zum ersten Male seines Amtes
als Redner der Universität waltete, vor einer Korona, in der neben
den Räten des Königs französische Offiziere saßen ; als der König,
dem Namen nach Freund und Bundesgenosse, in Wahrheit Knecht
des Welteroberers geworden war und seine Waffen ihm nur gehehen
hatte, um die eigenen Fesseln fester zu schmieden. Wie wenige
wußten damals von den Kräften, die so bald flammengleich aus
Preußens Erde emporlodern sollten, von den Helden, die unser
Volk in seinem Schöße barg! Müde und matt, ergeben in das Un-
abwendbare, die meisten nicht einmal sonderlich ergriffen von der
Not der Zeit, gingen König und Untertan den Geschäften des Tages
nach. Wunderbare Zeiten, deren Gedächtnis zu feiern die Nation
sich bereits anschickt: als das Schicksal, das der Uberstarke in
seiner Faust zu halten schien, sich von ihm wandte und die zurück-
flutenden Wogen in immer erneuertem Ansturm den Titanen
von Klippe zu Klippe bis hin zum Felsen St. Helenas warfen!
Niemals ist die Bedeutung der Persönlichkeit in der historischen
Welt sichtbarer geworden, niemals deutlicher, daß nur die im Mannes-
willen gesammelte sittliche Energie die träge Masse fortreißen
und mit Leben von ihrem Leben erfüllen kann.
Was könnte uns da näher liegen, als dieser Großtaten unserer
Vorväter zu gedenken! Jedoch ich widerstehe der Versuchung.
Denn erst das kommende Jahr -ward der Universität, die im \^order-
grunde des Kampfes stand, deren beste Männer Freunde jener
Helden, ja mit ihnen die Vorkämpfer der Nation waren, das Recht
und die Pflicht dazu geben. Heute möchte ich nur das soeben be-
rührte Problem erörtern. Ich hoffe auf Ihre Nachsicht, wenn ich da-
bei nicht sowohl originale Gedanken vorbringe als mich einem Größe-
ren anvertraue — dem Meister, als dessen Gefolgsmann ich mich
stets bekennen werde : an Rankes biographischer Kunst wollen \\dr
versuchen uns über die Aufgaben des Biographen zu orientieren^
Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen. Ql\
Auch Rankes vielgestaltige historische Muse hat sich einem
jener Führer des Volkes zugewandt, und gerade dem, dessen Wort
nächst dem des Königs am meisten galt, dessen feine Hand auf den
Hebel der Schleuse drückte, unter der die Fluten der preußischen
Erhebung brausend hervorbrachen. Aber niemals hat ein Werk
der historischen Literatur den Namen einer Biographie weniger
verdient als Rankes »Hardenberg«. Die Jugendzeit, die Entwick-
lung des Ministers bis zum Eintritt in den preußischen Dienst
wird noch dargestellt, umsichtig und lehrreich in jeder Zeile, aber
mit vorsichtiger Zurückhaltung und fast nüchtern im Urteil und
Ausdruck. Je breiter aber der Strom der Ereignisse wird, um so
mehr tritt das persönhche Element zurück. Über die große Politik
erhalten wir wertvollste Kunde; niemand, der sich mit der Zeit
beschäftigt, wird ungestraft daran vorübergehen dürfen. Aber eine
Biographie ist das Buch schon nicht mehr. Und in dem Moment,
wo der welthistorische Schauplatz, auf den die Napoleonischen
Kriege den preußischen Staat hinausgeführt hatten, sich wdeder
verengt, bricht es ganz ab, gerade da, wo das für den Biographen
interessanteste Problem im Leben Hardenbergs beginnt : der Kampf
der in dem befreiten und hergestellten Staat sich erhebenden Re-
aktion mit den liberalen Ideen, in deren Sphäre Hardenberg selbst
erzogen war, und die er in seiner Weise auf Preußen zu übertragen
versuchte. So gering dachte Ranke selbst von seiner Aufgabe
als Biograph des Ministers, der Preußen wieder in den Kreis der
großen Mächte eingeführt hat, daß er ihre Notwendigkeit nahezu
leugnete. »Was läge«, schreibt er, »an sich so großes an Hardenberg ?
Er ist nur dadurch einer historischen Darstellung würdig, daß er
um die Befestigung und Wiederherstellung der preußischen Selbst-
ständigkeit das größte Verdienst hat.« Und freilich darf man zwei-
feln, ob der Mann, den nach dem Worte einer klugen Freundin
die allmächtigen Stunden beherrschten, einer Biographie wert sei.
Denn wenn es die Aufgabe einer solchen ist, das Verhältnis der
Persönlichkeit zu der Umwelt zu beschreiben und das Maß, in dem
sie auf diese einwirkte, zu bestimmen, so ist dies bei niemand schwerer
als bei Hardenberg, der dem Lauf der Ereignisse immer mehr folgte,
als daß er ihn geleitet hätte, recht im Gegensatz zu den starken
39*
gl 2 Kleine historische Schriften.
Naturen, die ihn auf ihrer Bahn vorwärts stießen, mochte cUese
nun zur Befreiung und Erliebung des Vaterlandes führen oder
zur Reaktion. Aber auch da, wo Ranke Gestalten in den bio-
graphischen Rahmen spannte, bei denen die Macht der Persönlich-
keit sich mit der Macht der Stellung verband, hat er versagt.
Friedrich den Großen hat er in seiner preußischen Geschichte
und in späteren Werken in jedem Alter seines Lebens geschildert;
und niemals sind die Linien, in denen er seine Gestalt festgehalten
hat, schärfer nachgezogen worden: aber in der kleinen Biographie,
die er ihm gewidmet, hat er das Bild des großen Königs mit halb
verblaßten Farben und in fast schattenhaftem Umriß ausgeführt.
Und noch seltsamer mutet uns die Biographie Friedrich Wil-
helms IV. an, die Ranke mit jener vereinigt herausgab. Denn
mit diesem war er in herzlicher, auf Sympathie und langjährigen
Umgang gegründeter Freundschaft verbunden: aber gerade dieses
Moment läßt er darin weit zurücktreten; er schreibt über den ro-
mantischen König so nüchtern wie über den Schüler und Freund
Voltaires; nichts gibt er uns als ein paar an sich wertvolle, jedoch
nur lose zusammenhängende Bruchstücke aus dem privaten und
öffentlichen Leben seines königlichen Freundes. Freilich hat Ranke
■selbst beide Studien gar nicht des Titels, den er ihnen gab, für würdig
geachtet, er folgte darin nur einem Wunsche seines Verlegers.
»Biographische Digressionen « — der Ausdruck selbst ist bezeichnend
- - widmete er einem Don Juan d'Austria, einer Königin Christine :
Persönlichkeiten, deren tragisches Geschick oder seeUsche Kom-
pliziertheit, im Kontrast mit den Aufgaben, zu denen ihre Stellung
in der Welt sie bestimmte, ihn anreizen mochten; Biographien sind
auch sie nicht, noch sind sie als solche von ihm gedacht worden.
Das gleiche gilt von den Forschungen über Don Carlos wie von den
Arbeiten über Consalvi, Savonarola, Filippo Strozzi und Cosimo
Medici, die als »biographisch -historische Studien« einen Band der
Gesammelten Werke füllen. Als »eigenthche Biographien« hat Ranke
auch diese Aufsätze nicht betrachten wollen; »ich würde«, schreibt
er wiederum seinem Verleger, »damit die Rücksicht verletzen,
die ich dem gelehrten Publikum schuldig bin. « Nur einmal, in seinem
Wallenstein, hat Ranke das Problem der Biographie voll erfaßt
Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen. ßj^3
und bis ans Ende einheitlich durchgeführt. Aber selbst diesem
Werke will nicht jedermann den Charakter einer wahrhaften Bio-
graphie zubilhgen: hat er doch selbst sie im Vorwort als eine zur
Geschichte sich erweiternde Biographie bezeichnet und danach den
Titel, »Geschichte Wallensteins«, gewählt.
Hiernach können wir in der Tat zweifelnd fragen, ob wir ein
Recht dazu haben, die Aufgaben des Biographen nach den Vor-
bildern zu formuheren, die Ranke uns gegeben hat. Woran aber hegt
es, daß der Großmeister der Historiographie sich von der Form
der Geschichtsschreibung, die heute im Vordergrunde des Inter-
esses und vielleicht des Könnens steht, so fern gehalten hat ?
War es Scheu, an das Geheimnis der Persönhchkeit zu rühren ?
Oder persönhche Abneigung ? Das Gefühl der UnmögHchkeit ?
Oder des eigenen Unvermögens? Sollen wir etwa zugeben, daß
das echte biographische Talent wirklich nicht in ihm war? Daß
dies in einem Carlyle tiefer und ursprünglicher lebte? Daß der
Historiker, der den allgemeinen Zusammenhängen mit souveräner
Kraft nachzuspüren verstand, das persönhche Leben nicht zu er-
fassen vermochte? Sind beides überhaupt getrennte Ämter und
Vermögen ? Ist ein anderer Weg dazu nötig, um die Tiefen des
seelischen Daseins zu ergründen, und ein anderer, um das allgemeine
Leben zu begreifen ?
Daß die Sehnsucht nach dem Erfassen der Persönhchkeit
ganz ursprünghch in Rankes Seele brannte, daß er den Quell in
sich rauschen fühlte, die Schöpferkraft der Phantasie, die das
Leben der vergangenen Geschlechter hebend zu umfassen vermag,
zeigen die Briefe seiner Jugend. Im Reichtum der Jahrhunderte
möchte er schwelgen, alle die Helden sehen von Aug' zu Aug',
mitleben noch einmal und gedrängter, lebendiger fast alle Taten
und Leiden dieses unendüch vielseitigen Geschöpfes, das wir selber
sind. Das erste Buch, an das er denkt (schon als Student), ist ein
Leben Luthers; und noch als Greis bekennt er seinem Sohn, daß
er sich mit dem Gedanken getragen habe — in dem ersten Anfang
seiner Ehe, als er eine Reise an die heiligen Stätten mit der Gattin
geplant — , ein Leben Jesu zu schreiben. Er besitzt ein Mitgefühl
der Zeiten, aller Lebenssphären und aller Jahrhunderte, vor dem
ßl^^ Kleine historische Schriften.
jede Schranke fällt. Mit überwältigender Kraft offenbart sich
sein biographisches Talent gleich in den »Romanisch-Germani-
schen Geschichten«. Ganze Geschlechter und zahllose Einzelne
ziehen darin, einander drängend und stoßend, ein rastloser Strom,
an dem Leser vorüber, jeder in der Farbe seiner Quelle, in dem
Kostüm seiner Zeit, seines Stammes, der Welt, in der er lebte,
mit ihren Gedanken, ihren Empfindungen, ihren Leidenschaften.
Die »Fürsten und Völker«, die »Serbische Revolution« wetteifern
damit an Glanz der Farbe, während die Zeichnung noch schärfer,
der Hintergrund reicher und der welthistorische Rahmen fester ge-
worden ist. Dieselbe Kraft, schon sparsamer geübt, erscheint noch
in den der itahenischen Reise folgenden Werken. Erst von der
»Englischen Geschichte« ab verblassen mehr und mehr die Farben.
Aber die Schärfe der Charakteristik bleibt. Wo gibt es in der histo-
rischen Literatur Porträts wie das des sterbenden Cromwell, oder
ein Doppelbildnis wie das Gustav Adolfs und Wallensteins vor
ihrem Zweikampf bei Lützen, oder das des Eremiten von Sans-
souci mit seinem jugendlichen Püvalen, Maria Theresias ehrgeizigem
Sohn! Bis in die »Weltgeschichte« hinein reicht diese Kunst der
Linienführung; selbst aus den Jahrhunderten, in denen das Licht
der Quellen fast verloschen ist, aus dem Schöße von Nationen,
die ohne alle Überüeferung dahinlebten, treten uns unter der Hand
des Meisters Gestalten entgegen, die den Eindruck persönlichen
Lebens erwecken und zugleich das Gefühl der Sicherheit geben,
daß dies wirkHch ihr eigenes, erlebtes Leben, ihre historische Per-
sönhchkeit gewesen ist.
Bei alledem ist es richtig, daß Ranke noch etwas Höheres
kannte als das Eindringen in das Leben des Individuums. Denn
nur in Beziehung auf die höchsten Ideen ist ihm der Mensch, das
»Geschöpf, das ^^ir selber sind«, der Betrachtung wert. Gott zu
suchen war Ursprung und Anfang seines Forschens. In dem Zu-
sammenhang der großen Geschichte meinte er ihn zu erkennen.
Hier sieht er ihn »\vie eine heilige Hieroglyphe, an seinem Äußersten
aufgefaßt und bewahrt, vielleicht, damit er nicht verloren gehe
künftigen Geschlechtern und sehenderen Jahrhunderten.« »Wer
enthüllt Kern, Natur, lebend Leben des Individuums?«, so klagt,
Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen. ßj^5
verzweifelnd fast, der Vierundzwanzigj ährige. Aber schon ist er
getröstet: »TägHch«, so lesen wir unmittelbar vorher, »erweitert
sich Kenntnis und Aussicht über die Weltgeschichte.« Hier hat
er seine Lebensaufgabe gefunden. Immer aufs neue kommt er
darauf zurück, und niemals hat er sie anders aufgefaßt; seine bio-
graphischen Versuche selbst führen ihn wieder dahin. In das
»geheimnisvolle Wesen der Dinge und der menschlichen Seele«,
in ihre letzten Gründe einzudringen, vermeidet bereits sein Bhck.
»Denn«, so schreibt er präludierend zu Wallensteins Katastrophe,
»etwas Hypothetisches bleibt in dem Dunkel menschlicher Antriebe
und Ziele immer übrig. «
Nicht als ob Ranke das persönHche Leben aus dem allge-
meinen habe ausschalten wollen. Er sieht vielmehr, wie es die
Welt erfüllt; jedes Wort, jeder Wille wdrkt mit zum Ganzen:
»Menschheit wie sie ist: erklärlich oder unerklärhch: das Leben
des Einzelnen, der Geschlechter, der Völker, zuweilen die Hand
Gottes über ihnen«. Aber alles Tun und Treiben der Individuen,
all ihr Hoffen und Wünschen, ihre Sünden, ihre Bedürfnisse, ihre
Ideen, ihr Wissen, ihr Glaube, alles was sich aus Hirn und Herzen
löst, geht über in das allgemeine Leben, das von Epoche zu Epoche
ewig sich wandelnd und sich erneuernd durch die Jahrhunderte
flutet. Nur in diesem Rahmen werden die Individuahtäten sichtbar ;
in diesen Grenzen vollziehen sich ihre Geschicke; Glück und Un-
glück, Macht und Ohnmacht werden dadurch bedingt und be-
siegelt: »Die Entschlüsse der Menschen gehen von den MögHch-
keiten aus, welche die allgemeinen Zustände darbieten; bedeutende
Erfolge werden nur unter Mitwirkung der homogenen Weltelemente
erzielt; ein jeder erscheint beinahe nur als eine Geburt seiner Zeit,
als der Ausdruck einer noch außer ihm vorhandenen allgemeinen
Tendenz.« Keine bessere Bestätigung dieses Gesetzes kann es
geben, als daß die Mächtigen auf Erden und die Gewaltigen im
Geist immer so empfunden haben. So meinte es Napoleon, wenn
er sich den größten Sklaven unter den Menschen nannte, Knecht
eines Herren, der kein Herz habe, der Berechnung der Umstände
und der Natur der Dinge: darin sah er das Schicksal beschlossen,
dem er gehorchen, dessen Gebote er vollstrecken müsse; so Bis-
616
Kleine historische Schriften.
marck mit dem wundervollen Wort, daß der Staatsmann nichts
weiter vermöge, als auf den Tritt Gottes im Walde zu lauschen
und, wenn er vorüberschreite, einen Zipfel seines Mantels zu er-
fassen; so alle die Reformatoren und die Stifter der Religionen
selbst, wenn sie sich Gottes Werkzeuge, ja Gottes Söhne nannten ;
und so ein jeder, wer immer in die Tiefen der Welt und dem Ewigen
ins Angesicht geschaut hat.
Sind dies aber in der Tat die Bedingungen, unter denen die
Individualitäten sich bilden, so gibt es auch keinen anderen Weg,
um ihr Werden zu verstehen; so steht die Biographie unter dem-
selben Zeichen wie die allgemeine Historie; so ist auch sie nur
unter universalen Gesichtspunkten anzugreifen, und alle For-
derungen und Methoden, die für die Erkenntnis des Zusammen-
hanges der Begebenheiten gelten, gelten auch für die biographische
Kunst; so muß jeder andere Versuch, in das Innere der historischen
Persönlichkeiten einzudringen, scheitern, mag er nun von der Phan-
tasie des Dichters her oder aus irgendeiner Ecke der Psychologie
oder gar der Psychiatrie unternommen werden. Im Kampfe bilden
sich die Charaktere. Darum stehen die starken Männer in den
Zeiten großer Erschütterungen auf. So erhob sich aus dem Chaos
der Französischen Revolution, die schon so viele ihrer Geschöpfe
gestürzt hatte, der mächtigste Sohn der Zeit, ihr Bändiger und
Vollender, das größte Genie, das die neueren Jahrhunderte gesehen
haben. So erwuchs aus der Drachensaat des Hasses, die der Welt-
bezwinger gesät hatte, der Chor der Helden, die unser Volk zum
Kampf der Rache führten. So wurde durch die Deutsche Re-
volution Bismarck in den Strudel des öffentlichen Lebens hinein-
gerissen, aus dem die Hand des starken Tauchers die Kaiserkrone
emporbrachte.
Von hier aus lassen sich erst die Kräfte abschätzen, die inein-
ander greifen müssen, um die Persönhchkeit zu bilden: ihre ange-
borene Energie und der Widerstand ihrer Umwelt, ihr Wollen und
ihr Vollbringen. Von hier aus begreifen wir die Tragik, die auf den
großen Gestalten der Geschichte ruht, die finsteren Schatten der
Schwermut und tyrannischer Ungeduld, zorniger Leidenschaft
und bitterer Menschenverachtung, welche ihre sturmumbrauste
Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen. Qj^'J
Lebensbahn begleiten. Glücklich, wem die Gestirne günstig waren,
glücklicher vielleicht noch, wer hinweggenommen ward, bevor
sein Stern ihn verheß. Denn wie oft wurden von der Mitwelt
diejenigen verfolgt und verachtet, in deren Lehre und Leben die
Nachwelt der Zeiten Erfüllung sah! Nur eine kurze Spanne mißt
das Leben des Einzelnen, und zu zäh ist der Widerstand der stumpfen
Welt, zu groß ihre Furcht vor dem Neuen, dem das Alte weichen
muß, zu sehr hängt ihr Herz an der Vergangenheit, die ihr bequem
und vertraut geworden ist, als daß auch der Größte und Reinste
sie völlig sich und seinen Gedanken unterwerfen könnte: sie sieht
nur Trümmer und die unausbleibliche Zerstörung, wo bereits die
Fundamente einer neuen Weltordnung gelegt sind. Selbst wer
siegreich war und die errungene Macht behauptete, blieb am Ende ent-
täuscht, weil das neue Geschlecht seine Gedanken verkümmerte
und der Bau, den er errichtete, bereits wieder ins Wanken geriet.
Und doch gebürt diesen Kämpfern allen die erste Stelle im
Gedächtnis der Menschen, sowie sie in der Nachwelt die wahr-
haft Lebenden, die Mächtigen bleiben. Denn nicht in der bloßen
Erinnerung an den Namen und den Lebenslauf, mag man auch
von jedem seiner Tage Rechenschaft ablegen können, sondern in
dem Fortleben der Gedanken, in dem was der Mann war und
wirkte, liegt die Unsterbhchkeit.
Auch für die Auswahl und für die Gestaltung der Stoffe er-
hält man von hier her Regel und Maßstab. Mag Ranke immerhin
durch den Wunsch, den Zusammenhang der Zeiten zu entschleiern,
die »Mär« der Weltgeschichte zu entdecken, von der Biographie
femgehalten oder wieder hin weggeführt worden sein, so dürfen doch
auch wir ihr die Grenzen nicht allzu weit und lose stecken. Nicht
jedermann, der sich in seinem Volk einmal hervorgetan hat, ver-
dient darum sogleich, daß man sein Leben von der Wiege bis zur
Bahre beschreibe, und hunderte von Biographien hätten deshalb
ungeschrieben bleiben oder auf den Raum einer Skizze zusammen-
gedrängt werden können. Nur demjenigen gebührt in Wahrheit
ein solches Denkmal, der mit seiner Persönlichkeit voll in die Welt-
entwicklung eingegriffen hat. Jedermann liegt vor Augen, was die
Entwicklung der Wissenschaften für den Aufbau der sozialen und
^|g Kleine historische Schriften.
politischen \\elt bedeutet. Die Grundlagen unserer Existenz
rulien auf ihnen und wandeln sich mit ihnen unablässig. Aber be-
darf darum der Lebenslauf eines Gelehrten einer besonderen Dar-
stellung? Er müßte denn etwa wie Treitschke handelnd und
kämpfend hervorgetreten sein und seiner Forschung selbst ein
politisches Ziel gegeben haben, oder wie Luther und Schiller alle
Unruhe der Zeit, alles Streben, das in ihr lebte, in seine Seele auf-
genommen und aus seiner Persönlichkeit heraus neu geoffenbart
haben. Der Gelehrte lebt in seinen Büchern; dort findest Du die
Summe seiner Gedanken. Das Unpersönliche ist gerade für ihn
das Charakteristische, das Bedeutende. Je ausschheßlicher er sich
der Gedankenwelt, in der er lebt, hingibt, um so w^eniger wird sein
persönliches Leben das allgemeine Interesse beschäftigen; und
nur der Weg, den er gegangen, um in das Leben seiner Wissenschaft
einzumünden, die Zeiten seiner Entwicklung könnten den Bio-
graphen reizen. Ranke, der dies Verhältnis genau so bezeichnet
und \vie kein anderer danach gelebt hat, überträgt es sogar auf die
Staatsmänner, deren Lebensgeschichte sich ebenfalls (wir denken
\\ieder an Hardenberg) mit der politischen Ideenwelt ihrer Zeit
so nahe berühre, daß es oft schwer falle, ihre besondere Stellung
dazu wahrzunehmen: so daß auch bei ihnen (er meint in noch
höherem Grade als bei den Gelehrten) hauptsächlich die Zeit ihrer
Bildung Teilnahme für ihre Person erwecke und ihr Sein und Wesen
später nur in der Wirksamkeit, die sie in ihrem Fache entwickeln,
hervortrete. Und das gleiche könnte man vieDeicht von dem Feld-
herrn sagen, der in der Schlachtenleitung die in seinem Fach er-
worbenen Kenntnisse zur Anwendung bringt, die psychischen Eigen-
schaften jedoch, die ihn erst zum Helden und Sieger machten,
schon in der Zeit seiner Jugend erworben hat. Wer die zwanzig
Bände von Thiers' »Histoire du Consulat et de l'Empire« vor Augen
hat, weiß, wie leicht eine biographische Absicht durch die Über-
wucherung mit unpersönhchem Stoff erstickt werden kann. Mehr
als eine Biographie ist durch dies Verkennen der Maße, nach denen
sie anzulegen ist, verdorben worden oder in den Anfängen stecken
geblieben. Knappheit ist fast die Haupttugend des Biographen.
Denn niemals darf er seinen Helden aus den Augen verlieren und
Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen, g^g
aus dem Mittelpunkt der Darstellung hinwegrücken. So wenig
wie es dem Portraitmaler erlaubt ist, die Umgebung und den Hin-
tergrund außer Beziehung zu der Figur, die er schaffen will, zu setzen.
Lebenswahr, naturwahr soll die Umgebung sein, in welcher der
Held erscheint. Jedoch nirgends dürfen die Nebenfiguren so weit
in den Vordergrund gestellt werden, daß die Hauptgestalt da-
durch verkleinert und zurückgedrängt wird.
Aber auch den größten Gestalten gegenüber ist eine Aus-
lese dessen, was man zu sagen hat, geboten. Denn sie sind Menschen
■wie die andern, und nur Allzumenschliches haftet auch ihnen immer
an. Darum ist die Kunst des Auslassens dem Biographen ganz be-
sonders zu empfehlen. So lange Luthers heroische Gestalt der
Nation unmittelbar vor Augen stand, bleibt er auch für den Histo-
riker der Mann, an dem ein jeder Zug interessant und eindrucks-
voll ist ; und mehr noch würden bei ihm die Jahre der Entwicklung,
wie bei jedem Großen, die Zeit der inneren Kämpfe, in denen er
zum Reformator erwuchs, die Kunst des Biographen heranrufen,
wenn nicht auch bei ihm diese Jahre so sehr im Dunkeln lägen.
So muß denn sein Bild in der Hauptzeit seiner Kämpfe, von dem
Anschlag der Thesen her bis zum Bauernkrieg hin, in den Vorder-
grund der Betrachtung gerückt werden. Auch danach mag es
noch, wie in den Marburger Tagen oder in dem Sommer auf der
Koburg, Momente geben, wo seine Gestalt uns mit der Wucht
originaler Größe packt. Aber die weiteren i6 Jahre, in denen der
Reformator dem Lauf des Evangelium, der von seinen alten Hoff-
nungen so weit abuich, scheltend und murrend folgte, bedürfen
wahrhch nicht mehr einer gleich ausführlichen Darstellung; je
mehr das Gleichartige in ihnen zusammengedrängt und das Gleich-
gültige hinweggetan wird, um so mehr wird der künstlerische Ein-
druck des Ganzen wachsen.
Für alle diese und wie viel andere Beobachtungen bietet Rankes
biographische Kunst Beispiele in Fülle. Wundervoll, wie er es
versteht, das welthistorische Licht aus der Idee, in der er die Ein-
heit und den Zusammenhang der Begebenheiten erfaßt, hinweg
auf die Häupter der führenden Persönlichkeiten zu leiten und es
in dem ganzen Umkreis seiner Darstellung zu verbreiten, also daß
g9Q Kleine historische Schriften.
jeder Winkel davon erhellt und auch die Nebenfiguren, die im Vor-
beigehen einmal Erwähnten, aufleuchten und Gestalt gewinnen;
wundervoll, zu sehen, wie das Ganze dadurch Einheit und Zu-
sammenschluß erhält, persönliches und allgemeines Leben inein-
andergreifen; großartig besonders die Momente, wo er den Reflex
dieses Glanzes an den Persönlichkeiten zeigt, in denen sich, wie in
Alexander oder Cäsar, die Biographie mit der Weltgeschichte
durchdringt.
Man kann das Wort Universalität nicht aussprechen, ohne
des Wortes Objektivität zu gedenken — Begriffe, die sich ver-
halten wie Gedanke und Wort : nur die Form ist diese, in der jene
sich äußert. Also muß der Biograph (denn es gibt kein Drittes) auf
manches Mittel verzichten, um den Leser zu gewinnen. Er wird
alle diejenigen verheren, welche auf den Text des Tages, auf die
Stimme der »Wortführer«, wie man sie nennt, der Nation horchen,
und die aus der Vergangenheit immer nur das ihren Wünschen
und Ansichten Bequeme heraushören. Mag er sich, wenn ihm der
Sinn danach steht, damit trösten, daß ihn die Nachwelt verstehen,
daß auch er somit zu den »post mortem laureati« zählen werde.
Mehr Wert hat das Bewußtsein, daß sein Weg zur Erkenntnis führt,
und daß es immer besser ist, der Wirklichkeit auf dem Wege,
den die Wissenschaft zeigt, so nahe als möglich zu kommen, als
eine erträumte Wahrheit mit Hülfe der Phantasie zu erreichen. Auch
davor braucht er sich nicht zu fürchten, daß des Dichters Phan-
tasie leichter er f Hegen werde, was er selbst auf dem steinigen Wege
der Quellenkritik zu erreichen sucht. Denn nichts ist falscher als zu
glauben, daß es dem Poeten gegeben sei, aus seiner Kenntnis der
menschlichen Seele heraus historische Wirklichkeiten zu erblicken.
Auch der Historiker vermag nichts ohne Phantasie; aber er
Avird darum nicht den enggebahnten Weg verlassen, welchen
ihm die Quellen, die keine anderen sind als die der allgemeinen
Geschichte, darbieten. Er mag wohl Dinge sagen, die er in der vor
ihm hegenden Quelle nicht mit ausgedrückten Worten findet,
und oft genug aus der Anschauung, die er von dem Ereignis oder der
Persönlichkeit gewann, heraus urteilen; aber auch diese wird
immer der Gesamtreflex einer aus Quellenstudium geschöpften
Rankes biographische Kunst und die Aufgaben des Biographen. ß21
Vorstellung sein; und niemals wird er vorsichtiger vorgehen, als
wenn er sich über den Text seiner Quelle hinauswagt.
Der Lohn wird nicht ausbleiben. Wer in der Partei steht
und von ihr aus die Vergangenheit anschaut, verengt seinen Blick.
Denn gerade die Befreiung \-on dem Druck der Vergangenheit,
die mit tausend Armen in die Gegenwart hinübergreift, will die
Historie erreichen. Nur so ist es möghch, die Epochen zu unter-
scheiden, jede in ihrem Wert und jeden an seiner Stelle zu erblicken.
Auch der Dichter kann nur Typen zeichnen, wie sie ihm die Schule,
zu der er gehört, oder das eigene Innenleben, die Widerspiegelung
der Welt in Phantasie und Herz, erzeugen. Lebend Leben schaut
nur der Historiker. Nicht im leeren Raum allgemeiner Begriffe
weilen die Schatten, die er beschwört, sondern sie gewinnen unter
seiner Hand von neuem Blut und Seele auf dem Erdreich, dem sie
entwuchsen, inmitten ihres Volkes, ihrer Kirche und der Welt der
Gedanken, welche sie umgab, als sie noch im Lichte des Tages
wandelten. Auch kennt er keine Grenzen des Geschmackes, weder
Sympathie noch Antipathie noch modische Formen der Anschauung,
sondern alles ist sein, was gelebt hat, Menschheit wie sie ist. Er
braucht nicht davor zurückzuschrecken, Barbaren oder Verbrecher
zu schildern, und kann seine Künstlerkraft und Künstlerfreude
ebenso an einem Cesare Borgia und einem Napoleon entfalten
wie an einem Hütten oder dem Freiherrn vom Stein. Des vollen
Lebens wechselnde Gestalten darf er im Bilde bannen.
Ich kenne wohl den oft gehörten Vorwurf, daß solche Ab-
wehr jeder Parteihchkeit zur Entblößung von allem Urteil führe,
daß man sich des Rechtes dazu selbst beraube und zur bloßen
Registrierung der Tatsachen sich verdamme. Dem können wir,
wieder mit Ranke, zunächst entgegenhalten, daß persönliche Be-
schränktheit den Historiker doch hindern wird, das Ziel, das er sich
setzen muß, zu erreichen: »Das Subjektive gibt sich von selbst.«
Ertragen müßte man immerhin jenes Schicksal, wenn das oberste
Prinzip dadurch gesichert würde. Indessen, das Prinzip selbst
wird uns davor retten ; denn es bietet einen Maßstab dar, der höher
ist, als jeder andere sein kann. Der Wille zur Erkenntnis ist selbst
Leidenschaft, die edelste, die reinste, die es gibt. Wer nach nichts
622
Kleine historische Schriften.
anderem strebt als nach der Wahrheit, wer das wirkhch Wirkhclie
sehen, den Urgrund des Seins erschöpfen will, der sucht Gott,
er ist in Gottes Dienst. Er wird der Vergangenheit mit Andacht
nahen, mit »Hochachtung vor der Begebenheit«, mit ehrfürchtiger
Scheu, an das Unergründliche zu rühren und in ikarischer Ungeduld
sich über den Boden der Quellen zu erheben. Er wird das allgemein
Menschliche, er ^^^rd die objektiven Werte, Staat und Rehgion,
Recht und Gewissen, und wie alle die welterbauenden Elemente
heißen mögen, welche das allgemeine und das persönliche Leben
tragen, in ihrem Ewigkeitsgehalt wahrnehmen.
Philosophie und Religion, wissenschaftliche Freiheit und die
Unterwerfung unter den Geist der Wahrheit, das ist der Horizont,
der die objektive Historie umschließt. Auf diesem Boden stand
Ranke. Von dort aus wurde er Historiker. Niemals hat er ihn ver-
lassen. Es ist die Atmosphäre, die seine Gestalten umgibt und jede
Erzählung durchdringt. Aus ihr stammt jede Betrachtung, mit
der er, gleich dem Chorführer in der antiken Tragödie, den Gang
der Geschichte begleitet. Er drängt sich nicht auf die Bühne,
auf der das Schauspiel, das er schildert, sich abspielt. Er mischt
sich nicht in den Dialog, der dort geführt wird. Er erzählt dem
Hörer selten, wie die Empfindungen und Äußerungen der Handeln-
den entstanden, und behauptet niemals, daß ihre Entschlüsse
anders hätten motiviert und ausgeführt werden müssen. Gleich
einem guten Regisseur hat er alles bereits angeordnet und aus-
gemacht, bevor der Vorhang hoch ging, und frei und lebensvoll
schreiten seine Gestalten über die welthistorische Bühne.
Möge der Geist Rankes über den Gedächtnisfeiern für die
Helden der großen Zeit walten, die unsere Nation im kommenden
Jahr begehen wird. Der Adel ihrer Seele, die Macht ihres Willens,
die fortreißende Kraft ihrer Persönlichkeit werden dann nur in
um so hellerem Lichte erstrahlen.
>B^^=^m
Anspradie an die Berliner Studentenschaft
auf ihrem Kommers zur Feier des fünfundzwanzigjährigen
Regierungsjubiläums Seiner Majestät des Kaisers.
(i8. Juni 1913.)
Kommilitonen!
Aus den Liedern und Reden des heutigen Abends klang e i n
Ton uns entgegen, der Grundton gleichsam in dieser S^^mphonie
des Jubels: das ist die Idee, an die uns jeder Tag dieses Jahres er-
innert, für die vor hundert Jahren 42 Söhne unserer Alma Mater
ihr Blut dahingaben, die Idee, die dies Jahrhundert zum Siege
geführt, zu der unser Kaiser selbst gestern sich vor seinen Bundes-
fürsten bekannt hat — die Idee vom Vaterlande. Denn un-
auflöslich ist die Erinnerung an den heiligsten der deutschen Kriege
mit dem Ehrentage unseres Kaisers verkettet, und wundervoll
symbolisiert sich dies in der heutigen Feier, die in der Stunde
begann, da vor 98 Jahren auf Waterloos Feldern Napoleons Macht
zusammenbrach.
Es war nicht immer so in deutschen Landen Es hat Zeiten
gegeben, wo sich das Bekenntnis zum Vaterland im Winkel ver-
kriechen, wo, wer zu ihm hielt, das schlechte Handwerk des Ver-
schwörers treiben mußte. Wir aber wollen nicht mehr darüber
klagen. Denn \\ir geben heute zu, daß der vaterländische Gedanke
viel zu gestaltlos war, um zu raschem Ziel zu kommen; daß die
partikularen Gewalten, wenn sie sich zur Wehre setzten, das Recht,
weniger noch der Legitimität als der Geschichte, für sich hatten;
und daß ganze Generationen in Hingebung und pflichttreuer Arbeit
an ihrer Macht gebaut haben. Heute haben sie sich der Macht des
g24 Kleine historische Schriften.
nationalen Gedankens unterworfen und dennoch, so viele unter
ihnen die Stürme überdauerten, ihre Eigenmacht behauptet. Sie
sind eingefügt in die Verfassung unseres Reiches; eingemauert
in seine Fundamente, tragen sie als die stärksten Pfeiler das Dach
unseres Hauses. Und freudig bekennen sich unsere Fürsten mit
uns zu Kaiser und Reich.
Niemals aber wollen wir vergessen, daß die deutsche aka-
demische Jugend die \^orkämpferin der Idee vom Vaterland ge-
wesen ist, hingebend und opferwillig, wie es Ehre, Pflicht und
Freude der Jugend ist. Auch die Berüner Studentenschaft hat in
diesem guten Kampfe nicht gefehlt. Auch sie hat ihre Blutzeugen
gestellt, auf den Schlachtfeldern wie im Straßenkampfe; und nicht
die schlechtesten waren es, die das harte Brot des Kerkers oder der
Verbannung essen mußten, weil sie dem Wahlspruch der alten Bur-
schenschaft »Ehre, Freiheit, Vaterland« die Treue hielten. Und
mag es auch Jahre der Ermattung gegeben, mögen sich unter
Studenten wie Professoren manche gefunden haben, die den Nacken
beugten oder als Männer der Partei, vielleicht auch aus tieferer
politischer Einsicht, abseits standen, so haben doch die Zeiten der
nationalen Erhebung noch immer Lehrer und Schüler um das
nationale Banner geschart gesehen; und jederzeit hat es Profes-
soren gegeben, die mit der Jugend fühlten und glaubten, von Fichte
und Schleiermacher an bis hin zu dem, der noch heute an dieser
Stelle stehen könnte, hätte ihn nicht ein grausames Geschick
auf der Höhe des Schaffens aus unserer Mitte gerissen: der Herold
des neuen Reiches, der mit dem Vater brach, um dem Vaterlande
treu zu bleiben, der Verächter alles Zagens und abstumpfenden
Zweifeins, der Glutenvolle, Feueratmende, der Unvergeßhche —
Heinrich von Treitschke.
Man hat in diesen Tagen viel geredet und gerühmt von dem
mächtigen Anschwellen unserer wirtschaftlichen Kraft; und wen
unter uns wird dies nicht mit Stolz erfüllen und mit der Zuversicht,
daß wir allen unsern Rivalen und Gegnern gew^achsen bleiben werden !
Aber aller Besitz wird wertlos und kraftlos sein, wenn ihm die Idee
fehlt, welche lebendig macht; und wir wären Narren, wollten wir
unser Leben für nichts anderes opfern als für Schätze, welche die
Ansprache an die Berliner Studentenschaft. G2b
Motten und der Rost fressen, und die ungleich genug verteilt sind.
Nicht unsere Wälder, so wohlig es in ihrem Schatten sich wandern
läßt, nicht die Ströme, so schön sie rauschen, nicht die Berge mit
ihren Schätzen, nicht das Meer, das unsere Flotten trägt, sind
bereits das Vaterland. Das alles ist nur der Boden, auf dem das
Vaterland sich erhebt. Aus den Burgen, die zu unsern Strömen her-
niedergrüßen, schaut es uns an, aus den Domen, welche die fromme
und doch so hochgemute Kunst unserer Vorfahren gebaut, aus den
Palästen unserer Fürsten wie aus der Hütte des Landmanns, aus
den Monumenten, die wir unsern Helden im Reiche der Gedanken
und des Staates errichtet haben ; leuchtend steigt es vor uns auf in
der Sommersonnwendnacht, wenn auf allen Bismarcktürmen die
Feuer brennen; in tausend und abertausend Erinnerungen um-
schwebt es unsere Berge und die altersgrauen Mauern unserer
Städte; es spricht zu uns aus den Gedanken und den Taten derer,
die an seiner Größe gearbeitet, an seine Zukunft geglaubt haben;
es lebt in unsern Herzen. Das ist das Land Hermanns, das Land
der Eichen — das Erbe unserer Väter, das wir täglich neu erwerben
wollen, für das wir leben und schaffen wollen and, wenn es sein
muß, das Leben lassen werden.
Mein Spruch gilt der Berliner Studentenschaft als der Trä-
gerin des deutschen Geistes, des Geistes der Ehre und der Zucht,
der Treue und der Wahrhaftigkeit, des Glaubens an die idealen
Güter, die wir mit dem Gedanken an das Vaterland verbinden,
und der Hoffnung, daß unser Volk in dem Glänze dieses Glückes
blühen wird bis an das Ende der Jahrhunderte.
Möge die Berliner Studentenschaft allezeit sein und bleiben
eine Hüterin der reinen und freien Gedanken!
83^-^;i?g"
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