Skip to main content

Full text of "Kleine historische Schriften"

See other formats


tsrita  ii'trmätmsmtuariikjifrarm-in-'.ntit  :iM-Mm.'vi(ivmui,:,ie^ 


VOM  WERDEN  DER 
NATIONEN 


VON 


MAX  LENZ 

„In  den  Kationen  sefßst  ersd>?int  die 
Gescßictte  der  Mensc£fieit."       Ranke. 

\ 

^^V" 

'^\^^.^^ 

'r^^  ' 

1^^ 

^^^^mmmry^ 

MÜNCHEN  UND  BERLIN  1922 
DRUCK  UND  VERLAG  VON  R.  OLDENBOURG 


KLEINE  HISTORISCHE  SCHRIFTEN 

BAND  I. 


Alle  Redite,  einschließlidi  des  Qbersetzungsredites,  vorbehalten 

Printed  in  Germany 


Conrad  Varrentrapp 

ZUM  GEDÄCHTNIS. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 

Von  den  hier  vereinigten  Schriften  ist  bereits  ein  Dutzend 
als  »Ausgewählte  Vorträge  und  Aufsätze«  in  Arnold  Reimanns 
Deutscher  Bücherei  (Bd.  i8)  erschienen.  Diese  werden  darin,  nach- 
dem sie  in  drei  starken  Auflagen  verbreitet  wurden,  nicht  mehr 
ausgegeben  werden,  so  daß  die  vorliegende  Sammlung  für  sie  die 
vierte  Auflage  bedeutet.  Maßgebend  für  die  Auswahl  war  jetzt 
wie  früher  der  Gesichtspunkt,  nur  dasjenige  zu  geben,  was  einen 
weiteren  Leserkreis  gewinnen  kann.  Ausgeschlossen  blieben  darum 
Polemik  und  Spezialuntersuchung;  auch  da,  wo  von  diesem 
Grundsatz  abgewichen  ist  (Nr.  3,  10,  23),  darf  wohl  nach  der 
Natur  des  Stoffes  ein  allgemeineres  Interesse  vorausgesetzt  werden. 
Fortgelassen  sind  ferner  mehrere  Aufsätze,  die  bereits  in  Sonder- 
ausgaben erschienen  sind,  sodann  solche,  die  eins  der  Themen 
dieser  Sammlung  zum  zweiten  Male  behandelt  haben  oder,  wie 
ein  längerer  Aufsatz  über  Marie  Antoinette  (in  den  Preußischen 
Jahrbüchern,  Bd.  78),  unvollendet  blieben;  während  noch  andere, 
die  nach  Inhalt  und  Anlage  wohl  hineingehört  hätten,  gestrichen 
wurden,  weil  der  Band  zu  sehr  anzuschwellen  drohte. 

Den  Anstoß  zur  Veröffentlichung  gab  mein  Freund  Arnold 
R  ei  mann,  der  mir  bereits  die  ältere  Sammlung  für  seine 
Deutsche  Bücherei  abgewann,  und  der,  wie  früher,  so  auch  jetzt 
die  Last  der  Korrekturen  in  liebenswürdigster  Bereitwilligkeit 
auf  sich  genommen   hat. 

Berlin,  im   November  1910. 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage. 

Dem  mehrfach  von  meinen  Rezensenten  ausgesprochenen 
Wunsch,  die  Sammlung  meiner  kleinen  historischen  Schriften 
noch  durch  andere  bereits  gedruckte  Vorträge  oder  Aufsätze  er- 
gänzen zu  wollen,  kann  ich  leider  nur  in  beschränktem  Umfang 
nachkommen.  Denn  sie  in  die  vorliegende  Reihe  einzuschieben 
machten  äußere  Gründe  unmöglich,  und  sie  anzuhängen  verbot  sich 
bei  den  meisten  deshalb,  weil  dadurch  die  innere  Einheit  gestört 
wäre,  M'elche  die  Sammlung  haben  soll.  Nur  bei  den  beiden 
Stücken,  um  die  ich  heute  das  Buch  vermehre,  war  dies  möghch. 
Denn  die  Rede  über  Rankes  biographische  Kunst  und  die  Auf- 
gaben des  Biographen  knüpft  an  den  Anfang  an  und  schheßt 
so  die  Kette,  welche  das  Ganze  bildet,  während  die  Ansprache 
an  meine  Berhner  Kommihtonen  bei  ihrem  Festkommers  zu 
Ehren  unseres  Kaisers  am  i8.  Juni  dieses  Jahres,  dem  Tage  von 
Waterloo,  wohl  als  Epilog   des  Buches  gelten  darf. 

Berechtigter  vielleicht  und  jedenfalls  erfüllbar  war  der 
Wunsch,  dem  ich  gern  nachkomme,  nicht  bloß  das  Jahr,  sondern 
auch  die  Stelle,  an  der  jeder  Beitrag  zuerst  veröffentlicht  wurde, 
anzugeben.  Es  erschienen:  Nr.  i  in  der  »Gartenlaube«;  2  im 
»Hamburger  Korrespondenten« ;  3  in  der  »Plistorischen  Zeit- 
schrift« ;  4  in  der  »Deutschen  Wochenschrift« ;  5  in  den  »Schriften 
des  Vereins  für  Reformationsgeschichte« ;  6  in  der  »National- 
zeitung« ;  7  und  9  in  der  »Deutschen  Gedenkhalle« ;  12  in  der 
»Schlesischen  Zeitung« ;  25  in  der  »Allgemeinen  Deutschen  Bio- 
graphie« ;  33  in  den  »Berliner  Akademischen  Nachrichten« .  Aus 
den  »Preußischen  Jahrbüchern«  stammen  10,  11,  13,  14,  19, 
24;  auch  die  beiden  Universitätsreden  8  und  32  sind  dort  der 
weiteren  Öffenthchkeit  zunächst  zugänglich  gemacht  worden,  sowie 
die    Akademierede    über    Wilhelm  I,    (26)   in    der  » Cosmopohs« . 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage.  VII 

15,  20,  21,  28,  30  standen  ursprünglich  in  der  »Woche«;  16,  18 
und  29  \\äeder  in  der  »Cosmopohs«  ;  17,  22  und  27  in  »Velhagen 
und  Klasings  Monatsheften«;  23  und  31  in  der  »Deutschen 
Rundschau«. 

Vor  drei  Jahren,  als  das  Buch  erschien,  konnte  ich  es  noch 
dem  Manne,  dessen  mir  und  vielen  teuren  Namen  das  erste  Blatt 
trägt,  in  die  Hände  geben,  als  meinem  Lehrer  und  Freunde, 
von  dem  ich  schon  auf  der  Universität  in  Bonn  und  dann  erst 
recht  als  junger  Dozent  in  Marburg  gelernt  hatte.  Vieles  von 
dem,  was  darin  steht,  haben  wir  in  zwölfjährigem  gemeinsamen 
Wirken,  in  täghchem  Umgang  durchgedacht  und  durchgesprochen ; 
und  wenn  uns  dann  das  Leben  auseinandergeführt  hat  und  auch 
die  Anschauungen  nicht  in  allem  und  jedem  die  gleichen  ge- 
blieben sind,  so  bin  ich  doch,  wie  seiner  Freundschaft,  so  der 
gemeinsamen  Grundansicht  über  das  Wesen  und  die  Ziele  unserer 
erhabenen  Wissenschaft  gewiß  geblieben.  An  jene  Zeiten  sollte 
den  Lebenden  dies  Buch  erinnern.  So  möge  es  in  der  neuen 
Gestalt  dem  Gedächtnis  des  treuen  und  tapferen  Mannes  ge- 
widmet bleiben. 

Berlin,  im  Oktober  1913. 

Max  Lenz. 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 


1.  Leopold   Ranke ' 

2.  Zum  Gedächtnis  tage  Johann  Gutenbergs 14 

3.  Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes 22 

4.  Humanismus  und  Reformation yS 

5.  Geschichtsschreibung  und   Geschichtsauffassung  im  Elsaß  zur  Zeit 

der  Reformation       gi 

6.  Dem  Andenken  Ulrichs  von   Hütten      109 

7.  Martin  Luther      123 

8.  Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit 132 

9.  Der  Bauernkrieg 150 

10.  Florian  Geyer      161 

11.  PhiHpp  Melanchthon 193 

12.  Die  geschichtliche  Stellung  der  Deutschen  in  Böhmen 208 

13.  Gustav  Adolf  dem  Befreier  zum  Gedächtnis 223 

14.  Nationalität  und  Rehgion 234 

15.  Wie  entstehen  Revolutionen?      261 

16.  Die  französische  Revolution  und  die  Kirche 272 

17.  Die  Bedeutung  der  Seebeherrschung  für  die  PoUtik  Napoleons      .   304 

18.  Napoleon  1.  und  Preußen 315 

19.  1848 345 

20.  Bismarcks  Religion 360 

21.  Bismarck  und  Ranke 383 

22.  Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein 409 

23.  König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein   1863      429 


Inhaltsverzeichnis.  IX 

Seite 

24.  Heinrich  von  Treitschke 475 

25.  Constantin   Rößler       493 

26.  Wilhelm  1 508 

27.  Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben 525 

28.  Das  russische  Problem       547 

29.  Jahrhunderts-Ende  vor  hundert   Jahren  und  jetzt 569 

30.  Ein  BUck  in  das  zwanzigste  Jahrhundert 589 

31.  Die  Stellung  der  historischen  Wissenschaften  in  der  Gegenwart     .  596 

32.  Rankes  biographische  Kunst  und  die  Aufgaben  des  Biographen    .  609 

33.  Ansprache    an   die  Berliner  Studentenschaft   auf   ihrem  Kommers 

zur   Feier   des   fünfundzwanzigjährigen   Regierungsjubiläums 

Seiner  Majestät  des  Kaisers 623 


Leopold  Ranke. 

(1885). 

Das  erste  Buch,  das  Leopold  Ranke  geschrieben  hat,  öffnete 
ihm,  dem  Dreißigjährigen,  mit  einem  Schlage  die  Schranken 
der  akademischen  Laufbahn,  der  sein  stilles  Sehnen  und  Hoffen 
galt,  und  die  allein  ihm  die  Muße  und  Bewegungsfreiheit  geben 
konnte,  die  zur  Tat  strebenden  Kräfte  seiner  genialen  Natur 
in  ungestörter  Forscherarbeit  breit  zu  entfalten.  Bis  dahin  war 
er  ein  der  gelehrten  Welt  so  gut  wie  unbekannter  Gymnasial- 
lehrer zu  Frankfurt  a.  0.  Hier  hatte  er  jenes  Werk  aus  der  sonst 
nicht  benutzten  Bibliothek  eines  Professor  Westermann  heraus- 
gearbeitet; ohne  Honorar  zu  empfangen,  hatte  er  es  Georg  Reimer 
zum  Druck  übergeben.  Das  Buch  verschaffte  ihm  alsbald  Namen 
und  Stellung.  Wenige  Monate  später,  Ende  März  1825,  ward  er 
als  außerordenthcher  Professor  der  Geschichte  nach  BerHn  berufen, 
in  den  Kreis  der  Savigny  und  Hegel,  an  die  Universität,  welche, 
wie  er  selbst  rückblickend  gesagt  hat,  »noch  unmittelbar  in  jenem 
Geiste,  in  welchem  sie  gestiftet  worden  war,  lebte,  in  der  Ver- 
einigung der  preußischen  Strenge  und  Zucht  mit  der  Vielseitig- 
keit und  Tiefe  der  deutschen  Nation«:  in  dem  Kampf  der  beiden 
Parteien,  welche  damals  in  allen  Disziplinen  miteinander  rangen, 
der  philosophischen  und  historischen,  hat  er  dann  über  zwei 
Menschenalter  hindurch  als  Vorkämpfer  der  historischen  Rich- 
tung für  die  politische  Historie  hier  im  Zentrum  der  deutschen 
Wissenschaft  und  Staatsidee  gewirkt.  Entfernte  er  sich  von  Ber- 
lin, so  geschah  es  fast  immer,  um  neue  Schätze  aus  den  Archiven 
der  Staaten,  deren  Leben  er  erforschte,  zusammenzutragen.    Sonst 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  I 


2  Kleine  historische  Schriften. 

aber,  bis  zu  einem  Alter,  wo  er  das  Ziel,  welches  der  Psalmist 
setzt,  längst  überschritten  hatte,  lebte  er  ganz  daheim  unter 
seinen  Büchern,  in  der  Wohnung,  die  seit  Jahrzehnten  seine  Ar- 
beitsstätte war,  in  immer  gleich  geregelter  und  unermüdlicher 
Tätigkeit,  zurückgezogen  von  dem  Getriebe  der  Welt,  dem  er 
doch  mit  freier  und  lebendiger  Aufmerksamkeit  folgte  —  und 
unter  dem  Blicke  des  Greises  entrollten  sich  noch  einmal  die  all- 
gemeinen Geschicke;  aus  den  echtesten  Quellen  schöpfend,  durch- 
schritt er  mit  jugendlicher  Kraft,  ja  mit  stürmischem  Eifer 
den  Kreis  der  Nationen,  in  deren  »lebendiger  Gesamtheit«  das 
allgemeine  Leben  hervortritt ,  die  Geschichte  der  Menschheit 
erscheint. 

Alle  Welt  spricht  davon,  daß  Leopold  Ranke  die  moderne 
historische  Methode  ausgebildet  oder  doch  wenigstens  auf  die 
mittlere  und  neuere  Geschichte  übertragen  habe;  vier  Genera- 
tionen deutscher  Forscher  nennen  ihn  darin  ihren  Meister.  Er 
selbst  aber  ist  nicht  in  dieser  historischen  Methode  groß  gewor- 
den: Historiker  von  Fach  ward  er  erst  mit  dem  Buch,  in  dem 
er  die  Bahnen  seiner  Lebensarbeit  und  die  nicht  zu  vertilgenden 
Grundlinien  der  deutschen  Geschichtswissenschaft  gezogen  hat. 
Weltgeschichtlich  allerdings  waren  die  Ereignisse,  welche  die 
Jahre  seiner  Ausbildung  begleiteten.  Geboren  in  der  Zeit,  wo 
das  vulkanische  Feuer,  welches  den  morschen  Staatsbau  des 
alten  Frankreichs  verzehrt  hatte,  in  furchtbaren  Ausbrüchen  über 
die  Grenzen  hinwegschritt  (zu  Wiehe  im  Unstruttal  am  21.  De- 
zember 1795),  erlebte  er  elf  Jahre  später,  ^\^e  die  revolutionäre 
Lava  seine  thüringische  Heimat  erreichte :  die  Donner  der  Schlacht 
von  Jena  dröhnten  aus  der  Feme  dumpf  an  das  Ohr  des  Knaben; 
er  sah  die  Fliehenden,  die  Versvundeten,  wie  sie  in  dem  Hause 
der  Eltern  kurze  Rast  und  Erquickung  fanden,  und  wie  dann  die 
übermütigen  Sieger  raubend  den  friedlichen  Ort  durchzogen. 

Als  der  Vater  ihn  auf  die  Schule  nach  Pforta  brachte,  stand 
Napoleon  auf  dem  Gipfel  seiner  Macht;  und  eben  war  die  Über- 
macht des  Gewaltigen  auf  den  Feldern  von  Leipzig  zerbrochen 
worden,  als  der  Jüngling  in  derselben  Stadt  wieder  von  dem 
Vater    bei    seinen    Universitätslehrern    eingeführt    wurde.     Hier 


Leopold  Ranke.  3 

studierte  er,  während  auf  den  Schlachtfeldern  jenseits  des  Rheins 
wie  durch  die  Verhandlungen  von  Wien  und  Paris  die  Karte 
Europas  umgestaltet  wurde,  und  mußte  zusehen,  \vie  sein  Heimat- 
land von  Sachsen  losgerissen  und  Preußen  zuerteilt  ward;  und  er 
hatte  kaum  seine  Studien  beendigt,  als  die  vaterländische  Ro- 
mantik der  deutschen  Bursche  sich  in  dem  Enthusiasmus  des 
Wartburgfestes  Luft  machte. 

Doch  dürfte  man  nicht  glauben,  daß  Ranke  durch  die  ele- 
mentaren Kräfte,  welche  in  dieser  Epoche  zum  Durchbruch  kamen, 
und  von  denen  jene  Feier  ein  weithin  wirkender  Nachhall  war, 
unmittelbar  gepackt  und  beeinflußt  wäre.  Friedhchere  Geister 
haben  sein  Leben  gestaltet.  In  den  patriarchalisch  engen  Ver- 
hältnissen eines  kursächsischen  Landstädtchens  wuchs  er  auf. 
Einige  Edelleute,  die  Offiziere  einer  Husarenschwadron,  die  Pfarrer 
und  wenige  Beamte,  dazu  etwa  noch  Rektor  und  Apotheker,  das 
waren  die  Honoratioren  des  Ortes.  Zu  ihnen  gehörte  Gottlob 
Israel  Ranke,  der  als  Anwalt  und  Gerichtsdirektor  dreier  adliger 
Familien  wirkte.  Noch  steht  das  Wohnhaus,  nahe  der  Stadt- 
mauer, dort  wo  die  Ranke'gasse  sich  zum  Riesbach  hinab- 
senkt, an  dessen  umbuschten  Ufern  in  den  Frühlingsnächten  ein 
Heer  von  Nachtigallen  schlägt.  Ein  stattliches  Anwesen,  mit  Hof 
und  Garten,  Stall  und  Scheuer;  denn  zu  ihm  gehörte  ein  Land- 
gütchen, der  »Berg«,  welches  der  Vater  durch  seinen  Knecht, 
den  treuen  Dietsch,  bewirtschaften  ließ.  Der  Geist  der  Arbeit 
und  Pflichttreue,  des  Frohsinns,  der  Wahrhaftigkeit  waltete  in 
dem  Hause.  Der  Ernst  des  Vaters,  die  Milde  der  Mutter  begeg- 
neten sich  in  der  gleichen  Liebe  zu  den  aufblühenden  Kindern. 

Ein  sonniger  Glanz  des  Glückes,  selten  vom  Kummer  getrübt, 
lag  über  diesen  Jahren  im  Elternhause  gebreitet.  Lebendige 
Religiosität,  in  den  alten  strengen  Formen  erhalten  und  genährt, 
durchdrang  das  Ganze.  Mit  ungemeiner  Sorgfalt  widmete  sich 
der  Vater  der  Erziehung  seiner  Knaben;  staunend  bemerkte  er 
die  Begabung  und  Schwungkraft  des  Erstgeborenen,  den  selb- 
ständigen Sinn,  mit  dem  dieser  das  Heilsame  und  Rechte  erkannte. 
Früh  gab  er  ihn  aus  dem  Hause.  Zunächst  nach  Kloster-Donn- 
dorf, das  nur  eine  Stunde  weit  auf  einer  Höhe  vor  dem  Walde 


4  Kleine  historische  Schriften. 

liegt.  Oft  noch  sah  Leopold  hier  die  Seinen.  Wenn  er  dann  dem 
Bruder  Heinrich  auf  dem  Heimwege  das  Geleite  gab,  erzählte 
er  ihm  wohl  mit  wundervoller  Lebendigkeit  von  den  Geschichten 
des  trojanischen  Krieges,  die  er  in  der  Klasse  gelernt  hatte:  der 
hellenischen  Vorwelt  »silberne  Gestalten«  umfingen  da  die  jugend- 
hchen  Seelen.  Doch  auch  die  Geister  einer  großen  nationalen 
Vergangenheit  weben  über  den  frischen  Wiesen,  den  wogenden 
Kornfeldern  der  Güldenen  Aue,  über  dem  raschen  tiefen  Strom, 
der  sie  durchzieht,  über  den  prächtigen  Laubwäldern,  die  das 
Gelände  ihrer  Berge  krönen:  sie  umschwebten  den  Knaben,  wenn 
er  auf  oder,  wie  man  dort  sagt,  in  dem  »Berge«  stand  (denn  es 
war  ehemals  ein  Weinberg),  unter  dem  uralten  Birnbaum,  der 
seit  tausend  Jahren,  hieß  es,  seitdem  die  christliche  Gesittung 
hier  gepflanzt  ward,  seine  schweren  Fruchtzweige  über  diesen 
Abhang  breitete.  Das  sind  die  Gefilde,  die  Wälder,  wo  nach  der 
Überlieferung  König  Heinrich  der  Sachse  am  Hebsten  geweilt 
und  gejagt  hat.  Flußaufwärts  sucht  das  Auge  jenes  Ritteburg, 
auf  dessen  Feldern  wohl  der  König  die  Magyaren  schlug;  dort 
im  Pfarrhause  hat  die  Wiege  von  Rankes  Vater  gestanden.  Weiter- 
hin, in  mäßiger  Entfernung,  wölbt  sich  der  turmgekrönte  Gipfel 
des  Kyffhäusers.  Im  Osten  aber,  eine  gute  Stunde  unterhalb 
Wiehe,  erinnert  wieder  Memlebens  schöne  Ruine  an  die  Todes- 
stunde des  Sachsenkönigs.  Die  Schatten  des  Begründers  unseres 
alten  Reiches  und  seines  glänzendsten  Helden  walten  über  diesem 
Tale. 

Auch  auf  der  Pforte  umgaben  den  Knaben,  der  hier  zum 
Jüngling  heranreifte,  die  begrenzten  Verhältnisse  des  heimat- 
Hchen  Lebens.  Die  Anstalt  zeigte  noch  ganz  den  Charakter,  der 
ihr  eingepflanzt  war,  humanistischer  Schulung  und  konfessionell 
gebundener  Religiosität:  die  Lehrer,  an  ihrer  Spitze  der  gestrenge 
Rektor  Ilgen,  sämtHch  Theologen  und  gewiegte  Lateiner;  einer 
unter  ihnen  trug  gar  noch  Zopf  und  Perücke:  Hausordnung  und 
Unterricht  waren  in  klösterlicher  Gemeinsamkeit  straff  geregelt. 
Aber  in  den  engen  Formen  pulsierte  doch  wieder  jugendlich  frisches 
Leben,  gezügelt  nur  durch  die  pflichtstrengen  Vorschriften,  ange- 
spornt  durch  die  wetteifernde   Gemeinschaft  des  Umgangs  und 


Leopold  Ranke.  5 

der  Arbeit,  und  durch  das  eifrigste  Studium  des  klassischen  Alter- 
tums mit  Idealität  und  Schönheitssinn  erfüllt.  Die  großen  Welt- 
begebenheiten berührten  freilich  nur  mit  leichtem  Wellenschlage 
die  klösterhchen  Mauern.  Selbst  als  der  sächsische  Boden  unter 
den  ersten  Schlägen  der  großen  Erhebung  erdröhnte,  und  der 
Sturm  hart  an  der  Gemarkung  des  Ellosters  vorüberzog,  konnten 
sich  die  Jünglinge  schwer  von  dem  inneren  Widerstreit  lösen,  in 
den  sie  die  Haltung  ihres  Landesherm  bringen  mußte,  der  auch 
damals  noch  sein  Geschick  mit  dem  Napoleons  verknüpft  hatte. 
Erst  die  Leipziger  Schlacht  nahm  von  den  jugendlichen  Gemütern 
den  Bann,  unter  dem  ihr  nationales  Empfinden  gehalten  war. 

So  wirkte  denn  auch  auf  der  Universität  vor  allem  der  Geist 
des  Altertums  auf  Ranke  ein.  Hatte  er  aber  in  Pforta  sich  be- 
sonders mit  den  griechischen  Tragikern  beschäftigt,  so  zog  ihn 
in  Leipzig  vornehmlich  Thukydides  an.  Es  war,  wie  er  sagt,  der 
erste  große  Historiker,  durch  den  er  in  der  Tiefe  ergriffen  \\airde; 
mit  äußerstem  Fleiße  habe  er  in  seiner  kleinen  Stube  in  der  Hain- 
straße sich  der  Lektüre  desselben  hingegeben.  Nächst  ihm  habe 
er  Niebuhrs  Schriften  mit  nicht  geringerem  Eifer  zu  studieren 
begonnen.  Eine  andere  Richtung  habe  ihn  bald  darauf  zu  den 
Werken  Luthers  geführt,  durch  die  er  keinen  geringen  Impuls 
erhalten  habe.  Der  antike  und  der  zeitgenössische,  kritische 
Historiker  also,  welche  mit  staatsmännischem  Blick  und  in  einer 
klassischen  Form  die  Geschichte  von  Hellas  und  von  Rom  schrie- 
ben, und  Thüringens  größter  Sohn,  der  deutsche  Reformator,  der 
auf  dem  ewigen  Grunde  des  Evangelium  die  Scheidung  des  Welt- 
lichen und  Geisthchen  vollzog,  »der  das  große  Gespräch  begann, 
das  die  seitdem  verflossenen  Jahrhunderte  daher  auf  dem  deut- 
schen Boden  stattgefunden  hat«  —  das  sind  die  drei  Geister, 
denen  Ranke  die  Grundelemente  verdankt,  aus  denen  sich  seine 
historischen  Studien  auferbaut  haben.  Nach  ihnen  nennt  er  als 
vierten  Fichte,  den  sittlich-kühnen  Denker,  dessen  religiös-ethische 
und  national-politische  Ideen,  wie  sie  an  Luther  erinnern,  so  auch 
mit  Rankes  Auffassung  sich  innerUch  nah  berühren. 

Wie  hätte  aber  Ranke,  von  diesen  Heroen  der  Klarheit  und 
der  Kraft  geleitet,  sich  in  den  phantastischen  Nebeln  der  Ro- 


Q  Kleine  liistorische  Schriflen. 

mantik  verlieren  mögen,  welche  damals  Kunst  und  Leben,  Lite- 
ratur und  Politik  mit  strebender  Unruhe  erfüllte!  Daß  er  sie 
begriffen  hat,  dafür  zeugen  seine  Werke;  niemand  hat  ihren  Geist 
in  Vergangenheit  und  Gegenwart  wärmer,  glänzender,  wahrer  ge- 
schildert. Aber  sie  vermochte  ihn  nicht  mehr  zu  übermannen. 
Da  sie  in  der  Vollkraft  ihrer  berauschenden  Blüte  stand,  trat 
er  ihr  klaren  Auges,  mit  der  überlegenen  Objektivität  des  Histo- 
rikers entgegen.  Gerade  in  den  Jahren  ihrer  Herrschaft,  eben  in 
Frankfurt,  schrieb  er  jenes  erste  Werk,  welches  in  Kritik  und 
Auffassung  bereits  den  vollen  Stempel  seines  Geistes  trägt,  die 
»Geschichte  der  romanischen  und  germanischen  Völker«, 

In  dem  Titel  ist  schon  der  Grundbegriff,  in  dem  alle  Werke 
Rankes  gedacht  sind:  die  Einheit  der  romanischen  und  ger- 
manischen Nationen,  im  Gegensatz  zu  den  bisher  vorherrschen- 
den Anschauungen:  einer  allgemeinen  Christenheit,  der  Ein- 
heit Europas,  endlich  auch  der  analogsten,  einer  lateinischen 
Christenheit;  denn  zu  dieser  gehören  auch  slawische,  lettische, 
magyarische  Stämme,  welche  eine  eigentümliche  und  besondere 
Natur  haben.  In  der  Völkerwanderung  ward  jene  Einheit  be- 
gründet ,  in  dem  Zusammentreffen  der  nationalen ,  staathchen 
und  kirchlichen  Kräfte,  welche  auf  dem  Boden  des  westlichen, 
des  lateinischen  Imperium  lebten.  In  dem  Kreise  dieser  Völker 
wuchs  fort,  was  sich  von  den  Kulturelementen  der  alten  Welt 
durch  jene  Jahrhunderte  der  Stürme  hindurch  gerettet  hatte; 
sie  haben  in  der  päpstlichen  und  der  kaiserlichen  Gewalt,  in 
ihren  kirchHch-politischen  Kolonisationen,  in  allen  Formen  ihrer 
staatlichen ,  geselligen  und  kirchlichen  Organisation ,  in  allen 
Äußerungen  ihres  künstlerischen  und  literarischen  Geistes  ge- 
meinsam die  mittleren  Jahrhunderte  erfüllt  und  gestaltet.  Die 
fremden  Nationen  an  den  Grenzen  werden  abgewehrt  oder 
unterworfen  und  assimiliert ,  aber  auch  dann  sind  sie  nur 
nebengeordnete,  dienende  Glieder:  Träger  der  welthistorischen 
Entwickelung  bleiben  die  sechs  Nationalitäten,  in  welchen  die 
romanischen  und  germanischen  Elemente  unter  dem  Vorwalten 
des  einen  oder  des  andern  gemischt  sind,  eine  in  Kampf  und 
Verkehr    unablässig    bewegte,    hin-    und   herflutende,    schließüch 


Leopold  Ranke.  7 

doch  fortschreitende  Gemeinschaft.  Indem  Ranke  in  der  Ein- 
leitung jenes  Buches  diese  Einheit  durch  die  Geschichte  des  Mittel- 
alters hin  verfolgte,  faßte  er  als  besondere  Aufgabe  nur  die  Epoche 
ihrer  Zertrennung  ins  Auge,  welche  das  neue  Weltalter  bedingte: 
die  Ausbildung  des  spanisch-habsburgischen  und  des  französischen 
Machtsystems  sowie  die  Spaltung  durch  die  Reformation  war 
das  Thema;  der  erste  Gang  dieser  Entwicklung,  bis  1535,  sollte 
betrachtet  werden;  was  zunächst  erschien,  umschloß  die  20  Jahre 
von  1494  bis  1514,  »gleichsam  den  Vordergrund  der  neueren  Ge- 
schichte «. 

Das  Buch  blieb  in  dieser  Form  Fragment  und  hat  daher 
in  dem  Kreise  der  Rankeschen  Werke  eine  Stellung  für  sich.  In 
Kraft  und  Fülle  der  Anschauung,  in  der  lebensvollen  Darstellung 
steht  es  einzig  da;  eine  Gestalt  z.  B.  wie  Savonarola  ist  mit 
einer  Schärfe  der  Linien  und  einer  Leuchtkraft  der  Farben  ge- 
schildert, welche  unmittelbar  an  den  künstlerischen  Konf rater 
des  feurigen  Prädikanten,  an  Fra  Bartolomeo  erinnert.  Doch 
fehlt  es  nicht  in  Sprache  und  Gruppierung  an  Elementen  der 
Gärung,  welche  besonders  durch  die  literarischen  Vorbilder  und 
die  Materialien  der  Forschung  bedingt  waren;  mit  deren  Erweite- 
rung, mit  der  wachsenden  Erkenntnis  mußten  sie  sich  abklären; 
der  Grundbegriff  selbst  gestaltete  sich  unter  dem  vergrößerten 
Gesichtskreise  umfassender.  Den  Übergang  bemerken  wir  nach 
Form  und  Inhalt  in  dem  zweiten  Buch,  »Die  Osmanen  und  die 
spanische  Monarchie  im  16.  und  17.  Jahrhundert«,  das  als  erste 
Abteilung  eines  umfassenderen  Werkes,  »Fürsten  und  Völker  von 
Südeuropa«  in  der  gleichen  Epoche,  1827  zur  Ausgabe  kam;  wie 
es  denn  auch  bereits  aus  archivalischen  Quellen  geschöpft  ist. 
Die  »Geschichte  der  Päpste«  sodann,  noch  als  Ausführung  jenes 
Gesamttitels  gedacht,  nach  der  Rückkehr  von  der  epochemachen- 
den italienischen  Reise  (1831)  vollendet,  zeigt  das  volle  Ge- 
präge der  Meisterschaft.  Staunend  bemerken  wir,  daß  Ranke  in 
dieser  Höhezeit  seines  Schaffens,  in  den  Jahren,  wo  er  die 
»Historisch -politische  Zeitschrift«  herausgab  (1832  bis  1836), 
seine  Lebensarbeit  in  ihrem  vollen  Umfange  erfaßt  und  vorge- 
zeichnet hat. 


g  Kleine  historische  Schriften. 

Das  Fragment  über  die  »Großen  Mächte«,  welches  den  zweiten 
Band  jenes  Unternehmens  eröffnete,  enthält,  wenn  wir  von  der 
Weltgeschichte  absehen,  deren  Vollendung  Ranke  leider  vom  Ge- 
schick nicht  gegönnt  worden  ist,  das  Programm  aller  späteren 
Werke,  ja  mehr  als  dies:  einzelne  Gedanken  darin  harrten  ver- 
gebens der  Ausführung.  In  Verbindung  gebracht  mit  den  Grund- 
linien der  früheren  Arbeiten,  steht  in  diesem  Aufsatz  die  Ent- 
wicklung der  europäischen  Großmächte,  des  S3'stems  und  seiner 
Glieder,  so  wie  Ranke  es  später  ausgeführt  hat,  in  voller  Deut- 
lichkeit vor  Augen:  das  Frankreich  Ludwigs  XIV.,  katho- 
lisch und  national,  monarchisch  zentralisiert  und  doch  feuda- 
listisch geartet,  uniform  und  stets  doch  voller  Gärung,  nach 
Glanz  und  Herrschaft  begierig;  ihm  gegenüber  das  protestantisch- 
nationale, germanisch  -  maritime  England,  in  dem  gewaltigen 
Ringen  seiner  beiden  aristokratischen  Parteien,  die  doch  immer 
einen  durch  das  nationale  Interesse  und  die  populäre  Tendenz 
bestimmten,  legal  umschriebenen  Kreis  innehalten,  in  deren  poli- 
tischem Wettstreite  erst  der  Strom  der  englischen  Nationalkraft 
weltgestaltend  hervortritt;  Österreich  sodann,  wirtschaftlich  und 
national  so  vielgestaltig  und  doch  religiös  wie  politisch  so 
stabil ,  kathohsch  -  deutsch ,  wohlbewaffnet ,  voU  unversiegbarer 
Lebenskräfte;  Rußland,  wie  eine  Naturgewalt  plötzlich  und 
furchtbar  sich  erhebend:  die  griechisch-slawische  Macht,  jetzt 
erst  europäisch;  Preußen  endlich,  in  dem  die  deutsch -pro- 
testantischen Überlieferungen  einen  späten  Anhalt  und  Ausdruck 
fanden,  nachdem  Schweden  zusammengebrochen  war.  Wir  lesen 
da  bereits,  was  alle  folgenden  Bände  ausführlich  beweisen,  wie 
modern  diese  vier  letzten  Mächte  sind,  nicht  bloß  der  Staat  Peters 
des  Großen  und  die  norddeutsche  Großmacht,  sondern  auch  das 
parlamentarische  Großbritannien  und  die  scheinbar  älteste,  legi- 
timste Älonarchie,  das  erst  durch  die  Eroberung  Ungarns  kon- 
stituierte Österreich:  ihre  Ausbildung  ist  die  Summe  der  hundert 
Jahre  von  der  »glorreichen«  bis  zum  Ausbruch  der  großen  Revo- 
lution, das  Resultat  die  Verdrängung  Frankreichs  von  der  Stel- 
lung, die  es  bis  1688  errungen  hatte.  Und  unter  dem  Einfluß 
dieser   Kraftgruppierung   zeigen   nun   auch   die   Literaturen,   die 


Leopold  Ranke.  9 

religiösen  und  philosophischen  Systeme,  die  rechthchen  und  poli- 
tischen Theorien,  die  ganze  Sitten-  und  Empfindungswelt,  alles, 
was  man  Kultur  des  i8.  Jahrhunderts  nennt,  ihre  zersetzenden 
wie  ihre  positiven  Tendenzen!  Ausführungen,  welche  aber  keines- 
wegs in  so  blassen  Linien  der  Abstraktion  gegeben  werden,  son- 
dern mit  der  Fülle  des  Details,  plastischer  Anschauung,  schärfster 
persönlicher  Zeichnung.  Auch  über  die  Revolutionsepoche  selbst 
ergreift  Ranke  das  Wort;  und  was  er  in  seinen  späteren  Werken 
darüber  ausgeführt  hat,  originale  bahnbrechende  Gedanken,  über 
den  explosiven  Charakter  der  Bewegung,  die  Notwendigkeit  ihres 
Kampfes  mit  den  umgebenden  Mächten,  des  Zusammenbruches 
der  mechanisierten  Staatsgebilde  des  Kontinentes  unter  dem  Stoß 
jener  eisernen,  in  vulkanischen  Gluten  geschmiedeten  Gewalt 
—  das  alles  stellt  er  hier  auf  wenigen  Seiten  augenscheinlich  dar. 
Die  Stärke  Frankreichs  beruhte  in  der  nationalen  Einheit,  in  der 
Zentralisation  aller  Kräfte,  die  es  in  der  Zertrümmerung  selbst 
durchführte.  So  konnte  es  für  Europa  ■ —  und  damit  tritt  die 
Abhandlung  schließlich  in  unser  eigenes  Jahrhundert  —  keine 
Rettung  geben,  ehe  es  »dieser  Forderung  der  Weltgeschicke  Ge- 
nüge zu  leisten,  die  schlummernden  Geister  der  Nationen  zu  selbst- 
bewußter Tätigkeit  aufzuwecken  begann«.  Das  ist  die  Aufgabe, 
in  deren  Lösung  wir  noch  begriffen  sind. 

Kein  Historiker,  kein  Politiker  auch  sollte  es  versäumen, 
diese  Abhandlung,  und  zugleich  die  letzte  jenes  Bandes,  das 
»PoHtische  Gespräch«,  wieder  und  wieder  zu  lesen.  Beide  ent- 
halten die  Summe  der  neueren  Geschichte  und  damit  auch  die 
Grundlage,  auf  der  alle  Politik  sich  bewegen  wird.  Alles  aber  luht 
auf  dem  obersten  Begriff  der  romanisch-germanischen  Nationen 
und  der  Verkörperung  ihres  Wesens  in  dem  System  ihrer  Staaten. 

Gerade  daß  Ranke  als  Staatsmann  schreibt,  hat  man  ihm 
gern  zum  Vorwurf  gemacht.  Daraus  leite  sich  sein  Talent  ab  in 
der  Entwirrung  diplomatischer  Truggewebe,  überhaupt  die  Meister- 
schaft in  der  Behandlung  aller  auswärtigen  Pohtik,  aber  auch 
ein  Mangel  an  Verständnis  populärer  Strömungen,  der  inneren 
Entwickelung,  Empfindungskälte  gegenüber  den  sittlichen  Forde- 
rungen, welche  der  strebende,  reifende,  fortschreitende  Volksgeist 


10  Kleine  historische  Schriften. 

an  die  Regierung  stelle:  Vorwürfe,  welche,  wie  man  sieht,  dem 
Begriff  des  Staates  den  der  Regierung  unterstellen  und  dann 
einen  Unterschied  konstruieren  zwischen  Staat  und  Volk,  Re- 
gierung und  Regierte  jedoch  einander  so  entgegensetzen,  daß 
diese  als  die  Regulatoren  der  ersteren  in  bezug  auf  die  sittlichen 
Ziele  und  Mittel  des  staatlichen  Lebens  erscheinen.  Das  aber 
ist  nicht,  was  Ranke  meint.  Sowenig  wie  allerdings  nach  seiner 
pohtischen  Überzeugung  die  Regierung  eine  leere  Form,  der  kraft- 
lose »Indifferenzpunkt«  im  Gewoge  der  Parteien  und  ihrer  Theo- 
rien sein  soll,  sondern  eine  lebenerfüllte  Macht,  »eine  Wesenheit, 
ein  Selbst«,  ebensowenig  ist  ihm  der  Staat  ein  von  der  Nationali- 
tät lösbares  Gebilde,  Produkt  allgemeiner  Theorien,  hergeleitet 
aus  der  philosophierenden  Konstruktion  eines  Vertrages,  sondern 
ein  Lebendiges,  Innerlich-Wachsendes,  eine  machtvolle  Gemein- 
schaft, »moralische  Energie«,  enger  gemeinhin  als  die  Nation, 
aber  ruhend  auf  ihrem  Grunde,  solange  noch  Leben  darin  ist. 
Wie  sollte  eine  solche  Individualität  nicht  auch  nach  äußerer 
Entfaltung  streben!  Da  aber  begegnet  sie  im  ganzen  Umkreis 
anderen  Gebilden,  analog  und  doch  wieder  eigentümlich  geartet, 
Modifikationen  der  Nationalität,  lebensvoll,  strebend  wie  sie  selbst. 
So  müssen  denn  alle  miteinander  ringen.  »Denn  der  Kampf,« 
sagt  ,HerakHt',  »ist  der  Vater  aller  Dinge.«  Dennoch  aber  bleiben 
sie,  eben  in  ihm,  in  Aktion  und  Reaktion,  eine  lebendige  Gemein- 
schaft. Denn  sie  stehen  gemeinsam  unter  den  Abwandlungen 
der  großen  Verhältnisse,  als  ein  Abglanz  des  Ewigen  überschattet 
von  dem  gewaltigen  Schicksal,  das  in  ihrem  Dasein  an  dem 
lebendigen  Kleide  der  Gottheit  wirkt. 

Wenn  Ranke  vornehmlich  die  auswärtige  Politik  ergriindet 
hat,  so  ist  auch  das  nur  wieder  eine  Folge  seiner  Fragestellung: 
das  erste  Ziel  mußte  auf  die  Entwickelung  des  Systems,  also 
auf  den  Zusammenhang  und  Kampf  seiner  Glieder  gerichtet 
sein.  Gerade  darin  offenbart  sich  am  deutlichsten,  wie  sehr 
innere  und  äußere  Entwickelung  sich  bedingen;  niemals  aber 
begreift  unser  Historiker  die  auswärtige  PoHtik  eines  Staates 
anders,  denn  als  seine  Kraftentwickelung  innerhalb  seines  Um- 
kreises. 


Leopold  Ranke.  H 

Man  redet  so  oft  von  Rankes  Objektivität.  Diese  besteht 
eben  in  jener  Auffassung  vom  Staate  und  ist  nur  eine  andere 
Form  seines  Forschungsprinzipes,  das,  wenn  man  es  auf  seinen 
Grund  prüft,  die  mit  philosophischem  und  rehgiösem  Tief  sinn 
erfüllte,  freiheithche,  universale,  das  heißt  wissenschaftliche  An- 
schauung der  historischen  Erscheinungen  sein  will.  Diese  zu 
sehen  und  zu  schildern  ist  die  Aufgabe:  »die  Begebenheit  selbst 
in  ihrer  menschlichen  Faßbarkeit,  ihrer  Einheit,  ihrer  Fülle«. 
Alles  hängt  von  dem  obersten  Gesetze  ab:  die  sorgfältigste  Er- 
forschung des  Einzelnen  und  die  kühne,  unbeirrte  Erfassung  des 
Ganzen;  die  Würdigung  der  Grundkräfte,  wie  alle  Schätzung  der 
Persönlichkeit;  denn  »die  großen  Begebenheiten  reißen  Gemüt 
und  Handlungsweise  gewaltsam  sich  nach«,  nur  unter  den  Schick- 
salsmächten ihrer  Epoche  können  wir  die  Individuen  begreifen. 

Und  nun  dürfen  wir  wohl  auch  nicht  mehr  von  der  Teil- 
nahmlosigkeit  oder  der  verstandesmäßigen  Technik  dieser  objek- 
tiven Forschung  sprechen,  die  sich  in  einer  gewissen  Kälte  der 
Darstellung  zeige.  Der  Schaden  wäre  schließlich  zu  ertragen, 
wenn  nur  das  Prinzip  gewahrt  würde:  »strenge  Darstellung  der 
Tatsachen,  wie  bedingt  und  unschön  sie  sei,  ist  ohne  Zweifel  das 
oberste  Gesetz.«  Für  uns  Jüngere  übrigens  ist  ein  Mangel  an 
patriotischer  Empfindung,  wenn  wir  nur  eben  das  Prinzip  wahren, 
nicht  mehr  zu  befürchten,  nachdem  sich  die  nationalen  Gärungen 
unter  der  Doppelwirkung  wissenschaftlicher  Erkenntnis  und  poli- 
tischer Tat  im  nationalen  Staate  abgeklärt  haben:  sie  ist  die 
Lebensluft,  in  der  wir  atmen;  wie  sollte  sie  also  nicht  auch  unsere 
Versuche,  die  Vergangenheit  neu  zu  denken,  beleben!  Nimmer- 
mehr aber  dürfen  wir  darum  für  die  Darstellung  versäumen,  was 
wir  für  die  Forschung  fordern:  beides  hängt  unlöslich  zusammen; 
gemeinsam  erst  macht  es  einen  Widerglanz  der  Weltereignisse 
möglich.  Denn  nur  eben  dies  ist  unsere  Aufgabe,  nicht  Aus- 
übung des  Weltgerichtes,  das  Gottes  ist  und  jenseits  der  Geschichte 
liegt.  Wohl  aber  können  Avir  die  »göttlichen  Geheimnisse«  ahnend 
fassen,  wenn  wir  ihre  irdische  Erscheinung  zu  erkennen  trachten. 
Mögen  wir  unsere  Seele  dafür  empfänglich  stimmen!  Allzuviel 
nur  des  Persönlichen  wird  ja  an  den  Gebilden  unserer  Erkenntnis 


^2  Kleine  hislorisclie  Schriften. 

haften  bleiben,  da  sie  durch  unsere  Persönhchkeit  hindurchgehen. 
Unsere  Seele  ist  nun  einmal  der  Spiegel,  in  den  die  Urgestalten 
hineinfallen,  aus  dem  sie  wiederkehren  müssen.  So  besitze  sie 
also  die  kristallene  Klarheit  der  Wahrhaftigkeit!  Sollten  wir  aber 
nicht  hoffen  dürfen,  daß  die  Bilder  um  so  schärfer,  farbiger,  be- 
seelter erscheinen  werden,  je  heller  ihre  Spiegelfläche  ist  ? 

Freilich  ist  die  Aufgabe  für  uns  eine  andere  geworden  als 
für  den  Begründer  unserer  Wissenschaft.  Er  konnte  in  stür- 
mischer Bewegung  die  großen  Linien  ziehen,  die  Fundamente 
legen  des  Bildersaales  der  Zeiten.  Er  hat  dann  auch  die  Mauern, 
Pfeiler,  Hallen  errichtet  und  eine  Fülle  des  Schmuckes  hinzu- 
getan; an  allen  Wänden  prangen  seine  Gestalten.  Wir  können 
nur  weiter  daran  bauen  und  schmücken.  Zahllos  aber  sind  die 
Geschlechter,  welche  über  den  Erdball  dahingingen,  unermeßlich 
ist  die  Summe  ihres  Wollens,  ihrer  Arbeit,  ihres  Glückes  und 
ihrer  Schmerzen.  Soviel  davon  auch  klanglos  untergegangen  ist, 
unendlich  bleibt  immer  noch  die  Fülle  des  Erkennbaren.  Uns 
mag  nun  wohl  besonders  die  innere  Geschichte  der  Nationen 
interessieren,  die  literarische,  die  wirtschaftliche  Bewegung  und 
so  fort;  aber  wir  wollen  nicht  wähnen,  daß  ^vir  von  neuen  Prin- 
zipien her,  jeder  etwa  für  sich,  das  Weltganze  und  die  Einzel- 
erscheinungen begreifen  können,  sondern  wollen  zunächst  den 
Meister  verstehen  lernen.  In  dem  Maße  wie  unter  uns  die  Er- 
kenntnis seiner  Prinzipien  zunimmt,  welche  nicht  die  Schabioni- 
sierung überaler  oder  konservativer  Theorien,  sondern  die  Fest- 
stellung historischer  Kräfte  sind  und  darum  eine  ewige  Dauer 
haben  werden  wie  Keplersche  Gesetze,  in  dem  Maße  wird  auch 
der  Zusammenhang,  der  Überblick  und  die  Gemeinsamkeit  der 
historischen  Arbeit  wachsen,  werden  ihre  Jünger,  wie  Ranke  an 
seinem  fünfzigjährigen  Doktor  Jubiläum  sagte,  »gewssermaßen 
eine  große  Familie  bilden,  zusammengehalten  durch  den  gemein- 
samen Kultus  der  Wahrhaftigkeit«. 

Damals  (1867)  hat  er  im  Kreise  der  Freunde  und  Schüler  selbst, 
»gewissermaßen  als  sein  historisches  Testament«,  wie  er  sich  aus- 
drückte, demutsvoll  das  Zukunftsideal  deutscher  Geschicht- 
schreibung kundgegeben,  welches  ihm  stets  vorgeschwebt  habe: 


Leopold  Ranke.  13 

die  Verbindung  der  nationalen,  kraftvoll  den  Moment  erfassenden 
Historie  der  uns  benachbarten  Nationen  mit  der  universalhisto- 
rischen Betrachtung,  die  dem  deutschen  Genius  gemäß  sei:  er 
bücke,  wie  Moses,  in  das  gelobte  Land  einer  zukünftigen  deutschen 
Historiographie,  wenn  er  es  auch  nicht  betreten  sollte.  Halten 
wir  mit  ihm  an  der  Hoffnung  fest,  daß  wir  ein  noch  höheres  Ziel 
vor  Augen  haben,  aber  lassen  wir  von  dem  Wahn,  daß  wir  es 
schon  etwa  gar  erreicht  hätten  oder  auf  einer  anderen  Straße  er- 
reichen könnten,  als  die  er  gebahnt  hat.  Ist  unsere  Aussicht  und 
somit  Kraft  und  Wille  auch  begrenzter,  so  mögen  wir  uns  damit 
trösten,  daß  wir  auf  dem  rechten  Wege,  »der  Wahrheit,  die  nur 
eine  sein  kann«,  dahergehen. 


68^^=^^5^ 


Zum  Gedächtnistage  Johann  Gutenbergs. 

{1900.) 

In  dieser  festesfrohen  Zeit  endlich  einmal  ein  Tag,  an  dem 
es  sich  lohnt,  vergleichend  Rückschau  zu  halten,  und  der  von 
uns  heischt,  daß  wir  in  frohem  Selbstbewußtsein  des  hohen  Namens 
dankbar  uns  erinnern,  dem  er  gewidmet  ist!  Es  ist  der  Gedenktag 
eines  deutschen  Bürgers,  und  darum  ziemt  es  sich,  daß  vor  allem 
die  Bürgerschaften  in  den  Zentren  deutscher  Arbeit  das  Fest  be- 
gehen; es  ist  die  Erinneiiing  an  die  Siegeszüge  des  weltverbin- 
denden Gedankens,  und  darum  bedarf  es  bei  dieser  Feier  nicht 
so  sehr,  wie  an  den  Tagen  nationaler  Siege,  der  Teilnahme  und 
pomphafter  Manifestationen  der  staatlichen  Organe.  Und  den- 
noch ist  dieser  schlichte  Mainzer  Bürger,  dessen  Leben  in  der 
Enge  zweier  deutscher  Reichsstädte  hinging,  dessen  persönliches 
Gedächtnis  bald  so  sehr  in  den  Schatten  trat,  daß  erst  mühsame 
Forschung  aus  dürftigen  Urkunden  es  neu  beleben  konnte,  dessen 
Züge  wir  nicht  einmal  kennen  (denn  alle  Bilder,  die  wir  von  ihm 
haben,  sind  Phantasiewerk),  ein  Weltbezwinger  gewesen,  dessen 
Siege  alle  Eroberungen  der  Weltgewaltigsten  hinter  sich  lassen, 
und  das  Blei  der  Lettern,  die  er  goß,  hat  nach  dem  alten  Worte 
wahrhch  kräftiger  gewirkt,  als  das  der  Kartätschen.  Mit  Recht 
rühmt  sich  unser  Jahrhundert  der  Triumphe  seiner  Technik  und 
läßt  sich  vor  andern  gern  als  das  Zeitalter  der  Erfindungen  und 
Entdeckungen  feiern.  Sie  erst  haben  es  ermöglicht,  daß  der  Erd- 
ball den  europäischen  Nationen  und  wer  ihres  Geblütes  ist,  völlig 
Untertan  wurde.  Alles,  was  an  der  herrschenden  Zivilisation  teil- 
haben, was  sein   Selbst  behaupten  will,  muß  sich  ihnen  unter- 


Zum  Gedächtnistage  Johann  Gutenbergs.  15 

werfen,  die  Naturvölker  kaum  erforschter  Kontinente  ebenso- 
wohl wie  die  Rassen  von  uralter  Kultur;  rascher  als  in  irgend- 
einer früheren  Epoche  pulsiert  unter  dem  Druck  ihrer  von  außen 
stoßenden,  unwiderstehlichen  Kräfte  das  historische  Leben;  immer 
eiliger  laufen  in  dem  großen  Gewebe  die  Fäden,  immer  neue 
treten  hinzu,  immer  wirrer  schießen  sie  durcheinander,  und  den- 
noch tritt  uns  immer  einheitlicher  und  geschlossener  das  Ganze 
vor  Augen.  Aber  was  will  das  alles  sagen  gegen  die  Grund- 
bedeutung, die  Gutenbergs  Erfindung  gehabt  hat,  gegen  den  Um- 
schwung des  allgemeinen  Lebens,  der  von  dem  Momente  ab  be- 
gann, als  er  im  Sommer  1450,  genau  vor  450  Jahren,  mit  seinem 
Mitbürger,  dem  kapitalkräftigen  Johann  Fust,  den  Vertrag  schloß, 
der  es  ihm  ermöglichte,  wie  es  in  einem  seiner  Drucke  heißt,  die 
Bücher  »nicht  mit  Hilfe  des  Schreibrohrs,  des  Griffels  oder  der 
Feder,  sondern  durch  das  wunderbare  Übereinstimmen,  Verhältnis 
und  Maß  der  Älatrizen  und  Formen  zu  drucken  und  zu  vollenden«. 
Diese  Erfindung  war  es,  welche  die  europäischen  Nationen  mit  dem 
vornehmsten  Werkzeuge,  um  sich  den  Erdball  zu  unterwerfen, 
ausgerüstet  hat,  die  allem,  was  sie  schufen  und  vor  sich  brachten, 
erst  die  Möglichkeit,  wenn  nicht  des  Werdens,  so  doch  des 
Wirkens  gewährte;  sie  ist  uns,  wie  jüngst  treffend  gesagt  wurde, 
das  geworden,  was  die  Elemente  für  die  Natur  sind,  etwas 
Unentbehrliches,  ohne  das  zu  leben  wir  uns  gar  nicht  denken 
können^). 

Auch  der  andere  Bahnbrecher,  der  mit  Johann  von  Guten- 
berg an  den  Pforten  der  neuen  Zeit  steht,  der  Entdecker  der 
»Neuen  Welt«,  Christoph  Columbus,  er,  der  so  viel  Züge  mit 
jenem  gemein  hat  • — ■  den  einsamen,  grüblerisch-bohrenden  Geist, 
den  Eifer,  der  nicht  ruht  noch  rastet,  durch  keine  Enttäuschung 
sich  beugen  läßt,  und  so  auch  das  tragische  Entdeckerlos,  den 
Undank  der  Welt  und  den  Raub  der  Erfolge  durch  die  Neider 
und  Rivalen  — ,  muß  dennoch  vor  dem  Pfadweiser  in  die  Welt 
der  Gedanken  zurücktreten.    Denn  von  allem  andern  abgesehen, 


')  Meißner  und  Luther,  Die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst,  Leipzig 
1900.  Auch  die  anderen  Zitate  in  diesem  Essay  verdanke  ich  diesem  aus- 
gezeichneten Buch. 


16  Kleine  historische  Schriften. 

wie  lange  doch  hat  es  gewährt,  bis  die  andere  Hemisphäre  in  die 
allgemeine  historische  Bewegung  hineingerissen  wurde,  und  wie 
spät  hat  sie  selbst  sich  rückwirkend  zur  Geltung  gebracht!  Die 
Inseln,  die  Colon  entdeckte,  und  die  Eroberungen  der  Cortez  und 
der  Pizarros  haben  auf  die  Pohtik  Karls  V.  weniger  Einfluß  ge- 
habt, als  unsere  Besitzungen  in  Afrika  und  der  Südsee  auf  die 
unserer  Regierung.  Mochte  er  sich  Herr  beider  Indien  nennen, 
der  Umkreis  seiner  Interessen  beschränkte  sich  für  Kaiser  Karl 
wesentlich  auf  Europa;  nicht  einmal  das  Edelmetall  der  neuent- 
deckten Länder,  das  schon  Columbus  zu  seiner  verwegenen  Fahrt 
anreizte,  und  das  nach  ihm  immer  neue  Scharen  von  Con- 
quistadoren  über  das  Meer  trieb,  war  für  ihn  wie  für  seinen  Nach- 
folger von  großer  Bedeutung.  Erst  mit  der  Besiedelung  des  neuen 
Kontinentes  durch  die  germanisch-protestantische  Rasse,  mit  dem 
Eintritt  Englands  in  den  Kampf  gegen  Spanien  und  die  ihm  fol- 
genden kolonisierenden  Nationen  beginnt  die  Rückwirkung;  doch 
auch  noch  im  17.  Jahrhundert  wird  die  europäische  Welt  wesent- 
lich durch  die  in  ihrem  Umkreis  wirkenden  Elemente  bewegt, 
und  neue  Generationen  mußten  vorübergehen,  ehe  sich  die  Neue 
Welt  von  ihrer  geistigen  und  selbst  der  wirtschaftlichen  Abhängig- 
keit hat  losreißen  und  originale  Kräfte  hat  entfalten  können.  Die 
Erfindung  Gutenbergs  dagegen  wirkte  von  Anfang  an  mit  über- 
wältigender Kraft.  Seitdem  die  Schüler  und  Gesellen  des  alten 
Meisters,  nach  der  Eroberung  von  Mainz  durch  Erzbischof  Adolf 
(1462),  in  alle  Welt  zerstreut  waren,  eroberte  die  »deutsche  Kunst« 
wie  im  Fluge  alle  Länder  abendländischer  Kultur;  im  dritten  Jahr- 
zehnt nach  der  Erfindung  saßen  schon  deutsche  Drucker  und 
Buchführer,  glücklicher  als  ihr  Lehrherr,  in  Paris  und  Rom,  in 
London  und  Toledo,  in  den  Hauptstädten  Italiens,  überall  im 
Reich  und  bis  hinauf  nach  Dänemark  und  Schweden ;  auf  25  000 
berechnet  man  heute  die  Zahl  der  Bücher,  die  noch  im  15.  Jahr- 
hundert gedruckt  wurden,  auf  12^L_  Millionen  ihre  Exemplare.  Dann 
aber,  in  dem  neuen  Jahrhundert,  das  den  Sturz  der  alten  Kirche 
sah,  kamen  erst  die  wahrhaft  großen  Erfolge.  Für  die  Ausbrei- 
tung der  neuen  Ideen  wurde  die  Entdeckung  des  Mainzer  Bür- 
gers der  gewaltigste   Hebel.     Nur  die  Druckerpresse  hat  es  er- 


Zum  Gedächtnistage  Johann  Gutenbergs.  17 

möglicht,  daß  die  95  Thesen  Martin  Luthers  in  14  Tagen,  »als 
ob  Engel  die  Boten  wären«,  durch  Deutschland  getragen  wurden; 
und  sie  war  die  Fackel,  deren  weithin  zerstiebende  Funken  in  den 
12  Artikeln  der  rebellischen  Bauern  den  ungeheuren  Brand  ent- 
fachten, der  das  Leben  der  Nation  einen  Moment  mit  Vernich- 
tung bedrohte:  als  ob  das  pessimistische  Wort,  mit  dem  Luther 
sie  nannte,  wahr  werden  sollte,  daß  sie  das  letzte  Auflodern  der 
Welt  sei  vor  ihrem  Erlöschen.  Aber  zu  gleicher  Zeit  öffnete  sie 
tausend  Wege,  auf  denen  das  Wort,  an  das  der  Reformator  glaubte, 
in  die  Herzen  seiner  Deutschen  einzog,  und  die  Gedanken,  die 
die  Welt  erneuert  haben,  Macht  und  Leben  gewannen.  So  hat 
sie  die  Gedankenwelt  jener  Tage  befruchtet  und  beflügelt,  daß 
sie  wie  eine  Windsbraut  über  alle  Lande  dahinfuhr,  und  ist  eine 
Kraft  geworden  gleich  groß  zum  Schaffen  und  zum  Zerstören, 
wie   alles,  was  Menschenwitz  erfindet. 

Nicht  als  ob  die  Reformation  ausgebHeben  wäre,  wenn 
Gutenberg  nicht  gelebt  hätte.  Deren  Ursachen  liegen  tiefer.  Alle 
geistigen  und  politischen,  wirtschaftlichen  und  sozialen  Kräfte, 
die  unaufhaltsam  auf  sie  hinarbeiteten,  waren  bereits  da,  als  jener 
über  seine  Erfindung  sann,  und  reichen  weit  über  seine  Lebens- 
zeit zurück.  Er  selbst  aber  blieb  von  dem  neuen  Geist,  wie  ge- 
waltig dieser  sich  regen  mochte,  unberührt.  Nehmen  wir  wahr, 
daß  seine  Erfindung  in  die  Epoche  fällt,  da  der  Humanismus  in 
Italien  in  seiner  Vollkraft  stand  und  nördlich  der  Alpen  seine 
ersten  Blüten  trieb!  Eben  Gutenbergs  Generation  hat  in  unserem 
Vaterlande  seine  ersten  Träger  gestellt;  und  gerade  in  den  Reichs- 
städten des  Westens  und  Südens  finden  wir  die  frühesten  Re- 
gungen des  neuen  Geistes  auf  deutschem  Boden.  Längst  war 
die  Opposition  gegen  Rom  erwacht;  ja,  sie  hatte  sich  niemals 
radikaler  und  in  aUen  Schichten  und  Provinzen  der  Kirche  all- 
gemeiner gezeigt  als  in  den  Jahren  seiner  Jugend  und  Mannheit 
zur  Zeit  des  Konstanzer  und  des  Baseler  Konzils;  die  Städte, 
in  denen  er  wirkte,  waren  fast  die  Zentren  dieses  Widerstandes 
gewesen,  und  zu  seinen  Landsleuten  zählten  IMänner  wie  Johann 
Wessel,  die  als  wahrhafte  Vorläufer  Martin  Luthers  bezeichnet 
werden  können.    Aber  nichts  in  seiner  Arbeit  und  in  dem,  was 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  2 


13  Kleine  historische  Schriften. 

wir  von  ihm  wissen,  deutet  darauf  hin,  daß  er  diesen  Neuerern 
nahe  gestanden  hätte.  Es  ist  wahr,  das  erste  Buch,  das  er  unter 
die  Presse  brachte,  war  eine  lateinische  Grammatik;  aber  es  war 
der  Donatus,  das  unzälüigemale  abgeschriebene  Handbuch  des 
Mittelalters,  gegen  dessen  geistlose  Methode  alle  Humanisten 
eiferten.  Das  zweite  Druckerzeugnis,  das  seine  Presse  verließ, 
war  ein  Ablaßbrief,  in  dem  ein  geistlicher  Rat  König  Lusignans 
von  Cypern  im  Namen  des  Papstes  allen  den  Christgläubigen  die 
Vergebung  der  Sünden  verhieß,  die  innerhalb  dreier  Jahre  das 
Kreuz  gegen  Türken  und  Sarazenen  nehmen  würden.  Es  folgten 
eine  Mahnung  zum  Kampf  wider  die  Ungläubigen,  Bibeldrucke, 
jedoch  der  Vulgata,  des  Textes  der  Kirche,  Psalterium  und  Mis- 
sale, scholastische  Schriften  theologischen  oder  juristischen  In- 
halts; aber  der  große  Meister  war  längst  aus  seiner  Werkstatt 
verdrängt,  als  Fust  und  Schöffer  zum  erstenmal  ihr  Glück  mit 
einem  klassischen  Werk,  den  Officien  Ciceros,  versuchten.  Wir 
erkennen,  w^as  diese  ersten  Drucker  anstrebten,  was  Gutenberg 
selbst  zum  Erfinder  gemacht  hat:  das,  was  alle  Welt  gebrauchte, 
wollte  er  ihr  geben;  nicht  sowohl  die  Verbreitung  der  Ideen  als 
die  Befriedigung  des  Massenbedürfnisses  war  sein  Ziel;  wie  es 
schon  die  Absicht  der  Briefmaler,  der  Holztafeldrucke  und  Block- 
bücher gewesen  war,  die  vor  oder  auch  nach  der  Entdeckung 
des  Druckes  mit  den  beweglichen  metallischen  Lettern  sich  auf- 
taten. Nichts  ist  hierfür  bezeichnender,  als  daß  die  ersten  Einzel- 
blätter des  Holztafeldrucks  Heiligenbilder  waren  —  und  Spiel- 
karten. Überhaupt  aber  sind  die  Drucke,  welche  die  Mainzer 
Presse  verließen,  ein  redendes  Zeugnis  dafür,  wie  eng  noch  zu 
ihrer  Zeit  das  deutsche  Leben  von  den  hierarchischen  Formen 
umschlossen  war,  wie  selten  und  ungehört  die  Humanisten  und 
wie  gering  das  Bedürfnis  war  nach  reinen  Quellen  der  Bildung. 
In  Italien  lebte  der  neue  Geist  schon  weit  über  loo  Jahre;  Schrift- 
steller hatten  dort  geblüht,  zu  denen  alle  Jahrhunderte  seither 
mit  Ehrfurcht  emporschauen ;  alle  Stufen  von  dem  engen  Anschluß 
an  die  mittelalterliche  Weltanschauung  bis  zur  zersetzenden  Skep- 
sis hatte  der  Humanismus  dort  bereits  durchlaufen.  Auffallend 
genug,  daß  die   Itahener,  die  alle   Klosterbibliotheken  Deutsch- 


Zum  Gedächtnistage  Johann  Gutenbergs.  j[9 

lands  nach  den  alten  Codices  durchstöberten  und  selbst  so  uner- 
müdlich im  Abschreiben  der  Klassiker  und  in  der  Füllung  ihrer 
Bibliotheken  waren,  dazu  Beobachter  und  Forscher  von  größter 
Sicherheit  und  feinster  Spürkraft,  unter  denen  die  reichsten  Künste, 
wenn  nicht  des  Griffels,  so  doch  des  Pinsels  und  des  Meißels 
blühten,  und  die  mit  einem  Wort  die  Bahnbrecher  der  neuen 
Bildung  waren,  nicht  dies  gewaltigste  Werkzeug  zu  ihrer  Aus- 
breitung erfunden  haben.  Aber  freilich,  die  italienische  Bildung 
selbst  war  nur  die  einer  Klasse,  einer  dünnen  und  von  dem  Kör- 
per der  Nation  fast  losgelösten  Schicht:  ihre  Träger  hatten  gar 
nicht  das  Bedürfnis,  in  die  Tiefen  herunterzusteigen;  sie  wollten 
weniger  lehren  als  genießen;  sie  waren  die  feinste  Blüte  ihrer 
Nation,  aber  es  fehlte  der  breite  und  tiefe  Boden,  in  dem  sie 
hätten  Wurzel  schlagen  können.  Und  diese  geistigen  Aristokraten 
glaubten,  da  sie  den  Fürsten  und  Magistraten  und  endlich  auch 
dem  obersten  Hirten  der  Christenheit  und  seinem  ganzen  Hof  so 
nahe  standen,  daß  sie  die  Masse  übersehen  und  entbehren  könnten. 
So  mußten  sie  wohl  absterben,  sobald  sich  ihre  Freunde  von  ihnen 
trennten  und  der  Boden,  der  sie  alle  trug,  sich  wieder  mit  dem 
nie  ganz  überwundenen  Geiste  erfüllte,  dem  am  Ende  auch  sie 
sich  wieder  unterwerfen  mußten.  In  Deutschland  hingegen  war 
von  jeher,  wie  in  den  Benediktiner-  und  Zisterzienserklöstem  des 
Mittelalters,  so  jetzt  in  den  Städten  ein  zunächst  freilich  engerer, 
in  sich  gekehrter,  aber  auf  den  Kern  gerichteter,  ernst  und  me- 
thodisch arbeitender  Geist  lebendig.  Er  ward  auch  dann  nicht 
ertötet,  als  der  volle  Strom  der  italienischen  Bildung  vor  allem 
doch  wieder  kraft  der  neuen  Erfindung  nach  dem  Norden  hinüber- 
drang. Denn  nun  bemächtigte  sich  das  literarische  Italien  der 
deutschen  Kunst.  Aldus  Manutius  errichtete  in  Venedig  die 
Druckerei,  aus  der  die  Klassiker  in  Masse  hervorgingen.  Aus 
seinen  schönen  Ausgaben  haben  die  Deutschen,  mochten  sie  in 
ihren  Städten  bleiben  oder  in  das  gelobte  Land  der  Bildung  hinüber- 
wallen, gelernt,  bis  der  neue  Geist  in  ihrem  Vaterlande  selbst  er- 
starkt war  und  die  deutschen  Drucker  die  Klassiker  unter  ihre 
Presse  brachten.  Auch  jetzt  büeb  den  meisten  der  deutschen 
Humanisten  der  bürgerlich-beschränkte,  methodisch-lehrhafte  Sinn 


20  Kleine  historische  Schriften. 

eigen;  von  Anfang  an  richteten  sie  ihr  Augenmerk  auf  die  Be- 
lehrung des  Volkes,  auf  die  Errichtung  und  die  Reform  der  Schulen. 
Und  so  erwuchs  aus  der  Verschmelzung  der  von  italienischem 
Geiste  befruchteten  Antike  und  des  tiefsinnigen,  auf  die  Quellen 
religiöser  Bildung  gerichteten  deutschen  Charakters  die  Refor- 
mation, die  den  Genius  unseres  Volkes  zu  seiner  höchsten  Ent- 
faltung und  zur  universalen  Erneuerung  des  christlichen  Geistes 
geführt  hat. 

Johann  Gensfleisch  zum  Gutenberg  aber,  der  Mainzer  Bür- 
ger, war  ein  Handwerker,  und  so  ist  auch  seine  Kunst  ein  Werk- 
zeug geblieben.  Die  positive,  frei  mrkende,  von  innen  her  schaf- 
fende Kraft  war  nicht  in  ihm  und  seinem  Werke,  es  müßte  denn 
sein,  daß  die  Massen  Wirkung,  die  es  gehabt  und  von  Anfang  her 
angestrebt  hat,  selbst  als  eine  positive  Kraft  gelten  sollte.  Aber 
der  Geist,  der  die  Tiefen  bewegt,  führt  auf  Quellen  zurück,  die 
jemseits  aller  Technik  hegen.  Das  Altertum,  das  die  Kunst  des 
Drückens  noch  nicht  kannte,  hat  dennoch  in  den  Künsten  und 
auf  allen  Gebieten  des  geistigen  Schaffens  Formen  und  Gedanken 
hervorgebracht,  in  denen  wir  noch  heute  unsere  erhabensten  Vor- 
bilder verehren;  und  das  19.  Jahrhundert,  so  glänzend  und  viel- 
gepriesen es  um  seiner  technischen  Errungenschaften  willen  da- 
stehen mag,  hat  nur  Ursache,  auf  die  vergangenen,  so  viel  ärmeren 
und  beengteren  Zeiten,  in  denen  aber  der  Geist  seine  mächtigen 
Flügel  geregt  hat,  mit  Ehrfurcht  zurückzuschauen.  Die  Technik 
kann  die  Güter  gewaltig  vermehren,  sie  mag  die  Kräfte  des  Men- 
schen in  ungeahntem  Maße  beflügeln,  aber  sie  vermag  nicht  aus 
eigener  Kraft  das  Reich  des  Idealen  zu  gestalten.  Ihre  Kunst 
bewährt  sich,  um  die  Massen  zu  bezwingen,  die  Ideen  zu  verbrei- 
ten. Stärke  in  allen  Sphären  des  Daseins  zu  erzeugen;  aber  dem 
Reiche  der  Ideen  gegenüber  ist  sie  an  sich  neutral:  unermeßlich 
in  ihrer  Bedeutung  als  Hilfskraft,  ist  sie  an  sich  selbst  ohnmächtig, 
sobald  es  gilt,  den  Tiefen  des  Lebens  nachzugehen.  Sie  kann 
schaffen,  hemmen  und  zerstören,  den  Geistern  des  Fortschritts 
dienen  und  denen  der  Verneinung.  All  die  assimilierende,  völker- 
verbindende Kraft,  die  man  ihr  wohl  zuschreiben  möchte,  ist 
nicht   imstande   gewesen,    die    Ideale   des   Weltfriedens   und   der 


Zum  Gedächtnislage  Johann  Gutenbergs.  21 

Humanität,  die  das  i8.  Jahrhundert  hervorrief  und  predigte,  zu 
erhalten:  vielmehr  haben  alle  Errungenschaften  ihrer  Art  nur 
dazu  gedient,  den  Streit,  der  die  Welt  erfüUt,  unerbittlicher  und 
ungeheurer  zu  machen  als  je  und  den  nationalen  Egoismus,  der 
heute  das  Wort  führt,  mit  immer  stärkeren  Waffen  auszurüsten. 
Aber  nicht  auf  Verbreiterung  des  menschlichen  Wissens  und 
Könnens,  die  nur  zu  leicht  Verflachung  wird,  kommt  es  in  letzter 
Linie  an,  sondern  auf  ihre  Vertiefung.  Und  nur  wer  die  Idee  um 
ihrer  selbst  willen  liebt,  in  den  Studien  wie  im  Leben,  wird  die 
Kraft  ermessen  können,  die  in  der  Tiefe  ruht,  und  die  zuletzt 
auch  der  Welt  der  Erscheinungen,  dem  Leben  der  Staaten  und 
der  Nationen  wie  jedem  Einzeldasein  zugrunde  liegt  und  sie  im 
Innersten  zusammenhält. 


8832-^^^ 


Janssens  Gesdiichte  des  deutsdien  Volkes. 

(1883.) 

»Ich  vermiß  mich  nit,  über  die  hohen  tannen  zu  fliehen; 
verzweifel  auch  nit,  ich  müg  über  das  dürre  gras  kriechen.« 

Martin  Luther  1518. 

»Denn  es  war  alles  ein  einziges  Gebilde,  aus  den  Keimen, 
\Nelche  die  früheren  Jahrhunderte  gepflanzt,  eigentümlich  empor- 
gewachsen, in  dem  sich  geistliche  und  weltliche  Macht,  Phantasie 
und  dürre  Scholastik,  zarte  Hingebung  und  rohe  Gewalt,  Reli- 
gion und  Aberglaube  begegneten,  ineinander  verschlangen  und 
durch  ein  geheimes  Etwas,  das  allen  gemeinsam  war,  zusam- 
mengehalten ^^^lrden,  —  mit  dem  Anspruch  der  Allgemeingültig- 
keit für  alle  Geschlechter  und  Zeiten,  für  diese  und  jene  Welt, 
und  doch  zu  dem  markiertesten  Partikularismus  ausgebildet, 
unter  allen  den  Angriffen,  die  man  erfahren,  und  Siegen,  die  man 
erfochten,  unter  diesen  unaufhörlichen  Streitigkeiten,  deren  Ent- 
scheidungen dann  immer  wieder  Gesetze  geworden  waren«:  in 
diesen  Zügen  faßt  Ranke  das  Gesamtbild  der  Weltverfassung 
welche  durch  Luthers  Reformation  zusammenbrach,  in  dem  Augen- 
blick zusammen,  wo  er  sich  der  Darlegung  der  Kräfte  zuwendet, 
welche  die  Zerstörung  gebracht  haben.  Eines  der  wenigen  Worte, 
die  wir  bisher  von  ihm  über  das  Mittelalter  besitzen:  niemals  ist 
dieses  kürzer  und  erschöpfender  charakterisiert  worden.  Keines- 
wegs aber  zieht  Ranke  sein  Urteil  von  den  Jahrhunderten  ab,  die 
wir  als  die  Blüteepoche  der  mittelalterlichen  Welt  zu  bezeichnen 
pflegen,  sondern  gerade  von  den  Zuständen  und  Persönlichkeiten, 
in  deren  Mitte  Luther  aufgewachsen  ist,  zu  denen  er  in  den  eng- 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes,  23 

sten  Beziehungen  gestanden,  mit  denen  verbündet  oder  kämpfend 
er  die  neuen  Grundlagen  des  Daseins  geschaffen  hat.  Wenn 
neuerdings  mehrfach  und  durchaus  richtig  als  Notwendigkeit 
betont  worden  ist,  die  Denk-  und  Lebensweise  der  vorreforma- 
torischen  Epoche  zu  ergründen,  das  bis  an  Luthers  Auftreten 
unvermittelte  Heranreichen  des  Mittelalters  in  Kultur  und  Po- 
litik zur  Anschauung  zu  bringen,  so  wird,  wer  sich  immer  diese 
Aufgabe  stellt,  auf  jene  Skizze  Rankes  über  die  »rehgiöse  Stel- 
lung des  Papsttums«  zurückgreifen  müssen;  er  möchte  wenige 
wesentliche  Züge  seinem  Bilde  hinzufügen  können,  welche  dort 
nicht  gestreift  sind. 

Das  Buch,  welches  hier  nochmals  einer  zusammenfassenden 
Besprechung  unterzogen  werden  soll,  gibt  selbst  dafür  in  seinem 
ersten  Teil  den  besten  Beweis.  Denn  wie  verschieden  auch  der 
Standpunkt  Janssens  von  dem  Rankes  sein  mag  —  und  es  gibt 
keine  feindseligeren  Gegensätze  — ,  welche  Mühe  von  jenem  an- 
gewandt sein  mag,  um  die  seiner  Stellung  angemessene  Beleuch- 
tung und  Gruppierung  der  Tatsachen  zurecht  zu  bringen,  so 
lesen  sich  doch  ganze  Partien  bei  ihm  wie  Ausführungen  jener 
Rankeschen  Sätze:  das  scholastische  Treiben  z.  B.  an  den  Univer- 
sitäten, die  Statistik  der  Bautätigkeit,  der  Skulptur  und  Malerei, 
soweit  sie  noch  auf  dem  Grunde  mittelalterlicher  Kirchlichkeit  be- 
ruhten, und  der  Gebetbücher,  die  Schilderung  der  Pilger-,  Wunder- 
und Reliquiensucht,  von  der  alle  Schichten  der  Nation  beherrscht 
waren,  und  so  fort. 

Indem  nun  Janssen  sich  auf  jeder  Seite  zu  den  Idealen  dieser 
Epoche,  wie  er  sie  eben  deutet,  bekennt,  sie  als  die  sittliche  und 
materielle  Glanzzeit  unseres  Volkes  bewundert,  ihre  Vernich- 
tung durch  Luther  und  sein  Werk  aber  als  das  kläglichste  Un- 
heil, das  uns  jemals  widerfahren  ist,  bejammert,  können  wir 
ihm  gegenüber  unmittelbar  mit  den  Worten  fortfahren,  welche 
Ranke  an  jene  Betrachtung  vor  bald  fünfzig  Jahren  gehängt  hat: 
»Ich  weiß  nicht,  ob  ein  vernünftiger,  durch  keine  Vorspiegelungen 
der  Phantasie  verführter  Mann  ernsthaft  wünschen  kann,  daß 
dies  Wesen  sich  so  unerschüttert  und  imverändert  in  unserem 
Europa  verewigt  hätte:    ob  jemand  sich  überredet,  daß  der  echte, 


24  Kleine  historische  Schriften. 

die  volle  und  unverhüllte  Wahrheit  ins  Auge  fassende  Geist  da- 
bei emporkommen,  die  männliche,  der  Gründe  ihres  Glaubens 
sich  bewußte  Religion  dabei  hätte  gedeihen  können.«  Das  gerade 
ist  der  Eindruck,  den  die  Lektüre  dieses  Buches  immer  wieder 
erweckt:  der  Zweifel,  ob  der  Verfasser  an  die  Ideale,  die  er  in 
der  Vergangenheit  findet,  wirklich  ernsthaft  glaubt  und  seinen 
Lesern  im  Ernst  den  Glauben  an  seine  Beweisführung  zumutet; 
oder  ob  die  Vorspiegelungen  der  Phantasie  ihn  so  verführt  haben, 
daß  er  nicht  mehr  imstande  ist,  das  Wahre  von  dem  Falschen 
und  der  Lüge  zu  unterscheiden  und  die  Dinge  zu  sehen  und  zu 
schildern,  wie  sie  gewesen  sind. 

Er  selbst  hat  uns  freilich  laut  genug  den  Ernst  seines  Glau- 
bens und  die  Integrität  seiner  Forschung  gepriesen:  nur  die 
Darstellung  der  Tatsachen  sei  seine  Tendenz;  gerade  darum  habe 
er  diese  allein  sprechen  lassen;  jedes  theologisch-polemische  oder 
politisch-polemische  Ziel  habe  er  vollständig  ausgeschlossen; 
jedes  subjektive  Urteil  habe  er,  der  Freund  protestantischer  Männer, 
der  Eiferer  für  die  gegenseitige  Duldung  der  Konfessionen,  der 
Schüler  des  protestantischen  Historikers  Böhmer,  vermieden, 
und  mit  der  ihm  eigentümlichen  Sanftmut  vergelte  er  den  Kriti- 
kern, die  seine  Ehre  angegriffen  haben,  nicht  Gleiches  mit  Gleichem i). 

Aber  gerade  die  Art,  wie  Janssen  hier  seine  Verteidigung 
führt,  verstärkt  wieder  den  Eindruck,  daß  er  es  mit  seiner  Art, 
Geschichte  zu  schreiben,  nicht  ernsthaft  meinen  kann.  Denn  wie 
käme  er  sonst  zu  der  Naivetät,  in  einer  Sammlung  von  Buch- 
ausschnitten aus  Quellen  und  Darstellungen  verschiedenster  Epochen 
den  »objektiven  Tatbestand«  zu  erblicken!  Als  ob  der  Bericht 
über  die  Tatsache  diese  selbst  sei,  oder  als  ob  eine  Häufung  von 
Einzelheiten  auch  bei  dem  besten  Willen  zur  Erkenntnis  jemals 
eine  Idee  von  dem  Gesamtbilde  geben  könne!  Hat  Janssen 
auch  nur  einen  Schimmer  von  dem  Ernst  historischer  Methode, 
so  muß  er  an  jenem  Ort  unbedingt  auf  Leser  gerechnet  haben, 
welche  nicht  zu  unterscheiden  wissen  zwischen  den  kümmerlichen 
Resten  der  Überlieferung  und  dem  dahinter  ruhenden  Grunde  der 


^)  An  meine  Kritiker,  erster  Brief. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  25 

Erscheinungen,  welche  nicht  ahnen,  daß  die  Sammlung  jener  die 
allererste  Vorarbeit  ist,  daß  die  Arbeit  beginnt,  sobald  wir  durch 
ihre  wirre  und  lückenhafte  Hülle  hindurch  den  Tatbestand  zu 
entdecken  suchen.  Glaubt  er  aber  in  Wahrheit,  daß  die  Unsumme 
seiner  Anführungen  »die  reinen,  objektiven  Fakta«  selbst  sind,  so 
stellt  er  sich  damit  eben  das  Zeugnis  aus,  daß  er  den  Rudimenten 
der  historischen  Kritik  ahnungslos  gegenüber  steht. 

Übrigens  kann  niemand  richtiger  als  er  selbst  seine  Arbeits- 
weise bezeichnen.  Was  er  gibt,  ist  in  der  Tat  nur  eine  Auswahl 
von  Daten,  Exzerpten  und  Ausschnitten  nach  dem  von  Döllinger 
früher  aufgestelltem  Muster,  welche  ihm  geeignet  erscheinen, 
die  ihm  von  seiner  Weltauffassung  diktierte  Geschichtsbetrach- 
tung zu  belegen:  so  daß  die  Gegner  derselben  in  jeder  Weise 
diskreditiert,  die  Anhänger  in  jeder  Weise  herausgestrichen  werden. 
Es  fehlt  nicht  an  eigenen  Ausführungen;  aber  abgesehen  davon, 
daß  sich  ihr  Inhalt  auf  wenigen  Seiten  rekapitulieren  läßt,  wer- 
den sie  auch  äußerlich  von  dem  fremden  Material  vöUig  über- 
wuchert. Man  wird  gering  rechnen,  wenn  man  von  den  fast 
1900  Seiten  der  drei  Bände  14  bis  1500  auf  Kosten  der  fremden 
Federn  setzt. 

Es  versteht  sich,  daß  auf  ein  solches  Buch  der  Satz  »in  dem 
Stil  der  Mensch«  nicht  Anwendung  finden  kann.  Denn  dazu 
würde  die  Stileinheit  gehören,  während  die  Eigentümlichkeit 
dieses  Schriftstellers  gerade  die  Stilvielheit  ist.  Urkunden,  Briefe, 
Zeitungen,  Streit-  und  Lästerschriften,  Chroniken  des  16.  und 
Geschichtschreiber  des  19.  Jahrhunderts  haben  ihm  die  Seiten 
füllen  müssen.  Im  Gegensatz  zu  Döllinger  hängt  er  die  Zeug- 
nisse nicht  als  Belegstellen  Vorbemerkungen  an,  sondern  setzt  sie 
mitten  in  den  Fluß  der  eigenen  Erzählung,  als  Abschnitt,  Satz, 
Satzglied,  oft  als  einzelnes  Wort.  Meist  sind  es  Zitate  aus  Schrift- 
stücken der  geschilderten  Epoche  selbst,  doch  wählt  er  auch  gerne 
moderne  Zeugnisse.  Es  ist  die  bunteste  Gesellschaft,  die  zu  uns 
redet,  Papisten  und  Protestanten,  Ausländer  und  Deutsche,  Men- 
schen des  16.  und  19.  Jahrhunderts,  Verehrer  der  päpstlichen 
Unfehlbarkeit  und  die  nach  nichts  als  Wahrheit  suchenden  Ver- 
treter der  modernen  Geschichtsforschung  —  sie  alle  müssen  her- 


26  Kleine  historische  Schriften. 

halten,  um  die  Wunderblüte  des  römisch-katholischen  Deutsch- 
lands zu  erheben  und  das  Unkraut  und  Gift  des  lutherischen 
Schismas  bloßzustellen.  Kaum  eine  Seite  wird  statt  dieses  bunt- 
scheckigen Farbengewirres  nur  Janssens  Feder  zeigen.  So  sehr 
hat  er  sich  von  dem  fremden  abhängig  gemacht,  daß  er  selbst 
da,  wo  er  keine  Nebenabsichten  verfolgt  und  ohne  Mühe  aus  dem 
eigenen  Sprachschatz  ausreichende  Wendungen  schöpfen  konnte, 
sich  mit  Gänsefüßchen  vorwärts  hilft  ^). 

Niemand  wird  nun  sagen  dürfen,  daß  für  eine  Epoche  so  ge- 
waltiger geistiger  und  politischer  Umwälzungen,  wie  die  von  Janssen 
geschilderten  hundert  Jahre,  1500  Druckseiten  eine  große  Vor- 
arbeit darstellen,  und  daß  die  Literaturverzeichnisse,  welche  an 
der  Spitze  der  Bände  prunken,  einen  ungewöhnlichen  Aufwand  von 
Gelehrsamkeit  bezeichnen.  Die  Verwertung  von  archivalischem 
Älaterial  ist  für  die  vorliegenden  Bände  geradezu  dürftig  zu  nennen ; 
sie  beschränkt  sich  auf  wenige  Aktenstücke  aus  den  Frankfurter, 
Luzerner  und  Trierer  Sammlungen.  Wenn  Janssen  für  die  folgen- 
den drei  Bände  300  durchgearbeitete  Konvolute  zählt,  so  wird 
auch  das  auf  Kenner  geringen  Eindruck  machen:  300  Archive  mit 
30  000  Konvoluten  möchten  dem  Umfange  des  Forschungsgebietes 
vielleicht  genügen.  Selbst  wenn  uns  der  ungeheure  Stoff  in  der 
gedrängtesten  Verarbeitung  geboten  wäre,  dürften  \vir  über  den 
Umfang  nicht  erstaunen  und  nur  in  der  Neuheit  von  Tatsachen 
und  Auffassung  das  eigentümliche  Verdienst  zu  suchen  haben. 
Nimmt  doch  die  Gedankenfülle,  welche  Ranke  allein  über  die 
zweite  Hälfte  des  Zeitalters  in  seiner  Deutschen  Geschichte  aus- 
gebreitet hat,  kaum  weniger  Raum  in  Anspruch.  Da  nun  aber 
bloß  etwa  der  vierte  Teil  des  Inhaltes  auf  Janssens  eigene  Rech- 


^)  Um  die  Bedeutung  der  Schlacht  von  Pavia  zu  kennzeichnen,  schreibt 
er:  »Auch  für  Deutschland  war  der  Sieg  bei  Pavia  ,ein  gar  wichtig  und  er- 
folgreich Schlachtenglück'  .  .  .  Aber  Karl  war  ,von  seinem  Glücke  in  keinem 
Wege  betaumelt'  .  .  .  Der  Kaiser  wollte  die  Gefangenschaft  seines  lang- 
jährigen Gegners  nicht  ,zu  dessen  Vernichtung  benutzen',  sondern  den- 
selben nur  so  schwächen,  daß  er  nicht  fürder  mehr  als  .Störenfried  der 
Christenheit'  die  allgemeine  Ruhe  Europas  gefährden  könne  .  .  .  Aber  die 
Furcht,  daß  Karl  auch  Mailand  mit  seinen  Reichen  vereinigen  könne,  .be- 
herrschte die   Seele  des  Papstes'.«     3.  Band,   S.  i — 4. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  27 

nung  kommt,  so  hat  er  kaum  etwas  anderes  als  einen  kurzen  Abriß 
geben  können,  der  äußerlich  sogar  von  der  betreffenden  Partie 
in  dem  großen  Weber  übertroffen  wird  ^). 

Es  ist  die  Skizze  eines  Zeitraums,  der  so  vielseitig  und 
gründlich  durchforscht  worden  ist,  wie  kaum  ein  anderer  der 
Geschichte:  von  dem  Moment  der  Ereignisse  ab  bis  auf  unsere 
Tage  mit  stets  neuem  Interesse,  denn  noch  heute  wirkt  die  Schei- 
dung der  Geister,  welche  sich  damals  vollzog,  hundertfach  um- 
gebildet und  doch  in  den  gleichen  Grundformen,  in  dem  Gesamt- 

^)  Ich  würde  auf  diese  augenfälUgen  Mängel  des  Werkes  nicht  so  aus- 
führhch  aufmerksam  machen,  wenn  die  Gelehrsamkeit  desselben  bloß  von 
den  namenlosen  Skribenten  in  Tages-  und  Unterhaltungsblättem  betont 
wäre,  von  wo  sie  durch  die  Reklamen  des  Verlegers  und  der  Parteipresse 
nach  allen  Seiten  verbreitet  sind  und  das  urteilslose  Pubhkum  vielfach 
kaptiviert  haben.  Leider  aber  haben  auch  wissenschaftliche  Zeitschriften 
und  sogar  gelehrte  Werke  diesem  Buche  die  Ehre  wissenschaftlicher  Be- 
handlungsweise  zuteil  werden  lassen  oder  gar  die  Tiefe  des  Studiums  und 
die  Originaütät  und  Kunst  seiner  Darstellung  lobend  hervorgehoben.  Hier 
sei  nur  das  Urteil  Maurenbrechers  in  seiner  »Geschichte  der  kathoUschen 
Reformation«  380  Anm.  zu  S.  62  zitiert:  »Das  Lob  ausgedehnter  Belesen- 
heit und  sorgfältiger  Studien  wird  man  dieser  Darstellung  nicht  bestreiten 
dürfen,  wenn  man  auch  die  einseitige  Tendenz,  der  das  ganze  Unternehmen 
dient,  nicht  bilhgt.  Ja,  ich  halte  es  geradezu  für  verdienstHch,  daß  J.  die 
reformatorischen  Bestrebungen  vor  Luther  und  die  geistigen  wie  kirch- 
üchen  Zustände  in  Deutschland  beim  Ausgang  des  Mittelalters  zu  schildern 
versucht  in  völliger  Selbständigkeit  von  dem  Urteil  der  protestantischen 
Reformatoren :  daß  auf  diese  Weise  die  Dinge  vielfach  sich  günstiger  dar- 
stellen als  in  der  bisher  üblichen  Beleuchtung,  stimmt  mit  den  Ergebnissen 
meiner  eigenen  Arbeiten  überein.  Aber  J.  übertreibt  das  günstige  Bild, 
indem  er  alle  Schatten  unterdrückt  oder  abschwächt,  alles  Licht  steigert 
und  erhöht.«  Wenn  M.  weiterhin  meiner  Anzeige  in  der  H.  Z.  (37,523) 
ein  »Übermaß  der  Polemik«  vorwirft,  weil  ich  es  getadelt,  daß  J.  nicht 
von  Erasmus,  Hütten,  den  epist.  obsc.  viror.  und  ähnhchem  geredet  habe: 
»es  lag  auf  der  Hand,  daß  nach  J.s  Plan  alles  das  Vermißte  dem  2.  Bande 
vorbehalten  sein  mußte;  und  dort  hat  es  seine  Stelle  gefunden«  —  so  ver- 
kennt er  den  Sinn  des  betreffenden  Satzes  und  der  Anzeige  überhaupt. 
Daß  J.  die  sog.  »jüngere  Humanistenschule«  aus  seinem  Werke  heraustun 
würde,  habe  ich  weder  gesagt  noch  geglaubt,  sondern  nur  ihre  Entfernung 
aus  dem  Zusammenhang,  in  den  sie  gehören,  bloßstellen,  die  Zerreißung 
der  historischen  Kontinuität  nach  willkürhchen  Gesichtspunkten,  eben  den 
»Plan«  J.'s  charakterisieren  wollen. 


28  Kleine  historische  Schriften. 

umfang  des  politischen  und  geistigen  Lebens  als  der  bestimmende 
Grundzug  fort.  Noch  immer  freilich  befinden  wir  uns  auch  vor 
dieser  Epoche  in  den  Anfängen  der  Erkenntnis.  Ist  es  richtig, 
daß  die  kombinierende  Tätigkeit  eigentlich  erst  beginnen  sollte, 
sobald  das  gesamte  auffindbare  Material  zur  Hand  ist,  so  brauchen 
wir  nur  auf  die  unermeßlichen  Quellenschätze  zu  sehen,  welche 
von  jeder  Forscherhand  unberührt  in  allen  Archiven  Europas 
ruhen,  um  die  Entfernung  zu  bezeichnen,  in  der  wir  noch  heute 
vom  Ziele  stehen,  und  zu  begreifen,  daß  alle  zusammenhängen- 
den Darstellungen  nur  vorahnende  Versuche  sein  können,  welche 
durch  die  Fülle  der  zukünftigen  Detailuntersuchungen  zu  er- 
proben und  ohne  Frage  in  tausend  Einzelheiten,  wie  auch  wohl 
in  den  Grundrichtungen  selbst  zu  verbessern  sind.  Trotzdem  aber 
brauchen  wir  uns  nur  den  Reichtum  der  bisherigen  Spezialfor- 
schungen  über  die  Reformationszeit  vorzustellen,  um  nur  ein 
Beispiel  zu  nennen,  die  gewaltigen  Aktenmassen,  welche  von 
Molini,  Ribier  und  Brewer  über  den  zweiten  Krieg  zwischen  Karl  V. 
und  Franz  I.  zusammengebracht  und  teilweise  schon  detailiert 
verarbeitet  sind,  und  hiermit  die  wenigen  Exzerpte,  aus  denen 
Janssen  das  ihm  passende  Bild  dieser  Ereignisse  zusammensetzt, 
vergleichen,  um  die  Dürftigkeit  seiner  Sammelarbeit  zu  erkennen. 
Den  Lesern  der  Historischen  Zeitschrift  gegenüber  wird  es 
kaum  mehr  nötig  sein,  was  an  anderer  Stelle  immerhin  noch  einmal 
gesagt  werden  mochte  ^),  auf  die  Unvereinbarkeit  des  Zieles, 
welches  wir  der  Geschichte  setzen,  mit  demjenigen  hinzuweisen, 
nach  dem  ein  Historiker  wie  Janssen  durch  seinen  Glauben  zu 
arbeiten  gezwungen  ist.  Wenn  er  unser  Forschungsprinzip  für  sich 
beansprucht,  so  tut  er  das  aus  Opportunitätsgründen,  da  man 
nun  einmal  heutzutage  ohne  dasselbe  nicht  gut  bestehen  kann. 
In  Wahrheit  würde  er  der  Objektivität  in  unserem  Sinne,  selbst 
wenn  er  es  wollte,  gar  nicht  dienen  dürfen,  ohne  seiner  höchsten 
Pflicht  untreu  zu  werden.  Was  diese  aber  darunter  versteht,  ist 
ganz  kürzlich  in  dem  hervorragendsten  Organ  seiner  Quasi- Wissen- 
schaft, dem  Historischen  Jahrbuch  der  Görres- Gesellschaft,  rund 


^)  Politische  Wochenschrift  1882,  28.  Oktober. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  29 

heraus  gesagt  worden:  »Ein  katholischer  Autor  muß  es  geradezu 
als  seine  strenge  Pflicht  erkennen,  die  prinzipiell  allein  richtige 
und  deshalb  objektive  Auffassung  der  Kirche  von  der  Glaubens- 
spaltung zum  klar  betonten  Grundgesetz  der  eigenen  historischen 
Anschauung  zu  machen  und  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  die 
kirchenpolitischen  Vorgänge  der  Zeit  maßvoll  und  gerecht  in  ihrem 
wahren  Pragmatismus  zu  würdigen«  ^). 

Wir  selbst  würden  das  Ziel  der  ultramontanen  Geschichts- 
forschung nicht  schärfer  bezeichnen  können:  mit  den  Zielen  Roms 
ist  der  Wille  Gottes  in  der  Weltentwickelung  für  jedes  Jahr  seit 
Christus  umschrieben,  und  Aufgabe  der  Geschichte  lediglich,  die 
ewig  gleiche  Heiligkeit  derselben  durch  die  Jahrhunderte  hindurch 
nachzuweisen  und  die  häretischen  Abweichungen  von  ihnen  zu 
brandmarken.  Die  Erkenntnis  ist  nicht  erst  zu  suchen.  Der  Wille 
Roms  reguliert  so  Glauben  wie  Wissenschaft;  diese  hat  nur  zu 
beweisen,  wovon  jener  befiehlt,  daß  es  sei  —  wie  Kardinal  Man- 
ning   sagte:     »Die   Dogmatik   hat   die    Geschichte   überwunden.« 

Aus  dieser  prinzipiellen  Differenz  ergibt  sich  die  Form  der 
Kritik,  welche  wir  einem  solchen  Gegner  zuzu\\-enden  haben. 
Sonst  richtet  sich  diese  in  erster  Linie  mit  an  den  Autor ,  den 
wir  durch  unsere  Einwendungen  zu  überzeugen  hoffen.  Das  ist 
bei  Janssen  nicht  möglich,  er  müßte  denn  unsern  Standpunkt 
annehmen;  der  Belehrung  hätte  die  Bekehrung  voranzugehen; 
sein  Wollen,  nicht  sein  Verstehen  müßte  sich  ändern.  Wie  nutz- 
los aber  eine  Beurteilung  in  den  gebräuchlichen  Formen  ihm 
gegenüber  ist,  hat  die  umfängliche  Replik  gezeigt,  mit  welcher  er 
auf  einige  Kritiken  hervorgetreten  und  worin  er  nur  wieder  zu 
seiner  alten  Darstellungsform  zurückgekehrt  ist;  er  wird,  wenn 
er  auf  die  zahlreichen  Nachweisungen,  die  man  darauf  seinen 
Mißverständnissen     und     Umstellungen     gewidmet    hat  ^) ,     ant- 


1)  Anmerkung  der  Redaktion  zu  einer  Rezension  vonLossens  »Köl- 
nischem Krieg«,  worin  dessen  »ruhige  Objektivität«  lobend  hervorgehoben 
war,  3,  707. 

*)  Vor  allen  K  ö  s  1 1  i  n  mit  seiner  gerade  in  ihrer  Schüchtheit  ver- 
nichtend wirkenden  Kritik  »Luther  und  Janssen.  Der  Reformator  und  ein 
ultramontaner  Historiker. « 


30  Kleine  historische  Schriften. 

Worten  will,  doch  immer  wieder  zu  seinen  gewohnten  Künsten 
greifen  ^). 

Und  so  mag  hier  von  der  leichten  Mühe,  einzelne  Unter- 
stellungen und  Verdrehungen  nachzuweisen,  abgesehen  werden. 

Wohl  aber  wird  es  sich,  zumal  dies  sonst  nirgends  geschehen 
ist,  auch  an  dieser  Stelle  lohnen,  den  Inhalt  und  Zweck  der  Aus- 
führungen und  Zwischenbemerkungen,  mit  denen  Janssen  seine 
Sammelstellen  verbindet,  ausführlicher  zu  besprechen,  um  so  die 
Stellung  des  Buches  in  der  historischen  Literatur  zu  bezeichnen. 
Noch  interessanter  Nvürde  es  hierfür  sein,  wenn  wir  zugleich  den 
Zusammenhang  der  darin  herrschenden  Geistesrichtung  mit  der- 
jenigen einer  früheren  Epoche,  aus  der  sie  sich  entwickelt  hat, 
nachweisen  könnten;  wenigstens  eine  Vergleichung  beider  soll  in 
Kürze  versucht  werden. 

Ein  Rezensent  der  Antikritik  Janssens  hat  seinem  Werke 
eine  gewisse  Verhüllung  des  Standpunktes  gemäß  seiner  eigenen 
Behauptung  völliger  Tendenzlosigkeit  nachgesagt.  Ich  kann 
nicht  finden,  daß  gerade  dieser  Vorwurf  verdient  wäre.  Im 
Gegenteil,  man  kann  die  eigene  Stellung  kaum  deutlicher  be- 
zeichnen, als  Janssen  es  direkt  und  indirekt  in  jedem  Absatz  seines 
Buches  tut.  Gleich  das  Symbol,  mit  dem  der  Originaleinband 
geziert  ist,  der  österreichische  Doppeladler  als  das  Wahrzeichen 
des  deutschen  Volkes,  dessen  Niedergang  durch  den  Protestan- 
tismus geschildert  wird,  offenbart  mit  wünschenswertester  Deut- 
lichkeit die  wissenschaftliche  und  politische  Meinung  des  Verfassers : 
die  Verehrung  des  Hauses  Habsburg  als  Vormacht  der  römisch- 
katholischen Gedanken,  das  ist  der  Grundakkord  aller  Ausfüh- 
rungen und  Anführungen,  dasselbe  Thema,  welches  uns  aus  allen 
Geschichtswerken  dieser  Richtung,  aus  allen  Jahrgängen  der 
Historisch -politischen  Blätter,  aus  allen  literarischen  und  politi- 
schen Organen  der  Partei  bis  zum  borniertesten  Kaplanblatt 
herunter,  in  tausend  Variationen  ewig  die  gleiche  Monotonie, 
entgegenklingt.  Schade  nur,  daß  der  heutige  Flug  des  Doppel- 
adlers schon  nicht  mehr  ganz  die  Richtung  einhält,   welche  in 

^)  Das  hat  er,  seitdem  dies  geschrieben  wurde,  in  einem  » Zweiten 
Wort   an    meine    Kritiker«    getan. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  31 

früheren   Jahren  den  romantisch-kathohschen  Idealen  eine  reale 
Bedeutung  gab. 

Jedermann  kennt  die  Idee  des  Imperiums,  wie  die  Vorstel- 
lungen des  Mittelalters  sie  geformt  haben:  vielleicht  das  wunder- 
barste Gebilde  seiner  Phantasie,  in  dem  alttestamentliche  und 
antike,  mittelalterliche  und  moderne  Elemente  sich  durchdringen: 
von  jeher  halb  Traum,  halb  Wirklichkeit,  niemals  realisiert  und 
niemals  aufgegeben,  ein  Glaubenssatz  nicht  für  die  individuelle 
Erlösung,  aber  für  das  allgemeine  Bewußtsein,  soweit  Roms  Ge- 
bote galten.  Nur  in  dieser  Form  ist  jenem  Zeitalter  die  Welt- 
entwickelung überhaupt  vorstellbar,  in  dem  Rahmen  der  über 
alle  nationalen  Schranken  hinausreichenden  Monarchie,  deren 
vier  die  Geschichte  bis  an  das  Weltende  ausmachen,  in  deren 
vierter  die  Welt  steht,  an  deren  Grenze  der  jüngste  Tag,  das  Welt- 
gericht und  die  Welterneuerung  gesetzt  ist.  Noch  immer  ist 
Schauplatz  der  Geschichte  der  alte  orbis  terrarum,  die  mappa 
mundi,  die  um  das  Mittelmeer  gelagerte  Welt,  wie  sie  von  Rom 
seit  Augustus  zusammengehalten,  von  den  Barbaren  des  Nordens 
und  Ostens  zertrümmert  worden  ist,  und  deren  Herstellung  nun 
als  das  höchste  politische  Ideal  gilt.  Es  gibt  noch  kein  Europa; 
weder  Rußland  noch  die  um  den  Bosporus  gruppierten  Nationen 
gehören  zu  ihm;  nur  der  Occident  ist  der  Machtkreis  des  Im- 
periums, aber  wo  sich  innerhalb  desselben  irgend  überschüssige 
Kraft  entwickelt,  bietet  sich  ihr  zur  Deckung  und  Förderung  dar 
die  Monarchie.  Neben  und  über  ihr  als  Nebenbuhlerin  die  Kirche, 
die  ihr  feindlichste  und  innerlich  doch  verwandteste  Gewalt:  in 
denselben  Grenzen  sich  ausdehnend,  die  gleiche  Universalität,  gleich 
absolute  Ansprüche  unermüdlich  in  der  Propaganda  wiederholend 
und  behauptend,  anknüpfend  in  der  Geschichte  an  dieselbe  Epoche, 
denselben  Staat,  dieselbe  Stadt  —  Rom  ist  für  beide  Ausgang 
und  Ziel  der  Herrschaft.  Es  erwacht  wohl  die  Ahnung  einer  tiefe- 
ren Begründung  der  politischen  Gewalt,  der  Scheidung  zwischen 
den  Sphären  des  geistlichen  und  weltlichen  Schwertes,  aber  auch 
sie  knüpft  nur  wieder  an  die  überlieferte  Vorstellung  an,  die  sie 
mit  neuen  hohen  Phantasien  umkleidet.  Mögen  dann  diese  aus 
den  Regionen  einer  universal  gestalteten  prophetischen  Poesie  in 


,"^2  Kloine  hislorischo  Schriften. 

die  Hörsäle  der  l'niversitäten  und  die  Kanzleien  der  Regierungen 
hinabdringen,  zu  Programmen  des  politischen  Handelns  werden, 
so  treten  sie  doch  niemals  aus  den  überlieferten  Denkformen 
heraus.  Daß  die  Walil  zum  Imperium  in  den  Händen  der  deut- 
schen Kurfürsten  ruhe,  konnte  deutsches  Staatsrecht  werden 
und  die  Anerkennung  des  Abendlandes  finden,  aber  nirgends, 
auch  in  Deutschland  nicht,  kam  man  dahin,  daß  das  Kaisertum 
nicht  in  Rom  seine  Vollendung  finde:  selbst  die  Imperialisten 
Ludwigs  des  Bayern  setzen  an  die  Stelle  des  Papstes  und  der 
Peterskirche  doch  nur  wieder  das  römische  Volk  und  das  Kapitol. 
Nicht  einmal  die  Neubelebung  des  antiken  Geistes  vermag  den 
Bann  zu  brechen.  Denn  sie  will  nur  wieder  die  Reinigung  der 
vorhandenen  abendländisch-römischen  Kultur  von  den  scholasti- 
schen Trübungen  bedeuten;  sie  weiß  nicht,  daß  das  Geistesleben  der 
römischen  Zeit  unvollkommener  Abglanz  einer  höheren  Bildung, 
selbst  eine  Renaissance  ist ;  in  unbestimmter  Feme,  kaum  gekannt, 
schimmern  ihr  die  Koryphäen  des  hellenischen  Geistes,  und  ganz 
verschlossen  vollends  bleibt  ihr  die  Erkenntnis,  daß  auch  das 
Griechentum  national  bedingt  und  nur  die  Fortbildung  älterer 
Kulturen  war,  Obschon  selbst  bewußter  Ausdruck  nationalen  Er- 
wachens, wie  jeder  echte  geistige  Fortschritt,  strebt  die  Renaissance 
doch  über  die  nationalen  Grenzen  hinweg  das  allgemeine  Ideal 
an,  welches  sie  in  der  Römerkultur  verwirklicht  glaubt.  Und  so 
kann  sie  der  politischen  Einheit  derselben  so  wenig  feindlich  sein 
wie  ihr  selbst:  indem  sie  das  Imperium  zu  antikisieren  meint, 
umgibt  sie  es  nur  mit  einem  neuen  phantastischen  Schimmer, 
glaubt  aber  an  seine  Realität  ebenso  fest  wie  an  die  klassischen 
Ideale. 

Diese  so  widerspruchsvolle  und  oft  gewandelte  Idee  ist  nun 
das  politische  Ideal,  zu  welchem  Janssen  sich  bekennt  und  dessen 
Nachblüte  unter  dem  Kaisertum  Maximilians  er  bewundert, 
dessen  Verfall  unter  Karl  V.  er  beklagt.  Auch  er  glaubt  an  seine 
Realität  ebenso  wie  an  seine  göttliche  Begründung,  freilich  nicht 
als  Schüler  Petrarcas  und  Dantes,  aber  als  Zögling  des  hl.  Thomas 
von  Aquino.  Seine  historische  Verwirklichung  sieht  er  nach  der 
Vorstufe  unter  Karl  dem  Großen  in  der  Epoche,  welche  mit  der 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  33 

Kaiserkrönung  Ottos  des  Großen  anhebt  und  mit  dem  Unter- 
gang der  Hohenstaufen  abschließt.  Das  Kaisertum,  so  lauten 
seine  Ausführungen,  aus  päpstlicher  Verleihung  entstanden,  all- 
zeit der  freien  Verfügung  des  Papstes  anheimgegeben  und  an 
sich  nicht  einer  einzelnen  Nation  gehörig,  ist  doch  seit  962  wie 
durch  ein  vertragsmäßig  zugestandenes  Vorrecht  an  die  Deutschen 
übergegangen.  Seitdem  war  die  jedesmalige  Krönung  gleichsam 
eine  Besiegelung  dieses  Vertrages.  Schutz  der  Kirche  gegen  Un- 
gläubige, Irrlehrer  und  Schismatiker  ist  das  Gelübde  des  Ge- 
krönten, der  durch  den  Nachfolger  Christi  auf  Erden  zu  dem 
höchsten  weltlichen  Oberhaupte  erhoben,  der  Eck-  und  Grundstein, 
gleichsam  die  Verkörperung  der  Idee  alles  rechtlichen  Besitzes, 
aller  irdischen  Rechtsordnung  wird,  wie  fern  auch  dem  Gottes- 
reich auf  Erden  der  Gedanke  liegen  mag,  neben  sich  noch  ein 
gleichförmiges,  alle  Nationen  unterwerfendes,  alle  Verschieden- 
heiten verwischendes  Weltreich  aufzurichten.  Vielmehr  ist  eben 
die  Erhaltung  der  nationalen  Eigenarten,  der  volkstümlichen 
Sondergestaltungen,  die  Wahrung  des  Friedens  und  der  Ord- 
nung im  Innern  der  Christenheit  und  ihre  gemeinsame  Betäti- 
gung im  Kampf  gegen  alle  Feinde  des  Kreuzes  die  gottgewollte 
Aufgabe  des  Kaisertums.  Keine  Nation  konnte  sich  besser  da- 
zu eignen  als  die  unsere,  welche  schon  in  sich  selbst,  in  ihren  ein- 
zelnen Stämmen  gleichsam  ein  Volk  von  Völkern  ist.  Blinde 
Eroberungsgier  lag  so  wenig  in  ihrem  Wesen,  daß  sie  trotz  ihrer 
Übermacht  die  ganze  weite  Reichsgrenze  gegen  Frankreich  von 
den  Ausflüssen  der  Scheide  bis  zu  denen  der  Rhone  unverrückt 
bestehen  ließ.  Das  Kaisertum  einigte  den  Verband  der  Stämme, 
und  der  durch  seine  Romzüge  erfolgte  großartige  Aufschwung 
des  nationalen  Bewußtseins  führte  zu  jenen  kühnen  Unterneh- 
mungen auswärtiger  Kolonisation,  die  selbst  nach  dem  Verfall 
der  kaiserlichen  Macht  noch  länger  als  ein  Jahrhundert  fort- 
dauerten. Doch  wurden  deshalb  keineswegs  die  zum  Reich  ge- 
hörigen Slawen  vergewaltigt,  ebenso  wie  auch  den  romanischen 
Stämmen  unter  dem  Imperium  ihre  Sonderentwickelung  unbe- 
kümmert blieb.  Um  so  besser  konnten  unter  der  kaiserlichen 
Schirmherrschaft  die  christlichen  Völker  ihre  gemeinsamen  Auf- 
Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  3 


34  Kleine  historische  Schriften. 

gaben  nach  außen  erfüllen:  gingen  die  Kreuzzüge  auch  nicht  vor- 
zugsweise auf  das  unmittelbare  Eingreifen  des  Kaiserreiches  zu- 
rück, so  wären  sie  doch  unmöglich  gewesen,  wenn  nicht  während 
derselben  jenes  für  die  Aufrechterhaltung  der  europäischen  Staaten- 
ordnung eine  sichere  Bürgschaft  geboten  hätte.  Der  Grundgedanke 
der  ganzen  Kreuzzugspolitik,  »Friede  und  Einigkeit  unter  den 
christlichen  Völkern  behufs  Vereinigung  ihrer  Gesamtkräfte  zum 
Kampf  gegen  den  Glaubensfeind«,  war  nur  durchführbar,  weil 
die  Macht  und  Festigkeit  des  Kaisertums  jeden  eroberungs- 
gierigen Staat  des  Abendlandes,  vor  allen  also  Frankreich 
daran  hinderte,  die  durch  die  auswärtigen  Unternehmungen 
in  Anspruch  genommenen  christlichen  Völker  in  der  Heimat 
zu   bedrängen  ^), 

Man  muß  es  bedauern,  daß  Janssen  die  Allgemeinheit  dieser 
Sätze  nicht  durch  einige  Beispiele  illustriert  hat,  aus  denen  diese 
Verwirklichung  der  thomistischen  Staatslehre  im  Mittelalter  be- 
sonders hervorginge:  dann  möchten  wenigstens  den  Lesern  seines 
Buches,  welche  auf  allgemeinere  Bildung  Anspruch  machen,  einige 
Bedenken  an  der  Gelehrsamkeit  und  Originalität  des  Verfassers 
gekommen  sein. 

In  erster  Linie  werden  ihm  wohl  in  seinem  Geschichtsbilde 
die  machtvollen  Regierungen  eines  Ottos  des  Großen  und  Hein- 
richs HL  vorgeschwebt  haben  —  mithin  die  Zeiten,  welche  den 
Glanz  der  kaiserlichen  Herrlichkeit  auf  dem  dunkelsten  Grunde 
römischer  Venvorfenheit  wiederspiegeln.  Er  selbst  datiert  ja  das 
Blütenalter  der  Menschheit  von  der  Übertragung  des  Kaisertums 
an  Otto  L  und  erinnert  damit  an  den  Sohn  des  Tyrannen  Albe- 
rich, für  den  jener  Akt  die  Vorstufe  zum  eigenen  Fall  wurde, 
und  dem  der  Kaiser,  da  er  ihn  richtete,  Verbrechen  nachweisen 
konnte,  welche  damals  und  in  allen  Zeiten  zu  den  verruchtesten 
gehört  haben.  Ohne  Frage  hat  dann  die  Kraft  und  Zucht  des 
deutschen  Wesens  in  der  »aufgelösten  und  verfaulten  Kultur«, 
als  deren  Repräsentant  Papst  Johann  XIL  erscheint,  wie  ein 
erfrischender  Luftzug  gewirkt,  aber  ebenso  gewiß  ist  es,  daß  die 


^)   I,  421 — 423.   494  f.  501  f.,  alles  wörtliche  Anführungen. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  35 

Verstrickung  des  Sohnes  Ottos  in  die  italienische  Politik  dem 
rüstigen  Vordringen  des  Deutschtums  in  den  slawischen  Gebieten 
unter  den  beiden  Vorfahren  eine  furchtbare  Katastrophe  und 
einen  durch  fast  zwei  Jahrhunderte  fortwirkenden  Rückgang 
gebracht  hat.  Zu  keiner  Zeit  ist  das  politische  Ideal  Janssens 
wörtlicher  erfüllt  gewesen  als  in  den  kurzen  Jahren,  wo  Otto  III. 
als  »Knecht  der  Apostel«  auf  dem  Aventin  residierte,  in  dem 
starren  Prunk  byzantinischer  Etikette,  eng  verbunden  mit  dem 
deutschen  und  mit  dem  französischen  Papst  und  mit  jenem  slawi- 
schen Heiligen,  gleich  ihnen  erfüllt  von  den  Träumen  einer  neu- 
römischen, universalen  Theokratie  und  durchglüht  von  dem  Feuer 
weltentsagender  Askese  und  welterobernden  Bekehrungseifers  — 
und  niemals  ist  der  undeutsche  Charakter  des  mittelalterlichen 
Kaisertums  krasser  zutage  getreten  als  unter  diesem  Sohn  einer 
griechischen  Kaisertochter,  welcher  dem  ungarischen  und  sla- 
wischen Volkstum  auf  Kosten  der  deutschen  HerrschersteUung 
nationale  Kirchenzentren  schuf  und  trotzdem  hinter  dem  sächsischen 
Erneuerer  und  dem  fränkischen  Begründer  des  occidentalischen 
Imperiums  an  universaler  Macht  ebenso  weit  zurückstand  wie  an 
persönlicher  Kraft  und  nationaler  Empfindung.  Nur  in  größerem 
Stil  wiederholt  das  ii.  Jahrhundert  dieselben  Erscheinungen: 
glänzende  Machtentfaltung  des  durch  deutsche  Kraft  zusammen- 
gehaltenen Kaisertums  neben  tiefstem  moralischem  wie  politischem 
Verfall  der  römischen  Kirche:  das  Machtgebot  des  sittenstrengen, 
mit  den  romanischen  Reformatoren  verbündeten  deutschen  Herr- 
schers führt  in  den  kranken  Leib  der  Papstkirche  neues  Leben: 
kaum  aber  fühlt  diese  sich  erstarkt,  so  benutzt  sie  ihre  Kraft,  um 
die  Laienärzte  zu  erwürgen.  Will  Janssen  sich  an  der  kirchhch- 
weltlichen  Machtstellung  Heinrichs  III.  patriotisch  ergötzen,  so 
muß  er  mit  ihm  und  seinem  Suidger  von  Bamberg  das  römische 
Sündenleben  verdammen.  Erhebt  er  hingegen,  seiner  Pflicht  und 
Neigung  gemäß,  die  pontifikalen  Triumphe  Gregors,  Urbans 
und  Paschais,  so  erwächst  ihm  die  Aufgabe,  die  haltlose  Schwäche 
der  französischen  Kaiserin,  die  ungetreue  Vormundschaft  der  geist- 
lichen, den  Eidbruch  der  Laienfürsten,  den  Kampf  und  tückischen 
Verrat  Konrads   und   Heinrichs  V.  gegen   den  kaiserlichen  Vater 

3* 


36  Kleine  historische  Schriften. 

als  Ausfluß  römischen  Gottessegens  zu  rechtfertigen.  Oder  er 
muß  eben  das  ganze  salische  Jahrhundert  als  Ausnahmezustand 
aus  seiner  mittelalterlichen  Weltordnung  hinausvveisen.  Mit 
Heinrich  V.  rührt  er  aber  schon  an  das  neue  Kaisergeschlecht, 
das  nach  ihm  durch  seine  heidnisch-römische  Auffassung  des  Kaiser- 
tums, seiner  schismatischen  und  cäsaropapistischen  Bestrebungen, 
die  Italianisierung  der  Regierung,  durch  die  Zertrümmerung  der 
Stammesherzogtümer  und  die  Beförderung  der  Territorial- 
gewalten zum  Schaden  der  eigenen  Hoheitsrechte  die  Auflösung 
der  wunderbaren  Herrlichkeit  eines  römisch-deutsch-nationalen 
Weltstaates  herbeiführte;  beraubt  sich  mithin  selbst,  weit  über 
ein  Jahrhundert  vor  Thomas  von  Aquino,  der  Möglichkeit,  in 
der  großartigsten  Epoche  des  Papsttums  die  Verwirklichung 
seines  Staatsideals  zu  erblicken.  Dieselbe  Epoche  brachte  erst 
die  gewaltige  koloniale  Ausbreitung  der  abendländischen  Völker- 
familie, welche  das  Baltische  und  das  Mittelländische  Meer  zu 
Binnenseen  der  romanisch-germanischen  Nationen  machte.  Janssen 
versteht  diese  Bewegung  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  seiner 
kaiserlich-päpstlichen  Verbrüderung,  welche  Europa  befriedet  und 
zum  Kampf  gegen  die  Heidenwelt  vereinigt  habe.  Aber  die  Kreuz- 
züge, welche,  aus  einer  elementaren  Erschütterung  der  romanischen 
Welt  hervorgegangen,  niemals  den  immerwährenden  Bürgerkriegen 
des  Abendlandes  ein  Ziel  setzten,  wurden  erst  in  der  staufischen 
Periode  Sache  der  deutschen  Herrscher,  und  die  nordöstliche  Ko- 
lonisation entfaltete  sich  gerade  unter  der  Ägide  des  deutschen 
Fürsten,  der  das  Kaisertum  unter  Friedrich  Barbarossa  aufs 
tiefste  gedemütigt  hat.  Mit  rastloser  Energie,  im  Kampf  gegen 
die  baltischen  Heiden  und  dänischen  Christen,  von  den  Kaisern 
oft  befeindet,  selten  gefördert,  gewinnen  die  Deutschen  die  Mün- 
dungsgebiete der  Ostseeströme;  am  Schluß  des  ersten  Jahrhunderts 
gebieten  sie  von  der  Trave  bis  zur  Newa:  die  Befestigung  ihrer 
Herrschaft  im  Norden  und  Osten  bringt  aber  doch  erst  die  groß- 
artige wirtschaftliche  Revolution  im  folgenden  Jahrhundert, 
welche  das  alte  Reich  zersprengt,  dem  Leben  der  Nation  hingegen 
einen  nicht  zu  ermessenden  Zufluß  reichster,  überall  freilich  terri- 
torial bedingter  Kräfte  zuführt. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  37 

Verzeihe  man  alle  diese  Wiederholungen  aus  der  Schulstube. 
Aber  es  gibt  hier  keine  andere  Arena,  auf  der  man  diesem  Histo- 
riker entgegentreten  kann.  Denn  seiner  christlich  -  germanischen 
Weltbetrachtung  ist  verborgen,  was  die  gesamten  historischen 
Wissenschaften  seit  fünfzig  und  mehr  Jahren  mit  immer  größerer 
Deutlichkeit  erkannt  und  zum  Gemeingut  der  Gebildeten  gemacht 
haben:  daß,  wenn  wir  überhaupt  von  dem  Übergewicht  einer 
Nation  in  der  Kultur  des  Mittelalters  sprechen  dürfen,  dies  nur 
von  der  französischen  gelten  darf.  So  lange  wenigstens  der  Geist 
der  Kreuzzüge  lebendig  blieb,  erhielt  auch  das  geistlich-ritter- 
liche Wesen,  das  mit  ihnen  zur  einheitlichen  Lebensform  der 
abendländischen  Nationen  emporwuchs,  in  Frankreich  die  neuen 
Antriebe  und  bewahrte  überall  die  französische  Färbung.  Mit 
einem  stets  wachsenden  Detail  gewahren  wir,  wohin  wir  immer 
in  Kultur  und  Politik  blicken,  dies  Übergewicht  des  französischen 
Namens:  die  Ritterorden,  die  Kriegskunst,  Waffenkunde,  Tur- 
niere, Kleidermoden  und  alle  Umgangsformen,  der  Bau  der 
Burgen  und  der  Kirchen,  die  Sprache  und  die  Dichtung,  kurz 
alle  Lebensäußerungen  der  mittelalterlichen  Blütezeit  weisen  in 
Ursprung  und  Ausbildung  auf  Frankreich  hin  und  widerlegen 
die  romantische  Legende  von  dem  christlich-germanischen  Helden- 
zeitalter. 

Dieser  romanischen  Kultur  streift  nun  freilich  die  fortschrei- 
tende Erkenntnis  ihres  Wesens  mehr  und  mehr  den  idealen  Schim- 
mer ab,  mit  dem  die  romantische  Verehrung  früherer  Tage  sie 
um  woben  hat.  Indem  wir  die  Burgen  aus  den  Trümmern,  welche 
die  poetische  Verklärung  des  Mittelalters  mit  den  Erinnerungen 
an  die  verklungene  Herrlichkeit  ritterlicher  Weltfreude,  keuscher 
Minne,  inniger  Religiosität  zu  beleben  sucht,  so  rekonstruieren, 
wie  sie  an  den  militärisch  stärksten  Punkten,  auf  den  steilsten 
Bergkegeln  oder  zwischen  unnahbaren  Sümpfen  wirklich  ge- 
standen haben,  so  erkennen  wir,  wie  eng  und  bedrückt,  wie  ganz 
auf  Kampf  und  Herrschaft  das  Leben  in  ihnen  gestellt  war,  wie 
entbehrungsvoll,  rauh  und  begehrlich  das  Geschlecht  gewesen  sein 
muß,  das  in  jenen  rauchgeschwärzten,  gegen  Wind  und  Wetter 
offenen  Hallen  gehaust  hat.     Nur    die    hervorragendsten  dieser 


3g  Kleine  historische  Sdniilen. 

Bauten,  die  Fürstensitze,  sind  durch  das  Andenken  an  eine  Dicht- 
kunst geweiht,  in  der  die  Romantik  die  historische  VerwirkUchung 
ihres  poetischen  Ideals  erbhckte.  Aber  schon  hier  zeigen  sich 
dem  vorurteilslosen  Blick  Zustände,  welche,  besonders  wo  es 
den  Dienst  der  »Frouwe  Venus«  angeht,  sich  als  das  gerade  Ge- 
genteil jener  Vorstellungen  und  diese  nur  als  Selbstbespiege- 
lung  in  einer  willkürlich  konstruierten  Vergangenheit  offenbaren. 
Selten  durchbricht  einmal  helleres  Licht  den  Nebelschleier,  der 
über  den  mittleren  und  unteren  Schichten  der  Nationen  ausge- 
breitet liegt;  aber  die  dürftigen  Notizen  der  Annalisten  über  die 
Verheerungen  durch  Hungersnot,  Kälte,  Überschwemmungen, 
Seuchen  lassen  uns  das  Elend  der  Massen  ahnen  und  erklären 
mehr  als  alles  andere  die  religiösen  Erschütterungen,  welche  von 
Zeit  zu  Zeit  den  ganzen  Organismus  der  abendländischen  Christen- 
heit wie  Fiebergluten  ergriffen. 

Wie  hätten  aber  die  Generationen  unter  dem  Druck  solcher 
materiellen  und  geistigen  Unkultur  und  Not  die  einheitlichen 
Gedanken  der  abendländischen  Christenheit  in  dem  Umfang,  wie 
es  die  ultranomtanen  Phantasien  wähnen,  erkennen  und  zur  Richt- 
schnur ihres  Wollens  und  Vollbringens  machen,  jedem  Druck 
von  Rom  her  als  einem  sittlichen,  religiösen  und  politischen  Macht- 
gebot mit  willigem  Gehorsam  folgen  können!  In  der  Tat  löst 
denn  auch  die  aufklärende  Geschichtsforschung  die  kirchlich- 
politische Einhelligkeit  und  die  geistige  Allmacht  der  Kurie  in 
den  mittleren  Jahrhunderten  mehr  und  mehr  als  ein  phantasti- 
sches Nebelbild  des  neunzehnten  auf.  Der  päpstHche  Bann  hat 
nicht  bloß  heute  seine  Schrecken  verloren:  er  hat  sie  niemals  in 
dem  ]\Iaße,  wie  geglaubt  ist,  gehabt;  seine  Wirkung  war  allezeit 
durch  Faktoren  bedingt,  deren  Analogien  den  Vatikan  auch  heute 
noch  stark  machen;  wo  er  nicht  auf  lokale  Interessen,  persönliche 
Leidenschaften,  Begehrlichkeiten  meist  niedrigen  Ranges  stieß, 
da  hat  er  auch  im  Mittelalter  nicht  gezündet.  Schon  tritt  weit 
deutlicher  als  vordem  der  rivalisierende  Einfluß  der  großen  Mächte 
auf  die  römische  Politik  hervor.  In  der  Staufenzeit  vermag  nur 
er  das  jähe  Schwanken  des  päpstlichen  Stuhles  zwischen  trium- 
phierender Hoheit  und  unterwürfiger  Ohnmacht  zu  erklären.    Je 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  39 

tiefer  wir  in  das  Getriebe  der  päpstlichen  Diplomatie  hinein- 
sehen, so  wie  sie  jetzt  für  die  ersten  Jahre  Innozenz'  IV.  in  seinem 
Registrum  vorliegt,  um  so  deutlicher  erkennen  wir,  wie  sehr  die 
Kurie  unter  dem  Druck  der  antikaiserhchen  Parteiströmungen 
stand,  statt  daß  sie  dieselben  beherrscht  hätte.  Ohne  den  Rückhalt 
an  Frankreich  hätte  sie  den  Kampf  niemals  aufnehmen  können, 
und  ihre  Katastrophe  unter  Bonifaz  VIII.  bewies,  daß  sie  »das 
welthche  Schwert  dem  Kaisertum  nur  entrissen  hatte,  um  es  dem 
französischen  Königtum  auszuliefern«.  Noch  tiefer,  in  unbe- 
stimmtem Zwielicht,  gewahren  wir  die  mächtigen  Unterströmungen 
der  wirtschaftlichen  Kräfte.  Aber  gerade  deren  Studium  zeigt 
überall,  in  wieviel  tausend  kleinen  Kreisen  und  Wirbeln  der 
Strom  des  historischen  Lebens  sich  im  Mittelalter  fortbewegt. 
Es  gibt  in  der  allgemeinen  Zersplitterung  ge^visse  Grundrichtungen, 
welche  die  Einzelkräfte  zusammenführen  und  in  die  gleiche  Bahn 
drängen;  eine  zentrale  Gewalt  bildet  sich  aus,  welche  ihnen  einen 
Halt  und  Ausgleich  bietet;  indem  sie  jeden,  der  sich  an  sie  wendet, 
schützt  und  erhebt,  empfängt  sie  von  jedem  einen  Teil  seiner 
selbst  und  herrscht  bald  über  alle;  um  sie  her,  hoch  über  dem 
Getümmel  der  streitenden  Interessen,  ihr  phantastischer  Abglanz 
und  doch  wieder  für  alle  der  Richtpol,  mit  ihnen  sich  wandelnd, 
verzweigend  und  zusammenfassend,  das  System  ihrer  Ideen:  aber 
niemals  sind  diese  unmittelbar  die  Machtfaktoren  in  der  Gestaltung 
der  Welt :  die  einzelnen  gehen  auf  in  den  Kleinkreisen  ihres  Wirkens ; 
sie  ahnen  wohl  den  Zusammenhang,  können  ihn  aber  nicht  be- 
greifen; halb  willenlos  folgen  sie  dem  allgemeinen  Zuge,  den  sie 
nur  in  der  Beschränktheit  ihres  Horizontes  überblicken;  erst  aus 
der  Summe  der  partikularen  Absichten  bestimmt  sich  die  Rich- 
tung, welche  sie  in  der  allgemeinen  Bewegung  nehmen. 

Keine  bessere  Probe  auf  die  Richtigkeit  dieser  Realisierung 
des  Mittelalters  kann  es  geben  als  die  wachsende  Klärung  des 
Verständnisses  für  die  eigentümlichsten  Schöpfungen  seines  Geistes. 
Die  Majestät  seines  Gottes-  und  Weltbegriffes,  die  Universali- 
tät seiner  theokratischen  Ideale,  die  harmonische  Vielheit  seiner 
hierarchischen  Formen,  die  Großheit  und  Innigkeit  seiner  Kunst 
ist  noch  nie  so  deutlich  beschrieben  und  so  lebhaft  bewundert 


40  Kleine  historische  Schriften. 

als  von  uns  Modernen;  wir  schwärmen  nicht  mehr  mit  gestalt- 
loser Andacht  für  die  verfallenden  Ruinen  der  christlich-germa- 
nischen Vorzeit,  aber  wir  stellen  sie  her  und  bauen  sie  aus  zu 
der  vollen  Hoheit,  in  der  sie  von  ihren  IMeistern  und  Bauherren 
gedacht  waren ;  sucht  man  doch  heute  sogar  die  Ideale  der  Ver- 
gangenheit den  Aviderstrebenden  Lebenszwecken  unserer  Kunst  auf- 
zudrängen. 

Wir  werden  es  immer  zu  den  großen  Zügen  des  Rankeschen 
Geistes  rechnen  müssen,  daß  er,  der  mit  seiner  Entwickelung  in 
der  Blütezeit  der  Romantik  wurzelt,  von  seinen  ersten  Anfängen 
ab,  mitten  in  ihrer  Kraft  sie  nicht  bloß  überwunden,  sondern  vor 
allem,  ihre  Bedeutung  wahrend,  ihre  Idealzeit  in  jener  Doppel- 
seitigkeit, in  der  Mischung  von  Kultur  und  Barbarei  mit  voller 
Schärfe  erkannt  hat.  Noch  heute  gilt  sein  Wort  von  der  »wunder- 
samen Physiognomie  jener  Zeiten,  die  noch  niemand  in  ihrer 
ganzen  FüUe  und  Wahrheit  vergegenwärtigt  hat«;  von  der  »außer- 
ordentlichsten Kombination  von  innerem  Zwist  und  glänzendem 
Fortgang  nach  außen,  von  Autonomie  mid  Gehorsam,  von  geist- 
lichem und  weltlichem  Wesen«.  Kein  Romantiker  könnte  zugleich 
herzlicher  und  wahrer  als  an  jener  Stelle  Ranke  den  Charakter 
der  mittelalterlichen  Frömmigkeit  schildern,  »die  sich  zuweilen  in 
das  rauhe  Gebirge,  in  das  einsame  Waldtal  zurückzieht,  um  alle 
ihre  Tage  in  harmloser  Andacht  der  Anschauung  Gottes  zu  widmen : 
in  Erwartung  des  Todes  verzichtet  sie  schon  auf  jeden  Genuß, 
den  das  Leben  darbietet;  oder  sie  bemüht  sich,  wenn  sie  unter 
den  Menschen  weilt,  jugendlich  warm,  das  Geheimnis,  das  sie 
ahnet,  die  Idee,  in  der  sie  lebt,  in  heiteren,  großartigen  und  tief- 
sinnigen Formen  auszusprechen«;  —  und  kein  Moderner  dürfte 
die  fanatische  Wildheit,  worin  diese  Glaubensinnigkeit  ausarten 
kann,  treffender  bezeichnen,  als  es  die  wenigen  Worte  tun,  welche 
Ranke  über  die  andere,  unmittelbar  neben  jener  ersten  sich  äußernde 
Frömmigkeit  hinzufügt,  »welche  die  Inquisition  erdacht  hat,  und 
die  entsetzliche  Gerechtigkeit  des  Schwertes  gegen  die  Anders- 
gläubigen ausübt:  keines  Geschlechtes,  sagt  der  Anführer  des 
Zuges  wider  die  Albigenser,  keines  Alters,  keines  Ranges  haben 
wir  verschont,  sondern  jedermann  mit  der  Schärfe  des  Schwertes 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  41 

geschlagen.«  Janssen  gibt  sich  den  Anschein,  als  ob  er  in  den 
Kreuzzügen  die  glorreichste  Betätigung  seines  Glaubens  erblicke; 
die  Wiedergewinnung  der  Stätte,  wo  der  Heiland  gelitten  hat, 
durch  die  römischen  Glaubensheere  ist  ihm  einer  der  Höhepunkte 
der  christlich-germanischen  Heldenzeit.  So  muß  also  von  seiner 
Religion  gelten,  was  Ranke  ebendort  als  hervorstechendstes  Bei- 
spiel für  den  barbarisch  -  christlichen  Charakter  des  Mittelalters 
erzählt:  »bei  dem  Anblick  von  Jerusalem  stiegen  die  Kreuzfahrer 
von  den  Pferden  und  entblößten  ihre  Füße,  um  als  wahre  Pilger 
an  den  heiligen  Mauern  anzulangen;  in  dem  heißesten  Kampfe 
meinten  sie  die  Hilfe  der  Heiligen  und  Engel  sichtbar  zu  erfahren. 
Kaum  aber  hatten  sie  die  flauem  überstiegen,  so  stürzten  sie 
fort  zu  Raub  und  Blut:  auf  der  Stelle  des  salomonischen  Tempels 
erwürgten  sie  ^'iele  tausend  Sarazenen;  die  Juden  verbrannten 
sie  in  ihrer  Synagoge;  die  heiligen  Schwellen,  an  denen  sie  anzu- 
beten gekommen  waren,  befleckten  sie  erst  mit  Blut«.  —  Ge- 
wiß, nichts  kann  wahrer  sein  als  die  Summe,  welche  Ranke  aus 
diesen  Sätzen  zieht:  »es  ist  ein  Widerspruch,  der  jenen  religiösen 
Staat  durchaus  erfüllt  und  sein  Wesen  bildet«. 

Man  muß  weit  zurückgreifen,  um  die  Vorbilder  zu  treffen, 
nach  denen  Janssen  sich  seine  Auffassung  der  christlichen  Welt 
geformt  hat.  Vielleicht  am  frühesten,  jedenfalls  vollständiger  und 
anziehender  als  irgendwo  anders  ist  sie  ausgedrückt  in  jener  dichte- 
risch bewegten  Phantasie,  welche  Novalis,  angeregt  durch  Schleier- 
machers Reden  über  die  Religion,  im  Kreise  seiner  Jenaer  Freunde 
am  Schluß  des  vorigen  Jahrhunderts  von  den  »echt  katholischen 
und  echt  christlichen  Zeiten«  des  mittelalterlichen  »Europas«  ent- 
worfen hat.  Möge  es  erlaubt  sein,  den  Eingang  der  merkwürdigen 
und  seltenen  Schrift  wegen  der  frappanten  Ähnlichkeit  mit  der 
Janssenschen  Konstruktion  zu  wiederholen  ^). 


^)  Zuletzt  herausgegeben  von  J.  M.  Raich,  NovaUs'  Briefwechsel  mit 
Friedrich  und  August  Wilhelm,  Chariotte  und  KaroUne  Schlegel,  1880. 
Die  Ängstlichkeit  der  Freunde  Hardenbergs  hat  den  Druck  lange  verhin- 
dert. Erst  in  die  vierte  Auflage  (1826)  fand  er  auf  Andrängen  Fr.  Schlegels 
Aufnahme,  aber  die  fünfte,  von  Tieck  besorgte,  Heß  ihn  schon  wieder  fort. 
Vgl.  Reichs  Vorbericht  und  Haym,    die  romantische  Schule  S.  463  Anm. 


42  Kleine  historische  Schriften. 

»Es  waren  schöne,  glänzende  Zeiten,  wo  Europa  ein  christ- 
liches Land  war,  wo  eine  Christenheit  diesen  menschlich  gestalteten 
Weltteil  bewohnte ;  e  i  n  großes  gemeinschaftliches  Interesse  ver- 
band die  entlegensten  Provinzen  dieses  weiten  geisthchen  Reiches. 
Ohne  große  welthche  Besitztümer  lenkte  und  vereinigte  e  i  n 
Oberhaupt  die  großen  politischen  Kräfte.  —  Eine  zahlreiche  Zunft, 
zu  der  jedermann  den  Zutritt  hatte,  stand  unmittelbar  unter  dem- 
selben und  vollführte  seine  Winke  und  strebte  mit  Eifer,  seine 
wohltätige  Macht  zu  befestigen.  Jedes  Glied  der  Gesellschaft 
wurde  allenthalben  geehrt,  und  wenn  die  gemeinen  Leute  Trost 
oder  Hilfe,  Schutz  oder  Rat  bei  ihm  suchten  und  gerne  dafür 
seine  mannigfaltigen  Bedürfnisse  reichlich  versorgten,  so  fand  es 
auch  bei  den  Mächtigeren  Schutz,  Ansehen  und  Gehör,  und  alle 
pflegten  diese  Auserwählten,  mit  wunderbaren  Kräften  ausge- 
rüsteten Männer  wie  Kinder  des  Himmels,  deren  Gegenwart 
und  Zuneigung  mannigfachen  Segen  verbreitete.  Kindliches  Zu- 
trauen knüpfte  die  Menschen  an  ihre  Verkündigungen.  —  Wie 
heiter  konnte  jedermann  sein  irdisches  Tagewerk  vollbringen,  da 
ihm  durch  diese  heiligen  Menschen  eine  sichere  Zukunft  bereitet 
und  jeder  Fehltritt  durch  sie  vergeben,  jede  mißfarbige  Stelle 
des  Lebens  durch  sie  ausgelöscht  und  geklärt  wurde.  Sie  waren 
die  erfahrenen  Steuerleute  auf  dem  großen  unbekannten  Meere, 
in  deren  Obhut  man  alle  Stürme  gering  schätzen  und  zuversicht- 
lich auf  eine  sichere  Gelangung  und  Landung  an  der  Küste  der 
eigentlichen  vaterländischen  \\'elt  rechnen  durfte.  —  —  —  — 

Emsig  suchte  diese  mächtige,  friedenstiftende  Gesellschaft  alle 
Menschen  diesen  schönen  Glaubens  teilhaftig  zu  machen  und 
sandte  ihre  Genossen  in  aUe  Weltteile,  um  überall  das  Evan- 
gelium des  Lebens  zu  verkündigen  und  das  Himmelreich  zum 
einzigen  Reiche  auf  dieser  Welt  zu  machen.  ]\Iit  Recht  wider- 
setzte sich  das  weise  Oberhaupt  der  Kirche  frechen  Ausbildungen 
menschlicher  Anlagen  auf  Kosten  des  heiligen  Sinnes  und  un- 
zeitigen gefährlichen  Entdeckungen  im  Gebiete  des  Wissens.  So 
w'ehrte  er  den  kühnen  Denkern,  öffenthch  zu  behaupten,  daß  die 
Erde  ein  unbedeutender  Wandelstern  sei;  denn  er  wußte  wohl, 
daß  die  Menschen  mit  der  Achtung  für  ihren  Wohnsitz  und  ihr 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  43 

irdisches  Vaterland  auch  die  Achtung  vor  der  himmHschen  Heimat 
und  ihrem  Geschlechte  verlieren  und  das  eingeschränkte  Wissen 
dem  unendlichen  Glauben  vorziehen  und  sich  gewöhnen  würden, 
alles  Große  und  Wunderwürdige  zu  verachten  und  als  tote  Ge- 
setzwirkung zu  betrachten.  An  seinem  Hofe  versammelten  sich 
alle  klugen  und  ehrwürdigen  Menschen  aus  Europa.  Alle  Schätze 
flössen  dahin,  das  zerstörte  Jerusalem  hatte  sich  gerächt  und 
Rom  selbst  war  Jerusalem,  die  heilige  Residenz  der  göttlichen 
Regierung  auf  Erden  geworden.  Fürsten  legten  ihre  Streitig- 
keiten dem  Vater  der  Christenheit  vor,  willig  ihm  ihre  Kronen 
und  ihre  Herrlichkeit  zu  Füßen,  ja  sie  achteten  es  sich  zum  Ruhm, 
als  Mitglieder  dieser  hohen  Zunft  den  Abend  ihres  Lebens  in 
göttlichen  Betrachtungen  zwischen  einsamen  Klostermauern  zu  be- 
schHeßen,  Wie  wohltätig,  wie  angemessen  der  inneren  Natur 
der  Menschen  diese  Regierung,  diese  Einrichtung  war,  zeigte  das 
gewaltige  Emporstreben  aller  anderen  menschlichen  Kräfte,  die 
harmonische  Entwickelung  aller  Anlagen,  die  ungeheure  Höhe, 
die  einzelne  Älenschen  in  allen  Fächern  der  Wissenschaften  des 
Lebens  und  der  Künste  erreichten,  und  der  überall  blühende 
Handelsverkehr  mit  geistigen  und  irdischen  Waaren  in  dem  Um- 
kreis von  Europa  und  bis  in  das  fernste  Indien  hinaus.«  — 

Das  ist,  wenn  auch  nicht  die  beste,  so  doch  gewiß  wahre 
Poesie.  Und  gerne  verzeihen  wir  dem  liebenswürdigen  Träumer 
die  krause  Phantastik  seiner  Geschichtsbilder,  die  Naivetät,  mit 
der  er  z.  B.  das  Klosterleben  der  alten  Langobarden-  und  Franken- 
herrscher mit  den  Kolonisationen  des  ausgehenden  Mittelalters 
und  dem  Prozeß  Galileis  als  Segnungen  der  »echt  christlichen 
Zeiten«  preist.  Denn  sein  Glaube  an  die  Wunderzeit  ist  nur  der 
Glaube  des  Poeten.  Alle  Energie,  mit  der  er  Natur  und  Geschichte 
in  ihren  geheimsten  Offenbarungen,  in  ihrem  All-Eins  zu  ergreifen 
glaubt,  die  Phantasie-  und  Gedankenwelt  in  einander  zu  ver- 
schhngen  strebt,  führt  ihn  doch  nicht  weiter  als  den  »geheimnis- 
vollen Weg  nach  innen«,  wird  ihm  »Selbstbesprechung«,  »Selbst- 
offenbarung«. Indem  er  sich  »in  die  Flut  des  menschlichen  Wissens« 
versenkt,  »um  in  diesen  heiligen  Wellen  die  Traumwelt  des  Schick- 
sals zu  vergessen«,  wird  ihm  alsbald  das  Denken  zum    »Traum 


44  Kleine  historische  Schriften. 

des  Fülileiis«  und  entdeckt  er  in  allem  Werden  und  \'ergelien 
nur  wieder  »die  Abwechselungen  eines  unendlichen  Gemütes«. 
Einer  solchen  Philosophie,  deren  Kern  sein  will,  »daß  Poesie  das 
absolut  Reelle,  alles  um  so  wahrer,  je  poetischer  es  ist«,  und  daß 
»das  Märchen  gleichsam  der  Kanon  aller  Poesie«,  »der  erste  Märchen- 
dichter ein  Seher  der  Zukunft  ist«,  sind  historische  Widersprüche 
nicht  nur  natürlich,  sondern  notwendig.  In  der  schwärmenden 
Seele  finden  sie  ihre  Einheit;  deren  Kinder  sind  sie,  ihre  Abspiege- 
lungen im  Meere  des  Geschehens.  Je  reicher  und  bunter  die  Farben- 
brechungen, um  so  inbrünstiger  die  Gemeinschaft:  »Die  Welt 
wird  am  Ende  Gemüt;  am  Ende  wird  alles  Poesie.«  Nichts  kann 
solcher  Anschauung  ferner  liegen  als  der  W^unsch  nach  urkund- 
licher Begründung.  Würden  die  Traumgebilde  in  das  Licht  des 
historischen  Tages  gerückt,  das  Reich  der  Phantasie  wäre  zer- 
stört. Auch  jenem  Fragmente  würden  wir  mit  voller  Zustimmung 
Novalis  das  Motto  seines  »Heinrich  von  Ofterdingen«  vorsetzen 
dürfen:    »ein  Märchen  will  ich  erzählen  — -  horche  wohl!«^) 

Gerade  die  Übereinstimmung  mit  diesem  Phantasiegemälde 
beweist  daher  aufs  beste  die  Ungereimtheit  der  Janssenschen 
Wahnbilder.  Aber,  wenn  diese  den  Charakter  der  Geschichte  ver- 
lieren, so  werden  sie  darum  nicht  mehr  Poesie.  Denn  dazu  fehlt 
ihnen  jener  Glaube,  der  in  der  Geschichte  und  den  Lehren  der 
christlichen  Religion  nur  »die  symbolische  Verzeichnung  einer  all- 
gemeinen, jeder  Gestaltung  fähigen  Weltreligion«  erblickt.  Im  Aus- 
gangspunkt, in  der  \^erklärung  des  I\Iittelalters  stimmen  der  Ro- 
mantiker und  der  Ultramontane  überein,  dann  aber  weichen 
sie  voneinander.  Jenem  ist  die  neue  Christenheit  die  Kirche  der 
reinen  Geistigkeit,  »eine  neue  goldene  Zeit  mit  dunkeln,  unend- 
lichen Augen,  eine  prophetische,  wundertätige  und  wunden- 
heilende, tröstende  und  ewiges  Leben  entzündende  Zeit«:  »die 
zufälhge  Form  ist  so  gut  wie  vernichtet;  das  alte  Papsttum  liegt 
im  Grabe,  und  Rom  ist  zum  zweitenmal  eine  Ruine  geworden«: 
»die  süße  Andacht  des  gottbegeisterten  Gemütes,  der  alles  um- 
armende Geist  der  Christenheit«  wird  die  neue  Kirche  bilden  — 


1)  Vgl.  Haym  S.  325  ff. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  45 

Janssens  Ideal  ist  die  auf  die  wandellos  göttliche  Prophetie  des 
Papstes  gegründete  Kirche  des  vatikanischen  Konzils.  Deren 
Zwecken  will  er  den  enthusiastischen  Geist  der  Romantik  unter- 
würfig machen:  den  Glauben  der  Dichtung  stempelt  er  zum 
Glauben  Roms,  das  Individuellste  zum  Allgemeinsten,  das  Freieste 
drückt  er  in  die  beengendsten  Fesseln.  Alle  Widersprüche  kann  der 
romantische  Glaube  vertragen,  nur  nicht  den  mit  sich  selbst:  gerade 
den  aber  bringt  Janssen  hervor,  da  er  zu  Realitäten  macht,  was  nur 
als  Phantasie  gelten  will.  Und,  was  schlimmer  ist,  er  versucht  es, 
diese  Fälschung  auf  Beweisformen  zu  gründen,  welche  nur  unter  der 
Voraussetzung  unbefangenster  Beobachtung  Geltung  haben  können. 
Unmittelbare  Folge  dieser  Zerstörung  der  Romantik  mußte 
die  Entgeistigung  ihres  schönsten  und  mächtigsten  Organs  sein, 
das  alle  Wallungen  ihres  Gemüts-  und  Phantasielebens  staunens- 
wert biegsam  und  farbenprächtig  wiederzugeben  vermochte, 
der  bezaubernden  Gewalt  ihrer  Sprache.  Noch  in  Görres  be- 
wundern wir  den  lebendigen  Pulsschlag  echter  Begeisterung.  Es 
hat  auch  für  uns  etwas  Packendes,  wenn  dieser  von  der  Zeit 
spricht,  »wo  der  religiöse  Enthusiasmus  eben  noch  wie  ein  glühen- 
der Sommer  über  Europa  hing  und  Heerhaufen  und  Nationen 
wie  Gewitter  hinübertrieb  zum  heiligen  Grabe,  um  dort  auf  die 
Ungläubigen  sich  zu  entladen«.  Gegen  die  Glut  dieser  Worte  halte 
man  nun,  was  Janssen  über  den  Grundgedanken  der  ganzen  Kreuz- 
zugspolitik zu  sagen  weiß :  »Friede  und  Einigkeit  unter  den  christ- 
lichen Völkern  behufs  Vereinigung  ihrer  Gesamtkräfte  zum  Kampf 
gegen  den  gemeinsamen  Glaubensfeind«,  und  man  sieht  hand- 
greiflich, in  welchem  Zusammenhang  die  ultramontane  Geschichts- 
auffassung mit  der  romantischen  steht:  sie  ist  ihre  Entartung. 
Noch  erkennen  wir  immerhin  in  dieser  Scholastik  den  einst  so 
bunten  Flor  der  romantischen  Traumwelt  —  so,  wie  er  unter 
dem  römischen  Gifthauch  verdorrt  ist. 

Die  Analogie  zwischen  der  römischen  und  der  romantischen 
Phantastik  zeigt  sich,  wie  in  der  Bewunderung  des  Mittelalters, 
so  auch  in  der  Art,  wie  beide  die  Überleitung  zu  der  »revolutio- 
nären Epoche  finden«.    Allerdings  darf  die  erstere  nicht  von  der 


/jfi  Kleine  historische  Schriften. 

»unendliclien  Trägheit«  reden,  der  sich  nach  der  romantischen 
Auffassung  die  »sicher  gewordene  Zukunft  der  Geistlichkeit«  er- 
geben haben  soll.  Novalis  läßt  die  Zerstörung  der  christlichen 
Jugendblüte  aus  den  »niedrigen  Begierden  «der  Geistlichen  entstehen, 
aus  »der  Gemeinheit  und  Niedrigkeit  ihrer  Denkungsart«,  aus 
der  »Vergessenheit  ihres  eigentlichen  Amts,  die  ersten  unter  den 
Menschen  an  Geist,  Einsicht  und  Bildung  zu  sein«.  Ist  es  doch 
die  besondere  Eigentümlichkeit  Janssens,  in  dem  Zeitalter  Ale- 
xanders VI.  die  Hauptepoche  der  katholischen  Reformation  zu 
sehen.  Zu  den  »klugen  Maßregeln«,  mit  denen  sie  »den  Leich- 
nam der  Verfassung  vor  zu  schleuniger  Auflösung  bewahrten«, 
rechnet  Novalis  vorzüglich  die  Priesterehe  —  »eine  Maßregel,  die, 
analog  angewandt,  auch  dem  ähnlichen  Soldatenstand  eine  fürchter- 
liche Konsistenz  verleihen  und  sein  Leben  noch  lange  fristen  könnte«. 
Aber  daß  dann  eben  hieran  ein  »Zunftgenosse«  Feuer  fängt,  daß 
seine  »Insurrektion«  das  »Untrennbare,  die  unteilbare  Kirche« 
frevelnd  zerrissen  und  die  Anarchie,  die  »Revolutionsregierung« 
permanent  gemacht  habe,  daß  die  »Fürsten  sich  unglücklicher- 
weise in  diese  Spaltung  gemischt«,  sie  zur  »Befestigung  und  Er- 
weiterung ihrer  landesherrlichen  Gewalt  und  Einkünfte  erhoben« 
und  »die  Religion  irreligiöserweise  in  Staatsgrenzen  einschlössen« 

—  das  sind  auch  für  die  ultramontane  Reformationsgeschichte 
die  Angelpunkte  der  Auffassung. 

Ein  Moment  aber,  welches  letzterer  wesentlich  ist,  war,  wie 
der  Romantik,  so  lange  sie  unverfälscht  blieb,  überhaupt,  so  vor 
allem  dem  Herausgeber  der  »Jahrbücher  der  preußischen  Mon- 
archie unter  der  Regierung  Friedrich  Wilhelms  III.«  immer  fremd 

—  die  ausschließende  Verehrung  für  das  Haus  Habsburg  als 
Träger  der  »echt  katholischen  Gedanken«.  Für  eine  solche  histo- 
risch-politische Fixierung  des  romantischen  Ideals  war  der  Graf 
v.  Hardenberg  nicht  nur  ein  zu  guter  Poet,  sondern  auch  ein  zu 
guter  Protestant.  Ihm,  der  das  herrliche  Wort  wagte,  daß  »wahr- 
hafte Überzeugung  das  einzige  wahre,  Gott  verkündende  Wunder« 
sei,  welcher  »Staatsverkündiger,  Prediger  des  Patriotsimus«  auf- 
stellen möchte,  dem  der  Staat  bei  allem  Abscheu  vor  dem  »fürchter- 
lichen Soldatenstande«  nicht  als  ein  »Polster  der  Trägheit«,  son- 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  47 

dern  als  eine  »Armatur  der  gespannten  Tätigkeit«  erschien,  konnte 
die  preußische  Monarchie  nicht  die  poHtische  ReaHsierung  der 
protestantischen  Insurrektion  heißen.  Jede  positive  Form  ist  ihm 
auch  auf  poHtischem  Gebiet  relativ\  Gerade  dem  jungen  preußi- 
schen König  und  seiner  schönen  Königin  legt  er  die  »Blumen« 
zu  Füßen,  welche  ihnen  die  holde,  beglückende  Mission  ihrer 
Herrschaft  deuten  sollen:  Friedrich  Wilhelm  und  Luise  seien 
die  »Genien«,  das  »klassische  Menschenpaar«,  das  die  neue  goldene 
Zeit  heraufführen  werde.  Nichts  liegt  ihm  ferner  als  tendenziöse 
Vergröberung.  Er  würde  sich  selbst  untreu  werden,  wenn  er  nicht 
auch  die  Persönlichkeiten  und  Institutionen  des  politischen  Lebens 
in  die  luftigen  Regionen  seiner  poetischen  Traumwelt  erheben  wollte. 
Der  ultramontane  Historiker  dagegen  vindiziert  mit  der  Miene 
vollkommenen  Ernstes  dem  Hause  Habsburg  seit  seinem  Stifter 
die  Vertretung  des  christlich  -  germanischen  Staatsideals.  Wo 
nur  immer  ein  Habsburger  auftaucht,  erhebt  sich  seine  Sprache 
und  die  Auswahl  seiner  Exzerpte  zu  höherem  Schwung.  In  König 
Rudolf  war  dem  Reiche  der  Reformator  gegeben.  »Wäre  nun 
nach  früherem  Herkommen  die  Thronfolge  in  der  regierenden 
Familie  erblich  gewesen,  so  hätte  Österreich  zum  Heile  Deutsch- 
lands dem  neuen  Königsgeschlecht  die  verlorenen  Reichsdomänen 
ersetzen  und  durch  seine  Kraft  dem  Vaterlande  ein  selbständiges, 
die  Nation  umfassendes  Königtum  erhalten  können.«  Aber  die 
Selbstsucht  der  Königswähler  woUte  keine  festgeschlossene  Einheit, 
deshalb  wählten  sie  den  machtlosen  Adolf  von  Nassau.  Albrecht  I. 
schien  die  deutschen  Hoffnungen  wahr  machen  zu  sollen;  aber 
er  fiel  als  »Opfer  einer  Fürsten  Verschwörung«,  als  »Märtyrer  für 
die  einheitliche  Macht  des  deutschen  Königtums«.  Unter  den 
bayerischen  und  luxemburgischen  Herrschern  ging  dem  Reich 
alles  verloren,  was  die  ersten  beiden  Habsburger  gepflanzt  hatten. 
Eine  Zeit  neuer  Kraft  schien  Albrecht  IL  bringen  zu  sollen:  »ein 
gewaltiger  Herr,  im  Kriege  erfahren,  unermüdlich  tätig«,  »ein 
König  von  deutschem  Gemüt«,  der  Bürger  Freund,  Feind  aber 
der  eigensüchtigen  Fürsten:  zum  »Verhängnis  Deutschlands« 
raffte  ihn  ein  jäher  Tod  in  der  Blüte  der  Jahre  hinweg.  Nur 
Friedrich  III.  hat  doch  auch  Janssens  Beifall  nicht:  seltsam  ge- 


/^p,  Kleine  historische  Schriften. 

nug,  da  ja  sein  deutsches  »Reforniationszeitalter«  zum  größten 
Teil  in  dessen  Regierung  fällt. 

Dafür  ist  König  Max  um  so  mehr  der  Mann  seines  Herzens. 
Alles  Lob,  was  er  bei  dem  Vater  zurückhält,  häuft  er  auf  das 
ritterliche  Haupt  des  Sohnes:  die  heldenhafte,  oft  an  abenteu- 
ernde Verwegenheit  streifende  Kühnheit  und  die  Hochherzigkeit, 
mit  der  Max  nach  der  Schlacht  die  Verwundeten,  gleichgültig  ob 
Freund  oder  Feind,  pflegt,  seine  fromme  Barmherzigkeit  gegen 
menschliches  Elend  —  dem  sterbenden  Bettler  reicht  er  selbst  den 
Labetrunk,  deckt  ihn  mit  dem  eigenen  Kleide,  eilt  zur  Stadt  und 
holt  den  Priester,  der  dem  Armen  die  letzten  Segnungen  der 
Religion  bringen  soll  —  und  die  gehorsame  Treue  gegen  den  alten 
Vater:  es  ist  Sankt  Georg  und  Sankt  Martin  in  einer  Person.  Dem 
Adel  der  Seele  entspricht  die  äußere  Erscheinung:  »seine  edle 
Gestalt,  sein  fester  sicherer  Gang,  der  Adel  und  die  Würde  in 
all  seinen  Bewegungen,  der  Ausdruck  unverkümmerten  Wohl- 
wollens auf  seinem  Antlitze,  seine  herzgewinnende  Rede,  die 
manchen  feindlich  Gesinnten  oft  bei  der  ersten  Begegnung  ver- 
söhnte«. Auch  die  »unversiegbare  Heiterkeit  seines  reinen  Ge- 
mütes« wird  zu  den  äußerlichen  Vorzügen  gerechnet.  Unbegrenzt 
ferner  der  Wissensdurst,  unversieglich  die  Kraft  zu  lernen,  zu 
streben,  der  Wille  zu  helfen  und  zu  bessern,  eine  wahrhaft  refor- 
matorische Herrschernatur.  Der  waffenfähigste  Fürst  der  Christen- 
heit ist  zugleich  der  wissenschaftlich  höchststehende.  Geschichte, 
Mathematik,  Latein,  Französisch,  Wallonisch,  Italienisch,  Englisch, 
Spanisch,  alles  treibt  der  geniale  König  neben  einander;  dazu  die 
schwierigsten  Künste :  Geschütze  gießen  und  bohren  und  Harnische 
anfertigen  wie  der  geschickteste  Augsburger  Waffenschmied. 
Und  damit  ist  das  Tugendregister  noch  lange  nicht  erschöpft. 
Die  edelste,  die  Grundtugend,  ist  der  kathohsch  gläubige  Sinn: 
Ȇberhaupt  bezeichnete  man  schon  damals  (so  lange  vor  Ferdi- 
nand n. !)  als  besondere  Eigenschaften  des  habsburgischen  Herrscher- 
hauses »Seelenruhe  und  Gott  vertrauen  beim  Mißgeschicke;  viel 
Not,  viel  Ehr'«. 

Eigentlich  hatte  der  herrliche  Mann  nur  einen  Fehler,  der 
aber  auch  wieder  fast  wie  ein  Überschäumen  seiner  offenen  und 


Jansscns  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  49 

glänzenden  Natur  erscheint:  das  war  neben  übermäßiger  Ver- 
schwendung sein  gutmütiges  Vertrauen  auf  die  Ehrlichkeit  und 
Vaterlandstreue  der  deutschen  Fürsten,  die  ihn  dafür  zum  ewigen 
Schaden  von  Reich  und  Nation  aufs  schändlichste  hintergingen. 
Vergebens  richtet  ^Maximilian  sein  unablässiges  Streben  darauf, 
die  deutsche  Volkskraft  auf  hohe  nationale  Ziele  zu  lenken,  durch 
große  kriegerische  Erfolge  das  Bewußtsein  der  Zusammengehörig- 
keit und  Einigkeit  aller  Deutschen  aufs  neue  zu  »erkräftigen«. 
Vergebens  ist  er  bemüht,  wirksamere  Organe  des  Rechtes  und  der 
\'erfassung  zu  schaffen.  Die  Einsichtigsten  und  Besten  der  Nation 
haben  keine  anderen  Ziele  als  der  König.  Alle  \'aterlandsfreunde 
sind  gleich  ihm  überzeugt,  daß  »nur  die  monarchische  Gewalt 
in  ihrem  früheren  Bestände  Recht  und  Frieden  sichern,  selbst 
aber  nur  durch  ruhmvolle  Betätigung  ihrer  Stellung  nach  außen 
sich  über  das  vielköpfige  Fürstentum  wieder  erheben  könne«. 
In  männlicher,  patriotischer  Sprache  mahnen  Männer  wie  Wimphe- 
ling,  Sebastian  Brant,  Nauclerus  und  Pirckheimer  an  die  Herr- 
lichkeit des  alten  Reiches  und  begrüßen  den  Kaiser  als  Wahrer 
der  deutschen  Einigkeit  und  als  Wiederbegründer  des  christlich- 
germanischen Reiches,  der  Weltherrschaft  im  Abend-  und  Morgen- 
lande. Die  Erblichkeit  des  Reiches  im  Hause  Habsburg  ist  ihr 
heißer  Wunsch,  und  kein  höheres  Streben  ist  ihnen  wie  ihrem 
König  eigen  als  der  Kampf  gegen  den  Unglauben,  den  Türken 
da  draußen  und  den  »falschen  Glauben  und  Schisma«  im  Innern. 
Es  ist  alles  vergebens.  Die  Reichsstände,  von  den  römischen 
Juristen  beraten,  haben  keinen  Sinn  für  die  Ehre  des  Reiches. 
Herzlos  sehen  sie  den  mörderischen  Einfällen  der  Türken  zu; 
sie  lassen  es  geschehen,  daß  Schlesien  und  IMähren  von  den  Böhmen 
losgerissen,  daß  Preußen  von  Polen  unablässig  bedrängt  wird, 
daß  Livland  an  den  ]\Ioskowiter  verloren  geht;  es  kümmert  sie 
nicht,  daß  die  Schweizer  den  Reichsverband  zersprengen  und 
offen  den  Gehorsam  aufkündigen,  mit  den  Franzosen  Soldverträge 
schließen,  daß  diese  den  »Schild  des  Reiches«,  Mailand,  rauben. 
Sie  selbst  lassen  sich  mit  Frankreich  auf  reichsverräterische  Um- 
triebe ein;  schon  droht  die  Gefahr,  daß  ihre  Sonderbündelei  das 
Elsaß    den    Rheingelüsten    des    Erbfeindes    ausliefere.     Alle   ihre 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  4 


50  Kleine  historische  Schriften. 

Gedanken  bei  der  Reformarbeit  gehen  nur  auf  Einengung  der 
monarchischen  Gewalt,  auf  Erhöhung  ihrer  eigensüchtigen  Macht- 
stellung: die  wenigen  Erfolge,  welche  der  Organisation  des  Reiches 
daraus  erwachsen,  das  Kammergericht,  den  ewigen  Landfrieden, 
verdankt  es  der  selbstlosen  Nachgiebigkeit,  dem  unermüdlichen 
Eifer  des  Königs.  Und  alle  diese  Arbeit  und  Hoffnung  —  das 
ist  schließlich  die  Summe  seines  Lebens  —  umsonst!  Die  Selbst- 
sucht hat  die  Pflichttreue  besiegt,  und  der  Herrscher,  der  nichts 
kennt  cds  die  Arbeit  für  Frieden  und  Recht,  Sicherheit  und  Kraft 
des  Reiches,  hat  das  tragische  Geschick,  für  die  allgemeine  Ver- 
wirrung selbst  verantwortlich  gemacht  zu  werden.  »Mir  ist  auf 
der  Welt  keine  Freude  mehr«,  ruft  er  aus,  »armes  deutsches  Land!« 

Schon  aber  ist  ihm  der  Erbe  erwachsen,  der  mit  dem  Ein- 
satz einer  weit  größeren  Macht  vielleicht  vollbringen  wird,  woran 
der  alte  Kaiser  verzweifelt. 

Nichts  anderes  als  der  Großvater  erkannte  Karl  V.  als  die 
Aufgabe  seines  Lebens:  »den  Frieden  unter  den  christlichen 
Völkern  aufrecht  zu  erhalten  und  den  Schutz  der  Christenheit 
gegen  die  immer  mächtiger  heranwachsende  Türkengefahr  zu  über- 
nehmen, womöglich  durch  Vertreibung  der  Türken  die  Weltherr- 
schaft des  Christentums  wieder  herzustellen«.  Keiner  konnte  fried- 
licher gesinnt  sein  als  der  junge  Monarch,  der  einer  unaufhör- 
lichen Kette  von  Kämpfen  entgegenging.  In  »Charakter  und 
Denkart«  war  er  allen  eroberungssüchtigen  und  gewalttätigen 
Plänen  fremd.  Nur  zur  Verteidigung  des  überkommenen  Erbes 
wollte  er  die  ihm  zu  Gebote  stehenden  Mittel  verwenden  und 
dankte  Gott,  daß  ihm  solche  Mittel  geworden.  Der  Schutz  und 
die  Erhaltung  des  Bestehenden  und  die  Abwehr  jeglichen  fremden 
Übergriffes  ist  der  Grundgedanke  seiner  ganzen  politischen  Tätig- 
keit; die  Ausführung  dieses  Gedankens  hat  ihn  in  die  vielen 
Kämpfe  und  Gefahren  seines  Lebens  verwickelt.  Zu  seinem 
Schutzgebiet  gehörte  seiner  kaiserlichen  Aufgabe  gemäß  die  Kirche, 
Dem  Eide,  den  er  dafür  am  23.  Oktober  1520  schwur,  »ist  er 
während  seines  ganzen  Lebens  treu  geblieben.  Er  faßte  im  vollen 
Sinne  des  Wortes  das  Kaisertum  noch  in  seiner  alten  Bedeutung 
auf,   wie   als   Grund-   und   Eckstein   alles   menschlichen   Rechtes 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  51 

auf  Erden,  so  als  Schirm vogt ei  der  christlichen  Kirche  und  ihres 
Oberhauptes«. 

Also  Wiederkehr  des  politischen  Ideals,  welches  die  Glanz- 
zeit der  »Kirche«  verwirklicht  gesehen  hat,  und  alles,  was  uns 
vom  Tun  und  Lassen  Karls  V.  erzählt  wird,  nur  Modulation  des 
einen  Themas.  Es  ist  wahr,  der  Kaiser  bleibt  seiner  hohen  Auf- 
gabe nicht  immer  treu,  und  selbst  die  Päpste  werden  zeitweise 
durch  äußeren  Zwang  oder  gar  eigensüchtige  Bestrebungen  ab- 
gelenkt. Das  sind  dann  immer  die  Epochen,  in  denen  Türken 
und  Ketzer  ihre  zerstörenden  Angriffe  auf  das  göttliche  Weltsystem 
machen.  Aber  im  ganzen  bleiben  doch  beide  Gewalten  in  den 
Bahnen  der  gegenseitigen  Liebe  und  väterlicher  Sorge  um  das 
Wohl  der  Christenheit. 

Und  so  wäre  ge^^iß  Großes  erreicht,  jene  Hoffnung  auf  Wieder- 
herstellung der  mittelalterlichen  Kraft  und  Heiligkeit  erfüllt 
worden,  wenn  nun  nicht  alle  Dämonen  der  Zerstörung  gegen 
das  unglückliche  deutsche  Volk  durch  den  ^^'ittenberger  Mönch 
entfesselt  wären. 

Hat  Janssen  bei  Kaiser  Max  gezeigt,  wie  glänzende  Farben 
ihm  für  seine  Lieblingsgestalten  zu  Gebote  stehen,  so  tritt  uns 
bei  Martin  Luther  der  strafende  Ernst  seiner  historischen  Muse 
entgegen. 

Schon  auf  der  Herkunft  des  Mannes,  der  den  Ruin  unseres 
Volkes  verschuldet  hat,  ruht  ein  dunkler  Makel:  er  war  der  Sohn 
eines  Totschlägers.  Aus  der  furchtbar  harten  Erziehung  durch 
seine  jähzornigen  Eltern  ging  Luther  mit  einer  gedrückten,  ängst- 
lichen Gemütsstimmung  hervor;  niemals  wußte  er  von  freudigem 
Gehorsam.  Der  natürliche  Rückschlag  erfolgte  schon  auf  der 
Schule  in  Eisenach,  wo  er  das  Leben  von  anderer  Seite  kennen 
lernte,  bei  einer  jungen  adeligen  Dame,  die  ihn  in  ihr  Haus  auf- 
nahm und  ihn  bei  Lauten-  und  Flötenspiel  den  Ausspruch  hören 
ließ:  »es  gibt  kein  lieber  Ding  auf  Erden  denn  Frauenliebe,  wem 
sie  kann  zu  Teil  werden«.  Nach  solcher  Vorbildung  an  der  Wir- 
kungsstätte des  seligen  Tannhäuser  ahnen  wir  leicht,  wie  der 
Student  es  auf  der  Erfurter  hohen  Schule  bei  Musik,  Ritterspiel 
und  Saujagd  weiter  getrieben  hat;  die  heidnischen  Schriftsteller 

4* 


f)2  Kleine  historische  Schriften. 

wurden  da  die  Bildner  seines  Leben?.  Hin-  und  hergeworfen 
zwischen  Sinnenlust  und  Gewissensängsten  findet  er  in  einem 
Moment  plötzlicher  Verzweiflung  den  Weg  in  das  Kloster. 
Aber  immer  ohne  Demut  und  Hoffnung,  und  ohne  die  Grund- 
tugend des  Mönches,  den  Gehorsam,  ein  überspannter  Skrupu- 
lant,  kann  er  natürlich  den  Frieden  nicht  finden,  den  ihm  in 
den  heiligen  Mauern  die  Kirche  bietet.  Und  so  führen  ihn  seine 
innere  Zerrissenheit  und  Gewissensfolter  zu  dem  entgegenge- 
setzten Extrem,  zu  der  entsetzlichen  Lehre  ^•on  der  völligen  Ver- 
derbtheit des  Menschen,  der  gänzlichen  Knechtschaft  des  Willens, 
der  Rechtfertigung  ohne  eigenes  Zutun,  allein  durch  den  Glauben. 
Darin  ist  er  aber  nicht  einmal  original.  Es  sind  nur  die  alten, 
von  der  Kirche  längst  zerbrochenen  Waffen  eines  Wiclif  und 
Hus,  die  auch  er  wieder  aufnimmt:  jenen  Irrlehrern  folgt  er, 
wenn  er  nun  zum  Angriff  schreitet  auf  die  Siebenzahl  der  Sakra- 
mente, auf  die  Priesterweihe,  auf  alle  gottesdienstlichen  Ord- 
nungen, und  zu  der  brutalen  Lästerung,  in  dem  Nachfolger  Christi 
auf  Erden  den  Antichrist  zu  sehen.  Schon  aber  stehen  die  Ge- 
nossen seines  Tuns  bereit:  die  nach  den  sinnlichen  Freuden 
lüsternen  Mönche  und  Pfaffen,  die  nach  dem  Kirchengut  wett- 
feiernd gierigen  Stände  und  ihre  reichsverräterische  Selbstsucht, 
die  revolutionäre  Begehrlichkeit  der  doch  so  gut  situierten  Bauern- 
schaften und  Zünfte,  alle,  welche  die  sanften  Segensfesseln  der 
Kirche  und  des  Kaisertums  zersprengen  wollen,  an  ihrer  Spitze 
eine  geschlossene  Revolutionspartei,  die  höhnenden  Spötter  auf 
alles,  was  Kirche  und  Glauben  heißt,  unter  Führerschaft  des 
physisch  und  moralisch  gänzlich  verkommenen  Ulrich  von  Hütten. 
Mit  diesem  Menschen,  der  durch  den  Arm  seines  ihm  ähnlichen 
Ziszka-Sikkingen  mit  Feuer  und  Schwert  das  ganze  Reich  von 
oben  zu  unterst  kehren  will,  in  enger  Kameradschaft  beginnt  der 
Mönch  den  Aufruhr.  Jede  Waffe  ist  ihm  da  recht.  Er  scheut 
sich  nicht  vor  Mord,  Brand,  Gelübdebruch  und  Verrat.  Zur 
Hintergehung  und  zum  Verderben  des  Papsttums,  schreibt  er, 
sei  alles  erlaubt.  Die  zartesten  Empfindungen  zieht  er  in  den 
Schmutz;  die  Ehe  wird  ihm  eine  Anstalt  zur  Befriedigung  ge- 
meiner   Sinnlichkeit.      Von   einer   Reform   der   unleugbaren    Ge- 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  53 

brechen  des  geistlichen  Standes  will  er  nichts  hören.  Alles  soll 
mit  der  Wurzel  ausgetilgt  werden.  Die  Folge  ist  Aufwiegelung 
des  Volkes  bis  in  seine  tiefsten  Schichten.  Mit  der  Kirche  zer- 
fallen die  Studien,  die  unter  ihrer  Pflege  so  herrlich  gediehen 
waren,  aller  Unterricht  vergeht,  von  den  Universitäten,  welche 
Luther  als  Mördergruben,  als  Molochtempel,  als  Synagogen  des 
Verderbens,  wert,  daß  man  sie  alle  zu  Pulver  mache,  verruft, 
bis  zu  den  Volksschulen  herab,  ungezählte  Kirchen  und  Klöster 
mit  dem  \vundervollen  Schmuck  ihrer  Kanzeln  und  Altäre  fallen 
der  Plünderungswut  zum  Opfer,  alles  »charitative  Leben«  macht 
schrankenloser  Selbstsucht  Platz:  es  ist  das  wüsteste  Aufschäumen 
der  von  der  Kultur  der  Kirche  in  die  Tiefe  gebannten  Barbarei. 
Entsetzt  sieht  Luther  allmählich  ein,  welche  Geister  er  entfesselt 
hat,  welche  Gedanken  sich  in  den  konsequenteren  Anhängern 
seiner  Lehren  entwickeln:  Leugnung  aller  Sakramente,  der  Gott- 
heit Christi,  Gottes  selbst,  eine  wahnwitzige  Inspirationstheorie, 
nihilistische  Raserei  gegen  alle  staatliche  Ordnung,  Kommunis- 
mus bis  zu  den  zügellosesten  Orgien  der  Weibergemeinschaft. 
Wohl  regt  sich  ihm  nun  die  Reue  über  das  gräßliche  Aufgehen 
seiner  Saat  —  bis  zu  Selbstmordgedanken  und  gänzlichem  Auf- 
geben seiner  selbst.  Er  bemerkt,  daß  der  Beifall,  den  er  anfangs 
gefunden,  sich  überall  in  Gleichgültigkeit  oder  gar  Abneigung 
und  Haß  gegen  ihn  verkehrt  habe.  Er  selbst  glaubt  nicht  mehr 
an  das,  was  er  andern  predigt.  Aber  er  vermag  sich  nicht  mehr 
aus  den  trüben  Fluten  der  Verzweiflung  und  Gotteslästerung 
herauszureißen,  sondern  wühlt  sich  nur  immer  tiefer  hinein.  Es 
bildet  sich  in  ihm  eine  krankhafte  Furcht  vor  Verfolgung  und 
Meuchelmord  bis  zur  förmlichen  Monomanie  aus.  Um  sich  vor 
den  Qualen  des  Schuldbewußtseins  zu  retten,  denkt  er  wohl  (und 
wagt  es,  seinen  Anhängern  das  gleiche  zu  raten)  an  die  Freuden 
der  Sinnenlust,  ein  »schönes  Mädchen,  Geiz  oder  einen  Rausch«, 
oder  er  schilt  in  Entsetzen  erregender  Weise,  so  daß  die  humansten 
Gegner,  seine  einstigen  Freunde,  ihn  für  besessen  halten.  Er  kann 
nicht  mehr  beten,  ohne  zu  fluchen.  Voll  Fluchens  und  Verzweif- 
lung sind  seine  letzten  Lebenstage.  So  tritt  er,  körperlich  und 
geistig  erschöpft,  vor  den  ewigen  Richter. 


54  Kleine  historische  Schriften. 

Der  Bauernkrieg  bringt  die  anarchische  Wut  auf  ihre  Höhe: 
er  ist  zugleich  der  Wendepunkt  in  Luthers  Haltung.  So  lange 
die  Wage  zwischen  der  Revolution  und  den  Obrigkeiten  noch 
schwankte,  verteilte  auch  er  seinen  Zorn  auf  beide  Parteien, 
redete  die  Bauern  mit  »Herren  und  liebe  Brüder«  an  und  schalt 
die  Hartherzigkeit  der  Fürsten.  Nachdem  diese  aber  einmal  ge- 
siegt, tat  es  ihm  niemand  gleich  an  gräßlicher  Erbarmungslosigkeit 
gegen  die  unglücklichen  Verführten.  Denn  nun  sah  er,  daß  nur 
die  Auslieferung  seines  Werkes  an  die  Territorialherren  einen 
Halt  auf  der  schiefen  Ebene  geben  könne.  So  führte  die  Knecht- 
schaft des  Willens  zur  Knechtschaft  der  Kirche.  Die  Fürsten 
und  Stadtherren  wurden  als  Landesgötter  angebetet,  und  die 
Revolutionäre  die  ärgsten  Reaktionäre,  Feinde  der  Gewissens- 
freiheit, heuchlerische  Anbeter  des  Cäsaropapismus,  Lobredner 
der  Leibeigenschaft  und  des  vsillenlos  passiven   Gehorsams. 

Umsonst  waren  alle  bis  an  die  äußerste  Grenze  der  Tole- 
ranz gehenden  Gnadeerbietungen  und  Friedensversuche  des  Kaisers 
und  der  Kurie:  nur  immer  trotziger  wurden  die  Stände,  immer 
starrer  die  Ausbildung  ihres  Landeskirchentumes,  immer  größer 
die  Zerstörung.  Niemals  gab  es  friedfertigere  Gesinnungen  als 
damals  am  kaiserhchen  und  päpstlichen  Hof,  und  niemals  eine 
offensivere  Politik  als  die  der  evangelischen  Insurrektion.  Und 
da  nun  die  katholischen  Stände  teils  kaiserfeindlich,  teils  ohn- 
mächtig und  zaghaft,  teils  sogar  Verräter  am  Glauben  waren, 
da  die  Türken  und  Franzosen  im  Bunde  mit  den  Kirchenfeinden 
immer  furchtbarer  drängten,  so  kam  es  endlich  dahin,  daß  Kaiser 
und  Papst  sich  mit  den  Waffen  zum  Schutz  der  Religion  aufstellten, 
nicht  früher  aber  als  nachdem  die  Protestanten  den  Krieg  be- 
gonnen hatten.  Der  Kreuzzug  warf  die  Empörten  nieder  und  brachte 
den  Kaiser  auf  die  Höhe  der  Macht.  Deutschland  und  die  Kirche 
waren  gerettet.  Da  mißbrauchte  Karl  durch  autokratische  Er- 
hebung über  den  unfehlbaren  Herren  der  Kirche  seine  Gewalt  und 
den  herrlichen  Sieg.  Er  hörte  nicht  auf  die  väterlichen  Ermah- 
nungen des  Papstes,  auf  die  Warnungen  der  braven  Jesuiten,  bis  er 
einsehen  mußte,  daß  seine  Konzilspolitik  und  Interimsreligion 
nichts  als  Widerspruch  erregte  und  die  Revolution  in  greuelvollerer 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  55 

Form  als  jemals  früher  erweckte.  Und  so  war  das  Ende  der  großen 
Bewegung  der  Triumph  der  dämonischen  Gewalten,  die  Zertrüm- 
merung der  Kirche  und  des  Reiches,  die  materielle  und  geistige 
Verödung,  und  der  »Friede«,  den  die  »Religion«  schließlich  fand, 
eine  neue  Quelle  unsäglichen  Jammers. 

Nach  der  Skizze,  die  oben  zur  Beleuchtung  der  Janssenschen 
Vorstellungen  über  das  Mittelalter  einen  Platz  fand,  wird  es  dem 
Referenten  wohl  erlassen  werden,  die  Tatsachen,  welche  die  eben 
angeführten  Schmähungen  und  Absurdidäten  berichtigen  könnten, 
zu  repetieren.  Bei  der  Ausführlichkeit,  mit  der  Janssen  in  diesen 
Abschnitten  sein  Thema  variiert,  würden  wir  uns  zu  sehr  auf 
die  Einzelheiten,  von  denen  abgesehen  werden  soll,  einlassen 
müssen.  Auch  darf  ich  hier  auf  die  zahlreichen  Widerlegungen 
venveisen,  welche  die  früheren  Kritiker  gegeben  haben.  Nur 
einige  Grundzüge,  die  allen  jenen  Verdrehungen  gemeinsam  und 
für  den  Verfasser  besonders  charakteristisch  sind,  mögen  noch 
ihre  Besprechung  finden. 

Schon  anderswo  ist  bemerkt,  daß  Janssen  sich  seine  Auf- 
gabe unnötig  erschwert  habe,  indem  er  sich  für  gewisse  Ideen 
erwärmt,  die  seiner  Grundanschauung  gar  nicht  nötig  sind  und 
eigentlich  sie  nur  stören  können  ^).  Dahin  gehört  vor  allem  sein 
Nationalgefühl.  Er  ist  ein  so  schwärmerischer  Patriot,  daß  er 
mit  den  deutschen  Ansprüchen  weit  über  unsere  Grenzen  hinaus- 
schweift: Mailand  ist  altes  deutsches  Gut,  dessen  Verlust  nimmer 
genug  zu  beklagen  ist;  Böhmen  und  Ungarn,  die  Niederlande, 
die  Schweiz  und  Burgund  sind  vor  Janssens  Annexionslust  nicht 
sicher.  Und  dieser  Chauvinismus  ist  um  so  auffallender  als  er 
nicht  Worte  der  Entrüstung  genug  finden  kann,  um  die  fran- 
zösischen Rheingelüste  zu  brandmarken.  Freilich  müssen  wir 
im  Auge  halten,  daß  die  deutsche  Hegemonie  das  nationale  Leben 
der  unterworfenen  Nachbarn  nicht  stören  soll;  nur  daß  sie  selbst 
nicht  die  Bestimmung  darüber  haben:  so  wie  es  in  Janssens 
jüngeren  Jahren  unter  der  Herrschaft  seines  Doppeladlers  in 
Italien  der  Fall  war.    Immerhin  mußte  ihn  dieser  nationale  Ehr- 


^)  In  dem  genannten  Artikel  der  Politischen  Wochenschrift. 


56  Kleine  historische  Schriften. 

geiz,  wie  geschickt  er  auch  meist  die  selbstgeschaffene  KHppe 
vermieden  hat,  mehrfach  in  die  Lage  bringen,  die  päpsthche  Pohtik 
zu  tadehi,  wo  er  sie  sehr  viel  leichter  und  rechtmäßiger  aus  ihren 
universalen  Aufgaben  hätte  erklären  können,  vor  denen  die  natio- 
nalen Differenzen  verschwinden  müssen. 

Während  er  aber  den  fremden  Nationen  die  politische  Ein- 
heit mißgönnt,  ist  er  ein  glühender  Verehrer  der  deutschen  unter 
Habsburgs  Führung.  Allerdings  mit  der  Reserve,  daß  die  Stam- 
meseigentümlichkeiten gewahrt  bleiben.  Aber  das  ist  ein  poli- 
tisch und  historisch  so  undefinierbarer  Ausdruck  (man  müßte 
denn  in  das  9.  und  10.  Jahrhundert  zurückgehen),  daß  Janssen 
diesen  Standpunkt  ohne  allzu  auffallende  Wendungen  behaupten 
kann.  Lebten  wir  zur  Zeit  des  Dreißigjährigen  Krieges,  so  würden 
wir  ihn  im  Lager  Ferdinands  IL  und  als  Gegner  der  katholischen 
Liga  sehen.  Auch  in  der  Reformationszeit  ist  ihm  nichts  wider- 
wärtiger als  die  bayerische  Politik  und  deren  diplomatischer  Re- 
präsentant Leonhard  v.  Eck,  obschon  er  ihren  dogmatischen 
Interpreten  Dr.  Johann  Eck  als  Vorkämpfer  der  christlich-ger- 
manischen Herrlichkeit  verehrt.  Diese  Haltung  bringt  ihn  von 
neuem  in  Konflikt  mit  den  römischen  Interessen;  denn  so  wenig 
abzuleugnen  ist,  daß  Bayern  unter  allen  deutschen  Ständen  am 
einseitigsten  die  »Libertätspolitik«  vertrat,  am  wenigsten  die 
magyarisch-türkische  und  die  französische  Freundschaft  ver- 
schmähte, ebenso  liegt  es  am  Tage,  daß  KlemensVII.  und  Paul  III. 
mit  dem  München-Landshuter  Hof  regelmäßig  viel  freundlicher 
verkehrten  als  mit  dem  des  Kaisers  und  ihm  dann  immer  am 
nächsten  standen,  wenn  die  Herzoge  und  ihr  durchtriebener  Mi- 
nister mit  dem  Woyda  und  König  Franz,  ja  selbst  mit  dem  Land- 
grafen von  Hessen  ihre  eifrigsten  »Praktiken«  trieben. 

Möchte  sich  Janssen  doch  einmal  den  Effekt  ^•orstellen,  wenn 
seine  Gesinnungsgenossen  in  Italien,  Frankreich,  Spanien,  Polen 
und  Ungarn  die  Geschichte  ihrer  Nationen  ebenfalls  in  dieser 
Verbindung  römisch-katholischen  und  patriotisch  -  chauvinistischen 
Hochgefühls  schreiben  wollten.  \Me  oft  würden  sie  da  gegen  die 
Übergriffe  der  Deutschen  protestieren  müssen,  welche  er  zu  den 
höchsten  kirclilichen  und  nationalen  Triumphen  rechnet!    Sie  alle 


Janssens  Gcscliichte  des  deutschen  Volkes.  57 

würden  Gelegenheit  finden,  die  römische  Pohtik  tadelnd  zu  kriti- 
sieren, und  ihre  Vorwürfe,  sonst  wirr  durcheinander  tönend,  würden 
dann  am  einhelligsten  und  lautesten  sein,  wenn  ihr  deutscher  Ge- 
sinnungsgenosse die  Weltstellung  unserer  Nation  in  ihrem  Segen 
für  die  Kirche  am  höchsten  erhöbe.  Ohne  Frage  aber  würden  sie 
alle  kirchlich  nicht  bloß,  sondern  auch  historisch  korrekter  handeln, 
wenn  sie  die  patriotischen  \'elleitäten  über  Bord  werfen  und,  los- 
gelöst von  allem  nationalen  Empfinden,  die  Politik  des  römischen 
Stuhles  von  Rom  aus  beurteilen  wollten.  Denn  keine  These  wird 
von  der  historischen  Wissenschaft  einmütiger  beantwortet,  als  daß 
die  ]\Ionarchie,  welche  vom  Vatikan  aus  gelenkt  wird,  unter  allen 
sich  der  längsten  Dauer,  der  straffsten  Einheit  und  Konsequenz, 
der  schärfsten  Einsicht  in  ihre  Lebensbedingungen  rühmen  darf. 
Das  Reformationszeitalter  gilt  als  die  Epoche,  wo  die  Päpste 
den  pontifikalen  Zielen  am  wenigsten  treu  geblieben  sind.  Und 
gewiß  wird  auch  die  innigste  Verehrung  für  das  römische  Gottes- 
reich die  Flecken  nicht  tilgen  können,  welche  die  heillose  Nepoten- 
wirtschaft  von  dem  ersten  Borgia-Papst  bis  zu  Paul  IV.  Caraffa 
dem  Andenken  des  Papsttums  gebracht  haben.  Aber  so  wenig 
sich  leugnen  läßt,  daß  die  Begehrlichkeiten  nach  kirchlichem  und 
fremden  und  auch  nach  »Reichsgut«,  wie  dem  Herzogtum  Mailand, 
die  päpstliche  Politik  zum  Schaden  ihrer  oberpriesterlichen  Auf- 
gaben schwer  beeinträchtigt  haben,  gehen  diese  Anklagen  häufig 
doch  wohl  weiter  als  die  objektive  Auffassung  zulässig  macht. 
Regierten  die  Päpste  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  wie  italie- 
nische Dynasten,  so  hatte  das  Exil  von  Avignon  und  das  Schisma 
gezeigt ,  was  bei  dem  Gegenteil  herauskam.  Die  territoriale 
Politik  war  seit  Martin  V.  für  Rom  eine  Notwendigkeit  gewor- 
den, weit  mehr  als  sie  es  in  unserem  Jahrhundert  gewesen  ist, 
wo  das  Papsttum  durch  die  Lösung  seiner  Kirchen  von  staat- 
licher Selbständigkeit  seine  W^urzeln  in  die  Staaten  selbst  tief 
hineingetrieben  und  einen  unermeßlichen  Zuwachs  an  konzen- 
trierter Kraft  gewonnen  hat.  Selbst  Klemens'  VIL  schwankende 
Haltung  würden  wir  wahrscheinlich  gerechter  als  Janssen  be- 
urteilen können,  wenn  sie,  wie  wir  hoffen  dürfen,  ihre  Beleuchtung 
vom  römischen  Standpunkt  erhalten  haben  wird. 


58  Kleine  historische  Schriften. 

Freilich  ist  die  Kontinuität  der  päpstlichen  Politik  für  die 
Wissenschaft  nicht  eben  diejenige,  welche  ihr  die  offizielle  römische 
Auffassung  zuschreiben  muß.  Daß  die  Geschichte  der  Päpste  nicht 
historisch  bedingt  sei,  aus  dem  Kausalzusammenhang,  ohne  den 
für  uns  keine  Forschung  denkbar  ist,  und  den  sie  doch  wieder 
auf  allen  Gebieten  reguliere,  herausfalle,  \\ird  auch  die  kuriale 
Auffassung  bleiben,  und  alle  aufklärenden  Ergebnisse  über  die 
Divergenz  zwischen  dieser  Theorie  und  der  Wirklichkeit  müssen 
daher  auch  gegen  diesen  Standpunkt  gerichtet  sein.  Aber  jenem 
wüsten  Durcheinander  patriotischer  und  römischer  Vorstellungen 
begegnen  N\ir  nicht  mehr,  wenn  wir  von  dem  begrenzten  Horizont 
des  deutschen  Zentrums  hinweg  uns  unmittelbar  Rom  gegen- 
überstellen. Alles  gestaltet  sich  fortan  weit  einfacher.  Die  Folge- 
richtigkeit der  römischen  Politik  können  wir  viel  unbefangener 
anerkennen;  für  weite  Strecken  der  Geschichte  werden  wir  den 
pontifikalen  Älachtbesitz  und  sogar  seine  Übereinstimmung  mit  den 
allgemeinen  Idealen  dieser  Epoche  zugeben.  Vielfach  wird  die 
Differenz  nur  darauf  hinauslaufen,  daß  wir  den  Gegnern  Roms 
eine  tiefere  geistige  Erfassung  derselben  oder  verwandter  religiöser 
und  politisch-nationaler  Probleme  zuerkennen  müssen. 

Auch  mit  Janssen  wird  aber  bis  zu  gewissen  Grenzen  immer 
noch  eine  Art  Auseinandersetzung  möglich  sein,  wenn  wir  uns 
über  die  Deutung  seiner  Wendungen  und  Vorstellungen  ver- 
ständigen. 

Er  hat  gar  nicht  so  unrecht,  wenn  er  von  Karl  V.  sagt,  daß 
ihm  als  Lebensziel  nichts  anderes  als  Friede  in  der  Christenheit 
imd  Kampf  der  geeinigten  gegen  den  türkischen  Erbfeind  bis 
zur  Wiederherstellung  des  Abendlandes  in  dem  weitesten  Um- 
fange der  staufischen  Periode  vorgeschwebt  habe.  Und  dieser 
Behauptung  wird  an  Wahrheit  nichts  abgezogen  werden,  wenn 
wir  hinzufügen,  daß  sie  an  Trivialität  ihresgleichen  sucht.  Den 
»Frieden  der  Christenheit«  betonte  der  Kaiser  in  den  Verträgen 
von  Cambray  und  Crespy,  wie  in  denen  von  Barcelona  und  Aigues- 
mortes ;  als  er  die  Protestanten  mit  Religionsvergleich  und  National- 
konzil zum  Kampf  gegen  Frankreich  köderte,  und  als  er,  um 
sie  niederzuschlagen,   mit   den   Türken    Stillstand  und  mit   dem 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  59 

Papst  den  Waffenbund  schloß;  das  Edikt  von  Worms  und  das 
Ausschreiben  zum  Augsburger  Reichstag,  die  Regensburger 
Konkordatsverhandlungen  und  die  Kriegserklärung  gegen  die 
Schmalkaldener  atmen  denselben  Geist  des  »Friedens  in  der 
Christenheit«,  wie  Karl  ihn  verstand.  Und  aufs  innigste  ver- 
band sich  ihm  damit  der  Gedanke  an  die  Kreuzfahrt  gegen  den 
Islam.  Konstantinopel  und  Jerusalem  erobern,  die  christlichen 
Kronen  des  Orients  sich  auf  das  Haupt  drücken  lassen,  die  alte 
Welt  wie  die  neue  beherrschend  zu  vereinigen  —  es  war  der 
höchste  Traum  seines  Lebens.  Das  war  sein  erster  Gedanke, 
als  ihm  der  Kurier  die  Nachricht  von  Pavia  brachte:  »Ich  will, 
so  viel  mir  möglich,  Diligenz  haben,  daß  in  der  Christenheit  ein 
gemeiner  Friede  werden  möge,  und  daß  ich  dem  Könige  von 
Polen,  meinem  Bruder,  und  anderen  wider  die  Ungläubigen 
möge  Hilfe  tun:  ich  bedenke  auch  nichts  anderes  denn  das  i).« 
Wie  mag  dem  jungen  Herrscher  das  Herz  geschlagen  haben,  wenn 
er,  noch  inmitten  der  spanischen  Empörung,  mit  seinem  Beicht- 
vater in  dem  Königszimmer  von  Toledo  auf-  und  niederging, 
»von  einer  Ecke  in  die  andere«,  und  der  Prophezeiungen  gedachte, 
welche  in  aller  Welt,  bei  Mohren  und  Christen  laut  waren  von 
dem  Kaiser,  der  die  Ungläubigen  besiegen  und  die  Monarchie 
gewinnen  würde!  Selbst  Papst  Klemens  bekannte  sich  einmal 
vor  Loaysa  zu  dem  Glauben,  daß  Karl  dieser  Kaiser  sein  werde: 
»Nun,  ich  will  Euch  sagen,  vor  zwei  Tagen  las  ich  eine  Prophe- 
zeiung, die  im  Jahre  80  geschrieben  war  und  buchstäbhch  er- 
zählt, was  vorgegangen  ist,  und  angibt,  es  werde  der  König  von 
Frankreich  wiederum  sterben  oder  gefangen  werden,  und  der 
Kaiser,  der  König  von  Spanien,  werde  mit  diesem  Hause  des 
Türken  ein  Ende  machen  und  ihn  in  einer  Schlacht  besiegen; 
ich  werde  Euch  diese  Schrift  senden,  damit  Ihr  selber  sie  sehet.« 
»Heihger  Vater«,  entgegnete  freudestrahlend  der  Kardinal,  »haltet 
für  gewiß,  daß,  wenn  die  kaiserliche  Majestät  diese  Monarchie 
hat,  Eure  Heiligkeit  wahrer  und  unumschränkter  Herr  der  Welt 
sein  und  Euren  Befehlen  von  allen  gehorcht  werden  wird.«  Wor- 
auf Klemens,  gleich  als  wäre  er  ganz  außer  sich,  die  Hände  zum 
^)   Janssen  3,  3. 


60  Kleine  historische  Schriften. 

Himmel  erhoben:  »gebe  Gott,  daß  der  Kaiser  Alleinherrscher 
Nvürde;  ich  schwöre  zweimal  zu  Gott,  wenn  es  für  seine  Mon- 
archie nötig  wäre,  daß  ich  der  Papstwürde  entsagte,  ich  würde 
es  mit  der  größten  Bereitwilligkeit  tun  ^).« 

Die  Frage  wird  überall  nur  sein,  wie  wir  im  Sinne  Karls  den 
»Frieden  in  der  Christenheit«,  die  »Einheit  der  Kirche«,  den  »Kampf 
gegen  die  Ungläubigen«  aufzufassen  haben. 

Daß  ihm  kaum  etwas  so  am  Herzen  gelegen  hat  als  der  Kampf 
gegen  den  Halbmond,  ist  eine  nicht  abzuleugnende  Wahrheit. 
Gelang  es,  die  Sturmangriffe  des  Islams  abzuschlagen,  so  waren 
die  Grundbedingungen  des  »Friedens  in  der  Christenheit«  ge- 
geben. Dann  war  Frankreich  gefesselt;  niemals  hätte  Franz  I. 
an  Neapel  und  Mailand  denken  können.  Auch  die  Niederlande 
waren  dann  gesichert  und  die  Aussicht  vermehrt,  den  Norden 
ihren  Interessen  dienstbar  zu  machen;  das  burgundische  Erbe 
wäre  leicht  zu  erringen  gewesen;  und  hätten  die  deutschen  Fürsten 
es  jemals  wagen  dürfen,  sich  der  Umklammerung  durch  die  habs- 
burgische  ]\Iacht  zu  entziehen  ? 

Ganz  richtig  auch,  daß  Karl  überall  private  Rechte  geltend 
machte:  Dänemark  mit  den  skandinavischen  Reichen,  Geldern, 
Burgund  und  Mailand,  Neapel,  Aragon  und  Kastilien,  alle  seine 
Besitztitel  gründete  er  auf  das  Blut,  das  in  seinen  Adern  floß. 
Sogar  das  ist  nicht  unbekannt,  daß  er  von  der  Vorstellung  dieser 
persönlichen  Rechte  aufs  lebhafteste  durchdrungen  war.  Wie 
oft  appelliert  er  daran  in  seinen  Briefen!  Im  Zweikampf  will 
er  den  großen  W^eltkampf  mit  dem  französischen  Rivalen  in  einer 
Stunde  beendigen. 

Nur  diesen  persönlichen  Standpunkt  nimmt  auch  Janssen 
ein,  wenn  er  \'on  der  friedfertigen,  konser\ati\en  Politik  des 
Kaisers  spricht,  von  seiner  Abneigung  gegen  alle  Gewalttaten 
und  Eroberungen  innerhalb  der  Christenheit,  von  seinem  festen 


^)  Loaysa  an  Karl  V.,  30.  November  1531,  bei  Heine  S.  197  (468). 
»Glaube  Ew.  Majestät,«  fügt  der  Beichtvater  hinzu,  »daß  man  etwas  darauf 
geben  kann,  denn  bei  keinem  Anlaß  sah  ich  jemals  den  Papst  so  viele 
Schwüre  tun.  A  lo  menos  paresce  claro  que  tiene  perdida  toda  mala  vo- 
Ixintad  con  vuestra  imperial  persona.« 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  61 

Willen,  »nur  zur  Verteidigung  des  ihm  überkommenen  Erbes 
die  ihm  zu  Gebote  stehenden  Mittel  zu  verwenden«.  Weil  Karl  V. 
der  Enkel  Maximilians  und  der  burgundischen  Maria,  Ferdi- 
nands und  Isabellens  war,  weil  sein  Schwager  von  Ungarn  und 
seine  Schwägerin  \-on  Österreich  die  Erben  Wladislaws  waren, 
weil  seine  Schwester  die  Krone  Dänemarks,  an  der  die  skandi- 
navischen hingen,  getragen  hatte,  gibt  ihm  Janssen  die  freie  Ver- 
fügung über  die  Geschicke  fast  des  ganzen  Europas. 

Damit  treffen  wir  auf  die  Grundnaivetät  des  Buches,  aus 
der  sich  die  meisten  anderen  ableiten  lassen,  auf  den  Punkt,  von 
dem  aus  wir  am  allerbesten  seine  Konstruktionen  aus  ihren  Fugen 
heben  können.  Diesen  gewaltigen  Ringkampf  der  in  ihren  Tiefen 
aufgewühlten  Nationen  Europas  faßt  der  ultramontane  Historiker 
unter  dem  Gesichtspunkt  des  Erbstreites  einiger  Familien  über 
private  Rechtsobjekte,  und  wie  der  Richter  im  Prozeß  entscheidet 
er  über  Recht  und  Unrecht  ihrer  Ansprüche. 

Die  sieben  Kurfürsten  haben  den  rechtmäßigen  Besitzer  aller 
jener  Titel  zum  römischen  Kaiser  deutscher  Nation  gewählt,  folg- 
lich sind  alle  Deutschen  bei  ihrer  Seelen  Seligkeit  verpflichtet, 
für  die  Politik,  welche  ihm  ihre  Vertretung  auflegt,  Gut  und 
Blut  darzustrecken.  Sie  sind  Reichsverräter,  sobald  sie  sich 
weigern,  gegen  die  Türken  und  Magyaren  zu  kämpfen,  in  Frank- 
reich einzubrechen  oder  die  Kronen  Karls  in  Italien  zu  sichern. 
Ob  das  der  Nation  zugute  komme  oder  den  Pflichten,  welche  die 
Stände  in  ihren  besonderen  Wirkungskreisen  zu  erfüllen  haben, 
oder  nur  den  Interessen,  die  ihnen  ihre  eigene  Stellung,  persön- 
licher Wille  und  Ehrgeiz  vorschreiben,  kann  bei  Janssen  über- 
haupt nicht  in  Frage  kommen.  Denn  die  höchste  religiös-moralische 
Leistung,  die  Kreuzfahrt  und  der  Gehorsam  gegen  Kaiser  und 
Papst,  ist  im  Einklang  mit  den  höchsten  nationalen  Interessen, 
Aus  demselben  Idealbegriff  muß  aber  auch  die  Stellung  der  üb- 
rigen Mächte,  soweit  sie  christlich  heißen  wollen,  beurteilt  wer- 
den; und  so  handeln  denn  Franz  I.,  die  Venetianer,  die  Ma- 
gyaren, die  Bayern,  die  Protestanten  aus  schmählicher  Selbstsucht, 
wenn  sie  den  Kaiser  im  Glaubenskriege  verlassen  oder  angreifen; 
sie  verraten  die  Christenheit  und  treten  alle  —  nur  der  Papst 


ß2  Kleine  historische  Schriften. 

nicht,  wenn  er  es  gleich  mit  ihnen  hält  —  den  Osmanen  als  die 
»christlichen  Türken«  zur  Seite.  Selbst  falls  Karl  V.,  ohne  durch 
die  Erbschaften  dazu  berechtigt  zu  sein,  Vorkämpfer  der  Christen- 
heit gegen  die  Ungläubigen  geworden  wäre,  würde  es  die  allseitige 
Pflicht  der  Gläubigen  gewesen  sein,  das  heroische  Unternehmen  zu 
unterstützen.  Um  wie  viel  mehr,  da  er  nach  Gottes  wundervollem 
Ratschluß  durch  die  gerechtesten  Ansprüche  dazu  berufen  ist! 
Und  in  der  Tat,  es  ist  eine  der  wunderbarsten  Fügungen, 
welche  die  Geschichte  kennt,  daß  sich  in  diesem  Hause,  welches 
nach  einer  Epoche  kurzen  Glanzes  weit  abseits  von  dem  Mittel- 
punkt der  allgemeinen  Entwickelung  gestanden  hatte,  in  wenigen 
Jahrzehnten  eine  so  blendende  Machtfülle  zusammenhäufen  konnte. 
Als  Enkel  Isabellens  und  Ferdinands  hatte  Karl  V.  die  Aufgaben 
zu  erfüllen,  welche  dies  Fürstenpaar  im  Kampf  gegen  Portugal, 
Granada  und  Frankreich  zur  Gründung  der  spanischen  Welt- 
stellung geführt  hatten.  So  war  er  Herrscher  der  beiden  Sizihen 
geworden,  die  von  den  Normannen  den  Griechen  und  Arabern 
abgerungen,  von  den  Hohenstaufen  lange  gewaltig  aufrecht  er- 
halten, doch  schließlich  an  eine  französische  Dynastie  verloren 
waren.  Einst  hatte  ein  König  beider  Länder  die  Krone  Jerusa- 
lems gewonnen,  nachdem  sein  Vater  in  dem  Augenblick,  da  er 
ausziehen  wollte,  die  Reiche  des  Ostens  auf  den  Bahnen  Robert 
Guiscards  und  Boemunds  zu  erobern,  jäh  gestorben  war:  jetzt 
hatte  Karl  denselben  Glauben  in  Spanien,  Nordafrika  und  Italien 
zu  bekämpfen.  Es  war  eine  Lebensbedingung  für  seine  Herr- 
schaft in  Spanien  und  Italien,  für  sein  Kaisertum  selbst,  die 
Flagge  Barbarossas  aus  den  westlichen  Gewässern  zu  verjagen. 
Und  keine  geringere  war  es  für  die  Ziele,  die  er  oder  sein  Bruder 
als  Könige  zu  Ungarn,  Dalmatien  und  Kroatien  zu  erfüllen 
hatten,  den  türkischen  Schutzherrn  des  Korsaren  an  der  Donau 
und  Drau  abzuwehren.  Wieder  andere  Aufgaben  erwuchsen 
ihm  aus  der  Erbschaft  Karls  des  Kühnen:  der  Kampf  gegen 
Franz  I.  und  die  Eidgenossen,  an  deren  Widerstand  jener  ge- 
scheitert war,  die  Ausbreitung  der  burgundischen  Gewalt  am 
oberen  und  niederen  Rhein,  wo  Neuß  zu  rächen  war,  bis  hin 
zur  Weser  und  Elbe  und  weiter  dem  Norden  zu  gegen  den  Sund 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  63 

und  das  Baltische  Meer,  wo  es  das  Übergewicht  des  niederlän- 
dischen Handels  zu  sichern  galt.  So  hatte  er  als  Erzherzog  zu 
Österreich,  als  Graf  zu  Tirol,  Habsburg,  Flandern  Traditionen 
von  Jahrhunderten  zu  vertreten  —  jedes  Glied  seiner  langen 
Titelreihe  bedeutete  eine  besondere  Machtsphäre,  die  ihren  Träger 
stützte,  förderte  nach  der  ihr  eigentümlichen  expansiven  Ten- 
denzen, aber  auch  wiederum  hemmte  und  einengte,  sobald  er 
aus  den  anderen  Kreisen  seines  Wirkens  eine  Richtung  erhielt, 
die  mit  jenen  nicht  zusammenfiel.  Hundertfach  sind  zwischen 
ihnen  die  Divergenzen,  hundertfach  treten  aber  dem  Blick  auch  die 
Gemeinsamkeiten  entgegen.  Burgund  und  Österreich  reichten  sich 
die  Hand  gegen  die  Eidgenossen;  Spanien  und  Österreich  gegen 
die  Osmanen  und  in  ihren  italienischen  Plänen,  So  hatten  Spanien 
und  Burgund  in  Frankreich  den  ärgsten  Feind,  und  wie  sehr  auch 
ihr  Verhältnis  zu  England  schwanken  mochte,  zeigten  die  Oscil- 
lationen  doch  immer  beide  auf  einer  Seite.  Nichts  konnte 
den  niederländischen  Kommunen  in  ihrem  Wettstreit  mit  den 
Hansen  wünschenswerter  sein  als  die  Rückendeckung  durch 
ihren  Ruewart  zu  Flandern,  oder  den  kastilischen  Großen  gegen 
die  Comunidados,  als  die  Hilfe  des  burgundischen  Herzogs.  In 
I  tauen  trug  es  doch  nicht  bloß  die  Kriegskunst  Gonsalvos  und 
die  Tapferkeit  seiner  spanischen  und  deutschen  Infanterie  über 
die  Franzosen  davon,  sondern  auch  seine  Unterstützung  seitens 
der  einheimischen  Parteien,  welche  in  der  Bekämpfung  Frankreichs 
und  der  Franzosenfreunde  ihre  eigene  Stellung  sichern  wollten. 
Und  w'enn  die  Spanier  die  Herren  Italiens  wurden,  so  erhielt  dies 
damit  einen  Damm  gegen  die  Türken,  die  schon  gerufen  und  un- 
gerufen,  wie  einst  die  Griechen,  Ancona  und  Otranto  bedroht 
oder  erobert  hatten,  und  denen  Rom  ohne  die  spanische  Okku- 
pation vielleicht  ebenso  zur  Beute  gefallen  wäre,  wie  einige  Jahr- 
zehnte zuvor  Konstantinopel. 

Und  zu  allen  diesen  Rechten  und  Stützen  nun  die  in  der 
Theorie  alles  zusammenfassende  kaiserliche  Würde.  Gewiß,  das 
größte  Wunder  wäre  gewesen,  wenn  der  jugendliche  Herrscher 
sich  nicht  mit  den  erhabenen  Phantasien,  welche  die  allgemeinen 
Vorstellungen  daran  knüpfen,  erfüllt  hätte. 


64  Kloine  hislorischc  Sdiriflc-n. 

Das  al)cr  war  das  Geschick,  vor  das  Deutschland  nach  dem 
Tode  Maximilians  gestellt  war:  die  Entscheidung  zu  treffen,  auf 
welcher  Seite  es  stehen  solle  in  dem  Weltkampf  zwischen  den 
beiden  europäischen  Machtsystemen,  den  es  bis  dahin  immer  noch 
vermieden,  dem  es  aber  fortan  nicht  mehr  ausweichen  konnte. 
Überall  unterlagen  sonst  die  Reiche  dem  Rechte  des  Erbes  oder 
des  Schwertes.  In  Deutschland  allein  begründete  Wahl  die 
Herrschaft;  das  war  die  Freiheit  des  Reiches.  Was  jetzt  ge- 
schah, war  ein  Spott  auf  dieses  Wort.  Nicht  nach  den  Interessen, 
welche  der  Nation  eigentümlich  waren,  hatten  die  Kurfürsten 
zu  wählen.  Wenn  einen  Augenblick  dieser  Gedanke  in  der  Kandi- 
datur des  Beschützers  Luthers  auftauchte,  so  verging  er  wie  Rauch. 
Was  wäre  auch  das  Königtum  Friedrichs  des  Weisen  anderes 
geworden  als  ein  neues  Schattenregiment  gleich  dem  Ruprechts 
und  Günthers,  ein  Körnchen  zwischen  den  Kolossen  der  habs- 
burgischen  und  französischen  Macht,  deren  Reibungen  nun  be- 
ginnen mußten!  Nur  zwischen  Karl  I.  und  Franzi.,  dem  König 
von  Spanien  und  dem  von  Frankreich,  hatte  Deutschland  seinen 
Herrn  zu  küren.  Die  Wahl  war  seine  Unterwerfung  unter  die 
spanisch-burgundisch-österreichische  Politik.  Als  mächtigste  Pro- 
vinz trat  es  in  das  Universalreich  ein,  gebend  und  empfangend, 
fördernd  und  hemmend;  aber  die  Selbstbestimmung,  die  Freiheit 
war  dahin:  mit  Gut  und  Blut  mußte  es  helfen,  Mailand  den 
spanischen  Gobernadoren  zu  unterwerfen,  Neapel  der  spanischen 
Krone,  die  Kurie  der  spanischen  Kirche  willfährig  zu  erhalten, 
Burgund  dem  französischen  Hof  zu  Brüssel,  Ungarn  dem  zu  Wien 
anzugliedern,  die  französische,  italienische,  ungarische  Nation  und 
sich  selbst  zu  zersplittern  und  zu  demütigen,  um  das  Kaisertum 
Karls  V.  groß  zu  machen. 

An  keinem  Punkte  erkennen  wir  deutlicher  als  an  dieser 
privatrechtlichen  und  religiös  -  moralischen  Betrachtung  der  wohl 
universalsten  und  tiefstgreifenden  Bewegung,  welche  Europas 
Geschichte  kennt,  die  Nachwirkung  der  Romantik  auf  die  ultra- 
montane Geschichtsauffassung.  Es  ist  noch  ganz  die  von  aller 
pohtischen  Reahtät  losgelöste  Phantastik  der  Dichtung:  nur  daß 
sie  dann  doch  wieder  ganz  bestimmten  politischen  Zwecken  unter- 


Janssens  GeschicKte  des  deutschen  Volkes.  65 

würfig  gemacht  wird.  So  ist  oder  erscheint  Janssen  auch  ohne 
jede  Vorstellung  von  den  Wirkungen  der  elementaren,  tausend- 
fachen Kräfte,  welche  in  jener  Epoche  sich  zusammenfanden  oder 
in  Kampf  miteinander  gerieten,  und  deren  vielgestaltige,  wechsel- 
voUe  Konstellationen  in  den  dynastischen  Verbindungen  einen  wie 
zufälligen  Ausdruck  fanden. 

Und  so  kann  er  freihch  auch  nicht  den  weiteren  Schritt  tun, 
die  Einwirkungen  dieser  politischen  Kraftgruppierungen  auf  die 
Entwickelung  der  religiösen  Gedanken  und  der  durch  sie  bedingten 
Kirchen  zu  untersuchen. 

Ein  solches  Unternehmen  würde  ja  eine  direkte  Feindsehg- 
keit  gegen  den  Begriff  seiner  Kirche  sein,  welche  zwar  eine  immer- 
währende Einwirkung  auf  die  Gestaltung  der  Welt  und  das  Recht 
der  Herrschaft  über  dieselbe  für  sich  beansprucht,  selbst  aber  frei 
von  den  Bedingungen  des  Irdischen  in  Form  und  Wirksamkeit 
das  Walten  Gottes  unmittelbar  darzustellen  wähnt.  Wir  Ketzer 
hingegen  sind  des  Glaubens,  daß  diese  Behauptung,  milde  aus- 
gedrückt, auf  einer  Verkennung  des  Höchsten  beruht.  Das  Ewige, 
meinen  wir,  kann  nicht  endlich  sein;  hoch  über  Raum  und  Zeit 
schwebend  kann  es  nicht  der  Geschichte  anheimfallen.  Es  mag 
wie  ein  Sonnenblick  über  die  Erde  hinleuchten,  aber  alles,  was 
am  Werden  und  Vergehen,  an  dem  Geschick  der  Menschheit  Teil 
nimmt,  kann  nur  wie  ein  Abglanz  seines  Wesens  sein.  Die  Vor- 
stellungsformen des  Höchsten  selbst  wandeln  sich  auf  Erden  mit 
den  Schöpfungen,  denen  sie  ins  Leben  halfen,  und  entstehen  ver- 
jüngt aus  ihren  Trümmern.  Wollen  wir  mehr  begreifen,  ohne 
den  Anspruch  und  die  Form  der  empirischen  Erkenntnis  aufzu- 
geben, so  verirren  wir  uns  in  der  Trugwelt  der  Scholastik.  Nur 
was  der  Entwickelung  unterworfen  ist,  dem  Leben  und  dem  Tode, 
»Menschheit  wie  sie  ist«,  nicht  das  Evangelium,  kann  Gegenstand 
der  historischen  Forschung  sein.  Die  unbefangene  Übung  dieses 
Grundsatzes  verdient  allein  den  Namen  Objektivität. 

Gerade  die  Epoche,  welche  Janssen  in  seinem  ersten  Bande 
schildert,  hat  die  Meinung  angeregt,  daß  die  geistigen  Strömungen 
oder  doch  die  »religiösen  Volksbewegungen«  in  den  politischen 
Verhältnissen  ihre  Wurzeln  haben,  nur  ein  Widerhall,  ein  Nach- 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  5 


ßß  Kleine  historische  Schriften. 

zittern  starker  politischer  Impulse  sein  ^).  Eine  Vorstellung,  deren 
Nachprüfung  auch  dann  fruchtbar  sein  würde,  wenn  sie,  wie  ihre 
Argumentierung,  nicht  in  dem  gewünschten  Maße  Anerkennung 
finden  sollte  -).  Denn  sie  schließt  den  vollberechtigten  Protest 
ein  gegen  das  noch  immer  nur  zu  weit  verbreitete  Bemühen,  das 
Dogma  bloß  aus  dem  Dogma  begreifen  und  dann  doch  die  Er- 
eignisse seiner  unmittelbaren  Einwirkung  unterstellen  zu  wollen; 
während  es  doch  das  Grundproblem  aller  historischen  Forschung 
sein  muß,  die  Wechselwirkung  zwischen  der  Welt  der  Ideen  und 
den  übrigen  Kraftfaktoren  der  »Politik«,  dem  Erdboden,  in  den 
jene  einfallen  und  aus  dem  sie  sich  wieder  erheben,  bis  an  die 
Grenze  der  Erkennbarkeit  klarzulegen. 

Wenn  aber  irgendeine  Epoche,  so  fordert  die  Reformations- 
zeit dazu  auf,  den  Zusammenhang  zwischen  der  geistigen  Be- 
wegung und  der  politischen  Gestaltung  bis  in  die  feinsten  Ver- 
ästelungen des  sozialen  und  persönlichen  Lebens  zu  erforschen. 

Zunächst  ist  es  vollkommen  deutlich,  daß  Luthers  Evan- 
gelium den  herrschenden  Begriff  der  Kirche  umdrehte  —  so  wie 
Kopernikus  die  geltenden  Vorstellungen  über  das  Verhältnis  der 
Erde  zur  Sonne  auf  den  Kopf  stellte.  Seine  \\'urzelechtheit  be- 
wies es  eben,  indem  es  das  herrschende  S3'stem  in  der  Wurzel 
traf.  Und  da  dieses  nun  alle  Ordnungen  des  Daseins  umspon- 
nen hielt  und  beherrschte,  so  mußte  freilich  eine  allgemeine  Er- 
schütterung die  unausbleibliche  Folge  sein,  wo  nur  immer  der 
Versuch  gemacht  wurde,  sie  aus  den  Fesseln  zu  befreien.  »Die 
Gewohnheiten,  die  Meinungen,  die  Ordnungen  in  Staat  und 
Familie,  das  ganze  Leben  der  Menschen,  unermeßliche  Güter, 
alles  stand  in  diesem  hierarchischen  System,  das  nun  in  seinen 
Grundlagen  bebte.  Es  gab  nichts,  das  nicht  mit  erschüttert, 
bis  in  sein  innerstes  Wiesen,  in  dem  Gedanken  seines  Daseins  ge- 
troffen wurde.  So  begann  ein  unabsehbares  Werk  ...  Es 
hat  nie  eine  Revolution  gegeben,   die  tiefer  aufgewühlt,   furcht- 


^)  Gothein,  Politische  und  religiöse  Volksbewegungen  vor  der  Refor- 
mation.    1878. 

^)  Es  ist  klar,  wie  hiernach  der  deutsche  Ultramontanismus  aufzu- 
fassen wäre. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  67 

barer  zerstört,  unerbitterlicher  gerichtet  hätte.  Wie  mit  einem 
Schlage  war  alles  gelöst  und  wie  in  Frage  gestellt,  zuerst  in  den 
Gedanken  der  Menschen,  dann  in  reißend  schneller  Folge  in  den 
Zuständen,  in  aller  Zucht  und  Ordnung  .  .  .  Alles  Geistliche 
und  Weltliche   zugleich   war   aus   den   Fugen,   chaotisch.« 

Janssen  hat  diese  Worte,  welche  in  der  Tat  das  Problem 
der  Reformationsgeschichte  ebenfalls  in  der  Wurzel  treffen,  zum 
Motto  seines  zweiten  Bandes  gemacht,  wie  er  es  denn  überhaupt 
liebt,  Droysen  unter  den  Zeugen  seiner  Geschichtsauffassung  zu 
zitieren.  Daß  er  die  folgenden  Sätze,  ohne  welche  jene  nicht  ver- 
standen werden  wollen,  ausläßt,  ist  eins  der  Beispiele  seiner  Quellen- 
benutzung, die  man  von  jeder  Seite  auflesen  kann  ^).  Dennoch 
bleibt  es  unbestreitbar,  daß  die  römische  Weltverfassung  in  ihren 


1)  »Joh.  Gustav  Droysen  über  .Luthers  Werk'  in  der  Geschichte  der 
preuß.  Poütik  2^,  100,«  so  unterschreibt  J.  das  Zitat.  Auch  einige  Zwischen- 
sätze verschweigt  er,  ohne  dem  Leser  ihre  Stellen  durch  Punktierung  zu 
verraten.  »Und  die  erste  Wirkung,«  heißt  der  eine,  »war,  daß  die  gewohnte 
Bewegung  der  Dinge  stockte  und  ihr  reich  entfaltetes  Leben  welk  wurde; 
die  zweite,  daß  die  toten  Blätter,  Äste  und  Stämme  im  nächsten  Wetter 
niederbrachen.«  Diese  Worte  hätte  Janssen  noch  ungefähr  gebrauchen 
können,  obgleich  »das  nächste  Wetter«  auch  nicht  mehr  in  seinen  Zusam- 
menhang gehörte.  Dann  aber  kommt  ein  Satz,  den  er  ganz  vermeiden 
mußte,  und  mit  dem  er  auch  den  vorigen  hat  fallen  lassen:  »Lasset  die 
Toten  ihre  Toten  begraben.«  Nicht  so  charakteristisch  ist  die  zweite  Aus- 
lassung, die  aber  auch  durch  die  Verwandtschaft  einiger  Worte  mit  den 
verfehmten  Nachsätzen  motiviert  werden  kann.  Diese  selbst  lauten:  »Und 
in  dieser  unermeßüchen  Gärung  gab  es  keinen  festen  Punkt  als  das  lautere 
Wort  Gottes,  keine  ungebrochene  Kraft  als  die  ,aus  dem  Glauben  allein'. 
Staunenswert  ist  der  Ernst,  die  Tiefe,  die  Wahrhaftigkeit  des  Geistes,  der 
in  sich  gerungen,  bis  er  jene  Erkenntnis  fand  und  begriff  und  sich  mit  ihr 
erfüllte.  Staunenswürdiger,  daß  er  angesichts  der  ungeheuren  Bewegung, 
die  sich  auf  ihn  berief,  der  Verirrungen  und  Zerrüttungen,  die  sich  rings 
um  ihn  her  auftaten,  auch  nicht  einen  Augenbhck  irre  geworden  ist.  ,Wenn 
das  Werk  von  Gott  ist,  so  wird  es  bestehen.'  Aber  es  trat  diese  neue  Predigt 
in  eine  Welt,  die  tief  zerrüttet,  von  Leidenschaften  zerrissen,  voll  Trug  und 
Wahn,  in  Gier  irdischen  Genusses  versunken  war.  Sie  konnte  nicht  wie 
ein  Zauber  wirken,  der  die  Menschen  plötzüch  zu  Heihgen  gemacht  hätte. 
Den  innersten  Kern  des  Menschen  treffen,  erschüttern,  ihm  nicht  Ruhe 
lassen,  bis  er  das  eine  ergriffen,  was  not  tut,  das  nur  konnte  sie.  Nicht  auf 
Wunder  noch  Zwang  war  sie  gestellt,  sondern  auf  Freiheit.«    Und  so  fort. 

5* 


68  Kleine  historische  Schriften. 

Grundfesten  erbeben  mußte,  sobald  es  einmal  Ernst  wurde  mit 
dem  Worte  Gottes,  welches  Martin  Luther  bekannte.  An  alle, 
welche  sich  nach  Christus  nannten,  erging  der  gleiche  Ruf;  vom 
Papst  und  Kaiser  abwärts  bis  zum  ärmsten  Pfarrer  und  Bauer 
sollten  sie  auf  ihn  hören,  Pfaffen  und  Laien,  einer  wie  der  andere, 
bei  ihrer  Seelen  Seligkeit.  Auch  durfte  Luther  nicht  schweigen, 
weil  er  fürchtem  nußte,  alles  Bestehende  zu  erschüttern.  Denn 
Gott  nicht  bekennen  hieß  ihm  schon  ihn  verleugnen;  und  nicht 
das  Dasein  als  solches  hatte  für  ihn  irgendwelchen  Wert,  son- 
dern auf  den  Zweck  im  Dasein  kam  ihm  alles  an.  Nicht  als  Men- 
schenwerk griff  er  daher  die  römische  Kirche  an;  aber  die  Ketten, 
mit  denen  sie  ihre  Lenker  an  den  Thron  Gottes  geschmiedet  hatten, 
mußte  er  zerreißen.  Daß  sie  vorgaben,  Gottes  Wille  präge  sich 
in  ihren  Ordnungen  anders  aus  als  im  Staat,  in  der  Familie,  in 
dem  Wissen  und  Gewissen  jedes  einzelnen,  in  aller  Kreatur,  war 
ihre  Sünde,  die  Fesselung  Gottes,  das  »babylonische  Gefängnis«. 
Nicht  durch  Gewalt  jedoch  soll  dieses  zerbrochen  werden:  Gott 
bedarf  menschlicher  Hilfe  nicht,  weder  zum  Angriff  noch  zur 
Verteidigung.  Ist  er  es  doch  allein,  der  »das  Rädlein  treibt«; 
so  will  er  auch  allein  die  Ehre  haben.  Will  die  Welt  wider  ihn 
streiten,  so  tue  sie  es  auf  ihre  Gefahr.  Wie  darf  sie  dann  aber 
das  Wort  Gottes  anklagen,  wenn  das  Leben  in  ihr  stockt  und 
das  nächste  Wetter  sie  niederreißt  ?  Oder  wie  darf  sie  von  den 
Gläubigen  Gottes  in  ihrem  Kampfe  wider  das  Wort  Hilfe  er- 
warten ?  Das  heiße,  sich  teilhaftig  ihrer  Sünde  machen,  Gott 
verlassen  und  ihren  Göttern  dienen.  »Lasset  die  Toten  ihre  Toten 
begraben.« 

Denn  »was  heißt  Gott  haben;  oder,  was  ist  Gott?  Antwort: 
ein  Gott  heißet  das,  dazu  man  sich  versehen  soll  alles  Guten, 
und  Zuflucht  haben  in  allen  Nöten;  also,  daß  einen  Gott  haben 
nichts  anderes  ist,  denn  ihm  von  Herzen  trauen  und  glauben; 
wie  ich  oft  gesagt  habe,  daß  allein  das  Trauen  und  Glauben  des 
Herzens  machet  beide,  Gott  und  Abgott.  Ist  der  Glaube  und 
das  Vertrauen  recht,  so  ist  auch  dein  Gott  recht;  und  wieder- 
um, wo  das  \^ertrauen  falsch  und  unrecht  ist,  da  ist  auch  der  rechte 
Gott   nicht.     Denn   die  zwei  gehören  zuhauf,    Glaube  und  Gott. 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  69 

Worauf  du  nun  (sage  ich)  dein  Herz  hängest  und  verlassest,  das 
ist  eigentlich  dein  Gott«i).  Das  erste  Gebot,  die  Lehre  von  Gott, 
trennte  Luther  von  der  römischen  Kirche;  und  »das  erste  Gebot 
soll  leuchten  und  seinen  Glanz  geben  in  die  andern  alle.  Es  soll 
durch  alle  Gebote  gehen,  als  die  Schale  oder  Bögel  im  Kranze, 
das  Ende  und  Anfang  zuhauf  fügen  und  alle  zusammenhalten, 
auf  daß  man's  immer  wiederhole  und  nicht  vergesse«  2). 

Aber  war  es  nicht  denkbar,  daß  alle  Christen  den  einen  Gott 
bekannten  ?  Kein  höheres  Zeugnis  für  die  Festigkeit  des  Glau- 
bens Luthers  kann  es  geben,  als  daß  er,  der  sich  der  Schwierig- 
keiten des  Weges  und  der  Stärke  des  Widerstandes  mehr  als 
jeder  andere  bewußt  war,  niemals  an  dem  Siege  durch  das  Wort 
allein  irre  geworden  ist.  Vergegenwärtigen  wir  uns  aber  die  Fülle 
der  alten  Ordnungen,  die  Tiefe  und  Kraft  der  Wurzeln,  welche 
sie  in  Staat  und  Gesellschaft,  in  das  Leben  der  Gesamtheit  und 
jedes  einzelnen  getrieben  hatten:  die  sakramentalen  Fesseln, 
welche  um  jedes  Dasein  von  der  Geburt  bis  zum  Tode  geschlagen 
w'aren,  die  klösterlichen  Gemeinschaften,  welche  das  höchste 
Lebensideal  darstellten  und  breiten  Schichten  des  Volkes  eine 
Stätte  boten,  die  theologischen  und  philosophischen  Sj^steme, 
alle  Doktrinen  von  Staat  und  Kirche,  Welt  und  Gott,  Recht 
und  Freiheit  umschlossen  von  der  einen  Weltanschauung,  die 
Universitäten  von  diesem  Geist  getragen,  die  Kirchen  in  ihrem 
bunten  Schmuck,  in  ihrem  Baugedanken  selbst  dadurch  beseelt, 
das  Gepränge  des  Kultus,  das  Heer  der  Heiligen,  das  Diesseits 
und  das  Jenseits  in  täglich  -  persönliche  Beziehung  zueinander 
gesetzt  —  so  begreifen  wir  freilich,  daß  eine  allgemeine  Stockung 
des  noch  kräftigen  Lebens,  Verwirrung  und  Zusammenbruch  die 
nächste  Folge  sein  mußte.  '  ' 

Sollte  Luther  aber  schw^eigen,  w^eil  er  überall  die  Verw^üstung 
sich  an  seine  Schritte  heften  sah  ?  Gewiß  —  wenn  er  der  ]\Ieinung 
gewesen  wäre,  daß  das  Bestehende,  weil  es  nun  einmal  dasteht, 
zu  erhalten  und  nicht  vielmehr  auf  den  Gottesgedanken  in  ihm 
zu  gründen  sei;  wenn  er  den  Duldungsbegriff  gehabt  hätte,  der 

1)  Luthers  Großer  Katechismus,  Erstes  Gebot,  die  ersten  Worte. 
*)  Aus  dem  »Beschluß  der  zehen  Gebote«. 


70  Kleine  historische  Schriften. 

Janssen  den  Wunsch  nach  gemeinsamer  Pflege  »dessen,  was  bei 
den  einzehien  Parteien  \om  Christentum  noch  auf  lebendiger 
Wurzel  grünt«,  eingibt:  eine  Freundschaft,  die  letzteren  freilich 
nicht  an  dem  Versuch  hindert,  auf  den  Mann,  mit  dem  die  Be- 
rechtigung der  »Kirchenspaltung«  des  i6.  Jahrhunderts  steht  und 
fällt,  allen  nur  denkbaren  Schmutz  zu  werfen,  den  Ast,  auf  dem 
seine  protestantischen  Freunde  sitzen  und  unter  dem  Sankt  Peters 
Netze  ausgespannt  sind,  durchzusägen. 

So  führt  uns  also  auch  hier  der  Streit  mit  dem  ultramon- 
tanen Historiker  zuletzt  auf  eine  Frage  der  Interpretation,  auf 
eine  ethische  Grenzberichtigung  zurück.  Wenn  konservativ  sein 
mit  stabil  sein  identisch  ist,  so  hat  jener  gewonnen  Spiel.  Dann 
war  Luther  der  größte  Revolutionär  aller  Zeiten.  Sind  es  aber 
die  »dauernden  Gedanken«,  welche  die  Welt  befestigen,  so  ist 
vor  allem  andern  darüber  zu  streiten,  ob  die  Gedanken  Luthers 
beständige  oder  zerstörende  waren,  ob  sie  innerlich  verwandt 
waren  mit  denen,  von  welchen  die  Revolutionäre  und  Anarchisten 
und  alle  falschen  Freunde  sich  leiten  ließen  oder  nicht.  Das  ist 
die  Aufgabe  des  Biographen  Luthers.  ^) 

^)  »War  hingegen  jene  Frage  (.was  sollen  wir  tun,  daß  wir  selig  wer- 
den ?')  in  einen  ursprüngüch-lebendigen  Boden  gefallen,  so  daß  im  Ernst 
geglaubt  wurde,  es  gebe  eine  Seligkeit,  und  der  feste  Wille  war  da,  selig 
zu  werden,  und  die  von  der  bisherigen  Religion  angegebenen  Mittel  zur 
SeUgkeit  mit  innigem  Glauben  und  redUchem  Ernste  in  dieser  Absicht  ge- 
braucht worden  waren,  so  mußte,  wenn  in  diesen  Boden,  der  gerade  durch 
sein  Ernstnehmen  dem  Lichte  über  die  Beschaffenheit  dieser  Mittel  sich 
länger  verschloß,  dieses  Licht  zuletzt  dennoch  fiel,  ein  gräßliches  Entsetzen 
sich  erzeugen  vor  dem  Betrüge  um  das  Heil  der  Seele  und  die  treibende 
Unruhe,  dieses  Heil  auf  andere  Weise  zu  retten,  und  was  als  in  ewiges  Ver- 
derben stürzend  erschien,  konnte  nicht  scherzhaft  genommen  werden. 
Ferner  konnte  der  einzelne,  den  zuerst  diese  Ansicht  ergriffen,  keineswegs 
zufrieden  sein,  etwa  nur  seine  eigene  Seele  zu  retten,  gleichgültig  über  das 
Wohl  aller  übrigen  unsterbUchen  Seelen,  indem  er,  seiner  tieferen  Religion 
zufolge,  dadurch  auch  nicht  einmal  die  eigene  Seele  gerettet  hätte:  sondern 
mit  der  gleichen  Angst,  die  er  um  diese  fühlte,  mußte  er  ringen,  schlecht- 
hin allen  Menschen  in  der  Welt  das  Auge  zu  öffnen  über  die  verdammliche 
Täuschung.  Auf  diese  Weise  nun  fiel  die  Einsicht,  die  lange  vor  ihm  sehr 
viele  Ausländer  wohl  in  größerer  Verstandesklarheit  gehabt  hatten,  in  das 
Gemüt  des  deutschen  Mannes,  Luther.    An  altertümlicher  und  feiner  Bü- 


Janssens  Geschichte  des  deutschen   Volkes.  71 

Bevor  hierüber  die  Entscheidung  feststeht,  können  alle  Ruinen, 
die  sich  rings  um  Luther  unter  dem  Anhauch  seines  Geistes  auf- 
taten, nichts  beweisen  —  ganz  davon  abgesehen,  daß  uns  überhaupt 
noch  jede  moral-statistische  Grundlage  zur  Vergleichung  der  Zeit 
vor  und  nach  seinem  Auftreten  fehlt.  Denn  nicht  um  das,  was 
in  Folge,  sondern  was  als  Folge  seiner  Lehre  geschah,  darf  es 
sich  hier  handeln.  Vielmehr,  wird  nachgewiesen,  daß  diese  Gedanken 
in  einem  innerlichen  Gegensatz  zu  den  radikalen  Abweichungen 
und  häufig  zu  den  Interessen,  denen  sie  dienstbar  wurden,  selbst 
standen,  so  kann  die  Persönlichkeit  des  Reformators  nur  um  so 
höher  wachsen,  je  unerschütterlicher  er  inmitten  der  Zerstörung 
und  der  Angriffe  von  rechts  und  links  auf  seinem  Grunde  ge- 
bheben ist.  Alles,  was  er  über  die  fundamentale  Feindschaft 
seines  Evangelium  zu  dem  römischen  Kirchenbegriff  als  dem 
Antichristentum  sagt,  kann  dann  nur  für  die  Konsequenz  seines 
Systems  zeugen;  der  Zorn,  mit  dem  er  gegen  Priestertum  und 
Gottesdienst,  Gelübde  und  Sakramente,  Bildungsformen  und 
Bildungsstätten  des  römischen  Geistes  auftritt,  nur  für  die  Kraft 
seiner  Überzeugung;  die  Intoleranz,  mit  der  er  seine  Lehre  allein 
als  die  Christi  bezeichnet  —  für  Janssen  der  Gipfel  seines  blas- 
phemischen  Hochmuts  —  nur  für  die  Felsenstärke  seines  Glaubens ; 
die  Festigkeit,  mit  der  das  alte  Kirchentum  wurzelte,  der  Wider- 
stand, den  er  fand,  die  Zersplitterung,  die  Entfesselung  der  Leiden- 
schaften, die  Zerrüttung  selbst  nur  für  die  großartige  Selbstän- 
digkeit und  Strenge  seines  Pflichtgebotes.    Und  nichts  kann  dann 


düng,  an  Gelehrsamkeit,  an  anderen  Vorzügen  übertrafen  ihn  nicht  nur 
Ausländer,  sondern  sogar  viele  in  seiner  Nation.  Aber  ihn  ergriff  ein  all- 
mächtiger Antrieb,  die  Angst  um  das  ewige  Heil,  und  dieser  ward  das  Leben 
in  seinem  Leben  und  setzte  immerfort  das  letzte  in  die  Wage  und  gab  ihm 
die  Kraft  und  die  Gaben,  die  die  Nachwelt  bewundert.  Mögen  andere  bei 
der  Reformation  irdische  Zwecke  gehabt  haben,  sie  hätten  nie  gesiegt,  hätte 
nicht  an  ihrer  Spitze  ein  Anführer  gestanden,  der  durch  das  Ewige  begei- 
stert wurde;  daß  dieser,  der  immerfort  das  Heil  aller  unsterblichen  Seelen 
auf  dem  Spiel  stehen  sah,  allen  Ernstes  allen  Teufeln  in  der  Hölle  furchtlos 
entgegenging,  ist  natürUch  und  durchaus  kein  Wunder.  Dies  nun  ist  ein 
Beleg  von  deutschem  Ernst  und  Gemüt.«  (Fichte  in  der  sechsten  seiner 
Reden  an  die  deutsche  Nation.) 


72  Kleine  historische  Schriflon. 

die  erhaltende  Kraft  seiner  Gedanken  mehr  beweisen  als  das  zer- 
störende Walten  derjenigen,  welche  sich  mit  Unrecht  die  Vollender 
seines  Werkes  nannten. 

So  wenig  nun  jemals  eine  Wahlverwandtschaft  Luthers  mit 
Münzer  nachgewiesen  werden  wird,  ebenso  gewiß  und  allbekannt 
ist,  daß  das  Wort  Gottes  fast  nirgends  so  in  der  Welt  gewirkt 
hat,  wie  es  seine  Predigt  verlangte:  daß  die  kirchliche  Umwand- 
lung überall  von  revolutionären  Zuckungen  und  rohen  Gewalt- 
taten begleitet  wurde;  daß  nicht  bloß  die  Anarchisten,  welche 
den  Reformator  gleich  Janssen  als  Vater  Leisetritt  und  Fürsten- 
diener anschwärzten,  sondern  auch  diejenigen,  welche  mit  ihm 
oder  ihm  folgend  die  alten  Ordnungen  evangelisch  umgestalteten, 
wohl  ausnahmslos  durch  politische  Interessen  und  persönliche 
Leidenschaften  beeinflußt  worden  sind;  daß  ihm  selbst  auch  wohl 
in  der  Hitze  des  Kampfes  der  klare  Blick  getrübt  worden  ist.  Diese 
Wirkungsformen  der  lutherischen  Idee  nachzuweisen,  ihr  Ein- 
treten in  die  wildbewegte  Welt,  deren  Gegensätze  und  Konstel- 
lationen nun  auch  für  sie  maßgebend  wurden,  ihre  Verwand- 
lung in  politische  Kraft,  indem  sie  einen  Teil  ihrer  Freiheit  ver- 
loren, zahllose  Brechungen  des  einen  Lichtes  —  darin  faßt  sich 
die  Summe  der  allgemeinen  Reformationsgeschichte  zusammen, 
in   deren  Anfängen  wir  heute  noch  stehen. 

Die  besondere  Schwierigkeit  der  Aufgabe  liegt  in  dem  Grund- 
gedanken Luthers  selbst. 

Alle  früheren  Reformatoren  der  Kirche  —  und  die  Geschichte 
der  katholischen  Kirche  ist  eine  Kette  von  Reformationen  —  waren 
darin  übereingekommen,  in  der  Weltflucht  das  höchste  Ziel  des 
religiösen  Lebens  zu  sehen.  Das  Irdische  als  Besitz,  Genuß,  Herr- 
schaft (Eigentum,  Ehe,  Staat)  ist  ihnen  das  Verderbliche.  Von 
dieser  Welt  der  Sünde  die  Menschheit  loszureißen,  ist  ihr  un- 
ablässiges, in  der  Glut  der  Askese  genährtes  Streben;  gelingt 
nur  bei  einem  Bruchteil  die  Fesselung  an  das  Lebensideal  selbst, 
so  soll  doch  alle  Welt  die  Heiligkeit  desselben  und  seiner  Diener 
anerkennen.  Luther  hingegen  stellt  den  »Christenmenschen«  mitten 
hinein  in  die  Welt.  Anstatt  den  Staat  zu  fliehen,  sucht  er  ihn 
auf.    Er  will  ihn  nicht  unterdrücken,  sondern  erhöhen,    Er  be- 


Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes.  73 

darf  seiner,  denn  \\de  wäre  die  Freiheit,  welche  er  anstrebt,  die 
christhche  Lebensführung  möghch,  wenn  nicht  starke  Rechts- 
schranken diesen  persönHchen  Gottesdienst  sicherten!  Indem  er 
die  Sphäre  der  Religion  abgrenzt,  findet  er  zugleich  —  und  nichts 
war  ihm  bewußter,  als  daß  er  der  Entdecker  war  —  die  Gott- 
gewolltheit der  weltlichen  Existenz  in  den  Formen  des  Staates, 
der  Gesellschaft,  des  Einzellebens  ^) . 

Das  ist  die  »Einschließung  der  Religion  in  Staatsgrenzen«, 
welche  Janssen  mit  dem  unschönen  Wort  »Cäsaropapismus«  zu 
brandmarken  sucht,  indem  er  als  identisch  nimmt,  was  höchstens 
kongruent  genannt  werden  kann,  und  dabei  doch  wieder  an  einen 
Begriff  der  Rehgionsfreiheit  appelliert,  der  erst  auf  dem  Boden 
des    protestantischen    Staates    erwachsen    konnte  ^).     Eine    Ver- 


1)  »Daher  auch  achte  ich,  wir  Deutschen  Gott  eben  mit  dem  Namen 
von  Alters  her  nennen  (feiner  und  artiger  denn  keine  andere  Sprache)  nach 
dem  Wörtlein  gut,  als  der  ein  ewiger  Quellbrunn  ist,  der  sich  mit  eitel 
Güte  übergeußt  und  von  dem  alles,  was  gut  ist  und  heißet,  ausfleußt.  Denn 
ob  uns  gleich  sonst  viel  Gutes  von  Menschen  widerfähret,  so  heißet  es  doch 
alles  von  Gott  empfangen,  was  man  durch  seinen  Befehl  und  Ordnung 
empfähet.  Denn  unsere  Eltern  und  alle  Obrigkeit,  dazu  ein  jeglicher 
gegen  seinen  Nächsten,  haben  den  Befehl,  daß  sie  uns  allerlei  Gutes  tun 
sollen,  also  daß  wir's  nicht  von  ihnen,  sondern  durch  sie  von  Gott  empfahen. 
Denn  die  Creaturen  sind  nur  die  Handröhren  und  Mittel,  dadurch  Gott  alles 
giebt;  wie  er  der  Mutter  Brüste  und  Milch  giebt  dem  Kinde  zu  reichen, 
Korn  und  allerlei  Gewächs  aus  der  Erden  zur  Nahrung;  welche  Güter 
keine  Creatur  keines  selbsten  machen  kann.  Derhalben  soll  sich  kein 
Mensch  unterstehen,  etwas  zu  nehmen  oder  zu  geben,  es  sei  denn  von  Gott 
befohlen,  daß  man's  erkenne  für  seine  Gaben  und  ihm  darum  danke,  wie 
dies  Gebot  fordert.  Darum  auch  solche  Mittel,  durch  die  Creaturen  Gutes 
zu  empfahen,  nicht  auszuschlagen  sind  noch  durch  Vermessenheit  andere 
Weise  und  Wege  zu  suchen  denn  Gott  befohlen  hat.  Denn  das  hieße  nicht 
von  Gott  empfangen,  sondern  von  ihm  selbst  gesucht. «  Großer  Kate- 
chismus, erstes  Gebot.  —  Vgl.  A.  Ritschi,  Prolegomena  zu  einer  Ge- 
schichte des  Pietismus  (in  B riegers  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte 
Bd.  2),  und  mehr  noch  dessen  Geschichte  des  Pietismus,  die  Einleitungen. 

*)  Denn  Toleranz  in  unserem  Sinne  ist  Kraftbetätigung.  Eine  Toleranz, 
wie  sie  Theoderich  der  Große  und  Georg  Podiebrad  übten,  war  Schwäche. 
Auch  die  römische  Kirche  kann,  wo  sie  die  Gewalt  hat,  tolerant  sein,  wenn 
sie  will.  Sie  will  nur  in  der  Regel  nicht,  während  der  Staat  immer  will  — 
beide,  weil  sie  müssen.    Das  Merkwürdige  aber  ist,  daß  auch  die  Toleranz 


74  Kleine  historische  Schriften. 

drchung,  die  eben  deshalb  so  leicht  war,  weil  ja,  wie  bemerkt, 
die  lutherischen  Gedanken  in  ihrer  politischen  Ausprägung  nur 
allzu  häufig  Trübungen  und  Fälschungen  erlitten  haben. 

Trotz  alledem  bleibt  es  die  vornehmste  Aufgabe  jedes  Kefor- 
mationshistorikers,  die  Gedankenarbeit  der  Reformatoren  der 
Papisten  und  der  Revolutionäre  gegen  einander  abzugrenzen; 
und  alle  die,  welche  wie  Janssen,  sei  es  aus  Gründen  der  Un- 
wissenheit oder  scholastischer  Unfreiheit,  ohne  diese  Vorarbeit  ge- 
macht zu  haben,  die  Sekundärerscheinungen  und  Primärkonse- 
quenzen durcheinander  wirren,  bleiben  außerhalb  der  wissen- 
schaftlichen Diskussion. 

Das  schUeßt  nicht  aus,  daß  selbst  diese  Reformationsgeschichte 
eine  nicht  unwesentliche  Bedeutung  behaupten  wird.  Nur  hat  sie 
dieselbe  nicht  für  die  Geschichte  der  Reformation  selbst  oder  gar 
des  Mittelalters,  dem  Janssen  zu  huldigen  vorgibt,  zu  dessen  Geistes- 
gewaltigen er  sich  aber  verhält  wie  etwa  Canisius  zu  Albertus 
Magnus.  Die  unzweifelhafte  Geistesverwandtschaft  mit  Canisius 
wird  ja  auch  er  nicht  ableugnen  wollen.  Seine  und  seines  Buches 
eigentümliche  Bedeutung  liegt  vielmehr  auf  einem  ganz  andern 
Felde.  Wenige  historische  Aufgaben  haben  ein  gleich  akutes 
Interesse  wie  der  Nachweis,  wodurch  sich  die  geistig  so  hoch- 
bedeutende Romantik  in  den  Ultramontanismus  verkehren  mußte. 
Und  unter  diesem  Gesichtspunkt  wird  die  » christhch-germanische 
Weltanschauung«,  welche  Janssen  als  die  Grundmaterie  des  Mittel- 
alters betrachtet,  wirklich  eine  bedeutende  Stellung  in  der  all- 
gemeinen Entwickelung  finden.  Ihre  Charakterisierung  würde 
zugleich  ein  gutes  Stück  deutscher  Geschichte  im  19.  Jahrhundert 
sein;  und  niemand,  der  sich  deren  Darstellung  widmet,  wird  daher 
an  dieser  »Geschichte  des  deutschen  Volkes«  vorüber  gehen  können. 


des  Staates  ihr  Dasein  weniger  dem  Nachdenken  einiger  Berufsphilosophen 
als  politischen  Zwangsverhältnissen  verdankt,  mithin  aus  der  Toleranz 
der  Schwäche  sich  entv\-ickelt  hat. 


m^^^^^ 


Humanismus  und  Reformation. 

(1891.) 

Es  gab  eine  Zeit,  wo  das  Interesse  an  Fragen,  wie  sie  uns 
hier  beschäftigen  sollen,  fast  wie  erstorben  war.  Wohl  brachte 
man  der  Epoche  der  Reformation,  als  des  Durchbruchs  der  mo- 
dernen Gedanken,  vielfache  Sympathien  entgegen,  nicht  bloß 
seitens  der  Evangelischen,  sondern  auch  der  Katholiken,  der 
Gebildeten,  Unabhängigen  wenigstens  unter  ihnen;  man  sprach 
mit  Wohlwollen  von  der  »Glaubensverbesserung«,  von  der  Ab- 
lösung der  dunkeln  Zeiten  des  Aberglaubens  und  pfäffischer 
Tyrannei,  dem  Aufblitzen  der  Gedankenfreiheit,  der  vernünf- 
tigen Klarheit,  deren  Licht  nun  alles  überleuchtete,  in  deren 
reinem  Glänze  man  sich  behaglich  sonnen  und  sich  freuen  konnte, 
daß  man  es  so  herrlich  weit  gebracht  —  aber,  um  schärfer  hin- 
zusehen oder  gar  mit  persönlichem  Eifer  sich  dem  Studium  jener 
Epoche  zu  widmen,  dafür  lag  sie  dem  Selbstgefühl  dieser  Gene- 
ration zu  weit  dahinten,  galt  sie  zu  sehr  als  überwunden. 

Auf  diese  Stufe  folgte  eine  andere,  in  der  die  Zeiten  des 
Mittelalters  wie  in  der  Verklärung  erschienen,  von  einem  ma- 
gischen Glänze  Übergossen,  der  doch  nur  eine  Wiederspiegelung 
war  von  der  in  den  Umwälzungen  der  Gegenwart  an  jener  Ver- 
nünftigkeit irre  gewordenen,  nach  neuen  Quellen  für  Gemüt  und 
Phantasie  sich  sehnenden  Zeitstimmung.  Nun  begann  man  wohl 
zu  klagen  über  den  Untergang  des  Mittelalters:  als  Sphäre  der 
Religion  und  Poesie,  gottinniger  Spekulation,  reinster,  höchster 
Ideale  in  allen  Lebensformen  erschienen  die  mittleren  Jahrhun- 
derte: man  sprach  von  einer  Wiedervereinigung  der  getrennten 


70  Kleine  liis(orische  Schriften. 

Kirchen,  von  einer  Versöhnung  zwisclien  Wissen  und  Glauben. 
Daß  die  Kirche,  wie  sie  gewesen,  mit  allen  ihren  Ansprüchen 
auf  Staaten-  und  Geisterzwang  je  wieder  erwachen  könnte,  daß 
Rom  ein  ausschlaggebender  Faktor  in  der  europäischen  Politik 
werden  würde,  ahnte  niemand.  »Denn  was  ist  es  heutzutage 
noch,«  so  schrieb  selbst  Ranke  in  der  Vorrede  zu  seiner  Geschichte 
der  Päpste  1834,  »das  uns  die  Geschichte  der  päpstlichen  Gewalt 
wichtig  machen  kann  ?  nicht  mehr  ihr  besonderes  Verhältnis  zu 
uns,  das  ja  keinen  wesentlichen  Einfluß  weiter  ausübt;  noch  auch 
Besorgnis  irgendeiner  Art:  die  Zeiten,  wo  wir  etwas  fürchten 
konnten,  sind  vorüber;  wir  fühlen  uns  allzu  gut  gesichert.« 

Aus  diesen  Stimmungen  sind  wir  heute  heraus.  Heute  gibt 
es  kaum  eine  andere  Epoche  der  europäischen  und  vor  allem 
imserer  eigenen  Geschichte  von  so  allgemeinem  und  so  akutem 
Interesse.  Denn  nicht  bloß  die  höheren  Regionen,  theologische 
oder  philosophische  Spekulation,  die  Phantasie  des  Künstlers, 
die  Anschauung  des  Historikers  sind  jener  großen  Institution 
zugewandt,  sondern  ihr  Dogma,  ihr  Kultus,  ihre  Verfassung  und 
alle  ihre  Ansprüche  sind  das  Ferment  geworden  für  eine  politische 
Partei.  Diese  Kirche,  die  vor  100  Jahren  noch  in  den  Händen 
der  Aristokratie  oder  des  Staates  war,  ist  heute  unabhängig  von 
der  politischen  Zentralgewalt  und  demokratisiert;  Bürger-  und 
Bauemsöhne  nehmen  die  Bischofssitze  ein,  welche  einst  dem 
hohen  und  höchsten  Adel  vorbehalten  waren;  nicht  bloß  die  Kan- 
zel und  der  Beichtstuhl,  sondern  Presse,  Volksversammlung  und 
Vereine  sind  Mittel  geworden,  mit  denen  die  Kirche  arbeitet; 
ihre  Kapläne,  Lehrer,  Professoren  sind  poHtische  Agitatoren; 
jede  Annäherung  an  die  feindlichen  Konfessionen,  jeder  Versuch 
der  Versöhnung  wird  geflissentlich  vermieden;  jedes  Resultat 
der  Forschung  (sei  es  Philosophie  oder  Historie  oder  gar  Natur- 
^\•issenschaft)  wird  nur  anerkannt,  sobald  es  den  kirchlichen  Stem- 
pel erhalten  hat.  Das  Ergebnis  liegt  vor  jedermanns  Augen.  Die 
katholische  Menge  ist  vöUig  disziphniert,  eine  Herde,  welche  dem 
Hirten  folgt,  ob  er  sie  nun  zur  Wahlurne  oder  zur  Wallfahrts- 
stätte geleiten  mag.  Unsere  Wahlen  beweisen,  was  die  römische 
Kirche  vermag.    Und  wie  tiefgründig  das  kathohsche  Wesen  in 


Humanismus  und  Reformation.  77 

dem  Volke  Martin  Luthers  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts  wieder 
geworden  ist,  das  hat  der  schier  endlose  Pilgerstrom  aufs  neue 
gezeigt,  der  sich  im  vergangenen  Sommer  vor  dem  Hochaltar 
zu  Trier  vorüberwälzte.  Nichts  aber  verriet  doch  die  Machtstel- 
lung Roms  im  heutigen  Reiche  besser  als  das  Schweigen  der  geg- 
nerischen Presse.  Denn  das  stammte  nicht  etwa  bloß  aus  Ver- 
achtung oder  Gleichgültigkeit,  sondern  mehr  noch  aus  Vorsicht. 
Konnten  wir  doch  schon  froh  sein,  daß  nicht  auch  protestan- 
tische Regierungsbeamte  es  für  ihre  Pflicht  gehalten  haben,  vor 
den  »lückenhaften  Stoff  teilen«  ihre  Knie  zu  beugen!  Wo  einmal 
in  der  Presse  eine  Stimme  für  den  gesunden  Menschenverstand 
eintrat  und  etwa  von  Gimpelfang  sprach,  hatte  sie  sich  flugs  vor 
dem  Richter  zu  verantworten;  der  Staat  ist  alsbald  für  diese 
Institution  einer  von  ihm  anerkannten  Kirche  eingetreten.  Wahr- 
lich, wenn  das  Deutsche  Reich  von  heute,  wenn  der  nationale 
Staat  der  Hohenzollern  zu  Martin  Luthers  Zeiten  schon  bestan- 
den hätte,  er  hätte  es  nicht  wagen  sollen,  gegen  den  Seelenmord 
der  Ablaßkrämer  seine  Stimme  zu  erheben. 

Auch  das  Problem,  das  ich  heute  der  Betrachtung  unter- 
breiten will,  ist  in  den  großen  Streit  des  Tages  mit  hinein- 
gezogen worden.  Merkwürdig  aber,  hier  vereinigen  sich  die  Gegner 
von  rechts  und  von  links  in  den  Angriffen  auf  die  Reformation. 
Denn  wie  auch  immer  deren  Verdienst  um  den  Fortschritt  des 
Menschengeschlechtes  formuliert  und  anerkannt  werden  möge  — 
den  Vorwurf  will  ihr  doch  die  Aufklärung  unserer  Tage  nicht 
ersparen,  daß  sie  die  freiere  Geistesbildung,  die  soeben  auch  auf 
deutschem  Boden  zur  Entfaltung  gelangte,  in  der  Blüte  geknickt 
habe:  die  alte  Scholastik  habe  sie  nur  zerstört,  um  alsbald  eine 
neue  an  ihre  Stelle  zu  setzen,  sie  selbst  sei  das  Mönchtum  nicht 
völlig  los  geworden,  der  Geist  sei  aufs  neue  im  Dogma  eingeengt, 
der  Staat  und  alle  Bildung  nur  noch  enger  an  klerikale  Zwecke 
geschmiedet  worden. 

Etwas  anders  lauten  die  Anklagen  von  selten  der  Ultra- 
montanen. Denn  diesen  Herren  können  die  weltfrohen  Spötter, 
die  Halbheiden  vom  Schlage  eines  Celtes  oder  Crotus  Rubeanus 
doch  unmöglich  ganz  sympathisch   sein.    Indessen  manche  von 


78  Kleine  historische  Schriften. 

ihnen  haben  die  Zerstörung  ja  gar  nicht  mehr  erlebt,  andere  die 
Zugeliörigkeit  zur  Mutter  Kirche  immer  behauptet  und  Hterarisch 
betätigt,  wieder  andere,  und  gerade  die  größten  Weltkinder,  haben 
ihre  Sünden,  da  sie  die  Folgen  sahen,  bereut,  und  verteidigt,  was 
sie  einst  gelästert  hatten.  Wer  aber  verzeiht  den  Reuigen  lieber 
als  die  Mutter  Kirche!  Und  so  sind  sie  einer  nach  dem  andern 
absolviert  und  zu  Gesinnungsgenossen  Ecks  und  Ortuins  und  aller 
jener  dunklen  Männer  gestempelt  worden,  über  die  sie  sich  im 
Leben  so  weidlich  lustig  gemacht  haben,  alle  die  Lehrer  und 
Freunde  der  Reformatoren,  nicht  bloß  die  Philister  unter  ihnen, 
sondern  gerade  die  lockersten  Vögel,  neben  Wimpheling  und 
Reuchlin  auch  Celtes  und  Erasmus,  Pirckheimer  und  Rubeanus, 
so  daß  es  denn  selbst  den  Verehrern  des  heiligen  Rockes  möglich 
geworden  ist,  über  den  Geistesfrühling  unter  der  Pflege  der  Kirche 
zu  frohlocken  und  über  den  Frühreif  der  Ketzerei,  der  ihn  ver- 
nichtet  habe,  zu  jammern. 

Auch  ich  hoffe  auf  Absolution,  wenn  ich  davon  absehe,  mich 
mit  der  Widerlegung  solcher  Gegner  abzugeben.  Die  Ärmsten 
dürfen  ja  gar  nicht  anders  glauben,  denken  und  beweisen.  Ein 
höherer  Wille  zwingt  sie,  die  A^ergangenheit  sich  so  vorzustellen, 
wie  es  seinen  Zwecken  entspricht,  heute  so,  morgen  vielleicht 
ein  wenig  anders.  Sie  stehen  mit  ihrem  Urteil  und  Erkennen 
nicht  unmittelbar  vor  Gottes  Angesicht,  sondern  dazwischen 
drängt  sich  herrisch  die  Kirche  und  ihre  Tradition.  Und  also 
müssen  sie  übermalen  oder  hinwegtuschen  und  ergänzen,  wo 
immer  etwas  in  dem  Bilde  nicht  passen  will  zu  dem  hierarchischen 
Ideal,  für  dessen  Herrschaft  in  aller  Welt  sie  kämpfen. 

Nur  mit  denjenigen  wollen  wir  diskutieren,  welche  in  wahr- 
haftiger Überzeugung  über  die  Ertötung  oder  doch  Erstarrung 
der  Humanität  und  Weltfreudigkeit,  der  Geistesfreiheit,  wie  wir 
sie  heute  besitzen,  durch  die  Reformation  Klage  führen. 

Nehmen  wir  einen  Moment  an,  daß  diese  recht  hätten,  so 
stehen  wir  alsbald  vor  einem  Rätsel.  Wie  (müssen  wir  fragen) 
ist  es  dann  zu  erklären,  daß  unsere  heutige  Kultur  lediglich  aus 
protestantischer  Wurzel  entsprossen  ist?  Denn  nicht  nur  unser 
Rechtsbewußtsein,  unser  sittliches  Empfinden  (wenn  wir  es  anders 


Humanismus  und   Reformation.  79 

höher  schätzen  als  jene  Beklagenswerten,  die  vor  dem  Reliquien- 
schrein in  Trier  Heilung  ihrer  seelischen  oder  auch  leiblichen 
Gebrechen  suchen),  nicht  nur  unser  Staat,  sondern  auch  unsere 
Dichtung  und  Philosophie,  jegliche  Wissenschaft  und  die  Mutter- 
sprache selbst,  alle  die  großen  Güter,  welche  den  Kern  unserer 
Nationalität  ausmachen,  wuchsen  auf  protestantischem  Boden. 
Blicken  wir  auf  das  \-orige  Jahrhundert!  Wo  war  der  deutsche 
Kathohzismus,  vor  dem  im  Dreißigjährigen  Kriege  uns  nur  fremde 
Hilfe  hatte  erretten  können  ?  Im  Lager  Österreichs,  das  durch 
das  protestantische  Preußen  dreimal  überwältigt  wurde,  oder  in 
der  Verrottung  weltHcher  und  geistlicher  Kleinstaaten,  völlig 
abseits  von  dem  reichen  geistigen  Leben,  das  überall,  wo  evan- 
gelische Schulen  und  Kirchen  standen,  von  Riga  bis  Zürich  empor- 
blühte. Selbst  die  Wiederbelebung  der  mittelalterlichen  Welt- 
auffassung in  der  Romantik  beruhte  auf  einer  Abwandlung  dieser 
protestantischen  Kulturbewegung.  Den  Reigen  führten  da  wie- 
derum Protestanten,  und  erst  nach  ihnen  traten,  nun  auch  wohl 
durch  Überläufer  aus  solchen  Kreisen  verstärkt,  aber  genährt 
von  protestantischem  Geiste,  katholische  Männer  wie  Joseph  Görres 
auf,  um  triumphierend  auf  die  Erhabenheit  und  Ewigkeit  der 
gesellschafterrettenden  Kirche  hinzuweisen. 

An  ein  zufälliges  Zusammentreffen  ist  hier  nicht  zu  denken. 
Wir  können  gar  nicht  anders  schließen,  als  daß  eine  innere  Ver- 
bindung statthatte,  daß  die  uns  teuersten  Güter  unserer  Nation 
in  der  Tat  auf  die  Gedankenarbeit  der  Reformatoren  zurückzu- 
führen sind,  und  können  unsern  Gegnern  von  links  höchstens 
den  Ausweg  lassen,  daß  der  Humanismus  jene  Ideale,  die  eine 
spätere  Zeit  entwickelte,  noch  rascher  zur  Entfaltung  gebracht 
haben  würde,  daß  die  Reformation  nur  einen  Teil  von  ihnen  un- 
mittelbar verwirklicht,  ihre  freieren  Formen  aber  durch  ihre  dog- 
matisch-scholastische Verengung  in  der  Entwickelung  zurück- 
gedrängt habe. 

Erinnern  wir  uns,  bevor  wir  hierauf  die  Antwort  geben,  daß 
der  Humanismus  nur  eine  Teilerscheinung  ist  der  Renaissance, 
und  daß  diese  nicht  dem  deutschen  Geiste,  sondern  dem  Italiens 
entsprang,  auf  dessen  Boden  sie  in  der  gleichen  Epoche  wieder 


C^O  Kleine  historische  Schriften. 

abstarb,  in  der  das  Papsttum  seine  neuen  Siege  errang.  Diese 
Schuld  wird  man  ja  doch  wohl  nicht  auch  noch  der  deutschen 
Reformation  aufbürden  wollen.  Behalten  wir  auch  im  Gedächt- 
nis, daß  die  bildende  Kunst  der  Renaissance  in  Deutschland  erst 
zu  Luthers  Zeit  heimisch  geworden  ist,  parallel  mit  ihm  sich  ent- 
wickelt hat,  daß  der  Humanismus,  der  sie  bei  uns  vorbereitete, 
in  Wissenschaft  und  Künsten  überall  auf  die  alten  Anschauungen 
und  Formen  stieß,  daß  sich  diese  Invasion  des  italienischen  Geistes 
ferner  in  zwei  kurzen  Generationen  vollzogen  hat,  und  endlich, 
daß  der  Humanismus  damals  in  Italien  bereits  auf  seiner  Höhe 
war,  eine  Entwickelung  von  zw^ei  Jahrhunderten  durchmessen 
hatte,  —  daß  mithin  die  Bedingungen,  die  ihn  erklären,  um  zwei 
volle  Jahrhunderte  vor  der  Reformation  zurückliegen. 

Das  Italien  des  14.  Jahrhunderts  haben  wir  uns  also  vorzu- 
stellen, wenn  wir  den  Schöpfer  und  größten  Heros  des  Humanis- 
mus, wenn  wir  Petrarca  begreifen  wollen,  den  ersten  »Individual- 
menschen«,  wie  man  ihn  heute  hat  taufen  w'ollen,  »der  die  Schran- 
ken des  korporativen  Daseins  und  Empfindens  durchbrochen«, 
der  »zuerst  sein  Ich  zum  Spiegel  der  Welt  erhoben«,  »sein  Selbst 
entdeckt  habe«,  und  so  »der  Prophet  der  neuen  Zeit,  der  Ahnherr 
der  modernen  Welt«  geworden  sei. 

In  dieser  Epoche  blieb,  äußerlich  wenigstens,  in  ItaUen  wie 
überall  das,  was  das  Mittelalter  ausmacht,  erhalten,  die  Kirche, 
das  Imperium,  die  Mehrzahl  der  feudalen  Ordnungen.  Niemals 
sind  die  papalen  Theorien  schroffer  betont  worden  als  zur  Zeit 
der  Päpste  von  Avignon.  Keins  der  alten  Dogmen  ging  verloren; 
vielmehr  kam  ein  neues  hinzu,  in  dem  sich  die  spezifisch  mittel- 
alterliche Romantik  ausprägte,  und  das  eben  darum  heute  end- 
gültig bestätigt  worden  ist,  das  von  der  unbefleckten  Empfängnis 
der  Mutter  Gottes.  Versuche  wurden  freilich  gemacht,  von  innen  her, 
durch  Umwandlung  der  rehgiösen  Prinzipien  die  alte  Weltauffassung 
zu  zerstören :  Wiclif  und  Hus  traten  auf,  hier  und  da  ein  deutscher 
Grübler,  Sekten  aller  Art  und  allerorten.  Aber  sie  alle  w^urden  be- 
siegt, und  nicht  bloß  durch  brutale  Gewalt,  sondern,  wie  wir  zugeben 
müssen,  durch  die  Reaktion  des  öffentlichen  Willens,  des  allge- 
meinen Kulturbewußtseins :  man  wollte  so  glauben,  wie  man  mußte. 


Humanismus  und  Reformation.  ^\ 

In  der  Wissenschaft  war  es  nicht  anders.  Die  neuen  Uni- 
versitäten, die  erst  jetzt  nach  dem  Vorbilde  Bolognas  oder  Paris' 
in  größerer  Anzahl  entstanden  (in  Deutschland  gehören  nur  drei 
dem  14.  Jahrhundert  an),  waren  durchweg  geisthche  Organi- 
sationen, in  allen  Fakultäten  an  Papst  und  Hierarchie  gebunden, 
auf  dem  Grunde  der  Scholastik.  Was  ist  deren  Sinn  ?  Sie  will 
beweisen,  was  sich  bereits  offenbart  hat:  Gott  selbst  in  den  For- 
men, die  sein  Wesen  angezogen  hat,  von  der  Trinität  abwärts 
bis  in  die  tausendfachen  Verästelungen  des  hierarchischen  Willens, 
der  die  Welt  beherrscht  mit  dem  Anspruch,  das  Göttliche,  das 
Ewige,  das  Unaussprechliche,  das  Erhaltende,  Vergangenheit, 
Gegenwart  und  Zukunft  in  allen  Femen  Verknüpfende  zu  sein  — 
das  soll  schulmäßig,  in  den  dialektischen  Beweisformen  darge- 
stellt, nicht  dem  Herzen,  sondern  dem  Verstände  soll  es  nahe 
gebracht  werden.  Diese  Weltauffassung  kennt  kein  Fragezeichen 
vor  jeder  Aufgabe  der  Forschung,  sie  kennt  nur  ein  Definieren 
dessen,  was  zu  glauben  ist.  Wovon  der  Glaube  befahl,  daß  es 
sein  sollte,  das  also  hatte  die  Wissenschaf t  (in  Natur  und  Geschichte, 
Empirie  wie  Spekulation)  zu  beweisen,  nicht  mehr  und  nicht 
weniger.  Weh  ihr,  wenn  sie  es  nicht  tat,  wenn  sie  ablenken  und 
Dinge  beweisen  wollte,  die  nicht  im  Kreise  der  Glaubenstheorien 
beschlossen  und  ihr  feindlich  waren!  Jeder  Versuch  solcher  Ab- 
irrung war  Auflehnung  gegen  ein  System,  das  alles  göttliche  und 
irdische  Wesen  ineinander  verwirrt  und  gefesselt  hielt. 

So  sehr  man  nun  dies  zu  betonen  hat,  muß  man  auf  der 
andern  Seite  doch  wiederum  festhalten,  daß  die  eigenthche  schöpfe- 
rische Zeit  des  mittelalterlichen  Geistes  vorüber  war.  Die  Kraft 
der  abendländischen  Nationen  sammelte  sich  nicht  mehr,  um 
sich  in  gewaltigen  Stößen  gegen  den  Orient  zu  entladen,  viel- 
mehr rissen  die  Türken  immer  neue  Stücke  des  neuen  wie  des 
alten  Herrschaftsgebietes  ab.  Auch  neue  Orden  wollten  sich  nicht 
mehr  bilden,  wie  weitverzweigt  und  lebensvoll  die  alten  auch 
noch  sein  mochten.  Das  Papsttum  selbst  erlebte  von  allen  Seiten 
schwerste  Angriffe,  von  dem  Kaisertum  und  von  dem  Allerchrist- 
lichsten  König,  von  den  Minoriten,  von  den  Kardinälen  und  dem 
Episkopat,   von   der   ganzen   offiziellen    KLirchenvertretung.     Die 

Lenz,   Kleine  historische  Schriften.  6 


32  Kleine  historische  Schriften. 

Nationen  traten  auseinander,  in  sich  selbst  zunächst  zerfallend 
und  doch  gewaltig  erstarkend;  jedes  Volk  rang  nach  eigentüm- 
licher Gestaltung  seines  politischen  und  geistigen  Lebens;  ver- 
gleichen wir  Deutschland  mit  Italien  oder  beide  mit  Frankreich 
und  England,  so  sehen  wir  ganz  verschiedene  Welten.  Sichtbar 
wird  der  \\'andel  der  Zeiten  besonders  in  den  Verfassungen; 
überall  bemerken  wir  ein  Erschlaffen  der  Feudalformen,  über 
und  zwischen  ihnen  aber  moderne  Bildungen  des  staatlichen 
Lebens.  Vor  allem  in  Italien,  wo  neben  Stadtstaaten  wie  Florenz 
mit  dem  unaufhörlichen  Wechsel  seiner  politischen  Repräsen- 
tationen sich  auf  den  Trümmern  der  bürgerlichen  Freiheit  zahl- 
reiche Tyrannen  erhoben  hatten;  Klugheit,  Verwegenheit  und 
Glück  gründeten  hier  die  Throne  oder  stürzten  sie;  nirgends  galt 
Vasallentreue  oder  Untertaneneid,  nichts  band  über  den  Tod 
hinaus;  nur  die  Betätigung  der  persönlichen  Kraft  ward  gefor- 
dert und  anerkannt;  alle  politische  Gewalt  erschien  ephemer, 
wie  auf  Flugsand  gestellt.  Und  dabei  gerade  hier  der  mittel- 
alterlichste aller  Staaten,  die  wunderlichste  Verquickung  hier- 
archischer und  politischer  Zwecke,  der  Territorialstaat  der  mittel- 
alterhchen  Kirche!  Der  Widerspruch  zwischen  Altem  und  Neuem, 
zwischen  Sein  und  Wollen  mußte  aber  in  Italien  um  so  tiefer 
empfunden  werden,  als  nun  die  Kurie  von  Rom  entfernt,  in 
Avignon  der  französischen  Politik  dienstbar  geworden  war,  ohne 
doch  irgend  einen  Anspruch  auf  ihr  Land  aufzugeben;  Italien 
sah  sich  von  ihr  beiseite  gelassen  und  doch  beeinflußt. 

War  aber  das  Ringen  nach  nationaler  Selbstbestimmung  das 
Geheimnis  der  Epoche,  das  Innerste  in  dem  Umwandlungsprozeß, 
den  die  romanischen  und  germanischen  Völker  im  14.  und  15.  Jahr- 
hundert durchmaßen,  so  läßt  es  sich  für  Italien  kaum  anders  vor- 
stellen, als  daß  es  seine  Wiedergeburt  in  den  Formen  der  Antike 
zu  vollziehen  trachten  mußte.  Hier  eben  war  der  Boden  der  an- 
tiken Herrlichkeit,  römische  Siedlungen  fast  alle  größeren  Städte 
von  den  Alpen  bis  an  das  Sizilische  Meer.  Die  italienische  Sprache 
stand  der  lateinischen  Zunge  am  nächsten,  sie  erschien  fast  nur 
wie  ein  Dialekt,  als  das  Volgare  gegenüber  dem  Idiom,  dessen 
Reinheit,  Gedankenklarheit,  Formenfülle  und  melodische  Schön- 


Humanismus  und  Reformation.  83 

heit  in  den  Reden  eines  Cicero,  in  den  Gesängen  eines  Vergil  das 
Ohr  entzückten.  In  allen  Städten  sah  man  die  stummen  Zeugen 
der  eigenen  Vorzeit:  die  ragenden  Wölbungen  der  Viadukte,  der 
Bäder  und  Paläste,  die  harmonischen  Gliederungen  der  Säulen- 
hallen in  Portiken  und  Tempeln,  die  gewaltigen  Denkmäler  der 
politischen  Macht  in  den  Amphitheatern,  Ehrensäulen  und  Tri- 
umphbögen. Und  unter  dem  Boden  nun  die  Marmorgestalten 
der  toten  Götter  und  Helden,  deren  stummer  Mund  beredter 
fast  als  die  Pergamentbände  der  Redner  und  Poeten  den  Geistes- 
adel antiker  Menschheit  verkündigte.  Klassischer  Boden  war  es, 
wohin  man  trat,  und  überall  der  nationale.  Wenn  also  der  Geist 
Italiens  sich  auf  sich  selbst  besann,  seiner  Kraft  bewußt,  nach 
neuen  Formen  seiner  selbst  begierig  wurde  —  mußte  er  da  nicht 
den  BUck  auf  die  Vergangenheit  richten,  an  der  er  sich  nur  empor- 
heben mochte,  die  er  nur  wiederherzustellen  brauchte,  um  (so 
schien  es)  alle  Kraft,  Weisheit  und  Schönheit  wieder  zu  gewinnen  ? 
Zumal  da  ja  der  lateinische  Geist  auch  in  der  Gegenwart  noch 
mächtig  war,  in  der  Sprache  und  Literatur,  in  aller  Wissenschaft 
die  Herrschaft  ununterbrochen  behauptet  hatte.  Nur  die  Fesseln, 
so  glaubte  man,  galt  es  zu  zerbrechen,  in  welche  die  Hierarchie 
den  Geist  der  Antike  geschlagen  hatte,  nur  den  Schutt  hinweg- 
zuräumen, den  barbarische  Jahrhunderte  darüberhin  gehäuft 
hatten. 

Diesem  Sehnen  seiner  Nation  als  erster  den  literarischen 
Ausdruck,  eine  neue  künstlerische  Form  verliehen  zu  haben,  ist 
der  Ruhm  Petrarcas.  Niemand  hat  den  Druck  des  scholastischen 
Denkens  härter  empfunden  und  herber  verspottet  als  er,  niemals 
sind  leidenschaftlichere  Worte  gegen  die  Kurie  gewagt  worden 
als  in  jenem  Sonett,  worin  er  des  Himmels  Blitz  auf  »das  Haupt 
voU  Trug«  herabruft: 

Du  sonst  vom  Quell  genährt  und  Eichelfrucht, 
Die  jetzt  von  andrer  Armut  Reichtum  sucht. 
Durch  so  viel  ^Missetaten  reich  genug. 
In  Dantes  Prophetenmantel  gehüllt  trat  er  vor   Karl  IV.   und 
mahnte  ihn,  dem  zerrissenen  Italien  die  Einheit  wiederzugeben, 
es  unter  dem  Banner  des  Kaiserreiches  um  sich  zu  sammeln. 

6* 


g4  Kleine  historische  Schriften. 

Aber  über  Worte  ist  er  nie  hinausgekommen.  Alle  seine 
Jahre  hat  er  in  Avignon  zugebracht^Joder  an  den  Höfen,  gegen 
die  er  sein  Italien  zur  Freiheit  und  Einheit  aufrief.  Sein  Eifern 
gegen  den  Sündenpfuhl  an  der  Rhone  hinderte  ihn  nicht,  selbst 
Priester  und  Domherr  zu  werden  und  unablässig  um  Pfründen 
zu  betteln  für  sich  wie  für  seine  beiden  Kinder,  die  er  trotz  der 
W^eihen  besaß.  »Auf  die  Taten,«  schreibt  er,  »richte  deinen  Geist! 
In  den  Worten  ist  eitel  Großtun,  mühseliges  Stammeln  und  hohler 
Klang,  im  Tun  allein  ist  Ruhe,  Tugend,  Glück.«  Und  an  heroi- 
schen Erklärungen,  den  Tod  für  die  Wahrheit  und  für  die  Auf- 
crweckung  der  römischen  Größe  erleiden  zu  wollen,  ließ  er  es 
nicht  fehlen:  aber  er  hat  nie  den  Finger  danach  gerührt.  Er  war 
ein  Patriot  ohne  persönliche  Opfer.  Er  war  angesehen  bei  Höfen 
und  Republiken;  man  wetteiferte  um  seinen  Besitz,  wie  spätere 
Zeiten  um  Erasmus  und  Voltaire:  aber  wie  diese  ward  er  stets 
als  Schöngeist  behandelt. 

Es  war  jedoch  nicht  bloße  Tatenscheu  und  Gewissenlosig- 
keit, was  ihn  in  den  alten  Ordnungen  festhielt:  seine  Ideen  reichen 
doch  schließlich  nirgends  über  die  Schranken  des  katholischen 
Empfindens  hinaus.  W^o  die  höchsten  Wahrheiten  der  Rehgion, 
so  bekennt  er  selbst,  wo  das  ewige  Heil  in  Betracht  komme,  da 
sei  er  weder  Ciceronianer  noch  Platoniker,  sondern  Christ.  Und 
in  der  Tat,  wenn  der  Gedanke  der  Welt  flucht  das  Grundprinzip 
der  mittelalterlichen  Weltanschauung  ist,  so  begegnen  wir  gerade 
darin  der  Lieblingsidee  Petrarcas.  Das  Buch  über  die  Verachtung 
der  Welt  oder  »von  den  geheimen  Kämpfen  seiner  Seele«  hat  er 
selbst  als  den  Schlüssel  und  die  Krone  seiner  Werke  bezeichnet. 
Wie  er  aber  diese  Kämpfe  schildert,  als  das  ewige  Schwanken 
zwischen  Weltfreude  und  Entsagung,  zwischen  Himmelssehn- 
sucht und  Todesängsten,  erscheint  in  ihnen  nirgends  ein  wesent- 
lich neues  Moment.  Eben  das  unvermittelte  Nebeneinander  über- 
schäumender Lebenslust  und  pessimistischen  Verzagens  am  Dasein 
ist  ja  für  das  Mittelalter  charakteristisch.  Der  Überdruß  an  dem 
irdischen  Getriebe,  das  Gefühl  von  seiner  Nichtigkeit  und  Leere, 
die  Sehnsucht  nach  dem  »Ruhen  und  Schauen«,  das  Petrarca 
in  seiner  Schrift  von  der  ]\Iuße  »der  Klosterbrüder«  preist,  trieb 


Humanismus  imd  Reformation.  85 

ja  die  Tausende  in  die  klösterliche  Stille  oder  in  völlige  Wildnis 
und  Waldeinsamkeit.  Auch  ist  es  nicht  wahr,  daß  er  als  der  erste 
in  solcher  Seelenmalerei  sich  versucht  und  damit  etwa  den  »Bann 
der  Korporation«  durchbrochen  und  der  »modernen  Individuali- 
tät« die  Bahn  bereitet  habe:  des  heiligen  Bernhard  Briefe  und 
Traktate  sind  voll  von  verwandten  Empfindungen,  und  man 
braucht  nur  die  Schriften  der  deutschen  Mystiker  vor  und  nach 
Petrarca  zu  lesen,  um  auch  hier  eine  Sprache  voll  persönlichster 
Inbrunst  wiederzufinden.  Gerade  darin,  daß  er  den  Besten 
seiner  Zeit  genug  tat,  daß  ihm  ein  Gott  zu  sagen  gab,  was  er 
litt,  daß  er  dem  allgemeinen  Empfinden  als  ein  ganzer  Dichter 
den  vollen  Ausdruck  gab,  liegt  Petrarcas  Größe.  Freilich,  er  tat 
es  »mit  etwas  anderen  Worten«  als  es  herkömmlich  war,  wenn 
er  die  Anmut  und  Süßigkeit  eines  Lebens  fern  von  dem  Lärm 
des  Tages  im  Schöße  der  Natur  schilderte  und  das  Versenken 
der  Seele  in  ihre  Schönheit  oder  in  das  Studium  der  Alten  und 
der  christlichen  Väter  pries.  Die  Kirche  pflegte  dieselben  Ge- 
danken etwas  ernster  zu  nehmen,  und  darum  konnte  sie  den 
Poeten  trotz  seiner  Zornepisteln  gegen  ihre  Entartung  vornehm 
tolerieren.     Sie  hat  ihn  niemals  für  gefährlich  gehalten. 

So  waren  auch  seine  Angriffe  gegen  die  Scholastik  ziellos 
und  noch  hohler  als  diejenigen  gegen  die  Kurie  von  Avignon  oder 
seine  dantesken  Deklamationen  für  die  Restauration  des  Kaiser- 
tums. Er  kannte  die  Systeme  nicht,  welche  er  bekämpfte.  Viel 
tiefer,  als  er  glaubte,  reichten  die  Wurzeln  der  mittelalterlichen 
Philosophie,  und  ihre  Spekulationen  standen  im  engsten  Zusam- 
menhang mit  der  Kirche,  von  der  doch  auch  er  umschlossen  blei- 
ben woUte.  Eine  Summe  praktischer  Erfahrung  war  auch  in  den 
besonderen  Disziplinen  enthalten.  Viel  eher  doch  aus  ihnen  heraus 
als  aus  seinen  Diatriben  haben  sich  die  modernen  Wissenschaften 
entwickelt,  die  sehr  viel  dankbarer  auf  sie  herabsehen  als  ihr 
humanistischer  Zeitgenosse.  Nur  den  Boden  hat  Petrarca  überall 
gelockert,  aber  nirgends  die  in  den  Dornen  der  scholastischen 
Spekulation  verstrickten  positiven  Gedanken  fortgebildet.  Mehr 
ein  künstlerisches  als  ein  ethisches  Ideal  war  sein  Ziel,  der  Genuß 
eines  schönen   Lebens,   die  Vollendung  der  Persönlichkeit;   aber 


86  Kleine  historische  Schriften. 

er  stellte  sich  damit  nicht  auf  einen  neuen  Boden,  sondern  suchte 
nur  immer  Anlehnung  an  die  antike  Bildung,  die  doch  ein  Grund- 
element auch  der  hierarchischen  war  und  niemals  wieder  zu  einem 
selbständigen  Leben  erwachen  konnte.  Die  klassischen  Ideale 
in  Literatur  und  Leben  wollte  er  der  hierarchischen  Kultur  ent- 
gegensetzen, ohne  doch  etwas  Weiteres  zu  erreichen,  als  deren 
Umdeutung  nach  der  Gedankenwelt  der  Antike. 

Daraus  erklärt  es  sich,  daß  Rom  und  die  Renaissance  den 
innigsten  Bund  miteinander  geschlossen  haben,  und  daß  Martin 
Luther  den  Weckruf  an  das  Gewissen  der  Christenheit  gegen 
denselben  Papst  erheben  konnte,  der  als  der  Eponymos  für  die 
Höhezeit  der  Renaissance  gelten  darf.  Im  Zusammenhang  damit 
ist  auch  die  Gleichförmigkeit  zu  verstehen,  welche  die  humani- 
stischen Ideale  durch  beide  Jahrhunderte  hin  behauptet  haben: 
daß  Petrarca  zwar  eine  Menge  Nachfolger,  aber  keine  rechten 
Fortsetzer  gehabt  hat.  Die  Studien  wurden  freilich  intensiver, 
die  Vorstellungen  von  der  Antike  geläuterter,  die  Gleichsetzung 
des  eigenen  Daseins  mit  dem  antiken  Ideal  trat  unverhüllter 
hervor,  die  Lust,  mit  der  man  sich  ihm  ergab,  ward  heißer  und 
nackter,  also  daß  der  stoische  Tugendmantel  Petrarcas  ganz 
fadenscheinig  und  rissig  wurde,  die  Gleichgültigkeit  gegen  die 
Hierarchie  nahm  zu  in  demselben  Maße,  wie  sich  die  Erbitterung 
verringerte.  Wenn  wir  aber  prüfen,  worin  das  Eigentümliche, 
worin  der  Fortschritt  in  dem  späteren  Humanismus  über  Petrarca 
hinaus  liegt,  so  finden  wir  ungemein  wenig;  und  nichts  von  den 
großen  Gedanken,  welche  vom  i6.  Jahrhundert  ab  die  Welt  er- 
schütterten und  umgestalteten. 

Denn  Weltentwickelung  heißt  immer  Umbildung  der  Natio- 
nalitäten, ist  Artverwandlung.  Dazu  aber  sind  zuguterletzt  Ideen 
nötig,  welche  jeden  einzelnen,  alle  und  jeden,  welche  die  Massen 
packen:  die  Gesellschaft  muß  bis  in  die  Tiefen  erregt  sein,  wenn 
ihr  Bau  und  Antlitz  insgesamt  umgeformt  werden  soll.  Mit  dem 
zarten  Gespinst  humanistischer  Bildungs-  und  Schönheitsideale 
sind  die  breiten  IMassen  mit  ihrer  oft  barbarischen  Unbildung, 
ihren  niedrigen  Trieben  und  Bedürfnissen,  ihrer  Arbeit,  die  nur 
auf  die  Stunde  berechnet  sein  kann,  nicht  zu  fangen.    Ein  enger 


Humanismus  und  Reformation.  87 

Horizont  umgibt  sie.  Sie  müssen  den  Hunger  vertreiben.  Das 
Elend  des  Lebens  tritt  ihnen  unmittelbar  nahe.  Sie  haben  keine 
Zeit  zu  erlauchten  Gefühlen,  erhabenen  Gedanken.  Nun  aber  ist 
es  doch  die  Aufgabe,  eine  Idee  zu  finden,  die  ihnen  das  Leben 
erträglich  macht,  die  ihnen  Freude  zur  Arbeit  gibt  und  ihre  Her- 
zen über  die  Sorgen  des  Tages  und  das  Erdenleid  zu  erheben 
vermag.  Dazu  gehören  stärkere  Netze,  gleichartig  geknüpfte, 
nach  den  großen  Gleichartigkeiten,  die  das  Leben  durchwalten  — 
Tod,  Krankheit,  unverschuldeter  und  verschuldeter  Jammer, 
Angst  und  Liebe  gegen  sich  selbst  und  gegen  Gott.  Solche  Netze 
sind  diejenigen,  welche  von  Sankt  Peter  her  viele  Nationen  um- 
hüllten; Jahrhunderte  haben  daran  geknüpft,  und  Millionen  Hände 
arbeiten  unermüdlich  daran  weiter;  gleichartig  sind  sie  und  doch 
vielgestaltet,  aus  einem  Plane  heraus  und  mit  einem  Ziele, 
die  Menschheit  und  jeden  einzelnen  umstrickend;  und  Masche 
auf  Masche  wird  an  der  Peripherie  angesetzt,  die  ins  Grenzen- 
lose strebt,  bis  (so  will  es  der  Glaube)  das  Erdenrund  eingesponnen 
sein  wird. 

Wie  hätten  die  paar  ItaUener,  die  an  der  Imitation  des  Alter- 
tums ihre  Freude  hatten,  daran  denken  mögen,  diese  Weltmacht 
umzustoßen!  Sie  waren  nur  ein  kleiner  Ausschnitt  der  Gesell- 
schaft, eine  Aristokratie  des  Geistes,  entfremdet  ihrer  Zeit  um 
so  mehr,  je  wörtHcher  sie  die  Antike  ihrer  Weltauffassung 
gleichsetzten;  um  so  mehr  sie  selbst  der  Wirklichkeit  entrückt, 
um  so  phantastischer  sie,  die  Skeptiker  und  Kritiker  der  hier- 
archischen Phantasien. 

Von  hier  aus  erkennen  wir  den  Gegensatz  Luthers  zu  der 
Bildung  der  Renaissance,  wie  zu  allem,  was  sich  innerhalb  der 
Hierarchie  hielt.  Gewiß  stand  auch  er  unter  dem  Anhauch  des 
humanistischen  Geistes;  aber  er  hat  viel  tiefer  gegraben,  um  den 
Quell  zu  finden,  aus  dem  er  die  Erneuerung  seines  Lebens  trank. 
Jene  Philosophie,  die  Petrarca  von  vornherein  negierte,  hat  er 
bis  in  die  feinsten  Verzweigungen  ihrer  Spekulation,  bis  auf  die 
schärfste  Schneide  ihrer  Skepsis  verfolgt;  die  Weltflucht,  welche 
jener  so  idyllisch  gepriesen  —  zwei  Diener  jedoch  und  einen  Koch 
reservierte  er  sich  dabei  —  hat  der  deutsche  Reformator  mit  dem 


gg  Kleine  historische   Schriften. 

unbarmherzigsten  Ernste  betrieben;  die  Skrupel  der  Seele,  über 
die  der  Humanist  so  schön  zu  schreiben  wußte,  hat  er  in  der  Ein- 
samkeit der  Klostermauern  bis  zur  Verzweiflung  an  sich  selbst 
durchgekostet;  auch  die  Gottinnigkeit,  in  die  Petrarca  sich  so 
behaglich  zu  versenken  liebte,  hat  Luther  damals  wohl  geteilt 
und  bis  zu  ekstatischer  Verzückung,  ja  zu  fanatischem  Grimm 
gegen  jeden,  der  anders  dachte,  gesteigert.  Das  ganze  System 
in  Theorie  und  Praxis  bis  zur  Selbstaufliebung  seiner  selbst  hat 
er  durchgedacht  und  durchlebt,  immer  darauf  aus,  den  Gott  zu 
sehen  und  an  sich  zu  ziehen,  der  ihm  in  den  Schriften  und  Lehren 
der  Kirche,  in  der  Verfassung  und  im  Kultus,  mit  seinem  Leibe 
und  Blute  selbst  zu  greifen  und  zu  schmecken,  als  das  Unwider- 
sprechliche  und  Absolute  gepredigt,  dargeboten,  aufgedrängt 
wurde  —  und  alles  Martern  des  Hirnes  und  des  Herzens,  alle 
Selbstentäußerung  brachte  ihn  dem  Höchsten  auch  nicht  um  eine 
Linie  näher:  nirgends  der  Gott,  den  er  suchte;  jenseits  alles 
irdischen  Denkens  und  Vorstellens  sein  Reich,  unnahbar  jeder 
Anstrengung  der  Vernunft  oder  des  Willens  —  ein  Spott,  ein 
Nichts,  ein  Griff  in  die  Luft  jeder  Versuch,  ihn  intellektuell  zu 
erfassen  oder  in  sittlichem  Bemühen  ihm  genug  zu  tun. 

Und  das  alles,  ohne  zu  wissen,  was  er  tat  —  abgeschieden, 
abgestorben  der  Welt  gleich  tausend  anderen  Klosterbrüdern. 
Was  wußte  er,  der  Bauemsohn  aus  einer  kleinen  deutschen  Graf- 
schaft, von  dem  deutschen  Staate,  was  von  dem  Sündenleben  in 
Rom !  Und  wenn  er  es  wußte,  was  kümmerte  es  ihn !  Das  war  die 
Welt  da  draußen,  die  irdische  Sphäre,  von  der  er  eben  los  wollte, 
hin  zu  dem  einen,  dem  Ewigen;  und  alle  Verwirrung  und  Sünde 
der  Welt  war  nur  ein  Beweis  mehr  für  die  Kluft  zwischen  der 
unnahbaren  Majestät  Gottes  und  der  Welt  des  Staubes.  Luther 
dachte  nur  an  sich  —  nur  an  den  Frieden ,  den  die  Welt 
nicht  gibt. 

Ich  brauche  nun  nicht  mehr  zu  schildern,  denn  wir  wissen 
es  alle,  wie  er  ihn  gefunden  hat,  wie  sich  allmählich  die  dunkeln 
Schatten  um  ihn  legten,  wie  vor  der  Sonne,  da  sie  sich  durch 
Nacht  und  Nebel  hindurchrang,  die  Spukgestalten  der  mittel- 
alterlichen Nacht  hinweggescheucht  sind,  wie  er  die  feste  Burg, 


Humanismus  und  Reformation.  89 

das  »steinern  Ufer«  gefunden  hat,  an  dem  alles  Wüten  der 
Feinde,  alle  Wogen  der  Welt  Verwirrung  zerschellten. 

Nicht  an  das  Ideal  schöner  ]\Ienschlichkeit,  an  die  Vollen- 
dung der  Persönlichkeit  im  Sinne  Petrarcas  dachte  dieser  Mönch, 
sondern  nur  daran,  seinem  Selbst  den  Boden  zu  bereiten,  auf 
dem  es  sicher  ruhen  konnte  gegenüber  dem  in  Zeit  und  Ewig- 
keit Allmächtigen. 

Diesen  Kampf  ihm  nachzukämpfen  ist  evangelisches  Leben, 
In  ihm  gilt  kein  Unterschied  von  Rang  und  Person.  Das  aller- 
erste ist  es  für  einen  jeden,  und  das  Bedingende  in  seinem  Ver- 
hältnis zu  allem,  was  irdisch  ist,  in  Staat  und  Kirche,  in  Gegen- 
wart und  Geschichte,  in  Gesellschaft  und  Familie,  in  Recht  und 
Sitte.  In  diesem  Sinne  hat  Luther,  und  kein  anderer,  den  Grund 
gelegt  für  die  moderne  Individualität,  und  damit  (denn  aus  Indi- 
viduen bestehen  diese)  für  Staat  und  Gesellschaft.  Nur  in  diesem 
Rahmen,  der  diamanten  ist,  kann  Arbeit  und  Besitz,  Liebe  zu 
Frau  und  Kind,  der  Stolz  auf  das  Vaterland,  die  Freude  am  Da- 
sein für  uns  sittlich  genannt  werden.  Und  daher  die  Todfeinschaft 
der  reformatorischen  Idee  zu  derjenigen  der  römischen  Kirche, 
die  eben  darum  ihre  Wurzeln  in  alle  Fundamente  der  Gesellschaft, 
in  Staat  und  Recht,  Wissenschaft  und  alle  Bildung  hineinge- 
trieben hat,  weil  sie  jeden  einzelnen  von  der  Wiege  bis  zur 
Bahre  in  allen  Lebensregungen  sakramentlich  siebenfach  an 
sich  gefesselt,  unentrinnbar  mit  ihrem  Sein  und  Wollen  ver- 
strickt hält. 

Gewiß,  die  Welt  ist  anders  geworden:  andere  Aufgaben  sind 
uns  gestellt  in  Staat  und  Gesellschaft  als  im  i6.  Jahrhundert, 
andere  Formen  und  Ziele  unseres  Erkennens  und  Lebens  sind  in 
Geltung;  unermeßlich  ist  der  historische  Horizont  wie  der  der 
Natur,  der  Begriff  des  Menschengeschlechtes  selbst  erweitert.  In 
der  Engigkeit  des  damaligen  Weltbegriffes  mußten  die  Ideen 
Luthers  enge  Formen  annehmen,  sich  staatlich  und  kirchlich, 
wissenschaftlich  und  dogmatisch  gleichsam  verkapseln. 

Behalten  wir  dennoch  den  Glauben,  daß  nur  die  Schalen 
zerbrochen  sind,  der  leuchtende  Kern  aber  bleiben  wird,  daß  es 
in  allem  Anfang  für  die  Individuen  und  für  die  Gesellschaft  auf 


90  Kleine  historische  Schriften. 

jene  höchste  Fundamentierung  der  Sittlichkeit  ankommt,  daß 
Recht  und  Wirtschaft,  Arbeit  und  Liebe,  Staat  und  Nationahtät, 
daß  auch  das  Gebiet  der  Forschung,  ja  selbst  das  Reich  des 
Schönen  schließlich  an  jenes  Firmament  geknüpft  ist.  Halten 
wir  im  Gedächtnis,  daß  unser  Staat  auf  diesem  Boden  gebaut, 
daß  die  heiligsten  Güter  unserer  Nation  ihm  entsprungen  sind  — 
und  lassen  Sie  uns  das  bekennen  auch  vor  denen,  die  aus  Gleich- 
gültigkeit oder  Furcht  oder  aus  sogenannter  Politik  davon  absehen 
möchten.  Erinnern  wir  uns  daran,  daß  die  Pfadfinder,  die  Bahn- 
brecher unserer  Kultur  im  vorigen  Jahrhundert  über  nichts  sich 
klarer  waren  als  über  ihre  Verbindung  mit  der  Reformation; 
und  beherzigen  wir  den  Spruch,  mit  dem  der  freieste  dichterische 
Genius  unseres  Volkes,  mit  dem  Goethe  das  dritte  Säkularfest 
der  Reformation  begrüßte: 

Auch  ich  soll  gottgegebne  Kraft 

Nicht  ungenutzt  verlieren. 

Und  will  in  Kunst  und  Wissenschaft, 

Wie  immer,  protestieren  ! 


m^:^^^ 


Geschichtssdireibung  und  Geschichtsauffas- 
sung im  Elsaß  zur  Zeit  der  Reformation. 

(1895.) 

Nur  ein  kleiner  Ausschnitt  aus  dem  Leben  des  Elsaß  und 
seiner  hochberühmten  Hauptstadt  sind  die  Jahre  der  Refor- 
mation, nur  ein  enger  Kreis  aus  der  Gestaltenfülle,  die  alle  Jahr- 
hunderte ihrer  Geschichte  beleben,  die  Männer,  welche  Straß- 
burg für  eine  Zeit  zum  Mittelpunkt  des  europäischen  Protestan- 
tismus erhoben  haben:  in  den  Mauern  dieser  Stadt  umschweben 
uns  die  Schatten  Meister  Erwins,  Johann  Gutenbergs  und  des 
jungen  Goethe;  mehr  als  ein  Jahrtausend  deutscher  Geschichte 
ist  mit  ihr  und  ihrem  Lande  verwachsen;  auch  unter  der  Fremd- 
herrschaft fanden  sich  im  Elsaß  immer  noch  Männer,  die  eine 
innige  Liebe  zur  Heimat  mit  treuer  Anhänglichkeit  an  deutsche 
Bildung  und  deutschen  Glauben  vereinten.  Freihch  aber  hat  der 
Strom  deutschen  Lebens  zwischen  Rhein  und  Vogesen  niemals 
voller  geflutet  als  in  den  Jahren,  da  Straß  bürg  für  ganz  Ober- 
deutschland das  Bollwerk  und  der  Pflanzgarten  des  Evangeliums 
war  und  eine  neue  »Herberge  der  Gerechtigkeit«  für. die  Verbann- 
ten aller  Nationen,  die  dem  deutschen  Glauben,  von  seiner  Kraft 
getroffen,  Vaterland  und  Familie  und  alles,  was  sie  an  die  Heimat 
band,  willig  geopfert  hatten. 

Es  war  die  Zeit,  da  vor  dem  als  wahr  erkannten  Glauben 
alle  Unterschiede  der  Nationalität  und  Politik  zurückwichen  und 
nur  nach  dem  Maße  Geltung  behielten,  als  sie  dem  religiösen 
Gemeingefühl  entsprachen;  und  nirgends  ist  die  allbesiegende 
Kraft  des  Bekenntnisses  stärker  empfunden  und  bezeugt  worden 


92  Kleine  historische  Schriften. 

als  in  Straßburg;  wie  von  jenen  Emigranten,  so  auch  von  den 
einheimischen  Predigern  und  Professoren,  die  ihren  fremden 
Freunden  an  den  Kirchen  und  Schulen  ihrer  Stadt  eine  neue 
Heimat  und  Wirksamkeit  bereiteten.  Dennoch  aber,  wer  will  es 
leugnen,  daß  diesen  Söhnen  des  Elsaß  ein  starkes  Empfinden 
für  den  Ruhm  des  großen  Vaterlandes  wie  für  die  engere  Heimat 
eigen  war!  Ja  mehr  als  das,  auf  diesem  Grunde  waren  sie  auf- 
gewachsen; es  war  das  lebendigste  Element  in  ihrer  Bildung. 
Sie  alle  waren  Humanisten,  Schüler  Wimphehngs  und  seiner 
Freunde,  groß  geworden  in  der  Bewunderung  deutscher  Tugenden, 
genährt  an  den  Idealen  einer  Vergangenheit,  die  sie  auch  dann 
noch,  als  alle  religiösen  Werte  umgeschmolzen  wurden,  hoch- 
hielten und  verfochten.  In  dieser  Verbindung  vaterländischen 
Hochgefühles  und  einer  Rehgiosität,  welche  über  aUe  nationale 
Beschränktheit  hinausreichte,  liegt  recht  eigenthch  der  Charakter 
der  deutschen  Reformation  und  also  die  Bedeutung  der  Männer, 
die  im  Elsaß  ihre  Vorkämpfer  waren.  Sei  es  mir  darum  vergönnt, 
solche  Doppelseitigkeit  ihres  Wesens  an  einem  Zweige  ihres  Wir- 
kens, in  ihrer  Stellung  zur  Historie,  darzulegen. 

Ich  nannte  den  frommen  und  gelehrten  Mann,  den  wir  als 
den  Patriarchen  des  elsässischen  Humanismus  verehren:  Jakob 
Wimpheling  von  Schlettstadt,  den  Stadtgenossen  des  Beatus 
Rhenanus  und  Martin  Bucers,  den  Lehrer  und  väterlichen  Freund 
Jakob  Sturms.  Ihm  gebührt  der  Ruhm,  als  erster  eine  deutsche 
Geschichte  geschrieben  zu  haben.  Was  dies  bedeutete,  lehrt  ein 
Blick  auf  die  frühere  Historie,  wie  sie  im  Elsaß  und  in  Straßburg 
und  so  überall  im  Reiche  gepflegt  worden  war:  Denkwürdigkeiten 
einer  Stadt  oder  einer  Landschaft,  Klostergeschichten  oder  an- 
nalistische Weltchroniken  waren  genug  geschrieben  worden;  aber 
noch  niemals  war  der  Versuch  gemacht,  die  Geschichte  des  ge- 
samten Volkes  und  lediglich  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Natio- 
nalität zu  schildern.  Auch  Wimpheling  bewahrt  ein  starkes  Ge- 
fühl für  seine  engere  Heimat;  aber  ihren  größten  Ruhm  erbhckt 
er  in  ihrem  deutschen  Charakter,  in  der  Zusammengehörigkeit 
mit  dem  großen  Vaterlande.  Auch  er  ist  erfüllt  von  der  univer- 
salen  Stellung  des  Kaisertums;  aber  in  erster  Linie  sieht  er  in 


Geschichtsschreibung  und  Geschichtsauffassung  im  Elsaß  etc.        93 

den  Kaisern  doch  immer  die  deutschen  Fürsten,  vor  allem  in 
Kaiser  Max,  den  er  als  den  Helden  Deutschlands  und  als  seinen 
Rächer  gegen  die  Welschen  preist.  Er  ist  nicht  der  Entdecker 
dieser  Idee  gewesen,  wie  denn  überhaupt  wenig  Besonderes  an 
ihm  wahrzunehmen  ist;  plötzlich  und  allseitig  taucht  sie  auf. 
Er  ist  nur  eine  Stimme  in  dem  starken  Chor  gleichgesinnter  Ge- 
nossen, die,  aus  allen  Ständen  und  Landschaften  Deutschlands 
gemischt,  sich  auf  dem  Boden  einer  neuen  Bildung  zusammen- 
fanden und  in  einer  glänzend  ausgemalten  Vergangenheit  das 
politische  Ideal  zu  entdecken  glaubten,  das  in  der  Zerrissenheit 
der  Gegenwart  verloren  war. 

Auf  dieser  Stufe  der  Entwickelung  wurde  der  deutsche 
Humanismus  von  dem  Stoße  der  Reformation  getroffen,  und  sah 
sich  ein  jeder  der  Poeten  vor  die  Frage  gedrängt,  ob  er  Ernst 
machen  wolle  mit  der  Lobpreisung  der  Monarchie  und  den  Ver- 
dammungsurteilen über  Papst  und  Klerisei.  So  kam  es  zu  der 
großen  Scheidung  der  Geister.  Erschreckt  vor  der  wachsenden 
Verwirrung  und  dem  Zusammenbruch  der  alten  Religion,  von 
der  er  trotz  oppositioneller  Regungen  sich  tief  durchdrungen 
fühlte,  zog  sich  der  alte  Wimpheling  in  die  Einsamkeit  zurück 
und  sank  gramerfüllt  in  das  Grab.  Wie  er  waren  auch  Jüngere 
gesinnt,  sein  Lieblingsschüler  Beatus  Rhenanus,  sein  Neffe  Jakob 
Spiegel,  der  kaiserüche  Sekretär,  und  andere  Freunde;  die  hei- 
mischen Beziehungen  zu  den  habsburgischen  Herren  haben  offen- 
bar auf  ihr  Verhalten  zurückgewirkt,  wie  sie  schon  Wimphelings 
Stellung  zu  Maximilian  beeinflußt  hatten.  Denn  es  ist  nicht  wahr, 
daß  diese  Trennung,  wie  man  so  oft  liest,  die  der  älteren  und  der 
jüngeren  Generation  gewesen  sei;  gerade  unter  den  Jüngeren 
finden  wir  ebenso  hitzige  Gegner  wie  Verteidiger  der  neuen  Lehre, 
und  manch  älterer  Humanist  steht  an  Freiheit,  ja  Zügellosigkeit 
der  Gesinnung  auch  dem  Jüngsten  nicht  nach;  je  nach  Charakter, 
Temperament  und  lokalen  Einflüssen  verschob  sich  ihre  Stellung 
zu  den  Parteien  in  Kirche  und  Staat.  Auch  kann  ich  mich  nicht 
entschHeßen,  rückhaltlos  in  die  gewohnten  Vorwürfe  einzustim- 
men, daß  es  mit  dem  echten  Humanismus  fortan  zu  Ende  ge- 
wesen  sei.     Von   itahenischer   Freigeisterei   und    Schönheitsdurst 


94  Kleine  historische  Schriften. 

war  in  den  deutschen  Humanisten  niemals  viel  zu  spüren  ge- 
wesen. Sie  waren  von  jeher  in  erster  Linie  Pädagogen  und  hatten 
fast  alle  etwas  Schulmeisterlich-Philiströses  an  sich.  Freilich  ist 
durch  den  Glaubenssturm  manche  Blüte  geknickt  worden,  und 
von  dem  vagantenhaften  Hauch,  der  uns  aus  Celtes'  und  Huttens 
Dichtungen  anweht,  war  nicht  mehr  viel  die  Rede;  doch  dichtete 
und  trank  Eobanus  wenigstens  auch  noch  als  Professor  in  Mar- 
burg. Jedermann  kennt  die  Klagen,  die  von  den  deutschen  Refor- 
matoren, Luther  und  Älelanchthon  voran,  über  den  Verfall  der 
Schulen  und  der  alten  Zucht  erhoben  worden  sind.  Aber  um 
hier  von  anderen  Beziehungen  zu  schweigen  und  nur  von  der 
Historie  zu  reden,  die  allein  zu  meinem  Thema  gehört,  so  kann 
man  da  gewiß  nicht  von  Stillstand  und  Verkümmerung  reden. 
Vielmehr  treffen  wir  auf  ihrem  Felde  das  reichste  Leben,  eine 
durch  den  Anteil  an  der  Gegenwart  nur  gesteigerte  Auffassung 
der  Vergangenheit.  Welch  ein  Unterschied  zwischen  Wimphelings 
gut  gemeinten,  jedoch  recht  trockenen  Diatriben  in  der  Germania 
und  Aventins  stürmischer  Beredsamkeit  in  seiner  Schilderung 
etwa  des  Kampfes  Kaiser  Heinrichs  IV.  mit  Gregor  VH.,  welche 
Klarheit  und  Kraft  der  Charakteristik  in  dessen  Darstellung  der 
türkischen  Macht,  und  welch  ein  Ernst  und  Eifer  in  seinen 
wissenschaftlichen  Grundsätzen  und  allen  seinen  Arbeiten!  Auch 
vergessen  wir  nicht,  daß  die  Humanisten,  die  der  Lutherei  feind 
wurden,  ein  Pirckheimer,  Beatus,  Cuspinian,  nicht  nur  tätig 
blieben,  sondern  erst  jetzt  mit  ihren  wertvollsten  historischen 
Arbeiten  zutage  getreten  sind.  So  Cuspinian  mit  seiner  Kaiser- 
geschichte, die  in  Straßburg  eine  deutsche  Übersetzung  fand; 
ein  Amtsbruder  Martin  Bucers,  der  wackere  Kaspar  Hedio,  der 
selbst  als  erster  protestantischer  Kirchenhistoriker  bezeichnet 
werden  kann,  hat  1541  dies  Werk  vollendet,  zu  dem  Melanchthon 
eine  Vorrede  schrieb.  Erst  am  Ende  seines  Lebens  entschloß  sich 
Pirckheimer  zu  seiner  Germania.  Und  recht  in  den  Jahren  des 
Kampfes,  vielleicht  durch  den  AnbHck  des  Bauernkrieges  mit 
veranlaßt,  machte  sich  Beatus  Rhenanus  daran,  mit  dem  kri- 
tischen Sinn,  der  ihn  auszeichnete,  die  Nachrichten  über  die  An- 
siedelung und  Wanderungen  der  germanischen  Stämme  und  ihr 


I 


Geschichtsschreibung  nnd  Geschichtsauffassung  im  Elsaß  etc.        95 

Einleben  auf  dem  deutschen  Boden  in  der  älteren  Kaiserzeit  zu 
sammeln.  Sein  Vorbild  dabei  war  Aventin,  der  ihn  durch  eine 
Schilderung  seiner  Arbeitsweise  und  Grundsätze  direkt  ange- 
trieben hat,  gleich  ihm  die  Bibliotheken  und  die  Topographie  des 
deutschen  Landes  zu  durchforschen.  Der  Zuspruch  der  gelehrten 
Freunde,  mit  denen  Beatus  auf  dem  Reichstage  in  Augsburg 
zusammentraf,  darunter  Peutinger  und  Bucer,  vielleicht  auch 
Aventin  selbst,  hat  ihn  veranlaßt,  das  epochemachende  Werk 
rasch  zu  vollenden;  bereits  1531  ist  es  erschienen. 

Mochten  nun  aber  auch  diese  Gelehrten  ihren  Unmut  über 
die  neuen  Pfaffen  und  den  Niedergang  der  Bildung  unter  sich 
äußern,  so  warf  sich  doch  keiner  von  ihnen  zum  Verteidiger  des 
römischen  Systems  auf,  weder  Wimpheling  noch  Rhenanus,  weder 
Pirckheimer  noch  Peutinger  noch  Cuspinian.  Nur  widerwillig, 
mehr  um  sich  selbst  gegen  die  wachsenden  Vorwürfe  zu  decken, 
als  aus  eigener  Überzeugung  wagte  Erasmus  einen  Waffengang 
mit  dem  Reformator;  und  auf  armselige  Klopffechter  und  Streber 
wie  Cochläus  und  Johann  Faber  sah  sich  Rom  unter  den  Huma- 
nisten in  Deutschland  angewiesen.  Die  Ohnmacht  der  alten  Welt- 
anschauung wird  fast  am  deutlichsten  in  diesem  völligen  Ver- 
sagen ihrer  literarischen  Waffen.  So  wie  die  alte  Kirche  auch 
dort,  wo  niemand  ihr  zu  Leibe  ging,  wo  ihr  vielmehr,  wie  in 
Bayern  und  Österreich,  die  Staatsgewalt  mit  brutalen  Mandaten 
gegen  die  Ketzer  zu  Hilfe  kam,  vermorscht  in  sich  zusammenbrach, 
kam  es  auch  zur  Massendesertion  unter  den  Gelehrten  in  Schulen 
und  Klöstern.  Ein  Zustand,  der  weit  über  die  Reformation  hinaus 
gedauert  hat;  erst  in  der  dritten  Generation,  lange  nachdem  die 
protestantische  Zucht  ein  Geschlecht  hartköpfiger  Pastoren  und 
Schulmeister  herangebildet  hatte,  fanden  sich  auf  der  römischen 
Seite  auch  unter  den  Deutschen  in  größerer  Anzahl  Talente, 
welche  den  italienischen  und  spanischen  Mönchen  und  Professoren 
mit  Eifer  und  —  wir  spüren  es  noch  heute  —  mit  Erfolg  zur 
Seite  traten. 

Aber  auch  die  Ohnmacht  einer  Historie,  die  mit  dem  Papst 
in  Frieden  bleiben  wollte,  mußte  sich  jetzt  herausstellen,  und 
nur  immer  mehr,  je  heftiger  die  Geister  in  dem  religiösen  Kampfe 


96  Kleine  historische  Schriften. 

aufeinander  trafen.  Sie  mußte  ja  überall  da  den  Blick  verschließen, 
wo  Rom  einen  Nebel  um  seine  Vergangenheit  gezogen  und  ein 
Interesse  daran  hatte,  ihn  nicht  zerreißen  zu  lassen.  Denn  die 
Weltanschauung  der  Hierarchie  forderte  eine  ihr  analoge  Auf- 
fassung der  Vergangenheit,  durch  die  ihre  Herrschaftsrechte  in 
Gegenwart  und  Zukunft  unterbaut  und  gerechtfertigt  wurden; 
jeder  staatsrechtliche  Anspruch,  jeder  Satz  ihrer  Dogmen  hatte 
sein  Gegenbild  in  der  Vergangenheit,  das  als  Faktum  und  Funda- 
ment des  Glaubens  und  Gehorsams  galt  und  keine  Anzweifelung 
duldete.  Wenn  also  am  Altar  auf  Geheiß  des  Priesters  Brot  und 
Wein  vor  den  Augen  der  gläubigen  Menge  sich  in  den  Leib  und 
das  Blut  des  Herrn  wandelte,  so  durfte  kein  Zweifel  obwalten,  daß 
dies  in  allen  Jahrhunderten  so  gewesen  sei.  Wenn  auf  allen  Ka- 
thedern gelehrt  und  in  tausend  Darstellungen  der  heiligen  und 
profanen  Geschichte  wiederholt  wurde,  daß  Christus  der  erste 
Papst  gewesen,  daß  er  Petrus  als  Nachfolger  eingesetzt,  daß  dieser 
von  Rom  her  die  Kirche  regiert  habe,  daß  Konstantin  den  Päpsten 
die  halbe  Welt  geschenkt,  daß  ein  Papst  die  Kaiserkrone  von 
Byzanz  auf  den  fränkischen  König  übertragen,  daß  ein  anderer 
das  Kollegium  der  Kurfürsten  gestiftet  habe,  daß  das  moderne 
Rom  zu  seiner  geistlichen  ]\Iacht  noch  die  VoDgewalt  über  alle 
Reiche  der  Welt  besitze,  so  lagen  dem  aUem  Nachrichten  und 
Dekrete  zugrunde,  deren  historische  Echtheit  ebensowenig  be- 
zweifelt werden  durfte  wie  ihre  dogmatische  Gültigkeit.  Den 
universalen  Ansprüchen  Roms  entsprach  eine  universalhistorische 
Auffassung;  so  wie  Kirche  und  Staat,  Gott  und  Welt,  Himmel 
und  Erde  in  diesem  System  durcheinander  verschlungen  waren, 
waren  auch  die  Jahrhunderte,  Gegenwart  und  Vergangenheit 
ineinander  venvirrt. 

Man  mag  fragen,  ob  es  nicht  möglich  gewesen  wäre,  auf  dem 
Wege  vorurteilsloser  Forschung,  der  geistigen  Freiheit,  die  sich 
unter  dem  erschlafften  Kirchenregiment  der  letzten  Generationen 
herausgebildet  hatte,  allmählich  die  Scheidung  herbeizuführen  und 
eine  vernünftige  Klarheit  an  Stelle  dieser  Phantasien  zu  setzen. 
Jedenfalls  aber  doch  nur  dann,  wenn  die  Kritiker  in  diesem  Ge- 
schäft  ungestört   gebheben    wären.     Sobald   die    Kirche,    welche 


Geschichtschreibung  und  Geschichtsauffassung  im  Elsaß  etc.  97 

alle  Fakultäten  gegründet  hatte  und  beherrschte  und  ebenso 
den  Schlüssel  zum  Wissen  wie  zum  Glauben  beanspruchte,  nicht 
wollte,  kam  man  mit  dem  bloßen  Besserwissen  nicht  aus.  Das 
hatte  bereits  Laurentius  Valla  erfahren,  als  er  mit  tadelloser  Me- 
thode die  Fabel  der  Konstantinischen  Schenkung  erwiesen  und 
darüber  in  Konflikt  mit  der  Inquisition  zu  Neapel  geraten  war; 
und  er  selbst  hatte  ein  Beispiel  für  die  Unkraft  der  Aufklärung 
gegeben,  als  er  wider  alle  bessere  Überzeugung,  nur  um  einen 
persönlichen  Vorteil  zu  erhaschen,  sich  den  Befehlen  der  Ketzer- 
richter beugte.  In  Deutschland  war  ja  der  Zwiespalt  mit  den 
klerikalen  Kreisen  von  Anfang  an  sehr  viel  heftiger,  die  Ziele 
der  Humanisten  viel  positiver  gewesen  als  in  Italien,  wenigstens 
in  dieser  Epoche  der  römischen  Renaissance.  Aber  auch  ihre 
literarischen  Fehden  (ich  erinnere  nur  an  den  Zank  Wimphelings 
mit  den  Augustinern,  Reuchlins  mit  den  Dominikanern  und  Pirck- 
heimers  mit  Johann  Eck)  verliefen  im  Sande;  allem  Lärm  zum 
Trotz  verlegten  sich  die  streitbaren  Herren  schließlich  doch  nur 
auf  das  Prozessieren  und  Bitten  oder  gar,  wie  der  selbstbewußte 
Ratsherr  von  Nürnberg  sich  bequemen  mußte,  aufs  Verleugnen 
und  Widerrufen.  Denn  so  lebhaft  sie  die  Schäden  in  Staat  und 
Gesellschaft  zu  bekritteln  pflegten,  richteten  sich  ihre  ernsteren 
Absichten  doch  wesentlich  auf  die  Umgestaltung  der  gelehrten 
Bildung;  die  breite  Masse  der  Nation  blieb  außerhalb  ihres  Ge- 
sichtskreises und  diente  ihnen  nur  etwa  als  Folie  für  ihre  sar- 
kastischen Angriffe  auf  die  beschorenen  Gegner.  Als  Historiker 
und  Publizisten  wurden  sie  gerne  von  den  Regierenden  verwandt: 
als  Parteiführer  aber  in  den  realen  Kämpfen  der  Gegenwart,  wie 
noch  Nikolaus  von  Cues  und  Gregor  von  Heimburg,  traten  die 
Poeten  vor  Luther  nicht  auf;  und  ihre  politischen  Ideen  selbst, 
so  geistvoll  und  feurig  sie  sie  vortrugen,  und  so  anregend  sie 
damit  wirken  mochten,  waren  doch  nur  zu  oft  ziellos  und  phan- 
tastisch. Niemals  griffen  sie  in  ihren  Fehden  zur  deutschen 
Sprache;  erst  als  Hütten  mit  Rom  gebrochen  und  sich  als  Schild- 
träger dem  geistlichen  Helden  von  Wittenberg  zur  Seite  gestellt 
hatte,  warf  er  das  gelehrte  Gewand  ab  und  sprach  Deutsch  zu 
seinen  Deutschen.    Das  nationale  Empfinden  allein  aber,  so  kraft- 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  7 


98  Kleine  historische  Schriften. 

voll  es  in  den  Humanisten  pulsierte,  reichte  nun,  da  es  Ernst  ge- 
worden, nicht  mehr  aus,  zumal  da  ein  Hauptelement  darin,  die 
FeindseUgkeit  gegen  die  italienische  Kirche,  gar  nicht  mehr  laut 
werden  durfte.  Nur  wer  den  »Löwenmut«  hatte,  »unerschrocken 
die  Wahrheit  wider  des  Papstes  Heuchler  zu  sagen«,  konnte  hoffen, 
den  Wust  der  Überlieferung,  mit  dem  Roms  Kirche  sich  deckte, 
zu  zerstören.  So  Luther  in  einem  berühmten  Satze,  worin  er 
seine  Stellung  zur  Geschichtsschreibung  charakterisiert  hat.  Und 
von  neuem  zeigt  sich  uns  die  zentrale  Stellung,  welche  der  Re- 
formator in  dem  Leben  der  Nation,  ja  in  der  Entwickelung  der 
Welt  einnimmt:  der  Bruch  mit  Rom  war  auch  für  die  Fortent- 
wickelung der  Historie  die  Vorbedingung,  wie  für  jeden  sittüchen 
und  wissenschafthchen  Fortschritt. 

Wer  war  weiter  von  solchen  Konsequenzen  entfernt  als,  da 
er  begann,  der  Mönch  von  Erfurt!  Die  Ohnmacht  der  Erkenntnis 
war  gerade  der  Punkt,  von  dem  er  ausging,  von  wo  ihn  unnenn- 
bare Seelenstürme  auf  das  Meer  des  Zweifels  hinaustrieben.  Hier 
nun,  losgelöst  von  allem,  was  zeitlich  war,  weltentrückt,  wandte 
er  sein  Auge  dem  E\\igen  zu,  griff  er  über  die  Zeiten  hinweg  auf 
die  Persönhchkeit  Christi  zurück  und  die  heihge  Urkunde,  die 
das  unschuldige  Leiden  und  Sterben  des  Herrn  schilderte  und 
ihm  den  Einklang,  nach  dem  er  rang,  offenbarte,  zwischen  dem 
Zorn  und  der  Liebe,  der  Gerechtigkeit  und  der  Gnade  Gottes. 
Auch  sein  Glaube  stützte  sich  also  auf  historische  Tatsachen  und 
auf  die  Quellenschrift,  die  sie  enthielt,  eine  Urkunde  freilich  älter 
und  heiliger  als  alle  Kanones  und  Kirchenväter  und  die  tausend- 
fach zitierte  Quelle  und  Rechtfertigung  aller  Gebote  und  Überhefe- 
rungen  der  Kirche  selbst.  Daß  er  von  ihr  aus  mit  allen  Mächten 
in  Staat  und  Kirche  ringen,  eine  ungeheure  Weltven\drrung  herauf- 
führen, daß  er  die  ganze  Vergangenheit  Roms  als  Fälschung  der 
Urgeschichte  des  Christentums  enthüllen  würde,  ahnte  Luther 
nicht :  aber  dennoch  hatte  er  bereits  den  Grund  gefunden  und  den 
Anker  geworfen;  was  er  besaß,  war  unantastbar,  die  Grundlage 
seines  Selbst  —  wehe  dem,  der  daran  zu  rühren  wagte !  Es  war 
die  Grundwahrheit,  vor  der  alles,  was  sich  als  wahr  ausgab,  hin- 
wegmußte,   wenn    es  nicht  seine  Vereinbarkeit   damit  nachwies: 


Geschichtsschreibung  und  Geschichtsauffassung  im  Elsaß  etc.        90 

mochte  es  nun  religiöse  Vorstellung  oder  politische  Forderung 
oder  historische  Annahme  sein. 

Luther  wähnte  damit  anfangs  nur  die  eigentHche  Meinung 
der  Kirche  selbst  auszusprechen:  er  deckte  sich  geflissenthch  mit 
der  Autorität  des  Papstes  und  seiner  Dekrete  und  klammerte 
sich  an  sie  fast  länger,  als  er  selbst  daran  glauben  konnte.  Danach 
als  er  mit  steigendem  Entsetzen  den  unlöshchen  Zwiespalt  und 
die  ungeheure  Fälschung  erkannte,  also  daß  er  die  Züge  des  Anti- 
christ selbst  im  Papsttum  zu  entdecken  wähnte,  wollte  er  doch 
nur  eine  Verdunkelung  der  jüngsten  Zeiten,  der  letzten  loo,  und 
dann  400  Jahre  annehmen;  den  heiligen  Bernhard  glaubte  er 
noch  für  sich  beanspruchen  zu  können,  als  er  Johann  Eck  in 
Leipzig  gegenüberstand.  Aber  keinen  Augenblick  zögerte  er,  noch 
weiter  zurückzugehen  und  alle  Autoritäten  preiszugeben,  sobald 
ihm  ihre  Unvereinbarkeit  mit  seiner  Auffassung  nachgewiesen 
ward:  die  Dekretalen,  die  er  läppisches  Machwerk,  auch  die  Väter 
des  Konstanzer  Konzils,  die  er  Heuchler  und  Buben  Hus  gegen- 
über nannte,  und  alle  die  selig  und  heilig  gesprochenen  Schrift- 
gelehrten der  hierarchischen  Jahrhunderte.  Eine  Erweiterung  des 
historischen  Horizontes,  vor  der  alle  Errungenschaften  der  huma- 
nistischen Aufklärung  verschwinden.  Mit  der  Faust  eines  Riesen 
zerriß  dieser  Mönch  die  Nebel,  welche  ein  Jahrtausend  verhüllten. 
Aber  alle  diese  Erkenntnisse  wurden  nicht  durch  das  methodische 
Vorgehen  wissenschaftHcher  Forschung  gewonnen,  sondern  stoß- 
weise, unter  immer  neuen  Ängsten  des  Gewissens,  durch  ein  sitt- 
hches,  seelisches  Ringen:  so  zerteilte  sich  dem  Reformator  das 
Dunkel  der  Geschichte,  fiel  Binde  auf  Binde  von  seinen  Augen  — 
weil  er  mit  jenen  Autoritäten  seinen  Glauben  nicht  erhalten 
konnte. 

Hier  jedoch  ist  für  Martin  Luther  die  Grenze  der  historischen 
Aufklärung.  An  der  Ohnmacht  der  Vernunft,  des  »Meisters  Klüg- 
lin«,  von  der  er  ausgegangen  war,  hielt  er  fest;  er  verachtete  und 
verdammte  die  Neugier  einer  Forschung,  welche  unbekümmert 
um  religiöse  Empfindungen  und  Ziele,  nur  um  aufzuklären,  Bresche 
in  die  hergebrachten  Vorstellungen  zu  legen  versuchte.  Ein  Jahr- 
tausend gab  er  als  die  Epoche  des  römischen  Antichrist  preis; 

7* 


100  Kleine  historische  Schriften, 

aber  an  der  evangelischen  Reinheit  der  ersten  Jahrhunderte  der 
Kirche  hielt  er  fest.  Er  wehrte  die  zudringlichen  Versuche  einer 
Mittelpartei,  welche  auf  den  Gemeinbesitz  dieser  Zeiten  eine  Ver- 
söhnung der  streitenden  Parteien  gründen  wollte,  mit  instinktiver 
Abneigung  von  sich  ab;  aber  an  die  Dogmatik  des  Altertums 
hat  er  doch  nicht  gerührt.  Hätte  man  ihm  nachgewiesen,  daß 
die  hierarchischen  Tendenzen  schon  damals  lebendig  gewesen,  daß 
auch  sein  geliebter  Augustinus  von  ihnen  nicht  frei  zu  sprechen 
und  keineswegs  seinem  Paulus  so  ähnlich  sei,  daß  in  dem  Kanon 
der  heiligen  Schriften  selbst  der  Einklang,  so  wie  er  ihn  glaubte, 
nicht  existiere  —  er  würde  auch  dann  nicht  gezögert  haben,  zer- 
störend fortzuschreiten  und  seine  Glaubensstärke  dennoch  zu  be- 
wahren. Aber  von  seinem  Standpunkt  und  unter  dem  allgemeinen 
wissenschaftlichen  Horizonte  der  Epoche  fand  er  in  jener  alten 
Zeit  nichts,  was  den  Einklang  zwischen  Glauben  und  Schrift, 
an  dem  ihm  alles  hing,  störte,  und  so  stellte  er  sich  um  so  fester, 
mit  beiden  Füßen  gleichsam,  trotzig  und  kampfgerüstet  vor  ihren 
Pforten  auf.  Er  hatte  wahrlich  genug  zu  tun,  um  seine  Kirche 
nun,  wo  alles  ins  Schwanken  geraten  war,  unter  Dach  zu  bringen, 
um  die  gewaltige  Umwälzung,  die  er  nötig  gemacht,  dogmatisch 
und  historisch  zu  begründen.  \"on  allen  Seiten  erwuchsen  ihm 
Gegner,  Jahr  für  Jahr  sich  mehrend,  hier  die  Radikalen,  dort 
die  Verteidiger  der  alten  Lehre.  Und  alle  strebten  die  historische 
Begründung  ihres  Glaubens  an,  beriefen  sich  auf  historische  Tat- 
sachen und  Urkunden.  So  entstand  in  der  Geschichtsauffassung 
der  Zeit  ein  immer  reicheres  Leben;  überall  aber  gab  die  große 
Frage  des  Tages  Antrieb  und  Charakter,  und  nur  wer  Partei 
nahm,  fand  Anerkennung. 

Wer  aber  über  den  Parteien  stehen  wollte,  geriet  nach  allen 
Seiten  in  Konflikte  und  vereinsamte  völlig.  Keiner  hat  das  mehr 
erfahren  als  Sebastian  Franck  von  Donauwörth.  IMerkwürdig 
genug,  daß  sich  doch  ein  Standpunkt  herausbilden  konnte  in 
dem  Zerfall  der  alten  Ordnungen,  in  dem  Getriebe  der  um  den 
Preis  ringenden  Parteien,  von  wo  jemand  mit  einer  gewissen  Un- 
parteilichkeit auf  die  durcheinander  wirbelnden  Strömungen  hin- 
blicken  konnte.    Nur  in   der  Unruhe  Oberdeutschlands,   wo  die 


Geschichtsschreibung  und  Geschichtsauffassung  im  Elsaß  etc.      101 

politische  und  kirchliche  Zersplitterung  am  größten  war,  wo  die 
Altgläubigen  in  den  Bistümern  und  österreichischen  Vorlanden, 
die  Evangelischen  in  den  vielen  Reichsstädten  die  Vorhand  hatten, 
die  Radikalen  durch  städtische  Wirrsale  und  die  blutige  Nieder- 
lage der  Bauern  besonderen  Zulauf  fanden,  war  es  möglich.  Zu 
ihnen  allen  hatte  Franck,  halb  oder  zeitweise  ihr  Anhänger,  Be- 
ziehungen, kannte  sie  alle,  studierte  sie  eifrig,  wußte  sie  unüber- 
trefflich zu  schildern:  kein  Zunftgelehrter,  jedoch  den  gelehrten 
Kreisen  nahe  stehend,  kein  Wiedertäufer,  doch  nicht  ohne  Sym- 
pathie für  sie,  kein  Katholik  mehr,  aber  auch  mit  dem  evange- 
lischen Älagistrat,  bei  dem  er  Dienste  genommen,  zerfallen.  So 
hoffte  er,  von  seiner  fränkischen  Pfarre  vertrieben,  als  Buch- 
drucker und  freier  Literat  in  Straßburg  eine  Zuflucht  zu  finden. 
Hier  kam  die  ihm  eigentümliche  Richtung  zum  Durchbruch,  in 
Berührung  mit  den  täuferischen  Kreisen.  Hier  gewann  er  die 
Möglichkeit,  die  Geschichtsbibel  zu  drucken,  worin  er  mit  theo- 
sophischem  Tiefsinn  die  Rätsel  der  Menschheitsentwdckelung  zu 
lösen  glaubte.  Und  hier  geriet  er  in  den  neuen  Kampf  mit  der 
offiziellen  Kirche,  der  ihn  in  die  Verbannung  und  die  Einsam- 
keit hinauswarf. 

Führer  seiner  neuen  Widersacher  war  kein  Geringerer  als 
Martin  Bucer,  der  Gründer  der  evangelischen  Kirche  in  Straß- 
burg selbst.  Unduldsam  und  mit  dem  vollen  Nachdruck  der 
politischen  Macht,  die  ihm  Jakob  Sturm  und  seine  Freunde  zur 
Verfügung  stellten,  wandte  sich  dieser  gegen  den  einflußlosen 
Fremdling,  der  nichts  verlangte  als  seine  Bücher  in  Ruhe  schrei- 
ben zu  können.  Heute  (denn  noch  leben  wir  unter  dem  Zeichen 
der  Toleranz)  stehen  wir  wohl  dem  geistvollen  Schwaben  sym- 
pathischer gegenüber  als  der  Verfolgungssucht  der  Prädikanten, 
die  soeben  noch  im  Namen  der  Gewissensfreiheit  gegen  die  römi- 
schen Seelmörder  aufgestanden  waren;  und  wir  würden  es  mit 
Recht  borniert  finden,  wenn  unsere  Regierungen  aus  Angst  vor 
dem  Umsturz  die  Kritik  an  den  überlieferten  Vorstellungen, 
auch  wo  sie  zu  den  Waffen  des  Zornes  und  sittlicher  Leiden- 
schaft greift,  nicht  ertragen  könnte.  Hüten  wir  uns  jedoch,  vor 
allzu  großer  Objektivität  ungerecht  zu  werden  gegen  die  Männer, 


102  Klcinf  liislorisclio  Sclinf'en. 

denen  wir  die  Einwurzelung  der  evangelischen  Religion  in  der 
Nation  und  dem  alten  Reiche  verdanken.  Als  Sebastian  Franck 
nach  Straßburg  kam,  hatte  man  hier  erst  kürzUch,  nicht  ohne 
den  Druck  der  bürgerlich-zünftischen  Klassen  auf  den  Magistrat, 
die  Messe  abgeschafft  und  die  neue  Kirche  ins  Leben  geführt. 
Noch  bebte  der  Boden.  Von  allen  Seiten  zogen  gerade  nach 
Straßburg  die  Täufer  hin,  um  ihre  auf  den  Umsturz  oder  wenig- 
stens die  \'erleugnung  der  politischen  Gewalt  gerichteten  Ideen 
auszubreiten.  Keine  Regierung  würde  heutzutage  die  staats- 
feindlichen Gedanken  selbst  so  gemäßigter  Männer  wie  Johann 
Denk  und  ]\Iichael  Sattler  dulden,  sobald  sie  sich  in  Taten  um- 
setzen wollten;  auf  die  Bildung  einer  Partei,  die  Gewinnung  der 
Massen,  die  Überwältigung  der  bestehenden  Gewalten  gingen 
aber  alle  diese  Hitzköpfe  aus,  auch  wo  sie  es  nicht  gestehen 
wollten.  Und  keineswegs  begnügten  sich  die  Prediger  damit,  den 
Arm  der  Obrigkeit  anzurufen:  auf  der  Kanzel  und  in  der  Rats- 
stube, in  Briefen  und  Flugschriften  trat  Bucer  diesen  Gegnern 
geradeso  wie  den  Pfaffen  unter  die  Augen;  niemand  wußte  ihnen 
im  Gespräch  besser  zu  begegnen,  tiefer  ihre  Lehrsätze  zu  er- 
fassen und  ihre  Bibelargumente  mit  gleicher  Dialektik  aus  der 
Fülle  der  Schriftkenntnis  aufzulösen.  Wie  häufig  ist  dem  Uner- 
müdlichen der  schöne  Sieg  gelungen,  die  ungelehrten,  jedoch 
oft  so  gutherzigen  und  nur  in  ihrem  Gewissen  verwirrten  Leute 
oder  gar  einen  der  Führer  selbst  zu  gewinnen  und  in  ehrliche 
Verteidiger  seines  Bekenntnisses  umzuwandeln!  Wer  von  uns 
Gebildeten  wagt  es  heute  überhaupt,  mit  dem  gleichen  Mut  und 
solcher  Überzeugungstreue  den  Radikalen  unserer  Tage,  ich  will 
nicht  sagen  in  der  Presse  oder  der  eigenen  Partei,  aber  offen  in 
der  Volksversammlung  Rede  zu  stehen!  Sind  wir  es  nicht  viel- 
mehr, die  immer  nur  auf  die  Obrigkeit  hinsehen  und  von  ihr 
hoffen,  daß  sie  die  Bewegungen  der  Tiefe  in  Ruhe  erhalten  werde  ? 
Während  aber  im  Innern  der  Straßburger  Kommune  die 
neue  Kirche  kaum  unter  Dach  gebracht  war,  Prediger  und  Lehrer 
fehlten,  Bischof  und  Kapitel  in  und  außer  den  Mauern  mächtig 
waren,  Widerwille  oder  Gleichgültigkeit  Regierende  und  Volk 
spalteten,  war  der  Horizont  der  großen  Politik  von  den  schwer- 


Geschichtsschreibung  und  Geschichtsauffassung  im  Elsaß  etc.      103 

sten  Wolken  verdunkelt.  Kaiser  und  Reich  hatten  sich  eben  in 
Augsburg  gegen  die  neue  Kirche  erklärt;  mit  knapper  Not  und 
nicht  ohne  diplomatische  Schmiegsamkeit  war  es  Bucer  gelungen, 
die  Hartnäckigkeit  der  Wittenberger  zu  besiegen  und  sie  zur 
Duldung  wenigstens  des  politischen  Bündnisses  zu  vermögen. 
Aber  erst  wenige  Fürsten  Norddeutschlands  und  ein  paar  Städte 
hatten  sich  zusammengefunden;  in  jedem  Moment  mußte  man 
fürchten,  von  der  Übermacht  der  Katholischen  im  Reiche  unter 
Führung  von  Kaiser  und  Papst  überwältigt  zu  werden. 

Daß  Bucers  Streit  mit  Franck  nicht  die  Unterdrückung  der 
wissenschaftlichen  und  insbesondere  der  historischen  Arbeit  be- 
deutete, bewies  er  noch  in  demselben  Jahr,  als  er  Aventin  nach 
Straßburg  einlud,  um  hier  seine  deutsche  Geschichte  zu  vollenden. 
Und  es  braucht  keiner  Worte,  daß  Straßburg  damit  einen  wür- 
digen Ersatz  für  die  Geschichtsbibel  Francks  gewonnen  hätte, 
dessen  rasch  zusammengeraffte  Berichte  und  unbekümmertes  Ab- 
urteilen sich  weder  der  Gründlichkeit  noch  dem  Feuer  der  Dar- 
stellung und  kaum  dem  sittlichen  Ernste  Aventins  vergleichen 
lassen.  Hier  fand  sich  Bucer  aufs  neue  mit  dem  alten  Freunde 
Beatus  Rhenanus  zusammen.  Sie  beide  und  Jakob  Sturm  sind 
es  gewesen,  welche  die  Berufung  des  deutschen  Herodot  an  ihre 
Schule  betrieben  haben;  als  ein  vaterländisches  Interesse  be- 
zeichnet es  Bucer  in  einem  Brief  an  Beatus,  daß  Aventin  das 
große  Werk  in  Straßburg  ausführen  könne ;  und  noch  heute  müssen 
wir  es  tief  beklagen,  daß  der  Ruf  vergeblich  gewesen,  und  daß 
es  Aventin  nicht  mehr  vergönnt  gewesen  ist,  seine  evangelische 
Überzeugung  in  einem  gesinnungsvenvandten  Kreise  frei  zu  be- 
kennen. 

Bucer  selbst  hat  an  mehr  als  einer  Stelle  seiner  Briefe  und 
Schriften  einer  scharf  ausgeprägten  Geschichtsauffassung  Worte 
geliehen.  Aber  auch  damit  war  er,  wie  in  allem  seinem  Tun, 
immer  auf  die  Gegenwart  gerichtet,  auf  die  evangelische  Reform 
der  Reichsveriassung :  das  Ziel,  dem  er  nachlebte,  seitdem  Luthers 
Feuergeist  den  jungen  Dominikaner  auf  der  Disputation  zu  Heidel- 
berg überwältigt  hatte,  bis  zu  der  Stunde,  wo  er,  fast  am  Ende 
seiner  Tage,  das  Vaterland  dahinten  ließ,  um  seinem  Gotte  treu 


lO'i  Kleine  historische  Schriften. 

zu  bleiben.  Ich  kenne  keine  liistorisch-politische  Deklamation 
eines  Zeitgenossen  von  größerem  Wert  als  den  Brief  Bucers  an 
Bullinger  aus  dem  Dezember  1543,  von  dem  er  selbst  gesagt  hat, 
daß  er  die  Summe  seiner  politischen  Auffassung  enthalte^).  Auf 
wenigen  Seiten  charakterisiert  er  hier  die  großen  Persönlichkeiten 
der  Zeit,  an  der  Spitze  Martin  Luther  selbst,  dann  den  Kaiser, 
seine  Minister  und  seinen  Bruder,  die  Kurfürsten  und  andere 
Stände,  König  Franz  und  die  Gesamtheit  der  europäischen  Poli- 
tik, so  gerecht  und  mit  solcher  Feinheit  der  Zeichnung,  daß  noch 
heute  jedes  Wort  gelten  kann,  und  zugleich  mit  einer  patriotischen 
Wärme  und  einer  Kraft  und  Klarheit  der  Sprache,  daß  man  an 
klassische  Muster,  ich  möchte  sagen  an  Tacitus  selbst  erinnert  wird. 

Diese  Denkschrift  des  Straßburger  Reformators  macht  uns 
erst  die  Gesinnung  und  den  Eifer  recht  verständlich,  mit  dem  er 
sich  kurz  darauf  bei  seinem  fürstlichen  Freunde,  dem  Landgrafen 
von  Hessen,  für  die  Gewinnung  Sleidans  zum  Historiker  der  Re- 
formation verwandt  und  damit  ein  Verdienst  erworben  hat,  das 
ihm  in  der  Geschichte  der  deutschen  Historiographie  für  immer 
die  ehrenvollste  Stelle  sichert. 

Auch  Sleidan  ward  zum  Geschichtschreiber  ausschließlich  im 
Hinblick  auf  den  Kampf  der  Gegenw'art:  er  bezeichnet  sich  selbst 
einmal  als  von  Gott  dazu  berufen.  Wie  wäre  das  anders  mög- 
lich gewesen  bei  einem  Manne,  der,  wie  er,  seitdem  er  heran- 
gereift war,  mit  Wort  und  Feder,  daheim  und  in  der  Fremde  für 
die  Partei  des  Evangeliums  eingetreten  war.  Auch  er  stammte 
aus  der  deutschen  Westmark,  fast  von  der  französischen  Grenze 
her;  zweisprachig  von  Jugend  auf,  in  katholischer  Umgebung 
zu  Löwen  und  Köln  gebildet,  darauf  jahrelang  zu  Paris  und 
Orleans  im  Dienst  der  französischen  Diplomatie,  atmete  seine 
Seele  dennoch  nichts  als  protestantischen  Eifer  und  die  leben- 
digste Liebe  zur  Heimat.  Seitdem  Hermann  Baumgarten,  dessen 
allzu  frühen  Heimgang  unser  Verein  aufs  schmerzlichste  beklagt, 
die  Korrespondenz  Sleidans,  soviel  oder  sowenig  davon  übrigbHeb, 
sammelte  und  herausgab,  haben  wir  erst  den  rechten  Einblick 

^)  Gedruckt  in  seinem  Briefwechsel  mit  Landgraf  Phihpp  dem  Groß- 
mütigen, II,  225  ff. 


Geschichtsschreibung  und  Geschichtsauffassung  im  Elsaß  etc.      105 

gewonnen  in  die  weitreichenden  Verbindungen,  die  ihn  mit  allen 
europäischen  Größen  der  Partei  verknüpften,  in  die  Einheit  und 
Festigkeit  seiner  Überzeugungen  und  in  die  Deutschheit  seiner 
Gesinnungen,  die  sich  nirgends  schöner  hervortut  als  in  dem  mann- 
haften, wohlgebildeten  Deutsch  seiner  Briefe  vom  Trientiner 
Konzil. 

Als  er  das  Buch  begann,  konnte  man  noch  hoffen,  daß  die 
evangelische  Partei,  deren  Gefährdung  freilich  niemand  klarer 
sah  als  er  und  seine  Straßburger  Freunde,  siegen  würde:  in  zwei 
bis  drei  Jahren  hoffte  Sleidan  fertig  zu  werden,  und  schon  auf 
dem  Reichstage  zu  Worms  1545  präsentierte  er  seinen  hohen 
Auftraggebern  den  Abschnitt  über  die  ersten  Jahre  Luthers.  Die 
Katastrophe  des  Bundes  unterbrach  die  Arbeit ;  und  erst  nach  dem 
Siege  Moritz'  und  seiner  Alliierten  nahm  er  sie,  nach  der  Vollen- 
dung begierig,  wieder  auf.  Im  Herbst  1554  war  das  Buch  fertig, 
1556  ward  es  ausgegeben.  Der  Erfolg  war  unermeßlich.  In  eine 
Reihe  von  Sprachen  ward  es  übersetzt,  auch  sogleich  ins  Deutsche, 
zu  Sleidans  großem  Kummer  nicht  von  ihm  selbst,  sondern  von 
einem  literarischen  Freibeuter  in  Basel.  Noch  gegen  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  ist  es  neu  aufgelegt  und  bearbeitet  worden. 
So  lange  hat  es  die  Literatur  beherrscht.  Als  moderner  Klassiker 
ward  der  Verfasser  gefeiert;  man  stellte  ihn  neben  die  großen 
Historiker  des  Altertums.  Er  wurde  nachgeahmt,  fortgesetzt, 
angegriffen,  erhielt  Gegenschriften  und  hat  alle  in  den  Schatten 
gestellt;  auch  gegen  die  neuesten  Angriffe  hat  er  Verteidiger  ge- 
funden und  sich  siegreich  behauptet. 

Der  Grund  liegt  neben  der  klaren  lateinischen  Sprache  und 
der  archivalischen  Grundlage  (dem  Straßburger  Archiv  sind  die 
Akten  entnommen,  und  Jakob  Sturm  selbst  —  noch  tragen  sie 
seine  Signatur  —  hat  sie  dem  Freunde  übergeben)  vornehmlich 
doch  in  der  universal-politischen  Auffassung.  »Kommentarien 
über  die  Lage  der  Religion  und  des  öffentlichen  Wesens  unter 
dem  Kaiser  Karl  V. «  nannte  Sleidan  sein  Buch.  Nur  von  einer 
Res  publica  weiß  er,  der  allgemeinen  der  Christenheit  unter  der 
Vorherrschaft  des  Kaisers.  Es  ist  noch  ganz  die  Vorstellung  der 
hierarchischen   Jahrhunderte  von  den  vier  Monarchien  als  den 


\()Q  Kleine  historische  Scliriftcii. 

Weltzeitaltern  gemäß  der  Prophezeiung  Danielis.  Sleidan  selbst 
hatte  eine  Universalgeschichte  unter  diesem  Titel  und  Eintei- 
lungsmodus geschrieben,  die,  wie  seine  Kommentarien,  ihre  Herr- 
schaft bis  ins  i8.  Jahrhundert  behauptet  hat  und  in  70  Auflagen 
verbreitet  gewesen  ist;  noch  Friedrich  Wilhelm  I.  von  Preußen 
hat  die  Weltgeschichte  daraus  gelernt.  Der  evangelische  Glaube, 
der  doch  im  Prinzip  die  mit  der  römischen  Hierarchie  verknüpfte 
Idee  des  universalen  Kaisertums  aufhob  und  auf  die  nationale 
Gestaltung  der  Monarchie  hindrängte,  war  nicht  imstande,  jene 
historisch-pohtische  Phantasie  zu  zerstören.  Über  englische,  spa- 
nische, italienische  und  französische  Verhältnisse  werden  wir  in 
den  Kommentarien  gerade  so  gut  unterrichtet  wie  über  deutsche. 
Wenn  diese  doch  im  Vordergrunde  des  Interesses  bleiben,  so 
kommt  es  daher,  weil  unsere  Nation  in  der  Tat  noch  im  ]\Iittel- 
punkt  der  Ereignisse  stand  und  der  große  Kampf  hier  sein  Haupt- 
schlachtfeld hatte. 

Die  Forderung  der  nationalen  Monarchie  als  die  Konsequenz 
des  Evangehums,  die  mehr  oder  weniger  im  Bewußtsein  aller 
Führer  der  Partei  lag,  konnte  gewiß  niemand  schärfer  formu- 
heren  als  Martin  Bucer,  er,  der  in  jenem  Brief  an  Bullinger 
schreibt:  »Imperator  posset  multum,  si  vellet  Germaniae  impe- 
rator  esse  et  Christi  servus.«  Aber  frei  von  der  alten  Vorstellung 
war  doch  auch  er  nicht.  Nur  daß  die  Idee  der  respublica  christiana 
bei  ihm  und  seinen  Parteigenossen  im  Sinne  ihres  Glaubens  um- 
gebildet war.  Der  Kampf,  in  dem  sie  lebten,  war  für  sie  alle, 
ganz  wie  Luther  ihn  geschaut  und  in  dem  großen  Schlachtliede 
des  Protestantismus  aufgefaßt  hatte,  der  an  nationale  und  poli- 
tische Grenzen  nicht  gebundene  Streit  zwischen  Christus  und 
dem  Antichrist  in  Rom.  Und  während  die  Christenheit  durch 
ihn  gespalten  war,  drohte  von  Osten  her,  wie  seit  Jahrhunderten, 
die'Macht  der  Ungläubigen,  der  »Geisel  Gottes,  des  Türken  wider 
das  gottlose  Wesen  in  Deutschland,  vornehmlich  xrider  die  falsche 
Religion«.  So  Bucer  in  einem  Brief  an  den  Landgrafen.  Von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  beurteilte  er  (auch  darin  nur  die  All- 
gemeinauffassung wiedergebend)  die  Kreuzzüge:  als  ein  Ver- 
brechen des  römischen  Antichrist,  der  Deutschland  und  Frank- 


Geschichtsschreibung  und  Geschichtsauffassung  im  Elsaß  etc.      107 

reich  dadurch  venvüstet,  Kaiser  und  Könige  und  unzählige  Hel- 
den zugrunde  gerichtet,  die  Staaten  daheim  ausgemergelt  und 
damit  seine  Gewalt  erhöht  habe;  die  eroberten  Länder  aber  habe 
man  schließlich  doch  dem  Mahomet  mit  Spott  müssen  lassen. 
»Wer  von  dem  Türken  und  dem  Papst,«  schreibt  Sleidan  seinem 
Jakob  Sturm,  »nicht  das  Schlechteste  denkt  und  erwartet,  dem 
fehlt  es  an  jeder  gesunden  Auffassung.« 

Es  war  das  Gegenbild  zu  der  römischen  Anschauung  von  der 
Führung  der  christlichen  Welt  durch  den  Nachfolger  Christi 
gegen  Ungläubige  und  Ketzer  und  also  den  Weltverhältnissen 
nur  zu  sehr  entsprechend.  Nirgends  aber  konnte  man  sich  der 
Intemationalität  dieses  Kampfes  klarer  bewußt  werden  als  eben 
in  dieser  Grenzstadt,  wo  sich  der  französische  und  deutsche  Prote- 
stantismus die  Hände  reichten,  und  wo  alle  protestantischen 
Emigranten,  von  Polen  bis  Spanien  hin,  zusammenkamen. 

Gewiß  liegt  in  dieser  Geschichtsauffassung  nicht  die  volle 
Wahrheit.  Uns  ist  es  gegeben,  die  Zeiten  noch  besser  zu  unter- 
scheiden. Wir  würdigen  heute  die  historische  Größe  auch  der 
kathoHschen  Weltanschauung;  wir  begreifen  die  Notwendigkeit 
des  mittelalterhchen  Papsttums  und  preisen  die  Segensströme, 
die  von  der  durch  Rom  erhaltenen  christlichen  und  antiken  Kul- 
tur zu  den  nordischen  Barbaren  hinüberfluteten.  Auch  erkennen 
wir  die  Engigkeit  und  Un Vollkommenheiten  der  pohtischen, 
\vissenschaf fliehen,  ja  selbst  der  sittlichen  und  religiösen  Ideen 
der  ersten  protestantischen  Zeiten  an.  Und  wir  lassen  uns  nicht 
hindern,  die  Schlacken  in  der  Bewegung  von  dem  Golde,  das 
sie  mit  sich  führte,  zu  sondern,  auf  die  Gefahr  hin,  daß  die  ultra- 
montanen Widersacher  unsere  Ergebnisse  zu  dem  schlechten  Ge- 
schäft benutzen,  das  Andenken  unserer  Helden  zu  besudeln.  Ja 
wir  gönnen  es  ihnen,  wenn  sie  sich  damit  vergnügen,  die  »Vir- 
tuosen des  Verbrechens«,  die  damals  am  Tiber  sich  als  die  von  Gott 
eingesetzten  Träger  seiner  sittlichen  Weltordnung  betrachteten, 
nach  Kräften  weiß  zu  waschen.  Denn  wir  erfahren  es  in  unsern 
Studien  täglich,  daß  der  Kern  unseres  Glaubens  und  seiner  Re- 
formatoren um  so  heller  blinkt,  je  gewissenhafter  ^^^r  ihn  von 
allen  Schatten  reinigen.    Und  wir  wissen,  daß  wir  damit  nur  im 


IQg  Kleine  historische  Schriften. 

Sinne  dieser  Heroen  des  Geistes  handeln,  daß  elniiclie  Forsclunif,' 
eine  Fordenuig  der  protestantischen  Geistesfreiheit  und  ein  rech- 
ter Gottesdienst  ist.  Wir  wollen,  um  mit  Sleidan  zu  sprechen, 
»ohn  Ruhm  zu  reden,  lieber  unter  dem  Grunde  liegen,  dann 
wissentlich  etwas  Unerfindliches  reden,  viel  weniger  ausschreiben.« 
Denn  wir  sind  des  Glaubens,  daß  nur  aus  dem  Löwenmute  der 
Wahrhaftigkeit  die  \\'ahrheit,  der  wir  nachtrachten,  geboren  wird. 


m^^^^ 


Dem  Andenken  Ulrichs  von  Hütten. 

(1888.) 

Zu  der  Gedenkfeier,  welche  das  protestantische  Deutsch- 
land vor  fünf  Jahren  seinem  Reformator  widmete,  hat  sich  an 
diesem  Pfingstfeste  eine  andere  gesellt,  welche  es  einem  zweiten 
Vorkämpfer  der  Nation  gegen  Rom  veranstaltete,  dem  ritter- 
lichen Humanisten  Ulrich  von  Hütten.  Mittelpunkt  war  eine 
Burg  in  einem  der  schönsten  Nebentäler  unseres  Rheines,  nahe 
der  Stätte,  wo  Frau  Germania  schirmend  über  dem  deutschen 
Strome  steht:  eine  Burg,  die  heute  in  Trümmern  liegt,  erobert 
von  drei  Fürsten,  deren  einer  ein  Erzbischof  und  Kurfürst,  doch 
eben  kein  Eiferer  für  die  Kirche  war;  während  ein  anderer  von 
ihnen  bald  der  tatkräftigste  Schutzherr  Luthers  und  der  mäch- 
tigste Vorkämpfer  seines  Bekenntnisses  wurde,  Philipp  von  Hessen, 
dem  schon  die  dankbare  INIitwelt  den  Beinamen  des  Großmütigen 
gegeben  hat.  Es  war  die  Burg  eines  Freundes  von  Hütten, 
die  Ebernburg  Franzens  von  Sickingen,  dessen  Gast  er  ein  paar 
Monate  hindurch  dort  gewesen.  Wenn  jene  Fürsten  auch  noch 
zum  alten  Glauben  hielten,  traten  sie  doch  diesmal  so  wenig  wie 
sonst  als  seine  Verteidiger  auf:  nicht  für  die  reformatorischen 
Ideen  ward  die  Feste  eingeäschert,  sondern  infolge  persönlicher 
Feindseligkeiten  und  als  verdiente  Rache  für  verwegenen  Raubzug. 
Denn  seine  Dienstherren  waren  es,  gegen  die  Ritter  Franz  aus- 
gezogen war,  in  jähem  Überfall,  mit  räuberischer  Hand  und  kecker 
Wagelust  —  und  dafür  ereilte  ihn  die  Strafe:  eine  Fehde  war  es, 
wie  sie  Deutschland  seit  Jahrhunderten  zu  unzähligen  Malen  ge- 
sehen  hatte. 


]\0  Kleine  historische   Schriften. 

Während  aber  die  Kanonen  der  Fürsten  gegen  Fels  und  Mauern 
donnerten,  war  Hütten  fern  der  Heimat:  ein  landloser  Flücht- 
ling, als  Rebell  von  den  Fürsten  und  dem  Reichsregiment  ver- 
folgt, von  den  Seinen  gemieden,  zurückgestoßen  von  den  lite- 
rarischen Genossen,  mit  denen  er  einst  so  siegesfreudig  die  Pfeile 
seines  übennütig-genialen  Spottes  auf  die  Dunkelmänner  herab- 
geschüttet, schmählich  vor  allen  von  dem  großen  Erasmus  be- 
handelt, dem  er  doch  tausendfachen  Weihrauch  gestreut  hatte, 
von  allen  Mitteln  entblößt,  von  unheilbarer,  selbstverschuldeter 
Krankheit  verzehrt  —  so  hauchte  er,  wenige  Monate  nachdem 
der  Freund  mit  seinen  Burgen  gefallen  war,  auf  einer  Insel  des 
Züricher  Sees  unter  Ulrich  Zwingiis  treuer  Obhut  die  trotz  allem 
bis  ans  Ende  unverzagte,  glutenvolle  Seele  aus. 

Beide  Männer,  auf  denen  ganz  Deutschlands  Augen  geruht 
hatten,  waren  bald  so  gut  wie  vergessen.  In  der  Zeit,  wo  die  evan- 
gelische Lehre  sich  befestigte,  die  ersten  Siege  erfocht  und  die 
ersten  Katastrophen  erlebte,  wurden  sie  kaum  genannt.  Die 
Söhne  Sickingens,  Hans  und  Schwieker,  standen  meist  im  Dienst 
des  Kaisers,  oder  wer  sonst  für  Geld  ihre  Arme,  ihre  Kriegser- 
fahrung und  ihren  Kredit  verlangte:  Kriegsobersten  waren  sie, 
wie  ihr  Vater  selbst  und  hundert  andere  ihrer  Standesgenossen. 
Huttens  Angehörige  hielten  zu  dem  oder  jenem  Fürsten  und  Be- 
kenntnis, wie  ihr  Lebensgang  sie  gerade  führte;  einer,  j\Ioritz  von 
Hütten,  der  Ulrichs  Bibliothek  erbte,  ein  leidHch  gebildeter  Herr, 
war  Bischof  von  Eichstädt  und  kathohsch  zur  Zeit,  als  sieben 
Achtel  der    Deutschen    protestantisch    dachten. 

Als  aber  das  Gedächtnis  der  alten  Zeiten  wieder  reger 
wurde,  ward  auch  das  Andenken  Huttens  und  Sickingens  aufs 
neue  lebendig.  Und  heute  steht  jener  neben  Luther  als  Vor- 
kämpfer des  protestantischen  Deutschlands.  So  hat  man  sich 
denn  vereinigt,  ihm  und  seinem  großherzigen  Freunde,  Ritter 
Franz,  ein  eigenes  Denkmal  zu  setzen,  auf  jener  »Herberge 
der  Gerechtigkeit«  eine  nationale  Feier  zu  veranstalten,  wie 
die  dem  Reformator  vor  sechs  Jahren  geweihte.  In  allen  Gauen 
unseres  Vaterlandes  sind  die  Gelder  gesammelt  worden;  unsere 
Fürsten,    unser    Kaiser    selbst    standen  voran,    um   dem    Ritter, 


Dem  Andenken  Ulrichs  von  Hütten.  IJI 

dem  Rebellen  gegen  Kaiser  und  Fürsten,  ihre  Huldigung  dar- 
zubringen. 

Weshalb  dies  alles?  Die  Gesinnung,  in  der  die  Nation  es  tat, 
zeigt  es  an:  dem  rastlosen  Kämpfer  für  Deutschlands  Ehre,  dem 
Manne,  der  in  guten  wie  in  bösen  Tagen  und  bis  ans  Ende  die 
großen  Namen  Freiheit  und  Vaterland  tief  im  Herzen  trug,  der  die 
Sehnsucht  nach  einem  einigen,  mächtigen  Deutscliland,  über- 
strahlt von  dem  Glänze  edelster  Bildung,  in  glutatmenden  Worten 
ausströmte  und,  was  immer  eigene  Verschuldung  hinzutat,  doch 
auch  dafür  gelitten  hat  und  gestorben  ist  —  ihm  galt  die  Feier. 

Das  war  es  eben  auch,  was  ihn  einige  Jahre  hindurch  vor 
Deutschland  neben  dem  Reformator  emporhob,  als  Vorkämpfer 
—  oder  wie  er  selbst  es  bescheiden  auffaßte  - —  als  Schildknappen 
des  großen  Helden  erscheinen  ließ;  was  ihn,  den  Humanisten, 
den  Ritter,  hinüberriß  an  die  Seite  des  Mönchs,  des  Bauernsohnes; 
was  ihn  antrieb,  seine  Freunde,  den  fürstlichen  Mäzen,  die  Eltern, 
alles  Behagen  eines  sicheren  und  ehrenvollen  Lebens  aufzugeben: 
er  konnte  wirklich  wähnen,  daß  seine  Ideale  Wahrheit  werden, 
daß  Martin  Luther  das  goldene  Zeitalter  für  Deutschland,  von 
dem  er  träumte,  heraufführen  werde.  Es  war  sein  Geschick,  den 
Zwiespalt  zwischen  Traum  und  Wirklichkeit  an  sich  selbst  zu 
erleben.  Er  hatte  für  Ernst  genommen,  was  nur  in  der  Sphäre 
der  Phantasie  gelten  konnte:  unklar,  widerspruchsvoll  und  ver- 
wirrend wurden  seine  Ideen,  sobald  er  sie  in  das  Leben  einführen 
wollte;  und  so  mußte  er  in  den  revolutionären  Wirbeln,  die  das 
Zusammentreffen  feindlichster  Strömungen  hervorrief,  auch  er 
um  seines  Glaubens  wiUen,  untergehen.  Versuchen  wir  es,  im 
engsten  Rahmen  das  Bild  des  Ritters  und  seiner  Zeit  zu  umspannen 
und  so  die  Tragik  seines  Lebens  zu  verstehen. 

Alles  hängt  davon  ab,  daß  der  Geist,  in  dem  Hütten  aufwuchs, 
in  Deutschland  selbst  nicht  heimisch,  sondern  aus  der  Fremde 
übertragen  war.  Und  selbst  in  Italien  entstammte  der  Huma- 
nismus nicht  den  Tiefen  der  Nation,  sondern  von  Anfang  an  trat 
er  mit  heftiger  Feindseligkeit  den  überheferten  kirclilichen  Bil- 
dungsformen entgegen,  als  Nachahmung  einer  untergegangenen 
Welt,   antiker  heidnischer  Ideale.     FreiHch   kam   ein   besonderes 


112  Kleine  historische  Schriften, 

nationales  Element  hinzu:  diese  verschollene  Welt  war  doch  die 
des  heimatlichen  Bodens;  als  Vorfahren  wurden  die  Alten  ge- 
feiert. Seit  Petrarca  gab  es  keine  glühenderen  Patrioten  als  eben 
die  Humanisten;  Wissenschaft,  Sprache  und  Kunst  der  Gegenwart 
erschien  ihnen  nur  als  Entartung  unerreichbarer  Vergangenheit; 
und  so  hoben  sie  den  eigenen  wie  des  Vaterlandes  Ruhm,  wenn  sie 
die  alten  Heiden  imitierten.  Ihr  Gegensatz  aber  gegen  die  über- 
kommenen, in  Kirche  und  Wissenschaft  herrschenden  Formen 
wuchs  von  Generation  zu  Generation.  Je  vertrauter  sie  mit  der 
Antike  wurden,  um  so  unabhängiger  und  selbstbewußter  traten 
sie  auf;  und  mit  souveräner  Aufklärung  behandelten  sie  alles, 
was  sich  \-om  scholastischen   Geist  erfüllt  zeigte. 

Auf  dieser  Höhe  der  Ausbildung  kam  der  Humanismus  über 
die  Alpen  nach  dem  Norden,  um  die  Mitte  des  fünfzehnten  Jahr- 
hunderts,  in  eine  völlig  fremde  Welt. 

Niemals  bis  auf  unsere  Tage  ist  in  unserem  Vaterlande  eine 
größere  Summe  von  Kraft  vereinigt  gewesen  als  in  dieser  Epoche 
völliger  Zersplitterung.  Sprichwörtlich  war  der  Reichtum  der 
deutschen  Städte.  Verbündet  boten  sie  Fürsten  und  Kaiser 
Trotz;  der  Osten  und  Norden,  ja  wohl  auch  Flandern  und  Eng- 
land waren  wirtschaftlich,  zum  Teil  gar  politisch  von  ihnen  ab- 
hängig. Doch  auch  ihre  fürstlichen  Gegner  und  selbst  die  Ritter 
wußten  sich  zu  behaupten.  Franz  von  Sickingen  nahm  es  mit 
jedem  Fürsten  auf:  unablässig  vermehrte  er  seine  Burgen,  Dörfer, 
Weinberge  und  Wälder;  die  Reiter  und  Knechte  liefen  ihm  lieber 
zu  als  dem  Kaiser;  von  allen  Mächten  sah  er  sich  umworben;  er 
trotzte  der  kaiserlichen  Acht,  und  selbst  ein  Kurhut  war  kein  zu 
hohes  Ziel  für  seinen  Ehrgeiz. 

Das  Ganze  aber  in  der  Zersphtterung.  Jeder  wollte  voran, 
doch  auf  Kosten  der  Nächsten.  Es  feUte  das  Interesse,  welches 
alle  W^ünsche  vereinigte,  das  Gesetz,  welches  die  Einzelwillen 
beugte,  der  nationale  Wille,  die  nationale  Politik  —  es  fehlte  der 
deutsche  Staat.  Die  Folge  war  immerwährender  Hader.  Wenn 
das  Reich  gegen  die  Hussiten  und  darauf  gegen  die  Türken  auf- 
geboten wurde,  erlitt  es  schmähliche  Niederlagen.  Im  Innern 
stritten   die  großen   Häuser  untereinander,    für  oder  gegen   den 


Dem  Andenken  Ulrichs  von  Hütten.  113 

Kaiser,  wider  Städte  und  Adel.  Keine  dieser  Gewalten  war  in 
sich  geschlossen,  alles  in  Fluß  und  Bewegung.  Die  Fürsten  in  Streit 
mit  ihren  Ständen,  Städten,  Edelleuten,  Geistlichen;  in  den  Städten 
der  alte  Zwist  zwischen  Geschlechtern  und  Zünften,  Kapital  und 
Arbeit.  Darunter  die  Masse  des  Landvolkes,  in  trotziger  Ungebun- 
denheit,  und  doch  wieder  preisgegeben  der  Willkür  ihrer  Herren. 
Immer  tiefer  wühlte  sich  der  Haß  ein  in  den  »armen  Leuten« 
gegen  Pfaffen  und  Adel;  immer  umfassender  und  wilder  wurden 
die  Empörungen,  in  denen  sie  das  Joch  abzuschütteln  versuchten. 
Der  Kaiser  war  fern,  und  indem  die  Herren  siegten,  grub  sich  ihre 
Gewalt  um  so  fester,  verschärfte  sich  um  so  mehr  der  Zwiespalt. 
Darüber  hin  nun  die  Kirche,  der  ein  Drittel  des  deutschen  Bodens 
gehörte:  Bistümer,  Abteien,  Mönchs-  und  Ritterorden,  Univer- 
sitäten, Brüderschaften;  territorialisiert  auch  sie,  von  den  gleichen 
sozialen  Konflikten  durchsetzt,  aber  zuletzt  doch  alle  an  Rom  ge- 
fesselt, das  in  jeden  Hader  eingreifen,  für  Geld  die  Parteien  ge- 
winnen konnte  und  Ströme  deutschen  Goldes  über  die  Alpen  zog. 
In  wildphantastischen  Ausbrüchen  machte  sich  die  allgemeine 
Erregung  Luft,  in  Wallfahrten,  in  dem  Wahnsinn  der  Flagellanten, 
im  Auftreten  von  Stigmatisierten  und  wundertätigen  Marien- 
bildern. Es  ist  die  Stimmung  des  Suchens  und  Sehnens,  halt- 
losen Verzagens  und  heißen  Aufflammens:  in  der  Farbenglut  der 
Mystik,  im  Marienkultus,  in  den  Klosterreformationen  (Tausende 
drängten  sich  in  die  Konvente),  in  der  Überfüllung  der  Univer- 
sitäten, in  den  Kirchen  und  Kapellen,  die  allerorten  mit  Reli- 
quien, Bildern  und  kunstreichem  Schnitzwerk  überladen  wurden, 
fand  sie  den  mannigfaltigsten  Ausdruck. 

In  diese  verschnörkelte  und  verkrauste,  noch  völlig  mittel- 
alterliche Welt  trat  nun  vom  Süden  her,  aus  dem  Mutterlande 
der  Kirche,  von  ihren  Dienern  ausgehend,  an  der  Spitze  ihr  Legat 
(der  dann  Kardinal  und  Papst  wurde)  Enea  Silvio  selbst,  der  Geist 
weltfroher  Aufklärung,  selbstgewisser  Kritik,  reinster  Form, 
heidnisch-antiker  Ideale,  in  dem  Stadium  der  eigenen  vollen  Reife 
und  gänzlicher  Abwendung  von  allem  Mittelalter. 

Was  kommen  mußte,  ist  klar.  Zwei  Ströme  waren  es  ent- 
gegengesetzten   Laufes:     die    Fluten    müssen    zusammenstoßen, 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  8 


1^4  Kleine  historische  Schriften. 

durcheinanderwirbeln;  kaum  unterscheidbare  Mischungen  ent- 
stehen ;  bald  da,  bald  dort  treffen  die  neuen  Wogen  an  und  kreuzen 
sich  wohl  in  derselben  Brust. 

Sehr  erklärhch,  nur  allzu  menschhch,  daß  die  Ungebunden- 
heit  und  Lüsternheit  der  neulateinischen  Poeten  zunächst  und 
besonders  Anklang  fand.  Denn  von  der  altgermanischen  Sitten- 
einfalt dürfen  wir  uns  eben  auch  in  dieser  Zeit  nicht  gar  zu  große 
Vorstellungen  machen.  Aber  auch  darin  waren  unsere  Vorfahren 
gröber,  täppischer  und  im  Grunde  ehrhcher  als  die  formgewandten 
Italiener.  An  den  Hochschulen  kam  der  neue  Geist  anfangs  über- 
haupt nicht  auf.  In  Privatschulen  sammelte  sich  wohl  um  ver- 
ehrte Lehrer  ein  Kreis  von  Schülern  —  zumeist  nüchterne,  ernst- 
hafte Männer,  recht  schulmeisterlich-phihströse  Naturen,  die  am 
alten  Glauben,  deutscher  Art  und  Sitte  trotz  des  modischen  Ge- 
wandes festhielten.  Doch  band  sich  die  neue  Bildung  nicht  an 
Ort  und  Stand,  sondern  aus  den  verschiedensten  Schichten  drängte 
man  sich  mit  wachsendem  Eifer  herzu.  Vielfach  waren  es  Städter, 
doch  auch  Bauernsöhne,  wie  Konrad  Celtes,  Edelleute,  wie  Rudolf 
von  Langen  und  Ulrich  von  Hütten,  Bischöfe,  wie  Johann  von 
Dalberg,  und  Äbte,  wie  Trittheim:  als  Humanisten  waren  sie 
Gegner  oder  Freunde,  aber  nach  Stand  und  Stamm  nicht  ge- 
schieden: sie  waren  Deutsche  schlechthin.  Das  aber  in  einem 
Lande,  dem  die  Zersphtterung  in  Staat  und  Kirche  das  Gepräge 
gab.  Sonst  überall  tiefe  Gärung  und  Zerklüftung :  hier  eine  gewisse 
Einheit  in  der  Lebensanschauung  und   Gesinnung. 

Wie  weit  nun  auch  Deutschland  sich  von  Italien  unterschied, 
hatten  sie  doch  wieder  verwandte  Schicksale  von  einer,  wie  Fürst 
Bismarck  es  einmal  ausgesprochen  hat,  »ergreifenden  Analogie«. 
Beide  waren  frei  geworden  von  der  einigenden  Gewalt,  die  sie 
im  Mittelalter  gebändigt  hatte,  dem  Kaisertum,  und  an  der  gleichen 
Not  der  Gegenwart  mußten  sich  die  Geister  entzünden.  Auch  die 
Macht,  welche  überall  als  das  störende  Element  erschien,  zugleich 
als  die  tyrannische  Vertreterin  der  feindHchen  Richtung,  war 
die  gleiche:    Rom. 

Und  gerade  an  die  deutschen  Kaiser  hatten  die  Väter  _^der 
Renaissance,  Dante  und  Petrarca,  als  die  Schirmherren  der  Ein- 


Dem  Andenken  Ulrichs  von  Hütten.  115 

heit  und  Freiheit  ihres  Itahens  appelliert.  So  mußte  auch  in  den 
deutschen  Humanisten  das  Bewußtsein  nationaler  Zusammen- 
gehörigkeit erstarken  und  die  Sehnsucht  aus  der  Stickluft  der 
Scholastik  und  Kleinstaaterei  nach  einer  großen  nationalen  Wirk- 
samkeit erwachen ;  gerade  gegen  die  Italiener  und  ihre  gottlose  Kirche 
gaben  sie  sich  als  Anwälte  deutscher  Ehre,  Macht  und  Freiheit. 

Schon  war  auch  der  Mann  gefunden,  dem  sie  ihre  Ruhmes- 
kränze winden  konnten:  Kaiser  Max,  der  sich  in  der  Enge  der 
ständischen  Interessen  vergebens  abmühte,  der  ritterliche,  deutsch- 
empfindende, hochbegabte,  rastlose,  lebensfrohe,  phantasievolle 
Kaiser,  der  immer  auf  dem  Kampfplan  stand  gegen  die  fremden 
Mächte  auf  den  Bahnen  der  Saher  und  Staufen  einherging,  der 
Hort  deutscher  Kunst  und  Bildung.  Waren  die  Humanisten 
eine  Klasse,  für  die  Stand  und  Namen  nichts  bedeutete,  Deutsche 
schlechthin,  so  stellte  sich  ihnen  hier  eine  politische  Persönlichkeit 
dar,  wie  sie  für  sich  und  Deutschland  sie  ersehnten.  Nach  Einheit 
verlangte  die  strotzende  Kraft  Germaniens:  hier  schien  sich  ein 
Organ  zu  bieten,  durch  das  die  Fülle  seines  Lebens  in  die  Welt 
ausströmen  konnte.  So  mußten  sich  wohl  Kaiser  und  Poeten  finden. 
Und  so  stimmten  sie  denn  die  höchsten  Töne  ihm  zu  Ehren  an, 
Wimpheling  und  Pirckheimer,  Langen,  Brant,  Dalberg,  Trittheim  — 
Abt,  Bischof,  Bürger,  Edelmann,  aUe  mit  dem  gleichen  Hochgefühl 
und  Kampfeseifer,  in  denselben  Formen  der  Sprache  und  Poesie. 

Unter  ihnen,  einer  nur  unter  vielen,  wenn  auch  der  talent- 
vollste und  formenreichste,  Ulrich  von  Hütten.  Eines  fränkischen 
Ritters  Sohn.  Der  Vater  ein  herber,  mürrischer  Herr,  der  den 
Knaben  in  die  Klosterschule  steckte,  um  etwa  einen  Abt  oder 
gar  einen  Bischof  aus  ihm  zu  machen.  Aber  den  Brausekopf  litt 
es  nicht  in  den  dumpfen  Klostermauern;  er  brach  aus  und  verlief 
in  die  Welt.  Denn  die  Welt  und  ihre  Freude  kennen  lernen,  das 
war  der  Drang  des  Rastlos- Stürmischen.  Und  so  zog  er  umher 
als  fahrender  Geselle.  »Ich  wohne«,  so  ruft  er  aus,  »nirgends  Heber 
als  überall;  meine  Heimat  ist  allerorten.«  Von  Köln  wandert  er 
nach  Erfurt  und  Frankfurt  a.  O. ;  weiter  nach  Greifswald,  zur 
Universität  der  »hyperboräischen  Pommern«,  und  tief  in  den 
Süden  nach  Italien,  in  das  Waffengeklirr  des  kaiserlichen  Lagers, 

8* 


[\ß  Kleine  historische  Schriften. 

bis  Rom  hin,  wo  sich  ihm  Übermut  und  Laster  der  Kirclie  in  aller 
Nacktheit  zeigen  —  fast  immer  mittellos,  umhergestoßen,  vom 
Vater  mit  \'or\vürfen  überhäuft,  als  verlorener  Sohn  behandelt, 
aber  in  allem  Elend  ungebrochen,  glühend  von  Lebenslust,  vater- 
ländischer Freudigkeit,  dichterischer  Phantasie  und  Formfülle, 
siegessicher  im  Angriff,  den  er  in  immer  wiederholten  Stößen, 
leidenschaftlich,  schonungslos  zu  führen  weiß,  und  mit  wachsen- 
dem Haß  sich  erfüllend  gegen  alles,  was  der  Größe  des  Vater- 
landes und  der  neuen  freien  Bildung  mit  engherziger  Herrschsucht 
hemmend  und  verdunkelnd  in  den  Weg  tritt. 


Wenden  wir  von  Hütten  einmal  den  Blick  hinweg  nach  dem 
Mönch,  der  in  demselben  Erfurt,  wo  auch  jener  eine  Zeit  lang 
weilte,  aus  der  gleichen  studentischen  Ungebundenheit  heraus  sich 
in  den  engen  Klostermauern  barg.  Der  ganze  Gegensatz  beider 
Naturen  tritt,  wie  man  bemerkt  hat,  hier  zutage:  Hütten  flieht  aus 
dem  Kloster  in  die  Welt,  Luther  flüchtet  sich  aus  der  Welt  in  das 
Kloster.  Wohl  ist  gesagt  worden,  daß  der  Humanismus  auch  für 
Luther  bestimmend  gewesen  sei,  wie  denn  erst  der  Bund  der  beiden 
die  Reformation  oder  die  Revolution  erzeugt  habe.  Doch  wird 
damit  nur  ein  Teil  für  das  Ganze  erklärt.  Nur  eine  unter  vielen 
Anregungen  verdankt  Luther  dem  Humanismus:  tiefverborgene 
Quellen  lebten  in  ihm ;  nach  schwerstem  Ringen,  wie  aus  granitenem 
Gestein,  mit  Urgewalt  brachen  sie  ans  Licht.  Wollen  wir  begreifen, 
was  Luther  sein  Evangelium  nannte,  so  müssen  wir  zurückblicken 
bis  in  sein  Kloster,  ja  noch  in  die  Zeit  vorher:  in  das  Dämmer- 
licht seiner  Jugendjahre,  seine  Studien  und  Zweifel,  die  Ängste, 
die  den  Jüngling  vor  dem  Gericht,  dem  Zorn  Gottes  durch- 
schauerten und  ins  Kloster  trieben ;  in  die  Mühsal  aller  Bußübungen 
und  Selbstentäußerung,  der  Qual  mit  den  guten  Werken,  der 
vergeblichen  Beichtnot  —  und  wie  er  mitten  in  der  Pein  sich  das 
Bewußtsein  erringt,  daß  der  allmächtige,  unerforschliche  fessel- 
lose Gott  den  Tod  des  Sünders  nicht  will,  daß  unmittelbar  aus 
dem  göttlichen  Schöße  das  Erbarmen  quelle,  daß  keine  Kreatur 
ein  solle  zwischen  der  Seele  und  ihrem  Schöpfer. 


Dem  Andenken  Ulrichs  von  Hütten.  W] 

Von  solchen  Kämpfen  gewahren  wir  in  Hütten  nichts.  Ihm 
gilt  es  nur  immer  die  Ehre  des  Vaterlandes.  Als  Patriot  und 
im  Namen  der  Aufklärung  führt  er  den  Kampf  gegen  Rom. 
Deutschland  Roms  Beute,  darum  los  von  Rom  —  das  ist  der 
Refrain  aller  seiner  Epigramme  und  Dialoge,  seiner  Satire  und 
seines  Zorns.  Hütten  war  eine  unkirchliche,  ja  mehr,  eine  un- 
religiöse Natur,  ^^'ie  schlecht  stehen  ihm  die  theologischen  Zitate 
und  Bibel verse  zu  Gesicht,  die  er  in  der  späteren  Epoche  unter 
Luthers  Einfluß  seinen  Schriften  beimischt!  »Man  glaubt«,  be- 
merkt sein  Biograph  D.  Fr.  Strauß  treffend,  »stellenweise  Hütten 
in  Kutte  und  Kapuze  sich  vermummen  zu  sehen,  den  doch  nur 
Harnisch  und  Lorbeer  kleideten.«  Auch  verkannte  er  anfangs 
Luthers  Absichten  und  das  Ziel  der  Bewegung  durchaus.  Er  war 
am  Hofe  Kurfürst  Albrechts  und  sonnte  sich  in  seiner  Gunst,  als 
dieser  Tetzel  aussandte.  Noch  auf  dem  Reichstage  in  Augsburg 
1518,  wenige  \\'ochen  bevor  Luther  dort  vor  Cajetan  trat,  hielt 
er  seinen  Handel  für  ein  ]\Iönchsgezänk,  über  das  sich  jeder  Ver- 
ehrer der  neuen  Bildung  freuen  müsse:  möchten  sie  sich  doch, 
schrieb    er    damals,    untereinander    zugrunde    richten! 

Und  doch  hatte  Luther  längst  mit  Rom  gebrochen.  Und 
von  Anfang  an  hatten  die  Gegner  erkannt,  daß  hier  der  Feind, 
daß  der  Mönch  ein  Ketzer  sei,  weil  er  sich  gegen  Rom  auflehne. 
Wider  \Mllen  war  Luther  dahin  gekommen,  den  Zwiespalt  als 
unversöhnlich  zu  erkennen.  Und  so,  indem  die  Nebel  sich  all- 
mählich um  ihn  lösten,  trat  er  zurück  auf  sein  Evangelium,  wie  es 
seit  Erfurt  in  ihm  lebte:  kein  Priester  zwischen  ihm  und  Gott: 
ganz  persönlich  sein  Glaube:  frei  er  selbst  vor  der  Welt  als  Gottes 
Knecht  und  doch  unteru^orfen  den  Ordnungen  von  dieser  Welt; 
denn  alles,  was  da  lebt  und  webt,  ist  Gottes  Kreatur;  in  ihm  allein 
hat  es  die  Kraft  des  Bestehens,  in  ihm  aber  auch  das  Recht  dazu, 
den  Frieden:  jedermann,  ob  Priester,  König,  Bürger  oder  Bauer, 
ledig  oder  Ehemann:  ein  Amtmann  an  Gottes  Statt,  am  Werk, 
das  seine  Schöpfung  ist  und  darum  vor  ihm,  in  seinem  Namen, 
auch  gut,  heilsam,  edel,  menschlich-^vürdig.  Das  in  einer  Summe 
die  Lehre  des  Reformators:  immer  deutlicher  ward  sie  ihm  selbst, 
in  immer  neuer,  strömender  Gedankenfülle,  unter  stets  wachsen- 


Hg  Kleine  historische  Schriften. 

dem  Beifall  der  Freunde,  stets  lauterem  Toben  der  Gegner  gab 
er  sie  hinaus  in  die  Welt. 

Gewinnen  \\dr  den  Eindruck  des  historischen  Momentes,  in 
dem  es  geschah. 

Kaiser  Max  war  ein  siecher  Mann,  und  schon  begann  der 
Streit  um  seine  Erbschaft.  Zwei  Erben  nur  kamen  in  Frage:  sein 
Enkel  Karl  von  Spanien  und  Franz  I.  von  Frankreich.  Jener, 
der  Herr  jenseits  der  Pyrenäen  und  der  Alpen,  in  Burgund  und 
den  Niederlanden,  dieser  sein  Rival  wie  an  allen  Grenzen  so  nun 
auch  in  Deutschland  selbst.  Dem  Kaiser  war  es  letzter  Lebens- 
zweck,.  seinem  Enkel  und  Erben  Österreichs  die  Krone  Karls  des 
Großen  zu  verschaffen;  für  ihn  sprach  das  Herkommen,  das  Blut, 
das  in  seinen  Adern  floß,  die  nationale  Erregung  gegen  Frankreich 
und  das  mit  ihm  verbündete  Rom.  Die  Humanisten,  Hütten 
voran,  forderten  stürmisch  den  Habsburger.  Das  burgundische 
Geld,  große  Versprechungen  halfen  nach:  ganz  Deutschland  geriet 
in  fieberhafte  Bewegung.  So  stand  es  schon  zur  Zeit  des  Augs- 
burger Reichstags.  Cajetan  war  nur  deshalb  nach  Deutschland 
gekommen,  um  die  deutschen  Fürsten  für  Frankreich  zu  gewinnen. 
Da  bheb  auch  Luther  von  der  allgemeinen  Stimmung  nicht  un- 
berührt. »Wagt  es,«  schreibt  er,  »jener  tölpelhafte  Sophist  Silvester 
(sein  erster  römischer  Gegner)  mich  mit  seinem  Gewäsch  noch  ein- 
mal zu  reizen,  so  will  ich  dem  Geist  und  der  Feder  freie  Bahn  lassen 
und  ihm  beweisen,  daß  es  in  Deutschland  Leute  gibt,  welche  die 
römischen  Kniffe  kennen.  Möge  es  nur  bald  geschehen.  Denn  zu 
lange  schon  äffen  uns  die  Römer  mit  schamloser  Stirn  als  ihre  Hof- 
narren und  Buffonen  durch  Schliche  und  Tücken  ohne  Maß  und  Ziel.« 

Bald  genug  traten  die  Ereignisse  ein,  welche  die  mühsam  zu- 
rückgehaltenen Stürme  entfesseln  mußten:  der  Tod  Maximilians 
im  Januar  1519  und  der  Wahlkampf,  aus  dem  im  Sommer  sein 
Enkel  als  Kaiser  hervorging. 

Darin  finden  wir  sofort  auch  Luther,  und  bald  schlägt  um 
ihn  das  ganze  Gewoge  zusammen.  Auf  den  brausenden  Fluten 
der  nationalen  Erregung  wird  er  emporgetragen,  aller  Welt  vor 
Augen,  dem  einen  der  fluchwürdigste  Ketzer  aller  Jahrhunderte, 
dem  andern  der  Prophet  der  Nation.    Für  ihn  aber  blieb  es  die 


Dem  Andenken  Ulrichs  von  Hütten.  IIQ 

Aufgabe,  in  dem  Gebrause  die  Idee,  in  der  er  stand,  mit  aller 
Stärke  festzuhalten,  an  ihrer  Norm  nun,  wo  alles  krachte  und 
barst,  alle  irdischen  Aufgaben,  die  sich  an  ihn  herandrängten,  zu 
messen  und  sie,  sei  es  zu  erhalten,  sei  es  abzustoßen  oder  umzu- 
gestalten. Im  Sommer  1520  finden  \vir  ihn  auf  der  Höhe,  damals, 
als  er  in  seiner  Schrift  »An  den  christlichen  Adel  deutscher  Nation« 
darlegte,  wie  die  deutsche  Frage  evangelisch  zu  lösen  sei.  Eine 
Kriegserklärung  war  es,  wie  Rom  sie  noch  nie  gehört  hatte.  Gegen 
alles,  was  seit  Jahrhunderten  gefestigt  und  geheiligt  schien,  erhob 
der  gewaltige  Mann  seine  Stimme:  das  gesamte  geistliche  Steuer- 
system, Ehegesetze  und  Zölibat,  Indulte  und  Privilegien,  Scho- 
lastik, geistliches  Recht,  hoher  und  niederer  Unterricht  —  aUes 
sollte  hinweggeräumt  oder  von  anderem  Geiste  belebt,  auf  neuem 
Boden    hergestellt    werden. 

Dies  der  Moment,  wo  Hütten  in  Luthers  Lager  überging, 
wo  Humanismus  und  Reformation  sich  trafen  oder  abstießen, 
wo  die  große  Scheidung  der  Geister  sich  vollzog.  Die  Mehrzahl 
der  Humanisten  blieb  zurück.  Den  Italienern  war  der  neue  Geist 
fast  unverständlich;  in  England  trat  Thomas  Monis  für  die  alte 
Kirche  ein;  in  Deutschland  gerade  die  Aufgeklärten,  die  Spötter, 
wie  Erasmus,  Crotus  Rubeanus,  selbst  Wilibald  Pirckheimer. 
Hütten  aber  zauderte  keinen  Augenblick.  Der  Sturmatem  der 
Zeit  zog  mehr  als  je  durch  seine  Schriften.  Den  Kaiser  und  seinen 
Bruder  Ferdinand  rief  er  an;  er  schürte  und  warb  für  den  Mönch; 
alles  hielt  er  für  gewonnen:  die  Freiheit  sei  gefesselt  und  verbannt 
gewesen,  er  führe  sie  zurück.  Daß  er  so  ohne  Besinnen  sich  auf 
des  Reformators  Seite  stellte,  den  Erzbischof  verließ,  mit  dem 
Vater  aufs  neue  brach  und  Unruhe,  Armut  und  Kampf  für  sich 
wählte,  das  ist  das  Echte  in  seiner  Natur. 

»Wiewol  mein  fromme  mutter  weynt, 
Do  ich  die  sach  hett  gfangen  an: 
Gott  wöir  sye  trösten,  es  müsß  gan, 
Und  solt  es  brechen  auch  vorm  end. 
Wils  Gott,  so  mags  nit  werden  gwend, 
Darumb  wil  brauchen  füß  und  hend. 
Ich  hab's  gewagt! 


\'20  Kleine  historische  Schriften. 

Fragen  wir  aber  nacli  seinem  Programm,  so  gewahren  wir 
überall  nur  das  gestaltlose  Sehnen  nach  Freiheit,  die  Satire  und 
das  revolutionäre  Stürmen  gegen  die  Kurtisanen  und  alle  ihre 
Helfer.  Und  vergleichen  wir  damit  Luthers  Schriften,  jenen  Appell 
an  den  christhchen  Adel  der  Nation,  die  umstürzenden  Gedanken 
in  der  »Babylonischen  Gefängnuß«  oder  die  hehren  Töne  in  dem 
Traktat  von  der  »Freiheit  eines  Christenmenschen«,  so  erkennen 
wir  die  elementare  Gewalt  und  die  positive  Kraft  der  reforma- 
torischen Idee  im  Gegensatz  zu  dem  Humanismus  selbst  da,  wo 
dieser  sich  in  den  Dienst  der  Reformation  stellt. 

W'underbar  ist  der  Kontrast  zwischen  der  unbeugsam-starren 
Energie,  mit  der  Luther  das  Prinzip  behauptete,  und  der  Gleich- 
gültigkeit, ja  der  souveränen  Unbekümmertheit,  womit  er  alle  Ver- 
fassungsformen, die  kirchlichen  so  gut  wie  die  staatlichen,  ansah. 
Das  alles  war  für  ihn  dem  Wandel  unterworfen;  von  Menschen- 
hand für  die  Menschen  und  doch  wieder  Gottes  Werk  —  wie  die 
Erde  selbst  und  alles,  was  sie  trägt,  aus  seiner  Hand  hervorging  und 
seinen  Namen  preisen  soll,  vor  ihm  also  gut  ist:  ihm  zu  Ehren 
mögen  die  einen  regieren,  die  anderen  gehorchen  und  keiner  den 
anderen  verachten.  Aber  von  Gottes  Werk  ist  Gottes  Wort,  das 
wandellose,  an  Zeit  und  Stätte  nicht  gebundene,  zu  unterscheiden; 
von  seinen  Kreaturen  der  Schöpfer,  dem  jene  nur  die  »Hand- 
röhren und  Mittel«  sind,  »dadurch  er  alles  gibt;  wie  er  der  Mutter 
Brüste  und  Milch  gibt  dem  Kinde  zu  reichen,  Korn  und  allerlei 
Gewächs  aus  der  Erde  zur  Nahrung«.  Niemals  hat  Luther  eine 
Theorie  über  die  beste  \'erfassung  von  Staat  und  Kirche  auf- 
stellen wollen.  Ganz  patriarchalisch  war  noch  seine  Vorstellung 
vom  römischen  Reich;  für  Kaiser  Karl  bewahrte  er  allen  Ent- 
täuschungen zum  Trotz  eine  herzliche  Verehrung.  Er  wollte  in 
jener  Sturmschrift  an  den  »christlichen  Adel«  selbst  zugeben,  daß 
auch  die  kirchliche  Verfassung  bleiben  möge,  mit  Bischöfen  und 
Kapiteln  und  dem  Papste  selbst,  als  die  über  die  Nation  hinweg- 
reichende Weltordnung  —  wenn  nur  eben  Papst  und  Bischöfe 
evangelisch  w^erden  wollten. 

^^'ie  aber  wäre  eine  so  blitzschnelle  Wirkung  möglich  ge- 
wesen!   Wo  waren  die  Formen  in  Staat  und  Kirche,  die  das  Neue 


Dem  Andenken  Ulrichs  von  Hütten.  121 

aufnehmen,  schützen,  ausbilden  konnten  ?  Der  \' ertreter  spanischer, 
burgundischer,  österreichischer,  itahenischer  Interessen,  der  war 
jetzt  Deutschlands  Herr  und  Meister.  Bald  genug,  und  früher 
als  jeder  andere,  schon  auf  der  Wartburg,  bemerkte  Luther,  daß 
der  Zusammenbruch  unvermeidlich,  eine  fürchterliche  »Tragödie 
des  Satans«  im  Anzüge  sei,  und  daß  auf  ihn  dann  aller  Haß  der 
Machthaber  wie  der  enttäuschten  Menge  fallen  werde.  Groß- 
artig wie  sein  Prophetenblick  ist  seine  Haltung  dagegen.  Seine 
Waffe  nur  das  Gebet:  Gott  möge  Gnade  üben,  das  Furchtbare 
nicht  zulassen,  x^ber  ein  Zurückweichen  kennt  er  so  wenig  wie 
früher:  »Es  geschehe,«  spricht  er,  »es  geschehe  der  Wille  des 
Herrn ! « 

Der  Zerfall  der  deutschen  Kirche  war  das  nächste.  Es  ge- 
schah unter  lautestem  Beifall.  Jubelnd  begrüßte  von  Nürnberg 
her  Hans  Sachs  die  »Wittenberger  Nachtigall«,  die  den  jungen 
Tag  nach  langer  \\'internacht  heraufführe.  Albrecht  Dürer  ver- 
körperte in  seinen  Aposteln  den  Tiefsinn,  die  Treue,  die  jugend- 
liche Hingebung  und  die  männliche  Kraft  des  neuen  Glaubens. 
Luther  selbst  mochte  einen  Moment  wähnen,  daß  die  Erschüt- 
terung, wenn  Gott  »das  Rädlein  treibe«,  vorübergehen  und  sein 
Glaube   friedlich   einwurzeln   werde. 

Aber  sein  Beten  wollte  nichts  nützen.  Dem  Sturz  der  Kirche 
drohte  die  Zertrümmerung  der  Gesellschaft  zu  folgen.  Zuerst 
die  ritterliche  Erhebung.  Franz  von  Sickingen,  das  ist  kein  Zweifel, 
bestimmten  vor  allem  Unzufriedenheit,  Begehrlichkeit,  Rach- 
sucht und  Ehrgeiz.  So  fand  die  allgemeine  Gärung  des  deutschen 
Adels  in  ihm  den  bereiten  Führer;  und  damit  verbanden  sich  dann 
übelverstandene  evangelische  Gedanken  und  der  allgemeine  Un- 
wille der  unteren  Schichten  gegen  Kirche  und  Fürsten.  Von  vorn- 
herein war  die  Bewegung  unklar  und  ziellos.  Hütten  warf  sich 
mit  stürmischer  Leidenschaft  liinein.  Aber  bevor  noch  der  Schlag 
gegen  Sickingen  gefallen  war,  mußte  er  aus  der  Heimat  weichen 
und  ging  ins  Elend  und  in  den  Tod. 

Dann  aber  kam  erst  das  Ungewitter  der  Tiefe,  der  große 
Bauernkrieg  von  1525,  die  höchste  Gefahr,  die  Luthers  Ideen  zu 
bestehen  hatten  —  sie  wären  vernichtet  worden,  hätte  er  nach- 


122  Kleine  historische  Schriften. 

gegeben,    wäre  er  in   die   Bahnen   Karlstadts   und   Münzers   ge- 
raten. 

I  Die  bestehenden  Gewalten  siegten.  Nicht  der  Kaiser,  sondern, 
Mie  sonst,  die  Stände.  Seite  an  Seite  kämpften  Altgläubige  und 
Evangelische;  erst  infolge  der  Revolution  traten  sie  auseinander. 
Jeder  sah  oder  glaubte  sich  vor  die  Existenzfrage  gestellt.  Die 
einen  konnten  sich  nur  mit,  die  anderen,  wie  sie  meinten,  nur 
gegen  das  »Evangelium«  erhalten.  Die  alte  Kirche  selbst  suchte 
Schutz  vor  den  feindseligen  Strömungen  durch  Anschluß  an  die 
pohtischen  Gewalten,  gab  einen  Teil  ihrer  Macht  auf  und  rettete 
den  Rest.  Seitdem  gab  es  in  Deutschland  zwei  geschlossene  kon- 
fessionelle Parteien  unter  den  Ständen,  in  der  offiziellen  Vertretung 
des  Reichs.  Und  so  blieb  es  fortan:  der  religiöse  Gegensatz  %vurde, 
je  weiter  er  um  sich  griff,  um  so  mehr  territorial:  alle  religiösen 
Kämpfe  wurden  Machtfragen  der  ständischen  Politik.  Und  da 
der  große  Kampf  keine  Einheit  des  Reiches  durch  Unterdrückung 
der  einen  Partei  brachte,  war  das  Ende  der  Westfälische  Friede, 
d.  h.  eben  das  Eingeständnis,  daß  eine  nationale  Lösung  unmög- 
lich   sei. 

Heute  stehen  wir  am  Ziel,  das  freilich  im  Sinne  des  sech- 
zehnten Jahrhunderts  auch  noch  keines  ist.  Weder  Luthers  noch 
Huttens  Ideale  sind  erreicht  worden.  Immerhin  aber,  der  Staat, 
der  auf  Luthers  Religion  und  Staatsbegriffen  ruht,  hat  sich  ent- 
wickelt zum  neuen  Reich.  Er  zwingt  unter  seine  Gewalt,  wer 
ihm  immer  angehört,  welches  Bekenntnis  sonst  auch  trennen 
oder  hemmen  mag.  Doch  zwingt  er  nicht  bloß  zum  Gehorsam, 
zur  Hingebung  an  seine  Zwecke,  sondern  er  findet  auch  in  Älillionen 
deutscher  Herzen  ohne  Unterschied  die  Hingebung,  den  Glauben 
an  ihn,  die  Freude  an  seiner  Größe,  die  Treue  bis  in  den  Tod. 
Der  Glaube  Huttens  an  das  Vaterland,  mit  dem  er  jammervollen 
Schiffbruch  litt,  würde  heute  triumphieren,  und  so  würde  auch 
er  gewiß  jubeln  wie  damals,  da  er  den  Kaiser  Älax  anrief,  da  er 
sein  Jahrhundert  pries,  in  dem  es  eine  Lust  sei  zu  leben. 


Martin  Luther. 

(1904.) 

Als  der  Reformator  der  Kirche,  der  Gründer  der  gereinigten, 
der  ihrer  selbst  gewissen,  männlichen  Religion,  als  der  Erwecker 
evangelischer  Freiheit,  so  hat  Martin  Luther  von  jeher  der  Mit- 
welt und  Nachwelt,  soweit  sie  ihm  gehuldigt,  vor  Augen  gestan- 
den. Als  der  ärgste  der  Revolutionäre,  der  Zerstörer  aller  gött- 
lichen und  sittlichen  Ordnungen,  der  Vater  des  Nihilismus  und 
jeder  Zügellosigkeit,  als  der  Erzketzer  gilt  er  bis  heute  allen 
seinen  Feinden. 

Wohin  werden  wir,  wird  sich  die  Historie,  der  nichts  ver- 
haßter ist  als  die  Parteiung,  mit  ihrem  Urteil  stellen? 

Schauen  wir  die  Ereignisse  an,  welche,  sei  es  die  Folge,  sei  es 
die  Begleiterscheinung  der  Lehre  Luthers  waren,  so  müssen  wir 
in  der  Tat  bekennen,  daß  die  romanisch-germanische  Völkerwelt 
niemals  eine  Umwälzung  von  gleichem  Umfang  und  gleicher  Tiefe 
erlebt  hat,  seitdem  sie  sich  auf  den  Trümmern  des  römischen 
Weltreiches  erhob.  Was  wollen  gegen  die  Katastrophen,  die  sich 
an  das  Auftreten  dieses  deutschen  Bettelmönches  anscliließen, 
die  Taten  und  Schöpfungen  der  Staatsmänner  und  Feldherren 
besagen,  die  seither  die  Welt  mit  dem  Glänze  ihres  Namens  er- 
füllt haben !  Die  große  französische  Revolution,  wie  tief  sie  Frank- 
reich und  in  ihren  Folgen  Europa  umgewühlt  haben  mag,  in  die 
Tiefe  des  Zwiespaltes,  den  das  16.  Jahrhundert  gerissen,  griff 
sie  nicht  hinab;  nichts  glich  sie  darin  aus,  wie  sehr  sie  darum  be- 
müht war,  sondern  sie  konnte  ihn  nur  vergrößern:  an  dem  Fels- 
gestein  der   Kirche  scheiterte  ihre   Kraft;   und  weil  die   Kirche 


124  Kleine  historische  Schriften. 

stärker  war  als  sie,  ist  der  Staat,  den  sie  bauen  wollte,  bis  heute 
unfertig  geblieben.  Und  ist  es  uns  Deutschen  anders  gegangen  ? 
Dahin  sind  alle  Hoffnungen,  alle  Versuche  früherer  Zeiten,  den 
Zwist  der  Geister  in  einem  höheren,  freieren  Gottes-  und  Mensch- 
heitsbewußtsein auszugleichen. 

Es  ist  \yahr,  schon  vor  Luther  hatten  sich  in  dem  System 
und  in  der  Weltanschauung  der  mittelalterlichen  Hierarchie  Risse 
gezeigt,  die  einen  nahen  Zusammenbruch  ahnen  ließen:  die  auf 
dem  Boden  der  Antike  erwachsene  Bildung  hatte  weite  Kreise 
ergriffen  und  mit  Verachtung  gegen  den  in  den  Schulen  herr- 
schenden Geist  erfüllt,  tiefgreifende  Reformen  waren  versucht 
worden,  und  revolutionäre  Stöße  hatten  das  gesamte  Gefüge  er- 
schüttert. Aber  hatte  alles  dieses  vermocht,  auch  nur  ein  Stein- 
chen aus  dem  Wunderbau  zu  lösen  ?  War  irgendein  Dogma  ab- 
geschafft, der  Kultus  vereinfacht,  die  Inquisition  gemildert,  die 
Scheiterhaufen  ausgelöscht,  das  Heer  der  Kuttenträger,  die 
Scharen  der  Gläubigen  verringert  ?  Wurde  weniger  gewallt  und 
gebetet,  Reliquien  gesammelt  und  Ablaß  gekauft,  weniger  eifrig 
an  Kirchen  und  Kapellen  gebaut,  weniger  Geld  für  Kirchenbilder 
und  Altäre  und  tausend  fromme  Stiftungen  fortgegeben  ?  Hatte 
in  Italien  selbst,  in  dem  Italien  Savonarolas,  die  Bildung  der 
Renaissance  den  Kreis  der  Auserwählten  überschritten  ?  Hatte 
sie  bereits  an  das  Herz  des  Volkes  gerührt,  verflachend  oder  zer- 
setzend auf  seine  religiöse  Phantasie  oder  auch  nur  mäßigend 
und  korrigierend  auf  die  Ansprüche  der  Hierarchie  eingewirkt  ? 
Niemals  vielmehr,  man  darf  es  aussprechen,  ist  die  Papstkirche 
einheitlicher  regiert  und  ihre  Ruhe  von  außen  weniger  gestört 
worden  als  unter  der  Regierung  der  Rovere  und  der  Borgia.  Die 
stürmischen  Zeiten  des  Schismas  und  der  Reformkonzilien,  wicli- 
fitischer  und  hussitischer  Ketzerei  waren  vorüber;  durch  Kon- 
kordate hatte  Rom  sich  der  großen  Mächte  versichert;  die  kleinen 
Gewalten  hielt  es  unter  dem  Daumen.  Eben  jetzt  erhielt  der 
kathoHsche  Genius  in  dem  Aufschwung  der  iberischen  Nationen 
einen  gewaltigen  Zuwachs;  unter  ihrer  Führung  überschritt  er 
den  Ozean,  und  der  Schiedsspruch  des  Papstes  teilte  zN\'ischen 
ihnen    die    Neue    Welt    auf.     Welch    ein    Abstand    Roms    unter 


Martin  Luther.  125 

Julius  II.  von  dem  Rom  Cola  Rienzis!  Damals  eine  Beute  der 
Fremden  und  der  Anarchie,  eine  Stätte  der  Verwüstung  und  des 
Unglücks,  war  die  Stadt  der  Cäsaren  wieder  das  goldene  Rom 
geworden.  Eine  Macht,  die  auch  von  den  Großen  respektiert 
w^urde,  finanziell  kräftiger  als  jede  andere,  so  dehnte  sich  der 
Staat  der  Kirche  von  ^leer  zu  Meer.  Anstatt  das  Papsttum  zu 
zerstören,  hatte  die  Renaissance  den  Glanz  der  Kirche  nur  erhöht. 
Aller  Feinde  war  diese  mächtig  geworden,  und  ein  nie  gekanntes 
Gefühl  der  Sicherheit  hielt  an  der  Kurie  seinen  Einzug:  »Laßt 
uns,«  so  sprach  der  Mediceer,  als  er  zur  dreifachen  Krone  erwählt 
war,  »das  Papsttum  genießen,  welches  Gott  uns  gegeben  hat.« 

Ob  nun  Luther  selbst  gewußt  hat,  was  er  tat,  als  er  seine 
Bauernfaust  gegen  diese  Herrlichkeit  erhob  ?  Ob  er  ahnte,  daß 
die  Feder,  mit  der  er  die  Thesen  niederschrieb,  so  wie  es  jene 
Legende  von  dem  Traum  seines  Kurfürsten  erzählt,  weiter  wach- 
sen und  die  Krone  des  Nachfolgers  Petri  selbst  ins  Wanken  brin- 
gen würde  ?  Gewöhnlich  wird  es  geleugnet :  auch  Luther  habe 
den  Handel  nicht  viel  anders  als  einen  Schulstreit  aufgefaßt  und 
begonnen;  wie  ja  Hütten  anfangs  wirklich  nur  einen  neuen  Zank 
der  !\Iagistri  nostri  darin  hat  sehen  wollen.  Aber  nicht  so  unbe- 
wußt seines  Tuns  ist  der  Genius.  Wie  gleich  die  erste  der  Thesen 
mit  dem  Johanneischen  Worte  »Tut  Buße«  —  denn  das  ganze 
Leben  muß  Buße  sein  —  in  den  Kern  der  neuen  Lehre  einführt, 
so  offenbaren  diese  in  mehr  als  einem  Satze  das  Vollbewußtsein 
des  Reformators  von  der  Kluft,  die  zwischen  seinem  Evangelium 
und  dem  Leben  wie  der  Lehre  des  Papstes  und  seiner  Kirche  be- 
stand. »Dieser  Handel,«  so  schreibt  er  seinem  Spalatin,  noch  be- 
vor er  sich  Johann  Eck  in  Leipzig  zum  Kampfe  stellte,  »wird, 
wenn  er  von  Gott  ist,  nicht  eher  enden,  als  bis,  wie  Christus  seine 
Jünger,  so  auch  mich  alle  meine  Freunde  verlassen  und  die  Wahr- 
heit allein  bleibt,  welche  sich  errettet  mit  ihrer  Rechten,  nicht 
mit  meiner,  nicht  mit  deiner,  noch  mit  der  irgendeines  Menschen. 
Und  daß  diese  Stunde  kommen  wird,  habe  ich  von  Anfang  an 
gewußt.«  Daß  er  die  herrschende  Kirche  fast  in  Trümmer  schla- 
gen, daß  er  die  halbe  Christenheit  von  ihr  losreißen  würde,  ahnte 
er  freilich  nicht.    \'ielmehr,  daß  er  von  aller  Welt  verlassen  wer- 


-j  Ofi  Kleine  historische  Schriften. 

den  würde,  wie  einst  der  Herr  verraten  war,  meinte  er  bald 
zu  erleben;  und  daß  Gott  allein  dann  seine  Sache  liinausführen 
werde,  mächtiger  und  herrlicher,  als  es  Menschenwitz  vermöchte, 
war  seiner  Seele  Hoffnung. 

So  wie  er  nur  an  sich  gedacht,  für  sich  gearbeitet  und  ge- 
rungen hatte,  als  er  ins  Kloster  ging  und  die  Himmelspforte  suchte, 
nach  der  ihn  die  Kirche  hinwies.  Er  hatte  dort  alles  erprobt,  um 
den  Weg  zu  finden,  alle  Mittel,  die  ihm  der  Glaube  Roms  an  die 
Hand  gab:  Buße  und  Beichte,  Fasten  und  Kasteiung  und  jede 
Anleitung  des  Studiums  und  scholastischer  Spekulation,  Gehor- 
sam und  Ergebung  und  heiße  Gebete,  Herzensangst  und  die  Gluten 
der  Ekstase  —  und  nichts  hatte  helfen  wollen :  immer  femer  nur, 
immer  entrückter  allem  Menschenwitz  und  Menschenkraft  der 
Gott,  den  er  suchte,  immer  breiter  und  tiefer  die  Kluft,  nicht  zu 
überfliegen  und  nicht  auszumessen,  die  ihn  von  seinem  Ziele 
trennte.  Bis  dann,  nicht  plötzlich,  wie  es  Sankt  Paulus  vor  Da- 
maskus erlebte,  sondern  allmählich  und  mit  wachsender  Klar- 
heit, und  unterbrochen  von  neuen  Kämpfen,  die  Gewißheit  in 
seiner  Seele  aufkeimte,  daß  es  gerade  der  fessellose,  der  uner- 
forschlich  allmächtige  Gott  sei,  der  den  Tod  des  Sünders  nicht 
wolle,  daß  die  Worte  Gerechtigkeit  und  Gnade  zusammenfallen 
und  in  dem  »sola  fide«  sich  reimen.  Da  hatte  er  den  Boden  unter 
den  Füßen,  den  ihm  weder  Hölle  noch  Teufel  verrücken  konnten. 
Und  käme  ein  Engel  vom  Himmel  und  wollte  ihn  einen  anderen 
Glauben  lehren,  auch  diesem  wird  er  antworten:    sei  verflucht! 

Diese  allerpersönlichste  Religiosität,  dies  Bewußtsein  uimiittel- 
barer  Abhängigkeit  von  dem  Schöpfer  gehörte  dazu,  um  eine 
so  universal  gerichtete  Religion  wie  die  römisch-kathoHsche  zu 
entwurzeln.  Weil  die  Hierarchie  vor  allem  anderen  auf  das  Indi- 
viduimi  ihr  Absehen  gerichtet  hatte,  weil  sie  jedes  Einzelleben 
von  der  Wiege  bis  zur  Bahre  mit  ihren  Sakramenten  siebenfach 
gebunden,  hatte  sie  ihre  Wurzeln  so  tief  in  Gesellschaft,  Staat 
und  Volkstum  hineingetrieben  und  hielt  alles.  Persönliches  wie 
Allgemeines,  Himmlisches  und  Irdisches  in  ihren  Stricken.  Das 
war  das  »babylonische  Gefängrüs«,  aus  dem  es  die  Kirche  zu  be- 
freien galt.    Nur  wer  ein  Prinzip  aufstellte,  das  die   Seele  noch 


Martin  Luther.  127 

fester  an  Gott  band,  sie  noch  unmittelbarer  zu  ihm  hinführte, 
ihr  eine  noch  stärkere  Gewißheit  der  Erlösung  bot,  als  es  die  rö- 
mische Kirche  vermochte,  konnte  hoffen,  den  Papst  aus  seiner 
Gewalt  zu  stoßen  und  (um  in  der  Sprache  jener  Zeiten  zu  reden) 
dem  Drachen  von  Babel  die  schweren  Flügel  zu  zerbrechen. 

Man  pflegt  wolil  den  defensiven  Charakter  der  Religion  Luthers 
zu  betonen.  Und  gewiß  dachte  er  noch  lange  nicht  daran,  aus 
dem  Kloster  herauszugehen,  und  hätte  wohl  anfangs  der  Kirche 
gerne  alles  gelassen,  was  sie  besaß,  Bistum  und  Mönchtum  und 
den  Papst  selbst  mit  allen  seinen  Kardinälen.  Aber  seine  Gegen- 
forderung war  sogleich,  daß  man  auch  ihm  sein  Bekenntnis  gönne. 
Und  das  verstand  er  nicht  so,  als  ob  das  Licht  des  Evangeliums 
nur  für  ihn  selbst,  wie  das  Lämpchen  in  seiner  Klosterzelle,  bren- 
nen sollte:  sondern  von  Anfang  an  wollte  er  es  auf  den  Leuchter 
stecken  und  der  Welt  offenbaren.  Den  Doktor  der  Heüigen  Schrift 
ließ  er  sich  nicht  nehmen  und  duldete  nicht,  daß  ihm  Junker 
Tetzel  in  die  Hürde  einbrach,  die  ihm  von  Gott  zu  hüten  an- 
vertraut war.  Auf  die  Lehre  aber  kam  es  der  Kirche  ebenso 
an  wie  ihm;  auch  sie  stellte  das  Bekenntnis,  das  Prinzip,  von 
dem  ihre  Macht  und  Ansehen  abhingen,  allem  voran.  Hätte  sie 
den  Ketzer  auch  tolerieren  wollen,  so  durfte  sie  es  nicht,  wenn  sie 
sich  treu  bleiben  wollte. 

So  begann  der  Kampf,  dessen  drei  erste  Etappen  Augsburg, 
Leipzig  und  Worms  waren.  In  wenig  mehr  als  drei  Jahren  war 
Luther  dorthin  gelangt,  wo  er  sich  im  Geiste  von  Anfang  an  ge- 
sehen hatte:  verlassen  »wie  die  Blume  auf  dem  Felde«  stand  er 
vor  seinen  Richtern.  Dem  Bann  der  Kirche  folgte  die  Acht  des 
Reiches.  Der  fromme  Kurfürst,  dem  er  Trost  in  die  Seele  gesenkt, 
den  er  ganz  für  sich  gewonnen  hatte  —  vor  der  Welt  mußte  auch 
dieser  seinen  Doktor  Martinus  verleugnen.  Das  Martyrimn  brauchte 
Luther  darum  nicht  zu  fürchten;  ja,  die  Romanisten  hatten  fast 
eher  um  ihre  Haut  zu  sorgen  als  er.  Die  Masse  der  Nation  er- 
bhckte  in  ihm  ihren  Führer,  und  die  Stände  des  Reiches  dachten 
eher  daran,  ihn  zu  benutzen  als  zu  bestrafen.  Sie  bauten  ihm  zum 
Rückzuge  goldene  Brücken,  und  nur,  weü  er,  nicht  rechts  noch 
links  blickend,  unerschütterhch  bei  seinem  Glauben  blieb,  wurde 


128  Kleine  historische  Schriften. 

er  schließlich  nach  Kirchen-  inid  Reichsrecht  verurteilt.  Ihn 
selbst  bekümmerte  es  fast,  daß  er  für  sein  Bekenntnis  nicht,  wie 
die  alten  Väter,  mit  seinem  Blute  zeugen  durfte,  daß  er  sich  seinen 
Richtern,  nachdem  er  ihnen  den  Hals  dargeboten  hatte,  entziehen 
sollte,  und  ungern  gab  er  dem  Drängen  seiner  Freunde  nach,  die 
ihn  auf  der  Wartburg  verbargen.  Die  Ängste,  die  er  empfand, 
gingen  nach  einer  ganz  anderen  Richtung.  In  dem  Beifall  der 
Menge,  der  ihn  umdröhntc,  in  den  Begehrlichkeiten,  die  überall- 
her aufschössen,  in  der  Ohnmacht  der  kirchlichen  Gegner  selbst 
und  dem  Haß,  der  sie  plötzlich  umloderte,  vernahm  sein  geschärftes 
Ohr  ein  neues  Wüten  des  Satans,  das  Getöse  des  Aufruhrs. 

Von  hier  aus  muß  man  den  Blick  auf  den  Reformator  rich- 
ten, um  ihn  in  seiner  vollen  Größe  zu  erfassen.  Die  Geister,  die 
nun  entbunden  wurden,  hatte  er  wahrlich  nicht  gerufen,  und 
nichts  wurde  ihm  leichter,  als  ihnen  abzusagen  und  den  Unter- 
schied zwischen  ihren  und  seinen  Wegen  aufzudecken.  Seine 
Freunde  in  Wittenberg  waren  ratlos,  als  ihnen  Thomas  Münzers 
Gesellen  aus  Zwickau  das  Evangelium  von  der  Freiheit  des  Chri- 
stenmenschen nach  ihrer  Weise  vortrugen:  Luther  aber  erkannte 
die  Art  der  neuen  Propheten,  ohne  sie  nur  mit  einem  Auge  ge- 
sehen zu  haben.  »Erforsche,«  so  schreibt  er  von  der  Wartburg 
seinem  Magister  Philippus,  »ihren  eigenen  Geist,  frage,  ob  sie  die 
geistlichen  Ängste,  die  göttlichen  Wehen,  Tod  und  Hölle  gefühlt 
haben.  Und  schildern  sie  Dir  ihre  Empfindungen  als  friedfertig 
und  erquickend,  andächtig  und  gelassen,  so  verwirf  sie,  und  wenn 
sie  sagen,  daß  sie  in  den  dritten  Himmel  entrückt  seien.  Weil 
ihnen  dann  das  Zeichen  des  Menschensohnes  fehlt,  der  einzige 
Prüfstein  für  die  Christen,  der  die  Geister  sicher  unterscheiden 
lehrt.  Willst  Du  wissen  Ort  und  Zeit  und  Art  der  göttlichen  Ge- 
spräche ?  So  höre :  Wie  der  Löwe,  so  hat  er  meine  Gebeine  zer- 
schmettert; und:  Ich  bin  verworfen  vor  deinen  Augen;  und: 
Meine  Seele  ist  mit  Pein  erfüllet,  mein  Dasein  mit  Vorgeschmack 
der  Hölle.  Nicht  so  unmittelbar,  daß  der  Mensch  ihn  sehe,  spricht 
Gottes  Majestät  zu  ihm  —  nein:  Nicht  sehen  wird  mich  der 
Mensch,  und  wird  leben.  Nicht  einen  Funken  seiner  Rede  er- 
trägt die   Kreatur.     Denn   deshalb   spricht    er   durch    die    Men- 


Martin  Luther.  129 

sehen,  weil  wir  alle  es  nicht  ertragen  könnten,  wenn  er  selber 
spräche. « 

Diese  Teufel  (er  kannte  sie  nur  zu  wohl)  fochten  Luther  nicht 
mehr  an.  Es  waren  andere  Sorgen,  mit  denen  er  sich  quälte.  War 
es  nicht  seine  Lehre,  unter  deren  Anhauch  die  Welt  eines  Jahr- 
tausends zusammenstürzte  ?  ^^■  ar  er  allein  auf  dem  rechten  Wege  ? 
Durfte  er  noch  weiter  die  Sclileusen  der  Zerstörung  öffnen  ?  »Wie 
oft,«  schreibt  er  seinen  Augustinern  zu  Wittenberg,  »hat  mein 
Herz  gezappelt,  mich  gestraft,  und  mir  furgeworfen  ihr  einig 
stärkist  Argument:  Du  bist  allein  klug?  Sollten  die  andern  alle 
irren  und  so  eine  lange  Zeit  geirrt  haben  ?  Wie,  wenn  du  irrest 
und  so  viel  Leute  im  Irrtum  verführest,  w- eiche  alle  ewiglich  ver- 
dammet würden  ?  Bis  so  lang,  daß  mich  Christus  mit  seinem 
einigen  gewissen  Wort  befestiget  und  bestätiget  hat,  daß  mein 
Herz  nicht  mehr  zappelt,  sondern  sich  widder  diese  Argument 
der  Papisten  als  ein  steinern  Ufer  widder  die  Wellen  auflehnt 
und  ihr  Dräuen  und  Stürmen  verlachet.« 

Und  soweit  die  Stimme  Luthers  und  der  Wille  der  Fürsten, 
die  ihm  ihren  Arm  liehen,  reichten,  ward  wohl  die  Ruhe  gewahrt 
oder  wiederhergestellt  und  blühte  die  Saat  des  Evangeliums 
fröhlich  auf.  Aber  den  Zerfall  des  Reiches  konnte  er  so  wenig 
aufhalten  wie  den  der  Kirche.  Nicht  zur  Einigkeit,  sondern  zur 
Zerspaltung  der  Nation  führte  schließlich  sein  Evangelium;  es 
ward  zur  Fahne  einer  politischen  Partei;  und  statt  die  Welt- 
kirche zu  erfüllen,  fand  es  zwischen  den  engen  Mauern  der  Landes- 
kirche dürftige  Pflege.  In  ihrem  Dienste  hat  auch  Luther  fortan 
gestanden.  Unemiüdlich  hat  er  an  ihrem  Aufbau  gearbeitet,  auf 
der  Kanzel  und  dem  Katheder,  in  Gottesdienst  und  Seelsorge, 
mit  seinen  Kirchenliedern  und  Katechismen,  Sermonen  und  Po- 
stillen, und  nicht  am  wenigsten  durch  das  Beispiel  seiner  in  Gott 
geführten  gesegneten  Ehe.  Immer  noch  wurde  sein  Rat  in  den 
Angelegenheiten  seiner  Kirche  vor  andern  gehört;  unter  den  ge- 
meinsamen Kundgebungen  der  Partei  stand  sein  Name  an  erster 
Stelle.  Aber  neben  ihm  kamen  andere  Lehrer  auf,  mit  einer  wach- 
senden Zahl  von  Schülern  und  Anhängern  auch  Gegner  und  Ri- 
valen.  Ein  jeder  Prädikant  nahm  etwas  von  der  Natur  des  Bodens 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  9 


130  Kleine  historische  Schriften. 

an,  auf  dem  er  gerade  stand.  Auch  Luther  bheb  niclit  von  den 
Einflüssen  seiner  Umgebung,  der  Engigkeit  sächsischer  Staats- 
interessen unberührt.  Männer,  die,  wie  Ulrich  ZwingH  und  Martin 
Bucer,  an  Plätzen  wirkten,  welche  der  Gefahr  mehr  ausgesetzt, 
den  großen  Strömungen  der  Politik  näher  lagen,  erwiesen  sich 
wohl  nicht  nur  als  weltverständiger,  sondern  auch  als  freisinniger; 
in  der  freieren  Luft  gewannen  sie  einen  weiteren  Gesichtskreis. 

In  der  Tiefe  aber  war  Luther  kein  anderer  geworden.  Und 
wer  da  sagt,  daß  der  Reformator  durch  die  Revolution  in  die 
überwundenen  papistischen  Anschauungen  zurückgeworfen  sei,  der 
hat  ihn  nicht  verstanden.  \\'ie  eigensinnig  und  engherzig  er  zu- 
zeiten sein  mochte,  die  Kirche  des  spezifischen  Luthertums  ist 
niemals  seiner  Weisheit  letzter  Schluß  gewesen.  Der  Entwurf 
zu  einer  Reichskirche,  den  er  im  Jahre  1545  für  die  geplante 
Nationalsynode  mit  seinen  Wittenberger  Kollegen  unterzeichnete, 
zeigt  noch  am  Ende  seiner  Tage  die  großgedachten  Züge  einer 
Kirchenverfassung,  wie  sie  ihm  auf  der  Höhe  seines  Lebens  vor- 
geschwebt hatte.  Daß  der  freie  Zusammenscliluß  der  Gläubigen 
zur  Gemeinde  die  beste  Form  der  Kirche  sei,  blieb  seine  Über- 
zeugung allezeit.  Freilich  hatten  der  Herr  Omnes  und  das  Heer 
der  Rottengeister  ihn  gelehrt,  daß  der  Teufel  allzu  leicht,  wenn 
der  Acker  ungepflegt  und  ungeschützt  bleibt,  seinen  Samen  zwi- 
schen den  Weizen  sät.  Jede  Form  der  Kirche  hatte  für  ihn  nur 
so  weit  Wert,  als  sie  der  gläubigen  Seele  den  Zugang  zu  Gott  öff- 
net. Er  konnte  sich  sehr  wohl  ein  Leben  in  Gott  denken,  für  das 
es  einer  Kirche  gar  nicht  mehr  bedürfe.  Vor  allem  der  Gegen- 
satz gegen  den  Antichrist  zu  Rom  blieb  ihm  sein  Leben  lang  vor 
Augen.  Diesem  gegenüber  kannte  er  kein  Kompromiß,  und  der 
Gedanke,  einen  Bund  mit  den  Papisten,  und  wäre  es  gegen  den 
Teufel  selbst,  zu  schließen,  wäre  ihm  Blasphemie  gewesen.  Das 
»Erhalt  uns  Gott  bei  deinem  Wort  und  steur'  des  Papst  und 
Türken  I\Iord«  blieb  der  Grundton  seines  Lebens.  Er  war  bis 
zuletzt  der  Kämpfer,  als  der  er  auf  den  Plan  getreten  war. 

Man  sieht  nun  wohl:  nicht  so  leicht  zu  entscheiden  ist  die 
Frage,  die  wir  an  die  Spitze  stellten.  Und  solange  man  die 
Begriffe  Reformation   und  Revolution   einander  schroff  entgegen- 


Martin  Luther.  131 

setzt,  wird  man  sich  schwerlich  einigen.  Keine  Idee,  welche 
Menschen  zusEimmengeführt,  Herrschaft  über  die  Gemüter  und 
Form  in  der  Welt  gewonnen  hat,  kam  kampflos  zum  Siege. 
Wo  ^Menschen  bauen,  müssen  sie  zunächst  zerstören,  und  niemals 
bisher  hat  bloße  Überzeugung,  Einsicht  der  Vernunft  und  guter 
Wille  des  Herzens  die  neuen  Ordnungen  in  Staat  und  Kirche 
herausgebildet.  Immer  noch  waren  Unruhe  und  Kampf,  ein  Heer 
streitender  Leidenschaften  und  Interessen  Folge  und  begleitende 
Erscheinung,  ja  oft  genug  Weg  und  Mittel.  Um  so  tiefer  wurde 
der  alte  Boden  aufgewühlt  und  drang  die  Zerstörung  ein,  je  mehr 
der  Ideengehalt  der  Epoche  verändert,  je  stärker  das  Prinzip 
getroffen  war,  das  die  ältere  Weltordnung  getragen  hatte.  Damm 
sind  d  i  e  Revolutionen  immer  die  größten  gewesen,  die  eine  Um- 
bildung der  Weltanschauung  anstrebten  und  heraufführten.  Eine 
solche  Weltumwandlung  war  diejenige,  die  an  Luthers  Namen 
und  Lehre  anknüpfte.  Auch  von  ihm  gilt  das  Wort  seines  Herrn 
und  Meisters:  Ich  bin  nicht  in  die  Welt  gekommen,  den  Frieden 
zu  bringen,  sondern  das  Schwert.  Und  nur  dem  Evangelium 
selbst  kann  sich  die  Reformation  in  ihren  zerstörenden  Wirkungen 
vergleichen.  Nur  ihm  auch  in  ihrer  nachwirkenden,  aufbauenden 
Kraft.  Ob  und  wie  jemals  die  Kluft,  die  sie  riß,  ausgefüllt  werden 
wird,  liegt  heute,  wie  vor  vier  Jahrhunderten,  im  Dunkel  der 
Zukunft,  und  nur  der  Glaube,  die  überzeugende  Kraft  des  Ge- 
wissens, vermag  heute,  wie  damals,  die  Gewißheit  des  rechten 
Weges  und  dereinst  des  Sieges  zu  geben. 


m^^^^ 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit/) 

(1894.) 

Wir  sind  es  in  heutiger  Zeit  wenig  gewohnt,  Stimmen  des 
Stolzes  über  die  Gegenwart  und  des  freudigen  Vertrauens  in  die 
Zukunft  zu  hören.  Und  doch  fordert  dieser  Tag,  der  mit  uns  die 
Millionen  unserer  Brüder  von  den  Alpen  bis  ans  Meer  und  über 
die  Meere  hin  festlich  vereinigt,  wenn  irgend  einer,  von  uns,  daß 
wir  uns  des  Besitzes  freuen  und  unter  der  starken  Hand  unseres 
kaiserlichen  Herrn  unverzagt  den  Stürmen  entgegensehen,  die 
der  dunkle  Schoß  der  Zukunft  bergen  mag.  Gestatten  Sie  mir 
darum,  daß  ich  Ihre  Blicke  zurücklenke  in  die  größte  Zeit  unserer 
Geschichte,  da  der  Keim  in  den  Boden  der  Nation  gesenkt  wurde, 
aus  dem  der  Baum  erwuchs,  der  heute  ihr  Erdreich  mit  starken 
Wurzeln  ganz  durchdringt,  in  dessen  Schatten  wir  alle  wohnen 
dürfen,  und  dessen  Stamm  hoch  emporragt  über  alle  Nationen 
der  Erde :  vielleicht  gelingt  es  uns,  an  dem  Anblick,  den  die  Werde- 
zeit unserer  größten  Güter  uns  gewährt,  die  Freude  am  \'ater- 
lande  neu  zu  stärken  und  den  Glauben  an  seine  Zukunft. 

Wie  sehr  aber  würden  wir  uns  enttäuscht  fühlen,  wenn  wir 
in  der  Epoche  Martin  Luthers  das  Gefühl  selbstsicheren  Be- 
hagens suchen  wollten,  das  heute  jedermann  entbehrt!  Niemals 
\ielmehr  gab  es  eine  Zeit  größerer  Unruhe,  verwegenerer  Gedanken, 
stürmischerer  Leidenschaften;  niemals  sind  die  Klagen  und  An- 
klagen  von    den    Parteien    rücksichtsloser   erhoben   worden;    und 


^)  Rede  zur  Feier  des  Geburtstages  Seiner  Majestät  des  Kaisers  und 
Königs,  gehalten  in  der  Aula  der  Königlichen  Friedrich-Wilhelms-Univer- 
sität zu  Berlin. 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  133 

niemals  in  der  Tat  wurde  unser  Volk  gewaltiger  erschüttert  als 
in  dem  chaotischen  Zeitalter  der  Reformation.  Denn  da  die  geist- 
liche Gewalt,  welche  jedes  Leben  von  der  Taufe  bis  zum  Tode 
mit  den  Sakramenten  umstrickt  hielt  und  darum  erst  allen  Ord- 
nungen in  Staat  und  Gesellschaft  das  Gepräge  gab,  in  ihrem  Grund- 
gedanken geleugnet,  ja  für  die  Umkehrung  des  reinen  Christen- 
tums erklärt  wurde,  mußte  freilich  die  Welt  in  den  Tiefen  er- 
griffen und,  wo  immer  die  Umwälzung  gelang,  im  Innersten  ver- 
wandelt \\erden.  Und  so  kam  es  bei  uns  in  Deutschland  zu  der 
Auflösung  aller  Ordnungen  der  alten  Kirche,  zu  der  Revolte  des 
Rittertums,  zu  der  ebenso  gedankenarmen  wie  unheilvollen  Em- 
pörung der  Bauern,  zu  den  kommunistischen  Sekten  mit  ihren 
anarchischen  und  nihilistischen  Exzessen,  zu  hundertjähriger 
mörderischer  Feindschaft  zwischen  Kaisertum  und  Ständen,  zur 
Ausbildung  der  Territorien  in  souveräne  Staaten  —  und  in  den 
ewigen  Fragen  zur  dauernden  Trennung  der  Nation.  In  allen 
diesen  Erschütterungen,  welche  vom  deutschen  Boden  sich  zu 
den  benachbarten  Nationen  verbreiteten  und  weiterhin  auch  die 
fremden  Erdteile  ergriffen,  wirkten  tausendfach  unreligiöse  Mo- 
mente mit:  aber  nirgends  fehlte  die  Beziehung  zu  jener  Grund- 
frage des  Zeitalters;  und  diese  allein  bildet  den  Gesichtspunkt, 
unter  dem  die  Gesamtheit  der  Erscheinungen,  das  allgemeine 
ebenso  wie  das  persönliche  Leben,  dem  Historiker  erst  sichtbar 
und  verständlich  A\ird.  Heute,  wo  sich,  von  obenhin  gesehen, 
die  Weltbewegung  in  der  Sonderung  der  Nationen  oder  in  dem 
Kampf  der  Klassen  zu  vollziehen  scheint,  wo  nur  noch  wirtschaft- 
liche Fragen  (möchte  man  fast  sagen)  als  die  internationalen 
gelten  sollen,  wo  man  selbst  die  Wissenschaften,  die  Geistes- 
wissenschaften wenigstens  nicht  mehr  durchweg  und  ausschließlich 
nach  universalen  Gesichtspunkten  regeln  möchte,  wird  es  uns 
schwer,  die  durchschlagende  Gewalt  zu  begreifen,  womit  sich 
damals  die  Frage  nach  des  Lebens  tiefstem  Rätsel  in  den  Vor- 
dergrund jedes  Daseins  drängte.  Wie  fremdartig  muten  uns  zum 
Beispiel  die  geistlichen  Kongresse  an,  welche  von  dem  ersten  Auf- 
treten Luthers  ab  auf  allen  Schauplätzen  der  Bewegung  so  zahllos 
zusammenkamen,   um   die  brennende  Frage  zu   vermitteln   oder 


134  Kleine  historische  Sclmften. 

ZU  entscheiden!  Von  den  Machthabern  werden  sie  veranstaltet; 
Kaiser  oder  Könige,  deutsche  Fürsten  und  Stadtmagistrate  laden 
dazu  ein,  sichern  den  Parteien  das  Geleit,  stellen  das  Präsidium 
oder  treten  selbst  in  die  Schranken;  bisweilen  kommt  auch  von 
Rom  ein  Legat  herbei:  aber  die  Wortführer  sind  immer  die  Ge- 
lehrten, die  Schulhäupter  auf  beiden  Seiten.  In  lateinischer 
Sprache,  unter  den  gewohnten  Formen  schulmäßiger  Dialektik 
wenden  sie  in  leidenschafthcher  Debatte  die  scharfgeschüffenen 
Dogmen  hin  und  her  —  Formeln,  deren  Differenzen  der  Masse 
gutes  Teils  un\'erständlich  oder  gleichgültig  geworden  sind, 
an  denen  uns  Modernen  oft  das  Gemeinsame  einer  gleichgear- 
teten Zeitanschauung  fast  mehr  entgegentritt  als  dasjenige,  was 
sie  trennte:  damals  aber  folgten  dem  Wortgefechte  die  Fürsten 
und  ihre  Räte  mit  gespannter  Sorge,  und  an  den  Dekreten  der 
Theologen  hingen  die  Geschicke  der  Staaten  und  das  Leben  der 
Nationen. 

Wer  waren  denn  diese  Männer,  deren  Theorien  so  gewaltig 
auf  das  irdische  Getriebe  ein\\irkten  ?  Wir  finden  sie  geschart 
aus  allen  Nationen  und  allen  Ständen.  Bei  uns  in  Deutschland 
sind  es  in  der  Regel  Söhne  von  Bürgern  oder  Bauern,  ausgetretene 
Mönche,  Pfarrer,  Professoren,  unter  den  Fremden  oft  höhere 
geisthche  Würdenträger  und  Träger  vornehmster  Namen.  Meist 
w'aren  sie  durch  die  himianistische  Schulung  gegangen.  Alle  waren 
von  der  Kirche  gebannt,  viele  daheim  geächtet,  von  ihrer  Familie 
verstoßen,  von  Land  zu  Land  gejagt.  Und  wie  mancher  hat  das 
furchtbare  Los  auf  sich  nehmen  müssen,  das  in  dem  Schlacht- 
gesang unserer  Reformation  die  Streiter  Christi  sich  erwählen, 
Leib,  Gut,  Ehr',  Kind  und  Weib  dahinzugehen,  um  dem  Reiche 
Gottes  treu  zu  bleiben!  Denn  vor  der  beherrschenden  Idee  tritt 
ihnen  alles  zurück,  was  das  Leben  teuer  macht:  Freundschaft 
und  Vaterland,  bürgerliche  Ehre  und  alle  irdischen  Güter,  ja 
die  Famihe  selbst.  Das  Bekenntnis  macht  aus  ihnen  und  den 
Ihrigen  ein  \'olk  und  ein  Lager:  mit  lebendigem  Anteil  ver- 
folgen sie  zwar  jedes  pohtische  Ereignis  in  dem  ganzen  Um.kreise 
der  Christenheit  —  aber  immer  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  des 
großen  Kampfes,   dem  ihr  Leben  geweiht  ist. 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  135 

Und  dennoch  wurden  die  Träger  eines  so  ganz  persönlichen 
und  universal  gerichteten  Prinzips  die  Erwecker  ihrer  Nationen. 
Niemals  vergaßen  die  Italiener  Occhino  und  Vergerio,  der  Pole 
Lasco  und  der  Spanier  Enzinas  ihrer  Heimat;  alle  ihre  Ge- 
danken richteten  Calvin  und  Beza  auf  die  Unterwerfung  Frank- 
reichs; nur  das  Rüstzeug  holte  sich  John  Knox  in  Genf,  um  seine 
schottischen  Berge  zu  erobern,  und  mit  ihnen  die  Schüler,  die 
von  dort  in  alle  Welt  hinausgingen.  Nicht  alle  haben  das  Ziel 
erreicht:  Frankreich  und  Polen  wurden  nur  halb  erobert  und 
wieder  verloren;  Ungarn  und  Deutschland  blieben  gespalten;  und 
mit  Leichtigkeit  zertrat  die  Inquisition  in  Spanien  und  Italien 
die  wenigen  Funken  des  neuen  Glaubens.  Wo  sie  aber  zum  Ziel 
gelangten,  folgte  den  Reformatoren  auf  dem  Fuße  eine  Epoche 
nationaler  Größe.  So  in  dem  England  Elisabeths  und  Shakespeares, 
CromweUs  und  Miltons;  so  unter  Gustav  Adolf  in  Schweden; 
so  ward  in  HoUand  Staat  und  Volk  durch  die  neuen  Ideen  recht 
eigentlich  erst  erschaffen;  und  unvertilgbar  sind  bis  heute  in 
der  amerikanischen  Nation  die  typischen  Züge  geblieben,  welche 
die  Pilgerväter  von  jenen  Küsten  her  der  fremden  Erde  brachten. 
Und  ziehen  wir  die  Summe  der  Entwickelung  seither,  so  hegt  es 
ja  vor  aller  Augen,  wem  der  Sieg  geblieben  ist.  Schon  in  der  Mitte 
des  vorigen  Jahrhunderts  war  der  Kampf  entschieden.  Heute  er- 
streckt sich  die  Kultur  der  protestantischen  Nationen  rund  um 
die  Erde;   die  weltgeschichtliche  Führung  liegt  in  ihren  Händen. 


Von  hier  aus  begreift  sich  das  Interesse,  womit  man  nach 
dem  Verhältnis  der  reformatorischen  Doktrinen  zu  dem  Begriff 
der  politischen  Gewalt  geforscht  hat.  Eine  Frage,  die  recht  ver- 
schieden beantwortet  w-urde  und  in  der  Tat  nicht  so  ganz  leicht 
zu  entscheiden  ist,  schon  darum  nicht,  weil  jene  Theoretiker  selbst 
solche  Spekulationen  nur  in  zweiter  Linie  anstellten.  Ihre  Ge- 
danken richteten  sich  zunächst  immer  auf  die  Sphäre  der  Religion, 
auf  das  Gebiet  der  Kirche,  das  sie  von  der  Befleckung  durch 
irdische  Zwecke  reinigen  wollten:   gerade  in  der  Beseitigung  der 


136  Kleine  historische  Schriften. 

Welt  Verwirrung,  die  dadurch  entstanden  sei,  sahen  sie  ihre  Auf- 
gabe: dies  war  die  Welt  des  Antichrist,  die  sie  bekämpften. 

So  hat  auch  Martin  Luther  die  Lostrennung  des  Reiches 
Gottes  von  dem  der  Welt  als  seine  Aufgabe  betont  und  immer 
behauptet,  daß  nur  sein  Evangelium  sie  ermögliche.  Freilich  hat 
er  selbst  es  eine  große  Kunst  genannt,  diese  zween  Reiche  wohl 
zu  unterscheiden:  es  seien  wenige,  die  es  recht  treffen  könnten. 
Machen  wir  dennoch  den  \'ersuch,  in  genauer  Auslegung  seiner 
Gedanken  Ursprung,  Umfang  und  Zweck  zu  bestimmen,  die  er 
der  politischen  Gewalt  hat  geben  wollen,  um  sie  in  Einklang  mit 
seiner   Kirche   zu  bringen. 

Niemals  aber  werden  wir  auch  mir  einen  Gedanken  Luthers 
verstehen  lernen,  wenn  wir  nicht  an  die  rechte  Schmiede  gehen, 
zurück  in  die  Klostermauern,  in  die  Zeit,  da  der  junge  Mönch 
in  vulkanischem  Ringen  sich  die  Waffe  schuf,  womit  er  die  alte 
Welt  zerstörte  und  seinem  Gotte  die  Bahn  brach;  da  er  sein  gei- 
stiges Zentrum  fand,  in  dem  ihm  alles,  Lehre  und  Leben,  wurzelte 
und  also  auch  seine  Vorstellungen  über  Wesen  und  Recht  der 
politischen  Ordnungen  ruhen  müssen.  So  wenig  es  nun  meine 
Aufgabe  sein  kann,  jenen  Kampf  zu  schildern,  läßt  es  sich  doch 
nicht  umgehen,  die  Verbindungslinie  anzudeuten,  die  von  Luthers 
Grundidee  zu  seinen  politischen  Vorstellungen  hinüber  führte. 
Luther  wollte,  wie  jedermann  weiß,  zu  Gott  kommen,  zu  dem  Gott, 
den  die  Philosopliie  ihm  als  den  Unergründlichen,  Namenlosen, 
Ewdg\^erhüllten,  als  die  absolute  Willkür  bezeichnete,  und  der 
dennoch  auf  allen  Gassen  verkündigt,  im  Kultus  und  allen  Ord- 
nungen der  Kirche  sinnlich,  sichtbar,  greifbar  gemacht,  in  tausend- 
facher A'erwandlung  ihm  angetragen,  aufgedrängt,  im  Sakrament 
verbrodet  eingeprägt  w  urde.  Daß  dies  der  Gott  sei,  den  er  suche, 
bestätigte  seinem  Gottesdurste  die  Philosophie:  Gehorsam  war 
ihr  letzter  Schluß;  was  der  Intelligenz  unmöghch  war,  vollbrachte 
die  Gabe,  das  Opfer,  das  Werk  —  und  die  Unterwerfung.  Dann 
aber  öffneten  sich  die  Pforten,  und  die  Hallen  taten  sich  auf,  um 
den  Milhonen  Unterkunft  zu  bieten,  jedem  Beladenen  Platz  und 
Tröstung  zu  geben:  jedes  Rätsel  schien  fortan  gelöst,  jeder  Wunsch 
befriedigt;  ^'on   Stufe  zu   Stufe  ging  es  aufwärts  zu  den  seügen 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  137 

Chören.  Als  Luther  ins  Kloster  ging,  tat  er  darum  nichts 
anderes  als  die  Millionen  vor  ihm  und  nach  ihm;  und  man  weiß, 
daß  er  nichts  unversucht  gelassen  hat  in  Verleugnung  der  Erden- 
lust und  in  Unterwerfung  unter  die  Kirche,  wie  im  Studium  ihrer 
Bücher,  um  den  Einklang  zwischen  ihrem  Gott  und  dem  seiner 
Philosophie  zu  gewinnen.  Aber  was  allen  gelang,  w'ard  ihm  ver- 
sagt: Gott  ließ  sich  von  ihm  nicht  fesseln,  blieb  unergründlich, 
unbeweglich  für  ihn  und  tot.  Da  packten  ihn  die  Ängste,  von 
denen  er  später  gesagt  hat,  daß  keine  Zunge  sie  aussprechen,  keine 
Feder  sie  beschreiben,  kein  Mensch  ohne  Erfahrung  daran  glauben 
könne:  das  Gefühl  der  Gottverlassenheit,  völliger  Einsamkeit, 
des  Schwebens  zwischen  Himmel  und  Erde.  Doch  da  war  kein 
Aufhalten.  Immer  weiter  wich  Gott  ihm  aus  den  Formen  hinweg, 
die  er  angezogen  haben  sollte:  aus  Gebräuchen  und  Verfassung, 
allen  Gaben  und  Verheißungen  der  Kirche,  aus  ihren  Rehquien, 
ja  schon  auch  aus  ihren  Sakramenten;  und  nichts  mehr  blieb 
übrig,  woran  die  Seele  sich  klammern  konnte,  um  den  Höchsten 
zu  ergreifen;  nackt  und  bloß,  frei  wie  die  Blume  auf  dem  Felde 
stand  sie  vor  der  fessellosen  Allmacht.  Bis  endlich  aus  unnenn- 
baren Agonien  sich  in  dem  Mönch  die  Idee  hindurchrang,  daß 
dies  und  nichts  anderes  Gottes  Wille  sei,  daß  er  der  fessellos  All- 
mächtige bleiben  wolle  und  doch  allgütig  sei,  daß  er  vergeben 
w^oUe,  statt  zu  zürnen,  und  nichts  \'erlange  als  das  herzliche  Ver- 
trauen des  Sünders  auf  seine  in  Christus  offenbarte  Gnade.  Da 
begann  für  Luther  der  Namenlose  Gestalt  zu  gewinnen,  und  der 
Unbewegliche  ward  ihm  lebendig.  Mitten  im  Kampf  und  in  der 
Sünde  war  Gott  in  Christus  ihm  ganz  gegenwärtig. 

Indem  er  sich  aber  der  Ohnmacht  seines  Willens  vor  der 
götthchen  Allmacht  und  der  Nutzlosigkeit  aller  Werke  der  Ent- 
sagung bewußt  wurde,  war  ihm  schon  der  Wertunterschied  ent- 
schwunden, den  die  Kirche  zwischen  dem  Genuß  des  irdischen 
Lebens  und  dem  Verzicht  darauf  machte;  und  indem  er  die  Nähe 
des  erbarmenden  Gottes  mitten  im  Kampf  unmittelbar  empfand, 
sanken  zugleich  die  dunkeln  Schatten  vor  ihm  hinweg,  mit  denen 
jene  Lehre  das  Erdendasein  umhüllt  hatte,  und  wuchs  alle  Kreatur 
gleichsam   mit  ihm,    \\ie   \'on   neuem   Lichte   Übergossen,    Gottes 


138  Kleine  historische  Schriften. 

Angesichte  frei  entgegen.  Hier  stoßen  wir  auf  den  Begriff,  den 
wir  suchen,  der  Gottesordnung  in  der  dem  Menschen  anbefohlenen, 
zu  rechtem  Gebrauch  unterworfenen  Schöpfung.  Es  ist  der  Kor- 
relatbegriff zu  Luthers  Grundidee  und  ihr  unmittelbares  Ergebnis; 
niemals  hat  er  ihn  wieder  aufgegeben.  Gott,  der  in  freier  Allmacht 
Allgütige,  ist  es  auch  seiner  Kreatur  gegenüber,  als  ihr  Schöpfer, 
ihr  Former  und  Ordner,  »ein  ewiger  Quellbrunn,  der  sich  mit  eitel 
Güte  übergeußt,  und  von  dem  alles,  was  gut  ist  und  heißet,  aus- 
fleußt«. »Alle  Kreaturen  sind  Gottes  Heer.«  Es  ist  das  ganze 
Reich  irdischer  Güter  und  Notwendigkeiten:  weitab  von  Gottes 
Wort,  das  nicht  Zeit  noch  Stätte  kennt,  aber  ebenso  unmittelbar 
an  Gottes  Willen  geknüpft  und  Ausdruck  seiner  Gnade,  nach 
seinem  »Rate«  da,  seine  »heimliche  Ordnung«,  und  darum  voll 
ursprünglichen  Lebens:  der  Verkehrung,  dem  sündigen  Gebrauche 
tausendfach  ausgesetzt,  aber  in  Ursprung  und  Beruf  wohlgefäUig 
dem  Schöpfer:  dem  Tode  verfallen,  dem  Wechsel  unterworfen, 
fernab  von  dem  Höchsten,  ein  Nichts  vor  ihm  und  seinem  Worte, 
ohne  Macht,  ihn  je  von  sich  aus  zu  erreichen  oder  in  sich  hinab- 
zuziehen —  und  dennoch  ruhend  in  seiner  Hand,  Lobpreisung 
seines  Namens:  »Larven  Gottes«:  nirgends  ist  Gott  in  ihnen  und 
steht  doch  hinter  allem. 

An  diesem  Ort  wird  der  Abgrund,  den  Luthers  Grundidee 
zwischen  ihm  und  der  Hierarchie  aufgetan  hatte,  besonders  sicht- 
bar, da  diese  ja  die  wahre  Heiligung,  die  rechte  Gottesnähe  erst 
in  die  Abtötung  des  kreatürhchen  Lebens  als  des  Bereiches  der 
Sünde  setzt.  Luther  aber  nennt  es  eine  Vermessenheit,  die  Güter, 
W' eiche  wir  von  Gott  durch  seine  Kreaturen  als  seine  »Handröhren 
und  Mittel«  empfangen,  auszuschlagen  und  »andere  Weise  und 
Wege  zu  suchen,  derm  Gott  befohlen  hat.  Denn  das  hieße  nicht 
von  Gott  empfangen,  sondern  von  ihm  gesucht.«  Keine  Brücke 
führt  von  der  Höhe  dieser  Weltanschauung  auf  das  alte  Ufer 
hinüber,  und  kein  Gleichklang  der  Namen  und  überlieferter  Formen 
wird   jemals   darüber   himvegtäuschen   können. 

Indem  Luther  nun  in  den  Bereich  der  gottgewollten  irdischen 
Existenz,  irdischer  Güter  und  Zwecke  auch,  alle  sozialen  Ord- 
nungen —   Besitz,   Ehe  und  obrigkeitliche   Gewalt  —  einfügte, 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  139 

hatte  er  bereits  den  Staatsbegriff  der  Hierarchie  zerstört,  die  ihn 
nur,  wenn  er  sich  der  Kirche  unterordnet,  als  gottgeweiht  an- 
erkennt und  ihn  lieber  ohne  Gott  wünscht,  als  ihrem  Willen  wider- 
strebend. Luther  leugnet,  daß  die  Obrigkeit  von  sich  aus  irgend 
etwas  mit  dem  Christentum  zu  schaffen  habe;  und  dennoch,  sagt 
er,  ist  sie  göttlichen  Rechtes,  von  Gottes  Gnaden,  durch  seine  Zu- 
lassung, seinen  Schöpf  er  willen  da,  irdische  Notwendigkeit,  für  die 
menschliche  Bedürftigkeit  gegeben:  und  in  der  Erfüllung  dieses 
Berufes  tut  sie  Gottes  Willen.  Es  ist  also  nicht  wahr,  daß  Luther 
der  Obrigkeit  an  sich  vorschreibt,  irgend  etwas  für  die  sittHche 
Besserung,  die  Erziehung  der  Untertanen  zum  Reiche  Gottes  zu 
leisten.  Ihr  Amt  ist  es  lediglich,  den  Frieden  zu  erhalten,  die  Guten 
zu  schützen,  die  Bösen  zu  strafen,  das  Recht  zu  wahren,  die  ir- 
dische Wohlfahrt  zu  fördern.  Dazu  hat  sie  die  Gewalt,  das  Schwert. 
Das  ist  ihr  Rechtsboden  vor  Gott,  sie  bedarf  keines  besseren.  Ihr 
Reich  ist  ein  Reich  des  Zornes,  ein  rechter  Vorbote  des  Endchristes ; 
sie  kann  die  Strafe  nicht  vergeben,  sondern  höchstens  sie  feiern 
lassen.  So  weit  ist  der  Abstand  menschlicher  von  göttHcher  Gnade. 
Darum  kann  die  poHtische  Ordnung  an  sich  niemals  das  Ideal 
werden  der  menschhchen  Entwickelung ;  denn  ihre  Funktion  ist  nur 
negativ,  Notwehr  gegen  das  Elend  und  die  Bosheit.  Das  ideale 
Ziel  Luthers  wäre  Staatlosigkeit ;  es  ist  auf  Erden  so  unerreich- 
bar, wie  wenn  man  Essen  und  Trinken  entbehren  woUte.  Welche 
Form  die  Gewalt  hat,  ob  Monarchie,  ob  Republik,  ist  gleichgültig: 
nur  daß  das  Amt  überall  an  Personen  geknüpft  ist,  vom  Herrscher 
bis  zum  letzten  Büttel  herab:  alle  Beamten,  die  im  Namen  des 
Schwertes  handeln,  Verwalter  und  Richter,  Soldaten  und  Henker, 
jeder  ist  persönhch  Gott  verantwortlich  und  vor  Gott  gerecht  im 
Sinne  seines  Amtes. 

Mit  Vorliebe  nimmt  Luther,  der  es  sich  immer  als  Verdienst 
angerechnet  hat,  der  Obrigkeit  dies  »göttHche  natürhche  Recht« 
erstritten  zu  haben,  seine  Beispiele  aus  dem  Heidentum,  von 
dem  Jäger  Nimrod,  den  alten  Römern,  den  Türken.  Gleich- 
gültig ist  ihm  der  historische  Ursprung  der  Gewalt.  Die  Türken 
sind  Räuber;  wir  Deutschen  selbst  besitzen  im  Kaisertum  ge- 
stohlenes Gut:   der  Papst  hat  es  dem  rechten  Herrn  entwandt 


j/fQ  Kleine  historische  Schriften. 

und  uns  geschenkt:  dennoch  haben  wir  es  jetzt,  durcli  Gottes 
Zulassung,  zu  Recht.  Vor  ihm  ist  ja  die  welthche  Macht  dem 
Staube  gleich;  leicht  ist  es  ihm,  die  Reiche  der  Erde  durchein- 
ander zu  werfen;  er  gibt  sie,  wem  er  will,  wie  er  Reichtum  gibt 
und  Armut,  Gesundheit  und  Krankheit:  alles  aus  Gnaden  — 
und  wer  will  sagen,  wo  die  größere  Gnade  sei  ?  Wer  also  will  Gott 
widerstreben,  und  nicht  vielmehr  herbeieilen,  um  dem  Schwert, 
das  er  gesetzt  hat,  zu  helfen!  Alles  ist  dabei  Gottes  Dienst:  wer 
den  Mörder  straft,  den  Rebellen  niederschlägt,  den  Feind  abwehrt, 
wer  dem  Rechte  hilft,  erfüllt  Gottes  Willen;  also,  daß  man  so  mit 
Blutvergießen  den  Himmel  besser  verdienen  kann  denn  andere 
mit  Beten. 

Wie  aber,  fragen  wir,  wird  es  werden,  wenn  die  so  geordnete 
politische  Gewalt  sich  mit  dem  Christentum  verbindet  oder,  was 
auch  für  Luther  dasselbe  ist,  mit  der  Kirche?  Sogleich  aber  er- 
hebt sich  die  weitere  Frage,  mit  welcher  Kirche  ?  Die  Antwort  in 
Luthers  Sinne  ist,  daß  es  sich  nur  um  die  Kirche  handeln  kann, 
welche  allein  diesen  Namen  in  Wahrheit  verdient,  allein  das  Recht 
hat  auf  ewige  Existenz:  die  unsichtbare  Kirche.  Nur  mit  ihr  ist 
die  prinzipielle  Lösung  der  Frage  möglich:  alles  andere  ist  Not- 
kirche und  Notbehelf.  Wer  zu  ihr  gehört,  kann  leben,  wo  er  will, 
unter  dem  Türken  sogar  und  dem  Papst ;  denn  er  fühlt  sich  eins 
mit  seinem  Haupte,  Christus:  sie  ist  die  Gemeinschaft,  der  heilige 
Leib  aller,  die  wahrhaft  an  ihn  glauben.  Wer  kann  sagen,  ob  er 
ein  wahrer  Christ  sei  ?  Dennoch  sollen  wir  glauben,  daß  wir  es 
sind,  und  daß  die  Kirche  überall  da  ist,  wo  das  Wort  Gottes  im 
Schwange  geht  und  die  Sakramente  recht  verwaltet  werden.  So 
hat  Luther  für  seinen  Kirchenbegriff  völlig  mit  der  Idee  einer 
sichtbaren  unpersönlichen  Rechtsordnung  gebrochen:  alles  ist  auf 
persönliche   Verantwortung   vor    Gott   gestellt. 

Dem  Christen  aber  ist  sein  Verhältnis  zur  Obrigkeit  ge- 
geben. Er  kann  nicht  anders,  als  sie  ehren;  denn  er  weiß,  daß 
sie  Gottes  Ordnung  ist.  Er  mag  sie  für  sich  nicht  gebrauchen 
—  dennoch  wird  er  ihr  helfen,  das  Recht  zu  schirmen  und  das 
Schwert  zu  handhaben.  Und  wenn  er  der  Großvezier  des  Türken 
sein  müßte,  es  wäre  ihm  erlaubt.    Und  wenn  er  dem  ungläubigen 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  141 

Herrn  helfen  müßte,  seine  Gewalt  gegen  christliche  Aufrührer 
oder  christliche  Landesfeinde  zu  erhalten,  er  dürfte  sich  keinen 
Augenblick  besinnen.  Und  wenn  der  Tyrann  das  Evangelium 
selbst  bedrohen  wollte,  kein  Christ,  den  Gott  seiner  Gewalt  unter- 
worfen hat,  dürfte  ihm  widerstehen:  sowie  Christus  durch  seinen 
Tod  selbst  willig  die  Gewalt  anerkannte,  da  sie  doch  das  Evan- 
gelium in  ihm  morden  wollte;  und  wie  er  Petrus  mit  der  Rache 
des  Schwertes  bedrohte,  als  der  Apostel  das  Evangelium  in  ihm 
mit  dem  Schwerte  verteidigen  wollte.  Es  ist  die  Idee  der  Religions- 
kriege, die  mit  diesem  Satze  ausgestoßen  wird,  der  Lehre  von  der 
Ausbreitung  und  Erhaltung  des  Christentums  durch  die  Gewalt. 
Als  ob  der  Glaube,  sagt  Luther,  anders  kommen  könne  als  unge- 
zwungen, und  als  ob  Gott  nicht  selbst  über  der  Erhaltung  seines 
Reiches  zu  wachen  habe! 

Er  kann  die  Gewalt  geben,  wem  er  will,  und  er  wird  wissen, 
zu  welchem  Zweck;  wir  greifen  ihm  in  sein  Amt,  wenn  wir  drein- 
fahren,  wir  mißtrauen  seiner  Macht  und  verletzen  seine  Ordnung. 

Freilich  sollen  wir  nicht  dulden  wie  stumme  Hunde,  son- 
dern den  Mund  auftun  und  bekennen,  die  Tyrannen  ermahnen 
und  mit  dem  Worte  Gottes  strafen,  und  sollen  Gott  bitten,  daß 
er  die  Rache  vollbringe  über  ihre  Frevel  —  sonst  aber  erleiden, 
was  sie  über  uns  und  den  Glauben  verhängen.  Gott  kann  uns  er- 
hören, wenn  er  will,  oder  uns  mit  der  Tyrannei  strafen,  wenn 
er  es  so  beschlossen  hat,  gleichwie  mit  Unwetter,  Hungersnot 
und  Pestilenz:  es  ist  alles  in  seinen  Händen.  Ja  das  Elend 
selbst  ist  nötig  für  die  Welt,  als  Zuchtrute  zum  Reiche  Gottes: 
die  Welt  kann  nicht  ohne  Tyrannen  sein,  und  Gott  straft  einen 
Buben  mit   dem   andern. 

Umgekehrt  verlangt  Luther  von  der  Obrigkeit  an  sich  keinerlei 
Verhältnis  zur  Kirche.  Denn  Christus  ist  das  Haupt  der  Seinen, 
nicht  der  Herr  der  Erde;  wer  nicht  unter  ihm  ist,  dem  will  er  nicht 
befehlen:  beugte  er  sich  doch  selbst  unter  sie  weltliche  Gewalt. 
Von  hier  aus  ist  es  in  Luthers  Sinne  möglich,  zwei,  drei  und  mehr 
Kirchen  unter  sich  zu  haben,  über  Heiden  und  Christen,  Ketzer 
und  Türken  zu  regieren,  jeden  nach  seiner  Fagon  selig  werden 
zu  lassen;   sowie  die  Römer  es  übten,  als  sie  in  ihrem  Pantheon 


142  Kleine  historische  Schriften. 

alle  Götter  vereinigten.  Freilich  ist  für  Luther  eine  Regierung 
mit  grundsätzlicher  Parität  nichts  anderes  als  heidnisch.  Aber 
dennoch  bleibt  sie  auf  dem  gottgewollten  Rechtsboden  der 
natürlichen  Ordnung:  ihre  Träger  sind  zwar  ohne  Gottes  Wort, 
aber  nicht  ohne  Gottes  Rat,  ohne  seine  heimliche  Ordnung;  sie 
bleiben  seine  Kreaturen,  seine  »Handröhren  und  Mittel«,  Amts- 
leute an  Gottes   Statt.     Es  ist  nicht  nötig,  daß  sie  fromm  seien. 

Diese  Situation  verändert  sich  jedoch  von  Grund  aus,  sobald 
die  Obrigkeit  Christ  geworden  ist,  Diener  des  Herrn,  Mitglied 
seiner  Kirche.  Denn  nun  beginnt  ihre  Pflicht  gegen  das  Wort 
Gottes.  Nicht  als  ob  ihre  Stellung  irgendwie  angetastet  werden,  als 
ob  gar  etwas  Neues  an  ihre  Stelle  treten  sollte.  Alles  bleibt  viel- 
mehr, wie  es  war.  Aber  es  tritt  ein  zweites  Pflichtverhältnis  hinzu. 
So  wie  der  christliche  Untertan  in  freiem  Gehorsam  herbeieilt,  um 
den  Frieden  zu  sichern  und  die  göttliche  Ordnung  der  Gewalt 
zu  erhalten,  so  wird  der  christliche  Regent  der  Kirche  helfen  wollen, 
weil  es  dem  Nächsten  gilt:  nicht  um  den  Glauben  gewaltsam  und 
unmittelbar  auszubreiten  (denn  das  ist  Gottes  Amt  und  nicht 
das  der  Menschenkinder),  sondern  um  die  von  Gott  ihm  anver- 
trauten Untertanen  dazu  anzureizen,  einen  Zugang  zu  Gott 
hin  zu  eröffnen:  um  der  Liebe  willen,  damit  er  den  Nächsten 
von  Sünde  und  Tod  errette.  Darum  kann  er  es  auch  wohl  unter- 
lassen. Er  sündigt  dann  vielleicht,  aber  bleibt  doch  Christ,  da 
ihm  nur  die  Liebe  mangelt  und  nicht  der  Glaube.  Aber  freilich 
wird  der  Glaube  den  Regenten  dazu  antreiben  (es  wird  sein 
innerstes  Bedürfnis  werden),  alle  seine  Macht  dranzusetzen,  um 
dem  Reiche  Gottes  Bahn  zu  machen. 

In  diesem  doppelten  Verhältnis  der  christlichen  Obrigkeit: 
in  ihrer  negativen  Funktion,  den  Frieden  zu  sichern,  das 
Recht  zu  erhalten,  das  irdische  Leben  zu  fördern,  und  in  ihrer 
positiven  Pfhcht,  dem  Evangelium  den  Zugang  zu  sichern, 
glaube  ich  die  Lösung  des  vielumstrittenen  Problems  zu  sehen 
und  den  so  oft  vermißten  Gleichklang  in  Lehre  und  Leben  des 
Reformators.  Das  Amt  an  sich  schließt  das  Christentum  weder 
ein  noch  aus,  es  wird  aber  bestätigt  durch  das  Wort.  Erde 
bleibt  Erde,  aber  wie  Sonnenglanz  leuchtet  das  Evangelium  darüber 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  143 

hin.  Die  Gottesordnung  der  Kreatur  bleibt  in  ihrem  Wert,  als 
das  Reich  irdischer  Zwecke,  irdischer  Notwendigkeiten:  aber 
der  Glaube  tritt  als  eine  neue  Kraft  hinzu,  verklärt  alles  gemeinsam 
in  einem  Lichte  und  treibt  jedermann  an,  Obrigkeit  und  Untertan, 
seinen  Beruf  unmittelbar  und  ganz  persönlich  auf  Gott  zu  richten. 
Zwei  Reiche,  beide  von  Gott  gestiftet,  sind  durch  die  Welt  hin  aus- 
gebreitet, Kreatur  und  Evangelium:  ununterscheidbar  in  jedem 
Christen  beisammen  und  doch  prinzipiell  ganz  auseinander  zu 
halten,  wie  Seele  und  Körper,  Idee  und  Erscheinung;  aber  das 
»Wort«  bleibt,  der  Glaube  an  ein  von  aller  Erdenschwere  dereinst 
befreites   Ideal,   an   das   Reich   Gottes. 

Alles  liegt  daran,  dorthin  den  Zugang  zu  bahnen.  Brücken 
zu  bauen,  Tore  zu  öffnen.  Ringsum  sollen  die  starken  Schranken 
errichtet  werden,  um  den  Kampfplatz  zu  bereiten,  auf  dem  jeder- 
mann ganz  persönlich  den  heißen  Streit  beginnen  kann  mit  den 
höllischen  Mächten,  Das  ist  die  Freiheit  des  Christenmenschen: 
aus  der  falschen  Sicherheit,  deren  Unwert  er  an  sich  erlebt,  will 
Luther  jedes  Menschenherz  gerissen  sehen;  frei  wie  die  Blume 
auf  dem  Felde,  ganz  er  selbst,  soll  ein  jeder  stehen  vor  seinem 
Schöpfer. 

So  wenig  wußte  Luther  von  einer  freien  Kirche  im  freien 
Staate,  im  Sinne  des  modernen  Liberalismus.  Die  Korporation 
als  solche  ist  Menschenwerk:  nicht  zu  entbehren,  aber  erst  das 
Zweite,  das  Nebensächliche.  Ihre  Formen  sind  vergänglich;  man 
kann  sie  setzen,  ordnen  und  fallen  lassen  und  wird  nicht  lange 
streiten  mögen  über  die  beste:  nur  auf  den  Zweck,  dem  jede  dient, 
wird  alles  zu  richten  sein.  In  dem  Gotteshause  und  auf  der  Straße, 
im  Lehren  und  Forschen,  im  Arbeiten  und  Genießen,  im  Gewühl 
des  Marktes,  auf  den  Höhen  der  Berge  und  inmitten  der  Wasser- 
wüste, in  Krankheit  und  Not  und  in  den  Schauern  des  Todes 
—  überall  ist  die  Kirche  und  die  Verheißung:  wo  das  Evangelium 
gepredigt  wird  und  die  Sakramente  recht  verwaltet  werden;  ja 
wenn  diese  gefesselt  und  entrissen  sind,  dennoch  bleibt  das  Wort 
Gottes  in   Ewigkeit. 

Nun  werden  wir  nicht  mehr  sagen  dürfen,  daß  Luther  seinem 
religiösen  Ideal  untreu  geworden  sei,  als  er  die  Landeskirche  baute, 


144  Kleine  historische  Schriften. 

daß  ihm  Wankelmut  und  Widersprüche  in  der  Grundfrage  seines 
Lebens  nachzuweisen  sind.  Er  hat  noch  auf  der  Höhe  seines 
Schaffens,  in  der  Zeit  vor  Worms,  der  Hierarchie  mit  Papst  und 
Kardinälen  das  Leben  lassen  wollen,  wenn  sie  evangelisch  werden 
wollten:  wie  ein  Rauch  verschwand  ihm  diese  Illusion.  Er  hat 
dann  seine  Kirche  auf  den  breiten  Grund  der  Gemeinde  mit  Kirchen- 
kasse und  Bann  stellen  wollen,  inmitten  der  Zerstörung,  als  noch 
eine  leise  Hoffnung  auf  eine  gemeinsame  Lösung  war  und  ilun 
Gott  selbst  in  der  Zerrüttung  der  alten  Kirche  das  Rad  dorthin 
zu  treiben  schien:  wie  bald  kam  er  auch  von  diesem  Glauben  zu- 
rück! Sein  ganzes  Leben  hindurch  hat  er  an  dem  Traum  von 
einer  deutschen  Nationalkirche  mit  bischöflicher  Verfassung 
festgehalten,  und  bis  ans  Ende  an  der  Möglichkeit,  doch  noch 
einmal  ein  wahrhaft  freies,  christliches  Konzil  zu  bekommen.  In 
jedem  jMoment  war  er  derselbe.  Das  Wort  Gottes  war  gekommen, 
wie  ein  fahrender  Platzregen:  so  mußte  alles  helfen,  was  Hände 
hatte,  und  die  Gefäße  herbeibringen,  um  das  Himmelsmanna  auf- 
zufangen. Aber  immer  von  neuem  ward  er  enttäuscht.  Nichts  von 
einer  nationalen  oder  gar  universalen  Gottesordnung  war  zu  er- 
langen. Es  gab  keinen  Staat,  wie  er  ihn  brauchte.  Nur  in  den 
Territorien  war  die  Obrigkeit  stark  genug,  um  seinem  Evangelium 
den  Schutz  zu  gewähren.    Und  so  schuf  er  die  Landeskirche. 

Nicht  um  Gottes  Wort  zu  retten  —  das  konnte  Gott  ohne 
ihn:  sondern  die  Gläubigen,  die  ihm  anhingen:  ihnen  mußte 
er  in  der  Not  beispringen,  die  Tore  öffnen,  um  sie  hineinzubringen 
und  zu  -dringen;  das  erste  beste  Mittel  war  gerade  recht,  da  es 
nur  auf  das  eine  ankommt,  jedermann  die  Stelle  zu  sichern,  wo  er 
sich  mit   Gott  auseinandersetzen  kann. 

Das  Ideal  freilich  war  es  nicht,  das  lag  in  der  Freiheit  von 
aller  Korporation  in  Staat  und  Kirche.  Aber  wann  wäre  das 
zu  erlangen  \or  dem  Jüngsten  Tage ?  Und  vor  allem  war  die  Ge- 
fahr des  Rückfalls  in  das  Antichristentum  zu  vermeiden,  wenn 
man  das  Wort  Gottes  binden  wollte  an  Formen  und  Formeln 
einer  bestimmten  Verfassung.  Als  ob  das  die  Kirche  Christi  sei 
und  nicht  die  ärgsten  Buben  und  Heuchler  in  ihr  wären!  Wann 
und  wie  die  rechte  Form  gefunden  werde  —  wer  wollte  das  sagen! 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  145 

Luther  hat  immer  gern  an  die  freie  Gemeindekirche  gedacht. 
Jedoch,  »Ich  habe  die  Leute  nicht«,  pflegte  er  zu  bemerken.  Er 
konnte  ja  nicht  einmal  von  sich  selbst  mit  der  Seelenruhe  der 
sicheren  Christen  behaupten,  daß  er  zur  wahren  Kirche  Christi 
gehöre.  Doch  glaubte  er  daran  und  hatte  das  naive  Vertrauen,  daß 
auch  andere  dazu  gehörten,  und  daß  die  Kirche  überall  da  sei, 
wo  das  Wort  von  Gott  gepredigt  und  seine  Sakramente  stiftungs- 
gemäß und  frei  gespendet  würden. 


Wer  heute  über  diese  Dinge  redet,  denkt  selten  an  die  Zu- 
stände zurück,  welche  Luther  vorfand  oder  die  seine  Lehre  herbei- 
führte, an  die  kirchliche  und  soziale  Verwirrung,  aus  der  heraus 
er  seine  Kirche  zu  bauen  hatte.  Nicht  bloß  Papst  und  Kaiser 
machten  ihm  zu  schaffen,  sondern  mehr  fast  der  Unverstand 
und  die  Rohheit,  die  Selbstsucht  und  Gleichgültigkeit  im  eigenen 
Lager:  ein  türkisch,  teuflisch  und  tatarisch  Volk  hat  er  seine 
Deutschen  genannt.  Wir  müssen  ein,  ja  zwei  Jahrhunderte  weiter- 
gehen, um  die  Früchte  seines  Tuns  zu  erblicken  und  mit  denen 
seiner  Gegner  zu  vergleichen.  Nation  und  Christenheit  bheben 
gespalten,  mühselig  erhielten  sich  die  souverän  gewordenen  deutschen 
Stände  zwischen  den  großen  Mächten;  aber  in  ihren  Grenzen 
hatte  das  Bekenntnis  Stadt  und  Land,  Regierende  und  Regierte 
in  gemeinsamer  Gesinnung  fest  zusammengeschlossen.  Ehren- 
hafte Lebensführung,  bürgerliche  Tüchtigkeit,  ein  in  bescheidenen 
Verhältnissen  dem  Ewigen  zugewandter  Sinn  waren  lebendig  ge- 
worden. Und  welche  Fülle  herzlicher  Andacht,  wie  erhabene 
Vorstellungen  von  göttlicher  Majestät  und  Liebe  noch  im  vorigen 
Jahrhundert  in  den  engen  Kreisen  deutscher  Bürgerschaften 
heimisch  waren,  dafür  genügt  es,  auf  den  einen  Namen  Johann 
Sebastian  Bach  hinzuweisen. 

Doch  war  es  nicht  mehr  möglich,  des  fremden  Glaubens 
Herr  zu  werden.  Die  Konfessionen  hatten  sich  aneinander  matt 
gerungen,  und  jede  war  froh,  die  Stelle,  die  sie  besaß,  zu  be- 
haupten.   So  tauchte  aus  der  Not  der  Zeit  ein  Gedanke  auf,  dem 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  lO 


146  Kleine  historische  Schriften. 

Luthers  Staatslehre  schon  Raum  gegeben  hatte:  den  feindlicheü 
Glauben,  der  sich  nicht  niederzwingen  ließ,  zu  tolerieren.  Wir 
begegnen  ihm  im  ganzen  Umkreis  der  römischen  und  protestan- 
tischen Welt;  den  verschiedensten  Motiven  entspringend,  führt 
er  doch  überall  zu  ähnlichen  Bildungen.  Maßgebend  waren  offenbar 
die  großen  Wandlungen  in  der  poUtischen  Konstellation:  die 
Unentschiedenheit  des  Dreißigjährigen  Krieges,  der  Zusammen- 
bruch der  spanischen  Macht,  die  Niederwerfung  Ludwigs  XIV., 
das  Emporkommen  des  parlamentarischen  Englands  und  der 
preußischen  Krone.  Im  Innern  war  der  Anteil  an  der  Staats- 
macht meist  noch  an  die  Einheit  des  Bekenntnisses  geknüpft; 
aber  auch  da  trieb  der  Zwang  der  Verhältnisse  ab  und  an  zu  neuen 
Ordnungen.  Und  da  der  Druck  von  außen  aufhörte,  so  begannen 
bald  allgemein  grundsätzliche  Änderungen. 

Schon  hatte  sich  die  Theorie,  den  poUtischen  Notwendig- 
keiten folgend,  des  Gedankens  bemächtigt  und  ihn  systematisch 
begründet;  und  so  ward  er  das  Ferment  einer  neuen  Bildung, 
welche  mehr  und  mehr  die  leitenden  Kreise  der  europäischen  Ge- 
sellschaft durchdrang.  Die  Staaten  blieben  zwar  im  wesenthchen 
konfessionell  geordnet,  die  IMassen  der  Bevölkerung  lebten  weiter 
in  den  überlieferten  Anschauungen  und  fanden  darin  ihr  Genüge; 
aber  darüber  hin  bildete  sich  in  den  oberen  Schichten  eine  Ge- 
sinnung aus,  welche  mit  um  so  keckerem  Wagemut  die  Gesell- 
schaft zu  reformieren  unternahm,  je  mehr  sie  von  der  Echtheit 
ihrer  Erkenntnisse  und  Absichten  überzeugt  sein  konnte.  Die 
neuen  Weltvorstellungen  waren  in  sich  wieder  sehr  verschieden 
gefärbt,  je  nachdem  sie  auf  protestantischem  oder  katholischem 
Grunde  envuchsen  —  Abstände,  die  wir  durch  die  Namen  \^oltaire 
und  Lessing,  Rousseau  und  Herder,  Diderot  und  Goethe  bezeichnen 
können;  aber  gemeinsam  war  dieser  Kultur  das  frohe  Bewußt- 
sein der  eigenen  Kraft,  die  Zuversicht  auf  ihre  vernünftigen  Ge- 
danken und  der  Trieb,  sie  über  die  ^^'elt  in  friedlichem  Wett- 
eifer zu  verbreiten.  Niemals  sind  dieser  Weltauffassung  prangen- 
dere  Worte  gewidmet  worden  als  in  den  Versen  Schillers,  da 
er  an  der  »Neige  des  Jahrhunderts«  die  edle  stolze  Männlich- 
keit,   die   durch   Vernunft   gesicherte   Freiheit,    den   aufgeschlos- 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  147 

senen  Sinn  und  die  durch  Gesetze  verbürgte  Stärke  seines  Zeit- 
alters   pries. 

Er  hatte"den  Tag  vor  dem  Abend  gelobt.  Denn  in  dem- 
selben Jahr  noch  brach  die  Revolution  aus,  die  über  die  von  ihm 
verherrlichte  Kultur  erst  wahrhaft  das  Fin  du  Siecle  brachte. 

Heute,  am  Abschluß  des  neuen  Säkulums,  das  aus  jenen 
Wirren  ans  Licht  trat,  hat  sich  die  Stimmung  geändert.  Der 
Schleier,  welchen  die  selbstgefällige  Blindheit  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  zwischen  sich  und  der  Wirklichkeit  gezogen  hatte, 
ist  längst  von  unsern  Augen  gerissen;  schon  sinkt  auch  rings- 
umher der  verklärende  Nebel,  den  die  Romantik  über  der  Kluft 
zwischen  den  feindlichen  Bekenntnissen  ausgebreitet  hatte,  und 
von  einem  kalten,  scharfen  Lichte  werden  Gegenwart  und  Ver- 
gangenheit beschienen.  Die  alten,  von  der  Aufklärung  verachteten 
und  fast  vergessenen  Ordnungen  haben  sich  mit  neuem  Leben 
erfüllt  und  sich  mit  trotziger  Kraft  mitten  in  unsern  Staat,  ja  in 
die  Wissenschaft  selbst  hineingedrängt.  Schon  aber  sind  die 
Massen  in  neue  Erregung  geraten  und  fordern  Anteil  an  dem 
Wissen  der  Geistesmächtigen  und  an  den  Gütern  der  Besitzenden. 
Die  Wogen  einer  neuen  und  nur  vertieften  Aufklärung  prallen 
bereits  allerorten  an  sie  an,  und  von  rechts  und  links  erheben 
sich  die  Unglückspropheten,  um  uns  mit  allen  Farben  des  Schreckens 
die  Hölle  an  die  Wand  zu  malen. 

Die  Zeiten  sind  andere  geworden  —  und,  wie  es  im  Sprich- 
wort heißt,  andere  Vögel,  andere  Lieder. 

Wir  wollen  den  Tag  nicht  vor  dem  Abend  loben. Den- 
noch dürfen  wir  sagen:  Die  Melodie,  welche  Martin  Luther  an- 
gestimmt hat,  ist  durch  die  Jahrhunderte  her  nur  immer  stärker 
und  harmonienreicher  geworden,  und  ihre  gewaltigen  Akkorde 
fluten  heute  durch  das  Leben  der  Nation.  Niemals  wird  es  möglich 
werden,  die  Entwickelung  in  die  engen  Formen  zurückzuspannen, 
welche  unter  einem  völlig  andern  Welthorizont,  in  Natur  und 
Geschichte,  entstanden  sind,  und  die  ihnen  schon  entweichenden 
Massen  wieder  an  sie  zu  fesseln.  Dennoch  aber  sind  die  Gedanken 
Luthers  unter  uns  lebendig  geblieben,  geistige  Kräfte,  sittliche 
Energien  in  unserem  Volke.     Sie  sind  nicht  erstorben  in  seiner 


148  Kleine  historische  Schriften. 

Kirche  und  wirken  fort  in  unserem  Staate.  In  ihnen  wurzelt 
das  Recht  unseres  Schwertes,  seine  Macht  und  unser  Gehorsam. 
i\Iit  zwingender  Gewalt  fesseln  sie  jedermann  an  den  öffentlichen 
Willen,  und  in  freiem  Eifer  dienen  ihnen,  ohne  Unterscliied  des 
Bekenntnisses,  die  Millionen.  Sie  sind  verwachsen  mit  jedem 
öffentlichen  Amt,  mit  unserer  Ehe  und  Familie,  mit  Sitte  und 
Recht,  mit  der  Idee  unseres  Krieges  und  aller  Arbeit  des  Friedens. 
Auf  ihrem  Grunde  erwuchs  ganz  unsere  klassische  Literatur,  und 
noch  immer  beherrschen  sie  weite  Gebiete  unserer  Kunst.  Nur 
von  ihnen  aus  ist  die  echte  Toleranz  und  die  freie  Forschung  möglich 
geworden.  Und  mit  einem  Worte,  sie  sind  noch  immer  das  Lebens- 
mark  in   unserem   Volke. 

Hier  ist  auch  uns  der  Platz  gegeben,  um  auf  das  nationale 
Leben  einzuwirken,  falls  wir  nur  unserem  Berufe  treu  bleiben  und 
nichts  wollen  als  lehren  und  forschen,  hier  die  Aufgabe  vor  allem 
der  historischen  Wissenschaften,  die  an  unserer  Universität  in 
drei  Fakultäten  gepflegt  werden  und  wenn  irgend  etwas  ihrer 
Geschichte  wie  dem  Jahrhundert  den  Charakter  geben.  Ihre 
gottverliehene  Kraft  ist  es,  die  Wurzeln  unserer  WeltvorsteUvmg, 
alle  ihre  Verzweigungen,  in  der  Vergangenheit  zu  erforschen, 
unbekümmert  um  die  Folgen,  welche  sich  für  die  Anschauungen 
und  Ordnungen  von  heute  daraus  ergeben  könnten,  in  der  be- 
scheidenen Meinung,  daß  sie  damit  nur  Menschenwerk  üben, 
und  in  dem  gewissen  Glauben,  daß  es  Gottes  Rat  ist,  seine  Kreatur, 
die  Vernunft,  voll  auszunutzen.  Der  Anstoß,  den  Luther  seiner 
Zeit  gegeben  hat,  ist  wahrlich  stärker  gewesen  als  aUes,  was  wir 
\ermögen.  Mit  bebender  Angst  sah  er  die  alte  Welt  unter  dem 
Anhauch  seines  Geistes  zerbersten  und  in  immer  neuem  Sturz 
die  Trümmer  ringsum  sich  häufen.  Wie  oft  hat  er  da  geseufzt: 
»Ich  hoff,  der  Jüngste  Tag  sei  vor  der  Tür.  Er  wiU  und  muß 
kommen!«  Mit  Hoffnung  sah  er  ihm  entgegen.  Denn  nicht  die 
Sündflut,  sondern  das  Reich  Gottes  war  ihm  das  Ziel  der  Ge- 
schichte, 

Dies  männliche  Vertrauen,  diese  unbeugsame  Siegeszuversicht 
mitten  in  der  Zerstörung  ist  doch  das  Größte  in  jener  heroischen 
Zeit.     In  tausend  Wendungen  klingen  uns  solche   Stimmen  aus 


Luthers  Lehre  von  der  Obrigkeit.  149 

ihr  entgegen.  Wenn  etwa  Ulrich  Hütten  seinem  Sickingen 
nicht  eine  fröhliche ,  sanfte  Ruhe  wünscht ,  sondern  große, 
ernstliche,  tapfere  und  arbeitsame  Geschäfte,  darin  er  vielen 
Menschen  zugute  sein  stolzes,  Jieldisch  Gemüt  brauchen  und 
üben  möge;  wenn  Zwingli  seinem  fürstlichen  Freunde,  dem 
Landgrafen  von  Hessen,  zuruft,  mit  fester  Hand  den  Pflug  vor- 
wärts zu  führen:  »Halt  an,  frommer  Ackersmann,  halt  an!«;  oder 
wenn  Luther  die  Deutschordensherren  ermahnt,  ihre  närrischen 
Gelübde  abzutun:  »Nur  frisch  und  getrost  hinan,  Gott  für  Augen 
gesetzt  im  rechten  Glauben  und  der  Welt  ihrem  Rumpeln, 
Scharren  und  Poltern  den  Rücken  gekehret,  nicht  hören  noch 
sehen,  wie  Sodoma  und  Gomorrha  hinter  uns  versinken,  oder  wo 
sie   bleiben. « 

Alle  diese  Männer  fürchteten  Gott  und  sonst  nichts  auf  der 
Welt. 

Wohlan,  lernen  wir  von  unsern  Vätern!  Wir  wohnen  ja  in 
einem  festeren  Hause  als  sie.  Seine  Fundamente  sind  lange  vor 
der  Reformation  gelegt  worden,  und  das  Wort,  wie  Luther  es 
lehrte,  hat  sie  bestätigt.  In  seinen  starken  Mauern  findet  jeder- 
mann Raum,  der  »Erdenkinder  höchstes  Glück«,  die  Persönlichkeit 
frei  zu  entfalten  und  zu  behaupten  und  um  alle  Palmen  zu  ringen 
der  Sittlichkeit  und  der  Schönheit.  Seine  Bauherren  haben,  seit- 
dem der  Ahnherr  den  Spaten  in  dem  märkischen  Sande  einsetzte, 
sich  allzeit  betrachtet  als  Amtmänner  an  Gottes  Statt  und  als 
die  ersten  Diener  ihres  Staates. 

Das  ist  der  Wahlspruch  Hohenzollerns.  Es  ist  das  eigenste 
Bekenntnis  unseres  kaiserlichen  Herrn  und  die  beste  irdische 
Gewähr  für  alle  Zukunft.  Vereinigen  wir  uns  denn  mit  einem 
starken  Vertrauen  in  dem  Gedanken,  der  heute  jedes  deutsche 
Herz    erfüllt : 

Gott  schütze  und  segne  den  Kaiser! 


m^^^^ 


Der  Bauernkrieg. 

(1904.) 

»Das  größte  Naturereignis  des  deutschen  Staates«,  so  hat 
Ranke  die  agrarische  Revolution  genannt,  welche  im  Frühling 
1525  alle  Ordnungen  in  Staat  und  Kirche  Deutschlands  mit  Ver- 
nichtung bedrohte.  Wie  eine  Naturgewalt  in  der  Tat,  \\ie  ein 
»Ungewitter  der  Tiefe«  brach  die  Empörung  ans  Licht,  Wenige 
Monate  nur  erzitterte  die  deutsche  Erde:  ein  plötzliches  Auf- 
bäumen, unwiderstehhch  im  ersten  Anprall,  dem  aber  ebenso 
rasch  das  Zurückschleudern  folgte.  Kein  luftreinigendes  Ge\\itter, 
sondern  ein  Feuer,  welches  rasend  um  sich  greifend  Wohlstand 
und  Leben  vieler  Tausende  vernichtete,  um,  nachdem  es  ausge- 
brannt   war,  nichts  zurückzulassen  als  Asche. 

In  dem  Momente  entzündete  es  sich,  wo  die  Nation  vor  der 
größten  Aufgabe  stand,  die  ihr  je  gestellt  worden  war,  vor  der 
Frage,  ob  sie  fähig  sein  würde,  ihren  Staat  und  ihre  Kirche  auf 
dem  Grunde  einer  Religion  neu  aufzubauen,  die  soeben  aus  der 
Tiefe  des  deutschen  Herzens  ihr  größter  Sohn  geschöpft  hatte. 
Daß  beides,  der  Aufruhr  und  die  Reformation,  miteinander  zu- 
sammenhängen, versteht  sich  danach  von  selbst.  Indem  Luther 
den  Weckruf  an  das  Gewissen  der  Nation,  das  »Los  von  Rom«, 
erschallen  ließ,  schnitt  er  auch  dem  politischen  Deutschland,  das 
mit  dem  geistlichen  durch  die  Geschichte  eines  Jahrtausends  bis 
in  das  Mark  verwachsen  war,  in  die  Wurzel.  In  jede  Fuge  des 
Reichsbaues  war  der  Zwiespalt  eingedrungen.  Die  Edikte  des 
Kaisers,  die  Beschlüsse  der  Reichstage,  die  Gebote  des  Reichs- 
regiments hatten  die  Verwirrung  nur  gesteigert,  auch  die  strengsten 


Der  Bauernkrieg.  151 

Mandate  die  Zersetzung  der  Kirche  nicht  aufhalten  können;  ver- 
morscht wie  sie  war,  fiel  sie,  kaum  daß  einer  zu  stoßen  brauchte, 
in  sich  zusammen.  Also  geschah  das  Unvermeidliche:  da  der  Boden, 
die  schützende  Decke  der  Macht  zerbarst,  brachen  die  Tiefen  auf. 
Noch  war  Luther  der  Wortführer  der  Nation.  Auf  ihn  richteten 
die  Empörer  ihre  Blicke ;  für  sein  Evangelium,  so  sagten  sie,  wollten 
sie  fechten;  ihn  und  seinen  gottsehgen  Herrn,  den  Kurfürsten 
Friedrich  den  Weisen,  riefen  sie  als  Schiedsrichter  an;  und  ihm, 
als  dem  Verräter  an  der  eigenen  Sache,  dem  Fürstenknecht,  dem 
Vater  Leisetritt,  fluchten  sie,  als  er  sich  gegen  sie  auf  die  Seite 
des  Herrn  gestellt  hatte  und  das  erbarmungslose  Schwert  der 
Sieger  unter  ihnen  fraß. 

Wie  begreiflich  aber  die  Wut  der  Enttäuschten  über  den 
Reformator  sein  mochte,  ebenso  ungerecht  war  ihr  Vorwnirf,  mag 
er  ihnen  auch  von  Feindschaft  und  Unverstand  tausendfach  nach- 
gebetet sein,  daß  Luthers  Lehre  wirklich  des  Aufruhrs  Wurzel 
gewesen  sei.  Wäre  dem  so,  so  hätten  die  Gegenden,  die  von  seiner 
Lehre  besonders  angesteckt  waren,  von  dem  revolutionären  Gift 
mehr  als  andere  infiziert  werden  müssen.  Aber  gerade  dort,  wo- 
hin sein  unmittelbarer  Einfluß  reichte,  in  und  um  Wittenberg 
und  Torgau,  in  dem  eigentlichen  Sachsen,  blieb  alles  ruhig;  nur 
in  den  thüringischen  Ämtern,  die  mit  kleineren  Herrschaften, 
mit  mühlhausischen,  kurmainzer  und  anderen  Bezirken  im  Gemenge 
lagen,  und  die  von  den  alten  Gegnern  Luthers,  Münzer  und  Karl- 
stadt und  ihren  Trabanten,  aufgewühlt  waren,  wurde  das  Landvolk 
wild  und  ließ  sich  mit  fortreißen.  So  ward  auch  Hessen,  dessen 
junger  Landgraf  vor  kurzem  entschlossen  auf  die  Seite  der  Re- 
formation getreten  war,  in  Ruhe  gehalten.  Die  paar  Dorfschaften, 
die  sich  im  Fuldatal  erhoben,  bändigte  Philipp  mit  leichter  Mühe; 
rasch  gelang  es  ihm  auch,  in  den  benachbarten  Abteien  Hersfeld 
und  Fulda  die  hier  arg  erschütterte  Ordnung  herzustellen,  so 
daß  er  bald  sein  Land  im  Rücken  lassen  und  sich  nach  Thüringen 
gegen  die  fanatisierten  Scharen  Thomas  Münzers  wenden  konnte. 
Beide  Fürsten  aber,  Kursachsen  und  Hessen,  waren  gerade  die  zur 
Verständigung  geneigten:  Landgraf  Philipp  rechtfertigte  auf  dem 
Landtage  zu  Alsfeld  durch  den  Beschluß,  daß  den  Bauern  keine 


152  Kleine  historische  Schriften. 

neuen  Lasten  auferlegt  werden  sollten,  zum  erstenmal  den  Bei- 
namen, den  ihm  sein  dankbares  Volk  gegeben  hatte,  des  Groß- 
mütigen; Friedrich  der  Weise  aber,  der  unter  dem  Toben  des  ent- 
fesselten Aufruhrs  starb,  hat  noch  auf  dem  Totenbette  die  armen 
Leute  und  ihre  harten  Lasten  beklagt.  Die  Goldene  Aue  war  über- 
haupt der  nördlichste  Punkt,  den  der  Aufstand  erreichte;  über 
den  Harz  kam  er  nicht  hinaus. 

Auch  in  Bayern  hielten  die  Herzoge  Wilhelm  und  Ludwig, 
diese  freilich  mit  härtester  Gewalt,  die  Ordnung  aufrecht.  Weniger 
glückte  es  den  habsburgischen  Regierungen  in  ihren  weitgedehnten 
Herrschaften,  trotz  der  Strenge,  mit  der  auch  hier  Kirche  und 
Staat  vereinigt  gegen  die  Empörten  vorgingen:  von  Steiermark 
bis  ins  Inntal  waren  die  Alpenländer  in  tiefer  Erregung,  und  selbst 
in  der  Eidgenossenschaft  forderten  die  Untertanen  Freiheit  von 
Zinsen  und  Fronden.  Immerhin  waren  das  alles  nur  Ausläufer 
der  Bewegung,  deren  Herdfeuer  in  den  Vorbergen  der  Alpen, 
rechts  vom  Rhein  und  im  südlichen  Schwarzwald,  um  Waldshut, 
in  der  Stülilinger  Landschaft,  am  Bodensee  und  im  Algäu  bis 
zum  Lech  hin  lag  Hier  brach  der  Aufruhr  schon  im  Frühsommer 
1524  aus.  Lange  schwälte  der  Brand,  halb  gestillt  und  wieder 
neu  entfacht,  bis  er  im  Februar  und  März  des  folgenden  Jahres 
mit  plötzlicher  Wut  aufflammend  in  wenigen  Wochen  vom  Lech 
her  bis  an  die  Vogesen  und  vom  Bodensee  bis  hin  über  den  Thü- 
ringer Wald   alles   Land  überdeckte. 

Es  waren  die  Gebiete,  auf  denen  das  alte  Reich  recht  eigent- 
lich geruht  hatte,  in  denen  die  großen  Kaisergeschlechter,  die 
Salier  und  die  Hohenstaufen,  ihre  Stammburgen  gebaut  und  ihre 
Kraft  gewonnen  hatten.  Auch  das  jetzt  regierende  Haus  hatte 
dort  von  alters  her  Besitzungen  gehabt ;  immer  hatte  es  in  Gegen- 
sätzen, wie  die  jetzt  neu  entbrannten,  gestanden,  und  die  ihm 
Verbündeten  und  Verwandten,  die  schwäbischen  Abteien  und 
die  um  den  Bodensee  angesessenen  Herrengeschlechter  waren  es, 
gegen  die  sich  die  Bauern  zuerst  erhoben.  Seit  dem  Untergange 
der  Staufer  hatte  sich  z^nschen  Alpen  und  Main  keine  große  Ter- 
ritorialmacht mehr  bilden  können,  und  die  Elemente,  welche  im 
Norden  und  Osten  überall  zur  Einheit  des   Staates  zusammen- 


Der  Bauernkrieg.  153 

gezwungen  wurden,  Ritter  und  Herren,  Städte  und  Stifter,  waren 
hier  ungebunden  geblieben  und  mußten  jeder  für  sich  und  gegen 
den  anderen  Luft  und  Licht  zu  gewinnen  suchen.  So  war  dies  der 
klassische  Boden  der  Städte-  und  Ritterbünde,  ihrer  Kriege  und 
Fehden  geworden.  Noch  hielt  der  Adel  eng  zusammen.  Gerade 
in  dieser  Epoche  bildete  die  Reichsritterschaft  jene  engeren  Verbände 
aus,  in  denen  sie  sich  bis  an  das  Ende  des  deutschen  Reiches  er- 
halten hat.  Noch  hielten  auch,  wie  vor  alters,  die  Freien  und 
Reichsstädte  ihre  besonderen  Tage  ab,  und  der  Haß  gegen  die 
Pfeffersäcke,  die  »vermauerten  Städtebauern«,  war  im  Herren- 
stande immer  noch,  und  bis  hoch  hinauf,  verbreitet.  Aber  je  mehr 
ein  jeder  sich  abschloß,  um  so  mehr  war  er  gezwungen,  sich  der 
Umgebung  anzubequemen,  den  Schutz,  den  der  Bund  mit  den 
Standesverwandten  nicht  mehr  sicherte,  durch  Übereinkünfte  mit 
den  Nachbarn  zu  erhalten.  Diesen  Zweck  verfolgte  seit  mehr  als 
einer  Generation  der  Schwäbische  Bund,  der  bereits  alle  Stände 
des  südlichen  Deutschlands  bis  über  den  Main  weg  vereinigte. 
Auch  er  aber,  eine  der  stärksten  Gewalten  im  Reiche,  konnte  der 
allgemeinen  Zerrüttung  nicht  wehren.  Im  Bunde  selbst  stritten 
von  jeher  die  verschiedensten  Interessen,  und  die  kirchlichen 
Irrungen  brachten  täglich  neuen  Zündstoff  hinzu.  Nicht  einmal 
die  Sicherheit  der  Straßen  konnte  er  gewährleisten  und  nur  durch 
erhöhten  Druck  auf  die  eigenen  Hintersassen  die  Mittel  schaffen, 
um  die  Widerspenstigen  im  Zaume  zu  halten.  Die  Untertanen 
aber,  die  Bauern,  waren  in  jedem  Falle  die  Geschädigten.  Sie 
mußten  reisen,  bauen  und  steuern;  an  ihren  Gütern  erholten  sich 
Freund  und  Feind;  auf  ihren  Höfen  gardeten  die  Reiter  und  die 
Knechte,  wenn  sie  auf  einen  Herrn  warteten,  und  in  ihre  Ställe 
und  Scheunen  warfen  sie  die  Brandfackel,  wenn  die  Fehde  sie 
auf  eine  feindliche  Dorfmark  führte. 

Ziehen  wir  die  Summe.  Wo  die  Macht  war,  wohnte  der  Friede. 
Den  Norden,  die  Gebiete  der  großen  Fürstenhäuser,  welche  in 
der  Bildung  ihres  Staates  bereits  weiter  vorangekommen  waren,  er- 
reichte darum  der  Aufstand  überhaupt  nicht,  und  das  mittlere 
Deutschland  nur  an  wenigen  Punkten.  Und  ebenso  gelang  es  im 
Süden  den  starken  Regierungen,  sich  zu  behaupten.    Die  Stellung 


154  Kleine  historische   Schriften. 

zur  Reformation  kam  dabei  kaum  in  Frage.  Herzog  Georg  von 
Sachsen  hielt  seine  Untertanen  ebenso  in  Schranken,  wie  seine 
Vettern  Friedrich  und  Johann  in  den  benachbarten  Kreisen  die 
ihrigen.  Schwierig  war  es  nur  dort,  wo  der  neue  Geist  mit  dem 
alten  bereits  im  Kampf  lag.  Wo  aber,  wie  im  Wittenberger  Kur- 
kreise, die  Kirche  Luthers  schon  festere  Formen  gewonnen  hatte 
und  der  alte  Sauerteig  durch  eine  evangelische  Visitation  ausge- 
fegt war,  gab  dies  eine  stärkere  Bürgschaft  für  die  Ruhe  als  die 
brutalen  Mandate,  durch  welche  die  Bayern  und  Österreicher  sich 
der  Revolution  in  Staat  und  Kirche  zu  wehren  suchten.  Wie 
sehr  es  in  jedem  Falle  auf  die  gesammelte  Macht  ankam,  zeigt 
das  Schicksal  der  größeren  Reichsstädte  im  Hauptgebiete  des 
Aufruhrs.  Auch  in  Straßburg,  Augsburg,  Ulm,  Nürnberg  gab  es 
revolutionäre  Elemente  genug:  die  Führer,  wie  Thomas  Münzer 
im  Sommer  1524  in  Nürnberg,  haben  wohl  gerade  dort  versucht, 
den  Hebel  anzusetzen.  Aber  der  Boden  war  ihnen  zu  heiß  gewesen; 
und  als  nun  der  Aufruhr  über  das  Land  hinwogte,  vermochten 
die  Magistrate  dieser  großen  Gemeinwesen  nicht  nur  die  unruhigen 
Köpfe  in  ihren  Mauern,  sondern  sogar  ihre  Bauernschaften  meilen- 
weit vor  der  Stadt  in  Zucht  zu  halten  und  zu  schützen. 

Hieraus  ergibt  sich,  daß  es  nicht  ausreicht,  die  letzte  Ursache 
des  Bauernkrieges  in  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen  zu  suchen. 
Wir  wissen  noch  gar  nichts  Genaueres  über  die  wirtschaftliche 
Lage  der  unteren  Klassen  in  j ener  Zeit.  Statistische  Untersuchungen 
sind  kaum  gemacht  worden,  und  nur  diese  würden  uns  bestimmtere 
Folgerungen  gestatten.  Wo  einmal  nähere  Beobachtungen  an- 
gestellt sind,  glauben  wir,  sehr  im  Gegensatz  zu  der  herrschen- 
den Vorstellung,  statt  wachsender  Verarmung  eher  das  Gegenteil 
zu  bemerken.  Gewiß  gab  es  unter  den  Bauern,  wie  unter  Rittern 
und  Bürgern,  zahllos  verlorene  oder  wirtschaftlich  bedrängte 
Existenzen,  und  diese  sind  sicherlich  mit  unter  den  vordersten 
der  Aufrührer  zu  denken.  Aber  als  einen  Ausbruch  schreiender 
Not,  als  den  Verzweiflungsschritt  ausgehungerter  Massen  haben 
wir  uns  die  Erhebung  nicht  vorzustellen.  Nichts  ist  gewisser, 
als  daß  jene  Epoche  für  Süddeutschland,  mehr  vielleicht  als  für 
den  Norden,  eine  Zeit  des  wirtschaftlichen  Aufstrebens  war:    die 


Der  Bauernkrieg.  155 

Zunahme  der  Bevölkerung,  die  intensivere  Bebauung  des  Landes, 
das  Wachstum  der  Städte,  der  steigende,  oft  beklagte  und  bekämpfte, 
dadurch  aber  nicht  verringerte  Luxus  aller  Klassen,  ebensowohl 
auf  dem  Lande  wie  in  den  Städten,  das  Anwachsen  des  Kapitals, 
das  innerhalb  und  außerhalb  der  Mauern,  an  den  Fürstenhöfen 
wie  auf  den  Bauerngütern  Unterkunft  suchte,  der  immer  regere 
Handel  daheim  und  in  der  Fremde  sind  dafür  vollgültige  Beweise. 
Wäre  die  wirtschaftliche  Not  oder  auch  nur  der  Druck,  der  nicht 
geleugnet  werden  soll,  wirklich  die  primäre  Ursache  gewesen,  so 
hätte  der  norddeutsche  Bauer  wohl  eher  Anlaß  zum  Aufstande 
gehabt.  Denn  dieser  hatte  an  dem  grundbesitzenden  Adel,  der 
schon  seine  Güter  selbst  zu  bewirtschaften  und  abzurunden  be- 
gann, einen  meist  überlegenen  Konkurrenten.  Im  Süden  dagegen 
war  der  Herr  fast  durchweg  Rentenbesitzer  geblieben.  Fälle  von 
Abmeierung  und  Bauernlegungen,  wie  im  Norden,  kamen  dort 
nicht  vor;  der  Bauer  mußte  zinsen  und  fronden  und  sein  Gut 
»bauen«,  d.  h.  im  zinsfähigen  Stand  erhalten,  er  war  auch  wohl 
leibeigen  geworden,  im  übrigen  aber  wirtschaftlich  unabhängig. 
Die  Führer  des  Aufstandes  waren  fast  immer  die  wohlhabenden 
Leute,  die  Angesehensten  im  Dorf,  die  Bürgermeister,  die  Wirte, 
die  Müller.  Auch  die  Pfaffen,  Schreiber  und  Keller,  die  an  der 
Spitze  erscheinen,  wie  Wendel  Hipler  von  Öhringen  und  Friedrich 
Weigand  von  Miltenberg,  waren  keine  hergelaufenen  Buben,  sondern 
Männer  von  Besitz  und  Ansehen.  Die  Vermögenslisten  der  ge- 
straften Bauern  zeigen  oft  Einkommen  von  überraschender  Höhe 
und  für  den  Durchschnitt  eine  gewisse  Wohlhäbigkeit  oder  doch 
wenig  direkte  Armut.  Es  ist  —  und  darin  liegt  wirklich  eine  Ana- 
logie —  wie  heute  bei  unserer  Sozialdemokratie.  Auch  diese  nennt 
sich  die  Partei  des  Proletariats,  wie  die  aufständischen  Bauern 
sich  als  die  »armen  Leute«  bezeichneten.  Und  doch  stellt  niemand 
in  Abrede,  daß  in  dem  sozialdemokratischen  Lager  viel  weniger 
der  Druck  von  oben  als  das  Machtstreben  von  unten  zur  Geltung 
komme.  Revolution  ist  Kraftäußerung,  selbst  dann,  wenn  sie 
nicht  zum  Ziel  kommt:  wer  die  Macht  nicht  hat,  wird  sich  auch 
nicht  regen.  Gerade  von  den  Bauern  des  Algäus  und  am  Bodensee, 
die  zuerst  aufstanden  und  am  längsten  aufreclit  blieben,  wissen 


156  Kleine  historische  Schriften. 

wir,  daß  sie,  wie  ihr  Historiker  sagt,  im  ganzen  wohlhabend,  tat- 
kräftig, selbstbewußt  und  waffengeübt  waren.  Noch  hatte  jede 
Dorfschaft  ihre  gemeinsame  Gemarkung,  Ordnung  und  Verwaltung, 
zuweilen  selbst  Mauern  und  Tore.  Unter  der  Gerichtslinde  oder 
auf  dem  ummauerten  Kirchhof,  der  eigentlichen  Burg  des  Dorfes, 
trat  die  Gemeinde  zusammen,  auf  das  Zeichen  der  Kirchenglocke; 
läutete  sie  Sturm,  mit  der  Wehr  zur  Seite,  gemeinhin  aber  ohne 
die  Waffe,  die  sonst  jedermann  trug.  Dort  suchten  und  fanden 
sie  nach  ihren  Bauernregeln  das  Recht,  dort  berieten  sie  über 
die  Angelegenheiten  der  Gemeinde,  über  Weide,  Wiesen  und  Wald, 
Ackerung,  Aussaat  und  Ernte;  dort  wählten  sie  ihre  Bauermeister 
und  bestellten  die  Ämter  des  Fronboten  und  des  Flurschützen, 
des  Holzwächters,  des  Kirchners  und  des  Schreibers,  des  Hirten 
und  des  Turm  Wächters ;  dort  nahmen  sie  wohl  auch  die  Weisungen 
ihres  Grundherrn  in  Empfang  —  und  dorthin  liefen  sie  zusammen, 
als  die  Sturmboten  des  Aufruhrs  kamen  und  der  \'om  Brand  der 
nahen  Klöster  und  Schlösser  gerötete  Horizont  ihnen  das  Morgen- 
rot  ihrer   vollen   Freiheit   zu   verkünden   schien. 

Wäre  ihnen  nun  geworden,  was  sie  in  ihren  zwölf  Artikeln 
forderten:  Eigenwahl  des  Pfarrers,  den  ihnen  bis  dahin  der  Grund- 
herr oder  das  benachbarte  Kloster  gesetzt  hatte,  Freiheit  der 
Holzung,  der  Jagd  und  der  Gewässer,  Fortfall  des  kleinen  Zehnten, 
der  Leibeigenschaft  und  des  Todfalls,  dazu  ^linderung  so  vieler 
Dienste  und  Gülten,  so  wären  sie  frei  genug  geworden,  freier  fast 
als  ihre  Herren,  die  doch  dem  Kaiser  und  dem  Reich  oder  einer 
anderen  Herrschaft  direkt  verpflichtet  waren.  Und  hätten  sie 
vollends  erreicht,  was  im  Laufe  der  Bewegung  sich  immer  mehr 
als  das  Programm  des  Aufruhrs  heraushob,  Ausreutung  aller 
Stifter  und  Niederbrechung  aUer  Burgen,  also  daß  es  im  ganzen  Land 
nur  Bauern  und  Bauernhäuser  gegeben  hätte,  so  wären  sie  so  frei 
geworden  wie  der  Vogel  in  der  Luft,  wie  das  Wild  des  Waldes: 
es  wäre  die  Freiheit  der  Anarchie,  die  Staatslosigkeit  gewesen, 
die  sie  erreicht  hätten.  Der  Herr,  dem  sie  dienten,  verkörperte 
für  sie  den  Staat,  mochte  es  ein  bloßer  Reichsritter  sein  oder  ein 
Graf,  ein  Abt  oder  der  Magistrat  einer  Reichsstadt.  Nicht  der 
Bauer  unmittelbar,  sondern  der  Grundherr  war  dem  Reiche  selbst 


Der  Bauernkrieg.  157 

oder  einem  Temtorialherrn  verantwortlich,  sowie  er  seine  Bauern 
innerhalb  der  ihm  zustehenden  Grenzen  zu  schützen  hatte.  Beides 
machte  er  gewiß  sclilecht  genug.  Aber  es  war  doch  nicht  immer 
böser  Wille,  sondern  sich  selbst  zu  erhalten  und  voranzukommen 
war  auch  für  ihn,  wie  für  jedermann  und  jedes  Gemeinwesen, 
das  zwingende  Gesetz.  Zumal  da  er  in  eine  Welt  gestellt  war, 
die,  von  halbfertigen  staatlichen  Gebilden  erfüllt,  von  jeher  durch 
Kampf  und  Eigennutz  regiert  war,  und  in  eine  Zeit,  welche  die 
bisher  einzige  einheitliche  Gewalt,  die  Kirche,  rettungslos  in  sich 
zusammensinken  sah.  Das  scUießt  natürlich  nicht  aus,  daß  viele 
unter  den  Herren  den  Bogen  allzu  straff  gespannt  haben,  und 
daß  die  wirtschaftliche  Abwandelung  den  Wert  der  Natural- 
abgaben und  Dienste  weit  über  Gebühr  erhöht  hatte.  Aber  es 
bleibt  dabei:  auch  die  Herren  handelten  mehr  unter  dem  Zwang 
als  ans  Willkür,  und  die  politische  Lage,  nicht  die  wirtschaft- 
liche Not  war  die   bestimmende   Ursache. 

Dadurch  erklärt  es  sich,  daß  manche  unter  den  Herren,  und 
wohl  gerade  die  Leuteschinder  am  ersten,  lieber  Hammer  als 
Amboß  sein  wollten  und  sich  dem  reißenden  Strom  der  Empö- 
rung anvertrauten,  wo  sich  dieser  gegen  Gewalten  im  Reiche 
lichtete,  mit  denen  sie  selbst  einen  Span  auszutragen  hatten.  So 
rechnete  der  verjagte  Herzog  Ulrich  von  Württemberg,  der  einst 
den  »armen  Kunz«  so  grob  niedergeschlagen  und  niemals  als  ein 
Bauernfreund  hatte  gelten  können;  jetzt  aber  w^artete  er  auf 
dem  Hohentwiel,  mitten  unter  den  gärenden  Bauernschaften  von 
Stühlingen,  ungeduldig  auf  das  Signal  zum  Losbrechen;  und  nur 
ein  höchst  unvorhergesehenes  Ereignis,  die  Niederlage  König 
Franz'  bei  Pavia,  die  seine  eidgenössischen  Freunde  zwang,  den 
Zulauf  ihrer  Knechte  zurückzuhalten,  nötigte  den  verbannten 
Herzog,  den  schon  begonnenen  Zug  abzubrechen  und  noch  einmal 
stillzusitzen.  Und  wohl  möglich,  daß  auch  Götz  von  Berlichingen 
ähnlich  spekulierte,  als  er  im  Kloster  Schönthal  und  in  Neckars- 
ulm mit  den  Bauernfeldherrn  des  Öhringer  Haufens  zusammen- 
traf und  sich  zu  ihrem  obersten  Hauptmann  sei  es  werben  oder 
pressen  ließ.  Aber  auch  der  städtische  Ehrgeiz  wurde  vielfach 
durch  die  ersten  Erfolge  der  Empörer  angeregt;  ja  selbst  die  ganz 


^58  Kleine  historische  Schriften. 

Großen,  wie  die  Bayernherzoge  und  die  Habsburger,  oder  wie 
Casimir  von  Brandenburg,  oder  die  Eidgenossen  von  Basel,  blieben 
nicht  frei  von  der  Versuchung,  Stücke  der  Bauernbeute  für  sich 
selbst  in  Sicherheit  zu  bringen. 

Wenn  schließlich  das  große  Wasser  wieder  ablief,  ohne  die 
alten  Grenzen  wesenthch  zu  verrücken,  so  lag  das  einmal  an  dem 
bald  sich  ermannenden  und  dann  unmittelbar  siegreichen  Wider- 
stände der  geordneten  Gewalten,  im  Süden  vor  allem  des  Schwä- 
bischen Bundes,  in  Mitteldeutschland  der  verbündeten  Fürsten 
von  Sachsen,  Hessen  und  Braunschweig,  sodann  aber  an  dem 
Radikalismus,  den  die  rasch  anwachsende  Anarchie  der  Bauern- 
heere emportrieb.  In  dem  Haufen,  den  der  BerUchinger  anführte, 
und  der  die  Grafen  von  Hohenlohe  und  von  Werthheim  wie  den 
Adel  des  Odenwaldes  mit  sich  fortriß,  war  von  Anfang  an,  noch 
bevor  Götz  mit  ihm  seine  Praktiken  trieb,  eine  gemäßigtere  Ten- 
denz ;  auf  die  Zerreißung  der  Burgen  hatten  es  hier  auch  die  bäueri- 
schen Führer  nicht  abgesehen.  Es  kam  ihnen  zunächst  darauf 
an,  das  Geschütz  zu  bekommen,  die  Herren  aber  zu  dem  Eintritt 
in  den  Bund  oder  zum  Stillsitzen  zu  bewegen;  dafür  versprachen 
sie  ihnen  Sicherung  ihrer  Häuser  und  Besitzungen.  Mit  Edel- 
leuten,  Geistlichen  und  Städten  schlössen  sie  ^^erträge  solches 
Inhalts.  Die  zwölf  Artikel,  die  auch  sie  annahmen,  milderten 
sie  erheblich  und  geboten  gegen  Leibesstrafen  allen  Untertanen 
in  Städten,  Dörfern  und  Flecken,  Gehorsam  gegen  ihre  Obrigkeiten 
zu  üben.  Wir  haben  darin  wohl  neben  Götzens  Einfluß  auch  den 
Wendler  Hiplers  zu  erkennen,  der  mit  Weigand  von  Miltenberg 
in  dem  sogenannten  Heilbronner  Entv^oirf  jene  weitreichenden 
Pläne  einer  Reichsreform  entwarf,  die  unter  der  Ägide  der  kaiser- 
Uchen  Älajestät  auf  Grund  allgemeiner  Säkularisation  der  geist- 
lichen Güter  eine  Umgestaltung  der  Gerichtsverfassung  und  der 
gesamten  Organisation  und  Venvaltung  des  Reiches  verlangten. 
Aber  diese  Politik  der  Mäßigung  erlitt  bald  Schiffbruch.  Unter 
den  Neckarbauern  selbst,  die  über  den  Odenwald  hin  nach  Würz- 
burg dem  fränkischen  Heere  zu  Hilfe  zogen,  hatte  von  Anbeginn 
her  eine  extreme  Gruppe  bestanden,  von  der  der  Anstoß  zu  dem 
Sturm  auf  Weinsberg  und  zu  der  Ermordung  des  Helfensteiner 


Der  Bauernkrieg.  159 

Grafen,  den  die  Bauern  durch  die  Spieße  jagten,  ausgegangen 
war.  Diese  gewann  nach  der  Vereinigung  beider  Heere  im  Lager 
vor  dem  Frauenberg  alsbald  die  Oberhand.  Denn  der  Radikalis- 
mus der  Franken  ging  weit  über  jenes  gemäßigte  Programm  hinaus. 
Sie  wollten  von  den  zwölf  Artikeln  nichts  hören:  alle  Burgen, 
wie  auch  die  Klöster  sollten  gebrochen  werden;  kein  Schloß,  kein 
Turm,  der  in  ihre  Gewalt  fiel,  wurde  verschont;  in  ganz  Franken, 
mainauf  und  mainab,  loderten  die  Feuer;  niemand  sollte  fortan 
einen  gerüsteten  reisigen  Gaul  halten  dürfen,  jeder  Edelmann  auf 
seinem  Gute  wie  ein  Bauer  leben.  Vergebens  kämpften  Götz  und 
seine  Anhänger  gegen  diese  Strömung  an.  Ein  Versuch  von  ihnen, 
auf  ihre  Bedingungen  hin  der  adeligen  Besatzung  des  Frauenberges 
den  Abzug  zu  bewilligen,  scheiterte  an  dem  Widerstände  der 
Franken  und  der  mit  ihnen  stimmenden  Radikalen  ihres  eigenen 
Haufens.  Die  Stürme  aber,  die  von  den  Bauern  darauf  gegen  die 
Würzburger  Feste  gewagt  wurden,  scheiterten,  und  damit  zogen 
sie   die   Katastrophe  über  sich  herbei. 

Denn  in  derselben  Stunde,  w^o  der  Anlauf  gegen  die  Mauern 
des  Frauenberges  zerschellte,  ward  Thomas  Münzer  bei  Franken- 
hausen vernichtend  geschlagen  und  damit  seiner  kommunistischen 
Revolution  das  blutigste  Ende  bereitet.  Und  schon  nahte  den  Bauern 
in  Franken  von  Süden  her  das  Verderben.  Bis  in  den  März  hatte 
der  Schwäbische  Bund  mit  den  drei  Haufen  südlich  der  Donau 
Verhandlungen  gepflogen;  sobald  er  aber  die  Waffen  bereit  hatte 
und  die  Gefahr  vor  Herzog  Ulrich  geschwunden  war,  schlug  er 
los.  Den  Algäuern  und  Seebauern  freilich  konnte  der  Bundes- 
feldherr, Graf  Jürgen  Truchseß  von  Waldburg,  auch  dann  nichts 
Rechtes  abbrechen.  Aber  nachdem  er  durch  einen  vorläufigen 
Vertrag  mit  ihnen  sich  den  Rücken  gedeckt,  zog  er  gegen  die  in 
Württemberg  und  am  Schwarzwald  versammelten  Haufen  und 
schlug  sie  am  12.  Mai  bei  Böblingen  aufs  Haupt.  Hierauf  wandte 
er  sich  gegen  Norden.  Am  2.  Juni  ereilte  er  die  Odenwälder,  die 
ihren  Dörfern  zu  Hilfe  kommen  wollten,  bei  Königshofen  an  der 
Tauber;  so  fest  ihre  Stellung  war,  wurde  ihr  Heer  fast  ohne  Gegen- 
wehr vernichtet.  Zwei  Tage  darauf  wurden  auch  die  Franken 
bei  Sulzdorf  und  Ingolstadt  südlich  von  Würzburg  zertrennt  und 


\ßO  Kleine  historische  Schriften. 

niedergemetzelt.  Hierauf  beugte  sich  alles  Land  vom  Fichtelberg 
bis  zu  den  Vogesen.  Bei  Pfeddersheim  nahm  der  Pfalzgraf  an 
seinen  Bauern,  die  ihn  vorher  zum  Vertrage  gezwungen  hatten, 
seine  Rache;  im  Elsaß  trat  Anton  von  Lothringen,  nachdem  er 
schon  im  Mai  bei  Zabern  ein  Bauernheer  vernichtet  hatte,  er- 
barmungslos auch  die  letzten  Funken  des  Feuers  aus.  Länger 
dauerte  es,  bis  die  tapferen  Bauern  im  Algäu,  in  Tirol  und  im 
Salzburgischen  zum  Gehorsam  gebracht  wurden.  Aber  endlich 
gelang  es  allerorten,  und  die  Freveltaten  der  Betörten  wurden 
von  den  unbarmherzigen  Richtern  in  Strömen  von  Blut  gesühnt. 


68^-^^^ 


Florian  Geyer. 

(1896.) 

Man  wird,  denke  ich,  von  mir  nicht  fürchten,  daß  ich  mich 
mit  der  interessanten,  aber  unholden  Dichtung  abgeben  werde, 
welche  jüngst  bei  uns  ein  kurzes  Bühnendasein  gehabt  und  die 
Federn  unserer  Tagesliteraten  durch  ein  paar  \\'ochen  in  Be- 
wegung gesetzt  hat.  Ich  beabsichtige  nichts  weiter  als  festzu- 
stellen, was  in  den  Quellen,  soweit  sie  gedruckt  sind,  über  den 
fränkischen  Ritter  überhefert  ist,  der  seit  Generationen  ein  Lieb- 
ling unserer  romantischen  Poeten  war.  Bisher  haben  über  ihn 
nur  diese  das  Wort  gehabt.  Denn  auch  der  Historiker  des 
Bauernkrieges,  Zimmermann,  der  in  Ritter  Florian  und  seiner 
schwarzen  Schar  seiner  kranken  Zeit  Idealbilder  eines  demo- 
kratischen Deutschlands  vorhalten  wollte,  ist  ihnen  zuzurechnen, 
und  wahrlich  nicht  an  letzter  Stelle.  Er  hat,  kann  man  sagen, 
die  Gestalt  des  ritterlichen  Volksfreundes  erst  geschaffen  und 
ihr  mit  der  Leuchtkraft  seiner  farbenreichen  Kunst  den  Hauch 
revolutionärer  Romantik  verliehen,  der  wie  über  seinem  Buch, 
so  über  dem  Sturm  und  Drang  seines  eigenen,  an  Kampf  und 
Hoffen  reichen  Zeitalters  ruht  und  die  Gestalt  des  fränkischen 
Edelmannes  den  Poeten  wert  gemacht  hat.  Dennoch  kann  ich 
nicht  unterlassen,  gegen  die  Mär  zu  protestieren,  welche  von 
den  namhaften  Kunstkritikern,  die  Hauptmanns  Dichterruhm 
unter  ihre  Fittiche  genommen,  verbreitet  wird,  als  ob  dessen 
Naturalismus  mit  historischer  Treue  gleichzusetzen  sei.  Viel- 
mehr zeigt  seine  Dichtung  weder  in  den  Persönlichkeiten  noch 
in  der  Abschilderung  der  Zustände  und  Anschauungen  noch  auch 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  II 


Iß2  Kleine' historische  Schriften. 

in  der  Sprechweise  selbst  etwas  von  dem  Geist  der  Quellen,  trotz- 
dem er  diese  offenbar  sehr  viel  fleißiger  studiert  hat  als  einer 
seiner  Vorgänger,  und  die  Redewendungen,  mit  denen  er  die 
Sprache  des  i6.  Jahrhunderts  nachbildet,  sich  vielleicht  sämt- 
Hch  in  der  Literatur  nachweisen  lassen  mögen.  Ich  kenne  manche 
Chronik  und  manche  Rede  jenes  bäuerischen  Zeitalters  und  weiß, 
daß  unsere  Vorfahren  nicht  zimperhch  dachten  und  sprachen. 
Aber  niemals  benahmen  sie  sich,  wie  ich  sie  kenne,  weder  Edel- 
leute  noch  Bürger  und  Bauern,  so  rüde  wie  Hauptmanns  Helden 
in  jeder  Szene,  ganz  davon  zu  schweigen,  daß  die  Alten  ihre  Derb- 
heiten mit  einem  kernigen  Humor  vorzubringen  pflegten,  wovon 
bei  ihrem  Imitator  nichts  zu  spüren  ist;  und  nirgends  fand 
ich  in  der  oft  ungefügen  Sprache  unserer  Reformationszeit 
soviel  stihstische  Gespreiztheit,  wie  das  Bemühen  des  mo- 
dernen Naturalisten,  aus  den  gedruckten  Überresten  sich  die 
alte  Redeweise  zurechtzumachen,  naturgemäß  mit  sich  bringen 
mußte. 

Im  übrigen  hat  Hauptmann  das  Schicksal  seines  Helden 
dem  äußeren  Verlauf  nach  in  den  Zügen  dargestellt,  welche 
Zimmermann  ihm  gegeben  hat,  und  die  diesem  seither  nacher- 
zählt wurden.  Danach  gilt  es  als  ausgemacht,  daß  Florian  Geyer 
auf  beiden  Schauplätzen  des  Aufstandes,  bei  den  Ereignissen 
um  Weinsberg  und  Heübronn  ebenso  wie  bei  den  Kämpfen  vor 
Würzburg,  dabei  gewesen  und  eine  führende  Stellung  eingenom- 
men habe.  »Als  der  Ohrenbacher  Haufe,«  so  erzählt  Zimmermann, 
»nach  dem  Schupf  er  Grunde  zog,  fanden  sie  unterwegs  einen 
tüchtigen  Anführer.  Sie  kamen  nicht  weit  von  der  starken  Burg 
Giebelstadt  vorüber,  die  dem  edlen  Gesclilecht  der  Geyer  von 
Geyersberg  gehörte.  Einer  dieses  Geschlechtes  legte,  wie  einst 
Graf  Rudolf  von  Werdenberg  unter  den  Appenzellem,  den  Ritter- 
mantel ab  und  trat  zu  den  Bauern,  freiwiUig,  als  ihr  Bruder.  Es 
war  Florian  Geyer,  der  schönste  Held  des  ganzen  Kampfes.  <C 

Die  Ohrenbacher  gehörten  zu  den  Bauern  in  der  Landwehr 
der  Stadt  Rothenburg,  die  in  Franken  zuerst  die  Fahne  des  Auf- 
ruhrs erhoben.  Sie  trennten  sich,  wie  Zimmermann  und  mit 
ihm  alle  anderen  annehmen,  im  Taubergrunde  von  den  anderen  Ge- 


Florian  Geyer.  163 

meinden  und  zogen  ins  Jagsttal  zum  Kloster  Schönthal  hinüber, 
wo  damals  Georg  Metzler  die  Bauern  vom  Odenwald  und  Neckar- 
tal zu  sammeln  begann.  Mit  diesen  wären  sie  nach  Öhringen  ge- 
kommen. Während  von  dort  aber  einige  Fähnlein  an  die  Tauber 
zurückgingen,  soll  Florian  Geyer  mit  einer  Kemtruppe,  der 
»schwarzen  Schar«,  bei  Metzler  geblieben  sein.  »Es  waren,«  sagt 
Zimmermann,  »meist  Bauern  der  Rothenburger  Landwehr,  ein- 
gelernte Kriegsmänner,  die  schon  mehr  dabei  gewesen  waren, 
wo  es  galt,  Mauern  zu  stürmen  und  zu  brechen.«  Gleich  die  Er- 
oberung von  Weinsberg  ist  ihr  Werk:  während  die  anderen  die 
Stadt  umzingeln  und  berennen,  ziehen  sie  im  Grünen  vor  das 
Schloß  und  haben  es  bald  erstürmt  und  erstiegen.  Nach  der  ent- 
setzlichen Exekution  jedoch,  welche  Jäcklein  Rohrbach  und  seine 
Mordgesellen  über  die  gefangenen  Edelleute,  Graf  Ludwig  von 
Helfenstein  und  die  Seinen,  verhängen,  trennen  sich  die  Tapferen 
von  dem  mordgierigen  Haufen.  Zimmermann  ist  im  Zweifel, 
ob  Florian  dabei  von  der  Mißbilhgung  der  Blutrache  Jäckleins  als 
einer  unpolitischen  Maßregel  oder  noch  mehr  durch  den  Wider- 
spruch gegen  die  Wahl  des  Ritters  Götz  von  Berlichingen  zum 
Obersten  geleitet  worden  sei.  Jedenfalls  bezeichnet  er  es  als  die 
schlimmste  Frucht,  die  aus  der  Blutsaat  Jäckleins  aufging:  der 
helle  Haufen  habe  mit  ihm  die  mihtärische  Intelligenz,  den  tüch- 
tigsten, treusten  und  redhchsten  Führer  und  mit  seiner  Schar 
ihren  kriegerischen  Kern  eingebüßt.  Dennoch  bheben  die  Schwar- 
zen, wenn  wir  ihm  folgen,  zunächst  noch  in  der  Nähe:  sie  eroberten, 
den  Weinsbergern  voranziehend,  Neckarsulm,  mit  dessen  Ge- 
schütz der  feste  Scheuerberg  und  Schloß  Horneck  bei  Gundels- 
heim  gebrochen  wurden;  und  durch  den  Odenwald  hindurch- 
gehend, nahm  Florian  Geyer  die  neun  Städte  des  Mainzer  Ober- 
stiftes ein  und  heß  sie  dem  fränkischen  Heere  huldigen;  bei  Bi- 
schofsheim an  der  Tauber  zog  er  zum  Stift  hinaus  und  vereinigte 
sich  wieder  mit  seinen  Franken. 

Auch  vor  Würzburg  haben  nach  Zimmermann  und  der  all- 
gemeinen Meinung  die  Schwarzen  das  Beste  getan:  bei  dem  Sturm 
auf  den  Frauenberg  sind  sie  allen  voran  und  erleiden  die  stärksten 
Verluste.     Leider   sei   Ritter   Florian   damals   nicht   zugegen   ge- 


164  Kleine  historische  Schriftert. 

wesen.  Er  verhandelte  damals  neben  anderen  Gesandten  des  Heeres 
in  Rothenburg  über  den  Anschluß  dieser  Stadt  an  die  Empörung. 
Und  so  war  er  auch  in  den  Stunden  der  Entscheidung,  als  bei 
Königshofen  bereits  die  blutigen  Würfel  gefallen  waren,  wieder 
in  dieser  Stadt.  Zimmermann  begründet  diese  Entfernung  von 
dem  Schauplatz  des  Krieges  mit  der  Eifersucht  der  bäuerischen 
Befehlsleute  gegen  die  sittliche  und  intellektuelle  Überlegenheit 
des  Edelmannes:  »Dieser  edle  Geist,  durch  Tugend  und  Wort 
und  militärische  Kenntnis  überlegen,  hatte  bei  dem  Bauernrat 
zu  Würzburg  geniert,  und  sie  hatten  ihn  ausgeschickt  auf  diplo- 
matische Reisen  und  ihm  das  Schwert  aus  der  Hand  gewunden.« 
Ein  Motiv,  das  Hauptmann  aufgegriffen  und  das  ihm  vielleicht 
zu  der  Figur  des  dicken  Bauemobersten  Georg  Kohl  den  Anstoß 
gegeben  hat.  Die  Botschaft  von  dem  Anmarsch  des  Bundes- 
heeres unter  Georg  Truchseß  riß,  so  erzählt  Zimmermann, 
Ritter  Florian  wieder  aufs  Pferd,  er  ritt  die  ganze  Nacht  hindurch 
und  war  vor  Tagesanbruch  des  4.  Juni  im  Lager  zu  Heidingsfeld. 
Hauptmann  hat  das  Heldenhafte  in  Geyer  geschickt  gesteigert, 
indem  er  dem  Ritt  die  Nachricht  von  der  Niederlage  des  Weins- 
berger  Haufens  bei  Königshofen  vorangehen  läßt.  Zimmermann 
hält  sich  hier  an  die  Quelle,  wenn  er  sagt,  daß  das  Heer  aus  dem 
Lager  aufgebrochen  sei,  ohne  von  dem  Untergange  ihrer  Brüder 
etwas  zu  wissen;  sorglos  seien  sie  in  den  sonnigen  Pfingstmorgen 
hineinmarschiert.  Mit  allem  Glänze  seiner  Farben  umgibt  er  aber 
seinen  Helden  in  dem  letzten  Kampf.  Geyer  ordnet  die  Wagen- 
burg, als  die  feindlichen  Reiter  heransprengen.  Er  führt  die 
Schwarzen  aus  dem  Getümmel  der  Flucht  und  dem  Gemetzel 
in  die  Burgruine  von  Ingolstadt  und  schlägt  von  hier  aus  mit 
seiner  Handvoll  Tapferer  Sturm  auf  Sturm  der  Ritter  und  Knechte 
ab.  Als  die  Feinde  endlich  über  Graben  und  Mauer  hineinbrechen, 
entkommt  er  dennoch  im  Dunkel  der  Nacht.  Nicht  um  zu  fliehen! 
Von  neuem  setzt  er  sich  in  einem  nahen  Gehölz  fest,  an  200  der 
tapfersten  und  stärksten  Männer  um  ihn,  und  schlägt  sich  schließ- 
lich, fast  allein  gelassen,  noch  einmal  durch,  bis  ihn  endhch  bei 
dem  Versuch,  im  Rücken  der  Fürsten  im  Württembergischen  die 
Versprengten  zu  sammeln  und  den  Brand  neu  anzufachen,  das 


Florian  Geyer.  155 

Verhängnis  ereilt.  Sein  eigener  Schwager,  ein  Gnimbach,  überfällt 
ihn;  er  sinkt  fechtend  und  alle  die  Seinen  mit  ihm  im  hoffnungs- 
losen Kampfe.  »Nicht  Geiz  nach  Ehre,  Einfluß  oder  Beute  war's,« 
so  schließt  Zimmermann  seine  pomphafte  Charakteristik,  »was 
ihn  handeln  ließ,  auch  der  Feinde  keiner  hat  dieses  ihm  nach- 
geredet ;  und  ruhmlos  fiel  er  und  schlief  lange  fast  vergessen.  Einst 
wird  auch  seine  Zeit  und  sein  Lohn  mit  ihr  kommen,  wenn  auf 
der  ganzen  befreiten  deutschen  Erde  der  Vater  den  Söhnen  und 
Enkeln  erzählen  wird  von  denen,  die  mit  ihrem  Blute  den  Baum 
gepflanzt  haben,  in  dessen  Schatten  der  Landmann  und  der  Bür- 
ger ein  schöneres,  ein  würdigeres  Dasein  genießen;  dann  wird 
man  auch  reden  und  sagen  von  Florian  Gej^er,  dem  Hauptmann 
der  schwarzen  Schar.« 

Indem  ich  nun  diesem  poetischen  Gemälde  die  nüchterne 
Wirklichkeit  entgegensetze,  bedaure  ich  dabei  zunächst  nur  ge- 
druckte Quellen  benutzen  zu  können.  Ohne  Frage  werden  die 
Archive,  zumal  die  der  kleineren  Städte  und  Herren  in  Ober- 
deutschland, noch  manche  Nachricht  über  den  Ritter  und  seine 
bäuerischen  Brüder  liefern.  Immerhin  sind  wir,  wenigstens  über 
die  Ereignisse  zu  Würzburg  und  Rothenburg,  durch  die,  wenn 
nicht  unparteiischen,  so  doch  gut  orientierten  und  von  zahlreichen 
Urkunden  kontrollierten  Chronisten  Lorenz  Fries  von  Würz- 
burg und  Thomas  Zweifel,  den  Rothenburger  Stadtschreiber, 
hinreichend  gut  unterrichtet,  um  die  Gestalt  des  ritterlichen 
Bauemfreundes  und  seine  Stellung  in  ihrem  Lager  einigermaßen 
zu  bezeichnen;  freihch,  um  es  gleich  zu  sagen,  mit  dem  Ergebnis, 
daß  von  dem  Bilde,  wie  es  die  Poeten  und  die  Historiker  bisher 
entworfen  haben,  das  wenigste  übrigbleiben  wird. 

Zunächst  muß  die  schwarze  Schar  als  eine  besondere  Garde 
Florian  Geyers  aus  der  Überlieferung  gestrichen  werden.  Bei 
Fries  und  Zweifel  kommen  die  »schwarzen  Bauern«  überhaupt 
nicht  vor,  weder  im  Text  noch  in  den  Urkunden,  geschweige  denn, 
daß  ein  eigenes  Korps  so  genannt  wäre.  Dort  werden  die  frän- 
kischen Bauern  geradeso  wie  die  vom  Neckartal  und  Odenwald 
als  der  helle,  der  gemeine  helle,  der  helle  Hechte,  der  helle 
christliche  Haufen    und  ähnlich    bezeichnet.     Hell  ist  zunächst 


[QQ  Kleine  historische  Schriften. 

in  der  Bedeutung  von  ganz  (heil)  zu  nehmen.  So  hießen  daher 
alle  größeren  Ansammlungen  im  Revolutionsgebiet  südlich  vom 
Main,  der  Haufen  von  Ellwangen-Dinkelsbühl,  der  um  Gailsdorf, 
der  im  Bruhrain,  auch  die  im  speierischen  Bistum  und  andere. 
So  schreiben  z.  B.  die  fränkischen  Bauern  noch  Ende  April  selbst 
von  sich:  »Wir,  die  hauptleut,  veldweibel,  venderich  und  ganz 
versamblung  des  hellen,  hechten  Haufen,  so  in  Rotenburgischer 
landwer  ausgezogen,  bekennen  offenthch  etc.« 

Im  Mai  pflegten  die  Franken  sich  jedoch  offiziell  nach  ihrer 
Landschaft  zu  bezeichnen,  deren  Vertretung  sie  beanspruchten.  So 
ist  z.B.  ein  Brief  vom  ii.  dieses  Monats  unterzeichnet:  »Haupt- 
leut und  rethe  der  versamleten  baurschaft  im  Land  zu  Francken, 
itzo  zu  Haidingsfeld.«  Und  damals,  als  beide  Haufen  vor  Würz- 
burg lagerten,  ward  der  Odenwälder  als  der  helle  oder  helle  hechte 
unterschieden.  »Auch,  lieben  herren  und  brudere,«  schreiben  die 
Franken  einer  Nachbargemeinde  am  i6.  Mai,  »geben  wir  euch 
zu  verstehen,  das  unser  und  der  ander  häuf,  den  man  den  hellen 
häufen  nennet,  einmutig  und  eines  sinnes  sein.«  In  dieser  Zeit 
mag  auch  der  Name  des  »schwarzen  Haufens«  aufgekommen  sein, 
doch  wohl,  um  ihn  dem  hellen  gegenüberzustellen.  Und  nun 
wird  man  vielleicht  mit  diesem,  zumal  durch  den  Zusatz  des 
hechten,  auch  den  Nebenbegriff  des  Glänzenden  verknüpft  haben. 
Schwarz  aber  hat  in  dieser  Zeit  auch  die  Bedeutung  des  Grau- 
samen. Man  nannte  daher  so  die  fränkischen  Bauern,  die  sich  im 
Gegensatz  zu  dem  gemäßigteren  Vorgehen  der  Odenwälder  durch 
ihr  schonungslos  verheerendes  Auftreten  hervortaten ;  sie  brannten 
alle  Klöster  und  Schlösser  auf  ihrem  Wege  nieder. 

So  gang  und  gäbe  heute  nun  auch  diese  malerische  Bezeich- 
nung sein  mag,  ebenso  selten  findet  man  sie  in  den  Quellen.  Ich 
wenigstens  vermag  kaum  ein  halbes  Dutzend  Stellen  namhaft 
zu  machen.  Zwei  davon  finden  sich  in  den  Annalen  des  Rothen- 
burger Barfüßermönches  Michael  Eisenhart,  der  unter  dürf- 
tigen und  zum  Teil  recht  falschen,  erst  nach  Jahren  verfaßten 
Aufzeichnungen  hier  und  da  wertvollere  Notizen  bringt.  »Item,« 
schreibt  er  das  einemal,  »die  paum  vor  Würzburg  haben  gehapt 
zwen  häufen,  der  ain  genant  der  hell  häuf,  der  ander  genant  der 


Florian  Geyer.  167 

schwarz  häuf. «  Ebenso  werden  die  beiden  Haufen  unterschieden  von 
Lutz,  dem  Herold  des  Truchsessen,  den  Holz  wart  in  seiner 
lateinischen  Chronik  nur  ausschreibt,  und  von  Ambrosius  Geyer 
in  ihren  kunstlosen  Aufzeichnungen,  die  sie  über  den  Zug  des 
bündischen  Heeres  und  die  letzten  Kämpfe  gemacht  haben.  Die 
andere  Notiz  bei  Eisenhart  lautet:  »Donerstag  nach  Crucis 
(4.  Mai)  sein  die  bäum,  der  schwarz  häuf  genant,  vonHaylprun  gen 
Bischofsheim  kommen,  haben  begert  das  gschoß,  das  zu  Boxberg 
ist  gewesen.  Die  Nacht  davor  sein  sy  gelegen  zu  Buchaim  (Buchen).« 
Hier  liegt  offenkundig  eine  Verwechselung  vor  mit  den  Odenwäl- 
dem,  die  um  jene  Zeit,  noch  ein  paar  Tage  früher,  über  Buchen 
durch  den  Odenwald  gezogen  waren;  möghch,  daß  eine  Streif- 
schar von  ihnen  Bischofsheim  einen  Besuch  gemacht  hat,  mit 
dem  sie  sich  damals  verbrüderten.  Die  Tauberbauern  aber,  an  die 
Eisenhart,  der  eben  nur  diese  als  die  schwarzen  kennt,  allein 
denken  kann,  lagerten  in  diesen  Tagen  weit  hinter  Würzburg, 
bei  Ochsenfurt  am  Main.  Eine  Verwechselung  mit  den  Odenwäl- 
dern  hegt  auch  zweifellos  vor  an  einer  Stelle  in  dem  Tagebuch 
des  Wolfgang  Königstein  in  Frankfurt,  mag  sie  nun  von  ihm 
erst  hineingebracht  sein  oder  dem  Moment  des  Ereignisses  selbst 
entstammen:  am  5.  Mai,  erzählt  er,  habe  sich  das  Gerücht  in  der 
Stadt  verbreitet,  die  schwarzen  Bauern  kämen;  sie  lägen  schon 
bei  Miltenberg.  Es  waren  in  Wirklichkeit  die  Odenwälder,  welche 
an  jenem  Tage  da  umher  lagerten  und  in  der  Tat  den  Marsch 
gegen  Mainz  in  Erwägung  gezogen  haben. 

Dennoch  hat  es,  wenigstens  in  den  Kämpfen  um  Würzburg, 
ein  besonderes  Korps  taktisch  geschulter  Kriegsmänner  gegeben, 
und  sind  es  gerade  diese  gewesen,  welche  in  der  Burgruine  von 
Ingolstadt  so  heldenmütig  fochten  und  dort  bis  auf  den  letzten 
Mann  niedergemacht  wurden;  und  \^dr  sind  über  diese  sogar  recht 
gut,  von  zwei  Seiten  her  unterrichtet,  von  Magister  Lorenz  Fries 
und  einem  andern  Würzburger  Chronisten,  der  den  städtischen 
Kreisen  angehörte  und  von  seinem  Herausgeber  für  den  in  den 
Aufstand  verwickelten  Stadtschreiber  Martin  Cronthal  gehalten 
wird.  Es  waren  zwei  Fähnlein  sog.  freier  Knechte,  »Fußbuben«, 
wie  Fries  verächthch  schreibt,  »die  vor  krieg  gebraucht  haben 


168  Kleine  historische  Schriften. 

mogten  und  itzund  den  burgern  wider  ir  aigen  herren  umb  sold 
dieneten«.  Zu  Florian  Geyer  standen  sie  in  keinerlei  Beziehung 
und  sind  offenbar  von  Würzburg,  außer  auf  ihrem  Todesgang, 
niemals  weg  gewesen.  Sie  lagen  in  der  Stadt  und  traten  zu  den 
Bauern  über,  mit  denen  sie  sich  nun  gegen  ihren  alten  Kriegs- 
herrn auf  Leben  und  Tod  verbrüdern  mußten. 

Davon  aber  kann  gar  keine  Rede  sein,  daß  von  dem  Tauber- 
haufen jemals  ein  besonderes  Korps,  möge  es  geheißen  haben, 
wie  es  wolle,  sich  abgezweigt,  mit  den  Odenwäldern  Weinsberg 
erstürmt  und  danach  vor  ihnen  her  das  Mainzer  Oberstift  durch- 
zogen habe.  Wir  dürfen  dies  schon  jetzt  mit  aller  Bestimmtheit 
behaupten,  da  wir  die  Bildung  und  Marschrichtung  der  beiden 
großen  Heerhaufen  bis  zu  ihrer  Vereinigung  \or  \\'ürzburg  am 
8.  Mai  Tag  für  Tag  verfolgen  können  und  nirgends  einem  deta- 
chierten und  hin  und  her  ziehenden  Korps  begegnen. 

Gerade  über  die  Ohrenbacher  Bauern  sind  wir  durch  den 
ungemein  ausführlichen  Bericht  Zweifels  und  seine  Urkunden 
vorzüghch  unterrichtet ;  Tag  für  Tag  können  wir  sie  verfolgen,  seit 
dem  sie  am  21.  März  ihre  beiden  Dorf  meist  er  in  das  nahe  Rothen- 
burg schickten  und  das  Stadtvolk  aufwiegeln  ließen,  wie  sie  von 
Dorf  zu  Dorf  in  der  Landwehr  umherziehen  und  die  Nachbarn 
von  allen  Feldern  ihnen  zulaufen;  wir  kennen  ihre  Hauptleute 
und  Räte,  ihre  Waibel  und  Profosse  und  bis  ins  kleinste  die 
Forderungen,  mit  denen  sie  den  Rat  in  Rothenburg  ängstigten, 
und  die  Verhandlungen,  die  sie  mit  Stadt  und  Landschaft  führten. 
Anfangs,  bis  Ende  März,  hatten  sie  ihr  Absehen  nur  auf  das 
Rothenburger  Gebiet  und  die  Befriedigung  ihrer  eigenen  Be- 
schwerden gerichtet.  In  den  ersten  Tagen  des  April  aber  rückten 
sie  über  die  Landwehr  hinaus,  um  die  Untertanen  Zeisolfs  von 
Rosenberg,  die  ihnen  selbst  vorher  Hilfe  gebracht  hatten,  gegen 
ihren  Herrn  zu  unterstützen;  auch  hohenlohesche  Bauern,  nicht 
die  von  Öhringen,  sondern  die  im  Taubergrund,  wohin  sich  hier 
die  Grafschaft  ausdehnte,  hatten  sich  zu  ihnen  geschlagen.  Ritter 
Zeisolf  saß  mit  mehreren  seiner  Freunde  und  Vettern  auf  Schloß 
Haldenbergstätten,  als  die  Bauern  sich  auf  der  Wiese  am  Burg- 
berg lagerten;  er  ward  alsbald  zum  Vertrage  genötigt.    Von  da 


Florian  Geyer.  169 

zog  der  Haufe  weiter  zu  den  Bauern  des  von  Finsterlohr  und 
Ritters  Hans  von  Rosenberg,  da  auch  diese  den  Rothenburgern 
geholfen  hatten,  ihren  Rat  zu  überziehen;  es  geschah  aber  bereits 
gegen  den  Willen  des  Hauptmanns  Peter  Kerner  und  einer  Min- 
derheit, die  von  den  anderen  Hauptleuten  und  Bauern  überstimmt 
wurden.  Sie  fielen  in  das  Kloster  Scheftersheim  ein,  wo  sie  die 
Keller  leerten  und  übel  hausten.  Hier  strömten  auch  die  Bauern 
aus  den  würzburgischen  Ämtern,  von  Grünsfeld,  Lauda,  Mergent- 
heim, Bütthart  und  anderen  Flecken  und  Dörfern  ringsumher 
zusammen,  die  alle  umgefallen  waren,  der  Tauberhaufe,  wie  ihn 
Zweifel  kurzweg  nennt.  Beide  schwuren  einander  Treue  zu;  aber 
die  Tauberbauern,  als  die  weitaus  stärkeren,  nahmen  gleich  das 
Regiment  in  die  Hand,  setzten  die  Hauptleute  und  Räte  der 
Rothenburger  ab  und  wählten  einen  neuen  Kriegsrat,  in  den  auch 
von  diesen  einige,  z.  B.  der  große  Lienhart,  der  Pfaffe  von  Schwar- 
zenbronn,  und  Lienhart  Denner,  der  Pfarrverweser  von  Leuzen- 
bronn,  eintraten.  Von  Florian  Geyer  aber  und  seinen  Schwarzen 
ist  in  alledem  nicht  ein  Wort  zu  lesen.  Allerdings  trennten  sich 
jetzt  die  Ohrenbacher  und  ihre  Nachbarn  aus  der  Rothenburger 
Landwehr  von  dem  Tauberhaufen  —  aber  nicht,  um  Georg  Metzler 
und  den  Seinen  zuzuziehen,  sondern  um  in  die  Heimat  zurück- 
zugehen! Es  geschah  auf  Geheiß  der  Tauberbauern,  die  ihnen 
nur  die  Verpflichtung  abnahmen,  sich  auf  neue  Aufmahnung 
wieder  bei  ihnen  einzufinden.  »Blieben  auch  still  sitzen,«  erzählt 
Zweifel,  »ungefährlich  bei  acht  tagen.«  Um  die  Mitte  des  Monats 
wurden  sie  wieder  aufgefordert,  »doch  nur  viertelsweise«,  wie 
unser  Chronist  sagt,  also  nicht  mit  der  ganzen  Macht;  sie  schick- 
ten damals  trotz  der  Abmahnungen  seitens  ihrer  Stadt  ein  Fähn- 
lein hinaus,  das  dann  wohl  im  Lager  blieb.  Als  endlich  das  Ge- 
schrei von  dem  Anzüge  der  Bündischen  erscholl  und  die  Lärm- 
glocken ringsum  die  Bauernschaft  nach  Königshofen  zur  Hilfe 
der  bedrängten  Brüder  zusammenriefen,  erhoben  sich  auch  die 
Rothenburger  von  neuem  und  kamen  herbei.  Unterwegs  jedoch, 
erzählt  Zweifel,  »vernahmen  sie  den  Wind  von  den  Fliehenden 
und  andern,  wie  die  Paurn  zu  Königshofen  geschlagen  und  die 
christlichen  Brüder  jämmerlich  niedergelegen  wären,   zugen  dem- 


170  Kleine  historische  Schriften. 

nach  wieder  zunick,  und  ein  jeder  wieder  anhciims,  alda  sie  auch 
furter  blieben,  und  kamen  also  derselben  Schelmen  keiner  mehr 
hinaus  noch  sunst  in  einige  Schlacht,  das  nit  allein  bei  Fürsten, 
Herren  und  gemeinem  Adel,  sonder  auch  bei  ihren  selbs  Herr- 
schaften nit  kleinen  Mißfall,  Verdrieß  und  Neid  pracht,  daß  sie 
als  die  Anfänger  der  Aufrur  in  dieser  Art  (Gegend)  also  ungeschlagen 
und  ungestraft  darvon  komen  sollten«. 

Wir  müssen  es  uns  überhaupt  nicht  so  vorstellen,  als  ob  die 
Bauern,  indem  sie  einem  der  Haufen  zuliefen,  sich  von  ihrer 
Scholle  ganz  losgerissen  hätten;  von  der  ]\Iasse  wenigstens  wird 
man  dies  nicht  sagen  dürfen.  Sie  suchten  den  Zusammenhang  mit 
ihren  Dörfern  und  Flecken  möglichst  lange  zu  erhalten;  schon  um 
Weib  und  Kind,  die  daheim  blieben,  nicht  ganz  verlassen  zu  müs- 
sen, auch  um  Proviant  vom  eigenen  Hofe  bekommen  und  einmal 
selbst  nach  Acker  und  Vieh  sehen  zu  können.  Vielfach  ist  in  den 
Quellen  von  dem  »Abwechsel«  und  dem  »Ausschuß«  die  Rede. 
Man  ahmte  damit  das  Landesaufgebot  nach,  bei  dem  auch  nur 
ein  »Ausschuß«  aus  der  wehrhaften  Mannschaft  gemacht  \\'urde. 
Damit  ward  alle  14  Tage  oder  in  längeren  Fristen  abgewechselt. 
Auch  die  Abgeordneten  im  Rat  wurden  meist  von  Zeit  zu  Zeit 
neu  bestimmt.  Die  Nachbardörfer  sammelten  sich  unter  einer 
Fahne,  oder  größere  Flecken  warfen  wohl  ein  eigenes  Fähnlein 
auf;  ein  Schultheiß  oder  ein  Dorfwirt  wurden  zu  Befehlsleuten 
erwählt  und  saßen  mit  den  Ortspfarrern  im  Kriegsrat.  Von  fester 
Ordnung  kann  natürlich  nicht  die  Rede  sein;  auch  blieben  gewiß 
zuweilen  (wie  zumal  im  Odenwälder  Haufen,  der  so  weit  herum- 
ziehen mußte)  ganze  Einwohnerschaften  im  Lager,  aber  im  allge- 
meinen werden  dies  die  charakteristischen  Züge  sein:  die  Dorf- 
schaften beieinander,  und  zwischen  den  Haufen  und  ihren  Heimats- 
orten eine  rege  Verbindung,  ein  immerwährendes  Ab-  und  Zu- 
laufen. Undenkbar  aber  und  unmöghch  wäre  es  gewesen,  daß 
bei  so  lockerer  Verbindung  sich  in  wenigen  Wochen  ein  taktisch 
geschultes,  kriegsmännisch  geordnetes  und  gerüstetes  Korps,  wie 
die  sogenannte  schwarze   Schar,  hätte  bilden  können. 

Weniger  gut  als  über  die  Tauberbauern  sind  wir  über  die 
vom  Odenwald  und  Neckar  imterrichtet,   die  nach  der  Weins- 


Florian  Geyer.  171 

berger  Greueltat  auch  als  die  Weinsberger  bezeichnet  werden. 
Aber  ihre  Zusammensetzung  läßt  sich  doch  auch  gut  genug  er- 
kennen, um  einen  größeren  Zuzug  von  dem  Tauberhaufen  her 
für  ausgeschlossen  zu  erklären;  und  schlechterdings  keinen  Platz 
lassen  auch  die  Quellen  von  dieser  Seite  für  ein  besonderes  Korps, 
das  neben  und  vor  dem  Hauptheere  weg  am  Neckar  und  im  Oden- 
walde  marschiert  und  gestürmt  hätte. 

Die  Aufständischen  sammelten  sich  hier  an  zwei  Punkten. 
Bei  Kloster  Schöntal  an  der  Jagst  Hefen  die  Bauern  aus  der  Zehnt 
von  Krautheim  und  Ballenberg  zusammen.  Dies  waren  die  Oden- 
wälder;  ihr  Rädelsführer  Georg  Metzler,  der  Wirt  von  Ballen- 
berg. Ihre  Absicht  war  von  Anfang  an  auf  das  Mainzer  Stift, 
dem  sie  Untertan  waren,  gerichtet.  Schon  am  6.  April  schrieben 
sie  an  Bischofsheim  und  andere  odenwäldische  Städte  und  for- 
derten sie  zum  Beitritt  auf.  Sie  vereinigten  sich  hier  mit  den 
Untertanen  der  Grafen  Albrecht  und  Georg  von  Hohenlohe,  die 
in  denselben  Tagen  um  Öhringen  gegen  ihre  Erbherren  aufge- 
standen waren,  und  zwangen  die  Grafen  zur  Bewilligung  ihrer 
Forderungen  und  zum  Eintritt  in  ihren  Bund.  Am  lo.  April 
waren  sie  von  Schönthal,  an  8000  Mann  stark,  nach  Neuenstein, 
dem  Sitz  der  Grafen,  gekommen,  am  11.  mrd  schon  Georg  Metz- 
ler als  der  Oberste  bezeichnet,  der  Haufe  aber  als  »der  helle  Hechte, 
so  aus  Oringau  gezogen«.  Erst  später,  nachdem  sie  aus  aUen 
Tälern  Zulauf  erhalten,  traten  sie  als  die  Bauern  vom  Odenwald 
und  Neckartal  auf.  So  brachen  sie,  nachdem  sie  Weinsberg  und 
Heilbronn,  auch  Neckarsulm  sowie  die  Schlösser  der  Deutsch- 
herren bezwungen  hatten,  gegen  das  Mainzer  Oberstift  auf,  dessen 
südHchsten  Ort,  Neidenau  an  der  Jagst,  sie  schon  am  20.  April 
in  ihre  Einung  aufnahmen.  Der  Statthalter  des  Erzstiftes,  Bischof 
Wilhelm  von  Straßburg,  ein  Graf  von  Hohenstein  und  Verwandter 
Bertholds  von  Henneberg  ruhmreichen  Angedenkens,  hatte  ge- 
hofft, von  Miltenberg  aus  die  Odenwälder  in  Ruhe  erhalten  zu 
können.  Aber  vergebens  bemühte  er  sich  um  Reisige;  nicht  mehr 
als  120  Pferde  brachte  er  zusammen.  Auch  Richard  von  Greifen- 
klau, der  Erzbischof  von  Trier,  an  den  er  sich  um  Hilfe  wandte, 
konnte  zunächst  nicht  aufkommen,  während  der  Rheingau  abge- 


\  72  Kleine  historische  Schriften. 

fallen  war  und  das  Oberstiit  bereits  durch  Sendboten  der  Bauern 
unterwülilt  wurde.  So  sah  sich  Wilhelm  gezwungen,  nach  Aschaf- 
fenburg, der  bischöflichen  Residenz,  zurückzuweichen,  während 
die  Weinsberger  von  Gundelsheim  und  Neidenau  her  einbrachen 
und  mit  leichter  Älühe  die  neun  Städte  zu  sich  brachten.  Auch 
in  Aschaffenburg  ward  dem  Bischof  bald  der  Boden  zu  heiß.  Als 
er  aber  am  Freitag  nach  Misericordiä  (5.  Mai)  aufbrechen  wollte, 
ließen  ihn  die  eigenen  Bürger  nicht  fort ;  sie  versperrten  die  Straßen 
mit  Fässern  und  Karren  und  hielten  ihren  Herrn,  von  den  Spessart- 
bauern  unterstützt,  drei  Tage  im  Schloß  gefangen,  bis  die  Weins- 
berger herankamen  und  auch  ihn  zum  Vertrage  zwangen.  Er 
mußte  versprechen,  bis  zum  21.  Mai  15  000  Gulden  zu  zahlen; 
acht  Abgesandte  gingen  \'on  dem  Bauernheer  am  Main  abwärts, 
um  die  Mainzer  und  Rheingauer  zum  Beitritt  aufzufordern  und 
die  ZaUung  des  Geldes  zu  betreiben.  Der  Vertrag  von  Aschaffen- 
burg ist  als  eine  der  wichtigsten  Wendungen  in  der  bäuerischen 
Revolution  zu  bezeichnen;  denn  nur  so  kaufte  sich  der  Bischof 
von  dem  Zuge  der  Bauern  an  den  Rhein  los,  wo  auf  dem  Lande 
und  in  den  Städten,  Frankfurt  und  Mainz  voran,  der  gemeine 
Mann  es  mit  den  Rebellen  hielt  und  die  Fürsten  zurzeit  noch 
fast  ungerüstet  waren;  indem  sich  die  Odenwälder  aber  gegen 
Würzburg  wandten,  kam  das  Feuer  der  Empörung  in  diesen  Land- 
schaften nicht  auf  oder  blieb  isoliert  und  ließ  sich  leicht  ersticken. 
Wir  sind  über  diese  Ereignisse  durch  die  Korrespondenz  der 
genannten  Fürsten,  wozu  noch  die  Apologien  Götzens  von  Ber- 
lichingen  und  andere  Urkunden  kommen,  recht  gut  unterrichtet 
und  müßten  also,  wenn  wirküch  Geyer  mit  einer  Abteilung  der 
Frankenbauern  vor  dem  Hauptheere  sengend  und  brennend,  wie 
seine  Gesellen  pflegten,  durch  den  Odenwald  hin  gefegt  wäre 
und  die  neun  Städte  dem  fränkischen  Haufen  verpflichtet  hätte, 
zweifellos  etwas  davon  hören;  aber  mit  keiner  Silbe  wird  von 
anderm  als  dem  Zuge  des  Odenwald-Neckartaler  Heeres  ge- 
sprochen. Schon  darum  könnten  wir  getrost  die  Geschichte  von 
der  schwarzen  Garde  ins  Reich  der  Fabeln  verweisen.  Zimmer- 
mann hat  seinen  buntschillernden  Bericht  hierüber  ledigHch  aus 
zwei   Stellen   zusammengewebt,   aus   der  Notiz   Eisenharts   über 


Florian  Geyer.  173 

den  Zug  des  schwarzen  Haufens  nach  Bischofsheim,  die  wir  be- 
sprachen, und  aus  einer  urkundlich  gesicherten  Behauptung  Geyers 
oder  eines  Mitgesandten,  die  am  14.  Mai  in  Rothenburg  fiel:  jener 
habe  die  neun  Städte  auf  dem  Odenwald  vor  den  Weinsbergern 
persönlich  zur  Huldigung  an  das  fränkische  Heer  gebracht.  Wann 
und  wie  das  geschehen  ist,  ob  auf  einer  Gesandtschaft  Florians 
dorthin,  oder  ob  die  Städte  ihrerseits  die  Huldigung  im  Lager 
haben  aussprechen  lassen,  wissen  wir  nicht,  es  läßt  sich  schlecht- 
hin nichts  darüber  behaupten;  möghch  aber,  daß  es  in  der  Zeit, 
als  der  fränkische  Haufe  um  Mergentheim  und  Lauda,  an  der 
Grenze  des  Mainzer  Stiftes  lag,  in  der  zweiten  Aprilwoche  ge- 
schehen ist. 

Muß  nun  aber  nicht,  wenn  der  Mantel  fällt,  auch  der  Herzog 
mit?  Bleibt  für  Florian  Geyer  selbst  bei  Weinsberg,  Heilbronn 
und  Neckarsulm  überhaupt  noch  Platz,  wenn  seine  schwarze 
Garde  nie  existiert  hat  ?  Soviel  ich  sehe,  nennt  ihn  nur  eine  Quelle 
bei  den  Ereignissen  im  Neckartal  gegenwärtig,  eine  anonyme 
badische  Chronik,  dieMone  in  der  Quellensammlung  zur  Badischen 
Landesgeschichte  herausgegeben  hat;  doch  berichtet  diese  nur 
nach  Hörensagen,  und  die  Notiz  steht  mitten  unter  ganz  irrigen 
Angaben  und  führt  sich  selbst  unter  einem  »wie  man  sagt«  ein; 
wir  werden  sie  kaum  zu  berücksichtigen  haben.  Zimmermann 
gibt  nirgends  eine  Quelle  an.  Was  er  von  der  Ersteigung  des 
Schlosses  schreibt,  hat  er  aus  Zweifel,  der  aber  von  Florian  Geyer 
keine  Silbe  sagt.  Auch  hat  jener  seine  Quelle  falsch  gelesen; 
denn  statt  »im  Grünen«,  wie  er  poetisch  schreibt,  heißt  es  dort: 
»im  Grimmen  erstiegen,  erstürmten  und  eroberten  die  Bauern 
das  Schloß  und  nahmen  danach  die  Stadt  Weinsberg  ein«;  wir 
können  getrost  annehmen,  daß  der  Historiker  des  Bauernkrieges 
hier  wie  anderwärts  lediglich  seiner  blühenden  Phantasie  gefolgt 
ist.  Heyd  in  seiner  Biographie  Ulrichs  von  Württemberg  zitiert, 
indem  er  dieselbe  Tatsache  meldet,  Bensen  und  Oechsle,  von 
deren  Hand  wir  zwei  größere,  oft  ausgeschriebene  Darstellungen 
des  Aufruhrs  in  den  schwäbisch-fränkischen  Gebieten  besitzen. 
Von  diesen  beruft  sich  Bensen  nur  wieder  auf  die  Stelle  bei 
Zweifel,   die  er  mit  demselben  Lesefehler  anführt;   Oechsle,  der 


174  Kleine  historische  Schriften. 

älteste  von  diesen  Historikern  (1830),  weiß  zwar  von  allen  Taten, 
die  Zimmermann  seinem  Helden  zuschreibt,  nichts,  nennt  ihn 
aber  doch  im  Bauernrat  nach  der  Eroberung  Weinsbergs  anwesend 
und  legt  ihm  dabei  ein  ihm  oft  nachgeschriebenes  Wort  in  den 
Mund,  das  sich  in  der  Tat,  wie  wir  sehen  werden,  mit  dem  Pro- 
gramm Geyers  und  der  Tauberbauern  deckt:  er  habe  gesagt, 
man  solle  alle  Schlösser  ausbrennen,  und  ein  Edelmann  sollte 
nicht  mehr  als  eine  Türe  haben,  wie  ein  Bauer.  Eine  Quelle  gibt 
aber  auch  dieser  keineswegs  kritisch  feste  Forscher  nicht  an; 
und  wir  müssen  allen  unsern  Gegengründen  gegenüber  zunächst 
auch  an  dieser  Angabe  Zweifel  hegen.  Zwei  Lokalhistoriker,  die 
noch  vor  Oechsle  schrieben  und  sich  auf  handschriftliche  Quellen 
berufen,  Justinus  Kerner  und  ein  anderer  Schwabe,  ein  Pfarrer 
Jäger,  wissen  von  Florian  Geyer  nichts,  obgleich  sie,  wie  man  bei 
Kern  er  wenigstens  kaum  zu  sagen  braucht,  es  an  romantischem 
Beiwerk  nicht  fehlen  lassen  und  so  unkritisch  sind  wie  alle  anderen. 
Jäger  hat  die  Ereignisse  bei  Weinsberg  und  Heilbronn  später 
noch  einmal  in  größerem  Zusammenhang  und  ausführhcher  dar- 
gestellt. Hierfür  hat  er  die  Untersuchungsakten  im  Heilbronner 
Stadtarchiv  und  die  Schwäbischen  Bundesakten  im  Staatsarchiv 
zu  Stuttgart  recht  fleißig  benutzt  und  manche  wertvolle  Notiz 
beigebracht ;  aber  Florian  Gej'ers  Namen  hat  er  nirgends  gefunden. 
Wir  besitzen  mehrfach  gedruckte  Listen  der  Edelleute,  Klöster 
und  Städte,  '\\elche  von  den  Odenwald-  und  Neckarbauern  in  diesen 
Wochen  in  ihren  Bund  aufgenommen  worden  sind:  der  Name 
Florians  fehlt  in  allen.  Nirgends  nennt  Götz  von  Berlichingen 
ihn  in  seinen  Berichten  über  den  Aufruhr,  obgleich  er  ihn  sehr 
wohl  gekannt  hat;  denn  Geyer  war  es,  der  den  Ritter  mit  der 
eisernen  Hand  15 19,  als  er  das  Amt  Möckmühl  für  Herzog  Ulrich 
von  Württemberg  verwahrte,  in  dem  Zuge  des  Schwäbischen 
Bundes  gegen  diesen  mit  anderen  Gesellen  vom  Adel  überfallen 
und  in  den  Gewahrsam  des  Bundes  gebracht  hatte.  Götz  hat 
uns  selbst  diese  Notiz  in  seiner  Selbstbiographie  mitgeteilt  — 
beiläufig  das  einzige,  was  wir  aus  dem  früheren  Leben  Geyers 
^^^ssen.  Thomas  Zweifel  zählt  einmal  die  Hauptleute  des  Weins- 
bergischen Haufens  auf,  Götz  und  Metzler  an  der  Spitze,  Florian 


Florian  Geyer.  175 

Geyer  aber  ist  nicht  darunter;  und  gerade  diesen  hätte  Zweifel, 
der  ihn  persönhch  so  genau  kannte,  doch  dabei  aufführen  müssen. 
In  keiner  der  Urkunden,  welche  Berlichingen  und  Metzler  aus- 
stellten (und  wir  haben  deren  eine  ganze  Reihe),  kommt  der  Name 
vor,  keine  Spur  davon  in  allen  Akten  von  ihrem  Heerzuge.  Wenn 
Zimmermann  berichtet,  daß  Geyers  Schwarze  das  Geschütz  in 
Neckarsulm  genommen  und  damit  den  Scheuerberg  gebrochen 
hätten,  so  steht  bei  Oechsle,  den  er  hier  wohl  ausschreibt,  nichts 
davon.  Dieser  hat  aus  den  Untersuchungsakten  die  Namen  der 
Ortschaften  ausgezogen,  die  an  der  Erstürmung  jenes  Schlosses 
teilgenommen  haben:  es  sind  lauter  Dörfer  vom  Odenwald  und 
Neckartal.  Unverständhch  endhch  wäre  es,  was  Florian  Geyer 
überhaupt  zu  den  Odenwäldern  geführt  haben  könnte;  nur  bei 
seinen  fränkischen  Landsleuten  ist  er  zu  vermuten. 

In  der  Tat  weisen  die  Urkunden  ihn  hier  zuerst  nach.  Am 
6.  und  7.  Mai  lagerte  der  Tauberhaufen  bei  Ochsenfurt  und  brachte 
von  hier  aus  das  nahe  Kitzingen,  das  schon  markgräfhch  war, 
in  den  Bauernbund.  Damals  hat  Florian  Geyer  mit  Lienhart 
Denner,  dem  Pfarrverweser  zu  Leuzenbronn,  von  der  Rothen- 
burger Bauernschaft,  und  zwei  anderen  Genossen  die  Verhand- 
lung geführt;  am  8.  Mai  ritt  er  dem  Haufen,  der  schon  am  Abend 
vorher  von  Ochsenfurt  aufgebrochen  war,  in  das  Lager  von  Hei- 
dingsfeld oberhalb  Würzburgs  nach;  als  er  ankam,  rückten  ge- 
rade die  Odenwälder  in  ihr  Lager  vor  dem  Würzburger  Schlosse 
ein.  Und  in  dieser  Stellung  finden  wir  den  Ritter  fortan.  Gleich 
am  nächsten  Tage  erschien  er  mit  anderen  Botschaftern  beider 
Haufen  vor  Rat  und  Gemeindeausschuß  zu  Würzburg,  um  sie 
zum  Anschluß  an  ihre  Sache  zu  bewegen.  Es  wird  uns  ausdrück- 
lich bezeugt,  daß  er  dabei  das  Wort  geführt  und  das  Programm 
der  Bauernschaft  entwickelt  habe.  Wir  können  daher  wohl  an- 
nehmen, daß  er  auch  schon  in  Kitzingen  den  Vortrag  gehabt  hat, 
zumal  da  wir  ihn  auch  später  in  dieser  Rolle  finden.  Denn  schon 
wenige  Tage  nachher,  am  13.  Mai,  kam  er  mit  den  Rothenburger 
Gesandten  und  von  anderen  Bauerndeputierten  (darunter  wieder 
Lienhart  Denner,  der  ein  Stadtkind,  eines  Ratsherrn  Sohn  war) 
begleitet  nach  Rothenburg,  um  Rat  und  Gemeinde  auf  das  frän- 


176  Kleine  historische  Schriften. 

kische  Programm  zu  verpflichten  und  das  schwere  Geschütz  der 
Stadt  für  die  Beschießung  des  Frauenberges  zu  gewinnen.  Hier 
war  er  wieder  der  Sprecher,  erst  vor  den  Räten  und  dem  Aus- 
schuß, dann  vor  den  Bauern,  die  man  vom  Lande  hereingerufen 
hatte,  und  schHeßhch,  am  15.  Mai,  in  der  Kirche  vor  der  ver- 
sammelten Gemeinde.  Er  trug  die  Forderungen  des  fränkischen 
Heeres  vor  und  las  die  Artikel  und  die  Schwurformel  ab :  zu  Gott 
dem  Allmächtigen  und  auf  das  heilige  Evangehum,  mit  aufge- 
reckten Fingern  schwuren  die  Bürger,  die  Artikel  der  Bruder- 
schaft halten  zu  wollen. 

Unterdessen  nahte  bereits  von  Süden  her  das  Unheil.  Am 
12.  Mai  schlug  Jörg  Truchseß  die  württembergische  Bauernschaft 
vernichtend  bei  Böblingen;  am  20.  traf  Weinsberg  für  den  Frevel 
vom  Ostertage  sein  schreckliches  Strafgericht:  es  ward  ausge- 
plündert und  verbrannt,  die  Einwohner,  nur  Weiber  und  Kinder 
fand  man  im  Städtchen,  in  das  Elend  getrieben;  am  26.  ward 
Neckarsulm,  in  dem  sich  zwei  Bauernfähnlein  zur  Wehr  setzten, 
erstürmt,  die  Bauern  gefangen,  zum  Teil  enthauptet.  Nun  beugte 
sich  alles  Land  bis  an  die  Jagst.  Die  Odenwälder,  welche  von 
Würzburg  her  zur  Hilfe  geeilt  und  schon  bis  Neckarsulm  gekom- 
men waren,  wichen  erschreckt  zurück  bis  Krautheim  und  dann 
in  die  feste  Stellung  bei  Königshofen.  Hier  ereilten  die  Bündischen 
sie  am  2.  Juni  und  vernichteten  fast  ohne  Gegenwehr  ihren  Hau- 
fen; und  zwei  Tage  darauf,  am  Pfingstmorgen,  wurden  auch  die 
Franken  bei  Sulzdorf  und  Ingolstadt  zertrennt  und  niederge- 
metzelt. 

Florian  Gej^er  aber  hat  an  allen  diesen  Bluttagen  keinen 
Anteil  gehabt.  Er  war  mit  seinen  Ratsfreunden  in  Rothenburg, 
als  die  Bauern  vor  Würzburg  in  der  Nacht  zum  16.  ]\Iai  den  ersten 
Sturm  auf  den  Frauenberg  wagten,  bei  dem  sie  den  Kern  ihrer 
Leute  in  dem  Graben  liegen  lassen  mußten.  Am  17.  kehrten  die 
anderen  Gesandten  in  das  Lager  zurück,  mit  den  Rothenburger 
Notschlangen,  welche  die  Mauern  der  Würzburger  Feste  brechen 
sollten.  Ritter  Florian  aber  bHeb  in  Rothenburg,  auf  Betreiben 
Stephans  von  Menzingen,  der  mit  ihm  zu  i\Iarkgraf  Kasimir  reiten 
wollte,  um  womöglich  den  HohenzoUerfürsten  in  die  Bruderschaft 


Florian  Geyer.  177 

■ZU  bringen;  aber  sehr  gegen  den  Willen  der  anderen  Gesandten, 
die  ihrem  Genossen  den  Ritt  geradezu  untersagten.  Er  mußte 
erst  durch  einen  besonderen  Brief  aus  dem  Lager  heimgefordert 
werden,  ehe  er  am  19.  Mai  sich  dazu  verstand,  nach  Heidingsfeld 
zurückzugehen.  Ein  noch  bedenklicheres  Licht  als  diese  Insub- 
ordination wirft  auf  sein  und  Menzingens  Treiben  die  Tatsache, 
daß  dieser  ihm  damals  ein  kostbares  Meßgewand  aus  den  Kirchen- 
schätzen, die  \om  Rothenburger  Rat  eingezogen  waren  und  in 
einer  Truhe  auf  dem  Rathause  verwahrt  \\Tirden,  verehrt  hat; 
auch  Hans  Bezold,  der  Schultheiß  von  Ochsenfurt,  mit  dem  Gej^er 
viel  zusammensteckte,  nahm  eins  der  Ornate  an,  die  von  Seide 
und  Samt  und  mit  silbernen  und  goldenen  Kreuzen  und  Em- 
blemen reich  verziert  waren.  Menzingen  suchte  den  Handel  vor 
dem  Bürgermeister  Georg  Bermeter  und  dem  Altbürgermeister 
Erasmus  von  jMusloe  damit  zu  entschuldigen,  daß  man  es  Florian 
und  seinen  Mitgesellen  im  Lager  zu  Heidingsfeld  habe  versprechen 
müssen,  da  sie  Geld  nicht  nehmen  dürften.  Die  Tat  ist  dem  Rothen- 
burger Volksmann  verhängnisvoll  geworden;  denn  in  dem  Prozeß, 
der  ihm  den  Hals  kostete,  ward  ihm  besonders  diese  Unterschla- 
gung des  Stadtguts  angerechnet. 

Als  die  Odenwälder  von  \\'ürzburg  an  Jagst  und  Neckar 
zurückgegangen  waren,  schrieben  die  Franken  zum  i.  Juni  einen 
Landtag  nach  Schweinfurt  aus,  zu  dem  sie  auch  die  Nachbarn 
im  ganzen  Kreis,  darunter  Nürnberg  und  den  Markgrafen  Kasi- 
mir, einluden.  Mit  anderen  ward  auch  Geyer  von  dem  hellen 
Haufen  dorthin  abgeordnet.  Verhandelt  wurde  nichts;  der  Schrek- 
ken  lähmte  allen  die  Glieder.  Von  Schweinfurt  nun  kam  Florian 
Geyer  mit  Stephan  von  Menzingen,  der  seine  Stadt  dort  ver- 
treten hatte,  und  vielen  anderen,  ohne  das  Lager  zu  berühren, 
am  3.  Juni  nach  Rothenburg,  wieder  in  der  Absicht,  mit  dem 
Markgrafen,  der  nicht  weit  von  der  Landwehr  bei  Bergel  mit 
seinen  Reisigen  lagerte,  in  Unterhandlung  zu  treten.  Diesmal 
hatte  man  ihnen  in  Schweinfurt  wirklich  den  Auftrag  dazu  ge- 
geben. Sie  hatten  sich  von  Kitzingen  aus  an  den  Fürsten  um 
Geleit  gewandt  und  warteten  nun  darauf  in  Rothenburg.  So 
berichtet  uns  mit  dürren  Worten  Zweifel,  und  es  ist  durch  nichts 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  12 


'l  78  Kleine  historische  Schriften. 

gerechtfertigt,  wenn  Zimmermann,  und  mit  ihm  alle  Welt,  an- 
nimmt, daß  der  edle  Ritter  auf  die  Nachricht  von  der  Gefahr 
seiner  Brüder  sich,  kaum  daß  er  angekommen,  wieder  aufs  Pferd 
geworfen  habe  und  die  Nacht  durch  geritten  sei,  um  Not  und 
Tod  mit  jenen  zu  teilen.  Am  4.  Juni,  dem  Pfingst-  und  Schlacht- 
tage von  Ingolstadt  selbst,  kam  überhaupt  erst  das  Schreiben 
der  fränkischen  Bauern  nach  Rothenburg,  in  dem  sie  von  dem 
Anzüge  der  Bündischen  gegen  Würzburg  Meldung  taten  und  zur 
Hülfe  mit  dem  »Feldgeschoß,  Reiswägen,  auch  Handbüchsen, 
langen  Spießen  und  Hellenparten«  aufforderten. 

Am  Freitag  war  allerdings  schon  das  Geschrei  in  Würzburg 
verbreitet  gewesen,  daß  die  Brüder  in  Königshofen  bedrängt 
wären,  und  daß  man  ihnen  zu  Hülfe  ziehen  müsse.  Aber  keiner 
wollte  recht  heran,  am  wenigsten  die  Hauptleute  und  Pfennig- 
meister, die  sich  zum  Teil  schon  jetzt  verloren;  zuletzt  war  ein 
Teil  des  Volkes  doch  aus  der  Stadt,  wo  jetzt  alles  lag,  in  das  alte 
Lager  von  Heidingsfeld  hinausgezogen,  aber  am  Samstag  morgen 
liefen  sie  schon  wieder  zurück.  Als  nun  gemeldet  wurde,  daß  die 
Uffenheimer  kämen  und  schon  im  Lager  von  Heidingsfeld  wären, 
zog  man  nachmittags  wieder  hinaus.  Erst  in  der  Frühe  des 
Pfingstmorgens,  als  das  Ave-Maria  geläutet  wurde  und  ein  Vor- 
trupp der  Bündischen  schon  bis  nahe  an  die  Mauern  des  Schlosses 
herangeritten  war,  brach  das  Heer  auf,  und  von  allen  Seiten 
kamen  jetzt  die  Nachbarn  herbei,  bis  von  Ochsenfurt  und  Kitzin- 
gen her.  Daß  bei  Königshofen  bereits  alles  entschieden  war,  wuß- 
ten diese  armen  Kriegsgesellen  noch  immer  nicht;  sie  meinten 
nicht  anders,  als  die  christlichen  Brüder,  »die  nunmehr  längst 
erkalt  waren«,  wie  der  Chronist  schreibt,  zu  retten.  Vor  ihnen 
her  war  Jörg  Spelt  der  Junge,  der  die  Stadt  Rothenburg  zu  Schwein- 
furt und  im  Lager  mit  vertreten  hatte,  an  demselben  Morgen 
von  Würzburg  fort  und  heimwärts  geritten.  Unterwegs  sah  er, 
wie  hinter  ihm  auf  dem  Gäu  um  Giebelstadt  her  fünf,  sechs  Feuer 
aufgingen;  daß  dort  seine  bäuerischen  Brüder  in  dieser  Stunde 
geschlachtet  wurden,  wußte  er  doch  noch  nicht  dem  Rat  zu  be- 
richten, so  wenig  wie  er  von  der  Niederlage  der  Odenwälder 
Kunde  hatte. 


Florian  Geyer.  179 

Doch  kam  an  diesem  Tage  das  Gerücht  in  die  Stadt  von 
dem,  was  bei  Königshofen  geschehen  war;  die  Gewißheit  konnte 
der  Rat  erst  am  zweiten  Pfingsttage  nach  außen  melden.  In  dieser 
Stunde  trat  Menzingen  noch  vor  Räten  und  Ausschuß  mit  einem 
Bericht  auf  über  das,  was  in  Schweinfurt  beschlossen  oder  viel- 
mehr nicht  beschlossen  war,  und  noch  immer  hielt  er  an  dem 
Plan,  mit  dem  Markgrafen  zu  verhandeln,  fest.  Auch  suchten 
er  und  die  Seinen  sich  noch  zu  behaupten,  als  immer  gewissere 
und  schlimmere  Meldungen  von  dem  Unglück  im  Felde  in  die 
Stadt  kamen  und  unter  dem  Eindruck  des  Schreckens  und  der 
drohenden  Rache  des  Bundes  die  Ratspartei  wieder  ihr  Haupt 
erhob  und  Bürger  und  Bauern  den  Mut  verloren;  er  forderte, 
denn  er  spielte  jetzt  um  sein  Leben,  daß  man  Kriegsvolk  bestelle 
und  sich  gegen  eine  Belagerung  wehre,  um  einen  guten  Vertrag 
zu  bekommen.  Aber  die  Konservativen  und  die  Ängstlichen 
trugen  es  über  ihn  davon.  Am  7.  Juni  kamen  die  Abgeordneten 
Rothenburgs,  darunter  Thomas  Zweifel,  der  Stadtschreiber,  selbst, 
in  das  Lager  von  Heidingsfeld,  wo  es  sich  jetzt  die  Bündischen 
wohl  sein  ließen.  Als  sie  einritten,  wurden  sie  von  etlichen  Kriegs- 
leuten, die  sie  kannten,  angeschrien:  »Ei,  kumpt  ir,  kriecht  ir 
zum  kreuz,  es  ist  eben  zeit,  wir  wollten  sunst  selbst  sein  komen 
und  euch  daheim  gesucht  haben.«  Es  kostete  ihnen  noch  Mühe 
genug,  den  Groll  der  hohen  Herren  zu  besänftigen,  und  ihrer 
Stadt  manchen  schweren  Batzen.  Bevor  aber  Rat  und  Gemeinde 
sich  zu  diesem  schweren  Schritte  entschlossen,  mußten  sie  be- 
zeugen, daß  sie  mit  der  Bauemsache  nichts  mehr  zu  tun  haben 
wollten.  »So  ward,«  heißt  es  daher  in  unserer  Chronik,  »Florian 
Geyern  und  andern  der  paum  hauptleuten  darvor  gebotten, 
sich  hinwegk  zu  tun.«  Es  ward  ihnen  befohlen,  und  sicherlich 
nicht  eher,  als  Menzingen  und  seine  Partei  ihre  Sache  verloren 
hatten,  d.  h.  also  nicht  vor  dem  5.  und  wahrscheinlich  erst  am 
6.  oder  gar  am  7.  Juni.  Mithin  ist  das  Ahbi  Gej^ers  für  die  Schlacht 
bei  Sulzdorf  und  Ingolstadt  festgestellt,  und  alle  Romantik,  die 
Zimmermann  über  den  letzten  Kampf  ausgebreitet,  hat  er,  so- 
weit es  wenigstens  seinen  Helden  angeht,  sich  aus  den  Fingern  ge- 
sogen.   In  der  Tat  berichten  unsere  Quellen  von  dem  Ritter  in  der 


180  Kleine  historische  Schriften. 

Schlacht  ledigHch  nichts,  und  das,  was  sie  über  den  Angriff  auf 
die  Wagenburg,  die  Erstürmung  der  Burgruine  und  das  Gemetzel 
im  \\'alde  erzählen,  lautet  überhaupt  ganz  anders  als  das  farbige 
Gemälde,  das  Zimmermann  daraus  gestaltet  hat.  Von  irgend- 
welcher Ordnung  oder  gar  von  Widerstand  war  gar  nicht  die 
Rede.  Sondern  wie  nur  die  Reisigen  ansetzten,  nachdem  nur  ein 
paar  Geschütze  abgefeuert  waren,  zertrennte  sich  die  Wagen- 
burg, hinter  der  man  Deckung  gesucht,  und  ergoß  sich  die  Menge 
in  wilde  Flucht.  Hinter  ihnen  her  die  Reiter  mit  Schlagen  und 
Stechen.  Pardon  wurde  nicht  gegeben.  Auf  dem  weiten  Felde 
war  kein  Entrinnen.  Zu  Tausenden  lagen  auf  Wegen  und  Äckern 
meilenweit  die  toten  Körper. 

Unterdes  irrte  der  verjagte  Ritter  zwischen  den  brennenden 
Dörfern  und  den  Fliehenden  und  Verfolgern,  seinen  christlichen 
Brüdern  und  seinen  adeligen  Verwandten  umher.  Er  hatte  sich 
nach  Norden  gewandt  und  ist  noch  über  den  Main  gekommen. 
Aber  auf  dem  Felde  bei  Schloß  Rimpar  ward  er  von  den  Knech- 
ten Wilhelms  von  Grumbach  am  9.  Juni  überfallen,  erstochen 
und  beraubt.  Es  beruht  auf  einem  Lesefehler,  wenn  Zimmer- 
mann und  ihm  nach  viele  andere  ihn  in  der  Grafschaft  Limburg, 
im  Württembergischen,  sterben  lassen,  und  was  Zimmermann 
über  den  letzten  Kampf  zu  sagen  weiß,  entstammt  nur  wieder 
seiner  Phantasie.  Hauptmann  hat  auch  hier  bewiesen,  daß 
er  die  Quellen  kennt,  wenn  er  das  Schloß  Rimpar  als  Schauplatz 
nennt. 

Woher  Zimmermann  die  Nachricht  hat,  die  auch  jener 
adoptierte,  daß  Wilhelm  von  Grumbach  Florian  Geyers  Schwaiger 
gewesen  sei,  weiß  ich  nicht;  die  zwei  Quellen,  die  uns  seinen  Tod 
melden,  haben  davon  nichts. 


Man  sieht  nun  wohl,  daß  Ritter  Florian  kein  unbedeutender 
Mann  gewesen  ist,  da  ihn  die  Bauern  überall  zu  ihrem  Wortführer 
gemacht  haben.  Die  diplomatischen  Missionen,  von  denen  uns 
die  Quellen  berichten,  werden  wohl  nicht  die  einzigen  gewesen 
sein;  ich  denke,  daß  er  z.  B.  auch  Ochsenfurt  zu  den  Bauern  ge- 


Florian  Geyer.  181 

bracht  hat;  und  vielleicht  war  er,  wie  wir  sahen,  mit  dieser  Auf- 
gabe auch  bei  den  neun  Städten  im  Odenwald  betraut.  Militärisch 
tritt  er  nirgends  hervor;  es  läßt  sich  also  auch  nicht  sagen,  ob  die 
Heeresordnung,  die  sich  die  Bauern  in  Ochsenfurt  gaben,  auf  ihn 
zurückzuführen  ist,  und  es  ist  bare  Willkür,  wenn  man  ihn  als  die 
militärische  Intelligenz  des  Heeres  hat  ansehen  und  seine  diplo- 
matischen Sendungen  gar  mit  der  Eifersucht  der  bäuerischen 
Kriegsleute  hat  motivieren  \A'ollen.  Er  nahm,  wie  es  scheinen 
möchte,  im  Bauernheere  ungefähr  die  gleiche  Stellung  ein  wie 
sein  Standesgenosse  Stephan  von  Menzingen  in  Rothenburg,  der 
auch  nur  in  Verhandlungen,  nicht  als  Kriegsmann  auftritt.  Doch 
bleibt  ganz  ungewiß,  was  etwa  oder  ob  irgend  etwas  in  dem  Pro- 
gramm des  fränkischen  Bauernheeres,  das  er  zu  vertreten  pflegte, 
auf  ihn  speziell  zurückgeht,  und  nur  das  ist  sicher,  daß  er  sich 
mit  demselben  völlig  identifiziert  hat. 

Hierin  liegt  nun  aber  eine  höchst  bemerkenswerte  und  bisher 
nie  recht  beachtete  Differenz  der  Tauberbauern  zu  ihren  Alliierten 
vom  Odenwald  und  Neckartal.  Ihre  Artikel  waren  viel  radi- 
kaler. Sie  wiederholen  immer  folgende  Punkte.  Erstlich  soll 
das  heilige  Wort  Gottes,  die  evangelische  Lehre,  aufgerichtet  wer- 
den; und  was  das  heilige  Evangelium  aufrichtet,  soll  aufgerichtet 
sein,  was  es  niederlegt,  soll  niedergelegt  sein  und  bleiben.  Dazu 
sollen  Hochgelehrte  der  heiligen,  göttlichen,  wahren  Schrift  be- 
hülflich  sein.  Sie  sollen  eine  »Reformation«  aufrichten  dessen, 
was  man  geistlicher  und  weltlicher  Oberkeit  schuldig  sei  zu  leisten 
oder  nicht,  und  danach  soll  sich  hinfort  jedermann  richten.  In 
diesen  Sätzen  erschöpfte  sich  das  geistliche  Interesse  des  frän- 
kischen Haufens.  Das  erfuhr  Karlstadt,  als  er  von  Rothenburg 
her  mit  der  Kolonne,  die  das  Geschütz  ins  Lager  führte,  zu  Hei- 
dingsfeld erschien ;  die  Bauern  wollten  ihn  weder  sehen  noch  hören. 
In  Rothenburg  hatte  er  sich  einen  Anhang  gemacht ;  Kaspar 
Christian,  der  Pfarrer  und  Kommentur  vom  Deutschen  Hause, 
predigte  auf  seine  Weise  vom  Sakrament,  und  an  dem  alten 
Ehrenfried  Kumpf  und  Jörg  Spelt  besaß  er  hitzige  Gönner.  Aber 
in  anderen  Kreisen,  trotzdem  sie  bäuerisch  gesinnt  waren,  miß- 
fiel seine  Agitation;  als  er  damals  aus  der  Stadt  ritt,  hätte  ihn 


132  Kleine  historische  Schriften. 

ein  Söldner,  der  Schäferhans,  beinahe  erstochen,  wenn  nicht  Jörg 
Spelt  zu  Hülfe  gekommen  wäre ;  und  als  der  Professor  dann,  im  Lager 
abgewiesen,  nach  Rothenburg  bei  Nacht  und  Nebel  zurückkam, 
verdankte  er  es  nur  Stephan  von  Menzingen,  daß  man  ihn  durch 
das  Tor  einließ.  ÄhnUch  erging  es,  wie  es  scheint,  im  Bildhäuser 
Haufen  nördlich  vom  Main  einem  Münzerschen  Jünger,  einem 
Kürschner,  welcher  von  Thüringen  her  erschien  und  seine  anar- 
chischen Lehren,  daß  man  alle  Obrigkeiten  totschlagen  müsse, 
vortrug.  Alsbald  stand  der  Pfarrer,  der  im  Lager  war,  gegen 
ihn  auf  und  beeilten  sich  die  Hauptleute,  von  Neustadt  a.  S. 
zwei  Prädikanten,  die  als  besonders  schriftgelehrt  berühmt  waren, 
zu  Hülfe  zu  rufen.  Hier,  in  den  Vorbergen  des  Thüringer  Waldes, 
nahe  dem  Kemlande  der  deutschen  Reformation,  wurden  aller- 
dings auch  kirchlich-reformatorische  Forderungen  laut.  Die  Mei- 
ninger  wünschten  z.  B.  Unterdrückung  des  Konkubinats  der 
Priester  und  Ausweisung  aller  Ehebrecher,  deutschen  Gottes- 
dienst und  freien  Schulunterricht,  den  man,  wie  auch  das  Pfarr- 
amt, von  den  geistHchen  Gütern  unterhalten  müsse.  So  verlangten 
auch  die  von  Münnerstadt,  der  Stadt  Sylvesters  von  Schaumburg, 
daß  man  statt  der  bisherigen  Pfafferei  und  Möncherei  zwei  vor- 
nehme, redliche,  gelehrte  Männer  nach  der  Lehre  Pauli  zu  Pre- 
digern und  Verkündem  des  Wortes  Gottes  wähle,  denen  zwei 
»Leviten«  für  freien  Schulunterricht  zur  Seite  treten  möchten; 
sie  fügen  den  merkwürdigen  Wunsch  hinzu,  daß  die  Prediger  und 
Lehrer,  wenn  sie  ehelich  werden  wollten,  ihre  Frauen  für  den 
Unterricht  der  Mädchen  anweisen  sollten  »domit  bede,  menhch 
und  weiblich  geschlegt,  von  Gott  zugleich  beschaffen,  des  gesatzes 
und  glaubens  desto  kundiger  werden  mochten«.  An  die  Spitze 
ihrer  Artikel  stellten  beide  Städte  die  freie  Predigerwahl.  Und 
so  forderten  auch  die  Rothenburger  Bauern  im  Anfang  das  Recht, 
ihre  Pfarrer  zu  setzen  und  zu  entsetzen. 

In  dem  Programm  des  fränkischen  Haufens  aber  steht  nichts 
davon.  Wenn  Florian  Geyer  in  Rothenburg  erklärte,  das  Evan- 
gehum  solle  frei,  lauter,  klar,  ohne  menschliche  Zusätze  gepredigt 
und  nicht  mehr,  wie  bisher,  unterdrückt  werden,  damit  der  ein- 
fältige Mann  zur  rechten,  wahren  Erkenntnis  desselben  kommen 


Florian  Geyer.  133 

möchte,  so  ging  der  Sinn  dieser  Phrase,  die  seit  Jahren  auf  allen 
Gassen  im  Reich  wiederholt  wurde,  bei  ihm  und  seinen  Freunden, 
zunächst  wenigstens,  nur  auf  Säkularisation.  Sie  wollten  den 
Pfaffen  an  ihre  Güter.  Wo  sie  auf  ein  Kloster  trafen,  flog  der 
rote  Hahn  aufs  Dach;  was  sich  an  geistlicher  Habe  vorfand,  ge- 
hörte dem  Profossen,  der  es  verbeutete,  wenigstens  den  Wein  in 
den  Fässern  und  das  Getreide  auf  den  Böden,  oder  dem  hellen 
Haufen  zugut  inventarisierte  und  verwahrte.  Auch  hierüber 
kamen  Geyer  und  seine  Mitgesandten  mit  den  Herren  von  Rothen- 
burg hart  aneinander.  Denn  diese  hatten  sogleich  selbst  Hand 
auf  die  Güter  ihrer  Geistlichkeit  gelegt  und  waren  nicht  gewillt, 
dem  hellen  Haufen  die  Verfügung  darüber  zu  lassen;  sie  boten 
anfangs  dem  Profossen  loo  Gulden  als  Entschädigung  an;  und 
ge\\iß  nur,  weil  die  Bauern  das  schwere  Geschütz  der  Stadt  haben 
mußten,  gaben  ihre  Deputierten  endlich  nach,  daß  Räte  und  Aus- 
schuß die  Güter  in  Verwahrung  behielten,  »nit  zu  verstören,  son- 
dern gemeiner  Stadt  und  dem  ganzen  hellen  Haufen  damit  zu 
gewarten.«  Deshalb  vielleicht  hat  es  sich  der  Ritter  nicht  übel 
genommen,  jenes  kostbare  Kirchenomat  einzustecken,  da  es  im 
Grunde  ja  nicht  der  Stadt  Rothenburg,  sondern  dem  hellen  Hau- 
fen zur  Beute  fallen  müsse.  Von  einer  religiösen  Erhitzung  im 
Sinne  Münzers  oder  taboritischer  oder  auch  nur  Karlstädtischer 
Meinungen,  wie  man  so  oft  gesagt  hat,  kann  bei  den  Franken 
nicht  die  Rede  sein.  Auch  wollten  sie  die  Geistlichkeit  nicht  ver- 
tilgen; ausdrücklich  bestimmten  sie,  daß  diese,  da  sie  auch  Chri- 
stenleute seien  und  ihre  Leibesnahrung  haben  müßten,  auch  mit 
schnöden  Worten  und  unbiHigem  Handeln  nicht  belästigt  werden 
dürften,  ausreichend  unterhalten  werden  sollten. 

Sonst  aber  sollte  niemand  Renten,  Zinsen,  Gülten  oder  Zehn- 
ten geben,  weder  geistlichen  noch  weltlichen  Herren,  bis  die  Sache 
nach  der  Meinung  des  Evangeliums  ausgeführt  wäre.  Denn  wie 
den  Klöstern,  so  war  auch  den  Adelshäusern  das  Verderben  ge- 
schworen. Der  fränkische  Haufen  war  hierin  unerbittlich:  kein 
Schloß,  kein  Wasserhaus,  kein  Turm,  der  in  ihre  Gewalt  fiel,  blieb 
verschont.  Sie  duldeten  auch  nicht,  daß  das  Gebälk  und  die  Steine 
von  der  Nachbargemeinde  zu  eigenem  Nutz  verwandt  würden: 


|g4  Kleine  historische  Schriften. 

alles  wurde  niedergebrochen  und  verbrannt.  Es  war  wie  in  den 
alten  Zeiten,  als  die  sächsischen  Bauern  aufgestanden  waren,  um 
die  Burgen  König  Heinrichs  und  seiner  Ministerialen  zu  zerreißen. 
Das  Geschütz  ward  dem  hellen  Haufen  ausgeliefert.  Niemand 
sollte  fürderhin  einen  gerüsteten  reisigen  Gaul  halten,  jeder  Edel- 
mann sollte  wie  ein  Bauer  leben  und  ungefährdet  fortan  der  Land- 
mann seinen  Acker  bestellen,  der  Bürger  seine  Straße  ziehen. 

Doch  darf  man  nicht  glauben,  daß  das  Bauernprogramm  die 
Lehre  eines  agrarischen  Kommunismus  verkündigt  habe.  Aus- 
drücklich und  wiederholt  erklärte  Florian  Geyer  den  Rothen- 
burgern, daß  man  nicht  daran  denke,  die  geistlichen  und  welt- 
lichen Bürden  abzustreifen,  denn  das  wäre  nicht  christlich,  nicht 
brüderlich,  billig  und  recht,  oder  das  Regiment  in  Städten  und 
Herrschaften  völlig  umstoßen  wolle.  Auch  sollten,  so  lange,  bis 
die  Gelehrten  der  Heiligen  Schrift  festgestellt  hätten,  was  christ- 
lich und  recht  sei,  alle  Steuern  und  Dienste  eingehalten  werden. 
Femer  blieben  den  Edelleuten,  im  Gegensatz  zu  der  Geistlichkeit, 
ihre  Güter  zu  eigen,  die  liegenden  sowohl,  wie  auch  ihre  fahrende 
Habe;  und  mehrfach  geschah  es,  daß  der  Bauernrat  zugunsten 
edler  Herren  und  Frauen  eintrat,  wenn  sie  mit  der  Klage  kamen, 
daß  die  Bauern  ihnen,  nachdem  ihre  Häuser  zerstört  wären,  noch 
ihr  Vieh  fortgetrieben  oder  Wein  und  Getreide  verzehrt  hätten. 
Solchen  Übeltätern  galt  der  Galgen,  der  im  Namen  des  hellen 
Haufens  auf  den  Marktplätzen  der  Städte  errichtet  wurde.  Nur 
wer  sich  widersetzte,  ward  seiner  Habe  beraubt. 

Wir  wissen  nichts  darüber,  wann  und  wo  das  fränkische 
Programm  aufgekommen  ist  und  wer  es  ausgedacht  hat.  Erwähnt 
finde  ich  den  Satz  von  dem  Evangelium,  das  niederlegen  und 
aufrichten  müsse,  zuerst  in  den  Artikeln  der  Rothenburger  Bauern 
vom  7.  April  und  zwei  Tage  darauf  in  den  Verhandlungen,  welche 
Bischof  Konrad  und  seine  Ritterschaft  am  Palmsonntag  mit  dem 
Tauberhaufen,  der  damals  zu  Mergentheim  lag,  führen  ließ.  Ob 
nun  aber  Florian  Geyer  oder  irgend  ein  Pfaffe,  etwa  Bubenleben 
von  Mergentheim  oder  Lienhart  Denner,  den  Zweifel  neben  zwei 
anderen  Geistlichen  aus  der  Rothenburger  Landwehr  als  Kanzler 
und  Schreiber,  Prediger,  Vorgeher  und  Verführer  der  Aufrührer 


Florian  Geyer.  135 

bezeichnet,   oder   wer  sonst   immer  das    Schlagwort   aufgebracht 
hat,  läßt  sich  nicht  ausmachen. 

Der  Gegensatz  zwischen  den  Odenwald-Neckar-Bauern  und 
den  Franken  zeigt  sich  besonders  in  ihrem  Verhalten  zu  dem 
Adel.  Jenen  kam  es  darauf  an,  das  Geschütz  zu  bekommen  und 
etwa  noch  Geld,  die  Herren  aber  zum  Stillsitzen  oder  zum  Ein- 
tritt in  den  Bund  gegen  Sicherung  ihrer  Häuser  und  Besitztümer 
zu  vermögen.  Wohin  sie  kamen,  schlössen  sie  Verträge  dieser 
Art  mit  den  Edelleuten,  wie  auch  mit  Städten  und  Geistlichen. 
Während  die  Franken  von  den  12  Artikeln  nichts  wissen  wollten, 
nahmen  Äletzler  und  seine  Gesellen  sie  in  ihr  Programm  auf,  so 
jedoch,  daß  sie  dieselben  in  der  Amorbacher  Deklaration  vom 
5.  Mai  noch  erheblich  milderten;  am  Schluß  erklären  sie  darin, 
daß  die  Untertanen  in  allen  Städten,  Dörfern  und  Flecken  ihren 
Obrigkeiten  gehorsam  bleiben  und  sich  ihnen  zu  Recht  stellen 
sollen,  und  drohen  jedem,  der  sich  widersetze  und  rottiere,  im 
Namen  des  hellen  Haufens  »gebührende  und  ernstliche  Leibes- 
strafen« an.  ]\Ian  wird  dies  gewiß  zum  Teil  dem  Einfluß  Götzens 
von  Berlichingen  zuschreiben  dürfen,  der  Anfang  Mai  die  Haupt- 
mannschaft neben  Georg  Metzler  übernahm.  Er  selbst  hat  das 
natürlich  stets  betont,  schon  lange  vor  seiner  Lebensbeschreibung 
in  der  »wahrhaftigen  Verantwortung«,  die  er  am  13.  Januar  1527 
ausgehen  ließ.  Er  klagt,  daß  er  sich  deshalb  den  Haß  der  Bauern 
zugezogen  habe,  und  beschuldigt  vor  andern  den  Hauptmann 
der  Bischofsheimer,  einen  gewissen  Alexius,  und  den  »Böswicht 
Nisius  von  Schwabach«  als  diejenigen,  welche  sie  zu  ihren  tyran- 
nischen Handlungen  verführt  hätten.  Seinen  ganzen  Groll  hatte 
er  zumal  auf  diesen  letzteren,  Dionysius  Schmidt  von  Schwappach 
im  Neckartal,  geworfen;  denn  der  war  es,  dessen  Urgicht  ihm  selbst 
verhängnisvoll  geworden  ist;  ihr  verdankte  er  seine  jahrelange 
Haft.  Dieser,  behauptet  Götz,  habe  den  Vertrag,  den  er  mit  dem 
Adel  auf  dem  Frauenberge  schon  halbwegs  zustande  gebracht, 
umgerissen  und  die  Bauern  gegen  ihn  aufgehetzt,  ihn  als  einen 
Verräter  ausgeschrieen,  also  daß  er  in  Gefahr  geraten  sei,  durch 
die  Spieße  gejagt  zu  werden.  »Und  in  summa,«  so  schreibt  er, 
»so  weiß  ich  fürwahr,  das  ohn'  Gottes  Hilf  und  mich  weder  der 


136  Kleine  historische  Schriften. 

Stift  Mentz  noch  die  Grafen  dieser  Landart  oder  auch  der  Adel 
des  Otenwalds,  Jagst,  Kocher  und  Neckarthal  im  Schwaben- 
land und   Kraichgau  kein   Schloß  unverherget  behalten  hätten.« 

Berlichingen  hat  aber  nicht  allein  das  Verdienst  für  die  mil- 
dere Haltung  der  Odenwälder  zu  beanspruchen.  Es  ist  freilich 
herkömmlich,  gerade  die  Weinsberger  des  Blutdurstes  und  der 
Zügellosigkeit  zu  zeihen.  Zimmermann  hat  das  Wort,  das  Florian 
Geyer  in  Rothenburg  bei  jenem  Ausfall  gegen  sie  gebrauchte, 
es  seien  »meist  zugelaufene  Buben«,  in  seiner  Weise  aufgeputzt 
und  in  Umlauf  gebracht.  Die  Tat  von  Weinsberg  war  ein  plötz- 
licher Ausbruch  der  von  den  Führern  nur  mit  Mühe  in  Zaum 
gehaltenen  Leidenschaft  und  Brutalität  der  Menge,  welche  übri- 
gens durch  das  Gemetzel,  das  kurz  vorher  die  Weinsberger  Be- 
satzung unter  ihrem  Nachzuge  angerichtet  hatte,  schwer  genug 
gereizt  war.  Die  Briefe  der  Obersten  aus  den  nächsten  Tagen 
zeigen  deutlich,  wie  deprimiert  sie  sich,  zumal  bei  den  drohenden 
Nachrichten  aus  dem  Süden,  durch  die  Freveltat  fühlten,  die  sie 
nicht  hatten  verhindern  können.  Schon  vorher  aber,  in  den  Ver- 
trägen mit  den  Grafen  von  Hohenlohe,  zeigen  sich  die  Führer 
dieses  Haufens  durchaus  gemäßigt  und  vertreten  gerade  solche 
Forderungen  wie  nachher  unter  Götz.  Von  Georg  Metzler  wissen 
wir,  daß  er  bei  Weinsberg  einen  Knecht  vor  dem  Tode  rettete. 
Vielleicht  hat  Wendel  Hipler  schon  damals  auf  diese  Haltung 
eingewirkt,  und  diese  Politik  war  es  eben,  die  ihn  und  Metzler 
auf  den  Gedanken  brachte,  den  Ritter  von  Berlichingen  an  die 
Spitze  ihres  Haufens  zu  stellen. 

Dem  entspricht  es,  daß  der  Plan  einer  Reichsreform,  wie  er 
in  dem  sog.  Heilbronner  Entwurf  vorliegt,  nur  bei  Hipler  und 
seinen  Freunden  aufgetaucht  ist.  Die  Franken  wiesen  den  Ge- 
danken an  eine  politische  Umwälzung  von  sich  ab.  Florian  Geyer 
erklärte  den  Rothenburgern  ausdrücklich,  ihre  Bruderschaft  sei 
allein  eine  Bruderschaft  zur  Vollstreckung  des  Evangeliums,  des 
Gottesworts  und  der  Gerechtigkeit ;  man  denke  daher  nicht  daran, 
Rothenburg  vom  Reich  zu  dringen.  Nirgends  kommt  auf  ihrer 
Seite  der  leiseste  Anklang  an  eine  Umgestaltung  des  Reiches  vor, 
etwa  gar  an  eine  Zusammenfassung  der  nationalen  Kräfte  in  einer 


Florian  Geyer.  187 

starken  Monarchie,  wie  die  Poeten  und  Historiker  davon  zu 
phantasieren  pflegen.  Daß  aber  die  Einziehung  des  Pfaffengutes 
und  die  Austilgung  des  Adels  als  eines  besonderen  Standes  zu 
einer  Umwälzung  des  deutschen  Staates  von  Grund  aus  führen 
müsse,  blieb  ihrem  blöden  Blick,  der  über  ihre  Landschaft  nicht 
hinausreichte,  verborgen.  Auch  die  poHtische  Vernunft  des  »Heil- 
bronner«  Reforment Wurfes,  dessen  Verfasser,  wie  ich  glaube, 
XA'^eigand,  der  mainzische  Keller  zu  Miltenberg,  und  nicht  Wendel 
Hipler  war,  hat  man  gewaltig  übertrieben.  Wie  eng  auch  sein 
Horizont  war,  zeigt  z.  B.  der  Paragraph,  der  die  Abschaffung 
aller  Steuern  anordnet  außer  einer  zehnjährigen  Abgabe  an  den 
römischen  Kaiser,  unter  Berufung  auf  Matth.  22,  und  ein  anderer, 
welcher  die  privilegierten  Münzstätten  für  Österreich,  Bayern, 
Schwaben,  Franken  »oder«  Rheinstrom  fordert,  Niederdeutsch- 
land also  gar  nicht  in  Betracht  zieht;  der  Kurfürst  von  Sachsen 
wird  zu  den  »ausländigen  Fürsten«  gerechnet.  Immerhin  lag  in 
dieser  Politik  noch  ein  Moment,  von  dem  aus,  ich  will  nicht  sagen 
ein  Gelingen  der  Bewegung,  aber  doch  ein  Einlenken  in  gemäßigtere 
Bahnen  denkbar  schien,  und  war  sie  nicht  bloß,  wie  die  fränkische 
Empörung,  ein  wüstes  Aufbäumen  der  Unterdrückten. 

Es  konnte  nicht  fehlen,  daß  dieser  tiefe  Gegensatz  von  dem 
Moment  ab,  wo  die  beiden  Heerhaufen  vor  Würzburg  zusammen- 
stießen, sich  in  schweren  Konflikten  entlud.  Schon  in  den  ersten 
Tagen  trat  er  hervor,  als  die  Weinsberger,  von  Götz  und  Metzler 
geleitet,  die  Edelleute  im  Schloß  auf  die  12  Artikel  verpflichten 
und  ihnen  gegen  eine  Geldzahlung  den  Abzug  bewilligen,  das 
Schloß  aber  unzerbrochen  lassen  wollten.  Die  Franken  bestanden 
darauf,  daß  das  Schloß  vom  Berg  herunter  müsse.  Und  selbst 
in  ihrem  eigenen  Haufen  fanden  die  beiden  Obersten  Widersacher 
und  wurden  überstimmt;  man  versetzte  sich  darauf,  die  Zwing- 
burg der  Stadt  und  des  Bistums  zu  Boden  zu  schleifen,  und  verbiß 
sich  in  die  Belagerung  so  lange,  bis  die  Bündischen  herankamen. 
Die  Katastrophen  wären  gewiß  nicht  abgewehrt  worden,  wenn 
die  Besatzung,  die  im  ersten  Schrecken  ganz  bereit  dazu  war, 
sich  ergeben  hätte,  sie  wären  nur  um  ein  paar  Wochen  hinaus- 
gezögert ;  denn  bei  der  Kläglichkeit  der  bäuerischen  Kriegführung 


138  Kleine  historische  Schriften. 

wäre  an  einen  Sieg  ihrer  Sache  niemals  zu  denken  gewesen.  Moch- 
ten sie  noch  so  gut  mit  Feldgeschütz  und  Hakenbüchsen,  Spießen, 
Harnischen  und  Reisvvägen  gerüstet  sein  (und  man  darf  sich  die 
Masse  keineswegs  unbewehrt,  wie  auch  ohne  jede  taktische  Ord- 
nung vorstellen),  so  zerstoben  sie  doch,  wo  sie  :ich  auch  stellen 
mochten,  bei  dem  ersten  Stoß  der  feindlichen  Reiterei,  der  ade- 
ligen Waffe,  die  ihnen  selbst  ja  völlig  abging,  der  »Bauernpest«, 
wie  man  sie  in  grimmigem  Hohn  nannte.  Aber  freilich  würde 
der  Aufstand  größere  Dimensionen  angenommen  haben,  wenn 
man  die  Kapitulation  angenommen  hätte.  Die  Franken  würden 
zunächst  wohl  mit  den  Brüdern  in  der  Markgrafschaft  sich  ver- 
einigt haben  und  der  Stadt  Nürnberg  und  dem  Brandenburger 
auf  den  Hals  gerückt  sein.  So  erklärten  es  wenigstens  als  ihre 
Absicht  die  Gesandten  des  fränkischen  Haufens,  welche  in  den- 
selben Tagen,  wie  Geyer  in  Rothenburg,  in  Nürnberg  erschienen 
und  dem  Rat  ihre  Forderungen  vortrugen;  sie  verlangten  Pro- 
viant, Pulver  und  Geschütz  und  traten  zunächst  recht  gemäßigt 
auf,  spielten  sich  auf  die  Freunde  der  Städte  hinaus  und  wiesen 
auf  die  gemeinsame  Abneigung  gegen  die  adeligen  Bedränger  der 
freien  Straßen,  besonders  auch  den  Markgrafen  hin.  Erst  als  die 
Herren  vom  Rat  ihre  Forderungen  unter  allerhand  entschuldi- 
genden Wendungen  ablehnten,  denn  auch  ihnen  gebot  das  Ver- 
hältnis zu  ihren  armen  Leuten  drinnen  in  der  Stadt  und  draußen 
auf  den  Dörfern  große  Vorsicht,  traten  die  Bauern  »prächtig 
und  stolz,  als  ob  ihnen  die  ganze  Welt  gehöre«,  auf  und  sprengten 
unter  dem  Volk  auf  der  Straße  aus,  man  gedenke  im  Bauern- 
lager kein  Haus  im  ganzen  Lande  zu  dulden,  das  besser  sei  als  ein 
Bauernhaus.  Die  Weinsberger  wünschten  vor  allem  Schwäbisch- 
Hall  heimzusuchen,  das  sich  im  Württembergischen  noch  allein 
aufrecht  in  dem  Tosen  des  Aufruhrs  erhalten  hatte.  Doch  würden 
sie  vielleicht  zunächst  sich  west\\-ärts  gewandt  und  das  ]\Iainzer  Stift 
überzogen  haben ;  so  hatten  sie  wenigstens  dem  Bischof  Wilhelm  in 
Aschaffenburg  gedroht,  wenn  die  15  000  Gulden  nicht  zum  bestimmten 
Termin  in  ihren  Händen  sein  würden.  Die  Mainzer  und  Rheingauer 
aber  dachten  gar  nicht  daran,  soviel  eigene  Beschwerden  sie  gegen  ihre 
Herrschaft  haben  mochten,  das  schöne  Geld  aus  dem  Lande  zu  lassen. 


Florian  Geyer.  139 

Alle  diese  Pläne  wurden  durch  jenen  Streit  im  Lager  zu 
Würzburg  und  seine  Folgen  zunichte.  Er  würde,  denke  ich,  auch 
wenn  die  Bündischen  nicht  so  rasch  gekommen  und  das  Schloß 
wirklich  erstürmt  wäre,  für  die  gemäßigte  Partei  und  die  Bauern- 
sache überhaupt  unheilvoll  geworden  sein.  Denn  es  ist  wohl  an- 
zunehmen, daß  die  anarchischen  Elemente  auch  unter  den  Weins- 
bergern  die  Oberhand  gewonnen  und  die  Führer  mit  sich  fort- 
gerissen oder  überwältigt  haben  würden.  Götz,  von  Argwohn 
stets  umlauert,  fühlte  sich  seines  Lebens  niemals  sicher;  und  auch 
Ge3'er  und  seine  Mitgesandten  wiesen  die  Rothenburger,  als  diese 
gegen  den  Artikel  von  der  Einhaltung  der  Steuern  Einwendung 
machten,  mit  der  Erklärung  ab,  daß  sie  an  den  Willen  des  ge- 
meinen Haufens  gebunden  seien;  man  würde  sie  im  Lager  er- 
schlagen, wenn  sie  dem  Rat  darin  zu  Willen  wären.  Das  gemäßigte 
Programm  Götzens  und  Metzlers  hätte  also  schwerlich  behauptet 
werden  können.  Um  so  weniger,  da  der  Konflikt  über  das  Mainzer 
Oberstift  noch  völlig  ungelöst  war  und  sich  in  den  widersprechen- 
den Befehlen,  die  aus  dem  Lager  an  die  dortigen  Städte  und 
Flecken  erlassen  wurden,  immer  mehr  verschärfte.  Gerade  Geyer 
finden  wir  auch  hierbei  ganz  auf  selten  der  Franken  und  als  den 
heftigsten  Gegner  der  Odenwälder.  Ich  kann  mir  daher  nicht  so 
unbedingt  den  Bericht  Lorenz  Fries'  von  seiner  Haltung  bei 
dem  Streit  über  das  Schloß  von  Würzburg  aneignen,  der  bisher 
von  jedermann  als  Tatsache  nacherzählt  und  auch  von  Haupt- 
mann verwertet  worden  ist.  Fries  stellt  hier  Florian  mit  Götz 
auf  eine  Seite,  indem  er  ihm  das  Wort  in  den  Mund  legt:  hätte 
er  der  Taubertalischen  und  derer,  die  von  dem  Gäu  wären,  ge- 
sch\\inden  Sinn  anfänglich  gewußt,  so  hätte  er  sie  lieber  erstochen 
werden  lassen,  als  daß  er  zu  ihnen  gekommen  wäre;  er  sehe  wohl, 
daß  es  des  Teufels  Bruderschaft  und  dem  Evangelio  nit  gemäß 
wäre.  Er  soll  mit  Bubenleben,  dem  Pfarrer  von  Mergentheim,  in 
ein  »zänkisch  Gefecht«  gekommen  sein,  weil  dieser  den  Vertrag  ge- 
hindert habe.  Da  sei  ihm  das  Wort  entfallen:  »es  sollte  kein  Pfarrer 
in  diesem  Rat  sitzen.«  Worauf  der  Pfarrer:  »man  sollte  keinem 
Edelmann  in  diesen  Sachen  getrauen.«  Fries  schrieb  erst  nach 
Jahren,  und  jene  Stelle  steht  auf  einem  der  nachträglich  einge- 


190  Kleine  historische  Schriften. 

lugten  Stücke.  Auch  darf  man  dem  redseligen  Manne,  wie  ein 
Vergleich  mit  Zweifel  lehrt,  keineswegs  in  jedem  Satze  aufs  Wort 
glauben.  Vor  allem  aber  steht  die  Angabe  mit  dem,  was  wir  sonst 
von  Florian  Geyer  wissen,  so  sehr  im  Widerspruch,  zumal  mit 
der  Haltung,  die  er  unmittelbar  darauf  in  Rothenburg  einnahm, 
daß  ich  nicht  wagen  möchte,  sie  nachzuerzählen; 

So  zahlreich  nun  auch  die  Erklärungen  von  Herren  und 
Grafen  für  den  Bund  der  Odenwälder  gewesen  sein  mögen,  ist 
es  doch  völlig  abwegig,  wenn  Lamprecht  von  dem  Nachzittern 
der  Sikkingischen  Rebellion  unter  dem  fränkischen  Adel  phanta- 
siert und  von  dessen  Lust,  noch  einmal  »das  Haupt  zu  erheben 
und,  dann  freilich  rettungslos  revolutionär,  mit  Bauern  und  Städten 
Sturm  zu  laufen  gegen  die  Fürsten  zur  Befreiung  des  Kaisers, 
zur  Errichtung  des  geträumten  neuen,  glänzenden,  großen  Reiches 
deutscher  Nation«.  Er  schreibt,  so  scheint  es,  hier  wie  anderswo, 
Bezold  nach,  dessen  etwas  zu  weitgehende  Angaben  er  in  seiner 
Manier  aufbauscht  und  verzerrt.  Vielmehr  müssen  \\ir  sagen,  daß 
die  Edelleute,  die  mit  den  Bauern  paktierten  und  ihre  12  Artikel 
unterschrieben,  geradeso  wie  die  hohen  Herren,  die  Grafen  von 
Hohenlohe,  die  von  Löwenstein,  Bischof  Wilhelm  und  der  Pfalz- 
graf, in  der  Mehrzahl  dazu  gezwungen  worden  sind.  Sie  wurden 
terrorisiert,  wie  Tausende  unter  den  Bauern  selbst,  die  von  der 
lodernden  Flamme  des  Aufruhrs  mit  fortgerissen  wurden.  Sie 
kauften  sich  von  der  Rache  der  Rebellen  los;  das  Schicksal  der 
Ermordeten  von  Weinsberg  stand  ihnen  vor  Augen.  Sie  mußten 
sich  ducken,  bis  das  Wetter  vorüberging;  und  Verwegenere  unter 
ihnen  mochten  denn  auch  wohl  vorziehen,  den  Hammer  zu  spielen 
statt  des  Ambosses.  Doch  weiß  ich  noch  gar  nicht,  ob  die  Anschul- 
digungen gegen  Götz  von  BerUchingen,  die  heute,  seitdem  Sar- 
torius  sie  mit  dreistem  Mut  ausgesprochen,  trotz  der  wackeren 
Verteidigung  des  Ritters  durch  Oechsle  allgemein  wiederholt 
werden,  gerechtfertigt  sind.  Auch  er  verstand  seine  Verpflichtung 
jedenfalls  nur  auf  Zeit  und  machte,  als  die  vier  Wochen  herum 
waren,  daß  er  davonkam;  sein  Glück  wollte,  daß  es  gerade  der 
Tag  vor  Königshofen  war,  an  dem  er  das  Weite  suchte.  Direkt 
als  Rebell  und  Bauernhauptmann  wird  in  der  Liste,  die  den  Adel 


Florian  Geyer.  191 

des  Neckargebiets  umfaßt  und  noch  vor  Götzens  Eintritt  auf- 
gesetzt ist,  ein  Hans  von  Thalheim  genannt,  ein  alter  Diener  des 
Pfalzgrafen.  Er  ward  von  den  pfälzischen  Reisigen  auf  ihrem 
Zuge  nach  Würzburg  in  einem  Dorf  nicht  weit  von  Heidelberg 
aufgegriffen;  über  sein  Schicksal  wird  nichts  gesagt,  man  hat 
ihn  vermuthch  laufen  lassen. 

In  dem  eigentlichen  Franken  aber,  den  Landschaften  am 
Main,  in  den  Bistümern,  wo  der  Hauptanhang  Sikkingens 
saß  und  jetzt  die  Frankenbauern  hausten,  wird  es  uns  wirklich 
schwer,  außer  Florian  Geyer  einen  Edelmann  namhaft  zu  machen, 
der  zu  ihrem  radikalen  Programm  geschworen  hätte.  Unter  den 
Hunderten  von  AdeUgen  und  Beamten,  die  in  der  Fries' sehen 
Chronik  vorkommen,  sind  es,  wenn  ich  recht  gezählt  habe,  kaum 
ein  halbes  Dutzend,  und  diese  fast  sämtHch  gezwungen;  im  Gebiet 
der  Tauberbauern  finde  ich  überhaupt  keinen.  Auch  in  Zweifels 
Buch  begegnet  uns  außer  Stephan  von  Menzingen,  der  ja  aber 
längst  in  Rothenburg  das  Bürgerrecht  hatte,  keiner  vom  Adel 
im  Bauernlager. 

Gerade  die  Anhänger  der  Reformation,  die  Vettern  und 
Freunde  Ulrichs  von  Hütten,  auf  die  er  für  seinen  Pfaffenkrieg 
gerechnet  hatte,  waren  jetzt  die  festesten  Stützen  Bischof  Kon- 
rads. Sj'lvester  von  Schaumburg,  der  im  Mai  1520  Luthern  ein 
Asyl  auf  seiner  Burg  gegen  die  Romanisten  angeboten  hatte, 
verhandelte  namens  der  würzburgischen  Ritterschaft  am  Palm- 
sonntag mit  den  Bauern  in  Mergentheim,  neben  ihm  für  den  Bischof 
der  Hofmeister  und  Dr.  iur.  Sebastian  von  Rotenhan,  er,  dem 
Hütten  einst  seine  Trias  Romana  mit  jenem  herrUchen  Bekenntnis 
für  die  deutsche  Freiheit  zugeschrieben  hatte.  Beide  waren  im 
Kriegsrat  auf  dem  Frauenberg,  und  vor  allem  die  Umsicht  und 
Energie  Herrn  Sebastians  hat,  nach  dem  Zeugnis  des  Chronisten, 
das  Schloß  dem  Bischof  erhalten.  Auch  den  dritten  großen  Namen 
unter  dem  reformfreundlichen  Adel  des  Mainlandes  finden  wir 
auf  der  Fürstenseite,  Hans  von  Schwarzenberg,  der  mit  Mark- 
graf Kasimir  gegen  die  Bauern  zog;  und  das  Würzburger  Schloß 
ward  von  den  namhaftesten  Mitgliedern  des  Stiftsadels,  den  Zobel, 
Thüngen,  Bibra,  Aufseß,  Castel  und  vielen   anderen,    verteidigt. 


192  Kleine  historische  Schriften. 

Dort  treffen  wir  auch  I.orcnz  von  Hütten,  wahrscheinlich  den 
Bruder  Ulrichs,  der  ihn  auf  der  Ebernburg  um  sich  hatte,  und 
Sebastian  Geyer,  den  Amtmann  von  Bütthard,  dessen  Bauern 
in  der  Feldmark  von  Ingolstadt  saßen;  beide  waren  über  eine 
Rotte  im  Schloß  gesetzt.  Ein  anderer  Verwandter  Florians,  Am- 
brosius  Geyer,  führte  die  würzburgischen  Reisigen  unter  Jörg 
Truchseß  und  machte  mit  den  Bündischen  die  Schlachten  von 
Königshofen  und  Sulzdorf  mit.  Er  hat,  wie  bemerkt,  eine  kurze 
Chronik  von  dem,  was  er  erlebt,  verfaßt,  ohne  seines  rebelHschen 
Verwandten  nur  mit  einem  Wort  zu  gedenken;  schwerlich,  weil 
er  sich  schämte,  seinen  Namen  zu  nennen,  sondern  weil  ihm  die 
Tatsache  nicht  den  Eindruck  machte,  wie  uns  Nachgeborenen. 
Auch  die  Senioren  derer  von  Hütten,  Frowin  und  Ludwig,  an 
denen  Ulrich  so  gute  Gönner  besessen  hatte,  standen  den  Bauern 
gegenüber;  jener  als  Hofmeister  des  Mainzer  Erzstiftes  und  Führer 
seiner  Reisigen  unter  dem  Truchseß,  dieser  unter  dem  Mark- 
grafen als  der  mildgesinnte  Amtmann  von  Kitzingen,  der  bei 
seinem  brutalen  Herrn  vergebens  ein  Wort  für  die  unglücklichen 
Amtsverwandten  einlegte.  Es  wäre  auch  wirklich  nicht  zu  be- 
greifen, wie  diese  Edelleute,  deren  Existenz  auf  der  Verbindung 
mit  ihrem  Bistum  in  dem  Kapitel  und  der  ganzen  geistlich-welt- 
lichen Verfassung  beruhte,  und  deren  ganzer  Stand  von  den  ra- 
senden Bauern  mit  Vernichtung  bedroht  war  (hunderte  frän- 
kischer Schlösser  gingen  in  Flammen  auf),  dazu  hätten  kommen 
sollen,  ihre  Sache  mit  den  Rebellen  zu  verbinden.  Das  w^äre  in 
der  Tat  rettungslos  revolutionär  gewiesen. 

Was  schließhch  Florian  Geyer  dazu  bewogen  haben  mag, 
ein  Bauernbruder  zu  werden,  ob  wirklich  die  idealen  Ziele,  die 
man  ihm  ohne  weiteres  zugeschrieben  hat,  oder  irgend  welche 
ganz  persönhche,  vielleicht  sehr  untergeordnete  Motive  ihn  ge- 
leitet haben  —  w^er  mag  das  sagen!  Die  Historie  weiß  darüber 
nichts  zu  berichten.  Wohl  möglich,  daß  auch  er  nur  ein  »Ver- 
dorbener vom  Adel«  gewesen  ist,  wie  jener  »Thoma  Bauer«,  der 
den  Rebellen  in  Bayreuth  die  Fahne  vorantrug. 


Philipp  Melandithon. 

(1897.) 

Uns  Deutschen  ist  es  selten  vergönnt,  unsere  Feste  gemeinsam 
zu  begehen.  Jede  Erinnerung  an  die  Epochen,  welche  die  Mark- 
steine in  unserer  Entwickelung  setzten,  an  die  Bildner  unserer 
Nationalität,  die  Helden  des  deutschen  Geistes  reißt  alte  Wunden 
auf;  und  schmerzhch  können  wir  an  der  Gleichgültigkeit  und  Ab- 
neigung oder  auch  dem  Hasse  aller  Gegner  der  Reformation  jedes- 
mal ermessen,  wie  tief  die  Kluft  in  unserem  Volke  geworden  ist, 
seitdem  Luther  und  seine  Freunde  es  unternahmen,  die  lateinische 
Kirche  zu  den  Quellen  der  Religion  und  der  Bildung  zurückzu- 
führen. So  an  dem  Tage,  als  die  protestantische  Welt  in  freudiger 
Bewegung  das  vierte  Säkularfest  ihres  Reformators  feierte,  und  so 
auch  jetzt  wieder,  da  wir  uns  zu  der  gleichen  Ehrung  Melanch- 
thons  vereinigten.  Und  wenn  unsere  Widersacher,  welche 
damals  die  Reformation  und  ihre  Helden  mit  Wogen  von 
Schmutz  Übergossen,  diesmal  stiller  gebHeben  sind,  so  ver- 
danken wir  das  vielleicht  nur  dem  Verhalten  unserer  Regierung, 
welche  vor  ein  paar  Jahren  zu  Ehren  eines  tschechischen  Schul- 
meisters, dessen  Name  die  wenigsten  kannten,  einen  ganzen  Apparat 
in  Szene  setzte,  heute  aber,  da  es  dem  Schildträger  Luthers,  dem 
Verfasser  der  Augustana,  dem  Reorganisator,  ja  dem  Schöpfer 
der  protestantischen  Schule  und  Gelehrsamkeit,  dem  Praeceptor 
Germaniae  galt,  sich  mit  der  Anweisung  begnügen  zu  können 
glaubte,  der  Verdienste  des  Mannes  gelegentlich  im  Laufe  der 
Unterrichtsstunden  zu  gedenken. 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  I3 


194  Kleine  historische  Schriften^ 

Freilicli  würden  wir  weder  die  historische  Wahrheit  noch  die 
eigene  Meinung  des  selbstlosen  Gelehrten  treffen,  wenn  wir  Melanch- 
thon  als  einen  religiösen  Heros,  ebenbürtig  seinem  großen  Freunde, 
schildern  wollten.  Solche  Rolle  hat  ihm  von  allen  Zeitgenossen 
nur  noch  Luther  in  bescheidener  Selbstverkennung  zuschreiben 
wollen.  Melanchthon  selbst  ist  fern  davon  gewesen,  seine  Gaben 
so  hoch  einzuschätzen.  Und  wenn  man  in  unserm  Jahrhundert 
einen  Fortschritt  der  religiösen  Idee  gegen  Luther  in  ihm  hat 
wahrnehmen  wollen,  wenn  man  ihm  einen  freieren  und  lichteren 
Geist  vindiziert,  seine  tolerante  Natur  der  starren  Lehre  und  Un- 
beugsamkeit Luthers  gegenüber  gepriesen  hat,  so  hat  man  damit 
mehr  von  ihm  behauptet,  als  er  selbst  ohne  Frage  zugegeben 
oder  auch  nur  gewünscht  haben  würde.  Zum  Teil  wenigstens 
entsprang  seine  Friedensliebe,  gestehen  wir  es  nur,  eher  augen- 
bhckhcher  Schwäche  als  einer  freien  oder  gar  tieferen  Auffassung 
der  religiösen  Probleme;  und  mehr  als  einmal  ging  bei  ihm  die 
Nachgiebigkeit  gegen  altgläubige  Gegner  Hand  in  Hand  mit  un- 
duldsamer Gesinnung  gegen  die  geringen  Lehrdifferenzen,  welche 
Wittenberg  von  Straßburg  oder  Zürich  schieden. 

Als  er  nach  Sachsen  kam,  im  Sommer  15 18,  begann  Luther 
eben  aus  seinem  theologischen  Winkel  herv^orzutreten  und  die  Auf- 
merksamkeit weiterer  Kreise  zu  erregen.  Kürzhch  erst  war  er  in 
Heidelberg  gewesen,  Melanchthons  alter  Hochschule,  wo  er  dem 
Kreise  seiner  Jugendfreunde  und  Lehrer  nahe  trat,  und  schon 
hatte  er  mit  Johann  Eck  und  anderen  Vorkämpfern  des  Papstes 
seine  ersten  Fehden  ausgefochten.  Auch  ein  vatikanischer  Theologe, 
Silvester  Prierias,  hatte  bereits  einen  Pfeil  gegen  den  deutschen 
Ketzer  abgeschossen,  und  soeben  war  in  Wittenberg  die  Zitation 
eingelaufen,  welche  ihn  nach  Augsburg  ziun  Verhör  vor  Cajetan 
beschied.  Hinter  ihm  lagen  die  Jahre  des  Klosters,  der  Zeit,  »da 
er  den  Kampf  in  banger  Brust  verhüllt  trug,  der  bald  der  Erde 
halben  Kreis  erfüllen  sollte« ;  die  Universität  stand  ihm  treu  zur 
Seite;  und  der  Kurfürst,  von  Spalatin  beraten,  hielt  die  schützende 
Hand  über  seinem  Professor.  Aber  niemand  konnte  bereits  ahnen, 
welche  Stürme  so  bald  aus  diesem  Kreise  von  Gelehrten  über  Staat 
und   Kirche   Deutschlands  daherbrausen   würden,   und   in   voller 


Philipp  Melanchthon.  |95 

Pracht  ragte  noch  der  Dom  der  Hierarchie  himmelan;  kein  Stein 
war  bis  jetzt  aus  dem  wie  für  die  Ewigkeit  gegründeten  Gemäuer 
losgebröckelt. 

Am  wenigsten  sah  wohl  der  junge  Gelehrte,  den  Spcdatins 
Eifer  für  die  Elb-Universität  gewonnen  hatte,  in  die  Zukunft. 
Recht  im  Gegensatz  zu  Luther,  dem  schon  als  Knabe  in  die  Welt 
Hinausgeworfenen,  war  INIelanchthon  niemals  von  den  Latein- 
und  Hochschulen  seiner  Heimat  und  aus  der  Obhut  der  Verwandten 
und  väterhcher  Freunde  weggekommen.  Bretten,  Pforzheim  und 
die  beiden  Neckar-Universitäten,  die  anmutigen  Täler  Ober- 
deutschlands, waren  die  Stätten  seines  Lebens  und  Lernens  ge- 
wesen und  die  klassischen  Autoren  des  heidnischen  und  des  kirch- 
lichen Altertums  seine  geistige  Welt.  Niemals  hatte  er  das  Be- 
dürfnis eines  Bruches  mit  den  alten  Ordnungen  in  sich  empfunden, 
jenen  Widerwillen  gegen  Wissenschaft  und  Welt,  der  Luther  von 
dem  bunten  Treiben  an  der  Universität  in  das  Kloster,  von  der 
Jurisprudenz  zur  Theologie  getrieben  hatte. 

Begabung,  Erziehung,  die  Verwandtschaft  mit  Reuchlin,  vor- 
züghch  aber  die  angeborene  Neigung  hielten  Melanchthon  im  ge- 
wohnten Geleise  fest.  Er  kannte  nicht  Süßeres  als  die  Schul- 
triumphe, durch  die  er  schon  als  Knabe  in  Pforzheim  das  Erstaunen 
seiner  Lehrer  erweckt  und  die  Liebe  seines  Großoheims  gewonnen 
hatte.  Und  niemals  ist  er  glücklicher  gewesen  als  in  den  Jugend- 
jahren; nie  vergaß  er  die  Stunde,  da  ihn  Reuchlin  mit  dem  Segen 
Abrahams  in  die  Fremde  gesandt  hatte,  und  noch  unter  den 
Schrecken  des  Schmalkaldischen  Krieges  erinnerte  er  sich  seufzend 
des  Tages,  da  er  in  das  sächsische  Land  gekommen  sei,  »un- 
wissend,  wie  süß   das  Vaterland  ist«. 

Es  waren  die  Jahre,  da  der  Humanismus  auf  deutschem  Boden 
seine  Blüte  fand,  da  sich  die  Schar  der  Poeten  sammelte  zur  lustigen 
Fehde  gegen  die  Dunkelmänner;  zu  keiner  Zeit  waren  sie  kecker, 
übermütiger,  selbstzufriedener  gewesen.  In  ihrem  Kreise  hatte 
auch  Melanchthon,  so  jung  er  war,  eine  ehrenvolle  Stelle  gewonnen. 
Lebte  er  doch  gleichsam  als  Schildknappe  in  der  Nähe  des  würdigen 
Gelehrten,  zu  dessen  Schutz  sich  die  Humanisten  damals  zusammen- 
scharten. Von  ihm  stammt  die  Vorrede  zu  den  Briefen  der  Berühmt- 

13* 


1^96  Kleine  historische  Schriften. 

heiten  aus  dem  gelehrten  Lager,  die  als  Ehrengabe  dem  schwer 
gekränkten  Manne  dargebracht  wurden;  und  in  den  Episteln  der 
obscuri  viri  wird  er  selbst  als  einer  der  ärgsten  Theologen  feinde 
geschildert. 

Noch  immer  spukt  in  unserer  historischen  Literatur  die  Vor- 
stellung von  einem  ausgesprochenen  Gegensatz  zwischen  der 
älteren,  korrekt-kirchlichen  und  der  jüngeren  Humanistenschule, 
den  Stürmern  und  Drängern,  die  berauscht  von  dem  Schönheits- 
sinn und  Geistesadel  der  Antike  der  hierarchischen  Weltanschauung 
grundsätzhch  den  Krieg  erklärt  hätten.  Luther  habe,  so  pflegt 
man  weiter  zu  sagen,  diese  freie  Weltauffassung,  die  jung  erwachte 
Lust  am  Schönen  und  an  der  Kritik,  durch  seine  starre  Theologie 
geknickt  oder  doch  eingeschnürt  in  die  Fesseln  der  Konfession; 
und  man  hat  wohl  gar  gemeint,  daß  erst  das  achtzehnte  Jahr- 
hundert die  humanen  Ideale  eines  Hütten  und  Erasmus  wieder 
aufgenommen  habe.  Sogleich  sind  dann  unsere  römischen  Freunde 
geschäftig  gewesen,  den  von  uns  geschaffenen  Riß  zu  erweitern: 
weil  die  jungen  Humanisten,  die  Glaubenslosen,  die  Revolutionäre 
von  der  Kirche  abgewichen  wären  (so  schallt  es  in  dem  Chor,  den 
Janssen  führte),  sei  die  Wissenschaft,  die  unter  dem  Schutz  der 
Kirche  fromm  und  frei  emporgeblüht,  verkommen;  ihres  Geistes 
sei  Luther  schon  \-or  der  Klosterzeit  gewesen,  und  sie  seine  Bundes- 
genossen geworden  in  der  Zerstörung  der  Kirche  und  damit  aller 
wahrhaft  freien  Studien. 

Wenn  irgendwo,  so  läßt  sich  bei  dem  Lebenslauf  Melanch- 
thons  die  Verworrenheit  solcher  Anschauungen  klarmachen.  Zu 
den  Geschorenen  stand  er,  wenn  nicht  schon  in  Heidelberg,  so 
doch  gewiß  in  Tübingen  kaum  anders  als  der  Spötter  Erasmus, 
dem  er,  wie  die  Humanisten  ohne  Ausnahme,  eine  grenzenlose  Be- 
wunderung widmete,  und  der  die  seinem  Ohr  so  süßen  Kosenamen 
mit  nicht  weniger  glänzenden  Zensuren  vergalt.  Nirgends  waren 
die  Dunkelmänner  heftiger  gezwackt  worden  als  in  jenen  Briefen, 
worin  sie  ihre  eigene  Barbarei  zur  Schau  stellen  mußten;  und 
derbere  Possen  über  die  faulen  und  geilen  Mönche  hatte  auch 
Erasmus  niemals  drucken  lassen  als  in  den  Fazetien  Heinrich 
Bebel,  Melanchthons  Kollege  und  Lehrer,  »der  Vater  der  Schwarz- 


Philipp  Melanchthon.  197 

Wälder  Musen«,  wie  er  ihn  in  der  griechischen  Totenklage,  die  er 
ihm  ^^•idmete,  nennt.  Aber  derselbe  IMelanchthon  war  in  Heidel- 
berg Schüler  des  gefeierten  Theologen  Pallas  Spangel  gewesen, 
der  noch  ganz  im  Bann  der  scholastischen  Doktrinen  stand;  zeit- 
lebens hat  er  ihm  das  treueste  Andenken  bewahrt.  Auch  in  Tü- 
bingen hat  er  noch  den  scholastischen  Studien  Zeit  gewidmet;  er 
hat  damals  versucht,  zwischen  dem  nominalistischen  und  dem  rea- 
listischen Sj'stem,  die  beide  dort  recht  friedlich  miteinander  aus- 
kamen, eine  Brücke  zu  schlagen,  und  dabei  schon  die  Klarheit  der 
Disposition  und  die  Leichtigkeit  der  Begriffsbestimmung  entwickelt, 
welche  wir  in  seinen  protestantischen  Lehrschriften  bewundern.  Und 
wenn  er  auch  den  scholastischen  Spitzfindigkeiten  keinen  Geschmack 
abgewinnen  konnte,  gab  es  doch  kaum  einen  eifrigeren  Freund 
theologischer  Studien.  Aufs  tiefste  ergriff  ihn  die  Lektüre  des 
Neuen  Testaments  in  der  Ausgabe  des  Erasmus:  »welche  Blitze!«, 
schreibt  er  bewundernd,  indem  er  sie  mit  der  Vulgata  vergleicht. 
Auch  darin  stand  er  nicht  allein.  Denn  der  Ruhm  jenes  großen 
Humanisten  gründete  sich  nicht  bloß  auf  seine  Angriffe  gegen 
die  überlieferte  Theologie  und  die  Trägheit  ihrer  berufenen  Lehrer, 
sondern  viel  mehr  noch  auf  seine  Studien  in  den  heiligen  und 
kanonischen  Schriften.  Seit  frühester  Jugend  war  Melanchthon 
in  diesem  Sinn  erzogen  worden.  Noch  in  seinem  Alter  gedenkt  er 
des  tiefen  Eindruckes,  den  die  Zeremonien  der  alten  Kirche  auf 
sein  Kinderherz  gemacht  hatten.  In  dem  Eltemhause  lebte  der 
Geist  schlichter  Frömmigkeit,  dem  wir  so  oft  in  den  deutschen 
Bürgerhäusern  vor  der  Reformation  begegnen.  Von  seinem  Vater 
wird  erzählt,  daß  er  in  jeder  Mitternacht  vom  Lager  sich  erhoben 
und  auf  den  Knien  ein  Gebet  verrichtet  habe;  als  er  starb,  er- 
mahnte er  seine  Kinder,  immerdar  der  Kirche  treu  zu  bleiben. 
Und  nicht  anders  empfand  Reuchlin  trotz  aller  Angriffe,  die  ihm 
von  der  Inquisition  her  widerfuhren.  An  einen  Bruch  mit  der 
Hierarchie  im  Sinne  Luthers  dachte  in  diesen  Kreisen  niemand. 
So  also  kam  ]\Ielanchthon  nach  Wittenberg  —  und  von  der 
ersten  Stunde  ab  steht  er  an  der  Seite  des  Mannes,  der  schon  zu 
den  vernichtendsten  Streichen  gegen  den  Bau  ausholt,  an  dem  die 
Jahrhunderte  gearbeitet  hatten. 


j^93  Kleine  historische  Schrifteu. 

Und  nicht  anders  wird  er  aufgenommen.  Vor  allem  Luther 
neigt  sich  neidlos  vor  den  herrhchen  Gaben  des  JüngHngs.  Er 
eignet  sich  fast  die  Überschvvenglichkeiten  der  Humanisten  an, 
wenn  er  von  ihm  spricht:  er  sei  ein  wunderbarer  Mensch,  nichts 
sei  an  ihm,  was  nicht  übermenschlich  wäre.  Aber  niemals  gab  es 
eine  reinere,  überzeugtere  Begeisterung.  Der  Reformator  vergleicht 
sich  dem  »groben  Waldrechter <( ,  der  die  Bahn  brechen  müsse: 
»aber  Magister  Phihppus  fährt  säuberlich  stille  daher,  säet  und 
begießt  mit  Lust,  nachdem  ihm  Gott  gegeben  seine  Gaben 
reiclilich«.  »Ach«,  sagt  er  ein  andermal,  »Magister  Philippus  ist 
ein  fromm  Herz,  ich  verstehe  ihn  wohl;  er  versucht  mit  ruhigen 
Worten  die  Gegner  zu  bekehren;  er  ahmt  den  Propheten  Joel 
nach;  er  braucht  die  Hacke,  ich  die  scharfe  Streitaxt«.^)  Nicht 
die  leiseste  Spur  von  Widerspruch  gegen  den  Geist,  in  dem  der 
junge  »Grammatist«,  der  » Graecanissimus «  aufgewachsen  war, 
atmen  Luthers  Briefe  aus  dieser  Zeit ;  und  keinen  Augenblick  war 
Melanchthon  sich  bewußt,  daß  er  in  ein  ihm  fremdes  Lager  über- 
gegangen sei.  Also  können  wir  getrost  sagen,  daß  ein  solcher 
Z\nespalt  überhaupt  nicht  bestand ;  daß  die  Bildung,  aus  der  er 
herkam,  in  Wittenberg  einmündete;  daß  die  Reform  von  Schule 
und  Kirche,  die  sie  anstrebte,  sich  wenigstens  aufs  leichteste 
verbinden  ließ  mit  dem  Geist,  der  in  Wittenberg  eben  zur  Herr- 
schaft kam. 

Daß  Erasmus  und  so  viele  andere  Gelehrte,  Pirckheimer  und 
Crotus  Rubeanus,  Beatus  Rhenanus,  ja  selbst  ein  Wimpheling, 
zurückwichen,  kann  kein  Gegenbeweis  sein,  sowenig  wie  die  Zer- 
störung und  Verödung  mancher  Schulen  und  Universitäten  Deutsch- 
lands unter  den  unvermeidlichen  Stürmen  der  Revolution,  welche 
Staat  und  Kirche  in  ihren  Grundfesten  erschütterte.  Der  Humanis- 
mus ist  doch  wahrlich  nicht  mit  der  Reformation  zu  Ende  gegangen. 
Wo  immer  die  protestantische  Kirche  in  Europa  sich  erhob,  kamen 
ihre  Wortführer  gerade  aus  den  humanistischen  und  geistig  an- 
geregten Kreisen  hervor:  Zwingli  und  Vadian,  le  Fevre,  Calvin 
und  Beza,  Johann  Laski  und  Dryander  sind  die  Zeugen;  und  so 

^)  Zitiert  von  O.  Vogt,  Melanchthons  Stellung  als  Reformator, 
Studien  und  Kritiken,     XL,  90. 


Philipp  Melanchthon.  199 

waren  auch  die  analogen  Bestrebungen  im  katholischen  Lager, 
man  denke  an  Männer  wie  Contarini  und  seine  Freunde,  mit  den 
literarischen  Idealen  Melanchthons  verwandt :  als  einer  der  größten 
Gelehrten  im  ganzen  Abendlande  ward  er  gerade  in  den  Witten- 
berger Jahrzehnten  gepriesen. 

Als  er  kam,  hatten  diese  Studien  dort  noch  kaum  Eingang  ge- 
funden. Auch  in  Erfurt  war  Luther,  wie  wir  jetzt  bestimmt  sagen 
dürfen,  von  ihrem  Geiste  kaum  gestreift  worden.  In  die  Tiefen, 
in  die  ihn  seine  Spekulationen  geführt  hatten,  reichte  dieser 
überhaupt  nicht  hinab,  weder  die  historischen  noch  die  philo- 
sophischen oder  gar  die  theologischen  Vorstellungen,  die  sich  an 
der  Wiederbelebung  der  klassischen  Welt  entzündet  hatten.  Die 
Humanisten  glaubten,  des  scholastischen  Systems  durch  Igno- 
rierung Herr  zu  werden ;  sie  meinten,  indem  sie  es  beiseite  schoben, 
es  schon  mit  allen  Wurzeln  ausgerissen  zu  haben;  sie  verkannten, 
daß  es  mit  dem  Wurzelgeflecht  der  Hierarchie  zusammenhing, 
und  daß  sie  also  den  Ast  absägten,  auf  dem  sie  doch  sitzen  bleiben 
wollten.  Luther  hatte  die  kirchliche  Philosophie  von  Grund  aus 
studiert.  Er  dachte  nicht  an  eine  Vermittlung  ihrer  beiden  Schul- 
systeme, sondern  versenkte  sich  mit  allem  Ernst  und  ausschließlich 
in  die  fortgeschrittene,  die  nominalistische  Doktrin,  die  zur  Skepsis, 
zur  Selbstauflösung  der  Scholastik  hinführte.  Und  indem  er  die  Un- 
vereinbarkeit einer  Philosophie,  welche  auf  die  Ergründung  der  gött- 
lichen Geheimnisse  durch  die  menschliche  Vernunft  ausging,  mit  der 
Gottesvorstellung  erkannte,  zu  derer  sich  in  den  einsamen  Kämpfen 
seiner  Seele,  ganz  er  selbst  dem  Ewigen  gegenüber  gestellt,  hindurch- 
rang, hob  er  sie  mit  der  Wurzel  aus  dem  Boden,  den  sie  ganz  über- 
wuchert hatte  und  tausendarmig  umklammert  hielt.  Von  seinem 
Gottesbegriff  aus  zerstörte  er  den  Gottesbegriff  der  Kirche,  dem 
auch  ihre  Philosophie  und  alle  ihre  Wissenschaften  unterworfen  waren. 

Dies  war  ein  Angriff,  so  in  der  Front  und  gegen  die  stärksten 
Bollwerke  der  römischen  Kirche  ausgeführt,  daß  die  literarischen 
Fehden  der  Humanisten  dagegen  wie  ein  bloßes  Geplänkel  und 
wie  Scheingefechte  erscheinen  müssen. 

Denn  sie  wollten  ja  die  lateinische  Bildung,  welche  als  das  Erbe 
Roms  von  den  Barbaren,  die  es  zerstörten,  dennoch  festgehalten 


200  Kleine  historische  Schriften. 

war  und  sich  immer  dichter  mit  den  Anschauungen  und  Ordnungen 
der  herrschenden  Kirche  verwebt  hatte,  behaupten  und  dachten 
nur  eben  daran,  sie  in  ihrer  alten  Reinheit  herzustellen.  Und  wenn 
sie  schon  darüber  hinaus  zu  den  noch  tieferen  Quellen  des  antiken 
Geistes  vordrangen,  traten  sie  auch  damit  nur  auf  einen  Boden, 
in  dem  die  lateinische  Kirche  selbst  wurzelte,  und  den  sie  nie 
ganz  verleugnet  hatte.  Wie  hoch  sie  aber  auch  die  Kenntnis  der 
beiden  originalen  Sprachen  des  christlichen  Altertums  schätzen 
und  wie  begeistert  sie  das  Lob  des  hellenischen  Geistes,  Homers  und 
Pindars,  verkünden  mochten,  sie  blieben  dennoch  weit  entfernt, 
diese  nationalen  Kulturen  in  ihrer  Eigenart  und  ihren  Ursprüngen 
zu  verstehen  oder  auch  nur  von  der  Latiums  recht  zu  unterscheiden. 
Den  Hauptton  legten  sie  nach  wie  vor  auf  die  lateinische  Schulung, 
die  Sprache  der  Kirche.  In  ihr  lehrten,  schrieben  und  dichteten  sie; 
fast  als  die  Hauptaufgabe  für  jeden  Kenner  der  griechischen  und 
hebräischen  Sprache  galt  es,  ihre  Schriftsteller  in  das  lateinische 
Idiom  zu  übertragen;  und  ebenbürtig  standen  in  ihren  Augen 
Cicero  und  Terenz  neben  Demosthenes  und  Aristophanes,  oder 
Ovid  und  Vergil  neben  Pindar  und  Homer.  Nicht  einmal  ihre 
Methode  wich  in  Unterricht  und  Forschung  so  sehr  ab  von  der 
herkömmlichen,  und  nie  waren  sie  imstande,  mit  ihren  moralisieren- 
den und  allegorischen  Deutungen  den  Sinn  der  Alten  recht  zu  er- 
fassen. Trivium  und  Quadrivium  bUeben  die  Wege,  auf  denen  sie 
zum  Verständnis  der  Antike  zu  gelangen  strebten;  und  die  Philo- 
sophie und  Eloquenz,  welche  Melanchthon  als  das  Endziel  aller 
humanen  Studien  hinstellte,  war  doch,  mag  man  sie  nun  an  ihren 
klassischen  Vorbildern  oder  an  der  Religion  Luthers  und  Roms 
oder  gar  an  der  FüUe  und  Freiheit  moderner  Wissenschaft  und 
Dichtung  messen,  nicht  viel  mehr  als  hausbackene  Moral  und 
trockene,  eklektische  Imitation.  Eine  freie  und  selbständige 
Bildung  haben  die  deutschen  Humanisten  niemals  angestrebt. 
Sie  waren  von  Anfang  her  Pädagogen  und  stellten  in  letzter 
Linie  ihre  Bemühungen  um  reine  Latinität  und  die  Her- 
stellung der  alten  Literatur  in  den  Dienst  der  Schule  und  der 
Kirche.  Wenn  irgend  einer,  so  ist  Melanchthon  allein  unter 
diesem    Gesichtspunkt    zu    verstehen.      Darin    gleicht    er   ganz 


Philipp  Melanchthon.  201 

Jakob  Wimpheling,  der  alle  Fragen  in  Kirche  und  Welt,  wie  ein 
geistreicher  Schriftsteller  gesagt  hat,  mit  dem  Schulmeister  lösen, 
alle  Schäden  pädagogisch  heilen  wollte;  wie  denn  auch  sein  Lehrer 
in  Pforzheim,  Simler,  der  ihm  in  Tübingen  als  Kollege  wieder 
nahetrat,  in  Wimphelings  Heimatsort  zu  Schlettstadt,  an  der 
Quelle  des  elsässischen  Humanismus  seine  Bildung  erworben  hatte. 
Ganz  so  leitet  auch  Melanchthon  in  der  Rede,  mit  der  er  sich  in 
Wittenberg  einführte,  und  die  ihm  mit  einem  Schlage  die  Be- 
wunderung der  neuen  Kommilitonen  gewann,  den  Abfall  und  das 
Verderben  in  der  Kirche  von  dem  Untergange  der  echten  Studien 
ab:  in  den  ersten  vier  Jahrhunderten  der  Kirche,  meint  er,  in 
ihrer  unrömischen,  glaubensreinen  Zeit  seien  auch  Philosophie 
und  Eloquenz  und  alle  Wissenschaften  auf  ihrer  Höhe  gewesen; 
erst  mit  dem  Untergange  des  Römischen  Reiches  und  dem  Auf- 
kommen des  Papsttums  sei  die  Bildung  erstickt  worden.  Darum 
stellt  er  es  als  seine  Lebensaufgabe  hin,  die  Wissenschaften  zu 
pflegen;  denn  unrettbar  sei  sonst  die  Welt  der  Barbarei,  der 
geistigen  und  sittlichen  Verödung  verfallen^).  Und  darum  ward 
er  in  den  Jahren  der  Revolution,  die  den  Ahnungslosen  über- 
raschte, so  vom  Schrecken  ergriffen,  als  er  die  Schulen  und 
Universitäten  unter  der  allgemeinen  Verwirrung  leiden  und  Ver- 
wüstung an  Stelle  des  frischen  und  frohen  Treibens  seiner  jungen 
Jahre  treten  sah. 

Hier  aber  ist  der  Punkt,  wo  er  sich  mit  Luther  treffen  mußte. 
Auch  dieser  hatte  die  scholastische  Barbarei  bekämpft,  und  viel 
radikaler  noch  als  jemals  Melanchthon  und  alle  Poeten:  er  hatte 
ein  Prinzip  aufgestellt,  das,  wenn  es  durchgeführt  ward,  die  in 


^)  So  unter  vielen  andern  Stellen  in  einem  Briefe  an  Spalatin,  22.  Juli 
1520  (Corpus  Reformatorum  I,  207):  »Nam  ego  aliud  nihil  sequor,  quam 
quod  ex  re  literarum  esse  judico,  quas  nisi  fideUter  prudenterque  tuebimur, 
rursus  barbaries  irruet.«  Und  weiterhin:  »Non  ignoras  tu,  quae  rerum 
omnium  bonarum  vastitas  literarum  ruinam  sequatur.  Religionem,  mores, 
humana  divinaque  omnia  labefactat  literarum  inscitia.  Propterea.  si  quid 
potes,  te  adhortor  in  hanc  incumbas  curam  deüberesque,  qua  possit  ratione 
rectissime  consuli  rebus.  Meum  Studium  nuUa  in  re  vobis  defuturum  est. 
Et  ut  quisque  optimus  est,  ita  vehementissime  cupit  salvas  esse  literas, 
quod  videt  nullam  esse  inscitia  capitaliorem  pestem.« 


232  Kleine  historische  Schriften. 

di?r  herrschenden  Theologie  dicht  verwebten  Elemente  antiker 
Bildung  und  christlicher  Spekulation  voneinander  lösen  mußte 
und  wenigstens  die  Möglichkeit  für  eine  freie  und  eigenartige  Ent- 
wickelung  in  beiden  Sphären,  der  Forschung  und  der  Religion, 
si;huf:  üb^r  die  Jahrhunderte  hinweg  war  er  bis  zu  den  Quellen 
der  Offenbarung,  die  ihm  in  den  heiligen  Schriften  bloßgelegt 
lagen,  vorgedrungen.  Und  so  mußte  er,  der  die  Religion  zu  ihrem 
Ursprung  zurückführte,  in  jenen  auf  die  echten  Quellen  der  Theo- 
logie gerichteten  Studien  einen  Strom  lebendigen  Wassers  er- 
blicken, der  auf  die  neuentdeckten  Fruchtgefilde  des  evangelischen 
Glaubens  geleitet  werden  konnte.  Man  weiß,  wie  instinktiv  Luther 
jt'den  ihm  feindhchen  Geist  gewittert  und  wie  unbarmherzig  er 
ihn  dann  bekämpft  hat.  Aber  keinen  Augenblick  zögerte  er,  dem 
jungen  Gslehrten  das  Gastrecht  an  seiner  Universität  zu  gewähren. 
Nicht  das  Neue  und  Originale,  sondern  gerade  die  Klarheit,  die 
Hhigebunjj  und  der  Nachdruck,  mit  der  jener  sein  Programm  in 
tier  Antrittsrede  entwickelte,  war  es,  was  ihn  entzückte  und  ganz 
Wittenberg  zur  Bewunderung  hinriß.  Ein  Arsenal  von  Waffen 
brachte  ihnen  der  Sohn  des  Waffenschmiedes  von  Heidelberg 
herbei. 

Melanchthon  selbst  aber  ward  überwältigt  von  der  Tiefe  und 
Fülle  der  Religion,  die  ihm  in  Luthers  Lehre  entgegentrat.  Eben 
jetzt,  wo  Luther  stürmischer  als  je  vordrang  und  Stück  auf  Stück 
der  Hieiaxhie  unter  seinen  Schlägen  zusammenbrach,  schloß  sich 
Melanchthon  enger  an  ihn  an  als  jemals  später.  Er  wolle  lieber 
steiben,  schreibt  er,  als  je  von  Luther  weichen,  und  alles  für  ihn 
ertragen.  Er  nennt  ihn  seinen  EUas,  seinen  besten  Freund,  seinen 
Lehrer  und  Meister;  er  vergleicht  ihr  Verhältnis  mit  dem  des 
Alcibiades  zu  Sokrates;  jugendüch  schwärmend  bekennt  er,  daß 
ihm  Martinus  Heber  sei  als  sein  Leben,  daß  ihn  nichts  Traurigeres 
treffen  k()nne,  als  ihn  zu  missen;  er  möchte  ihn  höher  stellen  als 
die  Kirchenväter  aller  Jahrhunderte.  Er  fürchtet  nicht  die  Dro- 
hungen der  Romanisten  und  den  Bann  des  Papstes.  Wenn  Gott 
für  uns  ist,  ruft  er  aus,  wer  kann  wider  uns  sein!  Vergebens  suchen 
wii  in  dieser  Zeit  nach  einem  Lehrunterschiede  z^\ischen  ihm  und 
seinem  großen  Freunde,    Auch  in  den  Loci  communes  hat  er  doch 


Philipp  Melanchthon.  203 

nur  Luthers  Gedanken  mit  der  ihm  eigenen  klassischen  Knappheit 
und  Klarheit  zusammengefaßt.  Mag  es  denn  sein,  daß  er  in  späteren 
Jahren  von  der  Starrheit  Lutherscher  Lehrsätze  in  mehr  als  einem 
Punkte  abgewichen  ist  oder,  besser  gesagt,  gewünscht  hätte,  sie 
mildern  zu  können,  und  zwar  nicht  bloß  aus  Schwäche,  sondern 
auch  von  dem  Gefühl  getragen,  welches  die  klassischen  Studien 
in  ihm  nähren  mußten,  daß  die  theologischen  Formeln  doch  nicht 
allen  Problemen  und  der  Fülle  des  sittlichen  und  geistigen,  ja  des 
rehgiösen  Lebens  ganz  gerecht  würden:  so  ist  er  sich  doch  eines 
tieferen  Unterschiedes  in  der  Lehre  auch  dann  noch  nicht  bewußt 
gewesen;  an  den  Kerngedanken  Luthers  hat  er  Zeit  seines  Lebens 
festgehalten,  auch  in  den  bitteren  Stunden,  die  ihm  die  Reizbarkeit 
des  alternden  Reformators  und  die  Streitsucht  seiner  orthodoxen 
Nachfolger  bereitet  haben.  Er  blieb  bis  ans  Ende  sein  treuer 
Schüler,  und  ganz  vom  Herzen  kam  ihm  das  Wort,  das  er  ihm  ins 
Grab  nachrief:  er  habe,  wie  alle  Freunde  und  Schüler  des  Ent- 
schlafenen, in  ihm  den  Vater  verloren. 

Jedoch  auch  seinen  geliebten  Alten  ist  Melanchthon  in  jedem 
Moment  seines  Lebens  treu  geblieben.  Nur  Aristoteles,  dessen 
Ausgabe  er  früher  als  sein  Lebenswerk  betrachtet  hatte,  setzte 
er  anfangs,  auch  darin  dem  Einfluß  Luthers  weichend,  beiseite; 
die  Dichter  hingegen  vergaß  er  niemals,  und  bald  genug  ist  er  auch 
zu  dem  Stagiriten  zurückgekehrt.  Das  Ziel  aller  seiner  Bemühungen 
war  stets,  die  humanistischen  Studien  und  die  evangehsche  Theo- 
logie gemeinsam  zur  Herrschaft  zu  bringen.  Hierin  hatte  er  in 
Luther  und  Spalatin  nie  fehlende  Bundesgenossen.  Noch  hatten 
die  Humanisten  nirgends  wirklich  gesiegt,  wie  hitzig  sie  auch  überall 
vorgehen  mochten.  Vielmehr  ist  gerade  Wittenberg  die  erste 
Universität  gewesen,  wo  die  Scholastik  gründlich  ausgefegt  wurde. 
Durch  die  Konflikte  mit  Rom  und  dem  Kaiser  ließen  sich  die  drei 
Baumeister  nicht  aufhalten,  nur  um  so  rascher  gingen  sie  vorwärts; 
alle  Disziplinen,  auch  die  medizinischen  und  juristischen  Lehrstühle 
wurden  mit  Anhängern  der  neuen  Richtungen  besetzt.  So  ward 
hier  die  festeste  Burg  für  den  protestantischen  Humanismus  er- 
richtet, ein  Vorbild,  nach  dem  alle  evangelischen  Schulen  und 
Universitäten  des  neuen  Glaubens  sich  fortan  entwickelt  haben.  Zwei 


204  Kleine  historische  Schriften. 

Jahrhunderte  protestantischer  Gelehrsamkeit  ruhen  auf  diesen 
Fundamenten.  Und  unermüdUch  arbeitete  Melanchthon  weiter, 
um  sein  System  in  den  verschiedenen  Stufen,  von  der  Volksschule 
bis  zur  Universität,  auszubauen;  immer  war  es  dieselbe  Verbindung 
zwischen  humanistischer  Bildung  und  evangehscher  Religiosität. 
Großartig  ist  die  Tätigkeit  und  das  organisatorische  Geschick, 
das  er  dabei  entfaltet  hat.  Nach  seinen  Plänen  wurden  die 
Universitäten  gegründet  oder  reformiert,  Marburg,  Königsberg, 
Rostock,  Leipzig  usf.,  auch  Tübingen  und  Heidelberg  und  selbst 
noch  Jena,  das  dann  die  Hochburg  seiner  flacianischen  Gegner 
werden  sollte.  Seine  Lehrpläne  und  Lehrbücher  lagen  den  Vor- 
lesungen überall  zugrunde,  auch  für  medizinische  und  juristische, 
mathematisch-astronomische  und  historische  Professuren;  und 
er  entschied  über  die  Berufungen  weit  über  die  deutschen  Grenzen 
hinaus.  Mit  demselben  Eifer  umfaßte  er  den  Unterricht  auf  allen 
Stufen  und  in  allen  Fächern.  Sein  Weltruhm  als  Gelehrter  hat  zu 
keiner  Zeit  geschwankt.  Darin  wenigstens  wurde  er  niemals  ent- 
täuscht; und  auch  in  den  Jahren,  da  er  sich  vor  der  Rabies  Theo- 
logorum und  aus  den  Wirren  der  Politik  nach  der  Ruhe  des  Grabes 
sehnte,  fand  er  in  den  geliebten  Alten  immer  wieder  den  Nektar, 
der  seine  Seele  erquickte.  Er  war  ein  Professor  ohnegleichen. 
Tausende  von  Schülern  hat  er  nach  Wittenberg  gezogen:  und 
gerade  in  den  späteren  Jahren,  zumal  vor  dem  Schmalkaldischen 
Kriege,  sah  er  wieder  die  Auditorien  dichter  gefüllt  als  je;  er  hat 
immer  größeren  Zulauf  gehabt  als  Luther  selbst.  Aus  der  ganzen 
Christenheit  kamen  die  Hörer  herbei,  oft  ältere  und  hochgelehrte 
Männer,  denen  es  eine  unvergleichliche  Freude  gewährte,  an  dem 
bescheidenen  Tisch  des  be^vunderten  Meisters  als  Gäste  weilen  zu 
dürfen.  Er  hatte  jetzt  eine  Stellung  gewonnen  wie  weiland  Erasmus; 
so  fest  gegründet,  daß  er  sogar  aus  dem  katholischen  Lager, 
wie  vom  Kardinal  Sadoletus,  preisende  Briefe  erhielt.  Seine 
Korrespondenz  war  ganz  so  ausgebreitet  wie  die  des  alten  Huma- 
nistenkönigs; mit  seinen  Gutachten  umschließt  das,  was  von  ihr 
gedruckt  wurde,  schon  weit  über  zehn  Quartbände,  und  an  2000 
Briefe  harren  noch  der  Veröffentlichung.  Kein  größeres  Ver- 
gnügen aber  kannte  er,  als  auf  dem  Katheder  zu  sitzen  und  vor 


Philipp  Melanchthon.  205 

seinen  Studenten  den  Römerbrief  zu  interpretieren  oder  aus  dem 
Pindar  zu  übersetzen  oder  mit  ihnen  Prosodie  und  Grammatik  zu 
treiben. 

Hat  er  es  doch  sogar  fast  als  Zeitverschwendung  betrachtet, 
daß  er  heiraten  mußte.  Beim  frühesten  Morgengrauen  war  er 
des  anderen  Tages  schon  wieder  am  Schreibtisch,  um,  wie  er  Spalatin 
scherzend  schreibt,  die  Ansicht  der  Freunde  zu  widerlegen,  daß  es 
mit  seinen  Studien  nun  aus  sein  werde.  ,,Eher  will  ich  Leib  und 
Leben  verlassen,"  ruft  er  aus,  ,,als  die  echten  Wissenschaften." 
Eben  die  Freunde  aber  waren  es  gewesen,  die  ihn,  wie  er  von  sich 
bekennt,  fast  wider  Willen  verheiratet  hatten,  zumal  Luther,  der 
seinem  zarten  Körper  die  häusUche  Pflege  verschaffen  und  ihn 
auch  wohl  damit  —  denn  er  verschmähte  solche  Diplomatie  nicht  — 
an  die  neue  Heimat  fesseln  wollte.  Es  war  die  Tochter  des  Bürger- 
meisters von  Wittenberg,  ^l/MTEQivr]  Kqcitttl,  väe.  Melanchthon 
ihren  Namen  sofort  gräzisiert,  die  sie  ihm  ausgesucht  hatten.  , .Nie- 
mals ist  mir  kühler  ums  Herz  gewesen  als  eben  jetzt",  gesteht 
der  junge  Ehemann  wiederholt.  Aber  er  ergab  sich  in  sein  Schicksal 
und  hat  danach   Jahrzehnte  in  glücklichster  Ehe  gelebt. 

Es  ging  ihm  wie  Luther,  der  am  liebsten  auch  sein  lebelang 
im  ^^inkel  geblieben  wäre,  des  Dienstes  an  seiner  Gemeinde  ge- 
wartet hätte.  So  ward  Melanchthon  am  wohlsten  bei  seinen  Büchern 
und  Studenten;  außerhalb  der  Universität  schien  ihm  das  Leben 
wertlos  zu  sein.  Aber  öfter  noch  als  jener  mußte  er  hinaus,  um  seine 
Kirche  zu  vertreten.  Nur  bei  den  Visitationsreisen  im  sächsischen 
Lande,  bei  den  Reformationen  benachbarter  Gebiete  oder  bei 
Verhandlungen  mit  den  Glaubensverwandten,  wie  in  Marburg 
und  Schmalkalden,  durfte  ihn  sein  Freund  begleiten.  Vor  Kaiser 
und  Reich  auf  dem  Tage  in  Augsburg  oder  bei  den  großen  ReHgions- 
gesprächen  mit  der  altgläubigen  Partei  konnte  der  Geächtete  und 
Gebannte  nicht  wolil  erscheinen,  und  so  mußte  hier  überall  Melanch- 
thon für  ihn  einspringen.  Es  waren  Geschäfte,  bei  denen  die  PoUtik 
ebenso  sehr  mitsprach  wie  religiöse  Erwägung,  und  die  dem  empfind- 
samen Gelehrten  durchaus  unsympathisch  waren.  Oft  hielten  sie 
ihn  monatelang  von  Wittenberg  fern.  Aber  immer  war  er  bereit, 
wo  es  der  Sache  galt,  der  er  sein  Leben  gew^eiht  hatte.    Unent- 


20ß  Kleine  historische  Schriften. 

behrlich  und  wahrhaft  großartig  war  die  Arbeitskraft,  die  er  dann 
bcwälirte,  und  die  Hingabe,  womit  der  kränkhche  Mann  allen  Un- 
bilden der  Reise  und  den  Feindschaften  zalüloser  Gegner  trotzte. 
Ciewiß,  er  ist  manchmal  kleinmütiger  gewesen  als  nötig  war  und 
wohl  auch  ungerecht  gegen  den  Fürsten,  der  ihn  erhielt  und  das 
eigene  Schicksal  mit  den  hohen  Gedanken  verknüpft  hatte,  die  in 
\\'ittenberg  ans  Licht  getreten  waren.  Aber  an  sich  hat  er  dabei 
zuallerletzt  gedacht.  Nur  die  Furcht  für  seine  Schöpfung,  die 
Angst,  daß  seine  junge  Pflanzung  vernichtet  werden  und  die  Bar- 
barei wiederkehren  könnte,  hat  ihn  dann  und  wann  zur  Nach- 
giebigkeit oder  Ungerechtigkeit  verleitet.  Man  muß  diese  brennende 
Liebe  zu  seinem  Beruf  im  Auge  behalten,  wenn  man  über  solche 
Schwächen  leichthin  den  Stab  brechen  will.  Wo  es  galt,  für  die 
Studien  und  die  Universität  einzustehen,  da  war  Melanchthon 
tapfer  und  entschlossen  wie  kein  anderer.  Als  einmal  nicht  lange 
vor  seinem  Tode  unter  seinem  Rektorat  Studentenunruhen  aus- 
brachen, da  ist  das  kleine  graue  Männlein  mit  seinem  Degen  allein 
den  Tumultuanten  entgegengegangen.  Auch  dürfen  wir  nicht 
vergessen,  wie  engherzig  und  borniert  die  regierende  Gesellschaft 
war,  auf  deren  Einfluß  und  Unterstützung  die  Gelehrten  damals 
angewiesen  waren.  Wie  oft  bricht  Melanchthon  über  die  Zentauren 
und  Zyklopen  an  den  Höfen  in  bittere  Klagen  aus!  ,,Wir  Pro- 
fessoren," schreibt  er  einmal,  ,, werden  auf  das  hochmütigste  ver- 
achtet, und  nicht  allein  von  den  Ignoranten,  den  Pfeffersäcken 
und  den  Krautjunkern,  sondern  auch  von  jenen  Halbgöttern, 
welche  in  den  Regierungen  sitzen.  Ja  man  verachtet  uns  nicht 
bloß,  man  haßt  uns  geradezu."^) 

In  ihm  selbst  war  nichts  als  Hingabe  an  die  Aufgabe,  der  er 
sein  Leben  geweiht  hatte.  Darum  hielt  er  in  dem  Lande,  wo  er 
nie  recht  heimisch  werden  konnte,  bis  ans  Ende  aus  und  lehnte 
jeden  Ruf,  so  noch  den  letzten  an  seine  Jugenduniversität,  ab. 
Auch  mit  solchen  Anschauungen  aber  stand  er  nicht  allein.    Uns 


^)  »Adde,  quod  superbissime  contemnimur,  non  solum  ab  imperitis, 
a  mercatoribus,  centauris,  sed  etiam  ab  illis  semideis,  qui  regnant  in  aulis. 
Postremum  non  tantum  contemnimur,  sed  etiam  in  odio  sumus.«  Zit. 
Hartfelder,  Philipp  Melanchthon,  S.  80. 


Philipp  Melanchthon.  207 

wird  es  heute,  wo  die  banausischen  Interessen  von  allen  Seiten 
auf  uns  einstürmen,  schwer,  die  Heldenkraft  einer  Gesinnung 
zu  begreifen,  welche  sich  nicht  scheut,  nur  um  der  Idee  willen, 
an  die  sie  sich  gebunden  hält,  das  System  eines  Jahrtausends  zu 
zertrümmern  und  nach  den  Gedanken,  an  die  sie  glaubt,  die  Welt 
neu  zu  gestalten.  Aber  die  Reformation  wäre  nie  möglich  geworden, 
wäre  nicht  die  weltverachtende  Sicherheit  dieses  Glaubens  in 
ihren  Bahnbrechern  mächtig  gewesen.  Zu  diesen  Helden  des  Ge- 
dankens aber  rechnet  auch  Philipp  IMelanchthon,  und  darum  vor 
allem  wollen  wir  seine  ehrwürdige  Gestalt  in  treuem  Gedächtnis 
bewahren. 


^^=^P^ 


Die  geschichtliche  Stellung  der  Deutschen 
in  Böhmen. 

(1899.) 

Der  geschichtliche  Prozeß,  dessen  Hauptmomente  hier  skiz- 
ziert werden  sollen,  umschließt  schon  beinahe  einen  Zeitraum 
von  zweitausend  Jahren,  und  weniger  als  je  können  wir  heute 
sein  Ende  absehen;  denn  niemals  haben  sich  die  NationaHtäten, 
welche  einander  den  Boden  Böhmens  innerhalb  desselben  Staats- 
verbandes streitig  machen,  mit  größerer  Feindseligkeit  gegen- 
übergestanden als  in  unseren  Tagen.  Nehmen  wir  uns  dennoch 
vor,  an  der  zeitgemäßen  Bedeutung  unseres  Themas  die  Unpartei- 
lichkeit seiner  Auffassung  nicht  scheitern  zu  lassen!  Denn  nur  so 
wird  es  möglich  sein,  die  Bedingungen,  Befürchtungen  oder  Hoff- 
nungen für  die  nationale  Zukunft  der  Deutschen  in  Böhmen  recht 
zu  beurteilen:  die  Erkenntnis  der  Wahrheit  allein  gibt  die  Ge- 
währ eigenen  Wachstums  und  Gesundens. 

Böhmen  reicht  bis  an  das  Fichtelgebirge,  bis  an  das  Herz 
unseres  Volkes:  mit  breitem  Einfallstor  öffnet  es  sich,  sonst  berg- 
umringt, hier  den  Kernlanden  Deutschlands,  in  denen  der  Strom 
unserer  Geschichte  inomer  am  vollsten  geflutet  hat.  Umschreiten 
wir  den  Bergrand,  der  Böhmen  umgibt,  so  treffen  wir  überall 
Deutsche:  in  Schlesien,  in  Sachsen,  in  Franken,  in  Bayern;  auch 
die  Südgrenze  ist  ganz  von  Deutschen  besiedelt,  und  selbst  im  Osten 
gehören  große  Sprachinseln  unserem  \'olkstum.  Städte  mit 
sla^\^schen  Namen,  wie  Iglau,  Zwittau,  Olmütz,  Brunn,  also  die 
Hauptstädte  Mährens,  sind  die  Brennpunkte  von  kernigen,  mit 
\\  irtschafthcher  und  geistiger  Kraft  erfüllten  deutschen  Kreisen. 


Die  geschichtliche  Stellung  der  Deutschen  in  Böhmen.  209 

Auch  wenn  wir  in  das  böhmische  Land  hineintreten,  durchschreiten 
wir  zunächst  noch  einen  Kranz  deutscher  Städte  und  Dörfer, 
vielfach  deutschen,  doch  auch  slawischen  Namens,  und  nur  in  der 
Mitte  sitzt  eine  festgeschlossene  slawische  Masse.  Wären  auch 
hier  unsere  Volksgenossen  heimisch,  so  würde  der  deutsche  Name 
von  den  Quellen  der  Oder  bis  zum  Einfluß  der  March,  von  Ratibor 
bis  Preßburg  reichen,  und  von  Ratibor  bis  Metz,  von  der  Memel 
bis  zur  Mur  wäre  alles  unser.  Nicht  ganz  ausnahmslos  freilich,  da 
im  Norden  ja  die  Polen  eingesprengt  sind;  aber  diese  leben  in 
einem  ihnen  feindseligen,  sie  verdrängenden  Staate.  Im  Süden 
aber,  in  Österreich,  würde  dann  das  Deutschtum  in  breiter  Masse 
lagern.  Und  was  würde  Zisleithanien  für  die  Südslawen  bedeuten, 
welche  beherrschende  Stellung  würde  dann  hier  unsere  Nation 
dem  slawischen  und  magyarischen  Osten  gegenüber  besitzen! 
Das  steht  den  Tschechen  vor  Augen;  wahrhaftig,  es  ist  leicht 
zu  begreifen,  wenn  sie,  rings  umstellt,  die  Gunst  eines  geschicht- 
Hchen  Momentes  benutzen  wollen,  um  diese  Fluten  zurückzudrängen. 
In  den  ältesten  Zeiten  der  deutschen  Geschichte  war  es  aber 
so,  \\ie  die  Tschechen  fürchten.  Die  Völkertafel,  welche  Tacitus 
vom  alten  Germanien  entwirft,  umfaßt  wie  das  Stromgebiet  der 
Elbe  so  auch  das  der  Oder,  und  gerade  in  Böhmen  ist,  wie  er  es 
beschreibt,  der  erste  Versuch  gemacht  worden,  mit  den  Formen 
der  römischen  politischen  Kultur  die  germanische  Urkraft  zu  ver- 
schmelzen und  die  so  gesammelte  Macht  gegen  Germanen  und 
Römer  zu  werfen.  Das  ist  die  Tat  Marbods,  dessen  Andenken 
dadurch,  wie  unglückhch  auch  der  Versuch  für  ihn  geendet,  un- 
vergeßlich geworden  ist.  Später  kam  wieder  von  denselben  Land- 
schaften aus  die  große  Völkerbewegung  in  Fluß,  der  das  Römer- 
reich erlag;  denn  seit  Mark  Aurel  in  den  Markomannenkriegen 
die  barbarischen  Völkerschwärme  mühseUg  von  den  Grenzmarken 
des  Weltreiches  abwehrte,  haben  diese  Angriffe  nicht  aufgehört. 
Aufs  beste  aber  war  die  Angriffsstelle  gerade  hier  gewählt.  Denn 
nur  wenige  Meilen  von  der  Südgrenze  Böhmens  zog  sich  lang- 
gestreckt die  Donaulinie  der  römischen  Befestigungen  hin.  Es 
war  der  nächste  und  der  bequemste  Weg  nach  Rom  —  nirgends 
waren  die  Alpen  leichter  zu  überschreiten  —  und  es  war  die  Stelle, 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  I4 


210  Kleine  historische  Schriften. 

wo  die  Ost-  und  die  Westhälfte  des  Imperiums  am  leichtesten  aus- 
einanderzureißen  waren :  man  brauchte  eben  nur  das  sclmiale  Land 
von  Carnuntum  bis  Aquileja  zu  besetzen,  so  konnten  die  römischen 
Legionen  des  Orients  und  des  Abendlandes  lediglich  auf  dem 
Seewege  zueinander  kommen.  Es  ist  also  erklärlich,  daß  in  den 
folgenden  Jahrhunderten  diese  verwundbarste  Stelle  in  immer 
wiederholten  Stößen  von  den  Barbaren  getroffen  wurde.  Böhmen 
war  gleichsam  das  Becken,  in  dem  sich  der  Strom  der  germanischen 
Volkskraft  sammelte,  bis  er  über  die  Berge  hinflutete;  hier  er- 
starkten auch  die  letzten  Eroberer  Italiens,  die  Langobarden. 
So  ward  die  Kraft  der  Ostgermanen,  welche  zuzeiten  vom  Finni- 
schen bis  zum  Schwarzen  Meer,  ja  bis  zum  Don  und  zur  Wolga 
hin  die  Herren  gewesen,  in  weltverwandelnden  Kämpfen  ausge- 
schüttet. Ihnen  nach,  mit  und  hinter  den  Hunnen,  welche  nur 
wie  eine  Springflut  über  Europa  hinwogten,  drängten  die  Slawen 
und  nahmen  alle  Gebiete  ein,  welche  jene  verließen:  die  russischen 
Steppen  und  die  Tiefländer  der  Weichsel  und  der  Oder;  über  die 
Elbe  hin  breiteten  sie  sich  bis  zur  Saale  aus  und  siedelten  hart 
an  jenem  Strome  bis  Harburg  hin;  sie  besetzten  den  Osten  Hol- 
steins, gerade  den  fruchtbarsten  Teil  zwischen  den  Seen  und  Buchen- 
wäldern der  Halbinsel;  sie  erfüllten  Böhmen  und  ergossen  sich 
durch  das  Egertor  in  den  Fichtelwald;  in  alle  Täler  der  Ostalpen 
bis  zur  Etsch  drangen  sie  vor,  ja  sie  drangen  weit  abwärts  bis 
an  das  Ostgestade  des  Adriatischen  Meeres. 

Es  waren  die  Jahrhunderte,  da  die  Germanen  das  römische 
Imperium  stürzten.  Im  Westen  und  Süden,  in  dem  größten 
und  reichsten  Kulturgebiete  der  W^elt  gewannen  sie,  was  sie  im 
Osten  verloren.  Freilich  nicht  auf  die  Dauer:  niemals  hat  unser 
Volk  eine  größere  historische  IMission  erfüllt  — ■  zerstörend  doch 
die  politische  Kraft  zu  bringen,  durch  welche  sich  die  von  ihnen 
zertrümmerten  und  umgeschaffenen  Nationen  gegen  die  neuen 
Welteroberer  von  Osten  her,  gegen  Hunnen  und  Araber,  erhalten 
konnten  —  und  niemals  hat  es  größere  Verluste  erlitten.  Die 
römischen  Provinzen  waren  nicht  nur  an  Kulturkraft,  sondern, 
was  man  nicht  übersehen  darf,  auch  an  Volkszahl  den  Eroberern 
überlegen;  nicht  lange,  so  lebten  von  den  germanischen  Bildungen 


Die  geschichtliche  Stellung  der   Deutschen  in  Böhmen.  211 

nicht  viel  mehr  als  die  Namen.  Romanische  Nationen  erhoben 
sich  fast  im  ganzen  Umkreise  des  weströmischen,  des  lateinischen 
Imperiums.  Doch  darf  man  diesen  relativen  Sieg  der  antiken 
Kultur  nicht  nur  \-on  dem  Standpunkte  des  universellen  Fort- 
schrittes gutheißen:  die  germanischen  Nationen  selbst  konnten 
nur  durch  Annahme  der  Kultur  der  Unterjochten  ihr  pohtisches  und 
selbst  ihr  nationales  Dasein  zu  erretten  hoffen.  Bestehen  und 
Fortschreiten  ist  in  der  Geschichte  überall  nur  möglich  durch 
Aufnahme  höherer  Kulturkräfte.  Die  Stämme,  welche,  wie  Ost- 
goten und  Vandalen,  in  ihren  kirchlichen  und  militärischen  In- 
stitutionen sich  von  den  Provinzialen  spröde  absonderten,  gingen 
alsbald  unter:  der  deutsche  Stamm  aber,  welcher  die  Gleich- 
berechtigung der  Römer  in  Staat  und  Kirche  von  Anfang  an 
und  ohne  Rückhalt  anerkannte,  der  fränkische,  errang  die  Ober- 
herrschaft über  alle  anderen,  vereinigte  unter  seiner  Gewalt  das 
weströmische  Imperium  und  trug  dessen  Formen  und  Ansprüche 
weit  über  die  alten  Grenzen  in  den  Osten.  Auch  auf  die  slawische 
Welt  wirkte  bereits  unter  den  Merowingern  diese  Verschmelzung 
germanischer  Kraft  und  römischer  Gesittung  zurück,  in  dem  Reich, 
welches  ein  fränkischer  Kaufmann,  des  Namens  Samo,  aus  den 
lockeren  Elementen  slawischer  Stämme  schuf.  Seinen  Fürsten- 
sitz errichtete  dieser  Abenteurer  in  Böhmen;  aber  von  Meißen 
bis  Kärnten  gehorchte  alles  seinem  Gebote.  Zum  zweiten  Male 
seit  Marbod  sehen  wir  in  diesen  Landschaften  östlich  von  den 
kerndeutschen  Stämmen  eine  monarchische  Gewalt  erstehen, 
welche  jenen  geschlossen  und  dominierend  gegenübersteht;  denn 
nicht  bloß  gegen  die  Avaren,  sondern  auch  gegen  die  Franken 
wandte  sich  Samo  mit  glücklichem  Erfolge.  Träger  dieser  Kraft 
ist  diesmal  das  Slawentum,  aber  nur  eine  Generation  vermag 
sie  zu  dauern,  und  ein  Fremder  ist  es,  der  sie  schafft;  es  ist  sein 
ganz  persönliches  Verdienst:  sowie  der  Franke  gestorben,  zerfiel 
auch  sein  Reich,  und  gleich  beim  Eintritt  in  die  Geschichte  zeigten 
die  slawischen  Stämme,  daß  sie  nicht  aus  sich  heraus  zur  Einheit 
und  Macht  gelangen  konnten. 

Auch  war  Samo  nach  dem  Westen  hin  nur  darum  glücklich, 
weil  das  Reich  der  Merowinger  zerrüttet  war.    Denn  dieser  Staat, 

14* 


212  Kleine  historische  Schriften. 

dem  im  6.  Jahrhundert  ganz  Mittel-  und  Süddeutschland  ge- 
horcht hatte,  so  daß  fränkische  Besatzungen  in  den  deutschen  und 
slawischen  Alpen  standen,  Italien  sich  bedroht  fühlte  und  schon 
die  Kaiserkrone  von  Byzanz  dem  Ehrgeiz  seiner  Könige  vorschwebte, 
war  in  volle  Auflösung  geraten;  und  erst  im  schwersten  inneren 
Ringen  konnte  sich  aus  ihr  die  fränkische  Kraft  in  der  karolingi- 
schen  Monarchie  vertieft  und  erweitert  emporarbeiten.  In  dieser 
finden  wir  die  gleiche  Mischung  der  Grundelemente  wie  in  dem 
alten  Königtum.  Vor  allem  den  Dualismus  zwischen  der  romani- 
schen Kultur,  deren  Hoheit  in  Kirche,  Kunst  und  Literatur  un- 
bedingt anerkannt  wird,  und  den  Zielen  des  germanischen  Staates. 
Indem  das  Netz  der  fränkischen  Grafschaften  das  Reich  überspannt, 
\\ird  die  Individualität  der  Stämme  gebrochen.  Je  mehr  aber  die 
Stammeseinheiten  zurücktreten,  um  so  mehr  muß  die  oberste 
Gewalt  ihres  Charakters  als  Volkskönigtum  beraubt  werden.  Und 
so  tritt  die  Idee  des  Imperiums,  die  doch  auch  wohl  schon  in  dem 
alten  Volkskönig  Chlodwig  und  seinen  nächsten  kraftvollen  Nach- 
folgern sichtbar  wird,  wieder  hervor.  Es  war  dieselbe  Gewalt, 
welche  alle  diese  Länder  vereinigt  und  gegen  die  Barbaren  ver- 
gebens verteidigt  hatte:  unter  den  neuen  Welt  Verhältnissen,  dem 
Widerstreit  der  neugebildeten  Nationalitäten,  der  territorialen 
Interessen,  bei  dem  Gegensatz  zwischen  Adel  und  Königtum, 
zwischen  Kirche  und  Staat  ohne  Frage  eine  nur  ephemere 
Schöpfung,  aber  zunächst  nun  doch  von  einer  Einheit  und  Kraft, 
vor  der  alles  zurückwich.  So  mußten,  nachdem  die  Missionen  sie 
erschüttert,  die  deutschen  Stämme  sich  aufs  neue  beugen,  zuletzt 
auch  die  bis  dahin  freien  Sachsen.  Und  nun  fand  sich  das  ger- 
manisch-romanische Kaisertum  Karls  des  Großen  der  slawischen 
Welt  unmittelbar  gegenüber.  Es  kannte,  wie  das  alte  Imperium, 
keine  Grenzen.  Wie  seine  Vorfahren  von  Rom  wollte  Karl  all- 
zeit Mehrer  des  Reiches  sein;  ihm  war  es  gleich,  ob  Römer  oder 
Deutsche,  ob  Slawen,  Dänen  und  selbst  Araber  ihm  gehorchten, 
wenn  sie  nur  seine  Herrschaft,  die  Kaiserkrone  anerkannten.  So  die 
Stellung  Karls.  Anders  die  der  Sachsen,  der  Thüringer,  der  Bayern 
gegenüber  ihren  slawischen  Nachbarn ;  indem  sie  eingeordnet  ^\^lrden 
in   das   Weltreich,   woirden   ihre   alten    Grenzkämpfe   dessen   An- 


Die  geschichtliche  Stellung  der  Deutschen  in  Böhmen.  213 

gelegenheiten :  der  fränkische  Heerbann  kam  ihnen  jetzt  zur  Hilfe, 
und  der  Sieg  über  die  Erbfeinde  ward  der  Lohn  ihrer  eigenen 
Unterwerfung.  In  den  nördhchen  Gebieten  kam  es  so  zu  einer 
Stauung  der  slawischen  Flut.  Feste  Marken  sicherten  unter  ihren 
Grenzgrafen  von  der  Eider  bis  zum  Bayerischen  Wald  das  deutsche 
Gebiet;  dem  Namen  nach  wenigstens  gehört  auch  Böhmen  in 
dieses  Sj'stem.  An  der  Donau  aber  brach  die  deutsche  Kraft 
völlig  hindurch;  nachdem  die  Avaren  besiegt  und  die  Slawen 
hin  weggedrückt  waren,  nahmen  die  Deutschen  alles  Land  zu  beiden 
Seiten  des  Stromes  bis  Ödenburg  ein.  Wieder  wirkten  das  frän- 
kische Schwert  und  das  Wort  der  Missionare  zusammen:  Rom 
und  das  Kaisertum  haben  gemeinsam  gearbeitet,  um  das  Land 
zu  gewinnen,  welches  Jahrhunderte  hindurch  der  Eckstein  des 
römisch-deutschen  Kaisertums  gewesen  ist. 

Das  Karohngerreich  zerfiel,  und  wie  bei  der  Zerrüttung  des 
Merowingeneiches  geschah  es  auch  jetzt  —  die  slawische  Welt 
fand  wieder  ihren  Einiger  und  Reformator:  schon  nicht  mehr 
einen  Deutschen,  sondern  einen  Slawen,  den  Mähren  Swatopluk, 
der  auch  Böhmen  beherrschte  und  die  pohtische  Gewalt  auf  kirch- 
licher Grundlage  zu  befestigen  trachtete.  Da  ist  es  nun  aber  inter- 
essant, in  dem  i\Ioment,  wo  das  slawische  Christentum  ins  Leben 
tritt,  ein  Schwanken  desselben  zu  bemerken  zwischen  dem  byzan- 
tinischen und  dem  römischen  Glauben.  Die  Begründer  und  ersten 
Organisatoren  der  mährisch-böhmischen  Kirche  waren  zwei  Mönche 
von  Thessalonike,  IMethodius  und  Cyrillus;  es  geschah  offenbar 
im  Gegensatz  zu  dem  drohenden  römischen  Einfluß,  wenn  sie 
der  neuen  Kirche  eine  slawische  Liturgie  gaben.  Da  sich  nun 
Swatopluk,  der  den  Deutschen  immer  feind  war,  zugleich  von 
den  heidnischen  ^Magyaren  bedroht  sah,  kam  er  zu  der  Erkenntnis, 
daß  Rom  doch  mächtiger  und  vor  allem  näher  sei  als  Konstanti- 
nopel, und  gewährte  der  abendländischen  Kirche  schließlich  den 
größeren  Einfluß.  Deren  Missionare  waren  aber  doch  eben  wieder 
Deutsche;  ein  Schwabe  namens  Wichmann  gewann  allen  Einfluß 
am  Hoflager  des  Slawen,  und  mit  ihm  die  deutsche  Kirche.  Aber 
auch  dieser  Versuch  Swatopluks  verlief  unglückhch.  Mit  Kaiser 
Arnulf,  von  dem  ihn  der  alte  Zwist  über  die  Ostmark  schied,  könnt? 


214  Kleine  historische  Schriften. 

er  sich  nicht  verständigen;  die  Magyaren  zerstörten  sein  Reich, 
und  das  böhmische  Land  war  wieder  isohert.  So  setzten  sich  die 
drei  leitenden  Nationen  des  heutigen  Österreichs  gegeneinander 
fest.  Ihre  Gruppierung  hat  seitdem  oft  gewechselt,  meist  war  sie 
jedoch  so  wie  zu  Arnulfs  Zeiten:  bei  allem  Hader  untereinander 
haben  doch  im  großen  und  ganzen  Ungarn  und  Deutsche  gegen 
die  Tschechen  zusammengehalten.  Damals  war  es  den  Deutschen 
nicht  zum  Segen.  Die  Älagj'aren  bedrängten  die  einen  nach  den 
anderen,  während  Deutschland  in  seine  Stämme  zerfiel.  Welch 
ein  anderes  Bild  bieten  die  Deutschen  jener  Tage  als  ihre  Vor- 
fahren im  Kampf  mit  Rom !  Einst  waren  kleine  Bruchteile  der  ger- 
manischen \'ölkerwelt  imstande  gewesen,  die  ausgebildetste  Mihtär- 
macht  der  Welt,  ein  Reich,  das  fast  seine  ganze  kriegerische  Kraft 
hier  gesammelt  und  in  enormen,  durch  Natur  und  Kunst  gesicherten 
^^erteidigungsstellungen  aufgehäuft  hatte,  mit  immer  neuen  An- 
läufen zu  erschüttern  —  jetzt  zitterte  alles  Volk  von  der  ]\Iarch  bis 
an  die  Rheinmündungen  hinter  Burgwällen  und  Klostermauern 
vor  wenigen  Tausenden  asiatischer  Reiter,  die  wie  der  Sturmwind 
durch  das  Land  flogen.  Das  ist  der  Gegensatz  zwischen  barbarischer 
Vollkraft  und  der  bändigenden  Gewalt  der  Kultur;  es  war  die 
langhin  nachwirkende  Rache  des  Römertums.  Eine  dünne  Schicht 
der  Kultur  lag  über  den  Urboden  gebreitet ;  aber  sie  reichte  gerade 
hin,  ihn  zu  entmannen.  Einem  kleinen  Bruchteil  der  Nation 
kam  sie  zugute;  schwer  und  doch  kraftlos  gegen  große  Stürme, 
lasteten  wenige  bewehrte  Hände  auf  dem  waffenlosen,  aus  der 
Staatsmacht    getriebenen    Volke. 

Die  Rettung  konnte  doch  nur  in  der  Fortbildung  Hegen, 
nicht  in  der  Umkehr:  in  der  Erneuerung  der  karolingischen  In- 
stitutionen, in  der  \^ereinigung  aristokratischer,  imperialer  und 
hierarchischer  Kräfte,  nun  freilich  auf  dem  Grunde  bestimmterer 
Nationalität  und  der  in  der  Verwirrung  neu  erstarkten  deutschen 
Stämme.  Das  ist  die  Arbeit  Heinrichs  L  und  Ottos  des  Großen 
geworden.  Beide  besiegten  die  Magj'aren  so,  daß  sie  das  Wieder- 
kommen vergaßen.  Doch  war  dies  nur  Abwehr:  der  Angriff  jener 
Herrscher  galt  den  Slawen.  Und  damit  nahmen  sie  gerade  die 
Ziele   des   alten   Stammesehrgeizes  auf.     Vor  allem   kamen  jetzt 


Die  geschichtliche  Stellung  der  Deutschen  in  Böhmen.  215 

die  Sachsen  voran:  über  die  Elbe  hin  bis  zur  Oder,  zwischen  der 
Saale  und  dem  Erzgebirge  wurden  sie  die  Herren ;  darüber  griffen 
sie  hinweg  auch  nach  Böhmen,  hier  vereinigt  mit  den  Bayern,  denn 
nur  so  konnten  die  aufeinander  stoßenden  Interessen  beider  Stämme 
ausgeglichen  werden.  Diesem  Andrang  gegenüber  wagten  die 
Böhmen  einen  Versuch  des  Widerstandes  unter  Boleslav  I.,  der 
soeben  als  Führer  der  nationalen  Partei  seinen  Bruder,  den  König 
Wenzeslaus,  gestürzt  hatte,  als  dieser  bayerische  Missionare  unter- 
stützen wollte.  Er  selbst  hatte  den  tödlichen  Axthieb  gegen  das 
Haupt  des  Bruders  geführt,  der  diesen  an  die  Spitze  des  böhmi- 
schen Heiligenkalenders  gebracht  hat.  Aber  im  Besitze  der  Gewalt 
mußte  auch  er  in  die  gleichen  kirchlichen  Bahnen  einlenken,  mußte 
auch  er  anerkennen,  daß  nur  die  Anlehnung  an  die  Römerkultur 
die  nationale  Erhaltung  der  Tschechen  ermöglichte  —  und  das 
bedeutete  eben  die  Duldung  deutscher  Missionare  und  Kirchen- 
sprengel. Aber  auch  politisch  war  Boleslav  gegenüber  der  neuen 
Weltstellung  unserer  Nation  ohnmächtig.  Otto  der  Große  bändigte 
seinen  Trotz.  Gegen  die  Magyaren  jedoch  verband  sie  das  gleiche 
Interesse;  daher  wir  denn  auf  dem  Lechfelde  eine  böhmische 
Hülfsschar  unter  deutschem  Banner  fechten  sehen.  Böhmen  aber 
kam  danach  ganz  unter  die  deutsche  Kirche,  Prag  ward  die  Diözese 
eines  deutschen,  des  Mainzer  Erzbistums;  und  so  ward  Böhmen 
eingegliedert  in  das  römische  Reich  deutscher  Nation, 
dem  es  bis  in  den  Beginn  unseres  Jahrhunderts  angehört  hat. 
Die  Gewalt  der  lateinischen  Kultur,  der  Böhmen  sich  ge- 
beugt, war  jedoch  auch  den  autochthonen  Kräften  der  deutschen 
Politik  noch  weit  überlegen.  Wie  tritt  das  in  Kaiser  Otto  III. 
hervor,  in  dem  keine  Spur  von  dem  Sachsentum  ist,  das  wie  in 
der  Sage  so  auch  noch  in  den  lateinischen  Phrasen  der  Kloster- 
historie die  Gestalten  seiner  Ahnherren  verklärt!  Der  Sachsen- 
haß und  der  Herrenstolz  gegen  die  Knechte,  die  Slawen,  sind  in  dem 
kaiserlichen  Jüngling,  der  zu  Rom  auf  dem  Aventin  in  starrer 
byzantinischer  Etikette,  von  südländischen  Frauen  und  Geist- 
lichen umgeben,  Hof  hielt,  wie  ausgelöscht.  Sein  Freund  war 
vielmehr  der  böhmische  Fürstensohn  Adalbert,  der  von  seinem 
Bischofsitze  in  Prag  aus  auf  der  Missionsfahrt  nach  Preußen  den 


216  Kleine  historische  Schriften. 

Märtyrertod  suchte  und  fand :  auf  dem  Grabe  des  Heiligen  in  Gnesen 
legte  der  Enkel  des  großen  Sachsenkaisers  den  Grund  zu  dem 
Erzbistum,  das  bis  in  unsere  Tage  das  nationale  Kirchenzentrum 
des  Slawentums  gegen  Deutschlands  Staat  und  Kirche  geblieben 
ist.  Seitdem  trat  Böhmen  aus  dem  Zusammenhang  der  Reichs- 
geschichte auf  lange  Zeit  zurück,  um  an  dem  Aufschwung  der 
slawischen  Nationen  teilzunehmen.  IMehrfach  ward  es  Provinz 
oder  Mittelpunkt  eines  auch  Polen  umfassenden  Slawenreiches, 
das  in  die  deutschen  Ostmarken  feindhch  eingriff.  Der  Zusammen- 
hang mit  Rom  ward  mehr  und  mehr  befestigt,  und  nur  dadurch 
war  es  möglich,  die  nationale  Kraft  staatlich  zusammenzufassen. 
Während  Rom  so  ein  hoher  Machtzuwachs  wurde,  erlitt  Deutsch- 
land Verluste.  Aber  es  war  und  blieb  uneins,  und  das  Kaisertum 
griff  oft  zu  dem  verzweifelten  Ausweg,  böhmische  Hilfe  gegen 
deutsche  Rebellen  herbeizurufen.  Als  Lohn  solcher  Verdienste 
hat  Heinrich  IV.  dem  böhmischen  Herzog  die  Krone  verliehen. 
Das  zwölfte  Jahrhundert  war  auch  für  Böhmen  eine  Epoche 
politischer  Zerrüttung.  Dynastische  Parteiungen  und  mehr  noch 
aristokratische  Machtstrebungen  gegen  die  Krone  erfüllten  alles 
mit  Verwirrung.  Daher  suchten  die  Herrscher  Anlehnung  bei 
den  deutschen  Kaisern,  so  schon  bei  Lothar,  besonders  aber  bei 
den  Staufem,  auf  deren  Kriegsfahrten  nach  Itahen  und  dem 
Orient  daher  oft  starke  böhmische  Heerscharen  mitzogen.  Hier- 
auf ward  das  Königreich  in  die  welfisch-staufischen  Bürgerkriege 
hineingerissen,  und  diese  Zerrüttung  des  Reiches  ward  der  Boden, 
auf  dem  eine  neue  Dynastie,  die  der  Premysliden,  sich 
erhob.  Unter  diesen  ragt  vor  allen  der  zweite  Ottokar  hervor, 
dessen  Sturz  die  Macht  des  Hauses  Habsburg  begründet  hat. 
Ihn,  und  nicht  König  Rudolf,  müssen  wir  als  den  Schöpfer  Zislei- 
thaniens  betrachten:  nicht  von  dem  deutschen  Herrscher,  sondern 
von  jenem  Slawen  ist  dies  Ländergebiet  vereinigt  worden,  nicht 
von  Österreich  aus,  sondern  von  Böhmen  her.  Im  weifischen 
Lager  und  unter  dem  Zeichen  Roms  hat  Ottokar  in  Jahrzehnten 
politischer  und  kriegerischer  Anstrengung  das  Erbe  der  Baben- 
berger  gewonnen,  so  daß  wir  ihn  in  Wahrheit  als  den  Vorgänger 
Rudolfs  von  Habsburg  bezeichnen  können.    Die  Bedingung  seines 


Die  geschichtliche  Stellung  der  Deutschen  in  Böhmen.  217 

Emporkommens  war  die  Zersetzung  des  Deutschen  Reiches:  was 
er  erwarb,  löste  er  aus  dem  Reichs  verbände,  um  ein  großes  Mittel- 
reich zu  schaffen,  das  von  der  Ostsee  bis  zur  Adria  Einfluß  übte ; 
so  wie  später  das  burgundische  Reich  in  analoger  Bildung,  ebenso 
zweisprachig,  halbdeutsch,  feindselig  den  nationalen  Monarchien, 
von  der  Nordsee  nach  dem  Mittelmeer  zu  sich  zwischen  den  fran- 
zösischen und  deutschen  Staat  eingedrängt  hat.  Aber  man  darf 
diese  Kraftentwickelung  nicht  als  tschechische  Reaktion  gegen 
deutsches  Wesen  auffassen.  Im  Gegenteil,  nur  deutsche  Kräfte 
befähigten  Ottokar  zu  seinem  Werk.  Deutsch  war  die  Sprache 
seines  Hofes;  Deutschlands  Minnesang  und  ritterliche  Art  blühten 
in  Prag;  Reinmar  von  Zweter  hat  dort  gedichtet;  der  König  selbst 
und  seine  Verwandten  versuchten  sich  in  den  deutschen  Reimen. 
Auch  kamen  auf  sein  Geheiß  Scharen  deutscher  Kolonisten  ins 
Land,  meist  Niederdeutsche,  ein  Bruchteil  jener  neuen  Wande- 
rung unseres  Volkes,  die  in  diesem  Jahrhundert  alles  Land  bis 
in  die  Niederungen  der  Weichsel  erfüllte  und  den  ganzen  Osten 
sich  zinsbar  machte:  Bergleute,  die  im  Erzgebirge  und  mitten 
in  Böhmen  die  reichen  Bodenschätze  hoben,  Handwerker,  Kauf- 
leute  und  um  die  neuen  Städte  her  die  breite  Masse  der  Bauern. 
]\Iit  dem  König  wetteiferten  Herren  und  Geistlichkeit,  die  Johanni- 
ter besonders  und  die  Zisterzienser ;  auch  die  slawischen  Dörfer  und 
Städte  suchten  deutsches  Recht  zu  erlangen.  Der  große  Staatsmann, 
der  Ottokar  in  allem  zur  Seite  stand,  Bischof  Bruno  von  Olmütz, 
war  selbst  ein  Niederdeutscher,  ein  Graf  von  Holstein- Schauenburg. 
Auch  König  Rudolf  hat  die  Vereinigung  ganz  Zisleithaniens 
angestrebt,  sein  Sohn  Albrecht  sie  zeitweise  verwirklicht;  und 
dynastisch  war  auch  die  Pohtik  Habsburgs  seit  dem  Begründer 
seiner  Größe.  Aber  die  allgemeine  Konstellation  fügte  sich  so, 
daß  die  Interessen  dieses  Hauses  mit  der  Wiederherstellung  des 
Deutschen  Reiches  zusammengingen.  Und  Rom,  dem  das  Kaiser- 
tum immer  unentbehrlich  war,  wandte  sich  dorthin :  Gregor  X. 
verließ  Ottokar,  um  Rudolf  zu  erheben.  Doch  die  Verbindung  der 
zisleithanischen  Gebiete  war  so  nicht  denkbar.  Gegen  den  öster- 
reichischen Träger  der  deutschen  Krone  erhob  sich  die  Krone 
Böhmen.    Zwar  kündigte  sich  hier  bereits  eine  nationale  Reaktion 


218  Kleine  lüstorische  Schriften. 

gegen  das  deutsche  Übergewicht  an,  aber  beide  Parteien  fanden 
sich  doch  durch  den  gemeinsamen  Gegensatz  gegen  Habsburg 
gebunden:  die  Idee  Böhmens  siegte;  einem  deutschen  Geschlecht, 
dem  luxemburgischen,  ward  die  Krone  anvertraut.  Das  bleibt 
nun  aber  der  Grundzug  der  luxemburgischen  Herrschaft:  auf 
die  Versöhnung  der  slawischen  und  der  deutschen  Bestandteile 
eine  einheitliche  böhmische  Macht  zu  gründen,  die  sie  wieder  nach 
allen  Seiten  zu  erweitern  strebt.  Darauf  beruht  vor  allem  die 
Stellung,  welche  Karl  IV.  einnimmt,  eine  internationale  Persön- 
lichkeit, Zögling  eines  Papstes,  Freund  Frankreichs,  Gönner  human- 
nistischer  Bildung  und  wieder  mystischen  Stimmungen  ergeben, 
allezeit  aber  als  Politiker  und  Wirtschafter  der  kühlste  Rechner. 
Auf  die  Hierarchie  gestützt,  wollte  er  Prag  zum  Mittelpunkt  seiner 
Hausmacht,  die  er  unablässig  vermehrte,  wie  des  Reiches  machen. 
Aber  wie  hätte  er  so  weitgespannte  Ziele  anders  als  durch  Deutsche 
erreichen  können!  Die  Universität,  die  er  in  Prag  stiftete,  füllten 
deutsche  Studenten  und  Professoren;  deutsche  Baumeister  bauten 
ihm  seinen  Dom  zu  St.  Veit  und  den  Karlstein ;  Karl  selbst  förderte, 
wie  er  konnte,  deutsches  Wesen,  dessen  wirtschaftliche  Tüchtig- 
keit seinen  Wünschen  am  besten  diente. 

So  ist  es  erklärlich,  daß  mit  der  wachsenden  Kultur  die  slawi- 
schen Ansprüche  wuchsen,  daß  ein  immer  schärferer  Gegensatz 
der  Tschechen  gegen  die  deutschen  Mitbewerber  um  den  böhmischen 
Boden  sich  ausbildete,  den  diese  doch  erst  seit  hundert  Jahren 
besaßen.  Die  Dynastie,  welche  haltlos  zwischen  den  Parteien 
schwankte,  erlag  darüber,  und  die  tschechische  Bewegung  siegte. 
Ihr  Führer  war  diesmal  ein  Mann  aus  dem  Volk,  ein  Professor 
der  Theologie  an  der  neuen  Universität,  Johann  Hus,  der  mit 
seinem  Anhang  1409  sich  in  den  Besitz  der  Universität  setzte; 
was,  wäre  er  ungestört  geblieben,  zum  Alleinbesitz  der  böhmischen 
Kirche  hätte  führen  müssen.  Hus  aber,  der  schon  ketzerisch  dachte, 
geriet  mit  den  Häuptern  der  Hierarchie  aneinander;  mit  der  natio- 
nalen Erhebung  verschmolz  die  religiöse,  und  zum  ersten  Male 
gelang  es  einem  Reformator,  eine  ganze  Nation  auf  evangelischem 
Grunde  gegen  Rom  zu  vereinigen.  Ohne  Frage  sind  die  Lehren 
Johann  Hus'  mit  denen  Luthers  verwandt.  Hat  also  das  Tschechen- 


Die  geschichtliche  Stellung  der  Deutschen  in  Böhmen.  219 

tum  den  hohen  Ruhm,  aus  seinem  Geiste  die  Ideen  geboren  zu 
haben,  die  ein  Jahrhundert  später,  mit  deutscher  Kraft  gesättigt, 
die  \\'elt  ver\\andelt  haben  ?  Heute  ist  diese  Frage  in  verneinendem 
Sinne  entschieden.  Hus  hat  nie  behauptet  noch  behaupten  dürfen, 
daß  er  seine  Gedanken  aus  dem  eigenen  Herzen,  aus  der  Tiefe  des 
tschechischen  Volksgemütes  erzeugt  habe:  er  übernahm  Wiclefs 
Ideen,  so  wörthch,  daß  er  vielfach,  wie  erwiesen,  als  Abschreiber 
zu  bezeichnen  ist.  Was  aber  dem  englischen  Reformator  unmög- 
lich war,  gelang  dem  Tschechen,  dem  der  Haß  gegen  die  Deutschen 
die  Seele  schwellte  und  die  Genossen  zutrieb  —  die  Losreißung 
seines  Volkes  von  der  römischen  Kirche,  mit  der  die  Deutschen 
im  engen  Bunde  waren.  Da  kam  es  zu  einem  IMacht-  und  Rassen- 
kampf, wie  ihn  unsere  Geschichte  noch  nicht  erlebt  hatte,  zu 
unerhörten  Triumphen  der  Tschechen  gegen  die  von  der  ganzen 
öffentlichen  Meinung  des  Abendlandes  getragene  deutsche  Nation. 
In  fürchterlichen  Ausbrüchen  entlud  sich  die  revolutionäre  Lava: 
die  Feuerströme,  von  den  Geistern  nationaler,  religiöser,  sozialer 
Leidenschaften  genährt,  rangen  in  dem  böhmischen  Bergkessel 
untereinander  und  strömten  wildverwüstend  über  die  Grenzen. 
Ein  tragischer  Anblick,  das  Ringen  einer  von  Haß  und  Wut  um- 
ringten kleinen  Nation  um  Existenz  und  Anerkennung  —  denn 
anerkannt  zu  werden  von  der  römisch-kirchlichen  Staatenwelt 
blieb  doch  das  Ziel  der  Böhmen  in  all  dieser  Verwirrung.  Un- 
überwindliche ]\Iächte  hielten  das  Land  umlagert.  Aber  wir  dürfen 
hinzusetzen,  daß  die  Geister  slawischer  Maßlosigkeit  auch  durch 
die  evangeHschen  Gedanken,  an  die  man  sich  anlehnen  wollte, 
nicht  gebändigt  wurden;  die  eigene  Haltlosigkeit  hat  mindestens 
soviel  zum  Ruin  der  Nation  beigetragen  wie  der  Haß  der  Feinde. 
Und  so  brannte  der  Krater  in  sich  aus.  Erfolg  hatten  nur  die 
großen  Barone,  mochten  es  Tschechen  oder  Deutsche,  Katholiken 
oder  Utraquisten  sein;  und  in  die  Asche  fielen  aufs  neue  dichte 
Keime  deutscher  Kolonisation :  es  ist  bezeugt,  daß  die  Deutschen 
am  Ausgang  des  15.  Jahrhunderts  in  Böhmen  einflußreicher  waren 
als  je.  Am  Ende  entstand  ein  neues  eigenartiges  Staatsgebilde, 
das  Königreich  Georg  Podj  ebrads,  eines  Vollbluttschechen, 
der   danach    rang,    dem    hussitischen    Staat    von    dem    Papsttum 


220  Kleine  historische  Schriften. 

eines  Pius  II.  die  Duldung  abzutrotzen.  Dem  zerbröckelnden 
Deutschen  Reiche  gegenüber  war  die  Stellung  König  Georgs  ge- 
waltig; mehrfach  konnte  er  als  Führer  der  ständischen  Interessen 
gegen  den  Kaiser  auftreten,  die  römische  Königskrone  selbst  schien 
nicht  zu  hoch  für  seinen  Ehrgeiz.  Schließlich  aber  war  all  sein 
Ringen  doch  nur  Sisyphusarbeit :  Rom  hielt  an  Habsburg  fest,  und 
was  einem  Friedrich  III.  traumhaft  vorgeschwebt  hatte,  die  Vereini- 
gung der  zisleithanischen  und  magyarischen  Gebiete,  die  kaiserliche 
Vollgewalt  seines  Hauses,  das  ward  unter  seinem  Sohne  und  seinem 
Urenkel  zur  Wirklichkeit.  Seitdem  ist  Böhmen  im  Besitz  der  habs- 
burgischen  Krone  gebheben,  ein  Stück  Zisleithaniens,  seit  derselben 
Epoche,  da  die  deutsche  Kultur  in  einem  autochthonen  Prozeß  noch 
tiefer,  seelischer  befruchtet  ward  mit  den  evangehschen  Gedanken, 
denen  Johann  Hus  hatte  Bahn  brechen  wollen.  Der  nationale 
deutsche  Staat  aber,  das  innerste  Ziel  der  religiösen  Umwandlung, 
ward  nicht  erreicht,  vielmehr  die  ständische  Organisation,  welche  das 
Reich  umspannt  hielt,  nur  tiefer  begründet,  mit  höherem  Inhalt 
begabt ;  das  Reich  ward  erfüllt  mit  untilgbarem  Haß  und  Hader. 
Nun  hatte  ja  aber  auch  in  Böhmen  die  religiöse  Bewegung 
nicht  zur  Einigung  geführt.  Die  Parteien  standen  hier  wie  in 
Deutschland  gegeneinander;  so  wie  dort  förderte  das  Herrscher- 
haus die  katholischen  Interessen.  Da  traten,  wie  überall  in  der 
Welt,  die  nationalen  Gegensätze  auch  in  Böhmen  zurück;  Kon- 
fession hielt  zu  Konfession,  die  katholischen  Barone  zu  den  Habs- 
burgern,  die  evangehschen  zu  den  gleich  gesinnten  Ständen  im 
Reiche.  So  war  die  Opposition  beschaffen,  welche  sich  im  17.  Jahr- 
hundert gegen  Habsburg  bildete,  einen  Pfälzer  Kurfürsten  zum 
König  machte  und  den  Kampf  wagte,  der  auf  dem  Weißen  Berge 
bei  Prag  mit  dem  Siege  des  deutschen  Katholizismus  endigte, 
den  religiösen  Bürgerkrieg  aber  in  Deutschland  entfesselte.  Wieder- 
um nicht  als  tschechische  Reaktion  ist  der  Aufstand  anzusehen, 
sondern  als  eine  protestantisch-ständische.  Beide  Nationalitäten 
finden  wir  in  dem  böhmischen  Lager  —  neben  den  Bubna  und 
Kinsky  die  Thurn,  Fels,  Hohenlohe  —  nirgends  treten  die  alten 
nationalen  Ansprüche  hervor;  man  kann  oft  schwanken,  welchem 
Stamme  man  den  oder  den  Führer  zurechnen  will.    Selbst  d^s 


Die  geschichtliche  Stellung  der  Deutschen  in  Böhmen.  221 

konfessionelle  Element  trat  im  Laufe  des  Krieges  vor  dem  aristo- 
kratisch-persönlichen zurück,  und  so  kam  unter  den  böhmischen 
Großen,  ja  in  dem  Heere,  das  Ferdinand  seine  Siege  erfocht,  unter 
den  Offizieren,  die  ihm  die  Söldner  geworben,  von  neuem  die 
Idee  auf,  daß  gegen  Habsburg  Böhmen  als  solches  sich  erheben 
müsse,  daß  von  allem  religiösen  und  nationalen  Hader  abzusehen 
sei.  Zum  zweiten  Male  seit  Podjebrad  appellierte  die  böhmische 
Politik  an  die  religiöse  Toleranz,  und  wieder  war  es  ein  böhmischer 
Edelmann,  der  unter  ihrem  Zeichen  seinem  Vaterlande  und  dem 
Reiche  den  Frieden  geben  wollte.  Wallenstein.  Aber  hüten  wir 
uns,  diese  erhabene  Idee  in  den  Händen  des  dämonischen  Mannes 
als  die  hohe  Kraft  zu  preisen,  welche  auf  dem  Grunde  protestan- 
tischer Staatsgewalt  und  in  späteren  Weltkämpfen  erwachsen 
ist.  Dem  Friedländer  war  sie  nur  die  berückende  Hülle,  unter  der 
er  den  Eidbruch  gegen  seinen  kaiserlichen  Herrn  beschönigen,  die 
Parteien  im  Reiche  gewinnen,  die  Unersättlichkeit  seines  Ehrgeizes 
verbergen  wollte,  er,  der  in  Wahrheit  nur  die  barbarische,  ideenlose, 
von  der  Scholle  losgelöste  Gewalt  der  durch  Geld  geworbenen  und 
durch  niedrigste  Leidenschaften  zusammengehaltenen  Soldateska 
vertrat.  So  verschwand  ihm  die  Krone  seines  Landes  wie  ein  Phantom 
nebelgleich  in  dem  Abgrunde,  in  den  er  stürzte,  als  er,  zitternd  vor 
Begierde  und  Furcht,  mit  unsicheren  Händen  danach  greifen  wollte. 
Das  Jahr  der  Schlacht  am  Weißen  Berge  und  das  der  Er- 
mordung Wallensteins,  1620  und  1634,  sind  die  Gründungsjahre 
der  modernen  habsburgischen  Gewalt  über  Böhmen.  Seitdem 
hat  hier  weit  über  200  Jahre  ein  System  der  Herrschaft  bestanden, 
dasjenige,  welches  überhaupt  den  modernen  österreichischen 
Großstaat  zusammenhielt,  bis  ihn  die  preußischen  Siege  in  neue 
Bahnen  zwangen.  Das  Fundament  war  die  Einheit  der  Religion 
und  des  Herrscherhauses  sowie  eine  über  nationale  Unterschiede 
hinwegsehende  imperiale  Autorität;  die  IMachtmittel  die  zentraH- 
sierende  Bureaukratie  und  die  Armee;  der  nationale  Boden  aber, 
auf  dem  Krone,  Klerus,  Beamtentum  und  Heer  dieses  Habsburgs 
ruhten,  das  Deutschtum.  Dies  ist  die  Epoche  gewesen,  in  der 
katholische  Politik  und  deutsche  Nationalität  den  engsten  Bund 
geschlossen,  die  größte  Älachtsumme  gebildet  und  die  höchsten 


222  Kleine  historische  Schriften. 

Erfolge  errungen  haben;  Magyaren  und  Tschechen  hatten  es 
gleichmäßig  zu  empfinden.  Ohne  Frage  also  hatte  unser  Volks- 
tum in  Böhmen  davon  den  größten  Nutzen.  Niemals  hat  es  von 
den  Tschechen  weniger  zu  leiden  gehabt  als  im  i8.  Jahrhundert. 
Alle  leitenden  Kreise  im  Lande  waren  von  Deutschen  erfüllt ;  deutsch 
war  die  Sprache  des  Umganges  und  der  Geschäfte,  der  Literatur 
auch  für  die  tschechischen  Schriftsteller.  Der  tschechische  Name 
schien  verlöschen,  Böhmen  eine  deutsche  Provinz  werden  zu  wollen. 
Da  kam  die  Zeit  einer  neuen  Wandlung,  das  19.  Jahrhundert, 
das  mit  der  Revolution  anhebt,  welche  den  alten  französischen 
Staat  in  Trümmer  schlug.  Der  Genius  der  europäischen  Nationen, 
den  die  alten  Ordnungen  gefesselt  hielten,  befreite  sich  in  welt- 
verwandelnden Kämpfen.  Die  Grenzen,  welche  die  alte  Diplo- 
matie gezogen,  wurden  überall  zerbrochen ;  die  Ideale  des  vergange- 
nen Jahrhunderts,  jene  Träume  von  Weltbürgertum  und  Welt- 
frieden verflogen.  Jede  Nation  ist  nun  in  sich  geeinigt  oder  strebt 
danach,  sich  politisch  auszugestalten;  nationale  Leidenschaften 
führen  allerorten  das  Wort,  und  die  Welt  starrt  in  Waffen.  Noch 
stehen  wir  mitten  in  dieser  Entwickelung.  Wie  sie  enden  wird 
—  wer  mag  es  ausdenken!  Und  am  wenigsten  bei  dem  Völker- 
gemisch Österreichs,  das  ja  erst  seit  kurzem  in  diesen  Umwandlungs- 
prozeß hineingerissen  wurde,  dürften  wir  eine  Prophezeiung  wagen. 
Vielleicht,  daß  uns  für  Böhmen  die  Vergangenheit  einen  Finger- 
zeig bieten  kann.  Niemals,  so  lehrt  sie  uns,  haben  die  Tschechen 
aus  eigener  Kraft  ihren  Staat  erbaut;  immer  haben  sie  sich  bei 
den  deutschen  Nachbarn,  bei  deutschem  Geiste  Hilfe  holen  müssen. 
Selbständig  und  stark  nach  außen  waren  sie  stets  nur  zuzeiten, 
da  Deutschland  zerrissen  war;  und  die  Blüteepochen  ihres  Landes 
\vurden  von  Herrschern  herbeigeführt,  die,  waren  es  nun  Tschechen 
oder  Deutsche,  aus  allen  Kräften  deutsches  Wesen  hoben.  Als 
sie  es  aber  unternahmen,  ganz  auf  sich  gestellt  und  in  herber  Feind- 
schaft gegen  die  Deutschen  Staat  und  Kirche  Böhmens  zu  gestalten, 
schufen  sie  am  Ende  nichts  als  Ohnmacht  und  Elend,  und  auf  den 
Trümmern  ward  erst  recht  der  deutsche  Einfluß  mächtig.  Zum  Ver- 
zagen bietet  also  unseren  Volksgenossen  in  Böhmen  die  Geschichte 
ihres  Landes  keinen  Anlaß. 


Gustav  Adolf  dem  Befreier  2uni  Gedäditnis. 

(1894.) 

Die  protestantische  Christenheit  rüstet  sich,  das  Andenken  des 
nordischen  Helden  zu  feiern,  der  in  den  dunkelsten  Zeiten  der 
deutschen  Geschichte,  in  dem  Gewirr  blutigster  Kämpfe  rettend  für 
den  schon  unterliegenden  Glauben  Martin  Luthers  aufgetreten  ist  — ■ 
und  schon  erheben  sich  aufs  neue  die  Stimmen  des  alten  Hasses, 
die  aus  dem  Lager  Roms  und  Habsburgs  dem  fremden  Sieger 
einst  entgegenklangen.  Zwar  ist  der  politische  Hader,  der  Deutsch- 
land in  jenen  Jahren  durchwühlte  und  verwüstete,  verschwunden: 
machtvoll  und  geeinigt  steht  die  Nation  da,  entschlossen,  jeden 
Angriff  abzuwehren;  längst  sind  die  fremden  Zwingherren,  die 
ihre  Machtkämpfe  auf  deutschem  Boden  ausfochten  und  unsere 
Grenzen,  unsere  Ströme  zu  ihren  Gefangenen  gemacht  hatten, 
gerade  Schweden  zuerst,  von  uns  abgeschüttelt  und  hinaus- 
getan: die  alten  Marken  sind  wieder  gewonnen  und  gewaltiger 
denn  je  befestigt,  und  vor  der  neuen  deutschen  Krone  ist  der 
fremde  Glanz  verblichen.  Aber  ungestillt  ist  der  religiöse  Zwist, 
der  mit  dem  politischen  gepaart  war,  und  mit  fanatischem  Eifer 
suchen  die  modernen  Römlinge  alles  hervor,  um  den  Ruhm  des 
großen  Königs  zu  schmälern,  der  sich  dem  alten  Glauben  auf  seiner 
Siegesbahn  entgegenwarf  und  noch  sterbend  über  ihn  triumphiert 
hat.  Nicht  als  ob  sie  dem  Helden  aus  seinem  Bekenntnis  einen 
Vorwurf  machen  wollen,  das  ihre  Vorfahren  im  römischen  Glauben 
mit  einem  ehrlichen  Hasse  verfolgten.  Dafür  sind  unsere  Apo- 
logeten Roms  und  der  römischen  Politik  zu  tolerant  geworden. 
Ihre  Anklagen  sind  nur  gegen  die  politischen  Absichten  gerichtet, 


224  Kleine  historische  Schriften. 

die  sich  in  Gustav  Adolf  mit  der  Konfession  verbündeten:  von 
der  Höhe  des  nationalen  Selbstgefühls  her  verurteilen  sie  die 
eigensüchtige  Politik  des  Eroberers,  und  über  ihrer  patriotischen 
Entrüstung  vergessen  sie  fast,  daß  noch  die  jüngsten  Historiker 
aus  ihrem  Lager,  ein  Onno  Klopp  und  seine  Gesellen,  mit 
all  ihrem  Forschen  niemals  etwas  Weiteres  bezweckt  haben,  als  die 
Ziele  Habsburgs  und  Roms  historisch  zu  rechtfertigen  und  den 
neuen  Staat,  in  dem  sich  die  protestantisch-deutschen  Ideale 
verkörperten,    zu    bekämpfen. 

In  der  Tat  aber  hat  es  kaum  einen  Moment  in  der  deutschen 
Geschichte  gegeben,  wo  das  alte  Kaisertum  größere  Erfolge  er- 
rungen hat  und  der  Herstellung  der  Glaubenseinheit  näher  ge- 
kommen ist  als  in  den  Jahren,  da  Wallenstein  und  Tilly  ihre 
großen  Siege  erfochten  und  Kaiser  Ferdinand  mit  der  Liga  sich 
anschickte,  alle  Zusagen  und  Verträge,  die  ihnen  der  deutsche  Pro- 
testantismus abgerungen  hatte,  zu  widerrufen.  Als  Ende  1627  die 
letzten  dänischen  Besatzungen  aus  Mecklenburg  und  der  cim- 
brischen  Halbinsel  verjagt  waren,  schien  es  mit  der  deutschen 
Ketzerei  aus  zu  sein.  Bis  zum  Ottensund  war  der  kaiserliche 
General  Meister  geworden.  Seine  Gedanken  erhoben  sich  jetzt 
zum  höchsten  Fluge,  bis  zum  Zuge  nach  Konstantinopel,  den  er 
mit  der  vereinigten  Kraft  der  deutschen  Heere  und  der  Hülfe 
Spaniens,  Venedigs  und  des  Papstes  ausführen  wollte:  in  drei 
Jahren  müsse  der  Türke  aus  Europa  verjagt  und  sein  Reich  unter 
der  kaiserlichen  Krone  den  Eroberern  ausgeteilt  sein.  Es  waren 
die  imperialistischen  Ideale,  denen  auch  Karl  V.  unter  allen 
Kämpfen  mit  Papst  und  Ketzern,  Franzosen  und  Türken  nach- 
gehangen hatte,  und  die  noch  immer  den  äußersten  Horizont  der 
kathohschen  Politik  bildeten;  Tilly  selbst  erging  sich  gerne  mit 
dem  Friedländer  in  diesen  Phantasien.  Zunächst  aber  galt  es  für 
beide  doch,  die  nordischen  Küsten  und  ihre  Meere  zu  bezwingen. 
Elbe  und  Weser  waren  bereits  in  ihren  Händen;  und  auch  an  der 
Ems  und  am  Rhein  standen  ihre  Regimenter,  willkommene  Nach- 
barn für  die  Spanier,  die  von  Belgien  her  die  Niederlande  be- 
drängten. Durch  das  ganze  Reich  hin,  bis  an  die  Alpen,  dehnten 
sich  ihre  Quartiere  aus.  Furchtsam  duckten  sich  unter  dem  Macht- 


Gustav  Adolf  dem  Befreier  zum  Gedächtnis.  225 

wort  der  katholischen  Generale  die  evangelischen  Fürsten  und 
Städte,  triumphierend  erhoben  die  Pfaffen  ihr  Haupt,  und  gierig 
griffen  die  hohen  Offiziere  nach  den  fetten  Stiftsgütern  der  Ketzer, 
die  ihnen  der  Richtspruch  Ferdinands  preismachte, 
^.r:  Schon  damals  haben  sich  die  Katholischen  mit  den  Motiven 
gebrüstet,  welche  man  heute  in  ihrem  Lager,  ja,  seltsam  genug,  bis- 
weilen auch  von  anderer  Seite  her  für  die  Politik  Ferdinands  und 
Wallensteins  anzuführen  pflegt  —  als  ob  die  nationalen  Interessen 
durch  diese  Anstalten  Schutz  gefunden  hätten.  Auf  den  Hansetagen 
zu  Lübeck  entwickelten  die  Sieger  ein  hohes  Programm  natio- 
naler PoHtik,  eröffneten  sie  dem  deutschen  Kaufmann  die  Aus- 
sicht auf  Herstellung  der  alten  Handelsgröße:  es  sei  schimpfUch 
für  das  deutsche  Reich,  so  führten  sie  in  einer  Denkschrift  aus,  sich 
auf  den  eigenen  Meeren  und  Strömen  von  den  fremden  Nationen 
Gesetze  vorschreiben  zu  lassen;  die  Deutschen  ließen  sich  be- 
handeln, als  ob  sie  lauter  Kinder  wären ;  mitten  in  das  Nest  hätten 
sich  ihnen  die  Engländer  mit  ihren  Monopolien  und  Propolien 
gesetzt,  und  so  viele  Millionen  aus  Deutschland  gezogen,  daß  sie 
jetzt  Kaiser  und  Reich  Trotz  böten.  Und  was  sei  der  Zoll  im  Sunde 
anders  als  ein  schädlicher  und  schändlicher  Tribut  aus  ganz  Deutsch- 
land an  die  Dänen!  Im  Namen  der  nationalen  Ehre  und  Wohl- 
fahrt, deren  Schutz  der  Kaiser  als  seine  heiligste  Verpflichtung 
vor  Mit-  und  Nachwelt  auffasse,  wTirden  die  Hanseboten  auf- 
gefordert, den  fremden  Einfluß  im  Baltischen  Meere  zu  zerbrechen. 
Wer  aber  waren  diese  Versucher?  Neben  dem  kaiserlichen, 
fast  noch  dringender  als  er,  der  spanische  Gesandte,  der  Vertreter 
der  Macht,  welche  seit  70  Jahren  Staat  und  Religion  Hollands 
zu  vernichten  trachtete  und  länger  noch  das  Reich  in  alle  Aben- 
teuer ihrer  weltumspannenden  Politik  hatte  verstricken  wollen. 
Also  hätten  die  Städte  ihre  Häfen  und  das  deutsche  Meer  nur 
einem  neuen  Herren  geöffnet  und  den  Rest  ihrer  Selbständigkeit 
aufgeben  müssen;  nichts  anderes  als  dienende  Glieder  der  spani- 
schen W^eltmacht  wären  sie  geworden,  allen  ihren  politischen  und 
religiösen  Plänen  Untertan,  in  ihre  Siege,  vielleicht  aber  auch  in 
ihre  Niederlagen  verstrickt,  und  immer  der  Gefahr  ausgesetzt,  bei 
einer  neuen   Schwenkung  der  imperialen   Politik  die   Kosten  zu 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  15 


226  Kleine  historische  Schriften. 

bezahlen.  Denn  noch  lagen  die  Gegner  Habsburgs  mit  nichten 
am  Boden.  Wenn  England  durch  seine  inneren  Wirren  gelähmt 
war,  so  faßten  sich  die  Holländer  um  so  stärker  zusammen;  sie 
siegten  zur  See,  in  Westindien  und  daheim  auf  dem  Lande ;  niemals 
waren  sie  eifriger  zum  Kriege  gewesen.  Und  schon  konnte 
Richelieu  hoffen,  mit  der  Unterwerfung  Rochelles  die  Hände  im 
Innern  frei  zu  bekommen  und  die  ruhmreiche  Pohtik  Heinrichs  IV. 
zu  erneuern.  Auch  der  Norden  war  noch  aufrecht,  der  Dänen- 
könig ungebeugt  auf  seinen  Inseln,  und  unerreichbar  für  die  kaiser- 
lichen Waffen  und  Feuerbrände  die  Schiffe  und  Häfen  Gustav 
Adolfs,  \^'ohl  rüstete  Wallenstein  jetzt  zum  Seekriege,  24  Orlog- 
schiffe  ließ  er  erbauen:  zunächst  aber  blockierten  die  Dänen  die 
Mündung  der  Trave.  So  ist  es  wohl  erklärlich,  daß  die  Hansen 
jene  Versucher,  die  ihnen  gleichsam  die  Schätze  dieser  Welt  zeigten, 
um  ihre  Seele  zu  erkaufen,  von  sich  wiesen.  Sie  hofften  noch, 
ihre  Neutraütät  zu  behaupten.  Das  aber  war  auf  die  Dauer  un- 
möglich. In  einem  neuen  Waffengange  ward  Christian  IV.  abermals 
aufs  Haupt  geschlagen,  und  nun  blieb  Norddeutschland  völlig 
sich  selbst  überlassen.  Schwerer  als  je  legte  sich  die  katholische 
Verfolgung  auf  das  Geburtsland  der  Reformation,  und  das  Resti- 
tutionsedikt Ferdinands  drohte  Vernichtung.  Vor  Stralsund  ab- 
gewiesen, okkupierte  der  Herzog  von  Friedland  doch  die  andern 
pommerschen  Häfen.  Rostock  und  Wismar  und  ganz  Mecklenburg 
hielt  er  durch  Zitadellen  und  starke  Garnisonen  gefesselt;  und 
noch  vom  Sunde  her  schickte  er  seine  besten  Regimenter  unter 
seinem  vertrauten  Oberst  Hans  Georg  von  Arnim  nach  Preußen, 
um  den  Polen  gegen  Schweden  zu  helfen. 

In  dieser  Gefahr,  die  ihn  schon  selbst  bedrohte,  hat  sich  Gustav 
Adolf,  wie  jedermann  weiß,  zu  dem  deutschen  Kriege  entschlossen. 
Gewiß  nicht  aus  reinem  Idealismus.  Er  vertrat  Schwedens  Macht 
so  wie  Ferdinand  die  Habsburgs,  begierig  sie  auszubreiten;  un- 
löslich war  in  beiden,  wie  in  allen  Politikern  jener  Epoche,  Reli- 
giosität und  politischer  Ehrgeiz  verflochten.  Auch  die  dynastischen 
Interessen  nahmen  in  dem  Schwedenkönig  den  breitesten  Raum 
ein;  er  setzte  nur  das  Werk  seines  heldenmütigen  Vaters  fort,  der 
die  Macht  der  protestantischen  Wasas  im  Kampf  gegen  den  pol- 


Gustav  Adolf  dem  Befreier  zum  Gedächtnis.  227 

nisch-katholischen  Zweig  seines  Hauses  behauptet  und  neu  ge- 
gründet hatte.  Und  beide  bewährten  sich  darin  als  die  echten 
Sprossen  der  Wasabrut,  daß  ihre  persönHchen  Interessen  sie  immer 
auf  den  Bahnen  der  schwedischen  Größe  und  des  Protestantismus 
führten. 

Altdeutscher  Boden  war  es,  das  Gebiet  der  Hanse  und  des 
deutschen  Ordens,  auf  dem  Gustav  Adolf  die  Herrschaft  Schwedens 
feststellte;  wohin  seine  Fahnen  getragen  wurden,  überall  hatten 
der  deutsche  Kaufmann  und  das  deutsche  Schwert  regiert ;  deutsche 
Arbeit  hatte  erst  die  Kultur  in  die  Barbarenländer  des  Ostens  ge- 
tragen, Deutsche  die  Mission.  Damals,  in  den  Jahrhunderten  der 
Hierarchie,  waren  unsere  Vorfahren  die  Vorkämpfer  des  römischen 
Glaubens  gewesen,  den  sie  rund  um  das  Baltische  Meer  pflanzten, 
und  hinter  dessen  Grenzen  das  lettische  Heidentum  und  die  Mos- 
kowiter lange  im  Dunkel  zurücktraten.  Dann  war  ihre  politische  All- 
macht und  bald  auch  die  religiöse  Einheit  zerbrochen  worden.  Aber 
diese  wenigstens  hatte  sich  schnell  und  entschieden  hergestellt  in  dem 
neuen  Geiste.  Es  war,  als  ob  diese  entlegenen  Regionen,  diese 
letztge\\onnenen  Pro\'inzen  Roms  ihrer  Natur  nach  sich  ihm 
leichter  hätten  entfremden  müssen:  nicht  ohne  Kämpfe,  aber  im 
wesentlichen  doch  ohne  tiefere  Erregung  der  Massen  war  es  ge- 
schehen, gar  nicht  vergleichbar  den  tief  auf  wühlenden  Erschütte- 
rungen, denen  Staat  und  Gesellschaft  Mittel-  und  Süddeutsch- 
lands oder  des  europäischen  Westens  ausgesetzt  waren;  von  der 
großen  Krisis,  die  der  deutsche  Protestantismus  im  Schmalkal- 
dischen  Kriege  und  im  letzten  Jahrzehnt  Karls  V.  durchzumachen 
hatte,  war  diese  nordische  Welt  kaum  gestreift  worden;  mitten 
im  Siege,  an  ihrer  Grenze,  in  Wittenberg  selbst,  wandte  ihr  der 
Kaiser  den  Rücken. 

Und  dieser  Glaube,  der  hier  auch  stärker  einwurzelte  als 
irgendwo  anders,  w-ar  der  deutsche.  Niemals  vorher  und 
nachher  haben  deutsche  Gedanken  in  den  nordischen  Reichen  so 
tief  und  nachhaltig  geherrscht,  als  im  sechzehnten  und  siebzehnten 
Jahrhundert.  Alle  Lebensäußerungen  in  dem  weiten  Gebiet  von 
Wittenberg  bis  Upsala  und  von  Lübeck  bis  Dorpat  trugen  ihre 
Farbe.   Vor  allem  die  Religion  selbst  ward  in  der  ursprünglichsten 

15* 


223  Kleine  historische  Schriften. 

und  deutschesten  Form  in  allen  Pfarrhäusern  und  Kirchen  ver- 
kündigt ;  unvermischt  mit  reformierter  Lehre  und  presbyterianischen 
Ordnungen  regierte  in  Predigt  und  Verfassung  der  Kirche  der  Geist 
von  Wittenberg.  Mit  Nachdruck  und  wissenschaftlichem  Eifer  ward 
er  an  den  Universitäten  hochgehalten,  zwischen  denen  ein  reger 
Austausch  von  Lehrern  und  Lernenden  stattfand.  Wie  oft  sind 
in  den  Zeiten  eines  Chemnitz  und  Pufendorf  deutsche  Professoren 
an  schwedische  Universitäten  berufen  worden,  und  \\ie  vielfach 
findet  man  in  den  Matrikeln  Greifswalds,  Wittenbergs  oder  Frank- 
furts die  Namen  schwedischer  Studenten!  Doch  war  die  Verbin- 
dung keineswegs  bloß  geistiger  Natur.  Auf  dem  großen  Geldmarkt 
des  Nordens,  dem  mächtig  emporstrebenden  Hamburg,  begegneten 
sich  die  schwedischen  und  die  deutschen  Werber,  und  nirgends 
diente  der  norddeutsche  Adel  lieber  als  unter  den  blaugelben 
Fahnen.  In  den  Heeren  Gustav  Adolfs  standen  unterschiedslos 
deutsche  Offiziere  neben  schwedischen  Kameraden,  selbst  in  den 
höchsten  Chargen,  neben  Baner  und  Hörn  Falkenberg  und  Knyp- 
hausen;  und  in  der  Kanzlei  des  Königs  arbeiteten,  während  des 
deutschen  Krieges  w^enigstens,  fast  mehr  deutsche  als  schwe- 
dische Federn.  Als  Oberst  und  Diplomat  zugleich  diente  dem 
König,  schon  in  Livland  und  Preußen,  der  vielgewandte  Hans 
Georg  von  Arnim,  der  am  Berliner  Hof  für  ihn  als  Werber  um  die 
Hand  der  Hohenzollemschen  Prinzessin  auftrat.  Gustav  Adolf 
selbst  sprach  und  schrieb  das  Deutsche  wie  seine  ]\Iuttersprache 
und  erschien  unter  seinen  deutschen  Vettern  fast  wie  ihresgleichen. 
Auch  wirtschaftlich  behauptete  unsere  Nation  in  ihrem  alten 
Herrschaftsgebiete  vor  allen  Rivalen  noch  immer  den  Vorrang; 
und  wie  sehr  der  deutsche  Kaufmann  auf  den  baltischen  Märkten 
durch  die  Eifersucht  der  nordischen  Nachbarn  und  durch  das  rück- 
sichtslose Eindringen  der  protestantischen  Westmächte  gehemmt 
sein  mochte,  blieben  doch  diese  Konflikte  durch  den  religiösen 
Hader  unvergiftet,  seitdem  sich  unter  Ehsabeth  und  den  Oraniern 
der  protestantische  Charakter  ihrer  Staaten  entschieden  hatte. 

Wo  waren  nun  die  Gefahren,  die  diesem  so  fest  geschlos- 
senen und  einmütigen  Kulturkreise  drohten  ?  Sie  kamen  ein- 
mal aus  dem  Osten,  von  den  Russen,  die  mit  barbarischer  Wild- 


Gustav  Adolf  dem  Befreier  zum  Gedächtnis.  229 

heit  schon  in  dem  sechsten  und  achten  Jahrzehnt  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  sich  auf  die  zersphtterten  und  verlassenen  Heim- 
stätten der  deutschen  Bürger  und  Ritter  in  den  baltischen  Pro- 
vinzen geworfen  hatten.  Wo  aber  hätten  diese  Rettung  finden 
können,  wenn  Gustav  Adolf  nicht  eingegriffen  hätte  ?  Nicht  für  den 
deutschen  Staat,  der  hier  kaum  existierte,  aber  für  den  deutschen 
Glauben,  für  die  im  ganzen  Norden  mächtige  Eigenart  des  deutschen 
Geistes  und  damit  doch  auch  für  die  Grundlagen  deutscher  Macht 
ergriff  er  das  Schwert.  Und  wenn  die  baltischen  Provinzen  heute 
gegen  den  neuen  Ansturm  der  moskowitischen  Barbarei  noch  aus- 
zuharren vermögen,  so  verdanken  sie  das  keinem  mehr  als  dem 
schwedischen  Eroberer,  der  damals  ihre  Bedränger  über  den  Em- 
bach  zurückwarf.  Drohender  noch  als  die  russische  Gefahr,  die 
wie  ein  Waldstrom  die  deutschen  Pflanzstätten  überflutet  hatte 
und  ebenso  wieder  ablief,  war  der  Angriff  der  andern  slawischen 
Macht,  des  mit  Habsburg  und  Rom  befreundeten,  ja  durch  die 
Eigensucht  deutscher  Bürger  und  eines  slawisierten  Adels  begün- 
stigten Polens,  das  sich  längst  schon  weichsel-abwärts  in  das 
Kemgebiet  der  deutschen  Kolonisation  hineingeschoben  hatte  und 
nach  allen  preußischen  Küsten,  ja  über  das  Meer  nach  Schweden 
selbst  hinübergriff.  Wer  kann  übersehen,  daß  auch  hier  Gustav 
Adolf  in  Abwehr  und  Angriff  die  deutsche  Art  gegen  das  katho- 
lische Slawentum  gewahrt  hat  ?  Und  hierzu  jetzt  die  dritte  Gefahr, 
furchtbarer  an  sich  schon  als  die  anderen,  und  um  so  größer,  als 
Habsburg  und  Polen  in  Religion  und  Politik  eng  verwandte  Ziele 
verfolgten. 

So  traten  sich  hier  an  den  Gestaden  des  Deutschen  Meeres  die 
beiden  Bekenntnisse,  die  seit  hundert  Jahren  miteinander  gerungen, 
kämpf  gerüstet  gegenüber:  ans  Meer  gedrängt,  fand  das  Luthertum, 
sonst  die  Religion  norddeutscher  Trinkfürsten  und  Hofprediger, 
jetzt  endlich  seinen  Helden  und  rüstete  sich  zum  Ansprung  gegen 
den  schonungslosen  Gegner :  ein  Kampf  auf  Leben  und  Tod  war  es, 
zu  dem  sich  der  lutherische  Glaube  bereiten  mußte:  denn  jenseits 
seiner  Grenzen  gab  es  nichts  mehr  als  eisige  Wüsten. 

Mehr  als  einmal  war  Gustav  Adolf  versucht  gewesen,  neben 
Christian  IV.  in  den  deutschen  Krieg  einzugreifen,  vor  allem  im 


230  Kleine  historische  Scliriften. 

Jahre  1624,  als  der  Dänenkönig,  begünstigt  durch  eine  antihabs- 
burgische  Konstellation  der  großen  Mächte,  den  Kampf  aufnahm; 
aber  die  Verhandlungen  hatten  sich  stets  zerschlagen;  zwischen 
den  beiden  Rivalen  war  ein  Bund  nicht  möglich.  Auch  war  damals 
im  Reich  für  den  schwedischen  König,  der  klare  und  einfache  Ver- 
hältnisse um  sich  haben  mußte,  alles  noch  zu  zerfahren:  dieses 
W'irrsal  von  Zank,  Kleinmut  und  Ohnmacht  konnte  nicht  die 
Rückenlehne  bilden,  die  er  brauchte  und  die  er  sich  später  geschaffen 
hat.  »In  Euren  Ratschlägen,«  schrieb  er  seinen  deutschen  Ver- 
wandten, »ist  keine  Eintracht,  sondern  lauter  discordiae,  dadurch 
große  Dinge  zerfallen;  denn  was  Ausgang  ist  sonst  zu  hoffen,  da 
der  niedersächsische  Kreis  nur  Tagfahrten  hält  und  deliberieret,  auf 
was  Weise  sie  still  sitzen  mögen  und  praeda  victoris  werden  können. « 
Un^^■illig  sah  er  auf  die  bornierte  Selbstsucht  seiner  Vettern  im 
Reich,  die  in  dem  Kampf  der  großen  Weltmächte,  während  ihnen 
das  Messer  an  der  Kehle  saß,  nach  dem  nächsten  kleinen  Vorteil 
ausschauten  und  die  Gefahr  nur  immer  mit  Papier  statt  mit  dem 
Eisen  abwehren  wollten:  »Werben  und  rüsten  sollen  sie!«  Dann 
werde  er  ihnen  zu  Hilfe  kommen  mit  einem  königlichen  Heere 
und  Flotte,  und  mit  Gottes  Hilfe  den  Feinden  das  Noh  me  tangere 
weisen.  In  ihm  lebte  ganz  die  Energie  eines  nationalen  Staats- 
wesens, das  auf  dem  universalen  Elemente  des  protestantischen 
Glaubens  ruhte.  Verächtlich  erschien  ihm  das  wüste  Treiben  an 
den  deutschen  Höfen,  wo  auf  ein  Bankett  mehr  draufgehe  als  ein 
Kriegsschiff  kosten  würde:  »und  wäre  doch  E.  L.  mit  einem  mehr 
als  mit  dem  andern  geholfen.«  Auch  in  ihm,  bemerkten  wir, 
waren  die  persönlichen  Antriebe,  Machtstreben  und  Tatendurst 
wirksam:  aber  niemals  ließ  er  den  allgemeinen  Zusammenhang 
aus  den  Augen,  immer  blieb  er  sich  bewußt,  daß  er  auf  der  Wacht 
stehe  gegen  das  Papsttum,  in  dessen  Bekämpfung  er  aufgewachsen 
war,  so  \ne  sein  Held  und  Vorbild  Moritz  von  Oranien,  dessen 
Taten  und  Worte  er  so  gern  im  Munde  führte.  Furcht  war  ihm 
fremd,  tollkühn  fast  suchte  er  die  Gefahr  auf,  aber  auch  der  per- 
sönliche Mut  war  bei  ihm  stets  geadelt  durch  die  Kraft  eines 
Glaubens,  dem  das  ewige  Leben  gewiß  ist.  Wie  sehr  verkennt 
man  doch  die  Heldennatur  Gustav  Adolfs,  wenn  man  ihm  keine 


Gustav  Adolf  dem  Befreier  zum  Gedächtnis.  231 

anderen  Beweggründe  zuschiebt,  als  daß  er  Vorwerke  für  Schweden 
auf  der  deutschen  Küste  habe  gewinnen  wollen !  Er  habe,  schreibt 
er,  ein  viel  zu  enges  Gewissen,  um  Landes  und  Leute  halber  Krieg 
zu  führen;  ja  er  wolle  keinen  Krieg,  in  welchem  er  nicht  wie  ein 
Kriegsmann  seUg  sterben  und  vor  Gottes  Angesicht  fröhlich  er- 
scheinen   könne. 

Wo  er  aber  auftrat,  da  wollte  er  auch  selbst  befehlen.  Und 
wo  seine  Eisenfaust  zupackte,  da  hielt  sie  fest.  Das  bemerkte  so- 
gleich nach  seiner  Landung  Hans  Georg  von  Arnim,  der  seinen 
alten  Herrn  kannte.  Zunächst  galt  es  damals,  dem  König  die 
deutsche  Küste  zu  gewinnen,  Pommern,  das  er  sich  von  Anfang  an 
als  den  Preis  des  Sieges  ausgesucht  hatte,  erst  die  Inseln  und  die 
Mündungen  der  Oder,  dann  mit  raschem  Griff  die  Hauptstadt  und 
die  anderen  Plätze  des  Landes;  langsam  sodann  arbeitete  er  sich 
an  der  Oder  aufwärts.  Er  hätte  wohl  Knyphausen  in  Neubranden- 
burg entsetzen  können  und,  wie  ich  glaube,  auch  IMagdeburg,  so  wie 
er  es  dem  treuen  Falkenberg  versprochen  hatte,  erretten.  Aber  er 
woUte  nichts  dahinten  lassen,  den  Oderstrom  nicht  preisgeben  und 
vor  allem  sich  Kurbrandenburgs  und  seiner  Festungen  versichern. 
Schritt  für  Schritt  geht  er  vorwärts,  immer  bedacht,  sich  die  Ver- 
bindung mit  der  Küste  zu  erhalten.  Dann,  nach  dem  Lorbeer  von 
Breitenfeld,  den  er  doch  auch  nur  zögernd  gepflückt  hat,  beginnt 
er  den  rascheren  Lauf.  Nun  bricht  er,  von  den  Ernestinern  vielleicht 
gestachelt,  über  den  Thüringer  Wald  in  das  Maintal  ein  und  stürmt 
in  dieser  Pfaffengasse  zum  Rhein  und  wieder  zurück  nach  Franken, 
wirft  sich  von  neuem  auf  den  weichenden  Tilly  und  bringt  ihm  an 
der  Pforte  des  Bayerlandes  die  zweite  Niederlage  und  den  Tod. 
Und  nach  dem  Siegeszuge  durch  das  kathoHsche  Kernland  im 
raschesten  Entschluß  die  letzte  Wendung,  gegen  den  Herzog  von 
Friedland,  dem  er  bei  Nürnberg  die  Stirn  bietet,  bis  er  selbst  auf 
dem  Felde  von  Lützen  im  Siege  gegen  den  Gewaltigen  den  Tod 
findet,  der  ihn  so  oft  im  Donner  der  Schlacht  vergeblich  umbraust 
hatte. 

Was  seine  letzte  Absicht  gewesen,  ob  er  von  Anfang  an  einen 
festen  Punkt  im  Auge  hatte  oder,  wie  Oxenstiema  später  gemeint 
hat,  nur  \-on  Stufe  zu  Stufe  weiter  gezogen  wurde,  unbekannten 


232  Kleine  historische  Schriften. 

Zielen  zu;  und  wohin  ihn  der  Riesenkampf,  in  dem  doch  auch  sein 
Auftreten  und  der  ganze  deutsche  Krieg  nur  eine  Episode  war,  ge- 
trieben hätte  —  wer  vermag  das  zu  sagen!  MögHch,  daß  sein 
Sieg  jenes  Herrschaftsgebiet  des  lutherischen  Glaubens  und  der 
schwedischen  Macht  noch  fester  abgeschlossen  und  auch  politisch  zu 
einem  Corpus  Evangelicorum  zusammengefügt  hätte.  Die  Ver- 
fassung des  Reiches  hätte  sich  dann  schwerlich  erhalten  lassen  und 
wäre  dem  Schicksal  verfallen,  das  ihr  Chemnitz  weissagte.  Habs- 
burg und  Rom  haben  kaum  je  einen  gefährlicheren  politischen 
Gegner  gekannt  als  den  schwedischen  König,  und  also  ist  der  Haß 
verständlich,  mit  dem  ihn  ihr  Anhang  im  Leben  und  Tode  verfolgt 
hat.  Sein  Dasein  war  auf  Kampf  gestellt,  gleich  dem  des  prote- 
stantischen Helden,  dem  er  nachstrebte.  Solange  das  alte  Kaisertum 
\\^affen  hatte,  war  ein  Friede  mit  dem  nordischen  Löwen  nicht 
möglich.  Niemand  wußte  das  besser  als  Gustav  Adolf  selbst.  »Was 
ist  das  für  ein  Ding:  Neutralität?  Ich  verstehe  es  nicht«,  herrschte 
er  den  brandenburgischen  Gesandten  an,  der  ihm  die  zaghaften 
und  zweideutigen  Anträge  Georg  Wilhelms  in  das  Lager  vor  Stettin 
überbrachte. 

Heute,  wie  gesagt,  ist  die  politische  Spaltung,  welche  damals 
den  religiösen  Frieden  verhindert  hat,  verschwunden  und  die  Welt 
ist  verwandelt :  kaum  irgendwo  noch  eine  Spur  von  den  djTiastischen 
oder  politischen  Interessen  und  Absichten,  welche  die  Staatsmänner 
jener  Epoche  beherrschten.  Aber  wenn  es  wahr  ist,  daß  unser 
Preußen  als  der  Eckstein  des  neuen  Reiches  auf  den  religiösen  Ge- 
danken ruht,  die  in  dem  Herrschaftsgebiet  Gustav  Adolfs  vor- 
walteten, und  die  nach  dem  Rankeschen  Wort  in  der  Monarchie 
Friedrichs  des  Großen  einen  späten  Anhalt  und  Ausdruck  fanden, 
so  haben  wir  in  dem  Könige,  der  dem  alten  Reiche  Zerstörung 
drohte,  den  Unsrigen  zu  verehren.  Nationale  Interessen  im  heutigen 
Sinne  galten  zu  jener  Zeit,  wo  alles  mit  privaten  Anschauungen 
durchsetzt  war,  überhaupt  nichts.  Nicht  an  der  deutschen  Ge- 
sinnung Friedrich  \Vilhelms  ist  das  Projekt,  ihn  zum  Erben  Gustav 
Adolfs  und  zum  Herren  in  seinem  deutsch-schwedischen  Macht- 
bezirk zu  machen,  gescheitert ;  und  gern  genug  hat  später  der  Große 
Kurfürst  mit  dem  Gedanken  an  die  polnische  Krone  gespielt:  er 


Gustav  Adolf  dem  Befreier  zum  Gedächtnis.  233 

wäre  bereit  gewesen,  die  kaum  erkämpfte  Souveränität  in  Ost- 
preußen dafür  zu  opfern.  Aber  niemals  hätte  er  sich  dazu  ver- 
standen, was  die  Polen  von  ihm  verlangten,  gleich  den  Albertinern 
seinen  Glauben  preiszugeben,  um  den  weltlichen  Vorteil  zu  er- 
haschen. Nicht  die  wechselnden  Verhältnisse  staatlicher  Kom- 
binationen oder  dynastischer  Interessen  ist  das  Letzte,  was  die 
Staatenwelt  des  siebzehnten  Jahrhunderts  bewegte,  sondern 
überall  stoßen  wir  auf  den  sitthch-religiösen  Kern,  der,  seitdem 
ihn  die  Reformatoren  in  das  allgemeine  Leben  eingesenkt  hatten, 
dem  persönlichen  Ehrgeiz  erst  Farbe  und  Haltung  gab,  die  poli- 
tischen Parteien  ohne  Unterschied  der  Nationen  aneinander  band 
und  die  Idee  der  Nationalität  selbst  mit  neuem  Inhalt  begabte.  Auf 
diesem  gemeinsamen  Boden,  dem  Grunde  unseres  Daseins,  steht 
mit  den  Schöpfern  unseres  Staates  vereint  der  schwedische  König. 
Die  Heroen  des  deutschen  Geisteslebens  in  dem  Weimarer 
Kreise  haben  wohl  gewußt,  was  sie  dem  nordischen  Helden  ver- 
dankten, dessen  gewaltiger  Arm  dem  Andrang  der  katholischen 
Hochflut  wehrte  und  die  Deiche  verstärkte,  hinter  denen  die 
sprießenden  Saaten  religiöser  Freiheit  sicher  aufwachsen  konnten. 
Und  so  hat  der  Freiste  und  Reinste  unter  ihnen,  SchiUer,  selbst 
mit  historischem  Tiefsinn  ihm  das  herrliche  Denkmal  gesetzt. 
Seien  auch  wir  daher  dem  fremden  Herrscher  dankbar,  unbe- 
kümmert um  die  paar  Landstriche,  die  er  von  dem  vermorschten 
Reiche  für  ein  paar  Jahrzehnte  losgelöst  hat,  und  geben  wir  dem 
Eroberer  den  Platz  zurück,  den  er  unter  den  Gründern  unseres 
Staates  verdient:  zwischen  dem  treuen  und  beherzten  Landgrafen, 
der  als  erster  den  Kampf  für  den  Glauben  Martin  Luthers  gegen 
das  römisch  gewordene  Habsburg  wagte,  und  dem  Großen  Kur- 
fürsten, der  die  schwedischen  Bastionen  an  Pommerns  und  Preußens 
Küste  mit  schmetterndem  Schwertschlag  anfiel  und  zurückgewann, 
steht   Gustav  Adolf  mitten  inne. 


m^=^^^ 


Nationalität  und  Religion. 

(1907.) 

I. 

Will  man  nach  einer  beherrschenden  Formel  suchen,  einem 
Stichwort,  das  die  Fülle  der  Kämpfe  zusammenfaßt,  die  seit  der 
französischen  Revolution  die  Welt  erschüttert  haben,  so  wird 
man  kaum  ein  besseres,  prägnanteres  finden,  als  die  Idee  des 
nationalen  Staates.  Jede  Nation  Europas  will  heute  ihrem  Genius 
gemäß  ihr  Leben  gestalten,  d.  h.  ihre  Gesellschaft  entwickeln, 
ihren  Staat  bilden,  ihre  Macht  entfalten.  Sie  ist  nicht  damit  zu- 
frieden, daß  man  ihr  Raimi  gewähre,  um  ihre  Sprache,  ihre  Lite- 
ratur und  etwa  ihre  religiösen  Ideale  zu  kultivieren,  sondern  sie 
will  mehr:  sie  will  in  erster  Linie  ihre  Selbständigkeit  behaupten, 
sich  selbst  die  Gesetze  und  alle  Lebensformen  geben,  in  dem  ganzen 
Umkreis,  den  sie  einnimmt,  und  womöglich  darüber  hinaus  will 
sie  herrschen.  Diese  Tendenz  ist  stärker  als  alle  anderen,  welche 
sonst  etwa  in  dem  Kulturkreis  der  europäischen  Nationen  von 
alters  her  mächtig  gew'orden  und  noch  lebendig  sind,  stärker  selbst 
als  diejenigen,  welche  aus  dem  Schöße  unserer  Zeit  selbst  neu  ge- 
boren wurden.  Als  sie  ins  Leben  trat,  war  der  Horizont  der  euro- 
päischen Bildung  noch  beherrscht  von  internationalen,  ja,  man 
möchte  fast  sagen  antinationalen  Gedanken.  Die  Idee  der  Humani- 
tät, eines  die  Grenzen  zwischen  Ständen,  Staaten  und  Nationen 
überbrückenden  Weltbürgertums  und  Weltfriedens  nahm  die 
Köpfe  ein;  die  Fehde  zwischen  den  Bekenntnissen,  welche  drei 
Jahrhunderte  erfüUt  hatte,  schien  begraben,  und  man  träumte 
von  einer  Religion,  die  befreit  von  allem  Zwiespalt  der  Konfessionen, 


Nationalität  und  Religion.  235 

ihre  Grenzsteine  weit  jenseits  der  dogmatischen  Differenzen  in 
Regionen  setzte,  in  denen  menschhche  Freiheit  und  der  Glaube, 
Vernunft  und  Gottesverehrung  den  engsten  Bund  geschlossen 
hätten. 

Von  diesen  Gedanken  getragen  erhob  sich  die  französische 
Nation,  um  den  Staat  zu  schaffen,  in  dem  ihr  Genius  den  ad- 
äquaten Ausdruck  fände,  und  eröffnete  gerade  damit  die  Aera  der 
Nationalitätenkämpfe.  Denn  indem  die  Krone  der  Bourbonen 
zerbrach  und  ihre  Staatsordnung  in  Trümmer  sank,  entwichen 
jene  Traumgestalten,  die  über  der  Zeit  geschwebt  hatten;  und  als 
wolle  das  Schicksal  mit  dem  Beginnen,  das  so  leichten  Herzens 
unternommen  war,  seinen  Spott  treiben,  so  verwandelten  sich  jene 
Ideale  unter  den  Händen  ihrer  Bekenner  in  das  Gegenteil:  aus 
den  Propheten  des  Weltfriedens  und  idjdlischer  Gottesverehrung 
wurden  Eroberer  und  Despoten.  Zugleich  aber  erhob  sich  die 
Großmacht  der  überwundenen  Kulturepoche,  und  die  mit  ihr  be- 
graben schien,  die  katholische  Kirche,  zu  neuer  Kraft.  Während 
die  protestantische  Welt  noch  unbekümmert,  in  dem  Gefühl  der 
vererbten  Kräfte,  mit  den  Ideen  des  Jahrhunderts  aufs  engste 
verschwistert  blieb,  war  bereits  der  Kampf  zwischen  den  katho- 
Hschen  Regierungen  und  Rom  auf  der  ganzen  Linie  entbrannt. 
Schon  vor  dem  Ausbruch  der  französischen  Revolution  hatte 
das  Papsttum  die  schwächlichen  Versuche  unterdrückt,  welche 
die  bourbonischen  Höfe  in  Itahen  und  Spanien  sowie  der  Hof 
von  Lissabon  gemacht  hatten,  die  klerikalen  Fesseln  zu  zerbrechen. 
So  gering  wie  Roms  eigenes  Ansehen  in  dieser  Zeit  auch  war,  hatte 
es  doch  dies  mit  leichter  ■Mühe  durchgesetzt.  Schwerer  ward  der 
Kampf,  den  es  gegen  die  revolutionären  Machthaber  in  Frank- 
reich zu  führen  hatte.  Nicht  um  das  Dogma  handelte  es  sich  in 
diesen  Konflikten.  Kein  Tüttelchen  des  tridentinischen  Bekennt- 
nisses griffen  die  neuen  Gesetzgeber  Frankreichs  an;  sie  fesselten 
die  Kirche  nur  noch  enger  an  das  Dogma  und  beschränkten  sie 
auf  ihre  geistliche  Mission  mehr  als  je  der  alte  Staat  es  getan  hatte. 
Aber  sie  forderten  von  ihren  Dienern  Anerkennung  der  nationalen 
Souveränität  als  des  Grundgedankens  des  neuen  Staates  und 
muteten  dem  Papste  zu,  der  französischen  Kirche  eine  Konsti- 


236  Kleine  hislorische  Schriften. 

tution  zu  bewilligen,  welche  ohne  seine  Mitwirkung  zustande  ge- 
kommen und  mit  der  Verfassung  des  nationalen  Staates  ganz 
und  gar  kongruent  war.  Kein  Mittel  scheuten  sie,  um  den  Wider- 
stand, der  sich  alsbald  in  dem  französischen  Klerus  zeigte,  zu 
zerbrechen.  Ströme  von  Blut  wurden  auf  beiden  Seiten  darüber 
vergossen.  Aber  das  Ergebnis  war,  daß  die  Kirche  sich  mächtiger 
er\vies  als  die  Revolution.  Nur  durch  ein  Kompromiß,  durch  das 
Konkordat,  das  der  Erste  Konsul  mit  Rom  schloß,  konnte  der  Staat 
der  Revolution  sich  Ruhe  und  den  Gehorsam  seines  Klerus  er- 
kaufen. Zum  wirklichen  Ausgleich  kam  es  auch  dann  nicht,  und 
insofern  kann  man  sagen,  daß  auch  heute  der  nationale  Staat  in 
Frankreich  noch  nicht  fertig  geworden  ist.  Alle  Regierungen  Frank- 
reichs im  19.  Jahrhundert  haben  unter  diesem  Zwiespalt  gelitten, 
die  klerikalen  nicht  weniger  als  die  liberalen.  Denn  auch  die  Krone 
der  Bourbonen  wie  das  zweite  Kaiserreich  ruhten  auf  den  Funda- 
menten, welche  die  große  Revolution  gelegt  und  Napoleon  I. 
ausgebaut  hatte  und  die  eben  in  den  Prinzipien  des  nationalen 
Staates,  ja  der  nationalen  Souveränität  \vurzelten.  Gerade  der 
Bund  mit  der  Kirche  wurde  diesen  Regierungen  darum  gefährlich. 
Daran  entzündete  sich  die  Revolution  von  1830,  der  das  bour- 
bonische  Königtum  erlag ;  und  so  waren  es  wesentlich  auch  die  Kleri- 
kalen, welche  Napoleon  III.  in  den  Krieg  gegen  Deutschland  ver- 
lockten, den  er  selbst  so  gern  vermieden  hätte.  Auch  Louis  PhiUpp, 
der  das  Recht  seiner  Krone  auf  die  Revolution  selbst  zurückführen 
mußte,  fiel  dem  Bestreben,  den  Klerikalismus  zu  versöhnen,  zum 
Opfer;  wie  auch  die  zweite  Republik  durch  ihre  Verflechtung  mit 
den  klerikalen  Machtansprüchen  und  Tendenzen  sich  selbst  das 
Grab  gegraben  hat.  Erst  unter  der  dritten  Repubhk  hat  sich  die 
Nation  von  den  klerikalen  Fesseln  zu  befreien  versucht.  Heute 
steht  sie  genau  auf  dem  Fleck,  den  die  erste  Republik  schon 
einmal  erreicht  hatte.  Sie  wiederholt  den  Versuch,  der  da- 
mals gemacht  wnirde,  Staat  und  Kirche  voneinander  ganz  zu 
trennen  und  die  Kultusgemeinschaften  auf  sich  selbst  zu  stellen. 
Wie  wird  es  ihren  Lenkern  damit  ergehen  ?  Etw^a  so  wie  ihren 
Vätern,  welche  nach  wenigen  Jahren  reumütig  zu  den  Altären 
zurückkamen  und  den  Bund  mit  der  Verstoßenen  suchten,  nach- 


Nationalität  und  Religion.  237 

dem  diese  ihre  frei  gewordenen  Kräfte  nur  zu  neuem  und  un- 
erhörtem Wachstum  benutzt  und  den  Staat  nur  in  um  so  größere 
Verwirrung  und  Ohnmacht  gestürzt  hatte?  Oder  können  wir 
annehmen,  daß  die  französische  Nation  unter  ihrer  jetzigen  Ver- 
fassung, deren  Dauer  ja  diejenige  aller  anderen  Regierungen  seit 
1789  bereits  weit  übertrifft,  das  Problem  des  nationalen  Staates 
für  Frankreich  endlich  lösen  wird,  ohne  die  Einheit  des  fran- 
zösischen Geistes  zu  zerstören  ?  Wer  könnte  es  wagen,  auf  solche 
Fragen  die  Antwort  zu  geben  in  einem  Moment,  der  erst  den  An- 
fang der  neuen  Phase  bedeutet,  welche  Frankreich  mit  seinen 
neuen  Kirchengesetzen  beschritten  hat  ?  Immerhin  triumpliiert 
in  Frankreich  heute  die  nationale  Idee  über  die  der  Kirche  und 
offenbart  damit  ihre  das  Jahrhundert  beherrschende  Kraft. 

Ähnlich  wie  in  Frankreich,  in  Parallele  mit  ihm  und  unmittel- 
bar unter  seinem  Einfluß,  hat  sich  die  Entwicklung  Italiens 
vollzogen.  Der  junge  Held,  der  (1796)  die  Herrschaft  Österreichs 
südhch  der  Alpen  zerbrach  und  Italien  an  Frankreich  kettete, 
brachte  ihm  gleichsam  als  Älorgengabe  des  Bundes  die  Idee  der 
nationalen  Einheit;  und  als  er  sich  selbst  zum  Herrscher  über  die 
Unterworfenen  machte,  ließ  er  ihnen  doch  den  Namen  ihrer  Nation 
und  die  nationale  Krone.  Darum  blieben  ihm  die  Italiener  im 
Jahre  1S13  treu,  als  alle  anderen  Untertanen  und  Bundesgenossen 
bereits  abgefallen  oder  von  den  alten  Herren  zurückerobert  waren 
—  denn  im  Kampf  gegen  Österreich  verteidigten  sie  die  eigene  Na- 
tionalität. Anhänger  Napoleons  waren  die  Patrioten,  die  auf  der 
Halbinsel  unter  der  neuen  Herrschaft  der  Deutschen  die  itahenische 
Idee  lebendig  hielten ;  und  der  Neffe  des  Kaisers,  der  seinen  Thron 
in  Frankreich  erschlich,  betrachtete  es  von  Jugend  auf  als  ein 
Erbteil  seines  Namens,  für  Italiens  Einheit  seine  und  Frankreichs 
Macht  einzusetzen.  Wenn  Napoleon  III.  diese  größte  Aufgabe 
seiner  Politik  nicht  durchgeführt  hat,  so  lag  das  wieder  an  der 
Verflechtung  der  Idee  der  nationalen  Demokratie,  die  doch  auch 
für  seine  Herrschaft  die  Grundlage  bildete,  mit  den  Ansprüchen 
der  klerikalen  Partei,  die  ihm  zum  Thron  verholten  hatte  und  von 
der  er  sich  nicht  zu  lösen  vermochte.  Dies  war  es,  was  die  Italiener 
dazu  brachte,  die  preußische  Hilfe  anzurufen,  um  Österreich  aus 


238  Kleine  historische  Schriften. 

Venetien  zu  verdrängen;  und  dies  hielt  sie  ab,  in  dem  Kriege,  den 
Napoleon  um  seine  Existenz  und  Frankreichs  Zukunft  mit  dem 
geeinigten  Deutschland  führen  mußte,  ihre  Geschicke  mit  den 
seinigen  zu  verbinden.  So  führte  der  Sturz  des  zweiten  fran- 
zösischen Kaiserreichs  und  die  Herstellung  der  französischen 
Republik  die  Itahener  nach  Rom.  Auch  danach  ist  der  Parallelis- 
mus zwischen  Frankreichs  und  Italiens  Entwicklung  nicht 
zu  verkennen:  je  antiklerikaler  die  Pariser  Regierung  geworden 
ist,  um  so  inniger  ward  ihr  Verhältnis  zu  dem  römischen  Hof,  — 
und  heute  stehen  beide  Nationen  herzlicher  zueinander  als  zur  Zeit 
Napoleons  III.  und  Vittorio  Emanueles. 

Jedoch  fehlt  es  auch  nicht  an  tiefgreifenden  Unterschieden 
zwischen  den  Geschicken  beider  Nationen.  In  Frankreich  ist  die 
Idee  des  nationalen  Staates  durch  die  Entwicklung  von  Jahr- 
hunderten vorbereitet  worden;  ja,  man  kann  in  gewissem  Sinne 
sagen,  daß  sie  bereits  von  der  alten  Monarchie  vertreten  wurde: 
denn  der  Zusammenschluß  der  nationalen  Kräfte  um  das  König- 
tum bildet  den  Inhalt  der  französischen  Geschichte,  seitdem  es 
eine  französische  Nation  gab.  Die  alte  Monarchie  ging  unter, 
weil  sie  diese  Entwicklung  nicht  weiterführen  und  vollenden  konnte, 
\\eil  sie  den  Willen  zur  ]\Iacht,  der  in  den  breiteren  Massen  der 
Nation  sich  ent\nckelt  hatte  und  die  demokratische  Form  des 
Staates  forderte,  verkannte  oder  nicht  anerkennen  woUte.  In 
Italien  aber  ging  die  Gründung  des  nationalen  Staates  Hand  in  Hand 
mit  der  Befreiung  des  nationalen  Bodens.  Darum  setzte  diese 
Nation,  wie  der  junge  Treitschke  einst  bewundernd  schrieb,  ihr 
alles  an  ihre  Einheit.  \'or  diesem  Ziel  mußte  ihr  jedes  andere 
Interesse  und  jede  Tradition  zurückweichen.  Das  Haus  Savoyen 
gehörte  zu  den  klerikalsten  und  reaktionärsten  Dj^nastien  Europas : 
aber  es  gab  alles  auf,  was  es  an  die  Vergangenheit  fesselte,  um 
die  nationale  Krone  zu  gewinnen;  es  scheute  nicht  zurück  vor 
dem  Bunde  mit  dem  Radikalismus,  so  wie  dieser  selbst  unter 
Preisgebung  seiner  republikanischen  Ideale  sich  in  den  Dienst 
der  D3'nastie  stellte,  die  für  die  Einheit  Italiens  focht  und  ihre 
alte  Krone  in  den  Schmelztiegel  der  nationalen  Revolution  hinein- 
warf.   Die  Idee  des  nationalen  Staates  zerstörte  wie  eine  wilde 


Nationalität  und  Religion.  230 

Flutwelle  alle  staatlichen  Gebilde,  die  sich  noch  auf  der  Halbinsel 
behauptet  hatten. 

Auch  der  älteste  Staat  der  Halbinsel,  dessen  Ursprünge  höher 
hinaufreichten  als  die  irgendeiner  Monarchie  in  Europa,  bis  zurück 
in  die  Epoche  der  Ausbildung  der  romanisch-germanischen  Na- 
tionen, der  Staat  der  Kirche,  verschwand  unter  der  alles  mit  sich 
fortreißenden  Flut.  Rom  ward  der  Schlußstein  des  nationalen 
Staates;  keine  Ruhe  fand  die  Nation,  bis  ihr  König  im  Quirinal 
residierte  und  auf  dem   Kapitol  die  nationalen  Farben  wehten. 

Wie  wäre  es  da  anders  möglich,  als  daß  der  Herr  der  Kirche 
den  Räubern  seines  Staates  zürnen  muß!  Und  dennoch,  merk- 
würdig genug,  sind  jene  Konflikte  zwischen  Staat  und  Kirche,  die 
in  Frankreich  mit  der  Revolution  selbst  einsetzten  und  bis  heute 
nicht  zur  Ruhe  kamen,  in  Italien  ausgeblieben.  Nirgends  leistete 
in  den  Territorien,  welche  die  Piemontesen  und  ihre  Bundes- 
genossen den  Habsburgern  oder  den  Bourbonen  entrissen,  die 
Kirche  nennenswerten  Widerstand.  Eher  wohl  stand  die  Geist- 
lichkeit mit  ihren  Sympathien  auf  Seiten  der  Nationalen.  Erst 
heute,  in  der  zweiten  Generation  der  Itaha  unita  bemerken  Vvir 
die  Bildung  einer  kleinen  klerikalen  Gruppe  im  römischen  Par- 
lament. 

War  doch  die  Kurie  selbst  noch  in  diesem  Jahrhundert  der 
Idee  eines  einigen  Italiens  nicht  ungeneigt  gewesen.  Pio  Nono 
selbst  hatte  einen  Moment  mit  dem  Gedanken  kokettiert,  und 
das  Gedächtnis  eines  seiner  größten  Vorfahren,  Julius  IL,  war 
mit  diesem  Programm  verknüpft.  An  das  Dogma  rührten  die 
italienischen  Patrioten  so  wenig  wie  die  französischen  Revolu- 
tionäre. ]\Iochten  die  liberalen  Wortführer  der  Nation  aUer  Reli- 
gion ledig  sein,  so  haben  ihre  Könige  doch  niemals  die  alte  Gläubig- 
keit ihres  Hauses  verleugnet.  Das  Klostergut  freilich  wurde  ein- 
gezogen, denn  man  bedurfte  seiner  zum  Ausbau  des  nationalen 
Staates;  aber  die  alten  Insassen  wurden  nicht  vertrieben,  und 
unter  der  Hand  ließ  man  es  wohl  geschehen,  daß  sich  die  heiügen 
Hallen  aufs  neue  mit  Novizen  füllten.  Und  im  übrigen  hat  man 
die  alten  Formen  der  Hierarchie  (die  in  Frankreich  von  Grund 
aus  zerstört  und  ganz  und  gar  auf  die  inneren  Linien  des  Laien- 


2/jO  Kleine  historische  Schriften. 

Staates  gelegt  und  danach  zugeschnitten  waren)  in  Itahen  nicht 
angerührt.  Keiner  der  Hunderte  alter  Bischofssitze  ist  aufgehoben 
worden;  kein  italienischer  Politiker  hinderte  die  hohe  Prälatur 
daran,  es  Pio  Nono  zu  ermöglichen,  durch  ihre  Überzahl  auf  dem 
Konzil  das  Dogma  der  Unfehlbarkeit  von  der  allgemeinen  Kirche 
sanktionieren  zu  lassen;  und  niemand  unter  ihnen  hält  das  Volk 
von  den  Altären  zurück,  um  die  es  sich  heute  noch  so  gläubig 
schart  wie  zu  der  Väter  Zeiten.  Man  könnte  beinahe  sagen,  daß 
die  Repräsentanten  des  nationalen  Staates  die  universalen  An- 
sprüche der  römischen  Kirche  mit  Sympathie  betrachten,  die, 
wenn  sie  auch  keineswegs  eine  Schöpfung  italienischen  Geistes 
ist,  so  doch  im  Laufe  der  Weltentwicklung  auf  italienischem  Boden 
sich  ausgebildet  hat  und  von  Itahenern  ausgeübt  wird. 

Uns  Deutsche  führte  jeder  Aufschwung  des  nationalen  Geistes 
gegen  Rom.  Schon  der  größte  unserer  Lyriker  im  Mittelalter, 
Herr  Walher  von  der  Vogel  weide,  fand  die  vollsten  und  eigensten 
Töne  seiner  hell  klingenden  Leier,  wenn  er  seine  Landsleute  zum 
Kampfe  gegen  die  \\elschen  Pfaffen  aufrief.  Der  Humanismus, 
obschon  genährt  von  itahenischem  Geiste  und  voll  itahenischer 
Formen,  wurde  dennoch  sofort  zum  Kampfruf  des  nationalen 
Geistes  gegen  die  Römer,  Seinen  lieben  Deutschen  das  Evan- 
gehum  zu  bringen  und  sie  aus  dem  römischen  Gefängnis  zu  führen, 
erhob  Luther  seine  gewaltige  Stimme.  Und  auf  dem  Boden  der 
Reformation  ruht  alles,  was  der  deutsche  Geist  auf  seiner  Höhe 
im  i8.  Jahrhundert  geschaffen,  ruht  der  Staat  selbst,  der  unserem 
Genius  das  feste  Haus  gebaut  hat,  in  dem  er  seine  Wohnung  hat. 

In  Italien  dagegen  hat  sich  die  Kulturbewegung  niemals  in 
einem  inneren  Gegensatz  gegen  die  Kirche  vollzogen.  Die  herr- 
lichste Blüte  und  Offenbarung  des  nationalen  Genius,  die  Renais- 
sance, suchte  und  fand  nur  zu  bald  Fühlung  mit  den  Herren  der 
Kirche  und  erhob  sich  gerade  unter  ihrem  Schutze  zu  ihren  schön- 
sten Schöpfungen.  Die  Opposition,  welche  der  oder  jener  unter 
den  großen  Geistern  Italiens  wohl  gegen  Rom  gewagt  hat,  trug 
immer,  man  möchte  sagen,  einen  lokalen  Charakter.  Das  gilt 
von  den  großen  Florentinern  Dante  und  Macchiavelli  so  gut  wie 
\on  Petrarca  und  Savonarola,  von  einem  Friedrich  IL  und  Alfons 


Nationalität  und  Religion.  241 

von  Neapel  ebenso  wie  von  den  populären  Helden,  einem  Arnold 
von  Brescia,  Cola  Rienzi  und  Garibaldi.  Nicht  gegen  die  uni- 
versale Kirche,  sondern  gegen  die  Kurie  und  ihren  Staat  kämpfte 
der  ghibellinische  Geist,  der  in  der  nationalen  Politik  des  Hauses 
Savoyen  eine  neue  Form  gefunden  hat. 

Solange  die  Kirche  an  dem  Satze,  der  zwar  kein  Dogma  für 
sie  ist,  aber  durch  die  Geschichte  eines  Jahrtausends  geheiligt  und 
bestätigt  wurde,  festhält,  daß  sie  ihre  Aufgabe  ohne  den  Besitz 
weltlicher  Souveränität,  und  zwar  in  der  Hauptstadt  der  alten 
Welt,  deren  Namen  sie  übernommen  hat,  nicht  erfüllen  könne, 
ist  ein  Friede  zwischen  ihr  und  dem  nationalen  Staate  Italiens 
nicht  zu  erwarten:  das  ,,Roma  intangibile"  hat  für  den  nationalen 
Staat  wahrhaft  dogmatische  Bedeutung. 

Und  so  dürfen  wir  im  Hinblick  auf  Italien  und  Frankreich 
wohl  fragen,  ob  sich  die  Ansprüche  des  nationalen  Staates  und 
der  römischen  Kirche  miteinander  jemals  werden  ausgleichen 
können.  Denkt  man  das  Problem  ganz  durch,  vergleicht  man 
Ziel  und  Wesen  eines  Staates,  der  alles,  was  er  schaffen  will,  auf 
den  Grund  der  Nation  stellt,  nur  in  ihr  die  Richtlinien  seiner 
Macht  und  seines  Geistes  sucht,  mit  einer  Kirche,  die,  wie  das 
Papsttum,  von  der  Wurzel  her  bis  in  alle  Verzweigungen  ihres 
tausendfachen  Geästes  von  dem  Gedanken  der  Katholizität  ge- 
tragen wird,  für  welche  die  Nationen  nur  Provinzen  sind,  und  die 
jeden  Willensakt,  mag  er  der  Sphäre  des  geistigen  oder  des  mate- 
riellen Lebens,  des  Staates  oder  der  Kirche,  dem  Einzelleben  oder 
der  Gesammtheit  entstammen,  gegebenenfalls  vor  ihr  Forum 
ziehen  kann,  so  wird  man  in  der  Tat  zugeben  müssen,  daß  zwischen 
beiden  Gev/alten  ein  Gegensatz  besteht,  der  in  ihren  Keimgedanken 
bereits  enthalten  und  in  ihrem  Lebenskern  beschlossen  ist,  und 
daß  also,  mögen  ihre  Wege  noch  so  lange  nebeneinander  hergehen, 
irgendwannn  eimal  der  Zeitpunkt  eintreten  muß,  wo  sie  sich  be- 
kämpfen und  die  eine  vor  der  anderen  weichen  muß. 

Dennoch  sehen  wir  heute,  in  dem  Zeitalter  der  NationaHtäten- 
kämpfe,  selbst  Nationen,  die  sich  in  den  Schoß  der  Kirche  völlig 
eingebettet  haben  und  in  ihren  schützenden  Armen  wirklich  das 
Bewußtsein  ihrer  Einheit  und  Eigenart  pflegen  und  erhalten,  ja 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  l6 


242  Kleine  historische  Schriften. 

für  welche  die  Kirche  die  beste  Helferin  geworden  ist,  um  ihre 
Macht  auszubilden  und  das  Ziel  eines  eigenen  Staatslebens  zu 
erlangen.  Gegenüber  dem  Sturm  und  Wogenprall  der  Zeiten, 
unter  dem  Andrang  feindseliger  Kulturen,  ja  unter  der  Herrschaft 
fremder  Gewalt  wird  ihnen  die  Kirche  gleichsam  zur  Arche,  welche 
ihre  heiligsten  Güter,  ihre  Erinnerungen  und  ihre  Hoffnungen 
erhält  und  sichert. 

Schon  der  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  erlebte  dies  der 
damaligen  Welt  so  fremd  gewordene  Schauspiel,  als  Napoleon 
dem  spanischen  Volke  eine  neue  Verfassung  aufzudrängen 
versuchte.  Die  Konstitution  von  Bayonne  enthält  Grundsätze, 
welche  die  französische  Revolution  zu  ihren  Grundgedanken 
rechnete  und  die  in  dem  Spanien  des  19.  Jahrhunderts  selbst 
Wirklichkeit  und  die  Fundamente  des  Staatslebens  geworden 
sind.  Sie  waren  also  an  sich  gewiß  nicht  der  Idee  des  nationalen 
Staates  feindsehg;  und  wenn  Napoleon  von  den  Spaniern  die  Ge- 
folgschaft in  dem  Kriege  gegen  England  forderte,  so  verlangte 
er  nur  die  Fortsetzung  einer  Politik,  welche  der  Madrider  Hof 
das  ganze  18.  Jahrhundert  hindurch  befolgt  hatte  und  die  der 
Nation  die  Erhaltung  ihrer  Kolonien,  sonst  eine  Beute  Englands, 
in  Aussicht  stellte.  Aber  die  Spanier  wollten  nicht  die  Segnungen 
der  Freiheit  aus  den  Händen  des  Protektors.  Die  Ideale,  für  deren 
Rettung  sich  jedes  Tal  ihrer  Sierren  mit  Waffenlärm  erfüllte, 
waren  noch  dieselben,  denen  die  alten  Könige  und  Heiligen  ihrer 
Nation,  ein  Dominikus  und  ein  Arbues,  nachgetrachtet  hatten. 
Diese  verbanden  sie  mit  den  Ideen  der  nationalen  Selbständig- 
keit, so  wie  ihre  Vorfahren  es  in  den  Kämpfen  mit  den  Mauren, 
Juden  und  allen  Ketzern  von  jeher  getan  hatten:  NationaHtät 
und  Kirchenglaube  fielen  auch  für  sie  noch  zusammen.  Sie  riefen 
lieber  die  enghschen  Ketzer,  die  Besieger  Spaniens,  die  Eroberer 
der  spanischen  Meere  und  Kolonien,  gegen  die  einst  Philipp  II. 
seine  Flotten  und  Heere  gesandt  hatte,  in  das  Land,  als  daß  sie 
es  den  Franzosen  auslieferten. 

Das  Schauspiel,  welches  das  damalige  Spanien  darbot,  einer 
von  der  Kirche  getragenen  Nationalität,  bieten  uns  heute,  und 
schon  seit  Generationen,  die  Polen.    In  der  Epoche  der  Revo- 


Nationalität  und  Religion.  243 

lution  und  Napoleons  war  bei  ihnen  dieser  Zusammenhang  ge- 
lockert; denn  indem  sich  Frankreich,  dessen  Schützlinge  sie  von 
jeher  gewesen  waren,  mit  antiklerikalem  Geiste  durchdrang,  trat 
auch  bei  ihnen  die  Verbindung  mit  Rom  zurück.  Aber  dies  blieb 
doch  nur,  wie  es  schon  einmal  im  i6.  Jahrhundert  der  Fall  gewesen, 
eine  Episode  in  der  Geschichte  der  polnischen  Nation.  In  dem 
Wettbewerb  mit  den  anderen  Mächten  des  europäischen  Ostens  und 
Nordens,  unter  denen  nur  eine,  Österreich,  katholisch,  die  anderen 
aber  Ketzerstaaten  waren,  mußte  für  Polen  die  katholische  Kirche 
der  Fels  sein  und  bleiben,  an  den  es  sich  klammerte  und  zu  dem 
es  daher  zurückzukommen  trachtete,  sobald  der  Protektor  gestürzt 
war.  Heute  bildet  die  katholische  Kirche,  wie  zu  den  Zeiten  des 
falschen  Demetrius,  für  die  polnische  Nationalität,  den  Russen  wie 
den  Deutschen  gegenüber,  den  stärksten  Halt.  Katholisch  und 
polnisch  sind  in  unseren  Ostmarken  gleichbedeutend,  und  in  der 
russischen  Revolution  hält  sich  zur  Zeit  das  katholische  Element 
bei  den  Polen  nur  deshalb  im  Hintergrunde,  weil  die  Russen,  die 
Regierung  sowohl  wie  die  Revolutionäre,  sich  scheuen,  dies  heiße 
Eisen  anzugreifen. 

Trotzdem  sind  selbst  in  Polen  und  Spanien  die  liberalen 
Strömungen  nicht  versiegt,  und  man  kann  also  nicht  sagen,  daß 
hier  wie  dort  die  nationale  Idee  auf  immer  hinter  derjenigen  der 
Kirche  zurücktreten  und  niemals  der  Zeitpunkt  eintreten  wird,  wo 
sich  auch  in  diesen  Nationen  beider  Wege  scheiden.  In  Spanien 
hat  der  Kampf  zwischen  beiden  das  ganze  vergangene  Jahrhundert 
erfüllt  und  ist  heute  so  lebendig  wie  je;  imd  in  Polen  ist  er  noch 
bei  jeder  Revolution  hervorgetreten,  so  wie  er  auch  im  Frieden 
bei  der  Erregung  der  Wahlen  zum  Vorschein  kommt.  Wir  er- 
lebten es  soeben  in  Oberschlesien,  wo  die  Kirche  vor  der  Wucht 
des  nationalen  Impulses  ganz  zurückwich,  freilich  eine  Folge  ihrer 
Taktik,  den  Gegensatz  der  Nationalitäten  überbrücken  zu  wollen. 

Wir  sehen,  daß  der  logische  Widerspruch  zwischen  der  Idee 
des  nationalen  Staates  und  der  universalen  Kirche  sogar  durch 
das  Beispiel  Polens  und  Spaniens  nicht  beseitigt  ist.  Denn  nur 
den  Unterdrückten  kam  die  Kirche  zu  Hilfe,  nicht  den  Mächtigen 
und  den  Siegern:  den  Spaniern,  und  nicht  Napoleon,  trotzdem  er 

i6* 


244  Kleine  historische  Schriften. 

das  Konkordat  geschlossen  und  \on  der  Hand  des  Papstes  gesalbt 
worden  war;  den  Polen,  und  nicht  uns,  wie  freundlich  wir  uns 
auch  mit  den  katholischen  Bischöfen  unserer  Ostprovinzen  stellen 
möchten.  Wer  des  Schutzes  bedarf,  der  findet  an  der  Kirche  die 
Mutter,  die  für  ihn  sorgt  - —  wie  die  Einzelseelen  so  auch  die  Na- 
tionen: nur  muß  man  ihr  vertrauen  und  die  Liebe  zu  ihr  durch 
kindüchen  Gehorsam  beweisen. 


II. 

Und  das  ist  nun  ein  Teil  der  historischen  Mission,  der  in  allen 
Jahrhunderten  bewährten  Kraft  der  römischen  Kirche:  die  Rettung 
und  Erhaltung  der  Nationen,  die  in  dem  Kampf  der  Staaten,  dem 
rastlos  flutenden,  den  Mächtigeren  erlagen  und  verblutet  wären, 
hätte  ihnen  nicht  die  Kirche  die  Hand  geboten  und  sich  an  die 
Stelle  der  vermorschten  Hülle  ihrer  politischen  Organisation  ge- 
setzt. Doch  ist  nicht  bloß  der  Kirche  Roms  diese  Energie  zu  eigen. 
Sondern  wir  dürfen  es  als  ein  allgemeines  historisches  Gesetz  an- 
sprechen, daß  jede  Kirche,  ja  jede  religiöse  Gemeinschaft  im  Gange 
ihrer  Geschichte  mehr  oder  weniger  einmal  jenen  Beruf  erfüllt 
hat.  Man  pflegt  wohl  von  der  Erstarrung  zu  sprechen,  die  sich 
der  griechischen,  der  orthodoxen  Kirche  seit  mehr  als 
einem  Jahrtausend  bemächtigt  hat.  Aber  gerade  in  dieser  Ver- 
steinerung hat  jene  Kirche  Aufgaben  erfüllt,  deren  welthistorische 
Bedeutung  erst  in  diesem  Jahrhundert  recht  sichtbar  geworden 
ist.  Die  harte  Schale,  die  sie  über  sich  zog  unf  durch  die  nun  frei- 
lich kein  Lichtstrahl  der  Aufklärung  und  des  Fortschrittes  drang, 
war  nötig,  um  dieser  Kulturwelt  auf  den  Konfinien  Asiens  und 
Europas  die  Widerstandskraft  zu  verleihen,  welche  Jahrhundert 
um  Jahrhundert  durch  die  wild  andrängende  Kraft  asiatischer 
Barbaren  auf  die  Probe  gestellt  ward.  Unter  den  immer  wieder- 
holten Stößen  war  nach  wahrhaft  heroischen  Kämpfen  ihre  Staaten- 
welt zertrümmert  worden.  Macht-  und  rechtlos  waren  nun  diese 
Nationalitäten  der  Willkür  ihrer  barbarischen  Herren  ausgesetzt. 
Aber  in  ihrer  Kirche  barg  sich  ihr  Genius.  Sie  schuf  ihnen  ihre 
Rechtsordnung,  sie  erhielt  und  pflegte  ihre  Sprache  und  Literatur, 


Nationalität  und  Religion.  245 

die  Verbindung  mit  ihrer  Vergangenheit,  das  Gemeinbe\\aißtsein, 
die  Fülle  ihrer  sittlichen  Kräfte  und  Ideale.  Es  war  eine  Defensiv- 
stellung \-on  unzerbrechlicher  Kraft.  In  ihr  haben  diese  Nationen 
sich  erhalten  können,  bis  die  Stunde  der  Befreiung  schlug  und 
auch  sie  in  dem  Jahrhundert  der  Nationalitätenkämpfe  abermals 
einen  Platz  an  der  Sonne  sich  suchen  konnten. 

Und  wie  könnten  wir  hier  an  dem  Judentum  vorbei- 
gehen, an  dem  sich  die  erhaltende  Kraft  der  Religion  am  aller- 
stärksten  offenbart  hat.  Die  Sage  von  dem  ewigen  Juden,  der 
nicht  Ruhe  und  Rast  findet,  nirgends  eine  Heimat  und  nicht  ein- 
mal den  Tod,  ist  nicht  auf  jüdischem  Boden  erwachsen  und  ent- 
spricht nicht  dem  Sinne  der  Geschichte  dieses  Volkes.  Der  Wille 
zum  Leben  war  es  vielmehr,  der  die  Nation  aufrecht  erhielt  und 
den  sie  auch  dann  nicht  verlor,  als  die  Weltmächte  des  alten  Asiens 
und  Europas  ihren  Staat  zerbrachen,  ihren  Tempel  zerstörten 
und  das  Volk  wie  eine  Herde  Vieh  mit  sich  führten:  das  Land, 
das  ihre  \'äter  gebaut,  ging  verloren,  zerstreut  und  verfolgt,  ein 
Fluch  der  Völker,  irrte  sie  durch  die  Jahrhunderte  hin.  Aber  in 
ihren  Riten  und  ihrem  Recht  und  in  ihren  heiligen  Büchern  besaß 
sie  Formen  und  Vorstellungen,  die  ihr  die  Einheit  ihres  Stammes 
und  das  Bewußtsein  ihrer  Geschichte  bis  auf  die  Zeiten  der  Erz- 
väter zurück  lebendig  erhielten. 

Stärker  noch  als  die  römische  Kirche  umklammern  diese 
nationalen  Religionen  die  politischen  Organisationen.  Wie  aus 
einer  Wurzel  erscheinen  in  ihnen  Kirche  und  Staat,  politisches 
und  religiöses  Leben  entsprungen,  und  ihre  Schicksalswege  sind 
aufs  engste  ineinander  verschlungen.  Darum  sind  auch  die  Krisen 
dieser  Nationen  jedesmal  Krisen  für  ihre  Kirche,  und  niemals 
stehen  beide  enger  zusammen  als  in  nationalen  Gefahren.  Ruß- 
lands Geschichte  bietet  auf  jeder  Seite  dafür  die  Belege.  Wie 
der  Zar  Herr  ist  über  Staat  und  Kirche  zugleich,  so  sammelte 
sich  noch  jedesmal  um  ihn  und  die  Heiligen  Rußlands  einmütig 
sein  Volk,  mochten  es  nun  Tataren  oder  Türken,  Polen  oder 
Franzosen  sein,  denen  der  Kampf  galt.  Hier  liegt  das  tiefste  Pro- 
blem für  die  Revolution,  von  der  das  Reich  des  Zaren  seit  drei 
Jahren   heimgesucht   wird.     Würde   sie   durchdringen,    so   würde 


246  Kleine  historische  Schriften. 

dies  nicht  bloß  den  Zerfall  des  Staates  in  die  Nationalitäten  be- 
deuten, die  dem  Zartum  unterworfen  sind  und  deren  Autonomie 
die  Revolutionäre  bereits  zugeben,  nicht  bloß  die  Zersetzung  des 
gesamten  staatlichen  Organismus,  in  dem  die  kirchlich-politische 
Doppelstellung  des  Zaren  den  Kern  ausmacht,  sondern  auch  eine 
Abwandlung  des  nationalen  Genius,  die  einer  Loslosung  von  dem 
Boden,  der  ihn  trug,  ja  einer  völligen  Umkehr  und  Verleugnung 
seiner  ganzen  Vergangenheit  gleichkäme.  Noch  ist  die  Kirche  in 
der  russischen  Revolution  kaum  zu  Worte  gekommen.  Man  hat 
fast  den  Eindruck,  als  ob  sie  in  dem  ungeheuren  Getöse  schlafe. 
Sollen  \\ir  nun  annehmen,  daß  sie  sterben  wird,  ohne  zu  erwachen  ? 
Daß  die  Revolution  siegen  wird,  ohne  daß  diese  mit  dem  russischen 
Genius  geborene  und  emporgewachsene  Macht  auch  nur  ein  Lebens- 
zeichen von  sich  gibt  ?  Daß  sie  es  dulden  wird,  wenn  Polen  seine 
Autonomie  zur  politischen  Selbständigkeit,  zum  Wiederaufbau 
seiner  Nation  ausbilden  und  ihre  Todfeindin,  die  römisch-katho- 
lische Kirche,  dabei  aufs  neue  trotzig  und  siegreich  ihr  Haupt  er- 
heben wird  ?  Offenbar,  wir  sehen  erst  die  Anfänge  der  Bewegung 
vor  uns,  welche  Rußland  ergriffen  hat,  und  es  würde  zu  einer 
Neubelebung  jener  tiefsten  historischen  Mächte  kommen,  wenn 
wirklich  die  Revolution  ihren  Gang  vollenden  sollte. 

Die  römische  Kirche  hat  eine  weit  größere  Span- 
nung. Sie  hat  den  Untergang  der  römischen  Welt  erlebt  und  die 
Entstehung  der  romanisch-germanischen  Nationen;  alle  Ab- 
wandlungen von  deren  Geschichte  hat  sie  überdauert.  Die  Koloni- 
sationen dieser  Nationen  hat  sie  begleitet,  ja,  wohl  selbst  ver- 
anlaßt und  geführt.  Sie  gab  den  stärksten  Ansporn  zu  den  Kreuz- 
zügen. Mit  ihrem  Segen  ausgerüstet  gingen  auch  die  Konquis- 
tadoren Spaniens  und  Portugals  über  die  Meere.  Sie  teilte  die 
fremde  Welt  auf  zwischen  den  Eroberern,  und  für  sie  arbeitete 
ein  Heer  von  Missionaren  in  beiden  Hemisphären.  Keine  Macht 
der  Erde  hat  so  viel  Kriege  geführt,  so  oft  um  die  Existenz  ge- 
stritten und  so  viel  Siege  errungen.  Politische  Gewalt,  Ketzerei 
und  Aufklärung  haben  ihr  die  tiefsten  Wunden  geschlagen,  und 
es  hat  Zeiten  gegeben,  wo  alle  Energie  aus  ihr  selbst  gewichen 
zu  sein  schien  und  sie  selbst  der  Duldung  bedurfte,  die  sie  jedem 


Nationalität  und  Religion.  247 

andern  versagte.  Aber  sie  hat  alle  Spaltungen,  außer  der  einen 
großen  letzten  im  i6.  Jahrhundert,  überwunden,  und  in  keinem 
Moment  hat  sie  den  Anspruch  und  die  Hoffnung  aufgegeben, 
das  höchste  Ziel,  die  Alleinherrschaft  auf  Erden,  zu  erreichen. 
Aus  der  tiefsten  Ohnmacht  ist  sie  jedesmal  zu  größerer  Kraft 
und  verdoppelter  Energie  zurückgekehrt,  —  und  niemals  hat  sie 
größere  Kraft,  stärkere  Konzentration,  höhere  Ansprüche  und 
heißere  Hingebung  bei  ihren  Gläubigen  gefunden  als  in  dem  Jahr- 
hundert der  Nationalitätenkämpfe.  Sie  hat  in  dieser  Epoche  den 
Altar  dicht  an  den  Thron  gerückt  und  sich  als  die  beste  Stütze 
für  die  Legitimität  angepriesen:  aber  heute  so  wenig  wi^  jemals 
hat  sie  sich  mit  einer  Nation  oder  einer  politischen  Partei  völlig 
identifiziert;  den  Republiken  und  jeder  demokratischen  Forderung 
hat  sie  sich  gerade  so  angeschmiegt  wie  anderswo  der  Reaktion 
und  dem  Absolutismus.  Immer  hatte  sie  eine  Existenz  für  sich. 
Als  ein  Organismus,  der  nach  eigenen  Gesetzen  lebt,  hat  sie  sich 
Organe  geschaffen,  die  in  der  Mischung  monarchischer,  oligarchischer 
und  demokratischer  Elemente  von  allen  politischen  Verfassungen 
etwas  enthalten  und  doch  keiner  gleichen.  Sie  darf  sich  die  all- 
gemeine Kirche  nennen,  insofern  sie  die  Welt  umspannen,  die 
Idee  der  Menschheit  in  ihrer  sittlichen  Vollendung  zur  Dar- 
stellung bringen  will.  In  ihr,  so  sprechen  ihre  Kinder,  hat  der 
Wille  des  Stifters  unserer  Religion,  das  Gesetz,  das  er  gab,  die 
Macht,  die  ihm  im  Himmel  und  auf  Erden  verliehen  war,  Form 
gewonnen. 

Wie  stellt  sich  nun  uns  Deutschen  das  welthistorische 
Problem  dar,  das  sich  in  dem  Verhältnis  der  Idee  des  nationalen 
Staates  zu  der  Idee  der  Kirche  vor  uns  aufrollte  ?  Nahezu  in  allen 
Nationen  Europas  gehören  die  Bürger  des  Staates  im  wesent- 
hchen  derselben  Kirche  an;  überall  sind  es  nur  Minoritäten,  für 
die  beide  Sphären  sich  nicht  decken.  Das  gilt  auch  für  Groß- 
britannien, denn  noch  immer  sind  dort  die  Iren  so  weit  zurück- 
gedrängt, daß  die  Macht  des  Staates  und  seine  Organe  durch  den 
vom  Protestantismus  neu  gestalteten  Genius  des  Angelsachsen- 
tums  getragen  und  belebt  werden.  So  sind,  wenn  wir  von  den 
Magyaren  absehen,  wir  Deutschen  es  ganz  allein,  durch  die  der 


248  Kleine  historische  Schriften. 

Riß,  wclclier  die  abendländische  Kirche  im  i6.  Jahrhundert 
spaltete,  mitten  hindurchgeht.  Es  ist  wie  eine  Rache  des  Geschicks, 
daß  die  Nation,  von  der  die  große  Kircheatrennung  ausging,  bis 
heute  im  Glauben  ungeeinigt  bleiben  mußte.  Den  nationalen 
Staat  haben  wir  nach  unendlichen  Kämpfen,  die  alle  von  daher 
sich  ableiteten,  endlich  erlangt.  Aber  die  kirchliche  Spaltung 
reicht  bis  auf  den  Grund  unseres  sozialen  Lebens,  bis  in  die  Ge- 
meinde, die  Schule,  die  Familie  hinein  —  und  dürfen  wir  in  Wahr- 
heit von  nationaler  Einheit  sprechen,  so  lange  wir  in  den  heiligsten 
und  persönlichsten  Anliegen  uneins  sind,  so  lange  unser  Herz- 
schlag nicht  der  gleiche  ist? 

Oder  \\äre  es  zu  glauben,  daß  die  nationale  Einheit  mit  der 
religiösen  Gemeinschaft  nichts  zu  schaffen  habe  ?  Daß  das  Bewußt- 
sein, einem  Staat  anzugehören,  eine  Sprache  zu  sprechen, 
die  gleichen  Feinde  zu  haben  und  die  gleichen  wirtschaftlichen 
Vorteile  zu  genießen,  genüge,  um  ein  Volk  zu  sein,  und  die  Summe 
der  nationalen  Güter  bereits  ausmache,  von  denen,  als  den  ver- 
lorenen und  neu  zu  gewinnenden,  unsere  Väter  träumten  ?  Es  ist 
wahr,  das  neue  Reich  ist  auf  den  Gedanken  gegründet,  den  Willen 
zur  Macht,  der  in  der  Nation  lebte  und  der  in  den  alten  Formen 
gehemmt  war,  zu  befriedigen,  und  darum  hat  sein  Schöpfer  seine 
Ordnungen  so  aneinandergefügt,  daß  alles,  was  politische  und 
wirtschaftliche  Kraft  heißt  und  verbürgt,  in  ihnen  zum  Ausdruck 
gebracht  ist.  Die  Sorge  für  die  Pflege  der  geistigen  Güter  der 
Nation  überwies  er  den  Einzelstaaten,  den  Gemeinden,  den  Fa- 
milien und  dem  persönlichen  Gewissen. 

Hängt  also,  so  fragen  wir,  die  Zukunft  unseres  Reiches  und 
die  nationale  Idee  von  nichts  anderem  ab,  als  von  der  Konser- 
vierung der  politischen  Form  ?  Der  i\.nblick  des  Weltlaufes,  wie 
er  heute  erscheint,  könnte  uns  fast  dahin  führen.  Keinen  Augen- 
blick hat  die  Entwicklung  unserer  Kräfte  im  neuen  Reiche  still- 
gestanden. In  dem  Wettstreit  um  den  Erdball,  den  die  großen 
Nationen  miteinander  führten,  stehen  wir  in  der  vordersten  Reihe; 
und  dieser  Kampf  selbst,  bietet  nicht  gerade  er  den  Anblick  eines 
unaufhörlichen  Ringens  um  den  Besitz  der  Erde,  ihr  Gold  und 
ihre  Güter,  statt  um  die  Ziele  des  Glaubens,  der  Bildung  und  der 


Nationalität  und  Religion.  249 

Gesittung?  Hat  es  in  der  Geschichte  unserer  Nation  eine  Epoche 
gegeben,  in  der  sie  ihre  Macht  so  gewaltig  und  sturmgleich  aus- 
breitete wie  in  diesem  Jahrhundert  ?  Was  die  idealen  Antriebe 
früherer  Zeiten,  der  religiöse  Eifer  oder  die  Gedanken  des  Welt- 
friedens und  der  Humanität  niemals  vermochten,  hat  das  Jahr- 
hundert der  Nationalitätenkämpfe  zustande  gebracht.  In  un- 
aufliörlichem  Wettkampf  miteinander,  unter  der  stärksten  An- 
spannung des  nationalen  Egoismus  haben  sich  unsere  Nationen 
in  ihrer  Gesamtheit  zu  den  Herren  der  Erde  gemacht.  Zugleich 
sehen  wir,  daß,  je  weniger  eine  jede  von  ihnen  dem  Nachbar  gönnt, 
den  sie  eher  unter  die  Füße  treten  möchte  als  ihm  einen  Zoll- 
breit des  eigenen  Bodens  abzutreten,  um  so  mehr  die  materiellen 
Zwecke  und  Ziele  ihres  Ehrgeizes  zunehmen  und  um  so  schatten- 
hafter und  ohnmächtiger  die  idealen  ^Momente  zu  werden  drohen. 
Kein  Wunder  daher,  daß  bereits  in  Wissenschaft  und  Politik 
eine  Geschichtsanschauung  wirksam  werden  konnte,  welche  in 
dem  ganzen  Lauf  der  Geschichte,  in  allem,  was  in  Staat  und  Kirche 
Form  gewinnt,  nichts  anderes  sehen  möchte  als  das  Auf-  und 
Abwogen  eines  von  wirtschaftlichen  Impulsen  belebten  Daseins. 


III. 

Eine  Ansicht  freilich,  zu  deren  Widerlegung  der  kürzeste  Blick 
auf  jene  Zeiten  genügen  muß,  in  denen  die  Religion  selbst  das 
beherrschende  Interesse  unserer  Nationen  war.  Oder  was  war  es 
sonst,  was  die  Hugenotten  dazu  trieb,  Vaterland  und  Freunde  im 
Stich  zu  lassen  ?  Wirtschaftlich  hatten  sie  gewiß  keine  Not.  Aller- 
orten kamen  sie  voran,  wenn  auch  nicht  im  Dienst  des  Staates, 
der  sie  von  sich  ausschloß  und  um  ihres  Glaubens  willen  ver- 
folgte, so  doch  in  Gewerbe  und  Handel  und  in  allen  freien  Künsten. 
Eine  INIesse  hätte  auch  für  sie,  wie  einst  für  ihren  hochgeborenen 
Führer,  genügt,  um  diesen  grausamen  Staat  zum  gnädigen  Herrn 
zu  machen.  Aber  sie  bedachten  das  Wort  der  Schrift:  Was  hülfe 
es  euch,  wenn  ihr  die  ganze  Welt  gewönnet  und  nähmet  Schaden 
an  eurer  Seele?  Sie  machten  Ernst  mit  dem  schweren  Gelöbnis 
des  Lutherliedes:  Ehr'  und  Gut  und  die  Heimat  selbst  fahren  zu 


250  Kleine  historische  Schriften. 

lassen,  um  das  „Reich"  zu  ererben.  Nicht  weil  sie  das  Vaterland 
dort  suchten,  wo  es  ihnen  gut  ging,  verließen  sie  die  Heimat, 
sondern  um  dem  Glauben  treu  zu  bleiben,  auf  den  sie  getauft 
waren,  dem  wahren  Vaterlande,  dem  Reiche  Gottes  nachzutrachten. 
Bis  in  das  i8.  Jahrhundert,  bis  hart  an  die  Schwelle  der  Auf- 
klärung heran  währt  dies  Ringen  zwischen  religiöser  Intoleranz 
und  dem  Beharren  auf  den  religiösen  Meinungen.  Zwei  volle 
Jahrhunderte  hindurch  drängte  die  religiöse  Idee  in  der  Form 
des  schroffsten  Bekenntnisglaubens  jedes  andere  Motiv  des  poli- 
tischen Handelns  beiseite. 

Nicht  als  ob  die  pohtische  Welt  jener  Tage  materieller  An- 
triebe bar  gewesen  wäre.  Das  Problem,  welches  diese  Zeiten  dem 
Historiker  stellen,  ist  vielmehr  überall  dieses:  das  ]\Iischungs- 
verhältnis  darzulegen  zwischen  den  politischen,  sozialen  und  nicht 
zum  wenigsten  auch  den  nationalen  Motiven  auf  der  einen  und 
den  schlechthin  religiösen  auf  der  anderen  Seite.  Aber  niemeds 
reicht  eins  jener  drei  Motive  allein  oder  reichen  sie  alle  zusammen 
aus,  um  den  Fortgang  der  Ereignisse  und  die  Stellung  der  Per- 
sönhchkeiten  zu  erklären;  und  immer  ist  das  Bekenntnis  der 
Prüfstein  für  die  Politik  der  Regierungen,  die  Abgrenzung  der 
Parteien  und  die  Entwicklung  wie  die  Schicksale  ihrer  Führer. 

Vor  allem  die  Stifter  der  neuen  Konfessionen  und  die  Vor- 
kämpfer der  alten  Kirche  sind  internationale  Persönhchkeiten.  Zu 
der  Zeit,  als  Deutschland  noch  die  Führung  der  Reformations- 
bewegung hatte,  fanden  dort  alle  um  der  Religion  willen  in  der 
Fremde  Verfolgten  ihre  Zuflucht.  So  wurden  Wittenberg  und 
Straßburg,  so  später  Genf  die  Brennpunkte,  in  denen  sich  die 
Strahlen  der  reformatorischen  Bewegung  trafen.  So  sammelte 
Ignatius  Loyola,  noch  bevor  sein  Orden  vom  Papst  bestätigt 
wurde,  aus  den  Nationen,  deren  Herrscher  in  tödlicher  Feind- 
schaft lebten,  die  Männer  um  sich,  die  seine  vom  hispanischen 
Geiste  ganz  durchglühte  Rehgion  aufs  neue  zur  Herrschaft  über 
die  Abgefallenen  bringen  wollten.  Je  weiter  die  Zersetzung  um 
sich  griff,  je  stärker  der  Angriff,  und  je  hartnäckiger  die  Ver- 
teidigung der  Papstkirche  wurde,  um  so  tiefer  auch  die  politische 
Zerklüftung  Europas.  Nicht  nach  den  nationalen  Gruppen,  sondern 


Nationalität  und  Religion.  251 

nach  der  kirchlichen  Parteiung  gestalteten  sich  die  Konstellationen 
der  europäischen  Politik.  Vor  ihr  traten  sogar  die  alteingewnirzelten 
nationalen  ^"o^urteile  und  Gegensätze  zurück.  Gegen  das  offenbare 
Interesse  Frankreichs  verband  sich  die  Partei  der  Guisen  mit  dem 
spanischen  Habsburger,  der  alles  daran  setzte,  um  Spaniens  Sieg 
über  Frankreich  herbeizuführen. 

Da  geschah  es  nun,  daß  einige  Nationen  von  Anfang  an,  sei 
es  in  der  Bewahrung  des  alten,  sei  es  in  der  Annahme  eines  der 
neuen  Bekenntnisse,  einig  wurden.  So  in  Spanien,  Dänemark  und 
Schweden.  Andere,  wie  Polen,  Frankreich  und  England,  erreichten 
dies  Ziel  erst  nach  langen  und  tief  erbitternden  Kämpfen,  die 
zum  Teil  bis  an  das  Ende  der  Epoche  reichten,  um  dann  wohl 
den  besiegten  Elementen  bereits  einen  gewissen  Spielraum  zu 
gewähren.  Und  nur  ims  Deutschen  haben  diese  Kämpfe  die  natio- 
nale Geschlossenheit  nicht  wiederbringen  können. 

Wieviel  gewaltiger  erscheint  solchen  Tatsachen  gegenüber  die 
Macht  der  rehgiösen  Idee  im  Vergleich  zur  Idee  der  Nationahtät, 
zumal  wenn  diese  sich  in  nichts  anderem  auswirken  will,  als  in 
der  Expansion  ihrer  wirtschafthchen  ]\Iacht.  Der  Glaube  jener 
Zeiten  war  nach  einem  Rankeschen  Wort  eine  Kraft,  welche 
zugleich  schuf  und  vernichtete.  Er  hat  nicht  bloß  die  alten  Na- 
tionen zerbrochen  oder  sie  auf  neue  Grundlagen  gesteht,  sondern 
er  hat  sogar  neue  Nationen  ins  Leben  gerufen.  Ein  SpHtter  unseres 
Volkes,  Blut  von  unserem  Blut  war  es,  was  an  den  Mündungen 
des  Rheins,  zwischen  Ems  und  Scheide  zu  einem  neuen  Volke, 
zu  dem  seegewaltigen  Holland  zusammenwuchs.  Und  weniger 
noch  als  dieses,  ein  Häuflein  von  Expatriierten,  Engländern  und 
Niederländern,  hat  in  der  indianischen  Wildnis  jenseits  des  Ozeans 
den  Grund  gelegt  zu  der  nationalen  Großmacht,  deren  ungeheuere 
Entwicklung  die  Welt  von  heute  mit  steigender  Bewunderurxg 
betrachtet. 

Zwei  Beispiele,  wie  geschaffen,  um  uns  einen  Einblick  in  den 
Bildungsprozeß  der  Nationalitäten  zu  gewähren.  Lange  vor  der 
Reformation  waren  die  politischen  und  wirtschaftlichen  Vor- 
bedingungen für  die  Abtrennung  der  Niederlande  vom 
Reiche  gegeben.    Aber  zur  Ausbildung  der  holländischen  Nation 


252  Kleine  historische   Schriften. 

kam  es  erst,  seitdem  das  neue  Staatswesen  auf  den  Grund  des 
reformierten  Bekenntnisses  definitiv  gestellt  war.  Auch  jetzt  noch 
blieben  die  \'ereinigten  Provinzen  Staaten  für  sich,  mit  parti- 
kularer Organisation  und  Regierung,  engherzig  und  eigensinnig 
und  erfüllt  \on  vielfachem  Gegensatz  und  Hader.  Dennoch  bil- 
dete sich  in  ihnen  ein  durchaus  eigenartiger  und  gemeinsamer 
nationaler  Typus  aus,  der  sich  in  der  Musik  wie  in  der  Literatur, 
in  der  ]\Ialerei,  in  dem  S3'stem  der  Theologie  und  des  Staatsrechts 
fest  geprägte  Formen  schuf. 

Noch  wunderbarer  erscheint  uns  die  Entwicklung  der  ameri- 
kanischen Nationalität.  Losgerissene  Blätter  und  Zweige 
vom  englischen  Stamm  waren  es,  die  hier  am  fremden  Ufer  zu- 
sammengeweht wurden.  Was  ist  es  nun,  das  sie  organisch  zu- 
sammenwachsen ließ  und  ihnen  jene  ungeheure  Wurzelkraft 
verlieh,  die  in  immer  neuen  Schößlingen  diese  weltüberschattende 
I\Iacht  emporgetrieben  hat  ?  Anhänglichkeit  an  das  Mutterland 
gewiß  nicht.  Denn  dies  hatten  die  Kolonisten  verlassen,  weil 
es  ihnen  nicht  die  gesellschafthchen  Formen  gewähren  wollte, 
die  sie  von  ihrem  Glaubensgrunde  her  anstrebten.  Auch  war  es 
nicht  einmal  das  Blut,  das  die  Ausgewiesenen  zusammenfügte. 
Denn  von  Anfang  an  hatten  sich  den  Engländern  Fremde  zu- 
gesellt, und  im  Laufe  der  Zeit  kamen  neben  neuen  englischen 
Einwanderern  Ankömmlinge  aus  aller  Herren  Ländern  in  ]\Ienge 
ins  Land.  Nicht  einmal  die  Sprache  kann  als  das  wesentlichste 
Merkmal  der  neuen  Nationahtät  angesehen  werden.  Haben  doch 
diese  Republikaner  im  i8.  Jahrhundert  einen  Moment  geschwankt, 
ob  sie  nicht  die  deutsche  Sprache  zur  Staatssprache  erheben  sollten. 
Und  diese  Mischung  aus  fremden  Nationen  hat  sich  seitdem  nur 
fortgesetzt  und  immer  größere,  fast  groteske  Dimensionen  und 
Formen  angenommen.  Schon  kann  man  kaum  noch  von  ger- 
manischem Blut,  ja,  nicht  einmal  von  europäischer  Rassenmischung 
sprechen,  nachdem  zu  den  Tausenden  und  Hunderttausenden 
von  spanischer,  italienischer,  slawischer,  finnischer  Abkunft  auch 
noch  die  Millionen  freigelassener  Neger  Bürger  der  Vereinigten 
Staaten  geworden  sind.  Und  dennoch  trägt  der  amerikanische 
Typus  unverkennbar  noch  immer  die  Spuren  der  Epoche,  da  die 


Nationalität  und  Religion.  253 

paar  tausend  Puritaner  ihr  Gemeinwesen  nach  den  Geboten  ihrer 
Kirche  gründeten.  Unvertilgbar  war  der  Charakter,  den  die  ReH- 
gion,  zu  der  sie  sich  bekannten,  dem  Staate  und  der  Gesellschaft 
der  Yankees  aufgedrückt  hat.  Noch  heute  halten  die  gesell- 
schaftlichen Formen  die  Nation  in  allen  ihren  Teilen  fester  und 
enger  zusammen  als  der  Staat.  Noch  heute  waltet  die  Tendenz 
vor,  der  öffentlichen  Gewalt  nur  gerade  so  viel  Macht  und  Spiel- 
raum zu  lassen,  als  es  mit  der  persönlichen  Freiheit  und  der  sozialen 
Selbständigkeit  irgend  vereinbar  ist.  Noch  heute  herrscht  das 
Prinzip,  den  Kirchengemeinden  volle  Unabhängigkeit  gegenüber 
dem  Staatswillen  vorzubehalten.  Und  heute  wie  in  den  ersten 
Zeiten  vermögen  es  die  Kirchen,  vor  allem  diejenigen,  in  denen 
die  Gedanken  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  am  lebendigsten  ge- 
blieben, die  Baptisten  und  Methodisten,  ihre  Angehörigen  an 
sich  zu  fesseln,  ihre  Meinungen  und  ihre  Sitten  in  Zucht  zu  nehmen 
und  zu  beherrschen. 

Wahrlich,  wenn  wir  dieses  alles  überschauen,  so  begreifen 
wir  den  Tiefsinn  des  Rankeschen  Wortes,  daß  ,,die  Nationalitäten 
nicht  durchaus  naturwüchsig  sind,  nicht  sowohl  Schöpfungen 
des  Landes  und  der  Rasse,  als  der  großen  Abwandlungen  der 
Begebenheiten". 

Ranke  stellt  diese  Betrachtung  an  im  Hinblick  auf  die  Aus- 
bildung der  italienischen  und  der  französischen  Nationalität.  Und 
in  der  Tat,  die  Entstehung  der  romanischen  Völker- 
welt läßt  uns  an  der  Hand  der  Quellen  einen  analogen  Pro- 
zeß beobachten,  wie  denjenigen,  den  wir  in  der  neuen  Welt  täg- 
lich erleben.  Auch  damals  bedeutete  sicherlich  die  Blutmischung 
das  wenigste  und  die  Prägung,  welche  die  Kirche  gab,  das  meiste. 
Wenn  von  oben  her  germanische  Staatsformen  die  eroberte  römische 
Welt  zusammenhielten,  so  war  das  ein  Ergebnis  der  politischen 
und  kriegerischen  Kraft  der  Eroberer,  aber  nicht  ihrer  Volks- 
zahl, ihres  Blutes,  das  nur  in  ganz  kleinen  Wellen  den  Provin- 
zialen  beigemischt  war  und  zum  größten  Teil  bald  ganz  ausgetilgt 
wurde.  Auch  das  Römerblut  aber  füllte  keineswegs  die  Adern 
der  westeuropäischen  Bevölkerungen,  sondern  auch  hier  war  es 
das    Römertum,    der    römische    Geist,    die    römische    Kraft, 


254  Kleine  historische  Schriften. 

die  Göttenvelt  und  der  Staat  Roms,  was  Etrusker,  Rätier,  Kelten 
und  Iberer  in  einer  Arbeit  von  Jahrhunderten  nach  Sprache, 
Geist  und  Glauben  zu  Römern  gemacht  hatte.  Diese  römische 
Welt  ward  in  den  Jahrhunderten  der  Völkenvanderung,  da  die 
staatlichen  Formen  zerbrachen,  von  der  Kirche  zusammengehalten: 
in  ihr,  der  letzten  und  fast  größten  Schöpfung  der  Antike,  aus 
hellenischem  und  orientalischem  Geiste  geboren,  fand  das  römische 
Nationalbewußtsein  seinen  letzten  und  stärksten  Anhalt  und  Aus- 
druck. So  hat  also  die  römische  Kirche  dem  Römertum  den- 
selben Dienst  geleistet  wie  ihre  griechische  Schwester  viele  Jahr- 
hunderte hindurch  den  unter  dem  Drucke  der  Ungläubigen  seufzen- 
den christHchen  Nationen.  Doch  tat  sie  noch  mehr.  Sie  war  es, 
welche  die  Barbaren  sich  unterwarf  und  damit  dem  Geiste  ihrer 
Schutzbefohlenen  assimilierte:  unter  den  Faktoren,  welche  die 
romanischen  Nationen  Europas  geschaffen  haben,  gebührt  ihr  ohne 
Frage  die  erste  Stelle. 

Nur  eine  Fortsetzung  dieser  Offensive  war  es,  wenn  diese 
Kirche,  sobald  sie  die  in  das  Reich  gedrungenen  Barbaren  be- 
kehrt und  damit  die  Nationalitäten  in  den  Provinzen  des  römischen 
Westreiches  begründet  hatte,  die  Grenzen  überschritt  und  auf 
die  Eroberung  der  germanischen  Welt,  den  Pfaden  Cäsars  folgend, 
ausging.  Wir  mssen,  wie  es  ihr  gelungen  ist,  und  wie  sie  auch 
dann  nicht  Halt  machte,  sondern  aus  den  eben  Unterworfenen 
die  Sendboten  gewann,  welche  Nordgermanen,  Slawen  und  Ma- 
gyaren dem  gleichen  System  angliederten.  Sie  hat  den  Genius 
dieser  Nationen  mit  leichtester  Mühe  bezwungen  und  dadurch 
auch  sie  zum  Bewußtsein  des  eigenen  Geistes  erhoben. 

Nationalität  und  Religion,  wir  verstehen  es 
jetzt,  lassen  sich  nicht  voneinander  trennen. 
Sie  sind  Scheide  und  Schwert  zugleich.  Sie  durchdringen  sich 
nicht  nur,  sondern  schaffen  sich  wechselseitig.  Es  sind  Formen, 
welche  das  Menschengesclüecht  anzieht,  in  denen  es  sein  histo- 
risches Leben  führt:  unablässig  quillt  und  fließt  es  aus  dem  Born 
der  Kirche,  auch  wenn  sie  in  den  starren  Fesseln  des  Dogmas 
liegt  und  mit  dem  Anspruch  auf  unbedingte  Herrschaft  dem  Staate 
entgegentritt,  in  alle  Organe  der  Nation  hinüber:  in  die  Funda- 


Nationalität  und  Religion.  255 

mente  der  Nationalität  sind  religiöse  Urkunden  hineingelegt :  der 
Idee  der  Nationalität  selbst  ist  religiöses  Empfinden  beigemischt ; 
und  weil  dies  ein  Teil  ihres  Wesens,  ihres  Keimens  und  Wachsens 
ist,  durchdringt  es  alle  Formen  der  Gesellschaft  und  des  Staates, 
die  auf  dem  Grunde  der  NationaHtät  ruhen.  Darum  stirbt  die 
Rehgion  auch  nicht,  wenn  die  Formen  der  Kirche  sich  wandeln, 
so  wenig  wie  die  Nationen  mit  den  Staaten  untergehen,  die  ihnen 
entstammen.  Vielmehr  teilt  sich  der  Geist,  den  die  Dogmen  ein- 
hüllen, und  der  sie  selbst  erst  gebildet  hatte,  wenn  die  allzu  starr 
gewordenen  zerbrechen,  um  so  ungemessener  und  inniger  dem 
Leben  der  Nation  mit,  die  ihm  vertraut. 


IV. 

Und  nun  können  wir  die  Antwort  auf  die  Frage  finden,  welche 
uns  Deutschen  das  Schicksal  steht,  ob  wir  in  dem  Zwiespalt,  der 
seit  vier  Jahrhunderten  durch  unser  Volk  geht,  ewig  stehen  können. 

Wir  würden,  müssen  wir  sagen,  es  bald  genug  am  eigenen 
Leibe  empfinden,  ja,  wir  spüren  es  bereits  alle  Tage,  wohin  wir 
geraten,  wenn  wir  nationale  Politik  machen  wollen,  ohne  uns  um 
den  Riß  zu  bekümmern,  der  zwischen  den  Bekenntnissen  in  unserem 
Volke  klafft.  Die  nationale  Einheit  ist  nicht  fertig,  so  lange  unsere 
Gottesverehrung  noch  nicht  auf  gemeinsamem  Boden  ruht.  Der 
Wille  zur  Macht  selbst,  der  unser  Reich  schuf,  würde  erlahmen, 
der  Lebensmut,  der  Glaube  an  das  Vaterland  müßte  versiegen, 
wenn  nicht  in  dem  Innersten,  in  dem  Adyton  gleichsam  unseres 
nationalen  Bewußtseins  dieselben  Heiligtümer,  die- gleichen  Gottes- 
gedanken ihren  Platz  fänden.  Es  hegt  also  eine  zugleich  politische 
und  sittliche  Notwendigkeit  vor  uns,  jene  Lebensmächte  zu  suchen, 
welche  der  Nationalität  den  eigentlichen  Inhalt  geben. 

Wie  aber  dahin  gelangen? 

Auf  dem  Wege  der  Unterwerfung  der  einen  Kirche  unter  die 
andere  ?  Oder  durch  Ausgleichung  ihrer  Dogmen,  der  Annäherung 
ihrer  Kulte,  der  Verbindung  ihrer  Verfassungen?  —  Das  sind  die 
Wege,  welche  Jahrhunderte  hindurch,  von  dem  Ursprung  der 
Spaltung  ab,  begangen  worden  sind.    Zum  Ziele  geführt  haben  sie 


256  Kleine  historische   Schriften. 

nicht :  vielmehr  jeder  dieser  \'ersnche,  mochten  nun  Diplomaten 
des  Staates  und  der  Kirche  oder  die  Wortführer  unserer  Bildung 
daran  arbeiten,  haben  nur  verstärkten  Hader  zur  Folge  gehabt. 
Denn  die  Union  zwischen  den  beiden  evangelischen  Bekennt- 
nissen, die  nach  schweren  Kämpfen  und  unter  wahrlich  nicht 
geringer  Nachhilfe  der  politischen  Gewalt  zustande  kam,  kann 
nicht  als  Beispiel  für  diese  Möglichkeit  angewandt  werden.  Ihre 
Differenzen  wurzelten  nicht  im  Zentrum  ihres  Glaubens,  und 
viel  eher  auf  dem  Boden  des  Kultus  und  der  Verfassung  als  in 
dem  Dogma;  und  nur  der  politische  Hader  war  es,  der  den  Zwie- 
spalt so  tief  hatte  einwurzeln  lassen:  da  jener  sich  ausglich,  konnte 
auch  dieser  beseitigt  werden.  Gegenüber  der  römischen  Kirche 
aber,  den  Papisten,  trat  dieser  Streit  weit  zurück  und  standen 
die  Streitenden  jederzeit  auf  dem  gleichen  Boden.  Denn  dieser 
Widerspruch  liegt  in  den  Prinzipien  und  der  Idee  der  Kirchen 
selbst.  Eine  Kirche,  welche  das  Individuum  auf  jeder  Station 
des  Lebens  sakramentlich  fesselt  und  dadurch  die  Gesellschaft 
bis  in  ihre  Tiefen  hinein  durchwuchert,  für  welche  im  Vergleich 
mit  ihr  selbst  alles,  was  Welt  heißt,  Staub  vom  Staube  ist,  die 
jeden  Satz  ihrer  Verfassung,  jedes  Stück  ihres  Kultus  in  dog- 
matische Substanz,  in  sittliche  Verpflichtung  verwandeln  kann, 
eine  Kirche,  die  in  dem  Gange  der  Menschheit  ihren  eigenen  Weg 
vorgeschrieben  sieht  und  damit  den  freien  Lauf  der  Entwicklung 
vergewaltigt  und  die  Geschichte  selbst  dogmatisiert,  und  die  mit 
einem  Worte  die  Gewalt  beansprucht,  in  göttlichen  und  mensch- 
lichen Dingen  zu  binden  und  zu  lösen  —  eine  solche  Kirche  läßt 
sich  nicht  versöhnen  mit  einer  \\''eltanschauung,  welche  keine  andere 
Bindung  anerkennt,  als  die  durch  das  Sittengesetz  in  unserer  Brust, 
und  welche  jede  an  menschliche  Ordnung  und  Menschtum  geknüpfte 
Mittlergewalt  von  sich  weist.  Es  ist  wahr,  unter  der  Wucht  des 
Wissens,  das  unser  Jahrhundert  aufgehäuft,  vor  allem  unter  der 
zersetzenden  Kraft  der  historischen  Aufklärung,  die  mit  immer 
neuen  und  immer  schärferen  Mitteln  und  Methoden  die  von  den 
Schleiern  der  Legende  und  der  Unwissenheit  verhüllten  Jahr- 
tausende in  helles  Licht  taucht  und  das  Weltbild  der  römischen 
Kirche  an  jedem  Punkte  korrigiert,  drohen  die  Dämme  des  Kirchen- 


Nationalität  und  Religion.  257 

glaubens  hinweg  zu  schmelzen.  Schon  dringt  diese  Aufklärung, 
in  unzählige  Kanäle  verteilt,  in  die  kirchlichen  Bezirke,  in  die 
Herde  der  Gläubigen  selbst  hinein.  Und  so  nehmen  wir  wahr, 
daß  die  Verteidiger  der  Kirche  selbst  sich  zur  Anerkennung  der 
Ergebnisse  verstehen,  welche  unsere  moderne  Forschung  zutage 
bringt,  ja,  daß  sie  in  oft  redlichem  Eifer  sie  fördern  helfen.  Sie  müssen 
es,  denn  der  Strom  der  Erkenntnis,  dessen  Bett  wir  gegraben 
und  der  sich  aus  tausend  Quellen  täglich  nährt,  würde  sonst  über 
sie  hinweggehen.  Und  so  geschieht  es  wohl,  daß  auch  die  höchste 
Autorität  ihrer  Kirche  ihnen  einigen  Spielraum  läßt.  Sie  kann 
es  ohne  Schaden,  so  lange  ihr  nicht  selbst  vor  ihrer  Gottähnlich- 
keit bange  wird  und  das  Band  nicht  zerreißt,  das  jene  an  sie  fesselt. 
Noch  aber  hat  sie  kein  Stäubchen  ihres  jus  divinum  aufgegeben. 
Sie  hat  manches  von  dem,  was  sie  früher  forderte,  vielleicht  bei- 
seite gestellt,  aber  nichts  beseitigt,  und  keinen  der  Sätze,  den  sie 
jemals  kraft  ihrer  Vollgewalt  amtlich  formulierte,  hat  sie  wider- 
rufen. Sie  würde  sich  selbst  verleugnen  müssen,  wenn  sie  es  täte; 
sie  würde  es  machen  müssen  wie  Petrus,  dessen  Nachfolgerin  sie 
sein  will,  der  hinausging  und  bitterlich  weinte,  nachdem  er  seinen 
Herrn  dreimal  verleugnet  hatte:  aber  noch  sind  solche  Tränen 
in  Rom  nicht  geflossen. 

Keine  Brücke  führt  von  dem  einen  Ufer  zu  dem  anderen. 
Es  ist  ein  Gegensatz  wie  zwischen  Nacht  und  Tag,  zwischen  Knecht- 
schaft und  Freiheit. 

Vielleicht  aber  mag  ein  Blick  in  die  Vergangenheit  auch  hier 
dazu  dienen,  um  uns  die  Zukunft  auszudeuten. 

Es  gab  doch  einmal  eine  Zeit,  wo  die  Dogmen  der  Konfessionen 
ins  Schwanken  gerieten  und  zum  erstenmal  seit  der  großen  Kirchen- 
trennung eine  gemeinsame  Religiosität  über  alle  Schranken  hin- 
weg sich  in  Deutschland  ausbilden  zu  sollen  schien.  Nur  ein  Jahr- 
hundert, eben  das  der  NationaHtätenkämpfe,  steht  zwischen  uns 
und  dieser  Zeit.  Es  war,  wunderlich  genug,  gerade  die  letzte  Gene- 
ration in  dem  alten  Reiche,  es  waren  die  Jahre,  in  denen  Kaiser- 
tum und  Papsttum  zu  Boden  sanken,  welche  diese  Annäherung 
der    Gedanken    und   Empfindungen    in    allen    Kreisen    deutscher 

Lenz.  Kleine  historische  Schriften.  17 


258  Kloine  historische  Schriften. 

Bildung  sahen.  Schon  wollte  man  in  den  dogmatischen  Systemen, 
welche  mit  oder  auch  gegen  jene  obersten  Gewalten  entwickelt 
waren,  nichts  mehr  sehen  als  gleichgültige  Meinungen  vergangener 
und  überwundener  Parteien,  und  nicht  bloß  Duldung,  sondern 
Anerkennung  der  jenen  Systemen  gemeinsamen  oder  in  ihnen 
verborgenen  oder  auch  über  sie  hinweg  reichenden  Wahrheiten 
war  die  Losung  des  Tages  geworden.  Dürfen  wir  aber  sagen, 
daß  das  Gemeingefühl  innerhalb  der  Nation,  ich  meine  nicht  das 
politische,  sondern  das  die  Herzen  durchdringende  und  erwärmende, 
die  Gesellschaft  in  sich  verknüpfende  und  aufbauende  Gemein- 
gefühl, damals  schwächer  gewesen  sei  als  heutzutage?  Heute, 
wo  die  alte  Kirche  die  Ihrigen  aufs  engste  um  ihre  Altäre  geschart 
hat  und  geflissentlich  jede  Berührung  mit  den  Andersgläubigen 
in  der  Gesellschaft  und  dem  geistigen  Leben  zu  unterbinden  trachtet  ? 
Woher  stammten  nun  die  Kräfte,  welche  damals  in  Lebens- 
führung und  Weltauffassung  die  deutschen  Herzen  so  stark  und 
einhellig  zusammenklingen  ließen?  Aus  den  Klöstern,  den  katho- 
lischen Universitäten  und  Pfarrhäusern?  Die  katholische  Kultur 
hat  sicherlich  auch  nach  der  Kirchenspaltung  volle  Blüten  ent- 
faltet; aber  was  davon  deutschem  Boden  entsproß,  wenig  genug, 
war  nichts  als  Übertragung  aus  der  romanischen  ^^'elt,  die  darin 
die  Führung  hatte.  Die  Dichtung  und  Philosophie  unserer  klassi- 
schen Periode,  die  Belebung  aller  Wissenschaften  dagegen  schöpf- 
ten wir  Deutschen  aus  protestantischen  Quellen.  Jene  Vorstellung 
von  der  Teilnahme  der  anderen  Konfessionen  an  den  wesentHchen 
Wahrheiten,  und  der  Wunsch  nach  Ausbildung  eines  gemeinsamen 
Ideals,  sie  waren  selbst  Äußerungen  des  protestantischen  Bewußt- 
seins in  unserem  Volke:  ein  Voltaire  besaß  sie  nicht;  sein  Ecrasez 
l'infame  galt  ebensowohl  den  protestantischen  wie  den  katho- 
lischen Dogmen.  Jene  Ansichten  ruhten  auf  Voraussetzungen, 
die  nur  in  der  Weltanschauung  der  deutschen  Aufklärung  Bestand 
hatten  und  das  Widerspiel  w^aren  der  in  den  tridentinischen  Fesseln 
gebliebenen  Weltanschauung  der  römischen  Kirche.  Sie  waren 
Äußerungen  des  Kraftgefühls,  das  der  Sieg  verlieh,  den  diese  An- 
schauungen bereits  auf  der  ganzen  Linie,  auch  innerhalb  der  katho- 
lischen Staatenwelt  und  Gesellschaft,  erfochten  hatten. 


Nationalität  und  Religion.  259 

Aber  noch  mehr:  die  Romantik  selbst  hat  sich  aus  Quellen 
genährt,  die  auf  dem  Boden  protestantischer  Bildung  entsprangen. 
Schleiermacher  und  Novalis,  Tieck  und  beide  Schlegel,  Adam 
Müller  und  Gentz,  alle  die  Anfänger  und  ersten  Führer  der  neuen 
Bewegung  stammten  daher.  Auch  die  Überläufer  unter  ihnen,  wie 
sehr  sie  die  verlassenen  Ideale  schmähen  mochten,  konnten  nie- 
mals ihre  Ursprünge  ganz  vergessen  machen.  Ihre  Weltansicht 
selbst  barg  Elemente  in  sich,  die  erst  die  Aufklärung  geschaffen 
hatte,  und  erscheint  bereits  uns  Nachgeborenen  vielfach  mehr 
als  eine  Abwandlung  der  von  ihr  abgelösten  Epoche  denn  als 
ihr  Gegensatz.  Die  katholischen  Kreise  waren  auch  hier  die  nach- 
folgenden und  empfangenden.  Erst  in  der  zweiten  Generation, 
als  der  politische  Kampf  den  zarten  Schmelz  der  Romantik  ab- 
streifte und  zerstörte  und  hinter  ihrem  weichen  Antlitz  die 
harten  Züge  des  Ultramontanismus  hervortraten,  stellten  sich 
unter  Joseph  Görres  Söhne  der  kathoHschen  Kirche  an  die  Spitze. 
Und  nun  begann  die  allseitige  Versteifung,  die  Repristinierung  aller 
Organe  und  Dogmen,  die  in  Trient  geschaffen  oder  neu  gebildet 
waren.  Das  aber  geschah  in  engster  Verbindung  mit  dem  Kampf 
der  politischen  Parteien,  den  der  ^^^erdegang  des  nationalen  Staates 
hervorrief.  Er  ist  es  gewesen,  mehr  als  alles  andere,  der  der  Wieder- 
belebung der  alten  Formen  Vorschub  geleistet  hat.  Indem  die 
Massen  in  Bewegung  gesetzt  wurden  und  in  das  Staatsleben  hinein- 
fluteten, Anteil  an  ihm  gewannen  und  in  den  Formen  seiner  Ver- 
fassung selbst  Organe  für  ihre  Machtentv/icklung  erhielten,  strömten 
aus  ihren  religiösen  Empfindungen,  die  noch  ganz  unter  der  Herr- 
schaft ihrer  Priester  standen,  der  alten  Kirche  neue  Kräfte  zu. 
Die  Mittel,  welche  die  demokratischen  und  die  nationalen  Ideen 
des  Jahrhunderts  zu  ihrer  eigenen  VerwirkHchung  gebrauchten, 
kamen  auch  der  reaktionärsten  Gewalt  zugute:  die  Kirche  selbst 
wurde  demokratisiert. 

Niemals  wird  die  Vergangenheit,  wie  mächtig  sie  auch  fort- 
wirken mag,  die  Gegenwart  wieder  ganz  beherrschen.  Vergebens 
ist  die  Sehnsucht,  zur  neuen  Wirklichkeit  zu  machen,  zu  neuem 
Leben  zu  ervvecken,  was  einst  in  Kraft  und  Blüte  stand.  Es  sind 
nur  Schatten,  die  wir  beschwören ;  und  aller  Glanz  der  Verklärung, 

17* 


260  Kleine  historische  Schriften. 

mit  dem  wir  sie  umgeben,  kann  sie  nicht  zu  den  Unseren  machen, 
unseren  Herzschlag  ihnen  mitteilen.  Aber  so  wenig  die  Geschichte 
zu  ihrem  Ausgang  zurückkehren  wird,  so  wenig  folgt  sie  einem 
gestreckten  Lauf:  in  vielfachen  Windungen  zieht  ihr  Strom  durch 
die  Jahrhunderte  hin.  Nur  wenn  wir  auf  den  Boden  zurückkehren, 
auf  dem  die  Ideale  unserer  klassischen  Periode  erwuchsen,  dürfen 
wir  hoffen,  den  festen  Grund  zu  finden,  auf  dem  ein  von  gemein- 
samen Ewigkeitsgedanken  bewegtes  Nationalbewußtsein  sich  bilden 
kann.  Und  nur  in  solchen  Formen  kann  es  geschehen,  welche  die 
alten  Grenzlinien,  die  der  politische  Parteigeist  unseres  Jahr- 
hunderts fast  künstlich  neu  gegraben  hat,  abermals  auslöschen 
und  überschreiten  werden.  Aufnahme  jener  Gedankenwelt  in 
das  Bewußtsein  und  damit  in  alle  Organe  der  Nation  —  auf  dieser 
Verbindung  und  ihrer  Weiterbildung  beruht  die  Zukunft  unseres 
Volkes. 


68^=^?^ 


Wie  entstehen  Revolutionen? 

(1900.) 

Das  fluchwürdige  Attentat,  das  den  Lebensfaden  des  guten 
Königs  Umberto  so  jäh  durchschnitt,  hat,  wie  die  früheren,  denen 
die  Kaiserin  Ehsabeth  und  Präsident  Carnot  erlagen,  es  unserer 
Gesellschaft  von  neuem  zu  erschreckendem  Bewußtsein  gebracht, 
wie  wilde  Leidenschaften  in  ihren  Tiefen  schlummern;  gleich 
grellen  Blitzen  haben  jene  Taten  eines  verbrecherischen  Wahn- 
sinns die  Abgründe  beleuchtet,  die  unter  der  Decke  unserer  Zivili- 
sation verborgen  sind.  Dennoch  ist  heute  die  Sorge,  daß  diese 
sich  auftun  und  den  glänzend  und  machtvoll  gefügten  Bau  unserer 
Kulturwelt  in  sich  hinabziehen  könnten,  auffallend  gering;  und 
wo  sie  einmal  laut  wird,  spricht  aus  ihr  mehr  der  Eifer  der  Par- 
teiung,  dem  daran  liegt,  Furcht  zu  verbreiten,  als  wirklicher  Glaube 
an  die  Gefahr.  Die  tiefe  Trauer,  in  die  der  Tod  des  neuen  Mär- 
tyrers der  Monarchie  ganz  Italien  gesenkt  hat,  die  kaum  gestörte 
Einmütigkeit,  mit  der  sich  alle  Klassen  der  Nation  um  die  Bahre 
des  Gemordeten  scharten,  und  die  Einstimmigkeit,  womit  die 
Presse  aller  Länder  die  Tat  verurteilt  hat,  beweisen  uns,  daß 
unsere  Zuversicht  berechtigt  ist;  sogar  diejenige  Partei,  die  sich 
als  den  besonderen  Anwalt  der  Darbenden  und  Unterdrückten 
ausgibt,  und  die  so  oft  Gewalttat  und  Revolution  als  die  berech- 
tigten Mittel  zur  Erreichung  ihrer  eigenen  utopischen  Ziele  an- 
gerufen hat,  hielt  sich  angesichts  der  Tat  zurück  und  verleug- 
nete jede  Gemeinschaft  mit  dem  Mörder.  Jene  Verbrechen  sind 
Blitze  gewesen,  welche  die  Gipfel  trafen:    aber  der  Boden,  der 


252  Kleine  historische  Schriften. 

diese  trägt,  ist  zu  tief  und  fest  gegründet,  als  daß  sie  ihn  durch- 
dringen und  in  Flammen  setzen  könnten.  Der  Steuermann  stürzte 
über  Bord,  aber  schon  steht  ein  anderer  an  seiner  Stelle,  und 
sicherer  noch  als  vorher  durchschneidet  das  Schiff  die  Wogen. 

Nicht  immer  sind  pohtische  Mordtaten  so  wirkungslos  ge- 
bheben.  Man  weiß,  wie  tief  sich  Napoleon  III.  durch  das  Attentat 
Orsinis  getroffen  fühlte  und  daß  es  nicht  das  geringste  ]\Iotiv 
für  ihn  war,  um  die  Revolution  in  Italien  zu  entfesseln  und  das 
Joch,  unter  dem  Österreich  es  hielt,  zu  zerbrechen.  Und  so  waren 
auch  die  Mordanschläge,  \-on  denen  sein  Vorgänger  auf  dem  fran- 
zösischen Thron,  Louis  Philipp,  sich  jahrelang  unaufliörlich  um- 
droht sah,  nur  die  Vorspiele  zu  der  Revolution,  die  ihn  schließ- 
lich von  seinem  Thron  stürzte.  Zu  seiner  Zeit  —  es  war  die  Jugend- 
zeit unseres  großen  Reichskanzlers,  und  dieser  hat  es  von  sich 
selbst  in  seinen  Memoiren  berichtet  —  galt  die  Republik  auch  den 
Gemäßigten  als  die  ideale  Form  des  Staates;  auf  den  Gymnasien 
feierte  man  die  Tyrannenmörder  Harmodios  und  Aristogeiton  als 
die  Vorbilder  männlicher  Tugenden  und  die  edelsten  Helden  der 
Freiheit;  ein  Sand  gewann  das  INIitleid  unserer  besten  Männer, 
der  Alten  wie  der  Jungen;  und  dem  armen  Kotzebue,  den  sein 
Messer  niederstieß,  folgten  die  Verwünschungen  der  Nation  ins 
Grab.  Damals  regte  der  pohtische  Mord  wirkhch  die  Tiefen  der 
Gesellschaft  auf  und  bereitete  die  Revolutionen  vor,  die  das  Ant- 
litz Europas  verwandelt  haben.  Seit  dem  Jahr  des  Frankfurter 
Friedens  ist  diese  Kraft  gebrochen  geblieben.  Der  Aufstand  der 
Communards  in  Paris  war  das  letzte  Ausbrechen  des  revolutio- 
nären Geistes:  aber  wenn  die  Flammen,  die  an  der  Seine  auf- 
gingen, früher  jedesmal  halb  Europa  in  Brand  gesetzt  hatten, 
so  blieben  sie  jetzt  auf  ihren  Herd  beschränkt;  sie  wurden  durch 
die  Armee,  die  aus  der  Gefangenschaft  zurückgekehrt  war,  durch 
die  Besiegten  von  Metz  und  Sedan  erstickt,  während  unser  Heer 
in  den  Provinzen  Frankreichs  lag.  Wie  die  Epoche  der  Kriege 
im  Umkreis  unserer  Nationen  damals  zu  Ende  ging,  so  auch  die 
der  Revolutionen,  die  in  Wechselwirkung  mit  ihnen  fast  durch 
drei  Menschenalter  den  Erdteil  erschüttert  hatten.  Selbst  die 
NihiHsten  in  Rußland  haben  nichts  erreichen  können;  auch  dort 


"Wie  entstehen  Revolutionen?  263 

standen  die  Wirkungen,  die  sie  erzielten,  im  umgekehrten  Ver- 
hältnis zu  der  Zahl  und  zu  der  Größe  ihrer  Mordtaten  wie  ihres 
Opfermutes;  nur  um  so  schroffer  schloß  sich  das  Zarentum  gegen 
die  Staatsformen  des  Westens,  denen  sie  mit  Dolch  und  Dynamit 
Bahn  brechen  wollten,  ab  und  stellte  sich  um  so  fester  auf  die 
Grundlagen  des  starren  Moskowitertums.  Im  Bereich  der  Ver- 
fassungsstaaten aber  haben  die  politischen  Meinungen  niemals 
größere  Freiheit  genossen  als  seither.  Bis  auf  den  Grund  unserer 
Nationen  sind  die  öffentlichen  Rechte  ausgedehnt  worden:  der 
vierte  Stand  hat  sich  Organisationen  schaffen  dürfen,  in  denen 
seine  pohtischen  und  sozialen  Kräfte,  die  wir  im  täglichen  Wach- 
sen sehen,  sich  aufs  gewaltigste  regen;  seine  Presse  hat  volle  Frei- 
heit, die  ausschweifendsten  Ideen  zu  verkündigen;  sogar  den 
anarchistischen  Lehren  gewährt  unsere  Regierung  Raum,  solange 
sie  sich  innerhalb  der  Schranken  der  Doktrin  halten,  und  sie  hat 
auch  nach  dem  letzten  Attentat  der  Versuchung  widerstanden, 
sie  zu  unterdrücken.  Nichts  kann  unseren  Glauben  an  die  Festig- 
keit unserer  Institutionen  besser  bezeugen  als  diese  Toleranz; 
sie  ist  das  stärkste  Zeichen  unseres  Kraftgefühls:  sobald  wir  jene 
Phantasten  fürchten  müßten,  würden  wir  nicht  zögern,  sie  mund- 
tot zu  machen. 

Dieser  Friede,  den  wir  genießen,  gibt  uns  die  Möglichkeit 
und,  wie  ich  dächte,  auch  ein  Recht  dazu,  mit  der  Ruhe  objek- 
tiver Anschauung  das  heiße  Eisen  der  Frage  anzurühren,  die 
sich  unsere  Betrachtung  gestellt  hat:  wie  entstehen  Revo- 
lutionen? Welche  Klassen  kommen  in  ihr  zu  Wort  ?  Wann 
beginnen  die  Gefahren  und  wann  .werden  sie  sichtbar  ?  Dürfen 
wir  hoffen,  daß  sie  für  uns  wenigstens  auf  immer  gebannt  bleiben  ? 
Vertreten  die  Freiheiten,  die  uns  die  Epoche  der  Revolutionen 
gebracht  hat,  die  Chancen,  die  der  einzelne  hat,  sich  in  der  Ge- 
sellschaft zu  betätigen,  bereits  die  Stelle  von  Sicherheitsventilen, 
durch  welche  die  Spannungen  der  Tiefe,  wie  stark  sie  sein  mögen, 
machtlos  entweichen  werden,  ohne  den  Gang  der  Maschine  zu 
stören  ?  Oder  ist  die  Ruhe  trügerisch  ?  Bereiten  sich  am  Ende  dort 
unten  schon  neue  Kräfte  vor,  die  einst  nach  einem  unvermeidlichen 
Verhängnis  in  vulkanischem  Ausbruch  ans  Licht  treten  werden? 


264  Kleine  historische  Schriften. 

Fragen,  deren  Beantwortung  uns  zunächst  auf  eine  tiefere 
zurückführt,  diejenige  nach  dem  Wesen  und  Begriff  der 
Revolution  überhaupt.  Wir  verstehen  heute  darunter  gemeinhin 
die  gewaltsame  Umwälzung  der  sozialen  und  politischen  Grund- 
lagen unserer  modernen  Staatenwelt.  In  diesem  Sinn  sprechen 
wir  von  der  Zeit  von  1789  bis  1871  als  von  dem  Zeitalter  der 
Revolutionen,  das  im  Verein  mit  den  gleichzeitigen  Kriegen  die 
Gegenwart,  das  Zeitalter  der  nationalen  Staaten  Europas,  vor- 
bereitet und  heraufgeführt  hat;  mit  der  Erhebung  des  dritten 
Standes  in  Frankreich  begann  es,  mit  der  Schöpfung  des  Deutschen 
Reichs,  der  Herstellung  der  Republik  in  Frankreich,  der  Erobe- 
rung Roms  durch  die  ItaUener  fand  es  seinen  Abschluß.  Dabei 
pflegt  man  wohl  die  Umwälzungen,  die  sich  innerhalb  des  reli- 
giösen Lebens  vollziehen,  von  den  politisch-sozialen  zu  trennen, 
ja  sogar  oft  genug  Reformation  und  Revolution  in  Gegensatz 
zu  stellen,  als  schließe  jene  nur  eben  die  Abwandlungen  der  Welt- 
anschauung, der  ethisch-religiösen  Ordnungen  ein  und  entbehre 
des  eigentlich  revolutionären  Elements  der  Gewalttat  und  Em- 
pörung. Indessen  die  Männer  des  dritten  Standes,  die  sich  im 
Juni  1789  als  die  konstituierende  Versammlung  Frankreichs  er- 
klärten, dachten  an  nichts  weniger  als  an  blutige  Gewalttat.  Waren 
sie  doch  nach  Versailles  gar  nicht  auf  eigene  Faust  gekommen, 
sondern  vom  Könige  selbst  berufen,  der  ihrer  Hilfe  gegen  gemein- 
same Gegner  bedurfte.  Dies  waren  die  Privilegierten,  Klerus  und 
Adel,  eben  die  Stände,  welche  die  französische  Krone  zwar  ge- 
beugt, aber  noch  nicht  ganz  unterjocht  hatte  und  die  sie  jetzt 
mit  Hülfe  des  Bürgertums  willfährig  machen  wollte,  dieselben, 
aus  deren  Niederhaltung  die  preußische  Monarchie  ihre  stärkste 
Kraft  gezogen  hatte.  In  den  Generalständen  saßen  bereits  die 
meisten  der  Älänner,  die  in  wenigen  Jahren  die  Geißeln  Frank- 
reichs werden  und  alle  Greuel  des  Despotismus  entfesseln  sollten. 
Dennoch  plante  niemand  unter  ihnen,  auch  Robespierre  nicht, 
den  Königsmord:  sie  begannen  vielmehr  ihr  Werk,  getragen  von 
der  zustimmenden  Begeisterung  ihrer  Zeitgenossen,  welche  davon 
die  Erfüllung  aller  Ideale  des  Friedens  und  des  weltbürgerlichen 
Glückes  erwarteten;  viel  weniger  ihr  Durst  nach  der  Gewalt  als 


Wie  entstehen  Revolutionen?  265 

die  Angst  vor  der  Reaktion  hat  die  revolutionären  Akte  hervor- 
gerufen, unter  denen  im  Sommer  und  Herbst  jenes  Jahres  die 
alte  Monarchie  Frankreichs  zusammenstürzte.  Und  brauchen  wir 
auf  der  anderen  Seite  noch  zu  sagen,  wie  tief  die  Abwandlungen 
des  religiösen  Lebens  auf  den  sozialen  und  pohtischen  Boden 
zurückgewirkt  haben  ?  Der  deutsche  Mönch  freilich,  der  in  dem 
Kloster  zu  Erfurt  und  zu  Wittenberg  sich  abmühte,  das  Dies- 
seits mit  seiner  Lust  und  Qual  zu  vergessen,  ahnte  die  Kata- 
strophen nicht,  die  sich  an  seine  Spuren  heften  sollten;  er  meinte, 
der  Welt  abgestorben  zu  sein :  nur  das  Ewige,  das  Unvergänglich- 
Jenseitige  stand  ihm  vor  der  Seele.  Und  doch  schuf  er  sich  schon 
damals  in  den  reUgiösen  Ideen,  zu  denen  er  sich  hindurchrang, 
die  Kräfte,  welche,  gleich  stark  im  Schaffen  und  Zerstören,  die 
Welt  verwandeln  sollten. 

Mithin  ist  jene  Definition  zu  eng.  Sie  ist  lediglich  abstra- 
hiert von  einer  Epoche,  in  der  Staat  und  Gesellschaft  sich  von 
der  Kirche  emanzipiert  hatten  oder  zu  haben  glaubten.  Bereits 
heute  trifft  sie  nicht  mehr  zu;  denn  vor  Augen  liegt,  wie  sehr 
sich  seit  dem  Epochenjahr  des  Vatikanischen  Konzils  und  unseres 
letzten  großen  Krieges  die  religiösen  Interessen  in  den  Vorder- 
grund des  öffentlichen  Lebens  gedrängt  haben.  Und  sie  paßt 
sogar  im  Grunde  kaum  auf  die  Periode,  die  nach  ihr  bezeichnet 
wird;  denn  ohne  Mühe  muß  dem  schärferen  Blick  deutlich  wer- 
den, daß  auch  damals  das  kirchliche  Element,  wenn  es  auch  nicht 
immer  an  der  Oberfläche  sichtbar  wurde,  einer  der  stärksten 
Kraftfaktoren  war.  BUcken  wir  aber  über  das  Jahr  1789  zurück, 
so  nehmen  wir  wahr,  daß  Jahrhunderte  hindurch  alle  Umwäl- 
zungen in  Staat  und  Gesellschaft  von  religiösen  Erschütterungen 
nicht  nur  begleitet,  sondern  hervorgerufen  wurden.  Schon  die 
englische  Revolution,  die  so  oft  mit  und  ohne  Grund  zu  der 
großen  französischen  in  Parallele  gebracht  ward,  ist  ohne  das 
rehgiöse  Moment  gar  nicht  zu  verstehen;  sie  gehört  durchaus 
noch  zur  Reformationszeit  und  ist  von  der  Ideenwelt  der  fran- 
zösischen abgrundweit  entfernt;  die  ganze  Kulturbewegung  des 
18.  Jahrhunderts  liegt  zwischen  ihnen.  An  Umfang  und  Energie, 
an  Verwirrung  und  Wildheit  stehen  diese  alten  Revolutionen  den 


25ß  Kleine  historische  Schriften. 

modernen  wahrlicli  nicht  nach.  Die  Leidenschaften,  die  sie  ent- 
fesselten, machten  vor  den  Mächtigsten  der  Erde  so  wenig  Halt, 
wie  heute  der  Fanatismus  der  Anarchisten;  die  Mörder  aber  wur- 
den von  ihren  Parteien  gefeiert  und  gesegnet,  sie  galten  ihnen 
als  Märtyrer  des  Glaubens,  und  alle  Bluttaten  dienten  nur  dazu, 
die  Wut  des  Kampfes  zu  vertiefen.  Nicht  eine  Klasse  stritt 
gegen  die  andere,  sondern  alle  Schichten  der  Gesellschaft  wurden 
gleichmäßig  gepackt,  in  die  entgegengesetzten  Lager  gedrängt, 
bis  in  die  Familien  hinein  zerspalten,  durcheinander  geschüttet. 
Die  Schranken  des  Staates  und  der  Nationalität  selbst  zerbrachen 
unter  der  Wucht  des  religiösen  Gedankens,  und  die  Konfession 
ward  überall  das  oberste  der  politischen  Interessen;  Meinungen 
wurden  entwurzelt,  an  die  ein  Jahrtausend  geglaubt  hatte;  alle 
Vorstellungen  von  Rechten  und  Pflichten,  von  Gott  und  der 
^^'elt  wichen  aus  den  Fugen.  Es  ist  wahr,  die  Wortführer  in  jenen 
Kämpfen  kümmerten  sich  nicht  unmittelbar  um  die  Formen  der 
politischen  Verfassung,  die  ihnen  oft  sehr  gleichgültig  waren, 
wenn  sie  sie  nur  beherrschten,  noch  um  die  materiellen  Interessen 
der  Gesellschaft,  die  sie  zum  Teil  als  den  Bereich  der  Sünde  und 
der  Verdammnis  ansahen;  auch  wandten  sie  sich  zunächst  gar 
nicht  an  die  Sozietät,  sondern  an  jedermann,  nicht  an  den  irdischen 
Vorteil,  sondern  an  das  Heil  der  Seele;  sie  beanspruchten  gerade, 
die  göttliche  und  die  menschliche  Sphäre  zu  trennen  und  den 
Bezirk  abzugrenzen,  in  dem  die  Seele  ihres  himmlischen  Ursprungs 
und  Zieles  gewiß  werden,  ihre  Rechte  frei  genießen,  ihre  Pflichten 
ungehemmt  erfüllen  könne.  Aber  wie  sie  sich  immer  das  Ziel 
setzen  mochten,  ob  als  Welt  Verneinung  oder  als  Weltdurchdrin- 
gung,  in  jedem  Fall  wollten  sie  die  Welt  um  sich  her,  Staat  und 
Gesellschaft  und  alle  Lebensverhältnisse,  in  diejenige  Form  gießen, 
die  dem  Charakter  ihres  Bekenntnisses  gemäß  war. 

Von  hier  aus  gewinnen  wir  einen  Zugang  zu  der  Frage,  die 
wir  uns  stellten.  Halten  wir  also  zunächst  daran  fest,  daß  die 
von  den  kirchlichen  Regionen  her  eingeleiteten  Umwälzungen  der 
alten  Zeiten  in  keinem  Wesensunterschied  stehen  zu  den  moder- 
nen Revolutionen,  so  wenig  wie  sich  die  Bereiche  des  religiösen 
und  des  staatlichen  Lebens  jemals  voneinander  lösen  lassen  wer- 


Wie  entstehen  Revolutionen?  267 

den.  Beides  hängt  in  der  Wurzel  zusammen;  es  sind  Versuche, 
die  Gesellschaft  neu  zu  ordnen,  und  die  geltenden  Kategorien, 
die  sie  trennen  wollen,  sind  nur  Anschauungsformen,  die  wir  von 
Teilerscheinungen  ableiten,  dem  vollen  Weltbilde  gegenüber  aber 
aufgeben  müssen.  Jede  Weltanschauung,  mag  sie  auf  Buddha 
oder  jMohammed,  auf  Christus  oder  Confucius  zurückgehen,  hat 
ein  ethisches  Ideal,  das  sie  zur  Anschauung,  zur  Darstellung  brin- 
gen will;  sie  muß  es  wollen,  wenn  sie  sich  selbst  treu  bleiben  will; 
sie  muß  darum  kämpfen  oder  untergehen.  Und  wenn  das  Humani- 
tätsideal des  i8.  Jahrhunderts  nach  einem  Staat  verlangte,  in 
dem  alle  Bekenntnisse  friedlich  nebeneinander  wohnen  könnten, 
während  er  selbst  völlig  losgelöst  von  ihnen  leben  wollte,  so  lag 
auch  diesem  Ziel  die  Hoffnung  auf  die  Herausbildung  des  Ge- 
meinsamen, einer  höheren  Einheit  zugrunde:  man  weiß,  \\elche 
Anstrengungen  gemacht  worden  sind,  um  es  zu  erreichen,  und 
welche  Gegenkräfte  geweckt  wurden.  Sodann  aber  bemerken 
wir,  daß  die  Erschütterungen  um  so  tiefer  greifen,  je  unmittel- 
barer die  Persönlichkeit  getroffen  und  ins  Spiel  geführt  wird, 
mag  nun  die  wirkende  Kraft  im  Anwachsen  oder  im  Absterben 
begriffen  sein.  Denn  so  wie  diejenige  Weltanschauung,  die  ihre 
Bekenner  am  stärksten  an  sich  fesselt,  naturgemäß  die  tiefsten 
Wurzeln  in  die  Gesellschaft,  die  an  sie  glaubt,  hineintreiben  wird, 
so  muß  auch  die  letztere,  sobald  jene  sich  zersetzt  und  wandelt, 
wiederum  auf  das  tiefste  aufgewühlt  werden.  Daran  liegt  es, 
daß  die  kirchlich  charakterisierten  Revolutionen  soviel  durch- 
greifender gewesen  sind  als  die  Klassenkämpfe  des  19.  Jahrhun- 
derts. Zwar  verkennt  auch  deren  Charakter  durchaus,  wer  in 
ihnen  nichts  als  soziale  Verschiebungen  sehen  will.  Mit  dem  bloßen 
Willen  zur  Macht  wären  die  Männer  des  dritten  Standes  in  der 
großen  französischen  Revolution  nicht  weit  gekommen,  hätten 
sie  nicht  die  Ideen  für  sich  gehabt,  welche  die  Zeitgenossen  er- 
füllten, und  dazu  die  großen  Notwendigkeiten  und  Aufgaben, 
die  dem  Staate  und  der  Nation  gestellt  waren  und  die  von  der 
alten  Krone  nicht  mehr  gelöst  werden  konnten.  Und  so  würde 
uns  auch  das  Verständnis  unserer  eigenen  Revolution  verschlossen 
bleiben,  wenn  wir  darin  nichts  als  den  Kampf  des  Bürgertums 


268  Kleine  historische  Schriften. 

gegen  die  Macht  der  Junker  erblicken  wollten.  Anderseits  waren 
freilich  seit  1789  die  Gebildeten  der  Nationen  vorzugsweise  Träger 
der  Bewegung;  und  da  diese  meist  den  Schichten  des  mittleren 
Bürgertums  entstammten,  so  verflochten  sich  ihnen  die  Ziele,  die 
sie  dem  Staat  und  ihrem  Volk  steckten,  mit  ihren  Interessen  und 
den  Idealen  ihrer  Bildung.  Darum  sind  sie  aber  auch  nicht  im- 
stande gewesen,  die  Weltanschauungen  der  alten  Zeiten,  welche 
die  Massen  hinter  sich  hatten,  zu  stürzen;  viel  zu  zart  und  fein 
bereitet  war  das  Gespinst  ihrer  Ideen,  um  die  robuste  Kraft  der 
alten  Überlieferungen,  die  der  Menge  das  Ideal  waren,  in  sich  zu 
fassen.  So  ist  es  gekommen,  daß,  seitdem  sich  die  unteren  Klassen, 
durch  die  Revolution  des  dritten  Standes  selbst  herangelockt, 
hervorgedrängt  haben  und  einen  Platz  an  der  Sonne  begehren, 
auch  die  alten  Religionen,  soweit  sie  noch  ]\Iacht  über  sie  be- 
sitzen, zu  neuem  Einfluß  erwacht  sind.  Nur  die  Religionen,  so 
scheint  es  in  der  Tat,  sind  imstande,  das  Antlitz  der  Gesellschaft 
von  Grund  aus  zu  verändern:  wie  sie  noch  im  16.  und  17.  Jahr- 
hundert neue  Nationen  ans  Licht  brachten,  so  sind  sie  auch  heute 
das  einigende  und  erhaltende  Element  für  unterworfene  und  zer- 
splitterte Völker.  Nur  die  Ideen,  die  bis  auf  den  Grund  der  Gesell- 
schaft reichen  und,  indem  sie  jeden  einzelnen  ergreifen,  ein  ge- 
meinsames Band  der  Weltanschauung  um  die  Höhen  und  die 
Tiefen  schlingen,  vermögen  den  organischen  Zusammenhang  und 
das  Wachstum  der  Nationalität  zu  sichern.  Ein  Beweis,  wie  ge- 
ringwertig das  materielle  Interesse  für  die  Geschicke  der  Mensch- 
heit ist,  und  daß  nur  die  Güter,  für  die  man  das  Leben  gern  opfert, 
das  Leben  zu  gestalten  die  Kraft  haben.  Die  Welt  der  Ideale, 
mit  einem  Wort,  ist  der  Boden,  der  die  Gesellschaft  trägt,  und  der 
Glaube  das  Band,  das  sie  zusammenknüpft.  Erst  wenn  dieser 
erschüttert  ist,  wenn  die  geistigen  Führer  der  Nation  an  den  über- 
lieferten Idealen  irre  werden,  beginnen  die  Gefahren.  Es  kann 
lange  währen,  bis  diese  ans  Licht  treten;  denn  in  dem  Kampf 
nimmt  sich  auch  das  Alte  zusammen  und  entwickelt  neue  Triebe, 
und  zu  den  interessantesten  Aufgaben  des  Geschichtsforschers  ge- 
hört es,  solche  Ubergangsepochen,  die  Inkubationszeiten  der  neuen 
Ideen,  zu  studieren.    Jahrhundertelang  hat  es  gedauert,  bis  die 


Wie  entstehen  Revolutionen?  269 

christliche  Kirche  stark  genug  war,  um  den  Kampf  mit  dem 
römischen  Weltreich  aufzunehmen  und  in  einer  Kette  von  Revo- 
lutionen es  sich  völlig  zu  unterwerfen.  Aber  der  Sieg  war  auf  dem 
geistigen  Schlachtfeld  längst  für  sie  entschieden,  ehe  sie  an  die 
Gewalt  appellierte;  die  Ohnmacht  der  alten  Weltanschauung  war 
schon  Generationen  vorher  in  der  Annäherung  an  die  neuen  Ideen 
offenbar  geworden,  die  sie  von  sich  aus  versuchte,  Anleihen  gleich- 
sam, die  sie  bei  der  jungen  Kraft  machte,  um  durch  das  neue 
Blut  den  welken  Körper  zu  erfrischen.  Eine  Erscheinung,  die  in 
allen  großen  Revolutionen  wiederkehrt,  und  die  es  macht,  daß 
für  uns  Nachgeborene  die  Unterschiede  zwischen  den  einst  kämpfen- 
den Parteien  so  oft  sich  verwischen  und  die  erbittertsten  Gegner 
uns  als  miteinander  verwandt,  als  Söhne  eines  Zeitalters  erscheinen. 
So  gingen  der  Reformation  eine  lange  Reihe  von  Reformversuchen 
voraus,  um  das  Alte  und  das  Neue  zu  verquicken;  noch  im  Zeit- 
alter Luthers  und  Calvins  wurden  sie  fortgesetzt.  So  suchten  die 
Reformer  des  i8.  Jahrhunderts  die  überlieferten  Institutionen  mit 
den  Formen  des  neuen  Geistes  zu  verschmelzen.  So  lebten  auch 
in  der  deutschen  Romantik  Elemente,  die  den  in  der  nationalen 
Bewegung  tätigen  Kräften  näher  verwandt  waren  als  den  Tradi- 
tionen des  patriarchahschen  Staates,  den  sie  damit  stützen  wollten ; 
nur  in  diesem  Licht  wird  die  Persönlichkeit  und  Politik  eines 
Friedrich  Wilhelm  IV.,  des  Romantikers  auf  dem  Thron  der 
HohenzoUern,  verständlich. 

Noch  an  einem  anderen  Moment  dürfen  wir  nicht  vorüber- 
gehen, wenn  wir  den  Ursprüngen  der  Revolutionen  nachforschen. 
Sie  sind  fast  immer  begleitet  von  großen  Kriegen  oder  doch  jeden- 
falls bedroht  von  äußeren  Gefahren.  Denn  selten  hat  ein  Staat 
das  Glück,  unbeachtet  von  rivalisierenden  Mächten  seine  Ange- 
legenheiten ordnen  zu  können.  Wie  er  im  Kampf  seine  Existenz 
gegründet  und  behauptet  hat,  und  wie  er  selbst  seiner  Natur 
nach  die  eigene  Macht  auszubreiten  beflissen  ist,  so  weckt  die 
Not,  die  ihn  trifft,  den  Ehrgeiz  der  Nachbarn;  der  inneren  Ge- 
fahr gesellt  sich  sofort  die  äußere  hinzu,  und  schon  der  Wunsch, 
ihr  zu  begegnen,  wird  oft  für  ihn  selbst  ein  Antrieb,  sich  die  neuen 
Ordnungen  zu  schaffen.    Statt  die  Beispiele  zu  häufen,  sei  nur 


270  Kleine  historische  Schriften. 

an  zwei  Tatsachen  der  neuesten  Geschichte  des  äußersten  Ostens 
erinnert.  Als  die  Japaner  die  Unmöghchkeit  einsahen,  die  Ab- 
sperrung ihres  Landes  zu  behaupten,  machten  sie  ihre  Revolution; 
und  unaufhörlich  sehen  wir  sie  seitdem  bemüht,  in  bewunderungs- 
würdiger Anstrengung  die  Machtmittel  des  Westens  ihrer  Nation 
zu  erwerben;  nur  so  können  sie  hoffen,  dem  Strom  der  abend- 
ländischen Kultur  gegenüber,  der,  von  den  Weltmächten  getragen, 
heranrauscht,  ihre  Existenz  zu  behaupten;  wäre  diese  Gefahr 
nicht  so  übermäßig  gewesen,  so  hätte  sich  wohl  ihre  feudale  Staats- 
ordnung noch  lange  erhalten  können.  Und  so  hätte  der  Beamten- 
staat Chinas  gewiß  noch  lange  ungestört  weiter  vegetiert,  hätte 
nicht  der  Stoß  von  außen,  die  Angriffe  der  großen  Mächte,  die 
wetteifernd  die  besten  Stücke  aus  dem  ver\\'itterten  Reich  heraus- 
rissen, auch  dort  eine  nationale  Bewegung  herv^orgerufen,  die 
sich  in  den  barbarischen  Exzessen  der  letzten  Monate  Luft  ge- 
macht hat. 

Sollen  wir  es  nun  noch  wagen,  nach  einer  Antwort  auf  die 
Fragen  zu  suchen,  die  sich  auf  die  Gegenwart  beziehen  und  an 
die  Zukunft  selbst  gestellt  sind  ?  Ich  müßte  fürchten,  den  \\'ider- 
spruch,  den  vielleicht  schon  die  hier  vorgetragenen  Gedanken 
erweckt  haben,  noch  zu  vermehren.  Und  wer  vermöchte  über- 
haupt der  Fülle  ungelöster  Probleme,  die  unsere  Epoche  vor  uns 
ausbreitet,  die  Richtung  zu  geben!  Indessen  dürfen  wir  es  wieder- 
holen, daß  das  \'ertrauen  auf  den  Boden,  der  uns  trägt,  heute 
unvergleichlich  viel  stärker  ist  als  noch  vor  vierzig  Jahren.  In 
gewaltigen  Staatsgebilden  hat  sich  die  Kraft  der  großen  Nationen 
gesammelt;  niemals  ist  die  vereinigte  Macht  der  abendländischen 
Kultur  stärker  gewesen;  rivalisierend  und  doch  nicht  im  Kampf, 
erfüllt  von  gleichartigen  Kräften  und  Tendenzen,  beherrscht  sie 
aUe  Meere  und  alle  Kontinente;  machtlos  weicht  die  Barbarei 
vor  ihr  zurück. 

Auch  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  es  noch  Ideale  gibt,  die 
alle  Klassen  der  Gesellschaft  miteinander  verbinden,  und  daß  das 
Leben  auch  für  uns  noch  nicht  der  Güter  höchstes  geworden  ist. 

Eine  Idee  ist  darunter,  die,  mag  sie  auch  allzusehr  mit  den 
Interessen  von  dieser  Welt  gepaart  sein,  dennoch  bis  in  die  Tiefe 


Wie  entstehen  Revolutionen?  271 

reicht  und  alle  Heizen  mit  der  Kraft  der  Religion  erfüllt.  Das 
ist  die  der  Nationalität.  Es  ist  die  große  Idee  des  Jahrhunderts, 
das  mit  der  Revolution  von  1789  begann.  In  allen  Umwälzungen 
unserer  Tage  ist  sie  lebendig  gewesen  und  ist  seither  nur  immer 
gewachsen.  Von  dem  dritten  Stande  ging  sie  aus,  aber  von  An- 
fang an  erhob  sie  den  Anspruch,  alle  Schichten  der  Gesellschaft 
zu  durchdringen.  Leuchtend  stieg  sie  vor  den  Besten  unseres 
Volkes  auf  in  den  Donnern  des  herrlichsten  der  Kriege,  des  Kampfes 
um  die  Freiheit  des  deutschen  Bodens.  Jahrzehnte  währte  es, 
bis  sie  die  Partikulargewalten,  die  sich  aus  dem  verfallenden  Reich 
erhoben  hatten,  sich  dienstbar  gemacht  hatte,  und  nur  durch 
Revolution  und  Krieg  war  es  möglich.  Aber  vor  einem  Menschen- 
alter empfing  sie  in  dem  Kriege  gegen  den  Erbfeind  unseres  Volkes 
eine  Weihe,  so  glorreich  und  erhebend,  wie  sie  keinem  Volk  der 
Erde  je  zuteil  geworden  ist.  Und  sie  hat  fortgefahren,  ihre  Kraft 
unablässig  zu  bewähren.  Sie  hat  selbst  die  Parteien,  die  ihr  von 
Grund  aus  feindlich  sind,  ihren  Prinzipien  zum  Trotz,  zur  Aner- 
kennung gezwungen.  Alle  Institutionen  unseres  Staates  werden 
von  ihr  getragen,  und  nicht  bloß  in  rauschenden  Festen,  sondern 
mit  der  Tat  selbst  zeigt  unser  Volk,  daß  es  sie  seiner  Väter  wert 
im  Herzen  trägt.  Sie  befähigt  die  Besatzungen  unserer  Kriegs- 
schiffe, wenn  sie  scheitern,  mit  einem  Hurra  auf  den  Kaiser  in  den 
Tod  zu  gehen;  sie  bändigte  den  Kleinsinn  der  parlamentarischen 
Fraktionen,  als  es  galt,  die  Flotte  zu  vergrößern;  und  sie  schuf 
es,  daß  die  Tapferen,  die  freiwillig  nach  China  hinausgingen,  alle 
den  einen  Gedanken  im  Herzen  tragen:  ihr  Leben  einzusetzen 
für  die  Ehre  und  die  Größe  des  Vaterlandes. 


m^=^^^ 


Die  französische  Revolution  und 
die  Kirdie. 

(1896.) 

Wenn  ich  als  Deutscher  es  wage  über  ein  inneres  Problem  der 
Geschichte  Frankreichs  das  Wort  zu  ergreifen,  so  geschieht  es, 
weil  der  Versuch  der  französischen  Revolution,  die  römisch- 
katholische Kirche  Frankreichs  dem  nationalen  Staate  zu  unter- 
werfen, trotz  seiner  internen  Natur  von  universaler  Wirkung 
gewesen  ist  und  nur  von  universalen  Gesichtspunkten  aus  be- 
griffen werden  kann;  und  weil,  wie  ich  meine,  wir  Deutsche, 
deren  Geschichte  durch  einen  analogen  Prozeß  seit  Jahrhunderten 
bestimmt  wird,  wohl  vor  anderen  berufen  sind,  über  Fragen  dieser 
Art  nachzudenken  und  zu  urteilen. 

Die  Revolutionäre  wollten  damit  in  ihrer  Weise  das  nach- 
holen, was  im  16,  Jahrhundert  den  Hugenotten  mißglückt  war, 
wogegen  sich  damals  in  einem  allgemeinen  Aufruhr  der  Elemente 
ihres  Staates  alle  reaktionären  Kräfte  und  der  Genius  der  Nation 
selbst  siegreich  erhoben  hatten.  Und  sie  schritten  dabei  nur  auf 
den  Bahnen  fort,  welche  von  dem  alten  Königtum  seit  längerer 
Zeit  eingehalten  waren,  und  die  es  noch  jüngst  zu  nicht  unbedeu- 
tenden Erfolgen  geführt  hatten:  die  Verjagung  der  Jesuiten,  die 
Aufhebung  der  Edikte  Ludwigs  XIV.  gegen  die  Hugenotten,  die 
erst  zwei  Jahre  vor  der  Revolution  erfolgte,  und  viele  andere 
Eingriffe  in  die  Rechte  und  Besitztitel  der  Kirche  waren  Etappen 
auf  diesem  Wege  gewesen.  Es  war  derselbe,  auf  dem  wir  seit  den 
Friedensschlüssen  von  Hubertsburg  und  Paris  die  bourbonischen 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  273 

Höfe  in  Spanien  und  Italien,  Portugals  Regierung  unter  Pombal 
und  Österreich  unter  Joseph  II.  sehen,  gerade  die  katholischen 
Staaten,  die  auf  der  Gegenreformation  beruhten,  die  Bundes- 
genossen und  \'er\vandten  des  französischen  Hauses.  Überholt  wie 
sie  sich  sahen  von  den  germanisch-protestantischen  Mächten, 
hatten  sie  alle  ihre  Kräfte  in  der  gleichen  Richtung  eingesetzt. 
Die  feudalen  Schranken,  die  ihrer  Krongewalt  noch  entgegen- 
standen, galt  es  hin  wegzureißen  oder  doch  zu  erniedrigen,  und  da 
konnten  sie  vor  der  stärksten  Organisation,  der  Kirche,  unmöglich 
haltmachen. 

Jedermann  weiß  nun,  wie  teuer  den  Revolutionären  dieser 
Kampf,  den  sie  so  leichten  Herzens  begannen,  zu  stehen  gekommen 
ist.  Nichts  ist  klarer,  als  daß  die  Kirche  der  Fels  wurde,  an  dem  die 
Wogen  der  Revolution  zerschellten;  daß  sie  die  eigentliche  Macht 
der  Reaktion  war,  welche  dem  optimistischen  Taumel  entgegen  am 
frühesten  sich  auf  sich  selbst  besann  und  schon  vom  Herbst  1789 
ab  ihre  Kräfte  zu  einem  prinzipiellen,  unbeugsamen  und  immer 
schrofferen  Widerstände  zusammenfaßte;  daß  sie  die  Parteien, 
welche  anfangs  in  der  selbstgefälligen  Blindheit  des  Jahrhunderts 
an  die  Untrüglichkeit  und  Allmacht  ihrer  Ideale  geglaubt  hatten, 
alle  nacheinander  und  jede  in  ihrer  Weise  gezwungen  hat,  mit  ihr 
zu  rechnen,  Königtum  und  Emigranten,  Feuillants  und  Giron- 
disten, Hebert,  Danton  und  Robespierre,  und  so  fort  durch  das 
Direktorium  hin,  bis  endlich  Bonaparte  den  Frieden  schloß,  der 
Staat  und  Kirche  aufs  neue  ineinander  fesselte  und  verstrickte  und 
doch  keinem  von  beiden  genug  tat.  Keine  Partei  hatte  jemals  vor 
der  Kirchenfrage  Ruhe:  die  Vernunftreligion  und  der  Kult  des 
höchsten  Wesens  waren  ebenso  eine  Anerkennung  ihrer  Macht,  wie 
die  Zivilkonstitution  und  das  Konkordat,  die  Gleichsetzung  des 
politischen  und  religiösen  Daseins  im  Sinne  Robespierres  ebenso, 
wie  die  affektierte  Gleichgültigkeit  in  der  Toleranz  aller  Kulte,  zu 
der  sich  das  Direktorium  verstehen  mußte.  Verfolgung  konnte 
die  Kirche  nicht  zerbrechen,  und  Duldung  ward  nur  der  Appell 
zur  Sammlung  ihrer  Kräfte  und  zu  erneuten  Angriffen.  Dem 
Idyll  des  Wahnwitzes,  das  Robespierre  mit  blutbefleckten  Händen 
aufführte,  und  dem  blasphemischen   Sinnenkultus  Heberts  hielt 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  18 


27/|  Kloinc  liistnriscbo   Schriften. 

sie  stand;  aus  allen  Schichten  der  Nation,  aus  allen  Parteien 
strömten  ihr  neue,  lebendige  Kräfte  zu.  Die  revolutionäre  Kirche 
selbst,  in  die  Katastrophen  der  Revolution  hineingerissen,  schmückte 
sich  mit  Märtyrerkronen  für  den  römischen  Glauben,  während  sie 
noch  von  der  alten  Kirche  zurückgestoßen  wurde;  und  jubelnd 
umdrängten  die  Bekenner  aus  beiden  Lagern  den  jugendlichen 
Helden,  der  im  Glänze  unerhörter  Siege  den  Frieden  mit  Rom  her- 
beiführte. Es  war  wie  in  der  Sintflut  gewesen,  durch  ein  Meer  von 
Blut  waren  die  Heiligtümer  des  alten  Glaubens,  von  der  Kirche 
wie  in  der  Arche  geborgen,  unverletzt  hindurchgebracht;  und 
alle  Verirrten  und  Verstoßenen,  die  Getreuen  Roms  und  die  Re- 
volutionäre, die  Aufgeklärten  und  die  Mystiker,  Ultramontane  und 
Jansenisten,  scharten  sich  wieder  um  den  Felsen  Petri. 

Nicht  die  Kurie  war  es,  die  den  Kampf  gegen  die  Revolution 
begann.  Längst  war  er  in  Frankreich  selbst  entbrannt,  ehe  sich 
Papst  Pius  VI.  zum  Einschreiten  entschloß.  Sobald  er  sich  aber 
auf  die  Seite  der  Reaktion  gestellt,  richtete  er  ihr  damit  das  Banner 
auf,  um  das  sich  alle  ihre  Anhänger  sammeln  konnten.  So  kam 
Rom  in  dem  Weltkampfe  wieder  zu  der  Macht,  die  es  in  dem  Jahr- 
hundert des  Friedens  eingebüßt  hatte.  Wohl  trug  es  auch  jetzt 
noch  schwere  Wunden  davon;  schhmmer,  als  von  Kaiser  Joseph, 
und  als  Clemens  und  Benedikt  von  den  bourbonischen  Höfen, 
ward  Pius  von  den  französischen  Republikanern  behandelt.  Sie 
raubten  ihm  sein  Land,  sie  plünderten  seine  Städte  aus  und  führten 
ihn  selbst  mit  über  die  Alpen;  als  ihr  Gefangener  ist  er  gestorben. 
Aber  zwei  Jahre  darauf  war  der  Triumph  der  Kirche  entschieden, 
vmd  der  Nachfolger  führte  sie,  unter  Schwankungen  freilich,  zu 
immer  neuen  Siegen.  Denn  auch  Napoleons  \\'eltreich  konnte 
nicht  ohne  Rom  bestehen,  so  sehr  er  es  geknebelt  hielt.  Er,  der  die 
liberalen  Ideen,  wohin  er  kam,  entfesselte,  war  doch  im  letzten 
Grunde  so  unprotestantisch  wie  die  Revolution,  die  er  vollendet 
hatte:  er  konnte  Roms  so  wenig  entraten,  wie  Ludwig  XIV.  und 
Karl  V.,  oder  wie  Karl  der  Große,  als  dessen  Nachfolger  er  sich 
so  gern  bezeichnete.  Jedoch  auch  die  Gegenkräfte,  die  im  Kampf 
gegen  den  Weltherrscher  frei  wurden  und  das  Kaiserreich  am 
Ende  zerstörten,  zeigten  sich  Rom  und  dem  römischen  Geist  nicht 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  275 

gefährlich,  trotzdem  die  germanisch-protestantischen  Nationen 
und  das  griechisch-gläubige  Rußland  die  Führung  hatten.  Im 
Gegenteil,  erst  die  Siege  der  Schismatiker  brachten  Pius  VII.  die 
Freiheit.  Tilsit  drohte  Knechtschaft:  Spaniens  Aufstand,  der  doch 
nur  durch  Englands  Hilfe  möglich  war,  ^'erhieß  Rettung.  Neue 
Siege  des  Gewaltigen  drückten  den  Papst  abermals  aufs  tiefste 
herab ;  und  niemals  hat  er  sich  schwerer  demütigen  müssen,  als  in 
dem  Konkordat  von  Fontainebleau  im  Januar  1813,  worin  er  sich 
zur  Residenz  in  Frankreich  verpflichtete.  Die  Zeiten  des  Exils 
von  Avignon  schienen  sich  für  die  Kirche  erneuern  zu  sollen.  Noch 
stützte  sich  Napoleon  auf  den  Bund  mit  Österreich.  Aber  wenige 
Wochen  später  brach  Preußen  los,  und  die  Siege,  welche  die  Ver- 
bündeten nach  Paris  führten,  brachten  den  Papst  nach  Rom 
zurück.  So  wie  einst  Urban  VIII.  über  Gustav  Adolfs  Siege  hatte 
frohlocken  können,  und  Clemens  VII.,  der  Mediceer,  durch  den 
Angiiff  Philipps  des  Großmütigen  auf  Württemberg  von  dem 
Druck  der  Habsburgischen  Macht  befreit  worden  war.  Seitdem 
aber  ist  der  katholische  Geist  erst  wahrhaft  mächtig  geworden, 
in  Regierungen  und  Völkern,  im  politischen  und  im  geistigen  Leben. 
Die  liberalen  Ideen,  welche  unser  Jahrhundert  beherrschen,  haben, 
statt  ihm  zu  schaden,  vielmehr  seine  Kräfte,  die  nur  unterdrückt, 
nicht  erstorben  \\'aren,  überall  gelöst:  je  demokratischer  die  Ver- 
fassungen, um  so  stärker  wurde  zum  Erstaunen  und  sehr  gegen  den 
Willen  ihrer  Schöpfer  der  Einfluß  der  klerikalen  Parteien.  Als 
Romantik  bemächtigte  sich  der  mittelalterliche  Geist  aller  Künste, 
in  denen  er  zum  Teil  noch  heute  nachwirkt,  und  ergriff  die  Wissen- 
schaften selbst,  Philosophie  und  die  historischen  Disziplinen,  mit 
eigentümhcher  Gewalt,  hemmte  sie  wohl  hier  und  da,  aber  lieh 
ihnen  doch  auch  wieder  die  fruchtbarsten  Antriebe  zur  Erkenntnis. 
Nichts  hat  über  ihn  die  grandiose  Entwicklung  der  Naturwissen- 
schaften vermocht  noch  die  Beherrschung  der  natürlichen  Kräfte; 
und  nicht  einmal  die  historische  Aufklärung,  welche  die  kirch- 
lichen und  profanen  Überlieferungen  mit  allseitigem  Eifer  durch- 
forscht und  sie  des  Nimbus,  mit  dem  Dogma  und  Romantik  sie 
umgaben,  täglich  mehr  entäußert,  hat  den  Verteidigern  Roms 
viel  anhaben  können.    Nur  um  so  trotziger  und  selbstbewußter, 

18* 


276  Kleine  historische  Schriften. 

um  kein  Mittel  je  verlegen,  wenn  es  zum  Zwecke  führt,  treten  sie 
auf  allen  Gebieten  der  Geisteswissenschaften  der  ehrlichen  For- 
schung entgegen,  die  nichts  will  als  die  Wahrheit  und  sich  außer- 
halb der  den  Horizont  verengenden  Strömungen  des  Tages  stellt. 
Sehr  im  Gegensatz  zu  uns  andern  sind  sie  auch  die  Wortführer  in 
den  politischen  Kämpfen  und  bilden  mit  ihrem  Anhange  heute, 
bei  uns  in  Deutschland  wenigstens,  die  einzige  große  Partei, 
welche  Hoch  und  Niedrig,  Gelehrte  und  Ungelehrte  in  der 
gleichen  Weltanschauung  vereinigt  und  den  idealen  Werten 
noch  den  Vorrang  vor  den  wirtschaftlichen  Interessen  läßt. 
Stärker  denn  je  stürmen  die  Wogen  der  Aufklärung  und  der 
Demokratie  gegen  alles,  was  fest  war  in  Staat  und  Kirche, 
heran,  aber  nur  um  so  tiefer  und  breiter  senkt  sich  der 
römische  Fels  in  den  gelockerten  Boden  hinein:  die  Pilgerzüge 
nach  Lourdes  und  Trier  und  alle  Wahlen  bei  uns  oder  in 
Belgien   beweisen   es   immer   aufs   neue. 

Also,  soUte  man  meinen,  müßte  der  Klerikalismus  der  fran- 
zösischen Revolution  eigentlich  dafür  danken,  daß  sie  ihm  diese 
Riesenkräfte  entfesselt  hat.  Leider  aber  hat  er  die  Schmerzen,  die 
dabei  der  Kirche  angetan  wurden,  nicht  vergessen  und  nimmt 
noch  immer  die  Miene  an,  als  ob  sich  die  Gesellschaft  vorher  viel 
wohl  er  befunden  habe,  und  daß  es  ein  gar  nicht  gut  zu  machendes 
Unrecht  der  Revolution  gewesen  sei,  die  Kirche  ihrer  Freiheit, 
ihres  Besitzes  und  ihrer  Verfassung  zu  berauben.  Noch  auffallender 
ist  es,  daß  diese  Anschauung  den  lebhaftesten  Widerhall  in  dem 
entgegengesetzten  Lager  findet.  Zwar  Edgar  Quin  et  nehme  ich 
aus.  Er  nennt  es  geradezu  das  Unglück  Frankreichs,  daß  die 
Revolution  die  Kirche  nicht  besiegt  habe,  und  daß  »die  großen 
Ideen  der  Gerechtigkeit  und  der  Wahrheit «  nicht  den  Staat  und  die 
Nation  vom  Herzen  her  ergriffen  und  verwandelt  haben.  Heute 
aber  glauben  unsere  Liberalen,  dies  Urteil  des  Denkers,  der  unter 
seinen  Landsleuten  die  Probleme  der  großen  Revolution  am  tiefsten 
ergründet  hat,  als  eine  Überspanntheit  beiseite  schieben  zu  können, 
und  die  maßgebenden  Autoritäten,  ich  nenne  nur  die  Großen, 
\ne  Tocqueville  und  Sybel,  Sorel  und,  nicht  zu  vergessen, 
Hippolyte  Taine,  stimmen  mit  den  Delbos,  Theiner  und 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  277 

Sei  out  völlig  darin  überein,  daß  sie  es  als  den  schwersten  Fehler 
der  Revolution  und  eine  Verletzung  aller  Grundsätze  der  Religion 
wie  der  Toleranz  bezeichnen,  an  die  »Freiheit«  der  Kirche  gerührt 
zu  haben.  Es  ist  darin  noch  ganz  so  wie  zu  der  Zeit,  da  Edmund 
Burke  mit  Barruel  und  Maury  auf  einer  Seite  focht,  und  also  kein 
Zufall,  daß  noch  der  jüngste  Nachfolger  Barruels,  der  gelehrte  Abbe 
Sicard,  sich  mit  Vorliebe  auf  das  Zeugnis  Tocquevilles  und 
T  a  i  n  e  s  beruft.  ^)  Ein  literarischer  Friedestand,  der  sein  politisches 
Gegenbild  in  dem  offiziellen  Frankreich  von  heute  hat,  wo  trotz 
Demokratie  und  Laienschule  Staat  und  Kirche  ganz  wohl  mit- 
einander auskommen  und  Gambettas  kühnes  Wort  gegen  den  Kleri- 
kalismus wie  vergessen  ist.  Kann  doch  sogar  ein  Aulard,  der 
auf  Grund  breitester  Quellenkenntnis  zu  den  treffendsten  Urteilen 
über  den  Zusammenhang  der  politischen  und  kirchlichen  Entwick- 
lung und  die  Notwendigkeit,  mit  der  das  eine  aus  dem  andern 
folgte,  gelangt,  es  nicht  unterlassen,  von  dem  »Fehler«  zu  sprechen, 
den  die  Revolution  mit  dem  Priestereide  gemacht  habe  • — •  als  ob, 
sie  die  Freiheit  gehabt  hätte,  diesen   Schritt  zu  vermeiden. 

Dem  entgegen  möchte  ich  zeigen,  daß  die  angeblichen 
Mißbildungen,  welche  nach  der  überwiegenden  Meinung  die  Ge- 
schichte der  Revolution  entstellen  sollen,  in  Wahrheit  alles  frei- 
lich recht  borstige,  aber  doch  fast  durchweg  normale  Über- 
gangsformen zu  der  Kirche  des  19.  Jahrhunderts  gewesen  sind; 
daß  sowohl  die  Zivilkonstitution  als  die  Kirchenpolitik  der  Legis- 
lative und  sogar  des  Konventes,  wie  die  des  Direktoriums  und 
Napoleons,  in  dem  Konkordate  eine  Fülle  verwandter  Formen 
und  positiver  Fortbildungen  enthalten;  und  daß  diese  ebenso 
sehr  mit  den  andern  parallelen  Schöpfungen  der  Revolution  ver- 
wandt, wie  der  Kirche  der  alten  Monarchie  entgegengesetzt  waren: 
daß  also  die  heutige  römisch-katholische  Kirche  auch  positiv  auf 
der  französischen  Revolution  ruht,  ja  daß  die  Bedingungen  und 
das  Wesen  ihrer  Macht  gerade  in  den  von  der  Revolution  allseitig 
gelösten  Kräften,  in  der  Konzentrierung  der  politischen  Ord- 
nungen und  in  der  Demokratisierung  des  nationalen  Staates  be- 
stehen. 


^)  So  zitiert  auch  schon  Sei  out  häufig  Tocqueville. 


278  Kleine  historische  Schriften. 

Fassen  wir,  um  uns  dies  klar  zu  machen,  einmal  die  Unter- 
schiede ins  Auge,  welche  die  drei  Hauptformen  der  Kirche  Frank- 
reichs in  dieser  Zeit,  diejenige  des  Ancien  Regime,  die  Zivilkon- 
stitution und  das  Konkordat  Napoleons,  gegen  einander  zeigen. 

\'or  1789  deckt  sich  das  Bild  der  Kirche  genau  mit  dem  An- 
blick des  alten  Staates.  Sie  hatte,  wie  dieser,  ihren  ersten  und 
dritten  Stand,  ihren  höfischen  und  provinziellen  Adel;  und  wie  in 
der  Administration,  der  Armee  und  dem  Hofdienst  stuften  sich 
in  ihr  \\'ürden,  Besitz  und  Einfluß  nach  der  gesellschaftlichen 
Stellung  ab.  Die  Masse  der  Cures,  dem  Landvolk  oder  mehr  noch 
dem  kleinen  Bürgerstande  entnommen,  war  kärglich  besoldet, 
bis  zu  600  oder  700  Fr.,  hatte  nirgends  mitzusprechen  und  war 
nicht  imstande  hoch  zu  kommen;  sogar  der  Zehnte  entging  ihnen 
häufig  und  ward  den  Besitzern  der  großen  Benefizien  zu  Teil. 
Diese  aber  wurden  von  denselben  Familien  verwaltet,  welche 
den  Staat  in  Händen  hielten.  Sie  waren  erblich  oder  wurden  nach 
.Gunst  und  Laune  von  oben  vergeben.  Es  war  eine  Überzahl, 
viel  zu  groß  für  die  geistlichen  Bedürfnisse:  134  Bistümer,  an 
100  mehr  als  im  alten  Deutschland,  mit  Einnahmen,  die  von 
460  000  Frs.  (soviel  zog  der  Kardinal  Rohan  jährlich  von  Straß- 
burg) bis  auf  6000  und  7000  herunter  gingen.  Doch  fehlte  viel 
daran,  daß  die  Bischöfe  Herren  ihrer  Diözesen  gewesen  wären. 
Schon  die  Kapitel  an  ihren  Kathedralkirchen,  die  bis  zu  40  Kurien 
zählten,  alles  Präbenden  mit  oft  Tausenden  an  Einkünften,  be- 
saßen Einfluß  und  L^nabhängigkeit.  Dazu  kamen  die  800  Mönchs- 
orden und  Abteien,  auch  diese  zum  Teil  mit  fürstlichen  Reve- 
nuen ausgestattet  und  alle  Sprengel  durchsetzend,  300  Kollegiat- 
kirchen,  reiche  und  ärmere,  und  dann  noch  die  Patronatsrechte 
des  Königs,  der  Seigneurs  und  der  Magistrate.  Ein  Viertel  oder 
ein  Fünftel  der  Priester  mochte  durchschnittlich  dem  Bischof 
direkt  unterstehen;  auch  diese  aber  waren  ihm  nicht  schlechthin 
unterworfen,  sondern  gegen  jede  Willkür  geschützt  und  unabsetz- 
bar, wenn  nicht  durch  ein  kanonisches  Verfahren  ihnen  eine  Pflicht- 
\-erletzung  nachgewiesen  war.  So  zerspalten  und  uneins  diese  Kor- 
poration nun  auch  sein  mochte,  trat  sie  doch  nach  außen,  Freund 
wie  Feind  gegenüber,  geschlossen  auf.    Besitzerin  des  größten  Ein- 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  279 

kommens  im  Reich,  hatte  sie  im  Prinzip  gegen  alle  Angriffe  der 
Krone  die  Steuerfreiheit  behauptet.  Die  Abgaben,  zu  denen  sie 
sich  verstand,  waren,  wie  der  Ausdruck  bezeichnend  lautete,  dons 
gratuits,  Almosen,  die  sie  dem  Staate  gab,  der  ihr  dafür  zum  Schutz 
aller  ihrer  irdischen  und  geistlichen  Interessen  verpflichtet  war. 
Es  war  ein  Bund  zweier  Gewalten,  und  die  Kirche  betonte  gern, 
daß  sie  auf  dem  gallischen  Boden  vor  der  Krone  bestanden  und 
daß  diese  ihre  Würde  und  ihren  Glanz  erst  von  ihr,  seit  Chlodwigs 
Taufe,  erhalten  habe.  Ihr  ungeheures  Vermögen  verwaltete  sie 
durch  eine  vielgegliederte  Beamtenschaft  selbst,  und  auch  ihre 
Steuern,  zumal  die  Millionen  an  jährlichen  Zehnten,  erhob  und 
verwandte  sie  nach  ihrem  Ermessen.  Alle  fünf  Jahre  traten  ihre 
Deputierten  zu  einer  kleinen,  alle  zehn  zu  einer  großen  Konvo- 
kation  zusammen.  Diese  zweite  berief  der  König  und  ließ  sich 
durch  seinen  Kommissar  vertreten;  aber  die  Wahl  und  Abord- 
nung ihrer  Repräsentanten,  die  Bildung  der  Bureaus  und  der 
Kommissionen,  die  Umlegung  der  Steuern,  die  man  bewilligte, 
erfolgten  selbständig  im  Schöße  der  Versammlung;  und  in  einem 
Cahier,  das  dem  Vertreter  der  Krone  überreicht  wurde,  faßten 
die  Prälaten  alle  ihre  Wünsche  und  Beschwerden  in  geistlichen 
und  weltlichen  Angelegenheiten  zusammen.  Doch  waren  noch 
immer  nicht  alle  Diözesen  Frankreichs  in  diesem  Parlament  ver- 
einigt; die  12  Episkopate  der  eroberten  Provinzen  rechneten 
noch  nicht  zur  französischen  Kirche  und  entschieden  selbständig 
in  den  wirtschaftlichen  Fragen,  gaben  ihre  eigenen  dons  gratuits. 
Dies  war  die  Kirche,  welche  die  Hugenotten  besiegt  und 
unter  Bossuets  Führung  die  Besiegten  vom  Boden  Frankreichs 
verjagt  hatte,  dies  die  Priesterschaft,  die  mit  dem  großen  König 
vereinigt  die  gallikanischen  Freiheiten  gegen  Rom  behauptet 
und  mit  ihm  von  neuem  sich  der  Kurie  unterworfen  hatte.  Mit 
den  Jesuiten  verbündet,  hatte  sie  die  Jansenisten  und  alle  freien 
Meinungen  in  ihrem  Schöße  unterdrückt.  Unerschüttert  hatte 
sie  in  dem  Ansturm  der  Aufklärung  die  römische  Dogmatik  be- 
hauptet; der  theologische  Nachwuchs  an  der  Sorbonne  und  allen 
geistlichen  Schulen  war  in  ihren  Händen ;  und  mit  der  Volksschule, 
dem   Beichtstuhl  und  der  Kanzel  hielt  sie  die  Massen  in   Stadt 


2^0  Kleine  historische  Schriften. 

uikI  Land  in  Unterwerfung.  Wie  ohnmächtig  die  hberalen  Ideen 
gegen  diese  tiefe  und  weitverzweigte  Macht  waren,  erfuhr  Diderot, 
als  er  für  seine  Libertinagen  in  Vincenncs  büßen  mußte,  und  der 
greise  Voltaire,  als  er,  der  Patriarch  der  Aufklärung  selbst,  am 
Ende  seiner  Tage  jene  Farce  vor  dem  Priester  aufführen  mußte, 
um  nur  nicht  wie  ein  Ungläubiger  und  Ketzer  auf  den  Schindanger 
geworfen  zu  werden.  Und  wie  gründlich  der  Protestantismus 
in  der  Heimatsprovinz  Calvins  und  in  der  südlichen  Hochburg 
der  Hugenotten  ausgetilgt  war,  wie  fest  noch  selbst  die  städtische 
Bevölkerung,  und  nicht  bloß  das  Landvolk  und  die  untersten 
Schichten,  in  der  Gegenreformation  wurzelte,  zeigten  jene  Blut- 
prozesse in  Abbeville  und  Toulouse,  bei  denen  Voltaires  rast- 
loser Eifer  nichts  weiter  gut  machen  konnte,  als  daß  er  die  Kas- 
sation des  Urteils  über  den  unglücklichen  Jean  Calas,  als  eines 
offenkundigen  Justizmordes,  erreichte.  Dann  freilich  erlahmte 
der  Geist  des  Angriffes  und  es  schien  fast,  als  ob  der  Klerikalismus 
unter  dem  Andrang  der  neuen  Zeit  allmählich  absterben  sollte. 
Die  Klöster  begannen  sich  zu  leeren;  von  1770  ab  wurden  sie  in 
20  Jahren  um  ein  Drittel  der  Mönche  ärmer  und  alle  Reformen, 
die  man  versuchte,  wollten  sie  nicht  wieder  füllen.  Nicht  als  ob 
der  katholische  Sinn  in  dem  Heer  der  Geweihten  durchaus  er- 
loschen und  die  Massen  gleichgültig  geworden  wären.  Noch  immer 
hielten  die  Trappisten  peinlich  ihre  strenge  Regel  und  behaupteten 
die  Bettelorden  sich  in  der  Gunst  des  Volkes;  nach  wie  vor  ar- 
beiteten die  Benediktiner  an  ihren  großen  Sammlungen  über  die 
kirchliche  und  weltliche  Geschichte  Frankreichs.  Mit  Recht  haben 
die  klerikalen  Historiker,  auch  hierin  von  Taine  eifrig  unterstützt, 
auf  die  Übertreibung  in  den  Spöttereien  hingewiesen,  mit  denen 
die  ungläubigen  Literaten  die  Abbes  des  Parquets  und  die  Nonnen 
ä  la  mode  attackierten.  Aber  auch  sie  geben  zu,  daß  der  Indif- 
ferentismus in  der  Kirche  des  alten  Frankreichs  vor  der  Revo- 
lution mächtig  geworden  und  eine  Erneuerung  des  alten  katho- 
lischen Feuers  notwendig  gewesen  sei. 

Nun  wissen  wir  alle,  wie  gründlich  die  Zivilkonstitution  mit 
dieser  bunten  Fülle  feudaler  Ordnungen  aufgeräumt  hat.  Wie 
die  bisherige  Kirche  dem  alten  Staat,  so  sollte  die  reorganisierte 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  281 

dem  neuen  genau  entsprechen.  Alles  in  ihr  ward  zugeschnitten 
nach  der  administrativen  Einteilung,  zu  der  man  geschritten 
war.  Über  jedes  Departement  ward  ein  Bischof  gesetzt,  so  zwar, 
daß,  wo  es  ging,  die  alten  Sitze  beibehalten,  der  Rest  aber  be- 
seitigt wurde.  Wie  die  Departements,  so  wurden  auch  die  Metro- 
politanbezirke,  deren  man  zehn  kreierte,  nach  geographischen 
Gesichtspunkten  ausgewählt.  Innerhalb  der  Diözesen  ward  die 
Einheit  hergestellt:  gleich  den  Klöstern  schaffte  man  auch  die 
Kollegiatkirchen  aus  der  Welt.  Es  blieben  nur  der  Bischof  und 
die  Pfarrer,  von  denen  je  einer  über  6000  Seelen  gesetzt  war.  Auch 
die  Kathedralkirche  war  nicht  mehr  die  alte  reiche  und  unab- 
hängige Korporation,  sondern  unmittelbar  unter  den  Bischof 
gestellt,  der  allein  ihr  Pfarrer  war;  alle  andern  Priester  an  ihr 
waren  nichts  als  seine  Vikare,  16  oder  12,  je  nach  der  Größe  seiner 
Stadt.  Auf  jede  Diözese  kam  ein  Seminar,  auch  dies  ganz  an 
die  Person  des  Bischofs  herangerückt;  ausdrücklich  bestimmte 
ein  Artikel  des  Gesetzes,  daß  es,  wenn  irgend  möglich,  neben  der 
Kathedrale,  ja  innerhalb  der  Mauern  der  bischöfhchen  Residenz 
errichtet  werde.  An  seiner  Spitze  stand  ein  dirigierender  Vikar 
mit  drei  Kollegen,  aber  sie  sämtlich  wieder  dem  Bischof  unter- 
geben. Sie  bildeten  nebst  den  Vikaren  an  der  Kathedrale  das 
Konseil,  mit  dem  jener  seine  Diözese  regierte. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  wie  sehr  der  geistliche  Einfluß  des 
Bischofs  in  seinem  Sprengel  durch  die  neue  Ordnung  erhöht  wurde. 
Im  Seminar  lenkte  er  die  Erziehung  seines  Klerus,  den  er  ebenso 
in  der  Disziplin  wie  in  der  Lehre  zu  überwachen  hatte;  die  Zög- 
linge waren  gehalten,  mit  ihren  Direktoren  an  allen  kirchlichen 
Handlungen  in  der  Kathedrale  teilzunehmen  und  jeden  Dienst 
zu  tun,  den  er  oder  sein  oberster  Vikar  verlangte.  Alle  Ämter 
wurden  aus  der  Diözese  besetzt:  der  Cure  mußte  5,  der  Vikar  10, 
der  Bischof  15  Jahre  amtiert  haben.  Also  daß  der  oberste  Hirte 
Wesen  und  Wirken  eines  jeden  seiner  Priester  von  Jugend  auf 
kennen  lernte.  Nur  die  Pfarrer  und  der  Bischof  selbst  waren  der 
Kreierung  durch  die  Wähler  des  Departements  unterworfen; 
seine  Vikare,  also  seine  höchsten  Beamten,  ernannte  er  selbst 
nach  freiem  Ermessen,  sowie  die  Cures  die  ihrigen.     Das  Dogma 


2^2  Kleine  historische  Schriften. 

blieb  unverrückt.  Wer  gewählt  war,  hatte  sich  erst  der  Prüfung 
zu  unterziehen  in  Lehre  und  Wandel;  der  Cure  vor  dem  Bischof 
und  seinem  Konseil,  der  Bischof  vor  seinem  Metropolitan  oder 
seinem  Vorgänger  im  Amt,  ebenfalls  in  Gegenwart  seiner  Vikare. 
Erst  danach  erfolgte  die  Einsetzung  auf  das  Bekenntnis  zur  »katho- 
lischen, apostolischen  und  römischen  Religion«.  Auch  der  geist- 
liche Zusammenhang  mit  dem  Papst  sollte  erhalten  bleiben;  denn 
so  sehr  es  verpönt  war,  die  Bestätigung  von  Rom  zu  erbitten,  hatte 
doch  der  Erwählte  ein  schriftliches  Bekenntnis  seiner  Einigkeit 
mit  dem  »sichtbaren  Haupt  der  allgemeinen  Kirche«  im  Glauben 
und  in  der  Kommunion  dem  Papste  einzusenden. 

So  ward  die  französische  Kirche  von  den  irdischen  Geschäften 
hinweg-  und  ganz  auf  ihre  geistlichen  Aufgaben  hingedrängt.  Dies 
w^ar  immer  das  Ideal  der  katholischen  Weltanschauung  gewesen, 
und  jede  Reform  in  der  Kirche,  nicht  am  wenigsten  die  letzte  zu 
Trient,  auf  der  die  Hierarchie  der  neuen  Jahrhunderte  ruht,  hatte 
diese  Tendenz  ausgeprägt.  Aber  niemals  war  das  Prinzip  so  streng 
durchgeführt  w^orden  wie  durch  die  Revolution.  Was  brauchte 
es  in  dieser  Kirche  noch  der  Jesuiten  und  aller  mönchischen  Welt- 
entsagung, da  Pfarrer  und  Bischöfe  selbst  von  Staat  und  Ge- 
sellschaft geschieden  und  auf  die  strikte  Förderung  der  hier- 
archischen Zwecke  beschränkt  waren. 

Je  isolierter  die  neue  Korporation  aber  der  Laienwelt  gegen- 
über stand,  um  so  enger  war  jetzt,  recht  im  Gegensatz  zu  der 
alten  Zersplitterung  und  Ungleichheit,  die  Einheit  und  Inter- 
essengemeinschaft in  ihrem  eigenen  Schöße  geworden.  Hier- 
für waren  die  stärksten  Hebel  die  gleiche  Ordnung  in  jeder  Diözese, 
die  Mechanik  der  geistlichen  Bureaukratie  und  das  unbeschränkte 
Avancement,  das  jedem  Bauernsohn  die  Aussicht  eröffnete,  zum 
Kirchenfürsten  emporsteigen  zu  können.  Die  alte  Kirche  war 
durch  ihre  Verbindung  mit  der  französischen  Gesellschaft  in  allen 
ihren  Abstufungen,  mit  den  Provinzen  und  der  Krone,  mit  tausend 
in  dem  französischen  Boden  wurzelnden  Interessen,  mit  den  Tra- 
ditionen einer  vielhundertjährigen  Geschichte  an  Frankreich 
geknüpft,  auf  die  Rivalität  mit  der  Kirche  von  Rom  fast  an- 
gewiesen und  darin  erzogen:  die  neue,    aus   der  man  alle   inter- 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  283 

mediären  Organe  hinweggeschnitten  hatte,  ward  von  Anfang  an  mit 
dem  Gesicht  nach  Rom  gewendet.  An  den  Staat  sah  sie  sich  nur 
noch  durch  die  Wahlen  und  den  Treueid  gefesselt,  aber  durch 
kein  spezifisches  Interesse.  Sie  hatte  nur  die  Pflicht,  ihn  anzu- 
erkennen, als  den  Herrn  von  dieser  Welt,  in  dessen  Gewalt  sie 
gegeben  war,  dessen  Geist  und  Ziele  ihr  fremd  waren  und  unter 
Umständen  feindlich  werden  konnten.  Und  dabei  kaum  eine  der 
Klammern,  welche  sie  an  ihre  universale  jMission  band,  gelockert, 
weder  Dogma  noch  Zölibat  noch  Sittenzucht,  vielmehr  alles  noch 
uniformer  gestaltet  und  im  Geiste  der  Trientiner  Reform  fester 
geschmiedet.  Es  ist  der  Geist  von  heute,  der  Ultramontanismus, 
den  die  Revolution  recht  geflissentlich  eingeimpft  hat,  und  alles, 
was  nach  Gallikanismus  und  nationalgerichteter  Religiosität 
schmeckte  —  auch  der  Jansenismus,  der  damit  platt  zu  Boden  fiel 
—  ist   seitdem   in   ihr   ausgetilgt. 

So  schroff  die  neue  Konstitution  der  alten  Verfassung  ent- 
gegentrat, ebenso  nahe  kam  sie  der  Napoleonischen.  In  dieser 
sehen  wir  die  Zahl  der  Sprengel  noch  karger  bemessen,  auf  50 
Episkopate  und  10  IMetropolitansitze.  Auch  war  die  Gewalt  der 
Bischöfe  über  ihre  Cures  größer,  die  sie  einsetzen  konnten,  ohne 
ihr  Konseil  zu  fragen;  sie  waren  aber  dafür  an  die  Zustimmung 
des  ersten  Konsuls  gebunden.  Es  stand  in  ihrem  Belieben,  sich 
mit  einem  Kapitel  zu  umgeben  und  ein  Seminar  zu  gründen 
oder  selbstherrlich  ihre  Diözese  zu  regieren,  wie  ein  Präfekt  sein 
Departement ;  aber  der  Regierung  waren  sie  durch  den  alten  Königs- 
eid und  eine  Reihe  anderer  Bestimmungen  eng  verpflichtet;  auch 
die  Errichtung  der  Kapitel  war  an  deren  Erlaubnis  geknüpft 
worden.  Sehr  geringfügig  waren  die  Unterschiede  beider  Ver- 
fassungen in  Hinsicht  der  Besoldungen,  während  ihr  Abstand 
gegen  die  alte  Kirche  darin  so  groß  war  wie  in  allem  andern.  Das 
wesentlichste  war  dabei  wohl  die  Teilung  der  Cures  in  zwei  Klassen 
zu  1500  und  1000  Fr.,  welche  Napoleon  festsetzte,  gegen  den 
Einheitssatz  der  Zivilkonstitution,  der,  dem  Prinzip  der  Gleich- 
heit mehr  entsprechend,  auf  1200  Fr.  normiert  war.  Aber  beide 
Gesetze  offenbarten  ihre  demokratische  Natur  in  der  Erhöhung 
der  Pfarrgehälter  und  i]i  der  Beschneidung  der  hohen  Pfründen, 


284  Kleine  historische  Schriften. 

worin  Bonaparte  noch  weit  über  die  Zivilkonstitution  hinaus- 
ging. Lehre  und  Zucht  waren  in  seiner  Verfassung  ganz  so  römisch 
geartet  wie  in  dem  Werk  der  Konstituante;  kein  Ausbiegen  von 
dem  vorgeschriebenen  Wege  war  fernerhin  möghch. 

Eine  wesentliche  Differenz  beider  Gesetze  begründen  nur  zwei 
Punkte.  Einmal  die  Nomination  zu  den  Ämtern,  welche  nach 
der  Konstitution  von  1790  durch  Volkswahl  erfolgte.  Und  hierauf 
haben  sich  die  Angriffe  ihrer  Gegner  von  jeher  mit  Vorliebe  ge- 
richtet. Zumal  Taine  kann  sich  nicht  genugtun  in  dem  Spott 
über  den  Nonsens  eines  Gesetzes,  \\'elches  die  Kirche  in  die  Gewalt 
von  Protestanten,  Juden  und  Mohammedanern  gegeben  habe. 
Er  wiederholt  damit  nur  ein  Argument,  das  man  schon  in  den 
Reden  ]\Iaurys  und  in  den  Hirtenbriefen  und  Pastoralinstruktionen 
der  rebellischen  Bischöfe  findet,  nur  daß  diese  es  mit  sehr  viel 
gründlicherer  Kenntnis  und  Distinktion  der  kanonischen  Rechts- 
sätze anwenden.  Auch  die  Beschuldigung,  daß  die  Revolutionäre 
presbyterianische  Prinzipien  in  die  katholische  Kirche  hinein- 
getragen hätten,  welche  Taine  und  Sorel,  um  von  andern  zu 
schweigen,  in  gänzlicher  Verkennung  des  Gemeindeprinzips  der  refor- 
mierten Kirche  erheben,  stammt  aus  dieser  Schule.  Nun  kann 
man  zugeben,  daß  an  der  Wahl  zum  Pfarramt  und  Episkopat 
grundsätzlich  Ketzer  und  Ungläubige  teilnehmen  konnten,  und 
die  Entwicklung  der  Revolution  mag  manchen  von  diesen  dahin 
gebracht  haben,  sein  Wahlrecht  auszuüben.  Mohammedaner  freilich 
wird  man  schwerlich  unter  den  französischen  Wählern  ausfindig 
machen.  Auch  Juden  gibt  und  gab  es  in  Frankreich  wenig  genug; 
und  dafür,  daß  die  Gefahr  von  Seiten  der  Protestanten  nicht  groß 
war,  hatten  die  Franzosen  selbst  in  früheren  Zeiten  gesorgt.  Unter 
normalen  Verhältnissen  wäre  es  aber  sicherlich  keinem  Huge- 
notten eingefallen,  sich  an  den  katholischen  \^^ahlen  zu  beteiligen. 
Denn  wie  die  zu  unseren  evangelischen  Synoden  waren  sie  mit 
festen  kultlichen  Schranken  umgeben  und  offenbar  nur  auf  katho- 
hsche  Wähler  berechnet.  Sie  erfolgten  des  Sonntags  in  den  Kirchen 
(die  des  Bischofs  in  seiner  Kathedrale)  nach  dem  Hochamt,  an 
dem  jeder  Wähler  teilzunehmen  verpflichtet  war;  auch  die  Pro- 
klamation des  Gewählten  ward  vor  einer  feierlichen  Messe  in  Ge- 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  285 

genwart  von  Volk  und  Klerus  vollzogen.  An  und  für  sich  —  d.  h. 
wenn  man  von  dem  Anspruch  der  Kirche,  bei  solchen  Verfassungs- 
änderungen mitzusprechen,  absehen  will  —  verstieß  die  neue  Form 
der  Nomination  gewiß  nicht  gegen  das  klerikale  Prinzip.  Es  war 
die  Verfassung  der  ältesten  Zeit;  und  noch  im  ii.  Jahrhundert 
hatten  die  Gregorianer  den  Kampf  gegen  die  Einsetzung  der 
Bischöfe  durch  den  König  unter  dem  populären  Schlachtruf  »Clerus 
et  populus«  begonnen.  Und  daß  die  weltliche  Macht  die  Bischöfe 
ernannte  —  denn  um  nichts  weiter  handelte  es  sich,  nicht  um  die 
Institution,  die  Übertragung  der  geistlichen  Funktionen  • — ■  war 
das  Altherkömmliche  in  Frankreich,  seit  1516,  seitdem  Franz  I. 
jenes  Konkordat  mit  Papst  Leo  X.  geschlossen  hatte,  das  die 
Bischöfe  seines  Landes  in  seine  Hände  gab.  Nur  daß  bisher  von 
der  Krone  ausgeübt  war,  was  jetzt  die  Electeurs  beanspruchten. 
Der  Souverän  hatte  gewechselt:  nicht  mehr  der  König  war  es, 
sondern  das  Volk.  Ganz  so  wie  bei  der  Administration  und  der 
Justiz:  viel  weniger  gegen  Rom  wandte  sich  die  neue  Kirchen- 
verfassung als  gegen  die  Krone.  Der  erste  Konsul  aber  kündigte 
die  Herstellung  der  Monarchie  vor  allem  darin  an,  daß  er  zu  der 
alten    Ordnung    zurückkehrte. 

Einen  fundamentalen,  in  das  Wesen  des  Katholizismus  ein- 
schneidenden Unterschied  beider  Verfassungen  können  wir  also 
auch  hierin  nicht  erblicken.  Denn  daß  der  Staat  sein  Verhältnis 
zum  Klerus  ordnete,  so  wie  es  ihm  bequem  war,  ohne  sich  viel 
um  die  Kurie  und  den  Willen  seiner  Bischöfe  zu  kümmern,  war 
nichts  Neues,  und  wie  wir  sahen,  gerade  in  der  letzten  Zeit  von 
der  alten  Monarchie  häufiger  als  je  geübt  worden.  Manchmal 
war  sie  damit  gescheitert,  oft  aber  hatte  sie  auch  ihren  Willen 
durchgedrückt.  Das  Entscheidende  war  immer  nur  die  Macht 
gewesen;  gemurrt  hatte  die  Kirche  immer,  jedoch,  wo  sie  nicht 
anders  konnte,  am  Ende  nachgegeben  oder  nachträglich  bestätigt. 
Konnten  sich  doch  die  Revolutionäre  gar  auf  einen  Spruch  des 
Pariser  Parlamentes  berufen,  der  einem  Juden  das  Patronats- 
recht  über  eine  katholische  Pfründe  bestätigt  hatte !  Ihr  Versuch, 
das  Emennungsrecht  zu  den  kirchlichen  Stellen  in  die  Hände 
der  Wähler  zu  bringen,  war  nichts  weiter  als  ein  neuer  Schritt  auf 


29,0  Kleine  historische   Schriften. 

dem  \\'ege,  der  sich  für  die  Krone  seit  Jahrzehnten  gangbar 
erwiesen  hatte  —  freihch  ein  solcher,  der  alles,  was  diese  gewagt 
hatte,  hinter  sich  ließ.  Es  fragte  sich  also,  ob  die  Revolution  die 
Macht,  ihn  bis  zu  Ende  zu  gehen,  haben  würde. 

Eine  grundsätzliche  \'erschiedenheit  gegenüber  dem  Kon- 
kordat zeigt  die  Zivilkonstitution  nur  in  einem  Punkt,  in  der 
Institution  der  Bischöfe  durch  den  Metropolitan  und  des  Metro- 
politans  durch»den  nächstältesten  Bischof  in  seinem  Bezirk.  Napo- 
leon überließ  diese  dem  Papst.  Eifersüchtig  hielt  er  die  Rechte, 
welche  die  alte  nationale  Kirche  Rom  gegenüber  erworben  hatte, 
fest  und  suchte  seinen  Klerus  an  seine  Gewalt  zu  fesseln  —  aber 
das  Band  mit  Rom  hat  er  doch  von  neuem  geknüpft. 

Die  Revolution  dagegen  wagte  es,  die  Kette  des  geistlichen 
Amtes,  welche  die  französische  Kirche  mit  dem  Zentrum  der 
katholischen  Hierarchie  umschlang  und  vereinte,  zu  zerreißen. 
Auf  das  ängstlichste  suchte  auch  sie  den  römisch-katholischen 
Charakter  festzuhalten,  also  daß  es  die  erste  Pflicht  des  Gewählten 
war,  dem  Papst  seinen  römischen  Glauben  zu  bekennen  —  aber 
in  die  Konfirmation  sollte  der  Träger  der  Tiara  so  wenig  hinein- 
reden wie  in  die  Nomination  der  König. 

Denn  auch  das  hätte  dem  Begriff  der  souveränen  Nation  wider- 
sprochen, der  in  der  Assemblee  nationale  verkörpert  war.  Es 
war  der  Grundgedanke  der  Revolution,  das  neue  Recht,  das  im 
Juni  1789  und  durch  den  Bastillesturm  erobert  war.  Auf  dieser 
Basis  hatte  sich  die  Vereinigung  mit  dem  Klerus  vollzogen;  kein 
anderer  Rechtstitel,  wenn  es  einer  war,  stand  der  Revolution  zu 
Gebote.  Alles  hing  davon  ab:  die  Beschlüsse  vom  August  1789 
wie  die  Aufhebung  der  Annaten  und  der  paar  Vorrechte,  welche 
die  alte  Kirche  Rom  noch  gelassen  hatte,  die  Ablösung  der  Zehnten 
und  der  Sportein,  dann  die  Säkularisation  der  Kirchengüter, 
die  Vernichtung  der  Klöster  und  —  was  aus  alledem  mit  Not- 
wendigkeit folgte  —  die  Neueinteilung  der  Diözesen  und  die  ein- 
heitliche Regelung  der  Verwaltung  und  Besoldung,  das  will  sagen, 
die  zivile  Konstitution.  Torheit  ist  es,  immer  nur  von  den  Vol- 
tairianern,  Legisten  und  Jansenisten  zu  sprechen,  die  in  der  Kon- 
stituierenden    Nationalversammlung    das    große     Wort    geführt 


Die  französische   Revolution  und   die  Kirche.  287 

haben  sollen:  sie  hätten  es  Rom  versetzen  wollen,  die  »Infame« 
ausrotten,  die  Ideen  des  Jahrhunderts  im  Sturm  verwirklichen, 
die  Kirche  des  Deismus  oder  gar  einer  gottlosen  Vernunft  gründen 
woUen.  Man  braucht  darum  noch  nicht  zu  leugnen,  daß  manch 
einer  in  der  Versammlung  mit  Vergnügen  seinen  Voltaire  und 
Diderot  gelesen  haben  wird,  unter  den  Prälaten  und  Kavalieren 
gewiß  so  gut,  vielleicht  noch  lieber,  als  unter  den  Advokaten  vom 
dritten  Stande:  auch  heute  pflegen  die  Politiker,  welche  mit  Rom 
die  Konkordate  schließen,  nicht  lauter  Kopfhänger  und  Kirch- 
gänger zu  sein,  noch  die  Kurie  sonderlich  nach  ihrem  Glaubens- 
bekenntnis zu  fragen.  Aber  in  den  Debatten  der  Nationalver- 
sammlung war  der  Ton  des  Candide  und  des  Mikromegas  nicht 
gebräuchlich.  Zugegeben  auch,  daß  ein  Mann  wie  Mirabeau  (um- 
gekehrt, als  man  es  bei  uns  zu  erzählen  pflegt)  zu  einer  radikaleren 
Politik  hinneigte ;  er  zog  aus  dem  Prinzip  der  nationalen  Souverä- 
nität, in  dem  seine  Seele  lebte  und  all  sein  Tun  verständlich  wird, 
mit  der  wundervollen  Kraft  seiner  Logik  gern  die  letzten  Kon- 
sequenzen und  hat  in  seinen  Briefen  und  Denkschriften  oft  genug 
über  den  »Aberglauben  von  i8  Jahrhunderten«  und  die  »Bar- 
barei des  Zölibats«  geeifert.  Aber  auf  der  Tribüne  holte  er  solche 
Argumente  selten  hervor  und  verschmähte  es  nicht,  sogar  mit 
Waffen  aus  den  kanonischen  Rüstkammern  zu  fechten;  wobei 
er  freilich  Fiasko  zu  machen  pflegte,  auch  wenn  ihm  seine  Reden 
geistliche  Freunde  ausgearbeitet  hatten.  Wenn  wirklich  im  Sommer 
1790  der  Gedanke  an  die  Aufhebung  des  Zölibats  und  die  Änderung 
der  Ehegesetze  laut  werden  konnte,  so  waren  das  doch  zunächst 
nur  zornige  Schreckschüsse  und  Kampfmittel  gegen  den  wach- 
senden Widerstand  der  noch  immer  unterschätzten  Gegner.  Die 
Männer  aber,  welche  den  maßgebenden  Einfluß  in  der  Kirchen- 
frage hatten,  waren  keineswegs  Gesinnungsgenossen  des  großen 
Tribunen;  auch  Robespierre  nicht,  dessen  Name  unter  der  Zivil- 
konstitution steht.  Wer  konnte  abstrakter  denken  als  der  Abbe 
Sieyes,  wer  hatte  die  Idee  der  Nationalsouveränität  schärfer  ent- 
wickelt und  mehr  zu  ihrem  Siege  beigetragen  ?  Dennoch  trat  er 
im  August  in  der  Zehntenfrage,  und  so  auch  im  Oktober,  als  Talley- 
rands    entscheidender    Antrag    über    das    Kirchengut    debattiert 


2g^  Kleine  historische  Schriften. 

wurde,  gegen  IMirabeau  und  die  Mehrheit  der  Versammlung  für 
seine  Korporation  und  ihre  Güter  in  die  Schranken.  Niemand  ist 
von  den  Partisans  der  alten  Kirche  mit  größerer  Erbitterung  an- 
gegriffen worden  als  Camus,  der  Jansenist,  der  »Vater«  der  Zivil- 
konstitution, wie  er  genannt  wird;  und  es  ist  wahr,  er  hat  sich 
aufs  eifrigste  bemüht,  den  römisch-katholischen  Charakter  der 
neuen  Verfassung  mit  kanonischen  Argumenten  von  der  Tribüne 
her  wie  in  Zeitungen  und  Flugschriften  zu  beweisen.  Aber  im 
Oktober  1789  stellte  er  sich  zu  dem  Antrage  Talleyrands  gerade 
so  wie  Sieyes.  Neben  ihm  hat  man  vielfach  Gregoire  als  den  Schöpfer 
der  Konstitution  bezeichnet,  den  frommen  Pfarrer  von  Ember- 
mesnil,  dessen  Appell  an  seine  Amtsbrüder  am  10.  Juni  den  Anstoß 
gab  zu  ihrer  Vereinigung  mit  dem  dritten  Stande,  und  der  dann 
in  der  Tat  der  rechte  Typus  eines  konstitutionellen  Bischofs  ge- 
worden ist ;  zu  keiner  Zeit  ward  er  seinen  Prinzipien  untreu,  den 
Blutgerichten  Heberts  und  Robespierres  hat  er  ebenso  uner- 
schrocken standgehalten  wie  dem  Zorn  Napoleons.  Aber  bei  der 
Beratung  der  Verfassung  hielt  er  sich  ganz  im  Hintergrunde.  Er 
gehörte  nicht  zu  dem  Komitee,  das  sie  vorbereitete.  Niemals  hat 
er  in  der  Generaldiskussion  die  Rednerbühne  betreten.  Und  wenn 
er  in  den  Verhandlungen  einmal  das  Wort  ergriff,  geschah  es,  um 
zu  mäßigen.  So  forderte  er  unter  anderm  den  Ausschluß  der 
Akatholiken  bei  den  Wahlen,  plädierte  für  die  Ausstattung  der 
Pfarreien  mit  liegenden  Gütern  und  brach  für  die  bedrohten  Orden, 
auch  für  die  Jesuiten,  eine  Lanze.  Man  sieht,  wie  auch  die  radi- 
kaleren Köpfe  nur  allmählich  die  Konsequenzen  ihres  ersten 
Schrittes  und  nur  halb  freiwillig  zogen.  Zu  leicht  vergißt  man  die 
Menge  der  geistlichen  Herren,  die  in  den  Generalständen  ein  volles 
Viertel  ausmachten  und  zur  Nationalversammlung  meist  mit 
hinüber  kamen,  200  Cures  und  an  100  Prälaten;  an  den  August- 
beschlüssen nahmen  sie  gerade  so  teil  wie  die  andern;  sie  waren 
von  dem  allgemeinen  Taumel  ergriffen.  Prüfen  wir  das  kirch- 
liche Komitee,  das  am  28.  August  eingesetzt  wurde  und  aus  dessen 
Schoß  die  Zivilkonstitution  hervorging,  so  finden  wir  unter  seinen 
15  Mitgliedern  mehrere  von  der  Rechten,  darunter  zwei  Bischöfe, 
Clermont  und  Lu9on,  drei  Cures,  den  Prinzen  von  Robecq  und 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  289 

andere,  neben  angesehenen  Kanonisten,  wie  Durand  de  Maillane, 
der  die  Geschichte  des  Ausschusses  geschrieben  hat.  Janseni- 
stische Neigungen  mochte  dieser  und  jener  haben,  aber  alle  waren, 
wie  die  Gegner  selbst  zugeben,  Männer  von  Überzeugung  und 
sittlichem  Ernst;  als  Voltairianer  dürfte  man  kaum  einen  be- 
zeichnen, auch  Treilhard  nicht,  mag  dieser  sich  auch  später  radi- 
kaler entwickelt  haben.  Als  sich  das  Komitee  infolge  des  Be- 
richtes Treilhards  über  die  Aufhebung  der  Orden  spaltete,  ward 
es  von  der  Versammlung  verdoppelt,  um  die  Majorität  für  die 
Konstitution  zu  sichern,  ohne  doch  die  Gegner  hinaus  zu  drängen, 
und  als  diese  hierauf  ihren  Austritt  anboten,  nahm  man  ihn  nicht  an. 
Auch  unter  den  Neugewählten  waren  noch  Apologeten  der  alten 
Ordnung,  wie  der  geistreich  beredte  Abbe  de  Montesquiou,  und 
jedenfalls  durchweg  Männer  von  Charakter  und  innerem  Anteil 
an  den  kirchlichen  Fragen,  so  der  grundkatholische  Karthäuser 
Dom  Gerle,  der  als  Staatsmann  und  Theoretiker  gleich  bedeu- 
tende, stets  gemäßigte  Dupont  de  Nemours  und  die  späteren 
Bischöfe  Massieu,  Expilly  und  Thibaut,  denen  auch  die  Gegner 
den  Ruf  geistlichen  Wandels  nicht  absprechen  können.  In  den 
Oktoberdebatten  ward  Camus  bei  seinem  Auftreten  für  die  Kirchen- 
güter von  mehr  als  einem  Gesinnungsgenossen  unterstützt  und 
später  haben  wieder  Jansenisten  neben  den  Römischgesinnten  die 
Zivilkonstitution     literarisch     bekämpft. 

Wer  konnte  aber  gegen  das  Argument  ankommen,  womit 
Chapelier  die  Säkularisation  verteidigte:  daß  die  Überlassung  der 
Güter  und  ihrer  Verwaltung  an  den  Klerus  nichts  anderes  heißen 
würde,  als  ihm  den  Charakter  der  Korporation,  eines  Staates 
im  Staate  reservieren?  Sollte  wirklich  im  Neubau  des  Reiches 
für  die  Kirche  eine  Ausnahme  gemacht  werden?  Oder  sollte  man 
etwa  versuchen,  mit  der  höchsten  Autorität  einen  Pakt  zu 
schließen,  den  Papst  auf  die  Seite  der  Revolution  hinüberzuziehen  ? 
So  rief  es  der  Abbe  Älaury  der  Majorität  höhnend  entgegen: 
»Wartet  doch  die  Antwort  des  Papstes  ab!«  Aber  Heß  man  sich 
in  Unterhandlungen  mit  dem  heiligen  Stuhl  ein,  so  räumte  man  ihm 
damit  das  Recht  ein,  zu  diskutieren,  Kritik  an  allen  bisherigen 
Beschlüssen  zu  üben  und  Bedingungen  zu  stellen;  nur  durch  einen 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  ^9 


290  Kleine  historische  Schriften. 

Kompromiß  war  von  dieser  Seite  Hülfe  zu  erwarten.  Das  aber 
hieß  das  Prinzip  durchbrechen,  auf  dem  die  Nationalversammlung 
ruhte,  das  neue  Recht,  mit  dem  alle  Beschlüsse  seit  dem  4.  August 
begründet  waren.  Und  wie  hätte  man  erwarten  können,  durch 
Hülfe  der  Kurie  den  Widerstand  des  eigenen  KJerus  zu  brechen, 
ohne  nach  beiden  Seiten  hin  die  höchsten  Preise  zu  zahlen!  Wenn 
Pius  nun  aber  Kritik  ausübte  und  seinen  Preis  forderte,  etwa 
die  Annaten  oder  die  Zehnten  für  die  französischen  Prälaten, 
oder  die  Erhaltung  der  Mönchsorden  oder  gar  die  der  Kirchen- 
güter —  was  dann  ?  Wohl  hatte  man  ein  Pfandobjekt  in  der  Nähe, 
Avignon,  und  wiederholte  mit  der  Einziehung  dieses  Gebietes 
nur,  was  das  alte  Königtum  seit  Philipps  des  Schönen  Tagen 
mehrfach  und  nicht  ohne  Wirkung  versucht  hatte.  Jedoch  selbst 
diese  Maßregel  wäre  kaum  rückgängig  zu  machen  gewesen,  da 
auch  dort  die  Revolution  sofort  gewaltig  eingesetzt  und  die  alte 
Ordnung  umgestürzt  hatte,  unter  dem  Jubel  und  der  eifrigen 
Hülfe  aller  radikalen  Dränger.  So  wenig  wie  es  mit  den  Rechten 
und  Besitztiteln  der  deutschen  Fürsten  im  Elsaß  denkbar  ge- 
wesen wäre,  deren  Einziehung  ein  Keim  der  Revolutionskriege 
geworden  ist,  trotz  des  zweifellos  guten  Willens  der  Nationalver- 
sammlung und  des  Ministeriums,  die  Sache  friedhch  und  durch 
reiche  Geldzahlungen  zu  schlichten.  Der  Ursprung  und  Kern  der 
Revolution  lag  aber  in  der  Unmöghchkeit,  den  Staat  weiter  zu 
regieren,  in  der  Notwendigkeit,  durch  eine  Neuverteilung  der 
öffenthchen  Lasten  und  Institutionen  Geld  herbeizuschaffen. 
Deshalb  hatte  der  König  den  dritten  Stand  zu  Hülfe  gerufen  gegen 
die  Privilegierten,  die  sich  ihm  für  jede  Reform  versagt  hatten. 
Der  Staat  war  bankerott,  und  in  der  Umwälzung  der  Kirche,  der 
Einziehung  ihrer  Güter  winkte  einzig  die  Rettung. 

Und  vor  allem  —  Papst  und  Nationalversammlung  standen 
sich  nicht  allein  gegenüber.  In  seiner  nächsten  Umgebung,  unter 
den  Kurialen  und  Kardinälen,  die  sich  durch  die  Augustbeschlüsse 
selbst  geschädigt  sahen  und  unter  der  geistlichen  Aristokratie 
Frankreichs  viele  Freunde  hatten,  fand  Pius  VI.  eine  Partei,  die 
ihn  zum  Widerstände  und  zur  strengen  Behauptung  seiner  Stellung 
antrieb.    Der  Vertreter  der  französischen  Krone,  Kardinal  Bemis, 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  291 

unstreitig  »der  zweite  Mann  in  Rom«,  wie  er  selbst  mit  persön- 
lichem und  nationalem  Selbstgefühl  schreibt,  und  seit  Jahrzehnten 
auf  dem  römischen  Boden  heimisch,  war  durch  seine  Gesinnung, 
seine  kirchliche  und  politische  Laufbahn  und  seine  Verbindung 
mit  dem  hohen  Adel  der  Heimat  ein  Verfechter  der  alten  Kron- 
gewalt und  wenig  geeignet,  im  Sinne  der  Majorität  vermittelnd  zu 
\\drken.  Noch  schwieriger  aber  mußte  es  für  Plus  sein,  die  fran- 
zösische Prälatur  für  die  Unterwerfung  unter  die  neue  Ordnung 
zu  gewinnen.  Denn  wir  wissen,  wie  sehr  die  Bischöfe  mit  dem 
Adel,  den  Emigranten  und  denen,  die  noch  in  Frankreich  zurück- 
gebheben, verwachsen,  ja  identisch  waren.  Auch  waren  sie  der 
Sympathien  der  fremden  Höfe  und  der  vornehmen  europäischen 
Gesellschaft  sicher,  wo  auch  die  liberalen  Kreise,  die  Monarchen 
und  Minister  selbst,  während  sie  zum  Teil  noch  mitten  in  analogen 
Reformen  begriffen  waren,  stutzig  wurden  über  diese  unvermutete 
Wendung  der  freisinnigen  Ideen.  Und  nicht  minder  mußten  die 
unteren  Chargen  der  französischen  Geisthchkeit  in  ihrer  Haltung 
unsicher  werden,  als  die  Revolution  sich  zu  allererst  gegen  ihre 
Vorgesetzten  richtete,  in  deren  Gehorsam  und  Verehrung  sie 
aufgewachsen  waren,  und  unter  ihnen  selbst  Tausende  zur  Selbst- 
entäußerung zwang.  Sie  hatten,  getragen  von  der  öffentlichen 
Meinung,  der  großen  Bewegung  zugejubelt:  jetzt  sahen  sie  sich 
häufig  von  ihren  Gläubigen  selbst  verlassen  und  den  Bischöfen 
und  Edelleuten  wieder  zugedrängt;  denn  die  patriarchalische 
Herrschaft  war  schließlich  den  Bauern  doch  noch  vertrauter  und 
Heber  als  die  der  Reformer,  in  deren  Gefolge  statt  der  erträumten 
Segnungen  Verwirrung,  Ohnmacht,  Haß  und  Elend  in  allen  Pro- 
vinzen um  sich  griffen.  Der  Widerstand,  den  überall  die  hohen 
Prälaten  organisierten,  setzte  da  und  dort  schon  im  Soixuner  1789, 
in  den  Wochen  der  ersten  Emigration  an;  im  Herbst  war  er  tief 
eingewurzelt^);  und  im  Jahr  darauf  gab  es  für  die  Revolution 
keinen  Ausweg  mehr:  sie  mußte  nachgeben  oder  unterdrücken. 
Und  in  diesen  Bedrängnissen  hätte  der  Vater  der  Gläubigen 
den  Revolutionären  zu  Hülfe  eilen  und  die  abgewichenen  Kinder 

*)  Wer  die  Beweise  suchen  will,  findet  eine  reiche  Fülle  in  dem  Ur- 
kundenwerke von  Chassin,   »La  pr6paration  de  la  Guerre  de  Vendee«. 

19* 


292  Kleine  historische  Schriften. 

in  ihren  Werken  der  Zerstörung  noch  unterstützen  sollen?  Schon 
wankten  allerorten  die  romfeindlichen  Reformen  in  den  katho- 
hschen  Staaten.  Mit  Genugtuung  bemerkte  der  Papst,  wie  in  dem 
Nachbarlande  Frankreichs,  in  den  belgischen  Provinzen,  die 
klerikale  Rebellion  gegen  Kaiser  Joseph,  der  ihm  fast  das  Schwerste 
angetan  hatte,  ihr  Haupt  erhob,  und  wie  auch  in  Ungarn  dem 
ungläubigen  Bruder  ^larie  Antoinettes  tausend  Verlegenheiten 
erwuchsen.  Würde  er  nicht  selbst  dieser  willkommenen  Wendung 
entgegengewirkt  haben,  wenn  er  die  neue  und  radikalste  Reform 
geduldet  hätte  ?  Er  sah  die  Tage  der  Vergeltung  über  seine  Feinde 
herankommen;  die  Zeiten  des  Nachgebens  waren  vorüber.  In 
Rom  jedoch  pflegt  man  nicht  sich  zu  überstürzen  und  rasch  Partei 
zu  ergreifen.  Und  Pius  VI.,  durch  lange  Erfahrungen  gewitzigt, 
mild  gesinnt  und  ängsthch  wie  er  war,  zögerte  noch  länger  als 
leidenschaftlichere  Vorgänger  auf  dem  Stuhl  Petri  wohl  getan 
hätten.  Erst  am  29.  März  1790,  wenige  ^^'ochen  nachdem  Joseph  II. 
unter  dem  Scheitern  aller  seiner  hochfliegenden  Entwürfe  dahin- 
gegangen war,  und  gewiß  nicht  ohne  die  Einwirkung  dieser  Kata- 
strophe, wagte  der  Papst  in  einet  Allokution  an  die  Kardinäle 
Worte  der  Klage  und  des  Tadels  über  die  kirchliche  Verwirrung 
in  Frankreich  und  die  Verletzung  der  pontifikalen  Rechte.  Noch 
entschuldigte  er  es  fast  unter  vielen  Lamentationen  und  Schrift- 
zitaten, daß  er  sein  langes  Schweigen  breche:  aber  er  fürchte  den 
Zorn  des  Höchsten.  Er  erinnerte  an  das  Wort  des  Propheten: 
Vae  mihi  quod  tacui!  Damals  gelang  es  Bernis,  der  hierin  den 
\^^eisungen  seiner  Regierung,  d.  h.  Montmorins  und  seiner  Hinter- 
männer in  der  Nationalversammlung,  folgen  mußte,  die  \'eröffent- 
lichung  zu  verhindern ;  und  erst  ein  volles  Jahr  später,  lange  nach- 
dem sich  die  klerikale  Partei  in  Frankreich  zusammengeschlossen 
und  das  päpstliche  Losungswort  herbeigesehnt  und  erbeten  hatte, 
erschienen    die    entscheidenden    Breven. 

Es  war  in  denselben  Tagen,  auf  welche  ursprünglich  die  Flucht 
der  französischen  Königsfamilie  an  die  Grenze  festgesetzt  war, 
die  den  Bruch  der  Krone  mit  der  Revolution  herbeiführen  sollte. 
Und  damit  treffen  wir  auf  den  Angelpunkt,  um  den  sich  die  Ent- 
wicklung, wie  der  Revolution  überhaupt,  so  auch  der  kirchlichen 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  293 

Frage  dreht,  die  Feindseligkeit  der  Tuilerien  gegen  das  Werk, 
das  die  Mirabeau  und  Lafayette  begonnen  hatten.  Wir  wissen 
heute,  daß  Ludwig  XVI.  und  seine  GemahHn  in  keinem  Moment 
den  ernsten  Willen  gehabt  haben,  mit  der  Nationalversammlung 
zu  paktieren,  daß  auch  der  Eid  des  Königs  auf  die  Verfassung, 
in  dem  sogar  noch  Ranke  einen  Versuch,  mit  der  Revolution  zu 
gehen,  erbhcken  möchte,  nichts  war  als  eine  neue  Maske  in  dem 
Spiel  der  Verstellung  und  ^"erschwörung,  zu  dem  die  gekrönten 
Gefangenen  gegriffen  hatten,  und  in  dem  ihnen  jede  Rolle  recht 
sein  mußte.  Über  die  Konzessionen  vom  23.  Juni  1789,  die  auf 
die  Erhaltung  der  drei  Stände  gerichtet  waren  und  die  Revo- 
lution erst  entfesselt  hatten,  wären  sie  niemals  hinausgegangen. 
Dies  war  ungefähr  das  Programm,  an  dem  sie  noch  festhielten, 
als  sie  den  Fluchtversuch  machten ;  aber  ob  sie  es  mit  den  Ständen 
oder  den  Parlamenten  oder  irgendeiner  andern  \^ertretung  der 
Nation  oder  gar  aus  eigener  Autorität  durchführen  sollten,  wußten 
sie  damals  nicht;  und  jedenfalls  woUten  sie  zunächst  nichts  als  die 
Macht,  die  voUe  diskretionäre  Gewalt  über  den  Staat,  wenn  es 
sein  mußte,  mit  der  Hilfe  des  Auslandes,  wieder  erringen,  und  die 
Verhaßten,  in  deren  Gewalt  sie  waren,  der  Rache  überliefern.  Sie 
rechneten  auf  die  öffentliche  Meinung,  die,  wie  sie  alles  zerstört 
habe,  so  auch  alles  wieder  herstellen  könne,  auf  die  Schwäche 
und  den  Zwiespalt  ihrer  Feinde,  die  wachsende  Anarchie,  die 
Hülfe  ihrer  Verwandten,  schheßHch  gar  auf  den  Eroberungskrieg 
der  fremden  Höfe  und  nicht  am  wenigsten  von  Anfang  an  auf  den 
Klerikahsmus  und  alle  seine  Helfer  diesseits  und  jenseits  der  Alpen. 
Und  wer  hätte  damals  die  vulkanischen  Kräfte  ahnen  können, 
die  in  dem  stürmischen  Wogen  der  in  ihren  Tiefen  bewegten  Nation 
lebten  und  zum  Ausbruch  drängten  ? 

Die  Revolutionäre  selbst  waren  von  der  Schwäche  ihrer  Posi- 
tion fast  ebenso  überzeugt  wie  die  fremden  Kabinette  und  die 
Tuilerien.  Daher  auch  die  Versuche,  die  von  den  Führern  der 
Nationalversammlung  gleich  nach  der  Publikation  des  Gesetzes 
gemacht  wurden,  dem  Papst  heimhch  die  Hand  zu  reichen,  die 
man  ihm  offen  nicht  geben  konnte,  um  noch  nachträglich  seine 
Billigung  zu  erlangen,  und  die  oft  wiederholten  Proteste  gerade 


294  Kleine  historische  Schriften. 

der  Kleriker  in  der  Versammlung,  daß  man  an  nichts  weniger 
denke  als  an  das  Schisma.  Damals  hat  Bischof  Gobel,  der  als 
Bischof  von  Paris  Märtyrer  der  konstitutionellen  Kirche  in  dem 
großen  Schreckens] ahre  werden  sollte,  den  Schlußsatz  in  die 
Konstitution  gebracht,  der  dem  König  die  Sicherung  und  Durch- 
führung ihrer  Dekrete,  d.  h.  eben  die  Verhandlung  mit  der  Kurie 
anempfahl;  und  Gregoire  setzte  es  durch,  daß  in  den  Paragraphen, 
der  den  Einfluß  jeder  fremden  Gewalt  in  der  nationalen  Kirche 
ausschloß,  der  abschwächende  Satz  aufgenommen  wurde:  »Alles 
ohne  Beeinträchtigung  der  Einheit  im  Glauben  und  der  Kom- 
munion, die  mit  dem  Haupt  der  universalen  Kirche  aufrecht  er- 
halten werden  wird.«  Friedfertigkeiten,  die  geradeso  die  Be- 
sorgnis der  Revolutionäre  vor  Rom  verrieten,  wie  die  Gewaltmaß- 
regel gegen  Avignon  und  die  Drohungen  mit  der  Priesterehe. 

Von  hier  aus  muß  die  Dürftigkeit  der  herrschenden  Meinung, 
welche  die  Politik  der  Nationalversammlung  meistern  will,  deutlich 
werden.  Es  liegt  darin  eine  Überhebung,  die  man  durch  Unkenntnis 
entschuldigen  möchte,  wenn  sie  nicht  von  Schriftstellern  ausge- 
sprochen wäre,  deren  Forschung  und  Erzählung  als  klassische 
Muster  gelten.  Neuerdings  hat  man  die  Lösung  des  Rätsels  be- 
sonders gern  in  der  Trennung  von  Staat  und  Kirche  suchen  wollen 
und  es  als  den  »Fehler«  der  Nationalversammlung  bezeichnet, 
daß  sie  im  Jahre  1790  versäumt  habe,  dieselbe  zu  dekretieren. 
So  z.  B.  Albert  Sorel  und  Seche  in  seinem  wertvollen  Buch 
über  die  Entstehung  des  Konkordats,  und  lange  vor  ihnen  schon 
Pressense,  in  dessen  Urteil  sich  hugenottische  und  liberale  For- 
derungen vermischen.  Dies  ist  ein  Gedanke,  der  in  alle  E\vigkeit 
chimärisch  bleiben  wird,  weil  die  Kirche  ihrer  innersten  Natur 
zufolge  danach  dürstet,  auf  die  Zusammenfassung  der  Gesellschaft 
im  Staat,  in  allen  seinen  Gliedern  und  in  dem  Prinzipe  seines 
Daseins  selbst,  einzuwirken;  sie  würde  sich  selbst  aufheben,  wenn 
sie  darauf  verzichten  wollte.  Vollends  unmögHch  war  der  Plan 
im  Jahr  der  Zivilkonstitution,  in  einem  Zeitalter,  da  alle  euro- 
päischen Staaten  noch  eng  mit  ihren  Kirchen  verknüpft  waren 
und  nach  immer  festerem  Zusammenschluß  strebten  —  zumal 
da  die  Kirche  selbst  an  nichts  weniger  dachte   als   sich  aus  der 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  295 

wechselseitigen  Umschlingung  zu  lösen.  So  liberal  die  geistlichen 
Abgeordneten  in  den  Cahiers  zu  den  Generalständen  sich  gaben, 
war  doch  für  alle  die  selbstverständliche  Voraussetzung,  daß  die 
kathoUsche  Kirche  die  des  Staates  bleiben  würde.  Eine  Trennung 
beider  Gewalten  wäre  damals  eine  ungeheuerhche  Vorstellung 
gewesen  und  hätte  eine  Kraft anstrengung  der  Revolution  er- 
fordert, wogegen  die  Einführung  der  Zivilkonstitution  ein  Kinder- 
spiel gewesen  wäre.  Umgekehrt,  die  Klerikalen  waren  entschlossen, 
den  Charakter  ihrer  Kirche  als  der  nationalen,  vom  Staat  allein 
garantierten,  an  ihn  geknüpften  Religion,  koste  es  was  es  wolle, 
aufrecht  zu  erhalten.  Wie  hätten  sie  sich  auch  freiwillig  der  Stütze 
berauben  sollen,  die  sie  gehalten  hatte,  seitdem  es  einen  gallo- 
fränkischen  Staat  gab,  und  die  Waffe  zerbrechen,  welche  Theorie 
und  Praxis  der  Jahrhunderte  auf  jeder  Seite  haarscharf  geschliffen 
hatten!  Und  sie  brauchten  in  den  Beratungen  über  die  Zivil- 
konstitution sie  nur  zu  zeigen,  so  beeilten  sich  ihre  Gegner  schon, 
zu  Kreuze  zu  kriechen.  Als  im  Februar  1790  der  Bischof  von  Nancy 
eine  Erklärung  darüber  verlangte,  daß  der  Katholizismus  die 
Rehgion  des  Staates  sei,  antwortete  Dupont  de  Nemours,  an  das 
Gegenteil  denke  kein  Mensch;  und  Roederer  rief  entrüstet  aus, 
man  beleidige  die  Nationalversammlung,  wenn  man  die  Rehgion 
in  Gefahr  erkläre.  Dom  Gerle  nahm  nur  den  Antrag  des  Bischofs 
wieder  auf,  als  er  in  der  großen  Sitzung  vom  11.  April  noch  ein- 
mal, »um  den  Verleumdern  den  Mund  zu  schheßen  und  die 
Gewssen  derjenigen,  welche  die  Zulassung  aller  Sorten  von 
Religion  in  Frankreich  fürchteten,  zu  beruhigen«,  zu  einem  Dekret 
dieses  Sinnes  aufforderte ;  und  die  Antworten  von  den  Bänken  der 
Linken,  die  Art,  wie  unter  dem  Druck  der  populären  Agitation 
schheßhch  die  Tagesordnung  motiviert  wurde,  zeigten  aufs  neue 
die  ganze  Ratlosigkeit  der  Liberalen  jener  Grundfrage  gegen- 
über. Mitten  in  der  Revolution  und  im  Zentrum  der  Haupt- 
stadt wagte  es  Monsieur  de  Pancemont,  der  Cure  von  St.  Sul- 
pice,  dem  jungen  Spötter  Paul  Desmoulins  seine  Bosheiten  in 
den  »Revolutions  de  Brabant«  heimzuzahlen  und  ihm  die  Einseg- 
nung der  Ehe  zu  verweigern.  Und  der  »Anwalt  der  Laterne«  gab 
klein  bei  und  stellte  eine  Erklärung  aus,  die  er  niemals  zu  halten 


296  Kleine  historische  Schriften. 

gewillt  war;  Pction  und  Robespierre  aber  waren  seine  Zeugen! 
Ströme  von  Blut  haben  vergossen  werden  müssen,  ehe  nur  das 
Zi^'ilstandsregister   durchgesetzt   werden    konnte. 

Im  November  1792,  als  die  Heere  der  Republik  ihre  ersten 
Siege  erfochten,  und  inmitten  der  heißen  Debatten  über  den  Prozeß 
des  Königs  taucht  dann  freilich  der  Gedanke  auf,  den  Klerus 
nicht  mehr  zu  bezahlen  und  alle  Kulte  sich  selbst  zu  überlassen. 
Cambon  brachte  ihn,  zunächst  im  Jakobinerklub,  im  Namen  des 
Finanzausschusses  vor.  Aber  von  allen  Seiten  ward  ihm  Wider- 
stand geleistet.  Bazire  rief  aus:  Bei  einem  abergläubischen  Volke 
sei  ein  Gesetz  gegen  den  Aberglauben  ein  Staatsverbrechen!  Und 
Robespierre  nannte  den  Antrag  schlecht  für  die  Revolution,  poli- 
tisch gefährlich  und  nicht  einmal  finanziell  von  Vorteil;  das  revo- 
lutionäre Dogma  sei  in  der  Religion  selbst  enthalten,  in  der  er- 
habenen und  rührenden  Lehre  von  der  Tugend  und  Gleichheit, 
die  der  Sohn  Marias  seinen  Mitbürgern  gepredigt  habe:  wir  hören 
bereits  die  Anklänge  an  die  Lehre  und  den  Kult,  womit  der  Tyrann 
die  Welt  später  überrascht  hat.  Diesen  Kultus  angreifen,  heiße 
die  Moral  des  Volkes  verletzen.  »Denn,  \\enn  ihnen  die  Priester 
fortgerissen  werden,  so  werden  die  Armen  das  ganze  Gewicht 
ihres  Elends  fühlen,  das  ihnen  alle  Güter,  bis  zur  Hoffnung  selbst, 
zu  rauben  scheinen  wird.  Darauf  kommt  nichts  an,  ob  die  reli- 
giösen Meinungen  des  Volkes  Irrtümer  sind  oder  nicht;  man  muß 
sich  nach  seinem  System  richten^)!«  Das  heißt,  die  Religion  ist 
eine  Hülfskraft  für  den  Regenten  —  genau  die  Politik,  auf  der  die 
Staatsmänner  der  Gegenreformation  ihren  Staat  aufgebaut  haben, 
und  die  Napoleon  mit  dem  Konkordat  von  neuem  zum  Siege  ge- 
führt hat ;  eine  Lehre  also,  mit  der  die  katholische  Kirche  zufrieden 
sein  kann  oder  doch  sich  oft  zufrieden  gegeben  hat,  die  aber  Luther 
und  alle  Reformatoren  verabscheut  haben  würden. 

Ein  Jahr  darauf  hatten  die  Jakobiner  dennoch  mit  der  Kirche 
in  jeder  Form  gebrochen,  und  in  dem  Blutgeruch,  der  von  hundert 
Schlachtfeldern  und  Richtstätten  aufstieg,  verkündigten  sie  nach- 
einander die  beiden  neuen  Religionen,  die  ebensolange  bestanden, 

^)  QuinetI,  184.  Vgl.  Aulard,  »Le  Culte  de  la  Raison  et  le  Culte 
de  l'Etre  supreme«   (1892)  S.  265. 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  297 

als  den  Tyrannen  die  Köpfe  festsaßen,  und  mit  ihnen  in  den  Staub 
stürzten.  Aber  ihren  Staat  wollten  sie  von  ihren  »Prinzipien  der 
allgemeinen  Moral«  oder  von  ihrem  »Höchsten  Wesen«  nicht 
losreißen,  vielmehr  in  ihnen  Hülfe  für  ihre  Politik  suchen  und 
beide  Sphären  nur  um  so  fester  aneinander  knüpfen.  Im  Namen 
des  französischen  Volkes  predigten  die  Kommissäre  des  Kon- 
ventes die  »Prinzipien  des  Republikanismus  und  der  allgemeinen 
Moral«,  und  gegen  niemand  wandte  sich  Robespierre  mit  fana- 
tischerer ^^'ut  als  gegen  die  »Philosophen«,  die  ihm  das  Herz  des 
Volkes,  um  das  er  buhlte,  entrissen. 

Ihren  halben  Kreislauf  mußte  die  Revolution  durchmessen, 
ehe  sie  sich  zu  dem  Grundsatz  der  Neutralität  gegenüber  allen 
Konfessionen  bequemte.  Damals  war  die  erste  Koahtion  zer- 
sprengt, und  mühsam  hielten  sich  Österreichs  Heere  gegen  die 
siegreiche  Republik  aufrecht.  Ringsum  türmte  sich  ein  Wall 
eroberter  Provinzen  oder  engverbündeter  Freundesstaaten,  und 
im  Innern  erhob  sich  eisengepanzert  die  Gewalt  des  neuen  Staates, 
siegreich  über  jeden  Gegner.  Und  was  war  das  Resultat  der  neuen 
Politik  der  Toleranz  ?  Daß  die  konstitutionelle  und  die  roya- 
listische  Kirche  binnen  kurzem  zusammenwuchsen;  wenn  nicht 
die  Heißsporne,  so  doch  die  weniger  Kompromittierten  und  die 
Masse  des  Volkes ;  und  nur  noch  ein  paar  Jahre,  so  war  ganz  Frank- 
reich  mit    Rom   versöhnt    und   vereinigt. 

Im  Sommer  1790  jedoch  die  Trennung  von  Kirche  und  Staat 
aussprechen,  hätte,  wie  die  Dinge  lagen,  nicht  bloß  geheißen,  den 
Grundsatz  verleugnen,  auf  dem  alles  ruhte,  sondern  den  mäch- 
tigsten Komplex  des  feudalen  Staates  bestehen  lassen  in  einem 
Staat,  der  sich  von  Grund  aus  nach  demokratisch-nationalen 
Normen  umschuf.  Viel  mehr  noch:  man  würde  die  Gegner,  die, 
mit  allen  Feinden  und  Rivalen  Frankreichs  verbündet,  nur  auf  den 
Moment  lauerten,  um  dem  neuen  Staat  alle  Glieder  zu  zerbrechen, 
mit  den  stärksten  Waffen  ausgerüstet  haben;  man  hätte  ihnen 
für  einen  Kampf,  in  dem  alle  Welt  sie  schon  als  die  Sieger  erblickte, 
zwei  Milliarden  an  Gütern  und  die  Millionen  an  kirchlichen  Steuern 
ausliefern  müssen,  die  schon  in  den  Abgrund  des  Defizits  geworfen 
waren,  ohne  ihn  schließen  zu  können.   Denn  die  Kritiker  der  revo- 


293  Kleine  historische  Schriften. 

lutionärcn  Politiker  wollen  doch  nicht  etwa  gar  behaupten,  daß 
diese  die  Kirche  erst  hätten  desorganisieren  und  ihrer  Güter  wie 
alles  andern  Einflusses  auf  Staat  und  Gesellschaft  berauben,  dann 
aber  auf  die  Straße  setzen  sollen? 

Der  Sinn  der  Zivilkonstitution  war  aber  gerade,  den  Gegnern 
die  kirchlichen  Waffen  aus  der  Hand  zu  schlagen.  Geradeso  wie 
in  der  Administration,  der  Justiz  und  der  Armee.  Nur  weil  die 
Feindseligkeit  so  brennend  wurde,  brach  man  aus  der  Verfassung 
alle  Bestimmungen  heraus,  welche  die  Macht  der  Krone  und  der 
Privilegierten  stützen  oder  herstellen  konnten.  Anfangs  war  man 
kaum  gewillt,  so  weit  zu  gehen;  erst  allmähhch,  im  Streit  der  Par- 
teien, in  dem  Arg^vohn  gegen  die  Krone  (und  hatte  man  damit 
unrecht?)  und  unter  dem  fortwirkenden  Druck  der  eigenen 
Schöpfungen  wurde  man  vorwärts  geschoben.  Nichts  ist  verkehrter, 
als  die  Tragödie  der  Revolution,  die  in  jedem  Szenenwechsel 
eine  furchtbare  Verflechtung  von  Schuld  und  Schicksal,  ein  un- 
geheures Getümmel  von  Interessen,  Leidenschaften  und  Not- 
wendigkeiten und  den  Kampf  einer  tausendjährigen  \'ergangenheit 
mit  der  gärenden  Gegenwart  darstellt,  rein  räsonierend  und 
abstrakt  aus  den  Ideen  der  französischen  Philosophie  des  Jahr- 
hunderts ableiten  zu  wollen;  als  ob  sie  nicht  gekommen  wäre, 
wenn  Voltaire  und  Rousseau  nicht  gelebt  hätten.  Das  ist  der 
Grundirrtum  in  Taines  großem  Werk,  so  reich  an  Geist  und  Wissen 
es  sein  mag,  daß  er  seine  Philosophie  nicht  los  werden  kann  und 
die  Geschichte  der  Revolution,  das  Ergebnis  von  Jahrhunderten, 
behandelt  wie  einen  dialektischen  Prozeß.  So  gelangt  er  dazu, 
sie  als  das  Werk  einer  kleinen  Sekte  aufzufassen,  die,  um  ihre  Prin- 
zipien geschart,  Frankreich  ihrer  Afterreligion  unterjocht  habe, 
und  zu  dem  Nonsens,  Napoleons  Riesengestalt  und  Werk  aus 
den  paar  Ideen  zu  konstruieren,  die  er  sich  aus  der  Kulturwelt 
der  Renaissance  abstrahiert  oder  zurechtgemacht  hat.  Niemals 
wird  die  Revolution  ohne  die  Wechselwirkung  der  auswärtigen 
und  der  inneren  Verhältnisse  begriffen  werden  können,  welche  in 
jedem  Moment  sichtbar  wird.  Davon  ist  aber  bei  Taine  über- 
all nicht  die  Rede.  Nicht  durch  eine  Deduktion  aus  jenen  Ideen 
der   jüngsten   Vergangenheit   wird   der   Fortgang   der   Bewegung 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  299 

umschrieben,  sondern  in  den  Tatsachen  selbst  Hegt,  wenn  man 
will,  die  Logik :  in  dem  Kampf  der  Parteien  bildeten  sich  die  Kräfte 
aus,  welche  ihre  Schöpfer  mit  eisernen  Armen  unentrinnbar  um- 
klammerten und  auf  ihrer  Bahn  forttrieben,  immer  weiteren 
Konsequenzen  und  grausigeren  Notwendigkeiten  entgegen.  Sie 
selbst,  und  was  sie  Besonderes  an  sich  haben  mochten,  lebten  nur 
für  den  Tag;  sie  wurden  von  den  Wellen,  die  sie  erhoben,  ver- 
schlungen; ihre  Interessen,  ihre  Reden,  ihr  Haß,  ihre  Kämpfe 
waren  nur  wie  das  Schaumspritzen  des  in  seinen  Tiefen  aufge- 
wühlten Meeres.  Für  sie  persönlich  waren  auch  ihre  Gesetze,  die 
durch  Verwirrung  und  Kampf  ohnegleichen  Frankreich  zur  Einheit 
und  nie  gesehener  Kraft  hindurchtrieben  und  erhoben,  nur  Not- 
behelfe und  ein  Beweis  ihrer  Schwäche;  so  wie  die  tausendfachen 
Bluttaten  weit  mehr  dem  Entsetzen  entsprangen,  als  der  Berech- 
nung. Mit  bebenden  Händen  vollbrachten  sie  unerhörte  Taten 
der  Tyrannei.  Und  selbst  wo  Berechnung  im  Spiel  war,  wie  bei  den 
Prozessen  im  Konvent,  geschah  es  nur,  weil  sie  so  schwach  waren. 
Gleichwie  die  Barbareien  des  mittelalterlichen  Prozesses  dem  un- 
bändigen Trotz  der  Gesellschaft  entsprachen,  den  sie  niederhalten 
wollten.  Akte  der  Verzweiflung  waren  der  Kultus  der  Vernunft 
und  die  Religion  wie  die  letzten  Bluttaten  Robespierres,  der, 
um  die  ihm  entgleitenden  Massen  an  sich  zu  fesseln,  Gott  wieder 
auf  den  Thron  setzte,  dessen  Namen  er  nicht  einmal  zu  nennen  wagte. 
Handschläge  von  Knaben  gegen  die  Wand,  ein  Rennen  mit  dem 
Kopf  gegen  die  Mauer,  die  in  allen  Ecken  wohlgefügt  war,  seitdem 
der  Hugenottenfürst  die  Krone  Frankreichs  einer  Messe  wert 
geachtet  hatte.  Und  so  zitierten  sie  jetzt  die  Philosophen  des 
Jahrhunderts  und  weckten  die  blutigen  Schatten  der  Ermordeten 
auf,  stellten  die  Büsten  Voltaires,  Marats  und  Lepelletiers  in  ihren 
Tempeln  auf,  um  gegen  die  Heerscharen  der  Heiligen  und  Märtyrer, 
unter  denen  die  alte  Kirche  und  ihre  Bekenn  er  fochten,  Helfer  zu 
bekommen. 

Während  aber  Robespierre  betete  und  köpfte,  trieben  im 
Norden  die  gewaltigen  Massen  des  nationalen  Aufgebots  die  Werbe- 
heere des  alten  Europas  vor  sich  her  und  ward  bei  Fleurus  das 
Übergewicht  der  Repubhk  über  ihre  Feinde  entschieden.    Und 


300  Kleine  historische  Schriften. 

alsbald  war  es  mit  dem  Tyrannen  zu  Ende.  Die  Gefängnisse  öffneten 
sich  und  die  Blutgerüste  wurden  abgebrochen.  Fleurus  hatte 
Robespierre  getötet  samt  seiner  Religion.^)  Frankreich  stieß 
ihn  von  sich  und  was  ihm  angehörte,  weil  es  jetzt  stark  genug  war, 
um  Toleranz  zu  üben,  die  alte  Kirche  wieder  zu  ertragen. 

Nun  will  ich  den  Leser  nicht  weiter  durch  das  ermüdende 
Auf  und  Ab  der  Verhandlungen  und  Kämpfe  hindurchführen, 
welche  das  Direktorium  noch  jahrelang  mit  Rom  und  der  Kirche 
durchzufechten  hatte.  Solange  der  Papst  den  Sieg  der  Koalition 
noch  hoffen  konnte,  hielt  er  den  Anerbietungen  und  Gewalttaten 
der  Republikaner  stand.  Aber  im  Sommer  1800  entschied  sich 
aufs  neue  das  Übergewicht  Frankreichs,  und  nun  neigte  auch  die 
Kurie  zum  Frieden.  Unmittelbar  fast  vom  Schlachtfelde  bei 
Marengo  sandte  Bonaparte  den  Bischof  von  Vercelli  nach  Rom. 
Noch  ein  Jahr  und  länger  hat  es  gedauert,  ehe  der  neue  Papst, 
Pius  VII.,  in  die  gebotene  Hand  einschlug.  Endlich  war  man  doch 
so  weit.  Und  nun  ward  (wer  sollte  es  glauben!)  von  der  Kurie 
genau  das  bestätigt,  was  sie  immer  als  unmöglich  und  allen  kirch- 
lichen Prinzipien  widersprechend  bezeichnet  hatte:  der  Verkauf 
der  Güter  und  mit  geringen  Änderungen  die  ganze  Organisation 
der  revolutionären  Kirche;  die  emigrierten  Bischöfe  aber  sahen 
sich  geradeso  zur  Entsagung  aufgefordert  wie  die  Konstitutio- 
nellen und,  wer  sich  weigerte,  abgesetzt ;  und  aus  beiden  Lagern  die 
neuen  ernannt  und  bestätigt.  Vergebens  erging  sich  Louis  XVIII. , 
wie  Monsieur  sich  nannte,  von  Warschau  her  in  Protesten  und 
Drohungen.  Er  hatte  nichts  als  Worte;  der  Papst  konnte  ihn 
preisgeben,  weil  er  völlig  ungefährlich  war,  und  er  mußte  es,  weil 
Napoleon  die  Gewalt  hatte  auf  beiden  Seiten  der  Alpen. 

Kann  man  nun  noch  daran  zweifeln,  daß  die  Kurie  auch 
nachgegeben  haben  würde,  wenn  die  Nationalversammlung  die 
Macht,  die  dazu  gehörte,  besessen  hätte  ?  An  der  Institutions- 
frage hätte  sich  der  Friede  schwerlich  gestoßen.  Das  war  ein 
Pfandobjekt,  was  man  gelegentlich  preisgeben  konnte,  wie  Na- 
poleon es  ohne  Schaden  seiner  Politik  preisgegeben  hat,  oder  wie 

^)  So  unwiderleglich  Aulard  in  dem  angeführten  bahnbrechenden 
Werke  S.  362. 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  301 

Bismarck  seine  Kampfgesetze  gegen  unseren  rebellischen  Klerus 
abbrach,  als  er  sie  nicht  mehr  nötig  zu  haben  glaubte.  Wenn  nur 
der  Papst  ja  gesagt  hätte!  Daß  aber  die  Kurie  nachgab  und  wider- 
rief, was  sie  für  unumstößlich  erklärt  hatte,  war  in  der  Geschichte 
der  Kirche  nichts  Neues.  Clemens  V.  war  ganz  in  der  gleichen 
Lage  gewesen,  als  er  sich  zur  Verleugnung  der  Bulle  Unam  Sanctam 
vor  Philipp  dem  Schönen  bequemt  hatte.  Gerade  dies  Beispiel 
wurde  damals  hervorgeholt,  und  zwar  nicht  von  den  französischen 
Republikanern,  sondern  von  dem  General  der  Dominikaner,  einem 
Spanier,  dem  gelehrtesten  Mönch  seines  Ordens,  durch  und  durch 
orthodox,  wie  sich  versteht,  und  eine  Säule  der  Kirche.  Er  bewies 
seinem  Gesandten  und  dem  Papst  selbst  aus  den  kanonischen 
Vätern  und  an  der  Hand  der  Geschichte  wie  der  Grammatik, 
daß  das  Direktorium  mit  seiner  Forderung,  die  feindseligen  Breven 
zu  desavouieren,  nichts  verlange,  was  seiner  unfehlbaren  Autorität 
und  dem  Glauben  widerspreche.  Damals  (es  war  im  Jahr  1796) 
kam  freilich  der  Mönch  bei  Pius  VI.,  dem  er  seine  Argumente 
persönlich  vorzutragen  wagte,  übel  an;  denn  noch  meinte  Pius, 
trotz  der  Siege  des  jungen  Bonaparte  und  obgleich  Spanien  (daher 
der  Eifer  des  Pater  Quinones!)  schon  Frankreichs  Seite  hielt, 
standhalten  zu  können. 


Ich  bemerkte  vorhin,  daß  die  Revolutionäre  mit  ihrer  Kirchen- 
politik hätten  nachholen  v/oUen,  was  den  Hugenotten  mißglückt 
war;  jedoch  in  ihrer  Weise,  im  Sinne  des  18.  Jahrhunderts,  das 
von  den  religiösen  Tiefen  absehen  zu  können  glaubte  und  nur  nach 
Zusammenfassung  der  Macht  und  in  Frankreich  nach  der  Ein- 
heit des  nationalen  Staates  verlangte.  Jetzt  aber  sehen  wir,  daß 
sich  die  Umbildung  der  französischen  Kirche,  die  dadurch  er- 
reicht wurde,  an  Kraft  und  Erfolgen  gar  nicht  vergleichen  läßt 
mit  der  Revolution,  welche  das  16.  Jahrhundert  erlebte,  oder 
gar  mit  der  größten  von  allen,  der  Ausbildung  der  altkatholischen 
Kirche.  Die  französische  Bewegung  blieb  völlig  an  der  Ober- 
fläche der  kirchlichen  Ordnungen;  und  Desmoulins  hatte  ganz 
recht,  wenn  er  in  seiner  ergötzlichen  Manier,  den  Stil  der  Hirten- 


302  Kleine  histoiische  Schriften. 

briefe  parodierend,  schrei  ot:  »Ich  habe  es  euch  bereits  gesagt, 
meine  teuersten  Brüder :  sollte  man  nicht  glauben,  daß  man  einige 
Sakramente  unterdrücken  will,  wie  Luther  und  Calvin  getan 
haben?  Nichts  von  alledem,  keine  Prozession,  kein  geweihtes 
Brot  ist  unterdrückt;  nein,  die  Nationalversammlung  hat  auch 
nicht  ein  Halleluja  gestrichen!«  Wirklich,  es  war  nicht  viel  mehr 
als  eine  Frage  der  Geograpliie,  eine  Neuordnung  der  Diözesen. 
Da  verstanden  unsere  Landsleute  im  i6.  Jahrhundert,  die  Ma- 
gistrate der  Reichsstädte  und  die  deutschen  Bauernfürsten,  ihr 
Metier  doch  besser,  als  sie,  um  in  ihrem  Stil  zu  reden,  den  Papst 
samt  all  seinen  abgöttischen  Greueln  aus  ihren  Kirchen  ausfegten. 
Sie  wußten,  ihre  Professoren  und  Prädikanten  hatten  sie  es  so 
gelehrt,  daß  der  Kirche  mit  Änderungen  bloß  der  Verfassung 
nicht  beizukommen  war:  weil  ihre  Älacht  auf  der  Lehre  beruhte, 
in  dem  Prinzip  des  Daseins  wurzelte.  Und  daß  sie  darum  in  dem 
Kern  ihres  Wesens,  in  ihrem  Dogma  selbst  getroffen  und  ent- 
wTirzelt  werden  mußte.  Denn  die  römische  Kirche  wendet  sich 
nicht  bloß  an  die  Besitzer  der  Macht,  sondern  zunächst  an  die 
Gläubigen,  diejenigen,  welche  sich  ihr  unterwerfen.  Diese  fesselt 
sie  an  sich  durch  das  siebenfache  Band  der  Sakramente,  das  ihr 
Leben  in  Zeit  und  Ewigkeit  umschhngt,  und  darum  erst  erstreckt 
sie  ihre  Wurzeln,  wie  tausend  und  abertausend  Arme,  in  das  Gefüge 
aller  bürgerlichen  Ordnungen  hinein.  Darum  kennt  sie  auch  keine 
Rücksicht  auf  die  Form  der  Verfassungen  und  keine  nationalen 
Schranken.  Und  darum  konnten  ihr  nur  Ideen  schädlich  werden, 
welche,  wie  sie,  über  die  Grenzen  der  Nationalität  und  der  poli- 
tischen Zwecke  hinwegsahen.  Das  wußten  auch  die  Franzosen 
und  die  EvangeHschen  aller  Nationen,  welche  im  i6.  Jahrhundert 
ihre  Herzen  vAWig  den  deutschen  Gedanken  öffneten  und  es  für 
keinen  Raub  an  ihrem  Volke  hielten,  wenn  sie  Staat  und  Natio- 
nahtät  der  Heimat  auf  ihrem  Grunde  umzuformen  versuchten. 
So  bedachte  es  Coligny  in  jener  Nacht,  als  er  mit  seiner  Gemahlin 
das  Schicksal  erwog,  das  ihnen  drohte,  wenn  sie  für  ihre  Kirche 
und  die  Brüder  eintraten;  als  er  sie  fragte,  ob  sie  mit  ihm  das 
gemeinsame  Schicksal  der  Protestanten,  Not  und  Verfolgung, 
auf  sich  nehmen  wolle?    Und  Charlotte  von  Laval  antwortete, 


Die  französische  Revolution  und  die  Kirche.  303 

Verfolgung  sei  das  Los  der  Gläubigen  zu  allen  Zeiten  gewesen 
und  werde  es  bleiben  bis  ans  Ende  der  Tage.  So  dachten  auch 
noch  die  Hugenotten,  welche  vor  Ludwigs  XIV.  Edikten  den 
Himmel  Frankreichs  und  alles,  was  sie  an  die  Heimat  fesselte, 
verließen,  um  ihrem  Gotte  treu  zu  bleiben  »bis  zum  letzten  Seufzer«. 
Nicht  das  bißchen  politischer  Forderungen  oder  wirtschaftlicher 
Interessen  und  irdisch-oberflächlicher  Begehrlichkeiten  ist  es, 
was  die  Welt  im  Innersten  verwandelt,  das  Antlitz  der  Völker 
umprägt  und  neue  Nationen  aus  dem  ewig  kreißenden  Schoß  der 
Geschichte  hervorgehen  läßt. 

Das  wußte  auch  Dr.  Luther,  als  er  von  der  Wartburg  heim- 
gekehrt war,  um  dem  Satan  von  Zwickau  zu  wehren,  der  in  seine 
Hürden  eingebrochen  war,  und  nun  seinen  Wittenbergern  von 
der  Kanzel  her  das  Wort  Gottes  auslegte:  »Was  meint  ihr  wohl«, 
sprach  er,  »daß  der  Teufel  gedenkt,  wenn  man  solch  Ding  will  mit 
Rumor  ausrichten  ?  Er  sitzt  hinter  der  Höllen  und  gedenkt  also : 
o  wie  sollen  mir  die  Narren  so  ein  fein  Spiel  zurichten !  Also  wollt' 
ichs  haben !  Mir  wird  mein  Teil  aus  der  Beut'  wohl  werden !  Laßt 
sie  also  fortfahren!  Das  ist  eben  ein  Spiel  für  mich,  an  dem  ich 
meine  Lust  habe.  Mit  solchem  Stürmen  geschieht  dem  Teufel 
kein  groß  Leid.  Sondern  dann  macht  man  ihm  bange,  wenn  wir 
das  Wort  treiben  und  dasselbige  allein  wirken  lassen.  Dasselbige 
ist  allmächtig  und  nimmet  die  Herzen  gefangen.  Wenn  aber  das 
Herz  gefangen  ist,  so  muß  das  Werk  von  ihm  selbst  abfallen  und  zu 
Trümmern   gehn«. 


Die  Bedeutung  der  Seebeherrschung 
für  die  Politik  Napoleons. 

(1906.) 

Daß  die  Seegewalt  für  die  Macht  der  Nationen,  für  ihre  Stellung 
im  Rate  der  Völker  entscheidend  sei,  ist  uns  Deutschen  mit  Bezug 
auf  unsern  Staat  eine  ganz  moderne  Vorstellung.  Denn  niemals 
haben  wir  sie  bisher  in  den  Kämpfen,  die  wir  um  unsere  Existenz 
zu  führen  hatten,  nötig  gehabt.  Von  der  Völkerwanderung  her 
haben  sich  unsere  Geschicke  immer  in  Schlachten  auf  dem  Fest- 
land entschieden  und  gewandelt.  ^lit  dem  Schwert  haben  wir 
uns  gegen  die  Römer  verteidigt,  die  römische  Weltherrschaft 
zerbrochen,  das  Römerreich  von  der  Nordsee  bis  Konstantinopel 
und  bis  an  den  Fuß  des  Atlas  unterworfen,  mit  dem  Schwert  das 
Kaisertum  des  IMittelalters  gewonnen  und  behauptet.  Nur  wie 
eine  Episode  in  diesen  Festlandskämpfen  erscheinen  die  Meer- 
fahrten eines  Geiserich;  und  wenn  in  den  Zeiten  der  Hansa  die 
»Koggen«  unserer  norddeutschen  Handelsstädte  die  Dänen  und 
Schweden  von  der  Ostsee  hinwegfegten  und  selbst  in  der  Nord- 
see und  bis  an  die  spanische  Küste  ihre  Flagge  wehen  ließen,  so 
waren  auch  das  nur  vorübergehende  und  für  den  Aufbau  unserer 
nationalen  Gewalt  unfruchtbare  Siege;  niemals,  wie  man  weiß, 
hat  die  Reichsgewalt  selbst  darin  die  Hand  gehabt  oder  ist  sie 
dadurch  an  irgendeinem  Punkte  wahrhaft  gefördert  worden. 
Vollends  in  den  neueren  Jahrhunderten  hat  sich  die  nationale 
Entwickelung  abseits  von  der  See  und  ihrer  Beherrschung  voll- 
zogen.   Beide  Großmächte  der  deutschen  Nation,  Österreich  und 


Die  Bedeutung  der  Seebeherrschung  für  die  Politik  Napoleons.      305 

Preußen,  haben  ihre  Kraft  gegründet  und  entwickelt  auf  dem 
Festland  und  durch  die  Gewalt  festländischer  Waffen.  Konti- 
nentale Interessen  waren  es,  in  die  sie  von  Anfang  an  gestellt  und 
verwickelt  waren,  mochte  der  Kampf  den  Türken  gelten  oder 
den  Franzosen,  den  Russen  oder  selbst  überseeischen  Nationen, 
wie  Schweden  und  England.  Das  Meer  selbst  war  ihnen,  wenn  sie 
auch  seine  Gestade  gewannen  und  bezwangen,  verschlossen  oder 
diente,  wie  einst  in  den  Kreuzzügen,  kaum  zu  etwas  anderem,  als 
zum  Transport  der  Armeen,  mit  denen  ihre  Machtkämpfe  aus- 
gefochten  wurden.  Das  war  auch  in  den  Kriegen  des  Großen  Kur- 
fürsten nicht  anders,  wie  begierig  gerade  er  nach  dem  Dominium 
über  die  See  war,  geschweige  in  den  Kämpfen,  die  Preußen  zum 
Großstaat  machten  und  die  Einheit  der  Nation,  die  Schöpfung 
unseres  Reiches  selbst  heraufführten.  Von  Mollwitz  bis  Sedan  hin 
ist  der  Zeiger  unserer  Uhr  immer  auf  den  Schlachtfeldern,  und 
meist  auf  deutschen  Schlachtfeldern,  vorwärts  gerückt  worden. 
Auch  bei  den  andern  Nationen  des  europäischen  Festlandes 
ist  es  Jahrhunderte  hindurch  so  gewesen.  Mindestens  in  allen 
Kämpfen  des  Mittelalters.  Selbst  die  Kriege  zwischen  Frankreich 
und  England,  welche  die  mittleren  Jahrhunderte  erfüllen,  sind  auf 
dem  Festland  entschieden  worden.  Lanze  und  Schwert  brachten 
bei  Hastings  England  in  die  Gewalt  der  Normannen;  Lanze, 
Schwert  und  Bogen  streckten  bei  Crecy  und  Azincourt  die  Blüte 
der  französischen  Ritterschaft  nieder,  als  sie  den  Nachkommen 
des  Normannenkönigs  den  Boden  Frankreichs  streitig  machte. 
Mochte  es  auch  dann  und  wann,  bei  Havre  oder  Honfleur,  zu 
Scharmützeln  zwischen  französischen  und  englischen  Schiffen 
kommen,  die  Entscheidung  erfolgte  doch  immer  im  Felde  oder 
vor  den  Mauern  französischer  Burgen  und  Städte.  Das  Meer 
bheb  wie  in  alten  Zeiten  nur  die  Brücke,  worüber  die  Ritter  und 
Bogenschützen  ins  Land  kamen. 

Für  den  Westen  Europas  und  schon  früher  für  den  Süden, 
die  Gewässer  des  Mittelmeeres,  änderte  sich  dies,  als  die  Interessen, 
um  die  gefochten  wurde,  die  See  selbst  überschritten:  als  die 
romanischen  Staaten,  Spanien  und  Frankreich,  den  Türken  und 
ihren  nordafrikanischen  Vasallen  die  Herrschaft  über  das  West- 
Lenz,  Kleine  hisJorische  Schriften.  20 


306  Kleine  historische  Schriften. 

becken  des  Mittelmeeres  abzuringen  versuchten,  und  als  dann 
Frankreich,  England  und  Spanien,  dazu  die  Niederländer  die 
transozeanischen  Länder  auf  beiden  Hemisphären  einander  ab- 
zujagen unternahmen.  Aber  sogar  in  dieser  Zeit  wurden  die  großen, 
entscheidenden  Katastrophen  in  den  Kämpfen  des  europäischen 
Festlandes  herbeigeführt,  denn  mit  den  kolonialen  Interessen- 
gegensätzen kombinierten  sich  immerfort  die  Fragen  der  euro- 
päischen Politik.  Vor  allem  der  Eintritt  Rußlands  in  den  Kreis  der 
europäischen  Mächte  verlegte  das  Schwergewicht  der  allgemeinen 
Politik  ganz  auf  das  Festland.  Bei  Pultawa  ward  das  Dominium 
maris  baltici,  das  Schweden  auch  nur  wieder  durch  festländische 
Siege  errungen  hatte,  zerbrochen,  und  der  große  Kampf  um  die 
Herrschaft  auf  der  Balkanhalbinsel  und  den  Besitz  der  Darda- 
nellen wurde  Generationen  hindurch  mit  festländischer  Waffen- 
gewalt geführt.  Sogar  noch  in  den  Kriegen,  welche  die  Herrschaft 
der  angelsächsischen  Rasse  über  den  nordamerikanischen  Konti- 
nent entschieden,  fielen  die  endgültigen  Entscheidungen  zu  Lande. 
Wie  mächtig  der  Union -Jack  auf  den  atlantischen  Gewässern, 
an  den  europäischen  Küsten  und  in  Westindien  sich  entfalten 
mochte,  konnten  die  Engländer  dennoch  nicht  verhindern,  daß 
die  Regimenter  und  Kanonen  Frankreichs  und  seiner  Bundes- 
genossen nach  Kanada  und  Pennsylvanien  hinüberkamen:  erst 
Quebec  hat  Kanada  für  England,  Yorktown  seine  Kolonien  für  die 
Amerikaner    gesichert. 

Heute  haben  die  Weltkämpfe  ein  anderes  Gesicht,  und  nichts 
ist  gewisser,  als  daß  auch  die  Zukunft  das  Bild  von  heute  zeigen 
wird.  Der  Krieg  von  1870  konnte  noch  zu  Lande  entschieden 
werden ;  und  so  oft  Deutsche  und  Franzosen  oder  Russen,  Öster- 
reicher und  Italiener  untereinander  um  den  Vorrang,  auch  jenseits 
der  See,  kämpfen,  werden  sie  ihre  größte  und  die  entscheidende  An- 
strengung immer  auf  den  Festlandskrieg  verwenden  müssen.  Aber 
auch  sie  werden  von  jetzt  ab  ihre  Kräfte  zur  See  miteinander 
zu  messen  haben,  denn  sie  werden  niemals  mehr  unter  sich  allein 
und  nie  mehr  nur  um  kontinentale  Fragen  einander  entgegen- 
gehen. Der  Welthorizont  hat  sich  verändert.  Neue  Großmächte 
haben  sich  jenseits  der  Ozeane  gebildet  und  sind  eingetreten  in 


Die  Bedeutung  der  Seebeherrschung  für  die  Politik  Napoleons.     307 

den  Zusammenhang  der  allgemeinen  Politik.  Die  Mächte  unseres 
Kontinents  selbst  aber  sind  nicht  mehr  mit  ihren  Interessen  auf 
seinen  Umkreis  beschränkt.  Über  die  Meere  hin  strebt  ihre  Pohtik. 
Die  Herrschaft  über  die  fremden  Meere  und  die  fremden  Kontinente 
ist  das  Objekt  geworden.  Nur  wer  sich  hier  behaupten,  wer  seinen 
Ehrgeiz  über  die  Grenzen  Europas  hinweg  auszudehnen  den  Willen 
und  die  Kraft  hat,  wird  fortan  unter  den  Mächten  der  Welt  eine 
Stelle  haben. 

Wenn  wir  so  den  Rahmen  ziehen  für  das  Thema,  das  wir  uns 
gesetzt  haben,  welche  Stelle  werden  wir  da  den  Kriegsfahrten  und 
der  Politik  Napoleons  zuweisen?  Alle  seine  Siege,  von  Monte- 
notte  bis  Borodino,  hat  er  über  Mächte  des  Festlandes  erfochten ; 
und  von  Moskau  bis  Arcis  sur  Aube  und  weiter  bis  Waterloo  hin 
ward  er  auf  dem  Festland  von  Klippe  zu  Klippe  geworfen.  Was 
also  war  das  Ziel,  das  er  seiner  Politik  gesteckt  hatte?  Wenn  es 
wahr  ist,  daß  sein  Ehrgeiz  vor  allem  und  von  Anfang  an  darauf 
ausging,  den  Kontinent  zu  erobern,  so  haben  offenbar  Abukir 
und  Trafalgar  für  ihn  nur  eine  nebengeordnete  Bedeutung  gehabt. 
War  aber  England  der  Feind,  dem  seine  Kämpfe  in  erster  Linie 
galten,  wollte  er  diesen  Rivalen  Frankreichs  niederschlagen  und 
also  den  Kampf,  in  dem  die  beiden  seit  einem  Jahrhundert  be- 
griffen gewesen  und  der  England  zur  Herrschaft  über  die  Meere 
und  die  fremden  Kontinente  gebracht  hatte  oder  zu  bringen  drohte, 
zum  Ziel  führen,  so  können  jene  Niederlagen  für  ihn  nicht  hoch 
genug  bewertet  werden.  Mithin  hängt  die  Beantwortung  der 
Frage,  die  wir  uns  gestellt,  in  erster  Linie  ab  von  der  Entscheidung 
über  das  Problem,  in  dem  man  mit  Recht  heute  das  Kernproblem 
in  der  Geschichte  Napoleons  sieht:  wohin  nämlich  die  Front  seiner 
Politik  gerichtet  gewesen  sei,  ob  das  Verhältnis  zu  England  oder 
dasjenige  zum  Festland  der  Gesichtspunkt  ist,  unter  dem  wir 
zum  wahren  Verständnis  seiner  Ziele  und  seines  Schicksals  ge- 
langen   können. 

Nun  ist  in  dieser  Hinsicht  mit  Bezug  auf  seine  Fahrt  nach 
Ägypten  kein  Zweifel  möglich  und  besteht  in  der  Tat  nicht  mehr 
unter  den  Urteilsfähigen.    Auf  dem  Festland  gab  es  nach  Campo- 


308  Kleine  historische  Schriften. 

formio  und   Rastatt  für  Frankreich   keine  Feinde  mehr.      Eng- 
land  allein    war    noch    unbezwungen,    und    der  Zweck   der  Ex- 
pedition   konnte    kein    anderer    sein,    als  den   Kampf  über  das 
Meer  und  in  die  engUschen  Kolonien,  zu  denen  Ägypten  die  Brücke 
war,  hinüberzutragen.    Auf  der  Stelle  erhellt  daraus  die  ungeheure 
Bedeutung,  welche  die  Niederlage  von  Abukir  für  diese  Pläne  Na- 
poleons hatte.  Die  Vernichtung  der  französischen  Flotte  ließ  Ägypten 
nur  die  Bedeutung  einer  Festung,  die  ohne  Hoffnung  auf  Ersatz 
blockiert,  also  auf  die  Dauer  verloren  war.   Nur  wenn  es  ihm  gelang, 
nach  Indien  zu  kommen,  sei  es  von  Syrien  her  zu  Lande  oder  zur  See 
vom  Roten  Meer  aus,  konnte  er  noch  die  Situation  retten ;  und  daß 
wenigstens  der  Seeweg  möglich  gewesen  wäre,  dafür  haben  wir  kein 
geringeres  Zeugnis,   als  dasjenige   Nelsons,   der   dies   aufs   ernst- 
lichste fürchtete.    Denn  auf  dem  Roten  Meer  und  im  Indischen 
Ozean  hatte  England  keine  Kriegsschiffe,  und  der  Suezkanal  war 
noch  nicht  gegraben.     »Ein  unternehmender  Feind,«  so  schreibt 
der  enghsche  Admiral  am  29.  Juni  1798  an  Lord  \'incent,  »würde, 
wenn  er  im  Einverständnis  mit  dem  Pascha  von  Ägypten  und 
Tippo  Sahib  wäre,  mit  Leichtigkeit  eine  Flotte  von  Suez  nach  der 
Malabarküste  schaffen  können,   wodurch  Englands  indische  Be- 
sitzungen in  größte   Gefahr  kommen  würden.«    Aber  Napoleon 
dachte  seit  Abukir  nicht  mehr  hieran  und  konnte  nicht  daran 
denken,  weil  der  Sultan  sein  Feind  geworden  war  und  den  »heihgen 
Krieg«  gegen  die  Eroberer  Ägyptens  in  allen   seinen  Provinzen 
predigen  ließ.    Das  aber  war  eben  die  Folge  von  Abukir.    Wäre 
Admiral  Brueix,  statt  sich  mit  seinen  schlecht  armierten  Schiffen 
in  jener  flachen  Bucht  den  Engländern  zu  stellen,  vor  ihnen  weg, 
wie  Napoleon  gewünscht  hatte,   nach  Korfu   oder  Malta  ausge- 
wichen, so  hätte  Nelson  schwerlich  im  Ostbecken  des  Mittelmeeres 
bleiben  können;  dann  aber  wäre,  wie  man  kaum  anders  annehmen 
kann,   Sultan   Selim  dem   Sterne  Frankreichs,  dessen  Freund  er, 
gleich  seinen  Vorfahren,  immer  gewesen  war,  gefolgt.    So  in  der  Tat 
war  die  Rechnung  Napoleons  und  seiner  Auftraggeber  gewesen: 
die  Stellung  eines  Freundes  und  Protektors  am  Nil  und  an  den  Dar- 
danellen hatte  Frankreich  einnehmen  und  die  Pforte,  wie  gegen 
England,  so  gegen  Rußland,  ihren  alten  Erbfeind,  wenden  woUen. 


Die  Bedeutung  der  Seebeherrschung  für  die  PoUtik  Napoleons.      309 

Abukir  machte  dies  alles  unmöglich.  Die  Feinde  Frankreichs 
erhoben  aufs  neue  das  Haupt;  Rußland  und  die  Türkei,  Öster- 
reich und  Neapel  traten  England  zur  Seite.  Nichts  kann  darum 
falscher  sein,  als  was  man  immer  noch  hört,  daß  Napoleon  mit 
seinem  Marsch  nach  Syrien  Angriffspläne,  sei  es  auf  Konstantinopel 
oder  gegen  Indien,  verfolgt  habe.  Auch  wenn  \\dr  nicht  sein  direktes 
Zeugnis  aus  dem  Lager  von  Akkon  hätten,  würden  wir  nicht  daran 
zweifeln  können,  daß  die  syrische  Expedition  nichts  als  ein  Vor- 
stoß gewesen  ist,  um  die  Feinde  von  Ägypten  abzuhalten. 

Unterdessen  aber  geriet  Frankreich,  seines  genialen  Feld- 
herm  beraubt,  durch  den  Angriff  seiner  Feinde  an  den  Rand  des 
Abgrundes.  Napoleon  riß  es  zurück,  stellte  den  Sieg  her,  zwang 
die  Mächte  des  Kontinents  zum  Frieden.  Einen  Moment  schien 
es,  als  würde  ihm  die  Einigung  des  eben  noch  gespaltenen 
Kontinentes  gegen  England  gehngen,  als  könnten  die  Festlands- 
mächte daran  denken,  ihre  Meere  gegen  die  enghsche  Alleinherr- 
schaft zu  sichern.  Ja  die  Aussicht  tat  sich  auf,  den  Zug  nach 
Indien  Seite  an  Seite  mit  Rußland  zu  unternehmen.  Die  Er- 
mordung Kaiser  Pauls  machte  diesen  Kombinationen  ein  Ende. 
Aber  den  Frieden  weigerte  England  dennoch  nicht  mehr :  die  Herr- 
schaft Frankreichs  auf  dem  Festland  hatte  Napoleon  durch  Ma- 
rengo  erreicht;  die  Hoffnung  auf  die  Beherrschung  des  Mittel- 
meeres, die  Eroberung  Indiens  mußte  er  aufgeben. 

Über  den  Bruch  des  Friedens  von  Amiens,  die  Frage,  wer 
von  den  beiden  Gegnern  ihn  herbeigeführt,  ob  Napoleons  Interesse 
in  diesem  Moment  Krieg  oder  Friede  gewesen  sei,  darüber  zu 
sprechen  ist  hier  meine  Aufgabe  nicht.  Wohl  aber  müssen  wir  den 
Angriff  auf  England  ins  Auge  fassen,  den  Frankreichs  jugend- 
licher Herrscher  von  Boulognes  Küste  her  geplant  hat,  die  Chancen, 
die  ihm  das  Gehngen  des  großen  Unternehmens  geboten  hätte, 
die  Folgen,  die  sein  IMißlingen  für  ihn  gehabt  hat.  Länger  als 
zwei  Jahre,  vom  Mai  1803  bis  zum  August  1805,  stand  Napoleon 
England  allein  gegenüber;  niemals  vor-  oder  nachher  haben  ihm 
seine  Festlandsgegner  so  lange  Zeit  gelassen;  und  wenn  es  noch 
immer  Historiker  gibt,  die  den  Ernst  der  Absichten  Napoleons 
gegen  England  leugnen  und  dagegen  behaupten,  daß  er  von  allem 


310  Kleine  historische  Schriften. 

Anfang  an  den  Kontinent  zum  Felde  seiner  Eroberungszüge  aus- 
ersehen habe,  so  geschieht  es  vor  allem  im  Hinblick  auf  die  lange 
Zeit,  die  er  sich  heß,  um  zu  dem  Schlage  auszuholen. 

Nun  lassen  es  jetzt  auch  wohl  die  Anhänger  letzterer  Ansicht 
gelten,  daß  Napoleon  wenigstens  bis  zum  Frühling  1804  mit  vollem 
Ernst  den  Übergang  über  den  Kanal  geplant  habe:  d.  h.  solange 
die  Festlandsgegner,  Österreich  voran,  in  ihrer  friedlichen  Haltung 
beharrten.  Sobald  aber  die  Koalition  sich  aufs  neue  zu  schließen 
begann,  mußte  der  Kaiser  auch  die  Gegner  im  Rücken  im  Auge 
behalten  und  alle  seine  Rüstungen  so  einrichten,  daß  sie  in  dop- 
pelter Front  verwendet  w^erden  konnten.  Hier  also  könnte  man 
immerhin,  auch  dann,  wenn  man  an  den  vollen  Ernst  seiner  Ab- 
sichten gegen  England  glaubt,  zugeben,  daß  Napoleon  mehr  und 
mehr  von  England  abgelassen  und  schließlich  das  Lager  von  Bou- 
logne  und  alle  seine  Stellungen  gegen  England  dazu  benutzt  habe, 
um  unvermutet  und  mit  voller  Wucht  über  Österreich  herzu- 
stürzen. Ich  freihch  bin  dennoch  der  Ansicht,  daß  er  an  dem 
ersten  Plane  bis  in  die  letzte  Augustwoche  1805  und  fast  bis  zu 
dem  Tage  festgehalten  hat,  wo  er  seinen  Bataillonen  den  Marsch- 
befehl gegen  die  Donau  zukommen  heß;  und  daß  er  die  Invasion 
Englands  über  den  Kanal  hinweg  deshalb  so  lange  und  so  leiden- 
schaftlich geplant  hat,  weil  sie  nicht  bloß  den  kürzesten,  sondern 
auch  den  einzig  möghchen  Weg  darstellte,  um  England  nieder- 
zuzwingen. 

Denn  an  eine  Wiederholung  des  ägyptischen  Zuges  war,  wie 
kaum  gesagt  zu  werden  braucht,  nicht  zu  denken.  Hannover 
war  von  Frankreich  okkupiert;  aber  ein  tödlicher  Schlag  war  die 
Sperrung  der  norddeutschen  Ströme  für  England  nicht,  und  die 
Besetzung  des  Kurfürstentums  war  wohl  mehr  erfolgt,  um  Preußen, 
sei  es  zu  gewinnen,  sei  es  im  Zaum  zu  halten.  Noch  weniger  konnte 
Napoleon  daran  denken,  zunächst  durch  Flottensiege  die  See- 
beherrschung zu  gewinnen.  Das  hätte  geheißen,  das  Glück  auf 
die  schwächsten  Karten,  die  er  hatte,  zu  stellen;  und  daß  der 
Kontinent  so  lange  in  Ruhe  bleiben  würde,  bis  eine  Flotte,  die  es 
mit  den  see-  und  sieggewohnten  Engländern  hätte  aufnehmen 
können,  fertig  wäre,  war  nicht  zu  erwarten.    Auch  war  die  Herr- 


Die  Bedeutung  der  Seebeherrschung  für  die  Politik  Napoleons.     311 

Schaft  auf  dem  Meere  noch  nicht  gleichbedeutend  mit  der  Er- 
oberung Englands.  Um  England  auf  die  Knie  zu  zwingen,  mußten 
London  und  die  Seefestungen,  die  Werften,  die  Arsenale,  die  Banken 
und  Fabriken  des  Inselvolkes  in  der  Gewalt  des  Eroberers  sein; 
die  Invasion,  die  Übermacht  der  französischen  Armee  über  die 
englischen  Milizen,  das  Feldherrngenie  des  Kaisers  selbst  mußten 
hinzukommen.  Also  war  die  Seebeherrschung  nur  so  lange 
nötig,  um  die  Armee  auf  die  feindliche  Küste  zu  werfen:  für 
wenige  Tage  sie  zu  erlangen,  darauf  waren  alle  Gedanken  und 
Anstrengungen  Napoleons  gerichtet. 

Die  Zaghaftigkeit  seines  Admirals  machte  es  ihm  unmöglich, 
und  so  warf  er  das  Steuer  herum. 

Während  aber  der  Kaiser  neuen  Siegen  entgegeneilte,  wagte 
Villeneuve,  durch  Scham  und  Wut  über  das  Mißlingen  seiner 
Aufträge  und  die  Scheltbriefe  Napoleons  gestachelt,  mit  den  ver- 
einigten Flotten  Frankreichs  und  Spaniens  die  Ausfahrt  aus  dem 
Hafen  von  Cadix  und  suchte  auf  der  Höhe  von  Trafalgar  mit  dem 
Sieger  von  Abukir  den  Kampf,  der  seine  Geschwader  vernichten 
und  England  zur  Beherrscherin  der  Wogen  machen  soUte.  Kein 
Tag  strahlt  darum  heller  in  Englands  Geschichte  und  keiner  seiner 
Söhne  hat  größeren  Ruhm  gewonnen  als  der  Held,  um  dessen 
kalte  Stime,  so  wie  er  selbst  es  sich  gewünscht,  sich  zugleich  Lorbeer 
und  Zypresse  wanden.  Niemals  seitdem  hat  ein  Feind  Englands 
es  gewagt,  sich  seinen  Söhnen  auf  dem  Meere  zum  entscheidenden 
Kampfe  zu  stellen,  und  in  ihren  eigenen  Häfen  konnte  es  die  Flotten 
der  Gegner  aufsuchen  und  vernichten.  Man  braucht  diese  Be- 
deutung Trafalgars  nicht  zu  leugnen,  wenn  man  ihre  Wirkung 
auf  die  Kriegführung  und  Politik  Napoleons  dennoch  weit  geringer 
anschlägt  als  die  Abukirs.  Weder  die  Operationen,  in  denen  der 
Kaiser  gerade  begriffen  war,  noch  die  politische  Konstellation 
wurden  dadurch  beeinflußt.  Keinen  Augenbhck  heß  er  sich  durch 
die  Nachricht  von  der  Katastrophe  seiner  Flotte  in  seiner  Sieges- 
bahn aufhalten.  Er  war  schon  in  Mähren,  als  sie  ihn  erreichte: 
acht  Tage  später  erfocht  er  auf  den  Feldern  von  Austerlitz  den 
Sieg,  der  die  Macht  beider  Kaiserreiche  des  Ostens  brach.  Nicht 
eine  neue  Koalition  der   Gegner  Frankreichs,  wie  nach  Abukir, 


312  Kleine  historische  Schriften. 

sondern  die  Zersprengung  der  kaum  geschaffenen  war  die  Folge: 
Rußland  beiseite  geschoben,  Österreich  unterworfen,  Preußen  in 
ein  Bündnis  gebracht,  das  fast  schon  der  Vasallenschaft  gleich 
kam  —  so  war  die  Stellung  des  Kaisers,  in  die  ihn  Austerlitz,  trotz 
Trafalgar,  gebracht  hatte:  nicht  isoliert  und  fast  verloren,  wie  in 
Ägypten,  sondern  als  Herr  des  Kontinentes  stand  er  da.  Nicht 
einmal  in  England  selber  wog  der  Eindruck  Trafalgars  den  von 
Austerlitz  auf.  Seinem  großen  Minister  brach  die  Kunde  das 
Herz:  im  Gefühl  des  Besiegten  ging  WLUiam  Pitt  aus  der  Welt, 
Seine  Partei  löste  sich  auf;  mit  Fox  kam  wieder  die  Fraktion  an 
das  Ruder  des  Staates,  die  noch  immer  der  Versöhnung  mit  Frank- 
reich geneigt  war,  und  schon  schien  es,  als  ob  wirklich  ein  Friede 
hergestellt  werden  könnte,  in  dem  England  die  bei  Trafalgar  er- 
kämpfte Alleinherrschaft  zur  See  würde  aufgeben  müssen.  Wenn 
es  dann  doch  nach  längerem  Schwanken  am  Kampfe  festgehalten 
hat,  so  mag  das  Gefühl  der  Unangreifbarkeit,  die  ihm  Nelsons 
herrhcher  Sieg  erworben  hatte,  darauf  mit  eingewirkt  haben: 
entscheidend  waren  doch  der  Entschluß  des  Zaren,  unter  den 
Waffen  zu  bleiben,  und  der  Eintritt  Preußens  in  den  Krieg. 

In  den  Kontinentalkämpfen,  die  nun  vom  Herbst  1806  ab 
in  fast  ununterbrochener  Kette  einander  folgten,  hat  die  durch 
Abukir  erkämpfte  Seeherrschaft  Englands  eine  stets  wachsende 
Bedeutung  erlangt.  Während  es  auf  den  Ozeanen  und  in  den 
fremden  Kolonien  Frankreichs  und  seiner  Verbündeten  fast  un- 
aufgehalten  um  sich  griff,  blieb  es  zugleich  Herrin  in  den  euro- 
päischen Gewässern.  Unmöglich  für  Napoleon,  seine  um  ganz 
Europa  her  ausgedehnten  Küsten  auf  allen  Punkten  zugleich  zu 
schützen.  Immer  waren  die  englischen  Schiffe  schneller  zur  Stelle 
als  seine  Truppen.  So  1807  vor  Kopenhagen,  und  wenige  Wochen 
darauf  vor  Lissabon.  Sie  wählten  ihre  Angriffspunkte,  wo  es 
ihnen  beliebte,  vor  Kolberg  und  vor  Antwerpen,  an  der  Küste 
Galiciens  und  an  der  Mündung  des  Tajo,  wie  an  der  Küste 
Neapels.  Sie  blockierten  die  Kriegshäfen,  die  großen  Emporien  des 
Handels:  Toulon  und  Brest,  wie  Marseille,  Bordeaux  und  Hamburg; 
und  sie  brachten  ihre  Waren  der  Kontinentalsperre  zum  Trotz 
an  hundert  anderen  Punkten  der  Küste  von  Petersburg  bis  Triest 


Die  Bedeutung  der  Seebeherrschung  für  die  PoHtik  Napoleons.      313 

in  das  Land.  Und  brauche  ich  noch  zu  sagen,  daß  die  Gegner 
des  Kaisers  selbst  nur  durch  diese  Alleinherrschaft  Englands  zur 
See  in  ihrem  Kampf  und  in  ihren  Hoffnungen  aufrecht  erhalten 
worden  sind?  Auf  Englands  Geld-  und  Waffenhülfe  gründeten 
Gneisenau  und  alle  Patrioten  Norddeutschlands  ihre  Pläne  des 
Befreiungs-  und  Rachekampfes.  Nur  Englands  Kraft  vermochte 
Spanien  in  seinem  Kampfe  gegen  Frankreichs  Übermacht  zu 
helfen,  ja  es  zum  Abfall  von  seinem  despotischen  Alliierten  selbst 
zu  treiben.  Hätte  Villeneuve  bei  Trafalgar  gesiegt,  so  wäre  Spanien, 
man  darf  es  aussprechen,  Frankreichs  Freund  geblieben,  dessen 
AUiierter  es  fast  in  allen  Kämpfen  mit  England  gewesen  war, 
seitdem  die  Bourbonen  in  Madrid  regierten.  Denn  es  hätte  dann 
einen  Preis  des  Kampfes  vor  sich  gesehen,  der  seine  Anstren- 
gungen lohnte,  die  Behauptung  seiner  Kolonien  und  die  Eroberung 
vielleicht  der  englischen  selbst.  Was  aber  half  es  den  Bourbonen, 
wenn  ihnen  Napoleon  zu  Fontainebleau  im  Oktober  1807  die  Teilung 
der  englischen  Kolonien  und  das  Kaisertum  Indien  versprach, 
dabei  aber  die  eigenen  Besitzungen  jenseits  der  See  den  Engländern 
zur  Beute  fielen  und  Gut  und  Blut  ihrer  Untertanen  in  den  Ab- 
grund  der   Napoleonischen    Kriege   gezogen    wurden  ? 

Dennoch,  so  müssen  wir  schließen,  hätte  das  alles  den  Eng- 
ländern auf  die  Dauer  nichts  geholfen,  wenn  Napoleon  die  ver- 
einigte Kraft  des  Kontinents  gegen  sie  hätte  führen  können.  Im 
Sommer  1807  glaubte  er  so  weit  zu  sein :  als  er  in  Tilsit  zum  ersten 
Mal  einen  Frieden  schloß,  der  dem  einen  seiner  Gegner  nichts 
nahm,  sondern  ihm  ganze  Provinzen  gab  und  noch  viel  größere 
Hoffnungen  erweckte.  Spaniens  Abfall  brachte  ihn  von  diesen 
Gedanken,  die  ihm  schon  eine  Weile  den  Marsch  nach  Indien  in 
greifbar  nahe  Aussicht  gestellt  hatten,  zurück:  und  das  war 
die  stärkste  Wirkung,  die  Trafalgar  für  ihn  gehabt  hat.  Besiegt 
und  zu  Boden  gedrückt  ward  Napoleon  dennoch  nur  durch  das 
Schwergewicht  des  Kontinenets,  dessen  Nationen  er,  da  er  es  durch 
Bündnisse  nicht  vermocht  hatte,  mit  Gewalt,  mit  seiner  eisernen 
Faust  hinter  sich  herzuziehen  versuchte.  Hierbei  aber  hat  England 
immer  nur  Hülfsaktionen  geleistet :  wo  es  allein  gelassen  war,  brachte 
es  weder  in  Spanien  noch  vor  Antwerpen  etwas  zustande ;  und  auch 


314  Kleine  historische  Schriften. 

von  der  See  her  hätte  es  ohne  seine  Freunde  auf  dem  Festlande  nie- 
mals den  Titanen  in  tödlicher  Umarmung  umfangen  können.  Es 
wäre  immer  der  Kampf  zwischen  Walfisch  und  Elefant  gebheben. 
Nur  auf  seinem  eigenen  Boden  war  Napoleon  zu  überwinden.  Seinen 
letzten  und  den  entscheidenden  Sieg  über  ihn  hat  doch  auch  Eng- 
land zu  Lande  erfochten,  und  auch  da  nur  mit  Hülfe  der  Bundes- 
genossen und  Vasallen  vom  Festland;  selbst  auf  den  Höhen  vor 
Waterloo  haben  nur  wenige  schottisch-englische  Divisionen  neben 
den  niederländischen  und  norddeutschen  Kontingenten  gestanden, 
die   unter   Englands   Fahne   kämpften. 

Werfen  wir  von  hier  aus  einen  raschen  Bhck  auf  die  Gegen- 
wart, so  nehmen  wir  erst  wahr,  wie  weit  die  Femwirkung  des 
Sieges  Englands  über  den  Herrn  des  Kontinentes  reicht.  Wenn 
es  wahr  ist,  daß  das  \\'esen  einer  Großmacht  darin  besteht,  sich 
auch  neben  dem  Stärksten  auf  den  eigenen  Füßen  behaupten  zu 
können,  so  gibt  es  seit  Trafalgar  zur,  See  nur  eine  Großmacht 
in  der  Welt:  England.  Und  wie  zu  Napoleons  Zeiten,  so  ist  es 
noch  heute:  nur  der  vereinigte  Kontinent  würde  hoffen  können, 
Großbritannien  von  der  Höhe  seiner  Stellung,  die  es  in  den  Welt- 
kämpfen vor  hundert   Jahren  errang,  herabzustürzen. 


88^-^?^ 


Napoleon  I.  und  Preußen. 

(1898.) 

Vor  einigen  Jahren  kam  ein  Blatt  aus  dem  Nachlaß  Leopold 
Rankes  heraus  (kaum  mehr  als  eine  Druckseite),  das  unter  den 
Historikern  von  Fach  ungemeines  Aufsehen  erregte.  Es  war  eine 
Antikritik  gegen  einen  Aufsatz  Max  Dunckers  über  die  Denk- 
würdigkeiten Hardenbergs,  worin  dieser  sich  abweichend  von  der 
Auffassung  Rankes  in  der  Biographie  des  Staatskanzlers  geäußert 
hatte,  welche  kurz  zuvor  veröffentlicht  worden  war.  Ranke 
pflegte  in  seinen  Darstellungen  nicht  zu  polemisieren,  kaum  in  den 
Anmerkungen ;  er  überließ  die  Wirkung  seiner  Gedanken  ihnen  selbst 
imd  verwandte  seine  Zeit  lieber  darauf,  eigene  Bücher  zu  schreiben, 
statt  andere  zu  kritisieren.  Und  so  ist  auch  diese  Notiz  niemals 
zur  Veröffentlichung,  sondern  gleich  vielen  anderen  nur  zu  seiner 
eigenen  Information  bestimmt  gewesen.  Um  so  merkwürdiger  war 
es  zu  sehen,  wie  lebhaft  er  darin  den  Angriff  erwiderte,  und  wie 
tief  er  den  Gegensatz  zu  den  von  D  u  n  c  k  e  r  vertretenen  Ansichten 
empfunden  hatte.  Mit  scharfen  Worten  äußert  er  seinen  Un- 
willen über  die  Kleinigkeitskrämerei  seines  Kritikers,  der  wohl 
einiges  Neue  aus  den  Akten  des  Geheimen  Staatsarchives  bei- 
gebracht, aber  das,  was  in  dem  Buche  geleistet  und  neu  sei,  kaum 
gestreift  habe.  Statt  dessen  sei  von  ihm  eine  eigene  Ansicht  der 
Begebenheit  entwickelt  worden,  in  der  aber  Napoleon  in  der  »her- 
gebrachten«, der  »landläufigen«  Auffassung  erscheine,  als  habe 
er  sich  von  vornherein  mit  dem  Plan  der  Welteroberung  getragen 


31ß  Kleine  historische  Schriften. 

lind  diesen  jeden  Augenblick,  der  ihm  günstig  schien,  zur  Aus- 
führung zu  bringen  gesucht.  »Er  erscheint,  daß  ich  so  sage,  wie 
eine  Eroberungsbestie,  auf  den  Augenbhck  lauernd,  wo  er  einen 
nach  dem  anderen  seiner  Nachbarn  verschlingen  könne.« 

Der  Eindruck,  den  diese  Stimme  des  alten  Meisters  aus  dem 
Grabe  unter  den  Fachgenossen  machte,  war  ebenso  groß  wie 
berechtigt.  Denn  was  Ranke  an  Duncker  verurteilt,  war 
bis  dahin  von  den  maßgebendsten  unter  den  deutschen  Historikern 
außer  ihm  allgemein  vertreten  worden.  Geradeso  schildert  Hein- 
rich von  Treitschke  den  großen  Kaiser  vor  seinem  Feldzuge 
gegen  Rußland:  »Der  entscheidende  Grund,«  heißt  es  bei  ihm, 
»lag  wieder  in  dem  unzähmbaren  Charakter  des  Weltherrschers. 
^^'ie  der  Löwe  nicht  bloß  aus  Hunger  mordet,  sondern  weil  er  nicht 
anders  kann,  weil  es  seine  Natur  ist,  zu  rauben  und  zu  zerfleischen, 
so  konnte  dieser  Allgewaltige  nicht  einen  Augenblick  bei  einem 
erreichten  Erfolge  sich  beruhigen.  Ins  Grenzenlose  schweiften 
seine  begehrlichen  Träume;  noch  war  ihm  nichts  gelungen,  was 
der  Märchenpracht  des  Alexanderzuges  gleichkam.  Kaum  war 
mit  Rußlands  Hilfe  Österreich  unterworfen,  so  sollte  der  Zar  mit 
dem  Beistand  der  Hofburg  gedemütigt  werden. «  Und  nicht  anders 
spricht  Heinrich  von  Sybel  von  der  Größe  des  dämonischen 
Mannes,  die  ebenso  abschreckend  sei  wie  begeisternd,  fortreißend 
in  ihrer  Erscheinung,  aber  düster  und  unheimlich  in  ihrem  Grunde. 
»Denn  überall  hat  sie  nur  sich  selbst  zum  Zwecke.  Sie  steht 
einsam  in  der  Welt,  sie  ist  herzlos  für  alle  anderen,  in  denen  sie 
nur  das  Material  für  ihre  eigene  Erhöhung  findet.«  Nichts  als  die 
glühenden  Begierden  eines  schrankenlosen  Ehrgeizes  weiß  er  für 
den  Plan  des  Feldzuges  gegen  Indien  und  alles,  was  Napoleon  ge- 
schaffen oder  zerstört  hat,  anzugeben. 

Ranke  hat  uns  sonst,  soviel  ich  weiß,  kein  Gesamturteil  über 
Napoleons  Politik  hinterlassen.  Aber  er  hat  dem,  was  er  dort 
privatim  gesagt,  auch  niemals  wiedersprochen ;  und  wer  seinen 
Hardenberg  oder  seinen  Consalvi  oder  irgendein  Werk  von  ihm, 
das  diese  Epoche  streift,  gelesen  hat,  wer  überhaupt  Rankes  Auf- 
fassung des  Weltzusammenhanges  kennt  (was  freihch  nicht  jeder- 
manns Sache  ist),  wird  finden,  daß  nur  diese  Ansicht  über  Napoleon 


Napoleon   I.  und  Preußen.  317 

damit  übereinkommt,  und  daß  er  sie  an  jener  Stelle  nur  kürzer 
und  schärfer  als  sonst  pointiert  hat. 

Heute  ist  dieselbe  auch  in  Deutschland  nicht  mehr  so  unge- 
wohnt; mehrfach,  u.  a.  auch  von  dem  Verfasser  dieser  Zeilen,  ist 
sie  vorgetragen  worden.  Denn  seitdem  hat  Albert  Vandal 
sie  aus  den  ursprünglichsten  und  reichsten  Quellen  in  breiter  Dar- 
stellung begründet.  Aber  daß  sie  weitere  Kreise  beherrschte,  kann 
man  noch  immer  nicht  sagen;  die  »landläufige«  Auffassung 
Napoleons  möchte  doch  noch  die  von  dem  »selbstsüchtigen  Aben- 
teurer«, dem  »gekrönten  Scheusal«,  dem  »modernen  Chingis- 
Khan«  sein,  und  wie  die  hergebrachten  Titel  lauten  mögen,  in 
denen  sich  mehr  löbliche  patriotische  Entrüstung  als  ein  histo- 
risches Verständnis  genugtut.  Ältere,  aber  sonst  noch  maßgebende 
Bücher,  wie  die  schöne  Biographie  Scharnhorsts  von  Max  Leh- 
mann, hängen  ganz  in  den  alten  Vorstellungen,  und  selbst  die 
neuesten  Arbeiten  über  die  preußische  Geschichte  in  der  napoleo- 
nischen Epoche  haben  sich  noch  nicht  völlig  freimachen  können 
von  den  Konsequenzen  einer  Auffassung,  die,  in  der  Zeit  der 
Unterdrückung  selbst  entstanden,  in  den  Jahrzehnten,  da  wir 
die  Sehnsucht  nach  der  nationalen  Einheit  mit  dem  Hasse  gegen 
Frankreich  nährten,  sich  erhalten  hatte. 

Seitdem  wir  aber  unsere  Nachbarn  zum  zweite  Male  nieder- 
warfen und,  wenn  auch  in  engen  Grenzen,  unsern  nationalen 
Staat  erlangten,  haben  wir  es  w-ohl  nicht  mehr  nötig,  unsere  Ver- 
gangenheit patriotisch  zu  färben,  und  können  wieder  fremder  Größe 
gerecht  w-erden,  ohne  ernstlich  Gefahr  zu  laufen,  der  Unempfind- 
lichkeit  gegen  die  nationalen  Ideale  angeklagt  zu  werden.  Und 
so  mag  es  mir  erlaubt  sein,  die  Politik,  welche  Napoleon  gegen 
Preußen  unter  dem  Zwange  seines  Systems  einhalten  mußte,  in 
leichter  Skizze  objektiv  zu  schildern. 

Ranke  hat  an  jener  Stelle  schon  die  Lücke  bezeichnet,  welche 
in  Dunckers  Auffassung  klafft  und  jedes  Verständnis  Napoleons 
unmögHch  macht.  »Dabei  ist,«  so  bemerkt  er,  »das  größte  Welt- 
verhältnis, in  welchem  sich  Napoleon  überhaupt  bewegte,  der 
Kampf  gegen  England  und  der  Zusammenhang  desselben  mit 
den  kontinentalen  Angelegenheiten,  so  gut  wie  ganz  aus  der  Acht 


318  Kleine  historische  Schriften. 

gelassen,  also  der  eigentliche  Faden,  an  den  sich  sein  Tun  und 
Lassen  anknüpft.  Von  dem  allgemeinen  Verhältnis  aber  sind  alle 
partikularen  Unternehmungen  ausgegangen,  und  man  kann  weder 
den  Angriff  noch  die  Abwehr  verstehen,  ohne  jenes  zu  gedenken.« 

Bonaparte  fand  diesen  Feind  vor,  als  er  seine  Laufbahn  be- 
gann. Gegen  ihn  gewann  er  vor  Toulon  seine  ersten  Lorbeeren, 
und  durch  ihn  erfuhr  er  in  Ägypten  seine  erste  Niederlage.  Nicht 
von  gestern  war  dieser  Gegner,  der  alle  Koalitionen  und  alle  Nieder- 
lagen der  alliierten  Mächte  überdauerte,  unverwundbar  hinter 
seinem  breiten  Graben,  siegreich  auf  allen  Meeren,  Herr  über 
Indien  und  fast  alle  Kolonien,  welche  Frankreich  und  seine  Alli- 
ierten je  besessen  hatten,  und  stets  bereit,  den  Kaiser  an  allen 
Küsten,  die  er  besetzt  hielt,  anzufallen.  loo  Jahre  und  darüber 
hatte  der  Kampf  zwischen  den  beiden  Mächten  bereits  gedauert: 
das  alte  Königtum  hatte  sich  an  ihm  matt  gerungen;  die  Revo- 
lution, die  es  vernichtete,  hatte  ihn  nur  fortgesetzt;  und  ihr  Erbe 
war  auch  darin  Napoleon  geworden  —  um  ebenfalls  daran  zu 
scheitern. 

Daß  der  Kampf  seines  Lebens  England  gelte,  hat  er  zu  allen 
Zeiten  und  hundertfach  ausgesprochen.  Und  niemand  war  tiefer 
davon  durchdrungen  als  er,  daß  er  dabei  unter  dem  Zwange  des 
Schicksals  stehe.  Er  war  persönhch  verwachsen  mit  seinem  Sy- 
stem, so  gut  wie  mit  den  ihrigen  Cäsar  und  Alexander  und  andere 
Gewaltige  in  der  Geschichte,  denen  er  allein  vergHchen  werden 
kann.  Aber  wie  jene,  stand  auch  er  unter  dem  Druck  der  Welt- 
verhältnisse, unter  Mächten,  die  er  nicht  geschaffen  hatte  und 
nicht  beherrschte,  die  älter  waren  als  er  und  seine  Zeit,  tief  ver- 
zweigt in  dem  Leben  der  Nationen.  Er  rief  die  einen  gefhssenthch 
auf  und  hielt  die  anderen  nieder;  so  hoffte  er  noch,  sie  alle  bän- 
digen und  gegen  das  eine  Ziel  wenden  zu  können  —  und  mußte 
erfahren,  daß  sich  fast  alle  vereinigten,  um  ihn  in  furchtbarer 
Umarmung  zu  ersticken.  Wie  oft  gedenkt  er  selbst,  zwischen 
den  Schlachten  oder  in  dem  Moment  der  Verhandlungen,  des 
Systems,  das  ihn  fessele,  des  Geschickes,  dem  er  dienen  müsse. 
»J'ai  un  maitre  qm  n'a  pas  d'entrailles,  c'est  la  nature  des  choses«, 
schreibt  er  an  Friedrich  von  \\'ürttemberg  mitten  aus  dem  pol- 


Napoleon  I.  und  Preußen.  319 

nischen  Winterfeldzuge  heraus.  »Ich  weiß,«  sagt  er  Josephinen, 
»noch  andere  Dinge  zu  tun  als  Krieg  zu  führen,  aber  die  Pflicht 
geht  allem  vor.  Mein  ganzes  Leben  habe  ich  geopfert,  Ruhe,  Inter- 
esse und  Glück,  meiner  Bestimmung.« 

Unsere  patriotischen  Historiker  haben  solche  Erklärungen 
und  Bekenntnisse  immer  nur  als  Heuchelworte  und  Märchen  des 
»großen  Lügners«  bezeichnet.  Heute,  wo  man  sich  schon  wieder 
gern  in  phantastischen  Traumbildern  von  dem  Zusammenschluß 
unseres  Kontinentes  gegen  die  engHsche  Weltmacht  ergeht,  sollten 
sie  uns  schon  darum  gar  nicht  mehr  so  ungereimt  erscheinen; 
und  wir  möchten  wohl  eher  die  früher  herrschende  Meinung  von 
dem  Kampfe  Englands  für  die  Freiheit  Europas  als  eine  Legende 
bezeichnen,  entstanden  in  der  Epoche,  da  die  Briten  sich  so  gern 
als  die  Hüter  aller  politischen  Freiheiten  von  unseren  Liberalen 
preisen  ließen.  Denn  wer  sieht  nicht,  daß  sie  in  dem  Kampf 
gegen  die  große  Revolution  und  ihren  Erben  die  Macht  erst  recht 
eigentlich  begründet  haben,  welche  heute  auf  Europa  drückt  und 
schon  auf  die  RivaUtäten  zwischen  den  Kontinentalstaaten  aus- 
gleichend einzmvirken  beginnt  ? 

Freilich  mußte  auch  Napoleon  darauf  bedacht  sein,  daß  alle 
Kräfte  des  Kontinents  zu  dem  einen  Ziel  zusammenwirkten.  Es 
war  auch  für  sein  Genie  und  seine  Macht  unmöglich,  einen  Frieden 
von  England  zu  erzwingen,  der  die  Errungenschaften  der  Revo- 
lution gewährleistete  und  ihre  Verluste  deckte,  wenn  ihm  auf 
dem  Festlande  immer  neue  Gegner  in  den  Rücken  fielen.  Nur 
e  i  n  System  konnte  er  hier  dulden.  Nicht  einmal  Neutrahtät 
durfte  er  am  Ende  gestatten.  Denn  es  war  nicht  bloß  ein  Kampf 
mit  den  Waffen,  sondern  von  Markt  gegen  Markt:  durch  Hunger 
und  Elend  wollte  er  den  Feind  ruinieren,  dem  er  nicht  an  den 
Leib  kommen  konnte.  Wer  nicht  für  ihn  war,  war  wider  ihn,  und 
ein  Todfeind  ward  er  jedem,  der  es  wagte,  sich  ihm  in  den  Weg 
zu  stellen. 

Neutrahtät  aber  war  die  Politik  Preußens,  als  es  zuerst  mit 
Bonaparte  in  Beziehungen  trat.  Es  hoffte,  in  dem  Weltkampf 
sich  isolieren  zu  können,  so  wie  es  unter  seinem  ersten  König  in- 
mitten des  Nordischen  und  des   Spanischen  Erbfolgekrieges  den 


'1^90  Kleine  historische  Schriften. 

Frieden  behauptet  hatte.  Aber  damals  hatte  es  wirklich  in  einer 
Neutralitätszone  gelegen,  an  der  jene  beiden  Erschütterungen 
hatten  vorübergehen  können,  ohne  ineinander  überzugreifen.  Jetzt 
hingegen  war  Rußland  längst  von  dem  allgemeinen  Brande  er- 
griffen worden  und  alle  Lebensinteressen  Preußens  im  Osten  und 
Westen  in  Frage  gestellt.  Es  war  unmöglich,  sich  auf  die  Dauer 
dem  großen  Kampfe  zu  entziehen. 

Im  März  1803  sah  sich  der  König  zum  ersten  Male  vor  die 
Entscheidung  gedrängt.  Der  Krieg  Frankreichs  mit  England  war 
nach  kurzer  Pause  wieder  ausgebrochen,  und  wahrhch  mindestens 
gleich  sehr  durch  die  Schuld  Pitts  und  seiner  Freunde  wie  Bona- 
partes. Das  Meer  war  seit  Abukir  in  den  Händen  Englands,  ein 
Angriff  auf  Älalta  oder  Ägypten  unmöglich,  und  auch  den  Stoß 
in  der  Front  wollte  der  Konsul  noch  nicht  wagen.  Es  gab  für  ihn 
keine  Stelle,  um  England  zu  verwunden,  außer  in  Hannover. 
Dort,  an  den  Mündungen  der  deutschen  Ströme,  konnte  er  hoffen, 
auch  den  englischen  Handel  schwer  zu  treffen;  aber  er  griff  damit 
in  die  Zone  der  Neutralität  ein,  die  dem  preußischen  Staat  zu 
Basel,  freilich  nicht  von  England,  gewährleistet  war.  Es  waren 
die  Landschaften,  welche  der  große  König  in  siebenjährigem  Rin- 
gen, damals  gegen  Frankreich,  behauptet  hatte.  Aber  hineinge- 
rissen war  auch  er  durch  den  Konflikt  der  beiden  Westmächte, 
der  mit  der  gleichen  Notwendigkeit,  wie  50  Jahre  später,  das  Land 
zwischen  Rhein  und  Elbe  ergriffen  hatte. 

Man  hat  das  ungünstige  Urteil,  unter  dem  Friedrich  Wil- 
helm in.  heute  steht,  wesentHch  abgeleitet  von  seiner  Haltung 
in  den  Jahren  1809  und  1811,  als  er  vor  dem  Kriege  um  die  Exi- 
stenz, in  den  ihn  die  Patrioten  hineinreißen  wollten,  zurückscheute. 
Jedoch  in  der  furchtbaren  Pressung,  in  der  sich  der  verstümmelte 
Staat  befand,  hätte  auch  eine  heroische  Natur  in  der  Stellung 
des  Königs  wohl  schwanken  können;  und  man  wird  immer  Mo- 
mente finden,  welche  sein  Zagen  und  schUeßHch  die  Unterwerfung 
unter  die  erdrückende  Übermacht  entschuldigen,  vielleicht  sogar 
rechtfertigen  könnten.  Im  Frühhng  1803  dagegen  hatte  Friedrich 
Wilhelm  noch  alle  Karten  in  der  Hand.  Sein  Staat  war  völlig  intakt, 
ja  durch  die  neuen  Erwerbungen,  die  man  schon  Bonaparte  ver- 


Napoleon  I.  und  Preußen.  321 

dankte,  in  besserer  Lage  als  vor  dem  Kriege  gegen  die  Revolution, 
und  blühte  auf  unter  einer  einsichtigen  und  sparsamen  Verwal- 
tung. Auch  die  Rüstung,  in  der  Friedrichs  Staat  allen  seinen 
Feinden  getrotzt  hatte,  war  noch  die  gleiche,  und  kaum  vermindert 
der  Glaube  an  die  kriegerische  Kraft  des  alten  Preußens.  Die 
Macht  der  Krone  war  ungeschwächt,  und  kein  Hauch  revolutio- 
nären Geistes  machte  sich  bemerkbar:  des  Königs  Wille  entschied 
und  er  allein  trug  alle  Verantwortung. 

Aber  von  dem  Tage  ab,  wo  ihm  General  Duroc  die  Besetzung 
Hannovers  ankündigte,  fehlte  ihm  jede  Kraft  des  Entschlusses. 
Und  während  er  zögerte  und  schwankte,  ob  er  sich  an  Bonaparte, 
ob  an  England  halten  sollte,  kamen  die  Franzosen;  in  wenigen 
Wochen  hatten  sie  die  hannoverschen  Truppen  umstellt  und  ent- 
waffnet, waren  die  Herren  geworden  bis  an  die  IMündung  der  Elbe. 
Dies  war  die  erste  pohtische  Handlung  Friedrich  Wilhelms  HL 
von  Gewicht;  sie  war  ihm  völhg  mißglückt.  Er  hatte  das  Spiel 
aus  den  Händen  gegeben,  bevor  es  recht  eigenthch  begonnen  war. 

Auch  jetzt  gab  es  für  Preußen  noch  eine  MögHchkeit,  aus  der 
gepreßten  Lage  herauszukommen  und  seine  Stellung  in  der  Welt 
würdig  der  Vergangenheit  zu  behaupten:  wenn  der  König  den 
Sprung  zu  Frankreich  hinüber  gewagt  hätte.  Es  wäre  die  Rück- 
kehr zu  der  Politik  Friedrichs  des  Großen  in  den  ersten  Schlesischen 
Kriegen  gewesen.  Napoleon  wollte  nichts  anderes.  Denn  was 
konnte  ihm  mehr  am  Herzen  liegen  als  die  preußische  Armee  zu 
gewinnen!  Er  hätte  vielleicht  Rußland  und  Österreich  in  Schach 
halten  und  alle  seine  Kräfte  gegen  England  wenden  können.  Auch 
war  es  nur  die  Fortsetzung  seiner  Haltung  bei  der  deutschen  Säku- 
larisation und  entsprach  der  Pohtik  des  neuen  wie  des  alten  Frank- 
reichs, das  immer  die  Führung  der  deutschen  Fürsten  angestrebt 
hatte.  Die  Vertreter  der  friderizianischen  Pohtik  in  BerHn,  wie 
Lucchesini,  waren  dafür,  und  wohl  denkbar,  daß  der  große  König 
dem  Sohne  der  Revolution  die  Hand  gegen  Habsburg  gereicht 
haben  würde.  Aber  der  Geist  Friedrichs  war  aus  den  Formen, 
die  er  geschaffen,  gewichen.  Hardenberg  übte  Kritik  an  den 
Vorschlägen  Lucchesinis:  vor  der  Besetzung  Hannovers,  meinte 
er,    wäre    die    Verbindung    mit    Bonaparte    anzuraten    gewesen, 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  2 1 


322  Kleine  historische  Schriften. 

jetzt  sei  es  zu  spät.  Denn  der  Krieg  werde  dadurch  unvermeidlich 
und  nicht  bloß  gegen  England,  das  unseren  Handel  schütze,  zu 
führen  sein;  man  werde  der  Vasall  Frankreichs  werden.  Die  Unab- 
hängigkeit müsse  man  behaupten,  eine  Macht  für  sich  bilden; 
»die  wahre  Präcaution  sei,  sich  vergrößern,  sich  verstärken :  Macht, 
vor  allem  Macht!«  Als  ob  Macht  jemals  ohne  Anstrengung  zu 
gewinnen  oder  auch  nur  zu  behaupten  sei!  Man  war  in  Berün 
nach  fremdem  Gut  geradeso  lüstern  wie  alle  anderen :  aber  es  sollte 
nichts  kosten,  weder  Blut  noch  Geld.  Man  hoffte,  Hannover  als 
Geschenk  zu  bekommen,  sowie  Österreich  Venetien:  je  nachdem 
aus  Englands  oder  Frankreichs  Händen,  durch  Erpressung,  als 
Lohn  dafür,  daß  man  das  Schwert  in  der  Scheide  behielt  und  nicht 
dem  einen  oder  dem  anderen  in  den  Rücken  stieß.  Hardenberg 
dachte,  den  Frieden  im  Bunde  mit  Österreich  behaupten  zu  können, 
dem  sich  die  übrigen  deutschen  Staaten  anschheßen  würden. 
Chimärischer  Gedanke!  Denn  wenn  schon  die  erste  Koalition  der 
deutschen  Mächte  gegen  die  Revolution  so  bald  zerbrochen  war, 
wie  hätte  es  nach  allen  Vorgängen  seit  Basel  unter  dem  Druck 
der  neuen  Konstellationen  zu  ihrem  Zusammenschlüsse  kommen 
können!  Vielmehr  den  Weltkrieg  machte  diese  Haltung^von  Tag 
zu  Tage  unvermeidlicher. 

Und  so  ließ  Preußen  es  geschehen,  daß  die  neue  Koahtion 
gegen  Frankreich  sich  bildete,  ohne  selbst  Stellung  zu  ihr  zu  ge- 
winnen; von  Mißtrauen  und  Feindseligkeit  allseits  umgeben, 
kannte  es  keine  andere  Weisheit,  als  in  dem  Weltkriege  —  während 
über  das  Schicksal  des  Kontinents  die  ehernen  Lose  geworfen 
wurden  —  in  der  Isolierhaft  seiner  Neutrahtät  zu  verharren. 
Der  Bund  mit  Bonaparte  im  Jahre  1803  hätte  vielleicht  doch  die 
Feinde  in  seinem  Rücken  verscheucht  und  dem  Konsul  den  An- 
griff auf  Englands  Küste,  zu  dem  er  alles  vorbereitet  hatte,  ermög- 
licht. Jetzt  aber,  gedeckt  durch  die  neutrale  Haltung  der  Nord- 
deutschen, wagten  die  Kaisermächte  des  Ostens  den  Angriff,  der 
den  neuen  Kaiser  zwang,  die  englische  Landung  aufzugeben  und 
alle  Kraft  gegen  jene  zu  kehren.  So  knüpfte  Preußen  den  Knoten 
seines  eigenen  Schicksals,  indem  es  die  größte  Wendung  in  dem 
Geschicke  Napoleons  herbeiführen  half. 


Napoleon  I.  und  Preußen.  323 

Ich  will  nicht  darüber  entscheiden,  ob  es  auch  dann  noch 
für  den  Staat  Friedrichs  denkbar  gewesen  wäre,  seine  Großmacht- 
stellung an  Napoleons  Seite  zu  behaupten.  Ihm  selbst  wäre  nach 
wie  vor  nichts  lieber  gewesen;  aber  in  Berhn  waren  solche  An- 
sichten verstummt,  und  das  preußische  Gewissen  begann  stür- 
misch die  Vereinigung  mit  den  Gegnern  des  Eroberers  zu  fordern. 
Herstellung  Deutschlands  unter  der  alten  Krone  wurde  das  Ideal: 
verschwommene  Gedanken  in  romantischer  Färbung,  unpreußisch 
in  ihrem  überalen  und  altdeutschen  Enthusiasmus;  aber  es  war 
Wille,  Tatkraft  und  Glaube  in  ihnen  —  die  Kräfte  beginnen  sich 
zu  bilden,  welche  Preußens  Wiedergeburt  vorbereitet  haben. 

Der  König  und  seine  nächsten  Ratgeber  waren  von  ihnen 
kaum  berührt.  WiderwiUig,  gezwungen  fast,  ließ  Friedrich  Wil- 
helm sich  in  Potsdam  zu  den  Zusagen  gegen  Zar  Alexander  her- 
bei, die  er  kaum  in  dem  Momente,  da  er  sie  gab,  zu  halten  gewillt 
war.  Und  während  seine  Diplomatie  zögerte  und  überlegte,  ging 
Napoleon  zermalmend  vorwärts:  sein  Sieg  bei  Austerlitz  zerstörte 
die  werdende  Allianz  im  Keim,  warf  Österreich  zu  Boden  und 
Alexander  über  seine  Grenze,  isoherte  Preußen  und  schuf  dem 
Sieger  aufs  neue  breitesten  Raum  in  Deutschland.  Niemals  war 
einer  der  alten  Kaiser  dort  oder  in  Itahen  mächtiger  gewesen, 
und  keinem  hatten  die  Stämme  nördhch  wie  südhch  der  Alpen 
je  wiUiger  Heeresfolge  geleistet. 

Auch  jetzt  wünschte  Napoleon  nichts  weniger  als  den  Krieg 
mit  Preußen.  Er  hatte  keine  Lust,  seine  Feinde  auf  dem  Fest- 
lande zu  vermehren.  Vielmehr  wäre  ihm  noch  immer  nichts  lieber 
gewesen  als  den  König  zum  Freunde  zu  haben,  sowie  die  Kronen 
des  Rheinbundes  und  Italiens.  Aber  jetzt  wäre  es  wirkhch  nur 
Vasallentum  geworden.  Jede  Freiheit  des  Entschlusses  war  schon 
für  Preußen  dahin,  und  die  Krone  hatte  nur  noch  zu  wählen  zwi- 
schen Kampf  und  politischer  Ohnmacht.  Um  diesem  Schicksal 
zu  entgehen,  um  die  Großmachtstellung,  das  Erbe  seines  Ahn- 
herrn zu  behaupten,  stellte  sich  der  König  endhch  dem  Über- 
mächtigen. Ein  Schlachttag  entschied.  Wenige  Wochen  und  die 
Reste  der  besiegten  Armee,  die  Hauptstadt  und  die  meisten  Festun- 
gen waren  verloren;  und  ganz  ohne  Nutzen  bheb  der  Kampf,  den 


324  Kleine  historische  Schriften. 

die  niedergeworfene  Monarchie  noch  einmal  an  der  Seite  Ruß- 
lands wagte:  preisgegeben  von  Alexander,  verlor  sie  die  Hälfte 
der  Provinzen  und  geriet  auf  Jahre  unter  das  härteste  Joch  des 
Siegers. 

In  Tilsit  erreichte  Napoleon  den  Zenith  seiner  wunderbaren 
Bahn;  niemals  hat  er  wieder  so  hoch  gestanden.  Schon  das  glän- 
zende Schauspiel,  das  er  ein  Jahr  darauf  der  Welt  auf  dem  Hof- 
tage zu  Erfurt  gab,  an  der  Seite  Alexanders  und  umgeben  von 
seinen  deutschen  Vasallen,  bedeutete  einen  weiten  Schritt  zurück 
und  konnte  mit  allen  rauschenden  Huldigungen  kaum  eine  Nieder- 
lage verhüllen.  Alle  seine  Anstrengungen  waren  seitdem  darauf 
gerichtet,  die  Position,  die  er  in  Tilsit  aufgegeben  hatte,  wieder 
zu  erreichen;  und  alle  Siege,  die  er  noch  über  die  Spanier  und 
Österreicher  erfocht,  waren  nicht  imstande,  das  Verlorene  einzu- 
holen; ja,  nicht  einmal  der  Erfolg  der  Rüstungen  im  Jahre  1812 
und  die  neue  Fesselung  Preußens  haben  ihm  solche  Chancen  ver- 
schaffen können,  wde  er  sie  fünf  Jahre  zuvor  gehabt  hatte.  In 
Tilsit  w^aren  ihm  alle  Sterne  günstig:  Preußen  lag  am  Boden  und 
der  Kontinent  gebändigt  hinter  ihm.  Nur  an  einer  Stelle,  in  Kon- 
stantinopel, zuckte  ein  Flämmchen  des  Widerstandes  auf.  Dort, 
in  der  Reaktion  des  alttürkischen  Fanatismus  gegen  Sultan  Sehm 
und  seine  fränkischen  Reformen,  haben  sich  zuerst  die  Geister 
nationaler  Empörung  geregt,  deren  gemeinsamem  Ansturm  Na- 
poleon erliegen  sollte.  Aber  noch  wäre  es  auch  hier  leicht  gewesen, 
sie  niederzuhalten.  Wenigstens  urteilte  Sebastiani  so,  der  Ver- 
treter Frankreichs  an  der  Pforte,  in  dem  noch  immer  der  offensive 
Geist  der  Revolution  glühte;  er  trieb  seinen  Herrn  an,  vorwärts 
zu  gehen,  so  werde  man  auch  am  Bosporus  alles  wiedergewinnen 
und  den  neuen  Sultan  mit  fortreißen.  Und  so  taten  auch  die 
Polen,  die  dem  Kaiser  noch  in  Tilsit,  während  schon  der  Friede 
verhandelt  wurde,  den  Aufstand  in  Litauen  verhießen.  Die 
Grenzen  Rußlands  aber  lagen  offen  vor  ihm.  Kein  Zweifel,  daß 
der  erste  Stoß  genügt  hätte,  um  die  Reste  der  russischen  Truppen 
jenseits  der  j\Iemel,  aufgelöst  wie  sie  waren,  zu  zertrümmern. 
Alle  Offiziere  des  Zaren,  ihr  Oberbefehlshaber  General  Bennigsen 
und  Großfürst  Konstantin  an  der  Spitze,  forderten  von  Alexander 


Napoleon  I.  und  Preußen.  325 

den  Frieden;  sie  haben  ihm  das  Schicksal  seines  Vaters  angedroht, 
wenn  er  nicht  nachgebe.  Seine  Briefe  und  alle  Nachrichten  aus 
diesen  Tagen  zeigen  ihn  völlig  gedemütigt,  fassungslos  und  bereit, 
die  schwersten  Bedingimgen  aus  der  Hand  des  Siegers  anzunehmen. 

\\'enn  es  noch  eines  Beweises  bedürfte,  daß  Napoleon  wirk- 
lich nicht  die  sinnlos  fortstürmende,  blut-  und  beutegierige  Er- 
oberungsbestie gewesen  ist,  daß  es  ihm  Ernst  war  mit  dem  Kampf 
gegen  England,  ja  mit  den  friedlichen  Siegen,  die  er  danach  von 
der  Erneuerung  der  kolonialen  Macht  Frankreichs  erhoffte,  so 
muß  man  ihn  in  diesem  Moment  beobachten,  wo  er  dem  waffen- 
losen Gegner  die  Hand  zum  Frieden  bot.  Man  weiß,  wie  erbar- 
mungslos der  Kaiser  mit  seinen  Unterworfenen  zu  verfahren 
pflegte;  Friedrich  Wilhelm  sollte  es  in  Tilsit  erleben.  Dem  Zaren 
aber  nahm  er  keinen  Rubel  und  keinen  Fußbreit  Landes  ab, 
vielmehr  gab  er  ihm  noch  ein  Stück  aus  der  polnisch-preußischen 
Beute;  er  verlangte  nichts  von  ihm  als  den  Beitritt  zu  seinem 
System,  den  Bund  gegen  England.  Ja  mehr  als  das,  er  erregte 
in  Alexander  die  Hoffnung  auf  Finnland  und  die  türkischen  Pro- 
vinzen, und  \\iegte  seine  bewegUche  Phantasie  in  den  berauschenden 
Plänen  der  Eroberung  Indiens. 

Doch  dürfte  man  nicht  sogleich  sagen,  daß  der  Imperator 
in  Tilsit  nichts  als  Krieg  gegen  England  im  Sinne  gehabt  habe. 
Er  wollte  nur  seinen  Zweck  erreichen ;  konnte  es  ohne  Waffengewalt 
geschehen,  so  war  es  ihm  nur  um  so  Heber.  Und  erwägt  man,  auf 
welche  Bedingungen  hin  er  dem  Inselreich  den  Frieden  bewilligen 
wollte  —  in  dem  geheimen  Bündnisvertrage  mit  dem  Zaren,  der 
vor  ein  paar  Jahren  ans  Licht  kam,  sind  sie  verzeichnet  — ,  so 
möchte  man  \Wrkhch  glauben,  daß  er  sich  einen  Augenblick  in  der 
Hoffnung  gewiegt  habe,  den  starren  Gegner  durch  die  bloße  Ent- 
faltung der  gesammelten  Macht  des  Festlandes  auf  die  Kniee  zu 
z%vingen.  Denn  auch  England  soUte  nichts  von  seinem  eigenen 
Besitzstande  verheren;  es  sollte  nur  die  Eroberungen  seit  1805, 
die  französischen,  spanischen  und  holländischen  Kolonien  heraus- 
geben und  die  Freiheit  der  Meere  für  die  Flaggen  aller  Nationen 
zugeben,  dafür  aber  Hannover  zurückerhalten.  Nicht  einmal 
Malta,  auf  das  es  in  Amiens  verzichtet  hatte  und  um  dessen  willen 


326  Kleine  historische  Schriften. 

der  Krieg  neu  entbrannt  war,  forderte  der  Kaiser,  geschweige 
Ägypten.  Ob  also  England  Frieden  schließen  wollte,  darauf  kam 
es  an. 

Die  Antwort,  welche  das  neugebildete  Torykabinett  auf  die 
ersten  Eröffnungen  gab,  die  der  Zar,  wie  verabredet  war,  nach 
London  gelangen  ließ,  war  deutlich  genug.  Es  war  die  Expedition 
nach  Kopenhagen,  die  Zerstörung  der  wehrlosen  Stadt,  die  Ver- 
nichtung einer  neutralen  Flotte  —  ein  Rechtsbruch  von  einer 
BrutaHtät,  daß  auch  die  ärgsten  Gewalttaten  Napoleons  davor 
in  den  Schatten  treten.  Aber  ihren  Zweck  erreichten  die  Briten: 
sie  wollten  den  Krieg  und  zersprengten  darum  den  eisernen  Ring, 
bevor  er  sich  noch  ganz  um  sie  gelegt  hatte ;  alle  Küsten  der  Ostsee 
lagen  ihren  Angriffen  nun  offen. 

Wie  hätte  Napoleon  jetzt  noch^an  Frieden  und  Verhand- 
lungen denken  können!  Alles  mußte  er  daransetzen,  um  nicht 
auch  auf  dem  Unken  Flügel  gelähmt  zu  werden,  sich  des  längst 
schwankenden  Spaniens  versichern,  in  Lissabon  den  Beherrschern 
der  See  —  schon  steuerten  ihre  Schiffe  dorthin  —  zuvorkommen. 
Und  so  wurde  er  in  den  Konflikt  mit  den  spanischen  Parteien,  in 
das  Attentat  von  Bayonne  und  den  Aufstand  der  bigotten  Nation 
mit  allen  seinen  unheilvollen  Folgen  hineingerissen.  Der  Zar 
schloß  wirkUch  seine  Küsten  und  erklärte  sich  zum  Gegner  Eng- 
lands —  aber  während  er  dann  um  sich  griff,  Finnland  den  Schwe- 
den raubte  und  auch  an  der  Donau  seine  Heere  sich  an  Kampf 
und  Sieg  gewöhnten,  hielt  er  sich  dem  eigenthchen  Feinde  gegen- 
über völlig  aus  dem  Spiel;  kein  Russe  hat  für  Napoleon  geblutet; 
der  Freund  Heß  ihn  in  seinem  Kampfe  völlig  stecken. 

Solange  die  spanischen  Sorgen  den  Kaiser  nicht  drückten, 
fanden  die  Expedition  nach  Indien  und  die  Aufteilung  der  Türkei 
in  seinen  Plänen  Raum.  Noch  im  Februar  1808  ließ  er,  gereizt 
durch  eine  neue  kriegerische  Thronrede  der  Engländer,  die  Auf- 
forderung dazu  nach  Petersburg  gelangen.  Sie  war  zugleich  darauf 
berechnet,  den  Zaren  an  seine  PoHtik  zu  fesseln.  Auch  ist  es  richtig, 
daß  er  selbst,  wie  Alexander  es  oft  betonte,  in  Tilsit  die  Pläne 
gegen  die  Türken  zur  Sprache  gebracht  hatte.  Dennoch  war  der 
russische  Ehrgeiz  viel  mehr  als  der  seine  auf  die  Donauländer  und 


Napoleon  I.  und  Preußen.  327 

den  Bosporus  gerichtet.  Ihm  konnte  wohl  daran  hegen,  den  Bundes- 
eifer des  Zaren  gelegenthch  anzustacheln,  aber  im  ganzen  war  er 
offenbar  der  Zurückhaltende,  und  Alexander  war  es,  der  nicht 
müde  ward,  gegen  den  französischen  Gesandten,  Grafen  Caulain- 
court,  die  Teilungspläne  zu  erörtern,  die  Donaufürstentümer,  ja 
Konstantinopel  selbst  als  sein  Los  herauszubringen.  Je  mehr  sich 
aber  die  Lage  im  Westen  verwirrte,  um  so  mehr  mußte  Napoleon 
darauf  bedacht  sein,  die  Dinge  im  Osten  in  der  Schwebe  zu  er- 
halten und  sich  nicht  noch  neue  Feinde  am  Bosporus  und  an  der 
Donau  zu  verschaffen.  Wie  kann  man  nach  alledem  noch  glauben, 
daß  er  den  Krieg  gegen  Österreich  heraufgeführt,  daß  er  auch 
diesen  Staat  seinem  »rasenden  Ehrgeiz«,  seinen  »unzähmbaren 
Leidenschaften«  habe  zum  Opfer  bringen  wollen!  Es  ist  dies 
gerade  so  ungereimt  ^^'ie  das  ebenso  immer  noch  mederholte  Mär- 
chen, daß  er  schon  in  Tilsit  die  Entthronung  der  spanischen  Bour- 
bonen  beschlossen  habe  —  Memoirenklatsch,  dem  seine  geheimsten 
Korrespondenzen  ebensosehr  widersprechen  wie  die  Vernunft  der 
Tatsachen.  Ihm  konnte  gar  nichts  Schlimmeres  begegnen  als  der 
Angriff  der  Österreicher,  während  ihm  die  Spanier  auf  dem  Halse 
lagen.  Als  ihn  im  Sommer  1808  in  Paris  und  Bayonne  die  ersten 
Nachrichten  von  der  drohenden  Haltung  des  Wiener  Hofes  er- 
reichten, mochte  er  kaum  an  ihren  Ernst  glauben.  Danach  meinte 
er  wohl,  man  rüste  gegen  ihn  aus  Furcht,  und  hoffte,  daß  der  Ab- 
marsch seiner  Truppen  aus  den  Stellungen  an  der  Weichsel  und 
Oder,  zu  dem  ihn  die  Niederlagen  in  Spanien  nötigten,  die  Lage 
bessern  werde.  Er  trieb  seinen  Freund  an  der  Newa  an,  eine  scharfe 
Sprache  in  Wien  zu  führen,  um  dadurch  die  Kriegslust  zu  dämpfen, 
und  erreichte  von  ihm  in  Erfurt  wirklich  das  Versprechen,  faUs 
Österreich  angreife,  Bundeshülfe  zu  gewähren.  Dafür  mußte  er 
jedoch  jenem  die  Donauprovinzen  preisgeben,  wodurch  sich  der  Kon- 
flikt mit  Österreich  natürlich  verschärfte.  Dennoch  hoffte  er 
durch  die  Niederwerfung  der  Spanier,  die  er  jetzt  persönlich  und 
mit  aller  Kraft  unternahm,  dem  feindseligen  Hofe  Respekt  einzu- 
flößen. Und  man  weiß,  wie  gut  es  ihm  auf  der  Halbinsel  gelang: 
er  zersprengte  die  spanischen  Heerhaufen,  zog  als  Sieger  in  Madrid 
ein  und  warf  das  enghsche  Hülfskorps  gegen  die  Küste.    Schon 


328  Kleine  historische  Schriften. 

plante  er  neue  Unternehmungen  über  die  See.  60  Linienschiffe 
und  ebensoviele  Fregatten  bildeten  eine  Streitmacht,  mit  der  er 
den  Engländern  wohl  zu  schaffen  machen  konnte.  In  den  Häfen 
von  Vlissingen,  Brest  und  Toulon  lagen  die  Geschwader  bereit, 
um  nach  Indien  oder  Jamaika  auszulaufen.  Ein  neues  Lager  von 
Boulogne  war  in  der  Bildung  begriffen  und  große  Truppenmassen 
nach  jenen  Kriegshäfen  in  Marsch.  Aber  umsonst  waren  alle  seine 
Bemühungen,  den  Zaren  zu  gemeinsamen  Erklärungen  in  Wien 
fortzureißen,  die  diesen  Hof  hätten  einschüchtern  können.  Die 
Haltung  Alexanders  war  eher  dazu  angetan,  die  Österreicher  zu 
der  Offensive  im  Frühjahr  1809  zu  ermuntern,  in  deren  Entwicklung 
sie  nur  durch  den  furchtbaren  Gegenstoß  Napoleons  in  dem  genial- 
sten seiner  Feldzüge  jäh  unterbrochen  wurden. 

Dahin  war  der  große  Kriegsfürst  mit  seinem  System  von 
Tilsit  geraten:  statt  der  Vereinigung  des  Kontinents  hatte  es  ihm 
Aufstände  und  Kriege  im  Osten  und  Westen  gebracht  und  seitens 
des  russischen  Freundes  nichts  als  Hinterlist  und  Enttäuschungen. 
Napoleon  erscheint  wie  ein  ausgezeichneter  Fechter,  den  von  allen 
Seiten  die  Gegner  umringen.  Wo  sein  Schwert  hinfällt,  trifft  er 
tödlich.  Aber  während  er  zum  Streiche  ausholt,  fallen  ihm  andere 
in  den  Rücken  —  wie  hätte  er  nicht  endlich  erliegen  müssen! 

Nicht  daß  es  ihm  ganz  an  Freunden  gefehlt  hätte.  Die  Rhein- 
bundstaaten und  die  Italiener  halfen  ihm  gegen  Österreich  gern, 
denn  sie  verteidigten  ihre  Existenz.  In  Itahen  belebte  er,  wie  in 
Polen,  die  nationalen  Hoffnungen,  und  auch  im  rheinbündischen 
Deutschland  waren  die  leitenden  Schichten  der  Gesellschaft  na- 
poleonisch gesinnt  und  die  Massen  apathisch:  aber  nirgends  fand 
der  Kaiser,  auch  in  Frankreich  nicht,  den  freien  Gehorsam  und 
die  gleiche  angestammte  Treue  wie  die  alten  Dynastien.  Er  bheb 
der  Emporkömmling,  der  Sohn  der  Revolution,  die  ihn  in  die 
Höhe  geworfen  hatte,  wie  früher  die  Mirabeau  und  Lafayette, 
die  Danton  und  Robespierre.  Immer  hatte  er  mit  den  besiegten 
Parteien,  des  alten  wie  des  neuen  Frankreichs,  zu  rechnen,  und 
gerade  der  heimische  Boden  bebte  ihm  unter  den  Füßen.  Rück- 
sichten auf  Frankreich  wirkten  mit  zum  Frieden  von  Tilsit;  und 
man  weiß,  daß  neben  den  Nachrichten  aus  Wien  und  Konstanti- 


Napoleon  I.  und  Preußen.  329 

nopel  die  üble  Kunde  von  der  Opposition  einheimischer  Fak- 
tionen ihn  bewogen  hat,  seinen  Siegeslauf  in  Spanien  zu  unter- 
brechen. Nur  wo  er  unbedingt  herrschte,  wo  seine  Zollwächter 
und  Di\d3ionen  standen,  hatte  er  Ruhe:  Gewalt  allein  hielt  ihn 
aufrecht.  Es  nützte  ihm  nichts,  seine  Brüder  mit  den  fremden 
Kronen  zu  begaben:  ihre  Politik  nahm  sofort  etwas  von  der  Farbe 
des  Bodens  an,  über  den  sie  gesetzt  waren,  und  sie  verfielen  dann 
dem  Zorn  des  Imperators  so  gut  wie  die  andern.  Nur  im  Frieden 
konnte  er  hoffen,  sich  auf  die  Dauer  zu  behaupten  und  eine  Dynastie 
zu  begründen;  das  eigenste  Interesse  trieb  ihn  an,  gleich  Cromwell 
und  Wallenstein,  von  den  erhabenen  Idealen  kolonialer  Macht 
und  friedlichen  Wohlstandes  Frankreichs  und  der  Welt  als  den 
Zielen  aller  Kämpfe  zu  träumen.  Er  suchte  seine  Gewalt  zu  legaU- 
sieren,  die  Legitimität  unter  den  Fürstenhäusern  Europas  und  den 
Bund  mit  der  Hierarchie  zu  erlangen:  es  war  alles  vergebens. 
Seine  Macht  konnte  ihren  Ursprung  nicht  verleugnen:  unabläs- 
siger Kampf  war  sein  Los,  und  eine  Heldenlaufbahn,  die  so  uner- 
hört war  wie  die  Blutopfer,  die  sie  kostete.  Er  mußte  die  Völker 
auspressen  und  die  Länder  rauben,  sowie  Robespierre  und  Saint- 
Just  hatten  töten  müssen,  weil  sie  nur  so  sich  hatten  behaupten 
können.  Und  so  war  denn  im  letzten  Grunde  —  mag  das  Para- 
doxon gewagt  werden  —  die  tyrannische  Härte,  mit  der  er  jeden 
Widerstand  der  Unterjochten  niederhielt  und  bestrafte,  nur  ein 
Ausdruck  seiner  Schwäche. 


Inmitten  seiner  Todfeinde  und  lauen  Freunde  und  Rivalen 
erblickte  Napoleon  Preußen.  Seine  Freundschaft  für  Alexander 
und  die  Liebe  des  Zaren  zu  den  Seelenfreunden  von  Memel  hatten 
die  Dynastie  der  Hohenzollern  gerettet  und  ihr  die  knappe  Hälfte 
der  Provinzen  zurückgegeben.  So  ungefähr  stand  es  in  der  Frie- 
densurkunde und  ward  so  der  Welt  immer  von  neuem  verkündigt. 
Doch  wäre  es  naiv  zu  glauben,  daß  der  Biedersinn  Friedrich  Wil- 
helms und  Luisens  Liebreiz  es  über  das  leichtbeschwingte  Herz 
Alexanders    davongetragen    hätten.     Nicht    einmal    das    Scham- 


330  Kleine  historische  Schriften. 

gefühl  gegenüber  dem  früheren  Alliierten,  den  er  preisgegeben, 
hatte  viel  Raum  in  seiner  zärtlichen  Seele.  Das  Interesse  an  Preußen 
war  für  ihn,  und  so  auch  für  Napoleon,  lediglich  bedingt  durch 
ihre  Stellung  zueinander  und  durch  den  Gang  der  allgemeinen 
Pohtik.  An  sich  konnte  ein  Staat,  der  nicht  viel  größer  \\ar  als 
Westfalen  oder  Bayern,  für  beide  nur  sekundäre  Bedeutung  haben. 
Wenn  sie  ihm  trotzdem  größeren  Platz  in  ihren  Berechnungen 
gewährten,  so  verdankte  er  das  neben  den  Traditionen  der  Dynastie, 
die  sich  doch  nicht  so  leicht  wie  die  Grenzen  selbst  verwischen 
Heßen,  seiner  geographischen  Lage.  Es  war  die  Zwischenmacht 
zwischen  den  beiden  Kaiserreichen.  Napoleon  duldete  sie,  weil 
er  durch  die  Ausdehnung  des  Rheinbundes  bis  an  die  Elbe  den 
verstümmelten  Staat  von  zwei  Seiten  umklammert  hielt  und 
durch  die  Herstellung  Polens  auch  gegen  Rußland  eine  starke 
Stellung  gewann.  Es  war  eine  der  Konzessionen,  die  er  dem  neuen 
Freunde  machte,  um  ihn  gegen  England  zu  gewinnen.  Und  so- 
lange dem  Zaren  an  der  französischen  Allianz  lag,  blieb  ihm  das 
Schicksal  Preußens  gleichgültig  genug.  Z^yar  hörte  er  nicht  auf, 
Napoleon  mit  Bittgesuchen  für  seinen  »unglückhchen  alten  Al- 
hierten«  zu  bestürmen,  Minderung  der  Kontribution  und  den  Ab- 
marsch der  Truppen  zu  fordern.  Aber  damit  diente  er  in  erster 
Linie  sich  selbst.  Denn  je  weniger  Franzosen  in  den  Weichsel- 
und  Oderfestungen  standen,  um  so  leichter  konnte  er  aufatmen 
und  um  so  eher  darauf  rechnen,  in  Preußen  selbst  wirksame  Hülfe 
zu  finden,  falls  sich  der  Wind  einmal  drehen  sollte.  Deshalb  war 
er  schon  in  Tilsit  so  übereifrig  für  die  Restitution  Magdeburgs 
an  Preußen  eingetreten:  in  demselben  Moment,  wo  er  bei  Napoleon 
(natürhch  im  tiefsten  Geheim  vor  den  alten  Freunden)  um  ein 
großes  Stück  aus  den  polnisch-preußischen  Provinzen  bettelte  und 
sich  sogar  auf  den  Kreis  von  Memel  Hoffnung  machte.  Ganz 
entsetzt  war  er,  als  ihn  der  Kaiser  im  November  durch  seinen 
Gesandten  ersuchen  ließ,  ihm  die  Besetzung  Schlesiens  zu  ge- 
statten. Es  war  die  Gegenforderung  für  die  Donauprovinzen,  die 
der  Zar  für  sich  verlangt  hatte;  Napoleon  wollte  dadurch  seine 
Position  im  Osten  auch  Österreich  gegenüber  verstärken,  das 
durch  den  russischen  Besitz  der  Donaumündungen  aufs  ärgste  ver- 


Napoleon  I.  und  Preußen.  331 

letzt  wäre.  »Die  Forderung  von  Berlin,«  schrieb  damals  Caulain- 
court  mit  treffender  Ironie,  »würde  die  Herren  in  Petersburg  nicht 
so  wild  gemacht  haben«. 

Nun  erkennen  wir,  weshalb  Napoleon  nicht  daran  denken 
konnte,  Preußen  aus  den  Fingern  zu  lassen.  Da  er  diesem  Staat 
in  Tilsit  die  Unabhängigkeit  garantiert  hatte,  besaß  er  kein  anderes 
Mittel,  ihn  niederzuhalten  und  sich  die  Verbindung  mit  Polen  zu 
sichern,  als  die  Kontribution,  die  Festungen,  die  Etappenstraßen 
und  alle  die  anderen  Foltern  und  Fesseln,  in  die  er  ihn  einschnürte. 
Vergebens  waren  alle  Versuche  der  preußischen  Regierung,  Er- 
leichterung der  Lasten  zu  erreichen;  nur  immer  drückender  wurde 
das  Joch.  Die  Missionen  Knobeisdorfs,  Brockhausens  und  des 
Prinzen  Wilhelm  nach  Paris  blieben  ganz  ohne  Nutzen.  Es  war 
nur  zu  wahr,  was  der  Kaiser  letzterem,  als  er  ihn  im  Februar  1808 
empfing,  erklärte:  »Das  Arrangement  Ihrer  Angelegenheiten  hat 
seinen  Platz  unter  den  Kombinationen  der  allgemeinen  Politik, 
die  in  der  Entmcklung  begriffen  ist.  .  .  .  Im  Sommer  werden  viel- 
leicht die  großen  Angelegenheiten  arrangiert  sein.«  Und  so  war 
es  in  der  Tat  nicht  die  größere  oder  geringere  Geschicklichkeit 
der  preußischen  Unterhändler,  was  die  Wendung  herbeiführte, 
sondern  der  Umschlag  in  der  allgemeinen  Politik  im  Juli  dieses 
Jahres :  die  Kapitulation  Duponts  bei  Baylen  in  Andalusien  zwang 
den  Eroberer,  seine  besten  Truppen  aus  Norddeutschland  wegzu- 
nehmen und  in  Erfurt  dem  Zaren  Finnland  und  die  Donaupro- 
vinzen zu  cedieren,  ohne  etwas  anderes  als  das  Versprechen  zu 
erhalten,  eventuell  gegen  Österreich  mitzuhelfen.  Aber  wenn  er 
hoffte,  dadurch  die  Wiener  Angriffslust  zu  hemmen,  so  geschah, 
wie  bemerkt,  das  Gegenteil.  Und  wie  an  der  Donau,  so  erwachte 
auch  in  Preußen  alsbald  die  Hoffnung,  das  Joch  vom  Nacken  zu 
werfen. 

In  dem  engen  Rahmen  dieses  Essays  kann  ich  leider  nicht 
die  Agitation  schildern,  in  welche  sich  der  preußische  Staat  durch 
den  österreichischen  Krieg  im  Jahre  i8og  gestürzt  sah.  Man 
weiß,  daß  der  König  sich  zweimal  bis  dicht  vor  die  Erhebung 
drängen  ließ,  im  Mai,  und  zwar  noch  vor  der  Siegeskunde  von 
Aspem,  und  Ende  Juli,  nachdem  Österreich  schon  bei  Wagram 


332  Kleine  historische  Schriften. 

niedergeworfen  war  und  in  dem  Waffenstillstand  von  Znaim  den 
Frieden  mit  Napoleon  eingeleitet  hatte.  Auch  will  ich  nicht  da- 
rüber richten,  ob  das  Eintreten  Preußens  in  den  Krieg  Aussicht 
auf  Erfolg  geboten  hätte,  ob  es  denkbar  gewesen  wäre,  rechtzeitig 
neben  den  Österreichern  dem  Genie  und  der  Kriegsmacht  des 
französischen  Kaisers  zu  begegnen.  Militärische  Erwägungen  allein 
werden  niemals  darüber  entscheiden  können,  da  es  dabei  vor  allem 
auf  politische  Momente  ankommt:  auf  die  Fragen,  ob  Österreich 
Treue  gehalten  hätte,  ob  der  Aufstand  in  den  westfälischen  Be- 
reichen ausgebrochen,  ob  von  Alexander  irgend  etwas  zu  hoffen 
und  nicht  eher  zu  fürchten  gewesen  wäre.  Doch  wird  man  zu- 
geben, daß,  wenn  überhaupt,  nur  im  Frühling,  als  Österreich  noch 
aufrecht  stand,  an  einen  Erfolg  zu  denken  gewesen  wäre.  Nach 
Wagram  glaubten  die  Patrioten  selbst  kaum  noch  an  den  Sieg; 
und  als  vollends  das  kriegsmüde  Österreich  die  gebotene  Hand 
zurückstieß,  war  ihr  Versuch,  den  König  dennoch  in  den  Kampf 
hineinzustoßen,  kaum  mehr  als  ein  Akt  der  Verzweiflung.  Sie 
sahen  den  Untergang  vor  Augen.  Denn  Napoleon  hasse  Preußen, 
er  wolle  es  vernichten  und  werde  den  letzten  Streich  führen,  so- 
bald er  mit  Österreich  fertig  sei  —  es  bleibe  nichts  anderes  übrig, 
als  mit  Ehren  kämpfend  zu  fallen. 

Und  freilich  hatten  der  König  und  seine  Ratgeber  im  Herbst 
dieses  Jahres  Grund  zur  Furcht.  Denn  ihre  Rüstungen  und  Ab- 
sichten hatten  sich  nicht  verbergen  lassen,  und  im  System  Na- 
poleons lag  es,  wie  wir  wissen,  jeden  Widerstand  niederzuschlagen. 
So  war  es  denn  ein  saurer  Gang  für  den  preußischen  Unterhändler, 
Oberst  von  Krusemarck,  als  er  am  5.  November  dem  Kaiser  den 
Glückwunsch  Friedrich  Wilhelms  zu  dem  siegreichen  Frieden  zu 
überbringen  hatte.  Unsere  patriotischen  Historiker  schäumen  vor 
Entrüstung  über  die  Brutalitäten  und  Sottisen,  die  der  »Korse«, 
der  »Nichtswürdige«  bei  jener  Audienz  dem  Preußen  ins  Ge- 
sicht geschleudert  habe.  In  der  Tat,  liebenswürdig  war  der 
Empfang,  den  'Napoleon  dem  Gesandten  bereitete,  nicht  zu 
nennen;  auch  Bismarck,  fürchte  ich,  würde  im  analogen  Falle 
einen  französischen  Unterhändler  nicht  eben  glimpfHch  behandelt 
haben. 


Napoleon  I.  und  Preußen.  333 

Aber  das  Ende  der  Zornreden  gegen  Schill  und  »Bluquaire« 
und  die  revolutionierte  preußische  Armee  entsprach  dem  pol- 
ternden Ton  keineswegs.  Er  habe  zwar  das  Recht,  Preußen  den 
Krieg  zu  erklären,  werde  es  aber  nicht  tun.  Denn  wozu  ?  Etwa 
um  in  Preußen  einen  Sprossen  seiner  Dynastie  einzusetzen  ?  Das 
würde  keinen  anderen  Zweck  haben,  als  eine  entartete  Nation 
schneller  zu  regenerieren  und  ihr  die  für  ihr  Dasein  erforderliche 
Kraft  zu  geben.  Oder  um  das  Königreich  Westfalen  zu  vergrößern  ? 
Er  dächte  nicht  daran;  denn  wenn  auch  sein  Bruder  ihn  nicht 
bekriegen  werde,  so  würden  doch  ihre  beiderseitigen  Nachkommen 
miteinander  in  Kampf  geraten.  Darum  wolle  er  sich  mit  dem 
Könige  von  Preußen  verständigen,  sobald  dieser  auf  dem  Platz 
sei,  wohin  er  gehöre  —  er  meinte:  in  Berlin.  Kurz,  diese  Erklä- 
rung war,  wie  schon  Ranke  bemerkt  hat,  durchaus  friedlich. 

Nur  hatte  der  Kaiser  freihch  keine  Ursache,  nach  solchen 
Vorgängen  die  Fesseln  zu  lockern.  Um  so  weniger,  als  in  diesem 
\Mnter  sich  die  große  Wandlung  in  seinem  Verhältnis  zu  Rußland 
vollzog:  mit  seiner  Werbung  um  die  Schwester  Alexanders,  durch 
die  er  die  AUianz  hatte  sichern  wollen,  hingehalten  und  schließlich 
abgewiesen,  wandte  sich  Napoleon  in  rascher  Schwenkung  dem 
Kaiserhof  an  der  Donau  zu. 

Unter  dem  Druck  dieser  Wendung  hat  er  aufs  neue,  diesmal 
direkt  beim  Berliner  Kabinett,  die  Forderung  erhoben,  die  Kontri- 
bution mit  der  Cession  eines  Stückes  von  Schlesien  abzukaufen, 
ein  Plan,  der  offenbar  wieder  ebensosehr  gegen  Rußland  wie  gegen 
Preußen  gemünzt  war.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  Napoleon  den 
Gedanken  an  demselben  Tage  faßte,  an  dem  er  auf  die  russische 
Heirat  verzichtete  und  die  Werbung  um  die  österreichische  Prin- 
zessin eröffnete  (6.  Februar  1810). 

In  Preußen  führte  diese  neue  Forderung  eine  innere  Krisis 
herbei.  Das  Ministerium  Altenstein,  dem  Schamhorst  angehörte, 
glaubte  den  Staat  nicht  anders  retten  zu  können,  als  indem  es 
die  Abtretung  der  größten  Provinz  gegen  den  Erlaß  der  Kontri- 
bution und  einen  völligen  System  Wechsel,  den  engen  Anschluß  an 
den  unbezwinglichen  Kaiser,  anriet;  wie  denn  gerade  Scharnhorst 
mehr  als  einmal  für  die  preußische  Politik  die  Alternative  ent- 


334  Kleine  historische  Schriften. 

schlossensten  Widerstandes  oder  wirklicher  Verbindung  mit  dem 
Eroberer  gestellt  und  gefordert  hat.  Es  war  zunächst  der  König, 
dessen  dynastisches  Gefühl  sich  gegen  den  Verlust  seines  besten 
Besitzes  sträubte;  er  entheß  das  Ministerium  und  beauftragte 
Hardenberg,  der  sich  anheischig  machte,  das  Geld  trotzdem  herbei- 
zuschaffen, mit  der  Führung  der  Geschäfte.  Aber  die  Hauptsache 
war  doch  (denn  die  Zahlungsschwierigkeiten  bheben  wie  sie  waren), 
daß  Napoleon  nicht  wieder  auf  jene  Forderung  zurückkam,  die 
eben  nur  jenem  Moment  des  Zornes  und  der  Abwendung  von 
Rußland  entsprochen  hatte.  Denn  den  völligen  Bruch  mit  Alexander 
wünschte  er  trotzdem  zu  vermeiden,  und  selbst  das  neue  Verhält- 
nis zu  Österreich  duldete  kaum  die  Annexion  Schlesiens. 

Seit  dem  Frühjahr  1811  aber  spitzten  sich  die  Verhältnisse 
so  zu,  daß  der  Kampf  mit  der  letzten  Großmacht  des  Kontinentes, 
die  sich  neben  dem  Eroberer  aufrecht  erhielt,  unvermeidlich  er- 
scheinen mußte.  Ja  es  schien  einen  Moment,  als  ob  Alexander 
ihn  beginnen  und  die  Rolle  Österreichs  wiederholen  würde,  als 
er  im  Frühjahr  in  Verbindung  mit  Fürst  Adam  Czartorysky,  dem 
Führer  der  russischen  Partei  in  Polen,  in  plötzHchem  Anfall  das 
Herzogtum  W^arschau  zu  überrennen  dachte.  Es  waren  die  alten 
preußischen  Provinzen,  dieselben,  die  er  im  Herbst  1805,  den 
Einflüsterungen  desselben  polnischen  Magnaten,  damals  seines 
Ministers,  folgend,  Friedrich  ^^4lhelm  zu  entreißen  lüstern  ge- 
wesen war.  Jetzt  hoffte  er  sie  für  sich  gewinnen  zu  können,  indem 
er  die  preußische  Armee  selbst  als  Avantgarde  gegen  den  Zwing- 
herrn Preußens  vorschickte.  Ähnlich  ist  es  ja  später  gekommen: 
erst  der  Vertrag  von  Kaiisch,  in  dem  Friedrich  Wilhelm  auf  seine 
polnischen  Weichselprovinzen  verzichten  mußte,  hat  den  gemein- 
samen Kampf  gegen  Napoleon  ermöghcht.  Im  Frühjahr  181 1 
waren  es  die  Polen  selbst,  die  sich  der  »Befreiung«  durch  den 
Zaren  versagten,  und  darum  scheute  Alexander  im  letzten  Moment 
vor  dem  Wagnis  zurück.  Napoleon  aber  bemerkte  die  Gefahr  erst, 
als  sie  fast  vorüber  war,  und  der  Zar  sich  mehr  als  je  in  die  passive 
Haltung  zurückzog.  Und  auch  in  Preußen  zitterte  die  Erregung, 
in  welche  die  Rüstungen  hüben  und  drüben,  die  Anerbietungen 
Alexanders  und  die  Furcht  vor  einem  vernichtenden  Angriff  Na- 


Napoleon  I.  und  Preußen.  335 

poleons  es  gesetzt  hatten,  noch  lange  in  stürmischen  Verhand- 
lungen der  Kriegs-  und  Friedenspartei  nach,  als  der  Zar,  der  seine 
polnischen  Pläne  in  tiefes  Dunkel  gehüllt,  sie  schon  wieder  auf- 
gegeben hatte. 

Für  Napoleon  war  die  feindsehge  Apathie  Alexanders  fast 
noch  unleidlicher  als  ein  rascher  Bruch.  Denn  in  seinen  Plänen 
gegen  England  war  er  auch  so  gelähmt.  Oder  wie  hätte  er  die 
Landung  wagen  können,  wenn  er  in  jedem  Moment  den  Rücken- 
angriff seiner  Gegner  unter  Rußlands  Führung  hätte  befürchten 
müssen!  In  Portugal  hatte  Wellington  die  Linien  von  Torres 
Vedras  gegen  alle  Sturmangriffe  Massenas  verteidigt  und  den 
Vormarsch  siegreich  begonnen.  Auch  Frankreich  begann,  die 
unaufhörHchen  Opfer  schwer  zu  empfinden.  Man  hörte,  so  be- 
richtet ein  russischer  Diplomat  schon  im  Januar  1811,  den  Kaiser 
bisweilen  rasch,  mit  gedämpfter  Stimme  und  ungeduldig  sagen, 
wenn  die  Engländer  es  noch  lange  aushielten,  so  wisse  er  nicht, 
was  daraus  werden  und  was  er  anfangen  solle.  Die  Weigerung 
Alexanders,  das  Edikt  gegen  die  Neutralen  auszuführen,  hatte 
die  Kontinentalsperre  für  Rußland  fast  illusorisch  gemacht,  und 
sein  Zollgesetz  gegen  die  französischen  Weine  und  Seidenstoffe 
war  eine  geradezu  beleidigende  und  feindselige  Maßregel  gewesen. 
Hätte  er,  was  jeden  Augenbhck  zu  fürchten  war,  die  Häfen  den 
Engländern  vollends  geöffnet  und  seinen  Frieden  mit  ihnen  ge- 
schlossen, so  wäre  das  nicht  bloß  dem  Bruche  der  Allianz,  sondern 
dem  Bunde  mit  dem  unversöhnlichen  Feinde  des  französischen 
Kaisers  gleichgekommen.  Auch  dem  Zaren  gegenüber  gab  es  für 
Napoleon  kein  anderes  Gesetz  als  gegen  jeden  Staat  des  Fest- 
landes: er  mußte  ihn  bei  sich  festhalten  oder  ihn  niederwerfen. 

Aber  wie  konnte  er  an  ihn  herankommen,  wenn  er  sich  be- 
harrhch  hinter  seinen  Grenzen  hielt?  Er  mußte  den  Niemen 
wieder  erreichen,  die  Stellung  von  1807.  Dann  erst  durfte  er  darauf 
rechnen,  Litauen  in  Aufstand  zu  bringen,  die  Türken  gegen  die 
Krim,  und  die  Schweden,  \vie  er  noch  hoffte,  auf  Finnland  und 
Petersburg  zu  hetzen.  &      |^ 

Lag  es  nun  in  seinem  Interesse,  Preußen  auf  dem  Wege  anzu- 
greifen ?    Er  hätte  befürchten  müssen,  daß  Alexander  aus  seinen 


336  Kleine  historische  Schriften. 

Grenzen  herausbrach  und  Polen  überrannte,  bevor  er  selbst  hinge- 
langt war.  Nun  kann  man  vielleicht  urteilen,  daß  er  dann  den 
elementaren  Mächten,  die  ihn  in  Rußland  überwältigten,  entgangen, 
daß  es  ein  Krieg  für  ihn  geworden  wäre,  wie  der  Feldzug  gegen 
Österreich,  gestützt  auf  die  Festungen  an  der  Oder  und  der  Weichsel 
und  rings  umgeben  von  hülfreichen  Vasallen.  So  die  Meinung 
V  a  n  d  a  1  s ,  während  von  deutscher  Seite  neuerdings  die  Chancen 
für  eine  preußische  Erhebung  an  der  Seite  Rußlands  im  Jahre  1811 
als  recht  günstig  bezeichnet  worden  sind.  Ich  will  mit  meinem 
Urteil  zurückhalten.  Jedenfalls  rechnete  Napoleon  anders  als  der 
Historiker  der  Allianz  von  Tilsit.  Er  hielt  es  für  unabweisbar, 
erst  die  russische  Grenze  zu  erreichen.  Wie  ein  Wildbach,  sprach 
er,  wolle  er  über  Preußen  hinw-eg,  d.  h.  ohne  Aufenthalt  bis  an 
den  Niemen  hinstürzen,  um  von  dort  aus  mit  der  gesamten  Macht 
den  letzten  Gegner  niederzustoßen. 

Dazu  bedurfte  er  aber  mehr  als  je  der  Straßen  und  Festungen 
des  unterworfenen  Staates.  Und  nur  um  so  mehr,  weil  er  damit 
zugleich  jede  Regung  des  Widerstandes  in  ihm  ersticken  konnte. 
Er  mußte  ihn  völlig  in  seiner  Gewalt  haben. 

So  sahen  die  preußischen  Patrioten  aufs  neue  die  schwerste 
Wolke  des  Unheils  herannahen.  Diese  endlosen  Durchzüge  von 
Truppen,  Munitionskolonnen  und  Zufuhren,  die  unablässige  Ver- 
stärkung der  Besatzungen  in  den  Oder-  und  Weichselfestungen, 
die  immer  neuen  Forderungen  und  dabei  das  Schweigen  des  Uner- 
gründhchen  auf  alle  Anfragen,  das  Ablehnen  der  Bundesanträge 
selbst  und  das  Ableugnen  feindseliger  Absichten  gegen  Rußland  — 
sprach  das  nicht  alles  für  die  Absicht,  Preußen  zu  vernichten  ? 
Konnte  es  stärkere  Beweise  geben  für  die  Unaustilgbarkeit  seines 
Hasses,  die  UnersättHchkeit  seiner  Herrschsucht  ?  So  hatten  sie 
schon  die  ersten  Vorbereitungen  im  Älärz  und  April  gedeutet. 
Je  stärker  aber  die  französischen  Rüstungen  wurden,  um  so  größer 
ihre  Besorgnisse:  man  müsse  sich  dem  Eroberer  entgegenstellen, 
solange  man  noch  die  Schlinge  nicht  ganz  um  den  Hals  habe, 
Spandau,  und  wenn  es  dafür  zu  spät  sei,  Kolberg,  Graudenz,  Pillau 
besetzen,  mit  dem  Rücken  gegen  das  Meer  und  gegen  Rußland, 
wie  WeUington  in  den  Torres  Vedras,  und  Zar  Alexander  herbei- 


Napoleon  I.  und  Preußen.  337 

ziehen.  Auch  jetzt  glaubten  die  Patrioten  kaum  an  den  Sieg. 
»Wenn  die  Vorsehung  das  Wunder  tun  will,  Preußen  zu  erhalten«, 
schreibt  Scharnhorst  schon  am  15.  April  in  einem  Gutachten, 
worin  er  den  Krieg  empfiehlt. 

Den  Heldenmut  der  Männer,  die  dem  Staate  lieber  ein  Ende 
im  hoffnungslosen  Kampf  als  ehrlosen  Untergang  wünschten, 
werden  wir  immer  bewundem  müssen.  Und  es  kann  wohl  sein, 
daß  die  Aussicht  auf  den  Erfolg  größer  gewesen  ist,  als  sie  selbst 
zu  hoffen  wagten  —  wenigstens  im  Frühjahr,  solange  Alexander 
noch  an  die  Offensive  dachte.  Aber  ihre  politische  Einsicht,  das 
dürfen  mr  uns  nicht  verhehlen,  war  gering.  Auf  diesem  Felde 
waren  sie  Dilettanten.  Sie  rechneten  niemals  mit  der  allgemeinen 
Situation,  in  der  Zar  und  Kaiser  zueinander  standen,  und  mit  den 
Schwankungen,  denen  dieselbe  unterworfen  war.  Daß  Polen  das 
eigentliche  Motiv  war  in  der  verschlagenen  Politik  Alexanders, 
bheb  ihnen  ebenso  verborgen  wie  die  Wechselwirkung  der  Pläne 
Napoleons  gegen  England  mit  seiner  festländischen  PoUtik.  In 
ihren  Kreisen  ist  die  legendarische  Auffassung  von  der  zwecklosen 
Eroberungsgier  des  Kaisers  recht  eigenthch  ausgebildet,  welche 
unsere  Geschichtsschreibung  so  lange  beherrscht  hat.  Indem  sie 
aber  den  Krieg  predigten,  beschworen  sie  gerade  dadurch  die  Ge- 
fahr des  Angriffes  herauf.  Denn  eine  Hemmung  auf  dem  Wege 
zum  Niemen  wollte  freilich  Napoleon  nicht  erfahren;  und  alle 
seine  Rüstungen  waren  so  getroffen,  daß  sie  sich  in  jedem  Moment 
ebenso  gut  gegen  Preußen  wie  gegen  Rußland  wenden  konnten. 
Im  November  181 1  schien  bereits  die  Stunde  der  Entscheidung 
gekommen.  Damals  wartete  Davout  nur  auf  einen  Wink  seines 
Herrn,  um  das  rings  umstellte  Preußen  zu  überfallen,  und  nur  die 
schleunige  Unterwerfung  des  Königs  hielt  die  Schwerter  in  den 
Scheiden. 

Für  die  Ansicht  der  Patrioten  beweist  dies  offenbar  ebenso- 
wenig wie  die  Rüstungen  selbst.  Daß  Napoleon  jeden  Widerstand 
niederschlagen  würde,  verstand  sich  bei  ihm  von  selbst;  er  verfuhr 
darin  gegen  Preußen  nicht  anders  wie  etwa  gegen  seinen  Bruder, 
König  Louis  von  Holland,  und  jeden  anderen  seiner  Bundesge- 
nossen.   Im  Gegenteil,  bei  seinem  Temperament  möchte  man  sich 

Lenz.  Kleine  historische  Schriften.  22 


338  Kleine  historische  Schriften. 

fast  über  die  Langmut  wundern,  mit  der  er  den  ganz  offenkun- 
digen Rüstungen  und  Winkelzügen  des  Berliner  Kabinettes  zusah. 

Zum  Teil  trug  hieran  freilich  die  Schuld  sein  Gesandter  in 
Berhn,  der  seine  Stellung,  möchte  man  fast  sagen,  mehr  im  Sinne 
Preußens  als  Frankreichs  auffaßte.  Es  war  der  Älarchese  di  San 
Marsano  —  oder  Graf  St.  Marsan,  wie  der  von  Napoleon  ihm 
verhehene  Titel  lautete  — ,  ein  savoyardischer  Edelmann,  einst 
Minister  in  Piemont  und  Gegner  Frankreichs,  der  aber  seinen 
Frieden  mit  dem  Allgewaltigen  gemacht  hatte  und  Ende  1808 
von  ilim  nach  Berlin  gesandt  war.  Seine  Berichte  sind  in  einem 
Grade  wohlwollend,  ja  verblendet  für  Preußen,  daß  man  wohl 
gemeint  hat  und  sich  kaum  des  Verdachtes  erwehren  kann,  er 
habe  sie  absichtlich  gefärbt  und  den  Kaiser  nicht  aufrichtig  be- 
dient. Aber  er  erfüllte  mit  seiner  konniventen  Diplomatie  wirk- 
lich nur  seine  Aufträge.  »Meinerseits,«  schreibt  er  am  i.  Juü  1809, 
in  den  kritischen  Tagen  zwischen  Aspern  und  \\'agram,  dem 
Minister  Champagny,  »folge  ich  der  Verhaltungslinie,  die  Ew.  Exz. 
mir  vorgezeichnet  haben,  und  beobachte  die  größte  Mäßigung. 
Ich  unterlasse  alle  Klagen,  die  nicht  dringhch  sind,  und  bin  in 
meinen  Antworten  so  liebenswürdig  wie  nur  möghch.«  —  »Ich 
werde,«  bemerkt  er  in  demselben  Bericht,  »mich  aufs  äußerste 
bemühen,  um  die  hier  herrschende  Idee  zu  zerstören,  als  dächte 
man  an  eine  zweite  Invasion  des  Landes«.  Er  verdoppele,  fügt 
er  am  anderen  Tage  hinzu,  seine  Liebenswürdigkeit  und  Geduld 
imd  schließe  soviel  als  möghch  über  das,  was  vorgehe,  die  Augen. 
Daß  der  König  loyal  denke  und  eine  aufrichtige  Vereinigung  mit 
Frankreich  wünsche,  blieb  bis  zuletzt  seine  Überzeugung.  Auch 
an  Hardenberg  glaubte  er  felsenfest,  und  der  Staatskanzler  ver- 
stand es  vorzüglich,  dies  Vertrauen  auszunützen,  um  die  große 
Wendung  vorzubereiten.  St.  ]\Iarsan  war  es,  der  seine  Rückbe- 
rufung in  das  Ministeruim,  aus  dem  er  in  Tilsit  von  Napoleon 
gejagt  war,  bei  diesem  durchsetzte,  und  erst  in  Breslau  sind  ihm 
die  Augen  aufgegangen. 

Nun  mag  man  sagen,  daß  der  Kaiser  sich  vielleicht  absichtüch 
dies  stumpfe  Werkzeug  ausgewählt  habe,  um  desto  sicherer  und 
verborgener  seine  Netze  zu  stellen.    Er  würde  sich  so  in  seiner 


Napoleon  I.  und  Preußen.  339 

eigenen  Schlinge  gefangen  haben.  Aber  dann  müßte  doch  in  den 
Akten,  die  heute  rückhaltlos  aufgedeckt  sind,  irgendeine  Notiz 
oder  Andeutung  über  seine  schlimmen  Absichten  enthalten  sein. 
Aber  nichts  dergleichen  findet  sich  darin.  Das  einzige  Dokument, 
das  sie  beweisen  könnte,  ein  Gutachten  Champagnys  aus  dem 
November  1810,  in  dem  er  für  die  Vernichtung  Preußens  plädiert, 
hat  sich  längst  als  gefälscht  herausgestellt.  Vielmehr  entsprechen 
die  geheimen  Schriftstücke,  die  Vorträge  der  Minister  vor  dem 
Kaiser,  die  intimen  Weisungen  für  den  Gesandten  im  wesent- 
lichen der  Haltung,  die  dieser  dem  Berliner  Kabinett  gegenüber 
beobachtete.  Und  wenn  Napoleon  einmal  im  Herbst  1811  über 
die  alJzu  große  Blindheit  St.  Marsans  gegen  die  Intriguen  und 
Rüstungen  in  Preußen  ärgerlich  wurde  und  an  seine  Abberufung 
dachte,  bheben  doch  auch  damals  seine  Instruktionen  dieselben. 
Ja  man  muß  sagen,  daß  der  Kaiser  den  preußischen  Hof  viel 
aufrichtiger  behandelt  hat  als  dieser  ihn  und  daß  seine  persön- 
lichen und  offiziellen  Erklärungen  sich  mit  seinen  geheimen  Be- 
fehlen im  wesenthchen  deckten. 

So  kehrt  z.  B.  die  Sprache,  die  er  nach  dem  Siege  über  Öster- 
reich gegen  Krusemarck  führte,  wörtHch  wieder  in  einer  Depesche 
Marets,  des  Herzogs  von  Bassano,  der  Champagny  im  Ministerium 
des  Auswärtigen  abgelöst  hatte,  aus  dem  Oktober  181 1,  worin 
er  übrigens  die  allzu  große  Vertrauensseligkeit  des  Gesandten 
aufs  schärfste  rügte.  »Wenn  der  König  von  Preußen,«  heißt  es 
hier,  »endhch  die  Maßregeln  annimmt,  welche  seiner  Lage  ent- 
sprechen, so  wird  Seine  Majestät  sich  nicht  weniger  auf  Preußen 
verlassen,  als  wenn  der  König  von  Westfalen  in  Berlin  regierte; 
aber  die  Aufrichtigkeit  muß  eine  unbedingte  und  der  Kaiser  über 
Preußen  ebenso  ruhig  sein  können  wie  über  Westfalen  und  Bayern ; 
er  kann  es  aber  nur,  wenn  Preußen  auf  seine  alten  Illusionen  ver- 
zichtet, seinen  wahren  Rang  einnimmt  und  keine  anderen  Vor- 
teile beansprucht  als  diejenigen,  welche  es  erreichen  kann.«  Am 
nächsten  Tage  gab  Maret  dem  Gesandten  genaue  Instruktionen 
über  die  Linie,  die  er  fortan  einzuhalten  habe:  »Seine  Majestät,« 
heißt  es  darin  unter  anderm,  »hätte  Preußen  zerstören  können. 
Sie  hat  es  nicht  gewollt.    Sie  hat  kein  Interesse  daran,  es  zu  wollen. 


340  Kleine  historische  Schriften. 

wenn  Preußen  nicht  aus  seiner  natürlichen  Stellung  heraustritt. 
Sie  will  es  durchaus  nicht,  weil  sie  ein  System  bilden  will,  in  dem 
Preußen  den  ersten  Rang  unter  den  Mächten  zweiter  Ordnung 
einnehmen  soll«.  Und  ebenso  in  einer  konfidentiellen  Note  des 
Ministers  ein  paar  Wochen  vorher:  »Seine  Majestät  sieht  mit 
Vergnügen  den  König  von  Preußen  im  Besitz  seiner  Staaten. 
Sie  hat  ein  Interesse  daran,  daß  er  seine  Macht  bewahre,  so  wie 
sie  ist,  und  wird  keinen  anderen  Wunsch  haben,  solange  derselbe 
fest  auf  der  Ausführung  des  Kontinentalsystems  besteht«. 

Die  Besorgnis  der  antifranzösischen  Partei  in  Preußen  fand 
besonders  ihre  Nahrung  in  dem  Schweigen  des  Kaisers  auf  alle 
Bundesanträge  und  in  dem  Ableugnen  der  Kriegsgefahr.  Dies 
schien  ihnen  im  krassesten  Widerspruch  zu  stehen  zu  den  unge- 
heuren Rüstungen  und  der  Weigerung,  Glogau  als  Preis  der  Allianz 
dem  König  zurückzugeben.  Aber  letzteres  forderte  doch  das 
gewiß  gerechtfertigte  Mißtrauen  des  Kaisers  in  die  Aufrichtigkeit 
jener  Anerbietungen;  und  anderseits  war  es  völhg  richtig,  daß 
die  Frage,  ob  Krieg  oder  Frieden,  noch  in  der  Schwebe  war,  und 
daß  Napoleon,  wie  sehr  er  auch  alles  auf  den  Zusammenstoß  vor- 
bereitete, ihn  immer  noch  zu  vermeiden  wünschte.  Es  war  in  der 
Tat  schon  ein  Abweichen  von  dieser  Linie,  als  er  auf  das  Ulti- 
matum Hardenbergs  vom  26.  August  seinem  Gesandten  die  Wei- 
sung zugehen  ließ,  in  die  Verhandlung  über  die  Allianz  einzutreten. 

Um  die  Hoffnung,  welche  St.  Marsan  auf  eine  »offene  und 
aufrichtige  Union«  zwischen  Frankreich  und  Preußen  setzte,  ganz 
zu  verstehen,  müssen  wir  auch  der  Stimmungen  gedenken,  die  in 
Preußen  damals  über  Frankreich  herrschten.  In  den  Berichten 
des  französischen  Gesandten  werden  diese  nicht  als  besonders 
feindselig  geschildert.  Die  Masse  der  Nation  erscheint  ihm  recht 
gleichgültig;  erleichtere  man  ihr  die  Lasten  der  Kontribution,  so 
werde  sie  sich  leicht  mit  dem  französischen  System  befreunden. 
Die  großen  Besitzer,  meint  er  im  März  1809,  also  kurz  bevor 
Schill  ausbrach,  die  Geschäftsleute  und  alle  Vernünftigen  wünschen 
nichts  als  Frieden  und  Ruhe  und  würden  mit  einer  Armee,  die 
gerade  so  groß  wäre,  um  die  Polizei  im  Lande  auszuüben,  sehr 
zufrieden  sein.    Neben  Hardenberg  nennt  er  Beyme,  Kalckreuth, 


Napoleon  I.  und  Preußen.  341 

Tauentzien  und  eine  Reihe  anderer  hoher  Beamten  und  Militärs 
als  Gutgesinnte.  Auch  von  der  Königin  vernahm  er  im  Februar 
1810  durch  einen  »guten  Kanal«,  sie  sei  in  ihren  Gefühlen  gegen 
Rußland  sehr  erkaltet  und  denke  mit  lebhaftem  Vergnügen  an 
eine  Reise  nach  Paris,  um  den  Bund  mit  Frankreich  enger  zu 
knüpfen.  Und  ebenso  merkwürdig  ist  es,  was  er  im  August  1811 
über  den  jungen  Kronprinzen  zu  berichten  weiß,  der  damals  schon 
den  Einflüssen  Delbrücks  entzogen  war  und  unter  der  Leitung 
Ancillons  stand.  Derselbe  habe  sich  über  die  Tugendbündler  und 
ihre  altdeutschen  Manieren  lustig  gemacht.  Zum  Beweise  legte 
er  die  Durchzeichnung  einer  Karikatur  von  der  Hand  des  jungen 
Prinzen  bei,  die  ihm  kein  Geringerer  als  der  General  Tauentzien 
übermittelt  hatte.  Von  der  Armee  schreibt  er  im  Herbst  dieses 
Jahres,  sie  wünsche  zum  größten  Teil  den  Krieg  gegen  Frank- 
reich nicht  und  glaube  nicht  an  den  Sieg,  wenngleich  sie  sich 
wacker  schlagen  würde;  die  Masse  der  Nation  aber  fürchte  davon 
die  Auflösung  des  Staates  und  sehe  den  Ereignissen  in  einer  Art 
von  Apathie  entgegen.  Diese  Eindrücke  verstärkten  sich  ihm  nur, 
als  der  Bund  endlich  geschlossen  war.  Das  Volk  sei  glücklich 
darüber  und  bezeuge  laut  seine  Genugtuung;  die  Armee  begrüße 
den  Kampf  gegen  Rußland  als  eine  neue  Bahn  des  Ruhmes.  Den 
w^enigen  Offizieren,  welche  damals  ihren  Abschied  forderten, 
stellt  er  die  Meldungen  vieler  anderer  zum  Eintritt  in  das  Korps 
Yorks  entgegen,  besonders  von  Gardeoffizieren,  darunter  des 
jungen  Neffen  des  Königs,  Prinz  Friedrichs,  und  seines  Halb- 
bruders, des  Kapitäns  Grafen  Brandenburg  von  den  Gardes  du 
Corps. 

Solche  Ansichten  entsprechen  wieder  wenig  der  landläufigen 
Überlieferung,  die  sich  nicht  genug  tun  kann  in  der  Schilderung 
des  tiefglühenden  Hasses,  der  das  Volk  in  allen  seinen  Schichten, 
vor  allem  in  der  Armee  erfüllt  habe;  mit  Mühe  habe  es  sich  im 
Zaum  halten  lassen  und  dem  Tage  der  Rache  mit  fiebernder  Wut 
entgegengesehen.  Aber  die  Beobachtungen  dieses  Fremden  wer- 
den durch  hundert  unverdächtige  Zeugnisse,  sogar  aus  dem  Lager 
der  Patrioten  selbst,  bestätigt,  und  ich  zweifle  nicht,  daß  sich  bei 
näherem  Zusehen  die  gebräuchliche  Farbengebung  auch  nur  wieder 


342  Kleine  historische  Schriften. 

als  ein  Stück  der  legendarischen  Tradition  herausstellen  wird, 
welche  das  wahre  Bild  der  Ereignisse  dicht  verschleiert  hat.  Der 
materielle  Druck  und  die  Ungewißheit  des  Schicksals  lasteten 
schwer  auf  der  Bevölkerung;  aber  die  großen  Gedanken:  Ehre, 
Freiheit,  Vaterland  sind  in  den  Jahren  der  Unterdrückung  unter 
der  Menge  noch  selten  genug  zu  finden.  Der  Ruhm  der  Helden, 
in  deren  Seele  sie  schon  mit  reiner  Flamme  glühten,  wird  dadurch 
wahrlich  nicht  geringer.  Indem  sie  König  und  Regierung  endlich 
in  den  rettenden  Krieg  hineinstießen,  ward  sich  erst  die  Nation 
unter  dem  mächtigen  Eindiiick  des  Kampfes  und  der  Siege  ihrer 
selbst  bewußt  und  entzündete  sich  mit  wachsender  Glut  an  den 
Leidenschaften  und  Idealen  ihrer  Führer. 

Ein  Erfolg  Napoleons  gegen  Rußland  hätte  ohne  Zweifel  der 
französischen  Partei  im  Rate  des  Königs  das  Übergewicht  ver- 
schafft und  ihn  wie  sein  Volk  in  der  Stimmung  der  Ergebung 
unter  den  W'illen  des  Eroberers  festgehalten.  Ich  möchte  meinen, 
daß  auch  Hardenberg,  er,  den  »die  allmächtigen  Stunden  beherrsch- 
ten«, in  solchem  Falle  seinen  Anker  nach  dieser  Seite  ausgeworfen 
hätte. 

Soll  man  aber  glauben,  daß  der  Kaiser  nach  dem  Siege  den 
Staat,  an  dessen  Zerstörung  er  schon  vorher  kein  Interesse  hatte, 
vernichtet  haben,  einen  seiner  Brüder  damit  ausgestattet  oder 
ihn  in  Stücke  zerschlagen  und  unter  Polen,  Österreich  und  Sachsen 
ausget>eilt  haben  würde?  Als  der  König  von  Preußen  ihm  den 
Krieg  erklärte,  hat  er  diesen  Plan  gefaßt.  Aber  keine  Minute  eher. 
Er  folgte  in  jedem  Moment  nur  seinem  Interesse,  dem  was  sein 
System  ihm  gebot.  Wo  aber  lag  sein  Interesse  an  der  Zerstörung 
Preußens,  wenn  es  in  sein  Fahrwasser  hineingesteuert  und  der 
Politik  gefolgt  wäre,  zu  der  er  es  schon  im  Jahre  1803  hatte  ver- 
führen wollen?  Nur  wer  ihm  entgegentrat,  war  sein  Feind.  Der 
Zar  war  es  geworden:  auf  dessen  Kosten  hätte  er  seine  Alliierten 
entschädigt,  schon  um  ihn  mit  seinen  Nachbarn  zu  verfeinden. 
Das  beste  Los  würde  gewiß  Polen  gezogen,  Wilna  und,  wer  weiß, 
vielleicht  Kiew  wieder  erlangt  haben.  Auch  der  österreichische 
Schwiegervater  hätte  seine  Belohnung  erhalten,  die  ihm  in  dem 
Bundesvertrage  bereits  versprochen  war.    Doch  sehe  ich  nicht  ein. 


Napoleon  I.  und  Preußen.  343 

weshalb  die  sehr  unbestimmt  lautenden  Worte  darüber  gerade 
auf  Schlesien  bezogen  werden  müssen,  wie  man,  offenbar  unter 
dem  Eindruck  der  Vernichtungstheorie,  anzunehmen  pflegt.  Man 
könnte  ebensowohl  an  die  Donauprovinzen  oder  an  die  Länder 
nahe  der  Adria  denken;  denn  ich  kann  nicht  glauben,  daß  die 
Aufstellung  Österreichs  zwischen  Polen  und  Sachsen  für  Napoleon 
sonderlich  angenehm  gewesen  wäre.  Warum  aber  hätte  Friedrich 
\\^ilhelm  leer  ausgehen  sollen  ?  Auch  für  ihn  war  eine  Entschädi- 
gung, freilich  noch  unbestimmter  als  für  Kaiser  Franz,  in  Aus- 
sicht genommen  worden.  Ich  denke,  Schwedisch-Pommern  (denn 
Bemadotte  mußte  für  seinen  Abfall  bestraft  werden)  und  vielleicht 
auch  ein  Stück  der  Ostseeprovinzen  bis  Mitau  oder  gar  bis  Riga 
hinauf  wären  unserm  Staate  ausgehefert  worden.  Und  wer  weiß, 
ob  nicht  Hardenberg  in  diesem  Fall  seine  Hoffnungen  noch  höher 
gespannt  und  die  Personalunion  mit  Polen,  welche  Alexander  für 
sich  begehrt  hatte,  für  seinen  König  angestrebt  hätte!  Es  war 
ein  Gedanke,  den  er  schon  im  Frühling  1811  geäußert  hatte  und 
den  er  auch  gegen  St.  Marsan  einmal  durchschimmern  ließ. 

Halten  wir  daran  fest,  daß  der  wahre  Feind  Napoleons  Eng- 
land war,  auf  dessen  Niederwerfung  mitten  in  den  Rüstungen 
gegen  Rußland  sein  Absehen  mehr  als  je  gerichtet  war.  Man  lese 
nur  seine  zahlreichen  Weisungen  an  seinen  Marineminister  Admiral 
Decres  gerade  aus  diesen  Jahren,  wie  unaufhörlich  er  darin  die 
Verstärkung  seiner  Marine  betreibt  und  den  Angriff  in  der  Front 
gegen  die  englische  Küste  im  Auge  behält.  Dies  war  sein  Plan, 
und  nicht  etwa  der  Zug  nach  Indien  über  Moskau  hinaus.  War 
er  doch  fast  wider  Erwarten  zu  dem  Marsch  gegen  die  russische 
Hauptstadt  durch  die  Rückzugsstrategie  des  Zaren  gezwungen 
worden.  Er  wollte  Alexander  in  einem  Feldzuge,  mit  einem  oder 
ein  paar  gewaltigen  Stößen  zu  Boden  werfen,  dann  aber  die  Wen- 
dung gegen  den  Erbfeind  Frankreichs  machen.  Denn  dann  durfte 
er  wirklich  hoffen,  auf  der  Pyrenäischen  Halbinsel  ohne  Mühe 
Herr  zu  werden  und  den  Kontinent  gegen  England  zu  schließen, 
ohne  befürchten  zu  müssen,  daß  ihm  ein  Feind  in  den  Rücken  falle. 

Nehmen  wir  einen  Augenblick  an,  daß  Napoleon  über  Russen 
und  Engländer  gesiegt  und  die  Dinge  so  sich  gefügt  hätten.  Preußen 


344  Kleine  historische  Schriften. 

wäre  dann  ein  Staat  geworden  von  fast  ausschließlich  protestan- 
tisch-deutschem Charakter,  die  baltisch-deutsche  Vasallenmacht 
Frankreichs,  umgeben  von  dem  vergrößerten  Polen  und  den  Staaten 
des  Rheinbundes,  unter  den  Mächten  zweiter  Ordnung  eine  der 
ersten  —  während  Rußland  tief  in  den  Osten  und  das  Binnenland 
zurückgeschleudert  wäre.  Wie  lange  würde  ein  solches  Europa 
wohl  bestanden  haben  ?  Auf  Legitimierung  seiner  Gewalt,  auf 
die  Gründung  einer  Dynastie  waren  alle  Absichten  Napoleons 
gerichtet.  Ob  ihm  das  Schicksal  auch  im  Siege  die  Zeit  gelassen 
haben  würde?  Die  Krankheit,  die  seinen  stählernen  Körper  auf 
St.  Helena  ro  sasch  zerbrach,  hätte  ihn  auch  auf  dem  Throne 
schwerlich  verschont.  Und  wie  soll  man  glauben,  daß  die  Vasallen- 
reiche, daß  die  besiegten  Parteien  in  Frankreich  selbst  eine  solche 
Katastrophe  ruhig  hätten  vorübergehen  lassen?  Man  wird  viel- 
mehr sagen  dürfen,  daß  der  Tod  des  Eroberers  und  die  Thronfolge 
des  Knaben,  den  er  hinterließ,  alle  seine  Feinde,  so  gut  wie  seine 
Niederlage  in  Rußland,  gegen  sein  kaum  festgewurzeltes  System 
in  die  Schranken  gerufen  haben  würden. 

Doch  genug  der  unfruchtbaren  Betrachtung  von  Eventuali- 
täten, die  so  weit  von  allem  Geschehenen  abweichen.  Das  Schick- 
sal hat  es  anders  gefügt.  Im  Kampf  gegen  den  Unterdrücker, 
im  Völkersturm,  die  deutschen  Stämme  hinter  sich  herziehend, 
hat  Preußen  das  Erbe  seiner  Väter,  die  Großmachtstellung  in  der 
Welt  neu  erworben  und  unverwelkliche  Lorbeeren  den  ruhm- 
vollen Traditionen  seiner  Geschichte  hinzugefügt.  Unermeßlich 
ist  der  Segen,  den  die  folgenden  Generationen,  den  die  ganze 
deutsche  Nation  davon  gehabt  hat.  Der  Staat  Friedrichs  des 
Großen,  die  Vormacht  des  evangelischen  Deutschlands,  hat  sich 
dadurch  erst  recht  den  Anspruch  erworben,  der  Führer  zur  deutschen 
Einheit  zu  werden.  Also,  daß  heute  die  Ruhmestaten,  welche  in 
deutschen  Bürgerkriegen  Preußens  Macht  begründet  haben,  \vie 
ein  Gemeingut  des  ganzen  Deutschlands  betrachtet  werden,  und 
daß  die  Siege  von  W'arschau  und  Roßbach,  ja  die  von  Leipzig 
und  Königgrätz  in  der  nationalen  Erinnerung  fast  schon  dieselbe 
Stelle  einnehmen  wie  die  Tage  von  Wörth  und  von  Sedan. 


1848. 

(iSgS.) 

In  einem  eigentümlichen  Kontrast  zu  den  rauschenden  Fest- 
lichkeiten, mit  denen  wir  vor  zwei  Jahren  und  danach  bei  der 
Zentenarfeier  unseres  geliebten  alten  Kaisers  das  Gedächtnis  unseres 
letzten  großen  Einheitskrieges  und  seiner  Helden  erneuerten,  steht 
die  Art,  wie  wir  heute  der  großen  Ereignisse  gedenken,  die  vor  fünfzig 
Jahren  das  Leben  unseres  Volkes  erschütterten  und  an  die  uns  jeder 
Tag  dieses  Jahres  erinnern  müßte.  Die  Siege  von  Gravelotte  und 
Sedan,  die  Tage  der  Kaiserproklamation  in  Versailles  und  des 
Friedens  zu  Frankfurt  wurden  mit  dem  ganzen  Aufwände  offiziellen 
Pompes  begangen;  und  mit  den  Behörden  wetteiferte  die  Be- 
völkerung, um  Kaiser  Wilhelm  und  seine  Paladine  zu  feiern  und 
die  blutigen  Opfer  zu  segnen,  mit  denen  wir  unsere  Einheit  er- 
kauft haben.  Jubel  erhob  sich  überall,  wo  Deutsche  wohnten. 
Neidlos  und  fast  sehnsüchtig  sahen  unsere  Brüder  in  Österreich 
zu  uns  hinüber,  und  im  Reich  schienen  die  besiegten  Parteien 
kaum  mehr  daran  zu  denken,  daß  auch  ihre  Ideale,  die  klerikalen 
wie  die  demokratischen,  auf  den  Schlachtfeldern  Böhmens  und 
Frankreichs  erlegen  waren.  Nur  wer,  wie  die  Sozialdemokraten, 
die  Grundlagen  unseres  Staates,  Monarchie  und  Nationalität, 
verleugnet,  bheb  grollend  abseits. 

Heute  dagegen  sind  es  diese  allein,  welche  sich  zu  unserer 
Kevolution  bekennen  und  sie  zu  lärmenden  Demonstrationen 
ausnutzen  werden.  Unsere  Behörden  hüllen  sich  geflissenthch 
in  Schweigen.  Ängstlich  sucht  selbst  der  liberale  Magistrat  Berlins 
das  zahme  Demonstratiönchen  abzuwehren,  mit  dem  sich  die  Väter 


346  Kleine  historische  Schriften. 

unserer  ersten  Stadt  zu  Ehren  der  Märzgefallenen  herauswagen 
wollen.  In  Italien  sahen  wir  kürzlich,  wie  am  Jahrestage  der  Sizilia- 
nischen  Revolution  ihrem  alten  Führer,  ihrem  letzten  Repräsen- 
tanten, Francesco  Crispi,  enthusiastische  Huldigungen  dargebracht 
wurden,  und  der  Erbe  des  nationalen  Thrones,  der  mit  nach  Palermo 
gekommen  war,  trat  neben  dem  alten  Verschwörer  ganz  in  den 
Schatten.  Bei  uns,  so  scheint  es  fast,  wird  sich  die  offizielle  und 
korrekte  Ehrung  des  »tollen  Jahres«  auf  das  Festmahl  beschränken, 
zu  dem  sich,  wie  die  Zeitungen  melden,  am  i8.  Mai  in  Frankfurt 
das  Dutzend  alter  Herren  vereinigen  wollen,  die  noch  von  den  Mit- 
gliedern des  ersten  deutschen  Reichstages  am  Leben  sind.  Sie 
werden  ohne  Zweifel  mit  berechtigtem  Stolz  auf  das  an  Geist 
und  reiner  Leidenschaft  größte  Parlament  in  unserer  Geschichte 
zurückblicken  und  werden  betonen,  daß  die  Gedanken,  welche 
in  der  Paulskirche  ans  Licht  traten,  sich  zur  Gegenwart  verhalten 
wie  die  Aussaat  zur  Ernte.  Und  sie  werden  \delleicht  sich  dann 
daran  erinnern,  daß  alle  ihre  Hoffnungen  und  Entwürfe,  von  den 
hohen  Worten,  mit  denen  Heinrich  von  Gagern  die  Verhand- 
lungen eröffnete,  bis  zur  Übertragung  der  nationalen  Krone  an 
Friedrich  Wilhelm  IV.  von  Preußen,  getragen  waren  von  derselben 
Idee,  auf  welcher  das  moderne  Italien  ruht  —  und  daß  auch 
die  Barrikadenkämpfer  am  i8.  Älärz  für  sie  in  den  Tod  gegangen  sind. 

Nicht  als  ob  damit  behauptet  werden  sollte,  daß  gerade  der 
Berliner  Straßenkampf  dazu  gehört  hätte,  um  den  Widerstand 
Preußens  gegen  die  Revolution  zu  zerbrechen  und  das  Frank- 
furter Parlament  herbeizuführen.  ]\Ian  könnte  in  der  Tat  viel 
eher  sagen,  daß  dies  Blutvergießen  ^^^rklich  einem  Mißverständnis 
entsprungen  sei,  daß  es  nur  ein  Zwischenfall  war  in  einer  Ent- 
wicklung, die  auch  sonst  unaufhaltsam  und  kaum  langsameren 
Schrittes  sich  vollzogen  haben  würde.  Aber  die  Idee,  für  welche 
sich  das  bunte  Heer  der  Revolution,  Polen  und  Arbeiter,  Spieß- 
bürger und  Studenten,  hinter  den  Barrikaden  scharte,  war  den- 
noch die  Basis  auch  des  Frankfurter  Reichstages. 

Das  war  der  Sinn  der  Leichenfeier  und  der  tausendfachen 
Kundgebungen  der  Sympathie,  welche  in  allen  Schichten  der 
Berliner    Bevölkerung    den    unglücklichen    Opfern    des    Kampfes 


1848.  347 

dargebracht  wurden.  Sie  hatten  nur  an  das  letzte  Recht,  an  die 
ultima  ratio  desselben  Herrscher\\dllens  der  Nation  appelliert, 
der  auch  in  dem  Verfassungswerke  der  Paulskirche  und  seinen 
meisten  Paragraphen,  samt  denjenigen  von  der  Kaiserkrone, 
zum  Ausdruck  gebracht  wurde. 

Denn  nur  durch  den  Druck  und  Stoß  der  Revolution,  durch 
die  Übermacht  des  allgemeinen  Willens  konnte  der  Stein  ins  Rollen 
gebracht  und  die  Regierungen  für  die  Reformen  und  die  Einigung 
der  Nation  gewonnen  werden.  Niemals  hätte  Friedrich  Wilhelm  IV, 
aus  freien  Stücken  in  die  konstitutionellen  Forderungen  gewilligt. 
Von  Anfang  an  war  er  vor  der  steigenden  Flut  zurückge\\ichen, 
und  seine  ständischen  Ideale  selbst  hatten  sich  bereits  unter  ihrem 
Andrang  gemodelt.  Was  er  1847  ausführte,  entsprach  nicht  mehr 
ganz  seinen  früheren  Plänen,  und  was  er  dem  ersten  Vereinigten 
Landtage  mit  äußerster  Schärfe  versagt  hatte,  die  periodische 
Berufung,  das  Petitionsrecht  und  andere  konstitutionelle  Rechte 
mehr,  mußte  er  bereits  den  vereinigten  Ausschüssen  im  Januar 
1848  für  die  Zukunft  versprechen.  Dann  aber  begann  erst  die 
Bewegung  mit  voller  Macht  einzusetzen.  Von  Italien  her  ergriff 
sie  Frankreich,  und  allein  gelassen  von  den  verhätschelten  Ultra- 
montanen, versank  in  ihrem  Strudel  das  Königtum  Louis  Philipps. 
In  wenigen  Tagen  hatte  sie  den  Rhein  überschritten  und  wogte 
unauf gehalten  durch  den  deutschen  Westen  und  Süden  hin.  Donau- 
abwärts  dringend,  warf  sie  in  ein  paar  Stunden  Mettemichs  System 
über  den  Haufen,  und  rings  von  der  Brandung  umtost,  ward  auch 
der  preußische  Staat  von  dem  gewaltigen  Wogenschlage  bis  in 
seine  Tiefen  erschüttert.  Wie  hätte  sich  der  König  jetzt  noch  frei 
erhalten  und  die  Monarchie  auf  ihren  alten  Grundlagen  behaupten 
können  ?  Von  Moment  zu  Moment  sah  er  sich  weiter  gedrängt. 
Die  Sendung  Radowitz'  nach  Wien,  die  Einberufung  des  Ver- 
einigten Landtages  erst  zum  27.,  dann  zum  2.  April,  das  Patent, 
in  dem  dies  am  Morgen  des  18.  März  verkündigt  und  die  Ausbildung 
der  preußischen  Verfassung,  Aufhebung  der  Zensur  und  eine  durch- 
greifende Reorganisation  des  deutschen  Bundes  verheißen  wurde, 
waren  nur  die  Etappen  eines  Weges,  der  den  preußischen  Staat 
unabwendbar  in  die  allgemeine  L'mwälzung  hineinführen  mußte. 


O^  Kleine  historische  Schriften. 

Unter  den  Anklagen,  die  man  gegen  den  unglücklichen  Fürsten 
aus  der  historischen  Vogelperspektive  zu  erheben  pflegt,  figuriert 
besonders  oft  der  Vorwurf,  daß  er  zu  spät  die  Hand  der  Liberalen 
ergriffen  habe.  Der  König  hätte,  meint  Heinrich  von  Sybel, 
schon  im  Frühjahr  1847  einen  vollen  und  ganzen  Entschluß  fassen 
müssen,  einen  Entschluß,  durch  welchen  eine  rasche  und  warme 
Einigung  mit  dem  bevorstehenden  Landtag  erzielt  worden  wäre. 
Unschätzbar  hätte  ein  solcher  Bund  der  Krone  mit  der  Auswahl 
der  tüchtigsten  und  einflußreichsten  Männer  der  Nation  werden 
können,  ein  Felsen,  an  dem  die  Wogen  der  aufgeregten  Zeit  zerschellt 
wären.  »Welch  eine  Ausdehnung«,  ruft  er  aus,  »des  preußischen 
Ansehens  in  Süd-  und  Mitteldeutschland,  welch  eine  Vorbereitung 
für  die  Wiedergeburt  des  deutschen  Bundes  zu  einem  deutschen 
Reiche!  Und  wahrlich,  dies  alles  wäre  damals  ohne  große  Opfer 
erreichbar  gewesen,  lediglich  durch  die  rückhaltlose  Vollziehung 
der  Gesetze  von  1815  und  1820  unter  großherziger  Auslegung 
etwa  unbestimmter  Punkte.«  Der  große  Historiker  steht  nicht 
an,  alle  und  jede  Schuld  an  dem  Scheitern  der  deutschen  Reform 
dem  König  zuzuschreiben:  »Man  darf  es  aussprechen:  die  ge- 
schichtliche Verantwortung  für  alle  wesentlichen  Akte  seiner 
Regierung  gebührt  ihm  und  ihm  allein.«  Und  in  ver^vandter 
Weise  urteilt  über  den  Besiegten  Heinrich  von  Treitschke 
fast  auf  jedem  Blatte. 

Wäre  jedoch  dies  mitleidslose  Urteil  richtig,  so  würde  es  kaum 
zu  verstehen  sein,  weshalb  denn  nicht  die  opferlose  Wiedergeburt 
des  deutschen  Reiches  auch  noch  im  Frühjahr  1848  möglich  war, 
wenn  nicht  vor  dem  18.  März,  so  doch  wenigstens  in  den  Tagen 
nachher,  als  Preußens  König,  mit  den  Farben  der  Revolution  ge- 
schmückt und  umgeben  von  seinen  liberalen  Ministem,  den  Um- 
ritt durch  die  Berliner  Straßen  machte,  als  er  sich  eins  mit  Deutsch- 
land erklärte  und  alle  Hberalen  Wünsche  auch  für  Preußen  erfüllte. 
Niemals  hat  er  die  nationalen  Forderungen  rückhaltsloser  an- 
erkannt. Aber  mehr  als  je  häuften  sich  gerade  jetzt  mit  jedem 
Schritte  die  Konflikte. 

Denn  es  war  nicht  mögUch,  die  deutsche  Frage  auch  nur  an 
einem  Punkte  zu  lösen,  ohne  in  die  allgemeine  Pohtik  einzugreifen. 


1848.  349 

Das  ist,  was  jene  Kritik  völlig  übersieht.  Wie  das  legitimistische 
System  zugleich  die  innere  und  die  äußere  Politik  umfaßt  hatte, 
ebenso  auch  das  Programm  der  Liberalen  in  allen  seinen  Schattie- 
rungen. Der  preußische  König  konnte  nicht  mehr  der  Freund 
seines  russischen  Schwagers  bleiben  noch  auch  das  langgepflegte 
Verhältnis  zu  Österreich  aufrecht  erhalten,  sobald  er  den  natio- 
nalen Forderungen  irgendwie  nachgab.  Die  Revolution  war  eben 
nicht  ein  rein  deutsches,  sondern,  wie  schon  Ranke  sie  bezeichnet 
hat,  ein  europäisches  Ereignis. 

Vor  fünfzig  Jahren  bedeutete  liberale  und  nationale  Politik 
Feindsehgkeit  mehr  noch  gegen  Rußland  als  gegen  Österreich. 
Kaum  saß  David  Hansemann,  das  Muster  eines  konstitutionellen 
Ministers,  im  Sattel,  so  begann  er  mit  General  Willisen,  dem  liberalen 
Adjutanten  seines  Königs,  und  mit  polnischen  Emigranten  die 
Polen  gegen  ihren  Zwingherrn  im  Osten  aufzuregen.  Er  scheute 
sich  nicht,  die  Absetzung  des  kommandierenden  Generals  in  Posen 
zu  fordern,  weil  er  sich  der  Deutschen  in  der  Provinz  gegen  Willisens 
Anordnungen  annahm;  und  nicht  an  ihm  hat  es  gelegen,  wenn 
die  deutschen  Kolonisten  in  der  Ostmark  sich  damals  aufrecht 
erhielten.  Jedoch  tat  er  damit  nichts  anderes  als  was  er  schon 
mit  Vincke  und  allen  Liberalen  im  Vereinigten  Landtage  gefordert 
hatte  und  wozu  die  Wortführer  der  Nation  im  Vorparlament 
die  deutschen  Regierungen  feierlich  aufriefen,  als  sie  die  Tei- 
lung Polens  für  ein  schmachvolles  Unrecht  erklärten  und  es  als 
die  heihge  Pflicht  des  deutschen  Volkes  bezeichneten,  zu  seiner 
Wiederherstellung  mitzuwirken.  Sie  zogen  damit  die  Konsequenz 
aus  ihrem  Prinzip  und  hatten  auch  pohtisch  nicht  so  unrecht, 
denn  einen  grimmigeren  Feind  als  Zar  Nikolaus  konnte  die  Revo- 
lution in  der  Tat  nicht  finden. 

Friedrich  Wilhelm  hielt  an  der  russischen  Freundschaft  fest, 
aber  in  der  Sympathie  für  die  polnische  Szlachta,  wenigstens 
soweit  sie  unter  seinem  Szepter  stand,  berührte  er  sich,  wie  in  so 
vielem,  mit  den  Liberalen.  Er  hoffte,  das  vom  Vater  ererbte  System 
der  Allianz  mit  den  Ostmächten,  die  der  Eckstein  in  dessen  Politik 
gewesen  war,  erhalten  und  dennoch  seine  deutschen  Rechte  und 
Hoffnungen  verfolgen  zu  können.    Aber  sowie  er  sie  nur  in  Wien 


350  Kleine  historische  Schriften. 

angemeldet  hatte,  lange  vor  der  Revolution,  gleich  nachdem  er 
den  Thron  bestiegen,  war  er  hier  den  kältesten  Mienen  begegnet. 
Metternich  wußte  sehr  wolil,  weshalb  er  jeden  Hauch  der  hberalen 
Ideen  zu  unterdrücken  hatte;  im  Gefühl  seiner  Ohnmacht  mußte 
er  brutal  sein.  Gerade  in  seinem  Sturz  bewies  er  die  Richtigkeit 
seiner  Lehre:  vor  dem  ersten  vollen  Atemzuge  der  Revolution 
sank  der  Bau,  den  er  länger  als  ein  Menschenalter  aufrecht  er- 
halten hatte,  in  Trümmer.  König  Friedrich  Wilhelm  aber  hoffte 
noch  immer,  mit  dem  Strome  schwimmen  zu  können;  er  wollte 
den  Moment  benutzen,  um  seine  deutschen  Pläne  durchzudrücken. 
Offenbar  spekulierten  dabei  er  und  seine  Ratgeber,  Radowitz 
ebenso  gut  %vie  Heinrich  von  Arnim,  auf  die  Macht  der  Revo- 
lution und  die  Schwäche  der  befreundeten  Regierung.  So  schon 
in  der  Instruktion  an  den  General  für  seine  Reise  nach  Wien  vom 
I.  März,  mehr  aber  noch  in  dem  Patent  vom  i8.,  das  direkt  unter 
dem  Einfluß  der  Nachricht  von  dem  Sturze  Metternichs  zustande 
kam,  und  vollends  in  der  Proklamation  vom  21.  März,  die  von 
der  Leitung  Deutschlands  durch  den  preußischen  Körüg  sprach 
und  fast  wie  eine  Kriegserklärung  in  Wien  betrachtet  werden  mußte. 
Wie  sie  dort  wirkte,  lehren  uns  die  Briefe  eines  jungen  sächsischen 
Diplomaten,  Vitzthums  von  Eckstädt :  sie  sei,  schreibt  er,  wie  ein 
Akt  des  Wahnsinns  aufgenommen  worden.  Und  diese  Stimmung 
war  in  allen  Schichten  Österreichs  gleichstark ;  selbst  die  Radikalen 
hatten  für  den  König  von  Preußen  nur  Hohn  und  \'erwünschung. 

So  löste  sich  die  langjährige  Freundschaft  der  beiden  \^or- 
mächte  Deutschlands.  Der  Kampf  gegen  die  französische  Revo- 
lution hatte  beide  vereinigt,  die  deutsche  trieb  sie  auseinander. 
Wie  die  großen,  so  zwang  sie  aber  auch  die  kleinen  Staaten,  so- 
fort ihre  Forderungen  anzumelden  und  in  den  Kampf  um  die 
Existenz  einzutreten.  Und  mit  einem  Worte,  alle  Mächte  der 
deutschen  Geschichte,  auch  die  politisch  noch  ungebundenen, 
uralte  und  eben  geborene,  die  Geister  der  Tiefe,  KlerikaHsmus 
und  Sozialismus,  regten  und  rührten  sich  unter  dem  gewaltigen 
Stoß  und  drängten  ans  Licht. 

Daß  die  Regierungen  sämtlich  frei\\illig  nicht  weichen  würden, 
daß  sie  wohl  paktieren,  aber  nicht  bis  zur  Selbstvernichtung  ge- 


1848.  351 

horchen  würden,  war  selbstverständlich.  Nichts  war  berechtigter 
als  das  Mißtrauen  in  den  Wetteifer,  mit  dem  die  deutschen  Höfe 
allerseits  ihre  Liebe  zur  Freiheit  und  Einigkeit  der  Nation  be- 
kannten. Sie  folgten  dem  Strom,  solange  er  sie  fortriß.  Wie  es 
Friedrich  \\'ilhelm  später  in  besserer  Zeit  gegen  Leopold  Ranke 
mit  seinem  drastischen  Humor  ausgedrückt  hat:  »Wir  lagen  alle 
auf  dem  Bauch.«  Es  war  das  Interesse  der  Revolution,  sie  in 
dieser  Lage  zu  lassen.  Der  Wille  der  Nation  mußte  der  Herrscher 
über  sie  bleiben.  Nur  so  konnte  man  hoffen,  die  Zentralgewalt 
zu  schaffen,  welche  jeden  Sonderwillen  niederhielt.  Hier  also  lag 
die  Stärke  der  Radikalen  und  die  werbende  Macht  ihrer  Ideen, 
Sie  waren  die  einzigen,  welche  die  volle  Einsicht  in  die  Situation 
hatten  und  die  letzte  Konsequenz  daraus  zogen.  Weil  die  Re- 
gierungen dem  Willen  der  Nation  zur  Macht,  Einheit  und  Frei- 
heit widerstrebten,  darum  mußten  sie  untergehen  in  der  einen, 
unteilbaren  Deutschen  Repubük.  Sie  allein  woUten  jene  Idee 
zur  Wahrheit  machen,  mit  der  die  andern  bloß  spielten,  Sie  waren 
wirkhch  die  Bekenner  der  Lehre  von  der  Souveränität  der  Nation : 
alle  andern  waren  Heuchler,  die  nur  mit  Worten,  niemals  mit 
der  Tat  ihre  Prinzipien  vertraten.  Man  spricht  so  gerne  von  der 
Professorenpohtik  im  Frankfurter  Parlament  und  verspottet 
ihre  unpraktischen  Theorien,  Aber  die  Professoren,  die  Beseler, 
Dahlmann,  Droysen,  waren  gerade  die  Opportunisten,  die  Poütiker 
in  der  Versammlung,  welche  sie  von  den  dürren  Abstraktionen 
der  Theorie  auf  die  realen  Verhältnisse  und  die  lebendigen  Mächte 
in  der  Nation  hinzulenken  versuchten.  Die  Radikalen  waren  jeden- 
falls viel  wildere  Doktrinäre,  obschon  gewiß  nicht  ärgere  als  in 
ihrer  Weise  Friedrich  Wilhelm  IV,  und  seine  nächsten  Freunde. 
Aber  gerade  in  ihren  Theorien  steckte  für  den  Moment  die  stärkste 
pohtische  Kraft;  in  ihnen  kam  die  volle  Wucht  des  revolutionären 
Willens  zum  Ausdruck,  unter  dem  sich  die  Regierungen  beugten, 
und  an  den  mehr  oder  weniger,  sei  es  auch  nur  mit  Bangemachen 
und  verstecktem  Drohen  oder  sogar  aus  eigener  Angst,  aUe  Liberalen, 
auch  die  gemäßigtsten,  appellierten.  Und  nur  auf  ihrem  Wege 
wäre  es  wenigstens  denkbar  gewesen,  die  Deutschen  Österreichs  von 
ihrer  Dynastie  loszureißen  und  einer  Zentralgewalt  zu  unterwerfen. 


352  Kleine  historische  Schriften. 

Es  war  die  Idee,  welche  im  Jahre  1789  ihre  Kraft  bewiesen 
hatte:  Frankreich  war  durch  sie  umgestaltet  worden.  Alles,  was 
diese  große  Nation  seitdem  geleistet  hat,  ihre  Rumestaten  und 
ihre  Niederlagen,  alle  ihre  Schicksale  sind  dadurch  bedingt  worden. 
Darauf  kam  es  also  auch  in  Deutschland  an,  ob  die  Idee  der  natio- 
nalen Souveränität  so  wie  in  Frankreich,  und  wie  es  elf  Jahre 
später  in  Italien  geschehen  soUte,  durchschlagen  oder  ob  die  Mächte 
der  Vergangenheit,  die  seit  Jahrhunderten  in  dem  Leben  unseres 
Volkes  festgewurzelten  Djmastien,  sich  behaupten  würden.  Die 
ganze  Geschichte  der  deutschen  Revolution  verläuft  in  diesem  Kon- 
flikt, und  auf  der  Tatsache,  daß  jene  Idee  an  der  Kraft  des  Parti- 
kularismus zerbrach,  ruht  seitdem  unsere  Entwicklung:  unsere 
Siege  und  unsere  Verluste,  die  Einheitskämpfe  des  großen  Jahr- 
zehnts und  die  Preisgebung  der  österreichischen  Brüder  an  Slaven 
und  Magyaren,  Recht  und  Verfassung  des  neuen  Reiches  und 
alle  Parteiungen  auf  seinem  Boden  haben  dadurch  ihre  charak- 
teristische Färbung  erhalten. 


Preußen  aber,  der  Staat,  von  dem  aus  das  neue  Reich  ge- 
schaffen wurde,  hat  zu  allererst  diese  Kraft  gegen  die  Revolution 
bewährt  —  in  dem  Straßenkampf  am  18.  März.  Nicht  die  Re- 
volution siegte  an  diesem  Tage,  sondern  die  Armee.  Überall  war 
jene  kampflos  zu  ihrem  Ziel  gekommen:  in  Berhn  wagte  sie  in 
dem  Moment,  da  sie  es  fast  schon  erreichte,  den  Kampf  und  erlag. 
Dem  alten  Königtum  in  Frankreich  war  es,  wie  schon  Ranke 
betont  hat,  umgekehrt  ergangen.  Der  Abfall  der  Truppen  hatte 
dort  den  Sieg  der  Revolution  bei  dem  ersten  Zusammenstoß  ent- 
schieden. In  Preußen  aber  behauptete  sich  das  Werk  seiner  alten 
Könige:  das  stärkste  Metall  in  ihrem  »Rocher  de  bronce«  hielt  dem 
Geiste  des  Jahrhunderts  stand,  auch  in  der  nationalen  Umbildung 
der  Freiheitskriege,  die  doch  der  absoluten  Krongewalt  nicht  mehr 
entsprach:  bereits  im  Mai  hielten  die  Gardelandwehrmänner  fest 
zu  ihren  Kameraden  von  der  Linie,  und  auf  allen  Bahnhöfen 
wurde  auf  seiner  Heimkehr  aus  der  Verbannung  Prinz  Wilhelm 


1848.  353 

von  seinen  alten  Soldaten  mit  dem  Liede  von  dem  ,, Prinz  von 
Preußen"  empfangen. 

Aber  damit  war  die  Aufgabe  der  Armee  erfüllt.  Auch  für 
diesen  »Militärstaat«  galt  das  Wort,  daß  man  mit  den  Bajonetten 
wohl  stechen,  aber  nicht  darauf  sitzen  kann.  Zur  eigenthchen  Lö- 
sung aller  der  Aufgaben,  welche  im  Innern  und  von  außen  auf 
den  König  einstürmten,  waren  die  Truppen  unfähig,  sie  konnten 
nichts,  als  ihn  und  seine  Krone  für  den  Moment  erhalten;  keinen 
Schritt  konnte  er  vorwärts  tun,  ohne  sich  mit  den  allgemeinen 
Fragen,  welche  die  Welt  bewegten,  auseinanderzusetzen.  Jeder- 
mann sah  dies  ein.  Auch  die  Vertreter  des  alten  Systems,  wie 
der  Prinz  von  Preußen,  der  jetzt  seinen  absolutistischen  Über- 
zeugungen Valet  sagte  und  sich  in  England  durch  seinen  Koburger 
Vetter  und  den  Ritter  von  Bunsen  von  der  Untrennbarkeit  der 
liberalen  und  der  deutschen  Ideen  und  der  Notwendigkeit,  sich 
ihnen  zu  unterwerfen,  überzeugen  ließ.  Was  hätte  Friedrich 
Wilhelm  auch  sonst  tun  sollen  ?  Etwa  bis  1840,  auf  das  System 
seines  Vaters  zurückweichen  ?  Dann  hätte  er  seine  eigenen  Ideale, 
alles,  was  er  geschaffen  und  worauf  er  stolz  war,  seine  heiligsten 
Überzeugungen  verleugnen  müssen.  Und  was  wäre  damit  ge- 
wonnen worden  ?  Hätte  er  dann  in  dem  Wirrwarr  der  deutschen 
Dinge  neutral  bleiben  soUen,  während  das  eigene  Volk  in  allen 
Schichten  von  dem  allgemeinen  Fieber  ergriffen  war  und  die 
deutschen  Rivalen,  so  wie  es  die  süddeutschen  Kronen  schon 
früher  gemacht  hatten,  den  neuen  Wind  in  ihren  Segeln  auffingen  ? 
Oder  sollte  er  kämpfen,  nach  allen  Seiten  um  sich  schlagen,  auf 
die  Rebellen  in  seinen  Provinzen  und  auf  alles,  was  von  draußen 
her  sie  verleitete  und  unterstützte?  Nicht  einmal  Minister  hätte 
er,  wie  Leopold  von  Gerlach  seufzend  bemerkt,  zu  einer  Politik 
des  Rückschrittes  oder  auch  nur  des  Stillstandes  bekommen. 

Hier  lag  der  tiefste  Grund  dafür,  daß  Friedrich  Wilhelm  im  Siege 
vor  der  Revolution  zurückwich,  daß  er  die  Truppen  entließ  und  in 
Berlin  bheb,  hier  die  Erklärung  für  seinen  Umzug  am  21.  März 
und  alle  seine  liberalen  und  deutschen  Akte  in  den  nächsten  Wochen. 

So  blieb  zunächst  die  Revolution  überall  im  siegreichen  Fort- 
schreiten.   Auch  in  Frankfurt  auf  dem  Bundespalais  wehte  das 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  23 


354  Kleine  historische  Schriften. 

schwarz-rot-goldene  Banner  sowie  in  W'ien  vom  Stephansturm 
und  auf  dem  Palais  des  Erzbischofs;  selbst  der  alte,  blöde  Kaiser 
Ferdinand  mußte  sich  mit  den  Farben  der  Revolution  am  Fenster 
der  Burg  vor  seinen  geüebten  »\Veanern<(  präsentieren.  Willenlos 
unterschrieben  die  Regierungen  die  Forderungen  aller  Adressen 
und  Deputationen,  die  an  sie  gelangten,  und  der  Bundestag  ließ 
sich  in  jede  Richtung  treiben,  die  ihm  das  Vorparlament  oder  die 
Komitees  der  Sieben  und  der  Fünfzig  anwiesen.  Es  waren  die 
frohen  Tage  der  Erwartung,  vorzüglich  auch  für  die  Radikalen; 
unter  deren  Druck  standen  auch  die  mittleren  Parteien,  mehr  als 
sie  es  sich  gestehen  mochten. 

Als  das  Parlament  in  Frankfurt  zusammentrat,  war  die  Hoch- 
flut schon  ein  wenig  verlaufen.  Hecker  und  Struve  hatten  sich 
im  südlichen  Schwarzwald  bereits  ihre  Schläge  geholt  und  mußten 
jenseits  der  eiligst  erreichten  sicheren  Grenze  Rache  schnauben. 
Und  im  Posenschen  hatte  sich  endhch  die  Regierung  ermannt 
und  die  Insurgenten  zur  Raison  gebracht.  Wieder  waren  es  terri- 
toriale Kräfte  gewesen,  an  denen  der  revolutionäre  Sturm  er- 
lahmt war. 

Jedoch  nicht  bloß  die  Regierungen  hatten  sich  stark  gezeigt. 
Im  Gegenteil,  in  Posen  wurden  König  und  ^linister  durch  ihre 
eigenen  Untertanen  vorwärts  getrieben,  entgegen  den  Frank- 
furter Beschlüssen  und  ihren  eigenen  Idealen,  mochten  sie  die 
romantischen  sein  oder  die  konstitutionellen.  Die  Kraft  also, 
an  der  die  deutsche  Revolution  sich  brach,  lag  nicht  bloß  in  den 
Dynastien,  sondern  ebenso  sehr  in  der  Bevölkerung.  Durch  die 
polnischen  Rebellen  in  ihrer  Existenz  bedroht,  dachten  die  Deut- 
schen in  der  Provinz  zunächst  an  sich  selbst.  Keine  Theorie  hielt 
vor  dem  nächsten  Interesse  stand.  Die  Stettiner  Kaufmannschaft 
war  gewiß  hberal:  aber  sie  beschwor  im  April  den  König,  den 
dänischen  Krieg  zu  vermeiden,  der  ihren  Handel  vernichten  müsse. 
Vor  dieser  Tatsache  kapitulierte  auch  der  Radikalismus  des  jungen 
Wilhelm  Jordan,  als  er  im  September  namens  der  durch  die  Blockade 
zur  Verzweiflung  gebrachten  preußischen  Provinzen  für  den  Waffen- 
stillstand von  Malmö  eintrat,  an  dem  sich  die  Revolution  recht 
eigentUch  verblutete.     Der   Partikularismus  beherrschte   die   Re- 


1848.  355 

volution  in  allen  Gestalten.  Alle  Parteien  des  Reichstages  waren 
von  ihm  durchsetzt,  bei  allen  Debatten,  in  jedem  Beschluß  und 
je  länger  je  mehr  kam  er  zu  Worte.  Vor  allem  im  zweiten  Halb- 
jahr, bei  den  Beratungen  über  die  Verfassung  und  über  die  Kaiser- 
krone. Aber  schon  früher  trieb  er  die  Parteien  bald  hierhin,  bald 
dorthin.  Selbst  Männer  wie  Dahlmann  und  die  Beselers  zollten 
ihm  ihren  Tribut.  Denn  wer  kann  leugnen,  daß  nordalbingische 
Interessen  bei  ihnen  mitwirkten,  als  sie  für  das  deutsche  Recht 
auf  die  Herzogtümer  samt  ihren  dänischen  Bezirken  mit  voller 
Leidenschaft  eintraten. 

Doch  würden  wir  vorbeigreifen,  wenn  wir  nur  das  territoriale 
Interesse  als  das  dirigierende  Moment  in  der  Parteientwicklung 
der  deutschen  Revolution  bezeichnen  wollten.  Mehr  noch  bewirkte 
der  Druck  der  europäischen  Konstellation.  Der  Sturz  des  Juli- 
königtums hatte  die  deutschen  Throne  erschüttert,  die  Furcht,  in 
diesen  Abgrund  mit  zu  versinken,  sie  der  Revolution  unterworfen. 
Als  er  sich  schloß,  mit  der  Straßenschlacht  in  Paris  am  23.  und 
24.  Juni,  begann,  wie  Sybel  treffend  bemerkt,  die  Ebbe  der  Re- 
volution für  ganz  Europa. 

Wenige  Wochen  vorher  hatte  das  Parlament,  welches  der 
Nation  Einheit,  Kraft  und  Freiheit  bringen  wollte,  seine  Be- 
ratungen begonnen.  Es  waren  stolze  Worte,  mit  denen  Heinrich 
von  Gagern  es  eröffnete:  »Wir  sollen  schaffen  eine  Verfassung 
für  Deutschland,  für  das  gesamte  Reich.  Der  Beruf  und  die  Voll- 
macht zu  dieser  Schaffung,  sie  liegen  in  der  Souveränität  der 
Nation.«  Und  gerne  wiegten  er  und  seine  Freunde  sich  in  dem 
Gefühl,  daß  das  Schicksal  der  Nation  in  ihre  Hand  gelegt  sei. 
Um  so  nachdrücklicher  betonten  sie  ihr  Recht  und  ihre  Macht, 
je  eifriger  sie  nun  doch  bemüht  waren,  auch  den  anderen  »Gliede- 
rungen« des  deutschen  Volkes  die  gebührende  Mitwirkung  zu 
sichern.  Auch  Dahlmann  pries  es  an  der  Versammlung,  daß  »sie 
allein  und  niemand  sonst  das  Ungestüm  der  Bewegung  gebändigt 
und  das  Sonderleben  der  deutschen  Staaten  wieder  zu  Ehren 
gebracht  habe,  indem  sie  hoch  über  ihnen  die  politische  Einheit 
aufstellte,  als  den  Polarstern  der  deutschen  Zukunft«.  »Die  Na- 
tionalversammlung«,  so  schrieb  er,  »hätte   die  Einheit   auf  dem 

23* 


356  Kleine  historische  Schriften. 

Wege  der  Revolution  erreichen  können,  sie  war  stark  genug  dazu, 
denn  sie  bildete  lange  Zeit  den  einzigen  Mittelpunkt  des  vater- 
ländischen Vertrauens,  und  viele  wollten  diesen  Weg.  Sie  war 
stark  genug,  ihn  nicht  zu  wollen.«  Und  diese  Auffassung  färbt 
im  wesentlichen  bis  heute  die  historische  Überlieferung,  deren 
Haupt  Vertreter  ja  in  jenem  Jahre  die  Führer  der  Nation  waren 
oder  die  Grundrichtung  ihres  Lebens  und  Wirkens  empfingen. 
In  Wahrheit  entsprang  die  wachsende  konservative  Strö- 
mung in  der  Versammlung  dem  Gefühl  ihrer  Ohnmacht  und  dem 
Bedürfnis  der  Anlehnung  an  die  erstarkenden  Regierungen  gerade 
dem  Radikalismus  gegenüber.  Das  Verhältnis  zwischen  den  Ge- 
mäßigten und  den  Höfen  war  unklar  und  zweideutig  von  Anfang 
an,  von  Argwohn  und  Intriguen  ganz  durchsetzt,  und  wenige 
waren  so  sehr  darin  verstrickt  wie  die  Gebrüder  Gagern,  die  Lameths 
der  deutschen  Revolution.  Wie  wenig  die  Frankfurter  gegen  die 
Regierungen  selbst  in  der  Höhezeit  ihres  Einflusses  vermochten, 
zeigte  ihr  Versuch,  die  deutschen  Truppen  am  6.  August  zur  Hul- 
digung gegen  den  neuen  Reichsverweser  zu  bringen,  der  völlig 
fehlschlug,  und  der  seine  Beantwortung  durch  König  Friedrich 
Wilhelm  beim  Domfeste  zu  Köln  fand,  als  er  die  Deputation  der 
Nationalversammlung  daran  erinnerte,  daß  es  noch  Fürsten  in 
Deutschland  gebe  und  daß  er  einer  sei.  Ihr  erster  Versuch,  in  die 
auswärtige  Politik  einzugreifen,  war  der  Krieg  um  Schleswig-Hol- 
stein, in  dem  Preußen  das  Schwert  für  sie  führte.  Er  scheiterte 
schmählich  in  dem  Waffenstillstände  zu  ]\Ialmö,  den  der  König 
hinter  dem  Rücken  der  Reichsregierung  und  seiner  eigenen  Minister 
zustande  brachte.  Gerade  die  Gemäßigten,  die  Freunde  Preußens 
wurden  dadurch  getroffen.  Im  tiefsten  Herzen  verwundet  war 
Dahlmann.  Immer  hatte  er  die  Wogen  gebändigt  und  niemand 
hatte  die  nationalen  Fragen  ernster  und  tiefer  aufgefaßt  als  er. 
Jetzt  stellte  er  namens  des  Ausschusses  den  Antrag,  die  zur  Aus- 
führung des  Waffenstillstandes  ergriffenen  Maßnahmen  zu  sistieren. 
»Unterwerfen  wir  uns,«  so  rief  er  aus,  »bei  der  ersten  Prüfung, 
welche  uns  naht,  den  Mächten  des  Auslandes  gegenüber,  klein- 
mütig bei  dem  Anfange,  dem  ersten  Anblick  der  Gefahr,  dann, 
meine  Herren,  werden  Sie  Ihr  ehemals  stolzes  Haupt  nie  wieder 


1848.  357 

erheben!  Denken  sie  an  diese  meine  Worte:  Nie!«  Aber  was 
war  die  Folge  dieser  prächtigen  Apostrophe  und  dieses  aus  der 
Tiefe  hervorbrechenden  Schmerzes?  Ein  Scheinsieg  von  wenigen 
Tagen  und  danach  die  Unterwerfung  der  Versammlung  und  die 
Auslieferung  der  nationalsten  Frage  an  die  Terroristen:  Anarchie 
und  Bürgerkrieg  wären  der  Weg  geworden,  um  die  Herzogtümer 
zu  gewinnen. 

Auch  der  Radikahsmus  aber  war  bereits  machtlos.  Ein  wüstes 
Aufschäumen  des  Pöbels  und  ein  paar  gräßHche  Mordtaten,  das 
war  alles,  was  er  vermochte;  wenige  Kompagnien  und  Kanonen 
genügten,  um  die  Straßen  Frankfurts  rein  zu  fegen. 

Sybel  tadelt  die  Majorität,  weil  sie  die  Grundrechte  vor  der 
Verfassung  in  Angriff  genommen  habe;  sie  hätte  diese  erst  rasch 
unter  Dach  bringen  sollen.  Ich  sehe  nicht  ein,  was  dadurch  ge- 
wonnen wäre.  Denn  die  dänische  Frage  wäre  dadurch  nicht  anders 
gelöst  worden,  und  wenn  es  im  Herbst  und  Winter  wirklich  so 
scheinen  konnte,  als  ob  das  Werk  doch  noch  gehngen  sollte,  so 
lag  das  wieder  an  Ereignissen,  die  völlig  außer  dem  Bereich  der 
Versammlung  lagen.  Es  war  der  Wiederausbruch  der  Revolution 
in  Österreich,  die  ihre  Hoffnungen  steigen  heß  und  sie  Preußen 
zutrieb. 

Dies  scheint  der  Augenblick,  da  Preußen  seine  historische 
Aufgabe  hätte  ergreifen  können.  Mit  Friedrich  Wilhelms  deut- 
schen Plänen  ging  die  Mehrheit  in  Frankfurt  jetzt  eine  Strecke 
weit  zusammen.  In  seinem  eigenen  Hause,  wie  unter  den  Ministern 
und  den  hohen  Offizieren  fanden  die  Erbkaiserlichen  Sympathien ; 
nachdrücklich  sekundierte  ihnen  die  neue  Kammer  in  Berlin; 
man  sprach  davon,  daß  der  König,  wenn  er  das  Programm  nicht 
durchführen  wolle,  wohl  abdanken  könne,  wie  Kaiser  Ferdinand 
in  Olmütz. 

Daß  er  sich  widersetzte,  ist  die  wichtigste  Entscheidung  ge- 
wesen, die  er  je  getroffen  hat.  Unendlich  oft  ist  er  darum  an- 
gegriffen worden,  selten  genug  verteidigt.  Und  freilich,  auch  die 
Katastrophe,  die  sein  Staat  danach  erlitt  und  die  sein  Leben  zer- 
stört hat,  hängt  damit  zusammen.  Aber  die  deutsche  Zukunft 
hat  dadurch  die  Richtung  erhalten,  die  in  Bismarcks  Werk  aus- 


358  Kleine   historische  Schriften. 

mündete.  Denn  nicht  dieser  und  seine  Partei  würden  das 
neue  Reich  gebaut  haben,  wenn  Friedrich  Wilhelm  aus  den  Händen 
der  Frankfurter  Deputation  die  Kaiserkrone  angenommen  hätte, 
sondern  die  Gagern  und  Simson,  die  Dahlmann,  Beseler  und 
Vincke.  Preußen  hätte  den  Weg  durchmessen  müssen,  der  Sar- 
dinien an  die  Spitze  Italiens  gebracht  hat:  es  wäre  schließlich 
die  Provinz  geworden  eines  auf  der  Parlamentsmacht  aufgebauten, 
unitarisch  gerichteten  Nationalstaates.  Ungeheure  Aufgaben  waren 
ihm  damit  gestellt.  Krieg  gegen  Österreich  war  das  Erste  und 
fast  das  Geringste.  Das  Zweite  die  Bändigung  der  Kleinstaaten, 
die  nur  aus  Furcht  vor  der  Revolution  sich  beugten  und  zitternd 
vor  dem  preußischen  Ehrgeiz  schon  jetzt  mit  Österreich  verhandel- 
ten. Wie  hätte  es  anders  geschehen  können,  als  daß  man  aufs  neue 
den  nationalen  Willen  gegen  sie  aufrief!  Und  doch  wäre  die  Nöti- 
gung nicht  ausgeblieben,  auch  dessen  wiederum  Herr  zu  werden 
und  den  Einfluß  der  parlamentarischen  Theorie,  die,  ganz  ab- 
gesehen von  dem  allgemeinen  und  geheimen  Stimmrecht,  in  dem 
Suspensivveto  und  der  Stellung  des  Parlamentes  zu  den  Ministern 
und  der  Gesetzgebung  übermächtig  entwickelt  war,  womögHch 
zu  zerbrechen.  Damit  aber  noch  nicht  genug.  Diesem  Deutsch- 
land galt  es  die  Stellung  zu  erringen  in  der  X^'elt.  Der  Bruch  mit 
Österreich  war,  man  kann  gar  nichts  anderes  annehmen,  auch  der 
mit  dem  Zaren,  und  noch  schwebte  die  Frage  um  Schleswig-Hol- 
stein. War  es  denkbar,  die  neue  Ära  mit  dem  Rückzuge  hinter 
die  Eider  einzuleiten?  Noch  mehr  aber:  ganz  ungelöst  waren  die 
Fragen  der  Tiefe,  die  mit  immer  stärkerer  Gewalt  herandrangen, 
die  soziale  Frage  und  die  der  römischen  Kirche,  welche  durch  den 
protestantischen  Träger  der  deutschen  Krone  und  die  Loslösung  von 
Österreich  aufs  tiefste  getroffen  werden  mußte  und  schon  alle 
hberalen  Formen  zu  benutzen  begann,  um  den  Kampf  mit  den 
Geistern  der  Freiheit  und  der  Nationalität  aufzunehmen:  alle 
Feinde  des  neuen  Kaisertums  hätten  alsbald  hier  ihre  stärkste 
Stütze  finden  müssen. 

Wahrhch,  mehr  als  ein  Friedrich  der  Große  und  ein  Bismarck 
hätten  dazu  gehört,  um  ein  solches  Programm  zum  Segen  der 
Nation  durchzuführen. 


1848.  359 

Es  war  die  eigenste  Tat  des  Königs,  daß  er  diese  Krone  zurück- 
wies. Aus  der  Tiefe  seiner  romantisch-gefärbten  Politik  sprang 
sie  hervor.  Für  Deutschland  wollte  er,  wie  jemals,  eintreten  — 
aber  von  Österreich  sich  nicht  trennen  und  den  Weg  der  Revo- 
lution niemals  beschreiten.  Darin  blieb  er  doch  der  Überlieferung 
seines  Vaters  treu.  Es  war  keine  Politik  der  Tatkraft  noch  des 
spezifischen  Preußentums:  ich  bin  kein  Friedrich  der  Große, 
sagte  er  zu  Beckerath.  Aber  die  Gefahren,  welche  die  Annahme 
der  Krone  unzweifelhaft  über  Preußen  heraufgeführt  hätte,  hat 
er  vermieden  und  dadurch  doch  das  spezifische  Preußentum  be- 
hauptet. So  hat  er  den  Boden  bereitgehalten,  auf  dem  eben  die 
Männer,  welche  damals  ihm  ähnlich  dachten,  das  neue  Reich  er- 
richtet haben  —  den  Bund  der  deutschen  Territorialstaaten  dies- 
seits vom  Inn  und  den  böhmischen  Bergen, 


6©^=^?5^ 


Bismarcks  Religion. 

(1901.) 

Der  erste  April  hat  die  Gedanken  der  Nation  von  neuem  auf 
den  Mann  gelenkt,  dem  sie  ihre  Einheit,  ihr  neues  Leben  ver- 
dankt, und  er  hat  sie  noch  immer  in  dem  alten  Widerspruch  der 
Meinungen  gefunden,  den  der  Name  des  gewaltigen  Kämpfers 
von  jeher  in  ihr  erweckte.  Immerhin  ist,  irre  ich  nicht,  der  Ton, 
in  dem  Freund  und  Feind  heute  des  großen  Toten  zu  gedenken 
pflegen,  schon  ein  etwas  anderer  geworden  als  vor  Jahren:  die 
Dissonanzen  sind  nicht  mehr  ganz  so  schrill  wie  früher;  in  Liebe 
und  Haß  führt  nicht  mehr  ausschließlich  die  Parteiung  das  Wort; 
das  reinere  Licht  historischer  Auffassung  beginnt  den  Reformator 
unseres  Staates  zu  umfließen.  Man  braucht  aber  kein  Prophet 
zu  sein,  um  vorauszusagen,  daß  diese  Stimmung  sich  mit  der 
Zeit  noch  verstärken,  und  daß  Bismarcks  heroische  Gestalt  um 
so  höher  über  dem  Getümmel  der  Parteien  und  ihren  Leiden- 
schaften emporwachsen  wird,  je  fester  sich  sein  Volk  in  die  Formen, 
die  er  ihm  schuf,  einleben  und  zusammenschheßen  wird.  Es  wird 
ihm  gehen  wie  allen  wahrhaft  Groi3en,  die  in  dem  Ahnensaal  der 
Nation  stehen :  das  Trennende  wird  mehr  und  mehr  zurückweichen, 
das  Gemeinsame  hervorkommen;  die  Parteien,  zwischen  denen 
er  kämpfend  seinen  Weg  fand,  werden  vergehen  und  die  neuen, 
die  ihre  Stelle  einnehmen,  auf  dem  Grund  sich  erheben,  den  er 
gelegt  hat;  sie  werden  zu  ihm  als  ihrem  gemeinsamen  Ahnherrn 
emporschauen,  wie  zu  den  alten  Helden,  die  mr  als  die  Schöpfer 
und  Bildner   unserer  Nationalität   verehren,   und  die  im   Leben 


Bismarcks  Religion.  361 

weit  mehr  noch  des  Hasses  und  des  Haders  erweckt  haben  als 
Bismarck  selbst. 

Daran  wird  nichts  ändern,  daß  vermehrte  Quellen  die  Einzel- 
züge seines  Bildes  schärfer  beleuchten,  und  daß  die  Kritik  auch 
die  Schatten  in  ihm  aufsuchen,  Schwächen  und  Widersprüche 
entdecken,  den  Anteil  seiner  Mitarbeiter  betonen,  den  Ideen  und 
Zielen  seiner  Rivalen  und  Gegner  gerechter  werden  wird,  als  es 
ihm  selbst  und  seinen  Anhängern  möglich  war.  Bismarck  ist 
groß  genug,  um  ein  objektives  Urteil  zu  vertragen;  ja  er  wird 
der  Nachwelt  nur  um  so  markiger  und  eigenartiger  erscheinen, 
je  heller  das  Licht  ist,  das  auf  ihn  fällt,  und  nur  um  so  mäch- 
tiger aus  seiner  Umgebung  hervortreten,  je  sichtbarer  diese 
selbst   wird. 

Zu  solchen  Betrachtungen  muß  uns  die  jüngste  Publikation 
über  sein  Leben  besonders  anregen,  die  Sammlung  seiner  Briefe 
an  die  Braut  und  Gattin,  die  sein  Sohn,  Fürst  Herbert,  uns  vor 
kurzem  schenkte,  ohne  Frage  der  bedeutendste  Quellenkreis, 
den  wir  seit  vielen  Jahren  über  das  Leben  Bismarcks  erhalten 
haben,  ja  vielleicht  durch  seine  Originalität  und  die  überraschenden 
Lichter,  die  daraus  auf  die  Entwicklung  des  großen  Staatsmanns 
fallen,  wertvoller  als  alles,  was  wir  früher  von  und  über  ihn  be- 
saßen. Daß  sich  Fürst  Herbert  zu  der  Veröffentlichung  entschlossen 
hat,  können  wir  ihm  nicht  genug  danken;  aber  die  Tat  der  Pietät 
trägt  ihren  Lohn  in  sich  selbst,  denn  die  Briefe  zeigen  uns,  wie 
der  Herausgeber  schön  und  treffend  sagt,  daß  das  Gemüt  des 
Schöpfers  unseres  Reiches  so  groß  und  tief  war  wie  sein  Geist. 
Sie  führen  uns  nicht  auf  den  Schauplatz  der  pohtischen  Kämpfe, 
in  den  Streit  der  Parteien,  der  vielmehr  darin  fast  ganz  zurück- 
tritt, sondern  in  den  Frieden  des  Hauses,  in  den  Bereich  des  all- 
gemein Menschhchen,  in  den  Kreis  der  Empfindungen,  die  an 
jeden  von  uns  herantreten,  in  uns  allen  widerküngen  und  am 
eigenen  Herzschlag  von  uns  gemessen  werden  können.  Und  wer 
kann  sagen,  daß  er  jemals  Briefe  gelesen  hat,  die  diesen  gleich- 
kommen an  Echtheit  und  Ursprünglichkeit  des  Tons,  an  Kraft 
und  Mannigfaltigkeit  des  Ausdrucks,  an  Ernst  und  Wahrhaftig- 
keit der  Gesinnung?    Schönere  Briefe  als  Bismarck  an  seine  Braut 


302  Kleine  historische  Schriften. 

hat  nie  ein  Liebender  geschrieben.  Sie  erinnern  zugleich  an  den 
jungen  Goethe  und  an  Luther:  so  vereinigen  sich  in  ihnen  Geist 
und  Tiefsinn  und  dichterischer  Glanz  der  Sprache,  überwallendes 
und  doch  nie  verletzendes,  stets  zart  zurückhaltendes  Empfinden, 
reinste  und  oft  rührend  weiche  Hingebung  und  leidenschaftlich 
an  die  Geliebte  sich  klammernde  Sorge  mit  tiefer,  demütiger 
Frömmigkeit  und  männlich  fester  Kraft  und  Willensklarheit: 
Religion  und  Liebe  bilden  ihren  Grundakkord  und  sind  in  un- 
trennbarem Gleichklang  wundervoll  darin  verschmolzen.  Und 
so  werden  diese  persönlichsten  seiner  Briefe  vielleicht  mehr  als 
alles,  was  Bismarck  uns  gegeben  hat  und  gewesen  ist,  dazu  helfen, 
ihm  das  Herz  seines  Volkes  zu  erobern,  da  sie  eben  selbst  die  reinste 
Offenbarung  des  deutschen  Herzens  sind. 

Unter  den  vielen  neuen  Zügen,  die  das  Bild  des  jungen  Bis- 
marck aus  den  Briefen  an  die  Geliebte  für  uns  gewonnen  hat, 
ist  einer  der  merkwürdigsten  die  strenge  Bekenntnisgläubigkeit, 
die  aus  ihnen  spricht;  sie  hat,  kann  man  sagen,  auf  viele  Leser 
fast  verblüffend  und  wohl  auf  alle  überraschend  gewirkt. 

Denn  wenn  wir  auch  im  allgemeinen  wußten,  daß  Bismarck  in 
den  Jahren  seiner  Brautschaft  und  in  der  ersten  Zeit  seiner  Ehe 
sich  näher  zur  Kirche  gehalten  hat  als  vorher  und  später,  so  ahnten 
^^ir  doch  nicht,  daß  er  mit  solchem  Ernst,  ja  solcher  Inbrunst 
die  Dogmen  des  Luthertums  in  sich  aufgenommen  habe.  Als 
die  Zeitungen  bei  dem  Erscheinen  des  Buches  den  Werbebrief 
um  die  Braut,  der  sie  eröffnet,  brachten,  hörte  man  oft  sagen, 
daß  es  Bismarck  mit  dem  Bekenntnis  seiner  Bekehrung  nicht 
völlig  ernst  gewesen  sein  könne,  daß  er  schon  in  diesem  Schreiben 
den  Diplomaten  nicht  verleugnet  habe,  der  jene  Sprache  wählte, 
weil  er  sich  sagen  mußte,  daß  er  die  Hand  der  Tochter  von  den 
orthodoxen  Eltern  auf  keine  andere  Weise  erlangen  könne.  Wer 
so  urteilte,  bewies  freiUch,  daß  er  die  folgenden  Briefe  noch  nicht 
gelesen  und  jedenfalls  sie  nicht  verstanden  hatte,  denn  ein  vollerer 
Einklang  als  zwischen  ihnen  und  dem  Werbebrief  ist  nicht  denk- 
bar, und  wir  kämen,  wenn  jene  recht  hätten,  zu  der  absurden 
Annahme,  daß  Bismarck  auch  in  den  Briefen  an  die  Braut  und 
die  Gattin,  als  er  schon  in  vollem  und  unantastbarem  Besitz  seines 


Bismarcks  Religion.  363 

Glückes  war,  noch  diplomatisiert  hätte  und  ein  blöder  Heuchler 
gewesen  wäre. 

Immerhin  aber  darf  man  so  viel  zugeben,  daß  die  Liebe  zu 
Johanna  von  Puttkamer  den  Durchbruch  des  neuen  religiösen 
Empfindens  in  ihm  bewirkt,  und  daß  seine  Religiosität  sich 
auch  in  seiner  strenggläubigen  Periode  mit  dem  Glaubensleben 
seiner  neuen  Verwandten  nicht  völlig  gedeckt  hat.  Letzteres 
deutet  er  in  der  Werbung  wenigstens  an  und  hat  er  in  seinen 
Liebesbriefen   an  die  Braut  nirgends  verleugnet. 

Wenn  er  der  Einwirkung  seiner  Neigung  auf  das  Erwachen 
seines  Glaubens  dem  Vater  gegenüber  nicht  gedenkt,  so  wird 
man  in  dem  Puttkamerschen  Haus  doch  wohl  den  Zusammen- 
hang geahnt  und  es  ihm  eben  nicht  zu  streng  angerechnet  haben, 
daß  er  diesen  zartesten  Punkt  umgangen  hatte;  niemals  aber 
hätte  Bismarck  in  Reinfeld  Aufnahme  gefunden,  wenn  man  dort 
an  der  Aufrichtigkeit  seines  Bekenntnisses  hätte  zweifeln  müssen. 
Selbst  die  Tochter  hätte  ihn,  wie  sie  ihm  nach  der  Verlobung  be- 
kannte, korbbeladen  abziehen  lassen,  wenn  Gott  sich  nicht  seiner 
erbarmt  und  ihn  wenigstens  durch  das  Schlüsselloch  seiner  Gnaden- 
tür hätte  sehen  lassen. 

Die  lutherische  Orthodoxie,  die  später  in  Pommerns  Kirche 
ihr  festestes  Bollwerk  gefunden  hat  und  sie  noch  heute  unge- 
brochen beherrscht,  war  damals  in  ihr  noch  nicht  lange  heimisch 
geworden,  wenn  auch  schon  im  siegreichen  Aufstreben  begriffen. 
Als  ihr  Begründer  ist  vor  andern  Adolf  von  Thadden  auf  Trieglaff 
anzusehen,  in  dessen  Familie  Bismarck  diese  Rehgiosität  und 
mit  ihr  Johanna  von  Puttkamer  kennen  und  lieben  gelernt  hat, 
Thadden  war  kein  Pommer,  sondern  ein  Berliner,  und  hat  in  Ber- 
Hn  die  Anregungen  empfangen,  die  er  in  Pommern  ausgebreitet 
hat.  Sohn  eines  höheren  Offiziers  und  im  Kadettenhaus  erzogen, 
hatte  er  nach  dem  Krieg,  in  dem  er  mit  focht,  einem  Kreis  junger 
Offiziere  und  Juristen  angehört,  welche  die  rehgiöse  Erregung, 
die  der  Druck  der  Fremdherrschaft  und  der  Kampf  um  die  Frei- 
heit erweckt  hatte,  festzuhalten  und  fortzubilden  bestrebt  waren; 
die  »Bibelhusaren«  hießen  sie  darum  bei  ihren  ungläubigen  Kame- 
raden.   Es  waren  vor  allem  die  Gerlachs,  von  denen  Ludwig,  der 


364  Kleine   historische  Schriften. 

spätere  Präsident  und  Kreuzzeitungsrundschauer,  der  Schwager 
Thaddens  woirde,  femer  Lancizolle,  Senfft-Pilsach,  Plehwe  und 
andere;  auch  Clemens  Brentano  hat  eine  Zeitlang  mit  ihnen  ver- 
kehrt. Schleiermachersche  Ideen,  die  auch  auf  sie  gewirkt,  hatten 
sie  bald  abgestreift  und  unter  herrenhuterischem  Einfluß  —  Pastor 
Anders  von  den  böhmischen  Brüdern  ward  von  ihnen  besonders 
verehrt  —  einen  in  strengeren  konfessionellen  Formen  festgebannten 
Pietismus  entwickelt. 

Als  Thadden  nach  Pommern  und  in  den  Besitz  der  Trieglaff- 
schen  Güter  kam,  durch  die  Heirat  mit  einer  geistesverwandten 
Dame,  fand  er  die  dortige  Kirche  noch  völlig  beherrscht  vom 
Rationalismus.  Er  war  der  Feind,  dem  sein  Glaube  aufs  stärkste 
entgegenstrebte,  und  sofort  nahm  er  den  Kampf  mit  allem  Nach- 
druck auf.  Doch  gründete  er  kerne  Sekte,  sondern  als  ein  rechter 
Pietist  suchte  er  die  herrschende  Kirche  zunächst  von  seinen 
Konventikeln  her  zu  unterhöhlen  und  zu  erobern,  in  denen  er 
und  seine  Freunde,  darunter  als  einer  der  ältesten  und  ihm  eng- 
verbunden der  Herr  von  Puttkamer  auf  Reinfeld,  selbst  den 
Gottesdienst  leiteten,  predigten,  beteten  und  sangen  und  jede 
Verbindung  mit  den  aufgeklärten  Pastoren  vermieden. 

Als  Bismarck  nach  Pommern  kam,  stand  der  fromme  Edel- 
mann auf  der  Höhe  seines  Einflusses:  die  hinterpommerschen 
Pfarreien  waren  bereits  von  seinen  Anhängern  erfüllt;  zumal  die 
jungen  Pastoren,  die  Schüler  Hengstenbergs,  die  Eiferer  für  Thron 
und  Altar,  scharten  sich  um  ihn  und  sahen  zu  ihm  als  ihrem  Führer 
und  Patron  empor.  Nicht  bloß  religiös,  sondern  auch  pohtisch 
und  sozial  eine  festgeschlossene  Schar,  königstreu,  altpreußisch, 
von  dem  Geist  eifriger  Propaganda  erfüllt,  wenig  duldsam  gegen 
Andersgläubige,  aber  auf  dem  gemeinsamen  Grund  eines  friede- 
vollen und  selbstsicheren  Glaubenslebens  innig  miteinander  ver- 
bunden. 

Bismarck  hatte  schon  mehrere  Jahre  auf  dem  Lande  gelebt, 
als  er  mit  Thadden,  der  nicht  zu  seinen  nächsten  Nachbaren  ge- 
hörte, bekannt  wurde;  ein  Schulkamerad,  Moritz  von  Blancken- 
burg,  mit  dem  er  die  alte  Freundschaft  erneuerte,  iind  der  als 
Besitzer  von  Cardemin  der  nächste  Nachbar  von  Trieglaff  war. 


Bismarcks  Religion.  365 

führte  ihn  in  das  fromme  Haus  ein.  Bismarck  war  in  dem  Geist 
erzogen  worden,  der  in  diesem  Kreis  verpönt  war:  im  Elternhaus 
wie  auf  der  Schule  hatte  ihn  noch  die  rationahstische  Atmosphäre 
umgeben,  die  so  ganz  dem  Geist  des  alten  Preußens  entsprach; 
Schleiermachers  Religionsunterricht  hatte  ihn  nicht  tiefer  be- 
rührt; ohne  große  Kämpfe,  wie  es  scheint,  wenn  auch  nicht 
ohne  ernstes  Nachdenken,  hatte  er  schon  auf  der  Schule  mit  dem 
Glauben  der  Kinderjahre  gebrochen;  er  habe,  sagt  er,  bei  seiner 
Einsegnung  an  seinem  sechzehnten  Geburtstag  keinen  anderen 
Glauben  gehabt  als  einen  nackten  Deismus,  der  nicht  lange  ohne 
pantheistische  Beimischungen  geblieben  sei.  Bei  Spinoza  und 
Hegel,  später,  als  er  schon  in  Kniephof  hauste,  in  den  Schriften 
von  Strauß,  Feuerbach,  Bruno  Bauer  suchte  er  den  festen  Boden 
zu  finden,  den  ihm  die  Kirche  nicht  mehr  bot,  und  den  nun  doch 
auch  die  Modephilosophen  ihm  nicht  wiederzugeben  vermochten. 

In  diesem  Zustand  der  Leere  und  des  Überdrusses,  den  das 
ungestillte  philosophische  Grübeln,  unbefriedigter  Tatendrang, 
die  Langeweile  und  das  Einerlei  des  Berufes  und  nicht  zuletzt 
die  Sehnsucht  nach  dem  Glück  des  Hauses  und  der  Liebe  selbst 
in  ihm  hervorriefen,  trat  er  in  jenen  Kreis  ein,  der  ihm  alles  dar- 
bot, w^as  er  vermißte:  inniges  FamiHenleben,  treue  Freundschaft 
und  eine  feste,  friedenschaffende  Weltanschauung.  Blancken- 
burg,  der  ganz  darin  lebte,  sich  nie  davon  getrennt  hatte  und 
bald  durch  seine  Verlobung  mit  der  Tochter  Thaddens  sich  noch 
enger  mit  ihm  verband,  suchte  den  Freund  mit  liebendem  Eifer 
für  seinen  Glauben  zu  gewinnen.  Dennoch  hat  Bismarck,  wie 
sehr  es  ihm  auch  in  dem  frommen  Haus,  das  ihm  wie  eine  neue 
Heimat  war,  behagte,  und  wie  trostlos  er  sich  oft  in  seiner  Einsam- 
keit fühlte,  lange  geschwankt,  bis  er  sich  unterwarf. 

Auch  die  Bekanntschaft  mit  Johanna  von  Puttkamer,  die 
er  auf  der  Hochzeit  Blanckenburgs  im  Oktober  1844  kennen 
lernte,  hat  ihn  nicht  sogleich  dahin  geführt.  In  Reinfeld  ver- 
kehrte er  gar  nicht;  auch  lag  es  von  den  Gütern  seiner  Freunde 
zu  weit  ab,  als  daß  er  oft  hätte  Gelegenheit  haben  können,  das 
Fräulein  zu  sehen.  Erst  1846  hat  er  eine  Zuneigung  zu  ihr  ge- 
faßt, die  ihn  nicht  mehr  losHeß,  auf  der  Harzreise,  die  er  im  August 


366  Kleine  historische  Schriften. 

mit  ihr  und  Blanckenburgs  machte;  und  erst  der  Tod  der  jungen 
Frau  von  Blanckenburg,  die  im  Oktober  darauf  dem  Typhus, 
der  ihr  schon  Mutter  und  Bruder  geraubt  hatte,  erlag,  hat  die 
rehgiöse  Krisis  in  ihm  hervorgerufen,  in  der  er  sich  mit  den  trauern- 
den Freunden  für  Leben  und  Sterben  eins  fühlte,  und  aus  der  er 
nun  den  ]\Iut  schöpfte,  die  Hand  der  Geliebten  von  ihren  frommen 
Eltern  zu  erbitten. 


»Mir  ist  die  glückliche  Ehe  und  die  Kinder,  die  mir  Gott 
geschenkt  hat,  wie  der  Regenbogen,  der  mir  die  Bürgschaft  der 
Versöhnung  nach  der  Sündflut  von  Verwilderung  und  Liebes- 
mangel gibt,  die  meine  Seele  in  früheren  Jahren  bedeckte«  —  in 
diesen  ergreifenden  Worten,  die  er  lange  Jahre  nach  seiner  Heirat 
von  Wien  her  an  seine  Gattin  gerichtet,  hat  Bismarck  ausgesprochen, 
was  ihm  sein  Glaube  für  das  Glück,  das  er  errungen,  und  was  die 
Liebe  für  den  Glauben,  den  er  gewonnen,  ihm  bedeutete:  die 
beseligende  Gewißheit,  in  der  Geliebten,  in  dem  Glück  des  Hauses 
den  Frieden  zu  besitzen,  den  er  in  der  Unruhe  und  der  Einsam- 
keit der  Jugendjahre  hatte  entbehren  müssen;  in  einem  allmäch- 
tigen Gefühl  waren  ihm  Liebe  und  Religion  zusammengeflossen. 
»Ich  habe  Dich  geheiratet,«  schreibt  er  in  den  ersten  Tagen  von 
Frankfurt,  »um  Dich  in  Gott  und  nach  dem  Bedürfnis  meines 
Herzens  zu  lieben  und  um  in  der  fremden  Welt  eine  Stelle  für 
mein  Herz  zu  haben,  die  all  ihre  dürren  Winde  nicht  erkälten 
und  an  der  ich  die  Wärme  des  heimatlichen  Kaminfeuers  finde, 
an  das  ich  mich  dränge,  wenn  es  draußen  stürmt  und  friert«. 
In  immer  neuen  wundervollen  Bildern  hat  er  diesem  Empfinden 
Ausdruck  gegeben,  am  schönsten  vielleicht  an  einem  Sommer- 
tag des  Jahres  184g  zu  Schönhausen,  in  einem  jener  Briefe,  aus 
denen  es  uns  wirklich  wie  Goethes  W^ertherstimmung  und  Luthers 
Glaubensinnigkeit  entgegenweht.  Er  war  hinausgefahren  nach 
der  Heide,  um  die  neuen  Schonungen  anzusehen,  die  von  der 
Dürre  gelitten  hatten:  »Ich  nahm  die  Büchse  mit,  um  Franziska 
möglicherweise  durch  einen  Spießer  zu  erfreuen,  aber  ich  sah  nur 


Bismarcks  Religion.  367 

Mütter  und  Babies,  die  ich  nicht  voneinander  trennen  mochte. 
Am  Abend  wollte  ich  Dir  schreiben,  aber  es  war  so  himmlische 
Luft,  daß  ich  wohl  zwei  Stunden  auf  der  Bank  vor  der  Garten- 
stube saß,  rauchte  und  die  Fledermäuse  fliegen  sah,  ganz  wie 
vor  zwei  Jahren  mit  Dir,  mein  Liebling,  ehe  wir  unsere  Reise 
antraten.  Die  Bäume  standen  so  still  und  hoch  neben  mir,  die 
Luft  voll  Lindenblüte,  im  Garten  schlug  eine  Wachtel  und  lockten 
Rebhühner,  und  hinten  über  Arneburg  lag  der  letzte  blaurote 
Saum  des  Sonnenuntergangs.  Ich  war  recht  von  Dank  gegen 
Gott  erfüllt,  und  vor  meine  Seele  trat  das  ruhige  Glück  einer 
von  Liebe  erfüllten  Häuslichkeit,  ein  stiller  Hafen,  in  den  von  den 
Stürmen  des  Weltmeeres  wohl  ein  Windstoß  dringt,  der  die  Ober- 
fläche kräuselt,  aber  dessen  warme  Tiefen  klar  und  ruhig  bleiben, 
solange  das  Kreuz  des  Herrn  sich  in  ihnen  spiegelt;  mag  auch 
das  Spiegelbild  oft  matt  und  entstellt  zurückstrahlen,  Gott  kennt 
sein  Zeichen  doch.« 

Wunderbare  Vereinigung  weltweiter  Widersprüche!  Dieser 
Mann,  der  nach  außen  so  kalt  und  verschlossen  erscheint,  der 
harte  ReaHst,  der  immer  nur  mit  dem,  was  Macht  ist  und  Inter- 
esse, rechnet,  das  Ideale  aber  aus  der  Politik  recht  absichtlich 
ausstößt,  der  Held,  der  keine  Furcht  kennt,  der  Kämpfer,  der 
nicht  ruht,  bis  der  Gegner  am  Boden  liegt,  der  Herrschgewaltige, 
der  keinen  WiUen  neben  dem  seinen  duldet,  der  Zornmütige, 
der  seinen  Feinden  mit  unstillbarem  Ingrimm  begegnet  und  ihnen 
gram  bleibt,  auch  wenn  sie  vernichtet  sind  —  sobald  er  in  den 
ihm  geheiligten  Bezirk  eintritt,  ist  er  wie  ausgetauscht.  Da  atmen 
seine  Worte,  seine  Gedanken,  seine  innersten  Empfindungen 
nichts  als  Treue,  Hingebung,  Demut,  Dank  und  Liebe.  Und  ist 
er  von  ihm  getrennt,  so  kommen  alsbald  wieder  über  ihn  die  alten, 
trüben  Gedanken.  Da  er  von  der  Brautreise  heimkehrt  in  das 
Haus  der  Eltern  und  der  Ahnen,  während  der  Frühling  durch  das 
Land  geht  —  der  Schnee  ist  schon  fort,  die  Luft  warm,  die  Leute 
pflügen  — ,  ist  in  ihm  selbst  der  kurze  Frühling  wieder  Winter 
geworden;  je  näher  er  Schönhausen  kommt,  desto  drückender 
wird  ihm  der  Gedanke,  auf  wer  weiß  wie  lange  wieder  in  die  alte 
Einsamkeit  zu  treten:   »Die  Bilder  wüster  Vergangenheit  stiegen 


363  Kleine  historische  Schriften. 

in  mir  auf,  als  wollten  sie  mich  von  Dir  fortdrängen.  Mir  war 
fast  weinerlich,  wie  wenn  ich  nach  den  Schulferien  die  Türme 
von  Berlin  aus  dem  Postwagen  erblickte.«  Noch  als  Ehemann 
preßt  ihm  der  Abschied  von  Reinfeld  Tränen  aus.  Sie  kommen 
ihm,  wenn  er  des  Nachts  der  fernen  Geliebten  gedenkt.  Brennende 
Unruhe  erfaßt  ihn,  wenn  ihre  Briefe  länger  ausbleiben,  als  er 
erwartet  hat.  Wie  heiß  und  stürmisch,  »mit  fast  unziemücher 
Leidenschaft«,  gesteht  er  selbst,  dringt  sein  Gebet  empor,  wenn 
er  sich  um  die  erkrankten  Kinder  ängstigt,  und  wie  freudig  sein 
Dank,  wenn  er  sie  wieder  gerettet  weiß!  Mitten  in  dem  Getriebe 
des  politischen  Lebens,  wie  leidenschaftlich  er  daran  teilnimmt, 
»friert  und  bangt«  ihn  doch  nach  seinen  Lieben,  dürstet  ihn  nach 
einem  »Tropfen  Himmelsruhe  in  dieses  fieberheiße  Durcheinander, 
etwas  Feiertag  in  diese  Werkstatt,  wo  Lüge  und  Leidenschaft 
rastlos  auf  den  Amboß  des  menschlichen  Unverstandes  hämmern«. 
Noch  auf  der  Höhe  seiner  Stellung,  in  den  Tagen  von  Gastein, 
fordert  er  die  Geliebte  auf,  indem  er  sich  der  gemeinsamen  Reise 
vor  achtzehn  Jahren  erinnert,  mit  ihm  Gott  zu  danken  für  alles, 
was  er  an  ihnen  Gutes  getan  habe,  »daß  ich  aus  der  Wüste  des 
politischen  Lebens  im  Geist  nach  dem  häuslichen  Herd  blicken 
kann,  wie  der  Wanderer  in  böser  Nacht  das  Licht  der  Herberge 
schimmern   sieht.      Gott   erhalte  es   so   bis  zur  Einkehr!« 

Dennoch  sind  alle  diese  Gegensätze,  so  disharmonisch  sie 
an  sich  sein  mögen,  untrennbar  in  ihm  verbunden.  Sie  berühren 
sich  nicht  nur,  sie  gehören  zueinander  —  Luther  würde  gesagt 
haben:  »wie  die  Scheide  zum  Schwert,  wie  das  Bögel  zum  Kranz«, 
oder,  um  wieder  Bismarcks  Worte  zu  gebrauchen,  »wie  Tinte 
auf  weißes  Papier,  wie  das  starre  Siegel  auf  das  weiche  Wachs«. 
Ohne  die  Beimischung  jener  mildesten  Tugenden  würden  die 
heroischen  Züge  den  Charakter  des  Harten  und  Abschreckenden 
ge^\innen•.  beide  wurzeln  sie  in  demselben  Grund  seiner  mächtigen 
Natur:  erst  vereinigt  vollenden  sie  das  Bild  des  Helden. 

An  dieser  Stelle  wird  es  uns  deutlich,  wie  tief  die  Kluft  war, 
die  Bismarck  zu  jeder  Zeit  auch  von  seinen  Freunden  schied, 
und  daß  er  auch  ihnen  gegenüber  immer  er  selbst  blieb.  Auch 
von  Thadden  haben  wir  den  oder  vielmehr  die  Werbebriefe  — 


Bismarcks  Religion.  369 

denn  der  fromme  Ritter  fand  noch  als  Großvater  den  Mut,  sich 
aufs  neue  dem  Ehestand  zu  ergeben;  und  auch  sie  sind  viel  mehr 
Glaubensbekenntnisse  als  Liebeserklärungen.  Es  scheint  fast, 
als  sei  das  so  Stil  in  diesen  Kreisen  gewesen;  und  schon  deshalb 
hat  wohl  Bismarck  zu  dieser  uns  auffallenden  Form  seiner  Wer- 
bung greifen  müssen.  Aber  wie  weit  weicht  er  darin  nach  Ton 
und  Auffassung  von  den  Ergüssen  seines  väterlichen  Freundes 
ab!  Wenn  er  es  gegen  Herrn  von  Puttkamer  ausspricht,  er  hoffe, 
daß  die  neue  Regung  seines  Herzens,  der  Friede  und  die  Zuver- 
sicht, die  sie  ihm  gegeben  habe,  was  auch  über  ihn  beschlossen 
sei,  nicht  verloren  sein  würden,  so  hat  er  damit  wohl  mehr  ver- 
sprochen, als  was  er  im  Grunde  des  Herzens  glaubte  und  sich  selbst 
gestanden  hätte ;  dies  ist  eine  der  Stellen  des  Briefs,  in  denen  man 
wirkhch  etwas  von  Diplomatie  entdecken  möchte :  sie  war  auf  den 
Empfänger  berechnet.  Wie  Bismarck  in  Wahrheit  damals  zumute 
war,  und  was  er  in  jenen  Tagen  fürchtete,  das  hat  er  bald  nach 
der  Verlobung  seiner  Braut  in  einem  Traumbild  geschildert,  von 
dem  er  geängstigt  worden  war:  »Ich  hatte  einen  so  häßlichen 
Traum,  Moritz  hatte  Dir  gesagt,  das  ginge  nicht  mit  uns,  wir 
wären  zusammen  verloren,  weil  mein  Glaube  nicht  recht  und 
fest  sei,  und  Du  stießest  mich  von  der  Planke,  die  ich  im  Schiff- 
bruch gefaßt  hatte,  in  die  rollende  See,  aus  Furcht,  sie  möchte 
uns  beide  nicht  tragen,  und  wandtest  Dich  ab,  und  ich  war  wieder 
wie  sonst,  nur  um  eine  Hoffnung  und  einen  Freund  ärmer.« 

Von  solchen  Ängsten  weiß  der  junge  Thadden  nichts.  Im 
Gegenteil,  er  tritt  der  Mutter,  bei  der  er  um  die  Tochter  wirbt 
—  der  Vater  war  tot  —  mit  rechter  Zuversicht  entgegen  und 
möchte  fast  glauben,  daß  Fräulein  Jette  ihn  erhören  werde;  sollte 
er  sich  aber  darin  täuschen  oder  ein  anderes  wichtiges  Hindernis 
sich  finden,  so  wird  er,  wiewohl  mit  Schmerz,  darin  die  warnende, 
züchtigende,  aber  liebende  Führerhand  seines  Gottes  erkennen, 
sich  seiner  unzeitigen  Wünsche  begeben  und  mit  Wehmut  sprechen : 
»Den  meine  Seele  hebt,  hat  nimmer  seinesgleichen,  drum  soll 
auch  dieser  Lieb'  aU  andre  Liebe  weichen.«  Und  noch  bei  der 
zweiten  Werbung,  als  ihn  die  grauen  Haare  schon  zaghafter  ge- 
stimmt haben,  will  er  doch,  falls  ihm  die  Eltern  die  Hand  der 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  24 


370  Kleine  historische  Schriften. 

Tochter  versagen  werden,  obwohl  mit  Tränen,  sagen:  »Behalten 
Sie  Ihr  Kind,  ich  besitze  es  ja  mit  als  Glied  an  dem  großen,  heiligen 
Leibe  der   Kirche,   davon  unser  Herr  Christus    das  Haupt  ist.« 

Diese  Rehgiosität  kennt  wohl  Unruhe,  aber  keine  Kämpfe,  wie 
Helden  sie  führen.  Sie  bildet  zärtliche,  rein  gestimmte  Herzen,  sie 
bindet  ihre  Bekenner  innig  aneinander  und  schafft  ihnen  den  Frieden, 
den  sie  draußen  nicht  finden.  Aber  sie  schließt  sie  gegen  die 
Welt  ängstlich  ab;  keiner  unter  ihnen  verläßt  die  Reihen,  um  im 
Einzelkampf  den  Gegner  aufzusuchen  und  zu  bestehen;  je  stärker 
vielmehr  sich  ihr  Gegensatz  zur  Umwelt  entwickelt  —  denn  erobern 
wollen  auch  sie  —  um  so  enger  tun  sie  sich  zusammen.  Sie  sind 
nicht  ohne  Unruhe  und  innere  Bewegung,  aber  selbst  der  Kummer 
und  die  Sorge  um  das  ewige  Heil  äußern  sich  bei  ihnen  in  weichen, 
zärthchen  Tönen,  und  in  die  Klage  über  die  eigene  Sündhaftig- 
keit mischt  sich  das  glückliche  Gefühl,  daß  der  Freund  der  Seele 
ihnen  näher  ist  als  der  Welt  da  draußen,  und  daß  man  sich  ihm 
nur  um  so  inniger,  sanftmütig  und  still,  in  willenloser  Demut  zu 
ergeben  habe,  um  seiner  erfrischenden  Gnade  ganz  teühaftig  zu 
werden. 

In  den  vierziger  Jahren  war  dieser  Pietismus  von  der  strengen 
Haltung  der  alten  Zeit,  die  Tanz,  Spiel  und  Theater  verpönt  und 
selbst  noch  das  Rauchen  für  sündhaft  gehalten  hatte,  schon  freier 
geworden;  das  persönliche  Element  in  der  Bewegung  war  zurück- 
getreten, dafür  aber  das  Gemeinsame  um  so  stärker  ausgebildet 
und  das  soziale  und  politische  Leben  um  so  mehr  nach  den  kirch- 
Hchen  Gesichtspunkten  geordnet.  Thadden  selbst  war  nie  ein 
Kopfhänger  gewesen;  er  hatte  von  jeher  allgemeinere,  auch  lite- 
rarische Interessen  gepflegt,  und  so  war  auch  Blanckenburg  voll 
Geist  und  Leben;  auf  den  GeseUschaftsabenden  in  ihren  Häusern, 
an  denen  Bismarck  teilnahm,  wurden  Shakespeare  und  Schiller 
mit  verteilten  Rollen  gelesen.  Bei  den  Puttkamers  dagegen  war, 
wie  es  scheint,  die  quietistische  Tendenz,  die  der  Pietismus  von 
Natur  in  sich  trägt,  fester  gewurzelt,  und  auch  Johanna  neigte 
noch  sehr  zu  ihr  hin. 

Bismarck  hat  sich  zu  seinen  Freunden,  nachdem  er  sich  ein- 
mal unterworfen,  rückhaltlos  bekannt;  wie  er  sich  einst  mit  be- 


Bismarcks  Religion.  371 

wußter  Entschlossenheit  von  den  Glaubensvorstellungen  seiner 
Kindheit  losgerissen  hatte,  so  ergriff  er  auch  das  neue  Leben  mit 
der  vollen  Energie  seines  Willens,  dem  nichts  verhaßter  war  als 
Halbheit.  Er  disputierte  mit  ihnen  über  dogmatische  Probleme 
und  verteidigte  seinen  neuen  Glauben  gegen  ungläubige  Freunde; 
er  betete  des  Morgens  und  des  Abends;  täglich  suchte  er  in  den 
Spruchsammlungen  der  böhmischen  Brüder,  wie  es  die  Sitte 
seines  Kreises  war,  sich  die  Losung  des  Tages;  er  las  vor  dem 
Einschlafen  Kapitel  für  Kapitel  in  der  heiligen  Schrift,  be- 
suchte jahrelang,  auch  in  Frankfurt  noch,  die  Kirche,  und  zwar, 
wie  es  die  Geliebte  wünschte,  besonders  die  strenggläubigen  Pa- 
storen. Er  hatte  Stunden  bußfertiger  Zerknirschung,  die  uns 
fast  an  die  Seelenängste  des  jungen  Luther  erinnern.  »Ich  freue 
mich,«  schreibt  er  im  Februar  185 1,  »daß  wir  beide  zugleich  zum 
Tisch  des  Herrn  getreten  sind;  möchte  Dir  unser  Sauerchen  (der 
Pastor  an  der  Kirche  der  Reinfelder)  ebenso  in  die  Tiefen  des 
Herzens  gegriffen  haben,  wie  mir  Knaak;  ich  war  fast  hoffnungs- 
und  hilflos,  als  es  so  weit  kam,  und  wollte  die  Kirche  verlassen, 
weil  ich  mich  der  Feier  nicht  wert  fand,  aber  im  letzten  Gebet 
vorm  Altar  gab  mir  Gott  doch  Erlaubnis  und  Beruf  dazu,  und 
ich  war  recht  froh  danach.«  So  war  auch  unser  Reformator  vor 
dem  Altar  von  Angst  durchschauert  zurückgewichen,  als  er  zum 
erstenmal  als  Priester  das  heihge  Opfer  bringen  sollte. 

Aber  bei  alledem  war  Bismarck  von  Anfang  her  des  Zwie- 
spaltes zwischen  seinem  Empfinden  und  dem  der  Freunde  sich 
voll  bewußt.  Auch  darin  ging  es  ihm  ganz  wie  dem  Reformator. 
Wie  diesem,  so  war  auch  ihm  der  milde  Glaube,  den  er  in  ihrem 
Kreise  fand,  Balsam  für  das  wunde  Herz;  die  Sicherheit  in  ihren 
Überzeugungen,  die  Herzensreinheit  und  der  Friede,  das  Treu- 
empfinden und  Frauenhafte  taten  es  ihm  an.  Aber  gerade  ihre 
Kerngedanken,  ihr  für  gar  nichts  Sorgen  wollen  und  Sichabsondern, 
ihre  Willensertötung  und  Weltentsagung  verwarf  er.  Er  hat  sich 
darüber  schon  in  den  ersten  Tagen  seines  neuen  Glückes  mit  der 
Geliebten  ausgesprochen  und  in  den  Briefen  der  nächsten  Wochen 
die  Diskussion  mit  Eifer  fortgeführt.  Es  war  der  alte  Streit  über 
Glauben  und  Werke.    Gerade  Johanna  meinte  den  Glauben  im 

24* 


372  Kleine  historische  Schriften. 

Sinne  Luthers  zu  besitzen,  und  Bismarck  sprach  dagegen  für 
den  Wert  der  Werke;  selbständig  wie  immer,  trat  er  sogar  für 
den  Brief  Jakobi  ein,  den  Luther  selbst  einst  eine  stroherne  Epistel 
genannt  hatte.  Er  wollte  es  nicht  wahr  haben,  daß  ein  Glaube, 
der  dem  Gläubigen  von  seinen  irdischen  Brüdern  sich  abzusondern 
gestatte,  so  daß  er  sich  mit  einer  vermeinten  isolierten  Beschau- 
lichkeit genügen  lasse,  der  rechte  Glaube  sei;  er  nannte  dies  still- 
sitzende Harren  auf  den  Tag  des  Herrn,  in  Glaube  und  Hoffnung, 
einen  toten  Glauben,  denn  es  fehle  das,  was  ihm  die  rechte  Liebe 
scheine.  »Wo  die  ist,  da  ist  auch,  glaube  ich,  das  Bedürfnis,  sich 
in  Freundschaft  oder  durch  andere  Bande  einem  der  sichtbaren 
Wesen  enger  anzuschheßen  als  bloß  durch  die  Bande  der  allgemeinen 
christlichen  Liebe.  Jesus  selbst  hatte  einen  Jünger,  den  er  ,lieb 
hatte',  d.  h.  noch  inniger  und  in  anderer  Art  als  nach  dem  Worte 
,liebet  euch  untereinander';  denn  daß  Du  dieses  letzte  Gebot  bei 
dem  caring  for  nobody  nicht  ausschließen  willst,  weiß  ich  wohl ;  aber 
Du  soUst  mehr  tun.  Du  sollst  Seelen  haben,  die  Dir  näher  stehen 
als  andere,  auch  wenn  Du  einst  ohne  mich  leben  solltest;  indessen 
fatta  sia  la  tua  volontä,  und  käme  es  so,  so  denk  daran,  mein  Herz!« 
So  mündet  auch  diese  Betrachtung  in  dem  Gefühl  aus,  das  ihn 
ganz  durchglühte  und  sein  Leben  erneuert  hatte.  Brauchen  wir 
aber  noch  zu  fragen,  wer  von  beiden  Liebenden  den  Ideen  des 
Reformators  näher  gewesen  ist  ?  Auch  Luther  war,  wie  man  weiß, 
von  dem  Empfindungsleben  der  Mystiker  tief  berührt  worden; 
aber  überwinden  hat  er  sich  niemals  von  ihm  lassen;  und  je  stärker 
sein  Glaubensbewußtsein  sich  entwickelte,  um  so  mehr  fühlte 
er  sich  von  ihm  geschieden.  Auch  er  hat  den  prinzipiellen  Unter- 
schied zwischen  seiner  ReHgion  und  der  eines  Staupitz  klar  er- 
kannt und  auf  das  entschiedenste  betont :  gerade  das  quietistische 
Warten  auf  den  Tag  des  Herrn,  das  völlige  Versinken  in  Gott, 
die  »Gelassenheit  in  der  Gelassenheit«,  wie  er  es  nennt,  und  dabei 
doch  die  KampfessteUung  gegen  die  als  ungläubig  aufgefaßte 
Welt,  jenes  zugleich  leidvoUe,  demütig  sich  gebende  und  doch 
selbstgefäUige,  gerechttuende  Wesen  hat  der  Reformator  grund- 
sätzlich bekämpft:  das  ist  ihm  der  Geist  der  Rottierer,  der  die 
Schrift  mit  dem  eigenen  Geist  meistern  will  und  doch  nichts  anderes 


Bismarcks  Religion.  373 

ist,  als  die  alte  Papisterei  in  einem  neuen  Kleid.  »Ich  kämpfe«, 
fährt  Bismarck  an  jener  Stelle  fort,  »grundsätzlich  in  mir  gegen 
jede  düstere  Ansicht  der  Zukunft,  wenn  ich  ihrer  auch  nicht  immer 
Herr  werde;  ich  bemühe  mich,  zu  hoffen,  unter  allen  Umständen 
das  Beste,  immer  natürlich  mit  obigen  italienischen  Worten  des 
Vaterunsers  als  Grundgedanke.«  Mangel  an  Glauben  und  Er- 
gebung, Zweifel  am  Wiedersehen,  am  ewigen  Leben,  Zweifel  an 
Gottes  Liebe  nennt  er  den  in  Tränen  schwimmenden,  nicht  zu 
stillenden  Schmerz  seines  Freundes  um  den  Tod  der  Gattin.  »Mit 
dem  Glauben,  wie  ich  ihn  verstehe,  ist  mir  die  Trostlosigkeit  ganz 
unfaßbar.  Wenn  ich  an  Moritz  schreibe,  habe  ich  Lust,  ihn  an 
beide  Schultern  zu  greifen  und  recht  herzhaft  zu  schütteln.« 

Ist  es  nicht,  als  ob  wir  Luthers  Vers  vernähmen: 
»Ich  komme,  ich  weiß  woher, 
Ich  fahre,  ich  weiß  wohin. 
Mich  wundert,  daß  ich  noch  traurig  bin?« 

Die  Religiosität,  die  Thadden  nach  Pommern  verpflanzt 
hatte,  wurzelte  in  dem  Boden  der  Romantik,  in  der  die  Senti- 
mentalität der  Rousseauschen  Gedankenwelt  mit  katholisierenden 
Empfindungen,  wie  sie  in  der  Reaktion  gegen  den  Druck  der 
französischen  Revolution  überall  erwachten,  verwachsen  war. 
Bismarck  aber  hat  auch  in  seiner  Religion,  wie  in  seiner  Politik, 
die  Romantik  ausgestoßen:  sein  Glaube  war  der  demütig-starke, 
weltfreudige  und  freie  männliche  Glaube  des  Protestantismus. 
»In  ergebenem  Gottvertrauen«,  so  ruft  er  der  Geliebten  zu,  »setz 
die  Sporen  ein  und  laß  das  wilde  Roß  des  Lebens  mit  Dir  fliegen 
über  Stock  und  Block,  gefaßt  darauf,  den  Hals  zu  brechen,  aber 
furchtlos,  da  Du  doch  einmal  scheiden  mußt  von  allem,  was  Dir 
auf  Erden  teuer  ist  —  und  doch  nicht  auf  ewig.« 


Wir  sehen  nun  wohl,  einen  wie  breiten  Raum  die  Liebe  zu 
Johanna  von  Puttkamer  in  der  neuen  Lebensauffassung  einnahm, 
zu  der  Bismarck  seit  dem  Herbst  1846  sich  bekannte;  daß  sie 
ihr  nicht  bloß  den  Anstoß  gab,  sondern  gemeinsam  mit  ihr  ans 


374  Kleine   historische  Schriften. 

Licht  brach,  ihre  stärkste  Wurzel,  ja  mehr  als  das,  ein  Stück  ihrer 
selbst  war.  Dennoch  würden  wir  sein  Glaubensleben  nach  Ur- 
sprung und  Wesen  nur  halb  verstehen,  wenn  wir  es  lediglich  aus 
diesem  persönlichsten  Empfinden  ableiten  und  nicht  auch  der 
allgemeinen  Momente  gedenken  wollten,  unter  denen  es  sich  ent- 
wickelt hat.  Man  hat  längst  erkannt,  daß  Bismarck  die  Ortho- 
doxie seiner  mittleren  Jahre  nicht  immer  bewahrt  hat,  vielmehr 
gegen  das  Ende  seiner  Laufbahn  zu  einer  freieren  Religiosität 
zurückgekehrt  ist,  so  daß  seine  orthodoxe  Periode  beinahe  wie 
eine  Episode  erscheinen  kann.  Auch  in  den  Briefen  an  seine  Gattin 
wird  diese  Entwicklung  sichtbar;  die  dogmatischen  Erörterungen, 
die  Angaben  über  Kirchenbesuch,  Kommunion,  Bibellesen  und 
Hausandachten  treten  in  den  späteren  Jahren  darin  zurück.  Es 
fehlt  auch  da  nicht  an  Aufblicken  zu  Gott,  und  jeder  Gedanke 
an  die  Lieben  daheim  wandelt  sich  ihm  in  Gebet ;  aber  die  Kirchen- 
luft der  ersten  Zeit  atmen  wir  in  den  Briefen  der  späteren  Periode 
nicht  mehr.  Im  Sommer  1851,  in  den  ersten  Monaten  von  Frank- 
furt, herrscht  noch  die  alte  Stimmung  vor;  die  Einsamkeit,  die 
Sorge  um  die  Kinder,  die  mit  der  Mutter  in  Reinfeld  geblieben 
waren  und  dort  erkrankten,  gewiß  auch  der  Mangel  an  Tätig- 
keit, solange  noch  Herr  von  Rochow  die  Geschäfte  der  Gesandt- 
schaft führte,  hielten  sie  in  Bismarck  wach.  Er  merkt  noch  an, 
wann  er  in  der  Kirche  war,  welchen  Pfarrer  er  gehört,  welchen 
Eindruck  die  Predigt  auf  ihn  gemacht  hat;  »mit  System«  Uest 
er  des  Abends  im  Bett  die  Episteln  des  Neuen  Testaments;  auf 
den  Rheinfahrten  hat  er  es  bei  sich ;  wir  finden  ihn  so  in  Rüdes- 
heim auf  dem  Balkon  seines  Gasthauses  mit  einem  Freund,  dem 
Grafen  L^^nar,  bei  der  Zigarre  und  einem  Glas  Wein,  unter  ihnen 
der  rauschende  Strom:  »Mein  kleines  Testament  und  der  Stern- 
himmel brachten  uns  auf  christliche  Gespräche,  und  ich  rüttelte 
lange  an  der  Rousseauschen  Tugendhaftigkeit  seiner  Seele,  ohne 
etwas  anderes  zu  erreichen,  als  daß  ich  ihn  zum  Schweigen  brachte.« 
Mit  Dank  gegen  Gott  erkennt  er  daran,  wie  groß  die  Entfernung 
zwischen  seinem  jetzigen  Glauben  und  seinem  früheren  Unglauben 
geworden  ist:  »möchte  sie  immer  größer  werden,  bis  sie  das  rechte 
Maß  hat.« 


Bismarcks  Religion.  375 

Aber  schon  in  dieser  Zeit  nehmen  wir  wahr,  daß  er  sich  fast 
wider  Willen  freieren  Gebräuchen  und  Vorstellungen  anbequemt. 
Zuerst  besucht  er  noch  die  lutherische  Kirche.  Er  findet  einen 
»zwar  nicht  sehr  begabten,  aber  doch  gläubigen  Pastor« ;  aber 
»die  Zuhörer  waren  außer  mir  genau  zweiundzwanzig  Weiber, 
und  mein  Erscheinen  war  sichtlich  ein  Ereignis«.  Das  schreckt 
ihn  ab;  am  nächsten  Sonntag  versucht  er  es  schon  mit  der  refor- 
mierten französischen  Kirche,  wo  er  wenigstens  mehr  Gemeinde 
und  Andacht,  auch  einen  leidlichen  Prediger  antrifft;  er  wundert 
sich  über  den  hübschen  Gesang  dieser  »nüchternen  Reformierten«, 
»fast  nach  der  süßen  katholischen  Melodie,  die  Du  immer  spieltest« : 
»aber  ich  kann  nicht  Französisch  reden  zu  meinem  lieben  treuen 
Herrn  und  Heiland,  es  kommt  mir  undankbar  vor«.  Acht  Tage 
darauf,  am  ersten  Pfingsttag,  muß  er  nach  Heidelberg  zu  einer 
Zusammenkunft  mit  dem  badischen  Minister:  er  hat  Gewissens- 
bisse darüber,  daß  er  am  Feiertag  fahren  muß,  aber  Rochow,  sein 
Chef  in  Frankfurt,  hat  es  so  gewoUt.  Auf  der  Rückkehr,  am  zweiten 
Pfingsttage,  w^eiß  er  es  so  einzurichten,  daß  er  in  Bickenbach 
an  der  Bergstraße,  wo  ein  neues  Rendezvous  mit  den  Frank- 
furter Freunden  und  Kollegen  verabredet  ist,  in  einer  lutherischen 
Kirche  einen  »sehr  süddeutsch  redenden,  aber  gläubigen  Prediger« 
hört.  Aber  schon  am  26.  Juni  gesteht  er  der  Gemahlin,  die  nach 
den  Konfessionsverhältnissen  in  Frankfurt  geforscht  hat:  »Ich 
werde  hier  etwas  reformiert  und  rede  noch  immer  Französisch 
zu  Gott,  weil  es  mir  jedesmal  zu  spät  wird,  um  einen  mir  als  sehr 
gut  empfohlenen  lutherischen  Prediger  draußen  in  Sachsenhausen 
zu  besuchen.«  Und  Mitte  August  muß  er  gar  den  besorgten  Rein- 
feldern bekennen:  »Ich  bin  ein  rechter  Heide,  daß  ich  gar  nicht 
mehr  in  die  Kirche  komme  und  immer  des  Sonntags  reise«.  Und 
wenn  er  auch  hinzufügt,  daß  er  ein  recht  schlechtes  Gewissen 
darüber  habe,  denn  er  diene  Menschen  an  dem  Tag,  wo  er  nur 
Gott  dienen  sollte,  und  habe  immer  dumme  Nützlichkeits-  und 
Notwendigkeitsentschuldigungen  dafür,  so  läßt  sich  dennoch  ver- 
muten, daß  er  sich  trotzdem  nicht  gebessert  hat;  denn  in 
den  späteren  Briefen  ist  von  den  Kirchgängen  kaum  noch 
die  Rede. 


376  Kleine  historische  Schriften. 

In  denselben  Wochen  (es  waren  die  Tage,  wo  er  ganz  an  die 
Stelle  des  Generals  von  Rochow  trat)  bemerken  wir  aber  auch 
bereits  eine  leise  Abwandlung  seiner  politischen  Anschauungen. 
Im  Beginn  seiner  Frankfurter  Tätigkeit  war  er  noch  ganz  der 
leidenschaftliche  Reaktionär,  der  den  Bruch  mit  dem  konsti- 
tutionellen Regime  forderte.  Kaum  aber  war  der  Sommer  vorüber, 
als  er  diesen  Gedanken,  mit  dem  sich  der  König  und  die  Partei 
der  Reaktion,  wie  man  weiß,  sehr  ernstlich  trugen,  widerrief, 
»auf  die  Gefahr  hin,  von  dem  Minister  für  einen  konstitutionellen 
Renegaten  gehalten  zu  werden«.  Das  Motiv,  das  ihn  leitete,  war 
nicht  sowohl  aufkeimender  Liberalismus,  der  ihm  ganz  fernlag, 
sondern  die  Überzeugung,  daß  die  Regierung  auch  so  ihren  Willen 
durchsetzen  werde,  und  daß  die  Rücksicht  auf  die  deutsche  Pohtik, 
der  Gegensatz  Preußens  zu  Österreich,  den  er  schon  voll  in  sein 
Programm  aufgenommen  hatte,  es  ratsam  für  die  Krone  erscheinen 
lasse,  die  inneren  Sch\\derigkeiten  nicht  ohne  Not  zu  vermehren. 
So  genau  also  entspricht  die  rehgiöse  Haltung  Bismarcks  der 
politischen  Richtung,  in  der  er  sich  jeweilig  bewegte:  seine  Er- 
ziehung im  Geist  des  RationaUsmus  dem  alt  preußischen  patri- 
archalen  Staat,  mit  dem  diese  Weltanschauung  ganz  homogen 
war;  die  Unsicherheit  und  Skepsis  der  Universitätszeit  und  der 
folgenden  Jahre  der  allgemeinen  Unruhe,  die  in  Staat  und  Ge- 
sellschaft seit  der  Juhrevolution  um  sich  gegriffen  hatte;  die  Hin- 
wendung zum  orthodoxen  Bekenntnis  der  Reaktion  seines  Preußen- 
tums  gegen  die  deutsche  Bewegung,  \velche  Krone  und  Staat  in 
ihren  Grundfesten  erschütterte  und  aufzulösen  drohte ;  und  endlich 
die  Abkehr  von  der  strengen  Kirchlichkeit  und  die  Wiederannäherung 
an  die  Weltanschauung  der  jüngeren  Jahre  den  Aufgaben,  die  ihm  die 
Politik  seit  seiner  Berufung  nach  Frankfurt  stellte,  und  die  in  der  ^''er- 
söhnung  der  preußischen  Machtidee,  in  der  er  wurzelte,  mit  der  natio- 
nalen, von  dem  LiberaHsmus  getragenen  Bewegung  gipfeln  sollten. 

Dieser  Parallelismus  kann  kein  Zufall  sein;  religiöses  und 
politisches  Denken  fallen  nicht  nur  zeitlich  in  Bismarck  zusammen, 
sondern  stehen  in  lebendiger  W^echselwirkung. 

Hierfür  ist  sehr  bezeichnend,  daß  in  dem  Winter  nach  Olmütz, 
eben  in  der  Zeit  der  leidenschaftlichen  Reaktion,  sich  auch  seine 


Bismarcks  Religion.  377 

Religiosität  am  strenggläubigsten  zeigt.  Damals  war  es,  wo  er 
Knaak  hörte  und  sich  von  seiner  Bußpredigt  so  tief  erschüttern 
ließ,  daß  er  es  kaum  wagte,  in  seinem  Sündenbewußtsein  vor 
den  Tisch  des  Herrn  zu  treten  (Februar  1851).  Aber  sogar  da 
deckt  sich  sein  religiöses  Empfinden  nicht  mit  dem  seiner  Freunde. 
Ein  paar  Wochen  später  gesteht  er  es  unumwunden  ein,  daß  er 
Büchsel  doch  lieber  höre  als  Knaak,  der  ihm  zu  aufgeregt  sei  und 
ihn  so  mutlos  mache,  daß  sein  ganzes  Christentum  in  Gefahr  gerate : 
»ich  kann  ihn  nicht  vertragen,  was  ohne  Zweifel  ein  schlechtes 
Zeugnis  für  die  Kraft  meines  Glaubens  ist,  und  ich  bitte  Gott 
um  Kräftigung  durch  seinen  Geist,  denn  ich  bin  wie  eine  lahme 
Ente  am  Rande  seiner  Wasser,  das  sehe  ich  klar  und  kann  mich 
doch  nicht  ermannen,  daß  es  anders  werde«  (29.  März).  Am  folgen- 
den Sonntag  besucht  er  doch  \\deder  auf  die  Empfehlung  der  Ge- 
mahlin den  von  ihr  so  verehrten  Pastor;  aber  seine  Opposition 
wächst  nur:  Knaak  überspanne  die  Saiten,  indem  er  Tanzen, 
Theater  und  alle  weltliche  Musik  verdamme;  das  gehe  zu  weit, 
sei  Zelotismus.  Freilich  setzt  er  hinzu,  daß  er  ihn  persönlich  den- 
noch liebe  und  wohl  wünsche,  es  gebe  mehr  solcher  Zeloten,  wenn 
er  auch  seine  Anschauung  nicht  teile:  aber  das  ist  eben  doch  die 
Stellung,  in  der  wir  Bismarck  von  Anfang  an  dem  Pietismus  seiner 
Freunde  gegenüber  sahen ;  so  sehr  er  sich  von  ihm  angezogen  fühlte, 
blieb  er  doch  grundsätzlich  von  ihm  geschieden. 

Und  darin  wiederholt  sich  nur  auf  religiösem  Gebiet,  was 
wir  in  seiner  politischen  Haltung  während  der  Revolution  überall 
wahrnehmen.  Von  außen  gesehen,  gehörte  er  ganz  zu  der  Partei 
der  Kreuzzeitung  und  konnte  wohl  als  ihr  Heißsporn  gelten;  mit 
gleichem  Eifer  trat  er  für  Thron  und  Altar  ein,  sprach  und  schrieb 
gegen  Judenemanzipation  und  Zivilehe,  kämpfte  für  den  christ- 
lichen Charakter  des  Staates,  gegen  das  »Recht«  der  Barrikaden 
und  die  heidnische,  krebsfräßige  Bureaukratie,  und  prophezeite, 
daß  das  Narrenschiff  der  Zeit  an  dem  Felsen  der  christlichen  Kirche 
scheitern  werde.  Aber  diese  Schlagworte  der  Partei  haben  in  seinem 
Munde  einen  andern  Klang  als  in  dem  seiner  Freunde  und  ordnen 
sich  alle  einem  Grundgedanken  unter,  der  bei  jenen  hinter  den 
Doktrinen   der  Partei   zurücktritt.      Die  Macht    der   Krone,    als 


378  Kleine  historische  Schriften. 

deren  getreuen  Vasallen  er  sich  gibt,  deckt  sich  ihm  in  jedem 
Moment  mit  der  Interessensphäre  des  Staates,  mit  den 
Machtansprüchen  Preußens.  Das  Vaterland,  das  Land  seiner 
Könige  und  seiner  Ahnen,  stellt  er  auch  in  dieser  Zeit  höher  als 
die  Partei.  Es  ist  der  Boden,  in  dem  er  wurzelt,  auf  dessen  Um- 
kreis sich  sein  politischer  Wille  bewußt  beschränkt,  der  ihm  den 
Maßstab  und  die  Grenze  seines  Handelns  an  die  Hand  gibt.  Preu- 
ßisch war  immer  die  Grundfarbe  seines  politischen  Empfindens 
geblieben.  Indem  er  nun  Preußens  Krone  von  der  Revolution 
bedroht  sieht,  erwacht  dasselbe  in  ihm  um  so  stärker,  mit  autoch- 
thoner  Kraft ;  die  liberalen  und  die  nationalen  Ideale  seiner  Jugend 
treten  davor  zurück,  da  sie  sich  ihm  überall  mit  unpreußischen 
Tendenzen  verbündet  zeigen:  Erhaltung  Preußens  und  die  Be- 
siegung aller  seiner  Gegner  ^^^rd  das  Zentrum  seiner  politischen 
Gedanken. 

So  tritt  für  Bismarck  die  Politik  nirgends  aus  der  Sphäre 
der  Macht  heraus,  der  historisch  gewordenen  Macht.  Es  ist  kein 
erträumtes  Preußen,  das  er  nach  den  Idealen  seiner  Weltanschau- 
ung gestalten  möchte,  nach  Maßstäben,  die  nicht  von  ihm  selbst 
hergenommen  sind,  sondern  der  Staat  der  Hohenzollern,  der  in 
der  Arbeit  von  Jahrhunderten  erworben  und  er^vachsen  war  und 
deutsches  Leben  ausbreitete,  wohin  er  immer  seine  Wurzeln  senkte. 
Was  Bismarck  an  den  König  und  seine  Partei  fesselte,  war  im  letzten 
Grunde  das  Empfinden,  daß  das  Gut,  auf  dessen  Besitz  es  ihm 
ankam,  in  ihren  Händen  besser  geborgen  sei  als  bei  ihren  Gegnern. 
In  Wahrheit  stand  er  letzteren  kaum  ferner  als  seinen  Freunden. 
Denn  auch  diese  waren  nicht  durchaus  von  preußischen  Gedanken 
getragen  und  zum  Teil  noch  viel  ärgere  Doktrinäre  als  die  Liberalen. 
Romantiker  waren  die  einen  wie  die  andern:  Bismarck  allein 
hatte  der  Romantik  bewußt  und  völlig  Valet  gesagt. 

Hier  aber  wird  uns  die  Analogie,  ja  mehr  als  das,  die  innere 
Verwandtschaft  seiner  Weltanschauung  mit  derjenigen  Martin 
Luthers  aufs  neue  deutlich.  Denn  wenn  es  wahr  ist,  daß  die  Ideen 
der  Reformation  in  dem  Staat  der  Hohenzollern  Leben  gewannen 
und  gerade  die  Epochen  seiner  Größe  von  ihnen  getragen  wurden, 
so  muß  vor  allen  der  Staatsmann,  in  dem  sich  der  Genius  des 


Bismarcks  Religion.  379 

preußischen  Staates  recht  eigentüch  verkörperte,  auf  ihrem  Grunde 
gestanden  haben.  Er  selbst  ist  sich  des  Zusammenhangs  mit 
Luther  immerdar  bcNviißt  gewesen.  Da  Frau  von  Puttkamer  ]\Iit- 
leid  äußert  mit  den  ungarischen  Rebellen,  Graf  Batthyany  und 
seinen  Freunden,  die  der  Rache  Österreichs  geopfert  waren,  ver- 
weist er  sie  auf  die  lutherische  Predigt  über  Matth.  i8,  Vers  21  ff., 
die  er  soeben  mit  seiner  Frau  gelesen,  und  die  voll  Liebe  und  Ver- 
gebung sei:  aber  »weltliche  Gewalten  sollen  nicht  vergeben,  was 
man  unrecht  tut,  sondern  strafen,«  sage  der  alte  Luther  aus- 
drücklich am  Eingang.  Er  nennt  ihr  [Mitgefühl  eine  Nachwirkung 
der  Rousseauschen  Erziehungsprinzipien,  in  denen  ihre  Generation 
aufgewachsen  war,  und  bezeichnet  damit  genau  den  Zusammenhang, 
in  dem  ihre  Weltauffassung  mit  der  Sentimentalität  des  18.  Jahr- 
hunderts stand.  Er  fragt,  ob  sie  nicht  eher  ^litleid  habe  mit  den 
vielen  Tausenden  unschuldiger  Leute,  deren  Frauen  und  Kinder 
durch  den  wahnsinnigen  Ehrgeiz  oder  die  Selbstüberhebung  jener 
Rebellen  zu  Witwen  und  Waisen  geworden  seien;  das  weich- 
liche Mitleid  mit  dem  Leib  des  Verbrechers  trage  die  größte  Blut- 
schuld der  letzten  sechzig  Jahre;  die  rechtmäßige  Obrigkeit  sei 
ihren  Untertanen,  die  Gott  ihr  anvertraut,  den  Schutz  ihres 
Schwertes  gegen  Übeltäter  schuldig,  die  Rebellen  aber  bleiben 
Mörder  und  Lügner,  wenn  sie  jenes  Schwert  durch  Gewalt  an 
sich  reißen  sollten,  sie  können  töten,  aber  nicht  richten.  Wieder 
ist  es,  als  läsen  wir  Luthers  Worte,  jene  Sätze,  die  auch  heute 
noch  weichlichen  Gemütern  ein  Entsetzen  sind,  in  denen  der 
Reformator  die  Herren  auffordert,  in  die  mörderischen  Rotten 
der  Bauern  dreinzuschlagen,  zu  würgen,  zu  stechen,  wer  da  könne: 
»Bleibst  du  drüber  tot,  wohl  dir,  seligeren  Tod  kannst  du  nimmer- 
mehr überkommen,  denn  du  stirbst  im  Gehorsam  göttlichen  Wortes, 
Römer  13,  i  ff.,  und  im  Dienst  der  Liebe,  deinen  Nächsten  zu 
retten  aus  der  Hölle  Banden.«  Wie  Dr.  Martinus,  so  rechnet 
auch  Bismarck  den  Staat  zur  Sphäre  des  Staubes;  niemand  hat 
je  ein  zutreffenderes  Gefühl  für  den  Unwert  alles  Irdischen  ge- 
habt als  dieser  Gewaltige,  dessen  Leben  im  Zerstören  und  im 
Schaffen  dahinging.  Aber  wie  alles,  was  irdisch  ist,  ruht  auch 
ihm,    gleich    dem    Reformator,    weltliche    Macht    unmittelbar    in 


QQQ  Kleine  historische  Schriften. 

Gottes  Hand.  Dort  ist  der  Ursprung  ihres  Rechtes,  daher  stammt 
das  Gottesgnadentum  des  Regiments.  Nicht,  als  ob  es  einer  be- 
sonderen Weihe  und  Legitimation  bedürfe,  oder  eine  bestimmte 
Regierungsform,  etwa  die  absolute  Monarchie,  den  Vorzug  vor 
anderen  habe.  Nichts  lag  Bismarck  femer.  Nicht  wegen  der  monar- 
chischen Idee  an  sich,  sondern  weil  es  Preußens  Krone  galt,  stand 
er  gegen  die  Rebellen;  er  hat  das  Gottesgnadentum  auch  für  den 
konstitutionellen  König  sofort  in  Anspruch  genommen.  Er  will 
nichts  weiter  als  den  Gottesauftrag  des  Amtes,  das  götthche 
Recht  der  Obrigkeit,  so  wie  Luther  es  formuhert  hatte:  Recht, 
Pfhcht,  Verantworthchkeit  vor  Gott  und  den  Menschen  ent- 
springen derselben  Wurzel.  Das  hat  Bismarck  im  Sinn,  wenn 
er,  wie  so  oft,  seinen  Glauben,  sein  Christentum  als  den  Urgrund 
seines  Pflichtgefühls,  seiner  Treue,  seines  Mutes  und  aller  seiner 
Handlungen  bezeichnet,  und  nichts  anderes  schließhch,  wenn 
er  von  dem  christhchen  Charakter  des  modernen  Staates  und 
von  seiner  Aufgabe  spricht,  christlicher  Lebensauffassung  die 
Wege  zu  bereiten.  Mögen  seine  Reden  aus  der  Revolutionszeit 
manchmal  an  die  Hallersche  Staatslehre  anklingen,  tatsächlich 
hat  er  sie  schon  damals  über\\'unden  oder,  besser  gesagt,  sie  nie- 
mals besessen.  Das  machte  ihn  zu  dem  geborenen  Gegner  rö- 
mischer Staatsauf fassung,  um  so  mehr,  als  er  für  jenes  Preußen 
einzutreten  hatte,  das  von  der  Ecclesia  mihtans,  wie  er  schon 
Ende  1853  an  General  Gerlach  schrieb,  »bis  auf  die  Existenz 
selbst  als  ketzerischer  Mißbrauch  bekämpft  werde«. 

Alle  diese  Gedanken  aber  besaß  Bismarck  bereits,  als  er 
sich  zu  der  Geliebten  und  ihrem  Glauben  bekehrte;  wir  finden 
sie  schon  in  seinen  ersten  Briefen  an  die  Braut,  er  hat  sie  aus  der 
Zeit  seines  »Unglaubens«,  seiner  Unrast  und  »Verwilderung« 
herübergebracht.  Beweis,  wenn  es  noch  eines  solchen  bedürfte, 
daß  das  Studium  der  unchristlichen  Philosophie  und  die  inneren 
Kämpfe,  die  sie  ihm  brachte,  doch  nicht  so  unfruchtbar  gewesen 
sind,  als  es  ihm  in  dem  Glücksgefühl  seines  neuen  Lebens  erscheinen 
mochte,  und,, daß  seine  Weltanschauung  mit  den  Einflüssen  der 
Schule  und  Universität^'und  den  Erziehungsprinzipien/ ja  wohl 
auch  der  Religiosität  des  elterhchen  Hauses  selbst  enger  zusammen- 


Bismarcks  Religioa  381 

hing,  als  er  es  im  Kampf  gegen  die  Revolution  eingestehen  wollte. 
Auch  hat  er  sie  nie  wieder  verloren,  mochte  er  auch  das  viele  Kirchen- 
gehen mit  den  Jahren  lassen  und  den  spezifisch  orthodoxen,  an 
den  Mythus  gebundenen  Glauben  mehr  oder  weniger  abstreifen. 
Mit  seinen  alten  Freunden  zerfiel  er:  sein  einstiges  Vorbild  Lud- 
wig von  Gerlach  ward  Hospitant  des  Zentrums;  Thadden  selbst 
wurde  ein  Tischgenosse  dieser  schlimmsten  seiner  Gegner ;  von  seinem 
alten  Gönner  Senfft-Pilsach  mußte  er  Vorwürfe  über  seine  Glaubens- 
losigkeit  hinnehmen,  und  er  mußte  es  erleben,  daß  auch  sein  wärm- 
ster Freund,  Moritz  von  Blanckenburg,  der  ihn  einst  zur  Kirche 
zurückgeführt  hatte,  sich  von  ihm  wandte.  Dennoch  blieb  er 
im  Kern  derselbe.  Er  hatte  ja  niemals,  wie  sie,  gewähnt,  die  Fülle 
des  Friedens  und  der  Gewißheit  bereits  zu  besitzen;  nur  eine 
Station  des  Glaubens  hoffte  er  bei  seiner  Bekehrung  erreicht  zu 
haben,  von  der  ihm  Gott  weiterhelfen  werde,  wie  er  ihm  bisher 
geholfen  habe:  er  wollte  ein  Kämpfer  sein,  so  im  Glauben  wie 
im  Leben. 

Darum  hat  er  auch  zu  keiner  Zeit  den  Anspruch  erhoben, 
den  Glauben  anderer  zu  meistern;  nur  das  göttliche  Recht  des 
Staates  wollte  er  schützen,  denn  das  gebiete  ihm  sein  Glaube: 
er  möchte,  schreibt  er  der  Braut,  auch  den  Schein  davon  ver- 
meiden, als  wollte  er  sie  irgendwie  zu  Glaubensregungen  hinüber- 
ziehen, wie  sie  gerade  in  ihm  arbeiten:  »Es  ist  mir  so  sehr  heb, 
wenn  Du  bei  dem,  was  Du  für  wahr  erkannt  hast,  unerschütter- 
hch  fest  bleibst,  und  ich  würde  es  mir  zur  Sünde  anrechnen,  wenn 
durch  meine  Schuld  das  mindeste  in  Dir  wankend  werden  könnte.« 
Wie  hoch  ihn  das  Schicksal  führte,  vor  der  Majestät  des  götthchen 
Namens  verschwand  ihm  alle  menschliche  Gerechtigkeit  und 
Größe.  Vor  ihr  verstummte  auch  sein  Zorn  und  die  lähmende 
Sorge,  und  kam  der  Sturm  der  Leidenschaft  zur  Ruhe:  »Wie 
Gott  will,  es  ist  ja  alles  doch  nur  eine  Zeitfrage,  Völker  und  Men- 
schen, Torheit  und  Weisheit,  Krieg  und  Frieden,  sie  kommen 
und  gehn  wie  Wasserwogen,  und  das  Meer  bleibt.  Was  sind  unsere 
Staaten  und  ihre  Mächte  und  Ehre  vor  Gott  anders  als  Ameisen- 
haufen und  Bienenstöcke,  die  der  Huf  eines  Ochsen  zertritt  oder 
das  Geschick  in  Gestalt  eines  Honigbauern  ereilt?« 


382  Kleine  historische  Schriften. 

Noch  im  Alter,  als  er  längst  den  Gipfel  irdischen  Ruhmes 
erstiegen  hatte,  erfüllte  zuweilen  das  Gefühl  der  Vergänglich- 
keit, der  Vergeblichkeit  alles  Strebens  seine  Seele  mit  den  Schatten 
der  Schwermut.  Aber  an  dem  Gedanken  an  Gott  fand  auch  sie 
allzeit  ihre  Grenze;  und  wie  wenig  verstehen  ihn  alle  diejenigen, 
welche  solche  Stimmungen  mit  dem  Modewort  des  Pessimismus 
bezeichnen  oder  ihn  einen  Fatahsten  schelten  möchten.  Es  ist 
nicht  sowohl  Resignation  und  Verzagtheit,  als  ein  Ausruhen  in 
dem  Gedanken  an  die  Ewigkeit,  eine  »Station  des  Glaubens«, 
das  lebendige  Empfinden  der  Abhängigkeit  unmittelbar  von 
dem  Willen  des  Herrn.  Es  war  immer  nur  eine  Stufe,  auf  der 
Bismarck  neue  Kraft  schöpfte,  um  die  Last  seines  Amtes  zu 
tragen  und  seine  Feinde  zu  bestehen,  alle  Rechte  und  alle  Pflichten 
die  Verantwortlichkeit  vor  Gott  und  der  Geschichte.  Die  dritte 
Bitte  des  Vaterunsers,  auf  die  er  seine  Braut  an  der  Stelle,  die 
wir  zitierten,  hinwies,  war  bis  ans  Ende  seines  Glaubens  letzter 
Schluß.  So  hat  es  der  Achtzigjährige  gegen  die  deutschen  Pro- 
fessoren ausgesprochen,  die  ihm  die  Huldigungen  unserer  Hoch- 
schulen darbrachten:  »Unser  Herrgott  ist  doch  ein  einsichtigerer 
Regent,  als  irdische  Fürsten  sein  können,  und  es  gibt  unter  uns 
viele  Leute,  die  mit  dem  Regiment  der  Vorsehung  innerlich,  wenn 
sie  frei  reden  sollen,  auch  nicht  vollständig  zufrieden  sind.  Ich 
bemühe  mich,  es  zu  sein,  und  das  Gebet  im  Vaterunser  ,Dein 
Wille  geschehe'  ist  mir  immer  maßgebend.  Ich  gebe  mir  Mühe, 
ihn  zu  verstehn,  aber  verstehn  tue  ich  ihn  nicht  immer.« 


m^^^^ 


I 


Bismardc  und  Ranke. 

(1901.) 

Es  ist  eine  verbreitete  Annahme,  daß  Bismarck  ein  großer 
Leser  historischer  Werke  gewesen  sei  und  daß  das  Studium  der 
Geschichte  auf  seine  poHtischen  Anschauungen  sehr  eingewirkt 
habe.  Auf  der  Universität,  so  pflegt  man  zu  erzählen,  habe  der 
alte  Heeren,  der  mit  seiner  historischen  Bildung  noch  im  18.  Jahr- 
hundert, in  der  friderizianischen  Epoche  und  den  Anfängen  der 
Revolution,  wurzelte,  auf  ihn  besonderen  Eindruck  gemacht, 
tieferen  als  seine  anderen,  zumal  die  juristischen  Lehrer,  deren 
Auditorien  er  gern  vermieden  habe;  später  aber,  in  der  Einsamkeit 
des  Landlebens,  in  den  Jahren,  da  die  Elemente  seiner  Politik  in 
seinem  Geist  gärend  nach  Gestaltung  rangen,  sei  es  vor  allem 
Ranke  gewesen,  dessen  Werken  Bismarck  ein  intensives  Studium 
gewidmet  habe.  Für  den  Historiker  von  Fach  ist  es  gewiß  eine 
sehr  schmeichelhafte  Vorstellung,  daß  der  größte  Staatsmann  bei 
dem  größten  Historiker  des  ig.  Jahrhunderts  in  die  Lehre  ge- 
gangen sei,  und  daß  die  Elemente  der  Rankeschen  Geschichts- 
auffassung in  Bismarcks  Staatskunst  Leben  gewonnen  haben. 
Leider  jedoch  muß  ich  bekennen,  daß  ich  weder  in  den  Reden 
und  Denkschriften  Bismarcks  noch  auch  in  seinen  Erinnerungen, 
die  doch  voll  von  historisch-politischen  Betrachtungen  sind,  einen 
direkten  Hinw^eis  auf  besondere  historische  Studien,  sei  es  Rankes 
oder  irgendeines  zeitgenössischen  deutschen  Geschichtsprofessors, 
gefunden  habe.  An  der  einzigen  Stelle  seiner  Memoiren,  die  man 
allenfalls  so  deuten  könnte,  gelegentlich  eines  Urteils  über  die  Kon- 
vention von  Reichenbach,  die  Preußen  und  Österreich  im  Juli  1790 


3g4  Kleine  historische  Schriften. 

abschlössen,  und  mit  der  die  Allianzpolitik  gegen  die  französische 
Revolution  ihren  Anfang  nahm,  spricht  er  doch  nur  ganz  allgemein 
von  »geschichtlichen  Urteilen  chauvinistischer  Landsleute«,  zu 
denen  er  sich  in  bezug  auf  jenes  Ereignis  in  Gegensatz  stellt;  so 
daß  man  im  Zweifel  bleibt,  ob  er  dort  überhaupt  Historiker  von 
Fach  im  Auge  hat.  Dies  Schweigen  ist  um  so  auffallender,  als 
Bismarck,  ^^'ie  man  weiß,  groß  war  im  Zitieren;  denn  was  ihn  packte, 
haftete  auch  in  ihm  und  verschmolz  mit  seinem  ganzen  Sein  und 
Wesen.  Wie  lebte  und  webte  er  in  William  Shakespeare!  Die 
Verse  des  englischen  Dichterfürsten  begleiteten  ihn  durchs  Leben, 
sowie  die  heroischen  Gestalten  seiner  Dramen  ihm  etwas  von 
der  Kraft  und  Leidenschaft,  die  ihr  Schöpfer  ihnen  einhauchte, 
mitgeteilt  zu  haben  scheinen.  Der  erste  Brief,  den  wir  von  seiner 
Hand  besitzen,  in  enghscher  Sprache  geschrieben  und  an  einen 
englischen  Studienfreund  gerichtet,  schließt  schon  mit  einem 
Zitat,  den  Hexenworten  aus  ]\Iacbeth,  und  das  letzte  Wort  seiner 
»Gedanken  und  Erinnerungen«  ist  eine  gegen  Gegner  und  Führer 
der  Fraktionen  gerichtete  Stelle  aus  dem  »Coriolan«,  dessen  fin- 
stere Züge  auch  das  umschattete  Bild  des  alten  Fürsten  in  den 
Jahren  seiner  eigenen  Verbannung  an  sich  trägt,  jenes  Wort  voll 
bitterer  Verachtung,  das  der  Römer,  den  die  Vaterstadt  verstieß, 
den  Demagogen  Roms  entgegenschleudert:  »Get  you  home,  you 
fragments!«  Neben  Shakespeare  war  es  vor  allem  Goethes  »Faust«, 
an  dessen  Geist  Bismarck  sich  genährt  hat.  Mit  ein  paar 
Bänden  von  Goethe,  so  sprach  er  unter  seinen  Tischgenossen  in 
Versailles,  glaube  er  es  wohl  ein  paar  Jahre  auf  einer  einsamen 
Insel  aushalten  zu  können.  Seine  Reden  bezeugen  uns,  wie  sehr 
er  auch  in  dem  deutschen  Dichter  zu  Hause  war.  Wie  oft  bhtzt 
uns  aus  ihnen,  gleich  einem  Edelstein  in  der  Goldfassung,  ein 
Wort  aus  Goethes  »Faust«  entgegen!  In  der  Waldeinsamkeit 
von  Friedrichsruh,  in  dem  Sommer  nach  seiner  Verstoßung,  griff 
Bismarck  wieder  zu  Schiller,  las  seine  Dramen  noch  einmal  nach- 
einander. Und  wie  immer,  gewann,  was  er  las,  Leben  und  Beziehimg 
zu  ihm  selber.  Als  er  in  den  »Räubern«  an  die  Szene  kam,  wo  Franz 
den  alten  Moor  mit  den  Worten :  »Willst  du  denn  ewig  leben  ? «  in 
den  Kerker  zurückstößt,  »da  stand  mir,«  so  erzählte  er  bald  danach 


Bismarck  und  Ranke.  385 

einem  Besucher,  »mein  Schicksal  vor  Augen!«  Oder  man  ver- 
gegenwärtige sich  die  Briefe  des  jungen  Helden  an  seine  Braut, 
aus  denen  dem  Leser  allerorten,  gleich  Tautropfen  aus  blühendem 
Gezweig,  die  Perlen  deutscher  und  fremder  Poesie  entgegenglänzen. 
Vergleicht  man  mit  diesem  Reichtum  der  Lektüre  und  ihrer 
Präsenz  in  Bismarcks  starkem  Gedächtnis  sein  Verhältnis  zu- 
nächst zu  den  liberalen  Historikern  unserer  Nation,  so  könnte 
man  beinahe  zu  dem  Glauben  gelangen,  daß,  wenn  er  sie  über- 
haupt gelesen  hat,  ihre  Gedanken  doch  völlig  von  ihm  abgeglitten 
seien.  Und  doch  kannte  er  manchen  unter  ihnen,  gerade  die  Wort- 
führer, persönlich  und  zu  Zeiten  mehr  als  ihm  und  ihnen  selbst 
Heb  sein  mochte.  Aber  nicht  auf  ihrem,  sondern  auf  seinem  eigenen 
Boden  waren  sie  ihm  begegnet,  in  der  politischen  Arena.  Denn 
sie  trieben  ohne  Ausnahme  neben  ihrem  eigentlichen  Metier  auch 
das  der  Politik;  ja,  es  gab  Zeiten,  wo  sie  über  der  Teilnahme  an 
den  politischen  Geschäften  ihren  eigentlichen  Beruf  fast  vernach- 
lässigten. Und  immer  verfolgten  sie  in  ihren  historischen  Werken 
eine  auf  die  Gegenwart,  auf  die  politischen  Aufgaben  der  Nation 
unmittelbar  gerichtete  Tendenz:  die  Auswahl  ihrer  Stoffe,  ihre 
Darstellung  und  ihr  Urteil,  oft  genug  sogar  die  Kritik  der  Quellen 
richteten  sie  danach  ein;  sie  schilderten  die  Vergangenheit  nicht 
anders,  als  ob  sie  selbst  an  ihren  Kämpfen  teilgenommen  hätten, 
mit  dem  Eifer  und  der  Gesinnung,  die  sie  denen  der  Gegenwart 
entgegenbrachten;  sie  haßten  und  verklagten  die  einen,  als  wären 
sie  ihre  persönlichen  Gegner,  und  priesen  diejenigen  hoch,  in  denen 
sie  die  eigenen  oder  verwandte  Überzeugungen  wiederzufinden 
glaubten;  die  Gegensätze  und  selbst  die  Schlagworte  des  Tages 
übertrugen  sie  auf  den  Hader  längst  vergangener  Geschlechter, 
bis  hinauf  zu  den  fernsten  Zeiten;  selbst  den  Parteiungen  in  dem 
alten  Rom  und  Hellas  liehen  sie  Farben,  die  sie  der  Gegenwart 
entnahmen.  Denn  die  Historie  diente  ihnen  als  Lehrmeisterin 
der  Politik;  in  dem  Zusammenhang  des  Geschehenen  suchten  sie 
die  Wege  aufzuweisen,  welche  die  Mitwelt  gehen  müsse,  die  Recht- 
fertigung ihres  eigenen  Meinens  und  Tuns  und  das  Urteil  über  die 
Schäden  und  Irrtümer  der  entgegengesetzten  Richtung;  ihre  Ge- 
schichtsschreibung selbst  war  ein  Mittel  und  ein  Stück  ihrer  Politik. 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  25 


336  Kleine  historische  Schriften. 

Ja,  sie  \\aien  recht  eigentlich  die  Stimm führer  der  öffenthchen 
Meinung,  die  Führer  der  Nation  in  ihrem  Ringen  um  die  Einheit; 
und  niemals  hat  die  deutsche  Geschichtsschreibung  ein  größeres 
Pubhkum  gehabt  und  tiefer  auf  die  Parteien  und  die  Presse  ein- 
gewirkt als  zu  der  Zeit,  da  Politik  und  Historie  von  jenen  so  in- 
einander gemengt  wurden.  Denn  nur  der  Liberalismus  hatte  in 
der  Historie  noch  das  Wort  oder  fand  wenigstens  allein  Nachfolge 
und  Anklang;  wo  sich  noch  eine  Stimme  für  eine  reaktionäre,  ja 
auch  nur  unparteiische  Auffassung  der  Geschichte  erhob,  ward 
sie  überhört;  niemals  hat  Ranke  einen  geringeren  Leserkreis  ge- 
habt als  in  dieser  Zeit. 

Es  waren  die  Jahre,  da  Bismarck  im  Kampfe  gegen  die  aus 
ganz  Deutschland  andrängende  Flut  des  Liberahsmus  stand  und 
durch  das  Heer  seiner  Gegner  liin  die  Bahn  brach,  auf  der  er  Preußen, 
Staat  und  Krone,  an  die  Spitze  Deutschlands  brachte.  So  waren 
denn  die  liberalen  Historiker  alle  in  dem  ihm  feindlichen  Lager. 
Schon  in  der  Revolution  Maren  die  älteren  unter  ihnen,  Dalilmann, 
Duncker,  Droysen,  die  erklärten  Gegner  des  Junkers  von  Schön- 
hausen gewesen.  Die  Jungen,  die  neben  und  nach  ihnen  auftraten, 
ihre  Gedanken  annahmen  und  fortentwickelten,  bildeten  den 
Gegensatz  nur  schärfer  aus,  je  mehr  der  Konflikt  die  Parteien 
gegeneinander  trieb  und  Bismarcks  Politik  die  Aussicht  auf  das 
Ziel,  das  alle  verfolgten,  zu  verdunkeln  schien.  Sogar  Männer 
von  so  gemäßigter,  durchaus  preußischer,  ja  d^'nastisch-hohen- 
zollernscher  Gesinnung,  wie  ]\Iax  Duncker,  oder  ein  so  energischer 
Verfechter  der  IMilitärreorganisation,  wie  Theodor  von  Bernhardi, 
standen  gegen  den  Minister  auf,  als  er,  mit  dem  wieder  reaktionär 
gewordenen  Österreich  verbündet,  das  Schmerzenskind  der  Nation, 
Schleswig-Holstein,  dem  Dänenjoche  auszuliefern  schien;  Heinrich 
von  Sybel,  der  in  den  Anfängen  des  Konfliktes  so  eifrig  zum  Frieden 
mit  der  Regierung  geraten,  war  jetzt  der  erbittertste,  leidenschaft- 
lichste Gegner  geworden,  und  selbst  Heinrich  von  Treitschke 
wandte  sich  für  eine  Weile  von  einem  Preußen  ab,  das,  wie  auch 
er  wähnte,  einer  vaterlandsverräterischen  Reaktion  anheimge- 
fallen zu  sein  schien.  Bei  solchen  Gegensätzen  ist  es  in  der  Tat 
nicht   zu  erwarten,   daß   der  preußische   ]\Iinister  liistorische  Be- 


Bismarck  und  Ranke.  387 

lehrung  bei  Männern  gesucht  haben  sollte,  die  sich  in  ihrer  Ge- 
schichtsschreibung so  sichthch  von  ihren  pohtischen  Doktrinen 
leiten  ließen  und  aus  ihr  die  Rechtfertigung  ihrer  staatlichen  Ziele 
zu    gewinnen    trachteten. 

Zwar  bedeutete  die  Höhe  des  Kampfes  für  diese  Gegner 
Bismarcks  fast  schon  die  Umkehr  und  die  Versöhnung:  die 
Triiunphe  des  Ministers  zerstreuten  die  Wolken  des  Mißverständ- 
nisses, die  seine  Absichten  verhüllt  hatten;  sein  Sieg  bekehrte 
weitaus  die  meisten  unter  ihnen,  und  sie  wurden  die  frühesten 
und  eifrigsten  Lobredner  seiner  Taten.  Denn  am  Ende  des  Weges 
sahen  sie  oder  glaubten  sie  doch  zu  sehen,  daß  Bismarck  die- 
selbe Richtung  eingehalten  habe,  in  die  sie  immer  hingewiesen 
hatten.  So  wurden  sie  die  Herolde,  ja  die  Geschichtsschreiber  des 
Mannes,  den  sie  soeben  noch  befehdet  hatten.  Unter  seinem  maß- 
gebenden Einfluß  modifizierten  sich  ihnen  die  Bilder  der  Ver- 
gangenheit in  demselben  Verhältnis  wie  ihre  pohtischen  Über- 
zeugungen. Man  vergleiche  nur,  wie  Treitschke  seinen  Plan  einer 
deutschen  Geschichte  unter  dem  alten  Bunde  während  der  Kon- 
fhktszeit  auffaßte  und  wie  er  ihn  später  ausgeführt  hat:  ihm,  der 
die  Bilder  nationaler  Zerrissenheit  und  stumpfer  Reaktion,  zumal 
in  Preußen  selbst,  seinen  Zeitgenossen  warnend  vor  die  Augen  zu 
stehen  gedacht  hatte,  verwandelte  sich  das  Buch,  als  er  nach  dem 
Siege  über  Frankreich  an  die  Ausarbeitung  ging,  in  eine  Lob- 
preisung der  altpreußischen  Monarchie.  Den  gleichen  Abstand 
nehmen  wir  wahr  an  den  beiden  großen  Werken  Sybels,  dem 
Zeitalter  der  französischen  Revolution  und  der  Wiederaufrich- 
tung des  Deutschen  Reiches:  jene,  unter  dem  Eindruck  des  Schei- 
terns der  deutschen  Revolution  entworfen  und  in  ihren  Haupt- 
bänden noch  während  der  Kämpfe  um  die  deutsche  Einheit  voll- 
endet, trägt  in  Auffassung  und  Darstellung  auch  die  Farben 
jener  streiterfüllten  Epoche;  während  die  deutsche  Geschichte  des 
großen  Historikers  sowohl  in  der  Anordnung  des  Stoffes,  die  von 
den  inneren  Vorgängen  fast  absieht  und  nur  die  äußere  Pohtik, 
eben  das  Werk  Bismarcks,  voU  umfaßt,  wie  auch  in  dem  Urteil 
und  den  Doktrinen  selbst  ganz  den  Stempel  des  Bismarckschen 
Genius  trägt.    Kann  man  doch  Bismarck  fast  als  einen  Mitarbeiter 

25» 


383  Kleine  historische  Schriften. 

Sybels  bezeichnen!  Er  hat  ihm  nicht  nur  den  Zugang  zu  den 
Quellen  eröffnet,  sondern,  wie  zu  vermuten,  auch  die  Korrekturen 
gelesen  oder  doch  jedenfalls  den  Fortgang  des  Werkes  mit  per- 
sönlichstem Anteil  begleitet;  die  Vergleichung  der  »Gedanken 
und  Erinnerungen«  mit  Sybels  Werk  lehrt  uns,  daß  dieser  an  mehr 
als  einer  Stelle,  um  nur  ein  Beispiel  zu  nennen :  in  der  Darstellung 
der  spanischen  Kandidatur,  die  Ansicht  der  Dinge  zum  Ausdruck 
gebracht  hat,  an  die  der  Minister  selbst  glaubte  oder  geglaubt 
wissen    wollte. 

Wie  nahe  sich  aber  auch  in  der  späteren  Zeit  die  Wege  des 
großen  Staatsmannes  und  der  aus  dem  liberalen  Lager  stammenden 
Historiker  berührten,  wie  verwandt  auch  immer  von  jeher  ihre 
Ziele  gewesen  w^aren  und  wie  eng  verbündet  sie  nunmehr  sein 
mochten,  blieb  dennoch  in  Gesinnung  und  Urteil,  ebensosehr 
der  Vergangenheit  wie  der  Gegenwart  gegenüber,  zwischen  ihnen 
ein  Abstand,  der  niemals  ganz  ausgefüllt  ist.  Zumal  in  der  Auf- 
fassung historischer  Vorgänge  läßt  er  sich  wahrnehmen.  Um  so 
leichter,  da  das  besondere  geschichthche  Interesse  Bismarcks 
auf  dieselbe  Epoche  gerichtet  war,  der  sich  auch  die  liberalen 
Historiker  mit  Vorliebe  zuw'andten,  auf  die  Jahrzehnte  der  großen 
französischen  Revolution  und  der  Befreiungskriege.  Es  war  die 
Zeit,  in  der  die  Gedanken,  welche  die  Welt  des  19.  Jahrhunderts 
bewegten,  zuerst  Form  gefunden  und  von  der  die  Kämpfe  der 
Gegenw^art  ihren  Ausgang  genommen  hatten.  Wer  diese  beur- 
teilen will,  muß  jene  kennen,  und  wer,  wie  jene  politischen  Historiker, 
mit  den  Lehren  der  Vergangenheit  die  Gegenwart  meistern  w^ollte, 
konnte  nirgends  treffendere  Parallelen  für  den  Unsegen  radikaler 
oder  reaktionärer  Theorien ,  für  die  begeisternde  Kraft  vater- 
ländischer Gesinnung  oder  für  den  Anspruch  des  reformierten 
Preußens  auf  die  Führung  der  deutschen  Nation  gewinnen  als  in 
den  erschütternden  Kämpfen,  in  denen  das  alte  Europa  versank 
und  das  neue  heraufkam.  Freilich  hatte  damals  die  preußische 
Politik  nicht  in  jedem  IMoment  die  heroischen  oder  die  liberalen 
Züge  an  sich  getragen,  um  derentwillen  die  politisch-historische 
Schule  ihm  den  Beruf,  Deutschland  zu  einigen,  vindizierte;  und  es 
war  nicht  immer  ganz  leicht,  die  Schritte  des  preußischen  Kabinetts 


Bismarck  und  Ranke.  389 

zu  rechtfertigen  und  den  Widerstreit,  in  dem  es  mit  Österreich 
stand,  zu  seinen  Gunsten  zu  schHchten.  Ein  solcher  dunkler  Punkt 
in  der  Geschichte  der  preußischen  Diplomatie  war  z.  B.  der  Friede 
von  Basel  1795,  der  Rücktritt  Preußens  von  der  ersten  Allianz 
gegen  Frankreich  gerade  in  dem  Moment,  da  dieses  die  Übermacht 
am  Rhein  gewann,  wodurch  ohne  Frage  der  Verlust  des  linken 
Rheinufers  an  Frankreich  entschieden  worden  ist.  An  ihm  ent- 
brannte daher  der  Kampf  zwischen  den  kleindeutschen  Historikern, 
den  Preußenfreunden  und  den  Vorkämpfern  des  österreichischen 
Einflusses,  den  Großdeutschen  und  Klerikalen,  in  besonderer 
Stärke:  man  weiß,  welche  Verdienste  sich  Häusser  und  Sybel 
um  die  Würdigung  der  preußischen  Politik  in  diesem  kritischen 
Moment  unserer  Geschichte  erworben  haben;  aber  auch,  daß  ein 
objektives  Bild  jener  Vorgänge  erst  gewonnen  worden  ist,  seitdem 
Ranke  den  Einzelfall,  wie  immer,  unter  das  Licht  der  europäischen 
Konstellation  und  der  allgemeinen  Politik  gestellt  hat.  Auch 
Bismarck  hat,  wie  bemerkt,  der  Epoche  des  Baseler  Friedens  seine 
Aufmerksamkeit  zugewandt,  und  zwar  nicht  bloß  in  den  »Ge- 
danken und  Erinnerungen«,  wo  er  ihm  einen  ganzen  Abschnitt 
gewidmet  hat,  sondern  schon  lange  vorher,  ehe  noch  Sybel  und 
Häusser  in  ihren  Büchern  zur  Darstellung  des  Baseler  Friedens 
gelangt  waren.  »Ich  habe  den  Mut,«  so  schrieb  er  seinem  Freund, 
dem  General  von  Gerlach,  der  die  entgegengesetzte  Richtung  vertrat, 
am  30.  Mai  1857,  »den  Baseler  Frieden  nicht  zu  tadeln;  mit  dem 
damaligen  Österreich  und  seinen  Thugut,  Lehrbach  und  Cobenzl 
war  ebensowenig  ein  Bündnis  auszuhalten  wie  mit  dem  heutigen, 
und  daß  wir  1815  nur  schlecht  fortkamen,  kann  ich  nicht  auf  den 
Baseler  Frieden  schieben,  sondern  wir  konnten  gegen  die  uns 
entgegenstehenden  Interessen  von  England  und  Österreich  nicht 
aufkommen,  weil  unsere  physische  Schwäche  im  Vergleich  mit 
den  andern  Großmächten  nicht  gefürchtet  wurde.  Die  Rhein- 
bundstaaten hatten  noch  ganz  anders  ,gebaselt'  wie  wir  und  kamen 
doch  in  Wien  vorzüglich  gut  fort«.  Für  die  Differenz  zwischen 
der  historischen  Anschauung  Bismarcks  und  der  der  liberalen 
Historiker  kann  die  Art,  wie  der  eine  und  die  andern  die  Preußen 
rechtfertigen,  nicht  charakteristischer  sein.    Letzteren  ist  bei  allem 


3P0  Kleine  historische  Schriften. 

Eifer  der  Polemik  doch  nicht  ganz  wohl  zumute ;  sie  erklären  und 
entschuldigen  wohl  die  Politik  Preußens,  aber  doch  immer  im  Ton 
leiser  Klage  und  des  Bedauerns,  daß  es  in  seinen  deutschen  Auf- 
gaben durch  Österreichs  Perfidie  gehindert  worden  sei;  und  sie 
wenden  sich  gegen  diese  wie  gegen  die  Vaterlandslosigkeit  der 
Rheinlandstaaten  um  so  heftiger,  je  mehr  sie  den  Zwang  der  Lage 
für  Preußen  hervorheben.  Denn  sie  beurteilen  auch  dies  Ereignis 
stets  unter  dem  nationalen ,  dem  gesamtdeutschen  Gesichts- 
punkt. Bismarck  dagegen  stellt  sich  ganz  auf  das  preußische 
Interesse;  ihm  ist  Preußen  nicht  die  deutsche  Macht,  sondern 
die  europäische  Großmacht,  und  nur  unter  dem  Horizont  der 
europäischen  Konstellation  weist  er  den  preußischen  wie  den 
österreichischen  und  den  kleinstaatlichen  Interessen  ihre  Stelle 
an.  Jene  verleugnen  auch  in  diesem  Falle  nicht  ihre  Parteistellung: 
er  dagegen  sieht  von  Parteirechten  und  Parteipflichten  ab  und 
behandelt  alles  von  dem  Standpunkt  des  Staatsmannes  und  unter 
dem  Gesichtspunkt  der  ]\Iacht;  so  \\ie  er  es  in  der  Pohtik  zu  tun 
pflegte:  »mit  kühler  Würde  und  ohne  Empressement«. 

Wie  ist  nun  das  Verhältnis  des  großen  Staatsmannes  zu  der 
Historie  Leopold  Rankes  gewesen,  der  gleich  ihm  in  den  Zeiten 
der  Revolution  und  des  Konfliktes  von  den  hberalen  Wortführern 
der  Nation  bekämpft  oder  übersehen   wurde  ? 

Auch  ihn  kannte  Bismarck  persönlich;  er  hat  ihn  mehrfach 
bei  den  gemeinsamen  Freunden,  den  Manteuffels  oder  Gerlachs 
oder  auch  am  Hof  Friedrich  Wilhelms  IV.  gesehen.  Aber  näher- 
getreten ist  er  ihm  damals  schwerHch;  und  auch  in  den  späteren 
Jahren  werden  sie  nicht  häufig  zusammengekommen  sein.  Doch 
hat  Bismarck,  er  selbst  hat  es  bezeugt,  in  den  Werken  Rankes  ge- 
lesen. In  einem  Glückwunschschreiben  aus  dem  Januar  1877  hat 
er  es  dem  Altmeister  der  Geschichtsschreibung  ausgesprochen, 
daß  er  bisw'eilen  nach  seinen  Büchern  greife,  um  sich  vergangene 
Lagen  zu  vergegenwärtigen,  und  er  hat  auf  den  Einklang  ihrer 
historisch-poHtischen  Anschauungen  hingewiesen;  an  der  Aus- 
gabe der  Hardenbergschen  Memoiren,  die  Ranke  damals  ver- 
anstaltete, nahm  er  lebhaften  Anteil;  und  Ranke  hat  ihm  ge- 
dankt, indem  er  ihm  dieses  Werk  wie  seine  Biographie  des  Staats- 


I 


Bismarck  und  Ranke.  391 

kanzlers  und  die  biographischen  Skizzen  Friedrichs  des  Großen 
und  Friedrich  \Mlhelms  IV.,  alles  ^^'erke,  in  denen  die  vorbis- 
marcksche  Epoche  Preußens  beleuchtet  wurde,  überreichte.  Prüfen 
wir  also,  wie  weit  sich  jener  Einklang  in  Bismarcks  Schriften  er- 
kennen läßt  und  ob  \rir  am  Ende  doch  sagen  dürfen,  daß  die 
historischen  Ideen  Rankes  in  der  Politik  des  Schöpfers  unseres 
Reiches  lebendig  geworden   sind. 


»Das  Maß  der  Unabhängigkeit  gibt  einem  Staat  seine  Stellung 
in  der  Welt ;  es  legt  ihm  zugleich  die  Notwendigkeit  auf,  alle  inneren 
Verhältnisse  zu  dem  Zweck  einzurichten,  sich  zu  behaupten.  Das 
ist  sein  oberstes  Gesetz«:  in  diesen  Worten,  die  den  Wert  eines 
Axioms  beanspruchen,  hat  Ranke  einmal  einen  der  Kemsätze 
und  fast  schon  die  Summe  seiner  Geschichtsauffassung  formuliert. 
Denn  das  oberste  Interesse  ist  aUemal  die  Erhaltung  der  Existenz; 
wie  der  Meister  an  anderer  Stehe  sagt:  »Jedes  Leben  flieht  seiner 
Natur  nach  den  Tod  und  strebt  nach  Selbsterhaltung.«  Jedoch 
die  Welt  ist  aufgeteilt:  überall  grenzen  die  Nationen,  Staaten, 
Stämme  aneinander;  es  gibt  keinen  Raum  mehr,  den  sie  sich  nicht 
streitig  machten,  oder  auf  dem  sie  nicht  rivahsierten ;  wer  vor- 
wärts will,  muß  einen  andern  verdrängen;  wer  sich  behaupten 
will,  muß  darum  kämpfen.  Müssen  doch  selbst  die  Barbaren, 
die  Stämme  der  Wüste  und  der  Wildnis,  wenn  sie  leben  wollen, 
sich  zusammentun  und  streiten,  sei  es  auch  nur  gegen  die  Un- 
bilden einer  feindsehgen  Natur;  und  auch  ihre  Institutionen, 
wie  primitiv  sie  sein  mögen,  werden  sich  bilden  nach  dem  Maß 
ihrer  Unabhängigkeit,  um  so  fester,  je  stärker  der  Widerstand, 
um  so  loser,  je  schwächer  der  Gegner  und  je  leichter  die  Bedin- 
gungen der  Existenz  smd.  Darum  steht  mit  Recht  die  Staaten- 
geschichte und  in  ihr  die  auswärtige  Pohtik  im  Zentrum  aller 
historischen  Betrachtung.  Denn  nur  im  Staat  können  sich  die 
Kräfte  des  Widerstands  sammeln,  nur  organisiert  können  sie  den 
Feind  bestehen,  und  alle  inneren  Organe  müssen  diesem  obersten 
Zweck  angepaßt  sein;  im  Entstehen,  Wachsen  und  Vergehen  sind 


392  Kleine  historische  Schriften. 

sie  von  ihm  abhängig;  immer  ist  es  der  Kampf,  mag  er  nun  Sieg 
bringen  oder  Niederlage,  unter  dem  sie  sich  wandeln:  er  ist  der 
Vater    aller    Dinge. 

Übertragen  wir  diese  Rankeschen  Sätze  auf  die  Ideenwelt 
Bismarcks,  so  bemerken  wir  mit  Erstaunen,  daß  sie  sich  mit  dessen 
Grundgedanken  völlig  decken.  Als  in  der  Konfhktszeit,  kurz 
vor  dem  Kriege  gegen  Österreich,  der  Führer  der  Opposition,  Karl 
Twesten,  in  der  Kammer  den  Vorwurf  gegen  den  Minister  erhob, 
daß  er  die  äußere  Politik  nur  als  Mittel  für  die  innere  und  für  die 
Förderung  des  Kampfes  der  Regierung  gegen  parlamentarische 
Ansprüche  benutze,  erwiderte  dieser,  indem  er  jene  Anklage  aus- 
drücklich zurückwies:  »Mir  sind  die  auswärtigen  Dinge  an  sich 
Zweck  und  stehen  mir  höher  als  die  übrigen. «  Er  riet  seinen  Gegnern, 
doch  auch  so  zu  denken  wie  er,  da  sie  ja,  was  sie  im  Innern  etwa  an 
Terrain  verlieren  möchten,  später  vielleicht  unter  einem  liberalen 
Ministerium  sehr  rasch  wiedergewinnen  könnten.  Worte,  die  da- 
mals nur  Lachen  erregten,  denn  man  hielt  sie  für  Ironie,  und  so 
mochte  Bismarck  sie  auch  wohl  gemeint  haben;  aber  er  hatte  sie 
dennoch  im  Ernst  gesprochen.  »Es  ist  dies, «  fügte  der  große  Minister 
hinzu,  »keine  Einbuße  auf  ewig.  In  der  auswärtigen  Politik  aber  gibt 
es  Momente,  die  nicht  wiederkommen«.  »Ich  habe«,  bemerkte 
er  nach  der  Versöhnung  im  konstituierenden  Reichstag  des  Nord- 
deutschen Bundes  gegen  Lasker,  der  ihm  ^^•ieder  einmal  mit  dem 
Zweifel  an  seinem  LiberaHsmus  gekommen  war,  »niemals  in  meinem 
Leben  gesagt,  daß  ich  der  Volksfreiheit  mich  feindhch  entgegen- 
stellte, sondern  nur  gesagt,  und  natürlich  unter  der  Voraussetzung 
,rebus  sie  stantibus':  meine  Interessen  an  den  ausw^ärtigen  An- 
gelegenheiten sind  nicht  nur  stärker,  sondern  zurzeit  allein  maß- 
gebend und  fortreißend,  so  daß  ich,  soviel  ich  kann,  jedes  Hindernis 
durchbreche,  das  mir  im  Wege  steht,  um  zu  dem  Ziel  zu  gelangen, 
das,  wie  ich  glaube,  zum  Wohl  des  Vaterlandes  erreicht  werden 
muß.  Das  schließt  nicht  aus,  daß  auch  ich  die  Überzeugung  des 
Herrn  Vorredners  teile,  daß  den  höchsten  Grad  von  Freiheit  des 
Volks,  des  Individuums,  der  mit  der  Sicherheit  und  gemeinsamen 
Wohlfahrt  der  Staaten  verträglich  ist,  jederzeit  zu  erstreben,  die 
Pflicht  jeder  ehrlichen  Regierung  ist«.    Denn  das  oberste  Gesetz 


Bismarck  und  Ranke.  393 

für  Bismarck  war  die  Förderung  der  Macht  seines  Staates.  Wie  viel- 
fach sich  der  große  Staatsmann  gewandelt  hat,  dieser  Grundidee  ist 
er  immer  treu  geblieben:  alle  seine  Ziele  hat  er  ihr  unterworfen: 
der  Kampf  gegen  die  Revolution  und  die  Niederwerfung  Öster- 
reichs, die  Gründung  des  Reiches  und  der  Ausbau  seiner  Verfassung, 
der  Streit  um  die  Kirchenhoheit  und  die  \\irtschafthchen  Reformen, 
Mäßigung,  Vorsicht  und  rücksichtslos  andrängende  Energie, 
Schonung  oder  Vernichtung  des  Gegners,  kurz,  die  äußere  wie  die 
innere  Politik,  das  Große  und  das  Kleine,  Krieg  und  Frieden 
richteten  sich  ihm  nach  diesem  Pol  seines  Daseins.  Er  war  in  der 
Tat  nichts  weniger  als  ein  Anhänger  des  Absolutismus,  mochte 
er  auch,  später  wenigstens,  der  Idee  nach  darin  vielleicht  die  voll- 
kommenste Staatsform  sehen:  denn  niemals,  sagte  er,  würden 
alle  Bedingungen  beisammen  sein,  welche  die  Unumschränktheit 
eines  einzelnen  zum  Segen  der  Staaten  werden  Heßen;  die  UnvoU- 
kommenheiten  der  menschlichen  Natur,  üble  Einflüsse  männ- 
hcher  oder  weiblicher  Günstlinge  und  eigene  Schwächen  würden 
sich  auch  bei  dem  besten  und  einsichtigsten  Regenten  zum  Schaden 
des  Ganzen  geltend  machen.  Aber  er  hätte  keinen  Augenbhck 
gezögert,  auch  zur  Diktatur  zu  greifen  und  jede  Freiheit  der  Mei- 
nungen zu  unterdrücken,  hätte  er  keinen  andern  Weg  vor  sich 
gesehen,  um  die  Macht  seines  Staates  zu  erhöhen.  Nichts  war 
ihm  widerwärtiger  als  der  reine  Parlamentarismus,  der  Absolutis- 
mus der  Fraktionen,  und  er  hat  sein  Leben  darangesetzt,  die  dahin- 
drängende  Bewegung  zu  besiegen,  es  war  die  Basis  aller  seiner 
Erfolge:  aber  als  er  den  Kampf  um  die  Einheit  der  Nation  auf- 
genommen hatte,  war  er  entschlossen,  im  Fall  der  Not  auch  revo- 
lutionäre Nationalbewegungen  gegen  die  Feinde  zu  entfesseln. 
Jeden  Schachzug  im  Innern,  so  schreibt  er  in  seinen  >>Erinne- 
rungen«,  habe  er  nach  1866  danach  eingerichtet,  ob  der  Eindruck 
der  Solidität  unserer  Staatskraft  dadurch  gefördert  oder  geschädigt 
werden  könne.  »Ich  sagte  mir,  daß  das  nächste  Hauptziel  die 
Selbständigkeit  und  Sicherheit  nach  außen  sei,  daß  zu  diesem 
Zweck  nicht  nur  die  tatsächliche  Beseitigung  inneren  Zwiespalts, 
sondern  auch  jeder  Schein  davon  nach  dem  Ausland  und  in  Deutsch- 
land vermieden  werden  müsse;  daß,  wenn  wir  erst  Unabhängigkeit 


394  Kleine   historische  Schriften. 

von  dem  Ausland  hätten,  wr  auch  in  unserer  inneren  Entwicklung 
uns  frei  bewegen  könnten,  wie  es  gerecht  und  zweckmäßig  er- 
schiene; daß  wir  alle  inneren  Fragen  vertagen  könnten  bis  zur 
Sicherstellung  unserer  nationalen  Ziele  nach  außen«.  Genau  so 
begegnet  Ranke  in  dem  »Politischen  Gespräch«,  worin  er  in  Dialog- 
form seine  Staatsauffassung  entwickelt  hat,  und  woher  der  Satz 
genommen  ist,  den  wir  an  die  Spitze  unseres  Abschnitts  stellten, 
dem  Tadel  des  Kolloquenten,  daß  er  mehr  darauf  zu  denken  scheine, 
den  Staat  groß  und  mächtig  zu  machen,  als  die  Bürger  wahr  und 
gut,  und  mehr  auf  Kampf  und  Bewegung  sinne  als  auf  Frieden 
und  Muße.  »Für  den  Anfang  des  Daseins, «  erwidert  er  dem  Freunde, 
»für  die  Epoche,  wo  es  die  Erkämpfung  der  Unabhängigkeit  gilt, 
hast  du  nicht  unrecht.  Allmählich  aber  werden  alle  friedlichen 
Bedürfnisse  der  menschlichen  Natur  sich  geltend  machen;  dann 
muß  sich  alles  ausgleichen.« 

Auch  die  Liberalen  gingen  wohl  in  ihrer  Geschichts-  und 
Staatsauffassung  von  dem  Satz  aus,  daß  der  Staat  IMacht  sei  und 
sich  als  Macht  durchsetzen  wolle.  Und  \\enn  sie  Preußen  an  die 
Spitze  Deutschlands  bringen  wollten,  so  geschah  es  vor  allem, 
weil  sie  dort  die  Macht  erblickten,  deren  das  ^^aterland  bedurfte. 
Aber,  indem  sie  jenem  Satz  diese  Anwendung  gaben,  negierten 
sie  ihn  bereits.  Denn  für  die  gesamtdeutschen,  nicht  für  die  ihm 
eingeborenen,  nur  ihm  eigentümlichen  Interessen  sollte  Preußen 
sein  Schwert  gebrauchen.  Sie  stellten  ihm  größte  Aufgaben  und 
erhabene  Ziele ;  aber  sie  verlangten  dafür,  daß  es  mehr  oder  minder 
darin  aufgehe,  daß  es,  wie  Sardinien,  sein  Selbst  auslösche  oder 
doch  im  Innersten  verwandle.  Und  selbst  diejenigen  in  dem  viel- 
stimmigen Chor,  die  den  HohenzoUem  ganz  Deutschland  zu  Füßen 
legen  und  jede  Eigengewalt  neben  ihnen  vertilgen  wollten,  wollten 
ihnen  dennoch  nur  die  eine,  die  nationale  Krone  bewilligen  und 
forderten  die  Beseitigung  der  alten. 

Für  Bismarck  dagegen  bheb  die  Basis  seiner  Politik  alle- 
zeit das  Preußen,  in  das  er  hineingeboren  war,  der  Staat,  dem 
seine  Voreltern  seit  Jahrhunderten  gedient,  der  ihm  Gegenwart 
und  Vergangenheit  miteinander  verband,  für  den  sein  Herz  seit 
der  Kindheit  geschlagen  hatte,  und  mit  dem  er  sich  in  allen  seinen 


Bismarck  und  Ranke.  395 

Traditionen  und  Überzeugungen  verwachsen  fühlte.  Jene  hatten 
zur  Grundlage  nichts  als  die  Prinzipien,  die  Doktrinen:  das  Vater- 
land, zu  dem  sie  schworen,  war  selbst  erst  eine  Idee,  und  das  Ver- 
langen, ihr  flacht  und  Gestalt  zu  verleihen,  barg,  es  konnte  nicht 
anders  sein,  immer  den  »Embryo  der  Untreue«,  wie  Bismarck  es 
nennt,  gegen  den  engeren  Staat  in  sich,  dem  ein  jeder  von  ihnen 
angehörte;  sie  mochten  sich  geben,  wie  sie  wollten,  als  Anhänger 
Österreichs  oder  Preußens,  großdeutsch  oder  kleindeutsch,  radikal 
oder  gemäßigt,  immer  blieben  sie  doch  Männer  der  Partei. 

An  diesem  Ort  bemerken  wir  abermals,  ^^ie  den  gemeinsamen 
Gegensatz  zu  den  Doktrinären,  so  die  Gleichheit  der  eigenen  An- 
schauungen z\nschen  dem  größten  Historiker  und  dem  größten 
Staatsmann  unseres  Volkes.  Auch  Ranke  hat  seine  Auffassung 
recht  im  Widerstreit  gegen  die  Parteien  und  die  Schulmeinungen 
ausgebildet.  Daß  die  echte  Politik  eine  historische  Grundlage 
haben  müsse,  und  daß  der  Staat  keine  Doktrin  sei,  sondern  eine 
Wesenheit,  ein  Selbst,  daß  er  eine  die  Generationen  verbindende 
und  an  ihn  fesselnde  Kontinuität  des  Lebens  in  sich  trage,  sind 
Sätze,  in  denen  Rankes  ganze  historische  Auffassung  hängt.  Es 
versteht  sich  aber,  daß  er  sich  damit  in  Widerspruch  gegen  jedes 
Dogma  setzt,  mag  es  nun  von  der  rechten  oder  der  Hnken  Seite 
stammen.  In  der  Zeit,  da  der  LiberaHsmus  den  Ton  angab,  ward 
seine  Geschichtsschreibung  wohl  als  die  eines  Tory  bezeichnet. 
In  Wahrheit  aber  gehörte  Ranke  als  Historiker  so  wenig  einer 
Partei  an  wie  Bismarck  als  Staatsmann.  Konservativ  war  seine 
Staatsauf fassung  nur  insofern,  als  er  die  historische  Grundlage 
der  Politik  behauptete  und  die  Macht  als  das  Objekt  des  Staats- 
lebens in  Gegenwart  und  Geschichte  ansah.  Viel  zu  hoch  stand 
Ranke  über  den  Begebenheiten,  als  daß  ihn  die  Zeitereignisse, 
kleine  Wellenbewegungen  für  seinen  die  Jahrtausende  umfassenden 
Blick,  hätten  erschüttern  können.  Dieser  »Tory«  hat  das  Element 
der  Schuld  in  dem  Kampf  Marie  Antoinettes  gegen  die  Revolution 
und  damit  die  wahre  Tragik  ihres  Geschicks  ganz  scharf  bezeichnet 
zu  einer  Zeit,  da  der  gemäßigte  Liberalismus  eines  Sybel  mit  den 
feudalen  Anhängern  der  unglücklichen  Frau  darin  wetteiferte, 
sie  als  das  unschuldige  Opfer  revolutionärer  Tyrannei  von  jedem 


ogg  Kleine  historische  Schriften. 

Flecken  reinzuwaschen.  Niemals  hat  Ranke,  wie  Niebuhr,  die 
französische  Revolution  als  eine  bloße  Kraft  der  Zerstörung,  als 
das  große  Weltverderben  aufgefaßt,  sondern  vielmehr  von  jeher 
die  positiven,  die  aufbauenden  Kräfte,  welche  unter  anarchischen 
Zuckungen  ans  Licht  drängten,  in  ihr  erkannt  und  die  ungeheure 
Weltwandlung,  die  sie  in  Aktion  und  Reaktion  heraufführte,  über 
den  Gegensatz  der  Parteien  erhoben,  dort  wie  überall  in  dem  ewig 
strömenden  Fluß  des  Geschehens  die  festen  Elemente,  die  Elemente 
der  Macht  und  die  Kontinuität  des  Lebens  enthüllend. 

Nichts  anderes  ist  es  aber,  wenn  Bismarck  dem  Bemühen  seiner 
Partei  entgegentritt,  den  Gegensatz  gegen  die  der  Revolution  ent- 
stammten Mächte,  an  ihrer  Spitze  die  Monarchie  Napoleons  IIL,  zu 
einem  prinzipiellen,  zum  Leitmotiv  der  PoUtik  zu  machen.  Immer 
ist  es  der  Gesichtspunkt  des  Kampfes  und  der  Macht,  unter  dem 
er  die  Weltbegebenheiten  ansieht:  Europa  ruht  auf  dem  Schutt 
vergangener  Revolutionen;  der  Kampf  hat  alles  Bestehende  her- 
vorgebracht; das  europäische  Recht,  so  schreibt  er,  wird  durch 
europäische  Traktate  geschaffen.  Hier,  wie  so  oft,  nehmen  wir 
wahr,  daß  die  Doktrinäre  sämthch  miteinander  verwandter  waren, 
als  sie  selbst  wähnten;  sie  waren,  ob  reaktionär  oder  überal,  immer 
noch  von  teils  romantischen,  teils  selbst  naturrechtlichen  Vor- 
stellungen beeinflußt.  Während  der  Geist  Rankes  und  Bismarcks 
bereits  ganz  auf  die  Welt  der  Realitäten  gerichtet  war:  erst  sie 
haben  für  uns  Deutsche  in  Historie  und  Poütik  Naturrecht  und 
Romantik    völlig    überwunden. 

Wo  aber  die  Grundbegriffe  identisch  sind,  müssen  sich  auch 
gleiche  Formen  und  Methoden  der  Anschauung  herausbilden. 
Denn  der  gleichen  Wurzel  entsprechen  gleichartige  Blüten  und 
Früchte,  und  auf  dieselbe  Art  der  Fragestellung  werden  auch  die 
Antworten  gleichartig  ausfallen.  Zwar,  um  es  sofort  zu  sagen, 
ist  Rankes  Weltbhck  weit  umfassender  und  dringt  viel  tiefer  in 
den  Zusammenhang  des  Geschehens  ein  als  das  nur  praktisch  ge- 
schulte Auge  Bismarcks.  Dennoch  aber  gehen  sie  auch  im  Einzelnen 
der  historisch-pohtischen  Betrachtungsweise  bis  zu  einer  gewissen 
Grenze  nebeneinander  her  und  immer  in  dem  gleichen  Abstand 
von  allen  Meinungen  der  Schule. 


Bismarck  und  Ranke.  397 

Vor  allem  überrascht  uns  an  beiden  die  Unbefangenheit  des 
Urteils,  die  Leidenschaftslosigkeit  ihrer  Anschauung.  Nicht  als 
ob  sie  von  sich  aus  der  Welt  indifferent  gegenüberständen:  viel- 
mehr hat  ein  jeder  von  ihnen,  wie  alle  erhöhten  Naturen,  seine 
Aufgabe  mit  brennender  Leidenschaft  ergriffen.  Diese  selbst  aber 
ist  in  beiden  verschieden  geartet:  bei  Ranke  beschränkt  sie  sich 
auf  das  Gebiet  der  Forschung  selbst;  dem  Erkennen  bleibt  alle 
Energie  zugewandt,  kein  anderes  Ziel  hat  er  vor  Augen.  Für 
Bismarck  dagegen  ist  dies  nur  ein  Mittel,  um  zum  Zweck  zu  ge- 
langen. Sein  Wille  ist  ganz  auf  das  Handeln  gerichtet.  Aber  die 
Wege  dahin  muß  er  kennen;  er  muß  wissen,  welche  Hindemisse 
sich  ihm  entgegenstellen,  muß  die  Kräfte  messen  können,  die  er 
zu  überwinden  hat,  das  rechte  Augenmaß  dafür  besitzen;  nur  so 
kann  er  seines  Zieles  sicher  werden.  Darin  offenbart  sich  der  wahre 
Staatsmann:  kälteste  Überlegung  und  der  heiße  Wille  zur  Tat 
wohnen  in  ihm  unmittelbar  nebeneinander.  All  sein  Absehen  ist 
auf  den  Moment  berechnet,  auf  Kampf  und  Erfolg  gestellt:  aber 
will  er  den  Sieg  erringen,  so  muß  er  das  einzelne  genau  in  dem 
Zusammenhang  erblicken  können,  in  den  es  gehört;  ganz  wie  es 
die  Aufgabe  des  Historikers  ist.  Darum  ist  die  Betrachtungsweise 
des  Historikers  und  des  PoHtikers  in  dem  immerhin  beschränkten 
Umfang,  den  der  pohtische  Zweck  setzt,  die  gleiche,  und  daher 
kommt  es,  daß  uns  die  politischen  Berichte  und  zumal  die  »Ge- 
danken und  Erinnerungen«  Bismarcks  zuweilen  anmuten  können, 
als  läsen  wir  die  kühle  Berichterstattung  Leopold  Rankes,  wäh- 
rend sie  von  den  leidenschaftlichen  und  pathetischen  Deklama- 
tionen eines  Heinrich  von  Treitschke  aufs  weiteste  abweichen. 
Man  weiß  ja,  wie  grimmig  dieser  Vorkämpfer  der  preußischen 
Macht  die  Kleinstaaten  haßte,  zumal  seine  eigene  sächsische  Heimat; 
nur  in  der  Vernichtung  der  Rheinbundkronen  konnte  er  sich  den 
Weg  zur  deutschen  Einheit  denken. 

Auch  Bismarck  hat  scharf  genug  über  den  »gott-  und  recht- 
losen Souveränitätsschwindel«  der  kleinen  Höfe  gewettert;  aber 
er  hat  doch  im  Grunde  niemals  verkannt,  daß  sie  unter  Napoleon 
wie  im  deutschen  Bund  nur  taten,  wozu  die  Verhältnisse,  ihr  Inter- 
esse, das  Maß  ihrer  Macht  sie  drängten.  Er  konnte  über  Sachsen, 


398  Kleine  historische  Schriften. 

dessen  ehrgeiziger  Minister  ihm  überall  in  den  Weg  üef,  dennoch 
mitten  in  dem  deutschen  Konflikt  das  unparteiische  Urteil  fällen, 
daß  sein  König  in  den  Wiener  Verträgen  nur  dafür  bestraft  sei, 
weil  er,  1813  allein  in  der  Gewalt  Napoleons  befindlich,  sich  den 
AUiierten  nicht  habe  anschließen  können.  Heute  legt  die  deutsche 
Geschichtsforschung  von  verschiedensten  Seiten  her  Hand  an, 
diese  Nötigungen  der  kleinstaatlichen  Politik  aus  den  Urkunden 
ans    Licht    zu    bringen. 

Alles  entwickelt  sich  bei  unserm  Staatsmann  aus  dem  Begriff 
und  dem  Zweck,  die  seinem  Handeln  zugrunde  liegen.  Die  An- 
erkennung der  Macht  und  des  Interesses  an  ihrer  Erhaltung  und 
Erhöhung  als  des  eigentlichen  Agens  im  staatlichen  Leben  führt 
ihn  dahin,  die  Notwendigkeiten,  unter  denen  es  steht,  zu  begreifen. 
Dieser  Gewaltige,  der  die  Welt  wieder  einmal  gelehrt  hat,  was  die 
Persönlichkeit  in  der  Geschichte  bedeutet,  hat  dennoch,  auch 
darin  nur  Ranke  vergleichbar,  unbefangener  als  alle  Doktrinäre 
anerkannt,  daß  in  den  Staaten  Kräfte  wohnen,  die  stärker  sind  als 
jeder  Einzel wüle :  die  konstanten  Elemente,  diejenigen,  die  mit 
der  Existenz  des  Staates,  mit  seiner  Entstehung,  seiner  Lage, 
seiner  Zusammensetzung  gegeben,  die  ihm,  wie  auch  die  Gegen- 
sätze gegen  die  Nachbarn,  eingeboren  sind,  hat  Bismarck  über- 
blickt und  dargestellt,  so  wie  es  nur  Ranke  verstanden  hat.  Wie 
weiß  er  Österreichs  Lage  und  Pohtik  zu  \\-ürdigen:  die  Schwäche, 
in  die  es  durch  den  Hader  seiner  Nationalitäten,  durch  die  Stellung 
in  Italien  und  im  Orient  versetzt  war,  die  Notwendigkeit,  mit 
der  es,  seitdem  die  heiHge  Allianz  durch  die  Revolution  und  den 
Krimkrieg  aufgelöst  wurde,  auf  die  Hegemonie  über  Deutschland 
hingewiesen  war,  weil  es  nur  so  mit  den  18 — 20  Prozent  Deut- 
schen unter  der  eigenen  Bevölkerung  die  auf  dies  Element  be- 
gründete Zentrahsation  durchzuführen  hoffen  konnte.  Wie 
durchschaut  er  die  Persönlichkeit  und  Politik  Napoleons  III., 
sein  Verhältnis  zu  den  Parteien  seines  Landes,  der  Monarchie 
wie  der  Revolution,  zu  Europa  und  zu  den  Traditionen  der 
Napoleoniden  selbst.  Wie  klar  übersieht  er  die  Verhältnisse 
Rußlands,  Polens,  Englands,  die  inneren  so  gut  -wie  die 
äußeren.    Lückenlos  breitet  sich  vor  ihm  das  europäische  Macht- 


Bismarck  und  Ranke.  399 

System  aus,  und  so  schafft  er  sich  erst  die  Bedingungen  des 
Handelns. 

Wir  sahen  bereits,  ^^^eviel  die  Hberalen  Historiker,  nach- 
dem die  Taten  Bismarcks  sie  zu  seinen  Schülern  gemacht,  von 
ihm  für  ihr  eigenes  Fach  gelernt  haben.  Doch  steht  auch  heute 
noch  die  Auffassung  der  Vergangenheit,  zumal  seit  der  großen 
französischen  Revolution,  an  hundert  Punkten  unter  dem  Einfluß 
der  Vorstellungen,  die  eine  von  der  Partei  beherrschte  Geschichts- 
schreibung hineingetragen  hat.  Und  es  v\drd  die  Aufgabe  der  Zu- 
kunft sein,  ihr  Bild  von  allen  diesen  Übermalungen  zu  befreien. 

Dabei  wird  noch  auf  lange  hinaus  Bismarck  unser  Führer 
bleiben;  seine  Staatsauffassung  ist  es,  die  auch  für  die  historische 
Erkenntnis  seiner  Epoche  als  ein  Leitstern  dienen  wird. 

Wie  es  wiederum  Ranke  ausgesprochen  hat  in  dem  Brief, 
mit  dem  er  jenes  Anschreiben  Bismarcks  vom  Januar  1877  be- 
antwortete. »Der  Historiker,«  so  schließt  er,  »kann  von  Ihnen 
lernen,  Durchlaucht.« 


Ich  nehme  die  Frage  wieder  auf,  mit  der  ich  den  ersten  Ab- 
schnitt schloß :  Ist  die  weitgehende  Gemeinsamkeit  der  historisch- 
politischen  Anschauungen  zwischen  Bismarck  und  Ranke  am 
Ende  doch  aus  einem  direkten  Einfluß  des  Älteren  auf  den  Jün- 
geren, des  Gelehrten  auf  den  Staatsmann  zu  erklären?  Und  hat 
also  wirklich  einmal  hier  die  Theorie  ihre  Form,  haben  die  Bücher 
Leben  gewonnen  ?  Ranke  hat  seine  Ansicht  vom  Staat,  die  freilich 
in  seiner  ganzen  Entwicklung  und  Weltauffassung  bereits  begründet 
und  vorgebildet  war,  endgültig  formuliert  und  verkündigt  in  den 
dreißiger  Jahren,  damals  in  der  ausgesprochenen  Absicht,  un- 
mittelbar auf  das  Leben,  die  Politik  einzmvirken,  als  halbamt- 
licher Pubhzist  in  der  Historisch-Politischen  Zeitschrift,  die  er 
unter  Protektion  des  Auswärtigen  Ministeriums  herausgab.  In 
den  Jahren,  da  sie  erschien,  1833 — 1836,  war  Bismarck  in  Berlin; 
er  beendigte  dort  seine  Studien  und  war  dann  als  Auskultator  am 
Kammergericht  beschäftigt.    Undenkbar  also  wäre  es  nicht,  daß 


^QQ  Kleine  historische  Schriften. 

er  die  Rankeschen  Ideen  schon  damals  in  sich  aufgenommen  hat. 
Man  könnte  sogar  versucht  sein,  den  Ort  zu  nennen,  wo  es  ge- 
schehen wäre:  im  Haus  Savignys,  wo  Bismarck  als  Freund  des 
Sohnes  viel  verkehrte.  Savigny  aber  war  der  vornehmste  Mit- 
arbeiter an  jener  Zeitschrift,  der  er  zwei  wertvolle  Beiträge  ge- 
liefert hat,  ja  ihr  Mitbegründer;  sie  entsprach  ganz  seiner  Richtung; 
auch  stand  Ranke  damals  keinem  näher  als  ihm,  sie  sahen  sich 
beide  täglich.  Nun  schreibt  Bismarck  freihch  nach  Rankes  Tode, 
1886,  daß  er  mit  ihm  verbunden  gewesen  sei  »durch  die  Über- 
einstimmung der  politischen  Gesinnungen  und  durch  mehr  als 
40  jährige  persönliche  Beziehungen«,  also  etwa  seit  1845.  Daß 
aber  der  Freund  des  Sohnes  den  Freund  des  Vaters,  den  um  20  Jahre 
älteren,  schon  weitberühmten  Professor,  in  dessen  Haus  wenig- 
stens gesehen  hat,  und  daß  die  Gedanken,  von  denen  beide  Männer 
erfüllt  waren,  den  Jünglingen,  denen  sie  als  angehenden  Diplomaten 
besonders  interessant  sein  mußten,  gesprächsweise  nahegekommen 
sind,  wäre  auch  dann  wohl  noch  keine  so  fernUegende  Vermutung. 
In  den  Jahren  seiner  Landeinsamkeit  wird  Bismarck  die 
Zeitschrift,  wenn  er  sie  nicht  schon  früher  in  Händen  gehabt  hat, 
kaum  noch  gelesen  haben,  denn  sie  war  längst  aus  Mangel  an 
Abonnenten  eingegangen;  zu  einer  objektiven  Auffassung  des 
Staatslebens  war  die  Zeit  nicht  geschaffen.  Man  wird  also,  wenn 
die  Angabe  über  das  viele  Rankelesen  Bismarcks  in  Kniephof 
richtig  ist,  vornehmlich  an  die  Geschichte  der  Päpste  und  die 
Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Reformation  zu  denken 
haben,  die  eben  damals  herauskam.  Aus  diesen  Jahren  innerer 
Unruhe  und  stiller  Sammlung  seiner  Kraft  wurde  Bismarck  im 
Frühhng  1847  durch  den  Vereinigten  Landtag  in  die  Stürme  des 
Lebens  hin  ausgerissen.  In  demselben  Jahr  aber  erschien  der  erste 
Band  von  Rankes  »Preußischer  Geschichte«.  Während  das  alte 
Preußen  zusammenstürzte  und  alle  Interessen  der  Gegenwart 
und  der  Zukunft  des  Staates  zugewandt  waren,  vergegenwärtigte 
der  große  Historiker,  unbekümmert,  wie  er  sagt,  um  die  Neigungen 
des  Tages,  zu,  soviel  möglich,  objektiver  Anschauung  den  Weg, 
auf  dem  die  Monarchie,  nicht  so  sehr  in  bewußtem  Ehrgeiz,  wie 
durch  die  Pflicht  der  Selbsterhaltung  gedrängt,  eine  nach  allen 


Bismarck  und  Ranke.  401 

Seiten  unabhängige  Stellung  zu  ergreifen  versucht  und  sich  zur 
europäischen  Großmacht  ausgebildet  habe:  es  war  der  Grund- 
gedanke seines  S3'stems,  bewiesen  durch  die  Geschichte  des  eigenen 
Staates,  der  jetzt  in  seinen  Grundfesten  erschüttert  wurde.  Daß 
Bismarck  die  »Preußische  Geschichte«  gelesen  hat,  möchte  man 
auch  ohne  quellensicheres  Zeugnis  behaupten:  nichts  lag  für  ihn, 
der  selbst  auf  der  Schanze  gegen  die  ringsum  flutenden  Mächte 
der  Zerstörung  stand,  näher,  als  zu  einem  Werk  zu  greifen,  das 
die  Fundamente  des  Staates  und  das  Emporwachsen  zu  seiner 
europäischen  Größe  enthüllte.  Jedermann  spricht  heute  davon, 
daß  in  Bismarcks  Pohtik  die  friderizianische  Staatskunst  zu  neuem 
Leben  erwacht  sei;  und  mehr  als  einmal  hat  er  selbst  während  der 
Revolution  den  Schatten  des  großen  Königs  gegen  seine  Wider- 
sacher aufgerufen.  Eben  Friedrich  der  Große  war  es  aber,  der 
im  Mittelpunkt  der  Darstellung  Rankes  als  der  Schöpfer  der  preu- 
ßischen Großmacht  stand;  noch  im  Revolutionsjahr  erschienen 
die  beiden  Bände,  welche  die  Jugendtaten  des  könighchen  Helden 
schilderten.  Man  sieht,  nicht  ganz  ohne  Grund  läßt  sich  ein  Einfluß 
Rankescher  Ideen  auf  den  Mann  vermuten,  der  das  Werk  des 
großen  Königs  durch  die  Schöpfung  des  Deutschen  Reiches 
vollendet    hat. 

Ist  aber  deshalb  eine  solche  Annahme  nötig?  In  der  aka- 
demischen Rede,  die  Ranke  1836,  nach  altem  Brauch  noch  lateinisch, 
zum  Antritt  seines  Ordinariats  an  der  Berhner  Universität  hielt, 
über  die  Verwandtschaft  und  den  Unterschied  zwischen  der  Historie 
und  der  Politik,  und  in  der  er,  wie  zum  Abschied,  noch  einmal  die 
Summe  der  in  seiner  Zeitschrift  vorgetragenen  Anschauungen 
entwickelte,  spricht  er  es  aus,  daß,  wer  am  Steuer  des  Staates 
stehe,  dessen  Natur  vollkommen  erkannt  und  begriffen  haben 
müsse:  nur  der  werde  sich  in  der  Pohtik  auszeichnen  können, 
der  mit  dem  Wesen  des  Staates,  dem  er  vorstehe,  die  innigste 
Verwandtschaft  und  Gemeinschaft  gewonnen  habe;  diese  Kenntnis 
aber  sei  ohne  ein  Wissen  des  in  früheren  Zeiten  Geschehenen  nicht 
denkbar.  Dennoch  will  er  damit  nicht  behaupten,  daß  es  ohne 
vollkommene  Geschichtskenntnis  überhaupt  keine  Politik  geben 
könne.     »Denn,«  so  fährt  er  fort,   »es  gibt  einen  Scharfsinn  des 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  20 


^Q2  Kleine   historische  Schriften. 

menschlichen  Verstandes,  der  gleichsam  durch  göttlichen  Anhauch 
in  die  Natur  der  Dinge  eindringt.« 

Dieser  Anhauch  des  Genius  war  in  Bismarck  von  der  ersten 
Stunde  ab,  da  er  auf  die  Bühne  des  pohtischen  Lebens  trat.  Er 
gab  schon  im  Vereinigten  Landtag  dem  jungen  unbekannten 
Landedelmann  die  zornigen  Worte  ein,  die  er  den  Vorkämpfern 
der  konstitutionellen  Theorie  entgegenvvarf,  als  sie  die  Erhebung 
des  preußischen  Volkes  gegen  Napoleon  von  dem  Verfassungs- 
versprechen der  Krone  herleiten,  dies  gleichsam  als  Abschlags- 
zahlung für  die  Befreiung  von  dem  Joch  der  Fremden  bezeichnen 
wollten:  »als  ob«,  rief  Bismarck  aus,  »es  eines  andern  Motivs  zum 
Kampf  bedurft  hätte  als  der  Schmach,  daß  Fremde  in  unserm 
Land  geboten!«  Es  war  die  über  den  Gegensatz  der  Parteien 
erhabene  Idee  des  Vaterlandes,  die  der  Junker  von  Schönhausen 
anrief,  das  Preußentum  schlechthin,  mit  dem  er  ganz  verwachsen 
war,  das  er  vollkommen  »erkannt  und  begriffen  hatte«.  Dies  war 
der  feste  Punkt,  von  woher  alle  Kräfte  seines  Genies,  Leidenschaft, 
Einsicht  und  Wille  Antrieb  und  Richtung  empfingen.  Wie  in 
Luther  der  Grundgedanke  seines  Daseins,  sein  Gottesbegriff, 
schon  in  der  Einsamkeit  des  Klosters  ausgebildet  war  und  nur  der 
Gelegenheit,  des  Zusammenstoßes  mit  den  Mächten  der  Welt, 
gewartet  hatte,  um  ans  Licht  zu  treten  und  wirkende  Kraft  zu 
werden,  dem  Funken  gleich,  den  das  Eisen  aus  dem  Stein  heraus- 
schlägt, so  war  auch  bereits  in  Bismarck,  im  Zentrum  seines  Geistes 
die  Idee  lebendig,  die  ihn  stark  machen  sollte,  um  den  Kampf 
mit  jeder  entgegenstrebenden  Gewalt  durchzuführen.  Nun  ist  es 
ja  wohl  möghch,  daß  sich  dies  Staatsbewußtsein  unter  dem  Einfluß 
Rankescher  Ideen  in  ihm  entwickelt  hat,  und  daß  wir  dabei  selbst 
bis  in  jene  frühe  Zeit  seines  Verkehrs  im  Savignyschen  Haus  zu- 
rückgehn  dürfen;  immer  aber  könnten  wir  darin  nur  eins  der  ]\Io- 
mente  annehmen,  die  zu  seiner  Ausbildung  beigetragen  haben, 
sowie  sich  auch  in  Luther  die  mannigfachsten  Kräfte  verbunden 
hatten,  um  den  Kern  seiner  Weltauffassung  zu  formen.  Merk- 
würdig genug,  daß  das  erste  öffenthche  Bekenntnis  Bismarcks 
zu  seiner  Poütik  die  Form  eines  historischen  Urteils  annahm; 
aber  langer  Studien  über  die  Befreiungskriege  hätte  er  dazu  nicht 


Bismarck  und  Ranke.  403 

bedurft:  die  Äußerung  erklärt  sich  vollkommen  aus  einem  Vater- 
landsgefühl, das  nicht  wägt  noch  fragt,  wenn  es  um  das  Ganze  geht. 

Überhaupt  aber  läßt  sich  auch  in  den  eigentlich  historischen 
Kenntnissen  und  Ansichten  Bismarcks,  wie  sie  in  seinen  Reden, 
Briefen  und  zumal  in  den  »Gedanken  und  Erinnerungen«  zer- 
streut vorliegen,  kaum  eine  direkte  Abhängigkeit  von  dem  großen 
Historiker  nachweisen:  sondern  auch  sie  tragen  durchweg  den 
Stempel  seiner  eigenen  Persönlichkeit;  und  nicht  nur  sein  Urteil, 
sondern  sogar  die  Auswahl  der  Begebenheiten,  denen  sein  Inter- 
esse zugewandt  ist,  richtet  sich  nach  den  ihn  beherrschenden 
poHtischen  Gesichtspunkten.  Darin  gleicht  er  doch  wieder  den 
liberalen  und  deutschnationalen  Historikern,  von  denen  ihn  sonst 
die  historische  wie  die  pohtische  Auffassung  so  weit  schied ;  während 
er  sich  von  Ranke  darin  in  demselben  oder  in  noch  höherem  Grad 
entfernt.  Das  historische  Problem  an  sich  hat  für  ihn  keinen  Reiz; 
nur  soweit  sein  pohtischer  Interessenkreis  reicht,  wird  auch  sein 
historisches    Denken    angeregt. 

So  hat  er  sich  immer  viel  um  Polens  Schicksale  bekümmert; 
in  einer  seiner  großen  Reichstagsreden  hat  er  einen  ganzen  Abriß  von 
Polens  Geschichte  gegeben,  von  1231,  dem  Jahr,  da  die  deutschen 
Ritter,  von  den  Polen  gerufen,  ins  Weichselland  kamen,  ab:  um 
die  Unversöhnlichkeit  der  polnischen  und  deutschen  Interessen 
zu  beweisen,  bekanntüch  einer  der  Hauptsätze  seines  Systems, 
den  er  schon  im  März  1848,  in  der  Zeit  des  blinden  Polenenthu- 
siasmus, vöUig  ausgebildet  hatte.  Vor  allem  aber  war  es  das  letzte 
Jahrhundert  der  preußischen  Geschichte,  das  immer  von  neuem 
seine  Teilnahme  erweckte.  Weniger  noch  die  Epoche  Friedrichs 
des  Großen,  dem  er  eher  eine  gewisse  Abneigung  gewidmet  hat, 
als  die  Zeit  vom  Todesjahr  des  großen  Königs  an,  und  darin  wieder 
vor  andern  die  Epoche  des  Baseler  Friedens,  die  Jahre  der  preu- 
ßischen Neutrahtät  von  1795  bis  1806.  Wir  lernten  bereits  aus 
seiner  Frankfurter  Zeit  das  Urteil  über  jenen  Friedensschluß 
selbst  kennen,  das  in  seiner  kühlen  Ruhe  so  weit  von  den  hitzigen 
Anklagen  oder  Apologien  der  Parteihistoriker  absticht.  In  den 
»Gedanken  und  Erinnerungen«  hat  er  der  preußischen  PoUtik 
seit   1786   einen   zusammenhängenden   Rückbück  gewidmet,   den 

26* 


^Q4  Kleine  historische  Schriften. 

er  bis  1862  fortführt,  und  der  offenbar  gedacht  ist  als  Präludium 
für  die  Darstellung  seines  eigenen  Ministeriums.  Hier  aber  tritt  in 
der  Beurteilung  jener  Periode  ein  neues  Moment  auf,  eine  Tendenz, 
die  dem  früheren  Bismarck  fremd  war.  Die  Geschichte  Preußens 
erscheint  ihm  nun  auf  lange  Strecken  hin  als  eine  Kette  verfehlter 
Gelegenheiten:  die  Konvention  von  Reichenbach,  der  Nichteintritt 
in  die  Allianz  gegen  Napoleon  I.  im  Jahre  1805,  die  Krisen  in  der 
deutschen  Revolution,  im  Krimkrieg,  im  itahenischen  Freiheits- 
kampf sieht  er  so  an.  Auch  den  Frieden  von  Basel  scheint  er  nicht 
mehr  verteidigen  zu  wollen:  was  1786  planlos  begonnen,  habe 
1806  traurig  geendet;  soweit  die  preußische  Politik  damals  und 
1842 — 1862  selbständig  ihre  Wege  gesucht,  könne  sie  vor  der 
Kritik  vom  Standpunkt  eines  strebsamen  Preußens  keine  An- 
erkennung finden.  Sogar  für  die  Zwischenzeit  will  er  diese  versagen ; 
denn  da  sei  Preußen  von  Rußland  abhängig  gewesen,  dem  es  immer 
nur  Vasallendienste  geleistet  habe,  um  schließlich  bei  Olmütz  mit 
vollem  Undank  bezahlt  zu  werden. 

Von  Ranke  kann  Bismarck  diese  Auffassung  nicht  gelernt 
haben.  Sie  steht  aber  auch  nicht  mehr  in  rechtem  Einklang  mit 
seinen  eigenen  älteren  Ansichten,  die,  wie  man  nicht  anders  sagen 
kann,  zumal  in  den  Denkschriften  aus  der  Frankfurter  Periode 
sehr  viel  unbefangener  sind  und  die  Dinge  in  eine  richtigere  Be- 
leuchtung rücken.  Zum  Teil  ist  dies  die  Folge  der  Abwandlung 
seiner  eigenen  Politik,  nachdem  er  Preußen  an  die  Spitze  Deutsch- 
lands gebracht  hatte:  der  deutsch-nationale  Horizont,  unter  den 
er  seitdem  seine  PoHtik  gesteht,  hat  in  den  »Erinnerungen«  die 
spezifisch  preußischen  Gesichtspunkte  zwar  nicht  verdrängt, 
aber  ihnen  doch  eine  andere  Richtung  gegeben.  Mehr  aber  noch 
hat  sich  diese  Betrachtungsweise  unter  den  persönlichen  Ein- 
drücken und  Stimmungen  gefärbt,  welche  die  Entlassung  aus 
seinen  Ämtern,  der  Undank,  den  er  für  seine  Dienste  erfahren,  in 
dem  greisen  Staatsmann  hervorgerufen  hatten.  Die  Ursachen  der 
früheren  Mißerfolge  der  preußischen  Pohtik  sucht  er  jetzt  in  den 
Einflüssen,  den  unverantwortHche  Ratgeber,  »die  verschieden- 
artigsten Persönlichkeiten  männhchen  und  weiblichen  Geschlechts, 
Adjutanten,    Höfhnge    und    poHtische    Intriganten,    Schmeichler, 


Bismark  und  Ranke.  405 

Schwätzer  und  Ohrenbläser«,  auf  den  Monarchen  ausgeübt  haben; 
oder  auch  in  der  Sucht,  in  unfruchtbarem  Selbstgefühl  prunkende 
und  doch  leere,  zwecklose  Schaustellungen  der  eigenen  Macht  zu 
veranstalten.  Man  sieht,  wohin  diese  Vorwürfe  zielen:  der  Groll 
über  den  neuen  Kurs  spricht  aus  ihm,  wenn  er  von  den  Erben 
Friedrichs  des  Großen  schreibt,  daß  sie  »von  der  Erbschaft  des 
alten  Jahrzehnte  hindurch  zehren  konnten,  ohne  sich  über  die 
Schwächen  ihrer  Epigonenwirtschaft  klar  zu  werden«;  und  die 
Sorge,  daß  das  Werk,  das  er  unter  tausend  Kämpfen  aufgerichtet, 
durch  die  Fehler  der  Nachfolger  zugrunde  gehen  könnte. 

Es  wäre  nun  ein  leichtes,  nachzuweisen,  daß  diese  Urteile 
fast  durchweg  auf  falscher  Grundlage  ruhen.  So  wollte  z.  B.  Friedrich 
Wilhelm  II.  im  Frühling  1790  keineswegs  eine  Politik  des  bloßen 
Show  of  Power  treiben,  vielmehr  war  niemand  über  die  Nach- 
giebigkeit Österreichs  unglücklicher  als  er:  er  hatte  die  ernsteste 
Absicht,  die  alte  Offensivpohtik  seines  Oheims  wieder  aufzunehmen; 
und  wenn  er  die  Schwenkung  zum  Kaiser  dennoch  vollzog,  so 
geschah  auch  das  \\ieder  in  der  Hoffnung,  auf  anderm  Feld,  im 
Westen,  gegen  Frankreich  zu  gewinnen,  was  ihm  im  Osten  ent- 
gangen war;  nicht  Willkür  und  Laune  trieben  ihn  dazu,  das  Steuer 
so  gewaltsam  herumzuwerfen,  sondern  die  Übermacht  der  Ver- 
hältnisse, der  sich  sein  Staat  unterwerfen  mußte.  Aber  es  ist 
hier  nicht  der  Ort,  die  historische  Richtigkeit  jener  Ansichten 
Bismarcks  zu  kritisieren.  Genug,  wenn  wir  ihre  Tendenz  und 
ihren  Ursprung  erkannt  haben.  Er  will  durch  sie  die  Pohtik 
rechtfertigen,  die  er  in  seinem  Ministerium,  zumal  Rußland  und 
Österreich  gegenüber,  durchgeführt  hatte:  daß  sie  bei  allen  jenen 
Gelegenheiten  versäumt  sei,  ist  es,  was  er  den  früheren  Regenten 
Preußens   vorwirft. 

Immer  aber  sind  es  die  realen  Kräfte,  die  positiven  Faktoren 
der  Macht,  mit  denen  er  rechnet.  Darin  denkt  er  im  Alter  so  wie 
in  der  Jugend.  Ja,  mehr  noch  als  früher  stößt  er  die  idealen  Mo- 
mente, alles,  was  bloße  Meinung  ist  und  Doktrin,  aus  den  Kom- 
binationen der  Pohtik  aus.  Auch  darin  zeigen  sich  wieder  die 
trüben  und  bitteren  Stimmungen,  die  den  Verstoßenen  in  der 
Waldeinsamkeit  von  Friedrichsruh  so  oft  überkamen:  die  herbe 


406  Kleine  historische  Schriften. 

Menschen  Verachtung,  die  den  Großen  der  Erde  wie  ein  finsteres 
\'erhängnis  auf  den  Bahnen  ihrer  Siege  zu  folgen  scheint,  und  die 
auch  in  Bismarck  vielfache  Erfahrungen,  mehr  noch  der  Abfall 
seiner  Freunde  als  der  Kampf  mit  den  Widersachern,  großgezogen 
hatten.  Er  wollte  nicht  mehr  in  den  Parteien  auch  nur  einen  Kern 
von  sittlichem  Gehalt  sehen:  sie  waren  ihm  nichts  als  Koterien, 
die  sich  nach  materiellen  und  persönlichen  Interessen  bilden  und 
wieder  auflösen.  Er  glaubte  nicht  mehr  an  politische  Grundsätze 
und  Überzeugungen,  die  in  jedem  einzelnen  zu  einer  Gewissens- 
frage und  Notwendigkeit  werden:  die  Parteiführer  würden,  meint 
er,  gar  nicht  darauf  zu  antworten  wissen,  wenn  man  sie  nach 
den  Differenzpunkten  zu  anderen  Fraktionen  fragte;  nicht  ein 
Programm,  sondern  eine  Person,  ein  parlamentarischer  Kondottiere 
sei  ihr  Kristallisationspunkt.  Als  ein  Kampf  der  Hungrigen  und 
der  Satten,  der  Begehrlichen:  der  Redner,  die  die  Instinkte  der 
immer  stumpfen  Masse  aufzustacheln  wissen,  und  der  Besitzenden, 
die  an  der  Erhaltung  der  bestehenden  Ordnung  interessiert  sind, 
stellt  sich  ihm  das  innere  Staatsleben  dar. 

Es  ist  charakteristisch,  daß  ihm  auch  entferntere  Epochen 
ebenso  leer  von  moralischen  Affekten  erscheinen  wie  die  Gegen- 
wart selbst.  Er  spricht  von  den  »angeblich«  konfessionellen 
Kämpfen  des  30  jährigen  Krieges  oder  will  ein  andermal  lediglich 
in  konfessioneller  Hartnäckigkeit,  die  den  Gegner  nicht  anerkennen 
mag,  den  Ursprung  der  Rehgionskriege  erbUcken ;  die  ganze  deutsche 
Geschichte,  von  den  rebellischen  Herzögen  der  ersten  Kaiserzeiten 
bis  zu  den  zahllosen  reichsunmittelbaren  Landesherren  des  ab- 
sterbenden alten  Reiches,  baut  sich  ihm  auf  dem  Egoismus  der 
Fraktionen,  dem  Ehrgeiz  der  Führer,  der  niemand  über  sich  dulden 
woUte,  auf;  selbst  in  der  Bildung  des  Zentrums  meint  er  den  ger- 
manischen Fraktions-  und  Parteigeist  zu  entdecken,  demgegen- 
über auch  der  päpstliche  Wille  nicht  durchschlage. 

Ich  brauche  nicht  zu  sagen,  wie  wenig  alle  diese  Ansichten 
von  dem  Geist  Rankes  getragen  sind.  Denn  wie  sehr  auch  Ranke 
die  politische  Macht  als  das  in  der  Krisis,  im  Kampf  entscheidende 
Moment  in  der  allgemeinen  Entwicklung  betonen  mag,  ist  er  doch 
fern  davon,  die  Kraft  der  Ideen  zu  leugnen.    Vielmehr  sieht  er  in 


Bismarck  und  Ranke.  407 

ihnen  das  Ursprüngliche,  das  Dauernde  und  das  Fortwirkende. 
Die  Staaten  selbst  ruhen  auf  ihnen:  nur  darum  sind  sie  Indivi- 
dualitäten, besitzen  sie  eine  Wesenheit,  ein  Selbst,  weil  die  ideellen 
Kräfte  in  ihnen  ihren  Wohnsitz  genommen,  Form  in  ihnen  ge- 
wonnen haben.  Sie  sind  Modifikationen  der  Nationalität  und  Ab- 
wandlungen des  allgemeinen  Lebens,  das  selbst  in  ihrem  Tod 
niemals  ganz  mit  ihnen  untergeht,  sowie  es  nicht  erst  mit  ihnen 
entstanden,  sondern  aus  andern  Welt-  und  Kulturepochen  in 
sie  übertragen  worden  ist.  So  meint  es  recht  eigentlich  das 
Rankesche  Wort,  daß  vorzüglich  in  den  Staaten  die  Kontinuität 
des  Lebens  erscheine,  die  wir  dem  menschlichen  Geschlecht  zu- 
schreiben. 

Und  wie  könnten  wir  sagen,  daß  Bismarck  mit  seiner  eigenen 
Staatsidee  in  jenen  grob-materialistischen  Vorstellungen  gewurzelt 
habe,  zu  denen  ihn  die  Bitterkeit  des  Alters  und  die  Enttäuschungen 
eines  kampferfüllten  Lebens  zuweilen  bringen  mochten!  Es  ist 
wahr,  der  harte  Realist  rechnete  kaum  mit  der  IMacht  der  Mei- 
nungen und  der  Worte:  mit  Phrasen  mache  man  keine  Politik, 
man  schieße  nicht  mit  der  öffentlichen  Meinung,  sondern  mit 
Pulver  und  Blei.  Er  durfte  wohl  die  Worthelden  verachten,  denn 
seit  der  Revolution  hatte  er  es  erfahren,  wie  wenig  schließlich  der 
Donner  ihrer  Beredsamkeit  gegen  die  festen  Bollwerke  der  preu- 
ßischen Krone  vermochte,  sobald  diese  sich  erst  ihrer  Kraft  bewußt 
wurde  und  den  Glauben  an  sich  selbst  zurückgewann;  sein  ganzes 
Leben  war  ein  Kampf  gegen  die  Theoretiker,  die  Doktrinäre  ge- 
wesen, die  das  historisch  gewordene  Gefüge  des  preußischen  Staates 
angegriffen  hatten.  Und  doch  hat  er  die  Macht  der  Ideen  auch  an 
sich  erfahren;  im  Siege  selbst  mußte  er  sie  anerkennen,  und  seine 
eigene  Bahn  erreichte  ihren  Gipfel  erst  im  Bund  mit  ihnen  und 
führte  auch  zu  ihrem  Triumphe.  Und  mehr  noch:  wenn  Bismarck 
den  eigenwillig  andrängenden  neuen  Ideen  Widerstand  entgegen- 
gesetzt hatte,  so  war  es  wahrlich  nicht  aus  ödem  Strebertum  und 
brutaler  Selbstsucht  geschehen:  der  Glaube  an  die  innere  Kraft, 
an  die  historische  Mission  der  preußischen  Krone,  an  ihre  Fun- 
damentierung  in  den  altpreußischen  Tugenden,  der  Ehre  und 
Treue,  dem  freien  Gehorsam  und  der  Hingebung  an  das  Vaterland 


4Qg  Kleine   historische  Schriften. 

bis  in  den  Tod  hatte  ihn  auf  die  Schanze  gerufen,  zum  Führer 
seiner  Partei  gemacht  und  bheb  auch  dann  noch  in  ihm  lebendig, 
als  er  längst  allen  Parteischranken  entwachsen  war.  So  stand  er 
selbst  im  Dienste  der  Ideen,  die  er  zu  verachten  schien:  nur  auf 
ihren  Schwingen  hat  sich  seine  Herrschernatur  voll  entfalten 
können,  denn  sie  waren  im  Innersten  verwachsen  mit  den  Reali- 
täten, auf  die  er  sich  verließ  und  für  die  er  eintrat;  sie  waren  in 
ihm  selbst  verkörpert.  Und  so  bestätigt  auch  sein  Leben  und 
sein  Kämpfen  nur  wieder  die  Wahrheit  Rankescher  Geschichts- 
auffassung. 


egt^^^5" 


Otto  von  Bismarck 
und  Freiherr  Karl  vom  Stein. 

Eine  Parallele. 
(1908.) 

Man  kann  fragen,  ob  es  richtig  ist,  den  Versuch,  den  ich  hier 
wage,  die  beiden  größten  Minister,  die  Preußens  Könige  gehabt 
haben,  einander  gegenüberzustellen,  gerade  als  eine  Parallele  zu 
bezeichnen.  Mit  besserem  Recht  und  schärferer  Distinktion  könnte 
man  wohl  von  einem  Kontraste  sprechen.  Denn  in  der  Tat,  selten 
sind  zwei  Lebensläufe  reicher  an  Kontrasten  gewesen,  als  die  der 
beiden  Staatsmänner,  die  wie  zwei  schildtragende  Recken  am 
Eingang  und  Ausgang  ihres  Jahrhunderts  stehen.  Eine  Gegen- 
sätzlichkeit, die  weit  über  ihre  Lebensbahnen  hinwegreicht  und 
die  in  ihrer  Wirkung  auf  die  Nachwelt,  auf  das  Leben  der  Nation 
ebensosehr  wie  in  ihren  Ursprüngen,  ihrem  Herkommen,  ja  in 
ihren  Vorfahren  selbst  sichtbar  wird:  dem  tiefsten  Kern  ihres 
Wesens  entspricht  sie,  und  sie  durchdringt  ihre  ganze  PersönHch- 
keit,  ihr  Empfinden,  Wollen  und  Vollbringen,  die  Welt  ihrer  Ideen 
und  ihrer  Ideale. 

In  diesem  Sinn  wollen  wir  den  Vergleich  ziehen  zwischen 
dem  Reformator  Preußens,  der  sich  immer  nur  als  Deutscher 
gefühlt  hat  und  niemals  ein  rechter  Preuße  wurde,  und  dem  Schöp- 
fer des  neuen  Deutschlands,  der  niemals  aufgehört  hat,  ein  Preuße 
zu  sein,  und  sich  noch  den  Mann  seines  Königs  nannte  lange 
Jahre,  nachdem  er  ihm  die  Kaiserkrone  auf  das  greise  Haupt 
gedrückt  hatte. 


^IQ  Kleine  historische  Schriften. 

Wollen  wir  aber  historische  Persönlichkeiten  in  ihrem  Zu- 
sammenhang mit  der  Umwelt  und  in  ihrem  Unterschied  von 
anderen  recht  begreifen,  so  müssen  wir  vor  allem  den  Boden  kennen, 
dem  sie  entstammen,  in  dem  die  Wurzeln  liegen,  welche  Stamm 
und  Krone  tragen.  Nirgends  trifft  dieses  historische  Gesetz  mehr 
zu  als  bei  Stein  und  Bismarck.  Bei  diesem  ist  es  der  Osten,  bei 
jenem  der  Westen  des  Reiches:  hier  der  Boden  der  deutschen 
Kolonisation,  dort  die  Gaue  des  ältesten  Germaniens.  Auch  Bis- 
marcks  Stamm  wurzelte  in  altdeutscher  Erde,  echtes  Sachsenblut 
floß  in  seinen  Adern:  aber  es  war  unseres  ältesten  Reiches  Ost- 
mark, hart  an  dem  Grenzstrom,  der  jahrhundertelang  deutsche 
und  slawische  Gaue  voneinander  schied.  Den  Blick  gen  Osten 
gewandt,  im  langen  Kampf  mit  Liutizen  und  Hevellern  war  hier 
unser  Volk  erstarkt:  in  den  Zeiten,  da  der  deutsche  Norden  zum 
ersten  Male  leitend  und  entscheidend  in  die  Weltgeschichte  ein- 
griff, als  Sachsen  und  Franken,  Alemannen  und  Bayern  zu  einem 
Reiche  zusammenwuchsen  und  sich  ihrer  nationalen  Zusammen- 
gehörigkeit bewußt  wurden.  Wohl  möglich,  daß  auch  Bismarcks 
Vorfahren,  ungenannte  Generationen,  einst  an  jenen  Kriegsfahrten 
gegen  die  slawischen  Dörfer  und  Ringwälle  teilgenommen  haben, 
von  denen  der  Geschichtsschreiber  der  sächsischen  Könige,  Widu- 
kind,  der  Mönch  von  Corve}',  so  manchen  wilden  Zug  berichtet; 
und  daß  sie  mit  unter  den  Kolonisten  gewesen  sind,  die  mit  Schwert 
und  Pflug  das  Dunkel  der  märkischen  Wälder  gelichtet  und  das 
Kreuz  in  ihnen  aufgerichtet  haben.  Dahingegen  der  Freiherr 
vom  Stein  fränkischen  Geblüts,  aus  dem  Stamme,  der  sich  immer 
nach  Westen  hin  ausgedehnt,  ganz  Gallien  seinen  Namen  aufge- 
drückt hatte:  in  des  Rheins  »gesegneten  Gebreiten«  wuchsen  ihm 
seine  Saaten,  seine  Reben;  an  dem  Strom,  der  längst  von  den 
neuen  Franken  bedroht  gewesen,  in  den  Westmarken  des  Reiches, 
die  von  ihrem  Stoß  eben  jetzt  getroffen  und  schwer  erschüttert 
waren,  war  seine  Heimat;  dort  lagen  wie  seine  Güter  so  die  Gräber 
seiner  Ahnen,  seine  Erinnerungen  und  Traditionen,  was  er  besaß 
und  was  er  hebte. 

Als  Vasallen  eines  der  rheinischen  Grafengeschlechter  waren 
die  Herren  vom  Stein  emporgekommen;  dienend,  so  wie  es  noch 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein.  411 

heute  die  Trümmer  der  Burgen  beider  Geschlechter  bezeugen:  zu 
Füßen  der  alten  Nassau,  am  Abhang  des  Berges,  dessen  waldigen 
Gipfel  die  Grafenburg  krönt,  liegt  der  Stammsitz  ihrer  Mannen. 
Aber  auch  den  benachbarten  Erzbischöfen  von  Trier  und  Mainz, 
den  Fürsten  von  Hessen  und  der  Pfalz,  wie  den  Grafen  von  Wied 
waren  die  Herren  vom  Stein  verpflichtet  gewesen,  und  niemals 
hatten  sie  gleich  den  märkischen  Edelleuten  ihren  Nacken  ganz 
unter  die  Landesfürsten  gebeugt.  Diese  Überlieferungen  waren 
in  Karl  vom  Stein  noch  ganz  lebendig:  sie  gehörten  zu  den 
Wurzeln  seiner  herben  und  stolzen  Kraft ,  des  Selbstgefühls, 
mit  dem  er  dem  preußischen  Adel  wie  seinem  königlichen 
Herrn  selbst  gegenübertrat;  in  seine  politischen  Grundsätze  und 
seine  nationalen  Ideale  selbst  ist  etwas  von  ihrem  Geiste  über- 
geströmt. 

Auch  in  Otto  von  Bismarck  steckte  noch  ein  Stück  des  alten 
Quitzowtrotzes.  Nicht  ungern  erinnerte  er  daran,  daß  die  Bis- 
marcks  schon  vor  den  Hohenzollern  in  den  Marken  gesessen  hätten, 
und  er  hat  es  diesen  niemals  ganz  vergeben  können,  daß  sie  der- 
einst den  Forst  von  Letzlingen  seinen  Vorfahren  abgepreßt  hatten. 
Auch  das  war  Tradition  des  Hauses.  Man  weiß,  wie  schlecht  noch 
Friedrich  Wilhelm  I.  auf  die  »renitenten  Junkers«  der  Altmark, 
die  Bismarcks,  die  Knesebecks  und  die  Alvenslebens  zu  sprechen 
war,  denen  man  den  Kitzel  der  Opposition  austreiben  müsse. 
Aber  wenn  auch  die  Bismarcks  bereits  vor  den  Hohenzollern  im 
Lande  saßen,  so  doch  nicht  vor  den  Askaniern.  Die  Herren  vom 
Stein  waren  längst  unter  dem  Adel  des  Reichs,  als  Bismarcks 
Vorfahren  noch  Mitglieder  der  ehrsamen  Gewandschneidergilde 
zu  Stendal  waren.  Im  Fürstendienst  erwarben  sie  Adel  und  Güter, 
um  dann  auf  ihrer  Scholle  zu  bleiben;  erst  seit  Friedrich  dem 
Großen  wird  ihr  Interesse  am  Staatsdienst  stärker  und  finden 
wir  mehr  Mitglieder  des  Geschlechtes  als  früher  in  den  höheren 
Rängen  der  Armee  und  Verwaltung. 

Die  Besitzungen  Steins  waren  kaum  größer  als  diejenigen 
Bismarcks.  Was  davon  auf  dem  rechten  Rheinufer  lag,  und  das 
war  der  weitaus  größte  Teil,  umfaßte  an  2400  nassauische  Morgen. 
Aber  sie  setzten  sich  zusammen  aus  zwei  Dutzend  Gütern.    Das 


^12  Kleine  historische  Schriften. 

größte  darunter  hatte  nahe  an  looo,  das  nächste  wenig  über  200 
Älorgen ;  dann  folgten  ein  paar  Stücke  von  200  bis  herab  zu  50  Mor- 
gen, während  der  Rest  noch  darunter  bheb.  Alles  aber  mit  fremden 
Besitzungen  im  Gemenge  und  mit  dem  weiteren  Besitz  an  Rechten 
und  Renten  über  18  Quadratmeilen  verstreut,  in  mehr  als  50  Ort- 
schaften, von  dem  wohlgepflegten  \^^einberge  bei  Lorch  bis  herab 
zum  Westerwald  und  von  Engers  bis  an  die  Limburg-Frankfurter 
Straße.  Ein  kleines  Reich  für  sich,  das  sich  auch  links  des  Rheins 
erstreckte,  von  Steeg  abwärts  bis  Osterspay  und  westlich  bis 
Hatzenport  an  der  Mosel.  Sein  Mittelpunkt  war  das  »Freiherr- 
lich Steinsche  Amt«  im  Städtchen  Nassau  an  der  Lahn,  unweit 
von  ihrem  Einfluß  in  den  Rhein,  unterhalb  jener  Burgen,  in  dem 
Haus  und  Garten,  die  seitdem  das  Wallfahrtsziel  für  viele  Tausende 
und  eine  der  heiligen  Stätten  für  die  Erinnerungen  der  Nation 
geworden  sind.  Unmöglich,  solchen  Streubesitz  wirtschaftlich 
direkt  auszunutzen.  Er  mußte  in  den  Händen  der  Pächter,  Bauern 
und  Hörigen  bleiben,  die  von  jeher  auf  diesen  Äckern  saßen.  Nur 
die  Rechte  und  Renten,  in  Geldabgaben,  Naturahen  und  Fronden, 
galt  es  festzuhalten  und  zu  verwerten:  verwaltend  und  richtend, 
schützend  und  schaltend,  in  steter  Berührung,  oft  auch  im  Streit 
mit  den  Untertanen  und  mehr  noch  mit  den  Nachbarn,  vorzüg- 
lich den  Lehnsherren  selbst,  mit  denen  die  Reibungen  und  Pro- 
zesse nicht  abbrechen  wollten.  Genaueste  Kenntnis  des  Her- 
kommens und  der  eigenen  Ansprüche,  des  Reichs-  und  Fürsten- 
rechts, der  Weistümer  und  Urbare  der  Landschaft,  der  öffent- 
lichen und  privaten,  der  weltlichen  und  kirchlichen  Gerichtsbar- 
keit, an  der  man  noch  selbst  Anteil  hatte,  war  erstes  Erfordernis : 
nicht  Landwirtschaft,  sondern  Regierung  war  die  Kunst,  die 
der  Besitzer  verstehen  und  üben  mußte.  Er  konnte  sein  Eigentum 
auch  aus  der  Feme  administrieren,  wenn  er  in  der  Stadt  und  im 
Staatsdienste  lebte  und  tätig  war. 

Dagegen  der  Bismarcksche  Besitz:  zwei  oder  drei  Ritter- 
güter, längst  arrondiert  und  in  straffe  Eigenwirtschaft  genommen, 
unter  Ablösung  der  meisten  öffentlichen  Rechte  durch  den  Staat, 
aber  mit  strikter  Unterordnung  der  Bauern  und  Instleute  unter 
den  Herrn,  der  persönhch  auf  Pflug  und  Acker  sehen,  Landmann 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein.  413 

sein  mußte,  wenn  er  Genuß  und  Gedeihen  von  seinem  Eigentum 
haben  wollte. 

Nicht  ganz  Laune  des  Zufalls  war  es,  daß  Stein  und  Bismarck 
dieselbe  Universität  bezogen  haben.  Denn  auch  die  Schönhausener 
folgten  der  Standessitte,  als  sie  ihren  Sohn  nach  dem  nahen  Göt- 
tingen sandten,  wo  der  norddeutsche  Adel  seit  Jahrzehnten  zu 
studieren  pflegte.  Im  übrigen  aber  war  die  Art,  wie  der  eine  und 
der  andere  die  akademische  Freiheit  ausnutzten,  so  verschieden 
wie  nur  möglich.  In  den  drei  kurzen  Semestern,  die  Bismarck 
der  Georgia  Augusta  widmete,  ist  er,  wie  bekannt,  im  Kolleg 
kaum  gesehen  worden.  Höchstens  der  politische  Weitblick  des 
Historikers  der  Universität,  des  feinsinnigen  alten  Heeren,  regte 
ihn  an;  seine  Fachprofessoren  machten  auf  ihn  keinerlei  Eindruck. 
Seine  eigenen  Erinnerungen  an  diesen  Zwischenakt  seiner  Lauf- 
bahn ranken  sich  im  wesentlichen  um  Fechtboden  und  Kneipe. 
Seine  Freunde  ein  paar  Ausländer:  Amerikaner,  Engländer,  ein 
baltischer  Graf;  dazu,  jedoch  zurücktretend,  ein  paar  norddeutsche 
Edelleute  und  die  Korpsbrüder,  diese  fast  ausschließlich  aus  bür- 
gerhchen  Häusern.  In  Berlin  auf  der  Universität  und  bei  der  Re- 
gierung in  Aachen  ward  es  kaum  anders :  weder  zu  den  Professoren 
der  Hauptstadt,  noch  zu  dem  Präsidenten  in  dem  rheinischen 
Bezirk,  obschon  es  ein  Arnim-Boitzenburg  war,  gewann  er  ein 
rechtes  Verhältnis;  nicht  einmal  der  große  Savigny  tat  es  ihm  an, 
obschon  er  doch  in  seinem  Hause  verkehrte  und  den  Sohn  zu 
seinen  Freunden  zählte.  Nichts  wurde  ihm  leichter,  als  den  Bücher- 
und  Aktenstaub  abzuschütteln,  sobald  sich  ihm  die  Gelegenheit 
bot,  auf  dem  Lande  als  Herr  und  in  der  Freiheit  zu  leben. 

Als  der  junge  Stein  mit  seinem  Hofmeister  Dr.  Salzmann 
nach  Göttingen  kam,  standen  noch  das  alte  Reich  und  sein  Recht ; 
nirgends  wurden  Begriff  und  Theorie  derselben  besser  begründet, 
historisch  und  juristisch  gelehrter  entwickelt  als  an  der  Universi- 
tät der  Gatterer  und  Meiners,  der  Pütter  und  Schlözer.  Und 
wohl  selten  hatten  sie  auf  ihren  Bänken  einen  eifrigeren  Studenten 
vor  sich  als  den  jungen  Franken,  der  von  ihnen  das  deutsche 
Staatsrecht  kennen  lernen  wollte,  auf  dem  die  Existenz  auch 
seines  Hauses  ruhte.    Sieben  volle  Semester,  seine  ganze  Studien- 


414  Kleine   historische  Sclirifteii. 

zeit,  hat  Stein  an  der  Georgia  Augusta  verbracht.  Dort  fand  er 
die  Freunde  langer  Jahre,  vornehme,  junge  Herren  vom  Adel 
oder  Sühne  gutbürgerlicher  Beamten,  meist  Hannoveraner,  West- 
falen oder  Rheinländer,  die  alle  gleich  ihm  staatsrechtliche  und 
historische  Studien  trieben,  um  sie  im  Dienste  des  Reiches  oder 
ihrer  engeren  Heimat  zu  verwenden.  Mit  keinem  Auge  blickte 
Stein  nach  Preußen  hinüber;  wie  denn  kaum  ein  Preuße  damals 
in  Göttingen  studierte,  denn  für  die  Untertanen  Friedrichs  galt 
noch  der  gegen  die  anderen  deutschen  Hochschulen  streng  abschlie- 
ßende üniversitätszwang.  Seine  Gedanken  richteten  sich  nach  wie 
vor  auf  den  Westen  und  Süden  Deutschlands.  Dort,  im  Reich, 
vielleicht  auch  in  Österreich  wollte  er  Dienste  suchen.  So  kam 
er  nach  Beendigung  seiner  Studien,  ohne  einen  akademischen 
Grad  erworben  zu  haben  (denn  als  Herr  vom  Adel  hatte  er  den 
Doktortitel  nicht  nötig,  er  hat  nie  ein  Examen  gemacht),  als  Prak- 
tikant an  das  Kammergericht  von  Wetzlar,  wo  wenige  Jahre  vor 
ihm  der  junge  Doktor  Goethe  gearbeitet  und  seinen  Roman  mit 
der  schönen  Tochter  des  Amtmanns  Buff  erlebt  hatte.  In  den 
deutschen  Süden  führte  ihn  dann  die  Reise,  die  ihm  Vertiefung 
seiner  Anschauungen  und  Anknüpfung  neuer  Verbindungen  ver- 
schaffen sollte;  auch  in  das  Elsaß  und  donauabwärts  nach  Öster- 
reich und  Ungarn.  Vor  allem  aber  war  Regensburg  sein  Ziel, 
als  Sitz  des  Reichstags  noch  immer  für  den  Sohn  eines  reichs- 
ritterUchen  Geschlechtes  das  Zentrum  der  Interessen. 

Es  waren  Wege,  die  ihn,  sei  es  unter  die  Regensburger  Pe- 
rücken, als  Rat  eines  der  deutschen  Kleinfürsten,  oder  an  den 
Reichshofrat  nach  \Men  hätten  bringen  müssen.  Mehr  ein  Zufall 
war  es  darum,  wenn  er  1780  doch  den  Weg  nach  Preußen  fand. 
Verbindungen  der  Familie  mit  dem  klugen  und  ideenreichen 
Minister  Friedrichs  des  Großen  von  Heinitz  gaben  den  Ausschlag; 
mitwirkend  aber  waren,  nach  Steins  eigenem  Zeugnis,  die  Sym- 
pathien, welche  sich  in  eben  diesen  Jahren  der  alternde  König 
Friedrich  im  Reich  durch  die  PoUtik  des  Fürstenbundes  gewann, 
die  auf  die  Konservierung  der  von  Kaiser  Josephs  Machtstreben 
bedrohten  Reichsstände  gerichtet  war.  Zum  preußischen  Kammer- 
herrn ernannt,   ward   der   Dreiundzwanzigj ährige  im  Bergwerks- 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein.  415 

departement,  dem  Minister  selbst  zur  Seite,  angestellt.  Und  nun 
hoben  ihn  Verdienst  und  Gunst  rasch  in  die  Höhe.  Weite  Reisen, 
meist  mit  dem  Minister  selbst,  machten  ihn  mit  dem  Osten,  dann 
auch  dem  Westen  des  Staates  bekannt ;  sie  führten  ihn  nach  Königs- 
berg und  Warschau  und  bis  zu  den  Salzwerken  Galiziens  und 
später  über  die  westliche  Grenze  hinaus  nach  Holland.  Noch 
immer  nicht  hatte  er  seine  Stellung  fest  genommen;  noch  im  Jahre 
17S2  dachte  er  daran,  den  preußischen  Dienst  mit  dem  österreichi- 
schen zu  vertauschen,  oder  es  reizte  ihn  wohl  der  Gedanke,  auf 
weiten  Reisen  (er  dachte  besonders  an  England)  Blick  und  Kennt- 
nisse zu  erweitern.  Erst  die  Anstellung  beim  Bergbau  in  West- 
falen, der  schon  1784  seiner  Direktion  unterstellt  ward,  zu  Wetter 
an  der  Ruhr,  wo  ihm  die  Heimat  nahe  und  die  sozialen  Verhält- 
nisse vertraut  waren,  hat  ihn  an  Preußen  ganz  gefesselt. 

Hier  im  Westen,  von  Anfang  an  in  leitenden  Stellungen, 
bald  Präsident,  erst  der  märkischen,  dann  auch  der  klevischen 
Kammer,  als  Oberpräsident  seit  1796  in  Minden  und  seit  1802 
in  Münster,  hat  Stein  die  Grundsätze  gewonnen  und  zuerst  ange- 
wandt, die  er  in  den  Jahren  der  Krisis  und  der  Katastrophe 
auf  das  Ganze  des  Staates  übertrug  und  die  ihn  zu  dem  Neu- 
schöpfer seiner  Verwaltung  gemacht  haben.  Er  entwickelte  sie 
sich  aus  der  sozialen  Struktur  jener  Provinzen,  in  der  er  selbst 
wurzelte  und  die,  im  Gegensatz  zu  den  im  Osten  erstarrten,  durch 
den  Willen  der  Krone  selbst  festgehaltenen,  ihr  unterworfenen 
Formen  der  Feudalität,  bereits  gelockert  oder  zerbrochen  war, 
zum  Teil  auch  wohl  in  den  Resten  ihrer  ständischen  Organisation 
ältere,  freiere  oder  selbständigere  Formen  besser  bewahrt  hatte. 

Im  Osten  waren  Stadt  und  Land  getrennt  und  das  Land, 
im  Besitz  des  Adels  oder  der  Krone,  in  große  Eigenwirtschaften 
zusammengefaßt;  Latifundien,  die,  je  weiter  man  kam,  um  so 
mehr  intensiver  Kultur  entbehrten;  die  Bauern  noch  in  strenger 
Hörigkeit  gehalten  oder  (wie  es  gerade  jetzt  mehr  als  je  geschah) 
»gelegt«,  d. .h.  ihrer  Eigenwirtschaft  beraubt  und  in  völlige  Ab- 
hängigkeit gebracht  —  und  auf  dieser  sozialen  Schichtung  nun 
aufgebaut  wie  die  Wirtschaft  so  der  Staat  selbst,  Armee  und  Bureau- 
kratie,  Organisation  und  Verwaltung.   Auch  im  Westen  (wir  sahen 


41  ß  Kleine   historische  Schriften. 

es  an  Steins  eigenen  Besitzungen)  war  noch  die  Hörigkeit  weit 
genug  verbreitet;  aber  sie  war  doch  schon  provinzenweise  auf- 
gehoben, und  vielfach  waren  die  sozialen  Schichten  ineinander 
geschoben  oder  genähert.  Es  gab  wohl  Rittersitze,  aber  kaum 
Rittergüter,  und  die  wenigen  erst  durch  die  Willkür  der  Regierung 
selbst  geschaffen.  Es  war  ein  Land  der  Bürger  und  der  Bauern, 
und  die  Edelleute  selbst  mit  ihrem  Streubesitz  waren  in  diese 
Wirtschaftsformen  verflochten.  Statt  der  Domänen  Renteien; 
Amtleute  statt  der  Landräte,  und  Stadt  und  Dorf  ineinander 
verwachsen;  die  Gewerbe  selbst  auf  das  Land  gewandert;  und 
alles,  Ackerbau,  Viehzucht,  Gewerbe,  Handel  und  Fabriken,  voll 
tüchtigen  Lebens,  kräftig  erstarkend  und  durch  den  großen  Strom 
den  Straßen  des  Welthandels  und  den  Industriestaaten  des  euro- 
päischen Westens  zugewandt. 

So  die  W^elt,  in  der  Stein  von  Jugend  auf  gelebt,  die  ihm  ver- 
traut war  und  die  nun  seinem  rastlos  strebenden  Eifer,  seinem 
Verwaltungsgenie,  dem  das  Kleine  so  heb  war  wie  das  Große, 
immer  neue  und  mannigfachere  Aufgaben  stellte.  Auf  diesen  Wegen 
drang  er  vor:  kein  Revolutionär,  aber  ein  Befreier,  niemals  den 
Edelmann  verleugnend  (denn  nichts  lag  diesem  Aristokraten  ferner 
als  Radikalismus)  und  stets  im  Bewußtsein,  der  Herr  zu  sein 
und  der  Regierer,  aber  dennoch  bemüht,  das  Alternde  neu  zu 
beleben  und  nur  das  Abgestorbene  hinwegzutun,  die  Gegensätze 
zu  mildem,  den  hohen  Sinr^  für  Selbständigkeit  und  Selbstver- 
antwortung, der  in  ihm  lebte,  auf  die  ihm  Befohlenen,  gerade 
auch  auf  die  Bauern  und  die  Bürger  zu  übertragen,  Offenheit, 
Liebe  und  Vertrauen  zu  beweisen  und  zu  nähren:  Anschauungen, 
die  in  der  Organisierung  der  Selbstverwaltung  für  Stadt  und  Land, 
vom  Kreis  zur  Provinz  und  von  der  Provinz  zum  Ganzen  des 
Staates  ihre  natürliche  Ausmündung  und  Gipfelung  fanden. 


Wenden  wir  von  hier  aus  den  Blick  auf  Bismarck,  so  finden 
wir  ihn  in  den  gleichen  Lebensjahren  auf  seinem  hinterpommer- 
schen  Gut,  als  den  Junker  von  Kniephof.   Er  hatte  gerade  das 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein.  417 

Lebensalter  erreicht,  in  dem  Stein  in  den  preußischen  Staats- 
dienst eintrat,  als  er  diesen  quittierte  und  die  Laufbahn,  für  die 
er  bestimmt  war  und  zu  der  die  für  ihn  ehrgeizigen  Verwandten 
ihn  zu  überreden  suchten,  an  deren  Ende  er  mit  Sicherheit  die 
Excellenz  erglänzen  sah,  wie  ein  lästiges  Kleid  von  sich  warf, 
um  ganz  als  freier  Mann,  fern  von  der  Schreibstube  und  jedem 
Vorgesetzten,  nur  Gott  und  seinem  König  Untertan,  dazustehen: 
auf  dem  Lande  zu  leben  und  zu  sterben  ward  nun  sein  Ehrgeiz. 
Denn  dort  allein  konnte  er  das  ausüben,  was  er  wollte,  wohin  seine 
innerste  Natur  ihn  trieb,  H  e  r  r  s  e  i  n :  Freiheitsgefühl  und  Herrscher- 
sinn decken  sich  bei  Bismarck,  sind  bei  ihm  ganz  ineinander  ver- 
schmolzen. Während  also  Stein  die  steile  Staffel  der  staatlichen 
Hierarchie  rasch  erstieg,  versenkte  sich  sein  Antipode  in  die  Mühsal 
philosophischer  und  religiöser  Skinipel  und  Zweifel,  dachte  er  den 
Grundproblemen  des  Staates,  der  Gesellschaft,  der  Religion,  kühn 
bis  an  die  äußersten  Grenzen  des  Rechtsbewußtseins  und  Gott- 
empfindens vordringend,  nach,  einsam  und  oft  wie  verloren  sich 
fühlend  inmitten  rauschender  Feste  und  des  gedankenleeren  Froh- 
sinns adliger  Genossen,  bis  er  in  der  Engigkeit  reaktionärer  und 
konfessioneller  Parteianschauungen,  jedoch  auch  zugleich  in  dem 
Kreise  treu  teilnehmender  Freunde  und  in  der  Liebe  einer  gleich- 
gestimmten Mädchenseele  einen  Halte-  und  Ruhepunkt  und  nach 
allen  Stürmen,  die  ihn  umhergeworfen,  endlich  den  Hafen  gefunden 
zu  haben  wähnte.  Aus  diesem  Frieden  heraus  riß  ihn  die  deutsche 
Revolution.  Halb  nur  freiwillig,  mehr  dem  Zufall  folgend  als 
eigenem  Ehrgeiz  und  Entschluß,  nahm  er  Platz  unter  den  Reprä- 
sentanten des  Staates,  die  sein  König  selbst  berufen  hatte.  Nicht 
als  Beamter,  sondern  als  Vertreter  seines  Standes,  seiner  Kaste 
und  ihrer  Interessen,  als  freier  Mann  und  Herrscher  auch  jetzt, 
als  Führer  der  Partei,  welche  die  Krone,  auch  wohl  gegen  den 
Willen  ihres  Trägers  selbst,  verteidigen  wollte:  der  nationalen 
Woge,  den  liberalen  Strömungen,  die  in  der  Epoche,  ja  in  dem 
Wirken  Steins  ihren  Ursprung  hatten,  warf  sich  der  Jugendstarke 
mit  breiter  Brust  und  mächtigen  Armen  entgegen. 

Auch  in  Steins  Leben  hat  eine  Revolution  entscheidend  ein- 
gegriffen: es  war  dieselbe,  die  das  alte  Frankreich  umwarf,  die 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  27 


^|g  Kleine  historische  Schriften. 

bourbonische  Monarchie  vernichtete.  Als  Deutschland,  das  Reich, 
der  heimatliche  Strom  von  ihrem  Stoß  getroffen  wurden,  warf 
er  sich  ihr  in  den  Weg:  im  Herbst  des  Jahres  1792,  als  Custines 
zuchtlose  Regimenter  über  die  Pfalz  herfielen,  Mainz  eroberten 
und  auf  und  ab  am  Rhein  und  Main  Schrecken  und  Zerstörung 
verbreiteten.  Niemand  war  damals  eifriger,  ihnen  zu  wehren,  als 
der  kleve-märkische  Kammerdirektor:  von  Wesel  schaffte  er  Vor- 
räte und  Ausrüstung  herbei,  mit  Hannover,  Hessen,  selbst  mit 
England  setzte  er  sich  in  Verbindung;  er  eilte  ins  Hauptquartier, 
und  seiner  Energie  nicht  zum  geringsten  verdankten  die  Deutschen 
die  Wiederge\vinnung  Frankfurts.  Er  kämpfte  für  Deutschland, 
für  das  alte  Reich  und  für  die  eigenen  Penaten.  Auch  für  Preußen, 
denn  noch  standen  des  Königs  Regimenter  im  Felde.  Jedoch  war 
schon  der  erste  Riß  in  die  Koalition  gekommen;  und  dem  Rück- 
zuge, den  sich  häufenden  Niederlagen  folgte  Preußens  Abschwenken 
von  dem  Bündnis  gegen  die  Revolution,  der  Friede  von  Basel. 

Eine  Pohtik,  über  die  das  Urteil  der  Nachwelt  nahezu  ein- 
mütig lautet,  mag  sie  nun  darin  den  Verrat  am  deutschen  Vater- 
lande oder  den  Zwang  unüberwindlicher  Verhältnisse  erblicken: 
als  die  kläglichste  und  schlaffste  Periode  der  preußischen  Pohtik 
haben  von  jeher  die  Jahre  zwischen  Basel  und  Jena  gegolten. 
Wie  Stein  darüber  urteilte,  brauchen  wir  danach  nicht  mehr  zu 
sagen.  Aber  bemerkenswert  ist  es,  daß  Bismarck  (er  vielleicht 
allein  in  seinem  Jahrhundert)  den  Mut  —  so  nennt  er  es  selbst  — 
gehabt  hat,  den  Baseler  Frieden  an  sich  nicht  zu  tadeln  und  nur 
der  Schwäche  zu  zürnen,  die  in  dem  gegebenen  Moment,  ein  Jahr 
vor  Jena,  in  den  Wochen  vor  Austerütz  das  schon  gezückte  Schwert 
wieder  sinken  heß. 

Immerhin,  es  waren  Jahre,  in  denen  gerade  Steins  Friedens- 
werke gedeihen  konnten:  in  ihnen  hat  er  seine  Präsidentschaften 
geführt,  an  ihrem  Schlüsse,  seit  1804,  schon  als  Minister,  im  Zen- 
trum der  Staatsverwaltung  gestanden :  gerade  ihn  berief  der  König 
in  den  Tagen,  als  die  Frage  um  Sein  und  Nichtsein  zum  ersten  Male 
an  Preußen  herantrat,  Ende  September  1805,  zur  Führung  der 
Geschäfte.  Er  sollte  das  Geld  schaffen,  ohne  das  die  Armee  des 
friderizianischen    Staates    ein    Körper   ohne   Muskeln   war.     Der 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein.  419 

Weg  aber,  um  die  Macht  zu  sammeln,  war  für  Stein  kein  anderer 
als  der  ihm  gewohnte:  jene  Reformen,  die  er  in  den  Westprovinzen 
eingeleitet  hatte.  Die  sich  überstürzenden  Ereignisse  der  großen 
Pohtik  und  des  Krieges,  Napoleons  dämonisches  Genie  und  Haug- 
witz'  und  des  Königs  eigener  Schwachmut  machten  alles  unnütz. 
Stein  aber,  abseits  von  dem  Kabinett  und  den  Geheimgängen 
der  Diplomatie,  mußte  in  zornbebender  Ohnmacht  geschehen 
lassen,  was  geschah.  »Hätte  eine  große  moralische  und  inteUek- 
tuelle  Kraft  unsern  Staat  geleitet,  so  würde  sie  die  Koahtion, 
ehe  sie  den  Stoß  bei  Austerlitz  erlitten,  zu  dem  großen  Zweck 
der  Befreiung  Europas  geleitet  und  dieses  wieder  aufgerichtet 
haben.  Diese  Kraft  fehlt.  Ich  kann  dem,  dem  sie  die  Natur  ver- 
sagte, so  wenig  Vorwürfe  machen,  als  Sie  mich  anklagen,  nicht 
Newton  zu  sein:  ich  erkenne  den  Willen  der  Vorsehung  und  es 
bleibt  nichts  übrig  als  Glaube  und  Ergebung«  —  in  diesem  Ge- 
ständnis ratloser  Resignation  faßt  er  einem  Freund  gegenüber 
sein  Urteil  über  die  versäumte  Gelegenheit  zusammen. 

Daß  nun  Preußen  so  nahe  vor  dem  gänzHchen  Versagen  aller 
seiner  Kräfte,  vor  dem  völligen  Zusammenbruch  stand,  hat  doch 
auch  Stein  so  wenig  geahnt  wie  irgendein  Diener  des  Monarchen. 
Erst  Jena  hat  auch  ihm  die  ganze  Schwäche  des  alten  Staates 
enthüllt.  Er  stand  nun  als  führender  Minister  dem  König  zur 
Seite;  ihm  folgte  er  auf  der  Flucht  nach  Ostpreußen;  auch  in 
dem  Rat  über  die  auswärtige  Politik  hatte  er  jetzt  Sitz  und  Stimme. 
Und  gerade  in  diesem  Augenblick,  in  den  Januartagen,  als  die 
Franzosen  Königsberg  bedrohten  und  die  schwerkranke  Königin 
über  die  Kurische  Nehrung  in  die  äußerste  Stadt  des  Reiches 
flüchten  mußte,  kam  der  unvermeidliche  Konfhkt  zwischen  dem 
Monarchen,  der  Herrscher  bleiben  wollte,  ohne  die  Kraft  des 
Herrschers  zu  besitzen,  und  dem  Minister,  der  herrschen  mußte, 
wenn  er  den  Staat  retten  sollte,  zum  Ausbruch:  mit  Schimpf 
und  Schande,  schlimmer  als  ob  er  ein  Bedienter  wäre,  jagte  ihn 
der  König  davon. 

Ein  halbes  Jahr  später  und  Preußens  Geschick  hatte  sich 
vollendet:  seiner  Festungen,  seiner  Heere,  der  Hälfte  der  Pro- 
vinzen beraubt,  an  allen  GUedern  gefesselt,  lag  der  verstümmelte 

27* 


AOQ  Kleine  historische  Schriften. 

Staat  zu  den  Füßen  des  Siegers,  der  keine  Gebote  anerkannte  als 
die  der  Macht,  des  Schwertes  und  der  Pohtik.  Schon  aber  handelte 
es  sich  für  Preußen  nicht  mehr  um  die  Künste  der  Diplomaten 
imd  die  Kraft  des  Schwertes,  sondern  nur  um  die  Wiederauf- 
richtung aller  Stützen,  die  wie  Rohrstäbe  zerknickt  waren,  um 
die  Erneuerung  des  Lebens,  die  Einflößung  eines  neuen  Geistes: 
um  die  Reformen,  die  man  zwar  allseitig  und  seit  Jahren  gewollt 
und  begonnen,  jedoch  niemals  durchgeführt  hatte.  Nur  eine 
Stimme  gab  es  noch  im  Rate  und  in  der  Umgebung  des  unglück- 
lichen Trägers  der  Krone:  Stein  allein  könne  retten.  So  forderte 
es  Hardenberg,  der  von  Napoleon  Verstoßene,  und  Königin  Luise, 
so  die  Radziwills  und  Prinz  Wilhelm  von  Preußen,  Staegemann, 
Niebuhr  und  selbst  Beyme,  der  Geheime  Kabinettsrat,  in  dem 
Stein  seinen  stärksten  Gegner  grimmig  haßte.  Wie  einen  Messias 
begrüßten  ihn  seine  Freunde.  Und  so  mußte  der  König  sich  zu 
diesem  Schritte  verstehen,  der  für  ihn  fast  demütigender  war  als 
alles,  was  er  seit  Jena  erfahren  hatte.  Und  noch  ein  Jahr  und 
abermals  mußte  Stein  von  dannen.  Wiederum  war  er  nur  An- 
fänger gewesen,  nicht  Vollender;  nur  die  Fundamente  hatte  er 
legen  können,  auf  denen  ein  glücklicherer  Nachfolger  weiterbauen 
sollte.  Gestürzt  ward  er  aber  diesmal  nicht  durch  seinen  König. 
Der  hielt  ihn  nur  nicht,  als  er  ins  Schwanken  kam.  Stein  selbst 
gab  den  Anstoß:  als  er  Napoleons  Zorn  durch  eine  unbegreifliche 
Unvorsichtigkeit  reizte.  Doch  hätte  ihm  auch  das  vielleicht  noch 
nicht  geschadet:  vom  Platze  stießen  ihn  erst  der  Haß  des  preußi- 
schen Adels  und  der  Neid  höfischer  Rivalen.  Er  war  schon  nicht 
mehr  Minister,  als  das  Achtdekret  des  Kaisers  nach  Berlin  kam, 
das  ihn  in  die  Verbannung  trieb,  an  die  er  bis  dahin  nicht  gedacht 
hatte.  Und  niemals  ist  er  w^ieder  preußischer  Minister  geworden. 
Seine  größte  Zeit,  in  der  er  das  meiste  für  Preußen  und  Deutsch- 
land getan  hat,  erlebte  er  als  Diener  Zar  Alexanders.  So  hat  er 
Ostpreußen  zur  Erhebung  gebracht,  so  den  Bund  Rußlands  und 
Preußens  vermittelt,  so  den  Zaren  durch  die  heiße  Glut  seiner 
Rede  und  seines  Wülens  aus  den  Grenzen  Rußlands  heraus  und 
bis  über  den  Rhein  gebracht,  so  als  der  Mandatar  sämtlicher 
Alliierten  im  Zentralausschusse  die  deutschen  Länder  regiert,  die 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein.  421 

den  Rheinbundfürsten  entrissen  wurden.  Erst  nach  dem  Abschluß 
des  Friedens  hat  er  von  seinem  König  den  Orden  erhalten,  der  ihm 
seine  Taten  lohnen  sollte. 


Wir  brauchen  nur  diese  paar  Daten  an  uns  vorübergleiten 
zu  lassen,  um  von  neuem  den  Unterschied  zu  Bismarcks  Lebens- 
weg und  Lebenswillen,  zu  seinen  Zielen  und  seinen  Taten  vor 
Augen  zu  haben.  Es  ist  wahr,  auch  der  Junker  von  Schönhausen 
hat  Jahre  gehabt,  wo  sein  junges  Herz  für  die  deutsche  Idee  glühte; 
burschenschaftliche  Ideale  erfüllten  ihn,  als  er  zur  Universität 
ging,  und  ständisch-liberalen  Formen  hing  er  noch  in  der  ersten 
Zeit  von  Kniephof  an.  Aber  solche  Gedanken  und  Stimmungen 
traten  zurück,  sobald  er  merkte,  daß  sie,  zum  Ferment  breiterer 
Schichten  geworden,  das  Wesen  des  Staates  tangierten,  mit  dem 
er  und  sein  Haus  seit  Jahrhunderten  verbunden  waren,  dessen 
Ehre  die  seine  und  dessen  Machtbewußtsein  in  ihm  verkörpert 
war.  Hier  haben  wir  den  Schlüssel  zum  Verständnis  seines  Tuns 
und  Lassens,  seiner  Gesinnungen  und  seiner  Taten,  jeder  Phase, 
jeder  Wendung  seiner  Politik.  Als  Preuße  stellte  er  sich  vor  den 
Thron  seines  Königs,  dem  die  Revolution  ihre  Krone  aufdrängen 
wollte,  um  in  sie  das  Gold  der  alten  Hohenzollemkrone  einzu- 
schmelzen. Alles  unterwirft  er  diesem  obersten  Interesse:  die 
innere  wie  die  auswärtige  Politik,  das  Verhältnis  zu  Österreich, 
zu  Rußland  und  zu  Frankreich,  zu  den  nationalen  Fragen,  zu  den 
Parteien  von  rechts  und  von  links,  die  idealen  Interessen  wie  die 
materiellen.  Er  kannte,  solange  es  nur  erst  ein  Preußen  gab  und 
noch  kein  einiges  Deutschland,  kein  anderes  Vaterland  als  das, 
für  das  seine  Väter  gestritten,  das  seine  Könige  gebaut  hatten, 
dessen  Fundamente  die  Königstreue,  die  Tapferkeit,  der  sich 
selbst  verleugnende  Gehorsam  und  alle  Ruhmestaten  der  Ver- 
gangenheit waren:  den  Embryo  der  Untreue,  des  Vaterlands- 
verrates entdeckte  er  in  all  den  Plänen  und  Tendenzen,  die  in  der 
deutschen  Idee  die  preußische  untergehen  lassen  wollten.  Aus- 
land ist  ihm  in  diesen  Jahren  alles,  was  jenseits  der  schwarzweißen 
Grenzpfähle  existiert,  und  er  würde  mit  derselben  Ruhe  auf  Bayern 


/^22  Kleine  historische  Schriften. 

und  Sachsen,  Hannoveraner  und  Hessen  schießen  lassen  wie  auf 
Russen  und  Franzosen.  Niemals  werden  wir  die  Politik  Bismarcks 
verstehen,  wenn  wir  diesen  Grundstein  nur  um  eine  Linie  ver- 
rücken. Er  machte  es  ihm  möglich,  mit  Österreich  und  der  ganzen 
Reaktion  die  Demokratie  zu  bekämpfen  und  gegen  Österreich 
den  Kampf  um  die  deutsche  Hegemonie  zu  wagen ;  e  r  band  ihn 
an  Rußland,  als  der  gesamte  deutsche  Liberalismus  in  Zar  Nikolaus 
den  Todfeind  der  Freiheit  haßte ;  auf  i  h  m  stand  er,  als  er  im 
italienischen  Freiheitskrieg  sich  von  Österreich  abkehrte,  als  er 
ihm  die  Versuche,  das  liberale  Deutschland  für  sich  anzuspannen, 
in  Gastein  verdarb :  als  er  im  Bunde  mit  dem  Kaiser,  aber  wiederum 
gegen  alle  liberalen  Parteien,  den  Krieg  um  Schleswig-Holstein 
durchführte  und  die  Herzogtümer  seinem  König  gewann;  mit 
i  h  m  behauptete  er  sich  im  Konfükt  mit  der  preußischen  Kammer 
und  noch  in  dem  Kriege,  der  Preußens  König  und  Heer  nach 
Königgrätz  und  Nikolsburg  brachte.  Ja,  das  neue  Reich  selbst 
ruht  auf  diesem  Fundamente:  in  jedem  Satze  seiner  Verfassung, 
in  der  Organisation  des  Bundestages,  der  Stellung  der  preußischen 
und  der  ihr  verbündeten  Kronen,  in  dem  Steuersystem  und  der 
gesamten  Gesetzgebung  des  Reiches  und  seiner  Staaten,  in  dem 
Charakter  der  kaiserlichen  Krone  selbst  und  dem  Maße  der  Macht, 
die  sie  ihrem  Träger  gegenüber  seinen  Mitständen  im  Reiche  ver- 
lieh, tritt  dieses  Prinzip  zutage.  Macht  und  abermals  Macht  ist  die 
Summe  Bismarckscher  Politik.  Der  Glaube  an  die  Macht,  an  die 
unzerstörbare  Realität  der  Hohenzollernkrone  gab  ihm  erst  den 
Mut,  die  Schwindelfreiheit,  die  dazu  gehörte,  um  hart  an  dem 
Abgrund  her  den  Pfad  zur  Höhe  zu  suchen,  umtost  von  dem  Hasse 
der  Demokratie,  umringt  von  der  Eifersucht  der  europäischen 
Mächte,  unverstanden  und  bea^g^vohnt  von  der  eigenen  Partei, 
von  den  alten  Freunden,  von  den  Kollegen  im  Ministerium,  von 
den  Nächsten  an  der  Krone,  ihrem  Erben,  der  Königin,  ja  zuweilen 
von  seinem  königlichen  Herrn  selbst. 

Einsam,  in  tiefer  Verborgenheit  schmiedete  er  seine  Pläne. 
Niemand  anders  übersah  alle  Maschen  der  Netze,  die  er  spann. 
Jedermann  ward  ihm  zum  Werkzeug  und  unaufhörlich  mischte 
er  Mittel  und  Zwecke  ineinander.    Der  König  selbst  folgte  nur 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein.  423 

zagend  und  oft  widerwillig  dem  kühnen  Jäger:  dreimal  wurde 
er  von  ihm  in  den  Krieg  gerissen,  ohne  daß  er  ihn  eigentlich  wollte. 
Ja,  bei  dem  Bau  des  Reiches,  bei  den  Friedensschlüssen,  die 
Preußens  Größe,  Deutschlands  Einigung  begründeten,  den  Bünd- 
nissen, welche  die  neue  Schöpfung  sicherstellten,  stieß  der  Ge- 
waltige auf  den  Widerstand  seines  Herrn:  die  kaiserhche  Krone 
selbst  nahm  \Mlhelm  nur  ungern  aus  seinen  Händen, 

An  Macht  des  Willens  läßt  Stein  sich  Bismarck  vollauf  ver- 
gleichen. Und  er  hat  in  dem  großen  Jahre  der  Befreiung  Mittel 
angewandt  und  Ziele  angestrebt,  die  an  revolutionärer  Kühnheit 
alles  hinter  sich  lassen,  was  Bismarck  je  versucht  hat.  Stein  wollte 
nichts  Geringeres,  als  den  Aufstand  in  Deutschland  gegen  seine 
Dynastien  selbst  entfesseln.  Die  Fürsten  des  Rheinbundes  waren 
ihm  Despoten;  er  wollte  sie  von  ihren  Stühlen  stoßen;  die  Rache 
des  gerechten  Gottes,  des  beleidigten  Gewissens  rief  er  auf  sie 
herab.  Lange  dachte  er  an  eine  Neugestaltung  Deutschlands  von 
Grund  aus,  an  eine  Teilung  zwischen  Österreich  und  Preußen, 
sei  es  in  der  Form  von  Annexion  oder  Protektorat ;  und  er  wünschte 
jenem  eher  die  deutsche  Krone  als  diesem.  Doch  galten  ihm  beide 
im  Grunde  kaum  als  deutsche  Mächte:  er  sprach  wohl  von  den 
15  Millionen  Deutschen,  die  zwischen  Rhein  und  Elbe  wohnen, 
und  bewegte  sich  damit  noch  in  den  Vorstellungen  vom  alten 
Reich.  Aus  dem  ureigensten  Geiste  der  Nation,  so  sagte  er, 
müsse  das  Reich  neu  errichtet  werden:  desto  verjüngter  und 
lebenskräftiger  werde  Deutschland  unter  Europas  Völkern  wieder 
erscheinen  können.  Die  Jahrhunderte  der  sächsischen  und  der 
salischen  Kaiser,  in  denen  die  Fürsten  vor  der  Kaisermacht  nichts 
gegolten,  waren  ihm  die  große  Zeit  der  deutschen  Geschichte. 
Er  fühlte  sich  ausschließlich  als  Deutscher.  Deutschland,  so  sagt  er, 
ist  mein  Vaterland;  ich  kenne  kein  anderes.  Und  darüber  hinaus 
lebt  seine  Seele  noch  in  den  Vorstellungen  des  weltbürgerHchen 
Jahrhunderts:  das  Ziel  Steins  sei  das  sittliche  Wohl  der  Mensch- 
heit, sein  Grundsatz  in  allem  Handeln  die  strengste  Tugend,  so 
urteilt  von  ihm  einer  der  ihm  nächststehenden  Räte^).  Ein  andermal 


^)  Beguelin,  Denkwürdigkeiten.  S.  109.  Vgl.  Lehmann,  Stein,  III 
passim,   und   Fr.  Meinecke,  Weltbürgertum  und  Nationalstaat,  S.  152  ff. 


424  Kleine  historische  Schriften. 

plant  er  (noch  ganz  im  Geiste  absolutistischer  Kabinettspolitik) 
eine  Umgestaltung  der  Karte  Europas,  wonach  Norwegen  und  die 
dänischen  Inseln  an  Schweden,  Jütland  an  England  fallen,  die 
Herzogtümer  aber  mit  Deutschland  vereinigt  werden  sollen; 
England  will  er  noch  durch  Holland  vergrößern;  von  Rußland 
aber  meint  er,  es  sei  zu  groß  und  zu  gerecht,  um  sich  zu  ver- 
größern, um  das  allgemeine  Mißtrauen  erregen  zu  wollen,  es  müsse 
nur  von  seinen  Verbündeten  einen  Beitrag  zur  Unterhaltung 
seines  Heeres  fordern. 

Phantasien,  die  uns  lehren,  wie  unfähig  Stein  im  Grunde 
war,  das  Schwergewicht  in  der  Politik,  das  historisch  bestimmte 
und  darum  konstante  Interesse  der  Staaten  zu  erkennen,  ihr  indi- 
viduelles Leben  zu  begreifen:  wie  sehr  ihm  das  rechte  Augenmaß 
für  die  Realitäten  fehlte,  in  dem  Bismarck  das  Geheimnis  des 
politischen  Erfolges  sah.  Auch  gab  es  keinen  schlechteren  Diplo- 
maten als  ihn.  Er  selbst  hatte  einen  Widerwillen  gegen  das  Trug- 
spiel der  Diplomatie.  Nur  einmal,  zurzeit  des  Fürstenbundes,  hat 
er  diplomatisch  eine  Mission  am  Mainzer  Hofe  ausgeführt.  Die 
Gesandtschaften  im  Haag  und  in  Petersburg,  die  man  ihm  anbot, 
schlug  er  aus.  Zweimal  lehnte  er  auch  das  Auswärtige  Ministerium 
ab,  das  ihm  der  König  im  November  1806  geben  wollte.  Und 
als  er  in  seinem  zweiten  Ministerium  auch  dies  Ressort  in  die 
Hand  bekam,  hat  er  in  den  Verhandlungen  mit  dem  französischen 
Kaiser  völlig  Fiasko  gemacht,  und  das  Werk  eines  Stümpers, 
noch  dazu  aufgebaut  auf  einer  völlig  falschen  Vorstellung  von 
der  Politik  und  den  momentanen  Absichten  Napoleons,  war  jener 
Versuch  einer  Konspiration  gegen  die  französische  Gewaltherr- 
schaft im  August  1808,  der  ihn  im  weiteren  Verlauf  seine  Stellung 
kosten  sollte. 

Dennoch  dürfen  wir  wahrlich  nicht  sagen,  daß  Stein  in  dem 
großen  Jahre  der  Rache  schlecht  gerechnet  habe.  Nur  einer  die 
Tiefen  des  nationalen  Zornes,  des  vaterländischen  Gemütes,  die 
heiligsten  Interessen  deutscher  Herzen  aufrufenden  und  aus- 
schöpfenden Kraft  konnte  es  gehngen,  Deutschlands  Fürsten 
unter  die  Waffen  zu  bringen.  Der  Satz,  daß  Pohtik  nichts  sei 
als  die  kluge  Benutzung  der  gegebenen  Umstände,  ist  falsch.   Das 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein,  425 

war  die  Politik  Napoleons  —  und  sie  erlag.  Die  Kräfte,  die 
ihn  besiegten,  waren  wirklich  vorhanden.  Aber  sie  schlum- 
merten in  dem  Herzen  des  Volkes,  und  nur  wer  sie  weckte, 
konnte  siegen:  nur  aus  dem  ureigensten  Geiste  der  Nation 
konnte  in  Wahrheit  das  erhabene  Ziel,  die  Befreiung  von  den 
Fremden,  und  mehr,  die  Einigung  des  Vaterlandes  selbst,  er- 
reicht werden. 

Auch  Bismarck  hat  diese  Kräfte  nicht  unterschätzt.  Auch 
er  hat  an  sie,  wenn  es  galt,  appelliert.  Es  war  die  letzte  Karte, 
die  er  im  Spiel  hatte.  Als  er  Deutschland  unter  Preußen  brachte, 
nutzte  er  sie  noch  nicht  aus,  aber  er  zeigte  sie  bereits  allen  Gegnern 
diesseits  und  jenseits  des  Rheines  und  der  Weichsel.  Und  er  warf 
sie  auf  das  Spielbrett  der  Diplomatie  hin,  als  er  die  Zeit  gekommen 
sah:  und  das  Echo,  das  ihm  in  den  Tagen  von  Ems  mit  gewal- 
tigem Brausen  aus  allen  deutschen  Gauen  entgegenschlug,  der 
Ruf  »an  den  Rhein,  an  den  Rhein«  bewies  der  Welt  und  jedem 
Verächter  der  deutschen  Idee,  daß  der  Geist  der  Freiheitskriege 
in  unserem  Volke  noch  nicht  erstorben  war.  Dennoch  sollten 
auch  diese  Wogen  dem  Schöpfer  des  Reiches  die  Grundmauern 
nicht  verrücken:  nur  in  den  gewaltigen  Quadern,  die  er  legte, 
durften  sie  fortan  kreisen  und  wirbeln. 

So  stehen  die  beiden  Helden  einander  gegenüber:  als  der 
Befreier  des  Vaterlandes  der  eine,  als  der  Eroberer  und  damit 
der  Einiger  Deutschlands  der  andere.  Die  Substruktionen,  auf 
denen  Bismarck  den  Bau  des  nationalen  Staates  errichtete,  waren 
noch  dieselben,  die  nach  dem  Zusammenbruch  des  alten  Reiches 
von  Napoleon  und  von  seinen  Besiegern  gelegt  waren:  Preußen 
und  die  Rheinbundfürsten  (so  viele  die  Krisis  von  1866  überdauert 
haben)  sind  die  Grundpfeiler  unseres  Reiches  geworden.  Auch 
der  Wille  der  Nation  kommt  zum  Gehör:  jedoch  im  Reiche  selbst, 
wenigstens  nach  seines  Gründers  Absicht,  nur,  soweit  er  Wille 
zur  Macht  ist,  soweit  es  die  Einheit  des  Rechtes  und  des  Verkehrs, 
der  Bedingungen  für  Arbeit  und  Produktion,  der  Steuern  und 
der  Zölle,  der  Waffen  und  der  Diplomatie  verlangen.  Alles,  was 
innere  Administration  und  die  geistige  Kultur  einschheßt,  ist 
Sache  der  Einzelstaaten,  die,  in  Jahrhunderten  aus  dem  vermor- 


/^2(^  Kleine  historische  Schrifteni 

sehenden  Reich  erwachsen,  im  Kampf  miteinander  sich  gebildet 
haben  und  nun  dauernd  im  Frieden  vereinigt  sind. 

Fragen  wir,  wer  der  größere  beider  Heroen  ist,  so  müssen 
wir  ohne  Besinnen  sagen:  der  Schöpfer  des  Reiches.  Er  hat  nicht 
bloß  begonnen,  er  hat  vollendet;  zerstört,  was  des  Sterbens  wert 
war,  und  gesammelt  und  geordnet,  was  lebenskräftig  war  im 
\''olke  wie  in  seinen  Dynastien.  Immer  tiefer  senken  sich  die 
Fundamente,  die  er  gelegt,  in  den  Boden  der  Nation  ein.  Bei  jeder 
Frage,  welche  die  Politik  des  Staates  stellt,  treten  sie  in  ihrer 
Stärke  und  der  Richtigkeit  ihrer  Maße  neu  hervor :  sturmsicher  nach 
außen  und  im  Innern  von  einer  Kraft,  gegen  die  alle  Leidenschaf- 
ten der  Tiefe  immer  noch  umsonst  herantoben. 

Wie  aber  Bismarck  der  größere  Heros  ist,  so  ist  auch  die 
Tragik  größer,  die,  \ne  jedes  Heldenleben,  so  auch  das  seine  be- 
gleitet. Tiefer  wühlend  auch  die  Leidenschaften,  ohne  die  kein 
Kämpfer  denkbar  ist.  Auch  Stein  war  ein  Mann  des  Zornes,  und 
wen  sein  blitzendes  Auge  traf,  erzitterte  und  verstummte.  Aber 
wie  heiß  sein  Herz  aufwallen  konnte,  von  jenem  Hauch  der  Fin- 
sternis, der  die  Hagen-gleiche  Gestalt  des  großen  Kanzlers  um- 
wittert, war  doch  nichts  in  ihm.  Die  Freunde,  die  er  in  der  Jugend 
gewann,  blieben  ihm  fast  alle  treu  fürs  Leben;  wenige  hat  er  ver- 
loren und  viele  gewonnen.  Das  Herz  der  Massen  hat  er  niemals 
so  besessen  wie  Bismarck,  den  die  Liebe  von  Millionen  immer 
voller  umrauschte,  je  weiter  er  von  der  Höhe  der  Macht  entfernt 
war  —  derselben  Menge,  die  ihn  anfänglich  verspottet,  dann  ge- 
fürchtet und  gehaßt,  und  deren  Herzen  er  sich  auch  erst  erobert 
und  unterworfen  hatte.  Aber  der  Kreis  der  Freunde,  der  Stein 
in  wachsender  Zahl  umgab,  ward  um  Bismarck  immer  kleiner, 
nachdem  er  die  Gefährten  seiner  Jugend,  denen  er  das  größte 
Glück  des  Lebens  und  den  Frieden  seiner  Seele  selbst  verdankte, 
verloren  oder  von  sich  gestoßen  hatte.  Und  wie  schwer  Stein 
den  Undank  der  Welt  empfinden  mochte,  ist  er  doch  niemals, 
wie  Bismarck,  von  jenem  Geist  der  Menschenverachtung  berührt 
worden,  der  die  letzten  Jahre  des  Schöpfers  unseres  Reiches  um- 
düstert  hat.  Freundlich  ging  seine  Lebenssonne  unter.  Bis  ans 
Ende  bUeb  er  tätig  und  in  führender  Stellung ;  versöhnt  mit  seinem 


Otto  von  Bismarck  und  Freiherr  Karl  vom  Stein.  427 

König  und  mehr  und  mehr  von  herzlicher  Verehrung  für  ihn  er- 
füllt; der  Welt  der  Ideen  und  der  Ideale,  der  er  niemals  untreu 
geworden,  mehr  als  je  hingegeben. 

Dennoch  würden  wdr  auch  Bismarck  schwer  verkennen,  wenn 
wir  in  ihm,  dem  großen  Wirklichkeitsmenschen,  einen  Verächter 
der  Ideen  erblicken  wollten.  Seine  Idee,  sein  Glaube  war  der  Glaube 
an  Preußens  Kraft,  an  Preußens  Recht,  an  jene  Verbindung  alt- 
preußischer Tugenden  und  deutscher  Größe,  deutscher  Hoffnungen, 
die  er  glorreich  wahr  gemacht  hat.  Wenn  einer,  so  ist  er  dem 
Boden  treu  geblieben,  der  ihn  trug. 

An  sein  Innerstes  aber  würden  wir  auch  hiermit  noch  nicht 
herankommen.  Der  Mann,  der  imstande  war,  »den  Gedanken, 
daß  einst  Rechberg  und  andere  ungläubige  Jesuiten  über  die  alt- 
sächsische Mark  Salzwedel  mit  römisch-slawischem  Bonapartis- 
mus und  blühender  Korruption  absolut  herrschen  sollten,  ohne 
Zorn  auszudenken  und  eventuell  als  Gottes  Willen  und  Zulassung 
zu  ehren«,  be^^^es  damit,  daß  er  seinen  Blick  über  diese  Dinge 
hinaus  richten  könne,  daß  nicht  die  Macht  von  dieser  Welt,  wie 
heiß  er  um  sie  kämpfte,  das  letzte  war,  was  ihn  gefangen  hielt. 
»Wie  Gott  wiU,«  so  schreibt  er,  »es  ist  ja  alles  doch  nur  eine  Zeit- 
frage, Völker  und  Menschen,  Torheit  und  Weisheit,  Krieg  und 
Frieden,  sie  kommen  und  gehen  wie  Wasserwogen  und  das  Meer 
bleibt.«  Und  an  anderer  Stelle:  »Es  ist  ja  nichts  auf  dieser  Erde 
als  Heuchelei  und  Gaukelspiel,  und  ob  uns  das  Fieber  oder  die 
Kartätsche  diese  Maske  von  Fleisch  abreißt,  fallen  muß  sie  doch 
über  kurz  oder  lang  und  dann  \^drd  zwischen  einem  Preußen 
und  einem  Österreicher,  wenn  sie  gleich  groß  sind,  wie  etwa 
Schrenck  und  Rechberg,  doch  eine  Ähnlichkeit  eintreten,  die  das 
Unterscheiden  schwierig  macht ;  auch  die  Dummen  und  die  Klugen 
sehn,  proper  skelettiert,  ziemlich  einer  ^vie  der  andere  aus.«  Worte, 
die  man,  wie  bitter  sie  lauten  mögen,  schlecht  genug  mit  dem  Mode- 
wort des  Pessimismus  bezeichnet  hat  und  an  deren  Horizont  man 
noch  nicht  heranreicht,  wenn  man  die  spinozistische  Weltan- 
schauung, mit  der  der  junge  Bismarck,  wie  einst  der  junge  Goethe, 
ein  paar  Jahre  gespielt  hatte  und  an  die  sie  anklingen  mögen, 
darin  wiederfinden  wiU:  sondern  die  in  Regionen  hinüberreichen, 


^28  Kleine  historische  Schriften. 

welche  ihm  von  Kindheit  an  vertraut  waren,  in  die  Ideenwelt, 
die  seit  drei  Jahrhunderten  sein  Heimatland  beherrschte.  »Den 
spezifischen  Patriotismus,«  so  fährt  dieser  Sohn  der  preußischen 
Erde  an  jener  Stelle  fort,  »wird  man  allerdings  mit  dieser  Betrach- 
tung los,  aber  es  wäre  auch  jetzt  zum  Verzweifeln,  wenn  wir  auf 
den  mit  unserer  Seligkeit  angewiesen  wären.«  Der  Gott,  an  den 
er  denkt,  »vor  dem  unsere  Staaten  und  ihre  Macht  und  Ehre  nichts 
anderes  sind  als  Ameisenhaufen  und  Bienenstöcke,  die  der  Huf 
eines  Ochsen  zertritt  oder  das  Geschick  in  Gestalt  eines  Honig- 
bauern ereilt«  —  es  ist  der  Gott,  auf  dessen  Namen  er  getauft 
war,  zu  dem  er  als  Knabe  gebetet  hatte,  der  Gott  seiner  Väter, 
der  Gott  Martin  Luthers,  der  deutsche  Gott. 

Uns  Deutschen  ist  es  nicht  gegeben,  zu  den  Schöpfern  unserer 
Nationalität  in  einmütiger  Verehrung  emporzusehen.  Der  Riß, 
der  durch  unsere  Geschichte  geht,  geht  auch  durch  unser  Empfin- 
den und  spaltet  alle  Grundlagen  und  Ziele  unserer  Bildung  und 
des  Glaubens  selbst.  Und  alle  Bahnbrecher  unserer  geistigen  und 
staatlichen  Größe,  die  lange  Reihe  der  Ahnherren  des  neuen 
Deutschlands,  haben  die  Kluft,  die  frühere  Jahrhunderte  gerissen, 
nicht  schließen  können;  sie  haben  sie  eher  vertieft. 

Wir  wollen  nicht  darüber  klagen.  Auch  der  Kampf  hat  sein 
Gutes  und  Stillstand  ist  Tod.  Doch  kämpfen  wir  nicht  um  des 
Kampfes  willen.  Das  Ziel  bleibt  immer  der  Friede,  sollten  ihn 
auch  erst  Enkel  oder  Urenkel  schauen.  So  möge  denn  einmal 
doch  der  Tag  über  Deutschland  leuchten,  an  dem  der  Schöpfer 
des  Reiches  allen  Kindern  deutscher  Erde  so  entgegentrete  wie 
er  uns  erscheint,  die  wir  ihn  kämpfen  und  schaffen  sahen:  in  der 
heroischen  Gestalt,  die  zu  den  Helden  der  deutschen  Sage  hinüber- 
weist: als  der  Nibelungenenkel,  den  in  der  Morgendämmerung 
der  deutschen  Einheit  der  Prophetenmund  des  deutschen  Sängers 
verkündigt  hat. 


eetg^^^^ 


König  Wilhelm  und  Bismardc 
in  Gastein  1863. 

(1906.) 

Will  man  den  Moment  bezeichnen,  in  dem  Bismarck  von 
der  Fülle  der  Widerwärtigkeiten  am  schwersten  bedrängt  wurde, 
so  kann  man  kaum  an  dem  Sommer  1863  vorübergehen.  Nicht 
als  ob  er  selbst  damals  den  Druck  besonders  stark  empfunden 
hätte.  ]\Ian  darf  vielmehr  umgekehrt  sagen,  daß  er  niemals  \\deder 
so  leicht  an  der  ungeheuren  Last  getragen  hat,  die  er  sich  im  Sep- 
tember 1862  auf  die  Schultern  hatte  legen  lassen.  Je  weiter  er 
vorwärts  drang,  um  so  zornmütiger  ward  der  große  Kämpfer, 
um  so  persönlicher  und  grimmiger  der  Haß,  mit  dem  er  die  Gegner 
verfolgte,  um  so  schwerer  legte  sich  seine  Hand  auch  auf  alle  die- 
jenigen, die  er  zu  Freunden  und  Mitarbeitern  an  seinem  großen 
Werke  gewonnen  hatte.  Und  nur  die  Verachtung,  die  er  seinen 
Feinden  entgegensetzte,  war  in  den  Anfängen  des  Kampfes  so 
groß  wie  in  seinen  späteren  Jahren.  Ja,  er  hat  diese  Empfindung 
niemals  wieder  so  ungescheut  an  den  Tag  gelegt  als  in  dem  ersten 
Jahr  seines  Ministeriums  —  damals,  als  er  die  Wortführer  der 
Nation  im  Parlamente  und  in  der  Presse  wie  Schuljungen  behandelte, 
die  Abgeordneten  auseinandertrieb,  die  liberale  Beamtenschaft 
unter  ein  unerhörtes  System  von  Chikanen  drückte  und  durch 
die  Preßordonnanz  vom  i.  Juni  die  öffentliche  Meinung  selbst 
zu  knebeln  versuchte.  »Ich  habe  niemals  geglaubt,  daß  ich  in 
meinen  reifen  Jahren  genötigt  werden  würde,  ein  so  unwürdiges 
Gewerbe  ^\ie  das  eines  parlamentarischen  Ministers  zu  betreiben. 


430  Kleine  historische  Schriften, 

Als  Gesandter  hatte  ich,  obschon  Beamter,  doch  das  Gefülü,  ein 
Gentleman  zu  sein.  Als  Minister  ist  man  Helot.  Ich  bin  herunter- 
gekommen und  weiß  doch  selber  nicht,  wie«:  so  schreibt  er  seinem 
alten  republikanischen  Freunde  John  Motley  aus  jener  Sitzung 
im  Abgeordnetenhaus  am  17.  April  1863  heraus,  in  der  er,  mitten 
in  der  Debatte  über  Schleswig-Holstein,  um  der  Rede  Virchows 
zu  entgehen,  sich  in  das  Nebenzimmer  begab  und  danach  auf  die 
Beschwerde  des  Parlamentes  über  diese  Brüskierung  kein  andres 
Wort  hatte,  als  daß  er  bei  den  sonoren  Stimmen  der  Herren  Vor- 
redner auch  hinter  der  Türe,  am  Tische  arbeitend,  ihre  Reden 
hören  könne.  Vielleicht  war  es  gerade  dieser  Brief,  an  dem  er 
in  jenem  Moment  schrieb,  »in  einem  Augenbhck  unfreiwilliger 
Muße«,  wie  er  darin  sagt,  zwischen  den  »ungewöhnlich  abgeschmack- 
ten Reden  aus  dem  Munde  ungewöhnhch  kindischer  und  aufge- 
regter Politiker«,  die  er  anzuhören  genötigt  sei.  Geflissentlich 
fast  vermehrte  er  die  Zahl  seiner  Gegner.  Es  war  darin  etwas 
von  jener  Freude  am  Kampf,  die  das  Gefecht  um  des  Gefechtes 
selbst  willen  liebt;  eine  Stimmung  wie  diejenige,  zu  der  er  sich 
nach  dem  Duell  mit  Georg  Vincke  in  dem  Briefe  an  seine  fromme 
Schwiegermutter  bekannt  hatte :  während  die  andern,  Sekundanten 
und  Zeugen,  sich  fast  unter  Tränen  die  Hand  geschüttelt,  habe 
er  Lust  gehabt,  das   Gefecht  fortzusetzen. 

Sobald  er  seine  ersten  Siege  errungen,  schon  im  Mai  1864, 
sah  er  eine  stets  wachsende  Schar  von  Anhängern,  bald  Bewun- 
derern um  sich.  Im  Sommer  1863  dagegen  stand  er  noch  ganz 
allein  einer  Welt  von  Feinden  gegenüber.  Wohin  war  es  mit  jenen 
Stimmungen  in  Deutschland  gekommen,  von  denen  sich  König 
Wilhelm  im  Anfang  seiner  Regierung  hatte  tragen  lassen!  Nörd- 
Hch  und  südÜch  vom  Main  waren  alle  Herzen  Preußen  entfremdet. 
Gerade  die  besten  Freunde,  und  die  auch  jetzt  noch  nicht  am 
Staate  der  Hohenzollern  verzagten,  ein  Heinrich  von  Sybel  und 
Heinrich  von  Treitschke,  stemmten  sich  dem  Minister  am  stärksten 
entgegen.  Im  tollen  Wirbel,  so  meinten  sie,  reiße  der  Übermütige 
den  Wagen  des  Staates  dem  Abgrunde  zu.  Nicht  einmal  die  Partei, 
auf  die  er  sich  allein  stützen  konnte,  wußte,  wohin  er  ihn  lenkte. 
Auch  sie  wäre  ihm  untreu  geworden,  hätte  sie  es  ahnen  können; 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein   1863.  431 

und  niemals  ward  sie  den  Verdacht  gegen  ihn  los;  nur  weil  sie 
hofften,  durch  den  Minister  die  eigenen  Ziele  fördern  zu  können, 
stellten  sich  ihm  die  Reaktionäre  so  eng  zur  Seite.    In  der  Um- 
gebung  des    Königs   selbst   begegneten   Bismarck   Argwohn   und 
Feindschaft;   der   Kronprinz   hatte   sich  soeben   vor  dem   Lande 
gegen  ihn  und  seine  Politik  erklärt,  hatte  sich  von  dem  Vater  um 
des  Ministers  willen  losgesagt.    Wie  glückhch  war  Wilhelm  gewesen, 
als  er  in  Baden-Baden  an  der  Spitze  deutscher  Fürsten  für  Deutsch- 
lands  Recht  und  Unabhängigkeit   Napoleon  gegenüber  getreten 
war!    So  war  auch  noch  unter  Bernstorf fs  Ministerium  die  aus- 
wärtige Pohtik  in  den  Bahnen  geleitet  worden,  die  dem  Programm 
der  neuen  Ära  entsprachen ;  nur  die  Langsamkeit  und  das  Zaudern 
habe,  die  Opposition  damals  zu  tadeln  gewußt,  nicht  das  Ziel, 
in  dem  sie  sich  mit  der  Regierung  eins  wußte.    Jetzt  aber  war  der 
König  durch  den  starken  Arm  seines  neuen  Ministers  aus  dieser 
Richtung  weit  hin  weggeführt  worden.    Weder  in  der  hessischen 
Frage  noch  in  der  der  Herzogtümer  war  die  deutsche  Note  an- 
geschlagen, sondern  immer  nur  auf  Preußens  Interesse  war  der 
Ton  gelegt  worden.    Es  war,  als  ob  Bismarck  es  darauf  angelegt 
habe,  den  Staat  zu  der  Isolierung  zurückzuführen,  die  er  im  Krim- 
kriege eingenommen   hatte.     Die   Petersburger   Konvention   vom 
8.  Februar,  die  dem  Zaren  preußische  Truppen  gegen  die  polnische 
Revolution   zur   Verfügung    stellte,    entfesselte   nicht    nur   einen 
Sturm  des  Unwillens  im   liberalen  Lager,   sondern   sie  beleidigte 
auch   Kaiser  Napoleon  und  half  dazu,   daß  sich  abermals  jene 
Koalition   Österreichs    und    der   Westmächte    zu   bilden    drohte, 
vor  der  Wilhelm  im  Jahre  1854  so  große  Sorge  gehabt  hatte.   Was 
er  damals  als  eine   »Gymnasiastenpolitik«  (des  Frankfurter   Ge- 
sandten) bezeichnet  und  bekämpft  hatte,  das  mußte  er  nun  be- 
folgen.    Gerade  zu  Beginn  des  Sommers  umdunkelte  sich  rings 
der  Horizont:    als  die  drei  Mächte  auf  Grund  der  Verträge  von 
1815  in  strengen  Noten  von  dem  Zaren  die  Einführung  liberaler 
Verfassungsformen  für  Polen  forderten.    Ein  Ausweg  aber  zeigte 
sich   nirgends.    Auch   Bismarck   wußte   keinen   andern   Rat,    als 
die  Ereignisse  abzuwarten  und  sich  bis  dahin  auf  die  eigene  Macht 
furchtlos  zu  verlassen. 


432  Kleine  historische  Schriften. 

So  war  Preußens  innere  und  äußere  Politik  beschaffen,  als 
König  Wilhelm  am  22.  Juli  mit  seinem  Minister,  der  von  Berlin 
her  in  Regensburg  zu  ihm  gestoßen  war,  und  seinen  militärischen 
Vertrauten,  Manteuffel,  Alvensleben  und  Steinäcker  in  Gastein 
zur  Nachkur  der   Karlsbader  Wochen  eintraf. 

Dort  kam  es  zu  einer  neuen  Krisis,  in  der  alle  Schwierig- 
keiten sich  zu  kumulieren  drohten.  Am  2.  August  erschien  Kaiser 
Franz  Joseph  in  dem  Alpenbade,  um  seinem  könighchen  Oheim 
den  Plan  einer  Bundesreform  im  Sinne  der  nationalen  Bestrebungen 
zu  überreichen  und  ihn  zu  einem  Kongreß  aller  deutschen  Fürsten 
in  der  alten  Kaiserstadt  Frankfurt  einzuladen.  Österreich  schickte 
sich  frohgemut  an,  die  Rolle  zu  übernehmen,  auf  die  König 
Wilhelm  unter  Leitung  seines  Ministers  soeben  verzichtet  hatte, 
den  W^eg  der  »moralischen  Eroberungen«  in  Deutschland  zu  be- 
schreiten. Nicht  in  der  Art,  wie  es  noch  im  Jahre  vorher  dem 
Grafen  Bemstorff  gegenüber  versucht  hatte,  gegen  dessen  unio- 
nistisch  gerichtete  PoHtik  es  den  Bund  selbst  mobil  gemacht  hatte. 
Diese  Pläne  waren  bereits  an  dem  stahlharten  Willen  Bismarcks 
gescheitert,  der  die  Wiener  Diplomatie  wie  die  Herren  am  Bundes- 
tage keinen  Moment  darüber  in  Zweifel  gelassen  hatte,  daß  Preußen 
jeden  Versuch  der  Majorisierung  mit  dem  Austritt  aus  dem  Bunde, 
d.  h.  mit  dem  deutschen  Kriege  beantworten  würde.  Der  Bundes- 
tag war  in  dem  neuen  Reformplan  ganz  beiseite  gelassen.  Aus- 
drücklich war  darin  gesagt,  daß  es  ohne  Preußens  bundesfreund- 
Hche  j\Iit Wirkung  für  die  Aufgabe  der  Reorganisation  des  Bundes 
keinen  definitiven  Abschluß  gäbe;  daß  Preußen  durch  den  Umfang 
seiner  Bundeslande  und  die  Bestimmungen  der  Bundesverträge 
die  Reform  der  Gesamtverfassung  Deutschlands  faktisch  und 
rechtlich  verhindern  könne.  Aber  um  so  stärker  w^ar  betont  worden, 
daß  Preußen  mit  einer  rein  negativen  Haltung  sich  der  Verant- 
wortung aussetzen  würde  für  alle  inneren  und  äußeren  Gefahren, 
die  aus  dem  Verfall  des  Bundes  erwachsen  müßten.  Dieser  Zu- 
stand der  Zerrüttung,  »vollständiger  Zerklüftung  und  allgemeiner 
Zerfahrenheit«  war  in  der  Denkschrift  mit  den  dunkelsten  Farben 
geschildert  worden.  »Man  denkt  in  der  Tat  nicht  zu  nachteihg 
von  diesem  Zustande,«  so  heißt  es  unter  anderm,  »wenn  man  sich 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  433 

eingesteht,  daß  die  deutschen  Regierungen  im  Grunde  schon 
jetzt  nicht  mehr  in  einem  festen  gegenseitigen  Vertragsverhältnisse 
zusammenstehen,  sondern  nur  noch  bis  auf  weiteres,  im  Vorgefühle 
naher  Katastrophen,  nebeneinander  fortleben  «  Der  Status  quo 
der  deutschen  Bundesverhältnisse  sei  schlechthin  chaotisch;  der 
Boden  der  Verträge  schwanke  unter  den  Füßen  dessen,  der  sich 
auf  ihn  stelle;  der  Bau  der  vertragsmäßigen  Ordnung  der  Dinge 
in  Deutschland  zeige  überall  Risse  und  Spalten,  und  der  bloße 
Wunsch,  daß  die  morschen  Wände  den  nächsten  Sturm  noch 
aushalten  möchten,  könne  ihnen  die  nötige  Festigkeit  nimmer- 
mehr zurückgeben.  An  die  konservativen  Grundsätze  des  Königs 
appellierte  die  Wiener  Regierung,  wenn  sie  die  deutsche  Revo- 
lution prophezeite,  und  an  seine  nationalen  Empfindungen,  wenn 
sie  die  Ohnmacht  Deutschlands  schilderte,  die  aus  dem  Verfalle 
seiner  Verfassung  hervorgehen  müsse.  Und  sie  verhehlte  schließ- 
lich nicht,  daß,  wenn  Preußen  sich  versage,  Österreich  und  seine 
Freunde  die  Hand  an  ein  Werk  der  Not  legen  und  innerhalb  des 
Bundes  nach  ihrem  freien  Bündnisrechte  partielle  Reformen 
unternehmen,  das  hieß  den  Weg  beschreiten  würden,  den 
Preußen  mit  dem  Zollverein  und  den  Militärkonventionen  schon 
gegangen,  und  den  Bismarck  unter  Umständen  selbst  zu  gehen 
entschlossen  war. 

Bisher  hatte  König  Wilhelm  seinem  Minister  zur  Seite  ge- 
standen. Die  Konvention  vom  8.  Februar  mochte  ihm  in  Er- 
innerung an  den  Krimkrieg  Bedenken  genug  gemacht  haben.  Aber 
dieses  Abkommen  war  schließlich  gar  nicht  realisiert  worden, 
und  seitdem  hatte  weiteren  Anträgen  Rußlands  gegenüber  auch 
Bismarck  sich  spröde  gezeigt.  Auch  hatte  die  starre  Haltung 
gegenüber  der  liberalen  Opposition,  in  der  Bismarck  ihn  mit  ganzer 
Kraft  unterstützte,  auf  die  Haltung  des  Königs  in  der  auswärtigen 
Politik  zurückgewirkt ;  und  gegen  seinen  Sohn  war  er  fast  schärfer 
aufgetreten,  als  der  Minister  selbst  es  für  gut  hielt.  Nun  aber 
sollte  Wilhelm  dem  Rivalen  die  Stellung  einräumen,  die  seinen 
eigenen  innersten  Neigungen  entsprach;  er  sollte  vor  der  Nation 
die  Politik  verleugnen,  zu  der  er  sich  bereits  vor  der  neuen  Ära 
bekannt,  und  die  er  in  Baden-Baden,  in  Teplitz,  in  Compiegne 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  2o 


434  Kleine  historische  Schriften. 

vertreten  hatte.  Noch  niemals  hatte  der  Pakt,  den  er  im  Park 
von  Babelsberg  am  22.  September  1862  mit  Bismarck  geschlossen, 
eine  so  starke  Belastungsprobe  erfahren. 

So  kam  es  zum  ersten  Male  zu  einem  schweren  Konflikt  zwi- 
schen dem  König  und  seinem  Minister.  Den  Höhepunkt  erreichte 
die  Krisis,  wie  man  weiß,  in  Baden-Baden,  als  der  alte  würdige 
Freund  Wilhelms,  König  Johann  von  Sachsen,  von  Frank- 
furt herübergekommen  war  und  ihn  im  Namen  des  Kaisers  und 
aller  Bundesgenossen  einlud,  seinen  Sitz  unter  ihnen  einzunehmen. 
Bismarck  selbst  hat  oft,  zuletzt  noch  in  den  »Gedanken  und 
Erinnerungen«,  von  dem  Kampfe  erzählt,  den  er  am  20.  August 
mit  seinem  königlichen  Herrn  gehabt  habe.  Im  Gegensatz  dazu 
geht  er  in  seinen  »Erinnerungen«  über  die  Tage  in  Gastein  auf- 
fallend leicht  hinweg.  Was  er  darüber  sagt,  ist  eigentlich  nur  die 
Einleitung  zu  der  Szene  in  Baden  und  beschränkt  sich  auf  eine 
Anekdote,  den  Bericht  von  einem  kleinen  Erlebnis,  das  der  Minister 
um  die  Stunde  hatte,  als  Franz  Joseph  jenen  folgenschweren  Be- 
such bei  seinem  königlichen  Oheim  machte.  Da  das  Geschichtchen, 
ein  wahres  Kabinettstück  Bismarckscher  Erzählerkunst,  für 
unsre  Untersuchung  in  jeder  Einzelheit  wichtig  ist,  so  wird  mir 
der  freundliche  Leser  gestatten,   es  liier  wörtlich  einzufügen: 

»In  Gastein  saß  ich  am  2.  August  1863  in  den  Schwarzen- 
bergschen  Anlagen  an  der  tiefen  Schlucht  der  Ache  unter  den 
Tannen.  Über  mir  befand  sich  ein  Meisennest,  und  ich  beobachtete, 
mit  der  Uhr  in  der  Hand,  wie  oft  in  der  INIinute  der  Vogel  seinen 
Jungen  eine  Raupe  oder  anderes  Ungeziefer  zutrug.  Während 
ich  der  nützHchen  Tätigkeit  dieser  Tierchen  zusah,  bemerkte  ich, 
daß  auf  der  anderen  Seite  der  Schlucht,  auf  dem  Schillerplatze 
König  Wilhelm  aUein  auf  einer  Bank  saß.  Als  die  Zeit  heran- 
gekommen war,  mich  zu  dem  Diner  bei  dem  König  anzuziehen, 
ging  ich  in  meine  Wohnung  und  fand  dort  ein  Brief chen  Sr,  Maje- 
stät vor,  des  Inhalts,  daß  er  mich  auf  dem  Schillerplatze  erwarten 
wolle,  um  wegen  der  Begegnung  mit  dem  Kaiser  mit  mir  zu  sprechen. 
Ich  beeilte  mich  nach  Möglichkeit,  aber  ehe  ich  das  Könighche 
Quartier  erreichte,  hatte  bereits  eine  Unterredung  der  beiden 
hohen  Herren  stattgefunden.    Wenn  ich  mich  weniger  lange  bei 


I 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  435 

der  Naturbetrachtung  aufgehalten  und  den  König  früher  gesehen 
hätte,  so  wäre  der  erste  Eindruck,  den  die  Eröffnungen  des  Kaisers 
auf  den   König  gemacht  haben,  vielleicht  ein  andrer  gewesen.« 

Das  ist  alles,  was  uns  Bismarck  von  den  Tagen  in  Gastein 
zu  berichten  hat.  Daß  sich  die  Verhandlungen  in  dem  Alpen- 
bade noch  bis  tief  in  die  zweite  Augustwoche  hineinzogen,  sagt 
er  nicht;  sowenig  wie  er  daran  denkt,  daß  sein  Herr  dem  Kaiser 
sogleich  persönlich,  wenn  auch  mit  höfhchen  und  ausweichenden 
Wendungen,  eine  Absage  gegeben  und  jedenfalls  die  Einladung, 
sobald  sie  schrifthch  in  seine  Hände  gelangt  war,  umgehend  ab- 
gelehnt hat.  i\Ian  erhält  aus  Bismarcks  Bericht  den  Eindruck, 
als  sei  die  Abreise  des  Königs  nach  Baden  gleich  nach  dem  Besuche 
des  Kaisers  erfolgt  und  die  Absage  nach  Frankfurt  überhaupt 
erst  in  Baden  ausgesprochen  worden. 

»Der  König,«  so  fährt  er  an  jener  Stelle  fort,  »fühlte  zunächst 
nicht  die  Unterschätzung,  die  in  dieser  Überrumpelung  lag,  in 
dieser  Einladung,  man  könnte  sagen  Ladung,  ä  courte  echeance. 
Der  österreichische  \^orschlag  gefiel  ihm  vielleicht  wegen  des  darin 
hegenden  Elementes  fürstlicher  Solidarität  in  dem  Kampfe  gegen 
den  parlamentarischen  Liberahsmus,  durch  den  er  selbst  damals 
in  Berhn  bedrängt  wurde.« 

Und  daran  schheßt  er  sogleich  den  Besuch  bei  der  Königin 
Ehsabeth  im  Wildbad  und  die  weitere  Fahrt  durch  den  Schwarz- 
wald nach  Baden,  »wo  \rir  im  offenen,  kleinen  Wagen  wegen  der 
Leute  vor  uns  auf  dem  Bock  die  deutsche  Frage  französisch  ver- 
handelten«. Er  glaubt,  den  Herrn  überzeugt  zu  haben,  als  sie 
in  Baden  anlangen.  Dort  aber  finden  sie  den  König  von  Sachsen, 
der  im  Auftrage  aller  Fürsten  die  Einladung  nach  Frankfurt  er- 
neuert. 

»Diesem  Schachzug  zu  \viderstehen,  wurde  meinem  Herrn 
nicht  leicht.  Er  wiederholte  mehrmals  die  Erwägung:  , Dreißig 
regierende  Herren  und  ein  König  als  Courier!'  Und  er  liebte  und 
verehrte  den  König  von  Sachsen,  der  unter  den  Fürsten  für  diese 
Mission  auch  persönlich  der  Berufenste  war.  Erst  um  Mitternacht 
gelang  es  mir,  die  Unterschrift  des  Königs  zu  erhalten  für  die  Ab- 
sage an  den  König  von  Sachsen.   Als  ich  den  Herrn  verHeß,  waren 

28* 


436  Kleine  historische  Schriften. 

wir  beide  infolge  der  nervösen  Spannung  der  Situation  krankhaft 
erschöpft,  und  meine  sofortige  mündliche  Mitteilung  an  den  sächsi- 
schen i\Iinister  von  Beust  trug  noch  den  Stempel  dieser  Erregung. 
Die  Krisis  war  überwunden  worden,  und  der  König  von  Sachsen 
reiste  ab,  ohne  meinen  Herrn,  wie  ich  es  befürchtet  hatte,  noch- 
mals aufzusuchen.« 

Man  sieht,  wie  hier  die  Vorgänge  von  drei  Wochen  zusammen- 
gerückt und  die  Erzählung  mit  künstlerischer  Absicht  bis  zur 
Höhe  der  Krisis,  die  zugleich  ihre  Lösung  wird,  gesteigert  ist. 
Gastein  ist  nur  Vorspiel,  wenn  auch  das  Ganze  auf  dem  Gedanken 
aufgebaut  ist,  in  dem  Erlebnis  in  der  Achenschlucht  eine  neue 
Bestätigung  des  alten  Satzes  zu  geben  von  der  großen  Wirkung 
kleiner  Ursachen. 


Wenden  wir  uns  jetzt  der  Kritik  unseres  Berichtes  zu,  so  müssen 
wir  mit  einer  chronologischen  Richtigstellung  beginnen.  Es  kann 
nicht  am  IMittag  des  2.  August  gewesen  sein,  als  Bismarck  unter 
den  Tannen  der  Schwarzenbergschen  Anlagen  in  Gastein  saß. 
Denn  erst  am  Nachmittag  dieses  Tages  hielt  Kaiser  Franz  Joseph 
seinen  Einzug,  und  erst  am  3.  hat  er  die  Verhandlungen  mit  König 
Wilhelm  begonnen. 

Wir  sind  durch  die  Zeitungen  über  die  äußeren  Vorgänge 
beider  Tage  recht  genau  unterrichtet.  Am  i.  August  war  der 
Kaiser  von  Wien  nach  Salzburg,  damals  der  Bahnstation  für  Gastein, 
gekommen  und  von  da  aus  am  2.  im  Wagen  in  Begleitung  zweier 
Adjutanten  weitergefahren.  Um  5  Uhr  traf  er  in  Gastein  ein  und 
stieg  in  der  Villa  der  Gräfin  von  Heran,  der  Witwe  des  Erzherzogs 
Johann,  ab.  Dort  empfing  er,  während  er  noch  die  Anreden  der 
Behörden  und  die  Blumenspenden  und  Poesien  der  weißgekleideten 
Jungfrauen  entgegennahm,  den  König.  An  den  Gegenbesuch 
des  Kaisers  im  Badeschlößchen,  Wilhelms  Quartier,  schloß  sich 
alsbald  das  Diner,  bei  dem  der  Kaiser  des  Königs  Gast  war  und 
Bismarck  (»im  schwarzen  Frack«,  wie  ein  Korrespondent  zu  be- 
richten weiß)  die  Ehre  hatte,  an  des  Kaisers  Seite  zu  sitzen.  Der 
Tag  schloß  mit  einer  glänzenden  Illumination,  bei  der  die  beiden 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  437 

Monarchen  und  ihre  Begleitung  bis  10  Uhr  sich  unter  der  festüch 
gestimmten  Menge  bewegten. 

So  die  Chronik  des  ersten  Tages  nach  dem  Bericht  der  Zeitungen. 
Daß  er  zu  pohtischen  Besprechungen  noch  nicht  verwandt  wurde, 
erfahren  wir  aus  einem  Berichte  Bismarcks  an  den  Botschafter 
in  Wien,  Freiherm  von  Werther,  vom  14.  August.  AusdrückHch 
heißt  es  hier: 

»Nachdem  der  Kaiser  Franz  Joseph  am  2.  d.  M.  hier  einge- 
troffen war,  nahm  Se.  Majestät  bei  einem  am  3.  stattfindenden 
Besuche  bei  unserm  allergnädigsten  Herrn  Gelegenheit  zur  Be- 
sprechung der  deutschen  Bundesverhältnisse,  unter  Vorlage  des 
Ew.  Excellenz  mit  dem  Erlaß  vom  13.  übersandten  Promemoria.« 

Bismarck  bemerkt  weiterhin,  daß  an  demselben  Tage  noch 
zwei  Unterredungen  zwischen  den  beiden  Herrschern  stattgefunden, 
und  daß  der  Kaiser  unmittelbar  nach  der  dritten  abgereist  sei. 

Nun  besitzen  wir  das  Briefchen  des  Königs,  dessen  Bismarck 
in  seiner  Erzählung  gedenkt;  es  steht  im  Anhang  der  »Gedanken 
und  Erinnerungen«  (Band  I,  S.  74)  und  ist  ^\irklich  unter  dem 
2.  August  abgedruckt.  Aber  das  Datum  ist  dort  nur  am  Rande 
beigefügt  und,  wie  mir  der  Herausgeber  des  Briefwechsels,  Herr 
Horst  Kohl,  auf  meine  Anfrage  bestätigte,  von  dem  Fürsten 
nachträglich  mit  Bleistift  beigeschrieben  w^orden ;  das  Original  hat 
weder  Tag-  noch  Ortsbezeichnung.  Da  es  für  unsern  Zweck  in  jedem 
Wort  von  Wichtigkeit  ist,   teile  ich  es  wieder  nachstehend  mit: 

Wenn  Sie  gelesen  haben,  wollen  Sie  mich  auf  der  Schiller 
Höhe  aufsuchen,  d.h.  vor  V22  Uhr. 

Fürsten  Congreß  am  16.  d.  M.  in  F.  a.  M. 

Execution  a  5! 

Delegierte  dereinst;  berathende  Stimme. 

Fürsten  Collegium  als  Oberhaus.  W. 

Sofort  bemerken  wir  eine  schwerwiegende  Differenz  zwischen 
dem  Brief  des  Königs  und  dem  Bericht  des  Fürsten  Bismarck. 
Zunächst  setzt  des  letzteren  Erzählung  voraus,  daß  eine  Unter- 
redung der  beiden  hohen  Herren  überhaupt  noch  nicht  stattge- 
fimden  hat.    Ausdrücklich  spricht  er,  es  ist  ja  eben  die  Pointe 


438  Kleine  historische  Schriften. 

seiner  Erzählung,  von  dem  ersten  Eindruck,  den  die  Eröff- 
nungen des  Kaisers  auf  den  König  gemacht  hätten.  Wilhelm  da- 
gegen bezieht  sich  bereits  auf  diesen  ersten  Besuch  selbst;  und 
wenn  er  Bismarcks  Kommen  zum  Schillerplatz  fordert,  so  ge- 
schieht es,  um  ihn  gerade  deshalb  vor  dem  Diner,  zu  dem  er  den 
Kaiser  auch  an  diesem  Tage  geladen  hatte,  zu  sprechen.  Auch 
sonst  bietet  die  Interpretation  des  Billetts  wichtige  Aufschlüsse. 
Zunächst  ist  klar  (die  Worte :  » Wenn  Sie  gelesen  haben «  machen 
es  ganz  deutlich),  daß  der  König  noch  ein  Schriftstück  beigelegt 
hat,  über  das  er  sich  eben  mit  seinem  Minister  vor  dem  Diner 
unterhalten  will.  Und  wir  brauchen  nicht  lange  danach  zu  suchen : 
es  ist  kein  anderes  als  das  Promemoria  über  die  Bundesreform, 
dessen  Hauptgedanken  wir  vorhin  kennen  lernten.  Daß  Franz 
Joseph  in  der  Tat  eben  dieses  bei  seinem  ersten  Besuche  übergeben 
hat,  lasen  wir  bereits  in  dem  vorhin  zitierten  Bericht  Bismarcks 
an  Freiherrn  von  Werther. 

»Zu  demselben,«  so  fährt  Bismarck  darin  an  der  zitierten 
Stelle  fort,  »gab  Se.  Majestät  der  Kaiser  die  mündlichen  Erläute- 
rungen, daß  zunächst  ein  Fürstenkongreß  sich  am  i6.  d.  M.  in 
Frankfurt  a.  M.  versammeln,  daß  an  der  Spitze  des  Bundes  ein 
Direktorium  von  fünf  Fürsten  stehen,  daß  der  Bundestag  fort- 
fahren solle,  die  laufenden  Geschäfte  zu  verhandeln,  daß  aber  aus 
sämtlichen  Souveränen  des  Bundes  ein  zeitweise  zusammen- 
tretendes Oberhaus  und  aus  Delegierten  der  Landtage  der  ein- 
zelnen Staaten  ein  mit  beratenden  Attributionen  versehenes 
Unterhaus  gebildet  werden  solle.« 

Das  sind  genau  die  Punkte,  die  der  König  in  den  letzten  vier 
Zeilen  seines  Billetts  anführt,  und  worin  er  also  ein  Resume  der 
mündlichen  Eröffnungen  des  Kaisers  gibt. 

Daß  letzterer  erst  an  diesem  Tage  seine  Eröffnungen  gemacht 
hat,  bestätigen  diese  Worte.  Doch  wäre  es  immerhin  denkbar, 
daß  Franz  Joseph  seinen  Bundesfreund  am  Abend  vorher  auf  seinen 
Plan  andeutend  vorbereitet  habe.  Überhaupt  aber  wird  man  in 
Gastein  nicht  so  völlig  überrascht  gewesen  sein,  wie  man  nach 
Bismarcks  Erzählung  vermuten  würde.  Der  Besuch  des  Kaisers 
bei  dem  König  war  längst  geplant;  er  war  schon  in  Karlsbad  für 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein   1863.  439 

Ende  Juni  in  Aussicht  genommen,  dann  aber  von  Woche  zu  Woche 
verschoben  worden.  Und  ohne  Frage  sahen  König  Wilhehn  und 
seine  Minister,  worauf  mir  auch  der  Tenor  des  Briefes  hinzudeuten 
scheint,  voraus,  daß  die  Besprechung  der  deutschen  Frage  ge- 
widmet sein  würde.  Waren  doch  schon  seit  zwei  Tagen  oder  mehr 
in  der  Wiener  und  der  süddeutschen  Presse  ]\Iitteilungen  ent- 
halten, die  direkt  auf  ein  solches  Programm  der  bevorstehenden 
Monarchenbegegnung  hinwiesen  und  ihren  Ursprung  offenbar 
im  Wiener  Ministerium  selbst  hatten.  Am  i.  August  hatte  die 
Wiener  »Presse«  es  offen  ausgesprochen,  daß  der  Besuch  des  Kaisers 
den  Zweck  habe,  den  König  persönlich  für  die  deutsche  Reform 
zu  gewinnen ;  sei  das  nicht  möghch,  so  werde  Österreich  selbständig 
vorgehen.  Daran  knüpfte  das  offiziöse  Blatt  einen  Artikel  aus 
dem  »Nürnberger  Courier«,  dem  der  inspirierte  Ursprung  ebenfalls 
auf  der  Stirn  geschrieben  stand:  die  erste  Hälfte  des  August, 
so  war  hierin  ausgeführt,  werde  nicht  vorübergehen,  ohne  daß 
Österreich  Ernst  mit  der  Bundesreform  mache;  ein  Delegierten- 
parlament als  Unterhaus,  eine  Fürstenkammer,  Herausbildung 
einer  Zentralgewalt  und  andre  Punkte  waren  darin  bereits  nam- 
haft gemacht  worden.  Ich  dächte,  man  darf  annehmen,  daß  solche 
Zeitungsstimmen  Bismarck  und  seinem  königlichen  Herrn  schon 
vor  die  Augen  gekommen  waren,  und  daß  sie  eine  Zusammenkunft, 
die  der  Kaiser  und  König  Max  von  Bayern  kurz  vorher,  am 
28.  Juni,  in  Regensburg  gehabt  hatten,  und  bei  der  sich  Franz 
Joseph  diesem  über  seine  Absichten  zuerst  eröffnet  hatte,  eben- 
falls darauf  gedeutet  haben. 

Ich  möchte  aber  nicht  einmal  so  unbedingt  annehmen,  daß 
König  Wilhelm  in  dem  Maße,  wie  Bismarck  es  erzählt,  an  dem  Vor- 
schlage seines  Bundesfreundes  Gefallen  gefunden:  das  Ausrufungs- 
zeichen, das  er  in  seinem  Brief  hinter  den  Worten  »Execution 
ä  5«  macht,  spricht  keineswegs  dafür.  Eine  Exekutivgewalt,  die 
neben  den  beiden  Großmächten  drei  Könige  hatte,  mußte  das 
Übergewicht  ganz  auf  die  Seite  Österreichs  legen.  Es  war  ein  Vor- 
schlag, wie  diejenigen,  mit  denen  Fürst  Schwarzenberg  schon  bei  den 
Verhandlungen  vor  und  nach  Olmütz  Preußen  bedrängt  und  die  im 
Prinzen  von  Preußen  immer  den  schärfsten  Gegner  gefunden  hatten. 


440  Kleine  historische  Schriften. 

Gehen  wir  jetzt  dazu  über,  die  Zeit  zu  bestimmen,  in  der 
die  Vorgänge,  die  wir  kennen  gelernt,  passiert  sind.  Die  Stunde 
des  Besuchs  Franz  Josephs  bei  dem  König  wie  auch  des  Diners 
hat  uns  der  Korrespondent  des  Wolffsclien  Bureaus  aufbewahrt: 

»Heute  Morgen,«  so  schreibt  er  am  3.  August,  »gegen  11  Uhr, 
stattete  der  Kaiser  dem  König  einen  Besuch  ab.  Um  2  Uhr  wird 
bei  Sr.  Majestät  dem  König  Diner  sein  und  abends  8  Uhr  Se. 
Majestät  der  Kaiser  die  Rückkehr  nach   Salzburg  antreten.« 

Nehmen  wir  an,  daß  der  Besuch  eine  kleine  Stunde  gedauert 
und  der  König  unmittelbar  darauf  das  Billett  in  die  Wohnung  des 
Ministers  gesandt  hat,  so  wird  Bismarck,  den  es  ja  nicht  zu  Hause 
traf,  etwa  in  der  Mittagsstunde  seinen  Spaziergang  gemacht  und 
in  der  Achenschlucht  gesessen  haben,  sowie  der  König  um  die- 
selbe Zeit  noch  einen  Ausgang  zur  Schillerhöhe  machte.  Sein 
Quartier  kann  Bismarck  kaum  viel  vor  ^/g  2  Uhr  erreicht  haben. 
Dort  also  findet  er  das  Billett  vor,  das  ihn  schon  vor  dieser  Zeit 
bei  dem  König  auf  der  Schillerhöhe  wünscht.  ]\Ian  kann  denken, 
welche  Erregung  sich  seiner  bemächtigt  hat,  wie  rasch  er  das 
Promemoria  durchflogen,  in  wie  fieberhafter  Eile  er  sich  in  den 
Gesellschaftsanzug  geworfen  hat,  um  wenigstens  nun  Seine  Maje- 
stät noch  zu  finden,  bevor  der  Kaiser  und  sein  Gefolge  im  Bade- 
schlößchen einträfen. 

Ist  er  noch  zur  rechten  Zeit  gekommen  ?  Eine  Frage  von 
entscheidender  Bedeutung,  denn  dort,  während  und  nicht  lange 
nach  dem  Mahl,  sind  die  entscheidenden  Verhandlungen  zwischen 
beiden  Herrschern  geführt  worden,  und  noch  am  Abend  hat  der 
Kaiser  seine  Rückfahrt  angetreten.  War  der  Kaiser  da,  bevor 
Bismarck  eintraf,  so  hat,  da  sich  während  des  Diners  für  Bis- 
marck nicht  die  Gelegenheit  gefunden  haben  kann,  seinen  könig- 
lichen Herrn  zu  endoktrinieren,  Wilhelm  dem  Kaiser  seine  Ant- 
wort aus  eigener  Entschließung  gegeben.  Zum  Glück  hat  uns  der 
Korrespondent  der   »Wiener  Presse«  den  Tatbestand  überliefert. 

»Heute  Morgen,«  so  schreibt  er,  »5  Uhr  schon,  sahen  die 
Bewohner  den  Kaiser  einen  Spaziergang  machen.  Während  w  i  r 
dies    niederschreiben,    steht    der    König    mit 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  441 

Bismarck  in  eifrigem  Gespräch  auf  der  Ter- 
rasse des  Schlosses,  in  welchem  der  Kaiser 
eben  erwartet  und  wo  er  um  2Uhr  speisen 
wird.« 

Nun  ist  alles  klar.  In  den  »Geäanken  und  Erinnerungen« 
Bismarcks  lebt  vor  allem  der  Eindruck  fort,  den  er  in  dem  Moment 
empfand,  als  er  Billett  und  Promemoria  in  seiner  Wohnung  vorfand 
und  nun  befürchten  mußte,  daß  er,  wie  zum  Schillerplatze,  so 
auch  zur  Besprechung  vor  dem  Diner  zu  spät  kommen  würde. 
In  Wirklichkeit  aber  hat  er  den  König  noch  allein  getroffen  und 
auf  der  Terrasse  des  Badeschlößchens  ihm  über  die  Absichten 
der  Österreicher  und  den  Weg,  wie  man  ihnen  begegnen  müsse, 
Vortrag  gehalten. 

Über  den  Inhalt  der  Besprechungen  beider  Herrscher  er- 
fahren wir  aus  den  Zeitungen  schlechterdings  nichts.  Ihre  Be- 
richterstatter wissen  wohl  zu  erzählen,  welche  Uniformen  Kaiser 
und  König  bei  ihren  Besuchen  getragen  haben,  was  für  Fahnen 
geweht,  schwarz-gelbe,  rot-weiße,  blau-weiße  (auch  ein  paar 
schwarz-rot-goldene  hatten  sich  hervorgewagt,  waren  jedoch 
noch  zum  Glück  vierundzwanzig  Stunden  vor  der  Ankunft  des 
Kaisers  entfernt  worden,  während  schwarz-weiße  nirgends  er- 
wähnt sind) ;  sie  nennen  die  gereimten  Inschriften  der  Triumph- 
bogen; sie  schwärmen  von  der  Pracht  der  Illumination  der  Wasser- 
fälle: aber  über  den  Inhalt  und  die  Bedeutung  der  Begegnung 
kann  niemand  auch  nur  ein  Wort  verraten. 

Hier  aber  treten  für  uns  die  offiziösen  und  die  offiziellen 
Schriftstücke  ein.  Bismarck  selbst  drückt  sich  darüber  in  der 
genannten  Note  an  Freiherrn  von  Werther  und  im  Anschluß  an 
die  schon  zitierten  Worte  folgendermaßen  aus: 

»Bei  dieser  und  zwei  an  demselben  Tage  nachfolgenden  Unter- 
redungen sprach  Se.  ]\Iajestät  der  König  die  entgegenstehenden 
Bedenken  in  dem  Sinne  des  anliegenden  Promemoria  aus  und 
erklärte  schließlich  bei  dem  Abschiede  beider  Monarchen,  daß 
ein  Fürstenkongreß  mit  Nutzen  für  die  ganze  Angelegenheit  der 
notwendigen  geschäfthchen  Vorbereitungen  wegen  keinesfalls  vor 
dem   I.Oktober  eingeleitet   werden  könne.« 


442  Kleine  historische  Schriften. 

Nähere  Angaben  hat  der  König  selbst  gemacht,  eben  in  dem 
von  Bismarck  hier  genannten  Promemoria,  das  er  unmittelbar 
nach  des  Kaisers  Abreise,  noch  am  Abend  —  es  ist  wenigstens  vom 
3.  August  datiert  —  niederschrieb,  und  das  zusammen  mit  einer 
amtlichen  Absage  der  Einladung  am  4.  August  an  die  Wiener 
Regienmg  gesandt  wurde.  Dies  Promemoria  war,  wie  Stil  und 
Komposition  zweifellos  machen,  ganz  von  der  Hand  Sr.  Majestät. 
Inhaltlich  aber  hält  es  sich  durchweg  auf  den  Linien,  die  Bismarck 
gezogen  hatte,  seitdem  er  im  Spätherbst  1862  den  Kampf  gegen 
die  Reformpläne  der  Österreicher  imd  die  Mittelstaaten  aufgenom- 
men, sowie  es  sich  auch  mit  allen  weiteren  Schritten  der  kühnen 
Politik  des  Ministers  bis  hin  zu  den  Erklärungen  vom  9.  April  und 
IG.  Juni  1866  deckt.  Von  einem  Schwanken  des  Königs  kann  man 
danach  in  jenem  Augenblick  nicht  mehr  sprechen.  In  fünf  Punkten 
faßt  Wilhelm  die  Gründe  zusammen,  die  er  vor  dem  Kaiser  gegen 
eine  Beteiligung  Preußens  an  einem  Fürstentage,  der  schon  am 
16.  August  beginnen  solle,  geltend  gemacht  habe.  Zunächst  ist 
es  der  zu  kurz  gestellte  Termin :  die  Fürsten  würden  sich  auf  diesen 
»unendlich  weittragenden  Schritt«  gar  nicht  vorbereiten  können. 
Aber  auch  bei  weiterer  Hinausschiebung  nennt  er  es  gewagt,  die 
Angelegenheit  gerade  einem  Kollegium  von  Fürsten  zu  unter- 
breiten, denen,  wie  das  die  Erfahrung  öfter  bewiesen  habe,  die 
Arbeitsfähigkeit  dazu  mangele.  Er  würde  es  daher  durchaus  vor- 
ziehen, daß  zunächst  die  Minister  der  siebzehn  stimmführenden 
Staaten  in  einer  vorläufigen  Beratung  die  Frage  geschäfts- 
mäßig vorbereiteten,  »w'elcher  Arbeit  dann  durch  die  zu  con- 
vocirenden  Fürsten  die  Sanktion  erteilt  werden  könnte.«  Gegen 
die  Berufung  einer  aus  Delegierten  der  deutschen  Kammern  zu- 
sammengesetzten Versammlung  macht  er  das  konservative  Be- 
denken geltend,  daß  die  Abgeordneten,  die  daheim  schon  beschlie- 
ßende Stimme  hätten,  mit  bloß  beratender  niemals  zufrieden  sein, 
sondern  alsbald  nach  weiteren  Attributionen  streben  würden. 
Wenn  er  aber  statt  dessen  im  Namen  der  konservativen  Inter- 
essen für  alle  Bundesstaaten  ein  gleiches  Wahlreglement  aufstellen 
möchte,  d.  h.  ein  direkt  aus  Volkswahlen  hervorgegangenes  Par- 
lament vorschlägt,   so  wird  er  mit  dieser  Motivierung    bei  dem 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  443 

Kaiser  und  dessen  Ministern  kaum  Anklang  gefunden  haben. 
Ausdrücklich  war  in  dem  Wiener  Promemoria  dieser  Modus  ver- 
worfen worden,  und  zwar  im  Hinblick  auf  den  gleichlautenden 
Vorschlag,  den  Bismarck  schon  im  Januar  beim  Bundestage  hatte 
einbringen  lassen. 

»Einrichtungen,«  heißt  es  dort,  »wie  eine  einheitUche  Spitze 
oder  ein  aus  direkten  Volkswahlen  hervorgehendes  Parlament 
passen  nicht  für  diesen  Verein;  sie  widerstreben  seiner  Natur 
und  wer  sie  verlangt,  will  nur  dem  Namen  nach  den  Bund  oder 
das,  was  man  den  Bundesstaat  genannt  hat;  in  Wahrheit  will  er 
das  allmähliche  Erlöschen  der  Lebenskraft  der  Einzelstaaten,  er 
will  einen  Zustand  des  Überganges  zu  einer  künftigen  Unifikation, 
er  will  die  Spaltung  Deutschlands,  ohne  die  dieser  Übergang  sich 
nicht  vollziehen  kann.  Solche  Einrichtungen  wird  Österreich  nicht 
vorschlagen.« 

In  Wahrheit,  nichts  konnte  richtiger  sein.  Ein  aus  der  Nation 
unmittelbar  hervorgehendes  Parlament  widerstrebte  ebensowohl 
dem  deutschen  Bunde  wie  dem  Lebensprinzip  des  österreichischen 
Staates.  Es  war  der  Gedanke,  der,  seitdem  Bismarck  im  Januar 
ihn  aufgenommen  hatte,  aus  seinem  Programm  nicht  wieder 
verschwand  und  der  das  Quecksilber  werden  mußte,  das  die 
Fugen  des  bundestäglichen  Deutschlands  auseinandertrieb.  Es 
war  die  Idee  der  Revolution  von  1848,  die  schon  damals  zur 
Ausscheidung  Österreichs,  dem  Willen  ihrer  Urheber  selbst  ent- 
gegen, geführt  hatte.  Und  wenn  der  König  gar  hinzufügte,  daß 
einem  solchen  Parlament,  das  sich  die  Kräftigung,  aber  nicht 
die  Lähmung  der  Regierung  zur  Aufgabe  stelle,  noch  ausge- 
dehntere als  nur  beratende  Befugnisse  verliehen  werden  könnten, 
so  mußte  das  in  Wien  fast  als  eine  Kriegserklärung  aufgefaßt 
werden. 

An  dritter  Stelle  weist  der  König  in  seinem  Memoire  auf  die 
Schwierigkeiten  hin,  welche  die  Wahl  der  drei  Glieder  des  Exkutiv- 
direktoriums,  die  außer  Preußen  und  Österreich  darin  sitzen  sollten, 
haben  würde;  und  daß,  je  größer  die  Machtvollkommenheit  der 
Exekutive  wäre,  desto  schwerer  die  Zustimmung  der  dabei 
unbeteiligten    Staaten   zu   gewinnen   sein   würde. 


^44  Kleine  historische  Schriften. 

Schließlich  macht  er  noch  auf  die  bedenkhchen  Folgen  auf- 
merksam, die  sich  aus  der  bei  der  Übereilung  des  Planes  drohenden 
Uneinigkeit  ergeben  würden:  je  höher  durch  eine  so  außerordent- 
liche Maßregel,  wie  sie  seit  dem  Wiener  Kongreß  noch  nicht  ge- 
troffen wäre,  die  Erwartungen  gespannt  wären,  um  so  leichter 
würde  es  der  Revolution  werden,  das  Ergebnis  als  ungenügend 
darzustellen  und  die  beteiligten  Monarchen  hierfür  persönlich  ver- 
antwortlich zu  machen. 

Daß  diese  Erklärungen  nicht  bloß  im  Sinne  Bismarcks  waren, 
sondern  daß  er  sie  in  dem  Gespräch,  das  sie  beide  vorher  auf  der 
Terrasse  des  Badeschlößchens  gehabt  hatten^),  im  wesentlichen 
inspiriert  hat,  wird  man  danach,  denke  ich,  nicht  mehr  in  Abrede 
stellen  können. 

Die  Zeit  der  Besprechungen  zwischen  beiden  Herrschern 
können  wir  wiederum  einem  Telegramm  des  Wolffschen  Bureaus 
(vom  4.  August)  entnehmen: 

»Nach  Beendigung  des  bei  Sr.  Majestät  dem  König  von 
Preußen  stattgehabten  Diners  imterhielten  sich  beide  Majestäten 
längere  Zeit  auf  dem  Balkon  des  Schlosses.  Abends  8  ^/g  Uhr 
verließ  Se.  Majestät  der  Kaiser  Gastein,  nachdem  er  Sr.  Majestät 
dem  König  einen  Abschiedsbesuch  gemacht  hatte,  den  der  König 
mit  seinem  Gefolge  erwiderte.« 

Dazu  die  Angabe  der  »Presse«,  daß  der  Kaiser  nach  6  Uhr 
seinen  Abschiedsbesuch  gemacht  habe.  Hiemach  werden  wir  wohl 
ohne  Bedenken  sagen  dürfen,  daß  die  beiden  Nachmittagsunter- 
redungen mit  der  auf  dem  Balkon  und  dem  Abschiedsbesuch  des 
Kaisers  zu  identifizieren  sind^).  Wie  lebhaft  gerade  die  Szene 
auf  dem  Balkon  dem  König  in  der  Erinnerung  bUeb,  erfahren  wir 
aus  einer  Notiz  in  den  Lebenserinnerungen  Rudolf  Delbrücks. 
Delbrück  hatte  im   Jahre  darauf  auf  einer  Reise,  die  ihn  auch 


^)  Und  vielleicht  noch  einmal  in  der  Zwischenzeit  zwischen  dem  Diner 
und  der  dritten  Unterredung.     Das  Diner  dauerte  eine  Stunde. 

*)  Den  Abschiedsbesuch  des  Königs  setzt  die  »Presse«  auf  präzis 
8  Uhr,  der  »Staatsanzeiger«  auf  7V2  Uhr.  Auch  damals  widmete  man  der 
Sache  gewiß  noch  ein  kurzes  Wort. 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  445 

nach  Gastein  führte,  die  Ehre,  hier  von  dem  König  zum  Diner 
geladen  zu  werden. 

»Nach  dem  Diner,«  so  erzählt  er,  »trat  der  König  mit  mir 
auf  den  Balkon  nach  dem  Straubinger  Platze.  Heute  vor  einem 
Jahre,  sagte  er,  stand  ich  hier  mit  dem  Kaiser  von  Österreich, 
der  gekommen  war,  um  mich  zum  Fürstentage  nach  Frankfurt 
a.  'M.  einzuladen.  Die  Betrachtungen  über  den  Unterschied  zwischen 
damals  und  heute,  die  er  an  diese  Erinnerung  knüpfte,  waren  charak- 
teristisch für  den  hohen  Herren  durch  die  Dankbarkeit,  die  Gottes 
Führung,  und  die  Bescheidenheit,  die  seinem  Heere  und  seinen 
Räten  die  Ehre  ließ.  Befriedigung  klang  aus  seinen  Worten,  nicht 
Triumph. « 

Wie  nun  aber  alles  im  einzelnen  verlaufen  ist,  ob  die  Erklä- 
rungen Wilhelms,  zumal  bei  der  ersten  Besprechung,  nicht  doch 
vielleicht  nachgiebiger  gelautet  haben,  als  es  nach  den  amtlichen 
Schriftstücken  den  Anschein  hat,  läßt  sich  nicht  sagen.  Hier  nützen 
uns  auch  die  offiziellen  Kundgebungen  nichts,  die  vielmehr  den 
Tatbestand  eher  verwirren  als  aufklären.  Die  Österreicher  hatten 
natürlich  das  Interesse,  den  König  nachgiebig  erscheinen  zu  lassen. 
So  meldete  die  Wiener  »Presse«  gleich  am  6.  August  im  Anschluß 
an  die  Meldung  von  dem  Besuch:  »Wir  glauben  hinzufügen  zu 
können,  daß  König  Wilhelm  zwar  sein  Erscheinen  noch  nicht 
bestimmt  zugesagt,  aber  noch  weniger  abgelehnt  hat,  zu  kommen, 
und  daß  man  hier  in  Wien  glaubt,  der  König  von  Preußen  werde 
bei  dem  Kongresse  nicht  fehlen.«  Eine  Woche  darauf  brachte  die 
ebenfalls  offiziöse  Frankfurter  »Oberpostamtszeitung«  einen  aus 
Wien  vom  11.  datierten  Rückblick  auf  die  Verhandlung,  der  da- 
von ausging,  daß  der  Zweck  des  Kongresses  von  beiden  Monarchen 
sehr  eingehend  und  vom  König  von  Preußen  in  durchaus  ent- 
gegenkommender Weise  erörtert  worden  sei;  seine  definitive  Er- 
klärung zu  geben  habe  sich  der  König  indes  bis  dahin  vorbe- 
halten, wo  er  Muße  haben  werde,  das  unmittelbar  vor  der  Ab- 
reise ihm  von  dem  Kaiser^)  überreichte  formelle  Einladungs- 
schreiben zu  lesen. 


^)  Vgl.  unten.    Man  bemerke  die  leise  Abweichung  von  der  Wahrheit. 


446  Kleine  historische  Schriften. 

Dementsprechend  beeilte  sich  die  Wiener  Regierung,  voll- 
endete Tatsachen  zu  schaffen.  Kaum  war  der  Kaiser  nach  Wien 
zurückgekehrt,  so  gingen  am  5.  August  sämtliche  Einladungs- 
schreiben ab,  begleitet  von  einem  Expose  des  ]\Iinisters  des  Aus- 
wärtigen vom  4.  August  über  Veranlassung  und  Zweck;  auf  den 
folgenden  Tag  lud  Graf  Rechberg  die  Gesandten  der  deutschen 
Höfe  zu  sich,  um  ihnen  nähere  Mitteilungen  über  den  Plan  zu  machen, 
der  am  Morgen  des  6.  August  in  allgemeinen  umrissen  in  der 
»\A'iener  Zeitung«  angekündigt  wurde.  Graf  Rechberg  erwähnte 
dabei,  daß  er  selbst  den  Kaiser  begleiten  werde,  und  forderte  die 
Gesandten  auf,  ihren  Höfen  den  Wunsch  des  Kaiserlichen  Kabinetts 
zu  übermitteln,  mit  den  Fürsten  auch  deren  Minister  in  Frank- 
furt zu  sehen. 

Umgekehrt  die  Preußen.  Wenn  Bismarck  dem  Absagebrief 
vom  4.  August  das  eigenhändige  Memoire  des  Königs  beilegte, 
so  war  das  eine  Maßregel,  offenbar  dazu  bestimmt,  jedem  Miß- 
verständnis der  mündlichen  Äußerungen  des  Königs  in  Wien 
vorzubeugen.  Denselben  Zweck  hatte  ein  Zirkular  an  die  preußi- 
schen Gesandten,  das  gleich  am  4.  August  telegraphisch  nach 
Berlin  abging  und  schon  am  5.  August  von  Berhn  aus  versandt 
wurde.  Und  entsprechende  ]\Iitteilungen  brachten  die  von  Bismarck 
inspirierten  Zeitungen. 

Zu  voller  Klarheit  werden  \\ir  an  diesem  Punkte  nicht  ge- 
langen können.  Die  Wahrheit  wird  hier  wohl  einmal  (was  ja  sonst 
keineswegs  immer  der  Fall  ist)  in  der  Mitte  hegen.  Ohne  Zweifel 
haben  die  Österreicher  übertrieben.  Die  Gründe,  welche  Wilhelm 
in  seinem  Promemoria  angibt,  hat  er  sicherhch  auch  in  dem  Gespräch 
mit  dem  Kaiser  vorgebracht.  Anderseits  war  die  Form  der  Ab- 
sage weder  in  dem  Absageschreiben  noch  in  dem  Promemoria 
ganz  unumwunden,  sondern  der  König  verschanzte  sich  an  beiden 
Orten  hinter  der  Unzweckmäßigkeit  und  der  Unmöglichkeit, 
die  Dinge  so  rasch  zu  regeln.  Für  den  Gedanken  der  Reform 
selbst  hatte  er  nur  sympathische  Worte,  und  selbst  das  Zustande- 
kommen des  Kongresses  stellte  er  als  sehr  wohl  mögHch  hin,  so- 
bald nur  jene  Umstände  beseitigt  wären.  Es  klingt  daher  ganz 
glaubhch,  w^as  die  in  BerUn  erscheinende  »Feudale  Korrespondenz« 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  447 

von  sehr  verläßlicher  Seite,  wie  sie  schreibt  (man  könnte  an  Stein- 
äcker, Alvensleben  oder  Manteuffel  denken),  zu  berichten  weiß. 
Als  der  Kaiser  vor  der  Abreise  dem  König  die  Worte  zugerufen 
habe:  »Ich  darf  Sie  also,  lieber  Oheim,  in  Frankfurt  a.  M.  er- 
warten«, sei  ihm  vom  König  erwidert:  »Jawohl,  auf  Wiedersehen 
in  Frankfurt  a.  M.!«  Es  fragt  sich  nur,  worauf  der  König  bei  den 
Besprechungen  mehr  den  Akzent  gelegt  hat,  ob  auf  die  Gründe, 
die  gegen  den  Kongreß  sprachen,  oder  auf  den  Wunsch,  an  den 
Beratungen  für  Deutschlands  Wohl  teilzunehmen.  Und  ich  halte 
es  nicht  für  unmöglich,  daß  Franz  Joseph  wirklich  mit  dem  Ein- 
druck geschieden  ist,  als  könne  der  König  am  Ende  doch  noch 
zur  Reise  gebracht  werden. 

Wie  dem  auch  sei,  so  darf  man  doch  immerhin  annehmen, 
daß  König  Wilhelm  durch  die  überraschende  Wendung  chokiert 
wurde,  welche  die  Angelegenheit  nahm,  als  gleich  nach  dem  Ab- 
schied des  Kaisers  sein  Flügeladjutant  die  Einladung  überreichte, 
und  daß  er  unter  diesem  Eindruck  sowohl  das  Promemoria  nieder- 
geschrieben als  den  Absagebrief  unterzeichnet  hat.  Denn  mehr 
noch  als  in  dem  Besuch  und  den  Besprechungen  selbst  trat  hierin 
der  Versuch  einer  Überrumpelung  Preußens  hervor;  ich  zweifle 
nicht,  daß  Bismarck  dabei  das  Seine  getan  hat,  um  diese  Empfin- 
dung der  »Unterschätzung«  in  seinem  könighchen  Herrn  zu  ver- 
stärken. 


Leider  hielt  diese  Stimmung  bei  König  Wilhelm  nicht  an. 
Sondern,  wde  es  in  seiner  Art  lag,  nachdem  er  sich  den  Wegen  seines 
Ministers    angeschlossen,    kamen   ihm   erst    recht    die    Bedenken. 

Ich  möchte  diese  Abwandlung  schon  in  dem  Wunsche  ent- 
decken, den  Wilhelm  gleich  am  Morgen  des  4.  August  gegen  seinen 
Minister,  zunächst  schriftlich,  zum  Ausdruck  brachte,  durch  ein 
Telegramm  an  den  Kaiser  allen  weiteren  Schritten  desselben  zu- 
vorzukommen. 

»Was  meinen  Sie,«  so  schreibt  er,  »ob  es  nicht  gut  wäre  dem 
Kaiser  gleich  zu  telegraphiren,  daß  nach  unserer  Unterredung 
und  dem  heute  erfolgenden  Resume  derselben,  ich  das  Schreiben 


4/,ft  Kleine  historische  Schriften. 

vom  31.  July  als  non  avenu  betrachtete  und  envartete,  daß  ähn- 
liche Schreiben  daher  nicht  übergeben  würden.  So  wäre  es  vielleicht 
noch  möglich,  die  Übergabe  der  Einladungen  nach  F.  a/M.  zu 
sistiren.     ^/a  n  Uhr  bin  ich  zu  Haus.  W.« 

Bismarck  war  gewiß  eher  dafür,  den  Konflikt  zu  verschärfen, 
als  ihm  aus  dem  Wege  zu  gehen.  Ob  er  sich  in  dem  Sinne  ausge- 
sprochen hat,  wissen  wir  nicht.  Jedenfalls  ging  das  Telegramm 
ab.  Da  es  uns  im  Wortlaut  nicht  vorliegt,  bleibt  auch  der  In- 
halt zweifelhaft.  In  der  mehrfach  genannten  Depesche  an  Frei- 
herrn  von  Werther  vom  14.  August,  die  zur  Veröffentlichung  be- 
stimmt war  und  noch  vor  Ende  des  Monats  herauskam,  bemerkt 
Bismarck  lediglich  folgendes  darüber: 

»Um  dem  Kaiserlichen  Kabinett  Gelegenheit  zu  geben,  seine 
Entschließungen  mit  Kenntnis  der  diesseitigen  zu  treffen,  richtete 
Se.  Majestät  noch  am  4.  ein  Telegramm  an  Se.  Majestät  den  Kaiser, 
in  dem  die  Ablehnung  der  Einladung  zum  16.  bestimmt  ausge- 
sprochen wurde.« 

Eine  wesentlich  andere  Färbung  hat  hingegen  eine  Notiz  der 
Wiener  »Presse«  vom  9.  August:  Der  Kaiser,  schreibt  diese,  sei 
kaum  von  Gastein  zurückgekehrt,  als  ein  Telegramm  angekommen 
sei,  in  dem  der  König  das  Erscheinen  in  Frankfurt  aus  Rücksichten 
der  Gesundheit  abgelehnt  habe.  Und  damit  stimmt  wiederum 
auffallend  überein,  was  uns  von  einem  Handschreiben  König 
Wilhelms  an  den  Kaiser  mitgeteilt  wird,  das  von  preußischer 
Seite  völlig  ignoriert  wird,  dessen  Existenz  aber  gar  nicht  bezweifelt 
werden  kann.  Schon  am  9.  August  teilte  die  »Presse«  ein  Wort 
darüber  mit.  Ein  Telegramm  aus  Frankfurt,  schreibt  sie,  bringe 
heute  »völlige  Klarheit  über  den  Entschluß  des  Ministeriums 
Bismarck:  es  refüsiert;  gleichwohl  versichert  man  uns,  daß  noch 
zwischen  Kaiser  und  König  eine  persönliche  Korrespondenz  über 
den  Gegenstand  fortdauert.«  Näheres  brachte  dann  wieder  der 
vorhin  genannte  Artikel  der  »Oberpostamtszeitung«.  Nachdem 
sie  zunächst  des  Absagebriefes  vom  4.  gedacht,  schreibt  sie  folgendes : 

»Am  6.  August  traf  ein  zweites,  diesmal  ganz  von  der  Hand 
des    Königs   geschriebenes    Schreiben    ein,   worin    derselbe   nach- 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  449 

träglich  geltend  machte,  daß  es  ilim  nicht 'tunlich  erscheine,  un- 
mittelbar nach  beendeter  Badekur  sich  den  Anstren- 
gungen einer  Begegnung  in  Frankfurt  zu  unterziehen.« 

Auch  über  ein  Gegenschreiben  des  Kaisers  weiß  sie  zu  be- 
richten : 

»Am  7.  August  antwortete  der  Kaiser,  daß  er  in  der  Über- 
zeugung nicht  wankend  ge\\orden  sei,  wie  gerade  die  persönliche 
Begegnung  der  Fürsten  sich  am  geeignetsten  darstelle,  eine  Ver- 
ständigung herbeizuführen,  und  daß  die  Einladungssclu-eiben 
übrigens  auch  bereits  abgegangen  seien;  er  bitte  daher  den  König, 
falls  sein  Zustand  ihn  wider  Verhoffen  hindern 
sollte,  selbst  nach  Frankfurt  zu  kommen,  einen  Prinzen  seines 
Hauses  dorthin  zu  senden.« 

Nun  wird  uns  erst  eine  Stelle  in  der  Depesche  Bismarcks 
an  Werther  klar,  welche  an  sich  in  den  Zusammenhang  dieses 
Schriftstückes  nicht  recht  hineinpaßt: 

»Am  7.  des  Monats«,  so  schreibt  der  Minister  in  Anknüpfung 
an  den  Satz  über  das  Telegramm  und  den  Absagebrief  vom 
4.  August,  »^^•u^de  durch  einen  Kaiserhchen  Flügeladjutanten 
Sr.  Majestät  dem  Könige  eine  erneute  Einladung  unter  Beifügung 
des  abschrifthch  anliegenden  Promemoria  überbracht.  Dieselbe 
enthielt  mit  Rücksicht  darauf,  daß  Sr.  Majestät  des 
Königs  Badekur,  wenn  sie  regelmäßig  beendet 
werden  solle,  Allerhöchstdemselben  nicht  gestatte, 
am  16.  in  Frankfurt  anwesend  zu  sein,  den  eventuellen 
Vorschlag,  einen  der  Königl.  Prinzen  in  Vollmacht  zu  dem  Kongreß 
zu  senden.  Se.  ^lajestät  der  König  lehnte  wiederholt  in  einem 
eigenhändigen  Schreiben  vom  7.  c.  sowohl  das  eigene  Erscheinen 
als  die  Entsendung  eines  Königl.  Prinzen  ab.  Hierauf  beschränkt 
sich  der  in  der  Sache  bisher  stattgehabte   Schriftwechsel.« 

Der  bestimmten  Absage  vom  4.  August  gegenüber  wäre  eine 
erneute  Einladung  durch  den  Kaiser  ohne  das  Z\rischengHed 
eines  besonderen  königlichen  Briefes  sehr  auffallend  gewesen. 
Und  noch  auffallender  wäre  die  in  den  von  mir  gesperrt  gedruckten 
Worten  entwickelte  Rücksicht  auf  die  Badekur  des  Königs.  Denn 
das  von  Bismarck  ervvähnte  Promemoria,  das  zu  den  von  preußi- 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  2g 


450  Kleine  historische  Schriften. 

scher  Seite  später  publizierten  Aktenstücken  gehört^),  enthält 
von  diesen  Umständen  nichts  und  ist  nur  bestimmt,  die  in  dem 
Memoire  des  Königs  vom  4.  (3.)  vorgetragenen  Bedenken  zu  wider- 
legen. Durch  den  Brief  des  Königs  aber,  bzw.  durch  das  Tele- 
gramm,  wird   der   neue    Schritt   des   Kaisers   völlig  erklärt. 

Wir  haben  also  drei  Handschreiben  der  beiden  Monarchen 
anzunehmen,  die  noch  in  den  Archiven  verborgen  sind:  einen 
Brief  des  Königs  vom  5.,  die  Antwort  des  Kaisers  vom  6.  (denn 
so  ist  die  Angabe  der  »Oberpostamtszeitung«  zu  verbessern)  und 
die   Replik  des   Königs,   die  auf  den   7.  August  datiert  ist^). 

Wie  Bismarck  über  diesen  Schritt  des  Königs  gedacht  hat, 
brauchen  wir  kaum  zu  sagen;  er  wird  ihm  wenig  Freude  gemacht 
haben.  Ob  es  aber  darüber  zu  einer  Szene  mit  dem  Monarchen 
gekommen,  ob  Wilhelm  am  Ende  diesen  persönlichen  Schritt 
ganz  auf  eigene  Hand  getan  und  Bismarck  nur  darüber  orientiert 
hat,  läßt  sich  wieder  nicht  ausmachen.  Jedenfalls  betrachtete 
Bismarck  diese  Korrespondenz  als  non  avenue  und  verv\ischte 
in  den  amtlichen  Kundgebungen  nach  Möglichkeit  ihre  Spuren, 
Das  zeigt  uns  ein  Dementi  des  »Staatsanzeigers«  (im  nichtamt- 
hchen  Teil)  vom  17.  August,  das  jenen  österreichischen  Indiskre- 
tionen ausdrücklich  entgegengesetzt  war  und  für  die  Diplomaten- 
hand unseres  großen  Staatsmanns  (denn  daß  es  direkt  von  ihm 
stammt,  bezweifle  ich  keinen  ^Moment)  zu  charakteristisch  ist, 
als  daß  wir  es  dem  Leser  vorenthalten  möchten. 

»Nachdem«,  so  lautet  es,  »die  ,Wiener  Presse'  den  Inhalt 
eines  von  Sr.  Majestät  dem  Kaiser  am  6.  an  Se.  Majestät  den 
König  gerichteten  eigenhändigen  Schreibens  teilweise  veröffent- 
licht hat,  sind  wir  in  den  Stand  gesetzt,  über  die  .  .  .  Einladung 
zum  Fürstenkongreß  .  .  .  Nachstehendes  mitzuteilen:  Nach- 
dem im  Laufe  des  3.  d.  M.  in  Gastein  zwischen  Ihren  Majestäten 
dem  König  von  Preußen  und  dem  Kaiser  von  Österreich  mehrere 
Besprechungen  über  die  Bundesre formfrage  stattgefunden,  wurde 
am  Abende,  nachdem  beide  Monarchen  sich  voneinander  ver- 
abscliiedet  hatten,   Sr.  Majestät  dem  Könige  das  die  Einladung 

^)  Gedruckt  Staatsarchiv,  Bd.  X,  Nr.  1845. 

*)  Vgl.  Anhang  zu  »Gedanken  und  Erinnerungen«,  Bd.  I,  Nr.  79. 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  451 

zum  16.  d.  M.  nach  Frankfurt  enthaltende  kaiserliche  Schreiben 
vom  31.  V.  M.  durch  einen  Adjutanten  überbracht.  Am  4.  d.  M. 
lehnte  Se.  Majestät  der  König  definitiv,  sowohl  telegraphisch 
als  auch  durch  ein  gleichzeitig  nach  Wien  abgesandtes  Aller- 
höchstes Schreiben,  die  Einladung  ab,  unter  Bekundung  der 
Genugtuung  über  die  Anerkennung  des  Bedürfnisses  einer  Re- 
organisation der  Bundesverfassung  sowie  der  Bereitwilligkeit, 
zu  derselben  mitzuwirken,  und  mit  Wiederholung  der  mündlich 
schon  geltend  gemachten  Bedenken  gegen  Form  und  Inhalt  der  von 
Österreich  in  Aussicht  gestellten  Maßnahmen.  Hierauf  beschränkt 
sich  bisher  die  amthche  Korrespondenz  Preußens  und  Österreichs 
über  die  von  letzterem  angeregten  Ref orm plane. « 

Dadurch,  daß  der  Ton  auf  das  Wort  »amthch«  gelegt  ^^'ird 
(aber  freilich  nur  dadurch),  korrespondiert  die  Mitteilung  mit  den 
Tatsachen. 

Wir  bemerkten  vorhin,  daß  das  zweite  Handschreiben  des 
Königs  vom  7,  August  datiert  war.  Aber  auch  in  bezug  darauf 
stimmen  uns  österreichische  Mitteilungen  bedenklich.  Gleich  die 
»Oberpostamtszeitung«,    hat    wieder    eine    differente    Mitteilung: 

»Der  Kaiserliche  Flügeladjutant,  der  das  Schreiben  des  Kaisers 
nach  Gastein  brachte,  kam  ohne  bestimmte  Antwort  zurück; 
der  Telegraph  meldete  am  folgenden  Tage,  daß  der  König  sich  die 
Antwort  vorbehalte;  bis  gestern  Abend  (10.  August)  w^ar  dieselbe 
noch  nicht  eingetroffen.« 

Und  ähnlich  noch  mehrere   Stimmen  aus  derselben    Quelle. 

Aber  dem  setzten  sich  sofort  preußische  Erklärungen  ent- 
gegen, die  von  Wien  selbst  in  die  Presse  lanciert  oder  doch  von 
dort  datiert  waren.  Es  sei  unbegreiflich,  so  lautet  die  eine,  wie 
die  Generalkorrespondenz  (ein  hochoffiziöses  Wiener  Blatt)  zu 
der  Angabe  komme,  daß  noch  keine  definitive  Ablehnung  zu 
der  Einladung  zum  Fürstentage  erfolgt  sei;  denn  seit  dem  g.  August 
liege  die  definitive  Ablehnung  des  Königs  Wilhelm  in  Wien  vor. 

Widersprüche,  zwischen  denen  man  sich  kaum  auskennt. 
Daß  der  Kaiserhche  Flügeladjutant,  der  am  9.  abends  in  Wien 
wieder  eintraf,  das  Handschreiben  vom  7.  mitbrachte,  werden 
wir  allerdings  festhalten  dürfen;  und  insofern  haben  die  Preußen 

29* 


452  Kleine  historische  Schriften. 

recht.  Aber  \\as  ist  es  mit  dem  Telegramm?  Und  hat  vielleicht 
der  Adjutant  über  mündliche  Äußerungen  des  Königs  berichtet, 
die  den  Österreichern  noch  gewisse  Hoffnung  ließen  ?  Oder  waren 
von  König  Wilhelm  in  den  Brief  Wendungen  gebracht  worden, 
die  so  verstanden  werden  konnten  ?  So  zwar,  daß  er  für  sich  bei 
der  Ablehnung  blieb,  aber  den  Vorschlag  des  Kaisers,  sich  durch 
den   Sohn  vertreten  zu  lassen,  doch   nicht  ganz  zurückwies? 


Folgende  Tatsachen  führen  uns  vielleicht  einer  Antwort 
näher. 

Am  8.  Juli,  während  also  der  Kaiserhche  Flügeladjutant 
noch  in  Gastein  auf  seine  Antwort  wartete,  erhielt  der  Kronprinz 
ein  Telegramm,  das  ihn  nach  Gastein  einlud,  »um  zu  beraten«, 
wie  der  Befehl  sehr  lakonisch  lautete^).  Es  muß  schon  am  Morgen 
oder  Abend  vorher  abgesandt  sein,  denn  bereits  abends  7  Uhr 
reiste  der  Thronfolger,  von  seinem  Adjutanten,  dem  Hauptmann 
von  Loucadou  begleitet,  von  Potsdam  ab,  wohin  er  soeben  erst, 
am  5.  August,  mit  seiner  Familie  aus  Putbus  zurückgekehrt  war. 
Am  10.  abends  7  Uhr  traf  er,  nachdem  er  in  Salzburg  übernachtet 
hatte,  in  Gastein  ein.  Der  König  war  ihm  entgegengefahren, 
und  so  legten  sie  von  Hofgastein  ab  die  Strecke  gemeinsam  zu- 
rück. Niemand  hat  das  Gespräch  der  beiden  hohen  Herren  aut 
jener  Wagenfahrt  belauscht,  und  wohl  nur  ihre  Tagebücher  oder 
Briefe  an  ihre  Gemahlinnen  könnten  uns  einmal  authentischen 
Aufschluß  darüber  geben.  Und  doch  brauchen  wir  nicht  lange 
zu  fragen,  was  der  Inhalt  gewesen  sei.  Es  war  das  erste  Wieder- 
sehen zwischen  Vater  und  Sohn,  seitdem  der  Kronprinz  offen 
gegen  die  Politik  des  Ministeriums  Bismarck  aufgetreten  war 
und  seitdem  der  König  ihn  dafür  mit  seinem  Zorn  und  seiner 
Ungnade  als  Vater  und  Kriegsherr  bedroht  hatte.  Schwerer  viel- 
leicht noch  als  der  Sohn  hatte  Wilhelm  an  dem  Konflikt  getragen. 
Seine  Umgebung  hatte  versucht,  die  Indiskretion,  welche  die 
Freunde  des  Kronprinzen  durch  die  Bekanntmachung  ihres  Brief- 


^)  Philippson,  Das  Leben  Kaiser  Friedrichs  III.,  S.  122. 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  453 

wechseis  in  der  »Times«  begangen  hatten,  vor  ihm  zu  verbergen. 
Aber  durch  Zufall  war  ihm  in  Karlsbad  am  14.  Juli  ein  Artikel 
der  »Weser-Zeitung«  mit  dem  Abdruck  jener  ^litteilung  in  die 
Hände  geraten,  »und  seitdem«,  schreibt  Bismarck  seiner  Frau  am 
22.  Juli,  »scheint  die  gute  Laune  fort;  er  ist  still  und  in  sich  ge- 
kehrt, forciert  sich,  heiter  zu  sein!  Es  tut  einem  das  Herz  weh, 
ihn  zu  sehen,  wie  er  sein  Gefühl  niederkämpft,  aber  die  Einsam- 
keit hebt.« 

Wer  kann  hiernach  zweifeln,  daß  Wilhelm  seinem  Sohne 
vor  allem  deshalb  entgegengefahren  ist,  um  sich  über  das,  was 
z\\ischen  ihnen  vorgefallen  war,  mit  ihm  auszusprechen  ?  Damit 
steht  also  die  Berufung  des  Kronprinzen  nach  Gastein  ohne  Frage 
in  Zusammenhang.  Hatte  der  König  ihm  doch  schon  in  den  Tagen 
vorher  einen  Brief  gesandt,  worin  eben  das  ausgesprochen  war: 
er  wünsche  ihn  nach  allem  \'orgefallenen  dort  in  der  Stille  wieder- 
zusehen, ehe  er  ihm  vor  Fremden  begegne.  Auch  mit  Bismarck 
hatte  der  Kronprinz  noch  in  der  Stunde  der  Ankunft  eine  Aus- 
sprache. Der  ^Ministerpräsident  kam,  wie  ein  Korrespondent 
m.eldet,  eine  Viertelstunde  später  ins  Schloß,  und  während  er 
bei  dem  Prinzen  war,  weilte  der  König  auf  dem  Balkon.  Bismarck 
hat  in  den  »Gedanken  und  Erinnerungen«  dieser  Begegnung  ge- 
dacht, und  er  macht  hier  ^Mitteilungen,  die,  wenn  sie  ohne  Bedenken 
hingenommen  werden  könnten,  über  die  Haltung  des  Kronprinzen 
mehr  Licht  verbreiten  würden. 

»In  Gastein«,  so  schreibt  er,  »erhielt  ich  (!)  im  August  den 
Besuch  des  Kronprinzen,  der  dort,  von  englischen  Einflüssen  freier, 
sein  Verhalten  im  Sinne  seines  ursprünghchen  ]Mangels  an  Selb- 
ständigkeit und  seiner  Verehrung  für  den  Vater  bescheiden  und 
liebenswürdig  aus  seiner  ungenügenden  politischen  Vorbildung, 
seiner  Femhaltimg  von  den  Geschäften  erklärte  und  ohne  Rück- 
halt in  den  Formen  eines  jMannes  sprach,  der  sein  Unrecht  ein- 
sieht und  mit  den  Einwirkungen,  die  auf  ihn  stattgefunden  hatten, 
entschuldigt. « 

Die  Worte  entsprechen  der  Stimmung,  welche  Bismarck  in 
den  Jahren  seiner  Verbannung  gerne  über  Kaiser  Friedrich  äußerte, 
der  es  ihm,  wie  er  ein  paar  Seiten  vorher  sagt,  durch  seine  Liebens- 


^^4  Kleine  historische  Schriften. 

Würdigkeit  und  sein  Vertrauen  leicht  gemacht  habe,  die  Gefühle, 
die  er  für  seinen  Herrn  \'ater  gehegt,  auf  ihn  zu  übertragen:  alle 
Behauptungen,  daß  zwischen  Kaiser  Friedrich  und  ihm  dauernde 
Verstimmungen  existiert  hätten,  seien  unbegründet.  Nun  haben 
wir  gleichzeitige  Mitteilungen  aus  dem  Kreise  des  Kronprinzen, 
nach  denen  der  Prinz  bei  seinem  Vater  einen  gütigen,  von  ihm  selbst 
innig  erwiderten  Empfang  gefunden  habe;  eine  Versöhnung  zwi- 
schen ihnen  sei  damals  erfolgt  und,  so  heißt  es  weiter,  infolge 
davon  sei  der  Kronprinz  auch  dem  Minister  freundlicher  ent- 
gegengetreten^). Das  letztere  bestätigt  Bismarck  in  einem  Brief, 
den  er  zwei  Tage  darauf,  kurz  vor  der  Abreise  des  Kronprinzen, 
an  seine  Gemahlin  schrieb;  von  dem  Verhältnis  des  Prinzen  zum 
König  aber  sagt  er  umgekehrt:  »oben  kühle  Beziehung«.  Jeden- 
falls werden  wir  doch  wohl  sagen  dürfen,  daß  die  Entschuldigung 
des  Kronprinzen  nicht  so  rückhaltlos  gewesen  ist  \rie  Bismarck 
in  seinen  Erinnerungen  annimmt,  eine  Annahme,  die  auch  die 
genannten  IMitteilungen  aus  dem  Kreise  des  Kronprinzen  be- 
stätigen. 

Kann  man  nun  aber  glauben,  daß  hierin  der  einzige  Zweck  der 
Reise  des  Kronprinzen  zu  seinem  Vater  zu  suchen  ist?  Wenn 
offiziöse  Kundgebungen  ein  Evangelium  wären,  so  müßten  ^^^r 
es  wohl.  Denn  stärker  noch  als  die  Angaben  über  die  persönliche 
Korrespondenz  zwischen  Kaiser  und  König  wurden  die  Nachrich- 
ten der  Wiener  »Presse«,  daß  der  Prinz  wegen  des  Fürstenkon- 
gresses berufen  sei,  in  den  Bismarckschen  Journalen  dementiert, 
um  so  schärfer,  als  nicht  bloß  von  Wien,  sondern  auch  von  Berlin 
her  ganz  anders  lautende  Meldungen  in  die  Welt  gingen.  Selbst 
die  »Norddeutsche  Allgemeine  Zeitung«  meinte  anfangs,  daß  es 
wohl  wichtige  politische  Beratungen  seien,  zu  denen  der  Kron- 
prinz nach  Gastein  berufen  worden  wäre.  Die  »Kölnische  Zeitung« 
ließ  sich  unter  dem  ii.  aus  der  Hauptstadt  melden,  man  halte  es 
dort  für  möglich,  daß  Se.  Majestät  sich  durch  den  Kronprinzen 
in  Frankfurt  vertreten  lassen  werde;  daß  die  Berufung  damit 
in  Verbindung  stehe,  werde  in  Berlin  nicht  bezweifelt.     »Unbe- 


^)  Philippson,   S.  122. 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  455 

schreibliche  Sensation«,  so  meldet  ein  Wiener  Korrespondent  am 
10.  der  »Deutschen  Zeitung«,  »erregt  hier  die  Nachricht,  daß  der 
Kronprinz  über  Salzburg  nach  Gastein  gereist  ist;  man  versichert 
auf  das  bestimmteste,  daß  er  berufen  sei,  um  den  Beratungen  über 
den  Kongreß  beizuwohnen.«  Es  sei  kein  Zweifel,  daß  die  Reise 
mit  der  Verzögerung  der  Antwort  des  Königs  auf  des  Kaisers 
Handschreiben  zusammenhänge.  Sehr  merkwürdig  ist  es,  was 
dieser  Korrespondent  von  dem  Freiherrn  von  Werther  zu  berichten 
weiß.  Derselbe  sei  vorgestern  nach  Gastein  abgereist,  ausgerüstet 
mit  allem  INIaterial  bezüglich  der  österreichischen  Propositionen, 
nachdem  er  vorher  eine  lange  Unterredung  mit  Graf  Rechberg 
gehabt  habe.  Der  Gesandte,  der  persönlich  den  österreichischen 
Plänen  zugetan  sei,  werde  den  definitiven  Entschluß  des  Königs 
zurückbringen.  Ich  lasse  es  dahingestellt,  ob  Werther  diese  Reise, 
die  auch  noch  an  anderen  Orten  gemeldet  wird,  wirklich  ange- 
treten hat.  Besonders  interessant  wäre,  wenn  richtig,  die  Angabe, 
daß  er  den  österreichischen  Vorschlägen  geneigt  gewesen  sei;  er 
würde  damit  dieselbe  schwächliche  Nachgiebigkeit  bewiesen  haben, 
die  ihm  im  Juli  1870,  als  er  Preußen  in  Paris  vertrat,  seine  Stel- 
lung kostete.  Zu  seiner  Anwesenheit  in  Gastein  würde  vortreff- 
lich passen,  daß  auch  Roon  dorthin  berufen  war;  am  7.  nach- 
mittags kam  dieser  an,  am  8.  August  reiste  er,  wie  Bismarck  seiner 
Frau  schreibt,  wieder  nach  Berchtesgaden  zurück.  Von  ihm  heißt 
es  in  seinen  Denkwürdigkeiten,  daß  er  Bismarck  damals  beige- 
standen und  ihm  viel  geholfen  habe. 

Näheres  noch  wußte  ein  Berliner  Korrespondent  der  Wiener 
»Presse«  zu  melden,  indem  er  die  Reise  des  Kronprinzen  mit  den 
Intentionen  der  Königin  Augusta  in  Verbindung  brachte.  Sie 
sei  es,  die  das  Erscheinen  des  preußischen  Thronfolgers  auf  dem 
Frankfurter  Fürstentage  dringend  gewünscht  habe,  damit  er  da- 
selbst in  Gemeinschaft  mit  den  Großherzögen  von  Baden,  Weimar 
und  Oldenburg  Opposition  mache  und  die  Vorschläge  des  Kaisers 
von  Österreich  überbiete.  Zumal  diese  Wendung  erregte  den  Zorn 
der  preußischen  Offiziösen  und  zog  die  stärksten  Dementis  über 
sich  herab.  Ein  BerHner  Korrespondent  konnte  der  »Kölnischen 
Zeitung«    »aus  einer  sehr   zuverlässigen    Quelle«  versichern,   daß 


456  Kleine  historische  Schriften. 

diese  Nachrichten  vollständig  erdichtet  seien:  »Es  ist  nie  davon 
die  Rede  gewesen,  daß  Se.  Königl.  Hoheit  der  Kronprinz  eine 
Vertretung  für  Se.  Majestät  in  Frankfurt  übernehmen  solle,  und 
ebenso  wenig  begründet,  daß  Ihre  Majestät  die  Königin  eine 
solche  Vertretung  dringend  gewünscht  habe.« 

Allen  diesen  Ableugnungen  zum  Trotz  ist  dennoch  nichts 
gewisser,  als  daß  die  Berufung  des  Kronprinzen  auch  wegen  des 
Kongresses  erfolgt  ist,  und  ebensowenig  kann  in  Abrede  gestellt 
werden,  daß  die  Königin  Augusta  sich  für  die  Teilnahme,  viel- 
leicht nicht  des  Kronprinzen,  aber  des  Königs  ausgesprochen  hat. 
Für  ersteres  ist  eine  Denkschrift  Max  Dunckers  beweisend,  die 
er  als  der  persönliche  Rat  des  Kronprinzen  am  8.  August  auf- 
gesetzt und  seinem  Herrn  auf  die  Reise  nachgeschickt  hat;  mög- 
lich, daß  dieser  sie  noch  unterwegs,  in  Salzburg  bekommen  hat. 
Darin  hatte  Duncker  drei  Wege  der  Abwehr  gegenüber  diesem 
Angriff  Österreichs  vorgeschlagen;  darunter  an  zweiter  Stelle  die 
Beteiligung  an  dem  Fürstentage,  eben  im  Sinne  jener  Opposition: 
der  Kronprinz  würde  dann  den  König  zu  vertreten  haben;  Öster- 
reichs liberale  Anerbietungen  müßten  überboten,  dem  von  Öster- 
reich vorgeschlagenen  Direktorium  die  Forderung  einer  zwischen 
Nord-  und  Süddeutschland  geteilten  Exekutive  entgegengestellt 
werden.  Und  daß  die  Königin  Augusta  und  die  Kronprinzessin 
mit  dahintersteckten,  bestätigen  wieder  die  Mitteilungen,  die 
Philippson   aus   dem   kronprinzlichen    Kreise   hat   geben   können. 

Weiter  aber  als  in  diesen  dürftigen  Umrissen  können  wir 
die  Geschichte  dieser  Krisis  nicht  verfolgen.  Ob  die  Königin 
sich  mit  ihrem  Gemahl  direkt  in  Beziehung  gesetzt  hat  oder  von 
diesem  mit  hineingezogen  worden  ist,  ob  Bismarck  der  Berufung 
widerstrebt,  ob  Roon,  der  im  Juli,  als  es  sich  nur  um  den  Kon- 
flikt mit  dem  Vater  handelte,  für  die  Zitation  des  Kronprinzen 
gewesen  war,  jetzt  noch  in  demselben  oder  in  welchem  Sinne 
sonst  gesprochen  hat,  was  Werther  geraten,  wie  das  Telegramm 
an  den  Kronprinzen  zustande  gekommen,  ob  es  der  König  selbst 
oder  Bismarck  aufgesetzt  hat  —  das  alles  liegt  noch  unter  Schleiern 
verborgen,  die  vielleicht  niemals,  vielleicht,  wie  bemerkt,  erst 
dann  gehoben   werden    können,   wenn   die  Tagebücher  und  der 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  457 

Briefwechsel  der  hohen  Herren  mit  ihren  Frauen  ans  Licht  ge- 
zogen sein  werden. 

So  viel  dürfen  wir  immerhin  sagen,  daß  der  Kronprinz  sich 
im  Sinne  der  Beschickung  des  Kongresses  ausgesprochen  hat. 
Ob  er  sich  direkt  zur  Verfügung  gestellt  oder  dafür  eingetreten 
ist,  daß  der  König  persönlich  hingehe,  bleibt  zweifelhaft.  Philipp- 
sons  Nachrichten  sprechen  für  die  letztere  Alternative,  die  auch 
mir  als  die  wahrscheinliche  erscheint:  der  Prinz  habe  in  Über- 
einstimmung mit  der  Königin  und  seiner  Gemahlin  die  Anschau- 
ung entwickelt,  sein  Vater  solle  sich  nicht  ausschließen,  sondern 
nach  Frankfurt  gehen,  dort  die  Anschauungen  und  Pläne  Preußens 
offen  darlegen  und  den  Versuch  machen,  hierfür  die  deutschen 
Fürsten  zu  gewinnen^). 

Als  Friedrich  Wilhelm  Abschied  nahm,  am  12.  August,  sah 
er  jedenfalls  seine  Hoffnungen  gescheitert.  So  hat  er  sich  auf  der 
Rückreise  in  Koburg  gegen  Herzog  Ernst  ausgesprochen,  der 
natürlich  ebenfalls  im  Hintergrunde  dieser  Versuche,  auf  die 
preußische  Politik  Einfluß  zu  gewinnen,  stand.  Am  14.  August 
traf  er  ^rieder  im  Neuen  Palais  ein.  Am  17.  August  wurde  die  durch 
jenes  Intermezzo  hinausgeschobene  Reise  nach  Thüringen  ange- 
treten; von  der  Rosenau  aus,  wohin  auch  Königin  Viktoria  ge- 
kommen war,  mußten  er  und  seine  Gemahlin  mit  ihren  Gedanken 
die  weitere  Entwickelung  der  Ereignisse  in  Baden-Baden  und  in 
Frankfurt  verfolgen. 


Bismarck  aber  hatte  von  neuem  den  König  in  die  Hand  be- 
kommen. Die  erste  Krisis  war  über\\-unden.  Er  sah  jetzt  eine 
freiere  Bahn  vor  sich  und  zögerte  keinen  Augenblick,  auf  ihr  vor- 
zudringen, um  den  König  noch  fester  an  seine  Politik  zu  fesseln. 

Die  Berliner  Zeitungen  meldeten  in  diesen  Tagen  überein- 
stimmend, daß  der  Minister  jetzt  Urlaub  nehmen,  und  daß  der 


*)  Vgl.  übrigens  Wilhelm  an  Bismarck,  Baden,  23.  August  (Anhang 
zu  den  »Gedanken  und  Erinnerungen«,  Nr.  74).  Auch  Duncker  hatte  in 
seinem  Gutachten  an  dritter  Stelle  die  Ablehnung  der  Einladung  als  den 
»einfachsten  Weg«  genannt. 


458  Kleine  historische  Schriften. 

König  ohne  ihn  nach  Baden  gehen  werde.  Und  in  der  Tat  hat 
Bismarck  zunächst  diese  Absicht  gehabt.  Sein  Sinn  stand  nach 
der  See,  in  erster  Linie  nach  Biarritz,  wo  er  im  vorigen  Jahre 
mit  den  Orloffs  so  wundervolle  Ferien  genossen  hatte.  Er  war 
schon  nach  Karlsbad  nur  ungern  mitgegangen.  Und  schon  Anfang 
Juli  sprach  man  allgemein  davon,  daß  er  in  das  Pyrenäenbad 
gehen  wolle.  Aber  er  hatte  die  Reise  immer  wieder  ausgesetzt, 
weil  er  den  König  nicht  allein  lassen  und  Wilhelm  selbst  ihn  nicht 
entbehren  wollte.  Dann  suchte  besonders  Roon  den  Freund  fest- 
zuhalten, den  er  bereits  gedrängt  hatte,  den  König  in  die  Alpen 
zu  begleiten.  Beide  fürchteten  immer,  daß  der  könighche  Herr, 
der  im  Juni  leidend  gewesen  war,  unter  dem  Druck  seiner  Stim- 
mung und  der  rivalisierenden  Einflüsse  weich  werden  würde. 
In  Hinblick  darauf  war  vielleicht  von  Roon  selbst  der  Sommer- 
aufenthalt in  Berchtesgaden  gewählt  worden,  von  wo  er  leicht 
nach  Gastein  hinüberkommen  konnte.  Bismarck  war  darum  auch 
in  Karlsbad  fast  bis  zuletzt  beim  König  geblieben  und  nur  auf 
drei  Tage  (vom  15.  bis  18.  August)  nach  Berlin  zurückgekehrt. 
So  beschloß  er  denn  auch  jetzt,  seine  Feriensehnsucht  zu  unter- 
drücken und  dem  König  nach  Baden  zu  folgen.  »Ich  kann  wegen 
der  Frankfurter  Windbeuteleien  nicht  vom  König  fort«,  so  schreibt 
er  kurz  und  vielsagend  seiner  Frau  am  12.  August,  eine  halbe  Stunde 
bevor  der  Kronprinz  den  Wagen  bestieg,  der  ihn  von  Gastein  nach 
Salzburg  zurückbrachte.  Der  IMinister  war  in  diesen  Tagen  in 
rastloser  Tätigkeit.  »Gesund  bin  ich«,  schreibt  er  schon  am  8., 
»aber  Zeit  habe  ich  keine,  Arbeit  über  Kopf,  Österreich  macht 
Bocksprünge.«  Am  12. :  »Mir  geht  es  wohl,  mein  Herz,  aber  Kurier- 
angst in  allen  Richtungen.«  Und  am  14.:  »Ich  schreibe  seit  vier 
Stunden  und  bin  so  im  Zuge,  daß  die  Feder  nicht  zu  halten  ist, 
heiße  Sonne,  seit  acht  Tagen,  abends  Gewitter,  der  König  wohl, 
aber  doch  angegriffen  vom  Baden;  er  badet  täglich  und  arbeitet 
wie  in  Berhn,  läßt  sich  nichts  sagen!  Gott  gebe,  daß  es  ihm 
bekommt  .  .  .  Mir  ist  sehr  wohl,  aber  Arbeit  über  Kopf!  Zietel 
ganz  abgehetzt.  Beiüegende  Dame  ist  recht  nett,  Amerikanerin 
(Nord!)  von  Geburt,  ich  Nddme  ihr  meine  geringe  Muße;  ich 
bin  so   beansprucht,    daß   ich   wenig    Leute   sehen    kann.« 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  459 

Unter  die  Arbeiten  dieser  Tage  gehören  die  beiden  Erlasse 
an  Werther  vom  13.  und  14.  August,  die,  wie  bemerkt,  von  An- 
fang an  für  die  ÖffentHchkeit  bestimmt  waren;  ferner  auch 
mit  Sicherheit  eine  Reihe  von  Zeitungsartikeln,  die  der  große 
Journalist  entweder  selbst  geschrieben  oder  seinem  Zietel,  wie 
er  seinen  Adlatus,  Regierungsrat  Zietelmann,  zu  nennen  liebte, 
in  die  Feder  diktiert  hat.  Denn  das  Eisen  mußte  geschmiedet 
werden,  solange  es  heiß  war;  statt  abzuwarten,  was  in  Frankfurt 
geschehen  würde,  ging  der  Minister  sofort  angriffsweise  vor.  Wohin 
seine  Intentionen  sich  richteten,  macht  der  Schluß  des  Erlasses 
an  Werther  vom  14.  deutlich.  Anknüpfend  an  die  Drohung  der 
Österreicher,  mit  partiellen  Reformen  im  Bunde  vorzugehen, 
stellt  Bismarck  eine  Anfrage  an  die  Wiener  Regierung  in  Aus- 
sicht, ob  sie  und  die  Staaten,  die  an  dem  Frankfurter  Kongresse 
teilnähmen,  die  vertragsmäßigen  Bundespflichten  rückhaltslos 
anerkennen  wollten  oder  nicht:  »Es  ist  einleuchtend«,  schreibt 
er,  »daß  die  Entscheidung  hierüber  von  dem  wesentlichsten  Ein- 
fluß auf  die  maßgebenden  Grundlagen  unsrer  Gesamtpolitik 
sein  muß«:  ein  Wink  dahin,  daß  Preußen  auch  in  seiner  außer- 
deutschen Politik  Wege  einschlagen  könnte,  die  in  Wien  nicht 
willkommen  sein  dürften.  Der  Botschafter  erhielt  den  Auftrag, 
in  diesem  Sinne  mit  dem  Grafen  Rechberg  zu  sprechen  und  unter 
Mitteilung  des  gegenwärtigen  Erlasses  ihn  um  eine  offene  und 
entschiedene  Erklärung  der  kaiserlichen  Regierung  zu  ersuchen. 
Der  Erlaß  vom  14.  August  enthielt  einen  noch  weiteren  Vorstoß. 
Ohne  eine  Erklärung  über  den  Inhalt  der  beabsichtigten  Reform- 
vorschläge erbitten  zu  wollen,  so  hieß  es  hierin,  wozu  für  den 
preußischen  ]\Iinister  keine  \'eranlassung  vorliege,  könne  er  doch 
nur  die  schon  am  22.  Januar  in  Frankfurt  ausgesprochene  Meinung 
wiederholen,  daß  er  nur  in  einer  nach  dem  Verhältnis  der  Volkszahl 
der  einzelnen  Staaten  aus  direkten  Wahlen  hervorgehenden  Ver- 
tretung des  deutschen  Volkes,  mit  Befugnis  zu  beschließender 
Mitwirkung  in  Bundesangelegenheiten  die  Grundlage  von  solchen 
Bundesinstitutionen  erkenne,  zu  deren  Gunsten  die  preußische 
Regierung  ihrer  Selbständigkeit  in  irgendwelchem  erheblichen  Um- 
fange entsagen   könnte,   ohne   die  Interessen  der  eigenen  Unter- 


4(50  Kleine  historische  Schriften. 

tanen  und  die  politische  SteDung  wesentlich  zu  benachteiligen. 
W'erther  wurde  ermächtigt,  auch  diesen  Erlaß  dem  österreichi- 
schen  Älinister  des  Auswärtigen   vorzulesen. 

Gleichzeitig  wairden  die  Zeitungen  im  Sinne  dieser  Erörte- 
rungen informiert.  Am  12.  ward  der  »Ostdeutschen  Post«,  die 
unter  Kurandas  Redaktion  stand^),  eine  Notiz  über  die  Beratungen 
mit  dem  Kronprinzen  gegeben,  mit  dem  Zusatz,  man  stelle  den 
ev^entuellen  Austritt  Preußens  aus  dem  Bunde  in  Aussicht.  Der 
»Deutschen  Allgemeinen  Zeitung«  ging  eine  von  Berlin,  den 
13.  August  datierte  längere  Zuschrift  zu,  deren  Ursprung  sicher 
ebenfalls  in  Gastein  zu  suchen  ist.  Darin  war  das  Zirkular  vom 
5.  August  referiert,  femer  waren  Angaben  über  die  mündlich 
von  dem  Kaiser  vorgebrachten  Punkte  des  österreichischen  Reform- 
programms gemacht  und  zum  Schluß  wieder  Preußens  Aufgaben 
im  Sinne  der  Erklärung  vom  22.  Januar  präzisiert.  Unter  Auf- 
rechterhaltung der  Bundesverfassung,  so  ward  ausgeführt,  könne 
ein  Delegiertenparlament  nur  beratende  Stimme  haben,  das  von 
der  öffentlichen  ^Meinung  längst  abgetan  sei.  Preußen  könne  nur 
an  einer  nationalen  Vertretung  festhalten,  die  nach  Älaßgabe 
der  Bevölkerung  aus  unmittelbaren  Wahlen  erfolge,  weil  dieser 
Gedanke  ein  Produkt  jenes  Verhältnisses  Preußens  zu  Deutsch- 
land sei,  in  dem  Preußen  sich  durch  Lage,  Bevölkerung  und 
Geschichte  befinde.  Eine  solche  Reform  sei  aber  mit  der  Auf- 
rechterhaltung des  Bundes  unvereinbar,  also  sei  die  Berufung 
des  Fürstenkongresses  nichts  als  ein  neuer  Schachzug  gegen  Preußen. 
Man  wolle  die  Unterordnung  Preußens  unter  Österreich  oder 
seine  Herausdrängung  aus  Deutschland.  »Nun  mag«,  so  schließt 
der  Artikel,  »ein  Deutschland  ohne  Österreich  ein  Übel  sein ;  Deutsch- 
land ohne   Preußen  ist  aber  gewiß   noch  ein  größeres  übel.« 

Wer  erkennt  nicht  in  diesen  Preßäußerungen,  die  sich  noch 
vermehren  ließen,  die  Hand  des  preußischen  Ministers!  Es 
sind  seine  eigensten  Gedanken.  ]\Ian  findet  sie  in  seinen  Briefen 
und  Denkschriften,  aber  nirgends  sonst  in  dieser  Ausprägung 
bei  einer  der  deutschen  Parteien.    Es  ist  das  Programm,  welches 


^)  Kuranda  war  selbst  in  Gastein. 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein   1863.  461 

er  seinem  Könige  zuerst  im  Sommer  1861  in  Baden  vorgetragen 
hatte,  das  er  bereits  im  Januar  1863  am  Bundestage  kund- 
getan und  das  er  von  nun  an  jedesmal  wieder  vor  der  Welt  ent- 
faltete, wenn  Österreich  den  Kampf  mit  ihm  aufzunehmen  Miene 
machte,  bis  es  am  10.  Juni  1866  Preußens  Kriegsruf  für  den  Kampf 
um  die  Hegemonie  in  Deutschland  werden  sollte.  Die  preußische 
Politik  war  dadurch  bereits  festgelegt.  Eine  Annahme  der  Ein- 
ladung nach  Frankfurt  war  ohne  ein  Zurückweichen  nicht  mehr 
möglich:  sie  w^äre  ein  Eingeständnis  der  Niederlage,  ein  zweites 
Olmütz  geworden.    Niemals  hätte  Bismarck  sie  mitgemacht. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  verstehen  wir  erst  die  Empfin- 
dungen, die  Bismarck  durchzumachen  hatte,  als  nun  in  Baden 
sein  Herr,  »von  Intrigen  umlagert«,  Miene  machte,  dem  Drängen 
der  in  Frankfurt  versammelten  Fürsten  und  seiner  nächsten  An- 
gehörigen nachzugeben.  Es  handelte  sich  dabei  für  Bismarck 
um  Sein  oder  Nichtsein.  Wäre  Wilhelm  nach  Frankfurt  gegangen, 
so  hätte  er  seinen  Minister  verloren.  Bismarck  wird  in  jenen  Stun- 
den gewiß  nicht  verfehlt  haben,  den  König  auf  diese  Konsequenz 
aufmerksam  zu  machen ;  und  nichts  wird  Wilhelm  mehr  bestimmt 
haben,  dem  Wege,  auf  den  ihn  sein  eigenwilliger  Minister  in  Gastein 
hinübergeführt  hatte,  treu  zu  bleiben,  als  die  Furcht,  den  Mann 
zu  verlieren,  der  vor  einem  Jahr  fast  als  einziger  und  jedenfalls 
als  erster  von  allen  sich  ihm  bedingungslos  gegen  seine  inneren 
Gegner  zur  Verfügung  gestellt  hatte:  er  wäre  dadurch  auch  in 
der  inneren  Politik  in  die  Lage  zurückgeschleudert  worden,  aus 
der  Bismarck  ihn  gerettet  hatte:  und  wieviel  größer  wäre  jetzt 
die  Demütigung  für  ihn  geworden,  nachdem  er  fast  ein  Jahr  im 
schärfsten  und  erbittertsten  Kampfe  ausgeharrt  hatte!  Die 
Rücksicht  auf  die  innere  Lage,  so  haben  wir  zu  schließen,  hat 
vor  allem  andern  damals  Wilhelm  dazu  gebracht,  seinem  Minister 
auf  die  ihm  noch  ungewohnten  und  von  seinen  alten  Ansichten 
weit  hinwegführenden  Wege  der  deutschen  Politik  zu  folgen. 

Es  würde  nun  eine  fast  noch  reizvollere  Aufgabe  sein,  die 
Szenen  in  Baden  zu  schildern  und  den  Kampf  bis  zu  seinem  Ab- 
schluß im  Oktober  zu  verfolgen,  als  Rechberg  nach  dem  Abfall 
seiner  kaum  erworbenen  Frankfurter  Freunde,  auf  alle  Reform- 


462  Kleine  historische  Schriften. 

Projekte  verzichtend,  Bismarck  die  Hand  reichte,  an  der  ihn 
dieser  alsbald  in  den  Krieg  gegen  Dänemark  hineinführte.  Aber 
dies  Thema  wäre  schwieriger  und  jedenfalls  umfangreicher  als 
das,  welches  uns  die  Gasteiner  Tage  boten.  Weil  wir  dann  die 
Verhandlungen  des  Fürstentages  selbst  und  überhaupt  den  Kampf 
der  deutschen  Parteien,  der  damit  heftiger  als  je  entbrannte, 
mit  heranziehen  müßten:  Ereignisse,  denen  die  Aktion  Bismarcks 
in  jedem  Schritt  parallel  geht  und  ohne  die  sie  nicht  zu  verstehen 
ist.  Nur  in  einem  größeren  Zusammenhang  könnte  diese  Aufgabe 
gelöst  werden. 


In  die  Zeit  von  Gastein  hat  Bismarck  in  seinen  »Gedanken 
und  Erinnerungen«,  und  zwar  an  zwei  Stellen  (I,  311  und  II, 
62) ,  noch  einen  anderen  Vorgang  der  großen  Politik  in  j  enem  Sommer 
verlegt,  nämlich  eine  Verhandlung  Preußens  mit  Rußland  in  dem 
schweren  Konflikt,  in  den  letzteres  damals  mit  den  mit  Öster- 
reich vereinigten  Westmächten  geraten  war.  Es  war  die  Zeit, 
als  die  Westmächte  und  Österreich  unter  Frankreichs  Führung 
die  russische  Regierung  zur  Nachgiebigkeit  gegen  Polen  nötigen 
wollten;  dreimal,  im  April,  Juni  und  August,  forderten  die  drei 
Regierungen  den  Zaren  in  gemeinsam  überreichten  Noten  zu 
einer  Milderung  des  Schreckenssystems  auf,  welches  die  Russen 
dem  Terrorismus  der  polnischen  Revolutionäre  entgegengesetzt 
hatten,  und  zur  Einführung  einer  liberalen  Verfassung  in  dem 
unterdrückten  Lande  auf  Grund  der  europäischen  Traktate  von 
1815.  Danach  müßte  jene  Verhandlung  zwischen  Rußland  und 
Preußen  in  die  Zeit  kurz  vor  Übergabe  der  dritten  Note  (12.  August) 
fallen;  und  so  legt  sie  denn  auch  Bismarck  ausdrücklich  in  die 
Tage   des  Überrumpelungsversuches   Kaiser  Franz   Josephs. 

Auch  Sybel  hat  das  Ereignis  in  die  Zeit  von  Gastein  gesetzt, 
aber  etwas  früher,  in  die  Tage  vor  dem  Besuch  des  Kaisers,  also 
in  die  letzte  Juliwoche;  jedoch,  wie  ich  gleich  bemerken  muß, 
nur  in  den  drei  ersten  identischen  Auflagen  seines  W^erkes;  in 
der  vierten  Auflage  hat  Sybel  auf  Grund  genauerer  Einsicht  in 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  463 

die  Akten  eine  sowohl  zeitlich  wie  inhaltlich  vöUig  verschiedene 
Darstellung  gegeben. 

Vergleichen  wir  zunächst  die  erste  Fassung  in  Sybels  großem 
Werke  mit  dem  Text  der  » Gedanken  und  Erinnerungen «,  so  über- 
rascht uns  die  Verwandtschaft  beider.  Sie  stimmen  nicht  bloß 
dem  Gedanken  und  ihrer  Verbindung,  sondern  an  einer  Stelle 
auch  dem  Wortlaut  nach  überein.  Zar  Alexander,  so  erfahren 
wir  von  beiden,  trug  in  eigenhändigem  Schreiben  König  Wilhelm 
an,  gemeinsam  den  Degen  zu  ziehen.  Beide  entwickeln  ähnlich 
die  Vorteile,  zumal  die  sichere  Aussicht,  Österreich  niederzuschlagen, 
bevor  die  französische  Hilfe  dagewesen  wäre,  und  ebenso  die 
Bedenken,  welche  Bismarck  gegen  das  Bündnis  gehabt  und  dem 
König  bzw.  dem  Zaren  selber  in  der  Antwort  auf  den  Antrag 
vorgetragen  habe.  Es  finden  sich  zwar  Differenzen  genug  zwischen 
den  beiden  Texten,  aber  die  Übereinstimmung  ist  doch  so  groß, 
daß  man  nicht  umhin  kann,  an  eine  Quellen  Verwandtschaft  zu 
denken,  um  so  mehr,  als  Sybel  den  Zusatz  macht,  daß  damals 
außer  dem  Könige  und  Bismarck  kein  anderer  Mensch  von  dem 
Vorgange  etwas  erfahren  habe. 

Woher  aber  hat  Sybel  jene  Nachrichten  in  ihrer  ersten  Fassung  ? 
In  der  Neubearbeitung  drückt  er  sich  darüber  sehr  unbestimmt 
aus.  In  der  Vorrede  sagt  er  von  den  neu  benutzten  Akten  ledig- 
lich, er  habe  ihren  Inhalt  schon  früher  kennen  gelernt,  den  Wort- 
laut aber  bis  dahin  nicht  gesehen;  und  im  Text:  er  habe  in  der 
ersten  Auflage  des  Buches  nach  Aktennotizen  berichtet,  die,  wie 
er  jetzt  nach  Einsicht  der  Originale  wahrgenommen,  in  der  Haupt- 
sache richtig,  aber  in  einen  falschen  chronologischen  Zusammen- 
hang gebracht  waren.  Ich  dächte  nun,  daß  es,  seitdem  wir  die 
»Gedanken  und  Erinnerungen«  des  Fürsten  Bismarck  besitzen, 
nicht  schwer  sein  kann,  den  Gewährsmann  Sybels  zu  erraten: 
es  war  kein  anderer  als  Bismarck  selbst.  Daß  der  Begründer  des 
Deutschen  Reiches  seinem  Historiker  nicht  bloß  Einsicht  in  die 
Akten  gewährt  hat,  sondern  auch  durch  persönliche  Mitteilungen, 
sei  es  schriftlich  oder  mündlich,  seine  Kenntnisse  bereichert  und 
seine  Auffassung  beeinflußt  hat,  ist  bekannt,  und  es  wäre  eine 
eigene,   zum  Teil  wohl  lösbare   Aufgabe,   an  dem  monumentalen 


4ß^  Kleine  historische  Schriften. 

Werke  den  Grad  dieses  Einflusses  und  bisweilen  die  Stellen  selbst, 
an  denen  er  hervortritt,  zu  bezeichnen.  Ich  brauche  bloß  an  die 
Kapitel  über  die  spanische  Kandidatur  und  die  Entstehung  des 
deutsch-französischen  Krieges  zu  erinnern,  worin  Sybel  bis  zu- 
letzt und  trotz  der  Aufklärungen,  welche  von  Seiten  der  Hohen- 
zollern  gegeben  waren,  an  der  von  Bismarck  akkreditierten  Auf- 
fassung festgehalten  hat.  Zu  diesen  Stellen  eines  direkten  Ein- 
flusses gehört  auch  die  vorliegende  Erzählung  in  ihrer  ersten 
Fassung,  und  daher  möchte  sich  die  diplomatische  Form  erklären, 
in  der  Sybel  in  den  späteren  Auflagen  des  Buches  seiner  Quelle 
gedenkt. 

Nun  ist  aber  die  Differenz  nicht  bloß  zeitlich,  sondern  auch 
sachlich  größer,  als  sie  Sybel  erschien.  Zunächst  bedeutet  es  auch 
sachlich  sehr  viel,  daß  die  Verhandlung  zwei  Monate  früher,  in 
die  Zeit  zwischen  den  ersten  und  den  zweiten  Noten  der  drei  Mächte 
hineinfällt.  Denn  damals  war  die  allgemeine  Lage  sehr  viel  ge- 
spannter als  Ende  Juh  und  im  August:  der  Aufruhr  in  Polen 
ging  in  wildesten  Wogen,  die  Russen  aber  waren,  von  nationalem 
Ingrimm  erfüUt,  entschlossen,  sowohl  die  Rebellen  niederzuschlagen 
als  jeden  Versuch  der  Fremden,  sich  einzumischen  (man  sprach 
schon  von  Landungsplänen  der  Franzosen  in  der  Ostsee),  abzu- 
wehren. In  dieser  Zeit  ließe  sich  also  ein  Antrag,  wie  ihn  der  Zar 
nach  den  Erinnerungen  Bismarcks  und  der  auf  ihn  zurückgehenden 
Erzählung  bei  Sybel  an  König  Wilhelm  gestellt  haben  soll,  wohl 
verstehen,  während  die  Dinge  sich  zwei  Monate  später  bereits 
weit  mehr  applaniert  hatten. 

Prüfen  wir  aber  das  Referat,  das  Sybel  in  der  vierten  Auf- 
lage aus  dem  eigenhändigen  Schreiben  Alexanders  an  seinen  könig- 
lichen Oheim  gibt,  so  nehmen  wir  wahr,  daß  der  Zar  den  König 
im  Juni  gar  nicht  zum  Angriff  auf  Österreich  aufgefordert  hat, 
sondern  vielmehr  lediglich  dazu,  das  Wiener  Kabinett  durch 
seinen  Einfluß  von  den  Westmächten  hinwegzuführen  und  somit 
den  alten  Bund  der  drei  Ostmächte  herzustellen.  Nicht  Öster- 
reich, sondern  Frankreich  ist  es,  gegen  das  Alexander  auf  Preußens 
Waffenhilfe  rechnen  möchte,  und  dazu  bedarf  er  der  Kenntnis 
der  Entschlüsse  Preußens;  so  erst  könne  er  den  ganzen  Umfang 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  465 

seiner  Stellung,  ihrer  Aussichten,  ihrer  Pflichten,  ihrer  vielleicht 
nötigen  Opfer  übersehen.  »Man  könne  sich,«  schließt  das  Schreiben, 
»nicht  verhehlen,  daß  die  entsetzliche  europäische  Krisis  vom 
Anfang  des  Jahrhunderts  uns  unter  anderen  Formen,  Namen  und 
Mitteln  aufs  neue  bedrohe.« 

Trotzdem  richtete,  wie  Sybel  mit  Recht  hervorhebt,  dieses 
Handschreiben  Kaiser  Alexanders,  das  der  preußische  Militär- 
bevollmächtigte Oberst  v.  Loen  überbringen  und  mündlich  ver- 
vollständigen mußte,  seine  Spitze  gegen  Österreich.  Denn  wenn 
Österreich  sich  aus  der  Verbindung  mit  den  Westmächten  nicht 
loslösen  Heß,  so  konnte  in  der  Tat  der  Gedanke  naheliegen,  daß 
dann  eben  Rußland  und  Preußen,  bevor  Frankreich  hinzukäme, 
über  Österreich  herfielen  und  auf  diese  Weise  den  Kampf  um  die 
Vormachtstellung  in  Deutschland  durchführten.  Eine  Aussicht, 
die  ebenso  Bismarcks  wie  König  Wilhelms  Neigungen  wider- 
sprach. König  Wilhelm  stand,  und  damit  rechnete  man  offenbar 
in  Petersburg,  von  jeher  mit  der  Front  gegen  Frankreich,  aber 
er  dachte  sich  dabei  als  Vorkämpfer  Deutschlands  mit  Öster- 
reich zur  Seite.  Bismarcks  Politik  richtete  sich  allerdings  gegen 
die  Macht  an  der  Donau;  niemals,  bevor  er  die  Sache  mit  Öster- 
reich im  reinen  hatte,  wäre  er  gegen  Frankreich  losgegangen; 
ihm  wäre  auch  wohl  der  Gedanke,  Österreich  mit  Rußlands  Hilfe 
niederzuschlagen,  nicht  durchaus  antipathisch  gewesen,  insofern 
er  sich  überhaupt  nicht  von  gemütlichen  Regungen,  sondern 
von  politischen  Erwägungen  leiten  ließ:  aber  eben  diese  hielten 
ihn  in  jenem  Moment  von  einem  engeren  Anschluß  an  die  russische 
Politik   fem. 

Demgemäß  richtete  er  seine  Schritte  ein.  Zunächst  kam 
er  dem  Antrag  des  Zaren  wörtlich  nach,  indem  er  der  österreichi- 
schen Regierung  eine  Verständigung  zwischen  den  drei  Teilungs- 
mächten anbieten  ließ  (9.  Juni).  In  Wien  aber  wollte  man  nicht 
von  den  Westmächten  loslassen  und  gab  eine  ausweichende  Ant- 
wort. So  daß  nun  der  König  sich  genötigt  sah,  dem  Zaren  gegen- 
über Farbe  zu  bekennen.  Sybel  hat  das  von  Bismarck  eigenhändig 
redigierte,  von  Wilhelm  selbst  an  einigen  Stellen  korrigierte  Konzept 
des  königlichen  Handschreibens  vor  sich  gehabt.    Leider  hat  er 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  3^ 


466  Kleine  historische  Schriften. 

dasselbe  wiederum  nicht  im  Wortlaut  mitgeteilt,  und  ich  weiß 
nicht,  ob  sein  Auszug  in  jedem  Punkte  richtig  ist,  ob  darin  so 
bestimmt,  wie  er  es  angibt,  von  der  Besorgnis,  Österreich  durch 
einen  Angriff  in  Frankreichs  Arme  zu  treiben,  die  Rede  gewesen 
ist.  Anknüpfend  an  die  Schlußbemerkung  seines  kaiserhchen 
Freundes  über  die  europäische  Krisis  zur  Zeit  ihrer  Väter,  hob 
\\'ilhelm  hervor,  daß  er  die  Besorgnis  vor  einer  französischen 
Landung  an  der  russischen  Ostseeküste  nicht  teilen  könne.  Wenn 
es  dennoch  geschähe,  so  würde  ihn,  den  König,  sein  Herz  zu  so- 
fortiger Waffenhülfe  antreiben,  einem  solchen  Einschreiten  jedoch 
die  deutsche  Bundesverfassung  im  Wege  stehen.  Denn  nach  dieser 
würde  sein  Vorgehen  als  ein  eigenmächtiger  Angriff  auf  eine  andere 
flacht  erscheinen  und  damit  dem  Bundestag  einen  scheinbaren 
Vorwand  geben,  der  preußischen  Rheinprovinz  seinen  Schutz  gegen 
Frankreich  zu  entziehen.  Er  schrieb  ferner  von  der  Anfrage  in 
W'ien,  daß  er  dort  freilich  dem  alt  eingewurzelten  Arg^vohn  begegnet 
sei,  dennoch  aber  hoffe,  einige  Keime  des  Vertrauens  ausgesät 
zu  haben.  Würde  Frankreich  angreifen,  so  würde  er  den  W'iener 
Hof  zunächst  für  eine  Rußland  günstige  Neutralität  zu  bestimmen 
suchen  und  ihm  weiterhin  eine  gegenseitige  Garantie  der  pol- 
nischen Provinzen  der  drei  Teilungsmächte  ans  Herz  legen. 
Als  Gegengabe  seitens  Rußlands  schlägt  der  König  eine  Garantie 
für  Venetien  vor  und  die  Zusage,  daß  der  Gedanke  einer  französi- 
schen Allianz  für  immer  von  Alexander  verurteilt  sei.  Zum  Schluß 
berührt  der  König  noch  einen  »leidigen  Punkt«,  die  Unpopulari- 
tät  einer  russischen  AlHanz  in  Preußen,  und  schlägt  als  Mittel 
dagegen  Milderungen  des  russischen  Zollwesens  vor. 

Man  sieht,  diplomatischer  und  vorsichtiger  konnte  Preußen 
sich  nicht  ausdrücken.  Daß  Bismarck,  der  sich  selbst  Öster- 
reich gegenüber  niemals  zu  einer  Garantie  Venetiens  hat  ver- 
stehen wollen,  nicht  einmal  in  der  Zeit  der  gemeinsamen  Aktion 
in  der  schleswig-holsteinischen  Frage,  es  mit  dem  Garantieaner- 
bieten für  Venetien  nicht  ernst  gemeint  hat,  brauche  ich  nicht 
hervorzuheben;  so  wenig  wie  es  ihm  unklar  gewesen  sein  wird, 
daß  auch  sein  Freund  Gortschakoff  wenig  Lust  verspüren  werde, 
sich  auf  solche  Vorschläge  einzulassen.    Aber  man  mußte  eben 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  467 

antworten,  und  zwar  in  einer  Form,  welche  die  wahre  Meinung 
zwar  verhüllte,  aber  nicht  verkennen  heß.  Es  war,  und  darin 
trifft  das  Schreiben  mit  der  Erzählung  in  den  »Gedanken  und 
Erinnerungen«  und  der  ersten  Fassung  Sybels  überein,  die  Er- 
klärung, daß  Preußen  sich  neutral  halten  müsse.  Im  übrigen  aber 
kann  die  Differenz  zwischen  diesen  beiden  Texten  und  dem,  was 
Sybel  in  der  vierten  Auflage  seines  Werkes  sagt,  gar  nicht  größer 
sein.  Auch  jene  beiden  weichen  untereinander  recht  bedeutend 
ab.  Während  z.  B.  Sybel  die  Erwägung  Bismarcks,  daß  Rußland 
bei  einem  Bunde  mit  Preußen  an  dem  längeren  Hebelarme  sitzen 
würde,  nur  ein  Stück  des  Vortrages  sein  läßt,  welchen  Bismarck 
dem  König  vor  dem  Entwurf  der  Antwort  an  den  Zaren  gehalten 
habe,  behaupten  die  »Gedanken  und  Erinnerungen«,  daß  dieser 
Ausdruck  in  dem  Briefe  selbst  vorgekommen  sei.  Beide  aber  be- 
tonen auf  das  stärkste,  daß  Bismarck  die  Gründe  der  Entschei- 
dung in  dem  Konzept  mit  voller  Offenheit  ausgesprochen  habe. 

Hat  Bismarck  an  jener  Stehe  seiner  »Erinnerungen«  diese 
Korrespondenzen  im  Auge  gehabt,  so  hat  er,  wie  v.ir  nicht  anders 
sagen  können,  ihren  eigentlichen  Inhalt  völlig  aus  dem  Gedächtnis 
verloren,  und  müßten  wir  demnach  seine  Erzählung  ebenso  opfern, 
\vie  Sybel  es,  nur  noch  mit  allzu  viel  Reserven^),  mit  seiner  ersten 
Fassung  gegenüber  den  später  ihm  vorgelegten  Urkunden  getan  hat. 

Nur  ein  Ausweg  bhebe  übrig,  um  den  Text  der  »Gedanken 
und  Erinnerungen«  zu  retten:  man  müßte  eine  zweimaHge  Ver- 
handlung zwischen  Petersburg  und  Berlin  ansetzen,  die  eine  also 
im  Juni  und  eine  spätere,  die  dann  eben  Bismarck  im  Sinne  ge- 
habt haben  müßte,  in  der  Gasteiner  Zeit,  Ende  Juli  oder  Anfang 
August. 

Ich  will  diese  Möghchkeit  nicht  in  Abrede  stellen.  Bismarck 
spricht  so  bestimmt,  daß  es  schwer  fällt,  an  einen  so  starken 
Irrtum  zu  glauben.  Er  habe  den  Text  seiner  Argumentation, 
so  sagt  er,  noch  vor  wenigen  Jahren  behufs  unserer  Auseinander- 
setzung mit  der  russischen  Politik  wieder  unter  Augen  gehabt, 


^)  Denn  er  hat  in  seinen  neuen  Text  das,  was  er  in  den  früheren 
Auflagen  als  den  Inhalt  der  Erwägungen  Bismarcks  auf  den  Brief  des 
Zaren  angegeben,  doch  noch  wieder  mit  aufgenommen. 

30* 


468  Kleine  historische  Schriften. 

und  sich  gefreut,  daß  er  damals  die  Arbeitskraft  besessen  habe, 
ein  so  langes  Konzept  in  einer  für  den  König  lesbaren  Schrift 
herzustellen,  eine  Handarbeit,  die  für  den  Erfolg  seiner  Gasteiner 
Kur  nicht  förderlich  gewesen  sein  werde.  Er  mag  damit  den  Moment 
der  hohen  Spannung  zwischen  Deutschland  und  Frankreich  um 
das  Jahr  1887  und  1888  gemeint  haben,  gegen  die  er  das  Reich 
durch  den  Rückversicherungsvertrag  mit  Rußland  zu  schützen 
suchte.  Damals,  in  seiner  letzten  großen  Rede  für  die  Neuorgani- 
sation der  deutschen  Wehrkraft  am  6.  Februar  1888,  hat  er  in 
einem  Rückblick  auf  die  gesamte  russische  Politik  Preußens  seit 
dem  Jahre  1855  auch  jener  Verhandlung  vom  Sommer  1863  ge- 
dacht, und  zwar  in  Wendungen,  die  dem  Text  in  den  »Gedanken 
und  Erinnerungen«  ganz  nahestehen.  Er  spricht  darin  nicht  aus- 
drücklich von  einem  Briefwechsel  zwischen  seinem  kaiserüchen 
Herrn  und  dem  Zaren,  aber  er  sagt  doch  in  fast  wörtlicher  Über- 
einstimmung mit  seinen  »Erinnerungen«: 

»Dem  Kaiser  Alexander  riß  die  Geduld  und  er  wollte  den 
Degen  ziehen  gegenüber  den  Chikanen  von  seiten  der  West- 
mächte ...  Er  wollte  sich  die  polnischen  Intriguen  von  Seiten  der 
andern  Mächte  nicht  mehr  gefallen  lassen  und  war  bereit,  mit  uns 
im  Bunde  den  Ereignissen  die  Stirn  zu  bieten  und  zu  schlagen.« 

Und  er  knüpfte  daran  Ausführungen  über  die  Motive,  die 
zur  Ablehnung  des  Antrages  geführt  hätten,  die  denen,  die  er 
in  seinen  »Erinnerungen«  mitteilt,  ganz  ähnlich  sehen.  Auch  die 
Zeit  gibt  er  ebenso  an,  als  den  Moment,  da  der  Frankfurter  Fürsten- 
tag sich  in  der  Vorbereitung  fand;  »es  bedurfte«,  sagt  er,  »nur 
eines  Ja  statt  eines  Nein  aus  Gastein  von  Sr.  Majestät  und  der 
große    Krieg,    der    Koalitionskrieg,   v/ar   1863   schon   vorhanden.« 

In  der  Tat  war  gerade  Ende  Juli,  als  König  Wilhelm  und 
Bismarck  eben  in  Gastein  eingetroffen  waren,  die  Spannung  zwi- 
schen Petersburg  und  Wien  wieder  schärfer  geworden.  Zu  An- 
fang des  Monats  hatte  der  russische  Gesandte  am  Wiener  Hof 
sehr  beruhigende  Meldungen  über  die  Haltung  Österreichs  ein- 
senden können;  er  hatte  sogar  die  BereitwilHgkeit  Österreichs 
zu  einer  Übereinkunft  der  drei  Teilungsmächte  über  Verwaltungs- 
reformen in  ihren  polnischen  Provinzen  in  Aussicht  gestellt.    Gor- 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  469 

tschakoff  hatte  infolge  davon  bei  der  Beantwortung  der  zweiten 
Note  der  drei  Mächte  sich  nach  Wien  hin  sehr  freundlich  ausge- 
sprochen und  die  Verhandlungen  zu  dreien  amtlich  in  Vorschlag 
gebracht.  In  Wien  aber  bheb  man  diesen  Lockungen  gegenüber 
so  kühl  wie  im  Juni  gegen  Preußen;  in  herber  Weise  gab  Graf 
Rechberg  dem  russischen  Kollegen  zu  verstehen,  daß  sein  kaiser- 
licher Herr  sich  mit  nichten  von  den  Westmächten  abdrängen 
lassen  werde.  Dies  könnte  also  der  Moment  gewesen  sein,  in  dem 
ehi  neuer  Versuch  Rußlands,  Preußen  an  seine  Seite  zu  ziehen, 
gemacht  wäre.  Der  Zar  hatte  am  12.  Juli,  gleichzeitig  mit  den 
Antwortnoten  Gortschakoffs  auf  die  zweite  Intervention  der  drei 
Mächte,  Abschrift  dieser  Dokumente  an  König  Wilhelm  geschickt 
und  zugleich  in  einem  neuen  eigenhändigen  Briefe  den  von  uns 
besprochenen  Brief  seines  königlichen  Oheims,  etwas  reserviert 
zwar,  aber  sehr  verbindlich  und  die  Haltung  Preußens  nahezu 
billigend,  beantwortet.  Man  müßte  also  annehmen,  daß  er  nach 
der  starken  Enttäuschung,  auf  die  seine  Regierung  in  Wien  ge- 
stoßen war,  sich  mit  einem  neuen  Brief  an  den  König  gewandt  habe, 
in  dem  er  nun  Preußen  direkt  aufforderte,  Ernst  zu  machen  und 
seine  Stellung  an  Rußlands  Seite  zu  nehmen.  Wirklich  sprachen 
die  Zeitungen  Ende  Juh  davon,  daß  die  Russen  sich  massenhaft 
an  der  galizischen  Grenze  konzentrierten.  Auch  in  Paris,  so  meldet 
eine  Korrespondenz  der  »Kölnischen  Zeitung«  vom  27.  Juli,  war 
die  Stimmung  so  wie  im  April  1859;  nian  sprach  allgemein  vom 
Krieg.  Im  englischen  Oberhause  sprach  Lord  Redcliffe  seine 
Freude  über  die  Haltung  Österreichs  aus,  das  sich  nicht  mehr 
als  der  Unterdrücker  Italiens  und  der  Gegner  aller  hberalen  Mei- 
nungen zeige.  Im  übrigen  aber  ward  es  gerade  in  diesen  Tagen 
klar,  daß  die  Rußland  gegenüberstehenden  Mächte  an  eine  Ver- 
wirklichung ihrer  Drohungen  kaum  noch  dachten.  Die  moralische 
Verpflichtung  Englands,  den  Polen  zu  helfen,  betonte  der  edle 
Lord  aufs  stärkste,  aber  ebenso  entschieden  sprach  er  sich  gegen 
jede  Politik  aus,  die  einen  Krieg  mit  Rußland  wegen  Polens  zur 
Folge  haben  könnte.  Und  Lord  Ellenborough  meinte  zwar,  die 
Antwort  Gortschakoffs  mache  aUen  diplomatischen  Versuchen 
ein   Ende,   nur  durch   Krieg  könne  man   noch  etwas  erreichen; 


470  Kleine  historische  Schriften. 

aber  über  polternde  Worte  kam  auch  er  nicht  hinaus  und  erklärte 
ausdrücklich,  daß  die  Engländer  keine  Feinde  Rußlands  wären. 
Unter  diesen  Umständen  zog  man  auch  in  Paris  sehr  bald  die  Hörner 
ein.  Frankreich,  so  hieß  es  hier,  vertrete  nur  europäische  Interessen, 
nicht  mehr,  und  nur  ein  europäischer  Krieg  sei  möghch;  noch 
vor  Abschluß  des  Monats  markierten  die  offiziösen  Blätter  eine 
friedliche  Haltung,  und  in  den  ersten  Tagen  des  August  gab  die 
Pariser  Presse  sogar  schon  wieder  der  Möglichkeit  eines  engeren 
Verhältnisses  zwischen  Frankreich  und  Rußland  Raum.  Vollends 
in  Wien  war  man  beflissen,  abzuwiegeln.  Das  »Fremdenblatt« 
bemerkte  in  einem  hochoffiziösen  Artikel,  die  Langsamkeit,  mit 
der  die  neuen  Noten  an  Rußland  vorbereitet  würden,  beweise, 
daß  in  diesem  Jahre  an  Krieg  nicht  zu  denken  sei;  und  die  halb- 
amtliche »Wiener  Abendpost <(  fügte  am  i.  August  hinzu,  daß  in 
den  bisherigen  Schritten  der  drei  Mächte  durchaus  keine  Provo- 
kation zu  finden  sei,  daß  vielmehr  in  ihrer  Vereinigung  die  Gewähr 
einer  friedlichen  Lösung  liege.  Eine  Haltung,  die  durchaus  dem 
großen  Unternehmen  entsprach,  zu  dem  Österreich  sich  in  seiner 
deutschen  Politik  soeben  anschickte:  in  jeder  Weise  suchte  die 
Wiener  Diplomatie  sich  in  der  Balance  zwischen  den  Westmächten 
und  Rußland  zu  erhalten;  der  europäische  Friede  war  eine  Vor- 
bedingung für  das  Gelingen  ihres  deutschen  Reformplanes.  Ganz 
in  dem  Sinne  sprach  sich  auch  Kaiser  Franz  Joseph  zu  König 
Wilhelm  gleich  bei  der  ersten  Zusammenkunft  aus^). 


Eine  Lösung  der  interessanten  Frage  würde  sich  rasch  genug 
gewinnen  lassen,  wenn  unsere  Regierung  sich  entschlösse,  die 
betreffenden  Akten  freizugeben.  Und  darum  wird  man  dem  Histo- 
riker ein  Gefühl  des  Unbehagens  nicht  verdenken,  daß  es  ihm 
hier  wie  überall  so  schwer  gemacht  wird,  die  Geheimnisse,  die 
noch  über  der  glorreichsten  Zeit  unserer  Geschichte  liegen,  zu 
entschleiern.  Daß  dies  einmal  geschehen  möge,  ist  um  so  mehr 
zu   wünschen,   als   die   Persönlichkeiten,   die   damals   im   Vorder- 


1)  Vgl.  Sybel,  IP,  524. 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein  1863.  471 

gründe  der  Ereignisse  standen,  fast  alle  dahingeschieden  sind 
und  kaum  eine  von  ihnen  aus  den  bisher  gewonnenen  Aufklärungen 
wesentlich  Schaden  genommen  hat.  Im  Gegenteil,  indem  wir 
die  Gegensätze,  die  damals  im  Kampf  lagen,  schärfer  erfassen, 
werden  uns  auch  die  Übergänge,  die  von  der  einen  zu  der  andern 
Richtung  führten,  und  die  Verwandtschaft,  in  der  die  Gegner 
von  damals  in  ihrem  Empfinden  und  selbst  in  ihren  Zielen  mit- 
einander standen,  deutlicher,  als  es  die  Zeitgenossen  selbst  in  der 
Leidenschaft  des  Kampfes  empfanden.  Ich  will  die  Halbwahrheit 
nicht  wiederholen,  daß  alles  erklären  auch  alles  entschuldigen 
heiße :  aber  die  Männer,  die  damals  im  Vorkampf  um  die  Einigung 
unserer  Nation  standen,  haben  es  wirklich  nicht  nötig,  fortgesetzt 
in  dem  trüben  Lichte  der  Legende  zu  erscheinen,  und  werden 
nur  gewinnen,  wenn  ihre  Bahn  klar  verzeichnet  wird  und  die  Ziele, 
die  sie  sich  steckten,  scharf  hervortreten.  Auch  diejenigen,  deren 
Pläne  nicht  verwirklicht  wurden,  die  in  dem  großen  Kampfe 
unterlagen,  haben  selten  genug  das  Licht  zu  scheuen.  Nicht 
immer  und  überall  sind  es  die  Ideale,  die  in  der  Welt  Erfüllung 
finden;  nur  zu  oft  muß  sie  sich  mit  dem  Guten  statt  des  Bessern 
begnügen.  Nicht  weil  er  das  höhere  Ideal  verfocht,  hat  Bismarck 
gesiegt,  sondern  weil  er  das  rechte  Augenmaß  besaß  für  die  Wirk- 
lichkeit der  Dinge  und  die   Grenze  des  Erreichbaren  kannte. 

Überdies  wird  die  Geheimhaltung  nicht  viel  nützen.  Jahr 
um  Jahr  schwillt,  ganz  abgesehen  davon,  daß  der  größere  Teil 
der  Politik  sich  heutzutage  in  dem  voUen  Lichte  der  öffenthch- 
keit  abspielt,  die  Masse  der  Publikationen  über  unsere  jüngste 
Vergangenheit  an.  Ich  erinnere  nur  an  die  Veröffentlichungen, 
die  noch  die  letzten  Jahre  über  Radowitz,  Bernstorff,  Ludwig 
von  Gerlach,  Schleinitz,  Mittnacht,  um  nur  einige  zu  nennen,  und 
damit  auch  über  Bismarck  selbst  gebracht  haben.  Schon  ist  über 
die  Epoche  unseres  nationalen  Neubaues  mehr  Licht  verbreitet 
als  über  die  meisten  Zeiten  unserer  Geschichte,  mehr  sicherlich 
als  z.  B.  über  die  auswärtige  Politik  Preußens  im  Zeitalter  der 
Restauration.  So  sehr  es  zu  beklagen  ist,  daß  der  Schatz  der 
Petersburger  Berichte  Bismarcks  noch  immer  hinter  den  Schlössern 
des  Geheimen   Staatsarchives  gehalten  wird,  sind  uns  doch  be- 


.472  Kleine  historische  Schriften. 

reits  die  Grundgedanken  seiner  damaligen  Politik  und  die  Diffe- 
renzen, in  denen  er  mit  seinen  Chefs  und  dem  Könige  selbst  stand, 
sichtbar  geworden,  seitdem  wir  seinen  Briefwechsel  mit  Schleinitz 
und  Graf  Bemstorff  besitzen.  Auch  die  besonders  eifersüchtig 
bewachten  Partien  seiner  Politik,  wie  das  Verhältnis  zu  dem 
Herzog  v^on  Augustenburg,  zu  Napoleon  und  Benedetti,  die  Ver- 
handlungen in  Nikolsburg,  die  spanische  Kandidatur  und  die  Tage 
von  Ems,  sind  durch  eine  Reihe  von  Enthüllungen  und  die  Ver- 
knüpfung, welche  die  kritische  Forschung  zwischen  ihnen  herge- 
stellt hat,  so  weit  ans  Licht  gebracht  worden,  daß  nur  noch  Lücken 
ausgefüllt  und  die  Linien  schärfer  gezogen  zu  werden  brauchen. 
Und  was  die  Deutschen  nicht  gebracht  haben,  ist  von  den  Fremden 
beigesteuert  v/orden.  Schon  vor  nahezu  vierzig  Jahren  hat  Lamar- 
moras  Indiskretion  nicht  nur  »ein  wenig«,  sondern  wahrlich  recht 
\del  Licht  über  die  Verhandlungen  unseres  großen  Staatsmannes 
mit  Italien  im  Frühling  und  Sommer  1866  ausgebreitet  und  dabei 
auch  die  Beziehungen  Bismarcks  zu  Napoleon  beleuchtet;  und 
heute  sind  gerade  diese  Dinge  bis  in  den  letzten  Winkel  aufgehellt,  ' 
nachdem  Chiala  auch  noch  den  Rest  aus  dem  Nachlaß  Lamar- 
moras  und  Govones  vor  uns  ausgeschüttet  hat.  Ähnlich  ist  man 
in  Frankreich  vorgegangen,  von  den  mit  den  intimsten  Akten- 
stücken ausgestatteten  Apologien  Gramonts  und  Benedettis  an, 
bis  zu  den  zahlreichen  Bänden  Olliviers  hin,  der  bis  zuletzt  so 
viel  zu  reden  und  so  wenig  zu  sagen  wußte.  Schon  ist  auch  die 
Zeit  seit  dem  Französischen  Kriege  durch  die  Aufzeichnungen 
und  Erinnerungen  Thiers',  Gontaut  Birons,  durch  das  große  Werk 
Hanotaux'  über  das  neue  Frankreich,  durch  die  neueste  enghsche 
Publikation  über  Lord  Russell,  um  nur  wieder  ein  paar  Bücher  zu 
nennen,  ungemein  aufgehellt  worden. 

Schließlich  hat,  dächte  ich,  unsere  Untersuchung  über  die 
Tage  von  Gastein  bevnesen,  daß  die  moderne  Diplomatie  bereits 
zum  guten  Teil  in  den  Zeitungen  zu  finden  ist;  wie  denn  bekannt- 
lich Bismarck  selbst  einmal  gemeint  hat,  daß  die  Gedanken  der 
führenden  Politiker  in  den  öffentlichen  Blättern  oft  besser  zum 
Ausdruck  kämen  als  in  den  Instruktionen  und  Berichten  der 
Gesandten:    besonders   den  letzteren  legte   der  große   Diplomat 


König  Wilhelm  und  Bismarck  in  Gastein   1863.  473 

weniger  Wert  bei,  als  es  gemeinhin  geschieht.  Die  Geschichts- 
schreibung, meinte  er,  würde  aus  den  Gesandtschaftsberichten 
recht  wenig  lernen.  Eine  Betrachtung,  die  übrigens  dem  Historiker 
vom  Fach  geläufig  genug  ist,  und  deren  Richtigkeit  sofort  ein- 
leuchtet, wenn  man  et\\a  das  wenige  durchmustert,  was  jüngst 
aus  dem  Nachlaß  des  Grafen  Bernstorff  über  die  Jahre  seiner 
Gesandtschaft  in  London  seit  1862  bekannt  geworden  ist;  Bern- 
storff wurde  über  die  entscheidenden  Vorgänge  kaum  jemals 
instruiert,  da  der  Wirkungskreis,  dem  er  vorstand,  außerhalb  der 
Sphäre  lag,  in  der  sich  Bismarcks  Diplomatie  in  jenen  Jahren 
besonders  bewegte,  so  daß  er  z.  B.  über  die  alles  entscheidenden, 
mit  Napoleon  geführten  Unterhandlungen  im  Juh  1866  sich  erst 
Ende  August  privatim  von  Goltz  berichten  lassen  mußte.  Bismarcks 
eigene  Depeschen  freihch  sind  hiervon  auszunehmen;  sie  sind  in 
jedem  Worte  bedeutungsvoll,  obschon  auch  sie,  wie  alle  Aktenstücke 
seiner  Hand,  immer  eine  genaue  Interpretation  erfordern.  Unser 
Aufsatz  hat  uns  aber  gelehrt,  daß  wir  die  Zeitungen  und  was  sie 
sagen  immer  erst  dann  wirklich  verstehen  können,  wenn  wir  das 
Kontrollmaterial  der  Akten,  wie  in  diesem  Falle,  bei  der  Hand 
haben;  und  wie  gerne  würde  man  auf  alle  die  Kunstgriffe  der 
Methode,  die  wir  dabei  anwenden  mußten,  verzichten,  wenn  wir 
den  Schlüssel  zu  den  Zeitungen  in  den  Aktenbeständen  der  Mini- 
sterien fänden  und  vielleicht  die  inspirierten  Zeitungsartikel  selbst 
noch  aus  den  Aktenfaszikeln  ans  Licht  ziehen  könnten. 

Gegen  Bismarcks  Sinn  wäre  das  alles  sicherlich  nicht.  Mehr 
als  einmal  hat  er  gesagt,  daß  die  Pohtik  der  Gegenwart  keinen 
Schaden  davon  haben  würde,  wenn  alle  ihre  früheren  Phasen 
urkundlich  festgestellt  würden;  und  er  selbst  hat  bereits  vor  fünf- 
undzwanzig Jahren  durch  die  Erlaubnis,  die  er  Heinrich  von  Sybel 
erteilte,  seine  Frankfurter  Berichte  zu  publizieren,  nach  diesem 
Grundsatz  gehandelt ;  daß  aber  durch  ihre  Veröffentlichung  unsere 
Politik  irgendeinen  Nachteil  gehabt  habe,  ist  meines  Wissens 
niemals  behauptet  worden.  Unsere  Diplomaten  würden  damit 
nur  tun,  was  unter  den  Mihtärs  aller  Kulturnationen  längst  der 
Brauch  ist.  Denn  in  deren  Kreisen  gilt  durchaus  der  Satz,  daß 
die  Geschichte  die  beste  Lehrmeisterin  sei,  »die  einzig  wahre  Philo- 


474  Kleine  historische  Schriften. 

Sophie«,  wie  Napoleon  in  seiner  Weise  sagte.  Wie  rückhaltlos 
ist  die  Kriegshistorie  gerade  der  letzten  Jahrzehnte  von  ihrer 
Seite  aufgehellt  worden,  ebensosehr  von  den  Besiegten  wie  von 
den  Siegern!  Müssen  wir  aber  nicht  zugeben,  daß  auch  die  all- 
gemeine Politik  nur  gewinnen  kann,  wenn  ihre  Leiter  über  ihre 
Geschichte  im  klaren  sind  ?  Daß  unsere  Diplomatie  selbst  mit  sehr 
viel  größerer  Sicherheit  ihre  Schritte  wird  einrichten  können, 
wenn  sie  die  Wege,  welche  die  Vorgänger  innegehalten  haben, 
übersieht  ?  Daß  das  Gesamtbewußtsein,  das  Gemeingefühl  der 
Nation  um  so  mehr  erstarken  muß,  je  besser  sie  den  Boden  kennt, 
auf  dem  sie  ruht,  und  die  Wurzeln  ihrer  Kraft  ?  Das  eben  ist  die 
Aufgabe  des  Historikers:  von  dem  Druck  der  Vergangenheit, 
der  auf  uns  lastet,  soll  er  sein  Volk  befreien,  indem  er  es  sie  verstehen 
lehrt:  so  erst  können  wir  klaren  Auges  den  Problemen  entgegen- 
gehen, die  uns  die  Zukunft  entschleiern  wird. 

Der  Staatsmann,  der  sich  dazu  entschlösse,  den  Zugang  zu 
den  Quellen  der  größten  Epoche  unserer  politischen  Geschichte 
freizugeben,  würde  sich  selbst  dadurch  den  niemals  verlöschenden 
Dank  der  Mit-  und  Nachwelt  erwerben. 


m^=^^^ 


i 


Heinridi  von  Treitschke.) 

Wir  sind  zusammengekommen,  um  das  Gedächtnis  eines 
Mannes  zu  ehren,  der  unter  den  Vorkämpfern  unserer  Einheit, 
den  Baumeistern  unseres  Staates  allezeit  als  einer  der  Ersten 
gelten  wird.  Der  Name  Heinrich  von  Treitschkes  gehört  ganz 
Deutschland  an  und  die  Klage  um  ihn  ertönt  in  diesen  Frühlings- 
tagen, wo  immer  Deutsche  wohnen.  Der  Haß  der  Gegner  selbst, 
der  den  stolzen  Mann  im  Leben  so  oft  umtost  hat,  an  seiner  Bahre 
ist  er  fast  verstummt  und  hat  sich  in  Huldigung  verwandelt. 
Wir  aber  stehen  an  der  Spitze  der  Tausende  und  Abertausende, 
die  um  ihn  trauern.  Denn  uns  gehörte  er  an  als  der  Genosse  der 
Arbeit,  als  Freund  und  Lehrer;  in  unsere  Herzen  hat  er  unmittel- 
bar die  großen  Gedanken  gesenkt,  die  in  ihm  lebten.  Wie  mahnen 
uns  diese  heut  umflorten  Fahnen  an  jene  Stunde  im  vorigen  Som- 
mer, da  wir  das  Gedächtnis  des  Krieges  gegen  Frankreich  feierten 
und  da  er  uns  mit  der  Zauberkraft  seiner  Rede  den  Schöpfungstag 
des  neuen  Reiches  noch  einmal  zurückrief.  Das  mächtige  Haupt 
mit  den  leuchtenden  Augen,  wie  er  pflegte,  zurückgeworfen,  ein 
Bild  des  Geistes  und  der  Kraft,  so  stand  er  zu  den  Füßen  der 
Germania,  um  ihn  die  Lehrer  der  Universität  und  Sie,  Kom- 
militonen, mit  Ihren  Bannern  und  Schlägern.  Wie  wuchsen  sie 
da  vor  uns  auf,  die  Helden  des  Krieges,  die  hehren  Schatten 
Kaiser  Wilhelms  und  seines  herrlichen  Sohnes,  und  ihres  Kanz- 
lers eiserne  Gestalt,  die  Paladine  und  alle  die  Tapferen,  die  für 


^)  Ansprache   an    die    Berliner    Studentenschaft   bei   ihrer  Trauerfeier 
am  17.  Mai  1896. 


/J76  Kleine  historische  Schriften. 

des  Vaterlandes  Ehre  und  Einheit  in  Kampf  und  Tod  gegangen 
sind:  wie  Glocken] ubelklang  zog  die  Erinnerung  durch  unsere 
Seelen. 

Heute  ist  dieser  tönende  Mund  verstummt,  dies  stolze  Auge 
ist  gebrochen  und  dies  Herz  voll  männlicher  Gedanken  hat  auf- 
gehört zu  schlagen.  Und  mit  der  Trauer  um  ihn  im  Herzen  mußten 
wir  das  letzte  Gedächtnisfest  des  großen  Jahres  begehen. 

In  der  Fülle  der  Kraft,  auf  der  Höhe  des  Schaffens  ist  Heinrich 
\'on  Treitschke  von  uns  genommen.  Immer  tiefer,  reicher,  abge- 
klärter erschien  er  uns,  je  weiter  sein  unvergleichliches  Werk 
voranschritt.  Wir  konnten  schon  hoffen,  daß  es  bald  mit  vollem 
Strom  in  die  Gegenwart  ausmünden  würde.  Unermüdlich  war 
er  in  der  Arbeit.  Zu  Hunderten  umdrängten  Sie  noch  im  Winter, 
bis  ihn  die  Krankheit  packte,  sein  Katheder.  An  jedem  Tage  sah 
man  ihn  im  Archiv  bei  den  Akten;  bis  in  die  letzten  Stunden  fast 
war  er  beschäftigt,  die  Notizen  und  Exzerpte  zur  Darstellung 
zurechtzulegen.  Schon  schieden  und  ordneten  sich  in  seinem 
Geiste  die  Massen  des  Stoffes  und  rundeten  sich  ihm  die  Vor- 
gänge und  Gestalten  der  deutschen  Revolution;  und  so  lange 
er  atmete  —  denn  diese  starke  Seele  konnte  vom  Hoffen  nicht 
lassen  — ,  hat  er  den  Gedanken  festgehalten,  daß  er  sein  Lebens- 
werk vollenden  werde.  Darum  ward  es  ihm  so  schwer,  an  den  Tod 
zu  denken.  Daher  die  rührende  Klage,  in  die  er  wohl  unter  dem 
Druck  der  Krankheit  einmal  Freunden  gegenüber  ausbrach:  Es 
ist  doch  nicht  möglich,  daß  mich  Gott  verlassen  kann!  Wer  soll 
dann  meinen  sechsten  Band  vollenden  ?  Und  unsere  Antwort 
lautet:  niemand.  Das  schönste  Werk  der  deutschen  Geschichts- 
schreibung, ein  Denkmal  deutscher  Prosa,  wie  wir  kein  ähnliches 
besitzen,  wird  ein  Torso  bleiben.  Denn  wo  fände  sich  der  Histo- 
riker, der  eine  gleiche  künstlerische  Kraft  mit  der  gleichen  poh- 
tischen  Leidenschaft  verbände,  der  mit  dem  Stoffe  persönlich 
so  verwachsen  wäre,  ^^'ie  es  Treitschke  war!  Das  ist  auch  für  uns 
das  Schwerste  bei  diesem  Verluste.  Wir  anderen,  wir  Methodiker, 
mögen  dahin  gehen.  Wir  stehen  in  Reih'  und  Glied  und  schieben 
die  Bastionen  des  Wissens  vorwärts,  langsam  und  geduldig.  Wer 
fällt,  findet  leicht  seinen  Ersatzmann;  imd  wenn  ein  besonders 


Heinrich  von  Treitschke.  477 

Starker  umsinkt,  so  treten  wohl  drei  und  vier  in  die  Lücke. 
Treitschke  aber  war  mehr  als  ein  bloßer  Gelehrter,  ja  mehr  als 
bloß  ein  Künstler:  seine  Phantasie,  seine  dichterische  Kraft  selbst 
ward  erst  erweckt  und  beflügelt  durch  den  belebenden  Odem 
seiner  Zeit,  die  Sehnsucht  der  Nation  nach  ihrer  Einheit,  ihrem 
Staate,  die  in  ihm  persönlich  am  gewaltigsten  entwickelt  war. 
Er  hat  eine  jede  seiner  Schriften  mit  seinem  Herzblute  geschrieben. 
Er  war  verwachsen,  wie  nur  je  ein  Dichter,  mit  seinem  Stoff; 
aus  dem  Sturm  und  Drang  der  großen  Zeit,  die  er  mit  herauf- 
führte, ist  alles  entstanden,  und  die  Freude  am  Vaterlande  in  dem 
Leser  zu  erwecken,  hat  er  stets  als  seinen  schönsten  Lohn  betrachtet. 

O  wenn  mein  Sohn  einst  sänge  das  Lied  voll  Stolz  und  Glanz 
Von  seiner  Väter  Größe,  von  unsrer  Waffen  Tanz; 
In  Stücke  woUt'  ich  brechen  die  Harfe  mein  mit  Lust, 
Die  ach!  von  ferner  Größe  zu  singen  nur  gewußt. 

Dann  legt'  ich  froh  zur  Erde  mein  müdes  Greisenhaupt, 
Zur  Wahrheit  wäre  worden,  was  ich  so  treu  geglaubt: 
Wir  landen  siegend  wieder  an  Seelands   Uferkies, 
Kein  Volk  hat  Gott  verlassen,  das  sich  nicht  selbst  verUeß. 

In  diesen  Versen  voll  jugendlichen  Überschwangs  hat  der 
Zweiundzwanzigj ährige  schon  den  Gedanken  ausgesprochen,  der 
sein  Leben  erfüllte.  Von  ihnen  gilt  Miltons  Wort,  das  Treitschke 
selbst  einmal  anführt:  die  Jugend  zeigt  den  Mann,  gleichwie  der 
Morgen  den  Tag  verkündet.  Nur  zur  Hälfte  freihch  sind  sie  wahr 
geworden.  Denn  den  Sohn,  den  einzigen,  den  Gott  ihm  gab,  den 
begabten,  blühenden  Knaben  riß  ihm  die  tückische  Krankheit 
von  der  Seite:  nie  hat  er  diesen  Schlag  verwunden.  Aber  er  selbst 
hat  die  deutsche  Herrlichkeit,  die  seine  junge  Muse  nur  in  ferner 
Vorzeit  fand,  in  neuer  Glorie  gesehen  und  ihr  volle  Kränze  des 
Ruhmes  gewunden.  Das  ist  die  große  Freude  seines  Lebens,  und 
darum  ist  er  trotz  allem  glückhch  zu  preisen.  Er  schaute,  was  er 
geträumt  hatte,  was  er  prophetisch  verkündigt  und  historisch 
gerechtfertigt,  wofür  er  mit  lodernder  Leidenschaft  gestritten  und 
mit  seiner  Heimat,  seinen  Freunden  und  dem  Vater  selbst  ge- 
brochen hatte.  Nun  umgab  ihn  leibhaftig  der  Glanz  deutschen 
Heldentums,  leuchtender,  unvergängHcher  noch  als  alle  Großtaten 


^yg  Kleine  historische  Schriften. 

der  X'orzeit.  Nun  sah  er,  wie  einst  sein  Milton  von  England  ge- 
träumt hatte,  die  eigene  Nation  einem  Riesen  gleich  sich  erheben 
und  die  unsterbhchen  Locken  schütteln.  Erinnerte  er  sich  jetzt 
der  bitteren  Schmach,  die  er  seit  dem  Tage  von  Olmütz  mit  den 
Besten  seines  Volkes  durch  so  viele  Jahre  im  Herzen  getragen, 
so  war  es  ihm  oft,  als  ob  er  träume.  Ihm  ward  zumute,  als  ob 
alle  Menschen  besser  und  reiner  würden,  als  ob  das  Kleine  und 
Niedrige  abfiele  von  den  Geistern.  Nun  erst  erfuhr  er  ganz  die 
Naturgewalt  der  nationalen  Idee,  stärker  als  selbst  er  in  den 
frühesten  Träumen  gehofft  hatte.  Er  sah  vor  Augen,  wie  »der 
mächtige  Strom  deutscher  Volkskraft,  der  einst  im  Mittelalter 
ausbrechend  über  die  Slawenländer  des  Nordostens  seine  breiten 
Wogen  wälzte,  jetzt  zurückflutete  gen  Westen,  um  sein  ver- 
schüttetes altes  Bette,  die  schönen  Heimatlande  deutscher  Ge- 
sittung, von  neuem  zu  befruchten«.  »0  Ludwig  Uhland,«  rief 
er  nach  den  ersten  Siegen  aus,  »und  Ihr  alle,  die  Ihr  einst  in  öden 
Tagen  den  Traum  vom  großen  und  freien  Deutschland  träumtet! 
Wie  viel  gewaltiger  als  Eure  Träume  sind  doch  die  Zeiten,  die 
wir  schauen!« 

Vom  ersten  Tage  an  stand  es  ihm  fest,  daß  wir  siegen  und 
unseren  deutschen  Staat  vollenden  würden.  »Fichte,«  so  rief  er 
in  der  ersten  Vorlesung  nach  der  Kriegserklärung  seinen  Heidel- 
berger Studenten  zu,  »hat  einst  seine  Zuhörer  in  den  heiligen 
Kampf  mit  den  Worten  entlassen:  »Siegen  oder  sterben!«  Wir 
aber  sprechen:  »Siegen  um  jeden  Preis!«  »Wir  haben,«  so  schreibt 
er  am  Tage  vor  Weißenburg,  »unsere  Sache  der  ewigen  Gerech- 
tigkeit befohlen  und  werden  nicht  wanken  in  gelassener  Zuver- 
sicht, wenn  auch  der  erste  und  der  zweite  und  der  dritte  Schlag 
des  Krieges  vergeblich  geführt  würden.«  Und  indem  er  angesichts 
des  Rheines,  vor  dem  sich  der  lebendige  Wall  deutscher  Volks- 
kraft türmt,  in  feierücher  Stimmung  die  Hoffnung  ausspricht 
auf  die  Rückkehr  der  deutschen  Sitte  zu  dem  alten  Ernst  und  der 
alten  Rechtschaffenheit,  schwillt  ihm  das  Herz,  wie  jenem  tapferen 
Dichterjünghng,  der  einst  heimkehrend  aus  dem  eroberten  Paris 
beim  Anbhck  des  deutschen  Stromes  hoch  aufjubelnd  rief:  »Vater- 
land, ich  muß  versinken  hier  in  deiner  Herrliclikeit ! « 


Heinrich  von  Treitschke.  479 

Das  ist  die  historische  Stellung  des  großen  Toten.  Wie  Bis- 
marcks  Heldenzeit  recht  eigenthch  das  Jahrzehnt  gewesen  ist, 
in  dem  er  den  nationalen  Staat  gebaut  hat,  so  wird  auch  Treitschkes 
Bild  mit  diesen  Jahren  verbunden  bleiben:  dem  Reformator  des 
deutschen  Staates  steht  er  als  sein  Hütten  zur  Seite. 

Die  Herkunft  beider  ]\Iänner  zeigt  schon  an,  wie  verschieden 
ihre  Entwicklung  sein  mußte,  bis  sie  sich  am  gleichen  Ziele  trafen. 
Der  märkische  Junker,  dessen  Vorfahren  den  preußischen  Königen 
in  Staat  und  Krieg  gedient  hatten,  brauchte  nur  fortzuwachsen 
in  den  besten  Traditionen  seines  Hauses  und  seiner  Krone  und 
sich  mit  dem  Willen  zur  Macht  zu  erfüllen,  der  in  dem  preußischen 
Staate  lebte  —  so  mußte  er  unter  dem  Andrang  der  nationalen 
Idee  in  die  deutsche  PoHtik  hineinsteuem,  so  gewiß  wie  Preußen, 
was  es  je  für  sich  gewann,  für  Deutschland  erworben  hat.  Treitschke 
aber  gehörte  einem  Staate  an,  der  seit  Luthers  Tagen  den  Zielen 
der  Nation  widerstrebt  hatte,  dem  Lande  der  Albertiner,  die  erst 
ihrem  eigenen  und  dann  ihres  Volkes  Glauben  zum  Trotz,  seit- 
dem Herzog  Moritz  ihn  verraten,  auf  Seiten  Habsburgs,  ja  selbst 
Roms  gestanden  und  im  Dienst  undeutscher  Gewalten  Kurhut 
und  Königskrone  ersvorben  hatten.  So  mußte  er  sich  denn  von 
dem  Staate,  in  den  seine  Geburt  ihn  gestellt  und  dem  die  Seinen 
dienten,  erst  losreißen,  wenn  er  der  Herrlichkeit  der  deutschen 
Einheit  entgegenstreben  wollte.  Der  Wille  Deutschlands,  zur 
Nation  zu  werden,  mußte  sich  in  ihm  zu  persönHcher  Leidenschaft 
steigern  und  nur  um  so  tiefer  und  feuriger  in  ihm  glühen,  je  fester 
sein  Herz  nun  doch  an  der  Heimat  und  den  Seinen  hing,  je  zärt- 
lichere und  reinere  Bande  ihn  an  den  Vater  fesselten,  von  dem  er 
die  stolze  Männlichkeit  und  die  Kraft  des  edelsten  Willens  ge- 
erbt hatte.  ]\Iehr  als  einmal  hat  er  in  seinen  Schriften  die  trau- 
rigen Zerwürfnisse  zwischen  Vater  und  Sohn  beklagt,  »herz- 
ergreifend traurig,  weil  jeder  Teil  im  Rechte  ist  und  das  alte  Ge- 
schlecht die  junge  Welt  nicht  mehr  verstehen  darf«  —  Worte, 
in  denen  jene  Kämpfe  sich  widerspiegeln.  Jedoch  war  in  seinem 
Hause  seit  Generationen  ein  Geist  lebendig,  der  ihn  wohl  fähig 
machen  konnte,  die  deutsche  Idee  mit  voller  Seele  zu  ergreifen. 
Entstammte  er  doch  einem  jener  Exulantengeschlechter,  die  einst 


480  Kleine  historische  Schriften. 

in  Böhmen  für  den  Protestantismus  fochten  und,  auf  dem  Schlacht- 
felde geschlagen,  ihren  evangelischen  Glauben  in  unseren  freien 
Norden  hinüberretteten;  und  in  einer  strengen,  jedoch  freien 
Gottesfurcht  war  er  selbst  erzogen. 

Dann  aber  umfing  doch  auch  im  Elternhause  den  Knaben 
jene  lebendige  deutsch-vaterländische  Gesinnung,  wie  sie  sich  in 
diesem  Jahrzehnt  überall  in  Deutschland  kundgab,  und  unklar 
freilich,  doch  in  ursprünglicher  Kraft  erwachten  in  ihm,  gerade 
unter  dem  Einfluß  des  Vaters,  die  hehren  Gedanken  einer  frei- 
heitlichen nationalen  Entwicklung.  Damals  hat  er  wohl  die 
»knabenhafte  Ansicht,«  die,  wie  er  selbst  bemerkt,  in  den  vier- 
ziger Jahren  den  deutschen  Mittelstand  beherrschte,  als  sei  die 
Republik  im  Grunde  doch  die  beste  Staatsform,  gegen  den  königs- 
treuen \'ater  trotzig  verfochten.  So  traf  ihn  an  der  Schwelle 
des  Jünghngsalters  die  deutsche  Revolution,  in  der  jene  Sehn- 
sucht der  Nation  gewaltig  ausbrach  und,  so  schien  es  fast,  der 
Kaisertraum  zur  Wahrheit  werden  sollte.  Mit  wachem  Anteil 
erlebte  der  Knabe  den  Anstieg  der  Bewegung  und  die  erschüt- 
ternde Enttäuschung;  aufs  tiefste  ergriff  ihn  das  blutige  Schau- 
spiel des  Dresdner  Aufstandes.  Schon  damals  aber  gehörte  er 
nicht  zu  den  Kleingläubigen,  die  vor  dem  Anblick  der  fessel- 
losen Leidenschaften  zurückwichen  und  ihren  Idealen  Valet  sag- 
ten; den  Gedanken  der  nationalen  Einheit,  der  jenes  Sturmjahr 
in  unserer  Geschichte  ewig  groß  und  ehrwürdig  erscheinen  lassen 
wird,  Heß  er  sich  nicht  rauben.  Als  Fünfzehnjähriger  hat  er  ihn 
bereits  in  einer  Schulrede  gefeiert,  also  daß  Herr  von  Beust,  der 
ihr  als  Unterrichtsminister  beiwohnte,  sich  noch  nach  1866  mit 
Unbehagen  daran  erinnert  haben  soll.  Und  wie  hätte  nun  der 
junge  Musensohn  auf  der  Universität  in  Bonn  unberührt  von 
diesem  Geiste  bleiben  können,  an  dem  Strom,  dessen  Ufer  ihm 
auf  jedem  Schritt  von  deutscher  Herrlichkeit  und  deutscher 
Schmach  erzählten,  in  einer  studentischen  Verbindung,  welche 
die  Ideale  der  Freiheitskämpfe  hochhielt,  und  zu  den  Füßen  der 
Märtyrer  des  deutschen  Gedankens,  Arndts  und  Dahlmanns,  die 
jüngst  erst  als  die  Führer  der  Nation  die  deutsche  Zukunft  unter 
Preußens  Krone  verkündigt  und  erstrebt  hatten. 


Heinrich  von  Treitschke.  481 

Vor  allem  Dahlmann  darf  als  der  Lehrer  Treitschkes  gelten. 
Dieser  selbst  hat  uns  den  Eindruck  geschildert,  den  der  verschlos- 
sene strenge  Mann  auf  ihn  und  seine  Kommilitonen  machte,  wenn 
er  vor  den  dichtbesetzten  Bänken  in  dem  großen  Saale  las,  der 
die  Ausschau  bietet  über  die  Baumgänge  des  Hofgartens  nach 
den  Gipfeln  des  Siebengebirges  und  vor  Zeiten  widerhallte  von 
dem  festHchen  Lärm  des  geistlichen  Hofes  von  Köln:  eine  straffe 
Gestalt,  die  Hand  im  Busen,  die  harten,  ja  grimmigen  Züge  fast 
bewegungslos,  das  Gesicht  ganz  in  sich  hineingekehrt,  bis  dann 
und  wann  ein  leichtes  Heben  der  Hand,  ein  Blitzen  des  Auges 
die  innere  Erregung  bekundete.  Niemals,  erzählt  er,  zogen  die 
Burschenschaften  rheinaufwärts  zum  Kommerse,  ohne  vor  Dahl- 
manns  Haus  die  Fahne  zu  schwenken  und  dem  Professor  ein  Hoch 
zu  bringen,  der,  argwöhnisch  von  seiner  Regierung  beobachtet, 
nur  um  so  ernster  die  Pflicht  übte,  seine  Schüler  über  den 
Staat  der  Gegenwart  zu  belehren.  Dieser  Freimut,  der  das  Gewissen 
erschütterte,  habe  auf  die  Hörer  des  Alten  eine  noch  tiefere  Wir- 
kung ausgeübt  als  der  Reichtum  der  Gedanken  und  die  Plastik 
der  Schilderung.  Aber  schärfer  noch  als  der  Lehrer  und  aus  der 
eigensten  Erfahrung  heraus  begann  schon  der  junge  Student  zu 
erkennen,  weshalb  die  Gedanken  von  1848,  die  nationalen  Ziele, 
die  er  unentwegt  im  Herzen  trug,  hatten  scheitern  müssen:  weil 
die  Männer  von  St.  Paul  die  unendliche  Bedeutung  der  Macht 
im  Staate  verkannt  hatten.  Getragen  von  der  nationalen  Bewe- 
gung, berauscht  durch  ihren  mühelosen  Sieg,  vergaßen  sie  fast, 
daß  die  Dynastien  noch  bestanden,  daß  in  den  überrumpelten 
Kabinetten  noch  ein  eigener  Wille,  eine  historische  Tradition  fort- 
lebten; die  rauhe  Wirklichkeit  der  Dinge  war  ihnen  hinter  dem 
Schein  der  Macht  und  des  Rechtes  der  Nation,  auf  das  sie  pochten, 
verschwunden.  Wo  aber  waren  die  Bataillone,  um  das  Danewirk 
und  Düppels  Schanzen  zu  stürmen,  dem  Neid  des  Auslandes  und 
der  Leidenschaft  der  Radikalen  zu  trotzen,  wo  die  Macht,  um  den 
wachsenden  Konflikt  zwischen  Preußen  und  Österreich  zugunsten 
der  nationalen  Einheit  zu  lösen,  wo  auch  nur  die  Möglichkeit, 
den  preußischen  König  zur  Annahme  des  deutschen  Programms, 
der  Kaiserkrone  zu  bewegen  ?     Pathetische  Reden  und  tönende 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  3^ 


^2  Kleine  historische  Schriften. 

Resolutionen,  flammende  Proteste  und  Anrufungen  an  die  Maje- 
stät des  Volkswillens  gab  es  genug,  aber  nirgends  außer  in  der 
Entfesselung  der  Rebellion  und  der  Anarchie  eine  Spur  von  Macht. 
Worte,  nichts  als  Worte,  und  wohin  man  vorbrach,  der  harte 
Fels,  die  »schreckliche  Wahrheit  der  brutalen  Tatsache«.  Die 
»Kluft  zwischen  politischer  Stimmung  und  politischer  Tat«  war 
aufgerissen  und  schaudernd  sah  der  Jüngling  in  den  Abgrund, 
um  so  tiefer  nur  und  um  so  klarer,  je  heißer  sein  junges  Herz  da- 
nach lechzte,  ihn  zu  schließen. 

Nicht  als  ob  Heinrich  von  Treitschke  das  Recht  der  Nation, 
sich  gegen  die  Feinde  ihrer  Einheit  zu  erheben  und  sie  von  ihrem 
Boden  zu  fegen,  jemals  bestritten  hätte.  Vielmehr  stand  ihm 
dieser  Satz  gerade  so  fest  wie  der  andere,  daß  auch  der  Staat 
des  reformatorischen  und,  so  es  not  tue,  des  durchgreifenden  revolu- 
tionären Willens  bedürfe,  solle  nicht  die  Vernunft  in  ihm  allmäh- 
lich zum  Unsinn  werden.  Sein  Dichten  und  Trachten  ruht  auf 
diesem  Grunde.  Die  mattherzige  Lehre  einer  besonderen  und 
transzendenten  Legitimität  der  Kronen,  welche  die  feiggesinnte 
Reaktion  jener  Jahre  einem  verängstigten  Geschlechte  als  die 
Summe  monarchischer  Staatsweisheit  zu  predigen  wagte,  hat  in 
diesem  Monarchisten  allezeit  den  entschlossensten  Gegner  ge- 
funden. Darum  konnte  er  Milton  preisen,  der  in  einem  Volke, 
das  einen  ungerechten  König  entsetzt,  mehr  Göttliches  fand  denn 
in  einem  Könige,  der  ein  unschuldiges  Volk  unterdrückt.  Von 
hier  aus  hat  er  gegen  die  »Legitimität«  der  zusammengeraubten 
Rheinbundskronen  gedonnert  und  noch  im  Jahre  1864  die  Halb- 
heit der  preußischen  Unionspolitik  verurteilt,  welche  die  Ober- 
leitung in  Deutschland  erstrebt,  aber  die  Krone  aus  der  Hand 
des  Plebejers  verschmäht  habe:  sie  habe  das  schlechthin  Revolu- 
tionäre auf  legitimem  Wege  erreichen  wollen.  »Wollte  der  Him- 
mel,« so  ruft  er  aus,  »es  lebte  bereits  in  unserem  Volke  eine  so 
heiße  vaterländische  Leidenschaft,  daß  auf  die  Kunde,  die  Ehre 
Deutschlands  ist  gefährdet,  Millionen  Fäuste  sich  ans  ISIesser  ball- 
ten!« Und  noch  nach  dem  Kriege  gegen  Österreich  hat  er  es  beklagt, 
daß  unser  Volk  nicht  mit  revolutionärem  Entschluß  den  Prager 
Frieden  gebrochen  habe,  wie  die  Italiener  den  Frieden  von  Zürich. 


Heinrich  von  Treitschke.  483 

Denn  das  Höchste,  das  schlechthin  Erste  bUeb  ihm  die  Ein- 
heit der  Nation,  der  Staat,  der  ihre  Macht  verbürgt,  als  das  Funda- 
ment, auf  dem  sich  erst  der  Reichtum  des  deutschen  Wesens, 
die  Welt  aller  Freiheit  und  Schönheit  voll  entfalten  kann.  Darum 
bekannte  er  sich  mit  voller  Entschlossenheit  zu  Macchiavelli, 
als  dem  Politiker,  der  den  Staat  als  den  Ausdruck  der  Macht 
und  nur  der  Macht  erkannt  und  seiner  Nation  als  Ziel  vorgehalten 
habe.  Worte  des  itaUenischen  Denkers  setzte  er  in  deutschen 
Versen  als  Motto  vor  seine  Vaterländischen  Gedichte: 

Doch  keiner  sei  so  hirnlos  ganz  und  gar. 

Zu  harren,  wenn  sein  Haus  den  Einsturz  droht, 

Ob  ihn  ein  Wunder  rette  vor  Gefahr: 

Ihn  hascht  in  der  Ruinen  Sturz  der  Tod. 

Auf  diesen  Ton  ist  auch  seine  Habilitationsschrift,  die  Studie 
über  die  Gesellschaftswissenschaft,  gestimmt,  worin  er  Robert 
von  Mohls  Versuch,  die  Lehre  von  der  Gesellschaft  aus  der  Lehre 
vom  Staat  auszuscheiden,  bekämpft  hat.  Und  in  demselben 
Sinne  las  er  die  Klassiker  unserer  Philosophie.  Merkwürdig  genug, 
daß  auch  auf  ihn,  wie  auf  Ranke,  neben  Hegel  besonders  Fichte 
Einfluß  geübt  hat.  Aber  während  der  Großmeister  unserer  Wissen- 
schaft aus  dem  System  des  Idealismus  sein  universales  Weltbild 
entwickelte,  konzentrierte  sich  für  Treitschke  die  weltferne  Lehre 
des  Philosophen  ganz  auf  die  unmittelbare  Gegenwart,  die  nationale 
Idee.  Ihr  diente  alles,  was  er  schuf  und  trieb.  Wie  er  es  selbst 
von  sich  und  seiner  Zeit  ausgesprochen  hat:  »Jedes  Buch,  jedes 
Kunstwerk,  das  den  Adel  deutscher  Arbeit  offenbart,  jeder  große 
deutsche  Mann,  zu  dem  wir  bewundernd  auf  bücken  —  alles, 
alles,  was  den  Ruhm  deutschen  Geistes  verkündet,  ist  heute  ein 
Apostel  des  Einheitsgedankens,  mahnet,  die  deutsche  Einheit, 
die  in  der  Welt  des  Denkens  besteht,  auch  im  Staate  zu  schaffen, 
verschärft  den  Schmerz,  daß  bei  so  großer  Tüchtigkeit  der  Ein- 
zelnen unser  Volk  als  Ganzes  von  den  Fremden  verspottet  wird.« 

Und  nun  brauchte  er  nur  den  Glauben  an  den  Staat  Fried- 
richs des  Großen  und  Steins  zu  bewahren.  Tausende  hatten  ihn 
verloren.  Daß  er,  der  Sachse,  stärker  als  jeder  andere  ihn  fest- 
gehalten, allen  Enttäuschungen  der  Gegenwart  zum  Trotz,  daß  er 

3X* 


4g4  Kleine  historische  Schriften. 

ihn  mit  immer  neuer  Leidenschaft  verfochten,  durch  historische 
und  pohtische  Beweise  ihn  den  Besten  seines  Volkes  und  schließ- 
lich den  Massen  selbst  ins  Bewußtsein  gebracht  und  sie  mit  seiner 
Leidenschaft  erfüllt  hat,  darin  liegt  seine  Größe. 

Nun  erst  ward  er  recht  eigentlich  zum  Historiker.  Er  war 
dazu  so  wenig  methodisch  vorgebildet  wie  einst  Leopold  Ranke. 
Aber  während  dieser  von  der  Höhe  religiöser  und  philosophischer 
Ideen  auf  sein  weltgeschichtliches  Forschungsgebiet  herabgeführt 
wurde,  stand  Treitschke  von  allem  Anfang  an  mit  beiden  Füßen 
auf  dem  Boden  des  Vaterlandes,  in  dessen  Vergangenheit  er  nach 
den  Männern  suchte,  die  der  deutschen  Gedankenwelt  die  Bahnen 
gewiesen,  und  den  Staat  erforschte,  dessen  historischer  Beruf  es 
war,   die  Nation  zur  Einheit  zu  führen. 

Inmitten  dieser  Studien  und  Kämpfe  überraschte  ihn  und 
sein  Volk  die  Erhebung  der  italienischen  Nation  —  ein  Ereignis, 
von  dem  er  selbst  gesagt  hat,  daß  es  ihm  Mark  und  Bein  erschüt- 
tert habe.  Hier  offenbarte  sich  ihm  ein  Volk,  dessen  phantastische 
Jugend  die  Bedeutung  der  Macht  begriff,  dessen  Parteien  ihren 
Streit  über  dem  höchsten  Ziel  vergaßen,  hier  jener  unerschütter- 
liche Glaube  an  die  große  Zukunft  des  eigenen  Volkes,  der,  wie 
er  schreibt,  auch  über  die  Nüchternen  etwas  von  der  Weihe  des 
Sehers  ausgießt,  und  der  partikulare  Staat,  der  seine  Krone  und 
sein  Alles  wagte  an  die  Einheit  der  Nation.  Jetzt  ward  er  bald 
der  Führer  in  dem  vollen  Chor  deutscher  Männer,  die  unter  der 
Wucht  jener  Vorgänge  immer  lauter  und  stürmischer  auch  für 
Deutschland  forderten,  was  die  Italiener  mit  einer  einzigen  heroi- 
schen Anstrengung  erlangt  hatten.  Wirr  genug  war  dieser  Chor, 
so  voll  er  war,  auch  jetzt  noch.  Es  galt,  in  den  Konflikten  zwischen 
politischen  Doktrinen  und  politischer  Gewalt  den  Grundton  fest- 
zuhalten. Und  wieder  liegt  darin  Treitschkes  Verdienst:  der  Satz 
von  dem  nationalen  Staat  als  der  obersten  Notwendigkeit  blieb 
ihm  der  Leitstern.  So  konnte  er  früher  als  jeder  andere  der  Libe- 
ralen und  zum  Entsetzen  seiner  alten  Freunde,  die  bei  aller 
Schwärmerei  für  Erbkaisertum  und  deutsche  Einheit  drauf  und 
dran  waren,  einen  neuen  deutschen  Kleinstaat  gründen  zu  helfen, 
Schleswig-Holstein  für  Preußen  einfordern,  weil  nur  Preußen  die 


Heinrich  von  Treitschke.  485 

Macht  und  also  den  Beruf  habe,  zwischen  den  deutschen  Meeren 
die  Wacht  zu  halten  und  ihre  Küsten  zu  schützen.  Und  so  ward 
es  ihm  leichter  als  den  meisten,  neben  Otto  von  Bismarck  seine 
Stellung  zu  nehmen,  als  der  preußische  Staatsmann  mit  der 
Macht  seines  Staates  auf  Böhmens  Schlachtfeldern  die  deutsche 
Frage  löste. 

Auch  dann  noch  ist  Treitschke  nicht  immer  der  Interpret 
Bismarckscher  Ideen  gewesen.  Er  blieb  auch  nach  1866  der  Uni- 
tarier. Das  deutsche  Königtum,  für  das  er  stritt,  war  die  Krone 
der  Hohenzollem;  die  Mediatisierung  der  kleinen  Staaten  blieb 
noch  lange  sein  höchstes  Ziel;  und  wäre  es  nach  ihm  gegangen, 
so  wären  Elsaß-Lothringen  heute  preußische  Provinzen.  Man  mag 
darin  doch  noch  eine  Unterschätzung  der  »Wirldichkeit  der  Dinge«, 
der  historischen  Berechtigung  und  Bedeutung  der  kleinen  deut- 
schen Staaten  sehen,  die  wir  heute  willig  als  die  Säulen  unseres 
Reiches  anerkennen.  Aber  wer  so  urteilt,  läuft  wiederum  Gefahr, 
die  Kraft  jenes  Willens  zu  unterschätzen,  der  mit  der  Stärke 
persönlicher  Leidenschaft  die  Einheit  woUte  und  nichts  als  die 
Einheit,  und  ohne  dessen  Ansturm  die  partikularen  Gewalten 
gewiß  niemals  sich  der  Idee  des  Reiches  unterworfen  haben 
würden. 

Doch  kann  es  nicht  meine  Aufgabe  sein,  etwa  poHtische  Irr- 
tümer zu  korrigieren  oder  auch  nur  die  Wandlungen  klar  zu 
legen,  welche  Treitschke  in  den  Einzelfragen  der  deutschen  Pohtik 
durchgemacht  hat,  sowie  sich  alle  unsere  Parteien  und  Pohtiker 
unter  dem  Druck  der  nationalen  Entwicklung  gewandelt  haben. 
Genug,  wenn  wir  den  Pol  erkannten,  nach  dem  er  in  allem  Sturm 
und  Wechsel  der  Zeiten  unverwandt  geblickt  hat. 

Wie  zu  den  historischen  Studien  überhaupt,  so  ist  er  auch 
zu  ihren  Stoffen  durch  sein  politisches  Glaubensbekenntnis  ge- 
führt worden.  In  der  groß  angelegten  Studie  über  den  Bonapar- 
tismus kam  es  ihm  darauf  an,  die  Staatsform  aufzudecken,  die 
den  Willen  der  Nation,  den  sie  zu  vertreten  vorgab,  mit  heuch- 
lerischem Despotismus  hintergehe  und  so  das  Beste  in  ihr  töte; 
und  im  Gegensatz  dazu  gewann  ihn  Cavours  sonnige  Gestalt,  als 
des  Staatsmannes,  der  seinem  Volke  die  Erfüllung  seiner  Träume, 


yjgg  Kleine  historische  Scliriftcn. 

Einheit  und  Selbstbestimmung,  gebraclit  hatte.  Und  so  zog  ihn 
naturgemäß  in  unserer  Vergangenheit  vor  allem  der  Staat  an, 
der  die  I\Iacht  hatte,  die  kleinen  Höfe  unter  sich  zu  beugen, 
und  ihm  durch  seinen  Charakter  wie  seine  Geschichte  bestimmt 
schien,  zum  deutschen  Staate  auszuwachsen.  Vor  30  Jahren  hat 
er  bereits  die  Aufgabe  bezeichnet,  die  er  in  seiner  deutschen  Ge- 
schichte gelöst  hat.  »Der  nachhaltige  Prozeß  der  Verschmelzung 
grundverschiedener  Provinzen  zu  einem  Staate,«  so  schreibt  er, 
»die  segensreiche  Einwirkung,  welche  die  Versvaltungsgrundsätze 
und  das  Heerwesen  Preußens  schon  damals  auf  das  übrige  Deutsch- 
land ausübten,  haben  ihren  kundigen  Geschichtschreiber  noch 
nicht  gefunden.«  Einen  der  ödesten  und  reizlosesten  Abschnitte 
der  preußischen  Geschichte  nannte  er  damals  das  letzte  Viertel- 
jahrhundert Friedrich  Wilhelms  HI.  Nun  wir  wissen,  welche 
Fülle  von  Licht  und  welchen  Reichtum  an  Farben  er  über  diese 
Werdezeit  unseres  Staates  ausgebreitet  hat. 

Und  die  eine  Grundfarbe  trägt  auch  die  Form  seiner  Werke. 
\^on  ihr  zeugt  die  unvergängliche  Pracht  solcher  Gemälde  wie 
der  Ausbruch  des  Befreiungskrieges  und  die  Schlacht  bei  Belle- 
Alliance,  bei  denen  uns  zumute  wird,  als  hörten  wir  die  schmet- 
ternden Hörner  der  freiwilligen  Jäger  und  das  brausende  Vive 
l'empereur  der  französischen  Garden.  Durch  jedes  Urteil,  jede 
Schilderung  zieht  sich  der  mächtige  Ton,  in  dem  sich  alle  Har- 
monien dieser  reichen  Seele  zusammenfinden.  Und  wie  hallt  er 
wider  in  dem  edlen  Pathos  seiner  Rede!  Sie  alle,  Kommilitonen, 
standen  unter  der  Wucht  seines  Wortes  und  haben  es  an  sich  er- 
fahren, daß  der  Entschlafene,  weil  er  die  Einigung  der  Nation 
erstritten  und  erlebt  hatte,  sie  schildern  konnte  ^^de  kein  Zweiter. 
Der  größte  Redner  des  Jahrhunderts,  hatte  er  doch  gar  nichts 
an  sich  von  einem  Rhetor.  Vielmehr  in  freier  Rede  packte  er 
uns  stets  am  stärksten.  Dann  brach,  was  ihm  im  tiefen  Herzen 
lebte,  strömend  ans  Licht:  Liebe  und  Haß,  Zorn,  Satire  und  Hohn 
gegen  die  Gegner;  und  jenen  kernigen,  köstlichen  Humor  schüttete 
er  vor  uns  aus,  und  in  jedem  Worte  fühlten  wir,  daß  hier  ein  in 
sich  geschlossener,  unabhängiger  und  in  jeder  Faser  wahrhafter 
Mann  sprach. 


Heinrich  von  Treitschke.  487 

Man  versteht  nur,  was  man  liebt,  so  hat  er  selbst  bekannt. 
Und  sicherlich  hat  er  niemals  besser  aufgefaßt  und  packender 
geschildert,  als  wenn  es  Charakteren  galt,  die  seinen  vaterlän- 
dischen Stolz  und  seine  freie  Männlichkeit  besaßen.  Das  zog  ihn 
zu  Milton  hin  und  zu  Byron,  wie  fremd  ihm  sonst  das  enge  Puri- 
tanertum  des  einen  und  die  geniale  Zerrissenheit  des  anderen 
Sohnes  des  eben  nicht  von  ihm  geliebten  Albions  sein  mochten. 
Denn  beiden  blieb  auch  in  der  Verstoßung  und  Verbannung  ihr 
Volk  das  erste  der  Erde.  Und  darum  haßte  er  die  Heine  und  die 
Börne,  die  ihren  Witz  übten  an  ihrem  Lande. 

Gleichwie  der  Dichter  in  die  Bilder  seiner  Phantasie  etwas 
von  dem  eigenen  Sinn  und  Wesen  zu  legen  pflegt,  so  haben  auch 
die  Lieblingsgestalten  Treitschkes  in  seiner  Darstellung  einen 
Hauch  seines  Wesens  empfangen.  Wer  erkennt  nicht  in  der  »lich- 
ten und  freien  Mannheit«  seines  Lessings  die  ihm  eigene  Wucht 
und  Klarheit  oder  im  Pufendorf  seine  protestantisch-branden- 
burgische Staatsauffassung  wieder!  In  jeder  Zeile  fast  hat  er  sich 
selbst  gezeichnet,  wenn  er  den  Historiographen  des  Großen  Kur- 
fürsten also  schildert:  »Erst  die  Gegenwart  urteilt  gerechter.  Sie 
blickt  zurück  auf  Jahrzehnte  voll  aufreibender  Kämpfe,  und  die 
mächtige  Gestalt  des  alten  Streiters  rückt  ihrem  menschlichen 
Verständnis  näher:  wie  er  so  trotzig  hereinbricht  in  unsere  schlaffe 
Zeit,  keines  Mannes  Schüler,  ganz  auf  sich  selbst  ruhend  und  doch 
im  ganzen  lebend,  stets  zur  rechten  Stunde  mit  dem  rechten  Worte 
bereit;  wie  er  sich  durchschlägt  durch  eine  Welt  von  Feinden 
und  jederzeit  recht  behält;  und  immer,  wenn  der  Adler  auffliegt 
und  seine  Schwingen  im  Lichte  badet,  dann  flattern  und  krächzen 
die  Raben;  und  dazu  jener  erschütternde  Kampf  mit  der  trotz 
alledem  geliebten  Heimat.«  Und  doch  darf  man  sagen,  daß  diese 
Essays  volle  PorträtähnHchkeit  bieten:  jene  Männer  waren  ihm 
verwandt. 

Gott  hatte  ihn  mit  Plagen  geschlagen  wie  Hiob.  Er  trug 
das  Schwerste,  was  ein  Menschenherz  treffen  kann.  Von  Jugend 
auf  lastete  auf  ihm  das  körperliche  Gebrechen,  das  den  Knaben 
in  der  Krankheit  überfallen  hatte  und  nun  dieser  stürmischen, 
nach   Leben   und   Schönheit    dürstenden    Seele    »unsichtbar   und 


488  Kleine  historische  Schriften. 

hinkend  folgte,  ein  höhnischer  Geselle«.  Erschütternderes  ist  in 
unserer  Sprache  nicht  gedichtet  worden  als  seine  »Kranken- 
träume«, darin  er  uns  unnennbare  Qualen  geschildert  hat. 

Da  stehst  du  vor  mir,  Zimmer  traut  bekannt, 

Der  Knabenkämpfe  laute  Schlachtenstätte! 

Lichtstrahlen  spielen  an  der  gelben  Wand, 

Ich  liege  krank  im  engen  Kinderbette: 

Zur  Ecke  ward  der  kleine  Tisch  gerückt, 

Der  Säbel  ruht,  mein  klirrender  Begleiter; 

Mein  hölzern  Rößlein  starren  Auges  blickt 

Wie  fragend  nach  dem  lang'  entbehrten  Reiter. 

Die  Eltern  stehn  um  einen  fremden  Mann  — 

Ich  wund're  mich,  was  sie  so  leise  sprechen.  — 

Er  schaut  sie  ernst  und  achselzuckend  an  — 

Die  Mutter  weint,  als  sollt'  ihr  Herz  zerbrechen  .... 

Vom  Fieber  befreit,  zieht  er  hinaus  zu  der  Bank,  da  er  zu 
rasten  pflegte,  dem  Baum,  da  er  der  Vogelbrut 

Sehnsüchtig  Zwtschern  in  dem  Nest  belauschet. 

Warum  wohl  heut'  das  süße  Tönen  ruht? 

Ist  denn  der  Erde  Fröhhchkeit  verrauschet? 

Die  Mägde  schaffen  noch  wie  sonst  im  Feld. 

Was  singen  sie  nicht  mehr  die  frohe  Weise? 

Im  Winterschlafe  liegt  die  Sommerwelt. 

Nein,  horch,  jetzt  tönt  es  —  ach  wie  matt  und  leise! 

Von  fern,  ein  Fremdling,  kam  mir  jeder  Ton: 

Da  ward  mir  angst,  ich  floh  nach  Haus  zurücke, 

Bis  mich  der  Vater  rief:  Mein  armer  Sohn! 

Und  mir  erzählte  von  des  Fiebers  Tücke  .  .  . 

Und  nun  malt  er  weiter  aus,  wie  ihn  das  wachsende  Leiden 
mehr  und  mehr  absperrt  von  dem  sangesfrohen  Chor  der  Freunde, 
dem  süßen  Wort  der  Liebe;  immer  schwerer  legt  sich  die  Fessel 
um  ihn,  und  erdrückt  vom  Gram  hadert  er  mit  seinem  Gotte: 

Was  hast  du  nicht  mit  deinem  Donnerstrahl  — 
Du  bist  ja  reich  an  Schrecken  —  mich  erschlagen? 
O  du  bist  hart!     Ich  soll  die  alte  Qual, 
Ein  Sklave  seine  Fessel,  ewig  tragen! 

Bis  er  sich  emporrafft  zum  Kampfe  des  Lebens  —  denn 
kampfeswürdig  ist  des  Lebens  Schöne! 


I 


Heinrich  von  Treitschke.  489 

Und  du,  du  wallst  vergehn  in  deinem  Schmerz? 

Du  nahst  der  Welt  mit  einer  Welt  voll  Liebe: 

—  Dein  Zauber  ist  das  mutig  freie  Herz  — 

Wär's  möglich,  daß  sie  dir  verschlossen  büebe? 

Nein,  hören  wirst  du,  was  nicht  einer  hört. 

Im  Menschenbusen  die  geheimsten  Töne: 

Verstehen  wirst  du,  was  den  BUck  verstört 

Und  was  die  Wangen  färbt  mit  heller  Schöne. 

Und  schaffen  sollst  du,  wie  der  Beste  schafft: 

Des  Mutes  Flammentröstung  sollst  du  singen. 

In  kranke  Herzen  singen  junge  Kraft 

Den  Duldern,  die  mit  dunkeln  Mächten  ringen. 

Vor  hellen  Augen  hellet  sich  die  Nacht; 

Kein  Leid,  das  nicht  die  Tröstung  in  sich  trüge, 

Auf  jedes  Trittes  Spur  die  Freude  lacht  — 

O  wie  sie  strahlet:  —  all  dein  Gram  ist  Lüge!  — 

Im  Anblick  dieser  Kämpfe  und  dieses  Sieges  verstehen  wir 
erst  die  strahlende  Kraft,  die  von  seinem  Wesen  ausging,  die 
Reinheit  der  Leidenschaft,  die  ihn  durchglühte,  die  Liebe  und 
Güte,  die  der  warme  Glanz  seines  Auges  widerspiegelte.  So  lernte 
er  den  Tiefsinn  des  evangelischen  Wortes,  daß  denen,  die  Gott 
lieben,  alle  Dinge  zum  besten  dienen  müssen,  zu  seinem  und  des 
Vaterlandes  Glück  verstehen,  und  das  Wort  seines  Lieblings, 
Herrn  Walthers  von  der  Vogel  weide :  »Niemand  taugt  ohne  Freude« 
—  und  so  die  Albernheit  der  pesssimistischen  Weltanschauung 
verachten. 

Und  wie  hat  er  es  nun  gelernt,  die  Schönheit  dieser  Welt 
mit  seinem  Auge  aufzufassen  und  zu  schildern!  Niemand  kannte 
das  deutsche  Land  besser  als  dieser  unermüdliche  Reisende;  jede 
Stadt,  jede  Landschaft  war  ihm  vertraut,  und  eine  jede  vermochte 
er  in  ihrer  besonderen  Schönheit  und  in  ihrer  historischen  Eigen- 
art aufzufassen.  Von  den  Wällen  Schlettstadts,  »am  frischen 
Morgen,  wenn  die  Fetzen  der  Nebel  noch  an  den  Felskegeln  hangen«, 
schweift  sein  Bhck  über  das  Elsaß:  »Droben  auf  dem  Gebirg  der 
dunkle  Tann,  den  das  entwaldete  welsche  Land  kaum  kennt; 
weiter  niederwärts  jene  hellen  Kästen wälder,  die  niemand  mehr 
missen  mag,  wenn  er  einmal  heimisch  ward  am  Rheine;  am  Ab- 
hang die  Rebgärten  und  drunten  jene  schwellende  duftige  Ebene, 


/j90  Kleine  historische  Schriften. 

die  dem  alten  Goethe  noch  in  der  Erinnerung  überschwängliche 
Worte  des  Preises  für  sein  »herrliches  Elsaß'  entlockte.«  Wie  ein 
Holzschnitt  von  der  Hand  seines  Landsmannes,  des  trefflichen 
Ludwig  Richter,  mutet  uns  in  dem  Essay  über  Uhland  das  Bild 
des  altvaterischen  Tübingen  an,  mit  des  Dichters  Hause,  »nahe 
der  Neckarbrücke  am  Abhänge  des  Osterberges,  dessen  schön 
geschwungene  Formen  der  aus  Italien  heimkehrende  Tübinger 
Philolog  mit  dem  Vesuv  zu  vergleichen  liebt.  Dort  sah  er  Jahr 
für  Jahr  jene  denkwürdigen  Ereignisse  an  sich  vorübergehen, 
welche  die  Ruhe  dieses  akademischen  Flachself ingen  unterbrechen. 
Immer  wieder  zogen  der  Pauperpräfekt  und  die  Armenschüler 
in  ihren  großen  Hüten  singend  durch  die  winkeligen,  rinnsal- 
reichen Gassen,  das  Vieh  ward  in  den  Neckar  zur  Schwemme  ge- 
trieben, die  Stadtzinkenisten  bliesen  ihren  Choral  vom  Turme, 
und  —  das  Wichtigste  von  allem  —  die  berufenen  Flößer,  die 
Jockeles,  führten  das  Holz  des  Schwarzwaldes  talwärts  und  wech- 
selten mit  den  alten  Erbfeinden,  den  Studenten,  homerische 
Schimpfreden.« 

Auf  allen  seinen  Landschaftsbildern  ruht  doch  wieder  der 
vaterländische  Hauch.  Wie  jauchzt  er  auf,  da  er  an  der  frie- 
sischen Küste  auf  ein  Wirtshaus  stößt,  ganz  schwarz  und  weiß 
vom  Dache  bis  zum  Erdboden  angestrichen,  auf  dem  Schilde  die 
Inschrift  »zum  schwarzen  Adler«;  und  in  jedem  ostfriesischen 
Bauernhöfe  dann  die  Bilder  vom  alten  Fritz  und  Erinnerungen 
an  die  preußische  Herrschaft. 

Auch  ein  Schimmer  von  Romantik  liegt  w^ohl  auf  seinen 
Schilderungen,  dem  Geiste  der  Epoche  entsprechend,  in  der  er 
aufwuchs.  Aber  nichts  von  der  Traumseligkeit  der  kathohsierenden 
Richtung,  wie  sie  so  viele  geistvolle  Männer  seiner  Jugendzeit 
berückt  hat.  Solche  weibischen  Naturen  wie  Friedrich  Schlegel 
und  Adam  Müller  sind  ihm  stets  zuwider  gewiesen.  Auch  darin 
lebte  in  ihm  Dahlmanns  Geist,  Er  wandte  sich  gegen  jeden  Ver- 
such, eine  durch  die  ernste  Geistesarbeit  dreier  Jahrhunderte 
überwundene  Weltanschauung  wieder  zu  beleben.  Mit  voller 
Ehrlichkeit  nahm  er  das  Geschick  der  Nation,  in  der  höchsten 
aller  Fragen  zwiespältig  zu  sein,  als  eine  historische  Notwendig- 


Heinrich  von  Treitschke.  491 

keit  hin,  der  sich  ein  jeder  beugen  müsse,  so  gerne  er  auch  sein 
Volk  ganz  protestantisch  gesehen  hätte.  Ja  er  konnte  wohl  gar 
an  den  Segen  dieses  Zwiespalts  glauben,  da  aus  der  vom  Staate 
erzwungenen  Duldung  allmählich  die  Gewohnheit  und  endlich 
die  Überzeugung  der  Duldsamkeit  erwachsen  sei.  Lebte  er  doch 
selbst  in  einer  gemischten  Ehe.  Aber  niemals  hat  er  den  Zusam- 
menhang unseres  Staates  mit  der  Gedankenwelt  des  i6.  Jahr- 
hunderts vergessen  oder  »das  eigenste  Werk  des  deutschen  Geistes, 
die  Reformation«  verleugnet.  Und  in  den  Kern  Lutherscher  Ideen 
trifft  das  Wort,  das  er  in  dem  Kampf  mit  dem  Kathedersozialis- 
mus einem  überalen  Katholiken  —  der  von  der  römischen  Kirche 
als  »der  Kirche«  schlechthin  gesprochen  hatte  —  entgegen  warf : 
»Eine  solche  Weltanschauung  ist  ultramontan,  gleichviel  ob  ihr 
Bekenner  sich  persönlich  zum  Materialismus,  zum  Rationalismus 
oder  zu  irgendwelcher  anderen  Überzeugung  halte;  denn  das 
unterscheidet  die  ultramontane  Richtung  von  der  Innerlichkeit 
und  Freiheit  des  Protestantismus,  daß  sie  nach  dem  persönlichen 
Glauben  gar  nicht  fragt.«  Darin  besaß  Treitschke  nun  doch  ein 
Angebinde  seiner  sächsischen  Heimat  und  seines  altprotestan- 
tischen Geschlechtes.  Auf  eine  bestimmte  Konfession  war  er  so 
wenig  jemals  eingeschrieben  wie  auf  eine  politische  Partei;  aber 
daß  die  Sittlichkeit  unabhängig  sei  vom  Dogma,  daß  das  Gebiet 
des  Glaubens  ein  Gebiet  absoluter  Freiheit  und  die  Kultur  der 
Gegenwart  durch  und  durch  weltlich  sei,  sind  allerdings  Glaubens- 
sä.tze,  an  denen  er  unverbrüchlich  festgehalten  hat.  Das  goldene 
Zeitalter  der  Humanität  hat  er  jederzeit  warm  im  Herzen  ge- 
tragen und  jedem  Versuch,  uns  die  Schätze  geistiger  Freiheit 
zu  rauben,  sich  mit  voller  Entschiedenheit  entgegengeworfen. 
Das  schuf  in  ihm  auch  die  herzliche  Sympathie  für  prometheische 
Geister  wie  Lord  BjTon,  sowie  es  der  Grund  seiner  Liebe  war  für 
alle  Helden  und  Denker,  die  uns  die  Bahnen  protestantischer 
Freiheit  gebrochen  haben.  Er  kannte  sehr  wohl  das  Schicksal 
der  Ideen:  daß  sie  von  der  Gesellschaft  aufgegriffen  und  als  ihr 
Eigentum  behandelt,  in  den  Kampf  der  Parteien,  in  das  Gewirr 
irdischer  Interessen  hineingezerrt  und  verwandelt  werden.  »Darum 
soll,«  so  sagt  er  in  seinem  Selbstbekenntnis,  in  der  Schrift  über 


492  Kleine  historische  Schriften. 

die  Freiheit,  »wer  heute  die  Kraft  in  sich  fühlt,  emporzuragen 
über  den  Durchschnitt  der  Menschen,  seine  Seele  frei  halten  von 
dem  unmännlichen  Gefühle  der  Verbitterung  und  Verkennung 
und  sich  fest  stützen  auf  den  freudigen  Glauben  edler  Geister, 
auf  die  Unsterblichkeit  nicht  des  Namens,  sondern  der  Idee.c 
Er  mochte  wohl  auch  an  sich  denken,  als  er  im  Andenken  an 
Pufendorf,  dessen  markige  Gestalt  er  selbst  erst  recht  eigentlich 
aus  dem  Schutte  der  Jahrhunderte  ausgegraben  hat,  das  Los 
aUer  pohtischen  Kämpfer  mit  den  Versen  bezeichnete: 

Denn  es  werden  einst  Geschlechter, 
Die  auf  unsern  Siegen  stehn, 
Ungerührt  im  wunden  Fechter 
Nur  ein  prächtig  Schauspiel  sehn. 

Nun,  Kommilitonen,  Sie  und  wir  alle,  die  wir  hier  versammelt 
sind,  werden  unseres  Heinrich  von  Treitschkes  nicht  vergessen. 
Und  ^^dr  geloben  es,  daß  wir  seinen  freien  Glauben  an  das  Vater- 
land, den  er  auch  in  dem  pohtischen  Wirrsal  der  letzten  Jahre  nicht 
verloren  hat,  daß  wir  seine  Zuversicht  auf  die  Ewigkeit  unserer 
Nation  im  treuen  Herzen  stets  bewahren  werden.  Möge  solche 
Gesinnung  als  sein  teuerstes  Vermächtnis  für  alle  Zeit  seinem 
Volke  erhalten  bleiben!  Dann  wird  sein  Name  auf  dem  Schilde 
Germanias,  deren  stolze  und  keusche  Züge  seine  Muse  trägt,  neben 
den  Besten  seiner  großen  Zeit  durch  die  Jahrhunderte  hin  glänzen, 
und  Generationen  werden  in  dankbarem  Gedächtnis  an  den  Pro- 
pheten der  deutschen  Einheit  mit  frommer  Zuversicht  das  Be- 
kenntnis seiner  Jugend  wiederholen: 

Kein  Volk  hat  Gott  verlassen,  das  sich  nicht  selbst  verließ. 


m^^^^ 


Constantin  Rößler.') 

(1907.) 

Constantin  Rößler  stammte  aus  dem  thüringischen  Teil  des 
Königreichs  Sachsen,  der  nach  den  Freiheitskriegen  an  Preußen 
gekommen  war;  fünf  Jahre  war  die  Provinz  im  Besitz  der  hohen- 
zollemschen  Krone,  als  er  zu  Merseburg  am  14.  November  1820 
das  Licht  der  Welt  erbhckte.  Aber  es  hat  wenige  Männer  ge- 
geben, die  sich  so  sehr  als  Preußen  gefühlt  und  bekannt  haben 
wie  Constantin  Rößler.  Sohn  eines  Predigers,  wuchs  er  in  seiner 
Vaterstadt  auf  bis  zu  seinem  Abgang  zur  Universität.  Das  Dom- 
Gymnasium,  das  er  vom  Sommer  1834  ab  besuchte,  regierte  da- 
mals Karl  Ferdinand  Wieck,  der  geistvolle  Pädagoge,  dem  Ranke 
als  Schüler  der  Schulpforta,  wo  Wieck  damals  Adjunkt  war,  nach 
seinem  eigenen  Zeugnis  fast  das  Beste  verdankt  hat ;  auch  Rößler 
hat  für  alle  Zeit  seines  Lebens  entscheidende  Einflüsse  durch 
ihn  erhalten.  Im  Herbst  1839  S^^S  ^^  nach  Leipzig,  um  Theologie 
zu  studieren,  vertauschte  aber  bald  die  altsächsische  Universität 
mit  der  altpreußischen  in  Halle  und  die  Theologie  mit  der  Philo- 
sophie, zu  der  er  dann  die  Staatswissenschaften  hinzunahm.  Schon 
auf  der  Schule  (1837)  hatte  er  den  Vater  verloren.  So  kam  es, 
daß  er  nach  beendigtem  Studium  zunächst  nach  Leipzig  ging, 
wo  seine  Mutter  nach  dem  Tode  ihres  Gatten  lebte,  um  sich  dort 
auf  die  Promotion  und  die  Habilitation,  die  er  ins  Auge  faßte, 
vorzubereiten.  Im  Dezember  1845  promovierte  er  in  Halle  auf 
Grund  einer  Dissertation  über  den  Philosophen  Friedrich  Hein- 
rich Jakobi;  ging  darauf  noch  für  ein  Jahr  nach  Tübingen,  um 


^)  Aus  der  »Allgemeinen  deutschen  Biographie«. 


494  Kleine  historische  Schriften. 

schließlich  in  Leipzig  die  Vorbereitungen  zur  HabiUtation  zu  be- 
endigen. Im  nächsten  Jahre  suchte  er  Jena  auf,  um  sich  zu  habili- 
tieren, ein  Plan,  der  durch  eine  längere  Erkrankung  verzögert 
wurde  und  erst  im  Juli  1848  zur  Ausführung  kam.  Auch  dann 
aber  kam  Rößler  nicht  dazu,  das  Katheder  zu  besteigen,  denn  nun 
ergriff  ihn  die  Bewegung  des  großen  Jahres  und  riß  ihn  unwider- 
stehhch  in  ihre  Kreise  hinein;  er  erbat  Urlaub,  um  pubhzistisch 
tätig  zu  sein.  Zunächst  trat  er  in  die  Redaktion  der  »Grenzboten« 
ein,  zur  Seite  Gustav  Freytags,  mit  dem  ihn  bis  ans  Ende  enge 
Freundschaft  verbunden  hat  Danach  ging  er  nach  Berhn,  an 
die  von  Hansemann  und  Weill  begründete  konstitutionelle  Zeitung. 
Erst  im  Oktober  1849  nahm  er  die  Vorlesungen  in  Jena  über  philo- 
sophische und  staats\\'issenschaftliche  Fächer  auf.  Nach  acht 
Jahren  stiller  Arbeit,  in  denen  ein  größeres  Werk,  »System  der 
Staatslehre.  Allgemeine  Staatslehre«  (Leipzig  1857),  reifte,  wurde 
er  an  seiner  Universität  zum  außerordenthchen  Professor  der  Philo- 
sophie ernannt.  Er  hätte  nun  wohl  gleich  anderen  eine  sichere 
Laufbahn  als  Universitätslehrer  vor  sich  gehabt.  Aber  gerade 
jetzt  ergriff  ihn  der  Drang,  poHtisch  zu  wirken,  aufs  neue.  Es 
war  der  Clement,  da  die  nationale  Bewegung  nach  den  Jahren 
der  Unterdrückung  und  dumpfer  Gärung  wieder  in  Fluß  kam. 
Die  Erkrankung  König  Friedrich  Wilhelms  IV.,  seine  Vertretung 
durch  den  liberaler  gerichteten  Bruder,  und  bald  die  Regentschaft 
desselben  erweckten  von  neuem  alle  Hoffnungen  und  Anstren- 
gungen der  Patrioten,  die  von  Preußen  die  Erhebung  der  Nation 
erwarteten.  Drei  Jahre  noch  hielt  Rößler,  der  sogleich  mit  mehreren 
Broschüren  in  den  Kampf  eingriff,  es  auf  dem  Katheder  aus; 
Ostern  1860  aber  brach  er  endgültig  die  Brücken  zum  Lehrfach 
ab;  einer  Aufforderung  des  Ministeriums  Auerswald  folgend,  das 
ihn  für  die  Verteidigung  der  Grundsteuern  gewann,  siedelte  er 
nach  Berlin  über  und  ward  Pubhzist. 

Rößler  gehörte  also  zu  den  deutschen  Professoren,  die  aus 
ihrem  Studium  selbst  die  Gedanken  schöpften,  in  denen  sie  die 
belebenden  Kräfte  der  Nation  erkannten  und  deren  Durchführung 
in  dem  Aufbau  des  nationalen  Staates  sie  fast  den  besten  Teil 
ihrer  Lebensarbeit  widmeten.   Aber  sein  Wesen  und  Wirken  unter- 


Constantin  Rößler.  495 

scheidet  sich  doch,  wie  verwandt  es  sein  mag,  von  seinen  Mit- 
kämpfern. Sybel  und  Treitschke,  Droysen  und  Häusser,  Duncker 
und  Mommsen,  und  wie  sie  alle  heißen  mögen,  waren  Historiker 
oder  Rechtsgelehrte,  durchweg  Jünger  der  historischen  Schule, 
die  im  Gegensatz  zu  den  Einflüssen  stand,  unter  denen  Rößler 
groß  geworden  war.  Rößler  war  in  ihrem  Sinne  weder  Historiker 
noch  Staatstheoretiker.  Er  hat  niemals  eine  historische  Arbeit 
gemacht,  wie  die  Zunft  sie  verlangte,  weder  eine  kritische  Unter- 
suchung noch  eine  Quellenedition  noch  eine  größere  oder  gerin- 
gere Darstellung  spezieller  Natur;  auf  solche  Arbeiten  der  Klein- 
kritik sah  er.  mit  einer  gewissen  Geringschätzung  herab.  Lite- 
rarisch-ästhetische Untersuchungen  zogen  ihn  mehr  an.  Schon 
unter  den  Thesen  seiner  Dissertation  erscheint  eine,  welche  auf 
solche  Studien  ein  Licht  wirft:  die  Idee,  so  lautet  sie,  welche 
Shakespeare  in  der  Fabel  vom  König  Lear  geleitet  habe,  scheine 
ihm  von  den  Kritikern  nicht  richtig  erfaßt  zu  sein.  Auf  diesem 
Felde  hat  Rößler  bis  in  sein  Alter  gerne  kleine  Arbeiten  unter- 
nommen, die  sich  zum  Teil  in  kritisches  Detail  verlieren :  ich  nenne 
die  geistreichen  Aufsätze  über  Kleists  Robert  Guiskard  und  die 
Entstehung  des  Faust;  oder  die  feinsinnige  Analyse  des  Ringes 
der  Nibelungen  von  Richard  Wagner  (1874,  unter  dem  Pseudonym 
FeUx  Calm).  Aber  dies  und  anderes  waren  für  ihn  doch  nur 
Parerga:  das  Zentrum  seiner  Studien  war  immer  die  Philosophie 
gewesen,  und  zwar  diejenige  Philosophie,  gegen  welche  die  histori- 
sche Schule  ihre  Kämpfe  geführt  hatte,  die  Philosophie  Hegels. 
Ihr  ist  Rößler  auch  treu  geblieben  als  Poütiker  und  Pubhzist;  ja 
das  war  recht  eigentlich  der  Sinn,  den  er  in  alle  seine  Arbeiten 
für  den  deutschen  Staat  hineinlegte:  die  Ideen  des  großen  Philo- 
sophen in  die  Wirklichkeit  überzuführen,  seine  Gedanken  zur 
Tat  zu  erwecken,  Staat  und  Kirche  mit  ihrem  Geiste  zu  erfüllen. 
Schon  auf  der  Schule  war  Rößler  in  ihren  Bann  gezogen  wor- 
den. Als  Wieck  mit  Leopold  Ranke  den  Thukydides  und  die 
griechischen  Tragiker  las,  war  Hegels  Gestirn  erst  vor  kurzem 
am  Firmament  der  deutschen  Bildung  erschienen;  auch  der  junge 
Adjunkt  an  der  Pforta  war  wohl  noch  nicht  von  seinen  Strahlen 
getroffen  gewesen;  Rankes  Jugendbildung  stand  noch  ganz  unter 


496  Kleine  historische  Schriften. 

dem  Zeichen  des  Rationalismus.  Später  aber  ist  Wieck  ein  be- 
geisterter Anhänger  des  großen  Philosophen  geworden.  Rößler 
hat  uns  das  Bild  seines  Direktors,  als  dessen  ältester  Schüler, 
wie  er  sagt,  Ranke,  als  der  jüngste  Ernst  Häckel  genannt  werden 
könne,  überaus  lebendig  und  anmutend  gezeichnet.  »Die  em- 
pfänglichen unter  seinen  Schülern,«  so  schreibt  er,  »bewahren 
ihm  ein  aus  Staunen  und  Pietät  gemischtes  Andenken.  Dieser 
Mann  ghch  einem  Propheten,  einem  Seher.  Er  hatte  uns  Pri- 
manern schon  die  Lehre  Hegels  von  den  Momenten  auseinander- 
gesetzt. Sein  vorzugsweise  gewähltes  Beispiel  war  das  Verhält- 
nis der  Jehova-Religion  zur  Christus-Religion,  In  wahrhaft  flam- 
menden Worten  entwickelte  er  uns,  wie  der  Stammesgott  des 
^'olkes  Israel  nach  und  nach  unter  den  erhabenen  Gesichten 
der  Propheten,  gestützt  auf  die  jüdische  Zähigkeit,  zu  der  über- 
weltlichen Persönlichkeit,  die  alles  Kreatürliche  von  sich  abstreift 
und  sich  zum  Herrn  aller  Kreatur  macht,  entwickelt  worden. 
Aber  der  beständige  Widerstand  der  Kreatur  macht  diesen  Herr- 
scher mit  seiner  schrankenlosen  Macht  zum  ewig  zornigen,  ewig 
strafenden  Richter.  Die  wahrhaft  weltüberwindende  Macht  ist 
nur  die  Liebe,  von  Christus  offenbart,  die  aber  als  Voraussetzung, 
als  aufgehobenes  Moment,  des  Gedankens  der  schrankenlosen, 
über  alle  Kreatur  erhabenen  Macht  bedurfte.  Denn  die  weltum- 
fassende Liebe  haftet  nicht  am  Kreatürlichen.  Wieck  schloß 
diese  Ausführung  zuweilen  mit  der  Frage:  Verstehen  sie  nun  das 
Wort  Christi:  ,ehe  denn  Abraham  war,  war  ich?'« 

Von  solchen  Erinnerungen  an  unvergeßliche  Stunden  erfüllt, 
kam  Rößler  nach  Halle,  wo  Johann  Eduard  Erdmann  das  philo- 
sophische Katheder  beherrschte.  Es  war  das  Jahrzehnt  nach 
Hegels  Tode,  in  dem  der  Einfluß  des  großen  Lehrers,  von  seinen 
Schülern,  den  Herausgebern  seiner  Schriften,  verbreitet,  sich 
weiter  als  jemals  ausdehnte,  zugleich  aber  auch  durch  das  allseitige 
Vordringen  der  empirischen  Erkenntnisse  die  Opposition,  die 
sich  bei  Lebzeiten  des  Meisters  erst  kurz  vor  seinem  Ende  bemerk- 
bar gemacht  hatte,  stärker  anwuchs  und  in  den  Reihen  seiner 
Anhänger  selbst  Abfall  und  Bürgerkrieg  ausbrachen.  Halle  aber 
war  der  Boden  geworden,  auf  dem  der  Kampf  in  der  Schule  selbst 


Constantin  Rößler.  497 

am  heftigsten  tobte;  hier  hatten  sich  die  JunghegeHaner,  Arnold 
Rüge  und  seine  Genossen,  in  den  Hallischen  Jahrbüchern  das 
Organ  geschaffen,  in  dem  sie  die  Dialektik  des  Lehrers,  statt  sie 
zur  Rechtfertigung  »alles  Bestehenden«  zu  benutzen,  vielmehr 
dazu  anwandten,  »um  aUes  Bestehende  auf  seme  Kraft  und  sein 
Recht,  zu  leben,  mit  unfehlbarer  Sicherheit  zu  prüfen.«  Rößler 
war  bereits  durch  Wiecks  Unterricht  und  durch  eigene  Anlage 
so  gefestigt,  daß  die  bisweilen  banale  Form,  in  der  Erdmann  die 
konservativen  Anschauungen,  wie  Hegel  selbst  sie  vorgetragen 
hatte,  gegen  die  jungen  Stürmer  verteidigte,  auch  ihm  Wider- 
willen erregte.  Aber  anderseits  stießen  ihn  auch  wieder  die  dialek- 
tischen Manipulationen,  mit  denen  die  Junghegelianer  ihre  reli- 
giösen und  politischen  Doktrinen  ihren  Hörern  mundgerecht  zu 
machen  suchten,  und  die  Plattheiten,  in  denen  sie  selbst  sich  ergingen, 
ab.  Die  Kreise,  in  denen  er  seine  Freunde  fand,  darunter  vor  anderen 
Adalbert  Delbrück,  der  Sohn  des  Kurators  der  Universität,  und 
Albert  Ritschi,  dessen  Vater  als  Bischof  in  Stettin  die  pommersche 
Kirche  gegen  den  Einbruch  der  neuen  pietistisch-feudalen  Ortho- 
doxie verteidigte,  hielten  sich  ebenso  fern  von  dem  Radikalismus 
Ruges  und  seines  Anhanges  wie  von  der  orthodoxen  Leidenschaft- 
lichkeit eines  Leo  und  Tholuck  und  führten  den  jungen  Studenten 
auf  einen  Boden,  auf  dem  er,  ohne  dem  Geist  des  Meisters  untreu 
zu  werden,  den  in  Kirche  und  Staat  sich  aufdrängenden  Fragen 
der  Epoche  mit  entschlossenem  und  klarem  Blicke  entgegenging. 
So  bildete  er  schon  damals  die  Kraft  der  Kritik  in  sich  aus,  die 
er  später  in  glänzenden  Streitschriften  gegen  die  Verderber  und 
Verächter  der  Hegeischen  Philosophie,  gegen  die  triviale  Skepsis 
eines  Strauß  und  den  pessimistischen  Hochmut  eines  Schopen- 
hauer entfaltet  hat.  Rößler  hat  in  reiferen  Jahren  die  studentische 
Kritik,  die  er  an  Erdmanns  Vorträgen  übte,  als  »vorschnelles 
Urteil«  bedauert,  zumal  da  er  das  Verständnis  der  Hegeischen 
Lehre  an  seinem  Lehrer  immer  schätzte,  dessen  Reichtum  an 
mannigfaltigen  Kenntnissen  wie  an  dialektischer  Kunst  er  und 
seine  Kommihtonen  doch  kaum  hätten  ermessen  können.  Aber 
es  war  doch  nicht  bloß  die  Profanierung  des  Hegeischen  Tiefsinns 
und   die    dialektische    Unbeholfenheit   Erdmanns   gegenüber   den 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  3^ 


498  Kleine  historische  Schriften. 

Junghegelianern,  was  Rößler  von  jenem  fernhielt,  sondern  mehr 
noch  die  ablehnende  oder  besser  indifferente  und  skeptische  Hal- 
tung gegenüber  den  politischen  Idealen  Deutschlands,  für  die 
Erdmann  als  geborener  Livländer  von  Haus  aus  keinen  rechten 
Sinn  besaß.  Darin  glich  Rößler  doch  wieder  den  jüngeren  Rivalen 
seines  Lehrers,  daß  er,  wie  sie,  das  Hcgeltum  in  die  religiösen 
und  politischen  Probleme  der  Epoche  hineinführen  und  diese  im 
Geiste  des  Meisters  gestalten  wollte;  den  Quietismus  der  Alt- 
hegelianer hat  er  vielleicht  noch  schärfer  und  jedenfalls  nach- 
haltiger bekämpft  als  jene. 

Indem  er  nun,  gleich  so  vielen  Universitätslehrern,  sein  Leben 
der  Arbeit  für  den  nationalen  Staat  weihte,  bewahrte  er  auch  in 
der  Art,  wie  er  focht  und  wie  er  sich  die  Aufgabe  und  das  Ziel  des 
Kampfes  setzte,  die  besondere  Stellung,  die  wir  bereits  in  seiner 
Entwicklung  den  Mitkämpfern  gegenüber  wahrnahmen.  Jene 
blieben,  so  lebhaft  sie  an  den  pohtischen  Kämpfen  teilnehmen 
mochten,  dennoch  fast  alle  ihrem  Katheder  treu,  oder  traten, 
falls  sie  einmal  die  Lehrtätigkeit,  immer  nur  auf  Zeit,  aufgaben, 
vor  aller  Welt  auf,  sei  es  auf  der  parlamentarischen  Tribüne  oder 
an  der  Spitze  einer  Zeitschrift  oder,  wie  es  in  der  Revolution 
wohl  vorkam  und  der  Ehrgeiz  manches  unter  ihnen  war,  auf  einem 
Ministerposten.  Als  Max  Duncker  im  Jahre  1858  Leiter  der  halb- 
amtlichen Presse  unter  dem  Ministerium  der  Neuen  Ära  wurde, 
verknüpfte  er  damit  die  Stelle  eines  vortragenden  Rates  im  Staats- 
ministerium. Und  Treitschke  habilitierte  sich  gerade  in  dem 
Moment,  wo  er  in  die  Reihe  der  Kämpfer  erst  eintrat;  auf  dem 
Katheder  selbst  wollte  er  für  die  allgemeine  Sache  wirken.  Rößler 
aber  brach  alle  Brücken  hinter  sich  ab.  Er  verschmähte  es,  mit 
dem  Namen  selbst  hervorzutreten;  er  tauchte  völlig  unter  in  dem 
Strom,  den  er  dem  Ziele  entgegenlenken  wollte:  aUe  seine  Bro- 
schüren, wie  auch  die  w^eitaus  meisten  seiner  politischen  Artikel 
in  Zeitschriften  und  Zeitungen,  sind  anonym  erschienen  oder  unter 
einem  Zeichen,  das  nur  den  Eingeweihten  bekannt  war.  Darin 
erfüllte  er  ganz  seines  Meisters  Lehre,  daß  vor  der  wirkenden  Kraft 
der  Idee  das  Individuum,  das  nur  wie  ein  zerstiebender  Funke 
des  allwaltenden  Geistes  ist,  zurücktreten  und  verlöschen  müsse: 


Constantin  Rößler.  499 

niemand  hat  sie  so  ernst  genommen  wie  er.  Nicht  daß  Rößler 
den  Wert  der  Persönhchkeit  und  die  Notwendigkeit  ihres  Er- 
scheinens und  Wirkens  verkannt  oder  verachtet  hätte.  Vielmehr 
war  es  ein  Hauptartikel  seines  philosophischen  Katechismus, 
daß  die  reifende  Idee  sich  eine  Persönlichkeit,  als  das  Gefäß  ihrer 
Kraft,  unfehlbar  formen  müsse,  und  der  Inhalt  seines  politischen 
Glaubens,  daß  der  Messias  Deutschlands  vor  der  Tür  sei.  Für 
sich  selbst  jedoch  nahm  er  nur  die  Kraft  in  Anspruch,  daß  er  die 
Zeichen,  die  ihn  verkündigten,  deuten  könne.  Und  das  ist  nun 
in  der  Tat  der  Ruhm,  den  die  Nachwelt  Constantin  Rößler  schul- 
det. Er  ist  wirklich  der  Prophet  Bismarcks  gewesen,  er  hat  früher 
und  deutlicher  als  irgendein  anderer  die  Stelle  bezeichnet,  wo 
der  Stern  der  nationalen  Hoffnung  stand;  und  mehr  noch,  er  hat 
den  Stern  selbst  gefunden  und  seine  Bahn  berechnet,  als  dieser 
auch  seinen  Mitkämpfern  noch  hinter  dem  reaktionären  Nebel 
und  Gewölke  ganz  verborgen  war.  Schon  gleich  zu  Beginn  der 
Neuen  Ära  entwickelte  er  in  dem  » Sendschreiben  an  den  Politiker 
der  Zukunft«  ein  Programm,  das  sich  mit  der  Pohtik  des  Frank- 
furter Gesandten  deckte.  Wie  Bismarck  in  seinen  Berichten  so 
oft,  wendet  sich  auch  Rößler  gegen  die  allgemein  herrschende,  aus 
Furcht  und  Unkenntnis  geborene  Ansicht,  daß  Preußen  mit  Eng- 
land und  Österreich  zusammengehen  müsse,  um  das  Bündnis  der 
romanischen  und  slawischen  Nationen  zu  verhindern.  Um  nur 
einen  Satz  Bismarckschen  Gepräges  hervorzuheben,  so  heißt  es 
darin:  »Ich  gebe  Ihnen  zu,  daß  es  strategische  Positionen  gibt, 
an  deren  Besitz  unter  gewissen  Umständen  das  Schicksal  der 
Welt  hängt.  Aber  nur  unter  ganz  bestimmten,  nicht  unter  allen 
Umständen.  Konstantinopel  in  den  Händen  der  Türken  ist  nichts 
weniger  als  ein  herrschender  Punkt,  für  den  Augenblick  nur  eine 
defensive  Stellung.  Daß  die  strategischen  Positionen  das  Schicksal 
der  Welt  entscheiden,  dazu  gehört,  daß  sie  von  den  kräftigsten 
Nationen  besetzt  sind.  Auch  das  reicht  nicht  aus,  daß  ein  solcher 
Punkt  durch  Zufall  in  die  Hände  einer  kräftigen  Nation  fällt. 
Das  nur  entscheidet,  wenn  ein  mächtiges  Volk  sich  der  wichtigen 
Punkte  wider  den  \\'illen  und  trotz  der  vereinigten  Anstrengungen 
der  übrigen  Welt  bemächtigt  und  sie  behauptet.    Ich  kann  das 

32* 


^00  Kleine  historische  Schriften. 

Schicksal  Europas  noch  nicht  für  besiegelt  ansehen,  wenn  es  auch 
Rußland  einmal  gelänge,  sich  für  einige  Zeit  in  Konstantinopel 
festzusetzen.  Ich  kann  mich  nicht  überzeugen,  daß  Rußland  die 
nachhaltige  Kraft  besitzt,  diese  Position  unauflialtsam  vordringend 
auszubeuten,  und  also  auch  nicht  glauben,  daß  es  sie  lange  be- 
haupten würde.« 

Ein  halbes  Jahr  später  ward  Preußen  vor  die  Versuchung 
gestellt,  vor  der  Rößler  soeben  gewarnt  hatte;  und  man  weiß, 
wie  nahe  die  Regierung  des  Regenten  daran  gewesen  ist,  Österreich 
in  Italien  zu  helfen,  um  dafür  den  hohen  Preis  der  deutschen 
Hegemonie  zu  erringen,  und  wie  eifrig  die  Liberalen  bemüht  ge- 
wesen sind,  den  Staat  auf  diesen  Weg  zu  stoßen.  Da  hat  Rößler 
abermals  seine  Stimme  erhoben,  in  einer  Flugschrift,  »Preußen 
und  die  itaüenische  Frage«,  mit  dem  Motto,  das  er  dem  Fürsten 
Felix  V.  Schwarzenberg  entliehen  hatte:  »Die  Welt  soll  erstaunen, 
wie  vortrefflich  wir  uns  auf  den  Undank  verstehen.«  Es  ist  die 
Schrift,  von  der  damals  alsbald  gesagt  wurde,  daß  sie  von  Herrn 
von  Bismarck,  der  soeben  nach  Petersburg  versetzt  war,  herrühre, 
und  von  der  dieser  erklärt  haben  soll,  sie  sei  zwar  nicht  von  ihm, 
aber  sie  entspreche  ganz  seiner  Auffassung.  Es  ist  in  der  Tat  er- 
tsaunlich,  wie  sehr  sich  der  Gedankeninhalt  dieser  Broschüre  mit 
den  vertrautesten  Briefen  Bismarcks  aus  der  damahgen  Zeit  deckt. 
Man  lese  z.  B.  einen  Satz,  wie  diesen:  »Das  ganze  Gewicht  des 
Kampfes  wäre  sofort  an  den  Rhein  zu  legen  und  den  Kampf  hätte 
Preußen  allein  zu  führen,  denn  Österreich  hätte  sich  an  Sardinien 
zu  rächen,  müßte  die  befreundeten  italienischen  Regierungen 
gegen  die  Revolution  beschützen,  müßte  seine  russische  Grenze 
decken,  dürfte  seine  eigenen  Provinzen  Galizien,  Ungarn,  die 
Südostgrenze  nicht  zu  sehr  entblößen.  Unsere,  die  preußische 
Küste  aber  würde  von  der  französischen  Flotte  blockiert«  — 
und  vergleiche  ihn  mit  dem  bekannten  Briefe  Bismarcks  an  den 
Geheimrat  Wentzel  in  Frankfurt  vom  i.  Juli:  »Man  \\drd  zuletzt 
losschlagen,  um  die  Landwehr  zu  beschäftigen,  weil  man  sich  ge- 
niert, sie  einfach  wieder  nach  Hause  zu  schicken.  Wir  werden 
dann  nicht  einmal  Österreichs  Reser\^e,  sondern  wir  opfern  uns 
geradeswegs  für  Österreich,  wir  nehmen  ihm  den  Krieg  ab.    Mit 


Constantin  Rößler.  501 

dem  ersten  Schuß  am  Rhein  wird  der  deutsche  Krieg  die  Haupt- 
sache, weil  er  Paris  bedroht,  Österreich  bekommt  Luft,  und  wird 
es  seine  Freiheit  benutzen,  uns  zu  einer  glänzenden  Rolle  zu  ver- 
helfen?« Ist  es  nicht,  als  ob  Rößler  Bismarck  bei  diesem  Briefe 
über  die  Schulter  gesehen  habe?  Wie  Bismarck,  verlangt  auch 
Rößler,  daß  Preußen  Österreich  den  Kampf  in  Italien  allein  be- 
stehen lasse,  so  daß  den  Italienern  die  Einheit  unverkümmert 
bleibe,  um  welche  sie  kämpfen;  man  dürfe  nicht  den  Habsburgern 
helfen,  Venetien  zu  behalten.  Als  eine  unsitthche  PoUtik  brand- 
markt er  es,  daß  Deutschland  für  sich  die  nationale  Einheit  er- 
halte und  sie  dem  fremden  Volke  verkümmere.  Er  ruft,  wie  Bis- 
marck so  oft,  den  Schatten  Friedrichs  des  Großen  an,  »die  Helden- 
weisheit, welche  uns  auf  die  erhabenen  Pfade  der  Geschichte  ge- 
führt und  die  wir  heute  verleugnen  sollen  aus  leerer  Besorgnis, 
daß  man  sie  gegen  uns  anwende  und  das  hnke  Rheinufer  uns 
nehme«.  »Wenn  wir  nicht  Sorge  tragen,«  so  ruft  er  aus,  »unsere 
Kraft  so  zu  pflegen,  daß  wir  den  Rhein  jederzeit  behaupten  oder 
nach  jedem  augenbhckhchen  Verlust  wiedergewinnen  können,  so 
werden  wir  ihn  trotz  der  Verträge  mit  Recht  verlieren«.  Wenige 
Wochen  darauf,  im  April,  hatte  Rößler  Gelegenheit,  mit  Duncker 
die  Frage  zu  besprechen.  Er  traf  ihn  auf  der  Reise  nach  Berlin, 
wohin  Duncker  auf  seinen  neuen  Posten  eilte,  und  hatte  während 
der  Fahrt,  und  dann  die  nächsten  Tage  in  Berhn  mit  ihm  die  leb- 
haftesten Auseinandersetzungen.  Aber  vergebens  suchte  er  den 
Leiter  der  offiziösen  Presse  zu  seinem  Plan  zu  bekehren.  Der  neue 
Geheimrat  Heß  sich  nicht  von  der  Ansicht  abhalten,  daß  Preußen 
nach  einigen  Wochen  der  Neutrahtät,  während  Napoleon  den  Krieg 
in  Itahen  eröffne,  Südwestdeutschland  besetzen,  den  Krieg  an  Frank- 
reich erklären,  den  Oberbefehl  über  die  deutschen  Streitkräfte  ohne 
weiteres  an  sich  nelmien  und  dafür  nach  einem  siegreichen  Frieden 
sich  die  dauernde  Führung  Deutschlands  ausbedingen  müsse. 

Ein  Mann  wie  Rößler  konnte  natürlich  auch  nicht  anders 
als  mit  vollem  Nachdruck  für  die  Mihtärreorganisation  im  Sinne 
der  Regierung  eintreten.  Er  hat  es  noch  im  Juli  1862  getan, 
unmittelbar  vor  dem  Ausbruch  des  Verfassungskonfliktes  in 
Preußen.   In  der  Flugschrift  »Die  bevorstehende  Krisis  der  preußi- 


5Q2  Kleine  historische  Schriften. 

sehen  Verfassung«  schlug  er  die  Bildung  eines  Ministeriums  vor, 
in  dem  neben  Georg  von  Vincke  und  General  von  Roon  Bismarck 
den  Platz  des  Auswärtigen  Ministers  einnehme ;  denn  der  habe  das 
echte  Gefühl  für  die  Ehre  Preußens  und  wolle  die  Politik  dieses 
Staates  auf  die  selbständige  Kraft  desselben  stellen.  Beide  Dinge 
seien  unter  den  bisherigen  preußischen  Diplomaten  etwas  so  Un- 
gewöhnliches gewesen,  daß  sie  eine  außerordentliche  Erwartung 
rechtfertigten.  Die  Zweifel  dagegen  scheinen  ihm  sehr  leicht  zu 
wiegen:  »Es  kommt  nur  darauf  an,  daß  den  Deutschen  die  Ge- 
lehrsamkeit, die  sie  bei  so  vielen  Gelegenheiten  zeigen,  auch  zur 
rechten  Zeit  einfalle.  Hat  nicht  Pitt,  der  große  Tor>%  als  Whig 
begonnen,  und  Fox,  der  große  Whig,  als  Tor}^  ?  War  Peel,  der 
Zerstörer  der  Torypartei,  nicht  zuvor  ihr  Führer?  Und  ist  Pal- 
merstons  staatsmännische  Jugend  nicht  einst  die  Hoffnung  der 
Tories  gewesen  ?  Die  Einseitigkeit  eines  Standpunktes  überwindet 
eine  zur  Freiheit  befähigte  Natur  am  sichersten  durch  die  Kraft, 
mit  der  sie  sich  in  ihn  hineinlebt.«  Herr  von  Bismarck  habe  einst 
erklärt,  er  wolle  den  Namen  des  Junkers,  wie  einst  die  hollän- 
dischen Geusen  den  ihren,  zu  Ehren  bringen;  er  sei  vielleicht 
nahe  daran,  sein  Versprechen  zu  erfüllen.  Rößler  Heß  sich  auch 
nicht  beirren,  als  Bismarck  im  September  seine  Laufbahn  als  der 
Minister  der  Reaktion  begann.  In  der  Broschüre  »Preußen  nach 
dem  Landtage  1862«  wagt  er  es,  »eine  Überzeugung  auszusprechen, 
unberührt  von  dem  Aufschrei  des  Widerspruchs,  welchen  sie  her- 
vorrufen wird.  Wenn  Herr  von  Bismarck  der  Regierung,  an  deren 
Spitze  er  steht,  den  Impuls  zu  einer  kühnen,  fortreißenden  Tat 
in  der  deutschen  Frage  geben  kann,  so  wird  in  wenigen  Tagen 
vergessen  sein,  was  er  noch  heute  und  gestern  gesprochen,  getan 
oder  zugelassen  hat.  Dann  ist  es  mit  der  Reaktion  zu  Ende,  aber 
auch  mit  der  Opposition.  Unter  anfänglichem  Widerstreben  wird 
lawinenartig  durch  die  deutschen  Provinzen  der  Ruf  einer  Nation 
sich  fortpflanzen,  welche  durch  das  Reden  zur  Verzweiflung  ge- 
bracht ist.  Der  veränderte  Ruf  eines  verzweifelnden  Tyrannen, 
welcher  angstvoll  fragte:  »Ein  Pferd!  Ein  Königreich  für  ein 
Pferd!«  —  Die  deutsche  Nation  wird  jubelnd  rufen:  »Eine  Diktatur 
für  einen  Mann!« 


Constantin  Rößler.  503 

Wie  Rößler  im  Jahre  1863,  als  Bismarck  den  Glauben  der 
Preußenfreunde  an  den  Staat  Friedrichs  des  Großen  auf  die  stärkste 
Probe  stellte,  über  ihn  gedacht  hat,  kann  ich  nicht  sagen;  es  fehlen 
mir  dafür  die  Unterlagen.  Jedenfalls  haben  ihn,  wenn  er  sich  über- 
haupt von  ihm  entfernt  hat,  Düppel  und  Alsen  alsbald  zu  seinem 
Helden  zurückgeführt.  Und  nun  kam  auch  für  ihn  der  IMoment, 
der  ihn  persönlich  mit  Bismarck  verknüpfte.  Ostern  1865  erhielt 
er  von  dem  ^Minister  den  Antrag,  nach  Hamburg  zu  gehen,  teils 
um  die  Handelsverhältnisse  Hamburgs  einer  möglichen  politischen 
Veränderung  in  Norddeutschland  gegenüber  zu  studieren,  teils 
um  die  Entwicklung  in  den  Herzogtümern  unter  dem  preußisch- 
österreichischen  Kondominat  zu  beobachten.  Im  Herbst  1868 
von  Hamburg  nach  Berlin  zurückgekehrt,  privatisierte  Rößler 
wiederum  längere  Zeit,  von  dem  Ertrage  seiner  Feder  lebend. 
Drei  Jahre,  von  1868  bis  Ende  1871,  war  er  Mitarbeiter  am  Staats- 
anzeiger, gab  diese  Stelle  aber,  da  sie  ihm  die  persönliche  Frei- 
heit zu  sehr  beschränkte,  wieder  auf.  Erst  im  Januar  1877  nahm 
er  eine  feste  Stellung  an,  als  Leiter  des  Literarischen  Bureaus, 
also  das  Amt,  welches  einst  Duncker  einige  Jahre  verwaltet  hatte. 
Rößler  jedoch  verband  damit  nicht  eine  Stellung  als  Ministerial- 
rat; erst  nach  Bismarcks  Entlassung  ist  er,  im  März  1892,  indem 
er  jene  Stelle  aufgab,  als  Legationsrat  in  das  Auswärtige  Mini- 
sterium eingetreten.  Am  i.  Januar  1894  ward  er  bei  seinem  vor- 
gerückten Alter  auf  sein  Ansuchen  mit  dem  Charakter  eines  Ge- 
heimen Legationsrates  in  den  Ruhestand  versetzt. 

Auch  als  Beamter  Bismarcks  ist  Rößler  in  der  alten  Stellung 
und  Tätigkeit  geblieben.  Er  hatte  neben  dem  Amt,  die  Presse 
zu  verfolgen  und  die  Zeitungsausschnitte  für  den  König  und  die 
^linister  zu  besorgen,  den  Auftrag  oder  die  Erlaubnis,  im  Sinne 
der  Regierung  die  öffentliche  Meinung  zu  beeinflussen.  Zahllose 
Artikel  hat  er  an  den  verschiedensten  Stellen,  namentlich  über 
die  auswärtige  Politik,  geschrieben.  Weithin  bemerkt  wurden 
seine  Leitartikel  in  der  »Post«;  er  war  der  ^''erf asser  der  Kometen- 
briefe in  den  »Grenzboten«,  deren  »Zickzack-Bahnen«  Treitschkes 
Kreise  mehrfach  störten,  und  vom  Juli  1884  bis  zum  November 
1887  der  \\'- Artikel  in  den   »Preußischen   Jahrbüchern«.    Da  ist 


504  Kleine  historische  Schriften. 

es  nun  höchst  bemerkenswert,  daß,  trotz  seiner  amtlichen  Stellung, 
und  obschon  er  seine  Informationen  von  der  leitenden  Stelle  erhielt, 
nach  Form  und  Inhalt  Rößlers  Aufsätze  niemals  kontrolliert 
wurden.  Wenn  man  bedenkt,  wie  eifersüchtig  Bismarck  bei  seinen 
Diplomaten  darüber  wachte,  daß  sie  keine  Pohtik  auf  eigene 
Hand  betrieben,  und  wie  er  Personen  in  ähnlicher  Stellung, 
z.  B.  einen  Moritz  Busch,  ausnutzte,  um  seine  Gedanken  in  die 
Presse  zu  bringen,  oft  an  denselben  Stellen,  wo  Rößler  arbeitete 
(man  denke  an  die  »Grenzboten  «-Artikel  von  Busch,  welche 
Bismarck  soufflierte),  so  muß  man  wirklich  erstaunen,  daß 
der  Fürst  Rößler  völlig  freie  Hand  ließ  und  anderseits  niemals 
von  ihm  verlangt  hat,  ihm  seine  Feder  direkt  zu  leihen.  Sogar 
Arbeiten,  wie  den  »Krieg-in- Sicht  «-Artikel  der  »Post«  1875,  der 
in  ganz  Europa  das  weiteste  Aufsehen  erregte  und  allgemein  als 
von  Bismarck  inspiriert  galt,  oder  den  andern,  »Auf  des  Messers 
Schneide«,  1887,  hat  Rößler  auf  eigene  Faust  geschrieben.  Bis- 
marck sagte  sich  wohl,  daß  er  Rößlers  Feder  verheren  würde, 
sobald  er  sie  in  Bahnen  zwänge,  die  ihr  widerstrebten;  auch 
^^'ußte  er,  daß  sie  niemals  ganz  aus  seiner  Bahn  weichen  würde, 
während  die  Ideen  Rößlers  doch  wieder  zu  eigenartig  formuliert 
waren,  ich  möchte  sagen,  zu  spekulativ,  zu  pointiert,  um  dem 
großen  Praktiker  ganz  nach  dem  Herzen  zu  sein:  genug,  der 
^Meister  hat  diesem  Diener  (ehrenvoll  gewiß  für  beide  Teile) 
die  Freiheit  gelassen,  ohne  welche  derselbe  kein  Wort  hätte 
schreiben  können. 

Vor  aUem  an  einer  Stelle,  in  einer  Phase  der  Bismarckschen 
Politik  hat  Rößler  Bahnen  verfolgt,  die,  wie  von  denen  seiner 
Freunde,  so  auch  von  denen  Bismarcks,  so  verwandt  auch  sie 
ihnen  waren,  dennoch  weit  hin  wegführten  und  ihn  abermals  auf 
eine  einsame  Höhe  gebracht  haben.  Ich  meine  die  Art,  wie  er  den 
Kulturkampf  aufgefaßt  hat.  Er  hat  ihm,  da  er  auf  dem  Gipfel 
war,  1875,  also  nicht  lange  bevor  er  Bismarcks  spezieller  Diener 
woirde,  eine  größere  Schrift  gewidmet,  das  zweite  seiner  Bücher: 
»Das  Deutsche  Reich  und  die  kirchliche  Frage«.  Ein  Werk,  in 
dem  Rößler  die  Summe  seiner  Spekulation,  seines  philosophischen 
und     religiösen     Glaubens    wie     seiner    historischen    Erkenntnis 


Constantin  Rößler.  505 

niedergelegt  hat.  In  ihm  hat  er  den  Zusammenhang  zwischen 
dem  Leben  des  Staates  und  des  Geistes  in  der  deutschen  Nation, 
so  wie  er  ihn  sich  dachte,  geschildert:  die  Linie,  welche  von 
Luther  zu  Leibniz,  von  Leibniz  zu  Kant,  von  Kant  zu  Hegel 
hinleite,  wie  Hegel  Kants  Ideen  zur  Vollendung  gebracht  habe 
und  mit  ihm  und  Leibniz  eine  Trias  bilde,  welche  die  Prinzipien 
des  Protestantismus  fortgeführt  habe.  Von  da  aus  gibt  er  eine 
Kritik  aller  Systeme  und  Parteien,  die  sich  im  deutschen  Staats- 
und Geistesleben  emporgetan  haben,  ordnet  er  die  Linien  an, 
auf  denen  das  neue  Leben,  der  neue  Geist  der  Nation  im  Kampf 
gegen  alle  Mächte  des  Unglaubens  zum  Siege  vordringen  müsse. 
Den  Anlaß  zu  dem  Kampf  führt  er,  für  Bismarck  wie  für  seine 
Gegner,  vor  allem  auf  die  auswärtigen  Verhältnisse  zurück;  den 
Grund  aber  sieht  er  in  der  Fortentwicklung  unseres  Volkes  seit 
der  Reformation,  in  dem  Drange  unseres  Genius,  sich  die  Formen 
zu  schaffen,  die  den  von  Gott  in  ihn  gelegten  Kräften  entsprechen. 
Weitab  weist  er  die  platte  xA.uffassung  des  Staates  als  einer  Rechts- 
ordnung, welche  ohne  Religion  sei  und  sein  könne.  Auf  dem  Grunde 
der  Reformation  ruht  derselbe  wie  alle  Bildung  und  aUe  wahre 
Kunst  unseres  Volkes.  Sein  Zweck  umschließt  die  Sittlichkeit; 
denn  sonst  hätte  er  ja  nur  das  Amt,  die  sittHchen  Kräfte  gewähren 
zu  lassen,  aber  nicht,  sie  zu  lenken.  Er  kann  nicht  ohne  Glauben 
sein,  und  die  ReHgion  kann  ihn  nicht  zur  Neutrahtät  verdammen 
wollen;  denn  es  gibt  nur  einen  Glauben  und  außer  ihm  ist  alles 
Unglaube,  Aberglaube.  Darum  kann  der  Kampf  gegen  die  katho- 
Hsche  Kirche  nur  dann  zum  glücklichen  Ziel  kommen,  wenn  die 
Evangelischen  sich  aufmachen  und  ihre  Missionare  in  die  von  ihren 
eigenen  Hirten  verlassenen  kathohschen  Gemeinden  schicken,  um 
ihnen  das  Evangelium  zu  predigen.  Wird  unsere  Kirche  die  Geistes- 
waffen besitzen:  diese  Kirche,  »die  dem  Rüstzeug  ihres  Glaubens 
wie  einem  Haufen  von  Antiquitäten  gegenübersteht,  dem  ein  Dienst, 
so  geistlos  wie  der  kathohsche  Rehquiendienst,  gewidmet  wird?« 
Die  Frage  schließt  für  Rößler  schon  die  Antwort  ein.  »Niemals,« 
so  lautet  sie,  »hat  das  Schillersche  Wort  eine  traurig  schlagendere 
Anwendung  gefunden:  »aber  der  große  Moment  findet  ein  kleines 
Geschlecht«. 


506  Kleine  historische  Schriften. 

Wir  sagten,  daß  Röüler  nicht  eigentlich  zu  den  Historikern 
gehört  habe,  wenigstens  nicht  zu  ihrer  Zunft.  Dieses  Buch  aber 
lehrt  uns,  daß  er  historisch  denken  gelernt  hat,  und  erklärt  es, 
weshalb  er  ein  Bewunderer  Rankes  geworden  ist,  in  einem  Grade, 
wie  es  jene  Historiker  von  Fach,  obschon  sie  sich  Schüler  Rankes 
nennen  konnten,  niemals  gewesen  sind.  Denn  in  der  Tat,  die  An- 
schauungen, welche  Rößler  in  diesem  Buche  entwickelt  und  die  er  in 
allen  seinen  Schriften  wiederholt  oder  doch  niemals  verleugnet 
hat,  machen  ihn  zu  einem  Geistesverwandten  Rankes.  Wenn  sie 
beide  Schüler  Karl  Ferdinand  Wiecks  gewesen  sind,  so  mögen  auch 
darin  vielleicht  Keime  des  Einflusses  fortgewirkt  haben,  den  sie 
von  dem  geliebten  Lehrer  empfingen.  Rößler  hat,  obschon  er 
schwerlich  je  ein  historisches  Seminar  besucht  hat  (ein  Glück, 
das  ja  auch  Ranke,  wie  man  weiß,  nicht  genossen  hat),  in  Arbeiten 
wie  der  große  Essay  »Graf  Bismarck  und  die  deutsche  Nation« 
den  Charakter  und  die  Politik  des  großen  Staatsmannes  in  wahr- 
haft Rankescher  W^eise  gedeutet;  er  hat  Jahre  hindurch  auch  eine 
spezifisch  historische  Aufgabe  in  der  Leitung  der  »Zeitschrift  für 
Preußische  Geschichte«  erfüllt,  und  hat  über  Bücher  wie  Sybels 
Deutsche  Geschichte  und  Rankes  Weltgeschichte  Referate  und 
Kritiken  geschrieben,  die  jeder  Fachzeitschrift  zur  Ehre  gereicht 
hätten. 

Rößler  lebte  in  einfachen  Verhältnissen.  Spät  erst  gelangte 
er  dazu,  einen  Hausstand  zu  gründen.  Aber  es  geschah  im  Jahre 
des  Sieges,  der  Erfüllung  seiner  politischen  Hoffnungen,  1866, 
und  er  hat  dann  an  der  Seite  einer  geliebten  Frau,  der  treuesten 
Arbeitsgefährtin,  und  im  Besitz  guter  Kinder  noch  dreißig  Jahre 
des  reinsten  Glückes  genossen.  Er  starb  zu  Berlin  am  14.  Ok- 
tober 1896. 

Wenn  die  Wahrheit  einer  Lehre  erst  durch  das  Leben  erhärtet 
werden  kann  und  wenn  das  W^erk  des  Lebens  auch  das  Glück 
des  Lebens  in  sich  schließt,  so  hat  die  Philosophie  Hegels  niemals 
eine  bessere  Bestätigung  gefunden  als  durch  das  Leben  Constantin 
Rößlers.  Es  war  in  ihm,  wie  Gustav  Freytag  dem  Siebzigjährigen 
schrieb,  »eine  Verbindung  von  Enthusiasmus  und  Milde,  die  sich 
in  der  schwierigsten  Stellung  gegenüber  Verkennung  und  gegen- 


Constantin  Rößler.  507 

Über  mächtiger  Zumutung  bewährte  und  dem  Vielbeschäftigten, 
mit  amthcher  Arbeit  Überhäuften,  mitten  im  pohtischen  Streit 
die  Freudigkeit  und  die  belehrende  Einwirkung  auch  auf  anderen 
idealen  Gebieten  des  deutschen  Schaffens  bewahrte.«  Religion 
und  Philosophie  fielen  für  Constantin  Rößler  zusammen.  »Denken 
und  Glauben,«  sagt  er  einmal,  »sind  Geschwister.«  So  hat  er  es 
schon  in  den  Sententiae  controversae  seiner  Doktordissertation, 
die  \ne  ein  schöner  Kranz  das  Denken  und  Fühlen,  das  Soll  und 
Haben  seines  ganzen  Lebens  in  seiner  Blütezeit  zusammenfassen, 
ausgesprochen.  In  der  zweiten  unter  ihnen  behauptet  er,  daß 
Hegel  die  Philosophie  Kants  erst  zur  Vollendung  geführt  habe. 
In  der  dritten  nennt  er  den  Geist  frei  in  jeder  Phase  des  historischen 
Progresses.  Die  fünfte  widerstreitet  denen,  welche  von  Spinozas 
Lehre  sagen,  daß  sie  mit  dem  Geiste  des  Christentums  nichts  zu 
schaffen  habe.  In  der  achten  These  nennt  er  Cartesius,  Spinoza 
und  Leibniz  eine  Trias,  die  mit  der  Grundidee  des  Protestantismus 
zusammenhänge.  An  der  Spitze  aber  steht  das  Bekenntnis,  dem  er 
sein  ganzes  Leben  hindurch  treu  geblieben  ist: 
Nemo  philosopho  religiosior. 


6832=^^5" 


Wilhelm  I/) 

Die  Woche  der  nationalen  Feste  neigt  ihrem  Ende  zu,  und 
der  hochaufwogende  Jubel  der  Millionen  ist  fast  verhallt,  da  auch 
uns  die  gewohnte  Stunde  alter  Sitte  getreu  zusammenführt,  um 
das  Andenken  des  geliebten  Kaisers  zu  erneuern,  dessen  starke 
Hand  und  freier  Sinn  Jahrzehnte  hindurch  über  den  Arbeiten 
der  Akademie  gewaltet  hat.  Und  im  Rückblick  auf  eine  Feier, 
zu  der  sich  die  ganze  Nation  vereinigte,  über  der  die  Parteien 
für  einen  Moment  ihres  Haders  vergaßen  und  einmal  doch  des 
gemeinen  Besitzes  in  gleichem  Dankgefühle  froh  wurden,  tritt 
uns  noch  einmal  mit  übersvältigender  Kraft  und  Klarheit  die 
Bedeutung  des  Werkes,  dem  sie  galt,  entgegen,  und  die  ehrwürdige 
Gestalt  des  Herrschers,  dessen  Name  für  alle  Zeiten  mit  ihm  ver- 
bunden bleiben  wird. 

Ein  Jahrhundert  Hegt  hinter  uns  so  reich  an  Wandlungen 
in  dem  Leben  der  Nation,  daß  wir  es  nur  den  größten  Epochen 
unserer  Geschichte,  wie  der  Bekehrung  zum  Christentum  und 
dem  Bruch  mit  Rom  im  i6.  Jahrhundert,  vergleichen  können. 
Wohl  traf  die  gereinigte  Lehre  von  Wittenberg  tiefer  in  das  Herz 
unseres  Volkes,  und  die  Elemente,  welche  im  8.  Jahrhundert 
unserer  Nationalität  eingefügt  wurden,  sind  noch  heute  (wir  spüren 
es  täglich)  in  lebendigster  \\^irkung:  Luther  und  Bonifatius  sind 
die  beherrschenden  Gestalten  unserer  Geschichte  geblieben.  Aber 
die  politische  Form  wenigstens,  die  sich  an  die  Missionsfahrten 
des  angelsächsischen  Mönches  anschloß,  die  Verbindung  des  deut- 


')  Rede   bei  der  Gedächtnisfeier   der  Berliner  Akademie    der  Wissen- 
schaften am  25.  Mäxz  1897. 


Wilhelm  I.  509 

sehen  Staates  mit  der  römischen  Hierarchie,  welche  auch  die 
Reformation  überdauerte  und  vor  hundert  Jahren  noch  zu  Recht 
bestand,  ist  seitdem  beseitigt  und  von  dem  nationalen  Kaisertume 
abgelöst  worden.  Man  möchte  fast  sagen:  in  der  Stunde  der  Ge- 
burt Kaiser  Wilhelms  erlosch  der  längst  verbhchene  Glanz  der 
Krone  Karls  des  Großen  und  begann  der  Bau  des  Jahrtausends 
aus  allen  Fugen  zu  weichen;  damals,  als  auf  den  Schlachtfeldern 
Italiens  das  Gestirn  Napoleons  sich  erhob,  der  ihn  zerstört  hat. 
Seine  Siege  über  die  Heere  des  letzten  der  alten  Kaiser  zerrissen 
die  Verbindung  der  beiden  Völker,  auf  der  das  alte  Reich  geruht 
hatte,  und  alsbald  erkrachten  auch  auf  deutschem  Boden  die 
gewaltigen  Schläge,  welche  das  vermorschte  Gemäuer  in  Schutt 
und  Trümmer  warfen  und  alles,  was  klein  und  alt  und  kraftlos 
w^ar,  hinwegfegten. 

Es  waren  die  Kindheitsjahre  unseres  Kaisers.  Unberührt 
blieben  er  und  die  Seinen  von  weltverwandelnden  Kämpfen. 
Die  INIonarchie,  die  unter  Friedrich  dem  Großen  einer  Welt  in 
Waffen  getrotzt  hatte,  blieb  tatlos  hinter  der  Wand  papierner 
Verträge.  Koalitionen  bildeten  sich,  lösten  sich  auf  und  traten 
wieder  zusammen:  Preußen  blieb,  was  es  war.  In  einer  schein- 
bar stolzen  Ruhe,  unbesiegt  und  unerschüttert,  wenn  nicht  be- 
wundert, so  doch  noch  gefürchtet,  ganz  in  der  Hand  des  Königs 
und  kaum  gestreift  von  den  Ideen,  welche  die  Staatenwelt  des 
alten  Europas  überall  sonst  unterminiert  und  den  Weltkampf 
angefacht  hatten  —  noch  ganz  der  Staat,  der  unter  dem  großen 
König  der  Schrecken  und  die  Bewunderung  seiner  Feinde  ge- 
wesen war:  aber  nichts  als  dieser.  Die  Finanzen  waren  neu  ge- 
ordnet, in  den  Ministerien  und  allen  Bureaus  wurde  angestrengt 
gearbeitet,  schon  wurden  auch  Reformen  angebahnt,  um  den 
erstarrenden  Institutionen  ein  freieres  Leben  einzuhauchen: 
aber  wer  möchte  behaupten,  daß  diese  Friedensarbeit  genügt 
hätte,  um  Preußen  seine  durch  die  Waffen  gewonnene  Stellung 
auch  unter  den  Großmächten  des  19.  Jahrhunderts  jemals  zu 
erhalten. 

In  solchem  Frieden  wuchs  Kaiser  Wilhelm  auf,  unter  den 
Augen  des  gerechtesten  Vaters  und  einer  Mutter,  auf  deren  An- 


510  Kleine  historische  Schriften. 

denken  \'oll  Huld  und  Hoheit  zugleich  der  milde  Schimmer  unserer 
klassischen  Kulturepoche  und  der  Glanz  preußischer  Heldengröße 
unvergänglich  ruht.  Es  war  die  Höhezeit  unserer  Poesie:  auch 
Jena  und  Weimar  lagen  in  dem  Machtbereich,  den  die  preußische 
Krone  deckte;  und  vielleicht  darf  man  mit  Ranke  sagen,  daß 
der  Friede  von  Basel  dazu  gehört  habe,  damit  die  Ideale  des  Jahr- 
hunderts der  Humanität  in  den  erhabensten  Schöpfungen  unserer 
Literatur  noch  einmal  vor  der  Welt  aufleuchten  konnten,  bevor 
sie  erloschen. 

Aber  von  Dauer  konnte  dies  Wesen  nicht  sein.  Denn  mit 
der  Macht,  welche  bereits  den  deutschen  Strom  überschritten 
hatte  und  vom  Süden  wie  vom  Westen  her  um  unsere  Marken 
flutete,  ja  schon  tief  in  den  deutschen  Norden  eingedrungen  war, 
ließ  sich  nicht  paktieren.  Interessen  und  Leidenschaften  kamen 
in  ihr  zu  Worte,  welche  in  den  alten  Monarchien  wie  erstorben 
oder  noch  nicht  lebendig  waren.  In  Diplomatie  und  Kriegführung 
war  sie  jenen  so  fremdartig  wie  in  ihrer  Rechtsordnung  und  Ver- 
waltung. Unauflialtsam  ihr  Vorschreiten;  und  die  Ideale  des 
Jahrhunderts,  an  welche  sie  selbst  einst  appelliert  hatte  und  auf 
die  sie  gegründet  schien,  entschwanden  unter  ihren  ehernen  Tritten. 
Wer  sich  ihr  unterwarf,  mußte  werden  wie  sie,  und  nur  wo  die 
Regierungen  tiefere  Kräfte,  den  Geist  ihrer  Völker  erweckten, 
konnten  sie  hoffen,  sich  in  dem  unvermeidüchen  Kampf  zu  be- 
haupten. 

So  schlug  auch  für  Preußen  die  Stunde  des  Schicksals,  und 
vor  den  Toren  Jenas  und  Weimars  wurde  der  Staat  zerschmettert, 
den  Friedrichs  Geist  groß  gemacht  hatte. 

Es  kamen  die  Jahre  der  Schmach  und  der  Trübsal.  Wer 
\vüßte  nicht,  wie  tief  sie  in  das  Leben  des  Prinzen  eingegriffen 
haben!  Die  Schreckenskunde  von  Jena  und  Friedland,  die  Flucht 
in  den  Osten,  die  Erniedrigung  in  Tilsit,  der  Raub  der  Provinzen 
und  aUe  Demütigungen,  welche  noch  folgten,  der  schreckliche 
Druck,  unter  dem  der  erbarmungslose  Eroberer  den  verstüm- 
melten Staat  gefesselt  hielt  und  alle  Glieder  ihm  aussog,  der 
hoffnungslose  Kummer  des  Vaters,  der  Tod  der  geliebten  Mutter 
—  das  waren  die  Eindrücke,  unter  denen   er  zum  Knaben,  zum 


Wilhelm  I.  511 

Jüngling  heranwuchs.  Und  dann  wieder  das  Erwachen  der  Nation, 
der  heihgste  aller  Kriege  und  nach  dem  gewaltigen  Ringen  auf 
den  deutschen  und  französischen  Schlachtfeldern  der  Siegeseinzug 
in  Paris.  Und  im  Pulverdampf  der  Schlachten,  den  Scharen 
der  deutschen  Helden  voranschreitend,  erhebt  sich  die  Gestalt 
Germanias,  der  Traum  deutscher  Einigkeit  und   Größe. 

Doch  dürfen  wir  nicht  glauben,  daß  Prinz  Wilhehn,  so  freudig 
er  auch  den  Fahnen  seines  Königs  gefolgt  ist  und  so  wacker  er 
sich  in  dem  Kugelregen  von  Bar  sur  Aube  gehalten  hat,  von  den 
Phantasien  eines  großen  deutschen  Vaterlandes,  wie  sie  für  uns 
von  dem  Andenken  der  Freiheitskriege  unzertrennlich  sind,  sonder- 
hch  ergriffen  gewesen  sei.  In  den  Briefen,  die  er  aus  dem  Feld- 
lager in  Frankreich  an  seinen  jüngeren  Bruder  schrieb,  würden 
wir  vergebens  nach  solchen  Stimmungen  und  Idealen  suchen. 
Sie  zeigen  Freude  am  Kampf  und  das  Glück  des  Siegers,  be- 
scheidene Zurückhaltung  und  die  Harmlosigkeit  der  Jugend,  aber 
keinen  Hauch  des  Geistes,  den  die  Vaterlandsgesänge  eines  Arndt 
oder  Körner  atmen. 

Vergessen  wir  nicht,  es  war  der  preußische  Prinz,  der  sie 
schrieb,  der  Sohn  des  Königs,  dem  jene  Ideale  zeitlebens  fremd 
geblieben  sind.  Aufgewachsen  in  den  Traditionen  preußischer 
Größe  und  der  Rechte  wie  des  Ruhmes  der  Dynastie,  die  sie  ge- 
schaffen hatte,  konnte  Prinz  Wilhelm  nur  hohenzollemsche  Empfin- 
dungen in  sich  nähren.  Ihnen  galten  selbst  jene  herrhchen  Mahn- 
worte Luisens,  die  sie  in  der  schwersten  Stunde  des  Vaterlandes 
an  die  Söhne  gerichtet  hat:  nicht  bloß  dem  Andenken  der  Mutter 
dereinst  Tränen  zu  weihen,  sondern  zu  handeln  und  ihr  Volk 
von  der  Schande  zu  befreien,  Männer  zu  werden  und  nach  dem 
Ruhm  großer  Feldherren  und  Helden  zu  geizen  —  oder  den  Tod 
zu  suchen,  wie  Louis  Ferdinand  ihn  gesucht  habe. 

Zwar  waren  die  Männer,  welche  Preußens  Größe  neu  ge- 
gründet haben,  Stein  vor  allen,  tief  ergriffen  von  der  deutschen 
Idee,  wie  denn  ja  die  Größten  unter  ihnen  dem  Staate  Friedrichs 
von  Geburt  gar  nicht  angehörten.  Aber  wie  deutsch  das  Werk, 
das  sie  geschaffen  und  geschirmt  hatten,  sein  mochte  und  wie 
groß  die  Tragkraft  seiner  Fundamente  auch  für  das  neue  Reich 


512  Kleine  historische  Schriften. 

geworden  ist,  kamen  ihre  Reformen  dennoch  zunächst  Preußen 
zugute. 

Und  nicht  anders  gestalteten  sich  die  Aufgaben  für  den  Staat 
nach  dem  Kriege.  Alles  mußte  er  dransetzen,  um  seine  Stellung 
als  Großmacht  zu  behaupten.  Ihm  ward  es  nicht  so  gut  wie  den 
Kronen  des  Rheinbundes,  deren  Lebensinteresse  es  wurde,  die 
liberalen  Institutionen  anzunehmen  oder  fortzubilden  und  mit 
dem  nationalen  Gedanken  zu  liebäugeln,  weil  ihnen  das  einen 
Ersatz  gewährte  für  den  Rückhalt,  den  sie  mit  Napoleons  Sturz 
verloren  hatten.  Über  seinen  nationalen  Aufgaben  durfte  Preußen 
gar  nicht  seine  europäischen  vergessen,  und  diese  führten  es  an 
die  Seite  Österreichs  und  Rußlands.  Daß  unser  Staat  an  und 
für  sich  wohl  imstande  gewesen  wäre,  wie  es  ja  die  höhere  Be- 
amtenwelt fast  einmütig  forderte,  repräsentative  Institutionen 
schon  damals  zu  ertragen,  bezweifle  ich  nicht;  und  ich  kann  es 
nicht  glauben,  daß  nur  die  absolute  Krone  die  deutschen  Land- 
schaften, die  im  Kriege  gewonnen  waren,  mit  den  alten  Provinzen 
habe  verschmelzen  können.  Hat  doch  gerade  der  vereinigte  Land- 
tag von  1847,  wie  es  noch  kürzHch  Fürst  Bismarck  selbst  be- 
zeugt hat,  zuerst  ein  recht  lebendiges  staathches  Gemeingefühl 
zwischen  dem  Osten  und  dem  Westen  der  Monarchie  geschaffen; 
und  man  sieht  nicht  ein,  weshalb  in  Preußen  der  Erfolg  hätte 
ausbleiben  sollen,  der  in  den  kleineren  Staaten  schon  nach  1815 
allenthalben  eintrat.  Aber  mit  den  überalen  Ideen  waren  untrenn- 
bar verwachsen  die  nationalen;  und  jeder  Versuch,  auf  diesem 
Boden  selbständig  und  im  Sinne  der  deutschen  Einheit  vorzu- 
gehen, trug  den  Konfükt  mit  den  verbündeten  Mächten  im  Schöße: 
er  hätte,  wie  die  W'elt Verhältnisse  lagen,  unfehlbar  zu  einem  früheren 
Olmütz  führen  müssen. 

Die  persönliche  Stellung  des  jungen  Prinzen  mußte  ihn  noch 
mehr  in  diese  Richtung  führen.  Als  zweiter  Sohn  des  Königs 
hatte  er  nicht  an  die  eigene  Zukunft,  an  die  Aufgaben  des  Thron- 
erben zu  denken,  und  als  Soldat  war  er  gewohnt,  dem  Willen  seines 
Kriegsherrn  zu  gehorchen.  Nicht  als  ob  er  die  zagende  und  ruhe- 
liebende Natur  seines  Vaters  gehabt  hätte,  der  nur  den  Frieden 
oder,  sagen  wir  lieber,  die  Neutralität  in  den  Stürmen  des  Jahr- 


WiUielm  I.  513 

hunderts  gesucht  hatte  und,  fast  \\'ider  Willen,  \vie  in  die  Kata- 
strophe seines  Staates  so  auf  die  Höhe  des  Sieges  geführt  war. 
Vielmehr  schien  dem  jungen  Prinzen  nichts  gefährhcher  als  ein 
langer  Friede.  Sein  letztes  Ziel  war  ihm,  wie  den  großen  Herr- 
schern seines  Hauses,  die  Macht  des  Staates.  Dem  diente  die 
rastlose  Arbeit,  die  eiserne  Pfhchttreue,  die  unermüdHche  Lem- 
begier,  womit  er  den  preußischen  Stahl  zu  schmieden  und  blank 
zu  erhalten  bestrebt  war.  Er  sehnte  sich  nach  Taten,  und  mit 
Schmerz  und  Ingrimm  erfüllte  ihn  das  weichende  Ansehen  der 
Krone  und  der  wachsende  Kleinmut,  der  sich  bald  nach  dem 
großen  Kriege  wieder  hervorwagte.  Aber  nur  seinem  Preußen 
galt  diese  Klage.  Gerade  in  diesen  Jahren  trat  er  für  den  engsten 
Anschluß  an  Rußland  ein.  Er  war  ein  Freund  und  Bewunderer 
der  Zaren,  an  deren  Hof  ihn  wiederholte  Missionen  führten.  Den 
nationalen  Bewegungen,  welche  unaufliörhch  den  Boden  der 
Verträge  von  1815  erschütterten,  begegnete  er  ganz  vom  Stand- 
punkt der  großen  Alhanz;  er  faßte  alles  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  Revolution,  und  nur  im  festen  Zusammenschluß  der 
konstituierten,  der  »legitimen«  Gewalten,  meinte  er,  könne  man 
ihr  begegnen.  Ich  kenne  keine  Äußerungen  von  ihm  über  die 
Demagogen  Verfolgungen,  aber  wir  dürfen  kaum  daran  zweifeln, 
daß  er  den  liberalen  und  nationalen  Ideen  auch  nach  1830,  da 
sie  stärker  als  je,  und  auch  in  Norddeutschland  um  sich  griffen, 
herb  ablehnend  gegenüberstand.  Ganz  verhaßt  war  ihm  Louis 
Philipp,  der  seinen  Thron  auf  dem  WiUen  der  französischen  Nation 
und  den  Erinnerungen  an  1789  errichtet  hatte;  und  mit  tiefem 
Unwillen  erfüllte  es  ihn,  als  im  Jahre  1837  seine  Verwandte,  die 
Prinzessin  Helene  von  Mecklenburg,  dem  »Thronräubersohn«, 
wie  er  schreibt,  die  Hand  gab. 

Darum  trat  er  auch  seinem  Bruder  entgegen,  als  dieser  den 
Thron  bestiegen  hatte  und  sich  mit  dem  absoluten  Staat  auf  das 
stürmische  Meer  der  nationalen  Pohtik  hinauswagte.  Jetzt,  wo 
er  als  Prinz  von  Preußen,  wenn  nicht  die  eigene,  so  doch  des  Sohnes 
Zukunft  mit  der  Krone  selbst  verknüpft  sah,  glaubte  er  so  schwanken- 
den Experimenten  gegenüber  sich  für  das  System  seines  Vaters 
erklären   zu  müssen.     »Daß  man  mich  verfolgt  als  den  Träger 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  33 


5J^4  Kleine  historische  Schriften. 

des  alten  Preußens  und  der  alten  Armee,  rechne  ich  mir  zur  Ehre 
an,  denn  ich  kannte  und  träumte  nur  ein  selbständiges  Preußen, 
eine  Großmacht  des  europäischen  Staatensystems,  und  für  dies 
Preußen  paßte  keine  andere  Konstitution.«  So  schreibt  er  noch 
nach  der  Märzrevolution,  in  einem  Brief,  den  er  aus  der  Verbannung 
in  England  an  den  nächsten  Freund  seines  Bruders,  General  Leopold 
von  Gerlach,  sandte.  Aber  wenn  dieser  Heißsporn  des  legitimen 
Rechtes  in  ihn  dringt,  sich  mit  dem  neuen  Gouvernement  nicht 
zu  »besudeln«  und  nichts  zu  beschwören,  was  er  nicht  halten 
könne,  so  weist  der  Prinz  solchen  Rat  von  sich.  Er  scheut  sich 
nicht,  dem  König  frei  seine  Meinung  zu  sagen,  aber  jeder  Ge- 
danke an  eine  Fronde  ist  ihm  fremd.  »Wenn  die  Konstitution 
wie  die  Konstituante  gemacht  und  der  König  beschränkt  ist«, 
antwortet  er  dem  General,  »wie  kann  ich  da  zurückbleiben,  wenn 
ich  je  in  das  Vaterland  zurückkehren  will!« 

Hier  haben  wir  den  Unterschied  zwischen  dem  HohenzoUern 
und  den  Bourbonen.  Die  Brüder  Ludwigs  XVL  konspirierten 
mit  den  Emigranten  und  den  fremden  Mächten  gegen  die  neue 
Verfassung,  die  ihr  König  beschworen  hatte;  sie  gaben  eher  ihr 
Vaterland  preis  als  ihre  Privilegien  und  stürzten  dadurch  Thron 
und  Famihe,  die  sie  retten  wollten,  nur  um  so  tiefer  in  das  Ver- 
derben. Der  Prinz  von  Preußen  blieb  auch  in  der  Fremde  seinem 
König  treu;  den  Gehorsam  des  Soldaten  bewahrte  er  dem  Bruder, 
als  dessen  eigener  Wille  durch  die  Revolution  gefesselt  war.  In 
Frankreich  war  der  Thron  gestürzt  worden,  weil  die  Armee  ihren 
König  im  Stich  Heß:  Preußens  Krone  ward  im  Sturm  der  Revo- 
lution durch  die  Armee  gerettet.  Aber  die  höchste  Tugend  des 
Soldaten,  die  sich  selbst  verleugnende  Treue,  bewährte  sie,  als 
sie  knirschend  vor  Ingrimm  auf  den  Befehl  des  Königs  vor  der 
Rebellion  zurückwich,  die  sie  niedergeschlagen  hatte.  So  zeigte 
sich  der  Prinz  von  Preußen  auch  hier  wieder  als  der  erste 
Soldat  seines  Landes.  Er  wußte,  daß  er  damit  die  eigene  Zu- 
kunft fesselte,  und  die  Größe  des  Staates,  für  die  er  gesorgt 
und  gearbeitet  hatte,  glaubte  er  gefährdet.  Aber  nachdem  der 
Träger  der  Krone  sich  gefügt  hatte,  gab  es  auch  für  ihn  kein 
Zurück  mehr. 


Wilhelm  I.  515 

Daß  die  alte  Zeit  begraben,  war  ihm  schon  jetzt  viel  klarer 
als  seinem  Bruder,  der  immer  in  dem  Wahn  geblieben  ist,  die 
patriarchale  Krone  mit  einem.  Zusatz  freiheitlicher  und  deutsch- 
tümlicher Institutionen  behaupten  zu  können.  Er  aber  war  sich 
schon  bei  der  Berufung  des  vereinigten  Landtages  bewußt  gewesen, 
daß  das  alte  Preußen  zu  Ende  gehe  und  ein  neues  Preußen  sich 
bilden  werde.  »]\Iöge,«  so  rief  er  damals  aus,  »das  neue  so  erhaben 
und  groß  werden  wie  es  das  alte  mit  Ehre  und  Ruhm  gewesen  ist.« 

Eben  weil  er  die  Unvereinbarkeit  der  absoluten  Krone  mit 
den  liberalen  Forderungen  erkannte,  konnte  er  die  Konsequenzen 
klarer  sehen  als  der  König  und  um  so  leichter  sich  entschließen, 
zu  tun,  was  unvermeidhch  war. 

Und  so  geschah  es  gerade  in  England,  unter  dem  Druck  der 
Revolution  und  der  Flucht  und  im  Verkehr  mit  Bunsen  und  dem 
Prinzgemahl,  daß  er  sich  der  deutschen  PoUtik  Preußens  erschloß. 
Er  tat  es  mit  blutendem  Herzen,  denn  er  fürchtete,  daß  der  Staat, 
dem  sein  Leben  galt,  sich  selbst  aufgeben  müsse,  wenn  er  in  Deutsch- 
land aufgehe.  Das  Ideal  blieb  ihm  noch  die  alte  Verfassung;  aber 
er  sah  die  UnmögHchkeit  ein,  deutsche  PoUtik  ohne  konstitutionelle 
Ideen  zu  machen,  und  darum  stellte  er  sich  auf  den  Boden  des 
Frankfurter  Parlamentes. 

Er  ist  nach  seiner  Heimkehr,  wie  andere  auch,  von  dieser 
vorgeschrittenen  Stellung,  die  in  seiner  Kritik  des  Dahlmann- 
schen  Verfassungsentwurfes  gipfelte,  wieder  abgewichen  und 
hat  sich  mehr  auf  die  ererbte  Monarchie  verlassen,  deren  Eigen- 
kraft in  den  Stürmen  der  Zeit  immer  sichtbarer  zutage  trat.  Das 
Ministerium  Brandenburg  fand  bei  ihm  wiUige  Unterstützung; 
auch  die  Ablehnung  der  Kaiserkrone  hat  er  gebiUigt  und  mit 
vollem  Nachdruck  den  Aufstand  in  Baden  niedergeschlagen. 
Aber  den  romantischen  Vorstellungen  des  Bruders  von  einem 
habsburgischen  Erbkaisertum,  dem  sich  der  preußische  König 
als  der  Schwertträger  Deutschlands  unterordnen  müsse,  trat 
er  auf  das  bestimmteste  entgegen.  Er  verlangte  vielmehr,  denn 
des  Königs  Plan  müsse  zur  Mediatisierung  des  Staates  führen, 
die  Hegemonie  Preußens  und  den  Ausschluß  des  Donaureiches 
vom  deutschen  Boden.    Das  war  der  zweite  große  Gewinn,  den 

33* 


516  Kleine  historische  Schriften. 

er  aus  der  deutschen  Revolution  zog:  den  Gegensatz  der  beiden 
deutschen  Vormächte,  den  erst  sie  voll  ans  Licht  gebracht  hatte, 
nahm  er  in  das  Programm  seiner  Politik  auf. 

Er  knüpfte  damit  nur  an  die  eigene  Vergangenheit  an:  das 
Macht-  und  Ehrgefühl  des  preußischen  Soldaten  sprach  sich  darin 
aus;  alle  Offiziere  dachten  wie  er.  Von  Herzen  schloß  er  sich 
daher  der  Unionspohtik  an,  und  als  ein  neues  Jena  hat  er  den 
Gang  nach  Olmütz  empfunden. 

Die  Armee  hatte  die  Krone  gerettet  und  die  Rebellion  zer- 
treten. Aber  vor  dieser  Demütigung  hatte  sie  die  Monarchie  nicht 
schützen  können.  Und  in  der  Lösung  der  elementaren,  der  deut- 
schen Frage  hatte  sie  völlig  versagt.  Preußen  war  von  ihr  er- 
halten, aber  Deutschland  nicht  geeinigt  worden;  ja,  sie  hatte  mit 
der  Revolution  auch  die  erhabene  Idee  eines  eigenen  Vaterlandes, 
die  auf  ihren  Sturmfittigen  herangeschwebt  war,  zurückgedrängt. 
Und  die  Fülle  lebendiger  Kräfte,  welche  in  den  freiheithchen 
und  nationalen  Wünschen  lagen,  hatte  sie  dennoch  nicht  ver- 
nichten können.  Das  hatte  der  König  schon  am  19.  März  er- 
fahren, als  er  im  Siege  vor  den  Rebellen  zurückwich,  ja  schon 
vor  dem  Aufstand,  als  er  die  Proklamation  erließ,  welche  der 
Nation  die  ersehnten  Freiheiten  versprach  und  also  den  Staat 
in  das  Fahnvasser  hinausstieß,  das  so  lange  ängstlich  vermieden 
war.  Hatte  er  doch  selbst  solchen  Gedanken,  wie  romantisch  auch 
immer  sie  sich  bei  ihm  gestalten  mochten,  von  jeher  Raum  ge- 
geben. Und  so  ward  er  trotz  der  Besiegung  der  Revolution,  und 
durch  sie,  immer  weiter  von  seiner  alten  Haltung  abgetrieben; 
und  alle  reaktionären  Experimente,  alle  bureaukratische  Be- 
vormundung vermochten  nicht  mehr,  die  brausende  Bewegung 
zu  ersticken.  Immer  tiefer  senkte  sich  der  Glaube  an  die  baldige 
Erfüllung  der  deutschen  Träume,  die  Hoffnung  auf  ein  einiges, 
großes  Vaterland  in  die  Herzen,  immer  stärker  hob  sich  die  Not- 
wendigkeit heraus,  dem  deutschen  Volke  den  Staat  zu  bauen, 
der  ihm  seine  Stellung  unter  den  großen  Nationen  der  Erde  ver- 
bürgen konnte. 

Da  schieden  sich  vollends  die  Wege  beider  Brüder.  Ver- 
gebens mühte  sich  der  König  ab,  die  Geister,  die  er  mit  und  widei 


Wilhelm  I.  517 

Willen  gerufen  hatte,  zu  bannen ;  und  längst,  bevor  ihn  die  Krank- 
heit niederschlug,  verzehrte  sich  seine  reiche  Kraft  in  dem  hoff- 
nungslosen Kampfe.  Prinz  Wilhelm  aber  ließ  sich  von  dem  Strome 
weiter  treiben,  dem  er  sich  einmal  anvertraut  hatte. 

Nicht  daß  ihn  tiefere  Hinneigung  zu  den  Ideen  des  Liberalis- 
mus erfüllt  hätte:  sondern  in  erster  Linie  trieb  ihn  wieder  die 
Sorge  für  Preußens  Ansehen,  das  er  durch  Olmütz  aufs  schwerste 
geschädigt  sah.  Noch  immer  hielt  er  an  seiner  Unterscheidung 
des  europäischen  und  des  deutschen  Standpunktes  der  preu- 
ßischen Politik  fest.  Aus  dem  Umstand,  daß  die  Regierung  jenen 
aus  dem  Auge  verloren  habe,  leitete  er  ihre  Verwirrung  und  Mut- 
losigkeit während  des  Krimkrieges  her,  und  von  ihm  aus  forderte 
er,  des  Rückhalts  in  der  Armee  von  neuem  sicher,  in  Widerstreit 
mit  seinem  persönlichsten  Empfinden  die  Wendung  gegen  den 
Zaren  und  Anschluß  an  Österreich. 

Dies  altpreußische,  in  der  Person  des  Regenten  konzentrierte 
Machtbewußtsein  begleitete  ihn  auch  in  die  hberale  Ära  und  auf 
den  Thron.  Wir  würden  daher  den  Konflikt,  in  den  er  mit  seiner 
Volksvertretung  geriet,  nur  halb  verstehen  und  den  Anlaß  mit 
der  Ursache  verwechseln,  wenn  wir  diesen  schwersten  Kampf 
seines  Lebens  bloß  aus  Mißverständnissen,  taktischen  Fehlern 
dieses  oder  jenes  Ministers  oder  Parlamentariers  ableiten  wollten. 
Und  noch  weniger  dürfte  man  an  einen  poUtischen  WeitbHck 
des  Herrschers  glauben,  als  ob  er  schon  damals  die  Lösung  der 
deutschen  Frage  im  Sinne  Bismarcks  ins  Auge  gefaßt  und  dies 
hohe  Ziel  nur  vor  den  pohtischen  Laien  in  der  Kammer  habe 
verbergen  wollen.  Seine  Befürchtungen  galten  in  jenen  Jahren 
eher  der  abenteuernden  Politik  Napoleons  IH.  als  dem  habs- 
burgischen  Rivalen,  und  er  dachte  bei  seiner  Armeereform  mehr 
noch  daran,  Preußen  stark  zu  machen,  als  Deutschland  zu 
einigen.  Es  war  das  Ziel,  dem  sein  Leben  gegolten  hatte.  Die 
DringHchkeit  der  Reorganisation  war  seit  Jahrzehnten,  ja  man  kann 
sagen,  seit  der  Boyenschen  Reform  selbst  behauptet  und  diskutiert 
worden;  Wilhelm  hatte  von  Jugend  auf  dafür  gestritten;  und  die 
Ereignisse  seit  1848  hatten  ihre  Notwendigkeit  wenigstens^  in 
den   Kreisen  der  Offiziere  allgemein  zum  Bewußtsein  gebracht: 


518  Kleine  historische  Schriften. 

Preußen  mußte  besser  gerüstet  sein,  wenn  es  sich  in  den  ringsum 
drohenden  Stürmen  behaupten  und  die  ihm  zukommende  Stellung 
in  Deutscliland  einnehmen  wollte.  Und  so  ging  der  Prinz-Regent 
im  Gefühl  unabwendbarer  Pflicht  und  mit  einer  durch  die  volle 
Einsicht  des  Fachmannes  gestählten  Energie  daran,  den  Plan, 
für  den  er  in  Roon  einen  kongenialen  Mitarbeiter  gewonnen  hatte, 
ins  Leben  zu  führen. 

Er  hatte  sich  in  Wahrheit  mit  einem  tiefen  Widerwillen  gegen 
die  reaktionäre  Willkür  der  vorigen  Regierung,  zumal  auf  kirch- 
lichem und  geistigem  Gebiet  erfüllt  und  war  ehrlich  bereit,  mit 
den  konstitutionellen  Doktrinen,  so  wenig  sie  ihm  behagen  mochten, 
zu  regieren.  Aber  zugleich  war  er  entschlossen,  die  Rechte  seiner 
Krone  zu  behaupten.  Unter  sie  zählte  er  vor  allem  seine  Stellung 
zu  der  Armee.  In  ihr  wollte  er  Herr  bleiben,  der  Kriegsherr,  wie 
seine  Vorfahren  es  gewesen  waren.  Diese  stärkste  Säule  des  Staates, 
der  unmittelbarste  Ausdruck  des  königlichen  Willens,  durfte  nicht 
umgestoßen  oder  angebröckelt  werden  von  den  wechselnden 
^lajoritäten  parlamentarischer  Regierungen. 

Hier  Hegt  die  Quelle  des  Konfliktes.  Es  war  schließlich  der- 
selbe, an  dem  das  Frankfurter  Parlament  gescheitert  war.  Und 
gerade  so  kombinierte  sich  jetzt  diese  preußische  mit  der  all- 
gemeinen, der  deutschen  Frage.  Denn  die  Souveränität  der  Na- 
tion, w^elche  den  parlamentarischen  Ansprüchen  zugrunde  lag, 
w^ar  auch  die  Theorie  der  Revolution  gewesen;  sie  war  der 
Boden,  auf  dem  am  letzten  Ende  sogar  ein  Gagem  und  ein 
Dahlmann  gestanden  hatten.  Und  sie  war  allezeit  der  stärkste 
Hebel,  der  eigentHche  Ausdruck  für  die  Sehnsucht  der  Na- 
tion nach  ihrem  Staate  gewesen.  Immer  leidenschaftHcher  war 
dieser  WiUe  zur  ]\Iacht  geworden,  je  stärker  der  Widerstand 
der  Regierungen  gewesen  war,  und  er  fand  gerade  in  diesen 
Jahren,  unter  dem  Eindruck  der  siegreichen  italienischen  Er- 
hebung, immer  größeren  Anklang.  In  der  Idee  der  deutschen 
Einheit  lag  die  Stärke  und  das  Recht  der  Bewegung,  und 
darum  wurde  die  Opposition  in  der  preußischen  Kammer  von 
dem  BeifaU  aller  Herzen  getragen,  die  für  Deutschlands  Zu- 
kimft  brannten. 


Wilhelm  I.  519 

Hier  aber  wallte  das  alte  preußische  Soldatenblut  in  dem 
Herrscher  auf.  Er  wollte  in  dem  Anspruch  der  Kammer,  auf  die 
Zusammensetzung  und  Dienstzeit  der  Armee  einzuwirken,  nur 
deren  Ruin  sehen  und  damit  den  Sturz  der  Krone  selbst.  Nichts 
hat  er  seinem  Kriegsminister,  dem  General  von  Bonin,  so  sehr 
verdacht,  als  daß  er  seinem  Widerspruch  gegen  die  Reform  eine 
hberale  Färbung  gab;  er  sah  darin  neben  persönlichem  Undank 
nur  den  Ungehorsam  des  Offiziers.  Und  nichts  hat  er  dem  General 
von  Roon  heißer  gedankt,  als  die  Unerschütterüchkeit  seiner  solda- 
tischen Treue. 

So  stellte  sich  der  Herrscher  an  der  Schwelle  des  Greisen- 
alters, von  dem  Boden  her,  den  er  sein  Leben  lang  behauptet 
hatte,  noch  einmal  zum  Kampf:  den  Ideen  von  1848  warf  er  sich 
entgegen. 

Fortan  war  es  für  ihn  unmöglich,  seine  Helfer  für  die  deut- 
schen Aufgaben  Preußens  unter  den  Wortführern  der  Nation 
zu  suchen :  er  konnte  sie  nur  noch  in  den  Kreisen  finden,  aus  denen 
sich  einst  der  Widerstand  gegen  die  deutsche  Bewegung  erhoben 
hatte.  Und  so  ist  es  gekommen,  daß  die  Männer,  welche  Preußen 
im  Jahre  1848  errettet  hatten,  das  Deutsche  Reich  erbaut  haben. 

Die  Wege  waren  jetzt  gewiesen  und  der  Boden  gewonnen, 
auf  dem  der  Monarch  mit  Roon  und  Bismarck  den  nationalen 
Staat  errichtet  hat.  Die  unitarische  Lösung  unter  Preußens  König, 
für  welche  jetzt  bald  die  feurigsten  Patrioten,  allen  voran  der 
Herold  des  neuen  Deutschlands,  unser  Heinrich  von  Treitschke, 
alle  Leidenschaften  aufriefen,  war  bereits  unmöglich  geworden. 
Kein  Aufgehen  Preußens  mehr  in  dem  großen  Vaterlande  auch 
nach  den  Vorstellungen  der  Paulskirche:  sondern  ein  Zusammen- 
streben Schulter  an  Schulter  mit  den  Staaten,  welche  der  Hege- 
monie Preußens  zu  folgen  gewillt  oder  fähig  waren.  Es  waren  die 
Mächte,  welche  sich  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  aus  den  Spolien 
des  alten  Reiches  bereichert  und  die  morsche  Hülle  zersprengt 
hatten:  dieselben,  welche  in  dem  Fürstenbunde  unter  Friedrich 
dem  Großen  und  unter  Napoleon  im  Rheinbunde  ihre  Existenz 
gesichert  hatten:  die  Fürstenhäuser,  deren  Wurzeln  in  die  alten 
Zeiten  deutscher  Geschichte  zurückreichten,  die  aber  die  moderner. 


520  Kleine  historische  Schriften. 

Grundlagen  ihrer  Macht  erst  unter  Napoleon  gewonnen  und  sie 
soeben  erst  im  Sturm  der  Revolution  gegen  den  Einheitsstaat 
durch   Preußens  Hilfe   behauptet   hatten. 

Und  nun  fügte  es  der  Genius,  der  über  den  Geschicken  unseres 
Volkes  wachte,  daß  der  König  den  Staatsmann  gewann,  dessen 
titanische  Kraft  den  Staat  über  Klippen  und  Abgründe  hinweg 
auf  der  schwindelnden  Bahn  hinanführte,  dem  Ziel  der  nationalen 
Sehnsucht  entgegen,  dorthin,  wo  die  neue  Kaiserkrone  glänzte. 

Wie  aber  vermöchte  ich  hier  in  kurzen  Worten  Ihnen  ein  Bild 
zu  geben  von  der  Größe  jener  Kämpfe  und  der  Fülle  der  Ereig- 
nisse, die  uns  allen  mit  der  vollen  Klarheit  persönhchsten  Erleb- 
nisses gegenwärtig  sind.  Denn  das  ist  das  ewig  Große  an  diesen 
heroischen  Taten :  daß  sie  doch  nicht  bloß  das  Werk  sind  einzelner 
Helden  und  Gewaltiger  im  Volke,  welche  die  blöde  Menge  wider 
Willen  hinter  sich  herzogen;  sondern  wer  immer  die  gewaltige 
Zeit  mit  wachen  Sinnen  durchlebt  hat,  ist  im  Innersten  erschüttert 
worden  und  hat  mitgerungen,  um  das  erhabene  Ziel  zu  erreichen. 
Und  über  allem  Wirrwarr  und  Irrtum  der  kämpfenden  Parteien 
glänzte  doch  immer  das  gleiche  Ideal:  ein  mächtiges  deutsche^ 
Vaterland.  So  hatte  der  Romantiker  auf  dem  Throne  der  Hohen- 
zollern  doch  recht  gehabt,  als  er  das  Vaterland  dem  edelsten  Erze 
verghch,  das  aus  vielen  Metallen  zusammengeflossen  sei,  »keinem 
andern  Roste  untersvorfen  als  dem  verschönernden  der  Jahr- 
hunderte«. Was  Wunder  aber,  daß  die  glühende  Masse  aufbrodelte 
und  zischte,  als  nun  der  IMeister  den  Zapfen  ausstieß  und  sie  in 
die  Form  hinabschoß. 

Die  Theorie  der  Nationalsouveränität,  welche  das  Werk 
Cavours  beherrschte,  war  in  Deutschland  besiegt  worden,  aber 
der  Wille  der  Nation  triumphierte  dennoch  auch  bei  uns.  Alle 
die  gärenden  Kräfte,  welche  jahrzehntelang  zurückgestaut 
waren,  ergossen  sich  jetzt  tosend  und  in  breitester  Strömung  in 
das  gewaltige  Mauerwerk  des  neuen  Reiches.  Fert  unda  nee 
regitur  —  so  lautet  der  Sinnspruch,  den  Bismarck  selbst  unter 
seinen  Namen  gesetzt  hat.  Und  so  hatten  auch  die  Träumer  und 
Doktrinäre,  die  vielverhöhnten  Professoren  von  der  Paulskirche 
recht   bekommen.     Was  sie    dort  in  den  langatmigen  Debatten 


Wilhelm  I.  521 

Über  die  Grundrechte  der  Nation  vergeblich  begründet  und  gefordert 
hatten,  ein  Heer,  eine  PoHtik,  eine  Zollgrenze  und  ein  Markt, 
ein  Recht  und  eine  Krone,  das  ward  jetzt  alles  vollendet.  Und  was 
unsere  Historiker  immer  behauptet  und  aus  allen  Büchern  und  den 
Akten  selbst  bewiesen  hatten  —  daß  es  Preußens  Mission  sei,  Deutsch- 
land zu  führen:  jetzt  war  es  das  deutsche  Grundrecht  geworden. 

»Moralische  Eroberungen  in  Deutschland  zu  machen«,  so 
hatte  in  dem  Programm  gestanden,  mit  dem  Wilhelm  seine 
Regierung  eröffnete.  Und  wer  will  noch  leugnen,  daß  Deutsch- 
land von  Berlin  her  moralisch  erobert  worden  ist  ?  Die  preußische 
Staatsmoral  ist  die  des  neuen  Deutschlands  geworden:  die  ge- 
waltigen Quadern,  welche  das  Reich  tragen,  sind  aus  dem  Granit 
preußischer  Staatsgesinnung  geschnitten,  und  Blut  und  Eisen 
haben  als  Mörtel  und  Werkzeug  gedient.  »Es  gibt  nichts  Deut- 
scheres als  gerade  die  Entwicklung  richtig  verstandener  preußischer 
Partikularinteressen« :  so  lautete  die  Doktrin,  mit  welcher  der 
märkische  Junker  jetzt  Schule  machte,  der  »seinem  Fürsten 
treu  war  bis  in  die  Vendee,  aber  gegen  alle  anderen  in  keinem 
Blutstropfen  eine  Spur  von  Verbindhchkeit  fühlte,  den  Finger 
für  sie  aufzuheben«.  Und  sein  erster  Schüler  ward  der  alte  König. 
Alle  Romantik,  die  des  Volkswillens  sowohl  wie  die  der  Legitimität, 
war  dieser  Lehre  fremd.  Sie  kannte  nur  eine  Legitimität, 
die  des  preußischen  Staates,  die  Macht,  welche  in  der  Arbeit  von 
Jahrhunderten  gesammelt  war. 

Wenn  aber  Bismarck  vielleicht  gefürchtet  hatte,  daß  er  sich  in 
dieser  Denkweise  zu  weit  von  seinem  Herrn  entferne,  um  ihm  zum 
Rate  seiner  Krone  geeignet  zu  erscheinen,  so  täuschte  er  sich. 
Denn  die  Macht  und  Größe  Preußens  war  auch  das  Ziel  allerWünsche 
König  Wilhelms  gewesen;  und  so  konnte  es  ihm  nicht  so  schwer 
fallen,  von  den  Rücksichten  der  Legitimität,  in  denen  er  auf- 
gewachsen war,  zurückzukommen  und  sich  ganz  mit  der  Staats- 
gesinnung  seiner  großen  Vorfahren  zu  erfüllen.  Preußens  Größe 
lag  auf  den  Wegen,  die  ihn  Bismarck  führte.  Preußens  Interesse 
verfochten  beide  in  Schleswig-Holstein  und  im  Kriege  gegen 
Österreich.  Als  Preußens  König  zog  Wilhelm  L  noch  an  der  Spitze 
der  deutschen  Stämme  über  den  Rhein  und  schlug  die  Schlachten, 


522  Kleine  historische  Schriften. 

unter  denen  Frankreich  niedersank.  Nur  zögernd  nahm  er  die 
deutsche  Krone  an;  und  wir  verstehen  es  ganz,  wenn  er  noch 
am  Tage  der  Kaiserproklamation  und  unmittelbar  unter  ihrem 
Eindruck  seiner  Gemahlin  von  der  unsagbaren  »morosen  Emotion« 
schreibt,  in  der  er  in  diesen  letzten  Tagen  gewesen  sei,  »teils  wegen 
der  hohen  ^^erantwo^tung,  die  ich  nun  zu  übernehmen  habe,  teils 
und  vor  allem  über  den  Schmerz,  den  preußischen  Titel  verdrängt 
zu  sehen«.  Er  war  am  Tage  zuvor  drauf  und  dran  gewesen,  zurück- 
zutreten und  alles  seinem  Sohne  zu  übertragen.  Nur  im  inbrün- 
stigen Gebet  hatte  er  Kraft  und  Fassung  gewonnen.  Ihm  wäre 
wohl  auch  jetzt  noch  solch  ein  Titel  am  hebsten  gewesen,  wie  er 
ihn  als  Prinz  von  Preußen  im  März  1849  ^^r  seinen  Bruder  vor- 
geschlagen hatte:  »Wir  Wilhelm,  König  von  Preußen,  Statthalter 
von  Deutschland.«  Aber  er  nahm  die  Krone  an,  weil  sie  der  Stel- 
lung der  deutschen  Regierungen  am  besten  entsprach  imd  als 
das  legitime  Symbol,  daß  für  Deutschland  erworben  war,  was 
Preußen  gewonnen  hatte.  Und  darum  durfte  der  erste,  der  sie 
trug,  kein  anderer  sein  als  der  Gründer  des  Reiches  selbst. 

Auch  Kaiser  Wilhelm  ist  das  Schicksal,  das  jedem  großen 
Leben  auf  den  Schritten  folgt,  nicht  erspart  gebüeben,  das  pro- 
metheische  Los,  von  dem  der  alte  Roon  einmal  in  bitterem  Schmerze 
schreibt,  daß,  wer  das  himmlische  Feuer  raube,  sich  auch  die 
Fesseln  und  den  Geier  gefallen  lassen  müsse.  Und  wie  oft  hat  er 
mit  diesem  Treuesten  der  Treuen  Worte  der  Klage  oder  doch  der 
Sorge  ausgetauscht  über  den  allzu  stürmischen  Wogenschlag 
der  neuen  deutschen  Poütik!  Er  sah,  wie  die  tieferen  Schichten  des 
Volkes  sich  mehr  und  melir  von  den  überheferten  Formen  in  Staat 
und  Kirche  loslösten;  und  wir  mußten  es  schaudernd  erleben, 
daß  der  Wahnwitz  des  \'erbrechers  die  fluchwürdige  Hand  gegen 
das  weiße  Haupt  des  Helden  erhob.  Alle  Versuche,  mit  sozialer 
Fürsorge  oder  durch  den  Zwang  der  Gesetze  die  entfremdeten 
Massen  für  die  erreichten  Ziele  nationaler  Größe  zu  gewinnen, 
sah  er  scheitern. 

Aber  in  den  Kämpfen  seines  Alters  hat  Kaiser  Wilhelm  den- 
noch erfahren,  was  die  Liebe  des  \'olkes  zu  seinem  Fürsten  be- 
deutet.   Auch  hier  bewährte  sich  Bismarcks  Wort,  daß  die  Woge 


Wilhelm  I.  523 

nur  trägt  und  nicht  gelenkt  wird.  Mit  elementarer  Gewalt  hob 
sie  ihn  über  seine  Zeit  empor,  so  hoch,  wie  es  in  dem  absoluten 
Staate  niemals  denkbar  gewesen  wäre.  Sie  schlug  ihm  donnernd 
entgegen  aus  dem  Hurra  der  Regimenter,  die  an  ihrem  Kriegs- 
herrn vorüber  in  die  Schlacht  zogen,  und  blickte  ihn  noch  an 
aus  den  erlöschenden  Augen  seiner  sterbenden  Krieger.  Sie  war 
sein  Labsal  in  dem  letzten  dunkeln  Jahr,  da  ihm  sein  einziger 
Sohn,  der  strahlende  Held  unserer  Kriege,  der  Stolz  und  die  Hoff- 
nung des  Vaterlandes,  an  der  tückischen  Krankheit  hinsiechte. 
Und  sie  empfand  er  bis  in  die  letzten  Wochen  seines  Lebens  täg- 
lich, wenn  er  von  dem  Eckfenster  da  drüben  auf  die  harrende 
Menge  herabschaute,  die  einen  Blick  aus  diesen  guten  Augen  zu 
erhaschen  suchte.  Das  Meer  von  Liebe,  das  ihn  umrauschte, 
kannte  keine  Grenzen:  es  überwand  auch  die  Nationen;  und  als 
der  Patriarch  der  Fürsten  genoß  Kaiser  Wilhelm  die  Verehrung 
der  Welt. 

Und  so  schritt  er  hinüber  in  das  Gedächtnis  der  Menschheit. 
Seiner  schlichten  Größe  hat  die  allzeit  geschäftige  Legende  nichts 
hinzuzufügen.  Keinen  Tag  seines  Lebens  hat  die  Historie  zu 
verbergen.  Nur  die  allbekannten  Züge  wird  sie  immer  wieder 
offenbaren:  den  edlen  und  reinen  Sinn,  Heldenmut,  Wahrhaftig- 
keit und  Treue,  eine  tiefe  und  doch  freie  Gottesfurcht  und  eine 
Bescheidenheit,  die  immer  der  eigenen  Würde  bewußt  blieb  — 
Eigenschaften,  welche  unserm  Volke  immer  die  teuersten  gewesen 
sind,  und  die  es  den  erhabensten  Gestalten  seiner  Sagen  ver- 
liehen hat. 

Es  ist  nicht  unseres  Amtes,  die  Zukunft  auszudeuten,  und 
selbst  die  Gegenwart  sollen  wir  von  der  hohen  Warte  der  Wissen- 
schaft unter  dem  Aspekt  gleichsam  der  Vergangenheit,  unbeirrt 
durch  Teilnahme  und  Leidenschaft,  betrachten.  Aber  man  braucht 
kein  Prophet  zu  sein,  um  kommende  Stürme  vorherzusagen, 
und  der  müßte  kein  Herz  im  Busen  tragen,  wer  ihnen  nicht  mit 
Ernst  und  Sorge  entgegensähe.  Sollen  wir  uns  jedoch  vor  ihnen 
fürchten?  Dcis  hieße  das  Andenken  des  Helden,  den  wir  feiern, 
schmälern  und  die  Lehren  der  Geschichte  verachten.  Denn  in 
Stürmen  und  gegen  den  Andrang  zersetzender  Gewalten  hat  sich 


524  Kleine  historische  Schriften. 

gerade  die  Kraft  des  preußischen  Staates  bewährt,  und  das  Ein- 
strömen der  Massen,  ihrer  Interessen  und  ihrer  Leidenschaften 
selbst  hat  ihm  erst  die  gewaltige  Stärke  gebracht,  in  der  er  noch 
immer  der  Schrecken  und  die  Bewunderung  seiner  Feinde  ist. 
Und  alle  Macht  des  Reiches,  alle  Wucht  des  nationalen  Willens 
und  der  Glanz  der  kaiserlichen  Krone  selbst  haben  nicht  ver- 
mocht, unser  altes  Preußen  zu  beseitigen.  Nur  immer  tiefer  hat 
es  sich  in  den  Boden  der  Nation  gesenkt,  aus  dem  es  emporwuchs, 
und  neben  allen  Säulen,  die  des  neuen  Reiches  Hallen  tragen, 
ist  dies  doch  der  Grundpfeiler  geblieben. 

Unter  dem  Schirm  der  Krone  Hohenzollern  steht  auch  unsere 
Akademie.  Ihre  Arbeiten  sind  nach  Umfang  und  Wesen  kosmo- 
politisch geblieben,  in  dem  Jahrhundert  der  Nationalitätenkämpfe 
so  gut  wie  in  dem  der  Humanität.  Das  Wesen  der  Dinge  zu  erkennen, 
ist  ihr  Zweck.  So  heischt  es  unser  Wahlspruch,  unsere  Ehre  und 
unser  Recht,  und  so  ist  es  der  Wille  unserer  Könige.  Von  hier 
aus  sehen  wir  der  Zukunft,  was  sie  auch  bringen  mag,  getrost 
entgegen.  Der  Stiftungsbrief  der  Akademie  ist  eingesenkt  in 
den  Grundstein  der  Monarchie:  zum  Zeichen,  daß  diese,  die  auf 
dem  Grunde  der  Reformation  ruht,  mit  uns  desselben  Geistes 
sein  wül  —  allzeit  ein  Hort  der  freien  Gedanken. 


8gS3^=^^5" 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedridis  Leben. 

(1907.) 

Unter  den  Paladinen  Kaiser  Wilhelms,  die  mit  ihm  das  neue 
Reich  gebaut  haben,  bleibt  doch  die  lichteste  Gestalt  des  alten 
Helden  Sohn,  Kronprinz  Friedrich  Wilhelm,  »unser  Fritz«,  wie 
wir  ihn  in  den  Tagen  von  Weißenburg  und  Wörth  nannten,  Kaiser 
Friedrich,  wie  ihn  die  Nachwelt  seit  den  hundert  Tagen  nennt, 
die  ihm  die  ererbte  und  ersehnte,  die  glänzendste  Krone  der  Welt 
zur  Leidenskrone  wandelten.  Wenn  uns  der  alte  Kaiser  an  die 
ehrwürdigsten  Herrscher  des  deutschen  Mittelalters  erinnern 
wollte,  an  den  Großen  Karl  oder  an  Friedrich  Barbarossa,  so  er- 
schienen in  Friedrich  Wilhelm  die  Eigenschaften  verkörpert, 
welche  die  deutsche  Sage  ihren  Lieblingen  unter  Göttern  und 
Menschen  verliehen  hat:  wie  Held  Siegfried,  so  sahen  wir  ihn 
prangen  in  Jugendschönheit  und  Manneskraft,  arglos  und  treu, 
stark  und  unerschrocken,  keiner  Verstellung  fähig,  voll  Mitleid 
mit  den  Armen,  den  Wunden  und  den  Kranken,  und  allem  Hohen 
und  Edlen  zugewandt.  Wilhelm  und  die  gewaltigen  Recken,  die 
ihm  Bahn  schufen,  Bismarck  und  Roon,  mußten  durch  eine  Welt 
voll  Haß  und  Abgunst  hindurchschreiten,  bevor  ihnen  ihr  Volk 
Heil  zurief:  sie  mußten  sich  dessen  Liebe  erobern;  erst  der  Sieg 
und  die  Macht  gewannen  ihnen  die  Herzen.  Friedrich  Wilhelm 
dagegen  begleitete  die  Volksgunst  vom  ersten  Tage  seines  Lebens 
ab,  um  ihm  bis  zum  Tode  treu  zu  bleiben. 

Seine  Geburt  fiel  in  die  Tage,  da  die  Nation  ihre  Blicke  auf 
Preußen  zu  richten  begann,  als  vom  Süden  her,  aus  Schillers 
Heimat,  ein  deutscher  Dichter  den  Adler  Friedrichs  des  Großen 


526  Kleine  historische  Schriften. 

anrief,  daß  er  die  Verlassenen,  Heimatlosen  mit  der  goldnen  Schwinge 
decke.  Schon  als  Knabe  war  der  Prinz,  als  der  sichere  Erbe  der 
Krone  Friedrichs,  der  Träger  der  nationalen  Hoffnungen  und 
in  Wahrheit  der  deutsche  Kronprinz.  Als  dann  Preußen  unter 
dem  Stoß  der  Revolution  zusammenzubrechen  drohte,  der  König 
sich  haltlos  treiben  ließ  und  sein  Bruder,  vor  dem  Haß  des  Volkes 
zurückweichend,  in  die  Verbannung  gegangen  war,  da  schien  es 
einen  Moment,  als  sollte  der  Tag  des  Jünglings  bereits  anbrechen: 
unter  den  Liberalen  Preußens  erwachte  der  Gedanke,  ihm,  unter 
der  Regentschaft  seiner  Mutter,  die  Krone  Preußens  zuzuwenden; 
und  wenn  Bismarck,  der  es  noch  in  seinen  Erinnerungen  erzählt, 
richtig  gesehen,  so  hat  die  Prinzessin  von  Preußen  wirkHch 
solchen  Vorstellungen  einen  Augenblick  Raum  gegeben  ^)  »Mein 
Sohn  gehört  der  Gegenwart  und  Zukunft,«  so  schreibt  sie  in  diesem 
Sturmjahr  einmal  an  den  Major  von  Roon,  der  zum  Erzieher 
des  Prinzen  ausersehen  war,  »er  muß  daher  die  neuen  Ideen  in 
sich  aufnehmen  und  daselbst  verarbeiten,  damit  er  das  klare  und 
lebendige  Bewußtsein  seiner  Zeit  gewinne  und  nicht  außerhalb 
derselben,  sondern  in  und  mit  ihr  lebe.  Es  gilt,  sich  von  den  Ante- 
cedentien  der  älteren  Generation  abzuwenden,  um  dem  jetzigen 
Erziehungswesen  ein  zeitgemäßes  Resultat  zu  sichern.« 

Es  war  die  deutsche  Mission  Preußens,  an  welche  die  Enkelin 
Karl  Augusts  dachte,  für  die  ihr  der  Gemalil  und  der  König  ver- 
dorben und  nur  die  unverbrauchte  Kraft  des  Jünglings  verwendbar 
zu  sein  schien.  Friedrich  Willielm  wäre  damit  in  eine  Stellung 
gekommen,  wie  sie  durch  die  Thronentsagungen  in  München  imd 
Wien   Maximilian  IL   für  Bayern  und  Franz   Joseph  für  öster- 


^)  Gedanken  und  Erinnerungen  I.  22.  Vergl.  Ludwig  von  Gerlachs 
Tagebuch  zum  11.  Oktober  1848  (2 — 10):  »Nachher  Bismarck,  mit  dem 
ich  heute  unter  christhchen  Gesprächen  von  Genthin  nach  Potsdam  ge- 
fahren war.  Er  erzählte:  Vincke  habe,  zugleich  namens  seiner  politischen 
Freunde,  im  April  auf  dem  Landtag  ihm  (Bismarck)  den  Antrag  gemacht, 
eine  Adresse  an  den  König  zustande  zu  bringen:  er  und  der  Prinz  möchten 
abdanken  und  eine  Regentschaft  der  Prinzessin  eingesetzt  werden.«  Von 
einer  Verbindung  Georg  Vinckes  mit  der  Prinzessin  selbst  scheint  also 
Bismarck  zu  Gerlach  nicht  gesprochen  zu  haben.  Vergl.  übrigens  noch 
ebd.  S.  33  zum  8.  Dezember. 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  527 

reich  erlangten.  Auch  sie  unter  dem  Druck  der  Revolution:  nur 
daß  sie  für  ihre  angestammten  Kronen  und  die  Traditionen  ihrer 
Dynastien  einzutreten  hatten,  während  der  preußische  Prinz 
die  HohenzoUemkrone  hätte  belasten  und  vielleicht  vertauschen 
müssen.  Schwerlich  hat  der  junge  Prinz  etwas  von  dem  Lose  ge- 
ahnt, das  ihm  damals  zugedacht  war,  und  das,  wäre  es  verwirk- 
licht worden,  Preußen  in  eine  Lage  gebracht  haben  würde,  für 
die  weder  seine  Kraft,  noch  die  seiner  Mutter  oder  der  Partei- 
führer, die  hinter  ihr  standen,  ausgereicht  hätten. 

Wie  er  selbst,  der  Achtzehnjährige,  damals  zu  den  großen 
Problemen  der  Zeit  stand,  können  wir  uns  kaum  vorstellen,  Bis- 
marck  gewann  den  Eindruck,  als  neige  der  Prinz  mehr  den  konser- 
vativen Anschauungen  seines  Vaters  zu^) ;  und  noch  aus  später 
Zeit  haben  \vir  eine  Äußerung  des  Kronprinzen  selbst,  die  in  die 
gleiche  Richtung  führt:  »Wie  oft,«  so  schreibt  er  im  Dezember 
1866  seinem  alten  Lehrer  Ernst  Curtius,  »haben  wir  in  gemein- 
schaftlichen Gesprächen  der  Zukunft  Deutschlands  gedacht, 
ja  wie  oft  redeten  Sie  zu  mir  von  diesem  Kapitel  zu  einer  Zeit, 
als  ich  in  der  lebendigen  Regung  der  deutschen  Gemüter  nichts 
weiter  als  Aufstandsnahrung  finden  wollte. «  Mit  Widerwillen  folgte 
er  noch  im  Dezember  1856  dem  Befehl  des  Königs,  auf  der  Heim- 
kehr aus  England  dem  Tuilerienhofe  einen  Besuch  zu  machen, 
und  mit  einem  Gefühl  des  Grauens  erfüllten  ihn  in  der  franzö- 
sischen Hauptstadt  die  historischen  Erinnerungen  an  die  »revo- 
lutionären Besudelungen,  durch  welche  das  Volk  von  Frank- 
reich sich  ein  furchtbares,  unmenschhches  Denkmal  seiner  Be- 
schaffenheit gesetzt  habe«.  Dem  entspricht  die  ZärtHchkeit  und 
der  heilige  Respekt,  den  er  vor  den  russischen  Verwandten,  Zar 
Nikolaus  und  der  Tante  Charlotte,  hatte.  Tief  erschütterte  ihn 
der  Tod  des  Oheims;  »denn  ihn,«  so  schreibt  er  der  verwitweten 
Kaiserin,  »sah  man  ja  immer  wie  den  Unsrigen  an«.  Aber  so 
wenig  solche  Empfindungen,  die  Friedrich  Wilhelm  mit  dem  Vater 
teilte,  den  Anschauungen  der  Liberalen  entsprachen,  hat  er  sich 
doch  von  den  eigenthch  reaktionären  Kreisen,  auch  darin  übrigens 

^)    S.   Ged.  u.  Erinn.  I.  40;  und  mehr  noch  Bismarck  an  sein©  Frau, 
12.  9.  1849,   S.  154  der  Briefe. 


528  Kleine  historische  Schriften. 

dem  Vater  folgend,  schon  seit  der  Revolution  ferngehalten.  Als 
Wilhelm  ihn  1853  in  den  Freimaurerorden  einführte,  äußerte 
der  Prinz,  daß  er  diesen  Wunsch  schon  vier  Jahre  vorher  gehabt 
habe.  Auch  den  konstitutionellen  Ideen  war  er  schon  in  der  Re- 
volution nicht  mehr  feindhch.  Das  erfuhr  Leopold  von  Gerlach, 
als  er  um  die  Zeit,  da  es  mit  dem  Frankfurter  Parlament  zu  Ende 
ging,  sich  dem  Prinzen  gegenüber  eine  abschätzige  Bemerkung 
über  den  Konstitutionahsmus  erlaubte:  er  beneide  den  Prinzen 
wegen  seiner  Jugend,  da  er  wohl  noch  das  Ende  des  absurden 
Konstitutionalismus  erleben  würde.  W^orauf  Friedrich  Wilhelm: 
es  müsse  doch  eine  Volksvertretung  sein.  »Ich  versuchte  es,« 
schreibt  der  General,  »ihm  klar  zu  machen,  daß  aus  der  Abwesen- 
heit des  Absolutismus  noch  nicht  der  Konstitutionalismus  folge«. 

Im  allgemeinen  werden  wir  sagen  dürfen,  daß  die  pohtischen 
Vorstellungen  des  Prinzen  in  diesen  Jahren  noch  recht  ungeklärt 
waren  und  daß  er  sich,  wie  am  Ende  auch  der  Vater  und  die  Mutter 
und  im  Grunde  jedermann,  von  den  Ereignissen  hat  leiten  lassen 
und  mit  ihnen  sich  gewandelt  hat.  Die  Entwicklimg  der  Dinge 
führte  aber  die  Eltern  zusammen;  niemals  sind  sie  einmütiger 
gewesen  als  in  den  Jahren,  da  die  Reaktion  den  König  selbst 
von  seinen  deutschen  Idealen,  die  er  noch  während  der  Revolution 
hatte  realisieren  wollen,  hinwegführte  und  die  Stellung  Preußens 
zu  der  nationalen  Bewegung  immer  isolierter  und  verachteter 
wurde.  Der  Prinz  von  Preußen  \\airde,  wie  man  weiß,  in  diese 
Richtung  vor  allem  durch  die  Politik  von  Olmütz  gebracht.  Sein 
preußischer  Ehrgeiz  war  durch  diese  Demütigung  tief  verletzt, 
und  das  war  es,  was  ihn  den  liberalen  Tendenzen,  die  nun  einmal 
mit  den  nationalen  verschwistert  waren,  näher  brachte.  In  dieser 
Gesinnung  aber  lebte  auch  sein  Sohn.  Mit  Hochgefühl  nahm  er 
den  einmütigen  Aufschwung  des  preußischen  Volkes  wahr,  als 
der  König  es  im  November  1850  zu  den  Waffen  rief.  Unvergeßlich 
tief,  so  hat  er  gesagt,  prägten  sich  diese  Tage  seinem  Herzen  ein; 
und  mit  heißem  Schmerz  erfüllte  es  ihn,  als  das  preußische  Schwert 
so  unrühmlich  \\-ieder  in  die  Scheide  gestoßen  wurde. 

Solche  Eindrücke  und  Anschauungen  mußten  sich  in  ihm 
nur  befestigen,  als  er  auf  der  Universität  in  Bonn  von  Männern 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  529 

wie  Ernst  Moritz  Arndt,  Dalilmann  und  Löbell  in  die  staatsrecht- 
lichen und  historischen  Studien  eingeführt  wurde.  »Hier  war  es,« 
so  hat  er  noch  nach  i8  Jahren  beim  Jubiläum  der  Universität 
bekannt,  »  wo  mein  Blick  auf  Höheres  hingelenkt,  wo  mir  der  Sinn 
für  die  geschichtHchen  Aufgaben  unserer  Zeit  und  unseres  Vater- 
landes erschlossen  wurde.«  Auch  die  Freunde,  die  er  fand,  der 
Schwabe  Otto  Abel ,  der  Hamburger  Heinrich  Geffcken ,  der 
Badener  Freiherr  Franz  von  Roggenbach,  Georg  Bunsen,  Karl 
Josias'  Sohn,  den  er  besonders  gern  hatte,  der  jüngere  Brandis, 
dazu  die  Fürstensöhne  Friedrich  und  Christian  von  Schleswig- 
Holstein,  die  mit  ihm  studierten,  teilten  diese  Gesinnungen.  Fast 
alles  Nichtpreußen,  waren  sie  nach  Herkunft  und  Lebensziel  dem 
preußisch-deutschen  Programme  zugewandt,  sahen  sie  in  Fried- 
rich Wilhelm  den  vom  Schicksal  bestimmten  Führer  der  Nation.^) 
So  auch  die  eigenen  Eltern:  nur  in  dem  Sohn  erblickte  der  Prinz 
von  Preußen  den  Anwärter  zur  Krone.  Daß  ihm  selbst  die  Zu- 
kunft gehöre,  daran  dachte  der  Bescheidene  nicht;  das  monarchische 
Empfinden  und  die  Pietät  gegen  den  Bruder  und  König  heßen 
diesen  Gedanken  nicht  in  ihm  aufkommen. 

Die  äußere  Erscheinung  Friedrich  Wilhelms  bot  in  der  Bonner 
Zeit  noch  nicht  die  Züge  hoheitsvoller  Schönheit,  mit  denen  sein 
Bild  in  unserer  Erinnerung  fortlebt.  »Blaß  und  schmal  gebaut, 
hochaufgeschossen,  mit  mehr  bleichem  als  imponierendem  Ant- 
Htz«,  so  hat  ihn  ein  Kommilitone,  Friedrich  Spielhagen,  später 
geschildert. 2)  Aber  die  ungeheuchelte  Freundhchkeit,  die  offene 
und  ehrliche  Art  seines  Auftretens,  der  Eifer,  mit  dem  er  den  Stu- 
dien oblag  und  alle  Eindrücke  in  sich  aufnahm,  und  die  Begeiste- 
rungsfähigkeit für  alles  Große  und  Schöne  gewannen  ihm  jedes 
Herz.  »Er  ist  ein  wahrhaft  liebenswürdiger  Mensch«,  so  schreibt 
der  Oberst  von  Moltke  seiner  Gemahlin  von  einer  Übungsreise  des 
Generalstabes  im  August  1854,  ^-uf  der  ihn  der  Prinz,  der  seit  dem 
Herbst  1852  als  Kompagniechef  Dienste  tat,  begleitete;  »die 
Stadt  ist  in  einer  großen  Bewunderung  für  den  Prinzen«,  so  der- 
selbe ein  paar  Jahre  später  aus  Breslau,  wo  er  ihm  als  militärischer 

^)  Vgl.  Philippson,  Das  Leben  Kaiser  Friedrichs  III.,  S.  24  ff. 
*)  Philippson  24  ff. ;  auch  für  die  nächsten  Zitate. 
Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  34 


c^30  Kleine  historische  Schriften. 

Mentor  zur  Seite  stand;  »er  gefällt  hier  allgemein«,  so  bemerkt 
gleichzeitig  Bernhardi  in  seinem  Tagebuch.  Die  gleichen  Stimmen 
hören  wir  aus  England,  als  der  Prinz  im  Herbst  1855  dorthin 
zur  Brautschau  kam.  »Er  gefällt  mir  sehr«,  äußerte  sich  der 
Prinz-Gemahl:  »Seine  besonders  hervorragenden  Eigenschaften 
sind  große  Geradheit,  Offenheit  und  Ehrenhaftigkeit.  Er  scheint 
frei  von  Vorurteilen  und  mit  ausnehmend  trefflichen  Absichten«  ; 
und  nach  der  Verlobung:  »Die  Reinheit,  Unschuld  und  Selbst- 
losigkeit des  jungen  Mannes  sind  rührend.«  So  reserviert  und 
hochmütig  die  englische  Presse,  voran,  wie  immer,  die  Times, 
sich  über  die  preußische  Heirat,  die  Verbindung  mit  der  »russi- 
schen Vasallenmacht«  äußern  mochte,  für  die  PersönHchkeit 
des  Prinzen  fand  sie  doch  nur  Worte  des  Lobes  und  selbst  der 
Bewunderung.  Die  Politik  hatte  das  Band  zwischen  den  Fürsten- 
kindern geschürzt,  aber  eine  von  beiden  Seiten  sogleich  empfundene 
und  wachsende  Neigung  knüpfte  es  mit  jedem  Tage  fester;  kein 
Bürger  hat  das  Glück  des  Hauses  tiefer  empfunden  und  inniger 
gepflegt  als  dieser  Fürstensohn. 

Zwei  Jahre  darauf  holte  er  die  Erwählte  heim,  in  dem  Moment, 
als  die  Reaktion  in  Preußen  unrühmlich  zusammenbrach  und 
die  Neue  Ära  die  Erfüllung  jener  Hoffnungen,  deren  Träger  er 
gewesen  war,  unmittelbar  in  Aussicht  stellte;  von  Verehrung 
und  Teilnahme  umgeben,  im  innigen  Einvernehmen  mit  seinen 
enghschen  Verwandten  und  seiner  anmutigen  und  klugen  jungen 
Frau,  trat  er  dem  Vater  zur  Seite,  der  nun  die  Aufgabe,  für  die 
er  den  Sohn  erzogen,  zunächst  auf  die  eigene  Schulter  nehmen 
mußte. 

Nicht  lange  aber,  so  erwachte  der  Hader  der  Parteien  von 
neuem  und  heftiger  als  je.  Und  nun  trennte  die  Poütik  Vater 
und  Sohn.  Während  Wilhelm  dem  andrängenden  Ehrgeiz  der 
Kammer  gegenüber  auf  die  altpreußischen  Grundlagen  seiner 
Staats-  und  Lebensauffassung,  die  er  nie  ganz  verlassen  hatte, 
zurücktrat,  befestigten  sich  in  dem  Thronerben  die  Anschauungen, 
zu  denen  ihn  die  Ent\\dcklung  der  letzten  Jahre,  nicht  zum  wenigsten 
vmter  dem  Einfluß  seiner  enghschen  Gemahlin,  geführt  hatte. 
Aber   eben    dadurch   gewarm   Friedrich   Wilhelm   die   öffenthche 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  531 

Meinung,    welche    bald    stärker    als    je    von    der    Notwendigkeit 
einer  nationalen  Politik  und  dem  Wunsch  nach  liberaler  Gestal- 
tung des  Staatslebens  bewegt  war.  Jubelnder  Zuruf,  demonstrativer 
Beifall  begrüßten  ihn,  wo  der  König  eisigem  Schweigen  begegnete. 
Es  kam   das    Jahr,    welches    das    deutsche   Programm  Preußens 
erfüllte,  anders  freilich,  als  die  Führer  des  Liberahsmus  und  mit 
ihnen  der  Kronprinz  es  sich  gedacht  hatten:  nicht  auf  dem  Wege 
friedhcher  Überwindung  und  moralischen  Zwanges,  sondern  mit 
Blut  und  Eisen  und   durchgeführt  von  eben  dem  j\Iann,  in  dem 
der  Kronprinz  den  bösen  Genius  Preußens  und  der  ganzen  Nation 
erbhckte,  dem  er  sich  entgegengestellt  und  der  ihn  von  der  Seite 
des  Vaters  und  jedem  Anteil  an   der  PoHtik   vollends   hin  weg- 
gedrängt hatte.    Aber  Friedrich  Wilhelm  trat  darum  vor  seinem 
Volke  nicht  zurück;  mehr  als  je  leuchtete  er  ihm  voran  als  der 
Vorkämpfer  der  nationalen  Idee    und   einer    der  Führer   in   der 
Feldschlacht.    Wo  seine  Fahnen  wehten,  war  der  Sieg,  und  mit 
zerschmetternden  Schlägen   bahnte  er  den  Weg  durch  die  schle- 
sischen  Pässe  in  das  böhmische  Land:  bei  Chlum  kommt  er  den 
schwer  ringenden  Brüdern  zu  Hilfe  und  wandelt  die  schon  fast 
gefürchtete  Niederlage  des  Vaters  in  den  größten  Sieg  des  Jahr- 
hunderts   seit    Waterloo:    einer    Abteilung    seiner    Armee    glückt 
der  letzte  Schlag  dieses  wunderbaren  Feldzuges  in  dem  glänzenden 
Gefecht  vor  Preßburg.     So  auch  in  dem  neuen  Kriege,  der  uns 
das  Reich  und  seine  Krone  brachte.    Aus  seinem  Lager  erscholl 
die  Kunde  von  dem  ersten  Siege;  und  bis  zu  der  letzten  Schlacht 
unter  den  Mauern  der  französischen  Kapitale  reihte  sich  wiederum 
in   seinem   Ruhmeskranze   Lorbeer   an   Lorbeer.     Und  dabei   be- 
wahrte der  Held  alle  jene  Eigenschaften,  die  ihm  die  Herzen  zu- 
geführt  hatten:    den   Liberahsmus   seiner   poHtischen    Gesinnung 
und  die  schhchte  Herzhchkeit  seines  Empfindens.    Unerschrocken 
in  der  Gefahr,  ist  er  milde  und  gütig  gegen  seine  Truppen,  wie  gegen 
die  Feinde  selbst;  dankbar  und  neidlos  gegen  seine  mihtärischen 
Ratgeber  und  voll  Verständnis  für  ihre  Pläne.    Tiefes  Erbarmen 
ergreift  ihn  beim  Anbhck  des  Schlachtfeldes  und  mit  Sehnsucht 
denkt  er  an  die  Heimat  und  das  friedhche   Glück  des  Hauses. 
Niemals  verläßt  ihn  der  Gedanke  an  die  Aufgaben,  die  dem  freien 

34* 


532  Kleine  historische  Schriften. 

und  einigen  Deutschland  gestellt  sein  werden,  noch  der  Schmerz 
über  den  Verlust  des  Kindes,  das  ihm  entrissen  ward,  als  er  zum 
Kampfe  aufbrechen  mußte.  »0,wie  schön  ist  er,  wie  gut  und  tapfer 
sieht  er  aus«,  so  hört  man  aus  der  Menge  rufen,  als  er  von  Ver- 
sailles aus  im  Februar  1871  nach  Dreux  kommt,  um  dort  die  Kathe- 
drale mit  dem  Erbbegräbnis  der  Orleans  zu  sehen:  »Hätten  wir 
doch  einen  solchen  Prinzen,  dann  wären  wir  glücklich«^). 

Angesichts  von  so  viel  Sonnenglanz,  der  auch  dann  nicht 
verblich,  als  die  Gestirne  Kaiser  Wilhelms  und  Bismarcks  hoch  und 
höher  stiegen,  mag  man  fragen,  wo  denn  die  Schatten  auf  diesem 
Leben  liegen,  und  ob  man  von  einer  andern  Tragik  sprechen  kann 
als  der  des  letzten  Jahres,  da  die  gräßliche  Krankheit  die  Kraft  des 
Herrlichen  zerbrach  und  alle  Hoffnungen  zerstörte.  Dennoch 
kann  es  dem  schärferen  Blick  nicht  entgehen,  daß  Kaiser  Friedrich 
nicht  bloß  den  einen  letzten  vollen  Trunk  aus  dem  Becher  des 
Unglücks  geschöpft  hat,  sondern  daß  er  schon  vorher,  lange  Jahre 
hindurch,  Zug  um  Zug  Bitternis  genug  gekostet  hat;  und  daß  die 
Tragik  seines  Lebens  darum  nicht  geringer  war,  weil  sie  sich  vor  der 
Menge  hinter  äußerem  Glück  und  reichen  Ehren  verbarg,  Sie 
erscheint  anfangs  als  ein  leichtes  Gewölk  und  auf  der  Höhe  des 
Lebens:  das  sich  dann  aber  dicht  und  dichter  dem  Liebling  des 
Volkes  um  Haupt  und  Schultern  legt,  nicht  eine  Wetterwolke, 
aus  der  es  blitzt  und  donnert,  sondern  ein  dicker,  trüber  Nebel, 
bis    es    ihn  schheßlich  ganz  in  Nacht  und  Gram   hinunterzieht. 


Was  war  wohl  die  glücklichste  Zeit  in  Kaiser  Friedrichs  Leben  ? 
Waren  es  die  Jugendjahre,  die  er  so  frohgemut  mit  Heben  Freunden 
unter  der  sorghchen  Leitung  der  Eltern  und  des  edlen  bedeutenden 
Lehrers,  fern  von  den  politischen  Geschäften,  verbrachte  ?  Oder 
die  Jahre,  in  denen  er  mit  den  Unruhen  und  schweren  Sorgen 
des  »tollen«  Jahres  auch  der  Aufgaben,  die  ihn  er^varteten,  inne 
wurde,  der  großen  Zukunft,  die  ihm  aus  dem  Kampf  der  Gegen- 
wart   selbst    entgegenleuchtete  ?     Die  glückbekränzten    Semester 


*)  Philippson  281. 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  533 

am  Rhein  oder  die  sonnigen  Reisezeiten  in  den  Alpen  und  in  Italien  ? 
Oder  der  blütenreiche  Liebesfrühling  in  den  Bergen  des  schottischen 
Hochlandes  ?  Dies  alles,  wie  reich  es  war  und  wie  froh  und  dank~ 
bar  Friedrich  Wilhelm  hinnahm,  was  Geburt  und  Stand  ihm 
mühelos  gewährten,  blieb  dennoch  weit  zurück  hinter  dem  Glücks- 
empfinden, das  ihn  beseelte,  als  er  nun  wirklich  an  der  Schwelle 
des  Amtes  stand,  zu  dem  er  erzogen  war,  und  zuerst  mit  dem  Ge- 
fühl der  Sorge  auch  das  des  Mithandelns  und  der  Verantwortlich- 
keit an  des  Vaters  Seite  teilen  durfte.  So  hat  er  es  in  dem  Briefe 
bekannt,  mit  dem  er  im  Januar  1859  ^^  Glückwünsche  seines 
Lehrers  zum  Jahreswechsel  erwdderte.  Eins  der  wichtigsten  und 
glücklichsten  Jahre  seines  Lebens  nennt  er  das  letztvergangene: 
nicht  bloß  um  des  Glückes  willen,  das  er  im  Besitz  der  Häuslich- 
keit gefunden  habe,  sondern  mehr  noch  wegen  des  großen  Ver- 
trauens, mit  welchem  der  Vater  ihn  schon  vor  der  Regentschaft 
und  dann  nachher  unausgesetzt  in  alle  Verhältnisse  eingeweiht 
habe.  Ein  Wort,  das  auch  für  den  Prinz-Regenten  bezeichnend 
ist,  für  die  Auffassung,  in  der  er  sein  Amt  führte:  noch  immer 
dachte  er  dabei  weniger  an  sich,  als  an  den  Sohn  und  den  kranken 
Bruder.  Friedrich  Wilhelm  vergalt  ihm  diese  Treue  mit  wahrer 
Pietät  und  rückhaltloser  Hingebung.  Bewundernd  schreibt  er 
dem  Freunde  von  der  Ansprache  seines  Vaters  an  die  Minister, 
welche  mehr  sage,  als  hundert  Zeitungsartikel  zu  definieren  ver- 
möchten. Niemand  habe  sie  vorher  gekannt  und  der  Vater  sie 
nicht  vierundzwanzig  Stunden  vor  jener  Sitzung  niedergeschrieben. 
»Ich  hatte,«  sagt  er,  »schon  früher  an  der  Seite  meines  Vaters 
manchen  wichtigen  Augenblick  erlebt,  aber  den,  als  er  den  Thron 
vor  versammeltem  Landtage  zum  erstenmal  bestieg,  wie  auch 
den  jener  Anrede  vergesse  ich  in  meiner  Sterbestunde  nicht«. 
Wie  Wilhelm,  so  ist  auch  er  überrascht  und  befremdet  von  der 
hitzigen  und  vorlauten  Art,  mit  der  die  Bevölkerung  die  Bot- 
schaft aufgenommen  und  die  neuen  Wahlen  vollzogen  habe;  er 
spricht  von  unsinnig  ultrahberalistischen  Bewegungen,  die  niemand 
so  erwartet  habe,  und  hofft  auf  größere  Besonnenheit  bei  den 
Beratungen  des  bevorstehenden  Landtages.  Auch  in  der  itaHenischen 
Frage  teilt  er  ganz  die  PoUtik  des  Vaters,  und  ebenso  bleibt  er 


534  Kleine  historische  Schriften. 

ein  überzeugter  Anhänger  der  Armeereform,  als  des  eigensten 
\\'^erkes  Wilhelms. 

Erst  in  dem  Winterhalbjahr  von  1860  auf  61  bemerken  wir 
in  der  Stellung  Friedrich  Wilhelms  zu  seinem  Vater  den  Beginn 
einer  Abwandlung.  Es  geschah  im  Zusammenhang  mit  der  Zer- 
setzung in  der  herrschenden  Partei  der  Neuen  Ära.  Schon  war  die 
Einigkeit  im  Ministerium  gestört.  Die  konservative  Richtung, 
welche  anfangs  weit  zurückgedrängt  war,  hatte  in  dem  Kriegs- 
minister General  von  Roon  einen  Verbündeten  gefunden ,  der 
alles  daransetzte,  um  den  nie  ganz  verklebten  Riß  zwischen  der 
Krone  und  den  Ansprüchen  des  Liberalismus  zu  erweitern. 

Ohne  Frage  ist  auch  der  Tod  des  königlichen  Oheims  (2.  Januar 
1861)  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Trennung  zwischen  Vater  und 
Sohn  gewesen.  Indem  Wilhelm  selbst  den  Thron  bestieg,  nahm 
die  Auffassung  seiner  Rechte  wie  seiner  Pflichten  unwillkürlich 
eine  andere  Färbung  an.  Das  preußisch-monarchische  Empfinden, 
welches  zurückgetreten  war,  solange  er  sich  als  den  Hüter  für 
des  Sohnes  Zukunft  betrachtet  hatte,  kam  in  ihm  wieder  mehr 
hervor,  seitdem  er  für  sich  selbst,  nicht  für  den  Bruder  und  den 
Sohn,  die  Verantwortung  trug;  und  um  so  mehr,  je  unklarer, 
eigensüchtiger  und  unpreußischer  ihm  die  Forderungen  der  Libe- 
ralen auf  dem  Felde  der  inneren  und  der  äußeren  Politik  erschienen. 
Umgekehrt  fühlte  Friedrich  Wilhelm,  als  der  jetzt  Nächste  am 
Thron,  mehr  als  je  das  Gewicht  der  Aufgaben,  der  »heiligen  Ver- 
pflichtungen«, wie  er  an  Curtius  schrieb,  welche  ihm  die  neue 
Stellung  gebracht  hatte:  »Es  ist  die  Wirkhchkeit  ein  ganz  anderer 
Gewissenswecker  als  die  bloße  Aussicht  auf  das  Dereinst«.  Noch 
suchte  er  Anlehnung  an  den  Vater,  dessen  deutsche  Pohtik  auch 
die  seine  bheb,  und  dessen  Arbeit  für  die  Umbildung  des  Heeres 
er  nach  wie  vor  verteidigte.  Aber  seine  Stellung  war  genommen. 
»Mir  kommt's  vor«,  so  schreibt  er  seinem  Lehrer  und  Freunde, 
»als  sei  ich  im  letzten  Vierteljahr  gereifter,  klarer,  auch  vorurteils- 
freier geworden.    Möge  es  also  fortschreitend  bleiben«. 

Während  der  Krisis  im  Sommer  1861,  als  der  König,  von 
Roon  und  seinen  Freunden  angetrieben,  durchaus  auf  der  Huldigung 
in  der  alten  ständischen  Form  bestehen  wollte   (eine  völlig  un- 


I 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  535 

mögliche  Anomalie  in  dem  konstitutionell  gewordenen  Staate), 
trat  der  Kronprinz  offen  und  nachdrücklich  für  die  Zeremonie 
der  Krönimg  ein.  Noch  einmal  gab  der  König,  dem  Sohn  und 
mehr  noch  der  Gemahlin  folgend,  nach  und  täuschte  so  die  Hoff- 
nungen Roons,  der  darin  schon  den  Keil  gefunden  zu  haben  glaubte, 
um  das  Ministerium  auseinander  zu  sprengen.  Im  März  1862 
aber  war  der  Konflikt  unabwendbar  geworden:  das  Hberale 
Ministerium  ward  entlassen,  die  Neue  Ära  war  zu  Ende.  Bis  dahin 
hatte  der  Kronprinz,  der  seit  dem  Frühling  1861  die  einzige  Stütze 
des  liberalen  Älinisteriums  in  dem  Königshause  gewesen  war, 
im  Kampfe  ausgehalten.  Fortan  hielt  er  es  für  seine  Pflicht  zu 
schweigen.  Ein  Wort  des  Vaters  hatte  genügt,  um  ihn  dahin  zu 
bringen:  »Nimm  dich  in  acht«,  hatte  Wilhelm  gesagt,  »du  bist 
liberaler  als  ich«.  Friedrich  Wilhelm  handelte  dabei  aus  dem 
Gefühl  der  preußischen  Disziplin  und  Staatsräson  heraus,  worin 
er  erzogen  war.  Der  Kampf  zwischen  dem  König  und  seinem 
Volke  aber  ging  fort,  bis  er  im  September  des  Jahres  zu  jener 
Krisis  führte,  für  welche  die  Formen  des  geltenden  Rechts  keine 
Lösung  mehr  boten. 

Und  dies  ward  nun  der  Moment,  in  dem  sich  das  Schicksal 
des  Prinzen  entscheiden  soUte. 

Unter  dem  Druck  der  parlamentarischen  Majorität,  vor  dem 
er  nicht  weichen  wollte  und  den  er  doch  nicht  überwinden  konnte, 
faßte  Wilhelm  den  Entschluß,  dem  Throne  zu  entsagen.  Am  18.  Sep- 
tember, nachdem  ein  letzter  Versuch,  einen  Ausgleich  herbei- 
zuführen, gescheitert  war,  rief  er  den  Kronprinzen  aus  Reinhardts- 
brunn, wo  dieser  mit  den  Seinen  in  der  Gesellschaft  der  englischen 
Königin  weilte,  telegraphisch  herbei  und  forderte  ihn  auf,  die 
Krone  fortan  zu  tragen,  die  ihm  selbst  durch  die  Ansprüche  der 
»Demokratie«  (wie  er  die  Opposition  der  Vincke  und  Simson 
nannte)  entehrt  schien. 

Daß  Friedrich  Wilhelm  die  Krisis  für  den  Moment  beseitigt, 
den  Frieden  zwischen  Krone  und  Parlament  hergestellt  haben 
würde,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Hatte  das  Abgeordneten- 
haus schon  dem  König  die  Kompensationen  mit  einer  an  Ein- 
stimmigkeit   grenzenden    Bereitwilligkeit    entgegengetragen,    wie- 


536  Kleine  historische  Schriften. 

vnel  willfähriger  würde  es  sich  dem  Sohne  gezeigt  haben,  in  dem 
der  Liberalismus  seinen  Führer  erbhckte;  zumal  da  die  Majorität 
der  Abgeordneten  die  Stärke  der  Krone  sehr  wohl  emp- 
fand und  der  eigenen  Macht  keineswegs  so  sehr  vertraute.  Jeden- 
falls hätte  die  Regierung  unter  dem  neuen  König  keine  schlech- 
teren Bedingungen  erhalten,  als  diejenigen,  die  ihr  am  17.  Sep- 
tember angeboten  waren  und  denen  sogar  Roon  anfangs  sich 
hatte  unterwerfen  wollen.  Aber  es  wäre  ein  Friede  geworden, 
der  dennoch  einer  Niederlage  der  Krone  nur  allzu  ähnlich  ge- 
wesen wäre.  Und  wenn  auch  König  Wilhelm  gewiß  Disziplin  genug 
besessen  hätte,  um  fortan  in  dem  Schatten,  den  er  freiwillig  auf- 
gesucht, zu  bleiben ,  so  würde  die  Partei,  die  ihn  in  den  Kon- 
flikt gedrängt  hatte,  die  in  dem  Besitz  aller  hohen  Stellen  in  der 
Diplomatie,  der  Verwaltung  und  vor  allem  der  Armee  war,  sich 
kaum  so  leicht  beruhigt  haben.  Wer  mag  die  Gefühle  ermessen,  welche 
damals  den  Prinzen  durchstürmt  haben  ?  Und  wer  die  IMotive  er- 
gründen, die  bei  ihm  den  Ausschlag  gaben,  als  er  am  IVIorgen  des 
19.  September  in  Babelsberg  vor  den  König  trat  und  sich  weigerte, 
die  Abdankungsurkunde,  die  vor  ihnen  lag  und  an  der  nichts  als 
die  Unterschrift  fehlte,  auch  nur  einzusehen  ?  Wenn  er  bei  seinem 
Widerstand  gegen  den  Vater,  wie  er  gegen  ihn  selbst  betont  hat, 
die  Zukunft  seines  Hauses  im  Auge  hatte,  so  konnte  der  König  von 
sich  sagen,  daß  er  die  Traditionen  der  Dynastie  wahre,  und  daß 
der  Weg,  auf  den  die  Liberalen  den  Kronprinzen  führen  wollten, 
eben  diese  erschüttern  würden.  Friedrich  Wilhelm  selbst  blieb  diesen 
Traditionen  treu,  als  er  jenen  Entschluß  faßte.  Denn  noch  nie- 
mals war  es  in  der  Geschichte  dieses  Geschlechtes  vorgekommen 
(wie  in  anderen  Monarchien  so  oft),  daß  der  Thronerbe  oder  über- 
haupt ein  Prinz  des  Hauses  sich  dem  Träger  der  Krone  offen  ent- 
gegenstellte. Nur  durch  die  Flucht,  als  Deserteur,  hatte  sich  ein- 
mal ein  Kronprinz  dem  \Mllen  seines  \^aters  zu  entziehen  ver- 
sucht ;  und  gerade  dies  war  das  klassische  Beispiel  dafür  geworden, 
daß  der  Gehorsam,  der  Offiziers- Gehorsam,  als  die  erste  Tugend  in 
dieser  Monarchie  zu  gelten,  und  daß  der  Erbe  des  Thrones  in  der 
Unterwerfung  unter  den  Willen  des  Herrschers  jedermann  voran- 
zugehen habe.     Genug,   Friedrich  Wilhelm  gab  die   Gelegenheit, 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  537 

Über  die  er  einen  Moment  Herr  gewesen,  aus  der  Hand  und  knüpfte 
damit  selbst  den  Knoten  seines  Schicksals. 


Als  er  am  Abend  des  20.  September  nach  Thüringen  zurück- 
reiste, hatte  er  weder  die  Hoffnung  noch  den  Willen,  die  Rolle 
des  Vermittlers  fernerhin  auf  sich  zu  nehmen.  »Er  verfluche 
alles,  was  er  getan  habe,  um  den  Zwiespalt  zwischen  dem  König 
und  seinen  Ministern  zu  verkleistern«,  so  erklärte  er,  als  er  in 
Reinhardtsbrunn  wieder  anlangte.  Sein  vertrauter  Rat  Max 
Duncker  ^^'ünschte  auch  jetzt  noch,  daß  er  dem  Kampfplatz  nahe 
bleibe  und  die  Waffen  nicht  niederlege  —  denn  er  fürchtete,  daß 
der  Boden,  auf  dem  der  Kronprinz  mit  seinem  Hause  stand,  durch 
die  fortschreitende  Reaktion  ganz  unter^vühlt  würde,  und  daß 
die  Umgehung  oder  der  Bruch  der  Verfassung  durch  keine  Kon- 
zessionen je  wieder  gutgemacht  werden  könne.  Friedrich  Wil- 
helm aber  folgte  dem  Rate  seiner  Umgebung  in  Reinhardtsbrunn, 
die  ihn  allen  Krisen  und  Kämpfen  fernzuhalten  wünschte,  um 
seine  Kraft  nicht  vor  der  Zeit  zu  vernutzen.  Er  richtete,  wie  er 
dem  Vater  später  schrieb,  sein  ganzes  Benehmen  so  zurückhaltend 
ein  wie  möglich,  damit  nicht  eine  Art  »Oppositions-Koterie« 
sich  seines  Namens  bediene  und  ein  in  anderen  Ländern  häufig 
vorgekommenes  Zerwürfnis  zwischen  dem  Souverän  und  seinem 
Nachfolger  herbeiführe.  So  sprach  er  sich  noch  am  27.  Mai  1863 
gegen  Max  Duncker  aus,  nach  jener  Explosion  in  dem  Abgeordneten- 
haus, welche  Bismarck  dahin  brachte,  den  Landtag  in  die  Ferien 
zu  schicken  und  durch  die  Preß-Ordonnanz  vom  i.  Juni  die  öffent- 
liche Meinung  zu  knebeln.  Dann  aber,  in  plötzlichem  Entschluß, 
der  eben  durch  jene  Maßregel  hervorgerufen  wurde,  ließ  der 
Prinz  sich  dennoch  dazu  bestimmen,  den  Kampf  vor  dem  Lande 
aufzunehmen.  In  Danzig  erklärte  er  sich  als  den  Gegner  des  Mini- 
steriums: er  habe  von  den  Verordnungen  nichts  gewußt,  er  sei 
abwesend  gewesen,  habe  keinen  Teil  an  den  Ratschlägen  gehabt, 
die  dazu  geführt.  Man  weiß,  wie  der  König  diesen  Schritt  seines 
Sohnes  aufgenommen  hat:  bei  seinem  väterlichen  Zorn  gebot  er 
ihm  Schweigen,  drohte  er  ihm  die  Entlassung  aus  seinen  Ämtern 


538  Kleine  historische  Schriften. 

an:  es  war  nicht  bloß  der  König,  es  war  der  Kriegsherr,  der  sich 
in  ihm  beleidigt  fühlte.  In  diesem  Moment  ist  nicht  nur  die  Königin, 
sondern  auch  Bismarck  für  den  Kronprinzen  eingetreten.  Aber 
wenn  der  Minister  forderte,  daß  der  Kronprinz  nicht  bloß  vor  der 
öffenthchkeit  zu  schweigen,  sondern  auch  an  den  Beratungen 
des  Königs  und  seiner  Minister  teilzunehmen  habe,  was  dann 
auch  Wilhelm  selbst  verlangte,  so  ließ  sich  Friedrich  Wilhelm 
dazu  nicht  bringen.  Er  werde,  so  schrieb  er  dem  Vater,  Still- 
schweigen beobachten,  mehr  aber  könne  er  nicht  tun;  zurück- 
nehmen könne  er  nichts.  Lieber  lege  er  seine  Stellung  in  der  Armee 
und  seinen  Sitz  im  Staatsrat  dem  Könige  zu  Füßen.  Dieser  möge 
ihm  dann  einen  Aufenthaltsort  bestimmen  oder  ihm  erlauben, 
sich  selbst  einen  zu  wählen,  sei  es  in  Preußen  oder  im  Ausland: 
»Wenn  es  mir  nicht  gestattet  ist,  meine  Meinung  auszusprechen, 
so  muß  ich  natürhch  wünschen,  mich  von  der  Sphäre  der  Politik 
gänzlich  zu  trennen«. 

Er  ging  nach  England,  wie  einst  der  Vater,  in  eine  Art  frei- 
williger Verbannung.  »Ich  suche  mich  zu  verkriechen,  wie  ich 
kann«,  schreibt  er  von  dort  an  seinen  alten  Lehrer. 

Das  schlimme  Jahr  war  noch  nicht  zu  Ende  gegangen,  als 
er  selbst  bereits  diese  Stellung  aufgab  und  nach  Deutschland 
zurückkehrte.  Denn  ein  Ereignis  war  eingetreten,  das  ihn  mit 
dem  Vater  wieder  zusammenführte  und  diesen  wie  Preußens 
PoHtik  mit  der  öffentlichen  Meinung  und  den  nationalen  Hoff- 
nungen versöhnen  zu  müssen  schien :  der  Tod  König  Friedrichs  VIII. 
von  Dänemark,  der  die  schleswig-holsteinische  Frage  in  Fluß 
brachte  und  in  Wilhelm  selbst  in  dem  ersten  Moment  keinen  andern 
Gedanken  aufkommen  ließ,  als  den,  daß  nun  Friedrich  von 
Augustenburg,  der  Freund  seines  Sohnes,  die  Herzogtümer  be- 
kommen, Preußen  aber  mit  ganz  Deutschland  vereint  die  ihm  an- 
gestammten Fürstentümer  zurückgewinnen  müsse. 

Nur  der  eine,  dem  König  Wilhelm  sich  vor  Jahresfrist  er- 
geben, und  der,  wie  er  ihn  gegen  seine  inneren  Feinde  aufrecht- 
erhalten, so  ihn  nach  außen  von  seinen  früheren  Wegen  schon 
hin  weggeführt  hatte,  setzte  alles  daran,  um  den  Strom  der  öffent- 
lichen Meinung,  der  schon  die  Armee  und  sogar  Männer  wie  Roon 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  539 

ergriffen  hatte,  von  dem  entscheidenden  Orte  abzudämmen. 
»Alles  war  gegen  ihn«,  so  schrieb  damals  Moritz  von  Blanken- 
burg,  der  fast  jeden  Abend  bis  tief  in  die  Nacht  bei  Bismarck 
war  und,  wie  er  wenigstens  meinte,  bis  ins  kleinste  Detail  von  ihm 
unterrichtet  wurde,  an  Ludwig  von  Gerlach:  »Die  Armee- Auf- 
regung wirkte  auf  den  König  sehr  zurück.  Er  wollte  Aktion  und 
alle  Hunde  waren  los;  aber  der  Lange  blieb  fest  wie  ein  Koloß, 
nur  des  Abends  klagte  er  mir  sein  Leid^).« 

Und  so  zerrann  dem  Kronprinzen  auch  diese  Chance,  seinen 
Einfluß  herzustellen,  unter  den  Händen.  Wohl  benutzte  ihn  Bis- 
marck gelegentlich,  wie  im  Mai  1864,  als  er  den  Gedanken  faßte 
oder  die  ]\Iiene  annahm,  dem  Prätendenten  zu  dem  Seinen  zu 
verhelfen  und  ihn  zum  Dienste  Preußens  zu  verpflichten;  je- 
doch nur,  um  später  beide  desto  mehr  bloßzustellen.  Friedrich 
Wilhelm  aber  blieb  dem  Freunde  und  der  einmal  ergriffenen  Sache 
treu,  auch  dann  noch,  als  ein  Teil  der  Liberalen  zu  Bismarck  herum- 
schwenkte und  sein  alter,  ihm  so  treu  ergebener  Max  Duncker 
selbst  von  ihm  abfiel.  Um  so  mehr  isolierte  er  sich,  und  um  so 
weniger  fand  Bismarck  Veranlassung,  sich  um  ihn  zu  kümmern. 
Doch  war  es,  wie  der  Prinz  gegen  Duncker  im  Jahre  1865  erklärte, 
keineswegs  bloße  Freundschaft  für  den  Herzog  Friedrich,  die 
ihn  zu  dieser  Haltung  bestimmte,  sondern  vor  allen  Dingen  seine 
Liebe  zu  dem  gemeinsamen  Vaterland  und  die  Überzeugung, 
daß  Preußens  Geschicke  auf  den  gegenwärtig  betretenen  Bahnen 
nicht  heilsam  und  förderhch  geleitet  würden. 

Und  so  blieb  er  auch  ganz  abseits  von  den  verschlungenen 
Wegen,  auf  denen  Bismarck  Preußen  in  den  Krieg  gegen  Öster- 
reich hineinführte.  Für  ihn  war  der  Krieg  um  die  deutsche  Krone, 
der  nun  begann,  ein  Bruderkrieg.  Er  sah,  daß  der  König  den 
Kampf  so  wenig  wollte,  wie  er  selbst,  und  daß  niemand  als  eben 
der  Minister  dahin  trieb.  Eine  unerklärliche  Tollkühnheit  schien 
es  ihm,  einen  deutschen  Krieg  in  deutschen  Landen  gegen  die 
Sympathien  des  engeren  wne  des  weiteren  Vaterlandes  zu  unter- 
nehmen, bei  der  sicheren  Aussicht,  daß  ein  Napoleon  in  Deutsch- 


^)  Ludwig  von  Garlachs  Aufzeichnungen  II,  258. 


540  Kleine  historische  Schriften. 

land  alsdann  den  Friedensstifter  spielen  werde.  »Mit  gebundenen 
Händen«,  so  schreibt  er  dem  Oheim  in  Koburg  am  26.  März, 
ȟberantworten  ^\^r  uns  einem  blinden  Schicksal!  Ich  werde 
meinerseits  nichts  unversucht  lassen,  um  dem  Unheil  zu  begegnen, 
abzumahnen,  zu  warnen,  zu  verhindern.  Du  weißt  aber,  wie  wenig 
ich  vermag". 

Bismarck  seinerseits  verschmähte,  wo  er  sie  gebrauchen 
konnte,  auch  fernerhin  nicht  die  Dienste  des  Kronprinzen.  Un- 
mittelbar nach  Königgrätz,  fast  noch  auf  dem  Schlachtfeld,  in 
Horsitz,  am  5.  Juli,  entwickelte  er  ihm  sein  deutsches  Zukunfts- 
programm, um  durch  ihn  auf  den  König  zu  wirken;  und  man  weiß, 
wie  dann  in  den  Tagen  von  Nikolsburg  der  Kronprinz  dem  Minister 
geholfen  hat,  als  dieser  den  Widerstand  des  Königs  und  seiner 
Generale  gegen  den  Frieden,  den  er  im  Sinne  hatte,  brechen 
mußte.  Bismarck  hat  den  Beistand,  den  ihm  der  Kronprinz  da- 
mals leistete,  immer  anerkannt;  und  es  bleibt  eins  der  schönsten 
Blätter  in  Friedrich  Wilhelms  Ruhmeskranz,  daß  er  den  Groll 
gegen  den  Mann,  der  ihm  so  viel  Leides  zugefügt,  der  großen  Sache 
zum  Opfer  brachte,  der  er  mit  ganzer  Seele  anhing.  Aber  zu  einem 
wirklichen  Einfluß  gelangte  der  Prinz  damit  doch  nicht  gegenüber 
einem  Minister,  der  in  jedem  Moment  seines  Lebens  die  eigene 
Bahn  ging  und  jedermann  nur  als  Werkzeug  seines  Willens  ver- 
wandte. 

Das  war  ja  nun  auch  das  Schicksal  der  andern,  die  mit  Bis- 
marck in  Kampf  geraten  waren:  ob  Konservative  oder  Liberale, 
sie  mußten  ihm  alle  folgen;  sie  waren  alle  in  Wahrheit  Besiegte. 
Aber  das  Los  Friedrich  Wilhelms  blieb  doch  das  schwerste.  Denn 
die  Parteien  brachten  immerhin,  jede  an  ihrer  Stelle,  etwas  von 
dem,  wofür  sie  gekämpft  hatten,  in  die  neue  Epoche  hinüber. 
Die  Konservativen,  die  Bismarck  vielleicht  am  schwersten  ent- 
täuscht hatte,  sahen  in  ihm  doch  noch  immer  den  Helfer 
gegen  die  liberale  Strömung  und  durften  sich  sagen,  daß  er  sie 
um  so  mehr  berücksichtigen  und  an  sich  ziehen  werde,  je  rück- 
haltloser sie  sich  ihm  anschlössen.  Die  Liberalen  aber  konnten 
mit  Recht  behaupten,  daß  der  Minister  gutenteils  ihr  Programm 
realisiert  habe,  und  daß  er  ohne  sie  in  Deutschland  überhaupt 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  541 

nicht  vorwärts  gekommen  wäre.  Sie  alle  hatten  zwar  nicht  die 
Herrschaft,  aber  doch  ein  Stück  der  Macht  in  den  Händen.  Und 
darum  fanden  sie  Gnade  vor  Bismarcks  Augen.  Denn  Macht 
war  das,  was  er  respektierte  und  womit  er  Kompromisse  schloß. 
Sie  hatten  ihre  Presse  und  ihren  Anhang  in  den  sozialen  Schichten, 
die  sie  vertraten;  und  sie  erhielten  zum  Teil  in  den  Institutionen, 
die  Bismarck  selbst  geschaffen  hatte,  Machtmittel,  welche  oft 
sehr  viel  anders  wirkten,  als  er  es  sich  vorgestellt  hatte,  und,  nach- 
dem sie  einmal  ins  Dasein  getreten,  ein  Eigengewicht  entwickelten, 
welches  noch  stärker  war  als  sein  Wille.  In  solchen  Kämpfen 
wurde  das  Reich  gegründet  und  ausgebaut.  Keine  Partei  setzte 
ihren  Willen  ganz  durch,  aber  jede  gewann  oder  behauptete  einen 
Teil  von  dem,  was  sie  erstrebte. 

Auch  der  Kaiser  mußte  seine  Anschauungen  nach  dem  Willen 
seines  großen  Ministers  abwandeln.  Aber  wenn  einer,  so  hatte 
Wilhelm,  wie  das  Recht,  so  die  Macht,  seinen  eigenen  Willen 
zur  Geltung  zu  bringen.  Die  Kämpfe  mit  ihm  waren  die  schwersten, 
die  Bismarck  zu  führen  hatte;  auch  deshalb,  weil  er  sie  dem  Träger 
der  Krone  abgewinnen  mußte,  deren  Eigenmacht  er  gegen  den 
Andrang  der  populären  Bewegungen  gerade  behaupten  wollte, 
und  an  die  er  sich  anlehnen  mußte,  wenn  er  das  Heer  seiner  Feinde 
besiegen  wollte:  in  des  Königs  und  des  Kaisers  Namen  führte  er 
alle  seine  Kämpfe;  seinen  Willen  mußte  er  hinter  sich  haben;  er 
durfte  ihn  nicht  ignorieren,  er  mußte  den  Träger  der  Krone  über- 
zeugen von  dem  Recht  und  der  Richtigkeit  der  Wege,  die  er  ihn  führte. 

Der  Kronprinz  allein  hatte  sich  zu  unterwerfen,  ohne  seinen 
WiUen,  seine  Überzeugung  zur  Geltung  bringen  zu  können.  Hatte 
er  das  schon  in  der  Zeit  nicht  vermocht,  als  er  noch  im  Einklang 
mit  der  überwältigenden  Majorität  der  Nation  gewesen  war,  so 
konnte  er  um  so  weniger  daran  denken  in  den  Jahren,  wo  Bis- 
marck die  öffentliche  Stimme  in  Deutschland  für  sich  hatte  und 
als  der  Hort  und  Held  der  Nation,  selbst  von  alten  Parteigenossen 
des  Prinzen,  und  gerade  von  diesen  am  meisten,  gefeiert  wurde. 
Indem  der  Kanzler  die  Institutionen  schuf,  an  welche  die  Zu- 
kunft Friedrich  Wilhelms  gebunden  blieb,  die  Krone  schmiedete, 
die  einst  auf  seinem  Haupte  glänzen  soUte,  hielt  er  ihn  dennoch 


542  Kleine  historische  Schriften. 

von  der  Mitarbeit  fern  und  gab  dem  neuen  Reiche  Formen,  welche 
sein  Erbe  als  falsch  erdacht  und  als  Quelle  zukünftiger  Zerrüttung 
bezeichnete. 

Auch  jetzt  erinnerte  sich  Bismarck  stets  des  Prinzen,  wenn 
er  seine  Dienste  gebrauchen  konnte,  so  bei  den  Verhandlungen 
um  die  Kaiserkrone,  als  es  den  Widerstand  des  Königs  und  seiner 
militärischen,  altpreußischen  Umgebung  zu  brechen  galt.  Aber 
das,  was  Friedrich  Wilhelm  sich  darunter  vorstellte,  ein  auf  der 
Nation  unmittelbar  ruhendes,  mit  freiheitlichen  Institutionen 
unterbautes  Kaisertum,  unter  dem  Preußens  Krone  selbst  nahezu 
mediatisiert  wäre,  war  es  nicht,  was  Bismarck  schuf,  sondern 
am  Ende  nur  ein  anderer  Name  für  das  alte  Verhältnis :  der  Kaiser- 
titel für  das  Präsidium  des  Bundes,  den  Bismarck  1866  gegründet 
hatte  und  der  im  neuen  Reich  nur  eben  erweitert  wurde.  Auch 
weihte  Bismarck  den  Prinzen  in  den  Kern  seiner  Verhandlungen 
nicht  einmal  ein;  er  ließ  ihn  üeber  in  dem  Glauben,  daß  er  selbst 
jener  Idee  noch  fernstehe,  als  daß  er  ihm  seine  Gedanken  ver- 
raten hätte. 

So  bleibt  es  denn  auch  im  neuen  Reich.  Selbst  in  dessen  erster, 
der  liberalen  Epoche  hatte  der  Kronprinz  weder  auf  die  innere  noch 
auf  die  äußere  Politik  einen  Einfluß.  Auch  war  er  mit  der  Art, 
wie  Bismarck  sich  der  hberalen  Ideen  annahm,  keineswegs  zu- 
frieden. So  protestantisch  er  dachte,  gefielen  ihm  doch  nicht 
die  Gewaltsamkeiten,  mit  denen  der  Kanzler  den  Kampf  gegen 
den  KlerikaHsmus  führte;  das  Mißtrauen,  welches  die  Liberalen 
vom  linken  Flügel  Bismarck  dabei  entgegentrugen,  teilte  er  durch- 
aus. Und  Bismarck  selbst  hütete  sich  wohl,  den  Kronprinzen 
hierfür  heranzuziehen.  Hatte  er  doch  den  Konflikt  anfangs  über- 
haupt vermeiden  und  danach  ihn  zunächst  mit  Hilfe  der  Konser- 
vativen durchführen  wollen.  Nur  weil  diese  ihn  im  Stich  ließen, 
wandte  er  sich  den  Liberalen  zu,  deren  Allianz  ihm  immer  lästig 
war  und  die  er  von  sich  abschüttelte,  sobald  die  alten  Sterne  wieder 
günstiger  standen. 

Nicht  einmal  die  Stellvertretung  des  Kaisers,  welche  das 
fluchwürdige  Attentat  im  Juni  1878  dem  Kronprinzen  brachte, 
gewährte  ihm  den  Einfluß  und  die  Selbständigkeit,  nach  der  er 


Die  Tragik  in  Kaiser  Friedrichs  Leben.  543 

schmachtete.  Die  Regentschaft,  die  er  sich  wünschte,  erhielt  er 
nicht.  Nur  im  Namen  des  Vaters  und  in  dessen,  d.  h.  Bismarcks, 
Sinn,  führte  er  für  ein  paar  Monate  die  Regierung.  Die  Entschhe- 
ßungen,  die  er  mit  seinem  Namen  deckte,  hatte  er  zum  Teil  be- 
kämpft, —  so  die  Verhängung  der  Todesstrafe  über  den 
Verbrecher  und  die  Auflösung  des  Reichstages.  Dem  Kon- 
greß, auf  dem  in  diesem  Sommer  unter  Bismarcks  Vorsitz  der 
Friede  im  Orient  hergestellt  \vurde,  blieb  er  fern,  und  der  totale 
Umschwung,  den  Bismarck  gerade  jetzt  in  seiner  inneren  PoHtik 
vorbereitete,  vollzog  sich  vollends  ohne  sein  Zutun.  Als  der  Kaiser 
mit  erfrischter  Kraft  auf  den  Thron  zurückkehrte,  trat  Friedrich 
Wilhelm  in  den  gewohnten  Schatten  zurück  und  blieb  auch  in 
dem  dritten  Jahrzehnt,  was  er  seit  dem  Tode  des  Oheims  gewesen 
war:  der  Kronprinz. 

Der  Kaiser  gelangte  nun  in  die  Jahre,  wo  auch  seine  Kraft, 
so  bewunderungswürdig  sie  war,  erlahmte.  Aber  dem  Sohn  kam 
die  wachsende  Schwäche  des  Greises  nicht  zugute :  niemals  schaltete 
Bismarcks  Wille  unbedingter  als  in  den  letzten  sieben  Jahren 
der  Regierung  Kaiser  Wilhelms. 

Wohl  waren  die  Differenzen  zwischen  Kanzler  und  Kron- 
prinz im  allgemeinen  geringer  geworden.  Die  Geniahtät  der  aus- 
wärtigen Poütik  Bismarcks  erkannte  Friedrich  Wilhelm  jetzt 
willig  an.  Und  so  hatte  er  sich  auch  mit  der  föderativen  Gestaltung 
des  Reiches,  die  er  einst  ein  »kunstvoll  gefertigtes  Chaos«  ge- 
nannt hatte,  ausgesöhnt,  sowie  ja  auch  seine  liberalen  Freunde 
ihre  unitarischen  Programme  mehr  oder  minder  vergessen  hatten. 
Aber  zu  einer  aufrichtigen  Annäherung  kam  es  zwischen  den  beiden 
doch  nicht.  Mit  tiefer  Abneigung  stand  Friedrich  Wilhelm  den 
immer  wiederholten  Versuchen  Bismarcks  gegenüber,  die  hnken 
Gruppen  des  Liberalismus  abzusprengen  und  sich  von  rechts 
und  links  her  einen  Anhang  zu  sammeln,  der  auf  seinen  Namen 
eingeschworen  war.  Seine  Freunde  suchte  er  auch  jetzt  unter 
denen,  die  Bismarcks  Haß  verfolgte  —  wenn  man  nicht  gar  sagen 
will,  daß  schon  die  Freundschaft  mit  dem  Kronprinzen  dem  Miß- 
trauischen genügte,  um  seinen  Groll  an  ihnen  und  ihrem  hohen 
Protektor  auszulassen.    Friedrich  Wilhelm  mußte  seine  Anhänger 


544  Kleine  historische  Schriften. 

gleichsam  durch  die  Hintertür  zu  sich  hineinlassen;  ja  ein  Mann 
wie  Forckenbeck  hat  in  der  Tat,  als  er  mit  dem  Kanzler  gebrochen 
hatte,  einen  Nebeneingang  des  kronprinzlichen  Palais  benutzen 
müssen,  um  zu  dem  Herrn  zu  gelangen.  Konnte  der  Prinz  doch 
nicht  einmal  seine  Freunde  beschützen;  er  mußte  es  zulassen, 
daß  Ernst  von  Normann,  sein  Vertrautester  in  diesen  Jahren, 
von  ihm  getrennt  und  nach  Oldenburg  als  Gesandter  versetzt 
wurde,  und  nur  die  ganz  Harmlosen,  Künstler  und  Gelehrte, 
wie  Anton  von  Werner  und  Ernst  Curtius,  blieben  unbehelligt. 
Er  war  nun  einmal  der  Führer  des  »Lagers  der  Besiegten«,  und 
seine  Devise  blieb  das  Warten.  Friedrich  Wilhelm  hatte  immer 
an  der  Entfaltung  königlichen  Glanzes  ein  Gefallen  gehabt ; 
und  wer  war  mehr  dazu  berufen,  die  Herrlichkeit  und  Macht 
des  Reiches  zur  Anschauung  zu  bringen,  als  dessen  Erbe  in 
seiner  männhchen  Schönheit  und  der  bezaubernden  Liebens- 
würdigkeit seines  Wesens?  Solche  Gelegenheiten  woirden  ihm  im 
neuen  Reich  in  Fülle  geboten,  und  um  so  öfter,  je  mehr  der  Vater 
durch  die  Last  der  Jahre  daran  verhindert  wurde,  und  je  weniger 
Bismarck  Wert  darauf  legte,  bei  solchen  Schaustellungen  zu  er- 
scheinen. So  kam  es  zu  den  Reisen  nach  Italien,  England  und 
Rußland,  welche  den  Reportern  so  reichen  Stoff  gaben  und  die 
Bevölkerungen  dieser  Länder  so  oft  zur  Bewunderung  des  deut- 
schen Kaisersohnes  fortrissen.  Ilim  selbst  aber,  \\ie  hätte  es  anders 
sein  können,  gereichte  am  Ende  dies  unablässige  Repräsentieren 
nur  zur  Last  und  eher  zur  Demütigung  als  zur  Erhebung:  denn 
nichts  war  mehr  geeignet,  ihm  sein  Schicksal  vor  die  Augen  zu 
stellen,  das  ihm  allen  Schein  der  Macht  verliehen  hatte,  aber 
nichts  von  ihrem  Wesen.  Was  Wunder,  daß  der  helle  Glanz, 
der  jahrelang  über  seiner  Seele  gelegen  hatte,  schließlich  nur  zu 
oft  von  trüben  Stimmungen  überdeckt  war,  also  daß  er  wohl 
über  sein  verfehltes  Leben  in  bittere  Klagen  ausbrach  und  kaum 
an  die  eigene  Zukunft  denken  mochte,  ja  zuweilen  davon  sprach, 
im  Falle  der  Thronerledigung  auf  die  Krone  selbst  zu  verzichten, 
da  er  dann  schon  verbraucht  sein  würde. 

Wer  war  pietätvoller  als  er?    Wie  hatte  er  vor  Jahren  ge- 
zittert, wenn  sein  Vater  einmal  kränkelte  1  Aber  hätte  er  in  solcher 


Die  Tragik  in   Kaiser  Friedrichs  Leben.  545 

Lage,  nun  da  er  die  Höhe  seines  Lebens  schon  überschritten  hatte, 
Gedanken  ausweichen  können,  die  sein  kindhches  Zartgefühl 
und  sein  sittHch  reines  Empfinden  in  sein  Innerstes  zurückdrängten  ? 


Nehmen  wir  einmal  an,  daß  Friedrich  Wilhelm  gesund  ge- 
blieben wäre  - —  würde  der  Konflikt  mit  Bismarck,  der  drei  Jahr- 
zehnte lebendig  geblieben  war,  nach  seiner  Thronbesteigung  aus- 
geblieben und  erloschen  sein  ?  Daß  er  ihn  hat  vermeiden,  sich 
von  dem  ^Minister  seines  Vaters  nicht  hat  trennen  wollen,  hat 
er  oft  genug  ausgesprochen,  und  die  ersten,  lange  vorbereiteten 
Erlasse,  die  er  als  Kaiser  gegeben,  der  Dank  an  den  Kanzler  und 
das  Programm  seiner  Regierung  bewiesen  es,  daß  es  ihm  Ernst 
war  mit  diesem  ^'orhaben.  Auch  hat  er  in  den  kurzen  Wochen, 
die  ihm  auf  dem  Thron  vergönnt  waren,  sich  mehr  als  einmal 
den  wohl  erwogenen  Ratschlägen  des  Kanzlers,  zumal  in  der 
Frage  der  bulgarischen  Heirat,  gefügt  und  im  Widerspruch  mit 
seiner  Gemahlin  und  der  eigenen  Tochter  die  Empfindungen  des 
Vaters  den  Pflichten  des  Regenten  zum  Opfer  gebracht. 

Dennoch  läßt  sich  nicht  annehmen,  daß  der  tief  innerliche 
Zwiespalt  auf  die  Länge  verdeckt  geblieben  wäre,  daß  Friedrich 
Wilhelm  sich  im  Besitz  der  Krone  von  den  Anschauungen,  in  denen 
er  seit  Jahren  gefestigt  war,  frei  gemacht,  oder  daß  Bismarck 
seinen  Willen  gegen  den  seines  kaiserlichen  Herrn  aufgegeben 
hätte.  Zu  tief  auch  waren  die  Gegensätze  in  der  politischen  Welt 
und  zu  stark  drängten  sie  schon  wieder  zu  einer  neuen  Verknotung 
hin,  die  der  Kanzler  nur  auf  seine  Art,  den  Zielen  seines  nie  rasten- 
den Wollens  gemäß,  zu  lösen  oder  zu  durchhauen  versucht  sein 
mußte.  Dann  wäre  also  Friedrich  Wilhelm  endlich  in  die  Lage 
gebracht  worden,  den  eigenen  Willen  zur  Geltung  zu  bringen, 
das  Scepter,  von  dem  er  schon  als  Knabe  geträumt  hatte,  endhch 
zu  führen.  Die  ]\Iacht  dazu  hätte  er  besessen,  die  Macht,  welche 
Bismarck  im  Dienste  seines  Vaters  geschaffen  hatte  und  die  ihrem 
Träger,  wenn  er  nur  wollte,  solche  Stärke  verlieh,  daß  auch  der 
Wille   des   eisernen    Kanzlers   davor   zurückweichen   mußte.    Wo- 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  35 


K/g  Kleine  historische  Schriften. 

nach  Friedrich  Wilhelm  sich  immer  gesehnt,  die  Gelegenheit, 
nach  eigenem  Ermessen  zu  handeln,  wäre  ihm  endlich  geworden. 
Statt  dessen  wollte  es  das  Geschick,  daß  er  das  Scepter  er- 
griff, als  er  bereits  vom  Tode  gezeichnet  war,  und  daß  auch  mit 
der  Krone  mehr  der  Schein  der  Macht  als  die  Macht  selbst  in  seine 
Hand  gelegt  wurde.  'Das  Herz  seines  Volkes  schlug  ihm  heißer 
entgegen  als  je,  und  tief  empfand  er  diese  Treue,  die  ihm  nicht 
mehr  den  lauten  Jubel  bot,  der  den  Sieger  von  Chlum  und  Sedan 
umhallt  hat,  sondern  die  Tränen  des  überwallenden  Mitleids,  die  er 
in  tausend  Augen  glänzen  sah.  Aber  zugleich  mußte  er  es  er- 
leben, daß  der  Hader  der  Parteien  sich  an  sein  Krankenlager 
selbst  herandrängte  und  wüster  Zank  seine  Leiden  begleitete  — 
ein  Schauspiel,  an  dessen  niederziehende  Eindrücke  man  heute 
nur  mit  einem  Gemisch  von  Scham  und  Gram  zurückzudenken 
vermag.  Wenn  er  in  den  Anfängen  der  Krankheit  noch  gehofft 
hatte,  daß  ihm  eine  Zukunft  beschieden  sein  könnte,  so  ging  er, 
als  ihn  die  Nachricht  von  dem  Tode  des  Vaters  in  die  Heimat 
zurückrief,  klaren  Auges  dem  Unabwendbaren  entgegen.  Der 
immer  genährte  und  nie  gestillte  Wunsch,  mit  eigener  Kraft  und 
Verantwortung  das  Regiment  zu  führen,  die  hohen  Pläne,  mit 
denen  er  sich  auf  allen  Gebieten  des  Staates,  der  Wissenschaften 
und  der  Künste  trug,  —  das  alles  war  nun,  er  woißte  es,  für  ihn 
aus  und  vorbei.  Nichts  war  ihm  geblieben  als  die  stumme  Helden- 
größe des  Dvüdens  und  der  Ergebung. 


m^^^^ 


Das  russische  Problem. 

(April  1906.) 

Mehr  als  ein  Menschenalter  ist  bereits  vergangen,  seitdem 
das  romanisch-germanische  Europa  aus  der  Epoche  der  Revolu- 
tionen und  der  Kriege,  die  ihnen  folgten  und  ein  Stück  ihrer  selbst 
waren,  heraustrat.  Gewiß  fehlt  es  seither  unsem  Nationen  nicht 
an  Elementen  der  Zerrüttung  und  der  Anarchie;  vulkanische 
Gluten  ruhen  in  ihrem  Schoß.  Aber  zur  Herrschaft  sind  diese 
nirgends  mehr  gekommen.  Die  nationalen  und  konstitutionellen 
Formen,  die  sich  in  jenen  Erschütterungen  herausgebildet  haben, 
sind  spannkräftig  genug  gewesen,  um  die  zerstörenden  Kräfte 
zu  bannen;  gerade  die  Freiheiten,  die  dadurch  geschaffen  wurden, 
der  Presse,  des  Vereinsrechts,  der  Arbeit  und  der  parlamentarischen 
Vertretung,  haben  sich  als  die  Ventile  erwiesen,  durch  die  die 
heißen  Dämpfe  des  Innern  gefahrlos  entweichen.  Wenn  einmal, 
im  Frühhng  1871,  an  der  Seine,  ebendort,  wo  1789  der  erste  Aus- 
bruch erfolgt  war,  die  Lava  durch  die  Oberfläche  hindurchbrach, 
so  geschah  das  unter  ganz  ungewöhnlichen  Verhältnissen,  in  einem 
Staat,  der  in  der  Gewalt  der  Feinde  war,  unter  einer  Regierung, 
die,  kaum  gebildet  und  von  ihrer  eigenen  Hauptstadt  ausgeschlossen, 
nicht  vermochte,  dem  Proletariat  die  Waffen  zu  nehmen,  die  ihm 
im  Kampf  gegen  die  Deutschen  von  der  Regierung  der  nationalen 
Verteidigung  selbst  geliefert  worden  waren.  Ja,  der  Aufstand  der 
Pariser  Kommune  zeigt  gerade,  wie  ohnmächtig  die  europäische 
Revolution  in  unserer  Epoche  geworden  ist.  Denn  wie  fanatisch 
der  Widerstand  der  Empörten  sein  mochte,  dennoch  gelang  es, 

35* 


5^g  Kleine  historische  Schriften. 

ihn  in  wenigen  Wochen  niederzuschlagen ;  und  nirgends  fand  der 
Aufruhr  Nachahmung,  er  bUeb  vöUig  lokahsiert.  Wie  fest  seitdem 
der  Boden  unserer  Staatenwelt  geworden  ist,  läßt  sich  an  dem 
Eindruck  ermessen,  den  die  russische  Revolution  auf  die  europäi- 
sche Welt  ausübt.  In  der  Epoche  unserer  Revolutionen  pflanzte 
sich  jede  Erschütterung  mit  Blitzesschnelle  durch  den  ganzen 
Umkreis  unserer  Staaten  fort;  die  Luft  war  damals  wie  mit  Elek- 
trizität geladen.  Heute  dagegen  vermögen  unsere  Sozialdemo- 
kraten und  Anarchisten,  wie  wild  sie  sich  anstellen,  nichts.  Ihre 
revolutionären  Demonstrationen  verpuffen  wie  Theaterdonner  und 
wirken  lächerlich  durch  den  Kontrast  zwischen  dem  Aufwand  an 
Worten  und  der  Ohnmacht  im  Handeln. 

Es  ist  aber,  als  ob  der  Strom  der  europäischen  Geschichte 
seinen  Lauf  völlig  verändert  und  rückwärts  gewandt  habe.  Denn 
während  wir  andern  in  Ruhe  und  sorglos  dahinleben,  nur  darauf 
bedacht,  die  Güter  des  Friedens  zu  wahren  und  zu  mehren,  wird 
der  Staat,  der  einst  den  Reaktionären,  wie  den  Liberalen,  als  der 
Hort  der  absoluten  Monarchie  galt,  bis  in  seine  Grundfesten  er- 
schüttert und  erscheint  allen  Gewalten  der  Zerstörung  ausgesetzt. 
An  inneren  Feinden  hat  es  ja  auch  in  den  alten  Zeiten  den  rus- 
sischen Herrschern  nicht  gefehlt;  kein  Thron  Europas  ist  so  oft 
durch  blutige  Gewalttat  erledigt  worden.  Aber  damals  sammelten 
und  entluden  sich  die  Gewitter  immer  in  den  höchsten  Regionen; 
der  Sohn,  der  Bruder,  die  Gemahlin,  die  Flügeladjutanten  und 
die  Hofschranzen  stießen  die  Träger  der  Krone  von  ihrem  Sitz 
herunter:  die  Tiefen  des  Volkes  blieben  unbeweglich;  nur  dann, 
wenn  der  Landesfeind  innerhalb  der  Grenzen  stand  oder  dem 
nationalen  Ehrgeiz  große  Ziele  gewiesen  wurden,  gerieten  sie  in 
Erregung. 

Und  immer  war  es  der  Thron,  um  denn  sich  dann  das  Volk 
scharte.  Kein  festeres  Band  gab  es  zwischen  dem  Zaren  und 
seinem  Volk  als  die  \'erteidigung  der  russischen  Erde  oder  die 
Ausbreitung  der  russischen  Macht.  Der  Traum,  das  Kreuz  auf 
die  Hagia  Sofia  zu  pflanzen,  ließ  jedes  Russenherz  höher  schlagen, 
seitdem  Peter  der  Große  den  Weg  dorthin  gezeigt  hatte.  Tausend- 
stimmiger Jubel  umbrauste  noch  Alexander  IL,  als  er  in  Moskau 


Das  russische  Problem.  549 

den  heiligen  Krieg  proklamierte.  Niemals  war  er  sicherer  vor 
Attentaten  als  im  Feldlager  vor  Plewna;  erst  als  der  Friede  her- 
gestellt, erreichten  ihn  in  der  Heimat  die  Mordgeschosse  der  Nihi- 
listen. Auch  der  Krieg  gegen  Japan  ist  keineswegs,  wie  die  Revolu- 
tionäre glauben  machen  wollen,  allein  der  Ehrsucht  und  der  Hab- 
gier der  Regierenden  zuzuschreiben.  Man  erinnere  sich  an  die 
Einmütigkeit,  mit  der  die  russische  Presse  vor  dem  Beginn  des 
Krieges  die  Politik  ihrer  Regierung  unterstützte,  an  den  brutalen 
Hochmut,  mit  dem  sie,  jedes  Kompromiß  ablehnend,  Japan  vor 
den  Verzicht  auf  allen  Festlandbesitz  oder  den  Krieg  mit  Ruß- 
land stellte.  »Ein  Krieg  Japans  gegen  uns«,  so  schrieb  im  Juli  1903 
die  »Nowoje  Wremja«,  die  Stimmführerin  der  öffentlichen  Mei- 
nung, in  einem  fast  grotesken  Gemisch  von  heuchlerischen  Frie- 
densphrasen und  nackter  Gewaltgier,  »bedeutet  seinen  Selbstmord, 
den  Schiffbruch  aller  seiner  Hoffnungen,  und  deshalb  sind  wir 
der  festen  Überzeugung,  daß  die  friedliche  Strömung  in  Japan 
schließlich  doch  triumphieren  wird.  An  der  Macht  des  russischen 
Riesen  sind  die  Heeresmassen  Napoleons  zugrunde  gegangen,  und 
nach  dieser  Prüfung  sind  Rußland  keine  andern  mehr  schreck- 
lich. Rußland  strebt  nach  der  Wahrung  des  Friedens,  aber  nicht 
aus  Furcht  vor  einem  Kriege,  sondern  aus  Menschenliebe,  die 
auf  dem  Bewußtsein  seiner  Kraft  beruht.  Alle  fordern  wir  auf, 
gemeinsam  mit  uns  für  die  Ideale  der  Wahrheit  und  der  Zivili- 
sation friedlich  zu  arbeiten;  wenn  aber  jemand  nicht  denselben 
Weg  wandeln  oder  ihn  uns  versperren  will,  so  werden  wir  deshalb 
nicht  auf  einen  Augenblick  von  der  Erfüllung  unserer  historischen 
Aufgaben  ablassen«. 

Weil  die  Dardanellen  versperrt  und  die  Straße  nach  Indien, 
deren  erste  Etappen  vom  Kaspissee  ab  so  rasch  und  glücklich 
zurückgelegt  waren,  im  afghanischen  Grenzgebirge  gleichfalls  un- 
gangbar wurde,  lenkte  die  russische  Politik  in  den  Weg  nach  der 
Mandschurei  und  Korea  ein.  Es  war  die  Richtung,  in  der  sich  die 
russische  Kolonisation  seit  zwei  Jahrhunderten  am  mühelosesten 
entfaltet  hatte;  und  so  schien  es  auch  jetzt  noch,  als  ob  hier  die 
Küsten  des  Weltmeers,  denen  die  russische  Macht  mit  Naturgewalt 
zustrebt,  auf  die  leichteste  Weise  gewonnen  werden  könnten. 


^^Q  Kleine  historische  Schriften. 

Hätte  diese  Politik  Erfolg  gehabt,  so  würde  sie  in  der  Tat 
zu  einer  Verstärkung  nicht  nur  der  nationalen  Macht,  sondern 
auch  des  politischen  Systems  geführt  haben,  das  Rußland  zu- 
sammengehalten und  geschaffen  hat.  Da  erlebte  nun  die  Welt 
ein  unerhörtes  Schauspiel:  ein  Volk,  das  vor  kurzem  noch  abseits 
von  den  Bahnen  der  welthistorischen  Entwicklung  gestanden  und 
eben  erst  in  den  Kreis  der  Kulturmächte,  nur  empfangend,  ein- 
getreten war,  ein  Zwerg  dem  Riesen  Rußland  gegenüber,  ent- 
wickelte Riesenkräfte.  Was  niemand  erwartet  hatte,  am  wenigsten 
unsere  Diplomaten,  geschah:  zu  Lande  und  zu  Wasser  besiegt, 
mußten  die  Russen  um  Frieden  bitten.  Hatten  aber  in  den  alten 
Zeiten  die  Niederlage,  der  Einbruch  der  Feinde  in  die  russischen 
Grenzen  Volk  und  Herrscher  nur  um  so  fester  aneinander  ge- 
bunden, so  war  jetzt  zum  erstenmal  in  der  russischen  Geschichte 
die  Wirkung  eine  entgegengesetzte :  zersprengend  wie  das  Dynamit 
der  Bomben,  welche  die  Revolutionäre  ihren  Feinden  unter  die 
Füße  werfen.  Je  stärker  der  Gegner  drückte,  um  so  allgemeiner 
wurde  die  Erschlaffung,  um  so  größer  im  Volk  und  Staate  Ruß- 
lands die  Zersetzung.  Als  Bundesgenossen,  als  Helfer  fast  der 
Revolution  erschienen  die  Feinde  des  Landes,  vor  deren  Ansturm 
die  Kraft  des  Volkes  niedersank.  Aus  der  Schmach  des  Vater- 
landes suchen  die  Empörten  die  Herstellung  ihrer  pohtischen 
Ideale,  aus  dem  Abgrunde  die  Schätze  der  Freiheit  zu  gewinnen. 

Unsere  Tagesschriftsteller  haben  sich,  seitdem  die  Revolution 
in  Rußland  einsetzte,  oft  bemüht,  darin  Analogien  und  Par- 
allelen zu  der  französischen  Revolution  aufzusuchen.  Die  weichen 
Züge  Zar  Nikolais  erinnern  sie  an  die  Unentschlossenheit  und 
Trägheit  Ludwigs  XVL;  in  dem  Grafen  Witte  wollen  sie  den 
russischen  Necker  sehen,  der,  wie  sein  französischer  Vorgänger, 
durch  seine  Verbindungen  mit  der  Börse  und  den  hberalen  Ideen 
die  Finanzen  und  die  Krone  über  Wasser  halten  möchte;  die 
Wirtschaft  hohen  Nöte  der  Bauern,  die  zahllosen  Emeuten  rufen 
ihnen  analoge  Vorgänge  in  dem  alten  Frankreich  zurück;  die 
Agitation  der  Semstwos  läßt  sie  an  die  französischen  Notabein, 
die  bevorstehende  Reichsduma  an  die  Generalstände  denken,  und 
was  dergleichen  Äußerhchkeiten  mehr  sind.    In  Wahrheit  ist  die 


Das  russische  Problem.  551 

jüngste  Epoche  der  russischen  Geschichte  viel  eher  das  Wider- 
spiel als  die  Wiederholung  der  französischen  Revolution  und  so 
weit  von  ihr  entfernt,  wie  die  Entwicklung  Rußlands  von  der 
des  romanisch-germanischen  Europas  überhaupt.  Und  man  braucht 
kein  Prophet  sein,  um  vorauszusagen,  daß  die  gleiche  Differenz 
sich  in  dem  ganzen  weiteren  Verlauf  der  Bewegung  widerspiegeln 
wird;  den  Bedingungen  müssen  die  Folgeerscheinungen  ent- 
sprechen. 

Schon  unter  dem  von  uns  angedeuteten  Gesichtspunkte  wird 
es  völlig  deutlich,  wie  wenig  im  Grunde  beide  Ereignisse  über- 
einstimmen. Freilich  war  auch  in  Frankreich  der  alte  Staat  schwach 
geworden  und  unfähig,  seine  Aufgaben  zu  erfüllen.  Das  Alte  muß 
vermorschen,  um  dem  Neuen  Platz  zu  machen;  gegen  eine  feste 
Regierung  kann  das  Volk  nicht  ankommen;  nur  dem  Starken 
gehört  der  Sieg,  nur  dem  Mächtigen  die  Herrschaft.  So  war  es 
in  aller  Geschichte,  und  so  ging  also  auch  dem  Sturze  des  alten 
Frankreichs  eine  Reihe  von  Niederlagen  gegen  seine  inneren  und 
äußeren  Feinde  voraus.  Aber  die  Nation  war  in  Frankreich  wahr- 
Hch  nicht  gleichgültig  gegen  das  Unglück  ihrer  Regierung  oder 
sympathisierte  gar  mit  den  Feinden  des  eigenen  Staates.  Viel- 
mehr woirde  den  Bourbonen  von  ihren  Untertanen  nichts  mehr 
verdacht,  als  daß  sie  ihr  Land  nicht  besser  schützten,  seiner  Macht 
und  seinen  Reichtümern  die  Sicherheit  nicht  gewährten,  die  es 
verlangen  durfte :  die  Trennung  der  dynastischen  von  der  natio- 
nalen Politik  war  die  Summe  aller  Vorwürfe,  welche  die  Revolu- 
tionäre gegen  Ludwig  XVL  und  seine  österreichische  Gemahlin 
erhoben.  Diese  Anklage  war  zunächst  gewiß  ungerecht;  auch 
die  Bourbonen  des  i8.  Jahrhunderts  hatten,  wie  ihre  Vorgänger, 
den  Wunsch  und  Willen,  die  Macht  Frankreichs  zu  behaupten. 
Der  Gegner  ihrer  Krone,  England,  war  auch  der  der  Nation,  und 
der  Preis,  um  den  sie  mit  ihm  rangen,  wertvoll  genug,  um  alle 
Kräfte  Frankreichs  dafür  anzuspannen:  es  handelte  sich  um  den 
Besitz  der  Kolonien  in  beiden  Hemisphären,  um  die  Beherrschung 
der  Ozeane  und  der  fremden  Kontinente.  Die  Allianzen,  die  sie  zu 
diesem  Zwecke  schlössen,  lassen  sich  nicht  tadeln;  sie  entsprangen 
der  allgemeinen  Konstellation  und  ließen  sich  gar  nicht  vermeiden. 


552  Kleine  historische  Schriften. 

Auch  führten  sie  Teilerfolge  herbei  und  waren,  als  sie  geschlossen 
wurden,  aussichtsreich  genug.  Gerade  das  Bündnis  mit  Öster- 
reich von  1756,  dem  dann  auch  Rußland  beitrat,  schien  den  Sieg, 
auf  dem  Festlande  wenigstens,  zu  verbürgen.  Aber  Preußen 
hielt  sich  in  sieben  schweren  Kriegsjahren  aufrecht,  und  Eng- 
lands Flagge  war  nach  wie  vor  siegreich  auf  allen  Meeren.  Und 
dabei  blieb  es  auch  nach  dem  allgemeinen  Frieden:  das  Bündnis 
mit  Österreich,  trotzdem  es  durch  die  Heirat  Maria  Antoinettes 
mit  dem  französischen  Thronerben  befestigt  wurde,  unfrucht- 
barer als  je;  nutzlos  und  nur  eine  neue  Quelle  finanzieller  Nöte 
die  Unterstützung  der  Amerikaner  in  ihrem  Freiheitskampf  gegen 
England;  nicht  einmal  vor  den  eigenen  Toren,  an  der  Scheide 
und  im  Haag,  konnte  die  Regierung  ihre  Ansprüche  durchsetzen. 
Während  so  die  Krone  Frankreichs  an  allen  Punkten  völlig 
versagte,  wuchs  dennoch  die  wirtschaftliche  Kraft  der  Nation 
gewaltig  an;  und  sie  behauptete  sich  mehr  als  je  in  der  geistigen 
Führung  Europas.  Die  Träger  dieser  breit  andringenden  Kraft 
aber,  die  bürgerlichen  Klassen,  blieben  ausgeschlossen  von  dem 
Anteil  am  Staat.  Und  dabei  war  letzterer  dennoch  von  ihnen 
abhängig,  zugleich  ihr  Herr  und  ihr  Schuldner;  seine  Anleihen 
waren  in  ihren  Händen.  Ein  Punkt,  an  dem  abermals  die  Gegen- 
sätzlichkeit beider  Revolutionen  sichtbar  wird.  In  Rußland  geht, 
während  alles  schwankt,  die  Zinszahlung  ununterbrochen  fort; 
und  sicherhch  wird  die  Petersburger  Regierung  alles  daran  setzen, 
um  ihre  Gläubiger  zu  befriedigen.  Denn  darauf  beruht  ihre  Hoff- 
nung, der  Revolution  Herr  zu  werden;  die  Insoivenzerkläning 
würde  nicht  bloß  ihr  Ansehen  im  Ausland  ganz  untergraben, 
sondern,  wenn  nicht  alles  täuscht,  auch  die  Zerrüttung  im  Reich 
vollenden.  Um  so  weniger  würden  die  Revolutionäre  im  Siege 
geneigt  sein,  den  Verpflichtungen,  die  die  gestürzte  Regierung 
gegen  das  Ausland  eingegangen,  nachzukommen;  ja,  es  möchte 
dann  vielleicht  einer  ihrer  ersten  Schritte  werden ,  die  Zins- 
zahlungen an  die  fremden  Gläubiger  einzustellen:  so  bliebe  das 
Geld,  das  Rußlands  Herrscher  von  der  Armut  seiner  Bauern  hatte 
nehmen  müssen,  im  Lande;  die  Revolution  könnte  sich  keine 
festeren    Grundlagen   ilirer   ]\Iacht   in   der   Nation   wünschen,   als 


Das  russische  Problem.  553 

wenn  sie  sich  auf  diese  Weise  mit  den  Interessen  der  Bauern  ver- 
bände. Umgekehrt  war  es  in  Frankreich.  Dort  hielt  die  Bewegung 
Schritt  mit  der  wachsenden  Finanznot  der  Regierung.  Denn  der 
französische  Geldmarkt  hatte  die  Anleihen  hergegeben,  für  die 
schon  die  Zinsen  auszubleiben  drohten;  die  Furcht,  sie  zu  ver- 
lieren, fesselte  die  Besitzer  der  Schuldscheine  an  die  Revolution, 
und  die  Sanierung  der  Finanzen,  die  Befriedigung  der  Gläubiger 
war  zunächst  der  alle  Reformen  beherrschende  Gedanke.  Aber 
nur  eine  Umwälzung  des  Staates  von  Grund  aus,  eine  Neuorgani- 
sierung der  politischen  und  sozialen  Verfassung  konnte  die  Hoff- 
nung gewähren,  das  Dilemma  zu  überwinden,  das  aus  dem  Miß- 
verhältnis zwischen  einer  ohnmächtigen  Regierung  und  dem  Kraft- 
bewußtsein der  von  ihr  ausgeschlossenen  und  ungeschützten  Nation 
entsprang.  Die  alten  Formen  mußten  zerbrochen  werden  und 
die  neuen  sich  mit  dem  vollströmenden  nationalen  Leben  erfüllen, 
wenn  Frankreich  die  Aufgaben  durchführen  sollte,  die  ihm  von 
der  Weltlage  gestellt  wurden  und  seinen  großen  Traditionen  ent- 
sprachen. Hierbei  aber  versagte  die  Krone.  Ludwig  XVL  ver- 
mochte nicht,  sich  aus  der  Umstrickung  durch  die  feudalen  Organi- 
sationen zu  lösen,  durch  deren  Überwindung  seine  Vorfahren  doch 
ihre  Herrschaft  aufgerichtet  und  deren  Zwang  er  selbst  auf  das 
drückendste  empfunden  hatte.  So  trennten  sich  seine  Wege  von 
denen  der  Nation,  und  nun  erweiterte  jeder  Fortschritt  der  Revolu- 
tion den  Riß.  Um  seine  Stellung  zu  behaupten,  rief  der  König 
die  Fremden  in  das  Land  und  verriet  die  Verfassung,  die  er  be- 
schworen hatte.  Und  gleich  ihm  wurde  jeder,  der  sich  der  Be- 
wegung in  den  Weg  warf,  die  Freunde  des  Königs  wie  seine  Ri- 
valen, ja  die  Anhänger  der  Revolution  selbst  und  schließlich  wer 
immer  der  ^Mäßigung  das  Wort  redete,  den  Feinden  des  Landes 
in  die  Arme  getrieben:  die  großen  Gedanken  nationaler  Macht 
und  Einheit  verbündeten  sich  mit  dem  Schreckensregiment  eines 
wüsten  Radikalismus. 

Der  zarischen  Regierung  wird  man  ein  solches  Prognostiken 
nicht  stellen  dürfen.  Wie  sie  den  Krieg  begonnen,  so  hat  sie  in 
ihm  ausgeharrt,  solange  noch  irgendeine  Aussicht  auf  Erfolg  be- 
stand, und  sie  hat  den  Widerstand  gegen  die  Revolution  früher 


554  Kleine  historische  Schriften. 

aufgegeben  als  die  Hoffnung  auf  den  Sieg  über  Japan.  Immer 
war  es  die  Eintracht  des  Volkes  mit  seinem  Herrscher,  die  der 
Zar  als  die  belebende  Grundidee  des  russischen  Staats,  als  die 
geschichtliche,  gottgegebene  Bestimmung  Rußlands  anrief;  noch 
in  seinen  Manifesten,  die  dem  Volk  die  Reformen  verkünden, 
nennt  er  sie  als  deren  Ziel,  wie  sie  das  Ziel  seiner  Vorfahren  ge- 
wesen sei:  »Das  Unterpfand  der  Einigkeit,  der  Integrität,  des 
materiellen  Wohlstandes  und  der  geistigen  Entwicklung  für  Gegen- 
wart und  Zukunft«. 

In  der  Tat  lassen  die  Revolutionäre  die  Person  des  Zaren 
aus  dem  Spiel.  Während  seine  Offiziere  und  Beamten  bis  zu  den 
Polizeisergeanten  herab  unablässig  von  Attentaten  bedroht  und 
getroffen  werden,  ist  er,  soviel  wir  wissen,  davon  frei  geblieben. 
Sie  lassen  ihn  als  Vertreter  Rußlands  gelten  und  suchen  ihn  eher 
auf  ihre  Seite  zu  ziehen ;  der  Satz  von  der  Souveränität  der  Nation, 
der  in  der  französischen  Revolution  alles  trug,  und  vor  dem  die 
Gewalt  der  Krone  versch^^inden  mußte,  fehlt  in  ihren  Programmen. 
Nur  seine  Diener,  die  Tschinowniks,  greifen  sie  an.  Und  wer  kann 
leugnen,  daß  hier  der  größte  Schade,  die  wundeste  Stelle  des 
herrschenden  Systems  Hegt?  Es  ist  eine  Verrottung  ohne  Bei- 
spiel in  der  romanisch-germanischen  Staatenwelt;  auch  in  Spanien 
finden  wir  nicht  diese  Verbindung  von  Brutalität  und  Hochmut, 
von  Willkür  und  vaterlandsverräterischer  Selbstsucht.  Jedoch  be- 
kämpfen die  Revolutionäre  nicht  bloß  die  Träger  des  Systems, 
sondern  dieses  selbst.  Und  damit  schneiden  sie  auch  dem  Zartum 
in  die  Wurzel.  Denn  der  Absolutismus  fordert  Diener  von  abso- 
luter Gewalt  nach  unten;  als  Delegierte  seines  Wülens  müssen 
sie  die  autokratische  Macht,  die  von  ihm  ausfheßt,  in  ihrem  Kreis 
besitzen.  Der  Absolutismus  aber  ist  die  Urform  des  Zcirtums, 
der  Grund,  auf  dem  es  emporwuchs,  die  Bedingung  seiner  Größe, 
das  Band,  das  der  Herrscher  mit  seinem  Volk  berknüpft,  das  die 
Hingebung,  die  blinde  Unterwerfung  unter  die  von  ihm  hochge- 
haltenen Ziele  schafft  und  fordert,  und  mit  einem  Wort  bis  in  die 
Gegenwart  hin  der  belebende  Odem  in  Staat  und  Kirche,  Gesell- 
schaft und  Geschichte  Rußlands.  Niemals  lag,  Mie  in  unserer 
Staaten  weit,  dort  eine  Schicht  feudaler  Organisationen  zwischen 


Das  russische  Problem.  555 

dem  Herrscher  und  seinem  Volk.  Die  Kirche  selbst  gipfelt  mit  ihrer 
Organisation  in  der  Person  des  Zaren  und  dem  heiligen  Synod, 
den  sein  persönlicher  Wille  durchdringt.  Mochten  die  Bojaren 
und  ihre  Erben,  die  Spitzen  des  Tschins  und  der  Armee,  den  Thron 
nach  Willkür  und  mit  blutiger  Hand  erledigen  und  besetzen,  in 
der  Idee  waren  sie  dem  Zaren  gegenüber  doch  nur  Knechte,  wie 
die  Masse  des  Volks;  das  Amt  bHeb,  wie  es  war,  und  gerade  die 
Empörer,  ein  Boris  Godunow  und  eine  Katharina,  stellten  es 
um  so  stärker  auf  die  alten  Grundlagen,  faßten  es  um  so  kräftiger 
zusammen,  je  mehr  ihnen  daran  liegen  mußte,  den  Ursprung 
ihrer  Herrschaft  vergessen  zu  machen. 

Als  Peter  der  Große  Rußland  in  den  Kreis  der  europäischen 
Großmächte  einführte,  waren  deren  Monarchen  selbst  im  Begriff, 
ihre  Gewalt  im  Krieg  und  Frieden  fester  zu  begründen,  auf  einer 
nur  ihnen  verpflichteten  Armee  und  Beamtenschaft  neu  aufzu- 
bauen. So  konnte  es  fast  scheinen,  als  ob  ihre  Kronen  eben  jetzt 
in  ihrer  Ent\\dcklung  dorthin  gelangen  sollten,  wo  Rußland  seiner 
Natur  nach  und  von  Anbeginn  seiner  Geschichte  stand;  nichts 
konnte  die  Eingewöhnung  Rußlands  in  Europa,  seine  Assimilie- 
rung an  die  großen  Häuser  besser  fördern;  im  Hof-  und  Staats- 
leben bildeten  sich  analoge  Formen  aus,  und  das  Rußland  Katha- 
rinas und  Alexanders  I.  erschien  fast  als  wesensverwandt  mit 
den  Höfen  Europas.  In  Wahrheit  war  das  nichts  als  eine  Umge- 
staltung der  Oberfläche,  und  im  Innern  blieb  aUes  so  gut  wie 
un  verwandelt. 

Denn  bei  den  westüchen  Nationen  bheb  zunächst  allerorten 
das  korporative  Leben  bestehen,  das  in  den  alten  Jahrhunderten 
ausgebildet  war;  der  Absolutismus  des  17.  und  18.  Jahrhunderts 
erreichte  nichts  als  die  Unterordnung  der  feudalen  Gesellschaft 
unter  seine  Kronen,  nicht  ihre  Vernichtung.  Indem  er  aber  auf 
diesem  Wege  weiterzugehen  suchte,  verband  er  sich  mit  den  mo- 
dernen Ideen,  die  in  den  mittleren  Schichten  unserer  Nationen 
entfaltet  waren  und  auf  die  Zerbrechung  der  privilegierten  Organi- 
sationen hinausgingen.  Aus  ihnen  stammten  die  geistigen  Führer, 
deren  Ideen  die  Monarchen  benutzten,  aus  ihnen  zum  Teil  ihre 
Räte.    So  entwickelten  sie  Tendenzen,  die  erst  in  der  Revolution 


556  Kleine  historische  Schriften. 

zum  vollen  Siege  kamen.  Wenn  in  Frankreich  die  Krone  unter- 
ging, so  geschah  es,  weil  sie  auf  dem  Wege,  den  sie  bereits  be- 
schritten hatte,  einhielt,  weil  sie  nicht  den  Mut,  vielleicht  auch 
nicht  die  Kraft  besaß,  ihn  bis  zu  Ende  zu  gehen:  die  Reformen, 
die  sie  selbst  begonnen,  schlugen  in  Revolution  um;  das  Volk, 
das  von  ihr  gegen  die  Privilegierten  zu  Hilfe  gerufen  war,  wandte 
sich  gegen  beide  und  schritt  über  sie  hinweg. 

Das  Zartuni  hingegen  blieb  bis  an  die  Schwelle  der  Gegen- 
wart immer  mit  den  dumpfen  und  dunklen  Instinkten  des  natio- 
nalen Genius  verbündet.  Wird  also  Zar  Nikolaus  jetzt  den  Forde- 
rungen, welche  die  Revolutionäre  an  ihn  stellen,  nachgeben,  so  wird 
er  sich  von  der  ganzen  Vergangenheit  Rußlands  losreißen,  er  wird 
das  Bekenntnis  und  die  Grundsätze  aller  seiner  Vorfahren  ab- 
schwören müssen. 

Wären  es  nur  die  Fremdkörper  im  Leibe  des  russischen  Staats, 
die  ihn  mit  Zersetzung  bedrohen,  so  wäre  dies  weiter  kein  Wunder: 
es  wäre  die  Rache  für  die  Unterdrückung,  die  gerade  in  den  letzten 
Jahrzehnten,  seitdem  unter  Alexander  III.  das  Zartum  sich  stärker 
als  je  mit  dem  moskowitischen  Geist  verbündet  und  seine  natio- 
nale Grundfarbe  herausgekehrt  hat,  zu  immer  krasseren  Formen 
entwickelt  ward;  sie  würden  sich  der  Tendenz  nach  nationaler 
Gestaltung  des  politischen  Lebens  anschließen,  die  unsere  Epoche 
beherrscht.  Das  Besondere  und  für  den  Gesamtstaat  Gefahr- 
drohende liegt  aber  darin,  daß  mit  den  Polen,  Finnen  und  Ta- 
taren gleichzeitig,  ja  ihnen  voraneilend,  das  Russen volk  selbst 
den   Ruf  nach  Umgestaltung  der   Selbstherrschaft   erhoben  hat. 

Gerade  die  alte  Zarenstadt  Moskau,  das  Zentrum  des  mosko- 
witischen Geistes,  wo  alle  Heiligtümer  des  russischen  Genius  ihre 
Stätten  haben,  von  wo  aus  seit  dem  Zarensohn  Alexei  so  oft  die 
Reaktion  des  Moskowdtertums  eingesetzt  hat,  die  Stadt,  deren 
Flammenmeer  im  Jahre  1812  als  der  gewaltigste  Opferbrand 
dieser  Hingebung  an  das  heilige  Rußland  himmelan  schlug,  ist 
der  Mittelpunkt  der  Bewegung  geworden.  Und  nicht  eine  Klasse, 
wie  das  Bürgertum  in  den  Revolutionen  des  westlichen  Europas, 
ist  der  Träger  der  Bewegung,  sondern  die  ganze  russische  Gesell- 
schaft von  oben  her  bis  imten  hin.    Gerade  die  Tiefen  sind  in  die 


Das  russische  Problem.  557 

Erschütterung  hineingerissen:  die  gleichen  Menschen,  die  noch 
heute  vor  den  Heihgtümern  ihrer  Altäre  inbrünstig  auf  die  Knie 
sinken,  die  bei  der  Krönungsfeier  Alexanders  III.  im  blinden 
Taumel  der  Devotion  sich  zu  Tausenden  erdrücken  ließen,  die 
Bauern  und  die  Arbeiter,  Soldaten  und  Matrosen.  Die  Schürer 
und  Treiber  sind  allemal  die  paar  Prozent  akademisch  Gebildeter, 
die  Schicht,  aus  der  sich  einst  die  Nihilisten  rekrutierten,  vor 
allen  die  Studenten.  Aber  mit  ihnen  vereinigt  sehen  wir  die  Pro- 
fessoren, die  Magistrate  und  die  Semstwos;  an  der  Spitze  der 
langen  Namensreihen  unter  den  Eingaben  und  Manifesten  für  die 
neuen  Freiheiten  stehen  Namen  aus  den  ersten  Familien  des 
Landes:  die  Trubetzkoi,  Tolstoi,  Dolgoruckow,  Korff,  Heyden, 
Familien,  welche  zum  Teil  seit  Jahrhunderten  in  Rußlands  Ge- 
schichte genannt  werden.  Soziale  und  politische  Gegensätze  tiefster 
Art  durchspalten  sie :  aber  gegen  den  Tschin,  gegen  das  alte  Zar- 
tum  und  seine  Traditionen  sind  sie  alle  vereinigt. 

Selbstverwaltung  war  der  Schlachtruf,  mit  dem  auch  Frank- 
reichs Revolutionäre  ihren  Sturmlauf  gegen  die  alte  Monarchie 
begannen;  und  ebenso  rüttelte  unsere  Revolution  an  der  Armee 
und  der  Bureaukratie  unserer  Monarchie,  als  an  den  stärksten 
Säulen  ihrer  Macht.  Aber  mehr  als  alle  die  Schlagworte  von  Volks- 
freiheit und  Bürgerwehr  galt  in  allen  Revolutionen  außerhalb 
Rußlands  der  Gedanke  an  die  Einheit  der  Nation  und  die  Zu- 
sammenfassung ihrer  Macht.  Darum  eben  knüpften  sie  an  Ten- 
denzen an,  denen  die  alten  ]\Ionarchien  von  jeher  mehr  oder 
weniger  gefolgt  waren,  und  bewahrten  die  Tradition. 

So  kam  es,  daß  in  der  großen  Revolution  Frankreichs  die 
nationale  Einheit  und  die  Zentralisation  der  Macht  als  das  End- 
ziel der  Revolution  gewonnen  und  ausgestaltet  wurde ;  daß  Preußen 
in  Deutschland,  Savoyen  in  Italien  die  nationale  Krone  erwarben; 
daß  Bismarck  die  friderizianischen  Überlieferungen  zum  Siege 
führen  konnte.  Die  Bewegung  war  hier  allerorten  zentripetal; 
auch  die  Fremdkörper  wurden,  in  Frankreich  wenigstens,  durch 
die  revolutionäre  Glut  an  den  nationalen  Körper  angeschmiedet. 
In  Rußland  aber  droht  der  revolutionäre  Wirbel  die  Teile,  die 
das   Zartum    zusammengebracht    und   unter    seiner    Gewalt    bei- 


558  Kleine  historische  Schriften. 

einander  gehalten  hat,  wieder  auseinanderzureißen.  Nichts  kann 
den  Gegensatz  gegen  die  Revolutionen  des  romanisch-germani- 
schen Europas  stärker  zum  Ausdruck  bringen:  was  deren  größte 
Kraft  gewesen  ist  und  wohl  als  Rechtfertigung  aller  ihrer  Gewalt- 
taten gilt,  die  Durchsetzung  der  nationalen  Idee  als  des  Lebens- 
nervs im  modernen  Staat  —  in  Moskau  wird  sie  verleugnet. 


Wird  also,  das  ist  die  Frage,  von  der  alles  Weitere,  Rußlands 
ganze  Zukunft  abhängt,  diese  auflösende  Tendenz  sich  fortsetzen, 
oder  werden  die  Kräfte  des  Beharrens  im  Reich  des  Zaren  stark 
genug  sein,  um  die  Bewegung  einzudämmen  und  die  allgemeine 
Zersetzung  zu  hemmen  ? 

Die  Ereignisse  des  verflossenen  Winters  haben  hierauf  bereits 
eine  Antwort  gegeben,  welche  die  im  Herbst  so  hochflutenden 
Hoffnungen  der  Reformer  und  Revolutionäre  arg  enttäuschen 
mußte.  Als  der  Zar  am  30.  Oktober  unter  dem  Druck  des  alles 
lähmenden  Generalausstandes  das  Manifest  erließ,  das  seinem 
Volk  die  bürgerlichen  Freiheiten  verkündigte  und  es  in  die  Reihe 
der  parlamentarischen  Nationen  einzuführen  verhieß,  schien  es 
wirklich  einen  Moment,  als  ob  dies  Blatt  ein  Damm  werden  könnte 
gegen  die  alle  Deiche  zerreißende  Flut  und  eine  Brücke  aus  dem 
Reich  der  Knechtschaft  in  das  gelobte  Land  der  Freiheit.  Wie 
mit  einem  Schlage  legten  sich  die  Wogen.  Jubel  und  Dank  er- 
schollen von  allen  Seiten,  und  Dithyramben  wurden  angestimmt 
auf  den  Mann,  der,  wie  er  soeben  dem  Krieg,  der  nichts  als  Nieder- 
lagen gebracht,  zu  einem  \nder  Verhoffen  günstigen  Abschluß 
verhelfen,  so  jetzt  den  Frieden  des  Herrschers  mit  seinem  Volk 
hergestellt  hatte.  So  die  öffentliche  Meinung,  nicht  bloß  in  St.  Pe- 
tersburg und  Moskau,  sondern,  man  kann  sagen,  überall,  wohin 
der  Telegraph  die  frohe  Mär  trug;  man  \vird  die  Stimmen  zählen 
können,  die  gleich  damals  sie  mit  Mißtrauen  und  Zweifelsucht 
aufnahmen.  Jedoch  keine  acht  Tage  gingen  ins  Land,  als  alle 
Welt  erkennen  mußte,  daß  man  sich  von  einem  gaukelnden  Traum- 
bild hatte  narren  lassen.    Es  war  nur  eine  Pause,  ein  Atemholen 


Das  russische  Problem.  559 

der  Revolution  gewesen,  und  mit  verdoppelter  Kraft  fuhr  alsbald 
die  Windsbraut  durch  alle  Gouvernements  des  Riesenreichs,  von 
Kronstadt  bis  Sewastopol,  von  Lodz  bis  Kasan  und  an  der 
sibirischen  Bahn  entlang  bis  Charbin  und  Wladiwostok.  Als  die 
Mannschaften  in  den  Kasernen  und  auf  den  Kriegsschiffen  meu- 
terten und  der  Regierung  förmliche  Schlachten  heferten,  die  Garde 
und  selbst  die  Kosaken  schwierig  zu  werden  drohten,  als  die  Bauern 
im  Süden  die  Edelhöfe  ausplünderten  und  niederbrannten  und 
in  den  baltischen  Provinzen  Letten  und  Esthen  ihrem  Haß  gegen 
die  deutschen  Herren  alle  Zügel  schießen  Keßen ,  als  der  Aus- 
stand von  neuem  mit  aller  Wucht  einsetzte  und  das  soziale  Leben 
zum  Stillstand  zu  bringen  drohte,  da  schien  es  wieder  aller  Welt, 
als  ob  die  Auflösung  des  Reiches  nur  noch  eine  Frage  von  Wochen 
sein  könnte. 

Nun  aber  ermannte  sich  endlich  die  Regierung.  Sie  setzte 
nicht  mehr  die  Idee  der  Idee  entgegen,  sondern  die  Gewalt  der 
Gewalt.  Und  siehe  da,  was  alle  liberalen  Verheißungen  nicht  ver- 
mocht hatten,  gelang  der  Ultima  ratio  regum.  Vor  ihren  Argu- 
menten verstummten  die  Empörten.  Es  bedurfte  nur  der  Willens- 
kraft und  des  Befehls  von  ein  paar  entschlossenen  Männern,  um 
die  schon  wankenden  Regimenter  wieder  in  die  Hand  ihrer  Führer 
und  gegen  die  Rebellen  vorwärtszubringen.  Der  Kampf  selbst 
tat  das  übrige;  sobald  er  einmal  begonnen,  hatten  die  Truppen 
nur  noch  den  einen  Gedanken,  die  Gegner  gut  zu  treffen  und 
niederzuschlagen . 

Mit  der  Rückgewinnung  der  Macht  aber  ging  —  wie  hätte 
es  anders  sein  können  —  Hand  in  Hand  die  wachsende  Neigung 
der  Regierung,  die  Konzessionen  vom  30.  Oktober  rückwärts  zu 
revidieren.  Wie  weit  Graf  Witte  sich  von  der  reaktionären  Strö- 
mung, die  er  niemals  völlig  überwunden,  hat  treiben  lassen,  und 
wie  weit  er  ihr  überhaupt  hat  widerstreben  wollen,  ist  ganz  dunkel, 
und  es  wird  noch  lange  währen,  bis  wir  über  die  innere  Geschichte 
der  Petersburger  Regierung  in  dieser  großen  Krisis  Aufschluß  er- 
halten werden.  So  viel  steht  fest,  daß  die  Einheithchkeit  der  ober- 
sten Aktion,  die  das  Manifest  des  Zaren  als  erste  PfHcht  und  Er- 
fordernis  bezeichnet  hatte,   kaum  in   dem   Moment   bestand,   in 


r^f;f)  Kleine  historische  Schriften. 

dem  sie  verkündet  wurde,  daß  alle  miteinander,  Zar  und  Minister- 
präsident, Regierung  und  Parteien,  von  den  vulkanischen  Stößen 
hin  und  her  geworfen  worden  sind  und  die  Anarchie  im  Ministerium 
zuzeiten  so  groß  gewesen  ist,  wie  in  den  Massen.  Ein  erster  größerer 
Erfolg  der  Reaktion  war  bereits  Mitte  November  die  Ernennung 
Durnowos  zum  \''erweser  des  Ministeriums  des  Innern,  das  ihm 
dann  im  Januar  unter  ausdrücklicher  Hervorhebung  seiner  aus- 
gezeichneten Verdienste  um  die  Beruhigung  der  Gemüter  direkt 
übertragen  wurde.  Auf  ihn  dürften  daher  die  Beschlüsse  über 
die  Ausführung  des  Manifestes  zurückzuführen  sein,  welche  die  Re- 
gierung faßte,  als  in  den  Weihnachtstagen  der  Aufstand  in  Moskau 
niedergeschlagen,  in  Petersburg  durch  die  Verhaftung  der  Führer 
im  Keim  erstickt  war  und  die  Ausstandsbewegung  in  sich  zu- 
sammensank. 

Vor  allem  die  eigentümliche  Art  der  Einfügung  des  Reichsrats 
in  die  neue  Verfassung.  In  dem  ^Manifest  vom  30.  Oktober  hatte 
davon  nichts  gestanden;  aber  in  dem  vom  19.  August,  das  zuerst 
die  Duma  verhieß,  und  zu  dem  das  Oktoberedikt  die  Ergänzung 
bildete ,  war  allerdings  des  Reichsrats  als  einer  kontrolierenden 
Instanz  für  die  Volksvertretung  gedacht  worden;  und  daß  man 
den  Gedanken  daran  nicht  aufgegeben  hatte,  verriet  eine  Stelle 
in  dem  Bericht,  mit  dem  Graf  Witte  dem  Zaren  das  zweite  Mani- 
fest einreichte,  und  der  gleichzeitig  damit  veröffentlicht  wurde: 
»Vor  allem  sei  es  wichtig,  eine  Reform  des  Reichsrats  auf  dem 
Wahlprinzip  durchzuführen«.  Dieser  Satz  erhielt  nun  aber  durch 
die  »besondere  Kommission«,  die,  aus  Mitgliedern  des  Reichsrats 
selbst  gebildet  und  unter  dem  Vorsitz  seines  Präsidenten,  des 
Grafen  Solskij,  den  Plan  auszuarbeiten  hatte,  eine  Interpretation, 
wie  sie  nach  dem  Manifest  vom  30.  Oktober  nicht  erwartet  werden 
konnte.  Nach  Analogie  und  vielleicht  im  Hinblick  auf  unser 
Herrenhaus  wird  danach  das  russische  Oberhaus  zu  zwei  gleichen 
Hälften  aus  ernannten  und  präsentierten  Mitghedem  bestehen. 
Im  ganzen  nahezu  zweihundert.  Also  im  Verhältnis  zu  anderen 
Parlamenten  eine  sehr  kleine ,  leicht  zu  beherrschende  Ver- 
sammlung. Der  Zar  wird  die  Pairs,  die  er  kreiert,  aus  dem 
alten  Reichsrat  herübemehmen,  d.  h.  aus  den  abgedankten,  aus- 


Das  russische  Problem.  561 

gedienten  Würdenträgern  des  Reichs,  den  alten  Spitzen  des 
Tschin,  die  im  Besitz  ihrer  gut  bezahlten  Sinekuren  immer  nur 
wie  die  Pagoden  ihr  Ja  zu  den  Vorlagen  der  Regierung  genickt 
haben. 

Da  der  Reichsrat  zurzeit  nicht  viel  über  loo  Mitglieder  zählt, 
so  werden  also  die  meisten  dieser  alten  Perücken  in  der  neuen 
Kammer  Aufnahme  finden.  Man  kann  nicht  anders  annehmen, 
als  daß  sie,  wie  bisher,  zumal  da  ihnen  ihre  Gehälter  bleiben, 
in  der  Hand  der  Regierung  stehen  und  jedes  Oppositionsgelüst 
in  der  anderen  Hälfte,  die  schwerlich  ganz  geschlossen  sein  wird, 
überstimmen  werden.  Doch  sind  auch  die  präsentierten  Mit- 
glieder so  zusammengesetzt,  daß  die  konservativen  Elemente  in 
ihnen  überwiegen  müssen.  Es  sind  die  Vertreter  des  Kapitals 
und  der  Bildung,  nach  Handel  und  Industrie,  Wissenschaft  und 
Kirche,  Grundbesitz  und  Adel  in  kleine  Gruppen  geteilt,  deren 
jede  von  ihren  Interessenkreisen  und  Korporationen  zu  küren  ist. 
Auf  neun  Jahre  gewählt,  muß  ein  Drittel  von  ihnen  von  drei  zu 
drei  Jahren  ausscheiden  und  neuen  Mitgliedern  Platz  machen, 
während  die  Ernannten  ihre  Sitze  dauernd  behalten.  Da  auch 
das  Präsidium  vom  Zaren  ernannt  wird  und  die  Majorität  das 
Recht  hat,  die  Wahlen  zu  revidieren,  so  ist  es  ihr  leicht  genug 
gemacht,  die  ungewünschten  Mitglieder  fernzuhalten.  Das  Ganze 
wird  den  ausgesprochenen  Zweck,  als  Regulator  für  einen  über- 
stürzten Gang  der  Reichsduma  zu  dienen,  vortrefflich  erfüllen. 
Mögen  auch  die  gesetzgeberischen  Rechte,  der  Initiative  bei  der 
Einbringung  von  Gesetzen  und  der  Prüfung  und  Sanktion  der 
Regierungsvorlagen,  für  beide  Häuser  gleichmäßig  geordnet  sein, 
so  wird  doch  der  Reichsrat,  dessen  Präsident  die  Beschlüsse  beider 
Körperschaften  dem  Zaren  vorzulegen  hat,  immer  den  Vorrang 
behaupten. 

Zugleich  aber  hat  die  Regierung  dafür  Sorge  getragen,  auch 
die  Zusammensetzung  der  Duma  in  einer  Weise  vorzubereiten, 
die  jede  Besorgnis  vor  einem  Konflikt  *mit  den  Volksrepräsen- 
tanten auszuschließen  geeignet  erscheint.  Nach  dem  Manifest 
vom  30.  Oktober  mußte  man,  so  elastisch  die  Ausdrücke  gewählt 
waren,  dennoch  nicht  nur  annehmen,  daß  schon  die  Wahlen  zur 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  3" 


562  Kleine  historische  Schriften. 

Duma  unter  umfassender  Beteiligung  aller  Klassen  der  Bevölke- 
rung angeordnet,  sondern  daß  unter  Mitwirkung  der  Duma  die 
Durchführung  des  allgemeinen  Wahlrechts  angestrebt  werden 
würde;  optimistische  Gemüter  mochten  schon  so  etwas  wie  die 
Einsetzung  eines  konstituierenden  Reichstags  herauslesen.  Die 
Wahlreglements,  die  seither  publiziert,  und  die  Ausführung,  die 
ihnen  gegeben  wurde,  widersprechen  jedoch  jedem  Interpretations- 
versuch des  freiheitlichen  Manifestes;  sie  kommen  seiner  Ver- 
leugnung gleich.  Die  Arbeiter  und  die  Bauern,  die  kleinen  Be- 
sitzer und  Steuerzahler  werden  durch  dreifache  Abstufung  ihres 
Wahlrechts  in  Urwähler,  Vertrauensleute  und  Wahlmänner  völlig 
eingeengt  und  von  ihren  Brotherren  und  Vorgesetzten  abhängig, 
die  Liberalen  aber,  und  wer  irgend  den  Machthabern  verdächtig 
und  gefährlich  erscheint,  werden  chikaniert,  verhaftet,  verfolgt 
und  auf  jede  Weise  mundtot  gemacht.  Schon  hat,  wie  die  Zeitungen 
melden,  der  Ministerrat  die  Herstellung  der  reaktionären  Institution 
des  alten  Ministerkomitees  beschlossen  und  Verfügungen  gegen 
die  Presse  erlassen,  die  sie  der  Zensur  und  administrativen  Willkür 
aufs  neue  unterwerfen.  AUes  unter  dem  Vorwand,  die  Feinde 
jeder  Ordnung  und  der  Grundgesetze  des  Reichs  niederzuhalten 
und  die  Ausführung  der  im  Manifest  vom  30.  Oktober  gewährten 
Freiheiten  zu  sichern. 

So  die  Lage  von  heute.  Berechtigt  sie  uns  bereits,  die  Ant- 
wort auf  die  Frage  zu  geben,  die  wir  an  die  Spitze  stellten  ?  Ich 
dächte,  die  Schwankungen,  die  wir  in  diesem  Jahr  erlebt  haben, 
dies  Auf  und  Ab  von  Flut  und  Ebbe  der  Rev^olution,  von  Starrsinn 
und  Nachgiebigkeit  der  Regierung  und  dementsprechend  das  Hin- 
und  Herwogen  der  öffentlichen  Meinung  sollten  uns  zur  Vorsicht 
mahnen,  auf  daß  wir  nicht  unter  die  falschen  Propheten  geraten, 
deren  Zahl  Legion  ist.  So  gewiß  es  in  dem  Leben  eines  Volkes 
und  der  Völkerfamilien  durchgehende  Strömungen  gibt,  leitende 
Gedanken,  Notwendigkeiten,  unter  denen,  wie  unter  beherrschenden 
Gestirnen,  ihre  Geschichte  steht,  und  die  in  neuen  Gestaltungen 
doch  immer  wieder  verwandte  Formen  hervorbringen,  so  spielen 
doch  zu  jeder  Zeit  und  an  jedem  Ort  Faktoren,  persönHche  und 
allgemeine,  mit,  die  sich  nicht  in  festen  Ansatz  bringen  lassen; 


Das  russische  Problem.  563 

das  Unberechenbare,  der  Zufall  selbst  ^vird  —  wie  oft!  —  zur 
Ursache,  der  eine  lange  und  abermals  viel  verschlungene  Kette 
weitreichender  Wirkungen  entspricht. 

So  sei  es  denn  nur  noch  gestattet,  an  ein  paar  Beispielen 
auf  die  Schwierigkeiten  hinzuweisen,  die  sich  den  Parteien  der 
Linken  entgegenstellen  werden,  auf  die  Konsequenzen,  die  ihre 
Programme  haben  müssen,  die  Möglichkeiten,  die  im  Schoß  der 
Zukunft  ruhen. 

Von  den  Sozialisten  und  den  Fanatikern  der  Anarchie,  die 
sich  selbst  von  dem  Frieden  ausschließen  und  den  Krieg  mit  Bom- 
ben, Dolch  und  Revolver  und  mit  den  neuerdings  zur  Spezialität 
ausgebildeten  Einbrüchen  in  die  öffentlichen  Kassen  fortführen, 
wollen  wir  absehen;  ihre  Utopien  haben  in  dem  agrarischen  Ruß- 
land noch  weniger  Aussicht  auf  Verwirklichung  als  in  den  Indu- 
striestaaten des  Westens.  Gefährlich  werden  sie  in  den  Momenten 
allgemeiner  Erregung;  dann  füllen  sie  mit  ihrem  Anhang  die  sonst 
leer  gelassenen  Cadres  der  Revolutionsheere  und  sind  die  Vor- 
dersten im  Ausstand  und  auf  den  Barrikaden;  aber  ihre  Waffen 
nützen  am  Ende  mehr  ihren  Gegnern  als  ihnen  selbst:  den  Libe- 
ralen, wenn  es  den  Ansturm  gegen  die  verfallenen  Wälle  des  Ab- 
solutismus gilt,  den  Reaktionären,  wenn  das  Entsetzen  über  den 
Schrecken  und  die  Verwüstung,  die  sie  um  sich  verbreiten,  alle, 
die  für  Besitz  und  Leben  zittern,  den  Gesellschaftsrettern,  den 
Verteidigern  der  Ordnung  zujagt.  Nur  mit  jenen  Richtungen 
wollen  wir  uns  auseinandersetzen,  welche  den  Kampf  auf  dem 
Feld,  das  die  Regierung  selbst  abgesteckt  hat,  innerhalb  der 
Duma,   ausfechten  wollen. 

Prüfen  wir  zunächst  das  Programm,  mit  dem  die  konsti- 
tutionellen Demokraten,  die  »Partei  der  Volksfreiheit«,  wie  sie 
sich  nennen,  auftraten.  Es  enthält  Forderungen,  die  in  West- 
europa gutenteils  verwirklicht  oder  von  den  bürgerlichen  Klassen 
selbst  angestrebt  werden,  wie  die  Einschränkung  der  Arbeits- 
zeit, Altersversicherung,  progressive  Einkommensteuer  u.  a. ;  die 
Partei  lehnt,  wie  demokratisch  ihre  »konstitutionelle  Monarchie« 
gedacht  sein  mag,  ebensowohl  die  Republik  ab  wie  den  Acht- 
stundentag   und    andere    Sätze    des    sozialistischen    Programms. 

36* 


K^ßf^  Kleine  historische  Schriften. 

Nun  aber  stelle  man  sich  auf  dem  Grund  eines  extremen  WahK 
rechtes  eine  Volksvertretung  vor,  in  der  Küssen  und  Polen,  Fin- 
länder,  Deutschbalten  und  die  lettischen  Mordbrenner,  Armenier, 
Grusiner  und  Tataren,  Orthodoxe  und  Katholiken,  Protestanten 
und  Mohammedaner  und  die  Häupter  der  Sekten,  die  das  Toleranz- 
edikt vom  vorigen  Jahr  befreit  hat,  vereinigt  sind:  die  Feind- 
seligkeiten, die  das  Reich  seit  einem  Jahr  durchwühlen  und  mit 
Mord  und  Schrecken  erfüllen,  würden  in  den  Sitzungssaal  ver- 
pflanzt werden,  die  Parteien  sich  danach  bilden;  wie  Brandfackeln 
würden  die  Reden  wirken,  tausend  neue  Keime  der  Zerstörung 
in  das  Land  hinausgetragen  werden.  Wir  haben  es  an  unserm 
eigenen  Leib  erfahren,  was  das  allgemeine,  direkte  und  geheime 
Wahlrecht  ohne  Unterschied  der  Religion  und  der  Nationalität 
vermag.  Niemand  ahnte,  als  wir  es  einführten,  seine  Wirkung. 
Bismarck  griff  zu  ihm  als  dem,  wie  er  wähnte,  besten  Mittel,  um 
die  Kleinstaaten  an  die  neue  Ordnung  zu  schmieden;  denn  er 
glaubte,  der  Wille  der  Nation  zur  Einheit  käme  dadurch  am 
stärksten  zum  Ausdruck.  Aber  die  Ironie  der  Geschichte,  die  »List 
des  Weltgeistes«,  wollte  es,  daß  ein  Stimmrecht,  welches  weder 
Nationalität  noch  Konfession  berücksichtigte  und  nicht  einmal 
die  Todfeinde  des  neuen  Reiches  ausschloß,  die  Kraft  werden 
sollte,  um  alle  Elemente  der  Zersetzung  und  alle  Residuen  der 
nationalen  ZerspHtterung  an  das  Licht  zu  bringen  und  Parteien  zu 
formen,  welche  selbst  Bismarcks  Macht  und  Staatskunst  nicht 
zerbrechen  konnte.  Nur  die  größte  Homogenität  und  der  stärkste 
Trieb  zu  nationaler  Zusammenschließung  können  so  demokra- 
tische Institutionen,  wie  jene  Partei  sie  für  Rußland  anstrebt, 
ertragen  und  sie  dem  nationalen  Genius  assimilieren;  seit  vierzig 
Jahren  arbeiten  wir  daran,  unsere  Parteien  trotz  des  allgemeinen 
Stimmrechts  der  nationalen  Idee  zu  unterwerfen.  Nur  wenn  die 
Revolution,  wie  ihre  Anhänger  ja  in  der  Tat  wollen,  dahin  ge- 
langt, den  Teilen  des  Reiches,  welche  die  Moskowiter  unter  Führung 
ihrer  Zaren  in  Kämpfen  von  Jahrhunderten  unterworfen  haben, 
die  Autonomie  zu  lassen,  die  sie  tatsächlich  bereits  geschaffen 
hat  und  die  Unterworfenen  zu  behaupten  entschlossen  sind, 
nur   dann   läßt   sich   die   Möglichkeit   einer  nationalen  russischen 


Das  russische  Problem.  565 

Demokratie  wenigstens  denken.  Also  müßte  die  Duma,  welche 
zur  Reorganisation  des  Reiches  berufen  ist,  zuallererst  seine 
Zerspaltung  dekretieren  und  den  Staat  der  absolutistischen  Einheit 
in  eine  Föderation  von  Demokratien  verwandeln. 

Eine  Frage  vor  allem  wird  sie  beschäftigen:  Wie  wird  das 
Verhältnis  zwischen  Russen  und  Polen  sich  gestalten  ?  Und  dies 
könnte  vielleicht  der  Brennpunkt  werden  in  der  Entwicklung  der 
Revolution  überhaupt.  Seit  iio  Jahren  gehört  Polen  mit  seinen 
Haupt  Provinzen  zu  Rußland.  Jahrhundertelang  war  es  vordem 
sein  Feind  gewesen  und  Generationen  hindurch  sein  Herr  und 
Besieger;  selbst  Moskaus  Heihgtümer  waren  eine  Zeitlang  in  seine 
Gewalt  geraten.  Im  Kampf  gegen  Polen,  mehr  noch  als  gegen 
die  Heiden  und  die  Söhne  Allahs,  hatte  die  russische  Nation  Kraft 
und  Selbstbewußtsein  gewonnen,  im  vollen  Gegensatz  dazu  Staat 
und  Kirche  entwickelt;  gerade  die  Stärke  und  Einigkeit  beider 
Institutionen  hatten  den  Sieg  Rußlands  über  das  zerfallende 
Nachbarreich  herbeigeführt. 

Und  jetzt  soll  das  alles  wieder  zertrennt  und  aufgelöst 
werden. 

Man  sagt  wohl,  daß  die  wirtschaftliche  Entwicklung  Polens 
ein  neues,  festes  Band  zwischen  ihm  und  Rußland  bilden  werde; 
die  polnische  Industrie  bedürfe  des  russischen  Agrarstaats,  der 
seinerseits  von  ihr  abhängig  sei.  Und  ein  gewisses  Moment  der 
Festigung  mag  darin  gefunden  werden.  Aber  stärker  als  alle 
wirtschaftlichen  Faktoren  waren  jederzeit  die  politischen  Grund- 
fragen: der  Aufbau  der  Nationen,  ihrer  Staaten,  ihrer  Kirche, 
ihrer  Gesellschaft  —  ihre  Traditionen  und  ihre  Ideale.  Und  wenn 
die  Polen  heute  so  geduldig  und  einträchtig  auf  die  Losung  harren, 
die  bald  in  Moskau  gegeben  werden  wird,  und  die  russischen  Libe- 
ralen ihrerseits  so  konnivent  gegen  die  polnischen  Wünsche  sind, 
so  sind  es  die  politischen  Interessen,  die  beide  bestimmen:  gegen 
den  Zarismus  sind  sie  Verbündete. 

In  Petersburg  aber  werden  sie  keine  Unterstützung  finden. 
Die  Einheit,  so  sahen  wir,  die  Aufrechterhaltung  der  Grund- 
gesetze des  Reiches  hatte  die  Regierung  auch  in  ihren  freiheit- 
lichen Manifesten  stets  als  das  Ziel  ihrer  Poütik  bezeichnet.   Keinen 


5(5G  Kleine  historische  Schriften. 

Moment  ist  sie  darin  anderen  Sinnes  geworden.  Auch  Witte  hat 
darin,  soweit  wir  sehen,  niemals  geschwankt.  Zum  erstenmal 
trat  er  der  Bewegung  offen  entgegen,  als  im  November  der  Semstwo- 
kongreß  in  Moskau  ein  autonomes  Polen  gefordert  hatte.  In 
schroffster  Form  beantwortete  der  Ministerpräsident  die  Er- 
klärung dahin,  daß  der  Zar  niemals  in  die  Absonderung  der 
»W^eichselgouvernements«  einwilligen  werde. 

Nicht  immer  ist  die  zarische  Regierung  so  unfreundlich  gegen 
die  Herren  in  Warschau  gewesen.  Unter  dem  ersten  wie  unter 
dem  zweiten  Alexander  gab  es  Zeiten  und  Strömungen  in  der 
russischen  Politik,  die  alle  Hoffnungen  in  den  polnischen  Herzen 
entzündeten;  und  noch  heute  leben  in  der  Umgebung  des  Zaren 
Personen,  welche  einst  in  der  Versöhnung  der  beiden  Nationen, 
in  der  Pflege  der  panslawistischen  Idee  ihre  Aufgabe  erblickten. 
Heute  sind  die  russischen  Liberalen  ihre  Erben  und  Moskau  der 
Mittelpunkt  ihres  Kultus  geworden. 

Es  liegt  in  dieser  Politik  ein  Moment  der  Gefahr  für  den 
Frieden  Europas:  die  auflösende  Tendenz,  die  im  Innern  wühlt, 
sucht  über  die  Grenzen  hinwegzudringen,  um  dort  Bundesgenossen 
zu  werben.  Aber  Aussicht  haben  diese  Bestrebungen  nicht.  Zu 
stark  sind  die  Mächte,  auf  die  sie  hier  stoßen;  und  vor  allem  die 
Regierung  in  St.  Petersburg  wird  alle  Kraft  dransetzen,  sie  nieder- 
zuhalten. Denn  sie  würde  sonst  bei  den  Nachbarmächten  allen 
Kredit  verheren;  und  den  Kredit  im  Ausland  aufrechtzuerhalten, 
muß  ihr  erstes  Anliegen  bleiben.  Darin  läge  also  bereits  eine  Rück- 
wendung zu  dem  alten  Verhältnis  der  drei  Kaisermächte  gegenüber 
der  Revolution:  ihre  Interessen  werden  sie  wieder  zueinander 
führen.  Sie  sind  heute  vielleicht  bereits  der  stärkste  der  Reifen,  die 
noch  das  mit  Zerfall  bedrohte  Reich  des  Zaren  zusammenhalten; 
und  gelegentliche  Schwankungen  und  Demonstrationen  der  Peters- 
burger Regierung  für  ihre  französischen  Freunde,  wie  taktlos  sie 
gegen  uns  sein  mögen,  werden  daran  zunächst  wenig  ändern. 

Sollen  wir  aber  annehmen,  daß  in  dem  Russentum  die  heißen 
Instinkte  ganz  ausgetilgt  sind,  die  es  einst  zur  Abstoßung  des 
fremden  Joches  und  danach  zur  Unterjochung  der  Fremdvölker 
führten,  die  es  um  den  Zaren  scharten  und  einem  bis  zum  Krieg 


Das  russische  Problem.  567 

mit  Japan  nie  gezügelten  Drang  nach  Ausbreitung  der  russischen 
Macht  unterwarfen  ?  Wenn  die  Bauernschaft  ganzer  Gouverne- 
ments sich  in  walder  Jacquerie  erhoben  hat,  so  erinnern  wir  uns 
daran,  daß  auch  in  Frankreich  im  Juh  1789  viele  Schlösser  des 
Adels  in  Flammen  aufgingen  und  ihre  Archive  von  den  wütenden 
Untertanen  zerrissen  wurden  —  was  aber  nicht  verhinderte,  daß 
vier  Jahre  später  Bauern  und  Edelleute  für  die  alten  Altäre  und 
den  alten  Staat  gegen  die  Revolution  auf  Tod  und  Leben  kämpften. 
Sollte  wirklich  die  Kirche  Rußlands  so  bar  alles  eigenen  Lebens 
geworden  sein,  daß  sie  das  Schicksal,  das  ihrer  von  selten  der 
Liberalen  harrt,  aus  allem  Einfluß  auf  das  Leben  der  Nation  ver- 
drängt zu  werden,  willen-  und  widerstandslos  über  sich  ergehen 
lassen  wird?  Hat  sie  die  Herrschaft  über  die  Massen  so  völlig 
verloren,  daß  diese  keinen  Finger  rühren  werden,  um  ihrem 
»Mütterchen«  beizustehen  ?  Man  spricht  so  oft  von  der  Erstarrung, 
dem  geistigen  Tode,  dem  die  orthodoxe  Kirche  seit  Jahrhunderten 
verfallen  sei.  Und  freilich  kann  sie  sich  an  Kraft  der  Propaganda 
mit  ihrer  katholischen  Schwester  nicht  messen.  Aber  ihre  De- 
fensivkraft ist  wahrlich  nicht  gering  gewesen;  sie  war  die  unzer- 
brechliche Schale,  in  der  sich  die  christlichen  Nationalitäten  des 
Ostens  unter  dem  vernichtenden  Ansturm  und  der  Herrschaft 
der  Asiaten  durch  mehr  als  ein  Jahrtausend  erhalten  haben.  Und 
diese  Kirche,  zu  der  die  Millionen  schwören,  die  einzige  Form 
für  ihre  Ideale,  mit  den  Hunderttausenden  ihrer  Geweihten,  sollte 
am  Ende  ihrer  Geschichte  angelangt  sein  ?  Daß  die  altmosko- 
witischen  Triebe  in  der  Masse  noch  nicht  erstorben  sind,  zeigen  die 
Judenmassakres,  die  sich  gerade  jetzt  zu  erneuern  drohen,  und 
die  Proklamationen,  die,  hier  und  da  ins  Volk  geworfen,  zur  Aus- 
tilgung der  Juden,  der  Polen,  der  Armenier  und  des  »andern  Unrats« 
aufrufen,  im  Namen  aller  Heihgen  Rußlands  und  seiner  Kirche. 
Auch  melden  alle  Berichte  von  den  Wahlen  einstimmig  eine  allge- 
meine Apathie  gegen  die  Fragen,  die  über  das  Schicksal  des  Reiches 
entscheiden  sollen;  die  Furcht  vor  der  Reaktion  wird  dabei  gewiß 
nur  von  geringem  Einfluß  sein.  f^ 

Man  könnte  sich  sehr  wohl  eine  reaktionäre  Bewegung  selbst 
in  dem  Falle  denken,  daß  zunächst  alle  Wünsche  der  Liberalen 


563  Kleine  historische  Schriften. 

erfüllt  und  die  konstitutionellen  Demokraten  selbst  die  Leitung 
des  Staates  in  die  Hand  bekämen:  wenn  nämlich  die  Geister, 
die  sie  riefen,  ihrer  selbst  mächtig  würden  und  die  entfesselten 
Kräfte  Wege  einschlügen,  die  fernab  von  ihren  unrussischen  Idealen 
verliefen.  Zunächst  aber  scheint  es  noch  gar  nicht  so,  als  ob  die 
Stunde  der  Liberalen  gekommen  sei.  Die  Wahlen  zur  Duam 
könnten,  soweit  man  sie  übersieht,  schon  jetzt  zu  einer  reaktionären 
oder  doch  der  Regierung  folgsamen,  ihren  »Reformen«  geneigten 
Majorität  führen.  Das  Liebäugeln  der  Fortschrittler  mit  den 
Arbeitern  wird  ihnen  nicht  viel  helfen;  den  Bauern  gegenüber 
wird  ihnen  aber  vielleicht  die  Regierung  selbst  die  besten  Trümpfe 
wegzunehmen  versuchen;  und  noch  ist  die  für  diesen  Frühling 
allseitig  prophezeite  Bauernrevolution  nicht  zum  Ausbruch  ge- 
kommen. 

Jedoch  ich  halte  inne.  Denn  wir  würden  bei  weiterer  Er- 
örterung aller  Probleme,  die  sich  dem  Beschauer  aufdrängen, 
Gefahr  laufen,  uns  doch  wieder  in  Vermutungen  und  Prophe- 
zeiungen zu  verlieren.  Und  nur  unter  ein  paar  Gesichtspunkten 
wollten  wir  die  große  Bewegung  betrachten,  welche  die  Welt  in 
Spannung  hält.  Bald  genug  wird  die  Bühne  frei  sein,  auf  der  sich 
die  Parteien  gruppieren  und  das  Spiel  beginnen  werden ;  schon  will 
sich  der  Vorhang  heben.  Dann  wird  es  vielleicht  Zeit  sein  zu 
fragen,  ob  ihre  Debatten  nur  ein  Epilog,  der  Abgesang  der  wilden 
Töne  sind,  die  in  diesem  Jahr  aus  Rußland  herüberschollen,  oder 
ob  das  alles  nur  ein  Vorspiel  war  zu  dem  eigentlichen  Schauspiel, 
ja  vielleicht  zu  einem  ganzen  Zyklus  von  Tragödien. 


m^=^^^ 


Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren 
und  jetzt. 

(1896.) 

Wir  leben  in  einem  Zeitalter,  das  man  nicht  eben  als  ein  behag- 
liches zu  betrachten  pflegt,  noch  auch  so  betrachten  kann.  Un- 
zufriedenheit mit  der  Gegenwart,  Mißtrauen  in  die  Zukunft  ist 
die  Losung :  die  Orthodoxen  so  gut  wie  die  Liberalen  und  die  Gleich- 
gültigen, die  Verteidiger  der  Monarchie  und  der  kapitahstischen 
Ordnung,  ebenso  wie  die  Sozialdemokraten  und  die  Anarchisten, 
wie  wirr  auch  immer  ihre  Klagen  und  Anklagen  durcheinander 
tönen  mögen,  darin  stimmen  sie  doch  überein,  daß  es  keine  Zeit 
gab  so  voll  von  Verwirrung  und  Zersetzung  wie  die  von  heute. 
Alltäglich  liest  und  hört  man  es,  daß  eine  Revolution  vor  der 
Tür  stehe,  eine  Umwälzung  nicht  bloß  des  Staates,  sondern  der 
Gesellschaft  und  der  Nationen,  aller  Lebensgewohnheiten,  eine 
Umschmelzung  aller  überlieferten  Vorstellungen  von  Recht  und 
Sitte,  der  moralischen  und  der  religiösen  Begriffe;  eine  neue  Re- 
ligion prophezeien  die  einen,  den  baldigen  Sieg  der  atheistischen 
und  materialistischen  Weltanschauung  die  andern,  während 
die  Anhänger  des  alten  Glaubens  nur  um  so  starrer  auf  allen  Sätzen 
und  Ansprüchen  ihrer  Kirche  stehen  bleiben,  je  höllengleicher 
auch  sie  die  Zukunft,  Feind  und  Freund  gegenüber,  auszumalen 
lieben. 

Um  so  seltsamer  berührt  diese  Fin-de-siecle- Stimmung, 
je  mehr  wir  uns  kultureller  Errungenschaften  rühmen  können, 
je  größer  die  Güter,  je  stärker  der  Staat,  je  reger  der  Anteil  der 
Massen  am  poHtischen  Leben  und  je  besser  ihie  soziale  Lage  ge- 


570  Kleine  historische  Schriften. 

worden  ist  —  und  welches  Jahrhundert  könnte  sich  in  alledem 
mit  dem  der  Naturwissenschaften  und  des  allgemeinen  Stimm- 
rechtes messen!  Aber  wenn  zum  Glück  vor  allem  Zufriedenheit 
und  Behagen  gehören,  so  haben  alle  Reichtümer  und  Rechte 
es  nicht  herbeibringen  können ;  sie  haben  uns  nur  den  alten  Frieden 
genommen  und  machen  uns  täglich  nervöser. 

Wohl  ist  oft  genug  gesagt  worden,  und  nicht  mit  Unrecht, 
daß  solche  Klagen  uralt  seien ;  und  noch  vor  kurzem  hat  ein  geist- 
reicher Opponent  gegen  den  landläufigen  Pessimismus  Zeug- 
nisse aus  allen  Generationen  vereinigt,  von  den  jammernden 
Leitartikeln  der  Kreuz-Zeitung  bis  zurück  zu  dem  seligen  Nestor, 
der  mit  seinen  und  seiner  Jugendfreunde  Heldentaten  vor  Ajax 
und  Achilles  zu  renommieren  pflegte,  zum  Beweise,  daß  die  »gute 
alte  Zeit«  jeder  Gegenwart  als  das  entsch^^alndene  Ideal  vor- 
geschwebt habe.  Immerhin  aber  läßt  sich  doch  kaum  leugnen, 
daß  es  Generationen  gab,  welche  vergnüglicher  über  sich  und 
ihre  Zukunft  dachten  als  wir,  und  die  in  dem  behaglichen  Be- 
wußtsein lebten,  daß  die  Vergangenheit  überwunden  und  das  Leben 
lebens-  und  liebenswert  sei,  daß  die  Gesellschaft  wohl  geordnet 
oder  doch  leicht  zu  wandeln  sei,  daß  also  Gegenwart  und  Zu- 
kunft in  ihrer  Hand  ruhten.  Und  wir  brauchen  nicht  weit  in  die 
Vergangenheit  zurückzugehen,  um  eine  solche  Zeit  zu  finden; 
sie  liegt  nicht  viel  über  hundert  Jahre  hinter  uns.  Wohl  gab  es 
auch  damals  Unzufriedene  genug,  Stürmer  und  Dränger,  ge- 
scheiterte Existenzen  und  revolutionäre  Geister,  ein  Gären  und 
Brausen  in  den  Gemütern,  wie  immer  in  hoch  bewegten  Zeiten: 
aber  im  ganzen  und  vor  allem  gegen  den  heutigen  Tag  gehalten, 
ging  es  doch  wie  Frühlingsahnen  durch  die  Welt.  Ein  Geschlecht 
war  es,  voll  von  Selbstgefallen  und  Optimismus,  eine  Epoche  idea- 
Hstischen  Aufwärtsstrebens,  einer  Annäherung  zwischen  den 
Gebildeten  aller  Nationen  und  Bekenntnisse,  also  daß  die  allen 
Religionen  gemeinsamen  Beziehungen  aufgesucht,  die  Differenzen 
verwischt,  die  Eigentümlichkeiten  einer  jeden  verachtet  und 
Ideale  gefunden  wurden,  welche  über  Zeiten  und  Nationen  hinaus- 
reichten. Das  Zeitalter  war  es  der  »goldenen  Humanität«,  des 
Weltbürgertums,    einer    Philosophie,    welche    kühnen    Mutes    die 


Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren  und  jetzt.  571 

Tiefen  der  Erkenntnis  für  die  menschliche  Vernunft  erreichbar 
glaubte,  und  einer  Theologie,  welche  im  brüderlichen  Vertrauen 
zu  den  Philosophen  die  Geheimnisse  Gottes,  unbeengt  durch  die 
Mysterien  des  Bekenntnisses,  mit  der  Kraft  ihrer  Spekulation 
entschleiern  zu  können  wähnte.  Mit  einem  Gemisch  von  Wohl- 
wollen und  Verachtung  sahen  die  Gebildeten  jener  Tage,  die  ihren 
Gottesbegriff  aller  dogmatischen  Färbung  und  Bestimmtheit 
entkleidet  und  ihn  mit  ihren  Idealen  der  Milde  und  Weisheit, 
Gesetzlichkeit  und  Vernunft  ausgestattet  hatten,  auf  die  Refor- 
matoren des  i6.  Jahrhunderts  herab.  Daß  Luther  und  Calvin 
eine  »Glaubensverbesserung«  bewirkt  und  der  vernünftigen  Gottes- 
verehrung den  Weg  gebahnt  hätten,  räumten  auch  wohl  Katho- 
liken, Geistliche  wie  Laien,  gern  ein;  aber  ebenso  sehr  betonten 
die  Protestanten,  daß  man  jetzt  über  die  alten  Differenzen,  über 
den  Zank  der  Konfessionen  und  Sekten  hinaus  sei,  daß  nur  Priester- 
trug, Aberglaube  und  Fanatismus  sinnlose  und  grausame  Kriege 
erweckt  und  mit  dem  Glücke  der  Völker  gespielt  hätten:  und  von 
beiden  Seiten  gab  man  sich  das  Wort,  daß  die  Welt  von  nun  ab 
davon  verschont  bleiben,  das  Zeitalter  der  Vernunft,  des  all- 
gemeinen Friedens  und  der  Duldung  heraufgeführt  werden  solle. 
Alle  unsere  Klassiker  sind  die  Propheten  und  Prediger  dieser 
Weltanschauung  gewesen,  und  niemand  hat  das  Lob  seiner  Zeit 
begeisterter  verkündet  als  der  edelste  ihrer  Söhne,  er,  dem  Urania 
die  höchste  Muse  war,  Schiller,  in  der  unsterblichen  Strophe  seines 
Liedes  an  die  Künstler,  da  er  den  Menschen  preist,  der  mit  dem 
Palmenzweige  in  edler,  stolzer  Männlichkeit  an  des  Jahrhunderts 
Neige  stehe: 

Mit  aufgeschloss'nem  Sinn,  mit  Geistesfülle, 

Voll  milden  Ernsts,  in  tatenreicher  Stille, 

Der  reifste  Sohn  der  Zeit, 

Frei  durch  Vernunft,  stark  durch  Gesetze, 

Durch  Sanftmut  groß  und  reich  durch  Schätze, 

Die  lange  Zeit  dein  Busen  dir  verschwieg; 

Herr  der  Natur,  die  deine  Fesseln  liebet, 

Die  deine  Kraft  in  tausend  Kämpfen  übet 

Und  prangend  unter  dir  aus  der  Verwild'rung  stieg. 


572  Kleine  historische  Schriften. 

Schiller  schrieb  diese  Verse  1788;  sie  erschienen  im  »Deutschen 
Merkur«  von  1789,  dem  Jahre  der  französischen  Revolution. 

Dies  Ereignis  bedeutete  aber  der  Zeit  nicht  den  Bruch  mit  ihren 
Idealen,  sondern  vielmehr  deren  Vollendung.  Heute  hält  es  schwer, 
sich  die  Stimmung  des  Entzückens  und  des  Jubels  zurückzurufen, 
mit  der  das  gebildete  Europa  die  Reden  und  Gesetze  begrüßt 
hat,  die,  in  den  Boden  des  alten  Frankreichs  gesenkt,  Saaten 
des  Blutes  und  Entsetzens  werden  sollten.  Wer  konnte  fried- 
fertiger und  humaner  gesinnt  sein  als  Joachim  Heinrich  Campe, 
der  ehrsamste  aller  deutschen  Philister?  Als  er  von  den  Vor- 
gängen in  Paris  und  Versailles  vernahm,  litt  es  ihn  nicht  in  seinem 
braunschweigischen  »Vaterlande«.  Er  eilte  hin  zur  Seine,  um  den 
rührenden  Sieg  der  Menschheit  »über  den  Despotismus  anzusehen 
und  ihn  feiern  zu  helfen«.  Schon  in  Aachen  hörte  er,  daß  ganz 
Paris  unter  den  Waffen  und  die  Bastille  erobert  sei.  Er  hätte 
keiner  Fliege  ein  Leids  antun  mögen:  aber  die  Nachricht  von 
den  Bluttaten,  welche  der  feige  und  mordgierige  Pöbel  von  Paris 
an  Foulon  und  Flesselles  und  an  den  Invaliden  de  Launays  be- 
gangen hatte,  machte  auf  den  empfindsamen  Deutschen  so  wenig 
Eindruck  wie  auf  Barnave  und  Robespierre.  »Die  Köpfe  der  aristo- 
kratischen Tyrannen,«  schreibt  er  an  seine  Tochter,  die  »liebe 
Lotte«,  »sollen  wie  Mohnköpfe  fliegen  und  die  könighchen  Truppen 
das  Hasenpanier  ergriffen  haben.  Freue  dich,  liebe  Lotte;  vier- 
undzwanzig Millionen  Sklaven  werden  das  Joch  der  Unterdrückung 
mutig  abschütteln  und  aus  gemißhandelten  Lasttieren  Menschen 
werden,  Wohl  uns,  daß  wir  diese  große  Weltbegebenheit  erlebt 
haben!«  Diese  Stimmung  verläßt  ihn  nicht,  nachdem  er  am  Schau- 
platz der  Revolution  angekommen  und  Zeuge  der  Debatten  über 
die  Menschenrechte,  der  Beschlüsse  in  der  Nacht  des  4.  August 
geworden  ist.  Er  bemerkt  gar  nicht,  wie  die  Zerstörung  täg- 
hch  neue  Trümmer  schafft  und  die  Nation  schon  von  den 
Schauem  der  Anarchie  geschüttelt  wird:  bhnd  wie  alle  andern 
taumelt  er  in  dem  allgemeinen  Entzücken  über  die  neue  Weltära 
dahin. 

Er  selbst  und  sein  Reisegefährte  —  kein  Geringerer  als  Wil- 
helm von  Humboldt  —  haben  an  ihrer  Überzeugung  von  dem 


Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren  und  jetzt.  fi7.'^ 

Segen  der  Revolution  auch  dann  noch  festgehalten,  als  ihr  zer- 
störender Lauf  längst  die  deutschen  Grenzen  überschritten  hatte. 
Aber  im  allgemeinen  veränderte  sich  das  Urteil  der  Zeitgenossen 
in  dem  letzten  Jahrzehnt  des  Jahrhunderts  vor  den  sich  häufen- 
den Greueln  von  Grund  aus.  Männer  wie  Hallet  du  Pan  und  Burke, 
Gentz  und  Joseph  de  Maistre,  die  zum  Teil  selbst  den  Anfängen 
mit  Sympathie  gegenübergestanden  hatten,  wurden  jetzt  die 
Wortführer  der  Reaktion;  und  je  weiter  die  Erschütterung  um 
sich  griff,  je  mehr  die  humanitären  Ideen  sich  ins  Gegenteil  ver- 
kehrten, um  so  grimmiger  ward  der  Haß,  um  so  schroffer  das 
Urteil  über  die  Männer  wie  über  die  Prinzipien  der  Revolution. 
Nichts  hat  den  Geist  der  Romantik,  die  Verehrung  für  die  hier- 
archischen Jahrhunderte  mächtiger  gefördert  als  der  Schiffbruch, 
den  die  Ideen  der  Aufklärung  in  Frankreich  erlitten,  und  der  Sieg, 
den  die  mit  aUen  Schrecken  der  Verfolgung  heimgesuchte  katho- 
lische Kirche  davontrug:  man  darf  es  aussprechen,  daß  erst  aus 
diesem  politischen  Rückschlag  jene  Umprägung  der  Weltanschau- 
ung, der  tiefste  Einschnitt  in  der  modernen  Geistesentwicklung, 
sichtbar  bis  heute  auf  allen  Gebieten  der  Kultur,  zu  erklären  ist. 
Doch  waren  damals  ihre  Anhänger,  in  unserm  Vaterland  wenigstens, 
weder  imstande  noch  auch  gewillt,  die  erhabenen  Ideale  der  älteren 
Periode,  deren  Heroen  noch  in  voller  Kraft  standen,  ganz  zu  ver- 
leugnen; vielmehr  das  Sichberühren,  ja  Sichdurchdringen  beider 
Geistesrichtungen  gibt  den  nächsten  Jahrzehnten  ihre  Signatur. 
Es  war  die  Zeit,  da  Europa  unter  dem  Gestirn  Napoleons  stand, 
der  die  Revolution  zugleich  bändigte  und  vollendete,  sie  über 
Europa  dahintrug,  der  sich  mit  der  Kirche  aussöhnte,  ohne  sich 
ihr  zu  unterwerfen,  und  den  Bund  mit  den  legitimen  Mächten 
erstrebte,  ohne  den  Boden,  auf  dem  er  emporgekommen  war, 
zu  verlassen.  Seitdem  gewannen  die  Stimmen  für  die  Revo- 
lution in  und  außerhalb  Frankreichs,  überall  wohin  die  Macht 
des  Welteroberers  gereicht  hatte,  und  darüber  hinaus  auf  den 
andern  Kontinenten  wieder  Raum,  und  haben  sich  bis  heute 
behauptet;  in  ihrem  Charakter  und  in  ihren  Wirkungen  ist 
die  große  Revolution  das  Gespräch  des  Jahrhunderts  geblieben; 
der  Einfluß  ist  nicht  auszudenken,  den  die  Forschung  und  das 


(^"74  Kleine  historische  Schriften. 

wechselnde  Urteil  über  sie  auf  die  Meinungen  und  das  politische 
Leben  dieser  drei  Generationen  gehabt  haben. 

So  offenkundig  es  nun  sein  mag,  daß  die  staatlichen  Formen, 
die  wir  seit  1848,  wenn  nicht  seit  Montgelas  und  Stein-Harden- 
berg, uns  gegeben  haben,  unter  dem  Einfluß  der  Ideen  von  1789 
stehen,  ist  das  Urteil  unserer  Historiker  über  die  Revolution  den- 
noch mit  der  Zeit  immer  ungünstiger  geworden.  Es  hat  nichts 
genützt,  daß  sich  die  liberalen  Ideen  tief  und  tiefer  in  unser  Staats- 
leben eingruben,  und  daß  wir  nach  dem  Vorgange  Frankreichs 
unsern  nationalen  Staat  ausgebaut  haben:  nur  um  so  herber  hat 
sich  das  Urteil  über  unsere  Nachbarn  gestaltet.  Denn  ihre  Er- 
hebung hatte  die  Zertrümmerung  unseres  alten  Reiches  und  die 
Knechtung  unseres  Volkes  herbeigeführt,  und  wir  mußten  erst 
unsere  Fesseln  abschütteln,  um  den  Boden  zu  gewinnen,  auf  dem 
sich  die  Nation  nach  den  in  ihr  lebenden  Trieben  konsolidieren 
konnte.  Ganz  einsam  stand  Ranke,  der  ohne  Haß  und  ohne  Liebe 
das  größte  Ereignis  der  neueren  Geschichte  in  seiner  Wesenheit 
zu  begreifen  suchte  und  ihm  seine  Stellung  in  dem  Weltzusammen- 
hange anwies.  Sonst  haben  seit  Niebuhr  gerade  die  großen  deut- 
schen Historiker,  die  Schöpfer  der  monumentalen  Werke  über 
das  Zeitalter  der  Revolution,  ein  Häusser,  Sybel,  Treitschke, 
gewetteifert,  die  Torheiten  und  Barbareien,  die  Eroberungsgier 
und  tausendfachen  Rechtsverletzungen  der  Revolutionäre  und 
des  Imperators,  des  »Korsen«,  zu  geißeln;  diese  Kritik  und  das 
Nationalgefühl,  das  sich  in  ihr  genug  tat,  ist  der  belebende  Odem 
ihrer  Schilderungen  geworden  —  ein  Stück  des  Kampfes  um  die 
Einheit  der  Nation,  in  dem  sie  zu  den  Wortführern  gehörten. 
Noch  heute  steht  das  historische  Urteil  in  Deutschland  unter 
ihrem  Einfluß.  In  allen  Schulen,  und  so  auch  noch  an  den  Uni- 
versitäten, ^^•ird  man  ihre  Auffassung  vernehmen,  sowie  sie  uns 
aus  tausend  Zeitungsartikeln,  auch  der  liberalen  Richtung,  ent- 
gegenzutönen  pflegt.  Und  wenn  einmal  von  oben  her  das  Stu- 
dium der  Revolution  empfohlen  wird,  so  geschieht  es  nur  in  der 
Meinung,  daß  wir  die  IMächte  des  Unheils  und  der  Zerstörung 
daraus  kennen  lernen  und  uns  um  so  fester  um  Monarchie  und 
Autorität  scharen  sollen. 


Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren   und  jetzt.  575 

Sehr  viel  wechselnder  als  bei  uns  ist  von  jeher  die  Auffassung 
der  Franzosen  selbst  gewesen:  jede  Phase  ihrer  Entwicklung 
seit  1789  spiegelt  sich  in  ihrer  historischen  Literatur  ab.  Heute 
ist  es  jenseits  der  Vogesen  politisch  korrekt,  sich  zur  Revolution 
zu  bekennen,  als  deren  echte  Erfüllung  die  dritte  RepubHk  gelten 
will.  Da  wird  wohl  in  offiziellen  Reden  das  große  Ereignis 
als  der  »Durchbruch  höchster  moralischer  Prinzipien  durch  die 
träge  Masse  verrotteter  Institutionen«  gefeiert.  Und  dem  Bedürf- 
nis, die  Verwandtschaft  des  neuen  Staates  mit  dem  von  1793 
nachzuweisen  und  die  Gegenwart  in  der  Vergangenheit  zu  recht- 
fertigen, verdanken  wir  die  rastlose  Arbeit,  welche  unsere  Nach- 
barn an  die  Erforschung  der  ersten  Revolution,  ihre  äußere  und 
innere  Geschichte,  die  Parteien  und  Persönlichkeiten,  ihre  fran- 
zösischen und  europäischen,  geistigen  und  materiellen  Bedingungen 
und  Formen  gewandt  haben,  und  deren  reiche  Früchte  nicht  bloß 
ihrer,  sondern  auch  der  allgemeinen  Geschichte  zugut  gekommen 
sind.  Aber  die  öffentliche  Meinung  ist  dadurch  mitnichten  in 
Frankreich  gewonnen  worden;  und  wir  brauchen  nur  den  geist- 
reichsten und  gelesensten  Historiker  in  den  letzten  Jahrzehnten 
zu  nennen,  Hippolyte  Taine,  der  die  Theorien  und  Exzesse  der 
Revolutionäre  mit  den  Delirien  eines  Branntweinsäufers  zu  ver- 
gleichen wagte,  um  uns  zu  erinnern,  was  für  Variationen  in  der 
Revolutionshistorie  auch  in  Frankreich  noch  heute  möglich  sind. 

Ein  Wirrwarr  der  Meinungen,  vor  dem  man  fast  daran  zweifeln 
möchte,  ob  es  überhaupt  je  möglich  sein  ward,  ein  objektives 
Urteil  über  die  Revolution,  ihre  Stellung  in  der  allgemeinen  Ge- 
schichte und  ihre  Bedeutung  für  die  Zukunft  zu  gewinnen  oder 
doch  zum  Gemeingut  der  Gebildeten  zu  machen. 

Erinnern  wir  uns  indessen  einmal,  welche  Zustände  im  18.  Jahr- 
hundert noch  möglich  waren  und  durch  den  Geist  beseitigt  wurden, 
der  erst  mit  der  Revolution  zur  Herrschaft  kam.  In  Deutsch- 
land sind  in  dieser  Zeit  noch  Hexen  verbrannt  worden,  die  letzte 
zu  Glarus  in  der  Schweiz,  also  auf  protestantischem  Boden,  wenige 
Jahre  vor  der  Revolution ;  und  bis  ans  Ende  der  Epoche  betrachtete 
in  Portugal  und  Spanien  das  gläubige  Volk  ein  Autodafe  als  eins 
seiner  Feste.    Ein  Deutscher  war  jener  Erzbischof  von  Salzburg, 


c;^^  Kloine  historische  Schriften. 

der  15  000  arbeitsame,  friedfertige  Untertanen  zum  Lande  hinaus- 
trieb, um  die  Glaubenseinheit  herzustellen,  und  bis  zur  Mitte 
des  Jahrhunderts  der  Toleranz  breiteten  die  katholischen  Re- 
gierungen im  Reich  ihre  Religion  mit  den  gewaltsamen  Mitteln 
der  Gegenreformation  aus;  seitdem  erst  haben  sich  die  Grenzen 
der  feindlichen  Bekenntnisse  bei  uns  nicht  weiter  verschoben. 
Um  Voltaires  Haß  und  Bosheiten  gegen  die  »Infame«  zu  ver- 
stehen, müssen  wir  bedenken,  wie  tief  gewurzelt  die  Macht  der 
römischen  Kirche  in  seinem  Vaterlande  war,  wo  noch  die  Edikte 
Ludwigs  XIV.  in  Kraft  standen  und  der  Ketzerhaß  und  dumpfe 
Fanatismus  der  Masse  sich  in  Bluttaten  wie  die  zu  Toulouse  und 
Abbeville  entlud.  Voltaire  selbst,  so  sehr  ihn  seine  fürstlichen 
Freunde  vergöttern  mochten :  die  Rückkehr  in  die  Heimat  konnten 
sie  ihm  doch  nicht  verschaffen.  Und  weshalb  hatte  er  als  junger 
Mann  nach  England  flüchten  müssen?  Weil  sich  ein  Edelmann 
durch  ein  spitzes  Wort  von  ihm  beleidigt  fühlte ,  wofür  er 
schon  an  dem  jungen  Literaten  durch  die  Stockschläge  seiner 
Bedienten  schmähliche  Rache  genommen  hatte.  Als  »anstößig 
der  Religion,  den  guten  Sitten  und  der  Achtung  gegen  die  Obrig- 
keit zuwider«  wurden  danach  Voltaires  »Enghsche  Briefe«  vom 
Henker  zerrissen  und  verbrannt:  eine  Satire,  so  sanft  und  vor- 
sichtig, daß  sie  auch  in  Rußland  heute  geduldet  werden  möchte. 
Nicht  einmal  die  religiösen  und  philosophischen  ^Meinungen  ge- 
nossen volle  Freiheit.  Um  ihretwillen  mußte  Diderot  nach  Vin- 
cennes,  woirde  Rousseaus  »Emile«  verbrannt,  ward  er  selbst  von 
da  und  dort  vertrieben.  Helvetius  mußte  die  seinen  widerrufen, 
und  gegen  Priestley,  den  Dissenter-Prediger,  den  Gegner  des 
französischen  MateriaUsmus,  hetzten  die  Orthodoxen  seines  Landes 
den  Pöbel;  er  hat  nach  Pennsylvanien  entweichen  müssen.  Denn 
die  protestantischen  Pfaffen  wetteiferten  oft  mit  den  katholischen 
um  den  Preis  der  Intoleranz,  und  die  Masse  der  Bevölkerung 
lebte,  den  Aufklärern  zum  Trotz,  noch  in  der  Zeit,  da  Lessing  seine 
Fehden  führte,  unter  dem  Bann  der  alten  Traditionen.  Nur  poli- 
tischer Zwang,  die  Unmöghchkeit,  die  religiöse  Einheit  zu  be- 
haupten, hatte  die  Regierungen  hier  und  da  zur  Indifferenz  ge- 
bracht.   Doch  waren  das  immer  nur  Ausnahmen;  und  die  meisten 


Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren  und  jetzt.  577 

Staaten,  protestantische  wie  katholische  (von  Rußland  gar  nicht 
zu  reden),  blieben  an  ein  bestimmtes  Bekenntnis  gefesselt,  als 
an  ihre  eigene,  garantierte  Religion ;  und  nur  eben  geduldet  wurden 
die  abweichenden  Kirchen,  und  ihre  Bekenner,  wenn  nicht  ganz 
ausgesperrt  von  den  Rechten  des  Staates  und  dem  Anteil  an  seiner 
Macht,  doch  nur  ungern  zugelassen. 

Wie  gering  war  überhaupt  noch  der  Kreis  derjenigen,  die 
in  dem  Organismus  des  Staates  Aufnahme  fanden!  Den  Bürger- 
lichen standen  gemeinhin  doch  nur  die  unteren  Ränge  offen; 
es  war  immer  eine  Seltenheit,  wenn  sich  jemand  bis  in  das  Zen- 
trum der  politischen  Gewalt  emporarbeitete,  und  alsbald  pflegte 
er  durch  Adel  und  Privilegien  von  seinesgleichen  geschieden  zu 
werden.  So  war  es  in  der  kathohschen  Kirche  überall,  so  auch 
in  der  Hochkirche  von  England,  so  durchweg  in  der  Justiz  und 
der  Administration  und  in  der  Armee.  Die  hohen  und  höchsten 
Stellen,  diejenigen,  welche  Einfluß  brachten  und  Geld,  waren  in 
den  Händen  des  Adels.  Bei  ihm  war  auch  der  große  Grund- 
besitz, die  Herrschaft  auf  dem  platten  Lande;  die  Bauern  aber 
und  die  Knechte  überwiegend  an  ihre  Scholle  gefesselt. 

Man  spricht  noch  immer  von  jenem  Zeitalter  als  dem  der 
absoluten  Monarchie.  Aber  dieser  Begriff  ist  doch  nur  im  Gegen- 
satz zu  dem  modernen  Repräsentativsystem  gültig;  darin,  daß 
sich  in  den  Monarchien  des  i8.  Jahrhunderts  der  Wille  des  Staates 
noch  nicht  mit  dem  der  Nation  deckte,  die  Bedürfnisse  und  Leiden- 
schaften, die  Intelligenz  und  der  Wille  der  Masse  von  den  Re- 
gierenden noch  nicht  zu  Rate  gezogen  wurden.  Will  man  aber 
darunter  den  im  Zentrum  des  Staates  zusammengefaßten  und 
von  hier  aus  ihn  durchdringenden  Willen  verstehen,  dasjenige, 
was  jene  Regierungen  selbst  jedenfalls  anstrebten,  so  müssen 
wir  sagen,  daß  heute,  und  eben  seit  der  Revolution,  dieser  Wille 
imermeßlich  viel  konzentrierter  und  gewaltiger  geworden  ist. 
Unter  diesem  Gesichtspunkt  kann  das  Machtstreben  der  Kabinetts- 
poHtik  des  i8.  Jahrhunderts  nur  als  die  Vorstufe  des  heutigen 
Staates  betrachtet  werden.  Denn  tatsächlich  sahen  sich  diese 
»absoluten«  Kronen  eingeengt  und  verstrickt  in  dem  wirren  und 
zähen  Gestrüpp  feudaler  Ordnungen,  und  aus  ihm  sich  zu  befreien, 

Lenz,   Kleine  historische  Schriften.  37 


578  Kleine  historische  Schriften. 

dahin  giiif;  das  Streben  aller  der  reformierenden  Staatsmänner, 
die  man  als  die  Vollender  nnd  Hauptvertreter  des  fürstlichen 
Absolutismus  zu  bezeichnen  pflegt.  In  WirkHchkeit  sind  sie  alle 
darin    gescheitert,  und    erst    die    Revolution    vollendete,  was 

sie  gewollt  liatten.  Die  Größe  Mirabeaus,  der  doch  gewiß  ihres 
Geistes  war,  liegt  darin,  daß  er  den  Machtzuwachs  der  Krone 
durch  die  Zerstörung  der  Privilegien  wie  kein  anderer  erkannte, 
und  darin  die  Kleinheit  der  reaktionären  Politik,  daß  sie  gegen 
diese  Einsicht  blind  blieb.  Denn  die  Macht  der  französischen 
Krone  wollte  ja  auch  (nistav  III.  von  Schweden,  als  er  mit  den 
Tuilerien  gegen  die  Revolution  konspirierte :  weil  er  das  Bündnis 
mit  Frankreich  sich  erhalten  wollte  und  nur  die  alte  Krone  für 
bündnisfähig  ansah,  begann  er  jene  Intrigen.  Darauf  hoffte 
auch,  neben  Landbesitz  und  anderm,  Friedrich  Wilhelm  von 
Preußen,  als  er  den  Krieg  gegen  die  Revolution  betrieb;  und  weil 
Kaunitz  umgekehrt  auf  die  dauernde  Schwächung  der  franzö- 
sischen Macht  spekulierte,  unternahm  der  alte  Schlaukopf  jenes 
verschmitzte  Spiel,  die  Feuillants  zu  hätscheln  und  die  Jakobiner 
zu  bedrohen,  das  ihn  wider  Willen  in  den  Krieg  hineinführte. 
Blinder  als  blind  war  Marie-Antoinette,  als  sie  Mirabeau  zurück- 
stieß und  alle  Parteien  betrog,  um  die  Macht  ihrer  Krone  zu  be- 
haupten, die  sie  nur  in  der  Verbindung  mit  der  Kirche  und,  so 
sehr  sie  diese  beschränken  wollte,  auch  mit  den  Privilegierten 
gesichert  wähnte.  Und  seine  Unfehlbarkeit  schützte  Pius  den 
Sechsten  nicht  davor,  mit  aller  Welt  an  die  baldige  Besiegung 
der  französischen  Anarchie  zu  glauben  und  seine  Kirche  in  den 
Kampf  mit  ihr  hineinzusteuern.  Die  ganze  europäische  Diplo- 
matie richtete  ihr  Tun  und  Lassen  nach  diesem  Trugschluß  ein. 
Wie  die  Revolutionäre  ahnungslos  über  die  Folgen  ihres  Tuns 
die  Riegel  vor  den  Schleusentoren  hin  wegstießen,  durch  welche 
die  Fluten  der  Zerstörung  über  den  alten  Staat  hinstürzten,  so 
gingen  auch  ihre  Feinde  mit  verbundenen  Augen  in  den  Welt- 
krieg hinein,  der  alle  Berechnungen  ihrer  Diplomatie  zuschanden 
machen,  alle  Systeme  ihrer  Politik  und  ihre  Staaten  selbst  über 
den  Haufen  werfen  sollte.  Jahre  des  Kampfes  und  immer  neuer 
Niederlagen    und   fruchtloser  Anstrengungen   waren   nötig,    um  es 


Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren  und  jetzt.  579 

ihnen  überhaupt  nur  klarzumachen,  daß  der  Untergang  der  alten 
Monarchie  nicht  die  Vernichtung  der  französischen  Macht  be- 
deutet habe,  daß  in  den  gelösten  Kräften,  in  den  Gewalten  der 
Zerstörung  positive  Elemente  walteten,  daß  die  französische 
Nationalität,  statt  sich  in  das  Grenzenlose  der  weltbürgerlichen 
Ideale  zu  verlieren,  vielmehr  sich  auf  sich  selbst  besonnen,  breitere 
und  tiefere  Bedingungen  ihres  Daseins  aufgesucht  hatte,  und 
daß  aus  den  vulkanischen  Gluten,  die  dieses  Reich  in  Asche  zu 
legen  gedroht,  am  Ende  eine  Gewalt  entstanden  war,  so  eisern 
im  Kern,  so  national  im  Wesen,  so  einheitlich  geordnet  und  so 
hingebend  geliebt  und  verteidigt,  wie  weder  die  Franzosen  noch 
irgendein  \'olk  der  Erde  sie  jemals  besessen  hatten. 

Und  die  gleiche  Probe  mußte  nun  machen,  wer  immer  in 
der  Welt  bestehen  wollte.  Hineingerissen  in  die  fürchterlichen 
Umarmungen  mit  dem  neuen  Staate,  mußte  jeder  andere  sich 
selbst  im  Innersten  erneuern,  die  feudalen  Ordnungen,  in  denen 
er  gefesselt  gelegen,  abstreifen  und  sich  auf  das  Interesse  und 
den  Anteil  der  breiteren  Schichten  stützen  —  oder  er  mußte  unter- 
gehen. Das  war  der  Inhalt  des  Riesenkampfes,  den  die  Revo- 
lution und  Napoleon  mit  dem  alten  Europa  führten.  So  ver- 
standen ihn  philosophische  Köpfe  wie  Altenstein,  der  spätere 
Minister  Preußens,  als  er  in  Tilsit  den  Gewaltigen  und  die  be- 
siegten Monarchen  mit  ihrem  Gefolge  sah.  »Diesen«,  so  war 
sein  Gedanke,  »werdet  Ihr  nicht  zermalmen.  Er  ist  von  Gott 
gesandt,  die  Schwäche  zu  zermalmen  mid  Kraft  zu  erregen.« 

Es  geschah  dies  auf  sehr  verschiedene  Weise,  hier  durch 
Reformen,  dort  durch  Revolution  und  anderwärts  gar  auf  dem 
Wege  der  Reaktion,  die  sich  wohl  selbst  revolutionär  entlud.  Sieg 
und  Niederlage  haben  darauf  eingewirkt,  je  nach  den  Traditionen, 
der  Größe  und  der  politischen  Gruppienmg  der  Mächte.  Graf 
Montgelas  z.  B.,  der  Reformator  Bayerns,  und  wer,  wie  er,  unter 
den  kleinstaatlichen  Politikern  im  alten  Reich  das  Heil  im  An- 
schluß an  Frankreich  sah,  führten  die  Arbeit  von  oben  her  durch, 
wenig  geniert  durch  klerikale  und  feudale  Widersetzlichkeiten ; 
der  Sieg  des  Imperators  gewährte  ihnen  Sicherheit:  während  in 
Spanien  die  Zertrümmerung  der  alten  Monarchie  durch  Napoleon 

37* 


5g()  Kleine  historische  Schriften. 

lind  eine  elementare  Erhebung  der  Nation  dazu  gehörten,  um 
dem  neuen  Staat  den  Weg  ins  Leben  zu  bahnen.  Nationale  Ten- 
denzen verbanden  sich  mit  dem  Werke  des  Kaisers  in  Italien 
und  Polen,  und  liberale  überall,  wo  seine  Adler  flogen:  seine  Partei 
war  es,  die  in  Spanien  an  die  modernen  Ideen,  und  zwar  auf  breitem 
Grunde,  appeUierte;  und  die  liberalen  Reformen  Montgelas'  würden 
auch  in  Tirol  Platz  gegriffen  haben,  wenn  nur  Hofer  und  Speck- 
liacher  mit  ihren  Hirten  und  Bauern  seinen  bayerischen  Beamten 
Zeit  gelassen  hätten,  sich  in  ihren  Tälern  einzunisten.  Dort  wie 
in  Spanien  vermählten  sich  die  klerikalen  Tendenzen  mit  dem 
neu  erwachenden  Selbstbewußtsein;  und  auch  in  Bayern  ge- 
wannen jene  mit  dem  Abfall  von  Napoleon  neue  Kraft:  während 
Preußen  wederum  das  wundervolle  Los  hatte,  daß  die  protestan- 
tischen Ideen,  auf  denen  es  ruhte,  in  seiner  Staats-  und  Heeres- 
ordnung, in  der  Königstreue  und  Gottesfurcht  des  Volkes  und 
in  dem  jugendfrischen  Heldentum  des  Krieges  für  das  Vater- 
land von  neuem  ihre  machtschaffende  Gewalt  und  den  nationalen 
Beruf  dieses  Staates  bewährten. 

Und  keineswegs  hatte  dieser  Prozeß  mit  dem  Siege  Europas 
über  den  großen  Kaiser  sein  Ende  erreicht.  Tiefer  nur  wühlten  die 
Ideen  von  1789  in  dem  Schöße  unserer  Nationen,  und  Reform 
wie  Revolution,  Krieg  und  Friedensarbeit,  naturwissenschaft- 
liche Entdeckungen  mit  ihrem  Gefolge  von  mechanischen  Er- 
findungen und  die  Vertiefung  der  historischen  Erkenntnis,  klerikale 
Reaktion  und  die  Demokratisierung  der  sozialen  und  pohtischen 
Ordnungen  —  alles  hat  nur  das  eine  Ergebnis  gehabt  (es  ist  der 
Inhalt  des  Jahrhunderts),  daß  die  Eigenart  der  abendländischen 
Nationen  und  ihre  Macht  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzelmt  unermeßüch 
gesteigert  worden  sind. 

Mögen  nun  auch  die  hohen  Ideale,  welche  die  Revolution 
unter  dem  Jubel  Europas  in  ihrem  Beginn  anrief,  nicht  alle  er- 
füllt oder  gar  in  ihr  Gegenteil  verkehrt  sein,  das  werden  wir  ihr 
immerhin  zu  danken  haben,  daß  sie  zuerst  die  Kräfte  befreit  hat, 
welche  unsere  Nationen  auf  eine  noch  niemals  in  der  Geschichte 
erreichte  Höhe  der  Macht  geführt  haben.  Vor  hundert  Jahren 
reichte  der  Orient  noch  bis  an  Drau  und  Donau:  ein  dünner  Firnis 


jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren  und  jetzt.  581 

europäischer  Kultur  deckte  den  barbarischen  Urboden  der  mos- 
kowitischen  Völker:  in  Nordamerika  war  menschenleere  Wildnis, 
vom  Mississippi  und  den  Seen  her  bis  an  den  Stillen  Ozean;  und 
im  Todesschlaf,  kaum  an  den  Küsten  und  in  ein  paar  Flußtälern 
von  Europäern  besiedelt,  lag  unter  dem  faulen  Kolonialregiment 
der  Spanier  und  Portugiesen  die  Südhälfte  dieses  Kontinentes; 
erst  ein  Stück  Ostindiens  war  im  englischen  Besitz,  und  nocli 
führten  die  Brüder  Wellesley  mit  den  einheimischen  Fürsten 
heiße  Kämpfe;  unberührt,  von  legendarischem  Glänze  umgeben, 
lag  China  da,  als  eine  antipodische  Kulturwelt  mit  Achtung  und 
fast  mit  Bewunderung  betrachtet.  Heute  steht  Rußland,  aus- 
gerüstet mit  allen  Machtmitteln  des  modernen  Staates,  auf  dem 
Pamir  und  vor  dem  Hindukusch,  vom  Amur  her  bedrängt  es  China, 
und  in  Korea  bedroht  es  Japan.  Damals  verbanden  sich  mit 
Sibiriens  Namen  Vorstellungen  des  Entsetzens  und  eisiger  Wüstenei : 
heute  werden  bald  die  Schienen  den  Stillen  Ozean  mit  der  Ostsee 
und  dem  Schwarzen  Meere  verbinden  und  unerschöpfliche  Schätze 
aus  jenen  weiten  Regionen  heranbringen.  Rund  um  den  Erdball, 
den  sie  völlig  unterjocht  hält,  dehnt  sich  die  Kultur  der  abend- 
ländischen Nationen.  Der  Geist  des  Orients  ist,  wie  Ranke  sagte, 
vor  ihr  verblichen.  Nur  durch  die  Eifersucht  der  großen  Mächte  er- 
hält sich,  was  von  den  Türken  in  Europa  noch  da  ist,  die  zu  Be- 
ginn der  Revolution  der  vereinigten  Macht  Rußlands  und  Öster- 
reichs standhielten  und  ein  Jahrhundert  zuvor  noch  Wien  be- 
droht hatten.  Und  nur  im  Annehmen  und  Nachahmen  der  Güter, 
die  wir  geschaffen,  können  andere  Rassen  noch  hoffen,  sich  zu 
erretten.  Selbst  die  Heere,  welche  die  Revolution  dem  vereinigten 
Europa  entgegenstellte,  waren  doch  erst  wenige  Hunderttausende 
stark,  und  nicht  viel  über  eine  halbe  Million  führte  Napoleon 
über  den  Niemen.  Heute  würden  von  den  Völkern,  deren  Streit- 
kräfte er  gegen  Rußland  nach  jahreslanger  Rüstung  vereinigte, 
in  wenigen  Wochen  wohl  12  Millionen  Krieger  an  einer  Grenze 
gegeneinander  geführt  werden  können. 

Wer  aber  mag  leugnen,  daß  mit  unserer  Kultur  auch  sittliche 
Ideen  mächtig  geworden  sind?  Toleranz  und  Freiheit  sind  in 
einer  Weise  verwirklicht,  wie  sie  das  18.  Jahrhundert  nur  in  seinen 


532  Kleine  historische  Schriften. 

Träuiiien  schaute.  Formell  wenigstens  sind  doch  die  Staaten 
von  ihrem  Bekenntnis  getrennt  und  der  Grundsatz  anerkannt, 
daß  der  Wille  der  Obrigkeit  über  dem  der  Kirchen  stehe;  nirgends 
fast  hindert  die  Religion  an  sich,  die  Stufenleiter  weltlicher  Ehren 
bis  zur  höchsten  Sprosse  zu  erklimmen.  Formell  ist  auch  die 
soziale  und  politische  Gleichheit  in  der  Mehrzahl  der  Kultur- 
staaten durchgeführt,  gibt  Intelligenz  und  Bildung  die  Macht, 
kann  jeder  Arbeiter  hinziehen,  wohin  ihm  der  Sinn  steht,  und 
jeder  Besitzende  erwerben,  was  er  will,  hat  jedermann  die  Möglich- 
keit, seine  sozialen  Interessen  und  seine  Auffassung  des  staat- 
lichen Lebens  nach  dem  Maße  seiner  Stimme  zur  Geltung  zu 
bringen.  Ungescheut  dürfen  wir  die  Höhen  und  Tiefen  der  Welt 
mit  der  Fackel  der  Vernunft  beleuchten  und  die  verwegensten 
Theorien  über  Politik  und  Religion  aussprechen;  und  mit  Lächeln 
.sehen  wir  auf  die  Selbstgefälligkeit  eines  Geschlechtes  henmter, 
das  im  Zeitalter  der  Postkutsche  sich  mit  seiner  Herrschaft  über 
die  Natur  brüsten  konnte. 

Eins  vor  aUem  verdanken  wir  der  großen  Revolution,  das, 
was  heute  in  aller  \\'elt  als  das  köstlichste  Kapital,  als  das  schöpfe- 
rische Element  nationaler  Größe  verehrt  wird:  imsere  Hingabe 
an  die  nationale  Idee  schlechthin.  Ein  zur  Zeit  unserer  Klassiker 
in  Deutschland,  wie  man  weiß,  noch  sehr  ungewohntes  Gefühl. 
Damals  konnte  Schiller  es  als  ein  armseliges,  kleines  Ideal  des 
Historikers  bezeichnen,  für  eine  Nation  zu  schreiben :  einem  philo- 
sophischen Geiste  sei  diese  Grenze  durchaus  unerträglich;  nur 
für  unreife  Nationen  sei  das  vaterländische  Interesse  wichtig, 
für  die  Jugend  der  Welt.  Und  noch  nicht  hundert  Jahre  sind 
es  her,  als  Frau  Aja  ihrem  Sohne  aus  Frankfurt  schrieb:  »Nur 
Weimar  ist  der  einzige  Ort,  woher  mir  meine  Ruhe  gestört  werden 
könnte.  Geht  es  meinen  Lieben  dort  gut,  so  mag  meinetwegen 
das  rechte  und  Unke  Rheinufer  zugehören,  wem  es  mll,  —  das 
stört  mich  weder  im  Schlaf  noch  im  Essen.« 

Ich  will  nun  nicht  darüber  diskutieren,  ob  der  Wille,  die 
eigene  Nation  groß  und  gewaltig  zu  machen,  dem  sittlichen  Ideal 
genug  tut,  oder  ob  es  nicht  Gedanken  gibt,  vor  denen  auch  dieser 
Stolz    hinsinkt,    Gedanken,    um    derentmllen    wir    auch    unserm 


Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren  imd  jetzt.  583 

A'aterlande  entsagen  müßten,  ja  in  denen  allein  wir  unser  Ver- 
trauen auf  die  Größe  und  Ewigkeit  unseres  Volkes  gesichert  halten 
können.  Dennoch  bleibt  es  wahr,  daß  in  unserm  nationalen  Selbst- 
bewTißtsein  sittliche  Kräfte  zur  Geltung  kommen,  wie  sie  dem  Zeit- 
alter des  Weltbürgertums  fremd  waren.  Was  bedeuteten  denn  die 
Begriffe  von  nationaler  Ehre  und  Königstreue  den  geworbenen 
und  gepreßten  Heerhaufen,  die  Friedrichs  Siege  erfochten?  Diese 
Armee  war  wert,  daß  sie  zugrunde  ging,  wie  der  Staat,  für  den 
sie  kämpfte.  Heute  genügt  ein  Wort  des  Kriegsherrn,  und  in 
allen  Gauen  des  \^aterlandes  stehen  die  Massen  auf,  sammeln 
sich  die  Millionen  an  den  vorgeschriebenen  Orten  und  wogen 
gegen  die  Grenze  hin :  nicht  bloß  weil  sie  müssen :  sondern  sie  alle 
sind  durchdrungen  von  der  Idee  des  Vaterlandes:  Einheit,  Macht 
und  Freiheit  der  Nation  sind  jedem  Arbeiter  und  jedem  Guts- 
knecht Lebensmächte  geworden. 

Und  so  beweist  vor  allem  unser  Heer,  als  der  unmittelbarste 
Ausdruck  unserer  Kraft,  daß  es  erst  sittliche  Ideen  sind,  welche 
die  i\Iacht  schaffen;  daß  dieses  Wort,  für  sich  genommen,  ein 
leerer  Schall,  ein  Begriff  ist  ohne  Inhalt;  und  daß  es  niemals  eine 
Macht  gab,  in  der  nicht  sittliche  Ideen  gewaltet  hätten,  die  nicht 
von  Idealen  getragen  wäre. 

Daß  wir  nur  diese  Ideen  im  lebendigen  Wachstum  erhalten, 
in  rastloser  Arbeit  das  Ewige,  das  in  ihnen  lebt,  fortbilden  möchten! 

Es  gehört  nicht  zum  Amte  des  Historikers,  die  Zukunft  aus- 
zudeuten; und  die  Beispiele,  welche  uns  die  Zeitgenossen  der 
Revolution  gaben,  können  nicht  dazu  verlocken:  Politiker  und 
Weltbürger  erlebten  das  Gegenteil  von  dem,  was  sie  wünschten 
oder  fürchteten.  Indessen  ist  es  richtig,  daß  wir  heute  besser 
sehen  gelernt  haben  als  unsere  Vorfahren,  wenigstens  das,  was 
war,  und  ein  wenig  auch  das,  was  um  uns  ist;  und  eine  gewisse 
Garantie  mag  immerhin  darin  liegen,  um  auch  über  das,  was 
kommen  wird,  urteilen  zu  können. 

Sollen  wir  denn  ein  Moment  bezeichnen,  das  zur  Ausdeutung 
der  Zukunft  dienhch  sein  könnte,  so  ist  es  die  Tatsache,  daß  aus 
allen  Revolutionen  seit  1789  die  Nationalitäten  nur  immer  selb- 
ständiger her\'orgegangen,  und  daß  die  Summe  der  europäischen 


534  Kleine  historische  Schriften. 

Kräfte  darum  so  groß  geworden  ist,  weil  sie  national  zusammen- 
gefaßt und  der  nationale  Ehrgeiz  und  Egoismus  zu  unerhörter 
Schrofflieit  ausgebildet  wurden.  Internationalere  Ideen  hat  es 
nicht  gegeben  als  die  Sätze  der  Menschenrechte,  mit  denen  die 
große  Revolution  begann;  also  daß  der  biedere  Campe  schon 
das  ganze  weiße,  rote,  gelbe  und  schwarze  Menschengeschlecht 
aufrufen  wollte,  in  das  Te  Deum  laudamus  einzustimmen,  mit 
dem  die  August-Besclilüsse  zu  Versailles  gefeiert  wurden.  In 
den  Bestimmungen  über  Maß  und  Gewicht,  Zeitrechnung  und 
Monatsnamen  suchte  der  Glaube  an  die  neue  Weltepoche  einen 
Ausdruck;  Robespierre  appellierte  noch  mit  seiner  Verehrung 
des  höchsten  Wesens  an  die  Ideen  des  Jahrhunderts,  und  auch 
die  sozialistische  Verfassung  St.-Justs  war  ohne  nationale  Färbung. 
Aber  alles  schlug  den  Revolutionären  ins  Gegenteil  um,  und  statt 
der  Ära  der   Humanität   kam   die   der  nationalen   Demokratien. 

Auch  heute  gibt  es  eine  Partei,  die  sich  ihrer  Intemationalität 
rühmt  und  von  einem  Zeitalter  ohne  Kampf  und  Nationalitäten- 
hader träumt,  und  die  damit  in  dem  Leben  unseres  Volkes  jeden- 
falls gewaltig  rumort.  Wenn  es  aber  wahr  wäre,  daß  die  Sozial- 
demokraten in  ihrem  Gesellschaftsideal,  wie  ihre  Führer  doch 
noch  behaupten,  keine  anderen  als  wirtschaftliche  Probleme 
lösen  woUen  und  in  ihrem  Staate  nur  die  Ausprägung  der  materia- 
Ustischen  Weltanschauung  anstreben,  so  spotten  sie  mit  jener 
Prätension  ihrer  selbst  und  wissen  nicht  wie.  Denn  was  würde  ein 
stärkerer  Anreiz  für  den  Abschluß  der  Staaten  gegeneinander 
sein,  als  wenn  ihr  ganzes  Dasein  nur  von  dem  Wirtschaftsinteresse, 
der  materiellen  Selbstsucht  regiert  würde?  Es  würde  ein  Wesen 
werden,  ähnlich  dem  unserer  mittelalterlichen  Städte,  deren 
Existenz  und  Absichten  auch  nur  auf  die  Befriedigung  wirtschaft- 
licher Bedürfnisse  gegründet  und  gerichtet  waren.  Aber  einen 
engherzigeren  und  grausameren  Egoismus  hat  es  nie  gegeben, 
als  ihn  diese  Städte  in  sich  ausbildeten,  mochten  sie  nun  oligarchisch 
oder  von  den  sozialistisch  geordneten  Zünften  geleitet  werden : 
sie  kannten  in  aller  W^elt  nichts  als  ihre  »Nahrung«. 

Zum  Glück  jedoch  kennen  wir  keine  Nation,  ja  nicht  einmal 
ein  eigentliches  Staatswesen,  das  jemals  auf  einem  so  banausischen 


■  Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren  und  jetzt.  585 

Grunde  geruht  hätte.  Denn  die  Städte  des  deutschen  Mittel- 
alters waren  nicht  souverän,  und  der  Bund  der  Hansa  selbst, 
wie  gewaltig  zu  Zeiten  seine  Stärke  sein  mochte,  hat  es  doch 
niemals  zu  einer  gemeinsamen  Ordnung  staatlichen  Charakters, 
zu  einer  PoHtik  mit  festen  Traditionen  und  sicheren  Zielen  ge- 
bracht: eine  jede  Stadt  war  zum  Verrat  der  Bundesgenossen 
bereit,  sobald  ihr  Sonderinteresse  Schaden  zu  leiten  drohte.  Recht 
im  Gegensatz  zur  Hansa  steht  in  ganz  der  gleichen  Zeit  der  Deutsche 
Orden,  obschon  ihre  geographischen  und  wirtschaftlichen  Be- 
dingungen nahe  verwandt  waren,  eine  Schöpfung  deutscher  Ritter, 
Untertanen  ihres  Kaisers  und  des  Papstes,  wie  die  Hansa  ein 
Werk  deutscher  Bürger  war.  Aber  wie  festgefugt  war  dieser  Staat, 
aus  einer  Wurzel  erwachsen,  ein  weit  verzweigtes  und  harmonisch, 
man  möchte  fast  sagen,  künstlerisch  ausgebildetes  Gemeinwesen, 
mit  einer  Geschichte,  reich  an  großen  Persönhchkeiten,  poütischen 
Konflikten,  tragischen  Katastrophen:  in  einer  reichgegHederten 
Geschichtsschreibung  spiegelt  es  sich  ab,  und  herrhche  Baudenk- 
mäler, von  seiner  mönchisch-ritterlichen  Romantik  beseelt,  ver- 
kündigen bis  heute  seinen  Ruhm.^) 

Heute  mag  vielleicht  der  Anblick  unserer  Parteien,  in  denen 
sich  die  banausischen  Interessen  allzusehr  an  die  Oberfläche  drängen, 
jener  Auffassung  einen  Schein  des  Rechtes  geben.  Dennoch  be- 
halten die  in  der  Tiefe  ruhenden,  zusammenhaltenden  Elemente 
ihre  Kraft  und  werden  sie  schon  wieder  offenbaren.  Hat  man  ja 
auch  in  der  französischen  Revolution  an  nichts  weniger  gedacht, 
als  daß  der  Ultramontanismus  eine  Zukunft  haben  könnte;  das 
Papsttum,  das  noch  zuletzt,  und  zwar  von  den  katholischen  Staaten 
selbst,  aufs  tiefste  gedemütigt  war,  schien  abgetan  zu  sein  und 
mit  dem  Mittelcdter  begraben.  Und  doch  ist  die  römische  Kirche 
die  einzige  Macht  gewesen,   welche  dem  Versuch,  sie  zu  natio- 


1)  Höchst  charakteristisch  ist  es,  daß  die  Hansa  vor  ihrem  Unter- 
gang bei  einer  Geschichte  von  Jahrhunderten  keine  gemeinsame  Darstel- 
lung gehabt  hat:  es  gibt  auch  im  Norden  Deutschlands  bis  ins  17.  Jahr- 
hundert nur  Chroniken  einzelner  Städte;  also  daß  wir  heute  ihre  Geschichte 
aus  den  Urkunden  und  Rezessen,  denen  das  persönliche  Leben  fehlt, 
schreiben  müssen. 


F^gg  Kleine  historische  Schriften. 

nalisieren,  widerstand,  l)ei  der  die  international  geprägten  Prin- 
zipien der  Revolntion  wirklich  ein  ihnen  analoges,  wenngleich 
nnverhofftes  Ergebnis  hatten.  Und  so  ist  es  geblieben  bis  heute: 
der  Klerikalismus  ist  die  stärkste  Macht  unseres  Jahrhunderts 
geworden.  Nachdem  er  sich  in  Frankreich  der  Regierung  be- 
mächtigt, schien  er  1830  besiegt  zu  sein  —  um  seit  1848  desto 
gewaltiger  aufzuleben.  Napoleon  III.  hat  seine  Herrschaft  auf 
ein  Bündnis  mit  ihm  gegründet;  zu  den  Altären  flüchtete  nach 
1870  sein  besiegtes  Volk;  und  ein  Noli  me  tangere  bildet  die  Kirche 
heute  in  Frankreich  wie  im  neuen  Deutschland;  auf  Granit  beißt, 
wer  sich  an  ihr  versuchen  will.  Ihre  Kraft  beruht  auf  denselben 
Elementen,  die  durch  die  Revolution  lebendig  geworden  sind: 
weil  sie  demokratisiert  ward,  \\urde  sie  stark.  Also  haben  wir 
ihr  gegenüber  dieselbe  Stellung  einzunehmen  wie  zu  den  andern 
Problemen,  welche  die  Demokratisienmg  der  Gesellschaft  mit 
sich  bringt,  der  sozialen  Frage  z.  B.  und  dem  allgemeinen  Stimm- 
recht. Wir  müssen  uns  mit  den  unteren  Schichten,  die  gegen 
ims  imd  unsere  Habe  andringen  und  uns  ihren  Willen  aufnötigen 
wollen,  auseinandersetzen.  Wir  alle  sind  an  den  breiten  Boden  des 
^'olkes  gefesselt.  Es  ist  nicht  mehr  erlaubt,  ein  Wilhelm-Meister- 
Dasein  zu  führen,  sowie  unsere  Romane  und  Dramen  nicht  mehr 
gern  die  lichten  und  idealen  Höhen,  sondern  die  harten  und  grau- 
samen Konflikte  des  bürgerlichen  Lebens  aufsuchen.  Die  Zeit 
der  Pri^•ilegien  ist  \'orüber,  und  es  ist  Torheit,  über  die  Errungen- 
schaften der  großen  Zeit  zu  jubeln  und  sie  zugleich  um  das  Edle 
oder  Behagliche,  was  sie  zerstörte,  auszuschelten.  Eins  hängt 
am  andern.  Heute  wäre  ein  Königtum  wie  das  Friedrichs  des 
Großen,  der,  von  dem  Boden  deutscher  Kultur  losgelöst,  das  Leben 
eines  französischen  Dichters  und  Denkers  führen  und  zugleich 
seinen  Staat  nach  der  patriarchalischen  Weise  seines  Vaters  re- 
gieren konnte,  unmöglich.  Wir  würden  mit  Recht  jedes  Kokettieren 
unserer  Monarchen  mit  einer  fremden  Nationaütät  als  eine  blutige 
Beleidigimg  empfinden.  Je  selbstherrlicher  der  Fürst  ist,  um  so 
mehr  gerade  muß  er  dem  Genius  seiner  Nation  sich  ergeben,  mit 
ihren  Leidenschaften  und  Idealen  verbündet  sein.  Nur  in  der 
unmittelbaren    Berührung    mit    den    Interessen,    Wünschen    und 


Jahrhunderts-Ende  vor  hundert  Jahren  und  jetzt.  587 

Bedürfnissen  der  Nation  kann  sich,  wer  auf  den  Höhen  der  Gesell- 
schaft wandelt,  erhalten. 

Davor,  daß  die  Ideen  der  Vergangenheit  ihre  Kraft  ver- 
lieren werden,  brauchen  wir  uns  nicht  so  sehr  zu  ängstigen.  Wie 
stark  sie  noch  sein  können ,  zeigte  uns  soeben  die  katholische  Kirche : 
sie  schien  erstorben,  solange  das  Leben  der  Tiefen  schlummerte; 
indem  es  ans  Licht  brach,  kam  sie  mit  hervor.  Sollen  wir  nun 
glauben,  daß  nur  die  hierarchische  Weltanschauung,  deren  histo- 
rischen Ungrund  wir  erwiesen,  die  wir  sittlich  und  religiös  über- 
wunden zu  haben  glauben,  mächtig  bleiben  wird,  und  daß  gerade 
unsere  Väter  umsonst  gelebt  haben  ?  Oder  sahen  wir  nicht  viel- 
mehr, daß  auch  solche  Gedanken,  an  die  wir  glauben,  ihre  INIacht 
bewiesen  haben,  daß  gerade  sie  es  waren,  welche  die  Kultur  unserer 
Nationen  rand  um  den  Erdball  trugen?  Sie  werden  fortfahren, 
ihre  Macht  auch  dem  Kleinglauben  gegenüber  zu  bewähren.  Daß 
wir  aber  kämpfen  müssen,  um  sie  zu  behaupten,  kann  doch  kein 
Grund  sein  zum  Verzagen.  Denn  nur  im  Kampf  schreitet  das 
Leben  vorwärts.  Hier  gilt  das  Wort  von  dem  Erwerbenmüssen 
der  Güter,  die  wir  von  den  Vätern  ererbt  haben,  und  von  jenem 
Glauben,  der  früher  oder  später  den  Widerstand  der  stumpfen 
Welt  besiegt. 

Nichts  aber  dürfen  wir  weniger  besorgen,  als  daß  unsere 
Nationen,  die  in  diesem  Jahrhundert  der  Revolutionen  ihre  größte 
Stärke  erreicht  haben,  auseinanderfallen  werden.  Denn  so  weit 
\nT  in  der  Geschichte  zurückblicken  mögen,  bis  auf  ihren  Ur- 
sprung hin,  haben  sie  aiis  der  Berührung  mit  den  auflösenden, 
den  universalen  Ideen  nur  immer  neue  Kraft  und  ein  Wachs- 
tum ihrer  Eigenart,  ihrer  »moralischen  Energie«  davongetragen. 
Empfangend  und  gebend,  kämpfend,  unterliegend  vielleicht 
und  zu  neuen  Siegen  sich  ^vieder  aufraffend  und  sich  verjüngend, 
sind  sie  zuletzt  immer  noch  fortgeschritten  in  der  Festigung  ihrer 
Kraft  und  der  Ausbildung  ihres  Wesens.  Ja,  das  Beste,  was  sie 
besitzen,  das  Prinzip  ihres  Daseins,  empfingen  sie  erst  aus  der 
Fremde,  im  Zusammenhang  mit  der  weltgeschichtlichen  Be- 
wegung, aus  dem  Schatze  der  allgemeinen  Kultur.  Beruhen  sie 
doch,   wie   Rankes  Tiefsinn  es  ausdrückt,   nicht   sowohl  auf  den 


588  Kleine  historische  Schriften. 

Bedingungen  der  Rasse  und  des  Landes  als  auf  den  Abwand- 
lungen der  großen  Begebenheiten.  Niemals  waren  sie  allein  in 
der  Welt.  In  Stürmen  sind  sie  gebildet  und  werden  so  sich  be- 
haupten. 

Wenn  wir  derartig  von  oben  her  auf  das  »ewig  unbefriedigte 
gärungsvolle  Wesen  unserer  Tage«  herabschauen,  so  mögen  wir 
es  wohl  mit  größerem  Gleichmut,  als  es  die  Regel  ist,  betrachten 
dürfen;  und  als  kleine  Wellenbewegung  vielleicht  wird  sich  uns 
darstellen,  was  demjenigen,  der  mit  den  Fluten  ringt,  wie  Wogen - 
berge  und  ein  Aufwallen  der  Tiefe,  ja  wie  das  Drohen  der  Ver- 
nichtung erscheinen  will. 


68^-^?^ 


Ein  Blick  in  das  zwanzigste  Jahrhundert. 

(1900.) 

Prophezeien  ist  ein  mißlich  Ding.  Nicht  bloß,  daß  die  Pro- 
pheten im  eigenen  Land  wenig  zu  gelten  pflegen :  auch  die  Historie 
lehrt,  daß  ihre  Weissagungen  niemals  so  erfüllt  worden  sind,  wie 
sie  gemeint  waren.  Sie  gingen  alle  in  die  Irre;  und  wenn  einmal 
die  Zukunft  an  einen  oder  den  andern  von  ihnen  geglaubt  hat, 
so  hat  die  mitleidslose  Kritik  noch  immer  nachweisen  können, 
daß  die  geträumte  Identität  zwischen  Verheißung  und  Erfüllung 
in  Wahrheit  nicht  vorhanden  ist,  und  daß  der  Glaube,  um  sie 
anzunehmen,  weniger  im  Auslegen  als  im  Unterlegen  frisch  und 
munter  sein  m.uß.  Gerade  der  Historiker  also  sollte  sich  vielleicht 
hüten,  den  Schleier  der  Zukunft  lüften  zu  woUen  und  als  Saul 
unter  die  Propheten  zu  geraten.  Indessen  ist  der  Weg,  den  ich 
einschlage,  doch  ein  anderer  als  der  hergebrachte  und  ein  solcher, 
der  aus  dem  mir  gewohnten  Kreis  kaum  herausführt.  Die  Pro- 
pheten von  Beruf  haben  zu  allen  Zeiten  aus  der  Gegenwart  heraus 
geweissagt.  Das  gilt  von  Bebel  und  Liebknecht,  die  noch  kürzlich 
die  soziale  Revolution  vor  Ablauf  des  alten  Jahrhunderts  kommen 
sahen,  ebensowohl  wie  von  allen  Propheten  des  Alten  und  des 
Neuen  Bundes.  Sie  alle  waren  Kämpfer,  Parteihäupter,  und  zwar 
stets  Führer  von  Minoritäten.  Weil  die  Zeitgenossen  nicht  auf 
sie  hörten,  wandten  sie  sich  zürnend  und  hoffend  an  die  Nachwelt 
und  warfen  ein  phantastisches  Spiegelbild  der  Gegenwart  und 
ihrer  Kämpfe  auf  die  Nebelwand  der  Zukunft.  Wenn  es  dagegen 
der  Historiker  unternimmt,  die  Zeichen  der  Zukunft  zu  deuten, 
so  wird  er  dabei  von  den   Leidenschaften   und  Parteiungen  des 


^9Q  Kleine  historische  Schriften. 

Tages  völlig  absehen,  ja  er  wird  den  Blick  kaum  auf  den  Moment, 
in  dem  wir  stehen,  wenden  wollen,  sondern  nur  auf  das  vergangene 
Leben,  wobei  allerdings  zu  bemerken  ist,  daü  schon  der  gestrige 
Tag  zur  \'ergangenheit  gehört:  durch  die  Jahrhunderte  hindurch, 
ein  rückwärts  gewandter  Prophet,  wird  er  den  Gesetzen  nach- 
forschen, welche  die  Mächte  der  Geschichte  in  ihren  Bahnen  halten 
— •  so  mag  er  hoffen  können,  ungefähr  wenigstens  die  Konstellationen 
zu  berechnen,  in  denen  sie  in  Zukunft  zueinander  stehen  werden. 
Das  oberste  Gesetz  aber,  das  alle  Staaten  aller  Jahrhunderte 
bewegt  und  regiert,  ist  der  Trieb  zur  Selbsterhaltung.  Er  ist  gleich- 
bedeutend mit  dem  Willen  nach  Wachstum  und  Ausbreitung, 
nach  Entfaltung  aller  Kräfte.  Die  Form  des  Staates  ist  dafür 
gleichgültig:  ob  Monarchie  oder  Republik,  Stadt-  oder  National- 
staat, Theokratie  oder  Despotismus,  jener  Grundzug  ist  allen, 
kleinen  wie  großen,  gemeinsam:  ins  Leben  selbst  treten  sie  kraft 
dieses  Triebes.  Wäre  dieser  Wille  nur  an  einem  Punkt  der  Erde 
entwickelt  und  fände  er  nirgends  Widerstand,  so  würde  er  (falls 
seine  Lebenskraft  es  zuließe  und  ewig  wäre)  fort  wachsen,  bis 
am  Ende  das  Erdenrund  von  einem  Willen,  einem  Staatswesen 
umschlossen  wäre.  Aber  so  weit  der  Blick  in  die  Jahrhunderte 
zurückreicht,  sehen  wir  eine  Fülle  gleichstrebender  Potenzen. 
Und  da  jede  von  ihnen  so  weit  vordringt,  bis  ihr  die  Grenze  von 
außen  gesetzt  wird,  so  ist  die  allgemeine  Signatur  ein  unablässiges 
Ringen  um  Dasein  und  Macht.  \'on  diesem  Standpunkt  aus  braucht 
die  Frage,  die  so  oft  von  der  Historie  bei  dem  Ausbruch  eines 
Konfliktes  zweier  Staaten  gestellt  wird,  nach  dem  Urheber,  dem 
Angreifer,  gar  nicht  gestellt  zu  werden;  sie  sind  im  Grunde  alle 
offensiv,  und  wer  angreift,  spielt  oft  nur  das  Prävenire,  um  den 
Gegner  zu  verhindern,  die  Kraft  zu  sammeln,  die  ihm  später  selbst 
gefährlich  werden  würde.  Wir  brauchen  hierfür  nicht  lange  nach 
einem  Beispiel  zu  suchen:  wenn  die  Engländer  heute  die  Buren- 
staaten niederzutreten  versuchen,  so  haben  sie  dies  doch  w^ohl 
nicht  bloß  um  der  Goldfelder  Transvaals  willen  unternommen, 
sondern  sie  wollen  das  holländische  Element  in  ihren  südafri- 
kanischen Gebieten,  deren  Beherrschung  eine  Lebensfrage  für 
ihre  Weltherrschaft  ist,  unterdrücken,  bevor  es  ihnen  selbst  über- 


Ein  Blick  in  das  zwanzigste  Jahrhundert.  591 

mächtig  geworden  ist.  Je  geringer  aber  der  Widerstand,  um  so 
rapider  das  Wachstum.  Das  vor  allem  ist  der  Grund  für  die  un- 
hemmbare  Ausdehnung  solcher  Reiche  wie  die  Vereinigten  Staaten, 
China,  Rußland  und  England.  Nur  dort,  wo  ihnen  ein  überlegener 
Wille  entgegengetreten  ist,  haben  sie  haltgemacht,  um  sich  nach 
den  offenen  Grenzen  hin  desto  ungehemmter  zu  entwickeln.  Wenn 
unsere  eigene  Politik  den  Charakter  der  Friedfertigkeit  und  der 
Defensive  behauptet,  so  kommt  es  daher,  weil  wir  von  starken 
Nachbarn  rings  umgeben  sind:  in  den  Jahrhunderten,  da  nur 
schwache  Gegner  an  unsern  Grenzen  hausten,  haben  auch  wir 
uns  ungescheut  auf  ihre  Kosten  ausgebreitet;  und  wir  würden 
aufs  neue  um  uns  greifen,  sobald  es  für  uns  wieder  eine  Macht 
zum  Teilen  gäbe,  wie  vor  hundert  Jahren  Polen.  Jedoch  steht 
die  politische  Energie  bei  jenen  Weltreichen  nicht  gerade  im 
Verhältnis  zu  ihrem  Umfang.  Wie  gering  war  doch  die  Stofi- 
kraft  Englands,  dem  der  Wille  gewiß  nicht  fehlte,  in  dem  Krieg 
mit  den  Buren;  es  hat  seine  militärische  Kraft  fast  erschöpfen 
müssen,  um  nur  die  ersten  Siege  über  die  paar  Tausend  armer 
Hirten  und  Bauern  zu  erringen.  Im  Krimkriege  wurde  die  russische 
Riesenmacht  durch  einen  festen  Griff,  von  einem  Punkt  der 
Peripherie  aus  erdrosselt.  Und  wie  ohnmächtig  war  das  Reich  der 
Mitte,  als  das  kleine  Japan  es  angriff  und  mit  ein  paar  geschickten 
Fechterstößen  auf  die  Knie  zwang!  Je  stärker  vielmehr  der  Druck 
von  außen  ist,  um  so  fester  pflegt  sich  die  Kraft  zu  konzentrieren, 
die  ihm  entgegenwirkt.  Kein  glorioseres  Beispiel  gibt  es  hier- 
für als  Preußen,  das  durch  die  Gegner  ringsum  und  die  Aufgaben, 
die  ihm  dadurch  gesetzt  waren,  sich  gezwungen  sah,  alle  seine 
Kraft  zusammenzunehmen.  Die  Kraft  der  jüdischen  Nationalität 
(der  stärksten,  welche  die  Geschichte  kennt)  entspricht  dem  Druck, 
dem  das  Volk  Juda  von  den  Anfängen  ihrer  Geschichte  her 
bis  heute  hin  ausgesetzt  gewesen  ist.  Und  wenn  in  Europa,  auf 
dem  kleinsten  Raum,  die  größte  Summe  von  Kraft  sich  ausge- 
bildet hat  (also  daß  sie  den  ErdbaU  sich  unterwarf),  so  kommt 
dies  eben  daher,  weil  hier  eine  Reihe  von  ^Mächten  entstanden, 
die  in  unablässiger  Bedrängung  durch  einander  ihre  Kräfte  zu 
entwickeln  gezwungen  waren. 


592  Kleine  historische  Schriften. 

Im  Kampf  aber  entscheidet  die  Stärke.  Darum  ist  es  un- 
abwendbar, daß  die  Weltentwicklung  sich  in  dem  Wetteifer  der 
großen  Mächte  vollzieht,  daß  ihre  Konflikte  die  welthistorischen 
Krisen  hervorrufen,  und  daß  das  Schicksal  der  Kleinen  nur  im 
Ansclüuß  an  sie  sich  wandelt  und  entfaltet:  sowie  im  Reiche  der 
Sterne  die  Bahnen  der  Kleinen  sich  nach  dem  Lauf  der  Großen 
richten  müssen.  In  dem  Anziehen  und  Abstoßen  der  historischen 
Körperwelt  können  auch  wir,  gleich  den  Astronomen,  säkulare 
Abwandlungen  beobachten.  Ein  naheliegendes  Beispiel  gibt 
Holland,  das  seit  dem  lO.  Jahrhundert  zwischen  den  drei  Groß- 
mächten des  Westens,  Spanien,  Frankreich  und  England,  hin 
und  her  gezogen  wurde.  Dies  hat  bis  in  unser  Jahrhundert  hinein 
gewährt.  Noch  vor  hundert  Jahren  wurde  die  kleine  Nation  auf 
das  gewaltsamste  in  dem  Streit  der  Großen  hin  und  her  gerissen. 
Seit  1866  aber  hat  sich  im  Osten  von  ihr  ein  neuer  Stern  erster 
Größe  gebildet,  das  Deutsche  Reich  —  und  schon  sehen  wir,  wie 
dieser  Splitter  unserer  Nation  aus  jenen  fremden  Bahnen  wieder 
in  die  Richtung  zurückgelenkt  wird,  aus  der  er  nur  durch  das 
Schwergewicht  der  Weltmächte  und  die  Lockerung  unserer  eigenen 
Kraft  weggedrängt  worden  war.  Wenn  nicht  alle  Zeichen  trügen, 
so  wird  die  Attraktion  Hollands  an  das  neue  Deutschland  sich 
im  20.  Jahrhundert  nur  verstärken,  und  Gott  möge  geben,  daß 
unsere  Staatsmänner  die  Gelegenheiten,  die  sich  daraus  ergeben 
werden,  immer  richtig  zu  benutzen  verstehen! 

Merkwürdig  aber  ist  die  Beharrlichkeit,  mit  der  die  großen 
Mächte  ihre  Bahnen  festhalten.  Eben  die  Krisen  der  Weltgeschichte 
machen  dies  immer  aufs  neue  deutlich;  sie  bringen  die  eingebornen 
Triebe  mit  ursprünglicher  Gewalt  an  den  Tag.  So  bewegt  sich 
die  Politik  Rußlands  noch  heute  in  den  Bahnen,  auf  die  Peter  der 
Große  sie  hingewiesen  hat  und  die  schon  in  dem  alten  Mosko- 
witerreich vorgebildet  waren:  die  slawische  Welt  und  das  Reich 
Alexanders  des  Großen  unter  dem  Scepter  des  Zaren  zu  versammeln, 
ist  der  Antrieb,  der  ihr  den  stärksten  Nerv  gibt,  das  bindende 
Gesetz,  das  in  allen  ihren  Epochen  sichtbar  wird.  Noch  deut- 
licher wird  der  einheitliche  Charakter  in  der  Geschichte  Frank- 
reichs:   seitdem   Chlodwig   mit    Hilfe   der   römischen    Kirche   den 


Ein  Blick  in  das  zwanzigste  Jahrhundert.  593 

Boden  Galliens  unter  der  fränkischen  Krone  vereinigte,  ist  die 
Verbindung  römischen  Glaubens  und  nationaler  Einheit  ihr  be- 
stimmender Grundzug  geblieben.  Keine  ihrer  Revolutionen 
hat  ihn  austilgen  können;  noch  in  der  Stellung  der  Parteien  bei 
der  Dreyfusaffaire  kehrte  er,  ins  Possenhafte  verzerrt,  \vieder; 
und  was  der  Welt  an  der  französischen  Politik  anfänglich  wohl 
als  eine  Ablenkung  von  ihrem  Prinzip  erschienen  ist,  hat  bisher 
immer  noch  am  Ende  auf  die  Verstärkung  der  ursprüngHchen 
Tendenz  hinausgeführt. 

Die  wdrtschaftlichen  und  sozialen  Umwälzungen  unseres 
Jahrhunderts,  so  unermeßlich  sie  gewesen  sind,  haben  diese  Kon- 
stanz nicht  verändern  können,  sondern  sie  nur  noch  viel  stärker 
entwickelt.  Gerade  Rußlands  Geschichte  gibt  wieder  das  beste 
Beispiel:  die  Zurückdrängung  aller  nichtorthodoxen  Elemente 
ist  dort  niemals  ärger  gewesen  als  heute,  und  ganz  unvermindert 
ist  die  Lust,  in  den  weiten  Gebieten  der  altgriechischen  Welt 
die  Macht  des  Zaren  auszubreiten,  wie  weltbürgerlich  er  selbst 
vielleicht  empfinden  mag.  Oder  wer  möchte  daran  zweifeln,  daß 
sich  das  ganze  Volk  entflammen  und  fortreißen  lassen  würde, 
sobald  es,  wie  zur  Zeit  der  polnischen  Revolutionen  oder  noch 
im  letzten  Kriege  gegen  die  Türkei,  von  oben  das  Signal  empfinge  ? 
Auch  uns  selbst  dürfen  wir  von  dem  allgemeinen  Gesetz  nicht 
ausschließen.  Es  ist  oft  gesagt  worden  (und  nichts  kann  wahrer 
sein),  daß  Bismarck  die  Traditionen  Friedrichs  des  Großen  in 
Preußens  Politik  wieder  aufgenommen  habe:  so  hat  er  Öster- 
reich zu  Boden  geschlagen  und  so  Deutschland  erobert;  sie  hat  er 
auch  in  dem  neuen  Reich  zu  behaupten  gesucht,  und  sie  wirken 
in  allen  unsern  Kämpfen  nach;  auf  ihren  Wegen  liegt,  so  ist  der 
Glaube  der  Patrioten,  das  Heil  unseres  Volkes.  Die  wirtschaft- 
liche Expansion,  die  Ausbildung  unserer  Industrie  und  alle  Um- 
wälzungen, die  dadurch  bedingt  waren,  haben  die  Grundkräfte, 
die  konstituierenden  Elemente  unserer  Politik  nicht  verwandelt, 
sondern  sie  in  den  Kämpfen  der  Parteien  nur  schärfer  heraus- 
gebracht. Noch  merkwürdiger  ist,  daß  auch  Nationen,  die  ihren 
Staat  längst  verloren  haben,  wie  die  Polen,  unter  demselben  Zeichen 
stehen.    Aufgeteilt    unter    die    übermächtigen    Nachbarn,    in    den 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  3° 


594  Kleine  historische  Schriften. 

Grundformen  ihrer  Wirtschaft  und  ihrer  Gesellschaft  ganz  ver- 
wandelt, hat  dies  Volk  dennoch  alle  Überlieferungen  seiner  Politik, 
alle  Ziele  seines  Ehrgeizes  bewahrt,  und  gerade  sie  verleihen  ihm 
die  Kraft,  die  es  fähig  macht,  das  schwere  Schicksal  der  Unter- 
drückung ungebeugt  zu  ertragen. 

Wenn  dies  aUes  richtig  ist  (und  die  Beispiele  ließen  sich  un- 
gezählt vermehren),  wird  es  wohl  auch  so  bleiben.  Und  damit 
sind  die  Phantasien  derer,  die  aus  wirtschafthchen  Motiven,  mit 
denen  sie  alles  erklären  wollen,  den  Zusammenschluß  der  Mächte 
unseres  Kontinents  (ich  weiß  nicht,  ob  gegen  Amerika  oder  England 
oder  gegen  beide  zugleich)  prophezeien,  ebenso  gerichtet  wie  die 
Träume  vom  ewigen  Frieden:  Seifenblasen,  welche  ab  und  an 
aufsteigen  und  den  Diplomaten  zum  Spiel  dienen  mögen,  die 
aber  durch  jeden  Stoß  und  schon  durch  ein  Zittern  in  der  poh- 
tischen  Atmosphäre  zum  Platzen  gebracht  werden.  Und  gerade 
so  schattenhaft  sind  aus  demselben  Grunde  die  Utopien  unserer 
sozialistischen  Propheten.  Sie  alle  knüpfen  an  die  Voraussetzung 
an,  daß  der  Kampf  der  Mächte  aufhören  könne,  der  Weltfriede 
möglich  sei,  daß  die  Interessen  der  Arbeiterwelt  international, 
ja,  daß  die  wirtschafthchen  und  darum  auch  die  politischen  Kon- 
flikte unmögUch  gemacht  wären,  sobald  erst  die  Welt  nach  ihren 
Interessen  eingerichtet  wäre:  als  ob  nicht  vielmehr,  wenn  jedes 
Volk  alle  seine  sozialen  Ordnungen  lediglich  nach  wirtschaft- 
lichen Interessen  einrichten  wollte,  der  nationale  Egoismus  am 
allerbrutalsten  sich  entwickeln  müßte.  Zum  Glück  straft  sie  die 
Geschichte  ihrer  eigenen  Partei,  ja  die  Antriebe,  die  in  ihr  leben, 
selbst  an  jedem  Tage  Lügen.  Wider  Willen  wandeln  sich  ihnen 
ihre  Schlagwörter  und  Programme.  Auch  sie  sind  eben  dem  obersten 
Gesetz,  das  den  Staat  beherrscht,  unterworfen;  indem  sie  auf 
ihren  Parteitagen  schon  über  die  Fragen  unserer  Bewaffnung 
und  unserer  Stellung  zu  den  fremden  Mächten  fast  in  nationalem 
Sinn  debattieren,  erkennen  sie  damit,  ihren  internationalen  Prin- 
zipien zum  Trotze,  an,  daß  deutsche  Macht  und  Ehre  auch  für 
sie  Bedeutung  haben.  Schon  heute  dürfen  wir  mit  voller  Sicher- 
heit sagen,  daß  der  Umwandlungsprozeß  in  dieser  Partei,  er  müßte 
denn   gewaltsam   verhindert   werden,   sich   fortsetzen   wird.     Um 


Ein  Blick  in  das  zwanzigste  Jahrhundert.  595 

eine  Ära  der  Revolution  zu  erwarten,  wie  die  erste  Hälfte  des 
alten  Jahrhunderts  sie  gebracht  hat,  würde  vor  allem  gehören,  daß 
die  Eifersucht  unter  den  Mächten  und  Nationen  geringer  würde, 
als  es  heute  der  Fall  ist.  Aber  niemals  ist  ihre  Rivalität  stärker 
entwickelt  gewesen.  Gerade  die  Demokratisierung  unserer  Na- 
tionen hat  das  Selbstbewußtsein  einer  jeden  und  das  Streben, 
es  den  andern  zuvorzutun,  gestachelt  und  unermeßlich  gesteigert; 
bei  jedem  kolonialen  Erwerb,  bei  jeder  Ausbreitung  des  Handels 
und  der  Industrie,  in  jedem  Zweige  der  nationalen  Arbeit  tritt 
dieses  Moment  hervor.  Der  Kampf  der  großen  Staaten  um  die 
Herrschaft  des  Erdballs  bändigt  die  Parteien  in  ihrem  Schoß; 
wer  sich  dem  tiefsten  Instinkt  der  Nationen,  Macht  zu  gewinnen, 
widersetzt,  über  den  wird  ihr  Wille  hinwegschreiten. 

Eins  freilich  ist  nötig:  daß  das  oberste  Gesetz,  das  Gemein- 
gefühl, das  in  dem  Staate  lebt,  der  Wille  zum  Dasein  und  zur  Macht 
in  ihm  lebendig  bleibe.    Denn  unsterblich  ist  er  nicht. 


68^=^?^ 


38* 


Die  Stellung  der  historischen  Wissen- 
schaften in  der  Gegenwart. 

(1897.) 

Das  »naturwissenschaftliche  Zeitalter«,  so  hat  einmal  Werner 
Siemens  in  einem  berühmt  gewordenen  Vortrage  unsere  Zeit 
genannt,  und  unzählig  oft  ist  ihm  das  Wort  nachgesprochen  worden ; 
man  pflegt  es  wie  eine  selbstverständliche  Wahrheit  zu  wieder- 
holen. Die  gesamte  Kultur  unserer  Epoche  sieht  er  beherrscht, 
ja  heraufgeführt  durch  die  Macht  der  mit  der  Naturwissenschaft 
verbündeten  Technik.  Unzerstörbar  nennt  er  ihre  Triumphe, 
unversiegliche  Quellen  nicht  nur  des  Wohlstandes,  sondern  des 
inneren  Glückes  und  der  idealen  Güter;  er  möchte  dem  »neuen 
Zeitalter  der  Menschheit«  ewige  Dauer  verheißen.  Und  gewiß 
war  niemand  berechtigter  als  er,  sich  zum  Lobredner  der  AUianz 
zwischen  Naturerkenntnis  und  Technik  zu  machen,  von  der  er  die 
Berechtigung  seines  Ausspruches  herleitete.  Jeder  Knabe  kann 
die  wunderreichen  Wandlungen  nennen,  welche  die  über  die  Natur 
gewonnene  Herrschaft  seit  siebzig  Jahren  herbeigeführt  hat : 
das  soziale  wie  das  pohtische  Leben  sind  dadurch  auf  das  tiefste 
beeinflußt  worden;  und  der  Name  des  genialen  Technikers,  der 
seine  Erfindungen  auf  einem  tief  dringenden  Studium  der 
Naturkräfte  aufgebaut  hat,  wird  jederzeit  mit  der  Geschichte 
imserer  Epoche  verbunden  bleiben.  Aber  so  formuliert  und  be- 
gründet, muß  jene  Bezeichnung  dennoch  als  einseitig  und  über- 
trieben bezeichnet  werden.  Ich  will  nicht  wiederholen,  was  da- 
gegen von  berufenster  Seite,  von  Wilhelm  Waldeyer,  eingewandt 


Die  Stellung  der  historischen  Wissenschaften  in  der  Gegenwart.      597 

worden  ist,  daß  auch  das  Jahrhundert  der  Newton  und  Linne, 
der  Lavoisier  und  Laplace  Bahnbrecher  in  der  Naturwissenschaft 
gehabt  hat,  ja,  daß  gerade  die  DiszipHnen,  welche  heute  die  höchsten 
Triumphe  in  der  Umwälzung  der  Technik  feiern,  damals  zum 
Range  einer  Wissenschaft  erhoben  wurden.  Ich  will  von  meiner 
Seite  aus  jenen  Anspruch  auf  Alleinherrschaft  bestreiten  und 
behaupte  vielmehr,  daß  die  historischen  Wissenschaften  an  Um- 
fang wie  an  Wirkung  den  Wettstreit  mit  denen  von  der  Natur  in 
keiner  Weise  zu  scheuen  haben. 

Denn  niemals  war  die  Lust,  in  den  weiten  Räumen  der  Ver- 
gangenheit umherzu wandeln  und  sie  uns  gegenwärtig  zu  machen, 
größer  als  heute.  Es  gibt  keine  Geisteswissenschaft,  welche  nicht 
bemüht  wäre,  sich  ihrer  Entwicklung  bewußt  zu  werden  und 
alle  ihre  Ziele  in  Zusammenhang  zu  bringen  mit  dem  Gange  der 
Jahrhunderte,  die  sie  durchmaß.  Jurisprudenz,  Nationalökonomie 
und  alles  Wissen  vom  Staate  wie  alle  Zweige  der  Theologie  sind 
mit  historischer  Forschung  unterbaut.  Die  Ästhetik  und  die 
Künste  selbst  wollen  sie  nicht  mehr  entbehren.  Und  unsere  Philo- 
sophen, soweit  sie  nicht  bei  den  Naturforschern  in  die  Lehre  gehen 
und  auf  ihrem  W'ege  der  Empirie  in  die  Geheimnisse  des  Seelen- 
lebens einzudringen  versuchen,  sind  heute  mehr  darauf  aus,  ältere 
Systeme  zu  studieren,  als  eigene  aufzustellen.  Die  Systematik 
ist,  ich  will  nicht  sagen  verdrängt,  aber  ganz  durchsetzt  mit  Historie, 
also  mit  einer  Betrachtungsweise,  die  an  sich  dem  systematischen 
Denken  abhold  ist  und  zunächst  jedenfalls  zersetzend  darauf 
einwirken  muß. 

An  Umfang  unserer  Studien  könnten  wir  uns  daher  mit  unseren 
Rivalen  sicherlich  messen.  Es  fragt  sich  nur,  ob  wir  gleichviel 
gewonnen  und  gewirkt  haben  wie  sie,  und  ob  wir  ein  Anrecht 
haben,  uns  auf  unserem  Boden  ebenso  sicher  zu  fühlen. 

Nicht  alle  Zeiten  haben  an  die  Möglichkeit  des  historischen 
Erkennens  geglaubt.  Das  Wort  von  der  »fable  convenue«  ist 
erst  im  i8.  Jahrhundert  geprägt  worden.  Die  römische  Welt- 
anschauung, die  mächtigste  vielleicht  der  Gegenwart,  erkennt 
es  überhaupt  nur  so  weit  an,  als  es  ihrem  Willen  und  Horizonte 
nicht  widerstreitet;  tausend  Federn  setzt  sie  täglich  in  Bewegung, 


598  Kleine  historische  Schriften. 

um  Dogma  und  Historie  miteinander  in  Einklang  zu  bringen 
und.  wo  sie  auseinander  gehen,  den  Vorrang  ihres  Glaubens  zu 
erweisen.  Aber  auch  in  unserem  Lager  gab  und  gibt  es  bis  in  die 
Reihen  der  Fachgenossen  hinein  Skeptiker  genug,  welche  der 
Historie  den  Anspruch  auf  vollwertige  Gewißheit  absprechen. 
Vor  allem  die  politische  Geschichte  hat  von  jeher  unter  dieser 
Ungunst  zu  leiden  gehabt.  Denn,  so  sagen  die  Zweifler,  und  die 
Römlinge  helfen  wacker  mit,  wir  seien  allzu  fest  mit  dem  Partei- 
getriebe unserer  Tage  verwachsen,  um  uns  darüber  zu  erheben ; 
das  Augenblicksleben  mit  seinen  Leidenschaften,  und  Interessen 
trübe  unseren  Bhck  und  erst  eine  ferne  Zukunft  könne  Unklar- 
heiten und  Fehler  unserer  Beobachtung  ergänzen. 

Wäre  dem  so,  so  würde  jeder  Anspruch,  der  Systematik  die 
Wege  zu  weisen,  in  sich  zerfallen.  Denn  es  ist  gar  nicht  abzusehen, 
weshalb,  was  der  politischen  Historie  verwehrt  wird,  anderen 
Zweigen  historischer  Kritik  zuerkannt  werden  soll,  zumal  da 
die  politische  Geschichte  sich  an  keinem  Punkte  von  anderen 
Gebieten  der  Kultur  loslösen  läßt.  Oder  wie  könnte  etwa  die 
moderne  Kritik  der  Bibel  Alten  und  Neuen  Testamentes,  ja  des 
ganzen  Dogmengerüstes  der  christlichen  Kirche  imstande  sein, 
die  Kontrole  über  die  Behauptungen  der  Dogmatik  auszuüben, 
wenn  sie  ihrer  selbst  nicht  gewiß  wäre.  Denn  es  läßt  sich  doch 
wirklich  nicht  sagen,  daß  die  Konsequenzen  der  kritischen  Theo- 
logie an  praktischer  Bedeutung  hinter  der  Betrachtung  etwa 
der  deutschen  Geschichte  im  19.  Jahrhundert  zurückstehen ; 
gerade  sie  greift  vielmehr  am  allertiefsten  in  die  Weltanschauung 
jedes  einzelnen  und  in  die  gesamte  Struktur  unserer  Gesellschaft  ein. 

Hätten  jene  Skeptiker  recht,  so  würde  das  Wort  von  dem 
»Geist  der  Zeiten«   Wahrheit  haben: 

Das  ist  im  Grund  der  Herren  eigner  Geist, 
In  dem  die  Zeiten  sich  bespiegeln. 

Es  ist  der  zweifelnde  und  fast  verzweifelnde  Faust,  dem  es 
der  Dichter  in  den  ^lund  legt:  seinem  Famulus  wirft  er  es  ent- 
gegen. 

Wie  aber?  Sollen  wir  die  Sache  des  Pedanten  vertreten, 
das    flache    Selbstbewußtsein,    dem    das    Pergament    der    heilige 


Die  Stellung  der  historischen  Wissenschaften  in  der  Gegenwart.     599 

Bronnen  ist  ?  Nun  ja,  es  läßt  sich  eben  doch  nicht  leugnen,  daß 
es  unserer  Zeit  ein  großes  Ergötzen  macht,  sich  in  den  Geist 
der  Zeiten  zu  versetzen;  und  also  können  wir  nur,  wenn  wir  uns 
auf  die  Urkunden  verlassen  dürfen,  dem  höhnenden  Urteil  des 
großen  Grüblers,  in  dem  schon  Mephisto  zu  Worte  kommt,  mit 
Fug  begegnen. 

Und  dennoch  würde  Goethe  auch  mit  jenem  Worte  vielleicht 
recht  behalten  haben,  und  wir  brauchen  nicht  lange  nach  den  Herren 
zu  suchen,  auf  die  es  wie  gemünzt  erscheinen  könnte.  Oder  was 
war  es  anders  als  eine  Abspiegelung  der  Vergangenheit  in  der 
Herren  eignem  Geist,  wenn  die  Romantiker  den  Nebelglanz  des 
Mittelalters  in  Leben  und  Dichtung  neu  heraufführen  wollten,  als 
eine  phantastische  Fata  Morgana,  ein  Gegenbild  ihrer  eigenen  Stim- 
mungen, das  ihnen  krankhafte  Sehnsucht  in  den  rauhen  und 
finsteren  Jahrhunderten  der  triumphierenden  Kirche  vorzauberte. 

Doch  auch  aus  anderen  Zeiten  würde  es  Faust  an  Beispielen 
nicht  gefehlt  haben,  um  einen  Wagner  zu  widerlegen.  Jahrhunderte 
hindurch  war  Herstellung  der  Antike  das  Schlagwort  der  ge- 
bildeten Welt.  Niemals  mehr  als  im  Zeitalter  Petrarcas  und  seiner 
Jünger,  welche  das  Leben  Griechenlands  und  Roms  nicht  bloß 
studieren,  sondern  nachbilden,  ihr  Jahrhundert  und  ihre  Nation 
mit  dem  Leben  der  Alten  beseelen  wollten.  Tausend  neue  Keime 
haben  sie  in  ihre  Zeit  gesenkt,  aber  niemals  erreichten  sie,  was 
sie  wollten ;  sie  konnten  aus  der  Vermählung  der  Antike  mit  ihrem 
eigenen  Geist  nur  ein  Neues  schaffen,  und  ihre  Lust  an  dem  Sinn 
und  Leben  der  Alten  entsprang  nur  wieder  der  Sehnsucht  nach 
Befreiung  aus  der  Stickluft  ihrer  Tage,  verkündete  das  Erwachen 
der  modernen  Nationen.  Mit  Fausts  Argument  bekämpften  sie 
die  Scholastik,  die  dem  Geist  des  Altertums  das  eigene  hippo- 
kratische  Gesicht  unterstelle.  Aber  wenn  sie  dem  Aristoteles 
der  Hierarchie  ihren  Plato  entgegensetzten,  so  verschwand  auch 
ihnen  wieder  die  Lichtgestalt  des  hellenischen  Denkers  in  dem 
mystischen  Nebel  neuplatonischer  Ideen,  die  sie  selbst  in  dem 
Dunstkreise  mittelalterlicher  Weltanschaimng  festhielten.  Und 
so  mögen  wir  durch  die  Jahrhunderte  vorwärts  schreiten  und 
rückwärts   —  immer   begegnet   uns   dies   Gleichsetzen   und   Ver- 


gOQ  Kleine  historische  Schriften. 

wechseln  von  Gegenwart  und  Vergangenheit  und  diese  Ohnmacht, 
das  Abgestorbene  in  seiner  Wesenheit  zu  begreifen.  Nirgends 
waren  die  Elemente  christHcher  und  heidnischer  Cberheferung 
krauser  gemischt  und  ihrer  Eigenart  mehr  beraubt,  als  in  der 
mittelalterlichen  Kirche.  Und  doch  macht  gerade  sie  den  An- 
spruch, den  Willen  der  Gottheit,  das  Evangehum  in  seiner  Ur- 
sprünglichkeit zu  besitzen;  in  jedem  Moment  will  sie  es  noch  heute 
sichtbar  machen,  ja  in  der  Hostie  dem  Gläubigen  greifbar  und 
schmeckbar  geben.  Sie  will  den  Geist  Christi  verkörpern  und 
gleicht  doch  nur  dem  Geist,  den  sie  begreift. 

Jedoch  auch  die  Gegner  des  römischen  Stuhls  können  sich 
aus  diesen  Stricken  nicht  lösen.  Ein  historisches  Faktum,  die 
Erscheinung  und  die  Lehre  Christi,  ist  die  Basis  ihres  Glaubens. 
Darin  suchen  sie  ihre  Rechtfertigung,  und  alle  ihre  Angriffe  gegen 
Rom  gipfeln  darin,  daß  sie  den  Herrn  und  sein  Wort  richtiger 
zu  begreifen  meinen.  Alle  Sekten,  die  in  der  Kirche  aufgetreten 
sind,  lassen  sich  in  diesem  Zirkel  beschreiben.  Sie  alle  verwendeten 
Faustens  Argument :  als  Zutaten  späterer  Jahrhunderte  bezeichnen 
sie  die  römischen  Abweichungen,  mag  es  Dogma  oder  Verfassung 
betreffen;  der  Herren  eigener  Geist  soll  ihren  Widersachern  aus- 
getrieben, das  Ursprüngliche  hergestellt  werden.  Luther  und  alle 
Reformatoren  geben  sich  nicht  anders;  das  lautere  Evangelium, 
so  wie  es,  aus  Christi  Mund  und  Gottes  Geist  in  den  heiligen  Schriften 
offenbart,  jedermann  in  dem  Volke  vor  Augen  steht,  wollen  sie 
aufs  neue  verkündigen.  Und  doch,  wer  will  es  leugnen,  daß  sie 
alle  die  Überheferung  mit  Eigenem,  ihrem  Geist  und  ihrer  Zeit 
Angehörigem  versetzten?  Ja,  unser  Herr  Christus  selbst,  wenn 
er  lehrte,  daß  er  gekommen  sei,  um  das  Gesetz  zu  erfüllen  und 
die  Verheißungen  der  Propheten,  und  daß  kein  Tüttelchen  vom 
Gesetze  aufgelöst  werden  solle  —  oder  die  Juden  nach  der  Heim- 
kehr aus  dem  Exil,  wenn  sie  von  der  alten  Herrlichkeit  Israels 
dichteten  und  träumten  und  nach  Moses'  Namen  ein  neues  Gesetz- 
buch nannten:  was  taten  sie  anders,  als  daß  sie  das  Bild  der 
Gegenwart  mit  all  ihren  Zweifeln  und  Hoffnungen  auf  den  Nebel 
der  Vergangenheit  projizierten!  Alle  Propheten  aller  Jahrhunderte 
haben  so  gehandelt:  immer  waren  es  die  \'^äter,  die  Verstorbenen, 


Die  Stellung  der  historischen  Wissenschaften  in  der  Gegenwart.      QOl 

die  sie  als  Zeugen  und  Helfer  anriefen.  So  tat  Jean  Jacques  Rousseau, 
da  er  den  Jungbrunnen  für  das  neue  Leben  jenseits  aller  Geschichte 
in  einem  reinen  Zustand  der  Natur  zu  entdecken  wähnte:  nie- 
mals hat  es  ein  traumhafteres  Gegenbild  aller  Wirklichkeit  ge- 
geben; alles  will  er  vernichten,  was  zwischen  dort  und  hier  liegt; 
aus  dem  Schlamm  der  Zivilisation  will  er  die  Marmorstatue  des 
Kindes  der  Natur  herausholen. 

Die  Ideen  der  Religion,  der  Kirche,  des  Staates,  der  Gesell- 
schaft knüpfen  sie  an  die  Vergangenheit,  ja  an  den  Ursprung 
der  Menschheit;  aber  ihre  Zwecke  gehören  immer  der  Gegenwart 
an:  die  kranke  Zeit  soll  geheilt  und  die  alte  Welt  wieder  jung 
werden;  des  Rätsels  Lösung  wollen  sie  finden,  den  Gleichklang 
für  alle  Lebensdissonanz,  das  Gesetz,  das  die  Gewähr  gibt  auch 
für  die  fernste  Zukunft. 

Solche  Fülle  von  Tiefsinn  steckt  in  jenem  Faustischen  Worte. 
Das  Größte,  was  die  Menschheit  geschaffen,  stammt  aus  einem 
Glauben,  der  die  Zeiten  verwechselt;  dem  tiefsten  Bedürfnis 
des  Menschenherzens  ist  er  entsprungen. 

Und  so  ist  es  eine  der  Hauptaufgaben  für  alle  Historie,  das 
Gespinst  dieser  Gedanken  auseinanderzureißen,  welche  die  Jahr- 
hunderte miteinander  vertauschen. 

Wir  setzen  damit  aber  nur  fort,  was  längst  begonnen  war. 
Denn  immer  noch  hat  die  Nachwelt  das  historische  Bild,  das  die 
vergangenen  Generationen  geschaffen,  umgestoßen  oder  doch 
vöUig  korrigiert.  Das  Interesse  trieb  die  Kritik  hervor;  in  dem 
Kampf  gegen  das  Überlebte  ergriff  man  auch  diese  Waffe.  So 
tilgte  das  Christentum  den  Pharisäerglauben  aus,  indem  es  den 
Gott  der  Juden  in  dem  Vater  der  Menschheit  wiederfand.  So 
zerbrach  Luther  den  historischen  Untergrund,  auf  dem  die  römi- 
sche Kirche  ihre  Lehren  und  Ansprüche  in  allen  Jahrhunderten 
errichtet  hatte:  niemand  hat  je  ihr  trugvolles  System  fester  an- 
gepackt und  gewaltiger  mit  ihrer  Fabelfülle  aufgeräumt.  Weit 
zurück  tritt  alles,  was  die  Humanisten  vor  ihm  getan  haben.  Sie 
hatten  an  den  Ecksteinen  nur  gerüttelt:  aus  den  Fundamenten 
hoben  den  Bau  erst  Luthers  Bauernhände.  Nicht  die  Intelligenz 
war  es,   welche   den   Fortschritt   der  historischen  Erkenntnis  be- 


gQ2  Kleine  historische  Schriften. 

dingte:  sondern  die  sittliche  Kraft  und  die  Energie  eines  neuen 
Lebensprinzipes.  Ihm  folgte  erst  die  Kritik  und  blieb  doch  zu- 
gleich in  den  Schranken,  die  jenes  ihr  setzte. 

Und  nicht  anders  in  späteren  Epochen.  Das  Zeitalter  kon- 
fessioneller Politik  mußte  absterben,  bevor  ein  Pufendorf  und 
Bolingbroke  die  Grundlinien  der  politischen  Geschichte  des  modernen 
Europas  entdecken  konnten.  Die  Weltanschauung  des  i8.  Jahr- 
hunderts mit  ihrer  Voraussetzungslosigkeit  gegenüber  Natur 
imd  Geschichte  gehörte  dazu,  um  eine  objektive  Auffassung  auch 
der  Kirchengeschichte  zu  ermöglichen.  Und  wieder  war  es  erst 
die  Reaktion  der  Romantik  gegen  die  Überhebung  der  Aufklärung, 
welche  die  historische  Größe  der  Kirche  des  Mittelalters  ver- 
stehen lehrte  und  dem  Verständnis  für  die  Eigenart  der  wechselnden 
Epochen  die  Bahn  brach. 

Wie  stehen  wir  nun  zu  dem  Problem  ?  Können  auch  wir  nichts 
anderes,  als  die  eben  Verstorbenen  kritisieren  und  vielleicht  die 
Erkenntnis  der  Geschichte  um  die  paar  Linien  unseres  Hori- 
zontes weiterführen  ?  Wird  uns  vielleicht  schon  die  nächste  Gene- 
ration von  den  Richterstühlen  herunterstoßen,  in  denen  wir  uns 
heute  breit  machen,  und  unsere  Schilderungen  auch  nur  wieder 
zu    Spiegelbildern  unseres  eigenen  Geistes  herabdrücken  ? 

Räumen  wir  zunächst  ohne  weiteres  ein,  daß  uns  noch  vieles 
fehlt,  und  daß  zukünftige  Geschlechter  Methode  und  Urteil  ver- 
schärfen und  vertiefen  w-erden.  Das  ist  eine  Konzession,  welche 
auch  die  Naturforscher  ohne  Bedenken  ihren  Nachfolgern  machen 
werden.  Danach  aber  halte  ich  jener  Besorgnis  entgegen,  daß 
wdr  heute  keine  Nebenzwecke,  keine  besonderen  Ideale  verfolgen. 
Wir  wollen  nur  berichten,  wie  wir  zu  dem  geworden  sind,  was 
war  sind,  und  behaupten  gar  nicht,  daß  wir  es  besonders  weit 
gebracht  haben.  Wir  stehen  der  Vergangenheit  gegenüber  wie 
der  Naturforscher  der  Pflanze  oder  den  Perioden  unserer  Erd- 
geschichte, in  denen  er  unsere  Ursprünge  bis  zum  Affen  und  unsert- 
wegen noch  weiter  hinauf  verfolgen  mag.  Wir  wollen,  solange 
wir  studieren,  aus  den  alten  Zeiten  nichts  heraufholen,  was  un- 
mittelbar lebengestaltend  wirke;  wir  wollen  keine  Geister  be- 
schwören.    Wir    würden    nicht    zurückscheuen,    den    Schleier    zu 


Die  Stellung  der  historischen  Wissenschaften  in  der  Gegenwart.      603 

heben,  und  ginge  es  uns  wie  dem  Jüngling  zu  Sais.  So  wenig 
wollen  wir  ein  System  und  dogmatische  Werte,  daß  wir  im  Gegen- 
teil alle  Systematik  auflösen  und  die  Bedingtheit  alles  irdischen 
Wesens  und  Begehrens  nachweisen.  Wir  wollen  nichts  als  unter- 
suchen und  entdecken,  Land  gewinnen,  wie  es  Faust  als  das  be- 
freiende Ende  ziellosen  Strebens  begrüßte. 

Und  immerhin  dürfen  wir  sagen,  daß  wir  ein  Stück  Weges 
zurückgelegt  und  dort  tiefgründigen  Kulturboden  aufgedeckt 
haben,  wo  frühere  Generationen  nichts  als  den  wogenden  Nebel 
der  Sage  und  das  Gestrüpp  verwirrter  Überlieferung  erblickten. 
Wie  flach  gemalt  erschien  das  Bild  der  römisch-griechischen  Kultur 
noch  im  Jahrhundert  der  Aufklärung  und  wie  eng  der  Rahmen 
der  es  hielt,  bevor  Winckelmanns  schönheitsdurstige  Seele  das 
Land  seiner  Sehnsucht,  die  Welt  hellenischer  Formen  entdeckte! 
Damals  hatten  sich  Römertum  und  Griechentum  in  der  allgemeinen 
Auffassung  noch  kaum  voneinander  gelöst,  ja  die  Griechen  traten 
hinter  Cicero  oder  seinesgleichen  weit  zurück;  und  über  allem 
lag  der  matte  Glanz  der  gleichen  klassischen  Erhabenheit.  Heute 
ist  die  Perspektive  auf  das  Altertum  durch  Jahrtausende  hindurch- 
geführt: jede  Epoche  hat  ihre  Stellung  erhalten;  tiefe  Schatten 
zeigen  sich,  wo  eine  frühere  Zeit  nichts  als  Licht  sah,  und  eine 
Fülle  von  Leben  tritt  hervor,  wo  sonst  alles  im  Dunkel  lag.  Troja 
und  M^^kene,  Argos  und  Orchomenos  sind  uns  nicht  mehr  bloße 
Stätten  sagenvollen  Glanzes,  sondern  wir  sehen  die  Staaten  und 
die  Menschen  vor  uns,  um  deren  Kämpfe  die  Sage  der  Hellenen 
ihre  goldenen  Fäden  spann.  Aus  den  Scherbenhügeln  der  syrischen 
Landschaften,  aus  den  Urwäldern  von  Mexiko  und  Texas  erheben 
sich  vor  uns  wie  aus  Grabesdunkel  verschollene  Kulturen.  Und 
bis  ins  4.  Jahrtausend  und  weiter  zurück  können  wir  in  den  Mutter- 
reichen  unserer  Bildung  am  Nil  und  Euphrat,  in  Ägypten  und 
in  Assyrien,  die  vergangenen  Geschlechter  bei  ihrem  täglichen 
Leben  und  Treiben  bis  in  das  kleinste  Detail,  man  kann  sagen 
bis  in  Küche  und  Keller,  beobachten. 

In  allem  aber  dringen  wir  in  das  Wesen,  die  Eigenart  der 
Zeiten  ein.  Wir  machen  kaum  den  Anspruch,  wie  die  Natur- 
forscher, die  »>dauemden  Gedanken«,  die  Gesetze  in  der  Erschei- 


504  Kleine  historische  Schriften. 

nungen  Flucht  nachzuweisen;  nur  das  bunte  Bild  des  Lebens 
in  allen  Jahrhunderten  wollen  wir  abschildern.  Aber  gerade  darum 
l^eginnt  der  Geist  der  Zeiten  sich  vor  uns  zu  entschleiern. 


An  dieser  Stelle  merken  wir  recht,  daß  wir  Historiker  auch 
in  der  Wirkung  unserer  Gedanken  sehr  wohl  den  Rivalen  an  die 
Seite  treten  dürfen.  Auch  wir  wollen  so  wenig  wie  sie  »über  den 
Erdkreis  hinweg  die  Augen  blinzend  richten <<,  und  nur  »was  sich 
erkennen  läßt,  ergreifen«.  Wir  zittern  vor  keinen  Konsequenzen, 
welche  dies  allseitige  Antasten  und  Nachprüfen  unserer  Welt- 
vorstellungen nach  sich  ziehen  könnte.  Es  ist  ein  Anblick,  an 
dem  Mephisto  beinah  seine  Freude  haben  könnte;  vielleicht  würde 
ihm  sein  Giftwort  einfallen  vom  Bangewerden  um  unsere  Gott- 
ähnlichkeit oder  auch  der  ältere  Spruch  von  seiner  Muhme, 
der  Schlange.  \\'ir  nagen  an  jeder  Wurzel,  wir  rütteln  an  jedem 
Steinchen,  das  den  kunstvoll  verschlungenen  Bau  unserer  Gesell- 
schaft trägt.  Keine  Überlieferung,  kein  Glaube,  kein  Gesetz, 
keine  Urkunde,  und  trüge  sie  göttliche  Siegel,  ist  vor  unseren 
Spürnasen  sicher.  Wir  graben  und  graben,  wie  die  Lemuren  gruben, 
als  sie  auf  Faustens  Geheiß  die  Kanäle  zogen,  um  ihm  von  neuem 
Land  zu  gewinnen;  —  aber  Mephisto  war  ihr  Werkführer,  und 
sie  gruben  dem  Meister  das  Grab. 

Wohl  hören  wir  tausend  Stimmen,  einen  lärmenden  Chorus, 
»halt  ein!«  rufen.  Ihre  Weisheit  besteht  im  Festhalten  dessen,  was 
steht,  weil  es  einmal  dasteht  —  sie  nennen  das  konservativ.  Aber 
soweit  dabei  nichts  als  Angst  vor  der  Zerstörung  das  Wort  führt, 
wird  ihnen  alles  Geschrei  wenig  helfen.  Denn  unaufhaltsam  schwillt 
die  Flut  des  Wissens  empor.  Und  schon  wächst  sie  mehr  fast 
in  die  Breite  als  in  die  Höhe.  Von  den  Massen  wird  sie  als  Macht- 
element begrüßt  und  erstrebt.  Alle  technischen  Errungenschaften 
wirken  nur  dienend  und  verstärkend  mit;  indem  sie  die  Menge 
zusammenführen  und  die  neuen  Gedanken  mit  der  Schnellig- 
keit des  Blitzes  über  die  Erde  verbreiten,  wirken  sie  gleichsam 
wie  Windstöße,  welche  mit  immer  stärkerer  Gewalt  die  wogende 
Macht  vorwärts  treiben. 


Die  Stellung  der  historischen  Wissenschaften  in  der  Gegenwart.      605 

Vor  der  Wucht  dieser  Aufklärung  tritt  die  des  i8.  Jahr- 
hunderts tief  in  den  Schatten.  Damals  gab  es  nur  einen  kleinen 
Kreis  von  Wissenden,  und  die  große  Menge  lebte  in  den  gewohnten 
Bahnen  des  staatlichen  und  kirchüchen  Lebens  dahin ;  konfessionell 
waren  immer  noch  die  Streitigkeiten,  die  sie  etwa  interessierten. 
Es  waren,  zumal  in  Frankreich,  dem  Mutterlande  der  Aufklärung, 
die  Reichen  und  Vornehmen,  »la  bonne  compagnie«,  welche  die 
neue  Bildung  besaßen,  als  ein  neues  Vorrecht  zu  ihren  alten: 
das  Privileg  des  Witzes;  und  selbst  die  Wortführer,  wie  Voltaire, 
dachten  lange  Zeit  nicht  daran,  der  Menge,  dem  »Pack  der  Knechte 
und  Mägde«,  den  »Aberglauben«  zu  nehmen.  Heute  ist  es  eher 
umgekehrt:  die  harten  Fäuste  ergreifen  und  entzünden  an  den 
hin  und  her  fahrenden  Blitzen  ihre  Fackeln,  und  angstvoll  sehen 
wir  die  Besitzenden  und  Gebietenden  herbeieilen  und  zur  Ab- 
wehr der  feurigen  Lohe  ihre  hölzernen  Mauern  besteigen. 

Kein  Zweifel,  daß  die  nervöse  Unruhe  unserer  Zeit,  ihre  Angst 
vor  der  Zukunft,  ja  das  Gefühl  seehscher  Verarmung,  welches 
weite  Kreise  zu  ergreifen  droht,  zum  guten  Teil  auf  diese  fort- 
schreitende Kritik  und  Unterhöhlung  aller  unserer  Überlifeerungen 
zurückzuführen  ist.  Mit  den  Erfolgen  der  Naturerkenntnis  finden 
wir  uns  viel  leichter  ab,  denn  sie  berühren  nicht  so  unmittelbar 
das  Nervengeflecht  der  Gesellschaft  und  lassen  sich  viel  leichter 
ausmünzen,  in  politische  und  soziale  Macht  umsetzen,  als  das 
historische  Wissen.  Auch  sie  fordern  ungezählte  Opfer,  wie  alles 
menschliche  Schaffen  zugleich  Zerstörung  ist ;  aber  man  sieht  doch 
bei  ihnen  das  »wo  und  wie«,  und  die  ungemessenen  Vorteile,  die 
sie  gewähren,  lassen  uns  am  Ende  vergessen,  was  sie  vernichteten. 
An  der  historischen  Aufklärung  aber  nehmen  wir  zunächst  nur  die 
zersetzende  Kraft  wahr,  und  nicht  die  unwägbaren  Güter,  denen 
sie  nun  doch  vielleicht  Raum  verschaffen  möchte.  Kalt  und  scharf, 
gleichsam  elektrisch,  ist  das  Licht,  das  sie  ringsumher  ausgießt. 
Die  Romantik,  welche  das  sagen  webende  Dämmerlicht  der  Ge- 
schichte liebt,  gedeiht  nicht  mehr  in  dem  Plein  air  unserer  Tage. 
Wo  sie  noch  erscheint,  ironisiert  sie  sich  wohl  selbst,  wie  bei  Joseph 
Viktor  Scheffel,  oder  sie  drapiert  sich  mit  dem  erborgten  Flitter 
religiöser   Mystik   und   moderner   philosophischer   Ideen,   wie   bei 


^06  Kleine  historische  Schriften. 

Richard  Wagner;  oder  sie  verbündet  sich  direkt  klerikalen  Ten- 
denzen, wie  bei  dem  Dichter  von  Dreizehnlinden.  Unnatürlich 
und  abstoßend  wirkt  sie,  sobald  sie  sich  in  das  grelle  Tageslicht 
liinauswagt,  wie  bei  den  spiritistischen  Frauengestalten  Ibsens 
in  der  trockenen  Stubenluft  seiner  bürgerlichen  Trauerspiele. 
Und  so  drohen,  es  ist  schmerzlich  zu  sagen,  vor  diesem  Hin-  und 
Herleuchten  in  alle  Winkel  des  Erdenlebens,  die  guten  Geister 
aus  Phantasus'  Reich  zu  entweichen. 

Glücklich  die  naiven  Zeiten,  denen  ein  paar  Motive  aus  der 
alten  Kunst,  Rundbogen  oder  Säule,  genügten,  um  sie  mit  der 
eigenen  quellenden  Phantasie  zu  verschmelzen  und  so  eine  Kunst 
zu  schaffen,  welche,  in  sich  abgeschlossen,  das  Können  und  Streben 
der  Epoche  zu  einem  vollen  und  klaren  Ausdruck  brachte.  Heute 
sind  unsere  Architekten  mit  allen  Epochen  der  Stilgeschichte 
vertraut,  und  unsere  jungen  Mädchen  wissen  schon  über  die  Maler- 
schulen Hollands  und  Italiens  zu  sprechen.  Wir  sammeln  in  unsem 
Museen  die  Kunstprodukte  aller  Länder  und  Zeiten,  von  den 
Ägyptern  und  Assyrem  herunter  bis  zu  den  Südseeinsulanem 
und  Kaffern.  Auch  sind  wir  bewunderungswert  im  Restaurieren. 
Die  Kirchen,  welche  unsere  Väter  unausgebaut  ließen,  stellen 
wir  wieder  her,  so  prachtvoll  und  harmonisch,  wie  sie  nur  je  ge- 
dacht wurden.  Wir  sind  unvergleichlich  im  Imitieren.  Alle  Stil- 
gattungen wissen  unsere  Baumeister  zu  handhaben.  Sie  bauen 
gotisch  und  romanisch,  im  Stil  griechischer  Tempel  und  arabischer 
Moscheen,  in  deutscher  und  italienischer  Renaissance,  Barock 
und  Rokoko,  \\ie  es  kommt,  mit  tiefer  Kenntnis  und  oft  vollendetem 
Geschmack  und  Formsinn ;  und  ihnen  nacheifernd  füllen  die  Kunst- 
handwerker unsere  Zimmer  nach  analogen  Musterzeichnungen, 
wie  es  die  wechselnde  Mode  mit  sich  bringt.  Gewiß  haben  auch 
frühere  Epochen,  wie  das  i8.  Jahrhundert,  überlieferte  Formen 
in  Fülle  verwandt;  aber  an  der  koketten  Grazie  des  Rokoko  und 
an  dem  schwerfälligen  Prunk  der  Barockkunst  wird  jedermann 
leicht  die  Einheit  und  den  Zusammenhang  dieser  Formen  mit 
der  Gesamtkultur  ihrer  Zeit  herausfinden.  Wo  aber  ist  in  der  reich 
und  glänzend  entwickelten  Architektur  von  heute  der  Typus, 
der  dem  Zeitcharakter  entspräche  ?    Ich  wüßte  es  nicht  zu  sagen, 


Die  Stellung  der  historischen  Wissenschaften  in  der  Gegenwart.      607 

man  müßte  ihn  denn  in  der  Stilvielheit,  in  der  Eklektik  selbst, 
welche    das    historische    Studium    hervorrief,    entdecken    wollen. 

Kein  dramatischer  Dichter  würde  es  heute  wagen  dürfen,  die 
Zeiten  und  Menschen  so  durcheinander  zu  würfeln,  wie  es  noch 
unsere  Klassiker  oder  gar  Shakespeare  ohne  Sorge  taten.  Es 
wäre  für  sie  undenkbar,  etwa  den  wackeren  alten  Haudegen, 
den  Prinzen  von  Homburg  mit  seinem  silbernen  Stelzbein,  in 
einen  traumwandelnden  Heldenjüngling,  oder  den  kinderreichen 
flämischen  Familienvater  Graf  Egmont  in  einen  jugendlich  schönen 
Liebhaber,  oder  gar  den  buckligen  und  halb  verrückten  Sohn 
Philipps  II.  in  die  Idealgestalt  eines  für  Freiheit  und  Humanität 
schwärmenden  Jünglings  umzuwandeln  —  jeder  Schuljunge 
würde  sie  auslachen.  Nicht  ohne  Grund  hat  man  die  Geschichte 
die  führende  Muse  Schillers  genannt.  Aber  genau  besehen,  sind 
alle  seine  historischen  Gestalten,  selbst  diejenigen  seiner  Prosa- 
werke, nur  wieder  Abspiegelungen  der  Vergangenheit  in  seiner 
eigenen  Seele,  die  mit  allen  Fasern  dem  i8.  Jahrhundert  ver- 
knüpft war.  Heute  sind  wir  historisch  so  geschult,  daß  wir  uns 
sogar  die  losen  Szenen  Shakespearescher  Dramen  nur  unter  ängst- 
lichster Beobachtung  der  Kostüme  jener  Zeiten  gefallen  lassen, 
in  die  der  Dichter  sie  zufällig  verlegte;  und  wir  bemerken  gar 
nicht,  daß  wir  dadurch  im  Grunde  den  Riß  zwischen  dem  Geist, 
der  sie  beseelt,  und  dem  historischen  Aufputz,  in  dem  sie  erscheinen, 
lediglich  erweitern.  In  ihren  eigenen  historischen  Dramen  aber 
müssen  unsere  Dichter  sich  ebensosehr  dem  Geiste  der  abge- 
schilderten Epoche  anschmiegen ,  wie  ihren  äußerlichen  Um- 
rissen. 

Und  so  sehen  wir,  wie  sie  die  modernen  Geschichtsbücher 
zur  Hand  nehmen  oder  gar  die  Quellen  selbst  studieren  und  die 
Sprache  der  Vorfahren,  falls  die  Geschichte  in  Deutschland  spielt, 
nachahmen.  Der  eine  treibt  die  Annäherung  an  die  Vergangen- 
heit so  weit,  daß  er  ihr  jeden  Schleier  abreißen  und  sie  in  natura- 
listischer Nacktheit  hinstellen  möchte;  andere  wieder  suchen 
patriotische  Klänge  wachzurufen  und  die  politischen  Konflikte 
der  Gegenwart  den  heroischen  Gestalten  der  Vorwelt  anzudichten : 
aber  vor  den  Historikern  vom  Fach  findet  keiner  rechte  Gnade, 


(^Qg  Kleine  historische  Schriften. 

und  selbst  die  Rezensenten  können  das  Nörgeln  nicht  lassen  und 
flicken  ihnen  ewig  am  Zeuge. 

Wohin  die  Zeit  mit  ihrer  Kritik  geraten  wird,  und  ob  noch 
einmal  wieder  Phantasie  die  mächtigen  Flügel  regen,  Ruhe  und 
Friede,  ein  Glück  und  ein  Glaube  in  die  zerspaltene  Welt  ein- 
kehren wird  —  wer  will  das  sagen  ?  Das  hieße  Probleme  berühren, 
die  jenseits  unserer  Aufgabe  liegen.  Wir  wollen  nur  ergreifen, 
was  sich  erkennen  läßt,  und  uns  unserer  Schranken  bewußt  bleiben. 
Doch  bleibt  in  uns  der  Sehnsucht  unnennbar  schmerzliches  Ge- 
fühl, und  so  bleibe  uns  denn  auch  die  Hoffnung  auf  des  Himmels 
schönste  Tochter,  die  Erfüllung. 

Nichts  aber  wäre  törichter,  als  wenn  wir  uns  aus  Angst  und 
Sorge  vor  der  Mühsal  wegkehren  und  init  archaisierendem  Gelüste 
trachten  wollten,  das  Abgestorbene  zu  neuem  Leben  zu  erwecken. 
Nur  um  so  heftiger  und  lauter  würde  die  Kritik  hinter  uns  her 
geifern  und  die  Sorge  wahrlich  nicht  von  uns  weichen.  Wir  würden 
uns  selbst  mit  Unfruchtbarkeit  schlagen.  Denn  die  naive  Zuversicht, 
mit  der  die  Alten  dichteten  und  schufen,  würde  dahin  sein.  Der 
Glaube  an  ihr  Werk  war  es,  was  sie  beseelte,  und  er  allein  half 
ihnen  im  Schaffen.  Machen  wir  es  wie  Faust,  der  Greis  Gewordene, 
und  rufen  wir  der  Sorge  zu,  daß  wir  am  rechten  Orte  sind.  Wir 
wollen  die  Hand  am  Pfluge  halten  und  das  Haupt  nimmer- 
mehr wenden.  So  wird  es  einst  nicht  fehlen  an  Frucht  und  Schatten. 
Wir  wollen  unserer  Straße  ziehen,  und  sollten  wir  das  Land  unserer 
Sehnsucht  auch  ewig  nur  von  ferne  schauen. 


m^=^^^ 


I 


Rankes  biographisdie  Kunst 
und  die  Aufgaben  des  Biographen. 

Rede  zur  Gedächtnisfeier  des  Stifters  der  Berliner  Universität 
König  Friedrich  Wilhelms  III. 

(3.  August  1912.) 

Der  Geburtstag  ihres  Königlichen  Stifters  ist  der  älteste  und 
war  lange  Zeit  der  einzige  Festtag  unserer  Universität.  Neunund- 
zwanzigmal  hat  sie  sich  an  ihm  versammelt,  um  mit  der  Nation 
vereint  nach  guter  Preußensitte  dem  Lebenden  ihre  Glückwünsche 
darzubringen  und  das  Gelübde  der  Treue  zu  erneuern.  Als  er  zum 
dreißigsten  Male  wiederkehrte,  war  die  sorgenschwere  Stirn  des 
geüebten  Herrschers  erkaltet;  der  Tag  der  Freude  war  ein  Tag  der 
Trauer  geworden,  und  andere  Tage  gewannen  seitdem  im  Reigen 
der  Jahre  die  Stellung  des  nationalen  Festtages.  Die  Universität 
aber  bewahrte  dem  3.  August  seinen  festlichen  Charakter,  in  dank- 
barem Gedächtnis  an  den  Monarchen,  der  in  Preußens  schwerster 
Zeit  sie  ins  Leben  gerufen,  und  unter  dem  sie  zur  ersten  Hochschule 
Deutschlands  erwachsen  war;  nur  im  Sterbejahr  des  Königs  selbst, 
unter  dem  Druck  der  Trauer,  ist  sein  Tag  ungefeiert  geblieben. 
So  spiegelt  sich  in  unserer  Feier  die  Geschichte  des  Jahrhunderts 
wieder  und  zugleich  das  besondere  Verhältnis,  in  dem  unsere  Uni- 
versität in  hellen  und  in  dunklen  Tagen,  unter  dem  Druck  der 
Knechtschaft  und  inneren  Zwiespalts  wie  in  den  Zeiten  leuchtender 
Siege,  zu  ihren  Königen  gestanden  hat:  als  »das  geistige  Leibregi- 
ment des  Hauses  Hohenzollern«,  um  das  stolze  Wort  zu  wiederholen, 
das  einer  unserer  Rektoren,  du  Bois  Reymond,  an  einem  3.  August 
geprägt  hat,  in  der  Stunde,  da  des  vereinigten  Vaterlandes  Kraft 

Lenz,  Kleine  historische  Schiiften..  39 


gjQ  Kleine  historische  Schriften. 

an  unserer  Westmark  versammelt  war,  bereit,  einer  verheerenden 
Wettervvolke  gleich  über  den  Erbfeind  des  deutschen  Namens 
herzustürzen. 

Unter  allen  diesen  Stunden  die  dunkelste  war  doch  die  vor 
hundert  Jahren:  als  August  Böckh  zum  ersten  Male  seines  Amtes 
als  Redner  der  Universität  waltete,  vor  einer  Korona,  in  der  neben 
den  Räten  des  Königs  französische  Offiziere  saßen ;  als  der  König, 
dem  Namen  nach  Freund  und  Bundesgenosse,  in  Wahrheit  Knecht 
des  Welteroberers  geworden  war  und  seine  Waffen  ihm  nur  gehehen 
hatte,  um  die  eigenen  Fesseln  fester  zu  schmieden.  Wie  wenige 
wußten  damals  von  den  Kräften,  die  so  bald  flammengleich  aus 
Preußens  Erde  emporlodern  sollten,  von  den  Helden,  die  unser 
Volk  in  seinem  Schöße  barg!  Müde  und  matt,  ergeben  in  das  Un- 
abwendbare, die  meisten  nicht  einmal  sonderlich  ergriffen  von  der 
Not  der  Zeit,  gingen  König  und  Untertan  den  Geschäften  des  Tages 
nach.  Wunderbare  Zeiten,  deren  Gedächtnis  zu  feiern  die  Nation 
sich  bereits  anschickt:  als  das  Schicksal,  das  der  Uberstarke  in 
seiner  Faust  zu  halten  schien,  sich  von  ihm  wandte  und  die  zurück- 
flutenden Wogen  in  immer  erneuertem  Ansturm  den  Titanen 
von  Klippe  zu  Klippe  bis  hin  zum  Felsen  St.  Helenas  warfen! 
Niemals  ist  die  Bedeutung  der  Persönlichkeit  in  der  historischen 
Welt  sichtbarer  geworden,  niemals  deutlicher,  daß  nur  die  im  Mannes- 
willen gesammelte  sittliche  Energie  die  träge  Masse  fortreißen 
und  mit  Leben  von  ihrem  Leben  erfüllen  kann. 

Was  könnte  uns  da  näher  liegen,  als  dieser  Großtaten  unserer 
Vorväter  zu  gedenken!  Jedoch  ich  widerstehe  der  Versuchung. 
Denn  erst  das  kommende  Jahr  -ward  der  Universität,  die  im  \^order- 
grunde  des  Kampfes  stand,  deren  beste  Männer  Freunde  jener 
Helden,  ja  mit  ihnen  die  Vorkämpfer  der  Nation  waren,  das  Recht 
und  die  Pflicht  dazu  geben.  Heute  möchte  ich  nur  das  soeben  be- 
rührte Problem  erörtern.  Ich  hoffe  auf  Ihre  Nachsicht,  wenn  ich  da- 
bei nicht  sowohl  originale  Gedanken  vorbringe  als  mich  einem  Größe- 
ren anvertraue  —  dem  Meister,  als  dessen  Gefolgsmann  ich  mich 
stets  bekennen  werde :  an  Rankes  biographischer  Kunst  wollen  \\dr 
versuchen  uns  über  die  Aufgaben  des  Biographen  zu  orientieren^ 


Rankes  biographische  Kunst  und  die  Aufgaben  des  Biographen.      Ql\ 

Auch  Rankes  vielgestaltige  historische  Muse  hat  sich  einem 
jener  Führer  des  Volkes  zugewandt,  und  gerade  dem,  dessen  Wort 
nächst  dem  des  Königs  am  meisten  galt,  dessen  feine  Hand  auf  den 
Hebel  der  Schleuse  drückte,  unter  der  die  Fluten  der  preußischen 
Erhebung  brausend  hervorbrachen.  Aber  niemals  hat  ein  Werk 
der  historischen  Literatur  den  Namen  einer  Biographie  weniger 
verdient  als  Rankes  »Hardenberg«.  Die  Jugendzeit,  die  Entwick- 
lung des  Ministers  bis  zum  Eintritt  in  den  preußischen  Dienst 
wird  noch  dargestellt,  umsichtig  und  lehrreich  in  jeder  Zeile,  aber 
mit  vorsichtiger  Zurückhaltung  und  fast  nüchtern  im  Urteil  und 
Ausdruck.  Je  breiter  aber  der  Strom  der  Ereignisse  wird,  um  so 
mehr  tritt  das  persönhche  Element  zurück.  Über  die  große  Politik 
erhalten  wir  wertvollste  Kunde;  niemand,  der  sich  mit  der  Zeit 
beschäftigt,  wird  ungestraft  daran  vorübergehen  dürfen.  Aber  eine 
Biographie  ist  das  Buch  schon  nicht  mehr.  Und  in  dem  Moment, 
wo  der  welthistorische  Schauplatz,  auf  den  die  Napoleonischen 
Kriege  den  preußischen  Staat  hinausgeführt  hatten,  sich  wdeder 
verengt,  bricht  es  ganz  ab,  gerade  da,  wo  das  für  den  Biographen 
interessanteste  Problem  im  Leben  Hardenbergs  beginnt :  der  Kampf 
der  in  dem  befreiten  und  hergestellten  Staat  sich  erhebenden  Re- 
aktion mit  den  liberalen  Ideen,  in  deren  Sphäre  Hardenberg  selbst 
erzogen  war,  und  die  er  in  seiner  Weise  auf  Preußen  zu  übertragen 
versuchte.  So  gering  dachte  Ranke  selbst  von  seiner  Aufgabe 
als  Biograph  des  Ministers,  der  Preußen  wieder  in  den  Kreis  der 
großen  Mächte  eingeführt  hat,  daß  er  ihre  Notwendigkeit  nahezu 
leugnete.  »Was  läge«,  schreibt  er,  »an  sich  so  großes  an  Hardenberg  ? 
Er  ist  nur  dadurch  einer  historischen  Darstellung  würdig,  daß  er 
um  die  Befestigung  und  Wiederherstellung  der  preußischen  Selbst- 
ständigkeit das  größte  Verdienst  hat.«  Und  freilich  darf  man  zwei- 
feln, ob  der  Mann,  den  nach  dem  Worte  einer  klugen  Freundin 
die  allmächtigen  Stunden  beherrschten,  einer  Biographie  wert  sei. 
Denn  wenn  es  die  Aufgabe  einer  solchen  ist,  das  Verhältnis  der 
Persönlichkeit  zu  der  Umwelt  zu  beschreiben  und  das  Maß,  in  dem 
sie  auf  diese  einwirkte,  zu  bestimmen,  so  ist  dies  bei  niemand  schwerer 
als  bei  Hardenberg,  der  dem  Lauf  der  Ereignisse  immer  mehr  folgte, 
als  daß  er  ihn  geleitet  hätte,  recht  im  Gegensatz  zu  den  starken 

39* 


gl  2  Kleine  historische  Schriften. 

Naturen,  die  ihn  auf  ihrer  Bahn  vorwärts  stießen,  mochte  cUese 
nun  zur  Befreiung  und  Erliebung  des  Vaterlandes  führen  oder 
zur  Reaktion.  Aber  auch  da,  wo  Ranke  Gestalten  in  den  bio- 
graphischen Rahmen  spannte,  bei  denen  die  Macht  der  Persönlich- 
keit sich  mit  der  Macht  der  Stellung  verband,  hat  er  versagt. 
Friedrich  den  Großen  hat  er  in  seiner  preußischen  Geschichte 
und  in  späteren  Werken  in  jedem  Alter  seines  Lebens  geschildert; 
und  niemals  sind  die  Linien,  in  denen  er  seine  Gestalt  festgehalten 
hat,  schärfer  nachgezogen  worden:  aber  in  der  kleinen  Biographie, 
die  er  ihm  gewidmet,  hat  er  das  Bild  des  großen  Königs  mit  halb 
verblaßten  Farben  und  in  fast  schattenhaftem  Umriß  ausgeführt. 
Und  noch  seltsamer  mutet  uns  die  Biographie  Friedrich  Wil- 
helms IV.  an,  die  Ranke  mit  jener  vereinigt  herausgab.  Denn 
mit  diesem  war  er  in  herzlicher,  auf  Sympathie  und  langjährigen 
Umgang  gegründeter  Freundschaft  verbunden:  aber  gerade  dieses 
Moment  läßt  er  darin  weit  zurücktreten;  er  schreibt  über  den  ro- 
mantischen König  so  nüchtern  wie  über  den  Schüler  und  Freund 
Voltaires;  nichts  gibt  er  uns  als  ein  paar  an  sich  wertvolle,  jedoch 
nur  lose  zusammenhängende  Bruchstücke  aus  dem  privaten  und 
öffentlichen  Leben  seines  königlichen  Freundes.  Freilich  hat  Ranke 
■selbst  beide  Studien  gar  nicht  des  Titels,  den  er  ihnen  gab,  für  würdig 
geachtet,  er  folgte  darin  nur  einem  Wunsche  seines  Verlegers. 
»Biographische  Digressionen  «  —  der  Ausdruck  selbst  ist  bezeichnend 
-  -  widmete  er  einem  Don  Juan  d'Austria,  einer  Königin  Christine : 
Persönlichkeiten,  deren  tragisches  Geschick  oder  seeUsche  Kom- 
pliziertheit, im  Kontrast  mit  den  Aufgaben,  zu  denen  ihre  Stellung 
in  der  Welt  sie  bestimmte,  ihn  anreizen  mochten;  Biographien  sind 
auch  sie  nicht,  noch  sind  sie  als  solche  von  ihm  gedacht  worden. 
Das  gleiche  gilt  von  den  Forschungen  über  Don  Carlos  wie  von  den 
Arbeiten  über  Consalvi,  Savonarola,  Filippo  Strozzi  und  Cosimo 
Medici,  die  als  »biographisch -historische  Studien«  einen  Band  der 
Gesammelten  Werke  füllen.  Als  »eigenthche  Biographien«  hat  Ranke 
auch  diese  Aufsätze  nicht  betrachten  wollen;  »ich  würde«,  schreibt 
er  wiederum  seinem  Verleger,  »damit  die  Rücksicht  verletzen, 
die  ich  dem  gelehrten  Publikum  schuldig  bin. «  Nur  einmal,  in  seinem 
Wallenstein,  hat  Ranke  das  Problem  der  Biographie  voll  erfaßt 


Rankes  biographische  Kunst  und  die  Aufgaben  des  Biographen.     ßj^3 

und  bis  ans  Ende  einheitlich  durchgeführt.  Aber  selbst  diesem 
Werke  will  nicht  jedermann  den  Charakter  einer  wahrhaften  Bio- 
graphie zubilhgen:  hat  er  doch  selbst  sie  im  Vorwort  als  eine  zur 
Geschichte  sich  erweiternde  Biographie  bezeichnet  und  danach  den 
Titel,  »Geschichte  Wallensteins«,  gewählt. 

Hiernach  können  wir  in  der  Tat  zweifelnd  fragen,  ob  wir  ein 
Recht  dazu  haben,  die  Aufgaben  des  Biographen  nach  den  Vor- 
bildern zu  formuheren,  die  Ranke  uns  gegeben  hat.  Woran  aber  hegt 
es,  daß  der  Großmeister  der  Historiographie  sich  von  der  Form 
der  Geschichtsschreibung,  die  heute  im  Vordergrunde  des  Inter- 
esses und  vielleicht  des  Könnens  steht,  so  fern  gehalten  hat  ? 
War  es  Scheu,  an  das  Geheimnis  der  Persönhchkeit  zu  rühren  ? 
Oder  persönhche  Abneigung  ?  Das  Gefühl  der  UnmögHchkeit  ? 
Oder  des  eigenen  Unvermögens?  Sollen  wir  etwa  zugeben,  daß 
das  echte  biographische  Talent  wirklich  nicht  in  ihm  war?  Daß 
dies  in  einem  Carlyle  tiefer  und  ursprünglicher  lebte?  Daß  der 
Historiker,  der  den  allgemeinen  Zusammenhängen  mit  souveräner 
Kraft  nachzuspüren  verstand,  das  persönhche  Leben  nicht  zu  er- 
fassen vermochte?  Sind  beides  überhaupt  getrennte  Ämter  und 
Vermögen  ?  Ist  ein  anderer  Weg  dazu  nötig,  um  die  Tiefen  des 
seelischen  Daseins  zu  ergründen,  und  ein  anderer,  um  das  allgemeine 
Leben  zu  begreifen  ? 

Daß  die  Sehnsucht  nach  dem  Erfassen  der  Persönhchkeit 
ganz  ursprünghch  in  Rankes  Seele  brannte,  daß  er  den  Quell  in 
sich  rauschen  fühlte,  die  Schöpferkraft  der  Phantasie,  die  das 
Leben  der  vergangenen  Geschlechter  hebend  zu  umfassen  vermag, 
zeigen  die  Briefe  seiner  Jugend.  Im  Reichtum  der  Jahrhunderte 
möchte  er  schwelgen,  alle  die  Helden  sehen  von  Aug'  zu  Aug', 
mitleben  noch  einmal  und  gedrängter,  lebendiger  fast  alle  Taten 
und  Leiden  dieses  unendüch  vielseitigen  Geschöpfes,  das  wir  selber 
sind.  Das  erste  Buch,  an  das  er  denkt  (schon  als  Student),  ist  ein 
Leben  Luthers;  und  noch  als  Greis  bekennt  er  seinem  Sohn,  daß 
er  sich  mit  dem  Gedanken  getragen  habe  —  in  dem  ersten  Anfang 
seiner  Ehe,  als  er  eine  Reise  an  die  heiligen  Stätten  mit  der  Gattin 
geplant  — ,  ein  Leben  Jesu  zu  schreiben.  Er  besitzt  ein  Mitgefühl 
der  Zeiten,  aller  Lebenssphären  und  aller  Jahrhunderte,  vor  dem 


ßl^^  Kleine  historische  Schriften. 

jede  Schranke  fällt.  Mit  überwältigender  Kraft  offenbart  sich 
sein  biographisches  Talent  gleich  in  den  »Romanisch-Germani- 
schen Geschichten«.  Ganze  Geschlechter  und  zahllose  Einzelne 
ziehen  darin,  einander  drängend  und  stoßend,  ein  rastloser  Strom, 
an  dem  Leser  vorüber,  jeder  in  der  Farbe  seiner  Quelle,  in  dem 
Kostüm  seiner  Zeit,  seines  Stammes,  der  Welt,  in  der  er  lebte, 
mit  ihren  Gedanken,  ihren  Empfindungen,  ihren  Leidenschaften. 
Die  »Fürsten  und  Völker«,  die  »Serbische  Revolution«  wetteifern 
damit  an  Glanz  der  Farbe,  während  die  Zeichnung  noch  schärfer, 
der  Hintergrund  reicher  und  der  welthistorische  Rahmen  fester  ge- 
worden ist.  Dieselbe  Kraft,  schon  sparsamer  geübt,  erscheint  noch 
in  den  der  itahenischen  Reise  folgenden  Werken.  Erst  von  der 
»Englischen  Geschichte«  ab  verblassen  mehr  und  mehr  die  Farben. 
Aber  die  Schärfe  der  Charakteristik  bleibt.  Wo  gibt  es  in  der  histo- 
rischen Literatur  Porträts  wie  das  des  sterbenden  Cromwell,  oder 
ein  Doppelbildnis  wie  das  Gustav  Adolfs  und  Wallensteins  vor 
ihrem  Zweikampf  bei  Lützen,  oder  das  des  Eremiten  von  Sans- 
souci mit  seinem  jugendlichen  Püvalen,  Maria  Theresias  ehrgeizigem 
Sohn!  Bis  in  die  »Weltgeschichte«  hinein  reicht  diese  Kunst  der 
Linienführung;  selbst  aus  den  Jahrhunderten,  in  denen  das  Licht 
der  Quellen  fast  verloschen  ist,  aus  dem  Schöße  von  Nationen, 
die  ohne  alle  Überüeferung  dahinlebten,  treten  uns  unter  der  Hand 
des  Meisters  Gestalten  entgegen,  die  den  Eindruck  persönlichen 
Lebens  erwecken  und  zugleich  das  Gefühl  der  Sicherheit  geben, 
daß  dies  wirkHch  ihr  eigenes,  erlebtes  Leben,  ihre  historische  Per- 
sönhchkeit  gewesen  ist. 

Bei  alledem  ist  es  richtig,  daß  Ranke  noch  etwas  Höheres 
kannte  als  das  Eindringen  in  das  Leben  des  Individuums.  Denn 
nur  in  Beziehung  auf  die  höchsten  Ideen  ist  ihm  der  Mensch,  das 
»Geschöpf,  das  ^^ir  selber  sind«,  der  Betrachtung  wert.  Gott  zu 
suchen  war  Ursprung  und  Anfang  seines  Forschens.  In  dem  Zu- 
sammenhang der  großen  Geschichte  meinte  er  ihn  zu  erkennen. 
Hier  sieht  er  ihn  »\vie  eine  heilige  Hieroglyphe,  an  seinem  Äußersten 
aufgefaßt  und  bewahrt,  vielleicht,  damit  er  nicht  verloren  gehe 
künftigen  Geschlechtern  und  sehenderen  Jahrhunderten.«  »Wer 
enthüllt  Kern,  Natur,  lebend  Leben  des  Individuums?«,  so  klagt, 


Rankes  biographische  Kunst  und  die  Aufgaben  des  Biographen.     ßj^5 

verzweifelnd  fast,  der  Vierundzwanzigj ährige.  Aber  schon  ist  er 
getröstet:  »TägHch«,  so  lesen  wir  unmittelbar  vorher,  »erweitert 
sich  Kenntnis  und  Aussicht  über  die  Weltgeschichte.«  Hier  hat 
er  seine  Lebensaufgabe  gefunden.  Immer  aufs  neue  kommt  er 
darauf  zurück,  und  niemals  hat  er  sie  anders  aufgefaßt;  seine  bio- 
graphischen Versuche  selbst  führen  ihn  wieder  dahin.  In  das 
»geheimnisvolle  Wesen  der  Dinge  und  der  menschlichen  Seele«, 
in  ihre  letzten  Gründe  einzudringen,  vermeidet  bereits  sein  Bhck. 
»Denn«,  so  schreibt  er  präludierend  zu  Wallensteins  Katastrophe, 
»etwas  Hypothetisches  bleibt  in  dem  Dunkel  menschlicher  Antriebe 
und  Ziele  immer  übrig. « 

Nicht  als  ob  Ranke  das  persönHche  Leben  aus  dem  allge- 
meinen habe  ausschalten  wollen.  Er  sieht  vielmehr,  wie  es  die 
Welt  erfüllt;  jedes  Wort,  jeder  Wille  wdrkt  mit  zum  Ganzen: 
»Menschheit  wie  sie  ist:  erklärlich  oder  unerklärhch:  das  Leben 
des  Einzelnen,  der  Geschlechter,  der  Völker,  zuweilen  die  Hand 
Gottes  über  ihnen«.  Aber  alles  Tun  und  Treiben  der  Individuen, 
all  ihr  Hoffen  und  Wünschen,  ihre  Sünden,  ihre  Bedürfnisse,  ihre 
Ideen,  ihr  Wissen,  ihr  Glaube,  alles  was  sich  aus  Hirn  und  Herzen 
löst,  geht  über  in  das  allgemeine  Leben,  das  von  Epoche  zu  Epoche 
ewig  sich  wandelnd  und  sich  erneuernd  durch  die  Jahrhunderte 
flutet.  Nur  in  diesem  Rahmen  werden  die  Individuahtäten  sichtbar ; 
in  diesen  Grenzen  vollziehen  sich  ihre  Geschicke;  Glück  und  Un- 
glück, Macht  und  Ohnmacht  werden  dadurch  bedingt  und  be- 
siegelt: »Die  Entschlüsse  der  Menschen  gehen  von  den  MögHch- 
keiten  aus,  welche  die  allgemeinen  Zustände  darbieten;  bedeutende 
Erfolge  werden  nur  unter  Mitwirkung  der  homogenen  Weltelemente 
erzielt;  ein  jeder  erscheint  beinahe  nur  als  eine  Geburt  seiner  Zeit, 
als  der  Ausdruck  einer  noch  außer  ihm  vorhandenen  allgemeinen 
Tendenz.«  Keine  bessere  Bestätigung  dieses  Gesetzes  kann  es 
geben,  als  daß  die  Mächtigen  auf  Erden  und  die  Gewaltigen  im 
Geist  immer  so  empfunden  haben.  So  meinte  es  Napoleon,  wenn 
er  sich  den  größten  Sklaven  unter  den  Menschen  nannte,  Knecht 
eines  Herren,  der  kein  Herz  habe,  der  Berechnung  der  Umstände 
und  der  Natur  der  Dinge:  darin  sah  er  das  Schicksal  beschlossen, 
dem  er  gehorchen,  dessen  Gebote  er  vollstrecken  müsse;  so  Bis- 


616 


Kleine  historische  Schriften. 


marck  mit  dem  wundervollen  Wort,  daß  der  Staatsmann  nichts 
weiter  vermöge,  als  auf  den  Tritt  Gottes  im  Walde  zu  lauschen 
und,  wenn  er  vorüberschreite,  einen  Zipfel  seines  Mantels  zu  er- 
fassen; so  alle  die  Reformatoren  und  die  Stifter  der  Religionen 
selbst,  wenn  sie  sich  Gottes  Werkzeuge,  ja  Gottes  Söhne  nannten ; 
und  so  ein  jeder,  wer  immer  in  die  Tiefen  der  Welt  und  dem  Ewigen 
ins  Angesicht  geschaut  hat. 

Sind  dies  aber  in  der  Tat  die  Bedingungen,  unter  denen  die 
Individualitäten  sich  bilden,  so  gibt  es  auch  keinen  anderen  Weg, 
um  ihr  Werden  zu  verstehen;  so  steht  die  Biographie  unter  dem- 
selben Zeichen  wie  die  allgemeine  Historie;  so  ist  auch  sie  nur 
unter  universalen  Gesichtspunkten  anzugreifen,  und  alle  For- 
derungen und  Methoden,  die  für  die  Erkenntnis  des  Zusammen- 
hanges der  Begebenheiten  gelten,  gelten  auch  für  die  biographische 
Kunst;  so  muß  jeder  andere  Versuch,  in  das  Innere  der  historischen 
Persönlichkeiten  einzudringen,  scheitern,  mag  er  nun  von  der  Phan- 
tasie des  Dichters  her  oder  aus  irgendeiner  Ecke  der  Psychologie 
oder  gar  der  Psychiatrie  unternommen  werden.  Im  Kampfe  bilden 
sich  die  Charaktere.  Darum  stehen  die  starken  Männer  in  den 
Zeiten  großer  Erschütterungen  auf.  So  erhob  sich  aus  dem  Chaos 
der  Französischen  Revolution,  die  schon  so  viele  ihrer  Geschöpfe 
gestürzt  hatte,  der  mächtigste  Sohn  der  Zeit,  ihr  Bändiger  und 
Vollender,  das  größte  Genie,  das  die  neueren  Jahrhunderte  gesehen 
haben.  So  erwuchs  aus  der  Drachensaat  des  Hasses,  die  der  Welt- 
bezwinger gesät  hatte,  der  Chor  der  Helden,  die  unser  Volk  zum 
Kampf  der  Rache  führten.  So  wurde  durch  die  Deutsche  Re- 
volution Bismarck  in  den  Strudel  des  öffentlichen  Lebens  hinein- 
gerissen, aus  dem  die  Hand  des  starken  Tauchers  die  Kaiserkrone 
emporbrachte. 

Von  hier  aus  lassen  sich  erst  die  Kräfte  abschätzen,  die  inein- 
ander greifen  müssen,  um  die  Persönhchkeit  zu  bilden:  ihre  ange- 
borene Energie  und  der  Widerstand  ihrer  Umwelt,  ihr  Wollen  und 
ihr  Vollbringen.  Von  hier  aus  begreifen  wir  die  Tragik,  die  auf  den 
großen  Gestalten  der  Geschichte  ruht,  die  finsteren  Schatten  der 
Schwermut  und  tyrannischer  Ungeduld,  zorniger  Leidenschaft 
und   bitterer   Menschenverachtung,   welche   ihre   sturmumbrauste 


Rankes  biographische  Kunst  und  die  Aufgaben  des  Biographen.      Qj^'J 

Lebensbahn  begleiten.  Glücklich,  wem  die  Gestirne  günstig  waren, 
glücklicher  vielleicht  noch,  wer  hinweggenommen  ward,  bevor 
sein  Stern  ihn  verheß.  Denn  wie  oft  wurden  von  der  Mitwelt 
diejenigen  verfolgt  und  verachtet,  in  deren  Lehre  und  Leben  die 
Nachwelt  der  Zeiten  Erfüllung  sah!  Nur  eine  kurze  Spanne  mißt 
das  Leben  des  Einzelnen,  und  zu  zäh  ist  der  Widerstand  der  stumpfen 
Welt,  zu  groß  ihre  Furcht  vor  dem  Neuen,  dem  das  Alte  weichen 
muß,  zu  sehr  hängt  ihr  Herz  an  der  Vergangenheit,  die  ihr  bequem 
und  vertraut  geworden  ist,  als  daß  auch  der  Größte  und  Reinste 
sie  völlig  sich  und  seinen  Gedanken  unterwerfen  könnte:  sie  sieht 
nur  Trümmer  und  die  unausbleibliche  Zerstörung,  wo  bereits  die 
Fundamente  einer  neuen  Weltordnung  gelegt  sind.  Selbst  wer 
siegreich  war  und  die  errungene  Macht  behauptete,  blieb  am  Ende  ent- 
täuscht, weil  das  neue  Geschlecht  seine  Gedanken  verkümmerte 
und  der  Bau,  den  er  errichtete,  bereits  wieder  ins  Wanken  geriet. 

Und  doch  gebürt  diesen  Kämpfern  allen  die  erste  Stelle  im 
Gedächtnis  der  Menschen,  sowie  sie  in  der  Nachwelt  die  wahr- 
haft Lebenden,  die  Mächtigen  bleiben.  Denn  nicht  in  der  bloßen 
Erinnerung  an  den  Namen  und  den  Lebenslauf,  mag  man  auch 
von  jedem  seiner  Tage  Rechenschaft  ablegen  können,  sondern  in 
dem  Fortleben  der  Gedanken,  in  dem  was  der  Mann  war  und 
wirkte,  liegt  die  Unsterbhchkeit. 

Auch  für  die  Auswahl  und  für  die  Gestaltung  der  Stoffe  er- 
hält man  von  hier  her  Regel  und  Maßstab.  Mag  Ranke  immerhin 
durch  den  Wunsch,  den  Zusammenhang  der  Zeiten  zu  entschleiern, 
die  »Mär«  der  Weltgeschichte  zu  entdecken,  von  der  Biographie 
femgehalten  oder  wieder  hin  weggeführt  worden  sein,  so  dürfen  doch 
auch  wir  ihr  die  Grenzen  nicht  allzu  weit  und  lose  stecken.  Nicht 
jedermann,  der  sich  in  seinem  Volk  einmal  hervorgetan  hat,  ver- 
dient darum  sogleich,  daß  man  sein  Leben  von  der  Wiege  bis  zur 
Bahre  beschreibe,  und  hunderte  von  Biographien  hätten  deshalb 
ungeschrieben  bleiben  oder  auf  den  Raum  einer  Skizze  zusammen- 
gedrängt werden  können.  Nur  demjenigen  gebührt  in  Wahrheit 
ein  solches  Denkmal,  der  mit  seiner  Persönlichkeit  voll  in  die  Welt- 
entwicklung eingegriffen  hat.  Jedermann  liegt  vor  Augen,  was  die 
Entwicklung  der  Wissenschaften  für  den  Aufbau  der  sozialen  und 


^|g  Kleine  historische  Schriften. 

politischen  \\elt  bedeutet.  Die  Grundlagen  unserer  Existenz 
rulien  auf  ihnen  und  wandeln  sich  mit  ihnen  unablässig.  Aber  be- 
darf darum  der  Lebenslauf  eines  Gelehrten  einer  besonderen  Dar- 
stellung? Er  müßte  denn  etwa  wie  Treitschke  handelnd  und 
kämpfend  hervorgetreten  sein  und  seiner  Forschung  selbst  ein 
politisches  Ziel  gegeben  haben,  oder  wie  Luther  und  Schiller  alle 
Unruhe  der  Zeit,  alles  Streben,  das  in  ihr  lebte,  in  seine  Seele  auf- 
genommen und  aus  seiner  Persönlichkeit  heraus  neu  geoffenbart 
haben.  Der  Gelehrte  lebt  in  seinen  Büchern;  dort  findest  Du  die 
Summe  seiner  Gedanken.  Das  Unpersönliche  ist  gerade  für  ihn 
das  Charakteristische,  das  Bedeutende.  Je  ausschheßlicher  er  sich 
der  Gedankenwelt,  in  der  er  lebt,  hingibt,  um  so  w^eniger  wird  sein 
persönliches  Leben  das  allgemeine  Interesse  beschäftigen;  und 
nur  der  Weg,  den  er  gegangen,  um  in  das  Leben  seiner  Wissenschaft 
einzumünden,  die  Zeiten  seiner  Entwicklung  könnten  den  Bio- 
graphen reizen.  Ranke,  der  dies  Verhältnis  genau  so  bezeichnet 
und  \vie  kein  anderer  danach  gelebt  hat,  überträgt  es  sogar  auf  die 
Staatsmänner,  deren  Lebensgeschichte  sich  ebenfalls  (wir  denken 
\\ieder  an  Hardenberg)  mit  der  politischen  Ideenwelt  ihrer  Zeit 
so  nahe  berühre,  daß  es  oft  schwer  falle,  ihre  besondere  Stellung 
dazu  wahrzunehmen:  so  daß  auch  bei  ihnen  (er  meint  in  noch 
höherem  Grade  als  bei  den  Gelehrten)  hauptsächlich  die  Zeit  ihrer 
Bildung  Teilnahme  für  ihre  Person  erwecke  und  ihr  Sein  und  Wesen 
später  nur  in  der  Wirksamkeit,  die  sie  in  ihrem  Fache  entwickeln, 
hervortrete.  Und  das  gleiche  könnte  man  vieDeicht  von  dem  Feld- 
herrn sagen,  der  in  der  Schlachtenleitung  die  in  seinem  Fach  er- 
worbenen Kenntnisse  zur  Anwendung  bringt,  die  psychischen  Eigen- 
schaften jedoch,  die  ihn  erst  zum  Helden  und  Sieger  machten, 
schon  in  der  Zeit  seiner  Jugend  erworben  hat.  Wer  die  zwanzig 
Bände  von  Thiers'  »Histoire  du  Consulat  et  de  l'Empire«  vor  Augen 
hat,  weiß,  wie  leicht  eine  biographische  Absicht  durch  die  Über- 
wucherung mit  unpersönhchem  Stoff  erstickt  werden  kann.  Mehr 
als  eine  Biographie  ist  durch  dies  Verkennen  der  Maße,  nach  denen 
sie  anzulegen  ist,  verdorben  worden  oder  in  den  Anfängen  stecken 
geblieben.  Knappheit  ist  fast  die  Haupttugend  des  Biographen. 
Denn  niemals  darf  er  seinen  Helden  aus  den  Augen  verlieren  und 


Rankes  biographische  Kunst  und  die  Aufgaben  des  Biographen,      g^g 

aus  dem  Mittelpunkt  der  Darstellung  hinwegrücken.  So  wenig 
wie  es  dem  Portraitmaler  erlaubt  ist,  die  Umgebung  und  den  Hin- 
tergrund außer  Beziehung  zu  der  Figur,  die  er  schaffen  will,  zu  setzen. 
Lebenswahr,  naturwahr  soll  die  Umgebung  sein,  in  welcher  der 
Held  erscheint.  Jedoch  nirgends  dürfen  die  Nebenfiguren  so  weit 
in  den  Vordergrund  gestellt  werden,  daß  die  Hauptgestalt  da- 
durch verkleinert  und  zurückgedrängt  wird. 

Aber  auch  den  größten  Gestalten  gegenüber  ist  eine  Aus- 
lese dessen,  was  man  zu  sagen  hat,  geboten.  Denn  sie  sind  Menschen 
■wie  die  andern,  und  nur  Allzumenschliches  haftet  auch  ihnen  immer 
an.  Darum  ist  die  Kunst  des  Auslassens  dem  Biographen  ganz  be- 
sonders zu  empfehlen.  So  lange  Luthers  heroische  Gestalt  der 
Nation  unmittelbar  vor  Augen  stand,  bleibt  er  auch  für  den  Histo- 
riker der  Mann,  an  dem  ein  jeder  Zug  interessant  und  eindrucks- 
voll ist ;  und  mehr  noch  würden  bei  ihm  die  Jahre  der  Entwicklung, 
wie  bei  jedem  Großen,  die  Zeit  der  inneren  Kämpfe,  in  denen  er 
zum  Reformator  erwuchs,  die  Kunst  des  Biographen  heranrufen, 
wenn  nicht  auch  bei  ihm  diese  Jahre  so  sehr  im  Dunkeln  lägen. 
So  muß  denn  sein  Bild  in  der  Hauptzeit  seiner  Kämpfe,  von  dem 
Anschlag  der  Thesen  her  bis  zum  Bauernkrieg  hin,  in  den  Vorder- 
grund der  Betrachtung  gerückt  werden.  Auch  danach  mag  es 
noch,  wie  in  den  Marburger  Tagen  oder  in  dem  Sommer  auf  der 
Koburg,  Momente  geben,  wo  seine  Gestalt  uns  mit  der  Wucht 
originaler  Größe  packt.  Aber  die  weiteren  i6  Jahre,  in  denen  der 
Reformator  dem  Lauf  des  Evangelium,  der  von  seinen  alten  Hoff- 
nungen so  weit  abuich,  scheltend  und  murrend  folgte,  bedürfen 
wahrhch  nicht  mehr  einer  gleich  ausführlichen  Darstellung;  je 
mehr  das  Gleichartige  in  ihnen  zusammengedrängt  und  das  Gleich- 
gültige hinweggetan  wird,  um  so  mehr  wird  der  künstlerische  Ein- 
druck des  Ganzen  wachsen. 

Für  alle  diese  und  wie  viel  andere  Beobachtungen  bietet  Rankes 
biographische  Kunst  Beispiele  in  Fülle.  Wundervoll,  wie  er  es 
versteht,  das  welthistorische  Licht  aus  der  Idee,  in  der  er  die  Ein- 
heit und  den  Zusammenhang  der  Begebenheiten  erfaßt,  hinweg 
auf  die  Häupter  der  führenden  Persönlichkeiten  zu  leiten  und  es 
in  dem  ganzen  Umkreis  seiner  Darstellung  zu  verbreiten,  also  daß 


g9Q  Kleine  historische  Schriften. 

jeder  Winkel  davon  erhellt  und  auch  die  Nebenfiguren,  die  im  Vor- 
beigehen einmal  Erwähnten,  aufleuchten  und  Gestalt  gewinnen; 
wundervoll,  zu  sehen,  wie  das  Ganze  dadurch  Einheit  und  Zu- 
sammenschluß erhält,  persönliches  und  allgemeines  Leben  inein- 
andergreifen; großartig  besonders  die  Momente,  wo  er  den  Reflex 
dieses  Glanzes  an  den  Persönlichkeiten  zeigt,  in  denen  sich,  wie  in 
Alexander  oder  Cäsar,  die  Biographie  mit  der  Weltgeschichte 
durchdringt. 

Man  kann  das  Wort  Universalität  nicht  aussprechen,  ohne 
des  Wortes  Objektivität  zu  gedenken  —  Begriffe,  die  sich  ver- 
halten wie  Gedanke  und  Wort :  nur  die  Form  ist  diese,  in  der  jene 
sich  äußert.  Also  muß  der  Biograph  (denn  es  gibt  kein  Drittes)  auf 
manches  Mittel  verzichten,  um  den  Leser  zu  gewinnen.  Er  wird 
alle  diejenigen  verheren,  welche  auf  den  Text  des  Tages,  auf  die 
Stimme  der  »Wortführer«,  wie  man  sie  nennt,  der  Nation  horchen, 
und  die  aus  der  Vergangenheit  immer  nur  das  ihren  Wünschen 
und  Ansichten  Bequeme  heraushören.  Mag  er  sich,  wenn  ihm  der 
Sinn  danach  steht,  damit  trösten,  daß  ihn  die  Nachwelt  verstehen, 
daß  auch  er  somit  zu  den  »post  mortem  laureati«  zählen  werde. 
Mehr  Wert  hat  das  Bewußtsein,  daß  sein  Weg  zur  Erkenntnis  führt, 
und  daß  es  immer  besser  ist,  der  Wirklichkeit  auf  dem  Wege, 
den  die  Wissenschaft  zeigt,  so  nahe  als  möglich  zu  kommen,  als 
eine  erträumte  Wahrheit  mit  Hülfe  der  Phantasie  zu  erreichen.  Auch 
davor  braucht  er  sich  nicht  zu  fürchten,  daß  des  Dichters  Phan- 
tasie leichter  er f Hegen  werde,  was  er  selbst  auf  dem  steinigen  Wege 
der  Quellenkritik  zu  erreichen  sucht.  Denn  nichts  ist  falscher  als  zu 
glauben,  daß  es  dem  Poeten  gegeben  sei,  aus  seiner  Kenntnis  der 
menschlichen  Seele  heraus  historische  Wirklichkeiten  zu  erblicken. 

Auch  der  Historiker  vermag  nichts  ohne  Phantasie;  aber  er 
Avird  darum  nicht  den  enggebahnten  Weg  verlassen,  welchen 
ihm  die  Quellen,  die  keine  anderen  sind  als  die  der  allgemeinen 
Geschichte,  darbieten.  Er  mag  wohl  Dinge  sagen,  die  er  in  der  vor 
ihm  hegenden  Quelle  nicht  mit  ausgedrückten  Worten  findet, 
und  oft  genug  aus  der  Anschauung,  die  er  von  dem  Ereignis  oder  der 
Persönlichkeit  gewann,  heraus  urteilen;  aber  auch  diese  wird 
immer  der   Gesamtreflex  einer  aus    Quellenstudium  geschöpften 


Rankes  biographische  Kunst  und  die  Aufgaben  des  Biographen.      ß21 

Vorstellung  sein;  und  niemals  wird  er  vorsichtiger  vorgehen,  als 
wenn  er  sich  über  den  Text  seiner  Quelle  hinauswagt. 

Der  Lohn  wird  nicht  ausbleiben.  Wer  in  der  Partei  steht 
und  von  ihr  aus  die  Vergangenheit  anschaut,  verengt  seinen  Blick. 
Denn  gerade  die  Befreiung  \-on  dem  Druck  der  Vergangenheit, 
die  mit  tausend  Armen  in  die  Gegenwart  hinübergreift,  will  die 
Historie  erreichen.  Nur  so  ist  es  möghch,  die  Epochen  zu  unter- 
scheiden, jede  in  ihrem  Wert  und  jeden  an  seiner  Stelle  zu  erblicken. 
Auch  der  Dichter  kann  nur  Typen  zeichnen,  wie  sie  ihm  die  Schule, 
zu  der  er  gehört,  oder  das  eigene  Innenleben,  die  Widerspiegelung 
der  Welt  in  Phantasie  und  Herz,  erzeugen.  Lebend  Leben  schaut 
nur  der  Historiker.  Nicht  im  leeren  Raum  allgemeiner  Begriffe 
weilen  die  Schatten,  die  er  beschwört,  sondern  sie  gewinnen  unter 
seiner  Hand  von  neuem  Blut  und  Seele  auf  dem  Erdreich,  dem  sie 
entwuchsen,  inmitten  ihres  Volkes,  ihrer  Kirche  und  der  Welt  der 
Gedanken,  welche  sie  umgab,  als  sie  noch  im  Lichte  des  Tages 
wandelten.  Auch  kennt  er  keine  Grenzen  des  Geschmackes,  weder 
Sympathie  noch  Antipathie  noch  modische  Formen  der  Anschauung, 
sondern  alles  ist  sein,  was  gelebt  hat,  Menschheit  wie  sie  ist.  Er 
braucht  nicht  davor  zurückzuschrecken,  Barbaren  oder  Verbrecher 
zu  schildern,  und  kann  seine  Künstlerkraft  und  Künstlerfreude 
ebenso  an  einem  Cesare  Borgia  und  einem  Napoleon  entfalten 
wie  an  einem  Hütten  oder  dem  Freiherrn  vom  Stein.  Des  vollen 
Lebens  wechselnde  Gestalten  darf  er  im  Bilde  bannen. 

Ich  kenne  wohl  den  oft  gehörten  Vorwurf,  daß  solche  Ab- 
wehr jeder  Parteihchkeit  zur  Entblößung  von  allem  Urteil  führe, 
daß  man  sich  des  Rechtes  dazu  selbst  beraube  und  zur  bloßen 
Registrierung  der  Tatsachen  sich  verdamme.  Dem  können  wir, 
wieder  mit  Ranke,  zunächst  entgegenhalten,  daß  persönliche  Be- 
schränktheit den  Historiker  doch  hindern  wird,  das  Ziel,  das  er  sich 
setzen  muß,  zu  erreichen:  »Das  Subjektive  gibt  sich  von  selbst.« 
Ertragen  müßte  man  immerhin  jenes  Schicksal,  wenn  das  oberste 
Prinzip  dadurch  gesichert  würde.  Indessen,  das  Prinzip  selbst 
wird  uns  davor  retten ;  denn  es  bietet  einen  Maßstab  dar,  der  höher 
ist,  als  jeder  andere  sein  kann.  Der  Wille  zur  Erkenntnis  ist  selbst 
Leidenschaft,  die  edelste,  die  reinste,  die  es  gibt.   Wer  nach  nichts 


622 


Kleine  historische  Schriften. 


anderem  strebt  als  nach  der  Wahrheit,  wer  das  wirkhch  Wirkhclie 
sehen,  den  Urgrund  des  Seins  erschöpfen  will,  der  sucht  Gott, 
er  ist  in  Gottes  Dienst.  Er  wird  der  Vergangenheit  mit  Andacht 
nahen,  mit  »Hochachtung  vor  der  Begebenheit«,  mit  ehrfürchtiger 
Scheu,  an  das  Unergründliche  zu  rühren  und  in  ikarischer  Ungeduld 
sich  über  den  Boden  der  Quellen  zu  erheben.  Er  wird  das  allgemein 
Menschliche,  er  ^^^rd  die  objektiven  Werte,  Staat  und  Rehgion, 
Recht  und  Gewissen,  und  wie  alle  die  welterbauenden  Elemente 
heißen  mögen,  welche  das  allgemeine  und  das  persönliche  Leben 
tragen,  in  ihrem  Ewigkeitsgehalt  wahrnehmen. 

Philosophie  und  Religion,  wissenschaftliche  Freiheit  und  die 
Unterwerfung  unter  den  Geist  der  Wahrheit,  das  ist  der  Horizont, 
der  die  objektive  Historie  umschließt.  Auf  diesem  Boden  stand 
Ranke.  Von  dort  aus  wurde  er  Historiker.  Niemals  hat  er  ihn  ver- 
lassen. Es  ist  die  Atmosphäre,  die  seine  Gestalten  umgibt  und  jede 
Erzählung  durchdringt.  Aus  ihr  stammt  jede  Betrachtung,  mit 
der  er,  gleich  dem  Chorführer  in  der  antiken  Tragödie,  den  Gang 
der  Geschichte  begleitet.  Er  drängt  sich  nicht  auf  die  Bühne, 
auf  der  das  Schauspiel,  das  er  schildert,  sich  abspielt.  Er  mischt 
sich  nicht  in  den  Dialog,  der  dort  geführt  wird.  Er  erzählt  dem 
Hörer  selten,  wie  die  Empfindungen  und  Äußerungen  der  Handeln- 
den entstanden,  und  behauptet  niemals,  daß  ihre  Entschlüsse 
anders  hätten  motiviert  und  ausgeführt  werden  müssen.  Gleich 
einem  guten  Regisseur  hat  er  alles  bereits  angeordnet  und  aus- 
gemacht, bevor  der  Vorhang  hoch  ging,  und  frei  und  lebensvoll 
schreiten  seine  Gestalten  über  die  welthistorische  Bühne. 

Möge  der  Geist  Rankes  über  den  Gedächtnisfeiern  für  die 
Helden  der  großen  Zeit  walten,  die  unsere  Nation  im  kommenden 
Jahr  begehen  wird.  Der  Adel  ihrer  Seele,  die  Macht  ihres  Willens, 
die  fortreißende  Kraft  ihrer  Persönlichkeit  werden  dann  nur  in 
um  so  hellerem  Lichte  erstrahlen. 


>B^^=^m 


Anspradie  an  die  Berliner  Studentenschaft 

auf  ihrem  Kommers  zur  Feier  des  fünfundzwanzigjährigen 
Regierungsjubiläums  Seiner  Majestät  des  Kaisers. 

(i8.  Juni  1913.) 

Kommilitonen! 

Aus  den  Liedern  und  Reden  des  heutigen  Abends  klang  e  i  n 
Ton  uns  entgegen,  der  Grundton  gleichsam  in  dieser  S^^mphonie 
des  Jubels:  das  ist  die  Idee,  an  die  uns  jeder  Tag  dieses  Jahres  er- 
innert, für  die  vor  hundert  Jahren  42  Söhne  unserer  Alma  Mater 
ihr  Blut  dahingaben,  die  Idee,  die  dies  Jahrhundert  zum  Siege 
geführt,  zu  der  unser  Kaiser  selbst  gestern  sich  vor  seinen  Bundes- 
fürsten bekannt  hat  —  die  Idee  vom  Vaterlande.  Denn  un- 
auflöslich ist  die  Erinnerung  an  den  heiligsten  der  deutschen  Kriege 
mit  dem  Ehrentage  unseres  Kaisers  verkettet,  und  wundervoll 
symbolisiert  sich  dies  in  der  heutigen  Feier,  die  in  der  Stunde 
begann,  da  vor  98  Jahren  auf  Waterloos  Feldern  Napoleons  Macht 
zusammenbrach. 

Es  war  nicht  immer  so  in  deutschen  Landen  Es  hat  Zeiten 
gegeben,  wo  sich  das  Bekenntnis  zum  Vaterland  im  Winkel  ver- 
kriechen, wo,  wer  zu  ihm  hielt,  das  schlechte  Handwerk  des  Ver- 
schwörers treiben  mußte.  Wir  aber  wollen  nicht  mehr  darüber 
klagen.  Denn  \\ir  geben  heute  zu,  daß  der  vaterländische  Gedanke 
viel  zu  gestaltlos  war,  um  zu  raschem  Ziel  zu  kommen;  daß  die 
partikularen  Gewalten,  wenn  sie  sich  zur  Wehre  setzten,  das  Recht, 
weniger  noch  der  Legitimität  als  der  Geschichte,  für  sich  hatten; 
und  daß  ganze  Generationen  in  Hingebung  und  pflichttreuer  Arbeit 
an  ihrer  Macht  gebaut  haben.    Heute  haben  sie  sich  der  Macht  des 


g24  Kleine  historische  Schriften. 

nationalen  Gedankens  unterworfen  und  dennoch,  so  viele  unter 
ihnen  die  Stürme  überdauerten,  ihre  Eigenmacht  behauptet.  Sie 
sind  eingefügt  in  die  Verfassung  unseres  Reiches;  eingemauert 
in  seine  Fundamente,  tragen  sie  als  die  stärksten  Pfeiler  das  Dach 
unseres  Hauses.  Und  freudig  bekennen  sich  unsere  Fürsten  mit 
uns  zu  Kaiser  und  Reich. 

Niemals  aber  wollen  wir  vergessen,  daß  die  deutsche  aka- 
demische Jugend  die  \^orkämpferin  der  Idee  vom  Vaterland  ge- 
wesen ist,  hingebend  und  opferwillig,  wie  es  Ehre,  Pflicht  und 
Freude  der  Jugend  ist.  Auch  die  Berüner  Studentenschaft  hat  in 
diesem  guten  Kampfe  nicht  gefehlt.  Auch  sie  hat  ihre  Blutzeugen 
gestellt,  auf  den  Schlachtfeldern  wie  im  Straßenkampfe;  und  nicht 
die  schlechtesten  waren  es,  die  das  harte  Brot  des  Kerkers  oder  der 
Verbannung  essen  mußten,  weil  sie  dem  Wahlspruch  der  alten  Bur- 
schenschaft »Ehre,  Freiheit,  Vaterland«  die  Treue  hielten.  Und 
mag  es  auch  Jahre  der  Ermattung  gegeben,  mögen  sich  unter 
Studenten  wie  Professoren  manche  gefunden  haben,  die  den  Nacken 
beugten  oder  als  Männer  der  Partei,  vielleicht  auch  aus  tieferer 
politischer  Einsicht,  abseits  standen,  so  haben  doch  die  Zeiten  der 
nationalen  Erhebung  noch  immer  Lehrer  und  Schüler  um  das 
nationale  Banner  geschart  gesehen;  und  jederzeit  hat  es  Profes- 
soren gegeben,  die  mit  der  Jugend  fühlten  und  glaubten,  von  Fichte 
und  Schleiermacher  an  bis  hin  zu  dem,  der  noch  heute  an  dieser 
Stelle  stehen  könnte,  hätte  ihn  nicht  ein  grausames  Geschick 
auf  der  Höhe  des  Schaffens  aus  unserer  Mitte  gerissen:  der  Herold 
des  neuen  Reiches,  der  mit  dem  Vater  brach,  um  dem  Vaterlande 
treu  zu  bleiben,  der  Verächter  alles  Zagens  und  abstumpfenden 
Zweifeins,  der  Glutenvolle,  Feueratmende,  der  Unvergeßhche  — 
Heinrich  von  Treitschke. 

Man  hat  in  diesen  Tagen  viel  geredet  und  gerühmt  von  dem 
mächtigen  Anschwellen  unserer  wirtschaftlichen  Kraft;  und  wen 
unter  uns  wird  dies  nicht  mit  Stolz  erfüllen  und  mit  der  Zuversicht, 
daß  wir  allen  unsern  Rivalen  und  Gegnern  gew^achsen  bleiben  werden ! 
Aber  aller  Besitz  wird  wertlos  und  kraftlos  sein,  wenn  ihm  die  Idee 
fehlt,  welche  lebendig  macht;  und  wir  wären  Narren,  wollten  wir 
unser  Leben  für  nichts  anderes  opfern  als  für  Schätze,  welche  die 


Ansprache  an  die  Berliner  Studentenschaft.  G2b 

Motten  und  der  Rost  fressen,  und  die  ungleich  genug  verteilt  sind. 
Nicht  unsere  Wälder,  so  wohlig  es  in  ihrem  Schatten  sich  wandern 
läßt,  nicht  die  Ströme,  so  schön  sie  rauschen,  nicht  die  Berge  mit 
ihren  Schätzen,  nicht  das  Meer,  das  unsere  Flotten  trägt,  sind 
bereits  das  Vaterland.  Das  alles  ist  nur  der  Boden,  auf  dem  das 
Vaterland  sich  erhebt.  Aus  den  Burgen,  die  zu  unsern  Strömen  her- 
niedergrüßen, schaut  es  uns  an,  aus  den  Domen,  welche  die  fromme 
und  doch  so  hochgemute  Kunst  unserer  Vorfahren  gebaut,  aus  den 
Palästen  unserer  Fürsten  wie  aus  der  Hütte  des  Landmanns,  aus 
den  Monumenten,  die  wir  unsern  Helden  im  Reiche  der  Gedanken 
und  des  Staates  errichtet  haben ;  leuchtend  steigt  es  vor  uns  auf  in 
der  Sommersonnwendnacht,  wenn  auf  allen  Bismarcktürmen  die 
Feuer  brennen;  in  tausend  und  abertausend  Erinnerungen  um- 
schwebt es  unsere  Berge  und  die  altersgrauen  Mauern  unserer 
Städte;  es  spricht  zu  uns  aus  den  Gedanken  und  den  Taten  derer, 
die  an  seiner  Größe  gearbeitet,  an  seine  Zukunft  geglaubt  haben; 
es  lebt  in  unsern  Herzen.  Das  ist  das  Land  Hermanns,  das  Land 
der  Eichen  —  das  Erbe  unserer  Väter,  das  wir  täglich  neu  erwerben 
wollen,  für  das  wir  leben  und  schaffen  wollen  and,  wenn  es  sein 
muß,  das  Leben  lassen  werden. 

Mein  Spruch  gilt  der  Berliner  Studentenschaft  als  der  Trä- 
gerin des  deutschen  Geistes,  des  Geistes  der  Ehre  und  der  Zucht, 
der  Treue  und  der  Wahrhaftigkeit,  des  Glaubens  an  die  idealen 
Güter,  die  wir  mit  dem  Gedanken  an  das  Vaterland  verbinden, 
und  der  Hoffnung,  daß  unser  Volk  in  dem  Glänze  dieses  Glückes 
blühen  wird  bis  an  das  Ende  der  Jahrhunderte. 

Möge  die  Berliner  Studentenschaft  allezeit  sein  und  bleiben 
eine  Hüterin  der  reinen  und  freien  Gedanken! 


83^-^;i?g" 


Lenz,  Kleine  historische  Schriften. 


40 


Von   IVL3.X    I^GTIZ,    erschien   ferner: 

MARTIN  LUTHER 

Dritte,  verbesserte  Auflage 
224  Seiten  Preis  M.  3.—,  jreb.  M.  4.— 

GESCHICHTE  BISMARCKS 

Vierte,  durchgesehene  Auflage 
497  Seiten  Preis  M.  8.—,  geb.  M  9.60 

NAPOLEON 

Dritte  Auflage 

Monographien  zur  Weltgeschichte  Bd.  XXIV 

203  Seiten  Preis  kart.  M.  4.—,  geb.  M.  5.— 

SCHMOLLER,  LENZ,  MARCKS: 

zu 

BISMARCKS  GEDÄCHTNIS 

Erste  und  zweite  Auflage 
174  Seiten  Preis  M.  3  60,  geb.  M.  4.80 

DIE  GROSSEN  MÄCHTE 

Ein  Rückblick  auf  unser  Jahrhundert 
158  Seiten  Preis  M  3.—,  geb.  M.  4.— 

GESCHICHTE 
DER  UNIVERSITÄT  BERLIN 

Ausgabe  A:  4  Bände  (Quart)  Preis  M.  42.50 

in  5  Originalbänden  M.  55. — 

Ausgabe  B:  (Ohne  die  Bände  III  und  IV)  Preis  M.  31.50 

in  3  Originalbänden  M.  40.— 

REDE  ZUR  JAHRHUNDERTFEIER 
DER  UNIVERSITÄT  BERLIN 

32  Seiten  Preis  M.  —.50 


Von  NIAX  LENZ  erschien  ferner: 

MARTIN  LUTHER  . 

Dritte,  verbesserte  Auflage 
224  Seiten  Preis  M.  3,—,  geb.  M.  4.— 

GESCHICHTE  BISMARCKS 

Zweite,  unveränderte  Auflage 
455  Seiten  Preis  M.  6.40,  geb.  M.  8.— 

NAPOLEON 

Zweite,  verbesserte  Auflage 

Monographien  zur  Weltgeschichte  Bd.  XXIV 

208  Seiten  Preis  kart.  M.  4.—,  geb.  M.  5.- 

SCHMOLLER,  LENZ,  MARCKS: 

BISMARCKS  GEDÄCHTNIS 

Erste  und  zweite  Auflage 
174  Seiten  Preis  M.  3.60,  geb.  M.  4.80 

DIE  GROSSEN  MÄCHTE 

Ein  Rückblick  auf  unser  Jahrhundert 
158  Seiten  Preis  M.  3.—,  geb.  M.  4.— 

GESCHICHTE 
DER  UNIVERSITÄT  BERLIN 

Ausgabe  A:  4  Bände  (Quart)  Preis  M.  40.— 
in  5  Bände  geb.  M.  52.50 

Ausgabe  B:  (Ohne  die  Bände  111  und  IV)  Preis  M.  30.— 
in  3  Bände  geb.  M.  37.50 

HALLE    1910 

REDE  ZUR  JAHRHUNDERTFEIER 
DER  UNIVERSITÄT  BERLIN 

32  Seiten  Preis  M.  —.50 

Lenz,  Kleine  historische  Schriften.  yj 


1 


^ 

'S 

LO 

0}      * 

*-  Vom  W 
Nationen 

o> 

iH 

to 

♦  u 

to 

H    <ü 

O 

O  13 

DJ 

Ol 

m 

W 

C\2 

; 

d 
cq 

O 

CO 

•H 

a 

o 

Oi 

K 
O 

ffi 

o 
u 

<!; 

1.    . 

i  - 

.   « 

•» 

CJ 

tSJ 

•H 

S 

h^ 

^: 

u 

Q 

o 

** 

Ä 

(U 

■— 

s 

-<-• 

X 

< 

H 

Univenity  of  Toronto 
Library 


DO  NOT 

REMOVE 

THE 

CARD 

FROM 

THIS 

POCKET 


Acme  Library  Card  Pocket 

linder  Fat.  "Ret.  Index  FUe" 

Made  by  LIBRARY  BUREAU