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Full text of "Archiv für kriminologie"

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ARCHIV 

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KRIMINAL  -  ANTHROPOLOGIE 


X7ND 


KRIMINALISTIK 

MIT  EINER  ANZAHL  VON  FACHMÄNNERN 

HERAUSeEOEBEN 

VON 

Prof.  Dr.  HANS  GROSS 


SIEBEfiüIlDZWAIZI&STEB  BAJD. 


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LEIPZIG 
VERLAG  VON  F.  C.  W.  VOGEL 

1907. 


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Inhalt  des  siebeirnndzwanzigsten  Bandes. 


Erstes  und  Zweites  Heft 

ausgegeben  29.  Mai  1907. 

Original-Arbeiten.  8«*t» 

L  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien      .    .    .  ■ 1 

IL  Die  LK.y.  und  die  Kommission  f.  d.  Refonn   der  StP.O.    Von 

Hans  Grofi 112 

m.  über  den  Stand   und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in 

Preußen.    Von  Dr.  Otto  Leers 129 

IV.  Verbrecher-Lebenslaufe.    Vom  Geh.  Jnstizrat  Siefert 155 

y.  Ein  unwahres  Gest&idnis.    Von  Rechtsanwalt  Dr.  Kroch      .    .    .  176 

YL  Was  sollen  wir  tun?    Von  Prof.  Dr.  B.  Freud enthal      ....  188 

Vn.  Kriminalstatistische  Vergleiche.    Von  HansGroß 189 

yin.  Zurechnungsfähig?    Von  Dr.  Heinrich  Svorcik 192 

Kleinere  Mitteilungen. 

Von  Ernst  Lohsing: 

1.  Die  gefälschte  Handschrift 203 

Bficherbesprechungen. 

Von  Hans  Groß: 

1.  Dr.  KarlWilmanns:  Zur  Psychopathologie  des  Landstreichers    205 

2.  Carl  Stooß:  Strafrechtsfälle  für  Studierende 206 

3.  Dr.  Georg  Lelewer:  Die  strafbaren  Verletzungen  der  Wehr- 
pflicht in  rechtsvei^leichender  und  rechtspolitischer  Darstellung    206 

4.  Havelock  Ellis:  Die  krankhaften  Greschlechts-Empfindungen 

auf  der  soziativen  Grundlage 206 

5.  Dr.  Rudolf  Wassermann:  Beruf,  Konfession  u.  Verbrechen    207 

6.  Dr.  Ewald  Stier:  Die  akute  Trunkenheit  und  ihre  strafrecht- 
liche Begutachtung  in  besonderer  Berücksichtigung  der  mili- 
tärischen Verhältnisse 207 

7.  Hans  Landau:  Arzt  und  Kurpfuscher  im  Spiegel  des  Straf- 
rechts.   Ein  Beitrag  zur  ärztlichen  Frage 208 

8.  Robert  Sommer:  Familienforschung  und  Vererbungslehre  .    208 


^ 


IV  Inhaltsyerzeichnis. 

8«ita 

Drittes  und  viertes  Heft 

ausgegeben  4.  Juli  1907. 

Original- Arbeiten. 

IX.  Die  drei  Mörder  Bloemers.    Von  Dr.  med.  Panl  Poilitz  ....  209 

X.  Über  Kindesmord.    Von  Prof.  Dr.  W.  Graf  Gleispacli   ....  224 

XI.  Ans  den  Erinnerungen  eines  PoUzeibeamten.    Von  Hofrat  J.  Holz  1  271 
XII.  Über  Windelband  und  den  Streit  nm  das  Strafrecht.    Von  Gerichta- 

assessor  Constantin  von  Zastrow *.    ...  277 

XIII.  Ein  Beitrag  znr  Psychologie  der  Mörder.    Mitgeteilt  vom  Enten 
Staatsanwalt  Oberiandesgerichtarat  Pessler 308 

XIV.  Meuchelmord  zweier  Friseurlehriinge.    Mitgeteilt  vom  k.  k.  Staats- 
anwaltssnbstitut  Dr.  Bichard  Bauer 337 

XV.  Die  Strafrechtsreformer  aus  dem  Zeitalter  der  Tortur.   Von  Dr.  jnr. 
Hans  Schneickert 841 

XVI.  Über  eine  gewisse  Form  von  Erinnerungslücken  und  deren  Elrsatz 

bei  epileptischen  Dämmerzuständen«    Von  Dr.  Clemens  Gudden    346 

XVII.  Einige  merkwürdige  Fälle  von  Iirtum  über  die  Identität  von  Sachen 

oder  Personen.    Von  Dr.  Albert  Hellwig 352 

XVIII.  Ebinnerungstäuschung  in  Bezug  auf  den  Ort   Von  Dr.  med.  Eugen 

Jakobsohn 362 

Kleinere  Mitteilungen. 

Von  Dr.  P.  Näcke: 

1.  Dr.  P.  Möbius.    In  memoriam 366 

2.  Dr.  L.  Woltmann.    In  memoriam 867 

3.  Können  Augenblicks-Eindrücke  forensischen  Wert  haben?     .  367 

4.  Motive  des  AbergUubens 368 

5.  Gefährliche  Träume 370 

6.  Schranken  in  der  Größe  des  Schätzens,  Erkennens  und  Be- 
urteilens  bei  demselben  Individuum 370 

7.  Fdnfühügkeit  eines  Idioten 371 

Bücher  besprechungen. 

Von  Hans  Groß: 

1.  Dr.  Friedrich  Stein:  Zur  Justizreform 372 

2.  L.  S.  A.  M.  von  Römer:  Die  Uranische  Familie     ....  372 

3.  Carl  Kurtz:  Die  Untersuchungen  von  Körperverletzungen, 
insbesondere  der  tötlichen 378 

4.  Ernst  Zitelmann:  Ausschluß  der  Widerreohtlichkeit    .    .  373 

5.  Dr.  jur.  Karl  Weidlich:  Die  englische  Strafprozeßprazis 
und  die  deutsche  Strafprozeßreform 374 

6.  Dr.  Max  Altberg:  Vollendung  und  Bealkonkurrenz  beim 
Meineid  des  Zeugen  und  Sachverständigen 374 

7.  Dr.  med.  Arnemann:  Über  Jugendirresein 375 

8.  Prof.  Dr.  Max   Ernst  Mayer:   Die  Befreiung  von  Ge- 
fangenen  •  375 


Inhaltsyerzeichnis.  Y 

9.  Dr.  Ed.  Löwenthal:  Grondzüge  zur  Reform  des  Deatschen 

StrafrechtB  und  StrafprozesseB 376 

10.  Wilhelm  Wandt:  Völkerpsychologie 876 

11.  Hans  Ostwald:  Das  Berliner  Dimentom 376 

12.  Theodor  Lipps:  Leitfaden  der  Psychologie 877 

13.  Med.  nnd  phil.  Dr.  Georg  Baschan:   Gehirn  und  Koltnr  377 

14.  Dr.  med.  Emil  Lobedank:  RechtMchntz  und  Verbrecher* 
behandlang 377 

15.  Prof.  Dr.  Berthold  Kern:  Das  Wesen  des  menschlichen 
Seelen-  and  Geisteslebens  als  Grandiifi  einer  Philosophie  des 
Denkens 378 

16.  K.  A.  Wettstein :  Die  Strafverschickang  in  deatsche  Kolonien  378 

17.  E.  Riggenbach:  Vererbnng  and  Verantwortung 379 

18.  Dr.  G.  von  Bhoden:  Erbliche  Belastung  und  ethische  Ver^ 
antwoitung 879 

19.  Dr.  J.  Starke:  Die  Berechtigung  des  Alkoholgenasses    .    .  879 

20.  Ludwig  Gfinther:  Ein  Hexenprozeß 879 

21.  Hugo  Marx :  Rinfflhmng  in  die  gerichtliche  Medizhi  f&r  prak- 
tische Kriminalisten 380 

22.  Dr.  Gustav  Radbruch:  Geburtshilfe  und  Strafrecht  .    .    •  882 

23.  Dr.  jur.  Oskar  Holer:  Die  Einwilligung  des  Verletzten    .  382 

24.  Josef  Poppenscheller:  Die  Daktyloskopie  als  Erkennungs- 
mittel f&r  WechselfSlschungen 383 

25.  Dr.  Erich  Wulff en :  Georges  Manolescu  und  seine  Memoiren  383 

26.  Robert  Gaupp:  Wege  und  Ziele  psychiatrischer  Forschung  384 

27.  Rechtsanwalt  Rothe:  Gegen  den  GotteslSaterungspara- 
graphen  und  Pfarrer  Adolf  Schreiber:  Gegen  das  Je- 
auitengesetz 384 


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I. 

Der  Prozess  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

November  1906. 


Vielleicht  ans  keinem  der  vielen,  sagen  wir  kurz  Knppelei- 
prozesse  ist  das  ganze  Prostitntionswesen  so  scharf  umrissen  und 
zweifellos  hervorgetreten,  wie  aus  dem  jüngst  in  Wien  verhandelten ; 
es  soll  deshalb  dieser  in  vielfacher  Richtung  belehrende  Prozeß 
möglichst  genau  dargestellt  werden.  —  Bezüglich  der  Quellen  der 
Darstellung  sei  bemerkt,  daß  die  Anklage  und  das  Urteil  akten- 
mäßig sind;  die  Verhandlung  selbst  ist  denBerichten  der,,  Zeit^  ent- 
nommen, und  durchweg  mit  amtlichen  Daten  verglichen  und  nach 
ihnen  richtig  gestellt  worden. 


Vorsitzender  des  Gerichtshofes  ist  Hofrat  Dr.  Feigl;  die  Staats- 
anwaltschaft ist  vertreten  durch  den  Substituten  Dr.  Langer,  als 
Verteidiger  fungieren:  Dr.  Rabenlechner,  Dr.  PoUaczek  und  Dr. 
Hofmockl. 

Der  Vorsitzende  eröffnet  die  Sitzung  und  erkl&rt  die  Ver- 
handlung ftlr  geheim,  doch  werden  60  Vertrauenspersonen,  meist 
Journalisten,  zugelassen. 

Auf  der  Anklagebank  sitzen  die  45jährige  Inhaberin  eines 
öffentlichen  Hauses  Regine  Riehl,  die  68jährige  Bedienerin  Antonia 
Pollak,  der  verheiratete  vorbestrafte  Spenglergehilfe  Friedrich  König 
und  die  Mädchen:  Marie  Hosch,  20  Jahre  alt;  Eva  Madzia  23  Jahre 
alt;  Sophie  Christ,  19  Jahre  alt;  Josefine  Zawazal,  17  Jahre  alt; 
Ernestine  Oönje,  33  Jahre  alt;  Anna  Christ,  19  Jahre  alt;  Marie 
Winkler,  20  Jahre  alt;  Marie  Pokornj,  24  Jahre  alt. 

Regine  Riehl  ist  eine  untersetzte  kräftige  Frauensperson.  Das 
dicke  Gesicht  zeigt  die  Spuren  ehemaliger  Schönheit  Sie  beträgt 
sich  sehr  sicher  und  antwortet  im  Verhör  schlagfertig.    Friedrich 

irehiT  fSr  Krininalaiithnipologie.  27.  Bd.  ^ 


I, 


•    •    • 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 


/••. 


König  rj^f.gut  gekleidet  und  sieht  aus  wie  ein  Wiener  Fiaker.    Er 
roaomVdcnen  Bjmpathischen  Eindrnok;  er  soheint  seine  gegenwärtige 
Sito'a.tion  nioht  sehr  tragisch  zu  nehmen. 
.  /'<  Antonia  Pollak  ist  verwachsen,  ihr  Rücken  ist  tief  eingesunken, 

/4|e.  listigen,  unruhigen  Augen  irren  unstet  im  Saale  herum. 

*****  Die  M&dchcn  haben  zumeist  stumpfe,  wenig  anziehende  Oe- 
''.  sichter,  deren  kindliche  Züge  durch  die  Falten  und  die  Blässe  der 
..'%/'  Verlebtheit  seltsam  verzogen  sind.  Vom  einfachen  blauen  Kattun- 
kleid und  dem  schwarzen  Kopftuch  bis  zur  kostbaren  auffallenden 
Toilette  der  Demimonde  sind  alle  möglichen  Abstufungen  der  Eleganz 
vertreten,  die  stets  durch  eine  besonders  grelle  Farbe,  ein  auffallen- 
des Schmuckstück  oder  eine  Masche  mehr  markiert  ist. 

Nach  Erledigung  der  gesetzlichen  Vorschriften  wird  die  Anklage 
verlesen : 

Die  k.  k.  Staatsanwaltschaft  Wien  erhebt  gegen: 

Regina  Riehl,  geboren  im  Jahre  1860  in  Wradisch,  nach  Wien  zu- 
ständig, evang.  A.  C,  verwitwet,  Bordellinhaberin,  ▼orbestraft,  dz.  in  Haft; 

Antonie  Pollak,   geboren  am   4./10.    1838   in  Pravonin,  zust&ndig   nach 
Wien,  mosaisch,  verheiratet,  Bedienerin,  unbescholten,  dz.  in  Haft; 

Friedrich  König,  am  7./7.  1857  in  Wien  geboren  und  dahin  zu- 
ständig, katholisch,  verheiratet,  Spenglergehilfe,  vorbestraft; 

Marie  Bosch,  20  Jahre  alt,  in  Wien  geboren  und  dahin  zuständig, 
katholisch,  ledig,  Prostituierte,  unbestraft; 

£vaMadzia,23  Jahre  alt,  in  Cacz  geboren,  nach  Brennau  zuständig,  katho- 
lisch, ledig,  Prostituierte,  vorbestraft  (wegen  unbekannten  Aufenthalts  ausge- 
schieden); 

Sofie  Christ,  19  Jahre  alt,  in  Groß-Meseritsch  geboren,  nach  BrQnn  zu- 
ständig, katholisch,  ledig,  Wäscherin,  unbescholten; 

"Josefine  Zawazal,  17  Jahre  alt,  in  Wien  geboren,  nach  Königsaal  zu- 
ständig, katholisch,  ledig,  Prostituierte,  vorbestraft; 

Ernestine  Gönye,  33  Jahre  alt,  in  Mihaly  geboren  und  dahin  zu- 
ständig, evang.  A.  C,  ledig,  Stubenmädchen,  unbescholten; 

Anna  Christ,  19  Jahre  alt,  in  Wien  geboren,  nach  Las  zuständig,  katho 
lisch,  ledig,  Schneiderin,  unbescholten; 

Marie  Winkler,  20  Jahre  alt,  in  Wien  geboren,  nach  Mitter- Arnsdorf 
zuständig,  katholisch,  ledig.  Private,  nnbescholten; 

Marie  Pokorny,  am  31./10.  1882  in  Reifnigg-Fresen  geboren  und  zu- 
ständig, katholisch,  ledig,  Prostituierte,  unbescholten, 

die  Anklage: 

A.  Regine  Riehl  und  Antonie  Pollak  haben  in  der  Zeit  vom  Jahre 
1897  bis  zum  Jahre  1906  die  nachbenannten  Personen,  über  welche  ihnen  ver- 
möge der  Gesetze  keine  Gewalt  zutsand,  eigenmächtig  verschlossen  gehalten 
und  sie  auch  auf  andere  Art,  insbesondere  durch  Zurflckbehalten  ihrer  Kleider, 
an  dem  Gebrauche  ihrer  persönlichen  Freiheit  gehindert  und  zwar  die  Juliane 
Bernhard  (1906),  Anna  Christ  (1905),  Sofie  Christ  (1906),  Paula  Denk  (1903—1904), 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  3 

Anna  Felber  (1905),  Ottilie  Geresch  (1897—1900),  Amalie  Glaser  (1904),  Angela 
Qroßmann  (1904),  AloiBia  Hirn  (1904—1905),  Julie  Hlawatochek  (1905—1906), 
Marie  Haschek  (1905),  Marie  König  (1901—1906),  Marie  Kotzlick  (1903),  Anna 
Krifitof  (1902),  Marie  Lang  (1904),  Elise  Lipp er  (1906),  ThereseLudwicek  (1902— 
1903),  Rosa  Maretschek  (1904—1905),  Kva  Madzia  (1903-1906),  Elisabeth 
Menschik  (1904),  Marie  Nemetz  (1906),  Justine  Rohatschek  (1899—1900),  Theresia 
Schlager  (1902),  Marie  Starek  (1901),  Michaelina  Stavitzka  (1906),  Josefine  Taub- 
mann (1901— 1902),  Georgine  Weinwurm  (1899— 1900)  und  Josefine  Zawazal  (1906), 
es  habe  die  Anhaltung  Ober  drei  Tage  gedauert,  und  es  haben  die  Angehaltenen 
nebst  der  entzogenen  Freiheit  noch  anderes  Ungemach  zu  leiden  gehabt. 

B.  Friedrich  König  habe  zu  der  oben  unter  A,  bezeichneten  Übeltat 
der  Regine  Riehl  an  Marie  König  durch  Mißhandlung  derselben  und  durch  die 
Drohung,  sie  der  Besserungsanstalt  zu  abergeben,  Vorschub  gegeben  und  Hilfe 
geleistet. 

C.  Regine  Riehl  habe  in  der  Zeit  seit  1897  die  von  den  nachbenannten 
Personen  zur  Verwahrung  übernommenen  Kleider  und  W&schestacke,  somit  an- 
rertrautes  Gut  in  einem  100  K.  abersteigenden  Werte  nach  deren  Austritte  aus 
dem  Riehischen  Hause  denselben  vorenthalten  und  sich  zugeeignet  und  zwar  der 
Paula  Denk,  Anna  Felber,  Marie  Huscbek,  Sofie  Janeba,  Rosa  Maretschek, 
Elisabeth  Menschik,  Emilie  Nawratil,  Malke  Ghaje,  Neschling,  Therese  MQnz, 
Justine  Rohatschek,  Marie  Starek,  Josefine  Taubmann,  Georgine  Weinwurm, 
Josefine  Zawazal. 

D.  Marie  Hosch,  Eva  Madzia,  Sofie  Christ,  Josefine  Zawazal, 
Ernestine  Gönye  haben  durch  die  am  5.  Juli  1906  unter  OZ.  15,  16,  17,  18 
und  19  dem  Untersuchungsrichter  des  k.  k.  Landgerichtes  Wien  unter  Eid  ge- 
machten Angaben  aber  die  Einrichtung  des  Riehischen  Hauses,  das  Leben  der 
Prostituierten  in  demselben  und  die   Verrechnung  des  Schandlohnes; 

femer  Anna  Christ  durch  die  am  5.  Juli  und  am  16.  Juli  1906  unter 
OZ.  21  dem  Untersuchungsrichter  des  k.  k.  Landgerichtes  Wien  Ober  die  Frage 
ihrer  Vlrginit&t  beim  Eintritte,  ihrer  Behandlung  in  dem  Riehischen  Hause  und 
die  Umstände,  unter  denen  sie  das  Haus  verließ,  gemachten  Angaben, 

femer  Marie  Wink  1er  am  25.  Juli  1906  durch  die  in  OZ.  133  dem  Unter- 
snchungsrichter  des  k.  k.  Landgerichtes  Wien  gemachte  Angabe,  daß  sie  ihre 
Auüseichnungen  aber  ihren  Verdienst  der  Regine  Riehl  gezeigt  habe,  und 

Marie  Pokorny  durch  die  am  23.  Juil  1906  unter  OZ.  123  dem  Unter- 
suchungsrichter des  k.  k.  Landesgerichtes  Wien  gemachte  Angabe  aber  den 
Verkehr  des  Josef  Piss  im  Riehischen  Hause  vor  Gericht  ein  falsches  Zeugnis^ 
abgelegt. 

£.  Regine  Riehl,  Antonie  Pollak,  Marie  Hosch  haben  im  Juni 
und  Juli  1906  in  Wien  durch  die  Bitte,  zu  Gunsten  der  Regine  Riehl  auszusagen 
und  das  Versprechen  und  die  Verteilung  von  Geschenken  die  oben  sub  D  be- 
zeichnete Übeltat  durch  Anraten,  Unterricht  und  Lob  eingeleitet  und  vors&tzlich 
Teranlaßt  und  zwar  Regine  Riehl  die  Übeltat  der  Anna  Christ,  Sofie  Christ, 
Ernestine  Gönye,  Marie  Hosch,  Eva  Madzia,  Jesefine  Zawazal  und  Marie  Po- 
korny, Antonie  Pollak,  die  Übeltat  der  Anna  Christ,  Sofie  Christ  und 
Ernestine   Gönye;    Marie   Hoschdie  Übeltat   der  Sofie   Christ   und  Josefine 

Zawazal. 

F.    Regine  Riehl  und  Antonie  Pollak   haben  sich  im  Juni  und  Juli 
1906  in  Wien  durch  Versprechungen  von  Geschenken  und  zwar  Regine  Riehl 

1* 


4  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  EonBorten  in  Wien. 

bei  Aloisia  Hirn  und  M&rie  Nemetz,  Antonie  Pollak  bei  Josefine  Zawazal 
um  ein  falsches  Zeugnis,  so  Tor  Gericht  abgelegt  werden  soll,  beworben. 

G.  Kegine  Riehl  habe  im  Jahre  1905  in  Wien  die  Anna  Felber,  Marie 
Hosch,  Elisabeth  Menschik  Tors&tzlich  Teranlaßt,  mit  ihrem  Körper  ihr  un- 
züchtiges Gewerbe  zu  betreiben,  obwohl  sie  wußten,  daß  sie  mit  einer  Tenerischen 
Krankheit  behaftet  waren,  und  zur  AusQbung  dieser  Übeltat  Vorschub  gegeben 
und  Hilfe  geleistet. 

H.  Regine  Riehl  habe  seit  dem  Jahre  1897  den  nachbenannten  Schand- 
dimen  und  zwar  Marie  Billek,  Anna  Christ,  Elisabeth  Menschik,  Emilie  Navratil, 
Malke  Chaje  Neschling  und  Justine  Rohacek  zur  Betreibung  ihres  unerlaubten 
Gewerbes  bei  sich  einen  ordentlichen  Aufenthalt  gegeben. 

I.  Antonie  Pollak  habe  seit  1897  in  Wien  durch  Zufahren  von 
Schanddirnen  in  das  Haus  der  Regine  Riehl  ein  Gesch&ft  gemacht. 

K.  Friedrich  König  habe  seit  dem  Jahre  1902  aus  der  gewerbsmäßigen 
Unzucht  der  Marie  König  seinen  Unterhalt  gesucht. 

Hiedurch   haben   begangen: 

Regine  Riehl  ad  A  das  Verbrechen  der  Einschränkung  der  persön- 
lichen Freiheit  nach  §  93  St.  G. 

ad  C  das  Verbrechen  der  Veruntreuung  nach  §  183  St.  G. 

ad  E  das  Verbrechen  der  Mitschuld  an  dem  Betrüge  nach  §§  5,  197, 199a  St.  G. 

ad  F  das  Verbrechen  des  Betruges  durch  Bewerbung  um  falsches  Zeugnis 
§§  197,  199a  St.  G. 

ad  G  die  Übertretung  nach  den  §§  5  St.  G.  und  5  Absatz  3  Gesetz  vom 
24.  Mai  1885  R.  G.  Bl.  Nr.  89 

ad  H  die  Übertretung  der  Kuppelei  nach  §  512a  St.  G.,  strafbar  nach  §§  35, 
94  (höherer  Strafsatz).  St.  G. 

Antonie  Föllak  ad  A.  das  Verbrechen  der  Einschränkung  der  persön- 
lichen Freiheit  nach  §  93  St.  G. 

ad  £  das  Verbrechen  der  Mitschuld  am  Betrüge  nach  §§  5,  197,  199a  St  G. 

ad  F  das  Verbrechen  der  Bewerbung  um  falsches  Zeugnis  nach  §§  197, 
199a  St.  G. 

ad.  I.  die  Übertretung  dor  Kuppelei  nach  §  512  d.  St.  G.  strafbar  nach 
§§  34,  35,  94  (höherer  Strafsatz),  St.  G. 

Friedrich  König  ad  B.  das  Verbrechen  der  Mitschuld  an  der  Ein- 
schränkung der  persönlichen  Freiheit  nach  §§  5,93  St.  G.  und  ad  K.  die  Über- 
tretung des  §  5,  dritter  Absatz  Gesetz  vom  24.  Mai  1885  R.  G.  Bl.  Nr.  89,  straf- 
bar nach  §§  35,  94  (höherer  Strafsatz)  St.  G. 

Marie  Hosch  ad  D.  das  Verbrechen  des  Betruges  nach  §§  197,  199a, 
St.  G.  ad  F  das  Verbrechen  der  Mitschuld  an  diesen  Vergehen  nach  §§  5,197, 
199a,  St.  G.,  strafbar  nach  §§  34,202  2o4  St.  G. 

Eva  Madzia,  SofieChrist,  Josefine  Zavazal,  Ernestine  Gönye 
Anna  Christ,  Marie  Winkler  und  Marie  Pokorny  ad  D.  das  Ver- 
brechen des  Betruges  nach  §§  197  und  199a  St.  G.  strafbar  nach  §  2ü2  St.  G. 
bei  den  vier  erstgenannten  überdies  nach  §  204  St.  G. 

Beantragt    wird; 

1.  Anordnung  der  Hauptverhandliing  vor  dem  k.  k.  Landesgerichte  Wien 
als  Erkenntnisgericbte; 


I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  in  Wien.  5^ 

2.  Vorfflhrang  der  beiden  gem&O  §  175  Z.  4  und  180  St.  P.  0.  in  Haft  su 
belaasenden  Beschnldigten  Regine  Riehl  und  Antonie  PoUak; 

3.  Vorladung  der  übrigen  Beschuldigten; 

4.  Vorladung  der  Zeugen  Emil  Bader  ON.  10,  Max  Löwy  ON.  22,  Marie 
König  ON.  23,  Theresia  Richter  ON.  25,  Marie  Billek  ON.  69,  Ernst  PoUak 
ON.  30,  Johann  Seidl  ON.  57,  Leopold  Bader  ON.  69,  Hedwig  Malik  ON.  81, 
Barbara  Koplik  ON.  89,  Marie  Spanagl  ON.  102,  RosaZemann  ON.  104,  Theodor 
Staitz  ON.  105,  Rudolf  Michel  ON.  117,  Pauline  Trzil  ON.  124,  Aloisia  Hirn 
OK.  129,  Aloisia  Siepschiek  ON.  130,  Elise  Lipper  ON.  134,  Anna  Divin  ON.  152, 
Ottilie  Oeresch  ON.  154,  Filomena  Fiedler  ON.  155,  Marie  Qsch wandt  ON.  157, 
Amalie  Glaser  ON.  157,  Franziska  Hotovy  ON.  161,  Anna  Kristof  ON.  16, 
Albine  Korba  ON.  162,  Anna  Kaluscha  ON.  165,  Sofie  Janeba  ON.  166,  Marie 
Uoschek  ON.  167,  Marie  Lang  ON.  168,  Therese  Münz  Paschinger  ON.  169, 
Therese  LudwicekON.  170,  Aloisia  Schmidt  ON.  184,  Ludmilla  Rozhon  ON,  18, 
SchUcha  ON.  186,  Marie  Starek  ON.  192,  Marie  Spika  ON.  193,  Karoline 
Staadinger  ON.  194,  Walpurga  Yrana  ON.  197,  Georgine  Weinwurm  ON.  199, 
Barbara  Woücky  ON.  206,  Viktoria  Zielinska  ON.  207,  Anna  Felber  ON.  234, 
Therese  Schlager  ON.  235,  Angela  Großmann  ON.  236,  Justine  Rohacek  ON.  237, 
Rosa  Marecek  ON.  238,  Emilie  Nawratil  ON.  239,  Josefine  Taubmann  ON.  240, 
Louise  Waas  ON.  241,  Johann  Br^by  ON.  272,  Anna  Altenkopf  ON.  277,  Karl 
Josef  Weber  ON.  278,  Marie  Skamenik  ON.  279,  Michaelina  Sta?itzka  ON.  284 
Juliane  Bernhard  ON.  285,  Marie  Hruby  Leopoldine  Baumann  ON.  280,  Mathias 
Kohlendorfer  ON.  299,  Therese  KoblendorferON.  300,  Ed  Alois  Müller  ON.  301 
Marie  Müller  ON.  302,  Ernst  Janda  ON.  303,  Paula  Denk  ON.  311,  Malke 
Chaje  Neschling  ON.  312,  Elisabeth  Menschik  ON.  313,  Josef  Kolazia  ON.  329, 
Johanna  Krenn  ON.  341,  Leopold  Haller  ON.  355.  Marie  KoUlik  QN.  856, 
Dr.  Husserl  ON.  100. 

5.  Vorlesung  gem&ß  §  252  Zahl  1  und  4  der  Zeugenaussagen. 

Cölestine  Truza  ON.  41,  Karl  Spanagl  ON.  71,  Hans  Baumann  ON.  72, 
Anna  Hauer  ON.  79,  Karoline  Wicher  ON.  80,  Franziska  Remisch  ON.  82, 
Dr.  Waldmann  ON.  99,  Marie  Zais  ON.  104,  Albert  Brouschko  ON.  106,  Amalie 
BostiUch  ON.  107,  Ludwig  Watzek  ON.  108,  Anna  Scholik  ON.  109,  Marie 
NemetzON.  110,  Rudolf  Brezelnik  ON.  118,  Regine  Blum  ON.  132,  Dr.  Friedrich 
Hlawitisch  ON.  136,  Ernst  Immerglück  ON.  142,  Marie  Zaulek  ON.  199, 
Friederike  Rozehalik  ON.  262,  Johann  Schützner  ON.  273,  Leopold  Kostik  ON. 
274,  Josef  Nemes  ON.  275,  Josef  Tybl  ON.  276,  Paula  Kustlik  ON.  281,  August 
Rogner  ON.  282,  Alois  Sattler  ON.  283,  Anna  Singer  ON.  294,  Margarctha 
Singer  ON  295,  Karl  Morawic  ON  305,  Anna  Morawic  ON  306,  Heinrich  Kohlen- 
hof ON.  308,  Josef  Loitzl  ON.  342,  Ludwig  Koller  ON.  344,  Franz  Grün- 
berger,  ON.  373,  Franz  Schlager  ON.  401,  Franz  Marecek  ON.  407,  Kari 
Gschwind  ON.  421,  Rudolf  Webner  ON.  422,  Franz  Billek  ON.  424,  Ludmilla 
BiUek  ON.  425.  des  Gutachtens  ON.  383,  und  des  Verhörsprotokolls  mit  Josef 
Bosch  ON.  24. 

Gemftß  §  252  in  fine  der  Beilagen  zur  Note  der  Polizeidirektion  Wien  ON. 

66,  der  Polizeirelation  ON.  126,  der  NotQ^  der  Polizeidirektion  Wien  letzter  Ab- 

Bätz  ON.  250,  des   Erhebungsaktes  des  Polizeikommissariatos  IX.  ON.  411,  der 

Strafakten    gegen    Marie   König  Bezirksgericht  Simmering  U    2366/00,  Bczirks- 

gencht   Josefstadt  U  IV    137106  (ON.  60)  und  des  Bezirksgerichtes  Floridsdorf 

ü   799  6    (ON,    116)  der  Note  ON.   126,  des  Schulzeugnisses  ON  316,  ferner  der 


6  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Leumandsnoteni  Strafkarten  und  Yorstraferkenntnisse  nnd  der  Ton  dem  Unter- 
suchungsrichter angelegten  Auszüge  aus  den  Prostitttierten-Yormerkbl&ttern. 

Gründe: 

Regine  Riehl  beschäftigt  sich  schon  seit  mehr  als  20  Jahren  gewerbsmäßig 
mit  derlEuppelei.  Zuerst  betrieb  sie  dieses  Gewerbe  in  der  Form  des  geheimen 
Auffahrhauses.  Wiederholte  gerichtliche  Abstrafungen  veranlaßtcn  sie  aber, 
diese  Betriebsart  aufzugeben,  und  Ende  der  90iger  Jahre  eröffnete  sie  ein 
toleriertes  Haus,  das  heißt  ein  nach  polizeilichen  Yorschriften  eingerichtetes, 
geleitetes  und  unter  polizeilicher  Aufsicht  stehendes  Bordell,  das  sie  bis  zu 
dessen  behördlicher  Schließung  im  Juni  1906  zuletzt  im  Hause  Grüne  Thorgasse 
Nr.  24  betrieb. 

Über  die  Art,  wie  Regine  Riehl  dieses  Geschäft  geführt  hat,  hat  der  Unter' 
snchungsrichter  eingehende  und  bis  in  das  Jahr  1897  zurückreichende  Er- 
hebungen gepflogen,  die  nur  durch  die  Rücksicht  auf  den  Ruf  solcher  Personen 
beschränkt  waren,  welche  die  Prostitution  aufgegeben  haben  und  zu  einem  ehr- 
baren Lebenswandel  zurückgekehrt  sind.  £s  wurden  über  das  Thema  der 
Setriebseinrichtung  und  der  Behandlung  der  Prostituierten  72  Zeugen  einver- 
nommen, deren  Aussagen  im  wesentlichen  übereinstimmen,  sodaß  ihr  der  An- 
klage zugrunde  liegender  Inhalt  zu  keinen  Bedenken  Anlaß  gibt,  zumal  die 
beiden  Hauptbcschuidigten,  welche  in  starrem  Leugnen  verharren,  in  vielen 
wesentlichen  Punkten  sich  selbst  und  untereinander  widersprechen. 

Das  Geschäft  hatte  bedeutenden  Umfang,  denn  die  Riehl  hielt  bis  zu  20 
Prostituierte  und  hatte  für  ihren  Zweck  ein  ganzes  Haus  gemietet,  für  das  sie 
einen  Jahreszins  von  10000  K  zu  entrichten  hatte.  Die  Räumlichkeiten,  soweit 
sie  dem  Bordellverkehre  dienten,  waren  mit  großem  Komfort  eingerichtet.  Im 
krassen  Gegensatze  hiezu  standen  die  sanitätswidrigen  Verhältnisse  in  den  Schlaf- 
räumen  der  Prostituierten,  die  in  wenigen  engen  ärmlich  ausgestatteten  Räumen 
zusammengepfercht  zu  zweien  in  einem  Bette  schlafen  mußten.  Es  ist  dies 
nicht  der  einzige  Beweis  der  Habgier  der  Beschuldigten,  die  vermöge  der  rück- 
sichtslosen Ausbeutung  der  Bewohnerinnen  ihres  Hauses  aus  demselben  zweifel- 
los einen  namhaften  Gewinn  zog. 

Mit  der  Anwerbung  junger  Mädchen  für  ihr  Haus  war  eine  große  Anzahl 
von  Personen  verschiedenster  Art  beschäftigt.  Alte  Frauen  und  junge  Burschen 
näherten  sich  auf  der  Straße  oder  im  Prater  vazierenden  Dienstboten,  von  denen 
einige  die  Not  oder  der  Leichtsinn  zur  Ausübung  der  geheimen  Prostitution  ge- 
trieben hatte,  und  erboten  sich,  ihnen  einen  guten  Dienstplatz  zu  verschaffen. 
Dienstvermittlungsbureaux  sendeten  ihr  junge  Mädchen  zu,  und  sogar  in  den 
Spitälern  kam  es  vor,  daß  einer  Patientin  von  ihrer  Leidensgefährtin  das  Haus 
Riehl  empfohlen  wurde.  Das  Augenmerk  dieser  Agenten  war  vorwiegend  auf 
Mädchen  gerichtet,  die  kaum  dem  Kindesalter  entwachsen  waren^  Die  Jüngste 
von  allen  war  nach  den  Erhebungen  Ottilie  Geresch,  die  bei  ihrem  Eintritte 
U  Jahre  3  Monate  zählte.  Um  die  Mädchen  leichter  in  ihre  Netze  zu  locken, 
hatte  sie  außen  an  dem  Hause  eine  große  Tafel  mit  der  Aufschrift  „Kleider- 
salon Riehl"  angebracht. 

Den  Neueintretendon  gegenüber  war  das  Verfahren  der  Beschuldigten  je 
nach  dem  Grade  ihrer  Verkommenheit  ein  verschiedenes.  Den  einen  machte  sie 
kein  Hehl  aus  dem  Greschäfte,  dem  sie  in  ihrem  Hause  nachzugehen  hätten. 
Andere  nahm  sie  entgegen  den  polizeilichen  Vorschriften,  die  das  Halten  Jugend- 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  7 

licher  Dienstboten  in  einem  tolerierten  Hause  ausdrAcklich  verbieten,  vorerst  als 
Dienstboten  auf;  denn  sie  konnte  damit  rechneui  daß  die  bereits  sittlich  ge- 
sunkenen Mädchen  in  Kürze  dem  demoralisierenden  Einflüsse  der  Herrin  und  der 
abrigen  Umgebung  erliegen  würden.  In  der  Tat  hat  selten  ein  M&dcben  angesichts 
der  Not,  die  ihm  beim  Verlassen  des  Hauses  drohte,  auf  das  nach  einiger  Zeit  ge- 
bteilte Angebot,  auch  »Dame*  zu  werden,   eine  ablehnende  Antwort  gegeben. 

Nun  galt  es  für  das  Mftdchen  das  Gesundheitsbuch  zu  beschaffen,  wozu  bei 
Mindeijfthrigen  die  Einwilligung  der  gesetzlichen  Vertreter  der  Bewerberin  er- 
erforderlich ist  In  mehreren  Fällen  wurde  diese  Einwilligung  mit  größerer  oder 
geringerer  Schwierigkeit  erreicht,  indem  die  Hiehl  oder  ihre  vertraute  Bedienerin 
Antonie  Pollak,  unterstützt  durch  die  vorher  hiezu  abgerichteten  Mädchen,  die 
Bedenken  der  Eltern  durch  trügerische  Vorstellungen  über  das  den  Aufnahms- 
werberinnen.  bevorstehende  Wohlergehen,  zum  Teile  sogar  durch  Geldgeschenke 
zerstreute.  Es  sind  drei  Fälle  nachgewiesen,  in  denen  die  Eltern  von  der  Riehl 
regelmäßige  Zahlungen  aus  dem  Schandlohne  ihrer  Kinder  bezogen.  Einer 
davon,  der  des  Friedrich  König,  ist  hier  unter  Anklage  gestellt,  während  Josef 
Hosch  und  Barbara  Kozlik  sich  vor  den  kompetenten  k.  k.  Bezirksgerichten 
wegen  Übertretung  des  §  5  dritter  Absatz  des  Vagabundengesetzes  zu  verantworten 
haben  werden. 

War  eine  solche  wenigstens  der  Form  nach  den  Vorschriften  entsprechende 
Erledigung  der  Angelegenheit  nicht  zu  gewärtigen,  so  behalf  sich  Begine  Riehl 
mit  der  Irreführung  der  Behörden.  Sie  veranlaßte  die  Mädchen,  über  ihre  gesetz- 
lichen Vertreter  und  deren  Wohnort  dem  Polizeikommissariate  unwahre  Aus- 
künfte zu  geben,  indem  sie  angeben  sollten  und  dann  auch  angaben,  ihre  Eltern 
seien  schon  verstorben  oder  unbekannten  Aufenthaltes;  in  anderen  Fällen  be- 
gleitete sie  das  Mädchen  zur  Vernehmung  und  brachte  für  diese  solche  Unwahr- 
heiten selbst  vor;  auch  gefälschte  {chriftliche  Zustimmungserklärungen  wurden 
gegebenen  Falles  produziert.  Durch  solche  Umtriebe  erreichte  sie  die  sofortige 
Ausstellung  des  Gesundheitsbuches,  erschwerte  und  verzögerte  aber  auch  die 
vorgeschriebene  Verständigung  der  gesetzlichen  Vertreter  von  dem  Eintritte  der 
Mädchen  und  brachte  es  dahin,  daß  dieselben  manchmal  erst  Monate  später 
von  dem  yerhängnisvollen  Schritte  ihres  Kindes  oder  Mündels  Kenntnis  erhielten, 
zu  einer  Zeit,  wo  die  Verkommenheit  des  Mädchens  schon  soweit  vorgeschritten 
war,  daß  jede  Aussicht,  es  wieder  auf  rechte  Wege  zu  bringen,  ausgeschlossen 
war,  welcher  Umstand  die  gesetzlichen  Vertreter  veranlaßte,  nachträglich  zu 
dem  Eintritte  des  Mädchens  ihre  Zustimmung  zu  erteilen. 

Eine  Einflußnahme  im  Sinne  der  Rückkehr  zur  Ehrbarkeit  von  selten  der 
Angehörigen  suchte  die  Beschuldigte  nach  Möglichkeit  zu  hintertreiben,  indem 
sie  vor  derartigen  Besuchern  die  Mädchen  verleugnete  oder,  wenn  jemand  sich 
nicht  abweisen  ließ,  die  gesuchte  Person  zuerst  als  Dienstmädchen  kleidete  und 
dann  nur  in  ihrer  Gegenwart  mit  dem  Besucher  sprechen  ließ.  Wagte  es  jemand 
dem  Mädchen  das  Schimpfliche  seines  Lebenswandels  vorzuhalten,  so  wurde  er 
von  der  Riehl  an  die  Luft  gesetzt. 

Das  Leben  der  Prostituierten  in  diesem  Hause  gestaltete  sich  wie  folgt 
Am  frühen  Morgen,  nachdem  die  Besucher  das  Haus  verlassen  hatten,  wurden 
die  Mädchen  In  die  zum  Teile  schon  eingangs  beschriebenen  Schlafräume  ge- 
führt, die  sie  die  Kaserne  nannten.  Die  Türen  wurden  hinter  ihnen  von  außen 
versperrt,  die  Fenster  dieser  Zimmer  waren  mit  Milchglas  versehen  und  mittelst 
eiserner  Vorlegstangen  versperrt.    Die  Mädchen  schliefen  dort  bis  in  den  Mittag; 


8  L  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

war  das  Mittagsmahl,  das  gemeinsam  eingenommen  wurde,  aufgetragen,  so 
Öffiieten  sich  die  Türen  der  Kaserne  und  in  Reih  und  Glied  yerließen  die 
M&dchen  diesen  Baum,  in  den  sie  sofort  nach  Beendigung  des  Mittagsessens 
wieder  eingesperrt  wurden.  Sie  yerbrachten  daselbst  den  Nachmittag  und 
konnten  die  Kaserne  nur  yerlassen,  wenn  die  Wirtschafterin  sie  holte,  weil  ein 
Besucher  sie  verlangte.  Erst  Abends  wurden  sie  in  den  „Salon"  geführt,  in 
dem  die  Fenster  in  gleicher  Weise  verwahrt  waren  wie  in  den  Schlafr&umen. 

Dort  wurden  die  Besucher  empfangen,  die  dann  mit  einem  der  M&dchen 
«aufs  Zimmer"  gingen.  Das  Zimmergeld  von  10  Kronen  aufwärts  bezahlten  sie 
zu  H&nden  der  Riehl,  der  Pollak  oder  einer  bevorzugten  Prostituierten,  der  die 
Riehl  durch  die  Ernennung  zur  Wirtschafterin  einen  Beweis  ihres  Vertrauens 
und  Wohlwollens  gegeben  hatte.  Manche  Besucher  pflegten  nun  auch  die 
M&dchen  selbst  mit  dem  sogenannten  Strumpfgelde  zu  beschenken,  auch  dieses 
mußte  aber  an  die  Riehl  oder  ihre  Stellvertreterin  abgeführt  werden.  Der  Ver- 
such eines  M&dchens,  diese  Gabe  für  sich  zu  behalten,  wurde  von  der  Riehl  für 
Diebstahl  erkl&rt  und  mit  Beschimpfungen  und  Schiftgen  bestraft,  überhaupt 
war  die  Riehl  mit  großer  Energie  bemüht  —  wie  sie  sich  ausdrückte  —  Zucht 
und  Ordnung  im  Hause  aufrecht  zu  erhalten;  sie  bediente  sich  dabei  der  aller- 
ordin&rsten  Schimpfworte,  schlug  aber  auch  h&ufig  mit  der  Hand,  dem  Schür- 
haken oder  mit  der  Hundepeitsche  zu.  Die  Hausbesorger  und  Anrainer  be- 
richten, daß  sie  h&ufig  das  Wehgeschrei  mißhandelter  M&dchen  auf  große  Ent- 
fernung hörten. 

Die  Garderobe  der  M&dchen  bestand  aus  zwei  Hemden  und  Unterrock, 
Strümpfen  und  einem  Paar  Atlasschuhe;  in  der  kalten  Zeit  erhielten  sie  noch 
einen  Schlafrock.  Die  Kleider,  die  sie  ins  Haus  mitgebracht  hatten,  wurden 
ihnen  beim  Eintritte  abgenommen  und  von  der  Riehl  in  Sperre  genommen. 

Der  Briefwechsel  der  M&dchen  stand  unter  strengster  Kontrolle;  ein- 
langende Briefe,  die  der  Beschuldigten  nicht  paßten,  wurden  unterschlagen  und 
was  die  M&dchen  schrieben,  mußte  der  Riehl  vorgelesen  werden,  fand  sie  etwas 
zu  beanstanden,  so  zerriß  sie  den  Brief  und  diktierte  einen  neuen,  in  dem  das 
M&dchen  sich  glücklich  pries,  in  diesem  Hause  Aufnahme  gefunden  zu  haben. 

Ein  Ausgang  wurde  den  M&dchen  nicht  gestattet;  dem  Hausbesorger  war 
es  aufs  strengste  eingesch&rft,  das  Haustor  stets  versperrt  zu  halten,  für  den 
Fall,  daß  ein  M&dchen  entkam,  war  ihm  sofortige  Entlassung  angedroht.  Be- 
zeichnend für  die  Wichtigkeit,  welche  die  Riehl  dieser  Absperrung  des  Hauses 
beimaß,  war  die  in  den  Verträgen  mit  den  Hausbesorgern  enthaltene  Klausel, 
laut  welcher  sie  bei  Kündigung  des  Postens  sofort  die  Schlüssel  abzugeben  hatten. 

Unter  solchen  Umst&nden  kam  es  vor,  daß  ein  M&dchen  oft  Wochen  und 
Monate  lang  nichts  mehr  von  der  Welt  sah,  als  was  zwischen  den  Milchglas- 
fenstem  und  den  versperrten  Türen  lag. 

Nur  ab  und  zu  wurde  denjenigen  Prostituierten,  die  sich  die  Zufriedenheit 
ihrer  Herrin  erworben  hatten,  gestattet,  sich  in  dem  beim  Hause  befindlichen 
Garten  zu  ergehen.  Hiebei  standen  sie  aber  stets  unter  der  Aufsicht  der  Riehl 
oder  der  Pollak  und  es  wurde  mit  besonderer  Vorsicht  darauf  gesehen,  daß  die 
Türen,  die  auf  die  Straße  hinaus  führen,  versperrt  waren. 

Zuweilen  onternahm  die  Riehl  mit  einzelnen  Prostituierten  auch  Aus- 
fahrten; sie  besuchte  mit  ihnen  Vergnügungslokale,  um  die  dort  verkehrende 
Lebe  weit  auf  ihr  Unternehmen  aufmerksam  zu  machen.  Sie  belud  hiebei  die 
Mädchen   mit  Schmuck   und   gab  ihnen  ihr  Geldt&schchen  zu  tragen,    um  sie. 


1.  Der  Prozeß  Riehl  nnd  KoDsorten  in  Wien.  9 

wenn  sie  h&tten  ausreißen   wollen,  beschuldigen  zu  können,  daß  das  M&dchen 
Bcbmnck  und  Geld  zu  stehlen  beabsichtigt  habe. 

Faßt    man    diese   mit  großem  Raffinement  ersonnenen  Vorkehrungen,   die 
mehrfache  Sinsperrung,  die  strenge  Beaufsichtigung,  die  Ausstattung  mit  einer 
auf  der  Straße  unmöglichen  Garderobe  und  die  Abnahme  alles  Geldes  zusammen, 
so   ergibt    aich,   daß   es   einem  mit  normaler  Energie  und  Intelligenz  begabten 
M&dchcn  außerordentlich  schwer  war,  aus  dem  Hanse  zu  entkommen.    Durch 
die  Unterbindung   der  Korrespondenz  und  durch  die  Verhinderung  des  persön- 
lichen Verkehres  mit  den  Angehörigen  wurde  diese  Einsperrung  zu  einer  gänz- 
lichen Absperrung  von  der  Außenwelt  verschärft. 

Auch  innerhalb  des  Hauses  mußten  die  Prostituierten  sich  dem  Willen  der 
Regina  Rieh!  beugen. 

Der  Ertrag  ihres  Unternehmens  bestand  zum  Teile  auch  in  dem  Erlöse  fOr 
Champagner  und  Cognac,  den  sie  ihren  G&sten  zu  entsprechenden  Preisen  aus- 
sch&nkte.  Die  M&dchen  mußten  zu  diesem  Zwecke  die  G&ste  animieren  und 
selbst  auf  Kosten  der  Gäste  konsumieren.  Sie  mußten  sich  betrinken  und  im 
iUnsche  noch  weiter  trinken,  selbst  wenn  ihnen  unwohl  wurde,  sonst  gab  es 
Schläge.  Der  Ekel  vor  gewissen  Perversitäten,  die  die  Besucher  von  ihnen  ver- 
langten, die  Furcht  vor  dem  Schmerze,  der  damit  verbunden  war,  wurde  nicht 
geduldet;  durch  Beschimpfung  und  Mißhandlung  wurde  ihnen  solche  Empfindlich- 
keit ausgetrieben.  Die  Anna  Christ  kam  in  anatomisch-virginalem  Zustande  in 
das  Hans,  sie  war  daher  fOr  den  Geschäftsbetrieb,  wegen  des  polizeilichen  Ver- 
botes nicht  zu  brauchen;  wahrscheinlich  auf  Geheiß  der  Riehl  wurde  sie  daher 
von  Eva  Madzia  durch  Einffihrung  des  Mutterspiegels  defloriert. 

Es  ist  daher  naheliegend,  daß  die  Prostituierten  mit  wenigen  Ausnahmen 
sich  in  kurzer  Zeit  enttäuscht  sahen  und  nach  Befreiung  sehnten,  Es  waren 
aber  die  meisten  von  ihnen  durch  das  fortgesetzte  Nichtstun,  durch  die  häufigen 
Alkohol«  und  Sexual- Exzesse  derart  entkräftet,  durch  die  Mißhandlungen  seitens 
der  Riehl,  deren  Opfer  oder  Zeuginnen  sie  gewesen  waren,  derart  eingeschüchtert, 
daß  nur  wenige  energisch  genug  waren,  ihre  Befreiung  zu  betreiben.  Baten  sie 
die  Riehl  um  ihre  Entlassung,  so  wurde  ihnen  entweder  mit  Vertröstungen  oder 
unter  Hinweis  auf  ihre  angeblichen  Schulden  mit  Beschimpfungen,  oder  damit 
geantwortet,  daß  ihnen  irgend  ein  Gegenstand  an  den  Kopf  geworfen  wurde. 
Bei  solchen  Anlässen  pflegte  Regine  Riehl  auch  mit  Polizei,  Schub  oder  Arbeits- 
hans zu  drohen,  und  diese  Drohungen  waren  umsomehr  geeignet,  bei  den 
größtenteils  ganz  unerfahrenen  Mädchen  zu  verfangen,  als  sie  ja  beobachten 
konnten,  wie  gut  die  Riehl  mit  der  Behörde  auszukommen  verstand.  In  diesem 
Kampfe  gegen  den  Wunsch  nach  Befreiung  wurde  die  Riehl  bei  Marie  König 
noch  von  deren  Vater  unterstützt,  von  dem  schon  erwähnt  wurde,  daß  er  von 
der  Riehl  eine  monatliche  Rente  bezogen  hat  Diesen  ließ  sie  immer  holen, 
wenn  das  Mädchen  es  gewagt  hatte,  sich  gegen  die  fortgesetzte  Einsperrung  und 
Peinigung  aufzulehnen.  Er  erschien,  drohte  dem  Mädchen  mit  der  Abgabe  in 
eine  Besserungsanstalt  und  schlug  es  solange,  bis  es  mürbe  gemacht  vor  Regine 
Riehl  in  die  Knie  sank  und  sie  bat,  sie  noch  weiter  zu  behalten.  » 

Nor  dann  wurde  dem  Eutlassungsgesuche  stattgegeben,  wenn  das  Mädchen 
sich  als  für  das  Gewerbe  minder  geeignet  erwies,  oder  wenn  seitens  seiner  An- 
gehörigen Einschreiten  bei  der  Behörde  und  Aufdeckung  der  zur  Beschaffung 
des  Gesundbeitsbuches  angewendeten  Umtriebe  drohte.  In  manchen  Fällen 
knüpfte  sich  daran  die  Bedingung,  daß  das  Mädchen  sich  verpflichtete,  Wien  zu 


10  I.  Der  Prozeß  Hiehl  und  Konsorten  in  Wien. 

verlassen.  Es  wurde  dann  von  der  Pollak  oder  einer  andern  Vertraaensperson  auf 
den  Bahnhof  gebracht,  mit  einer  Fahrkarte  versehen  und  angewiesen,  sich  am 
iiestimmungsorte  einer  bestimmten  Frau  zu  melden,  diese  Frau  war  eine  Bordell- 
besitzerin. Aus  dieser  Erz&hlung  der  Angela  Großmann  und  anderer  Zeugen 
ergibt  sich,  daß  die  Riehl  auch  den  M&dchenhandel  betrieben  habe. 

Unternahm  es  ein  Mädchen  zu  fliehen  und  mißlang  der  Versuch,  so  wurde 
es  unter  PrQgeln  znrQckgebracht.  Der  Versuch,  durch  die  Besucher  des  Hauses 
befreit  zu  werden,  scheiterte  an  deren  Qleichgiltigkeit  gegen  das  Schicksal  einer 
Prostituierten  oder  der  Scheu,  durch  eine  behördliche  Anzeige  den  Besuch  eines 
Bordells  einzugestehen.  Sich  direkt  an  die  Polizeibehörde  zu  wenden,  war  un- 
möglich, denn  polizeiliche  Revisionen  fanden  nur  äußerst  selten  statt  und  bei 
den  ärztlichen  Visiten  war  eine  offene  Aussprache  wegen  der  Gegenwart  der 
Riehl  oder  der  PoUak  ausgeschlossen. 

Nur  wenige,  bei  denen  die  entkräftende  Wirkung  des  Lebens  und  der  Be- 
handlung im  Rieh  Ischen  Hause  nicht  eingetreten  war,  denen  vielmehr  die 
Leiden  und  Enttäuschungen  die  Schlauheit  geschärft  und  die  Tatkraft  auf- 
gestachelt hatten,  gelang  es,  durch  die  Flucht  zu  entkommen  oder  durch  Wider- 
spenstigkeit und  Unbotmäßigkeit  oder  sonst  durch  ein  Verhalten,  welches  die 
Riehl  Unannehmlichkeiten  befürchten  ließ,  ihre  Entlassung  durchzusetzen.  Die 
günstigste  Gelegenheit  hiezu  bot  sich  ihnen,  wenn  sie  nach  einer  Krankheit  das 
Spital  verließen.  Um  sich  diese  Gelegenheit  zu  schaffen,  ist  die  Marie  Kotzlik 
auf  den  Gedanken  verfallen,  sich  selbst  eine  Verletzung  beizubringen.  Aber 
auch  von  hier  aus  gelang  es  nicht  allen,  die  Freiheit  zu  gewinnen;  denn  die 
Pollak  aberwachte  bei  ihren  Besuchen  die  Fortschritte  der  Genesung  und  stand 
am  Tage  der  Entlassung  mit  einem  Wagen  vor  dem  Tore,  um  das  Mädchen  zur 
Riehl  zurückzubringen. 

Als  ein  Mädchen,  die  Anna  Kristof,  sich  weigerte  zurückzukehren,  vertrat 
die  Pollak  dem  diensthabenden  Arzte  gegenüber  die  Rechtsanschauung,  daß 
derjenige,  der  eine  Person  in  das  Spital  gebracht  hätte,  auch  ein  Recht  darauf 
habe,  daß  ihm  dieselbe  bei  der  Entlassung  wieder  übergeben  werde,  bie  drang 
mit  dieser  Ansicht  auch  durch;  das  Mädchen  wurde  ihr  ausgeliefert,  es  mußte 
nach  der  Entscheidung  des  Arztes  glauben,  daß  die  Pollak  im  Rechte  sei,  er- 
innerte sich  an  die  Drohungen  der  Riehl  mit  der  Polizei  und  ließ  sich  ins  Bordell 
zurück  eskortieren. 

In  der  juristischen  Qualifikation  dieses  Vorgehens  der  Regine  Riehl  geht 
die  Staatsanwaltschaft  von  dem  Grundsatze  aus,  daß,  so  sehr  die  Einsperrung 
und  Knechtung  von  Menschen,  wie  die  Beschuldigte  sie  betrieben  hat,  unstatt- 
haft und  verwerflich  ist,  von  einer  vorsätzlichen  Freiheitsbeschränkung  doch  nur 
dann  gesprochen  werden  kann,  wenn  die  betroffenen  Personen  ihren  Entschluß, 
sich  zu  befreien  oder  nicht  alles  zu  tun,  was  die  Riehl  ihnen  zumutete,  in  ent- 
schiedener Weise  zum  Ausdruck  gebracht  haben.  Eine  solche  unzweideutige 
Willensäußerung  einerseits  und  Willensbeugung  andererseits  ist  bei  den  im 
Punkte  A  der  Anklage  aufgezählten  Frauenspersonen  festgestellt. 

Das  den  Prostituierten  während  der  Dauer  ihrer  Freiheitsentziehung  angetane 
Ungemach  erblickt  die  Staatsanwaltschaft  sowohl  in  der  rücksichtslosen  Aus- 
beutung als  auch  in  den  erlittenen  Beschimpfungen  und  Mißhandlungen  und  in 
der  Nötigung  zu  Ekel  erregenden  oder  schmerzhaften  Dienstleistungen. 

An  Antonie  Pollak,  die  in  diesen  Ausführungen  schon  mehrmals  erwähnt 
wurde,   hatte  Regine  Riehl  eine  verständnisvolle  Vertraute  und  eine  ergebene 


I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  in  Wien.  11 

Dienerin,  die  sie  im  Betriebe  des  Gesch&ftes  wirksam  unterstützte.  Im  Vorleben 
der  Biehl  tancht  sie  zum  ersten  Male  in  den  Akten  des  k.  k.  Bezirksgerichtes 
Alsergund  ans  dem  Jahre  1895  ..  ,  auf.  Dort  ist  erw&hnt,  daß  die  Pollak  auf 
dem  Gange  vor  den  Zimmern  Wache  hielt,  in  denen  die  von  der  Riehl  ver- 
anstalteten Orgien  gefeiert  wurden. 

Sie  war  nur  tagsüber  im  Hause  der  Riehl  bescb&ftigti  denn  sie  hatte  im 
XX.  Bezirke  eine  Wohnung,  die  sie  zum  Teile  an  Bettgeherinnen  yermietete. 
Von  diesen  hat  sie  so  manche  der  Riehl  zugeführt  und  wurde  von  derselben 
hiefOr  entlohnt.  Erwiesen  ist  dies  bezüglich  der  Michaline  Stavitska,  der  Maria 
Spanagl  und  der  Marie  Nemetz.  Sie  ist  daher  auch  der  Übertretung  der  Kuppelei 
angeklagt  Ihr  Dienst  bei  der  Riehl  bestand  in  Gängen  nach  ausw&rts,  der  Be- 
gleitung der  M&dchen  zu  dem  Polizeikommissariate,  den  Besuchen  bei  den  Eltern 
die  sie  zur  Erteilung  der  Einwilligung  zur  Ausstellung  des  Gesundheitsbuches 
für  ihre  Töchter  zu  bereden  hatte,  in  Besuchen  erkrankter  Prostituierter  im 
Spitale;  auch  leitete  sie,  wie  im  Falle  Ottilie  Geresch,  die  Verfolgung  von 
flüchtigen  Prostituierten.  War  sie  im  Hause,  so  überwachte  sie  entweder  die 
Spaiierg&nge  der  Prostituierten  im  Garten,  oder  sie  postierte  sich  beim  Eingänge, 
empfing  dort  die  Besucher,  fertigte  den  Briefträger  ab  und  verhandelte  auch 
mit  den  Angehörigen,  die  mit  einer  Insassin  des  Hauses  sprechen  wollten.  In 
Vertretung  der  Riehl  besorgte  sie  auch  die  Abnahme  des  Strumpfgeldes  von  den 
Prostituierten.  Therese  Ludwicek  beschuldigt  sie,  daß  sie  sich  durch  abfällige 
Bemerkungen  über  die  Riehl  in  das  Vertrauen  der  Prostituierten  eingeschlichen 
hatte,  um  so  deren  Fluchtpläne  zu  erfahren,  die  sie  sofort  der  Riehl  verriet. 
Ans  alledem  geht  hervor,  daß  sie  in  voller  Kenntnis  der  Verbältnisse  im  Hause 
insbesondere  des  Loses  der  Prostituierten  bei  der  Überwachung  und  Einsperrung 
der  Mädchen  mit  wirksam  war,  daher  auch  für  das  an  denselben  begangene  Ver- 
brechen der  Einschränkung  der  persönlichen  Freiheit  als  Mittäterin  verantwort- 
lich zu  machen  ist. 

Mit  dem  bisher  Gesagten  ist  aber  die  Leidensgeschichte  der  Prostituierten 
noch  nicht  erschöpft.  Denn  auch  der  freiwillig  gestattete  oder  ertrotzte  Austritt 
aus  dem  Hause  war  in  der  Regel  noch  mit  einer  empfindliehen  Schädigung  am 
Eigentume  verbunden.  Nicht  nur,  daß  die  Riehl  von  dem  einkassierten  Scband- 
lohne  und  den  Strumpfgeldern  den  Mädchen  nichts  oder  nur  geringfügige  Be- 
träge auszahlte ;  sogar  die  mitgebrachten  Kleider  und  Wäschestücke,  die  sie  den 
Mädchen  bei  ihrem  Eintritte  abgenommen  und  in  Verwahrung  genommen  hatte, 
die  sie  daher  als  anvertrautes  Gut  in  jedem  Falle  dem  austretenden  Mädchen 
zurückzustellen  verpflichtet  war,  behielt  sie  unter  allerlei  Vorwänden  zurück, 
auch  spätere  Reklamationen  derjenigen  Mädchen,  die  den  Mut  dazu  hatten, 
blieben  unberücksichtigt.  Der  Wert  des  anvertrauten  Gutes,  das  sie  in  solcher' 
Weise  sich  zugeeignet  hat,  ist  noch  nicht  festgestellt  worden,  immerhin  kann 
aber,  da  Josefine  Taubmann  allein  die  ihr  vorenthaltene  Batistwäsche  mit  100  K. 
bewertet,  mit  voller  Sicherheit  ein  100  K.  übersteigender  Wert,  somit  der  Tat- 
bestand des  Verbrechens  der  Veruntreuung  behauptet  werden. 

Wenn  hier  nunmehr  noch  des  Weiteren  das  Schalten  der  Reglne  Riehl  in 
ihrem  Unternehmen  dargestellt  wird,  so  geschieht  dies  nicht  allein  zur  Be- 
gründong  der  gegen  sie  wegen  zweier  Übertretungen  erhobenen  Anklage;  es 
werden  auch  Unregelmäßigkeiten  der  Riehl  herangezogen,  die  sich  als  bloße 
PoUzeiflbertretaDgen  qualifizieren,  um  ihre  Verantwortung,  die  Einsperrung  der 
Prosb'toierten  habe  nur  den  Zweck  gehabt,  dem  polizeilichen  Verbote  des  Gassen- 


12  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Eonsorten  in  Wien. 

Strichs  und  Ärgernis  erregenden  Benehmens  der  Prostituierten  zu  genQgen,  ins 
rechte  Licht  zu  setzen.  Der  Übertretung  des  Verbotes  mindeij&hrige  Dienst- 
boten zu  halten,  ist  schon  Erwähnung  getan  worden.  Sie  hat  diese  M&dchen 
immer  erst  dann  gemeldet,  wenn  ihnen  das  Gesundheitsbach  ausgestellt  war, 
hat  sie  aber  auch  schon  Torher  in  ihrem  Hause  die  Prostitution  ausüben,  daher, 
da  die  vor  Ausstellang  dieses  Dokumentes  yorzunehmenden  Untersuchungen  und 
Feststellungen  ausnahmslose  Bedingung  der  polizeilichen  Genehmigung  zum  Be- 
triebe der  Prostitution  sind,  in  ihrem  Hause  ein  unerlaubtes  Gewerbe  betreiben 
lassen  und  sich  in  diesen  unter  Punkt  H.  der  Anklage  aufgezählten  F&llen  der 
Übertretung  der  Kuppelei  schuldig  gemacht. 

Aus  der  Erfahrung,  daß  die  Prostituierten  häufig  aus  dem  Spitale  nicht 
mehr  zurückkehrten,  erklärt  sich  ihre  Bemühung,  die  Abgabe  eines  Mädchens 
an  das  Spital  nach  Möglichkeit  hintanzuhalten  und  die  Erkrankten  entgegen 
der  polizeilichen  Vorschrift  zu  Hause  zu  behandeln.  Dies  geschah  zum  Teile 
durch  Privatärzte,  zum  Teile  durch  die  Riehl  selbst,  die  Pollak  oder  die  Eva 
Madzia,  die  sich  primitive  medizinische  Kenntnisse  angeeignet  hatten,  in  einer 
diesen  Kenntnissen  entsprechenden  Weise. 

Den  Polizeiärzten  gegenüber  wurden  erkrankte  Mädchen  bei  der  Wochen- 
visite  —  wieder  eine  Übertretung  polizeilicher  Vorschriften  —  nicht  vorgestellt, 
sondern  verleugnet,  indem  ihnen  angegeben  wurde,  dieselben  seien  verreist  oder 
bei  ihren  Verwandten,  während  sie  sich  tatsächlich  zur  Zeit  der  Visite  in  Eisten 
versteckt  auf  dem  Dachboden  oder  im  Hühnerstall  befanden.  Sogar  soweit  ging 
die  Riehl,  die  im  Tenor  unter  G  angeführten  Prostituierten  dazu  zu  verhalten, 
daß  sie,  obwohl  sie  mit  einer  schweren  venerischen  Krankheit  behaftet  waren, 
ihr  Gewerbe  fortbetrieben  und  so  ihre  Besucher  der  Gefahr  der  Ansteckung 
aussetzten.  Die  Täterinnen  können  hiefür  wegen  eingetretener  Verjährung  nicht 
mehr  verfolgt  werden,  wohl  aber  die  Anstifterin,  welcher  angesichts  der  von  ihr 
begangenen  Verbrechen  nach  §  531c  St.  G.  die  strafaufhebende  Wirkung  der 
Verjährung  nicht  zu  statten  kommt.  Alles  das  drängt  zu  dem  Schlüsse,  daß  sie 
die  polizeilichen  Vorschriften  nicht  aus  Gehorsam  gegenüber  der  Behörde, 
sondern  nur  insoweit  befolgte,  als  sie  ihr  in  ihr  System  paßten,  ihre  Ab- 
Schließungsmaßregeln  daher  auch  nicht  mit  diesen  Vorschriften  rechtfertigen  kann. 

•Die  Untersuchung  der  Zustände  im  Hause  lUehl  veranlaßt  zu  haben,  ist 
das  Verdienst  des  Zeugen  Emil  Bader,  der  in  einer  Reihe  von  Zeitungsaufsätzen 
einzelne  der  hier  wiedergegebenen  Vorgänge  zur  öffentlichen  Kenntnis  brachte. 
Daraufhin  entwickelten  in  ihrem  Schuldbewußtsein  und  der  Erkenntnis,  daß  die 
Aufdeckung  der  ganzen  Wahrheit  für  sie  ernste  Gefahren  zur  Folge  habe, 
Regine  Riehl  und  Antonie  Pollak  eine  rege  Tätigkeit,  um  dies  zu  vereiteln.  Erstere 
versuchte  den  Zeugen  Bader  mit  Geld  zum  Schweigen  zu  bringen.  Die  Pollak 
versuchte  sich  an  Anna  Christ  und  Terese  Richter,  die  zu  jener  Zeit  nicht  mehr 
im  Hause  waren,  heranzudrängen.  Als  die  Marie  König  zum  Polizei kommissariate 
geladen  wurde,  verbarg  die  Riehl  das  Mädchen  in  ihrer  Privatwohnung  und  im 
Kloset  und  verleugnete  es  vor  dem  Polizeiagenten,  dann  instruierte  sie  die  Be- 
wohnerinnen ihres  Hauses  auf  das  genaueste,  wie  sie  vor  der  Polizei  und  vor 
Gericht  aussagen  sollten,  beschenkte  sie  und  versprach  ihnen  Schmuck,  Kleider 
und  Geld,  wenn  sie  sie  nicht  im  Stiche  ließen,  und  wirklich  erlagen  die  unter  D. 
der  Anklage  aufgezählten  Beschuldigten  dieser  Versuchung.  Sie  machten  zum 
Teile  unter  Eid  vor  dem  Untersuchungsrichter  über  die  allgemeinen  Verhältnisse 
im  Hause  der  Riehl,  über  ihre  eigenen  Schicksale  und  über  den  Verkehr  des 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  18 

Agenten  Josef  Pisa  in  dem  Hanse  der  Regine  Riehl  Äußerst  günstige  Angaben, 
die  sie  aber  sp&ter  anter  dem  Drucke  des  vom  Unterfiuchungsrichter  anderweitig 
gesammelten    Beweismateriales    widerrufen    mnßten  mit  dem  Gest&ndnisse,   sie 
hüten   Terleitet   durch  die  Riehl  und  die  PoUak  bewußt  unwahre  Aussagen  ab- 
gelegt.    Die    nunmehr   von  ihnen  gegebene  Darstellung  steht  in  voller  Überein- 
stimmung   mit    den  Aussagen  der  übrigen  Zeugen.    Auch  Marie  Bosch,  eine  der 
Ton  der  Riebl  bevorzugten    Prostituierten,  hat  sich  mit  Erfolg  in  diesem  Sinne 
bei  Sofie  Christ  und  Josefine  Zavazal  bemüht 

Einige  der  Mädchen  aber  ließen  sich  durch  die  Bitten  und  Versprechungen 
der  Riebl  und  der  PoUak  nicht  beirren.  Die  an  diesen  unternommene  Beein- 
flussung wird  8ub  F  als  Bewerbung  um  falsches  Zeugnis  verfolgt. 

Hiermit  ist  zwar  die  in  den  Untersuchungsakten  gesammelte  große  Masse 
von  Beweismaterial  nicht  erschöpft.  Das  Gesagte  genügt  aber,  um  die  Anklage 
zu  rechtfertigen. 

Wien,  am  8.  Oktober  1906. 

Der  k.  k.  I.  Staatsanwalt 

Dr.  Lux. 

Nach  YerleBung  der  Anklage  stellt  vorerst  der  Vorsitzende  zum 
Verständnisse  des  folgenden  die  Rufnamen  fest,  die  die  angeklagten 
Mädchen  im  Hanse  der  Riehl  führten.  Marie  Hosch  hieß  „Milli^; 
Sophie  Christ  „Hansi";  Josefine  Zavazal  „Viki^ ;  Anna  Christ  „Erna^; 
Marie  Winkler  „Kadarnie*;   Marie  Pokorny  „Irma''. 

Hierauf  beginnt  das  Verhör  mit  Regine  Riehl. 

Präs. :  Bekennen  Sie  sich  der  Ihnen  von  der  Anklage  zur  Last 
gelegten  Handlungen  schuldig?  —  Angekl.  (entschieden):  Nein.  — 
Präs.:  Sie  geben  also  keines  dieser  Delikte  zu?  —  Angekl.:  Nein. 

Präs.:  Wann  sind  Sie  auf  den  Gedanken  gekommen,  Inhaberin 
eines  öffentlichen  Hauses  zu  werden?  —  Angekl.:  Mein  Mann  war 
krank  und  ich  wollte  mir  einen  Nebenerwerb  schaffen.  —  Präs.: 
Wie  lange  waren  Sie  verheiratet?  —  Angekl.:  Zwanzig  bis  fünf- 
undzwanzig Jahre.  —  Präs.:  Was  war  Ihr  Gatte?  —  Angekl.:  Er 
war  Buchhalter  bei  Deckert  &  Homolka.  Später  war  er  auch  Pro- 
kurist. —  Präs.:  Also  Sie  mußten  sich  um  eine  Nebenbeschäftigung 
umschauen.  Und  da  fiel  Ihnen  ein  .  .  .  —  Angekl.  (stockend):  Ich 
fing  ein  derartiges  Geschäft  an.  —  Präs.:  Das  heißt  vorläufig  ein 
geheimes  Geschäft,  ein  sogenanntes  Aufführhaus.  Waren  Sie  denn 
in  materiellen  Kalamitäten?  —  Angekl.:  Ich  hatte  Verpflichtungen; 
dann  wollte  ich  auch  sparen,  damit  mejn  Mann  sieht,  daß  ich  eine 
gute  Wirtin  bin.  —  Präs. :  Und  wie  sind  Sie  gerade  auf  diese  Art 
von  Nebenbeschäftigung  gekommen,  die  doch  sonst  für  Prokuristens- 
gattinnen  nicht  geeignet  ist?  —  Angekl.  (mit  einer  Handbewegung): 
Mein  Gott!  Bekanntschaften.  Dann  hatte  ich  auch  eine  große  Woh- 
nung und  war  den  ganzen  Tag  allein.  —  Präs.:  Aber  bitte,  sprechen 


14  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Sie  doch  klarl  Sie  haben  die  große  Wohnung  fhr  das  Aufführhans 
aufgenommen.  —  Angekl.:  Nein,  das  ist  unrichtig.  Die  Sache  war 
so.  Ich  hatte  ein  Fräulein  vom  Carl  Theater,  zu  der  Freundinnen 
kamen.  —  Präs.:  Und  zu  diesen  Freundinnen  kamen  Freunde?  — 
Angekl.:  0  nein.  Das  war  streng  verboten.  (Heiterkeit.)  Aber 
wie  ich  einmal  zu  Ostern  mit  meinem  Mann  in  meine  Heimat  ge- 
fahren bin,  hat  dieses  Fräulein  vom  Carl  Theater  sich  in  meiner 
Abwesenheit  Männer  in  die  Wohnung  gebracht.  Und  dann  ...  — 
Präs.:  Und  dann?  —  Angekl.:  Dann  hat  sie  mich  durch  Geldver- 
spreohungen  bewogen,  ein  AuffQhrhaus  zu  halten.  Hein  Mann  hat 
aber  davon  nichts  gewußt.  —  Präs.:  Warum  haben  Sie  denn  dieses 
Haus  nicht  polizeilich  gemeldet?  —  Angekl.:  Ich  habe  nicht  gewußt^ 
daß  man  das  tun  muß. 

Präs.:  Sie  haben  also  zuerst  in  der  Liechtensteinstraße  ein 
Haus  gekauft,  nachdem  Sie  zahlreiche  Beanstandungen  mitgemacht 
und  für  Ihren  Betrieb  eine  polizeiliche  Lizenz  erhalten  hatten?  — 
Angekl.:  Ja.  —  Präs.:  Hatten  Sie  sich  vorher  etwas  erwirtschaftet?  — 
Angekl.:  Nichts,  gar  nichts.  —  Präs.:  Aber  Sie  haben  sich  ja  selbst 
damals  als  wohlhabend  bezeichnet.  —  Angekl.:  Ist  unrichtig.  Man 
sagt  ja  heute  auch,  daß  ich  eine  halbe  Millionärin  bin.  —  Präs.: 
Was  haben  Sie  denn  fttr  das  Haus  in  der  Liechtensteinstraße  be- 
zahlt? —  Angekl.:  25000  Gulden.  —  Präs.:  Nun  sehen  Sie.  Woher 
hatten  Sie  das  Geld?  —  Angekl.:  Von  meinem  Mann.  —  Präs.: 
Also  von  dem  Mann,  der  mit  Ihrem  Gewerbe  nicht  einverstanden 
war.    (Heiterkeit.) 

Präs.:  Wann  haben  Sie  die  polizeiliche  Erlaubnis  zur  Führung 
des  öffentlichen  Hauses  erhalten?  —  Angekl.:  Vor  zehn  oder  zwölf 
Jahren.  —  Präs. :  Sie  haben  damals  sanitätspolizeiliche  Vorschriften 
zur  Kenntnis  genommen,  daß  Sie  nicht  mehr  als  zwanzig  Mädchen 
halten  dürfen,  und  Dienstmädchen,  die  alle  großjährig  sein  müssen. 
—  Angekl. :  Ich  habe  auch  alle  Vorschriften  gehalten.  Niemals  habe 
ich  übrigens  zwanzig  Mädchen  gehabt,  und  minderjährige  Dienst- 
mädchen mußte  ich  halten,  weil  man  doch  alte  Frauen  nicht  zur 
Reinigung  einer  so  großen  Wohnung  verwenden  kann.  —  Präs.: 
Aber  eine  alte  Frau  hatten  Sie  doch.  Sie  ist  im  Jahre  1838  ge- 
boren: Frau  Antonie  Pollak.  —  Angekl.:  Die  war  ja  nicht  immer 
bei  mir.  Sie  hatte  ja  eine  eigene  Wohnung.  —  Präs.:  Was  für 
Obliegenheiten  hatte  die  Pollak?  —  Angekl.:  Sie  ging  Rechnungen 
bezahlen.  —  Präs. :  Das  wird  aber  eine  zu  wenig  ausreichende  Be- 
schäftigung gewesen  sein.  Aber  kehren  wir  vorläufig  zu  Ihnen 
zurück.    Also 9    Sie   haben   wegen    materieller    Notlage   öffentliche 


1.  Der  Prozeß  Riebl  und  Konsorten  in  Wien.  15 

H&Qser  gefflfart?    In  der  Lieohtensteinstraße,  in  der  Mühlgasse  und 
zuletzt    in    der  Grttaen  Torgasse.    Die  Einriobtung   dieser   Häuser 
muß  Sie  wohl  anoh  viel  Geld  gekostet  haben?   —   Angekl.:  Etwa 
40000  Kronen.   —   Präs.:  Nun,  sehen  Sie,  wir  erfahren  von  immer 
mehr  Geld,  das  Sie  gehabt  haben.    Und  je  mehr  Geld  Sie  gehabt 
haben,    desto  weniger  erklärlich  ist  es,   daß  Sie  dieses  Metier  er- 
griffen haben.   Wann  haben  Sie  das  Haus  in  der  Grünen  Torgasse 
Übernommen?   —  Angekl.:    Vor   acht  Jahren.  —   Präs.:   Was  fllr 
eine  Jahresmiete  bezahlten  Sie?  —  Angekl.:  10000  Kronen. 

Präs.:  Für  wieviel  Damen  hatten  Sie  in  Ihrem  Hause  in  der 
Grünen  Torgasse  Raum  bei  vollem  Belag?  —  Angekl.:  Ich  hatte 
fünf  Schlafzimmer,  aber  die  Mädchen  haben  immer  zu  zweien  in 
einem  Bett  geschlafen.  —  Präs.:  Ahal  —  Angekl.:  Ich  bitte,  sie 
haben  es  so  wollen.  Sie  haben  sich  in  den  Betten  herumgekugelt 
und  sie  mir  zerbrochen.  —  Präs.:  Also,  wieviel  Mädchen  hielten 
Sie  im  ganzen?  —  Angekl.:  Fünfzehn  Mädchen.  Davon  waren  aber 
immer  einige  im  Spital.  —  Präs.:  Und  die  Wohnung  dieser  Mädchen, 
die  sogenannte  „Kaserne'^,  lag  im  dritten  Stock  und  bestand  aus 
zwei  Zimmern,  zu  denen  man  durch  einen  absperrbaren  Vorraum 
gelangte.  Im  ersten  Zimmer  waren  vier  Betten.  Also  schliefen 
acht  Mädchen  darin.  Also  sagen  Sie  uns  jetzt,  wie  die  Mädchen  zu 
Ihnen  gekommen  sind?  —  Angekl.:  Sie  kamen  selbst  oder  wurden 
von  jungen  Burschen  gebracht.  Mein  Gott,  ich  hatte  ja  ein  solches 
Haus  und  mußte  Mädchen  haben.  —  Präs.:  Auch  ältere  Damen 
haben  Ihnen  Mädchen  gebracht.  —  Angekl.:  Wenn  Sie  mir  Namen 
nennen,  Herr  Hofrat,  werde  ich  es  bestätigen.  —  Präs.:  Also,  Frau 
Hoffmann,  die  Frau  Hübl  und  wohl  auch  Frau  Pollak.  —  Angekl. 
(energisch):  Ich  bitte,  Frau  Pollak  hat  mir  nie  ein  Mädchen  ge- 
bracht. (Die  Angeklagte  Pollak  schluchzt.)  —  Präs. :  Zu  Ihren  Lie- 
feranten hat  auch  Herr  Michel  und  der  „geflickte  Schani^  gezählt.  — 
Angekl.:  Ja.  —  Präs.:  Haben  diese  Leute  Honorare  für  ihre  Ver- 
mittlerdienste bekommen?  —  Angekl.:  Ja.  Gewöhnlich  vier  Kronen 
pro  Mädchen.  Ich  bitte,  Herr  Hofrat,  ich  habe  aber  die  Mädchen 
nie  im  Unklaren  darüber  gelassen,  in  welches  Haus  sie  kommen. 
Präs.:  Wie  waren  denn  Ihre  Abmachungen  mit  den  Mädchen? 
Haben  Sie  gleich  beim  Eintritt  das  Honorar  usw.  mit  ihnen  vereinbart? 
—  Angekl.:  Ja,  die  Mädchen  hatten  ihre  Einnahmen  mit  mir  zu  teilen 
und  von  ihrer  Hälfte  den  Arzt  und  mir  täglich  ftlr  die  Kost  vier 
Kronen  zu  zahlen.  Aber  den  Arzt  bezahlten  sie  nicht,  weil  sie 
nicht  genug  verdienten.  —  Präs.:  Also  die  Mädchen  verdienten 
nichts.   —    Angekl.:  Nur  einige  verdienten.  —   Präs.:  Merkwürdig, 


16  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

daß  Sie  dann  selbst  45000  Kronen  Personaleinkommen  fatieren 
konnten.  —  Angekl.  (jammernd) :  loh  habe  ja  gesagt,  daß  ich's  nieht 
bezahlen  kann. 

Prfts. :  Wer  bat  denn  die  Zimmergelder  einkassiert?  —  Angekl.: 
Meine  Damen.  Ich  habe  auf  ihre  Ehrlichkeit  vertraut.  —  Präs.:  Wie 
war  es  mit  der  Kleidung?  —  Angekl.:  Ich  bitte,  die  Mädchen  kamen 
in  furchtbar  verwahrlostem  Zustand  zu  mir.  Krank  und  mit  Unge- 
ziefer behaftet.  Man  mußte  sie  monatelang  reinigen.  Ich  habe  sie 
erst  zu  Mensehen  gemacht.  —  Präs. :  Also  bleiben  Sie  bei  der  Sache. 
Die  Damen  bei  Ihnen  hatten  sehr  wenig  an.  Nach  der  Anklage 
nur  ein  Seidenhemd,  Seidenstrttmpfe,  Lackschuhe  und  eine  Schürze.  — 
Angekl.:  0  bitte,  die  großen  Mädchen  hatten  Schlafröcke  und  die 
klein  gewachsenen  Matrosenkleider. 

Präs. :  Also  wir  haben  bereits  davon  gesprochen,  was  die  Mädchen 
verdient  haben  müssen.  —  Angekl.:  Ich  bitte,  Herr  Hofrat,  das 
schönste  Mädel  hat  oft  Pech  gehabt,  und  es  waren  nie  mehr  als 
zehn  Herren  in  einer  Nacht  da.  —  Präs.:  Wie  waren  die  Hono- 
rare? —  Angekl.  (auflachend):  Keine  Hunderter;  die  „Glticksherren'' 
haben  einen  Gulden  gezahlt,  die  „Italiener'^  auch  einen  Gulden, 
die  Arzte  vom  Allgemeinen  Krankenhaus  drei  Gulden,  ebenso  die 
Ärzte  vom  Wiedener  Spital,  die  Herren  vom  Steueramt  natürlich 
einen  Gulden  (Heiterkeit)  und  Stammgäste  fünf  Gulden.  —  Präs.: 
Sie  sollen  den  Mädchen  aber  auch  das  sogenannte  „Strumpfgeld^ 
abgenommen  haben,  das  sie  von  den  Gästen  bekamen.  —  Angekl.: 
Ja,  Herr  Vorsitzender,  die  Mädchen  haben  ja  oft  wochenlang  nichts 
verdient.  Sie  haben  das  Strumpfgeld  freiwillig  hergegeben  und 
waren  stolz,  wenn  sie  um  einen  Gulden  mehr  gebracht  haben 
(Bewegung.) 

Präs.:  Ist  bei  der  Aufnahme  der  Mädchen  darauf  Rücksicht 
genommen,  ob  die  Mädchen  unversehrt  waren,  oder  ob  sie  schon 
eine  Vergangenheit  hatten?  —  Angekl.:  Wie  meinen  Sie  das?  — 
Präs. :  Ich  meine,  ob  man  Wert  darauf  legte,  wenn  eine  noch  un- 
versehrt, oder  ob  das  gleichgültig  war?  —  Angekl.:  Bei  mir  waren 
nie  unbescholtene  Mädchen.  War  ein  Mädchen  krank,  wurde  sie 
sofort  ins  Spital  geschickt.  —  Präs.:  Es  sollen  Mädchen,  ohne  an- 
gemeldet gewesen  zu  sein,  in  Ihrem  Hause  gewesen  sein?  —  An- 
gekl. :  Kein  Mädchen  hielt  sich  bei  mir  auf,  das  nicht  angemeldet 
war.  Es  wurde  ein  Mädchen,  das  noch  nicht  angemeldet  gewesen 
wäre,  nie  einem  Herrn  vorgestellt.  —  Präs.:  Es  soll  auch  vorge- 
kommen sein,  daß  kranke  Mädchen  in  Ihrem  Hause  waren?  — 
Angekl.  (mit  erhobener  Stimme):   Ich  war  eine  gute,  ehrliche  Frau 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  17 

fbr  meine  Damen.    War  eine  der  Damen  an  gewöhnlichen  Leiden, 
wie  an  Halsentzündung,  Rippenfellentzündung  erkrankt,  ließ  ieh  sie 
im  Hanse  von  Privatärzten  behandeln;  sonst  wurden  sie  ins  Spital 
gesehiekt.    —   Präs.:  Was  ist  mit  den  Kleidern  geschehen,  die  die 
Mädchen  in  Ihr  Hans  brachten?  —  Angekl.:  Ein  oder  zwei  Mädchen 
brachten  bessere  Kleidung  mit ;  die  übrigen  Mädchen  waren  einfache 
Mädchen,  die  Kleider  mitbrachten,   die  unter  die  Lumpen  auf  den 
Boden    geworfen  wurden.   —  Präs.:   Haben  die  Mädchen  über  die 
Kleider,  die  Sie*  von  Ihnen  bekommen  haben,  verfügen  können  ?  — 
Angekl.:   Ja!   —  Präs.:   Wo  waren  diese  Kleider  aufgehoben?  — 
Angekl.:   In   den  Garderobekasten.  —  Präs.:  Sie  hatten   aber  die 
Sehlfissel  zn  diesen  Kasten,  so  daß  es  von  Ihrem  Willen  abhing,  ob 
die  Mädchen   die  Kleider  bekommen   und  ausgehen  konnten?   — 
Angekl.:  Die  Mädchen  haben  sich  den  Schlüssel  holen  lassen  können; 
die  Pokorny,   eine  der  feinsten  Damen,   hatte  die  Schlüssel  immer. 
Die  Mftdchen  hätten  übrigens  auch  in  ihren  Hauskleidern  —  Schlaf- 
rock und  B^böschür/e  —  auf  die  Straße  gehen  können ;  sie  wollten 
aber  selbst  nicht  ausgehen.  —   Präs.:   Die  Mädchen  gingen  ja  zu 
Hause  nicht  im  Schlafrock  herum.   —   Angekl.:  0  ja,  die  Pokorny 
hatte  sogar  fQnf  Schlafröcke. 

Der  Präsident  hält  der  Angeklagten  vor,  daß  nach  Behauptung 
der  Anklage  bei  der  ärztlichen  Untersnchung  in  ihrem  Hause  nicht 
alle  Mädchen  dem  Arzt  vorgeführt  worden  sein  sollen,  daß  Mädchen, 
die  noch  unversehrt  oder  krank  waren,  dem  Arzt  verschwiegen 
wurden?  —  Angekl.:  Ich  habe  es  niemals  zugelassen,  daß  eine 
Dame  dem  Arzt  verschwiegen  werde;  selbst  verwahrloste  Mädchen 
warden  dem  Arzt  vorgeführt.  —  Präs.:  Mehrere  Zeuginnen  behaupten 
aber,  daß  Mädchen,  die  krank  waren,  dem  Arzt  nicht  zugeführt 
wnrden. —  Angekl.:  Was  die  Zeuginnen  alles  sagen!  —  Präs.:  Ich 
muß  Ihnen  vorhalten,  was  die  Anklage  behauptet.  Sie  sollen  Mäd- 
chen, wenn  ärztliche  Visite  war,  am  Boden,  im  Keller,  in  Kisten  und 
Kasten,  sogar  im  Klosett  versteckt  gehalten  haben?  —  Angekl.: 
Das  ist  nicht  wahr;  ein  Fall  mit  einer  Kiste  ist  vorgekommen;  ein 
entlassener  Portier  hat  aus  Rache  die  Anzeige  erstattet. 

Präs.:  Wir  gehen  nun  zur  „Tagesordnung"  über,  die  ftlr  Ihre 
Mädchen  gegolten  hat.  Wann  gingen  die  Mädchen  in  ihr  Schlaf- 
zimmer im  dritten  Stock?  —  Angekl.:  Gewöhnlich  zwischen  fünf 
and  sechs  Uhr  früh.  —  Präs.:  Ist  das  Schlafzimmer  von  außen  zu- 
gesperrt worden?  —  Angekl.:  Anfangs  nicht;  später  wurde  das 
Schlafzimmer  wegen  der  im  Hause  herrschenden  Unruhe  zugesperrt, 
damit  die  Damen  schlafen  können.   (Bewegung.) 

Aichir  fttr  KrfmfanlMithropologie.  27.  Bd.  2 


18  L  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Präs.:  Wann  ist  das  Soblafzimmer  aufgesperrt  worden?  — 
Angekl.:  Wenn  ärztliche  Visite  war  zwischen  9  und  halb  10  Uhr 
vormittags,  sonst  gegen  11  Uhr.  Die  Mädchen  machten  dann  Toi- 
lette, und  zwischen  12  und  1  Uhr  war  Mittagszeit.  —  Präs.:  Wohin 
gingen  dann  die  Mädchen?  —  Angekl.:  Wieder  ins  Schlafzimmer, 
die  Pokorny  war  in  meinem  Zimmer.  —  Präs.:  War  nachmittags 
das  Schlafzimmer  auch  abgesperrt?  —  Angekl.:  Immer  nicht.  Wenn 
jemand  geläutet  hat  —  ein  Gast  oder  Geschäftsmann  —  wurde  das 
Zimmer  zugesperrt,  um  Aufsehen  zu  vermeiden.  Tagelang  war  das 
Zimmer  offen.  Wenn  die  Mädchen  sich  anständig  benommen  haben  — 
es  sind  ja  nicht  alle  Mädchen  fein  —  durften  sie  sich  in  allen  Zim- 
mern bewegen.  —  Präs.:  Aber  Frau  Riehl I  Auch  die  Fenster  waren 
versperrt,  und  zwar  mit  Schlössern,  und  außerdem  waren  noch  tlber  die 
Fenster  Querstangen  gelegt.  —  Angekl.:  Eine  polizeiliche  Kommis- 
sion, in  der  sich  Herr  Hofrat  Witlacil  befand,  hat  das  ganze  Hans 
kontrolliert  und  es  für  gut  befunden.  —  Die  Angeklagte  erzählt 
dann,  daß  die  Mädchen^  als  die  Fenster  nicht  versperrt  waren,  Offi- 
zieren, die  vis- ä- vis  wohnten,  Obst  zuwarfen.  Sie  habe  deshalb 
Ketten  vorgelegt;  die  Mädchen  hätten  die  Ketten  aufgemacht,  so 
daß  sie  dann  die  Schlösser  machen  lassen  mußte. 

Präs.:  Wenn  die  Fenster  derart  verschlossen  waren,  konnte  ja 
den  Mädchen  auch  keine  Luft  zugeführt  werden.  —  Angekl.:  Warum? 
Die  Hoffenster  waren  offen  und  auch  vom  Badezimmer  kam  Luft 
herein.  (Bewegung.)  —  Die  Angeklagte  erklärt,  daß  die  Mädchen 
auch  von  den  Fenstern  mit  den  Knaben  eines  Lehrlings-Instituts  in 
dem  Hause  gegenüber  unverschämt  kokettierten. 

Die  Angeklagte  erklärte,  daß  sie  einzelne  Mädchen  wegen  un- 
anständigen Benehmens  strafen  mußte;  doch  sei  es  nicht  richtig,  daß 
sie  die  Mädchen  mit  Scbürhaken  oder  Hundspeitschen  züchtigte. 
Die  Hundspeitsche,  ruft  die  Angeklagte  aus,  haben  die  Mädchen  zu 
ganz  anderen  Zwecken  gebraucht.  Seit  zwölf  Jahren  habe  ich  ein 
^Haus^^  geführt  und  nie  einen  Anstand  gehabt.  Ich  war  eine  Mär- 
tyrerin der  Damen.  Wenn  ich  das  alles  getan  habe,  was  man  mir 
zur  Last  legt,  verdiene  ich  zwanzig  Jahre.  —  Präs.:  Ist  den  Damen 
gestattet  worden,  allein  auszugehen?  —  Angekl.:  Einzelnen  schon. 
Viele  wollten  in  ihrer  Uniform  nicht  ausgehen  und  in  den  Kleidern, 
die  sie  mir  noch  schuldig  waren,  konnte  ich  sie  nicht  immer  allein 
weggehen  lassen.  Sie  selbst  wollten  nicht  ausgehen.  —  Präs.:  Wenn 
ein  Mädchen  den  Wunsch  geäußert  hat,  aus  Ihrem  Hause  ganz  weg- 
zugehen, haben  Sie  das  gestattet?  —  Angekl.:  Ja.  Allerdings  ist 
es  selten  vorgekommen,   daß  ein  Mädchen  weggehen  wollte.    Wenn 


I.  Der  Pi*0£eß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  19 

ich  eine  selbst  weggeschickt  habe,  hat  sie  mich  gebeten,  sie  zu 
behalten. 

Präs.:  Sie  sollen  mit  einzelnen  Damen  VergnOgungsIokale  auf- 
gegaoht  haben  nnd  sie,  wie  die  Anklage  behauptet,  in  raffinierter 
Weise  dadurch  an  einem  Entkommen  gehindert  haben,  daß  sie  den 
Mädehen  Ihre  Geldbörse  tragen  ließen  nnd  sie  mit  Sohmnck  be- 
bilngten.  Wären  dann  die  Mädchen  entflohen,  hätten  Sie  sie  wegen 
Vemntreanng  angezeigt.  —  AngekL:  Das  ist  nicht  richtig.  Nur  die 
alten  Mädchen  hatten  ihren  eigenen  Schmuck;  den  jungen  Mädchen 
habe  ich  nie  einen  Schmuck  geliehen. 

Präs.:  Zu  welchem  Zweck  haben  Sie  Ausfltlge  mit  Ihren  ^Damen*^ 
gemacht?  —  AngekL:  Die  Damen  wollten  ein  Vergnügen  haben.  — 
Präs.:  Beim  Untersuchungsrichter  haben  Sie  auch  hinzugef&gt:  zu 
Reklamezwecken.  —  AngekL:  Das  ist  nicht  richtig.  —  Präs.:  Ist 
es  richtig,  daß  auch  bei  Tag  die  Ttlren,  die  von  der  Wohnung  in 
den  Hausflur  führten,  versperrt  waren  und  daß  der  Portier  den 
strengen  Auftrag  gehabt  hat,  kein  Mädchen  allein  hinauszulassen?  — 
AngekL:  Das  ist  nicht  richtig.  —  Präs.:  Konnte  bei  Tag  ein  Mäd- 
ehen ohne  Ihre  Zustimmung  weggehen?  —  AngekL:  Wenn  die  Tflr 
offen  war,  gewiß I  —  Präs.:  Es  soll  nur  einzelnen  Damen,  und  zwar 
den  Erbgesessenen  Ihres  Etablissements,  der  Spaziergang  im  Hof 
und  auch  nur  an  Sonntagnaohmittagen  erlaubt  gewesen  sein.  — 
AngekL:  An  bestimmten  Tagen  war  allen  Damen  der  Spaziergang 
erlaubt. 

Präs.:  Wie  war  nun  der  Verkehr  der  Mädchen  mit  der  Außen- 
welt? Durften  die  Mädehen  jederzeit  den  Besuch  ihrer  Angehörigen 
empfangen,  oder  ist  es  vorgekommen,  daß  Mädchen  verleugnet 
worden?  —  AngekL:  Es  wurden  nur  solche  Mädchen  verleugnet, 
deren  Verwandte  Plattengenossen  oder  sonstige  zweifelhafte  Ele- 
mente waren.  Wenn  anständige  Besuche  kamen,  wurde  nie  ein 
Mädehen  verleugnet.  —  Präs.:  Wie  stand  es  mit  dem  Briefschreiben? 
—  AngekL:  Mehrere  Damen  durften  ohne  Kontrolle  schreiben.  Es 
waren  aber  auch  Plattenmädchen  bei  mir,  die,  wenn  es  zu  irgend- 
einer Difierenz  zwischen  uns  gekommen  war,  sich  sofort  hinsetzten 
und  an  irgendeine  Platte  geschrieben  haben,  sie  möge  zu  uns 
kommen  und  Krawall  machen.  Diese  Briefe  habe  ich  kontrol- 
liert. —  Präs.:  Sie  haben  also  die  Briefe  durchgeschaut?  —  An- 
gekL: Nein,  es  ist  mir  immer  gesagt  worden,  was  darinnen  steht  — 
Präs.:  Das  haben  Ihnen  die  Mädchen  freiwillig  gesagt?  —  AngekL: 
Nein,  ich  habe  es  von  anderen  Mädchen  erfahren,  die  den  Inhalt 

des  Briefes  erfahren  hatten.  —  Präs.:  Sind  einlangende  Briefe  von 

2* 


20  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Eonsorten  in  Wien. 

Ihnen  nicht  geöffnet  worden?  —  Angekl.:  Nur  mit  Erlaubnis  der 
Mädchen. 

Prfis.:  Es  wird  auch  behauptet,  daß  einzelne  Mädchen  von 
Ihnen  Mißhandlungen  zu  erdulden  hatten,  besonders  dann,  wenn  die 
Mädchen  nicht  geneigt  waren,  gewissen  Wünschen  einzelner  Herren 
zu  entsprechen.  —  Angekl. :  Niemals.  Ich  war  ja  niemals  mit  im 
Zimmer,  und  wenn  mir  die  Mädchen  von  solchen  Sachen  erzählt 
haben,  habe  ich  abgewehrt  und  gesagt,  ich  will  nichts  davon  wissen. 
—  Präs. :  Ist  es  vorgekommen,  daß  Sie  Eltern  von  Mädchen,  die  bei 
Ihnen  waren,  Unterstützung  gegeben  haben?  —  Angekl.:  Ja,  die 
Mädchen  haben  es  selbst  gewünscht.  —  Präs.:  Wieviel  haben  Sie 
gegeben?  —  Angekl.:  Es  war  verschieden.  Dem  König  habe  ich 
monatlich  10  bis  15  Oulden  gegeben.  —  Präs.:  Wieviel  dürfte  König 
aus  dem  Verdienst  seiner  Tochter  erhalten  haben?  Sie  haben  in 
der  Voruntersuchung  angegeben:  Oegen  500  fl.  —  Angekl.:  Das 
weiß  ich  nicht  mehr.  Königs  Tochter  hat  haben  wollen,  daß  von 
dem  Gelde  auch  ihre  skrofulöse  Schwester  unterstützt  werde.  — 
Präs.:  Haben  Sie  mit  der  König  eine  genaue  Verrechnung  über 
ihren  Verdienst  geführt?  —  Angekl.:  Ja.  —  Präs.:  Haben  Sie  für 
jedes  Mädchen  ein  Verrechnungsbuch  geführt?  —  Angekl.:  Die 
meisten  Mädchen  haben  auf  eine  Verrechnung  verzichtet.  Sie  wollten 
sämtliche  Vergnügungen  mitmachen  und  hatten  sich  ausbedungen, 
daß  sie  zum  Schluß  mit  einer  schönen  Ausstattung  von  mir  ent- 
lassen werden.  —  Präs.:  Mehrere  Mädchen  haben  aber  nicht  ver- 
zichtet. Wie  wurde  mit  diesen  monatlich  die  Verrechnung  vorge- 
nommen? —  Angekl.  (ausweichend):  Die  Mädchen  haben  gestohlen 
und  eingebrochen,  und  ich  habe  den  Schaden  ersetzt  oder  die  Eltern 
unterstützt.  —  Präs.:  Sie  haben  also  außer  König  auch  noch  andere 
Eltern  unterstützt?  —  Angekl.:  Wenn  ich  sprechen  wollte,  Herr 
Hofrat,  so  würde  ich  vielleicht  nicht  hier  stehen,  wohl  aber  sämt- 
liche Eltern  der  Mädchen;  doch  das  will  ich  nicht. 

Präs.:  Wie  haben  Sie  nun  mit  jenen  Mädchen,  mit  denen  Sie 
gar  keinen  Anstand  hatten,  verrechnet?  —  Angekl.:  Ich  habe  ihnen 
Kleider,  Schmuck,  Wäsche  und  Oeld  gegeben.  —  Nach  längerem 
Befragen  gibt  Frau  Riehl  zu,  daß  sie  für  die  Verrechnung  überhaupt 
nicht  aufgeschrieben  hat. 

Präs. :  Was  hat  die  Pollak  bei  Ihnen  für  eine  Tätigkeit  gehabt, 
als  Sie  noch  das  Aufführhaus  hatten?  —  Angekl.:  Sie  war  Bedie- 
nerin. —  Präs.:  Sie  soll  mit  Blusen  hausieren  gegangen  sein  und 
bei  dieser  Gelegenheit  Mädchen  für  Sie  akquiriert  haben.  — 
Angekl.:    Derartige  Elemente,   wie   ich    sie   da    bekommen    hätte, 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  KooBorten  in  Wien.  21 

konnte  ieh  damals  nicht  branchen.  loh  hatte  Damen  aus  den 
feinsten  und  besten  Kreisen,  auch  Baroninnen  und  Gräfinnen  sowie 
Kttnstlerinnen,  die  bei  mir  im  Hause  verkehrten.  —  Präs.:  Dann  ist 
also  eigentlich  Ihr  Etablissement  später  bedeutend  degradiert  worden  ? 

—  Angekl.:  Jawohl  I   (Heiterkeit.) 

Präs.:  Gegen  Schluß,  als  die  Sache  anrttchig  wurde,  soll  es 
Ihnen  unbehaglich  geworden  sein,  und  Sic  sollen  besorgt  haben,  die 
Mädchen  würden  von  Dingen  erzählen,  die  Ihnen  nicht  angenehm 
wären.  Sie  sollen  den  Mädchen  Geschenke  gegeben  haben,  um  sie 
zu  anderen  Aussagen  zu  verleiten.  —  Angekl.:  Das  ist  nicht  wahr. 

—  Präs.:  Wie  kommt  es  dann,  daß  eine  Reihe  von  Mädchen  in  der 
Vonmtersuchung  unter  Eid  falsch  ausgesagt  hat  und  daß  dann  die- 
selben Mädchen  freiwillig  zum  Untersuchungsrichter  gekommen  sind 
üod  eingestanden  haben,  falsch  ausgesagt  zu  haben,  weil  sie  durch 
Sie  beeinflußt  worden  seien?  —  Angekl.:  Ich  habe,  als  die  Sache 
ia  die  Öffentlichkeit  gebracht  wurde,  einzelnen  Mädchen  infolge 
ihrer  Drohungen  Geld  gegeben,  weil  sie  erklärten,  sie  würden  sonst 
in  die  Redaktionen  gehen,  um  Neues  über  mich  zu  erzählen.  Ich 
habe  aber  niemanden  zu  falschem  Zeugnis  verleiten  wollen. 

Auf  Befragen  des  Verteidigers  gibt  Frau  Riehl  an,  daß  ihr  Ein- 
kommen von  der  Steueradministration  auf  jährlich  35000  Kronen 
gesehätzt  wurde  und  daß  ihr  eine  Steuerleistung  von  jährlich  1298 
Kronen  vorgeschrieben  war.  — 

Die  Bedienerin  der  Riehl,  Antonie  Po  Hak,  erklärt  sich  nicht 
schuldig. 

Präs.:  Was  haben  Sie  bei  der  Frau  Riehl  in  der  Grünetorgasse 
zu  tun  gehabt?  —  Angekl.:  Ich  habe  Wege  gemacht.  —  Präs.:  Wo- 
hin? —  Angekl.:  Ins  Spital.  Jeden  zweiten  Tag  habe  ich  den 
Damen,  die  dort  krank  lagen,  Essen  gebracht.  —  Präs.:  Sie  sollen 
aneb  die  Mädchen  aus  dem  Spital  mit  Fiakern  wieder  abgeholt 
haben?  —  Angekl.:  Die  Mädchen  haben  selbst  darum  gebeten.  — 
Präs.:  Sie  sollen  im  Spital  ersucht  haben,  die  Mädchen  nach  ihrer 
Grenesung  nur  Ihnen  wieder  auszufolgen,  so  daß  die  Mädchen  un- 
bedingt wieder  zur  Frau  Riehl  zurückkehren  mußten.  —  Angekl.: 
Das  ist  nicht  richtig.  —  Präs.:  Sie  haben  auch  Wege  zur  Polizei 
gemaeht  und  sollen  dort  öfter,  um  für  die  Damen  das  Gesundheits- 
buch rascher  zu  erlangen,  angegeben  haben,  daß  die  Zustimmung 
der  Eltern  zu  dem  neuen  Gewerbe  der  Tochter  bereits  ein- 
gelangt sei,  ohne  daß  dies  jedoch  der  Fall  war.  —  Angekl.: 
Das  ist  nicht  wahr.  Ich  habe  mich  immer  selbst  erkundigt,  ob  die 
Eltern  zustimmen. 


22  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Präs.:  let  Ihnen  bekannt,  daß  bei  Tag  die  Mädchen  im  dritten 
Stock  eingeeperrt  waren?  —  Angekl.:  Es  war  oben  offen,  und  es 
war  auch  abgesperrt.  —  Präs.:  War  nachmittags  offen  oder  abge- 
sperrt? —  Angekl.:  Es  war  nachmittags  auch  offen.  —  Präs.:  Es 
war  aber  auch  abgesperrt?  —  Angekl.:  Wenn  die  Mädchen  ge- 
schlafen haben,  war  abgesperrt.  —  Präs.:  Während  des  Schlafens 
war  das  Znsperren  doch  ganz  überflQssig.  —  Angekl.  (ausweichend) : 
Ich  war  nicht  so  oft  dort.  —  Präs. :  Haben  Sie  von  der  Frau  Riehl 
den  Auftrag  gehabt,  darauf  zu  sehen,  daß  die  Mädchen  nicht  fort- 
gehen ?  —  Angekl. :  Ich  habe  keinen  Auftrag  gehabt.  Die  Mädchen 
haben  auch  gar  kein  Verlangen  gehabt,  fortzugehen.  (Heiterkeit.)  — 
Präs.:  Weil  die  Mädchen  gewußt  haben,  daß  abgesperrt  war  und 
daß  sie  nicht  hinauskonnten.  Waren  die  Mädchen  so  angekleidet,  daß 
sie  hätten  fortgehen  können?  —  Angekl.:  Sie  hatten  den  Schlaf- 
rock an.  —  Präs.:  Haben  die  Mädchen  auch  andere  Kleider  ge- 
habt? —  Angekl.:  Ja.  In  den  verschiedenen  Kasten.  —  Präs.:  Und 
wer  hatte  die  Schlüssel  zu  den  Kasten?  —  Angekl.:  Die  Frau 
Riehl.  —  Präs.:  Ist  es  vorgekommen,  daß  die  Mädchen  öfter  ge- 
schlagen wurden  ?  —  Angekl.  (acbselzuckendj :  Ich  war  nicht  dabei. 

Der  Angeklagte  FriedrichKönig  gibt  an,  er  habe  eines  Abends 
erfahren,  daß  seine  Tochter  sich  im  „Institut  Riehr  befinde.  Er 
ging  hin  und  war  mit  dem  Verbleiben  des  Mädchens  im  Hause  ein- 
verstanden, ließ  sich  aber  für  den  durch  das  Mädchen  erlittenen 
„Schaden*^  eine  monatliche  Vergütung  von  20  Kronen  zahlen.  — 
Präs.:  Was  haben  Sie  denn  ftlr  einen  Schaden  erlitten?  —  Angekl.: 
Mein  Mädel  hat  sich  in  früheren  Jahren  so  unanständig  benommen. 
(Heiterkeit.)  Ich  habe  auch  meinen  Kutscherposten  deshalb  verloren, 
mußte  übersiedeln  und  hatte  drei  Monate  keinen  Erwerb. 

Präs.:  Haben  Sie  nie  das  Gefühl  gehabt,  daß  es  ftlr  einen  Vater 
schändlich  ist,  aus  dem  Schandlohn  seiner  Tochter  sich  bezahlen  za 
lassen?  —  Angekl.:  Das  Geld  haV  ich  halt  braucht  —  Dr.  Hof- 
mokl:  Wie  groß  war  ungefähr  Ihr  Schade?  —  Angekl.:  Ungefähr 
vierhundert  Gulden.  —  Staatsanwalt:  Haben  Sie  Ihre  Tochter  je- 
mals gefragt,  wieviel  Schadenersatz  sie  leisten  will?  —  Angekl.: 
Davon  war  keine  Rede. 

Präs.:  Das  Mädchen  war,  als  es  Ihnen  den  Schaden  durch  die 
schlechte  Aufführung  zugefügt  haben  soll,  noch  ein  Schulkind.  Da 
durften  Sie  den  Schaden  nicht  ihr  allein  anrechnen.  Glauben  Sie 
nicht,  daß  auch  die  Eltern,  die  das  Kind  erziehen,  an  einem 
solchen  Schaden  schuldtragend  sind?  Der  Angeklagte  gibt  keine 
Antwort. 


L  Der  Prozeß  Riehl  und  Koneorten  in  Wien.  23 

Yotant  Dr.  Spitzkopf:   Hat  die  Tochter  während  der  Zeit,  wcv 
sie  bei  der  Riehl  weilte,  Sie  nie  besucht?  —  Angekl.:  Nein. 

Staatsanwalt:  Haben  Sie  die  Anzeige  gemacht,  als  Sie  Ihre 
Tochter  in  das  „Haus"  der  Frau  Riehl  gaben?  —  Angekl.:  Nein. — 
Dr.  Rode  (zum  Angeklagten):  Hat  Ihnen  Frau  Riehl  jemals  anbe- 
fohlen, wie  Sie  in  ihrem  Hause  mit  der  Tochter  reden  sollen?  — 
Angekl.:  Nein.  —  Dr.  Hofmokl:  Hat  Ihnen  die  Tochter  jemals  ge- 
sagt, daß  sie  aus  dem  Hause  der  Frau  Riehl  wegkommen  will?  — 
Angekl.:  Nein,  niemals.  —  Dr.  Rabenlechner:  Sie  war  ja  dort  sehr 
zufrieden.  — 

Nach  der  Mittagspause  werden  die  sieben  Mädchen  verhört,  die 
der  falschen  Zeugenaussage  angeklagt  sind. 

Als  erste  wird  Marie  Pokorny  vernommen.  Sie  war  unter  dem 
Namen  „Irma*"  im  Salon  Riehl  vom  März  1902  bis  Juli  1906.  Die 
Angeklagte  bekennt  sich  schuldig;  vor  dem  Untersuchungsrichter 
he  wüßt  falsch  ausgesagt  zu  haben. 

Präs.:  Sie  haben  angegeben^  daß  der  Polizeiagent  Piß  niemals 
mit  einem  Mädchen  ;^am  Zimmer^  war.  Sie  haben  diese  Aussage 
widerrufen.  Warum  haben  Sie  ursprfinglich  falsch  ausgesagt?  — 
Angekl.:  Frau  Riehl  hat  gesagt,  wenn  ich  etwas  über  die  Polizei 
ausplaudere,  werde  ich  eingesperrt.  Diese  Erklärung  wiederholt 
die  Angeklagte  mehrmals.  Der  Vorsitzende  unterbricht  sie  mit  der 
Frage:  Hat  die  Riehl  das  auch  zu  anderen  Mädchen  gesagt?  — 
Angekl.:  Ja.  Die  Riehl  hat  die  Mädchen  zusammengerufen  und  zu 
uns  gesagt:  „Mädeln,  verlaßt  mich  nicht,  verlaßt  mich  nicht  in 
meinem  Unglück.  Schonts  mir  nur  die  Polizei.  Die  Polizei  und 
das  Gericht  halten  zusammen,  und  wenn  ihr  gegen  die  Polizei  aus- 
sagt, werdet  ihr  eingesperrt.** 

Präs.:  Eine  sonderbare  Logik I  Wer  war  unter  der  Polizei  ver- 
standen? —  Angekl.:  Der  „Vertraute**  Piß.  Er  war  einmal  mit 
einem  dicken  Herrn  bei  der  Riehl;  das  war  ein  Kommissär. 
(Heiterkeit.) 

Präs.:  Der  Agent  Piß  hat  aber  die  Mädchen  öfter  besucht?  — 
Angekl,:  Ja.  —  Vors.:  Hat  er  auch  Sie  besucht?  —  Angekl.:  Nein, 
aber  der  dicke  Kommissär.   (Erneute  Heiterkeit.) 

Präs.  (zur  Riehl):  Was  sagen  Sie  dazu?  —  Angekl.  Riehl 
(wütend):  Was  die  Pokorny  sagt,  ist  alles  falsch.  Ich  hab'  ja  auch 
dem  Herrn  Untersuchungsrichter  gestanden,  daß  der  Herr  Kommissär 
bei  uns  ohampagnisiert  hat,  aber  ich  habe  seinen  Namen  nicht  ge- 
nannt«   Bitte,  ich  bin  diskret. 

Angekl.  Pokorny  (ruft  erregt):  Sie  haben  aber  alle  Mädeln  ge- 


24  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

rufen  and  uns  Kleider,  Schmuck  und  Oeld  yersprochen  und  gesagt, 
wir  sollen  nichts  über  das  Haus  sagen  und  über  die  Besuche  der 
Polizei.  (Zum  Gerichtshof):  Frau  Riehl  nahm,  als  das  Haus  ge- 
sperrt war,  mir  und  drei  anderen  Mädeln  eine  Wohnung  in  der 
Oberen  Donaustraße.  Ich  habe  kein  Geld,  keine  Kleider,  keine 
Wohnung  gehabt.  Und  die  Frau  Riehl  hat  gesagt,  wenn  das  Haus 
wieder  geöflFnet  wird,  so  kriegen  wir  wieder  das  Geschäft.  —  Riehl : 
Das  ist  nicht  wahr.  Sie  hat  selbst  gesagt,  sie  geht  nicht  weg  von 
mir  in  dem  Unglück.  Sie  hat  mich  sehr  gern  gehabt  und  ich  sie 
auch.  (Die  Pokorny  lacht  laut.)  Sie  hat  mehr  kommandiert  und 
geschimpft  als  ich.  Sie  hatte  nämlich  eine  Vertrauensstellung. 
(Heiterkeit.) 

Riehl  (zur  Pokorny):  Ich  hab'  Ihnen  beim  Ausziehen  zwölf 
Kleider  gegeben.  —  Staatsanwalt:  Das  ist  schon  eine  Beeinflussung 
zu  falscher  Zeugenaussage. 

Präs.  (zur  Pokorny):  Sie  haben  also  nicht  aus  Furcht  allein 
falsch  ausgesagt,  sondern  auch  wegen  der  Kleider  und  der  Wäsche? 

Dr.  Pollaczek:  Auch  aus  Mitleid. 

Der  Verteidiger  fordert  die  Pokorny  auf,  über  eine  Szene  beim 
Untersuchungsrichter  zu  erzählen.  Die  Pokorny  erzählt,  daß  die 
Riehl  sie  während  einer  Zeugenaussage  beim  Untersuchungs- 
richter gestoßen  habe  und  ihr  zuflüsterte:  Ich  bitt*,  sag'  nichts,  sag' 
nichts  von  der  Polizei.  —  Riehl:  Das  ist  erlogen I  Der  Herr  Unter- 
suchungsrichter war  sehr  streng  und  hätte  eine  solche  Beeinflussung 
nicht  erlaubt.  —  Dr.  Pollaczek:  Das  glauben  wir,  aber  Sie  haben  es 
hinter  seinem  Rücken  getan.  —  Präs.:  Wir  glauben  es  auch!  (Heiter- 
keit.) —  Riehl:  Es  ist  nicht  wahr.  Was  wissen  denn  Sie,  Herr 
Doktor! 

Die  Angeklagte  Marie  Hosch  gibt  an,  durch  die  Riehl  zu  einer 
falschen  Aussage  verleitet  worden  zu  sein.  Sie  ist  unter  Eid  ver- 
nommen worden  und  gab  vor  dem  Untersuchungsrichter  an,  daß  die 
Mädchen  frei  ein-  und  ausgehen  [durften  und  nach  Belieben  Geld 
und  Schmuck  erhielten,  Briefe  schrieben  und  unkontrolliert  empfingen. 
Die  Riehl  habe  die  Hälfte  vom  Schandlohn  erhalten. 

Präs.:  Warum  haben  Sie  diese  Aussage  gemacht,  die  Sie  am 
5.  Juli  vor  dem  Untersuchungsrichter  ablegten  und  am  21.  Juli 
widerriefen?  —  Angekl.:  Die  Riehl  hat  gesagt,  alle  Damen  müssen 
das  Gleiche  aussagen,  denn  wenn  eine  anders  aussagt,  wird  sie  ein- 
gesperrt. Der  Schwur  beim  Gericht  gelte,  der  beim  Untersuchungs- 
richter aber  nicht.  —  Präs. :  Warum  haben  Sie  falsch  ausgesagt?  — 
Angekl.:   Wenn  ich  nicht  mehr  bei  der  Riehl  gewesen  wäre,  hätte 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  25 

ich  gleioh  die  Wahrheit  gesagt.  —  Der  Vorsitzende  konstatiert,  daß 
die  Angeklagte  Hosoh  zur  Zeit,  als  sie  die  falsohe  Aussage  maohte, 
Doeh  im  Hause  der  Riehl  war. '  H 

Dr.  Pollaozek:  Haben  Sie  sich  nioht  auch  geftirehtet?  —  An- 
gekl.  Bosch:  Ja.    Ich  habe  mich  vor  Schlagen  gefürchtet. 

Präs.:  Sie  sollen  auch  andere  Mädchen  beeinflußt  haben,  damit 
sie  falsch  aussagen?  —  Die  Angeklagte  stellt  das  in  Abrede.  Sie 
bestreitet  auch,  daß  sie  mit  einer  Krankheit  behaftet  gewesen  sei, 
alg  sie  bei  der  Riehl  war.  Sie  sei  später  krank  gewesen,  aber  da- 
mals in  häuslicher  Pflege  geblieben.  —  Präs.:  Das  wollten  wir  wissen. 
(Zur  Riehl):  Was  sagen  Sie  zu  dieser  Aussage?  —  Riehl:  Es  ist 
alles  nicht  wahrl  Die  Bosch  hat  mich  gebeten,  ich  soll  sie  behalten, 
sie  wird  brav  und  anständig  sein.  (Beiterkeit.)  Ich  bitte,  Herr 
Hofrat,  die  Mädeln  sagen  heute  so  aus,  weil  ich  im  Unglück  bin. 
Sie  sind  nicht  von  mir  beeinflußt  worden,  sondern  von  einer  an* 
deren  Seite. 

Präs.  (streng):  Frau  Riehl,  es  geht  nicht  an,  daß  Sie  hier  von 
einer  „anderen  Seite*'  sprechen.  Wollen  Sie  damit  behaupten,  daß 
die  Mädchen  beeinflußt  wurden,  falsche  Aussagen  zu  machen? 
Reden  Sie  nuri 

Frau  Eiehl  schaut  auf  ihren  Verteidiger  Dr.  Rabenlechner,  der 
ihr  gleichfalls  zuruft:  Reden  Sie  nur! 

Angekl.  Riehl:  Die  Mädeln  wurden  von  den  Redaktionen  Tag 
und  Naoht  um  Angaben  über  mich  bestürmt.  —  Präs. :  Was  meinen 
Sie  damit?  —  Angekl.:  Ich  meine  das  „Extrablatt**.  —  Präs.:  Wollen 
Sie  mit  Ihrer  Behauptung  sagen,  daß  eine  bestimmte  Person  die 
Erhebungen  veranlaßt  hat?  —  Angekl.  Riehl:  Ja,  Herr  Bader  hat 
auf  meine  Damen  eingewirkt.  Herr  Bader  hat  sich  fQr  die  Geschichte 
sehr  interessiert  und  hat  den  Mädeln  aufgepaßt. 

Präs.:  Nehmen  wir  einen  Moment,  ich  betone,  nur  einen  Moment 
an,  daß  Herr  Bader  wirklich  Ihr  Unternehmen  ruinieren  wollte. 
Nehmen  wir  auch  nur  einen  Moment  an,  Herr  Bader  wollte  auf  die 
Mädchen  einwirken,  damit  sie  gegen  Sie  aussagen.  Da  wäre  es 
doeh  natürlich  gewesen,  daß  die  Mädchen  zuerst  gegen  Sie  und  dann 
zu  Ihren  Gunsten  ausgesagt  hätten.  Ihre  Behauptung,  Frau  Riehl, 
entbehrt  doch  jeder  Logik. 

Präs.:  Angekl.  Marie  Win  kl  er,  Sie  sind  angeklagt,  in  einem 
Punkte  falsch  ausgesagt  zu  haben.  Sie  waren  vom  10.  Juli  1904 
bis  zum  2.  August  1906  bei  der  Riehl.  Sie  haben  ursprünglich  an- 
gegeben, daß  Sie  auf  Grund  von  Abrechnungszetteln,  die  Sie  ver* 


26  L  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

fertigten,  mit  der  Riehl  stets  yerreoknet  haben.  Später  haben  Sie  dem 
Untersuchungsrichter  einen  Briefgesoh rieben,  in  dem  Sie  ersuchen,  „das 
mit  den  Zetteln^  wegzulassen,  weil  es  eine  falsche  Deposition  enthalte. 
Sie  haben  dann  angegeben,  daß  Sie  die  falsche  Aussage  deshalb  ab- 
legten, weil  Sie  glaubten,  daß  Sie  so  eher  Glauben  finden  würden.  (Zur 
Angeklagten,  ihr  ein  Paket  Zettelvorhaltend):  Haben  Sie  auch  wirklich 
alle  diese  Zettel  sukzessive  auf  Grund  Ihres  wirklichen  Verdienstes 
angefertigt?  —  Angekl.:  Ja,  sie  sind  wirklich  richtig.  —  Präs.: 
Nach  diesen  Aufzeichnungen  hätten  Sie  in  der  Zeit  vom  Januar  bis 
Juli  5337  Kronen  eingenommen.  —  Dr.  PoUaczek:  Na,  lauter  Steuer- 
beamte  waren  das  nicht.    (Laute  Heiterkeit.) 

Dr.  Rabenlechner:  Ich  will  der  Angeklagten  nicht  weh  tun^ 
aber  3000  Gulden  in  einem  halben  Jahre,  das  ist  doch  zu  viel. 
—  Frau  Riehl  (verächtlich):  Aber  ich  bitte,  die  ohne  Zähne  und 
mit  der  mageren  Figur.  Ich  will  sie  ja  nicht  kleiner  machen, 
aber  ... 

Frau  Riehl  macht  eine  bezeichnende  Handbewegung. 

Dr.  PoUaczek  (zur  Angeklagten  Pokorny) :  Was  haben  denn  Sie 
für  einen  Verdienst  gehabt?  —  Angekl.  (stolz):  Ich  bekam  von 
meinen  Leuten  100,  150,  ja  auch  200  Gulden. 

Die  Angeklagte  Josefine  Zawazal  ist  geständig,  zu- 
gunsten der  Frau  Riehl  falsche  Angaben  vor  dem  Untersuchungs- 
richter gemacht  zu  haben.  Sie  sei  von  Frau  Riehl  zu  ihrer  falschen 
Aussage  verleitet  worden. 

Angeklagte  Anna  Christ  erschien  freiwillig  beim  Unter- 
suchungsrichter, um  ihre  falschen  Angaben  zu  widerrufen. 

Präs.:  Wie  alt  waren  Sie,  als  Sie  in  das  Haus  der  Riehl  kamen? — 
Angekl.:  Siebzehn  Jahre.  —  Präs. :  Ist  es  richtig,  daß  Sie  zwei  Mo- 
nate lang  ohne  ärztliche  Visitation  im  Hause  blieben?  —  Angekl.: 
Jawohl.  —  Präs.:  Ist  es  richtig,  daß  Sie  bei  Ihrem  Eintritt  in  das 
Haus  unversehrt  waren?  —  Angekl.  (fest):  Ja,  es  ist  richtig. 

Die  Angeklagte  erzählt,  daß  ein  operativer  £ingi*iff  an  ihr  vor- 
genommen wurde,  um  sie  unbehelligt  von  der  Behörde  dem  Schand- 
gewerbe zuführen  zu  können. 

Präs.:  Wer  hat  sie  zu  der  falschen  Zeugenaussage  veranlaßt, 
die  Sie  abgelegt  haben? 

Angekl.:  Die  Riehl  und  die  Pollak.  Die  Riehl  ist  vor  mir  ge- 
kniet und  hat  gesagt:  Ich  schwöre  dir,  Anna,  ich  werde  es  dir  nie 
vergessen,  wenn  du  das  für  mich  tust.  Wenn  du  es  nicht  tust,  bin 
ich  ruiniert.    Du  mußt  alles  Gute  über  das  Haus  sagen. 


I.  Der  Prozeß  Biehl  und  Konsorten  in  Wien.  27 

« 

Pr&8.:  Wer  bat  der  Operation  beigewohnt?  —  Angekl.:  loh 
kann  miob  nur  an  die  Riehl  erinnern.  Irgendein  Mftdchen  bat  mir 
ein  PolBter  in  den  Mund  gestopft,  weil  ieh  geschrieen  habe. 

Frau  Riebl  (wütend):  Dieses  Mädel  war  die  häßlichste  meiner 
Damen.  (Heiterkeit.)  Die  hat  es  notwendig.  Es  ist  natürlich  gar 
nichts  wahr,  was  sie  sagt. 

Dr.  PoUaezek  (zur  Angeklagten  Zawazal):  Ist  es  richtig,  daß 
Frau  Riebl  der  Christ  auch  gedroht  hat?  —  Zawazal:  Jawohl.  Sie 
hat  gedroht,  daß,  wenn  die  Christ  nicht  anständig  aussagt,  wird  sie 
sie  versebwinden  lassen.  —  Frau  Riehl  (aufschreiend):  Das  ist  ja 
Wahnsinn!  Wie  kann  man  denn  einen  Menschen  verschwinden 
lassen  ?  —  Dr.  Follaczek :  Sie  haben  ja  auch  Mädchen  bekannter- 
maßen verschickt.  —  Frau  Riehl  (mit  Nachdruck):  Pardon.  Das  ist 
nicht  wahr.  Ich  bin  Besitzerin  eines  öffentlichen  Hauses,  aber  keine 
Mädchenhändlerin. 

Angeklagte  Sophie  Christ,  ein  neunzehnjähriges  Mädchen,  be- 
zeichnet sieb  als  Wäscherin. 

Präs.:  Sie  haben  vor  dem  Untersuchungsrichter  angegeben,  daß 
Sie  nie  etwas  von  unstatthaften  Vorgängen  bei  der  Riehl  bemerkt 
haben,  daß  kein  Mädchen  in  der  Freiheit  beschränkt  war  und  daß 
es  allen  gut  gegangen  ist.  Am  17.  Juli  widerriefen  Sie  Ihre  Mit- 
teilungen und  erklärten,  daß  Ihre  Angaben  unwahr  waren.  —  An- 
gekl.: Frau  Riehl  hat  mich  erbarmt,  sie  sagte:  „Hansi,  du  weißt,  ich 
haV  ein  Kind,  mach'  mich  nicht  unglücklich,  du  wirst  es  nicht  be- 
reuen.* —  Präs.:  Hat  Ihnen  auch  die  PoUak  zugeredet?  —  An- 
gekl.: Ja,  sie  redete  mir  auch  zu;  auch  die  Hosch  sagte  mir,  ich 
soll  gut  aussagen. 

Angekl.  Christ:  Ich  bitte,  Herr  Hofrat,  bis  heute  habe  ich  meine 
Sachen  noch  nicht;  ich  habe  nur  die  Sachen  verlaugt,  sechs  Hemden 
und  sechs  Hosen.  —  Riehl:  Sie  hat  Schuhe,  Bluse,  Kleider  be- 
kommen, mehr  als  sie  mitgebracht  hat. 

Präs.:  Als  Zeugin  vor  dem  Untersuchungsrichter  sagte  die  Christ 
auch,  daß  sie  35  Gulden  als  Rest  der  Abrechnung  erhalten  hat,  das 
ist  ebenfalls  nicht  wahr.  —  Riehl:  Das  Mädchen  war  immer  krank, 
hat  also  nichts  zu  bekommen  gehabt. 

Die  Angeklagte  ErnestineOönye  war  vier  Jahre  lang  Stuben- 
mädchen im  Hause  der  Riehl.  Sie  hat,  wie  der  Vorsitzende  fest- 
stellt, auch  vor  dem  Untersuchungsrichter  die  Unwahrheit  gesagt, 
indem  sie  die  Behandlung  der  Mädchen  als  tadellos  bezeichnete. 
Nachdem  sie  aber  am  24.  August  als  Beschuldigte  vorgeladen  wurde, 
erklärte  sie,  sie  habe  falsch  ausgesagt. 


28  I.  Der  Prozeß  Biehl  und  KoDBorten  in  Wien. 

Angekl.:  Frau  Riehl  sagte  mir,  ich  soll  sie  nicht  ins  Unglück 
stürzen.    Ich  habe  nicht  gewußt,  daß  die  Sache  so  gefährlich  ist. 

Als  erste  Zeugin  wird  Ottilie  G.,  jenes  Mädchen  vernommen, 
das  knapp  nach  der  Vollendung  des  vierzehnten  Lebensjahres  zur 
Riehl  gebracht  worden  ist.  Sie  geht  jetzt  einem  anständigen  Er- 
werb  nach. 

Präs.:  Wie  alt  waren  Sie,  als  Sie  zur  Riehl  kamen  und  dort 
„Dame"  wurden?  —  Zeugin:  Vierzehn  Jahr  und  drei  Monate.  — 
Präs.:  Wußten  Sie,  in  was  für  ein  Haus  man  Sie  brachte?  — 
Zeugin :  Anfangs  nicht,  später  erfuhr  ich  es.  —  Präs. :  Hat  Ihr  Vater 
gewußt,  wo  Sie  sich  aufhalten?  —  Zeugin:  Nein,  der  Vater  wußte 
nicht,  in  welche  Hände  ich  gekommen  war ;  bei  der  Riehl  war  vom 
Vater  überhaupt  nicht  die  Rede.  —  Präs.:  Sie  waren  damals  noch 
nicht  erwachsen  ?  —  Zeugin :  Nein.  —  Präs. :  In  welcher  Eigenschaft 
sind  Sie  in  das  Haus  gekommen?  —  Zeugin:  Man  sagte  mir  erst, 
als  Dienstmädchen,  aber  bald  erfuhr  ich  den  wahren  Zweck.  — 
Präs.:  Sie  waren  noch  unbescholten,  als  Sie  zu  Frau  Riehl  kamen?  — 
Zeugin:  Ja.  —  Präs.:  Und  wie  lange  hat  es  gedauert,  bis  Sie  mit 
den  nötigen  Dokumenten  versehen  waren?  —  Zeugin:  Frau  Riehl 
ging  zur  Polizei  und  sprach  mit  einem  Herrn  Kommissär,  und  nach 
zwei  bis  drei  Tagen  hatte  ich  die  Sachen. 

Die  Zeugin  erzählt,  daß  ihr  der  Polizeiarzt  die  Dokumente  wieder 
wegnahm,  als  er  konstatiert  hatte,  daß  sie  noch  unbescholten  sei. 
Frau  Riehl  redete  ihr  daraufhin  zu,  sich  mit  Männern  zu  befassen. 
Sie  habe  sich  aber  geweigert,  sei  von  der  Riehl  fort  und  erst  später, 
nachdem  sie  schon  einen  Liebhaber  gehabt  hatte,  wieder  zu  ihr  zu- 
rück. Frau  Riehl  verrechnete  mit  ihr  in  der  Weise,  daß  sie  vier 
Kronen  täglich  für  die  Kost  ansetzte  und  außerdem  die  Hälfte  des 
von  den  Herren  bezahlten  Geldes  behielt.  „Strumpfgeld**  wurde  den 
Mädchen  einfach  weggenommen,  manchmal  sogar  mit  Gewalt.  Das 
Mädchen  ist  mit  der  Riehl  aus  der  Porzellangasse  in  die  Mühlgasse 
und  von  hier  in  die  Grüne  Torgasse  übersiedelt. 

Präs.:  Haben  Sie  sich  dort  frei  bewegen  können?  —  Zeugin: 
Nein,  alles  war  zugesperrt.  —  Präs. :  Haben  Sie  Geld  bekommen?  — 
Zeugin:  Nicht  einen  Heller.  —  Präs.:  Ist  bei  den  Verrechnungen 
etwas  für  Sie  geblieben?  —  Zeugin:  Ich  war  der  Riehl  immer 
schuldig.  —  Wofttr?  —  Zeugin:  Für  Kleidung  und  Wäsche.  Es  war 
ein  ewiges  Manko.  —  Präs.:  Konnten  Sie  ausgehen?  —  Zeugin:  Nur 
mit  Frau  Riehl.  —  Präs. :  Wurden  Sie  von  der  Frau  Riehl  auch  ge- 
schlagen? —  Zeugin:  Ja.  Einmal  bekam  ich  so  arge  Prügel;  daß 
ich  längere  Zeit  krank  war.  —  Präs.:  Weshalb?  —  Zeugin:  Weil 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  KoQBorten  in  Wien.  29 

ich  Champagner  getrunken  habe,  der  nicht  mir  gehörte.  —  Präs.: 
Was  war  das  für  Champagner?  —  Zengin:  Solcher,  den  die  Gäste 
stehen  ließen.  Der  wurde  zusammengegossen  und  wieder  ausge- 
schenkt. 

Die  Zeugin  erzählt  weiter,  daß  die  Ausfahrten,  die  die  Mädchen 
mit  der  Riehl  machen  durften,  von  dieser  als  Auszeichnung  be- 
trachtet wurden. 

Präs.:  Haben  Sie  Herren  mit  nach  Hause  gebracht?  —  Zeugin: 
Manchmal  sind  Herren  mitgegangen,  manchmal  sind  sie  uns  auch 
naehgefahren.  —  Präs.:  Haben  Sie  auch  Schmuck  bei  diesen  Fahrten 
mitbekommen?  —  Zeugin:  Ja,  die  Riehl  gab  uns  Schmuck,  damit 
wir  nicht  durchgehen  können.  Auch  ihr  Geldtäschchen  ließ  sie  uns 
ans  demselben  Gründe  tragen. 

Dr.  Rode  legt  eine  Photographie  aus  der  Zeit  vor,  da  die  Zeugin 
bei  der  Riehl  eintrat.  Das  Bild  stellt  die  Zeugin  im  Matrosenkleid- 
ehen  vor.  Der  Vorsitzende  bemerkt  hierzu:  „Da  haben  wir  die  Toi- 
lette im  Maison  Riehl.^ 

Auf  Befragen  des  Dr.  Rode  erzählt  die  Zeugin^  daß  ihr  die 
Haare  gewaltsam  abgeschnitten  wurden.  Die  Riehl  und  ein  Mädchen 
hielten  sie  fest,  da  sie  sich  wehrte.  Dadurch  sollte  die  G.  noch 
jagendlicher  erscheinen.  Bei  der  Übersiedelung  in  die  Grünetorgasse 
wurden  die  Mädchen  von  der  Pollak  und  der  Riehl  förmlich  eskor- 
tiert. Schließlich  berichtet  die  Zengin  noch,  daß  die  Riehl  sie  adop- 
tieren wollte.  Die  Zeugin  wollte  aber  nicht,  weil  die  Riehl  sie 
immer  prügelte. 

Von  der  Pollak  erzählt  die  Zeugin,  daß  sie  die  Türen  zum 
Schlafzimmer  zugesperrt  hatte  und  nur  öffnete,  wenn  ein  Herr  ein 
Mädchen  sprechen  wollte.  Das  habe  die  Pollak  auf  Geheiß  der 
Riehl  getan.  Diese  Vorschrift  bestand  erst,  nachdem  mehrere  Mäd- 
chen durchgegangen  waren  und  einige  durch  einen  Sprung  aus  dem 
Fenster  zu  flüchten  versuchten. 

Präs.  (zur  Riehl):  Wa«  sagen  Sie  zu  dieser  Aussage?  —  An- 
gekl.  Riehl:  Von  Anfang  bis  zu  Ende  erlogen  I  Ich  habe  das  Mäd- 
chen von  einer  Mädcfaenhändlerin  erhalten,  nachdem  es  in  einem 
öffentlichen  Hause  in  Prag  nicht  aufgenommen  wurde.  Die  Sache 
hatte  nämlich  ein  Hindernis,  weil  sie  ein  Verhältnis  hatte.  —  Präs. : 
Wußten  Sie,  wie  alt  die  Zeugin  war?  —  Riehl:  Das  habe  ich  aller- 
dings vergessen.    (Heiterkeit.) 

Dr.  Pollaezek  (zur  G.) :  Haben  Sie  sich  nie  Herren  gegenüber 
über  diese  Behandlung  beklagt?  —  Zeugin:  Ja.  Aber  die  Herren 
sagen  immer:  Euch  Mädeln  geht  es  sehr  gut.    (Bewegung.) 


30  I.  Der  Prozeß  Rlehl  und  KoDSorten  in  Wien. 

Die  Zeugin  Georgine  W.  war  ein  Jahr  bei  der  Riehl. 

Als  ich  durch  Vermittlung  einer  Frau  Neubauer  zur  Riehl  kam  — 
^0  erzählt  die  Zeugin  —  war  ich  noch  nicht  sechzehn  Jahre  alt.  Die 
Frau  Riehl  hat  die  PoUak  beauftragt»  sofort  mit  mir  zur  Polizei  zu 
gehen,  ist  aber  dann  selbst  gegangen.  Dann  hat  sie  mir  gesagt^ 
ich  soll  sofort  meinem  Vormund  nach  Stockerau  telegraphieren,  und 
wenn  er  kommt,  soll  ich  ihm  schön  die  Hand  kfissen,  ihn  um  die 
Zustimmung  bitten  und  sagen,  daß  ich  mir  eine  schöne  Ausstattung 
ftr  meine  Hochzeit  verdienen  werde.    (Bewegung.) 

Präs.:  Was  haben  Sie  verdient?  —  Zeugin:  Manchmal  dreißig 
Gulden  täglich,  öfter  mehr,  aber  nie  weniger  als  zehn  Gulden. 

Präs.:  Wieviel  haben  Sie  also  in  der  ganzen  Zeit  verdient?  — 
Zeugin:  Ich  glaube  8000  Kronen.  —  Präs.:  Wurde  mit  Ihnen  ver- 
rechnet? —  Zeugin:  Niemals.  —  Präs.:  Und  was  war  mit  dem 
Strumpfgeld?  —  Zeugin:  Auch  das  mußten  wir  der  Riehl  geben. 
Die  Riehl  hat  uns  gezwungen ;  sie  sagte,  wir  bestehlen  sie  und 
werden  als  Diebinnen  behandelt.  —  Präs. :  Also  nach  der  Logik  der 
Frau  Riehl  wären  die  Mädchen  Diebinnen  gewesen,  wenn  sie  ihr 
Eigentum  behalten  hätten. 

Die  Zeugin  berichtet  ferner,  daß  die  Riehl  ihr  ein  Firmkleid 
schenkte,  aber  bald  wieder  abnahm.  —  Präs.:  Da  haben  wir  wieder 
einen  Firmling  der  Frau  Riehl.  Wie  war  denn  sonst  Ihre  Kleidung? 

—  Zeugin:  Sie  bestand  aus  Unterrock,  Babyschfirze,  Halbschuhen 
und  gewöhnlichen  Strttmpfen. 

Präs. :  Mit  dieser  Toilette  konnten  Sie  aber  nicht  ausgehen.  Wie 
war  es,  wenn  die  Riehl  mit  Mädchen  in  Vergnügungslokale  ging?  — 
Zeugin:  Da  waren  wir  sehr  hObsch  gekleidet  und  hatten  Schmuck. 
Wir  haben  von  solchen  Lokalen  Herren  nach  Hause  gebracht  oder 
mußten  Visitenkarten  verteilen.  Wir  waren  dort  wirklich  nicht  zum 
Vergnügen,  sondern  zum  Geschäft.    (Heiterkeit.) 

Die  Zeugin  mußte  mit  einem  andern  Mädchen  gemeinsam  in 
einem  Bette  schlafen.  Sie  wollte  wiederholt  aus  dem  Hause  der 
Riehl  weg,  aber  da  drohte  ihr  die  Riehl  mit  der  Abrechnung.  Die 
Zeugin  zeichnete  ihre  Einnahmen  auf,  aber  plötzlich  waren  mehrere 
Blätter  aus  diesem  Vormerkbuch  herausgerissen. 

Präs.:  Wieviel  wären  Sie  also  nach  Angabe  der  Riehl  schuldig? 

—  Zeugin:  400  Gulden.  Als  ich  unter  der  Ausflucht,  zu  meiner 
Mutter  fahren  zu  müssen,  aus  dem  Hause  kam,  begleitete  mich  die 
Riehl.  Sie  gab  mir  sehr  schlechte  Kleider  von  einem  andern  Mäd- 
ohen  und  keinen  Kreuzer  Geld. 

Der  Präsident   verliest  ein  Protokoll,   das  mit  der  Zeugin  im 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  31 

Sekretariat  der  Liga  zur  Bekämpfung  des  MädchenhandeU  im  Jabre 
1903  anfgenommen  wurde.  In  diesem  Protokolle  kommen  bereits 
die  meisten  der  gegen  die  Riehl  jetzt  erhobenen  Anwürfe  vor. 

Dr.  Rabenlechner:   Dieses  Protokoll  sollte  doch  einen  Zweck 
haben.  Was  geschah  mit  ihm?  —  Präs.:  Das  ist  mir  nicht  bekannt. 

Auf  Befragen  erklärt  die  Riehl  mit  großer  Entschiedenheit  alle 
Angaben  der  Zeugin  als  Lügen  und  berichtet,  daß  dieses  Mädchen 
▼ollständig  verwahrlost  war  und  die  Schuhe  mit  Spagat  zugebunden 
hatte,  als  sie  zu  ihr  kam. 

So  verwahrlost  war  die  W.,  daß  der  Kommissär  auf  der  Wieden 
zu  mir  sagte,  als  ich  das  Mädchen  vorstellte:  „Solche  Mädeln 
bringen  Sie  uns,  da  können  Sie  gleich  gehen,  so  was  kann  man 
nicht  brauchen.^  Vierzehn  Tage  später  stellte  ich  die  W.  wieder  vor, 
aber  in  sehr  schönen  Kleidern.  Da  sagte  derselbe  Kommissär:  „Ja, 
mit  solchen  Mädeln  können  Sie  kommen.  Das  ist  ganz  was  anderes.^^ 
loh  machte  ihn  darauf  aufmerksam,  daß  das  Mädchen  schon  vor  vier- 
zehn Tagen  bei  mir  war.  Darauf  sagte  der  Herr  Kommissär  zu 
einem  Kollegen:  „Schau,  was  die  Riehl  ans  einem  Mädel  in  vierzehn 
Tagen  machen  kann.^'    (Bewegung.) 

Zeugin  Justine  R.  gibt  an,  daß  sie  beim  Eintritt  in  das  Haus 
der  Frau  Riehl  nicht  sofort  gewußt  habe,  daß  sie  sich  in  einem  der- 
artigen Hause  befinde.  —  Präs.:  Hat  Frau  Riehl  Ihnen  gesagt,  als 
was  Sie  fungieren  sollen? 

Zeugin :  Ich  bin  von  Frau  Riehl  aufgenommen  worden,  daß  ich 
Deutsch  bei  ihr  lernen  soll.  (Heiterkeit.)  Ich  bin  als  Stubenmädel 
aufgenommen  worden.  —  Präs. :  Und  schließlich  sind  Sie  sich  jeden- 
falls sehr  bald  darüber  klar  geworden,  daß  Frau  Riehl  Sie  nicht 
zur  Verbesserung  Ihrer  Spraohkenntnisse  aufgenommen  hat.  Wann  ist 
das  Gesundheitsbuch  genommen  worden?  —  Zeugin:  Bald  danach.  — 
Präs.:  Ist  nicht  gefragt  worden,  ob  Ihre  Eltern  einverstanden  sind?  — 
Zeugin:  Nein.  —  Präs.:  Hat  Frau  Riehl  jemals  mit  Ihnen  abge- 
rechnet? —  Zeugin:  Ja,  zum  Schluß  hat  sie  herausgerechnet,  daß 
ich  ihr  noch  gegen  1000  Gulden  schuldig  bin.  —  Präs. :  Sind  Mäd- 
chen geschlagen  worden?  —  Zeugin:  Ja,  weil  sie  nicht  gefolgt 
haben.  —  Präs.:  Hat  die  Riehl  auch  von  Ihnen  verlangt,  daß  Sie 
Herren  Dienste  leisten  sollen,  vor  denen  Sie  zurückschreckten?  — 
Zeugin  (rasch):  Aber  jal  Sie  hat  gesagt:  Ein  böhmisches  Madel 
muß  alles  machen!    (Heiterkeit.) 

Präs.:  Hat  Ihre  Mutter  Sie  einmal  besucht?  —  Zeugin:  Ja. 
Wie  sie  gekommen  ist,  hat  mich  die  Frau  Riehl  rasch  in  mein 
2immer  binaufgeschickt,   ich  soll  mich   als  Stubenmädel  anziehen. 


32  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Eonaorten  in  Wien. 

Meiner  Mutter  ist  nnten  inzwischen  unwohl  geworden.  Wie  ihr 
wieder  besser  geworden  ist,  war  ich  schon  unten  bei  ihr  als  Stuben- 
mädel. —  Fr&s. :  Hat  Ihnen  Frau  Riehl  bei  den  Ausgängen  Schmuck 
gegeben?  —  Zeugin:  Ja.  —  Präs.:  Da  hätten  Sie  doch  davonlaufen 
können?  —  Zeugin:  Nein,  denn  dann  hätte  sie  mich  wegen  Dieb- 
stahl angezeigt. 

Frau  Riehl  gibt  an,  daß  die  Zeugin  und  deren  Mutter  gewußt 
haben,  was  sie  für  ein  Haus  unterhalte.  Die  Mutter  habe  sogar 
Geld  von  ihr  erhalten.  —  Zeugin  (erregt):  Aber  nichteinen  Heller! 
Meine  Mutter  hat  gar  nichts  gewußt  I  Sowie  die  Mutter  gekommen 
ist;  hat  Frau  Siehl  Champagner  einkaufen  lassen,  aber  die  Mutter 
hat  ihn  um  die  Erd'  g'haut.  Und  als  mein  Vater  gestorben  ist 
(weinend),  da  hab'  ich  vier  oder  ftlnf  Tage  gar  nichts  davon  ge- 
wußt, weil  sie  mir  die  Briefe  vorenthalten  hat.  —  Frau  Biehl  be- 
zeichnet diese  Angaben  wiederum  als  erlogen. 

Die  Zeugin  Anna  D.  wurde  als  Dienstmädchen  aufgenommen. 
Als  sie  zum  Schluß  einen  Lohnrest  von  4  Gulden  haben  wollte,  er- 
hielt sie  von  Frau  Riehl  Schläge  und  wurde  hinausgeworfen.  Sie 
gibt  an,  daß  einmal  ein  Mädchen  von  Frau  Riehl  und  der  Haus- 
besorgerin auf  den  Eellerstufen  mit  einem  Pracker  geschlagen  wurde. 
—  Frau  Riehl  entsinnt  sich  dieser  Prfigelei  nicht.  Sie  erklärt,  die 
Zeugin  sei  ihr  aufsässig,  weil  sie  ihr  ein  paar  Mädchen  gebracht 
habe,  und  nicht  daftlr  bezahlt  worden  sei. 

Die  Zeugin  Franziska  H.  war  drei  Jahre  lang  bei  Frau  Riehl. 
Sie  wurde  stets  von  Frau  Riehl  sehr  gut  behandelt  und  erhielt,  als 
sie  wegging,  einen  Korb  mit  Wäsche  und  Kleidern  und  15  Gulden. 
Ihre  Mutter  war  mit  ihrem  Aufenthalt  bei  Frau  Riehl  einverstanden. 

Frau  Riehl  erklärt  auf  Befragen  des  Verteidigers  Dr.  Hofmokl: 
Wieviel  Geld  die  Eltern  der  H.  von  mir  erhalten  haben,  weiß  ich 
nicht,  aber  sie  sind  sehr  fleißig  einkassieren  gekommen. 

Zeugin  Pauline  T.  war  unter  dem  Namen  „Marianne^  f&nf 
Jahre  im  Hause  der  Riehl. 

Präs.:  Wie  alt  waren  Sie,  als  Sie  eintraten?  —  Zeugin:  Sieb- 
zehn Jahre.  Ich  war  aber  früher  bei  einer  andern  Frau  und  bin 
durch  einen  Herrn  zur  Frau  Riehl  gekommen.  —  Präs.:  Haben  Sie 
denn  sofort  von  der  Polizei  ein  Buch  bekommen?  —  Zeugin:  Die 
frühere  Frau,  Openauer,  richtete  mich  ab,  bei  der  Polizei  zu  sagen, 
daß  meine  Eltern  gestorben  sind.  —  Präs.:  Das  war  aber  eine  Lüge? 
Waren  Sie  bei  der  Riehl  zufrieden  ?  —  Zeugin :  Ja. 

Die  Zeugin  erzählt,  daß  es  mit  dem  Einsperren  der  Mädchen 
seine  Richtigkeit  habe;  aus  der  „Kaserne^  durfte  niemand  ohne  Er- 


I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Eonsorten  in  Wien.  33 

laubnis  und  die  Kleider  waren  in  Verwahrung  der  Frau.  —  Präs.: 
Haben  Sie  Briefe  an  Ihre  Eltern  gesebrieben?  —  Zeugin:  Nein, 
die  Mutter  ist  immer  selbst  gekommen. 

Präs.:  Hat  sie  etwas  erbalten ?  —  Zeugin:  Jeden  Monat  bat  die 
Mutter  zebn  Gulden  erbalten.  —  Präs.:  Und  Sie?  —  Zeugin:  leb 
habe  nicbts  bekommen.  —  Präs.:  Was  hatten  Sie  denn  ausgemacht? 

Die  Zeugin  erzählt  nun,  daß  sie  plötzlich  „ausgehoben''  wurde, 
und  beim  Landesgericht  habe  sie  mit  der  Riehl  ausgemacht,  daß  sie 
im  ganzen  60  fl.  erhalte.  Der  Vater  der  Riehl  habe  ihr  aber  nur 
40  fl.  gegeben.  —  Präs.:  Wieviel  haben  Sie  verdient?  —  Zeugin: 
Ziemlich  viel.  —  Präs.:  Sie  hätten  also  für  flinf  Jahre  60  fl.  be* 
kommen  sollen  und  von  diesen  wurden  Ihnen  noch  20  fl.  abgezogen. 
Wie  war's  mit  dem  Strumpf-  und  Zimmergeld?  —  Zeugin:  Das 
haben  die  Riehl  und  die  Pollak  einkassiert.  — Präs.:  Ist  Ihnen  von 
Mißhandlungen  der  Mädchen  etwas  bekannt?  — Zeugin:  Dann  und 
wann  ist's  vorgekommen.  —  Präs.:  Wissen  Sie  etwas  von  einer 
Operation  an  der  Erna?  — Zeugin:  Nein.  Sie  hat  mir  aber  selbst 
erzählt,  daß  sie  nicht  mehr  unversehrt  war,  als  sie  hinkam.  — 
Präs.:  Das  wurde  ihr  nämlich  anbefohlen. 

Angeklagte  Riehl:  Nicht  alles,  was  die  Zeugin  sagt,  ist  wahr. 
Sie  war  schon  anderthalb  Jahre  fort  von  mir  und  ist  wieder  ge- 
kommen. Ihren  Eltern  habe  ich  mehr  als  10  Gulden  monatlich  ge- 
geben, ich  habe  oft  den  Zins  hergegeben,  auch  wurden  f&r  Ver- 
gnflgungen  Ausgaben  verrechnet.  Sie  (die  Zeugin)  war  nicht  eines 
der  schlechtesten  Mädchen;  sie  hatte  aber  die  Gewohnheit,  zu 
kokettieren,  was  ich  nicht  dulden  wollte. 

Präs.:  Nun,  bei  Ihrem  Geschäft  ist  das  Kokettieren  gerade  nicht 
das  Schlechteste  gewesen.    (Heiterkeit.) 

Die  Riehl  gibt  weiter  an,  daß  sie  den  Eltern  der  Zeugin  jeden 
Monat  Geld  schickte.  —  Zeugin  (gemessen):  Gnädige  Frau,  ich  habe 
Ihnen  immer  gesagt,  daß  Sie  den  Eltern  nichts  schicken  sollen. 

Landesgerichtsrat  Dr.  Spitzkopf  (zur  Zeugin):  Das  Geld  ist  gegen 
Ihren  Willen  an  die  Eltern  geschickt  worden?  —  Zeugin:  Ja.  — 
Dr.  Spitzkopf:  Warum  wollten  Sie  das  nicht?  —  Zeugin:  Ich  habe 
einen  Skandal  mit  der  Mutter  gehabt.  —  Verteidiger  Dr.  Hofmokl: 
Sollte  dieses  Geld  fllr  die  Eltern  sein  oder  fQr  die  Tochter  angelegt 
werden?  —  Frau  Riehl:  Ich  habe  dem  Vater  zebn  oder  fünfzehn 
Golden  geschickt,  wenn  er  es  für  Zins  oder  sonst  gebraucht  hat. 

Präs.:  Frau  Riehl!  Diese  Aussagen  werden  sich  im  Laufe  des 
heutigen  Verbörs  noch  widerholen.  Es  erscheint  allmählich  als  ein 
gewisses  System,  daß  die  Eltern  bezahlt  wurden,  damit  sie  zur  Riehl 

litUr  fOr  Kri]nfaiabuitlLn>polagi&   27.  Bd.  3 


34  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Eonsorten  in  Wien. 

hielten.  Die  Mädchen  waren  damit  auf  zwei  Seiten  eiDgesohlossen. 
Auf  der  einen  Seite  gab  sich  Frau  Riehl  den  Anschein,  daß  sie  Aber 
die  Behörde  verfflge,  auf  der  anderen  Seite  hatte  sie  die  Eltern  flir 
sich;  —  damit  waren  die  Mädchen  geliefert. 

Staatsanwalt  (zur  Zeugin):  Wußten  Sie,  daß  Ihre  Eltern  von 
der  Riehl  Geld  erhielten?  —  Zeugin:  Nein.  —  Staatsanwalt:  Ich 
erkläre,  daß  die  Verfolgung  der  Eltern  dieser  Zeugin  eingeleitet  wird. 

Präs.  (zur  Zeugin):  Ist  es  vorgekommen,  daß  ein  Mädchen  miß- 
handelt wurde,  weil  es  durchgehen  wollte?  —  Zeugin:  Aus  diesem 
Grunde  wurden  sie  nicht  geschlagen,  nur  wenn  sie  mit  der  Madame 
frech  waren. 

Philomena  J.  war  unter  dem  Namen  „Elsa^  während  drei  Monaten 
im  Hause  Riehl. 

Präs.:  Durch  welche  Vermittlung  kamen  Sie  in  das  Haus?  — 
Zeugin:  Zwei  Männer  haben  mich  dorthin  gebracht.  —  Präs.: 
Können  Sie  uns  die  Namen  dieser  zwei  Männer  nennen?  —  Zeugin: 
Dereine  war  der  „g'flickte  Schani",  den  zweiten  kenne  ich  nicht.  — 
Präs.:  Wissen  Sie  auch,  was  die  HeiTen  für  diese  Leistungen  er- 
hielten? —  Zeuge:  Der  „geflickte  Schani"  hat  mir  gesagt,  daß  er 
fünf  Gulden  bekommen  hat.  —  Präs.:  Wer  hat  Sie  bei  der  Polizei 
angemeldet?  —  Zeugin:  Die  Frau  Riehl.  —  Präs.:  Hatten  Sie  die 
Zustimmung  Ihrer  Eltern?  —  Zeugin:  Nein.  Meine  Mutter  hat 
nicht  gewußt,  daß  ich  bei  diesem  Leben  bin.  —  Präs.:  Warum  haben 
Sie  die  Polizei  angelogen?  —  Zeugin:  Die  Frau  Riehl  hat  es  mir 
aufgetragen. 

Dr.  Rabenlechner  (zur  Zeugin):  Haben  Sie  viel  verdient?  — 
Zeugin  (zögernd):  Wenn  viel  Herrenbesuche  kamen,  habe  ich  viel 
verdient.  —  Dr.  Hofmokl:  Bitte,   Geschäftsgeheimnis.     (Heiterkeit.) 

Die  Zeugin  berichtet  über  ihre  jFlucht.  Nachdem  sie  häufig 
Schläge  erdulden  mußten,  beschlossen  drei  Mädchen,  zu  fliehen.  Sie 
entliefen  in  den  Rosakleidern,  die  sie  abends  im  Salon  trugen.  Die 
Zeugin  bestach  den  Portier  mit  einem  Gulden,  dem  „Strumpfgeld**, 
das  sie  auch  im  Strumpf  verborgen  hielt.  Damals  wurde  noch  nicht 
so  gründlich  visitiert;  erst  durch  diesen  Fluchtplan  kam  die  Riehl 
auf  die  Idee,  auch  in  den  Strümpfen  der  Mädchen  nach  Geld  zu 
suchen.  Die  Mädchen  flohen  zuerst  in  die  Sterngasse,  gingen  aber 
dann  in  die  Wohnung  der  Pollak  in  die  Novaragasse. 

Präs.:  Das  war  das  Richtigste.    (Heiterkeit.) 

Zeugin :  Die  Pollak  versprach,  den  drei  Flüchtigen  eine  Unter- 
kunft zu  verschafl'en,  verständigte  aber  die  Frau  Riehl,  und  diese 
kam  bald  darauf  im  Einspänner  vorgefahren  und  nahm  die  Mädchen 


I.  Der  Prozeß  Riebl  und  Konsorten  in  Wien.  35 

mit.  Sie  spie  der  „Steffi"  ios  Gesicht,  beschimpfte  und  schlug  die 
anderen  zwei  Mädchen  und  verlangte  ihre  Kleidung.  Im  Hause 
hescbimpfte  sie  sie  wieder,  dann  gab  die  Riehl  jeder  einen  Gulden 
und  sagte  nur:  ^ Jetzt  könnts  zum  Teufel  gehen  1"  Auf  dem  Polizei- 
kommissariat im  9.  Bezirk  hat  ein  Polizeiagent  der  Zeugin  gesagt, 
sie  bekomme  kein  Buch  mehr,  weil  die  Mutter  es  nicht  mehr  dulde. 

Der  Vorsitzende  konstatiert  aus  den  Protokollen,  daß  die  Mutter, 
eine  Häuslerin  in  Böhmen,  von  dem  Lebenswandel  .ihrer  Tochter 
nichts  wußte. 

Die  Zeugin  erzählt,  daß  mehrere  Mädcheo,  die  |es  im  Hause 
Riehl  nicht  aushalten  konnten,  die  Flucht  ergriffen.  Sie  erinnere 
sich  an  die  Flucht  der  Valerie  und  der  Marianne. 

Präs.:  Es  waren  also  nicht  alle  Mädchen  zufrieden?  —  Zeugin: 
Ach  Gott,  die  weggehen  konnten,  gingen  weg. 

Verteidiger  Dr.  Rode  (zur  Zeugin):  Sie  haben  ja,  als  Sie  Ihre 
Flucht  bewerkstelligten,  gewußt,  daß  der  Portier  im  Hause  sich  mit 
Frau  Riehl  überwerfen  habe?  —  Zeugin:  Sonst  hätte  er  den  Gulden 
nicht  angenommen  und  ich  wäre  nicht  hinausgekommen. 

Dr.  Babenlechner:  Es  liegen  Briefe  vor,  die  mit  Ihrem  Ruf- 
namen „Elsa^  unterzeichnet  sind;  darin  ist  von  Quälereien  keine 
Rede,  im  Gegenteile;  ebenso  in  einem  zweiten  Briefe.  Zeugin :  Ich  habe 
nur  einen  Brief  geschrieben.  Der  vorgezeigte  Brief  ist  gar  nicht 
von  mir.  —  Präs.:  Dies  erklärt  sich  daraus,  daß  mehrere  Mädchen 
^Elsa"  hießen.  —  Dr.  Babenlechner:  Wie  hat  man  sich  da  aus- 
gekannt? —  Präs.:  Der  Name  wurde  nicht  gleichzeitig  an  mehrere 
verliehen.  Wenn  eine  wegkam,  wurde  der  freigewordene  Name  auf 
die  Nachfolgerin  übertragen.  Das  Verzeichnis  des  Untersuchungs- 
richters zeigt  je  eine  Else  aus  den  Jahren  1901,  1902  und  1903. 

Die  Zeugin  Anna  F.  ist  21  Jahre  alt.  —  Präs.:  Wie  kamen 
Sie  zur  Riehl?  —  Zeugin:  Durch  eine  Frau.  —  Präs.:  Wie  heißt 
die  Frau?  —  Zeugin  (gleichgültig):  Ich  weiß  es  nicht.  —  Präs.: 
Wie  lange  waren  Sie  im  Hause?  —  Zeugin:  Ich  weiß  es  nicht  be- 
stimmt —  Präs.:  Waren  Sie  auch  im  dritten  Stock  in  der  „Kaserne*', 
untergebracht?  —  Die  Zeugin  schweigt.  —  Präs.:  Nun,  ist  das 
richtig?  —  Zeugin  (zögernd):  Ja. 

Anna  F.  erzählt,  daß  Frau  Riehl  niemals  abrechnete.  Wenn 
die  Zeugin  sich  über  den  Stand  ihres  Kontos  vergewissern  wollte, 
warde  ihr  gesagt,  sie  sei  noch  eine  Menge  schuldig. 

Präs.:  Wurden  Sie  auch  manchmal  geschlagen?  —  Zeugin: 
O  ja,   wenn  ich  keck  war.   —  Präs.:    Sie  scheinen  aber  sonst  mit 

3* 


86  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

der  Behandlung   im  Hause  zufrieden  gewesen   zu  sein.  —  Zeugin 
(gleichmütig):  0  ja! 

Zeugin  Aloisia  S.  war  nnter  dem  Namen  Marianne  im  Hause 
der  Riehl.  Als  der  Vormund  davon  erfuhr,  wollte  er  ihr  das  Bneh 
entziehen  lassen.  Sie  blieb  deshalb  vierzehn  Tage  lang  unangemeldet 
bei  der  Biehl.  Diese  sagte  ihr,  sie  solle  beim  Kommissär  angeben, 
ihr  Vormund  sei  unbekannten  Aufenthaltes  und  ihre  Mutter  sei 
gestorben. 

Präs.:  Ihre  Mutter  lebt  aber  noeh?  —  Zeugin:  Jawohl,  —  Ver- 
teidiger Dr.  PoUaczek:  Hat  denn  die  Polizei  Ihre  Angaben  nicht 
kontrolliert?  —  Zeugin:  Ja,  aber  das  hat  eben  vierzehn  Tage  ge- 
dauert. 

Sie  erzählt,  daß  sie  sich  einmal  weigerte,  einem  Herrn,  der 
Ungewöhnliches  von  ihr  verlangte,  zu  Willen  zu  sein. 

Präs.:  Damals  wollte  die  Biehl  Sie  hinauswerfen?  —  Zeugin: 
Ja.  Mit  zerrissenen  Schuhen,  im  Unterrock  und  ohne  Kopfbedeckung. 
Ich  bat  sie,  zu  gestatten,  daß  ich  meiner  Mutter  durch  das  Dienst- 
personal einen  Zettel  schicke,  in  dem  ich  die  Mutter  um  Kleidung 
bat.    Die  Biehl  verbot  aber  ihren  Bediensteten,   mit  mir  zu  reden. 

Präs.:  Damals  faßten  Sie  den  Entschluß,  durchzugehen?  — 
Zeugin:  Ja.  Aber  von  der  Biehl  konnte  man  nicht  anders  durch- 
gehen als  nackt.  Ich  glaube,  daß  die  Gefangenen  hier  mehr  Frei- 
heit haben  als  die  Mädchen  im  Hause  der  Biehl.  Präs.:  Sind  Sie 
auch  geschlagen  worden?  —  Zeugin:  Nein.  Einmal  wollte  die  Biehl 
mich  prügeln;  das  war  damals,  als  ich  jenen  Herrn  zurückwies. 
Aber  ich  erwischte  eine  Siphonflasche,  die  gerade  auf  dem  Eiskasten 
stand,  und  spritzte  sie  damit  an,  sodaß  sie  davonlief. 

Präs.:  Schließlich  gelang  es  Ihnen  doch,  durchzubrennen?  — 
Zeugin:  Ich  wurde  einmal  für  ein  erkranktes  Mädchen  zu  dem  Arzt 
geschickt.  Man  gab  mir  drei  Gulden  mit.  Nach  ein  paar  Minuten 
schickte  mir  die  Biehl  ihre  Wirtschafterin  nach,  ließ  mir  die  drei 
Gulden  wieder  abnehmen  und  mir  sagen,  ich  möge  gleich  nach 
Hause  kommen.  Ich  aber  dachte  mir,  jetzt  bin  ich  schon  aus  ihrem 
Bereich,  jetzt  kehre  ich  nicht  mehr  zurück.  So  lief  ich  davon  — 
mit  sieben  Kreuzern  in  der  Tasche. 

Präs.:  Frau  Biehl,  was  antworten.  Sie  auf  die  Aussagen  der 
Zeugin?  —  Angekl. :  Es  ist  alles  vom  Anfang  bis  zum  Eode  er- 
logen. —  Verteidiger  Dr.  Pollaczek  (zur  Zeugin):  Haben  Sie  auch 
Mißhandlungen  von  Mädchen  mitangesehen?  —  Zeugin:  Ja.  Einmal 
hat  Frau  Biehl  einer  einen  Zündstein  nachgeworfen.  Die  Arme  war 
tagelang  nachher  an  der  Hüfte  geschwollen. 


I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  in  Wien.  87 

Die  Zeugin  Marie  St.  war  drei  Wochen  im  Hanse  Riebl.  Sie 
best&tigt,  daß  die  Mädchen  eingesperrt  wurden.  Sie  selbst  ist  von 
dort  nur  losgekommen,  weil  sie  anläßlich  einer  polizeilichen  Vor- 
ladung sagte,  der  Kommissär  habe  ihr  das  Buch  abgenommen.  Die 
Riebl  habe  ihr  dann  die  Kleider  nicht  ansgefolgt.  Einmal  sei  ein 
Mädehen,  als  der  Arzt  erschien,  von  der  Riehl  auf  dem  Boden  ver- 
steckt  worden. 

Angeklagte  Riehl:  Herr  Hofrat,  dieses  Mädchen,  an  das  ich 
mich  gar  nicht  erinnern  kann,  weiß  mehr  anzugeben,  als  Mädchen, 
die  jahrelang  bei  mir  waren! 

Die  Zeugin  Marie  S.  war  ebenfalls  nur  drei  Wochen  bei  der 
Riehl.  Sie  erzählt,  daß  acht  Mädchen  in  einem  kleinen  Raum 
schlafen  mußten. 

Präs.:  Der  Raum  faßte  nach  den  Erhebungen  76  Kubikmeter 
Luft,  also  kommen  etwas  mehr  als  9  Kubikmeter  auf  jede  Person. 
Im  Landesgericht  kommen  auf  jeden  Sträfling  in  den  Zellen  18  bis 
20  Kubikmeter  Luft,   also  um  die  Hälfte  mehr  wie  bei  der  Riehl. 

Dr.  Pollaczek:  Und  so  was  nennt  man  ein  Freudenhaus  I  (Heiterkeit.) 

Die  Zeugin  erklärt  weiter,  daß  sie  nur  mit  dem  Hunde  der 
Frau  Riehl  ausgehen  durfte,  damit  er  an  die  Luft  geführt  werde. 
„Der  Hund  hat  es  besser  gehabt  als  die  Mädchen.'^ 

Die  Zeugin  Marie  0.  ist  im  Alter  von  siebzehn  Jahren  durch 
eine  andere  Frau  zur  Riehl  gekommen.  Sie  hat  sie  beredet,  bei 
der  Polizei  anzugeben,  daß  sie  (Zeugin)  von  ihren  Eltern  nichts 
wisse  nnd  schon  seit  Jahren  von  ihnen  nichts  gehört  habe.  Auf 
diese  Weise  habe  sie  „das  Buch^  erhalten.  Über  die  Einsperrung 
im  Zimmer  haben  sich  die  Mädchen  nicht  beschwert,  da  sie  sich  vor 
der  Riehl  fürchteten. 

Präs.:  Sind  Sie  geschlagen  worden?  —  Zeugin:  Einmal  erhielt 
ich  eine  Ohrfeige,  weil  ich  einen  Rausch  gehabt  habe.  Ich  habe 
aber  mit  dem  Herrn  Champagner  trinken  müssen.  —  Präs.:  Müssen? 
Sie  haben  ihn  aneifern  sollen.  —  Dr.  Rabenleohner:  Mein  Gott,  wir 
wissen  ja,  wie  es  in  solchen  Häusern  zugeht  I  (Heiterkeit.) 

Präs.:  Ist  es  richtig,  daß  Sie  geschlagen  wurden,  wenn  Sie 
gewisse  Anforderungen  gewisser  Herren  nicht  erflillen  wollten? 

Zeugin :  Die  Riehl  und  die  Irma  haben  mich  zusammen  geschimpft, 
weil  ich  mich  weigerte.  Die  Zeugin  erklärt,  daß  sie  das  Haus  ver- 
ließ, als  sie  endlich  von  ihrem  Vater  übernommen  wurde. 

Der  Hausbesorger  Johann  Hruby  war  zweimal  als  Portier 
im  Hanse  Riehl  bedienstet.  Er  wird  auf  Antrag  des  Verteidigers 
Dt.  Rabenlecbner   beeidet.    Das  erstemal  wurde  er  im  Jahre  1901 


38  I.  Der  Prozeß  Blebl  und  Konsorten  in  Wien. 

von  der  Frau  Riehl  in  den  Dienst  genommen.  —  Präs.:  Sie  haben 
damals  mit  der  Riehl  einen  schriftlichen  Vertrag  geschlossen.?  — 
Zeuge:  Jawohl.  —  Präs.:  Haben  Sie  eine  Bezahlung  bekommen?  — 
Zeuge:  Nein.  Ich  hatte  nur  Wohnung  und  Kost.  Meine  Frau  mußte 
für  das  ganze  Pensionat  Riehl  die  Küche  ftlhren. 

Präs.:  Konnten  die  Mädchen  aus-  und  eingehen,  und  hatten  Sie 
in  dieser  Beziehung  bestimmte  Weisungen  erhalten?  —  Zeuge:  loh 
hatte  den  Auftrag,  kein  Mädchen  ohne  Begleitung  fortgehen  zu 
lassen.  — Präs.:  Was  hatten  Sie  unter  der  Begleitung  zu  verstehen?  — 
Zeuge:  Frau  Riehl  und  Frau  Pollak.  —  Präs.:  Und  was  wäre  ge- 
schehen, wenn  Sie  den  Auftrag  der  Frau  Riehl  nicht  befolgt  hätten  ?  — 
Zeuge:  Sie  sagte  mir,  daß  sie  mich  dann  hinauswerfen  würde. 

Präs. :  Wie  wurde  es  denn  im  Salon  bekannt,  wenn  nachts  ein 
Männerbesuch  kam?  —  Zeuge:  Die  Hausglocke  stand  auch  mit  einer 
Glocke  im  ersten  Stock  in  Verbindung.  Wenn  unten  geläutet  wurde, 
ertönte  oben  ein  Alarmsignal.  —  Präs. :  Wer  hat  denn  oben  Wache 
gehalten,  damit  die  Mädchen  nicht  durchgehen? —  Zeuge:  Solange 
die  Riehl  schlief  hat  eine  'der  Damen  das  Geschäft  besorgt.  — 
Präs.:  Wie  war  es  denn  an  Sonntagnachmittagen?  —  Zeuge:  Die 
Mädchen  wurden  da  in  den  Garten  eingelassen,  doch  mußte  ich 
vorher  das  große  Tor  schließen.  —  Präs.:  Also  ganz  gefilngnisartigl 
Wissen  Sie,  Herr  Zeuge,  ob  im  Salon  oben  viel  ohampagnisiert 
wurde?  —  Zeuge:  Um  solche  Kleinigkeiten  habe  ich  mich  nicht 
gekümmert.  —  Präs.:  Warum  sind  Sie  das  erstemal  von  der  Riehl 
entlassen  worden?  —  Zeuge:  Weil  sie  einmal  im  Salon  Schmutz 
fand  und  sagte,  daß  ich  nachlässig  sei. 

Präs.:  Haben  Sie  viel  verdient?  —  Zeuge :  Ziemlich.  —  Präs.:  Wie 
viel  denn  ungefähr  im  Monat?  —  Zeuge:  100  Gulden.  —  Präs.:  Das 
ist  wohl  sehr  respektabel.  Da  kann  man  einen  Schluß  daraus  ziehen, 
wie  die  Einkünfte  oben  gewesen  sind;  denn  die  Herren  werden  wohl 
mehr  Wert  darauf  gelegt  haben,  oben  nobel  zu  sein.    (Heiterkeit.) 

Der  Vorsitzende  befragt  den  Zeugen,  ob  die  Mädchen  bei  ihren 
Ausfahrten  Männer  mitgebracht  haben?  —  Zeuge:  Männer,  bitt'  Sie, 
Männer  sind  immer  gekommen.  (Heiterkeit.)  —  Präs.  (eindringlieh): 
Können  Sie  behaupten,  daß  die  Pollak  darauf  Einfluß  genommen 
hat,  daß  die  Mädchen  gefangen  gehalten  werden?  —  Zeuge:  Aber, 
das  war  ja  die  Hauptmacherin.  —  Angekl.  (schreit  auf):  Gott  im 
Himmel I  .  .  .  schrecklich! 

Frau  Hruby  bestätigt  im  wesentlichen  die  Angaben  ihres  Gatten. 
Sie  sagt  aus,  daß  die  Pollak  öfters  die  Aufgabe  hatte,  die  Mädchen 
vor  ihren  Anverwandten  zu  verleugnen. 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  39 

Präs.:  Und  wenn  eine  ans  dem  Hause  hätte  fortgehen  wollen, 
h&ite  dies  die  Pollak  zugelassen  ?  —  Zeugin  (mit  stark  böhmisohem 
Akzent) :  O,  die  Pollak  hat's  niemanden  fnrtlassen.  Der  is  kane 
ausknmmen !  (Heiterkeit.) 

Frau  Hruby  war  auch  zweimal  Zeugin  von  Mißhandlungen  von 
M&dcben.  —  Präs.:  Sind  Sie  selbst  auch  mißhandelt  worden?  — 
Zeugin :  Ja.  Einmal  hat  mir  die  Riehl  das  Fleisch,  das  die  Köchin 
zu  spät  gebracht  hat,  und  einmal  gar  ein  gebratenes  Hendel  an  den 
Kopf  geworfen.  —  Frau  Riehl  bestreitet  die  Mißbandlungen  der 
Mädchen. 

Marie  Christ  springt  erregt  auf  und  schreit:  Ja,  einmal  hat  sie 
mich  furchtbar  geprügelt,  als  ich  fortlaufen  wollte,  und  einmal  hat 
sie  mir  das  ganze  Gesicht  zerkratzt. 

Verteidiger  Dr.  Rabenlechner :  Wir  haben  jetzt  zwei  Tage  lang 
schauderhafte  Details  über  die  Mißwirtschaft  im  Hause  Riehl  gehört. 
Ich  muß  deshalb  nachdrücklich  darauf  hinweisen,  daß  Frau  Riehl 
doch  ein  polizeilich  toleriertes  Haus  besaß  und  daß  die  Polizei 
acht  Jahre  lang  nicht  nur  Gelegenheit  hatte,  sondern  sie  auch  be- 
nfitzte, durch  Revisionen,  die  ihr  pflichtgemäß  oblagen,  sich  von  den 
wahren  Zuständen  im  Hause  zu  überzeugen.  Diese  Revisionen 
wurden  vorgenommen,  und  von  der  Polizei  wurde  Frau  Riehl  in 
dieser  langen  Zeit  nicht  ein  einziges  Mal  beanstandet.  Wir  müssen 
das  feststellen,  denn  wir  sind  alle  zur  Feststellung  der  Wahrheit 
verpflichtet.  Es  kamen  niedere  und  es  kamen  höhere  Polizeibeamte 
ins  Haus,  sie  verkehrten  mit  Frau  Riehl  und  auch  mit  ihren 
Pensionärinnen  und  nie  wurde  Frau  Riehl  bemängelt  oder  polizeilich 
beanstandet  Es  ist  Pflicht  der  Verteidigung,  durch  den  Antrag  auf 
Einvernahme  dieser  Polizeiorgane  Klarheit  darüber  zu  schaffen,  ob 
Frau  Riehl —  diese  Frage  ist  wichtig  für  ihr  subjektives  Verschulden  — 
nicht  vollkommen  bona  fide  gehandelt,  und  ob  sie  nicht  die  be- 
ruhigende Überzeugung  haben  konnte,  daß  sie  in  Harmonie  mit  den 
gesetzlichen  Vorschriften  vorgehe« 

Ich  beantrage  daher  die  Vorladung  jener  Polizeiorgane  vom 
Kommissariat  Aisergrund  sowie  auch  von  der  Polizeidirektion,  denen 
diese  Revisionen  oblagen.  Einzuvernehmen  sind  danach:  Polizei- 
agenten-Oberinspektor Oberhuber,  Polizeiagenten-Inspektor  Piß,  — 
der  speziell  über  das  Verhalten  der  Mädchen  sowie  über  ihr  Leben 
im  Riehlsohen  Hause  zu  deponieren  in  der  Lage  ist  — ,  ferner 
Polizeikommissär  Zdrubek,  der  mit  der  Überwachung  der  Revisionen 
beauftragt  war,  und  der  Chefarzt  kais.  Rat  Dr.  Merta.  Der 
Aegierungsrat  Dr.  Witlacil  ist  leider  schon  gestorben.    Diese  Herren 


40  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsoiten  in  Wien. 

haben  sämtlich  auch  bei  jener  Kommission  fungiert,  die  die  Ab- 
sperrangsraaßregeln  im  Riehlschen  Hause  intendierte.  Zur  Ein- 
vernahme des  betreffenden  Referenten  vom  Polizeikommissariat  Aiser- 
grund  beantrage  ich  ferner,  daß  er  beauftragt  werden  möge,  die 
Yorfindbaren  Akten  über  den  Fall  vorzulegen,  aus  denen  sich  er- 
geben wird,  daß  alles  in  bester  Ordnung  und  den  gesetzlichen  Be- 
stimmungen entsprechend  befunden,  ja  daß  sogar  der  Zufriedenheit 
tlber  die  vorgefundene  Ordnung  im  Hause  Riehl  gegenüber  der  Be- 
sitzerin Ausdruck  gegeben  wurde.  Wenn  nun  also  der  Frau  Riehl, 
ich  will  nicht  sagen,  der  Zoll  der  Anerkennung,  aber  doch 
mindestens  die  offizielle  Zufriedenheit  der  kompetenten  Faktoren 
ausgesprochen  wurde,  so  mußte  für  sie  ein  Gefühl  der  beruhigenden 
Überzeugung  von  ihrer  Schuldlosigkeit  entstehen. 

Da  meiner  Klientin  auch  vorgeworfen  wurde,  in  mehreren 
Fällen  Mädchen  ohne  die  vorgeschriebenen  Dokumente  ihrem  Ge- 
werbe zugeführt  zu  haben,  bitte  ich  auch  um  die  Vorladung  der 
Arzte  Dr.  Husserl  und  Dr.  Waldmann,  (Präs. :  Dr.  Husserl  ist  ohne- 
dies vorgeladen),  die  insbesondere  auch  über  jene  horrenden  Ge- 
schichten von  den  vertuschten  Erkrankungen  Klarheit  zu  schaffen 
haben  werden.  Ich  bitte,  meinen  Anträgen  gerade  in  diesem  Mo- 
ment stattzugeben,  damit  das  Bild  der  Zustände  im  Hause  Riehl 
sofort  nach  dieser  Richtung  vervollständigt  werde. 

Der  Staatsanwalt  überläßt  die  Entscheidung  über  die  Relevanz 
der  beantragten  Zeugen  dem  Gerichtshofe. 

Der  Vorsitzende  erklärt,  daß  die  Vorladung  für  heute  nicht 
möglich  sei,  weil  das  Programm  schon  feststeht. 

Zeugin  Alb  ine  K.  war  Stubenmädchen  bei  Frau  Riehl.  Frau 
Riehl  habe  ihr  den  Auftrag  gegeben,  Briefe,  die  von  den  Mädchen 
abgesendet  wurden,  nicht  herauszugeben,  sondern  zunächst  ihr  zu 
zeigen;  ebenso  mußten  ankommende  Briefe  ihr  übergeben  werden.  — 
Präs.:  Mit  einem  Mädchen,  das  „die  Brünnerin'^  genannt  wurde,  soll 
sich  einmal  eine  rohe  Szene  abgespielt  haben.  —  Zeugin:  Das  Mäd- 
chen kam  einmal  weinend  aufs  Zimmer,  und  als  ich  sie  fragte,  was 
geschehen  sei,  erzählte  sie,  ein  Herr  habe  von  ihr  etwas  Widerliches 
verlangt.  Als  sie  sich  weigerte,  sei  Frau  Riehl,  die  an  der  Tür  ge- 
horcht habe,  hereingekommen  und  habe  sie  mit  den  Worten :  „Du 
H  .  . . ,  glaubst  du,  daß  ich  dir  umsonst  Fressen  und  Unterstand 
gebe?"  gezwungen,  dem  Herrn  zu  Willen  zu  sein.  —  Frau  Riehl 
stellt  den  ganzen  Vorfall  in  Abrede. 

Zeugin  Anna  Ch.  war  fünf  Tage  im  Spital,  konnte  aber  von 
4ort   nicht  von  Frau  Riehl   freikommen,   da   diese  vor  ihrer  Ent- 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  41 

lassaog  dem  Arzt  und  der  Wärterin  telephoniert  hatte,  das  Mädchen 

solle  nur   ihr  übergeben  werden,  da  sie  es  hingebracht  habe.    Das 

Mädchen  wurde  dann  von  Frau  PoUak  abgeholt.  Zn  Hanse  erklärte 

die  Zeugin  der  Frau  Riehl,  daß  sie  weggehen  wolle.    Unter  wüsten 

Sehimpfworten  nahm  ihr  darauf  Frau  Riehl  sämtliche  Kleider  weg. 

Nur  mit  einem  Rock  und  einer  Bluse  bekleidet  konnte  die  Zeugin 

trotzdem  aus  dem  Hause  laufen.   Sie  eilte  auf  das  Kommissariat  im 

9.  Bezirk,  maehte  dort  die  Anzeige,  daß  ihr  Frau  Riehl  die  Kleider 

Yorenihalte  und  schilderte  den  ganzen  Vorfall.    Der  Beamte,  an  den 

sie  gewiesen  war,  sagte  ihr  nur:   „Na,  machen  Sie  sich  nix  d'raus 

und  suchen    Sie   sich   einen   anderen   Erwerb  1^   worauf  er  ihr  ein 

Dienstbotenbucb  gab.  —  Frau  Riehl  will  sich  an  nichts  erinnern. 

Josef  ine  T.  wurde  als  Blumenmädchen  in  einem  Vergnügungs- 
etablissement  mit  Frau  Riehl  bekannt.  Diese  machte  ihr  später  den 
Antrag,  bei  ihr  einzutreten  und  sie  nahm  an.  —  Präs.:  Ist  Ihnen 
etwas  Yon  Mißhandlungen  der  Mädchen  bekannt?  —  Zeugin:  Ich 
bin  einmal  bei  einem  Streit  von  Frau  Riehl  und  mehreren  Mädchen 
so  furchtbar  geschlagen  worden,  daß  ich  mich  nicht  mehr  rühren 
konnte  und  mehrere  Tage  krank  zu  Bette  liegen  mußte.  —  Präs.: 
Sie  sollen  damals  mit  der  Anzeige  bei  der  Polizei  gedroht  haben?  — 
Zeugin:  Ja,  aber  da  ist  die  Frau  Riehl  wieder  sehr  freundlich  ge- 
worden und  ich  habe  keine  Anzeige  gemacht. 

Präs.:  Sie  sollen  dann  noch  ein  zweites  Mal  geschlagen  worden 
sein?  —  Zeugin:  Ja.  Es  war  zwischen  uns  Mädchen  ein  Streit  wegen 
der  Puderschaohtel,  an  dem  ich  aber  fast  gar  nicht  beteiligt  war. 
Auf  einmal  stürzte  Frau  Riehl  ins  Zimmer,  fiel  über  mich  her, 
schlug  mich  und  kratzte  mich  und  warf  mich  dann  aus  dem  Hause 
hinaus.  —  Präs.:  Sie  sollen  gesagt  haben:  „Jetzt  bleibe  ich  nicht 
länger,  jetzt  gehe  ich  und  mache  Anzeige  bei  der  Polizei.^  — 
Zeugin:  Ja.  Darauf  schlug  mich  die  Frau  Riehl  neuerdings,  gab 
mir  mein  Kleid,  in  dem  ich  gekommen  war,  und  warf  mich  hinaus. 
leh  war  ganz  zerschlagen  und  zerkratzt  und  ging  zur  Polizei.  Der 
Polizeikommissär  sagte  damals  einem  Beamten:  „Laden  Sie  mir  so- 
fort die  Riehl  yorl^  Ob  sie  vorgeladen  worden  ist,  weiß  ich  nicht. 
—  Präs.:  Sie  haben  angegeben,  daß  die  Riehl  mit  der  Polizei  sehr 
gut  stand,  daß  Gaste  von  der  Polizei  gekommen  sind,  die  von  Frau 
Biehl  sehr  gut  aufgenommen  wurden.  —  Zeugin:  Es  sind  Polizei- 
agenten gekommen,  die  von  der  Frau  Riehl  sehr  gut  aufgenommen 
wurden  und  denen  sie  auch  mit  Wein  aufgewaHet  hat. 

Dr.  Rabenlechner:  Waren  nur  Polizeiagenten  dort?  —  Zeugin: 
Frau  Riehl  hat  gesagt,  es  seien  Polizeiagenten.  —  Präs.:  Und  was 


42  I.  Der  Prozeß  RieHl  und  Konsorten  in  Wien. 

ist  weiter  gesobehen?  —  Zeugin:  Nach  zwei  Tagen  bin  ich  zu  Frau 
Riehl  gegangen,  um  meine  Wäsche  zu  holen.  Sie  hat  sie  mir  nicht 
gegeben,  sie  ist  sofort  mit  einem  Stock  auf  mich  los  und  bat  mich 
geschlagen ;  mehrere  Mädchen  haben  ebenfalls  auf  mich  losgehauen, 
und  ich  war  froh,  als  ich  wieder  draußen  war.  Als  ich  auf  der 
Straße  war,  hat  jemand  vom  ersten  Stock  aus  einer  Gießkanne 
Wasser  auf  mich  herabgegossen.  —  Präs. :  Haben  Sie  überhaupt  Ihre 
Wäsche  zurückbekommen?  —  Zeugin:  Nein. 

Präs.:  Wieviel  war  Ihre  Wäsche  wert?  —  Zeugin:  Gegen 
100  Kronen.  Ich  hatte  sehr  schöne  Wäsche.  —  Frau  Riehl  stellt 
alles  in  Abrede. 

Verteidiger  Dr.  Rabenlechner  (zur  Zeugin):  Wieviel  haben  Sie 
als  Blumenmädchen  täglich  verdient?  —  Zeugin:  Fünf  Gulden.  — 
Dr.  Rabenlechner:  Dann  werde  ich  auch  Blumenmädchen.  (Heiterkeit.) 

Die  Zeugin  Therese  L.  gibt  an,  die  Riehl  babe  gesagt,  als  sie 
aus  dem  Hause  austreten  wollte:  Du  kannst  schon  gehen,  aber  zu- 
erst gehe  ich  zur  Polizei,  dann  kommst  du  ins  Arbeitshaus  oder  ins 
Kriminal.  —  Präs.:  Sind  Mißhandlungen  von  Mädchen  vorgekommen? 
—  Zeugin:  Die  Lisi  hat  Schläge  bekommen.  Die  Zeugin  erzählt, 
daß  bei  polizeilichen  Revisionen  Mädchen  versteckt  wurden;  auch 
wurden  kranke  Mädchen  vor  dem  Polizeiarzt  verleugnet. 

Es  wird  eine  Reihe  von  ehemaligen  „Pensionärinnen"  des  Sa- 
lons Riehl  vernommen.  Jede  von  ihnen  hat  dieselben  Erfahrungen 
bei  der  Riehl  gemacht. 

Die  Zeugin  Aloisia  St.  ist  ein  auffallend  hübsches,  erst  19jährige8 
Mädchen  von  schlankem  Wuchs.  Sie  hat  im  Hause  der  Riehl  den 
Rufnamen  „Carmen'^  geführt  und  zu  den  Attraktionen  gehört.  Zu- 
geführt wurde  sie  der  Riehl  durch  einen  Mann,  den  sie  im  Kaffee- 
haus kennen  lernte.  Sie  gibt  an,  daß  sie  eingesperrt  gebalten  wurde 
und  nicht  ausgehen  konnte. 

Präs.:  Warum  haben  Sie  sich  das  bieten  lassen?  —  Zeugin: 
loh  mußte  mich  der  Hausordnung  fügen. 

Die  Zeugin  ist,  als  sie  einmal  ins  Spital  kam,  durchgegangen. 

Zeugin:  Ich  war  leider  sehr  häufig  krank.  —  Präs.:  Weshalb 
sind  Sie  aber  wieder  zurückgekommen  zur  Riehl,  da  Sie  doch  ge- 
flohen sind?  —  Zeugin  (aufschluchzend):  Aob,  ich  wollte  mir  ja  eine 
Existenz  gründen.  Aber  es  ging  nur  schlecht.  Ich  konnte  mich 
nicht  aufraffen,  ich  mußte  zurück.  Jetzt  habe  ich  alle  möglichen 
Krankheiten  und  bin  fürs  Leben  unglücklich.    (Bewegung.) 

Auf  Verlangen  des  Verteidigers  Dr.  Rabenlechner  verliest  der 
Vorsitzende  mehrere  Briefe  der  Zeugin  an  die  Riehl,  die  sehr  herz- 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  KonsoAen  in  Wien.  43 

lioh  gehalten  sind.  Sie  beginnen  gewöhnlich  mit  ^Liebste  Tante^ 
und  Bchließen  mit  ^dankbarst^.  —  Dr.  Rabenlechner  (zur  Zeugin): 
Sind  Sie  zu  diesen  Briefen  [auch  gezwangen  worden?  —  Zeugin: 
Ft&u  Pollak  hat  mich  so  beeinflußt. 

Der    28jäbrige    Speditionsarbeiter   Josef   Eolazia    war   im 
Jahre  1903  kurze  Zeit  Portier  im  Hause  Riehl. 

Präs.:  War  das  Tor  immer  versperrt?  ~  Zeuge:  Stimmt.  Alles 
war  zug'sperrt.  D'  Glastür,  's  Haustor,  der  Hof.  I  haV  neamd 
eini-  und  außilassen  dfirfen.  —  Dr.  Rabenlechner:  Da  konnten  ja 
die  Herren  auch  nicht  herein.  — Zeuge  (wurstig):  Das  ist  mir  alles 
eins.  (Heiterkeit.)  Das  war  mein  Auftrag;  is  wer  hinaus,  war  's 
der  Frau  Riehl  nicht  recht,  is  wer  herein,  war  's  der  Frau  Riehl 
net  recht,  (Zornig.)  Der  Frau  war  gar  nichts  recht.  —  Pr&s.:  Wie 
war  Ihr  Verdienst  ?  —  Zeuge :  No,  miserabel.  Es  war  im  Sommer .  . . 
ka  Saigon.  —  Dr.  Rabenlechner:  Keine  Fremden. 

Der  Zeuge  erzählt,  daß  die  Mädchen  eines  Tages  mit  der  Riehl 
Streit  hatten  und  alle  durchgehen  wollten.  Ganz  aufgeregt  sei 
damals  Frau  Riehl  die  Stiege  herabgelaufen  gekommen  und  habe 
ihm  zugeschrieen,  alles  zu  versperren  und  die  Mädchen,  wenn  sie 
hinabkommen,  mit  der  Hundspeitsche  hinaufzupeitschen. 

Präs.  (zur  Riehl):  Was  sagen  Sie  zu  dieser  Aussage?  —  Frau 
Riehl:  Ich  kann  über  den  Mann  nichts  sagen;  er  und  seine  Frau 
waren  ganz  brav.  Aber  er  hat  nicht  den  richtigen  Anstand  gehabt.  — 
Präs.:  Aber  Frau  Riehl,  das  ktimmert  uns  nicht,  uns  interessiert 
vielmehr,  daß  der  Zeuge  sagt,  daß  das  Hans  Riehl  nicht  anständig 
war.  (Heiterkeit.)  —  Zeuge:  Es  war  mit  an  Wort  nit  zum  Aus- 
halten, r  wollt'  dort  bleiben  und  mir  eine  Stelle  für  den  Lebens- 
lauf grtlnden.    Es  war  aber  nix!  (Heiterkeit.) 

Matthias  Eehlendorfer  und  seine  Frau  waren  Hausbe- 
sorger bei  Frau  Riehl.  Sie  bestätigten  beide,  daß  die  Riehl  einmal 
nach  der  Züchtigung  eines  Mädchens,  das  entfliehen  wollte,  gesagt 
hat:  Der  h ab' ich  jetzt  ein  paar  tüchtige  H  ....  watschen  gegeben, 
die  gebt  mir  nicht  mehr  durch. 

Paula  D.  ist  jetzt  20  Jahre  alt.  Mit  16  Jahren  kam  sie  zur 
Riehl.  Einmal  bekam  sie  von  einer  Genossin,  mit  der  sie  das  Bett 
teilen  mußte,  Krätze.  Sie  lag  acht  Tage  zu  Bett  und  wurde 
während  dieser  Zeit  dem  Polizeiarzt  nicht  vorgeführt.  Als  sie  dann 
der  PoHzeiarzt  sah,  sagte  er:  „Das  ist  eine  Schweinerei."  Obwohl 
sie  noch  mit  der  Hantkrankheit  behaftet  war,  mußte  sie  „verdienen^. 
Nach  der  Mittagspause  wird  Aloisia  H.  als  Zeugin  einver- 
nommen, die  unter  dem  Namen  Christel  im  Hause  Riehl  war.    Sie 


44  I.  Der  ProzeB  Ricbl  und  Konsorten  in  Wien. 

wollte  öfters  fortgehen,  erhielt  aber  von  der  Riehl  die  Erlaubnis 
nicht,  weil  sie  Geld  schuldig  sei.  Sie  kam  im  Hanse  Riehl  in 
andere  Umstände,  kam  in  das  Spital  und  wurde  von  dort  durch  die 
Pollak  und  die  Hausbesorgerin  Hölzl  abgeholt  und  sofort  wieder  in 
das  Haus  der  Riehl  gebracht.  —  Präs.:  Haben  Sie  Schläge  be- 
kommen ?  —  Zeugin :  Mehr  als  zu  viel  bin  ich  geschlagen  worden.  — 
Präs.:  Warum?  —  Zeugin:  Weiß  ich  nicht.  Die  Zeugin  gibt  an, 
daß  sie  niemals  Geld  erhielt.  —  Angeklagte  Riehl:  Die  Dame  hat 
von  mir  Wein,  Obst  und  Bäckereien  bekommen,  wie  sie  im  Spital 
gelegen  ist.  Ich  habe, ihr  auch  eine  schöne  Ausstattung  f&r  das 
Kind  gemacht,  sogar  mit  meinem  Namen  und  Monogramm.  (Große 
Heiterkeit.) 

Präs.:  Warum  mit  Ihrem  Namen?  —  Riehl:  Weil  das  Kind 
mein  Täufling  war.  —  Präs.:  Sol  Diese  Vorkehrung  hatte  vielleicht 
eher  den  Zweck,  daß  Sie  die  Wäsche  wieder  wegnehmen  konnten.  — 
Die  Zeugin  gibt  noch  an,  daß  das  Kind  inzwischen  gestorben  ist. 

Die  Zeugin  Marie  L.  kam  aus  dem  Spital  zur  Rieh).  Sie  war 
früher  in  Ungarn.  Nur  kurze  Zeit  war  sie  bei  der  Riehl.  Die 
hatte  die  Zeugin  im  Verdacht,  ein  Komplott  gegen  sie  zu  schmieden. 
Daher  hat  die  Riehl  die  Zeugin  nach  Preßburg  geschickt,  und  zwar 
mußte  der  Bruder  der  Riehl  das  Mädchen  auf  die  Bahn  begleiten, 
die  Fahrkarte  lösen  und  es  in  den  Waggon  bringen.  Vor  der  Ab- 
reise hat  die  Riehl  die  Zengin  durchsucht,  um  Geld  zu  finden,  und 
gab  ihr  dann  eine  Krone  Zehrgeld.  Die  Zeugin  wurde  nicht  ge- 
schlagen, weiß  aber,  daß  andere  Mädchen  geschlagen  wurden. 

Angeklagte  Riehl:  Ich  habe  das  Mädchen  aus  dem  Spital  be- 
kommen und  kein  Glück  mit  ihr  gehabt,  weil  die  Dame  damals 
noch  nicht  so  schön  war,  wie  sie  heute  ist.  Deshalb  hab'  ich  ihr 
den  Rat  gegeben,  nach  Preßburg  zu  einer  Frau  zu  fahren;  die  ist 
eine  Anfängerin  gewesen  und  hat  das  Mädel  noch  brauchen  kgnnen. 
Mein  Bruder  ist  aber  nicht  mitgefahren ;  denn  der  ist  ein  Geschäfts- 
mann.   (Heiterkeit.) 

Die  Zeugin  EmilieN.  ist  18  Jahre  alt  und  gegenwärtig  Arbeiterin. 
Sie  wurde  durch  die  Liga  zur  Bekämpfung  des  Mädchenhandels  einem 
anständigen  Berufe  zugeführt.  Bei  der  Riehl  führte  sie  den  Namen 
„Grete". 

Präs.:  Wie  lange  waren  Sie  bei  der  Riehl?  —  Zeugin:  Nur 
vierzehn  Tage.  Ich  wurde  von  der  Frau  Hübel  hingebracht.  — 
Präs.:  Aber  das  erstemal  wollte  Sie  ja  die  Frau  Riehl  nicht 
nehmen.  —  Zeugin  (sehr  verlegen):  Ja  . . .  ich  bitte,  ich  war  damals 
noch    ganz  ehrbar.    Frau  Riehl   schickte  mich  fort  und  sagte,  ich 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  45 

müßte    vorher    mit    einem    Mann    ein   Liebesverbältnis   anknttpfen. 

Denn  so  gehe   es  nicht.    Ich  kam  dann  wieder  und  sagte,  ich  sei 

Qoeh  immer  ehrbar.    Dann  nahm  sie  mich. 

Präs.:  Wie  alt  waren  Sie,  als  Sie  in  das  Hans  Riehl  kamen?  — 

Zengin:  Sechzehn  Jahre. 

Angeklagte  Riehl :  Aber  ich  bitte,  sie  ist  auch  schon  auf  die 
Straße  gegangen.  —  Zeugin  (laut  weinend):  Das  ist  nicht  wahr,  ich 
war  froher  solid  nnd  bin  es  jetzt  auch.  Ich  dulde  das  nicht,  bitte, 
Herr  Hofrat  ...  —  Riehl  (mit  einer  Handbewegung):  Na,  na.  — 
Prfts.:  Beschimpfen  Sie  die  Zeugin  nicht. 

Die  Zeugin  Rosa  M.,  die  nur  schlecht  Deutsch  spricht,  wird  mit 
Hilfe  eines  tschechischen  Dolmetschers  einvernommen.  —  Zeugin: 
Ich  war  frisch  und  jung  und  bin  bei  der  Riehl  ruiniert  worden.  — 
Prfts.:  Haben  Sie  auch  Schläge  bekommen?  —  Zeugin:  Ja,  einmal, 
weil  ich  noch  nicht  frisiert  war,  als  ein  Herr  kam. 

Der  Vorsitzende  konstatiert,  daß  die  Zeugin,  als  ihre  Schwester 
in  das  Haus  der  Riehl  kam,  als  Dienstbote  gekleidet  wurde,  damit 
die  Schwester  nicht  merke,  welches  Gewerbe  die  M.  ausübe. 

Präs.:  Haben  Sie  bei  Ihrem  Eintritt  gewußt,  in  welches  Haus 
Sie  kommen?  — Zeugin:  Am  ersten  und  zweiten  Tage  nicht.  Die 
Frau,  die  mich  hinbrachte,  sagte  mir,  ich  komme  auf  einen  „guten 
Platz''.    Ich  wurde  auch  zuerst  in  der  Küche  beschäftigt. 

Dr.  Rode:  Erzählen  Sie  doch  von  den  Vorgängen,  als  Sie  ein- 
mal auf  Urlaub  in  Ihre  Heimat  reisen  durften.  —  Zeugin :  Ich  habe 
einmal  sechs  Tage  frei  bekommen  und  bin  nach  Hause  gefahren. 
Bald  darauf  kam  die  Pollak.  Sie  fuhr  zu  mir  nach  Brunn.  — 
Dr.  Rode:  Dort  wurde  die  Pollak  im  Bahnhof  als  Mädchenhändlerin 
verhaftet.  —  Zeugin:  Ja,  aber  sie  wurde  wieder  entlassen.  — 
Dr.  Rode:  Der  Wachmann  hat  sie  aber  gewarnt,  und  ihre  Expedition 
ftr  das  Haus  Riehl  war  vereitelt.  —  Frau  Pollak  (ringt  die  Hände) : 
Nein,  so  was!  Das  ist  ja  nicht  wahr!  —  Frau  Riehl  (schiebt  die 
Pollak  zur  Seite):  Aber  Herr  Hofrat I  Das  Mädel  war  ja  krank,  wie 
sie  zu  mir  kam,  und  war  ja  beim  Geschäft  lange  ehe  sie  zu  mir 
gekommen  ist.  Übrigens  ist  sie  ja  nur  zu  mir  gekommen,  um  Deutseb 
zu  lernen.  —  Dr.  Pollaczek :  Sie  müssen  so  eine  Art  Berlitz-School 
gehabt  haben.  Eine  fremde  Sprache  wurde  allerdings  in  Ihrem 
Hause  für  viele  der  Mädchen  gesprochen.    (Bewegung.) 

Die  Zengin  Elisabeth  Str.,  ein  sehr  hübsches  Mädchen,  ist  gegen- 
wärtig Easaiererin.  Auf  eine  Frage  des  Vorsitzenden  sagt  sie:  loh 
bin  von  meiner  Mutter  an  die  Riehl  um  fünf  Gulden  verkauft 
worden.   —  Präs.:  Ist  es  richtig,   daß  Mädchen  vor  der  ärztlichen 


46  I.  Der  Prozeß  Biebl  und  Konsorten  in  Wien. 

Visite  verborgen  gehalten  wurden?  —  Zeugin:  Ja,  das  ist  riehtig. 
Sie  wurden  im  Speisesalon  verborgen  gehalten.  —  Präs.:  Ist  es 
richtig,  daß  sie  mit  den  Gästen  zechen  mußten?  —  Zeugin:  Ja,  wir 
mußten  Champagner  mit  ihnen  trinken.  Die  anderen  Damen  werden 
es  sagen,  wie  betrunken  ich  oft  war.  Ich  bin  oft  hinausgegangen, 
habe  mich  niederlegen  wollen  mit  meinem  wtlsten  Kopf.  Aber  ich 
wurde  wieder  in  den  Saal  zurückgetrieben.  —  Riehl  (ruft):  Das  ist 
schrecklich!  — Zeugin  (fortfahrend):  Manchmal  bin  ich  eine  Stunde 
in  meinem  Zimmer  gelegen.  Dann  mußte  ich  wieder  in  den  Salon 
hinein.  In  der  Früh'  hat  man  mich  dann  in  die  Kaserne  hinauf- 
geführt, so  weg  war  ich.  —  Dr.  Rode:  Was  ftir  Preise  wurden  den 
Gästen  angerechnet?  —  Zeugin:  Je  nachdem  die  Leute  waren.  Ich 
habe  auch  fünfzig  Gulden  fbr  eine  Flasche  Champagner  verlangt. 
Der  übrig  gebliebene  Wein  wurde  zusammengeschüttet  und  wieder 
verkauft  —  Dr.  Rode:  Guten  Appetit  1 

Die  Zeugin  erzählt  dann,  daß  sie  sich  einmal  von  einem  Herrn 
mit  einer  Peitsche  blutig  schlagen  lassen  mußte.  Sie  wurde  dann 
zu  einem  Arzt  geschickt  und  mußte  abends  wieder  in  den  Salon. 

Zeugin:  Ich  bin  auch  einmal  von  der  Riehl  mit  einem  Messer 
geschlagen  worden.  —  Dr.  Rabenlechner:  Also  ein  Mordversuch; 
fehlen  nur  mehr  die  Einmauernngen. 

Dr.  Rode  fragt  die  Zeugin  nach  den  Besuchen  des  Agenten 
Piß.  —  Zeugin:  Der  Agent  Piß  ist  öfter  hinaufgekommen,  ein-  bis 
zweimal  in  der  Woche.  —  Dr.  Rode:  Was  hat  er  dort  getan?  — 
Zeugin:  Er  ist  zur  Revision  gekommen.  —  Dr.  Rode:  Haben  Sie 
gesehen,  daß  ihm  die  Riehl  Geld  gegeben  hat?  —  Zeugin:  Ja,  sie 
hat  ihm  einmal  etwas  in  die  Hand  gedrückt.  Es  müssen  drei  oder 
vier  Silbergulden  gewesen  sein.  —  Dr.  Rode:  Haben  Sie  auch  ge- 
sehen, daß  er  der  Riehl  gezahlt  hätte?  —  Zeugin:  Niemals.  Er  hat 
sich  unterhalten,  aber  nie  gezahlt. 

Dr.  Rode:  Was  nennen  Sie:  sich  unterhalten?  —  Zeugin:  Er 
hat  dort  Wein  getrunken  und  mit  der  Frau  geplaudert.  —  Dr.  Rode. 
Also  mit  einem  Wort :  Er  hat  die  Revision  durchgeführt,  wie  einer, 
der  die  Revision  nicht  ernst  nimmt* 

Die  nächste  Zeugin  Angela  G.  wollte,  nachdem  sie  einige  Zeit 
bei  der  Riehl  war,  aus  dem  Hause  entlassen  werden.  Die  Riehl 
wollte  dies  nur  unter  der  Bedingung  gestatten,  daß  das  Mädchen 
nach  Budapest  reise,  um  in  ein  ähnliches  Haus  einzutreten.  Sie 
ließ  sich  zum  Bahnhof  bringen,  fuhr  aber  nur  eine  Station  weit  und 
kehrte  dann  nach  Wien  zu  ihren  Verwandten  zurück. 

Elise  L.  ist  durch  die  Hügel  zur  Riehl  gebracht  worden,    Ihr 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  47 

Vater  wußte  nichts  von  diesem  Aufenthalt.  Als  Elise  fort  wollte, 
wurde  sie  von  der  Riehl  an  den  Haaren  gezerrt  und  an  die  Salon- 
tflr  angeschleudert. 

Riehl :  Das  Mädel  hat  nichts  getaugt  loh  hfttte  ihr  erst  Zähne 
machen  lassen  müssen.  (Heiterkeit.)  Eine  andere  Frau  hätte  sie 
gar  nicht  genommen,  weil  sie  keine  Zähne  hatte.  Sie  hat  ja  heute 
noch  keine. 

Votant  L6R.  Spitzkopf^  Warum  schaffen  Sie  sich  solches 
Material  an?  (Heiterkeit.)  —  Präs.:  Frau  Riehl,  Sie  sprechen  hier 
gegen  Ihre  Mädchen  in  einem  scharfen  Tone,  der  auf  vieles  schließen 
läßt.  —  Riehl:  Ich  muß  sagen,  was  wahr  ist. 

Malke  ChajeN.  war  vier  Tage  ohne  Buch  bei  der  Riehl.  Ihr 
Vater  wollte  die  Zustimmung  nicht  geben.  Bei  der  Polizei  gab  sie 
an,  sie  hale  nur  einen  Vormund,  der  werde  wahrscheinlich  ein- 
willigen. Ihr  Vater  ist  nämlich  nur  nach  jüdischem  Ritus,  nicht 
nach  dem  bürgerlichen  Gesetz  verheiratet  und  gilt  vor  dem  Gesetz 
nur  als  Vormund.  Als  die  Einwilligung  verweigert  wurde,  kam 
Polizei,  um  sie  zn  holen.  Da  wurde  sie  in  einem  Kasten  versteckt. 
Dann  scbiokte  die  Riehl  sie  weg  und  gab  ihr  10  Kronen. 

Riebl:  Sie  hatte  sich  selbst  in  den  Kasten  versteckt,  sie  wollte 
nicht  fort  von  mir.  —  Die  Winkler,  die  damals  die  Kastentür  zuhielt, 
bestätigt  dies. 

Juliana  B.  wurde  durch  einen  gewissen  Michel  in  das  Haus 
Kiehl  gebracht,  unter  Vorgabe,  daß  sie  einen  Dienstbotenposten  er- 
halte. Das  Mädchen  gibt  an,  vier  Tage  in  einem  Zimmer  ein- 
gesperrt gewesen  zu  sein,  sodaß  es  ihr  nicht  einmal  möglich  war, 
auf  den  Anstandsort  zu  gehen.  Das  Essen  wurde  ihr  auf  das 
Zimmer  gebracht.  Die  Mutter  des  Mädchens  erhielt  erst  später 
Nachricht  von  dem  Verbleib  ihres  Kindes  und  gab  nicht  die  Er- 
laubnis fbr  den  weiteren  Aufenthalt. 

Sowohl  die  Riehl  als  auch  die  Pollak  bestreiten  die  Angaben 
der  Zeugin.  Die  Riehl  beruft  sich  auf  die  Angeklagte  Gönye,  mit 
der  die  Juliana  in  einem  unversperrten  Zimmer  geschlafen  habe. 
Die  Gönye  bestätigt  zwar  diese  Angabe  der  Riehl,  muß  aber  auf 
Befragen  des  Präsidenten  zugeben,  daß  dem  Mädchen  das  Essen  in 
das  versperrte  Zimmer  gebracht  wurde. 

Die  Angeklagte  Riehl  ruft  mit  schluchzender  Stimme  aus:  Man 
glaubt  mir  hier  nichts  1  Ich  müßte  närrisch  sein,  wenn  ich  das  alles 
getan  hättet  Ja,  da  wäre  ich  eine  Närrin  gewesen! 

Der  Vorsitzende  konstatiert  aus  einem  Akt  des  Bezirksgerichtes 
Floridsdorf,  daß  die  Mutter  der  Zeugin  eine  Abgängigkeitsanzeige 


48  I-  Der  Prozeß  Rieh]  und  KonBorten  in  Wien. 

bezüglich  ihrer  Tochter  erstattete,  als  das  Mädchen  im  Hanse  der 
Riebl  war.    Diese  Anzeige  führte  zur  Auffindung  des  M&dchens. 

Zeuge  Leopold  Haller  war  im  Sommer  1905  sechs  Wochen 
Hausmeister  bei  der  Riehl.  Er  durfte  keine  M&dchen  aus  dem  Tore 
hinauslassen.  Briefe  fbr  die  M&dchen  wurden  von  der  Frau  Biehl 
übernommen.  Nicht  einmal  die  Dienstboten  durfte  er  auf  die  Straße 
lassen.  —  Präs.:  Wer  hat  dann  die  Einkäufe  gemacht?  —  Zeuge: 
Nur  die  „lange  Tini^ ;  das  war  die  einzige,  die  ich  hinauslassen  durfte. 

Der  Zeuge  erzählt  weiter,  daß  einmal  ein  furchtbares  Geschrei 
aus  dem  Badezimmer  zu  hören  war.  Er  sagte  der  Frau  Riebl:  „Da 
bringen  s'  eine  uml''  Die  Frau  gab  ihm  den  Schlüssel,  er  eilte 
hinauf  und  sab,  wie  eines  der  Mädchen  von  dem  anderen  furchtbar 
geschlagen  wurde.  Die  Riehl  kam  auch  hinzu  und  rief  der  6e* 
sclilagenen  zu:  „Geschieht  Dir  schon  recht,  Kanaille,  weil  du  fort 
hast  wollen!*' 

Präs.:  Zur  Aufklärung  dieses  Falles  sei  erwähnt,  daß  das  ge- 
schlagene Mädchen  einmal  fliehen  wollte,  aber  daran  gehindert 
wurde.  Seitdem  wurde  allen  der  Spaziergang  im  Garten  yerboten. 
Das  erbitterte  die  anderen  Mädchen,  und  sie  rächten  sich  an  der 
Veranlasserin  dieser  Maßregel. 

Riehl:  Ich  will  nur  bemerken,  daß  ich  diesen  Herrn  (auf  den 
Zeugen  weisend)  entlassen  habe,  weil  er  rabiat  und  ein  Trinker  war» 

Sanitätsaufseher  Karl  Weber  wohnte  vom  Mai  1904  bis  Mai  1905 
in  der  Habngasse  Nr.  12  in  einer  Wohnung,  von  deren  Fenstern 
aus  man  in  den  Hofraum  des  Riehischen  Hauses  blicken  konnte. 
Er  wurde  auf  die  Zustände  im  Hause  Riehl  aufmerksam,  als  wieder- 
holter Tumult  von  dort  seine  Nachtruhe  störte.  Einmal  beobachtete 
er,  wie  Frau  Riehl  ein  Mädchen  bei  den  Haaren  zog.  Das  Mädchen 
jammerte  laut.  Er  rief  hinüber,  man  solle  doch  endlich  Ruhe  halten. 
Die  Riehl  gab  ihm  eine  ordinäre  Antwort. 

Der  Zeuge  erzählt  weiter :  Am  nächsten  Tag  ging  ich  selbst 
zur  Riehl,  traf  sie  gerade  im  Hausflur  und  machte  ihr  Vorstellungen. 
Sie  antwortete  mir  mit  dem  Zitat  aus  „Götz  von  Berlichingen". 

Die  Skandale  waren  so  häufig,  daß  ich  an  die  kleinen  Ruhe- 
störungen schon  gewöhnt  war.  Einmal  aber  gab  es  wieder  großen 
Tumult.  Ich  hörte  zanken,  dann  das  Klatschen  von  zwei  Ohrfeigen 
und  die  weinende  Stimme  eines  Mädchens,  das  rief:  ^Lassen  Sie 
mich  doch  gehn,  ich  kann  ja  nichts  dafQrl^  Da  meine  früheren 
schriftlichen  Anzeigen  bei  der  Polizei  nichts  genützt  hatten,  ging  ich 
nun  persönlich  zum  Kommissär  des  Bezirkes.  Er  sagte  mir  nur: 
„Da  ist  nichts  zu  machen,  die  Polizei  muß  sich  mit  anderen  Dingen 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  49 

befassen    als   mit  solcheD  EleinigkeiteD.^    Daraufhin  anterließ  ich 
jede  weitere  Aktion  und  zog  aus  dem  Hause  aus. 

Präs.:  Haben  Sie  bemerkt,  daß  sich  die  Mädchen  der  Biehl 
unanständig  benommen  hätten?  —  Zeuge:  Von  den  Mädchen  war 
ja  nur  sehr  selten  etwas  zu  sehen;  sie  waren,  wie  die  Nachbarn 
alle  behaupteten y  tagsüber  eingesperrt.  —  Präs.:  Ihr  Eindruck  ist 
also,  daß  nicht  das  Benehmen  der  Mädchen,  sondern  ihre  Behandlung 
durch  die  Riehl  die  Skandale  veranlaßt  hat?  —  Zeuge:  Ja. 

Die  Riehl  behauptet,  den  Zeugen  nie  gesehen  zu  haben;  was 
er  sage,  sei  unwahr. 

Es  werden  Protokolle  über  die  Aussagen  anderer  Zeuginnen 
verlesen.  In  einem  Protokoll  heißt  es,  die  Riehl  habe  den  Mädchen 
nicht  nur  das  Geld  weggenommen,  sondern  auch  die  Bonbons,  die 
sie  von  den  Herren  bekamen,  weil  sie  dieselben  zu  Giardinetto  ver- 
wendete. Eine  andere  Zeugin  hat  zu  Protokoll  gegeben,  sie  habe 
sieh  selbst  mit  den  Fingernägeln  Verletzungen  beigebracht,  um  ins 
Spital  zu  kommen,  weil  sie  von  dort  entfliehen  wollte. 

In  einem  Protokoll  gibt  eine  ehemalige  Insassin  des  Hauses 
Riehl  ihre  Erlebnisse  in  dem  Hause  wieder  und  erzählt,  daß  ihr 
Vormund  sehr  bald  seine  Zustimmung  zu  ihrem  Aufenthalt  in  diesem 
Hanse  gab.  —  Dr.  Pollaczek :  Herr  Präsident  haben  in  begreiflicher 
Zurückhaltung  den  Namen  dieses  Vormunds  nicht  genannt.  Ich 
möchte  aber  doch  hier  darauf  hinweisen,  daß  der  Vormund  der 
Bürgermeister  eines  nicht  unbedeutenden  Ortes  in  Niederösterreich 
ist.    (Lebhafte  Bewegung.) 

Dr.  Rabenlechner:  Warum  nennen  Sie  denn  den  Namen 
nicht,  Herr  Kollege?  —  Dr.  Pollaczek:  Wir  haben  doch  beschlossen, 
keine  Namen  zu  nennen.  —  Dr.  Rabenlechner:  Na,  der  Bürger- 
meister verdiente  schon  angenagelt  zu  werden. 

Dr.  Rabenlechner  bittet  hierauf  den  Präsidenten  um  Vorlesung 
der  von  ihm  vorgelegten  Briefe,  die  ehemalige  „Damen''  des  Hauses 
nach  ihrer  Entlassung  an  Frau  Riehl  gerichtet  haben. 

Die  Verlesung  dieser  Briefe  scheitert  jedoch  schließlich  an  der, 
wie  der  Präsident  bemerkt,  geradezu  unmöglichen  Orthographie  der 
Sohreiberinnen.  Ein  Mädchen  schreibt  an  Frau  Riehl:  „Ich  bitte 
zu  Gott,  daß  er  Ihnen  alles  Gute  vergelte,  was  Sie  an  mir  getan 
haben.  Die  Mutter  läßt  sich  auch  vielmals  bedanken  für  alles  Gute, 
was  Sie  ihr  getan  haben."  Der  Brief  endigt  schließlich  mit  der 
Bitte  um  ein  kleines  Darlehen  .  .  . 

Die  Angeklagte  Madzia,  die  nach  ihrer  Einvernahme  durch  den 
Unteranchnngsriehter  spurlos  verschwunden  ist,   schreibt  an  Frau 

Axcbfr  fBr  Kriminalaathropologia    27.  Bd.  4 


50  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Riehl:  „So  gut,  wie  es  mir  bei  Ihnen  gegangen  ist,  werde  ich  es 
in  der  ganzen  Welt  nicht  wieder  finden/  Der  Präsident  bemerkt 
hierzu:  Es  wird  später  auch  das  mit  der  Madzia  aufgenommene 
Protokoll  verlesen  werden,  das  allerdings  wesentlich  andere  Aus- 
sagen enthält. 

Verteidiger  Dr.  Babenlechner:  Yariabile  quidquam  est  mulier. 
(Heiterkeit.) 

Die  Aussage  des  Zeugen  Ernst  Pollak  wird  verlesen,  auf 
dessen  Wahrnehmungen  hin  der  Journalist  Emil  Bader  seine  Beob- 
achtungen im  Hause  Biehl  begann.  Der  Zeuge  ist  zur  Verhand- 
lung nicht  erschienen. 

Protokoll: 

„Im  Sommer  1903  erfuhr  ich,  daß  die  Riehl  junge  Mädchen 
aus  BQrgerfamilien  den  Herren  zur  Verfügung  stelle.  Ich  ging  hin, 
und  sie  führte  mir  zwei  Mädchen  in  netter  Straßenkleidung  vor. 
Ich  wählte  eine  davon  und  ging  mit  ihr  aufs  Zimmer.  Dort  begann 
das  Mädchen  bitterlich  zu  weinen  und  klagte  mir,  sie  sei  von  der 
Pollak  hierher  gebracht  worden  und  werde  hier  gegen  ihren  Willen 
festgehalten.  Ich  wollte  sie  befreien  und  sagte,  als  ich  das  Zimmer 
verließ,  ich  wolle  mit  dem  Mädchen  fortgehen.  Die  Pollak  faßte 
das  Mädchen  aber  gleich  beim  Arm  und  zog  es  fort.  Sie  sagte: 
„Das  Fräulein  muß  erst  ^in  Bad  nehmen.^'  Darauf  ging  ich  in  ein 
Gaf6,  brachte  dort  meine  Beobachtangen  zu  Papier  und  trug  dann 
das  Geschriebene  aufs  Kommissariat,  wo  ich  die  Angaben  auch 
mündlich  ergänzte.  Der  Kommissar  sagte  mir:  „Die  Riehl  macht 
immer  solche  Geschichten.**  Dann  hörte  ich  nichts  mehr  von  dieser 
Affäre.  Vor  anderthalb  Jahren  kam  ich  in  das  Haus  in  der  Grüne- 
torgasse. Ich  erkannte  die  Riehl  sofort  wieder;  sie  mich  auch. 
Sie  sagte  zu  dem  Mädchen :  ^.Das  ist  der  Herr,  der  mich  der  Polizei 
anzeigen  wollte."  Ich  ging  mit  der  Marie  König  auf  das  Zimmer; 
es  fiel  mir  auf,  daß  sie  sehr  niedergeschlagen  war.  Als  ich  sie 
dann  ein  zweites  Mal  besuchte,  schottete  sie  mir  ihr  Herz  aus. 
Sie  klagte  mir  über  die  Sklaverei  und  Freiheitsberaubung  und  über 
die  maßlose  Ausbeutung  und  Brutalität,  die  sie  in  diesem  Hause 
erdulden  müsse. 

Ich  versprach  ihr,  mich  der  Sache  anzunehmen  und  ihr  einen 
Rechtsfreund  zu  schicken.  Ich  vroUte  jedoch  nicht,  daß  mein  Name 
in  der  Affäre  genannt  werde,  da  ich  verlobt  bin.  So  erzählte  ich 
die  Sache  dem  mir  bekannten  Redakteur  Emil  Bader,  von  dem  ich 
wußte,  daß  er  einflußreiche  Verbindungen  hat.  Das  nächste  Mal 
fragte  ich   die  König,   ob   „mein  Mann"  schon  dagewesen  sei.     Sie 


I.  Der  Prozeß  Biehl  und  Konsorten  in  Wien.  51 

veraeinte  das  und  sagte,  sie  habe  große  Angst  vor  der  Riehl.  Sie 
zeigte  mir  blaue  Flecke,  die  von  den  Mißhandlungen  der  Riehl 
herrührten.  Daraufhin  wandte  ich  mich  abermals  an  den  Redakteur 
Bader,  und  es  gelang  uns  mit  Hilfe  der  Polizei,  die  König  aus  dem 
Haase  zu  schaffen.  Bader  und  ich  gaben  ihr  etwas  Oeld,  damit  sie 
die  erste  Zeit  leben  könne.  Die  Riehl  wußte  nun,  daß  etwas  gegen 
rie  unternommen  werde,  und  als  sie  mich  wieder  sah,  sagte  sie: 
,Was  soll  ich  nun  machen;  ich  kann  doch  den  Bader  nicht  be- 
stechen. Wenn  ich  zugrunde  gehe,  dann  richte  ich  auch  andere 
zQgrnnde.^  Ich  glaube,  daß  diese  Drohung  mir  galt;  denn  sie 
glaubte,  daß  ich  verheiratet  bin,  und  wollte  mich  meiner  Frau  als 
Besacher  des  Bordells  denunzieren  I^ 

Die  Riehl  erklärt,  die  Angaben  Pollaks  seien  ein  Akt  der  Rache. 
Pollak  habe  ihr  selbst  nachgestellt,  und  als  sie  ihn  zurückwies, 
habe  er  die  Aktion  gegen  sie  begonnen. 

Der  Zeuge  Emil  Bader,  Redakteur  des  „Extrablatt^  berichtet: 

Ein  mir  bekannter  Herr  Ernst  Pollak  besuchte  mich  in  der 
Redaktion  und  bat  mich  um  meine  Intervention  zur  Befreiung  der 
Marie  König,  genannt  Liesel,  aus  dem  Hause  Riehl.  Er  erzählte, 
dieses  Mädchen  werde  arg  mißhandelt  und  gewaltsam  verhindert, 
sich  aus  dem  Hause  zu  entfernen.  Herr  Pollak  hatte  nicht  die  Ab- 
sieht, Material  f&r  eine  Veröffentlichung  im  „Extrablatt*'  zu  geben, 
sondern  forderte  bloß  meine  Privatintervention.  Ich  wendete  mich 
gemeinsam  mit  ihm  an  den  Verein  „Heimat^  und  an  die  Liga  zur 
Bekämpfung  des  Mädchenhandels.  Dieser  Verein  teilte  uns  mit,  er 
habe  wiederholt  Klagen  und  Beschwerden  über  die  Vorgänge  im  Hause 
Riehl  eingereicht. 

Kurze  Zeit  darauf  erzählte  mir  Herr  Pollak  die  Lebensgeschichte 
der  Liesel.  Sie  war  von  einer  Mädchenhändlerin  Hofmann  auf  der 
Straße  angesprochen  worden,  die  sie  der  Riehl  zuführte.  Das  Mädchen 
war  unberührt,  und  so  mußte  sie  die  Hofmann  erst  für  den  „Beruft 
präparieren.    Ein  Herr  auf  der  Straße  wurde  dazu  veranlaßt. 

Präs.:  Glauben  Sie,  daß  dies  auf  Aufforderung  der  Riehl 
geschah?  —  Zeuge  Bader:  Gewiß;  denn  die  Riehl  hatte  erklärt,  sie 
könne  das  Mädchen  sonst  nicht  brauchen.  Die  Hofmann  wartete 
auf  der  Straße  und  ttberlieferte  das  Mädchen  sofort  der  Riehl. 

Bei  einem  dritten  Besuch  erzählte  mir  Herr  Pollak,  die  Liesel 
beklage  sich  sehr,  weil  bisher  nichts  für  sie  geschehen  sei.  Das 
Mädchen  hatte  ihm  noch  mitgeteilt,  daß  ihr  Vater  von  der  Riehl 
eine  monatliche  Zahlung  erhielt,  während  es  seit  vier  Jahren  keinen 
Kreuzer  erhalten  habe.    Nun  erst  entschloß  ich  mich,    der  Sache 


52  1.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

näherzutreten.  Meine  ersten  Yersnche,  von  der  Straße  oder  aus  den 
Fenstern  benachbarter  Wohnungen  zu  beobachten,  waren  erfolglos» 
So  mußte  ich  mich  entschließen^  das  Haus  der  Riehl  zu  betreten, 
um  wahrheitsgetreue  Mitteilungen  machen  zu  können.  Im  Hause 
sprach  ich  bald  mit  der  Liesel,  der  ich  Namen  und  Stand  offenbarte. 
Erst  nachdem  ich  ihr  Mißtrauen  zerstreut  hatte,  machte  sie  mir 
Angaben,  die  mir  zu  meinem  ersten  Artikel  im  „Extrablatt^  vom 
24.  Juni  1906  den  Stoff  gaben.  Das  Mädchen  erzählte  von  der 
„Kaserne^,  der  Einsperrung,  den  Mißhandlungen,  der  Tagesordnung, 
gleichzeitig  aber  auch  davon,  daß  sie  mit  allen  Mitteln  verhindert 
werde,  sich  einem  anständigen  Lebenswandel  zuzuwenden. 

Ihr  Vater  zwinge  sie  durch  Prügel,  im  Hause  zu  bleiben,  und 
drohe  ihr,  sie  in  ein  Arbeitshaus  zu  bringen,  wenn  sie  das  Haus 
Riehl  verlasse.  Der  Vater  zwang  sie  solange,  bis  sie  niederkniete 
und  die  Riehl  um  Verzeihung  bat  und  sie  anflehte,  sie  nur  ja 
wieder  im  Hause  zu  behalten.  Als  ich  sie  fragte,  ob  sie  sich  nicht 
einem  Gast  habe  anvertrauen  können,  erwiderte  sie,  daß  ihr  ein 
Teil  alle  die  Scheußlichkeiten  nicht  glauben  wollte,  die  wenigen,  die 
ihr  glaubten,  nichts  für  sie  tun  zu  können  erklärten,  weil  ihre  gesell- 
schaftliche Stellung  sie  hindere,  in  derartigen  Dingen  etwas  zu  tun, 
oder  weil  sie  verheiratet  waren  und  ihre  Bekanntschaft  mit  dem  Hause 
nicht  verraten  durften! 

Ich  fragte,  warum  sie  nicht  einer  der  Amtspersonen,  die  revi- 
dierten, eine  Mitteilung  gemacht  habe.  Das  Mädchen  antwortete  wört- 
lich: „Frau  Riehl  steht  mit  der  Polizei  auf  viel  zu  gutem  Fuß.  Sie  er- 
fährt es  sicher,  wenn  ich  mich  beklage,  und  der  Erfolg  wäre  nur> 
daß  die  Prügel  für  mich  noch  viel  ärger  werden." 

Der  Zeuge  hat  sich  bei  der  Liesel  auch  nach  den  ärztlichen 
Revisionen  erkundigt.  Sie  seien  sehr  mangelhaft  geführt  worden 
und  finden  statt,  während  sich  die  Pollak  und  die  Riehl  im  Neben- 
zimmer befinden.  Mit  jäher  Bewegung,  fährt  der  Zeuge  fort,  zeigte 
mir  nun  die  König,  indem  sie  das  Hemd  lüftete,  große  Striemen 
am  ganzen  Körper  und  ausgedehnte  Blutunterlaufungen.  Nach  der 
Ursache  dieser  Verletzungen  gefragt,  erklärte  das  Mädchen:  ^^Im 
Hause  verkehren  viele  „Prügelherren",  für  die  Hundspeitschen  und 
Ruten  zur  Verfügung  stehen.  Die  Mädchen  werden  durch  Ver- 
sprechungen, Drohungen  und  Mißhandlungen  dazu  gezwungen, 
diesen  Herren  zu  Willen  zu  sein;  deshalb  sehen  wir  so  aus.  Für 
das  Prflgeln  besteht  ein  eigener  Tarif,  demzufolge  sie  50  bis 
100  Kronen  bezahlen  müssen.  Wir  Mädchen  haben  aber  nur  die 
Prügel  davon  .  .  .*• 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  53 

Der  Zeuge  bat  68  vergeblich  unternommen,  das  Polizeikommissariat 
Alsergrund  ftir  die  Sache  zu  interessieren.  Es  waren  bereits  anonyme 
Anzeigen  dorthin  und  an  die  Staatsanwaltschaft  gelangt,  die  ohne 
Erfolg  blieben. 

Der  Zeuge  mußte  sich  zu  einem  zweiten  Besuch  im  Hause  Riehl 
entschließen.  ^Ich  hatte  kurz  vorher  den  PoUak  getroffen,  der  mir 
mitteilte,  daß  im  Hause  große  Aufregung  herrsche,  da  zwei  Mädchen 
einen  Fluchtversuch  gemacht  hatten.  Einem  der  Mädchen  gelang 
die  Flucht,  die  zweite  wurde  am  Haustor  erwischt  und  formlieh 
fiber  die  Stiege  hinaufgeprflgelt.  PoUak  sagte  mir  auch,  die  Liesel 
beginne  an  ihrer  Befreiung  zu  zweifeln.  Als  ich  meinen  zweiten 
Besuch  machte,  war  ich  Zeuge  einer  widerlichen  Szene.  Schon  als 
leb  in  das  Haus  eintrat,  horte  ich  durch  die  verschlossene  Glastttr 
lautes  Rnfen  und  Schreien:  „Halts  Maul,  elende  E  . . . .,  ich  werde 
dich  und  die  anderen  L  . .  • .  schon  parieren  lernen^.  Gleich  darauf 
hörte  ioh  eine  Bemerkung:  „Ein  Herr  ist  da!^  und  gleich  war  es 
still.  Im  ersten  Stock  trat  mir  eine  Frau  mit  allen  Zeichen  der 
Erregung  entgegen.  In  der  Hand  hielt  sie  eine  eiserne  Ofenstange. 
Es  war  Frau  Riehl,  die  ich  zum  erstenmal  sah. 

Der  Zeuge  Bader  ersuchte  bei  seiner  ersten  behördlichen  An- 
zeige den  Herrn  Polizeikommissar  Psenicka  sofort,  das  Mädchen 
nicht  durch  den  dem  Prostituiertenreferat  zugeteilten  Agenten  Piß, 
sondern  durch  einen  anderen  Agenten  abholen  zu  lassen,  dem  aber 
der  Zweck  des  Auftrages  nicht  zu  verraten  sei.  Diese  Mahnung 
zur  Vorsicht  wurde  von  dem  Beamten  befolgt.  Als  der  Polizeiagent 
zum  erstenmal  im  Hause  Riehl  erschien  und  die  König  zu  sprechen 
verlangte,  wurde  diese  verleugnet.  Man  sagte,  sie  sei  mit  einem  Herrn 
ins  Kaffeehaus  gegangen ;  sie  war  jedoch  in  einer  Kammer  im  ersten 
Stock  eingesperrt  worden.  Der  Agent  kam  zum  zweitenmal.  Man 
sagte  ihm,  das  Mädchen  sei  noch  nicht  zurttckgekehrt,  und  man  wolle 
nach  ihr  schicken.  In  Wirklichkeit  hatte  man  sie  in  das  Klosett  im 
dritten  Stock  geschafft.  Als  der  Agent  wegging,  wurde  das  Mädchen 
in  den  vierten  Stock  gebracht  und  in  die  Privatwohnung  der  Frau  Riehl 
gesperrt.  Als  der  Agent  wiederkam  und  Frau  Riehl  einsah,  daß  das 
Versteckspielen  erfolglos  sei,  wurde  die  Marie -König  in  Straßenkleider 
gesteckt,  gleichzeitig  aber  beauftragt,  dem  Beamten  bei  der  Vor- 
stellung zu  erzählen,  man  habe  sie  eben  erst  aus  dem  Kaffee* 
bans  geholt.  Man  schtlchterte  sie  mit  der  Drohung  ein,  man  werde 
sie  ins  Arbeitshaus  stecken,  wenn  sie  etwas  ttber  Frau  Riehl  Un- 
gflnstiges  aussage.    Nun  erst  wurde  sie  dem  Agenten  übergeben. 

Votant  Dr.  Spitzkopf:  Herr  Zeuge,   haben  Sie   einmal   6e- 


54  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

legenheit  gehabt,  mit  Herrn  Konig  zu  sprechen?  —  Zeuge:  Nur 
einmal,  als  sich  die  Sache  seiner  Tochter  bereits  bei  der  Polizei 
befand  und  ich  ihm  vorhielt,  daß  er  seine  Tochter  so  behandle.  — 
Präs.:  Hat  das  Mädchen  erzählt,  ob  die  geleisteten  Zahlungen  der 
Biehl  an  ihren  Vater  eine  Abzahlung  fbr  den  angeblichen  Schaden 
war,  den  seine  Tochter  ihm  als  Schulmädchen  bereitet  hat?  — 
Zeuge:   Von  einem  solchen  Schaden  ist  mir  nichts  bekannt 

Dr.  Rode :  Mußte  Marie  König,  als  sie  durch  Sie  befreit  wurde, 
erst  an  den  Oebrauch  der  Freiheit  gewöhnt  werden?  —  Zeuge:  Das 
war  ganz  eigentümlich.  Sie  war  eine  Wienerin  und  hat  sich  infolge 
der  langen  Gefangenschaft  in  den  Straßen  gar  nicht  ausgekannt. 
Sie  bewegte  sich  auf  der  Straße  gaaz  linkisch,  stieß  an  die  Passanten 
an  und  war  schwer  zu  bewegen,  die  Fahrstraße  zu  ttbersehreiten. 

Dr.  Rode:  Ist  es  Ihnen  bekannt,  daß  das  Mädchen  einmal 
einen  Zettel  auf  die  Straße  warf,  mit  der  Bitte,  man  möge  sie  von 
der  Riehl  befreien.  —  Zeuge:  Das  ist  richtig,  das  hat  sie  mir  auch 
erzählt. 

Zeuge  ging  mit  der  Liesel  und  dem  Polizeiagenten  Piß  in 
das  Haus  der  Rieht.  Er  forderte  sie  auf,  sich  in  keine  Aus- 
einandersetzungen einzulassen  und  sich  mit  dem  zufrieden  zu  geben, 
was  sie  von  der  Riehl  erhalten  werde.  Während  er  im  Vorzimmer 
wartete,  erhielt  die  König  Schuhe,  Hemden  und  Schürzen  und  der 
Zeuge  hörte  die  PoUak  der  Liesel  ins  Ohr  flüstern,  sie  solle  nach- 
mittags ins  Oafö  Scheidl  kommen,  wo  ihr  etwas  Wichtiges  mitgeteilt 
werde.  Seither,  deponiert  der  Zeuge  weiter,  hat  sich  die  Liga  zur 
Bekämpfung  des  Mädchenhandels  der  König  angenommen,  sie  geht 
einem  anständigen  Erwerb  nach  und  überall  wird  ihr  das  beste 
Zeugnis  ausgestellt.  Die  Riehl  übergab  der  König,  wie  sie  sagte, 
100  Kronen  Lohn;  es  waren  aber  nur  80  Kronen.  Herr  Bader  er- 
hielt viele  Mitteilungen,  manche  anonym,  andere  von  Personen  in 
hohen  Stellungen,  so  von  einem  aktiven  Diplomaten  und  einem 
höheren  Offizier,  die  nicht  genannt  werden  dürfen. 

Herr  Bader  erzählt  den  Fluchtversuch  eines  Mädchens,  das 
nachts  vom  ersten  Stock  aus  auf  die  Straße  sprang  und  sich  dabei 
einen  Fuß  beschädigte.  Sie  wurde  von  einem  Einspännerkntseher 
bemerkt  und  wieder  in  das  Haus  zurückgebracht.  —  In  derselben 
Nacht  kam  ein  Dienstmädchen  der  Riehl  zu  dem  Rayonsposten  in 
der  Porzellangasse,  dem  Wachmann  Pobola,  und  erkundigte  sich 
nach  der  Adresse  des  Arztes  Dr.  Husserl,  den  sie  holen  müsse,  weil 
sich  etwas  im  Hause  zugetragen  habe;  was,  dürfe  sie  nicht  sagen. 
Der   Wachmann   schöpfte  Verdacht   und   verständigte  seinen   vor- 


I.Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  B5 

gesetzten  Inspektor,  der  sieh  mit  ihm  zum  Hanse  der  Riebl  begab, 
jedoch  nieht  eingelassen  wnrde,  obwohl  er  sich  auf  seine  amtliche 
Eigenschaft  berief.  Erst  nach  langem  Warten  erschien  die  Riehl 
und  rief  dem  Inspektor  zu :  „Was  machen  S'  denn  für  an'  Skandal ; 
'8  is  ja  nix  g'sohehn,  ich  bin  über  die  Stiegen  gYallu,  das  is  das 
ganze.*  Von  Dr.  Husserl  erfuhr  der  Wachmann  jedoch  den  wahren 
SachTcrhalt.  Es  wurde  eine  Meldung  darüber  erstattet,  über  deren 
Schicksal  jedoch  nichts  bekannt  wurde. 

Auf  dem  Wege  zum  Kommissariat  Aisergrund,  den  er  in  Ge- 
sellschaft der  König  machte,  traf  der  Zeuge  die  Anna  Christ.  Sie 
erzählte,  daß  sie  Blusennäherin  war  und  von  der  PoUak  häufig 
aufgefordert  wurde,  im  Maison  Riehl  für  Kost,  Quartier  und  Lohn  zu 
arbeiten.  Im  November  1904  hatte  die  Christ,  die  damals  16  Jahre 
alt  war,  einen  Streit  mit  ihrer  Mutter  und  trat  deshalb  bei  Riehl 
.ein,  wo  sie,  vierzehn  Tage  lang  in  einem  Zimmer  eingeschlossen, 
Blasen  nähen  mußte.  Einmal,  als  sie  bereits  im  Bette  lag,  kam 
Frau  Pollak  in  ihr  Zimmer,  flüßterte  ihr  erregt  zu,  die  Polizei  sei 
im  Hause,  sie  möge  sich  ruhig  verhalten.  Zugleich  drängte  sie  sie 
aus  dem  Zimmer  und  schob  sie  in  den  Italienischen  Salon.  Sie  be- 
merkte, daß  ein  Herr  im  Zimmer  war,  der  sich  auf  sie  stürzte  und 
sie  au&  Bett  warf.  Ihr  Schreien  und  ihre  Hilferufe  blieben  unbe- 
achtet. Einige  Tage  vorher  war  das  Mädchen  in  das  gemeinsame 
Schlafzimmer  der  Damen  geführt  worden ;  sie  wurde  entkleidet  und 
betrachtet. 

Der  Zeuge  schildert  die  bekannte  Szene  im  Badezimmer.  Nach 
dem  Gewaltakt  wurde  Anna  Christ  krank,  man  brachte  sie  ins 
Rndolfsspital.    Frau  Riehl  gab  ihr  10  Kronen  Lohn. 

Frau  Riehl  erklärt  die  Angaben  des  Herrn  Bader  für 
falsch.  Der  Zeuge  habe  ein  Interesse  daran  gehabt,  sie  „schwarz 
zu  machen*^.  Verschiedene  Leute  haben  ihr  erzählt,  Bader  habe 
die  Sache  nach  seiner  eigener  Angabe  nur  aufgerührt,  damit  das  „Extra- 
blatt^ eine  doppelte  Auflage  habe.  Vors.:  Selbst  wenn  das  wahr 
wäre,  ändert  es  an  der  Sache  nichts. 

Polizei-Inspektor  Johann  Seidel  erzählt,  daß  er  auf  die  Angaben 
des  Herrn  Bader  hin  zur  Riehl  gegangen  sei,  um  die  König  zu  ver- 
nehmen. Diese  wurde  vor  ihm  verleugnet.  Er  wollte  die  Hoseh 
zur  Polizei  bringen;  die  Riehl  bestand  aber  darauf,  mitzufahren. 
Auf  dem  Kommissariat  ließ  er  die  Riehl  draußen  warten,  während 
er  mit  der  Hosch  sprach.  Er  bemerkte,  daß  die  Riehl  wiederholt 
den  Versuch  machte,  in  ihr  Haus  zurückzukehren,  er  hinderte  sie 
daran.     Er  ging  dann  allein  in  das  Haus  der  Riehl  und  fragte  die 


56  I.  Der  Prozeß  Riohl  und  Konsorten  in  Wien. 

Pokorny,  die  ihm  öffnete,  ob  die  König  da  sei.  Trotz  seiner  ein- 
dringlichen Ermahnung,  die  Wahrheit  zu  sagen,  verneinte  sie  es. 
Die  König  kam  einmal  morgens  ins  Kommissariat.  Er  ließ  dem 
Redakteur  Bader  telephonieren,  erhielt  aber  die  Auskunft,  Bader 
sei  vor  9  Uhr  nicht  im  Bureau.  Er  wollte  die  König  auf  eine 
Stunde  fortgehen  lassen;  diese  aber  sagte,  sie  f&rchte  sich,  das 
Kommissariat  zu  verlassen,  man  lauere  ihr  draußen  auf.  Er  sah 
nach  und  bemerkte  die  PoUak,  die  draußen  wartete.  Inspektor 
Seidel  schaffte  die  Pollak  ab  und  behielt  die  König  da. 

Die  Riehl  behauptet,  die  König  sei  auf  ihr  eigenes  Verlangen 
verleugnet  worden. 

Die  Zeugin  Johanna  K.  war  Dienstmädchen  im  Hause  der 
Riehl.  Sie  kam  durch  das  städtische  Dienstvermittlungsamt  dort- 
hin. Sie  war  noch  minderjährig,  durfte  also  nach  den  polizeilichen 
Vorschriften  von  der  Riehl  als  Dienstmädchen  nicht  genommen 
werden.  Sie  erhielt  16  Kronen  Monatslohn.  Sie  hatte  häusliche 
Arbeiten  zu  besorgen,  von  der  Einrichtung  der  „Kaserne^  habe  sie 
nichts  gesehen. 

Vors.:  Haben  Sie  mit  den  Mädchen  gesprochen.  —  Zeugin: 
Nur  wenig.  —  Vors.:  Haben  Ihnen  nicht  Mädchen  gesagt,  daß 
sie  durchgehen  wollen.  —  Zeugin:  Ja.  Zwei  Mädchen.  Auf 
weiteres  Befragen  erklärt  die  Zeugin,  daß  sie  Briefe,  die  von 
Mädchen  abgesendet  wurden,  der  Riehl  übergeben  mußte;  sie  über- 
nahm auch  alle  Briefe,  die  einlangten. 

Im  weiteren  Verlauf  des  Verhörs  wird  die  Zeugin  sehr  zurück- 
haltend. Sie  gibt  an,  daß  häufig  Mädchen  geprügelt  wurden.  Den 
Anlaß  hierzu  gaben  „Frechheiten^  der  „Damen^.  Ein  Mädchen, 
Grete  genannt,  fiel  einmal  über  die  Stiege  hinab  und  zog  sich  Ver- 
letzungen zu.  Dem  Polizeiarzt  gab  man  an,  das  Mädchen  befinde 
sich  zu  Erholung  auf  dem  Lande,  während  es  die  Riehl  in  einem 
versteckten  Zimmer  behandelte.  Die  Mädchen  konnten  nicht  fort- 
gehen, weil  die  Riehl  es  gewaltsam  verhinderte. 

Vors.:  Wohl  auch  infolge  der  mangelhaften  Kleidung.  Wären 
Sie,  derartig  bekleidet,  auf  die  Straße  gegangen?  —  Zeugin:  Nein, 
niemals.  —  Vors.:  Ich  glaube  auch  nicht.  —  Vors.:  Wo  waren 
die  Kleider  der  Mädchen  verborgen?  —  Zeugin:  Frau  Riehl  be- 
wahrte sie  selbst  auf.  Die  Zawazal  wollte  fliehen  und  sagte,  sie 
werde  sich  lieber  vom  dritten  Stock  auf  die  Straße  stürzen,  als 
noch  länger  im  Hause  bleiben. 

Vors.:  Was  tat  die  Frau  Riehl?  —  Zeugin:  Sie  machte 
reinen  Tisch,  ging  in  den  ersten  Stock  und  sprach  mit  der  Zawazal. 


I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  in  Wien.  57 

—  Vors.:  Sprach  sie  nur  mit  ihr?  Zeugin:  Sie  gab  ihr  anoh 
eine  Ohrfeige.    Vors.:   Nnn,  das  ist  ziemlich  stark  gesprochen. 

Drei  Mädchen  und  Frau  Riehl  brachten  die  Zawazal  zurück 
Dnd  sperrten  sie  in  ein  Zimmer.  Über  die  Revisionen  des  Polizei- 
agenten-Inspektors Pifi  weiß  die  Zeugin  nur,  daß  er  sich  immer  im 
ersten  Stock  aufhielt  und  der  Riehl  Vorladungen  und  ^Bflcheln^ 
fibergab. 

Präs.:  Auf  welche  Weise  kamen  Sie  mit  Frau  PoUak  in  Be- 
rfihrung?  —  Zeugin:  Sie  hat  mir  den  Antrag  gemacht,  als  Pro- 
stituierte in  das  Haus  der  Riehl  einzutreten.  Sie  schilderte  mir, 
daß  ich  schöne  Kleider  bekomme  und  viel  Geld  verdienen  werde, 
loh  antwortete:  Nein,  das  ist  mir  zu  häßlichl  —  Angekl.  Pollak 
springt  erregt  auf  und  ruft:  Gott!  0  Gott!  Das  ist  unerhört  1  — 
Präs.:  Beruhigen  Sie  sich  nur,  wir  werden  Sie  auch  anhören.  Die 
Pollak  springt  wieder  auf  und  jammert  händeringend. 

Die  Riehl  gibt  an,  ein  Polizeikommissar  habe  ihr  ausdrücklich 
gestattet,  die  E.  als  Dienstmädchen  zu  beschäftigen,  wenn  sie  nicht 
Herrenbesuehe  empfange. 

Dr.  Rabenlechner:  Welcher  Kommissar  war  denn  das?  — 
Riehl:  Ich  kann  mich  nicht  an  alle  Kommissäre  erinnern.  — 
Dr.  Rabenlechner  (zur  Zeugin):  Eine  persönliche  Frage.  Wußten 
Sie,  als  Sie  von  dem  städtischen  Arbeitsvermittlungsamt  zur  Riehl 
gesendet  wurden,  was  in  dem  Hause  vorgehe?   —   Zeugin:   Nein. 

—  Dr.  Rabenlechner:  Jedenfalls  verdient  dieser  Vorgang  be- 
sondere Würdigung.  Das  städtische  Dienstvermittlungsamt  vermittelt 
Dienstmädchen  in  ein  öffentliches  Haus,  und  ein  Polizeikommissar 
bewilligt  das. 

Der  Vorsitzende  fragt  die  Angeklagte  Pollak:  Haben  Sie  der 
Zeugin  den  Antrag  gestellt,  Prostituierte  zu  werden?  —  Pollak: 
Gott  soll  behüten.  (Heiterkeit).  —  Dr.  Rabenlechner:  Sie,  Pollak, 
gegen  Tatsachen  kann  man  sich  nicht  absperren.  Sollte  Ihnen 
vielleicht  in  einer  phantasievollen  Stunde  dieser  Gedanke  jemals 
gekommen  sein,  so  sagen  Sie  es  nur.  —  Angekl.  Pollak:  Ich  kann 
mich  nicht  erinnern.  —  Vors.:  Frau  Pollak,  das  ist  bei  Ihnen 
Bchon  sehr  viel.  Wenn  Sie  sich  an  etwas  nicht  erinnern,  so  dürfen 
andere  beruhigt  annehmen,  daß  es  wahr  isti  (Heiterkeit.) 

Die  nächste  Zeugin  Julie  gibt  an,  ein  Madl  habe  sie  zur 
Riehl  gebracht:  Der  Vormund,  dem  sie  von  ihrem  Entschluß  schrieb, 
antwortete  ihr,  daß  sie  tun  könne,  was  sie  wolle.  —  Dr.  Raben- 
lechner: Ein  gewissenhafter  Vormund. 

Die  Zeugin  erzählt,    die   Pollak   habe  sie   bestimmen   wollen. 


58  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

der  Polizei  als  GruDd  ihres  Eintrittes  in  ein  öffentliches  Haas  an- 
zugeben, daß  sie  uneheliche  Kinder  habe.  Das  Mädchen  fürchtete 
aber,  daß  der  Beamte  sich  nach  dem  Aufenthalt  der  Kinder  er- 
kundige.   (Heiterkeit.) 

Angekl.  Riehl:  Es  war  immer  so  Brauch. 

Die  nächste  Zeugin  „Olga^  erzählte,  daß  sie  nach  drei  Tagen 
aus  dem  Hause  der  Frau  Riehl  fortwollte.  Da  ihr  die  Riehl  mit 
der  Polizei  drohte,  so  blieb  sie,  ans  Furcht  eingesperrt  zu  werden. 
Nach  drei  Monaten  verließ  sie  aber  doch  das  Haus,  und  die  Riehl 
gab  ihr  als  Verdienst  —  einen  Silbergulden  und  von  ihren  Kleidern 
nur  das  Schlechteste.  Das  Mädchen  machte  bei  der  Polizei  An- 
zeige. Die  PoUak  brachte  später  ein  schmutziges  Hemd  von  der 
Frau  Riehl  und  sagte  der  Zeugin:  „San  S'  froh,  daß  Sie  dös  be- 
kommen; Sie  verdienten  eh,  am  Schub  zu  kommen.  San  S'  stad, 
sonst  werden  S'  noch  eingesperrt.**  Die  Zeugin  war  zweimal  im 
Spital.  Das  erstemal  wurde  sie  von  der  Pollak  abgeholt,  das  zweite- 
mal bat  sie  die  Pflegerin,  eine  barmherzige  Schwester  um  ein  Ver- 
steck.   So  entkam  das  Mädchen  dem  Hause  Riehl. 

Die  Angeklagte  bestreitet  entschieden,  daß  sie  die  Zeugin 
wieder  zurücknahm.  „Die  Dame  war  keine  Verdienerin^,  sagt  die 
Angeklagte,  „und  ich  war  froh,  als  sie  weg  war." 

Präs.:  Frau  Riehl,  wenn  Sie  auch  noch  so  zartfühlend  sind, 
glaube  ich  doch  nicht,  daß  Sie  dann  das  Mädchen  im  Wagen  aus 
dem  Spital  abgeholt  hätten. 

Die  Zeugin  Therese  R.  war  etwa  ein  Jahr  im  Hause.  Frau 
Riehl  warf  ihr  einmal  einen  Schlüsselbund  an  den  Kopf. 

Dr.  Rode  (zur  Zeugin).  Ist  am  Morgen  nach  Ihrer  Einver- 
nehmung beim  Untersuchungsrichter  der  Polizeiagent  Piß  in  Ihrer 
Wohnung  erschienen,  um  Sie  zu  sprechen?  —  Zeugin:  Ja.  (Be- 
wegung). —  Dr.  Rode:  Ist  nicht  kurze  Zeit  darauf  der  Polizei- 
agent  Piß  mit  dem  Polizeikommissar  Dr.  Locker  bei  Ihnen  erschienen? 
Haben  die  beiden  Sie  nicht  befragt,  was  Sie  beim  Untersuchungs- 
richter ausgesagt  haben?  —  Zeugin:  Es  waren  ein  Wachinspektor 
und  der  Polizeileiter  des  Bezirkes,  in  dem  ich  gewohnt  habe.  (Neue 
Bewegung.)  —  Dr.  Rode:  Sind  die  beiden  als  Privatpersonen  zu 
Ihnen  gekommen  oder  amtlich?  —  Zeugin:  Amtlich.—  Dr.  Rode: 
Worüber  haben  die  beiden  Sie  befragt?  —  Zeugin:  Sie  haben 
mich  gefragt,  wie  es  mir  bei  der  Riehl  gegangen  sei  und  was  wir 
dort  gemacht  haben. 

Zeugin  Marie  Müller  war  als  Hausbesorgerin  bei  Frau  Riehl 
auch  in  der  Küche  beschäftigt.  —  Präs.:  Haben  Ihnen  die  Mädchen 


I.  Der  Prozeß  Biebl  und  Konsorten  in  Wien.  59 

oh  ertäblt^  daß  sie  von  Frau  Biehl  geschlagen  werden?  —  Zeugin: 
Ja.  —  Präs.:  Warum  sind  sie  geflohlagen  worden?  —  Zeugin: 
Das  haben  sie  nicht  erzfthlt.  Die  Zeugin  erzählt  den  gomeinsamen 
Fluehtversnoh  der  Elsa  und  der  Hansi.  Der  Haushesorger  war  im 
dritten  Stock  beschäftigt,  deine  Frau  in  der  E  flehe,  Frau  Riehl  und 
die  PoUak  waren  im  Hofe.  Die  Tür  war  offen,  weil  eine  Zigeuner- 
musik apielte.  Die  beiden  Mädchen  hatten  sich  geweigert, 
sieh  nacb  Tiseh  wieder  einsperren  zu  lassen;  es  kam  zu  einer 
Lärmszene.  Die  beiden  Mädchen  liefen  die  Treppe  hinunter,  um 
zu  fltlchten.  Frau  Riehl  war  benachrichtigt  worden.  Der  Elsa  ge- 
lang die  Flucht,  die  Hansi  wurde  beim  Haustor  erwischt  und  unter 
einer  lebhaften  Prügelei,  an  der  sich  die  Riehl,  die  PoUak  und 
auch  mehrere  Damen  beteiligten,  wieder  hinaufgeschleppt.  —  Frau 
Pollak  (dazwischenrufend):  Ich  war  nicht  dabei! 

Präs.  (zur  Zeugin):  War  die  Pollak  dabei,  als  die  Hansi  ge- 
prügelt wurde?  —  Zeugin:  Ja,  sie  ist  dabei  gestanden.  —  Frau 
Pollak:  Ich  war  nicht  dort.  —  Präs.  (zur  Hosch):  War  die 
Pollak  dabei?  —  Hosch  :  Nein  sie  ist  nicht  dabei  gewesen.  —  Präs. 
(zur  Pollak):  Also  haben  Sie  einmal  Recht  behalten.  (Heiterkeit.) 
—  Hosch :  Die  Pollak  ist  inzwischen  der  Elsa  nachgelaufen.  (Heiter- 
keit). —  Präs.:  Ah  sol  Dann  konnte  sie  allerdings  nicht  die 
Hansi  mit  prügeln.  Frau  Pollak,  wir  hätten  Ihnen  beinahe  Unrecht 
getanl  ^(Heiterkeit.)  —  Dr.  Rode  (zur  Zeugin):  Haben  Sie  die 
Hunde  der  Frau  Riehl  gekannt?  —  Zeugin:  Ja.  —  Dr.  Rode: 
Die  Liddy  war  eine  besonders  bissige  Bestie.  Haben  Sie  gewußt, 
wozu   Frau   Riehl  die  Hunde   gehabt   hat?    —  Zeugin:    Nein.  — 

Zeugin  Juliane  Staiz  war  kurze  Zeit  bei  Frau  Riehl  Köchin 
und  Hausbesorgerin.  Frau  Riehl  habe  ihr  am  23.  Juni,  am  letzten 
Tage,  30  Kronen  geschenkt,  weil  sie  so  brav  gewesen  sei.  —  Präs.: 
Das  ist  merkwürdig,  da  Frau  Riehl  sich  früher  immer  sehr  abfällig 
über  Sie  geäußert  hat.  Am  24.  Juni  erschien  nämlich  der  Artikel 
im  „Extrablatt^.  Hätten  die  Mädchen,  so  wie  sie  im  Hause  waren, 
auf  die  Straße  gehen  können?  —  Zeugin:  Das  weiß  ich  nicht. 
Sie  waren  halt  im  Hemd.    (Heiterkeit). 

Nach  der  Mittagspause  wird  der  Dr.  Ignaz  Husserl  einver- 
nommen; er  kam  in  den  letzten  drei  Jahren  häufig  als  Arzt  in  das 
Haus  der  Frau  Riehl.  Er  habe  nicht  nur  die  „Damen^,  sondern  auch 
Frau  Riehl  und  ihre  Angehörigen  behandelt.  Oft  seien  auch  Mädchen 
in  seine  Ordination  gekommen.    Sie  hatten  immer  eine  Begleitung. 

Landesgerichtsrat  Dr.  Spitzkopf:  Hat  der  Zustand  der  Mäd- 
chen  eine    Begleitung  erfordert?  —  Zeuge:    Nein,   keineswegs.  — 


60  L  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Präs.:  Waren  es  Krankheiten  des  Berufes  oder  andere  Leiden, 
derentwegen  Sie  zu  den  Mädchen  gerufen  wurden?  —  Zeuge:  Es 
waren  nur  selten  Geschlechtskrankheiten  oder  doch  keine  an- 
steckenden. 

Präs.:  Haben  Sie  die  Anna  Christ  zu  untersuchen  gehabt 
Herr  Doktor?  —  Zeuge:  Jawohl,  ich  kann  mich  erinnern.  Sie 
wurde  zu  mir  gebracht  und  als  Näherin  des  Hauses  ßiehl  be- 
zeichnet. Ich  hätte  feststellen  sollen,  warum  sie  —  das  Mädchen 
war  körperlich  sehr  herabgekommen  —  so  elend  aussah.  —  Präs.: 
Können  Sie  uns  sagen,  Herr  Doktor,  6b  Sie  damals  auch  festzustellen 
hatten,  ob  das  Mädchen  unberührt  sei?  —  Zeuge:  Daran  kann  ich 
mich  nicht  erinnern.  —  Präs.:  Die  Angeklagte  Gönye  sagt,  daß 
Sie  die  Virginität  festzustellen  hatten.  —  Dr.  Pollaczek:  Sie  sollen 
in  allen  jenen  Fällen,  wo  es  zweifelhaft  war,  ob  die  Mädchen  sich 
fbr  das  Gewerbe  eignen,  gewissermaßen  die  Assentierung  vor- 
genommen haben.  —  Zeuge:  Das  ist  unrichtig.  Ich  werde  doch 
kein  solches  Gutachten  abgeben.  Das  ist  gar  nicht  Sache  des 
Arztes. 

Dr.  Pollaczek:  Nachdem  Sie  die  Anna  Christ  untersucht  und 
gesehen  hatten,  daß  sie  ein  unschuldiges  Mädchen  ist,  hatten  Sie 
da  nicht  die  Pflicht  als  Arzt  und  Mensch,  der  Behörde  davon  Mit- 
teilung zu  machen,  daß  ein  solches  Mädchen  in  ein  öffentliches 
Haus  gesteckt  werden  sollte?  —  Zeuge:  Es  ist  dies  nicht  Sache  des 
Arztes,  dem  Mädchen  Ratschläge  zu  geben,,  ob  sie  anständig  bleiben 
soll.  —  Dr.  Pollaczek  (ernst):  Es  gibt  eben  Pflichten,  die  nicht  im 
Gesetze  stehen.  —  Dr.  Husserl:  Ich  erinnere  mich  übrigens,  der 
Anna  Christ  gesagt  zu  haben,  sie  möge  sich  nicht  dem  leichtsinnigen 
Leben  zuwenden. 

Dr.  Pollaczek  :  Meine  Fragen  hatten  nur  den  Zweck,  zu  zeigen, 
wie  intelligente  Personen,  außer  Eltern  und  Vormündern,  durch  ihre 
Passivität  das  Zuführen  von  Mädchen  in  das  öffentliche  Haus  ge- 
fördert haben. 

Die  Ziehmutter  der  Anna  Christ,  Frau  Barbara  Kozliet,  ist 
verdächtigt,  aus  dem  Gewerbe  ihres  Ziehkindes  Vorteil  gezogen 
zu  haben.  Sie  wird  sich  beim  Bezirksgericht  zu  verantworten 
haben.    Die  Frau  erklärt,  sie  wolle  Zeugnis  ablegen. 

Anna  Christ  war  Näherin  bei  ihr,  sie  ist  im  Verdruß  von  ihr 
fortgegangen.  Nach  zwei  Monaten  erst  erfuhr  sie  durch  die  An- 
geklagte Pollak,  die  von  der  Riehl  gesendet  wurde,  ihre  Ziehtochter 
befinde  sich  bei  der  Riehl.  Die  Zeugin  ging  in  das  Haus.  Die 
Christ  erklärte,  sie  wolle  bei  der  Riehl  bleiben. 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  61 

Pr&8.:  Sie  haben  sieh  also  zwei  Monate  nieht  nm  ihr  Kind  ge- 
kUmmert.  £&  war  Ihnen  nieht  bange  und  Sie  haben  anoh  keine 
Abg&ngigkeitaanzeige  erstattet?  —  Zeugin:  Nein.  —  Präs.:  Hat 
Ihnen  die  Kiehl  etwas  versproehen?  —  Zeugin:  Nein.  Sie  wollte 
mir  nur  das  Geld  znrttokzahlen  für  die  Schuhe,  die  ich  der  Anna 
kaufte.  Die  Riehl  hat  mir  gesagt,  die  Anna  werde  als  N&herin 
and  Frieseurin  beschäftigt. 

Die  Pollak  brachte  die  Christ,  als  sie  in  anderen  Umständen 
war,  zurück  mit  den  Worten:  Hier  haben  Sie  Ihre  Tochter  so  ge- 
sund, wie  sie  zu  uns  gekommen  ist.  —  Vors.:  Das  war  natürlich 
falsch,  denn  die  Christ  kam  sofort  ins  Spital,  weil  sie  geschlechts* 
krank  war. 

Chefarzt  der  Wiener  Polizei,  kais.  Rat  Dr.  Anton  Merta  gibt 
als  Zeuge  zunächst  Auskunft  über  die  sanitätspolizeiliche  Kontrolle. 
Im  Jahre  1892  liefen  zahlreiche  Anzeigen  wegen  Straßenunfuges 
von  Mädchen  ein.  Der  damalige  Polizeipräsident  Ritter  y.  Stejskal 
entschloß  sich,  die  öffentliche  Prostitution  einzuschränken  und  ge- 
schlossene Häuser  einzuführen.  Diese  wurden  damals  probeweise 
geduldet.  Im  Jahre  1899  wurde  eine  Kommission  einberufen,  Ver- 
treter des  Stadtphysikats,  der  Staatsanwaltschaft,  des  Magistrats, 
der  Finanzbehörde  und  der  Polizei.  Nach  dieser  Besprechung 
wurden  die  öffentlichen  Häuser  genehmigt.  Die  Erfahrungen  mit 
solchen  Häusern  waren  jedoch  nicht  günstig,  denn  viele  haben  nicht 
prosperiert  Der  polizeiliche  Überwachungsdienst  war  sehr  schwierig, 
denn  es  bestand  für  die  unteren  Polizeiorgane  die  Oefahr,  daß  sie 
von  den  Inhabern  solcher  Häuser  bestochen  werden.  Leider  haben 
sich  diese  Befürchtungen  zum  Teil  bewahrheitet.  Der  Polizeipräsi- 
dent bedauert,  daß  sich  unter  den  4000  Polizeiorganen  zwei  oder 
drei  gefunden  haben,  die  von  ihrer  Pflicht  abwichen.  Gegen  diese 
ist  ein  Disziplinarverfahren  eingeleitet  worden,  und  sie  sind  seit 
Monaten  vom  Dienste  suspendiert.  Die  Folgen  des  heutigen  Ver- 
fahrens werden  auf  die  amtliche  Behandlung  dieser  Fälle  einwirken. 

Präs.:  Herr  Zeuge,'^sind  Sie  zu  dieser  Erklärung  autorisiert? 
— -  Zeuge:  Oewiß,  es  ist  eine  autoritative  Erklärung. 

Dr.  Rabenlechner :  Herr  kais.  Rat,  sind  Sie  zu  dieser  Er- 
klärung vom  Polizeipräsidenten  beauftragt? 

Zeuge :   loh  bin  dazu  ermächtigt. 

Präs.:  Gehen  wir  nun  zu  den  Verhältnissen  im  Hause  Riehl 
aber.  —  Zeuge:  Gewöhnlieh  wird  vor  der  Eröffnung  des  Hauses 
eine  sanitäre  Revision  eingeleitet  —  Präs. :  Von  welchem  Gesichts- 
punkt aus  wurden  diese  Revisionen  vorgenommen.  —  Zeuge:   Man 


62  I.  Der  Prozeß  Riebl  und  Konsorten  in  Wien. 

hat  sich  bei  den  Besiohtigungea  immer  um  die  allgemeinea  sanitären 
Verhältnissen  gekümmert,  nur  wenn  eine  anonyme  Anzeige  vorlag, 
ist  näher  untersucht  worden. 

Präs.:  Periodisch  wiederkehrende  Untersuchungen  haben  also 
nicht  stattgefunden. 

Zeuge:  Nein. 

Nur  venerisch  erkrankte  Mädchen  sind  in  das  Spital  ttberfUhrt 
worden,  Patienten  mit  anderen  Krankheiten  blieben  schon  wegen 
des  Platzmangels  der  Spitäler  in  häuslicher  Pflege. 

Präs.:  Es  war  also  Pflicht  der  Inhaberin  eines  geschlossenen 
Hauses,  erkrankte  Mädchen  dem  Polizeiarzt  vorzuftlhren.  Wie  ist 
man  dabei  vorgegangen?  Zeuge:  Der  kontrollierende  Arzt  bekommt 
die  Mädchen  dem  Namen  nach  zugewiesen.  Ob  außer  den  gemel- 
deten Mädchen  noch  andere  im  Hause  sind,  kann  er  nicht  wissen. 
In  einem  solchen  Falle  kann  er  eben  die  Kontrolle  nicht  austiben. 
Eine  Hausdurchsuchung  vorzunehmen,  ist  der  Arzt  weder  verpflichtet 
noch  berechtigt. 

Präs.:  Ist  es  vorgekommen,  daß  Mädchen  Ihnen  als  abwesend 
angegeben  wurden?  —  Zeuge:  Das  ist  möglich. 

Der  Verschluß  der  Fenster,  der  nur  durch  einen  bestimmten 
Schlüssel  behoben  werden  kann,  entspricht  den  polizeilichen 
Intentionen. 

Präs.:  War  es  bekannt,  wann  die  ärztlichen  Untersuchungen 
vorgenommen  wurden?  —  Zeuge:  Ja,  immer  an  den  gleichen  Tagen 
und  Stunden. 

Präs.:  Konnten  also  Mädchen  versteckt  werden,  um  sie  der 
Untersuchung  zu  entziehen?  —  Zeuge:  Ich  glaube  nicht.  —  Präs.: 
Haben  Sie  Spuren  von  Mißhandlungen  am  Körper  der  Mädchen  be- 
merkt? —  Zeuge:  Ich  erinnere  mich  nicht,  jemals  solche  Spuren 
entdeckt  zu  haben. 

Dr.  Rode:  Wie  war  es  mit  der  behördlichen  Revision?  Ist  es 
ausgeschlossen,  daß  die  Riehl  wissen  konnte,  wann  die  Kommission 
erscheinen  werde?  —  Zeuge:  Das  ist  vollkommen  ausgeschlossen. 
Niemand  wurde  vorher  verständigt  als  die  Mitglieder  und  zwar 
telephonisoh,  worauf  die  Kommission  ihre  Tätigkeit  sofort  begann, 

Dr.  Raben le ebner:  Aus  welchem  Material  —  leider  Gottes  — 
bestehen  solche  Mädchen?  Man  spricht  hier  aus  Tendenz  von  einem 
Engelsmaterial.  Sind  Prostituierte  nicht  zumeist  Rekruten  fttr  die 
Strafanstalten,  sind  sie  nicht  häufig  vorbestraft?  —  Zeuge  gibt  das 
zu  und  bemerkt,  daß  viele  Prostituierte  sich  auch  in  den  Spitälern 
exzessiv  benehmen. 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konaorten  in  Wien.  63 

Verteidiger  Dr.  Rabenlechner:  Und  noch  eine  wichtige  Be- 
merkung. Sie  sagten,  Herr  Zeuge,  daß  man,  um  das  Straßenwesen 
einzudämmen,  geschlossene  Häuser  wünscht;  ich  muß  Wert  darauf 
legen,  nochmals  die  Easernierung  vorzubringen.  Wenn  jedes  solche 
Mädchen  die  Bewegungsfreiheit  hätte,  glauben  Sie,  daß  dann  der 
Zweck  der  geschlossenen  Häuser  erreicht  wäre?  Würde  dann  nicht 
der  Gassenstrich  wieder  florieren,  oder  glauben  Sie  nicht,  daß  der 
technische  Ausdruck  „Geschlossenes  Haus^  bedeutet,  daß  ein  solches 
Haus  auch  versperrt  ist?  —  Zeuge:  Freilieh,  das  glaube  ich  schon. 

Dr.  Rabenlechner:  Istesrichtigj  daß  es  bis  heute  keine  ge- 
setzliche Regelung  der  Prostitution  in  Osterreich  gibt,  nur  Verord- 
nungen? ~  Zeuge  (zuckt  die  Achseln):  Ich  kenne  nur  die  Wiener 
Verordnungen. 

Die  freie  Prostitution  der  Straße  und  die  geschlossenen  Anstalten 
tragen  den  Behörden  fortwährend  Beschwerden  aus  dem  Publikum 
ein.  Daher  werde  fortwährend  an  einer  Reform  des  Prostitutions- 
wesens gearbeitet.  Derzeit  gebe  es  etwa  1 400  Prostituierte.  Es  sei 
dies  mit  Rücksicht  auf  die  Millionenbevölkerung  eine  lächerlich 
kleine  Anzahl.  —  Dr.  Rabenlechner:  Ja,  olBTiziell  gemeldetel 
(Zum  Zeugen) :  Ist  Ihnen  bekannt,  daß  ein  öffentliches  Haus  in  der 
Leopoldstadt  geschlossen  wurde,  da  es  nicht  prosperierte?  —  Zeuge: 
Ich  weiß  nur,  daß  es  freiwillig  gesperrt  wurde.  —  Dr.  Rabenlechner: 
Ist  es  Ihnen  bekannt,  daß  die  Angeklagte  Riehl  von  dem  verstor- 
benen Chefarzt  Regierungsrat  Witlacil  eine  Belobung  erhielt?  — 
Zeuge:  Ich  wüßte  nicht,  aus  welchem  Grunde.  (In  seinem  Akt 
blätternd.)  Höchstens,  wenn  die  Bemerkung,  daß  es  im  Hause  Riehl 
rein  gewesen  ist,  in  diesem  Sinne  ausgelegt  wird.  —  Die  An- 
geklagte Riehl:  Ich  bitte,  der  Herr  Regierungsrat  hat  mir  sogar 
eine  Visitenkarte  gegeben  und  mir  gesagt,  wenn  Sie  einmal  etwas 
brauchen  sollten,  kommen  Sie  zu  mir.  (Bewegung.) 

Der  Zeuge  teilt  mit,  daß  er  einen  Akt  mitgebracht  habe,  der 
im  Vorjahr  bei  der  Polizei  auf  Grund  einer  anonymen  Anzeige  auf- 
gelaufen sei.  Damals  haben  Agenten  acht  Tage  lang  von  7  Uhr 
früh  bis  1  Uhr  morgens  das  Haus  der  Riehl  bewacht.  Es  wurden 
auch  zehn  Mädchen  einvernommen,  die  im  Hause  waren,  und  vier 
Mädchen,  die  schon  außerhalb  desselben  waren,  ohne  daß  etwas 
eruiert  worden  wäre.  —  Präs.:  Welche  Sache  hat  die  Untersuchung 
betroffen?  — Zeuge:  Dieselbe,  die  heute  Gegenstand  der  Verhandlung 
ist  —  Dr.  Pollaczek:  Der  Polizei  ist  es  also  nicht  gelungen  .  .  • 

Dr.  Rabenlechner:  Da  werden  wir  auch  den  Namen  des 
Kommissars    erfahren   können,   der  damals    die  Erhebungen  leitete. 


64  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Ronsorten  in  Wien. 

—  Präs.:  (sohlftgt  den  Akt  nach):  Es  war  der  Kommissar 
Dr.  Zdmbeok. 

Staatsanwalt  (zum  Zeugen):  In  wessen  Besitz  befand  sieb 
dieser  Akt?  —  Zeuge:  Er  gebort  dem  Sioberbeitsbureau.  —  Staats- 
anwalt: Der  Uutersucbungsriobter  konnte  ibn  nämlich  trotz 
energischer  Requisition  nicht  erlangen. 

Der  Zeuge  Polizeiarzt  Dr.  Simon  Kien  war  kontrollierender 
Arzt  im  Hause  Riehl;  es  kam  vor,  daß  ihm  Mädchen,  die  sich  an- 
geblich auf  Urlaub  befanden ,  nicht  vorgeführt  wurden.  Ge- 
wisse andere  Unpäßlichkeiten  hätten  eine  oberflächlichere  Unter- 
suchung zur  Folge  gehabt.  Von  Mißhandlungen  sei  ihm  nichts  be- 
kannt; doch  sei  es  vorgekommen,  daß  sich  am  Korper  der  Mädchen 
blaue  Flecke  vorfanden,  die  auf  gewisse  Aspirationen  der  Besucher 
zurückgeführt  werden  konnten. 

Präs. :  Ist  Ihnen  bekannt,  daß  ein  Mädchen  an  Krätze  erkrankte? 

—  Zeuge:  Ja,  ich  kann  mich  erinnern.  —  Präs.:  Wurde  sie  ins 
Spital  geschafft?  —  Zeuge:  Das  war  nicht  möglich.  Aber  es  war 
ja  ausgeschlossen,  daß  sie  mit  Herren  in  Beziehung  trete,  da  ihr 
Zustand  äußerlich  genügend  gekennzeichnet  war.  —  Dr.  Saben- 
le ebner:  Und  wenn  sich. einer  schließlich  kapriziert:  Habeatt 
(Heiterkeit). 

Staatsan waltsubstitut  Dr.  Langer:  Ist  es  richtig,  daß  Mädchen 
sich  der  ärztlichen  Untersuchung  dadurch  entzogen,  daß  sie  die 
Erscheinungen  ihres  Leidens  durch  gewisse  Präparierungen  mas- 
kierten? —  Zeuge:  Das  weiß  ich  nicht. 

Der  Polizeiarzt  Dr.  Schi  1  d,  der  vom  Jahre  1902  bis  zur  Schließung 
des  Hauses  Riehl  dort  kontrollierender  Arzt  war,  weiß  nichts  Neues 
anzugeben. 

Der  Polizei- Oberkommissar  Dr.  Ernst  Felkel  hat  vom  Jahre 
1900  bis  1902  das  Referat  Riehl  im  Kommissariat  Aisergrund  ge- 
führt. Er  hat  das  Haus  nie  selbst  revidiert,  sondern  der  Kanzlist 
Kopp.    Von  Beschwerden  der  Mädchen  hat  der  Zeuge  nichts  gehört. 

—  Präs.:  Es  ist  vielfach  behauptet  worden,  daß  bei  Erteilung  des 
Gesundheitsbuches  an  die  Mädchen,  zu  der  das  Einverständnis  ihrer 
Angehörigen  erforderlich  ist,  man  sich  mit  der  einfachen  Erklärung^ 
daß  die  Eltern  des  Mädchens  gestorben  sind,  zufriedengegeben 
habe.  —  Zeuge:  Das  ist  unrichtig. 

Zeuge  Sebastian  Ob  er  hu  her,  Detektive-Inspektor,  war  zwei 
Jahre  dem  Referat  des  Kommissariats  Aisergrund  zugeteilt.  Er 
unterstand  bei  den  im  Hause  Riehl  vorgenommenen  Revisionen  dem 
verstorbenen   Offizial  Kopp.    Seine  Obliegenheit  war,  festzustellen^ 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Ronsorton  in  Wien.  65 

ob  die  Zahl  der  polizeilich  angemeldeten  Mädchen  nicht  ttberschritten 
worden  sei.     Er  bewachte   deshalb  meistens  das  Tor,  um  ein  Ent- 
weichen während  der  Revision  zu  verhindern.    Auf  die  Frage  des 
Vorsitzenden,    in   welcher   Weise   im    Hause   die  notwendige  Fest- 
stellung stattfand,  antwortete   Detektive-Inspektor   Oberhuber:   Wir 
sind   in    den    Zimmern   herumgegangen   und   haben  die  Mädeln  so 
siemlioh    gezählt.    Das   geschah   gewöhnlich   vormittags.  —  Präs.: 
Waren  Sie  auch  in  den  Schlafzimmern?  —  Zeuge:  Nein.  —  Präs.: 
Wie  hahen  Sie  zu  der  Zeit  zählen  können  ?  —  Zeuge :    Das  hat  der 
Herr  Offizial  Kopp  getan. 

Dr.  Pollaozek:  Also  der  Referent  hat  sich  nicht  darum 
gekümmert,  der  Subreferent  ist  gestorben  und  der  Korreferent  weiß 
nichts.    (Heiterkeit.) 

Zeuge  Polizeikommissar  Zdrubeck  war  mit  den  Revisionen  im 
Hause  Riehl  betraut  und  hatte  auch  die  Bücher  für  die  Insassinnen 
auszustellen.  —  Präs.:  Ist  es  vorgekommen,  daß  Mädchen,  die  aus 
dem  Hause  Riehl  weg  waren,  sich  bei  Ihnen  beklagt  haben,  daß 
sie  mißhandelt  wurden,  daß  sie  kein  Geld  bekamen  usw.  —  Zeuge : 
Eine  solche  Anzeige  ist  mir  niemals  vorgekommen.  —  Präs.  verliest 
die  Aussagen  einzelner  Mädchen.  —  Zeuge  bemerkt  hierzu:  Bei 
der  großen  Anzähl  von  derartigen  Mädchen,  mit  denen  ich  im  Laufe 
der  Jahre  zu  tun  hatte,  kann  ich  mich  bloß  auf  Grund  der  Namen 
nicht  mehr  an  die  einzelnen  Fakten  erinnern.  —  Präs.  verliest  ein 
Protokoll  über  ein  Verhör  mit  einem  anderen  Mädchen,  und  bemerkt 
hierzu:  Wenn  mir  eine  derartige  Beschwerde  zu  Ohren  gekommen 
wäre,  so  hätte  ich  sie  gewiß  gründlich  untersucht.  Also,  Herr  Zeuge, 
erinnern  Sie  sich  nicht  daran?  —  Zeuge:  Nein,  entschieden  nicht. 
Präs.:  Ist  Ihnen  bekannt,  daß  der  städtische  Sanitätsdiener 
Weber  im  Dezember  1904  eine  Anzeige  erstattet  hat,  wie  es  im 
Hause  Riehl  zugehe,  daß  dort  Mädchen  mißhandelt  werden,  daß  es 
jede  Nacht  Krawalle  gebe  usw.  ?  Weber  sagt,  er  sei  mit  den  Worten 
abgefertigt  worden:  ^Es  wird  sich  schwer  etwas  machen  lassen,  wir 
haben  uns  ja  schließlich  auch  noch  mit  anderen  Dingen  zu  befassen 
als  mit  diesen."  —  Zeuge:  Ich  erinnere  mich  nicht  an  den  Vor- 
fiall  selbst;  an  die  Anzeige  erinnere  ich  mich.  Ich  habe  den  Piß 
zu  Erhebungen  hingeschickt.  —  Präs.:  Welche  Organe  haben  Sie 
überhaupt  zu  Erhebungen  verwendet?  Nur  den  Piß?  Haben  Sie  da 
nie  Bedenken  gehabt?  —  Zeuge:  Nein,  er  galt  als  eines  unserer 
tüchtigsten  Organe. 

Der  Pr&sident  konstatiert,  daß  auf  Grund  einer  anderen  Anzeige 
Erhebungen  über  die  Behandlung  der  Mädchen  im  Hause  Riehl  ge- 

AielÜT  für  KriminatAnthiopologie.    27.  £d.  5 


66  I.  Der  Prozess  Riehl  und  KoDSorten  in  Wien. 

pflogen  wurden  und   daß  die  Aussagen  der  Mädchen  durchweg  zu- 
gunsten der  Frau  Riehl  lauteten. 

Präs.  (zur  Angeklagten  Winkler):  Sie  haben  damals  auch  zu- 
gunsten der  Frau  Riehl  ausgesagt.  Entsprach  das  der  Wahrheit? 
—  Winkler:  Nein.  —  Präs.:  Warum  haben  Sie  das  angegeben?  — 
Winkler:  Es  ist  uns  von  Frau  Riehl  vorgesagt  worden.  —  Präs. 
(zur  Angeklagten  Bosch):  Warum  haben  Sie  damals  diese  Angabe 
gemacht?  —  Hosch  (achselzuckend):  Wir  haben  doch  alle  gelogen! 
Es  ist  uns  von  Frau  Riehl  Unterricht  gegeben  worden.  —  Präs.: 
Hat  sie  denn  Zeit  dazu  gehabt?  —  Hosch:  Es  ist  schon  ein  paar 
Tage  vorher  ein  Polizeiagent  zu  Frau  Riehl  gekommen  und  hat 
ihr  gesagt,  daß  gegen  sie  eine  Anzeige  erstattet  worden  sei.  — 
Präs. :  Also  Sie  glauben,  daß  Agent  Piß  Frau  Riehl  vorher  avisiert 
hat?  —  Hosch:   Ja. 

Verteidiger  Dr.  Hofmokl  bittet  um  Verlesung  des  mit  der 
Zeugin  Marie  König  aufgenommenen  Protokolls.  —  Der  Staats- 
anwalt spricht  sich  dagegen  aus.  —  Der  Gerichtshof  lehnt  den  An- 
trag Dr.  Hofmokls  ab,  da  sich  die  Zeugin  im  Laufe  der  Verhandlung 
der  Aussage  entschlagen  habe. 

Präs.:  Herr  Zeuge  waren  also  immer  nur  auf  die  Aussagen  des 
Detektivs  Piß  angewiesen  und  erinnern  sich  nicht,  daß  mündliche 
Besehwerden  vorgebracht  wurden?  —  Zeuge:  Nein.  —  Dr.  Raben- 
lechner  (zum  Zeugen):  Waren  Sie  einmal  im  Hause  Riehl?  — 
Zeuge:  Ja.  —  Dr.  Rabenlechner:  Haben  Sie  alle  Räume  des 
Hauses  inspiziert?  —  Zeuge:  Nein.  —  Dr.  Rabenlechner:  Hm — ja. 

Zeuge  erklärt  weiter:  Ich  habe  mich  bei  meinem  ganzen  Vor- 
gehen strikte  an  die  Vorschriften  gehalten.  Wenn  eine  Polizei- 
vorschrift in  bestimmten  Ffillen  negativ  lautet,  dann  ist  es  meiner 
Auslebt  nach  in  solchen  Fällen  nicht  opportun,  vorzugehen.  — 
Dr.  Rode  (aufspringend):  Also  Ihrer  Meinung  nach  ist  es  Ihre 
Pflicht,  alles  zu  unterlassen,  was  einer  Ausbeutung  der  Mädchen 
ertgegcnsteht?  Sie  liaben  auch  von  dem  Lohnvertrag  zwischen  der 
Riehl  und  ihren  Mädchen  gehört.  (In  höchster  Erregung):  Ist  es 
niclit  Ihre  Pflicht  als  Vertreter  einer  Schandgewerbebehörde,  gegen 
einen  solchen  Vertrag  einzuschreiten?  —  Zeuge:  Ich  muß  ent- 
schieden gegen  den  Ausdruck  „Schandg'cwerbebehörde"  protestieren. 
Die  Polizei  ist  nicht  zum  Schutze  der  Prostituierten  da,  sondern  zum 
Schutze  der  Offentliclikeit  gegen  die  Prostitution. 

Dr.  Hofmokl:  Ist  es  richtig,  daß  Ihnen  die  Einrichtung  des 
Hauses  bis  heute  unbekannt  geblieben  ist?  —  Zeuge:  Ja.  — 
Dr.  Rabenlechner:   W^arum   sind   denn    die  Revisionen  Agenten 


I.  Der  Prozeß  Biehl  und  Konsorten  in  Wien.  67 

überlassen  worden?  Wir  überlassen  doch  hier  die  ludikatur  auch  nicht 
den  Diurnisten.  —  Zeuge :    Die  Agenten  sind  doch  gebildete  Leute. 
—  Dr.  Rabenleobner:  Aber  sie  können  leicht,  leicht  umfallen. 
Der    Präsident   hat   inzwischen  den  polizeilichen  Akt  über  die 
Anzeige    dea  Sanitätsdieners   Weber  heraussuchen  lassen  und  kon- 
Btatiert,  daß  Zeuge  Zdrubeck  den  Akt  mit  dem  Bemerken  versehen 
hat:  „Sehuldtragende  sofort  aus  dem  Bezirk  entferntes  daß  aber  sonst 
nichts  weiter  geschehen  ist.  —  Staatsanwalt:  Herr  Zeuge,  Sie 
haben  vorhin  erklärt,  daß  Sie  es  bei  der  Häufigkeit  von  anonymen 
Anzeigen   geradezu   mit  Genugtuung  begrüßten,  wenn   einmal  eine 
Anzeige  mit  vollem  Namen  einlief,  auf  Grnnd  deren  Sie  eingehende 
Erhebungen   pflegen   konnten.    Es   ist   aber  im  vorliegenden  Falle, 
also  bei   einer  Anzeige   mit  vollen   Namen,    nichts   geschehen.  — 
Zeuge:   Es   war  ja  keine  Adresse   angegeben.  —  Präs.:    Aber  er- 
lauben Sie:    „Der  Mann  unterschreibt:    „ergebenst  C.  Weber''  und 
hat  vorher  in  dem  Brief  angegeben,  daß  er  Hahngasse  Nr.  12  wohnt. 
Der  Mann  wäre  doch  nicht  schwer  zu  finden  gewesen!  ~  Staats- 
anwalt:  Und   der  Mann  sagt,  daß  er  bei  der  Polizei  mit  Kleinig- 
keiten abgespeist  wurde!  —  Präs.:  Der  Mann  hätte  gehört  werden 
sollen  und  man  hätte  sich  nicht  mit  den  fünf  Zeilen  des  Herrn  Piß 
begnügen  sollen! 

Der  Zeuge  Polizeikonzipist  Dr.  Wilibald  Locker  war  bis  Mai 
1904  beim  Kommissariat  Aisergrund,  hatte  aber  niemals  im  Hause 
Eiehl  zu  tun. 

Staatsanwalt:  Die  Zeugin  Theresia  R.  hat  angegeben,  Sie 
seien  am  Abend  desselben  Tages,  an  dem  sie  beim  Kommissariat 
Aisergrund  über  die  Vorgänge  im  Hause  Riehl  einvernommen 
worden  war,  zu  ihr  gekommen  und  hätten  sie  befragt,  ob  sie  gegen 
den  Agenten  Piß  ausgesagt  habe.  —  Zeuge:  Ich  war  damals  beim 
Kommissariat  Ottakring.  Der  Agent  Piß  ist  zu  mir  gekommen  und 
hat  mich  gebeten,  ich  möchte  die  R.  fragen,  ob  sie  gegen  ihn  aus- 
sagt habe.  —  Präs.:  Und  haben  Sie  dies  getan?  —  Zeuge:  Ja,  leider. 
Der  nächste  Zeuge  Polizeikommissar  Leopold  Schmidt  (Leo- 
poldstadt) war  von  1898  bis  1900  Referent  für  das  Haus  Riehl  beim 
Kommissariat  Aisergrund.  —  Präs.:  Haben  Sie  Gelegenheit  gehabt, 
das  Haus  zu  revidieren?  —  Zeuge:  Ich  habe  Revisionen  mit  den 
Agenten  vorgenommen.  —  Präs.:  Wenn  in  einem  kleinen  Zimmer 
bei  verschlossenen  Türen  und  Fenstern  acht  Mädchen  in  vier  Betten 
gesehlafen  hätten,  wäre  das  beanstandet  worden?  —  Zeuge:  Ja. — 
Präs.:  Haben  Sie  jemals  wahrgenommen,  daß  ein  Zimmer  überfüllt 
war?  —  Zeuge:  Nie. 

5* 


68  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Pr&8.:  Um  welche  Zeit  haben  Sie  revidiert?  —  Zeuge:  Zu 
Mittag.  —  Präs.:  Sind  Sie  auoh  in  den  dritten  Stock  hinauf- 
gekommen? —  Zeuge:  loh  kann  mich  nicht  erinnern.  —  Präs.: 
Hat  Frau  Riehl  jemals  an  Sie  das  Ansuchen  gestellt,  daß  Sie  sie 
bei  Anzeigen  beschützen  sollen,  da  ja  häufig  auch  ungerechtfertigte 
Anzeigen  einliefen?  —  Zeuge:   Nein,  niemals. 

Präs. :  Wir  kommen  jetzt  zu  einem  Punkt ,  der  etwas  kritisch 
wird,  und  bei  dem  ich  mich  fbr  verpflichtet  erachte,  Ihnen  den  §  If^S 
der  Strafprozeßordnung  in  Erinnerung  zu  bringen.  (Wegen  drohen- 
der Schande  kann  ein  Zeuge  die  Aussage  verweigern.)  Dieser 
Paragraph  gewährt  Ihnen  die  Rechtswohltat  der  Verweigerung  der 
Zeugenaussage.  Es  wird  Ihnen  vorgeworfen,  daß  Sie  auch  außer- 
halb Ihres  Amtes  Besuche  bei  Frau  Riehl  gemacht  haben.  Wollen 
Sie  hierüber  aussagen  oder  wollen  Sie  von  jener  Rechtswohltat  Ge- 
brauch machen? 

Zeuge:  Ich  entsohlage  mich  der  Aussage.  (Lebhafte  Be- 
wegung.) 

Der  Präsident  läßt  dies  protokollieren  und  entläßt  hierauf  den 
Zeugen. 

Polizeiagenten-Inspektor  Joseph  Piß,  der  seit  1895  bis  jetzt 
dem  PoLizeikommissariat  Aisergrund  zugeteilt  ist  und  sich  derzeit  in 
Disziplinaruntersuchung  befindet,  wird  um  seine  Generalien  befragt. 
Dr.  Hofmokl  bittet,  diesem  Zeugen  gegenüber  die  Wahrheitserinne- 
rung wegfallen  zu  lassen.  —  Präs.:  Ich  werde  den  Zeugen  rechtzeitig 
auf  die  Wohltat  des  §  153  aufmerksam  machen  und  ihn  in  keine 
Kollisionen  bringen. 

Dr.  Hofmokl:  Es  ist  ein  Unterschied  zwischen  der  Wahrheits- 
pflicht und  der  Wohltat,  sich  der  Aussage  zu  entschlagen.  Ich 
möchte  dem  Zeugen  mitteilen,  daß  er  sogar  lügen  darf.  —  Präs.: 
Ich  werde  rechtzeitig,  wie  bei  dem  vorigen  Zeugen,  das  Entsprechende 
vorkehren.    Sie  können  das  ruhig  dem  Vorsitzenden  überlassen. 

Auf  die  Frage  des  Vorsitzenden  nach  den  Agenden  des  Zeugen 
antwortet  dieser,  er  habe  sowohl  beim  Kommissariat  wie  im  Hause 
die  Angelegenheit  Riehl  zu  führen  gehabt.  Wenn  Anzeigen  oder 
Beschwerden  gekommen  sind,  habe  er  den  Aaftrag  erhalten,  Er- 
hebungen zu  pflegen. 

Präs.:  Sind  Beschwerden  vorgekommen?  —  Zeuge:  Nein.  — 
Präs.:  Dann  waren  auch  keine  Erhebungen  notwendig.  —  Zeuge 
(zögernd):  Einmal  ist  eine  Beschwerde  gekommen,  anonym.  —  Präs.: 
Vom  Herrn  Weber?  —  Zeuge:  Ja.  (Heiterkeit.)  —  Präs.:  Da 
haben    Sie   eine    Relation   erstattet,    daß   zwei  Mädchen    gestritten 


L  Der  Prozeß  Biehl  und  Eonsorten  in  Wien.  69 

hätten    und    sonst  alles  in  Ordnung  ist.    Wer  hat  Ihnen  diese  In- 
formation gegeben?  —  Zenge:   Fran  Riehl. 

Der  Zenge  gibt  an,  daß  er  sehr  häufig  ins  Haus  gekommen 
sei,  weil  er  Bücher,  Photographien  und  dergleichen  hinzubringen 
hatte;  er  kenne  auch  die  Räumlichkeiten  im  dritten  Stock.  Eine 
Vorstellung,  wieviel  Mädchen  dort  untergebracht  waren,  besitze  er 
nicht.  Er  habe  auch  nicht  wahrgenommen,  daß  die  Tfiren  versperrt 
werden.  Auch  habe  sich  ihm  gegenüber  niemals  ein  Mädchen  be- 
schwert. —  Präs.:  Hat  sich  nicht  die  Zawazal  beschwert?  —  Zeuge: 
Ja.  Sie  ist  aufs  Kommissariat  gekommen  und  hat  über  Ohrfeigen 
geklagt  Der  Referent  war  nicht  anwesend  und  ich  habe  ihr  gesagt, 
sie  soll  morgen  kommen.  Inzwischen  ist  Frau  Pollak  gekommen 
und  hat  sie  mitgenommen.  Am  nächsten  Tage  ist  das  Mädchen 
nicht  wieder  gekommen. 

Präs.:  Haben  Sie  damals  nicht  der  Frau  Pollak  gesagt,  sie 
soll  Ordnung  machen,  damit  nichts  herauskommt?  —  Zeuge:  Ich 
habe  ihr  nur  gesagt,  daß  sie  der  Zawazal  die  Sachen  geben  soll. 
—  Präs.:  Das  stimmt  mit  der  Aussage  der  Zawazal. 

Präs.:  Es  ist  behauptet  worden,  daß  Sie  manchmal  Frau  Riehl 
von  Kommissionen  verständigten,  damit  sie  sich  vorbereiten  und 
die  Mädchen  abrichten  könne.  Sie  waren  auch  sonst  im  Hause  in 
einer  Weise  tätig,  die  mit  Ihrer  Amtspflicht  kollidieren  würde.  Sie 
können  sich  der  Wohltat  des  §  153  bedienen,  wenn  Ihnen  Ihre 
Aussage  Schande  bereiten  könnte.  Sie  brauchen  nicht  auszusagen, 
damit  Sie  nicht  in  Kollisionen  bezüglich  Ihrer  Verantwortung  gegen- 
über Ihren  Vorgesetzten  kommen.  —  Zeuge:  Ich  will  nicht  aus- 
sagen.   (Bewegung.) 

Heute  werden  die  sieben  angeklagten  Mädchen,  die  der  falschen 
Aussage  vor  dem  Untersuchungsrichter  beschuldigt  sind,  über  ihre 
Erlebnisse  und  Wahrnehmungen  im  Hause  Riehl  einvernommen. 

Als  erste  wird  Marie  Pokorny  einvernommen,  eine  schlanke, 
hübsche  Erscheinung,  die  seit  Beginn  des  Prozesses  in  wechselnder 
eleganter  Toilette  auf  der  Anklagebank  zu  sehen  war. 

Präs.:  Sie  waren  eine  Art  Vertrauensperson  der  Frau  Riehl, 
da  Sie  mit  der  Beaufsichtigung  der  anderen  Mädchen  betraut 
wurden.  Wie  war  es  denn  mit  ihrer  Bewegungsfreiheit?  — 
Pokorny:  Ich  durfte  auch  nicht  auf  die  Straße  gehen. 
Präs.:  Wie  war  es  mit  Ihrer  Kleidung?  —  Pokorny:  Ich  hatte 
ebenfalls  nur  einen  Schlafrock,  die  anderen  Kleider  waren  ver- 
wahrt. -—  Präs.:  Haben  Sie  bezüglich  des  Strumpf-  und  Zimmer- 
geldes Vereinbarungen  getroffen? 


70  I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  in  Wien. 

Pokorny:  Die  gnädige  Frau  erklärte,  daß  das  Geld  von  jedem 
Herrn  zwischen  uns  aufgeteilt  wird;  sie  hat  mir  aher  nichts  gegeben, 
loh  habe  sie  manchmal  gefragt,  was  mit  dem  Gelde  ist;  sie  er- 
widerte nur:  ,Es  ist  schon  gut!** 

Präs.:  Endlich  müssen  Sie  doch  eine  Abrechnung  gefordert 
haben?  —  Zeugin:  Sie  sagte  immer,  sie  wird  schon  abrechnen. 

Präs.:  Waren  die  Mädchen  im  Zimmer  eingesperrt?  —  Zeugin: 
Ja.  —  Präs.:  Haben  Sie  nicht  selbst  manchmal  die  Mädchen  ein- 
gesperrt? Sie  können  ruhig  antworten,  Sie  sind  nicht  angeklagt. 
—  Zeugin:  Im  Auftrag  der  Riehl  habe  ich  die  Zimmer  zugesperrt. 
Die  Frau  sagte  mir,  das  sei  von  der  Polizei  angeordnet,  und  ich 
glaubte  es;  ich  war  ja  auch  oft  eingesperrt.  Ich  hatte  niemand, 
der  mich  gehöii;  hätte.  Manchmal  schrie  ich ;  aber  es  kam  niemand, 
und  hinaus  konnte  ich  nicht. 

Präs.:  Was  wäre  geschehen,  wenn  eiu  Brand  ausgebrochen 
wäre?  —  Zeugin:  Dann  wäre  ich  verbrannt.  —  Präs.:  Oder  wenn 
jemand  ohnmächtig  geworden  wäre?  —  Zeugin:  Niemand  kam  zu 
Hilfe.  —  Präs.:  Gab  es  denn  keine  Glocke,  kein  Telephon?  — 
Zeugin :  Ein  Telephon  war  da,  es  wurde  aber  nur  verwendet,  wenn 
ein  Herr  kam  und  eine  von  uns  gewünscht  wurde. 

Präs.:  Was  hatte  Frau  Pollak  zu  tun?  —  Pokorny:  Die  Frau 
Pollak  hatte  von  Frau  Riehl  den  Auftrag,  die  Mädchen  im  Auge 
zu  behalten.  Sie  war  immer  im  Hause,  und  nur  hie  und  da  war 
sie  wegen  Krankheit  nicht  im  Hause.  —  Präs.:  Ist  es  in  den  vier 
Jahren  Ihres  Aufenthaltes  im  Hause  vorgekommen,  daß  Mädchen 
weggehen  wollten?  —  Pokorny:  Ja.  Manche  Mädchen  sind  gern 
geblieben,  mehrere  wollten  aber  bald  wieder  fort.  —  Präs.:  Was 
hat  Frau  Riehl  dann  getan?  —  Pokorny:  Sie  sagte  zu  den  Mädchen: 
„Schlampen,  zahl'  zuerst  deine  Schulden,  dann  kannst  Du  gehn!** — 
'  Präs.:  Hatten  denn  die  Mädchen  Geld,  um  solche  Schulden  zu  be- 
zahlen? —  Pokorny:  Nein. 

Präs.:  Da  Sie  auch  mit  der  Ablieferung  des  Geldes  betraut 
waren,  könneu  Sie  vielleicht  angeben,  ob  Frau  Riehl  tatsächlich  so 
schlechte  Geschäfte  gemacht  und  draufgezahlt  hat?  —  Pokorny: 
Das  ist  gewiß  unwahr.  Die  Herren  haben  wenigstens  fünf  Gulden 
gezahlt,  meistens  aber  10  und  15  Gulden,  dann  auch  50,  100  und 
sogar  auch  200  Gulden.  Kamen  feine  Gäste,  die  was  Besonderes 
verlangten,  dann  sagte  die  Riehl  dem  oder  jenem  Mädchen:  „Zieh 
dein  Straßenkleid  an,  mach*  dich  recht  schön."  Dann  sagte  sie  zu 
dem  Herrn:  „Herr  Graf,  oder  Herr  Baron,  ich  habe  ein  sehr 
hübsches  Mädchen,  eine  junge  Frau,  welche  wünschen  Sie?'*   Dann 


I.  Dor  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  7 1 

wnrde  dem  Besucher  das  Mädohen  in  Straßeatoilette  als  jange  Frau 
vorgestellt,  und  solche  Herren  zahlten  dann  auch  20  bis  40  Kronen 
Strunapfgeld.  Die  Frau  Riehl  hat  angegeben,  was  die  Herren  extra 
bezahlten. 

Präs.:  Ist  Ihnen  bekannt,  daß  Mädchen  mit  Krankheiten  ver- 
heimlioht  und  zurückbehalten  wurden?  —  Pokorny:  Ja.  Frau  Riehl 
sagte  immer:  „Wenn  Mädchen  ins  Spital  gehen,  so  kommen  sie  nicht 
mehr  zurück."  —  Präs.:  Daher  die  Vorsicht,  die  Mädohen  sorgsam 
in  das  Spital  und  zurück  zu  bringen.  —  Präs. :  Haben  die  Mädchen 
?iel  trinken  müssen? 

Pokornj:  Die  Riehl  sagte:  ,,Schauf8  zum  Geschäft,  Mädeln, 
daß  was  aufgeht!"  Aber  die  Mädchen  sollten  sich  nicht  betrinken, 
da  sollten  sie  lieber  den  Champagner  auf  die  Tasse  ausschütten.  — 
PrSs.:  Das  ist  glaubwürdig.  Denn  es  lag  im  Interesse  des  Ge- 
schäftes der  Frau  Riehl,  daß  die  Mädchen  nicht  betrunken  waren. 

Die  Pokorny  wurde  von  der  Polizei  nicht  einvernommen,  weil 
sie  krank  war.  Sie  weiß  aber,  daß  die  Riehl  die  Mädchen  zu 
falscher  Aussage  veranlaßte. 

Präs.:  Blieben  die  Mädchen  freiwillig  im  Hause  Riehl?  — 
Pokorny:  Manche  blieben  freiwillig,  viele  aber  konnten  sich  nicht 
helfen. 

Präs.:  Hatten  Sie  den  Eindruck,  daß  jede  Auflehnung  gegen 
Frau  Riehl  aussichtslos  sei,  weil  sie  mit  dem  Polizeibeamten,  der 
die  Aufsicht  hatte,  so  gut  stand.  —  Augekl.:  Wenn  sich  eine  ein- 
mal aufgehalten  hat,  hat  die  Frau  Riehl  gleich  geschrieen:  „Kusch, 
gleich  laß  ich  einen  Wachmann  holen  und  Du  wirst  eingesperrt^. 

Präs.:  Haben  die  Mädchen  aus  dem  Auftreten  einiger  Polizei- 
organe schließen  können,  daß  sie  von  dieser  Seite  keine  Hilfe  zu 
erwarten  haben?  —  Angekl.:  Die  Frau  hat  zu  mir  gesagt:  „Irma, 
schau,  daß  du  den  Herrn  Kommissär  verführst,  nimm  aber  kein 
Geld  von  ihm.** 

Die  Angeklagte  erzählt  dann,  Frau  Riehl  habe  täglich  Ein- 
nahmen von  200  bis  400  Kronen  gehabt.  Gegen  Frau  Pollak  war 
sie  sehr  mißtrauisch,  sie  hatte  sie  im  Verdacht,  daß  sie  ihr  die 
Strumpfgelder  der  Mädchen  unterschlage. 

Präs. :  Sie  haben  doch  bei  Frau  Riehl  gewissermaßen  eine  Ver- 
trauensstellung eingenommen.  Haben  Sie  denn  nicht  verlangt,  daß 
Sie  auch  einen  Lohn  erhalten?  —  Angekl.:  Ja,  ich  war  das  „erste 
Mädohen"  im  Hause.  Frau  Riehl  hat  immer  gesagt,  sie  werde 
schon  für  mich  sorgen  und  hat  mich  ins  Theater  nach  „Venedig  in 
Wien"  mitgenommen,  damit  ich  Zerstreuung  habe. 


72  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Regine  Riehl:  Es  ist  unglaublich^  daß  die  Irma  so  gegen  mich 
aussagen  kann.  Ich  habe  sie  gehalten  wie  mein  eigenes  Kind. 
Alle  Schlüssel  habe  ich  ihr  anvertraut,  sie  hat  gewußt,  wo  mein 
Geld  aufbewahrt  ist.  Die  Irma  war  mir  ein  Heiligtum  ...  — 
Präs.:  Dieses  Wort  sollen  Sie  nicht  mißbrauchen. 

Dr.  Rah enle ebner:  Ich  habe  alle  diese  Mädchen  in  meiner 
Kanzlei  eindringlich  befragt,  auch  in  Abwesenheit  der  Frau  Riehl, 
und  sie  ermahnt,  die  Wahrheit  zu  sagen,  und  alle  haben  mir  er- 
widert: Alles,  was  die  Lisi  sagt,  ist  nicht  wahr.  Das  hat  mich 
auch  bestimmt,  die  Vertretung  zu  übernehmen.  —  Angekl.:  Nattlr- 
lich,  wir  haben  den  Herrn  Doktor  auch  angelogen.  (Heiterkeit.)  — 
Verteidiger:  Wie  war  denn  die  Kost?  —  Angekl, :  Na,  die  war 
sehr  gut,  alles  was  wahr  ist.  —  Auf  eine  andere  Frage  des  Ver- 
teidigers gibt  die  Angeklagte  so  rasch  Antwort,  daß  er  sagt:  loh 
tue  Ihnen  ja  nichts,  im  Gegenteil.  —  Angekl.:  Ich  habe  auch 
keine  Angst.  (Heiterkeit.)  —  Verteidiger:  Sie  haben  uns  auch  von 
einem  Herrn  erzählt,  der  jedesmal  200  Gulden  gezahlt  hat,  das 
glaube  ich  Ihnen  nicht  recht.  —  Angekl:  Er  ist  gekommen;  aber 
Namen  nenne  ich  keine.  —  Verteidiger:  Branche  ich  auch  nicht. 
Der  war  jedenfalls  ein  gottbegnadeter  Herr.  (Heiterkeit.)  —  Angekl.: 
Er  ist  auch  zwei-,  dreimal  in  der  Woche  gekommen.  —  Verteidiger: 
Da  gehört  er  unter  Kuratel.    (Neue  Heiterkeit.) 

Die  Angeklagte  MarieHosch  kam  durch  den  „g'flickten  Schani^ 
in  das  Haus,  sie  habe  sich  dort  besonders  in  der  jüngsten  Zeit  sehr 
wohl  befunden.  —  Präs.:  Aber  immer  wird  das  wohl  nicht  so  ge- 
wesen sein?  —  Angekl.:  Ja,  einmal  wollte  ich  mit  ftnf  Kolleginnen 
durchgehen.  —  Präs.:  Sie  hatten  vor,  sich  nachts  mittelst  Lein- 
tüchern auf  die  Straße  hinunterzulassen,  sind  aber  davon  abgekommen. 

—  Frau  Riehl:  Ich  habe  die  Lili  gehalten  wie  ein  eigenes  Kind. 
(Bewegung.) 

Dr.  Rabenlechner  (zurHosch):  Waren  vielleicht  die  andern 
Mädchen  so  geartet,  daß  sie  ein  strengeres  Regiment  notwendig 
machten,  waren  die  schlimmer  als  Sie?  —  Angekl.:  Ja,  manche  .  .  — 

Die  Angeklagte  Marie  Wink  1er  war  Stellvertreterin  der  Irma. 

—  Präs.:  Also  so  eine  Art  Ausnahmsstellung.  —  Angekl.:  Ich  war 
gewöhnlich  bei  der  Frau  im  ersten  Stock.  Wenn  die  Irma  nicht 
anwesend  war,  hatte  ich  das  Geld  an  die  Rielil  abzuliefern.  — 
Präs.:  Sie  haben  Rechnung  über  Ihren  Verdienst  geführt,  darnach 
haben  Sie  5337  Kronen  in  einem  halben  Jahre  verdient. 

Dr.  PoUaczek:  Die  Liste  der  Besucher  macht  den  Eindruck 
der  Glaubwürdigkeit,  denn  sie  ist  der  Zeit  nach  geordnet.    (Liest  von 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Eonsorten  in  Wien.  73 

vielen  Zetteln  ab:  „Hanptmann^^  „Alfred^',  „B&umeister^S  „Japaner'S 
„Bekannter'^  „Leutnant^^,  ^Oberleutnant**  „Spitzbart",  „Doktor"  nsw.) 

Präs.:  Haben  sich  Mädcben  bei  Ihnen  beklagt?  —  Angekl.: 
Zu  mir  haben  sie  kein  Vertrauen  gehabt.  —  Präs.:  Wurden  die 
Herren  animiert,  Champagner  zu  trinken?  —  Angekl.:  0  ja! 

Die  Angekl.  Joseph  ine  Zawazal  war  zweimal  im  Hause  der 
Riehl  längere  Zeit  Das  erstemal  entlief  sie,  und  naoh  einigen 
Monaten  kam  sie  wieder,  weil  ihr  eine  Freundin  mitteilte,  Frau 
Riebl  sei  nicht  mehr  so  streng.  —  Präs.:  Fanden  Sie,  daß  sich  die 
Verhältnisse  geändert  hatten?  —  Angekl:  Nein.  Die  Angeklagte 
berichtet  über  ihre  Flucht.  Die  Riehl  habe  sie  besonders  sohlecht 
behandelt.  —  Die  Angeklagte  Riehl  behauptet,  die  Zavazal  sei  von 
ihrem  Liebhaber  geprügelt  worden. 

Sophie  Christ  wurde  gleichfalls  mißhandelt.  Als  sie  fortgehen 
wollte,  sagte  ihr  die  Riehl:  „Ein  Schmarrn,  gehst  fort  in  deine 
Fetzen."  Als  eine  der  „Damen^^  entsprang,  wurde  die  Christ  geprügelt, 
und  die  Riehl  schlug  sie  mit  einem  Besen. 

Präs.:  Warum?  —  Angekl.:  Ich  weiß  nicht. 

Sophie  Christ  ist  zweimal  geprügelt  worden,  weil  sie  zu  ent- 
fliehen versuchte.  Das  zweite  Mal  gelang  es  einer  Genossin  zu 
entkommen;  sie  selbst  wurde  im  „italienischen  Zimmer*^  von  der 
Riehl  und  der  Hosch  geschlagen.  Die  Riehl  sagte :  „Du  kriegst  die 
Prttgel  daftlr,  daß  die  andere  durchgegangen  ist  Dafbr  mußt  du 
jetzt  büßen.** 

Frau  Riehl  erklärt  alles  als  Lüge.  Die  Christ  habe  als  Dienst- 
mädchen in  die  Küche  gehen  wollen.  Da  sie  (die  Riehl)  das  nicht 
duldete,  sei  die  Christ  entlassen  worden.  Die  Christ  habe  ihr  ver- 
sprochen, ihr  schöne  Mädchen  zuzuführen. 

Ernestine  Gönye,  das  frühere  Stubenmädchen  der  Riehl,  er- 
zählt, daß  kranke  Mädchen  manchmal  vor  dem  Arzt  versteckt  worden 
smd.  Ifan  sagte,  die  Betreffende  sei  zu  einer  Taufe  gefahren  und 
komme  erst  in  ein  paar  Tagen  wieder.  Ein  einzigesmal  sei  eine 
Endliche  polizeiliche  Revision  in  allen  Zimmern  vorgenommen 
worden.  Agent  Piß  kam  wiederholt  und  sprach  mit  der  Frau.  Auch 
des  Abends  kam  er.  Die  Gönye  wurde  zweimal  geschlagen,  das 
zweitemal,  weil  sie  sich  vom  Masseur  der  Riehl  die  Nägel  schneiden 
ließ.  Die  Riehl  sagte  ihr:  ^^Wie  können  Sie  sich  unterstehen,  sich 
von  meinem  Doktor  die  Nägel  schneiden  zu  lassen?  Er  wird  mein 
Cremahl,  und  Sie  lassen  sich  von  ihm  die  Nägel  schneiden!'^ 

Bei  der  Szene  im  Badezimmer,  wo  die  Operation  mit  dem  Spiegel 
VI  Anna  Christ  vorgenommen  wurde,  war  die.  Gönye  anwesend. 


74  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Der  Präsident  verliest  die  protokollarische  Aussage  der  flüchtigen 
Emma  Madzia,  die  angibt,  sie  sei  von  Frau  Biehl  ttber  ihre  Aus- 
sage instruiert  worden  und  habe  als  Lohn  eine  goldene  Uhr  von  ihr 
erhalten.  — Frau  Riehl:  Wenn  alles  wahr  wäre,  was  die  Madzia 
angegeben  hat,  warum  ist  sie  dann  nicht  zur Verliandlung  erschienen? 
Präs.:  Daß  sie  heute  nicht  erschienen  ist,  ist  nicht  unbegreiflich; 
denn  sie  ist  wegen  falscher  Zeugenaussage  angeklagt.  Warum  haben 
Sie  ihr  denn  die  Uhr  geschenkt?  —  Frau  Riehl:  Weil  ich  sie  zur 
Firmung  geftthrt  habe.  —  Präs.:  Wie  kommen  denn  Sie  dazu,  die 
Mädchen  zur  Firmung  zu  führen?  —  Frau  Riehl:  Weil  sie  mich 
darum  gebeten  haben.  —  Präs.:  Oder  um  sie  an  sich  zu  fesseln? 
Denn  jedenfalls  steht  das  im  Widerspruch  zu  den  Zwecken,  die  Sie 
sonst  mit  den  Mädchen  verfolgt  haben. 

Nach  der  Mittagspause  wird  der  Oberpolizeirat  und  Regierungs- 
rat Dr.  Kroph  als  Zeuge  einvernommen.  Er  war  bis  zum  Vorjahr 
Vorstand  des  Kommissariats  Aisergrund,  dem  er  zwölf  Jahre  vorstand. 

Präs.:  Haben  Sie  in  dieser  Eigenschaft  auch  mit  dem  Prosti- 
tutionswesen zu  tun  gehabt?  —  Zeuge:  Jawohl,  ich  habe  die  Be- 
amten instruiert  und  die  oberste  Eontrolle  geführt.  —  Präs.:  Ist  es 
richtig,  Herr  Zeuge,  daß  die  Aufsicht  im  Hause  Riehl  ausschließlich 
dem  Agenten  Piß  überlassen  war?  —  Zeuge:  Der  Agent  hatte 
selbst  keine  Verfügungen  zu  treffen.  Dazu  war  ein  eigener 
Referent  da.  Allerdings  wurde  der  Agent,  der  ja  damals  als  ver- 
trauenswürdig galt,  zu  Recherchen  verwendet.  —  Präs.:  Haben  Sie, 
Herr  Zeuge,  jemals  persönlich  das  Haus  besucht?  —  Zeuge:  Nein. 
—  Präs. :  Sind  regelmäßige  Revisionen  im  Hause  Riehl  vorgenommen 
worden?  —  Zeuge:  Es  haben  von  Zeit  zu  Zeit  bei  aktuellen  An- 
lässen solche  Revisionen  stattgefunden.  Aber  ich  bitte  in  Betracht 
zu  ziehen,  daß  wöchentlich  zwei  auch  vier  Amtsärzte  ins  Haus 
kamen,  die  sich  von  den  im  Hause  bestehenden  Verhältnissen  über- 
zeugten, und  die  mir  stets  versicherten,  daß  sie  alles  in  bester 
Ordnung  vorgefunden  hätten. 

Präs. :  Ist  es  Ihnen  bekannt,  daß  ein  gewisser  Weber  persönlich 
bei  dem  Kommissariat  eine  Anzeige  ei*stattete,  daß  ihm  aber  bedeutet 
wurde,  man  könne  sich  mit  solchen  Kleinigkeiten  nicht  abgeben?  — 
Zeuge:  Mir  ist  es  nicht  bekannt.  Es  wäre  dies  eine  Pflichtver- 
letzung des  betreffenden  Beamten  gewesen.  —  Dr.  Rabenlechner: 
Herr  Zeuge,  haben  Sie  sich  speziell  um  das  Haus  bekümmert?  — 
Zeuge:  Nein,  der  Referent  hat  ja  doch  160  Prostituierte,  die  im  Be- 
zirke wohnen,  eine  große  Menge  geheimer  Prostituierter  und  ein 
Heer  von  Zuhältern  zu  überwachen.  —  Dr.  Rabenlechner:  Herr 


L  Der  Prozeß  Riehl  und  KouBorten  in  Wien.  75 

Zeage  werden  jedenfalls  zngeBtehen,  daß  die  öffentliehen  Häuser 
eine  Absperrung  und  Easernierung  der  Prostituierten  bezwecken  und 
dafi  es  in  der  Intention  der  Polizei  gelegen  ist,  diese  Absperrung  gründ- 
lieh zu  besorgen.  —  Zeuge:  Jedenfalls  muß  der  Gassenstrich  ver- 
mieden werden. 

Dr.  Haben leohner:  Was  haben  Sie,  Herr  Zeuge,  von  dem 
Material,  das  sich  der  Prostitntion  zuwendet,  fbr  einen  Eindruck  ge- 
wonnen? —  Zeuge:  In  den  meisten  Fällen  waren  es  Mädchen,  an 
denen  nichts  mehr  zu  verderben  war.  —  Dr.  Rode:  Woher  haben 
Herr  Zeuge  diese  Gewißheit?  —  Zeuge  (lächelnd):  Ich  glaube  mir 
ein  solches  Urteil  auf  Grund  meiner  Menschenkenntnis  erlauben  zu 
können.  —  Dr.  Rode:  Um  diese  Sicherheit  sind  Sie  zu  beneiden. 

Das  Beweisverfahren  wird  hierauf  geschlossen. 

Staatsanwaltsubstitut  Dr.  Langer  zieht  die  Anklage  in  mehreren 
Punkten  zurück.  Hinsichtlich  des  Friedrich  König  wird  die  Anklage 
anf  das  Verbrechen  der  Kuppelei  nach  §  132  IV  St.G.;  in  idealer  Kon- 
kurrenz mit  dem  Verbrechen  nach  §§  5;  93  St.G.,  ausgedehnt. 

Der  Staatsanwalt  führt  aus: 

Wenn  ich  mir  auch  der  Grenzen  meiner  Kompetenz  bewußt  bin, 
60  halte  ich  es  trotzdem  für  notwendig,  einige  einleitende  Bemer- 
kungen zu  machen,  die  die  Stellung  der  Staatsanwaltschaft  präzisieren 
Bollen.  Es  bandelt  sich  zunächst  um  die  Stellung  zu  den  Publikationen 
im  ,,Extrablatt^\  Ich  will  Herrn  Bader  durchaus  nicht  das  Verdienst 
bestreiten,  das  er  sich  durch  die  Aufdeckung  der  Mißverhältnisse 
im  Hause  Riehl  erworben  hat.  Seine  Artikel  waren  nur  der  Anlaß 
zur  Einleitung  des  Strafverfahrens.  Der  Untersuchungsrichter  ist 
dann  bei  der  Bewältigung  des  riesigen  Arbeitsmaterials  nur  mehr 
von  seinem  Gewissen  .und  seiner  Amtspflicht  geleitet  worden,  und 
einsehneidende  Schritte  wurden  erst  unternommen,  als  der  in  der  Presse 
erhobene  Verdacht  durch  beeidete  Zeugenaussagen  unterstützt  wurde. 

Die  Anklage  ist  aber  auch  nicht  ein  Akt  der  Prüderie,  wie 
schon  behauptet  worden  ist.  Sie  bezweckt  auch  nicht  die  straf- 
gerichtliche Verfolgung  der  Prostitution,  denn  die  Staatsanwaltschaft 
weiß,  daß  die  Prostitution  ein  Problem  der  Verwaltungslehre,  nicht 
aber  des  Strafrechtes  ist.  Die  Strafbehörde  hat  erst  dann  ein- 
zuschreiten, wenn  Auswüchse  zutage  treten,  wie  sie  der  Unter- 
snehungsricbter  bezüglich  des  Treibens  im  Hause  Riehl  festgestellt 
hat;  die  Angeklagte  hat  es  unternommen,  durch  die  Hintertür  der 
Prostitution  die  Sklaverei  in  unsere  Kultur  einzuschmuggeln,  und 
die  Staatsanwaltschaft  war  verpflichtet,  dagegen  einzuschreiten.    Ich 


76  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

kann  mich  nicht  zu  der  hier  ausgesprochenen  Ansicht  bekennen,  daß 
ein  Mädchen  der  Wohltat  des  gesetzlichen  Schutzes  verlustig  gehe, 
wenn  sie  durch  Not  oder  durch  Leichtsinn  auf  die  Bahn  des  Lasters 
geraten  ist.  Es  waren  nicht  durchaus  Verlorene,  an  denen  nichts 
zu  verderben  ist;  auch  diese  verirrten  Mensclienkinder  sind  der  Mühe 
und  der  Fürsorge  der  Staatsbehörden  würdig. 

Zur  Beweisfrage  erklärt  der  Staatsanwalt,  daß  er  durchaus 
nicht  Obersehe  mit  welch'  großer  Vorsicht  Zeugenaussagen  von  Prosti- 
tuierten aufzunehmen  seien,  da  erfahrungsgemäß  in  solchen  Personen 
Wahrheitsliebe  und  Pflichtgefühl  von  der  durch  das  Gewerbe  ge- 
steigerten Eitelkeit  ganz  überwuchert  werden.  Ebenso  schwere 
Bedenken  stehen  aber  auch  den  Angaben  der  beiden  Angeklagten 
entgegen.  Denn  der  Regine  Riehl  ganzes  Sinnen  und  Trachten  ist 
beherrscht  von  brutaler  Habgier.  Und  an  ihrer  Seite  waltete  als 
Superlativ  der  Hinterhältigkeit  Äntonia  PoUak.  Wir  sehen  in  Regine 
Riehl  und  Antonia  Pollak  nur  egoistische  Motive,  und  bei  Personen, 
bei  denen  Geldsucht  und  Habgier  so  starke  Triebfedern  sind,  muß 
man  daran  zweifeln,  daß  sie  die  Pflicht  zur  Wahrheit  kennen,  ge- 
schweige denn  daß  sie  darnach  handeln.  Andererseits  liegen  eine 
Reihe  von  Momenten  vor,  welche  die  Bedenken  gegen  die  Zeugen- 
aussagen beseitigen.  So  zunächst  die  Übereinstimmung  dieser  großen 
Zahl  von  Aussagen.  Wenn  nun  vielleicht  von  Seiten  des  Verteidigers  der 
Riehl  daraus  das  Bestehen  eines  Komplotts  geschlossen  werden  sollte, 
so  übersieht  er  hierbei,  daß  dieser  Uniformität  der  Aussagen  auch  eine 
Uniformität  des  Tatbestandes  entspricht.  Schließlich  sei  darauf  hin- 
zuweisen, daß  auch  die  Hausbesorger  die  Aussagen  der  Mädchen 
durchwegs  bestätigt  haben,  und  daß  —  wie  die  Geschichte  der 
Prostitution  lehre  —  die  Freiheitsbeschränkung  ein  typisches  Kuppler- 
verbrechen ist. 

In  das  Haus  Riehl  wurden  die  Mädchen  mit  süßen  Worten  ge- 
lockt und  mit  freundlichen  Mienen  eingeführt.  Von  diesem  Augen- 
blick an  waren  sie  Gefangene  der  Riehl,  sie  wurden  hinter  zwei- 
fachem Schloß  und  Riegel  in  der  Kaserne  zurückgehalten,  und 
vor  die  versperrten  Türen  wurde  der  Cerberus  Antonie  Pollak 
gesetzt.  Nun  galt  es  alle  diejenigen  Faktoren  auszuschalten,  welche 
diese  Schlösser  hätten  sprengen  können,  hierher  gehört  die  Konfis- 
kation des  Geldes  und  der  Straßenkleider  und  die  Bemühung,  die 
Angehörigen  der  Mädchen  vom  Hause  fernzuhalten.  Ein  anderer 
Faktor  waren  die  Behörden,  und  da  ist  es  der  Riehl  wohl  sehr 
leicht  gemacht  worden,  diese  durch  Geheimhaltung  der  Einrichtungen 
des  Hauses  hinters  Licht  zu  führen.     Der  eine  Referent  hatte  keine 


L  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  in  Wien.  77 

Zeit,  der  andere  hatte  es  anter  seinem  Dekorum  gefanden,  seinen 
Obliegenheiten  nachzakommen.  Andere  haben  sogar  anter  Berufung 
auf  §  1 53  St.P.O.  sieh  der  Pflicht  entziehen  dürfen,  über  ihre  Amts- 
tätigkeit Auskunft  zu  geben.  Zugleich  trat  noch  der  Umstand 
ein,  daß  es  die  beiden  Angeklagten  und  insbesondere  die  Eiehl 
verstanden  haben,  bei  den  Mädchen  Mißtranen  gegen  die  polizei- 
lichen Organe  zu  erwecken. 

Der  Staatsanwalt  widerlegt  dann  die  Behauptung,  daß  die 
Angeklagte  Riehl  glauben  durfte,  bona  fide  zu  handeln;  das  Gegenteil 
ergebe  sich  aus  der  Tatsache,  daß  sie  gerade  die  hier  gerügten  Ein- 
richtungen bei  den  Revisionen  immer  verheimlicht  hat  und  aus  den 
mannigfachen  Bemühungen  sich  des  Wohlwollens  der  Polizeiorgane 
zu  versichern. 

Die  angeklagten  Prostituierten  betreffend,  verweist  der  Staats- 
anwalt auf  ihre  Geständnisse  und  bemerkt,  duß  sie  allerdings  bei 
Ablegnng  ihrer  Aussagen  unter  der  Pression  der  Riehl  gestanden 
8eieu,  immerhin  aber  auch  die  Versprechungen  von  Geschenken  einen 
bestimmenden  Einfluß  auf  sie  geübt  haben. 

Der  Angeklagte  Friedrich  König  habe  es  selbst  zugestanden, 
daß  er  sein  Kind  verkauft  und  aus  dem  Schandgewerbe  Nutzen  ge- 
zogen hat.  Er  hat  nicht  einmal  dem  Mädchen  sein  Ohr  geliehen, 
das  ihm  sein  Leid  klagen  wollte;  und  er  hat  es  zustande  gebracht, 
sein  Kind  zu  schlagen,  mit  dem  Arbeitshaus  zu  drohen,  bis  es  zu 
der  abstoßenden  Szene  kam,  bei  der  das  Kind  niederknien  und  die 
Riehl  um  Verzeihung  bitten  mußte.  Seine  Verantwortung  sei  nur 
eine  —  offenbar  von  der  erfindungsreichen  Frau  Riehl  ersonnene  — 
Ausrede.  Es  sei  demnach  festgestellt,  daß  er  sich  in  dem  Sinne  be- 
tätigt hat,  daß  sein  Kind  im  Hause  verbleibe  und  die  Prostitution 
betreibe,  und  hierin  sei  der  Tatbestand  der  Kuppelei  erschöpft. 

In  Ansehung  der  juristischen  Qualifikation  der  Taten  der 
einzelnen  Angeklagten  verweist  der  Staatsanwalt  auf  die  Anklageschrift 
und  schließt  mit  der  Erörterung  der  Straf  frage. 

Dr.  Walter  Rode  als  Vertreter  von  fünfzehn  Privatbeteiligten, 
jener  Mädchen^  die  im  Hause  Riehl  zu  Schaden  gekommen  sind, 
fbbrt  in  einer  temperamentvollen  Rede  aus:  Die  Ursache  des  Be- 
stehens eines  Regimentes,  wie  es  das  der  Riehl  wahr,  eines  Regi- 
mentes, daß  sich  etablieren  und  behaupten  konnte  im  Angesichte  aller 
Welt  und  unter  den  Augen  der  Behörde,  scheint  mir  darin  zu  liegen, 
daß  die  Gesellschaft  die  Tendenz  hat,  das  Lebensgebiet  der  Prostitu- 
tion im  Dunkel  zu  halten,  und  darin,  daß  über  die  Rechtsstellung 
der  Prostituierten  eine  allgemeine  Begriffsverwirrung  herrschend  ist. 


78  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Redner  gibt  eine  allgemeine  Darstellung  der  Bechtsstellung  der 
Prostituierten  und  sagt,  bis  jetzt  war  immer  nur  die  Rede  von  dem 
Schutz  der  Öffentlichkeit  gegen  die  Prostitution;  von  dem  Rechte 
der  Prostituierten,  von  dem  war  leider  nie  die  Rede.  Redner  be- 
spricht die  in  der  Oktroyierung  der  Hausordnung  und  in  der  Arrogie- 
rung  einer  Gewalt  gelegene  Beschränkung  der  Freiheit  der  Mädchen 
nach  allgemeinen  juristischen  Gesichtspunkten  und  schließt  seine  Rede: 
Unsere  Namen  und  unsere  Angelegenheiten  werden  längst  ver- 
gessen sein,  wenn  der  Namen  der  Frau  Regine  Riehl,  dieses  denk- 
würdigen Prozesses  wegen,  seine  traurige  Berühmtheit  in  der  Krimi- 
nalgeschichte behauptet  haben  wird.  Sie  hat  sich  das  Strandrecht 
angemaßt  über  jene  Mädchen,  die  das  Meer  des  Elends  ausgeworfen 
hat  und  hat  mit  der  Jugend  und  Schönheit  schamlosen  Blutwuoher 
getrieben.  Als  im  Jahre  1 397  das  Gericht  des  Erzbischofs  von  Paris 
die  Kupplenn  Jeanne  Magleitt  ähnlicher  Schandtaten,  wie  sie  heute 
der  Riehl  zur  Last  liegen,  schuldig  fand,  lautete  die  Verurteilung 
auf  öffentliche  Schaustellung  und  Konfiskation  von  Hab  und  Gut. 
Eine  Funktion  ähnlich  dieser  Konfiskation  sollen  nun  meine  Ansprüche 
haben. 

Dr.  Rode  stellt  hierauf  folgende  Ansprüche  und  zwar  für  Frei- 
heitsentziehung, Verdienstentgang  und  Vorenthaltung  von  Effekten 
für  1)  Anna  Christ  1204  K.;  2)  Elise  M.  800  K.;  3)  Angela  G.  480 K.; 
4)  Ottilie  G.  1360  K.;  5)  Georgine  W.  1544  K.;  6)  Marie  St.  187  K.  38; 
7)  Josephine  T.  668  K.;  8)  Marie  H.  518  K.;  9)  Therese  Seh.  55  K. 
30;  10)  Marie  K.  10400  K.;  11)  Therese  M.  5  K.;  12)  Anna  F. 
129  K.;  13)  Paula  D.  460  K.;  14)  Julie  B.  166  K.;  15)  The- 
rese L.  1200  K. 

Der  Verteidiger  Dr.  Rabenleohner,  der  nunmehr  das  Wort  er- 
greift, erklärt,  daß  die  Verteidigung  der  Regine  Riehl  sich  auf  etwas 
ganz  anderes  autbaue,  als  der  Staatsanwalt  vorausgesagt  habe. 
Sie  müsse  behaupten,  daß  die  eigentlichen  Schuldigen  unsichtbare 
Gestalten  sind,  die  in  diesem  Saal  nicht  anwesend  sind.  Die  Be- 
schuldigten erscheinen  in  ihrer  Vertretung  mit  einer  grotesken  Sub- 
stitutionsvollmacht. Man  müsse  sich  fragen,  ob  der  Staatsanwalt 
nicht  die  Pflicht  gehabt  habe,  gegen  diese  Unsichtbaren  mit  der- 
selben Wucht  und  Schneidigkeit  aufzutreten,  wie  gegen  die  wirklich 
Angeklagten.  Gestern  habe  man  es  aus  einer  autoritativen  Er- 
klärung des  kais.  Rates  Dr.  Merta  erfahren,  daß  eine  Regelung 
der  Prostitution  im  gesetzlichen  Wege  nicht  bestehe,  und  daß  auch 
diese  wichtige  Begebenheit  ebenso  wie  andere  wichtige  Fragen  in 
Österreich  nur  halb  erledigt  wird.     Man  toleriert  öffentliche  Häuser, 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  79 

erteilt  strenge  Reglements  und  erläßt  Verordnungen.  Aber  wenn 
diese  VoTsehriften  mit  Energie  angewendet  werden,  trete  strafrecht- 
liobe  Almdnng  ein,  obwohl  sieh  alle  angeklagten  Mißstände  als 
wesentUcbe  Folgeerscheinungen  des  Betriebes  eines  öfifentlichen 
Hauses  ergeben.  Als  man  der  Regine  Riehl  die  Eonzession  für  ihr 
Gewerbe  erteilte,  habe  man  genau  gewußt,  daß  sie  viermal  wegen 
Übertretung  der  Kuppelei  empfindlieh  vorbestraft  sei.  Und  dennoch 
habe  man  ihr  die  Erlaubnis  erteilt,  vielleicht  weil  man  in  diesem 
Vorleben  eine  Art  Befähigungsnachweis  für  den  Beruf  erblickte. 
Man  habe  also  gewußt,  mit  wem  man  es  zu  tun  hatte,  und  konnte 
Eontrollen  und  Revisionen  verschärfen.  Es  ist  doch  nicht  gut 
möglich,  ruft  der  Verteidiger  ans,  daß  auch  die  Akten  mit  den 
Vorstrafen  —  wie  soll  ich  mich  ausdrücken  —  zur  Unkenntnis 
der  Behörden  gelangt  sind.  (Heiterkeit.)  Mußte  also  Frau  Riehl 
nicht,  als  sie  sah,  daß  ihre  Vorkehrungen,  die  sie  unter  den  Augen 
der  Behörden  traf,  unbeanstandet  blieben,  während  sie  Ausdrücke 
der  Zufriedenheit  seitens  der  Polizei  zu  hören  bekam,  der  Ansicht  sein, 
daß  das,  was  sie  tat,  auch  wohlgetan  war?  Kann  man  ihr  nicht  mit 
voller  Berechtigung  zubilligen,  daß  sie  bona  fide  gehandelt  hat? 
Wer  die  Revision  im  Hause  Riehl  vorgenommen  hat,  ob  der  Polizei- 
präsident oder  der  Agent  Piß,  ist  für  uns  gleichgültig.  Ebenso,  ob 
die  Revisionen  korrekt  waren  oder  nicht.  Das  mögen  die  Herren 
untereinander  ausmachen.  Eine  zu  Aufsichtszwecken  entsendete 
Amtsperson  war  es,  und  das  ist  die  Hauptsache.  Aber  wir  wissen 
es,  es  kamen  auch  Herren  mit  Rosetten.  Wozu  sie  kamen  interessiert 
uns  wieder  nicht. 

„Meine  Herren!  Es  ist  leider  eine  notorische  Tatsache,  daß  sich 
jene  Unglücklichen,  die  sich  der  Prostitution  widmen,  von  selbst 
ilirer  kostbaren  Freiheit  begeben,  jener  Freiheit,  die  uns  berechtigten 
Staatsbürgern  unbedingt  zukommt.  Die  Prostituierten  revozieren 
selbst  auf  die  Betätigung  der  ihnen  gesetzlich  gewährleisteten  Freiheit 
ihrer  Person;  sie  begeben  sich  freiwillig,  wenn  auch  durch  Not  und 
andere  Unbilden  bedrängt,  in  jenen  Zustand  beschränkter  gesetzlicher 
Berechtigung,  der  nur  zum  wenigsten  in  der  Internierung  in  öffent- 
lichen Häusern  Ausdruck  findet.  Die  Polizei  beschränkt  ihre  Frei- 
heit; sie  tut  es  im  Interesse  der  öffentlichen  Ordnung.  Sie  dürfen, 
meine  Herren  vom  hohen  Gerichtshof,  nicht  so  urteilen,  als  ob  es 
sich  um  Menschen  unserer  Kreise  handeln  würde.  Sie  müssen 
binabsteigen  in  das  Milieu  der  Bordellwirtschaft.  Nur  dann  können 
Sie  ein  richtiges  und  gereiftes  Urteil  finden." 

Der    Verteidiger    erörtert    dann    die   Möglichkeiten,    die    den 


80  I.  Der  Prozeß  Riebl  und  Konsorten  in  Wien. 

Mädchen  der  Riehl  offen  gestanden  sind,  sich  aus  ihrem  Hanse  zu 
entfernen,  wenn  ihnen  wirklich  daran  gelegen  war. 

,,61auben  Sie,  meine  Herren,  daß  es  wirklich  möglich  gewesen 
ist,  ein  Dutzend  Mädchen  vier  Jahre  lang  ihrer  Freiheit  zu  berauben  ? 
Das  können  Sie  nicht  annehmen,  wohl  aber  können  Sie  mit  Recht 
kalkulieren,  daß  es  den  unberechenbar  launischen  Mädchen  niemals 
um  wirkliche  Flucht  zu  tun  war,  da  sie  ja  selbst  in  dankbaren 
Briefen  um  neuerliehe  Aufnahme  baten,  wenn  sie  einmal  das  Hans 
Riehl  verlassen  hatten. 

Die  Empfindung  müssen  Sie  haben,  das  diese  Anklage  weit  übers 
Ziel  hinausschießt,  aber  die  Überzeugung  müssen  Sie  auch  haben,  daß 
wenn  tatsächlich  der  objektive  Tatbestand  der  persönlichen  Freiheits- 
beraubung vorliegt,  gewiß  das  subjektive  Verschulden  fehlt,  die  Ab- 
sicht, die  zu  jedem  Verbrechen  erforderlich  ist*^ 

Hierauf  ergreift  der  Verteidiger  der  sieben  wegen  falscher 
Zeugenaussage  angeklagten  Mädchen  Dr.  Wolfgang  Pollaczek 
das  Wort.     Er  führt  aus: 

„Nicht  selten  haben  aufsehenerregende  Eriminalprozesse  den 
Anstoß  zu  weitgreifenden  Reformen  gegeben.  Der  eiserne  Besen 
der  Justiz,  bestimmt,  einige  angefaulte  Existenzen  wegzufegen,  deckt 
Schäden  auf,  über  welche  die  Gewohnheit  des  Tages  hinwegeilt,  niclit 
ahnend,  wie  tief  sie  sind,  wie  sehr  sie  hineinfressen  in  das  GefQge 
der  Gesellschaftsordnung.  Wir  haben  erlebt,  wie  zu  Beginn  unseres 
Jahrhunderts  die  Prozesse  wegen  Eindermißhandlnng  zugleich  das 
Augenmerk  der  Öffentlichkeit  auf  den  ungenügenden  Schutz  der  be- 
stehenden Gesetze  gelenkt  und  zur  Gründung  hilfsbereiter  Insti- 
tutionen angespornt  haben.  Wir  sahen,  welch  segensreiche  Wirkung 
der  Kinderspitalprozeß  auf  die  Regelung  der  öffentlichen  Kranken- 
pflege, welche  Maßregeln  die  Spielerprozesse  in  Deutschland,  der 
„Pall  Mall"- Prozeß  in  England  im  Gefolge  hatten.  Auf  Grund  dieser 
Erfahrungen  wollen  wir  denn  das  traurige  Kapitel  Wiener  Lokal- 
geschichte, das  in  den  letzten  Tagen  weit  über  die  Grenzen  unserer 
Stadt  hinaus  ungeheures  Aufsehen  erregt  hat,  mit  der  trostreichen 
Perspektive  zum  Abschluß  bringen,  daß  hoffentlich  die  beispiellosen 
Mengen  von  Schmutz  und  Gemeinheit,  von  ekligem  Laster  und  ab- 
grundtiefer Rohheit  nicht  umsonst  zutage  gefordert  wurden,  daß  aus 
dem  Bodensatz,  der  hierbei  bloßgelegt  wurde,  die  Erkenntnis  sich 
emporgerungeu  hat,  daß  auch  den  Letzten  der  Letzten,  den  Ver- 
achtetsten  der  Verachteten  der  Schutz  nicht  versagt  werden  darf, 
der  ihnen  im  Namen  der  Menschlichkeit  und  Gerechtigkeit  gebührt. 

Ich    habe    hier   nicht  genug  getan,  wenn  ich  die  individuellen 


L   Der  Prozeß  Hieb!  und  Konsorten  in  Wien.  81 

Straftaten  dieser  sieben  Angeklagten  zn  exkulpieren  snche,  sondern 
ich  habe  hier  zu  zeigen,  daß  im  allgemeinen  Vergebungen  von 
Prostitaierten,  wie  sie  hier  unter  Anklage  gestellt  wurden,  einer 
ganz  eigenartigen  Beurteilung  zu  unterziehen  sind.  Ich  verteidige 
Uer  nieht  nur  Prosituierte,  sondern  ich  habe  zn  erkl&ren,  wie  Ver- 
brechen der  Art,  wie  sie  die  Staatsbehörde  hier  unter  Anklage  ge- 
stellt haty  dann  zn  beurteilen  sind,  wenn  sie  von  Angehörigen  der 
Kaste  der  Prostituierten  begangen  worden  sind. 

Ein  tranriges  Wort  ist  mir  entschlflpft.  Kaste  der  Prostituierten ! 
Fast  mochte  man  meinen,  es  sei  eine  Anomalie,  ein  Anachronismus, 
eiD  Unding,  im  modernen  europäischen  Staatswesen  von  Kasten  zu 
sprechen.    Und  doch!   Aller  Fortschritt,  alle  modernen  Anschauungen 
von  den  Rechten  des  Individuums,  von  der  freien  Selbstbestimmung, 
die  Staatsgrnndgesetze  und  die  modernsten  philosophischen  Systeme 
können  die  Tatsache  nicht  aus  der  Welt  schaffen,  daß  die  unglttck- 
Hehen  Geschöpfe,  die  Genußsucht,  Not,  Leichtsinn,  Verführung  oder 
Verbrechen    anf  die   Bahn   des   Lasters  geführt  haben,  nur  in  den 
seltensten  Aasnabmef&llen,  in  einem  gar  nicht  nennenswerten  Prozent- 
satz sich  ans  den  umstrickenden  Armen  der  Sünde  losmachen. 

Blamier*  mich  nicht,  mein  schönes  Kind, 
Und  grflß*  mich  nicht  anter  den  Linden. 
Wenn  wir  nachher  zu  Hanse  sind, 
Wird  sich  schon  alles  finden. 

Welch  feine  psychologische  Beobachtung  in  den  Versen  des 
großen  Dichters  und  Satirikers!  Wie  hat  er  in  wenigen  Worten 
ein  Übermaß  von  Grausamkeit,  Verachtung  und  Selbstsucht  gekenn- 
zeichnet, mit  wenigen  Strichen  die  Tragödie  der  Dirne  treffend 
entworfen!  Süße  Schäferstunden,  heiße  Umarmungen,  höchste  Lust 
zu  gew&hren,  dazu  sind  sie  gut  genug.  Mag  einer  ein  noch  so 
hoher  Herr  sein,  er  wird  mit  aufgestülptem  Mantelkragen  den  Weg 
in  die  dunklen  Gassen  des  Lasters  finden;  aber  gleich  einem  eklen 
Warme  schüttelt  er  eine  halbe  Stunde  sp&ter  Jdie  Berührung  des 
Weibes  von  sich  ab,  das  er  eben  noch  glutvoll  umfangen,  wenn  er 
fllrehten  muß,  ein  Bekannter  fange  einen  verräterischen  Blick,  ein 
geflüstertes  Wort  auf,  das  seine  Beziehungen  |zu  dem  Auswürfling 
verraten  könnte!  Hier  liegt  der  Schlüssel  zum  Verständnis  der 
Psychologie  der  Dirne,  die  sich  leichter  über  ^die  Gebote  der  Pflicht 
und  der  Gesetze  hinwegsetzt,  weil  ihr  gegenüber  das  oberste  Ge- 
bot hintenangesetzt  wird:  das  Gebot  der  Achtung  vor  dem 
Menschentum ! 

AithiT  ffir  Kiiminalanthropologie.    27.  Bd.  6 


82  I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  in  Wien. 

So  also  sei  der  Boden  beschaffen,  anf  den  dann  von  einer  so 
energischen  nnd  geistig'  überlegenen  Person  wie  Regine  Riehl  die 
Saat  einer  Anstiftung  zu  einem  Verbrechen  ausgestreut  worden  sei. 
Furcht,  Mitleid  und  Notlage  seien  die  Motive  gewesen,  aus  denen 
die  Mädchen  die  falsche  Aussage  abgelegt  haben  und  denen  normale 
Menschen  vielleicht  hätten  widerstehen  können,  nicht  aber  Prosti- 
tuierte, in  denen  jedes  Rechtsgef&hl  ertötet,  jede  Energie  gelähmt, 
alle  Rechtsbegriffe  in  ihr  Gegenteil  verkehrt  worden  seien,  so  daß 
die  Zwangslage,  in  die  sie  von  der  Riehl  gebracht  seien,  als  eine 
im  gegebenen  Falle  unwiderstehliche  bezeichnet  werden  müsse.  Bei 
Anna  Christ  und  Marie  Winkler  komme  überdies  freiwilliger  Rück- 
tritt vom  Versuche  in  Betracht,  da  beide  spontan  vor  dem  Unter- 
suchungsrichter ihre  falsche  Aussage  widerrufen  hätten.  Kein 
Zweifel,  schließt  der  Verteidiger,  daß  Richter  aus  dem  Volke,  wenn 
sie  über  diese  unglücklichen  Mädchen  zu  urteilen  hätten,  sie  frei- 
sprechen würden.  Wenn  ich  den  gleichen  Appell  an  Sie,  meine 
Herren  vom  hohen  Gerichtshof,  richte,  dann  weiß  ich,  daß  Sie 
mit  Freuden  durch  weise  Begründung  eines  Freispruehes,  zu  dem 
ich  hoffentlich  durch  meine  bescheidenen  Ausflihrungen  beigetragen 
habe,  der  höchsten  Aufgabe  des  Richters  entsprechen  werden,  zu 
zeigen,  daß  das  Recht  der  Juristen  kein  anderes  ist  als  das  der 
Menschlichkeit." 

Verteidiger  Dr.  Hofmokl  ftilirt  aus,  daß  sich  bezüglich  seines 
Klienten  Friedrich  König  das  Kuriosum  ereignet  habe,  daß  er  der 
Mitschuld  an  einem  Faktum  angeklagt  sei,  das  der  Staatsanwalt 
bezüglich  der  Hauptbesehuldigten  Riehl  zurückgezogen  hat.  König 
sei  also  der  Mitschuld  an  einem  Verbrechen  beschuldigt,  das  gar 
nicht  angeklagt  ist.  Aber  selbst  wenn  sich  der  Verteidiger  auf  den 
Standpunkt  stellte,  daß  die  Anklage  in  dieser  Richtung  igerecht- 
fertigt  sei,  müsse  der  Angeklagte  mangels  eines  strafbaren  Tat- 
bestandes freigesprochen  werden.  Denn  das  Gesetz  erkläre  aus- 
drücklich, daß  das  Delikt  der  Freiheitsberaubung  nur  auf  solche 
Personen  Anwendung  finde,  denen  eine  Gewalt  über  das  freiheits- 
beraubte Individuum  nicht  zusteht.  Aber  dem  Vater  stehe  das 
Recht  der  väterlichen  Gewalt  über  sein  Kind  zu,  und  so  könne 
denn  der  §  93  St.G.  auf  König  niemals  Anwendung  finden.  Wenn 
der  Angeklagte  sich  Überschreitungen  seiner  väterlichen  Gewalt  zu 
schulden  kommen  ließ,  so  könne  dies  nur  auf  zivilgerichtliohem 
Wege  ausgetragen  werden. 

Bezüglich  der  Übertretung  des  §  5  des  Vagabundengesetzes 
aei  Dr.  Hofmokl    nicht   in    der   Lage,    für   einen   Freispruch  seines 


I.  Der  Prozeß  Biehi  and  Konsorten  in  Wien.  83 

Elientea  zu  plädieren.  Es  sei,  nm  einen  starken  Ansdrnok  zu  ge- 
brauehcD,  eine  arge  Schweinerei  gewesen,  was  dieser  Vater  ge- 
tan habe,  und  deshalb  sitze  er  hier  anf  der  Anklagebank.  Daß 
die  Eltern  Gelder  einkassieren  gekommen  seien,  darüber  wolle  er 
kein  Wort  verlieren.  Und  wie  hier  an  all  den  Eltern  ein  Exempel 
ttatniert  werden  sollte,  so  sei  den  Herren  vom  Gerichtshof  ins  Gre- 
dlLchtnifl  zurückgerufen,  daß  König  hier  für  alle  das  Bad  ausgießen 
mfisse.  Dr.  Hofmokl  schließt  mit  den  Worten:  Es  ist  hier  viel 
Staub  aufgewirbelt  worden,  und  viel  Schmutz  hat  sich  aus  dieser 
einen  Quelle  ergossen.  Sie  mögen,  meine  Herren,  die  Angeklagten 
Terurteilen  oder  nicht  —  die  Prostitution  werden  Sie  nicht  ab- 
schaffen ! 

Es  folgen  Replik  und  Duplik.  Die  Verhandlung  wird  ge- 
sehlossen.  

Urteil. 

Das  k.  k.  Landgericht  Wien  hat  zu  Hecht  erkannt: 

I.  Begine  Riehl  ist  sehuldig: 

a)  sie  habe  in  der  Zeit  Tom  Jahre  1897  an,  die  nachbenannten  Personen, 
über  welche  ihr  yermöge  der  Gesetze  keine  Gewalt  zustand,  eigenmächtig  yer- 
BcMoBsen  gehalten  und  sie  auch  auf  andere  Art,  insbesondere  durch  Zurück- 
halten ihrer  Kleider  an  dem  Gebrauche  ihrer  persönlichen  Freiheit  gehindert 
imd  zwar  die: 

1)  Jnliana  Bernhard,  2)  Anna  Christ,  3)  Sofie  Christ,  4)  Paula  Denk, 
h)  Anna  Felber,  6)  Ottilie  Geresch,  7)  Amalia  Glaser,  8)  Angela  Großmann, 
9)  Aloisa  Hirn,  10)  Julie  Hlawatschek,  11)  Marie  Husek,  12)  Anna  Kirchner, 
13)MarieKönig,  14)MarieKotzlik,15)  Anna  Kristof,  16)  Elise  Lipper,  17)  Therese 
Ladwiczek,  18)  Eva  Madzia,  19)  Elise  Menschik,  20)  Marie  Nemetz,  21)  Justine 
Boatschek,  22)  Marie  Starek,  23)  Michaela  Stawicka,  24)  Josefine  Taubmann, 
25)  Georgine  Weinwurm,  26)  Joseßne  Zawazal,  —  es  habe  bei  den  sub  2—14  und 
16 — 2*2  und  24 — 26  genannten  Personen  die  Anhaltung  über  drei  Tage  ge- 
dauert, und  es  haben  die  sub  2,  3,  4,  5,  6,  16,  19,  20,  24,  genannten  Personen 
nebet  der  entzogenen  Freiheit  noch  anderes  Ungemach  zu  leiden  gehabt. 

b)  sie  habe  in  dieser  Zeit,  die  yon  Josefine  Taubmann  zur  Verwahrung 
übernommenen  W&schestücke,  somit  an?ertrautes  Gut,  in  einem  100  K.  nicht 
erreicbenden  Werte  nach  deren  Austritte  aus  ihrem  Hause  yorenthalten  und  sich 
zQgeeignet 

c)  sie  habe  im  Juni  und  Juli  1906  in  Wien,  durch  die  Bitte,  zu  Gunsten 
der  Reg^e  Riehl  auszusagen  und  durch  das  Versprechen  und  die  Verteilung 
▼OD  Geschenken  die  sub  IV  a,  b,  c,  d,  e  und  g  bezeichnete  Übeltat  der  Anna 
Christ,  Sofie  Christ,  Emestine  Gk^nye,  Marie  Hosch,  Josefine  Zawazal,  Marie 
Pokomy,  sowie  die  Übeltat  der  Eva  Madzia,  welche  am  5.  Juli  1906  über  die 
Einrichtung  des  Riehischen  Hauses,  das  Leben  der  Prostituierten  daselbst  und 
über  die  Verrechnung  des  Schandlohnes  dem  Untersuchungsrichter  des  k.  k. 
Landesgericbtes  Wien  unter  Eid  unwahre  Angaben  machte,  somit  vor  Gericht 

6* 


84  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

ein  falsches  eidliches  Zeagnis  ablegte    —  durch  Anraten,  Unterricht  und  Lob 
eingeleitet,  und  vorsätzlich  veranlaßt, 

d)  sie  habe  im  Juni  und  Juli  1906  in  Wien  durch  Versprechungen  von 
Geschenken  bei  Maria  Nemetz  sich  um  ein  falsches  Zeugnis,  so  vor  Gericht  ab- 
gelegt werden  soll,  beworben. 

e)  sie  habe  seit  1897  den  nachbenannten  Schanddimen  und  zwar:  der  Anna 
Christ,  der  Emilie  Nawratil  und  der  Justine  Bohaczek  zur  Betreibung  ihres  un- 
erlaubten Gewerbes  bei  sich  einen  ordentlichen  Aufenthalt  gegeben. 

Begine  Biehl  habe  hierdurch  begangen: 

ad  a)  das  Verbrechen  der  Einschränkung  der  persönlichen  Freiheit  nach 
§  93  St.G.  und  §  94  St.  G. 

ad   C)  die  Übertretung  der  Veruntreuung  nach  §§  461  und  183  StG. 

ade)  das  Verbrechen  der  Mitschuld  am  Betrüge  nach  §§  5,  197, 199  a.  StG. 

a  d  d)  das  Verbrechen  des  Betruges  durch  Bewerbung  um  falsches  Zeugnis 
nach  §§  197,  und  199  a.  St.G. 

ade)  die  Übertretung  der  Kuppelei  nach  §  512  a  St.G. 

Begine  Biehl  wird  nach  §§  34,  35  und  94  St.-G.  (höherer  Strafsatz)  zur 
Strafe  des  schweren,  vierteljährig  durch  einen  Fasttag  verschärften  Kerkers  in 
der  Dauer  von  drei  und  einem  halben  Jahre,  femer  gemäß  §  389  StP.O. 
zum  Strafkostenersatze  und  gemäß  §  366  StP.O.  und  §  1329  a.  b.  G.B.  zum 
Ersätze  eines  Betrages  als  Genugtuung  fOr  die  Freiheitsentziehung  und  zwar  an 
Anna  Christ  per  200  K.,  Elise  Menschik  per  100  K.,  Angela  Großmann  per 
100  K.,  Ottilie  Geresch  per  500  K.,  Georgine  Wein  wurm  per  800  K.,  an  Marie 
Starek  per  50  K.,  Josephine  Taubmann  per  100  K.,  Marie  Husek  per  100  K., 
Marie  König  per  1000  K.,  Anna  Felber  per  50  K.,  Paula  Denk  per  200  K. 
und  an  Therese  Ludwiczek  per  100  K.  verurteilt 

Mit  den  übrigen  Ersatzansprüchen  werden  diese  Personen  und  mit  ihren 
Ersatzansprüchen  überhaupt:  Therese  Schlager,  Therese  Münz  und  Juliana 
Bernhard  gemäß  §  366  StP.O.  auf  den  Zivilrechtsweg  gewiesen. 

U.  Antonie  FoUak  ist  schuldig: 

a)  sie  habe  seit  1897  in  Wien  zu  der  unter  la  bezeichneten  Übeltat  der 
Begine  Biehl  in  Ansehung  der  über  drei  Tage  angehaltenen  nachbezeich- 
neten Personen:  Anna  Christ,  Sofie  Christ  Ottilie  Geresch,  Angela  Großmann, 
Julie  Hlawatschek,  Therese  Ludwiczek,  Elise  Menschik,  Aloisia  Hirn,  Georgine 
Weinwurm  und  Josefine  Zawazal  durch  Bewachung  und  Verhinderung  der  Ent- 
weichung derselben  Hilfe  geleistet,  und  zur  sichereren  Vollstreckung  dieser 
Übeltat  beigetragen. 

b)  sie  habe  im  Juni  und  Juli  1906  in  Wien  durch  die  Bitte,  zu  Gunsten  der 
Begine  Biehl  auszusagen,  respektive  durch  das  Versprechen  von  Geschenken 
seitens  der  Biehl  die  sub  IV  b,  d  und  e  bezeichnete  Übeltat  der  Anna  Christ, 
Sofie  Christ  und  Ernestine  Gönye  durch  Anraten,  Unterricht,  Lob  eingeleitet 
und  vorsätzlich  veranlaßt 

c)  sie  habe  sich  im  Juni  und  Juli  1906  in  Wien  durch  Versprechung  von 
Geschenken  bei  Josefine  Zawazal  um  ein  falsches  Zeugnis,  so  vor  Gericht  ab* 
gelegt  werden  soll,  beworben. 

Antonie  PoUak  habe  hierdurch  begangen: 

ad  a)  das  Verbrechen  der  Mitschuld  an  der  Einschränkung  der  persön- 
lichen Freiheit  nach  §§  5,  93,  94  StG. 


L  Der  Prozeß  Biehl  und  Konsorten  in  Wien.  85 

ad  b)  das  Verbrechen  der  Mitschuld  am  Betrüge  nach  §  5,  197,  199a 
StG.  und 

ade)  das  Verbrechen  der  Bewerbung  um  falsches  Zeugnis  nach  §§  197 
nod  199  a  St.G. 

Antonie  Po  Hak  wird  nach  §§  34  und  94  StG.  (höherer  Strafsatz)  zur 
Strafe  des  schweren  Kerkers  und  zwar  unter  Bedachtnahme  auf  §  55  StG.  in 
der  Dauer  eines  Jahres,  yersch&rft  mit  2  Fasttagen  monatlich  und  nach 
§  389  St.P.O.  zum  Strafkostenersatze  yerurteilt 

m.  Friedrich  KVnig  ist  sehuldig: 

a)  er  habe  zu  der  unter  la  bezeichneten  Übeltat  der  Regine  Riehl  an  der 
fiber  drei  Tage  angehaltenen  Marie  König,  seiner  ehelichen  Tochter,  durch  Miß- 
handlung derselben  und  durch  die  Drohung,  sie  der  Besserungsanstalt  zu  über- 
geben, Vorschub  gegeben  und  Hilfe  geleistet 

b)  er  habe  seit  dem  Jahre  1902  in  Wien  aus  der  gewerbsmäßigen  Unzucht 
der  Marie  König  seinen  Unterhalt  gesucht. 

Friedrich  König  habe  hierdurch  begangen: 

ad  a)  das  Verbrechen  der  Mitschuld  an  der  Einschränkung  der  persön- 
lichen Freiheit  nach  §§  5,  93  und  94  StG. 

a  d  b)  die  Übertretung  des  §  5  (Dritter  Absatz)  des  Gesetzes  vom  24.  Mai 
1SS5  Nr.  89  R.G.B1.,  strafbar  nach  §§  35  und  94  St.G.  (höherer  Strafsats). 

Friedrich  König  wird  nach  diesen  Gesetzesstellen,  unter  Anwendung  des 
§  55  StG.  zur  Strafe  des  schweren,  monatlich  mit  2  Fasttagen  verschärften 
Kerkers  in  der  Dauer  von  acht  Monaten  und  nach  §  389  StP.O.  zum  Straf- 
kostenersatze yerurteilt. 

IV.  Femer  sind  schuldig: 

a)  Marie  Bosch,  sie  habe  durch  die  am  5.  Juli  1906  dem  Untersuchungs- 
richter des  k.  k.  Landesgerichtes  Wien  in  der  Strafsache  gegen  Regine  Riehl 
als  Zeuge  unter  Eid  gemachten  Angaben  über  die  Einrichtung  des  Riehischen 
Hauses,  das  Leben  der  Prostituierten  in  demselben  und  die  Verrechnung  des 
Schandlohnee  vor  Gericht  ein  falsches  Zeugnis  abgelegt 

b)  Sofie  Christ,  sie  habe  durch  am  selben  Tage  demselben  Unter- 
suchungsrichter unter  gleichen  Umständen  als  Zeuge  eidlich  gemachten  Angaben 
aber  dieselben  Umstände  vor  Gericht  ein  falsches  Zeugnis  abgelegt. 

e)  Josef  ine  Zawazal,  sie  habe  auch  am  5.  Juli  1906  yor  demselben 
Untenuchungsrichter  über  dieselben  Umstände  unter  Eid  als  Zeuge  Angaben  ge- 
macht und  hierdurch  ein  falsches  2teugnis  yor  Gericht  abgelegt 

d)  Ernestine  Gönye,  habe  ebenfalls  am  5.  Juli  1906  vor  demselben 
Untersuchungsrichter  über  dieselben  Umstände  unter  Eid  als  Zeuge  Angaben 
gemacht  und  hierdureh  ein  falsches  Zeugnis  vor  Gericht  abgelegt 

e)  Anna  Christ,  sie  habe  durch  die  am  5.  und  16.  Juli  1906  demselben 
Untenuchungsrichter  über  die  Frage  ihrer  Virginität  beim  Eintritte  ihrer  Behandlung 
in  dem  Riehischen  Hause  und  die  Umstände,  unter  denen  sie  das  Haus  verließ, 
gemachten  Angaben  vor  G^ericht  ein  falsches  Zeugnis  abgelegt 

f)  Marie  Winkler,  sie  habe  am  25.  Juli  1906  in  Wien  durch  die  dem- 
ußma.  ünterrachnngsrichter  gemachte  Angabe,  daß  sie  ihre  Aufieeichnungen  aber 
ihren  Verdienst  der  Regine  Riehl  gezeigt  habe,  vor  Gericht  ein  falsches  Zeugnis 
Abgelegt 


86  I.  Der  Prozeß  Riebl  und  Ronsorten  in  Wien. 

g)  Marie  Pokorny,  sie  habe  durch  die  am  23.  Juli  1906  in  Wien  dem- 
selben Untersuchungsrichter  gemachte  Angabe  tlber  den  Verkehr  des  Josef 
Pieß  im  Riehischen  Hause  vor  Gericht  ein  falsches  Zeugnis  abgelegt. 

Hierdurch  haben  die  ad  a— g  genannten  Personen  das  Verbrechen  des 
Betruges  nach  §§  197  nnd  199  a.  St.G.  begangen  und  werden  dieselben  unter 
Anwendung  des  §  54  StG.  und  zwar: 

Marie  Hosch,  Sofie  Christ,  Josefine  Zawazal  und.Ernestine 
Gönye  nach  §  2ü4  StG.,  Marie  Winkler,  Anna  Christ,  und  Marie 
Pokorny  nach  §  202  StG.  verurteilt: 

zur  Strafe  des  Kerkers  und  zwar: 

Marie  Winkler  und  Anna  Christ  in  der  Dauer  von  14  Tagen, 
Sofie  Christ,  Josefine  Zawazal,  Ernestine  Gönye  und  Marie  Po- 
korny in  der  Dauer  yon  3  Wochen  und  Marie  Ho  seh  in  der  Dauer  von 
4  Wochen. 

Auch  haben  die  ad  a — g  ganannten  Personen  nach  §  389  StP.O.  die 
Kosten  des  Strafverfahrens  und  Strafvollzuges  zu  tragen. 

V.  Dagegen  werden  fkreigesprochen : 

A.  Regine  Riehl  von  der  Anklage: 

a)  sie  habe  die  1)  Marie  Lang,  2)  Rosa  Maretschek,  3)  Therese  Schlager, 
über  welche  ihr  vermöge  der  Gesetze  keine  Gewalt  zustand,  eigenmächtig  ver- 
schlossen gehalten  und  sie  auch  auf  andere  Art,  insbesondere  durch  Zurück- 
halten ihrer  Kleider  an  dem  Gebrauche  ihrer  persönlichen  Freiheit  gehindert 
und  habe  hiedurch  nach  §  93  StG.  das  Verbrechen  der  Einschr&nkuug  der 
persönlichen  Freiheit  begangen; 

b)  sie  habe  seit  1897  die  von  1)  Paula  Denk,  2)  Anna  Felber,  3)  Marie 
Husek,  4)  Sofie  Janeba,  5)  Rosa  Maretschek,  0)  Elisabet  Menschik,  7)  Emilie 
Nawratil,  8)  Malke  Chaie  l^escbling,  9)  Therese  Münz,  10)  Justine  Rohaczek, 
11)  Marie  Starek,  12)  Georgine  Weinwurm,  13)  Josefine  Zawazal  zur  Verwahrung 
übernommenen  Kleider  und  Wäsche  somit  anvertrautes  Gut  in  einem  100  K. 
übersteigenden  Werte  nach  deren  Austritte  aus  dem  Riehischen  Hause  denselben 
vorenthalten  und  sich  zugeeignet  und  habe  hierdurch  das  Verbrechen  der  Ver- 
untreuung nach  §  183  StG.  begangen. 

c)  sie  habe  sich  im  Sommer  1906  in  Wien  durch  Versprechung  von  Ge- 
schenken bei  Aloisia  Hirn  um  ein  falsches  Zeugnis,  so  vor  Gericht  abgelegt 
werden  soll,  beworben  und  habe  hierdurch  das  Verbrechen  des  Betruges  nach 
§  197,  199  a  StG.  begangen. 

d)  sie  habe  1905  in  Wien  die  1)  Anna  Felber,  2)  Marie  Hosch,  3)  Elise 
Menschik  vorsätzlich  veranlaßt,  mit  ihrem  Körper  ihr  unzüchtiges  Gewerbe  zu 
betreiben,  obwohl  sie  wußten,  daß  sie  mit  einer  venerischen  Krankheit  behaftet 
waren  und  zur  Ausübung  dieser  Übeltat  Vorschub  gegeben  und  Hilfe  geleistet 
und  habe  hierdurch  die  Obertretung  nach  §  5  StG.  und  §  5/3  des  Gesetzes 
vom  24.  Mai  1885  Nr.  89  R.G.BJ.  begangen ; 

e)  sie  habe  seit  1897  in  Wien  der  1)  Marie  Bilek,  2)  Malke  Chaie  Nesch- 
ling,  3)  Elise  Menschik  zur  Betreibung  ihres  unerlaubten  Gewerbes  bei  sich 
einen  ordentlichen  Aufenthalt  gegeben  und  hierdurch  die  Obertretung  nach 
§  512  a  StG.  begangen. 

ad  a)  1  und  2;  ad  b)  1,  2,  4,  5,  6,  7,  9,  13;  ad  c),  ad  d)  1  und  2  und 
ad  e)  1,  2  —  gemäß  §  259/2  St.P.O, 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  87 

ad    a)  3,  ad    b)  3,   8,   10,   11,   12  —  ad    d)  3  und  ad    e)  3  gemäß 
§  259/3  St  P.O. 

B.  Antonie  Pollak  von  der  Anklage: 

a)  aie  habe  seit  1897  in  Wien  die  nachbenannten  Personen,  über  welche 
ihr  vermöge  der  Gesetze  keine  Gewalt  zustand,  eigenmächtig  yerscblossen  ge- 
halten und  sie  auch  auf  andere  Art,  insbesondere  durch  Zurückbebalten  ihrer 
Kleider  an  dem  Gebrauche  ihrer  persönlichen  Freiheit  gehindert  und  zwar: 
11  Marie  Lang,  2)  Rosa  Mareczek,  3)  Joseßne  Taubmann,  4)  Juliana  £ernhard, 
5)  Paula  Denk,  6)  Anna  Felber,  7)  Amalia  Glaser,  8)  Marie  Husek,  9)  Anna 
Kirchner,  10)  Marie  König,  11)  Marie  Kotzlik,  12)  Anna  Eristof,  13)  £lise  Lipper, 
14)  Eva  Madzia,  15)  Maria  Nemetz,  16)  Justine  Rohaczek,  17)  Marie  Starck, 
18)  Michaela  Stawicka,  19)  Josefine  Tanbmann  und  habe  hierdurch  das  Verbrechen 
der  Einschränkung  der  persönlichen  Freiheit  begangen. 

ad  1—3  gemäß  §  259/2  St.PO.  und  ad  4—20  gemäß  §  250/3  St.P.0. 

b)  sie  habe  seit  1897  in  Wien  durch  Zuführen  von  Schänddimen  in  das 
Haus  der  Regine  Biehl  ein  Geschäft  gemacht  und  hierdurch  die  Übertretung 
nach  §  512b  StG.  begangen,  gemäß  §  259/3  St.P.O. 

C.  Marie  Hosch  von  der  Anklage; 

sie  habe  die  ad  IV  b  und  c  bezeichnete  Übeltat  der  Sofie  Christ  und  Josefine 
Zawazal  durch  die  Bitte,  zugunsten  der  Regine  Riehl  auszusagen,  durch  Unter* 
rieht,  Anraten  eingeleitet,  vorsätzlich  veranlaßt  und  habe  hierdurch  das  Ver- 
brechen der  Mitschuld  am  Betrüge  nach  §  5,  167,  199a  St.G.  begangen,  gemäß 
§  259/3  StP.O. 


Grrflnde : 

I.  Zum  Verbrechen  der  Einschränkung  der  persönlichen  Freiheit 

(§  93  StG)  —  da,  IIa,  III a). 

A.  Begrine  Riehl 

Würde  bereits  mit  Urteil  des  Bezirksgerichtes  Aisergrund  vom  27.  Jänner  1890 
wegen  Kuppelei  nach  §  512  c  St.G.  zu  2  Monaten  Arrest,  vom  25.  Feber  1893 
wegen  Kuppelei  nach  §  512  a  St.G.  zu  4  Monaten  strengen  Arrest,  vom  6.  De- 
zember 1893  wegen  Kuppelei  nach  §  512  a  St.G.  zu  4  Monaten  strengen  Arrest, 
endlich  vom  2.  April  1895  wegen  Kuppelei  nach  §  512a  und  b  StG.  abermals  zu 
4  Monaten  strengen  Arrest  verurteilt  und  hat  sie  diese  Strafen  seinerzeit  auch 
Terbüßt.  —  Trotz  dieser  empfindlichen  Abstrafuugen  wegen  desselben  Deliktes 
gab  sie  diese  Erwerbsart  nicht  auf  —  sie  hatte  sich ,  wie  ans  dem  bezirks- 
gerichtlichen Strafakte  Reg.  Nr.  185  ex  1893  hervorgeht,  schon  ein  Kapital  von 
10  000  fl.  erworben  —  und  richtete  nunmehr  ein  unter  polizeilicher  Kon- 
trolle stehendes  Freudenhaus  ein,  zuerst  in  der  Porzellangasse,  sodann  in 
der  Mfthlgasse  3,  Lichtensteinstraße  15  und  zuletzt  in  der  Grüne  Torgasse  24; 
fttr  letztere  Lokale  zahlte  sie  einen  jährlichen  Mietzins  von  10  000  K.  und  wurde 
ihr  laut  vorliegenden  steuerämtlichen  Zahlungsauf  trage  pro  1906  eine  Personal - 
einkoQunensteuer  von  einem  Jahreseinkommen  von  35  000  K.  bemessen. 

Wie  aus  der  Instruktion  für  die  polizeiliche  Überwachung  von  Prostituierten 
vom  17  Jänner  1900  Z.  5898/A.  B.  und  dem  Formulare  für  das  mit  den  Wohnungs- 
gebem  der  Prostituierten  au&unehmenden  „Verpflichtungsprotokoll"  herrorgeht^ 


88  I.  Der  Prozeß  Biehl  und  Konsorten  in  V^en. 

(in  0.  Kr.  66)  gilt  als  Minimalaiter  einer  Person,  welcher  ein  Gesundheitsbach 
aufgefolgt  werden  soll,  das  16.  Jabr  und  ist  die  Ausstellung  dieses  Baches  an 
ein  M&dchen  von  14 — 16  Jahren  der  Polizeidirektion  yorbebalten;  es  hat  sich 
femer  bei  minderj&hrigen^Bewerberinnen  die  Polizeibehörde  zu  überzeugen, 
ob  seitens  deren  gesetzlicher  Vertreter  deren  Anhaltung  zu  einem  ordentlichen 
Lebenswandel  nicht  zu  gew&rtigen  sei,  zu  welchem  Behufe  diese  Vertreter  ent- 
sprechend behufs  Einfloünahme  zu  Terst&ndigen  sind;  es  ist  femer  jede  Prosti* 
tuierte  vor  Ausfertigung  des  Gesundheitsbaches  durch  den  Amtsarzt  zu  unter- 
suchen und  darf  an  eine  geschlechtlich  integre  Person  ein  Gesnndheitsbuch  nicht 
ausgefolgt  werden;  es  ist  femer  jeder  Yom  Amtsarzt  als  geschlechtskrank  er- 
kannten Person  das  Gesundheitsbuch  abzunehmen  und  hat  sich  dieselbe  behufs 
Spitalaufnahme  beim  Domizilskommissariate  za  melden;  es  kann  weiteres  der 
Wohnungsgeberin  die  Beherbergung  von  Prostituierten  untersagt  werden,  wenn 
sie  sich  einer  Ausbeutung  derselben  schuldig  macht  oder  noch  nicht  unter 
sittenpolizeilicher  Kontrolle  stehende  Frauenspersonen  zur  Prostitutionsausfibung 
oder  zum  Eintritte  in  ihr  Haus  verleitet;  [es  sind  femer  die  Unterkunftsorte  der 
Prostituierten  einer  ständigen  sorgfältigen  Überwachung  zu  unter- 
stellen und  es  hat  endlich  die  Aufnahme  des  erw&bnten  Verpflichtungsproto- 
koUes  unbedingt  zu  erfolgen,  wenn  die  Unterstandsgeberin  5  oder  mehr  Prosti- 
tuierte gleichzeitig  in  ihrer  Wohnung  beherbergen  will.  In  diesem  Protokolle 
verpflichtet  sich  dieselbe  insbesondere  für  eine  st&ndige  Überwachung  des  ge- 
schlechtlichen Gesundheitszustandes  der  Prostituierten,  wozu  auch  die  wöchent- 
lich zweimalige  polizei&rztliche  Untersuchung  derselben  gehört;  sie  ist  ferner 
mit  verantwortlich,  daß  die  Prostituierten  das  Verbot  des  Gassenstrichs  einhalten ; 
sie  darf  keine  minderjährigen  weiblichen  Dienstboten  halten;  geistige  Ge- 
tränke an  Gäste  dürfen  nicht  verabreicht  werden;  sie  hat  durch  Anbringung 
dichter  Vorhänge  oder  durch  Anstrich  der  Fenster  dafür  zu  sorgen,  daß  der 
Finblick  in  die  Wohnräume  unmöglich  sei;  auch  muß  es  den  Abgesandten  der 
Behörde  jederzeit  frei  stehen,  alle  Wohnräume  zu  revidieren. 

Diese  Vorschriften  waren  daher  vom  Zeitpunkte  ihrer  Wirksamkeit  auch 
für  das  Freudenhaus  der  Regine  Riehl  in  Geltung,  obwohl  das  mit  ihr  auf- 
genommene Verpflichtungsprotokoll  unauffindbar  war.  Wie,  allerdings  nur  zum 
geringsten  Teile  aus  den  tatsächlichen  Zugeständnissen  der  Regine  Riehl,  femer 
aus  dem  vom  Untersuchungsrichter  genommenen  Lokalaugenschein  und  aus 
zahlreichen  Aussagen  der  bei  Riehl  in  den  letzten  8 — 9  Jahren  untergebracht 
gewesenen  Prostituierten  und  Dienstpersonen  inklusive  der  Hausbesorger-Leute 
mit  Sicherheit  sich  ergibt,  so  bestand  im  letzten  Hause  der  Regine  Riehl  (Grüne 
Torgasse  24)  folgende  Einrichtung:  Das  Haus  war  nach  außen  hin  jederzeit  ab- 
gesperrt und  die  Aufsicht  bei  dem  Hauseingange  dem  Portier  übertragen;  die 
im  Hause  verweilenden  Prostituierten  hatten  zumeist  ihre  Schlafstellen  in  zwei 
kommunizierenden  Zinunem  im  3.  Stockwerke,  woselbst  maximal  16  M&dchen 
(je  zwei  in  einem  Bette)  untergebracht  werden  konnten,  während  für  zwei  Mäd- 
chen ein  Zimmer  im  unteren  Stockwerke  eingerichtet  war,  so  daß  im  Ganzen 
zirka  18  Mädchen  daselbst  Unterkunft  fanden.  Die  erwähnten  zwei  Zimmer  im 
3.  Stocke  hatten  nur  einen  Ausgang  in  das  an  das  Hofzimmer  anschießende, 
mit  Eloset  und  Badewanne  versehene  Vorzimmer,  die  Fenster  des  Gassenzimmers 
waren,  wenigstens  die  unteren,  mit  Milchglas  versehene  Flügel,  stets  versperrt, 
während  die  Flügel  der  Hoffenster  zeitweise  zum  öffnen  und  zeitweise  ebenfalls 
versperrt  gewesen  sein  sollen.    Die  zum  Vorzimmer  von  der  Stiege  ausführende 


I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  in  Wien.  89 

Tfire  war  w&hrend  der  Anwesenheit  der  Mftdchen  in  diesen  beiden  Zimmern 
TOQ außen  stets  versperrt,  so  dafi  diese  M&dchen  in  dieser  Zeit  (vom  Morgen 
biflzam  Mittag  und  Kachmittags  bis  Abends)  in  diesen  R&umen  tatsächlich 
eingesperrt  waren  und  daher  diese  R&nme  nicht  yeriassen  konnten. 
Wie  insbesondere  auch  die  yemommenen  Hausbesorger  bestätigen,  hatten  sie 
von  Begine  Riehl  den  Auftrag,  keine  der  bei  ihr  untergebrachten  Prostituierten 
ohne  Begleitung  der  Riehl  oder  ihrer  Vertrauensperson,  als  welche  zumeist 
Antonie  Pollak  in  Betracht  kam,  aus  dem  Hause  gehen  zu  lassen  und  1  m  Hause 
aelbst  konnten  die  meisten  dieser  Mädchen  auch  nur  während  der  Speisestunden  und 
der  Zeit  des  Herrenbesuches  sich  frei  bewegen,  wobei  jedoch  auch  die  Fenster 
der  Bäume,  in  welchen  die  Mädchen  mit  den  Herren  verkehrten,  vorher  versperrt 
worden  waren. 

Außerdem  wurde  ihnen  nur  ab  und  zu  gestattet,  unter  Aufsicht  der 
Riehl  oder  Pollak  sich  einige  Zeit  im  Garten  aufzuhalten.  Zu  Ausgängen  wurden 
von  Riehl  gewöhnlich  nur  zwei  Mädchen  in  Yergnügungslokale  mitgenommen, 
wobei  sie,  wie  die  vernommenen  Mädchen  abereinstimmend  bestätigen,  ein  fint- 
weichen derselben  dadurch  erschwerte,  daß  sie  denselben  ihr  gehörigen  Schmuck 
oder  ihr  Geldtäschchen  anvertrautOi  so  daß  eine  Flucht  gleichbedeutend,  mit 
Diebstahlsverdacht  gewesen  wäre. 

Ein  weiteres  Erschwernis  des  Entweichens  aus  dem  Hause  bestand  auch 
in  der  Kleidung  der  Mädchen,  dieselben  waren  zu  Hause,  wie  alle  als  Zeugen 
bestätigen,  nur  mit  Hemd,  Strümpfen,  Schuhen,  Bebeschttrzen  und  zeitweise 
auch  mit  Schlafröcken  versehen,  wälirend  ihre  Straßenkleidung  sich  in  Kästen 
unter  Sperre  der  Regine  Riehl  befanden,  so  daß  die  Mädchen  ohne  Er- 
laubnis der  Riehl  selbst  dann  nicht  hätten  entweichen  können,  wenn  zufällig  die 
Haustflre  offen  gewesen  wäre,  weil  ihre  Toilette  ein  Betreten  der  Straße  ohne 
Gefahr  der  Beanstandung  nicht  tunlich  erscheinen  ließ. 

Übrigens  standen  die  Mädchen  im  Hause  selbst  noch  unter  der  Aufsicht 
und  Bewachung,  sei  es  der  Riehl,  der  Antonie  Pollak  oder  der  Wirtschafterin. 

Wie  die  meisten  der  vernommenen  Mädchen,  selbst  das  Dienstmädchen 
Emestine  Gönye  bestätigen,  war  auch  die  allflUlige  Korrespondenz  der  Mädchen 
im  Ein-  und  Ausgange  der  Kontrolle  der  Regine  Riehl  unterworfen,  so  daß 
etwaige  Versuche  der  Mädchen  mit  der  Außenwelt  in  Kontakt  zu  treten,  um 
Beihüfe  zum  Verlassen  dieses  Aufenthaltes  zu  gewinnen,  hierdurch  erschwert, 
wenn  nicht  ganz  vereitelt  worden  wären. 

Dazu  kommt  noch  das  durch  sämtiiche  vernommene  Mädchen  bestätigte 
finanzielle  Verhältnis  derselben  zur  Riehl:  Entweder  wurde  mit  diesen  Mädchen 
beim  Eintritte  in  ihr  Haus  über  das  finanzielle  Verhältnis  gar  nichts  vereinbart, 
oder  es  traf  die  Riehl  mit  ihnen  das  Abkommen,  daß  ihr  die  Hälfte  des  Schand- 
lohnes gehöre,  während  die  Mädchen  von  der  ihnen  zufallenden  Hälfte  an  sie 
4  K.  pro  Tag  für  die  Kost,  und  außerdem  die  Kleider  und  die  Wäsche  zu  be- 
zahlen  hätten.  —  In  Wirklichkeit  aber,  zog  Riehl  sowohl  den  ganzen 
Schandlohn  (das  sogenannte  Zimmergeld)  als  auch  das  den  Mädchen  von  den 
Herren  geschenkte  sogenannte  Strumpfgeld  an  sich,  verrechnete  mit  ihnen 
aber  die  ganaen  Einnahmen  und  all flUligen  Auslagen  überhaupt  nie,  so  daß 
auch  die  Mädchen  während  ihres  Aufenthaltes  bei  Riehl  n  i  e  Geldmittel  be- 
saßen, demnach  auch  bei  einem  allfälligen  Entweichen  jeder  Mittel  ent- 
blößt gewesen  wären,  während  in  den  Fällen,  in  welchen  es  einem  Mädchen 
gelang,  durch  Intervention  von  Angehörigen   oder  durch  energisches  Auftreten 


90  1.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

die  Zastimmung  der  Riehl  zum  Verlassen  des  Hauses  zu  gewinnen,  demselben 
Ton  der  Riehl  ein  ihre  beliebige  geringe  Abfertigung  ausgehändigt  wurde. 

Ein  weiteres  Moment,  welches  fOr  die  Anhaltung  der  M&dchen  gegen 
ihren  Willen  im  Hause  der  Riehl  von  erheblichem  Einflüsse  war,  ist  darin 
gelegen  gewesen,  daß  Riehl  teils  tats&chlich  mit  einzelnen  kontrollierenden 
Polizeiorganen  in  solchen  Beziehungen  stand,  aus  welchen  die  M&dchen  ent- 
nehmen konnten,  daß  sie  auf  die  Intervention  der  Polizeibehörde  zu  ihrem 
Schutze  nicht  rechnen  dürfen  und  daß  Riehl  anderseits  sich  den  M&dchen  gegen- 
über den  Anschein  gab,  daß  sie  über  die  Polizeibehörde  yerfüge,  so  daß 
die  M&dchen  gegen  sie  daselbst  nichts  ausrichten  würden.  Die  Belege  hier- 
für ergeben  sich  sowohl  aus  dem  Verhalten  des  PoUzeikommissars  Schmitt  und 
des  Detektivs  Josef  Piß,  welche  sich  veranlaßt  sahen,  wegen  ihres  Verhältnisses 
zum  Hause  Riehl  die  Rechtswohltat  des  §  153  St. P.O.  in  Anspruch  zu  nehmen 
als  auch  aus  den  Aussagen  einzelner  Mädchen  (Weinwurm,  Hotovy,  Menschik, 
Gönye,  Pokomy,  Zawazal,  Taubmann). 

Femer  werden  von  mehreren  M&dchen  grobe  Mißhandlungen,  welche 
sie  durch  die  Riehl  und  zwar  zumeist  dann  erfuhren,  wenn  sie  der  Riehl  ihren 
Willen  zu  erkennen  gaben,  sich  die  Behandlung  und  Anhaltung  im  Hause 
nicht  mehr  gefallen  zu  lassen,  best&^igt  und  ergibt  sich  daraus,  daß  Riehl  sich 
einen  solchen  bestimmenden  Einfluß  auch  durch  ihre  t&tlichen  Angriffe  auf  die 
M&dchen  zu  verschaffen  wußte,  daß  die  meisten  M&dchen  es  vorzogen,  ohne 
Widerstand  die  Zust&nde  daselbst  zu  ertragen  und  selbst  sich  za 
naturwidrigen  Leistungen  von  einzelnen  Herren  widerstrebend,  verwenden 
SU  lassen,  um  einem  t&tlichen  Konflikt  mit  Riehl  vorzubeugen.  Hier- 
für liegen  eine  Reihe  von  Aussagen  solcher  M&dchen  vor  (Sofie  und  Anna 
Christ,  Denk,  Geresch,  Lipper,  Menschik,  Nemetz,  Taubmann  u.  a.). 

Insoweit  Regine  Riehl  diese  Angaben  der  bei  ihr  untergebracht  gewesenen 
M&dchen  und  der  übrigen  Zeugen  in  Abrede  stellt,  konnte  ihr  kein  Glaube  bei- 
gemessen werden,  weil  einerseits  die  zahlreichen  Aussagen  dieser  Zeugen,  von 
welchen  eine  Verabredung  nicht  angenommen  werden  kann,  in  seltener  Überein- 
stimmung sich  befinden,  weil  ferner,  wie  später  auszuführen  sein  wird,  die  Riehl 
es  unternommen  hat,  die  M&dchen  zu  unwahren  Angaben  zu  bestimmen,  weil 
femer  die  Zust&nde  im  Riehischen  Hause  schon  1903  in  einem  mit  Weinwurm 
bei  der  Liga  gegen  den  M&dchenhandel  aufgenommenen  Protokolle  in  gleicher 
Weise,  wie  dies  jetzt  der  Fall  war,  geschildert  wurden  und  weil  auch  aus 
Zeugenaussagen  der  Nachbarsleute  (so  vom  Zeugen  Weber  u.  a.)  hervorgeht,  daß 
die  M&dchen  bei  Riehl  gröblich  mißhandelt  und  festgehalten  wurden. 

Auf  Grund  dieser  Tatsachen  nnd  darauf  bezüglicher  Beweismittel,  welche 
bei  Erörterung  der  einzelnen  Fakten  noch  n&her  pr&zisiert  werden,  hat  demnach 
der  Gerichtshof  als  erwiesen  angenommen,  daß  die  im  Urteilstenor  sub  la 
angeführten  26  M&dchen  im  Hause  Riehl  gegen  ihren  Willen  und  zwar,  wie 
aus  ihren  Aussagen  und  der  aus  den  Meldezetteln  vom  Untersuchungsrichter  ge- 
machten Tabelle  hervorgeht  mit  Ausnahme  der  Juliane  Bernhard,  Michalina  Sta- 
wickaund  AnnaKristof,  über  drei  Tage  eingesperrt  gehalten  worden  sind,  wozu 
noch  bemerkt  wird,  daß  in  Ansehung  der  Marie  König,  welche  sich  der  Aussage 
entschlug,  andere  Zeugenaussagen,  insbesondere  die  des  Ernst  Pollak  und  Emil 
Bader  herangezogen  werden  mußten. 

Während  aber  die  Anklage  ein  besonderes  Ungemach,  welches  diese 
M&dchen  nebst  der  Freiheitsentziehung  erlitten   haben,   sowohl  in  der  rück- 


L  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  91 

öchtilosen  Ausbeutung  und  in  der  Anhaltung  einer  größeren  Anzahl  von  M&d- 
ehea  in  einem  relativ  kleinen,  nur  mangelhaft  (wegen  des  SperrverhältniBses)  zu 
Ififtenden  Räume,  als  auch  in  deren  Mißhandlung  und  Nötigung  zu  ekeler- 
Rgeaden  oder  schmerzhaften  DienstleiBtungen  erblickt,  konnte  der  Gerichtshof 
nnr  letztere  beiden  Gesichtspunkte  hierfür  akzeptieren,  weil  ersteres  Moment 
(Aubeutung)  nur  eine  vermögensrechtliche  Benachteiligung  betrifft  und  in  An- 
lehang  der  Massenunterbringung  in  den  Schlafr&umen  fttr  die  konkreten 
Fftlle  aus  den  Zeugenaussagen  nicht  mit  Sicherheit  zu  entnehmen  ist,  wie  viele 
M&dcheu  in  bestimmten  2Mtpunkten  in  jedem  der  beiden  Scblafr&ume  unter- 
gebracht waren  und  wie  gerade  in  diesen  Zeitpunkten  die  Lftftungsverhftltnisse 
daselbst  waren,  weshalb  auch  dieser  Qualifikationsumstand  auf  die  sub  la  des 
ürtBÜstenors  bezeichneten  9  F&lle  eingeschränkt  wurde. 

Was  nun  die  einzelnen  der  sub  I/a  angeführten  Fftlle  anbe- 
langt, so  ergibt  sich  noch  folgender  als  erwiesen  angenommener 
Tatbestand  auf  Grund  der  unten  angeführten  Beweismittel. 

1)  Jnliana  Bernhard  war  durch  Rudolf  Michel,  in  der  Meinung,  einen 
Dienstposten  zu  erlangen,  im  April  1906  zur  Riehl  gebracht,  und  als  sie  in  Er- 
kenntnis dessen,  w  o  sie  sei  und  was  man  mit  ihr  vorhabe,  die  Riehl  bat,  sie  frei- 
zulassen, wurde  sie  in  ein  Zimmer  eingesperrt,  nicht  einmal  zum  Eloset 
gelassen  und  wurden  ihr  die  Speisen  durch  andere  M&dchen  zugetragen,  trotz 
Flehens  und  Weinens  wurde  sie  zirka  3  Tage  in  dieser  Weise  festgehalten;  in- 
zwischen hatte  ihre  Mutter  bereits  am  27.  April  1906  bei  dem  Polizei* 
konmissariate  Florisdorf  eine  Abg&ngigkeitsanzeige  erstattet  (Bl.Z.  1  in  ü. 
799/6  des  Bezirksgerichtes  Floridsdorf)  O.N.  116.  Erst  als  die  von  Antonie 
PoUak  zum  Kommissariate  Alsergruud  geleitete  Bernhard  daselbst  angewiesen 
wurde,  zur  Erlangung  des  Gesundheitsbuches  die  Zustimmung  der  Eltern  bei- 
zubringen, sah  sich  Riehl  veranlaßt,  sie  unter  Aufsicht  der  Pollak  zu  ihren 
Eltern  zu  schicken,  wobei  es  der  Bernhard  gelang,  von  Pollak  unter  dem  Ver- 
wände, daß  ihre  Mutter  die  Zustimmung  verweigere,  loszukonunen. 

Beweismittel:   Aussage  der  Juliana  Bernhard  und  Akt  ex.  0.  Nr.  116. 

2)  Anna  Christ  (Bordellname:  „Erna'')  war  bei  Riehl  vom  7.  Jftnner  1905 
bis  6.  Juni  1906  gemeldet,  kam  dahin  als  geschlechtlich  unversehrt, 
wurde  vor  Erlangung  des  Gesundheitsbuches  mit  N&harbeiten  durch  zirka  zwei 
Monate  beschäftigt  und  nachdem  an  ihr  über  Anordnung  der  Riehl  eine  schmerz- 
hafte Manipulation  am  Geschlechtsteile  mit  Hilfe  des  Mutterspiegels  behufs 
Deflorierung  von  „Steffi**  (Madzia)  in  Anwesenheit  der  Pollak,  Gönye  und  Lotti 
DeatBch  vorgenommen  worden  war,  wurde  sie  von  Riehl  veranlaßt,  mit  einem 
Herrn  geschlechtlich  zu  verkehren  und  erst  nachher  wurde  sie  zum  Kom- 
missariate Aisergrund  wegen  Erlangung  des  Gesundheitsbuches  geführt  und  so- 
dann zum  Verkehr  mit  Männern  im  Salon  zugelassen.  Sie  wurde  von  Riehl 
öfters,  einmal  sogar  mit  einem  Besenstiele  geschlagen  —  sie  bat  die  Riehl 
wiederholt,  sie  wegzulassen,  welche  Bitte  Ihr  abgeschlagen  wurde;  sie  war  im 
3.  Stocke  in  den  schon  erwähnten  Zimmern  der  anderen  Mädchen  eingesperrt, 
konnte  nicht  durchgehen,  war  effektiv  9  Monate  daselbst  und  als  sie  einmal 
davonlaufen  wollte,  ließ  die  Hausbesorgerin  sie  nicht  aus  dem  Hause.  Erst  als 
M  durch  Vermittlung  der  Gönye  ihre  Mutter  verständigen  konnte,  kam 
letztere  und  nahm  sie  mit  sich  nach  Hause.  Die  Pollak  saß  als  Wachorgan 
immer  im  Hause  und  forderte  sie  auf,  die  Riehl  um  Verzeihung  zu  bitten; 
PoUak  ging  meist  mit  den  Mädchen  zur  Polizei  und  führte  sie  in  das  Spital. 


92  I.  Der  Prozeß  Riebl  und  Konsorten  in  Wien. 

Beweismittel:  Aussage  der  Anna  Christ  und  der  Emestine  Gönye, 
Aloisia  Hirn. 

3)  Sofie  Christ  („Hansi^')  bei  Riebl  gemeldet  vom  2S.  M&rz  bis  4.  Juni 
1906  —  war  mit  anderen  Mädchen  im  3.  Stocke  unter  Tags  eingesperrt,  zu 
zweit  in  einem  Bette,  erhielt  nicht  die  von  ihrer  Zimmerfrau  an  sie  gerichteten 
Briefe,  wollte  schon  am  1.  Sonntage  im  Mai  das  Haus  yerlassen,  was  ihr  die 
Riebl  Yerweigerte  und  mit  Schiiten  beantwortete;  schon  am  3.  Tage  ihrer  An- 
wesenheit hatte  sie  der  Pollak  gesagt,  sie  möchte  fort,  worauf  diese  erwiderte, 
es  gehe  jetzt  nicht;  als  sie  sodann  mit  Zawazal  einen  Fluchtplan  entwarf,  wurde 
derselbe  der  Riebl  verraten  und  wollte  Pollak  beide  Mädchen  wieder  einsperren, 
Zawazal  entkam,  von  Pollak  verfolgt;  sie  aber  wurde  wieder  eingefangen,  von 
Riebl  und  Hosch  geschlagen,  bis  Abends  noch  im  sogenannten  italienischen 
Zimmer  interniert  und  dann  freigelassen. 

Beweismittel:  Aussage  der  Sofie  Christ,  und  Josefine  Zawaxal,  Nemetz, 
und  Johanna  Erenn. 

4)  Paula  Denk  (Paula)  bei  Riebl  gemeldet  vom  2.  August  1903  bis 
16.  Jänner  1904;  sie  war  mit  den  übrigen  Mädchen  im  dritten  Stocke  eingesperrt, 
Vor-  und  Nachmittag,  kam  ab  und  zu  in  den  nach  außen  abgesperrten  Garten, 
erhielt  einige  Briefe  schon  erbrochen,  konnte  wegen  der  Sperrverhältnisse  das 
Haus  nicht  verlassen,  wurde  durch  die  Bettgeuossin,  mit  welcher  sie  durch 
Riehl  in  einem  Bette  zu  schlafen  genötigt  war,  mit  „Krätze^*  infiziert  und  mußte  mit 
dieser  Genossin  zusammen  in  demselben  Bette  verbleiben,  wodurch  die  Hellung,  die 
auf  Selbstbehandlung  angepriesen  war,  erheblich  verzögert  wurde;  sie  bat  die 
Riehl  wiederholt,  sie  wegzulassen,  was  ihr  die  Riehl  abschlug,  weil  sie  angeblich 
derselben  noch  Geld  schuldete !  Zweimal  war  sie  wohl  an  Ausfahrten  mit  Riehl 
beteiligt,  wobei  sie  jedoch  nicht  fliehen  konnte,  weil  Riehl  sie  mit  Schmuck  be- 
laden hatte  und  ihr  im  Falle  des  £ntweichens  mit  der  Diebstablsanzeige  drohte; 
erst  nach  mehreren  resultatlosen  Fluchtplänen  ließ  Riehl  sie  durch  Pollak  — 
ohne  sie  zu  fragen  ob  sie  einverstanden  sei  —  in  das  Bordell  Lorenz  bringen, 
wo  sie  nur  6  Tage  blieb. 

Beweismittel:  Aussage  der  Paula  Denk. 

5)  Anna  Fei  her  („Gisela")  —  bei  Riehl  von  16.  Mai  1905  bis  23.  Juni 
1905  gemeldet  —  sie  war  ebenfalls  im  3.  Stocke  eingesperrt,  kam  wiUirend  ihres 
ganzen  Aufenthaltes  nicht  aus  dem  stets  versperrten  Hause ;  —  Riehl  schlug  ihr 
den  Ausgang  mit  dem  ab,  daß  sie  zuerst  Geld  verdienen  müsse  —  sie  mußte, 
wie  alle  Übrigen  Mädchen,  den  ganzen  Verdienst  an  Riehl  abUefem,  mußte  sich 
wegen  des  Strumpfgeldes  Leibesvisitationen  unterziehen,  wurde  von  Riehl  wieder* 
holt  und  so  arg  geschlagen,  daß  ihr  die  Haare  ausgingen  und  sie  Beulen  und 
Kopfschmerzen  erlitt,  sie  wurde  durch  den  Herrenverkehr  mit  einem  Ausschlage 
behaftet  —  Riehl  verweigerte  ihr  für  denselben  die  ärztliche  Behandlung,  ließ 
sie  aber  mit  diesem  Ausschlage  zum  Herrenverkehre  zu.  Ihr  wiederholt  ge- 
äußertes Verlangen,  fortgelassen  zu  werden,  verweigerte  Riehl  unter  Schimpfen 
und  Schlägen.  Endlich  ließ  Riehl  sie  fort,  wollte  sie  aber  zu  einer  Frau  nach 
Preßburg  dirigieren,  zu  welchem  Behufe  sie  die  Pollak  zur  Bahn  geleitete 
und  ihr  die  Fahrkarte  löste,  wogegen  Riehl  der  Felber  keinen  Heller  für  sich 
selbst  mitgegeben  hat. 

Beweismittel:  Aussage  der  Anna  Felber. 

6)  Ottilie  Geresch  (Steffi)  —  bei  Riehl  gemeldet  vom  5.  Juni  1897  bis 
Jnni  1900.  —  Kam  bereits  mit  14^/4  Jahren  zur  Riehl,  war  tagsüber  eingesperrt^ 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  93 

—  daa  £in8perren  besorgte  die  PoUak,  Riehl  oder  das  Dienstm&dchen  —  Riehl 
fibte  auch  die  Briefkontrolle  —  Geresch  wurde  von  Riehl  oft  beschimpft,  einmal 
aach  80  geschlagen,  daß  sie  krank  wurde  —  sie  äußerte  oft  zur  Riehl,  daß  sie 
fort  wolle  —  Riehl  lehnte  es  ab  —  ein  mit  2  anderen  Mädchen  unternommener 
Flachtrersuch  mißglückte,  indem  die  Pollak  und  der  Hausdiener  sie  verfolgten, 
beim  Praterstern  anhielten,  sie  in  einen  Fiaker  warfen  und  in  das  Bordell 
xnrQckbrachten.  Ein  zweiter  Fluchtversuch,  welchen  Geresch  bei  der  Gelegen- 
heit machte,  als  sie  einen  Papageikäfig  aus  dem  Garten  holen  sollte,  gelang 
darch  das  zuf&llig  offene  Haustor;  nur  mit  dem  Schlafrocke  bekleidet,  flüchtete 
de  in  die  Wohnung  der  Antonie  Pollak,  welche  die  Riehl  jedoch  von  der  An- 
kunft der  Geresch  verständigte,  worauf  Riehl  dahin  kam  und  diese  zuerst  durch 
£iD8Chflchterung  und  dann  durch  Versprechungen  zur  Rückkehr  bewegen  wollte 

—  jedoch  ohne  Erfolg.  Pollak  hatte  von  Riehl  den  Auftrag,  auf  die  Mädchen 
gnt  zu  achten,  dieselben  auch  einzusperren,  das  Zimmergeld  in  Empfang  zu 
nehmen  und  den  Mädchen  das  Strumpfgeld  abzunehmen.  —  Geresch  war  während 
des  Aufenthaltes  bei  Riehl  wiederholt  im  Spital,  von  Antonie  Pollak  dahin  be- 
gleitet und  per  Wagen  wieder  abgeholt.  Pollak  kam  auch  täglich  dahin,  Nach- 
schau zu  halten  und  hatte  die  Kleider  der  Geresch  vom  Spitale  wieder  nach 
Htose  genommen  für  die  Zeit  des  Spitalaufenthaltes  derselben. 

(Aussage  der  Geresch  und  Aussage  der  Weinwurm.) 

7)  Amalia  Glaser  i,,3uU'')  bei  Riehl  vom  30.  Jänner  1904  bis  31.  März 
1904  gemeldet,  —  war  eingesperrt  unter  Tags  im  3.  Stocke,  unterlag  der  Brief- 
kontrolle, wurde  des  Aufenthaltes  überdrüßig,  ersuchte  die  Riehl  sie  fortzulassen ; 
aber  erst  nach  14  Tagen  gab  Riehl,  welcher  schon  früher  der  Bruder  der  Glaser 
mit  der  Polizei  gedroht  hatte,  die  Zustimmung,  wobei  sie  der  Glaser  nur  einen 
Schlafrock,  eine  Schürze  und  ein  paar  zerrissene  Schuhe  gab,  mit  welcher 
Kleidung  sich  dieselbe  entfernen  mußte. 

(Aussage  der  Amalia  Glaser.) 

8)  Angela  Großmann  <„Angela*^)  bei  Riehl  gemeldet  vom  19.  März  1904 
bis  12.  Juli  1904  —  war  mit  10—12  Mädchen  in  den  beiden  Zimmern  im 
3.  Stocke  eingesperrt,  was  teils  Riehl,  teils  die  Pollak  besorgte  —  Kleider  waren 
versperrt,  wozu  Riehl  den  Schlüssel  hatte  —  Zimmer-  und  Strumpfgeld  nahm 
die  Rieh]  für  sich  —  niemand  durfte  aus  dem  Hause  —  Großmann  wollte  ein- 
mal durchgehen,  wurde  jedoch  von  Riehl  erwischt,  welche  ihr  erklärte,  sie 
könne  nur  dann  fortkommen,  wenn  sie  sich  nach  Budapest  verschicken  lasse  -- 
Großmann  willigte  ein,  um  wegzukommen  und  brachte  die  Pollak  sie  auf  die 
Bahn,  löste  ihr  die  Karte  und  wartete  bis  zur  Abfahrt  des  Zuges,  welchen 
Großmann  jedoch  schon  in  der  2.  Station  nach  Wien  verließ  und  begab  sie  sich 
nach  Wien  zurück.  —  In  Pest  hätte  sie  von  einer  Frau  in  Empfang  genommen 
werden  sollen. 

(Aussage  der  Großmann.) 

9)  Aloisia  Hirn  („Christi'')  bei  Riehl  gemeldet  vom  7.  Mai  1904  bis 
14.  Feber  1905  und  6.  Juli  1905  bis  2.  Juni  1906.  —  Befand  sich  in  den  ver- 
i^perrten  Zimmern  des  3.  Stockes,  wollte  öfters  fort,  sagte  dies  auch  der  Riehl, 
wollte  durchgehen,  wurde  von  der  Hausbesorgerin  Hölzl  daran  gehindert,  wurde 
öfters  geschlagen,  weil  sie  nicht  schweigen  konnte.  —  Riehl  lehnte  es  ab,  sie 
fortgehen  zu  lassen  wegen  angeblicher  Schulden  —  Pollak  übte  auch  die  Kon- 
trolle, ließ  die  Mädchen  nicht  einmal  auf  den  Gang  hinausgehen ;  Hirn  wurde 
bch wanger,  kam  in  das  Spital,    von   wo   sie   die   Pollak   und   der   Hausbesorger 


94  I.  Ber  Prozeß  Riehl  nnd  Konsorten  in  Wien. 

abholten   und  in  den   Wagen   setzten,  .wobei  ihr  die  Pollak  zaredete,  wieder 
zurückzukehren. 

(Aussage  der  Aloisia  Hirn.) 

10)  Julie  Hlawatschek  („Juli")  bei  Riehl  gemeldet  Tom  29.  September 
1905  bis  9.  Juni  1906,  war  ebenfalls  im  3.  Stocke  eingesperrt,  durfte  nicht  aus- 
gehen, wurde  zu  keiner  Ausfahrt  mitgenommen  —  Riehl  drohte  ihr  mit  Schl&gen, 
wenn  sie  fortgeht  —  ohrfeigte  sie  auch;  sie  [war  in  dieser  Zeit  zweimal  im 
SpitaL  Pollak  hatte  sie  hingebracht  und  abgeholt;  das  zweite  mal  wollte  Pollak 
sie  wieder  abholen  —  sie  versteckte  sich  aber  im  Spital  und  wartete,  bis  Pollak 
weggefahren  war,  worauf  sie  vom  Spital  entwichen  ist.  Pollak  suchte  sie 
immer  zum  Bleiben  bei  Riehl  zu  bestimmen,  mit  der  Aussicht,  daß  sie  Schmuck 
bek&me. 

11)  Marie  Husek  („Olga'')  bei  Riehl  von  7.  J&nner  bis  1.  April  1905  ge- 
meldet, —  war  im  3.  Stocke,  so  wie  die  Qbrigen  Mftdchen  eingesperrt,  verlangte 
schon  nach  drei  Tagen  weg  —  Riehl  drohte  ihr  mit  dem  Einsperren,  wenn  sie 
nicht  bleiben  wolle  und  erst  als  sie  der  Riehl  drohte,  sie  werde  zum  Fenster 
hinausspringen  oder  sich  umbringen,  wurde  sie  freigelassen. 

(Aussage  der  Marie  Husek.) 

12)  Anna  Kirchner  („Cecile'*)  vom  19.  Oktober  1904  bis  6.  Juli  1906  be- 
Riehl  gemeldet  —  war  im  3.  Stocke  mit  den  ttbrigen  Mädchen  eingesperrt, 
durfte  das  Haus  nur  mit  Riehl  verlassen  —  stand  unter  Briefkontrolle  —  er- 
hielt kein  Geld  —  und  ihre  wiederholte  Bitte,  sie  fortzulassen,  wurde  von  Riehl 
abgeschlagen;  Riehl  sagte  ihr,  wenn  sie  fortgehe,  werde  sie  von  der  Polizei  ver- 
haftet werden;  einmal  hatte  sie  sich  zur  Flucht  Strumpfgeld  versteckt,  was  der 
Riehl  verraten  wurde,  worauf  ihr  Riehl  Vorwürfe  machte  und  sich  dieses  Geld 
(60  K.)  aushändigen  ließ. 

(Aussage  der  Kirchner) 

13)  Marie  König  (,XieseP')  bei  Riehl  gemeldet  vom  Mai  1902  bis  20.  Jnn 
1906.  —  Kam  im  Alter  von  16  Jahren  zur  Riehl  durch  eine  Frau  Hofmann, 
wurde  im  3.  Stocke  in  der  „Kaserne*'  untergebracht,  woselbst  die  Mädchen  mit 
Ausnahme  des  Mittags  den  ganzen  Tag  bis  Abends  eingesperrt  waren;  nach  je 
3  Wochen  durften  sie  im  Garten  unter  Bewachung  der  Riehl,  Pollak  oder 
Hosch  spazieren  gehen  —  die  Briefe  wurden  kontrolliert  —  bei  den  ärztlichen 
Visiten  war  Riehl  oder  Pollak  anwesend,  so  daß  sich  die  Mädchen  den  Ärzten 
nicht  anvertrauen  konnten;  —  sie  erhielt  von  Riehl  kein  Geld,  dagegen  soll  ihr 
Vater  von  Riehl  Geld  erhalten  haben  und  wenn  sie  mit  Riehl  einen  Verdruß 
hatte,  kam  ihr  Vater  und  dieser,  sowie  Riehl  mißhandelten  sie  und 
drohten  ihr  mit  dem  Arbeitshause;  die  König  hatte  einem  Herrn  Ernst 
Pollak  wiederholt  geklagt,  daß  es  ihr  unmöglich  sei,  aus  dem  Hause 
wegzukommen,  weil  sie  scharf  bewacht  werde  und  als  sohin  Emil  Bader  die 
König  aufsuchte,  um  ihr  zu  helfen,  wurde  ihm  von  Antonie  Pollak  geöffnet  und 
er  sohin  zur  König  geführt,  welche  ihm  obige  Mitteilungen  machte.  Dem  Ernst 
Pollak  hatte  sie  auch  blaue  Flecken  auf  dem  Rücken  gezeigt,  welche  von 
Schlägen  der  Riehl  herrühren  sollten.  Antonie  Pollak  machte  später  mit  dem 
Vater  der  Riehl  auch  den  Versuch,  den  Bader  zur  Unterlassung  der  Publika- 
tionen im  „lllustr.  Wiener  Extrablatt"  zu  bewegen ;  der  Ludwiczek  hatte  die  König 
oft  erzählt,  sie  möchte  gern  aus  dem  Hause,  die  Riehl  lasse  sie 
nicht  und  drohe  ihr  immer  mit  dem  Arbeitshause,  wovor  das  Mädchen  groOe 
Angst  habe.    (Aussagen   des   Emil    Bader,    Ernst  Pollak,   Therese  Ludwiczek, 


L  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  95 

Josefine  Zawazal,  Elise  Menschik);  nach  Pokornys  Angabe  war  Marie  König 
mit  ihr  in  der  sp&teren  Zeit  in  einem  eigenen  Zimmer  im  2.  Stocke  untergebracht, 
woselbst  sie  nur  vormittags  ständig  und  Nachmittags  nur  ab  und  su  eingesperrt 
waren;  sie  und  König  hatten  auch  mitunter  die  SchlOssel  gehabt,  wobei  ihnen 
tber  Riehl  mit  dem  Wachmann  drohte,  falls  sie  fortgehen  wtlrden.  Auch 
hatte  die  König  sich  öfters  dahin  ge&ußert,  sie  freue  sich  schon,  wenn  sie 
24  Jahre  alt  sein  wird,  daß  der  Vater  nichts  mehr  mit  ihr  zu  tun  habe.  — 

(Aussage  der  Pokorny). 

14)  Marie  Kotzlik  („Hansi*')  gemeldet  bei  Riehl  vom  30.  Juni  1902  bis 
29.  J&nner  1903  und  2.  Feber  1903  bis  26.  August  1903  —  war  im  3.  Stocke 
anter  Tags  eingesperrt,  durfte  das  Haus  nur  mit  Riehl  verlassen,  durfte  sich  im 
abgesperrten  Garten  nur  unter  Bewachung  der  Riehl,  Pollak  und  Lotti  Deutsch 
aufhalten  —  eine  Flucht  war  unmöglich  —  Briefkontrolle  war  auch  für  sie  — 
alles  Geld  mußte  der  Riehl  gegeben  werden  —  auch  sie  wurde,  so  wie  andere 
Mädchen  geschlagen  —  viele  Mädchen  wurden  trotz  wiederholter  Entlassungs- 
bitten von  Riehl  zurückgehalten  —  um  vom  Hause  wegzukommen,  fügte  sie  sich 
selbst  eine  Verletzung  zu,  damit  sie  in  das  Spital  komme,  worauf  Riehl  sie  vor 
dem  Polizeiarzte  versteckte,  um  sie  zu  Hause  behandeln  zu  können;  sie  gab 
aber  nicht  nach  und  kehrte  vom  Spital  nicht  mehr  zur  Riehl  zurück. 

(Aussage  der  Kotzlik.) 

15)  Anna  Kristof  ~  gemeldet  bei  Riehl  vom  Ende  Mai  bis  18.  Juni  1902 
—  war  zuerst  drei  Tage  bei  Riehl  im  3.  Stocke  eingesperrt,  wobei  sie  abschreckte, 
<laß  die  Mädchen  von  Riehl  durch  Schläge  gezwungen  wurden,  gewissen  An- 
sinnen der  Herren  zu  willfahren  —  kam  dann  in  das  Spital,  von  welchem  sie 
gegen  ihren  Willen  wieder  an  Riehl  zurückgestellt  wurde,  weil  sie  von  Riehl 
dahin  übergeben  worden  war,  wollte  sohin  das  Haus  verlassen,  wurde  jedoch 
ron  Riehl  und  anderen  Mädchen  geschlagen,  worauf  sie  bei  der  gerade  offenen 
TOre  ohne  Hemd  mit  zerrissener  Bluse  aus  dem  Hause  lief  und  zur  Polizei 
K'Dg)  woselbst  ihr  ein  Dienstbotenbuch  ausgefolgt  wurde. 

(Aussage  der  Kristof.) 

16)  Elise  Lipper  („Poldi")  gemeldet  vom  19.  April  1906  bis  11.  Mai  1906 
bei  Riehl  —  war  in  der  Kaserne  im  3.  Stocke  eingesperrt,  hatte  nur  einen  Aus- 
gang zum  Zahnarzt  unter  Kontrolle  der  Pollak  und  Hausbesorgerin,  wurde  in 
ihrer  Korrespondenz  an  ihren  VAter  von  Riehl  dirigiert  ohne  daß  Lipper  eine 
Widerrede  wagte  —  nach  3  Wochen  bat  sie,  die  Riehl  möge  sie  fortlassen,  sonst 
springe  sie  wohl  herunter  —  Riehl  schlug  sie  und  rief:  „Du  kommst  mir  nicht 
hinaus'*  —  Flucht  war  unmöglich  und  erst  dadurch  kam  sie  von  Riehl  los,  daß 
ihr  Vater  die  Zustimmung  zum  Aufenthalte  bei  Riehl  zurückzog.  —  Riehl  hatte 
sie  auch  gröblich  mißhandelt,  indem  sie  die  Lipper  bei  den  Haaren  zog  und  an 
die  Salontüre  anschlug,  so  daß  sich  Lipper  tief  unglücklich  fühlte. 

(Aussage  der  Lipper.) 

17)  Therese  Ludwiczek  („Valerie")  —  bei  Riehl  gemeldet  vom  2.  De- 
zember 1902  bis  16.  März  1903  —  war  unter  Tags  im  3.  Stocke  mit  anderen 
Mädchen  eingesperrt  —  Briefkontrolle  bestand  —  keine  Verrechnung  —  keine 
Geldbelassung  —  Niemand  getraute  sich,  die  Riehl  um  Geld  anzugehen,  weil  sie 
MfoTt  schimpfte  und  losschlug.  Als  Ludwiczek  fort  wollte,  drohte  sie  ihr  mit 
der  ihr  wohlwollenden  Polizei,  J^rbeitshaus  oder  Kriminal;  sie  heckte  nun  einen 
Fluchtplan  aus  mit  einem  anderen  Mädchen  —  Antonie  Pollak  schlich  sich  in 


96  I.  Der  Prozeß  Biehl  und  Konsorten  in  Wien. 

ihr  Vertrauen,  erfuhr  hierdurch  den  Fluchtplan,  begünstigte  denselben  scheinbar, 
verriet  ihn  aber  an  die.  Riehl. 

(Aussage  der  Ludwizek.) 

18)  Eva  Madzia  („Steffi"')  gemeldet  bei  Riehl  vom  3.  J&nner  1903  bis 
7.  Juli  1906  —  wurde  von  Riehl]]gegen  ihren  Willen  im  Bordelle  zurückgehalten 

—  sie  sagte  der  Riehl  wiederholt,  daß  sie  weggehen  wolle  —  Riehl  liefi  et 
nicht  zu  und  allein  konnte  sie  bei  verschlossenen  Türen  nicht  entkommen,  zu- 
mal sie  auch  nie  allein  das  Haus  verlassen  durfte. 

(Zweite  Aussage  der  Madzia.) 

19)  Elise  Menschik  („Lola'*)  ^gemeldet  bei  Riehl  vom  12.  April  1904  bis 
12.  Juli  1904,  war  auch  im  3.  Stock  eingesperrt  —  Antonie  PoUak  war  Auf- 
sichtsorgan; sie  hat  auch  die  Mädchen  eingesperrt,  der  Menschik  zum  Bleiben 
zugeredet;  Menschik  hat  schon  Anfangs  gesagt^j  sie  wolle  fort  und  für  die  Flucht 
Geld  unterschlagen.  —  Wenn  die  Herren  sich  beklagten,  daß  die  M&dchen 
nicht  alles  machen  wollen,  beschimpfte  Riehl  die  Mftdchen  —  Menschik  mußte 
sich  auch  von  einem  „Schlagherrn''  schlagen  lassen  —  sie  mußte  sich  auch  mit 
Kognak  Über  Auftrag  der  Riehl  mit  einem  Herrn  betrinken,  des  Absatzes  wegen. 

—  Riehl  habe  sie  bei  der  Entlassung  geohrfeigt,  die  Pollak  sei  deren  Fak- 
totum gewesen. 

(Aussage  der  Menschik) 

20)  Marie  Nemetz  („Gretl'O  gemeldet  bei  Riehl  vom  26.  J&nner  bis 
3.  Juli  1906  —  kam  durch  die  Pollak  zur  Riehl,  war  in  der  „Kaserne''  mit 
anderen  M&dchen  tagsüber  eingesperrt,  hatte  keine  Kleider  bei  sich,  durfte  nicht 
allein  ausgehen,  war  der  Briefkontrolle  durch  Riehl  unterworfen,  mußte  alles 
Geld  an  Riehl  abliefern  und  wurde  von  Riehl  nicht  fortgelassen;  Riehl  be- 
schimpfte und  schlug  sie  immer,  wenn  [sie  nicht  zu  naturwidrigen  Leistungen 
bei  den  Herren  herbeilassen  wollte. 

(Aussage  der  Nemetz.) 

21)  Justine  Rohaczek  („Justine'^  gemeldet  bei  Riehl  von  25.  Aug.  1899 
bis  14.  Juni  1900  —  war  mit  anderen  M&dchen  im  3.  Stocke  tagsüber  ein- 
gesperrt, empfing  schon  Herren,  bevor  sie  polizeilich  gemeldet  wurde  und  da» 
Gesundheitsbuch  erhielt;    sie  erhielt  von  Riehl  nie  einen  Anteil  vom  Verdienste 

—  wenn  Rohaczek  fort  wollte,  drohte  ihr  Riehl  mit  dem  Schub  und  gelang  es 
ihr  nur  durch  einen  großen  Skandal  loszukommen;  Brief  mit  der  Todesnach- 
richt über  den  Vater  erhielt  sie  erst  einige  Tage  nach  dem  Begräbnisse  —  als 
die  Mutter  sie  besuchte,  wurde  sie  derselben  als  Dienstmädchen  verkleidet 
vorgestellt. 

(Aussage  der  Rohaczek.) 

22)  Marie  Starek  („Vicki")  —  bei  Riehl  gemeldet  vom  23.  J&nner  1899 
bis  19.  August  1900  —  war  ebenfalls  in  der  „Kaserne''  im  3.  Stocke  mit  anderen 
M&dchen  tagsüber  eingesperrt  —  die  Sperre  besorgte  Riehl  oder  die  Köchin  — 
Riehl  schlug  die  M&dchen,  wenn  sie  das  Strumpfgeld  verheimlichten  —  Starek 
erhielt  kein  Geld  —  Riehl  verrechnete  mit  ihr  nie  —  Starek  wollte  weggehen, 
Riehl  schlug  es  ihr  ab,  weshalb  Starek  eine  List  gebrauchte,  indem  sie  eine 
Vorladung  zur  Polizei,  wohin  sie  von  der  Hausbesorgerin  begleitet  wurde,  be- 
nutzte, um  dem  Beamten  zu  sagen,  sie  lege  das  Buch  zurück  und  sohin  der 
Riehl  meldete,  der  Beamte  habe  ihr  das  Buch  abgenommen,  wodurch  Riehl  ge- 
nötigt war,  sie  gehen  zu  lassen. 

(Aussage  der  Starek.) 


I.  Der  Proaseß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  97 

23)  Michaela  Stawicka  („Olga'«)  bei  Riehl  gemeldet  Tom  27.  M&n  1906 
Ms  28.  M&R  1906,  war  nur  swei  Tage  bei  Riehl,  tagsüber  mit  anderen  MAdchen 
eingetperrt,  wollte  am  2.  Tage  weggehen  —  Riehl  verweigerte  dies,  drohte  ihr 
mit  dem  Wachmann,  ohrfeigte  sie  and  liefi  sie  endlich  fort,  nachdem  sie  der 
Riehl  einen  Skandal  gemacht  hatte. 

(Aussage  der  Stawicka.) 

24)  Josef  ine  Taubmann  („Bianka")  bei  Riehl  gemeldet  vom  28.  De- 
lember  1901  bis  12.  Feber  1902  —  war  mit  anderen  M&dchen  tagsQber  ein- 
gespent,  durfte  w&hrend  des  1 V*  monatlichen  Aufenthaltes  bei  Riehl  nicht  ein 
emsiges  Mal  fortgehen,  wurde  von  Riehl  sehr  bmtal  behandelt,  geschlagen  und 
beschimpft,  auch  auf  Geheifi  der  Riehl  von  anderen  M&dchen  so  geschlagen,  daß 
sie  krank  und  schwach  wurde  und  ohne  ftrztliche  Hilfe  in  einem  Zimmer  ein- 
gesperrt gehalten  wurde;  ihre  Bitte,  sie  fortzulassen,  liefi  Riehl  unbeachtet  und 
als  Riehl  sie  wieder  einmal  wundschlng,  drohte  sie  der  Riehl  mit  der  polizei- 
liehen  Anzeige,  worauf  Riehl  sie  neuerlich  schlug  und  mit  Stocken  und  Besen- 
flt'elen  zur  Tflre  hinau^agte. 

(Aussage  der  Taubmann.) 

25)  Georgine  Weinwurm  („Yicki'*)  —  bei  Riehl  gemeldet  von  23.  J&nner 
1899  bis  19.  August  1900  —  war  bei  Riehl  mit  anderen  M&dchen  tagsdber  ein- 
gesperrt, konnte  in  der  Hanskleidung  (Hemd,  SchOrze,  Strumpfe,  Schuhe)  nicht 
ausgeben,  wenn  auch  das  Sperrrerh&ltnis  nicht  bestanden  hätte;  Riehl,  Antonie 
Pollzk  und  der  Hausdiener  überwachten  strenge  alles,  so  daß  an  eine  Flucht 
nicht  zu  denken  war  —  Briefe  unterlagen  der  Eontrolle  der  Riehl  —  Ansg&nge 
fanden  nur  mit  Riehl  [statt,  wobei  die  M&dchen  Schmuck  und  Geld  zu  tragen 
bitten  und  Riehl  mit  der  Behandlung  als  Diebin  im  Falle  der  Entweichung 
drohte;  als  Weinwurms  Mutter  zu  Besuche  kam,  wurde  dieselbe  entweder  unter 
Torw&nden  weggeschickt,  oder  es  konnte  Weinwurm  mit  ihr  nur  vor  Pollak  oder 
Siebl  sprechen.  —  Weinwurm  konnte  von  Riehl  nicht  loskommen,  weil  Riehl 
behauptete,  dieselbe  sei  ihr  noch  Geld  schuldig  und  nur  durch  die  Weigerung, 
mit  Berren  auf  das  Zimmer  zu  gehen,  erreichte  sie  von  Riehl  einen  Besuch  zur 
Mutter,  von  welchem  sie  nicht  mehr  zur  Riehl  zurückkehrte.  —  Riehl  sagte  auch 
zu  den  M&dchen ,  wenn  etwas  auf  der  Polizei  los  sei,  erfahre  sie  es  und  wußte 
sie  einmal  suich  schon  Vormittags  von  einer  Nachmittags  stattfindenden  Rerision, 
ftkr  welche  sie  sodann  aUes  vorbereitete   und  den  M&dchen  auch  Kleider  gab. 

(Aussage  der  Weinwurm.) 

26)  J  o  se  f i  n  e  Za w  az  al  „Yicki*')  —  bei  Riehl  gemeldet  vom  16.  November  1904 
bis  24.  Feber  1905  und  5.  April  1906  bis  5.  Juni  1906  —  war  zweimal  bei  Riehl;  das 
erste  mal  hatte  sie  keine  Klage ;  kam  daher  freiwillig  das  zweite  mnX  zur  Riehl,  konnte 
es  jedoch  nicht  aushalten,  weil  sie  die  Freiheit  schon  gewOhnt  war;  sie  war 
tagsüber  mit  anderen  M&dchen  im  3.  Stocke  eingesperrt,  erhielt  vom  Schandlohn 
nichts  —  eine  Bitte  um  einen  Ausgang  lehnte  Riehl  mit  einer  ihr  versetzten 
Ohrf^  ab  —  sie  sagte  der  Pollak,  daß  sie  durchgehen  wolle;  sie  entwarf  mit 
Sofie  Christ  einen  Fluchtplan,  welcher  der  Riehl  verraten  wurde.  —  Riehl  ließ 
•ie  einige  Tage  sp&ter  in  den  Salon  holen  und  wollte  sie  schlagen,  worauf 
Zawazal  in  Hemd,  Schürze  und  Bluse  bei  der  zuf&llig  offenen  Hausttkre  aus  dem 
Haoee  lie(  von  der  Pollak  verfolgt  wurde  und  bei  der  Polizei,  wohin  ihr  Pollak 
nzchlie^  der  Pollak  von  Piß  bedeutet  wurde,  zu  schauen,  daß  Zawazal  Alles 
bekomme,  damit  nichts  „herauskomme'^ 

(Aussage  der  Zawazal  und  Sofie  Christ,  Johanna  Krenn.) 

AnUr  ftr  KiiodiudaDthropologie.   27.  Bd.  7 


98  I.  Der  Prozefi  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

Die  Verteidigung  der  Regine  Riebl  hat  sich  in  Ansehung  des  Verhslteai 
und  Vorgehens  der  Begine  Riehl  gegenflber  diesen  sub.  1—26  angeftthrten  Uid- 
chen,  die  zumeist  noch  mindeij&brig  waren  —  auf  den  Standpunkt  gestellt,  daß 
von  einer  Einschränkung  der  persönlichen  Freiheit  der  Midchen  schon  deshalb 
nicht  gesprochen  werden  könne,  weil  Riehl  sich  in  dem  guten  Glauben  be- 
fand, daß  diese  Art  der  Anhaltung  der  M&dchen,  der  polifeilicherseits  an 
sie,  als  Inhaberin  eines  Bordells,  auf  Omnd  der  oben  angeflUirten  polizeflicheo 
Instruktionen  ex  1900  und  des  Inhaltes  des  Verpflichtnngsprotokolles  gestellten 
Anforder  ungen  entsprochen  habe,  lumal  auch  bei  keiner  poliseilichen  Befision 
bei  ihr  ein  Anstand  erhoben  worden  sei.  — 

Diese  Auffassung  kann  jedoch   als  richtig  und  fOr  die  Regine  Riehl  exkul- 
pierend nicht  erkannt  werden  aus  folgenden  Erwägungen: 

Die  erw&hnte  Instruklion  in  Verbindung  mit  dem  Inhalte  des  Verpflichtungs- 
protokolles  bietet  keinen  Anhaltspunkt  dafür,  daß  die  bei  Riehl  befind- 
lichen M&dchen  einerseits  im  Hause  selbst  in  ihrer  Bewegungsfreiheit  tagsQber 
gebindert,  in  ihrem  Kontakte  mit  der  Außenwelt  durch  Briefkontrolle  behindert, 
durch  mangelhafte  Bekleidung  außer  Stand  gesetzt  werden  sollen,  sich  außerhalb 
des  inneren  Hausraumes  zu  bewegen,  durch  Entziehung  jedweder  Oeldoiittel  in 
ihrer  Dispositionsfähigkeit  beschränkt  werden  sollen  und  schließt  anderer- 
seits nicht  aus,  daß  diese  M&dchen  auch  das  Haus  Torlassen  können,  indem 
nur  d  i e  Eünschr&nkung  bestimmt  wurde,  daß  den  M&dchen  der  Gassenstrich 
untersagt  ist,  woftlr  die  Wohnungsgeberin  mit  Terantwortlich  gemacht  wird. 
Daß  aber  die  Einhaltung  dieses  Verbotes  ohne  die  oben  angeführten  Ton 
Riehl  getroffenen  einschränkenden  Maßregeln  möglich  ist  und  möglich  sein 
muß,  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Ausführung  —  abgesehen  davon,  daß  die  be- 
treffenden M&dchen  durch  die  Übertretung  dieses  Verbotes  sich  selbst  der  straf- 
gesetzlichen Ahndung  nach  §  5/2  des  Gesetzes  vom  24.  Mai  1S85  aassetzen 
würden. 

Was  nun  die  polizeibehördlichen   Revisionen  jjanbelangt,  so  geht  aus  den 
Aussagen  der  Zeugen  Dr.  Merta,  Dr.  Kien,  Dr.  Schild,  Dr.  Zdrnbek  hervor,  daß 
solche  Revisionen  überhaupt  selten  abgehalten    wurden,  daß    sich    dieselben 
haupts&chlich  darauf  beschr&nkten,  ob  der  effektive  Stand  der  M&dchen 
dem  polizeilich  gemeldeten  Stande  dersellben  entspreche,   daß  die 
Polizeibehörde  hierbei  nur  von  dem  Fensterverschlusse,  welcher  dem  Punkte  13 
des  VerpflichtungsprotokoUes  entsprach,  Kenntnis  erlangte,  daß  die  Polizei&rste, 
welche  allerdings  regelm&ßig  wöchentlich  zweimal  das  Haus  besuchten,  keinen 
Anlaß  fanden,   sich  mit  den  Einrichtungen  des  Hauses  zu  befassen,  sondern 
sich  nur  darauf  beschränkten,  in  einem  hierzu  bestimmten  Lokale  ledi^ch 
den  sexuellen  Gesundheitszustand  festzustellen  und  daß  im  Übrigen,  wie  dies  aus 
den  gegen  den  Polizeiagenten  Piß  hervorgekommenen  schweren  Anschuldigungen 
zu  entnehmen  ist,   die  Riehl   bestrebt  war,  durch   ein  von   seiner   Seite 
pflichtwidriges   Einvernehmen  mit  demselben  die  durch  denselben  im  Auftrage 
seiner  Vorgesetzten  allenfalls  zu  übende  Kontrolle  illusorisch  zu  machen.    Daß 
aber  Regine  Riehl  sich  darüber  klar  war,  daß  die  von  ihr  in  ihrem  HAuse  für 
die  angehaltenen  Mädchen  geschaffenen  Verhältnisse  und  Zustände  nicht  den 
polizeilichen  Anforderungen  entsprechen,  geht  auch  daraus  hervor,  daß  sie,  wie 
die  polizeilichen   Erhebungen  (Z.  2368)  S.  B.  ex  1905  vorgelegt  von  Dr.  MerU) 
dartun,  die  diesbezüglich  gegen  sie  erhobenen  Anwürfe  als  unwahr  beseiebnete 
und  wie  Hosch  und  Winkler  bestätigen,  schon  damals  sämtliche  polizeilich  vor- 


I.  Der  Prozeß  Riehl  and  Konsorten  inlWien.  99 

nonunenen  Mädchen  veranlaßte,  entgegen  den  tatsftchlicben  YerhAltnisaen 
onw&hre  Angaben  zu  machen,  so  daß  anch  die  M&dchen  den  Eindruck 
geiinnen  mußten,  daß  gegen  die  Biehl  erstattete  Anzeigen  —  allerdings  durch 
ihre  von  Biehl  yeranlaßte  Beihilfe  —  keinen  Erfolg  h&tten.' 

In  den  oben  dargelegten  und  in  den  Punkten  L— 26  n&her  pr&zisierten 
F&llen  muß  aber  auf  Grand  obiger  ErwAgungen  der  Tatbestand  des  Verbrechens 
der  Einschrftnkung  der  persönlichen  Freiheit  im  Sinne  des  }  93  StG.  erblickt 
fwden.  Denn  wenn  sich  auch  (die  genannten  Mädchen  freiwillig  in  das  Haas 
der  Riehl  begeben  haben  und  sich  darüber  klar  waren  oder  worden,  daß  sie 
daselbst  der  Prostitution  ergeben  sein  werden,  so  geht  doch  ans  ihren  glaub- 
vQrdigen  Aussagen  hervor,  daß  sie  die  schon  früher  bezeichneten  Beeinträch- 
tigungen ihrer  Bewegungs-  und  Dispositionsfreiheit  nicht  Willens  waren,  zu  er- 
tragen, somit,  wie  bereits  oben  festgestellt  warde,  gegen  ihren  WiUen  ertragen 
maßten,  daß  aber  aach  Riehl,  an  welche  sie  sich  wegen  Behebung  dieser  Ein- 
schränkung wendeten  und  welche  daher  in  Kenntnis  ihres  Bestrebens  aus  dem 
flaose  zu  kommen,  war,  teils  durch  Drohungen  und  Mißhandlungen,  teils  durch 
einfaches  Ignorieren  ihrer  Bitten  es  dahin  brachte,  daß  diese  Mädchen  ihr 
Schicksal  weiter  ertragen,  bis  eine  gftnstige  Gelegenheit  sich  fär  sie  bot,  om 
aus  dem  Hause  zu  kommen,  so  daß  Riehl  auch  das  Bewußtsein  der  Willeni- 
beogung  in  Ansehang  dieser  Mädchen  haben  mußte. 

Sie  hat  demnach  die  Mädchen,  über  welche  ihr  nach  dem  G^esetze  keine 
Gewalt  zustand  and  die  sie  auch  nicht  als  Verbrecher,  schädliche  oder  gefähr- 
liche Menschen  zu  erkennen,  oder  mit  Grund  anzusehen  hatte,  eigenmächtig 
Terschlossen  gehalten  und  auch  sonst  an  dem  Gebrauche  ihrer  persönlichen 
Freiheit,  insbesondere  durch  den  Toilettenzwang  behindert  und  war  sich  dieses 
rechtswidrigen  Vorgehens  auch  bewußt 

Wie  bereits  oben  angeführt  wurde,  so  erstreckt  sich  bei  den  meisten  Mäd- 
chen diese  Anhaltung  weit  über  drei  Tage. 

Wenn  in  den  sub.  2—6,  16,  19,  20,  24  angeführten  Fällen  aber  auch  noch 
der  Erschwerungsumstand  des  erlittenen  Ungemaches  als  TOrhanden  angenommen 
wurde,  so  gründet  sich  dies  auf  die  Erwägung,  daß  schwere  Mißhandlungen, 
Manipulationen  an  den  (Geschlechtsteilen  (bei  Anna  Christ),  Nötigungen  zur 
Doldigung  naturwidriger  Ausschreitungen,  sowie  zum  Znsammensein  mit  Infek- 
tionskranken (Denk),  allerdings  als  solche  Unbilden  anzusehen  sind,  welche  als 
körperliches  und  seelisches  Unbehagen  oder  Ungemach  bezeichnet  werden  müssen. 

Begine  Biehl  war  demnach  in  diesen  Bichtungen  nach  §§  93  und  94  St.G. 
acholdig  zu  erkennen,  während  in  Ansehung  der  übrigen  diesbezüglichen  An- 
klagefakten  der  Freispmch  teils  infolge  Rücktrittes  der  k.  k.  Staatsanwalt- 
schaft, teils  Mangels  der  TatbestandToraussetzungen  nach  §  259/2  respektive 
§  259/3  StP.O.  erfolgte. 

B.  Antonie  PoUak 

wurde  bereits  im  Strafakte  des  Bezirksgerichtes  Alsergrond  Reg.  Nr.  2319 
es  1895  laut  welchem  Regine  Riehl  sieh  wegen  Kuppelei  zu  verantworten  hatte, 
ala  Aufpasserin,  Arisoposten  und  Anwerberin  von  Kunden  für  Riehl  bezeichnet 
ond  gibt  sie  selbst  zn,  seit  einer  Reihe  von  Jahren  der  Riehl  verschiedene 
IMenstleistangen  zu  verrichten;  sie  begleitet  die  bei  Riehl  in  Unterstand  getretenen 
Mädchen  zum  Kommissariate  behufs  Erlangung  des  Gesundheitsbuches,  sie  be- 
sorgt die  Oherffihmng  der  spitalbedürftigen  erkrankten  Mädchen  in  das  Kranken- 
haus, kontrolliert  die  Dauer  der  Anwesenheit  derselben  daselbst,  um  sie  meder 


100  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien. 

abcuholen,  damit  sie  dem  Hause  Riehl  erbalten  bleiben;  sie  besorgt  gemein- 
schaftlich mit  Riehl  oder  in  Vertretung  die  Bewachung  der  M&dchen  im  Hause 
indem  sie  dafür  sorgt,  daß  dieselben  unter  Sperre  bleiben  und  aus  dem  Hause, 
sich  nicht  entfernen  kOnnen;  sie  kontrolliert  die  Einnahmen  der  M&dchen, 
welche  in  Verhinderung  der  Riehl  an  sie  abgeführt  werden  müssen,  sie  sucht  sich 
in  das  Vertrauen  der  M&dchen  einzuschleichen,  um  allfftUige  gegen  Riehl  ge- 
richtete Fl&ne  zu  erfahren  und  rechtzeitig  derselben  zu  hinterbringen  und  sie 
besorgt  die  Verfolgung  der  flüchtigen  und  deren  Rückbringung  sowie  sie  auch 
die  Riehl  in  Kenntnis  setzt,  wenn  flüchtende  M&dchen  bei  ihr  ein  Asyl  suchen, 
um  der  Riehl  Gelegenheit  zu  geben,  sie  wieder  zurückzubringen. 

Alle  diese,  von  der  PoUak  nur  zum  Teile  zugestandenen  T&tigkeiten  sind 
in  Ansehung  der  sub  Il/a  des  Urteilstenors  bezeichneten  M&dchen  durch  deren 
glaubwürdigen  Aussagen  als  erwiesen  anzunehmen  und  muüte  bei  dem  nahesu 
t&glichen  Verkehr  der  Pollak  im  Hause  der  Riehl,  der  PoUak  auch  bekannt 
sein,  daß  diese  M&dchen  über  drei  Tage  daselbst  angehalten  sind,  sowie  auch 
aus  dem  Verhältnisse  der  Pollak  zur  Riehl  aus  den  zahlreichen  Protesten  der 
M&dchen  gegen  ihre  Anhaltung  aus  den  yielfachen,  ]&rmenden  durch  Mißhand- 
lungen der  Mädchen  auffallenden  Auftritte  im  Hanse  und  den  Fluchtversuchen 
und  Fluchtpl&nen  der  Mädchen  ihr  bekannt  sein  mußte,  daß  durch  das  Ver- 
sperrthalten und  Bewachen  der  M&dchen  die  Festhaltung  derselben  wider  ihren 
Willen,  respektive  die  Verhindernng  ihrer  Entweichung  bewerkstelligt  werden  soll. 

In  dieser  T&tigkeit  muß  aber  eine  werktätige  Hilfeleistung  der  Pollak  für 
Regine  Riehl  zum  Verbrechen  der  Einschränkung  der  persönlichen  Freiheit  nach 
§§  5  und  93  und  94  Stti.  erblickt  werden,  wogegen  diese  Tätigkeit  als  nicht 
ausreichend  zur  Mittäterschaft,  wie  dies  die  Anklage  vermeint,  erkannt 
werden  kann,  weil  dieselbe  nicht  den  ganzen  Komplex  von  Handlungen  umfaßt, 
welche  von  Riehl  bedacht,  beschlossen  und  gesetzt  wurden,  um  den  Zweck  zu 
erreichen,  systematisch  die  Mädchen  gegen  ihren  Willen  festzuhalten  und  sie 
als  Ausbeutungsobjekte  auszunützen  und  weil  sie  ihre  Tätigkeit  nur  im 
Auftrage  der  Riehl  und  nicht  selbständig  gesetzt  hat. 

Deshalb  und  Mangels  der  hierzu  nötigen  Feststellungen  konnte  auch  nicht 
—  wie  dies  die  Anklage  getan  hat  —  alle  der  Riehl  zur  Last  fallenden  Fakten 
auch  ihr  imputiert  werden,  sondern  nur  jene,  in  welchen  aus  den  Angaben  der 
eingeschlossenen  Mädchen  sich  genügende  Anhaltspunke  dafür  ergaben,  daß 
Pollak  der  Riehl  bewußt  werktätige  Hilfe  geleistet  hatte;  es  sind  dies  aus  den 
oben  spezialisierten  Fakten,  die  Nr.  2,  3,  6,  8,  9,  10,  17,  19,  25  und  26; 
auch  kann  ihr  bei  einzelnen  Fällen  nicht  das  Ungemach  zur  Last  gelegt  werden, 
nachdem  nicht  nachweisbar  ist,  daß  sie  hiervon  Kenntnis  gehabt  hat. 

Antonie  Pollak  war  daher  in  Ansehung  der  sub.  Il/a  angeführten  Fakten 
schuldig  zu  erkennen  des  Verbrechens  der  Mitschuld  an  der  drei  Tage  über- 
schreitenden Einschränkung  der  persönlichen^  Freiheit  nach  §§  5,  93  u.  94St.6. 
während  in  Ansehung  der  übrigen  Fakten  teils  über  Rücktritt  der  Anklage,  teils 
Mangels  des  Erweises  des  [Tatbestandes  nach  |§  259/2  respektive  nach  }  259/3 
St.P.O.  mit  einem  Freispruche  vorzugehen  war. 

a  Friedrich  Ktfnig, 

Vater  der  minderjährigen  Marie  König,  welche  unter  dem  Bordell- 
namen „Liesl*'  durch  4  Jahre  im  Hause  Riehl  der  Prostitution  ergeben  war, 
gibt  zu,  seiner  Tochter,  welche  ohne  sein  Wissen  durch  Vermittelung  einer  gc- 


1.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  101 

wissen  Hofilmann  in  das  Haus  gekommen  war,  nach  vorheriger  W&igerung,  Ober 
ihre  Bitte  und  Qber  Zureden  der  Riehl  gestattet  zu  haben,  draj9:%tBuch** 
zn  nehmen»  wogegen  sie  ihm  yersprochen  haben  soll,  den  SchadMk  jiu  er- 
setzen, welchen  sie  ihm,  als  sie  noch  schulpflichtig  war,  dadurcll  zugßfQgt 
h&tte,  dafi  sie  ihm  Schande  bereitet  und  er  deshalb  die  Kündigung  erhiAl(;,.*wo- 
dorch  er  auch  die  im  betreffenden  Hause  innegehabte  Kutscherstelle  yerlor\usd 

3  Monate  erwerbslos  war.  —  Er  gibt  ferner  zu,  nunmehr,   durch  die  gtfQzen: 

4  Jahre  monatlich  von  Biehl,  ä  conto  dieses  Schadenersatzes,  5  fl.,  welche^  6r 
sich  stets  selbst  abholte,  erhalten  zu  haben,  ist  aber  nicht  in  der  Lage,  die 
Höhe  dieses  Schadens  zu  beziffern  oder  auch  nur  zu  behaupten,  mit  Riehl  oder 
•einer  Tochter  einen  bestimmten  Ersatzbetrag  vereinbart  haben;  w&hrend  er  nun 
im  Vorverfahren  zuerst  angab,  er  habe  dieses  von  Riehl  erhaltene  Geld  nicht 
für  sich  verwendet,  sondern  dasselbe  zu  Hause  zusammengelegt  fOr  seine 
Tochter  —  weil  er  aus  ihrem  Schandlohn  keinen  Vorteil  ziehen  wollte  —  und 
daß  er  auch  bereit  sei,  diesen  Betrag,  welcher  im  Ganzen  zirka  400  Kronen 
ausmache,  über  gerichtliche  Weisung  bei  der  Pflegschaftsbehörde  zu  erlegen, 
beziffert  er  sp&ter  und  bei  der  Hauptverhandlung  den  ganzen  von  Riehl  in 
4  Jahren  erhaltenen  Betrag  mit  zirka  800  respektive  1000  K.,  wovon  er  im 
Oktober  1906  —  also  nach  der  Anklagezustellung  —  für  seine  Tochter  bar 
400  Kr.  bei  Gericht  erlegte  und  will  er  den  Rest  von  zirka  400  respektive 
600  K.  für  seinen  zifferm&ßig  nicht  feststellbaren  Schaden  behalten  haben;  bei 
seiner  polizeilichen  Vernehmung  vom  23.  Juni  1906  (Bl.  Z.  13)  hatte  er  diese 
Schadenersatzsache  nicht  erwAhnt,  sondern  zugestanden,  von  Riehl  mehr- 
mals Unterstützungen,  jedoch  nicht  monatlich  zugesicherte  Beitrage,  er* 
balten  zu  haben,  w&hrend  er  jetzt  das  Fixum  zugibt  und  den  damaligen  Titel 
bestreitet.  —  Friedrich  König  gab  weiteres  zu,  der  Tochter  öfters  bei  seinen 
Besuchen  im  Hanse  der  Riehl  Vorwürfe  gemacht  zu  haben,  wenn  Riehl  sich 
darüber  beschwerte,  daß  Marie  König  mit  den  Herren  frech  und  grob  gewesen 
sei;  —  er  habe  ihr  auch  bei  solchen  Anl&ssen  Ohrfeigen  gegeben  und  ihr  ge- 
droht, er  werde  sie,  wenn  sie  nicht  gut  tue,  in  die  Zwangsarbeitsanstalt  geben  ; 
wenn  ihm  seine  Tochter  gesagt  hätte,  sie  wolle  nicht  mehr  bei  Riehl  bleiben, 
10  hätte  er  sie  mitgenonunen;  so  aber  h&tte  Riehl  sich  ihm  gegenüber  ge- 
änfiert,  daß  sie  das  M&dchen  nicht  mehr  behalten  wollet 

Regine  Riehl  verantwortet  sich  dahin,  Marie  König  habe  sich  bereit  er- 
klärt, ihrem  Vater  den  durch  sie  zugefügten  Schaden  zu  ersetzen;  sie  sei  wegen 
des  ordinären  Benehmens  der  König  öfters  bemüßigt  gewesen,  sie  zu  schlagen 
and  habe  bei  größeren  Krawallen  auch  dem  Vater  geschrieben,  er  möge  kommen 
and  sie  zu  sich  nehmen;  wenn  er  sodann  kam,  habe  er  seine  Tochter  ge- 
schlagen, worauf  dieselbe,  da  er  sie  nicht  nehmen  wollte,  die  Riehl  wieder  um 
Verzeihung  bat  und  Riehl  sich  bestimmen  ließ,  sie  wieder  zu  behalten.  —  Wenn 
man  dagegen  die  oben  sub.  Nr.  18  bei  dem  Faktum  Marie  König  angeführten 
Zeugenaussagen  in  Betracht  zieht,  so  muß  der  Gerichtshof  die  Überzeugung  ge- 
winnen, daß  die  Mißhandlungen  und  Drohungen  des  Vaters  nicht  zu  diesem  Be- 
bnfe  erfolgten,  damit  Riehl  das  ungeberdige  Mädchen  wieder  pbehalte**, 
sondern  daß  Riehl  und  Friedrich  König  diese  Szenen  im  Einverständnisse  ver- 
anstalteten, um  Marie  König  einzuschüchtern  und  auf  diese  Weise 
ihren  Widerstand  gegen  die  von  beiden  gewollte  und  beabsichtigte  Fest- 
haltung derselben  im  Riehischen  Hause  zu  brechen,  was  ihnen  auch  tatsäch- 
lich gelungen  ist. 


•  * 

•  •     • 


102  .-    *•  •!  Der  Prozeß  Riehl  und  Kon&orten  in  Wien. 


• » 


•  • 


•. 


Denn'^^^e  es  ihnen  nicht  darum  zu  tun  gewesen,  so  w&re  es  fOr  Riehl 
ein   leic)i^a*l|[ewe8en,   ein  ihr  nicht  zusagendes  M&dchen   auch  ohne  y&terliche 
InterTQn^oCk  aus   dem  Hanse   zu  entfernen,  sowie  es  anderseits  gewiß  nicht  in 
der  .iQtention   eines  auf  das  sittliche  Oedeihexu*  der  Tochter  bedachten  Täters 
gelcjjjim'rsein  konnte,  eine  „Besserung''  derselben  in  einem  solchen  Hause  er- 
refcleo   zu   wollen,  und  ihm   die  Hilfe  der  PflegscbaftsbehOrde  zur  Verfügung 
tfistiihden  w&re,  um  die  angeblich  moralisch  verkommene  Tochter  auf  den  Weg 
deV' Besserung  zu  bringen.    Daß  ihm  aber  daran  gelegen  war,  die  Tochter  ge- 
.{'ade    bei  Riehl  festzuhalten  und  daß  er  daher  dieselbe,  wenn  sie  wegen  der 
*'Anhaltung  wider  ihren  WiUen  ungeberdJg  wurde,  schlug  und  mit  dem  Arbeits - 
hause  bedroht,  findet  auch  seine  Erklärung  in  der  ihm  von  Riehl  zugesicherten 
monatlichen   Unterstützung  ans  dem  Schandlohne,    nachdem  doch   die  Be- 
hauptung der  Ersatzforderung  an  die  minderjährige  Tochter  aus  der  Zeit  ihrer 
Unmündigkeit  unter  den  bereits  erwähnten  Umständen  keinen  Glauben  verdient. 

Es  hat  demnach  der  Gerichtshof  auf  Grund  obiger  Beweismittel  und  Er- 
wägungen als  erwiesen  angenommen,  daß  Friedrich  König  durch  die  erwähnten 
Zwangsmittel  der  Riehl  behilflich  war,  seine  minderjährige  Tochter  wider 
ihren  Willen  als  Prostituierte  zur  Ausübung  des  Schandgewerbes  im  Riebl- 
schen  Hause  zu  erhalten  und  daß  er,  um  daraus  Vorteil  zu  ziehen,  seine 
väterliche  Gewalt  mißbrauchte  durch  Anwendung  der  erwähnten  Zwangs- 
mittel gegen  seine  Tochter. 

Daß  aber  Friedrich  König  auch  wußte,  daß  seine  Tochter  im  Hause  der 
Riehl  in  der  schon  früher  geschilderten  Weise,  ebenso  wie  die  anderen  Mädchen 
eingesperrt  gehalten  wurde  und  ihrer  Freiheit  tatsächlich  beraubt  war,  hat  der 
Gerichtshof  als  erwiesen  angenommen  aus  dem  4  jährigen  oftmaligen  Besuchen 
des  König  im  Hause  Riehl,  aus  der  von  ihm  zugegebenen  Tatsache,  daß  er  da- 
selbst die  Tochter  auch  in  der  für  die  Straße  ungeeigneten  Toilette  wiederholt 
gesehen  hat,  daß  ihm  bei  den  Besuchen  die  Sperrverhältnisse  des  Hauses  be- 
kannt geworden  sein  müssen,  endlich  aus  der  nnbestrittenen  Tatsache,  daß 
innerhalb  4  Jahren  seine  Tochter  nicht  ein  einziges  Mal  in  die  väterliche  Woh- 
nung gekommen  ist. 

Wenn  nun  von  der  Verteidigung  des  Friedrich  König  eingewendet  wird, 
daß  sich  derselbe  als  Vater  und  gesetzlicher  Vertreter  seiner  minderjährigen 
Tochter  wegen  der  ihm  zustehenden  väterlichen  Gewalt  einer  unbefugten 
Einschränkung  ihrer  persönlichen  Freiheit  nicht  schuldig  machen  kann  und  da- 
her auch  an  einer  solchen  nicht  mitschuldig  sein  kann,  so  erscheint  dem  Gerichts- 
hofe diese  Behauptung  im  Gesetze  nicht  begründet.  —  Die  Rechte  und  Pflichten 
der  Eltern  und  insbesondere  des  Vaters  sind  im  3.  Hauptbuche  des  allgemeinen 
bürgerlichen  Gresetzbuches  geregelt;  zu  den  Pflichten  gehört  auch  die  Sorge 
für  das  körperliche  und  geistige  Wohl  der  Kinder;  zu  den  Rechten:  ein  un- 
sittliches, ungehorsames  Kind  auf  eine  ihrer  Gesundheit  unschädliche  Art  zu 
züchtigen.  (§  145  a.  b.  G.B.)  Wenn  daher  der  Vater  das  minderjährige  Kind 
züchtigt,  weil  dasselbe  sich  den  Anordnungen  der  Bordellinhaberin  bei  Aus- 
übung des  Schandgewerbes  nicht  fügen  will,  und  um  dadurch  zu  erreichen,  daß 
die  Tochter  auch  fernerhin  zur  Ausübung  des  Schandgewerbes  im  Bordelle 
verbleibe,  so  kann  dieses  Vorgehen  nicht  als  im  Ausfluß  der  väterlichen 
Gewalt,  sondern  nur  als  ein  Mißbrauch  derselben  angesehen  werden, 
welcher  in  §  93  St.G.  keine  Stütze  findet;  denn  die  Züchtigung  soll  ihm  au- 
gestehen  zur  Behebung,  nicht  aber  zur  Beförderung  der  Unsittlichkeit. 


I.  Der  Prozeß  Biehl  und  Konsorten  in  Wien.  103 

Wenn  aber  weiten  die  Yerteidigang   Termeint,  Friedrich  König  habe  sich 
in  gutem    Glauben  bezOgh'ch  der  Rechtm&ßigkeit  der  Anhaltong  seiner 
Tochter   im    Hanse    Riehi   befinden  können,  weil  er  ja  von  der  Polizeibehörde 
um  seine  ZuBtimmung  zur  Ausstellung  des  Gesnndheitsbuches  befragt  worden 
sd,  BO  ist   der  Gerichtshof  der  Ansicht,  daß  ihm  dieser  gute  Glaube  nur  dann 
zugebilligt   werden  könnte,  wenn  es  sich  lediglich  um  einen  freiwilligen,  durch 
kone   Zwangsmittel  yersch&rften  Aufenthalt    im    Riehischen   Hause   gehandelt 
h&tte,  w&hrend  es  sich  hier  um  die  Willensbeugung  der  mit  diesem  Aufent- 
halte nicht   mehr   einverstandenen  Tochter  durch  SchlAge  und  Drohungen  yon 
Seiten  des  Yaters  gehandelt  hat.    Daß  aber  Marie  König  tatsftchlich  unfrei- 
willig im  Hause  festgehalten  wurde,  geht  wohl  aus  den  Aussagen  Baders  und 
des  Ernst  PoUak  anzweifelhaft  hervor. 

Da  aber  die  von  Friedrich  König  angewandten  Gewaltmittel  tatsftchlich 
den  Effekt  hatten»  daß  die  Anhaltung  der  Marie  König  im  Hause  Riehl  wider 
deren  Willen  verlängert  wurde,  so  stellt  sich  dieselbe  als  eine  Hilfeleistung  im 
Sinne  des  §  5  des  Strafgesetzbuches  zur  Tat  der  Regine  Riehl  (g  9*3  8t.G.)  dar 
ond  trifft  auch  der  Qualifaktionsumstand  der  Anhaltung  von  mehr  als  drei 
Tsgen  (§  94  StG.)  bei  Friedrich  König  zu,  nachdem  ja  seine  Tochter  durch 
4  Jahre  bei  Riehl  sich  befand  und  in  dieser  Zeit  die  Intervention  des  Yaters 
zur  Fortsetzung  der  Anhaltung  wiederholt  in  Anspruch  genommen  wurde,  somit 
sich  aber  einen  Zeitraum  von  weit  Aber  3  Tage  erstreckt  hat 

Friedrich  König  war  daher  des  Verbrechens  der  Mitschuld  an  der  Tat 
der  Regine  Riehl  nach  §§  5,  93,  94  St.G.,  höherer  Strafsatz  schuldig  zu  erkennen. 
Da  aber  in  dem  fortgesetzten  Bezüge  eines  Anteiles  am  Schandlohne  auch 
der  Tatbestand  der  Übertretung  des  §  5  des  Gesetzes  vom  24.  Mai 
1S85  gelegen  ist,  nachdem  Friedrich  König  diese  Bezüge  zum  großen  Teile  für 
seinen  Unterhalt  gestftndigermaßen  verwendete,  so  war  er  auch  dieser  Über- 
tretung schuldig  zu  erkennen. 

II.  Zur  Veruntreuung  (§  183  StG.,  ad  1/b). 

Was  die  von  der  Anklage  der  Regine  Riehl  zur  Last  gelegten  Unter- 
schlagungen von  Kleidern  und  Wäschestücken,  welche  sie  von  den  bei  ihr  in 
Unterstand  getretenen  Prostituierten  in  Verwahrung  nahm,  anbelangt,  so  hat 
sich  der  objektive  Tatbestand  nur  in  Ansehung  der  Josephine  Taubmann  mit 
Sicherheit  feststellen  lassen.  Diesbezüglich  geht  aus  der  vollkommen  glaub- 
würdigen Aussage  dieses  M&dchens  hervor,  daß  sie  eine  Vierteldutzendgamitur 
feiner  Battistwftsche  im  beilftuHgen  Werte  von  100  K.  zur  Riehl  mitgebracht 
hatte  und  als  sie  das  Riehische  Haus  verließ,  ihr  diese  Wäsche  von  Riehl  nicht, 
ausgefolgt  wurde;  sie  ging  nachträglich  noch  zur  Riehl  und  verlangte  deren 
Herausgabe,  wurde  aber  Yon  BiehP,  Pollak  und  einigen  Mädchen  derart  an- 
gegriffen und  bedroht,  daß  sie  schleunigst  das  Haus  verlassen  mußte,  ohne  ihre 
Wische  ;erlangt  zu  haben.  —  Hierin  erscheint  allerdings  der  Tatbestand  der 
Tenmtreuung  nach  §  461  StG.  gelegen,  da  die  Verantwortung  der  Angeklagten, 
die  Taubmann  habe  nur  einige  Fetzen  mitgebracht,  bei  der  präzisen  Angabe  der 
Taabmann  einerseits  und  bei  der  Intensität,  mit  welcher  ihr  Begehren  um  Rück- 
steUong  ihrer  Wäsche  abgeschlagen  wurde,  keinen  Glauben  verdient.  In  An- 
sehung der  übrigen  Fakten  erschien  dem  Gerichtshofe  aus  den  Angaben  der 
Beschädigten  nicht  genügend  feststellbar,  welche  Effekten  sie  zur  Riehl  gebracht 
hattoi,  in  welchem  Zustande  sich  dieselben  damals  befanden,  ob  dieselben  tat- 


104  I.  Der  Prozeß  Biehl  und  Konsorten  in  Wien. 

B&ehlich  in  Yerwahrang  genommen  wurden,  inwieweit  Kompensation  durch 
andere  Effekten  beim  Anstritte  geleistet  wurde  und  ob  und  inwieweit  die  Be> 
Bch&digten  nicht  schon  auf  die  RQckstelinng  Tenichtet  hatten:  zum  Teile  hat 
aneh  schon  der  k.  k.  Staatsanwalt  die  Anklage  bei  der  Hauptverhandlnng  zn- 
rackgezogen  und  erfolgte  demgem&ß  der  Freispruch  der  Begine  Riehl  nach 
§§  259/2  u.  3  St.P.O. 

III.  Yerbrechen  des  Betruges  nach  §§  197,  199a  StO.  (ad  |1  c,  d; 

IIb,  c  und  IV). 

Als  die  Zustande  im  Hause  Riehl  durch  die  von  Marie  König  an  Ernst 
Pollak  und  Emil  Bader  gemachten  Eröffnungen  infolge  Vorgehens  des  Emil 
Bader  zur  Kenntnis  der  Polizeibehörde  kamen  und  deren  Publikation  im  „lUnst 
Wiener  Extrablatte''  bevorstand,  suchte  Regine  Riehl  einerseits  die  Erhebungen 
der  Polizei  zu  durchkreuzen  (Aussage  des  Polizeiagenten  Johann  Seidl  und  des 
Emil  Bader)  anderseits  auf  die  Unterlassung  der  Publikation  durch  ihren  Vater, 
Salomon  Lustig  und  Antonie  Pollak,  bei  Bader  einzuwirken,  ohne  daß  sie 
bei  letzterem  einen  Erfolg  hatte.  Dagegen  gelang  es  ihr,  wie  aus  den  polizei- 
lichen Erhebungen  J.  35/73  P.B.  zu  entnehmen  ist,  (Polizeiaussagen  der  Pokorny 
vom  26.  Juni  1906,  der  Marie  Hosch,  bei  deren  Vernehmung  der  Polizeiagent 
Piß  zugegen  war,  —  der  E?a  Madzia,  Aloisia  Stipschik,  Aloisia  Hirn,  Josefine 
Zawazal,  Pauline  Trzil  u.  a.  vom  26.  und  27.  Juni  1906)  und  wie  dies  auch  die 
Yemommenen  M&dchen  bestätigen,, durch  deren  Depositionen  —  ebenso  wie  im 
Jahre  1905  —  unwahre  fQr  sie  günstige  Angaben  zu  erzielen,  welche  unter 
anderen  Umständen  —  wenn  nicht  die  Publikationen  im  „Illust  Wiener  Extra- 
blatte'' erfolgt  und  fortgesetzt  worden  wären,  die  Polizeibehörde  ebenso  wie  im 
Jahre  1905  hätten  irrefOhren  können. 

Inzwischen  begann  die  gerichtliche  Untersuchung  und  erfolgte  bereits  am 
5.  Juli  1906  die  Zeugenvernehmung  der  Marie  Hosch  (0.  Nr.  16),  Eva  Madzia 
<0.  Nr.  16),  Sofie  Christ  (0.  Nr.  17),  Josefine  Zawazal  (0.  Nr.  18),  und  Ernestine 
Gönye  (0.  Nr.  19)  unter  Eid  und  der  Anna  Christ  (0.  Nr.  21)  unbeeidet; 
weiters  erfolgte  die  Zeugeneinvemehmen  der  Marie  Pokorny  (0.  Nr.  123)  am 
23.  Juli  und  der  Marie  Winkler  am  25.  Juli  1906,  sowie  die  zweite  Vernehmung 
der  Anna  Christ  als  Zeuge  am  16.  Juli  1906.  —  Wie  alle  diese  Mädchen  später 
und  auch  bei  der  Hauptverhandlung  eingestanden  haben,  haben  sie  bei  diesen 
Zeugenvernehmungen  in  wesentlichen  Punkten  die  Unwahrheit  gesagt  und  seien 
sie  —  mit  Ausnahme  der  Winkler  —  hierzu  dc^rch  Regine  Riehl,  Anna  und 
Sofie  Christ,  sowie  Emestine  Gönye  auch  durch  Antonie  Pollak  verleitet  worden. 

1.  Marie  Hosch  gab  an:  „Ich  hatte  freien  Ausgang,  wir  schliefen  zu 
zweit  oder  dritt  in  einem  Zimmer,  die  Fenster  waren  unversperrt;  die  Korre- 
spondenz war  frei,  ich  durfte  die  Briefe  selbst  öffnen;  von  dem  erhaltenen 
Gelde  mußte  ich  an  Riehl  die  Hälfte  abführen  fOr  Quartier;  die  andere  Hälfte 
blieb  mir,  abzQglich  4  Kronen  fOr  die  Kost;  das  Geld  stand  zu  meiner  freien 
Verfügung." 

Am  21.  Juli  1906  gab  Marie  Hosch  dem  Untersuchungsrichter  an,  es  habe 
ihr  Riehl  am  Tage,  bevor  sie  bei  Gericht  erschienen  sei  (also  am  4.  Juli  1906) 
gesagt,  sie  sollen  so  sprechen,  wie  sie  bei  der  Polizei  gesprochen  haben,  nach- 
dem ihr  die  Riehl  schon  vorher  für  die  polizeiliche  Vernehmung  die  Anleitung 
gegeben  hatte,  daselbst  zu  sagen,  „sie  hätten  zu  zweit  in  einem  Zimmer  geschlafen, 
Fenster  und  Türen  seien  nicht  versperrt  gewesen,  sie  haben  ausgehen  dürfen. 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  105 

konnten  anstandslos  Briefe  schreiben  und  erhalten,  bekamen  die  H&lfte  Tom 
Schandlohne  und  konnten  über  das  restliche  Oeld  frei  Terftlgen*'  —  auch  habe 
Dir  Biehl  versprochen,  wenn  die  Sache  gat  ausgehe,  ihr  dafür  etwas  su  geben. 
—  Zugleich  erklärte  die  Bosch,  nunmehr  die  Wahrheit  zu  sagen  und  erkl&rte 
sie  die  als  Zeuge  unter  Eid  am  5.  Juli  gemachten  Angaben  als  unwahr.  — 
Dabei  bUeb  sie  auch  bei  der  Hauptrerhandlung. 

2.  Die  derzeit  flüchtige  Eya  Madzia  gab  an:  „Wir  hatten  Schlafzimmer, 
in  denen  wir  zu  zweit  untergebracht  waren;  wir  konnten  frei  Briefe  schreiben 
ond  bekommen;  ich  konnte  das  Haus  unter  Tags  verlassen,  wann  ich  wollte 
ohne  nm  Erlaubnis  zu  bitten,  auch  die  König  konnte  frei  weggehen;  von  den 
Herren  erhielt  ich  das  Geld;  meinen  Tagesverdienst  verrechnete  ich  mit  der 
Riehl  und  hatte  ihr  die  H&lfte  für  die  Wohnung  abzuführen;  die  andere  H&lfte 
behielt  ich  für  mich  und  hatte  ihr  für  die  Kost  pro  Tag  4  K.  zu  bezahlen;  der 
Beat  blieb  mir  zur  freien  Verfügung."  — 

Am  24.  Juli  1906  gab  Eva  Madzia  bei  dem  Bezirksgerichte  Bielitz  an,  es 
sei  diese  Aussage  eine  wissentlich  falsche  gewesen;  bevor  sie  zu  Gericht  ge- 
gingen  sei,  habe  Riehl  sie  in  den  Salon  gerufen  und  sie  genau  instruiert,  wie 
m  daselbst  aussagen  soll,  sie  solle  alles  entgegen  der  Wahrheit  sagen,  woftkr 
ihr  die  Biehl  Schmuck  und  Toiletten  versprach  und  ihr  auch  am  6.  Juli  — 
iko  nach  der  Einvernehmung  —  als  Belohnung  eine  goldene  Ühr  gab.  — 
Madzia  erkl&rte  sohin,  nunmehr  die  Wahrheit  zu  sagen  und  bezeichnete  sie 
ihre  obigen  Zeugenangaben  als  unwahr.  —  Riehl  habe  ihr  auch  schon  vor  der 
poliseiHchen  Vernehmung  eingeschärft,  dort  nicht  die  Wahrheit  zu  sagen. 

3.  Sofie  Christ  gab  an:  ,«Die  Riehl  hat  mich  immer  gut  behandelt;  ich 
aih  nie,  daß  andere  Mädchen  mißhandelt  wurden;  ich  schlief  mit  einem  zweiten 
M&dchen  in  einem  Zimmer ;  die  Fenster  waren  nicht  versperrt;  die  Korrespon- 
denz war  frei\  ich  konnte  unter  Tags  ausgehen,  wann  ich  wollte;  ich  habe  im 
im  Ganzen  nur  75  fl.  eingenommen;  als  ich  das  Hans  verließ,  gab  mir  die  Riehl 
aas  freien  Stücken  35  fl.,  je  sechs  Hemden,  Hosen  und  Gorsettes,  3  Paar 
Strümpfe,  2  Paar  Schuhe,  2  Kleider,  3  Hüte;  sie  hat  gesagt,  daß  sie  bei  mir 
darauf  gezahlt  hat,  was  stimmt.'' 

Am  17.  Juli  1906  gab  Sofie  Christ  vor  dem  Untersuchungsrichter  an,  daß 
diese  Angaben  unwahr  seien;  sie  habe  dieselben  gemacht,  weil  am  Sonntag 
den  24.  Juni  Nachmittags  die  Po  Hak  in  ihre  Wohnung  kam,  sie  aufforderte, 
wegen  einer  gerichtUchen  Aussage  zur  Riehl  zu  kommen,  sie  solle  gut  für 
Riehl  aussagen;  auch  gab  ihr  die  PoUak  sofort  10  fL  und  versprach  ihr,  daß 
sie  auch  Kleider  bekomme.  Riehl  sagte  ihr  dann  in  Gegenwart  der 
Pollak,  sie  müsse  bei  Gericht  gnt  für  sie  aussagen,  sie  würde  es  nicht  be- 
reuen, Riehl  gab  ihr  sohin  10  fl.  und  sagte  ihr,  sie  müsse  sagen:  y^ale  sei  gut 
behandelt  worden,  die  anderen  M&dchen  seien  auch  nicht  mißhandelt  worden, 
Fenster  und  Türen  waren  offen,  die  M&dchen  konnten  frei  ausgehen,  durften 
Briefe  schreiben  und  empfangen,  der  Schandlohn  sei  geteilt  worden,  Riehl  habe 
ihr  beim  Verlassen  des  Hauses  Geld  und  Kleider  gegeben.*' 

Sie  sei  dann  noch  öfters  zur  Riehl  gegangen  und  habe  ihr  dieselbe  noch 
sarka  4  mal  je  5  fl.  und  einmal  10  fl.  gegeben;  auch  habe  ihr  dieselbe  ver- 
sprochen, ihr  nach  durchgeführter  Gerichtsverhandlung  50  fl.  zu  geben. 

4.  Josefine  Zawazal  gab  an:  „Schreiben  durfte  ich  frei,  Utensilien  er^ 
hidt  ich  Ton  Frau  Riehl  gegen  Bezahlung,  der  Lohn,  den  ich  von  den  Besuchern 
erhielt,  wurde  zwischen  mir  und  Riehl  gleich  geteilt;   von  meiner  H&lfte  hatte 


106  I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Eonsorten  in  Wien. 

ich  2  E.  f ür  Kost  and  2  E.  fftr  Licht  zu  bezahlen.  Eleider,  Wäsche,  Schuhe 
mußte  ich  ihr  bezahlen;  beim  Austritt  erhielt  ich  von  ihr  mein  ganzes  Guthaben. 
Wir  hatten  nach  Yorausgogangener  Meldung  Nachmittags  freien  Ausgang  — 
die  Schlafzimmer  waren  fflr  Je  2  M&dchen  bestimmt'* 

Am  17.  Juli  1906  gab  Zawazal  Yor  dem  Untersuchungsrichter  an,  daß  sie 
diese  Angaben  als  falsche,  auf  Anstiften  der  Riehl  gemacht  habe.  — 
Biehl  habe  sie  am  24.  Juni  durch  die  PoUak  holen  lassen,  sagte  ihr,  sie  solle 
gut  fttr  sie  aussagen,  gegen  die  „Lisi^^  (EOnig)  auftreten,  sie  wflrde  dafftr 
Eleider  und  Schmuck  bekommen;  sp&ter  schärfte  ihr  die  Riehl  ein,  bei  Gericht 
zu  sagen,  daß  die  Mädchen  zu  zweit  in  einem  Zimmer  schliefen,  daß  sie  Briefe 
schreiben  und  bekommen  konnte,  ausgehen  konnte  wann  sie  wollte,  daß  Riehl 
das  Geld  mit  ihr  teilte.  —  Riehl  gab  ihr  sofort  5  fl.  und  am  5.  Juli  nach 
ihrer  Yernehmung  wieder  5  fl. 

4  a)  Am  6.  Juli  brachte  ihr  die  Po  Hak  15  fL,  Eleider  und  Wäsche  und 
sagte,  wenn  wieder  etwas  komme,  solle  sie  nur  für  die  Riehl  gut  aussagen,  sie 
werde  noch  Schirm  und  dgl.  bekommen ;  diese  Bewerbung  hatte  jedoch  keinen 
Erfolg.  — 

5.;£rne8tine  GOnye,  welche  als  Dienstmädchen  bei  Riehl  von  De- 
zember 1902  bis  Juli  1906  bedienstet  gewesen  war,  gab  an:  „Die  Mädchen  waren 
zu  zweit  untergebracht;  sie  gingen  unter  Tags  frei  aus  dem  Hause;  niemals 
wurden  Mädchen  eingesperrt;  mir  ist  nicht  bekannt,  daß  Mädchen  versteckt 
oder  geprügelt  wurden;  die  Eönig  ging  öfters  frei  aus  dem  Hause.*' 

Am  24.  August  1906  gab  Gönye  vor  dem  Untersuchungsrichter  an,  die  Riehl 
habe  ihr  Yor  ihrer  am  5.  Juli  erfolgten  gerichtlichen  Yernehmung  gesagt,  sie 
müsse  sagen,  so  wie  oben  angegeben  ist  und  als  ihr  GCnye  erwiderte,  daß  dies 
alles  nicht  wahr  sei  erwiderte  Riehl:  früher  sei  das  allerdings  nicht  wahr  ge- 
wesen, jetzt  aber,  seit  der  polizeilichen  Revision  entspreche  es  der  Wahrheit; 
auf  Gönyes  Frage,  was  sie  sagen  solle,  wenn  sie  gefragt  werde,  was  früher  ge- 
wesen sei,  erwiderte  Riehl,  darum  wflrde  sie  nicht  gefragt  werden;  es  werde  ihr 
Schade  nicht  sein,  wenn  sie  für  Riehl  gut  aussage.  —  Auch  die  PoUak  habe 
ihr  zugeredet,  so  auszusagen,  denn  wenn  sie  so  aussagen  würde,  wie  es  früher  war 
und  man  würde  dann  sehen,  daß  es  jetzt  nicht  mehr  so  sei,  würde  man  glauben, 
sie  habe  gelogen  und  man  würde  sie  einsperren.  Demzufolge  habe  sie  obige 
falsche  Aussage  auch  darüber,  wie  es  früher  gewesen  sei,  gemacht 

6.  Anna  Christ  gab  an  a)  am  5.  Juli:  Sie  habe  schon  vor  dem  Ein- 
tritte bei  Riehl  geschlechtlichen  Verkehr  gehabt;  sie  hätte  freien  Ausgang  haben 
können,  von  ihrem  Lohne  mußte  sie  die  Hälfte  an  Riehl  abliefern;  von  ihrem 
Gelde  zahlte  sie  sich  Schmuck,  Poudre  und  Schminke;  beim  Verlassen  des 
Hauses  gab  ihr  Riehl  den  Rest  ihres  Guthabens  von  10  E.;  da  sie  sich  für 
krank  hielt,  ersuchte  sie  mit  Zustimmung  der  Riehl  brieflich  ihre  Mutter,  sie 
abzuholen  und  wurde  sie  ihrer  Mutter  schlankweg  übergeben;  die  Mißhandlungen 
die  sie  durch  Riehl  erlitt,  erstreckten  sich  auf  einige  Püffe." 

b)  am  16.  Juli:  „Ich  bleibe  dabei,  daß  ich  keine  Jungfrau  mehr  war,  als 
ich  zur  Riehl  kam.*' 

Am  7.  August  1906  erschien  Anna  Christ  freiwillig  vor  Gericht  und  ge- 
stand, daß  sie  bei  obigen  Aussagen  bewußt  unrichtige  Angaben  gemacht 
habe.  Sie  sei  noch  Jungfrau  gewesen,  als  sie  zur  Riehl  kam;  die  Riehl  habe 
sie  bei  den  nichtigsten  Anlässen  geschlagen ;  bei  der  Behandlung  mit  dem  Mutter- 
spiegel sei  ihr  Hymen  zerstört  worden;   Riehl  habe  sie  auch  mit  dem  Besen- 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  107 

Btiele  geschlagen,  nnd  ihr  abgeschlagen,  sie  wegzulassen.  Als  sie  schon  bei  ihrer 
Matter  war,  holte  sie  die  PoUak  cur  Riehl  und  ging  sie  mit  beiden  in  der  Hahn- 
gtsse  auf  und  ab;  Riehl  bat  sie,  Tor  der  Polizei  und  bei  Gericht  ausdrücklich  in 
Abrede  zu  stellen,  daß  sie  noch  als  Jungfrau  in  das  Haus  gekommen  sei,  die  Be- 
handlung mit  dem  Mutterspiegel  in  Abrede  zu  stellen,  zu  sagen ,  daß  alle  TOren 
offen  gewesen  seien  und  nur  das  Beste  von  ihr  zu  erz&hlen.  Auch  die  Pollak 
redete  ihr  zu,  gut  auszusagen;  sie  wQrde  glQcklich  werden.  —  Dadurch  sei  sie 
veranlaßt  worden,  am  5.  Juli  falsch  auszusagen.  — 

Nach  der  Yemehmnug  vom  5.  Juli  bat  Riehl  neuerlich,  für  sie  günstig 
sDiznsagen,  falls  sie  nochmals  vernommen  werde  und  schickte  ihr  10  fl.,  ver- 
ipnch  ihr,  für  sie  und  ihr  Kind  zu  sorgen,  worauf  sie  am  16.  Juli  wieder 
fslich  aussagte. 

7.  Marie  Pokorny  gab  an:  „Piß  kam  öfter  in  das  Haus;  ob  er  auch 
als  Gast  yerkehrte,  weiß  sie  nicht;  ihr  ist  nichts  davon  bekannt,  daß  Piß  mit 
M&dchen  auf  das  Zimmer  ging  und  nicht  zahlte;  mit  ihr  sei  er  nicht  auf  dem 
Zimmer  geweflen.** 

Am  21.  September  1906  gab  Pokorny  dem  Untersuchungsrichter  an,  die 
Blehl  müsse  schon  vor  dem  £r8cheinen  der  Polizei  Anfangs  Juli  gewußt  haben , 
diß  dieselbe  zu  ihr  kommen  werde  und  bat  alle  M&dchen,  zu  sagen,  daß  sie  nie 
eingesperrt  waren,  daß  Riehl  immer  mit  ihnen  gerechnet  habe,  daß  sie  allein 
ftQsgehen  darften,  wofür  Riehl  den  M&dchen  W&sche,  Kleider  und  Geld  ver- 
sprach. —  Zu  ihr  habe  Riehl  auch  gesagt:  „Was  du  auf  der  Polizei  gesagt 
bist,  mußt  du  auch  bei  Qericht  sagen."  Sie  habe  daher,  ebenso  wie  die  anderen 
M&dchen  bei  der  Polizei  falsche  Angaben  gemacht. 

Da  aber  Riehl  den  Piß  schonen  wollte ,  so  habe  sie  über  ihn  obige  unwahre 
Angaben  gemacht;  denn  sie  wisse  von  Piß  bestimmt,  daß  er  öfters  bei  Tag  und 
SQch  bei  Nacht  mit  M&dchen  auf  dem  Zimmer  war  und  über  Anordnung  der 
Riehl  nichts  zahlte. 

8.  Marie  Winkler  gab  an:  „Seit  J&nner  1906  schrieb  ich  mir  alles  auf, 
▼SS  ich  verdient  hatte ;  ich  zeigte  ihr  (Riehl)  ab  und  zu  meine  Au&eichnungen 
nnd  sie  sagte  nur:  „Es  ist  schon  gut*'  Am  27.  August  1906  schrieb  Winkler 
dem  Untersuchungsrichter,  sie  bitte  ihn,  in  ihrem  Protokolle  das  von  den  Zetteln 
wegzulassen,  Frau  Riehl  wisse  gar  nichts  davon  und  bei  ihrer  hierüber  am 
35.  September  1906  erfolgten  Vernehmung  erkl&rte  sie,  daß  ihre  erste  Zeugen- 
aossage  (vom  25.  Juli)  in  einem  Punkte  falsch  war;  denn  sie  habe  der  Riehl 
ihre  Au&eichnungen  über  ihren  Verdienst  n  i  e  gezeigt  und  Riehl  habe  nie  mit 
ibr  gerechnet 

9.  Durch  die  vollkommen  glaubwürdige  Aussage  der  Marie  Nemetz  er- 
scheint femer  festgestellt,  daß  Riehl,  als  das  Haus  gesperrt  wurde,  auch  zu  ihr 
sagte,  sie  müsse  bei  Oericht  sagen,  sie  (die  M&dchen)  seien  nicht  eingesperrt 
gebalten  worden,  sie  b&tte  den  Schandlohn  mit  ihr  geteilt,  sie  sei  von  Kiehl 
nicht  mißhandelt  worden;  sie  (Nemetz)  habe  auch,  wie  die  übrigen  M&dchen  dem 
im  Hanse  der  Riehl  erschienenen  Polizeibeamten  diese  falschen*  Angaben  ge- 
macht, habe  aber   bei  Oericht    (wie  ihr  Zeugenprotokoll  dartut)  die  Wahrheit 

8«Mgt. 

Regine  Riehl  und  Antonie  Pollak  stellen  entgegen  diesen  Gest&ndnissen 
der  genannten  M&dchen,  die  Verleitung  derselben,  beziehungsweise  die  Be- 
werbung bei  denselben  betreffs  der  falschen,  zum  Teile  eidlichen  Aussage  in 
Abrede  und  verantwortet  sich  insbesondere  Riehl  dahin,  daß  die  M&dchen  zu 


108  I.  Der  Prozefi  Rlehl  und  Eonsorten  in  Wien. 

den  für  sie  ungünstigen  Aussagen  yermaüich  durch  Baders  Vorgehen  be- 
einflußt worden  seien.  Diese.Verantwortung  erscheint  jedoch  Tollst&ndig  haltlos, 
wenn  man  erwägt,  daß  die  M&dchen  zuerst  die  für  Riehl  günstige  Aus- 
sage als  Zeugen  ablegten  und  erst  später  als  Beschuldigte  gestanden, 
früher  falsche  Aussagen  abgelegt  zu  haben  und  wohl  nicht  angenommen  werden 
kann,  daß  die  M&dchen  sich  durch  Bader  h&tten  soweit  beeinflussen  lassen, 
sich  fälschlich  unwahrer  Zeugenaussagen  zu  beschuldigen.  —  Dazu  kommt,  daß 
die  Angaben,  welche  diese  Mädchen  als  Beschuldigte  machten,  mit  den  zahl- 
reichen Aussagen  der  als  Zeugen  vernommenen,  übrigen  bei  Riehl  angehalten 
gewesenen  Prostituierten  übereinstimmen,  so  daß  daher  der  Gerichtshof  die 
Überzeugung  gewonnen  hat,  daß  die  von  den  Mädchen  abgelegten  Zeugenaus- 
sagen tatsächlich  wissentlich  falsche  Angaben  enthielten  und  daß  diese  Mädchen 
—  mit  Ausnahme  der  Winkler  —  tatsächlich  Ton  Riehl  respektive  auch 
Yon  PoUak  verleitet  wurden,  respektive,  daß  sich  auch  Riehl  bei  Nemetz  und 
Pollak  bei  Zawazal  um  eine  falsche  Aussage  bewarb,  ohne  daß  diese  Bewerbung 
noch  einen  Erfolg  gehabt  hat.  — 

Insoweit  die  Zeugenaussagen  unter  Eid  abgelegt  wurden,  erscheinen  auch 
Riehl  und  Pollak  hierfür  mitverantwortlich,  weil  sie  ja  bei  jeder  gerichtliehen 
Vernehmung  eines  Zeugen  mit  der  Möglichkeit  der  eidlichen  Einvernehmung 
rechnen  mußten,  nachdem  dieses  Moment  nicht  dem  freien  Willen  des  Zeugen, 
sondern  der  Beurteilung  des  vernehmenden  Richters  überlassen  bleiben  muß. 

Aus  der  Verantwortung  der  Bosch  und  der  Grönye  geht  übrigens  auch  her- 
vor, daß  Riehl  schon  bei  der  Besprechung  mit  ihnen  mit  der  Eventualität  der 
eidlichen  Zeugenvernehmung  rechnete. 

Die  Verteidigung  der  Anna  Christ  und  Marie  Winkler  vermeint, 
daß  deren  falsche  Zeugenaussagen  infolge  freiwilligen  Rücktrittes  straflos  ge- 
worden seien.  —  Dieser  Auffassung  kann  jedoch  nicht  beigepflichtet  werden.  — 
Denn  jede  dieser  Vernehmungen  (bei  Anna  Christ  am  5.  und  16.  Juli  und  bei 
Winkler  am  25.  Juli)  war  vollständig  abgeschlossen;  es  hat  auch  Anna  Christ 
bei  ihrer  am  16.  Juli  erfolgten  zweiten  Vernehmung  noch  nichts  von  der  falschen 
Aassage  vom  5.  Juli  erwähnt,  sondern  hatte  dieselbe  noch  bekräftigt  und  es  hat 
die  Winkler  bei  ihrer  am  25.  August  1906  erfolgten  zweiten  Einvernehmung 
auch  nichts  erwähnt  von  den  falschen  Angaben  des  25.  Juli;  es  ist  demnach  bei 
Christ  vom  Zeitpunkte  der  falschen  Aussage  bis  zum  Widerrufe  ein  Zeitraum 
von  mehreren  Wochen  und  bei  Winkler  von  mehr  als  einem  Monat  verstrichen, 
so  daß  es  nur  einem  besonderen  Zufalle  und  einer  besonderen  Vorsicht  des 
Untersuchungsrichters  zu  verdanken  war,  daß  nicht  schon  auf  Grund  der  mehr« 
fachen  falschen  Aussagen  eine  günstige  Erledigung  für  Riehl  erfolgt  ist. 

Es  waren  daher  sämtliche  in  dieser  Richtung  angeklagte  Personen  schuldig 
zu  erkennen  und  zwar  Marie  Bosch,  Sofie  Christ,  Josefine  Zawazal  und  Ernestine 
GOnye  wegen  Ablegung  falscher  eidlicher  Aussagen,  Anna  Christ,  Marie  Winkler 
und  Marie  Pokomy  wegen  falscher  Zeugenaussagen  nach  §§197  und  199  a  St.G., 
ferner  Regine  Riehl  und  Antonie  Pollak  wegen  Verleitung  su  falschen  Zeugen- 
aussagen u.  z.  Riehl  in  Ansehung  der  sub.  1 — 7  genannten  Mädchen,  sowie 
Antonie  Pollak  in  Ansehung  der  sub.  3,  5  und  6  genannten  Mädchen,  ferner 
der  Bewerbung  um  falsche  Zeugenaussagen  u.  zw.  Riehl  bei  Marie  Nemetz  und 
und  PoUak  bei  Zawazal  nach  §§  5,  197,  199  a.  St.G.  respektive  197,  199  a.  StG. 

Dagegen  hatte  ein  Freispruch  zu  erfolgen  in  Ansehung  der  Bewerbung  der 
Riehl  um  eine   falsche  Aussage  bei  Aloisia  Hirn  nach  §  259/2  StP.O.,  femer 


I.  Der  Prozofl  Biehl  und  Konsorten  io  Wien.  109 

in  Ansehnng  der  Yerleitnng  der  Sofie  Christ  und  Joiefine  Zawazal  eu  falschen 
Zeui^enaiissagen  durch  Marie  Hosch  nach  §  259/3  StP.O.,  weil  einerseits 
Zswasal  selbst  hierüber  keine' Angaben  machte  und  die  Behauptungen  der  Sofie 
Ghriit  keine  Torl&filiche  Grundlage  bilden  konnten,  nachdem  die  angebliche 
Äußerung  der  Hosch  auch  die  Anf&ssung  sul&ßt,  daß  Bosch  nur  die  Meinung 
ADsdrflcken  wollte,  darüber,  was  der  Christ  Yon  Riehl  geschehen  würde,  wenn 
lie  die  Wahrheit  sagen  würde,  ohne  hiermit  eine  Beeinflussung  beabsichtigt  zu 
hiben,  sumal  ja  auch  sie  selbst  durch  Riehls  Einfluß  zur  selben  Zeit  sich  zur 
ftlieben  Aussage  verleiten  liefi. 

lY.  Übertretung  der  Kuppelei  nach  §  512  St.G.  (I/e,  Y  B/b). 

1.  In  Ansehung  der  Regine  Riehl  hat  der  Gerichtshof  auf  Grund 
der  Aussagen  der  bei  ihr  untergebracht  gewesenen  Prostituierten  Anna  Christ, 
Elllilie  Nawratil  und  Justine  Rohaczek  als  erwiesen  angenommen,  daß  ihnen 
Riehl  schon  vor  deren  polizeilichen  Meldung  und  vor  Ausstellung  des  G^esund- 
heitsbaches  den  Yerkehr  mit  Herren  zur  Ausübung  des  Schandgewerbes  ge- 
stattete, wodurch  der  Tatbestand  der  Kuppelei  nach  §  512/a  StG.  gegeben  er- 
scheint Dag^en  war  ein  Freispruch  zu  f&Uen  in  Ansehung  der  Marie  Billek 
and  Malke  Chaje  Neschling;  nach  §  259/2  StP.O.  und  betreffs  der  Elise  Men- 
fchik  nach  §  259/3  StP.O.,  weil  letztere  nicht  mit  YoUer  Sicherheit  aufrecht 
htlten  konnte,  ob  sie  schon  yor  der  polizeilichen  Meldung  mit  Herren  bei  Riehl 
in  Verkehr  getreten  ist. 

2.  In  Ansehung  der  Antonie  Pollak  konnte  der  Tatbestand  der 
Kappelei  nach  §  512/b  St.G.  durch  gescb&ftsm&ßiges  Zuführen  ron  Schanddirnen 
mit  Rücksicht  auf  die  wenigen  ihr  mit  Sicherheit  zur  Last  zu  legenden  Fälle 
nicht  festgestellt  werden  (§  259/3  StP.O). 

Y.   Übertretung  nach  §  5  des  [Gesetzes  vom  24.   Mai  1885 
Nr.  8<J  —  R.G.B1.  (ad  Ya/d  und  Illb.). 

1.  Regine  Riehl  wurde  auch  beschuldigt,  in  Ansehung  der  Anna  Felber 
Marie  Hosch  und  Elise  Menschik  den  Yerkehr  mit  Herren,  obwohl  sie  mit 
Tenerischer  Krankheit  behaftet  waren,  zugelassen  zu  haben;  betreffs  Felber  und 
Hosch  erfolgte  der  Rücktritt  von  der  Anklage;  betreffs  Menschik  war  der 
Charakter  der  Krankheit  nicht  mit  Sicherheit  festzustellen,  weshalb  der  Freispruch 
nach  §  259/3  StP.O.  erfolgte. 

2.  Die  dem  Friedrich  König  zur  Last  gelegte  Übertretung  nach  Ab- 
satz 3  des  §  5  des  obigen  Gesetzes  wurde  bereits  snb.  I  C  am  Schlüsse  erörtert 
und  wird  darauf  Terwiesen. 

YI.  Strafzumessung. 

1.   In  Ansehung  der  Regine  Riehl. 

Die  Strafe  ist  zu  bemessen  nach  §§  34,  35  und  §  94  StG.  (höherer 
Strafsatz.)  ~ 

Erschwerend  ist:  1.  Die  oftmalige  Wiederholung  der  Freiheitsein- 
scfarftokong  und  Fortsetzung  derselben  durch  eine  Reihe  ron  Jahren;  2.  die 
Begehung  dieses  Deliktes  an  zumeist  noch  mindeijfthrigen  Personen;  3.  die  zwei* 
£u2he  Qualifikation  dieses  Deliktes  nach  dem  höhereu  Strafsatze  des  §  94  St.G., 
4.  die  Vorstrafen  wegen  Kuppelei;    5.  der  Umstand,  daß  das  Yorgehen  hanpt- 


110  I.  Der  Prozeß  BXehl  und  Konsorten  in  Wien. 

aichlich  auf  rQcksichtsloie  Ausbeutung  unerfahrener  Bl&dchen  J  gerichtet 
6.  die  Konkurrenz  zweier  Verbrechen  mit  zwei  Übertretungen;  7.  die  Yerieltang 
mehrerer  Mädchen  zur  falschen  Zeugenaussage  und  die  (Bewerbung  um  eine 
falsche  Aussage  bei  Nemetz,  damit  konkurrierend;  8.  der  Umstand,  daß  ee  sich 
lom  TeUe  um  eidiiehe  falsche  Aussagen  handelte. 

Mildernd  ist:  das  teilweise  Gest&ndnis  des  Tatsächlichen. 

In  Abw&gung  dieser  Erschwerungs-  und  Milderungsumst&nde  erschien  dem 
Gerichtshofe  eine  drei  und  einhalbjährige  schwere,  V^  j^^  °üt  einem  Fasttage 
Terschärfte  Kerkerstrafe  als  dem  Verschulden  der  Regine  Riehl  angemessen. 

2.    In  Ansehung  der  Antonie  Pollak. 

Die  Strafe  ist  zu  bemessen  nach  §  34,  94  StG.  (höherer  Strafsats.) 

Erschwerend  ist:  1.  Die  Wiederholung  ihrer  Beteiligung  an  der  Frei- 
heitbescbränkung  und  2.  die  Fortsetzung  durch  längere  Zeit;  3.  die  Konkurrenz 
zweier  Verbrechen;  4.  die  Wiederholung  der  Verleitung  zu  falscher  Zeugenaus- 
sage und  Konkurrenz  mit  der  Bewerbung  um  eine  falsche  Aussage  bei  Zawaaal ; 
5.  der  Umstand,  daß  es  sich  zum  TeUe  um  eidliche  falsche  Aussage  handelt  — 

Mildernd:  1.  Unbescholtenheit  und  2.  Geständnis  des  Tatsächlichen,  aller- 
dings nur  zum  geringen  Teile. 

Außerdem  war  nach  §  55  StG.  zu  berücksichtigen,  daß  Pollak  fftr  einen 
alten,  erwerbsunfähigen  Mann  [zu  sorgen  hat  und  erschien  deomach  eine  ein- 
jährige schwere,  monatlich  mit  2  Fasttagen  yerschärfte  Kerkerstrafe  ihrem  Ver- 
schulden angemessen. 

3.  ^In  Ansehung  des  Friedrich  König. 

Die  Strafe  ist  auszumessen  nach  §  35  und  94  St.G.  (höherer  Strafsatz), 

Erschwerend  ist:  1.  die  längere  Fortsetzung  der  Beteiligung  an  der 
Freiheitsbeschränkung  seiner  Tochter;  2.  die  schwere  Pflichtverletzung  gegen- 
tlber  dem  eigenen  Kinde  verbunden  mit  3.  dem  Mißbrauche  der  väterlichen  Ge- 
walt zu  groben  Mißhandlungen  der  Tochter ;  4.  die  Konkurrenz  des  Verbrechens 
mit  einer  Übertretung. 

Mildernd:  1.  Geständnis  des  Tatsächlichen;  2.  wegen  Verbrechens  noch 
nicht  bestraft. 

In  Beracksichtlgung  der  Erwerbs-  und  Familienverhältnisse  wurde  auch 
§  55  St.G.  angewendet  und  eine  achtmonatliche  schwere,  mit  2  Fasttagen  monat- 
lich verschärfte  Kerkerstrafe  als  dem  Verschulden  entsprechend  erkannt. 

4.   In  Ansehung  der  Marie  Hosch,  Anna  und  Sofie  Christ, 
Josefine  Zawazal,  Ernestine  Gönye,  Marie  Pokorny  und 

Marie  Winkler. 

Die  Strafe  ist  auszumessen  nach  §  204  St.G.  bei  Hosch,  Sofie  Christ, 
Zawazal  und  Gönye  und  nach  §  202  StG.  bei  Anna  Christ,  Winkler  und 
Pokorny. 

Erschwerend  wurde  kein  Umstand  angenonmien. 

Mildernd:  bei  allen  7  Angeklagten:  das  aufrichtige,  anomwiindene  Ge- 
ständnis und  die  intensive  Einwirlning^  der  Begine  Riehl  auf  die  durch  den 
Aufenthalt  im  Hanse  Riehl  und  die  daselbst  erlittene  Behandlung  in  ihrer  Be- 
orteilungs-   und  WiUenskraft  geschwächten  Mädchen.  —  Bei  Anna  Christ  und 


I.  Der  Prozeß  Riehl  und  Konsorten  in  Wien.  111 

Winkler  aaßerdem  noch  die  Selbstanzeige ;  bei  Bosch,  Anna  und  Sofie  Christ, 
Winkler  und  Pokomy  die  ünbescboltenheit ;  bei  Bosch,  Anna  und  Sofie  Christ, 
Winkler  und  Zawazal  auch  noch  das  jugendliche  Alter. 

Demgemäß  wurde  bei  allen  7  Angeklagten  yon  §  54  St.G.  and  swar  bei 
Hosch,  Sofie  Christ,  Zawazal  und  Qönye  auch  *  in  der  Strafart,  Gebranch  gemacht 
und  bei  Winkler  und  Anna  Christ  eine  14  t&gige,  bei  Sofie  Christ,  Gönye, 
Pokomy  und  Zawasal  eine  3  wöchentliche  and  bei  Bosch  eine  4  wöchentliche 
Kerkerstrafe  als  angemessen  erachtet. 

5.   Frivatrechtliche  Ansprüche  und  Strafkostenersatz. 

Der  Vertreter  der  Priyatbeteiligten,  welche  sich  [noch  yor  Beginn  der 
Baaptrerhandlung  dem  Strafverfahren  angeschlossen  haben,  hat  die  oben  spezia- 
lisierten Ersatzansprache  gestellt,  welche  zum  Teile  auf  Verdienstentgang, 
Effektenersatz  und  zum  Teile  auf  Genugtuung  für  die  Freiheitseinschr&nkang 
gerichtet  waren. 

In  letzterer  Richtung  erachtete  sich  der  Gferichtshof  auf  Grund  der  Be- 
stimmungen des  §  1329  a.  b..G.B.  für  berechtigt,  den.  Betreffenden,  insoweit  aus 
dem  Verfahren  eine  genügende  Grundlage  sich  ergab,  die  oben  angeführten  Be- 
träge zuzusprechen,  wogegen  die  weiteren  Ansprüche  als  nicht  mit  Sicherheit 
zifferm&ßig  feststellbar  auf  den  Zirilrechtsweg  zu  weisen  waren.) 

Nachdem  der  Anspruch  nur  gegen  Regine  Riehl  gerichtet  war,  so  konnte 
auch  der  Zuspruch  nur  gegen  sie  erfolgen« 

Der  Aasspruch  betreffend  den  Strafkostenersatz  ist  in  §  389  St  P.O. 
begründet 

Wien,  am  7.  Koyember  1906. 

Der  Vorsitzende:  Der  Schriftführer: 

Dr.  Feigl  m.  p.  Dr.  Nahrhaft  m.  p. 


n. 

Die  I.  K.y.  und  die  Kommission  f.  d.  Reform  der  St.P.0. 0 

Von  Hans  Qross. 


Das  vorliegende  Werk  ist  als  ein  kostbarer  Grundstein  für  die 
künftigen  strafprozessualen  Arbeiten  aller  Kulturvölker  anzusehen. 
Eine  solche  Fülle  theoretischen  Wissens  und  reicher  praktischer  Er- 
fahrung wird  nicht  leicht  in  einem  Buche  vereint  sein  und  so  ist  es  un- 
möglich dasselbe  bei  irgend  einer  prozeßualen  Arbeit  unbenutzt  zu  lassen. 
Ich  bedaure  lediglich,  daß  die  Österreich.  St  P.  0.  und  die  in  Ost- 
reich gemachten  Erfahrungen  verhältnißmäßig  wenig  Berücksichtigung^ 
gefunden  haben;  gestreift  wurden  öster.  Bestimmungen  allerdings 
z.  B.  von  Schmidt  (p.  199),  Fuhr  (p.  83),  Goebel  (p.  367),  Thiersch 
(p.  207),  etc.  aber  genauer  untersucht  nur  von  Rosenfeld  (p.  321, 
namentlich  655).  Ich  bedaure  dies  nicht  als  Österreicher,  sondern 
deshalb,  weil  ich  weiß,  daß  die  österr.  StP.B.  trotz  vieler  Fehler 
und  Mißgriffe  überaus  anregend  und  klärend  wirken  müßte:  ist  sie 
doch  vielfach  reichsdeutschen  Ursprunges  und  hat  sie  sich  die  For- 
schungen älterer  deutscher  Prozeßualisten  (namentlich  Zachariae  und 
Plank)  zu  Nutzen  gemacht.  Es  wären  manche  mühsame  Erörterungen 
überflüssig  geworden  und  manche  Zweifel  wären  zu  lösen  gewesen^ 
wenn  man  einen  Blick  auf  österr.  Erfahrungen  geworfen  hätte.  Aber 
dies  nur  nebstbei  gesagt:  im  übrigen  ist  das  Werk  von  größter  Be- 
deutung und  unabsehbarem  Wert.  Seine  Entstehungsgeschichte  beruht 
auf  der  Überzeugung  der  J,  K.  V.,  daß  sie  sich  mit  den  Protokollen 
der  Komm,  für  die  Reform  des  Strafprozesses  befassen  und  zu  ihnen 
Stellung  nehmen   müsse.    Die   Deutsche   Landesgruppe  beauftragte 

1)  Reform  des  Strafprozesses.  Kritische  Besprechangen  der 
von  der  Kommission  für  die  Reform  des  Strafprozesses  gemachten 
Vorschläge  unter  Mitwirkung  von  O.L.G.R.  Henry  Cornelius  und 
cons.  auf  Veranlassung  der  Internat,  krim.  Vereinigung,  Gruppe 
Deutsches  Reich,  herausg.  von  Dr.  P.  F.  Aschrott,  Landesgerichts- 
direktor a.  D.,  Berlin  1906.  J.  Gutentag,  Verlagsbuchhdlg.,  G.  m.  b.  ü. 


Die  I.  K.y.  und  die  Kommission  f.  d.  Refonn  der  St.P.O.  113 

den  Ld.6er.Dir.  Dr.  Aschrott,  die  Fragen  in  Themen  zu  teilen,  für 
das  Werk  Mitarbeiter  zu  finden  und  seinerzeit  über  die  eingegangenen 
Arbeiten  ein  Generalreferat  zu  erstatten.  Aschrott  zerlegte  die  Arbeit 
in  sehr  geschickter  Weise  in  13  Themen  und  gewann  mit  glücklicher 
Hand  die  entsprechenden  Referenten :  Vier  Theoretiker  und  neunzehn 
namhafte  Praktiker.  Das  Materiale  und  seine  Bearbeiter  teilen  sich 
nun  in  folgender  Weise: 

I.  Organisation  der  Strafgerichte  etc.  (L.6.D.  Schubert,  Prof. 
Wachenfeld  und  L.6.D.  Weingart) 

n.  Aufbau  der  Straf  gerichtsbarkeit  (O.A.R  Fuhr,  St  Anw.  Hone- 
mann, Prof.  6f.  zu  Dohna.) 

III.  Legalitätsprinzip  etc.  (Prof.  Mittermaier,  St.-Anw.  Schmidt,  B.- 
Anw. Thiersch.) 

IV.  Zwangsmittel.    (R-Anw.  Feisenberger,  R.-Anw.  Löwenstein.) 

V.  Verteidiger.  (L.6.B.  Rosenberg,  R.Anw.  Heinemann). 

VI.  St-Anwaltschaft  (L.6.D.  Goebel.) 

VII.  Voruntersuchung  etc.  (L.6.D.  Weingart  und  Prof.  v.  lilienthal.) 

VIII.  Hptverhdlg.  (Prof.  v.  Lilienthal,  O.L.G.R  v.  Spindler.) 

IX.  Beweis  verfahren  etc.  (O.L.6.R.  Oehlert.) 

X.  Abgekürztes  Verfahren  etc.  (O.A.R  Levis.) 
XL  Privatklage  (L.R  Friedländer,  RAnw.  Fuld.) 

XII.  Strafverf.  gegen  Jugendliche  (A.G.R.  Köhne.) 

XIII.  Rechtsmittelverf.  (Prof.  Rosenfeld,  O.L.G.R  Cornelius, 
L6.D.  Karsten.) 

Diese  Referate,  zum  Teile  ganz  ausgezeichnet,  immer  aber 
interessant  und  anregend  verfaßt,  einzeln  zu  besprechen,  ist  wegen 
des  großen  ümfanges  der  Materien  unmöglich,  es  ist  aber  auch  über-, 
flüssig  alles  einzeln  zu  behandeln,  da  das  Generalreferat  Aschrotts 
alles,  von  den  Referenten  gesagte  in  glänzender  Weise  zusammen- 
faßt und  absolut  nichts  wichtiges  ausläßt,  so  daß  eine  kurze 
Besprechung  des  Aschrott'schen  Greneralreferates  das  ganze  Werk 
berührt  — 

In  der  Einleitung  geht  nun  A.  mit  Recht  von  den  Worten  des 
unvergeßlichen  sächs.  Generalstaatsanwaltes  v.  Schwarze  aus,  der  er- 
klärte, man  habe,  um  nur  einmal  der  unseligen  Rechtszersplitterung 
ein  Ende  zu  bereiten,  vielfach  Kompromisse  schließen  müssen  und  so 
sei  die  D.RJStP.O.  ein  Versuchsbau,  der  erst  später  richtig  ausge- 
staltet werden  mtlsse.  Dieser  Zeitpunkt,  sagt  A.,  sei  nun  gekommen, 
zumal  dafi  Vertrauen  in  die  heutige  Strafjustiz  fehle.  Dieser  oft  ge- 
sprochene Satz  vom  entschwundenem  Vertrauen  würde  zwingend 
Änderungen  verlangen,  und  wenn  sonst  auch  keine  anderen  Gründe 

ImUt  tSr  KriminaUnthropologie.  27.  Bd.  8 


114  n.  Gross 

vorlägen.  Aber  ob  er  wohl  sicher  richtig  ist?  Wie  will  man  denn 
das  beweisen?  Richtig  ist,  daß  sich  manchmal  ein  Verurteilter  be- 
klagt, oder  ein  Beschädigter,  wenn  der,  den  er  für  schuldig  hielt, 
freigesprochen  wurde,  oder  ein  Zeuge,  der  lange  warten  mußte,  oder 
ein  Sachverständiger,  dem  man  nicht  glaubte  —  und  andere  mehr. 
Vielfach  kümmern  sich  die  Laien  um  gewisse  ^^interessante'' 
Rechtsfragen  und  wenn  dann  z.  B.  eine  Nichtschwangere  verurteilt 
wird,  weil  sie  ein  Abortivmittel  nahm,  so  schimpft  die  Hälfte  der 
Leute  über  das  unsinnige  Urteil.  Wäre  sie  freigesprochen  worden, 
so  hätte  aber  die  andere  Hälfte  geschimpft  —  die  Leute  wissen  eben 
nicht,  daß  das  Strafrecht  so  viele  Fragen  stellt,  für  die  es  eine  all- 
gemein befriedigende  Lösung  nicht  gibt.  Und  weil  sie  das  nicht 
wissen,  verunglimpfen  sie  die  Justiz.  Wir  könnten  günstigsten 
Falles  feststellen,  daß  es  viele  Leute  gibt,  die  über  die  Gerichte 
losziehen,  —  das  ist  aber  nicht  gleichbedeutend  mit  dem  Verlieren 
des  Zutrauens,  wir  müssen  uns  damit  bescheiden,  daß  auch  geschimpft 
würde,  wenn  uns  die  Götter  selber  die  Strafgesetze  diktieren  wollten. 
Sehr  viele  Unzufriedenheit,  die  über  die  Gerichte  allgemein  geäußert 
wird,  richtet  sich  gegen  die  Geschworenen  und  die  Laiengerichte 
überhaupt.  Aber  man  hat  das  Publikum  gelehrt,  die  Schwurgerichte 
als  die  größte  Kultursegnung  anzusehen,  man  getraut  sich  daher 
nicht,  gegen  sie  aufzutreten  und  generalisiert  seine  Spezialunzu- 
friedenheit  auf  die  Rechtspflege  im  Allgemeinen.  Aber  alle  diese 
mehr  oder  weniger  vagen  Momente  beweisen  nicht  im  Entfern- 
testen, daß  die  maßgebende  Bevölkerung  zu  der  Justiz  überhaupt 
kein  Vertrauen  mehr  hat.  —  Greifbarer  als  das  allgemeine  Ge- 
rede wäre  das  von  der  Presse  gesagte,  die  es  allerdings  nicht 
an  Angriffen  gegen  das  heutige  Strafverfahren  fehlen  läßt,  so 
daß  man  hieraus,  schwarz  auf  weiß,  „das  schwindende  Vertrauen'' 
konstatieren  könnte.  Hier  begegnen  wir  aber  einer  ziemlich  kom- 
plizierten Konstruktion.  Ich  ;habe  vor  13  Jahren  (2.  Aufl.  Hdb. 
f.  UR.  1894)  nachzuweisen  gesucht,  daß  die  Tagespresse  einer  der 
wichtigsten  Faktoren  für  die  Schaffung  der  unseligen  Geschworenen- 
gerichte war,  die  Presse,  die  zwar  optima  fide,  aber  mit  verkehrter 
Rechnung  für  die  Jury  so  nachdrücklich  eingetreten  ist.  Nun  sehen 
aber  heute  die  meisten  gebildeten  Menschen  —  und  die  Vertreter 
der  Presse  in  erster  Linie  —  das  angerichtete  Unheil  ein,  für  die 
Geschworenen  fehlt  tatsächlich  das  Vertrauen,  und  nun  generalisiert 
man  auch  hier  mit  rein  menschlichem  Empfinden,  man  entschließt 
sich  nicht,  aufrichtig  zu  sagen:  die  von  uns  so  dringend  empfohlenen 
Geschworenen  sind  uns  zum  Unglück  geworden,  sondern  man  sagt 


Die  I.  K.V.  und  die  Kommission  f.  d.  Reform  der  St  P.O.  115 

allgemein  „unser  Strafverfahren  ist  nichts  nutz,  das  Volk  hat  das 
Vertrauen  verloren".  So  redet  sich  die  Sache  dann  weiter,  gemeint 
ist  aber  auch  hier  nur  das  Geschworeneninstitut.  Ich  mache  da 
Niemanden  einen  Vorwurf  und  wiederhole,  dieses  Vorgehen  ist  echt 
und  rein  menschlich  —  aber  wir  Kriminalisten  müssen  der  Sache 
auf  den  Grund  sehen,  und  dürfen  uns  durch  psychologische  aber  un- 
richtige Konstruktionen  nicht  irre  führen  lassen. 

Wenn  ich  also  behaupte,  daß  das  Vertrauen  des  Volkes  zur 
Strafjustiz  nicht  geschwunden  ist,  oder  wenigstens  daß  sich  dieses, 
wenn  richtig,  hochbedenkliche  Moment  nicht  beweisen  läßt,  so  gebe 
ich  selbstverständUch  zu,  daß  aus  kriminalistisch-wissenschaftlichen 
Gründen  an  der  D.RStP.O.  sehr  vieles  auszusetzen  und  manches 
daran  zu  verbessern  ist.  Ich  folge  dem  Generalberichterstatter,  der 
das  Material  nun  in  vier  Hauptkapitel  faßt: 

I.  Beteiligung  des  Laienelementes  an  der  Strafrechtspflege 

und  die  Berafung. 

Die  Kommission  beantragt  bekanntlich  Beseitigung  der  Schwur- 
gerichte und  Einführung  verschiedener  Schöffengerichte.  Ich  habe 
seinerzeit  irgendwo  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  die  Komm,  so 
einen  Übergang  gesucht  hat,  um  einmal  die  Schwurgerichte  los  zu 
werden,  was  aber  nicht  so  plötzlich  durchzuführen  wäre.  Sie  hat 
deshalb  statt  der  Schwurgerichte  das  Laienelement  in  Form  von  aus- 
gedehnter Verwendung  von  Schöffen  beibehalten  —  um  später,  tempore 
felice,  auch  dieser  Gestalt  der  Laienbeteiligung  ein  Ende  zu  bereiten. 
Alle  Gründe,  welche  die  Komm,  gegen  die  Geschworenen  anführt, 
passen  mut.  mut.  auch  auf  die  Schöffen,  siTdass  die  Wärme  des 
Eintretens  für  letztere  nur  erklärlich  wird,  wenn  sie  den  Übergang 
zum  Ende  darstellen  sollen. 

Ähnliches  scheint  auch  dem  Generalreferenten  im  Sinne  zu  sein: 
er  will  Schöffen,  meint  aber:  die  Geschworenen  werden  bestehen  bleiben 
und  er  bedauere  es  auch  als  ihr  Gegner  nicht,  weil  man  erst  Erfah- 
rungen brauche.  Aber  es  scheint  nach  den  eignen  Worten  Aschrotts^ 
als  ob  er  keine  Erfahrungen  mehr  brauchte,  und  sich  über  den  Un- 
wert des  Laienelementes  im  Rechtswege  längst  klar  wäre.  Die  Komm, 
hat  nämlich  vorgeschlagen,  bei  den  Berufungsgerichten  die  Zahl  der 
rechtsgelehrten  Richter  so  zu  belassen,  wie  in  der  ersten  Instanz,  aber 
zwei  Schöffen  beizufügen.  Darin,  daß  im  Berufungsgerichte  mehr 
Schöffen  sind,  findet  er  nun  eine  Verschlechterung  des  Gerichtes  und 
erklärt  ausdrücklich  (p.  68*):  „so  ist  das  Berufungsgericht  erheblich 

8* 


llß  II.  Gross 

nnzuverlässlicher^,  man  habe  dann  ^eine  Berufang  von  einem 
besseren  Gerichte  an  ein  schlechteres"  (vergl.  p.  71*).  A.  sagt  mit 
anderen  Worten  Je  weniger  Laienrichter,  desto  besser  der  Gerichts- 
]jQf^  —  wenn  man  diese  Rechnung  weiter  spinnt,  so  ist  der  beste 
Gerichtshof  der,  der  gar  keine  Laien  hat.  Dani^muss  man  doch 
unbedingt  fragen:  wozu  denn  Laien  überhaupt,  wenn  die  nur  zur 
Verschlechterung  dienen?"  — 

Wie  sehr  man  dem  Laienelemente  mißtraut,   und  es  nur  nicht 
wagt,  die  letzten  Konsequenzen  aus  dieser  Stimmung  zu  ziehen,  zeigt 
die  Erörterung  (p.  63*):  ob  man  nicht  gewisse  Delikte,  die  schwie- 
rigere Fragen  bringen,  den  (event  bleibenden)  Schwurgerichten  ab- 
nehmen und   den   landgerichtl.   Schöffengerichten   überweisen  sollte. 
Vor  allem:  begreift  der  Geschworne  etwas  nicht,  so  begreift  es  auch 
der  Schöffe  nicht  und  ein  nachträgliches  Erklären  nützt  nichts,  be- 
greifen muß  man  während  des  Ganges  der  Verhandlung.    Man  gibt 
also  zu,  daß  der  Laie  wenigstens  gewisse  komplizierte  Vorgänge  nicht 
begreifen  kann  —  und  man  wagt  es  trotz  dieses  Zugeständnisses,  ihn 
als  Siebter  zu  belassen?    Nun  kommt  man  zu  dem  bösen  Zwischen- 
vorschlag* die  Delikte  einzuteilen  in  schwerbegreifliche  und  leichtbe- 
greifliche, wobei   zu   den  ersteren  betrügerischer  Bankerott,  schwere 
Urkundenfälschung,  vielleicht  Meineid  etc.  gehören  sollten.  Jeder  von 
uns  hat  nun  unzählige  Bankerotte,  Urkundenfälschungen,  Meineide  etc. 
gesehen,  die  unbedingt  zu  den  „leichtbegreiflichen"  (für  Geschworene) 
gezählt  werden  müßten,  während  mancher  einfach  scheinende  Dieb- 
stahl  oder  Mord   zweifellos   zu   den    „schwerbegreiflichen^^  Delikten 
zu   rechnen  ist,   weil   der   Beweisgang    ein   hochkomplizierter   war. 
Jeder  erfahrene  Schwurgerichtsvorsitzende  weiß,  daß  man  unter  Um- 
ständen den  Geschworenen  den  kompliziertesten  Betrugsfall  verständlich 
machen  kann;  aber  einen  ganz  komplizierten  Beweis,  der  zwar  ab- 
solut sicher  ist,   aber  nur  mit  allen  logischen,   psychologischen  und 
technischen  Finessen  aller  Art  geführt  und  verstanden  werden  kann^ 
den  einem  Laien  begreiflich  zu  machen  ist  unmöglich.    Eine  taxative 
Aufzählung  der  leichtbegreifiichen  Delikte  für  Geschworene  und  der 
schwer  begreiflicheren  für  Schöffen,  wäre  direkt  ein  Unglück,  weil  alle 
taxativen  Aufzählungen  zu  Mißständen  führen  und  weil  die  Schwierig- 
keit selten  im  Delikte  selbst,   sondern  im  Beweise   liegt.. —  Wollen 
wir  die  Frage  des  Laienelementes   überhaupt   exact   untersuchen,  so 
dürfen  wir  nicht  auf   dem  engen  prozessualen   Standpunkte   stehen 
bleiben,  sondern  müßen  die  Gründe  für  die  allgemeinen  Sympathien 
zu   Gunsten   der   Laienbeteiligung  im  großen   modernen  Volksleben 
suchen:   sie  liegen  in  dem  allgemeinen,  alles  ruinierenden  demokra- 


Die  LK.V.  und  die  Kommission  f.  d.  Refonn  der  StP.O.  117 

fisierendea  Zuge  unserer  Zeit,  die  Niemandem  allein  das  lassen  will, 
was  seines  Amtes  ist,  sondern  auf  ein  Mitreden  und  Mittun  der 
anderen  dringt,  die  nichts  von  der  Sache  verstehen.  In  unseren  Par- 
lamenten kann  jeder  über  Dinge  reden,  die  er  nicht  versteht,  und 
wenn  er  klugerweise  darüber  schweigt,. so  stimmt  er  wenigstens  dar- 
über. In  den  Landtagen  tun  sie  dasselbe  und  im  Oemeinderat,  wo 
die  Leute  besser  unter  sich  sind,  redet  Gevatter  Schuster  und  Schweine- 
metzger mit  Vorliebe  über  das,  was  ihm  am  fernsten  liegt.  — 
Warum  hat  denn  gerade  heute  der  Kurpfuscher  den  unglaublich 
größten  Zulauf,  warum  geht  Alles  lieber  in's  große  Warenhaus,  als 
zum  ehrlichen,  sachverständigen  Handwerker,  warum  ist  in  allen 
Volksbibliotheken  das  Konversationslexikon  die  weitaus  stärkst  ver- 
langte Lektüre,  warum  lackiert  man  die  Leute  in  volkstümlichen 
Kursen  und  populären  Vorträgen  so  leichthin  oben  drüber  —  alles, 
weil  man  überall  mitreden  will  und  Sympathie  für  den  hat,  der  auch 
nichts  versteht,  aber  mittut.  Und  schließlich  ist  das  „Volksheer^ 
auch  nur  eine  demokratisierte  Wehrpflicht.  Ich  war  selbst  Beserve- 
offizier,  habe  den  bosnischen  Feldzug  mitgemacht,  bin  fünfmal  im 
Feuer  gestanden  und  habe  meine  Pflicht  getan  —  ich  habe  mich 
aber  nie  für  gleichwertig  dem  Berufsoffizier  gehalten,  der  andere  Er- 
ziehung, andere  Bildung,  andere  Interessen  und  anderen  Lebenszweck 
hat,  als  ich,  „zufällig^  und  ohne  meinen  Willen  dazugekommener. 

und  wenn  wir  diesen  demokratisierenden  Zug  überall  sehen 
—  was  Wunder,  wenn  auch  die  Tendenz  wach  wurde,  in  der  Bechts- 
sprechung  Leute  mitreden  zu  lassen,  die  nichts  davon  verstehen.  Es 
fällt  heute  noch  Niemandem  ein,  die  Abschaffung  der  Parlamente, 
oder  des  „Volksheeres^'  oder  der  Gemeinderäte  zu  beantragen,  aber 
wo  es  möglich  ist,  gegen  die  unselige  Mode  anzukämpfen,  da  müssen 
wir  es  tun  und  ebenso,  wie  Deutschland  binnen  kurzem  einen  Para- 
graphen gegen  die  Kurpfuscher  haben  wird,  so  muß  es  einsehen,  daß 
Laienrichter  Leute  sind,  die  über  die  wichtigsten  Güter  des  Menschen 
urteilen,  ohne  etwas  zur  Sache  zu  verstehen.  Geht  es  nicht  anders, 
so  wollen  wir  uns  mit  den  Schöffen  statt  den  Geschworenen  zufrieden 
geben,  nicht  weil  sie  nützlich,  sondern  weil  sie  weniger  schädlich 
sind  als  diese  und  weil  wir  sie  als  Übergang  zu  geordneten  Zustän- 
den betrachten,  zu  Bichtem,  die  das  Becht  gelernt  haben.  — 

n.  Das  Legalit&tsprinzip  und  die  Stellung  der  Staatsanwalt- 
seliaft,  sowie  ihrer  Hilflsorgane  im  Strafverfahren. 

Die  Frage  nach  dem  Legalitäts-  oder  Opportunitätsprinzip  wird 
niemals   zur  aligemeinen  Befriedigung  gelöst  werden   können,   weil 


118  11.  Gboss 

der  Staatsanwalt  als  Vertreter  des  AUgemein-Interesses  gedacht  ist, 
und  dieses  häufig  mit  Sonderinteressen  in  Widerspruch  geraten  kann^ 
seiner  Natur  nach  in  Widerspruch  geraten  muss.  Es  ist  daher  be- 
greiflich, daß  auch  im  vorliegenden  Werke  [eine  Einigung  der  Refe- 
renten nicht  erzielt  wurde:  der  Eine  will  strenges  Legalitätsprinzip, 
der  Andere  beweist,  daß  das  Opportunitätsprinzip  im  Wesen  der 
Sache  begründet  ist,  und  andere  versuchen  in  der  einen  oder  anderen 
Weise  einen  Mittelweg  zwischen  beiden  zu  finden.  Daß  keiner  dieser 
Vorschläge  auf  allgemeine  Zustimmung  hoffen  darf,  ist,  wie  erwähnt, 
aus  der  eigentümlichen  Natur  der  Staatsanwaltschaft  und  der  Art 
wie  sie  vertreten  muß,  zu  erklären,  am  unglücklichsten  sind  aber 
sicher  jene  Vorschläge,  welche  für  bestimmte  Delikte  die  absolute 
Herrschaft  eines  gewissen  Prinzips  verlangen.  Abgesehen  davon,  daß 
dies  dem  Wesen  eines  „Prinzipes'*  widerspricht,  muß  bedacht  werden, 
daß  alles  strenge  Abgrenzen  und  Einschachteln  immer  zu  Schwierig- 
keiten oft  aber  auch  direkt  zu  Fehlern  führt,  namentlich  dann,  wenn 
es  nach  äußeren  Formen  vorgenommen  werden  will.  Daß  aber 
unsere  Einteilung  der  Delikte  zwar  unbedingt  notwendig,  aber  doch 
nur  äußere  Erscheinung  ist,  kann  nicht  bezweifelt  werden,  ein  Prin- 
zip kann  man  aber  nur  nach  dem  inneren  Wesen  der  Sache  auf- 
stellen. Dieses  ändert  sich  oft  innerhalb  des  Begriffes,  unter  welchem 
wir  ein  bestimmtes  Verbrechen  zusammenfassen,  oft  ist  es  aber  De- 
likten  gemeinsam,  die  wir  unter  ferne  auseinanderliegenden  Para- 
graphen verteilt  haben.  Jeder,  der  als  Staatsanwalt  gearbeitet  hat 
und  in  seinem  Amte  Erfahrung  besitzt,  wird  zugeben,  daß  er  sich 
nicht  gerade  bei  gewissen  Delikten  oder  Deliktsgruppen  freiere  Hand 
und  Opportunitätsprinzip  gewünscht  hat,  wohl  aber  wird  es  jeder 
von  ihnen  bei  allen  erdenklichen  Delikten  als  schwere  Last  und  als 
arges  Übel  empfunden  haben,  wenn  er  in  allen  Fällen  verfolgen 
mußte;  die  Gründe,  warum  bisweilen  —  die  Fälle  sind  gewiß  nicht 
häufig  —  Schweigen  besser  wäre  als  Lärm  machen  und  Unglück 
hervorrufen,  sind  der  verschiedensten  Art:  wirklich  politische  oder 
strafpolitische,  psychologische,  soziale,  ethische,  edukative,  taktische 
und  unzählige  andere  Gründe  gibt  es:  wer  sie  kennt  und  empfindet, 
dem  brauchen  sie  nicht  auseinandergesetzt  zu  werden,  und  auf  wen 
sie  nie  eingewirkt  haben,  der  versteht  auch  langathmige  Auseinander- 
setzungen nicht.  —  Wenn  ich  daher  ungescheut  für  Opportunitäts- 
prinzip eintrete,  so  setze  ich  allerdings  ein  verläßliches,  ehrliches  und 
wissenschaftlich  hochstehendes  Material  von  Staatsanwälten  voraus, 
denen  man  die  Entscheidung  über  Verfolgen  oder  nicht  Verfolgen  mit 
Vertrauen  in   die  Hand   geben  kann.    Wenn    wir  diese  Leute  nicht 


Die  I.  K.V.  und  die  Kommission  f.  d.  Reform  der  StP.O.  119 

haben,  wenn  wir  unsere  Staatsanwälte  nur  angekettet  und  gesichert 
arbeiten  lassen  und  ihnen  nicht  vertrauen  dürfen,  dann  sind  wir  über- 
haupt bankerott,  und  alle  Justiz  hat  ihr  Ende  erreicht.  Aber  so  steht 
die  Sache  nicht.  Ist  es  der  schwere  Dienst  und  die  schwere  Verant- 
wortlichkeit, die  erziehend  wirkt,  ist  es  sorgfältige  Auswahl  oder  sind 
es  andere  glückliche  Gründe:  Tatsache  ist  es,  daß  unsere  Staats- 
anwälte,  in  Deutschland  und  Osterreich,  das  höchste  Vertrauen  ver- 
dienen; sie  sind  in  Wahrheit  Hüter  des  Gesetzes  und  so  wider- 
sprechend es  klingt:  in  der  Regel  auch  der  beste  Schutz  des  Ange- 
klagten. Und  je  mehr  Vertrauen  wir  ihnen  geben,  um  so  höher  steigt 
ihre  Verantwortung  und  nur  ein  Elender  wäre  es,  dessen  Gewissen- 
haftigkeit nicht  mit  der  Schwere  der  Verantwortung  wachsen  wollte. 

Allerdings  muß  zur  Beruhigung  des  quärulierenden  Publikums 
der  Omnipotenz  der  Staatsanwaltschaft  —  und  diese  läge  bei  Oppor- 
tunitätsprinzip allerdings  vor  —  in  irgend  einer  Weise  eine  Grenze 
gezogen  werden.  Nach  vielfacher  Überlegung  glaube  ich  doch,  daß 
die  österr.  St.-P.-O.  diesfalls  die  verhältnißmäßig  günstigste  Bestimmung 
enthält,  indem  sie  (§  4,  47,  48)  dem  Privatbeteiligten  das  Recht  gibt, 
im  Falle  der  Bückweisung  seiner  Anzeige,  bei  der  Batskammer  den 
Antrag  auf  Einleitung  der  Voruntersuchung  einzubringen.  Allerdings 
hat  dies  Becht  nur  der  Verletzte,  der  sich  wegen  seiner  „privatrecht- 
lichen" Ansprüche  dem  Strafverfahren  angeschlossen  hat,  und  hier- 
durch „Privatbeteiligter*^  geworden  ist.  Da  Zweifel  entstanden  sind 
ob  „privatrechtliche*'  Ansprüche  gleichbedeutend  mit  „vermögens- 
rechtlichen*'  also  in  Geld  ausdrückbaren  Ansprüchen  sind,  und  da 
überhaupt  die  Beschränkung  auf  „privatrechtliche  Ansprüche^'  nicht 
begründbar  ist,  so  würde  es  sich  empfehlen,  die  Subsidiarklage  jedem 
zu  gestatten,  der  nachweisbar  durch  ein  Delikt  verletzt  wurde, 
gleichgiltig  welcher  Art  diese  Verletzung  ist.  — 

Ich  glaube,  daß  die  statistischen  Ergebnisse  auch  diesfalls  oft 
unrichtig  verwendet  werden;  wenn  z.  B.  St. Anw.  Dr.  Schmidt-Ernst- 
hausen  (pag.  199)  sagt,  die  praktische  Bedeutung  der  subsidiären 
Privatklage  sei  nicht  gerade  hoch  einzuschätzen,  denn  in  Oesterreich 
haben  von  1105  Subsidiaranklagen  (1899)  nur  6  zu  einer  Hauptver- 
handlung geführt  —  so  kann  ebensogut  behauptet  werden,  daß  diese 
Statistik  in  glänzender  Weise  zeigt:  Die  St.Anw.  hat  in  ganz  Oester- 
reich im  Laufe  eines  Jahres  bloß  6  Mal  zu  Unrecht  eine  Verfolgung 
abgelehnt  —  wenn  überhaupt  in  allen  Fällen  dieser  6  Male  Ver- 
urteilung erfolgte.  Mir  steht  augenblicklich  die  österr.  Kriminalstatistik 
pro  1899  nicht  zur  Verfügung,  wohl  aber  die  von  1898.  In  diesem 
Jahre  sind   den  öster.  Staatsanwaltschaften  zusammen  171097  neue 


120  U.  Qboss 

Fälle  zugekommen;  in  diesen  wurden  im  Wege  der  Subsidiarklage  4 
Personen  znr  Hanptverhandlung  gebracht  und  von  diesen  wurden 
wieder  alle  freigesprochen,  so  daß  die  Staatsanwaltschaften  von  der 
großen  Zahl  von  171  097  Fällen  nicht  ein  einziges  Mal  die  Verfolgung 
zu  unrecht  abgelehnt  hat !  Einen  besseren  Beweis  für  ihre  Gewissen- 
hafti^keit  kann  man  sich  kaum  denken.  - 

Übrigens  muß  man  erwägen,  daß  wir  —  m  Deutschland  und  in 
Österreich  —  eigentlich  ohnehin  nicht  strenges  Legalitätsprinzip  be- 
sitzen. §  152  (§  168)  D.RStr.P.O.  und  §  34  (207  bezw.  90)  Ost 
St.P.0.  verpflichtet  den  St  Anw.  allerdings  einzuschreiten  und  zu 
verfolgen,  da  dies  aber  nicht  bedingungslos  verlangt  werden  kann, 
so  heißt  es  §  152  D.StG.O.  „sofern  zureichende  tatsächliche  An- 
haltspunkte vorliegen"  und  §  90  (112)  Ost  StP.O.:  „Findet  der  St  Anw. 
genügende  Gründe^  etc.  Ob  aber  „zureichende  Anhaltspunkte"  oder 
„genügende  Gründe'^  vorhanden  sind,  das  konnte  das  Gesetz  denn 
doch  nicht  vorschreiben,  und  so  ist  es  allerdings  wieder  den  Er^ 
wägungen  des  St  Anw.  überlassen,  ob  er  anklagt  oder  nicht  Man 
wird  sagen:  „Wenn  es  den  kriminalistischen  Erwägungen  des  St  Anw. 
überlassen  ist,  anzuklagen  oder  nicht,  so  ist  es  noch  lange  kein  Oppor- 
tunitätsprinzip —  bloß  deshalb,  weil  er  es  für  inopportun  hält, 
darf  kein  St  Anw.  die  Anklage  unterlassen".  Das  entspricht  aber 
den  Tatsachen  nicht,  und  jeder  St  Anw*  hat  gewiß  oft  die  Er- 
hebung einer  Anklage  unterlassen,  obwohl  er  den  Beschuldigten  für 
den  Täter  hielt  bloß  deshalb,  weil  er  im  voraus  sah,  daß  er  mit  den 
vorliegenden  Beweismitteln  unmöglich  aufkommt,  so  daß  Mühe  und 
Kosten  einer  Hauptverbandlung  zuverlässig  umsonst  aufgewendet 
würden.  Hat  der  St  Anw  aber  in  diesem  Falle  nicht  angeklagt,  weil  es 
nicht  „opportun"  war,  dies  zu  tun,  so  kann  man  ihm  dies  auch  für  andere 
Fälle  gestatten,  d.  h.  das  Opportunitätsprinzip  überhaupt  gelten  lassen. 
Es  wäre  übrigens  um  die  dienstliche  Organisation  übel  bestellt,  wenn 
man  nicht  im  Wege  der  Aufsicht  Mittel  besäße,  einen  St.  Anw.  zu 
hindern  von  dem  ihm  zustehenden  Rechte  nicht  anzuklagen,  allzu 
ausgedehnten  Gebrauch  zu  machen.  — 

Ein  weiteres  in  diesem  Kapitel  besprochener  Moment  ist  die 
künftige  Stellung  der  Staatsanwältschaft,  die  zum  „Herrn  des  Ver- 
fahrens" gemacht  werden  will.  Allgemein  ist  man  darüber  einig,  daß 
die  Staatsanw.  vollkommen  reorganisiert  werden  muß,  daß  man  das 
—  nebenbei  gesagt,  jedem  nichtreichsdeutschen  Juristen  nie  verstand* 
liehe  —  Jnstitut  des  „Amtsanwalts"  zu  beseitigen  hat,  und  daß  die 
St  Anw.  eine  ihr  direkt  unterstehende  Kriminalpolizei  zugeteilt  be- 
kommen muß.     Einstweilen  sei  hier  —  nur  vom  Standpunkte  der 


Die  I.K.y.  und  die  Kommiasion  f.  d.  Befonn  der  StP.O.  121 

Organisation  ans  —  im  voraus  bemerkt,  daß  die  Durchführung  dieses 
Planes  doch  nur  für  große^  mittlere,  meinetwegen  auch  für  kleine 
Städte  denkbar  ist  Aber  auf  dem  flachen  Lande?  Entweder  legt 
man  mehrere  Bezirke  zusammen,  bestellt  am  größten  Orte  einen  Be- 
amten der  Staatsanwaltschaft,  der  wohl  als  geprüfter  Bichter  gedacht 
werden  muß,  und  gibt  ihm  die  vielgenannte  „tüchtige  Kriminalpolizei^ 
zur  Seite,  oder  man  richtet  diesen  immerhin  nicht  sehr  billigen  Apparat 
bei  jedem,  auch  dem  kleinsten  Gerichte  auf  dem  Lande  ein.  Im 
ersten  Fall  wir  der  St  Anw.  immer  auf  Beisen  sein,  überall  zu  spät 
kommen  und  dort  nicht  sein  können,  wo  man  ihn  gerade  braucht 
Im  zweiten  Fall  wird  der  St  Anw.,  der  ja  zu  zivilrechtlichen 
Arbeiten  nicht  herangezogen  werden  kann,  seine  Zeit  um  so  weniger 
auszufüllen  vermögen,  als  er  ja  noch  ,,eine  geschulte  Kriminalpolizei^ 
neben  sich  hat,  die  sich  doch  nicht  bloß  mit  dem  Einfangen  einiger 
Landstreicher  befassen  kann,  und  auch  für  die  gerichtlichen  Be- 
amten bliebe  dann  zu  wenig  Arbeit  Heute  besorgt  an  vielen  kleinen 
Amtsgerichten  der  Amtsrichter  die  gesamte  Arbeit  —  was  sollen  sie 
aber  alle  tun,  wenn  jetzt  noch  ein  Staatsanwalt  und  ein  Kriminal- 
polizist sich  mit  in  die  Arbeit  teilt?  Ich  habe  den  Eindruck^  als  ob 
hier  um  eines  Prinzipes  willen  undurchführbares  geschaffen  werden 
wollte.  Auch  hier  hilft  das,  in  Kriminalsachen  so  oft  verwendbare 
Mittel:  Man  stelle  sich  den  Sachverhalt,  den  man  bilden  will,  erst 
einmal  bis  in  alle  Einzelheiten  hinaus,  genau  vor;  man  denke  sich  die 
„Neuorganisierte  Staatsanwaltschaft"  mit  allem  Drum  und  Dran^  allem 
Daneben,  Darüber  und  Darunter  nicht  bloß  in  Berlin,  sondern  auch 
in  Mittelstädten  und  herab  bis  zum  allerkleinsten  Gerichte  im  Reich 
lebhaft  vor,  dann  nimmt  man  die  Unmöglichkeiten  sicher  wahr! 

m.  Bas  Terfabren  bis  zur  Hauptverhandlung. 

Bekanntlich  will  die  Komm,  das  gegenwärtige  Vorverfahren  mit 
einigen  Änderungen  —  namentlich  unter  Beseitigung  des  Eröffnungs- 
beschlusses —  beibehalten.  Generalreferent  Aschrott  faßt  seine  Mei- 
nung in  folgendem  zusammen: 

1.  Die  Leitung  des  Vorverfahrens  kommt  vollständig  in  die 
Hand  des  StAnw. 

2.  Die  von  ihm  aufgenommenen  Protokolle  dienen  nur  der  An- 
klagebehörde und  dürfen  dem  Gericht  nicht  vorgelegt  werden. 

3.  Ist  Berufung  gegen  das  Urteil  möglich,  so  wird  nach  Zu- 
stellung der  Anklage  sofort  die  Hauptverhandlung  angeordnet  Gibt 
es  keine  Berufung  so  wird  ein  Vortermin  von  dem  Amtsrichter  an- 


122  II.  Gboss 

geordnet  um  darüber  zu  verhandeln,  ob  sich  die  Verurteilung  in  der 
Hauptverhandlung  erwarten  läßt. 

Ich  nehme  zu  diesen  drei  Themen  dahin  Stellung,  daß  ich  mich 
Ad  1  auf  meine  wiederholten  Ausführungen,  namentlich  in  diesem 
Archiv*)  berufe,  und  erkläre,  daß  ich  noch  immer  ein  Vorverfahren 
durch  den  U.R.  nicht  bloß  für  das  Beste,  sondern  für  das  einzig 
Durchführbare  halte.  Hier  bemerke  ich  nur,  daß  dann,  wenn  man 
das  Verfahren  so  durchführt,  wie  es  Aschrott  will,  schließlich  doch 
nur  der  Namen  geändert  wird  und  man  sagt  dann  Staatsanwalt,  wo 
man  früher  Untersuchungsrichter  sagte.  Man  wird  behaupten,  der 
Hauptunterschied  läge  darin,  daß  derjenige  das  Vorverfahren  geleitet 
hat,  der  die  Anklage  bei  der  Hauptverhandlung  vertreten  wird: 
das  ist  einfach  undurchführbar,  denn  entweder  müßte  sehr  oft  nach 
jeder  Verhandlung  ein  anderer  St.Anw.  erscheinen,  oder  es  gäbe  die 
Zusammenstellung  der  Verhandlungen  nach  den  betreffenden  St.  An- 
wälten solche  Schwierigkeiten,  daß  die  Sache  an  diesen  formalen 
Kleinigkeiten  scheitern  müßte. 

Ad  2  finde  ich  die  dort  angedeutete  Form  zum  Teil  nicht  not- 
wendig, zum  Teile  zu  Unmöglichkeiten  führend.  Daß  dem  Vor- 
sitzenden keine  Akten  geliefert  werden,  soll  die  Einsichtnahme  der 
Richter  in  Alles  verhindern,  was  bei  der  Hauptverhandlung  nicht  zur 
Sprache  kam.  Hier  können  wir  nur  so  unterscheiden:  Geht  der 
Vorsitzende  korrekt  vor,  so  scheidet  er  das  Material  in  relevantes  und 
nicht  relevantes;  Ersteres  bringt  er  eben  als  relevant  in  der  Haupt- 
verhandlung vor.  Letzteres  aber,  eben  als  nicht  relevant,  weder 
in  der  Hauptverhandlung  noch  bei  der  Beratung.  Geht  der  Vor- 
sitzende aber  nicht  korrekt  vor,  verschweigt  er  dolose  etwas 
bei  der  Verhandlung  und  teilt  es  dann  den  Richtern  bei  der 
Beratung  im  Geheimen  mit,  —  ja  dann  sind  wir  überhaupt  mit 
unserm  Latein  zu  Ende;  wenn  wir  doloses  Vorgehen  eines  Vor- 
sitzenden in  Rechnung  ziehen,  dann  hilft  auch  eine  ideale  StP.O. 
nichts.  Aber  setzen  wir  uns  darüber  hinaus  und  sehen  wir  zu,  wie 
sich  Aschrott  die  Sache  denkt:  der  Vorsitzende  erhält  bloß  die  An- 
klage, diese  muß  aber  spezialisiert  angeben,  in  welchen  Tatsachen 
die  einzelnen  gesetzlichen  Merkmale  des  Deliktes  gefunden  werden 
—  ist  selbstverständlich  —  und  durch  welche  Beweismittel  die  ein- 
zelnen Tatsachen  dargetan  werden  sollen  —  das  ist  praktisch  fast 
undurchführbar,  denn  jede  Anklage  über  einen  halbwegs  komplizierten 
Fall  müßte  zu   einem  Ungeheuer  anschwellen.    Die  Anführung  der 


1)  Z.  B.  Bd*  VII  p.  222;  Bd.  XII.  p.  191;  Bd.  XIV  p.  130. 


Die  I.  K.V.  und  die  KommisBion  f.  d.  Reform  der  StP.O.  123 

Beweismittel  kann  man  sieb  doch  nie  so  denken,  daß  gesagt  wird: 
Beweis:  Zeuge  A,  B,  C,  Lokalangenschein,  Obduktionsprotokoll, 
Skizze  des  Zimmers,  Gendarmeriebericht,  Punktum.  Die  Zeugen- 
aussagen müßten  mindestens  auszugsweise  wiedergegeben  sein,  denn 
8/4  unserer  Zeugen  will  seine  Aussage  abgefragt  bekommen  und  er- 
klärt bei  der  Hauptverhandlung  ^nichts"  zu  wissen.  Wenn  aber  der 
Vorsitzende  stets  den  StAnw.  fragen  muß,  was  denn  eigentlich  der 
Zeuge  sagen  soll,  so  wird  die  Verhandlung  einerseits  langweilig  und 
mühselig,  ihre  Leitung  geht  aber  auch  anderseits  in  die  Hände  des 
StAnw.  über,  was  man  doch  nicht  wollen  wird,  und  die  Akten 
fiber  Lokalaugenschein,  Haussuchung,  Obduktion  etc.  müssen  wört- 
lich abgeschrieben  werden,  denn  es  hängt  immer  sehr  von  der  per- 
sönlichen Auffassung  ab,  was  man  aus  einem  solchen  Aktenstücke 
herauslesen  und  herausverstehen  will.  Ich  bin  der  letzte,  der  dem 
Staatsanwalt  mißtraut,  aber  wenn  wir  den  Einzelnen  für  unfehlbar 
hielten,  so  bestände  unsere  ganze  Gerichtsorganisation  aus  einem 
einzigen  Paragraphen,  der  für  Alles  und  Jedes  Einzelrichter  aufstellt. 

Wenn  man  nun  aber  die  Anklage  mit  so  vielen  Abschriften  ver- 
sehen muß,  so  fragt  man  unwillkürlich,  warum  man  denn  nicht 
lieber  den  Akt  beisammen  läßt?  Jedenfalls  wäre  eine  große  Mühe 
erspart 

Endlich  liegt  es  in  der  Natur  der  Sache,  daß  dann,  wenn  die 
Einleitung  des  Hauptverfahrens  durch  eine  so  eingehende  und  akten- 
mäßig begründete  Anklage  geschehen  sollte,  unbedingt  dem  An- 
geklagten, als  der  zweiten  Partei,  die  Einbringung  einer  Gegenschrift 
gestattet  werden  müßte.  Ja  man  wird  nicht  bloß  von  gestatten, 
sondern  direkt  von  verlangen  sprechen  müssen;  denn  gestattet  man 
sie,  so  sieht  man  die  Notwendigkeit  ein,  daß  die  Verhandlung  nicht 
von  vornherein  durch  die  wohlfundierte  Anklage  eine  bestimmte  ein- 
seitige Färbung  erhält,  findet  man  das  aber  notwendig,  so  muß  es 
in  allen  fallen  geschehen,  ob  der  Angeklagte  darauf  besteht  oder 
nicht.  Aber  wer  soll  diese  Gegenschrift  verfassen?  Der  Angeklagte 
kann  es  in  sicher  95 0/0  von  Fällen  nicht;  der  U.B.,  der  sonst  Be- 
schwerden ,'etc.  zu  Protokoll  nahm,  existiert  nicht  mehr,  der  Amts- 
richter kann  diese  Arbeit  unmöglich  zu  seinen  sonstigen  Arbeiten 
dazu  übernehmen.  Also  der  ex  officio  Verteidiger.  Man  weiß  ja,  wie  viele 
Anklagen  heute  überreicht  werden  —  viel  weniger  werden  es  später 
sicher  nicht  sein,  also  hat  man  ebenso  viele  Gegenschriften  zu  machen. 
Man  wird  sagen:  „im  Allgemeinen  geben  wir  die  logische  Notwen- 
digkeit einer  Gegenschrift  zu,  aber  für  alle  einfachen  Fälle  und  die 
mit  Geständnis  kann  sie  entfallen,  so  daß  sich  die  Zahl  wesentlich 


124  II.  Gboss 

verringert"  Ja  was  heißt  „einfach''?  Für  den,  der  eingesperrt 
werden  soll,  ist  sein  Fall  nie  einfach,  auch  er  will  sich  verteidigen 
können  und  die  staatsanwaltschaftliche  Anklage  entkräften.  Und 
was  heißt  „geständig^*  ?  Die  Fälle  vollen  Geständnisses  sind  nicht 
häufig;  meistens  gesteht  der  „Geständige"  einen  Teil  der  Tat,  oder 
einige  Fakten,  oder  es  liegt  sogen,  „faktisches^  Geständnis  vor,  oder 
einige,  aber  nicht  alle  Angeklagten  gestehen  etc.  In  allen  diesen 
Fällen  muß  eine  Gegenschrift  doch  eingebracht  werden,  so  verringert 
sich  die  Zahl  derselben  gar  nicht  bedeutend,  und  die  ex  officio  Ver- 
teidiger hätten  alle  Hände  voll  damit  zu  tun.  Daß  sie  das  umsonst  tun 
werden,  das  bildet  man  sich  doch  nicht  ein,  es  kann  auch  unmöglich 
verlangt  werden,  der  Mensch  lebt  eben  von  seinem  Brote.  Die  Arbeit 
muß  also  bezahlt  werden,  und  da  der  weitaus  größte  Teil  der  Ange- 
klagten mittellos  ist,  muß  sie  der  Staat  bezahlen.  Werden  die  Gegen- 
schriften kurz,  schlecht  und  billig  gemacht,  so  schaden  sie  viel  mehr, 
als  sie  nützen,  sind  sie  ebenso  eingehend  wie  die  Anklage  und  gut 
gemacht,  so  sind  sie  teuer  und  die  Mehrbelastung  der  Justiz  wäre 
geradezu  eine  unerschwingliche. 

Aber  stellen  wir  uns  vor,  wir  hätten  die  bewußte,  aktenartig 
aussehende  Anklage  und  die  Gegenschrift.  Hiemach  hätte  der  Vor- 
sitzende zu  verhandeln^  es  ist  sein  um  und  Auf. 

loh  begreife  nicht,  wie  ein  so  erfahrener  und  so  überaus  scharf- 
sinniger Kriminalist,  wie  Aschrott,  behaupten  kann,  ein  guter  Vor- 
sitzender werde  auch  auch  ohne  Akt  die  Verhandlung  leiten,  denn 
auch  heute  müßten  oft  ganz  neue  Zeugen  vernommen  werden.  Wir 
wissen  doch,  daß  das  Verständniß  der  Mitrichter  in  erster  Linie  auf 
einer  wohl  durchdachten,  gut  aufgebauten  und  überlegten  Verhand- 
lungsleitung begründet  ist  —  ohne  Grundlage  gibt  es  aber  keinen 
Plan  und  ohne  Plan  bietet  jede  Verhandlung  bloß  Überraschungen 
und  Konfusionen.  Freilich  werden  oft  erst  in  der  Hauptverhandlung 
neue  Beweisaufnahmen  nötig  —  diese  beziehen  sich  aber  auf  be- 
stimmte Fragen  und  ihre  Beantwortung  ist  nicht  schwer  einzufügen« 
Kommen  aber,  wie  Aschrott  anführt,  neue  Tatsachen,  „welche  der 
ganzen  Sachlage  ein  neues  Bild  geben",  so  geht  die  Verhandlung 
nur  dann  unversehrt  weiter,  wenn  ein  geschickter  Vorsitzender  den 
Akt  sehr  genau  kennt  und  sofort  weiß,  wie  das  Materiale  der 
neuen  Situation  angepaßt  und  in  sie  eingefügt  werden  muß. 

Ich  meine:  ohne  Vorbereitung  des  Vorsitzenden  ist  nur  eine  sehr 
einfache  Verhandlung  denkbar,  alle  übrigen  mit  kompliziertem  Her- 
gang oder  kompliziertem  Beweis  bedürfen  planmäßiger  Vorbereitung, 
Diese  ist  nach   einer   nicht  eingehenden  Anklage  nicht  möglich,  eine 


Die  I.  E.V.  und  die  Kommission  f.  d.  Reform  der  St.P.0.  126 

genaue  Anklage  wäre  aber  nur  Abschrift  und  Auszug  aus  dem 
Akte,  gewonnen  ist  hiermit  in  keiner  Richtung  etwas. 

Ad  3.  Beim  bestenWillen  sehe  ich  Nutzen  und  Zweck  des  beantragten 
Tortermines  nicht  ein.  Vor  allem  wird  es  kaum  möglich  sein,  unge- 
bildeten Beschuldigten  klar  zu  machen,  was  bei  diesem  ProbeschuB 
geschehen  soll.  Wir  haben  diesfalls  in  Österreich  Erfahrung  mit  dem 
„Einspruch  gegen  die  Anklage^,  bei  welchem  die  Leute  nie  begreifen^ 
daß  es  sich  nur  um  die  Berechtigung  einer  Verhandlung  dreht  Die 
stereotype  Antwort  der  Leute  ist:  „ich  bin  unschuldig^.  Erklärt  man 
ihnen,  es  handle  sich  nur  um  die  Frage  ob  genügender  Verdacht  vor- 
handen ist,  so  antwortet  er  wieder:  ,,wenn  ich  aber  unschuldig  bin?'^ 
Gerade  so  wird  es  bei  diesem  Vortermin  sein,  der  nur  Verwirrung 
anrichtet  und  die  Zeugen  „abnutzt^,  die  so  zu  einer  Verhandlung 
mehr  erscheinen  müssen.  Freilich  sagt  man,  es  brauchen  nicht  alle 
Zeugen  zu  kommen^  die  zur  Hauptverhandlung  nötig  sind.  Aber  wer 
hat  so  yiel  Divinationsgabe,  daß  er  die  richtigen  Zeugen  herauszu- 
finden weiß? 

Weiters  steht  zu  befürchten,  daß  die  Behandlung  dieser  „vor. 
läufigen  Termine'^  bald  wenig  genau  und  immer  flüchtiger  werden 
wird.  Man  braucht  da  Niemandem  einen  Vorwurf  von  Leichtsinn  und 
Trägheit  zumachen:  es  liegt  in  der  menschlichen  Natur,  etwas  Nicht- 
endgültiges  flüchtiger  zu  behandeln,  die  Gewissenhaftigkeit  wächst  mit 
der  Zunahme  der  Verantwortung.  —  Nicht  zu  übersehen  wäre  end- 
lich die  verschiedene  Behandlung  derselben  Sache  durch  zwei  ver- 
schiedene Vorsitzende.  Ich  hatte  einmal  Gelegenheit,  dieselbe  Straf- 
sache von  zwei  Vorsitzenden  geführt  zu  sehen :  die  erste  Verhandlung 
mußte  vertagt  werden,  der  Vorsitzende  wurde  plötzlich  abberufen  und 
die  neue  Verhandlung  mußte  von  einem  anderen  Vorsitzenden  geführt 
werden.  Beide  waren  besonders  intelligente  und  gewissenhafte  Leute, 
sie  hatten  aber  von  der  Sache  verschiedene  Auffassungen  und  so  war 
die  zweite  Verhandlung  einfach  etwas  vollkommen  anderes  als  die 
erste,  man  mußte  sich  Mühe  geben,  die  Identität  der  zwei  Strafsachen 
zu  erkennen.  Dies  würde  aber  bei  Vortermin  und  Hauptverhandlung 
oft  vorkommen  und  auf  den  Beschuldigten,  namentlich  den  Ungebil- 
deten, müßte  es  den  bösesten  Eindruck  machen,  wenn  er  seine  Sache 
80  verschieden  aufgefaßt  sieht.  Es  ist  von  größter  Wichtigkeit,  daß 
die  Entwicklung  der  Verhandlung  und  das  sich  daraus  ergebende 
Urteil  den  Eindruck  macht,  als  ob  es  nicht  anders  sein  könnte,  als 
ob  es  sich  um  die  Wirkung  eines  unabänderlichen  und  zwingenden 
Naturgesetzes  handelt. 

Kurz:  der  Vortermin  wäre  eine  prozeßuale  Kalamität.  — 


126  IL  Gross 

An  diese  Erörterungen  schließt  das  Generalreferat  die  Frage  nach 
Haftsachen  und  erklärt  vor  Allem  die  Kollusionshaft  überhaupt  für 
entbehrlich,  sie  sei  zu  beseitigen.  Eine  exacte  Untersuchung  über  die 
Notwendigkeit  der  J^ollusionshaft  ist  nicht  denkbar,  es  handelt  sich 
nur  um  Ansichten,  die  auf  verschiedene  Erfahrungen,  Annahmen  und 
Schlüsse  begründet  werden.  Es  läßt  sich  auch  nicht  beweisen,  ob  die 
Kollusionshaft  durch  die  Tätigkeit  von  Freunden,  vielleicht  nicht  be- 
kannten Mitschuldigen  und  Angehörigen  illusorisch  wird,  wir  wissen 
nur,  daß  dies  allerdings  häufig  geschieht  und  daß  eine  große  Gefahr 
in  der  Tätigkeit  entlassener  Mitgefangener  liegt,  die  u.  U.  ebenso 
wirken  können  als  der  Verhaftete  selbst  Aber  im  Großen  und 
Ganzen  darf  man  ja  vermuten,  daß  die  Kollusionshaft  nicht  so  not- 
wendig ist,  um  die  mit  ihr  verbundenen  Härten  aufzuzwingen,  aber 
ich  glaube:  wenn  man  das  Experiment  wagt,  und  die  Kollusions- 
haft aufhebt,  so  wird  der  Schluß  ihre  schleunige  Wiedereinführung 
sein.  — 

Bezüglich  der  weiteren  Haftfragen  will  Aschrott: 

1.  Anordnung  der  Haft  durch  den  Staatsanwalt 

2.  Jedem  Verhafteten  auf  Antrag  einen  Verteidiger  geben. 

3.  Durch  diesen  kann  der  Verhaftete  jederzeit  gerichtliche  Ent- 
scheidung über  die  Haft  beantragen  (mündliche  Verhandlung 
vor  dem  Amtsgericht). 

Ich  meine,  daß  es  in  der  Bevölkerung  viel  übles  Blut  erzeugen 
würde,  wenn  der  Staatsanwalt  die  Haft  anordnet;  das  Volk  will 
Entscheidung  durch  den  Kichter,  dem  es  naturgemäß  mehr  ver- 
traut Die  Bestellung  so  vieler  ex  officio  Verteidiger  wird  zuver- 
lässig an  der  Geldfrage  scheitern  und  eine  Entscheidung  des  Gerichtes 
bloß  durch  den  Verteidiger  veranlassen  zu  können,  wird  viel  Zeitver- 
lust verursachen.  Ein  Argument,  daß  hierdurch  mutwillig  Anträge 
verhindert  würden,  dürfte  nicht  stichhaltig  sein,  solche  mutwillige 
Anträge  kommen  kaum  vor.  Die  österr.  St-P.-O.  mit  der  wir  dies- 
falls .gute  Erfahrungen  gemacht  haben^  bestimmt: 

Haftantrag  vom  Staatsanwalt  —  Beschluß  darüber  durch  den 
U.R.  —  Entscheidung  der  Eatskammer,  wenn  beide  differieren  oder 
wenn  sich  der  Beschuldigte  beschwert  —  weitere  Beschwerde  an  das 
Oberlandesgericht  Letztere  kommt  sehr  selten  vor,  mutwillige  Be- 
schwerden vielleicht  gar  nicht;  wir  nehmen  an,  daß  der  Ü.-R  ge- 
nügendes Vertrauen  beim  Beschuldigten  besitzt,  um  ihm  gegebenen 
Falles  das  Zwecklose  einer  sichtlich  mutwilligen  Beschwerde  klar  zu 
machen;  ruhiges  Erörtern  der  Sache  führt  fast  immer  zu  vernünf- 
tigem Einsehen.  — 


Die  L  K.V.  und  die  Kommission  f.  d.  Reform  der  St.P.O.  127 

« 

Gerade  hier  kommt  es,  wie  in  zahlreichen  anderen  Fällen  viel 
weniger  auf  den  Wortlaut  einer  gesetzlichen  Bestimmung  als  auf  die 
Qualität  der  betreffenden  Funktionäre  an.  Wir  in  Osterreich  können 
mit  Stolz  behaupten^  daß  wir,  namentlich  in  letzter  Zeit,  mit  unseren 
U.-R.  die  besten  Erfahrungen  machen  und  daher  auch  mit  jenen 
proceßualen  Bestimmungen  zufrieden  sind,  welche  wichtige  Agenden 
in  ihre  Hände  legen;  die  U.-R.  zu  beseitigen  wäre  sehr  gewagt,  und 
wieder  auf  sie  zurückzugreifen,  wenn  es  mit  dem  neuen  Verfahren 
nicht  geht,  wäre  schon  deshalb  nicht  möglich,  weil  man  mittlerweile 
das  Material   verloren  hätte,   aus  dem  man  sie  schaffen  könnte.  — 

lY.  Die  Hauptrerhandlung. 

Das  Generalreferat  bespricht  diesfalls  bloß  zwei  Anderungsvor- 
schläge der  Kommission,  beide  in  negativem  Sinn,  in  beiden  Fällen 
ist  dem  Generalreferat  im  Wesen  recht  zu  geben. 

Statt  des  unglücklichen  Eröffnungsbeschlusses  will  die  Komm, 
eine  Erklärung  des  Vorsitzenden,  in  welchem  die  fragliche  Tatj  ihre 
gesetzlichen  Merkmale  und  das  anzuwendende  Strafgesetz  bezeichnet 
wird.  Aschrott  erklärt  diesen  Vorgang  mit  Becht  als  unzulänglich 
and  daher  zwecklos.  Dagegen  meint  er,  daß  —  natürlich  mit  Bück- 
sicht auf  das  immer  Schwierigkeiten  bereitende  Laienelement  —  eine 
Aufklärung  über  den  vorzunehmenden  Straffall  zu  Beginn  der  Ver- 
handlung jedenfalls  notwendig  sein  wird.  A.  meint,  daß  der  Staats- 
anwalt seine  Anklage  mündlich  zu  erheben  und  zu  begründen  habe, 
wodurch  alle  Beteiligten,  namentlich  aber  auch  der  Angeklagte,  über 
die  Sachlage  bis  zu  Beginn  der  Hanptverhandlung  gründlich  unter- 
richtet wird.  Wenn  also  A.  behauptet,  daß  dies  durch  den  Staats- 
anwalt und  nicht  durch  den  Vorsitzenden  geschehen  müsse,  so  hat 
er  nach  Wesen  und  Sinn  der  Sache  zweifellos  recht:  der  Staatsanwalt 
verlangt  Gelegenheit,  seine  Beweise  vorführen  zu  können,  er  verlangt 
Schuldspruch  und  Strafe,  er  muß  auch  logischer  Weise  selbst  dieses 
Begehren  stellen  und  begründen.  Vom  praktischen  Standpunkte  aus 
muß  aber  doch  erwogen  werden,  ob  die  fragliche  Erklärung  nicht 
zweckmäßiger  vom  Vorsitzenden  ausgeht  Er  hätte  objektiv  dar- 
zustellen, er  erklärt:  „der  Staatsanwalt  behauptet  dies  und  jenes  und 
begründet  dies  so  oder  anders.  Dagegen  spricht  aber  zu  Gunsten 
des  Angeklagten  Folgendes  ....  und  endlich  liegt  auch  noch  dies 
und  jenes  vor,  von  welchem  wir  erst  im  Laufe  der  Verhandlung 
ersehen  werden,  ob  es  für  Schuld  oder  Nichtschuld  spricht".  —  Wird 
dies  vom  Vorsitzenden,  also  ganz  objektiv  gegeben,  so  ist  eine  Ent- 


128  II.   6B0B8 

gegnimg  nicht  möglich;   diese  Vorfrage  ist  erledigt  nnd  es  kann  zur 
Beweisaufnahme  geschritten  werden. 

Hat  aber  der  Ankläger  seine  Darstellung,  eine  Art  EonditionaL 
urteil,  vorgebracht  O^wenn  die  Beweise  dies  und  jenes  ergeben,  ist 
A.  des  §  X  schuldigt),  so  erfordert  es  das  Parteienprincip,  ja  jede 
Forderung  der  Gerechtigkeit,  unbedingt,  daß  der  Angeklagte  eine 
Entgegnung  vorbringen  darf  oder  eigentlich  muß.  Seine  Bede  hat 
also  der  Verteidiger  zu  halten  (und  wenn  keiner  anwesend  ist?)  Will 
man  korrekt  vorgehen,  so  muß  man  auch  Beplik  und  Duplik  ge- 
statten, denn  sonst  kann  der  Verteidiger  rein  sagen,  was  er  will,  und 
ob  der  Erfolg  diesen  Aufwand  an  Zeit,  Mühe  und  Geld  lohnen  wird, 
ist  sehr  fraglich.  Kurz:  richtig  ist  es,  wenn  der  Staatsanwalt  seine 
Anklage  erhebt  und  begründet,  praktich  durchführbar  dürfte  aber 
nur  eine  Feststellung  durch  den  Vorsitzenden  sein^. 

Ein  zweiter  Vorschlag  der  Komm.:  das  Gericht  könne  in  ge- 
wissen Fällen  von  der  Erhebung  einzelner  Beweise  absehen,  wenn 
es  die  Tatsachen,  die  dadurch  bewiesen  werden  sollen  zu  Gunsten 
des  Angekl.  für  erwiesen  oder  einstimmig  für  unerheblich  erachtet  — 
wird  von  A.  ebenfalls  mit  Becht  abgelehnt.  Es  ist  zweifellos,  daß 
hierdurch  das  freie  Beweisen  eingeschränkt  wird  und  außerdem  ist 
immer  zu  fragen  was  heißt  „zu  Gunsten  des  Angeklagten  erwiesen^ 
und  was  heißt  ^unerheblich^?  Hier  können  Zweifel  und  Ungenauig- 
keiten  schlimmster  Art  entstehen  und  viel  Zeitgewinn  kann  kaum 
entstehen,  da  doch  auch  heute  der  Vorsitzende  über  Beweise,  bei 
welchen  z.  B.  der  Staatsanwalt  ausdrücklich  erklärt,  er  gebe  die  zu 
beweisende  Tatsache  zu,  oder  die  sichtlich  irrelevant  sind,  leichter 
und  rasch  hinweggeht.  Häufig  wird  ja  auch  gegenseitige  Zustimmung 
wegen  Übergehung  eines  irrelevanten  ümstandes  erziehlt  werden  — 
besteht  aber  Staatsanwalt  oder  Angeklagter  auf  der  Vorführung  eines 
scheinbar  gleichgiltigen  Beweises,  so  werde  er  vorgeführt  Wir  haben 
es  alle  erlebt,  daß  ein  geschickter  Staatsanwalt  oder  Verteidiger  aus 
einem  scheinbar  irrelevanten  Momente  doch  wichtiges  abgeleitet  hat; 
dieser  Möglichkeit  darf  nicht  von  vornherein  der  Weg  abgeschnitten 
werden.  — 

Den  Schluß  des  Generalberichtes  bildet  eine  ganz  kurze  Erörte- 
rung der  besonderen  Verfahrensarten,  die  übergangen  werden  kann,. 
Principien  betrifft  sie  nicht. 


III. 

Über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorge- 
erziehung in  Preussen. 

(Gesetz   vom   2.  Juli  1900.) 

Von 

Dr.  Otto  Leers, 
Assistent  der  Unterrichtsanstalt  für  Staatsaraneikundo  der  Universität  Berlin. 


Wie  eine  geistige  Atmosphäre  umgibt  unsere  Zeit  die  Frage  der 
Erziehung  des  Kindes,  der  Sorge  um  die  heranwachsende  Jugend. 
Es  scheint,  als  ob  in  dem  Jahrhundert  des  Kindes,  welches  ange- 
brochen ist,  sich  mehr  und  mehr  die  Erkenntnis  Bahn  bricht,  wie 
sehr  von  dem  Gedeihen  des  Kindes  die  Wohlfahrt  des  Volkes  ab- 
hängt The  child  is  the  father  of  the  man;  die  Sorge  für  die 
Jagend  ist  also  nicht  nur  eine  Kulturaufgabe,  eine  Aufgabe  der  Er- 
ziehungspolitik, sondern  auch  eine  Frage  der  Entwicklung  der 
geistigen  und  körperlichen  Volksgesundheit "^ 

Und  doch  scheint  noch  viel  daran  zu  fehlen,  daß  die  Anschau- 
ungen, die  diesen  Worten  des  österreichischen  Staatsmannes  Baern- 
reither  zu  Grunde  liegen,  in  die  tieferen  Kreise  des  Volkes  einge- 
drungen, daß  sie  Allgemeingut  geworden  sind.  Noch  sehen  wir  so 
mannigfaches  Kinderelend,  hören  fast  täglich  von  Kindermißhand- 
lungen —  und  dabei  sind  es  nur  die  körperlichen,  die  bekannt 
werden,  von  den  Mißhandlungen  der  Kinderseele  dringt  selten  etwas 
an  die  Öffentlichkeit.  Noch  lesen  wir  fast  täglich  von  Verurteilungen 
Jugendlicher  zu  Gefängnisstrafen,  von  der  Steigerung  der  Kriminalität 
der  Jugendlichen.  Die  Statistik  der  letzten  zwei  Jahrzehnte  zeigt, 
wie  erheblich  diese  Steigerung  im  Vergleich  zu  der  der  Erwachsenen 
und  der  Bevölkerung  ist  Wenn  auch  hierin  im  letzten  Berichtsjahre 
1905  eine  geringe  Besserung  zu  verzeichnen  ist,  die  Zahlen  sind 
immer  noch  erschreckend  hohe.  51232  Jugendliche  wurden  im 
Jahre    1905   wegen   strafbarer  Handlungen  verurteilt.    2366  hatten 

ArehiT  fftr  Kriminalanthropologie.    27.  Bd.  9 


130  m.  Leers 

sich  gegen  Gesetze  betr.  den  Staat,  die  öffentliche  Ordnung,  die 
Religion  vergangen,  36194  waren  mit  dem  Vermögensrecht,  12  654 
mit  dem  Personenrecht  in  Konflikt  geraten,  18  wurden  wegen  Ver- 
gehens im  Amt  bestraft 

In  der  steigenden  Rückfälligkeit  der  jugendlichen  Verbrecher, 
die  die  Statistik  ziffermäßig  nachweist,  zeigt  sich  ein  Mißerfolg 
unserer  bisherigen  strafrechtlichen  Maßnahmen  gegen  die  Jugend- 
lichen, der  zu  Zweifeln  an  dem  Nutzen  derselben  berechtigt,  und  zu 
der  Erwägung  zwingt,  ob  nicht  andere  an  ihre  Stelle  zu  setzen  sind- 
Insbesondere  gilt  dieser  Mißerfolg  den  immer  und  immer  wieder  ver- 
hängten und  im  Bückfalle  methodisch  verlängerten  und  verschärften 
kurzen  Freiheitsstrafen.  Kräpelin^)  hat  kürzlich  in  einem  geistvollen 
Aufsatz  auf  die  ungenügende  Beeinflußung  der  jugendlichen  Übel- 
täter durch  diese  Strafe  hingewiesen.  Sie  sind  zu  kurz,  als  daß  in 
dieser  Spanne  Zeit  der  Jugendliche  von  seinen  verbrecherischen 
Neigungen,  von  seiner  Verwahrlosung  geheilt  würde,  zu  lang,  als  daß 
er  nicht  durch  die  Berührung  mit  Schlimmeren  noch  mehr  verdorben 
würde.  „Heute  können  wir  es  oft  genug  hören,**  sagt  Kräpelin, 
„daß  selbst  im  Gefängnisse,  unter  den  Augen  des  Staates,  die  erst- 
malig bestraften  jungen  Missetäter  den  verderblichen  Einwirkungen 
ergrauter  Genossen  zum  Opfer  fallen."  Wie  der  Stock  aus  der 
Schule,  wird  die  Gefängnisstrafe  aus  der  Rechtsprechung  über  den 
jugendlichen  Kriminellen  schwinden  müssen;  beide  rufen  keine 
Seelenerregungen  hervor,  die  der  Ausgangspunkt  einer  moralischen 
Änderung  werden  könnten.  Im  Gegenteil,  sie  verhärten,  verschlimmem 
das  Übel.  Die  Art  der  Vergehen  zeigt  heute  bei  den  Rückfälligen 
fast  stets  eine  Steigerung  ad  pejus  und  das  Tempo  der  einzelnen 
Straftaten  eine  Beschleunigung. 

Es  kann  aber  auch  kaum  Wunder  nehmen,  daß  die  Strafe  nichts 
fruchtet,  solange  sie  die  Form  der  kurzen  Vergeltungsstrafe  hat  Die 
Mehrzahl  der  Rückfälligen  und  jugendlichen  Gewohnheitsverbrecher 
ist  zweifellos  entweder  entartet,  infolge  angeborener  Veranlagung  von 
sittlich  geringerer  Widerstandskraft  oder  von  Grund  aus  geistig  zu- 
rückgeblieben infolge  mangelhafter  Schulung  und  Erziehung.  Von 
496  Rückfälligen  hatten  nach  einer  Untersuchung  Morels  133  gar 
keinen,  128  nur  ganz  primitiven  Unterricht  genossen,  165  konnten 
eben  lesen,  schreiben,  rechnen.  Nur  93  wiesen  nichts  Abnormes 
auf;  aber  auch  von  diesen  93  hatten  nur  29  lesen  und  schreiben 
gelernt,  29  andere  nur  einen  rudimentären  und  34  gar  keinen  Unter- 


1)  In  Aschaffenburgs  Monateschr.  f.  Krim.  u.  Strafr.  1906,  Heft  5/6. 


über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in  Preußen.    131 

rieht  genossen.  Ich  weiB  nicht,  ob  eine  solche  Untersuchung  in 
unserm  Lande  gemacht  ist,  ich  finde  aber  eine  ähnliche  Statistik,  die 
die  gleiche  Sprache  spricht:  die  Zahl  der  in  Preußen  in  1904  der 
F.  £.  überwiesenen  Zöglinge,  welche  die  Schule  nur  unregelmäßig 
besucht  hatten,  betrug  47,7  <^/o,  mit  geringer,  bezw.  ohne  jede  Schul- 
bildung waren  1,5  bezw.  12,1  <)/o  der  Zöglinge.  0 

Natürlich  ist  der  Mangel  der  Schulbildung  nicht  allein  von  Be- 
deutung. Wichtiger  und  viel  eingreifender  in  das  Dasein  des 
Jugendlichen  ist  der  Einfluß  des  häuslichen  Milieus,  in  welchem  er 
aufwächst.  Traurige  häusliche  Zustände  bilden  eine  wesentliche 
Grundlage  für  die  Vergehen  der  Jugendlichen,  erhöhen  den  Anreiz 
zu  Verbrechen  und  setzen  die  Widerstandskraft  gegen  diesen  Anreiz 
herab. 

Alle  Handlungen  entspringen  unmittelbar  aus  Vorstellungen  und 
Gefühlen,   derart,   daß  die  stärkeren  Antriebe  die  Art  der  Handlung 
zwangsmäßig   entscheiden.     Wo    also    nur    schlechte    Vorstellungen 
durch    schlechtes  Vorbild,   mangelhafte  Erziehung  geweckt   werden, 
oder   nur   negative  Unlustgefühle   in  der  jugendlichen  Seele  erzeugt 
werden,  wird  der  Anreiz  zu  schlechten  Handlungen  überwiegen,  der 
zu  guten  nicht  auf-  und  zum  Durchbruch  kommen.    Auf  solche  Zu- 
stande im  häuslichen  Heim  deutet  die  Tatsache,  daß  63,9  ^/o  aller  Für- 
sorgezöglinge  des  Jahrgangs   1904  auf  Grund  des  §  1  Ziffer  3,  der 
schon   eine   fortgeschrittene    Verwahrlosung    voraussetzt,   überwiesen 
wurden.    Schließt   man   noch   diejenigen   Fälle    ein,   wo    die   Über- 
weisung auf  Grund  der  Ziffern  1  und  3  oder  1,  2  und  3  erfolgt  ist, 
so  sind  es  72,7  ^/o  odor  fast  ^4  aller  in  1904  überwiesenen  Zöglinge- 
bei   denen   die  Verwahrlosung  schon  ganz  offen  zu  Tage  lag.    Die 
Zahl   der  gefährdeten   Kinder   ist  überhaupt  nicht  annähernd  zu 
schätzen.    Und  doch  wäre  ein  Einblick  in  diese  Verhältnisse  gerade 
am   wichtigsten,   da  hier  die  Hilfe  der  F.  E.  am  notwendigsten  und 
erfolgreichsten  wäre.    Denn  im  Beginne  der  Verwahrlosung  genügt 
oft   schon   ein   einfacher  Wechsel   der  Umgebung   mit  Ausschaltung 
des  fehlerhaften  Einflusses  der  Erziehung,  um  das  Kind  von  seinen 
Unarten  und  krankhaften  Erscheinungen  zu  befreien.    Die  schlechten 
Vorstellungen    sind   noch  locker,   ungefestigt  und  bei  der  Impressio- 
nabilität  des  Kindes  leicht  durch  Einschaltung  besserer  Eindrücke  und 
Vorstellungen    zu    verdrängen.     Auch    der    Nachahmungstrieb    des 
Kindes  ist  in  jüngerem  Alter  bei  der  Erziehung  mit  besserem  Erfolg 

1)  Ich  entnehme  diese  Zahlen,  wie  auch  die  weiterhin  folgenden  statistischen 
Angaben,  dem  letzten  amtlichen  Bericht  über  die  F.  £.  Minderjähriger  in  Preußen 
für  das  Jahr  1904. 

9» 


132  III.  Leers 

zu  verwerten.  Die  kurzen  Schulstunden  mit  ihrer  Belehrung  und 
Erziehung  hinterlassen  aber  keine  oder  nicht  genügend  tiefe  Eindrücke, 
als  daß  sie  nicht  durch  traurige  Verhältnisse  im  Eltemhause  bald 
wieder  paralysiert  würden.  Eine  kurze  Aussendung  der  vielfach 
geistig  und  körperlich  gleich  gefährdeten  Kinder  in  Ferienkolonien, 
Ferienheime  ist  auch  problematisch.  Wenn  die  Kinder  nach  kurzen 
Wochen  in  die  alten  verderblichen  Einflüsse  zurückkehren,  ist 
der  Erfolg  dieser  sonst  so  wohltätigen  Einrichtung  bald  wieder  ver- 
schwunden. 

In  den  meisten  Fällen  hilft  nur  die  gänzliche  Herausnahme  aus 
der  gefährlichen  Umgebung  und  die  frühzeitige  und  unbeschränkte 
Verbringung  in  geordnete  Zustände. 

Besonders  in  den  Großstädten  verhält  sich  die  vielfach  herrschende 
Wohnungsnot  zu  dem  Kinderelend,  wie  die  Ursache  zur  Wirkung. 
Bernhard  0,  der  die  Verhältnisse  von  G551  Kindern  aus  dem  Zentrum 
Berlins  untersuchte,  fand,  daß  die  Schlafzeit  derselben  durchschnitt- 
lich um  l  Stunde  46  Minuten  täglich  zu  kurz  war.  Sicher  ist, 
schließt  er,  die  Ursache  dafür  weniger  in  Überbürdung  mit  Schul- 
arbeiten oder  krankhafter  Schlaflosigkeit  zu  suchen,  als  vielmehr  in 
dem  Unverstand  und  der  Lässigkeit  der  Eltern,  vor  allem  aber  in 
mißlichen  sozialen  Verhältnissen.  Bis  zu  9  Personen  schlafen  nach 
diesen  Untersuchungen  in  einem  Raum  und  bis  zu  vier  in  einem 
Bett,  in  einem  Eaum  in  dem  die  ganze  Familie  auch  tagsüber  wohnt 
Räume  und  Lagerstätten  spotten  oft  allen  hygienischen  Anforderungen. 
Daß  durch  solche  Verhältnisse  das  Schamgefühl  der  Kinder  früh- 
zeitig leidet,  liegt  auf  der  Hand.  Die  große  Zahl  der  wegen  Sitt- 
lichkeitsvergehen verurteilten  Jugendlichen  stammt  meist  aus  solchen 
ärmlichsten  Wohnungsverhältnissen,  die  der  Unsittlichkeit  zweifellos 
Vorschub  leisten.  Die  heutigen  Erwerbsverhältnisse  bringen  es  mit 
sich,  daß  der  Jugend  mehr  und  mehr  der  väterliche  Schutz,  die 
mütterliche  Aufsicht  und  Fürsorge  verloren  geht.  Schon  in  den 
ersten  Lebensjahren,  wo  sie  am  notwendigsten  und  wirksamsten  wäre, 
fehlt  die  Erziehung  der  Kinderstube.  Die  Mutter  der  Kinder  muß 
oft  mitverdienen,  oder  sie  sorgt  überhaupt  allein  für  den  Unterhalt 
der  Familie  und  wird  dadurch  den  größten  Teil  des  Tages  von 
Hause  femgehalten.  Die  heranwachsenden  Kinder,  sich  selbst  über- 
lassen und  durch  das  enge  Zusammenleben  mit  den  Erwachsenen, 
durch  die  Teilnahme  an  ihren  Genüssen  frühreif,  fallen  schon  früh 
dem  schlechten  Beispiel  und  der  Verführung  anheim. 


1)  Mitgeteilt  auf  dem  Kongreß  für  Kinderforsehung,  Berlin,  1906. 


Ober  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Füi'sorgeei'ziehung  in  Preußen.    133 

Wertvolle  Aufschlüsse  über  das  Milieu,  aus  dem  die  der  Für- 
sorge bedürftigen  Kinder  und  Jugendlichen  stammen,  gibt  der  statis- 
tische Bericht  über  die  Fürsorge  Erziehung.  Fast  die  Hälfte  der 
Familien,  aus  denen  sich  die  Fürsorgezöglinge  des  Jahrgangs  1904 
rekrutierten,  war  durch  Vorstrafen  des  Vaters,  der  Mutter  oder  beider 
Eltern  belastet  Von  den  Vätern  waren  1294,  von  den  Müttern  425, 
von  beiden  Eltern  752,  zusammen  also  2451  mit  Haft,  Gefängnis, 
Zuchthaus,  Arbeitshaus  oder  mit  mehreren  dieser  Strafen  zusammen 
vorbestraft  Es  bleibt  allerdings  die  Frage,  sagt  mit  Kecht  der  Be- 
richt, ob  nur  die  in  den  Strafen  zum  Ausdruck  kommende  kriminelle 
Neigung  der  Eltern  und  nicht  auch  die  sittlichen  und  wirtschaftlichen 
Nachwirkungen  der  Freiheitsstrafen  selbst  den  erzieherischen  Notstand 
der  Kinder  verschuldet  haben.  Derselbe  Notstand  wirtschaftlicher 
Art  spricht  sich  darin  aus,  daß  330  Elternpaare  von  F.  Zöglingen  ge- 
trennt leben,  165  geschieden  sind.  Das  am  stärksten  konstruktive 
Element  bei  der  Erziehung,  die  feste,  ruhige  Ordnung  der  Familie 
mag  hier  schon  lange  den  Kindern  gefehlt  haben.  28,8  %  der  Familien 
waren  durch  schlechte  Neigungen  eines  oder  beider  Elternteile  ver- 
wüstet; 871  Väter,  394  Mütter,  1622  ElternpaÄre  waren  dem  Trunk, 
der  Unzucht  oder  Arbeitsscheu  oder  mehreren  dieser  Laster  zugleich 
ergeben.  Die  Trunksucht  der  Väter,  die  Unzucht  der  Mütter  scheint 
sich  nach  den  Berichten  der  letzten  Jahrn  in  aufsteigender  Linie  zu 
bewegen.  493  Brüder,  86  Schwestern  von  Zöglingen  waren  bereits 
bestraft,  in  80  Fällen  Brüder  und  Schwestern,  114  Schwestern  waren 
der  Unzucht  ergeben.  Endlich  liegt  auf  der  Hand,  daß  auch  schlechte 
Vermögensverhältnisse,  verschuldet  oder  unverschuldet,  die  Verwahr- 
losung begünstigen.  Neben  diesen  exogenen  Faktoren  sind  es  dann 
noch  endogene,  die  die  Verwahrlosung  verursachen.  In  77  Fällen 
war  bei  den  Vätern,  in  94  bei  den  Müttern,  in  3  bei  beiden  Eltern  zu- 
gleich Geisteskrankheit,  Geistesschwäche  oder  Epilepsie  zu  verzeichnen. 

So  waren  die  Heime,  die  Familien  der  Zöglinge  beschaffen, 
sehen  wir  uns  jetzt  diese  selbst  an.  Von  den  6458  in  1904  der 
Fürsorge-Erziehung  überwiesenen  Minderjährigen  waren  1571  männ- 
liche, 458  weibliche  mit  Verweisen,  Haft  und  Gefängnistrafen  vorbe- 
straft. Alle  Vergehen  und  Verbrechen  waren  vertreten,  von  der  Ur- 
kundenfälschung, Unterschlagung,  den  Betrug  und  einfachen  Dieb- 
stahl bis  zum  schweren  Diebstahl,  Raub,  Einbruch,  Sittlich keits ver- 
brechen, zur  Brandstiftung  und  gefährlichen  Körperverletzung.  1843 
männliche,  1182  weibliche  Zöglinge  waren  der  Landstreicherei, 
Bettelei,  Trunksucht,  Unzucht  ergeben.  Unter  den  letzteren  waren 
9,2%  weibliche  Schulpflichtige,  64%  weibliche  Schulentlassene,  7^,0 


134  III.  Leer8 

hatten  bereits  geboren  oder  waren  schwanger,  6,5<)/o  aller  Zöglinge 
waren  syphilitisch  infiziert  Fast  die  Hälfte  der  Zöglinge  war  also 
schon  mit  eingewurzelten  schlechten  Neigungen  behaftet,  fast  ein 
Drittel  schon  dem  Verbrechen  zum  Opfer  gefallen  und  bereits  unter 
den  Händen  des  Strafrichters  gewesen.  Eine  überaus  traurige  und 
eindringliche  Sprache  reden  diese  Zahlen,  wenn  sie  auch  im  Hinblick 
auf  die  Heime  kaum  mehr  Erstaunen  erregen  können. 

Die  energische  Bekämpfung  dieser  Schäden,  besonders  die 
rechtzeitige  Steuerung  der  Verwahrlosung  und  Eindämmung  der 
jugendlichen  Verbrechen  durch  einen  prophylaktischen  Eingriff  ist  eine 
so  brennende  Erage  unserer  Zeit,  daß  die  Beteiligung  aller  Kreise  an 
der  Lösung  dieser  sozialen  Aufgabe  berechtigt  und  erwünscht  erscheint. 

Erst  die  Neuzeit  und  ihre  naturwissenschaftlichen  Anschauungen 
haben  dazu  geführt,  das  Verbrechen  und  Laster  vielfach  auf  eine 
soziale  Ursache  zurückzuführen.  Man  wird  sich  mehr  und  mehr  be- 
wußt, daß  es  eine  soziale  Krankheit  ist,  eine  „Krankheit  des  Gesell- 
schaf tskörpers^  sagt  Kräpelin  1.  c,  zu  deren  Besserung  und 
Heilung  nicht  Heilmittel  am  Platze  sind,  die  wie  die  mehr  oder 
weniger  langen  Freiheitsstrafen,  das  Übel  symptomatisch  bekämpfen, 
sondern  solche,  die  es  an  der  Wurzel  fassen.  Diese  zielbewußte  Be- 
kämpfung des  Verbrechens  bevorzugt  Maßregeln,  welche  das  Wohnungs- 
elend beseitigen,  das  Schlafgängerwesen,  Trunksucht,  Prostitution  be- 
kämpfen, der  Verarmung  entgegenwirken  u.  a.  m.  Schon  werden 
die  Stimmen  Berufener  laut,  daß  die  Gesellschaft  nicht  das  Recht 
habe,  einen  Jugendlichen  zu  strafen,  solange  sie  nicht  alles  getan 
hat,  seine  Lebensbedingungen  zu  verbessern,  ihn  zu  belehren,  zu  er- 
ziehen (A.  V.  B oh  den  auf  dem  Kongreß  für  Kinderforschung, 
Berlin  1906),  seinen  Willen  zur  Selbstzucht  und  zu  fruchtbringender 
selbständiger  Arbeit  zu  schulen.  In  je  früherem  Alter  damit  begonnen 
wird,  desto  bessere  Erfolge  sind  zu  erwarten,  desto  eher  sind  grobe 
Einwirkungen  zu  entbehren.  Es  ist  sowohl  im  Interesse  des  Kindes 
wie  der  Gesellschaft,  nicht  zu  warten,  bis  es  völlig  verdorben 
und  dem  Gericht  verfallen  ist,  sondern  eine  vorbeugend  wirkende 
Erziehung  zeitig  und  planmäßig  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen,  wenn 
die  Einpflanzung  der  zum  sozialen  Leben  notwendigen  Vorstellungen 
im  Eltemhause  nicht  vermittelt  wird,  sich  die  Spuren  der  Verwahr- 
losung als  Vorstufe  zum  Verbrechen  zeigen.  Durch  diese  Maßregel 
wird  auch  dem  Staate  der  größte  Dienst  erwiesen,  indem  er  vor  den 
Gefahren  behütet  wird,  die  ihm  aus  dem  Aufwachsen  einer  verwahr- 
losten verkommenen  Jugend  drohen,  aus  der  sich  das  notorische 
Verbrechertum   immer  wieder  ergänzt.    Besonders  bedürfen  die  sog. 


über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in  Preußen.    135 

Flegeljahre,  die  Jahre  zwischen  14  und  16  eines  wachsamen  Auges 
und  nicht  selten  der  erzieherisch  bevormundenden  Einwirkung.  Die 
geschlechtliche  Reifung,  die  Schulentlassung,  der  Hinaustritt  ins 
Leben,  die  damit  verbundenen  größeren  Anforderungen  in  geistiger 
und  körperlicher  Beziehung,  die  Gefahren,  die  die  Lockerung  der 
Zucht  und  Aufsicht  mit  sich  bringen,  lassen  es  für  viele,  besonders 
die  weniger  wertigen,  in  dieser  Zeit  nicht  an  Gelegenheit  zu  straucheln 
fehlen.  Daher  sollte  aber  auch  die  Straftat  eines  Jugendlichen  grund- 
sätzlich anders  beurteilt  werden,  als  die  eines  Erwachsenen.  In  jedem 
solchen  Falle  sollte  geprüft  werden,  inwieweit  sie  das  Ergebnis  von 
Charakteranlage,  Erziehung  und  Umgebung  ist  und  danach  ent- 
schieden werden,  ob  nicht  im  Interesse  der  Allgemeinheit  auf  eine 
Bestrafung  verzichtet  werden  kann,  im  Interesse  des  Jugendlichen 
sie  nicht  besser  gänzlich  unterbleibt  und  durch  andere  Maßnahmen 
ersetzt  wird,  die  darauf  hinzielen,  ihn  durch  Belehrung  und  Erziehung 
möglichst  noch  zu  einem  brauchbaren  Mitglied  der  menschlichen  Ge- 
sellschaft zu  machen. 

Diesen  modernen  Rechtsanschauungen  ist  bereits  in  den  am 
1.  Dezember  1905  in  den  Niederlanden  in  Kraft  getretenen  sogen. 
Kindergesetzen  gesetzgeberischer  Ausdruck  verliehen.  Sie  decken 
sich  im  wesentlichen  mit  den  von  Binswanger  auf  der  Versamm- 
lung der  staatswissenschaftlichen  Gesellschaft  in  Jena  1905  aufge- 
stellten wünschenswerten  Grundsätzen  für  die  Behandlung  krimina- 
listischer Minderjähriger,  daß  zur  strafrechtlichen  Verantwortlichkeit 
die  volle  sittliche  und  geistige  Beife  bei  Angeschuldigten  zwischen 
15  und  18  Jahren  verlangt  werden  müsse;  jeder  Bestrafung  eine  er- 
ziehungs-  und  vormundschaftsamtliche  Behandlung  des  Falles  voraus- 
gehen solle;  alle  kurzen  Freiheitsstrafen,  Haft  und  Gefängnis,  zweck- 
los seien,  der  Strafvollzug  bei  den  Jugendlichen  vielmehr  in  be- 
sonderen Anstalten  zu  geschehen  habe,  in  denen  der  Zweck  der  Er- 
ziehung und  Besserung  in  erster  Linie  stehe.  — 

Das  Gesetz  vom  2.  Juli  1900,  welches  bei  uns  in  Preußen  nicht 
nur  an  die  Stelle  der  gerichtlichen  Strafe  bei  Minderjährigen  die 
staatliche  Fürsorge-Erziehung  setzt,  sondern  auch  die  Möglichkeit 
gibt,  prophylaktisch  der  beginnenden  Verwahrlosung  zu  steuern,  be- 
vor der  Bechtsbruch  eingetreten  ist,  scheint  noch  keineswegs  tief  ge- 
nug in  alle  Volksschichten  eingedrungen  zu  sein.  Anders  ist  es 
kaum  zu  erklären,  daß  die  überwiesenen  Fürsorgezöglinge,  wie  wir 
oben  gesehen,  vielfach  erst  dann  zur  Überweisung  gelangen,  wenn 
sie  ein  Erziehungsmaterial  darstellen,  welches  einen  Erfolg  von  vorn 
herein   nicht    wahrscheinlich    macht,   jedenfalls  der   Erziehung    die 


136  III.  Leers 

^^rößten  Schwierigkeiten  erwachsen  läßt.  Daß  andrerseits  Fälle 
monate-  und  jahrelanger  Kindermißhandlung  und  Verwahrlosung 
erst  zur  öffentlichen  Kenntnis  kommen,  wenn  es  zu  spät  ist,  wenn 
das  kleine  Opfer  erlegen  ist.  Die  Tageszeitungen  berichten  fast  täg- 
lich von  solchen  Fällen.  Freilich  ist  es  nicht  nur  Unkenntnis  der 
Möglichkeiten  und  Wege  zur  Abhilfe,  ebenso  oft  geht  man  aus  Indo- 
lenz oder  in  dem  falschen  Glauben  befangen,  sich  nicht  in  anderer 
Erziehungsweise  mischen  zu  dürfen,  in  der  Furcht  sich  Feinde  zu 
machen,  mit  blinden  Augen  und  tauben  Ohren  an  dem  Kinderelend 
vorbei.  Geht  man  die  über  Weisungsbeschlüsse  älterer  Minderjähriger 
durch,  sagt  der  FOrsorgebericht  1904,  so  erkennt  man,  daß  die  Ver- 
wahrlosung bei  vielen  nicht  erst  vor  kurzem  zutage  getreten  ist,  daß 
der  Beschluß  ebensogut  und  mit  demselben  Recht  schon  Jahre  vor- 
her hätte  erlassen  werden  können  und  es  dürften  Behörden  und  Private  im 
Interesse  der  Rettung  vieler  Minderjähriger  und  der  leichteren  Er- 
ziehungsarbeit ein  schärferes  Augenmerk  auf  die  Jugend  richten  und 
mit  Anträgen  auf  Einleitung  des  Verfahrens  in  den  geeigneten  Fällen 
nicht  zögern. 

Über  die  Unterbringung  des  Zöglings  in  Familien-  oder  Anstalts- 
pflege entscheidet  der  Kommunalverband.  Ist  schon  die  Frage,  ob 
Anstalt  oder  Familie,  für  den  Erfolg  der  Fürsorgeerziehung  von  der 
größten  Wichtigkeit  und  daher  sorgfältig  zu  erwägen,  so  ist  sie  oben- 
drein zuweilen  recht  schwierig  nach  Wunsch  zu  erledigen,  denn  die 
Zahl  der  Familien,  welche  zur  Aufnahme  von  Zöglingen  bereit  sind 
und  die  wünschenswerten  Garantien  für  eine  gedeihliche  Erziehung 
der  Kinder  bieten,  ist  natürlich  in  den  einzelnen  Landesteilen  sehr 
verschieden.  Schließlich  entscheidet  nach  der  jetzt  üblichen  Hand- 
habung die  Eigenart  des  Zöglings  und  die  Größe  seiner  Verwahr- 
losung. „Solange  die  Zwecke  der  Fürsorgeerziehung  durch  Unter- 
bringung in  einer  Familie  nur  irgend  erreicht  werden  können,  ist  dieser 
der  Vorzug  zu  geben",  heißt  es  in  den  Ausführungsbestimmungen 
zum  Gesetz.  In  der  Tat  ist  eine  gute  Kostpflege  der  Anstaltserziehung 
vorzuziehen.  Vor  allen  Dingen  ist  es  die  mütterliche  Fürsorge, 
welche  die  Kinder  bald  vergessen  läßt^  daß  sie  nicht  mehr  bei  der 
leiblichen  Mutter  sein  können.  Und  der  Begriff  der  Familie  bleibt 
dem  Kinde  lebendig.  Eine  wesentliche  Forderung  bei  der  Familien- 
pflege müßte  allerdings  sein,  daß  jedes  Kind  sein  eigenes  Bett  hat. 
Gerade  die  ländlichen  Pflegeeltern  nehmen  es  mit  dem  Alleinbetten 
nicht  so  genau.  Oft  gilt  das  Znsammenschlafen  gerade  hier  als  Be- 
weis der  näheren  Zugehörigkeit  zur  Famihe,  namentlich  bei  kleineren 
Kindern. 


Über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in  Preußen.    137 

Leider  ist  man  von  der  direkten  Überweisung  in  Familien  not- 
gedrungen wieder  mehr  und  mehr  abgekommen.  Es  sind  zu  oft 
Rückyersetzungen  in  die  Anstaltspflege  notwendig,  die  dann  natür- 
lich für  Pfleger  und  Zögling  gleich  deprimierend  sind.  Bei  dem  oben 
beschriebenen  Fürsorge-Erziehungsmaterial  ist  schon  wegen  der  An- 
steckungsgefaihr,  welche  die  verkommenen  Zöglinge  für  die  Pfleger- 
familie bilden  würden,  die  direkte  Familien-Fürsorgeerziehung  in  den 
meisten  Fällen  unmöglich.  Vorläufig  wird  eine  Korabination  von 
Anstalts-  und  Familien-Erziehung  die  Norm  bleiben  müssen,  in  der 
Weise,  daß  zunächst  der  größte  Teil  der  Zöglinge  der  planmäßigen 
Erziehung  und  strengen  Zucht  und  Aufsicht  einer  Anstalt  teilhaftig 
wird  und  erst,  wenn  die  größten  Schäden  abgestreift  sind,  die 
Familienerziehung  als  Übergangsstadium  in  die  Freiheit  eintritt. 
Hoffentlich  kommen  wir  noch  einmal  dahin,  daß  die  Zöglinge  so 
frühzeitig  der  Fürsorgeerziehung  zugeführt  werden,  daß  sie,  weniger 
verdorben  und  leichter  ziehbar,  öfter  dem  idealeren  Ersatz  der  elter- 
lichen EiTziehung,  der  Familienfürsorge  anvertraut  werden  können. 

Am  31./3.  1905  befanden  sich  von  sämtlichen  bis  dahin  in 
Preußen  untergebrachten  Fürsorgezöglinge  13733  noch  in  Anstalts- 
pflege, 10007  in  Familienpflege.  Von  den  5434  im  Jahrgang  1904 
untergebrachten  fanden  nur  27  in  eigener,  899  in  fremden  Familien 
Unterkommen,  während  4508  aus  den  oben  erwähnten  Gründen  zu 
nächst  Anstalten  übergeben  werden  mußten.  Die  letztere  Zahl  ist 
also  aus  obigem  Gesichtspunkt  verständlich.  Wenn  aber  von  den 
in  früheren  Jahrgängen  überwiesenen  Zöglingen  sich  noch  der  größere 
Teil  in  Anstalten  befindet,  so  ist  dies  eine  weniger  erfreuliche  Tat- 
sache. Die  Zahl  der  Zöglinge,  welche  vom  Beginne  der  Fürsorge- 
Erziehung  bis  zum  31./3.  1905  ausschließlich  in  Anstalten  unter- 
gebracht waren,  betrug  21,1%  der  männlichen,  37,8  "/o  der  weiblichen 
Zöglinge,  während  nur  3  ^/o  männliche  und  sogar  nur  1  ^/q  weibliche 
in  demselben   Zeitraum   ausschließlich    in  Familienpflege  waren. 

Abgesehen  davon,  daß  diese  Zahlen  ganz  allgemein  auf  ein  zur 
Familienpflege  durchweg  ungeeignetes,  schwieriges  Erziehungsmaterial 
schließen  lassen  —  besonders  auffallend  ist  die  äußerst  geringe  Zahl 
von  weiblichen  Zöglingen,  die  überhaupt  zu  irgend  einer  Zeit  der 
Familienpflege  anvertraut  werden  konnten  —  dürften  sie  zum  Teil 
auch  wohl  durch  Mangel  an  geeigneten  Pflegerfamilien  bedingt  sein. 
Und  das  ist  um  so  auffallender,  als  an  die  Familien,  die  ausgewählt 
werden,  vorläufig  ein  nicht  allzustrenger  Maßstab  angelegt  wird. 
Die  Forderungen  müßten  im  Interesse  des  Erziehungszweckes  eigent- 
lich höhere  sein.     Der  Min.  Erl.  vom  25.  Juni  1SS8  (Min.  d.  J.  und 


138  III.  Leers 

d.  J.),  der  hierbei  maßgabend  ist,  fordert  völlig  unbescholtenen  Buf 
gleiche  Konfession,  familiäre  Pflege,  sicheres  Auskommen,  gesunde 
Wohnung,  geordneten  Haushalt  und  Entfernung  von  dem  bisherigen 
Wohnort  des  Pfleglings.  Ais  Maximum  gilt  die  Aufnahme  von  zwei 
Kindern.  Von  der  Fähigkeit  zum  Erzieheramte,  die  doch  die  wich- 
tigste und  notwendigste  Forderung  wäre,  da  sie  gerade  das  Fehlende 
ersetzen  soll  ist  nichts  erwähnt  Alle  die  genannten  Bedingungen 
können  aber  vorhanden  sein  und  doch  die  Qualität  zum  Erzieher 
fehlen.  Es  sollte  nicht  genügen,  eine  in  einfachen  Verhältnissen 
lebende  Normalfamilie  ausfindig  zu  machen,  die  aus  der  Aufnahme 
der  Kinder  nicht  gerade  ein  Geschäft  machen  will.  Das  so  häufige 
Versagen  der  Familienpflege  gegenüber  der  schwierigen  Aufgabe,  an 
die  sie  sich  gestellt  sieht,  hängt  mit  diesem  Grundsatz  bei  der  Aus- 
wahl zusammen.  Das  Amt  eines  Familienpflegers  ist  kein  leichtes, 
zuweilen  ein  recht  dornenvolles,  immer  ein  hoch  verantwortliches. 
Es  eignet  sich  durchaus  nicht  jeder  nach  Charakter  und  Temperament 
dazu  und  vor  allem,  wer  erziehen  will,  muß  selbst  erzogen  sein. 
Auch  muß  ein  gewisses  Verständnis  für  die  pädagogischen  und  ärzt- 
lichen Anleitungen  zur  Behandlung  der  Zöglinge  vorhanden  sein  und 
die  Fähigkeit,  diesen  Anleitungen  gemäß  zu  verfahren.  Das  Ideal, 
daß  jede  Familie  gerade  für  das  betreffende  Kind  passend  ausgewählt 
werden  könnte,  wird  nicht  so  schnell  zu  verwirklichen  sein.  Aber 
erstrebenswert  wäre  es;  leider  sind  wir  heute  von  diesem  Ideal  noch 
weit  entfernt,  wie  die  jährlich  stichprobenweise  stattfindenden 
Revisionen  der  Familien-Fürsorgezöglinge  zeigen.  Hierbei  ergab  sich, 
daß  ein  großer  Teil  der  Dienst-  und  Lehrherren  der  Zöglinge  nicht 
oder  nicht  in  dem  erforderlichen  Maße  das  Bewußtsein  besaßen,  daß 
es  ihnen  auch  obliege,  den  Zögling  weiter  zu  erziehen,  sodaß  ver- 
schiedentlich verschärfte  Aufsichtsmaßregeln  angeordnet  oder  die 
Zöglinge  sogleich  aus  ihren  Stellen  genommen  werden  mußten. 
Auch  was  die  nicht  seltenen  Entweichungen  aus  der  Familienpflege 
betrifft,  ist  der  Bericht  von  1904  der  Ansicht,  daß  sie  beweisen,  daß 
es  doch  manchmal  an  der  freundlichen  und  geduldigen  Behandlung 
der  Schutzbefohlenen  fehlt  und  nicht  selten  auch  an  der  Beauf- 
sichtigung und  richtigen  Leitung.  Das  geht  aus  den  nicht  selten 
vorkommenden  Entwendungen  und  Unterschlagungen,  die  mit  den 
Entweichungen  verbunden  sind,  hervor. 

Schon  aus  diesem  Gesichtspunkte,  die  vorhandenen  Mängel  in 
der  Unterbringung  der  Zöglinge,  aufzudecken,  mehr  noch,  um  durch 
öftere  persönliche  Rücksprache  mit  dem  Pfleger  und  dem  Fürsorger 
deren  Verständnis  und  Interesse  für  ihre  Aufgabe  zu  wecken,  wäre 


über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in  Preußen.    139 

ein  Ausbau  dieser  KontroUbesuche  wünschenswert.  Mindestens  ein 
zweimal  jährlich  —  im  Sommer  und  Winter  —  stattfindender  Be- 
such aller  in  Familienpflege  befindlichen  Zöglinge  wäre  zu  fordern. 
Dann  noch  eins.  Die  vom  Oberpräsidenten  ernannten  Revisions- 
kommissare  sind  gewöhnlich  die  Anstaltsvorstände  des  zugehörigen 
Bezirkes.  Da  die  Anstalten  bisher  nur  unter  pädagogischer  Leitung 
stehen,  ist  die  Kontrolle  eine  rein  pädagogische.  Diese  genügt 
zweifellos  nicht,  die  gesundheitlichen  und  hygienischen  Verhältnisse 
der  Familienzöglinge  zu  überwachen.  Er  bedarf  dazu  vielmehr  neben 
der  pädagogischen  einer  ärztlichen.  Ich  komme  auf  diese  Frage  der 
ärztlichen  Versorgung  der  Fürsorgezöglinge  noch  zurück. 

Die  besonders  großen  Schwierigkeiten,  welche  für  die  Familien- 
Fürsorgeerziehung  seitens  der  Zöglinge  wie  der  Pfleger  erwachsen, 
spricht  sich  auch  in  dem  nicht  geringen  Wechsel  in  den  Pflegestätten 
und  in  den  Rückversetzungen  aus  Familien  in  Anstalten  aus.  Bis 
1904  waren  von  dem  Jahrgang  1903:  6,3  (5,2)  o/oi)  in  dritter,  1,6 
(2,3)  o/o  in  vierter,  0,2  (0,7)  o/o  in  fünfter  Stelle;  von  dem  Jahrgang 
1902:  13,6  (12,1)  o/o  in  dritter,  4,5  (5,3)  o/o  in  vierter,  1,7  (1,8)  o/o  in 
fünfter  Stelle;  vom  Jahrgang  1901:  16,4  (17,8)  o/o  in  dritter,  5,9 
(8,0)  o/o  in  vierter,  2,1  (3,1)  o/o  in  fünfter  Stelle.  Das  heißt,  je  länger 
die  Fürsorgeerziehung  nötig  ist,  um  so  häufiger  ist  ein  Wechsel  er- 
forderlich. Im  Jahrgang  1904  wurden  rückversetzt  vom  Jahrgang 
1903:  2,0  (2,2)  o/o,  vom  Jahrgang  1902:  4,8  (4,8)  o/o,  vom  Jahrgang 
1901:  5,1  (8,2)  o/o,  d.  h.  die  Rückversetzungen  steigen  ebenfalls  mit 
der  Dauer  der  Fürsorgeerziehung.  Sowohl  bei  dem  Wechsel  wie 
auch  bei  den  Rückversetzungen  überwiegen  die  weiblichen  Zöglinge 
und  zwar  besonders  in  den  älteren  Jahrgängen,  eine  Tatsache,  die 
deutlich  auf  eine  schwerere  Erziehbarkeit  dieser  Elemente  hinweist 
und  um  so  auffallender  ist,  als  sie  mit  den  Erfahrungen  der  Normal- 
erziehung nicht  übereinstimmt.  Nach  den  bisherigen  Erfahrungen  sind 
es  die  in  sittlicher  Beziehung  frühzeitig  verwahrlosten  Zöglinge,  die 
die  schwersten  Erziehungsobjekte  bilden.  Auch  wenn  sie  sich  in  der 
Anstalt  gut  geführt  haben,  sind  sie  dennoch  für  einen  Dienst  unge- 
eignet; bei  ihrer  Willensschwäche  und  zumal,  wenn  es  sich,  wie  es 
meist  der  Fall  ist,  um  Schwachsinnige  und  Minderwertige  handelt, 
fallen  sie  fast  stets  bald  von  neuem  einer  sich  bietenden  Versuchung 
zum  Opfer. 

Die  Schwierigkeiten  bei  der  Ermittelung  und  Auswahl  geeigneter 
Pfleger-  wie  auch  passender  Dienst-  und  Lehrstellen  sind,  auch  wenn 

1)  Die  eingeklammerte  Zahl  gibt  den  Prozentsatz  der  weiblichen  Zög- 
linge an. 


140  III.  Leers 

kein  gar  zu  hoher  Maßstab  angelegt  wird,  so  große,  daß  nicht  selten 
die  Überweisung  in  die  Familie  daran  scheitert.  Die  Stadt  Berlin 
hat  deshalb,  nach  dem  Bericht,  eine  Anzahl  älterer  Fürsorgezöglinge, 
welche  Neigung  für  den  Seemannsberuf  zeigen  und  nach  ärztlichem 
Urteile  dazu  geeignet  sind,  durch  Vermittelung  des  Deutschen  See- 
fischereivereins als  Schiffsjungen  auf  Fangschiffen  der  Heringsfischerei- 
gesellschaft „Neptun"^  zu  Emden  und  der  Vegesacker  Heringsfischerei- 
gesellschaft  zu  Gooke — Vegesack  untergebracht  und  während  der 
Fangzeit  beschäftigt.  Außer  voller  Beköstigung  erhalten  sie  hier  Lohn 
je  nach  Art  der  Beschäftigung.  Der  Direktor  der  Gesellschaft  hat 
als  Fürsorger  die  elterliche  Gewalt  über  die  Zöglinge  und  erhält  über 
jeden  eine  kurze  Charakteristik.  In  einzelnen  Provinzen  sind  auch 
Zöglinge  mit  gutem  Erfolge  als  Gesinde  bei  Königl.  Förstern  unter- 
gebracht worden,  die  wegen  ihrer  zumeist  abgelegenen  Lage  stets  mit 
Dienstbotenmangel  zu  kämpfen  haben.  Der  Mangel  an  Versuchungen 
und  die  Erschwerung  des  Verkehrs  der  Zöglinge  mit  ihren  Ange- 
hörigen, läßt  die  Wahl  solcher  Stellen  als  besonders  geeignet  erscheinen. 
Denn  ein  nicht  zu  unterschätzender  Nachteil  der  Familien-  gegenüber 
der  Anstaltsfürsorge  liegt  darin,  daß  die  Zöglinge  in  ersterer  bedeutend 
mehr  dem  schädlichen  Einflüsse  ihrer  Angehörigen  ausgesetzt  sind, 
deren  Verhetzungen  und  Fluchtunterstützungeu  die  Erziehungsarbeit 
beständig  stören  und  illusorisch  machen. 

Die  zweite  vom  Gesetz  offen  gelassene  Alternative  der  Fürsorge- 
erziehung ist  die  Anstaltserziehung.  Im  Hinblick  auf  das  größere 
Kontingent  vorbestrafter  und  lasterhafter  Fürsorgezöglinge  ist  es  ver- 
ständlich, daß  das  gemischte  System,  erst  Anstalt,  dann  Familie  und 
diese  auch  zunächst  nur  versuchsweise,  heute  noch  durchaus  unum- 
gänglich ist.  Das  Jahr  1904  zeigt  in  Preußen  einen  Zuwachs  von 
25  Anstalten  zu  den  358  bestehenden,  sowie  eine  beträchtliche  Ver- 
mehrung der  Plätze  an  den  vorhandenen  Anstalten,  ein  Bew^eis,  wie 
tätig  man  im  Ausbau  der  Fürsorgeerziehung  ist.  Aber  trotz  der  umfang- 
reichen Neu-  und  Erweiterungsbauten  ist  dem  vorhandenen  Bedürfnis 
nach  Anstaltsplätzen  immer  noch  nicht  genügt.  Weitere  Einstellung 
von  Mitteln  seitens  der  Provinziallandtage  wäre  dringendes  Bedürfnis, 
denn  diese  Aufwendungen  werfen  reichlich  moralischen  und  wirt- 
schaftlichen Gewinn  ab  und  sparen  weit  größere  an  anderen  Stellen. 
Vor  allem  wäre  es  wünschenswert,  wenn  der  h>taat  baldmöglichst  in 
allen  Provinzen  vorbildliche  Muster-  und  Zentral-Anstalten  gründete, 
an  die  sich  die  vorhandenen  privaten  anlehnen  könnten.  Nicht  ein- 
verstanden  kann   ich  mich  mit   dem  Vorschlage    Klumkers^)    er- 

1)  Jur.-Psych.  ürenzf ragen.    3.  Bd.  1906,  Heft  b. 


über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in  Preußen.    141 

klären,  daß  die  privaten  Fürsorge-Einrichtungen  zunächst  Erfahrungen 
sammeln  sollen,  an  die  sich  ein  durchgreifender  Ausbau  der  öffent- 
lichen Fürsorgeerziehung  anschließen  solle.  Die  ersteren  können, 
wenigstens  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt  aus,  wie  die  gleichen 
Anstalten  in  der  Irrenfürsorge  in  vielen  Fällen,  nur  als  Notbehelf 
gelten  und  die  Erfahrungen  sollten  davor  warnen,  in  der  Kinder- 
fürsorge denselben  Weg  zu  gehen,  den  wir  in  der  Irrenfürsorge  ge- 
gangen sind.  Besonders  unter  den  schon  vor  dem  Gesetz  vom  2.  Juli 
1900  vorhanden  gewesenen  und  zur  Unterbringung  von  Fürsorge- 
zoglingen  benutzten  privaten  Anstalten  dürften  manche  sein,  welche 
durch  ihre  Organisation,  ihre  Lage  und  die  sanitäre  Beschaffenheit 
ihrer  Räume  zur  Aufnahme  von  Zöglingen  wenig  geeignet  sind,  und 
schon  den  an  sie  zu  stellenden  hohen  hygienischen  Anforderungen 
nicht  genügen. 

An  die  Pfleger  in  den  Erziehungsanstalten  sind  dieselben  hohen 
Anforderungen  zu  stellen,  quantitativ  wie  qualitativ,  wie  an  die 
Pfleger  in  der  Irrenfürsorge.  Gut  geschultes  und  absolut  zuverlässiges 
Erziehungspersonal  zu  erlangen  und  auf  die  Dauer  zu  erhalten,  ist 
gewiß  oft  recht  schwierig,  besonders  in  entlegenen  Anstalten,  aber 
auch  in  größeren  Industriebezirken.  Die  Höhe  der  Fabrik-  und 
Arbeitslöhne  und  das  ungebundene  Leben  in  diesen  Lohnverhältnissen 
tun  hier  den  strengeren  Ansprüchen,  die  an  das  Erziehungspflege- 
]>er8onal  gestellt  werden  müssen,  leicht  Abbruch  und  stehen  der  Heran- 
ziehung eines  Stammes  älterer,  erfahrener  Pfleger  hindernd  im  Wege. 
Die  Gewinnung  und  Ausbildung  eines  seßhaften,  etatisierten  Pflege- 
personals ist  daher  eine  besonders  wichtige  Aufgabe  der  Provinzen 
und  die  hierzu   erforderlichen  Mittel   dürfen  nicht  gescheut  werden. 

Ebenso  große  Schwierigkeiten  bereitet  den  Anstalten  oft  die  Ge- 
winnung geeigneter  Lehrkräfte.  Da  den  Zöglingen  ein  vollständiger  Er- 
satz für  den  Volksschulunterricht  geboten  werden  muß,  handelt  es  sich  um 
Anstellung  seminaristisch  gebildeter  Lehrkrüfte  und  noch  dazu  solcher, 
die  bereit  sind,  und  sich  gewachsen  fühlen,  den  schweren  Dienst  als 
Lehrer  an  einer  Anstaltsschule  zu  übernehmen.  Auch  das  erfordert 
eine  sorgfältige  Auswahl  und  finanzielle  Opfer  zur  materiellen  Sicher- 
stellung und  Gewährung  besonderer  Vorteile,  wenn  gute  Kräfte  dauernd 
erhalten  bleiben  sollen.  — 

Wie  steht  es  nun  mit  den  Wirkungen  der  Fürsorgeerziehung? 
Man  hört  jetzt  oft,  gerade  von  richterlicher  und  polizeilicher  Seite, 
die  zu  einem  urteil  am  berufensten  ist,  die  Erfolge  der  Fürsorge- 
erziehung stehen  in  keinem  Verhältnis  zu  dem  jetzt  annähernd  6  Milli- 
onen jährlich,  betragenden  Kostenaufwand.    Die  Strafakten  der  früheren 


142  UI.  Leers 

Fürsorgezöglinge  liefern  den  aktenmäßigen  Beweis  dafür,  daß  die 
Fürsorgezöglinge  gerade  die  schlimmsten  unter  den  jugendlichen  Delin- 
quenten sind. 

Da  an  dem  richtigen  Prinzip  der  u.  ü.  staatlichen  Kinderfür- 
sorge nicht  zu  zweifeln  ist,  das  Gesetz  unstreitig  aus  dem  dringendsten 
Bedürfnis  heraus  entstanden  ist,  sind  es  zweifellos  andere  Momente, 
die  zur  Zeit  noch  jenen  Einwänden,  denen  eine  gewisse  Berechtigung 
nicht  abzustreiten  ist,  Baum  verschaffen.  Ich  will  versuchen,  einige 
Momente,  die  nach  meinem  und  dem  Urteil  anderer, '  die  sich  mit 
der  Fürsorgeerziehungs- Frage  eingehender  beschäftigt  haben,  dazu 
beitragen,  die  Erfolge  dieses  überaus  segensreichen  Gesetzes  zu  be- 
schränken, zu  beleuchten.  Ein  abschließendes  Urteil  wird  ja  noch 
gar  nicht  gefällt  werden  können,  es  liegen  erst  die  Erfahrungen 
weniger  Jahre  vor  uns  und  in  mancher  Beziehung  sind  wir  noch 
nicht  den  Einderschuhen  entwachsen. 

Wie  bei  der  Erziehung  überhaupt,  so  ist  ganz  besonders  bei  der 
Fürsorgeerziehung  Individualisierung  notwendig  und  der  Mangel,  die 
Unmöglichkeit  dieser  stellt  hier  wie  dort  jeden  Erfolg  in  Frage.  Die 
Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  muß  sich  daher,  wenn  sie  dieser 
Individualisierung  Rechnung  tragen  soll,  von  vornherein  die  Unter- 
lagen dazu  verschaffen.  Dies  kann  nur  dadurch  geschehen,  daß  zu- 
nächst eingehender,  als  es  bisher  geschieht,  die  Einflüsse,  unter  denen 
das  Kind  herangewachsen  ist,  das  Milieu,  in  dem  es  groß  geworden 
ist,  ermittelt  und  berücksichtigt  werden.  Mit  Recht  weist  Baiser i) 
auf  den  grundsätzlichen  Unterschied  hin,  ob  es  sich  um  die  Fürsorge- 
erziehung eines  Kindes  handelt,  das  von  den  Eltern  mißhandelt,  mit 
oder  ohne  Schuld  verwahrlost  wird,  oder  ob  das  Kind  selbst  durch 
schlechte  Charaktererscheinungen  zu  seiner  Verwahrlosung  beiträgt 
und  durch  seine  Untaten  ein  Einschreiten  veranlaßt.  Es  sind  genau 
zu  erforschen,  ich  folge  Baiser,  die  gesamte  Lebensführung,  die 
Erwerbsverhältnisse,  Kriminalität,  insbesondere  Trunksucht,  Arbeits- 
scheu, Unsittlichkeit  der  Eltern  und  Geschwister,  die  Einflüsse  der 
Umgebung,  der  Nachbarschaft.  Zu  diesen  Ermittelungen  genügen 
nicht  immer  die  Berichte  des  Lehrers,  des  Geistlichen,  des  Arztes  auch 
wohl  nicht  immer  die  polizeilichen  Erkundigungen,  wie  wir  später  in 
einem  Falle  sehen  werden.  Sie  müssen  in  das  Haus  und  in  die 
Familie  verlegt  werden  und  zwar  durch  Organe,  wie  sie  dem  städtischen 
Waisenrat,  dem  freiwilligen  Erziehungsbeirat,  der  öffentlichen  Armen- 
pflege zur  Seite  stehen  und  hier  durch  ihren  persönlichen  Verkehr 


1)  Jur.-psychiatr.  Grenzf ragen.    3.  Bd.  1906,  Heft  8. 


über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  In  Preußen.    143 

mit  dem  Schützling  segensreich  wirken.  Die  Gesellschaft,  vor  allem 
die  Frauen,  sollten  sich  mehr  der  Sache  des  Einderschatzes  annehmen, 
sich  mehr  als  bisher  daran  beteiligen,  die  für  die  Fürsorgeerziehung 
geeigneten  Kinder  ausfindig  zu  machen  und  zu  retten.  Frauen  haben 
für  Kinderelend  den  schärfsten  Blick  und  eignen  sich  für  diese  chari- 
tatiye  Tätigkeit  am  besten.  Dann  erst  steht  zu  hoffen,  daß  Rhein - 
babens  Wort  verwirklicht  wird  und  die  Wohltaten  des  F.  E.  G. 
bis  zum  letzten  Hause  und  bis  zur  letzten  Hütte  getragen  werden, 
wo  immer  hilfsbedürftige,  verwahrloste  Kinder  sind. 

Femer  sind  genaue  anamnestische  Erhebungen  über  den  Minder- 
jährigen, die  Erforschung  seiner  ganzen  geistigen  und  körperlichen 
Persönlichkeit,  Auffassung,  Gedächtnis,  Urteil,  sittliche  Begriffe  und 
sittliches  Verhalten,  am  besten  an  der  Hand  eines  von  einem  psychia- 
trisch geschulten  Arzte  auszustellenden  Fragebogens,  unerläßlich. 
Schon  aus  dem  Grunde  hat  diese  Untersuchung  und  Begutachtung 
nur  dann  Wert,  wenn  sie  nach  psychiatrischen  Gesichtspunkten  erfolgt, 
weil  sich  unter  den  Fürsorgeanwärtern  eine  erhebliche  Zahl  psychisch 
minderwertiger,  krankhaft  veranlagter,  in  der  Entwickelung  zurück- 
gebliebener oder  abnorm  gerichteter  Kinder  befindet  Mönkemöller 
stellte  in  der  Anstalt  Lichtenberg  unter  200  nur  83  geistig  Normale 
fest.  Diese  der  Einweisung  in  die  Fürsorgeerziehung  voraufgehende 
Untersuchung  gibt  erst  eine  zuverlässige  Grundlage  für  die  Entscheidung, 
ob  Familien-  oder  Anstaltspflege  angebracht  ist.  Sie  gibt  auch  wert- 
volle Fingerzeige  für  eine  individuelle  Behandlung  der  Zöglinge  in 
der  Anstalt,  für  eine  zweckentsprechende  Auswahl  der  Pflegerfamilie. 
Der  Arzt  muß  also  öfter  als  bisher  zur  Mitwirkung  herangezogen 
werden.  Nach  dem  Gesetz  ist  jetzt  nur  dann  ein  Gutachten  des 
Kreisgesundheitsamtes  einzuholen^  wenn  es  sich  um  einen  Fall  körper- 
licher Vernachlässigung  oder  Mißhandlung  handelt.  Erst  in  den  Aus- 
fiihrungsbestimmungen  zum  F.  E.  G.  heißt  es,  daß  neben  Geistlichen 
und  Lehrern  die  Arzte  besonders  berufen  sind,  da,  wo  ihnen  auf 
Grund  des  Gesetzes  die  Anordnung  der  Fürsorgeerziehung  notwendig 
erscheint,  die  geeigneten  Anträge  (d.  h.  Anzeigen  an  das  Vormund- 
schaftsgericht) zu  stellen.  In  der  Tat  scheinen  sie  dazu  am  berufensten, 
sind  doch  die  Ärzte  nach  Virchows  Wort  die  natürlichen  Anwälte 
der  Armen  und  fällt  somit  die  soziale  Frage  zu  einem  erheblichen 
Teile  in  ihre  Jurisdiktion.  Aber  darüber  hinaus  wäre  zu  betonen  und 
de  lege  ferenda  ins  Auge  zu  fassen,  daß  der  Arzt  in  jedem  Falle  vor 
der  Beschlußfassung  der  Fürsorgeerziehung  gehört,  bezw.  zur  Unter- 
suchung des  zukünftigen  Zöglings  herangezogen  würde.  Zu  erwägen 
wäre  endlich,   ob   diese   Untersuchung   nicht  zweckmäßig,   wie   es 


144  III.  Leers 

Klumker  vorgeschlagen,  —  sich  zu  einer  über  eine  gewisse  Zeit 
ausgedehnten  Beobachtung  in  einer  diesem  Zwecke  dienenden  staat- 
lichen Anstalt  für  den  Zögling  besser  und  erfolgreicher  ausführen  ließe. 
Der  Übergang  des  Zöglings  in  Fürsorgeerziehung  würde  sich 
demnach  in  Zukunft  folgendermaßen  gestalten:  Der  Einweisungs- 
beschluß erfolgt  auf  Grund  der  Ermittelungen  und  des  ärztlichen 
Personalfragebogens  nach  dem  Muster  der  für  Irren-  bezw.  Idioten- 
anstalten vorgeschriebenen,  der  alle  für  die  ärztliche  Beurteilung  des 
Zöglings  wichtigen  Angaben  enthalten  und  vom  beamteten  Arzte  aus- 
gefertigt werden  müßte.  In  der  (staatlichen  oder  kommunalen)  Beob- 
achtungsanstalt erfolgt  eine  nochmalige  sorgfältige,  psychiatrischen 
Grundsätzen  Rechnung  tragende  ärztliche  Untersuchung  des  Zöglings 
und  dann  erst  seine  Einweisung  in  die  endgültige  Fürsorgeerziehung, 
sei  es  in  eine  Anstalt  oder  in  Familienpflege,  je  nach  dem  Ausfall 
der  Begutachtung.  Die  Fülle  wissenschaftlichen  Materials,  die  auf 
diese  Weise  an  den  Beobachtungszentralen  infolge  des  Durchgangs 
aller  oder  doch  der  meisten  Zöglinge  gesammelt  würde,  wäre  ein 
überaus  großer  Gewinn  für  die  praktische  Ausführung  der  Fürsorge- 
erziehung. Das  Ergebnis  der  Begutachtung  gelangt,  wenigstens  in 
nuce,  mit  den  Personalpapieren  des  Zöglings  zur  Kenntnis  des 
späteren  Fürsorgers  oder  Anstaltsleiters,  der  somit  über  die  Eigenart 
seines  Zöglings  von  maßgebender  Stelle  aus  orientiert  wird  und  dessen 
Behandlung  und  Pflege  auf  solche  Weise  erfolgreicher  und  weniger 
schwierig  zu  werden  verspricht.  Mindestens  ist  dies  der  Weg,  den 
der  kriminalistische  und  der  im  Zustand  hochgradiger  Verwahrlosung 
befindliche  Jugendliche,  der  auf  Ziffer  2  und  3  des  §  1  F.  E.  G. 
überwiesene,  zu  gehen  hätte. 

Wie  die  Einweisung  des  Fürsorgezöglings  ein  Zusammenwirken 
von  Vormundschaftsrichter  und  Arzt  darstellen  müßte,  so  sollte  der 
Arzt  auch  dem  Fürsorger  und  Erzieher  bei  der  weiteren  Behandlung 
und  Pflege  des  Fürsorgezöglings  zur  Seite  stehen.  Die  Zustände,  bei 
denen  eine  Mitwirkung  des  Arztes  sich  unerläßlich  zeigt,  sind  von 
Laquer^)  und  Puppe  2)  schon  z.  T.  gewürdigt  worden.  Nur  der 
Arzt  kann  entscheiden,  ob  die  gewählte  Form  der  Fürsorgeerziehung 
auf  die  Dauer  die  richtige  ist,  ob  nicht  eine  Änderung,  ein  Wechsel 
förderlicher,  ob  nicht  gar  überhaupt  Ausschaltung  aus  der  Fürsorge- 
erziehung erforderlich  ist.  Auch  in  den  Anstalten  dürfte  die  Er- 
ziehung mehr  nach  ärztlichen  Gesichtspunkten  zu  gestalten,  an  Stelle 
der  Disziplinarmittel   oder   gar   religiöser  Bekehrungsversuche   mehr 

1)  Vicrtcljahreschr.  für  gorichtl.  Medizin.    26.  Bd.,  1903,  Sappl. 

2)  Ebenda  31.  Bd.,  190b. 


über  den  Stand  and  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in  Preußen.    145 

Belehrung  und  ärztliche  Maßnahmen  zu  setzen  sein.  Kostentziehungen 
oder  Eostschmälerungen  wie  sie  z.  B.  noch  vielfach  in  den  Anstalten 
als  Strafmittel  verhängt  werden,  sind  vom  ärztlichen  Standpunkte 
durchaus  zu  verwerfen.  Krankhafte  Affekte,  psychopathische  Zu- 
stände sind  ärztlich,  nicht  rein  pädagogisch  zu  behandeln.  Es  genügt 
nicht,  daß  der  Arzt  die  Gesundheits-  und  Emährungsverhältnisse  der 
Zöglinge  überwacht,  die  Aufsicht  über  die  ordnungsmäßige  Hand- 
habung der  Gesundheitspflege  ausübt,  wie  es  in  den  Dienstanweisungen 
der  Anstalten  heißt,  es  sollte  ihm  auch  Einfluß  auf  den  Lehrplan,  vor 
allem  weitgehendst  auf  die  Disziplinarverhältnisse  eingeräumt  werden. 
Psychiatrische  Schulung  des  ärztlichen  Anstaltsberaters  ist  hiemach 
unerläßlich,  ebenso  verständlich  ist,  daß  diese  Aufgaben  sich  nicht 
während  eines  zweimal  jährlichen  Revisionsbesuches  des  beamteten 
Arztes  erledigen  lassen. 

Wenn  die  Sortierung  und  Verteilung  der  Zöglinge  mehr  wie 
bisher  systematisch  nach  ärztlich  -  psychiatrischen  Gesichtspunkten 
stattfindet,  wird  im  Anschlüsse  daran  eine  strengere  Sonderung  der 
einzelnen  Kategorien  in  den  Anstalten  Bedürfnis  werden.  D  an  ne- 
in an  n^)  unterscheidet  treffend  folgende  Zöglingsgruppen,  um  deren 
Unterbringung  es  sich  handeln  würden: 

1.  Die  geistig  Normalen,  a.  in  mißlichen  Verhältnissen  sich'be-   . 
findenden,  b.  bereits  verwilderten. 

2.  Die  geistig  Abnormen  und  zwar  a.  die  moralisch  defekten, 
b.  die  psychopathisch  veranlagten  (Imbecillen,  Epileptischen,  Hysterischen, 
konstitutionell  Verstimmten). 

Nur  die  Gruppe  la  eignet  sich  zur  gewöhnlichen  Familienpflege 
und  zur  sofortigen  Einweisung  in  dieselbe.  Für  die  Gruppe  1  b 
wären  schon  besonders  erzieherisch  geschulte  Pfleger  notwendig,  wenn 
sie  Familienpflege  genießen  sollen.  In  den  meisten  Fällen  wird  hier 
eine  längere  oder  kürzere  Anstaltserziehung  vorausgehen  müssen,  um 
die  Zöglinge  an  Ordnung,  Reinlichkeit,  Fleiß  und  Gehorsam  zunächst 
zu  gewöhnen.  Sie  brauchen  schon  beständige  ärztliche  Überwachung 
nnd  Beratung,  sind  jedoch  streng  von  der  Gruppe  2  zu  trennen;  die 
straffe  Zucht  der  Besserungsanstalt  ist  hier  ganz  zu  vermeiden,  da 
sie  leicht  verhärtend  wirkt  Mit  Geduld,  Nachsicht,  Berücksichtigung 
der  Individualität,  viel  Belehrung,  Ermunterung  und  Anleitung  zur 
selbständigen  Führung  durch  selbstgewählte  Arbeit,  wenig  Bevor- 
mundung und  Disziplinierung  wird  hier  am  meisten  zu  erreichen 
sein,  um  die  Anstaltserziehung  hier  der  Familienerziehung  recht  zu 
nähern,  empfiehlt  sich  das  koloniale  Villensystem. 

1)  Jar.-psych.  Greuzfra^en.    3.  Bd.,  1906,  Heft  8. 

Arehhr  fflr  Eriminalanthropologie.   27.  Bd.  10 


146  III.  Leeb8 

Die  Gruppe  2  eignet  sich  nicht  zur  Familienpflege,  bedarf  viel- 
mehr der  systematischen  Anstaltserziehung,  bei  welcher  der  psychia- 
trisch-ärztlichen Teilnahme  an  der  Leitung  und  Behandlung  der 
weitgehendste  Einfluß  zu  lassen  ist  Die  Kategorien  a.  und  b.  sind 
streng  zu  trennen,  da  a.  ganz  besondere  Erziehungsschwierigkeiten 
bietet  und  die  Gefahr  der  Ansteckung  mit  sich  führt  Die  Anstalten, 
welchen  die  Kategorie  b.  zugeführt  wird,  nähern  sich  schon  dem  Typus 
der  Heilanstalten  psychiatrischen  Charakters.  Versetzung  von  Zög- 
lingen der  2.  Gruppe  in  Familienpflege,  die  wohl  erst  nach  längerer 
Anstaltserziehung  und  nur  zu  besonders  verläßlichen  und  geschulten 
Pflegern  möglich  sein  wird,  wäre  zunächst  nur  bedingungsweise,  mit 
der  Möglichkeit  jederzeitiger  Bück  Versetzung  in  die  Anstalt  zu  ver- 
suchen. 

Als  3.  Gruppe  würde  sich  im  Laufe  der  Zeit  eine  Zahl  von 
Unverbesserlichen,  Unerziehbaren,  dauernd  Antisozialen  herausschälen, 
die,  erkannt,  baldigst  ihres  schlechten  Einflusses  auf  die  andern  Zög- 
linge wegen  aus  der  Fürsorgeerziehung  auszuschalten  und  in  beson- 
deren Verwahranstalten,  Arbeitsanstalten,  den  englischen  Industrial- 
Schools  entsprechend,  dauernd  unterzubringen  wären.  Jetzt  werden 
solche  Elemente  meist  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  11.  Juli  1891  den 
Irrenanstalten  zugeführt,  da  es  sich  um  Degenerierte,  durchweg 
D6g^n6r6s  sup^rieurs,  handelt  und  hier  stören  sie  die  Ordnung  außer- 
ordentlich, werden  auch  über  kurz  oder  lang  aus  denselben  als  ge- 
bessert, entlassen,  um  von  neuem  als  gefährliche  oder  störende  Ele- 
mente der  Allgemeinheit  zur  Last  zu  fallen.  Wenn  so  die  Trennung 
der  Verbesserlichen  von  den  Unverbesserlichen  in  den  Anstalten  durch- 
geführt wird,  kann  ersteren  auch  mehr  Freiheit  gelassen  werden. 
Die  Kräfte  der  Erzieher  werden  gespart,  und  es  steht  zu  hoffen,  daß 
auch  die  schwer  Erziehbaren  in  ihrer  Entwickelung  gefördert  werden. 
Die  Fürsorgeerziehungsanstalten  können  mehr  ihren  erzieherischen 
Charakter  wahren  und  alles  vermeiden,  was  ihnen  Anklang  an  Straf- 
anstalten verleiht.  Jetzt  hört  man  vielfach  Klagen,  daß  die  Arbeit 
in  den  Ftirsorgeerziehungs  -  Anstalten  gegen  das  Kinderschutzgesetz 
verstoße;  daß  ältere  Fürsorgezöglinge  manchmal  das  Gefängnis  der 
Fürsorgeerziehungs- Anstalt  vorzögen  und  Verbrechen  begingen,  um 
nur  in  das  Gefängnis  hineinzukommen.  Derartige  Anklagen  dürften 
darauf  hinweisen,  daß  die  Organisation  und  Verwaltung  der  Erziehungs- 
anstalten dem  Geiste  des  Gesetzes  noch  vielfach  nicht  gerecht  wird. 
Der  Gefängnischarackter  der  Erziehungsanstalten  muß  beseitigt,  die 
.  erzieherischen  Maßnahmen  vermehrt  werden,  was  bei  richtiger,  zweck- 
mäßiger Sortierung  der  Zöglinge  nicht  schwer  sein  dürfte. 


über  den  Stand  and  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehnng  in  Preußen.    147 

Sonderanstalten  oder  Sonderabteilungen  an  Fürsorgeerziehungs- 
anstalten angegliedert,  bedarf  es  für  die  infolge  ihrer  Verwahrlosung 
oder  Mißhandlung  erkrankten  Zöglinge  da  diesen  in  den  Kranken- 
anstalten die  erforderliche  pädagogische  Aufsicht  und  Anleitung  fehlt 
und  ihre  Unterbringung  in  solche  überhaupt  auf  Schwierigkeiten  stößt. 
Ähnliche  Sonderabteilungen  sind  für  die  chronisch  kranken  Zöglinge 
(Lungen-;  Haut-,  Geschlechtskranke)  und  solche  mit  entstellenden 
körperlichen  Gebrechen  zu  schaffen,  Abteilungen,  in  denen  ihrer 
Sonderart  pädagogisch  und  ärztlich  genügend  Rechnung  getragen 
werden  kann. 

Alle  jene  Anstalten  wenigstens,  deren  Betrieb,  im  Vergleich  zu 
der  Normalerziehungsanstalt  (für  die  Gruppe  1  a  und  b)  besondere 
ärztliche  und  pädagogische  Schwierigkeiten  bietet,  und  die  ein  be- 
sonders vollwertiges,  geschultes  Pflegepersonal  benötigen,  sollte  der 
Staat,  bezw.  die  Kommunalverwaltung  in  eigene  Verwaltung  nehmen 
oder  was  derselbe  besagt,  die  Zöglinge. der  Gruppe  2  sollten  nur 
staatlichen  und  kommunalen  Anstalten  zugewiesen  werden,  eine  For- 
derung, die  in  nuce  völlig  mit  dem  Antrage  des  Breslauer  Fürsorge 
erziehungstages  1906  auf  Einrichtung  besonderer  Landesfürsorge- An- 
stalten mit  Abteilungen  für  psychisch  minderwertige  und  abnorm 
gerichtete  Zöglinge  beiderlei  Geschlechts  unter  psychiatrisch -päda- 
gogisch geschulter  Leitung  —  übereinstimmt,  und  die  Unabhängigkeit 
der  ärztlichen  Tätigkeit,  die  planmäßige  Schulung  und  Ausbildung 
der  erzieherischen  Kräfte,  Betrieb  und  Leitung  nach  erprobten,  ein- 
heitlichen Grundsätzen  und  im  modern-naturwissenschaftlichen  Geiste 
gewährleisten  würde.  Durch  ünterrichtskurse,  fortbildende  Vorträge 
müßte  gesorgt  werden,  daß  die  mit  der  Fürsorgeerziehung  berufs- 
mäßig sich  befassenden  Pädagogen  mit  den  einschlägigen  Sonder- 
forschungen und  Erfahrungen  auf  pädagogischem,  kriminalpsycho- 
logischem und  psychiatrischem  Gebiete  sich  fortlaufend  vertraut 
machen.  In  gleicher  Weise  ließe  sich  ein  Stamm  von  Pflegern  heran- 
ziehen, die  auch  schwierigen  Zöglingen  gegenüber  mit  dem  Pflege- 
amt vertraut,  auch  als  Familienpfieger  und  Fürsorger  erfolgreich  tätig 
sein  könnten. 

Ein  weiterer  Grund  für  den  Mangel  an  Erfolg  bei  der  Fürsorge- 
erziehung ist  der,  daß  die  Einleitung  derselben  heute  vielfach  zu  spät 
kommt  Die  Statistik  zeigt  deutlich,  daß  das  Fürsorgeerziehungs- 
Material,  wenn  endlich  der  Überweisungsbeschluß  da  ist,  schon  zum 
größten  Teile  wurmstichig,  faulig,  verdorben  ist  Die  Zöglinge  sind 
auch  vielfach  zu  alt,  besonders  hier  in  Berlin,  als  daß  man  mit  ihnen 
noch  große  Erziehungsresultate  erzielte.     Gerade  hier  in  Berlin  sind 


148  III.  Leers 

es  nach  dem  Bericht  meist  ältere  schulpflichtige  oder  schon  schul- 
entlassene Zöglinge,  die  zur  Überweisung  gelangen,  gewohnheitsmäßige 
Diebe,  Vagabunden,  Zuhälter,  Dirnen,  bei  denen  die  Hoffnung  auf 
Besserung  von  vornherein  so  gut  wie  ausgeschlossen  erscheint.  Soll 
etwas  erreic)it  werden,  so  müssen  die  antisozialen  Eigenschaften  schon 
im  Keim  erstickt  werden,  die  gefährdeten  Kinder  also  möglichst  früh- 
zeitig aus  dem  gefährdenden  Milieu  entfernt  werden,  bevor  dasselbe 
seinen  vergiftenden  Einfluß  vollends  auf  sie  hat  ausüben  können, 
bevor  es  zur  Verletzung  der  Sitte  und  des  Gesetzes  kam,  die  unter 
den  vorhandenen  Lebensbedingungen,  vielleicht  unterstützt  durch  ab- 
norme Anlage,  intellektuelle  oder  moralische  Minderwertigkeit,  mit 
einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  erwartet  werden  kann.  Die  Für- 
sorgeerziehung müßte  die  Möglichkeit  haben,  schon  von  Kindheit  an 
die  Verwahrlosung  zu  verhüten,  vorbeugend  zu  wirken.  Diese 
Möglichkeit  ist  zwar  nach  §  1,  Ziffer  1  des  F.  E.  6.  gegeben,  aber 
gerade  die  Überweisungen  aus  §  1,  1  die  also  die  Fälle  beginnender 
Verwahrlosung  in  sich  begreifen,  sind  verhältnismäßig  selten  und  gehen 
in  den  letzten  Jahren  noch  mehr  zurück.  Denn  nach  dem  F.  E.  G. 
soll  die  Fürsorgeerziehung  andererseits  das  letzte  Auskunftsmittel  sein, 
das  erst  eintreten  soll,  wenn  alle  andern  Mitteln  versagen.  „Bevor 
diese  Maßregel  in  Aussicht  genommen  wird,  sagen  die  A.  B.,  ist  sorg- 
fältig zu  prüfen,  ob  nicht  durch  Anwendung  anderer  Maßnahmen,  der 
kirchlichen  Einwirkung,  der  Schulzucht,  der  Armenpflege,  freiwilliger 
Liebestfttigkeit  oder  vormundschaftlicher  Anordnungen,  für  welche  der 
§  1666  B.G.G.  den  weitesten  Spielraum  gewährt,  der  Verwahrlosung 
vorgebeugt  oder  ihr  Fortgang  aufgehalten  werden  kann.  Hat  die 
Verwahrlosung  ihren  Grund  in  wirtschaftlicher  Not  der  Eltern  oder 
Erzieher  oder  in  mangelhafter  Fürsorge  für  ein  verwaistes  Kind,  so 
sind  die  verpflichteten  Armenbehörden  von  Aufsichtswegen  anzuhalten, 
ihre  Schuldigkeit  zu  tun.**  All  diese  Maßnahmen,  auch  die,  durch 
welche  der  Minderjährige  nach  Maßgabe  der  §§  1666  und  1838 
B.G.B.  dem  Ortsarmen  verbände  anheimfällt,  sind  nun  aber  oft  nur 
ein  unzureichender  Notbehelf.  Einmal  scheidet  der  Minderjährige, 
wenn  er  das  erwerbsfähige  Alter  erreicht  hat,  in  der  Regel  aus  der 
Armenpflege  aus.  Sodann  fehlt  es  auch  an  jeder  Möglichkeit,  störende 
Einflüsse  und  Eingriffe  der  Eltern  in  das  Erziehungswerk  zu  verhüten, 
das  schlechte  Beispiel  auszuschalten,  zumal,  wenn  der  Ortsarmenver- 
band die  Kinder  innerhalb  desselben  Stadtbezirks  unterbringt.  Die 
Kinder  bleiben  dann  gewöhnlich  in  der  sie  gefährdenden  Umgebung, 
bis  sie  vollständig  verwahrlost  und  kriminell  geworden  sind.  Kurz, 
es  mangelt  bei  dieser  Versorgung  an  dem  Hauptmoment,  dem  Not- 


Ober  den  Stand  und  die  Handhabung  der  F&raorgeerziehung  in  Preußen.    149 

wendigsten :  der  Möglichkeit  einer  planmäßigen  systematischen  erzieh- 
lichen Einwirkung. 

Es  heißt,  die  Bechtsprechung  des  E.  G.,  die  erst  die  andern 
Wege  zur  Verhütung  der  Verwahrlosung  erschöpft  wissen  will  und 
dem  F.  £.  G.  nur  einen  subsidiären  Chiu^ter  zuerkennt,  trägt  nicht 
zum  geringsten  Teil  zu  der  zu  späten  Einleitung  der  Fürsorgeer- 
ziehung bei.  Denn  die  Gerichte  ziehen  infolge  dieser  Kechtsprechung 
des  K.  G.  jetzt  die  Grenze  der  Fälle,  in  denen  Fürsorgeerziehung  er- 
forderlich ist,  bedeutend  enger  als  früher  und  die  Überweisung  kommt 
vielfach  erst  zustande,  wenn  bereits  erhebliche  und  wiederholte  Ver- 
fehlungen gegen  Gesetz  und  Sitte  erwiesen  sind.  Die  Folge  davon 
ist  denU;  daß  Anträge  aus  §  1  Ziffer  1  in  nicht  ganz  krassen  Fällen 
gänzfich  von  den  mit  Äntragsrecht  ausgestatteten  Behörden  unter- 
bleiben. Eine  kostbare  Zeit,  in  der  Ersprießliches  geleistet  werden 
konnte,  die  Erziehung  noch  leichter  und  erfolgreicher  wäre,  geht 
hierdurch  verloren,  die  vorbeugende  Absicht  des  Gesetzes  wird  da- 
mit zunichte  gemacht.  —  Ich  kann  auf  diese  rein  formalen  Diffe- 
renzen in  der  Auslegung  des  F.  E.  G.  hier  nicht  eingehen.  Zweifel- 
los bat  das  E.  G.  vom  juristischen  Standpunkte  aus  recht,  aber 
andererseits  hat  der  Staat  das  größte  Interesse  daran,  daß  der  be- 
dürftige Jugendliche  nicht  nur  gekleidet,  genährt,  unterhalten  wird, 
sondern  daß  ihm  auch  als  zukünftigem  Bürger  eine  ordnungsgemäße 
Erziehung  zuteil  wird,  die  es  verbürgt,  daß  er  ein  soziales  und  nütz- 
liches Glied  der  Gesellschaft  wird.  Daß  die  Armenpflege,  wie  sie 
heute  gehandhabt  wird,  den  Anforderungen  der  Erziehung  der  ihr 
anvertrauten  Jugendlichen  nicht  genügend  gerecht  zu  werden  vermag, 
erhellt  die  Tatsache,  daß  im  Jahre  1904  aus  924  Familien,  die  orts- 
oder  landarm  waren,  also  unter  der  Armenpflege  standen,  Zöglinge 
auf  Grund  des  F.  E.  G.  der  Fürsorgeerziehung  überwiesen  werden 
mußten. 

Wie  notwendig  auch  die  zweckmäßigere  Unterbringung  der 
jugendlichen  Abnormen,  der  Epileptiker,  Imbecillen,  Degenerierten  ist, 
für  die  heute  auch  die  Armenpflege  nach  dem  Gesetz  vom  11.  Juli 
1891  verpflichtet  ist,  darauf  hat  Puppe  unter  Mitteilung  einiger 
lehrreicher  diesbezüglicher  Fälle  aus  der  Praxis  der  Fürsorge- 
erziehung auf  der  I.  Tagung  der  deutschen  Gesellschaft  für  gericht- 
liche Medizin  hingewiesen.  Auch  der  geistig  Minderwertige  sollte 
nicht  nur  untergebracht  werden,  auch  er  gehört,  soweit  er  überhaupt 
bUdungsfähig  ist,  in  eine  Erziehungsanstalt,  um  das  zu  retten,  was 
überhaupt  noch  an  ihm  zu  retten  ist.  Diesem  Tenor  der  Ausfüh- 
rungen Puppe's  kann  man  in  jeder  Beziehung  beipflichten. 


150  ni.  Leers 

Was  ferner  die  rechtzeitige  Einleitung  der  Fürsorgeerziehung  er- 
schwert und  hinausschiebt,  sind  die  langen  Verhandlungen  bei  Er- 
ledigung der  Anträge,  die  Schwierigkeiten  bei  Anstellung  der  erforder- 
lichen Ennittelungen  und  Beschaffung  der  Personalpapiere.  So  wurde 
in  einem  Falle  der  Personalbogen  erst  10  Monate  nach  Erlaß  des 
Überweisungsbeschlusses,  in  einem  anderen  Falle  sogar  erst  t3  Monate 
später  geliefert,  weil  der  Zögling  flüchtig  gegangen  war.  Mit  Becht 
macht  Klumker  darauf  aufmerksam,  wie  sehr  es  zwischen  all  den 
richterlichen  und  behördlichen  Instanzen,  die  sich  mit  der  Fürsorge- 
frage im  gegebenen  Falle  befassen,  an  einer  Persönlichkeit  fehlt,  die 
berufen  sei,  die  Interessen  des  Kindes  vor  allem  wahrzunehmen,  wie 
sich  oft  monate-  ja  jahrelang  die  verschiedensten  Instanzen  mit  solchen 
Fällen  befassen,  ohne  daß  eine  von  ihnen  sich  energisch  des  Kindes 
annehmen  könne.  Der  elterlichen  Gewalt  ist,  dem  Kind  gegenüber, 
im  Gesetz  ein  viel  zu  großer  Spielraum  gelassen;  hat  doch  der 
Pfleger  oder  Vormund  bei  Ablehnung  der  Fürsorgeerziehung  nicht 
einmal  ein  Beschwerderecht 

Der  folgende  Fall  aus  der  Praxis  möge  diese  Schwierigkeiten 
illustrieren: 

Die  Ehegatten  liegen  in  Scheidungsklage,  werfen  sich  Mißhand- 
lungen, Ehebruch  vor,  die  Ehefrau,  von  dem  Manne  aus  dem  Hause 
geworfen,  hat  die  drei  Kinder,  Söhne  im  Alter  von  16,  11,  6  Jahren 
mit  sich  genommen,  kümmert  sich  aber  ebensowenig  wie  der  Ehe- 
mann um  die  Kinder,  treibt  sich  vielmehr  herum  und  lebt  in  wilder 
Ehe  mit  einem  andern  verheirateten  Manne.  Auf  Grund  dieser  Tat- 
sachen stellt  im  März  der  Vorsitzende  des  Waisenrates  Antrag,  den 
Eltern  die  Erziehung  abzusprechen  und  möglichst  bald  einen  Pfleger 
zu  bestellen.  Die  Antwort  des  Polizeireviers  A  auf  eine  Anfrage  des 
Vormundschaftgerichtes  lautet:  Der  Ehemann  ist  geistig  nicht  normal, 
moralisch  entartet,  die  Ehefrau  treibt  sich  herum  etc.  wie  oben. 
Pflegschaft  nötig  nach  §  1666  und  1667  B.G.B.  Dieselbe  Auskunft 
gibt  das  Polizeirevier  B  im  April:  Ehefrau  empfängt  Herrenbesuche, 
geht  nachts  außer  Haus.  Kinder  liegen  bis  11  Uhr  nachts  auf  der 
Straße,  der  älteste  16jährige  Sohn  ist  schon  total  verdorben,  arbeits- 
scheu, treibt  sich  mit  Mädchen  herum,  die  Mutter  bezeichnet  ihn  als 
Ludewig  und  Zuhälter.  Das  geistige  und  leibliche  Wohl  der  Kinder 
ist  stark  gefährdet.  Pflegschaft  nach  §  1666  dringend  notwendig. 
Im  Mai  wird  ein  Erziehungsstreit-Pfleger  bestellt.  Dieser  beantragt 
Fürsorgeerziehung  auf  Grund  des  Gesetzes  vom  2.  Juli  1900  und 
des  §  1666.  Das  Material  sei  erdrückend.  Im  Juni  antwortet  Poli- 
zeirevier A  nochmals  auf  eine  Anfrage  des  Vormundschaftsgerichts, 


über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in  Preußen.    151 

ob  nicht  das  Fürsorgeerziehungsverfahren  hier  das  geeignetste  Mittel 
sei,  daß  der  Vater  zur  Erziehung  ganz  ungeeignet  sei.  —  Jetzt  ver- 
zieht die  Mutter  mit  den  drei  Kindern  in  einen  andern  Stadtteil  und 
nun  lautet  der  Bericht  des  dortigen  Polizeireviers  C:  Über  die  Ehe- 
frau X  ist  hier  nichts  Nachteiliges  bekannt  und  auch  nicht'  ermittelt 
worden.  Die  Kinder  gehen  reinlich  gekleidet  und  werden  nicht  ver- 
nachlässigt Der  16  jährige  Sohn  bemüht  sich  um  Arbeit,  die  er  bis 
jetzt  noch  nicht  gefunden  hat.  Verwahrlosung  zur  Zeit  nicht  zu  be- 
fürchten. Unterbringung  in  Fürsorgeerziehung  nicht  geboten,  wohl 
Maßnahmen  aus  §  1666.  —  Aber  im  Dezember  ist  noch  nicht  ent- 
schieden, ob  der  Vater,  dem  nach  der  inzwischen  erfolgten  Eheschei- 
dung nach  §  1635  B.G.B.  die  Sorge  für  die  Kinder  zusteht,  diese  zu 
übernehmen  im  Stande  wäre.  Ob  er  nicht  etwa  geisteskrank  im 
Sinne  des  §  104  und  geschäftsunfähig  ist.  In  diesem  Falle  wäre  er 
nicht  verantwortlich  im  Sinne  des  §  1666,  weil  sein  Verschulden 
fehlt  Also  ist  zuvor  festzustellen,  ob  die  elterliche  Gewalt  des  Vaters 
ruht    (§  1676). 

Und  in  der  ganzen  Zeit  bleiben  die  drei  Kinder  unter  dem  ver- 
giftenden Einfluß  der  Mutter.  Zwar  ist  ihnen  vom  Vormundschafts- 
gericht ein  Erziehungspfleger  bestellt,  aber  es  geschieht  nichts  gegen 
ihre  Verwahrlosung,  da  ja  der  Vater  noch  immer  seine  Rechte  geltend 
zu  machen  berechtigt  ist 

Bei  der  Handhabung  des  F.E.G.  wäre  auf  eine  Beschleunigung 
und  Vereinfachung  der  FormaJien  ernstlich  Bedacht  zu  nehmen,  die 
Möglichkeit  der  sofortigen  vorläufigen  Unterbringung  zu  erleichtem, 
bei  einem  späteren  Ausbau  des  Gesetzes  die  Emanzipirung  des  §  1 
Ziffer  1  von  der  Maßgabe  der  §§  1666  und  1838  B.G.B.  ins  Auge 
zu  fassen,  in  dem  Sinne,  daß  auch  ohne  Verschulden  der  Eltern  die 
Fürsorgeerziehung  nach  dem  Ermessen  des  Vormundschafts- 
gerichtes stets  angeordnet  werden  kann,  wenn  die  Trennung  des 
Kindes  von  seinen  Eltern  bezw.  bisherigen  Erziehern  zur  Verhütung 
sdner  Verwahrlosung  erforderlich  scheint 

Zu  erwägen  wäre  ferner,  ob  es  sich  nicht  empfiehlt,  weitere 
Kreise  an  der  Ausführung  des  F.E.G.,  die  jetzt,  wie  ich  schon  er- 
wähnte, in  der  Hand  des  Kommunalverbandes,  also  in  der  Hand 
einer  einzelnen  Person,  des  Landeshauptmannes  oder  des  von  diesem 
Beauftragten  liegt,  zu  interessieren.  Eine  derartige  Beteiligung  wäre 
durch  die  übrigens  schon  von  Aschrot t,  von  der  internationalen 
kriminalistischen  Vereinigung  u.  A.  vorgeschlagene  Errichtung  von 
Erziehungsämtem,  etwa  nach  norwegischem  Muster  zu  bewerkstelligen. 
Das  norwegische   F.E.G.  vom  Jahre  1898   überträgt  den  Beschluß 


152  UL  Leebs 

über  die  Dnterbringaag  der  Zöglinge  einem  Vormandschaftsrat,  der 
sieh  zusammensetzt  aus  dem  Bezirksrichter,  dem  Prediger  des  Ortes 
und  5  von  der  Kommunalverwaltung  für  zwei  Jahre  gewählten  Mit- 
gliedern, unter  denen  ein  in  der  Gemeinde  praktizierender  Arzt  und 
ein  oder  zwei  Frauen  sich  ^befinden.  Eine  solche  in  bestandigem 
regem  Kontakt  mit  den  Kreisen,  aus  denen  sich  die  Pflegerfamilien 
und  Fürsorger  rekrutieren,  stehende  Kommission  würde  eine  bessere 
Garantie  für  die  Auswahl  und  Gewinnung  der  zu  diesem  Amt  ge- 
eigneten Kräfte  bieten,  als  dies  durch  die  jetzt  vielfach  zu  diesem 
Zwecke  geschehenden  Reisen  des  Oberpräsidialkommisars  gewähr- 
leistet wird.  Hiermit  soll  keineswegs  die  bisher  auf  diesem  Gebiete 
ersprießliche  Tätigkeit  der  Provinzialvereine  für  innere  Mission  in 
manchen  Gegenden  unterschätzt  werden. 

Durch  Mithülfe  der  Presse,  durch  öffentliche  Vorträge  über  die 
Aufgaben  der  Fürsorgeerziehung,  ihri^n  segensreichen  Erfolg  bei 
richtiger  Handhabung  und  vertiefter  Ausführung  dieses  wohltätigsten 
aller  Gesetze,  ist  das  Interesse  und  die  Mitarbeit  der  Gesellschaft  und 
besonders  der  Frauen,  zu  wecken.  Nicht  nur  zur  Auffindung  der 
Fürsorgeerziehung  bedürftiger  Kinder,  sondern  auch  in  dem  Amt  als 
Fürsorger  erscheint  die  Frau  in  vielen  Fällen  geeignet  und  ihre  Mit- 
hilfe, wozu  ja  der  §  11  des  F.E.G.  ermächtigt,  wünschenswert. 
Amerika  ist  uns  in  dieser  Beziehung  mit  bestem  Erfolg  vorangegangen. 
Im  Staate  Pennsylvanien  sind  sogar  sämtliche  Fürsorger  (Probation 
officers)  Frauen.  Sie  werden  dem  Congress  of  Mothers  entnommen, 
für  ihr  Amt  besonders  ausgebildet  und  haben  sich  sehr  bewährt. 
Sie  treten  zu  den  Kindern  in  engere  Beziehungen,  als  dies  ein 
Mann  kann. 

Die  Früchte  der  Fürsorgeerziehung  zeigen  sich,  noch  mehr  wie 
bei  jeder  anderen  Erziehung,  erst  nach  jahrelanger  Arbeit.  Eine 
vorzeitige  Entlassung  aus  derselben,  die  nicht  selten  wieder  mit  der 
Rückkehr  in  die  alten  Verhältnisse  verbunden  ist,  kann  die  ganze 
Arbeit  nutzlos  machen.  Die  Fürsorgeerziehung  bedeutet  ja  oft  genug 
nicht  nur  Erziehung,  sondern  auch  Schutz  für  den  Jugendlichen. 
Dem  Drängen  der  Eltern  um  Freigabe  ihrer  Kinder  aus  der  Für- 
sorgeerziehung, weil  sie  darin  nicht  nur  eine  Unterschätzung  ihrer 
elterlichen  Gewalt  sehen,  sondern  sie  auch  als  eine  wirtschaftliche 
Schädigung  empfinden,  ist  daher  im  Interesse  der  Kinder  nicht  vor- 
zeitig nachzugeben.  In  vielen  Fällen  sollte  die  Entlassung  aus  der 
Fürsorgeerziehung  von  dem  Urteil  des  sachverständigen  Arztes  ab- 
hängig gemacht  werden,  der  endgültigen  eine  widerrufliche  vorher- 
gehen, bis  eine  sichere  Gewähr  geboten  ist,  daß  der  Zögling  sich  in 


über  den  Stand  und  die  Handhabung  der  Fürsorgeerziehung  in  Preußen.    153 

der  neuen  Lebenslage  zurecht-  und  fortfindet.  Um  das  spätere 
Schicksal  und  Ergehen  des  Fürsorgezöglinges  zwecks  Sammlung  von 
Erfahrungen  im  Auge  zu  behalten,  ist  die  Mithilfe  des  Zentralver- 
bandes für  Jugendfürsorge  und  des  Freiwilligen  Erziehungsbeirates 
für  schulentlassene  Waisen  erwünscht  Es  gilt  nicht  nur  das  sittliche, 
leibliche  und  geistige  Wohl  der  Zöglinge  weiterhin  im  Auge  zu  be- 
halten,  sondern  auch  praktischen  erfahrenen  Bat  und  tatkräftigen 
Beistand  bei  der  Berufswahl,  der  Beschaffung  geeigneter  Arbeits- 
stätten und  Wohnungen  zu  leisten,  für  die  Fortbildung  zu  sorgen, 
also  auch  das  wirtschaftliche  Wohl  der  Zöglinge  in  jeder  Weise  zu 
fördern. 

Über  die  Erfolge  der  Fürsorgeerziehung  läßt  sich  heute,  nach- 
dem erst  die  Erfahrungen  weniger  Jahre  vorliegen,  noch  kein  ab- 
Bchließendes  urteil  fällen;  es  werden  sich  bei  der  Ausführung  auch 
noch  manche  Bedürfnisse  im  Laufe  der  Zeit  herausstellen.  Wenn 
jetzt  schon  die  Zahl  der  Jugendlichen,  bei  denen  die  Zwecke  der 
Fürsorgeerziehung  erreicht  werden,  von  maßgebenden  Faktoren  auf 
etwa  75  %  geschätzt  wird,  so  ist  zu  erwarten,  daß  dieser  Prozent- 
satz noch  beträchtlich  größer  wird,  wenn  die  Handhabung  des  Für- 
Borgeerziehungsgesetzes  nach  folgenden  Glesichtspunkten  vertieft  und 
erweitert  wird: 

1 .  Größere  Beteiligung  aller  Volkskreise  an  der  Namhaf tmachung 
der  Fürsorgeerziehung  bedürftiger  Kinder.  Es  ist  leider  Tatsache, 
daß  die  Organisation  des  Tierschutzes  heute  in  den  breiteren  Volks- 
schichten bekannter  ist,  als  die  des  Kinderschutzes,  obschon  sich 
annähernd  400  Vereine  in  Preußen  mit  der  Jugendfürsorge  be- 
fassen. 

2.  Bechtzeitigere,  d.  h.  frühzeitigere  und  schnellere  Einweisung 
in  die  Fürsorgeerziehung.  Die  Fürsorgeerziehung  soll  eine  Präventiv- 
maßregel sein,  Verhütung  des  Übels  ist  wirksamer  und  leichter  als 
Ausrottung,  wie  wir  ja  auch  bei  der  Bekämpfung  der  Infektions- 
krankheiten der  Prophylaxe  vor  den  therapeutischen  Bestrebungen 
den  Vorzug  geben.  —  Erleichterung  der  Einweisung  auf  Grund  des 
§  1  Ziffer  1.    Errichtung  von  Erziehungsämtem. 

3.  Zweckmäßigere  Sortierung  und  Verteilung  der  Fürsorgezög- 
linge nach  ihren  intellektuellen,  moralischen  etc.  Eigenschaften  bezw. 
den  Schwierigkeiten,  die  sie  dem  Erziehungszweck  bieten.  Indivi- 
dualisierende Behandlung.    Beobachtungsanstalten. 

4.  Einweisung  aller  schwer  erziehbaren  Fürsorgezöglinge  in 
staatliche  Anstalten  unter  ärztlich  (ps7chiatrisch)-pädagogischer  Ijcitung, 
staaüich  geschulten,  nach  modern  naturwissenschaftlichen  Grundsätzen 


154  in.  Leerb 

ausgebildeten  Erziehern  und  Pflegern.  —  Ausschaltang  der  nicht  er- 
ziehbaren, antisozialen  Elemente  aus  der  Fürsorgeerziehung. 

5.  Weitgehendere  Beteiligung  sachverständiger  Ärzte  bei  der  Be- 
schlußfassung der  Fürsorgeerziehung,  der  Unterbringung,  während 
der  Dauer  und  ev.  bei  der  Entlassung  aus  der  Fürsorgeerziehung. 

6.  Kegelmäßige  und  öftere  ärztlich-pädagogische  Eontrolle  und 
Beratung  der  Familienfürsorgezöglinge,  staatliche  Revision  der  Er- 
ziehungsanstalten nach  dem  Muster  der  Irrenanstaltsrevisionen  durch 
eine  Kommission  (Kommissar  des  Oberpräsidenten,  beamteter  Arzt, 
Pädagoge). 

7.  Planmäßige  Ausbildung  der  Erziehungspfleger  und  -pf legerinnen 
in  den  staatlichen  Anstalten.    Fortbildungskurse. 

Berlin,  Dezember  1906. 


IV. 
Verbrecher-Lebenslaufe. 

Mitgeteilt  von 
Geh.  Justizrat  Biefert  in  Weimar. 


1.  Dem  Kestaaratenr  Werner  in  Weimar  wurde  am  24.  August 
1888  aus  einer  in  dessen  Schlafstube  stehenden  Kommode  1  goldene 
Damenuhr  mit  Kette,  eine  goldene  Uhrkette,  eine  Korallenkette  mit 
goldenem  Kreuze,  zwei  goldene  Ringe  und  einige  andere  Gegenstände 
im  Gesamtwerte  von  130  M.  gestohlen. 

Der  Dieb  war  der  am  12.  Oktober  1872  zu  Roßbach  bei  Httnefeld  von 
der  vielfach,  auch  wiederholt  mit  Zuchthaus  vorbestraften  Katharina 
Elisabeth  Knott  aus  Unterelba  außerehelich  geborene  Eduard  Knott 
Er  war  einige  Tage  vorher  bei  Werner  als  Kellnerlehrling  eingetreten, 
am  Abend  des  24.  August  hatte  er  bei  der  Wittwe  Emma  Hast  Unter- 
kunft gefunden,  mit  deren  Sohn  er  in  dem  Falkschen  Institut  in  Weimar 
—  einer  Besserungsanstalt  —  zusammen  gewesen  war.  Diesem 
Kameraden  schenkte  er  am  25.  August  die  Uhrkette,  einen  Siegelring, 
einen  Haarring,  zwei  Spiele  Karten  im  Gesamtwerte  von  90  M.,  seine 
Mutter  bekam  Kenntnis  davon  und  brachte  diese  Sachen  zurück. 
Dadurch  wurde  der  Diebstahl  entdeckt 

In  den  Akten  der  Polizei  war  noch  erwähnt,  daß  Knott  Ostern 
1887  zum  Schmied  Gesky  in  Neumark  in  die  Lehre  gebracht  worden 
sei,  aber  am  14.  August  1888  aus  derselben  entlaufen  wäre.  Knott 
erklärte,  daß  er  am  Morgen  des  24.  August  1888  aus  der  Wernerschen 
Schlafstube  Stiefeletten  zu  holen  gehabt  und  dabei  an  einem  Spiegel 
über  der  Kommode  einen  Schlüssel  hängen  gesehen,  mit  demselben 
die  Kommode  geöffnet  und  dann  daraus  die  Sachen  entwendet  hätte. 
Nachmittags  sei  er  heimlich  weggegangen. 

Es  wurde  von  dem  Lehrer  und  Hausverwalter  des  Falkschen 
Instituts  eine  Auskunft  über  Knott  erbeten.    Darin  hieß  es,  daß  Knott 

a)  seinen  langjährigen  Aufenthalt  (vom  I.Juli  1883  in  der  Anstalt 
an)  fast  nur  zur  Ausübung  schlechter  Streiche,  hauptsächlich 
kleiner  Diebstähle,  benutzt  habe. 


156  IV.  SiEFERT 

b)  gegen  eindringlichste  Ermahnungen  und  gegen  körperliche 
Züchtigungen  gleichgültig  gewesen  sei, 

c)  beim  Verlassen  der  Anstalt  dem  Hausvater  seine  Cylinderuhr 
entwendet  habe  und  später  aus  Furcht  vor  Entdeckung  sie 
demoliert  habe. 

Die  geistige  Befähigung  des  Knott  wurde  „eine  geringe**  genannt. 
Später  wurde  nachgeholt,  daß  trotz  der  bei  anderen  Zöglingen  mit 
Erfolg  angewandten  Vorsichtsmaßregeln  Knott  „fast  allnächtlich  das 
Bett  näßte/ 

Knott  wurde  vom  Staatsanwalt  vernommen.  Dabei  erklärte  er, 
daß  er  zum  Schmiede  nicht  tauge,  da  er  nicht  rechnen  könne,  daß 
er  Knecht  werden  wolle.  Ostern  (1888)  sei  seine  Schwester  aus  der 
Schule  gekommen,  weshalb  er  vom  Meister  Gesky  zu  einer  Heimreise 
drei  Tage  Urlaub  erhalten  habe.  Er  sei  nicht  zurückgekehrt  und 
darum  durch  die  Gendarmerie  wieder  nach  Neumark  in  die  Lehre 
zurückgebracht  worden.  Von  hier  sei  er  im  August  entlaufen,  weil 
ihm  vorgeworfen  worden  sei,  daß  er  mit  den  Kindern  Haschemann 
gespielt  habe.  Er  habe  2  M.  erspartes  Geld  gehabt  und  sich  damit 
in  Weimar  zum  Vogelschießen  begeben.  Vom  Schießhausplatze  habe 
ihn  jemand  zum  Spediteur  Apel  geschickt,  mit  den  Apelschen  Knechten 
sei  er  dann  in  die  Wernersche  Wirtschaft  gekommen.  Werner  habe 
ihn  als  Kegeljungen  angenommen.  Die  am  Vormittage  des  24.  August 
gestohlenen  Sachen  habe  er  verkaufen  wollen.  Am  Nachmittage  dieses 
Tages  habe  Werner  ihn  schlagen  wollen,  weil  er  dessen  kleinen  Jungen 
geschimpft  habe.    Deshalb  sei  er  fortgegangen. 

Die  ganze  Sachlage  veranlaßte  die  Staatsanwaltschaft  zu  näheren 
Erörterungen,  um  den  Geisteszustand  Knotts,  der  schwachsinnig  zu  sein 
schien,  festzustellen. 

Bereits  im  Jahre  1879  wird  er  als  „ein  leichtsinniger,  unver- 
besserlicher Knabe  bezeichnet,  welcher  mit  Streichhölzern  gern  spielte, 
überhaupt  zu  allen  Schlechtigkeiten  fähig  ist  und  des  nachts  größten- 
teils in  Scheunen  zubringt."  Er  war  zur  Zeit  dieser  Berichtserstattung 
seit  neun  Tagen  seinen  Pflegeeltern  entlaufen.  Mehrmals  wurde  er 
in  der  Umgegend  von  Dermbach  von  der  Gendarmerie  aufgegriffen 
und  nach  Unterelba  zu  seinen  Pflegeeltern  zurückgebracht.  Der  Ge- 
meindevorstand von  Unterelba  sagt  von  ihm,  daß  „dieser  Knabe  als 
ein  sittlich  verwahrloster  anzusehen  ist  und  anstatt,  wenn  er  von 
seinen  Pflegeeltern  nach  Dermbach  zur  katholische  Schule  geschickt 
werde,  3  bis  4  Tage  an  einem  hin  betteln  geht  und  derselbe  bereits 
schon  verschiedene  andere  Dummheiten  ausgeführt  hat"  Mündlich 
vom  Bezirksdirektor  (dem  Staats-Verwaltungs-Beamten)  vernommen, 


Verbrecher-Lebenslaufe.  *  157 

änßert  der  Bürgermeister:  ^Eduard  Knott  ist  ein  verwahrloster  Junge, 
er  ist  schon,  wie  er  noch  bei  der  Witwe  Thöring  war  (1873,  Frühjahr, 
bis  1878)  viel  umher  gelaufen.  Als  im  Frühjahr  1878  seineMutter  wieder 
nach  ünterelba  kam,  ist  er  mit  dieser  selbst  in  der  Welt  herumge- 
zogen und  daher  mag  sich  seine  Neigung  zum  Umherstreifen  noch 
vermehrt  haben,  denn  jetzt  kommt  er  nur  noch  selten  nach  Hause, 
schläft  in  Ställen  und  Scheunen  oder  auch  im  Freien  und  bettelt  am 
Tage.*^  Es  wird  bei  dieser  Gelegenheit  erwähnt,  daß  er  auch  schon 
Schnaps  trinke.  Er  habe  (Mai  1879)  einen  Schrank  seines  Pflege- 
vaters erbrochen,  die  Schnapsflasche  daraus  genommen  und  sich  bis 
ziur  Bewußtlosigkeit  betrunken. 

Gesky  schildert  Enott  als  Taugenichts  und  Dieb.  Er  hat  ihm 
Geld,  Wurst,  Speck,  1  Handtuch  und  dergl.  entwendet,  die  Diebstähle 
Btets  hartnäckig  geleugnet,  dann  aber  häufig  den  vermißten  Gegen- 
stand so  an  eine  Stelle  gelegt,  daß  er  gefunden  werden  mußte.  Als 
ihm  Gesky  einmal  seinem  Bruder,  der  im  benachbarten  Ettersburg 
wohnte,  auf  einige  Tage  zur  Aushülfe  sandte,  nahm  er  diesem  einen 
Beschlaghammer  mit,  den  er  in  Neumark  im  Bettstroh  seines  Bettes 
versteckte. 

Auch  die  Mutter  und  die  Großmutter  Knotts  waren  unehelich  geboren. 
Die  Mutter  gab  als  den  Vater  ihres  Kindes  Eduard  denverstorbenen 
Scherenschleifer  Adam  Fladung  aus  Unterelba  an,  der  von  seiner  Ehe- 
frau getrennt  gelebt  habe.  Die  Geschwister  Fladungs  bestätigten  das 
Verhältnis  ihres  Bruders  zur  Knott.  In  einem  Briefe  des  Gemeinde- 
vorstandes "zu  Unterelba  vom  2.  Oktober  1861  an  den  Bezirksdirektor 
in  Dermbach  wird  mitgeteilt,  daß  Fladung  am  24.  August  1861  aus 
dem  Zuchthause  (aber  nicht  direkt)  zurückgekommen  sei,  aber  in 
seiner  Familie  keine  Aufnahme  gefunden  habe.  Es  heißt  dann  weiter: 
^Nachdem  nun  Fladung  bei  seiner  Ehefrau  nicht  angenommen  worden, 
hat  er  sich  eine  Zeit  lang  im  Gemeindehause  aufgehalten.  —  Fladung 
hat  zwar  eine  Zeit  lang  mit  der  ledigen  Katharine  Elisabetha  Knott 
ein  uneheliches  Lehen  geführt,  welche  schon  voriges  Jahr  im  Straf- 
arbeitshause  zu  Eisenach  ein  Kind  männlichen  Geschlechts  geboren 
und  der  Gemeinde  dadurch  viele  Kosten  entstanden  sind.  Dieselben 
sind  schon  wieder  über  14  Tage  miteinander  fort,  auch  ist  die  Knott 
von  Fladung  schwanger  und  hat  sich  im  Gemeindehause  aus- 
gesprochen, sie  wolle  das  Kind  sonstwo  gebähren  und  der  Gemeinde 
wieder  Kosten  machen. 

Fladung  wurde  am  5.  Dezember  1831  geboren  und  starb  am 
1.  Februar  1873  im  Gemeindehause  zu  Unterelba.  Es  wurde  fest- 
gestellt,   daß   „Fladung   bei   Lebzeiten    manchmal    geisteskrank,    in 


158  IV.   SiEPEBT 

körperlicher,   geistiger   und  sittlicher  Beziehung  sehr  auffällig  und 
auch  in  der  Irrenanstalt  zu  Jena  untergebracht  gewesen  sei.'' 

Von  Fladungs  Vater,  Nicolaus  Fladung,  wurde  berichtet,  daß  er  am 
22.  Juli  1799  geboren  und  am  13.  Dezember  1860  gestorben  sei  und  daß 
er  ,,in  sehr  armen  und  zuletzt  in  geistesschwachem  Zustande  gelebt  habe.^ 

Adam  Fladung  hinterließ  fünf  eheliche  Kinder,  darunter  den 
Schneider  Joseph  Fladung,  der  im  Jahre  1864  von  Würzen  aus  wegen 
Geisteskrankheit  in  die  UniversitätsJrrenklinik  eingeliefert  wurde. 
Eine  Schwester  von  ihm  erklärte,  „nach  seiner  Entlassung  sei  er  jetzt 
noch  geistig  gestört.^ 

Die  Staatsanwaltschaft  ersuchte  nunmehr  den  Professor  Bins- 
wanger  um  eine  gutachtliche  Auskunft  über  die  Geistesbeschaffenheit 
Knotts ;  der  genannte  Psychiater  beantragte  Beobachtung  desselben  in 
der  ihm  unterstellten  Irrenheilanstalt  zu  Jena,  Enott  war  aber  zunächst 
nicht  zu  ermitteln.  Am  26.  Januar  1889  wurde  er  endlich  in 
Wenigentaft  ohne  Papiere  und  ohne  Geldmittel  als  Landstreicher  an- 
gehalten. Nach  seiner  Entlassung  aus  der  Untersuchungshaft  am 
5.  September  1888  war  er  am  10.  dieses  Monats  vom  Gutspachter 
Wiegand  in  Weimar  als  Ochsenjunge  angenommen,  am  21.  Dezember 
aber  wieder  entlassen  worden,  weil  er  unbotmäßig  war,  das  Brot  und 
eine  Brosche,  die  er  alsbald  verkaufte,  aus  der  Küche  gestohlen 
hatte  und  auch  noch  mehr  vorgekommen  war.  Am  29.  Dezember 
trat  er  als  Futterknecht  bei  Gottschalk  in  Kaffenburg  bei  Blankenhain 
in  Dienst.  Er  erwies  sich  jedoch  als  ein  unzuverlässiger  nichts- 
nutziger Junge.  Am  23.  Januar  ließ  er  sich  wieder  eine  grobe  Nach- 
lässigkeit zuschulden  kommen  (er  beschädigte  eine  Laterne),  worüber 
er  „gehörig  zur  Rede  gesetzt"  —  wohl  gezüchtigt  wurde.  Der  Dienst- 
herr sagte  ihm,  wenn  er  ihn  heute  entlasse,  müsse  er  barfuß  laufen. 
Knott  arbeitete  zwar  bis  Mittag  weiter,  zu  dieser  Zeit  wurden  aber 
hinter  dem  Gute  unter  einem  HoUunderbusche  versteckt  verschiedene 
Kleidungsstücke  entdeckt:  Ein  Paar  Stiefel  (dem  Verwalter  gehörig), 
ein  Paar  Schuhe  (einem  Scholaren  Gottschalks  gehörig),  eine  Hose 
und  ein  Halstuch  (einem  Knecht  gehörig),  ein  Hemd  und  eine  Mütze 
(dem  Schäfer  gehörig,  dem  an  demselben  Tage  auch  5  M.  Geld  von  Knott 
gestohlen  wurden).  Knott  hatte  die  Sachen  versteckt,  um  damit  zu 
verschwinden.  Während  sie  ins  Haus  geschafft  wurden,  verschwand 
er  auch  wirklich.  Er  wandte  sich  nach  ünterelba  und  von  da  nach 
Wenigentaft,  wo  er  am  25.  Januar  einen  Dienst  als  Futterknecht  fand. 

Das  Direktorium  der  Landes-Irren-Heilanstalt   gab  am  13.  März 
1888  sein  Gutachten  dahin  ab,  daß  Knott 

„an  angeborenem  Schwachsinn  leidet". 


Verbrecher-Lebenslaafe.  159 

Derselbe  macht  sich,  heißt  es  dann  weiter,  „namentlich  auf  ethi- 
schem Gebiete  bemerklich^  ist  aber  auch  außerhalb  dieses  Gebietes 
nachweisbar;  hierzu  kommen  epileptische  und  epileptoide  Anfälle, 
welche  gleichfalls  die  Existenz  einer  Himkrankheit  verbürgen.  Der 
Enott  ist  demgemäß  als  nicht  zurechnungsfähig  zu  erachten.  Zugleich 
empfiehlt  sich  die  Belassung  desselben  in  der  Irren-Anstalt,  da  der- 
selbe, auf  freien  Fuß  gesetzt,  jedenfalls  unfähig  wäre,  den  mannig- 
fachen, ihn  erwartenden  Versuchungen  zu  widerstehen^S 

Enott  wurde  nunmehr  wegen  des  dem  Schankwirt  Werner  zuge- 
fügten Diebstahls  außer  Verfolgung  gesetzt. 

2.  Adam  Peter  Martin  Narr  gen.  Widmann  wurde  am  26. 
Dezember  1873  in  Hirschberg  a.  d.  Saale  auf  der  Scharfrichterei,  von 
der  Anna  Eatharine  Narr  außerehelich  geboren,  die  sich  später 
an  den  Strumpfwirker  Joh.  Fr.  Adam  Widmann  verheiratete.  Im 
Jahre  1893  vereinbarten  beide  Eheleute,  daß  Martin  Narr  den  Namen 
Widmann  führen  solle. 

Nach  seiner  Schulzeit  war  er  zunächst  Lehrling  bei  einem 
Schieferdecker,  dann  Gerber,  schließlich  Dienstknecht  und  Hand- 
arbeiter. Bei  seiner  Aushebung  zum  Militär  im  Herbste  1894  zeigte 
sich,  daß  er  auf  der  Brust  und  an  beiden  Armen  tätowiert  war.  1 895 
wurde  er  aus  dem  Militärverbande  ausgeschlossen. 

Bereits  in  seinem  siebzehnten  Lebensjahre  wurde  er  vom  Land- 
gerichte zu  Gera  wegen  Diebstahls  bestraft  (mit  2  Monaten  Gefängnis.) 
Er  diente  bei  Berger  in  Lohme  als  Enecht  Als  einmal  niemand  zu 
Hause  war,  stahl  er  demselben  156  M.  Geld,  ein  Paar  Stiefeln  und 
eine  Schürze.  Er  begab  sich  nach  Neustadt,  wo  er  sich  einen  Anzug 
kaufte,  fuhr  dann  mit  der  Eisenbahn  nach  München.  Nach  Verbrauch 
des  Geldes  wanderte  er  zu  Fuß  nach  Frößen,  wo  er  einmal  gedient  hatte. 

Im  Jahre  1888  erfuhr  er  Bestrafung  wegen  Rückfallsdiebstahles. 
In  demselben  Jahre  war  er  weiter  wegen  dreier  Diebstähle,  begangen 
im  wiederholten  Rückfalle  im  August  und  September  1889  inVinan, 
Gräfenwart,  Frößen  und  Spielmar  gegen  seine  Dienstherren,  und 
wegen  Urkundenfälschung  in  Untersuchung  und  wurde  am  23.  12. 
1889  auf  Grund  der  §§  242,  244,  246  zu  neun  Monaten  Gefängnis 
verurteilt.  Während  der  Strafvollstreckung  war  er  sehr  faul.  Einmal 
benahm  er  sich  einer  Rüge  des  Aufsehers  gegenüber  sehr  frech,  sagte 
sogar  am  Schlüsse  zu  diesem,  mit  ihm  wolle  er  schon  fertig  werden. 
Trotz  einer  Disziplinarstrafe  fuhr  er  fort,  faul  zu  sein  und  schlecht 
zu  arbeiten.  Schon  am  18.  Januar  1891  folgte  wieder  eine  Ver- 
urteilung wegen  derselben  Verbrechen,  wieder  gerichtet  gegen  einen 
Dienstherm,    und  zwar  zu   6  Monaten   2  Wochen  Gefängnis.    Auch 


160  IV.   SiEFEHT 

diesmal  war  er  im  Laufe  der  Strafvollstreckung  sehr  frech.  Mehr- 
fach schlug  er  Mitgefangene.  Auch  jetzt  war  er  wieder  äußerst  faul; 
er  wolle  die  Herren  nicht  reich  machen  durch  seine  Arbeit^  sagte  er 
zum  Aufseher.  Er  verweigerte  den  Gehorsam,  scheuerte  nicht,  sprach 
fortwährend  mit  seinen  Mitgefangenen.  Auf  jede  Weise  suchte  er  die 
Aufseher  zu  ärgern.  Am  7.  Dezember  1891  wurde  er  wegen  zweier 
Diebstähle  im  w.  B.  zu  1  Jahr  6  Monaten  Gefängnis,  dazwischen 
wegen  Betruges  zu  1  Woche  Gefängnis  verurteilt.  Im  Laufe  der 
Strafvollstreckung  erreichte  er  das  18.  Lebensjahr.  Am  16.  2.  1892 
lief  er  mit  den  Worten:  „ich  hänge  mich^  aus  dem  Arbeitssaale  und 
versteckte  sich  in  einer  Zelle;  dem  Aufseher,  der  ihn  wiederholt  auf- 
forderte, nach  dem  Saale  zurückzukommen,  gab  er  keine  Antwort, 
so  daß  mit  Gewalt  gegen  ihn  vorgegangen  werden  mußte.  Mittags 
lehnte  er  das  Mittagessen  ab,  da  er  keinen  Appetit  habe,  aß  dann 
aber  doch  die  ihm  hingesetzte  Mahlzeit  Dann  lag  er  im  Bett,  ver- 
drehte die  Augen  und  „redete  lauter  verrücktes  Zeug**. 

Dem  Arzte  sagte  er,  daß  er  an  Eompfschmerzen  leide.  Dieser 
aber  glaubte,  daß  sie  simuliert  seien^  und  erklärte:  „Geistig  ist  der 
Gefangene  Narr  völlig  normal".  Am  4.  April  1892  wurde  Narr  im 
Besitze  von  zwei  Dietrichen  gefunden,  welche  er  aus  einem  im  Ar- 
beitssaal gefundenen  Drahtstücke  gefertigt  hatte.  Er  wollte  entweichen, 
mit  dem  kleineren  Dietrich  die  Schlafsaaltür  öffnen  und  mit  dem 
größeren  die  Tür  nach  dem  Männergarten  aufschließen.  Dann  wollte 
er  die  Planke  nach  dem  Mühlgraben  durchstoßen. 

Kaum  war  die  Disciplinarstrafe,  die  ihn  deshalb  traf,  verbüßt, 
so  machte  er  in  der  Nacht  vom  11/12  Mai  den  Versuch  eines  Durch- 
bruchs durch  die  Wand  am  Ofen,  und  zwar  in  Gemeinschaft  mit 
dem  Nachbargefangenen  Kötthau.  Sie  kratzten  je  in  ihren  Zellen 
den  Kalk  von  der  Wand  und  machten  die  Steine  „dicht  am  Ofen 
nach  der  Feuerung  zu*'  mittelst  je  eines,  von  der  eisernen  Bettstelle 
abgebrochenen  Fußes  los.  Sie  wollten  die  Tür  von  der  Feuerung 
absprengen,  dann  auf  die  oberste  Gallerie  und  von  hier  auf  den  Boden 
geheU;  sich  am  Blitzableiter  herunterlassen,  nachdem  der  Wacht- 
posten aus  dem  Männergarten  weggegangen  wäre,  und  dann  mittelst 
einer  der  an  der  Planke  anlehnenden  Holzbohlen  über  die  Planken 
steigen.     Der  geplante  Durchbruch  der  Wand  war  aber  nicht  möglich. 

Am  7.  August  1892  stieg  Narr,  der  noch  in  Fesseln  ging,  in  der 
Zelle  auf  den  Tisch  und  pfiff  auf  einem  Federkiele,  den  er  sich  dazu 
besonders  hergerichtet  hatte,  zum  Fenster  hinaus.  Als  der  Aufseher 
den  Tisch,  auf  welchem  Federn  lagen,  aus  der  Zelle  schaffen  ließ, 
pustete  Narr  in   die  Federn  hinein,  so  daß   sie  in   der  Zelle  herum- 


Verbrecher- Lebenslaufe.  161 

flogen,  und  benahm  sich  äußerst  frech.  Am  16.  August  zerstieß  er 
die  Tür  seiner  Arrestzelle  aus  Arger  mit  den  Ketten.  Wiederholt 
gelobte  er  dann  an,  sich  hausordnungsgemäß  zu  verhalten,  doch  ver- 
fiel er  wiederholt  wieder  in  Disciplinarstrafen.  Am  13.  Februar  1893 
weigerte  er  sich  zu  arbeiten,  seine  Arbeit  sei  als  schlecht  bezeichnet 
worden.  Am  Morgen  des  17.  Februar  93  befolgte  ei*  beim  Antreten 
der  Gefangenen  zum  Gange  nach  dem  Arbeitssaal  nicht  die  herkömm- 
liche Ordnung  und  sagte  zu  dem  dies  rügenden  Aufseher,  da  bleibe 
er  eben  oben,  er,  der  Aufseher  wisse  nicht,  was  er  wolle  u.  s.  w. 
Dem  Direktor  gegenüber  entschuldigte  er  sich  damit,  daß  er  einen 
kürzeren  Weg  nach  dem  Saale  habe  einschlagen  wollen. 

Am  4.  April  1893  spektakelte  Narr  in  der  Weberei  und  drohte 
einem  Mitgefangenen,  ihm  seinen  Schemel  auf  den  Kopf  zu  schlagen, 
weil  ihm  dessen  Benehmen  mißfiel. 

Am  27.  April  1893  hatte  sich  Narr  beim  Fahren  der  Ausleer- 
fäßer  Kautabak  geben  lassen.  Der  Aufseher  fand  bei  ihm  den  Kau- 
tabak. In  Abwesenheit  des  Aufsehers  hielt  er  dann  epem  Mitge- 
fangenen vor,  daß  er  dies  wohl  dem  Aufseher  angezeigt  habe.  Ob- 
wohl der  Mitgefangene  es  verneinte,  schlug  ihn  Narr  dreimal  ins  Ge- 
sicht und  sagte,  er  werde  das  erste  Beste  nehmen  und  ihn  damit 
tot  schlagen. 

Nachdem  ihn  eine  Reihe  von  Bestrafungen  wegen  Betteins  und 
Landstreichens  getroffen  hatten  und  er  im  Jahre  1894  auch  wegen 
Widerstandes  gegen  die  Staatsgewalt  und  Unterschlagung  verurteilt 
worden  war,  stand  er  am  19.  2.  1895  vor  den  Schranken  des  Schwur- 
gerichtes Gera  wegen  versuchter  Notzucht  und  Sachbeschädigung. 
Das  Ergebnis  war  eine  Zuchthausstrafe  von  3  Jahren  1  Monat, 
die  er  in  Gräfentonna  verbüßte,  wo  er  sich  durch  freches  Betragen, 
Ungehorsam,  Tätlichkeit  gegen  einen  Mitgefangenen  u.  s.  w.  sieben- 
zehn Disciplinarstrafen  zuzog. 

Bis  zum  6.  12.  1894  hatte  er  eine  ihm  vom  Schöffengericht  zu 
Plauen  wegen  Unterschlagung  zuerkannte  Gefängnisstrafe  von  2  Mo- 
naten verbüßt.  Am  6,  Dezember  blieb  er  in  Plauen,  von  wo  er  tags 
darauf  nach  Elsterberg  ging,  am  8.  Dezember  setzte  er  seine  Wan- 
derung über  Greiz  und  Hohenölsen  nach  Weida  fort.  Kurz  vor  Weida 
führte  ihn  sein  Weg  über  das  zu  Weida  gehörige  Gut  Neuhof,  hinter 
dem  ein  schmaler  Fußweg  über  einen  bewaldeten  Berg  führt.  Als 
Widmann  an  diesem  Nachmittage  an  diesen  Berg  kam,  bemerkte 
er  etwa  50  Schritt  vor  sich  ein  Mädchen  —  die  sechzehnjährige 
Dienstmagd  Ella  Taudte,  welche  Kränze  nach  Neuhof  getragen  hatte 
und  auf   dem  Rückwege    nach  Weida    begriffen   war.    Er  holte  sie 

^LrehiT  fttr  Kriminalanthropologie.  27.  Bd.  '  11 


162  IV.   SiEFERT 

bald  ein  und  ging  nun  dicht  hinter  ihr  her.  Sie  sagte  ihm  guten 
Tag  und  äußerte,  daß  es  ihr  beim  Bergsteigen  warm  geworden  sei, 
wozu  Widmann  nur  eine  kurze  Bemerkung  machte.  Auf  der  Höhe 
des  Berges,  wo  der  Weg  nur  eine  Elle  breit  ist,  trat  das  Mädchen 
zur  Seite,  um  den  ihr  folgenden  Mann  an  sich  vorübergehen  zu  lassen. 
Dieser  ging  aber  nicht  vorbei,  sondern  trat  unter  den  Worten :  „Lassen 
Sie  mich  einmal"  dicht  an  das  Mädchen  heran  und  faßte  es  mit  den 
Händen  an  den  Kopf.  Dieses  erwiderte:  „Gehen  Sie  doch  weg**  und 
suchte  sich  von  ihm  loszumachen.  Wiedemann  ließ  sie  jedoch  nicht 
los,  .sondern  warf  sie  auf  die  rechte  Seite  des  Weges,  wo  ganz  nied- 
riges Laubholz  stand,  zu  Boden,  kniete  neben  ihr  hin,  griff  ihr  unter 
die  Röcke,  entblößte  sie  und  griff  ihr  an  die  Geschlechtsteile.  Das 
Mädchen  wehrte  sich  nach  Kräften,  schrie  auch  laut  um  Hülfe,  worauf 
er  mit  der  einen  Hand  ihr  den  Mund  zuhielt  und  mit  der  anderen 
sie  auf  den  Boden  niederdrückte.  Es  gelang  ihr,  die  Hand  von  ihrem 
Munde  fortzustoßen  und  sie  sagte  nun  zu  ihm,  sie  wolle  es  sich  gut- 
willig gefallen  lassen,  er  solle  sie  nur  loslassen.  Darauf  ließ  er  von 
ihr  ab.  Sie  richtete  sich  mit  dem  Aufrufe,  „Herr  Hartmann,  kommen 
Sie  schnell"  in  die  Höhe,  worauf  er  ihr  einen  Stoß  versetzte,  infolge 
dessen  sie  den  an  der  linken  Seite  des  Weges  befindlichen,  mit  nied- 
rigem Buschwerk  bewachsenen  Abhang  einige  Schritte  hinunter 
rutschte.  Wiedemann  blieb  noch  eine  Weile  auf  dem  Wege  stehen, 
vergriff  sich  aber  nicht  mehr  an  dem  Mädchen,  das  wieder  in  seine 
unmittelbare  Nähe  kam,  um  einen  ihrer  Schuhe  und  ihre  Kapuze 
aufzuheben.  Während  das  Mädchen  nach  Neuhof  zurückging,  setzte 
Wiedemann  seinen  Weg  nach  Weida  fort 

Er  kehrte  in  der  Herberge  zur  Heimat  ein,  holte  in  der  Stadt 
das  Ortsgeschenk  und  kaufte  sein  Abendbrot  ein,  welches  er  in  der 
Herberge  verzehrte.  Er  trank  Schnaps  dazu,  wurde  betrunken,  es 
wurde  ihm  übel,  er  erbrach  sich  im  Zimmer;  von  zwei  Handwerks- 
burschen nach  dem  Abtritt  geführt,  fiel  er  in  seiner  Trunkenheit  hier 
zu  Boden  und  blieb  liegen. 

In  der  Zwischenzeit  kehrte  der  abwesend  gewesene  Herbergswirt 
nach  Hause  zurück.  Dieser  hob  Wiedemann  in  die  Höhe  und  brachte 
ihn  an  die  Luft  —  auf  die  Straße.  Als  er  ihn  dann  los  ließ,  schlug 
Wiedemann  mit  der  Faust  nach  ihm.  Darauf  versetzte  der  Wirt  dem 
Wiedemann  einige  Ohrfeigen,  wobei  dieser  hinfiel  und  dann  mit  dem 
Fuße  den  Wirt  trat,  mit  seinem  Messer  nach  ihm  stieß.  Kaum  war 
der  Wirt  in  die  Gaststube  zurückgekehrt,  als  Wiedemann  von  draußen 
ein  Fenster  nach  dem  anderen  mit  der  Faust  einschlug. 

Mildernde  Umstände  wurden  von  den  Geschworenen  dem  Ange- 


Verbrecher-Lebenslaufe.  163 

klagten  nicht  bewilligt  Strafmilderad  wurde  berücksichtigt,  daß  die 
Tat  der  Vollendung  noch  nicht  ganz  nahe  gekommen  sei  und  die 
Verletzte  einen  großen  Schaden  nicht  gehabt  habe,  strafschärfend, 
daß  der  Angeklagte  eine  viel  bestrafte,  nichtsnutzige  und  gefährliche 
Persönlichkeit  sei  und  daß  eine  unglaubliche  Frechheit  dazu  gehöre, 
am  Tage  auf  öffentlichem  Wege  eine  anständige  Frauensperson  in  der 
Weise,  wie  es  geschehen,  anzufallen. 

Im  Mai  1895  bereits  klagten  die  Aufseher  über  freches  Betragen 
Wiedemanns.  Als  er  am  24.  Mai  beim  Abendessen  über  eine  Bank, 
auf  der  schon  mehrere  Gefangene  saßen,  hinwegschreiten  wollte,  wies 
ihm  der  Aufseher  einen  Platz  an.  Darüber  wurde  Wiedemann  ganz 
aufgebracht,  warf  sein  Brod  in  die  Schüssel,  stieß  diese  von  sich  und 
warf  seinen  Löffel  hin,  unverständliche  Worte  vor  sich  hinmurmelnd. 
Gegenüber  dem  Direktor  bezeichnete  er  die  Anzeige  darüber  als  falsch^ 
er  werde  weitere  Schritte  tun,  es  gebe  auch  höhere  Instanzen.  Der 
Disciplinarstrafe  von  vier  Tagen  schmaler  Kost  folgte  kurz  darauf 
eine  solche  von  zwei  Tagen,  im  August  wegen  Vergehens  gegen  die 
Hausregel  acht  Tage  verschärfter  Dunkelarrest,  im  November  wegen 
Gehorsamsverweigerung  2  Tage  schmale  Kost.  Im  März  1896  wird 
von  einem  Aufseher  gemeldet,  daß  Widmann  schon  längere  Zeit  zeige, 
die  Arbeit  im  Saale  wäre  ihm  zu  viel.  Ohne  Grund  habe  er  einen 
Mitgefangenen  auf  der  Treppe  zweimal  ins  Gesicht  geschlagen.  Er 
entgegnete,  seine  Mitgefangenen  könnten  ihn  nicht  leiden.  Diese  Roh- 
heit, die  er  nicht  einmal  entschuldigte,  trug  ihm  sechs  Tage  Dunkel- 
arrest ein. 

Am  28.  April  stand  beim  Landgericht  Gotha  eine  Hauptverhand- 
lung gegen  ihn  an.  Als  er  des  Transportes  nach  Gotha  wegen  aus- 
gekleidet wurde,  äußerte  er  zum  Aufseher. 

„Da  würde  der  Aufseher  wohl  mit  ihm  zu  tun  kriegen^. 

Darauf  ordnete  der  Hausmeister  an,  ihn  zu  schließen.  Widmann 
entgegnete:  „Sie  fressen  auch  noch  keinen'',  und  versuchte  auf  dem 
Wege  die  Fesseln  zu  sprengen  —  4  Tage  Dunkelarrest. 

Im  Mai  1896  beklagte  sich  der  Cigarrenfabrikant  darüber,  daß 
Widmann  nicht  einmal  die  Wickel  liefere,  die  ein  anderer  Gefangener 
eingerollt  habe,  daß  er  in  1 3  Monaten  die  Arbeit  neunmal  unterbrochen 
habe.    Er  möchte  von  einem  solchen  unsicheren  Arbeiter  befreit  sein» 

Am    7.  und   8.  Juni   verbüßte   er  Dunkelarrest  —  er  hatte  aus 

dem  Fenster  seiner  Zelle   den  Tauben  Erbsen  zugeworfen  und  dem 

dies  rügenden   Aufseher    frech   geantwortet    Nachher  fand  man  an 

den  Wänden  der  Arrestzelle  seinen  Namen  und  dazu  den  Satz:  Bache 

ist  süß,  hoch  lebe  die  Anarchie.    Widmann   leugnete  dies  verübt  zu 

11* 


164  IV.   SlEFERT 

haben  —  2  Tage  Dunkelarrest  und  Wiederinstandsetzung  der  Zellen- 
wände auf  Widmanns  Kosten. 

Der  Cigarrenfabrikant  meldet  im  Juli,  daß  er  Widmann  keine 
Cigarren  mehr  geben  könne,  da  er  den  ganzen  Tabak  verderbe  und 
alle  seine  Wickel  wieder  aufgemacht  werden  müßten.  Widmann  wird 
darauf  mit  Zellenarbeit  beschäftigt,  dann  mit  Kohlenabladen  und  Holz- 
spalten. Anfang  Dezember  äußerte  er  beim  £isbrechen  zu  Mitgefan- 
genen, daß  er  jetzt  mal  seinen  Kopf  durchsetzen  und  den  Aufseher 
Minuth  ärgern  wolle,  er  wolle  nun  einmal  wieder  in  der  Anstalt 
bleiben.  Am  Morgen  des  10.  Dezember  beachtete  er  dann  auch  beim 
Abmärsche  zum  Eisbrechen  das  laut  und  deutlich  gegebene  Commando 
des  Aufsehers  nicht.  Minuth  hatte  es  ihm  verwiesen,  daß  er  eigen- 
mächtig seinen  Arbeitsplatz  gewechselt  hatte.  Es  traf  ihn  eine  Strafe 
von  vier  Tagen  schmaler  Kost.  Nach  deren  Verbüßung  wurde  er  mit 
Feldarbeit  auf  der  Domäne  beschäftigt.  Am  Morgen  des  20.  Januar 
1897  wurde  im  Freien  mit  der  Maschine  gedroschen.  Minuth  stellte 
Widmann  mit  auf  dem  Fruchthaufen  an.  Nach  einer  Weile  steUte 
Widmann  seine  Gabel  zur  Seite,  rutschte  auf  der  hinteren  Seite  des 
Haufens  herab  und  wurde  flüchtig.  Auf  seinem  Wege  kam  er  durch 
Tottieben,  wo  er  von  einem  Gartenzaune  eine  dort  hängende  Hose 
und  Schürze  stahl.  Die  Anstaltshose,  welche  er  trug,  wechselte  er 
sofort  gegen  die  gestohlene  aus,  in  welcher  ein  Kniestück  eingesetzt 
war,  weshalb  er  sich  die  Schürze  vorband.  Die  Nacht  brachte  er  in 
einem  Diemen  zu.  Um  6  Uhr  abends  hatte  er  Sondershausen  passiert 
und  war  dann  beim  Chausseehause  Schersa  vorübergegangen.  „Noch 
ein  Stück  Wegs  weiter^',  sagt  er,  „bin  ich  erst  unter  eine  Brücke  ge- 
krochen, wo  ich  einige  Stunden  zubrachte,  es  war  mir  dann  aber  zu 
kalt  da  unten  und  bin  ich  dann  in  einen  Strohhaufen  links  von  der 
Straße  gekrochen".  Vormittags  9  Uhr  erschien  er  im  Wirtshause  zu 
Badra,  wo  ihm  Kaffee  gereicht  wurde.  Er  w^einte  und  war  halb  er- 
froren. Er  gab  an,  daß  er  nach  Halle  wolle,  ging  aber  in  der  Rich- 
tung nach  Sondershausen  fort;  gegen  11  Uhr  bat  er  im  Chaussee- 
hause Schersa  um  etwas  Essen,  gegen  Mittag  kam  er  in  Sonders- 
hausen an,  wo  er  sich  in  die  Herberge  zur  Heimat  begab,  in  der  er 
bis  2  Uhr  nachmittags  blieb.  Nach  6  Uhr  lief  bei  der  Zuchthaus- 
direktion eine  Depesche  aus  Sondershausen  ein,  nach  welcher  sich 
Widmann  beim  dortigen  Magistrat  gemeldet  hatte.  In  der  Zwischenzeit 
hatte  er  seine  guten  Anstalts-Schnürschuhe  und  die  wollene  Anstalts- 
ünterhose  veräußert  und  ein  paar  Stiefeletten  und  einen  alten  zer- 
rissenen Rock  dagegen  eingetauscht. 

Über  diesen  Fluchtversuch  machte  Widmann  die  verschiedensten 


Verbrecher-Lebenslaufe.  165 

Aussagen.  Vor  Allem  wollte  er,  daß  man  ihm  die  Ketten  wieder  ab- 
nehme. ,,Dann  will  ich  die  Wahrheit  eingestehen,  sonst  nicht,  und 
wenn  ich  die  Wahrheit  nicht  selbst  sagen  will,  erfährt  sie  auch  nie- 
mand. Wenn  ich  die  Ketten  nicht  abgenommen  kriege,  sage  ich  auch 
nichts  und  wenn  mir  nicht  geglaubt  wird,  brauche  ich  ja  auch  nichts 
zusagen".  Dann  wollte  er  die  Wahrheit  nicht  sagen  „und  wenn  er  gleich 
im  Anest  verrecken  müsse".    Disciplinarstrafe :  14  Tage  Dunkelarrest 

Gegen  Ende  des  Jahres  1897  wurde  Widmann  beim  Waschen 
beschäftigt.  Für  einen  ausscheidenden  war  kein  anderer  Wäscher 
eingestellt  worden,  was  dem  Widraann  nicht  paßte.  £r  wollte  des- 
halb, daß  die  Wäscher  mit  der  Wäsche  zurückbleiben,  sie  nicht  voll- 
ständig  waschen  sollten.  Auch  wusch  er  schlecht.  Am  1.  Dezember 
fand  der  Oberaufseher,  daß  eine  Anzahl  Hemden  sehr  schlecht  ge- 
waschen worden  waren.  Er  brachte  dieselben  zu  den  Wäschern  zu- 
rück und  machte  ihnen  Vorhaltungen.  Keiner  von  ihnen  wollte  die 
beanstandeten  Hemden  gewaschen  haben,  bis  plötzlich  Weidmann 
höhnisch  erklärte:    Na,  da  habe  ich  sie  gewaschen. 

Der  Gefangene  Schlag  hatte  beobachtet,  daß  Widmann  nur  eine 
Seite  an  den  Hemden  gewaschen  hatte,  und  dem  Gefangenen  Lauter- 
bach, welchem  die  Aufsicht  beim  Waschen  oblag,  dies  mitgeteilt. 
Lauterbach  hatte  schon  vorher  gemerkt,  wie  schlecht  Widmann  wusch, 
er  hatte  sich  aber  bis  dahin  gefürchtet,  Widmann  etwas  darüber  zu 
sagen,  weil  derselbe  ihm  mit  Schlägen  gedroht  hatte.  Nun  fing  am 
2.  Dezember  Widmann  im  Waschhause  mit  Schlag  Streit  an,  schimpfte 
ihn  und  packte  ihn  an  der  Gurgel.  Da  pochte  Lauterbach  an  der 
Tür  und  der  herbeieilende  Hausmeister  stellte  die  Ruhe  wieder  her. 
Dabei  ergab  sich,  daß  Widmann  seine  Kameraden  mit  Durchprügeln 
bedroht  hatte.  Er  wolle  nur  erst  Weihnachten  vorbei  lassen,  dann 
wolle  er  jedem  von  ihnen  einmal  das  Fell  recht  aushauen.  Sämmt- 
liche  Wäscher  hätten  sich  vor  Widmann  gefürchtet.  Auch  mit  den 
Waschbürsten  trieb  Widmann  seinen  Unfug.  Nach  und  nach  steckte 
er  deren  drei  in  den  Ofen  unter  dem  Kessel.  Wenn  es  auch  abge- 
nützte Bürsten  waren,  so  mußten  sie  doch  vorgelegt  werden,  um  Er- 
satzbürsten  dafür  zu  erhalten.  Einer  der  Wäscher,  Müller  II,  machte 
ihm  deshalb  Vorwürfe,  worauf  er  erklärte,  er  wolle  sagen,  es  seien 
keine  Bürsten  in's  Waschhaus  gekommen.  Natürlich  wäre  diese  Aus- 
rede sofort  schon  durch  das  Inventarverzeichnis  widerlegt  worden 
—  deshalb  wollte  er  später  Schlag  beschuldigen,  die  Bürsten  weg- 
gebracht zu  haben.  Als  der  Oberaufseher  mit  den  Wäschern  wegen 
der  schlechten  Wäsche  verhandelte,  erklärte  Widmann  auch,  er 
könne  die  Hemden  nicht  reiner  waschen,  indem  er  keine  Bürsten  hätte. 


166  IV.   SiEFERT 

Der  Vorgang  hatte  dauernde  Isolierung  Widmanns  zur  Folge 
neben  sechs  Tagen  schmaler  Kost. 

Das  Landgericht  Gotha  verurteilte  ihn  1896  wegen  falscher 
Anschuldigung  zu  9  Monaten  Gefängnis  und  das  Landgericht 
Erfurt  1897  wegen  Diebstahls  i.  w.  R  zu  6  Monaten  Gefängnis.  Die 
erste  Strafe  verbüßte  er  im  Gerichtsgefängnisse  zu  Ichtershausen  vom 
21.  April  1898  ab. 

Eines  Tages  im  Juni  nahm  ihm  der  Mitgefangene  Förster  ein 
Klopfeisen  weg,  weil  er  damit  einen  anderen  Mitgefangenen  schlagen 
wollte  und  da  —  sagte  Förster  —  „Widmann  ein  unverträglicher 
Mensch  ist  und  wir  im  Eorbsaale  beschäftigten  Gefangenen  uns  schon 
immer  in  Acht  vor  ihm  genommen  und  fast  gar  nicht  mit  ihm  ge- 
sprochen haben''.  Am  4.  Juli  beim  Weidenholen  schlug  Widmann 
den  Gefangenen  Döring  und  dann  mit  einem  Knüppel  den  Gefan- 
genen Werner  über  das  Kreuz.  Werner  erzählte  dann  dem  Förster, 
daß  Widmann  ihn  mit  dem  Klopfeisen  schlagen  wolle.  Nach  kurzem 
Wortwechsel  gingen  Widmann  und  Förster  auf  einander  los,  Wid- 
mann erfaßte  ein  Schnitzmesser  und  hackte  damit  nach  Förster,  wo- 
bei er  ihm  am  linken  Unterarm  eine  10  cm  lange  Schnittwunde  bei- 
brachte. Später  zerschlug  Widmann  in  der  Zelle,  in  die  er  gebracht 
wurde,  aus  Wut  seinen  Eßnapf.  Als  am  Morgen  des  6  August  der 
Aufseher  ihm  in  der  Zelle  Rohr  zur  Verarbeitung  geben  wollte,  trat 
ihm  Widmann  mit  den  Worten  entgegen: 

^Machen  Sie,   daß  Sie  'naus  kommen   oder  ich   schmeiße  Sie 

mit  samt  dem  Bohr  die  Zelle  'naus. 
Als  der  Aufseher    die  Zelle  schließen    wollte,    riß  Widmann  die 
Tür  auf  und  schlug  sie  ihm  ins  Gesicht  und  rief: 

„Ich  bin  schon  im  Zuchthause  gewesen,  Ihr  macht  mich  hier 

nicht  mürbe**. 
Beim  Direktor   leugnete   er   zwar  im  Wesentlichen   und  wollte 
wegen  Schmerzen  in  den  Fingern  die  Bohrarbeit  nicht  mehr  machen 
können,  im  aufgeregtem  Tone  fing  er  aber  an  zu  räsonieren  und  sagte: 

„Ihr  macht  mich  nicht   mürbe.    Ihr  könnt  machen,   was  Ihr 

wollt.    Ihr  wollt  es  wohl  so  machen,  wie  in  Gräfentonna.   Ich 

verlange  andere  Arbeit,  ich  will  Kuverte  machen"  u.  s.  w. 
Am  Nachmittage  des    16.  September  1898    sang  und  pfiff  Wid- 
mann laut  in  seiner  Zelle.    Als  ihm  ein  Aufseher  dies  verwies,  sagte 
er  in  lautem  Tone  zu  ihm: 

„Sie   haben    mir  nichts    zu   befehlen    und   können   mir   den 

Buckel  hinaufsteigen.    Mehr  wie  Arrest   könnt  Ihr  mir   doch 

nicht  geben". 


Verbrecher-Lebenslaufe.  167 

Fortwährend  und  allen  Zurechtweisungen  zum  Trotze  störte  er 
durch  lautes  Rufen  und  Johlen  und  durch  heftiges  Pochen  gegen  die 
Zellentüre  die  Buhe.  Am  Morgen  des  18.  September  lag  er  auf 
seinem  Bette,  die  Aufforderung,  aufzustehen,  beantwortete  er  mit  den 
Worten: 

^Da  sind  sie  ja  schon  wieder,  die  verfluchten  Hunde,  die 
wollen  mich  tot  schlagen,  ich  werde  verfolgt.  Gott,  hilf  mir! 
Die  verfluchten  Gespenster". 

Beim  Ausgehen  rief  er  dem  Kalfaktor  zu: 
,, Guten  Morgen,  Herr  Regierungspräsident". 

Nachdem  die  Zelle  wieder  geschlossen  war,  warf  er  den  Topf 
mit  dem  Essen  gegen  die  Tür.  Vom  Spazier-  und  Kirchgang  blieb 
er  zurück,  indem  er  äußerte: 

„Ach  was,  mir  hat  niemand  etwas  zu  sagen;  ich  bleibe  in 
meiner  Bude". 

Als  er  am  Tage  darauf  dem  Arzt  vorgeführt  werden  sollte,  sagte 
er,  er  sei  krank.  Dem  ihn  besuchenden  Arzte  erklärte  er,  er  sei 
Ravachol  aus  Paris,  sei  Anarchist,  4  Jahre  „hier"  wegen  Leichen- 
schändung. Der  Anstaltsarzt  erklärt  unter  Vorbehalt  eines  abschliessen- 
den Urteils,  daß  Widmann  den  Eindruck  eines  geistesgestörten,  vor- 
wiegend an  Verfolgungsideen  leidenden  Menschen  macht.  Meist  ver- 
hielt Widmann  sich  dann  ruhig.  Am  10.  Oktober  empfing  er  seine 
Winterkleider;  als  er  in  die  Zelle  zurückkam,  zog  er  die  Jacke  aus 
und  zerriß  sie  vor  den  Augen  des  Aufsehers  mit  den  Worten:  Solchen 
Bruch  kann  ich  nicht  brauchen.    Am  10.  Oktober  erklärte  der  Arzt: 

„Die  Beobachtung  des  Gef.  Widmann  hat  ergeben,  daß  der- 
selbe nicht  geistesgestört  ist,  gleichwohl  kann  nicht  an- 
genommen werden,  daß  der  Gefangene  die  anfänglichen  Er- 
scheinungen simuliert  hat.  Widmann  scheint  erblich  be- 
lastet zu  sein  und  soll  sorgfältig  beobachtet  werden.  Der 
Gefangene  bleibt  noch  einige  Tage  zu  Bett". 

Widmann  erklärte  zu  der  letzten  Anordnung,  das  Bettliegen  könne 
ihn  nicht  kurieren,  er  wolle  frische  Luft  und  anderes  Essen.  Am 
10.  November  verweigerte  er  die  Arbeit  des  Federschleißens;  von 
dem  Anstaltsvorstande  ließ  er  sich  nicht  belehren,  sondern  erging  sich 
in  nngebührUchen  Redensarten.    Er  äußerte: 

„Gebt  mir  die  Arbeit,  welche  ich  kann;  die  Federn  rupfe  ich 
nicht,  ich  habe  andere  Arbeit  zu  verlangen.  Ich  weiß  aber, 
warum  ich  nicht  herauskomme;  Ihr  denkt,  ich  schlage  einen 
tot.    Feige  seid  Ihr,  feige  seid  Ihr". 


168  IV.    SlEFERT 

Beim  Abführen  äußerte  er: 

„Es  soll  mich  nur  ein  solcher  Hund  angreifen,  ich  beiß  ihm 
gleich  die  Nase  weg,  daß  er  zeitlebens  geschändet  ist. 

Am  13.  Novbr.  98  nach  dem  Kundgange  des  Direktors  jodelte 
er  in  seiner  Zelle  zweimal  laut  auf.  Am  21.  Dezbr.  erfolgte  seine 
Überführung  nach  Erfurt  behufs  Vollstreckung  der  dort  gegen  ihn 
erkannten  Strafe  von  6  Monaten  Gefängnis. 

Etwa  im  Januar  1900  hielt  Wiedemann  beim  Landwirt  Reinhold 
Eudolf  zu  Geresdorf  bei  Saalfeld  um  Arbeit  an.  Nach  einigen  Tagen, 
an  denen  er  arbeitete,  ließ  er  sich  in  das  Krankenhaus  zu  Gräfenthal 
aufnehmen,  von  wo  er  am  16.  Februar  zurückkehrte.  Am  24.  Februar 
gegen  11  Uhr  vormittags  ging  Rudolph  nach  Saalfeld,  nachdem  er 
mit  Wiedemann  gefrühstückt  hatte.  Irgend  welche  Differenzen  waren 
zwischen  ihnen  nicht  vorgekommen.  Zu  Mittag  erschien  Wiedemann 
nicht  ungerufen,  er  arbeitete  im  Garten.  Die  Mutter  der  Frau  Rudolph 
schickte  ihre  fünfjährige  Enkelin  Martha  Rudolph  ab,  um  Wiedemann 
zum  Essen  zu  holen.    Dieser  hat  sich  dahin  geäußert: 

„Ich  wollte  erst  nicht  kommen,  weil  ich  keinen  Hunger  hatte, 
bin  dann  aber  doch  mitgegangen.  Martha  sagte  mir  auf 
dem  Wege,  ihr  Vater  hätte  ihr  gesagt,  er  könne  ihn  nicht 
mehr  brauchen.^ 

Martha  Rudolph  hat,  soweit  etwas  aus  ihr  herauszubringen  war, 
bestätigt,  zu  Wiedemann  gesagt  zu  haben,  daß  er  gehen  könne.  Vor 
der  Haustüre  sagte  dieser  laut  vor  sich  hin: 

„wenn  sie  (sc.  die  Frauen)  nichts  drin  gehabt  hätten,  könne 
das  Mädchen  nicht  sagen,  er  solle  fort." 

Frau  Rudolph  erwiderte  ihm,  sie  hätten  nichts  über  ihn  gehabt, 
er  brauche  nicht  fort,  es  habe  ihm  ja  niemand  etwas  zu  leid  getan, 
worauf  er  erklärte,  daß  es  überall  Arbeit  gebe.  Frau  Rudolph  ent- 
gegnete, daß  ihr  Mann  ihr  bereits  mitgeteilt  habe,  er  wolle  nicht 
länger  als  acht  Tage  arbeiten.  Nach  dem  Mittagsessen  zog  sich 
Wiedemann  an  und  verlangte  dann  von  der  Schwiegermutter  Rudolphs, 
der  Wittwe  Köhler,  seine  Papiere,  welche  ihm  sagte,  daß  sie  sie  nicht 
habe.  Darauf  ging  er  zu  Frau  Rudolph,  die  auf  dem  Boden  war. 
Er  wiederholte  das  Verlangen  nach  seinen  Papieren,  aber  auch  Frau 
Rudolph  hatte  sie  nicht  und  sagte  ihm,  er  müsse  warten,  bis  ihr 
Mann  käme.  Kurze  Zeit  darauf  ging  er,  die  brennende  Zigarre  im 
Munde,  über  den  Hof  in  den  Pferdestall,  dann  legte  er  sich  müßig 
in  den  Garten.  Hierauf  erschien  er  wieder  in  der  Wohnstube,  in  der 
sich  jetzt  beide  Frauen  befanden,  und   verlangte  seinen   verdienten 


Verbrechor-Lehenalaufe.  169 

Lohn.     Frau  Rudolph  sagte  zu  ihm:  Sie  haben  keine  Ursache  fort- 
zugehen, worauf  er  antwortete: 

„Ursache  genug  mit  dem  Kinde.    Es  hat  gesagt,  ich  könne 
geben,  das  kann  ich  behaupten/^ 

Beide  Frauen  bestritten,  daß  sie  etwas  derartiges  gesagt  hätten, 
er  aber  blieb  bei  seiner  Behauptung  und  wurde  schließlich  so  böse, 
daß  er  in  die  Hände  spuckte,  diese  rieb  und  auf  die  ältere  Frau  los 
ging.  Frau  Rudolph  packte  ihn  vorn  am  Rockkragen  und  forderte 
ihn  auf,  die  Stube  zu  verlassen,  worauf  Wiedemann  sie  mit  der 
flachen  Hand  ins  Gesicht  schlug  und  auf  den  Hof  ging.  Hier  hob 
er  mit  den  Worten  „Mensch  verdammtes"  eine  Mistgabel  in  die  Höhe, 
ließ  sie  aber  wieder  fallen,  als  er  das  Dienstmädchen  erblickte. 

Wiedemann  erklärte  in  der  Voruntersuchung,  daß  er  sofort  von 
Rudolph  habe  weggehen  und  dessen  Rückkehr  nicht  habe  abwarten 
wollen,  weil  dieser  meist  erst  in  der  Nacht  zurückgekommen  sei. 
Er  ging  auch  weg,  trank  in  der  Schänke  einen  Schnaps,  wanderte 
dann  nach  Saalfeld,  von  wo  er  gegen  5  Uhr  zurückkehrte.  Er  be- 
gab sich  in  den  Rudolphschen  Garten,  wo  er,  wie  er  später  sagte, 
die  Absicht  faßte,  das  Rudolphsche  Haus  in  Brand  zu  setzen,  um 
sich  für  die  Weigerung  der  Lohnauszahlung  und  Papierherausgabe 
zu  rächen. 

Er  raufte  eine  Hand  voll  dürren,  im  Garten  stehenden  Grases 
aus,  schwang  sich  in  dem  Winkel,  den  das  Rudolphsche  Haus  mit 
der  Scheune  des  Nachbars  Gutheil  bildet,  auf  den  1  Meter  über  dem 
Boden  befindlichen  Mauervorsprung  der  Scheune,  steckte  von  hier 
aus  das  Gras  unter  die  Bretterbekleidung  des  ersten  Stockwerkes  des 
Rudolphschen  Hauses,  zündete  das  Gras  mit  einem  schwedischen 
Streichholze  an  und  entfernte  sich,  nachdem  er  gesehen,  daß  dasselbe 
Feuer  gefangen  hatte. 

Der  Nachbar  Gutheil  gewahrte  —  es  war  zwischen  V2  und  ^u  6 
Uhr  —  von  seinem  Hofe  aus  den  Rauch  und  Feuerschein.  Auf 
seinen  Feuerruf  erschien  Frau  Rudolph,  schöpfte  aus  dem  vorbei- 
fließenden Bache  Wasser,  welches  sie  nach  dem  Feuer  schleuderte, 
das  Gras  fiel  zu  Boden  und  das  Feuer  erlosch.  Die  vom  Feuer  er- 
griffenen Balken  und  Bretter  waren  etwa  1  cm  tief  angekohlt. 

Wiedemann  wurde  gegen  7V2  Uhr  oberhalb  des  Dorfes  auf  dem 
benachbarten  Kaimberge  von  einem  Geresdorfer  Einwohner  verhaftet 
und  erzählte  dem  ihn  in  das  Amtsgericht  zu  Saalfeld  transportierenden 
Feldjäger,  er  wäre  dumm  gewesen,  daß  er  nicht  das  Stroh  auf  den 
Schweineställen  angezündet  habe. 


170  IV.  SiEFERT 

Wiedemann— Narr  wurde  am  26.  März  190Ü  vom  Schwurge- 
richte zu  Rudolstadt  wegen  Brandstiftung  zu  fünf  Jahren  Zuchthaus 
verurteilt.  In  den  Entscheidungsgründen  hob  das  Gericht  hervor, 
daß  der  Angeklagte  durch  seine  kaltblütig  begangene  Tat  die  größte 
Gleichgültigkeit  gegen  das  Vermögen  vo^  Leuten  an  den  Tag  gelegt 
habe,  bei  denen  er  Arbeit  gefunden,  und  daß  ihm  offenbar  der  Sinn 
für  Recht  und  Unrecht  vollständig  abhanden  gekommen  sei. 

Am  3.  April  1900  wurde  Wiedemann — Narr  in  das  Zuchthaus 
zu  Untermaßfeld  eingeliefert.  Am  6.  Juni  stellte  er  ohne  triftigen 
Gmnd  die  Arbeit  ein,  was  sich  dann  öfter  wiederholte,  am  25.  Juni 
schlug  er  aus.  geringfügigem  Anlasse  einem  Mitgefangenen  ins  Ge- 
sicht. Auch  am  17.  November  stellte  er  plötzlich  die  Arbeit  ein,  er 
verlangte  zum  Direktor  geführt  zu  werden,  gegen  einen  Mann  könne 
er  sich  wehren,  aber  nicht  gegen  sechs  oder  sieben.  Man  sei  seines 
Lebens  nicht  sicher.  Er  beantragte  seine  Isolierung,  welche  erfolgte. 
Am  10.  Dezember  verbarrikadierte  er  seine  Zellentür,  er  fürchtete, 
daß  er  umgebracht,  vergiftet  werde,  denn  nachts  ständen  immer 
Leute  vor  seiner  Zellentür,  der  Aufseher  Seh.  und  der  Kirchenrat, 
letzterer  banne  ihn  immer,  so  daß  er  nicht  arbeiten  könne;  er  solle 
einen  Mord  begangen  haben,  aber  er  könne  doch  nicht  eingestehen, 
was  er  nicht  begangen  habe.  Am  11.  Januar  19.01  zerbrach  er 
seinen  Krug,  weil  der  Kaffee,  den  er  daraus  trank,  nach  Seife 
schmeckte. 

Zunächst  wurde  Simulation  Wiedemanns  vermutet.  Als  aber  im 
Februar  1901  ein  sehr  erregter  Zustand  bei  ihm  eintrat,  er  zu  Ge- 
walttätigkeiten sich  geneigt  zeigte  und  die  Ruhe  und  Ordnung  des 
Hauses  störte,  wurde  mit  „höchster  Wahrscheinlichkeit  auf  das  Vor- 
handensein einer  Geistestörung  geschlossen.^ 

Am  6.  März  1901  wurde  er  in  die  herzogliche  Irren-Heil-  und 
Pflegeanstalt  übergeführt,  von  wo  am  10.  April  mitgeteilt  wurde,  daß 
Wiedemann  an  zahlreichen  Täuschungen  im  Gebiete  des  Gehörsinnes 
und  des  Gemeingefühls  sowie  daraus  sich  herleitenden  Wahnvor- 
stellungen leide.  Er  glaubte  von  der  Decke  her  die  Stimme  des 
Geistlichen  in  Untermaßfeld  zu  hören,  der  ihn  dort  durch  Vermittlung 
eines  besonders  dressierten  fremdartigen  Vogels,  welcher  ihn  nach 
Untermaßfeld  begleitet  habe  und  nicht  verlasse,  für  seinen  Sohn  er- 
klärt habe.  Wiederholt  legte  er  sich  in  Folge  davon  andere  Namen 
bei.  Er  hörte  Zurufe  feindseligen  und  bedrohlichen  Inhaltes,  wähnte 
vergiftet  und  ermordet  zu  werden  und  trat  in  Reaktion  auf  solche 
Täuschungen  mitunter  sehr  heftig  und  drohend  auf.  Er  wollte  z.  B. 
irgend  jemand  ermorden,  ehe  man  ihn   selbst   ums  Leben   bringen 


Verbrecher-Lebenslaufe.  171 

könne.  Daneben  äußerte  er  sich  gelegentlich  entrüstet  und  wütend 
über  Mißhandlungen  und  Quälereien,  die  auf  elektrischem  Wege  an 
ihm  ausgeübt  würden. 

Am  5.  Juni  1901  entwich  er  aus  der  Anstalt  und  trieb  sich 
dann  bettelnd  umher,  am  10.  Juni  wurde  er  von  Sonneberg  aus 
zurückgebracht 

Widmann — Narr  war  unzweifelhaft  geisteskrank.  Die  Krankheit 
wurde  zunächst  als  akutes,  hallucinatorithes  Irresein  bezeichnet,  später 
aber  ausgesprochen,  daß  die  Verlaufsweise  der  Geisteskrankheit  Wid- 
manns  einen  chronischen  Charakter  an  sich  trage.  Am  29.  Septbr. 
1902  wurde  er  in  die  königl.  sächs.  Anstalt  zu  Waldheim  überge- 
führt, von  wo  am  16.  März  1903  erklärt  wurde,  daß  Widmann  an 
unheilbarer  Geisteskrankheit  leide. 

3.  Der  Schlosser  Albert  Z  ö  b  i  s  c  h  aus  Lengenfeld,  geb.  am 
23.  August  1874,  zuerst  bestraft  vom  Schöffengericht  zu  Heilbronn 
am  13.  Dezbr.  1893  wegen  Diebstahls  mit  1  Tag  Gefängnis,  dann 
18  9  4  und  18  9  5  in  Dresden,  Glückstadt,  Schwarzenbeck,  Kiel, 
Schleswig,  Leipzig  wegen  Betteins  und  am  19.  Dezember  1896 
vom  Landgerichte  Gera  wegen  3  vollendeter  und  3  versuchter 
schwerer  Diebstähle  mit  2V4  Jahren  Zuchthaus,  wurde  am  14.  Sep- 
tember 1901  vom  Landgerichte  Weimar  trotz  seines  Leugnens  wegen 
vollendeten  und  versuchten  schweren  Diebstahls  i.  w.  R.,  begangen 
mittelst  Einbruches,  Einsteigens  und  Erbrechens  von  Behältnissen, 
sowie  mittelst  Anwendung  von  zur  ordnungsmäßigen  Oeffnung  von 
Gebäuden  und  im  Innern  derselben  befindlichen  Behältnissen  nicht 
bestimmten  Werkzeuge  zu  einer  Zuchthausstrafe  von  8  Jahren  ver- 
urteilt   (§  73  StG.B.). 

Die  Geraer  Strafe  verbüßte  er  im  Zuchthause  zu  Untermaßfeld 
bis  19.  3.  1899.  Bei  seiner  neueren  Verhaftung  am  13.  3.  1901 
erklärte  er  vor  der  Polizei  Weimar:  Seitdem  (19^  3.  99)  habe  ich 
keinen  festen  Wohnsitz  und  auch  keine  ständige  Arbeit,  ich  bin 
meistens  auf  Beisen.  Vom  März  bis  Oktober  1899  zog  ich  mit  dem 
Karusselbesitzer  Sachs  aus  Gotha  umher,  vom  1. — 24.  Februar  1900 
war  ich  in  Gotha,  von  Pfingsten  ab  etwa  5  Wochen  in  Untersuchungs- 
haft, im  Frühjahr  2  Monat  und  im  Herbste  1  Monat  beim  Karussel- 
besitzer Moll  in  Hannover  in  Stellung.  In  der  Zwischenzeit  habe  ich, 
immer  auf  Reisen,  die  von  mir  und  einem  Bekannten,  Klempner 
Zieger  erfundenen  „Kunstringe"  angefertigt  und  im  Umherziehen 
vertrieben.  Einen  Wandergewerbeschein  hatte  ich  nicht,  ich  bekam 
keinen.  Neuerdings  habe  ich  die  Kunstringe  nicht  selbst  angefertigt, 
sondern  von  Zieger  bezogen.    Ich  bezahle  für  das  Dutzend  10  M., 


172  IV.   SiEFERT 

verkaufe  das  Stück  für  2  M.  und  2  M.  50  Pf.  oder  verdiene  noch 
mehr  durch  Wetten. 

Zöbisch    gab    zu^   in    Dänemark   Diebstähle   verübt  zu   haben. 
Daher  sollte  das  Geld  stammen,  welches  er  bei  sich  führte,  und  seit 
jener  Zeit  wollte  er  die  bei  ihm  gefundenen  Dietriche  und  sonstigen 
Diebshandwerkszeuge  besitzen.    Die  ihm  abgenommenen  Lichtstümpfe 
wollte  er  bei  sich  führen,  weil  er  immer  in  fremden  Häusern  schlafe 
und  der  Lichter  bedürfe,  um  sich  nachts  zurechtzufinden.    Über  seinen 
Aufenthalt  in  einer  bestimmten,  eine  Woche  zurückliegenden  Nacht 
befragt,  erklärte  er  nach  seiner  am  13.  3.  1901  erfolgten  Festnahme: 
„Ich  bin  augenblicklich  wirklich  nicht  in  der  Lage,  anzugeben, 
wo  ich  in  der  Nacht  vom  5./6.  März  1901  war.    Ich  werde 
später   schon   mit    dem    Herrn   Untersuchungsrichter  überein- 
kommen'^ 
In  Bezug  auf  Diebstähle,  die  einige  Tage  später  in  Apolda  und 
Jena  verübt  waren,  sagte  er: 

„Ich  habe  nichts  damit  zu  tun  und  bin  vorige  Woche  weder 
in  Apolda  noch  in  Jena  gewesen.    Meine  Beweise  werde  ich 
zuletzt  bringen,  da  wird  sich 's  zeigen'^. 
Gegen  den  Amtsrichter  ließ  er  sich  dahin  vernehmen: 

^;Ehe  ich   genauere  Angaben  mache,  muß  ich  mir  die  Sache 
erst  überlegen", 
gegenüber  dem  Untersuchungsrichter  des  Landgerichts  Weimar  aber 
erklärte  er: 

„Nähere  Zeitangaben   kann  ich  überhaupt  nicht  machen,  ich 
muß  mir  meine  ganzen  Reisen  erst  noch  überlegen'' 
und  auf  den  Vorhalt,  daß  er  seit  der  polizeilichen  Vernehmung  doch 
Zeit  genug  dazu  gehabt  habe: 

„er  sei  noch  nicht  ins  Reine  gekommen". 
Am  6.  April  zeigte  der  Gefangenmeister  an,  daß  Zöbisch  seit 
zwei  Tagen  den  Verrückten  spiele.  Er  werfe  die  in  seiner  Zelle  be- 
findlichen Gegenstände  umher,  habe  sein  Lesebuch  zum  Fenster  hin- 
ausgeworfen, trete  fortwährend  nach  der  Zellentür,  pfeife  auf  den 
Fingern.  Wenn  man  zu  ihm  in  die  Zelle  komme,  habe  er  den 
Haftbefehl  in  der  Hand,  sage,  er  verstehe  das  nicht,  er  wolle  fort, 
es  wäre  das  letzte  Mal,  daß  er  sein  Essen  nehme.  Es  wurde  der 
I^ndgerichtsarzt  um  Äußerung  über  den  Zustand  des  Angeschuldigten 
ersucht.  Dieser  erklärte  am  7.  April,  er  habe  Zöbisch  untersucht, 
Schlaf  und  Appetit  seien  nicht  gestört,  das  Gedächtnis  hätte  an- 
scheinend nicht  gelitten.  Einige  verkehrte  Handlungen  —  Verstecken 
unter  dem  Bett,  sinnloses  Schwätzen  —  machten  den  Eindruck,  daß 


Verbrecher-Lebenslaufe.  173 

es  sich  um  wohl  überlegte  Verkehrtheiten  handele.  Zwangsvor- 
stellungen fehlten.  Der  Arzt  hatte  den  Eindruck,  daß  Zöbisch 
simuliere,  er  falle  oft  aus  der  Bolle  des  wilden  Mannes  heraus. 
Am  9.  Mai  berichtete  der  Gefangenmeister,  daß  der  Angeschul- 
digte sich  seit  einigen  Tagen  wieder  aufgeregt  benehme.  Er  habe 
den  Strohsack  und  sein  Eopfkeilkissen  zerrissen,  von  seiner  wollenen 
Decke  einen  Streifen  heruntergerissen,  das  Luftfenster  der  Zelle 
berabgerissen.  Der  Untersuchungsrichter  vernahm  ihn  über  diese 
Sachbeschädigungen,  welche  er  mit  dem  Bemerken  zugab,  „er 
bandle  manchmal  wie  im  Traum^.  Es  folgte  eine  Disziplinar- 
strafe (hartes  Lager),  nachdem  der  Arzt  sich  dahin  geäußert  hatte, 
daß  sie  ohne  Schaden  für  den  Gefangenen  geschehen  könne.  Sie 
wurde  in  den  Nächten  vom  13./14.  und  15./16.  Mai  vollstreckt 

Schon  am   13.  Mai  erscheint  eine  neue  Meldung  des  Gefangen- 
meisters: „Zöbisch  hat  in  verflossener  Nacht  in  einer  solchen  Weise 
getobt,  daß  sämtliche  Insassen  sowie  die  Bewohner  des  Hauses  keine 
Ruhe  gehabt  haben.    Derselbe  hat  wie  ein  wildes  Tier  gebrüllt,  den 
Stuhl  zerschlagen,  sich  nackt  ausgezogen  und  dann  alles  zum  Fenster 
hinausgeworfen.    Auch   fing  derselbe  an,  den  Kalk  an  den  Wänden 
abzustoßen  und  die  Mauersteine  blos  zu  legen.    Heute  morgen,  als 
ihm    die    Bekleidung   wieder   angeboten   worden   war,   hat   er  sich 
wieder    angekleidet".     Nach    Bedrohung    des    Angeschuldigten    mit 
neuen  Disziplinarstrafen  legte  der  Untersuchungsrichter  die  Akten  dem 
Landgerichtsarzte  von  neuem  vor.    Derselbe  erklärte  am  14.  5.  1901: 
„Der  Unterzeichnete  hat  den  Gefangenen  Zöbisch  schon  ein- 
mal  auf   seine  Zurechunngsfähigkeit   untersucht;    er  war  zu 
der   Auffassung   gekommen,    daß    Simulation   vorliege.    Jetzt 
kehrt  derselbe  Ideenkreis  wieder,  nachdem  der  Gefangene  sich 
ruhig   und   verständig  gehalten   hat.    Ich   habe  Zweifel,   daß 
nur  Simulation   vorliegt   und    empfehle   Beobachtung   in    der 
psychiatrischen  Klinik". 
Nach  Zöbisch's  Überführung  in  die  Jenaer  Klinik  am  12.  Juni 
fragte  die  Staatsanwaltschaft  Mitte  Juli  bezüglich  des  Ergebnisses  der 
Beobachtung   an,  worauf  unter  dem   17.  Juli  erwidert    wurde,  daß 
während  der  ersten  Zeit  seines  Aufenthaltes  krankhafte  Erregungs- 
zustände bei  Zöbisch  wahrgenommen  worden,  daß  dieselben  aber  zur 
Zeit  geschwunden  seien.    Er  benahm  sich  jetzt  ruhig  und  geordnet, 
mache  aber   dabei  den  Eindruck  eines  listigen  und   verschlagenen 
Menschen.     Erkundigungen  bei  seinen  Lehrern  hätten  ergeben,  daß 
er  während  der  Schulzeit  ein  ordentlicher  Junge  gewesen, 
aber  in  seiner  geistigen  Entwicklung  zurückgeblieben  sei. 


174  IV.    SiEFERT 

Über  den  GeisteszuBtand  zur  Zeit  der  Begehung  der  Strafhandlungen 
vermöge  man  ein  Urteil  nicht  abzugeben.  Das  Gutachten  der  An- 
staltsdirektion ging  am  27.  Juli  ein.  Dasselbe  ging  dahin,  daß 
Zöbisch  sowohl  jetzt  als  auch  zur  Zeit  der  Begehung  der  strafbaren 
Handlungen  geistig  gesund  war.  Doch  wurde  nochmals  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  es  sich  um  einen  Menschen  handele,  der  in 
seiner  geistigen  Entwickelung  zurtLck  geblieben  sei  und  einen  aus- 
gesprochenen ethischen  Defekt  zeige. 

Er  hatte  angegeben,  daß  er  in  seiner  Jugend  an  Erampfanfällen 
gelitten  habe,  keiner  seiner  Lehrer  hatte  sich  jedoch  erinnern  können, 
daß  er  jemals  einen  solchen  gehabt  habe.  Dagegen  war  seine  An- 
gabe bestätigt  worden,  daß  seine  Schulleistungen  stets  unter  dem 
Normalmaße  zurückgeblieben  und  er  in  der  Schule  nur  bis  zur 
zweiten  Klasse  kam.  Nach  seiner  Schulzeit  war  er  zunächst  drei 
Jahre  bei  einem  Schlosser  in  der  Lehre.  Dann  arbeitete  er  bei  ver- 
schiedenen Meistern,  teils  war  er  auf  der  Wanderschaft  Er  kam  da- 
bei nach  Dänemark,  Bayern,  fuhr  einmal  als  Heizer  nach  New- York. 
Alkoholismus  gestand  er  zu. 

In  psychischer  Beziehung  zeigte  er  sich  in  der  Irrenanstalt  an- 
fangs ruhig  und  geordnet,  etwas  stumpf  und  gleichgültig.  Den  Cha- 
rakter der  Anstalt  wollte  er  anfangs  nicht  kennen,  er  schloß  erst  in 
umständlicher  Weise  darauf  aus  den  Beobachtungen  an  den  Mitbe- 
wohnern des  Zimmers.  Doch  war  ihm  der  seine  Einlieferung  in  eine 
Irrenanstalt  anordnende  Beschluß  der  Strafkammer  zugestellt  worden. 

Am  18.  Juni  änderte  sich  sein  Verhalten.  Sein  Gesichtsausdruck 
erschien  bei  der  Unterhaltung  blöde,  erstaunt,  fragend;  er  verstand 
die  an  ihn  gerichteten  Fragen  nur  schwer,  gab  langsam  und  zögernd 
irre  Antworten.  In  der  Nacht  zum  19.  Juni  schlich  er  auf  Händen 
und  Füßen  aus  seinem  Bett  in  das  offenstehende  Nebenzimmer  und 
versuchte,  die  dort  liegende  Zeitung  an  sich  zu  nehmen.  Darüber 
am  andern  Tage  vernommen,  gab  er  an,  es  sei  wie  ein  Anfall,  wie 
ein  innerer  Trieb  über  ihn  gekommen,  er  habe  sich  im  Bette  gelang- 
weilt und  die  Zeitung  lesen  wollen.  Später  entsinnt  er  sich  angeblich 
des  Vorganges  nicht.  Am  22.  Juni  morgens  lag  er  mit  aufgeregtem, 
schmerzlich  verzogenen  Gesicht  im  Bett,  seufzte  und  hielt  die  Hand 
vor  die  Stime.  Die  Frage,  weshalb  er  so  aufgeregt  sei,  ließ  er  erst 
unbeantwortet,  dann  sagte  er:  „weil  ich  die  Beligionssachen  nicht 
verstehe".  Er  eignete  sich  Gebärden  und  Redensarten  von  Mit- 
patienten an,  stellte  sich  verwirrt,  behauptete  zuweilen,  es  sei  ihm  so 
wunderbar,  gerade  wie  Anfälle.  Einige  Male  wurde  er  agressiv 
gegen   den    Wärter.     Als    dieser    einen   anderen   Kranken   zu   Bett 


Verbrecher-Lebenslaufe.  175 

brachte,  warf  er  ihn  von  hinten  zu  Boden.  Nachdem  der  Arzt  in 
seiner  Gegenwart  öfters  bemerkt  hatte,  daß  er,  falls  er  geisteskrank 
sei,  dauernd  in  einer  Irrenanstalt  untergebracht  werden  müsse,  ver- 
hielt er  sich  seit  Anfang  Juli  klar,  ruhig  und  geordnet. 

Der  Psychiater  erklärte,  daß  die  Erregungszustände  während  der 
Untersuchungshaft  und  die  eigenartigen  Verwirrungszustände  und 
sonstigen  scheinbaren  psychischen  Anomalien,  die  er  in  der  Klinik 
bot,  durchaus  den  Stempel  des  Gemachten,  der  Simulation  trügen. 
Spreche  schon  die  Raffiniertheit,  mit  der  die  Diebstähle  ausgeführt 
wurden,  und  das  planmäßige  Vorgehen  dabei  gegen  die  Annahme, 
daB  Zöbisch  zur  Zeit  der  Begehung  der  strafbaren  Handlungen 
geisteskrank  gewesen  wäre,  so  werde  diese  Annahme  völlig  hinfällig 
durch  das  Lügengewebe,  in  das  er  sich  bei  seiner  Vernehmung  ver- 
strickte. Dadurch,  daß  er  den  Ärzten  einen  Teil  der  Diebstähle  zuge- 
geben habe,  sei  auch  erwiesen,  daß  keinerlei  Erinnerungsstörung  vorliege. 

Nachdem  das  urteil  rechtskräftig  geworden  war,  wurde  Zöbisch 
am  12.  Dezember  1901  in  das  Zuchthaus  zu  Untermaßfeld  ein- 
geliefert. Der  dortige  Anstaltsarzt  äußerte  sich  in  einem  Berichte 
vom  3.  Mai  1902  dahin: 

„Schon  anfangs  Januar  d.  J.  machte  sich  Zöbisch  durch  sein 
absonderliches  Wesen  und  seine  albernen  Reden  so  auffällig,  daß  er 
den  Eindruck  eines  Geisteskranken  machte,  vorerst  aber  wegen  der 
früher  mit  ihm  gemachten  Erfahrungen  für  einen  Simulanten  gehalten 
wurde.  Nachdem  aber  der  Zustand  des  Zöbisch  auch  jetzt  nach  vier 
Monaten  noch  unverändert  fortbesteht,  dürfte  an  dem  wirklichen  Vor- 
handensein einer  Geistesstörung  nicht  mehr  zu  zweifeln  sein." 

Dieses  Gutachten  wurde  dem  Direktorium  der  Jenaer  Irrenanstalt 
zur  Äußerung  mitgeteilt.  Dasselbe  erwiderte,  daß  bei  der  geistigen 
Veranlagung  des  Zöbisch  die  Entstehung  einer  Geistesstörung  in  der 
Einzelhaft  sehr  wohl  im  Bereiche  der  Möglichkeit  liege,  daß  jedoch  auch 
sehr  wohl  die  Möglichkeit  bestehe,  daß  Zöbisch,  um  sich  der  strengen 
Zuchthausstrafe  zu  entziehen,  erneute  Täuschungsversuche  mache. 

Es  erfolgte  nunmehr  die  Wiedereinlieferung  des  Zöbisch  in  obige 
Anstalt,  deren  Direktor  am  20.  Juni  1902  mitteilte,  das  Zöbisch  sich 
zwar  wesentlich  beruhigt  habe,  aber  noch  eine  ganze  Reihe  von 
Krankheitserscheinungen  äußere.  Unter  dem  22.  August  1902  wurde 
festgestellt,  daß  bei  ihm  zur  Zeit  eine  psychische  Störung  bestehe,  und 
unter  dem  26.  Oktober  1902,  daß  er  an  einer  chronischen  Geistes- 
störung leide.  Am  16.  Februar  1903  wurde  er  in  das  Karl-Friedrich s- 
Hospital  zu  Blankenhain  übergeführt,  dessen  Direktorium  Anfangs 
Septbr.  1904  sich  dahin  äußerte,  daß  Zöbisch  noch  sehr  halluciniere. 


V. 
Ein  unwahres  Geständnis. 

Von 

Rechtsanwalt  Dr.  Kroch  in  Leipzig. 


Am  9.  April  1905  nachmittag  begaben  sich  die  Th.schen  Ehe- 
leute mit  ihren  Kindern  in  die  Kirche.  Sie  beabsichtigten,  nach  dem 
Gottesdienste  Verwandte  zu  besuchen,  und  beauftragten  die  im  August 
1881  geborene  und  bisher  unbestrafte  Angeklagte  Seh.,  eines  ihrer 
Dienstmädchen,  die  Kinder  um  7  ühr  von  der  Kirche  abzuholen. 
Von  ungefähr  V2Ö  Uhr  ab,  wo  die  Th.schen  Eheleute  weggingen,  bis 
gegen  ^^47  Uhr  war  die  Angeklagte  in  der  Th.schen  Villa  allein. 
Sie  ging  alsdann  direkt  zur  Kirche,  wo  sie  um  7  Uhr  eintraf,  wartete 
daselbst  bis  gegen  ^/48  ühr,  da  der  Gottesdienst  nicht  früher  beendet 
war,  und  kam  gegen  8  Uhr  mit  den  Kindern  in  die  Villa  zurück. 

Hier  war  nunmehr,  nachdem  erleuchtet  worden  war,  folgendes 
wahrzunehmen : 

1.,  Es  war  versucht  worden,  einen  Herrenschreibtisch  und  einen 
Damenschreibtisch  zu  erbrechen,  in  welchen  regelmäßig  Geld 
und  damals  ungefähr  900  M.  und  ,800  M.  aufbewahrt  waren ; 
ein  1  cm  breites  Stemmeisen  war  zwischen  die  Fächer,  in 
welchen  das  Geld  lag,  und  die  darüber  liegenden  Platten  mehr- 
fach gewaltsam  gestoßen  und  alsdann  —  allerdings  erfolglos 
—  der  Versuch  gemacht  worden,  diese  Behältnisse  aufzusprengen. 
Der  Gebrauch  des  Stemmeisens  hatte  wesentliche  Spuren  zurück- 
gelassen; an  dem  Damenschreibtisch  allein  waren  acht  verhält- 
nismäßig tiefe  Eindrücke  und  in  sämtliche  paßte  genau  das  zum 
Haushalte  der  Th.schen  Eheleute  gehörige  Stemmeisen. 
2.,  Das  in  der  Wohnstube  hängende  Schlüsselschränkchen  war  er- 
brochen, diesem  gerade  der  Vertikowschlüssel  entnommen  und 
hiermit  der  Vertikow  geöffnet  worden. 
3.,  In  die  Scheibe  eines  im  Erdgeschosse  gelegenen  Fensters,  zu 
dem  man  von  den  zum  Hauseingang  führenden  Stufen  aus 
ohne  Hindernis  gelangen  konnte,  war  am  Wirbel  ein  größeres 


Ein  unwahres  Geständnis.  177 

Loch  geschlagen.     Die  Glasscherben  lagen  auf  dem  Fenster- 
sims.    Durch   das  Loch  konnte   man   von   außen   nach   dem 
Fensterwirbel  greifen  und  diesen  so  umdrehen,  daß  man  das 
Fenster  zu  öffnen  und  ohne   große  Schwierigkeit   durch  Ein- 
steigen in  sämtliche  Räume  der  Villa  zu  gelangen  vermochte. 
4^  In  der  im  IL  Obergeschoß  befindlichen  Mädchenkammer  war 
auf  dem  in  der  Nähe  des  Fensters  stehenden  Leinwandschemel 
ein  linker  Damenstiefel  in  Schmutz  abgedrückt,  welcher  nach 
der  Überzeugung  des  Eriminalschutzmanns  dieselbe  Form,  wie 
der  linke  Stiefel  der  Angeklagten,   aufwies;   außerdem  waren 
auf  dem  Fensterbrett  2  größere  Schmutzflecken. 
5.,  Kleinere  im  Vertikow  befindliche  Geldbeträge,  auf  dem  Damen- 
Schreibtisch  offen  liegende  Silber-  und  Nickelmünzen  im  Ge- 
samtbetrage   von    ungefähr    10   M.  und   verschiedene  in   der 
Wohnung  umherstehende  Silbersachen  waren  nicht  berührt;  es 
war  überhaupt  nichts  gestohlen  worden.  — 
Es  unterlag  keinem  Zweifel,  daß  ein  schwerer  Diebstahl  von  einer 
mit  den  Th.schen  Verhältnissen  vertrauten  Person  versucht  worden 
war.    Der  Verdacht  lenkte  sich  sofort  auf  die  Angeklagte,  da  sie  von 
V26  ühr  bis  ^lil  ühr  allein  in  der  Villa  war,  und  sie  fühlte  dies, 
denn  sie  sagte  noch  an  demselben  Abend  kurz  nach  9  Uhr  zu  dem 
mzwischen   nach    Hause    zurückgekehrten    anderen   Dienstmädchen: 
„Na,  nun  wird  wohl  der  Verdacht  auf  mich  kommen!"     Sie  wurde 
hierauf  von  einem  Kriminalschutzmann,  der  die  nunmehr  von  mehreren 
Schutzleuten  bewachte  Villa  durchsucht  hatte,  befragt  und  gab  eine 
ausführliche  Darstellung  ihrer  Wahrnehmungen,  stellte  aber  jede  Schuld 
in  Abrede.    Am  folgenden  Tage  wurde  sie  in  dem  Dienstzimmer  der 
Kriminalabteilung  eingehend  vernommen.  ^Sie  wiederholte  ihre  früheren 
Angaben  und  bestritt  wiederum  jede  Schuld,  obwohl  ihr  „auf  den 
Kopf  zugesagt  worden  war,  daß  nur  sie  die  Täterin  und  ihre  Er- 
zählung erlogen  wäre.^     An  demselben  Tage  nachmittags  fand  in 
Gegenwart  der  Angeklagten  nochmals  eine  genaue  Besichtigung  der 
Villa  durch  den  Kriminalschutzmann  statt;  die  Angeklagte  blieb  hier- 
bei auf  Befragen  wieder  bei  ihren  früheren  Angaben  stehen. 

An  demselben  Tage  abends  in  der  8.  Stunde  redete  Th.  der  An- 
geklagten zu,  sie  sollte  doch  der  Wahrheit  die  Ehre  geben  und  die 
Tat^  die  ja  weiter  niemand  wie  sie  begangen  haben  könnte,  zuge- 
stehen; so  viel  an  ihm  läge,  sollte  alles  getan  werden,  daß  sie  keinen 
Nachteil  davontrüge. 

Die  Angeklagte  gab  daraufhin  die  Tat  zu  und  erklärte  dabei :  „Na, 
nun  ist  mir  ein  Stein  vom  Herzen^ ;  „hoffentlich  nimmt  Herr  Th.  zurück^ 

Arehir  Ar  Kriminaluithropologie.    27.  Bd.  12 


178  V.  Kroch 

oder  „hoffentlich  kommt  es  nicht  zur  Anzeige."  Hierauf  erzählte  sie, 
aufgefordert  von  Th.,  die  Ausführung  der  Tat  in  allen  Einzelheiten 
und  gestand,  daß  sie  sich  Geld  verschaffen  wollte  und  an  der  Voll- 
endung des  Diebstahls  verhindert  worden  wäre,  da  sie  die  Kinder 
hätte  abholen  müssen';  um  den  Anschein  zu  erwecken^  als  hätte  ein 
Fremder  einen  Einbruch  begangen,  hätte  sie  mit  einem  Messer  die 
Fensterscheibe  eingeschlagen  und  in  der  Mädchenkammer  auf  dem 
Fensterbrett  und  dem  Leinwandschemel  die  Spuren  durch  Anstreichen 
von  Schmutz  angebracht. 

Am  folgenden  Tage  hat  die  Angeklagte  dem  Kriminalschutzmann 
gegenüber  das  Geständnis  in  seinem  ganzen  Umfange  wiederholt. 
Hierauf  wurde  sie  noch  an  demselben  Tage  aus  dem  Dienst  entlassen. 
Sie  ging  auch,  nachdem  sie  ihrer  Dienstherrin  gegenüber  nochmals 
das  Geständnis  abgelegt  hatte,  selbstverständlich  ohne  eine  Entschädi- 
gung für  Lohn,  Kost  und  Logis  zu  erhalten.  Sie  verließ  ihren  bis- 
herigen Aufenthaltsort  und  begab  sich  nach  Leipzig  zunächst  zu  ihrer 
verheirateten  Schwester  und  später  wieder  in  Stellung. 

Bei  der  richterlichen  Vernehmung  am  5.  Mai  1905  hat  die  An- 
geklagte das  Geständnis  widerrufen.  Sie  erklärte:  „Mein  Geständnis 
habe  ich  nur  aus  Angst  abgelegt.  Meine  Schwester  hat  auch  gesagt, 
es  wäre  eine  große  Dummheit  von  mir,  daß  ich  gestanden  hätte,  und 
hat  mich  deshalb  tüchtig  ausgezankt"  usw. 

Ende  Mai  1905  beauftragte  mich  die  Angeklagte  unter  Über- 
reichung der  Anklageschrift  mit  ihrer  Verteidigung.  Durch  einige 
Besprechungen  mit  der  Angeklagten  gelang  es  mir,  von  dieser  im 
Wesentlichen  zwei  für  die  Verteidigung  wichtige  Tatsachen  zu  er- 
fahren. Sie  erzählte  mir  nämlich  gelegentlich,  daß  ihr  auf  dem  Wege 
von  der  Th.schen  Villa  nach  der  Kirche  das  andere  Dienstmädchen 
begegnet  wäre  und  ihr  gesagt  hätte,  es  ginge  nach  Hause  (in  die 
Villa),  daß  es  aber  auch  tatsächlich  nur  geringe  Zeit  nach  ihrem  Weg- 
gange in  der  Th.schen  Villa  gewesen  wäre  und  sich  daselbst  kurze 
Zeit  aufgehalten  hätte,  um  einige  Kleidungsstücke  zu  wechseln. 
Außerdem  sagte  mir  die  Angeklagte,  daß  sie  nicht  nur  bei  Th., 
sondern  auch  in  ihren  früheren  Stellungen  im  allgemeinen  ungefähr 
3  Jahre  gewesen  und  von  ihren  früheren  Dienstherrschaften  stets  gute 
Zeugnisse,  insbesondere  auch  in  Bezug  auf  Ehrlichkeit^  erhalten  hätte. 

Die  Dienstherrschaften,  welche  kommissarisch  vernommen  wurden, 
sagten  sämtlich  aus,  daß  sie  die  Angeklagte  für  ehrlich  hielten.  Das 
andere  Dienstmädchen  wurde  zur  Hauptverhandlung  geladen. 

Noch  vor  der  letzteren  hatte  ich  Gelegenheit,  die  Th.sche  Villa 
zu  besichtigen.     Hier  habe  ich  wahrgenommen,  daß  man  von  den 


£in  unwahres  Geständnis.  179 

zum  Haaseingang  führenden  Stufen  aus  das  Fenster,  dessen  Scheibe 
zerschlagen  worden  war,  mit  Leichtigkeit  vollständig  übersehen  konnte, 
und  daß  die  Mädchenkammer  nicht  sehr  tief  war  und  gutes  Tages- 
licht hatte. 

Ich  folgerte  hieraus:  Wenn  die  Augeklagte  die  Tat  begangen 
hätte,  so  hätte  das  andere  Dienstmädchen,  wenn  es  kurz  nach  der 
Angeklagten  in  der  Villa  und  insbesondere  in  der  Mädchenkammer 
gewesen  wäre,  wahrgenommen  haben  müssen,  daß  die  Fensterscheibe 
zerschlagen  war  und  die  Glasscherben  auf  dem  Fenstersims  lagen, 
sowie  daß  in  der  Mädchenkammer  das  Fensterbrett  und  der  Lein- 
wandschemel beschmutzt  waren,  sofern  nur  die  Lichtverhältnisse  dies 
gestatteten. 

Das  Eönigl.  Meteorologische  Institut  in  Dresden  teilte  mir  auf 
Befragen  mit,  daß  am  9.  April  1905  abends  am  Orte  der  Tat  eine 
leichte  Schneedecke  lag  und  daß  es  vorwiegend  heiter  und  trocken 
war«  Hieraus  und  aus  der  Zeit  des  Sonnenunterganges  konnte  ich 
mit  Recht  schließen,  daß  am  fraglichen  Abend  wohl  bis  kurz  nach 
7  ühr  gutes  Dämmerlicht  war. 

Es  war  daher  in  der  flauptverhandlung,  die  ja  während  der 
Vernehmung  der  Th.schen  Eheleute  und  des  Kriminalschutzmanns  sehr 
ungünstig  für  die  Angeklagte  verlaufen  mußte,  für  mich  am  wesent- 
hehsten  die  Vernehmung  des  anderen  Dienstmädchens.  Die  Ange- 
klagte war  nach  meiner  Überzeugung  unschuldig,  wenn  diese  Zeugin 
aussagte,  daß  sie  an  dem  fraglichen  Abend  gegen  7  Uhr  in  der  Villa 
und  insbesondere  in  der  Mädchenkammer  war,  denn  ich  konnte  in 
diesem  Falle  mit  Bestimmtheit  annehmen,  daß  die  Zeugin  die  zer- 
brochene Fensterscheibe  und  den  Schmutz  auf  dem  Leinwandschemel 
und  am  Fensterbrett  nicht  gesehen  hat,  da  sie  sich  anderenfalls  nicht 
sogleich  wieder  aus  der  Villa  entfernt,  sondern  die  übrigen  Räume 
der  Villa  besichtigt  und  von  ihren  Wahrnehmungen  sofort  der  Polizei 
oder  ihrem  Dienstherm  Anzeige  gemacht  hätte.  Hatte  aber  die 
Zeugin  von  alledem  nichts  gesehen,  so  war  erwiesen,  daß  der  ge- 
schilderte Zustand  beim  Weggehen  der  Angeklagten  aus  der  Villa 
noch  nicht  war,  und  hiermit  war  der  Beweis  für  die  Unschuld  der 
Angeklagten  erbracht,  denn  daran  konnte  kein  Zweifel  bestehen,  daß 
der  versuchte  Diebstahl  und  das  Zerschlagen  der  Fensterscheibe,  sowie 
das  Beschmutzen  des  Fensterbrettes  und  des  Schemels  von  derselben 
Person  ausgeführt  wurden. 

Die  Zeugin,  welche  einen  äußerst  günstigen  Eindruck  und  insbe- 
sondere auch  den  Eindruck  eines  sehr  sauberen  Mädchens  machte, 
bestätigte  eidlich,  daß  sie  die  Angeklagte,  wie  diese  zur  Kirche  ging, 

12* 


180  V.  Kboch 

getroffen  hätte  und  daß  sie  kurz  vor  7  Uhr  in  der  Villa  gewesen  wäre 
und  daselbst  einige  Kleidungsstücke  z.  B.  den  Hut  gewechselt  und 
die  Boa  abgelegt  hätte.  Außerdem  fügte  sie  auf  Befragen  hinzu, 
daß  sie,  wie  sie  gegen  7  Uhr  in  der  Villa  war,  noch  gut  gesehen, 
aber  nicht  wahrgenommen  hätte,  daß  die  Fensterscheibe  zerbrochen 
oder  das  Fensterbrett  oder  der  Leinwandschemei  beschmutzt  gewesen 
wäre.  Daß  dieser  Schemel  beschmutzt  gewesen  wäre,  hielt  sie  für 
unmöglich,  da  sie  ihren  neuen  Hut  darauf  gelegt  hätte. 

Die  Angeklagte  iwurde  nach  alledem  vom  Königl.  Landgericht 
Chemnitz  (3  A.  111/05)  mangels  Beweises  freigesprochen. 

Es  ist  nach  meiner  Uberzeugug  bewiesen,  daß  die  Angeklagte 
unschuldig  ist.  Der  volle  Beweis  hierfür  wird  dadurch  erbracht,  daß 
die  Zeugin  von  den  sämtlichen  Spuren  des  Diebstahls  nichts  wahr- 
genommen hat  und  ganz  besonders  noch  dadurch,  daß  sie  den  neuen 
Hut  auf  den  Leinwandschemel  gelegt  hat.  Wenn  die  Angeklagte 
diesen  Schemel  beschmutzt  hätte,  so  hätte  der  Schmutz  (es  war  sehr 
wahrscheinlich  wasserhaltiger  Schneeschmutz)  noch  feucht  sein  müssen 
als  die  Zeugin  den  Hut  darauf  legte,  da  die  Angeklagte  den  Schmutz 
jedenfalls  erst  kurz  vor  dem  Weggehen  aus  der  Villa  angebracht 
hätte  und  die  Zeugin  sofort  nach  der  Angeklagten  und  nur  kurze 
Zeit  in  der  Villa  [gewesen  ist  Es  hätte  daher  auch  der  neue  Hut 
schmutzig  werden  müssen  und  dieser  Umstand  hätte  der  Zeugin  nicht 
entgehen  können. 

f^  Zur  Vollständigkeit  dieser  Beweisführung  soll  noch  in  folgendem 
auf  die  Indizien  und  das  Geständnis  der  Angeklagten  eingegangen 
werden: 

Die  gleiche  Breite  des  Th.schen  Stemmeisens  und  des  von  dem 
Diebe  benutzten  ist  ein  Zufall ;  es  gibt  unzählige  Stemmeisen  von  1  cm 
Breite. 

Die  Form  des  Stiefelabdrucks  auf  dem  Leinwandschemei  kann 
nicht  zu  Ungunsten  der  Angeklagten  verwendet  werden.  Würde, 
was  ich  nicht  für  wahrscheinlich  halte,  die  Form  dieses  Stiefels  zu 
erkennen  gewesen  sein,  so  würde  man  gerade  um  deswillen  eher  an- 
nehmen müssen,  daß  nicht  die  Angeklagte  den  Schemel  beschmutzt 
hat;  denn  hätte  sie  ihn  beschmutzt  und  einen  Stiefel  in  den  Schmutz 
eingedrückt,  so  hätte  sie  hierzu,  um  sich  nicht  zu  verraten,  nicht 
ihren  eigenen,  sondern  den  Stiefel   einer  anderen  Person  verwendet. 

Die  übrigen  Indizien  sprechen  nur  dafür,  daß  der  Dieb  durch 
das  Fenster,  dessen  Scheibe  zerschlagen  wurde,  eingestiegen  ist,  und 
daß  er,  gegen  8  Uhr  durch  die  Ankunft  der  Angeklagten  und  der 
Kinder  überrascht,  sich  zunächst  durch  die  Mädchenkammer  auf  das 


Ein  anwahres  Geständnis.  181 

Dach  zu  retten  gesucht  hat,  dann  aber,  da  ein  Entkommen  auf  diese 
Art  unmöglich  war,  in  das  erste  Stockwerk  oder  das  Erdgeschoß 
zurückgegangen,  hier  durch  ein  Fenster  in  den  Garten  gesprungen 
und  entflohen  ist. 

Der  Umstand,  daß  die  kleinen  Geldbeträge  im  Vertikow,  sowie 
die  Nickel-  und  Silbermünzen  auf  dem  Damenschreibtisch  und  die 
herumstehenden  Silbersachen  unberührt  waren,  ist  dadurch  aufgeklärt, 
daß  es,  wie  der  Diebstahl  ausgeführt  wurde,  bereits  dunkel  geworden 
war  und  der  Dieb  diese  Gegenstände  nicht  gesehen  hat.  — 

Was  hat  nun  die  Angeklagte  bestimmt,  die  Straftat  und  deren 
Ausführung  in  allen  Einzelheiten  wider  die  Wahrheit  zu  gestehen, 
das  Geständnis  mehrfach  zu  wiederholen  und  sich  die  sofortige  Ent- 
lassung aus  dem  Dienst  ohne  jede  Entschädigung  gefallen  zu  lassen? 

Um  diese  Beweggründe  zu  erkennen,  muß  man  sich  in  die  da- 
maligen Verhältnisse  und  in  das  Seelenleben  der  Angeklagten  hinein- 
denken. Diese  hat  zunächst  einen  wesentlichen  Schreck  gehabt,  als  sie 
nach  der  Rückkehr  von  der  Kirche  die  einzelnen  Spuren  des  Ver- 
brechens wahrnahm.  Sie  ist  von  Natur  ängstlich;  dies  geht  daraus 
hervor,  daß  sie  kurz  nach  der  Tat  dem  anderen  Dienstmädchen  sagte : 
^Na,  nun  wird  wohl  der  Verdacht  auf  mich  kommen!''  Sie  ist  als- 
dann von  dem  Kriminalschutzmann  ausführlich  befragt  worden  und 
hierauf  folgte  eine  für  sie  jedenfalls  ruhelose  Nacht,  in  welcher  sie 
darüber  nachg^rübelte,  wie  sie  sich  von  dem  Verdachte  reinigen  und 
den  Täter  ausfindig  machen  könnte.  Am  nächstfolgenden  Vormittag 
findet  die  ausführliche  eindringliche  Vernehmung  statt,  in  welcher  ihr 
von  dem  Kriminalschutzmann  „auf  den  Kopf  zugesagt  wird,  daß  nur 
sie  die  Täterin  und  ihre  Erzählung  erlogen  wäre*'  und  an  demselben 
Nachmittage  in  ihrer  Gegenwart  die  nochmalige  Durchsuchung  der 
Villa  durch  den  Beamten.  Zu  alledem  wirkt  auf  die  Angeklagte,  die 
die  ganze  Zeit  über  nur  Aufregung  gehabt  hat,  ständig  das  Gefühl, 
daß  sie  jeder  für  den  Täter  hält.  Nun  wird  sie  abends  wieder  von 
dem  Dienstherm  bearbeitet,  ein  Geständnis  abzulegen  und  dieser  stellt 
ihr  noch  in  Aussicht,  daß  sie  im  Falle  des  Geständnisses,  soweit  es 
in  seinen  Kräften  stände,  keinen  Nachteil  haben  sollte. 

Der  Angeklagten  ist  der  Zustand,  in  welchem  sie  sich  befindet, 
unerträglich.  Sie  bringt  dies  nach  Ablegung  des  Geständnisses  mit 
den  Worten  zum  Ausdruck:  „Na,  nun  ist  mir  ein  Stein  vom  Herzen." 
Diese  Worte  können  unter  den  vorliegenden  Umständen  nur  die  Be- 
deutung haben,  daß  die  Angeklagte  hofft,  daß  nunmehr,  nachdem  sie 
gestanden,  die  ewige  Quälerei  zur  Erlangung  eines  Geständnisses  und 
ihre  Aufregung  aufhören  werden.    Außerdem  hält  es  die  Angeklagte 


182  V.  Kroch 

für  möglich,  daß  sie,  wenn  ihr  Dienstherr  will,  nicht  bestraft  wird, 
denn  sie  sagt:  „Hoffentlich  nimmt  Herr  Th.  zurück"  oder  „hoffentlich 
kommt  es  nicht  zur  Anzeige."  Sie  hat  nach  alledem  zugestanden, 
weil  sie  den  ihr  unerträglichen  Zustand  beseitigen  zu  können  glaubt, 
ohne  bestraft  zu  werden.  Hatte  sie  aber  erst  einmal  wider  die  Wahr- 
heit zugestanden,  so  war  es  unbedingte  Folge  und  ihr  auch  ein 
Leichtes,  die  Straftat  in  ihren  Einzelheiten  zu  gestehen  und  sich  mit 
den  Indizien  zu  belasten.  Auf  Befragen,  weshalb  sie  das  Geständnis 
später  noch  wiederholt  habe,  erklärte  sie:  „Du  hast  einmal  ja  gesagt, 
nun  hast  du  kein  Wort  weiter  zu  verlieren."  Daß  sie  sich  die  so- 
fortige Entlassung  aus  ihrer  Stellung  ohne  jede  Entschädigung  gefallen 
ließ,  war  ebenfalls  eine  notwendige  Folge  des  Geständnisses. 

Nach  alledem  kann  man  wohl  mit  ßecht  behaupten,  daß  der  Be- 
weis für  die  Unschuld  der  Angeklagten  erbracht  und  jeder  Verdacht 
gegen  dieselbe  unbegründet  ist  Auch  dafür,  daß  die  Angeklagte  mit 
dem  Täter  in  irgend  einer  Verbindung  stand  oder  von  ihm  Kenntnis 
hatte,  liegt  ein  Anhalt  nicht  vor,  denn  sie  verkehrte  nur  mit  ihrem 
Geliebten  und  dieser  wies  nach  den  Ermittelungen  des  Eriminal- 
schutzmanns  sein  AUbi  auf  einwandsfreie  Weise  nach. 

Es  dürfte  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  jeder  Jurist  und  jeder 
Laie  die  Angeklagte  bei  dem  umfassenden  Geständnis,  das  sie  abgelegt 
hat,  für  schuldig  gehalten  hätte,  wenn  nicht  das  andere  Dienstmädchen 
als  Zeugin  vernommen  worden  wäre.  Die  Tatsachen,  worüber  diese 
Zeugin  aussagte,  hat  die  Angeklagte  erst  berichtet, '  nachdem  sie 
wiederholt  aufgefordert  worden  war,  ihre  Erlebnisse  am  9.  April  1905 
bis  in  die  geringsten  Einzelheiten  anzugeben,  da  sie  sich  über  die 
Tragweite  dieser  Tatsachen  unklar  war.  —  Es  erhellt  somit  aus  dieser 
Sache,  welche  Sorgfalt  in  der  Strafrechtspflege  selbst  bei  Zugeständ- 
nissen anzuwenden  ist,  sollen  unrichtige  Urteile  vermieden  werden. 


VI. 
Was  sollen  wir  tun? 

Aus  dem  Reformatory  Outlook.    MansHeld  (Ohio). 

September  1905. 

Für  den  Outlook  geschrieben  von  Killen,  Nr.  2344  in  der  Anstalt. 

Übersetzt  von  M.  G.»  Frankfurt  a.  M. 


Yorbemerkung. 

Das  Ziel,  das  sich  die  amerikanischen  Strafanstalten  neuen  Stils, 
die  Reformatories,  setzen,  ist  Umbildung  des  Gefangenen  an  Körper, 
Verstand  und  Charakter.  Damit  hofft  man  aus  dem  jugendlichen 
Verbrecher,  auf  den  es  die  Reformatories  in  erster  Linie  absehen, 
ein  nützliches  Mitglied  der  Gesellschaft  zu  machen. 

Nach  den  Erfahrungen  dreier  Jahrzehnte  glaubt  man  in  Amerika 
dies  Ziel  in  einer  verhältnismäßig  sehr  großen  Zahl  von  Fällen  er- 
reicht zu  haben.  Man  rechnet  allgemein  mit  70 — 80  ^/o  Gebesserten. 
So  ist  es  für  uns  von  Interesse,  den  Methoden  solcher  Umbildung 
zu  folgen. 

Eine  der  Gefahren  jeder  Anstaltserziehung  ist,  daß  der  Gefangene 
die  Fühlung  mit  der  Außenwelt  verliert.  Von  allen  Seiten  hört  man 
bei  uns  klagen,  daß  er  bei  seiner  Entlassung,  menschenscheu  und 
weltfremd,  dem  für  ihn  ohnehin  erschwerten  Konkurrenzkampfe  nicht 
gewachsen  sei.    Dem  suchen  die  Reformatories  zu  begegnen: 

Maueranschläge  in  ihnen  geben  alltäglich  die  wichtigsten  oder  den 
Gefangenen  interessantesten  Ereignisse  in  Politik,  Sport  usw.  bekannt. 
Vorträge  und  Debattierklubs  dienen  gleichfalls  dazu,  den  Verstand 
der  jungen  Leute  auszubilden  und  sie  lebensfrisch  zu  halten. 

Eines  der  wichtigsten  Erziehungsmittel  ist,  daß  man  sie  in 
der  Anstalt  selbständig  eine  Zeitung  drucken  und  herausgeben 
läßt  Uns  ist  das  fremd,  und  leicht  sind  wir  geneigt,  darüber  zu 
lächeln.  Eben  darum  ist  es  für  uns  nicht  ganz  wertlos,  eine  Probe 
solcher  amerikanischen  Gefängnisjoumalistik  kennen  zu  lernen.    Sie 


184  VI.  Fbeudenthai* 

zeigt  ans,  wie  die  Insassen  der  nenen  Anstalten  über  deren  Straf- 
vollzug denken,  von  dem  wir  ja  sonst  zumeist  nur  durch  die  An- 
Btaltsverwaltung  hören.  Es  ist  gewiß  notwendigen  auch  einmal  die 
andere  Seite  zu  Worte  kommen  zu  lassen. 

Das  Reformatory  inj  Mansfield  (Ohio),  aus  dessen  Anstaltszeitung 
der  nachstehende  Leitartikel  entnommen  ist,  steht  unter  den  Gefäng- 
nissen des  neuen  Systems  in  erster  Linie.  Was  diesen  eigen  ist, 
empfindet  man  in  wohltuender  Weise  auch  in  ihm:  unter  den  jungen 
Gefangenen  herrscht  nicht  Niedergeschlagenheit  und  dumpfe  Bitter- 
keit, sondern  der  Geist  des  Hoffens  und  der  Wunsch,  durch  An- 
spannung aller  Kräfte  in  der  Anstalt  rasche  Entlassung  zu  er- 
reichei;i  und  draußen  im  Leben  Versäumtes  nachzuholen. 

Das  scheint  mir  der  nachstehende  Artikel  getreu  wiederzuspiegeln. 

Professor  Dr.  B.  Freudenthal,  Frankfurt  a.  M. 


Richte  Deine  Gedanken  fest  auf's  Ziel. 

Spanne  des  Ehrgeizes  Bogen. 

Sichere  Deinen  Weg  durch  Selbstbeherrschung  — 

Dann  entsende  des  Lebens  Pfeil. 

Indem  ich  die  kürzlich  erschienene  Nummer  unseres  lieben 
Blattes  durchlese,  fällt  mir  ein  wichtiger  Artikel  auf,  den  ein  Insasse 
dieser  Anstalt  geschrieben  hat  Ich  habe  das  Gefühl,  als  ob  ich 
meinen  Mitgefangenen,  die  hier  wegen  früherer  Vergehen  eingesperrt 
sind,  vielleicht  Gutes  erweisen  und  einen  Strahl  des  Lichtes  auf  ihre 
dunklen  Wege  senden  könnte.  Der  Verfasser  schreibt,  er  sei  tief  im 
Elend  gewesen  und  habe  keine  andere  Bettung  gefunden,  als  geduldig 
den  Ablauf  der  Strafzeit  abzuwarten.  Nun,  liebe  Freunde,  erwägt 
das  obige  Motto,  und  Ihr  werdet  daraus  ersehen,  daß  seine  Worte 
das  Ziel  des  Lebens  zeichnen.  Ein  jeder  von  uns  strebt  nach  der  Ent- 
lassung, und  je  schneller  sie  erreicht  wird,  desto  früher  werden  wir 
wieder  in  das  Meer  des  Lebens  hinaussegeln  können. 

Aus  der  Statistik  über  die  entlassenen  Insassen  geht  hervor,  daß 
der  Durchschnitt  der  abgesessenen  Zeit  etwa  19  Monate  beträgt, 
während  die  Strafurteile  durchschnittlich  auf  12  Jahre  Höchstmaaß 
lauten.  Demnach  gibt  es  doch  eine  andere  Art  Befreiung, 
als  den  Ablauf  der  Strafzeit.  Jeder  Insasse  mit  gesundem 
Menschenverstand  wird  mit  mir  übereinstimmen,  daß,  wenn  man  an 
eine  hohe  Steinmauer  kommt,  die  leichteste  Art,  sie  zu  nehmen,  die 
ist:   eine   Leiter  dagegen  zu  stellen   und  darüber   hinwegzuklettem. 


Was  sollen  wir  tun?  185 

Es  hat  keinen  Zweck,  mit  dem"  Kopfe  dagegen  zu  stoßen  und  zu 
yersuchen,  sie  umzuwerfen,  denn  binnen  kurzem  merkt  man,  daß 
man  keinen  Eindruck  auf  ihr  hinterläßt  und  der  Kopf  den  kürzeren 
Teil  zieht.  Nun,  die  Leiter,  die  wir  an  unsere  Mauer  anstellen 
müssen,  heißt  gute  Führung,  und  in  folgender  Weise  soll  sie  er- 
baut sein: 

Die  Stangen  müssen  aus  gutem  Holz  bestehen:  eine  aus  Ver- 
stand und  klarem  urteil,  die  andere  aus  gutem  Willen,  verbunden 
mit  dem  festen  Entschluß,  die  schlechte  Vergangenheit  wieder  gut  zu 
machen.  Jede  Sprosse  muß  sich  aus  neun  Verdienstmarken  bilden,  i) 
und  wenn  wir  zwölf  solcher  Sprossen  in  unsere  Leiter  eingesetzt 
haben,  erreichen  wir  die  Höhe  und  zeigen  unseren  Vorgesetzten,  daß 
wir  getreulich  den  Stufengang  vollendet  haben  und  eifrig  bedacht 
sind,  die  Mauer  des  Verbrechens  zu  übersteigen,  uns  selbst  einen 
Platz  in  der  Gesellschaft  zu  erobern  und  der  Welt  zu  zeigen,  daß 
wir  geeignet  sind,  in  sie  hinein  zu  treten. 

Erlaubt  mir.  Eure  Aufmerksamkeit  auf  die  Julinummer  des 
Outlook  zu  lenken.  Auf  der  ersten  Seite  werdet  Ihr  einen  Aufsatz 
mit  folgender  Überschrift  finden:  Weshalb  wurden  wir  verurteilt? 
Auch  auf  die  Augustausgabe  und  den  Aufsatz,  betitelt:  „Jetzt  ist 
die  Zeit".  Diese  beiden  Aufsätze  werden  Euch  die  Ursache,  die 
Folge  des  Verbrechens  und  wie  es  zu  vermeiden  ist,  zeigen.  Also 
was  ist  unsere  Aufgabe?    Laßt  uns  sehen: 

Ein  Schiff  ist  jahrelang  regelmäßig  zwischen  den  Vereinigten 
Staaten  und  dem  Orient  gefahren,  ohne  nur  den  geringsten  Unfall 
erlitten  zu  haben.  Der  Schiffer  ist  zu  der  Überzeugung  gekommen, 
daß  er  seinen  Kurs  vollkommen  kenne.  Zu  seinem  größten  Erstaunen 
wird  eines  Tages  Land  sichtbar,  als  er  eigentlich  noch  hunderte  von 
Meilen  hätte  davon  entfernt  sein  sollen.  Gerade  da  erhebt  sich  ein 
Sturm;  überall  ertönen  Befehle,  Matrosen  eilen  hin  und  her;  der 
Schiffer  beobachtet  seinen  Kompaß  und  findet,  daß  er  nicht  richtig 
arbeitet  Man  steuert  sofort  in  See,  ein  dichter  Nebel  zieht  auf,  und 
bald  hat  das  Fahrzeug  gegen  einen  heftigen  Sturm  zu  kämpfen. 
Plötzlich  stößt  es  auf,  es  entsteht  eine  große  Verwirrung  an 
Bord,  die  einige  Stunden  lang  währt  Das  Wasser  dringt  ein,  die 
Pumpen  sind  die  letzte  Rettung.  Der  Sturm  legt  sich,  Zerstörung 
hinter  sich  lassend.  Das  Notsignal  wird  gegeben  und  wie  es  das 
Glück  will,  vom  Lande  aus  erblickt  Alsbald  kommt  Hilfe,  das 
Schiff  wird  von  der  Sandbank  fortbugsiert,  in  den  Hafen  gebracht 

1)  Ein  Markensystem  dient  der  Feststellung  der  Leistungen  der  jungen  Ge- 
fangenen; neun  Verdienstmarken  bedeuten  einen  »vollkommenen  Monat*^. 


186  VI.  Freudekthax 

und  zur  Ausbesserung  in  das  Trockendock  gelegt.  Als  man  den 
Schiffer  fragt,  wie  es  gekommen  sei,  sagt  er:  „Ich  weiß  es  nicht; 
ich  fahre  nun  schon  jahrelang  diese  selbe  Strecke,  und  dieses  ist  das 
erste  Mal,  daß  ich  von  meiner  Bahn  abgekommen  bin.  Mein  Kom- 
paß war  nicht  in  Ordnung^. 

So  steht  es  mit  uns.  Seit  einer  Reihe  von  Jahren  durchkreuzen 
wir  das  Meer  des  Lebens  regelmäßig,  von  einem  Punkte  zum 
andern,  von  der  Geburt  zum  Tode.  Die  Klippen  und  Sandbänke 
der  Versuchung  lagen  überall;  wir  wichen  von  dem  früheren  Kurse 
ab  und  scheiterten  zuletzt  an  der  Sandbank  des  Verbrechens.  Wir 
wurden  in  den  Hafen  der  Gerechtigkeit  bugsiert  und  zur  Ausbesse- 
rung in  eines  der  Trockendocks  getan.  Wo  liegt  hier  die  Schuld? 
Arbeitete  unser  Gehirn  nicht  richtig?  Es  muß  wohl  so  gewesen  sein, 
denn  wo  ist  der  Mensch,  dessen  Gehirn  in  seiner  normalen  Ver- 
fassung ist,  der  ein  Jahr  hinter  Gefängnismauern  eintauschen  möchte 
für  die  Torheit  eines  Augenblicks? 

Ich  behaupte:  zwei  Drittel  der  Gefangenen  dieser  Anstalt  sind 
Opfer  der  Trunksucht.  Berauschende  Getränke  haben  mehr  Namen 
in  das  Buch  der  Verbrechen  gebracht,  als  alle  anderen  Formen  der 
Ausschweifungen!  Durchwandert  mal  die  großen  Gefängnisse  der 
Welt,  fragt  jeden  einzelnen  Insassen:  wodurch  bist  Du  in's  Unglück 
gekommen?  und  die  Antwort  wird  in  den  meisten  Fällen  lauten: 
„ich  war  betrunken  und  tat  dies  und  das^. 

Wie  ist  hier  Hilfe  zu  schaffen?  Sollen  wir  neben  dem  Feuer 
sitzen  und  es  ausgehen  lassen  und  dann  jammern,  weil  es  kalt  ist^ 
oder  sagen:  wir  wußten  nicht,  was  wir  tun  sollten,  um  es  brennend  zu 
halten?  Nein,  liebe  Gefährten,  so  lange  noch  ein  Funke  Männlich- 
keit in  uns  glimmt,  gebt  ihm  Nahrung,  facht  ihn  an!  Bauet  auf 
diesen  Rest,  und  bauet  so  gut  wie  Ihr  könnt.  Hier  bietet  sich 
für  uns  die  Gelegenheit,  uns  in  dem  Lichte  zu  sehen,  in  dem  wir 
von  den  andern  Menschen  gesehen  werden,  hier  können  wir  unsere 
Fehler  erkennen,  über  unsere  Vergangenheit  nachdenken,  hier  können 
wir  begreifen,  weshalb  unsere  Eltern  uns  tadelten,  wenn  wir  Unrecht 
taten.  Hier  können  wir  sehen,  warum  wir  aus  der  Gesellschaft  ge- 
stoßen wurden,  und  während  wir  in  der  Lage  sind,  uns  zu  sehen, 
wie  uns  andere  sehen,   warum  nicht  unsere  Schwächen  überwinden? 

Wie  oft  haben  uns  die  Eltern  des  Abends,  wenn  wir  fortgeben 
wollten,  geraten  zuhause  zu  bleiben?  Taten  wir  es?  Nein,  ich 
glaube,  wir  gingen  aus,  und  sagten  uns :  „sie  sind  ja  alt  und  wissen 
es  nun  mal  nicht  besser".  Was  wäre  wohl  das  Ergebnis  gewesen, 
wenn  wir  damals  auf  die  Warnungsworte  derer  gehört  hätten,  die 


Was  sollen  wir  tun?  187 

wir  als  alt  und  töricht  bezeichneten?  Wären  wir  dann  unseren 
sogenannten  Liebsten  begegnet  und  hätten  mit  ihnen  gezecht? 
Hätten  wir  dem  Klange  der  Gläser  und  dem  Lachen  der  so- 
genannten „lustigen  Freunde^  gelauscht?  Merkten  wir  nicht  den  ' 
Unterschied,  als  wir  uns  dann  in  Untersuchungshaft  befanden? 
Haben  vieUeicht  jene  Freunde  uns  einen  Verteidiger  genommen? 
Besuchten  sie  uns  und  brachten  sie  uns  Nahrung  und  frische  Klei- 
dung? Oder  waren  es  die  einfältigen  alten  Leute,  die  uns  bei- 
standen? ' 

Am  Ufer  des  Hudson,  in  dem  Staate  New-York,  in  der  Nähe 
des  Sing-Sing-Gefängnisses,  liegt  ein  Kirchhof,  der  von  den  Dichtern 
„Sing-Sing's  einsamer  Berg^  genannt  wird.  Dort  in  der  stillen  Erde 
raht  manche  Hoffnung,  manches  yielyersprechende  Leben,  das  von 
seinen  Kurs  abgetrieben  und  an  den  Felsen  des  Verbrechens  ge- 
scheitert ist  und  zertrümmert  hinab  in  die  Tiefe  sank.  Manche  be- 
sorgte Mutter  erwartet  währenddessen  zuhause  sehnsüchtig  seine  Rück- 
kehr, —  ihren  Jungen,  —  ihren  Stolz,  —  die  Freude  ihres  Herzens, 
ihn,  der  ein  Verbrechergrab  füllt,  mit  einem  falschen  Namen  ver- 
sehen —  zu  seiner  Ehre. 

Was  würde  aus  dieser  Mutter,  wüßte  sie  das  Schicksal  ihres 
Sohnes?  Es  ist  nicht  nötig,  diese  Frage  zu  beantworten,  ein  jeder 
wird  sich  dieses  Bild  selbst  ausmalen. 

Kein  Gefangener,  der  diesen  Aufsatz  liest,  möchte,  glaube  ich, 
sein  Leben  in  den  Fesseln  des  Verbrechens  beschließen.  Warum 
also  nicht  lieber  versuchen,  den  bisherigen  Anteil  am  Schlechten 
fahren  zu  lassen  und  sich  von  verbrecherischen  Versuchungen  unab- 
hängig zu  erklären? 

Die  Zukunft  liegt  vor  uns,  und  es  ist  an  uns,  entweder  die 
Schwächen  zu  überwinden  und  als  gesetzliebende  Bürger  zu  leben, 
oder  weiter  die  Gesetze  zu  verletzen,  ein  Verbrechergrab  zu  füllen 
und  später  auf  Nichts  zurückblicken  zu  können,  als  auf  ein  ver- 
pfuschtes Leben. 

Also,  liebe  Mitgefangene,  es  liegt  kein  Grund  vor,  warum  wir 
mit  der  ganzen  Dauer  unserer  Strafzeit  rechnen  sollten.  Laßt  uns 
unsere  Blicke  auf  einen  möglichst  kurzen  Teil  richten!  Was  ist 
wohl  ein  traurigeres  Schauspiel,  als  zu  sehen,  wie  ein  junger  Mensch 
sein  Selbstvertrauen  verliert,  wie  er  seine  Hände  in  die  Höhe  wirft 
und  ruft:  „Es  ist  alles  aus^.  Das  ist  Feigheit,  und  damit  wird 
man  sich  selbst  nicht  gerecht  Noch  sind  wir  nicht  tot  und  niemand 
weiß,  was  die  Zukunft  uns  noch  bringt  Wir  können  es  wohl 
prophezeien,  aber  es   würde  ein  leerer  Traum  bleiben.    Die  Welt 


188  VI.  Frbudenthal 

hat  noch  nicht  alle  ihre  großen  Männer  gesehen,  und 
weshalb  sollten  wir  die  Hoff^nung  aufgeben,  da  wir  doch 
Alles  zu  gewinnen  und  nichts  zu  jyerlieren  haben.  Es  gibt  einen 
Weg,  aus  diesem  Beformatoiy  herauszukommen  vor  Ablauf  der  Straf- 
zeit, und  der  ist,  den  Vorschriften  nachzuleben,  sie  zu  studieren  und 
aus  ihnen  zu  lernen.  Laßt  Euch  keinen  Tag  entgehen,  denn  Beharr- 
lichkeit führt  zum  Ziel. 

Ich  glaube  nicht,  daß  irgend  ein  junger  Mensch  als  Verbrecher 
zu  Grunde  gehen  mag.  Hier  haben  wir  eine  gute  Gelegenheit,  die 
Wirkung  des  Verbrechens  zu  erkennen.  Warum  sollte  diese  eine 
Lehre  nicht  genügen,  das  Schlechteste  an  uns  zu  bessern?  denn  es 
heißt:  „Wenn  Du  nicht  gut  spielst,  so  wirst  Du  sicher  gut  zahlen'^. 
Wir  wollen  Gutes  tun  zum  Wohle  aller  Teile,  unsere  Gewohnheiten 
veredeln,  gute  Gedanken  hegen  und  uns  so  wenigen  Menschen  an- 
schließen, als  möglich,  denn  Freundschaften  bedeuten  hier  Ungelegen- 
heiten.  Sagen  wir  unser  Leid  dem  Herrn,  bitten  wir  ihn  um  eine 
glückliche  Zukunft  und  eine  baldige  Entlassung. 


VII. 
Kriminalstatistische  Vergleiche. 

Von  Hans  O-ross. 


Immer   häufiger  werden  Versuche  gemacht,   aus  den   kriminal- 
statistischen    Angaben   Vergleichswerte   herauszuziehen,    welche    die 
Statistik  in  ihre  Daten  weder  hineinlegen  wollte  noch  konnte.     Die 
Ergebnisse  solcher  angeblicher  Vergleichungen  sind  häufig  verblüffend 
und  darnach  angetan,  zu  weiterer  Verwertung  der  Resultate  anzueifem 
und  wenn  dann  früher  oder  später  die  Unrichtigkeit  des  Gewonnenen 
festgestellt  wird,  so  ist  der  in  den  Deduktionen  begangene  Fehler  selten 
mehr  zu  entdecken^  und  der  Vorwurf  trifft  die  Kriminalstatistik,  die 
aber  an  sich  richtig  war  und  nur  falsch  ausgebeutet  wurde.   So  geschieht 
es,  daß  diese  unschätzbare  Disziplin  in  ihrem  Werte  ungerecht  herab- 
gesetzt wird,  ihre  Errungenschaften  bezeichnet  man  dann  als  unwissen- 
schaftlich und  ihre  Auswertung  als  unzulässig. 
1       Ich    möchte  eine  kleine,  eben    bei  Louis  Lamm  in  Berlin   er- 
schienene Schrift  von  Dr.  Bruno  Blau  „Die  Kriminalität  der  Juden" 
als  Beispiel  dafür  benutzen,   wie  Kriminalstatistik   nicht  verwertet 
werden  darf.    Der  Verf.  benützt  einen  Abschnitt  aus  dem  146.  Bde. 
der  „Statistik  des  Deutschen  Reiches^  und  vergleicht  die  Kriminalität 
der  strafwürdigen  Zivilbevölkerung  auf  Seiten  der  Christen  mit  der 
der  Juden,  in  der  Weise,  daß  stets  die  Verhältnisse  der  verurteilten 
Christen  zu  100000  Christen  und  der  verurteilten  Juden  zu  100  000 
Juden  berücksichtigt  werden.    Verf.  stellt  vorerst  fest,  daß,  wie  bekannt, 
die  Kriminalität  im  letzten  Jahrzehnt,  überhaupt  gestiegen  sei:   bei 
den  Christen  um  17.1  ^/o,  bei  den  Juden  um  31.4  ®/o  —  aber  eigentlich 
sei  „die  Kriminalität  der  Juden  im  allgemeinen  erheblich  geringer  als 
die  der  Christen",   und   eben  so   wenig  dürfe   „ein  Nachlassen  der 
Moralität  bei  den  Juden'^   angenommen  werden.     Das  wird  dadurch 
bewiesen,  daß  sehr   viele  Verurteilungen   der  Juden  Störungen   der 
Sonntagsruhe  betreffen  und  überhaupt  „recht  harmloser  Natur"  seien, 
weiters,    daß  eben  die  Juden  stark   Handel  treiben  und  daher  mit 


190  VII.  Gross 

vielen  Be&timmangeii  leicht  in  Konflikt  kommen,  daß  die  Strafen  auch 
zum  Teile  sehr  gering  seien,  daß  die  Juden  häufiger  in  der  Großstadt 
leben  etc.  Bei  den  einzelnen  Delikten  wird  recht  merkwürdig  argu- 
mentiert: Die  Abnahme  der  Zahlen  beim  Meineid  sei  bei  den  Juden 
stärker  als  bei  den  Christen  und  „wenn  die  Zahl  der  Verurteilungen 
weiter  so  fällt,  wie  bisher,  so  ist  sie  schon  in  der  nächsten  Periode 
geringer  als  die  entsprechende  Zahl  bei  den  Christen^!  Ja:  mit 
^wenn^  darf  doch  die  Statistik  nicht  rechnen!  Daß  Juden  öfter 
wegen  Verbreitung  unzüchtiger  Schriften  verurteilt  werden,  liege 
„sicher'^  in  ihrer  stärkeren  Beteiligung  am  Buchhandel,  speziell  am 
Verlagsgeschäft;  bei  Ehebruch  und  Verführung  kämen  Verurteilungen 
der  Juden  „möglicher  Weise"  deshalb  zahlreicher  vor,  weil  „gegen 
sie  leichter  Antrag  gestellt  wird^.  Daß  mehr  Juden  als  Christen 
wegen  Zweikampf  verurteilt  wurden,  erklärt  sich  „ohne  weiteres" 
durch  das  lebhafte  Temperament,  die  exponierte  Stellung  der  Juden 
und  dadurch,  daß  Christen  als  Reserveoffiziere  vielfach  von  Militä^ 
gerichten  abgeurteilt  werden,  „während  Juden  nicht  Reserveoffiziere 
werden'^;  Wucher  sei  eine  den  Juden   „anerzogene  Unsitte''  etc.  — 

Solches  Argumentieren  ist  nicht  voraussetzungslose  Forschung, 
sondern  Beweisenwollen  mit  bestimmter  Tendenz.  Der  Grund  aller 
vom  Verf.  entdeckter  Merkwürdigkeiten  liegt  lediglich  in  der  bekannten 
allgemeinen  Schwäche  der  Kriminalstatistik,  die  leider  nicht  die 
begangenen  sondern  die  mehr  minder  zufällig  bekannt  ge- 
wordenen und  bestraften  Delikte  behandeln  kann.  Diese  Schwäche 
zeigt  sich  am  besten  m  dem  hundertmal  zitierten  Paradoxon :  In  Oster- 
reich weist  von  allen  Provinzen  Niederösterreich  die  besten  Ziffern 
über  Schulunterricht,  die  Bukowina  die  schlechtesten  auf  —  ebenso 
hat  aber  Niederösterreich  die  höchste,  die  Bukowina  die  geringste 
Kriminalität  —  folglich:  Je  besser  der  Schulunterricht,  desto  schlechter 
die  Kriminalität!      "> 

Wir  wissen  doch  heute,  daß  man  die  begangenen  Delikte  zum 
Zwecke  gewisser  Untersuchungen  in  drei  Gruppen  teilen  muß: 
I.  solche,  bei  welchen  weder  die  Tat,  noch  der  Täter; 
IL  solche,  bei  welchen  zwar  die  Tat,  nicht  aber  der  Täter; 

III.  solche,  bei  welchen  Tat  und  Täter  bekannt  wird.  — 

Bei  dieser  Einteilung  spielt  namentlich  die  Natur  des  Deliktes 
eine  große  Rolle:  zur  Gruppe  I  gehören  z.  B.  Abtreibung,  Kindesmord, 
Unzucht  wider  die  Natur  etc.;  daß  diese  Delikte  in  ungeheurer  Zahl 
verübt  werden,  daß  aber  die  Verübung  der  Tat  geradezu  nur  aus- 
nahmsweise bekannt  wird,  ist  sicher;  wie  viele  homosexuelle  Akte 
mögen  z.  B.  alle  Tage  verübt  werden  und  wie  viele  werden  angezeigt 


Kriminalstatistische  Vergleiche.  191 

Zur  IL  Gruppe  gehören  z.  B.  Diebstahl,  Münzfälschung,  Funds-Ver- 
heimlichong  etc.  Die  Delikte  werden  zwar  in  der  Regel  angezeigt, 
der  Täter  wird  aber  selten  eruiert.  Zur  III.  Gruppe:  Raufereien, 
Todschlag,  Mord,  Majestätsbeleidigung  etc.  —  in  welchen  Fällen  der 
Täter  verhältnismäßig  oft  festgestellt  und  bestraft  wird. 

Den  Gegenstand  der  Kriminalität  bilden  aber  eigentlich  nur 
die  Fälle  der  III.  Gruppe,  somit  die  Leute,  welche  erwischt  werden. 
Wollten  wir  aber  die  Kriminalität  einer  Nation  A  mit  der  Nation  B 
richtig  vergleichen,  so  müssten  wir  außer  den  Daten,  welche  uns 
die  Kriminalstatistik  liefern  kann,  noch  solche  haben,  die  sie  uns  nie 
zu  liefern  vermag,  denn  wir  müßten  wissen: 

1.  Welche  Art  von  Delikten  (Gruppe  I  und  II,  die  in  der  off. 
Statistik  nicht  vorkommen,  oder  Gruppe  III,  die  allein  behandelt 
wird)  die  fragliche  Nation  häufiger  begeht;  denn  wenn  die  Nation  A 
Delikte^  die  beinahe  nie  angezeigt  werden,  auch  in  größter  Menge  begeht, 
so  ist  ihre  Kriminalität  scheinbar  doch  geringe,  denn  die  offizielle 
Statistik  weiß  von  diesen  Delikten  nichts. 

2.  Welche  Nation  schlauer  ist,  d.  h.  das  Bekanntwerden  der  von 
ihr  begangenen  Delikte  besser  zu  verhindern  weiß. 

3.  Wie  es  mit  der  Polizei  d.  h.  mit  dem  Erwischtwerden  be- 
stellt ist 

So  lange  wir  diese  Daten  nicht  haben,  liefert  die  Kriminalstatistik 
in  Richtung  auf  das  vergleichende  Moment  nur  ein  formell  richtiges 
Ergebnis;  die  genannten  Fragen  wird  sie  aber  niemals  beantworten 
können  und  so  vermag  sie  auch  nie  materiell  richtige  Vergleiche  zu 
geben:  sie  vergleicht  nur  die  durch  zahllose  Zufälle  er- 
wischten Verbrecher,  nicht  aber  die  Menschen,  die  wirk- 
lich Verbrechen  begangen  haben  —  maßgebend  wäre  aber 
nur  das  Letztere.  — 

Wir  kommen  zu  dem  Schlüsse,  daß  wir  vorläufig  vielleicht  an- 
nehmen dürfen:  die  Christen  und  die  Juden  sind  gleich  gut  und 
gleich  schlecht  —  im  Durchschnitt  begehen  die  einen  gewisse  Ver- 
brechen häufiger,  die  anderen  bevorzugen  wieder  andere  Verbrechen 
—  dies  ist  vielleicht  richtig,  aber  irgend  welche  ziffernmäßige  Be- 
weise können  wir  aus  den  Daten  der  Kriminalstatistik  nicht  entnehmen, 
am  wenigsten  dürfen  wir  aber  so  zu  beweisen  trachten,  wie  es  in  der 
genannten  Schrift  geschehen  ist.  — 


VIIL 
Zur  echn  ongsfähi  g  ? 

Von 

Dr.  Heinxioh  Svorolky  k.  k.  Gerichtsadjunkten  in  Reichenberg, 

nach  eigener  Vonintersuchong  dargestellt. 


Gegenstand  dieses  Aufsatzes  bildet  der  Seltene  Straf  fall,  in 
welchem  ein  nach  dem  Ausspruche  der  Gerichtsärzte  schwachsinniger 
Mensch  wegen  Verbrechens  des  Meuchelmordes  angeklagt  und  schuldig 
gesprochen  wurde:  die  Überprüfung  des  Gutachtens  der  Gerichtsärzte 
durch  die  Fakultät  hätte  die  Zweifel  an  der  Zurechnungsfähigkeit 
des  Angeklagten  gewiß  zur  Gänze  behoben,  denn  an  der  Tatsache, 
daß  die  Zurechnungsfähigkeit  des  Angeklagten  in  diesem  Falle  sehr 
zweifelhaft  ist  und  bleibt,  ändert  in  wissenschaftlicher  Beziehung 
die  formelle  Feststellung  der  Schuld  durch  das  Schwurgerichtsurteil 
gar  nichts. 

Die  Tatgeschichte  ist  die: 

Am  15.  Jänner  1906  Nachts  wurde  am  Wege  zwischen  Reichenau 
und  Gablonz  der  Sparkassabeamte  C.  H.  bewußtlos  aufgefunden; 
die  ärztliche  Untersuchung  stellte  an  der  behaarten  Kopfseite  über 
dem  Hinterhauptbeine  eine  Schußwunde  fest;  dies  und  die  Tatsache, 
daß  dem  Verletzten  die  Uhr,  mitsamt  Kette  und  das  Geldtäschchen  mit 
34  K.  fehlte,  ließ  auf  einen  Raubmordversuch  schließen.  Der  Ver- 
letzte starb  am  5.  Feber  1906,  ohne  das  Bewußtsein  wiedererlangt  zu 
haben.  Die  Sektion  ergab  eitrige  Hirn-  und  Hirnhautentzündung, 
herbeigeführt  durch  die  SchuBverletzung  als  die  Todesursache. 

Die  Nachforschungen,  deren  nähere  Schilderung  unterlassen  wird, 
haben  am  20.  Jänner  1906  zur  Feststellung  der  Person  des  Täters 
geführt,  der  die  geraubte  Uhr  in  dem  Orte,  in  welchem  der  ermordete 
Sparkassabeamte  angestellt  war,  zum  Verkaufe  anbot,  obgleich  selbe 
die  Anfangsbuchstaben  des  Ermordeten  trug  und  ihre  Beschaffenheit 
im  Orte  bekannt  war. 

Der  Verhaftete  gestand  seine  Tat  bei  der  Sicherheitsbehörde,  dem 
Bezirksgerichte  und  dem  Untersuchungsrichter.    Seiner  Schilderung 


ZarechnangsfShig?  193 

ist  zu  entnehmen,  daß  er  gleich  nach  seiner  am  15.  Jänner  1906 
durch  seinen  Lehrmeister  erfolgten  Entlassung  den  Vorsatz  faßte, 
jemanden  umzubringen  und  zu  berauben,  welche  Absicht  er  noch 
am  selben  Tage  ausführte,  indem  er  auf  öffentlichem  Landwege  einen 
vor  ihm  ahnungslos  gehenden  Mann  niedergeschossen  und  beraubt 
hat  Nach  dem  Morde  kehrte  er  in  die  Stadt  zurück  und  blieb  bis 
zum  Tage  der  Verhaftang  in  der  Bäckerherberge. 

Die  auffällig  geringe  Intelligenz  des  F.  N.^)  veranlaßte  mich, 
ihn  über  den  Gesundheitszustand  seiner  Eltern  und  Verwandten  zu 
befn^en;  über  weitere  Fragestellung^  ob  er  selbst  immer  gesund  ge- 
wesen sei  lind  ob  er  keine  Kopfverletzung  erlitt,  gab  er  an,  er  sei 
als  Schulbube  von  einem  anderen  Schuljungen  mittels  eines  Stein- 
wurfes am  Kopf  verletzt  worden  und  trage  heute  noch  die  Spur. 

Die  gleich  veranlaßte  gerichtsärztliche  Untersuchung  des  Kopfes 
des  Beschuldigten  ergab  das  Vorhandensein  einer  Narbe  auf  der 
Höhe  des  Scheitelbeines;  sie  war  nicht  angewachsen,  mit  der  Haut 
verschiebbar,  und  wurde  gutachtlich  für  eine  Verletzung  jungen 
Datums  erklärt,  welche  mit  einem  stumpfen  Werkzeuge  zugefügt 
wurde.  Die  Angabe  des  Beschuldigten  über  die  Verletzung  am 
Kopfe  erwiesen  sich  als  richtig  —  er  wurde  tatsächlich  vor  8  Jahren 
mit  einem  Steine  verletzt.  Über  seine  Vorstrafen  befragt,  gab  der 
Beschuldigte  nur  an,  er  sei  wegen  Schießens  im  Hause  gestraft 
worden  (§ :  431  öst  StG.  und  36  Waffen-Patentes) ;  sonstige  Strafen 
habe  er  nicht  erlitten.  Die  Einvernehmung  eines  Zeugen  (des  früheren 
Dienstherren  des  Beschuldigten)  ergab  noch  eine  Abstrafung  wegen 
öffentlicher  Gewalttätigkeit;  das  Studium  des  diesbezüglichen  Aktes 
förderte  die  interessante  Tatsache  zu  Tage,  daß  der  Beschuldigte 
schon  im  Jahre  1903  Gegenstand  einer  gerichtsärztlichen  Unter- 
suchung auf  seinen  Geisteszustand  war.  Ein  neuerlicher  Beweis  für 
die  Berechtigung  des  von  Krafft-Ebing  und  Gross  streng  verlangten, 
genauen  Studiums  der  ganzen  Vorakten!  N.  wurde  nämlich  am 
20.  Dezember  1902  vom  k.  k.  Kreisgerichte  in  Beichenberg  wegen 
Verbrechens  der  öffentlichen  Gewalttätigkeit  nach  § :  85  lit.  a.  St.  6. 
begangen  durch  boshafte  Beschädigung  fremden  Eigentumes  zum 
6  wöchentlichen  Kerker  verurteilt,  sein  Vater  suchte  um  Begnadigung 
an  und  in  den  üblichen  Erhebungen  äußerte  sich  das  Stadtamt  G. 
,N.  sei  geistig  nicht  vollkommen  normal^.  Der  Befund  und  das 
Gutachten  der  Gericbtsärzte  des  k.  k.  Bezirksgerichtes  Gablonz  lautete 
wie  folgt: 

1)  Vgl.   Kasper-Liman    «Lehrbuch«;    H.   Groß   «Handbuch";    Krafft- 
Elbing  «Grandzüge". 

ArehiT  ffir  Krimin«lanthropolQgie.   27.  Bd.  13 


194  VIII.  SvORCIK 

Befund: 

F.  N.,  15  Jahre  alt,  etwas  schwächlich  gebaut,  aber  sonst  normal 
entwickelt.  Er  hat  durch  8  Jahre  eine  zweiklassige  Volksschule  be- 
sucht, hat  aber  die  Gegenstände  wie  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen 
nur  mangelhaft  erlernt,  wie  mit  ihm  vorgenommene  Proben  erweisen. 
Die  Aufzeichnungen,  die  er  bei  seinem  Meister  machen  muß  und  die 
nicht  sehr  schwierig  sind,  macht  er  fehlerhaft,  sie  müssen  korrigiert 
werden.  Trotzdem  er  schon  ein  volles  Jahr  in  der  Lehre  ist,  hat  er 
nach  Angabe  seines  Meisters  noch  keine  Fortschritte  gemacht.  Er 
begreift  eben  schwer.  Die  an  ihn  gestellten  Fragen  beantwortet  er 
wohl  sachgemäß,  doch  dauert  es  ziemlich  lange,  bevor  er  die  Frage 

begreift 

Gutach  ten: 

Aus  dem  Befunde  geht  hervor,  daß  N.  etwas  beschränkt  ist,  daß 
seine  psychische  Leistungsfähigkeit  eine  geringe  ist,  und  daß  er  sich 
nicht  immer  über  die  Folgen  seiner  Handlungsweise  recht  klar  ist 
Man  kann  mithin  bei  ihm  einen  geringen  Grad  von  Schwachsinn  an- 
nehmen. Die  gleichen  Wahrnehmungen  wurden  sowohl  bei  der 
ersten  als  auch  bei  der  zweiten  Untersuchung  gemacht.  — 

Die  Begnadigung  des  F.  N.  erfolgte  dann  und  wurde  ihm  am 
30.  Mai  1903  bekanntgegeben.  — 

Nun  stand  die  unumgängliche  Notwendigkeit  der  Untersuchung 
des  N.  auf  seinen  Geisteszustand  außer  jedem  Zweifel  und  es  wurden 
die  hierzu  notwendigen  Ermittlungen  veranstaltet.  Ihr  Ergebnis  ist 
in  dem  Befunde  der  Gerichtsärzte  enthalten,  weshalb  ich  von  einer 
Inhaltsanführung  derselben  absehe. 

Der  Befund  und  das  Gutachten  der  Gerichtsärzte  des  Ereisge- 
richtes  in  Keichenberg  über  den  Mörder  haben  folgenden  Wortlaut: 

Befund: 

F.  N.,  18  Jahre  alt,  ledig,  katholisch,  Bäckergehilfe  hat  noch 
lebende  Eltern  im  Alter  von  ungefähr  60  Jahren.  Der  Vater  leidet 
an  einem  bösen  Fuße,  die  Mutter  zeitweilig  an  Kopfschmerzen.  Er 
hat  noch  4  Geschwister  im  Alter  von  25,  23,  20  und  16  Jahren 
(3  Brüder  und  1  Schwester),  welche  alle  vollkommen  gesund  sind. 
Außer  einem  Geschwisterkinde  Namens  Leopoldine  N.  soll  Niemand 
in  der  Familie  geisteskrank  gewesen  sein.  Dieselbe  war  eine  Land- 
streicherin und  Diebin  und  befand  sich  2  mal  mit  angeborener  Geistes- 
schwäche und  Reizbarkeit  infolge  geistiger  Entartung  in  der  Landes- 
irrenanstalt in  Dobrzan.  Gegenwärtig  ist  sie  (seit  April  1905)  in  der 
Irrenanstalt  in  Kosmanos  untergebracht. 


ZorechnungBfäbig?  195 

Aus  den  Einderjahren  des  N.  wurde  erkundet,  daß  er  die  Volks- 
schule in  M.  und  T.  besuchte;  die  Lehrer  geben  an,  daß  sich  F.  N. 
bildungsfähig  zeigte,  so  daß  er  im  unterrichte  nicht  zurückblieb; 
allein  er  war  unruhig,  nicht  sittsam,  spielte  gerne  beim  Lernen  und 
machte  Dummheiten,  die  seine  Mitschüler  zum  Lachen  reizten.  Das 
veranlaßte  den  Lehrer,  zu  glauben,  daß  der  Knabe  nicht  ganz  zu- 
rechnungsfähig wäre,  die  auferlegten  Strafen  waren  ganz  wirkungs- 
los. Tatsächlich  hat  er  auch  Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  gelernt 
Nach  der  Schulzeit  kam  N.  zum  Bäckermeister  Karl  L.  in  Gablonz 
in  die  Lehre  (vom  Dezember  1901  bis  September  1904).  Oleich  im 
Anfange  der  Lehre  bemerkte  der  Meister,  daß  N.  Geld  unterschlage; 
zur  Rede  gestellt  blieb  er  stumm  und  gleichgiltig.  Auch  zeigte  er 
keine  Lust  zur  Arbeit  und  kein.  Streben  zu  tüchtiger  Ausbildung,  so 
daß  er  meist  nur  zu  Botengängen  und  häuslichen  Arbeiten  verwendet 
werden  konnte.  Er  war  ein  Schmutzfink  und  vernachlässigte  sich  in 
seinem  Äußern.  Gereizt,  wurde  er  auch  grob  und  rabiat;  so  ging 
er  in  Folge  eines  Streites  auf  einen  zweiten  Lehrling  mit  der  Hacke 
los  und  hätte  denselben  ohne  Dazwischentreten  des  Meisters  erschlagen. 

Am  20.  Dezember  1902  wurde  er  wegen  boshafter  Beschädigung 
fremden  Eigentumes  (öffentlicher  Gewalttätigkeit),  weil  er  in  boshafter 
und  mutwilliger  Weise  eine  aus  Eichenholz  geschnitzte  Vorhaustiire 
beschädigt  und  einen  Schaden  von  80  E.  angerichtet  hatte,  vom  k. 
k.  Kreisgerichte  Beichenberg  zu  6  Wochen  Kerker  verurteilt;  er  ge- 
stand die  Tat,  er  habe  sie  verübt,  weil  man  ihn  bei  diesem  Hause, 
wenn  er  früh  Morgens  mit  den  Semmeln  kam,  eine  halbe  Stunde 
warten  ließ,  worüber  er  sich  ärgerte.  Diese  Strafe  kam  aber  nicht 
zur  Durchführung,  nachdem  die  Gerichtsärzte  in  Gablonz  ihn  als 
etwas  beschränkt  und  seine  psychische  Leistungsfähigkeit  als  eine 
geringe  bezeichnet  hatten,  weshalb  er  begnadigt  wurde. 

Vom  September  1904  bis  Mitte  Juni  1905  war  Franz  N.  als 
Bäckergehilfe  bei  Josef  .S.  in  R.;  auch  dort  zeigte  er  sich  in  der 
Arbeit  nachlässig,  unfolgsam,  vertat  seinen  ganzen  Lohn  oder  kaufte 
unnötige  Sachen,  die  er  nicht  brauchte.  Gegen  Ermahnungen  und 
Drohungen  zeigte  er  sich  ganz  gleichgiltig,  der  Meister  hielt  ihn  für 
nicht  ganz  gescheit.  Zuletzt  stand  er  beim  Bäckermeister  August  J. 
in  Gablonz  im  Dienste;  auch  dieser  war  mit  ihm  nicht  zufrieden; 
er  konnte  Nichts,  er  mußte  deshalb  fortwährend  gerügt  werden, 
machte  sich  aber  Nichts  daraus.  Am  15.  Jänner  1906  verließ  er 
diesen  Dienst,  und  zwar  infolge  Kündigung.  Am  13.  Dezember  1905 
wurde  er  vom  k.  k.  Bezirksgerichte  Gablonz  wegen  Übertretung  des 
§  431   St  G.   und  Übertretung  des   Waffenpatentes  zu  24  Stunden 

18* 


196  Vra.  SvoRciK 

Arrest  und  5  Kronen  Geldstrafe  verurteilt;  er  hatte  am  2.  Dezember 
im  Hofe  seines  Meisters  aus  einer  Flobertpistole  Scheibe  geschossen, 
ein  Schuß  drang  in  die  ebenerdige  Werkstatt  des  Gürtlers  Schert  B., 
wodurch  die  in  der  Werkstatt  Arbeitenden  gefährdet  wurden.  Die 
Pistole  hat  er  sich  selbst  gekauft 

An  demselben  Tage,  als  er  aus  dem  Betriebe  des  August  J.  in 
Gablonz  entlassen  wurde,  hat  er  auf  der  Straße  gegen^  Beichenau 
den  Sparkassabeamten  K.  H.  mit  einem  Bevolver  von  rückwärts  in 
den  Kopf  geschossen  und  seines  Brieftäschchens  und  der  Uhr  samt 
Kette  beraubt  K.  H.  ist  dieser  Verletzung  erlegen  und  wurde  am 
6.  Feber  d.  J.  obduziert.  F.  N.  suchte  die  Uhr  bei  einem'Trödler 
in  Gablonz  zu  verkaufen,  er  wurde  dabei  angehalten  und  gestand 
der  Polizei,  daß  er  der  Täter  sei,  er^habe  dies  aus  Not  getan.  — 

Ergebnis  der  gegenwärtigen  Untersuchung  des  Körpers. 

F.  N.  hat  ein  seinem  Alter  von  18  Jahren  entsprechendes  Aus- 
sehen, ist  von  mittlerer  Größe,  mäßig  kräftig  gebaut,  mager  und  hat 
blasse  Gesichtsfarbe.  Die  Körperhaltung  ist  eine  gerade,  die  Atem- 
ziffer beträgt  16,  die  Pulsfrequenz  72  in  der  Minute.  Der  Schädel 
ist  lang  gebaut,  der  Körper  ebenmäßig,  mit  braunen  kurzen  Haaren 
ziemlich  dicht  bewachsen.  In  der  linken  Scheitelbeingegend  findet 
sich  eine  rötliche,  daher  frische  Hautnarbe,  von  etwa  Bohnengröße, 
Die  Stime  ist  niedrig,  das  Gesicht  ungleich,  die  rechte  Seite  schwächer 
als  die  linke,  deshalb  steht  auch  das  rechte  Auge  niedriger  als  das 
linke.  Es  besteht  kein  Lidzittem,  die  Pupillen  sind  4  mm  weit,  auf 
beiden  Augen  gleich,  rund  und  ziehen  sich  auf  Lichtreize  und  beim 
Sehen  in  der  Nähe  zusammen.  Die  Beflexerregbarkeit  der  Bindehaut 
des  Augapfels  ist  herabgesetzt,  ebenso  der  Bachen-  und  Würgereflex. 
Sehen  und  hören  ist  gut,  er  schmeckt  und  riecht  alles.  Der  Gesichts- 
ausdruck ist  nichtssagend,  das  Gesicht  glatt,  ohne  Falten  und  Furchen. 
Das  Gebiß  ziemlich  erhalten,  2  Backenzähne  fehlen.  Die  Zunge  wird 
gerade  vorgestreckt,  Sprachstörung  ist  keine  vorhanden.  Der  Hals 
lang,  die  Brust  schmal,  die  obere,  rechte  Schlüsselbeingrube  ist  stärker 
ausgeprägt  als  die  linke;  daselbst  ist  auch  das  Atmen  hinten  schwächer 
zu  hören,  sonst  ist  Herz-  und  Lungenbefund  normal;  am  Bücken 
rote  Wimmerln  (Akne).  Der  Bauch-  und  Cremasterreflex  ist  vor- 
handen, der  Sehnenreflex  am  Knie  leicht  verstärkt  Die  Geschlechts- 
teile sind  nicht  außergewöhnlich  entwickelt,  die  Hände  blaurot  ge- 
färbt Die  Untersuchung  der  Sensibilität  der  Haut  ergibt,  daß  F.  N. 
Alles  fühlt,  richtig  lokalisiert,  Wärme  und  Kälte  unterscheidet,  viel- 
leicht sind  seine  Schmerzäußerungen  auf  Stiche  weniger  lebhaft.    Er 


Zurechnangsfähig?  197 

entwickelt  einen  sehr  guten  Appetit,  der  Schlaf  ist  lang,  gut,  tief,  er 
schläft  während  der  Haft  auch  am  Tage,  im  Ganzen  14—16  Stunden. 

Des  Geistes: 

F.  N.  spricht  wenig,  man  muß  oft  die  Fragen  wiederholen  und 
die  Antworten  förmlich  aus  ihm  herauspumpen.  Er  ist  nicht  aufge- 
regt, anscheinend  gleichgiltig,  das  gerichtsärzüiche  Examen  regt  ihn 
gar  nicht  auf.  Dieses  ruhige,  gleichmütige  Benehmen  trägt  er  auch 
in  der  Zelle  zur  Schau,  manchmal  lacht  er  ohne  Grund,  ja  er  singt 
sogar  (die  Volkshymne  u.  A.)  Als  er  photographiert  wurde,  schien 
ihm  das  zu  gefallen,  er  lächelte  uud  erbat  sich  eine  Photographie. 
Er  benimmt  sich  anständig,  der  Hausordnung  gemäß  und  verrichtet 
auch  die  ihm  zugewiesenen  Arbeiten.  Sein  Bewußtsein  ist  voll- 
kommen frei,  er  ist  über  Zeit  und  Ort  vollkommen  orientiert, 
seine  Antworten  sind  den  Fragen  entsprechend,  es  ist  keine  Ver- 
worrenheit vorhanden,  sein  Sprachschatz  ist  gering,  seine  Kennt 
nisse  sehr  mangelhaft  Er  faßt  schwer  auf,  sein  Gedächtnis  ist 
jedenfalls  schwach,  so  weiß  er  z.  B.  nicht  mehr,  daß  er  auf  seinen 
Geisteszustand  in  Gablonz  ärztlich  untersucht  und  begnadigt  worden 
ist.  Er  weiß,  daß  er  verurteilt  wurde,  um  das  Weitere  hat  er  sich 
nicht  gekümmert  Er  ist  nach  seiner  Angabe  gerne  für  sich  allein, 
im  Allgemeinen  anscheinend  gutmütig,  doch  jähzornig,  er  trinkt  nicht 
und  bezeichnet  als  seine  Lieblingsbeschäftigung  das  Bauchen.  Auf 
Laien  macht  er  den  Eindruck  eines  albernen,  stumpfsinnigen  Menschen 
(so  äußerte  sich  z.  B.  der  mit  ihm  eingesperrt  gewesene  B.  H.  in 
Gablonz).  Wegen  der  vollbrachten  Tat  empfindet  e^:  nicht  die  ge- 
ringste Reue;  er  äußerte  sich  auch  dem  Zellengenossen  gegenüber, 
daß  es  ihm  ganz  gleich  sei,  ob  er  einige  Jahre  eingesperrt  werde 
oder  nicht;  beim  Meister  werde  er  ohnehin  ausgenützt,  und  wenn  er 
nicht  mehr  arbeiten  kann,  einfach  entlassen.  Im  Arreste  sei  es 
schöner,  man  bekomme  sein  Essen  und  Kleidung  und  habe  keine 
Sorgen.  Auch  Karthaus  (d.  i.  eine  Männerstrafanstalt  in  Böhmen) 
schrecke  ihn  nicht,  dort  bekomme  er  für  seine  Arbeiten  noch  Geld. 

Den  Gerichtsärzten  gegenüber  äußerte  er  sich  übereinstimmend 
mit  seiner  Aussage,  daß  ihm  schon  am  Vormittage  des  Mordtages 
der  Gedanke  kam,  sich  Geld  in  der  Art  zu  verschaffen,  daß  er  auf 
dem  Wege  nach  W.  den  ersten  Besten,  der  Geld  zu  haben  scheine, 
anschieße  und  beraube.  Das  hat  er  auch  ausgeführt,  er  habe  es  also 
vorsätzlich  gemacht,  er  beschreibt  alle  Einzelnheiten  der  Tat,  die 
Folgen  habe  er  sich  allerdings  nicht  überlegt  und  insbesondere  nicht 
an  das  Leid  gedacht,  welches  er  seinen  Eltern  damit  zufügte.   Töten 


198  VIll.  SvoRciK 

wollte  er  den  E.  H.  nicht,  aber  Rene  über  den  unglücklichen  Ang^ 
gang  bringt  er  nicht  zum  Ausdrucke. 

Gutachten: 

Das  Ergebnis  der  Untersuchung  des  F.  N.  auf  seinen  Geistes- 
zustand geht  dahin,  daß  derselbe  ein  schwachsinniger  Mensch  ist 
Der  Schwachsinn  ist  allerdings  nicht  so  hochgradig,  daß  eine  gewisse 
Schulbildung  und  'Erziehung  und  die  Erlernung  eines  Handwerkes 
unmöglich  gewesen  wäre^  aber  es  ist  doch  ein  ausgesprochen 
schwacher  Verstand,  Charakter  und  Urteilsschwäche,  mangelhaftes 
sittliches  und  rechtliches  Gefühl  unverkennbar  vorhanden.  Derartige 
schwachsinnige  Menschen  werden  oft  der  Spielball  ihrer  Affekte  oder 
ihrer  sinnlichen  Begierde  und  dadurch  zu  Verbrechern,  weil  bei^  ihnen 
die  sittlichen  und  rechtlichen  Gegenvorstellungen  fehlen  oder  nur 
schwach  hervortreten  und  sie  nicht  die  volle  Einsicht  für  ihre  Hand- 
lungen und  für  die  Folgen  derselben  besitzen.  Das  finden  wir  auch 
bei  F.  N.;  so  hätte  er,  wie  in  der  Vorgeschichte  erzählt  wird,  weil 
ihn  ein  Kamerad  ärgerte,  denselben  im  Zorne  mit  der  Axt  beinahe 
erschlagen,  wenn  der  Meister  nicht  dazwischen  getreten  wäre;  er 
hat  in  boshafter  Weise  eine  geschnitzte  Tür  beschädigt,  um  sich  für 
langes  Warten  beim  Gebäckaustragen  zu  rächen.  Und  auch  die 
jüngste  Tat  entspricht  nur  der  sinnlichen  Begierde  des  Nahmngs- 
triebes.  Aus  seiner  Verantwortung  gebt  das  Bewußtsein  hervor,  daß 
er  in  allen  den  genannten  Fällen  etwas  Unrechtes  tue  und  doch 
empfand  er  keinen  Abscheu  vor  der  Tat  wie  der  normale  Mensch; 
er  empfand  daher  auch  darüber  keine  Beue,  er  konnte  auch  die 
Größe  des  abfälligen  Schadens  nicht  übersehen,  er  hat  nur  nach 
seinen  egoistischen  Trieben  und  Wünschen  gehandelt,  die  altruistischen 
Gefühle  sind  bei  ihm  nicht  aufgekommen.  Daher  läßt  sich  mit  Be- 
stimmtheit folgern,  daß  bei  ihm  ein  ethisches  Unterempfinden,  ein 
Mangel  an  Urteilsvermögen  vorhanden  ist. 

F.  N.  hat  aber  die  verbrecherische  Handlung  am  15.  Jänner  1906 
nicht  begangen,  weil  er  des  Gebrauches  der  Vernunft  ganz  beraubt 
ist,  es  lag  bei  ihm  auch  damals  keine  abwechselnde  Sinnenverrückung 
vor,  er  war  nicht  berauscht  oder  in  einem  solchen  verwirrten  oder 
bewußtlosen  Zustande,  daß  er  nicht  wußte,  was  er  tat;  man  kann 
auch  nicht  behaupten,  daß  er  diese  Tat  unter  unwiderstehlichem 
Zwange  ausgeführt  hat  —  wohl  aber  ist  er  schwach  an  Verstand, 
so  daß  ihm  die  wahre  und  richtige  Einsicht  in  das  Teuflische,  Un- 
sittliche und  Unrechtliche  seines  Beginnens  mangelte.^ 


Zorechnongsfllhig?  199 

Soweit  das  Gutachten: 

Bei  der  SchwurgerichtsverhandluDg  am  7.  März  1906  wurde  N. 
mit  12  Stimmen  des  Verbrechens  des  meuchlerischen  Raubmordes 
nach  §  134,  135  Z.  1.  und  2  St.  6.  schuldig  erkannt  und  zum 
schweren  Kerker  in  der  Dauer  yon  12  Jahren,  jedes  Vierteljahres 
mit  einmal  Fasten  in  Einzelnhaft  verschärft  yerurteilt.    (Urteil  yom 

7./IIL  1906  ^^). 

In  der  gegen  dieses  Urteil  erhobenen  Nichtigkeitsbeschwerde  des 
Angeklagten  wurde  geltend  gemacht,  daß  der  Antrag,  der  Verteidi- 
gung auf  Einholung  des  Fakultätsgutachtens  über  den  Geisteszustand 
des  F.  N.  abgewiesen  wurde  und  daß  dem  behaupteten  Strafaus- 
schließungsgründe des  §  2  lit  a — c  St.  G.  entsprechende  Zusatzfrage 
nicht  gestellt  wurde;  der  k.  k.  Oberste  Gerichts-  als  Gassationshof 
in  Wien  verwarf  mit  der  Entscheidung  vom  26./V.  1906  Z:  6245  die 
Nichtigkeitsbeschwerde  und  F.  N.  trat  am  28./V.  1906  seine  Strafe  an. 
Der  Vollständigkeit  halber  sei  hier  der  Teil  der  Gründe  angeführt, 
welcher  sich  mit  der  geistigen  Beschaffenheit  des  Angeklagten  be- 
faßt, wiedergegeben. 

Es  heißt  darin:  ,,Die  Ablehnung  des  Antrages  auf  Einholung  des 
Fakultätsgutachtens  kann  den  Nichtigkeitsgrund  der  Z  5  des  §  344 
St  P.  0.  schon  deshalb  nicht  bilden,  weil  nach  dem  Wortlaute  des 
§  126  St.  P.  0.  („kann'^)  die  Einholung  eines  Fakultätsgutachtens 
dem  richterlichen  Ermessen  anheimgestellt  ist,  ohne  das  Gericht  hier- 
zu zu  verpflichten.  Von  einer  Verletzung  des  Gesetzes  kann  aber 
dort  keine  Rede  sein,  wo  dasselbe  dem  Richter  blos  ein  Recht  ge- 
währt, dieser  aber  hiervon  keinen  Gebrauch  zu  machen  findet.  Allein 
selbst  abgesehen  hiervon  gebrach  es  im  vorliegenden  Falle  auch  an 
den  Voraussetzungen  des  §  126.  St  P.  0.;  das  Gutachten  der  in  der 
Hauptverhandlung  vernommenen  Gerichtsärzte  war  einhellig  und  mit 
keinem  der  in  den  §§  125  und  126  St.  P.  0.  bezeichneten  Mängel 
behaftet,  daher  einer  Überprüfung  durch  Experte  höherer  Ordnung 
gar  nicht  bedürftig.  Die  psychische  Minderwertigkeit  der  Angeklagten 
gaben  beide  Sachverständige  ebenso  zu,  wie  sie  anderseits  jede 
Geistesstörung  desselben  im  Sinne  des  §  2  lit.  a — c  St.  G.  ausge- 
schlossen haben.  Darin  liegt  kein  Widerspruch.  Das  Gutachten  der 
Gerichtsärzte  bezeichnet  mit  klaren  Worten  alle  jene  Momente,  in 
denen  die  psychische  Entwickelung  des  Angeklagten  zurückgeblieben 
ist  Er  ist  schwach  an  Verstand  (§  46  lit  a  St  G.),  charakterschwach ; 
es  fehlt  ihm  allerdings  —  wie  das  Gutachten  sagt,  —  die  wahre 
und  richtige  Einsicht  in  das  Teuflische,  Unsittliche  und  Widerrecht- 


200  Vm.  SvoBciK 

liehe  seines  Beginnens;  allein  das  Gute  und  Böse  weiß  er  wohl  zu 
unterscheiden,  die  Folgen  seiner  Tat  einzusehen;  nur  die  tiefe  Ein- 
sicht eines  normalen  Menschen  geht  ihm  ab.  Das  Gutachten  läßt 
also  klar  erkennen,  in  welchen  Richtungen  psychische  Defekte  an 
dem  Angeklagten  yorkommen;  sie  treffen  seine  Intelligenz,  sein 
ethisches  Gefühl  und  seine  Willenskraft^  erreichen  jedoch  nicht  den 
Grad  einer  die  Zurechnung  ausschließenden  Geistesstörung.  Bedenken 
gegen  die  Richtigkeit  dieses  wohlmotiyierten  Gutachtens  lagen  nicht 
vor  und  der  Schwurgerichtshof  hatte  darum  auch  keinen  Anlaß,  von 
dem  ihm  nach  §  126  St  P.  0.  zustehenden  Rechte  Gebrauch  zu 
machen.  1) 

Belangend  den  Nichtigkeitsgrund  der  Z.  6  des  §  344  St.  P.  0. 
ist  zunächst  hervorzuheben,  daß  die  Verteidigung  nach  Ausweis  des 
Hauptverhandlungsprotokolles  eine  Zusatzfrage  lediglich  in  der  Rich- 
tung des  im  §  2  lit  a  St  G.  bezeichneten  Strafausschließungsgrundes 
der  vorübergehenden  Sinnesverwirrung  beantragt  hat  Allein  weder 
für  diese  Frage,  noch  auch  für  eine  Zusatzfrage  im  Sinne  des  §  2 
lit  a  und  b  St  G.  lagen  die  gesetzlichen  Voraussetzungen  vor.  Zu- 
satzfragen nach  einem  Strafausschließungsgründe  zu  stellen,  ist 
der  Schwurgerichtshof  nach  §  319  St  P.  0.  nur  dann  verpflichtet, 
wenn  behauptet  wurde,  daß  ein  Zustand  vorhanden  gewesen  oder 
eine  Tatsache  eingetreten  sei,  welche  die  Strafbarkeit  der  Tat  aus- 
schließen würde.  Wird  zunächst  die  Verantwortung  des  Angeklagten 
herangezogen,  so  ist  in  derselben  die  Behauptung  eines  nach  §  2 
lit  a — c  gearteten  Zustandes  gewiß  nicht  zu  finden.  Er  hat  die  Tat 
mit  allen  Einzelheiten  ihrer  Verübung  eingestanden;  er  hat  das 
Motiv  derselben,  seinen  Entschluß,  sich  durch  Ermordung  und  Be- 
raubung Subsistenzmittel  zu  schaffen^  angegeben ;  er  erinnert  sich  an 
alle  Vorgänge,  die  der  Verfibung  der  Tat  vorausgingen  und  ihr  nach- 
folgten, mit  zureichender  Schärfe;  kurz  seine  Verantwortung  zeigt  un- 
getrübtes Bewußtsein  bei  Verübung  der  Tat  und  ist  nichts  weniger 
als  die  Behauptung  eines  Zustandes  aufgehobenen  Bewußtseins,  wie 
§  2  lit  a — c  St.  6.  ihn  voraussetzt  Aber  auch  in  den  sonstigen 
Ergebnissen  des  Beweisverfahrens  fand  eine  solche  Behauptung  nicht 
Ausdruck. 

Worauf  die  Nichtigkeitsbeschwerde  hier  verweist,  die  Geistes- 
krankheit einer  Cousine  des  Angeklagten,  vom  Lehrer  Franz  S.  be- 
stätigte  Unruhe,   Spielsucht  und   Zerstreutheit   desselben   bei   sonst 

1)  Wäre  aber  nicht  der  zweite  Fall  des  zweiten  Absatzes  §  126  StP.O. 
vorgelegen,  nach  welchem  ein  Fakultatsgutachten  wegen  Wichtigkeit  oder 
Schwierigkeit  des  Falles  eingeholt  werden  kann? 


Zarechnangsfahig?  201 

guten  Anlagen  und  leichter  Auffassung,  dem  Bäckermeister  Karl  L. 
gegenüber  bewiesene  Arbeitsunlust,  Gleichgiltigkeit  und  „Dummheit^ 
(die  übrigens  L.  für  fingirt  hielt),  schon  im  Jahre  1903  im  Strafverfahren 
gegen  den  Angeklagten  wegen  Verbrechens  der  öffentlichen  Gewalt- 
tätigkeit von  den  Gerichtsärzten  konstatierte  Begriffsstutzigkeit  und 
geistige  Beschränktheit  desselben  und  yon  dessen  Haftgenossen,  sowie 
dem  Gefangenaufsichtspersonale  wahrgenommene  Gleichgiltigkeit  und 
Stumpfheit  —  sind  allenfalls  Symptome  eines  von  der  Norm  einiger^ 
maSen  abweichenden  psychischen  Zustandes  und  gaben  diese  Momente 
ebendeshalb  zur  Untersuchung  des  Geistes  und  Gemütszustandes  des 
Angeklagten  im  Sinne  des  §  134  St  P.  0.  Anlaß;  als  Behauptung 
aufgehobenen  Bewußtseins  im  Sinne  des  §  2  lit  c  St.  G.  oder  einer 
sonstigen  nach  §  2  lit  a  oder  b.  St  G.  zu  beurteilenden  Geistesstörung 
aber  können  sie  nicht  gelten.  Die  gerichtsärztliche  Untersuchung 
des  Angeklagten  ergab  aber,  wie  schon  oben  hervorgehoben,  nur  eine 
geistige  Minderwertigkeit  desselben ;  nur  diese,  nicht  aber  eine  Geistes- 
störung oder  auch  nur  vorübergehende  Sinnenverwirrung  wurde  in 
den  Ergebnissen  des  Beweisverfahrens  behauptet,  nämlich  als  wirk- 
lich existent  bezeichnet.  Eine  solche  Behauptung  aber  verpflichtet 
den  Schwurgerichtshof  keineswegs  zur  Stellung  einer  Zusatzfrage  im 
Sinne  des  §  2  lit  a — c  St  G.,  die  hier  vorgesehenen  Strafausschlie- 
ßungsgründe erheischen  mehr  als  einen  bloßen  Defekt  an  der  In- 
telligenz, dem  sittlichen  Gefühle  oder  der  Willenskraft  §  2  lit  a 
St  6.  spricht  von  gänzlichem  Beraubtsein  der  Vernunft,  bezieht  sich 
also  auf  Menschen,  denen  jegliche  Intelligenz  abgeht,  die  das  Gute 
vom  Bösen  nicht  zu  unterscheiden  und  die  Folgen  ihres  Tun  nicht 
einzusehen  vermögen;  §  2  lit  b.  St.  G.  setzt  eine  in  der  Intesität 
gleiche,  jedoch  nicht  dauernde,  vielmehr  von  lichten  Intervallen  unter- 
brochene Intellektsaufhebung  und  §  2  lit.  c  St  G.  endlich  vorüber- 
gehende Aufhebung  des  Bewußtseins  eines  sonst  geistig  nicht  ge- 
störten Individuums  voraus.  Gemeinsam  ist  allen  diesen  Zuständen, 
daß  der  Täter  seine  Tat  zu  erkennen  nicht  in  der  Lage  ist,  daß  er 
nicht  weiß,  was  er  tut,  und  darum  seine  Tat  weder  bedacht  noch 
beschlossen  hat  Einen  solchen  Zustand  mangelnden  Bewußtseins 
des  Angeklagten  im  Zeitpunkte  der  Tat  haben  die  Gerichtsärzte 
keineswegs  behauptet,  Angeklagter  selbst  aber  hat  zugegeben,  daß  er 
die  Tat  bedacht  und  beschlossen  hat  In  der  Nichtzulassung  einer 
Zusatzfrage  auf  einen  der  Strafausschließungsgründe  des  §  2  lit 
a — c  St.  G.  kann  somit  eine  den  Nichtigkeitsgrund  der  Z.  6  des 
§  344  St  P.  0.  bildende  Verletzung  der  Vorschriften  des  §  319  St 
P.  0-  nicht  gefunden  werden."     Soweit  die  Gründe. 


202  Vin.  SvoBciK 

Die  Frage,  ob  in  wissenschaftlicher  Beziehung  die  Zurech- 
nungsfähigkeit des  N.  festgestellt  wurde,  bleibt  offen.  Die  Überprüfung 
des  Gutachtens  durch  die  Fakultät  hätte  in  dem  Falle  Klarheit  ver- 
schafft und  hätte  unter  Umständen  für  die  gerichtliche  Medizin  wert- 
volles Material  geliefert 

Hätte  die  Fakultät  den  Angeklagten  für  derart  schwachsinnig 
erklärt,  daß  ihm  seine  Handlung  nicht  zugerechnet  werden  kann,  so 
wäre  der  unglückliche  Jüngling  hinter  den  Mauern  einer  Irrenanstalt 
verschwunden;  N.  wäre  für  die  menschliche  Gesellschaft  unschädlich 
gemacht  worden.  Ist  es  jetzt  der  Fall?  Der  schwachsinnige  N.  war 
zur  Zeit  des  Urteils  18  Jahre  alt  und  wurde  za  12  Jahren  schweren 
Kerkers  verurteilt  —  er  ist  also  mit  30  Jahren  wieder  frei,  in  einem 
Alter,  welches  nach  krim.  statistischen  Daten  fast  die  ärgste  Krimi- 
nalität aufweist.  Nach  dem  eingestandenen  Hergange  der  Tat :  Nieder- 
schießen des  ersten  Besten,  um  etwas  Geld  zu  erhalten  —  ist  Motiv 
und  Vorgang  so  ziemlich  das  Gefährlichste,  was  wir  uns  an  einem 
noch  dazu  minderwertigen  Menschen  denken  können.  Wie  kann  es 
gerechtfertigt  werden,,  daß  dieses  so  höchst  bedenkliche  Individuum, 
wie  ein  bösartiges  Baubtier,  im  Alter  von  30  Jahren  in  Freiheit  ge- 
setzt wird?  Den  Mann  aber  dann  in  ein  Irrenhaus  zu  sperren  wäre 
höchst  inkonsequent^  weil  Jeder  fragen  müßte,  wie  man  dazu  kam, 
ihn  vorerst  eine  Strafe  verbüßen  zu  lassen,  wenn  man  sieht,  daß  er 
in  ein  Irrenhaus  gehört  Die  moderne,  weichliche  Justiz  wird  es 
dazu  bringen,  daß  man  nach  einer  Art  Faustrecht  ruft  und  verlangt, 
daß  sich  der  Einzelne  gegen  die  absolut  Unsozialen  mit  dem  Revolver 
in  der  Hand  wehren  darf,  wenn  die  Allgemeinheit  von  der  Gerech- 
tigkeit nicht  geschützt  werden  kann.  Ob  es  den  gänzlich  Antisozialen 
besser  gehen  wird,  wenn  es  tatsächlich  zu  einem  bellum  plurium 
contra  singulos  kommt,  das  ist  eine  andere  Frage.  — 

Der  oberste  Gerichtshof  hat  sich  mit  den  einzelnen  Punkten  des 
§  2  des  0.  St  G.  redlich  geplagt  und  sie  genügend  oft  zitiert  —  aber 
Bestimmungen,  die  ihre  100  Jahre  alt  sind,  lassen  sich  mit  modernen 
wissenschaftlichen  Auffassungen  auch  beim  besten  Willen  nicht  in 
Übereinstimmung  bringen;  hier  kann  nur  die  freie  und  geübte  Tech- 
nik einer  Fakultät  nach  klinischer  Untersuchung  Hilfe  bringen. — 

Aber  noch  Eins.  Die  Unterbringung  eines  so  gefährlichen  In- 
dividuums in  einer  „Irrenanstalt'^  hat  allerdings  nur  dann  Sinn,  wenn 
eine  künftige  Gesetzgebung  dafür  Sorge  getroffen  haben  wird,  daß 
solche  Leute  nicht  plötzlich  und  ohne  Wissen  des  Gerichtes  und 
seiner  Sachverständigen  als  „geheilt"  enüassen  werden. 


Kleinere  Mitteilnngen. 


Von  Ernst  Lohsing  in  Wien. 

Die  gefälschte  Handschrift  Unter  diesem  Titel  veröffentlicht 
Dr.  Emil  Postelberg  im  3.  Bd.  des  ^Pitavals  der  Gegenwarf^  (S.  269) 
in  ausführlicher  Darstellang  die  Geschichte  des  Strafprozesses  gegen  den 
Wiener  Drechsler  Markus  PoUak  wegen  Verbrechens  des  Betrugs,  begangen 
durch  Anfertigung  einer  falschen  Quittung.  Der  Angeklagte  wurde  1902 
deswegen  zu  acht  Monaten  schweren  Kerkers  verurteilt;  die  1906  bewilligte 
Wiederaufnahme  des  Verfahrens  ergab  seine  völlige  Schuldlosigkeit. 

Es  ist  nicht  unsere  Absicht,  eine  ausführliche  Schilderung  dieses  sehr  kom- 
plizierten Falls  zu  geben,  zumal  bei  der  prägnanten  Ausdrucksweise  Postel- 
bergs  sich  nicht  viel  von  seiner  Darstellung  weglassen  könnte.  Auch  ist 
es  nicht  die  Tatsache  des  Justizirrtums  an  sich,  die  hier  festgehalten 
werden  soll,  obwohl  sie  als  solche  dessen  wert  wäre.  Weit  interessanter 
smd  jene  Umstände,  welche  dem  Gericht  im  Jahre  1902  für  die  Schuld 
des  Angeklagten  zu  sprechen  schienen.  Das  war  zunächst  die  Tatsache 
einer  Vorstrafe.  PoUak  war  zur  Last  gelegt,  er  habe  die  Quittung  über 
die  Rückzahlung  der  Kaution  einer  bei  ihm  angestellten  Verkäuferin  ge- 
fälscht. Das  Gericht  hat  in  den  Entscheidungsgründen  primo  loco  fest- 
gestellt, daß  sich  PoUak  zur  Zeit  der  Tat  in  einer  finanziellen  Notlage 
befunden  hat,  daß  auch  andere  seiner  Verkäuferinnen  nur  mit  gerichtlicher 
Hilfe  ihre  Kautionen  ausgefolgt  erbieiten  und  daß  er  ein  Charakter  ist, 
dem  man  eine  solche  Handlung  zutrauen  könne;  denn  er  ist  wegen  Dieb- 
stahls vorbestraft.  Der  Umstand,  daß  die  Diebstahlsvorstrafe  1880  ausge- 
sprochen wurde,  als  Pollak  22  Jahre  alt  war,  kam  nicht  weiter  in  Betracht 
Entscheidend  war  demgegenüber  der  gute  Eindruck  der  Belastungszeuginnen, 
die  nicht  vorbestraft  waren.  Der  zweite  Umstand,  der  gegen  Pollak  heran- 
gezogen wurde,  war  der,  daß  auch  er  den  Täter  in  einer  anderen  Richtung 
suchte,  als  den  Tatsachen  entsprechend  gerechtfertigt  gewesen  wäre,  und 
daß  er  aus  der  Untersuchungshaft  heraus  Machinationen  zu  seiner  Ent- 
lastung in  Szene  setzte;  leider  wird  noch  immer  nicht  verstanden,  daß 
auch  ein  gänzlich  Unschuldiger  einen  Entlastungsbeweis  herzustellen  bestrebt 
sein  kann.  Als  dritter  Umstand  —  und  das  ist  wohl  die  Hauptsache  — 
ßd  das  Gutachten  der  Schriftsachverständigen  zu  PoUaks  Ungunsten  aus, 
indem  sie  ihn  als  den  Urheber  der  ominösen  Quittung  ansahen.  Zweimal 
und  von  nicht  weniger  als  3  Sachverständigen  wurde  diese  Behauptung 
aufgestellt.     Von   den  Umtrieben   zweier  verbrecherischer  Weiber,  die  mit 


204  Kleinere  Mitteilungezu 

dem  unschuldigsten  Gesicht  der  Welt  sich  für  andere  Personen  bei  Gericht 
aasgaben  und  Meineide  schwuren,  die  mit  keiner  Wimper  zuckten,  als  in 
ihrer  Gegenwart  in  der  Person  des  Pollak  jemand  verurteilt  wurde,  dessen 
Schuldlosigkeit  sie,  die  in  Wahrheit  Schuldigen,  kannten,  sei  hier  nicht 
weiter  die  Rede. 

Aber  auf  die  Notwendigkeit  der  von  Schneickert  befürworteten 
Reform  der  gerichtlichen  Schriftexpertise  muß  endlich  einmal  eingegangen 
werden;  an  diesem  Fehlurteil  ist  die  Notwendigkeit  dieser  Reform  dargetan. 
In  diesem  Sinne  sei  auf  Postelbergs  verdienstvolle  Arbeit  hingewiesen,  in 
diesem  Sinne  seien  seine,  der  Schriftexpertise  in  ihrer  gegenwärtigen  Gestalt 
geltenden  Worte  aufgegriffen:  ,,Kann  ein  solches  Hilfsmittel  der  Krimi- 
nalistik ernsthaft  in  Betracht  kommen?  Und  bietet  der  Beruf,  aus  welchen 
Schriftexperten  sich  zu  rekrutieren  pflegen,  der  der  Kalligraphen,  wohl  so 
besondere  Garantien?^ 


Besprechnngen. 


1. 

Dr.  Karl  Wilmanns,  Privatdozent  a.  d.  Universität  Heidel- 
berg: „Zur  Psychopathologie  desLandstreichers''.  Eine 
klinische  Studie.  Mit  16  farbigen  Tafeln.  Lpzg.,  Job. 
Ambros.  Barth.     1906. 

Die  Frage  nach  dem  Landstreicher  ist  eines  unserer  schwierigsten  und 
wichtigsten  Probleme  und  in  gewissen  Richtungen  geradezu  der  Typus  für 
grundlegende  allgemeine  Erwägungen.  Am  Landstreicher  studieren  wir  den 
echten  Degenerierten  und  seine  Verantwortlichkeit^  an  ihm  lernen  wir  den 
eigentlichen  Unverbesserlichen  kennen,  mit  dem  wir  einstweilen  gar  nichts 
zu  machen  wissen:  theoretisch  müßten  wir  ihn  köpfen  oder  lebenslänglich 
einsperren  —  praktisch  behelfen  wir  uns  mit  völlig  ungenügenden 
Palliativen.  Am  Landstreicher  beobachten  wir  am  besten  das  Entstehen 
ganzer  Reihen  verschiedener  Verbrechen,  die  unter  dem  Segen  ehrlicher 
Arbeit  ausgeblieben  wären,  am  Landstreicher  sehen  wir  aber  auch  eine  er- 
schreckende Menge  ungerechter  Strafen,  die  über  „unverbesserliche,  arbeits- 
scheue^ verkommene,  faule,  trunksüchtige  und  geriebene  Individuen"  ver- 
hängt wnirden,  aber  bloß  arme  Geisteskranke  getroffen  haben.  Das 
letztgenannte  Moment  sorgfältig  zu  untersuchen  ist  der  Hauptzweck  des 
voriiegenden,  äußerst  fleißig  und  mühsam  gearbeiteten  Buches,  voll  von 
Überlegungen  und  Anregungen.  W.  hat  sich  der  großen  Arbeit  unter- 
zogen, nicht  bloß  trockene  Krankengeschichten,  sondern  die  genaue  Ent- 
wickeiungsgeschichte  samt  allen  gerichtlichen  und  disziplinaren  Abstrafungen 
biographisch  von  52  Landstreichern  zu  erheben  und  darzustellen  und  diese 
Geschichtsdarstellungen  zum  Schlüsse  in  sinnreich  erdachten  farbigen  Flächen- 
Diagrammen  verständlich  zu  machen.  Alle  diese  52  Bedauernswerten 
landen  fast  ausnahmslos  im  Irrenhaus,  nachdem  die  weitaus  meisten  von 
ihnen  noch  zu  einer  Zeit  oft  gestraft  wurden,  in  der  sie  sclion  längst 
geisteskrank  gewesen  sein  müssen. 

Zu  erwähnen  ist  noch  die  Einleitung  mit  einer  Begriffsbestimmung 
der  Dementia  präcox,  an  der,  im  weitesten  Sinne  genommen,  die 
meisten  echten  Landstreicher  leiden.  Diese  klare  Darstellung  ist  gerade 
auch  für  den  Kriminalisten  sehr  belehrend. 

Ich  empfehle ;  das  äußerst  beherzigenswerte  Buch  aufmerksam  zu 
studieren. 

Hans  Groß. 


206  Besprechungen. 


2. 


Stooß  Carl,  Professor  der  Rechte  a.  d.,  Universität  in  Wien: 
Strafrechtsfälle  für  Studierende.  Wien  und  Lpzg., 
F.  Deutike  1907. 

Diese  128  Fälle  sind  ganz  ausgezeichnet  zusammengestellt:  einfach 
klar  und  doch  interessant  und  zum  Nachdenken  und  Ausdehnen  anregend. 
Ich  hatte  Oelegenheit^  die  Sammlung  schon  im  Seminar  des  Wintersem. 
1906/7  zu  benutzen,  und  war  erfreut  über  das  Interesse,  welches  sie  bei 
den  Studenten  ^-  diesmal  allerdings  vorzügliches  Material  —  erweckt  hat 
Einige  Fälle  beschäftigten  die  Leute  —  da  stets  nachgeschlagen,  gelesen 
und  gesucht  wurde  —  bis  zu  4  und  6  Stunden.  Diese  Sammlung  kann 
nicht  genug  empfohlen  werden.  Die  wenigen  Zeilen  der  ^^nleitung''  sind 
wohl  zu  beherzigen!  HansGroß. 


3. 

Dr.  Georg  Lelewer,  kk.  Hauptmann,  Auditor  und  Leiter  des 
Landwehrgerichtes  in  Czernowitz.  t;^^o  strafbaren 
Verletzungen  der  Wehrpflicht  in  rechtsvergleichender 
und  rechtspolitischer  Darstellung'^  Wien  und  Lpzg., 
1907.  K.  und  k.  Hof  buchdruckerei  und  Hofverlagsan- 
stalt Paul  Fromme. 

Durch  das  vorliegende,  einfach  und  klar  geschriebene  System  wird 
eine  tatsächlich  bestehende  Lücke  ausgefüllt.  Im  ersten  Teile  werden  die 
verwaltungsrechtlichen  Begriffe  der  Wehrpflichtfragen  erläutert,  im  zweiten 
Teile  werden  die  Wehrpflichtsdelikte  systematisch  und  rechtsvergleichend 
dargestellt  Das  Buch  kann  für  die  schwierigen  darin  behandelten  Fragen 
dringend  empfohlen  werden.  Hans  Groß. 


4. 

Havelock  Ellis.  Die  krankhaften  Geschlechts-Empfindungen 
auf  der  soziativer  Grundlage.  Autorisierte  deutsche 
Ausgabe,  besorgt  von  Dr.  Ernst  Petsch.  Würzburg., 
A.   Stubers   Verlag.     1907. 

Die  wertvollen  Arbeiten  des  Verf.  haben  über  eine  Menge  von  sexuellen, 
dem  Kriminalisten  wichtigen  Vorgänge  Klarheit  geschafft  Der  vorliegende 
Band  enthält  eigentlich  nicht  genau  das,  was  man  nach  dem  Titel  er- 
warten sollte:  etwa  Homosexuelles,  Masochismus,  Sadismus  etc.,  sondern 
er  bespricht  eine  Menge  von  sexuellen  Fragen  in  ihrer  Entwicklung  und 
zeigt,  wie  nahe  die  pathologischen  und  normalen  Verhältnisse  in  vielen 
Fällen  beisammenstehen  und  wie  Vorgänge,  die  scheinbar  arg  pathologisch 
sind,  sich  noch  in  normaler  Erscheinungsbreite  bewegen.  Von  besonderer 
Wichtigkeit  sind  die  Kapitel  über  den  erotischen  Symbolismus  und  die 
Psychologie  der  Schwangerschaft  Hans   Groß. 


Besprechungen.  207 


5. 


Dr.  Rudolf  Wassermann,  Beruf,  Konfession  und  Verbrechen. 
Eine  Studie  über  die  Kriminalität  der  Juden  in  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart  Aus  ,, statistischen  und  natio- 
nalökonom.  Abhandlungen  etc.  herausg.  von  Dr.  Georg 
von  Mayr,  Prof.  der  Statistik,  Nationalökonomie  und 
Finanzwissenschaft  a.  d.  Univ.  München,  kaiserl.  Unter- 
staatssekretär a.  D.,  München   1907.     E.  Reinhardt. 

Es  scheint  jetzt  Sitte  zu  werden,  aus  der  Kriminalstatistik  die  günstigere 
Kriminalität  der  Juden  beweisen  zu  wollen;  daß  man  diesfalls  von  der 
Statistik  wieder  eine  Leistung  verlangt,  die  zu  leisten  sie  nicht  vermag, 
habe  ich  bei  der  Besprechung  der  Arbeit  von  Blau  (Bd.  XXVII  p.  189) 
darzustellen  versucht.  In  dieser  Frage  kann  die  Statistik  Daten  bringen, 
aber  Konklusionen  dürfen  nicht  gezogen  werden.  Es  wird  zugegeben, 
daß  die  Frage  der  Religion  nicht  maßgebend  ist,  da  wir  nur  wissen,  in 
welcher  Religion  einer  angemeldet  wurde;  die  Frage  der  Rasse  und  Religion 
wird  nicht  scharf  auseinandergehalten  und  endlich  wird  zugegeben,  daß  die 
getauften  Juden  anthropologisch  doch  Juden  bleiben  und  statistisch  als 
Christen  zählen.  Was  aber  das  Wichtigste  ist,  liegt  in  der  Art  der  be- 
gangenen Delikte.  Nehmen  wir  ein  ganz  krasses  Beispiel.  In  den  Städten 
A  und  B  mit  je  10000  Einwohnern  wären  im  Jahre  1906  und  zwar  in 
A  bloß  1 0  schwere  Verbrechen  (keine  Vergehen,  keine  Übertretungen)  be- 
gangen worden.  In  B  aber  im  selben  Jahre  keine  Verbrechen,  keine  Ver- 
gehen, wohl  aber  2000  Übertretungen.  Es  wäre  nun  eine  ganz  müßige 
Frage:  „Wer  ist  braver:  die  Leute  von  A  oder  die  von  B?"  Solche  Ver- 
gleichsfragen zu  lösen,  hilft  uns  eben  die  Statistik  nicht,  und  bei  der  Frage 
nach  der  Kriminalität  der  Juden  ist  die  Stellung  auch  keine  andere:  die 
Juden  begehen  andere  Delikte  häufiger,  andere  Delikte  seltener  als  die 
Christen  und  hier  mit  einer  Wertung  vorzugehen,  ist  unzulässig.  Dazu 
kommen  noch  unzählige  Nebenfragen.  Auf  der  einen  Seite  sagt  Verf. 
z.  B.  daß  die  Juden  mitunter  so  erschreckend  arm  sind  (p.  16),  auf  der 
anderen  Seite  wieder,  daß  die  größere  Wohlhabenheit  der  Juden  sie  vor 
Diebstahl  schützt  (p.  56).     Also:    Wie  wirkt  denn  Armut  und  Geldbesitz? 

Die  neue  Methode  des  Verf.,  die  sich  in  der  „spezifischen  Kriminalität 
dnes  Beruf es^^  darstellt,  hilft  auch  da  nichts,  da  hier  nur  eine  Seite  be- 
rührt wird,  die  eigentliche  Frage  der  Vergleichbarkeit  wird  nicht  gelöst. 

Die  Freunde  der  Statistik  mögen  also  dabei  bleiben,  sie  einstweilen 
Daten  liefern  zu  lassen,  die  Schlüsse  dürfen  wir  nur  in  vereinzelten  Fällen, 
vorsichtig  ziehen,  sonst  kommen  wir  wieder  zu  dem  alten  Satz:  „Zahlen 
beweisen  so,  wie  man  sie  stellt".  Und  Wert  und  Zahl  ist  nicht  ver- 
gleichbar. Hans  Groß. 


6. 

Dr.  Ewald  Stier  Stabsarzt  a.  d.  Kaiser  Wilhelms-Akademie: 
„Die  akute  Trunkenheit  und  ihre  strafrechtliche  Begut- 
achtung in    besonderer    Berücksichtigung    der  militär. 


208  Besprechungen. 

Verhältnisse".    Mit  1  Tafel  und  1  Kurve  im  Text.    Verl» 
von  Gust.  Fischer  in  Jena.     1907. 

Obwohl  dieses  Buch  eigentlich  für  reichsdeutsche  Militärverhältnisse 
bestimmt  ist,  so  macht  es  der  weite  Blick  und  die  allgemeine  Fassung  doch 
für  jeden  Kriminalisten  wichtig.  Vor  allem  wird  wieder  auf  Grund  der 
exakten  und  zweifellosen  Feststellungen  von  Kräpelin,  Fürer,  Smith,  Kurz 
u.  a.  auf  die  absolute  Schädlichkeit  des  Alkoholgenusses,  audi  in  geringen 
Mengen,  hingewiesen  und  dargetan,  daß  bei  Delikten  im  Rausch  immer 
ärztliche,  psychiatrische  Untersuchung  des  Betreffenden  notwendig  ist.  So 
zweifellos  dies  ist,  so  sehr  ist  diese  Notwendigkeit  noch  keineswegs  allge- 
mein bekannt  Freilich  kommen  pathologische  Rauschzustände  nur  bei 
pathologisch  veranlagten  Menschen  vor,  aber  ob  einer  ein  solcher  ist,  läßt 
sich  im  allgemeinen  nicht  sagen,  und  häufig  wird  das  Pathologische  eines 
Menschen  eben  erst  in  einem  Rausche  erkennbar. 

Auch  in  diesen  Fragen  haben  wir  Juristen  unzählige  in  vergangener 
Zeit  begangene  Sünden  gut  zu  machen,  was  wir  nur  durch  erhöhte  Ge- 
wissenhaftigkeit tun  können  und  diese  besteht  auch  hier  darin:  jedesmal 
den  Arzt  fragen.    Das  Stier *sche  Buch  sollte  jeder  Kriminalist  lesen. 

Hans    Groß. 


7. 

Hans  Landau,  Rechtspraktikant  „Arzt  und  Kurpfuscher  im 
Spiegel  des  Strafrechts.  Ein  Beitrag  zur  ärztl.  Frage/ 
München,  J.   Schweitzer  Verlag   (Arth.   Sellier)    1899. 

Verfasser  behandelt  die  wichtige  Frage  in  zwei  Hauptstücken:  Der 
Arzt  als  Angeklagter  und  der  Kurpfuscher  als  Angeklagter,  beides  haupt- 
sächlich vom  Standpunkte  des  Reichsgesetzes  aus.  Er  kommt  zu  dem 
Schlüsse,  daß  eine  „Deutsche  Ärzteordnung^^  nötig  sei,  die  Reichsgewerbe- 
ordnung habe  auf  Ärzte  keine  Anwendung  zu  finden,  §  31  und  174 
RStG.  und   §  6,  35  a  R.G.O.   seien  entsprechend  zu  ändern. 

Hans   Groß. 


8. 

Robert    Sommer,    Doktor    der    Medizin  und   Philosophie,   o. 
Professor  a.  d.  Universität  Gießen.     Familienforschung 
und   Vererbungslehre.     Mit    16  Abbildungen  und  2   Ta- 
bellen.    Lpzg.,  Joh.  Ambros.  Barth.     1907. 
Was   Rob.  Sommer  schreibt,   ist   zum   mindesten  immer  originell  und 
anregend.     Der  größere   Teil  der  vorliegenden  Arbeit  ist    genealogischen 
Inhalts    und   nicht   von    kriminalistischer  Bedeutung,   umsomehr    aber    die 
Kapitel  des  ersten   Teiles,   namentlich   die   über  „Anlage,  Erziehung   und 
Beruf";  „Familie  und  Rasse";  „psychopath.  Beiaatung  und  Degeneration"; 
„Individuelle  Anlage  und  Geisteskrankheit";  „Kriminalität  und  Vererbung"; 
„Vererbungsgesetze"  etc.,  die  uns  über  Fragen,  für  uns  wichtigster  Art  gut 
und  verläßlich   unterrichten.      Es  sind  dies  alles  Dinge,   über  die  sich  der 
moderne  Kriminalist  klar  sein  muß  und  über  die  er  hier  Auskunft  erhält 

Hans   Groß. 


IX. 
Die  drei  Mörder  Bioemers. 

Von 
Strafanstaltsdirektor  Dr.  med.  Faul  FollltZy  Düsseldorf-Derendorf. 


Am  1.  September  1906  wurden  die  Brüder  Adolf  nnd  Leonbard 
Bioemers  hingericbtet,  wäbrend  die  gleicbfalls  zum  Tode  verurteilte 
Ebefrau  zu  lebeusläDglicber  Zucbtbausstrafe  begnadigt  wurde.  Die 
Einzelheiten  der  furchtbaren  Tat,  und  die  Persönlichkeit  der  Täter 
verdienen  ein  besonderes  Mafi  von  kriminalpsychologischem  Interesse. 
Von  vornherein  gelang  es,  aus  den  umfassenden  Geständnissen  der 
beteiligten  Personen  sowohl  vor  Gericht,  wie  nach  ihrer  Verurteilung 
ein  vollkommen  klares  Bild  der  Ausführung  des  sorgfältig  geplanten 
Verbrechens  zu  gewinnen  und  weiterhin  in  mehrmonatUcher  Beobach- 
tung und  häufigen  Explorationen  einen  Einblick  in  die  psychische 
Konstitution  der  Verbrecher  zu  erlangen,  wie  sie  nur  in  seltenen 
Fällen  möglich  sein  wird.  — 

Der  27  Jahre  alte  Adolf  Bioemers  zog  am  1.  September  1905 
mit  seiner  Ehefrau,  geb.  S  .  •  .  in  das  Hinterhaus  des  vom  später 
Ermordeten,  dem  Oberstleutnant  a.  D.  R.  bewohnten  Hauses  unter  Ge- 
währung freier  Wohnung  und  einer  Entschädigung  von  15  M.  monat- 
lich, während  Frau  Bioemers  die  Verpflichtung  übernahm,  die  Woh- 
nung des  R.  in  Stand  zu  halten.'  Letzterer  hatte  dem  Bioemers  eine 
Stelle  in  einer  Tischlerei  verschafft,  die  dieser  jedoch  bald  wieder 
aufgab.  Der  jüngere,  25  Jahre  alte,  Leonbard  Bioemers,  der  im 
Hause  nicht  wohnen  sollte,  war  wegen  eines  geringen  Lungenleidens 
ebenso  wie  der  erstere  meist  untätig.  Am  Donnerstag,  den  19.  October 
1905  vormittags  war  die  Ehefrau  Adolf  Bl.  im  Schlafzimmer  des 
Oberstleutnants  beschäftigt.  Während  dessen  kamen  die  beiden  Brüder 
in  das  nebenangelegene  Arbeitszimmer.  Leonbard,  der  die  Nacht 
über  in  der  Wohnung  seines  Bruders  geschlafen  hatte,  zog  nach  der 
späteren  Angabe  der  Ebefrau  Bl.  die  unverschlossene  Schublade  des 
Schreibtisches  auf  und  fand  hier  280  M.  in  Goldstücken  vor.    Als  er 

irehir  ffir  Kriminaluithropoloi^ie.  27.  Bd.  14 


210  IX.   POLUTZ 

letztere  sah,  meinte  er  „damit  wäre  ihnen  geholfen,  sie  müßten  sehen, 
daran  zu  kommen^. 

Auf  die  Frage  des  Adolf,  wie  das  zu  machen  sei,  meinte  Leon- 
hard,  das  Beste  sei,  den  R.  zu  ermorden  und  auf  die  Frage  wie? 
durch  „Vergiften".  Die  Ehefrau  machte  auf  das  Gefährliche  des 
Unternehmens  aufmerksam,  erhielt  jedoch  von  einem  der  Brüder  die 
Antwort:  „Es  passiert  so  viel  in  der  Welt".  An  diesem  Tage  wurde 
die  Sache  nicht  weiter  erörtert.  Nach  ihrer  Verurteilung  haben  die 
drei  Täter,  die  sich  in  der  Voruntersuchung  einer  auf  Kosten  des 
anderen  möglichst  zu  entlasten  suchten,  die  Sache  stets  in  gleicher 
Weise  so  dargestellt,  daß  erst  am  folgenden  Tage  am  Freitag  einge- 
hend der  Mordplan  erwogen  worden  sei.  Sie  gelangten  zu  dem 
Schlüsse,  auf  Vorschlag  des  Leonhard,  sich  Gift  zu  beschaffen,  das 
die  Ehefrau  dem  E.  im  Kaffee  beibringen  sollte.  Es  sei  gleich  er- 
wähnt, daß  Frau  Bl.  zwar  an  der  Beratung  teilnahm,  im  übrigen 
aber  die  Beteiligung  an  der  Vergiftung  ablehnte.  Übereinstimmend 
gaben  sie  an,  daß  L.  und  A.  nach  Düsseldorf  reisten,  um  aus  einer 
Apotheke  „Gift"  zu  beschaffen,  während  die  Ehefrau  Bl.  das  Reise- 
geld hergab.  Vorher  hatten  beide  Brüder  bereits  Geldbeträge  von 
jenen  280  M.  an  sich  genommen.  Zuerst  versuchte  Adolf  in  einer 
Apotheke  „Gift"  zum  Aufpoliren  oder  „Bleimasse",  „Giftstoff"  oder 
„KaJi"  zu  erhalten,  wurde  jedoch  belehrt,  dafür  Spiritus  zu  nehmen. 
Sein  Bruder  Bernhard  machte  ihm  wegen  seines  ungeschickten  Vor- 
gehens Vorwürfe  und  versuchte  nunmehr  seinerseits  in  einer  anderen 
Apotheke  „Gift  zum  Töten  eines  Hundes"  zu  erlangen.  Da  ihm  jedoch 
ein  polizeilicher  Erlaubnisschein  abverlangt  wurde,  so  fuhren  beide 
unverrichteter  Sache  nach  M.-Gladbach  zurück.  Bei  der  weiteren 
Beratung  am  Freitag  Abend  scheint  Adolf,  der  wie  später  zu  erörtern 
ist,  der  bei  weitem  intelligenteste  der  3  Tatgenossen  war,  die  führende 
Rolle  gespielt  zu  haben.  Alle  drei  kamen  nunmehr  überein,  am 
folgenden  Tage,  den  R.  durch  Lärm  auf  den  Speicher  zu  locken  und 
mit  einem  Hammer  zu  erschlagen.  Dieser  Plan  scheiterte  an  dem 
Umstände,  daß  der  R.  früher  als  sonst  die  Wohnung  verließ.  Adolf 
gibt  allerdings  noch  als  besonderen  Grund  für  die  Unterlassung  der 
Tat  an  diesem  Tage  den  Umstand  an,  daß  der  Ermordete  ihm  be- 
reits frühzeitig  auf  der  Treppe  begegnet  sei  und  ihn  so  freundlich 
angeredet  habe,  daß  er  sich  zur  Tat  nicht  stark  genug  gefühlt  habe. 
Am  Samstag  mittag  berieten  die  drei  wiederum,  wie  sie  zum  Ziele 
kommen  könnten.  Nach  Adolfs  Darstellung  stammt  der  definitive 
Plan,  den  R.  durch  Lärmen  in  den  Keller  zu  locken,  dort  einen 
Streit  anzufangen   und   ihm   den  Schädel   einzuschlagen  von  Leon- 


Die  drei  Mörder  Bloemers.  211 

bard  BL,   dabei  sollte   sich  letzterer  im  Keller   der  Miteinwohnerin 
W  .  .  .  bereit  halten,  um  im  gegebenen  Moment  einzugreifen.    Über 
die  Behandlung   der  Leiche  waren   sich   die  Täter  noch  nicht  ganz 
klar.    Frau  Bloemers^  die,   wie  aus  allen  Aussagen  deutlich  hervor- 
geht, in  allen  diesen  Beratungen  eine  sehr   aktive  Rolle  spielte,  war 
ebenso  wie  Leonhard  für    ein  Versenken  in  den  Rhein.    Jedenfalls 
waren  alle  drei  über  die  programmgemäße  Ausführung  der  Tat  nun- 
mehr einig.    Es  wurde  Bier  und  Wein  getrunken  mit  dem  Vorsatz, 
am  Montag  zeitig  aufzustehen.    Beim  Eaffetrinken  am  Montag  früh, 
zu  dem  die  Männer  Wein  nahmen,   um  sich  Mut  zu  machen,  wurde 
von    einer    Seite   zur    Eile    gemahnt,    damit   die  Zeit   nicht  verpaßt 
werde.    Dann  gingen  die  beiden  Brüder  gegen  7  Uhr  mit  Hämmern 
bewaffnet  in  den  Keller,  nachdem  die  Miteinwohnerin,  eine  Lehrerin, 
das  Haus  verlassen  hatte.    Adolf  schlug  mit  solcher  Kraft  gegen  eine 
Holzbütte,   daß   der  Hammer  zerbrach,  so   daß   ihm   Leonhard  den 
seinen  gab,   während  dieser  nunmehr  mit   einem  Beile  versehen  im 
Seitenkeller  Posten   stand.    Sehr   bald    erschien    R.  im    Keller    und 
stellte  den  Adolf  zur  Rede;  dieser  machte,  um  R  zu  reizen  Einwen- 
dungen, so  daß  letzterer  ihn  grob   anfuhr  und  beschimpfte;   so  dann 
suchte  R.  den  Keller  zu  verlassen.    In  diesem  Moment  erschien  Leon- 
hard und  gab  seinem  Bruder  einen  Wink.    Adolf  ging  hinter  R.  her 
und  versetzte  ihm  einen   wuchtigen  Hieb  auf  den  Kopf,   so  daß  der 
Getroffene  nieder  sank,   nunmehr  gab  Leonhard   mit  dem  Rückende 
des  Beils  dem  R  2 — 3  Hiebe,  so  daß  es  ;;  einen  quatschenden  lauten 
Ton^  gab.    In   der  Annahme,    daß  R.    tot  sei,    gingen  beide   in  die 
Wohnung  zurück.    Adolf  erklärte  seiner  Frau  „er  ist  tot".    Nunmehr 
wollte  Leonhard    sich    den  Dolch    des  R.  holen    und    beim  Bürger- 
meister Anzeige  erstatten,  daß  sie  den  R.  in  der  Notwehr  erschlagen 
hätten,  wurde  aber  vom  Ehepaar  Bloemers  zurückgehalten.  Die  Sache 
sei  jetzt  angefangen   und  müsse   zu  Ende  geführt  werden.    L.  holte 
sich  nichtsdestoweniger  den  Dolch   und  nun  gingen   beide  mit  einer 
Kerze  in  den  Keller.    Hier   vernahmen  sie   schwache  Laute    „mach 
auf,  mach  auf"    und  merkten,   daß   R.   noch  lebte.    Um   diese  Zeit 
wurde  an   der  Haustür  geschellt;   als  die  hinzu   kommende  Ehefrau 
erschien,    rief   ihr  Adolf  zu    „er  lebt  noch,    mach    die  Blende   vors 
Fenster".    Frau  Bl.  fertigte  einen  in  Steuerangelegenheiten  erschienen 
Polizeisergeanten  ab  und  schloß  die  Fensterblenden.    Nach  einer  An- 
gabe,   die  die  Bl.    im  Anfang   ihrer  Haft   gemacht^    später  aber  be- 
stritten hat,   soll  sie  die  Bemerkung  getan  haben  Jetzt  habt  Ihrs  so 
weit  gemacht,  nun  machts  auch  zu  Ende".  Die  beiden  Brüder  gingen 
daher  nochmals  mit   einer  Kerze  in   den  Keller,  und  sahen    den  R 

14* 


212  IX.   POLLITZ 

blutüberströmt  auf  der  halben  Kellertreppe  stehen,  sie  schlössen 
wieder  ab  uud  holten  große  Steine  heran  —  jeder  beschuldigte  den 
anderen  der  Täterschaft  —  übereinstimmend  gaben  sie  aber  an,  daß 
zuerst  Adolf  ohne  zu  treffen,  dann  Leonhard  nach  R  geworfen^  so 
daß  letzterer  rücklings  die  Treppe  herabstürzte ;  dann  warfen  sie  noch 
mehrmals  dem  tief  Röchelnden  die  Steine  auf  den  Kopf,  und  Adolf 
brachte  ihm  mit  größter  Wucht  eine  große  Anzahl  Dolchstiche  bei 
(so  daß  die  Rippen  zerbrochen  wurden  —  sagt  das  Obduktions- 
protokoll) mit  den  Worten  „da  liegst  du,  du  hast  mich  oft  genug  ge- 
ärgert^. Sodann  nahm  Adolf,  (wie  er  später  stets  eingestand)  eine 
Sä^e  und  sägte  den  Kopf  ab,  während  Leonhard  den  Ringfinger 
abschnitt  Die  in  den  Kleidern  des  R.  gefundenen  35  M.  teilten  sie, 
*5  M.  erhielt  die  Frau.  Die  im  Schreibpult  vorhandenen  280  M. 
wurden  ebenfalls  verteilt,  der  Kopf  in  einen  kleinen  Handkoffer  ver- 
packt und  bereits  am  Nachmittage  in  einem  Gebüsch  an  der  Viersener 
Chaussee  vergraben.  Es  ist  in  vieler  Hinsicht  von  Interesse,  daß  die 
Beseitigung  und  Entfernung  der  Leiche  aus  einer  bewohnten  Straße 
sich  mit  solcher  Leichtigkeit  vollzog,  daß  mehrere  Monate  lang  kein 
Verdacht  auf  die  Bl.  fiel,  obgleich  ihr  Vorgehen  weder  sehr  vor- 
sichtig noch  auch  besonders  raffiniert  war.  Einer  der  Brüder  entlieh 
sich  gegen  Abend  8  Uhr  eine  Karre  bei  einem  Polsterer,  „um  etwas** 
fortzubringen,  nachdem  bereits  am  Nachmittage  eine  Stelle  zur  Ver- 
scharrung der  Leiche  an  der  Ghausse  ausgewählt  worden  war.  Sie 
fuhren  sodann  die  Leiche  an  den  betreffenden  Ort,  während  Frau 
Bloemers  Wache  hielt  Nachdem  die  Leiche  beseitigt  war,  fuhren 
sie  mit  dem  Koffer  wieder  nach  Hause.  Am  Dienstag  verbrannten 
sie  die  mit  Petroleum  getränkten  Kleider  und  den  abgeschnittenen 
Ringfinger.  Besuchern  wurde  gesagt,  der  Oberstleutnant  sei  verreist, 
dem  Polizeikommissar  erklärten  sie  später  wiederholt,  R.  sei  nach 
England  verreist.  In  der  Tat,  fand  sich  auf  seinem  Schreibtische  eine 
ausgebreitete  Karte  von  England.  Von  großer  Bedeutung  ist  die 
sicher  gestellte  Tatsache,  daß  Frau  Bl.  bereits  mehrere  Tage  vor  der 
Tat,  die  Brötchen  beim  Bäcker  abbestellte,  „da  R.  verreisen  wolle." 
R.  war  am  22.  Oktober  zum  letzten  Male  gesehen  worden.  Etwa 
einen  Monat  später  fing  die  Familie  an  ungeduldig  zu  werden  und 
vorsichtige  Erhebungen  anstellen  zu  lassen.  Es  ist  allerdings  schwer 
verständlich,  daß  der  Verdacht  der  Tat  so  spät  erst  —  Mitte  Januar 
—  auf  die  Mitbewohner  des  Hauses  fiel.  Schon  der  Umstand,  daß 
beide  Brüder  dauernd  arbeitslos  waren  und  keinerlei  Versuche  machten, 
sich  Arbeit  zu  beschaffen,  mancherlei  Einkäufe  der  Frau  —  besonders 
vor  Weihnachten  —  eine   Revision    der  Wohnung    auf  Geld,    Wert- 


Die  drei  Morder  Bloemers.  213 

Sachen,  Kleider,    Erhebungen    über  etwaige    vorherige  Ankündigung 
der  Reise  im  Bekanntenkreise,  an  der  Bahn  u.  s.  w.  hätten  sehr  wohl 
früher  einen  Fingerzeig  geben  können    Auf  der  anderen  Seite  dürfte 
der  Umstand,  daß  die  Bloemers  bisher  nur  in   sehr  geringem  Maße 
kriminell  geworden  waren,  sie  vor  dem  Verdachte  eines  so  schweren 
Verbrechens  geschützt  haben.    Einige  Wochen  nach  der  Tat  kam  die 
Schwester  der  Ehefrau  Bl.,  Ida,  zu  Besuch,  während  Leonhard  einige 
Zeit  danach    einer  Lungenheilanstalt   überwiesen    wurde.    Jedenfalls 
fühlten  sich  die  Täter   in  den   folgenden  Wochen  so  sicher,   daß  sie 
mit  großer  Dreistigkeit  alle  Wertgegenstände  aus  der  Wohnung  zum 
Pfandleiher  brachten  oder  verschenkten.    Auch  das  Versetzen  zweier 
wertvoller  Figuren,  die  bereits  Mitte  November  in  der  Wohnung  ver- 
mißt  wurden,   scheint   keinen    Verdacht     erweckt  zu  haben.     Kein 
Wunder,   wenn   sich   die   Bl.  nunmehr  gesichert  glaubten.    Charak- 
teristisch für    die  Persönlichkeiten   und    die    bei    ihnen  herrschende 
Stimmung  sind   einige  Schriftstücke  vom  Ende  des  Jahres^   die  hier 
vollständig    mitzuteilen  sind.    Am   1.  Januar  1906    schrieb  Adolf  an 
seine  Schwester  Kosa  in  Bocholt  einen  Neujahrsglückwunsch  aus  Nym- 
wegen,  wo  er  zu  Besuche  weilte  —  und  um  Sachen  zu  versetzen.  — 
Liebe  Schwester  Kosa.    Mit  diesen  wünsche  ich  Euch  viel  Heil 
und  Segen   zum    neuen  Jahr  in    der  Hoffnung,    daß  Ihr    von  allen 
Kämpfen    und  Unheil  möget    verschont  bleiben    und  ein  langes  und 
glückliches  Leben,   und  Freude   und  Pläsier.    Da  ich  heute  Morgen 
Euren  Brief  empfangen  habe,  so  will  ich  Euch  doch  zurück  schreiben, 
welche  Nachricht   ich   in  Bocholt  erhielt,   daß   unsere  Lena   schrieb, 
daß    sie  sehr   begierig  sei,    daß   ich    käme    und  Josef   auch.    Aber 
Mutter  schrieb  auch,  ich  soll  nur  kommen  und  auf  Dreikönigen,  dann 
könnt  Ihr  auch,   nur  die  Genten  (Geld)  ha  ha  ha.    Ich  habe  nur  10 
Mark  in  der  Woche  und  da  soll  ich  auch  noch  reisen  gehen.     Was 
ist  nur    das  für  ein    närrischer  Mensch,    sollt  Ihr  wohl  denken,    wo 
muß  er  doch  das  Reisegeld  von  bezahlen  ein  Narr  der  he?  Ja  ja  ja. 
Mädchen  so  denke  ich  auch  schon  dran  wo  muß  ich  das  denn  holen? 
Aus  meiner  Nase  kann   ich  es  nicht    schlenkern.    Ja  nun  gehst  Du 
kaput,    wo  muß    es  dann    wohl  herkommen???    Ich  weiß    es  auch 
nicht,  ich  habe  schon  überlegt,  aber  ich  kann  nicht  dahinter  kommen; 
könnt   Ihr    vielleicht  dahinter    kommen   Rosa?    Aber  eins   da   will 
ich  nicht    drüber  urteilen    und  hoffen,    daß  unser    lieber  Herr  wohl 
nicht  und  immer   von  den    drei  Königen    soll  sagen,    dem   Ludwig 
muß  geholfen  werden,   aber  wo  wohnen  die   drei  Könige  denn?  Ha 
ha  ha  ha,  ich  glaube,  daß  sie  in  M.-61adbach  und  in  Bocholt  wohnen 
ha  ha  ha,  ich  habe  sie   gefunden  glaube  ich.    Nun  gehst  du  kaput. 


214  IX.  PoixiTz 

aber  wir  werden  mal  sehen,  wie  das  mit  dem  Ludwig  geht.  Das 
ist  mir  ein  komischer  Kerl,  der  Herr.  Nnn  alles  hat  gut  gegangen, 
das  soll  wohl  auch  noch  gut  gehen  he?  Und  noch  was  anderes. 
Ich  habe  vom  Vater  Josef  Schnupftabak  im  Brief  geschickt  bekommen 
mit  dem  Verschen  dabei  ,,schnupfe  nur  Junge,  schnupfe  nur",  und 
ich  habe  verdammt  so  lange  geschnupft  bis  es  alle  war  und  genießt 
wie  ein  Narr.  Nun  Rosa  ich  hoffe,  daß  ihr  nicht  denkt,  daß  ich 
verrfickt  bin,  daß  ich  so  schreibe  he  und  nun  Kosa  muß  ich  endigen. 
Es  friert,  daß  es  kracht  und  die  Tinte  erfriert  mir  beim  Schreiben. 
Und  was  sollen  sie  in  Bacholt  kucken,  wenn  ich  dort  ankomme,  ich 
weiß,  ganz  Bocholt  war  auf  den  Beinen 

so  die  Kinder  und  die  Kotten 
die  Ziegen  und  die  Schweine 
und  die  Hühner  und  die  Hahnen 
doch  die  Kirch  war  zu  ha  ha  ha. 

Doch  das  Vornehmste  wäre,  wpnn  sie  mich  mit  einem  Speck- 
kuchen auf  der  Station  abholen  würden  und  ich  müßte  den  auf  der 
Stelle  aufessen  he?  Nun  Röschen  vielmals  gegrüßt  von  Ludwig  und 
seine  Frau  und  Kinder  und  alle  Komplimente. 

Adieu  bis  Wiedersehen  Adolf  Bloemers. 

Ebenso  viel  Interesse  verdient  ein  vom  1.  Januar  1906  datirtes 
Schreiben  der  Frau  Bl.  an  ihre  Eltern.  Daselbe  lautet:  Liebe  Eltern 
wir  wünschen  Euch  ein  glückseliges  neues  Jahr  und  wir  hoffen  das 
dieses  Jahr  ein  besseres  für  uns  wird  sein,  als  wie  das  verflossene. 
Wir  wollen  hoffen,  daß  das  neue  Jahr  Papa  die  Gesundheit  bringt 
und  uns  allen  das  tägliche  Brot  und  die  Freude  des  Herzens.  Wie 
geht  es  Euch?  Geht  es  mit  Papa  wieder  besser?  und  bist  du  liebe 
Mama  noch  gesund?  Adolf,  Anna,  Sophie  und  ich  sind  noch  alle 
gesund.  Liebe  Eltern.  Christkindchen  hat  mir  viel  gebracht,  einen 
Einsteckkamm,  ein  Portemanie,  ein  paar  Handschuhe,  einen  Kragen 
vor  auf  mein  Kleid,  2  Eaudekolon-Flaschen,  einen  weißen  Unterrock, 
eine  Brosche,  eine  Schachtel  mit  Kouverts  und  schreib  Papier, 
3  Schleifen  vor  ans  Kleid  zu  stecken,  6  weiße  Kragen  und  2  paar 
Manschetten,  und  noch  mehr  von  solchen  Kleinigkeiten,  ich  kann  es 
jetzt  nicht  all  schreiben.  Liebe  Eltern!  Adolf  hat  noch  keine  Arbeit, 
und  die  Frau  R.^  hat  noch  kein  Geld  bezahlt.  Ihr  könnt  wohl 
denken  das  jetzt  hier  auch  knapp  her  geht,  aber  Adolf  wird  wohl, 
so  Gott  will  bald  Arbeit  bekommen.  Die  kleine  Sophie  hat  einen  Zahn 
bekommen,  sie  kann  bald  alles  sprechen;   und  sie  ist  auch  sehr  lieb, 

1)  Frau  des  Ermordeten. 


Die  drei  Mörder  Bloemers.  215 

sie  schläft  von  Abend  7  Uhr  bis  Morgens  8  Uhr  und  dann  von  10  Uhr 
bis  1  Uhr,  nachmittags  von  2  bis  halb  5  Uhr.  Liebe  Eltern!  Ist 
Tante  Mathilde  eine  halbe  oder  eine  richtige  Schwester  von  Papa? 
ich  und  Anna  haben  uns  darüber  gestritten.  Ich  bin  schon  ange- 
meldet und  man  hat  uns  nichts  gesagt.  Libe  Eitern!  so  bald  ich 
kann,  werde  ich  Euch  besuchen,  ich  würde  schon  gerne  jetzt  ge- 
kommen sein,  aber  wie  Ihr  wißt,  kann  ich  nicht.  Einen  Herzlichen 
Xeujahrs-Kuß  von  Sophie.  Herzlichen  Grüße  von  Adolf,  Anna  und 
Ida"^.  Femer  finden  sich  2  Ansichtskarten  aus  dieser  Zeit  Die  eine 
ist  vom  30.  X.  05  datirt,  von  Adolf  in  holländischer  Sprache  an 
seinen  Bruder  Louis  gerichtet,  in  dem  er  seine  Ankunft  für  den  folgen- 
den Tag  ankündigt,  während  Leonhard  in  einer  seitlichen  Notiz  sich 
ebenfalls  ansagt.  Über  der  Karte  stehen  die  —  hier  offenbar  sehr 
ernst  gemeinten  Worte.  —  „Et  haat  noch  joot  gegangen  bot  derdomen 
(heißt  etwa  Schweineglück  oder  auch  sau  dumm)  ha  ha  ha  Anna^. 
Die  andere  Karte  vom  29.  Dezember  datirt  und  ebenfalls  an  den 
Bruder  Lonis  gerichtet,  enthält  in  goldenen  Buchstaben  1906  mit  der 
Überschrift  „glückliches  Neujahr^.  Sie  ist  von  Leonhard  aus  der 
Heilanstalt  zu  Wittlich  gesandt,  und  lautet  etwa:  Lieber  Bruder! 
Ich  wünsche  Euch  allen  zum  neuen  Jahr  das  beste,  was  ich  wünschen 
kann.  Ich  bin  hier  in  der  Kur:  wenn  ich  meine  Gesundheit  wieder 
habe,  fang  ich  an  meiner  alten  Stelle  für  3  Mark  an.  Mehr  habe  ich 
nicht  zu  schreiben.  Es  grüßt  u.  s.  w.  —  Die  cynische  Freude  über 
die  durch  den  Mord  erzielte  bessere  Lebenslage  tritt  nur  in  den  Briefen 
des  Adolf  hervor,  seine  Andeutungen  über  plötzlich  gewonnene  Geld- 
mittel —  an  sich  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  höchst  unvor- 
sichtig —  zeigen  am  deutlichsten,  daß  er  sich  als  der  eigentliche  Held 
der  Situation  betrachtete,  dessen  Geschicklichkeit  der  bisherige  Erfolg 
zu  verdanken  war.  Daß  er  seine  Kolle  mit  einiger  Geschicklichkeit 
spielte,  geht  aus  einem  weiterhin  mitzuteilenden  Brief  vom  17.  Novem- 
ber hervor,  in  dem  er  —  offenbar  gemeinschaftlich  mit  seiner  Frau  — 
die  über  das  geheimnisvolle  Verschwinden  ihres  Verwandten  nunmehr 
beunruhigte  Schwägerin  zu  beruhigen  suchte.  Der  Brief  ist  von 
Adolf  in  gebrochenem  Deutsch  verfaßt  und  lautet: 

Wehrte  Frau  Major  ß. 

„Wir  haber  Ihren  Wehrten  Brief  erhalten  und  dar  aus  vernommen 
das  Sie  uns  auskunft  fragen  wegen  Ihre  Wehrte  Schwager.  Wir 
können  Ihnen  leider  nichts  mitteilen  wo  er  is,  den  er  hat  uns  kein 
Bescheid  gesagt  Sontag  22te  October  hat  er  an  meine  Frau  gesagt 
er  wolte    in    nächster    Tagen   Montag    oder  Dienstag  verreisen,    für 


216  IX.   POLXITZ 

einige  Woche.  Nun  Montag  abend  den  23.  Oktober)  gegen  5  Uhr 
hat  er  myne  Frau  bestellt,  sie  mußte  Sorgen  das  um  halb  Sieben  ühr 
abend  essen  gedekt  sein  sollte;  was  aug  geschöö  ist  Da  meine 
Frau  nichts  mehr  zu  versorgen  hat,  sint  wir  gegen  sieben  Uhr 
spatzieren  gegangen,  da  es  grade  schaufensteraus  Stellung^  und  waren 
um  neun  (9)  Uhr  wider  zurück,  da  wollte  meine  Frau  den  Tisch 
abdekken,  aber  er  hat  nog  nichts  geessen,  da  dachten  wir  nichts 
anders  ob  er  war  voraus  gegangen,  morgens  den  24.  Oct.  um  halb 
sieben  Uhr  (V'z  7)  hat  meine  Frau  wie  gewöhnlich,  ihm  warmes 
(Basier)  wasser  for  die  Thüre  gesteld,  und  wie  immer  angeklopft, 
aber  ohne  antword  zurück  zu  kriegen;  Sonst  sagte  er  immer  gut 
das  is  das  wasser  stehen  geblieben  bis  10  Uhr;  weil  der  Her  Ober 
Leutenand  nie  so  lang  slafen  thät;  bin  ich  mal  errein  gegangen  und 
klopfte  auf  sein  Slafzimmer  thür  an  (ohne  erfolg)  da  nahm  ich 
mich  die  Freiheit  und  ging  in's  Slafzimmer  errein,  aber  zu  mein 
erstaunen  war  der  Her  Ober  Leutenant  nicht  da  und  's  Bett  war 
nicht  gebraucht  das  is  dan  aug  alles  was  wir  selbs  wissen  und 
wachten  aug  jeden  tag  auf  Bescheid,  wo  er  is  und  wem  er  wider 
kommt  den  er  hat  aug  uns  kein  geld  gegeben,  und  sind  aug  schon 
viele  hier  gewesen  mit  rechnungen,  die  wir  natürlich  nicht  bezahlen 
können  und  deshalb  wir  wachten  müssen  bis  das  der  Her  Ob.-Leut- 
nand  wider  kommt.  Briefen  und  Seitungen  kommen  bis  jetz  nog 
alle  hier  an  und  habe  schon  ein  grose  häufe  hier  liegen.  Wir 
wissen  aug  nicht  was  wir  denken  müssen  sons  sagte  er  immer,  wo 
hin  er  ging  und  schickte  uns  seine  Adresse.  Was  er  jetz  alle  nicht 
gethan  hat  Wehrte  Frau  Major  R.  wir  können  aug  leider  nicht 
mehr  mit  teilen.  Achtungsvoll  Herr  und  Frau  Adolf  Bloemers  (dar- 
unter) Entschuldige  wegen  des  undeutliche  Schreiben,  wir  sind  ge- 
borene Holländer  und  können  nicht  besser  Deutsch  schreiben."  Dieser 
gewandte  Brief  sollte  wahrscheinlich  nicht  nur  der  Ablenkung  jedes 
Verdachtes,  sondern  auch  der  Zuwendung  von  Geldmitteln  dienen.  In 
Verlegenheit  waren  die  drei  allerdings  nicht.  Nachdem  sie  sich  alle 
Baarmittel  geteilt  hatten  —  das  erwartete  Sparkassenbuch  fand  sich 
jedoch  nicht  vor  —  begannen  sie  Adolf,  Leonhard  und  die  besuchs- 
weise anwesende  Ida,  die  soeben  aus  dem  Gefängnis  zu  Wittlich 
zurück  gekehrt  war,  mit  ebenso  viel  Dreistigkeit  wie  Erfolg  das  Hab 
und  Gut  des  Ermordeten  zu  versetzen.  Dabei  wurde,  nachdem  sich 
die  ganze  Sache  so  gut  angelassen  hatte,  wenig  Vorsicht  angewendet 
Wertvolle  Figuren,  Gemälde,  Gold-Gegenstände  wurden  teils  in  M.-Glad- 
bach  selbst,  teils  in  dem  nahe  gelegenen  Viersen,  Venlo  oder  auf 
holländischem  Boden  versetzt  und  der  Erlös  unter  die  Genossen  ge- 


Die  drei  Mörder  Bloemers.  217 

teilt  Für  die  Art  des  Vorgehens  der  Verbrecher  ist  die  Aufzähinng 
der  versetzten  Gegenstände  nicht  ohne  Interesse.  Jene  wertvollen 
Figuren  wnrden  in  Viersen  für  30  Mark,  ein  goldener  Ring,  Medaillon 
und  Perlenkreuz  für  60  M.  am  19.  Dez.  05,  sodann  am  23.  Dezember 
eine  Standuhr  aus  Bronze,  eine  silberne  Zuckerschale,  silberne  Tafel- 
Gegenstände,  eine  Perlenkette,  ein  goldenes  Kreuz  für  189  M.  ver- 
setzt, femer  6  silberne  Gabeln,  Messer  und  16  Obstmesser  für  77  M. 
Am  20.  Dezember  wurde  in  Viersen  auf  2  Gemälde  150  M.  erhoben 
and  am  9.  Januar  06  auf  ein  Bild  in  der  Leihanstalt  M.-Gladbach 
(von  Adolf  Bloemers)  100  M.  Bei  diesen  Diebstählen  und  ihren  Ver- 
setzungen scheint  die  Schwester  der  Frau  Bloemers  eine  bedeutsame 
Bolle  gespielt  zu  haben.  Über  ihre  Person  sei  hier  nur  erwähnt^  daß 
sie  mit  16  Jahren  wegen  Brandstiftung  zu  15  Monaten  Gefängnis  ver- 
urteilt worden  und  unmittelbar  nach  Verbüßung  dieser  Strafe,  anfang 
Dezember  zu  Bloemers  gekommen  war.  Eine  größere  Anzahl  von 
Wertgegenständen  waren  in  Nymwegen  unter  gebracht  oder  an  Ange- 
hörige verschenkt  worden. 

Am  11.  Januar  06  wurden  die  drei  Täter  in  Haft  genommen. 
Während  Adolf  jede  Kenntnis  über  das  Verbleiben  des  B.  zuerst  ab- 
leugnete, legte  Leonhard,  nachdem  ihm  vorgehalten  war,  seine  Schwä- 
gerin habe  bereits  alles  gestanden,  ein  Bekenntnis  ab,  indem  er  die 
Tötung  als  einen  Notwehrakt  gegenüber  dem  seinen  Bruder  verfol- 
genden Ermordeten  darstellte,  während  er  selbst  gänzlich  unbeteiligt 
sei.  Auf  Vorhalt  machte  nunmehr  die  Ehefrau  Bloemers  ein  wahr- 
heitegemäßes  Geständnis,  dem  sich  Adolf  anschloß,  indem  er  seinen 
Bruder  als  den  Hauptschuldigen  hinstellte.  Es  ist  von  sekundärem 
Interesse,  daß  die  Mörder  jeder  dem  anderen  den  größeren  Teil  der 
Schuld  zu  zuschreiben  suchten ;  wichtiger  ist  die  Motive  festzustellen, 
die  die  Schuldigen  für  ihre  Tat  anführten.  Frau  Bloemers  sagte:  „Zu 
der  Tat  hat  uns  die  Not  gezwungen.  Mein  Mann  und  mein  Schwager 
waren  ohne  Arbeit  und  Verdienst",  Leonhard:  „wir  wollten  an  Geld 
kommen  und  zweitens  weil  der  Oberstleutnant  oft  Auftritt  mit  uns 
hatte^ .  Erst  später  in  der  Haft  und  nach  der  Verurteilung  hat  Adolf 
eingestanden,  daß  sie  von  dem  Gelde  des  Getöteten  bereits  vor  der 
Tat  entwendet  hatten  und  den  furchtbaren  Plan  faßten,  um  mehr  zu 
erlangen.  Über  die  Ausführung  des  Verbrechens  gibt  das  Obduktions- 
protokoll einen  wichtigen  und  objektiven  Anhalt. 

Die  Leiche  war  in  den  Knien  gebeugt,  der  Kopf  lag  neben  dem 
Rumpf.  Auf  der  Brust  fanden  sich  auf  der  linken  Seite  8  Haut- 
wunden, von  einem  scharfen  Instrumente  herrührend,  von  denen  4  tief 
ins  Herz,    4  in  die  Lunge  führen.    Auf  dem  Schädel  fand  sich  eine 


218  IX.  POLLITZ 

5  cm  lange,  quer  verlaufende,  und  2  —  ca  8  cm  lange,  längs  verlau- 
fende Knochenbrüche,  ein  weiterer  Knochenbruch  findet  sich  am 
rechten  Jochbogen,  der  aus  seinem  Zusammenheng  mit  dem  Gesichts- 
skelett losgelöst  ist.  Einer  der  vorerwähnten  Schädelknochenbriiche 
bildet  eine  klaffende  Knochenspalte,  die  in  ihren  Ausläufern  bis  in  die 
Augenhöhle  reicht,  an  einer  Stelle  in  einer  kleinfingertiefen  Delle 
endet  während  im  Gesicht  auch  das  linke  Jochbein,  Nasenbein, 
rechter  Oberkiefer  und  Gaumenbein  in  einzelne  Stücke  getrennt  sind. 
Die  Knochenbrüche  erstrecken  sich  bis  auf  die  Schädelbasis,  bei  deren 
Besichtigung  man  erkennt^  daß  die  linke  untere  Hälfte  des  Stirnbeins 
vollkommen  von  ihren  knöchernen  Verbindungen  getrennt  ist  Das 
Gutachten  gelangt  zu  dem  Schlüsse,  daß  R.  durch  ausgedehnte  Zer- 
trümmerungen des  Schädeldaches,  der  Schädelgrundfläche  und  des 
Gesichtsschädels  und  Stiche  ins  Herz  und  Lunge  getötet  sei.  Über 
die  Reihenfolge,  in  der  die  Verletzungen  erfolgt  sind,  läßt  sich  keine 
bestimmte  Aussage  machen.  Die  Schädelverletzungen  waren  allein 
tötlich. 

Über  das  weitere  Verhalten  der  drei  Täter  sind  in  psychologischer 
Hinsicht  eine  Reihe  Einzelzüge  von  Interesse.  So  versuchte  Frau  Bl. 
die  —  wie  vorweg  erwähnt  sei  —  einzelne  Zeugen  ihrem  ganzen 
Charakter  nach  für  die  Hauptschuldige  hielten,  durch  Erdrosseln  im 
Bett  gleich  in  den  ersten  Tagen  der  Haft  ihrem  Leben  ein  Ende  zu 
machen,  während  die  beiden  Brüder,  wie  bereits  in  den  ersten  Ver- 
hören, immer  wieder  versuchten,  einer  dem  anderen  den  größeren 
Teil  der  Schuld  zu  zuschieben,  ohne  jedoch  die  Ehefrau  zu  entlasten, 
deren  vollkommenes  Einverständnis  und  Mitbeteiligung  an  allen  Be- 
ratungen beide  betonten.  Anfänglich  schien  Adolf  bestrebt,  seine  Frau 
möglichst  zu  belasten  entgegen  einer  angeblich  nach  der  Tat  gege- 
benen Zusage,  um  —  wie  Frau  Bloemers  meinte  —  mit  ihr  gemein- 
sam zu  sterben. 

Die  psychologische  Analyse  der  drei  Täter,  deren  furchtbare  Tat 
in  ihren  Einzelheiten,  der  sorgfältigen  Vorberatung  und  nüchternen 
Abwägung  über  die  beste  Methode  der  Ausführung,  unter  mehrtägigen 
wiederholten  Beratungen,  mehr  wie  jeder  Mordfall  das  Charakteristi- 
kum  der  „Überlegung**  im  eminentesten  Sinne  enthält,  gibt  zu 
mancherlei  Erwägungen  Anlaß. 

Die  beiden  Brüder  Adolf  und  Leonhard  sind  26  und  25  Jahre 
alt  Adolf  ist  intelligent  und  geistig  normal  entwickelt,  er  schreibt  in 
etwas  gebrochenem  deutsch  recht  gewandte  und  innige  Briefe  an  seine 
Familie,  besonders  an  seine  Frau.  Über  die  Aszendenz  ist  folgendes 
festzustellen : 


Die  drei  Mörder  Bloemers.  219 

1)  Großvater  und  Großmutter  von  Mutters  Seite  sind  Besitzer 
eines  Bauernhofes  gewesen,  letztere  88  Jahre  alt  gestorben. 
Beide  ehrenhafte,  wohlsituirte  Leute. 

2)  Großvater  und  Großmutter  väterlicherseits,  dem  Berufe  nach 
Schneider,  wohlsituirt  und  unbescholten. 

3)  Die  Mutter  Bloemers  sehr  religiös,  streng  katholisch  erzogen, 
etwas  redselig,  oberflächlich,  hängt  sehr  warm  an  ihren 
Kindern.    Sie  gilt  als  brav  und  fleißig. 

4)  Der  Vater  ist  Schneidermeister  und  nicht  bestraft. 

Aus  dieser  Ehe  stammen  drei  Söhne  und  drei  Töchter,  eins  ist 
Dienstmädchen,  zwei  sind  anständig  verheiratet  Der  Bruder  Louis 
ist  ebenfalls  unbescholten  und  hat  nach  9  jährigem  Dienste  in  Holland 
eine  Beamtenstellung  erhalten. 

Die  beiden  Mörder  sind  ebenfalls  in  Holland  Soldaten  gewesen, 
haben  sich  aber  schlecht  geführt 

Geisteskrankheiten,  geistige  Defektzustände  und  Epilepsie,  Alko- 
holismus scheinen  in  der  Familie  nicht  nachweisbar  zu  sein. 

Adolf  ist  ebenfalls  ein  nüchterner  Mensch,  er  ist  nie  vorbestraft, 
seit  mehreren  Jahren  mit  der  zu  erwähnenden  Frau  verheiratet,  ein 
Kind  ist  tot,  eins  lebte  damals.  In  den  letzten  Jahren  ist  er  faul 
und  arbeitsscheu  geworden  und  hat  keine  Stelle  —  trotz  mehrfach 
gebotener  Gelegenheit  übernommen.  Nach  dem  Morde  hat  er  in  höchst 
dreister  Weise  von  dem  so  leicht  und  schnell  Erworbenen  ein  bequemes 
Faulenzerleben  geführt  Alle  Urteile  in  dieser  Hinsicht  lauten  über- 
aus ungünstig.  Vielleicht  liegt  hier  der  Schlüssel  zu  seinem  Verhalten 
bei  der  Mordtat,  deren  intellektueller  Urheber  er  ohne  Zweifel  war? 
vor  die  Wahl  gestellt  sich  endlich  aus  seiner  parasitären  Lebensführung 
zu  regelmäßiger  Arbeit  aufzuraffen  oder  auf  schnelle  Weise  die  für 
ihn  imponierende  Summe  von  fast  300  M.  zu  erlangen,  ließ  er  sich 
schließlich  nicht  vor  den  extremsten  Entschlüssen  zurückschrecken. 
Er  war  im  Rat  und  bei  der  Tat  der  Aktivste  und  Führende.  Im 
Gegensatze  zu  seinem  brutalen  und  —  offenbar  unter  dem  Einfluß 
der  blutigen  Situation  —  geradezu  wilden  Vorgehen  bei  der  Tat, 
zeigte  er  sich,  nachdem  sehr  bald  das  Gefühl  schwerster  Reue  und 
Gewissensbisse  über  ihn  gekommen  war,  als  ein  durchaus  weicher, 
gutmütiger,  lenkbarer  Mensch  mit  nicht  geheucheltem  Familiensinn 
und  innerlich  kirchlich  religiösem  Gefühl.  Daß  es  sich  hier  nicht  um 
wohlberecbnete  Gefängnisfrömmigkeit  und  theatralisches  Reue-Markieren 
bandelte,  zeigte  sein  Verhalten  bis  zur  Hinrichtung.  Er  verteidigte 
sich  nicht,  legte  keine  Revision  ein  und  erklärte,  als  das  sehnsüchtig 
erwartete  Todesurteil  kam,  mit  ruhiger  Stimme  „ja  ich  habe  es  redlich 


220  IX.  POLLTTZ 

verdient  und  nehme  es  gern  an".  Noch  wenige  Minuten  vor  der 
Exekution  erklärte  er  mir,  er  freue  sich  nunmehr  die  ihm  jetzt  immer 
unverständlichere  Tat  sühnen  zu  können.  —  In  seinem  Äußeren  machte 
Adolf  einen  harmlosen  Eindruck,  sah  jüuglinghaft  und  jugendlicher 
aus,  als  seinem  Alter  entsprach.  Eine  Häufung  sog.  Degenerations- 
zeichen habe  ich  nicht  feststellen  können.  Der  Schädel  hatte  —  bei 
einer  Körpergröße  von  1,74  m  —  einen  Horizontalumfang  von  56,6  cm, 
bei  einer  Länge  von  19,3  und  Breite  von  14  cm.  Die  Stimpartie  des 
Schädels  tritt  stärker  hervor,  die  Zähne  waren  gut  entwickelt,  der 
Gaumen  nicht  abnorm,  in  den  Ohren  fand  sich  „das  Darwin'sche'^ 
Knötchen. 

Leonhard  Bloemers  ist  der  jüngere  Bruder,  25  Jahre  alt,  er  ist 
einmal  wegen  Diebstahls  mit  3  Wochen  und  wegen  Betteins  mit  Haft 
vorbestraft.  Eine  träge,  rohe  Natur,  die  bis  zum  Ende  stumpf  und 
gleichgiltig  blieb,  ohne  innere  Reue  und  ohne  tieferes  sittlich  religiöses 
Gefühl,  das  auch  kaum  ernstlich  erweckt  werden  konnte.  Bis  zur 
Tat  war  er  ebenfalls  dauernd  dem  Nichtstun  ergeben,  wozu  ihm  ein 
leichtes  Lungenleiden  willkommenen  Vorwand  gab.  Er  „feierte'^ 
meist  krank  und  suchte  die  Krankenkassen  auszunützen.  Seine  Intel- 
ligenz ist  gering.  Vom  7 — 9.  Jahre  war  er  mit  dem  Bruder  Louis 
im  Kloster  erzogen  worden,  war  stets  schwächlich  und  scheint  daher 
etwas  bevorzugt  worden  zu  sein.  Seine  Kenntnisse  sind  mangelhaft, 
er  muß  oft  mehrfach  gefragt  werden,  ehe  er  antwortet  Er  sah  seinem 
Schicksal,  trotz  einer  erklärlichen  Todesangst,  mit  verhältnismäßig 
stumpfer  Ruhe  entgegen,  nur  beim  Besuche  der  Mutter  trat  eine  etwas 
tiefere  Regung  bei  ihm  hervor.  In  seinem  Äußeren  macht  er  keinen 
sympathischen  Eindruck,  ohne  daß  die  Schädel-  und  Gesichtskonfigu- 
ration grobe  Degenerationszeichen  darböte.  Sein  Leumund  war  über- 
aus schlecht^  er  galt  für  faul  und  unehrlich  und  scheint  auch  in 
sexueller  Hinsicht  einem  exzessiven  Leben  zugeneigt  gewesen  zu  sein. 
Nichts  ist  charakteristischer  den  Unterschied  in  der  Persönlichkeit 
beider  Brüder  klarzustellen,  als  ihr  Verhalten  nach  der  Tat.  Wie 
Adolf  überall  die  führende  Rolle  übernahm,  so  fühlte  er  sich  nach- 
dem die  Sache  wochenlang  so  gut  gegangen  war,  vollkommen  als 
der  Herr  der  Situation:  ich  erinnere  an  die  cynische  Postkarte,  mit 
dem  später  so  verständlichen  Fastnachts-Motto  „Et  hat  noch  jot  ge- 
gangen'' oder  jenen  Brief,  in  dem  er  mit  dem  so  unerwartetem  Wohl- 
stande seiner  Familie  gegenüber  renommirt.  Von  alledem  findet  sich 
bei  Leonhard  keine  Spur. 

Frau  Bloemers,   geborene   S  .  .  .,   28  Jahre  alt.    Ihr  Vater   ist 
Hausirer  und  Händler,   die  Mutter   erfreut  sich    keines   guten  Rufes. 


Die  drei  Mörder  Bloemers.  221 

Eine  Schwester  ist  mit  16  Jahren  wegen  Brandstiftung  bestraft  und 
hat  sich  sofort  nach  ihrer  Entlassung  aus  dem  Gefängnisse  an  dem 
Versetzen  des  R*schen  Besitzes  beteiligt  Ein  Bruder  soll  unbescholten 
sein.  Bis  zu  ihrer  Verheiratung  war  Frau  Bl.  stets  im  Dienste  und 
hat  sich  gut  geführt  Sie  hat  2  Kinder  geboren  von  denen  eines 
früher,  das  andere  während  der  Untersuchungshaft  starben.  Während 
dieser  ganzen  Zeit  —  sie  war  seit  Anfang  Oktober  1905  gravida  — 
machte  sie  den  Eindruck  einer  moralisch  vollkommen  stumpfen  Person, 
die  mit  großer  Sicherheit  auf  ihre  Begnadigung  rechnete.  Dabei  war 
sie  eine  Frau  von  guter  Intelligenz,  eine  unsympathischen  Eatzen- 
natur,  von  der  die  Mitgefangenen  erzählten,  sie  bedauere  nur,  daß 
alles  herausgekommen  und  die  Sachen  ihnen  abgenommen  seien,  und 
wäre,  wenn  unbeobachtet,  heiter  und  guter  Dinge,  indem  sie  ihre 
Schuld  und  Mitbeteiligung  an  der  Tat  als  äußerst  gering  darstellt 
Daß  sie  an  allen  Vorbereitungen  und  Beratungen,  sowie  bei  der  Aus- 
führung der  Tat  eine  sehr  wesentliche  Rolle  gespielt  hat,  kann  nach 
der  oben  gegebenen  Darstellung  unter  Berücksichtigung  ihrer  Per- 
sönlichkeit nicht  zweifelhaft  sein.  Ihre  Bestrafung  aus  §  211  des 
St-6.-B.  erfolgte  auf  Grund  der  Bestimmungen  des  §  47  über  Mit- 
täterschaft Äußerlich  eine  armselige,  häßliche  kleine  Frau  mit  stark 
hervortretender,  breiter  Nase,  die  an  der  Wurzel  sattelartig  eingesenkt 
war,  sodaß  die  Stirn  um  so  stärker  hervortrat  Der  Mund  ist  groß, 
die  Züge  abstoßend.  Die  starke  —  unter  der  Not  der  Lage  etwas 
überschwängliche  —  Zärtlichkeit  des  Mannes  erwiderte  sie  nur  in  sehr 
kalter  Weise.  Nachdem  sie  Mitte  Juli  geboren  hatte,  hielt  sie  eine 
weitestgehende  Berücksichtigung  ihrer  Mutterschaft  für  eine  ganz 
natürliche  und  berechtigte  Forderung.  Die  Schädelmaße  betragen: 
Umfang  53  cm,  bei  einer  Körpergröße  von  156  cm,  Schädellänge  15,5, 
Breite  13,  Jochbogenbreite  10  cm. 

Betrachtet  man  die  drei  Täter  unter  einheitlichem  Gesichtspunkte, 
80  interessiert  in  erster  Linie  die  Frage,  ob  bei  einem  der  Täter  psy- 
chopathische Momente  ausschlaggebend  oder  mitwirksam  bei  der 
Ausführung  der  Tat  gewesen  seien.  Ausscheiden  kann  ohne  weiteres 
die  Verwertung  des  beginnenden  Schwangerschaftszustandes  der  Frau  ^), 
der  in  seinen  ersten  Anfängen  bei  einer  mehrfach  Graviden  kaum 
entscheidende  Einwirkungen  auf  das  seelische  Gleichgewicht  ausgeübt 
haben  kann.  Nur  für  Leonhard  wird  man  femer  vielleicht  einen  ge- 
wissen Grad  von  intellektueller  Schwäche  anerkennen,  während  das 
Fehlen  jedes   sittlichen   Gegenmotives   bei  allen  dreien  gleichmäßig 


1)  Kraepelin,  Psychiatrie,  VI.  Aufl.,  pag.  62  ff. 


222  IX.  POLLITZ 

in  die  Erscheinung  tritt.    Dabei   bleibt  jedoch   die   bemerkenswerte 
Tatsache  bestehen,  daß  dieser  sittliche  Mangel  bei  allen  dreien  bisher 
nicht  durch  kriminelle  Handlungen  manifest  geworden  ist,  wenn  man 
von  der  geringen  Vorbestrafung  des  Leonhard  absieht,  eine  Erfahrung, 
die  grade  bei  dem  schwersten  Verbrechen  nicht  ganz  selten  zu  machen  ist 
Es  ist  hier  nicht  ohne  Interesse  das  Ergebnis  einer  Zusammen- 
stellung von  Mord  und  Totschlagfällen  (letztere  als  solche  durch  das 
Schwurgericht  so  charakterisirt)  zu  betrachten.    Daß  im  vorliegenden 
Falle  die   Kriterien   des  Mordes   im    eigentlichsten  Sinne   vorliegen, 
indem   ^der   bei  der  Tat  obwaltende  Vorsatz  als  das  Ergebnis  einer 
besonnenen  Verstandestätigkeit  erscheint^  ^),  ist  kaum  zu  bestreiten,  ja 
man  wird  schwerlich  viele  analoge  Fälle  finden,  in  denen  jedes  affek- 
tive Moment  so  in  den  Hintergrund  tritt,  wie  im  vorliegenden  Falle. 
Weingart '^)  betont  mit  Recht,   daß   der  Mord  nicht   selten   die   erste 
kriminelle  Betätigung  des  Täters  darstellt    Die  von  ihm  gegebene 
Einteilung  nach  psychologischen  Gesichtspunkten  unterscheidet  7  Haupt- 
gruppen ;  die  jedoch  nicht  ohne  weiteres  auf  den  Mordbegriff  des  St 
G.  B.  anzuwenden  sind.    Als  typisch  möchte  ich  den  Baubmord,  den 
sexuellen  Mord  (Eifersucht)  u.  a.  m.,  den  Bachemord,  den  Mord  zur 
Beseitigung  einer  Not-  oder  Gefahrlage  bezeichnen.    Von  den  15  von 
mir  eingehend  untersuchten  Mördern   waren  9  zum  Tode  verurteilt, 
zwei  hingerichtet,  einer  gemäß  §  178  d.  St  G.  B.  zu  lebenslänglichem 
Zuchthaus,  die  übrigen  zu  höchsten  Zuchthausstrafen  verurteilt  worden. 
Von  der  Gesammtzahl  sind  10  niemals  vorbestraft  gewesen,  nur  zwei 
waren  erheblich  mit  Gefängnisstrafen,  keiner  mit  Zuchthaus   vorbe- 
straft   Es  ist  nicht  meine  Absicht  das  Material  an  dieser  Stelle  ein- 
gehender mitzuteilen,  nur  so  viel  sei  noch  bemerkt    In  drei  Fällen 
wurde  die  sorgfältig  prämeditirte   Tötung  ausgeführt,    um   eine  ge- 
schwängerte Liebschaft  zu  beseitigen,  in  zwei  weiteren  wurde  einmal 
die  Schwester,  die  einem  Liebesverhältnis  im  Wege  stand,  im  anderen 
ein  Kind,  das  der  in  Ehescheidung   lebenden  Mutter   zugesprochen 
werden  sollte,  ermordet.    In  vier  weiteren  Fällen  handelt  es  sich  um 
einen  Baubmord.    Bemerkenswert  erscheint,   daß  alle   diese  Mörder 
—  dies  gilt  auch  für  den  Fall  Bloemers  —  noch  unter  dem  30.  Lebens- 
jahre standen.    Von  jenen   15  Tätern  waren  7  nicht  über  21  Jahre 
alt,    ein    kriminologisch    wie    psychologisch    gleich    beachtenswertes 
Phänomen,  dessen  Erklärung  in  der  grösseren  Impulsivität  des  jugend- 
lichen Alters  und  der  noch  verminderten  Fähigkeit  die  Folgen  abzu- 
messen, oder  andere  Mittel  zur  Beseitigung  einer  schwierigen  und  ver- 

1)  Oppenhoff,  Strafgesetzbuch,  13.  Aufl.,  pag.  495. 

2)  Krim  mal  taktik,  pag.  SSI. 


Die  drei  Mörder  Bloemers.  223 

zweifeiten  Sitnation  zu  snchen,  seine  Erklärung  finden  dürfte.  Be- 
fcanntlich  stellt  das  jüngere  Lebensalter!)  -  besonders  die  Puber- 
tätszeit —  em  auffallend  großes  Kontingent  an  Mördern,  ganz  abge- 
Mhen  von  seiner  an  sich  relativ  großen  Beteiligung  an  der  schweren 
Änminalität  überhaupt.  Eine  gleiche  Auffassung  über  die  Häufigkeit 
des  Mord^  in  dieser  Altersperiode  von  18-24  Jahre  vertritt  Holtzen- 

u  \  m  '""^  '^*  ^^^  ^^'^  ^«'"^l  80  faä'^e  Jn  diesem  Lebens- 
luter  als  Totschlag.  Immerhin  ist  bei  emer  derartigen  Gegenüber- 
stellung zu  berücksichtigen,  daß  nicht  jeder  Fall,  in  dem  die  Anklage 
Mord  oder  die  Geschworenen  Totschlag  annehmen,  psychologisch 
nchhg  subsumiert  ist  Dafür  Beispiele  anzuführen,  erscheint  über- 
uussig.  Die  rein  rechüichen  Beziehungen  zwischen  Mord  und  Tot- 
scülag  ergeben  die  eigenartige  Konsequenz,  daß  die  strafrechtliche 
Ahndung  einer  hierher  gehörigen  Tat  zwischen  der  Verhängung  der 
lodesstrafe  und  einer  Gefängnisstrafe  von  sechs  Monaten  schwankt 

Z  Sos'  ^*"'    ''"*^^'*®  "»^er.    Arehiv  für  Kriminalanthropologio, 


II.  Bd.,  1903. 


Beriin^'i  f^K'^f-f^'tT ^'"^^-  S»""nlung  wissenschaftiicher Vorträge,  Heft  232 
Bertrn  1875.    Ludentz'sche  Buchhandlung,  pag.  41. 


X. 
über  Kindesmord. 

(Ein  Beitrag  zur  Frage  nach  den  Gründen  seiner  Sonderstellung.) 

Von 

Professor  Dr.  W.  Graf  Gleispaoh  in  Prag. 


In  seinem  Heidelberger  Vortragt)  hat  Hans  Groß  die  sehr 
berechtigte  Forderung  aufgestellt,  die  zukünftige  Straf gesetzgebung 
habe  da^  psychologische  Prinzip  viel  mehr  als  bisher  zu  berück- 
sichtigen. An  einzelnen  Beispielen  wird  dann  gezeigt,  einerseits,  wie 
sich  der  Vortragende  die  Verwertung  dieses  Prinzipes  de  lege  ferenda 
denkt,  andererseits,  wie  heute  feststehende  Ansichten  einer  Prüfung 
vom  psychologischen  Standpunkt  aus  nicht  standhalten  können.  In 
dieser  zweiten  Richtung  werden  die  Gründe  der  besonders  milden 
Behandlung  der  Eindestötung  untersucht  und  das  Ergebnis  lautet*^): 
es  „müssen  die  gesamten  psychopathischen  Einwirkungen  bei  und 
nach  der  Geburt,  welche  seit  ungefähr  100  Jahren  im  Strafrecht  eine 
so  große  Rolle  gespielt  und  so  viele  Schwierigkeiten  verursacht  haben, 
aus  unsren  Erwägungen  völlig  ausgeschlossen  werden:  sie  haben 
psychologisch  nie  gewirkt".  Und  ferner:  „Wir  kommen  daher 
diesfalls  zu  dem  Schlüsse,  daß  wir,  die  wir  doch  auch  den  Eindes- 
mord privilegiert  und  milde  behandeln  wollen,  hiefür  ganz  andere 
Erwägungen  aufsuchen  müssen;  —  ob  wir  mit  der  Lehre  vom  sogen. 
Ehrennotstand  unser  Auslangen  finden  werden,  ist  sehr  fraglich*'.  — 
Dieses  Ergebnis  und  die  Erwägungen,  auf  denen  es  sich  aufbaut, 
scheinen  mir  anfechtbar  und  es  sei  mir  deshalb  gestattet,  einige 
polemische  Bemerkungen  an  sie  anzuknüpfen.  Dabei  kann  es  sich 
vielfach  nur  darum  handeln,  Gedanken  und  Tatsachen,  die  auch  schon 
anderwärts  ausgeführt  und  berichtet  worden  sind,  einer  Ansicht  gegen- 
überzustellen, die  wenigstens  in  dieser  Schroffheit  und  Allgemeinheit 

1)  „Kriminalpsychologie  und  Straf politik'*,  abgedruckt  in  diesem  Archiv  26, 
67—80. 

2)  A.  a.  0.  S.  75  und  76. 


über  Kindesmord.  225 

meines  Wissens  vor  Groß  nicht  vertreten  wurde.  Ihr  gegenüber 
auch  die  Wirksamkeit  älterer  Gründe  zu  erproben,  —  diesen  Versuch 
rechtfertigt  wohl  die  hohe  Aktualität,  die  heute  allen  Gesetzgebungs- 
fragen zukommt.  Es  sei  aber  auch  noch  darauf  hingewiesen,  daß  die 
Ansicht  von  Groß  dem  Ergebnis  der  jüngsten,  umfassenden  Be- 
handlung des  Verbrechens  der  Eindestötung  den  Boden  entzieht,  — 
den  legislativen  Vorschlägen  von  Liszts  in  der  „Vergleichenden 
Darstellung^  i).  Denn  sie  beruhen,  wie  auch  schon  die  vorhergehende 
kritische  Erörterung  der  geltenden  Gesetzgebung,  auf  der  freilich  auch 
bedenklichen  Annahme,  daß  durch  den  Einfluss  des  Geburtsvorganges 
die  motivierende  Kraft  der  zur  Tötung  treibenden  Vorstellungen*^) 
wesentlich  gesteigert  werde,  und  sie  finden  gerade  darin  den  Grund- 
gedanken jener  Gesetzgebungen,  an  die  sie  sich  anlehnen.  Der  Ge- 
dankengang bei  Groß  aber  ist  kurz  folgender:  1.  Die  —  wenn  ich 
so  sagen  darf  —  landläufige  Auffassung  sucht  den  Grund  für  die 
milde  Behandlung  der  Kindesmörderin  z.  T.  in  der  durch  die  Geburts- 
vorgänge veranlaßten  psychopathischen  Geistesverfassung,  z.  T.  in  den 
überwältigenden  Sorgen  wegen  des  Unterhaltes  und  der  bevorstehenden 
Schande.  —  2.  Obwohl  manche  Gesetzgebungen  den  Ehrennotstand 
als  allein  maßgebend  angesehen  haben,  ist  doch  unter  allen  umständen 
der  psychopathische  Zustand  der  Täterin  Ursache  der  Milderung; 
wenn  Kindestötung  überhaupt  milder  bestraft  wird,  so  ist  der  abnorme 
Znstand  bei  und  sofort  nach  der  Geburt  das  mildernde.  —  3.  Psycho- 
logisch ausgedrückt  heißt  das:  Die  Einflüsse  bei  dem  Geburtsvorgang 
wirken  derart  verwirrend,  daß  die  Furcht  vor  Not  und  Schande  mit 
abnormer  Kraft  ausgestattet  wird  und  die  normalen  Instinkte  auf 
Beschützung  des  Neugeborenen  überwältigt.  Diese  psychologische 
Begründung  ist  aber  gerechtfertigt  nur  unter  der  Voraussetzung,  daß 
der  maßgebende  Entschluß  zur  Tötung  infolge  und  während  der 
psychopathischen  Geburtsvorgänge  entstanden  und  gefaßt  worden  ist, 
daiS  das  Töten  von  psychopathischen  Vorgängen  bei  der  Geburt 
kausiert  war.  —  4.  Diese  Voraussetzung  trifft  tatsächlich  niemals  zu. 

I. 

1.  Bleiben  wir  zunächst  bei  dem  letzten  Punkt  stehen.  Soweit 
Groß  hier  auf  Grund  seiner  reichen  praktischen  Erfahrungen  spricht, 
kann   es   mir   nicht   einfallen,   diesem  Schatz  meine  Beobachtungen 


1)  Vergleichende   Darstell ang    des   Deutschen    nnd    Ausländischen    Straf- 
rechts 5,  11«  ff.  — 

2)  Welche  Vorstellungen  da  in  Betracht  kommen  nnd  daß  v.  Liszt  nur  die 
den  Ehrennotstand  begrÜDdendcn  berücksichtigen  will,  interessiert  hier  noch  nicht. 

Archir  für  Kriminalanthropologie.    27.  Bd.  15 


226  X,  GiiEisPACH 

gegenüberstellen  zu  wollen,  die  absolut  und  gar  relativ  höchst  be- 
scheidenen Umfanges  sind.  Da  er  aber  die  Frage  auf  wirft,  ob  man 
auch  nur  einen  einzigen  Fall  kennt,  in  welchem  der  geschilderte  Her- 
gang (Tötungsentschluss  während  der  Oeburt  gefaßt) ^nachweisbar 
gewesen  ist,  so  darf  ich  doch  auf  einen  Fall  hinweisen,  bei  dessen 
Verhandlung  J)  ich  als  Schriftführer  mitzuwirken  hatte.  Die  wegen 
Verbrechens  nach  §  139  St.  G.  angeklagte  Dienstmagd  M.  6.  hat 
nicht  bloß  behauptet,  vor  der  Geburt,  die  sie  überraschte,  die  Tötung 
des  Kindes  nicht  beabsichtigt  zu  haben,  sondern  sie  konnte  auch 
darauf  hinweisen,  daß  sie  Wäsche  für  das  Kind  vorbereitet  und  durch 
Monate  ihren  kärglichen  Lohn  zusammengespart  hatte,  um  für  das 
Kind  sorgen  zu  können.  Einige  andere  Fälle  entnehme  ich  der 
Literatur.  Vibert^)  berichtet  von  folgendem  Fall:  „üne  jeune  fille 
primipare,  peu  intelligente,  est  admise  ä  deux  reprises  dans  un  höpital 
comme  atteinte  d'un  kyste  de  I'ovaire;  pendant  son  second  s^jour, 
eile  accoucha  dans  les  latrines  d'un  enfant  k  terme  qu'elle  pröcipita 
imm6diatement  dans  la  fosse.  Elle  assura,  qu'elle  ne  s'ötait  jamais  crue 
enceinte.  Elle  avait  pu  croire  elle-meme  k  l'interprötation  des  mädedns^^ 
Diesem  an  die  Seite  zu  stellen  ist  ein  ähnliches  Vorkommnis,  das  in 
Henkes  Zeitschrift^)  beschrieben  wird:  Ein  zweiundzwanzig  jähriges 
etwas  dummes,  sonst  braves  Mädchen  wurde  im  Bausch  entjungfert 
und  geschwängert;  von  ihrer  Schwangerschaft  hatte  sie  keine  Ahnung 
bis  zum  rechtzeitig  erfolgten  Geburtsakt.  Davon  im  Freien  überrascht 
warf  sie  das  Kind  entsetzt  in  den  Wassergraben.  Fabrice*)  erzählt: 
„Vor  einem  halben  Jahre  wunderte  sich  eine  ganze  Gemeinde,  daß 
ein  Mädchen,  dessen  Charakter  als  sanft,  offen  und  brav  allgemein 
bekannt  war,  ihr  Kind  ins  Wasser  warf,  von  dessen  Geburt  es  auf 
dem  Felde  überrascht  wurde.  Die  Untersuchung  aber  ergab,  daß  es 
der  Geliebte,  mit  dem  es  mehrere  Jahre  in  Verbindung  gewesen,  ver- 
lassen hatte,  weil  dessen  Familie  die  Mitgift  des  Mädchens  für  zu 
gering  hielt.  Ihr  Vater,  ein  sonst  sehr  braver  aber  strenger  Mann, 
hatte  die  Tochter  körperlich  gezüchtigt,  bloß  auf  den  Verdacht  hin, 
sie  könne  schwanger  sein,  die  Familie  des  früheren  Geliebten  be- 
schimpfte sie  bei  jeder  Gelegenheit.  Offen  und  reumütig  gestand  die 
Angeschuldigte  ihr  Verbrechen  bei  der  ersten  Frage.    Das  Schwur- 


1)  üauptverhandlung  vor  dem  Grazer  Schwurgericht  am  16.  Mai  1899. 

2)  Pr6cis  de  m^dicine  legale,  4e  6d.  416. 

3)  Jahrgang  1853,  vgL  Fabrice,  Die  Lehre  von  der  Eindcsabtreibang  und 
vom  Kindesmord,  2.  Aufl.  von  A-  Weber,  S.  282. 

4)  a.  a.  0.  S.  807. 


über  KindeBmorcL  227 

gericht  mußte  sie  desselben  schuldig  erklären,  aber  in  voller  Berück- 
sichtigung der  geschilderten  Umstände  wurde  das  niederste  Strafmaß 
zugeteilt  Man  mußte  dem  armen  Mädchen  Glauben  schenken;  wie 
es  bei  der  Schilderung  der  Oeburtsvorgänge  einfach  erklärte:  „vor 
Ängsten  wußte  ich  damals  wahrhaftig  nicht  wo  aus,  wo  ein^. 

Über  einen  weiteren  Fall  ist  sehr  ausführlich  in  diesem  Archiv  ^) 
berichtet  worden.  Am  9.  Dezember  1901  fand  der  Eisenbahnwächter 
auf  dem  Eisenbahndamm  nächst  Pörtschach  ein  neugeborenes  totes 
Kind  zwischen  den  Schienen  liegend  auf.  Das  Strafverfahren  ergab, 
daß  das  Kind  von  der  Magd  I.  H.  an  diesem  Tag  während  der 
Eisenbahnfahrt  am  Abort  geboren  und  durch  Hindurchzwängen  durch 
die  Öffnung  d^  AbortschaJe  getötet  worden  war.  Die  H.  war  außer- 
ehelich geschwängert,  ihre  Schwangerschaft  ihren  Dienstgebern,  die 
sie  als  sehr  fleißig  und  brav  schildern,  bekannt,  und  diese  hatten 
bereits  im  September  gewußt,  daß  sie  schwanger  war,  wollten  ihre 
Entbindung  abwarten  und  sie  dann  wieder  in  Dienst  nehmen.  Am 
9.  Dezember  stellten  sich  Wehen  ein  und  die  Dienstgeberin  ließ  eine 
Hebamme  holen.  Da  diese  sagte,  es  fehlen  zum  normalen  Ende  der 
Schwangerschaft  noch  beiläufig  3  Wochen  —  das  Kind  war  in  der 
Tat  nicht  völlig  ausgetragen  —  so  entschloß  sich  die  H.,  nach 
Klagenfurt  ins  Gebärhaus  zu  fahren.  Wegen  der  bereits  vorhandenen 
Wehen  rieten  Hebamme  und  Dienstgeber  von  der  geplanten  Abreise 
ab,  doch  stellte  die  erstere  die  Geburt  erst  für  die  kommende  Nacht 
in  Aussicht,  während  der  von  der  H.  benützte  Zug  bereits  um  2  Uhr 
N.-M.  in  Klagenfnrt  eintrifft  Die  H.  trat  also  die  Reise  an  und  die 
Wehen  steigerten  sich,  so  daß  der  Zustand  der  H.  von  den  Mit- 
reisenden bemerkt  wurde.  Die  H.  ließ  sich  den  Abort  zeigen,  ent- 
ledigte sich  dort  ihres  Mieders  und  kehrte  auf  ihren  Platz  zurück. 
Unmittelbar  vor  Pörtschach  wurden  die  Wehen  heftiger,  sie  ging 
wieder  auf  den  Abort,  um  die  Not  zu  verrichten;  hierbei  wurde  sie 
angeblich  von  Schwindel  erfaßt  und  nun  ging  das  Kind  ab.  Als  sie 
dies  merkte  und  aufstand,  konnte  sie  nach  ihrer  Angabe  das  Kind 
nicht  mehr  erreichen,  da  es  schon  bis  auf  die  Füsse  durchgerutscht 
war.  Es  wurde  ihr  schwarz  vor  den  Augen  und  sie  fühlte  sich  sehr 
schwach.  Die  Verantwortung  der  H.,  daß  das  Kind  durchgerutscht 
sä,  wird  durch  den  Augenschein  (Verhältnis  der  Maße  des  Kindes- 
kopfes und  der  Abortöffnung)  widerlegt.  Das  Schwurgericht  hat  die 
H.  einstimmig  schuldig  gesprochen. 


1)  Ein  FaU  von  Kindesmord.    Von  Dr.  Jos.  R.  v.  Joscb,  kaiserl.  Bat  und 
Landefigerichtsarzt  in  Klagenfurt    9,  882  ff. 

15* 


228  X.  Gleibfach 

Einen  sehr  interessanten  Fall  erwähnt  Roustan  0^  nur  sind  leider 
manche  wichtige  Einzelheiten  auch  hier  nicht  mitgeteilt  Der  Tochter 
wohlhabender  Landleute,  die  von  ihrem  Verführer  geschwängert 
worden  war,  gelang  es,  ihre  Schwangerschaft  zu  verheimlichen,  ihrer 
Mutter  aber  gestand  sie  ihren  Fehltritt  ein.  Bei  Beginn 
der  Wehen  schloß  sie  sich  in  ein  Zimmer  ein,  wo  ihr  ihre  Mutter 
Beistand  leistete.  Die  Geburt  war  schon  weit  fortgeschritten,  der 
Kopf  des  Kindes  ragte  bereits  zum  Teil  hervor,  als  das  Mädchen, 
einen  Augenblick  der  Unaufmerksamkeit  ihrer  Mutter  be- 
nützend, einen  großen  Schlüssel  ergriff,  der  sich  im  Bereich  ihrer 
Hände  befand,  und  damit  wiederholt  auf  den  Kopf  des  Kindes  los- 
schlug. Das  Mädchen  erklärte,  als  es  später  zur  Verantwortung  ge- 
zogen wurde,  es  habe  in  dem  Glauben  gehandelt,  auf  diese  Weise 
bewirken  zu  können,  daß  das  Kind  wieder  in  den  Mutterleib  zurück- 
weiche und  die  Geburt  aufgehalten  werde. 

Ich  bin  mir  der  Einwendungen  sehr  wohl  bewußt,  die  gegen  die 
angeführten  Fälle  vorgebracht  werden  können.  Sie  beweisen  nicht 
allzuviel,  aber  sie  berechtigen  doch  jedenfalls  dazu,  Widerspruch  zu 
erheben  gegen  den  Satz:  „In  allen  Fällen,  in  welchen  ein  Kind  bei 
der  Geburt  getötet  wurde,  hat  die  Mutter  eher  die  Schwangerschaft 
geleugnet,  hat  keine  Vorbereitungen  für  das  Kind  getroffen"  u.  s.  f. 
Sie  zeigen  auch,  daß  nicht  in  allen  Fällen  der  Beschluß,  das  Kind  zu 
töten,  schon  lange  vor  der  Geburt  gefaßt  wird.  Ich  möchte  auch 
nicht  bezweifeln,  daß  den  wenigen  vorstehenden  Fällen  noch  so  manche 
weitere  mit  ähnlicher,  nur  vielleicht  noch  praegnanterer  Sachlage 
angereiht  werden  könnten,  und  dazu  anzuregen  ist  mit  ein  Grund  für 
die  Veröffentlichung  dieser  Zeilen2). 

Doch  es  müßte  eine  lange  Keihe  von  Einzelbeobachtungen  vor- 
liegen, damit  man  uns  nicht  doch  entgegnen  könnte:  Solche  Aus- 
nahmen bestätigen  nur  die  Regel.  Worauf  gründet  sich  aber  diese 
Regel,  worin  bestehen  die  Stützen  der  Behauptung,  der  Tötungs- 
entschluß werde  immer  oder  doch  von  seltenen  Ausnahmen  abgesehen 
lange  vor  der  Geburt  gefaßt?  Groß  führt  dreierlei  an:  Die  Mutter, 
die  ihr  Kind  bei  der  Geburt  tötet,  leugnet  ihre  Schwangerschaft,-  sie 
trifft  keine  Vorbereitungen  für  das  zu  erwartende  Kind;  sie  entbindet 
im  Geheimen  und  ruft  keinen  Beistand  herbei.     Es   sei   sofort   ein- 


1)  De  la  psychicitö  de  la  femmo  pendant  Paccouchement  (Etade  de  respon- 
sabiJitQ  Bordeaux  1900,  S.  33. 

2)  Verf.  erklärt  sich  auch  gerne  bereit,  einzelne  Beobachtungen  und  Falle, 
für  deren  Mitteilung  er  den  Einsendern  zu  Dank  verpflichtet  wäre,  entgegen 
zu  nehmen,  um  sie  gelegentlich  zu  veröffeuthchen. 


über  Kindesmord. 


229 


geränint,  daß  diese  Umstände  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  vorliegen,  ja 
es  mag  dieses  Verhalten  der  Schwangeren  die  Begel  genannt  werden. 
Aber  es  beweist  nicht,  daß  der  Tötungsentschluß  schon  lange  vor  der 
Geburt  gefaßt  war.  Das  Verhalten,  das  so  belastend  für  die 
Schwangere  sein  soll,  wird  auch  in  Fällen  beobachtet,  in  denen  sodann 
das  neugeborene  Kind  nicht  getötet  wird  und  nichts  dafür  spricht, 
daß  nur  etwa  ein  äußeres  Hindernis  die  Ausführung  des  gleichwohl 
vorhandenen  Tötungsentschlusses  verhindert  hätte.  Vor  allem  aber 
ergibt  die  Betrachtung  der  persönlichen  Verhältnisse  der  Schwangeren, 
die  zu  Kindesmörderinnen  werden,  eine  Reihe  von  Gründen,  die  das 
bezeichnete  Verhalten  völlig  erklären,  ja  die  dazu  geradezu  nötigen. 
Aus  der  österreichischen  amtlichen  Statistik  ergibt  sich  folgen- 
des Bild*): 


Familien- 
stand 


Schul- 
bildung 


Vermö- 

eensrer- 

hältnine 


Beruf 


Jahr 


iVerur- 
teUte 


ja 
*-  II 


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S  h  * 


Landwirtachaft 


Industrie,  Handel 
und  Gewerbe 


9 

MM 


CD 


I      h 


1892 
1893 
1894 
1895 
1896 
1897 
1898 
1899 
1900 
1901 
1902 
1903 


Saauneo 
1891/190B 


85  > 

.74 

6 

5 

44 

82 

3 

;  1 

1 

32  1; 

1 

41 

80 

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5 

35 

76 

4   4 

1 

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47 

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6 

6 

89 

li  89 

6   4 

25  '  1 

2 

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95 

80 

7 

8 

44 

1  89 

6 

4 

1  43 

6  1  38 

64 

57 

3 

4 

26 

5 

56 

8 

2 

11  i 

4 

37 

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76 

3 

4 

39 

4 

78 

5 

i  4 

20  11 

1  il  35| 

79 

1  65 

6  8 

33 

5 

68 

11 

!  6 

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34 

76 

66 

3  7 

30 

2  1  69 

7  1  3 

18  , 

3 

26 

62 

52  8  7 

30 

5.!  58 

4i  8 

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2 

17 

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6 

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81 

66  ,  3  12 

34 

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1  7 

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10 

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55 

43 

5 

7 

23 

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47 

8 

10 

16  ' 

1 

4  ' 

'  7 

5 
15 
16 
16 
12 
17 
16 
11 


794 


54 


81 


411  129  11855'  74 
440 


59 


264 


35  Ü376  108 


325 


39 


iof  lODVerorteiltei 
•DtfaUen:       i 


85.4  .5.8 


8.1 


44 


47 


!    f 


02 


J.9 


6.: 


28. 


34.9 


3.7  l!  40 


18 


1)  Zur  Ergänzung  vergl.  hiezu  und  überhaupt  zu  den  statistischen  Bemer- 
kungen Hoegel ,  Die  Straffälligkeit  des  Weibes,  Groß'Archiv  5,  231  ff.,  bes- 
262  ff.  Bonger,  Criminalit6  et  conditions  6conomiques  (Amsterdam  1905)  bringt 
auch  BtatiBtische  Daten  (699  ff.),  doch  sind  sie  recht  wähl-  und  kritiklos  aus 
allen  möglichen  Quellen  zusammengetragen,  manchmal  fehlt  selbst  die  Angabe 
der  Quellen. 


230  X.  Gleibpach 

Der  Kindesmord  wird  tiberwiegend  von  Ledigen  begangen;  die 
Täterinnen  befinden  sich  fast  ausnahmslos  in  wirtschaftlich  abhängiger 
Stellung,  sind  vermögenslos  und  haben  keine  oder  nur  Volksschul- 
bildung genossen.  In  der  Landwirtschaft  Bedienstete  und  namentlich 
Dienstleute  im  engeren  Sinn  des  Wortes  sind  stark  am  Kindesmord 
beteiligt. 

Die  Schwangere,  die  nicht  verheiratet  ist,  kein  Vermögen  besitzt 
und  sich  in  dienender  Stellung  befindet,  muß  offenbar  danach  trachten, 
ihren  Zustand  so  lange  als  nur  möglich  zu  verheimlichen,  damit  sie 
sich  in  ihrer  Stellung  behaupten  kann  und  ihre  einzige  Einnahms- 
quelle nicht  gerade  dann  versiegen  sieht,  wann  sie  Geld  am  dringendsten 
bedarf.  Ganz  in  derselben  Richtung  wirken  das  Schamgefühl,  die 
Angst  vor  Spott  und  Hohn  und  beide  Momente  machen  auch  oft 
Vorbereitungen  für  das  Kind  unmöglich.  Man  wende  nicht  ein,  die 
Schwangere  müsse  sich  vor  Augen  halten,  daß  ihr  Zustand  kein 
ewiges  Geheimnis  bleiben  könne,  wenn  anders  sie  nicht  doch  ihr  Kind 
beseitigen  will!  Gewiß  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Menschen 
sucht  alles  Unangenehme^  was  einen  Aufschub  verträgt,  so  lange  als 
möglich  hinauszuschieben,  auch  wenn  Unlustgefühle  von  ganz  kurzer 
Dauer  zu  erwarten  sind.  Die  außer  der  Ehe  Geschwängerte  aber 
sieht  oft  einem  lange  dauernden  Zustand  psychischer  Qualen  entgegen. 
Ist  es  da  nicht  höchst  natürlich,  daß  sie  den  Beginn  dieses  Zustandes 
so  lange  als  möglich  hinauszuschieben  trachtet?  Und  wie  leicht  kann 
sie  dann  bei  dem  Mangel  exakter  zeitlicher  Bestimmtheit  der  bevor- 
stehenden Geburt  1)  von  dieser  überrascht  werden,  so  daß  es  unmög- 
lich wird,  rechtzeitig  auszuführen,  was  geplant  war:  das  Aufsuchen 
einer  Gebäranstalt  oder  einer  Hebamme  oder  auch  die  Eröffnung  des 
Geheimnisses  gegenüber  einer  Freundin  oder  der  Dienstgeberin,  ein 
Schritt,  der  vielleicht  auch  gerade  deshalb  so  lange  hinausgeschoben 
wurde,  weil  die  Schwangere  hoffte,  dann  eher  Mitleid  zu  erwecken 
und  nicht  zum  Verlassen  ihres  Postens  gezwungen  zu  werden.  Er- 
eignet es  sich  doch  auch  unter  Umständen,  die  jeden  Verdacht  einer 
beabsichtigten  Kindestötung  völlig  ausschließen,  daß  Frauen  auf  der 
Eisenbahnfahrt,  auf  der  Straße,  in  der  Kirche  oder  in  anderen  unge- 
eigneten Situationen  vom   Beginn   des  Geburtsvorganges   überrascht 


1)  Daß  die  Frauen  nicht  im  Stande  sind,  genaue  Angaben  über  den  Be- 
ginn der  Sciiwangerschaft  zu  machen,  darf  wohl  als  die  Regel  betrachtet  werden. 
Hecker  fand  unter  2000  Frauen  nur  148,  die  solche  Angaben  zu  machen  wußten. 
(Nach  Fabrice  a.  a.  0.  283).  Dazu  kommen  dann  noch  die  vielfachen  Schwan- 
kungen der  Dauer  der  Schwangerschaft. 


über  Kindesmord.  231 

werden  0.  Was  aber  die  Schwangere  dann,  wenn  es  einmal  so  weit 
gekommen  ist,  tat  oder  unterläßt,  das  kann  nicht  mehr  als  eine  im 
normalen  Zustand  gesetzte  Handlung  betrachtet  werden  und  darum 
wird  auch  das  Entbinden  im  Geheimen  und  das  Unterlassen  der 
Herbeirufung  von  Beistand  nicht  als  beweisend  für  einen  vorgefaßten 
Tötungsentschluß  angesehen  werden  dürfen.  Dazu  kommt,  daß 
namentlich  Erstgebärende  die  An&ngswehen  verkennen  können  und 
bei  ihrem  Auftreten  einem  vermeintlichen  Stuhldrang  folgend,  den 
Abort  aufsuchen,  jenen  Ort,  an  dem  sich  ja  am  häufigsten  Ent- 
bindungen „im  Geheimen"  und  ,,ohne  Beistand"  ereignen.  Das  Ver- 
kennen der  Wehen,  das  Aufsuchen  des  Abortes,  um  den  Stuhl  zu 
entleeren,  wird  nicht  selten  von  des  Kindesmordes  Angeklagten  als 
Verteidigung  bloß  vorgeschützt  Da  aber  solche  Fälle  von  Geburten 
in  den  Abort  oder  einen  Eimer  festgestellt  sind,  wobei  es  sich  um 
verheiratete  Frauen  handelte  und  jeder  Verdacht  einer  Tötungsabsicht 
ausgeschlossen  war  2),  so  geht  es  nicht  an,  jede  dahingehende  Angabe 
einer  der  KindestStung  Verdächtigen  als  leere  Ausrede  zu  betrachten. 
Alle  von  Groß  angeführten  Umstände  stellen  sich  demnach  als 
Momente  dar,  die  nur  mit  größter  Vorsicht  als  Indizien  für  einen 
vorgefaßten  Tötungsentschluß  verwertet  werden  dürfen,  sehr  oft  trügen 
können  und  für  sich  noch  nichts  beweisen.  Mit  B^cht  kann  aber  nun 
die  Frage  aufgeworfen  werden,  wie  sich  wohl  die  Schwangere  die 
Zukunft  des  Kindes  denke,  wenn  sie  weder  irgend  welche  Vor- 
bereitungen treffe,  noch  entschlossen  sei,  das  Kind '  zu  töten.  Einige 
Möglichkeiten,  die  hier  gegeben  sind,  finden  sich  schon  oben  ange- 
deutet Weiter  aber  kann  es  auch  sein,  daß  die  Schwangere,  die 
schließlich  zur  Kindesmörderin  wird,  zu  einem  Entschluß,  wie  sie 
gebären  und  was  sie  mit  dem  Kinde  anfangen  soll,  vor  der  Geburt 
überhaupt  nicht  gelangt.  Sind  doch  oft  alle  Umstände  danach  an- 
getan, diesen  Entschluß  nach  jeder  Richtung  hin  ungeheuer  zu  er- 
schweren und  das  Hinausschieben  der  Entscheidung  zu  begünstigen. 
Für  die  erste  Zeit  kommt  da  schon  die  Ungewißheit  in  Betracht,  ob 
die  vorhandenen  Anzeichen  der  Schwangerschaft  nicht  etwa  täuschen, 
eine  Ungewißheit,  die  nur  allmählich  in  Gewißheit  übergeht  Sofort 
tritt  auch  das  so  verderbliche  als  verbreitete  Axiom  in  Wirksamkeit: 
„Nur  sich  nichts  merken  lassen".  Wird  nun  einmal  der  Weg  der 
Geheimhaltung  beschritten,  so  liegen  auch  darin  mehrfache  Hemm- 

1)  Belege  dafür  in  reicher  Fülle  in  der  gerichtl.-medizinischen  Literatur 
vgl.  nur  Casper-Limani  Handbuch  der  gerichtl.  Medizin,  8.  Aufl.  2,  lOOS, 
1014 ff.,  1055 ff.;  Fabrice  294  und  dort  Angef. 

2)  Vgl.  die  in  der  vorigen  Anm.  Angef. 


232  X.  Gleispach 

nisse  für  einen  Entschluß.  Die  Schwangere  ist  völlig  auf  sich  selbst 
angewiesen,  kann  sich  mit  Niemandem  beraten  und  besprechen;  ver- 
schiedene Vorstellungen  tauchen  auf  und  werden  je  nach  der  Charakter- 
anläge,  Erfahrungen,  Gehörtem  und  Gelesenem  und  äußeren  um- 
ständen mit  verschiedener  Intensität  festgehalten  und  ausgestaltet.  Die 
Eine  sucht  sich  mit  dem  Gedanken  des  Selbstmordes  vertraut  zu 
machen  *),  die  Andere  hofft,  sie  werde  ein  totes  Kind  zur  Welt  bringen^), 
eine  Dritte  glaubt  unter  dem  Eindruck  körperlicher  Beschwerden  und 
Schmerzen,  die  sich  mit  großer  Stärke  auch  schon  lange  vor  der 
Geburt  einstellen  können,  sie  werde  noch  vor  dem  Ende  der  Schwanger- 
schaft ihren  Leiden  erliegen  oder  doch  die  Geburt  des  Kindes  nicht 
überleben  3).  Todesahnungen  sind  ja  bekanntlich  besonders  bei  Erst^ 
gebärenden  recht  häufig  und  sie  können  unter  dem  Einfluß  be- 
vorstehender Not  oder  Schande  unbewußt  derart  favorisiert  werden, 
daß  sich  die  Schwangere  bestimmter  Entschließungen  über  die  Zukunft 
enthoben  glaubt.  Nun  mag  auch  die  Vorstellung  auftauchen,  das  zu 
erwartende  Kind  zu  beseitigen;  sie  wird  vielleicht  das  erstemal  sofort 
verworfen,  kehrt  aber  wieder,  steht  bald  mehr  im  Vordergrund,  bald 
mehr  im  Hintergrund,  immer  aber  doch  nur  neben  den  anderen, 
ohne  jemals  während  der  Schwangerschaft  zur  Stellung  über  allen 
anderen  zu  gelangen.  Wozu  auch  einen  Entschluß  fassen,  der,  wie 
er  auch  lauten  mag,  doch  nur  Unheil  bedeutet  und  für  den  es  noch 
immer  ein  Morgen  gibt,  wenn  er  heute  nicht  gefaßt  wird?  Wenn 
das  wie  der  Tod  gefürchtete  Ereignis  eintritt,  wird  ja  gewiß  irgend 
etwas  geschehen  müssen,  aber  vorher  besteht  kein  Zwang  zum  Ent- 
schluß. Die  Offenbarung  des  Geheimnisses  mit  Schande,  Spott  und 
Hohn,  die  wirtschaftliche  Not,  teilweiser  oder  gänzlicher  Verbrauch 
des  geringen  Verdienstes  durch  die  Erhaltung  des  Kindes  und  Stellungs- 
losigkeit,  Tötung  des  Kindes  —  alles  ist  entsetzlich  —  also  nur  nicht 
daran  denken!  Zunächst  freilich  scheint  es,  als  ob  alle  Vorstellungen 
und  Gedanken  eines  weiblichen  Wesens  im  Zustande  der  Schwanger- 
schaft so  sehr  der  Zukunft  zugewendet  sein  müssen,  wie  in  keiner 
anderen  Lebensepoche.    Diese  Annahme  ist  auch  in  der  Natur   des 


1)  Bekanntlich  ist  der  Prozentsatz  der  Schwangeren  unter  den  geschlechts- 
reif en  Selbstmörderinnen  sehr  hoch;  so  fand  z.  B.  Pilcz  nahezu  20%  (Zur  Lehre 
vom  Selbstmord,  Jahrbücher  für  Psychiatrie  26,  Wagner-Jubiläumsheft). 

2)  In  Österreich  sind  für  den  Duchschnitt  der  Jahre  1S92— 1901  8,9<>/o  der 
außerehelichen  Geburten  Totgeburten  (2.8  %  von  allen  Geburten).  Vgl.  Statisti- 
sches Handbuch  22,  37  und  56. 

3)  Vgl.  die  vielfach  übereinstimmenden  Ausführungen  bei  Roustan, 
a.  a.  0.  32  fg. 


über  Kindesmord.  233 

Zustandes  begründet,  zugleich  aber  doch  auch  von  der  Yoranssetzung 
getragen,  daß  die  auf  die  Zukunft  sich  beziehenden  Vorstellungen 
wenigstens  überwiegend  lustbetont  sind.  Diese  Voraussetzung  trifft 
aber  selbst  bei  verheirateten  Frauen,  denen  wirtschaftliche  Sorgen  ganz 
unbekannt  sind  und  die  sich  von  Liebe  und  Fürsorge  umgeben  fühlen, 
nicht  immer  zu.  Jeder  Gedanke  an  das  zu  erwartende  Eind^  jede 
Vorbereitung  für  dieses  ist  untrennbar  mit  der  Vorstellung  des  bevor- 
stehenden Geburtsvorganges  verknüpft.  Und  dieser  kann  namentlich 
bei  Erstgebärenden,  aber  auch  bei  Frauen,  die  sehr  schwere  Geburten 
bereits  zu  überstehen  hatten,  derartig  Furcht  und  Entsetzen  erregen, 
daß  sie  alles  zurückzudrängen  trachten,  was  sie  an  ihren  Zustand 
erinnert.  Dieses  Bestreben  vermag  auf  das  ganze  Vorstellungsleben 
Einfluß  zu  gewinnen  und  den  natürlichen  Trieb,  selbst  für  das  Kind 
Vorbereitungen  zu  treffen  oder  sich  doch  daran  zu  beteiligen,  völlig 
zurückzudrängen.  Bei  solchen  Frauen  können  die  mütterlichen  In- 
stinkte gleichwohl  stark  entwickelt  sein,  sie  beklagen  es,  die  Vorfreuden 
der  Mutterschaft  nicht  genießen  zu  können  gleich  anderen  Frauen, 
die  weniger  ängstlich  oder  schmerzempfindlich  sind,  sie  bedauern  ihre 
Umgebung,  der  sie  Zwang  auferlegen;  aber  sie  wollen  auch  seitens 
dieser  in  keiner  Weise  an  ihren  Zustand  gemahnt  werden,  von  Kind, 
Wiege,  Wäsche  oder  Amme  nichts  hören  und  sehen,  kurz  —  sie 
wollen  für  nicht  schwanger  gelten.  Allerdings  besteht  für  Frauen  in 
der  jetzt  angenommenen  Lage  keine  Notwendigkeit,  für  die  Zukunft 
selbst  vorzusorgen,  weil  sie  wissen,  daß  dies  von  Anderen  besorgt 
wird.  Wenn  aber  bei  diesen  Frauen  die  Angst  vor  der  Geburt  trotz 
beruhigenden  Zuspruches,  trotzdem  sie  auch  für  diesen  Vorgang  liebe- 
vollen Beistand  und  jede  mögliche  Erleichterung  voraussehen  können, 
dennoch  den  festen  Entschluß  zu  erzeugen  vermag,  nicht  an  die  Zu- 
kunft zu  denken,  wenn  sie  vermag,  die  mütterlichen  Instinkte  zum 
Schweigen  zu  bringen  und  alle  die  Zukunftsbilder  zu  unterdrücken, 
die  hier  nur  Freude  und  Glück  spiegeln  würden,  dann  vermag  sie 
auch  denselben  Erfolg  bei  der  verlassenen,  vermögenslosen,  entehrten 
Schwangeren  hervorzurufen,  bei  der  sie  vermöge  der  psychischen 
Isolierung  noch  stärker  auftritt  und  der  alle  Zukunftsbilder  nur 
von  Not  und  Elend  erzählen  würden. 

Ich  meine  also :  in  einer  Gruppe  von  Fällen  trifft  die  Schwangere 
sinnlich  wahrnehmbare  Vorbereitungen  für  das  Kind  und  die  Annahme 
eines  vorgefaßten  Tötungsentschlusses  ist  dadurch  widerlegt  In  einer 
zweiten  Gruppe  besteht  der  Entschluß,  im  letzten  Moment  noch  für 
eine  Geburt  unter  ungefährlichen  Umständen  und  die  Zukunft  des 
Kindes  vorzusorgen,  vorhergehende  Vorbereitungen  werdeir  durch  die 


234  X.  Gleispach 

aus  anderen  Gründen  notwendige  Geheimhaltung  der  Schwanger- 
schaft unmöglich  gemacht.  In  einer  dritten  Gruppe  endlich  kommt 
vor  dem  Beginne  der  Wehen  überhaupt  keinerlei  Entschließung  zu- 
stande, die  Schwangere  geht  jedem  Entschluß  und  allen  Gedanken  über 
die  Zukunft  aus  dem  Wege.  Die  Vorstellung,  das  Kind  zu  töten, 
taucht  hier  auf,  kehrt  vielleicht  öfter  wieder,  aber  vermag  doch  nicht, 
alle  anderen  zu  unterdrücken  und  gelangt  nicht  zur  Herrschaft.  In 
allen  diesen  Fällen  wird  der  Tötungsentschluß  nicht  vor  der  Geburt 
gefaßt,  vielmehr  kommt  er  erst  unter  der  Einwirkung  des  Geburts- 
vorganges zustande. 

Daß  solche  Fälle  wirklich  vorkommen,  dürfte  bereits  genügend 
dargetan  sein,  —  von  der  Frage  ganz  abgesehen,  wie  häufig  sie  sich 
ereignen  mögen.  Auf  die  dogmatische  Literatur  des  Strafrechts  ein- 
zugehen, unterlasse  ich  absichtlich,  denn  dem,  was  dort  zu  holen 
wäre,  —  ob  es  nun  pro  oder  contra  spricht  —  kann  immer  und  viel- 
fach mit  Recht  entgegengehalten  werden,  daß  es  vorgefaßte  Meinung, 
„Konstruktion^,  nicht  aber  das  Ergebnis  der  Bekanntschaft  mit  den 
Tatsachen  des  realen  Lebens  und  sachgemäßer  Schlußfolgerungen  ist. 
Nur  aus  der  neuesten  Behandlang  der  Kindestötung  möchte  ich  den 
Ausspruch  Liszt's  anführen:  „Völlig  willkürlich  aber  ist  die  Behaup- 
tung, daß  in  jedem  Fall  der  Kindestötung  Vorbedacht  vorliegt  und 
die  Gemütserregung  fehlt;  die  Erfahrung  lehrt,  daß  der  Tötungsent- 
Schluß  ohne  jede  Überlegung  im  Augenblick  der  Entbindung  selbst 
gefaßt  werden  kann  und  oft  genug  gefaßt  wird."0  Ich  verweise 
ferner  auf  die  Strafgesetze  von  Aargau  (109),  Schaffhausen  (151)2) 
Luzern  (160),  Obwalden  (76)  und  Dänemark  (192),  die  alle  im' 
Strafsatz  unterscheiden  je  nach  dem  Umstand,  ob  der  Tötungsent- 
schluß vor  dem  Eintritt  der  Entbindung  oder  erst  während  oder  nach 
der  Geburt  gefaßt  wurde,  während  andere  (z.  B.  Thurgau  65, 
Graubünden  102,  Glarus  95)  den  Richter  anweisen,  den  ersteren 
Umstand  als  erschwerend  bei  der  Strafzumessung  zu  berücksichtigen. 
Dürfen  wir  dem  Gesetzgeber  zumuten,  daß  er  besondere  Normen  für 
einen  Fall  aufstellt,  der  sich  tatsächlich  niemals  ereignet?  Es  muß 
zugegeben  werden,  daß  derlei  vorkommt.  Da  wir  aber  wissen,  daß 
solche  Fälle,  wie  sie  hier  der  Gesetzgeber  im  Auge  hatte,  der  Welt 
der   Tatsachen   angehören,    kommt   dem    Bestand    der  angeführten 

1)  Vergl.  Darstellung  5,  lOS. 

2)  „Eine  Mutter  ....  soll  wegen  Kindesmords,  wenn  sie  vor  dem  Ein- 
tritte der  Entbindung  den  Entschluß  zur  Tötung  ihres  Kindes  gefaßt  und  in 
Folge  dieses  vorbedachten  Entschlusses  die  Tat  verübt  hat,  mit  Zuchtbaus  nicht 
unter  sechs  Jahren,  außerdem  aber  mit  Zuchthaus  von  drei  bis  zu  fünfzehn  Jahren 
bestraft  werden.** 


über  Rindesmord.  235 

Gesetze  doch  aacb  einige  Bedeutnng  zu.  Aus  all  dem,  was  für 
das  Vorkommen  dieser  Fälle  angeführt  wurde,  ergibt  sich  auch  so 
viel;  daß  sie  nicht  allzu  selten  sein  dürften.  Was  ihr  zahlenmäßiges 
Verhältnis  zu  den  gegenteilig  gelagerten  Fällen  anlangt,  wird  man 
hente  über  bloße  Vermutungen  nicht  hinauskommen.  Doch  fällt 
dieses  Verhältnis  hier  nicht  ins  Gewicht.  Ist  der  Entschluß,  das  Kind 
zu  töten,  frühestens  erst  mit  dem  Beginn  des  Geburtsvorganges  gefaßt 
worden,  so  erscheint  die  milde  Behandlung  der  Mörderin  auch  von 
dem  Standpunkt  aus  völlig  gerechtfertigt,  den  Groß  einnimmt  und 
der  oben  durch  die  Sätze  2  und  3  bezeichnet  wurde.  Dagegen 
mangelt  die  Begründung  von  diesem  Standpunkt  aus,  sobald  der  Tötungs- 
entscbluß  früher  gefaßt  wurde  und  es  muß  eine  Lösung  gefunden 
werden,  ob    nun  diese  Fälle  häufig  oder  selten  sein  mögen. 

2.  Es  wird  also  nunmehr  dieser  Standpunkt  zu  prüfen  sein.  Da- 
bei sei  zunächst  Satz  2  hingenommen,  wie  ihn  Groß  aufstellt,  und 
nur  Satz  3  zum  Gegenstand  der  Untersuchung  gemacht  Da  ergibt 
sich  also :  Wenn  der  Grund  der  milden  Behandlung  der  Eindestötung 
im  psychopathisehen  Zustand  der  Gebärenden  gelegen  ist,  so  hat 
diese  Behandlung  nur  dann  einzutreten  (oder  ist  nur  dann  gerecht- 
fertigt), wenn  der  Tötungsentschluß  durch  diesen  Zustand  kausiert 
war.  Es  ist  nun  ganz  derselbe  Gedanke,  nur  mit  anderen  Worten 
und  allgemein  ausgedrückt,  wenn  ich  sage:  Wenn  ein  bestimmter 
abnormaler  Zustand  den  Grund  einer  Privilegierung  abgeben  soll,  so 
hat  die  Privilegierung  nur  dann  einzutreten,  wenn  dieser  Zustand  im 
Äugenblick  des  Entschlusses  vorhanden  war,  nicht  aber  dann,  wenn  er 
erst  bei  der  Ausführung  eintrat.  Es  erhebt  sich  demnach  die  Frage:  Ist 
für  die  Beurteilung  und  demgemäß  für  die  zweckentsprechende  Be- 
handlung des  Täters  maßgebend  sein  Zustand  zurzeit  des  verbreche- 
rischen Willensentschlusses  oder  zurzeit  der  Ausführung  des  Ent- 
schlusses oder  haben  beide  Zeitpunkte  Anspruch  auf  Berücksichtigung? 
Daß  die  Frage  so  verallgemeinert  werden  darf,  wird  nicht  bezweifelt 
werden  können  und  offenbar  liegt  in  ihr  der  Punkt  der  ganzen  Kon- 
troverse, der  ihr  eine  über  den  Fall  des  Kindesn^ordes  hinausreichende 
Bedeutung  und  allgemeines  Interesse  gibt.  Es  soll  hier  nicht  ver- 
sucht werden,  die  Frage  in  ihrer  Allgemeinheit  zu  lösen,  nur  einige 
Bemerkungen  seien  vorausgeschickt,  bevor  wir  uns  wieder  dem  be- 
sonderen Fall  der  Kindestötung  zuwenden. 

Die  geltende  Gesetzgebung  schein^  von  einigen  wenigen  Sonder- 
bestimmungen  abgesehen  0}   den  Zustand   des  Täters  bei   der  Aus- 

1)  Am  nächsten  liegt  es,  an  die  verschiedenen  Arten  der  Unterscheidung  von 
Mord  und  Totschlag  zu  deniien.    Vgl.  darüber  jetzt  nur  v.  Liszt,  a.  a.  0.    Ge- 


236  X.  Gleispach 

führuDg  des  Verbrechens  für  maßgebend  zu  halten.  Darauf  deutet 
die  Ausdrucksweise  der  Gesetze  hin,  die  zwischen  Entschluß  und  Aus- 
führung in  der  Regel  nicht  unterscheidet;  es  wird  von  der  Begehung 
eines  Verbrechens  in  einem  bestimmten  Zustand,  vom  Täter  schlecht- 
weg oder  geradezu  vom  ausführenden  Täter  gesprochen.  Doch  kann 
darauf  nicht  viel  Gewicht  gelegt  werden.  In  der  Eegel  liegen  doch 
Entschluß  und  Ausführung  nahe  beieinander,  und  darauf  wird  sich 
die  Annahme  gründen,  daß  der  Zustand  des  Täters  in  beiden  Zeit- 
punkten kein  wesentlich  verschiedener  sei.  Treten  aber  solche  unter- 
schiede auf,  so  darf  aus  dem  Umstand,  daß  die  Gesetze  nicht  unter- 
scheiden, auch  noch  nicht  sofort  der  Schluß  gezogen  werden,  daß  sie 
nur  den  Zustand  bei  der  Ausführung  für  maßgebend  halten.  Denn  sehr 
oft  werden  die  Umstände  hier  zu  der  Annahme  nötigen,  daß  die  Tat 
nicht  auf  Grund  des  ersten  Entschlusses  ausgeführt  wurde,  sondern 
vielmehr  nach  der  eingetretenen  Veränderung  und  kurz  oder  unmittel- 
bar vor  der  Ausführung  ein  zweiter  Entschluß  zustande  kam,  sodaß 
die  Berücksichtigung  des  Zustandes  im  Zeitpunkt  der  Ausführung  in 
gleicher  Weise  auch  dem  gilt,  in  dem  der  entscheidende  Entschluß 
gefaßt  wurde. 

Die   möglichen   Veränderungen  lassen   sich   etwa  in  folgendes 

Schema  bringen: 

Zustand  des  Täters 
im  Zeitpunkt  des  Entschlusses  zur  Zeit  der  Ausführung 

1)  Dem  Entschluß  günstig  (strafmildernd)  normal 

2)  „  y,  y,  „  der  Ausführ,  ungünstig  (strafschärfend) 
S)     „            yy       ungünstig  normal 

4)  n  „  y,  der  Ausführung  günstig 

5)  normal  „  „  günstig 

6)  normal  „  „  ungünstig 

Wenn  nun  eine  solche  Veränderung  eintritt,  die  dem  Zustande- 
kommen des  Verbrechens  ungünstig  ist,  wird  wenigstens  in  der  Kegel 
die  Bildung  eines  neuen  zweiten  Entschlusses  anzunehmen  sein,  also 
in  den  Fällen  1,  2  und  6.  Die  Kindestötung  ist  jedoch  gerade  den 
umgekehrt  gelagerten  Fällen  zuzuzählen  (5).  Trotzdem  ist  es  auch 
hier  sehr  wohl  möglich,  daß  ungeachtet  eines  etwa  schon  zu  Beginn 
der  Schwangerschaft  gefaßten  Tötungsentschlusses  unmittelbar  vor 
der  Tat   ein   neuer  Entschluß  gefaßt  wird.*)    Diese  Fälle  scheiden 

rade  diese  Darstellung  aber  zeigt  deutlich,  wie  die  Gesetzgebung  auch  in  diesem 
besonderen  Fall  in  unserer  Frage  herumschwankte,  ohne  zu  grundsätzlicher  Ent- 
scheidung zu  gelangen  und  auch  in  der  einschlägigen  Literatur  fehlt  es  meist 
schon  an  der  richtigen  Fragestellung. 

1)  Die  oben  wörtlich  angeführte  Bestimmung  von  Schaff  hausen  hat 
offenbar  auf  diese  Möglichkeit  Rücksicht  genommen,  denn  sie  begnügt  sich  nicht 


über  Kindesmord.  237 

hier  aus  der  Betrachtung  aus,  da  der  erste  Entschluß  nicht  als  kausal 
betrachtet  werden  kann.  Bleiben  also  nur  jene  Fälle,  in  denen  die 
Schwangere  vor  dem  Beginn  der  Geburt  den  Tötungsentschluß  faßt 
und  auf  Grund  dieses  Entschlusses  sodann  die  Tötung  ausführt^  ohne 
einen  neuen  Entschluß  zu  fassen.  Selbst  hier  ist  es  nicht  gerecht- 
fertigt, dem  physischen  Zustand  zurzeit  der  Ausführung  jede  Be- 
achtung zu  versagen.  Zwar  kommt  ihm  allerdings  keinerlei  Einfluß 
auf  die  Bildung  des  verbrecherischen  Entschlusses  zu,  aber  dieser 
Entschluß  ist  nicht  das  einzig  und  allein  maßgebende. 

Die  Aufgabe  des  Strafrechtes  ist  es,  Rechtsgüterverletzungen  hint- 
anzuhalten, die  auf  Willensentschlüssen  beruhen,  aber  erst  durch  die 
Betätigung  des  Willens  eintreten.  Wird  die  Betätigung  verhindert,  so 
ist  die  Aufgabe  gelöst.  Gleichwohl  sucht  das  Strafrecht  in  erster 
Reihe  schon  das  Zustandekommen  verbrecherischer  Entschlüsse  zu 
hindern,  oder  es  greift  noch  weiter  zurück,  es  bekämpft  die  zu  ver- 
hütenden Erscheinungen  in  ihren  Ursachen,  aber  nur  darum,  weil 
es  die  Wirkung  verhüten  will.  Da  nun  die  Kausalität  des  Ent- 
schlusses nur  so  viel  bedeutet,  daß  er  notwendige  Bedingung  für  die 
Rechtsgüterverletzung  ist,  nicht  aber,  daß  diese  eintreten  müsse,  sobald 
die  Bedingung  geschaffen  ist,  so  bleibt  der  Ausführung  des  Ent- 
schlusses eine  doppelte  Bedeutung  gewahrt:  a)  wenn  es  zum  ver- 
brecherischen Entschluß  gekommen  ist,  so  gilt  es  nun,  die  Ausführung 
zu  verhindern*);  b)  für  die  Beurteilung  des  Charakters  und  der  Ge- 
fährlichkeit des  Täters  ist  auch  der  psychische  Zustand  bei  der  Aus- 
führung maßgebend,  weil  —  sobald  der  Entschluß  gefaßt  ist  —  noch 
die  Frage  auftaucht,  ob  er  auch  ausgeführt  werden  wird.  Die  Er- 
fahrung des  täglichen  Lebens  lehrt,  daß  ungezählte,  auch  mit  Über- 
legung gefaßte  Entschlüsse  ohne  zwingende  äußere  Einwirkungen 
unausgeführt  bleiben.  Wer  Entschlüsse  zu  den  schauerlichsten  Un- 
taten faßt,  sie  aber  nie  ausführt,  etwa  weil  ihm  im  entscheidenden 
Moment  stets  der  Mut  zum  Handeln  fehlt,  ist  ein  recht  harmloses  In- 
dividuum. Wird  der  Entschluß  ausgeführt,  und  zwar  in  einem  Zu- 
stand, der  der  Ausführung  ungünstig  ist,  so  steht  die  Gefährlichkeit 
des  Täters  über  dem  Durchschnittsmaß;    denn  für   dieses   muß   in 

damit,  daß  der  Tötungsentschloß  vor  der  Entbindung  gefaßt  wurde,  sondern 
stellt  noch  ausdrücklich  das  weitere  Erfordernis  auf,  daß  die  Tat  infolge  dieses 
vorbedachten  Entschlusses  verübt  wurde. 

1)  Darum  auch  Straflosigkeit  bei  Rücktritt  vom  Versuch,  eine  Einrichtung, 
bei  deren  Darstellung  sich  viele  unsrer   Lehrbücher  so   eigentümlich   geberden.. 
Da  wird  ein  bedeutsamer  Absatz  gemacht  und  dann  erklärt:  Grundsätzlich  läßt  sich 
das  Dicht  rechtfertigen,  aber  es  erklärt  sich   aus   kriminalpolitischen   Gründen. 
Arme  Kriminalpolitik I 


238  X.  Gleisfaoh 

allen  Eicbtungen  von  normalen  Verhältnissen,  es  muß  also  auch  vom 
normalen  Zustand  des  Täters  im  Zeitpunkt  des  Entschlusses  und  in 
dem  der  Ausführung  ausgegangen  werden.  Ebenso  werden  wir  nicht 
geneigt  sein,  verminderte  Gefährlichkeit  dort  anzunehmen,  wo  der 
Entschluß  zwar  in  einem  sein  Zustandekommen  begünstigendem  Zu- 
stand gefaßt,  dann  aber  trotz  Eintritt  des  normalen  Zustandes  aus- 
geführt wirdJ)  umgekehrt  erscheint  die  Gefährlichkeit  dort  vermindert, 
wo  der  im  normalen  Zustand  gefaßte  Entschluß  in  einem  solchen  Zu- 
stand ausgeführt  wird,  der  die  Ausführung  begünstigt  und  erleichtert. 
Denn  das  Durchschnittsmaß  kann  nur  dort  angenommen  werden,  wo 
die  Hemmungsvorstellungen  weder  ungewöhnlich  starke  Hindemisse 
zu  überwinden  gehabt  hatten,  noch  auch  ungewöhnlich  schwach 
waren.  Im  zweiten  Fall  aber  müßte  es  feststehen,  daß  der  im 
normalen  Zustand  gefaßte  Entschluß  auch  bei  Fortdauer  dieses  Ent- 
schlusses ausgeführt  worden  wäre,  damit  das  Durchschnittsmaß  an- 
genommen werden  dürfte,  weil  nach  einem  im  Straf  recht  unbestritten 
herrschenden  Grundsatz  im  Zweifel  stets  zugunsten  des  Täters  -zu  ent- 
scheiden ist  und  jede  Mitwirksamkeit  des  abnormalen  Zustandes  zu- 
gunsten des  Täters  in  Anschlag  zu  bringen  ist  Diese  Mitwirksamkeit 
wird  sich  vielleicht  nur  sehr  selten  und  schwer  nachweisen  lassen, 
sie  läßt  sich  aber  gewiß  niemals  ausschließen.  Der  Schluß,  wer 
einen  verbrecherischen  Entschluß  gefaßt  und  nach  einer  der  Aus- 
führung günstigen  Veränderung  seines  psychischen  Zustandes  aus- 
geführt hat,  der  hätte  den  Entschluß  auch  ohne  diese  Veränderung 
ausgeführt,  —  dieser  Schluß  trifft  überhaupt  nicht,  am  wenigsten  aber 
bei  Tötungsverbrechen  zu.  Auch  das  lehrt  die  Erfahrung  des  täg- 
lichen Lebens  hundertfach.  Warum  treffen  wir  gerade  bei  Blutver- 
brechen so  häufig  auf  die  Erscheinung,  daß  sich  der  Täter  vor  der 
Tat  erst  Mut  antrinkt?  Freilich  wird  ihn  dieses  Vorgehen  nicht  in 
besserem  Licht  erscheinen  lassen,  hei  der  Schwangeren  aber  tritt  der 
abnorme  der  Ausführung  günstige  Zustand  ganz  unabhängig  von 
ihrem  Willen  ein,  ja  die  Erstgebärende  kann  sich  der  Bedeutung 
dieses  Zustandes  gar  nicht  bewußt  sein,   und  auch  bei  Frauen,   die 


1)  Z.  B.  Eine  Mutter  faßt  wahrend  der  Gebort  den  Tötnngsentscblnß, 
wird  aber  an  der  geplanten  sofortigen  Ausfühning  durch  DazwischenkoniQien 
Dritter  gehindert  Mehrere  Tage  später,  nachdem  ihr  psychischer  Zustand  wieder 
völlig  normal  geworden  ist,  tötet  sie  das  Kind.  Wenn  der  Entschloß  das  allein 
Maßgebende  wäre,  miißte  diese  Mutter  in  gleicher  Weise  privilegiert  werden, 
wie  eine  andere,  die  die  Tötung  auch  während  der  Geburt  ausführt  Grerade  von 
dem  Standpunkt  aus,  der  abnorme  Zustand  bei  der  Gebort  sei  das  Mildernde, 
wird  sich  Niemand  mit  diesem  Ergebnis  befreunden  können. 


über  Kindesmord.  239 

bereits  geboren  haben,  wird  dieses  Bewußtsein  und  selbst  die  Möglich- 
keit einer  richtigen  Vorstellung  regelmäßig  fehlen.  Dazu  kommt,  daß 
die  Geburt  des  Kindes,  dessen  Tod  die  Mutter  beschlossen  hat,  die 
Situation  nach  manchen  Bichtungen  hin  doch  auch  zu  dessen  Gunsten, 
also  zu  Ungunsten  der  Ausführung  verschiebt  Die  leibliche  Gegen- 
wart des  hilflosen  Neugeborenen  z.  B.  birgt  ein  Motiv  zu  seiner 
Schonung  in  sich  i) ;  daß  es  überwunden  wurde,  bringen  wir  offenbar 
zu  Ungunsten  der  Mutter  in  Anschlag,  auch  wenn  der  Tötungsent- 
schluß vor  der  Geburt  gefaßt  wurde.  Es  ist  ebenso  berechtigt,  auf 
dieses  Moment  überhaupt  Rücksicht  zu  nehmen,  als  es  unberechtigt  wäre, 
dabei  auf  den  abnormalen  Zustand  der  Täterin  keine  Bücksicht  zu 
nehmen  und  es  also  voll  in  Bechnung  zu  ziehen.  Denn  wir  können  eben 
nicht  mehr  feststellen,  als  daß  auch  diese  Hemmung  von  der  unter 
dem  Einfluß  der  Geburt  stehenden  Täterin  überwunden  wurde.  Daß 
dasselbe  auch  bei  normalen  Zustand  eingetreten  wäre,  wird  umso  un- 
wahrscheinlicher, als  die  Hemmungen  sich  mehren  und  als  die  Hand- 
lung als  etwas  ungewöhnliches  erscheint.  Wie  schon  oben  bemerkt, 
kann  das  Strafrecht  auf  die  bloße  Möglichkeit  der  Ausführung  keine 
Bücksicht  nehmen.  Aber  der  Abstand  zwischen  Entschluß  und  Aus- 
führung, bloßer  Vorstellung  und  Wirklichkeit  ist  ein  so  großer,  daß 
auch  die  allgemeine  Beurteilung  nützlicher  und  schädlicher  Hand- 
lungen auf  diese  Möglichkeit  nicht  oder  nur  in  sehr  bescheidenem 
Maß  Bücksicht  nimmt  und  dem  Zustand  des  Handelnden  zur  Zeit  der 
Ausführung  des  Entschlusses  große  Bedeutung  beilegt.  Nehmen  wir 
an,  A.  und  B.  beschließen  unter  ganz  gleichen  Umständen  je  eine  große 
Stiftung  zu  wohltätigem  Zweck,  beide  führen  ihren  Entschluß  auch 
aus,  aber  während  bei  A.  keinerlei  bemerkenswerte  Veränderung  ein- 
trat, hat  bei  B.  ein  großer  Glücksfall  seine  Geberlaune  sehr  erhöht 
oder  es  war  der  Unterzeichnung  der  Stiftungsurkunde  ein  keineswegs 
alkoholfreies  dinner  vorangegangen.  Das  allgemeine  Urteil  wird  die 
Tat  des  A.  höher  einschätzen,  als  die  des  B.  und  wird  den  A.  höher 
als  den  B.  bewerten,  weil  sich  eben  die  Erwägung  unabweisbar  auf- 
drängt: „Wer  weiß,  ob  der  B.  die  Stiftung  wirklich  durchgeführt  hätte, 
wenn  der  Glücksfall  oder  der  Alkohol  seinem  altruistischen  Entschluß 
nicht  zu  Hilfe  gekommen  wäre?^  Und  es  ist  nicht  hämische  Miß- 
gunst, die  so  urteilen  läßt,  sondern  dieses  Urteil  ist  durch  ungezählte 
Erfahrungen  begründet.  Etwas  tun  wollen  und  es  ausführen,  sind 
eben  zwei  verschiedene  Dinge.    So  mancher  faßt  einen  hochherzigen 

1)  Wenn  freilich  angenommen  wurde,  ein  neugeborenes  Kind  konnne  der 
Mutter  nur  Mitleid  einflößen  (so  z.  B.  die  Verfasser  des  Bern  er  StG.  v.  182d| 
vgl  NA.  7,  45  ff),  so  ist  das  ganz  falsch. 


240  X.  Gleispach 

Entschluß,  aber  wenn  es  ernst  wird,  kann  er  sich  von  seinem  Geld 
doch  nicht  trennen.  Schließlich  pflegen  die  meisten  Menschen  den 
unmittelbaren  Genuß  dem  anderen  vorzuziehen,  der  darin  besteht^  das 
Geld  zur  Linderung  der  Leiden  von  Mitmenschen  zu  verwenden.  — 
Es  ergibt  sich  also  folgendes:  Auch  wenn  der  Tötungsentschluß  in 
einem  Zeitpunkt  gefaßt  wird,  der  einen  Einfluß  des  abnormen  Zu- 
standes  der  Gebärenden  ausschließt,  erfordert  dieser  Zustand  eine 
mildere  Behandlung  der  Täterin,  weil  die  Ausführung  in  diesen  Zu- 
stand fällt.  Der  Entschluß  und  der  Zustand,  in  dem  er  gefaßt  wird, 
sind  nicht  schlechthin  das  Maßgebende,  sondern  die  Ausführung  be- 
hauptet neben  diesen  ihren  Platz.  Um  im  Anschluß  an  die  von  Groß 
gebrauchte  Formulierung  zu  sprechen:  Die  zur  Tötung  treibenden 
Motive  sind  zwar  beim  Zustandekommen  des  Entschlusses  noch  nicht 
mit  abnormer  Kraft  ausgestattet,  aber  es  fehlen  da  auch  noch 
Hemmungen,  die  erst  bei  der  Ausführung  auftreten,  „die  normalen 
Instinkte  auf  Beschützung  des  Neugeborenen"  werden  erst  bei  der 
Ausführung  überwältigt,  da  der  abnorme  Zustand  bereits  eingetreten 
ist.  Allerdings  gibt  es  auch  einen  Instinkt  auf  Beschützung  des  noch 
ungeborenen,  zu  gebärenden  Kindes,  aber  der  kann  zumindest  zur  Zeit 
des  Entschlusses  wesentlich  schwächer  gewesen  sein.  Ein  Gesamtbild 
von  Charakter  und  Gefährlichkeit  des  Täters  gewährt  nur  die  Bück- 
sichtnahme  auf  Entschluß  und  Ausführung  und  den  psychischen 
Zustand  bei  beiden.  Wir  können  nicht  wissen,  ob  schon  beim  Zu- 
standekommen des  Entschlusses  der  ganze  Inhalt  der  Persönlichkeit 
ausgeschöpft  wurde,  alle  Apperzeptionsmassen,  die  Einfluß  gewinnen 
können,  sich  betätigt  haben.  Bei  der  Ausführung  aber  stehen  alle 
Hemmungen  unter  dem  Einfluß  des  abnormen  Zustandes,  dessen  Ein- 
tritt vom  Willen  der  Täterin  unabhängig  ist  und  dessen  Wirkungen  sie 
nicht  voraussehen  kann,  i) 

3.  Die  bisherigen  Ausführungen  haben  sich  auf  dem  Boden  der 
Auffassung  zu  bewegen  versucht,  die  oben  durch  die  Sätze  1  und  2 
gekennzeichnet  wurde.  Doch  auch  sie  dürfte  nicht  haltbar  sein.  Um 
die  Ergebnisse  möglichst  sieherzustellen,  sei  auch  hier  der  bisher  ein- 
geschlagene Gang  der  Untersuchung  eingehalten.  Wir  nehmen,  also 
zunächst  den  abnormen  Zustand  der  Gebärenden  als  das  Mildernde 
schlechtweg  an  und  fragen :  Trifft  dann  die  schon  mehrfach  erwähnte 
psychologische  Formulierung  der  Gründe  für  die  milde  Behandlung 
der  Kindesmörderin  zu?    Schon  aus  den  früheren  Ausführungen  er- 


l)  Einen  weiteren  wichtigen  Grund  für  die  Bodeutang  des  Zustandes  bei  der 
Ausführung  siehe  unten  am  Schluß  des  folg.  Absatzes  3. 


über  KindeBmord.  241 

gibt  sieb  zum  Teil,  daß  diese  Frage  nicht  bejaht  werden  kann.  Zu- 
nächst:  wenn  der  abnorme  Zustand  bei  der  Geburt  das  Mildernde 
schlechtweg  ist,  warum  wird  dann  die  Furcht  vor  Not  und  Schande 
in  die  Formel  überhaupt  aufgenommen?  Der  Annahme,  daß  der 
Zustand  der  Gebärenden  nur  dann  ein  abnormer  sei,  wenn  sie  Not 
oder  Schande  zu  fürchten  hat,  —  dieser  Annahme  würde  jede  Grund- 
lage fehlen,  und  es  läßt  sich  auch  nicht  behaupten,  daß  die  Furcht 
vor  Not  oder  Schande  bei  jedem  Eindesmord  eine  Bolle  spiele. 
Doch  sehen  wir  davon  ab :  man  kann  ja  etwa  annehmen,  es  handle 
sich  um  einen  Satz,  der  bloß  für  die  Regel  der  Fälle  gelten  solle, 
für  die  ja  die  Annahme  des  Einflusses  dieser  Furcht  zutrifft.  Oder 
man  kann  den  Satz  etwas  verallgemeinern,  so  daß  er  sich  auf  die 
znr  Tötung  treibenden  Vorstellungen  überhaupt  bezieht  Die  psycho- 
logische Begründung  der  Strafmilderung  soll  dann  in  der  Formel 
ausgedrückt  sein,  daß  diese  Vorstellungen  durch  den  Geburtsakt  mit 
abnormer  Kraft  ausgestattet  werden.  Diese  Formel  ist  nicht  von  Groß 
zuerst  aufgestellt  worden;  wir  begegnen  ihr  in  der  kriminalistischen 
Literatur  des  öfteren  und  namentlich  Liszt  bedient  sich  ihrer  regel- 
mäßig.') Ich  konnte  nicht  feststellen,  woher  sie  stammt,  hingegen 
scheint  mir  allerdings  festzustehen,  daß  sie  in  der  maßgebenden 
medizinischen  Literatur  2)  eine  hinreichende  Grundlage  nicht  besitzt. 
Direkt  läßt  sich  das  nicht  nachweisen  und  auch  der  indirekte  Nach- 
weis muß  unvollständig  bleiben,  weil  es  eben  an  der  notwendigen 
Voraussetzung,  der  genauen  Kenntnis  des  Einflusses  der  Geburt  auf 
die  Psyche  der  Gebärenden,  noch  fehlt.    Immerhin  wird   vielleicht 

1)  Vergleichende  Darstellung  6,  117:  „Die  weitgehende  Berücksichtigung 
des  Ehrenno t«^tandes  bei  der  Kindestotung  hat  nur  darum  Eingang  in  die  Gesetz- 
gebung gefunden,  weil  man  annahm  und  auch  heute  noch  annimmt,  daß  die 
motivierende  Kraft  der  Vorstellungen,  die  den  Ehrennotstand  begriinden,  unter 
dem  Einfluß  des  Gebäraktes  wesentlich  gesteigert  werde. '^  (ählich  S.  119  und  Lehr« 
buch  S.  311.)  Liszt  sieht  in  dieser  Annahme  den  richtigen  legislativen  Grundge- 
danken. Daß  er  nur  den  Ehrennnotstand  in  Rücksicht  zieht,  Groß  auch  wirtschafte 
liehe  Not,  kommt  hier  nicht  in  Betracht.  Ln  Übrigen  stimmen  beide  überein  in 
der  psychologischen  Formulierung,  obwohl  Groß  erklärt,  das  Mildernde  ist  nach 
dem  heutigen  Stand  der  Lehre  und  Gesetzgebung  der  abnorme  Zustand  der  Ge- 
bärenden, Liszt  aber  ^das  entscheidende  Gewicht*^  auf  den  Ehrennotstand  legt. 
Um  jedes  Mißverständnis  auszuschließen,  möchte  ich  nochmals  betonen,  daß  ich 
hier  nur  gegen  die  Formulierung  des  Gedankens  polemisiere,  den  Groß  als  den 
allgemein  herrschenden  betrachtet. 

2)  Vgl.  die  Literaturangabon  unten  bei  II.  j,  die  Arbeiten  von  Krafft- 
Ebing  (Lehrbuch  der  gerichtl.  Psych opatologie ,  Beitrag  zur  Lehre  vom  transi- 
toriachen  Irresein,  die  Lehre  von  der  Mania  transitoria)  ferner  die  von  Roustan 
nnd  Sigwart  angeführte  Literatur. 

Aitldy  ffir  Kriminaianthropologie.   27.  Bd.  16 


242  X.  Gleispach 

folgendes  gesagt  werden  dürfen.  Eine  Verstärkung  der  zur  Tötung 
des  Kindes  treibenden  Kraft  verschiedener  Vorstellungen  mag  sogar 
regelmäßig  schon  beim  Herannahen  der  Geburt  eintreten  und  beim 
Eintritt  des  Ereignisses  noch  erhöht  werden.  Schon  der  Umstand, 
daß  diese  Erscheinung  vor  der  Geburt  beginnt,  läßt  deutlich  erkennen^ 
daß  sie  keine  Wirkung  des  Gebäraktes  ist.  Wenn  hier  etwa  die 
Furcht  der  Schwangeren  vor  der  Schande  zunimmt,  so  ist  das  die 
Wirkung  des  Herankommens  jenes  Ereignisses,  mit  dem  die  ge- 
fürchteten Folgen  verbunden  sind,  aber  es  hat  dies  mit  der  Eigenart 
des  Geburtsvorganges  nichts  zu  tun.  Wer  sich  etwa  auf  einem 
sinkenden  Schiff  befindet,  wird  sich  umsomehr  fürchten,  je  mehr  sich 
das  Schiff  mit  Wasser  füllt  und  ebenso  der  zum  Tode  Verurteilte, 
je  näher  der  Tag  der  Hinrichtung  kommt.  Kurz:  es  handelt  sich 
hier  nicht  um  eine  Wirkung  der  Geburt  als  eines  physiologischen 
Vorganges,  gerade  das  ist  aber  offenbar  gemeint,  wenn  man  von  den 
erschütternden  und  schwächenden  Einflüssen  bei  dem  Geburtsvorgang 
spricht,  von  dem  abnormen  Zustand  der  Gebärenden.  Dieser  Zustand 
ist  ein  solcher  der  verminderten  Zurechnungsfähigkeit  oder  kommt 
dem  doch  nahe.  Daß  die  psychologische  Bedeutung  der  verminderten 
Zurechnungsfähigkeit  allgemein  in  einer  Verstärkung  der  motivierenden 
Kraft  jener  Vorstellungen  gelegen  sei,  die  zur  Handlung  treiben,  wird 
niemand  behaupten  wollen.  Es  müßte  also  darin  eine  Besonderheit 
gerade  der  Wirkungen  des  Gebäraktes  gefunden  werden,  aber  dieser 
Annahme  steht  die  Tatsache  entgegen^  daß  die  Einflüsse  des  Gebär- 
aktes auf  den  Geisteszustand  der  Gebärenden  keine  einheitlichen  und 
gleichmäßigen  sind  und  deshalb  auch  das  Bild  der  Abnormität  ein 
recht  verschiedenartiges  ist  Dafür  ist  nichts  so  bezeichnend,  als  die 
Einteilung  der  verschiedenen  Zustände  in  Erschöpfungszustände  und 
Erregungszustände.  Die  ersteren  werden  nur  beim  Kindesmord  durch 
Unterlassung  eine  Rolle  spielen  und  ihr  ganzes  Wesen  spricht  da- 
gegen, daß  sie  die  Kraft  der  maßgebenden  Vorstellungen  zu  steigern 
vermöchten.  Vielmehr  wird  anzunehmen  sein,  daß  die  Wirksamkeit 
der  Hemmungsvorstellungen  wesentlich  beeinträchtigt  ist  und  die  zur 
Rettung  des  Kindes  notwendigen  Handlungen  umso  leichter  unter- 
bleiben als  jede  Vorstellung  einer  Tätigkeit  wegen  der  körperlichen 
Ermattung  mit  Unlust  betont  ist  Wenn  nun  gesagt  werden  sollte, 
die  angefochtene  Formel  wolle  ja  auch  nichts  anderes  zum  Ausdruck 
bringen,  als  daß  der  psychologische  Gesamteffekt  des  Gebäraktes 
darin  bestehe,  der  Vorstellung  von  der  Tötung  des  Kindes  das  Über- 
gewicht zu  geben,  so  wäre  vorerst  noch  immer  der  Vorwurf  ungenauer 
Ausdrucksweise   zu  erheben.     Es   muß   aber  dann   auch   bezweifelt 


über  Kindesmord.  243 

werden,  ob  die  Formel  mit  dieser  Bedeutung  irgend  etwas  erklärt. 
Doch  fragen  wir  weiter,  wie  es  sich  bei  den  Erregungszuständen 
yerhält  Der  medizinischen  Literatur  entnehmen  wir  zunächst,  daß 
der  Gemütsaufregung  durch  die  Gedanken  an  Not  und  Schande 
ziemlich  allgemein  ein  Einfluß  auf  das  Zustandekommen  der  Er- 
regungszustände zugeschrieben  wird,  wenn  auch  die  Bedeutung  dieses 
pathogenetischen  Momentes  verschieden  bewertet  wird.  Das  schließt 
nun  allerdings  nicht  aus,  daß  auch  umgekehrt  die  motivierende  Kraft 
dieser  Vorstellungen  gesteigert  werde  und  es  soll  überhaupt  diese 
Möglichkeit  nicht  verneint  werden.  Die  erhöhte  Reizbarkeit  des  Nerven- 
systems und  namentlich  die  Trübung  des  Bewußtseins  werdenden  Boden 
abgeben,  auf  dem  der  Tötungsentschluß  leichter  zustande  kommt,  die 
Hemmnngsvorstellungen  sein  Zustandekommen  oder  seine  Ausführung 
nicht  zu  hindern  vermögen,  weil  ihre  Betätigung  gehemmt  ist 

Die  größte  Bedeutung  dürfte  aber  der  Wirkung  der  Geburts- 
schmerzen  zuzusprechen  sein.  Allgemein  bekannt  ist,  daß  namentlich 
ungebildete  Personen  geneigt  sind,  sich  das  Unlustgefühl  eines  eben 
erUttenen  oder  noch  fortdauernden  Schmerzes  durch  scheinbar  sinn- 
loses Wüten  gegen  leblose  Gegenstände  oder  nicht  vernunftbegabte 
Wesen  erträglicher  zu  machen,  wenn  sie  in  diesen  die  nächste  Ur- 
sache des  Schmerzes  zu  erblicken  glauben.  Eine  ähnliche  Wirkung 
erzeugt  der  Geburtsschmerz  auch  dann,  wenn  alle  äußeren  begleitenden 
Umstände  ihrem  Auftreten  ungünstig  sind.  Von  vorübergehender 
aber  heftiger  Abneigung  der  Mutter  gegen  das  neugeborene  Kind  und 
auch  seinen  Erzeuger  dürfte  jede  erfahrene  Hebamme  zu  berichten 
wissen.  Wigand^)  hat  „mehrere  sehr  gebildete  brave  Frauen  gekannt, 
die  im  Arger  oder  in  der  Wut  über  die  ausgestandenen  heftigen  Ge- 
burtsschmerzen stundenlang  nach  ihrer  Entbindung  weder  ihren  sonst 
so  geliebten  Gatten  noch  das  sehnlich  gewünschte  Kind  vor  Augen 
haben  mochten^.  Schließlich  wissen  wir,  daß  sehr  heftige  Schmerzen 
bei  der  Geburt  transitorische  Psychosen  mit  Neigung  zu  impulsiven 
Gewaltakten  hervorrufen  können  und  daß  diese  Gewaltakte  sich  mit 
Vorliebe  gegen  das  neugeborene  Kind  richten.  Diese  Neigung  läßt 
sich  umso  sicherer  auf  die  Geburtsschmerzen  zurückführen,  als  auch 
andere  heftige  Schmerzen  bei  entsprechender,  namentlich  hysterischer 
Veranlagung  solche  Psychosen  hervorrufen  können.  2)    Freilich  wird 

1)  Die  Geburt  des  Menschen  1,  81  angef.  von  Fabrice  a.  a.  0.  S.  306. 
Vgl.  Bonstand  (a.  a.  0.  26  ff.)  mit  einem  trefflichen  Zitat  aas  Marc6,  Traite  de  la 
foUe  des  femmes  enceintes  et  des  nouvelles  acconchäes. 

2)  Kraepelin  Psychiatrie  S.  S5;  Roustan,  a.  a.  0.  S.  46  ff.,  Dörffier, 
aber  auch  Bronardel,  l'infanticide  169  ff. 

16* 


244  X.  Gleispach 

nun  in  den  schwersten  der  zuletzt  besprochenen  Fällen  die  'Znrech- 
nungsfähigkeit  überhaupt  anfgehoben  sein.  Aber  aus  der  ganzen  eben 
vorgeführten  Tatsachenreihe  darf  doch  der  Schluß  abgeleitet  werden^ 
daß  unter  dem  Einfluß  heftiger  Geburtsschmerzeu  ein  mehr  oder 
minder  kräftiger  Impuls  zur  Tötung  des  Kindes  entstehen  kann. 
Ungünstige  äußere  Umstände  bei  der  Geburt,  vielleicht  auch  die  Furcht 
vor  Not  und  Schande,  mögen  dieses  Ergebnis  fördern.  Wird  die 
Tötung  rein  triebartig  ausgeführt,  so  muß  auch  dann,  wenn  Furcht 
vor  Not  und  Schande  ein  Motiv  abgeben  könnten,  die  Verantwortlich- 
keit der  Mutter  verneint  werden.  Aber  für  alle  Fälle  der  bloß  ver- 
minderten Zurechnungsfähigkeit  sehen  wir  neben  dieser  Furcht  als 
Ergebnis  des  physiologischen  Aktes  ein  neues  Moment  auftreten,  das 
auf  die  Tötung  hinwirkt  Hier  kann  in  keinem  Sinne  davon  ge- 
sprochen werden,  daß  die  Furcht  vor  Not  und  Schande  mit  abnormer 
Kraft  ausgestattet  wird;  vielmehr  macht  sich  neben  ihr  eine  neue 
Kraft  geltend.  Darin  liegt  zugleich  ein  weiterer  Grund  dafür,  daß 
der  Einfluß  des  Geburtsvorganges  die  Berücksichtigung  des  Gesetz- 
gebers verdient,  wenn  auch  der  Tötungsentschluß  vor  Beginn  der 
Geburt  gefaßt  wurde.  *) 

4.  Es  erübrigt  noch,  zu  dem  Satz  Stellung  zu  nehmen,  der 
abnorme  Zustand  der  Gebärenden  sei  „das  mildernde^  schlechthin. 
Diese  Annahme  findet  in  der  geltenden  Gesetzgebung  keine  Stütze 
und  angesichts  der  Verschiedenheit  in  der  Gesetzgebung  ist  es  über- 
haupt ein  unausführbares  Beginnen,  einen  allgemeinen  und  aus- 
schließlich maßgebenden  Grund  für  die  Privilegierung  der  Kindestötung 
aufstellen  zu  wollen.  Gerade  das  zeigt  die  „Vergleichende  Dar- 
stellung** jetzt  mit  vollster  Deutlichkeit '-^j  Für  eine  nicht  unbedeutende 
Gruppe  von  Gesetzen  läßt  sich  nicht  einmal  eine  „Mitwirksamkeit" 
des  abnormen  Zustandes  behaupten,  denn  hier  wird,  sofern  nur  das 
Motiv  der  Ehrenrettung  zur  Tötung  bestimmte,  nicht  bloß  die  Mutter, 
sondern  jeder  in  engerem  oder  weiterem  Umfang  zur  I  amilie  gehörige 
privilegiert  und  nach  manchem  dieser  Gesetze  ist  die  Milderung  für 
den  Dritten  ganz  dieselbe  wie  für  die  Mutter  (z.  B.  Teßin  32S). 
Aber  auch  dort,  wo  zwar  auch  das  genannte  Motiv  unmittelbar  oder 
mittelbar  zum  Tatbestand  der  Kindestötung  gefordert,  gleichwohl  aber 


1)  Oder  violleicht  würde  besser  gesa^:  „ein  Totungsentschluß",  denn  bei 
dem  Auftreten  des  im  Text  erwähnten  Faktors  wird  es  sehr  zweifelhaft,  ob  man 
nicht  das  Zustandekommen  eines  neuen  Entschlusses  anzunehmen  habe. 

2i  Vgl.  Liszt  a.  a.  0.  110  ff  und  116.  Wenn  er  die  im  Text  weiter  be- 
tonten Unterschiede  nicht  so  sehr  hervorhebt,  so  liegt  das  daran,  daß  er  nur  den 
Entwicklungsgang  der  Gesetzgebung  im  Allgemeinen  herausarbeiten  will. 


über  Eindesmord.  245 

nur  die  Mutter  milder  behandelt  wird,  kann  man  nicht  sagen: 
das  mildernde  ist  der  abnorme  Zustand.  Groß  beruft  sich  da- 
rauf, daß  niemand  dem  Mädchen  die  Milderung  zubilligen  wird, 
das  die  Geburt  ihres  Kindes  fünf  Jahre  verheimlichen  konnte, 
und,  als  Entdeckung  jetzt  erst  drohte,  das  Kind  jetzt  tötet  Hier 
wären  verschiedene  Fragen  auseinanderzuhalten,  vor  allem,  ob  dem 
Mädchen  jede  Milderung  versagt  sein  soll  oder  bloß  die  weitestgehende, 
die  wir  bei  der  Eindestötung  antreffen  und  femer,  ob  das  „Niemand^ 
besagen  soll,  die  communis  opinio  oder  jedes  Gesetz  verweigere  die 
Milderung.  Bleiben  wir  bei  den  letzteren  Alternativen.  Gewiß  läßt 
kein  Gesetz  ^)  dieses  Mädchen  der  besonders  milden  Strafe  der  Eindes- 
tötung teilhaftig  werden.  Aber  ebensowenig  geschieht  dies  nach  den 
Gesetzen,  die  jetzt  im  Vordergrund  der  Betrachtung  stehen,  etwa  in 
dem  Fall,  wenn  ein  Mädchen  ihr  Eind  tötet  zwar  offenbar  in  einem 
durch  die  Geburt  verursachten  abnormen  psychischen  Zustand,  aber 
nicht  um  ihre  Ehre  zu  retten,  die  sie  vielleicht  nicht  mehr  zu  verlieren 
hat.  Dennoch  wäre  es  unrichtig  zu  sagen:  Sofern  diese  Gesetze  die 
Kindestötung  überhaupt  milder  bestrafen,  ist  der  Ehrennotstand  das 
Mildernde.  Vielmehr  scheint  die  Wahrheit  in  der  Mitte  zu  liegen: 
das  Mildernde  ist  das  Zusammentreffen  von  abnormen  Zustand  und 
Ehrennotstand.  Als  mildernd  erscheint  dem  Gesetzgeber  Beides,  nur 
die  Vereinigung  aber  scheint  ihm  die  besonders  milde  Behandlung  zu 
rechtfertigen.  Dabei  spielt  wohl  die  Erwägung  mit,  daß  es  sich  nicht 
bloß  um  ein  zeitliches  Nebeneinander  handelt,  sondern  jedes  der 
beiden  Momente  auf  das  andere  steigernd  einwirkt  Ursache  der 
Milderung  ist  also  hier  der  Ehrennotstand  so  gut,  wie  der  psychische 
Zustand  der  Gebärenden,  denn  das  Fehlen  des  einen  schließt  die 
Milderung  ebenso  aus,  wie  der  Mangel  des  anderen.^) 

Nur  für  jene  Gesetze,  die  ohne  Rücksicht  auf  das  Motiv  jeder 


1)  Auch  nicht  die  Gesetze  der  südromanischen  Gruppe,  denn  auch  ihnen 
ist  Kindesmord  nur  die  Tötung  eines  Neugeborenen.  Sollten  aber  nicht  diese 
Gesetze  folgerichtig  auch  das  Mädchen  in  dem  angeführten  Beispiel  in  ganz 
gleicher  Weise  priviligieren?  Hier  gibt  es  nur  zwei  Alternativen:  Entweder 
hat  der  Gesetzgeber  den  Zeitraum  kuiz  nach  der  Geburt  nur  deshalb  in  den 
Tatbestand  aufgenommen,  weil  er  von  der  Annahme  ausging,  nachher  müsse 
die  Geburt  bekannt  werden  und  dann  wäre  nach  der  Absieht  des  Gesetzgebers 
in  der  Tat  auch  dieses  Mädchen  der  Privilegierung  würdig.  Oder  aber  es  gibt 
eben  außer  abnormem  Zustand  der  Gebärenden  und  Ehronnotstand  noch  ganz 
andere  Gründe  für  die  milde  Behandlung  der  Tötung  gerade  eines  neugeborenen 
Kindes. 

2)  Geradeso  Liszt  a.  a.  0.  S.  117,  der  ein  ganz  ähnliches  Beispiel  wie 
Groß  bringt,  auf  -das  wir  unten  noch  zu  sprechen  kommen. 


246  X.  Gleibfach 

Mutter  die  Milderung  zuerkennen,  die  bei  der  Geburt  ihr  Kind  tötet, 
sei  es  ein  uneheliches  oder  ein  eheliches,  —  nur  für  sie  scheint  zu- 
nächst der  abnorme  psychische  Zustand  bei  der  Geburt  das  allein 
Maßgebende  zu   sein.    Wo  nur  die  Tötung  des  unehelichen  Kindes 
milder  behandelt  wird,  trifft  das  auch  noch  nicht  zu.    Doch  auch  für 
die  ersteren  Gesetze  ist  m.  E.   nur  scheinbar   bloß   ein  Grund   der 
milden  Behandlung  vorhanden,  andere  Gründe,  die  sich  vorzugsweise 
aus  der  Beschaffenheit  des  Objektes  ergeben,  treten  noch  hinzu.    Ob 
der  Gesetzgeber  in  der  Begründung  seiner  Vorschläge  auf  sie  Bezug 
genommen  hat  oder  nicht,  ob  er  sich  ihrer  überhaupt  bewußt  war, 
darauf  kommt  es  hier  nicht  an.    In  der  Literatur  wird  des  öfteren  auf 
sie  hingewiesen  0  und  ich  kann  darum  auch  etwa  nur  für  das  Gebiet 
des  deutschen  und  österreichischen  Rechtes  den  Bestand  einer  communis 
opinio  über  die  Gründe  der  milden  Behandlung  der  Kindesmörderin 
nicht  gelten  lassen.  2)    So  hat  man  nicht  mit  Unrecht  auf  den  nahen 
physiologisch-psychischen  Zusammenhang  zwischen  der  Mutter  und 
dem  Neugeborenen  verwiesen,  vermöge   dessen   die  Mutter  in   dem 
Kind   eher   einen  losgelösten  Teil   von   sich,   als   eine   selbständige 
Persönlichkeit  erblicke,  und  auf  das  unentwickelte  Bewußtsein  des 
Neugeborenen.    Wer  wollte  leugnen,  daß  die  Art  der  Fortpflanzung 
für  das  primitive  Denken  eine  Stütze  bietet  für  jene  Auffassung  der 
Stellung  der  £ltern  gegenüber  ihren  Kindern,  die  in  dem  jus  vitae 
ac  necis  ihre  schärfste  Ausprägung  erfahren,  sich  dann  zwar  allmählich 
abgeschwächt  hat,  aber  noch  lange  nicht  verschwunden  ist?    So  sehr 
wir  auch  heute  diese  Auffassung  verwerfen,  so  darf   man  darüber 
doch  nicht  vergessen,  daß  die  Kultur  sie  am  wenigstens  dort  über- 
wunden hat,  wo   Not  und  Unbildung  herrschen,  daß  ihr   der  Zeit- 
punkt unmittelbar  nach  der  Geburt  am  günstigsten  ist  und  daß  sie 
die  Tat  der  Mutter  in  milderem  Licht  läßt,  verminderte  Gefährlichkeit 
offenbart  im  Vergleich  zu  anderen  Tötungen.    In  derselben  Richtung 
wirken  die  Unmöglichkeit  einer  Gegenwehr  seitens  des  Neugeborenen 
und  überhaupt  die  ganz  außergewöhnliche  Leichtigkeit  der  Ausführung. 
Sehr  oft,  vielleicht  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  wird  der  Tod  des  Kindes 
durch  eine  Unterlassung  herbeigeführt.    Schließlich   ist  nicht  zu  ver- 
kennen, daß  der  wirtschaftliche  und  soziale  Wert  eines  Neugeborenen 
geringer  erscheinen  kann  als  der  eines  heranreifenden  oder  erwachsenen 
Menschen.    Das   gilt  ganz  allgemein,  in  erhöhtem  Maß  aber  dann, 
wenn  man  gerade  die  Neugeborenen  ins  Auge  faßt,  die  in  der  Regel 

1)  Vgl.  etwa  Merkel  in  Holtzendorifs  Rechtslcxikon  2,  8  ff. 

2)  Vgl.  z.  B.  einerseits  die  Lehrbücher  von  Binding,  v.  Liszt,  anderer- 
seits  Wachenfeld  in  der  Encyklopaedie  von  Holtzendorff-Eohler  2  295. 


über  Kandesmord.  247 

• 

das  Opfer  unseres  Verbrechens  werden,  und  die  sie  umgebenden  Yer- 
hältoisse  und  die  gebotenen  £ntwicklung8möglichkeiten.  i)  Gewiß 
beruht  die  Zukunft  jedes  Gemeinwesens  auf  dem  jungen  Nachwuchs, 
für  die  Gegenwart  aber  und  unmittelbar  nach  der  Geburt  ist  das 
Kind  doch  nur  eine  oft  sehr  vage  Hoffnung  und  die  Gegenwart  ist 
für  primitives  Denken  und  Fühlen  stärker  als  die  Zukunft.  Das 
Neugeborene  hat  noch  keinen  Platz  im  Leben  eingenommen,  keine 
Beziehungen  angeknüpft,  sein  Verschwinden  hinterläßt  daram  auch 
keine  Lücke;  es  ist  auch  noch  nicht  der  Gegenstand  irgendwelcher 
wirtschaftlicher  Aufwendungen  geworden,  die  mit  seinem  vorzeitigen 
Tod  zu  nutzlosen  Opfern  würden,  es  ist  schließlich  ein  Lebewesen, 
das  nach  seinem  ersten  Gebahren  unter  der  Stufe  der  höher  organi- 
sierten Säugetiere  zu  stehen  scheint  und  in  dem  nur  mit  Hilfe  der 
Phantasie  die  Keime  der  Entwicklung  zu  dem  am  höchsten  organi- 
sierten Lebewesen  erkannt  werden  können.  —  Aus  den  vorstehenden 
Ausführungen  soll  nicht  etwa  der  Schluß  gezogen  werden,  es  sei 
grundsätzlich  und  allgemein  den  Neugeborenen  wegen  objektiver 
Minderwertigkeit  nur  ein  geringerer  strafrechtlicher  Schutz  einzu- 
räumen; ebensowenig  soll  behauptet  werden,  daß  etwa  die  Eindes- 
mörderinnen diese  Erwägungen  anstellen.  Trotzdem  lassen  sie  aber 
erkennen,  daß  die  Strafwürdigkeit  der  Tötung  eines  Neugeborenen 
eine  verminderte  ist  Für  sich  allein  reichen  die  angeführten  Momente 
nicht  aus,  die  weitgehende  Milderung  der  Kindestötung  zu  recht- 
fertigen, wohl  aber  im  Zusammentreffen  mit  anderen,  namenüich  mit 
dem  durch   die  Geburt   erzeugten   abnormalen  Zustand   der  Mutter. 


1)  Ais  drastische  Illustration  diene  ein  Schwurgerichtsfall  aus  Krain:  Eine 
völlig  vermögenslose  Dienstmagd  vom  Lande,  die  nicht  einmal  den  Vater  des  von 
ihr  außerehelich  geborenen  Kindes  namhaft  zu  machen  wußte,  war  des  Kindes- 
mordes angeklagt  und  vollkommen  gestandig.  Die  Beratung  der  Geschworenen 
währte  kaum  fünf  Minuten,  dann  verkündete  der  Obmann  den  Wahrspruch: 
„12  Nein**.  Nach  dem  in  völlig  autentischer  Weise  wiedergegebenen  Bericht  eines 
der  Geschworenen  spielte  sich  die  Beratung  so  ab :  Zuerst  wurde  etwas  ^herum- 
geredet^,  dann  meinte  einer  der  Geschworenen,  für  das  arme  Kind  wäre  es  so 
doch  noch  am  besten  gewesen.  Diese  Erwägung  schlug  so  völlig  durch,  daß 
der  einstünmige  Wahrspruch  sofort  zu  stände  gekommen  war!  Nebstbei  bemerkt, 
auch  ein  klassischer  Beitrag  zu  dem  Kapitel:  Fehlspruche  der  Geschworenen! 
Um  freilich  dem  Gedankengang  der  Geschworenen  so  weit  als  möglich  gerecht 
zu  werden,  muß  man  sich  auch  das  schreckliche  Elend  solcher  Eänder  ausmalen 
können,  die  schließlich,  —  wie  der  so  bezeichnende  technische  Ausdruck  lautet,  — 
einer  Gemeinde  zur  Last  fallen.  Ob  bei  der  Entscheidung  der  Geschworenen 
auch  die  Erwägung  mitgespielt  hat,  daß  die  Angeklagte  durch  ihre  Tat  auch 
die  Gemeinde  von  einer  ihr  drohenden  Last  befreit  habe,  —  das  bleibe  unent- 
schieden. 


248  X.   GliEISFACH 

I 

Damit  ist  auch  der  naheliegende  Einwand  erledigt,  daß  folgerichtig 
auch  dritte  Personen  privilegiert  werden  müßten,  wenn  der  Angriff 
gegen  ein  neugeborenes  Kind  gerichtet  war  und  ebenso  der  weitere 
Einwand,  daß  dieselben  Momente  auch  bei  der  Tötung  von  Kindern 
zu  berücksichtigen  wären,  deren  Leben  bereits  nach  Wochen  oder 
Monaten  zählte.  In  diesem  Fall  sind  übrigens  mehrere  der  an- 
geführten Umstände  überhaupt  nicht  mehr  vorhanden  und  die  anderen 
nur  in  vermindertem  Maß. 

IL 

Um  noch  einmal  auf  den  Ausgangspunkt  dieser  Untersuchung 
zurückzukommen,  so  befinde  ich  mich  mit  Groß  insofern  in  vollem 
Einklang,  als  ich  auch  der  Ansicht  bin,  es  sei  „sehr  fraglich^,  ob  die 
Lehre  vom  sogenannten  Ehrennotstand  zur  Begründung  der  Milderung 
hinreiche;  d.  h.  ich  zweifle  nicht  im  Mindesten  daran,  daß  der  Ehren- 
notstand allein  ganz  und  gar  nicht  ausreicht  und  dies  dürfte  auch 
dem  Inhalt  nach  die  Ansicht  von  Groß  sein.  Hingegen  glaube  ich 
gezeigt  zu  haben,  daß  andere  Momente  vorhanden  sind,  die  in  Ver- 
bindung mit  Ehrennotstand  oder  materieller  Not  weitestgehende  Mil- 
derung der  Strafe  erfordern. 

1.  Da  sind  zunächst  alle  jene  Mildernngsgründe,  die  ich  kurz 
als  solche  bezeichne,  die  sich  aus  der  Eigenart  des  Verbrechensobjektes 
ergeben.  Sie  sind  immer  gegeben,  bei  der  Tötung  des  ehelichen,  wie 
des  unehelichen  Kindes.  Man  wende  nicht  ein,  daß  ihnen  der 
Schärfungsgrund  der  Deszendententötung  gegenüberstehe.  Auch  die 
mütterliche  Liebe  stellt  sich  nicht  mit  einem  Schlag  ein,  sie  bedarf 
auch  der  Zeit,  des  Verkehres  mit  dem  Kind,  um  sich  zu  entfalten^) 
und  auch  alle  die  näheren  Umstände  bei  den  Geburten,  nach  denen 
sich  Kindesmorde  ereignen,  pflegen  dieser  Entfaltung  keineswegs 
günstig  zu  sein. 

2.  Da  ist  sodann  der  abnorme  psychische  Zustand  der  Ge- 
bärenden. Daß  er  berücksichtigt  werden  muß  —  mag  nun  der  Tötungs- 
entschluß schon  vor  seinem  Eintritt  oder  unter  seinem  Einfluß  gefaßt 
worden  sein  —  dürfte  feststehen.  Aber  Umfang  und  Maß  der  Be- 
deutung, die  ihm  einzuräumen  sind,  und  die  legislativ-technische  Be- 
handlung, alles  dies  hängt  ab  von  Vorfragen,  die  zum  Teil  ganz  der 
Psychiatrie  angehören,  zum  Teil  auf  juristisch-psychiatrischem  Grenz- 
gebiet liegen  und  heute  leider  noch  vielfach  ungeklärt  sind.  Der 
Geburtsvorgang  kann  die  normalen  psychischen  Funktionen  so  sehr 


1)  Ebenso  Liszt  a.  a.  0.  112. 


über  Eindesmord.  249 

beeinträchtigen,  daß  schwere  Bewußtseinsstörungen  oder  transitorische 
Psychosen  eintreten.  Hier  ist  der  Geisteszustand  der  Gebärenden 
ein  pathologischer,  die  schweren  Fälle  gehören  gewiß  in  das  Gebiet 
der  Znrechnungsunfähigkeit.  Es  darf  wohl  als  feststehend  angenommen 
werden,  daß  solche  die  Zurechnungsfähigkeit  aufhebende  Zustände 
auch  ohne  ererbte  Belastung,  ohne  hysterische  oder  epileptische  Basis 
durch  ungewöhnlich  schwere  Geburt,  abnorm  starke  Geburtsschmerzen 
in  Verbindung  mit  heftiger  Gemütsbewegung  (heimliche  Geburt,  Furcht 
vor  Not  und  Schande)  hervorgerufen  werden  können.  Immerbin  sind 
solche  Fälle  wohl  sehr  selten.  Psychische  Störungen  leichteren  Grades, 
die  immerhin  noch  als  akute  Psychosen,  also  pathologische  Er- 
scheinungen aufzufassen  sind,  werden  nicht  allgemein  als  Fälle  der 
Zurechnungsunfähigkeit,  sondern  auch  als  solche  der  verminderten 
Zurechnungsfähigkeit  betrachtet  Dem  letzteren  Gebiet  gehören  wohl 
zweifellos  jene  Trübungen  des  Bewußtseins  und  Aufregungszustände 
an,  die  namentlich  bei  schweren  Geburten  dann  auftreten  werden, 
wenn  sie  von  heftigen  Gemütsbewegungen  begleitet  sind,  ohne  daß 
hier  noch  von  Psychosen  gesprochen  werden  könnte.  Des  weiteren 
dürfte  es  wohl  feststehen,  daß  —  vielleicht  abgesehen  von  höchst 
vereinzelten  Fällen,  in  denen  die  Geburt  nach  einer  nicht  beschwer- 
lichen Schwangerschaft  ganz  ungewöhnlich  rasch  und  leicht  verläuft 
und  die  Gebärende  geradezu  ein  schwer  erregbares  Nervensystem 
besitzt  —  der  Geburtsvorgang  auch  unter  normalen  Verbältnissen  den 
geistigen  Zustand  der  Gebärenden  nicht  ganz  unberührt  läßt.  Ob 
aber  diese  ganz  regelmäßig  eintretende  Beeinträchtigung,  diese  so- 
zusagen normale  Abnormität  des  psychischen  Zustandes  der  Gebärenden 
wesentlich  genug  sei,  um  unter  den  Begriff  der  verminderten  Zu- 
rechnungsfähigkeit eingereiht  zu  werden  und  erhebliche  Strafmilderung 
zu  begründen,  ist  eine  offene  Frage.  Man  ist  vielfach  geneigt,  die 
zweite  Frage  zu  bejahen,  die  dahin  geht,  ob  die  allgemeine  Annahme 
verminderter  Zurechnungsfähigkeit  und  weitgehende  Strafmilderung 
gerechtfertigt  sei;  sobald  nicht  mehr  normale  Verhältnisse  vorliegen. 
Dabei  werden  nun  freilich  diese  der  unehelichen  Geburt  meist  gleich- 
gehalten, was  offenbar  unrichtig  ist.  Wann  kann  man  von  abnormalen 
Verhältnissen  sprechen?  Drei  Gruppen  von  Tatsachen,  die  sodann 
auch  die  Wirkung  des  Geburtsaktes  auf  die  Psyche  der  Gebärenden 
wesentlich  beeinflussen,  lassen  sich  unterscheiden:  erbliche  Belastung 
der  Schwangeren,  hysterische,  epileptische  Veranlagung;  große  körper- 
liche Beschwerden  während  der  Schwangerschaft  und  schwerer  Verlauf 
der  Geburt,  namentlich  besonders  schmerzhafte  Wehen,  großer  Blut- 
verlust; endlich  heftige  Gemütsbewegungen.    Es  leuchtet  ohne  weiteres 


250  X.  Gleispach 

ein,  daß  diese  Tatsachen  durch  das  Verheiratetsein  der  Mutter  eben- 
sowenig ausgeschlossen  sind,  als  ihr  Vorhandensein  durch  den  Mangel 
des  Ehebandes  bedingt  wird.  Die  erste  ist  ganz  unabhängig  vom 
Zivilstand  der  Mutter,  die  zweite  unmittelbar  nicht  abhängig,  von  der 
dritten  läßt  sich  nur  ein  sehr  häufiges  Zusammentreffen  mit  dem 
Mangel  des  Ehebandes  behaupten.  Maßgebend  ist  eben  in  vielen 
Richtungen  nicht  der  Zivilstand  als  juristische  Tatsache,  sondern  das 
tatsächliche  Verhältnis,  der  Umstand,  ob  sich  die  Mutter  der  Für- 
sorge und  Unterstützung  des  Erzeugers  des  Kindes  oder  anderer  ihr 
nahestehender  Personen  erfreut  oder  nicht.  ^)  Allerdings  läßt  sich 
nicht  verkennen,  daß  Tatsachen  verschiedener  Gruppen  aufeinander 
einwirken.  Schwere  Sorgen  wegen  der  bevorstehenden  Geburt  können 
den  Verlauf  der  Schwangerschaft  beeinflussen,  ebenso  den  Verlauf  des 
G^burtsaktes  selbst.  Nimmt  man  an,  daß  solche  Aufregungen  oder 
gemütliche  Depressionen  bei  unehelich  Gebärenden  die  Regel  bilden, 
so  ergibt  sich  hier  allerdings  eine  bedeutsame  Stütze  für  die  Annahme 
regelmäßiger  und  erheblicher  Beeinträchtigung  des  normalen  Geistes- 
zustandes. Ein  Umstand  scheint  .mir  hier  aber  noch  besonderer 
Hervorhebung  wert  und  bedürfte  wohl  auch  eingehender  Untersuchung. 
Der  Gemütszustand  der  verlassenen,  verängstigten,  zur  Verheimlichung 
der  Schwangerschaft  genötigten  Geschwängerten  scheint  sowohl  das 
Zustandekommen  etwas  frühzeitiger  Geburten,  als  auch  einen  raschen, 
oft  geradezu  sturzartigen  Verlauf  der  Geburt  zu  begünstigen.  Der 
damit  verbundene  große  Blutverlust  kann  die  des  passiven  Kindes- 
mordes Angeschuldigte  allerdings  wesentlich  entlasten,  anders  aber 
dürfte  es  sich  verhalten,  wenn  aktive  Kindestötung  vorliegt  Der 
Intensität  der  Geburtsschmerzen  wird  eine  erhebliche  Bedeutung  für 
die  Beeinträchtigung  der  Zurechnungsfähigkeit  zuerkannt  werden 
müssen  und  wenn  diese  Intensität  und  ihre  Dauer  bei  den  erwähnten 
Geburten  regelmäßig  eine  geringere  ist,  so  scheint  hier  ein  Umstand 
gegeben,  der  zu  Ungunsten  der  Mutter  sprechen  würde.  Die  die 
Zurechnungsfähigkeit  vermindernde  Wirkung  der  Gemütserregungen 
würde  gleichsam  paralysiert  dadurch,  daß  die  physiologische  Wirkung 
dieser  eine  solche  ist,  die  andere  Beeinträchtigungen  der  Zurechnungs- 
fähigkeit hintanhält 

Es  hat  nicht  an  Versuchen  gefehlt,  die  Zurechnungsfähigkeit  der 


1)  Die  Furcht  vor  Schade  wird  allerdings  oft  nur  durch  die  Ehe  mit  dem 
Erzeuger  des  Kindes  behoben  werden  können,  doch  gilt  auch  dies  nicht  all- 
gemein; in  manchen  Landern  und  Bevölkerungsschichten  hat  schon  das  Ver- 
löbnis mit  dem  Schwängerer  die  Wirkung,  das  schwangere  Mädchen  vor  jedem 
Vorwurf  zu  schützen. 


über  Kindesmord.  261 

Kindesmördehnnen  im  Besonderen  zu  untersuchen.  Dieser  Weg  bat 
gewiß  seine  Berechtigung,  aber  zu  abschließenden  Ergebnissen  wird 
man  erst  dann  gelangen  können,  wenn  der  Einfluß  des  Geburtsvor- 
ganges  auf  den  Geisteszustand  der  Gebärenden  überhaupt  und  dann 
die  Wirksamkeit  besonderer  Umstände  auf  Grund  umfassendster  Be- 
obachtungen klargelegt  sind.  Daran  fehlt  es  heute  noch.  Ich 
würde  es  nicht  wagen,  dies  auszusprechen,  wenn  ich  nicht  bei  einem 
Psychiater  mehrfache  und  aus  der  jüngsten  Zeit  stammende  Be- 
stätigung gefunden  hätte.  Im  Handbuch  der  gerichtlichen  Psychiatrie 
von  Ho  che  schreibt  Aschaffenburg  bei  Besprechung  des  Geistes- 
zustandes der  Gebärenden:  „Wünschenswert  wäre  es  aber,  daß  ein 
psychiatrisch  geschulter  Frauenarzt  vor  allem  die  bei  normalen,  ehe- 
hohen  sowie  unehelichen  Geburten  auftretenden  Zustände  genauer 
beobachtete  und  analysierte,  um  eine  Grundlage  zur  Beurteilung 
besonders  auffälliger  Erregungen  zu  schaffen,  eine  Grundlage,  die,  so 
notwendig  sie  ist,  vorläufig  noch  fehlt^  und  an  anderer  Stelle  wird 
dieser  Wunsch  wiederholt.  ^)  Dieser  Grundlage  bedarf  nicht  nur  der 
Psychiater,  sondern  auch  der  Kriminalist  Da  sie  noch  fehlt,  kann 
es  nicht  Wunder  nehmen,  daß  die  Ansichten  auf  unserem  Gebiet 
überhaupt  und  über  die  strafrechtliche  Bedeutung  des  Geisteszustandes 
der  Gebärenden  im  Besonderen  und  zwar  sowohl  de  lege  lata  als 
auch  de  lege  ferenda,  so  weit  auseinandergehen.  Es  seien  nur  einige 
Belege  aus  der  nicht  spezifisch  kriminalistischen  Literatur  angeführt: 
Wenn  Jörg-O  die  Ansicht  vertrat,  daß  jede  Gebärende  mehr  oder 
minder  zurechnungsunfähig  sei,  so  wird  zwar  diese  Ansicht  heute  in 
dieser  Formulierung  wenigstens  keine  Anhänger  mehr  finden.  Jedoch 
hat  kürzlich  Audiffrent^)  sich  folgendermaßen  geäußert:  „Sans 
6carter  le  cas  de  folie  constatöe  nous  osons  dire  que  la  plupart  des 
infanticides  sont  commis  dans  des  accös  de  simple  ali^nadon,  saus 
qu'il  soit  possible  d'y  rattacher  la  folie  proprement  dite/  Dr.  H. 
Dörfler**)  gelangt  zu  nachfolgendem  Ergebnis:  „Aus  all'  diesen  Be- 

1)  MSchr  Krim  Psych  2,  (1905)  668,  Besprechang  der  2.  Auflage  von 
FabricBi  Die  Lehre  von  der  Eindesabtreibung  und  vom  Kindesmord.  Bezüglich 
der  Ausführungen  über  den  psychischen  Zustand  der  Gebärenden  heißt  es  dort 
femer:  ^Im  ganzen  kann  der  Verfasser  nur  alte  Arbeiten  anführen,  aus  neuerer 
Zeit  ist  auch  mir  keine  Arbeit  bekannt,  die  sich  eingehend  mit  dem  Gemütszustand 
der  Gebärenden  befaßt" 

2)  Die  Zurechnungsfähigkeit  der  Schwangeren  und  Gebärenden  (1837). 

3)  Quelque  consid^rations  sur  Tinfanticide,  Archiv  d'anthropologie  crimi- 
nelle 17  (1902). 

4)  Der  Geisteszustand  der  Gebärenden,  Friedreich  Bl.  f.  gerichtl.  Medizin 
44,  280.—. 


252  X.  Gleispach 

•• 

obachtungen  und  AußeniDgen  hervorragender  Autoren  erhellt  die 
Tatsache  deutlich,  daß  der  Geisteszustand  einer  Gebärenden  jeder 
Zeit  einen  mehr  oder  weniger  hochgradigen  Erregungszustand  des 
Gehirns  und  seiner  psychischen  Tätigkeit  darstellt  In  den  meisten 
Fällen  ist  die  Zurechnungsfähigkeit  entschieden  erhalten:  Doch  sind 
die  geringsten  Begünstigungsmomente,  wie  neuropathische  Belastung, 
abnorm  schmerzhafte  Wehen,  abnorme  Widerstände,  heimliche  Geburt, 
vorausgegangene  Gemütsdepressionen  besonders  bei  unehelich  Ge- 
bärenden imstande,  das  Gleichgewicht  des  Geisteszustandes  der 
Kreißenden  zu  stören.  Von  der  physiologischen  Erregung  zur  patho- 
logischen ist  kein  allzu  großer  Zwischenraum  in  dieser  Phase  des 
Lebens  des  Weibes."  —  Fabrice  0  schließt  den  Abschnitt  über  die 
Zurechnungsfähigkeit  der  Neuentbundenen  mit  den  Sätzen:  „Bei 
vollster  Berücksichtigung  all  des  Vorstehenden  aber  müssen  wir  doch 
anerkennen,  daß  weitaus  in  den  meisten  Geburtsfällen  eine  größere 
physische  und  psychische  Aufregung,  als  sie  von  der  Gesetzgebung 
Deutschlands  bei  Kindesmord  ohnedem  in  Rechnung  gebracht  wird, 
nicht  anzunehmen  ist."  In  der  Kegel  dürfe  die  Zurechnungsfähigkeit 
nicht  als  aufgehoben  betrachtet  werden  und  nur  in  seltenen  Aus- 
nahmefällen sei  man  berechtigt,  eine  noch  mehr  geminderte  (mehr  als 
der  Gesetzgeber  es  schon  allgemein  voraussetzt)  oder  völlig  auf- 
gehobene Zurechnungsfähigkeit  der  Gebärenden  und  Neuentbundenen 
zu  begutachten.  Diese  Sätze  gehen  von  dem  Grad  der  Aufregung 
und  der  Beeinträchtigung  der  Zurechnungsfähigkeit,  den  die  Gesetz- 
gebung Deutschlands  in  Rechnung  bringt,  wie  von  einem  feststehenden 
Maßstab  aus,  —  sie  sind  aber  von  Fabrice  zu  einer  Zeit  aufgestellt 
worden,  da  in  Deutschland  noch  die  Partikulargesetzgebung  herrschte, 
in  vielen  Ländern  bloß  die  Tötung  des  unehelichen  Kindes,  in  manchen 
aber  auch  die  des  ehelichen  privilegiert  war  und  die  Strafrahmen 
die  weitestgehenden  Verschiedenheiten,  so  als  Mindestmaße  2  neben 
10  Jahren  Zuchthaus,  aufwiesen;  und  diese  Sätze  sind  völlig  un- 
verändert in  die  zweite  Auflage  übergegangen,  ungeachtet  dessen,  daß 
inzwischen  das  Reichsstrafgesetzbuch  an  die  Stelle  aller  der  recht 
verschiedenartigen  Landesstrafgesetzbücher  getreten  ist  und  daß  gerade 
darüber  Meinungsverschiedenheit  und  Unklarheit  besteht,  ob  und  in 
wieweit  die  vom  geltenden  Recht  gewährte  Strafmilderung  in  der 
Annahme  verminderter  Zurechnungsfähigkeit  ihren  Grund  finde.  Ein- 
gehendere Untersuchungen  hat  Rons  tan  angestellt,  doch  ist  sein 
Material  an  eigenen  Beobachtungen  wohl  nur  ein  sehr  beschränktes 


1)  a.  a.  0.  807  and  808,  in  der  ersten  Auflage  405  und  406.  — 


über  Kindesmord.  253 

und  die  ältere  literator  vielfach  und  vielleicht  ohne  das  erforder- 
liche Maß  an  Vorsicht  herangezogen.  Die  Schloßergebnisse  lauten: 
1.  Während  der  Geburt  „  kann^'  der  Geisteszustand  der  Gebärenden 
wichtigen  Veränderungen  unterworfen  sein.  2.  Diese  Veränderungen 
können  die  Klarheit  des  Geistes  zum  Teil  beheben  und  die  Ver- 
antwortlichkeit vermindern.  3.  Unter  dem  Einfluß  der  Geburt  kann 
sich  eine  transitorische  Psychose  entwickeln.  4.  Diese  Psychose  kann 
mit  hysterischer,  epileptischer,  alkoholischer  Grundlage  in  Verbindung 
stehen.  5.  Die  transitorische  Psychose  kann  eine  „reine^^  und  hervor- 
gebracht sein,  sei  es  durch  Aufregung  (shok),  sei  es  durch  Auto- 
Intoxation,  sei  es  durch  ein  Zusammenwirken  dieser  beiden  Faktoren. 
Ergänzend  wäre  dazu  noch  zu  bemerken,  daß  nach  Roustan  aus- 
nahmsweise die  Geburt  ohne  wesentliche  Einwirkung  auf  den  Ge- 
mütszustand der  Gebärenden  vorübergehen  kann,  vor  allem  dann, 
wenn  die  Schmerzen  gering  sind  und  die  Geburt  rasch  erfolgt;  doch 
wird  dies  nur  bei  Besprechung  der  Geburt  verheirateter  Frauen  ge- 
sagt Femer  nimmt  R.  nicht  bei  jeder  Psychose  Zurechnungsunfähig- 
keit an ;  sie  könne  auch  bloß  Verminderung  der  Zurechnungsfähigkeit 
bewirken.  —  Jüngst  hat  Sigwart^)  über  einen  interessanten  Fall 
eines  Selbstmordversuches  einer  Schwangeren  während  protrahierter 
Geburt  berichtet  und  dabei  der  Ansicht  Ausdruck  gegeben,  daß  bei 
den  Gewaltakten  während  oder  gleich  im  Anschluß  an  die  Geburt 
auch  bei  unehelich  Gebärenden  die  verminderte  Zurechnungs- 
fähigkeit, hervorgerufen  durch  die  Aufregungen  der 
Geburt,  eine  wesentliche  Rolle  spiele  und  daß  manche  unehelich 
Geschwängerte  zur  Kindesmörderin  wurde,  welche  während  der 
Schwangerschaft  nie  daran  gedacht  oder  nicht  den  Mut  gehabt  hat, 
aus  Furcht  vor  Schande  ein  Verbrechen  wider  das  keimende  Leben 
zu  versuchen. 

3.  Mildernd  wirkt  ferner  das  Motiv  der  Tat  An  erster  Stelle 
steht  hier  das  Bestreben,  die  Ehrenminderung  hintanzuhalten,  die  bei  dem 
Bekanntwerden  der  Geburt  und  damit  des  außerehelichen  Geschlechts- 
verkehres eintreten  würde,  jene  Situation  der  außerehelich  Geschwänger- 
ten, die  man  kurz  als  Ehrennotstand  zu  bezeichnen  pflegt.  Sie  tritt  am 
häufigsten  bei  Ledigen  in  Wirksamkeit;  wenn  es  auch  offenbar  irrig 
wäre  anzunehmen,  daß  sie  bei  verheirateten  Frauen  ausgeschlossen 
sei,  so  wird  sie  hier  doch  nur  verhältnissmäßig  selten  eintreten.  Die 
große  Ausdehnung,  in  der  unser  Motiv  wirksam  wird,  erhellt  aus  dem 
starken  Überwiege  der  ledigen  Kindesmörderinnen,  deren  Anteil  den 

1)  Assistenzarzt  an  der  Univ.  Frauenklinik  der  kgl.  Charitß  zu  Berlin: 
Selbstmordversuch  während  der  Geburt  Archiv  für  Psychiatrie  42,  249  ff. 


254 


X.  Gleispagh 


der  Ledigen  an  der  weiblichen  Gesamtbevölkernng  in  den  entschei- 
denden Altersstufen  bedeutend  übersteigt,  wobei  noch  die  ungleich 
größere  Häufigkeit  der  ehelichen  Geburten  gegenüber  den  außer- 
ehelichen in  Betracht  zu  ziehen  ist  Es  dürfte  hier  ferner  auch  auf 
die  verschiedene  Belastung  der  einzelnen  Berufe  verwiesen  werden; 
namentlich  die  geringe  Belastung  der  industriellen  Arbeiterinnen  wird 
wenigsten  zum  Teil  darauf  zurückgeführt  werden  dürfen,  daß  gerade 
in  diesen  Kreisen  jene  Auffassung  die  weiteste  Verbreitung  gefunden 
hat,  nach  der  außereheliche  Schwangerschaft  und  Geburt  nicht  als 
Schande  betrachtet  werden.  Die  Konzentration  dieser  Berufsange- 
hörigen, ein  entwickelteres  Klassenbewußtsein  und  die  geringe  Be- 
rührung mit  anderen  Schichten  der  Bevölkerung  benehmen  der  in 
anderen  Kreisen  herrschenden  Ansicht  ihre  Bedeutung,  so  wie  sie 
auch  die  Ausbreitung  und  Festigung  der  ersterwähnten  Auffassung 
wesentlich  fördern.  Am  deutlichsten  aber  spricht  wohl  eine  nach 
kleineren  territorialen  Gebieten  durchgeführte  Zusammenstellung  der 
Häufigkeit  von  unehelichen  Geburten  und  Kindesmorden  wie  sie 
HoegeP)  für  die  österreichischen  Kronländer  gemacht  hat  Die  Er- 
gebnisse sind  so  interessant,  daß  ich  sie  auszugsweise  hier  wieder- 
geben möchte. 


•§ 

A 

1 

Kindes'mord 
1889—1891 

•5S 

g 

1 
'S 

'S 

1 

1 

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1 

1 

1 

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§ 

a 

1 

s 

1 

OQ 

1 

'S 

o 

CS 

1 

d 

1 

o 

Auf  10000  Be- 

wohner Verur- 

0.02 

0.02 

0.03 

0.04 

O.Ol 

0.04 

0.03 

0.04 

0.05 

0.03 

0.06 

0.05 

0.04 

0.03 

0.08 

teilte 

1881—1890 

kamen  auf  100 

geb&rf&hige 

6.7 

4.8 

5j 

5.3 

8.8 

2.S 

1.8 

1.0 

1.0 

84) 

2.7 

2.7 

5.0 

6jb 

1.0 

Ledige  unelie- 

Uche  Geburten 

„Die  yerhältnismäßig  geringste  Belastung  mit  Eindesmord  findet 
sich  in  Kärnten  bei  der  größten  Belastung  mit  unehelichen  Geburten. 
Länder  mit  wenig  unehelichen  Geburten,  wie  Dalmatien,  Tirol  und  Vor- 
arlberg gehören  (wenn  man  die  hohen  Freispruchsanteile   von  Dal 

1)  a.  a.  0.  263. 


über  Kindesmord.  255 

matien  berücksichtigt  i)  zu  den  schwerst  mit  Kindesmord  belasteten. 
Ähnlich  ist  es  mit  Mähren,  Schlesien,  Galizien  und  Bukowina.^  Aber 
auch  in  Niederosterreich,  Oberösterreich  und  Böhmen  scheint  das  um- 
gekehrte Verhältnis  vorhanden,  wenn  auch  weniger  scharf  ausgeprägt, 
sodaß  es  nur  in  Salzburg,  Steiermark  und  im  Küstenland  nicht  zum 
Ausdruck  kommt  Die  Erklärung  dafür  wird  in  den  wirtschaftlichen 
Verhältnissen  zu  suchen  sein,  dem  zweiten  wichtigen  Faktor,  dessen 
Mitwirksamkeit  hier  überall  sehr  zu  beachten  ist.  Auch  die  Seltenheit 
des  Eindesmordes  in  Kärnten  wird  nicht  ganz  allein  auf  Rechnung  der 
freien  Ansichten  zu  setzen  sein,  die  in  der  den  Ausschlag  gebenden 
bäuerlichen  Bevölkerung  Kärntens  über  den  außerehelichen  Geschlechts- 
verkehr und  seine  Folgen  herrschen,  in  der  hohen  Zahl  der  unehe^ 
liehen  Geburten  ihren  Ausdruck  finden,  übrigens  auch  von  jedem 
Kenner  des  Landes  bezeugt  werden.  E^  kommt  daneben  wohl  noch 
der  Umstand  in  Betracht,  daß  das  Aufziehen  der  unehelichen  Kinder 
nicht  mit  albsugroßen  Schwierigkeiten  verbunden  ist,  von  der  Mutter 
nicht  nahezu  oder  ganz  unerschwingliche  materielle  Opfer  fordert, 
(so  wenig  auch  Kärnten  ein  reiches  Land  genannt  werden  kann)  — 
ein  Umstand,  der  übrigens  mit  den  erwähnten  Ansichten  der  Be- 
völkerung auch  einigermaßen  im  Zusammenhang  steht 

4.  Eine  scharfe  Trennung  des  eben  besprochenen  Momentes  von 
dem  zweiten  nicht  minder  wichtigen  der  materiellen  Not  läßt  sich 
überhaupt  nicht  nach  allen  Kichtungen  hin  durchführen,  die  für  das 
eine  und  das  andere  maßgebenden  Tatsachenkomplexe  wirken  vielfach 
aufeinander  ein.  Nehmen  wir  etwa  das  Beispiel  einer  außerehelich 
Geschwängerten,  für  die  das  Bekanntwerden  ihrer  Schwangerschaft 
nach  den  in  ihrem  Kreis  geltenden  Ansichten  schwere  Schande  be- 
deutet. Ist  sie  mittellos,  so  wird  völlige  Verheimlichung  der  Schwanger- 
schaft und  Geburt  und  die  Tötung  des  Neugeborenen  oft  als  der  ein- 
zige Weg  erscheinen,  um  der  Schande  zu  entgehen,  namentlich  in 
ländlichen  Verhältnissen.  Auch  wenn  die  Schwangere  eine  Mutter  oder 
sonst  eine  ihr  nahestehende  Person  besitzt,  der  sie  sich  anvertrauen 
könnte,  was  hilft  es?  Die  engen  Wohnungsverhältnisse  machen  es 
unmöglich,  daß  eine  den  äußeren  Umständen  nach  normal  verlaufende 
Kiederkunft  ein  Geheimnis  bleibe,  jede  Veränderung  des  Wohnortes 
ruft  Verdacht  hervor,  ist,  wenn  sie  überhaupt  wirksam  sein  soll,  mit 
Auslagen  verbunden,  die  nicht  gemacht  werden  können,  die  Unter- 
bringung des  Kindes  kann  auch  nicht  in  weiter  Ferne  und  nur  wieder 
in  dem  Milieu  erfolgen,  dem  die  Mutter  angehört;  sodaß  wieder  die 


1)  60  Freigesprochene  auf  100  Verurteilte. 


256  X.  Gleisfach 

Wahrung  des  Geheimnisses  völlig  in  Frage  gestellt  ist  Alles  das 
liegt  sofort  ganz  anders,  wenn  wir  uns  eine  über  reichliche  Geld- 
mittel verfügende  Person  als  die  Schwangere  vorstellen.  Die 
Schwierigkeiten  der  Geheimhaltung,  die  hier  ja  auch  vorhanden  sind, 
können  durch  Geld  überwunden  werden.  Gefährdung  der  Ehre  also 
hier  und  dort,  aber  während  hier  die  Gefahr  durch  materielle  Opfer 
überwunden  werden  kann,  kommt  es  dort  wegen  der  Ungunst  der 
wirtschaftlichen  Lage  bis  zu  einem  das  Leben  des  Kindes  bedrohen- 
den ^Ehrennotstand^.  Knappheit  der  Geldmittel  kann  zur  Tötung  des 
Kindes  drängen,  ohne  daß  wirtschaftliche  Not  als  Motiv  der  Tat  an- 
genommen werden  könnte.  Dessenungeachtet  kann  doch  aus  allen 
den  Umständen,  die  einen  weitgehenden  Einfluß  der  wirtschaftlichen 
Lage  der  Gebärenden  auf  das  Zustandekommen  der  Kindestötung  dar- 
tun, auch  auf  die  große  Bedeutung  geschlossen  werden,  die  wirt- 
schaftlicher Not  als  Motiv  zukommen  muß.  Vor  allem  kommen  hier 
die  Vermögenslosigkeit  der  tiba^iegenden  Mehrzahl  der  Verurteilten, 
Berufszugehörigkeit  und  Stellung  im  Beruf  in  Betracht  Die  rich- 
tigste Folgerung  dürfte  wohl  noch  immer  die  sein,  daß  die  Kindes- 
tötung in  der  Mehrzahl  der  Fälle  das  Ergebnis  des  vereinten  Wirkens 
von  Furcht  vor  Schande  und  von  Not  sei.  Aber  auch  das  wird  noch 
behauptet  werden  dürfen,  daß  —  wenn  auch  vielleicht  nicht  sehr 
häufig,  so  doch  auch  nicht  bloß  als  Ausnahme,  —  Kindestötungen 
lediglich  unter  dem  Einfluß  drückender  Notlage,  d.  h.  ohne  Mit- 
wirkung der  Furcht  vor  Schande  zustande  kommen.  Schon  der  An- 
teil der  Verheirateten  an  den  Verurteilten  überhaupt  ist  zu  hoch,  als 
daß  für  alle  diese  Fälle  Ehrennotstand  angenommen  werden  könnte; 
denn  damit  es  bei  einer  verheirateten  Frau  zu  einem  solchen  kommt^ 
bedarf  es  neben  dem  Verlassensein  der  Frau  noch  des  Zusammen- 
wirkens besonderer  außergewöhnlicher  Umstände.  Freilich  fehlt  hier 
noch  der  besondere  Anhaltspunkt  dafür,  daß  bei  dem  nicht  auf  Ehren- 
notstand zurückführbaren  Fällen  wirtschaftliche  Notlage  maßgebend 
war.  Ein  solcher  Anhaltspunkt  aber  ergibt  sich  aus  folgender, 
nach  der  österreichischen  amtlichen  Statistik  zusammengestellten 
Tabelle  (s.  n.  S.): 

Auf  100  wegen  Kindesmord  Verurteilte  entfallen  6.4^/0  Verheira- 
tete und  5.3  ^/o  verheiratet  Gewesene.  Von  den  ersteren  hatten  li^hy 
von  den  letzeren  88^/0  Kinder.  Diese  Ziffern  dürfen  wohl  als  Be- 
weis für  den  unmittelbaren  Einfluß  der  Not  angesehen  werden. 
Gleichwohl  ist  er  kürzlich  von  Aschaffenburg  (Das  Verbrechen 
und  seine  Bekämpfung)  sehr  in  Zweifel  gezogen  worden  und  zwar 
auf  Grund  folgender  Ergebnisse  der  amtlichen   deutschen   Kriminal- 


Cl 

)er  Kindesmord. 

Verheiratete 

i 

1 

mit       '      ohne     ' 

Verh 
1           Ge^ 

mit 

Jahr 

1 

Verurteilte 
äberhanpt 

eiratet 
esene 

ohne 

1 

Kinder 

Kinder    I 

j    Kinder 

1    Kinder 

--  —  — 

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18S6 

120 

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5 

'         3 

1887 

120          ' 

4 

1         2 

4 



1888 

104 

4 

2 

7 

1 

1889 

99 

1 

1 

2 

2 

1890         1 

86 

7 

1       ' 

4 

— 

1891 

97          ! 

3 

4 

2 

1 

1892         , 

85 

4 

1 

6 

i 

1893 

80 

3 

2 

4 

— 

1894 

95           i 

5 

1 

6 

1S95 

95 

981 

6 

2 

18 

'I 

7 

Summen 

1 

47 

6 

257 


Statistik  über  die  Verteilung  der  Kindesmorde  und  der  unehelichen 
Geburten  auf  die  einzelnen  Monate: 


* 

M 

h 

£ 

»« 

£ 

^ 

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1S 

g 

£ 

B 

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^ 

S 


& 


Kindes- 
mord  ^) 


89 


91 


86  '  82  '  87 


Uneheliche 
Geburten  2) 


110 


116 


109 


104 


100     95     91      88 


100 


91 


95 


103 


Besonders  anschaulich  wird  das  Verhältnis  der  zwei  Ziffemreihen 
bei  graphischer  Darstellung  (s.  n.  S.)- 

Aschaffenburg  führt  hierzu  aus:  „  • . .  Dabei  ist  besonders 
interessant,  daß  die  Neigung,  sich  des  unerwünschten  Sprosses  zu 
entledigen,  offenbar  in  viel   höherem  Grade  von   der  Zahl  der  6e- 

1)  Die  Ziffern  geben  an,  wie  viele  Kindeemorde  auf  einen  Tag  im  Monat 
kommen,  wenn  im  Jahr  aaf  einen  Tag  100  Kindesmorde  entfallen,  berechnet  für 
das  Jahrzehnt  1883/92.    (Stat  d.  Deutschen  Beiches  N.  F.  83,  52.) 

2)  Anf  einen  Tag  des  betreffenden  Monates  entfällt  die  angegebene  Zahl  der 
^Geburten,  wenn  durchschnittlich  auf  jeden  Tag  im  Jahr  100  Fälle  kommen,  be- 
rechnet für  die  Jahre  1872—1883.    (Stat  Jahrbuch  1885  S.  21.)    Aschaffen - 
bnrg  hat  an  die  Stelle  der  Geburtstage  die  Konzeptionszeiten  gesetzt,  die  für 
unsre  Zwed^e  jedoch  nicht  in  Betracht  kommen. 

Anhir  fflr  Kiimfaialanthropologie.  27.  Bd.  17 


268 


X.  Gleispach 


bärenden  abhängig  ist  als  von  dem  Gedanken,  was  ans  dem  Kinde 
werden  soll.  Die  Voraussetzung  der  milderen  Benrteiinng  des  Kindes- 
mordes war  die  Annahme  einer  verzweifelten  Gemiitslage,  eines  Ge- 
miBches  voa  Hilflosigkeit,  Scham,  Rene,  Schmerz  und  Sorge  nm  die 
Zukunft.  Die  Zahlen  der  Statistik  lehren,  daß  wenigstens  die  un- 
mittelbare Sorge  keinen  großen  Einfluß  hat;  sonst  müßten  die  Zeiten 


Kindesmorde. 
üaehelich  Geborene. 


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der  Not,  die  Wintermonate,  während  derer  zu  allem  andern  noch 
die  Stellenlosigkeit  bedrohlich  wirkt,  stärker  an  dem  Kindesmord  be- 
teiligt sein.  Statt  dessen  steht  ibre  Zahl  in  direktester  Beziehung  zur 
Zahl  der  Geburten,  so  daß  man  fast  za  sagen  rersncht  ist:  Unter  der 
gleichen  Anzahl  unehelicher  Mütter  findet  sich,  ganz  unabhängig  von 
der  wirtschaftlichen  Lage,  annähernd  die  gleiche  Zahl  solcher,  die  ihr 
neugeborenes  Kind  mit  Gewalt  beiseite  schaffen."    Aachaffenbnrg 


über  Kindesmord.  259 

hat  gnt  daran  getan,   diesen  letzten  Satz   mit   einer   so  vorsichtigen 
Einleitung  zu  versehen ;  er  ist  dadurch  der  Polemik  entzogen  und  als 
Behauptung  hingestellt,  wäre   er  sicherlich   falsch.    Aber  auch   die 
weniger  weitgehenden   Sätze   werden  m.  E.   von   den   vorgeführten 
Zahlenreihen  nur  vorgetäuscht,  finden  aber  bei  näherer  Untersuchung 
keine  Bestätigung.    Es  sei  zunächst  davon  abgesehen,  daß  von  einem 
Parallelismus  der  beiden  Kurven  im  strengen  Sinne  des  Wortes  nicht 
gesprochen  werden  kann.    Daß  die  größere  oder  geringere  Zahl  der 
Geburten  in  bestimmten  Zeitabschnitten  an  und  für  sich  nicht  Ursache 
der  größeren  oder  geringen  Häufigkeit  der  Eindesmorde  sein  kann, 
yersteht  sich  von  selbst.  ^)   Wenn  sich  also  zeigt,  daß  beim  Ansteigen 
der  Geburten  auch  die  Eindesmorde   zunehmen   und  umgekehrt^   so 
weist  diese  Erscheinung  auf  solche  Ursachen  des  Eindesmordes  hin, 
die  unabhängig  von  dem  Wechsel  der  Jahreszeiten  gleichmäßig  wirken. 
Sind  wir  auf  anderem  Weg  dazu  gelangt,  bestimmte  Momente,  deren 
Wirksamkeit  von   der  Jahreszeit  unabhängig  ist,   als  maßgebend  für 
das  Zustandekommen  des  Eindesmordes  anzusehen,  dann  bedeutet  die 
erwähnte  Erscheinung   offenbar   eine   bedeutsame  Bestätigung  dieser 
Annahme.    Dies  trifft  nun  zweifellos  zu  für  den  „Ehrennotstand^,  für 
die  Annahme  einer  verzweifelten  Gemütslage^  die  sich  aus  Hilflosig- 
keit, Scham,  Reue  und  Schmerz  zusammensetzt;   es  scheint  hingegen 
nicht  zuzutreffen  für  die  Annahme  des  Einflusses  der  Sorge  um  die 
Zukunft,  der  wirtschaftlichen  Not.   Wenn  aber  die  Wirksamkeit  dieses 
Faktors  als  widerlegt  gelten  soll,  so  müßte  erst  feststehen,  daß  seine 
Wirksamkeit  von  der  Jahreszeit  wesenüich  beeinflußt  wird  und  nach 
ihr  schwankt.    Aschaffenburg  nimmt  das  ohne  weiteres  an^    die 
Zeiten  der  Not  sind  ihm  die  Wintermonate,  in  denen  zu  allem  andern 
noch  die  Stellenlosigkeit  kommt    Dabei  dürften  zwei  wichtige  Mo- 
mente nicht  genügend  Beachtung  gefunden  haben,  einerseits  die  Be- 
mfszugehörigkeit  der  Großzahl  der  Eindesmörderinnen  und  anderer- 
seits die  besondere  Eigentümlichkeit  der  Eindestötung  auch  in  Beziehung 
zur  wirtschafüichen  Lage  der  Täterin,  die  es  ausschließt,  hier  etwa 
einen    Parallelismus   mit   den  Erscheinungen   beim   Diebstahl    oder 
anderen  Vermögensdelikten  vorauszusetzen.    Über  die  Belastung  der 
verschiedenen   Berufe   in   Deutschland    gibt  die   folgende   aus    der 
deutschen  Eriminalstatistik  zusammengestellte  Tabelle  Auskunft: 

1)  Deshalb  ist  es  zumindest  ungenau  ausgedrückt,  wenn  Asch  äff  enburg 
sagt,  die  „Neigung^  zum  Kindesmord  sei  in  viel  höherem  Grad  von  der  Zahl 
der  Gebärenden  abhängig,  als  von  dem  Gedanken,  was  ans  dem  Eönd  werden 
soll.  Gerade  die  Neigung,  das  Kind  zu  töten,  kann  unmöglich  von  der  Zahl  der 
Geburten  abhängen. 

17* 


260 


X.  Gleispach 


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Gehilfen,  Arbeiter,  TaiclOhner 

einschl.  Dienstboten  f.  Handela- 

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über  Kindesmord.  261 

Die  Kindesmorderinnen  zerfallen  demnach  in  drei  Grappen;  die 
erste  gröBte,  die  mehr  als  die  Hälfte  aller  umfaßt,  wird  von  den 
landwirtschaftlichen  Arbeiterinnen  gebildet,  die  zweite  im  Ausmaß  von 
Vi  bilden  die  Dienstboten,  der  Best,  etwa  1/5,  setzt  sich  aus  An- 
gehörigen verschiedener  Bemfe  in  verschiedenen  Stellungen  zusammen. 
Das  heißt,  daß  überwiegend  ländliche  Verhältnisse  in  Betracht  kommen 
und  daß  mehr  als  ^/4  der  Verurteilten  einer  Kategorie  von  wirtschaft- 
lich abhängigen  Personen  angehören,  in  der  vorwiegender  Natural- 
lohn (freie  Kost,  Wohnung  u.  s.  f.)  bei  geringfügigem  Geldlohn  die 
Regel  bildet.  Das  starke  Ansteigen  der  Vermögensverbrechen  mit 
Beginn  der  kalten  Jahreszeit  erklärt  man  sich  durch  die  Not  des 
Winters  und  sieht  diese  wieder  vornehmlich  in  den  durch  die  Witterung 
gesteigerten  Bedürfnissen,  Mehrauslagen  für  reichlichere,  erwärmende 
Kost,  warme  Kleidung,  Heizung,  Beleuchtung,  Notwendigkeit  einer 
Unterkunft,  dazu  erhöhte  Preise.  Alle  diese  Umstände  kommen  bei 
der  großen  Mehrzahl  der  uns  interessierenden  weiblichen  Personen 
gar  nicht  oder  nur  in  ganz  geringem  Maß  in  Betracht  Für  das 
ganze  Heer  der  ländlichen  und  städtischen  Dienstboten  bedeutet  der 
Winter  keine  Erschwerung  der  Existenz,  so  lange  sie  sich  im  Dienst 
befinden.  Was  nun  die  Stellenlosigkeit  anlangt,  so  gelten  auch  hier 
für  uns  keineswegs  die  allgemeinen  Sätze,  die  man  meist  für  die  Ge- 
samtheit annimmt.  Auf  dem  flachen  Land  spielt  sie  überhaupt  keine 
Rolle,  hier  herrscht  überwiegend  „Leutenot".  Aber  auch  in  den 
Städten  dürfte  die  Nachfrage  nach  weiblichen  Arbeitskräften  der  für 
uns  maßgebenden  Kategorie  überwiegend  stärker  sein  als  das  Angebot 
und  neuere  Untersuchungen  haben  gezeigt,  daß  das  Gesamtbild  des 
Arbeitsmarktes  von  dem  ganz  verschieden  ist,  das  bei  Trennung  der 
Geschlechter  der  weibliche  Arbeitsmarkt  darbietet,  i)  Freilich  wird 
man  hier  noch  lange  nicht  unanfechtbare  Ergebnisse  aufweisen  können, 
jedenfalls  steht  soviel  fest,  daß  die  Wintermonate  nicht  als  die  Zeit 
besonders  bedrohlicher  Stellenlosigkeit  angesehen  werden  können;  es 
wird  das  Zustandekommen  einer  sicheren  Grundlage  abgewartet 
werden  müssen,  um  auf   diesem  Gebiet  Schlüsse  ziehen  zu  können. 

Dazu  kommt  aber  noch  ein  weiterer  Umstand:  während  bei  aus 


1)  Vgl.  Die  Störangen  im  deutschen  Wirtschaftsleben  während  der  Jahre 
1900  ff.  Bd.  5:  Die  Krisis  auf  dem  Arbeitamarkte,  S.  1  ff.  Auf  S.  5  werden  die 
Verhältnisse  des  weiblichen  Arbeitsmarktes  auf  Grund  der  öffentlichen  Arbeits- 
nachweise für  die  Jahre  1S96— 1902  tabellansch  dargestellt  Nach  dieser  Tabelle 
herrscht  überwiegend  und  selbst  in  den  Krisenjahren  ein  Unter  angebet,  die 
nngflnstigsten  Monate  mit  Überangebot  sind  Oktober  und  November,  schon  im 
Dezember  bleibt  das  Angebot  wieder  hinter  der  Nachfrage  zurück. 


262  X.  Gleisfach 

Not  begangenen  Vermögensverbrechen  das  Streben  darauf  gerichtet 
ist,  Mittel  zur  Bedürfnisbefriedigung  zu  gewinnen,  handelt  es  sich 
beim  Eindesmord  ans  Not  umgekehrt  darum,  schwere  wirtschaftliche 
Einbußen  und  Nachteile  hintanzuhalten,  die  mit  dem  Bekanntwerden 
der  Geburt  und  der  Erhaltung  des  Kindes  verbunden  wären.  Dieser 
Gegensatz  ist  offenbar  bedeutsam  für  den  Einfluß  der  wirtschaftlichen 
Situation  auf  das  Zustandekommen  des  Verbrechens,  zumal  wenn 
man  berücksichtigt,  daß  die  Erhaltung  des  Kindes  eine  dauernde  Be- 
lastung bedeutet.  Unter  den  wirtschaftlichen  Nachteilen  spielt  aber 
auch  der  mit  dem  Bekanntwerden  der  Entbindung  verbundene  Ver- 
lust des  Postens  bei  Dienstboten  eine  Bolle,  so  daß  unter  Umständen 
gerade  die  Tatsache,  daß  die  Schwangere  zur  Zeit  der  Entbindung 
nicht  stellenlos  ist,  dem  Leben  des  Kindes  gefährlich  werden  kann. 

Diese  Erwägungen  lassen  jedenfalls  soviel  erkennen,  daß  der 
Einfluß  der  wirtschaftlichen  Lage  hier  ein  keineswegs  so  einfacher 
ist,  wie  es  bei  den  Vermögensverbrechen  angenommen  wird.  Weiter- 
gehende Schlüsse  sollen  nicht  gezogen  werden,  nur  soviel  ergibt  sich, 
daß  die  Kurve  der  Kindesmorde  den  Einfluß  der  Not  nicht  widerlegt. 

Auch  noch  nach  einer  anderen  Richtung  hin  müssen  wir  uns 
vorläufig  mit  negativen  Ergebnissen  und  mit  Fragezeichen  bescheiden, 
aber  es  wird  nicht  ohne  Nutzen  sein,  auf  sie  hinzuweisen.  Wir  haben 
bisher  angenommen,  die  Kurve  der  Kindesmorde  laufe  der  der  Ge- 
burten parallel.  In  Wahrheit  gilt  das  aber  nur  ganz  im  Allgemeinen, 
genau  genommen  zeigen  sich  doch  relativ  starke  Abweichungen  und 
für  die  erste  Hälfte  des  Jahres  ist  die  Kurve  der  Kindesmorde  so- 
zusagen eine  kräftige  und  phantasievolle  Karikatur  der  Schwankungen 
in  der  Häufigkeit  der  Geburten.  Während  die  Geburten  nach  dem 
Höhepunkt  im  Februar  bereits  im  März  und  dann  weiter  stetig  und 
stark  sinken  bis  in  die  zweite  Hälfte  des  Jahres,  bleibt  die  Zahl  der 
Kindesmorde  noch  im  März  ganz  auf  der  gleichen  Höhe  wie  im 
Februar  und  sinkt  nur  langsam  bis  in  den  Mai  hinein,  um  erst  von 
da  ab  plötzlich  sehr  stark  herabzusinken,  so  daß  im  Mai  die  Kindes- 
morde noch  auf  der  Höhe  von  1 1 8  sich  halten,  während  die  Geburten 
bereits  auf  das  angenommene  Mittel  von  100  gesunken  sind.  Femer 
steigen  die  Geburten  im  Dezember  und  Januar  stetig  und  rasch  zur 
Höhe  des  Februar,  während  die  Kindesmorde  in  diesen  Monaten  noch 
auf  einem  tiefen  Stand  verbleiben,  um  dann  plötzlich  auf  das  Maximum 
des  Februar  hinaufzuschnellen.  Wir  haben  also  zwei  Perioden  auf- 
fallender Divergenzen  der  beiden  Kurven  vor  uns:  März  bis  Mai  und 
November  bis  Januar.  Daraus  ergibt  sich,  daß  auch  der  Höhepunkt 
der  Kindesmorde   im  Februar  keineswegs  lediglich    darauf   zurück- 


über  Kindesmord.  263 

geführt  werden  kann,  es  komme  hier  die  Wirksamkeit  der  uns  be- 
kannten annähernd  gleichmäßig  wirkenden  Ursachen  wegen  der 
größeren  Häufigkeit  der  Geburten  stärker  zum  Ausdruck.  Vielmehr 
müssen  in  der  Periode  Februar  bis  März  entweder  diese  Ursachen 
ans  irgendwelchen  Gründen  in  ihrer  Wirksamkeit  besonders  gesteigert 
werden  oder  es  sind  hier  Kräfte  am  Werk  und  begünstigen  unmittel- 
bar das  Zustandekommen  des  Verbrechens,  die  uns  überhaupt  un- 
bekannt sind;  und  in  der  zweiten  Periode  müssen  umgekehrt  gewisse 
Hemmungen  sich  geltend  machen.  Mit  anderen  Worten:  das  Er- 
gebnis ist  lediglich  ein  Fragezeichen,  die  Gründe  der  auffallenden 
Schwankungen  liegen  noch  im  Dunkeln.^) 

Auch  von  der  Not  geboren  ist  ein  weiterer  Grund,  der  vielleicht 
nur  sehr  selten  allein,  nicht  so  selten  aber  im  Verein  mit  anderen  zur 
Eindestötung  drängen  wird:  die  unvermeidliche  Trennung  der  Mutter 
von  dem  Kind  sofort  oder  doch  in  kürzester  Zeit  nach  der  Geburt 
Die  Mutter  könnte  vielleicht  das  Kostgeld  für  das  Kind  von  ihrem 
Lohn  noch  absparen,  aber  sie  müßte  das  Opfer  bringen  und  zugleich 
auf  jede  Mutterfreude  verzichten,  sie  müßte  darben  und  dürfte  doch 
ihr  Kind  nicht  bei  sich  behalten,  weil  sie  sonst  beide  nicht  leben 
können  —  ein  Sachverhalt,  der  wiederam  bei  Dienstboten  typisch  ist. 
Im  Zusammenhang  damit  steht  auch  die  Vorstellung  von  der  elenden 
Zukunft,  die  dem  Kind  bevorsteht.  Erlangt  sie  Einfluß  auf  das  Ver- 
halten der  Mutter,  so  ist  es  das  Gefühl  des  Mitleids,  das  Bestreben, 
das  Kind  vor  einer  qualvollen  Zukunft  zu  bewahren,  das  zur  Tötung 
führt.  Dasselbe  Motiv  kann  selbst  ohne  wirtschaftliche  Notlage  dann 
auftreten,  wenn  das  Neugeborene  mit  einer  schweren  oder  unheilbaren 
Krankheit   behaftet  ist   oder  doch   die  Mutter   das  glaubt.    Es  mag 


1)  Mit  bloßen  Vermutungen  scheint  mir  der  Sache  nicht  gedient,  solange 
diese  nicht  durch  feste  Grundlagen  wenigstens  sehr  wahrscheinlich  gemacht 
werden  können.  Nur  die  eine  Bemerkung  sei  mir  vorläufig  dennoch  gestattet, 
daß  nämlich  die  starke  Häufung  der  Kindesmorde  in  der  ersten  Periode  zum 
TeU  mit  den  Gründen  in  Zusammenhag  stehen  dürfte,  auf  die  das  Zunehmen  der 
Schwängerungen  in  den  entsprechenden  Monaten  Mai  bis  Juni  zurückgeführt 
wird.  Zur  teilweisen  Erklärung  dafür,  daß  die  Kindesmorde  im  Februar  so  auf- 
fallend zunehmen  und  im  März  nicht  abnehmen,  könnte  man  an  die  kontagiöse 
Wirkung  denken,  die  manchem  schwerem  Verbrechen  zweifellos  eigen  ist  und  die 
namentUch  T  a  r  d  e  (Phil,  p^nal.)  glänzend  geschildert  hat.  Dann  könnte  man 
wirklich  davon  sprechen,  daß  die  Zunahme  der  Geburten,  mit  der  ja  eine  Zu- 
nahme der  Kindesmorde  naturgemäß  verbunden  ist,  die  Neigung  zum  Kindes- 
mord erhohe.  Aber  gegen  diese  Annahme  spricht,  daß  der  Kindesmord  kaum 
zn  den  Verbrechen  gehört,  die  besonders  geeignet  sind,  die  Phantasie  zu  erregen, 
daß  das  einzelne  Verbrechen  weitem  Kreisen  hier  nicht  bekannt  wird,  die  Zeitungen 
sich  damit  wenig  beschäftigen  u.  s.  f.  — 


264  X.  Gleispach 

fiich  hier  um  seltene  Fälle  handeln,  sie  sind  daram  doch  weitest- 
gehender Rücksicht  wert.  Man  hat  nicht  mit  unrecht  gesagt,  bei 
heimlichen  Gebarten  wird  oft  der  erste  Schrei  des  Kindes  seinem 
Leben  gefährlich,  er  mahnt  die  Mutter,  daß  für  sie  Alles  verloren  ist, 
wenn  sie  nicht  eingreift.  Aber  das  erste  klägliche  Wimmern  des 
Neugeborenen  kann  der  Mutter  auch  geradezu  wie  eine 'Bitte  um 
Erlösung  von  allen  Qualen  und  allem  Elend  in  die  Ohren  klingen; 
tötet  dann  die  Mutter  das  Kind,  so  ist  eine  Ähnlichkeit  dieses  Falles 
unverkennbar  mit  dem  anderen  der  Tötung  auf  Verlangen  des  Ge- 
töteten, dem  die  moderne  Gesetzgebung  mit  Recht  auch  eine  privi- 
legierte Stellung  eingeräumt  hat 

Man  kann  darüber  streiten,  ob  in  dem  Mitverschulden  des 
Schwängerers  und  unter  Umständen  auch  noch  anderer  Personen, 
an  dem  es  fast  nie  fehlen  wird,  ein  selbständiger  Grund  zur  Milderung 
der  Strafe  zu  erblicken  sei.  Ohne  Zweifel  aber  ist  dieser  Umstand 
geeignet,  die  Bedeutung  jeder  wie  immer  gearteten  Notlage  der  Mutter 
als  Grund  für  eine  milde  Strafe  wesentlich  zu  steigern. 

4.  Schließlich  ist  auch  noch  auf  die  nahe  Verwandschaft  zwischen 
unserem  Verbrechen  und  dem  der  Abtreibung  der  Leibesfrucht  durch 
die  Schwangere  selbst  zu  verweisen.  Es  sollen  hier  die  Gründe  nicht 
erörtert  werden,  die  für  die  Milde  gegenüber  der  Abtreibung  be- 
stimmend sind.  Diese  Milde  besteht,  ist  unangefochten  und  wird  in 
Zukunft  wahrscheinlich  noch  gesteigert  werden;  wird  doch  von 
mancher  Seite  selbst  Straflosigkeit  gefordert.  Der  Strafsatz  des  Kindes- 
mordes muß  den  Anschluß  haben  an  den  der  Abtreibung,  jeder  Sprung, 
jede  tiefgehende  Abgrenzung  tut  den  Tatsachen  Gewalt  an.  So 
mancher  Kindesmord  ist  psychologisch  nichts  anderes  als  eine  ver- 
spätete Abtreibung,  aber  auch  umgekehrt  manche  Abtreibung  ein 
verfrühter  Kindesmord.  Der  Eihautstich  etwa  im  zweiten  Monat  der 
Schwangerschaft  und  der  Kindesmord  liegen  weit  auseinander;  nament- 
lich einer  Erstgeschwängerten  kann  fast  jede  Vorstellung  und  jedes 
Gefühl  von  der  tieferen  Bedeutung  der  erstgenannten  Handlung  fehlen; 
aber  Kindestötung  und  Bewirken  einer  Frühgeburt  etwa  im  siebenten 
Monat  sind  Geschwister.  Die  lange  Dauer  der  Schwangerschaft  und 
die  Kindesbewegungen  im  Mutterleib  erzeugen  bereits  das  Gefühl  in 
der  Schwangeren,  daß  sie  ein  Lebewesen  in  sich  trägt  und  sie  rufen 
Pflichtvorstellungen  hervor;  andererseits  ist  das  neugeborene  Kind, 
wie  bereits  früher  ausgeführt  wurde,  doch  nichts  anderes  als  ein 
werdender  Mensch,  die  Mutterliebe  stellt  sich  nicht  mit  einem  Schlag 
ein  und  die  Tötung  des  Neugeborenen  wird  ganz  regelmäßig  in  einem 
abnormalen  psychischen  Zustand  ausgeführt,  was  für  die  Abtreibung 


über  Kindesmord.  265 

nicht  gilt.  —  Der  Jurist  ist  gezwungen,  unablässig  Kategorien  zu 
bilden,  Grenzen  zu  ziehen  und  damit  Gegensätze  zn  schaffen,  während 
in  der  Natur  alle  Verschiedenheiten  nur  das  Ergebnis  allmählicher 
Entwicklung  sind  und  sich  überall  unendlich  feine  und  vielgestaltige 
Übergänge  finden.  In  unserem  Fall  scheint  die  Natur  selbst  eine 
scharfe  Grenze  gezogen  zu  haben;  in  Wahrheit  aber  besteht  in  allen 
kriminalpolitisch  bedeutsamen  Richtungen  auch  hier  nur  eine  all* 
mähliche  Entwicklung,  ein  langsamer  Übergang.  Darum  muß  auch 
hier  der  erwähnte  Gegensatz  so  gut  es  geht  überwunden  werden. 
Dazu  eröffnen  sich  im  Allgemeinen  zwei  Wege:  an  Stelle  der  zuerst 
geschaffenen  gröberen  Unterscheidungen  werden  immer  feinere  ge- 
setzt, man  schreitet  vor  in  der  Differenzierung ;  oder  man  gleicht  das 
Übel,  das  in  der  gezwungen  willkürlich  gezogenen  Grenze  liegt,  da- 
durch aus,  daß  man  die  Rechtsfolgen^  die  mit  den  getrennten  Tat- 
beständen verknüpft  werden,  ganz  aneinander  annähert  In  unserem 
Fall  ist  der  zweite  Weg  zu  betreten  und  heißt  hier:  Anschluß,  noch 
besser  Ineinandergreifen  der  Strafsätze.  Damit  wird  eine  ganz  all- 
gemeine Tendenz  von  weit  umfassender  Bedeutung  gefördert,  die  sich 
schon  vielfach  geltend  macht,  am  schönsten  im  Schweizer  Strafgesetz- 
entwurf zu  Tage  tritt  und  die  als  wahrhaft  modern  weitgehende 
Forderung  verdient,  denn  sie  ist  modern  nicht  in  dem  Sinn,  der  an 
„Mode^  anklingt,  sondern  deshalb,  weil  sie,  durch  das  Fortschreiten 
der  Wissenschaft  angeregt,  den  Bedürfnissen  unserer  Zeit  entgegen- 
kommt und  den  Eulturfortschritt  fördert. 

III. 

Der  letzte  Abschnitt  dieses  Aufsatzes  hätte,  auf  den  vorstehenden 
Ausführungen  fußend,  noch  die  Frage  eingehend  erörtern  sollen,  wie 
der  zukünftige  Strafgesetzgeber  den  Kindesmord  zu  behandeln  habe. 
Vor  seiner  Niederschrift  kam  mir  die  Ankündigung  zweier  Vorträge 
über  den  Kindesmord  zu^  die  Hab  er  da  und  Bisch  off  demnächst 
in  einer  Versammlung  der  Oe.  K.  V.  in  Wien  halten  werden.  Die 
Erörterung  unseres  Gegenstandes  von  Seite  eines  Vertreters  der  ge- 
richtlichen Medizin  und  eines  Psychiaters  läßt  Aufschlüsse  über 
manche  Einzelfragen  erwarten,  die  heute  noch  ungeklärt  sind  und  zu 
denen  ich  Stellung  nehmen  möchte.  Deshalb  sollen  die  abschließenden 
Ausführungen  über  die  Gesetzgebungsfrage  einem  besonderen  Aufsatz 
bis  nach  dem  Erscheinen  der  erwähnten  Vorträge  im  Druck  vor- 
behalten bleiben  und  es  sei  hier  nur  mehr  in  Kürze  angedeutet,  wes- 
halb der  legislative  Vorschlag  von  Liszt  in  der  „Vergleichenden 
Darstellung^    m.  E.   eine   befriedigende  Lösung   des  Problems  nicht 


266  X.  Gleispach 

bietet  v.  Liszt  zieht  von  vornherein  nur  zwei  Gründe  der  Straf- 
milderung in  Betracht:  den  physiologischen  Vorgang  der  Entbindung 
und  den  Ehrennotstand.  Der  Gesetzgeber  wird  sich  darüber  klar  zu 
werden  haben,  auf  welches  der  beiden  Momente  er,  ohne  damit  das 
andere  notwendig  auszuschalten,  das  entscheidende  Gewicht  legen 
will.  Liszt  entscheidet  sich  zu  Gunsten  des  Ehrennotstandes.  Die 
Erschütterung  des  seelischen  und  körperlichen  Gleichgewichtes  durch 
den  Gebärakt  selbst  fällt  unter  den  Begriff  der  verminderten  Zu- 
rechnimgsfähigkeit.  Wird  dieser,  wie  zu  erwarten  steht,  in  den  all- 
gemeinen Teil  des  künftigen  Gesetzbuches  aufgenommen,  so  bedarf 
die  verminderte  Zurechnungsfähigkeit  bei  der  Kindestötung  keiner 
besonderen  Berücksichtigung  mehr.  —  „Dagegen  greift  der  Begriff 
des  Ehrennotstandes  über  den  der  verminderten  Zurechnungsfäbigkeit 
hinaus.  Es  kann  sein,  daß  er  eine  Störung  des  seelischen  Gleich- 
gewichtes zur  Folge  hat,  die  uns  berechtigt,  von  verminderter  Zu- 
rechnungsfähigkeit zu  sprechen.  Aber  notwendig  ist  das  nicht  Und 
auch  in  den  Fällen,  in  denen  eine  Verminderung  der  Zurechnungs- 
fähigkeit zweifellos  ausgeschlossen  ist,  verdient  nach  der  heute 
herrschenden  Auffassung  die  im  Ehrennotstand  begangene  Handlung, 
da  sie  keine  besonders  antisoziale  Gesinnung  des  Täters  erkennen 
läßt,  die  Berücksichtigung  des  Straf gesetzgebers."  Weiter  heißt  es  aber 
dann:  „Gerade  nachdem  ich  oben  auf  die  Notwendigkeit  hingewiesen 
habe,  die  beiden  Momente,  das  physiologische  und  das  psychische, 
zunächst  auseinander  zu  halten,  möchte  ich  um  so  schärfer  betonen, 
daß  sie  nur  in  ihrer  Verbindung  die  mildere  Behandlung  der  Kindes- 
tötung zu  rechtfertigen  vermögen"  ....  ,,Nur  im  Zusammenhang 
mit  dem  Geburtsvorgang  vermag  der  Ehrennotstand  die 
Strafmilderung  für  die  Kindestötung  zu  rechtfertigen''  und 
später  kehrt  derselbe  Gedanke  wieder:  „Nicht  die  Furcht  vor  der 
Schande  an  sich,  sondern  die  motivierende  Kraft,  die  diese  Vor- 
stellung unter  dem  Einfluß  des  Gebäraktes  erlangen  kann, 
gibt  die  Rechtfertigung  für  die  Strafmilderung  ab."  Ich  muß  ge- 
stehen, daß  ich  trotz  allen  Bemühens  die  Widersprüche  nicht  zu  lösen 
vermochte,  die  in  diesen  Ausführungen  enthalten  zu  sein  scheinen. 
Meine  Bedenken  gegen  den  Satz,  daß  die  motivierende  Kraft  von  Vor- 
stellungen unter  dem  Einfluß  des  Geburtsvorganges  wesentlich  ge- 
steigert werde,  habe  ich  schon  oben  vorgebracht  Entscheidend  ist 
zunächst  die  Frage:  soll  unter  dem  Einfluß  des  Gebäraktes  doch 
Verminderung  der  Zurechnungsfähigkeit  verstanden  werden  oder 
nicht?    Es   scheint ,    daß   die   Frage   bejaht   werden  soll.  0     Wieso 

1)  Dafür  spricht  auch  folg.  Satz   in  Liszts  Lehrbuch:    „Der  Grand   für 


über  Kindesmord.  267 

kann  dann  aber  behauptet  werden,  das  entscheidende  Gewicht  sei  dem 
Ehrennotstand  beigelegt?  Dann  sind  beide  Momente  gleichwertig,  wie 
das  schon  früher  ansgeftihrt  wnrde.  Femer  sagt  ja  Liszt  selbst  sehr 
richtig,  die  im  Ehrennotstand  begangene  Handlang  verdient  auch  bei 
nicht  yenninderter  Zorechnnngsfähigkeit  die  Berficksichtigang  des  Ge- 
setzgebers. Das  gilt  aber  wohl  ganz  allgemein,  nicht  gerade  nur  von 
der  Eindestötong.  Die  einzig  richtige  Folgening  ist  dann  die,  daB 
der  Gesetzgeber  durch  eine  allgemeine  Bestimmung  dem  Ehren- 
notstand Rechnung  zu  tragen  habe.  Und  dann  trifft  der  Vorwurf, 
den  Liszt  gegen  den  Schweizer  Entwurf  erhebt,  auch  seinen  Vor- 
schlag. Strafmilderung  bei  verminderter  Zurechnungsfähigkeit  und 
bei  Ehrennotstand  sind  allgemeine  Gesichtspunkte,  beides  ist  im  all- 
gemeinen Teil  zu  regeln.«  Liegt  bei  einer  Kindestötung  bloß  das  eine 
oder  andere  Moment  vor,  so  tritt  Milderung  der  Strafe  nach  der  ent- 
sprechenden allgemeinen  Bestimmung  ein.  .Treffen  beide  zusammen, 
so  tritt  besonders  weitgehende  Strafmilderung  ein,  auf  Grund  der  An- 
wendung beider  allgemeinen  Bestimmungen;  jede  Sonderbestimmung 
für  Eindesmord  ist  ttberflttssig.  Schließlich  ist  die  Untersuchung 
der  Zurechnungsfähigkeit  für  jeden  Fall  des  Ehrennotstandes  doch 
wiederum  ausgeschlossen,  für  diese  Fälle  wird  die  Verminderung  der 
Zorechnungsfähigkeit  praesumiert  Wo  ist  aber  die  Grundlage  für  die 
Annahme,  bei  Ehrennotstand  müsse  die  Zurechnungsfähigkeit  ver- 
mindert sein?  Liszt  selbst  spricht  von  Fällen  des  Ehrennotstandes, 
in  denen  verminderte  Zurechnungsfähigkeit  zweifellos  ausgeschlossen 
ist,  von  der  motivierenden  Kraft,  welche  die  Vorstellung  der  Schande 
erlangen  „kann*'.  Also  nehmen  wir  an,  mit  dem  Einfluß  des  Ge- 
bäraktes, der  zum  Ehrennotstand  zur  Rechtfertigung  der  Milde  hin- 
zutreten muß,  ist  nicht  verminderte  Zurechnungsfähigkeit  gemeint 
Worin  dann  eigenüich  das  zweite  mildernde  Moment  gelegen  sein 
soll,  ist  nicht  ganz  klar  und  es  scheint  wenig  gerechtfertigt,  daß  dieser 
Einfluß  des  Gebäraktes  auf  die  Psyche  der  Täterin  —  denn  nur  um 
einen  solchen  kann  es  sich  handeln  —  doch  eine  wichtige  Bolle  für 
die  Strafmilderung  spielen  soll,   obwohl  er   sich  nicht   bis  zu   einer 

die  mildere  Behandlung  der  Kindestötung  liegt  nicht  so  sehr  in  der  durch  den 
GebSrakt  überhaupt  hervorgerufenen  Erschütterung  des  körperlichen  und  seelischen 
Gleichgewichtes  (denn  diese  kann  auch  bei  der  ehelichen  Mutter  eintreten),  als 
vielmehr  in  den  bei  der  unehelich  Geschwängerten  auftretenden  Antrieben  zur 
Tötung  des  Kindes  (Furcht  vor  Schande,  Unterhaltssorgen),  die  unter  dem  Ein- 
flnß  des  Gebäraktes  gesteigerte  Kraft  gewinnen  können.  Daher  findet  die  mil- 
dere Behandlung  ihre  Grenze  mit  dem  Aufhören  dieses  Zustandes  ge- 
minderter Zurechnungsf ähigkeit.^  (Bei  Liszt  sind  die  letzten 
Worte  nicht  durch  den  Druck  hervorgehoben.) 


268  X.  Gleispach 

Beeinträchtigung  der  Zarechnungsfähigkeit  erhebt.  Liszt  bringt  zur 
Begründung  das  Beispiel  von  einem  wohlhabenden  Mädchen,  dem  die 
Verheimlichung  der  Geburt  gelungen.  Erst  nach  Monaten  oder  Jahren 
tritt  der  Ehrennotstand  ein,  das  Mädchen  tötet  sein  Kind.  Kein  Straf- 
gesetzgeber  der  Welt  denkt  daran,  dem  Mädchen  die  Strafmilderung 
zu  teil  werden  zu  lassen,  ruft  Liszt  aus.  Die  Strafmilderung  d^ 
Eindesmordes  allerdings  nicht,  aber  die  Strafe  der  gemeinen  Tötung 
dürfte  auch  nicht  angemessen  sein.  Daß  es  für  den  Wegfall  der 
weitgehenden  Strafmilderung  besondere  Gründe  gibt,  daß  die  Tötung 
eines  Neugeborenen  und  eines  Kindes  im  Alter  von  mehreren  Monaten 
oder  gar  Jahren  eben  niemals  dasselbe  sind,  ist  schon  oben  ausgeführt 
worden.  Vor  allem  aber  beweist  dieses  Beispiel  aufs  deutlichste,  daß 
dem  Ehrennotstand  gerade  das  entscheidende  Gewicht  nicht  zukommt, 
das  ihm  Liszt  beigelegt  wissen  will.  Er  empfiehlt  als  Fassung  die 
des  niederländischen  St.G.B.:  „Die  Mutter,  die  unter  dem  Einfluß  der 
Furcht  vor  Entdeckung  ihrer  Entbindung  ihr  Kind  bei  oder  kurz 
nach  der  Geburt  vorsätzlich  tötet^  Diese  Fassung  läßt  aber  auch 
dem  Zweifel  Baum,  ob  der  Gesetzgeber  auf  verminderte  Zurechnungs- 
fähigkeit bereits  Rücksicht  genommen  habe  oder  nicht  Man  könnte 
schließlich  noch  daran  denken,  daß  das  zweite  mildernde  Moment  im 
Einfluß  des  Geburtsvorganges  überhaupt  gefunden  werde,  ohne  Unter- 
scheidung, ob  er  sich  bis  zu  einer  Verminderung  der  Zurechnungs- 
fähigkeit gesteigert  habe  oder  nicht.  Doch  auch  diese  Auffassung 
begegnet  dem  Vorwurf,  den  Liszt  gegen  den  Schweizer  Entwurf 
erhebt  und  auch  die  vorgeschlagene  Fassung  des  Tatbestandes  läßt 
sie  nicht  deutlich  erkennen.  Dieser  Fassung  haftet  übrigens  gerade 
vom  Standpunkt  Liszts  aus  noch  ein  weiterer  Mangel  an.  Sie  bringt 
den  Gedanken  nicht  klar  zum  Ausdruck,  daß  gerade  der  Ehrennot- 
stand, die  Furcht  vor  Schande,  das  ausschlaggebende  Moment  sei. 
Furcht  vor  Entdeckung  der  Entbindung  und  Ehrennotstand  decken 
sich  nicht,  vielmehr  reicht  die  erstere  weiter.  „Unter  dem  Einfluß 
der  Furcht  vor  Entdeckung  ihrer  Entbindung"  tötet  auch  das  Dienst- 
mädchen ihr  Kind,  das  die  außereheliche  Niederkunft  nicht  als 
Schande  betrachtet,  dem  femer  die  moralische  Verurteilung  seitens 
der  Dienstgeber  sehr  gleichgültig  ist,  das  aber  seine  Stelle  nicht  ver- 
lieren, nicht  mittellos  mit  dem  neugeborenen  Kind  auf  die  Straße 
gesetzt  sein  will.  Das  Dienstmädchen  fürchtet  die  Entdeckung  der 
Entbindung,  aber  es  befindet  sich  nicht  im  entferntesten  in  einem 
Ehrennotstand,  es  handelt  nicht  aus  Furcht  vor  Schande,  sondern  aus 
Furcht  vor  Not  Freilich  verdient  auch  dieser  Fall  die  Berücksichtigung 
des  Gesetzgebers,  aber  Liszt  will  ihn  nicht  berücksichtigen.     Auch 


über  Kindesmord.  269 

das  kann  ich  nicht  gerechtfertigt  finden;  giU  doch  von  materieller 
Not  gewiß  ebenso  wie  vom  Ehrennotstand  der  Satz,  daß  die  nnter 
solchem  Einfluß  begangene  Handlang  eine  besonders  antisoziale  6e- 
siminng  nicht  erkennen  läßt^)  Zudem  muß  es  kriminalpolitisch  sehr 
bedenklich  erscheinen,  die  Strafmilderung  für  die  Mutter,  die  ihr 
Kind  bei  der  Geburt  tötet,  einzig  und  allein  gerade  an  ein  solches  Mo- 
ment anzuknüpfen,  das  das  für  das  Leben  des  Kindes  gefahrlichste 
Verhalten  der  Mutter  zur  notwendigen  Voraussetzung  hat,  —  das  ist 
die  Verheimlichung  von  Schwangerschaft  und  Geburt. 


IV. 

Ich  möchte  nicht  schließen,  ohne  noch  auf  die  symptomatische 
Bedeutung  der  ganzen  Kontroverse  hingewiesen  zu  haben.  Sie  liegt 
offensichtlich  darin,  daß  die  Erörterung  eine  beträchtliche  Zahl  von 
Einzelfragen  aufgezeigt  hat,  über  die  heute  Meinungsverschiedenheit 
und  Unklarheit  besteht,  während  sie  durch  exakte  Beobachtungen  und 
Forschung  außer  Zweifel  gestellt  sein  könnten.  Das  führt  auf  unseren 
Ausgangspunkt  zurück,  den  Heidelberger  Vortrag  von  Hans  Groß. 
Wenn  er  fordert,  daß  die  Lehre  von  der  Erscheinung  und  den  Ur- 
sachen der  Verbrechen  gepflegt,  ja  vielfach  erst  geschaffen  werde, 
daß  das  Strafrecht  psychologisch  zu  vertiefen  sei,  so  ist  dem  nur 
beizustimmen.  Eine  Unsumme  von  Erfahrungen  und  Beobachtungen 
besteht  heute  nur  in  der  Erinnerung  ungezählter  Praktiker  oder  ist 
bereits  vergessen ;  eine  nicht  minder  große  Summe  von  Beobachtungen 
könnte  gemacht  werden,  wenn  die  Aufmerksamkeit  auf  die  ent- 
scheidenden Funkte  gelenkt  würde.  Für  die  Wissenschaft  geht  das 
Alles  zum  größten  Teil  verloren  und  wir  streiten  über  Fragen,  kon- 
struieren und  kombinieren,  während  die  gesammelten  Tatsachen  po- 
sitive Antworten  geben  könnten.  In  der  gesamten  Statistik  liegen 
große  Schätze,  die  erst  gehoben  werden  müssen.    Der  Beweis  aber  für 

1)  H a f t e r  ist  bei  Bespreciiung  der  Liszt'Bchen  Vorschläge  (Schwei- 
zer Z.  19,  147)  dafür  eingetreten,  jedes  bei  der  Täterin  nachweisbare  Gefühl,  sie 
hätte  sich  in  irgend  einem  Notstand  befanden,  zu  berücksichtigen.  Sein  Vor- 
schlag, der  Art  63  der  Schweiz.  Entwurfes  verbessern  soll,  lautet:  „Die  Muttor 
die  imter  dem  Einflüsse  der  Furcht  vor  Entdeckung  ihrer  Entbindung  oder  in 
einem  anderen  ihr  Handeln  beeinflussenden  Notstand  ihr  Kind  bei  oder  kurz 
nach  der  Geburt  tötet  ,  ,  .  .^  Dagegen  ist  aber  vor  allem  einzuwenden,  daß 
^Notstand*^  allgemein  ein  technischer  Ausdruck  ist  und  ebenso  im  Schweiz.  Ent- 
wTirf  gebraucht  wird:  Art.  25  „Notstand".  „Die  Tat, . . .  (die  jemand  im  Notstand 
begeht) . . .,  ist  kein  Verbrechen*'  und  bei  notstandsähnlichen  Fällen  mildert  der 
Richter  die  Strafe  nach  freiem  Ermessen.  -— 


272  XI.  HÖLZL 

mehreren  Meistern  empfohlen  wurde,  aber  keine  Arbeit  fand  und 
sonach  von  Innsbruck  abreiste  Meister  Schäfer  sagt  weiter,  daß 
er  Anfangs  Jänner  1879  aus  einem  Orte  in  der  Nähe  von  Graz, 
dessen  Namen  ihm  aus  dem  Gedächtnisse  verschwand,  eine  Korre- 
spondenzkarte, die  er  gleich  als  nicht  vom  Drosger  geschrieben  er- 
kannte, erhalten  habe,  des  Inhaltes,  er  möge  *  den  bei  ihm  in  Ver- 
wahrung befindlichen  Koffer  des  Drosger  nach  Graz  poste  restante 
senden,  was  er  aber  nicht  tat.  Leider  sei  ihm  diese  Karte  verloren 
gegangen.  Es  liegt  nun  die  Befürchtung  nahe,  daß  ürban  Drosger 
entweder  verunglückt  oder  gar  das  Opfer  eines  Verbrechens  geworden 
ist.  ürban  Drosger  ist  1860  geboren,  also  19  Jahre  alt,  mittelgroß, 
hat  längliches  Gesicht,  braune  Haare  und  braune  Augen,  regelmäßigen 
Mund  und  rundes  Kinn.^ 

Nach  dem  Inhalte  dieser  Ausschreibung  war  es  unschwer  anzu- 
nehmen, daß  wenn  Urban  Drosger  wirklich  das  Opfer  eines  Ver- 
brechens geworden  ist,  Franz  Haas  an  demselben  beteiligt  gewesen 
sein  müsse.  Es  war  hiemach  ein  eventueller  Verbrecher  vorhanden, 
aber  es  fehlte  noch  der  verbrecherische  Tatbestand.  Ich  begab  mich 
deshalb  in  dieser  Beziehung  auf  die  Suche  in  den  Polizeiblättern  und 
stieß  hierbei  auf  eine  Ausforschung  des  Kreisgerichtes  Leoben,  eben- 
falls im  Polizeiblatte  für  Steiermark,  laut  welcher  am  23.  März  1879 
nächst  Hafning  bei  Trofaiach,  teilweise  aus  dem  Schnee  hervorragend, 
die  nur  notdürftig  bekleidete  Leiche  eines  Mannes,  18—20  Jahre  alt, 
aufgefunden  wurde.  Durch  die  gerichtliche  Obduktion  war  festgestellt 
worden,  daß  der  fragliche  Mann  vor  längerer  Zeit  durch  gewaltige, 
mittelst  eines  stumpfen  Werkzeuges  versetzte  Streiche  meuchlings  er- 
mordet worden  ist.  Eine  Photographie  der  Leiche  des  Ermordeten 
ward  aufgenommen  und  bei  Gericht  deponiert 

Da  ich  aus  mehreren  Gründen  annehmen  durfte,  daß  der  bei 
Hafning  ermordet  aufgefundene  junge  Mann  mit  ürban  Drosger 
identisch  sein  könnte,  so  teilte  ich  der  Staatsanwaltschaft  Leoben 
diese  meine  Vermutung  mit  und  haben  die  hierüber  eingeleiteten  um- 
fangreichen gerichtlichen  Erhebungen  dahingeführt,  das  durch  einen 
Handwerksburschen  aus  der  Photographie  der  Hafninger  Leiche 
ürban  Drosger  agnosziert  wurde.  Diese  Agnoszierung  stellte  sich 
jedoch  gelegentlich  einer  Konfronüerung  des  Handwerksburschen  mit 
Franz  Haas  als  unrichtig  heraus.  Der  Handwerksbursche  hatte 
nämlich  nur  den  Franz  Haas,  der  mit  der  photographierten  Leiche 
einige  Ähnlichkeit  hatte,  als  ürban  Drosger  gekannt,  da  er  mit  diesem 
unter  dem  Namen  ürban  Drosger  im  November  und  Dezember  1878 
im  Spitale  zu  Kiagenfurt  in  Pflege  stand.     Damit  kam  man  wieder 


Aus  den  Erinneningen  eines  Polizeibeamten.  27S 

anf  den  ursprünglichen  Standpunkt  zurück,  daß  man  wohl  einen 
eventuellen  Täter,  aber  keinen  objektiven  Tatbestand  vor  sich  hatte, 
und  es  mußte  deshalb  das  gerichtliche  Verfahren  eingestellt  werden. 

Ich  selbst,  dem  sonach  die  Einsichtnahme  in  den  Untersuchungs- 
akt ermöglicht  ward,  gelangte  ebenfalls  zur  Überzeugung,  daß  die  am 
23.  März  1879  bei  Hafning  aufgefundene  Leiche  die  des  verschollenen 
Tischlergehilfen  Urban  Drosger  nicht  sein  könne.  Der  Verdacht  aber, 
daß  Franz  Haajs  doch  an  dem  Verschwinden  des  Urban  Drosger  be- 
teiligt sei,  wollte  bei  mir  durchaus  nicht  weichen^  und  zwar  speziell 
auch  deshalb,  weil  Franz  Haas,  als  er  sich  unter  den  Namen  Urban 
Drosger  und  mit  dessen  Arbeitsbuche  im  Krankenhause  zu  Klagen- 
fort  befand,  den  gepflogenen  gerichtlichen  Erhebungen  zufolge  ganz 
solche  Kleidungsstücke  getragen  hat,  wie  der  vermißte  Urban  Drosger 
zur  Zeit  seiner  Abreise  aus  der  Heimat. 

Daran  festhaltend,  daß  Franz  Haas  doch  eventuell  der  Mörder 
des  verschollenen  Urban  Drosger  sei,  war  es  nun  meine  Aufgabe, 
diesen  anderswo  ermordet  zu  eruieren,  wozu  ich  folgenden  Weg 
einschlug: 

Urban  Drosger  verließ  am  12.  August  1878  seinen  letzten  Dienst- 
platz bei  Schäfer  in  Welsberg  und  hatte  laut  eines  Ende  August  1 87  8, 
angeblich  aus  St.  Johann  in  Salzburg,  an  seinen  Stiefvater  Silvester 
Erlsbacher  gelangten  Briefes  die  Absicht,  nach  Linz  zu  gehen,  was 
daraus  hervorgeht,  daß  er  sich  vom  Stiefvater  ein  Schreiben  nach 
Linz  poste  restante  erbat.  In  dem  Briefe  an  den  Stiefvater  erwähnte 
er  auch,  daß  er  mit  einem  ihm  bekannten  Kollegen  reise.  (Franz 
Haas  ist  aus  demselben  Bezirk.)  Wenn  er  also  das  Opfer  eines  Ver- 
brechens geworden  war,  so  mußte  dies  auf  der  Beise  von  Tirol  nach 
Oberösterreich  geschehen  sein,  weil  seit  seinem  vorerwähnten  Briefe 
aus  St.  Johann  kein  weiteres  Lebenszeichen  von  ihm  eingetroffen  ist. 

Ich  stellte  daher  diesbezüglich  zunächst  wieder  Nachforschungen 
in  den  Polizeiblättern  an  und  fand  im  Polizeiblatte  für  das  Herzogtum 
Salzburg  Ausschreibungen  des  Bezirksgerichtes  Traunstein  in  Bayern, 
betreffend  einen  ermordeten  unbekannten  Mann,  von  dem  ich  der 
Sachlage  nach  annehmen  durfte,  daß  er  mit  dem  vermißten  Urban 
Drosger  identisch  sein  könnte.  Die  Ausschreibungen  besagten,  daß 
am  30.  August  187S  morgens  bei  der  Schwarzbachwacht,  ca.  200  Schritte 
von  der  Beichenhall-Bamsauer  Straße  entfernt,  eine  nackte  Leiche  ge- 
funden wurde.  Diese  Leiche  war  männlichen  Geschlechts,  1,63  Meter 
lang,  bei  20  Jahre  alt,  bartlos,  hatte  schwarzbraunes  Haar,  einen  Kropf 
und  rauhe  Hände.  Der  Schädel  war  wahrscheinlich,  mit  einem  Stein 
zerschmettert.    In  der  Nähe  der  Leiche  wurden  zwei  Fußlappen,  einer 

ArcbiT  für  Kriminalanthropologie.    27.  Bd.  18 


274  XI.  HÖLZL 

davon  mit  einem  ü  gemerkt,  ein  weißbeinerner  Löffel  mit  dem  Bilde 
des  Heiligen  Franz  Seraficus  und  einem  Vers,  sowie  ein  weißes  Zahn- 
bürstchen gefunden. 

Die  Beschreibung  der  Leiche,  der  Buchstabe  ü  auf  einem  der 
vorgefundenen  Fußlappen  und  auch  der  Fundort  der  Leiche,  letzterer 
mit  Rücksicht  darauf,  daß  der  gewöhnliche  Weg  von  Tirol  nach 
Oberösterreich  durch  die  dortige  Gegend  führt,  ließen  mich  auf  den 
vermißten  ürban  Drosger  schließen. 

Die  vom  königlich -bayrischen  Bezirksgerichte  Traunstein  zur 
Verfügung  gestellten  Akten  samt  Photographie  der  in  der  Schwarz- 
bachwacht  aufgefundenen  Leiche  gaben  dann  noch  weitere  Anhalts- 
punkte dafür,  daß  meine  Annahme  Berechtigung  hatte:  Aus  dem 
Augenscheinsprotokolle  war  zu  entnehmen,  daß  der  im  Salzburger 
Polizeiblatte  erwähnte  Kropf  des  Ermordeten  von  mäßiger  Größe  war, 
was  erklärlich  erscheinen  läßt,  daß  bezüglich  des  Urban  Drosgers  eines 
Kropfes  nicht  Erwähnung  getan  wurde.  Nach  dem  ärztlichen  Gut- 
achten mochte  die  Leiche  des  Ermordeten  bis  zur  Beschau,  die  am 
30.  August  1878  vorgenommen  wurde,  nicht  unter  10  und  nicht  über 
20  Stunden  gelegen  sein,  so  daß  also  auch  hinsichtlich  der  Zeit,  in 
welche  der  Mord  fällt,  Urban  Drosger  für  den  Ermordeten  gehalten 
werden  konnte.  Die  Zeugenaussagen  wiesen  bezüglich  des  Ermor- 
deten  und  des  Mörders  auf  zwei  reisende  Handwerksburschen,  was 
wiederum  für  meine  Annahme  sprach,  und  namentlich  die  Aussagen 
des  Malers  Ludwig  Seitz  und  der  Bäuerin  Gertrud  Weißbacher  waren 
in  dieser  Beziehung  von  besonderem  Belange.  Maler  Seitz  sagte  nach 
Vorweisung  der  Photographie  des  Ermordeten,  daß  er  in  derselben 
bestimmt  einen  der  beiden  Handwerksburschen  zu  erkennen  glaube, 
die  er  am  28.  August  1878  mittags  bei  dem  Gradierhause  in  Reichen- 
hall traf  und  gab  dann  weiters  an:  „Dieser  nun  getötete  Mann  trug 
eine  Reisetasche  zum  Umhängen  und  sein  Begleiter  einen  zusammen- 
geschnürten Berliner  mit  dunkler  Wachsleinwand  umhüllt"  Die 
Bäuerin  Weißbacher  sagte,  daß  der  photographierte  Mann  einer  der 
zwei  Hand  Werksburschen  sein  könne,  welche  am  29.  August  1878 
abends  in  ihr  Haus  kamen  und  um  Essen  baten,  was  sie  auch  er- 
hielten. Der  größere  der  beiden  Burschen  trug  einen  weißen  Regen- 
schirm, der  kleinere,  wahrscheinlich  der  Getötete,  einen  schwarzen  Regen- 
schirm und  eine  Umhängtasche.  Auch  zwei  andere  Zeugen  sprachen 
bei  ihrer  Einvernehmung  von  zwei  Handwerksburschen  mit  Berliner 
und  Sonnenschirm. 

Hierzu  kommt  zu  bemerken,  daß  Franz  Haas,  laut  des  mit  Anna 
Kopper  im  Zuge  der  Vorerhebungen  rücksichtlich  der   Leiche   von 


AuB  den  Erinnerungen  eines  Polizeibeamten.  275 

Hafning  beim  Bezirksgerichte  St  Veit  in  Kärnten  aufgenommenen 
Protokoiles,  im  Besitze  eines  Schattenspenders  gewesen  ist,  als  er  im 
Herbste  1878  unter  den  Namen  Urban  Drosger  und  mit  dem  Arbeits- 
bucbe  desselben  bei  den  Eheleuten  Kopper  in  St  Veit  in  Arbeit  stand; 
denn  die  Anna  Kopper  sagte:  „Jener  Taglöhner,  welcher  bei  uns  im 
Herbste  1878  arbeitete,  trug  einen  Schattenspender,  worüber  ich  sehr 
gelacht  habe.^ 

Aus  den  Akten  des  Bezirksgerichtes  Traunstein  war  noch  hervor- 
zuheben, daß  die  bei  der  Leiche  gefundenen  Fußlappen  blau  ge- 
wesen und  auf  einem  derselben  der  Buchstabe  U  rot  eingemerkt  war. 

Die  hiemach  von  mir  veranlaßten  Erhebungen  durch  die  Bezirks- 
hauptmannschaft Spital  in  Kärnten  und  die  Gendarmerie  zu  Welsberg 
in  Tirol  lieferten  ebenfalls  ganz  vorzügliche  Resultate,  welche  sich 
im  Nachstehenden  zusammenfassen  lassen: 

a)  Dem  Simon  Drosger,  Bruder  des  verschollenen  ürban  Drosger, 
war  bekannt,  daß  dieser  einen  kleinen  Steckkropf  hatte. 

b)  Der  Tischlermeister  Schäfer  in  Welsberg  konnte  sich  erinnern, 
daß  Urban  Drosger  einen  weißbeinemen  Löffel  mit  einem  Vers  hatte. 

c)  ürban  Drosger  pflegte  sich  die  Zähne  zu  putzen  und  besaß 
zu  diesem  Zwecke  ein  weißes  Zahnbürstchen. 

d)  ürban  Drosger  hat  Fußlappen  getragen  und  besaß  blaue 
Schürzen,  aus  welchen  er  sich  Fußlappen  gemacht  haben  konnte. 

e)  Nach  Angabe  des  Stiefvaters  Silvester  Erlsbacher  und  des 
Bruders  Simon  Drosger  waren  die  Hemden  des  ürban  Drosger  mit 
den  lateinischen  Druckbuchstaben  ü  D  rot  gemerkt 

f)  Wie  sich  Tischlermeister  Schäfer  in  Welsberg  und  dessen 
W&scherin  erinnerten,  hatte  ürban  Drosger  blau  und  weiß  karrierte 
Hemden  (Oxfort)  und  Valentin  Salzleitner,  auch  einer  derjenigen,  die 
gleichzeitig  mit  Franz  Haas  (unter  den  Namen  ürban  Drosger)  im 
Herbste  1878  im  Krankenhause  zu  Klagenfurt  waren,  erinnerte  sich, 
daß  er  bei  Franz  Haas  ein  Oxforthemd  gesehen  habe,  welches  der- 
selbe bald  nach  seinem  Kommen  ins  Krankenhaus  ausgewaschen  hätte. 

g)  ürban  Drosger  trug  sowohl  bei  seiner  Abreise  aus  der  Heimat 
als  auch  bei  der  Abreise  von  Welsberg  einen  sogenannten  Berliner. 

h)  Laut  Relation  des  Gendarmeriepostens  zu  Millstadt  in  Kärnten 
erzählte  Johann  Haas,  ein  Bruder  des  Franz  Haas,  daß  er  dem 
letzteren,  bei  einem  Zusammentreffen  in  Salzburg,  wohin  Johann 
Haas  im  Jahre  1878  als  Viehtreiber  gekommen  war,  eine  Reisetasche 
gegeben  habe. 

i)  Wie  der  Gendarmerieposten  zu  Welsberg  berichtete,  hatte  ürban 
Drosger  einen  Schattenspender,   höchst   wahrscheinlich   von  grauer 

19* 


276  XL  HöLZL 

Farbe;  nach  den  Erhebungen  der  Bezirkshauptmannscbaft  Spital 
hatte  Urban  DroBger  einen  kleinen,  mehr  feinen  Regenschirm  und 
Franz  Haas  einen  kleinen  Sonnenschirm. 

Alles  im  allen  war  es  nun  wohl  kaum  mehr  einem  Zweifel 
unterliegend,  daß  Franz  Haas,  mit  Rücksicht  auf  die  am  30.  August 
1878  bei  Schwarzbachwacht  in  Bayern  aufgefundene  Leiche,  doch  der 
Mörder  des  Urban  Drosger  sei,  und  ich  sandte  daher  den  Akt  des 
königlich -bayrischen  Bezirksgerichtes  Traunstein  samt  meinen  Er- 
hebungen zur  weiteren  Veranlassung  an  die  k.  k.  Staatsanwaltschaft 
Leoben. 

Von  der  beim  königlich-bayrischen  Bezirksgerichte  Traunstein 
aufgenommenen  Photographie  des  in  der  Schwarzbachwacht  Ermor- 
deten hatte  ich  vorsätzlich  keinen  Gebrauch  gemacht,  weil  ich  der 
Ansicht  war,  daß  diese  Photographie  gleichzeitig  mit  den  mir  nicht 
zur  Verfügung  gestandenen  corporibus  delicti  (blauer  Fußlappen  mit 
rotem  ü,  Zahnbürstchen  und  weißbeinemer  Löffel)  den  Verwandten 
und  Bekannten  des  Urban  Drosger  behufs  Agnoszierung  vorgewiesen 
werden  solle. 

Es  kam  sohin  zur  Wiederaufnahme  des  gerichtlichen  Verfahrens 
gegen  Franz  Haas  und  zwar  in  Folge  von  Kompetenzrücksichten 
beim  Landes-  und  Untersuchungsgericht  in  Graz.  Die  gerichtliche 
Untersuchung,  welche  auch  noch  andere  Beweismomente  zu  Tage 
förderte,  führte  zur  Anklage  gegen  Franz  Haas  wegen  Verbrechens 
des  Raubmordes  an  Urban  Drosger  und  am  14.  Juli  1881  wurde 
derselbe  nach  abgeführter  Schwurgerichtsverhandlung  des  Verbrechens 
des  Raubmordes  schuldig  erkannt  und  zu  lebenslanger  schwerer 
Kerkerstrafe  verurteilt.  — 

Über  die  nächst  Hafning  bei  Trofaiach  aufgefundene  Leiche 
schwebt  meines  Wissens  ein  noch  immer  unaufgeklärtes  Dunkel. 


XIL 
Über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Strafrecht. 

Vortrag, 

gehalten  am  8.  Dezember  1906  in  der  Vorlesmig  des  Rechtsanwalts  Dr.  Gorres 
über  forensische  Psychologie,  veranstaltet  von  der  Vereinigung  für  staatswissen- 
schaftliche Fortbildung  in  Berlin. 

Von 

Constantin  von  Zastrow,  Gerichtsassessor  in  Breslau. 


Durch  alle  Erörterangen  über  die  gegenwärtig  in  Vorbereitung 
befindliche  Beform  unsres  Strafrechts  zieht  sich  wie  ein  tiefer,  unüber- 
brückbarer Spalt  der  Streit  zwischen  der  klassischen  und  der  modernen 
Strafsrechtsschule  über  die  philosophische  Begründung  und  Recht- 
fertigung der  Bestrafung  des  Verbrechens,  der  Kanipf  um  den  Deter- 
minismus und  die  Verantwortlichkeit,  ein  Kampf,  der  von  beiden 
Seiten  mit  ungewöhnlicher  Heftigkeit  geführt  wird  und  dessen  Be- 
endigung nach  seinen  neusten  Phasen  aussichtsloser  denn  je  erscheint. 
Wenn  Birkmeyer  in  seiner  neusten  Besprechung  der  gesammelten 
Beden  und  Aufsätze  v.  Liszts  mit  lakonischer  Kürze  anhebt:  „wer 
die  Willensfreiheit  leugnet,  der  kann  kein  Strafrecht  begründen,"  wenn 
Kohlrausch  bei  der  Besprechung  der  neusten  Monographie  des  Beichs- 
gerichtsrats  Petersen  über  den  Determinismus  mit  Bitterkeit  von  den 
seit  Jahrzehnten  so  oft  von  ähnlicher  Seite  ausgegangenen  Aufsätzen 
spricht,  die  auf  ebenso  geringer  Belesenheit  wie  unscharfer  Logik 
beruhten  und  so  häufig  in  persönliche  Kränkungen  ausmündeten, 
wenn  endlich  Dohna  in  der  Vorrede  seiner  kürzlich  über  Willens- 
freiheit und  Verantwortlichkeit  gehaltenen  Vorträge  auf  die  Beibringung 
Deuer  Gedanken  verzichtet  und  die  Behauptung  wiederholt  „das  Für 
und  Wider  in  Sachen  der  Willensfreiheit  ist  erschöpft",  so  möchte  man 
an  der  Lösung  dieser  Streitfrage  verzweifeln.  Wenn  der  nachfolgende 
Vortrag  dennoch  auf  das  Interesse  eines  sachkundigen  Leserkreises 
hofft,  so  geschieht  das,  weil  der  Verfasser  durch  das  eingebende 
Studium  der  Vorlesungen  Wilhelm  Windelbands  über  die  Willens- 
freiheit zu  der  Überzeugung  gekommen  ist,  daß  Windelbands  Lösung 


278  XII.  VON  Zastbow 

des  Problems  in  der  kriminalistischen  literatar  nicht  die  gebührende 
Beachtung  gefunden  hat  und  daß  seine  Lösung  bei  einer  folgerichtig 
durchgeführten  Nutzanwendung  auf  die  spezielle  Problemstellung  der 
Kriminalistik  zu  einer  Versöhnung  der  streitenden  Gegner  führen 
muß.  Die  Nutzbarmachung  der  leitenden  Gedanken  Windelbands 
führt  insbesondere  zu  der  Erkenntnis,  daß  es  nur  einen,  bisher  nur 
von  Schopenhauer  angedeuteten,  Weg  zum  unwiderleglichen  Nach- 
weise der  Richtigkeit  des  Determinismus  gibt,  den  der  logischen 
Analyse  der  Worte  Freiheit,  Möglichkeit,  Können.  Es  gilt  zu  be- 
weisen, daß  die  Lösung  des  Problems  weder  Sache  des  Glaubens 
oder  des  Empfindens,  des  persönlichen  Sentiments,  noch  eine  Unmög- 
lichkeit ist  sondern  einzig  und  allein  Sache  der  Logik  und  mittels 
dieser  jedem  vorurteilslos  Denkenden  zur  Evidenz  gebracht  werden 
kann,  wie  sie  ja  auch  unter  den  Philosophen  der  Gegenwart  so  gut 
wie  unstreitig  ist  —  denn  Eucken  hat  eine  Widerlegung  des  Deter- 
minismus vorerst  nur  in  Aussicht  gestellt. 

Auf  eine  Auseinandersetzung  mit  Windelband  ist  trotz  einiger 
abweichender  Meinungen  hinsichtlich  der  Gliederung  der  Bestandteile 
des  Problems  und  der  Anordnung  des  Gedankenganges  verzichtet 
worden,  um  den  schweren  Stoff  nicht  noch  mehr  zu  belasten.  Es 
mag  deshalb  nur  erwähnt  werden,  daß  mir  in  Windelbands  Drei- 
teilung des  Willensaktes  in  Begehren,  Überlegung  und  Entschluß,  die 
Beziehung  des  eigenüichen  Willensproblems  auf  die  erste  Stufe  des 
Begehrens  unrichtig  zu  sein  und  die  verwirrende  Anordnung  des 
Stoffs,  bei  der  sich  der  gleiche  Gedankengang  zweimal  hintereinander 
mit  demselben  Abschluß,  in  der  Mitte  als  „sitüiche  Freiheit^,  am  Schlüsse 
als  „Verantwortung"  vollzieht,  auf  diesem  Fehler  zu  beruhen  scheint.  *) 


Wir  beginnen  mit  einer,  uns  wichtigen  positiven  Stimmung 
unseres  Strafgesetzes: 

Der  §  51  des  Strafgesetzbuches  erklärt  bekanntiich  eine  strafbare 
Handlung  für  nicht  vorhanden,  wenn  der  Täter  z.  Z.  der  Tat  im 
Zustande  von  Bewußtlosigkeit  oder  krankhafter  Störung  der  Geistes- 
tätigkeit sich  befand,  durch  die  seine  freie  Willensbestimmung  aus- 
geschlossen wurde. 

Freie  Willensbestimmung  ist  also  die  Voraussetzung  der  Straf- 
barkeit, und  das  entspricht  unserem  unbefangenen  Empfinden:  der 
freie  Wille  des  Menschen  ist  die  Bedingung*  seiner  Verantwortlichkeit 
für  seine  Handlungen. 

1)  Diese  Vorbemerkung  vertritt  hier  die  Stelle  einiger  andrer  Worte,  die 
den  mündliehen  Vortrag  einleiteten. 


über  Wiudelband  und  den  Streit  um  das  Straf  recht.  279 

So  natürlich  dieser  Satz  zunächst  erscheint,  so  problematisch 
erweist  er  sich  bei  tieferem  Nachdenken.  Denn  aus  den  zwei  Worten 
freier  Wille  erwächst  der  genaueren  Betrachtung  eine  Fülle  von  J'ragen 
und  Bedenken,  die  gegeneinander  streiten  und  unser  Denken  in  einen 
Strudel  unlöslicher  Widersprüche  hineinzuziehen  drohen. 

Auf  der  einen  Seite  erwächst  aus  dem  Bewußtsein  des  Sollens, 
einer  moralischen,  rechtlichen  und  zuletzt  religiösen  Gebundenheit,  die 
praktische  Forderung  des  Könnens:  „Du  kannst,  denn  Du  sollst" 
Auf  der  anderen  Seite  fühlen  wir  Schritt  für  Schritt  unsere  Abhängigkeit 
TOD  der  Außenwelt  und  werden  mit  Beschämung  dessen  inne:  „Du 
glaubst  zu  schieben  und  Du  wirst  geschoben.^ 

Der  Widerstreit  dieser  Betrachtungen  im  Innern  des  Menschen 
findet  seinen  Widerhall  in  der  Erörterung  des  Willensproblems  im 
wissenschaftlichen  und  politischen  Leben.  Zwei  feindliche  Parteien 
sind  es,  die  einander  in  äußerster  Leidenschaft  bekämpfen:  hier  die 
Indeterministen,  die  von  dem  Postulat  der  Verantwortlichkeit  ausgehen, 
in  dem  Satze  „Du  kannst,  denn  Du  sollst",  die  Grundlage  von  Moral, 
Recht  und  Religion  und  in  der  Leugnung  dieses  Satzes  die  Zerstörung 
aller  Ideale  unserer  Kultur  erblicken.  Dort  die  Deterministen,  die  von 
der  exakten  Beobachtung  der  Wirklichkeit  ausgehen,  sich  auf  das 
allem  Geschehen  zugrunde  liegende  Gesetz  der  Kausalität  berufen, 
das  auch  auf  das  Willensleben  des  Menschen  Anwendung  finden 
müsse,  und  daraus  folgern:  „Du  glaubst  zu  schieben  und  Du  wirst 
geschoben/  Der  Wille  ist,  so  sagen  sie,  durch  Motive  determiniert, 
und  daraus  folgern  sie,  daß  von  Freiheit  des  Willens  allerdings  nicht 
die  Rede  sein  könne,  und  daß  die  bisherigen  Grundlagen  der  Moral, 
des  Rechts  und  der  Religion  damit  allerdings  erschüttert  seien,  ja  daß 
es  einer  Umwertung  aller  Werte  auf  diesem  Gebiete  bedürfen  werde. 

So  steigt  das  Determinismusproblem  aus  der  Selbstbeobachtung  des 
einzelnen  Menschen  auf  und  erstreckt  sich  schließlich  auf  die  höchsten 
und  tiefsten  Fragen  des  Menschenlebens.  Fast  so  alt  wie  die  Philo- 
sophie unter  den  Menschen  erscheint  es  heute  noch  so  unausgetragen 
wie  je.  Das  zeigt  uns  wieder  der  neu  entbrannte  Kampf  um  die 
Grundsätze  der  Strafrechtsform,  deren  eigentlicher  Kern  die  Frage 
nach  der  Willensfreiheit  ist. 

Zu  dem  Versuche,  in  einem  kurzen  Vortrage  eine  Orientierung 
über  dieses  Problem  und  einen  Versuch  zu  seiner  Lösung  zu  geben, 
ermutigt  mich  ein  Buch,  das  vor  nicht  langer  Zeit  erschienen  ist  und 
das  mir  eine  bedeutungsvolle,  ja  entscheidende  Wendung  in  der 
Determinismusfrage  zu  bedeuten  scheint  Wilhelm  Windelband, 
Professor  der  Philosophie  in  Heidelberg,  hat  zwölf  Vorlesungen  über 


280  Xir.  VON  Zastrow 

Willensfreiheit  herausgegeben,  in  denen  er  mit  der  ihm  eigenen  Gabe, 
kühler,  allem  Parteigetriebe  entrückter,  rein  wissenschaftlicher  Be- 
trachtung das  Problem  untersucht  hat.  Und  es  ist  ihm  gelungen  zu 
zeigen,  daß  es  eine  Lösung  gibt,  die  die  streitenden  Gegner  versöhnen 
und  jedem  von  ihnen  zu  seinem  Rechte  verhelfen  kann,  daß  die  ver- 
meintliche Unvereinbarkeit  von  Determinismus  und  Verantwortlichkeit 
ein  Fehlschluß  ist,  der  auf  einseitiger  und  deshalb  mangelhafter  Be- 
trachtung der  Wirklichkeit  beruht  Der  Determinismus  erweist  sich 
dem  konsequenten,  die  Dinge  erschöpfenden  Nachdenken  als  unum- 
stößlich richtige  Anschauung,  aber  er  widerspricht  der  Verantwortlich- 
keit nicht  nur  nicht,  er  ist  vielmehr  notwendige  Voraussetzung  für  sie, 
und  was  wir  den  freien  Willen  nennen,  findet,  sofern  es  die  Bedingung 
jener  Verantwortlichkeit  ist,  seine  Erklärung  aus  einer  Betrachtungs- 
weise, die  den  Determinismus  unberührt  läßt  Diese  Lösung  des 
Problems  bietet  m.  E.  den  Schlüssel  zur  Lösung  aller  im  Determinismus- 
problem enthaltenen  Streitfragen  der  praktischen  Lebensgestaltung, 
insbesondere  für  den  Juristen  den  Schlüssel  zum  Verständnis  der 
Ideen,  die  den  Kampf  zwischen  der  klassischen  und  der  modernen 
Strafrechtsschule  bestimmen. 

Ich  will  versuchen,  an  der  Hand  der  Gedankengänge  Windelbands 
das  Problem  und  dessen  Lösung  Ihnen  zu  entwickeln,  werde  aber, 
gezwungen  durch  die  Kürze  der  Zeit  und  die  besondere  Interessensphäre 
des  Juristen,  im  Einzelnen  andere  und  kürzere  Wege  einzuschlagen 
suchen,  und  bitte  deshalb,  alles  was  ich  sage,  lediglich  unter  eigner 
Verantwortung,  nicht  unter  der  Windelbands  als  gesagt  zu  betrachten. 

Wir  untersuchen  den  Sinn  des  Begriffes  „freier  Wille"  und  fragen 
zunächst:   was  heißt  „frei**?   und  dann:   was  heißt  „Wille**?     Wir 
werden  finden,  daß  nur  die  schärfste  Begriffsbestimmung  uns  vor  der* 
Fülle  von  Mißverständnissen  schützt,  die  im  täglichen  Sprachgebrauch 
dem  Ausdruck  „freier  Wille"  anhaften. 

Das  Wort  „frei''  finden  wir  in  unserer  Sprache  in  unzähligen 
Verbindungen,  die  scheinbar  wenig  gemeinsames  haben.  Wir  sagen: 
„fehlerfrei,  fieberfrei,  zollfrei,  sprechen  von  Eeligionsfreiheit,  Preßfreiheit, 
Vertragsfreiheit  und  von  Freigeist,  Freihandel  und  Freibier.  Über- 
blicken wir  diese  Worte  nach  etwas  Gemeinschaftlichem,  so  scheint 
darin  das  Fehlen  von  etwas  Nichterwünschtem  oder  Störendem  das 
gemeinsame  Merkmal  zu  sein.  Unfreiheit  wäre  also  etwas  Norm- 
widriges. Deutlicher  sehen  wir,  wenn  wir  den  Begriff  auf  mechanische 
oder  organische  Kräfte  anwenden. 

Ein  durch  Fesseln  gehaltener  Luftballon  wird  frei,  wenn  man 
die  Fesseln  löst    Ein  im  Käfig  gefangener  Vogel  wird  frei,  wenn 


über  Windelband  und  den  Streit  um  daa  Straf  recht  281 

man  den  Käfig  öffnet  Der  Luftballon  steigt  auf  vermöge  der  Kraft, 
die  in  dem  Gewichtsyerhältnis  zwischen  der  Gasfüliung  und  der 
atmosphSrischen  Luft  liegt.  Der  Vogel  fliegt  fort,  weil  er  von  seiner 
Lebenskraft  getrieben  wird,  sich  zu  tummeln.  Wäre  der  Ballon  nicht 
Ton  dieser  Kraft  getrieben,  der  Vogel  kein  lebender,  so  würden  beide 
nicht  frei.  Also  nur  da,  wo  eine  bestimmte  Kraft  sich  zu  betätigen 
strebt  und  gehemmt  ist,  sprechen  wir  von  Unfreiheit,  wo  sie  entfesselt 
wird,  von  Freiheit 

Die  Freiheit  als  das  Ideal  jedes  Lebewesens,  das  seine  Kräfte  spielen 
lassen  und  sich  schrankenlos  tummeln  will,  finden  wir  in  dem  be- 
rühmten Freiheitsliede  Jung  Siegfrieds   in  Wagners  Nibelungenring 

besungen: 

Wie  ich  froh  bin,  daß  ich  frei  ward, 

Nicht«  mich  bindet  und  zwingt, 

Wie  der  Fisch  froh  in  der  Flut  schwimmt, 

Wie  der  Fink  frei  sich  davon  schwingt, 

Flieg  ich  von  hier,  flute  davon 

Wie  der  Wind  über'n  Wald  weh*  ich  dahin. 

Suchen  wir  den  Begriff  der  Freiheit  zu  bestimmen,  so  finden 
wir  stets  eine  Triebkraft  und  eine  Fessel,  deren  Beseitigung  die  Be- 
freiung darstellt. 

Freiheit  ist  ungehemmte  Kraftentfaltung. 

Blicken  wir  auf  unsere  Beispiele  zurück  unn  prüfen  wir  daran 
die  Definition: 

Fieberfrei:  das  Fieber  ist  ein  Krankheitssjmptom,  das  die 
natürliche  Betätigung  der  Lebenskraft  des  Organismus  hemmt. 

Zollfrei,  Freihandel:  die  Kraft  ist  der  Pulsschlag  des  Verkehrs- 
nmlaufs  und  Warenaustauschs,  sie  wird  gehemmt  durch  die  Zollschranke. 

Nicht  anders  die  Freiheit  als  Rechtsgut  oder  allgemeines 
Henschenrecht  Das  Bechtsgut  der  persönlichen  Freiheit  erwuchs  als 
solches  mit  dem  Mündigwerden  des  Individuums  im  Laufe  der  Ge- 
schichte. Die  Kraft  ist  die  Entfaltung  des  Individuums  vermöge 
seiner  Selbstbestimmung.  Die  Anfänge  dieser  Kraftentfaltung  liegen 
in  der  Renaissance,  ihre  Entwicklung  bezeichnet  die  Periode  des 
Natonechts,  den  Abschluß  hat  sie  im  modernen  Verfassungsstaat 
gefunden,  der  die  menschliche  Freiheit  auf  allen  Gebieten  ihrer  Be- 
tätigung garantiert,  so  die  Religionsfreiheit,  die  Gewerbefreiheit,  die 
Preßfreiheit,  die  Koalitionsfreiheit,  die  Vertragsfreiheit  usw.  Überall 
äußert  sich  die  Kraft  individueller  Lebensgestaltung  auf  allen  Gebieten 
des  geistigen  und  wirtschaftlichen  Lebens. 


282  XII.  VON  Zastbow 

Ja,  auch  im  letzten  unserer  Beispiele  sehen  wir  diese  Kraft.  Der 
Zauber  des  Wortes  Freibier  liegt  ja  nur  in  dem  scheinbar  unstillbaren 
und  unausrottbaren  Drange  jedes  guten  Deutschen^  immer  noch  eins 
zu  trinken,  und  bedeutet  die  Befreiung  dieses  Dranges  von  der  leidigen 
Fessel  des  Geldbeutels.  Unter  dem  Zeichen  des  blauen  Kreuzes  wird 
das  Wort  Freibier  sinnlos. 

Bei  der  Anwendung  des  Begriffs  frei  müssen  wir  also  zweierlei 
unterscheiden 

1.  die  Fessel, 

2.  die  Kraft. 

Wir  müssen  deshalb,  wo  von  Freiheit  die  Rede  ist,  stets  fragen 

1,  frei  wovon? 

2.  frei  wozu? 

Die  Außerachtlassung  dieser  Unterscheidung,  insbesondere  die 
der  zweiten  Frage,  trägt  die  Hauptschuld  an  der  Unfruchtbarkeit  alles 
Streitens  um  die  Freiheit  des  Willens. 

Wir  fragen  weiter,  was  heißt  Wille?  Der  Wille  ist  ja  hier 
offenbar  jene  Kraft,  um  deren  Freiheit  es  sich  handelt  Aber  er  ist 
selbst  ein  vieldeutiger  Begriff,  dessen  Verständnis  die  sorgfältigste 
Untersuchung  erfordert.  Beim  Zustandekommen  einer  Willenstätigkeit 
kann  man  ein  Dreifaches  unterscheiden.  1.  das  Aufsteigen  eines 
Verlangens,  2.  das  Eintreten  einer  Überlegung,  3.  die  Fassung  eines 
Entschlusses. 

Das  wird  am  deutlichsten  durch  ein  einfaches  Beispiel  aus  dem 
Leben  der  Tiere.  Ein  junger  Jagdhund  wird  eines  Hasen  ansichtig, 
sofort  hetzt  er  ihn.  Die  Begierde  setzt  sich  sofort  in  die  Tat  um. 
Anders  der  abgeführte  Hühnerhund.  Auch  ihn  erfaßt  die  Begierde, 
aber  die  Dressur  hemmt  ihn,  der  Begierde  zu  folgen.  Dasselbe  Ver- 
hältnis besteht  zwischen  dem  kleinen  Kinde  und  dem  überlegenden 
erwachsenen  Menschen.  Das  Kind  folgt  blind  der  Begier,  bei  dem 
erwachsenen  Menschen  schwächt  sich  das  Verlangen  zum  bloßen 
Wunsche  ab,  der  aus  dem  gesamten  Bewußtseinsinhalt  heraus  auf  seine 
Erfüllbarkeit  geprüft  wird.  Das  ist  die  vernünftige  Überlegung,  die 
zu  einer  Wahlentscheidung  führt 

Der  Entschluß  endlich  setzt  sich  in  die  Tat  um.  Wunsch,  Über- 
legung und  Entschluß  sind  die  drei  Phasen  in  dem  Zustandekommen 
der  Willenstätigkeit,  aber  sie  sind  nicht  getrennt^  sondern  einheitlich 
zu  denken,  etwa  wie  eine  Linie,  deren  Anfangspunkt  der  Wunsch, 
deren  Verlauf  die  Überlegung,  deren  Endpunkt  der  Entschluß  ist 
Von  diesen  Phasen  ist  die  erste  für  uns  ohne  Interesse,  da  bei  dem 
vernünftigen  Menschen  der  Entschluß  nicht  aus  der  Begierde,  sondern 


über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Straf  recht.  283 

erst  aus  der  Überlegung  hervorgeht  Dafür  bedarf  aber  der  genaueren 
Betrachtung  die  Umsetzung  des  Entschlusses  in  die  Tat.  Die  alte 
Streitfrage  der  Philosophie,  wie  sich  diese  Umsetzung  vollzieht, 
interessiert  uns  hier  ni^ht  Wir  werden  ohne  allzu  weit  von  der 
Wirklichkeit  abzuweichen  uns  den  Vorgang  am  anschaulichsten  machen, 
wenn  wir  ihn  mit  einer  elektrischen  Leitung  vergleichen.  Der 
Willensentschluß  ist  die  Einschaltung  des  [elektrischen  Stromes,  die 
leibliche  Handlung  beispielsweise  das  Ertönen  einer  elektrischen 
Klingel.  Dann  bedeutet  also  der  Willensakt  selbst  den  Druck  auf 
den  Klingelknopf.  Das  Festhalten  dieses  Bildes  wird  zum  Verständnis 
des  Folgenden  dienlich  sein. 

Wenn  wir  den  Begriff  der  Freiheit  auf  den  gefundenen  Gesamt- 
inhalt des  Willensvorganges  anwenden,  finden  wir  eine  dreifache 
Beziehung  der  Freiheit  auf  diesen  Vorgang. 

Die  erste  ist  die  Handlungsfreiheit.  Sie  betrifft  die  Aus- 
führung des  bereits  gefaßten  Willensentschlusses  und  hat  mit  der 
Willensfreiheit  selbst  nichts  zu  schaffen,  wird  aber  meistens  mit  ihr 
verwechselt,  es  bedarf  deshalb  der  Klarstellung  dieses  Unterschiedes. 

Die  zweite  betrifft  die  Überlegung  und  führt  uns  auf  den 
Schauplatz  der  Hauptkämpfe,  insbesondere  der  Strafrechtstheorien, 
wo  sie  unter  dem  Namen  Wahlfreiheit  bekannt  ist  Wir  bezeichnen 
sie  lieber  als  die  psychologische  Freiheit 

Folgt  die  Handlungsfreiheit  dem  Willensentschluß  nach,  geht  die 
psychologische  Freiheit  ihm  voraus,  so  betrifft  die  dritte  Beziehung 
den  Willensentschluß  selbst  und  führt  uns  an  die  Erforschung  der 
Tiefen  unseres  Problems,  soweit  sie  menschlicher  Erkenntnis  zugänglich 
sind.  Hier  finden  wir  die  Lösung  des  Problems  auf  einem  Gebiete, 
das  ich  andeute,  wenn  ich  diese  letzte  Freiheit  als  die  sittliche 
Freiheit  bezeichne. 
.  Mit  dieser  Einteilung  habe  ich  den  Bahmen  für  den  Inhalt  meiner 

I  folgenden  Ausführungen  gezogen. 


Die  gemeine  Meinung  versteht  unter  Willensfreiheit  die  Fähigkeit, 
zü  tun  was  man  will.  „Ich  kann  was  ich  will^  das  heißt  ihr:  ich 
babe  den  freien  Willen.  Gewiß  ist  dieses  Vermögen  von  großem 
Werte,  und  es  ist  interessant  genug,  seine  Grenzen  zu  untersuchen. 
Diese  Freiheit,  die  im  gewöhnlichen,  normalen  Zustande  jedem  Menschen 
gegeben  ist,  fehlt  uns  z.  B.  bei  den  Handlungen  im  Traumzustande, 
bei  den  Reflexbewegungen  wie  Lachen  und  Weinen  und  bei  krank- 
baften  Störungen  des  Organismus  wie  dem  Starrkrampf.    Hier  fehlt 


284  XIL  VON  Zastrow 

überall  gleichsam  die  elektrische  Leitung,  die  den  Willensentschloß 
in  die  Tat  umsetzt,  der  leibliche  Organismus  gehorcht  dem  Willen 
nicht  oder  er  betätigt  sich,  ohne  vom  Willen  bestimmt  zu  sein.  Aber 
auch  da,  wo  die  elektrische  Leitung  funktioniert,  kann  die  Handlung 
ausbleiben,  obgleich  der  Willensakt  stattfindet.  Es  geschieht  dies  in 
all  den  Fällen,  in  denen  wir  durch  physische  Gewalt  gehindert  sind, 
unseren  Willen  durchzusetzen.  Es  ist  dies  gleichsam  so,  als  ob  die 
elektrische  Leitung  zwar  eingeschaltet,  aber  die  elektrische  Klingel  von 
außen  festgehalten  und  so  am  Ertönen  gehindert  wird.  Beiden  Fällen 
gemeinsam  ist,  daß  der  Willensakt  selbst  vorhanden  und  nur  an  der 
Umsetzung  in  die  Tat  gehindert  ist,  dort  aus  inneren,  hier  aus  äußeren 
Gründen.  Daß  in  solchem  Falle  von  Verantwortlichkeit  keine  Rede 
ist,  ist  selbstverständlich,  wie  ja  auch  das  Strafgesetz  ganz  zum  Über- 
fluß bestimmt,  daß  eine  strafbare  Handlung  nicht  vorhanden  ist,  wenn 
der  Täter  durch  unwiderstehliche  Gewalt  genötigt  worden  ist  Es 
handelt  sich  hier  also  nicht  um  die  Freiheit  der  Willensentschließung, 
sondern  um  die  Freiheit,  einen  gefaßten  Willensentschluß  in  Handlung 
umzusetzen,  also  um  die  Handlungsfreiheit 

Wie  leicht  im  täglichen  Leben  dies  übersehen  wird,  mag  ein  ein- 
faches Beispiel  aus  dem  Einderleben  uns  lehren,  ein  Beispiel,  das  uns 
bis  ans  Ende  unserer  Untersuchungen  begleiten  wird.  Ein  Schuljunge 
kommt  hungrig  aus  der  Schule  nach  Hause  und  will  sich  eben  an 
das  bereitstehende  Mittagessen  setzen,  da  hört  er  Soldaten  am  Fenster 
vorüberziehen.  Sogleich  treibt  ihn  die  Schaulust  zum  Fenster,  der 
Hunger  aber  zieht  ihn  zum  Essen,  das  kalt  zu  werden  droht  Nehmen 
wir  an,  er  eilt  zum  Fenster,  und  als  er  zurückkehrt,  ist  das  Essen  kalt 
geworden.  Auf  seine  Klage  erwidert  die  Mutter:  „Es  war  ja  Dein 
freier  Wille,  das  Essen  kalt  werden  zu  lassen.  Du  brauchtest  ja  nicht 
zum  Fenster  zu  gehen.''  Wir  wissen,  daß  die  Mutter  hier  nur  jene 
Handlungsfreiheit  meint  Der  Junge  war  durch  nichts  gehindert  zu 
tun,  was  ihm  beliebte  und  es  war  in  diesem  Sinne  sein  freier  Wille, 
daß  er  sein  Essen  kalt  werden  ließ.  Daß  dies  nicht  die  Freiheit  ist, 
nach  der  wir  suchen,  das  bemerken  wir  sogleich,  wenn  wir  beobachten, 
wie  der  Junge  neben  dem  Gefühl  der  Freiheit,  tun  zu  können,  was 
ihm  beliebt,  auch  das  Gefühl  der  Unfreiheii  hat,  nicht  beides  zugleich 
tun  zu  können,  sondern  eins  von  beiden  wählen  zu  müssen.  Dieses 
Gefühl  der  Unfreiheit  drückt  das  Sprichwort  aus:  „Wer  die  Wahl 
hat,  hat  die  Qual.''  Dieses  Gefühl  der  Unfreiheit  entsteht  nun  daraus, 
daß  widerstreitende  Begehrungen,  unvereinbare  Motive,  sich  im  Willens- 
leben kreuzen.  Die  Soldaten  hindern  den  Jungen,  mit  Behagen  sein 
warmes  Mittagbrot  zu  verzehren,  das  bereitstehende  Essen  und  sein 


über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Strafrecht.  285 

• 

Hunger  hindern  ihn,  seiner  Schaulast  nachzugeben.  Wie  kommt  es 
nun  zu  einer  Entscheidung  zwischen  diesen  Motiven?  In  unserem 
Beispiel  ist  die  Lösung  einfach;  es  kommt  nur  darauf  an,  ob  der 
Hanger  oder  die  Schaulust  größer  ist.  Das  stärkere  Motiv  bestimmt 
den  Willensentschluß  und  das  heißt  nichts  anderes  als:  dasjenige 
Motiv  nennen  wir  das  stärkere,  das  den  Willensentschluß  bestimmt, 
denn  nur  daran  ermessen  wir  seine  Stärke. 

Hier  haben  wir  den  allereinfachsten  Fall  der  Anwendung  des 
deterministischen  Leitsatzes:  der  Willensentschluß  des  Menschen 
wird  determiniert  durch  das  stärkste  seiner  Motive. 

Schon  an  dieser  Stelle  setzt  die  Kritik  der  Gegner  ein  mit  der 
Frage:  wie  nun,  wenn  die  Motive  gleich  stark  sind?  Um  mit  dieser 
Frage  den  Determinismus  ad  absurdum  zu  führen,  hat  seit  langer 
Zeit  ein  vielgeplagtes  Tier  als  Schulbeispiel  herhalten  müssen,  um  den 
vermeintlichen  Widersinn  des  obigen  Satzes  drastisch  vor  Augen  zu 
führen:  der  Esel  des  Buridan,  genannt  nach  einem  Scholastiker,  der 
als  der  Erfinder  dieses  Argumentes  angesehen  wird. 

Ein  Esel  wird  in  die  Mitte  zwischen  zwei  gleich  große,  gleich 
duftende,  von  seinem  Maul  gleich  weit  entfernte,  also  gleich  ver- 
lockende Heubündel  gestellt.  Was  wird  er  tun?  Er  wird  Hungers 
sterben,  denn  es  fehlt  ihm  ja  an  ein  Motiv,  um  das  eine  Heubündel 
dem  anderen  vorzuziehen  und  somit  die  Möglichkeit,  die  Heubündel 
zu  verzehren.  —  Wir  wollen  den  Esel  einstweilen  zwischen  seinen 
Heubündeln  sich  selbst  überlassen  und  um  sein  Schicksal  unbesorgt 
sein,  um  zunächst  einige  alltägliche  Beispiele  des  gedachten  Falles  zu 
betrachten.  Ich  gehe  spazieren  und  komme  an  ein  Rondell,  das  ich 
rechts  oder  links  umkreisen  muß.  Ich  wähle  einen  der  beiden  Wege, 
ohne  einen  Grund  dafür  zu  haben.  Oder  ich  ziehe  aus  einem  Fächer 
von  Karten  eine  Spielkarte;  welche  ich  ziehe,  ist  gleichgültig.  Oder 
ich  werde  aufgefordert,  eine  beliebige  dreistellige  Zahl  zu  nennen  und 
nenne  427.  Warum  ist  es  gerade  diese?  Wie  kommt  hier  ein  Willens- 
entschluß  zustande?  Die  Antwort,  die  Windelband  sehr  eingebend 
und  interessant  begründet,  ist  kurz  die:  es  kommt  überhaupt  kein 
Willensentschluß  zustande,  die  bestimmte  Entscheidung  zu  treffen, 
sondern  diese  erfolgt  durch  das  Spiel  eines  unwillkürlichen  Mechanis- 
mus, wie  ihn  der  Mensch  in  all  seinen  Leibesbewegungen  dauernd 
ausübt,  ohne  sich  über  die  einzelnen  Muskeltätigkeiten,  die  er  durch 
Übung  zu  bewirken  gelernt  hat,  Rechenschaft  abzulegen.  Bei  dem 
Umkreisen  des  Rondells  wird  der  Spaziergänger  von  seinen  Beinen 
getragen,  ohne  seine  Gedanken  und  seinen  Willen  mit  Bewußtsein 
auf  die  Tätigkeit   des  Gehens   zu  richten.    Bei   dem  Zahlenbeispiel 


286  XII.  VON  Zastrow 

• 

tritt  ein  entsprechender  Mechanismus  des  Vorstellungslebens  ein.  Man 
läßt  sich  eine  Zahl  einfallen,  d.  h.  man  öffnet  gleichsam  ein  Schub- 
fach, in  dem  die  betreffenden  Erinnerungen  verwahrt  liegen,  und  er- 
greift diejenigen,  die  einem  zunächst  in  die  Hand  fallen.  Daß  auf 
diese  Weise  gewisse  Beispiele  beim  wiederholten  Beispielbilden  immer 
wiederkehren,  daß  sie  also  gleichsam  im  Gedankenschubfach  obenauf 
liegen  und  beim  Hineingreifen  zunächst  in  die  Hand  fallen,  lehrt 
auch  die  Beobachtung,  daß  der  Jurist,  der  ein  Beispiel  für  einen 
Kauf  bilden  will,  stets  auf  den  Kauf  eines  Pferdes  verfällt.  Von  einem 
berühmten  Berliner  Pandektisten  wird  sogar  erzählt,  daß  sein  Beispiel 
für   eine   mangelhafte   Kaufsache   stets   ein  rotzkrankes  Pferd  war. 

Eine  solche  Entscheidung  durch  den  Mechanismus  des  Leibes 
oder  der  Vorstellungen  erfolgt  überall  da,  wo  es  an  einem  Motive  zu 
einer  Willensentschließung,  die  zwischen  verschiedenen  Möglichkeiten 
wählt,  fehlt. 

Nicht  anders  steht  es  bei  Buridans  Esel.  Er  hat  inzwischen 
längst  seine  Heubündel  verzehrt  und  zwar  vermöge  jenes  leiblichen 
Mechanismus,  der  sich  unwillkürlich  betätigt  und  immer  betätigen 
muß,  solange  nicht  ein  absolutes  Gleichgewicht  aller  Sinneseindrücke 
und  Muskeln  hergestellt  ist,  wie  es  eben  in  der  Wirklichkeit  niemals 
besteht  Annähernd  wird  ein  solches  Gleichgewicht  allerdings  mitunter 
erreicht.  Es  ist  eine  Art  toter  Punkt  im  Mechanismus,  den  man  auch 
bei  ganz  gleichgültigen  Entscheidungen  augenblicksweise  empfinden 
kann.  Man  hat  dann  das  Gefühl,  sich  einen  Ruck  geben  zu  müssen, 
um  zum  Entschlüsse  zu  kommen,  aber  dieser  Kuck  ist  gamichts 
anderes,  als  die  Empfindung  des  Bückstoßes  von  der  Überwindung 
jenes  toten  Punktes,  die  auf  dem  Wege  der  Leibes-  oder  Vorstellungs- 
mechanik vor  sich  geht. 

Buridans  Esel  dient  noch  heute  dazu  den  Determinismus  zu  be- 
kämpfen. Er  ist  aber  dazu  völlig  ungeeignet,  denn  er  vermag  in 
keiner  Weise  zu  erklären,  was  denn  die  Kraft  sein  soll,  die  bei  einer 
motivlosen,  d.  h.  freien  Wahlentscheidung  sich  betätigt,  und  er  vermag 
in  keiner  Weise  zu  widerlegen,  daß,  wo  ein  Willensentschluß  zustande 
kommt,  dies  nur  durch  das  stärkste  der  wirksamen  Motive  ge- 
schehen kann. 

Schreiten  wir  nun  von  diesem  Kampfe  auf  der  Schwelle  des 
Freiheitsproblems  zu  diesem  selbst  vor. 

Was  uns  interessiert,  ist  ja  nicht  eine  Entscheidung  zwischen 
gleichgültigen  Möglichkeiten,  sondern  die  Willensentschließung  über 
gut  und  böse,  recht  und  unrecht,  an  die  wir  die  moralische  und  recht- 


über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Strafrecht.  287 

liehe  Verantwortung  knüpfen.  Wir  bleiben  bei  unserem  Beispiel  vom 
Schuljungen  und  wenden  es  etwas  anders.  Der  Junge  soll  Schul- 
arbeiten machen,  da  ziehen  die  Soldaten  am  Fenster  vorbei.  Hier 
beginnt  der  Streit  zwischen  Pflicht  und  Neigung  in  seinem  Inneren. 

Nicht  mehr  zwei  einfache  Motive  wie  Eßlust  und  Schaulust  sind 
es,  sondern  ganze  Bündel  von  Motiven  schießen  in  seinem  Bewußt- 
sein hervor.  Zunächst  die  Motive  der  Neigung:  ich  möchte  die  Soldaten 
sehen  —  gesteigert:  heute  ist  es  besonders  schön,  heute  kommen 
Husaren  vorbei  —  oder  im  Superlativ:  heute  kommt  der  Kaiser!  Auf 
der  anderen  Seite  die  Motive  der  Pflicht:  Wenn  ich  nicht  arbeite, 
wird  die  Aufgabe  nicht  fertig  —  im  Eonq)arativ:  wenn  mich  der 
Vater  am  Fenster  ertappt,  gibts  Prügel  —  im  Superlativ:  es  ist  die 
Prüfungsarbeit,  wenn  sie  schlecht  wird,  werde  ich  nicht  versetzt.  Das 
wäre  die  unmittelbare  Reihe  der  Motive.  An  sie  schließt  sich  nun 
eine  Beihe  mittelbarer  Motive,  die  sich  beliebig  weit  ausmalen  ließe, 
etwa  die  Erinnerung  an  das  Strafgericht,  das  der  Lehrer  abhält,  wenn 
ein  Schüler  schlecht  gelernt  hat,  der  Gedanke  an  die  Ehre  eines  guten 
Zeugnisses  und  an  eine  Schulprämie,  andererseits  die  Erinnerung  an 
Glücksfälle,  wo  man  durchgeschlüpft  ist,  ohne  gelernt  zu  haben,  oder 
an  dieses  oder  jenes,  was  einem  bei  den  vorbeiziehenden  Soldaten 
besonders  interessant  ist  Die  Gesamtheit  dieser  im  Bewußtsein  des 
Jungen  auftauchenden  Motive  bildet  sich  einmal  aus  seinem  Bestände 
von  Erinnerungen  und  aus  daran  geknüpften  Erwartungen.  Aus  dem 
Inbegriff  seiner  Erinnerungen  an  die  bisherigen  Erfahrungen  von  den 
Folgen  seines  Tuns  schöpft  er  die  Vorstellung  von  dem,  was  er  als 
Folge  seines  gegenwärtigen  Tuns  zu  erwarten  hat.  Diese  Motive 
bilden  einen  zusammenhängenden  Komplex  seines  Vorstellungslebens, 
eine  Art  Gewebe,  das  in  seinen  einzelnen  Fäden  in  Bewegung  gesetzt 
wird,  wenn  von  der  Außenwelt  ein  neues  Motiv  auf  ihn  einwirkt 
Im  Innenleben  des  Kindes  wird  dieses  Gewebe  ein  unausgeglichenes 
sein,  die  Erinnerungs-  und  Erwartungsgefühle  werden  plötzlich,  ab- 
gerissen, sprunghaft  erscheinen.  Man  kann  sich  vorstellen,  wie  der 
Junge  plötzlich  zum  Fenster  stürzt,  wieder  umdreht,  zur  Arbeit  zu- 
rückkehrt und  im  nächsten  Augenblick  das  Buch  wieder  zuschlägt. 
Man  spricht  hier  von  dem  ungefestigten  Charakter  des  Kindes.  Je 
weiter  die  Charakterbildung  fortschreitet,  desto  fester  wird  dieses  innere 
Gewebe,  desto  einheitlicher  und  bestimmter  reagiert  es  auf  das  von 
außen  einwirkende  Motiv,  desto  bestimmter  und  zweifelloser  kommt 
die  Willensentschließung  des  Menschen  zustande. 

In  dieser  Lage  des  Jungen,  der  von  Pflicht  und  Neigung  hin- 
und  hergezogen  wird,  haben  wir  das  beste  Beispiel  zur  Verdeutlichung 


288  XII.  VON  Zastrow 

der  landläufigen  Art,  wie  Determinismus  und  Indeterminismus  mit 
einander  streiten.  Wir  nehmen  an,  der  Junge  wird  von  seinem  in- 
deterministischen Vater  am  Fenster  ertappt  —  Väter  sind  immer  In- 
deterministen.  Der  Vater  geht  zum  Lehrer  und  klagt  ihm  sein  Leid. 
Der  Lehrer  hat  philosophische  Studien  gemacht  und  ist  überzeugter 
Determinist.  Er  antwortet  dem  Vater:  ,,der  Junge  kann  in  der  Stube 
nicht  arbeiten,  wenn  immer  Militär  vorbeizieht,  Sie  müssen  ihm  ein 
anderes  Zimmer  geben''.  Der  Vater  antwortet:  „er  kann  schon,  er 
will  bloß  nicht !^  Darauf  der  Lehrer:  „er  kann  eben  nicht  wollen, 
deshalb  will  er  nicht.''  Nun  bricht  der  Vater  ungeduldig  aus:  „Ach 
was,  er  kann  schon  wollen,  er  will  bloß  nicht  wollen!*'  —  Hier  haben 
wir  den  Dialog,  wie  er  sich  in  der  Praxis  abspielt  und  auf  beiden 
Seiten  das  typische  Bild  einer  ungeheuren  Gedankenkonfusion  ist, 
deren  Aufklärung  eine  notwendige  Voraussetzung  ist,  um  zur  Klarheit 
über  unser  Problem  zu  kommen.  Merkwürdigerweise  ist  in  der 
Literatur  Schopenhauer  allein  diesem  Gedanken  nachgegangen,  Windel- 
band verfolgt  ihn  nicht,  und  doch  ist  er  von  der  größten  Wichtigkeit. 

Was  heißt  das:  „Ich  kann  wollen?"  „Ich  will  wollen"? 
Offenbar  ist  der  Ausdruck  dem  nachgebildet,  der  uns  bei  der 
Handlungsfreiheit  geläufig  ist  Handlungsfreiheit  bedeutet  ja, 
tun  können,  was  man  tun  will.  Hiemach  soll  also  Willens- 
freiheit bedeuten:  wollen  können,  was  man  wollen  will. 
Das  klingt  zunächst  ganz  einleuchtend.  Der  Willensentschluß  wird 
hier  als  eine  Tat  aufgefaßt,  bei  der  man  wie  bei  jedem  andern  Han- 
deln von  Wollen  und  Können  spricht.  Dieses  Wollen  ist  also  ein 
Wille,  der  hinter  der  Willenstat  steht,  der  also  das  Wollen  will.  Nun 
ist  nicht  einzusehen,  warum  von  diesem  Wollen  nicht  das  gleiche 
gelten  soll  wie  von  dem  ersten.  Es  kommt  also  auf  das  Wollen- 
wollen an,  also  fragt  es  sich,  ob  man  wollen-wollen  kann?  und  der 
gesuchte  Freiheitsbegriff  verlangte  nun  die  Formel: 

wollen-wollen  können,  was  man  wollen-wollen  will.  So  stünde 
hinter  jedem  Wollen  ein  weiteres  Wollen  ohne  Ende.  Das  führt  zu 
einem  logischen  Widersinn, 

Wo  der  Fehler  steckt,  erkennen  wir  an  der  Formel  der  Handlungs- 
freiheit. Was  dort  Wollen  und  Können  bedeutet,  sehen  wir  an  einem 
Beispiel:  ich  will  das  Zimmer  verlassen,  gehe  zur  Tür  und  finde  sie 
verschlossen.  Hier  will  ich  eine  Tat  ausführen  und  kann  es  nicht. 
Finde  ich  die  Tür  offen,  so  tue  ich  es.  Ebenso  kommt  es  nicht  zur 
Tat,  wenn  ich  die  Tür  zwar  geöffnet  sehe,  aber  nicht  hinausgehen 
will.  Die  Tat  erfordert  also  ein  Wollen  und  ein  Können,  mit  an- 
deren   Worten:    Wollen    und    Können   ergänzen    einander   zur   Tat. 


über  Windelband  and  den  Streit  um  das  Strafrecht.  289 

Algebraisch  ausgedrückt  heißt  das:  Können  +  Wollen  ^  Tun.  Da- 
raus folgt  aber,  daß  Tun  weder  gleich  Wollen,  noch  gleich  Können 
sein  kann.  Man  kann  also  in  der  obigen  Formel  für  das  Tun  nicht 
die  Willenstat  einsetzen,  weil  dieses  Tun  selbst  ein  solches  ist,  das 
sich  aus  Wollen  und  Können  zusammensetzt.  Das  ist  der  Grund, 
warum  man  nicht  wollen  auf  wollen  und  können  auf  können,  und 
ebensowenig  wollen  auf  können  und  können  auf  wollen  beziehen 
kann.  Dasselbe  gilt  vom  Müssen  und  Dürfen.  Kein  Mensch  muß 
müssen.  Wollen  und  Können  gehören  also  zu  den  Hilfszeitwörtern, 
die  nur  auf  ein  von  ihnen  selbst  verschiedenes  Hauptzeitwort  bezogen 
einen  Sinn  ergeben.  In  dem  Gespräch  zwischen  Vater  und  Lehrer 
ist  es  deshalb  ebenso  unsinnig  zu  sagen,  ^der  Junge  kann  wollen^ 
wie  „der  Junge  kann  nicht  wollen".  Die  soeben  aufgestellte  Formel 
für  die  Willensfreiheit  ergibt  also  so  wie  sie  lautet  keinen  Sinn.  Wir 
haben  aber  das  Gefühl,  daß  doch  etwas  darin  steckt,  was  durch  ein 
Eecbenexempel  nicht  wegzubringen  ist.  Dieses  Gefühl  trügt  auch 
nicht,  die  Formel  ist  nicht  wertlos,  es  steckt  nur  ein  Fehler  darin. 
Wir  finden  ihn  an  unserer  Definition  der  Freiheit  Handlungsfreiheit 
ist  ungehemmte  Kraft  der  Willensentschliessung.  Können  bedeutet 
also  die  Verneinung  der  Fessel,  Wollen  bedeutet  die  Kraft.  Ebenso 
muß  in  der  zweiten  Formel  Fessel  und  Kraft  bezeichnet  sein.  Von  der 
Fessel  spricht  auch  das  Können,  die  Kraft  aber  kann  nicht  ,,Wollen'' 
heißen,  wie  wir  sahen.  In  diesem  Worte  steckt  also  der  Fehler.  Statt 
des  zweiten  „will"  muß  ein  anderer  Begriff  stehen.  Diese  unbekannte 
Größe  zu  suchen,  wird  unsere  Aufgabe  sein,  und  ihre  Lösung  ist 
nicht  schwer. 


Was  der  Vater  meint,  wenn  er  sagt,  der  Junge  will  nicht  wollen, 
ist  offenbar  eine  Unterscheidung  zwischen  dem  einzelnen  Willens- 
entschluß und  jenem  Gesamtwillen,  den  man  sich  als  einen  dauernden 
Bestand  im  Innern  des  Menschen  denkt,  wenn  man  davon  spricht, 
jemand  habe  einen  starken  Willen.  Wir  sehen  uns  damit  auf  die 
Frage  hingeleitet,  die  die  Verantwortlichkeit  des  Menschen  für  seine 
Handlungen  von  dem  inneren  Gesamtwillen  ableitet,  den  man  kurz 
den  Charakter  des  Menschen  nennen  kann.  Die  Frage  lautet  jetzt  so : 
Ist  der  Mensch  für  seinen  Charakter  verantwortlich?  Der  Determinist 
verneint  dies  und  sagt,  auch  der  Charakter  des  Menschen  steht  unter 
dem  Gesetz  von  Ursache  und  Wirkung,  er  ist  kausal  so  geworden, 
wie  er  ist,  also  determiniert. 

Der  Indeterminist    bejaht   die  Frage   mit  der   Begründung,   daß 

der  innerste  Kern   des  menschlichen    Wesens    wissenschaftlicher   Be- 
Archiv rfir  Kriminalantbropologie.   27.  Bd.  19 


290  XII.  VON  Zastrow 

tracbtuDg  and  dem  für  sie  allein  geltenden  Kausalgesetz  entrückt  sei, 
daß  gerade  hierin  der  Begriff  der  Freiheit  liege,  auf  die  sich  allein 
die  Verantwortlichkeit  aufbauen  könne. 

Diese  indeterministische  Betrachtungsweise  findet  ihren  Ausdruck 
in  der  Lehre  von  der  sogen.  Wahlfreiheit,  deren  Vertreter  unter 
den  Kriminalisten  die  Führer  der  klassischen  Strafrechtsschule  Birk- 
roeyer  und  Kahl  sind.    Diese  Lehre,  auf  unser  Beispiel  angewendet, 
bedeutet:    Der  Junge   mag  all    die  genannten   Motive   auf  sich    ein- 
wirken lassen,  er  bleibt  doch  ihr  Herr,  d.  h.  er  kann  sie  gleichsam 
vor  sich  ausbreiten,   prüfen,  gegen  einander  abwägen,  aber  die  Ent- 
scheidung geht  doch  nicht  von  diesen  Motiven  aus,  sondern  sie  liegt 
in  ihm  selbst.     Die  Motive  wirken  von  außen,  der  EntschluU  kommt 
aus  seinem  Innern.     Insofern  hat  er  die  freie  Wahl  über  seine  Mo- 
tive.    Diese    Unterscheidung   zwischen   außen   und  innen   ist    ohne 
weiteres  berechtigt.    Wir  sahen  bereits,  wie  ein  äußeres  Motiv,   eine 
aufsteigende  Neigung,   in  das  Gewebe   des  Innenlebens   eintritt   und 
dieses    in    Bewegung    setzt     Nach    der    Struktur    dieses    Gewebes 
sprechen  wir  von  der  Empfänglichkeit  eines  Menschen  für  einen  Ein- 
druck, von  der  Nachgiebigkeit  gegen  einen  Anreiz.    Aber  diese  innere 
Gesamtverfassung,   die  wir  den  Charakter  des  Menschen  nennen,   ist 
zweifellos   nicht  das    dem   Kausalitätsgesetz    entrückte   innere  Wesen 
des  Menschen,  dessen  Verantwortlichkeit  wir  fordern.     Wir  sprechen 
ja  von  Charakterbildung  und  stellen  damit  den  Charakter  unter  das 
Gesetz  von  Ursache  und  Wirkung.    Alle  Erziehung  leitet  ihr  Recht 
aus  der  Möglichkeit  dieser  Charakterbildung  her,  und  ihre  Mittel  sind 
Beeinflussungen,    die   den   Charakter    des    Menschen    in    bestimmter 
Richtung  gestalten.    Auch    darüber  werden    wir  alle  einig  sein,    daß 
der  Grundstock    der  Charakterbildung   die   ererbte  Anlage   des  Men- 
schen ist  und  daß  zu  dieser  bei  dem  heranwachsenden  Kinde  nach 
und  nach   alle  jene  Beeinflussungen  hinzutreten,  die  seinem   Wesen 
eine  bestimmte   Eigenart   aufprägen.    Vermöge   dieser   Eigenart    rea- 
giert  es  in  bestimmter   Weise   auf  jeden   neuen   Eindruck,    der  von 
außen    kommt   und    verarbeitet   diesen    zugleich    wieder   in    die  Ge- 
samtheit seines  Innenlebens.    So   bildet  sich  ein   Bestand  dauernder 
Motive   im  Innern    des  Menschen;    diese    Motive  bestimmen    die  Art 
seiner  Reaktion  auf  jeden  äußeren  Anreiz.     Wir  sehen  also,  es  steht 
nicht  so,  daß  was  von   außen    kommt  die    Motive  wären,   und    was 
von  innen  kommt,  ein   von   diesen  Motiven   zu   trennendes    inneres 
Selbst   ist.     Sondern    gerade   aus   dem    Innern  heraus  wirken   jene 
dauernden   Motive,   deren    Gesamtheit   für   den  Willensentschluß  des 
Menschen    entscheidend    ist.      Wir    nennen    sie    deshalb    die    kon- 


über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Straf  recht.  291 

stanten  Motive  and  anterscheiden  von  ihnen  die  aagenblick- 
lichen  Motive  als  die  jeweils  von  aaßen  kommenden  Eindrücke 
und  Willensantriebe. 

Diese  Grenze  zwischen  außen  and  innen'  ist  freilich  keine  fest- 
stehende,  denn  jedes  Motiv  kommt  zaerst  von  aaßen  and  wird  erst 
durch  Verarbeitang  in  den  Bestand  der  inneren  Motive  aufgenommen, 
und  diese  Verarbeitang  ist  je  nach  der  Größe  and  Stärke  des  Mo- 
tives  verschieden  wirksam.  Es  vollzieht  sich  eine  beständige  Aaf- 
lösuog  der  Augenblicksmotive  in  der  Gesamtheit  der  dauernden 
Motive,  die  bei  gewichtigen  Motiven  langsamer  vor  sich  geht  als  bei 
unbedeutenden.  Ereignisse,  die  uns  tiefen  Eindruck  gemacht  haben, 
stehen  noch  nach  Jahren  in  aller  Bestimmtheit  als  Einzelerlebnisse 
vor  unserer  Seele,  während  die  Begebnisse  des  Alltags  scheinbar 
spurlos  an  uns  vorübergingen,  in  Wahrheit  aber  von  unserem 
Innenleben  verarbeitet,  d.  h.  von  der  Gesamtheit  der  dauernden 
Motive  gleichsam  aufgesogen  sind. 

Diese  Betrachtung  lehrt  uns,  daß  man  nicht  ein  Außen  und 
Innen  in  dem  Sinne  unterscheiden  kann,  daß  von  außen  die  Motive, 
von  innen  der  freie  Wille  wirksam  sei,  sondern  nur  in  dem  Sinne, 
daß  gewisse  Motive  fühlbar  von  außen  wirken,  während  alle  anderen 
die  in  den  Bestand  unseres  dauernden  Seins  aufgenommen  sind, 
nicht  mehr  als  einzelne  Motive  fühlbar  werden.  Sie  wirken  un- 
bewußt aus  unserem  Innern,  gleichsam  als  Ausstrahlungen  unseres 
Charakters. 

Die  Indeterministen  wenden  dagegen  ein:  es  müsse  hinter  diesen 
Wirkungen  des  Charakters,  die  man  in  ihrer  Gesamtheit  Motive  nennen 
möge,  doch  noch  eine  letzte  Instanz  angenommen  werden,  die  ihrer- 
seits eine  freie  Entscheidung  zwischen  allen  jenen  Motiven  treffe. 
Diese  Annahme  wird  besonders  anschaulich  gemacht  durch  das  viel- 
gebrauchte Gleichnis  von  der  Arena  des  Bewußtseins,  auf  der  die 
Motive  als  Ringkämpfer  vor  dem  zuschauenden  Selbstbewußtsein  auf- 
treten. Wie,  sagt  der  Indeterminist,  der  Mensch  sollte  ein  Spielball 
der  auf  ihn  eindringenden  Motive  sein,  ein  bloßer  Zuschauer  des 
Kampfes,  der  sich  auf  der  Arena  seines  Bewußtseins  abspielt?  Darauf 
ist  zu  erwidern,  daß  jenes  Gleichnis  aus  der  Teilung  unseres  Innen- 
lebens in  Selbstbewußtsein  und  Selbstbestimmung  entspringt  und  daß 
jener  innere  Tatbestand  zu  der  irrtümlichen  Annahme  führt,  die  für 
das  Selbstbewußtsein  —  im  Gleichnis  den  Zuschauer  —  in  Anspruch 
nimmt,  was  in  Wirklichkeit  der  Selbstbestimmung  —  im  Gleichnis 
dem  Kämpfer  in  der  Arena  —  zukommt.  Wir  erinnern  uns  unserer 
Begriffsbestimmung  der  Freiheit,  die  wir  als  eine  ungehemmte  Kraft- 

19* 


292  XII.  VON  Zastrow 

entfaltung  erkannt  hatten,  und  wir  fragen  nun:  welches  ist  hier  die 
Kraft,  die  in  jener  angeblich  freien  Willensinstanz  tätig  wird?  Bei 
der  Handlangsfreiheit  war  jene  Kraft  der  gefaßte  Willensentschluß, 
der  in  dem  einen  Falle  frei,  im  anderen  Falle  gehindert  war,  sich  in 
die  Tat  umzusetzen.  Hier  dagegen  ist  ja  ein  Willensentschluß  noch 
nicht  vorhanden,  sondern  wir  suchen  ja  zu  ergründen,  wie  er  zu- 
stande kommt.  Die  vorhandenen  Kräfte  sind  die  einander  wider- 
streitenden Motive,  die  wir  kurz  als  Pflicht  und  Neigung  bezeichnet 
haben,  und  eine  Kraft,  die  von  diesen  Motiven  unabhängig  sich  be- 
tätigte, ist  schlechterdings  nicht  denkbar.  Man  müßte  denn  sagen, 
die  Entscheidung  erfolgte  ursachlos,  das  hieße  aber  durch  Zufall,  und 
für  eine  zufällige  Entschließung  ist  niemand  verantwortlich.  Zur 
Begründung  der  Verantwortlichkeit  kommen  wir  also  auf  diesem 
Wege  nicht. 

Ein  weiterer  Einwand  ist  nun  der  Hinweis  auf  das  „Geheimnis 
der  Persönlichkeit^.  Die  Individualität  des  Menschen,  so  sagt  man, 
ist  unergründlich,  es  steckt  ein  Etwas  in  ihr,  das  nicht  in  dem  kausal 
gewordenen  Charakter  restlos  aufgeht,  sondern  sich  der  Erklärung 
durch  das  Gesetz  von  Ursache  und  Wirkung  entzieht. 

Dieses  Geheimnis  der  Persönlichkeit  soll  nicht  geleugnet  werden, 
es  läßt  sich  aber  durch  eine  ganz  natürliche  Betrachtungsweise  er- 
klären. Alle  Charakterbildung  ist  ein  innerer  Vorgang,  der  sich  der 
unmittelbaren  Beobachtung  entzieht  Wir  kennen  weder  die  ange- 
borene Anlage  eines  Kindes,  noch  können  wir  alle  Einflüsse  kon- 
trollieren, denen  das  Kind  ausgesetzt  ist,  geschweige  denn  die  Wirk- 
samkeit eines  jeden  ermessen.  Charakterbildung  ist  eine  Art  chemischer 
Prozeß,  der  sich  nach  Gesetzen  vollzieht,  die  wir  zwar  im  allgemeinen 
kennen,  die  wir  aber  im  einzelnen  in  ihrer  Wirksamkeit  nicht  vorher- 
sehen und  berechnen  können,  weil  bei  jedem  Individuum  eine  neue 
und  eigenartige  Zusammensetzung  der  einzelnen  chemischen  Stoffe 
und  somit  eine  neue  und  eigenartige  chemische  Verbindung  vor  sich 
geht.  Der  Gärtner  kennt  die  Gesetze  der  Botanik  und  regelt  nach 
ihnen  das  Wachstum  seiner  Pflanzen,  trotzdem  vermag  er  nicht  zu 
erklären  und  es  nicht  zu  beeinflussen,  daß  keine  Pflanze  der  anderen, 
kein  Blatt  dem  anderen  gleicht.  Man  kann  auch  hier  von  einem 
Geheimnis  der  Natur  sprechen,  das  unergründlich  ist,  aber  so  wenig 
zur  Erklärung  dieses  Geheimnisses  die  Annahme  einer  in  jeder  Pflanze 
steckenden  Urseele  erforderlich  ist,  so  wenig  bedarf  es  einer  ähnlichen 
mystischen  Vorstellung  zu  der  Erklärung,  daß  auch  jedes  Menschen- 
kind, das  heranwächst,  eine  eigene  Persönlichkeit  mit  individuellem 
Charakter  ist. 


über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Straf  recht.  293 

Was  aber  die  Annahme  einer  solchen  aller  Berechnung  entzogenen 
Instanz,  die  als  Faktor  bei  der  Willensentschließung  mitwirken  soll, 
entgegensteht,  das  sind  die  Erfahrungen  und  Erfordernisse,  auf  denen 
alle  Pädagogik,  alle  Statistik  und  alle  Strafrechtspflege  beruht.  Jede 
Erziehung  und  jede  Beeinflussung  durch  eine  Strafe  setzen  voraus, 
daß  der  Charakter  des  Menschen  bildsam  und  lenkbar  ist.  Und  wenn 
die  Kunst  des  Pädagogen  oft  an  der  Unberechenbarkeit  des  Kindes 
scheitert,  so  liegt  das  nicht  daran,  daß  der  irrationale  Faktor  „Willens- 
freiheit^ seine  Berechnung  kreuzt,  sondern  daran,  daß  er  den  wahren 
Charakter  des  Kindes  nicht  richtig  erkannt  hat.  Wäre  es  anders,  so 
wäre  alle  systematische  Pädagogik  sinnlos.  Sinnlos  wäre  auch  jeder 
Versuch  der  Statistik  auf  dem  Gebiete,  das  der  menschlichen  Willens- 
entschließung unterliegt.  Die  merkwürdig  interessanten  Wellenlinien, 
die  wir  z.  B.  in  der  Kriminalstatistik  beobachten,  belehren  uns  deut- 
lich darüber,  daß  die  menschliche  Natur  auch  in  ihrem  Willensleben 
keine  Sprünge  macht,  auch  wo  der  Wille,  vulgär  gesprochen,  auf  der 
allerfreiesten  Entschließung  beruht.  Und  nehmen  wir  die  Statistik 
der  Eheschließungen,  so  sehen  wir,  daß  diese  in  dem  gleichen  Maße 
zunehmen,  wie  die  Kornpreise  sinken.  Sollen  wir  nun  klagen,  daß 
nach  dieser  Beobachtung  die  Menschen  im  wichtigsten  Entschluße 
ihres  Lebens  Spielbälle  der  Kornpreise  seien?  Ich  meine,  wir  werden 
uns  lieber  dessen  freuen,  daß  die  Menschen  im  Durchschnitt  auch 
hier  nicht  in  blinder  Willkür  handeln,  sondern  sich  durch  die  Rück- 
sicht auf  ihre  wirtschaftliche  Lage,  auf  die  Höhe  ihres  Lebensbedarfs 
nnd  ihrer  Unterhaltsmittel  determinieren  lassen. 

Der  freie  Wille,  den  unsere  Gegner  außerhalb  aller  Motive  suchen, 
findet  aber  nicht  nur  keinen  Platz  bei  der  Betrachtung  der  Wirklich- 
keit, auch  die  theoretische  Betrachtung,  die  philosophische  Spekulation, 
die  ihm  seit  den  Anfängen  philosophischen  Denkens  nachzuspüren 
versucht  hat,  hat  nicht  zu  ergründen  vermocht,  was  denn  dieses  innere 
Selbst  des  Menschen,  diese  von  allen  Schlacken  irdischer  Charakter- 
bildung losgelöste  Urseele  eigentlich  sei. 

Erlassen  Sie  mir  die  Darstellung  aller  der  Versuche,  die  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  aufweist,  jenes  Geheimnis  zu  entschleiern; 
ich  will  nur  kurz  erwähnen,  daß  Kant  in  seiner  Lehre  vom  Ding- 
an-sich  hier  den  Begriff  eines  intelligiblen  Ichs,  im  Gegensatz  zum 
Charakter,  dem  empirischen  Ich,  gebildet  hat.  Die  Eigenart  dieses 
Begriffs  ist  —  seine  Unvorstellbarkeit!  Nicht  besser  ergeht  es  uns 
mit  Spinozas  Lehre  von  der  causa  sui,  oder  mit  dem  scholastischen 
Begriffe  der  „Aseität  der  Substanz^',  d.  h.  der  ursachlosen  Realität  des 
Seins.    Diese  und  alle  anderen  Versuche  kommen  zu  dem  Ergebnis, 


294  XII.  VON  Zastrow 

daß  die  gesuchte  Urseele  des  Menschen  inhaltlos  nnd  deshalb  unvor- 
stellbar ist.  Am  deutlichsten  wird  dies  in  einem  von  Piaton  ge- 
schilderten Mythos,  den  er  zur  Ausmalung  der  Seelenwanderungslehre 
des  griechischen  Dionysos-Eultus  heranzieht.  Hiemach  sind  die  Seelen 
der  Menschen  unsterblich,  d.  h.  sie  überdauern  den  Wechsel  körper- 
licher Erscheinung  und  wechseln  nur  ihren  Träger.  Nach  Ablauf 
eines  Zeitalters  müssen  sie  Lethe  trinken,  sie  vergessen  damit  alles, 
was  zu  ihrer  irdischen  Individualität  gehörte,  sie  werden  also  ent- 
individualisiert. Sie  wählen  dann  ein  neues  Menschenloos,  das  ihnen 
eine  neue  Individualität  verleiht  Der  Sinn  dieses  Mythos  zeigt  klar, 
daß  der  des  irdischen  Charakters  entkleidete  Menschengeist  merkmallos 
und  unvorstellbar  ist.  Wovon  wir  aber  keine  Vorstellung  haben,  da- 
raus können  wir  auch  nichts  herleiten,  am  wenigsten  den  Begriff  der 
V  erantwortlichkeit. 

Hier  setzt  nun  der  letzte  und  bedeutendste  Einwand  unserer 
Gegner  ein.  Menschlichem  Vorstellungsverraögen  entrückt,  so  hören 
wir,  ist  das  Reich  der  Religion,  in  diesem  wurzeln  die  Freiheit  des 
Willens  und  die  Verantwortlichkeit,  denn  aus  ihm  leitet  sich  der  Ur- 
sprung jeder  Menschenseele  ab. 

Vor  diesem  Argument  pflegen  die  Deterministen  Halt  zu  machen. 
Insbesondere  Liszt  und  seine  Schüler,  von  denen  dies  neuerdings 
Dohna  besonders  betont,  wollen  zwischen  Wissenschaft  und  Religion 
eine  strenge  Scheidung  machen,  sie  wollen  jeden  Übergriff  auf  das 
Gebiet  der  Religion  vermeiden  und  fordern  dafür  Alleinherrschaft  auf 
dem  Gebiete  der  Wissenschaft,  insbesondere  der  wissenschaftlichen 
Grundsätze  des  Strafrechts. 

Diesen  Standpunkt  vermag  ich  nicht  zu  teilen.  Gewiß  ist  es  für 
den  Juristen  mißlich,  dem  Theologen  in  sein  Fach  hineinzureden  und 
umgekehrt,  aber  es  handelt  sich  doch  nur  um  die  Grenzen  individueller 
Fachkenntnisse,  nicht  um  die  Grenzen,  die  in  den  Dingen  selbst  liegen. 
Für  den  denkenden  Geist  existieren  die  Kreidestriche  nicht,  die  die 
eine  Fakultät  von  der  anderen  trennt.  Die  Philosophie,  als  die  uni- 
verselle und  prinzipielle  Theorie  der  Wirklichkeit  (wie  Paulsen  sagt) 
umfaßt  alles,  was  menschlichem  Denken  erschließbar  ist^  sie  umfaßt 
die  Rechtsphilosophie  und  die  Religionsphilosophie.  Sie  kann  die 
Dinge  nicht  einfacher  machen  als  sie  sind  und  nichts  daran  ändern, 
wenn  hier  beide  Gebiete  in  einander  übergehen  und  unlöslich  mit 
einander  verbunden  sind.  Zum  Glück  brauchen  wir  auch  für  unser 
Problem  keinerlei  theologischen  Apparat.  Die  religiöse  Vorstellung^ 
um  die  es  sich  handelt,  ist  uns  allen  bekannt,  sie  besteht  in  der 
Meinung,  Gott  habe  den  Menschengeist  frei  geschaffen,  so  daß  es  nun 


über  Wiodelband  und  den  Streit  um  das  Strafrecht  295 

beim  Menschengeiste  stehe,  das  Gute  oder  das  Böse  za  wählen.  Wir 
begegnen  hier  wieder  dem  harmlosen  Gebrauche  des  Wortes  frei. 
Erinnern  wir  uns  unserer  Analyse  dieses  Begriffs  und  fragen  wir, 
Vielehe  Kraft  ist  hier  frei  im  Menschengeiste?  Es  muß  entweder  die 
Kraft  des  Guten  oder  die  des  Bösen  sein.  Ist  es  aber  eine  von  diesen, 
so  ist  sie  eben  von  Gott  in  den  Menschen  hineingelegt,  sie  ist  dann 
die  Grundlage  seines  Charakters,  also  gerade  dasjenige^  was  den  Ent- 
schloß des  Menschen  determiniert  Ist  aber  keine  der  Kräfte  gemeint^ 
so  fehlt  dem  Worte  frei  wiederum  jeder  Inhalt.  Wir  sehen  also  auch 
im  Bereich  des  religiösem  Denkens  ist  ein  der  Charakterbildung  ent- 
rücktes persönltches  Wesen  des  Menschen  nicht  auffindbar.  Es  ist 
aber  garaicht  einmal  wahr,  —  und  das  muß  gegenüber  denjenigen 
Indeterministen  betont  werden,  die  sich  für  ihre  Meinung  auf  die 
christliche  Weltanschauung  berufen  zu  sollen  glauben  —  daß  unsere 
Religion  indeterministisch  gerichtet  sei.  Die  eben  besprochene  Vor- 
stellungsweise besteht  zwar  in  der  Theorie,  in  der  Praxis  herrscht 
aber  die  gegenteilige.  Sie  kennen  alle  das  vielzitierte  Wort  von 
dem  Gott,  der  die  Herzen  der  Menschen  lenkt,  wie  die  Wasserbäche. 
Das  Wort  ist  vergeblich  in  der  Bibel  gesucht  worden,  es  steht  nicht 
darin,  aber  es  ist  offenbar  eine  Umdichtung  eines  anderen  Bibelwortes, 
das  mir  kürzlich  begegnet  ist.  Es  steht  in  den  Sprüchen  Salomos 
21,  1  und  heißt:  „Des  Königs  Herz  ist  in  der  Hand  des  Herrn  wie 
Wasserbäche  und  er  neigt's,  wohin  er  will."  Das  echte  wie  das  un- 
echte Zitat,  sie  bilden  in  gleicher  Weise  den  tausendfach  wiederholten 
Ausdruck  einer  allgemein  feststehenden  Überzeugung  der  Christenheit. 
Und  beachten  Sie,  wie  streng  deterministisch  der  alttestamentliche 
Spruchdichter  hier  in  dem  Gleichnis  von  den  Wasserbächen  spricht. 

Das  Ergebnis  dieser  Betrachtung  versuche  ich  dahin  zusammen- 
zufassen: 

Eine  Instanz,  die  unabhängig  von  Motiven  aus  sich  selbst 

heraus  im  Willensleben  des  Menschen  eine  Wahlentscheidung 
träfe,  ist  der  psychologischen,  der  metaphysischen  und  der 
religiösen  Betrachtungsweise  gleichermaßen  unauffindbar,  viel- 
mehr lehrt  die  Beobachtung  des  Lebens,  es  fordern  Pädagogik 
und  Strafrechtspflege  und  es  bestätigt  das  im  Bereiche  der 
christlichen  Weltanschauung  herrschende  religiöse  Empfinden, 
daß  der  Mensch  in  seinen  Willensentschlüssen  von  seinem 
Charakter,  d,  h.  dem  Inbegriffe  der  in  seinem  Innern  wirk- 
samen Motive,  determiniert  wird. 
Ich  kann  den  Versuch  der  Rechtfertigung  des  Determinismus 
nicht  schließen,  ohne  Ihnen  ein  Wort  anzuführen,   das  eine  muster- 


296  XII.  VON  Zastrow 

gültige  Zusammenfassung  aller  hier  von  mir  aufgerollten  Gedanken, 
gleichsam  eine  Stichwortsammlung  in  gebundener  Bede  darstellt,  bei 
der  auch  der  Rahmen  religiöser  Weltanschauung  nicht  fehlt,  wenn 
auch  die  Beziehung  zur  Religion  in  eine  Form  gekleidet  ist,  die  dem 
Zeitgeist  des  Sprechers  dieser  Worte  entstammt  und  deshalb  den 
Ernst  und  die  Wahrheit  leicht  verkennen  läßt,  die  darin  enthalten 
sind.  Es  ist  der  Schiller'sche  Wallenstein,  der  mit  Bezug  auf  seine 
astrologischen  Studien  zu  seinen  Generalen  spricht: 

Des  Menschen  Wollen  und  Gedanken,  wißt, 
Sind  nicht  wie  Meeres  blind  bewegte  Wellen. 
Die  innre  Welt,  sein  Mikrokosmos  ist 
Der  tiefe  Schacht,  aus  dem  sie  ewig  quellen. 
Sie  sind  notwendig  wie  des  Baumes  Frucht, 
Sie  kann  der  Zufall  gaukelnd  nicht  verwandeln. 
Hab  ich  des  Menschen  Kern  erst  untersucht, 
So  weiß  ich  auch  sein  Wollen  und  sein  Handeln. 


Ehe  ich  von  diesem,  dem  schwierigsten,  zum  letzten  und  wich- 
tigsten Teil  meines  Vortrags  übergehe,  bedarf  es  der  Erklärung  eines 
hier  wichtigen  Freiheitsbegriffs,  der  insbesondere  forensisch  von  der 
größten  Bedeutung  ist,  es  ist  die  psychologische  Freiheit. 

Wir  kehren  zu  unserem  Beispiel  zurück  und  denken  uns,  der 
Vater  des  Jungen  sieht  den  Kampf  zwischen  Pflicht  und  Neigung 
im  Innern  seines  Sohnes  und  sagt  zu  ihm:  „geh  zum  Fenster,  wenn 
Du  magst,  ich  lasse  Dir  Deinen  freien  Willen".  Hier  haben  wir 
wieder  den  Ausdruck  „freier  Wille",  aber  offenbar  anders  gemeint 
als  vorhin  bei  der  Mutter.  Der  Vater  meint  damit:  ich  will  Dich 
nicht  beeinflussen  durch  mein  Verbot,  Das  Verbot  des  Vaters  ist  an 
sich  auch  nur  ein  Motiv  unter  vielen  im  Innern  des  Jungen.  Sitzt 
aber  der  Vater  neben  ihm,  so  kann  man  sich  denken,  wie  dieses 
Motiv  alle  andern  überwiegt,  sodaß  es  nicht  zum  Kampf  zwischen 
Pflicht  und  Neigung  in  dem  Jungen  kommt,  sondern  nur  zu  dem 
Gedanken:  „Wie  schade,  daß  ich  nicht  zum  Fenster  gehen  kann, 
aber  der  Vater  erlaubt  es  nicht/  Dieses  Überwiegen  emes  einzelnen 
Motives  derart,  daß  alle  anderen  lahmgelegt  sind,  nennen  wir  den 
Zustand  des  psychischen  Zwanges;  wo  er  vorliegt,  fehlt  die  psycho- 
logische Freiheit.  Unfrei  ist  der  Junge  insofern,  als  er  durch  den 
Zwang,  den  das  Verbot  des  Vaters  ausübt,  gehindert  ist,  aus  seinem 
eigenen  Innern  heraus,  aus  seiner  Natur  und  seinem  Charakter  die 
Entscheidung  zwischen  Pflicht  und  Neigung  zu  treffen.  In  diesem 
Sinne  können  wir  die  hier  in  Rede  stehende  Freiheit  als  natürliche 


über  Winde]band  und  deu  Streit  um  das  Straf  recht.  297 

Freiheit  bezeichnen.  Die  Natur  des  Menschen  ist  dann  als  die  Kraft 
gedacht,  die  entweder  frei  sich  betätigt  oder  durch  ein  bestimmtes 
Motiv,  daß  durch  äußere  Umstände  zur  Alleinherrschaft  gelangt,  an 
der  Betätigung  gehemmt  wird.  Solche  Beeinträchtigungen  der  natür- 
lichen Freiheit  gibt  es  unendlich  viele.  Den  Juristen  interessieren 
drei  von  ihnen  ganz  besonders :  die  Drohung,  der  Bausch  und  der  Affekt. 

Die  Drohung  ist  die  Beeinträchtigung,  die  man  juristisch  als 
psychischen  Zwang,  vis  compulsiva,  bezeichnet.  Gegen  diesen  Zwang 
ist  die  natürliche  Freiheit  des  Menschen  allenthalben  zivilrechtlich 
und  strafrechtlich  geschützt.  Ich  erinnere  an  die  Vorschriften  des 
Zivilrechts  zum  Schutze  gegen  Bewucherung,  gegen  Mißbrauch  eines 
Abhängigkeitsverhältnisses,  gegen  die  erzwungene  Ehe  oder  letztwillige 
Verfügung  und  an  das  Heer  von  Strafbestiramungen  gegen  alle  Arten 
von  Bedrohung.  Andererseits  ist  der  unter  dem  psychischen  Zwange 
einer  Drohung  oder  eines  drohenden  Übels  Handelnde  entweder  straf- 
frei —  so  im  Falle  des  §  52  —  oder  er  wird  milder  bestraft,  so  wer 
falsch  schwört,  wenn  die  Aussage  der  Wahrheit  ihm  Strafverfolgung 
zugezogen  hätte. 

Wichtiger  ist  die  Störung  der  natürlichen  Freiheit  durch  den 
Rausch.  Von  ihm  herrscht  in  der  Praxis  meist  die  falsche  Vor- 
stellung, er  wirke  insoweit  als  geistige  Störung,  als  er  das  Bewußtsein 
trübe  oder  aufhebe,  unsere  Einsicht  in  das  Zustandekommen  des 
Willensentschlusses  durch  das  Spiel  der  Motive  lehrt  uns,  daß  diese 
Annahme  falsch  ist.  Das  Verhängnis  des  Bausches  liegt  darin,  daß 
er  bei  klarer  Vorstellung  den  Willen  lähmt,  d.  h.  die  Reihe  der 
konstanten  Motive  lahmlegt,  die  für  gewöhnlich  den  Willen  bestimmen. 
Man  weiß  im  Bausche  sehr  wohl,  was  man  tut,  aber  man  kümmert 
sich  nicht  darum,  was  man  anrichtet,  man  verliert  die  richtige 
Schätzung  des  Wertes  der  eignen  Handlungen.  Man  wird  ein  Opfer 
der  Augenblicksmotive,  und  die  scheinbare  Erregung,  Weinen,  Toben, 
Zerstörungswut,  Zärtlichkeit  usw.,  alles  dies  ist  nur  die  Folge  einer 
Lähmungserscheinung,  nämlich  der  Lähmung  aller  jener  konstanten 
Motive,  deren  Wirksamkeit  uns  sonst  im  seelischen  Gleichgewichte 
erhält.  Man  sieht,  daß  die  richtige  Beurteilung  des  Bausches,  die 
nur  dem  Determinismus  möglich  ist,  in  vielen  Fällen  eine  erheblich 
andere  straf trechtliche  Würdigung,  als  sie  jetzt  üblich  ist,  mit  sich 
bringen  muß. 

Das  Gleiche  gilt  von  der  Frage  der  Einsicht,  die  der  jugendliche 
Verbrecher  haben  muß,  um  strafbar  zu  sein.  Diese  zur  Erkenntnis 
der  Strafbarkeit  erforderliche  Einsicht  wird  von  der  Praxis  meistens 
irrigerweise  im  Vorstellungsleben  statt  im  Willensleben  des  Kindes 


298  XII.  VON  Zastbow 

gesucht.  Ich  meine  damit  nicht,  daß  man  sie  in  der  moralischen 
Beife  suchen  soll,  die  tritt  bei  Manchem  überhaupt  nicht  ein,  sondern 
es  handelt  sich  dabei  um  diejenige  Abrundung  und  Festigung  des 
Motiyationslebens,  die  das  Kind  über  das  Stadium  hinaushebt,  in  dem 
es  ein  Spielball  seiner  Augenblicksmotiye  ist,  eine  Entwicklungsstufe 
die  allerdings  mit  dem  12.  oder  14.  Jahre  eintritt,  was  übrigens  auch 
von  unseren  Kirchen  durch  den  auf  diesen  Zeitpunkt  gelegten  Akt 
der  ersten  Kommunion  oder  Konfirmation  anerkannt  wird. 

Der  Affekt  schließlich  ist  ein  Motiv,  das  so  schnell  wirksam 
wird,  daß  iBs  dem  Menschen  nicht  Zeit  läßt,  seinen  Willensentschluß 
gleichsam  aus  dem  Schacht  seines  Innenlebens  heraufzuholen.  Insofern 
handelt  der  Mensch  im  Affekt  unfrei.  Unser  Strafgesetzbuch  erkennt 
dies  in  einigen  besonders  ins  Auge  springenden  Fällen  durch  die 
Bestimmung  der  Straflosigkeit  oder  Strafmilderung  an,  so  bei  dem 
in  Furcht,  Bestürzung  oder  Schrecken  begangenen  Notwehrexzeß, 
dem  Kindsmorde,  der  Tötung  im  Affekt  und  beim  Totschlage.  Dieser 
ist  das  deutlichste  Beispiel  für  das  Fehlen  der  konstanten  Motive, 
deren  Vorhandensein  das  Gesetz  als  Überlegung  bezeichnet  und  zum 
Tatbestandsmerkmal  des  Mordes  erklärt.  Es  ist  indessen  nicht  einzu- 
sehen,  warum  diese  zwischen  Mord  und  Totschlag  gemachte  Unter- 
scheidung nicht  auch  bei  allen  anderen  Vergehen  in  Betracht  gezogen 
werden  muß.  Insbesondere  bedürfen  auch  Eigentumsvergehen  einer 
unterschiedlichen  Bestrafung,  je  nachdem,  ob  sie  mit  vollem  Bedacht 
oder  im  Drange  einer  augenblicklichen  Versuchung  begangen  sind. 
Das  System  der  mildernden  Umstände  trägt  diesem  Bedürfnis  im 
geltenden  Becht  noch  nicht  im  vollen  Umfange  Bechnung,  sein  Ausbau 
ist  eine  der  dringendsten  Forderungen  der  Strafrechtsreform,  über  deren 
Berechtigung  erfreulicherweise  unter  den  Kriminalisten  der  modernen 
und  der  klassischen  Schule  volle  Übereinstimmung  herrscht 

Diese  psychologische  oder  natürliche  Freiheit  ist  es  endlich  auch, 
die  der  §  51  des  Strafgesetzbuches  mit  den  Worten  „freie  Willens- 
bestimmung" meint*  Daß  diese  Freiheit  die  Voraussetzung  der  Ver- 
antwortlichkeit ist,  versteht  sich  von  selbst. 

Eine  weitergehende  Bedeutung  aber  kann  den  Worten  freie 
Willensbestimmung  nicht  beigemessen  werden.  Das  muß  besonders 
betont  werden  gegenüber  einer  Bemerkung  von  Lucas  in  seiner  „An- 
leitung zur  strafrechtlichen  Praxis**,  in  der  er  die  Meinung  zu  ver- 
treten scheint,  das  Gesetz  habe  den  Streit  um  die  Willensfreiheit  im 
Sinne  der  indeterministischen  Theorie  entscheiden  wollen.  Meine 
Herren,  kein  Gesetz  der  Welt  hat  die  Macht,  über  die  Richtigkeit 
logischer  Gedankengänge  zu  entscheiden,  und  auch  der  §  51  vermag 


über  Windelband  and  den  Streit  um  das  Strafrecht.  299 

nicht  dem  Worte  „frei**  einen  Sinn  zu  geben,  den  es  seiner  logischen 
Bedeutung  nach  nicht  hat.  Den  Beweis  aber,  daß  das  System  unseres 
Strafrechts  der  indeterministischen  Theorie  zu  seiner  Stütze  auch  nicht 
bedarf,  daß  es  vielmehr  nur  auf  deterministischem  Boden  einen  be- 
friedigenden Sinn  erhält,  will  ich  in  dem  letzten  Teile  meines  Vor- 
trags zu  führen  suchen. 


Sie  haben  bis  jetzt,  meine  Herren,  in  mir  nur  den  Anwalt  der 
Deterministen  gehört.  Sie  sollen  jetzt  deren  Ankläger  hören.  Die 
Hehrzahl  der  Deterministen  schließt  an  diesem  Punkte  der  Erörterung 
ihre  Akten  und  hat  auf  die  Frage  der  Rechtfertigung  der  Strafe  nur 
ein  Achselzucken,  ja  sie  spricht  es  mehr  oder  weniger  unverhohlen 
aus,  daß  sie  die  Zeit  kommen  sieht  und  sehnlichst  herbeiwünscht, 
wo  die  staatliche  Strafe  mit  samt  ihrer  ethischen  Begründung  als 
eine  barbarische  Institution  mittelalterlichen  Aberglaubens  für  immer 
der  Vergangenheit  angehören  wird.  Ich  nenne  für  viele  nur  zwei 
hochangesehene  Namen:  Forel  und  Aschaffen  bürg.  Forel  begegnet 
in  seinem  sonst  so  vorzüglichen  Buche  über  die  sexuelle  Frage  der 
Strafrechtspflege  mit  ausgesuchter  Unfreundlichkeit,  und  er  spricht 
es  als  seine  ernsthafte  Ansicht  aus,  daß  unser  geltendes  Strafrecht  in 
Theorie  nnd  Praxis  durch  den  Determinismus '  ad  absurdum  geführt 
wird.  Und  Aschaffenburg  erklärt  in  seinem  Buche  „Das  Verbrechen 
und  seine  Bekämpfung^  am  Schlüsse  des  bis  dahin  ausgezeichneten 
Kapitels  über  den  Determinismus,  auf  die  moralische  Verantwortung 
verzichte  der  Determinismus.  Gegenüber  solchen  Stimmen  ist  es  nun 
das  besondere  Verdienst  Windelbands,  einer  Betrachtungsweise  zu 
ihrem  Recht  verhelfen  zu  haben,  die  sich  als  eine  philosophisch  um- 
fassendere ausweist  und  uns  in  den  Stand  setzt,  solche  Konsequenzen 
eines  einseitigen  Determinismus  zu  widerlegen. 

Wir  knüpfen  an  die  letzte  Betrachtung  über  den  Affekt  an,  wo 
wir  sahen,  daß  der  im  Affekt  handelnde  Mensch  unfrei  heißt.  Affekt- 
zustände, die  sich  häufig  wiederholen,  verdichten  sich  zu  dem,  was 
man  Leidenschaft  nennt  In  diesem  Sinne  spricht  man  von  leidenschaft- 
lichen Naturen.  Macht  nun  auch  die  Leidenschaft  den  Menschen 
unfrei  und  weniger  strafbar?  Das  scheint  der  gesunden  Vernunft 
zu  widersprechen,  wenn  wir  an  Leidenschaften  wie  Haß,  Neid  oder 
Habsucht  denken.  Unser  Empfinden  belehrt  uns,  daß  wir  hier  un- 
bemerkt die  Grenze  zweier  verschiedenen  Gedankenwelten  über- 
schritten haben,  eine  Grenze,  die  wir  nur  an  der  Unterscheidung, 
zwischen  konstanten  und  momentanen  Motiven  wahrnehmen  können 


300  XII.  VON  Zastrow 

Eine  eingewurzelte  Leidenschaft  gehört  zu  den  konstanten  Motiven, 
also  zur  inneren  Natur  und  dem  Charakter  des  Menschen.  Das 
unterscheidet  sie  vom  Affekt,  der  eben  Natur  und  Charakter  nicht 
zur  Geltung  kommen  läßt.  Während  also  dieser  Affekt  strafmildernd 
wirkt,  macht  die  im  Charakter  wurzelnde  verbrecherische  Leiden- 
schaft das  Verbrechen  nur  um  so  strafbarer.  Diese  Unterscheidung 
fehlt  vielfach  der  Praxis,  in  der  bald  der  Affekt  mit  der  Leidenschaft 
als  strafschärfend,  bald  die  Leidenschaft  mit  dem  Affekt  als  straf- 
mildernd beurteilt  wird.  Und  doch  sprechen  wir  davon,  daß  jemand 
ein  Sklave  seiner  Leidenschaften  sei  und  meinen  damit  einen  Zustand 
höchster  Unfreiheit.  Welchen  Sinn  hat  hier  der  Begriff  der  Frei- 
heit? Wir  meinen  offenbar  damit,  daß  gewisse  Motive,  die  zu  den 
konstanten  gehören  mögen,  vorherrschen  und  die  andern  unter- 
drücken. Herrscht  aber  bei  jemandem  das  Gefühl  der  Rechtlichkeit 
oder  der  Nächstenliebe  so  vor,  so  sprechen  wir  nicht  von  Sklaverei, 
höchstens  wenn  wir  meinen,  daß  er  darin  zu  weit  gehe.  Es  liegt 
also  in  diesem  Urteil  der  Unfreiheit  eine  Mißbilligung.  Und  das 
zeigt  uns,  daß  wir  hier  das  Gebiet  der  Werte  des  geistigen  Lebens, 
der  Bewertung  eines  Motivs  und  des  hinter  ihm  stehenden  Charakters 
betreten  haben.  Wir  nennen  den  „unfrei",  der  von  Motiven  be- 
herrscht ist,  die  wir  mißbilligen,  „frei"  den,  dessen  leitende  Motive 
unsere  Billigung  finden.  Woher  nun  diese  Billigung  und  Mißbilligung 
und  was  ist  ihr  Recht?  Es  ist  eine  Funktion  in  der  Welt  der  Werte, 
einer  Welt  die  wir  kurz  überschauen  müssen.  Wir  finden  darin  eine 
Dreiteilung,  nämlich  die  Funktionen  des  Denkens,  des  Wollens  und 
des  Empfindens.  Das  Gebiet  des  Denkens  ist  die  Logik,  ihr  Ideal 
die  Wahrheit;  das  des  Empfindens  die  Aesthetik,  ihr  Ideal  die  Schön- 
heit; das  des  Wollens  die  Ethik,  ihr  Ideal  die  Sittlichkeit  oder  das 
moralisch  Gute. 

Das  Gemeinsame  dieser  drei  Ideale  ist  nun,  daß  sie  unabhängig 
von  dem  ursächlichen  Entstehen  der  Gedanken,  der  Willensentschlüsse 
und  der  Empfindungen  sind.  Das  ist  am  einleuchtendsten  beim 
ästhetischen  Empfinden  und  künstlerischen  Schaffen.  Die  Entstehung 
eines  Gemäldes  ist  in  allen  seinen  Teilen  ein  Ergebnis  aus  Ursache 
und  Wirkung,  ob  es  nun  schön  oder  unschön  ausfällt.  Nicht  anders 
steht  es  beim  Denken.  Der  Irrtum  im  Gedankenlaufe  eines  Menschen 
ist  ebenso  kausal  entstanden  wie  der  wahre  Gedanke.  Die  Fra^e 
nach  der  Wahrheit  eines  Gedankens  berührt  sich  garnicht  mit  der 
anderen  Frage,  wie  der  Mensch,  der  ihn  denkt,  dazu  gekommen  ist. 
Genau  so  steht  es  mit  dem  moralischen  Urteil  und  dem  determinierten 
Wollen.     Daß    ein  jeder   Willensentschluß    die   Wirkung   bestimmter 


über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Strafrecht.  301 

Ursachen  ist,  die  wir  hier  Motive  nennen,  das  teilt  er  mit  dem  Denken 
und  mit  dem  Empfinden.  Und  ebenso  berechtigt  wie  es  ist,  das  Er- 
gebnis einer  Denkoperation  richtig  oder  falsch,  das  Produkt  künstler- 
ischen Gestaltens  schön  oder  häßlich  zu  nennen,  ebenso  berechtigt  ist 
es,  das  durch  Motive  determinierte  Wollen  des  Menschen  mit  dem 
Werturteil  „gut"  oder  „böse"  zu  belegen.    Wir  sehen: 

Das  logische,  das  ästhetische  und  das  ethische  Werturteil,  sie 
sind  unabhängig  von  der  kausalen  Entstehung  des  bewerteten 
Phänomens. 
Das  ist  das  Eine.  Zum  Andern  sehen  wir  aber  —  und  das  ist  das 
Entscheidende  für  unser  Problem  —  eine  Verschiedenheit  im  Gebiete 
des  Wollens  vom  Denken  und  vom  Empfnden.  Das  logische  Ideal 
der  Wahrheit  setzt  sich  ungehemmt  durch,  sobald  es  seinen  Feind 
im  Irrtum  überwunden  hat.  Nicht  anders  das  Schönheitsideal,  bei  dem 
der  Künstler  über  das,  was  schön  und  unschön  ist,  klar  geworden 
ist.  Soviel  Streit  unter  den  Menschen  über  die  Wahrheit  und  die 
Schönheit  herrschen  mag,  so  vermag  doch  niemand  absichtlich  etwas 
Unwahres  zu  denken,  und  kein  Maler  wird  absichtlich  häßlich  malen. 
Ganz  anders  steht  es  im  Willensleben.  Hier  erleben  wir  es  auf 
Schritt  und  Tritt,  daß  wir  geflissentlich,  mit  vollem  Bedacht,  den 
Willensentschluß  fassen,  der  unserem  eigenen,  deutlich  erkannten 
moralischen  Ideal  widerspricht.  Das  heißt,  der  Wille  gehorcht  nicht 
der  ethischen  Norm  im  Bewußtsein  des  Menschen,  wie  das  Denken 
der  logischen  und  das  Empfinden  der  aesthetischen  Norm  gehorcht 
Der  Wille  lehnt  sich  gegen  die  ethische  Norm  auf:  „Das  Gute,  das 
ich  will,  das  tue  ich  nicht,  und  das  Böse,  das  ich  nicht  will,  das  tue 
ich",  wobei  Wollen  für  die  Stimme  der  ethischen  Norm  in  unserem 
Bewußtsein  gesetzt  ist  und  Tun  für  den  Willensentschluß.  In  unserer 
früheren  Formel  ausgedrückt  sind  es  Pflicht  und  Neigung,  die  um 
den  Sieg  kämpfen.  Die  Pflicht  ist  der  Ausdruck  unseres  Norm- 
bewußtseins. Ob  dieses  sich  aber  durchzusetzen  vermag,  d.  h.  ob 
seine  Motive  stärker  sind  als  die  der  Neigung,  das  ist  eine  Tatfrage. 
Aus  dieser  Divergenz  zwischen  der  ethischen  Norm  und  dem  fak- 
tischen Willensentschluß,  die  eine  Eigentümlichkeit  des  ethischen 
Lebens  ist,  entsteht  nun  derjenige  innere  Vorgang,  den  wir  das  Ge- 
fühl der  Verantwortlichkeit  oder  das  Gewissen  nennen.  Es  ist  ein 
ünlustgefühl,  das  sich  bei  dem  Auseinandergehen  des  Normbewußt- 
seins und  unserer  Willensentschließung  einstellt  und  umso  heftiger 
wird,  je  weiter  unser  Wollen  von  dieser  Norm  abweicht.  Es  mindert 
sich  entsprechend,  je  mehr  sich  dieses  Wollen  wieder  der  Norm 
nähert  und  geht,   wenn   Norm  und   Wollen  übereinstimmen,  in  das 


302  XII.  VON  Zastbow 

Lustgefühl  über,  das  wir  das  gute  Gewissen,  den  inneren  Lohn  der 
guten  Tat  nennen.  Wir  beobachten  also,  daß  dieses  Verantwortlich- 
keitsgefühl  eine  bestimmte  Funktion  in  unserm  Innern  ausübt,  näm- 
lich unser  Wollen  dem  Normbewußtsein  anzunähern.  Der  Mensch 
sucht,  was  liUst  und  meidet,  was  Leid  bringt.  Lust  und  Leid  wirken 
also  als  Motive  auf  seinen  Willen.  Die  Funktion  der  inneren  Ver- 
antwortung besteht  also  darin,  inneres  Leid  zuzufügen,  das  zum  Mo- 
tive wird,  solches  Handeln  zu  meiden,  mit  dem  dieses  Leid  verknüpft 
ist  und  solches  Handeln  anzustreben,  das  Lust  bringt  In  dieser 
selbsttätigen  Wirkung  der  inneren  Verantwortung  in  der  Richtung 
auf  die  Verwirklichung  der  ethischen  Norm  liegt  das,  was  man  die 
teleologische  Funktion  der  Verantwortung  nennen  kann. 

Was  nun  diese  im  Innenleben  des  Menschen,  das  bedeutet  in  der 
äußren  Lebensordnung  die  äußere  Verantwortlichmachung,  die  wir 
in  der  Erziehung  und  Rechtspflege  ausüben  und  die  wir  Strafe 
nennen.  Auch  sie  ist  die  Zufügung  eines  Leides,  das  zum  Motive 
werden  soll,  zu  meiden,  was  Ursache  des  Leides  war.  Dieses  Motiv 
wird  im  einzelnen  Menschen  wie  in  der  Allgemeinheit  durch  Straf- 
drohung und  Strafvollzug  gesetzt,  und  die  Setzung  dieses  Motives 
macht  die  Berechtigung  des  staatlichen  Strafrechts  aus. 

Auch  die  staatliche  Strafe  erschöpft  ihre  Bedeutung  in  der  teleo- 
logischen Funktion,  die  wir  mit  dem  Worte  „Vergeltung**  bezeichnen 
und  die  frühere  Zeiten  als  ein  nicht  erklärbares,  religiös  sanktio- 
niertes Dogma  ansahen,  das  sie  mit  dem  Spruche  „Auge  um  Auge, 
Zahn  um  Zahn''  wiedergaben.  Wir  sehen  daraus,  daß  es  ein  Irrtum 
ist,  die  Vergeltungstrafe  der  Zweckstrafe  gegenüberstellen,  dennn 
alle  Strafe  ist  Zweckstrafe,  und  der  von  der  Natur  gesetzte  Zweck 
liegt  eben  in  der  heilsamen  Wirkung  innerer  Befriedigung,  die 
man  empfindet,  wo  das  Verbrechen  seine  Sühne  findet  und  deren 
heilsame  Bedeutung  auch  der  einfachste  Mann  des  Volkes  in  seinem 
Innern  fühlt  und  mit  den  selbstverständlichen  Worten  bekennt: 
„Strafe  muß  sein". 

Die  innere  und  die  äußere  Verantwortung  in  ihrer  Bedeutung 
zusammenfassend,  können  wir  deshalb  sagen: 

Die  Verantwortung  hat  die  Funktion,  durch  Ver- 
hängung eines  Leides  als  Folge  normwidrigen  Tuns 
Motive  für  das  normgemäße  Verhalten  der  Menschen 
zu  setzen. 
Wir  haben  somit  den  Begriff  der  Verantwortung  vom  determi- 
nistischen Standpunkte  erklärt;    es  bleibt  nur  übrig  zu  untersuchen, 
woher  die  enge  Verbindung  kommt,  die  dieser  Begriff  mit  der  Vor- 


über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Strafrecbt.  303 

Stellung   eines  freien  Willens   zu  haben  scheint.    Wir   haben   bereits 
am  Anfange  gesehen,   daß  frei   sein   das   Fehlen   von  etwas   Norm- 
widrigen bedeutet,  und  wir  sahen  weiter,  daß  die  Freiheit  die  Ent- 
faltung einer  bestimmten  Kraft  bedeutet.    Aus  beiden  ergibt  sich  uns 
die  Erklärung,  was  hier  freier  Wille  bedeutet.    Die  sittliche  Norm  ist 
die  Kraft,  die  sich  ebenso  wie  die  logische  und  aesthetische  Norm  im 
Bewußtsein  des  Menschen  betätigt    Die  Betätigung  ist  bei  dem  ge- 
sunden und  normalen  Menschen  ungehemmt,  sie  kennt  ihrer  Natur 
nach  keine  Fesseln  ihrer  Wirksamkeit,  das  Gewissen  schläft  nie,  sagt 
man,  und  nur  sofern  das  zutrifft,  sprechen  wir  von  Verantwortlich- 
keit.    Geisteskranke,  bei   denen   dieses   Normbewußtsein   gestört  ist, 
und  Kinder  bei  denen  es  noch  nicht  entwickelt  ist,  sind  nicht  verant- 
wortlich.   Die  Bedingung  der  Verantwortlichkeit  ist  also  nichts  anderes 
als  diese  Wirksamkeit  der  moralischen  Norm.    Sofern  man  sie  freien 
Willen  nennen  will,  hat  der  normale  Mensch  allerdings  freien  Willen 
und   ist  dieser  freie   Willen   die  Voraussetzung   unserer   Moral   und 
unserer  B^chtsordnung.    Aber  wir  haben   bereits  gesehen,  daß  diese 
Kraft  des  Normbewußtseins  nicht  allein  wirksam  für  den  menschlichen 
Willensentschluß   ist,    sie   ist   nur   eine    unter    den    Triebfedern    des 
menschlichen  Willens,   nur  eines   in    der  Reihe   der  Motive,    die  den 
Entschluß  herbeiführen.     Deshalb  ist  der  Willensentscliluß  selbst  oder 
der  menschliche  Wille   nicht  frei   in  dem  Sinne,    daß    die  Kraft   der 
sittlichen  Norm   ihn  ungehemmt  bestimmte,   diese    Freiheit   ist  keine 
Tatsache,   sondern  ein  Ideal:    Der  Mensch,   der  in  seinen    Entschlie- 
ßangen  der  sittlichen  Norm  folgt,  zeigt  damit,   daß  er  alle  entgegen- 
stehenden, sie  hemmenden  Motive  überwunden  hat,  daß  sie  also  frei 
in  ihm  geworden  ist.     Diese  Freiheit  nennen  wir  deshalb  die  sittliche 
Freiheit. 

In  welcher  Beziehung  und  vielfachen  Vertauschung  diese  sitt- 
liche Freiheit  mit  der  vorher  besprochenen  natürlichen  Freiheit  in  den 
Erörterungen  über  menschliche  Willensfreiheit  erscheint,  zeigt  uns  als 
lehrreiches  Beispiel  die  christiiche  Ethik.  Ihre  Grundidee  geht  davon 
aus,  daß  die  Natur  des  Menschen  böse  ist  und  der  Fessel  durch  das 
Sittengesetz  mit  religiöser  Sanktion,  wie  es  der  mosaische  Dekalog 
darstellt,  bedarf.  Somit  bedeutet  die  böse  Natur  des  Menschen  die 
Kraft,  das  Sittengesetz  die  Fessel.  Das  Gesetz  macht  also  den 
Menschen  unfrei.  Diese  Auffassung  kehrt  nun  das  Christentum  in 
ihr  Gegenteil  um.  Seine  Idee  geht  dahin,  die  Natur  des  Menschen  der- 
gestalt umzuwandeln,  daß  er  das  Sittengesetz  in  sich  aufnimmt  und 
als  das  seiner  Natur  entsprechende  aus  eigenem  Antriebe  befolgt. 
In  diesem  Sinne  allein  ist  die  scheinbar  so  paradoxe  Grundforderung 


304  XII.  VON  Zastrow 

der  christlichen  Ethik:  ^Du  sollst  lieben'',  zu  verstehen,  die  etwas  zu 
fordern  scheint,  was  doch  nur  der  allerspontansten  inneren  Betätigung 
menschlichen  Empfindens  entspringen  kann.  Sie  erklärt  sich  nur  daraus, 
daß  das  Christentum  diejenige  Gesinnung  im  Menschen  schaffen  will, 
die  diese  Liebe  als  reife  Frucht  hervorbringt.  In  diesem  Sinne  handelt 
der  Mensch  aus  seiner  inneren  Natur  heraus  sittlich,  er  handelt  also 
frei,  denn  seine  Natur  ist  nach  wie  vor  die  Kraft,  die  sich  betätigt, 
und  sie  ist  nunmehr  ungefesselt,  denn  kein  Sittengesetz  tritt  von 
außen  hemmend  entgegen,  sondern  die  sittliche  Norm  ist  dem  Men- 
schen selbst  zur  Natur  geworden.  Diese  eigentümliche  Urakehrung 
der  Begriffe  mit  allen  darin  enthaltenen  Paradoxen  ist  das  Thema 
des  Hauptwerkes  der  christlichen  Ethik  des  Urchristentums:  des 
Bömerbriefes.  Und  in  diesem  Sinne  spricht  auch  Luther  von  der 
Freiheit  eines  Christenmenschen. 

Wir  wissen  jetzt,  wie  die  Unbekannte  heißt,  die  wir  in  die  vorhin 
aufgestellte  Formel  einsetzen  müssen,  um  zum  Begriffe  der  sittlichen 
Freiheit  zu  kommen.  Statt  „wollen  können,  was  man  wollen  will**, 
muß  es  heißen:  „wollen  können,  was  man  wollen  soll**,  dann  gibt 
die  Formel  einen  Sinn.  Zwar  nicht  den,  daß  dieses  Können  eine 
Freiheit  im  Sinne  der  Handlungsfreiheit  wäre,  denn  wir  wissen  ja 
alle,  daß  sich  dieses  soll  eben  nicht  frei  durchsetzt,  sondern  nur  zu 
oft  durch  entgegenstehende  Motive  der  Neigung  gehemmt  ist;  der 
Sinn  der  Formel  ist  vielmehr  der  einer  Triebfeder  und  Mahnung 
daran,  daß  die  Kraft  des  Gewissens  rege  ist  und  sich  betätigt  „Du 
kannst,**  bedeutet  hier,  daß  eine  innere  Tendenz  auf  die  Befolgung 
des  Sittengesetzes  hindrängt  und  daß  eine  Chance  für  seine  Ver- 
wirklichung gegeben  ist,  die  es  auszunutzen  gilt,  indem  man  die  er- 
forderlichen Motive  zur  Durchsetzung  dieser  Kraft  hinzufügt  durch 
das,  was  wir  gewöhnlich  Selbstzucht,  Zusammenraffung,  Selbst- 
erziehung, Selbstbeherrschung  usw.  nennen.  Diese  Begriffe  sind 
keineswegs  entwertet  durch  die  Einsicht,  daß  alles  Wollen  und  auch 
alles  Motivsetzen  in  den  Zusammenhang  des  kausalen  Geschehens  ein- 
gespannt ist,  denn  diese  Begriffe  der  Verantwortung,  des  Gewissens, 
der  Selbstbeherrschung  und  Selbstzucht,  sie  alle  werden  von  diesem 
Zusammenhange  mit  umfaßt  und  spielen  in  ihm  ihre  bestimmte  Bolle. 

Der  zu  Ende  gedachte  Determinismus  widerlegt  den  gewöhnlichen 
Einwand  des  oberflächlichen  Denkens:  was  nützt  alle  Mühe  und  An- 
strengung? es  kommt  ja  doch,  wie  es  kommen  soll!  —  Sie  nützt 
sehr  viel,  denn  jedes  Motiv,  das  durch  sittliche  Anstrengung  in  die 
Reihe  aller  wirksamen  Motive  miteingestellt  wird,  ist  die  notwendige 
Ursache  einer  Folge,  die  ohne  es  nicht  eintreten  kann.     Also  wird 


über  Wiüdelband  und  den  Streit  um  das  Strafrecbt  305 

jede  moralische  Anstrengung  selbst  zur  Ursache,  von  der  alles  weitere 
Geschehen  mit  abhängt. 

Der  zu  Ende  gedachte  Determinismus  schwächt  nicht  die  Ver- 
antwortlichkeit, sondern  stärkt  sie  durch  die  Einsicht  in  die  notwen- 
dige, kausale  Bedeutung,  den  jede  menschliche  Willensentschließung 
für  den  gesamten  weiteren  Verlauf  alles  Geschehens  hat. 

Der  zu  Ende  gedachte  Determinismus  führt  endlich  allein  zu 
einem  befriedigenden  religiösen  Ausblick,  denn  er  lehrt  uns,  daß  das 
Menschenleben  mit  seinem  ganzen  geistigen  Inhalt  eingespannt  ist  in 
den  Rahmen  eines  Weltgeschehens,  das  im  Ganzen  und  allem  Einzelnen 
das  Werk  einer  überweltlichen  Macht  ist,  von  der  jeder  Einzelne  ab- 
hängt. Diesem  Gefühle  der  Abhängigkeit  haben  die  größten  Denker 
des  Christentums  aller  Zeiten  Ausdruck  gegeben,  ihm  entspricht  im 
Reiche  der  Werte  das  Bewußtsein  der  Unerreichbarkeit  der  sittlichen 
Norm,  das  Gefühl  einer  UnvoUkommenheit,  das  nach  einer  trans- 
zendenten Gnadeninstanz  verlangt  Das  Wort  Gnade  entspringt  keines- 
wegs rein  theologischer  Betrachtungsweise,  es  enthält  einen  allgemein 
menschlichen  Gedanken,  der  sich  im  Gerichtssaal  ebenso  überwälti- 
gend geltend  macht,  wie  im  religiösen  Leben.  Das  sagt  uns  Shakes- 
peare in  den  schlichten  Worten,  die  er  in  der  großen  Gerichtsszene 
des  Kaufmanns  von  Venedig  der  Porzia  in  den  Mund  legt: 

Suchst  du  um  Recht  schon  an,  erwäge  dies, 
Daß  nach  dem  Lauf  des  Rechtes  unser  keiner 
Zum  Heile  kam,  wir  beten  all*  um  Gnade. 


Ich  bin  am  Schluß  und  suche  das  Fazit  zu  ziehen :  in  der  grund- 
sätzlichen Betrachtung  des  Problems  der  Freiheit  und  Verantwortlich- 
keit sind  die  Deterministen  im  Unrecht,  sie  irren,  wenn  sie  meinen, 
der  Determinismus  hebe  Moral  und  Strafrecht  aus  den  Angeln.  Sie 
leiden  hier  an  einer  Einseitigkeit  der  Betrachtungsweis,  die  ihren 
historischen  Grund  hat  Die  extremen  Deterministen  sind  über- 
wiegend  Arzte  und  Naturforscher  und  sie  stehen  noch  im  Banne  der 
alten  Feindschaft^  die  seit  der  Säkularisierung  der  Philosophie  und  Natur- 
wissenschaft zwischen  dieser  und  der  Kirchenlehre  herrscht  Die 
Naturforscher  denken  überall,  wo  sie  von  Moral  hören,  an  die  Moral, 
die  mit  einer  Weltanschauung  verknüpft  ist,  deren  Feinde  sie  sind, 
nämlich  der  altkirchlichen.  Es  ist  dies  ein  Vorurteil,  an  dem  die 
Kirche  nicht  ohne  Schuld  ist,  aber  die  Theologie,  die  heute  auf 
unseren  Universitäten  die  herrschende  ist  und  es  immer  mehr  zu 
werden   verspricht,   ist  am  Werke  diese   Kluft   zu  überbrücken  und 

AielkiT  für  Kriminalanthropologie.    27.  Bd.  20 


306  XII.  VON  Zastbow 

eine  Einigung  wissenschaftlichen  und  religiösen  Denkens  herbei- 
zuführen auf  einem  Boden,  der  inzwischen  von  unseren  zünftigen 
Philosophen,  zu  denen  auch  Windelband  gehört,  bereitet  worden  ist 
und  auf  dem  die  Interessen  vorurteilsloser  Wissenschaft  und  die 
idealen  Weite  des  geistigen  Lebens  in  gleichem  Maße  zu  ihrem 
Bechte  kommen. 

Die  größere  Schuld  aber  scheint  mir  auf  Seiten  der  Indetermi- 
nisten  zu  liegen ;  sie  überschätzen  die  praktische  Bedeutung  der  Straf- 
funktion und  sie  unterschätzen  die  Kraft  aller  Motive,  die  das  ver- 
brecherische Verhalten  hervorrufen.  Sie  verschließen  mit  Unrecht 
ihr  Auge  den  neuen  und  wichtigen  Erfahrungen,  die  die  neuen 
Wissenschaften  der  Biologie,  Pathologie  und  Soziologie  für  die  Er- 
forschung des  Zustandekommens  menschlicher  Willensentschlüsse  ge- 
geben haben  und  die  uns  erkennen  lassen,  daß  die  große  Mehrzahl 
der  Menschen  nicht  deshalb  auf  dem  Wege  Bechtens  bleibt,  weil  das 
Rechts-  und  Pflichtgefühl  sie  abhält  das  zu  tun,  wozu  sie  ihre  Nei- 
gung treibt,  sondern,  weil  es  an  solchen  Neigungen  fehlt.  Mit  der 
zunehmenden  Kultur  können  die  der  Kulturgüter  Teilhaftigen  ihre 
Neigungen  auf  dem  Wege  des  Rechts  befriedigen,  es  treibt  sie  des- 
halb nichts,  ihn  zu  verlassen.  Wo  aber  die  Natur  oder  die  soziale 
Not  wirklich  Motive  zur  Rechtsverletzung  setzt,  da  sind  Recbtsgefühl 
und  Moral,  ja  auch  die  Furcht  vor  Strafe  meist  von  recht  geringem 
Einfluß.  Diese  Erkenntnis  hat  die  moderne  Straf  rechtsschule  zu  ihrem 
Geständnis  bewogen,  daß  die  Strafe  in  der  Bekämpfung  des  Ver- 
brechens eine  untergeordnete  Bedeutung  hat,  womit  keineswegs  ge- 
sagt werden  soll,  daß  sie  gar  keine  Bedeutung  habe.  Es  ist  nur  der 
Ausdruck  der  Beobachtung,  daß  man  den  Willensentschluß  des  Men- 
sehen dadurch  bestimmen  muß,  daß  man  den  Motiven  des  Pflicht- 
gefühls und  der  Rechtlichkeit  unter  der  Gesamtheit  der  konstanten 
Motive  die  Majorität  verschafft.  Dies  kann  geschehen,  indem  man 
diese  Motive  zu  vermehren  oder  die  entgegenstehenden  Motive  zu 
vermindern  sucht,  und  die  Erfahrung  lehrt,  daß  das  letztere  meistens 
viel  leichter  ist,  als  das  erstere.  In  unserem  Beispiel  vom  Schul- 
jungen gleicht  der  Jurist  dem  Lehrer,  der  bei  unzähligen  seiner 
Schüler  die  Beobachtung  gemacht  hat,  daß  sie  in  der  gleichen  Lage 
wie  dieser  Junge  der  Versuchung  nicht  widerstehen  können.  Und 
so  wichtig  nun  auch  die  Aufgabe  der  Erziehung  ist,  gegenüber  sol- 
chen Versuchungen,  die  sich  nicht  fern  halten  lassen,  die  moralische 
Widerstandskraft  zu  stärken,  viel  wichtiger  ist  praktisch  die  Aufgabe, 
solche  Versuchungen  fern  zu  halten.  Deshalb  hat  der  Lehrer  Recht, 
daß  das  beste  Mittel  dem  Ubelstande  abzuhelfen  allerdings  das  ist, 


über  Windelband  und  den  Streit  um  das  Strafrecht.  307 

dem  Jungen  ein  Arbeitszimmer  einzuräumen,  in  dem  er  nicht  gestört 
wird.  Das  kleine  Beispiel  wird  uns  zum  Symbol  einer  mit  Recht 
mehr  und  mehr  betonten  Wahrheit:  die  Frage  der  Bekämpfung  des 
Verbrechens  ist  zu  einem  erheblichen  Teil  eine  Wohnungsfrage. 

Die  praktische  Nutzanwendung,  die  der  Determinismus  mit  seiner 
Einsicht  in  das  Zustandekommen  menschlicher  Willensentschlüsse 
durch  das  Spiel  der  Motive  lehrt,  stimmt  überein  mit  dem  Ergebnis 
der  praktischen  Lebenserfahrung,  das  kürzlich  Herr  Geh.  Bat 
Krohne  hier  in  anderem  Zusammenhange  mit  den  Worten  aus- 
sprach: das  Verbrechen  bekämpfen  heißt  seine  sozialen  Ursachen 
bekämpfen. 


20* 


XIIL 
Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder. 

(Genesis  der  Geständnisse,  Lügen  gestandiger  Morder  in  Nebenpunkten, 

Gefühlsverrohung.) 

Aus  der  Braunschweigischen  Strafi'echtspraxis 

mitgeteilt  vom 

Ersten  Staatsanwalt  Oberlandesgcrichtsrat  Fessler,  Braunschwclg. 


Sowohl  für  den  Strafrechtspraktiker  wie  für  den  Psychologen 
haben  vor  allen  Arten  der  Verbrecher  die  Mörder  ein  ganz  be- 
sonderes Interesse. 

Ich  greife  im  nachstehenden  eine  Anzahl  Strafprozesse  wegen 
Mordes  aus  unserer  Braunschweigischen  Praxis  heraus,  um  auf  einige 
psychologische  Eigentümlichkeiten  hinzuweisen,  die  mir  bei 
den  verurteilten  Mördern  aufgefallen  sind. 

Die  anderweite  schriftstellerische  Behandlung  und  Darstellung 
der  hier  erwähnten  Fälle  behalte  ich  mir  ausdrücklich  vor. 

Diejenigen  Punkte,  welche  ich  an  dieser  Stelle  besprechen  möchte, 
sind  folgende : 

A.  Die  Tatsachen  und  umstände,  welche  bei  den  ursprünglich 
leugnenden  Mördern  ein  Geständnis  verursacht  haben.  (Die  Genesis 
der  Geständnisse); 

B.  Die  Tatsache,  daß  die  in  der  Hauptsache  vollständig  ge- 
ständigen Mörder  in  Nebenumständen  hartnäckig  beim  Lügen  ge- 
blieben sind; 

C.  Die  bei  einzelnen  der  verurteilten  Individuen  hervorgetretene 
maßlose  Gefühlsverrohung. 

Der  Tatbestand  der  ins  Auge  gefaßten  Straf  rechtsfälle  ist  in 
kurzen  Worten  folgender: 

1.  Im  Dorfe  Ampleben  wurden  eines  Morgens  eine  48  Jahre 
alte  Frauensperson  und  deren  13jährige  Tochter,  welche  in  einem 
einsamen  Häuschen  gewohnt  hatten,  in  ihrem  Bett  tot  aufgefunden. 
Das  Bettstroh  war  angesteckt,  und  die  Leichen  waren  halb  verkohlt 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  309 

Durch  Leichenschau  wurde  festgestellt,  daß  beiden  Frauenspersonen 
mit  einem  schweren  Werkzeuge  die  Schädel  eingeschlagen  waren. 
Die  Barschaft  der  Ermordeten  war  geraubt. 

Als  des  Doppelmordes  verdächtig  wurde  der  in  der  Nachbar- 
schaft des  Tatorts  wohnende  33jährige  verheiratete,  verschuldete 
Schuhmacher  Jonas  Segger  verhaftet,  weil  er  schon  am  Tage  der 
Auffindung  der  Leichen  seltene  alte  Münzen  verausgabt  hatte,  die 
nachgewiesenermaßen   im  Besitze  der  Erschlagenen  gewesen  waren. 

Der  bisher  hartnäckig  leugnende  Angeschuldigte  legte  plötzlich 
am  zweiten  Tage  der  Schwurgerichtsverhandlung  das  Geständnis  ab, 
daß  er  nächtlich  in  die  Wohnung  der  beiden  Frauenspersonen  ein- 
gedrungen sei,  diese  erschlagen,  ihre  Barschaft  geraubt  und  dann  das 
Bett  angezündet  habe,  um  ein  Verbrennen  der  Leichen  zu  verursachen 
und  ein  Brandungliick  vorzutäuschen. 

2.  Am  Früh  morgen  eines  Oktobertages  wurde  auf  der  Feldmark 
des  Dorfes  Meinkoth  die  Leiche  des  40jährigen,  in  Meinkoth  wohn- 
haft gewesenen,  verheirateten  Steinbruchsarbeiters  Kaspar  Koßmieder 
mit  eingeschlagenem  Schädel  aufgefunden.  Neben  der  Leiche  lag 
ein  mit  Steckrüben  gefüllter  Sack. 

Als  des  Mordes  verdächtig  wurden  der  Kostgänger  des  Er- 
schlagenen, der  27jährige  ledige  polnische  Arbeiter  Anton  Giepsz^ 
und  die  Ehefrau  des  Ermordeten,  die  35jährige  Antonie  Koß- 
mieder geb.  Bialsczynska,  die  schon  längere  Zeit  mit  einander 
in  ehebrecherischen  Beziehungen  gestanden  hatten,  eingezogen. 

Nach  längerem  hartnäckigen  Leugnen  gestand  Anton  Giepsz  ein^ 
daß  er  mit  der  Ehefrau  Koßmieder  verabredet  habe,  deren  Mann 
beim  nächtlichen  Steckrübenstehlen  auf  dem  Felde  zu  erschlagen,  und 
daß  er  die  Tat  der  Verabredung  gemäß  ausgeführt  habe.  Die  Ehe- 
frau Koßmieder,  die  bisher  ebenfalls  geleugnet  hatte,  legte  nach 
Gegenüberstellung  mit  ihrem  Mitbeschuldigten  dann  auch  ein  Ge- 
ständnis ab. 

3.  Beim  Aufräumen  eines  wenig  gebrauchten  Gelasses  der  Aktien 
Zuckerfabrik  in  Salzdahlum  fand  man,  im  erdigen  Fußboden  verscharrt, 
eine  stark  in  Verwesung  übergegangene  männliche  Leiche,  deren 
Schädel  eingeschlagen  war.  Sie  wurde  als  die  eines  Eichsfelder 
Fabrikarbeiters  anerkannt,  der  9  Monate  vorher,  während  er  Nacht- 
schicht im  Gasbereitungsraum  der  Fabrik  gehabt  hatte,  verschwunden 
und  nie  wieder  aufgetaucht  war. 

In  Verdacht  geriet  ein  Landsmann  und  Mitarbeiter  des  Erschlagenen, 
der  21jährige  ledige  Clemens  Jünemann,  der  inzwischen  wieder 
in  seine  Eichsfelder  Heimat  zurückgekehrt  war. 


310  XIII.  Pessleb 

Zunächst  leugnete  Jttnemann,  irgend  etwas  von  der  Tötung  seines 
Kameraden  zu  wissen ;  endlich  gab  er  an,  er  habe  letzteren  in  gerechter 
Notwehr  mit  einer  Spitzhacke  geworfen,  wider  seinen  Willen  habe 
dieser  Schlag  den  Tod  des  Getroffenen  herbeigeführt,  und  aus  Angst 
vor  strafrechtlicher  Verfolgung  habe  er  die  Leiche  yerscharrt,  nach- 
dem er  ihr  Uhr  und  und  Barschaft  abgenommen  habe. 

Mit  zynischer  Ruhe  und  Dreistigkeit  erzählte  er  diese  Geschichte  auch 
in  der  Hauptverhandlung  vor  dem  Schwurgerichte.  Nach  einer  Mittags- 
pause gestand  er  jedoch  plötzlich  zu,  daß  er  sein  Opfer  in  Raubmord- 
absicht  im  Schlafe  beschlichen,  vorsätzlich  getötet  und  beraubt  habe. 

4.  Im  Dorfe  Ostharingen  wurden  an  einem  Novembertage  eine 
67  jährige  Witwe  und  ihr  22 jähriger  Sohn,  die  gemeinschaftlich  ihren 
kleinen  Bauernhof  bewirtschaftet  und  allein  in  ihrem  Anwesen  ge- 
wohnt hatten,  tot  aufgefunden. 

Die  Witwe  lag  mit  zerschlagenem  Schädel  unter  ihrem  Bette,  der 
Sohn  war  am  Holme  der  Kuhkrippe  an  seinem  Halstuche  aufgehängt 
Durch  Leichenöffnung  wurde  festgestellt,  daß  auch  er  durch  einen 
Schlag  auf  den  Kopf  getötet  und  die  Leiche  dann  aufgehängt  war. 

Die  Wertpapiere,  welche  die  Getöteten  besessen  hatten,   fehlten. 

Verdächtig  des  Doppelmordes  war  ein  in  Braunschweig  wohn- 
hafter Neffe  der  erschlagenen  Witwe,  der  35  Jahre  alte,  verheiratete 
frühere  Portier  Heinr.  Ö  hl  mann. 

Nach  langem  Leugnen  gestand  er  ein,  zunächst  seine  Tante  er- 
schlagen, dann  seinen  im  Kuhstalle  aufhSJtlichen  Neffen  beschlichen 
und  ebenfalls  totgeschlagen,  sich  auch  die  Wertpapiere  der  Ermordeten 
angeeignet  zu  haben. 

5.  Im  Dorfe  Neu  -  Ölsburg  fand  man  eines  Morgens  die 
60 jährige. Ehefrau  eines  Zugführers,  deren  Ehemann  dienstlich  ab- 
wesend war,  an  der  Klinke  ihrer  Kammertür  aufgehängt.  Es  wurde 
festgestellt,  daß  die  Frau  durch  Erwürgen  getötet  und  dann  deren 
Leiche  aufgeknüpft  war.  Eine  Schürze  war  bei  dem  Würgeakte 
der  Frau  vor  das  Gesicht  gehalten. 

Der  I9jährige  Nachbarssohn,  Arbeiter  Wilh.  Rühmann,  ein 
nichtsnutziger  Bursche,  gestand  ein,  die  alte  Frau  erwürgt,  die  Leiche 
behufs  Vortäuschung  einer  Selbsttötung  aufgehängt  und  sich  dann 
das  vorhandene  Geld  im   Betrage  von  60  M.  angeeignet  zu  haben. 

6.  Eine  im  Dorfe  Harvesse  dienende  21jährige  Magd  war  an 
einem  Juniabend  von  einem  Ausgange  nicht  zurückgekehrt  Am 
anderen  Morgen  fand  man  ihre  Leiche  in  einem  nahe  beim  Dorfe 
liegenden  Gehölze,  an  einer  Kiefer  erhängt,  auf.  Als  Todesursache 
wurde  Erdrosselung  ermittelt. 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  311 

In  den  Verdacht  der  Tat  geriet  der  in  Harvesse  auf  einem  Bauern- 
höfe dienende,  ledige  24  jährige  Knecht  Heinr.  Stolte,  der  mit  dem 
Mädchen  in  Beziehungen  gestanden  haben  sollte,  daneben  aber  mit 
einem  in  einem  Nachbardorfe  dienenden  anderen  Mädchen  öffentlich 
verlobt  war. 

Stolte  leugnete  hartnäckig,  auch  noch  in  der  Schwurgerichts- 
yerhandlung.  Am  dritten  Verhandlungstage  gestand  er  aber  plötzlich 
ein,  die  Magd  zu  einem  Stelldichein  in  das  Gehölz  bestellt,  sie  dort 
mittels  eines  ihr  über  den  Kopf  geworfenen  Strickes  erdrosselt  und 
dann  die  Leiche  an  der  Kiefer  aufgehängt  zu  haben. 

7.  Der  9jährige  Sohn  eines  Schlachters  im  Orte  Dibbesdorf 
hatte  sich  eines  Abends  mit  dem  seit  3  Tagen  im  ELause  anwesenden 
l6V2Jährigen  Laufburschen  Joseph  Jankowski  in  den  Futterraum 
des  Pferdestalles  begeben,  um  Häcksel  zu  schneiden.  Als  nach  ge- 
raumer Zeit  die  beiden  nicht  wieder  ins  Wohnhaus  zurückgekehrt 
waren,  ging  die  Mutter  des  Knaben  in  die  Stallungen,  um  ihren  Sohn 
zu  holen.  Sie  fand  seine  Leiche  in  dem  dem  Futterraum  benachbarten 
Ziegenstalle.  Am  Hinterkopfe  war  eine  von  einem  Hammer  her- 
rührende Wunde  sichtbar,  der  obere  Teil  der  Schädeldecke  war  durch 
mehrere  parallel  laufende  scharfe  Beilhiebe  gespalten. 

Joseph  Jankowsky  war  verschwunden,  er  stellte  sich  aber  noch 
an  demselben  Abend  in  Braunschweig  einem  Polizeibeamten,  dem 
er  zugestand,  den  Knaben  zunächst  mit  einem  Hammerschlage  be- 
täubt, ihn  dann  vom  Futterraum  in  den  Ziegenstall  geschleppt  und 
ihm  hier  mittels  eines  kleinen  Handbeiles  den  Schädel  gespalten 
zu  haben. 

8.  Auf  dem  Klostergute  Hagenhof  bei  Königslutter  hatte  der 
verheiratete  27jährige  Kuhknecht  Wilh.  Duwe  die  11jährige  Tochter 
einer  auf  demselben  Gute  wohnhaften  Witwe  erstochen,  weil  ihm  das 
Mädchen  erklärt  hatte,  es  werde  frühere  ünzuchtshandlungen,  die 
Duwe  mit  ihr  vorgenommen,  ihrer  Mutter  mitteilen. 

Diesen,  in  kriminalistischer  wie  psychologischer  Beziehung  in- 
teressanten Strafrechtsfall  habe  ich  im:  Pitaval  der  Gegenwart, 
Bd.  3.  S.  103 — 138,  ausführlich  dargestellt.  Ich  nehme  auf  diese 
Darstellung  Bezug  und  teile  unten  nur  mit,  was  ich  bei  der  Dar- 
stellung im  Pitaval  nicht  erwähnt  habe. 

Abgesehen  von  dem  (nur  relativ  straf  mündigen)  Joseph  Jankowski, 
welcher  15  Jahre  Gefängnis  erhielt,  sind  die  sämtlichen  hier  auf- 
geführten Mörder  zum  Tode  verurteilt,  und  an  allen  ist  auch  die 
Todesstrafe  vollstreckt. 


312  XIII.  Pessler 

A.:  Genesis  der  Geständnisse. 

Jonas  Segger  hatte  während  der  ganzen  Voruntersuchung 
hartnäckig  geleugnet.  Er  wollte  zur  Zeit  der  Tat  sein  Gehöft  nicht 
verlassen  haben.  Dem  Vorhalte,  daß  er  schon  am  Tage  der  Auf- 
findung der  Leichen  alte  seltene  Münzen  verausgabt  hatte,  die  im 
Besitze  der  Verstorbenen  gewesen  waren,  setzte  er  die  Ausrede  von 
dem  „zufälligen  Finden"  dieser  Münzen  entgegen. 

Am  zweiten  Tage  der  Hauptverhandlung  demonstrierten  in  seiner 
Gegenwart  die  ärztlichen  Sachverständigen,  daß  mit  großer  Wahr- 
scheinlichkeit angenommen  werden  müsse,  die  Schädelwunden  der 
einen  Erschlagenen  seien  mit  einem  bei  Segger  beschlagnahmten  s.  g. 
Schusterhammer  verursacht,  ja  einer  der  Ärzte  unterschied  solche 
Wunden,  die  mit  der  „Platte"  und  solche,  die  mit  der  „Pinne"  des 
Hammers  zugefügt  sein  würden. 

Nach  Anhörung  dieser  Gutachten  erklärte  Segger  plötzlich,  daß 
er  jetzt  die  Wahrheit  sagen  wolle,  und  nunmehr  gestand  er  schlank 
ein,  daß  er  nächtlich  in  die  Wohnung  der  beiden  Frauenspersonen 
eingedrungen  sei,  diese  in  ihrem  Bette  mittels  eines  von  ihm 
mitgebrachten  Beiles  erschlagen  und  sich  dann  ihre  Barschaft 
und  die  in  ihrem  Besitz  befindliche  Münzsammlung  angeeignet  habe, 
schließlich  habe  er,  um  die  Verbrennung  der  Leichen  herbeizuführen, 
das  Bettstroh  angesteckt.  Mit  großer  Bestimmtheit  betonte  er  aber, 
daß  der  bei  ihm  beschlagnahmte  Schusterhammer  zur  Zeit  der  Aus- 
führung der  Tat  ruhig  auf  dem  Tische  seiner  Werkstatt  gelegen  habe, 
und  daß  das  von  ihm  gebrauchte  Mordbeil  noch  in  seiner  Küche  zu 
finden  sei. 

Ein  sofort  nach  Ampleben  geschickter  Gendarm  fand  das  be- 
zeichnete Beil  an  dem  von  Segger  genau  bezeichneten  Orte,  und  nun- 
mehr erklärten  die  ärztlichen  Sachverständigen,  daß  die  an  den  Leichen 
festgestellten  Wunden  sehr  wohl  auch  durch  Schläge  mit  dem  Rücken 
dieses  Beiles  verursacht  sein  könnten. 

Anton  Giepsz,  dem  die  ehebrecherische  Frau  seines  Logiswirts 
Koßmieder  dazu  vermocht  hatte,  mit  dem  schwächlichen,  impotenten 
Manne  nächtlich  zum  Steckrübenstehlen  zu  gehen  und  den  mit  dem 
Steckrübensacke  beladen  Koßmieder  auf  dem  Heimwege  hinterrücks 
mittels  Beiles  zu  erschlagen,  war  trotz  Vorhaltes  aller  Verdachts- 
momente beim  Leugnen  geblieben.  Er  hatte  mit  größter  Ruhe  eine 
von  seiner  Mittäterin  erfundene  Geschichte  erzählt,  nach  welcher  er 
und  Koßmieder  beim  Steckrübenstehlen  von  zwei  Männern,  darunter 
einem  Arbeiter  Seh.,   überrascht   seien,   worauf    Giepsz   geflohen  sei, 


Ein  Beitrag  znr  Psychologie  der  Mörder.  318 

während  Koßmieder  jedeDfalls  von  den  beiden  Männern  erschlagen 
sein  würde. 

Da  wollte  es  die  Vorsehung,  daß  der  von  Giepsz  verdächtigte 
Arbeiter  Seh.,  als  er  eines  Tages  in  dem  nahe  am  Tatorte  vorüber- 
fließenden Bach  spähte,  um  nach  Fischen  zu  sehen,  das  Mordbeil 
fand,  welches  Giepsz  gleich  nach  der  Tat  ins  Wasser  geschleudert  hatte. 

Der  Tag,  an  dem  ich  Giepsz  dies  Überführungsstück  vorzeigen 
wollte,  war  der  Bußtag.  Ich  hielt  das  Beil  zunächst  verborgen,  und 
Giepsz  erzählte  mit  großer  Ruhe  und  Breite  wiederum  seine  Geschichte 
von  den  beiden  fremden  Männern.  Plötzlich  hielt  ich  ihm  das  Beil 
vor  und  fragte:  „Giepsz,  kennen  Sie  dieses  Beil?"  In  demselben 
Augenblicke  fiel  gerade  das  Geläut  der  Bußtagsglocken  der  dem  Ge- 
richtsgebäude benachbarten  Kirche  ein.  Als  er  die  Glockentöne  hörte 
und  dabei  das  Werkzeug  seiner  Mordtat  vor  sich  sah,  wurde  Giepsz 
kreidebleich,  er  taumelte  zurück  und  legte  ein  Geständnis  ab. 

Seine  buhlerische  Mittäterin  war  erst  zur  Anerkennung  ihrer 
Mittäterschaft  zu  bewegen,  nachdem  ihr  Giepsz  bei  einer  Gegenüber- 
stellung alles  haarklein  ins  Gesicht  gesagt  hatte. 

GlemensJünemann  war  ein  besonders  hartgesottener  Sünder. 
Habsucht,  Eachgier,  Verschlagenheit  und  Heuchelei  bildeten  seine 
Hauptcharakterzüge.  Seine  Geschichte  von  dem  Notwehrakte  trug 
er  auch  noch  bei  seiner  Vernehmung  in  der  Hauptverhandlung  mit 
solcher  Kühe  und  Sicherheit  vor,  daß  eigentlich  niemand  an  einem. 
Freispruch  seitens  der  Geschworenen  —  soweit  Mord  oder  Totschlag 
in  Betracht  kam  —  zweifelte. 

Im  weiteren  Verlauf  der  Hauptverhandlung  legten  die  ärztlichen 
Sachverständigen  den  von  ihnen  präparierten  Schädel  des  Ermordeten 
auf  den  Gerichtstisch  und  demonstrierten  an  ihm  die  Art  der  vor- 
gefundenen Verletzungen. 

Von  diesem  Augenblicke  an  erschien  Jünemann  wie  verwandelt. 
Sein  bisher  ruhiger,  sicherer  Gesichtsausdruck  wich  einer  ängstlichen 
Miene,  durch  seinen  Körper  ging  ein  sichtbares  Zittern  und  Beben, 
und  trotzdem  er  alle  Anstrengung  machte,  sich  zusammenzunehmen, 
entrangen  sich  seiner  Brust  unterdrückte  schluchzende  Laute.  Zuerst 
versuchte  er  mit  erkennbarer  Anstrengung  einige  scheue  Blicke  auf 
den  Schädel  zu  werfen,  dann  blickte  er  krampfhaft  seitwärts. 

Jetzt  trat  eine  Pause  in  der  Verhandlung  ein  und  Jünemann 
wurde  in  das  Arrestzimmer  abgeführt,  wo  ihn  zwei  Gendarmen  be- 
wachten. Nach  kurzer  Zeit  begannen  seine  Gesichtsmuskeln  krampf- 
haft zu  zucken,  Jünemann  ergriff  die  Hand  des  einen  Gendarmen 
und  legte  nunmehr   das  Geständnis  ab,    daß  er  seinen  Landsmann, 


314  XIII.  Pessler 

um  ihn  zu  töten  und  zu  berauben,  nächtlich  im  Gasraum  der  Fabrik 
beschiichen,  ibn  im  Schlafe  erschlagen,  seiner  Habseligkeiten  beraubt 
und  die  Leiche  beigescharrt  habe. 

Wieder  in  den  Sitzungssaal  geführt,  wiederholte  er  dies  ihm  den 
Kopf  kostende  Geständnis  unter  heftigem  Schluchzen. 

Heinr.  Öhlmann,  dessen  unvorsichtige  Frau  die  Wertpapiere 
der  Gemordeten  an  den  Mann  gebracht  hatte  und  dabei  ab- 
gefaßt war,  versuchte  mit  unglaublicher  Beharrlichkeit  seinen  Kopf 
dadurch  zu  retten,  daß  er  „den  großen  Unbekannten",  den  er  zuerst 
Meier,  dann  Weiß  nannte,  als  den  Mörder  hinstellte.  Selbst  wollte 
er  nichts  weiter  getan  haben^  als  die  Leiche  seines  von  dem  Un- 
bekannten erschlagenen  Neffen  aufgehängt  und  die  von  seiner  Ehefrau 
verausgabten  Papiere  von  dem  Unbekannten  angenommen  haben. 
Während  der  Voruntersuchung  wurde  er  vom  Untersuchungsgefängnis 
von  Braunschweig  aus  mittels  Wagen  zum  Tatort  geführt,  um  dort 
an  Ort  und  Stelle  die  von  ihm  geschilderten  einzelnen  Vorgänge 
zu  erläutern. 

Je  näher  der  Wagen  dem  Schauplatze  seiner  Verbrechen  kam, 
desto  stiller  und  gedrückter  wurde  Ohlmann,  und  ehe  noch  das  Dorf 
Ostharingen  erreicht  war,  legte  er  den  ihn  bewachenden  Polizei- 
beamten das  Geständnis  ab,  daß  er  allein  seine  Tante  und  seinen 
Neffen  in  Baubmordsabsicht  erschlagen  und  die  ganze  Geschichte  von 
dem  geheimnisvollen  Meier  oder  Weiß  erlogen  habe.  Dieses  Geständ- 
nis wiederholte  er  vor  dem  Richter. 

Heinr.  Stolte  hatte,  mit  seinen  kalten  hellblauen  Augen  die 
untersuchungsführenden  Beamten  ruhig  anblickend,  alles  geleugnet. 
Er  wollte  nichts  von  einem  geschlechtlichen  Verhältnis  mit  der  später 
tot  aufgefundenen  Magd  wissen,  er  wollte  in  der  Zeit  vom  Verschwinden 
des  Mädchens  bis  zur  Auffindung  der  Leiche  die  Ortschaft  Harvesse 
nicht  verlassen  haben. 

Auch  in  der  Schwurgerichtsverhandlung  beobachtete  er  dieselbe 
Taktik,  und  es  „sickerte  deutlich  durch*',  daß  die  Geschworenen  auf 
die  vorgebrachten  Indizien  hin  die  Schuldfrage  nicht  bejahen  würden. 

Am  dritten  Verhandlungstage  wurde  der  Angeklagte  zum  Tatorte 
geführt,  wo  in  Gegenwart  des  Gerichts,  der  Geschworenen  und  der 
Staatsanwaltschaft  der  Augenschein  eingenommen  wurde.  Das  ruhige, 
dreiste  Benehmen  Stoltes  blieb  zunächst  dasselbe  wie  zuvor;  gegen 
Schluß  des  langen  Augenscheinstermins  wurde  er  aber  immer  gedrückter 
und  stiller,  und  auf  der  Bückfahrt  zum  Untersuchungsgefängnis  in 
Braunschweig  legte  er  zunächst  den  ihn  begleitenden  Polizeibeamten 
ein  teilweises,  am  folgenden  Tage  in  der  Hauptverhandlung  aber  ein 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  315 

umfassendes  Geständnis  ab.  Er  gab  zu,  daß  er  seine  Geliebte  zn 
einem  abendlichen  Stelldichein  in  das  Gehölz  bestellt,  daß  er  ihr 
dort  hinterrücks  den  Strick  nm  den  Hals  geworfen  und  sie  erdrosselt, 
darauf  aber  die  Leiche  zu  einer  nahestehenden  Kiefer  geschleift  und 
sie  an  dieser  (behufs  Vortäuschung  eines  Selbstmordes)  aufgehängt  habe. 
Wilh.  Dnwe  ist,  wie  ich  im  „Pitaval  der  Gegenwart''  ausführ- 
lich geschildert  habe,  durch  das  Verhalten  eines  Polizeihundes  dazu 
bewogen,  zunächst  dem  Gefangenenaufseher  und  gleich  darauf  auch 
dem  Gerichte  ein  Geständnis  des  von  ihm  begangenen  scheußlichen 
Mädchenmordes  abzulegen. 

B.:  Das  Lügen  der  in  der  Hauptsaohe  geständigen  Mörder 
über  einzelne  nebensäohliohe  Funkte« 

Clemens  Jünemann  hat,  wie  hervorgehoben,  in  der  Haupt- 
verhandlung ein  Geständnis  abgelegt,  aus  dem  der  Tatbestand  den 
Mordes,  und  zwar  des  s.  g.  Baubmordes  mit  völliger  Klarheit  hervorging. 

Sein  Landsmann  hatte  in  der  Mordnacht  die  Nachtschicht  im 
Gasbereitungsraum  der  Fabrik  gehabt.  Gegen  2V2  Uhr  hatte  der 
revidierende  Fabrikbeamte  die  Entdeckung  gemacht,  daß  der  Betorten- 
deckel  des  Gasbereitungsapparats  abgeschlagen,  der  diensttuende 
Landsmann  Jünemanns  aber  spurlos  verschwunden  war.  Sofort  wurde 
festgestellt,  daß  auch  die  Kleidungsstücke  des  Verschwundenen,  die 
in  einem  gemeinschaftlichen  Schlafsaal  untermischt  mit  den 
Kleidungsstücken  anderer  Arbeiter  gehangen  hatten, ingleichen 
die  sonstigen  Habseligkeiten  des  Verschwundenen,  sämtlich  fort  waren. 

Hiernach  wurde  allseits  angenommen^  daß  der  Bezeichnete,  der 
kurz  vorher  einen  Verweis  seitens  eines  Fabrikaufsichtsbeamten  erhalten 
hatte,  aus  Bache  gegen  die  Fabrikorgane  den  Betortendeckel  ab- 
geschlagen habe,  um  das  Fabrikgebäude  in  Brand  zu  setzen,  und  daß 
er  dann  „ausgerückt'^  sei. 

Nachdem  Jünemann  nun  das  oben  bezeichnete  Geständnis  ab- 
gelegt hatte,  war  es  nach  dem  Ergebnis  der  Beweisaufnahme  un- 
zweifelhaft, daß  er  sich  am  Abend  vor  der  Tat  bereits  vor  dem 
Schlafengehen  der  Arbeiter  die  Kleidungsstücke  seines  späteren 
Opfers  in  dem  gemeinschaftlichen  Schlafsaal  in  aller  Buhe  zusammen- 
gesucht, darauf,  ohne  selbst  im  Schlafraum  zu  Bett  zu  gehen,  in  der 
Nähe  des  Gasbereitungsraums  solange  herumgelungert  hatte,  bis  sein 
Landsmann  (wie  er  dies  stets  zu  tun  pflegte)  im  Gasraum  „sein 
Stündchen  schlief,  und  daß  er  dann  den  Schlafenden  gemordet  hatte. 

Diesem  feststehenden  Tatbestande  gegenüber  blieb  Jünemann 
trotz  aller  Vorstellungen  von  der  völligen  Unmöglichkeit  und  der  er- 


316  Xm.  Pessler 

weislichen   Unwahrheit  seiner  Angaben   bei  folgender  zweifellos  er- 
logenen Darstellung: 

„Ich  bin  nach  11  Uhr  abends  im  Schlafsaal  (mit  den  anderen 
10  Arbeitern)  zu  Bett  gegangen.  Nach  einiger  Zeit  bin  ich  wieder 
aufgestanden,  habe  mich  in  den  (ziemlich  entfernt  liegenden)  Gas- 
bereitungsraum geschlichen,  habe  dort  meinen  schlafenden  Kameraden 
ermordet,  ihm  Uhr  und  Geldbeutel  fortgenommen  und  habe  die  Leiche 
verscharrt.  Dann  bin  ich  wieder  in  den  Schlafsaal  zurückgegangen^ 
habe  (trotz  der  Dunkelheit  und  unbemerkt  von  den  10  dort  lagernden 
Arbeitern!)  sämtliche  Sachen  des  Erschlagenen  (trotzdem  sie  mit  den 
Kleidungsstücken  anderer  Arbeiter  untermischt  hingen!),  ohne  ein 
einziges  liegen  zu  lassen  und  ohne  ein  einziges  falsches  zu  greifen  (!) 
gefunden,  bin,  mit  diesen  Sachen  beladen,  wieder  über  den  Hof  zum 
Gasraum  gegangen,  habe  die  Kleidungsstücke  dort  im  Gasofen  ver- 
brannt, und  dann  habe  ich,  um  ein  ^.Ausrücken'^  meines  Landsmanns 
vorzutäuschen,  den  Retortendeckel  abgeschlagen.  Hierauf  habe  ich 
mich  schließlich  wieder,  ohne  von  jemand  bemerkt  zu  werden,  im 
Schlafsaal  zu  Bett  gelegt." 

Mit  diesen  offensichtlichen  Lügen  ist  Jünemann  in  den  Tod  gegangen. 

Eine  fernere  nachweisbare  Lüge  Jünemanns,  von  der  er  nicht  ab- 
zubringen war,  bezog  sich  auf  den  Hauptbeweggrund  zum  Morde.  Ge- 
wiß mag  es  ihm  nach  der  Barschaft  seines  Opfers  gelüstet  haben,  nach 
dem  ganzen  Untersuchungsergebnis  hat  aber  sein  Landsmann  zweifel- 
los deshalb  sterben  müssen,  weil  er  mundtot  gemacht  werden  mußte. 
Nicht  nur  gegen  Jünemann  selbst,  sondern  auch  gegenüber  ganz  ein- 
wandfreien Zeugen  hatte  der  später  Getötete  mit  aller  Bestimmtheit 
erklärt,  er  werde  sofort  nach  der  Heimkehr  in  die  Eichsfelder  Heimat 
der  dortigen  Behörde  mehrere  von  Jünemann  begangene  Verbrechen, 
von  denen  er  sichere  Kunde  habe,  zur  Anzeige  bringen.  Kurz  nach 
diesen  Drohungen  war  der  Mord  geschehen.  Tatsächlich  stellte  sich 
denn  auch  später  heraus,  daß  Jünemann  verschiedene  schwere  Dieb- 
stähle begangen  hatte,  von  denen  der  Erschlagene  Kenntnis  gehabt 
haben  wird.  Trotz  des  eindringlichsten  Vorhalts,  über  den  bezeich- 
neten Hauptbeweggrund  seiner  Tat  der  Wahrheit  die  Ehre  zu  geben, 
ist  Jünemann  zunächst  stets  dabei  geblieben,  daß  er  überhaupt  keine 
Straftaten  begangen  habe,  und  als  er  dann  der  Diebstähle  überführt 
war,  mußte  er  diese  zwar  einräumen,  er  blieb  aber  dabei,  daß  sein 
Landsmann  nichts  von  diesen  oder  anderen  von  ihm  (Jünemann)  be- 
gangenen Straftaten  gewußt  habe. 

Daß  endlich  Jünemann  über  die  Höhe  des  dem  Ermordeten  ge- 
raubten Geldbetrages  und  über  die  Mitnahme  des  zur  Tat  gebrauchten 


£in  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  317 

Werkzeugs  bis  an  sein  Ende  gelogen  bat,  mag  nur  nebenbei  erwähnt 
werden, 

Heinr.  Öblmann  behauptete  mit  Beharrlicbkeit,  er  habe  seine 
Tante  in  derjenigen  Kammer  totgeschlagen,  in  der  später  die  Leiche 
gefunden  wurde.  Wieder  und  wieder  wurde  ihm  vorgehalten,  daß 
diese  Angabe  eine  unwahre  und  widerlegt  sei.  Gleich  nach  Ent- 
deckung der  Tat  hatte  ich  mit  dem  Gerichtschemiker  festgestellt,  daß 
in  dem  engen,  mit  Möbeln  und  anderen  Gegenständen  vollgepfropften 
Baume,  in  dem  die  feine  überall  lagernde  Staubschicht  nicht 
im  geringsten  an  den  in  Betracht  kommenden  Stellen  verletzt  war, 
die  Tat  tiberhaupt  gar  nicht  begangen  sein  konnte,  sondern  daß  die 
Leiche  in  die  Kammer  geschleppt  sein  mußte.  Die  alte  Frau  war 
zweifellos  in  einer  (an  der  anderen  Seite  des  Hauses  liegenden^  Wurst- 
vorratskammer erschlagen,  als  sie  aus  diesem  Baume  früh  morgens 
Schlachtwerk  zum  Frühstück  hatte  holen  wollen. 

Ferner  blieb  Öhlmann  dabei,  er  habe  seine  beiden  Opfer  mittels 
einer  Staketlatte  erschlagen^  obwohl  die  bei  den  Leichen  vorgefundenen 
Schädelverletzungen  auf  ein  viel  schwereres  und  anders  geartetes 
Werkzeug  hinwiesen. 

Selbst,  als  ich  ihm  am  Tage  vor  der  Vollstreckung  des  Todes- 
urteils eröffnet  hatte,  daß  sein  Kopf  nach  24  Stunden  fallen  werde, 
blieb  der  Verbrecher  trotz  nochmaligen  eindringhchen  Vorhalts  bei 
den  bezeichneten  beiden  erlogenen  Angaben. 

Da  trat  ein  Ereignis  ein,  das  ihm  in  letzter  Stunde  noch  das 
Bekenntnis  der  vollen  Wahrheit  abrang. 

Am  Nachmittage  vor  der  Hinrichtung  sollte  Ohlmann  seinem 
Wunsche  gemäß  in  dem  im  Erdgeschoß  des  Untersuchungsgefängnisses 
liegenden  Sprechzimmer  das  heilige  Abendmahl  empfangen.  Als  er 
zwischen  zwei  ihn  haltenden  Gefangenenaufsehern  die  Treppe  hin- 
untergeführt wurde,  sprang  er  plötzlich,  die  Wächter  fast  mit  sich 
reißend,  in  selbstmörderischer  Absicht  über  das  Treppengeländer.  Er 
blieb  aber,  ohne  in  die  erhebliche  Tiefe  zu  stürzen,  an  einer  Be- 
leuchtungsvorrichtung hängen  und  wurde  wieder  in  seine  Zelle  ge- 
schafft. Dort  lag  er,  als  ich  hinzugerufen  wurde,  mit  zerschmettertem 
Schlüsselbein  und  schrie  laut  vor  Schmerzen.  Bei  seiner  Entkleidung 
fand  sich  in  einem  Hosenbein  ein  Strick,  den  er  sich  aus  dem  ab- 
gekauten Bande  seiner  Bettdecke  hergestellt  hatte,  um  sich,  wenn 
möglich,  vor  der  Hinrichtung  noch  zu  erhängen.  (Da  durch  die 
schwere  Fesselung  die  Arme  mittels  einer  Stange  auseinandergehalten 
wurden,  hatte  er  nur  mit  den  Zähnen  an  der  Bettdecke  arbeiten 
können!)     Als  ihm  die  nötige  ärztliche  Hilfe  geleistet  war   und  er 


318  XIII.  Pessleb 

sich  beruhigt  hatte,  gab  ich  ihm  nochmals  anheim,  mit  der  voUeD 
Wahrheit  auch  in  den  bezeichneten  Nebenpunkten  herauszukommen, 
ehe  er  morgen  seinen  letzten  Gang  anträte. 

Jetzt  endlich  kam  Öhlmann  damit  heraus,  daß  er  tatsächlich 
seine  Tante  in  der  oben  bezeichneten  Wurstkammer  beschlichen,  er- 
schlagen und  dann  die  Leiche  in  die  Schlafkammer  geschleppt  habe; 
auch  erklärte  er,  daß  er  beide  Mordtaten  nicht  mit  einer  Staketlatte, 
sondern  mit  einer  s.  g.  „Schute"  begangen  habe  und  zwar  habe  er 
mit  der  eisernen  „Öse^  dieses  Grabscheits  auf  seine  Tante  und  auf 
seinen  Neffen  eingeschlagen. 

Seine  jetzige  Angabe  über  den  Tatort  stimmte  genau  mit  den 
Ermittelungen  und  den  aus  ihnen  gezogenen  Schlüssen;  seine  Aus- 
sage über  das  gebrauchte  Werkzeug  bestätigte  sich  durch  Nach- 
prüfung: 

Es  wurde  eine  der  (massenhaft  fabrikmäßig  hergestellten)  s.  g. 
Schuten  von  einem  Kaufmann  herbeigeholt,  und  zwei  zugezogene 
ärztliche  Sachverständige  stellten  fest,  daß  die  Form  der  „Öse**  genau 
in  die  Verletzungen  des  präparierten  Schädels  der  Erschlagenen  paßte. 

Wilh.  Ruh  mann  hat  in  seinem  (gleich  beim  ersten  Angriff 
abgelegten  und  bei  allen  späteren  Vernehmungen  wiederholten)  Ge- 
ständnis über  die  Herkunft  des  von  ihm  zum  Aufhängen  der  Leiche 
der  Erdrosselten  gebrauchten  Strickes  folgendes  angegeben: 

„Als  ich  mich  früh  morgens  in  das  Haus  der  später  Getöteten 
eingeschlichen  hatte,  bin  ich  vom  Hausflur  aus  die  Treppe  hinauf 
auf  den  Boden  gegangen,  um  dort  nach  einem  geeigneten  Stricke  zu 
suchen.  Ich  fand  dort  denjenigen  Strick,  an  dem  ich  nachher  die 
Leiche  aufgehängt  habe." 

Eine  Untersuchung  des  Strickes  ergab,  daß  dieser  ein  solcher 
war,  den  der  s.  g.  „Selbstbinder^  einer  Dampfdreschmaschine  geknotet 
hatte.  Es  wurde  festgestellt,  daß  auf  dem  in  Frage  kommenden 
(übrigens  winzig  engen)  Boden  niemals  ein  derartiger  Strick,  auch 
niemals  Stroh  gelegen  hatte,  das  von  einem  Selbstbinder  gebunden 
war;  außerdem  war  es  ja  auch  ganz  unglaublich,  daß  der  Mörder 
erst  im  Hause  seines  Opfers  auf  gut  Glück  nach  einem  Stricke  ge- 
sucht haben  sollte.  Alles  dieses  wurde  Rühmann  vorgehalten,  doch  er 
blieb  bei  seinen  Angaben.  Die  weiteren  Ermittelungen  ergaben  folgendes: 

Rühmann  hatte  die  letzte  Nacht  vor  der  Ausführung  der  Tat 
auf  dem  Felde  in  einer  Kornstiege  genächtigt.  Es  wurde  festgestellt, 
daß  kurz  vorher  auf  einem  benachbarten  Felde,  welches  Rühmann 
auf  dem  Wege  zum  Tatorte  überschritten  hatte,  eine  Dreschmaschine 
tätig  gewesen  war,   deren  Selbstbinder  Stricke  geknotet  hatte,    deren 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  319 

Beschaffenheit  genau  mit  dem  zum  Aufhängen  der  Leiche  gebrauchten 
Stricke  übereinstimmte. 

Auch  diese  ihm  vorgehaltenen  Ermitteluugen  vermochten  Eühmann 
nicht  zu  dem  Bekenntnis  zu  bringen,  daß  er  den  Strick  schon  vom 
Felde  mitgebracht  habe.   Ebenso  bestritt  er  den  Gebrauch  der  Schürze. 

Heinr.  St  ölte  hat  ebenfalls  über  die  Herkunft  des  Strickes, 
mit  dem  er  seine  Geliebte  erdrosselt  und  an  dem  er  dann  deren 
Leiche  aufgehängt  hatte,  bis  ans  Ende  hartnäckig  gelogen.    Er  gab  an : 

„Erst  am  Abend  der  Tat,  als  ich  zu  dem  verabredeten  Stelldichein 
ging,  suchte  ich  im  Hofschauer  meines  Dienstherm  nach  einem  ge- 
eigneten Stricke.  Ich  fand  dort  auch  den  nachher  zur  Ausführung 
des  Mordes  gebrauchten  und  steckte  ihn  zu  mir.  Am  Ende  des 
Strickes  saß  ein  Messingring.'' 

Der  Strick  war,  wie  die  weiteren  Feststellungen  ergaben,  aus 
Jute  gedreht,  an  das  eine  Ende  war  ein  Messingring  geknotet,  wie 
solche  an  Pferdegeschirren  gefunden  werden.  Durch  Umfrage  im 
Dorfe  wurde  ermittelt,  daß  von  den  dortigen  Landwirten  nie  Stricke 
von  der  hier  in  Betracht  kommenden  eigentümlichen  Beschaffenheit 
gebraucht  wurden,  und  der  Dienstherr  Stoltes  sowie  sein  Personal 
erklärten,  daß  sie  auf  ihrem  (kleinen  und  leicht  zu  übersehenden)  Ge- 
höft niemals  einen  derartigen  Strick  gehabt  hätten. 

Auf  Vorhalt,  daß  seine  Angabe  über  die  Herkunft  des  Strickes 
falsch  sei,  und  daß  er  selbst  augenscheinlich  den  Messingring  deshalb 
an  dem  Ende  des  Strickes  befestigt  habe,  damit  sich  bei  der  beab- 
sichtigten Erdrosselung  seiner  Geliebten  die  Schlinge  rasch  und  sicher 
zuziehe,  beharrte  Stolte  bei  seinen  Angaben;  er  ist  auch  beim  Lügen 
geblieben,  trotzdem  die  anderweitige  Herkunft  des  Strickes  durch 
folgende  Tatsachen  festgestellt  war: 

Etwa  3 — 4  Tage  vor  dem  Morde  hatte  sich  Stolte  unter  dem 
Verwände,  eine  Ausbesserung  an  seinem  Fahrrade  vorzunehmen,  in  der 
Werkstatt  eines  benachbarten  Handwerkers  zu  tun  gemacht.  In  dieser 
Werkstatt  hatte  genau  solcher  Strick,  wie  der  zum  Morde  gebrauchte, 
gehangen,  auch  hatten  Messingringe  dort  gelegen,  die  von  derselben 
Beschaffenheit  waren  wie  der  an  den  Mordstrick  geknotete.  Nach  Stoltes 
Hantieren  in  der  Werkstatt  war  der  Strick  verschwunden  gewesen. 

Auch  auf  Vorhalt  dieser  Tatsachen  blieb  Stolte  bei  seinen  früheren 
Angaben. 

Eine  weitere  wissentliche  Unwahrheit  des  in  der  Hauptsache  völlig 
geständigen  Stolte  war  folgende: 

Die  später  Ermordete  hatte  schon  seit  langer  Zeit  mit  der  für 
sie  charakteristischen  Offenheit  erzählt,  daß  sie  seit  Monaten  mit  Stolte 


320  XIU.  Pessler 

im  Geschlechtsverkehr  stehe,  auch  waren  von  einwandfreien  Zeugen 
abendliche  Zusammenkünfte  des  Paares  an  verschiedenen  Orten  be- 
obachtet, die  auch  nicht  den  geringsten  Zweifel  darüber  bestehen 
ließen,  daß  Stolte  das  Mädchen  häufig  geschlechtlich  gebraucht  hatte. 
Stolte  ist  trotz  aller  Vorhalte  stets  dabei  geblieben,  daß  er  mit  dem 
Mädchen  (abgesehen  von  dem  Beischlafe  am  Mordtage)  überhaupt 
nur  einmal  geschlechtlich  verkehrt  habe. 

Noch  in  einem  dritten  Punkte  ist  Stolte  beharrlich  beim  Lügen 
geblieben. 

Als  ihm  das  Mädchen  mitgeteilt  hatte^  es  glaube  bestimmt  von 
ihm  schwanger  zu  sein,  hatte  er  es  schon  zwei  Tage  vor  dem  Morde 
(genau  in  derselben  Weise  wie  am  Mordabend  selbst)  zu  einem  abend- 
lichen Stelldichein  in  ein  nahe  gelegenes  Gehölz  bestellt  Das  Mädchen 
war  auch  festgestelltermaßen  zum  verabredeten  Orte  gegangen,  doch 
Stolte  war  ausgeblieben  und  hatte  nachher  einen  ziemlich  albernen 
Vorwand  für  sein  Nichterscheinen  angegeben.  Nach  allen  ermittelten 
Tatsachen  unterlag  es  keinem  Zweifel,  daß  Stolte  schon  an  diesem 
Abend  den  Mord  hatte  ausführen  wollen,  entweder  aber  im  letzten 
Augenblicke  vor  der  Tat  zurückgeschreckt  oder  wider  seinen  Willen 
am  Erschemen  auf  dem  Platze  des  Stelldichein  gehindert  war.  Stolte  blieb 
dabei,  an  dem  betreffenden  Abend  noch  gar  nicht  an  den  Mord  ge- 
dacht zu  haben,  trotzdem  er  durchaus  keinen  glaubhaften  Grund  dafür 
anführen  konnte,  daß  er  das  Mädchen,  mit  dem  er  sonst  stets  im 
Dorfe  selbst  zusammengekommen  war,  gerade  an  diesem  Abend  in 
das  ziemlich  weit  abgelegene  Holz  bestellt  hatte. 

Endlich  ist  Stolte  bei  einer  vierten  Unwahrheit  geblieben: 

Seine  offenherzige  Geliebte  hatte  ihrer  Freundin  und  Mitmagd 
vor  ihrem  Fortgange  zum  Schauplatze  des  Verbrechens  ausführlich 
erzählt,  daß  ihr  Stolte  geheißen  habe,  einen  bestimmt  vorgeschrie- 
benen Weg  zu  nehmen,  und  daß  er  ihr  eingehend  geschildert 
hatte,  auf  welchem  anderen  Wege  er  selbst  gehen  werde.  Es 
sollte  niemand  im  Dorfe,  wie  er  geäußert  hatte,  von  der  Zusammen- 
kunft etwas  merken.  In  der  Untersuchung  wurde  festgestellt,  daß 
das  Mädchen  und  Stolte  sich  auf  den  beschriebenen  Wegen  tatsächlich 
„getrennt  marschierend^  zu  dem  Platze  des  Stelldichein  begeben  hatten. 

Stolte  hat  trotz  allem  Vorhalts  jede  Mitteilung  an  das  Mädchen  über 
den  vonihmselbstzu  wählenden  Weg  bis  zum  Tode  in  Abrede  gestellt. 

JosephJankowski,  der  degenerierte,  verwahrloste  1 6  V2  jährige 
Mörder,  war  seit  frühester  Jugend  ein  unverbesserlicher  Gewohnheits- 
dieb; seit  seinem  vollendeten  12.  Lebensjahre  war  er  wegen  Diebereien 
(teils   schwerer  Art)   von   einem    Gefängnis    ins    andere    gewandert. 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  321 

Arbeitsscheu  und  Hang  zur  Grausamkeit  veryollständigten  sein  Cha- 
rakterbild. 

Von  der  ^Wanderschaft*',  d.  h.  vom  ümherbummeln,  hatte  ihn 
sein  Dienstherr,  der  Dibbesdorfer  Schlachtermeister,  ins  Haus  ge- 
nommen. Schon  am  ersten  Abende  seiner  Anwesenheit  hatte  in  seinem 
Beisein  ein  Nachbar  dem  Schlachtermeister  eine  Summe  Bargeld 
aufgezählt,  und  dieser  Nachbar  hatte  sofort  darauf  aufmerksam  ge- 
macht, daß  Jankowski  in  bedenklicher  Weise  die  aufgezählten  blanken 
Geldstücke  mit  den  Augen  geradezu  gierig  verschlungen  hatte.  Am 
folgenden  Tage  hatte  es  das  Unglück  gewollt,  daß  der  Bursche  ge- 
sehen hatte,  wie  seine  Dienstherrin  aus  einem  auf  ihrer  Schlafkammer 
stehenden  Schranke  eine  größere  Summe  Geldes  herausholte. 

Am  dritten  Abend  seiner  Anwesenheit  im  Hause  war  sein 
Dienstherr  verreist,  die  übrigen  Hausbewohner  hatten  sich  zu  einer 
länger  dauernden  Verrichtung  in  die  Wohnstube  zurückgezogen,  und 
Jankowski  selbst  war  mit  dem  später  von  ihm  ermordeten  9  jährigen 
Sohne  seines  Diensthern  und  dessen  jüngerem  Bruder  beim  Häcksel- 
scbneiden  im  Futterraume.  Planmäßig  hatte  Jankowski  den  jüngeren 
Knaben  unter  Verabreichung  einer  Ohrfeige  aus  dem  Futterraume 
verwiesen ;  seinen  9  jährigen  Bruder  hatte  er  nicht  loswerden  können. 
Dieser  war  ihm  das  einzige  Hindernis,  die  überaus  günstige  Gelegenheit 
zum  Stehlen  zu  benutzen :  den  sonst  für  ihn  freien  Weg  zu  der  Schlaf- 
kammer seiner  Herrschaft  zu  betreten,  um  dort  den  Schrank  zu 
plündern  und  mit  dem  Gelde  zu  verschwinden. 

Um  dieses  einzige  Hindernis  seines  diebischen  Planes  aus  dem  Wege 
za  räumen,  hatte  er  dann  den  9  jährigen  Knaben  mittels  der  im  Stalle 
vorhandenen  Werkzeuge,  einem  Hammer  und  einem  kleinen  Handbeile, 
ermordet,  und  gleich  nachher  war  er  in  das  —  mit  im  Wohnhause 
liegende  —  Schlachthaus  gegangen,  um  sich  von  dort  ein  sehr 
schweres,  zum  aufbrechen  von  Schränken  vorzüglich  geeignetes 
Werkzeug  (ein  s.  g.  Ochsenbeil),  das  er  sich  an  der  Tür  des  Schlacht- 
hauses vorher  zurecht  gestellt  hatte,  zu  holen.  Zufällig  war  aber 
in  diesem  Augenblick  die  Magd  des  Schlachters  einen  Augenblick  im 
Schlachthause  anwesend  gewesen,  Jankowski  hatte  deshalb,  da  er 
den  Weg  zur  Schlafkammer,  der  durch  das  Schlachthaus  führte,  nun 
nicht  mehr  unbemerkt  einschlagen  konnte,  seinen  Diebstahlsplan  als 
gescheitert  angesehen,  und  er  war,  nachdem  er  das  schwere  Ochsenbeil 
weggeworfen  hatte,  entflohen.  Alles  dieses  war,  wie  hier  im  einzelnen 
nicht  näher  ausgeführt  werden  kann,  durch  die  Untersuchung  ein- 
wandfrei festgestellt. 

Jankowski  hat  den  geschilderten  Hergang  nie  zugestanden,  er 

AichiT  fllT  Kriminalanthiopologie.  27.  Bd.  21 


320  XUI.  Pe88L£b 

im  Geschlechtsverkehr  stehe,  auch  waren  von  einw»''  ehlieben,  daß 
abendliche  Zusammenkünfte  des  Paares  an  versc'  oe  weil  äeser 
obachtet,  die  auch  nicht  den  geringsten  Zwe*' 
ließen,  daß  Stolte  das  Mädchen  häufig  geschl  Stellung  im  Pitaval 
Stolte  ist  trotz  aller  Vorhalte  stets  dabei  r  .\^^j^  ^  ^q|2  seines 
Mädchen  (abgesehen  von  dem  Beischi»'  ^.  ganzen  Untersuchung, 
nur  einmal  geschlechtlich  verkehrt  ha^  ^  dem  Schwurgericht,  bei 

Noch  in  einem  dritten  Punkte  ^nkten  geblieben,  und  erst 

geblieben.  if  ihn  ausgeübt  hat,  ist  er 

Als  ihm  das  Mädchen  mitr  .ng  seine  Lügen  einzugestehen, 

ihm  schwanger  zu  sein,  hatte 

(genau  in  derselben  Weise  ^  jner  Gtemütaverrohung. 

liehen  Stelldichein  in  ein  r  eme  Mittäterin  Ehefrau  Koßmieder 
war  auch  festgestellter  ^^  der  begangenen  Bluttat,  arge  Züge  einer 
Stolte  war  ausgeblieV  ^  bezeichnenden  Verrohung. 
Vorwand  für  sein  '  ^^  Logiswirt  Koßmieder  auf  dem  Felde  hinterrücks 
Tatsachen  unter)  ,^^^  die  blutende  Leiche  vor  sich  liegen  sah,  hatte 
Abend  den  M^  y^^blicke  die  Wahrheit  des  Wortes  an  sich  erfahren: 
Augenblicke  ,y>  Antlitz,  eh'  sie  geschehen,  Ein  anderes  zeigt  die 
am  Ersehe*   i\;V,.« 

dabei,  p    J^'^ugst  und  Gewissensbissen  gequält,  war  er  querfeldein  ge- 
dacht    r")}^^  Mordbeil  hatte  er  in  den  vorüberfließenden  Bach  geschleu- 
*^'      ji/i^L^  Ifause  angekommen,   hatte  er  sich  dann  weinend  auf  das 
^       ^/rv< . |.  Bbeleute  Koßmieder  geworfen;  er  war  außer  sich  gewesen. 
/*Od  aber  hatte  ihn   die   buhlerische  Ehefrau   des  Ermordeten 
l^rühigen  gewußt,  und  es  hatte  das  ehebrecherische  Mörderpaar, 
^^  es  mir  selbst  zugegeben  hat,  im  Ehebette  des  Erschlagenen  den 
Lschlaf  miteinander  vollzogen,  als  das  warme  Blut  des  Gemordeten 
jjoob  S^^  Himmel  rauchte! 

Nachdem  Giepsz  das  oben  geschilderte  Geständnis  abgelegt  und 
am  folgenden  Tage  in  sichtlicher  Erregung  der  Ehefrau  Koßmieder 
ihre  Mittäterschaft  ins  Gesicht  gesagt  hatte,  sollte  er  wieder  ins  de- 
fängnis  abgeführt  werden.  Er  bat  noch  eine  Bitte  vortragen  zu 
dürfen.  Ich  glaubte,  daß  er  unter  dem  furchtbaren  Eindrucke  der 
eben  vollendeten  Verhandlung  etwa  nach  einem  Geistlichen  oder  nach 
einem  Gebetbuche  verlangen  würde,  doch  zum  Erstaunen  aller  An- 
wesenden trug  er  vor: 

„Ich  bitte  darum,  daß  ich  jetzt  morgens  Wurst  zu  meinem  Früh- 
stück bekomme!" 

Clemens  Jünemann  war,  wie  er  zugestand,  nachdem  er  eben 
die  Leiche  seines  von  ihm  ermordeten  Landsmanns  verscharrt  hatta 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  323 


.v>. 


^%^  ^stelle  in  den  Eßsaal  der  Fabrikarbeiter  geeilt,  hatte  dort 

'-^s  Erschlagenen  aufgebrochen  und  sofort  in  größter 


C-  n  Mundvorräte  verzehrt. 


*^ .  ^nn  tat,  als  er  mit  den  ersten,  wenn  auch  noch 

•^       ^.  'en,  Anfängen  eines  Geständnisses  herauskam, 

^^         "  Tzweifelt  und  bat  inständigst,  seine  Kinder, 

V;  •  hen  zu  dürfen.   Ich  erfüllte  seinen  Wunsch . 

die  Knaben  hatte  hereinfuhren  lassen, 

^  ^      '  'chzen  und  Weinen  aus,  nahm  seine 

'  N  >  X         ^  ac  und  küßte  sie  leidenschaftlich.    Dies 

w  nuten.    Ohlmann  benutzte  die  noch  übrig 
.tiumenseins  mit  seinen  Kindern  dazu,  mir  mit 
.udlichkeit  auseinanderzusetzen,   daß   er   vor   dem 
.lauses  noch  eine  Gans  hängen  habe,  und  er  bat  mich 
oiür  zu  sorgen,  daß  diese  (N.B.  von  dem  geraubten  Blutgelde 
.cl)  Gans  ja  nicht  verdürbe. 
Als  ich  Ohlmann  eröffnet  hatte,  daß   nach  Ablauf  von  vierund- 
zwanzig Stunden  sein  Kopf  fallen  würde,  fragte  ich  ihn,  wie  üblich, 
nach  semen  Wünschen  in  Beziehung  auf  leibliche  Genüsse,  erwähnte 
auch,  daß  ich  ihm  das  Rauchen  gestatten  würde.    Hierauf  ließ  ich 
den  würdigen  Gefängnisgeistlichen  eintreten,  und  als  dieser  dem  Ver- 
brecher den  Trost  der  Religion  in  ergreifender  Weise  spendete,  weinte 
und  lamentierte  Ohlmann  heftig  und  laut,  sodaß  ich  den  Eindruck 
hatte,  er  sei  von  tiefer  Reue  ergriffen  und  nur  von  dem  Gedanken 
an  seinen  nahen  Schritt  in  die  Ewigkeit  beherrscht.     Als  er  dann 
wieder  abgeführt  werden  sollte,    drehte  sich  Ohlmann  in   der  Tür 
noch  einmal  um  und  erklärte,  noch  etwas  vortragen  zu  wollen.    Mit 
Sicherheit  erwartete  ich  eine  wichtige,  auf  seine  Tat  oder  doch  auf 
sein  sonstiges  Vorleben  sich  beziehende  Mitteilung.    Als  ich  ihn  aber 
aufforderte,  sich  auszusprechen,  sagte  er: 

^Herr  Staatsanwalt,  ich  wollte  sie  nur  daran  erinnern,   daß  Sie 
die  Zigarren  nicht  vergessen,  die  Sie  mir  versprochen  haben  !** 

Befriedigt  zog  er  dann  mit  meinem  ihm  sofort  gereichten  Zigarren- 
vorrat ab. 

Wilh.  Rühmanns  Gefühlsverrohung  verrät  schon  die  von  ihm 
zugestandene  Tatsache,  daß  er  mit  dem  Plane,  den  Mord  am  nächsten 
frühmorgen  auszuführen  —  während  der  ganzen  Nacht  vortrefflich 
in  einer  ihm  zum  Unterschlupf  dienenden  Kornstiege  geschlafen  habe. 
Xoch  mehr  tritt  aber  seine  Entmenschtheit  durch  sein  folgendes  Ver- 
halten zutage:  Nachdem  er  eben  seine,  von  ihm  stets  „Tante"  genannte 
alte  Wohltäterin  mit  eigenen  Händen  erwürgt  und  die  Leiche  an  den 

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322  XIII.  Pessleb 

ist  vielmehr  bei  der  gänzlich  unglaubwürdigen  Angabe  geblieben,  daß 
er  den  Knaben  nur  deshalb  kaltblütig  erschlagen  habe,  weil  dieser 
ihn  ^ geneckt^  hätte. 

Wilh.  Duwe  endlich  ist,  wie  aus  der  Darstellung  im  Pitaval 
der  Gegenwart  a.  a.  0.  des  näheren  zu  ersehen  ist,  trotz  seines 
Geständnisses  in  der  Hauptsache  während  der  ganzen  Untersuchung, 
und  auch  noch  in  der  Hauptyerhandlung  vor  dem  Schwurgericht,  bei 
einer  ganzen  Reihe  von  Lügen  in  Nebenpunkten  geblieben,  und  erst 
durch  den  Druck,  den  das  Todesurteil  auf  ihn  ausgeübt  hat,  ist  er 
bewogen,  mir  am  Tage  nach  der  Verurteilung  seine  Lügen  einzugestehen. 

C:  Züge  unglaublicher  G^mütsverrohung. 

Anton  Giepsz  und  seine  Mittäterin  Ehefrau  Koßmieder 
zeigen,  ganz  abgesehen  von  der  begangenen  Bluttat,  arge  Züge  einer 
nur  als  „viehisch"  zu  bezeichnenden  Verrohung. 

Als  Giepsz  seinen  Logiswirt  Koßmieder  auf  dem  Felde  hinterrücks 
ermordet  hatte  und  die  blutende  Leiche  vor  sich  liegen  sah,  hatte 
er  doch  für  Augenblicke  die  Wahrheit  des  Wortes  an  sich  erfahren: 

„Ein  anderes  Antlitz,  eh'  sie  geschehen,  Ein  anderes  zeigt  die 
vollbrachte  Tat:" 

Von  Angst  und  Gewissensbissen  gequält,  war  er  querfeldein  ge- 
laufen; das  Mordbeil  hatte  er  in  den  vorüberfließenden  Bach  geschlen- 
dert Zu  Hause  angekommen,  hatte  er  sich  dann  weinend  auf  das 
Bett  der  Eheleute  Koßmieder  geworfen;  er  war  außer  sich  gewesen. 

Bald  aber  hatte  ihn  die  buhlerische  Ehefrau  des  Ermordeten 
zu  beruhigen  gewußt,  und  es  hatte  das  ehebrecherische  Mörderpaar, 
wie  es  mir  selbst  zugegeben  hat,  im  Ehebette  des  Erschlagenen  den 
Beischlaf  miteinander  vollzogen,  als  das  warme  Blut  des  Gemordeten 
noch  gen  Himmel  rauchte! 

Nachdem  Giepsz  das  oben  geschilderte  Geständnis  abgelegt  nnd 
am  folgenden  Tage  in  sichtlicher  Erregung  der  Ehefrau  Koßmieder 
ihre  Mittäterschaft  ins  Gesicht  gesagt  hatte,  sollte  er  wieder  ins  Ge- 
fängnis abgeführt  werden.  Er  bat  noch  eine  Bitte  vortragen  zu 
dürfen.  Ich  glaubte,  daß  er  unter  dem  furchtbaren  Eindrucke  der 
eben  vollendeten  Verhandlung  etwa  nach  einem  Geistlichen  oder  nach 
einem  Gebetbuche  verlangen  würde,  doch  zum  Erstaunen  aller  An- 
wesenden trug  er  vor: 

„Ich  bitte  darum,  daß  ich  jetzt  morgens  Wurst  zu  meinem  Früh- 
stück bekomme!" 

Clemens  Jünemann  war,  wie  er  zugestand,  nachdem  er  eben 
die  Leiche  seines  von  ihm  ermordeten  Landsmanns  verscharrt  hatte. 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  323 

von  der  Mordstelle  in  den  Eßsaal  der  Fabrikarbeiter  geeilt,  hatte  dort 
den  Schrank  des  Erschlagenen  anfgebrochen  und  sofort  in  größter 
Gemütsruhe  dessen  Mundvorräte  verzehrt. 

Heinr.  0hl mann  tat,  als  er  mit  den  ersten,  wenn  auch  noch 
von  Lügen  wimmelnden,  Anfängen  eines  Geständnisses  herauskam, 
ganz  zerknirscht  und  verzweifelt  und  bat  inständigst,  seine  Kinder, 
ein  Paar  kleine  Knaben,  sehen  zu  dürfen.  Ich  erfüllte  seinen  Wunsch . 
Als  ich  am  folgenden  Tage  die  Knaben  hatte  hereinführen  lassen, 
brach  Öhlmann  in  lautes  Schluchzen  und  Weinen  aus,  nahm  seine 
Kinder  auf  den  Schoß  und  herzte  und  küßte  sie  leidenschaftlich.  Dies 
danerte  aber  nur  wenige  Minuten.  Öhlmann  benutzte  die  noch  übrig 
bleibende  Zeit  des  Zusammenseins  mit  seinen  Kindern  dazu,  mir  mit 
der  größten  Umständlichkeit  auseinanderzusetzen,  daß  er  vor  dem 
Fenster  seines  Hauses  noch  eine  Gans  hängen  habe,  und  er  bat  mich 
dringend»  dafür  zu  sorgen,  daß  diese  (N.B.  von  dem  geraubten  Blutgelde 
gekaufte!)  Gans  ja  nicht  verdürbe. 

Als  ich  Öhlmann  eröffnet  hatte,  daß  nach  Ablauf  von  vierund- 
zwanzig Stunden  sein  Kopf  fallen  würde,  fragte  ich  ihn,  wie  üblich, 
nach  seinen  Wünschen  in  Beziehung  auf  leibliche  Genüsse,  erwähnte 
auch;  daß  ich  ihm  das  Rauchen  gestatten  würde.  Hierauf  ließ  ich 
den  würdigen  Gefängnisgeistlichen  eintreten,  und  als  dieser  dem  Ver- 
brecher den  Trost  der  Religion  in  ergreifender  Weise  spendete,  weinte 
and  lamentierte  Öhlmann  heftig  und  laut,  sodaß  ich  den  Eindruck 
hatte,  er  sei  von  tiefer  Reue  ergriffen  und  nur  von  dem  Gedanken 
an  seinen  nahen  Schritt  in  die  Ewigkeit  beherrscht.  Als  er  dann 
wieder  abgeführt  werden  sollte,  drehte  sich  Öhlmann  in  der  Tür 
noch  einmal  um  und  erklärte,  noch  etwas  vortragen  zu  wollen.  Mit 
Sicherheit  erwartete  ich  eine  wichtige,  auf  seine  Tat  oder  doch  auf 
sein  sonstiges  Vorleben  sich  beziehende  Mitteilung.  Als  ich  ihn  aber 
aufforderte,  sich  auszusprechen,  sagte  er: 

^Herr  Staatsanwalt,  ich  wollte  sie  nur  daran  erinnern,  daß  Sie 
die  Zigarren  nicht  vergessen,  die  Sie  mir  versprochen  haben!" 

Befriedigt  zog  er  dann  mit  meinem  ihm  sofort  gereichten  Zigarren- 
vorrat ab- 

Wilh.  Rühmanns  Gefühlsverrohung  verrät  schon  die  von  ihm 
zugestandene  Tatsache,  daß  er  mit  dem  Plane,  den  Mord  am  nächsten 
Frübniorgen  auszuführen  —  während  der  ganzen  Nacht  vortrefflich 
in  einer  ihm  zum  Unterschlupf  dienenden  Kornstiege  geschlafen  habe. 
Xocb  mehr  tritt  aber  seine  Entmenschtheit  durch  sein  folgendes  Ver- 
halten zutage:  Nachdem  er  eben  seine,  von  ihm  stets  „Tante"  genannte 
alte  Wohltäterin  mit  eigenen  Händen  erwürgt  und  die  Leiche  an  den 

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ist  yielmehr  bei  der  gänzlich  unglaubwürdigen  Angabe  geblieben,  daß 
er  den  Knaben  nur  deshalb  kaltblütig  erschlagen  habe,  weil  dieser 
ihn  ^ geneckt^  hätte. 

Wilh.  Duwe  endlich  ist,  wie  aus  der  Darstellung  im  Pitaval 
der  Gegenwart  a.  a.  0.  des  näheren  zu  ersehen  ist,  trotz  seines 
Geständnisses  in  der  Hauptsache  während  der  ganzen  Untersuchung, 
und  auch  noch  in  der  Hauptrerhandlung  vor  dem  Schwurgericht,  bei 
einer  ganzen  Keihe  von  Lügen  in  Nebenpunkten  geblieben,  und  erst 
durch  den  Druck,  den  das  Todesurteil  auf  ihn  ausgeübt  hat,  ist  er 
bewogen,  mir  am  Tage  nach  der  Verurteilung  seine  Lügen  einzugestehen. 

C:  Züge  unglaublicher  Gtomütsverrohung. 

Anton  Giepsz  und  seine  Mittäterin  Ehefrau  Koßmieder 
zeigen,  ganz  abgesehen  von  der  begangenen  Bluttat,  arge  Züge  einer 
nur  als  „viehisch"  zu  bezeichnenden  Verrohung. 

Als  Giepsz  seinen  Logiswirt  Koßmieder  auf  dem  Felde  hinterrücks 
ermordet  hatte  und  die  blutende  Leiche  vor  sich  liegen  sah,  hatte 
er  doch  für  Augenblicke  die  Wahrheit  des  Wortes  an  sich  erfahren: 

„Ein  anderes  Antlitz,  eh'  sie  geschehen,  Ein  anderes  zeigt  die 
vollbrachte  Tat:" 

Von  Angst  und  Gewissensbissen  gequält,  war  er  querfeldein  ge- 
laufen ;  das  Mordbeil  hatte  er  in  den  vorüberfließenden  Bach  geschleu- 
dert Zu  Hause  angekommen,  hatte  er  sich  dann  weinend  auf  das 
Bett  der  Eheleute  Koßmieder  geworfen;  er  war  außer  sich  gewesen. 

Bald  aber  hatte  ihn  die  buhlerische  Ehefrau  des  Ermordeten 
zu  beruhigen  gewußt,  und  es  hatte  das  ehebrecherische  Mörderpaar, 
wie  es  mir  selbst  zugegeben  hat,  im  Ehebette  des  Erschlagenen  den 
Beischlaf  miteinander  vollzogen,  als  das  warme  Blut  des  Gemordeten 
noch  gen  Himmel  rauchte! 

Nachdem  Giepsz  das  oben  geschilderte  Geständnis  abgelegt  und 
am  folgenden  Tage  in  sichtlicher  Erregung  der  Ehefrau  Koßmieder 
ihre  Mittäterschaft  ins  Gesicht  gesagt  hatte,  sollte  er  wieder  ins  Ge- 
fängnis abgeführt  werden.  Er  bat  noch  eine  Bitte  vortragen  zu 
dürfen.  Ich  glaubte,  daß  er  unter  dem  furchtbaren  Eindrucke  der 
eben  vollendeten  Verhandlung  etwa  nach  einem  Geistlichen  oder  nach 
einem  Gebetbuche  verlangen  würde,  doch  zum  Erstaunen  aller  An- 
wesenden trug  er  vor: 

„Ich  bitte  darum,  daß  ich  jetzt  morgens  Wurst  zu  meinem  Früh- 
stück bekomme!" 

Clemens  Jünemann  war,  wie  er  zugestand,  nachdem  er  eben 
die  Leiche  seines  von  ihm  ermordeten  Landsmanns  verscharrt  hatte. 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  323 

von  der  Mordstelle  in  den  Eßsaal  der  Fabrikarbeiter  geeilt,  hatte  dort 
den  Schrank  des  Erschlagenen  aufgebrochen  und  sofort  in  größter 
Gemütsruhe  dessen  Mundvorräte  verzehrt. 

Heinr.  0hl mann  tat,  als  er  mit  den  ersten,  wenn  auch  noch 
von  Lfigen  wimmelnden,  Anfängen  eines  Geständnisses  herauskam^ 
ganz  zerknirscht  und  verzweifelt  und  bat  inständigst,  seine  Kinder, 
ein  Paar  kleine  Knaben,  sehen  zu  dürfen.  Ich  erfüllte  seinen  Wunsch . 
Als  ich  am  folgenden  Tage  die  Knaben  hatte  hereinführen  lassen, 
brach  Öblmann  in  lautes  Schluchzen  und  Weinen  aus,  nahm  seine 
Kinder  auf  den  Schoß  und  herzte  und  küßte  sie  leidenschaftlich.  Dies 
danerte  aber  nur  wenige  Minuten.  Öhlmann  benutzte  die  noch  übrig 
bleibende  Zeit  des  Zusammenseins  mit  seinen  Kindern  dazu,  mir  mit 
der  größten  Umständlichkeit  auseinanderzusetzen,  daß  er  vor  dem 
Fenster  seines  Hauses  noch  eine  Gans  hängen  habe,  und  er  bat  mich 
dringend,  dafür  zu  sorgen,  daß  diese  (N.B.  von  dem  geraubten  Blutgelde 
gekaufte!)  Gans  ja  nicht  verdürbe. 

Als  ich  Ohlmann  eröffnet  hatte,  daß  nach  Ablauf  von  vierund- 
zwanzig Stunden  sein  Kopf  fallen  würde,  fragte  ich  ihn,  wie  üblich, 
nach  seinen  Wünschen  in  Beziehung  auf  leibliche  Genüsse,  erwähnte 
auch,  daß  ich  ihm  das  Rauchen  gestatten  würde.  Hierauf  ließ  ich 
den  würdigen  Gefängnisgeistlichen  eintreten,  und  als  dieser  dem  Ver- 
brecher den  Trost  der  Religion  in  ergreifender  Weise  spendete,  weinte 
und  lamentierte  Öhlmann  heftig  und  laut,  sodaß  ich  den  Eindruck 
hatte,  er  sei  von  tiefer  Reue  ergriffen  und  nur  von  dem  Gedanken 
an  seinen  nahen  Schritt  in  die  Ewigkeit  beherrscht.  Als  er  dann 
wieder  abgeführt  werden  sollte,  drehte  sich  Ohlmann  in  der  Tür 
noch  einmal  um  und  erklärte,  noch  etwas  vortragen  zu  wollen.  Mit 
Sicherheit  erwartete  ich  eine  wichtige,  auf  seine  Tat  oder  doch  auf 
sein  sonstiges  Vorleben  sich  beziehende  Mitteilung.  Als  ich  ihn  aber 
aufforderte,  sich  auszusprechen,  sagte  er: 

^Herr  Staatsanwalt,  ich  wollte  sie  nur  daran  erinnern,  daß  Sie 
die  Zigarren  nicht  vergessen,  die  Sie  mir  versprochen  haben!" 

Befriedigt  zog  er  dann  mit  meinem  ihm  sofort  gereichten  Zigarren- 
vorrat ab. 

Wilh.  Rühmanns  Gefühlsverrohung  verrät  schon  die  von  ihm 
zugestandene  Tatsache,  daß  er  mit  dem  Plane,  den  Mord  am  nächsten 
Frühraorgen  auszuführen  —  während  der  ganzen  Nacht  vortrefflich 
in  einer  ihm  zum  Unterschlupf  dienenden  Komstiege  geschlafen  habe. 
Noch  mehr  tritt  aber  seine  Entmenschtheit  durch  sein  folgendes  Ver- 
halten zutage:  Nachdem  er  eben  seine,  von  ihm  stets  „Tante"  genannte 
alte  Wohltäterin  mit  eigenen  Händen  erwürgt  und  die  Leiche  an  den 

21* 


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ist  vielmehr  bei  der  gänzlich  unglaubwürdigen  Angabe  geblieben, 
er  den  Knaben  nur  deshalb  kaltblütig  erschlagen  habe,  weil  dieser 
ihn  ,,  geneckt^  hätte. 

Wilh.  Duwe  endlich  ist,  wie  aus  der  Darstellung  im  Pitaval 
der  Gegenwart  a.  a.  0.  des  näheren  zu  ersehen  ist,  trotz  seines 
Geständnisses  in  der  Hauptsache  während  der  ganzen  Untersuchung, 
und  auch  noch  in  der  Hauptrerhandlung  vor  dem  Schwurgericht,  bei 
einer  ganzen  Reihe  von  Lügen  in  Nebenpunkten  geblieben,  und  erst 
durch  den  Druck,  den  das  Todesurteil  auf  ihn  ausgeübt  hat,  ist  er 
bewogen,  mir  am  Tage  nach  der  Verurteilung  seine  Lügen  einzugestehen. 

C:  Züge  unglaublicher  G^mütsverrohung. 

Anton  Giepsz  und  seine  Mittäterin  Ehefrau  Koßmieder 
zeigen,  ganz  abgesehen  von  der  begangenen  Bluttat,  arge  Züge  einer 
nur  als  »viehisch"  zu  bezeichnenden  Verrohung. 

Als  Giepsz  seinen  Logiswirt  Koßmieder  auf  dem  Felde  hinterrücks 
ermordet  hatte  und  die  blutende  Leiche  vor  sich  liegen  sah,  hatte 
er  doch  für  Augenblicke  die  Wahrheit  des  Wortes  an  sich  erfahren: 

„Ein  anderes  Antlitz,  eh'  sie  geschehen,  Ein  anderes  zeigt  die 
vollbrachte  Tat:** 

Von  Angst  und  Gewissensbissen  gequält,  war  er  querfeldein  ge- 
laufen ;  das  Mordbeil  hatte  er  in  den  vorüberf iießenden  Bach  geschlen- 
dert Zu  Hause  angekommen,  hatte  er  sich  dann  weinend  auf  das 
Bett  der  Eheleute  Koßmieder  geworfen;  er  war  außer  sich  gewesen. 

Bald  aber  hatte  ihn  die  buhlerische  Ehefrau  des  Ermordeten 
zu  beruhigen  gewußt,  und  es  hatte  das  ehebrecherische  Mörderpaar, 
wie  es  mir  selbst  zugegeben  hat,  im  Ehebette  des  Erschlagenen  den 
Beischlaf  miteinander  vollzogen,  als  das  warme  Blut  des  Gemordeten 
noch  gen  Himmel  rauchte! 

Nachdem  Giepsz  das  oben  geschilderte  Geständnis  abgelegt  und 
am  folgenden  Tage  in  sichtlicher  Erregung  der  Ehefrau  Koßmieder 
ihre  Mittäterschaft  ins  Gesicht  gesagt  hatte,  sollte  er  wieder  ins  Ge- 
fängnis abgeführt  werden.  Er  bat  noch  eine  Bitte  vortragen  zu 
dürfen.  Ich  glaubte,  daß  er  unter  dem  furchtbaren  Eindrucke  der 
eben  vollendeten  Verhandlung  etwa  nach  einem  Geistlichen  oder  nach 
einem  Gebetbuche  verlangen  würde,  doch  zum  Erstaunen  aller  An- 
wesenden trug  er  vor: 

„Ich  bitte  darum,  daß  ich  jetzt  morgens  Wurst  zu  meinem  Früh- 
stück bekomme!" 

Clemens  Jüneraann  war,  wie  er  zugestand,  nachdem  er  eben 
die  Leiche  seines  von  ihm  ermordeten  Landsmanns  verscharrt  hatte. 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  323 

von  der  Mordstelle  in  den  Eßsaal  der  Fabrikarbeiter  geeilt,  hatte  dort 
den  Schrank  des  Erschlagenen  aufgebrochen  und  sofort  in  größter 
Gemütsruhe  dessen  Mundvorräte  verzehrt. 

Heinr.  0hl mann  tat,  als  er  mit  den  ersten,  wenn  auch  noch 
von  Lügen  wimmelnden,  Anfängen  eines  Geständnisses  herauskam, 
ganz  zerknirscht  und  verzweifelt  und  bat  inständigst,  seine  Kinder, 
ein  Paar  kleine  Knaben,  sehen  zu  dürfen.  Ich  erfüllte  seinen  Wunsch . 
Als  ich  am  folgenden  Tage  die  Knaben  hatte  hereinführen  lassen, 
brach  Öhlmann  in  lautes  Schluchzen  und  Weinen  aus,  nahm  seine 
Rinder  auf  den  Schoß  und  herzte  und  küßte  sie  leidenschaftlich.  Dies 
dauerte  aber  nur  wenige  Minuten.  Ohlmann  benutzte  die  noch  übrig 
bleibende  Zeit  des  Zusammenseins  mit  seinen  Kindern  dazu,  mir  mit 
der  größten  Umständlichkeit  auseinanderzusetzen,  daß  er  vor  dem 
Fenster  seines  Hauses  noch  eine  Gans  hängen  habe,  und  er  bat  mich 
dringend,  dafür  zu  sorgen,  daß  diese  (N.B.  von  dem  geraubten  Blutgelde 
gekaufte!)  Gans  ja  nicht  verdürbe. 

Als  ich  Öhlmann  eröffnet  hatte,  daß  nach  Ablauf  von  vierund- 
zwanzig Stunden  sein  Kopf  fallen  würde,  fragte  ich  ihn,  wie  üblich, 
nach  seinen  Wünschen  in  Beziehung  auf  leibliche  Genüsse,  erwähnte 
auch,  daß  ich  ihm  das  Rauchen  gestatten  würde.  Hierauf  ließ  ich 
den  würdigen  Gefängnisgeistlichen  eintreten,  und  als  dieser  dem  Ver- 
brecher den  Trost  der  Religion  in  ergreifender  Weise  spendete,  weinte 
und  lamentierte  Öhlmann  heftig  und  laut,  sodaß  ich  den  Eindruck 
hatte,  er  sei  von  tiefer  Reue  ergriffen  und  nur  von  dem  Gedanken 
an  seinen  nahen  Schritt  in  die  Ewigkeit  beherrscht.  Als  er  dann 
wieder  abgeführt  werden  sollte,  drehte  sich  Öhlmann  in  der  Tür 
noch  einmal  um  und  erklärte,  noch  etwas  vortragen  zu  wollen.  Mit 
Sicherheit  erwartete  ich  eine  wichtige,  auf  seine  Tat  oder  doch  auf 
sein  sonstiges  Vorleben  sich  beziehende  Mitteilung.  Als  ich  ihn  aber 
aufforderte,  sich  auszusprechen,  sagte  er: 

.Herr  Staatsanwalt,  ich  wollte  sie  nur  daran  erinnern,  daß  Sie 
die  Zigarren  nicht  vergessen,  die  Sie  mir  versprochen  haben!" 

Befriedigt  zog  er  dann  mit  meinem  ihm  sofort  gereichten  Zigarren- 
vorrat ab. 

Wilh.  Rühmanns  Gefühlsverrohung  verrät  schon  die  von  ihm 
zugestandene  Tatsache,  daß  er  mit  dem  Plane,  den  Mord  am  nächsten 
Frühraorgen  auszuführen  —  während  der  ganzen  Nacht  vortrefflich 
in  einer  ihm  zum  Unterschlupf  dienenden  Komstiege  geschlafen  habe, 
Noch  mehr  tritt  aber  seine  Entmenschtheit  durch  sein  folgendes  Ver- 
halten zutage:  Nachdem  er  eben  seine,  von  ihm  stets  „Tante"  genannte 
alte  Wohltäterin  mit  eigenen  Händen  erwürgt  und  die  Leiche  an  den 

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320  XIU.  Pessleb 

im  Geschlechtsverkehr  stehe,  auch  waren  von  einwandfr^'aeben  daß 
abendliche  Zusammenkünfte  des  Paares  an  verschied«"  j  ^eil  ^eser 
obachtet,  die  auch  nicht  den  geringsten  Zweifel 
ließen,  daß  Stolte  das  Mädchen  häufig  geschlecht^'  ^ellung  im  Pitaval 
Stolte  ist  trotz  aller  Vorhalte  stets  dabei  gebl»  nen  ist,  trotz  seines 
Mädchen  (abgesehen  von  dem  Beischlafe  '  j-  ganzen  Untersuchung, 
nur  einmal  geschlechtlich  verkehrt  habe,     or  dem  Schwurgericht,  bei 

Noch  in  einem  dritten  Punkte  is*^    .punkten  geblieben,  und  erst 
geblieben.  auf  ihn  ausgeübt  hat,  ist  er 

Als  ihm  das  Mädchen  mitge'       eilung  seine  Lügen  einzugestehen, 
ihm  schwanger  zu  sein,  hatte  ' 

(genau  in  derselben  Weise  w'  ^oiioh&r  Gtomütsverrohung. 
liehen  Stelldichein  in  ein  n-  ^  ^^ine  Mittäterin  Ehefrau  Koßmieder 
war  auch  festgestellterr  ^^^^  jer  begangenen  Bluttat,  arge  Züge  einer 
Stolte  war  ausgeblieb  ^^^eichnenden  Verrohung. 
Vorwand  für  sein  '  ^%giswirt  Koßmieder  auf  dem  Felde  hinterrücks 
Tatsachen  unter'  /^^^[^  blutende  Leiche  vor  sich  liegen  sah,  hatte 
Abend  den  M  .\/^ck^  die  Wahrheit  des  Wortes  an  sich  erfahren: 
Augenblick  .  ;>  Antlitz,  eh'  sie  geschehen.  Ein  anderes  zeigt  die 
amErsch       ,  >frf 

dabei,        '^-^^'.gst  nnd  Gewissensbissen  gequält,  war  er  querfeldein  ge- 

dacb'      .»^>^  >fordbeil  hatte  er  in  den  vorüberfließenden  Bach  geschleu- 

^       ^<'L  flause  angekommen,   hatte  er  sich  dann  weinend  auf  das 

r       y^  ^'f;beleute  Koßmieder  geworfen;  er  war  außer  sich  gewesen. 

ft'^ggid  aber  hatte  ihn   die  buhlerische  Ehefrau   des  Ermordeten 

unruhigen  gewußt,  und  es  hatte  das  ehebrecherische  Mörderpaar, 

^t  es  rair  selbst  zugegeben  hat,  im  Ehebette  des  Erschlagenen   den 

^^ischlaf  miteinander  vollzogen,  als  das  warme  Blut  des  Gemordeten 

j^oc\x  gen  Himmel  rauchte! 

Nachdem  Giepsz  das  oben  geschilderte  Geständnis  abgelegt  und 
am  folgenden  Tage  in  sichtlicher  Erregung  der  Ehefrau  Koßmieder 
ihre  Mittäterschaft  ins  Gesicht  gesagt  hatte,  sollte  er  wieder  ins  Ge- 
fängnis abgeführt  werden.  Er  bat  noch  eine  Bitte  vortragen  zu 
dürfen.  Ich  glaubte,  daß  er  unter  dem  furchtbaren  Eindrucke  der 
eben  vollendeten  Verhandlung  etwa  nach  einem  Geistlichen  oder  nach 
einem  Gebetbuche  verlangen  würde,  doch  zum  Erstaunen  aller  An- 
wesenden trug  er  vor: 

„Ich  bitte  darum,  daß  ich  jetzt  morgens  Wurst  zu  meinem  Früh- 
stück bekomme!" 

Clemens  Jünemann  war,  wie  er  zugestand,  nachdem  er  eben 
die  Leiche  seines  von  ihm  ermordeten  Landsmanns  verscharrt  hatte. 


.^ 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  323 

*  Mordstelle  in  den  Eßsaal  der  Fabrikarbeiter  geeilt^  hatte  dort 

ank  des  Erschlagenen  aufgebrochen  und  sofort  in  größter 

"  dessen  Mundvorräte  verzehrt. 

0hl mann  tat,  als  er  mit  den  ersten,  wenn  auch  noch 

'mmelnden,  Anfängen  eines  Geständnisses  herauskam, 

und  verzweifelt  und  bat  inständigst,  seine  Kinder, 

nahen,  sehen  zu  dürfen.   Ich  erfüllte  seinen  Wunsch . 

^en  Tage  die  Knaben  hatte  hereinführen  lassen, 

Utes  Schluchzen  und  Weinen  aus,  nahm  seine 

J  md  herzte  und  küßte  sie  leidenschaftlich.    Dies 

.  unige  Minuten.    Ohlmann  benutzte  die  noch  übrig 

aes  Zusammenseins  mit  seinen  Kindern  dazu,  mir  mit 

.a  Umständlichkeit  auseinanderzusetzen,   daß   er   vor   dem 

.r  seines  Hauses  noch  eine  Gans  hängen  habe,  und  er  bat  mich 

anngend,  dafür  zu  sorgen,  daß  diese  (N.B.  von  dem  geraubten  Blutgelde 

gekaufte  I)  Gans  ja  nicht  verdürbe. 

Als  ich  Ohlmann  eröffnet  hatte,  daß  nach  Ablauf  von  vierund- 
zwanzig Stunden  sein  Kopf  fallen  würde,  fragte  ich  ihn,  wie  üblich, 
nach  seinen  Wünschen  in  Beziehung  auf  leibliche  Genüsse,  erwähnte 
auch,  daß  ich  ihm  das  Rauchen  gestatten  würde.  Hierauf  ließ  ich 
den  würdigen  Gefängnisgeistlichen  eintreten,  und  als  dieser  dem  Ver- 
brecher den  Trost  der  Religion  in  ergreifender  Weise  spendete,  weinte 
und  lamentierte  Ohlmann  heftig  und  laut,  sodaß  ich  den  Eindruck 
hatte,  er  sei  von  tiefer  Reue  ergriffen  und  nur  von  dem  Gedanken 
an  seinen  nahen  Schritt  in  die  Ewigkeit  beherrscht.  Als  er  dann 
wieder  abgeführt  werden  sollte,  drehte  sich  Ohlmann  in  der  Tür 
noch  einmal  um  und  erklärte,  noch  etwas  vortragen  zu  wollen.  Mit 
Sicherheit  erwartete  ich  eine  wichtige,  auf  seine  Tat  oder  doch  auf 
sein  sonstiges  Vorleben  sich  beziehende  Mitteilung.  Als  ich  ihn  aber 
aufforderte,  sich  auszusprechen,  sagte  er: 

„Herr  Staatsanwalt,  ich  wollte  sie  nur  daran  erinnern,  daß  Sie 
die  Zigarren  nicht  vergessen,  die  Sie  mir  versprochen  haben!" 

Befriedigt  zog  er  dann  mit  meinem  ihm  sofort  gereichten  Zigarren- 
vorrat ab. 

Wilh.  Rühmanns  Gefühlsverrohung  verrät  schon  die  von  ihm 
zugestandene  Tatsache,  daß  er  mit  dem  Plane,  den  Mord  am  nächsten 
Frühraorgen  auszuführen  —  während  der  ganzen  Nacht  vortrefflich 
in  einer  ihm  zum  Unterschlupf  dienenden  Komstiege  geschlafen  habe. 
Noch  mehr  tritt  aber  seine  Entmenschtheit  durch  sein  folgendes  Ver- 
halten zutage:  Nachdem  er  eben  seine,  von  ihm  stets  „Tante"  genannte 
alte  Wohltäterin  mit  eigenen  Händen  erwürgt  und  die  Leiche  an  den 

21* 


322  XIII.  Pessleb 

ist  vielmehr  bei  der  gänzlich  unglaubwürdigen  Angabe  geblieben,  daß 
er  den  Knaben  nur  deshalb  kaltblütig  erschlagen  habe,  weil  dieser 
ihn  „geneckt"  hätte. 

Wilh.  Duwe  endlich  ist,  wie  aus  der  Darstellung  im  Pitaval 
der  Gegenwart  a.  a.  0.  des  näheren  zu  ersehen  ist,  trotz  seines 
Geständnisses  in  der  Hauptsache  während  der  ganzen  Untersuchung, 
und  auch  noch  in  der  Hauptverhandlung  vor  dem  Schwurgericht,  bei 
einer  ganzen  Reihe  von  Lügen  in  Nebenpunkten  geblieben,  und  erst 
durch  den  Druck,  den  das  Todesurteil  auf  ihn  ausgeübt  hat,  ist  er 
bewogen,  mir  am  Tage  nach  der  Verurteilung  seine  Lügen  einzugestehen. 

C:  Züge  unglaublicher  Q^mütsverrohung. 

Anton  Giepsz  und  seine  Mittäterin  Ehefrau  Eoßmieder 
zeigen,  ganz  abgesehen  von  der  begangenen  Bluttat,  arge  Züge  einer 
nur  als  „viehisch"  zu  bezeichnenden  Verrohung. 

Als  Giepsz  seinen  Logis wirt  Eoßmieder  auf  dem  Felde  hinterrücks 
ermordet  hatte  und  die  blutende  Leiche  vor  sich  liegen  sah,  hatte 
er  doch  für  Augenblicke  die  Wahrheit  des  Wortes  an  sich  erfahren: 

„Ein  anderes  Antlitz,  eh'  sie  geschehen.  Ein  anderes  zeigt  die 
vollbrachte  Tat:" 

Von  Angst  und  Gewissensbissen  gequält,  war  er  querfeldein  ge- 
laufen; das  Mordbeil  hatte  er  in  den  vorüberfließenden  Bach  geschleu- 
dert Zu  Hause  angekommen,  hatte  er  sich  dann  weinend  auf  das 
Bett  der  Eheleute  Eoßmieder  geworfen;  er  war  außer  sich  gewesen. 

Bald  aber  hatte  ihn  die  buhlerische  Ehefrau  des  Ermordeten 
zu  beruhigen  gewußt,  und  es  hatte  das  ehebrecherische  Mörderpaar, 
wie  es  mir  selbst  zugegeben  hat,  im  Ehebette  des  Erschlagenen  den 
Beischlaf  miteinander  vollzogen,  als  das  warme  Blut  des  Gemordeten 
noch  gen  Himmel  rauchte! 

Nachdem  Giepsz  das  oben  geschilderte  Geständnis  abgelegt  und 
am  folgenden  Tage  in  sichtlicher  Erregung  der  Ehefrau  Eoßmieder 
ihre  Mittäterschaft  ins  Gesicht  gesagt  hatte,  sollte  er  wieder  ins  Ge- 
fängnis abgeführt  werden.  Er  bat  noch  eine  Bitte  vortragen  zu 
dürfen.  Ich  glaubte,  daß  er  unter  dem  furchtbaren  Eindrucke  der 
eben  vollendeten  Verhandlung  etwa  nach  einem  Geistlichen  oder  nach 
einem  Gebetbuche  verlangen  würde,  doch  zum  Erstaunen  aller  An- 
wesenden trug  er  vor: 

„Ich  bitte  darum,  daß  ich  jetzt  morgens  Wurst  zu  meinem  Früh- 
stück bekomme!" 

Clemens  Jünemann  war,  wie  er  zugestand,  nachdem  er  eben 
die  Leiche  seines  von  ihm  ermordeten  Landsmanns  verscharrt  hatte. 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  323 

von  der  Mordstelle  in  den  Eßsaal  der  Fabrikarbeiter  geeilt,  hatte  dort 
den  Schrank  des  Erschlagenen  aufgebrochen  und  sofort  in  größter 
Gemütsruhe  dessen  Mundvorräte  verzehrt. 

Heinr.  0hl mann  tat,  als  er  mit  den  ersten,  wenn  auch  noch 
von  Lägen  wimmelnden,  Anfängen  eines  Geständnisses  herauskam, 
ganz  zerknirscht  und  verzweifelt  und  bat  inständigst,  seine  Kinder, 
ein  Paar  kleine  Knaben,  sehen  zu  dürfen.  Ich  erfüllte  seinen  Wunsch . 
Als  ich  am  folgenden  Tage  die  Knaben  hatte  hereinführen  lassen, 
brach  Öhlmann  in  lautes  Schluchzen  und  Weinen  aus,  nahm  seine 
Kinder  auf  den  Schoß  und  herzte  und  küßte  sie  leidenschaftlich.  Dies 
dauerte  aber  nur  wenige  Minuten.  Öhlmann  benutzte  die  noch  übrig 
bleibende  Zeit  des  Zusammenseins  mit  seinen  Kindern  dazu,  mir  mit 
der  größten  Umständlichkeit  auseinanderzusetzen,  daß  er  vor  dem 
Fenster  seines  Hauses  noch  eine  Gans  hängen  habe,  und  er  bat  mich 
dringend,  dafür  zu  sorgen,  daß  diese  (N.B.  von  dem  geraubten  Blutgelde 
gekaufte!)  Gans  ja  nicht  verdürbe. 

Als  ich  Öhlmann  eröffnet  hatte,  daß  nach  Ablauf  von  vierund- 
zwanzig Stunden  sein  Kopf  fallen  würde,  fragte  ich  ihn,  wie  üblich, 
nach  seinen  Wünschen  in  Beziehung  auf  leibliche  Genüsse,  erwähnte 
auch,  daß  ich  ihm  das  Kauchen  gestatten  würde.  Hierauf  ließ  ich 
den  würdigen  Gefängnisgeistlichen  eintreten,  und  als  dieser  dem  Ver- 
brecher den  Trost  der  Religion  in  ergreifender  Weise  spendete,  weinte 
und  lamentierte  Öhlmann  heftig  und  laut,  sodaß  ich  den  Eindruck 
halte,  er  sei  von  tiefer  Reue  ergriffen  und  nur  von  dem  Gedanken 
an  seinen  nahen  Schritt  in  die  Ewigkeit  beherrscht.  Als  er  dann 
wieder  abgeführt  werden  sollte,  drehte  sich  Öhlmann  in  der  Tür 
noch  einmal  um  und  erklärte,  noch  etwas  vortragen  zu  wollen.  Mit 
Sicherheit  erwartete  ich  eine  wichtige,  auf  seine  Tat  oder  doch  auf 
sein  sonstiges  Vorleben  sich  beziehende  Mitteilung.  Als  ich  ihn  aber 
aufforderte,  sich  auszusprechen,  sagte  er: 

^Herr  Staatsanwalt,  ich  wollte  sie  nur  daran  erinnern,  daß  Sie 
die  Zigarren  nicht  vergessen,  die  Sie  mir  versprochen  haben!" 

Befriedigt  zog  er  dann  mit  meinem  ihm  sofort  gereichten  Zigarren- 
vorrat ab. 

Wilh.  Rühmanns  Gefühls  Verrohung  verrät  schon  die  von  ihm 
zugestandene  Tatsache,  daß  er  mit  dem  Plane,  den  Mord  am  nächsten 
Frühraorgen  auszuführen  —  während  der  ganzen  Nacht  vortrefflich 
in  einer  ihm  zum  Unterschlupf  dienenden  Kornstiege  geschlafen  habe. 
Noch  mehr  tritt  aber  seine  Entmenschtheit  durch  sein  folgendes  Ver- 
halten zutage:  Nachdem  er  eben  seine,  von  ihm  stets  „Tante"  genannte 
alte  Wohltäterin  mit  eigenen  Händen  erwürgt  und  die  Leiche  an  den 

21* 


324  XIII.  Pessler 

Kammertürpfosten  aufgehängt  hatte,  stellte  er  zunächst,  wie  er  selbst 
angibt,  mit  aller  Kaltblütigkeit  durch  Befühlen  des  Pulses  fest,  ob 
der  Tod  auch  zweifellos  eingetreten  sei.  Dann  bemächtigte  er  sich 
der  im  offenen  Pulte  liegenden  Barschaft  und  eilte  spornstreichs  nach 
einem  nahe  dem  Tatort  gelegenen  Arbeitsplatz.  Hier  rief  er  einen 
Arbeiter  heran,  dem  er  einige  Mark  schuldete,  zeigte  ihm  mit  Froh- 
locken die  drei  geraubten  Goldstücke  mit  dem  Bemerken,  er  habe 
eben  den  zweiwöchigen  Lohn  in  dem  Kaliwerke  bekommen  und  wolle 
nun  seine  alte  Schuld  bezahlen.  Dann  ging  er  mit  dem  Arbeiter  in 
die  nächste  Kneipe,  ließ  ein  Frühstück  auftragen  und  verzehrte  mit 
den  ungewaschenen  Mordhänden  Fleischwaren  —  darunter  Blutwurst 
mit  größtem  Wohlbehagen. 

Heinr.  Stolte  hat  das  unglaublichste  in  der  hier  in  Rede 
stehenden  Richtung  geleistet. 

Wie  schon  mitgeteilt,  hatte  er  seine  Geliebte  zu  einem  zärtlichen 
Stelldichein  in  ein  einsames  Gehölz  bestellt,  um  sie  dort  zu  erdrosseln. 
Sie  sollte  sterben,  weil  er  fürchtete,  sie  sei  schwanger  geworden,  und 
er  werde  nach  der  Geburt  eines  KindBs  nicht  nur  zu  Geldopfern  ge- 
zwungen werden,  sondern  namentlich  auch  mit  seiner  „wirklichen 
Braut",  einem  in  einem  Nachbardorfe  dienenden  Mädchen,  das  etwas 
„Geld  hatte"  in  ein  Zerwürfnis  geraten.  Den  Mordstrick  hatte  er  in 
der  Tasche.  An  einem  Grabenrande  setzte  sich  das  Paar  nieder, 
tauschte  Zärtlichkeiten  aus,  und  schließlich  vollzog  Stolte,  wie  er 
selbst  eingesteht,  und  wie  die  später  an  der  Kleidung  des  Mädchens 
durch  den  Mikroskopiker  gefundenen  Spuren  bestätigen,  mit  dem  von 
ihm  auserkorenen  Opfer  rite  den  Beischlaf.  Gleich  nachdem  ihm  die 
Ahnungslose  diese  „höchste  Liebeshuld"  gewährt  iatte,  legte  Stolte 
in  erheuchelter  Zärtlichkeit  den  linken  Arm  um  die  Schultern  des 
Mädchens,  zog  heimlich  mit  der  rechten  Hand  den  Strick  aus  der 
Tasche,  warf  ihn  seiner  Geliebten  um  den  Hals,  erdrosselte  sie  und 
hängte  ihre  Leiche  an  der  nahe  stehenden  Kiefer  auf. 

Wilh.  Duwe  vermochte  es,  wie  aus  dem  Pitaval  der  Gegenwart 
näher  zu  ersehen  ist,  i)  unmittelbar  nach  dem  von  ihm  verübten 
Morde  frivole  Witze  mit  seiner  gerade  im  Bett  liegenden  Ehefrau  zu 
machen ;  seine  völlige  Verrohung  zeigte  sich  aber  in  seinen  allerletzten 
Stunden,  über  welche  ich  im  Pitaval  der  Gegenwart  in  Rücksicht 
auf  den  ausgedehnten  Leserkreis  dieses  Sammelwerks  keine  Angaben 
gemacht  habe: 

1)  Siehe  dort  auch  die  falsche  Anschuldigung,  welche  Duwe  noch  am  Abend 
vor  der  Vollstreckung  des  Todesurteils  gegen  einen  ganz  Unschuldigen  wegen 
einer  (von  ihm  selbst  verübten)  Brandstiftung  machte. 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  325 

In  seiner  letzten  Nacht  begann  er  mit  den  ihn  bewachenden 
beiden  Gefangenenaufsehern  „sich  gemütlich  was  zu  erzählen^. 
Hierbei  kam  er  auf  das  ihm  in  wenigen  Stunden  bevorstehende 
^Köpfen"  zu  sprechen.    Er  sagte  zu  seinen  Wächtern  u.  a.  folgendes: 

^Ich  habe  immer  sagen  hören,  daß  der  Kopf  eines  Gerichteten, 
wenn  er  vom  Rumpfe  getrennt  ist,  noch  sehen  und  denken  kann. 
Wenn  ich  nun  morgen  früh  geköpft  bin,  dann  passen  Sie  einmal 
ordentlich  auf.  Hat  mein  Kopf  dann  noch  Bewußtsein,  dann  will 
ich  zum  Zeichen  hierfür  dreimal  die  Zunge  aus  den  Mundwinkeln 
herausstrecken  !^  Hierbei  machte  er  den  Gefangenenaufsehern  die 
entsprechenden  Bewegungen  vor. 

Am  folgenden  Morgen  ordnete  ich  Schlag  8  ühr  die  Vorführung 
Duwes  behufs  Vollstreckung  der  Todesstrafe  an.  Die  Vorführung  nahm 
etwas  längere  Zeit  in  Anspruch;  als  nach  meiner  Berechnung  nötig 
war.  Nach  Vollendung  der  Hinrichtung  berichtete  mir  der  wegen 
dieser  Verzögerung  befragte  Gefängnisinspektor  folgendes: 

„Duwe  war,  als  ich  zu  seiner  Vorführung  in  der  Zelle  erschien, 
gerade  dabei,  noch  eine  Tasse  von  dem  ihm  gereichten  (guten  und 
starken)  Kaffee  zu  trinken.  Als  ich  ihn  zum  Schafott  führen  lassen 
wollte,  erklärte  er,  auf  seine  noch  etwa  halb  gefüllte  Tasse  deutend: 
„Da  (sc.  der  Kaffee)  sali  noch  middel^S  dann  schlürfte  er  ruhig  seine 
Tasse  aus. 

„Da  sali  noch  midde!''  waren  die  letzten  Worte,  welche  der 
entmenschte  Verbrecher  in  diesem  Erdenleben  sprach. 

Daß  nicht  nur  bei  Mördern  sondern  überhaupt  bei  hartnäckig 
leugnenden  schweren  Verbrechern  sehr  oft  ganz  eigentümliche  Umstände, 
die  der  untersuchende  Beamte  gar  nicht  in  Rechnung  ziehen  konnte, 
ganz  plötzlich  und  unerwartet  ein  Geständnis  zeitigen,  welches  durch 
die  geschicktesten  Vorhalte  und  den  bestgemeinten  Zuspruch  nicht  zu 
erreichen  war,  ist  eine  jedem  Kriminalpraktiker  bekannte  Tatsache. 
Es  ist  uns  mit  unserem  Fühlen  und  Denken  oft  gar  nicht  möglich, 
die  psychologischen  Vorgänge  zu  verstehen,  die  im  Inneren  des  Ver- 
brechers durch  einen  anscheinend  unerheblichen  äußeren  Umstand 
verursacht  werden  und  ihn  so  zu  sagen  zwingen,  plötzlich  mit  der 
Wahrheit  herauszukommen. 

Die  vorausgeschickte  kleine  Kasuistik  soll  nun  drei  ziemlich 
häufige  Umstände  klar  legen,  welche  die  nächste  Veranlassung  zu 
den  plötzlichen  Geständnissen  von  leugnenden  Verbrechern  der 
schwersten  Art  gegeben  haben.    Diese  Umstände  sind: 

1.  Die  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  in  dem  Beschuldigten  auf- 
tauchende Wut  und  Empörung,  die  lediglich  ihren  Grund  darin  hat, 


326  XIII.  Pessler 

daß  in  der  Untersuchung  oder  Verhandlung  etwas  objektiv  unwahres 
von  den  beteiligten  Zeugen  oder  Sachverständigen  vorgebracht  wird, 
das  den  Widerspruch  des  Verbrechers  herausfordert 

2.  Die  Hinführung  des  Verbrechers  zum  Schauplatze  seiner  Tat 
und  das  damit  verbundene  innere  Wiedererleben  des  Verbrechens  in 
der  Psyche  des  Schuldigen. 

3.  Der  Einfluß,  welchen  die  aus  der  Kindheit  stammenden  Reste 
von  Mystik  und  anerzogener  Religiosität  auf  den  Verbrecher  ausüben. 

Daß  der  zu  1  gedachte  „Geist  des  Widerspruchs"  plötzlich  ein 
Geständnis  „hervorzaubert",  habe  ich  schon  recht  häufig  in  meiner 
Praxis  erlebt.  Oft  ereignete  es  sich,  daß,  wenn  ein  Zeuge  ohne  jede 
böse  Absicht,  lediglich  aus  menschlichem  Irrtum,  über  ganz  gering- 
fügige Nebenumstände  etwas  unrichtiges  aussagte,  und  ich  dann 
diesen  Zeugen  dem  leugnenden  Beschuldigten  gegenüberstellte,  der 
Verbrecher  plötzlich  in  große  Erregung  geriet  und  mit  den  in  den 
verschiedenen  Fällen  fast  stereotyp  wiederkehrenden  Worte  herausplatzte: 

„Das  ist  aber  nicht  wahr,  nun  will  ich  auch  alles  sagen,  wie 
es  wirklich  gewesen  ist" 

Darauf  erfolgte  dann  schlank  das  bisher  hartnäckig  verweigerte 
Geständnis. 

Hiemach  erklärt  sich  ungezwungen  die  Genesis  des  plötzlichen 
Geständnisses  von  Jonas  Segger. 

Die  ärztlichen  Sachverständigen  demonstrierten  in  der  Haupt- 
verhandlung in  Seggers  Beisein  mit  ziemHcher  Entschiedenheit,  daß 
mindestens  eine  der  Mordtaten  höchstwahrscheinlich  mit  dem  bei  dem 
Angeklagten  beschlagnahmten  Schusterhamm^r  ausgeführt  sei;  bei 
einer  der  ermordeten  Personen  sollten  sogar  einige  Verletzungen  mit 
der  Platte,  andere  mit  der  Pinne  des  Hammers  wahrscheinlich  verursacht 
sein.  Das  war  ja  aber  alles  nicht  wahr,  sagte  sich  Segger,  sein 
Schusterhammer  war  niemals  von  seinem  Arbeitstisch  fortgekommen, 
er  hatte  ein  ganz  anderes  Werkzeug,  ein  Beil,  zu  seiner  Tat  benutzt! 

Seggers  Widerspruchsgeist  regte  sich  mächtig  gegen  diese  objektiv 
unrichtigen  Schlüsse;  noch  mehr  wurde  er  erregt,  als  ihm  nun  der  Vor- 
sitzende die  sich  darauf  gründenden  Vorhalte  machte. 

Noch  einen  Augenblick  hatte  er  Überlegung  genug,  nicht  durch 
ein  „Herausplatzen  mit  der  Wahrheit"  sich  als  Täter  zu  bekennen, 
als  er  aber  gleich  darauf  in  das  Arrestantenzimmer  abgeführt  war 
dort  über  die  von  ihm  gehörte  und  ihn  empörende  „Unwahrheit" 
nachgrübelte,  trat  für  ihn  jede  andere  Rücksicht  in  den  Hintergrund, 
und  er  konnte  seinem  Drange  —  selbst  auf  Kosten  seines  Kopfes  — 
nunmehr  mit  dem  richtigen  Sachverhalte   herauszukommen  und  da- 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  327 

durch  zugleich  die  Sachverständigen  (gewissermaßen  triumphierend) 
^abzuführend,  nicht  länger  widerstehen.  Die  Eonsequenz  dieser  inneren 
Vorgänge  war  das  Geständnis. 

Der  psychologische  Vorgang,  welcher  sich  bei  H e in r.  0hl mann 
und  bei  Heinr.  St  ölte  abspielte,  als  bei  diesen  durch  die  zu  2  er- 
wähnte Veranlassung,  durch  die  Hinführung  zum  Tatorte^  plötzlich 
ein  Geständnis  „ausgelöst^  wurde,  ist  einfacher  Natur. 

Die  Betrachtung  des  Tatortes^  oder  auch  nur  die  (gezwungene) 
Annäherung  an  denselben,  rief  in  der  Seele  der  beiden  Verbrecher 
alle  Einzelheiten  ihrer  Tat  in  der  lebhaftesten  Weise  wach.  Der  Wider- 
stand, den  sie  bei  der  Verübnng  ihrer  Verbrechen  in  ihrem  Innern 
hatten  überwinden  müssen,  „die  Hemmungen^,  wie  der  psycho- 
logische Eunstausdruck  lautet,  traten  mit  Lebhaftigkeit  vor  ihre  Seele, 
während  die  bei  der  Tat  in  ihnen  herrschenden  „Lustgefühle^ 
jetzt  nach  langem  Zeitlauf  und  der  Ausschaltung  der  bei  der  Tat  vor- 
banden gewesenen  Leidenschaft,  verschwunden  oder  doch  völlig  in  den 
Hintergrund  getreten  waren.  Gezwungen  durchlebten  die  Täter  innerlich 
noch  einmal  die  Einzelvorgänge,  sie  sahen  mit  ihrem  geistigen  Auge 
nochmals  ihre  Tat;  aber  jetzt  mit  „dem  anderen  Antlitz,  das  die  voll- 
brachte Tat  zeigt  1"^  Alles  dieses  übermannte  die  Schuldigen;  es  traten 
Angstgefühle  in  ihnen  auf,  und  diese  bewirkten  jene  „Spannung^ 
die  sie  gewaltsam  „lösen^  mußten,  und  nur  durch  die  Ablegung 
eines  Geständnisses  lösen  konnten.  Die  Ablegung  des  Geständnisses 
war  für  die  beiden  (geistig  normalen)  Männer  in  gleicher  Weise  die 
„sie  erlösende  Tat",  wie  ja  auch  bei  psychopathischen  (nament- 
lich mit  Zwangsgedanken  behafteten)  Persönlichkeiten  irgend  eine  außer- 
gewöhnliche, meist  gewaltsame,  Handlung,  das  innere  Gleichgewicht  — 
wenigstens  momentan  —  wieder  herstellt. 

Von  ganz  besonders  hervorragender  Bedeutung  für  die  Entstehung 
von  Geständnissen  ist  aber  der  zu  3  gedachte  Einfluß,  den  der  Best 
von  Mystik  und  anerzogener  Beligiosität  selbst  auf  den  verworfensten 
Menschen  auszuüben  vermag. 

Das  Einfallen  der  Bußtagsglocken  im  Augenblicke  der  Vorzeigung 
des  Mordbeils  riefen  in  Anton  Giepsz,  der  ihm  plötzlich  vor  die 
Augen  tretende  grinsende  Schädel  des  Ermordeten  rief  in  Clemens 
Jünemann  (beide  waren  Eatholiken)  plötzlich  mystische  und  reli- 
giöse Empfindungen  wach,  die  noch  aus  ihrer  Enabenzeit  stammten. 
Längst  waren  diese  Empfindungen  durch  das  Leben  bei  ihnen  zwar 
abgestumpft,  aber  nicht  getötet;  sie  schlummerten  nur  in  ihrem  Inneren, 
und  mit  elementarer  Gewalt  brachen  sie  blitzartig  wieder  hervor,  als 
die  Bedingungen  für  dieses  Hervorbrechen  plötzlich  gegeben  waren. 


328  XIIL  Pessler 

Wie  den  vor  dem  Selbstmorde  stehenden  Faust  das  Osterlied  und  die 
Osterglocken  wieder  in  die  Zeit  seiner  Kindheit  plötzlich  zurückver- 
setzen und  ihm  „vom  letzten  ernsten  Schritt  zurückhalten^,  so  läuteten 
auch  den  hier  genannten  Verbrechern  die  Jugendglocken,  ihr  „Kinder- 
glaube" und  ihre  „Kinderfurcht^  trat  für  den  Augenblick  mit  unbe- 
zwinglicher  Kraft  wieder  in  ihre  Rechte  und  sie  übten  einen  derartigen 
inneren  Zwang  auf  die  sonst  hartgesottenen  Sünder  aus,  daß  alle 
GegenvorstelluDgen,  alle  kühlen  Überlegungen  in  den  Hintergrund 
traten  und  sie  gezwungen  wurden,  sich  durch  ein  Geständnis  Luft 
zu  machen. 

In  ganz  ähnlicher  Weise  ist  auch  das  erste  Geständnis  des  oben 
genannten  Wilh.  Duwe  entstanden.  Auch  in  ihm  war  es  das 
Mystisohe,  das  er  in  dem  Verhalten  des  Tieres,  des  vielumfabelten 
Hundes  erblickte,  das  Gottesurteil,  das  für  ihn  darin  lag,  daß  er 
meinte^  das  Tier  habe  ihn  als  Mörder  erkannt  und  „gerichtet^,  was  ihn 
unwiderstehlich  zwang,  ein  Geständnis  seines  Verbrechens  abzulegen. 

Beispiele  der  hier  geschilderten  Art  wird  jeder  erfahrene  Kriminal- 
praktiker erlebt  haben;  namentlich  wird  er  bestätigen  können,  wie 
auch  oft  der  eigentliche  „Aberglaube''  eines  Verbrechers  bei  irgend 
einem  geeigneten  Anlaß  plötzlich   ein  Geständnis  hervorgebracht  hat 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  Lügen  der  in  der  Hauptsache  ge- 
ständigen Verbrecher  über  anscheinend  ganz  nebensächhche  Punkte. 
Daß  ein  derartiges  Manöver  immer  wieder  kehrt,  steht  für  jeden  er- 
fahrenen Praktiker  fest. 

Von  den  Kollegen,  mit  denen  ich  diese  „kuriose  Tatsache''  be- 
sprochen habe,  sagen  einige:  „Es  läßt  sich  kein  stichhaltiger  Grund 
für  diese  Lügen  in  Nebenumständen  ermitteln/  Andere  meinen:  „Es 
ist  entweder  geradezu  eine  Art  Sport,  den  sich  die  Verbrecher  durch 
Lügen  in  Nebenumständen  leisten,  oder  es  ist  der  in  solchen  Personen 
vorhandene  Hang  zum  Lügen.  Oder  aber  ein  noch  vorhandener 
Rest  des  Widerstandes,  alle  Umstände  der  Wahrheit  gemäß  anzu- 
geben, treibt  die  in  der  Hauptsache  Geständigen  zum  Lügen  in  Neben- 
punkten.'' 

Gewiß  mag  in  Einzelfällen  der  Hang  zum  Lügen  des  Rätsels 
Lösung  sein,  denn  gerade  wie  bei  gewissen  Arten  psychopathisch  be- 
lasteter Personen  findet  man  auch  unter  den  schweren  Verbrechern 
recht  viele  „habituelle  Lügner",  die,  nicht  etwa  aus  Berechnung,  um 
Vorteile  zu  erlangen,  sondern  lediglich  deshalb  die  Wahrheit  ver- 
drehen, weil  sie  ;;das  Lügen  nicht  lassen  können". 

Von  größerer  Erheblichkeit  zur  Erklärung  unseres  Kuriosums 
dürfte  ein  fernerer  Umstand  sein: 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  329 

In  zahlreichen  Fällen  —  und  so  in  fast  sämtlichen  in  unserer 
Kasuistik  angeführten  Beispielen  —  war  das  Geständnis  in  der  Haupt- 
sache durch  einen  impulsiv  wirkenden  mächtig  hervorbrechenden 
inneren  Trieb  ausgelöst,  der  durch  ein  ganz  bestimmtes  äußeres,  auf 
die  Psyche  des  Verbrechers  überwältigend  einwirkendes  Ereignis  ver- 
ursacht war.  Diesem  „Triebe^  war  der  Verbrecher  gefolgt  und  deshalb 
war  er  mit  dem  Geständnis  in  der  Hauptsache  s.  z.  s.  „herausgeplatzt^. 
Zurück  konnte  er  nicht  mehr,  zumal  die  untersuchende  Behörde  die 
von  ihm  angegebenen  HauptzUge  der  Tat  sofort  nachgeprüft  hatte 
und  es  dem  Geständigen  klar  geworden  war,  daß  jetzt  ein  Widerruf 
gänzlich  zwecklos  erschien.  Nun  trat  aber  mit  der  wieder  eingetretenen 
Buhe  und  berechnenden  Überlegung  ein  anderes  Gefühl  in  dem  Ver- 
brecher auf:  Er  schämte  sich,  daß  er  als  Lügner  dastand.  Ja,  so 
wunderbar  es  klingt,  dieses  Schamgefühl  finden  wir  bei  Verbrechern, 
denen  sonst  „das  Schamgefühl  im  weiteren  Sinne  längst  abhanden 
gekommen  ist.  Geht  nun  „der  Inquirent^  mit  seinem  logischen  Sezier- 
messer an  die  Erörterung  der  Nebenpunkte,  die  zum  Teil  schon  vor 
der  Ablegung  des  Geständnisses  wahrheitswidrig  angegeben  waren, 
so  sucht  „der  Inquisit^,  eben  weil  er  sich  schämt,  in  allen  Punkten 
gelogen  zu  haben,  sich  noch  einen  Schein  von  Wahrheitsliebe  da- 
durch zu  retten,  daß  er  in  diesen  nebensächlichen  Tatsachen  wider 
besseres  Wissen  bei  seinen  unwahren  Angaben  beharrt,  indem  er  der 
Hoffnung  ist,   in   diesen  Nebensachen  werde   ihm   geglaubt  werden. 

Ganz  abgesehen  von  unseren  wenigen  hier  angeführten  Beispielen 
habe  ich  den  geschilderten  psychologischen  Vorgang  schon  in  zahl- 
reichen anderen  Fällen  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt.  Geradezu 
mit  einer  gewissen  Entrüstung  sagt  der  in  der  Hauptsache  völlig  ge- 
ständige Verbrecher,  wenn  man  auf  einen  offenbar  noch  lügenhaft 
dargestellten  Nebeopunkt  zu  sprechen  kommt:  „Nein  das  ist  aber 
genau  so,  wie  ich  es  gesagt  habe;  weshalb  sollte  ich  denn  auch  in 
diesem  Punkte  etwas  unwahres  angeben,  wo  ich  doch  nun  alles  ein- 
gestanden habe  und  meine  Strafe  kriege?'^  Diese  Bedewendung  ist 
bei  Individuen,  wie  wir  sie  hier  im  Auge  haben,  nach  den  von  mir 
gemachten  Erfahrungen  geradezu  stereotyp. 

Übrigens  ist  es  —  nebenbei  bemerkt  —  das  Schamgefühl,  das 
den  Verbrecher  in  manchen  Fällen  abhält,  trotzdem  er  sich  selbst 
überführt  glaubt,  überhaupt  ein  Geständnis  abzulegen.  Der 
Schuldige  kann  es  nicht  über  sich  gewinnen,  sich  als  Lügner  zu  be- 
kennen. Ganz  besonders  schwer  wird  es  ihm,  der  bisher  hartnäckig 
geleugnet  hat,  gerade  demjenigen  Untersuchungsbeamten  gegen- 
über, den  er  beharrlich   „angelogen  hat",  mit  der  Wahrheit  heraus- 


330  XIII.  Pessleb 

zukommen.  Es  wird  deshalb  auch  oft  mit  Erfolg  das  ^changer  les 
cavaliers"  im  üntersuchungsverfahren  angewendet,  indem  man  den 
leugnenden  Beschuldigten  durch  einen  anderen  Beamten  als  denjenigen, 
den  er  bereits  wiederholt  angelogen  hat,  nochmals  vernehmen  läßt. 
Diesem  neuen,  ihm  bisher  unbekannten  Beamten  gegenüber  tritt  das 
Schamgefühl  des  Schuldigen  nicht  so  stark  hervor,  und  seine  Über- 
windung, die  früheren  Lügen  zu  bekennen,  geht  rascher  vonstatten. 
Besonders  leicht  wird  dem  bisherigen  Lügner  die  Überwindung  des 
Schamgefühls,  wenn  der  neueintretende  „Inquirent"  nicht,  wie  bisher, 
ein  höherer  Justizbeamter  (Richter  oder  Staatsanwalt),  sondern  ein 
Polizist,  Gendarm  oder  dergleichen  ist.  Derartigen  Organen  gegen- 
über kommen  die  Verbrecher,  wie  auch  ein  Teil  unserer  Beispiele 
zeigt,  leichter  mit  einem  Geständnis  heraus  wie  gegenüber  den  höheren 
Strafjustizbeamten;  vielleicht,  weil  sich  Personen  der  erstgenannten  Art 
leichter  der  ganzen  Denkungsweise  des  zu  Vernehmenden  anzupassen 
wissen  wie  der  „studierte**  Richter  oder  Staatsanwalt. 

Man  soll  den  Grund  für  das  Lügen  der  im  übrigen  geständigen 
Verbrecher  über  einzelne  —  von  dem  untersuchenden  Beamten  als 
„nebensächliche  Punkte"  angesehene  —  Tatsachen  aber  nicht  von 
vornherein  in  dem  Hange  zum  Lügen  oder  in  dem  Schamgefühle 
des  Beschuldigten  suchen,  sondern  man  muß  vor  allen  Dingen  danach 
forschen,  ob  es  nicht  doch  aus  Berechnung  geschieht,  ob  nicht 
die  von  uns  als  gleichgültig  angesehene  Tatsache,  ,;der  Nebenpunkt*' 
nach  der  Anschauungsweise  des  Verbrechers  (der  ja  in  der 
Regel  weder  juristisch  noch  logisch  genügend  gebildet  ist,  um  die 
Wichtigkeit  oder  Unwichtigkeit  der  Einzeltatsache  und  ihren  Einfluß 
auf  das  Urteil  richtig  zu  erkennen)  sich  nicht  als  eine  wesentliche 
Tatsache,  als  „ein  Hauptpunkt"  darstellt;  ob  nicht  der  Verbrecher  den 
ihm  klar  bewußten  Zweck  hat,  durch  das  Lügen  über  die  hier  in 
Rede  stehenden  Tatsachen  sein  Verbrechen  irgendwie  zu  beschönigen 
und  dadurch  ein  günstigeres  Urteil  zu  erreichen. 

Bei  Anwendung  gehöriger  Sorgfalt  wird  es  gewiß  in  vielen  Fällen 
gelingen,  den  Zweck,  den  der  Verbrecher  mit  seinem  Lügen  verfolgt 
zu  ermitteln,  und  hat  man  einen  solchen  Zweck  einwandfrei  fest- 
gestellt, so  fällt  selbstverständlich  das  auf  den  ersten  Blick  so  wunder- 
bare in  dem  geschilderten  Verhalten  der  in  der  Hauptsache  geständigen 
Täter  fort. 

Es  kommt  vor,  daß  ein  in  allen  Hauptpunkten  völlig  ge- 
ständiger Verbrecher,  der  über  einige  durchaus  für  die  Beurteilung 
der  Sache  gleichgültig  erscheinende  Punkte  beim  Lügen  blieb,  wenn 
er   seine  Strafe  bereits  angetreten  hat   und  an  seinem  Urteil  nichts 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Mörder.  331 

mehr  zu  ändern  ist,  bei  einem  gelegentlichen  Vorhalt  über  das  ^albem^ 
erschienene  Lügen  gutmütig  grinsend  sagt:  ^Ja,  Herr  Staatsaanwalt, 
ick  harre  aber  doch  wat  derbie!^  Dann  setzt  der  Mann  den  Zweck 
seiner  Lüge  auseinander,  und  es  fällt  wie  Schuppen  von  den  Augen, 
wenn  man  sich  ganz  in  die  Seele  und  die  krause  Denkungsweise  des 
Verbrechers  hereinversetzt  hat 

Versuchen  wir  einmal,  bei  einigen  der  von  uns  angeführten 
Beispielen  den  Zweck  zu  ergründen,  den  die  im  übrigen  geständigen 
Mörder  mit  ihren  Lügen  in  Einzelpunkten  verfolgten,  und  schicken 
wir  erläuternd  voraus,  daß  Mörder  fast  immer  sehr  genau  wissen, 
wieviel  auf  das  Moment  der  Überlegung  bei  der  Tat  und  auf  den 
Grad  dieser  Überlegung  ankommt  Jedenfalls  merken  sie  dies  im 
Laufe  der  Untersuchung,  bei  der  ja  naturgemäß  auf  denjenigen  vor, 
bei  oder  nach  der  Tat  liegenden  äußeren  Umständen,  aus  denen  auf  den 
inneren  Vorgang  der  Überlegung  Schlüsse  gezogen  werden  können, 
wieder  und  wieder  (venia  sit  verbo)  „herumgeritten  wird". 

Clemens  Jünemann  hatte,  wie  wir  gesehen  haben,  nachdem 
er  sich  überzeugt,  daß  mit  seinem  ersten  Leugnen  jeder  VTissen- 
Schaft  von  der  Todesursache  seines  Landsmanns  nichts  zu  erreichen 
war,  noch  in  der  Hauptverhandlung  mit  großem  Geschick  die  Taktik 
verfolgt,  die  Sache  auf  eine  „gerechte  Notwehr'*,  mithin  auf  eine 
straflose  Handlung,  hinauszuspielen. 

Als  ihm  dann  infolge  der  oben  geschilderten  psychologischen 
Vorgänge  das  Geständnis  in  der  Hauptsache  mit  unwiderstehlicher 
Gewalt  über  den  iQ7Log  ddövrcov  geglitten  war,  trat  sofort  bei  ihm 
wieder  die  Berechnung  soweit  in  ihre  Bechte,  daß  er  das  Moment 
der  Überlegung  bei  Ausführung  der  Tat  durch  erlogene  (und,  wie  er 
glaubte),  nicht  zu  widerlegende  Tatsachen,  um  möglicherweise  den 
Kopf  noch  zu  retten^  auf  ein  Minimum  herabzuschrauben  suchte. 
Aus  diesem  Grunde  wollte  er  nicht  zugeben,  daß  er  die  Tat  „von 
langer  Hand"  vorbereitet,  indem  er  bereits  früh  am  Abend  die  Hab- 
sehgkeiten  seines  Opfers  aus  dem  Schlafsaal  beseitigt,  daß  er  stunden- 
lang vor  der  Gasbereitungsanstalt  herumgelungert  hatte,  um  den  rechten 
Augenblick  zum  Morde  zu  erspähen. 

Er  hoffte  noch  immer  (was  übrigens  auch  aus  verschiedenen  von 
ihm  geschriebenen  Briefen  hervorgeht)  mit  einer  zeitigen  Freiheits- 
strafe davonzukommen. 

Traf  aber  seine  Hoffnung  ein,  so  durfte  er,  wie  er  weiter  über- 
legte, auch  nicht  zugeben,  daß  der  Ermordete  um  schwere  von  ihm 
(Jünemann)  begangene  Verbrechen  gewußt  hatte,  denn  sonst  hätte  er 
neue  schwere  Straftaten  bekennen   müssen,   die  ihm  mindestens  eine 


332  XIII.  Pessleb 

erhebliche  Verlängerung  seiner  Freiheitsstrafe  eingetragen  haben  würden. 
(Die  Straftaten,  um  die  der  Erschlagene  wußte,  waren  offenbar  weit 
schwererer  Natur  als  die  nachher  von  Jünemann  eingeräumten  Dieb- 
stähle!) 

Daß  Jünemann  auch  im  letzten  Augenblick  vor  der  Vollstreckung 
der  Todesstrafe  nicht  mit  der  Wahrheit  herauskam,  erklärt  sich  aus 
der  bekannten  Hoffnung  der  zum  Tode  Verurteilten  von  der  „Be- 
gnadigung im  letzten  Augenblick^. 

Heinr.  Ohlmann  versuchte  durch  die  lügenhafte  Angabe,  er 
habe  seine  Tante  in  derjenigen  Schlafkammer  erschlagen,  in  der 
die  Leiche  gefunden  wurde,  die  Sache  als  einen  (vielleicht  nach 
§214  RS.G.B.  erschwerten)  Totschlag  vor  den  Geschworenen  hinzu- 
stellen. In  der  fr.  Schläfkammer  stand  der  Koffer,  aus  dem  er  die 
Wertpapiere  gestohlen  hatte,  und  nach  seiner  Angabe  sollte  seine 
Tante  auf  den  Diebstahl  zugekommen  sein.  In  diesem  Augenbliel^ 
wollte  er  die  —  Von  ihm  allerdings  schon  in  eventum  vorher  be- 
schlossene —  Tötung  mit  der  bereit  gestellten  Latte  verübt  haben. 
Dann  wollte  er,  in  Verzweiflung  darüber,  daß  ja  sonst  seine  Tat  so- 
fort an  den  Tag  kommen  würde,  auch  seinen  Neffen  erschlagen  haben. 
Diese  Darstellung  klang  nach  Ohlmanns  Ansicht  doch  ganz  anders 
und  für  ihn  günstiger,  als  wenn  er  die  (im  letzten  Augenblicke  ein- 
gestandene) Wahrheit  angab,  daß  er  seine  (arglos  Würste  holende) 
Tante  in  der  Vorratskammer  heimtückisch  beschlichen  und  getötet, 
und  dann,  den  geeignetsten  Augenblick  ruhig  abwartend,  auch  seinen 
Neffen  erschlagen  hatte. 

Bei  seiner  Lüge  über  das  Mordwerkzeug  hat  Öhlmann,  wie  ich 
glaube,  folgenden  —  wenn  auch  etwas  sonderbaren  —  Ideengang 
verfolgt: 

„Eine  Staketlatte  ist  ein  viel  harmloseres  Werkzeug  als  der 
schwere  Eisenteil  einer  Schute,  setzt  du  deshalb  an  die  Stelle  der 
wirklich  gebrauchten  Schute  die  Latte,  so  sieht  die  ganze  Sache  milder 
aus,  als  wenn  du  der  Wahrheit  gemäß  zugibst,  daß  du  gleich  mit 
der  (sicher  tötlich  wirkenden)  Schutenöse  zugeschlagen  hast^  min- 
destens kann  doch  für  die  Begnadigungsfrage  die  nicht  zu  wider- 
legende Lüge  von  Wichtigkeit  sein!" 

Heinr.  Stolte,  ein  überaus  aufgeweckter,  ja  intelligenter 
Mann,  hat  im  wesentlichen  denselben  Zweck  bei  seinen  Lügen  ver- 
folgt,  wie  Ohlmann. 

Seine  Angaben,  daß  er  seine  Geliebte,  als  er  sie  bereits  zwei 
Tage  vor  der  Tat  zu  einem  abendlichen  Stelldichein  in  ein  einsames 
Gehölz  bestellt  hatte,  nicht  schon  bei  dieser  Gelegenheit  töten  wollte, 


Ein  Beitrag  zur  Psyehologie  der  Mörder.  333 

fiolUe  die  ÄDnahme  von  der  Hand  weisen,  daß  sein  Mord  „yon  langer 
Hand^  geplant  war,  daß  er  sich  die  Sache  schon  mindestens  mehrere 
Tage  überlegt  hatte. 

Eine  Eonsequenz  dieser  Lüge  war  die  fernere,  daß  Stolte  ab- 
tstritt, sich  bereits  3  Tage  vor  der  Tat  den  Mordstrick  in  der  Werk- 
statt des  Nachbarn  angeeignet  zu  haben,  denn  gab  er  diese  wahre  Tat- 
sache zn,  so  gestand  er  damit  ja  wieder  ein,  daß  er  schon  am  Tage 
vor  der  Bestellung  des  Mädchens  zu  dem  ersten  Stelldichein,  also 
mindestens  drei  Tage  vor  der  Tat  selbst,  diese  bereits  eingehend  über- 
legt hatte. 

Auf  eine  Einschränkung  des  Moments  der  Überlegung  lief  es 
auch  hinaus,  daß  Stolte  nicht  zugab,  er  selbst  habe,  um  ein  Zuziehen 
der  Schlinge  zu  erleichtem,  den  Messingring  an  den  Strick  gebunden, 
und  daß  er  bestritt,  er  habe  dem  Mädchen  die  ausführlichen  Angaben 
über  den  von  ihm  zum  verabredeten  Platze  einzuschlagenden  Weg 
gemacht 

Endlich  erklärt  sich  auch  der  Zweck  seiner  lügenhaften  Angabe, 
er  habe,  abgesehen  von  dem  Mordabende,  nur  einmal  mit  der  Magd 
Geschlechtsverkehr  gehabt,  wenn  man  Nachstehendes  berücksichtigt: 

Stoltes  Bestreben  ging  dahin,  den  Glauben  zu  erwecken,  daß  er 
durch  das  Verhalten  seiner  Geliebten  selbst  aufs  äußerste  zu  seiner 
grausigen  Tat  gereizt  sei,  er  wollte  so  halb  und  halb  behaupten, 
das  Mädchen  hätte  eigentlich  selbst  Schuld  daran^  daß  er  es  ge- 
tötet habe. 

Seine  Geliebte  hatte  ihm  (und  zwar,  wie  sich  bei  der  Leichen- 
öffnung herausstellte,  irrtümlicherweise)  einige  Tage  vor 
dem  Morde  gesagt,  sie  sei  von  ihm  schwanger.  Stolte  suchte  nun 
glauben  zu  machen,  daß  das  Mädchen  sich  jedenfalls  von  einem  anderen 
habe  schwängern  lassen,  er  aber  „Vater  spielen^*  und  die  Folgen 
tragen  sollte.  Dieses  von  ihm  als  „empörend^  geschilderte  Verhalten 
des  Mädchens  sollte  der  Stachel  gewesen  sein,  der  ihn  zu  dem 
Morde  hingerissen  hatte.  Um  eine  solche  —  mindestens  für  die  s.  g. 
„Gnadeninstanz^  möglicherweise  erhebliche  —  mildere  Auffassung 
seines  Verbrechens  hervorzurufen,  gab  Stolte  nur  einen  einmaligen  Bei- 
schlaf mit  dem  Mädchen,  welchen  er  überdem  (wie  aus  anderen  An- 
deutungen hervorgeht)  anscheinend  unter  Anwendung  s.  g.  Präservativ- 
mittel vorgenommen  haben  wollte,  zu,  indem  er  seine  Meinung,  das 
Mädchen  könne  von  ihm  nicht  geschwängert  worden  sein,  dadurch 
zu  motivieren  suchte. 

Wilh.  Kühmanns  Lügen  über  die  Herkunft  des  bei  der  Tat 
gebrauchten  Strickes  erklären  sich  in  derselben  Weise  wie  die  gleich- 


334  XIII.  Pessler 

artigen  Lügen  des  Heinr.  Stolte.  ßübmann  wollte  den  Glauben  er- 
wecken, daß  er  die  Einzelheiten  der  Ausführung  seines  Plans  erst 
überlegt  habe,  als  er  beim  Hause  seines  Opfers  angelangt  war. 
Gab  er  nun  aber  der  Wahrheit  gemäß  zu,  daß  er  den  Mordstrick 
schon  auf  dem  —  ziemlich  weit  vom  Tatort  liegenden  —  Felde  zu 
sich  gesteckt  hatte,  so  gestand  er  damit  ja  ein,  daß  er  schon  zu 
dieser  Zeit  über  das  Aufhängen  der  zu  Ermordenden  eingehend  nach- 
gedacht hatte. 

,  Für  Kühmanns  zweite  Lüge  über  den  Nichtgebrauch  der  Schürze 
bei  dem  Erdrosselungsakte  kann  ich  den  von  dem  Verbrecher  dabei  ver- 
folgten Zweck  nicht  angeben,  ich  glaube  aber  sicher,  daß  er  auch 
hierbei  ein  bestimmtes  Ziel  im  Auge  gehabt  hat 

Joseph  Jankowski,  der  jugendliche  degenerierte  und  ver- 
wahrloste Gewohnheitsdieb  und  Müßiggänger  besaß  trotz  seiner  „moral 
insanity'^  im  früher  modernen  Sinne  eine  gerade  derartigen  Leuten 
oft  innewohnende  Schlauheit.  Er  war  gerieben  genug,  sich  zu  sagen, 
daß  seine  Tat  als  eine  ganz  besonders  schwere  und  raffinierte  an- 
gesehen werden  würde,  wenn  er  der  Wahrheit  gemäß  zugab,  daß  er 
den  Knaben  getötet  habe,  um  einen  von  ihm  geplanten  schweren  Dieb- 
stahl bei  seinem  Dienstherm  zu  ermöglichen.  Aus  diesem  Grunde, 
und  um  eine  vorhergegangene  Reizung  zur  Tat  ins  Feld  zu  führen, 
gab  er  an,  er  habe  den  unschuldigen  neunjährigen  Jungen  nur  des- 
halb ermordet,  weil  dieser  ihn  vorher  geneckt  habe. 

W  i  1  h.  D  u  w  e  endlich  hat,  wie  im  Pitaval  der  Gegenwart  aus- 
führlich angegeben  ist,  durch  sein  nach  der  Fällung  des  Todesurteils 
abgelegtes  neues  Geständnis  selbst  eingehend  zugegeben,  welchen 
Zweck  er  bei  den  einzelnen,  in  seinem  früheren  Geständnis  enthaltenen 
Lügen  mit  großer  Hartnäckigkeit  verfolgt  hat. 

Wenn  ich  als  „Eigentümlichkeit"  unserer  besprochenen  Mörder 
eine  Anzahl  Züge  von  besonderer  „Verrohung"  hervorgehoben 
habe,  so  kann  man,  glaube  ich,  nicht  behaupten,  daß  diese  Züge  bei 
Leuten,  welche  die  Tötung  eines  ihrer  Mitmenschen  mit  Über- 
legung ausführen,  nichts  besonders  bemerkenswertes  sind.  Ich  glaube 
vielmehr,  daß  die  in  dieser  Eichtung  angeführten  Tatsachen  denn 
doch  weit  über  das  selbst  bei  einem  Mörder  vorauszusetzende  Maß 
der  Verrohung  hinausgehen. 

Wie  es  Anton  Giepsz  und  seiner  Genossin  Ehefrau 
Koßmieder  überhaupt  physisch  möglich  war,  im  Ehebette 
des  Ermordeten,  als  dessen  Leiche  noch  nicht  erkaltet  war,  sich  der 
geschlechtlichen  Wollust  hinzugeben;  wie  der  einzige  Gedanke  des 
Giepsz  unmittelbar  nach   der   {selbst  die   beteiligten   üntersuchungs- 


Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Morder.  335 

beamten  aufs  tiefste  erschütternde)  Geständnisszene  sein  konnte,  die 
Erlangung  von  Wurst  zu  erstreben;  wie  es  zu  ei^klären  ist,  daß 
Clemens  Jünemann  unmittelbar  nach  dem  grausigen  Morde 
mit  Appetit  die  dem  Erschlagenen  gehörenden  Mundvorräte  verzehren 
konnte,  und  daß  Wilh.  Rühmann  nach  Erdrosselung  der  alten  Frau 
trotz  der  ungewaschenen  Hände,  unter  deren  Nägeln  noch  die  Haut- 
fetzen vom  Halse  der  Getöteten  kleben  mußten,  mit  größter  Behaglich- 
keit ein  Blutwurstfrühstück  einzunehmen  vermochte,  wie  H  e  i  n  r.  Ö  h  1  - 
mann  unmittelbar  nach  den  geschilderten  ergreifenden  Szenen  nur  an 
die  vor  seinem  Fenster  hängende  Gans  und  an  die  ihm  versprochenen 
Zigarren  denken,  wie  Wilh.  D  u  w  e  seine  letzten  Stunden  zu 
frivolen  Witzen  benutzen  konnte,  erscheint  sehr  schwer  begreiflich. 
Noch  weit  schwerer  begreiflich  aber  ist  es,  daß  Heinr.  Stolte, 
den  Mordplan  im  Herzen  und  den  Mordstrick  in  der  Tasche,  das 
ahnungslose,  von  ihm  dem  Tode  geweihte  Mädchen  in  heißer  Sinnen- 
lust umfangen,  und  daß  er,  unmittelbar  nachdem  seine  Geliebte  sich 
ihm  hingegeben  hatte,  diese  erdrosseln  konnte! 

Die  geschilderten  Züge  von  völliger  Gemütsverrohung,  die  man, 
wenn  sie  in  einem  „Schauerromane"  erzählt  würden,  als  plumpe,  ekel- 
hafte Unglaublichkeiten  ansprechen  würde,  scheinen  mir  denn  doch 
za  Betrachtungen  Anlaß  zu  bieten,  die  ich  der  berufeneren  Feder  eines 
Psychologen  oder  —  Kriminalpsychiaters  überlassen  zu  müssen  glaube. 

Zum  Schluß  seien  mir  noch  einige  Bemerkungen  gestattet. 

Man  könnte  einwerfen,  daß  ich  in  einigen  Fällen  Lügen  der  in 
der  Hauptsache  geständigen  Mörder  behauptet  habe,  wo  nicht 
durch  die  endlichen  Schlußgeständnisse  und  eine  Nachprüfung  (wie 
bei  Öhlmann  und  Duwe)  die  Lügen  als  solche  festgestellt  sind,  daß 
also  die  von  mir  auf  Grund  eines  „Indizienbeweises"  ausgesprochene 
Meinung,  es  handele  sich  tatsächlich  um  Lügen,  irrig  sein  könnte. 
Gewiß  gebe  ich  als  alter  Kriminalpraktiker  die  Möglichkeit  eines 
Irrtums  in  dem  einen  oder  anderen  Falle  zu,  ich  kann  aber  versichern, 
daß  sowohl  ich  als  meine  sonstigen  den  Akteninhalt  genau  kennenden 
Kollegen  einen  derartigen  Irrtum  für  ausgeschlossen  halten. 
Sollte  ein  solcher  aber  trotzdem  in  einem  Einzelfalle  in  Betracht 
kommen,  so  dürften  doch  wenigstens  bei  Unterstellung  der 
Richtigkeit  meiner  Ansicht,  die  erörterten  Fälle  zum  weiteren 
Nachdenken,  und  vielleicht  auch  zu  weiteren  Ausführungen,  über 
den  Erfahrungssatz  von  dem  „Lügen  der  in  der  Hauptsache 
geständigen  schweren  Verbrecher  in  Einzelpunkten''  Anlaß  zu  bieten 
geeignet  sein.*) 

1)  Vgl.  Hans  Groß,  ^ Kriminalpsychologie",  2.  Aufl.,  p.  132ff. 


336  XIII.  Pessler 

Da  ich  mich  bei  meiner  „aus  dem  vollen  Menschenleben**  ge- 
griffenen Plauderei  nur  auf  eine  Verbrecherkategorie,  auf  Mörder, 
beschränkt  habe,  sei  es  mir  gestattet,  noch  zu  erwähnen,  daß  in  den 
innerhalb  des  letzten  halben  Jahrhunderts  in  unserem  Herzog- 
tum geführten  Prozeßen  wegen  Mordes  nur  eine  Freisprechung 
—  meines  Wissens  —  erfolgt  ist  (die  rechtliche  Qualifikation  der 
Tat  war  in  einzelnen  Fällen  eine  verschiedene),  daß  von  den  zum 
Tode  verurteilten  18  Personen  nur  vier,  und  zwar  ein  Baub- 
mörder  und  drei  Giftmörder,  ohne  Geständnis  der  Tat 
selbst  verurteilt,  und  daß  von  diesen  zum  Tode  verurteilten  Per- 
sonen eine  Begnadigung  (zu  lebenslänglicher  Zuchthausstrafe)  nur  in 
vier  Fällen  stattgefunden  hat.  (In  drei  Fällen  handelte  es  sich  um 
Mädchen,  die  ihr  wenige  Wochen  altes  Kind  getötet  hatten,  im  vierten 
Falle  waren  nach  der  Verurteilung  Bedenken  über  das  Vorliegen  des 
Moments  der  Überlegung  aufgetaucht).  An  den  übrigen  14  Personen 
ist  die  erkannte  Todesstrafe  vollstreckt.  Ungesühnt  sind  seit 
66  Jahren  nur  vier  Morde  geblieben. 

Endlich  ist  es  vielleicht  nicht  ohne  Interesse  zu  erfahren,  daß 
bei  den  im  Herzogtum  zur  Sprache  gekommenen  Verbrechen  der 
vorsätzlichen  Tötung  in  zahlreichen  Fällen  der  Täter  einen  Un- 
glücksfall oder  einen  Selbstmord  des  Getöteten  in 
äußerst  geschickter  Weise  vorzutäuschen  versucht  hat  Dieses 
Manöver  hat  mich  dazu  veranlaßt,  in  den  s.  g.  „  Leichensachen  ^ 
trotz  aller  Kedereien  über  „das  viele  unnütze  Obduzieren 
und   Sezieren"    mit  ganz  besonderer  Sorgfalt  zu  verfahren. 


XIV. 
Meuchelmord  zweier  Friseurlehrlinge. 

MHgvtsOt  Ton 
Dr.  Biohard  Bauer»  k.  k.  StaatsanwaitBBabstitnt  in  Troppau. 


Sonntag  den  11.  November  1906  nach  8  Uhr  abends  kamen  die 
Friseturlehrlinge  Adolf  R.  nnd  Oustay  W.  mit  der  Kunde  zu  ihrem 
Lehrherrn  S.,  welcher  in  dem  kleinen  Städtchen  H.  einen  Friseurladen 
hatte,  daß  der  Gehilfe  Moritz  H.  oben  in  der  Dachkammer  tot  in 
seinem  Blute  liege.  —  Diese  Dachkammer  war  3,5  m  breit,  2,7  m  tief, 
und  standen  in  derselben  die  Betten  des  Gehilfen  Moritz  H.  und  der 
Lehrlinge  R.  und  W.  —  Der  rasch  herbeigeholte  Gendarm  fand  die 
Leiche  des  Moritz  H.  zwischen  der  Tür  und  dem  Bett  auf  der  Erde 
liegen,  die  linke  Hand  ausgestreckt  mit  geballter  Faust,  die  Finger 
der  rechten  Hand  eingebogen,  die  Füße  übereinandergeschlagen,  den 
Kopf  in  einer  ziemlich  großen  Blutlache  liegend.  Auf  den  Bettpolstem 
fanden  sich  feuchte  Blutflecken,  unter  dem  Bett  lag  ein  blutbeflecktes 
Taschenmesser,  und  auf  einem  Teller  lag  ein  mit  Bleistift  beschrie- 
bener Zettel,  auf  welchem  die  Worte  standen:  ;,bei  normalem  Ver- 
stände habe  ich  mich  erschlagen".  Die  am  14.  November  1906  vor- 
genommene Obduktion  ergab  nachstehende  Wunden  am  Haupte  des 
Moritz  H.: 

1.  Am  linken  Stirnbein  eine  1,5  cm  lange,  etwas  klaffende,  blutig 
suffundierte,  nicht  ganz  bis  auf  den  Knochen  reichende,  fast  scharf- 
randige,  elliptisch  geformte  Wunde. 

2.  Am  Schläfenbein,  5,5  cm  oberhalb  der  linken  Ohrmuschel, 
eine  oberflächliche,  die  Haut  in  ihren  obersten  Schichten  nur  leicht 
trennende,  1,5  cm  lange  Wunde  mit  blutig  suf fundierten  Bändern. 

3.  Am  linken  Scheitelbein  11,5  cm  vom  linken  Augenbrauen- 
bogen  entfernt  eine  1,5  cm  lange,  bis  auf  den  Knochen  reichende, 
dreieckig  gestaltete,  zu  den  zwei  vorhergehenden  fast  parallel  ge- 
stellte, scharfrandige,  mit  noch  hellem  Blute  bedeckte  Wunde. 

Arehir  fttr  Kriininalanthropologie.  27.  Bd.  22 


338  XIV.  Bauer 

4.  Von  dieser  2  cm  entfernt  eine  auf  die  Kichtung  der  letzteren 
senkrecht  stehende,  gleichfalls  1,5  cm  lange,  scharf  randige,  elliptisch 
geformte,  bis  auf  den  Knochen  reichende,  blutbedeckte  Wunde. 

5.  In  der  Höhe  des  oberen  Randes  der  rechten  Ohrmuschel  eine 
1,5  cm  lange,  die  Haut  durchsetzende,  nicht  bis  auf  den  Knochen 
reichende,  scharfrandige,  elliptische  Wunde. 

6.  1  cm  von  letztbeschriebener  Wunde  rechts  hinten,  oben  ent- 
fernt eine  2,5  cm  lange,  stärker  klaffende,  bis  auf  den  Knochen 
reichende,  scharfrandige  Wunde. 

7.  Bei  den  zwei  letztbeschriebenen  Wunden  eine  1,5  cm  lange, 
scharfrandige,  klaffende,  nicht  ganz  bis  auf  den  Knochen  reichende 
Wunde. 

S.  Auf  der  Höhe  des  Scheitels  eine  1,5  cm  lange,  nur  die  oberen 
Schichten  durchtrennende,  scharfrandige  Wunde. 

9.  Über  dem  Hinterhauptbein  10,5  cm  vom  oberen  Rande  der 
linken  Ohrmuschel  entfernt,  eine  1,5  cm  lange,  klaffende,  bis  auf  den 
Knochen  reichende,  scharfrandige  Wunde. 

10.  Am  rechten  Stirnbein,  unmittelbar  über  dem  rechten  Auge, 
begrenzt  von  der  klaffenden  Umrandung  der  Augenhöhle  und  vom 
Augenbrauenbogen  eine  3,5  cm  lange,  stark  klaffende,  scharfrandige, 
etwas  dreiekig  gestaltete  Wunde,  welche  vom  äußersten  Rande  des 
Augenbrauenbogens  von  innen  oben  nach  unten  leicht  schräge  ver- 
läuft. —  Das  obere  Augenlid  ist  blutig  unterlaufen.  —  Nach  Entfer- 
nung der  Weichteile  von  der  letzterwähnten  Wunde  präsentiert  sich 
eine  etwas  ovale,  vom  äußeren  Augenbrauenbogen  bis  zur  Mitte  der 
Ohrmuschel  reichende,  8  cm  lange,  nach  unten  convex  verlaufende 
Knochenwunde,  von  welcher  der  obere  Teil  1,5  cm  gegen  das  Schädel- 
innere hineingedrückt  ist.  —  Zwischen  den  bloßgelegten  Knochen- 
wänden ist  in  einer  Ausdehnung  von  5,5  cm  das  Stirnhirn  durch- 
zutasten. 

Auch  ein  Arzt  wurde  bald  nach  dem  Auffinden  der  Leiche  ge- 
holt, welcher  nach  der  Untersuchung  der  Wunden  erklärte,  daß  wahr- 
scheinlich —  ein  Selbstmordl  vorliege. —  Diese  Äußerung  veran- 
laßte  den  Gendarmen  und  die  Behörde,  nicht  sofort  mit  der  größten 
Energie  die  Erhebungen  durchzuführen.  —  Erst,  als  bei  näherer  Über- 
legung die  UnWahrscheinlichkeit  eines  Selbstmordes  immer  stärker 
und  der  Verdacht  schon  laut  ausgesprochen  wurde,  daß  Moritz  H. 
von  den  beiden  Lehrlingen  W.  und  R.  ermordet  worden  sei,  wurden 
dieselben  am  13.  November  1906  verhaftet  und  dem  im  selben  Orte 
befindlichen  Gerichte  überstellt  —  Nachdem  die  Burschen  zuerst  an- 
gegeben hatten,  daß  sie  den  H^  in  Notwehr  töteten,  schritten  sie  bald 


Meuchelmord  zweier  Friseui-lohrlinge.  339 

zu  einem  umfassenden  Geständnisse,  laut  dessen  sieb  die  Mordtat 
folgendermaßen  abspielte.  —  W.  und  K.  hatten '  scbon  seit  einigen 
Wocben  die  Ermordung  des  ibnen  mißliebigen  Gehilfen  H.  beschlossen 
und  einigten  sich  endlich  dahin^  denselben  mit  einer  Holzhacke,  welche 
sie  schon  durch  einige  Zeit  im  Bett  des  W.  versteckt  hatten,  umzu- 
bringen.—  Sonntag  den  11.  November  1906  legte  sich  Moritz  H.,  der 
sich  diesen  Tag  etwas  unwohl  fühlte,  gegen  4  Uhr  nachmittags  in 
seiner  Dachkammer  zu  Bett,  und  bald  darauf  verabredeten  die  Bur- 
schen bis  ins  kleinste  Detail  den  nun  zur  Ausführung  zu  bringenden 
Plan.  —  Als  sie  sich  vor  7  Uhr  abends  zu  H.  in  die  Dachkammer 
begaben,  lag  dieser  auf  seinem  Bett  und  las  bei  dem  Scheine  einer 
Kerze  die  Zeitung.  H.  schickte  nun  die  beiden  Jungen  in  ein  Gast- 
haus  um  ein  Nachtmahl,  welches  die  Beiden  wohl  brachten,  allein 
dasselbe  im  Vorhause  stehen  ließen  und  mit  der  Ausrede,  es  sei  noch 
nicht  fertig,  ohne  dasselbe  zu  H.  in  die  Kammer  zurückkehrten. 

Während  sich  nun  W.  zu  IL  auf  den  Rand  des  Bettes  setzte  und 
ihn  im  Scherze  auf  der  Brust  kitzelte,  stellte  sich  B«  unbemerkt  mit 
erhobener  Hacke  an  dem  Kopfende  des  Bettes  auf  und  führte  nun 
einen  Hieb  auf  den  Hinterkopf  des  H.,  welcher  die  Hände  aufhob 
und  zu  schreien  begann,  worauf  nun  B.  noch  einige  Schläge  auf  das 
Haupt  des  H.  sausen  ließ,  während  ihm  indessen  W.  die  Hände 
hielt.  —  Nun  schlug  W.,  welcher  inzwischen  die  Hacke  von  R.  über- 
nommen hatte,  zweimal  heftig  auf  das  Gesicht  des  H.,  „damit  dieser 
nicht  so  lange  leiden  müsse,^  und  verursachte  ihm  so  die  unter  10. 
angeführte  Verletzung.  —  Da  sich  nun  H.  nicht  mehr  rührte,  zogen 
ihn  nun  W.  und  R.  vom  Bett  herunter  und  legten  ihn  auf  die  Erde. 
Beide  Burschen  beschlossen  nun,  einen  Selbstmord  des  H.  zu  mar- 
kieren. —  Erst  befestigte  W.  einen  Strick  an  einem  in  der  Mauer 
befindlichen  Nagel,  ließ  aber  bald  von  diesem  Vorhaben  ab,  da  er 
einsah,  daß  ein  Aufhängen  bei  dieser  Sachlage  nicht  glaubhaft  er- 
scheinen würde.  Dann  ließ  W.  durch  R.  aus  einer  Tasche  des  toten 
H.  ein  Notizbuch  herausziehen,  und  schrieb  unter  Nachahmung  der 
Schriftzüge  des  H.  den  schon  anfangs  erwähnten  Zettel.  —  W.  wischte 
nun  die  blutige  Hacke  ab,  versperrte  die  Dachkammer,  und  beide 
Burschen  begaben  sich  zum  Mühlgraben,  warfen  den  blutigen  Fetzen, 
mit  dem  die  Hacke  gereinigt  worden  war,  ins  Wasser,  steckten  dann 
die  Hacke  in  das  Eellerfenster.  Hierauf  nachtmahlten  sie  in  der 
Küche,  gingen  dann  in  die  Dachkammer,  um  gleich  darauf  mit  der 
Schreckensnachricht  zu  ihrem  Lehrherm  zu  eilen,  der  sich  sofort  mit 
ihnen  auf  den  Tatort  begab. 

Erwähnenswert  wäre  noch,  daß  W.,  als  er  vom  Arzte  den  Selbst- 

22* 


340  XIV.  Bauer 

mord  bestätigen  hörte,  sein  Taschenmesser  mit  Blut  befleckte  und 
unter  das  Bett  des  H.  legte,  wobei  er  sich  mit  R.  besprach,  eventuell 
anzugeben,  daß  er  dieses  Messer  vor  einiger  Zeit  dem  H.  verkauft 
hatte.  —  Am  12.  November  1906  schrieb  W.  an  einen  Bekannten  eine 
Postkarte  des  Inhalts,  daß  sich  der  Gehilfe  H.  erstochen  habe. 

Viel  erörtert  wurde  in  dieser  Strafsache  der  Beweggrund,  der 
die  beiden  jungen  Burschen  zu  einer  so  gräßlichen  Tat  veranlaßt 
haben  könnte. 

Beide  gaben  übereinstimmend  an,  daß  sie  deshalb  über  H.  so 
erbittert  gewesen  seien,  weil  er  sie  öfters  beim  Meister  „verklatscht** 
habe.  —  Es  wurde  festgestellt,  daß  der  Gehilfe  H.  ein  äußerst  gut- 
mütiger Mensch  war,  der  die  Lehrjungen  nicht  nur  nicht  quälte, 
sondern  sich  sogar  von  ihnen  manche  Frechheiten  gefallen  ließ. 
Nur  manchmal,  wenn  sie  es  schon  zu  arg  trieben,  machte  er  dem 
Meister  Mitteilung,  welcher  sie  dann  hie  und  da  mit  einer  Ohrfeige 
bedachte. 

Nach  anderen  Motiven  wurde  nach  allen  Richtungen,  allein  ver- 
gebens, geforscht,  so  daß  man  annehmen  muß,  daß  diese  gering- 
fügige Ursache  die  beiden  Burschen  zu  dem  Mord  veranlaßte. 

Gustav  W.  ist  am  12.  Januar  1890  geboren,  wird  von  seinem 
Meister  als  intelligent,  aber  unaufrichtig  geschildert.  Die  Leitung 
einer  Schule,  welche  er  von  1896 — 1900  besuchte,  gab  ihm  nach- 
stehendes Zeugnis:  „Verleumdet,  lügt,  ist  roh  und  hinterlistig!'' 

Bei  der  Hauptverhandlung  sprach  W.  fließend  und  unbefangen, 
suchte  sich  in  ein  möglichst  vorteilhaftes  Licht  zu  setzen  und  die 
geistige  Urheberschaft  auf  R.  zu  wälzen. 

Adolf  R.  ist  am  17.  März  1891  geboren,  wird  als  verlogen,  trotzig 
und  unintelligent  bezeichnet.  —  Sein  Benehmen  machte  den  Eindruck, 
als  ob  er  unter  dem  geistigen  Einflüsse  des  W.  gestanden  wäre. 

Beide  genossen  die  gewöhnliche  Volksschulbildung. 

Bei  der  am  21.  Januar  1907  abgehaltenen  Schwurgerichtsverhand- 
lung wurden  W.  und  R  wegen  des  Verbrechens  des  Meuchelmordes 
zu  schwerem  Kerker  in  der  Dauer  von  8  Jahren  verurteilt. 


XV. 
Die  Strafrechtsreformer  aus  dem  Zeitalter  der  Tortur. 

Von 

Dr.  jur.  Hans  Sohneiokert,  Berlin. 


la  unserer  Zeit  der  BeformbestrebuDgen  auf  dem  Gebiete  des 
Strafprozesses  und  Strafvolizages  verlohnt  es  sich,  einen  Blick  auf 
die  ßeformbestrebungen  unserer  Vorfahren  zurückzuwerfen  und  jener 
Männer  zu  gedenken,  deren  aufklärenden  Schriften  wir  vor  allem  die 
Abschaffung  menschenunwürdiger  Beweismittel  im  Strafverfahren,  be- 
sonders der  Tortur,  in  Europa  verdanken,  und  die  sich  in  der  Ge- 
schichte der  Eriminalgesetzgebung  ein  dauerndes  Denkmal  gesetzt 
haben.  Der  ganze  Kampf  gegen  die  kriminalistischen  Terroristen  des 
Mittelalters  ist  reich  an  interessanten  Tatsachen,  und  gar  manches 
goldene  Wort  jener  humanen  Vorkämpfer  für  strafprozessuale  Freiheit 
und  Schonung  hat  heute  noch  nicht  an  Wert  verloren. 

Es  sei  mir  gestattet,  hier  einige  kurze  sachdienliche  Daten  aus 
der  Geschichte  der  Tortur  vorauszuschicken.  Die  Folter  (tortura), 
die  im  13.  Jahrhundert  mit  dem  römischen  Recht  aus  Italien  nach 
Deutschland  übernommen  und  nicht  nur  bei  Angeschuldigten,  namentlich 
Leibeigenen,  sondern  auch  nicht  selten  bei  Zeugen  und  Klägern  zur 
Erpressung  von  Geständnissen  angewendet  wurde,  beruht  auf  dem 
Glauben,  daß  die  Gottheit  durch  dieses  Gewaltmittel,  wie  beim  Duell^ 
Schuld  oder  Unschuld  auf  eine  außerordentliche  Weise  erklären  und 
auf  keinen  Fall  zugeben  werde,  daß  ein  Unschuldiger  unterliege.  Der 
römisch  e  Strafprozeß  war  nach  dem  Grundsatze:  nemo  judex  sine 
actore  ein  Anklageprozeß;  erst  allmählich  wurde  neben  dieser 
Prozeßart  auch  die  Berechtigimg  eines  Verfahrens  „per  inquisitionem,^ 
also  ohne  Ankläger,  in  der  Gesetzgebung  anerkannt,  bis  schließlich  der 
Inquisitionsprozeß  mit  allen  seinen  grausamen  Zwangsmaßregeln 
und  Beweismitteln  allherrschend  wurda  Kein  Volk  der  Erde  blieb 
eigentlich  von  der  strafprozessualen  Tortur  verschont  ^),  auch  die  hoch- 

1)  Eine  aasf&hrliche  and  zuverlässige  Qaellensammlung  bietet  Franz 
Belbing  in  seinem  Werke  „Die  Tortur**  (Verlag  von  Dr.  P.  Langenseheidt,. 
Beriin-Gr.-Lichterfelde). 


342  XV.    SCHNEICKERT 

kultivierten  Völker  machten  hiervon  keine  Ausnahme,  zeichneten  sich 
vielmehr  noch  dadurch  aus,  daß  sie  sich  in  der  systematischen  Grau- 
samkeit gegenseitig  überboten. 

Fast  fünfzehnhundert  Jahre  verstrichen,  bis  man  die  Unzuverlässig- 
keit  und  Ungerechtigkeit  jenes  grausamen  Zwangsverfahrens  begriffen 
hatte  und  durch  die  Gesetzgebung  dem  Mißbrauch  der  Tortur  Ein- 
halt gebot.  Und  zwar  geschah  dies  zum  Teil  schon  durch  die  Caro- 
lina, die  auf  dem  Reichstag  zu  Regensburg  im  Jahre  1532  zum 
Reichsgesetz  erhobene  „Peinliche  oder  Halsgerichtsordnung  Kaiser 
Karls  V.".  Die  Carolina  spielte  im  Kriminalrecht  des  Mittelalters 
eine  sehr  bedeutende  Rolle  und  blieb  nicht  ohne  Einfluß  auf  die 
Partikulargesetzgebung  der  nachfolgenden  Zeit.  Nur  wenige  Gesetze 
deutschen  Ursprungs  sind  so  häufig  herausgegeben,  übersetzt,  erläutert, 
ergänzt,  gelobt  und  getadelt  worden  wie  die  Carolina.  Aber  gerade 
durch  diese  Bearbeitungen  wurde  der  Weg  zu  reiferen  Versuchen  ge- 
bahnt, den  human  gesinnte  Kriminalisten  und  Philosophen  mutig 
betraten. 

Wie  eine  Erlösung  aus  Jahrhunderte  langer  demütigender  Kerker- 
haft wurde  das  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  erschienene 
Lebenswerk  Montesquieu' s  „De  Pesprit  des  lois**  in  der  gebildeten 
Welt  empfunden.!)  Dieses  in  dreißig  Bücher  eingeteilte  Werk,  dem 
Montesquieu  zwanzig  Jahre  seines  Lebens  gewidmet  hat  und  das  einen 
großen  Schritt  vorwärts  in  der  Befreiung  der  Menschheit  von  unwür- 
digen Gesetzen  bedeutet,  erlebte  sehr  zahlreiche  Veröffentlichungen, 
Erläuterungen  und  Übersetzungen  und  wurde  in  Europa  vielen  neuen 
Gesetzesentwürfen  zugrunde  gelegt.  Von  ihm  sagte  Voltaire: 
Uhumanite  avait  perdu  ses  titres,  Montesquieu  les  a  retrouvvs. 
Folgende  Stelle  aus  Band  VI,  Kap.  IX,  ist  für  den  Geist  seiner  Grund- 
sätze sehr  bezeichnend:  La  severite  des  peines  convient  mieux  au 
gouvernement  despotique,  dont  le  principe  est  la  terreur,  qu'ä  la 
monarchie  et  ä  la  republique  qui  ont  pour  ressort  Vho7ineur  et  la 
vertu,  Dans  les  etats  moderes,  Vamour  de  la  patrie^  la  honte  et  la 
crainte  du  hlame  sont  des  motifs  reprimants  qui  peuvent  arreter  bien 
des  crimes.  La  plus  grande  peine  d'une  mauvaise  action  sera  d'en 
Stre  convaincu.  Les  lois  civiles  y  corrigeront  done  plus  ais^ment 
et  nauront  2)as  besoin  de  taut  de  force.  Dans  ces  etats,  un  bon 
legislateur  s'attachera  moins  a  punir  le^  crimes  qua  les  prevenir. 

Sechzehn  Jahre  nach  dem  ersten  Erscheinen  dieses  Werkes  schrieb 
der  Mailänder  Marquis  Caesare  Bonesano  de  Be|ccaria  (1735 — 1794) 

1)  Die  Literaturangaben  sind  dem  „Handbuch  der  Literatur  des  Kriminal- 
rechts" von  Georg  Wilhelm  Böhmer  (Göttingen  1S16),  entnommen. 


Die  Strafrechtsreformer  aus  dem  Zeitalter  der  Tortur.  343 

ein  Buch  „Über  Verbrechen  und  Strafen",  dem  Montesquieu's  Werk 
als  Vorbild  diente  und  das  gleichfalls  von  hoher  Bedeutung  für  die 
Kriminalgesetzgebung  Europas  wurde.  Selbst  in  Deutschland,  wo  die 
Stimme  des  Reformers  Christian  Thomasius  (1655—1728)  fast  un- 
gehört  verhallt  war,  begründete  Beccaria's  Werk  eine  auf  humaner 
Basis  beruhende  Periode  des  Kriminalrechts. 

In  einer  Dissertation  0  ^  „Principis  cura  leges"  (Leipzig  1765)  ver- 
teidigte Karl  Ferdinand  Ho  mmol,  ohne  den  in  Deutschland  damals 
noch  ganz  unbekannten  Beccaria  gelesen  zu  haben,  einen  großen 
Teil  der  von  diesem  aufgestellten  Grundsätze.  Einige  davon  seien 
hier  zitiert: 

1.  Härte  schadet,  übertriebene  Gesetze  werden  lächerlich  und  am  wenigsten 
gehalten.  .  .  Als  man  die  Hexen  verbrannte,  gab  es  deren  viele;  jetzt, 
da  man  sie  nicht  verbrennt,  gibt  es  deren  keine  mehr. 

2.  Wir  haben  kein  charakteristisches  Kennzeichen  von  einem  göttlichen 
allgemeinen  Positivgesetze.  Alle  Kennzeichen,  welche  man  seitlier 
davon  gegeben  hat,  trügen. 

3.  Ich  wünschte,  daß  die  Strafen,  welche  bloß  aus  einer  üblen  Anwendung 
der  mosaischen  Gesetze  entstanden,  unter  dem  Trommelschlage  abge- 
schafft und  für  jüdische  erklärt  werden  möchten,  weil  das  mosaische 
Gesetz  uns  ganz  und  gar  nichts  angeht 

4.  Man  muß  Sünde,  Verbrechen  und  verächtliche  Handlungen  nicht  unter 
einander  wei-fen.  ...  Es  kann  etwas  schändlich,  es  kann  etwas  sünd- 
lich und  doch  bürgerlich  kein  Verbrechen  sein. 

Freilich  fehlte  es  in  jener  Zeit  auch  nicht  an  Vertretern  des 
kriminalistischen  Rigorismus,  unter  denen  vor  allem  der  Leipziger 
Kirchenlehrer  Benedikt  Carpzov  (1595—1666)  hervorragt.  Er  wurde 
zwar  als  Verfasser  des  ersten  ausführlichen  Systems  des  deutschen 
Kriminalrechts  der  „Vater  der  Kriminalisten"  genannt,  war  aber  ein 
fanatischer  Anhänger  der  Todesstrafen.  Von  ihm  wird  berichtet,  daß 
er  im  Laufe  seiner  richterlichen  Tätigkeit  gegen  20000  Todesurteile, 
namentlich  in  Hexenprozessen,  veranlaßt  habe. 

Doch  blieben  bei  der  fortschreitenden  Erkenntnis  der  Ungerechtig- 
keit grausamer  Strafen  und  Zwangsmaßregeln  die  Gegner  der  Tortur 
in  der  Mehrheit.  Von  ihnen  verdienen  noch  folgende  genannt  zu 
werden : 

Johann  Christian  Quistorp,  der  in  einem  „Entwurf  zu  einem 
Gesetzbuch  in  peinlichen  und  Strafsachen"  (1782)  die  Tortur  gänzlich 
verwirft:  „Das  barbarische  Mittel,  durch  Schmerzen  oder  andere  zu- 
gefügte Übel  jemand  zum  Bekenntnis  oder  Geständnis  der  Wahrheit 


1)  Dissertatio  extemporanea  praescripti  argumenti  praesente  Ser.  Sax.  Eleo- 
tore  D.  Friederico  Augusto,  d.  XXX  Aprilis  1765  defensa. 


344  XY.   SCHNEICKEBT 

bringen  zu  wollen,  .  .  .  soll  künftig  unter  keinen  Umständen  weiter 
stattfinden,  selbst  ancb  nicht  einmal  zur  Herausbringung  der  Mit- 
sohuldigen  ferner  angewandt  werden.^ 

Gal.  AI.  Klein  sehr  od  verlangt  in  einer  (1798  in  Halle  er- 
schienenen) Schrift:  „Das  Strafsystem  beruhe  auf  Gelindigkeit  und 
größtenteils  richtiger  Proportion  zwischen  Verbrechen  und  Strafen. 
Das  peinliche  Verfahren  zeichne  sich  durch  Pünktlichkeit  und  Schonung 
der  Rechte  der  Menschheit  aus/ 

Karl  Freiherr  von  Dalberg  fordert  in  seinem  „Entwurf  eines 
Gesetzbuches  in  Eriminalsachen^  (Leipzig  1792) ,  daß  durch  die 
möglichst  gelindesten  Mittel  das  möglichst  größte  Gute  bewirkt  werde. 
„Es  ist  unbillig  und  demjenigen  zuwider,  was  ein  Mensch  dem  andern 
schuldig  ist,  wenn  man  einem  Verbrecher  mehr  Leid  zufügt,  als 
wegen  der  öffentlichen  Sicherheit  unumgänglich  nötig  ist" 

Die  Schriften  des  Wiener  Professors  der  Staatswissenschaften, 
Joseph  von  Sonnenfels  (1732—1817),  des  deutschen  Montesquieu, 
haben  nicht  nur  auf  die  Kriminalgesetzgebung  seines  Vaterlandes, 
sondern  auch  in  Deutschland  und  anderen  europäischen  Staaten  einen 
wohltätigen  Einfluß  ausgeübt.  Hervorzuheben  ist  seine  Schrift: 
„Memoire  sur  PaboUtion  de  la  torture^  und  seine  „Grundsätze  aus  der 
Polizei  etc.^  (3  Bde.,  Wien  1765).  v.  Sonnenfels  war  als  Kommissions- 
mitglied auch  an  den  Vorarbeiten  zu  dem  „Neuen  Gesetzbuch  über 
Verbrechen  und  schwere  Polizeiübertretungen  in  den  k.  k.  deutschen 
Erbstaaten"  (Wien  1803)  beteiligt. 

Ernst  Lorenz  Michel  Bathleff  geht  in  seinem  Buche  »Vom 
Geist  der  Kriminalgesetze"  (Hamburg  1777)  von  Montesquieu  s 
und  Beccaria's  humanen  Ideen  aus  und  eifert  ebenfalls  gegen  die 
Tortur.  „Was  soll  man  von  den  schrecklichen  Werkzeugen  des  Todes 
halten,  welche  die  sinnreichste  Grausamkeit  ausgedacht  hat?  Auch 
der  größte  Verbrecher  erhält  Mitleiden  in  dem  Augenblicke,  da  er  den 
Lohn  seiner  Taten  empfängt,  und  es  sollte  den  Gesetzen  billig  daran 
gelegen  sein,  daß  man  in  diesem  Augenblicke  den  Richter  nicht  mehr 
hasse  als  den  Verbrecher.^ 

Auch  Julius  Graf  von  Soden  bekennt  sich  in  seinem  Werk 
„Geist  der  deutschen  Kriminalgesetze^  (Dessau  1782,  Frankfurt  1792) 
als  einen  von  dem  edelsten  Wohlwollen  für  Menschheit,  der  größten 
Achtung  für  Sittlichkeit  und  Menschenrechte  belebten  Kriminalisten. 

Ebenso  erklärt  Ernst' Karl  Wieland  in  semem  Buche  „Geist  der 
peinlichen  Gesetze^  (Leipzig  1783)  die  Tortur  für  gänzlich  unzulässig. 

Allmählich  drang  in  den  siebziger  Jahren  des  18.  Jahrhunderts 
das   Verlangen    nach    einer   menschenwürdigeren   Strafgesetzgebung 


Die  Strafrecfatsreformer  aus  dem  Zeitalter  der  Tortur.  345 

in  weite  Volkskreise  ein.  Bezeichnend  für  diese  neue  Zeitströmung 
ist  die  Aussetzung  verschiedener  Preise,  die  der  „Ökonomischen  Ge- 
sellschaft in  Bern''  von  unbenannten  Menschenfreunden  zur  Verfügung 
gestellt  wurden  für  den  Verfasser  derjenigen  Schrift,  die  nach  dem 
Urteile  dieser  Gesellschaft  den  vollständigsten  und  ausführlichsten 
Plan  einer  Kriminalgesetzgebung  nach  bestimmten  Anhaltspunkten 
darstellte,  wobei  u.  a.  als  zu  beachtende  Grundsätze  „möglichste 
Schonung  im  Untersuchungsverfahren,  schleunige  Bestrafung;  größte 
Ehrfurcht  für  Menschlichkeit  und  Freiheit"  vorgeschrieben  wurden. 
Als  Preis  waren  50  Louisd'ors  ausgesetzt.  Voltaire  erhöhte  diesen 
Preis  um  weitere  50  Louisd'ors  unter  gleichzeitiger  Erläuterung  der 
Bemer  Preisfrage  in  einer  besonderen  Abhandlung:  „Prix  de  la 
justice  et  de  Phumanit^  parPauteur  de  la  Henriade.''  (Femey  1778; 
deutsch :  Leipzig  1778,  120  S.) 

Unter  44  fast  aus  allen  Gegenden  Europas  eingelaufenen  Preis- 
schriften wurde  die  folgende  preisgekrönt:  „Abhandlung  von  der 
Eriminalgesetzgebung  von  Hans  Ernst  von  Globig  und  Johann 
Georg  Huster."     (Zürich  1783,  440  S.). 

Jedenfalls  hat  die  Bemer  Preisfrage  auch  in  Deutschland  gute 
Früchte  gezeitigt  und  manchen  Bekämpfer  der  Tortur  und  Verfechter 
der  Menschenwürde  und  Freiheit  neu  erstehen  lassen ;  sie  trugen  schließ- 
lich auch  den  Sieg  über  die  kriminalistischen  Terroristen  davon,  die 
noch  weit  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  die  Ausführung  ihrer  Ideen 
erlebten.  Die  Tortur  wurde  gesetzlich  abgeschafft :  in  Preußen  durch 
Friedrich  den  Großen  1740  (bzw.  1754),  in  Sachsen  1770,  in  Öster- 
reich 1776,  in  Bayern  und  Württemberg  1809,  in  Hannover  1822  und 
erst  1828  in  Gotha. 

Wenn  wir  auch  heute  unsere  Kampfmittel  nicht  mehr  gegen 
physische  Tortur  bereitzustellen  haben,  so  doch  gegen  die  fast  ebenso 
empfindlichen  psychischen  Torturen  der  in  ein  Strafverfahren  ver- 
wickelten Personen.  Als  eine  dankenswerte  Vorarbeit  in  diesem 
Sinne  sind  die  Beschlüsse  unserer  „Kommission  für  die  Reform  des 
Strafprozesses"  anzusehen,  die  u.  a.  eine  viel  schonendere  Vorunter- 
suchung und  eine  Verbesserung  der  Bestimmungen  über  die  Ver- 
hängung der  Untersuchungshaft  anstreben.  Vergessen  wir  nie,  daß 
auch  im  20.  Jahrhundert  ein  in  jener  Schreckenszeit  geprägtes  Wort 
noch  volle  Geltung  haben  muß:   Uhumanite  est  un  sixiöme  sens! 


XVI. 

über  eine  gewisse  Form  von  Erinnerungslücken  und  deren 
Ersatz  bei  epileptischen  Dämmerzuständen 

Von 
Dr.  Clemens  Gudden,  Nervenarzt  in  Bonn  a.  Rh. 


Vollständige  Erinnerangslosigkeit  bei  epileptischen  Dämmerzu- 
ständen ist  ein  bekanntes  und  allgemein  anerkanntes  Vorkommnis, 
bei  dessen  Verwertung  in  forensischen  Fällen  der  sachverständige 
Arzt  gegenüber  Laien  und  Berufsrichtern  nicht  sehr  häufig  auf  Wider- 
spruch oder  Verständnislosigkeit  stoßen  wird,  indem  er  unter  Berück- 
sichtigung der  allgemeinen  ursächlichen  Krankheitserscheinungen;  kurz 
gesagt  unter  Nachweis  der  epileptischen  Grundlage  aus  der  absoluten 
Erinnerungslosigkeit  des  Angeklagten  Rückschlüsse  auf  dessen  verän- 
derten Bewußtseinszustand  in  der  kritischen  Zeit  des  Delikts  macht. 
Es  schließt  eine  derartige  Deduktion  sich  eben  zwanglos  und  glatt 
an  die  Forderung  des  §  51  Str.G.B.  an.  Schwieriger  wird  die  Sache 
in  foroy  wenn  die  Erinnerung  des  Angeklagten  sich  als  lückenhaft 
erweist.  Doch  auch  für  diesen  Fall  steht  schon  längst  eine  Unzahl 
von  einwandfreien  Beobachtungen  zur  Verfügung,  auf  Grund  welcher 
den  Richtern  der  Nachweis  geliefert  werden  kann,  daß  die  Erinne- 
rung an  einzelne  Phasen  der  inkriminierten  Tat  sehr  wohl  vereinbar 
ist  mit  der  Annahme,  daß  sie  trotzdem  vollständig  in  einem  krank- 
haft veränderten  Bewußtseinszustand  vollführt  wurde  und  demgemäß 
straflos  bleiben  muß.  Aus  dem  Vorhandensein  einzelner  „Inseln** 
klarer  Erinnerung  darf  nicht  der  Schluß  gezogen  werden,  daß  zur 
fraglichen  Zeit  ein  normaler  Bewußtseinszustand  bestanden  hat  (ViToUen- 
berg,  Moeli). 

Geradezu  tragisch  kann  aber  eine  Verhandlung  verlaufen,  Wie 
wir  kürzlich  in  einem  Strafprozeß  gegen  einen  Epileptiker  gesehen 
haben  (Fall  Tessnow  in  Stralsund),  wenn  die  Erinnerungslücken  sich 
gerade  mit  einer  Reihe  strafbarer  Handlungen  decken,  eine  gute  Er- 


über  eine  gew.  Form  v.  Erinnerungslücken  u.  deren  Ers.  b.  cpil.  Dämmerzust    347 

innerung  aber  für  gewisse  Momente  besteht,  die  zwischen  den  straf- 
baren Handlungen  eingestreut  sieh  abgespielt  haben  und  die  teils  die 
yerbrecherische  Tat  in  milderem  Licht  erseheinen  zu  lassen,  teils  ihre 
Spuren  zu  verwischen  geeignet  sind  und  deren  Betonung  endlich  auch 
von  dem  Angeklagten  benutzt  wird,  um  sich  zu  exkulpieren.  Diese 
Konstellation  hat  trotz  Vorhandenseins  aller  übrigen  auch  vielleicht 
von  den  Richtern  anerkannten  Grundbedingungen  eines  epileptischen 
Dämmerzustands  das  Mißtrauen  erregt  und  den  Gedanken  an  Simu- 
lation erweckt,  was  die  Verurteilung  zur  Folge  hatte.  Siemerling 
sagt:  „Es  ist  begreiflich,  daß  das  eigenartige  Verhalten  der  Erinne- 
rung: Haftenbleiben  von  belanglosen  Ereignissen,  Ausfall  oft  der 
wichtigen  Daten  mit  besonderer  Tragweite  den  Verdacht  auf  Simu- 
lation erweckt";  ja  wenn  schon  diese  Form  der  Erinnerungslücken 
Schwierigkeiten  in  der  Beurteilung  zu  machen  geeignet  ist,  um  wie- 
viel mehr  dann,  wenn  die  Verhältnisse  kompliziert  wie  oben  ange- 
deutet liegen.  Nur  drängt  sich  unwillkürlich  die  Frage  auf,  mit 
welchem  Recht  wirkt  eine  solche  auf  den  ersten  Blick  sicher  frap- 
pierende Auswahl  von  Erinnerungsinseln  verdächtig?  Liegen  innere 
Widersprüche  vor,  spricht  die  ärztliche  Erfahrung  dagegen  oder  ist 
sie  nicht  vielmehr  unter  Umständen  geradezu  eine  Forderung  des 
wechselnden  Bewußtseinszustandes?  Zur  Beantwortung  möchte  ich 
folgenden  Fall  anführen,  der  einwandsfrei  und  ganz  beziehungslos 
ist,  insbesondere  fehlt  jeder  Zusammenhang  mit  Kriminalität.  Er 
eignet  sich  also  gerade  deshalb  vorzüglich  zu  einer  Exemplifizierung 
in  forensischer  Beziehung. 

Frau  X.  aus  Z.,  erblich  belastet,  hatte  mit  17  Jahren  einige 
epileptische  Anfälle.  Anfang  der  zwanziger  Jahre  heiratete  sie,  blieb 
von  Anfällen  verschont,  gebar  einige  Kinder,  die  sich  normal  ent- 
wickelten. Im  Frühjahr  1906  bekam  Patientin  zum  erstenmal  wieder 
einen  kurz  andauernden  epileptischen  Anfall;  im  Anschluß  an  ihn 
wurde  Pat.  verwirrt,  sie  halluzinierte  in  verschiedenen  Sinnesgebieten, 
die  Erregung  steigerte  sich,  kurz  ein  postepileptisches  Irresein  machte 
ihre  Aufnahme  in  eine  Anstalt  nötig.  Nach  mehrmonatigem  Aufent- 
halt erfolgte  die  Rückkehr  nach  Hause.  Das  Befinden  war  annähernd 
normal  bis  Mitte  Dezember.  Damals  trat  wieder  ein  kurzer  Anfall 
auf,  an  den  sich  ein  ähnlicher  Zustand  anzuschließen  schien  wie  im 
Frühjahr.  Ich  sah  die  Pat.  am  zweiten  Tag  der  Erkrankung.  Der 
Mann  gab  an,  daß  das  Wesen  der  Pat.  ihn  ängstige,  sie  sei  manch- 
mal merkwürdig  still  wie  traumverloren,  dann  sei  sie  wieder  ge- 
schäftig ohne  rechtes  Ziel.  Sie  habe  angefangen,  alte  Briefe  zu  ord- 
nen und  sich  für  Abend  ein  Bad   bestellt.     Während  der  ungefähr 


348  XVI.  GüDDEN 

einstündigen  Untersuchung  wechselte  das  Wesen  der  Kranken  ziem- 
lich häufig  und  stets  ganz  plötzlich.  Bald  beteiligte  sich  Frau  X. 
mit  Interesse  an  der  Unterhaltung,  ihre  Form  war  verbindlich,  dem 
Bildungsgrad  entsprechend,  sie  gab  klare  und  richtige  Antworten, 
bald  versank  sie  in  einen  schlaffen  oder  auch  starren  Zustand,  in 
dem  die  Antworten  zögernd,  falsch  oder  auch  gar  nicht  gegeben 
wurden  und  das  Benehmen  war  dann  im  höchsten  Grade  unhöflich, 
brüsk.  Einmal  stand  Fat  triebartig  auf,  suchte  den  Ausgang  des 
Zimmers  zu  finden,  aber  auf  der  falschen  Seite,  wo  keine  Tür  war» 
Einmal  nestelte  Fat.  in  der  Art,  wie  man  es  nach  einem  epileptischen 
Insult  häufig  beobachtet,  an  ihrer  Bluse  herum,  so  daß  sie  sich  teil- 
weise entblößte,  um  wenig  Minuten  später  in  großem  Schrecken  über 
die  ihr  plötzlich  zu  Bewußtsein  kommende  Situation  sich  zu  ent- 
schuldigen und  zwar  charakteristischer  Weise  folgendermaßen :  Frau  X. 
erklärte  in  dem  Tone  und  der  Form  absoluter  Glaubwürdigkeit,  daß 
sie  ein  Bad  habe  nehmen  wollen  und  da  habe  sie  schon  angefangen, 
sich  auszuziehen,  als  sie  durch  meinen  Besuch  gestört  worden  sei. 
In  Wirklichkeit  hatte  sie  wenige  Augenblicke  vorher  vor  meinen 
Augen  das  Kleid  geöffnet  Ohne  erhebliche  Einwände  zu  machen, 
ließ  sich  Fat  in  eine  Anstalt  bringen.  Von  einem  ihrer  Kinder 
nahm  sie  traurigen  Abschied  und  empfahl  es  dem  Schutze  der  Um- 
gebung. In  der  Folge  wurde  der,  etwa  als  besonnenes  Delirium  zu 
bezeichnende  Dämmerzustand  abgelöst  durch  schwerere  Erscheinungen. 
Insbesondere  des  Nachts  traten  starke  Erregungszustände  auf,  Fat 
sah  Feuer,  schrie  heftig,  drang  auf  das  Fflegepersonal  ein,  während 
tagsüber  tiefe  Benommenheit  vorherrschte.  Nur  ein  kleiner  Krampf- 
anfall trat  noch  auf.  Nach  einigen  Wochen  besserte  sich  das  Be- 
finden. Für  die  Zeit  der  schweren  Erkrankung  bestand  fast  völlige 
Amnesie,  nur  ganz  summarische  Erinnerung,  völlige  Einsichtslosig- 
keit.  Wenige  Tage  nach  der  Aufnahme,  bevor  noch  eine  Verschlim- 
merung des  Zustandes  eingetreten  war,  fiel  die  eigentümliche  Form 
der  Erinnerungsstörung  auf,  welche  Fat.  bezüglich  der  Vorgänge 
während  der  ersten  Untersuchung  darbot  Am  besten  vergleichbar 
war  das  Erinnerungsbild  mit  einem  grob  durchlöcherten  Sieb  und 
zwar  fehlte  die  Erinnerung  ganz  ausnahmslos  und  völlig  für  die 
Momente,  in  denen  eine  Änderung  ihres  Wesens  zu  konstatieren  war, 
ihre  Antworten  zögernd  oder  unrichtig  erfolgten  und  sie  triebartige 
Handlungen  vollzog.  Diese  Momente  offenbar  veränderten  Bewußt- 
seins schienen  auch  mit  einer  Erweiterung  der  Fupillen  einherzu- 
gehen,  eine  genaue  Bestimmung  ist  leider  unterblieben.  Frau  X.  er- 
klärte ganz  genau  bei  der  Rekapitulation:   „Das  habe  ich  nicht  ge- 


über  eine  gew.  Fonn  v.  Erinnerungslücken  u.  deren  Ers.  b.  epil.  Dämmerzust   349 

sagt,  das  habe  ich  gesagt,  das  weiß  ich,  jenes  ist  nicht  wahr,  wie 
können  Sie  so  etwas  behaupten?'^  Pat.  wurde  trotz  der  Oleich gültig- 
keit  der  Tatsachen  oft  ganz  unwillig,  wenn  sie  einer  Behauptung 
widersprechen  zu  müssen  glaubte.  Über  ihr  bekannte  Vorgänge 
wußte  sie  ausführlich  und  richtig  zu  berichten.  Absolut  entfallen 
war  ihr,  um  nur  einiges  anzuführen,  daß  wir  über  die  Schule  ge- 
sprochen, wo  ihre  Söhne  waren,  und  daß  sie  den  Namen  der  Lehrer 
nicht  gewußt.  Dagegen  erinnerte  sie  sich  sehr  wohl  des  Abschieds 
vom  Kinde,  aber  nicht,  wer  mit  ihr  im  Wagen  zur  Anstalt  gefahren 
war.  Auf  die  Entkleidungsszene  bin  ich  aus  naheliegenden  Gründen 
nicht  zurückgekommen.  Auf  den  Vorhalt,  warum  denn  Pat.  plötzlich 
ihre  Briefe  geordnet  und  ein  Bad  verlangt  habe,  erinnert  sie  sich  des 
ersten  Faktums  nicht,  wohl  des  zweiten,  aber  sie  erklärte  sofort  das 
erste,  sofern  es  wirklich  richtig  sei,  mit  einer  schon  längst  gehegten 
Absicht  und  leugnet  entschieden,  Todesgedanken  gehabt  zu  haben.  — 

Die  Analyse  des  geschilderten  Falles  ergibt  unter  Weglassung 
des  Nebensächlichen  folgendes:  Eine  Epileptika  leidet  an  einem 
Dämmerzustand  ohne  allzu  auffällige  Erscheinungen,  währenddessen 
aber  doch,  wie  Siemerling  treffend  sich  ausdrückt  „ein  schnelles 
Nebeneinander  von  anscheinend  geordneten,  gleichgültigen  mehr  unauf- 
fälligen Erscheinungen  mit  befremdlichen,  unerwarteten  zu  beobachten 
ist^.  Die  spätere  Untersuchung  zeigt,  daß  die  Erinnerung 
während  dieser  Periode  erloschen  ist  für  die  diejenigen 
Vorkommnisse,  die  in  einem  veränderten  Bewußtseins- 
zustand sich  abgespielt  haben;  es  sind  das  die  auffälligen 
Vorkommnisse,  welche  dem  Grundcharakter  der  Pat.,  einer  sonst  ver- 
ständigen, mit  ziemlich  gutem  Gedächtnis  begabten,  gebildeten  und 
auf  äußere  Form  achtenden  Frau,  widersprechen.  Erhalten 
dagegen  ist  die  Erinnerung  für  jene  Momente,  in  denen 
Pat.  ihrem  Grundcharakter  (normaler  Bewußtseinszu- 
stand) entsprechend  sich  gezeigt  hatte.  Und  endlich  dort, 
wo  Pat  das  Bestreben  hat  zu  korrigieren  oder  auffällige  Tatsachen, 
die  ihr  nachträglich  entweder  durch  Vorhalt  oder  eigene  Erkenntnis 
zum  Bewußtsein  gekommen  sind,  zu  erklären,  da  tut  sie  es  in 
ganz  natürlichem  Bestreben,  das  ihr  sonst  fremde  Be- 
nehmen in  Einklang  zu  bringen  mit  ihrem  normalen 
Empfinden  und  Handeln,  aber  ohne  Rücksicht  auf  die 
objektive  Wahrhaftigkeit 

Übertragen  wir  nun  die  gefundenen  Tatsachen  auf  einen  beliebig 
konstruierten  Kriminalfall  —  und  es  steht  dem  nichts  entgegen,  da 
es  sich  nicht  um  prinzipielle  Unterschiede  handelt,   sondern  nur  um 


350  XVI.  GuDDEÄ 

eine  Unterstreichung  gewisser  Symptome,  ihre  schärfere  Betonung 
oder  Färbung,  —  so  ergibt  sich  in  erster  Linie  der  zwingende  Schluß 
daß  die  ausschließliche  Koinzidenz  der  Erinnerungsinseln  mit  nicht 
belastenden  Handlungen  und  Äußerungen  keine  Erscheinung  ist,  die 
bei  dem  urteilenden  Richter  Mißtrauen  zu  erregen  braucht.  Sie  scheint 
vielmehr  unter  gewissen  Umständen  geradezu  eine  Notwendigkeit  zu 
sein.  Sehr  oft,  wenn  ein  im  Dämmerzustand  befindliches,  natürlich 
nicht  an  sich  verbrecherisches  Individuum  zu  kurzer  Klarheit  auf- 
taucht, wird  es  durch  das  Einsetzen  des  normalen  Denkens  und 
Fühlens  verpflichtet  und  befähigt,  korrigierend  in  den  Gang  der 
bisher  von  einem  fremden  „Ich"  geleiteten  Handlungen  einzugreifen, 
es  wird  z.  B.  die  Spuren  der  mehr  oder  weniger  scharf  zur  Wahr- 
nehmung bezw.  Erkenntnis  gekommenen  strafbaren  Handlung  zu  ver- 
wischen suchen,  nach  Ausreden  fahnden,  die  den  Eindruck  bewußter 
Lügen  machen.  Dann  wieder  in  den  veränderten  Bewußtseinsznstand 
versinkend  wird  es  die  verbrecherische  Handlung  vielleicht  trotz-  und 
alledem  weiterfuhren  und  nach  Wiederholung  des  Wechselspiels 
vollenden.  Bei  der  späteren  Vernehmung  sind  es  dann  nicht  etwa 
nur  nebensächliche  Momente,  an  die  sich  der  Angeklagte  erinnern 
kann,  während  er  das  ihn  belastende  völlig  vergessen  hat,  sondern 
es  sind  die  Augenblicke,  in  denen  er  wirklich  selbst,  mit  dem 
eigenen  ^Ich"  oder  mit  weniger  krankhaftem  Bewußtsein  han- 
delnd eingegriffen  hat.  Daß  dieses  Eingreifen  unter  unsem  Voraus- 
setzungen ein  mehr  oder  weniger  vernunftgemäßes,  den  Interessen 
des  Individuums  dienendes^  zweckmäßiges  sein  wird,  ist  klar. 
Für  Simulation  spricht  dabei  nichts.  Der  Nachweis  solcher 
eigentümlichen  Erinnerungsinseln  ist  also  diagnostisch 
ebenso  wichtig  wie  der  Nachweis  partieller  Amnesie  im 
allgemeinen,  ,,die  kaum  oder  schwerer  als  eine  totale  Amnesie  zu 
simulieren  ist"  (Wollenberg).  Als  zweite  auffällige  Erscheinung,  die 
den  Gedanken  an  einen  absichtlichen  Täuschungsversuch  aufkommen 
lassen  könnte,  imponiert  in  unserm  Falle  der  Entschuldigungsversuch 
wegen  des  offenen  Kleides.  Er  gleicht  den  Versuchen  gesunder  Ver- 
brecher, sich  zu  exkulpieren^  wie  ein  Ei  dem  andern.  Den  Laien 
und  leider  vielen  Sachverständigen  erscheint  das  Vorbringen  solcher 
Unrichtigkeiten,  falls  es  sich  um  einen  Angeklagten  handelt,  höchst 
verdächtig  aber  sehr  mit  Unrecht,  denn  die  scheinbare  Ausrede  oder 
„raffinierte  Lüge"  ist  ein  psychologisch  notwendiger  Versuch,  einen 
Ausgleich  zwischen  bewußter  Überlegung  und  krankhaftem  unbewußten 
Handeln  herbeizuführen.  Daraus  ergeben  sich  leicht  auch  viele 
Widersprüche   dh.   Abänderungen   in   den   Erklärungsversuchen    der 


über  eine  gew.  Fonn  v.  Erinnerangslückon  u.  deren  Ers.  b.  epil.  Dämmerzust.    361 

Kranken.  Damit  glanbt  man  dann  den  Angeklagten  der  Lüge  und 
Simulation  „überführt"  ansehen  zu  müssen.  Als  kriminelles  Beispiel 
eines  Erklärungsversuchs  sei  der  Fall  von  Cramer  angeführt,  wo  der 
wahrscheinlich  einem  epileptischen  Dämmerzustand  verfallen  gewesene 
Exhibitionist  die  Tatsache,  daß  er  mit  dem  Penis  in  der  Hand  ange- 
troffen wurde,  dadurch  erklären  zu  können  glaubte,  daß  er  auf  der 
Promenade  habe  urinieren  müssen.  Der  gewiß  banal  erscheinenden 
Entschuldigung  wohnt  nach  unserer  Beobachtung  eine  große  Wahr- 
scheinlichkeit inne. 

Nach  Fertigstellung  dieses  Aufsatzes  fand  eine  Gerichtsverhandlung 
in  Dessau  statt,  in  welcher  ein  ärztl.  Gutachter  wiederum  glaubte 
aus  der  oben  geschilderten  Form  von  Erinnerungslücken  Schlüsse  ziehen 
zu  müssen,  deren  Berechtigung  oder  Notwendigkeit  ich  nicht  aner- 
kennen kann.  Nach  den  Meldungen  der  Tagesblätter  äußerte  sich 
nämlich  Herr  Dr.  von  Feilitzsch-Dessau:  „Zurzeit  liegt  eine  geistige 
Störung  beim  Angeklagten  nicht  vor.  Was  seinen  Zustand  zur  Zeit 
der  Tat  anbetrifft,  so  muß  zugegeben  werden,  daß  bei  Epilepsie  Zu- 
stände vorkommen  können,  sogenannte  Dämmerzustände,  die  die  freie 
Willensbestimmung  ganz  oder  teil  weite  ^  aufheben.  Er  könne  nicht 
mit  absoluter  Sicherheit  behaupten,  daß  Epilepsie  vorliege.  Es  könne 
sich  auch  bei  den  Erampfanfällen  um  Reizzustände  infolge  von  Alkoho- 
lismus gehandelt  haben.  Die  von  den  Zeugen  geschilderten  Anfälle 
entsprechen  ja  ziemlich  dem  Bilde  der  Epilepsie,  aber  es  handle  sich 
um  die  Beobachtung  von  Laien,  da  sei  immerhin  ein  Irrtum  möglich. 
Ein  Dämmerzustand  würde  aber  der  Umgebung  aufgefallen  sein.  Die 
von  den  Zeugen  bekundeten  Vorgänge  fallen  durchaus  nicht  sämtlich 
in  den  Bahmen  des  Dämmerzustandes.  Denn  es  ist  auffällig,  daß  der 
Angeklagte  sich  verschiedener  Umstände  erinnert,  anderer  Umstände 
aber,  die  ihm  ungünstig  sind,  sich  nicht  erinnert.  Alles  dies  lasse 
ihn  schwer  dazu  kommen,  einen  Dämmerzustand  zur  Zeit  der  Tat 
anzunehmen.  Auch  die  Alkoholwirkung  möchte  er  relativ  recht  gering 
anschlagen.  Der  Angeklagte  habe  am  Nachmittag  höchstens  174  Liter 
Schnaps  getrunken;  in  Anbetracht  dessen  aber,  was  er  vertrage,  könne 
dies  nicht  als  übermäßig  großes  Quantum  gelten.  Es  sei  also  kein 
genügender  Grund  vorhanden,  einen  epileptischen  Dämmerzustand  an- 
zunehmen." —  Wie  die  Berliner  Blätter  melden,  lautete  das  Urteil  gegen 
Galbierisch  auf  Todesstrafe. 


XVII. 

Einige  merkwürdige  Fälle  von  Irrtum  über  die  Identit&t 

von  Sachen  oder  Personen. 

Von 

Dr.  Albert  Hellwlg. 


Schon  des  öftern  sind  in  diesen  Blättern  Fälle  mitgeteilt  worden, 
wo  Zeugen  sich  unglaublich  geirrt  hatten.  Daß  aber  ein  Mann  eine 
fremde  Frau,  die  mit  seiner  eigenen  gar  keine  Ähnlichkeit  hat^  für 
seine  eigene  hält,  dürfte  doch  selten  vorkommen.  In  emem  kleinen 
Lokalblatt  fand  ich  folgende  Notiz:  ^ 

„Braunschweig, 22.  November.  Daß  jemand  seine  eigene  Frau 
nicht  erkennt,  ein  gewiß  seltener  Fall,  ereignete  sich  am  Sonnabend 
hier.  Ein  an  der  Eisenbüttelerstraße  wohnender  Straßenbahnführer 
hatte  am  Sonnabend  Abend  mit  seiner  Frau  einen  ehelichen  Zwist, 
der  damit  endigte,  daß  die  Frau  erregt  das  Zimmer  verließ.  Nach 
kurzer  Zeit  hört  der  Zurückgebliebene  im  Garten,  der  nach  der  Oker 
führt,  Lärm.  Als  er  aus  dem  Hause  trat,  vernahm  er,  daß  eben  eine 
Frau  in  den  Fluß  gesprungen  und  ertrunken  sei.  Inzwischen  hatte 
Herr  Restaurateur  Kaselitz  die  Selbstmörderin  an  Land  geschafft  und 
Wiederbelebungsversuche  gemacht,  die  aber  vergeblich  waren.  Als 
der  Straßenbahnführer  von  dem  Selbstmord  der  Frau  hörte,  glaubte 
er  fest,  es  sei  seine  Frau,  die  in  der  Erregung  in  das  Wasser  ge- 
sprungen sei.  Er  trat  an  die  Leiche  heran  und  vermeinte,  die  Tote 
als  seine  Frau  zu  erkennen.  Auch  auf  Befragen  eines  herbeigerufenen 
Polizeibeamten  gab  er  seiner  Ansicht  bestimmten  Ausdruck.  Er  zog 
der  Toten  den  Trauring  ab  und  nahm  das  Geld,  das  sie  in  der  Tasche 
trug,  an  sich.  Nachdem  die  Leiche  im  Ciss6eschen  Leichenwagen 
in  das  Herzogl.  Krankenhaus  geschafft  war,  trat  der  betrübte  Straßen- 
bahnführer wieder  in  seine  Wohnung  und  suchte  nach  kurzer  Zeit 
die  Kammer  auf,  um  sich  zur  Buhe  zu  begeben,  soweit  sein  erregter 

1)  nlntelligenzblatt**,  Wittenberge,  24.  November  1904. 


Eimge  merkwürdige  Fälle  v.  Irrtum  über  die  Identität  v.  Sachen  od.  Personen.   853 

ZuBtand  eine  solche  zuließ.  Da,  was  war  denn  das?  Er  glaubte  zu 
träumen,  denn  im  Bette  seiner  Frau  regte  es  sich.  Er  stttrzt  hinzu 
und  findet  —  seine  Frau  lebend.  Die  Tote  war  eine  fremde  Frau, 
deren  Namen  noch  nicht  festgestellt  ist'' 

Ich  bat  darauf  Herrn  Bestaurateur  Easelitz  unter  Übersendung 
jenes  Zeitungsausschnittes  um  gütige  Mitteilung,  ob  sich  der  Vorfall 
in  der  Tat  so  wie  geschildert  zugetragen  habe.  Herr  Easelitz  war 
so  liebenswürdig,  mir  einen  ausführlichen  Bericht,  sogar  mit  einem 
Situationsplan,  zu  schicken.  Der  Bericht  enthält  viele  interessante 
Einzelheiten,  welche  es  als  angebracht  erscheinen  lassen,  ihn  hier 
ausführlich  wiederzugeben,  trotzdem  die  Angaben  jener  Zeitungsnach- 
richt im  Großen  und  Ganzen  durch  ihn  nur  bestätigt  werdefn.  Die 
Zeitungsnotiz  habe  ich  aber  auch  wörtlich  angeführt,  weil  ich  gleich- 
zeitig einen  Beitrag  geben  wollte  zu  der  von  mir  schon  wiederholt 
berührten  Frage,  welchen  Wert  Zeitungsnachrichten  für  den  Krimi- 
nalisten haben,  worüber  ich  demnächst  ausführlicher  zu  handeln  gedenke. 

An  dem  fraglichen  Abend  befand  sich  Herr  Easelitz  mit  ver- 
schiedenen Stammgästen  in  gemütlicher  Stimmung  in  seinem  Lokal, 
als  gegen  1 1  ühr  abends  zwei  Straßenbahnschaffner  eintraten  mit  der 
Bitte,  doch  schnell  mit  dem  Kahne  zu  kommen,  es  hätte  sich  eben 
vor  ihren  Augen  eine  Frau  ins  Wasser  gestürzt  Schleunigst  eilten 
sie  durch  den  Bestaurationsgarten  und  bestiegen  ein  Boot.  Ehe  sie 
zur  Unfallstätte  kamen  und  die  Leiche  auffischen  konnten,  vergingen 
immerhin  einige  Minuten.  Mittlerweile  waren  die  beiden  Schaffner 
zu  dem  Bewohner  des  Grundstücks  gegangen,  von  dem  aus  sich  die 
Frau  ins  Wasser  gestürzt.  Dies  war  ein  gewisser  Straßenbahnführer 
Kirstein,  der  auch  mit  Flaschenbier,  Viktualien  u.  s.  w.  einen  kleinen 
Handel  treibt  Die  beiden  Schaffner  machten  ihm  Mitteilung  davon, 
daß  sich  soeben  ca.  20  m  von  seinem  Grundstück  eine  Frau  ins 
Wasser  gestürzt  hätte  und  ertrunken  wäre. 

Zufälligerweise  hatte  nun  Kirstein  kurz  vorher  mit  seiner  Frau 
sehr  heftige  Differenzen  gehabt.  Die  Frau  hatte  sich  daher  in  ihr 
Schlafzimmer  zurückgezogen  und  soll  sich  so  aufgeregt  haben,  daß 
sie  in  Krämpfe  verfiel.  Wenigstens  behauptet  sie  das  und  will  damit 
erklären,  daß  sie  von  dem,  was  in  den  nächsten  Minuten  vor  sich 
ging,  nichts  gehört  haben ;  dann  will  sie  vor  Müdigkeit  in  Schlaf  ver- 
sunken sein  und  so  von  den  lärmenden  Szenen,  die  sich  in  den 
nächsten  Stunden  abspielten,  nicht  das  mindeste  wahrgenommen  haben. 
Doch  ist  dies  ja  auch  nur  nebensächlich:  Wichtig  ist  nur,  daß  der 
Streit  der  Eheleute  ungewöhnlich  heftig  gewesen  war,  und  daß  die 
Frau  in  größter  Aufregung  von  ihrem  Mann  weggegangen  war. 

Archiv  für  Krimi nalanthropologie.    27.  Bd.  23 


354  XVn.  Hellwig 

Als  Kirstein  daher  von  den  beiden  Schaffnern  von  dem  Selbst- 
morde einer  Frau  bei  seinem  Grundstücke  hörte,  war  er  von  vorn- 
herein fest  überzeugt,  seine  Frau  habe  sich  in  der  ersten  heftigen 
Aufwallung  das  Leben  genommen.  Hierdurch  wurde  er  aufs  hef- 
tigste erschüttert,  nahm  die  Tischlampe,  deren  Kuppel  er  in  seiner 
Aufregung  entzwei  machte,  und  eilte  mit  den  beiden  Leuten  in  den 
Garten.  Schon  dort  glaubte  er  beim  Scheine  der  Lampe  in  der  mitt- 
lerweile ans  Ufer  gebrachten  Leiche  seine  Frau  wiederzuerkennen, 
weinte  laut  und  war  ganz  außer  Fassung.  Unterdessen  waren  auch 
sein  Bruder  und  seine  Schwester,  die  mit  ihm  im  selben  Hause 
wohnten,  durch  den  Lärm  herbeigelockt,  heruntergekommen.  Mit 
ihrer  Hülfe  wurde  die  Leiche  in  das  Zimmer  getragen.  Dort  wurden 
Wiederbelebungsversuche  gemacht^  aber  vergeblich.  Kirstein  befand 
sich  in  einer  furchtbaren  Aufregung,  er  jammerte  fortwährend  laut, 
leuchtete  der  Leiche  ins  Gesicht  und  schrie  in  einem  fort:  „Ach, 
Emma,  das  durftest  du  doch  nicht  machen!^'  Unterdessen  war  die 
Polizei  von  dem  Vorfall  benachrichtigt  worden.  Gegen  2  Uhr  nachts 
kam  der  Wagen,  um  die  Leiche  abzuholen.  Auf  Anraten  der  Be- 
amten und  Geschwister  zog  Kirstein  der  Frau  den  Trauring  ab  und 
nahm  das  wenige  Kleingeld,  das  sich  in  der  Tasche  der  Ertnmkenen 
vorfand,  an  sich.    Sein  Jammern  hörte  nicht  auf. 

Mit  der  Zeit  legte  sich  doch  die  heftigste  Aufregung,  so  daß  sich 
die  drei  Geschwister  die  nötigsten  Maßnahmen  überlegen  konnten. 
Kirstein  meldete  sich  für  den  nächsten  Tag  vom  Dienst  ab,  beschloß 
am  frühen  Morgen  an  die  Eltern  zu  telegraphieren  u.  s.  w.  Plötzlich 
fiel  ihm  ein,  seine  Frau  müsse  doch  entschieden  mehr  Geld  bei  sieh 
gehabt  haben  als  die  paar  Pfennige,  die  sich  in  den  Taschen  der 
Leiche  gefunden  hatten.  Die  Schwester  meinte,  Frau  Kirstein  hätte 
das  Geld  vielleicht  in  der  Tasche  eines  anderen  Kleides  gehabt  oder 
habe  sich  vor  der  verhängnisvollen  Tat  erst  umgezogen.  Kirstein  be- 
gab sich  darauf  in  das  Schlafzimmer  und  suchte  nach  den  Kleidern 
seiner  Frau.  Da  er  nicht  mehr  recht  wußte,  welches  Kleid  seine 
Frau  am  Tage  angehabt  hatte,  rief  er  seinen  Geschwistern,  die  in  der 
Wohnstube  geblieben  waren,  zu:  „Was  hat  sie  denn  angehabt?"  Zu 
Tode  erschrocken  war  er,  als  er  plötzlich  dicht  neben  sich  von  dem 
Bette  seiner  Frau  eine  Stimme  hörte,  die  der  seiner  Frau  aufs  Haar 
glich  und  sagte:  „Was  ich  angehabt  habe,  hängt  da!"  Wie  vom 
Blitze  getroffen,  prallte  Kirstein  zurück  und  stürzte  ins  Wohnzimmer 
mit  den  Worten:  „Jetzt  glaube  ich  an  Gott,  soeben  ist  Emma  als 
Geist  in  der  Kammer!''  Nun  wagte  sich  keiner  mehr  ins  Schlaf- 
gemach;  das  beklemmende  Gefühl,  das  sich  aller  bemächtigt  hatte» 


Einige  merkwürdige  Fälle  v.  Irrtum  über  die  Identität  v.  Sachen  od.  Per&onen.  355 

wich  erst,  als  bald  darauf  Frau  Kirstein  wohlbehalten  in  eigener 
Person  erschien.  Der  Gedanke,  daß  die  Tote  nicht  Eirsteins  Frau 
gewesen  sein  könne  und  daß  sich  so  die  angebliche  Geistesstimme 
auf  sehr  natürliche  Weise  erklären  lasse,   war  niemand  gekommen. 

Soweit  der  interessante  Bericht  über  den  fraglichen  Vorgang. 
Was  den  Irrtum  Kirsteins  ganz  besonders  wichtig  macht,  ist,  daß 
¥nn  Kirstein  und  die  Frauenleiche  keine  Spur  von  Ähnlichkeit  mit- 
einander haben.  Auffallen  mußte  schon,  daß  sie  ganz  andere  Kleidung 
und  Schuhe  trug.  Femer  ist  Frau  Kirstein  blond,  die  Leiche  dagegen 
dunkel,  auch  war  die  Selbstmörderin  augenscheinlich  korpulenter  und 
älter  als  Frau  Kirstein.  Auch  in  den  Gesichtszügen  bestand  keinerlei 
Ähnlichkeit. 

Und  doch  hat  der  eigene  Ehemann  die  Tote  nicht  nur  im  Garten 
beim  Lampenschein  für  seine  Frau  gehalten,  sondern  auch  während 
dreier  Stunden  bei  heller  Beleuchtung  —  er  leuchtete  der  Leiche 
öfters  ins  Gesicht  —  den  Irrtum  nicht  gemerkt,  hat  der  Leiche  den 
Trauring  vom  Finger  gezogen,  der  doch  andere  Buchstaben  trug,  hat 
ihr  das  Geld  aus  der  Tasche  genommen  und  sich  nicht  darüber  ge- 
wundert, daß  es  nur  ein  paar  Pfennige  waren,  hat  vielmehr  bis  zu- 
letzt fest  geglaubt,  daß  die  Tote  seine  Frau  wäre.  Auch  als  ihm  bei 
seinem  Nachdenken  über  die  Benachrichtigung,  Beerdigung  u.  s.  w., 
wobei  er  naturgemäß  an  die  Kosten  denken  mußte,  einfiel,  daß  seine 
Frau  noch  eine  größere  Summe  gehabt  haben  müsse  und  daß  sich 
dieses  Geld  doch  irgendwo  vorfinden  müsse,  auch  da  kommt  er  nicht 
auf  den  Gedanken,  die  Tote  sei  garnicht  seine  Frau  gewesen.  Ja, 
was  noch  viel  wunderbarer  ist,  selbst  als  seine  Frau  ihn  anrief,  glaubt 
er,  der  sonst  anscheinend  nicht  allzu  gläubig  veranlagt  ist  —  ^Jetzt 
glaube  ich  an  Gott!^  —  einen  Geist  zu  hören,  stürzt  aus  dem  Schlaf- 
zimmer heraus  und  traut  sich  nicht  wieder  hinein,  da  ihm  auch  nicht 
einen  Augenblick  der  Gedanke  kommt,  seine  Frau  lebe  noch  und  er 
habe  sich  nur  geirrt,  als  er  die  Tote  für  seine  Frau  hielt.  Bei  Kirstein 
selber  ist  dieser  auffällige  Rekognitionsirrtum  noch  durch  seine  hoch- 
gradige Erregung  zu  erklären.  Seine  Frau  hat  nach  heftigstem  Streite 
das  Zimmer  verlassen;  kurz  darauf  wird  ihm  mitgeteilt,  daß  eine 
Frau  sich  soeben  vor  seinem  Grundstück  ertränkt  habe«  Daß  er  da 
auf  den  Gedanken  kam,  diese  Selbstmörderin  müsse  seine  Frau  sein, 
ist  nur  allzu  natürlich.  Als  er  draußen  beim  ungewissen  flackernden 
Lampenlicht,  von  dieser  Voreingenommenheit  schon  befangen,  die 
Leiche  sah,  setzte  sich  in  ihm  der  Gedanke,  daß  dies  seine  Frau  sei, 
unumstößlich  bei  ihm  fest.  Die  Möglichkeit  eines  Irrtums  kam  ihm 
keinen  Moment    Durch  diese  autosuggestive  hochgradige  Befangen- 

23* 


356  XVII.  Hellwig 

heit  ist  es  auch  erklärbar,  daß  Kirstein  auch  drinnen  in  der  Stube 
seinen  Irrtum  nicht  merkte,  trotzdem  er  stundenlang  bei  der  Leiche 
war,  mit  ihr  in  engste  Berührung  kam,  indem  er  Wiederbelebungs- 
versuche machte,  die  Leiche  aufs  genaueste  betrachtete,  indem  er  ihr 
mit  der  Lampe  ins  Gesicht  leuchtete.  Vielleicht  sah  er  wohl  rein 
körperlich  die  großen  Verschiedenheiten  in  Körpergestalt,  Gesichts- 
zügen, Haarfarbe  und  Bekleidung  —  darauf  scheint  zu  deuten,  daß 
er  der  Leiche  offen  ins  Gesicht  leuchtete  — ,  aber  er  nahm  sie  nur 
wahr,  ohne  sich  ihrer  bewußt  zu  werden.  Er  war  fest  überzeugt  da- 
von, die  Tote  sei  seine  Frau  und  übertrug  nun  die  ihm  bekannten 
Züge  seiner  Frau  auf  die  Leiche,  so  daß  er  in  der  Tat  seine  Frau 
zu  sehen  glaubte.  Es  handelt  sich  also  um  eine  duch  Autosuggestion 
hervorgerufene  Illusion.  Für  die  Stärke  dieser  Illusion  autosuggestiven 
Charakters  ist  ganz  besonders  bezeichnend,  daß  sie  selbst  der  Geister- 
stimme stand  hielt:  Eher  hielt  der  sonst  nicht  leichtgläubige  Kirstein 
die  Stimme  für  die  Stimme  des  Geistes  seiner  Frau  als  für  die  seiner 
Frau  selber.  Ein  solcher  Grad  von  autosuggestiver  Illusion  ist  zwar 
ungewöhnlich,  läßt  sich  aber  durch  die  Stärke  der  Autosuggestion, 
die  in  den  ganzen  Umständen  begründet  war,  immerhin  erklären. 
Schier  unglaublich  aber  klingt  es,  wenn  es  nicht  so  sicher  be- 
zeugt wäre,  daß  auch  die  minder  stark  an  dem  Ereignis  Beteiligten, 
nämlich  Kirsteins  Geschwister,  und  die  wenig  beteiligten  Dritten,  die 
doch  offenbar  auch  die  Verstorbene  kannten,  die  ganze  Zeit  sich  in 
demselben  Irrtum  befunden  haben.  Eine  gewisse  Disposition  war 
allerdings  bei  allen  Beteiligten  vorhanden:  Bei  den  Geschwistern 
Kirstein,  weil  sie  diesen  kannten,  bei  den  andern,  weil  die  Frau  sich 
bei  Kirsteins  Grundstück  ertränkt  hatte,  weshalb  sie  zunächst  an- 
nahmen, die  Frau  gehöre  dorthin;  aus  diesem  Grunde  begaben  sich 
ja  auch  die  beiden  Kollegen  des  Kirstein  gleich  zu  ihm  und  machten 
ihm  von  dem  traurigen  Funde  Mitteilung.  Auch  ist  es  durchaus  ver- 
ständlich, daß  alle  Beteiligten  zunächst  der  Überzeugung  waren,  es 
handle  sich  in  der  Tat  um  Frau  Kirstein,  da  sie  ja  die  feste  Über- 
zeugung Kirsteins  sahen,  der  doch  seine  Frau  am  besten  kennen 
mußte.  Merkwürdig  aber»  ist,  daß  diese  Suggestivvorstellung  auch 
bei  ihnen  so  stark  war,  daß  sie  auch  später  die  auffallenden  Ver- 
schiedenheiten nicht  bemerkten,  ja  selbst  an  die  Erscheinung  des 
Geistes  der  Frau  glaubten  und  sich  nicht  ins  Schlafzimmer  herein- 
trauten, ebensowenig  wie  der  Ehemann  selber.  Dieser  vollkommen 
verbürgte  Fall  zeigt,  in  wie  hohem  Grade  autosuggestive  und 
suggestive  Wahnvorstellungen  die  Wahrnehmungsfähigkeit  trüben 
können. 


Einige  merkwürdige  Fälle  v.  Irrtum  über  die  Identität  v.  Sachen  od.  Pei-sonen.    357 

Derartige  erstaunliche  Fälle  von  Irrtum  über  die  Identität  einer 
Person  kommen  häufiger  vor.  So  stand  in  der  Zeitschrift  „Das  Neue 
Blatt"  (1904,  Nr.  50),  die  ihre  Notiz  wiederum  dem  „Leipziger  Tage- 
blatt" entnommen  hatte,  vor  nicht  langer  Zeit  ungefähr  folgendes  zu 
lesen.  Im  August  1904  war  der  vierundzwanzigjährige  Sohn  eines 
wohlhabenden  Fabrikanten  Fr.  aus  Sachsen  bei  einem  Geschäftsmann 
(Bleicher)  in  der  Steckshoperstraße  in  Hamburg  in  Stellung.  Der 
junge  Mann  war  auf  die  abschüssige  Bahn  geraten,  hatte  schon 
mehrere  Straftaten  verübt  und  machte  sich  auch  seinem  Prinzipal 
gegenüber  der  Unterschlagung  schuldig.  Er  flüchtete  und  schrieb 
an  den  Bleicher,  er  werde  sich  im  Falle  einer  Anzeige  erschießen. 
In  der  Nacht  vom  25.  zum  26.  August  wurde  nun  ein  junger  Mann 
in  der  Hudtwalkerstraße  bei  einem  Einbruch  bei  der  Witwe  Zimmer- 
mann ertappt  und  verfolgt.  Als  er  sah,  daß  es  für  ihn  kein  Ent- 
rinnen mehr  gab,  erschoß  er  sich  auf  der  Flucht.  In  seiner  Tasche 
wurde  ein  Zettel  mit  den  Worten  gefunden:  „Ich  heiße  Moriturus. 
Forscht  nicht  nach  mir!"  Durch  angestellte  Erkundigungen  und 
namentlich  durch  die  bestimmte  Aussage  des  Bleichers  und  anderer 
Personen,  die  mit  Fr.  verkehrt  hatten,  wurde  der  Erschossene  als 
jener  Fr.  erkannt  Auch  die  bei  dieser  Leiche  gelegenen  Sachen 
wurden  von  diesen  Personen  als  dem  Fr.  gehörig  bezeichnet.  Durch 
diese  Erklärungen  wurde  die  Polizeibehörde  genugsam  überzeugt,  daß 
man  es  in  der  Tat  mit  Fr.  zu  tun  habe,  und  ließ  die  Leiche  beer- 
digen. Der  Vater  des  Fr.  wurde  von  der  Polizei  von  dem  Vor- 
gefallenen benachrichtigt.  Da  der  Vater  auf  die  bei  der  Leiche  ge- 
fundenen Sachen  verzichtete,  wurden  sie  vernichtet.  Nach  einigen 
Wochen  tauchte  nun  aber  plötzlich  der  wirkliche  Fr.  wieder  auf. 
Man  hatte  also  einen  gänzlich  unbekannten  Menschen  als  den  Sohn 
des  sächsischen  Fabrikanten  rekognosziert  und  beerdigt.  Der  wirk- 
liche Fr.,  der  sich  zur  Zeit  des  Einbruchs  und  des  Selbstmordes 
des  Unbekannten  außerhalb  Hamburgs  befand,  hatte  sich  in  ver- 
schiedenen Städten  verborgen  gehalten,  bis  er  in  Bremen  bei  einem 
Einbruch  erwischt  wurde.  Bei  der  gegen  ihn  eingeleiteten  Unter- 
suchung kam  auch  die  Unterschlagung  bei  seinem  früheren  Prinzipal, 
dem  Bleicher  in  Hamburg,  zur  Sprache.  Nachdem  er  in  Bremen 
seine  Strafe  verbüßt  hatte,  wurde  er  nach  Hamburg  transportiert* 
Gegen  Ende  des  Jahres  fand  auch  dort  die  gerichtliche  Verhandlung 
gegen  ihn  statt,  und  der  Bleicher,  der  als  Hauptzeuge  geladen  war, 
konnte  sich  überzeugen,  daß  er  sich  bei  der  Ermittelung  der  Persön- 
lichkeit des  erschossenen  Einbrechers  gründlich  geirrt  hatte.  Eine 
Ermittelung  der  Persönlichkeit  des  Erschossenen  dürfte  jetzt  nur  noch 


358  XVII,  Hellwio 

durch  einen  Zufall  möglich  sein,  da  ja  alle  Erkennungszeichen,  wie 
Kleidungsstücke  usw.,  vernichtet  sind. 

Auch  dieser  Fall  kann  als  durchaus  feststehend  erachtet  werden, 
wenngleich  ich  ihn  weder  aktenmäßig,  noch  durch  Darstellung  eines 
Augenzeugen  erweisen  kann.  Ich  wandte  mich  unter  Darstellung 
des  Sachverhalts  an  die  Hamburger  Polizeibehörde  mit  der  Bitte,  mir 
womöglich  die  Akten  zu  übersenden.  Diesem  Wunsche  konnte  freilich 
nicht  entsprochen  werden,  da  die  Hamburger  Polizeibehörde  grund- 
sätzlich an  Privatpersonen  keine  Akten  abgibt.  Der  Abteilungsvor- 
stand der  Abteilung  V  (Wohlfahrtspolizei),  Rat  Dr.  Stürken,  war  aber 
gleichzeitig  so  liebenswürdig  mir  mitzuteilen,  daß  die  gegebene  Schil- 
derung in  allen  wesentlichen  Einzelheiten  den  Tatsachen  entspreche. 
Ich  hätte  mich  nun  ja  noch  an  das  Hamburger  Gericht  wenden 
können,  doch  versuchte  ich  das  gar  nicht,  einmal  weil  mir  der  Name 
des  Verurteilten  nicht  bekannt  ist,  dann  auch  weil  ich  nicht  erwarten 
konnte,  irgend  etwas  wesentlich  Neues  zu  erfahren. 

Von  Interesse  wäre  es  gewesen  zu  erfahren,  ob  die  Person  des 
Selbstmörders  und  die  des  jungen  Fr.  einander  auffallend  ähnlich 
waren  oder  ob  sie  einander  so  wenig  glichen,  daß  sie  bei  nicht 
voreingenommener  Betrachtung  unterschieden  werden  mußten;  dann 
welche  Gegenstände,  die  bei  der  Leiche  gefunden  waren,  von  dem 
Bleicher  und  anderen  Personen  als  dem  Fr.  gehörig  rekognisziert 
wurden,  und  ob  diese  Gegenstände  überall  vorhandene  Fabrikware 
waren  oder  irgend  welche  charakteristischen  Merkmale  aufzuweisen 
hatten;  endlich,  welche  Personen  außer  dem  Bleicher  den  Fr.  rekog- 
nosziert haben  und  wie  weit  sie  ihn  kannten. 

Doch  auch  so  ist  der  Fall  schon  interessant  genug,  besonders 
deshalb,  weil  es  sich  hier  nicht  wie  im  vorigen  Falle  um  einen  in 
großer  Aufregung  begangenen  Irrtum  bei  der  Rekognition  handelt 
sondern  um  eine  Rekognition  psychisch  nicht  näher  mit  dem  Be- 
treffenden in  Verbindung  stehender  Personen,  denen  es  im  Grunde 
genommen  gleichgültig  sein  konnte,  ob  derjenige,  dessen  Identität  sie 
feststellen  sollten,  X.  oder  Y.  war.  Mit  einer  gewissen  Voreingenom- 
menheit werden  auch  der  Bleicher  und  die  anderen  an  die  Rekog- 
nition herangegangen  sein.  Hierzu  wird  besonders  beigetragen  haben 
der  Brief  an  den  Bleicher,  in  dem  Fr.  drohte,  sich  bei  Entdeckung 
zu  erschießen.  Sollte  nicht  eine  sehr  große  Ähnlichkeit  des  Selbst- 
mörders mit  Fr.  gegeben  sein,  so  bliebe  der  Irrtum  mehrerer  ruhiger 
Personen-  immerhin  noch  sehr  merkwürdig. 

Aber  selbst  unter  der  Annahme,  daß  Fr.  und  der  Selbstmörder 
einander  ähnlich  waren  —  zu  beachten  ist  noch,  daß  zwischen  dem 


Einige  merkwürdige  Fälle  v.  Irrtom  über  die  Identität  v.  Sachen  od.  Personen.   359 

Verschwinden  des  Fr.  und  der  Rekognition  des  Selbstmörders  nur 
wenige  Wochen  liegen  —  bliebe  noch  als  sonderbares  Faktum  be- 
stehen die  gleichzeitige  Rekognition  der  Sachen  des  Selbstmörders 
als  diejenigen  des  Fr.  Es  wird  doch  wohl  kaum  anzunehmen  sein, 
daß  auch  diese  einander  auffallend  ähnlich  gewesen  seien.  Mag  dies 
selbst  bei  dem  einen  oder  anderen  Stück,  so  z.  B.  bei  einem  Taschen- 
messer als  einer  Fabrikware,  der  Fall  gewesen  sein,  so  wird  der 
Selbstmörder  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  auch  Sachen  gehabt  haben, 
in  denen  er  sich  auffällig  von  dem  Fr.  unterschied,  z.  B.  Kleidungs- 
stücke. Weniger  sonderbar  erscheint  uns  aber  das  Faktum,  wenn 
wir  einmal  selber  in  Gedanken  versuchen  festzustellen,  welche  Farbe 
der  Anzug  von  Leuten  hat,  mit  denen  wir  tagtäglich  des  öfteren  in 
Berührung  kommen,  z.  B.  eines  Kollegen  oder  unseres  Wirtes  oder 
Wirtin.  Wenn  die  betreffenden  Kleidungsstücke  nicht  gerade  eine 
ganz  auffällige  Form  oder  Farbe  haben,  werden  wir  im  allgemeinen 
über  einen  allgemeinen  Eindruck  über  die  Farbe  nicht  herauskommen. 
Verständlich  ist  es  daher,  daß  jemand,  der  denjenigen,  den  er  iden- 
tifizieren soll,  seit  mehreren  Wochen  nicht  gesehen  hat,  die  Kleidungs- 
stücke der  betreffenden  Person  ohne  weiteres  als  demjenigen  ge- 
hörend anerkennen  wird,  für  den  er  das  Objekt  der  Rekognition  hält, 
es  sei  denn,  daß  entweder  die  Kleidung  der  Leiche  usw.  oder  dessen 
mit  dem  sie  der  Betreffende  verwechselt  hat,  besonders  auffallende 
Eigentümlichkeiten  habe.  Diese  Überlegung  zeigt,  wie  vorsichtig 
man  bei  der  Rekognition  namentlich  auch  von  Sachen  sein  muß. 
Es  können  dabei  optima  fide  die  haarsträubendsten  Irrtümer  vor- 
kommen, namentlich  wenn  noch  der  Einfluß  der  Zeit  hinzukommt. 
Es  wird  sich  daher  stets  empfehlen,  bevor  man  die  Gegenstände  zur 
Rekognoszierung  vorlegt,  ihre  möglichst  genaue  Beschreibung  von 
dem  Zeugen  zu  verlangen.  Dabei  muß  man  sich  natürlich  davor 
hüten,  in  den  entgegengesetzten  Fehler  zu  verfallen,  bei  jeder  nicht 
ganz  geringfügigen  Differenz  zwischen  Beschreibung  der  Sache  durch 
den  Zeugen  und  ihrem  wirklichen  Aussehen  die  Identifikation  als 
mißlungen  zu  betrachten,  da  das  Gedächtnis  des  Zeugen  vielfach  auch 
nicht  mehr  einwandfrei  produzieren  wird. 

Jetzt  will  ich  einen  in  anderer  Hinsicht  nicht  minder  interes- 
santen Fall  mitteilen,  für  den  mir  nicht  weniger  als  drei  verschiedene 
Quellen  zu  Gebote  stehen,  nämlich  ein  Zeitungsbericht,  eine  beglaubigte 
Abschrift  des  gerichtlichen  Urteils,  sowie  einige  briefliche  Mitteilungen 
des  in  dieser  Sache  als  Verteidiger  fungierenden  Rechtsanwaltes. 

Was  zunächst  die  Zeitungsnotiz  anbelangt,  so  stand  am  23.  Sep- 
tember 1904  im  „Berliner  Lokal-Anzeiger"  folgendes  zu  lesen: 


360  XVIL  Hellwig 

„Der  Doppelgänger.  Wie  man  sich  beim  Wiedererkennen  von 
Personen  täuschen  kann,  zeigte  ein  gestern  vor  dem  Schöffengericht 
verhandelter  Betrugsfall.  Ein  Mann  namens  Wiese,  der  seit  Jahren 
in  einem  kaufmännischen  Geschäfte  tätig  ist,  wurde  eines  Abends  in 
einer  Restauration  in  der  Friedrichstraße  auf  Veranlassung  zweier 
Männer  verhaftet,  die  ihn  dort  zufällig  getroffen  hatten  und  behaup- 
teten, daß  er  gegen  sie  einen  Betrug  ausgeübt  habe.  Nach  ihren 
Angaben  sind  sie  eines  Abends  in  der  Friedrichstraße  von  einem 
Manne  angesprochen  worden,  der  ihnen  billige  Goldsachen  zum  Kaufe 
angeboten  habe.  Der  eine  Zeuge  habe  auch  einen  der  offerierten 
Gegenstände  gekauft;  es  habe  sich  aber  herausgestellt,  daß  dieser 
absolut  minderwertig  war.  Die  Zeugen  behaupteten  mit  aller  Be- 
stimmtheit, daß  der  Angeklagte  der  Verkäufer  gewesen  sei,  was  dieser 
ebenso  bestimmt  bestritt.  Er  wurde,  nachdem  er  längere  Zeit  auf  der 
Polizeiwache  hatte  zubringen  müssen,  wieder  entlassen;  aber  die  An- 
klage wegen  Betruges  wurde  erhoben.  Im  gestrigen  Termin  konnte 
sein  Verteidiger,  Rechtsanw.  Dr.  Löwenstein,  für  ihn  einen  ganz  un- 
anfechtbaren Alibibeweis  führen.  Der  Angeklagte  war  nämlich  zu 
seinem  Glücke  noch  im  Besitze  einer  Postkarte,  laut  deren  Inhalt  er 
daran  erinnert  wurde,  daß  er  zu  derselben  Stunde,  als  er  den  Be- 
trug ausgeübt  haben  sollte,  fernab  von  dem  Tatort  mit  einem  Herrn 
längere  Zeit  zusammengewesen  war.  Dieser  bestätigte  als  Zeuge, 
daß  Wiese  unmöglich  der  Täter  sein  könne.  Beide  Belastungs- 
zeugen blieben  dennoch  unter  ihrem  Eide  dabei,  daß  nach  ihrer  An- 
sicht jeder  Irrtum  in  der  Person  ausgeschlossen  sei.  Der  Gerichts- 
hof, der  die  volle  Unschuld  des  Angeklagten  für  dargetan  hielt,  kam 
bei  dieser  Sachlage  zu  dem  Schluß,  daß  letzterer  einen  Doppelgänger 
haben  müsse.  Er  sprach  den  Angeklagten  nicht  nur  frei,  sondern 
legte  auch  die  Kosten  der  Verteidigung  der  Staatskasse  zur  Last." 

Aus  dem  Urteile  des  Schöffengerichts  Berlin  vom  20.  September 
1904  (140  D.  862/04)  ergibt  sich  folgendes  Bild  der  Sachlage.  Am 
18.  Juli  1904  abends  gegen  8V2  Uhr  ging  der  Hausdiener  Hensel  die 
Mittelstraße  zu  Berlin  entlang.  Ein  unbekannter  Mann  bot  ihm  eine 
angeblich  wertvolle  Ubrkette  und  einen  Bing  zum  Kaufe  an.  Beide 
gingen  hierauf  wieder  die  Mittelstraße  zurück  und  verhandelten  über 
den  Ankauf.  An  der  Ecke  der  Neustädtischen  Kirchstraße  trat  ein 
zweiter  junger  Mann  an  beide  heran  und  fragte  nach  dem  Wege 
nach  Schöneberg,  wobei  er  kurze  Zeit  stehen  blieb  und  erfuhr,  daß 
es  sich  um  den  Verkauf  der  Uhrkette  und  des  Ringes  handele.  Als 
dieser  junge  Mann  dem  Hensel  bestätigte,  daß  beide  Gegenstände 
wertvolle  Stücke  seien,   entschloß   sich  Hensel  zum  Kaufe  für  den 


Einige  merkwürdige  Fälle  v,  Irrtum  über  die  Identität  v.  Sachen  od.  Personen.    361 

Preis  von  6  Mark.  Später  stellte  sich  heraus,  daß  Kette  und  Eing 
fast  wertlos  waren.  In  der  Hauptverhandlung  haben  nun  die  Zeugen 
Hensel  und  Denner  den  Angeklagten  ,^mit  ziemlicher  Bestimmtheit'^ 
als  diejenige  Person  wiedererkennen  wollen,  welche  dem  Hensel  zu 
dem  Kaufe  zugeredet  hat.  Denner  hat  bei  dem  ganzen  Vorgang  in 
einiger  Entfernung  auf  der  Straße  gestanden.  Hensel  glaubt  sich  zu 
erinnern,  daß  der  betreffende  junge  Mann  damals  eine  weiße  Weste 
getragen  habe.  Dem  gegenüber  ist  jedoch  durch  die  eidliche  Aus- 
sage des  Zeugen  Bosenthal  erwiesen,  daß  der  Angeklagte  an  dem 
betreffenden  Abend  von  8  bis  10  Uhr  in  der  Elsässerstraße  und 
Brunnenstraße  mit  ihm  zusammengewesen  ist,  so  daß  auf  selten  des 
Hensel  und  Denner  eine  Personenverwechslnng  vorliegen  muß.  Dies 
ist  um  so  wahrscheinlicher,  als  dem  Angeklagten  von  seinem  Dienst- 
herm,  dem  Buchbinderraeister  Most,  das  denkbar  günstigste  Zeugnis 
ausgestellt  ist  und  ihm  daher  eine  solche  Tat  kaum  zuzutrauen  ist. 
Daß  die  Aussagen  des  Hensel  und  Denner,  insbesondere  die  des 
letzten,  mit  Vorsicht  aufzunehmen  sind,  erhellt  aus  seiner  weiteren  Be- 
kundung, der  Angekla^e  habe  ihm  bereits  einmal,  um  Ostern  1904, 
an  der  Spandauerbrücke  eine  Uhr  zum  Kauf  angeboten,  woraus 
sich  ergibt,  daß  der  Angeklagte  offenbar  das  Opfer  einer  Personen- 
verwechselung geworden  ist.  Daher  wurde  er  kostenlos  freigesprochen 
und  die  ihm  erwachsenen  notwendigen  Auslagen  der  Verteidigung  der 
Staatskasse  auferlegt. 

Aus  den  brieflichen  Mitteilungen  des  Kechtsanwaltes  Dr.  Löwen- 
stein ergeben  sich  einige  Modifikationen  dieses  Sachverhaltes.  Danach 
fand  die  ßekognition  durch  die  Zeugen  nicht  mit  „ziemlicher"  Be- 
stimmtheit statt,  vielmehr  bezeichneten  die  Zeugen  den  Angeklagten 
mit  voller  Bestimmtheit  als  den  Täter.  Auch  ist  im  Urteil  die  Art 
des  Alibibeweises  nur  unvollständig  angegeben.  Er  wurde  haupt- 
sächlich durch  eine  Postkarte  geführt,  die  der  Angeklagte  am  Tage 
nach  dem  Zusammentreffen  mit  dem  Zeugen  Bosenthal  an  diesen 
geschrieben  hatte  und  in  der  er  auf  das  Zusammentreffen  vom 
„gestrigen  Abend'*  Bezug  nimmt. 

Diese  Beispiele,  die  der  Praxis  von  neuem  zeigen,  wie  schwer 
eine  sichere  Kekognition  ist,  lassen  sich  noch  bedeutend  vermehren. 
Und  da  Rechtsanwalt  Löwenstein  so  gütig  war,  mir  zu  versprechen, 
mir  weiteres  üterarisch  verwertbares  Material  zur  Verfügung  zu  stellen, 
hoffe  ich  in  einiger  Zeit  auf  das  Thema  zurückkommen  zu  können« 


XVIII. 

Aus  dem  gerichtsärztlichen  Institut  und  dem  AIlerbeiligen-Hospital 

in  Breslau. 

Brinnerungstäuschung  in  Bezug  auf  den  Ort. 

Von 

Dr.  med.  Eugen  Jakobsohn, 

Assistenzarzt  am  Allerheiligen-Hospital  in  Breslau. 


Die  Reproduktion  von  Erinnerungsbildern  kann  durch  mannigfache 
krankhafte  Zustände  eine  Einbuße  erleiden.  Diese  erstreckt  sich  ent- 
weder nach  der  quantitativen  Seite  hin,  indem  für  umgrenzte  Zeit- 
abschnitte mehr  oder  minder  vollständige  Erinnerungslosigkeit  eintritt, 
oder  sie  ist  qualitativer  Art,  d.  h.  sie  ist  mit  inhaltlichen  Veränderungen 
des  Beproduzierten  verknüpft.  Neben  diesen  Störungen  des  Gedächt- 
nisses finden  sich  noch  recht  häufig  solche  in  der  zeitlichen,  sehr  selten 
in  der  örtlichen  Einordnung  der  Erinnerungsbilder.  Mit  letzterem  soll 
gesagt  werden,  daß  bei  fast  fehlender  quantitativer  wie  qualitativer 
Gedächtnisanomalie  nur  ein  sich  auf  die  örtlichen  Verhältnisse  be- 
ziehender Erinnerungsausfall  besteht. 

Eine  derartige  Erinnerungsentstellung,  allerdings  nicht  ganz  rein, 
sondern  kombiniert  mit  einer  Störung  auch  der  zeitlichen  Einordnung 
des  Erinnerungsbildes,  soll  in  Folgendem  geschildert  werden : 

Der  Fall,  um  den  es  sich  handelt,  betrifft  die  53  Jahr  alte 
Frau  M.  aus  Breslau.  In  der  Nacht  vom  21.  zum  22.  VII.  06,  ca. 
Val  Uhr,  wurde  die  M.  auf  der  Füllerinsel,  einem  von  einem  Holz- 
zaune umgebenen  Platz,  von  mehreren  jungen  Burschen  überfallen. 
Der  Holzzaun  hatte  eine  Tür,  die  abends  10  Uhr  verschlossen  wird. 
Nachts  ca.  7»^  Uhr  bat  die  Frau  vorübergehende  junge  Leute,  ihr 
herauszuhelfen.  Einige  von  ihnen  rissen  Latten  aus  dem  Zaune, 
stiegen  dann  hinüber  und  vergewaltigten  die  Frau  oder  leisteten  Bei- 
hilfe bei  diesem  Akt.  Die  Frau  schrie  und  bat  um  Schonung«  Ein 
in  der  Nähe  befindlicher  Schutzmann  hörte  den  Lärm  und  ging  an 
den  Ort  der  Tat.  Es  gelang  ihm,  von  den  fliehenden  Burschen  einen 
festzunehmen.    Die  anderen   wurden  im   Laufe   der  nächsten  Tage 


ErinneraDgstäaschuDg  in  Bezag  auf  deu  Ort.  363 

hinter  Schloß  und  Riegel  gebracht  Die  M.  war,  als  der  Schutzmann 
hinzakam,  bei  Besinnung.  Auf  dem  Heimweg  in  ihre  Wohnung  er- 
zählte sie  ihm,  daß  sie  von  ihrem  Aufenthalt  auf  der  FttUerinsel 
nichts  wisse,  auch  nicht,  wie  sie  dorthin  gekommen  sei.  „Ich  bin,^ 
so  sagte  sie,  ^abends  9  Uhr  in  völlig  nüchternem  Zustande  auf  die 
Straße  gegangen  und  habe  mich  auf  einer  Bank  auf  dem  Roßplatz 
(einem  ca.  5  Minuten  von  der  FttUerinsel  entfernten  Ort,)  hingesetzt 
Auf  dieser  Bank  bin  ich  gegen  10  Uhr  von  4  Burschen  vergewaltigt 
worden.  Einige  haben  mich  gehalten,  andere  das  Verbrechen  voll- 
führt Außerdem  habe  ich  eine  Reihe  heftiger  Schläge  gegen  Kopf, 
Brust  and  Bauch  erhalten.  Schließlich  verlor  ich  die  Besinnung. 
Ich  bleibe  dabei,  daß  sich  dieser  Vorgang  auf  dem  Roßplatz  abge- 
spielt hat^. 

Die  Frau  kam  dann  ins  Allerheiligen-Hospital  zu  Breslau,  wo 
sie  mehrere  Wochen  wegen  eines  Haematoms  der  rechten  Scheitel- 
region,  eines  linksseitigen  Rippenbruches  sowie  verschiedener  Eontusions- 
wunden  beider  Brustseiten,  des  Schambeines  und  der  Innenflächen 
der  Oberschenkel  behandelt  wurde.  Auch  hier  im  Hospital  und  nach 
der  Entlassung  bei  den  verschiedenen  Vernehmungen,  ferner  bei  der 
späteren  Nachuntersuchung  durch  den  Gerichtsarzt  hält  sie  die  Be- 
hauptung, daß  sich  die  Affaire  auf  dem  Roßpatz,  nicht  auf  der  Füller- 
insel abgespielt  habe,  aufrecht  und  erklärt  mit  aller  Entschiedenheit, 
sie  könne  sich  in  dieser  Angabe  nicht  irren. 

Im  November  1906  fand  die  Schwurgerichtsverhandlung  gegen 
die  Angeklagten  statt.  Fast  alle  waren  geständig,  das  Verbrechen 
entweder  selbst  ausgeführt  oder  Beihilfe  geleistet  zu  haben  und  zwar 
auf  der  Füllerinsel.  Soweit  wäre  also  der  Sachverhalt  sehr  einfach 
und  klar  gewesen,  hätte  nicht  die  M.  wiederum  die  bestimmte,  durch 
nichts  zu  ändernde  Aussage  abgegeben,  daß  sie  nicht  auf  die  Füller- 
insel, sondern  auf  dem  Roßplatz  genotzüchtigt  und  mißhandelt  sei; 
ja,  sie  wollte  sogar  genau  die  Bank  zeigen  können,  auf  der  die  An- 
griffe gegen  sie  vorgenommen  seien. 

Diese  Angabe  sollte  nun  im  Verlauf  der  Gerichtsverhandlung 
von  einer  nicht  zu  unterschätzenden  forensischen  Bedeutung  sein. 
Der  Staatsanwalt  erhob  die  Anklage  wegen  Notzucht,  Versuchs  der 
Notzucht  oder  Beihilfe  dazu,  außerdem  aber  auch  wegen  Mißhandlung. 
Letzteres  geschah  aus  folgendem  Grunde:  Es  stellte  sich  nämlich 
während  der  Verhandlung  heraus,  daß  Notzucht  im  Sinne  des  Gesetzes- 
paragraphen, d.  i.  Ausübung  des  außerehelichen  Beischlafes  unter 
Anwendung  von  Gewalt  und  unter  Überwindung  eines  Widerstandes, 
im  vorliegenden  Fall  evtl.  nicht  in  Betracht  komme,  weil  es  nicht 


364  XVm.  Jacobsohn 

klar  zu  Tage  trat^  daß  die  M.  —  eine  Potatrix  und  wenigstens  in 
den  früheren  Jahren  auch  puella  publica  —  wirklich  ernsthafte 
Gegenwehr  geleistet  hatte.  Der  Staatsanwalt  erklärte  daher  in  seiner 
Rede,  daß,  falls  die  Geschworenen  die  Frage  der  Notzucht  verneinen 
sollten,  sie  die  Angeklagten  der  Eörpermißhandlung  für  schuldig 
sprechen  müßten. 

Die  Verteidigung  suchte  nachzuweisen,  daß  Notzucht  gar  nicht 
vorliege ;  was  die  Eörpermißhandlung  anbeträfe,  so  sei  diese  natürlich 
nicht  zu  bestreiten,  aber  sie  könne  den  Angeklagten  mit  Bestimmtheit 
nicht  zur  Last  gelegt  werden. 

Die  Frau  M.  erkläre  immer  wieder,  daß  sie  auf  dem  Boßplatz 
überfallen  sei  Da  dürfe  man  sich  doch  nicht  ganz  der  Ansicht  ver- 
schliessen,  daß  an  demselben  Abend  zwei  Mal  ein  Gewaltakt  an  der 
Frau  M.  vollführt  worden  sei,  das  erste  Mal  auf  dem  Boßplatz,  das 
zweite  Mal  auf  der  Füllerinsel.  Die  nachgewiesenen  Verletzungen 
könnten  sehr  wohl  von  den  Attentätern  des  ersten  Schauplatzes  her- 
rühren. Daß  die  Frau  später  auf  der  Füllerinsel  gefunden  wurde, 
habe  seine  Erklärung  darin,  daß  die  Missetäter  ihr  Opfer,  das  durch 
den  ausgestandenen  Schreck  und  die  erlittenen  Mißhandlungen  be- 
sinnungslos geworden,  dorthin  geschleppt  hätten.  Dieses  alles  klinge 
zwar  sehr  abenteuerlich ;  die  Möglichkeit  jedoch,  daß  es  so  geschehen, 
sei  nicht  bestimmt  in  Abrede  zu  stellen,  und  da  die  Möglichkeit  vor- 
handen, müßten  die  Angeklagten  auch  wegen  der  ihnen  zur  Last  ge- 
legten Eörpermißhandlung  freigesprochen  werden. 

Die  Geschworenen  legten  anscheinend  auf  diese  Beweisführungen 
der  Verteidiger  kein  zu  großes  Gewicht ;  ihr  Urteil  lautete  gegen  zwei 
der  Angeklagten  auf  schuldig  des  Verstoßes  gegen  die  §§176  resp.  177, 
bei  den  anderen  auf  schuldig  der  ausgeführten  Eörpermißhandlung. 

Dier  Fall  ist  nach  zweierlei  Bichtung  von  Interesse.  Einmal 
zeigt  er  uns  einen  solitären  Gedächtnisdefekt,  der  sich  in  der  Haupt- 
sache auf  eine  Erinnerungsabweichung  in  bezug  auf  den  Ort  bezieht 
Zwar  ist  auch  die  zeitliche  Einordnung  des  Erinnerungsbildes  insofern 
nicht  ganz  richtig,  als  die  Frau  M.  die  Zeit,  in  der  das  Attentat  statt- 
fand, ca.  2V2  Stunden  zu  früh  angegeben  hat;  jedoch  das  eigentlich 
Hervorstechende  und  Charakteristische  an  diesem  Bilde  ist  die  Ver- 
legung eines  im  großen  und  ganzen  quantitativ  und  qualitativ  richtig 
reproduzierten  Gedächtnisbildes  an  einem  falschen  Ort 

Ais  Ursache  dieses  Erinnerungsdefektes  können  wir  in  der  Haupt- 
sache das  Eopftrauma  annehmen,  daß  die  Frau  M.  während  des  Über- 
falles erlitten  hat.  Dazu  kommt  dann  noch  eventuell  eine  vor  dem 
Attentat  bestandene  Alkoholwirkung.    Diese  wird  zwar  von  der  Frau 


Erinnerungstäuschung  in  Bezug  auf  den  Ort.  365 

an  dem  betreffenden  Abend  geleugnet;  allein  man  wird  sie  doch 
nicht  ganz  von  der  Hand  weisen  können,  weil  sich  die  Frau  nach- 
gewiesenermaßen dem  Alkoholgenuß  hingegeben  hat.  Rausch,  und 
Kopftrauma  können  aber  eine  derartige  Wirkung  auf  das  Erinnerungs- 
vermögen hervorrufen. 

Das  Zweite,  was  an  dem  Fall  interessiert,  sind  die  Folgen,  die 
aus  der  Aussage  der  Frau  M.  resultierten.  Dadurch,  daß  sie  immer 
wieder  bestimmt  behauptete,  die  Tat  sei  auf  dem  Roßplatz,  nicht  auf 
der  Füllerinsel  vorgenommen,  wurde  das  sonst  ganz  klar  und  einfach 
vorliegende  Beweismaterial  verdunkelt  und  kompliziert.  Die  Ver- 
teidigung suchte  die  M.'schen  Angaben  in  der  vorhin  erörterten  Weise 
zugunsten  der  Angeklagten  zu  verwerten. 

Zum  Schluß  ist  es  mir  eine  angenehme  Pflicht,  Herrn  Prof.  Lesser 
für  die  Anregung  zu  dieser  Veröffentlichung  meinen  verbindlichsten 
Dank  auszusprechen. 


Kleinere  Mitteilungen, 


Von  Medizinalrat  Dr.  P.  Näcke. 


1. 


Dr.  P.  Möbius.  In  memoriam.  Anfang  Jannar  1907  starb  im 
54.  Lebensjahre  der  bedeutende  Neurolog  und  Schriftsteller  P.  Möbins,  der 
auch  die  wundersame  Kunst  verstand,  gut  deutsch  und  allgemein  verständ- 
lich zu  schreiben.  Erst  studierte  er  Theologie,  dann  Medizin,  habilitierte 
sich  in  Leipzig  für  das  Fach  der  Nervenheilkunde,  trat  von  seinem  Amte 
aber  bald  zurück,  um  ganz  der  Praxis  und  seiner  Wissenschaft  zu 
leben  und  zu  sterben.  Er  litt  zuletzt  schwer  und  tapfer,  ließ  sich  aber 
nicht  ärztlich  behandeln,  lebte  überhaupt  einsam.  Seine .  ausgesprochene 
Misoygnie  (siehe  besonders  im:  „physiologischen  Schwachsinne  des  Weibes**) 
kam  wahrscheinlich  zum  guten  Teile  von  einer  traurigen  Ehe.  Er  hatte 
eine  ausgedehnte  Konsiliarpraxis  und  wurde  von  seinen  Patienten  vergöttert, 
während  er,  namentlich  in  seinen  Schriften,  oft  sehr  scharf  war  und  ver- 
letzte. Er  war  ein  großer  Gelehrter,  origineller  und  geistreicher  Sdirift- 
steller,  Denker  und  Pfadfinder,  der  freilich  auch  eigensinnig  gewisse  Rich- 
tungen verfolgte  (z.  B.  in  der  Wiederbelebung  der  GalPschen  Phrenologie, 
in  der  Feindschaft  gegen  die  experimentelle  Psychologie  etc.)  und  oft  die 
nötige  Kritik  vermissen  ließ.  Sein  Größtes  leistete^  er  in  seinem  Spezial- 
fächer der  Neurologie.  Er  war  kein  gelernter  Psychiater,  hielt  sich  aber 
für  einen  solchen  und  irrte  sich  daher  öfters.  Er  gab  viel  Anregungen 
allerlei  Art,  bekämpfte  den  Alkoholismus,  trat  für  die  Fechner'sche 
Philosophie  ein  und  wohl  nur  wenigen  Gebieten  war  er  fremd.  Eine  un- 
geheure Belesenheit  zeichnete  ihn  aus.  In  den  letzten  Jahren  gab  er  sich 
besonders  mit  den  sog.  ^^Pathographien'^,  d.  h.  dem  Aufsuchen  der  patho- 
logischen Momente  im  Leben  und  Wirken  großer  Männer  ab  und  war  da 
meist  glücklich.  So  haben  wir  von  ihm  Schriften  über  Göthe,  Nietsche, 
Rousseau,  Schopenhauer  etc.  Unendlich  viel  hätte  er  noch  geben  können! 
Freuen  wir  uns  aber  des  schon  Geleisteten  und  möchte  er  uns  in  vielem 
vorbildlich  sein  und  bleiben!  Titel  und  Orden  hatte  er  nicht,  aber  sicher 
wog  er  Hunderte  von  Inhabern  solcher  auf. 


Kleinere  Mitteilungen.  367 

2. 


Dr.  L.  Woltmann.  In  memoriam.  Anfang  Febr.  1907  ist  ein  be- 
deutender Denker,  Philosoph,  Sozio-  und  Anthropolog  elendiglich  beim  Baden  i) 
an  der  Riviera  gestorben:  Dr.  L.  Woltmann,  der  Gründer  der  ausgezeich- 
neten und  auch  an  dieser  Stelle  öfters  erwähnten  ^^Politsch-Anthropologischen 
Revue^y  die  jetzt  soeben  den  5.  Jahrgang  beendete.  Er  hat  darin  vor- 
treffliche Beiträge  und  scharfe  Kritiken  mit  leider  nicht  selten  persön- 
lichen Spitzen  geschrieben.  Seine  Hauptwerke  aber  sind  außer  früheren 
philosophischen  und  sozialen  Schriften:  die  Politische  Anthropologie  (1903), 
die  Germanen  und  -die  Renaissance  in  Italien  (1905)  und  Ende  vorigen 
Jahres:  die  Germanen  in  Frankreich.  Er  war  einer  der  Hauptbegründer 
und  Verbreiter  der  „Germanentheorie*',  d.  h.  daß  die  Germanen  nicht  nur 
im  Norden  Deutschlands;  Südschwedens  etc.  entstanden,  sondern^  daß  sie  auch 
die  Bifite  der  Arier  darstellten  und  als  solche  in  den  romanischen  Ländern, 
speziell  in  Frankreich,  Italien  und  Spanien  die  Hochkultur,  die  Renaissance 
geschaffen  haben.  Man  muß  sagen,  daß  er  seine  Thesen  wenigstens  sehr 
wahrscheinlich  zu  machen  verstand,  bei  seinem  weitem  Wissen,  scharfer  Kritik 
und  wissenschaftUcher  Methodik.  Wenn  die  Geschichte,  wie  kaum  zu  be- 
zweifeln steht,  sich  immer  mehr  vorwiegend  der  anthropo-biologischen  Be- 
trachtungsweise zuwenden  wird,  so  ist  dies  sicher  mit  sein  Verdienst  und 
zwar  ein  ganz  außerordentliches!  Überall  sonst  auch  focht  er  für  Wahr- 
heit und  licht  gegen  alle  Sorten  von  Dunkelmännern  und  er  führte  da- 
bei eine  scharfe  Klinge.  Wieder  wandte  sich  der  vielgereiste  Mann  seinem 
geliebten  Italien  zu,  um  neue  Studien  für  seine  Lieblingsideen  zu  machen, 
als  ihm  die  unerbittliche  Atropos  an  der  Eingangspforte  den  Lebensfaden 
absdinitt  Erwarberufen,  noch  viel  zu  leisten;  er  war  ein  Kenner  und 
Könner  ersten  Ranges!  Ehre  daher  seinem  Andenken,  das  uns  ein 
neuer  Antrieb  zum  steten  Forschen  und  Denken  sein  soll! 


3. 

Können  Augenblicks-Eindrücke  forensischen  Wert  haben? 
In  seinem  grausigen  Verbrecher-Roman  „La  b^te  humaine^',  der  eine  Fülle 
von  Verbrecher-Psychologie  enthält,  schildert  Zola  auch  folgenden  Vorgang. 
Ein  Lokomotivführer,  Jaques  Lautier,  streift  einmal  nachts  in  öder  Landschaft 
herum  und  findet  sich  am  Bahngeleise,  als  er  nach  leisem  Donner  aus  einem 
Tunnel  den  Pariser  Schnellzug  von  SO  km  Geschwindigkeit  heraustieten 
sieht.  Wie  ein  Blitz  fuhr  der  Zug  vorbei.  „Und  Jaques  (pag.  63)  sali 
sehr  genau  in  der  Viertelsekunde,  durch  die  flammenden  Fenster  eines 
Coupes  einen  Mann,  der  einen  anderen  auf  die  Bank  auf  den  Rücken  ge- 
legt festhielt  und  ihm  ein  Messer  in  die  Brust  stieß,  während  eine  schwarze 


1)  Mit  Entrüstung  weise  ich  die  vermutete  Möglichkeit  eines  Selbstmords 
bei  seiner  Lebensfreude,  seinem  Kampfesmute  und  seinem  Wissensdurste  zurück ! 
Er  hatte  einen  Herzfehler  und  ist  wohl  an  Herzschlag  gestorben. 


368  Kleinere  Mitteilungen. 

Masse,  vielleicht  eine  dritte  Person,  vielleicht  herabgefallenes  Gepäck,  mit 
aller  Gewalt  auf  die  gekrampften  Beine  des  Ermordeten  drückte.  . .  "  Er 
fnig  sich  gleich,  ob  er  richtig  gesehen  habe,  er  wagte  nicht  die  Wirklichkeit 
dieser  Vision  zu  behaupten.  „Nicht  ein  einzelner  Zug  der  zwei  handelnden 
Personen  des  Dramas  war  ihm  lebhaft  zurückgeblieben."  Er  glaubte  aber 
doch  am  Mörder  ein  schmales,  blasses  Gesicht  unter  dichtem  Haarwuchse 
zu  erkennen.  Bei  dem  Verhör  spielte  diese  Szene  natürlich  eine  Rolle. 
Lautier  erzählte  seine  Beobachtung  und  glaubte  bei  sich  plötzlich  in  dem 
mitanwesenden  Roubaud  den  Mörder  zu  sehen,  wie  es  auch  der  Fall  war. 
Später  ward  ihm  dies  sogar  zur  Gewißheit.  Noch  später  suggestioniert  er 
sich,  daß  die  herabfallende  Masse  eine  Reisedecke  war,  während  es  die  Frau 
Roubauds  gewesen  war,  die  auf  das  Opfer  niederkniete,  um  ihrem  Manne 
die  Mordtat  zu  erleichtern.  Es  fragt  sich  nun,  ob  Lautier  wirkhch  das  gesehen 
haben  kann.  In  tiefster  Nacht  rast  plötzlich  aus  einem  Tunnel  ein  Schnell- 
zug heran.  Das  plötzlich  auftauchende  Licht  müßte  wohl  jeden  blenden, 
weniger  allerdings  einen  Lokomotivführer,  der  an  solche  Lichteffekte 
gewöhnt  ist.  Ohne  besondere  Aufmerksamkeit  sieht  Lautier  die  hell- 
erleuchteten Fenster  der  Waggons  dahinfliegen  und  bemerkt  in  einem  Coupö 
obige  Szene,  in  vielleicht  V^  Sekunde.  Ist  dies  wohl  möglich,  wenn  man  nicht 
speziell  aufmerkt?  Kaum  oder  doch  nur  ganz  verschwommen!  lautier  hat 
aber  sogar  auch  das  schmale,  blasse  Gesicht  des  Mördera  unter  dichten  Haaren 
gesehen.  Das  halte  ich  für  fast  unmöglich!  Am  Tage  vielleicht  eher.  Sitzen 
wu'  tagsüber  im  Schnellzuge  und  blicken  zei-streut  hinaus,  so  sagen  wir  uns 
niclit  selten,  daß  wir  z.  B.  soeben  einige  Leute  auf  dem  Felde  bei  der  Arbeit 
salien.  Meist  können  wir  aber  nicht  sagen,  wie  viele  es  waren,  oft  auch 
nicht,  was  sie  taten,  erst  fecht  nicht,  wie  sie  aussahen.  Anders,  wenn  wir 
auf  einen  bestimmten  Punkt  unsere  ganze  Aufmerksamkeit  konzentrieren. 
Wissen  wir  z.  B,:  jetzt  kommt  eine  schöne  Kirche,  so  sehen  wir  auch  in 
dieser  Schnelligkeit  ziemlich  viel  auf  einmal.  Man  sieht,  solche  Augenblicks- 
Szenen,  wie  sie  Zola  beschrieb,  könnten  vorkommen  —  z.  B.  auch  bei  Ein- 
stürzen, Zusammenstößen  etc.  —  und  zu'  ernsten  Erwägungen,  aber  auch 
Bedenken  führen.  Die  ganze  Szene  kann  suggestioniert  sein,  und  einzelne 
Data  natürlich  um  so  leichter,  wie  z.  B.  Lautier  später  in  der  schwarzen 
drückenden  Masse  eine  Reisedecke  erkennen  will.  Noch  zweifelhafter  frei- 
lich ist  es,  daß  er  —  ohne  es  zu  äußern  —  nachher  fest  Überzeugt  ist,  daß 
Roubaud  der  Mörder  war,  selbst  wenn  wir  zugeben,  daß  später  gewisse 
unbemerkte  oder  wenig  markante  Beobachtungen  ins  Bewußtsein  treten  und 
so  ein  leidliches  Bild  der  Wkklichkeit  geben  können.  Das  Fazit  unserer  Er- 
wägungen also  ist,  daß  ein  Richter  stets  mit  der  größten  Skepsis 
solchen  Augenblicks-Eindrücken  gegenüber  stehen  muß,  daß 
aber  auch  hier  von  Fall  zu  Fall  zu  unterscheiden  ist,  jedenfalls  aber  eine 
solche  Beobachtung  nie  für  das  Urteil  ausschlaggebend  werden  darf. 


4. 


Motive  des  Aberglaubens.  Seit  jeher  fand  ich  es  anziehend,  den 
vei-schiedenen  Motiven  zu  abergläubischen  Praktiken  nachzuspüren.  Be- 
trachtet man  nämlich  letztere  genauer,  so  wird  man  finden,  daß  doch  ein 
gewisser  physio-  oder  psychologischer  Sinn  auch  im  Unsinn  liegt  und  vielleicht 


Kleinere  Mitteilungen.  369 

nur   relativ   selten  findet   man    keine  Verbindungsbrücke  und    muß    zum 
Schlüsse   kommen,  daß  gerade  der  Unsinn  der  Handlung  als  solcher  be- 
zweckt war,  um  ja  das  Wunderbare  des  Erfolgs  noch  krasser  hervortreten 
zu  lassen.     Schon  früher  glaube  ich  einmal   bemerkt  zu  haben,    daß  den 
Ingredienzen  der  Uebestränke :  Schweiß,  Menstrualblut  etc.  ein  starker  Ge- 
ruch eignet,  der  bei  vielen  in  Beziehung  zum  Geschlechtstrieb  tritt,  bewußt 
oder  unbewußt.    Freilich  ist  der  physiologische  Vorgang  namentlich  zeitlich 
ein  ganz  anderer,  als  diese  Philtra  es  wollen.    Neulich  las  ich  nun  in  dem 
vortrefflichen  Buche  von  A.  Harpf :  Morgen-  und  Abendland  (Stuttgart  1905) 
folgenden  Passus  (Seite  211):    „Im  ganzen  Orient  suchen  die  Frauen  des 
Volkes  auf  allerlei  abergläubische  Weise  zu  bewirken,  daß  sie  empfangen, 
wenn  dies  längere  Zeit  ausbleibt     Sie  gehen  zu  Hinrichtungen  in  der  Ab- 
sicht, um,  wie  sie  sagen,  durch  den  Schrecken  des  vergossenen  Blutes  und 
das  Anschauen   der  Todeszuckungen   empfänglich  zu  werden.     Sie  gehen 
jetzt  so  zahlreich  mit  derselben  Absicht  in  das  Schlachthaus  von  Kairo  und 
sehen  dort  dem  blutigen  Handwerk  zu,    daß   man  dafttr  im   letzten  Jahre 
ein  Eintrittsgeld  zu  erheben  begann.     In   derselben  Absicht  wird  vor  den 
Augen   der  Braut,    wenn  sie  in   feierlichem   Hochzeitszuge  und  reich  ge- 
schmückt am  Hause   des  Bräutigams   angelangt  ist,    an   der  Hausschwelle 
ein  großer  Hammel  geschlachtet,  und  das  ist  in  gleicher  Weise  bei  Musel- 
männern  und  Kopten  Brauch.     Doch   das  alles  mag  vielleicht  noch  nicht 
einmal  jedes  natürlichen  Zusammenhanges  entbehren,  wenn   man   die  be- 
kannte, oft  zu  perversen  Neigungen  führende  Parallelwirkung  ins  Auge  faßt, 
welche  bei  manchen  Menschen   zwischen  fließendem  Blute   und  geschlecht- 
lichem Reiz  beobachtet  wurde."    Und  darin  hat  Harpf  völlig  Recht,  nur  daß 
zugleich  dort  zeitlich  eine  Verschiebung  des  Reizes  stattfindet.     Die 
sadistischen    Handlungen    geschehen    nämlich  vor    oder   am  Anfange    des 
Ooitus,  bisweilen  zuletzt,   oder  stehen  allein   als  Äquivalent  für  den   Bei- 
schlaf, nie  aber   längere  Zeit  vorher,  wie  es  doch  in  obigen  Fällen  statt- 
finden  müßte.     Solche  phjrsiologische  Ungenauigkeiten  kommen  im  Aber- 
glauben   eben    vor.     Aber  alles    das   reizt  nur   den    Geschlechtstrieb    an, 
hat  zunächst  nichts  mit  der  Empfängnisfähigkeit  direkt  zu  tun,  deren  Be- 
dingungen  uns  z.  T.  noch  sehr  dunkel  sind.     Auf   rascheres   oder   lang- 
sameres Ablösen  der  Eichen   aus  dem   Eierstocke  hat   kaum  irgend  etwas 
Einfluß,  und  es  scheint,  als  ob  sogar  bei  Blutarmut  etc.,  wo  keine  Periode 
eintritt,  trotzdem  regelmäßig  die  Eilösung  erfolgt.    Anders  steht  es  mit  dem 
erleichterten  Eintritt  des  Samens  in  die  Gebärmutter.    Es  steht  jetzt  wohl 
fest,  daß  während  des  Coitus  der   ganze  Genitalschlauch,    besonders  aber 
die  Gebärmutter  sich  kontrahiert  und  öffnet,  verkürzt.    Starke  Geschlechts- 
reizung muß    dies  befördern,  also  eventuell  auch   solche   auf  sadistischem 
Wege  erzeugte  und   demnach   könnten  so    manche  Mittel  als  Empfängnis 
befördernd  gelten.     Bei   organisclien  Fehlem  ist  freilich  Hopfen  und  Malz 
verloren,  ebenso  bei  impotentia  generandi  auf  beiden  Seiten.     An    vielen 
Orten,  Wallfahrtsorten  bei  uns  und  in  Indien  aber  geschieht  das  Wunder  der 
Empfängnis  oft  auf  sehr  natürliche  Weise,  was  noch  mehr  Frauen  zu  den 
heiligen  Stätten    hinzieht.     Der    oben    geschilderte  Aberglaube  steht  wohl 
einzig  da.    Dagegen   scheint  mir  die  Schlachtung  des  Hammels  vor  der 
Braut  an  der  Türschwelle  nur  ein  reines  Opfer  zu  sein,  um  böse  Geister 
zu  bannen,  was  nichts  mit  sadistischen  Dingen   zu  tun  hat.     Harpf  gibt 

Arehir  für  Kriminalfintiiropolog:ie.    27.  Bd.  24 


370  Kleinere  Mitteilungen. 

noch  eine  ganze  Reihe  aberglänbischer  Praktiken  bei  den  Ägypterinnen, 
die  alle  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  erklären  lassen,  wenn  auch 
anders,  als  bei  den  oben  erwähnten. 


5. 

Gefährliche  Träume.  Dem  Bericht  über  die  psychiatrische  Litera- 
tur im  Jahre  1905,  Literaturbericht  zum  63.  Bd.  (1906)  der  Allgemeinen 
Zeitschrift  für  Psychiatrie  etc.  (pag.  169*)  entnehme  ich  folgendes  Referat: 
„Knauer,  G.,  Progressive  Paralyse?  Münchner  medizin.  Wochenschrift  Nr.  8. 
Ein  syphilitisch  gewesener  Kaufmann  träumte  mit  Verfolgern  zu  ringen  und 
fand  beim  Erwachen,  daß  er  seine  Frau  fast  erwürgt  hatte;  einige  Wochen 
später  träumte  er,  mit  Licht  etwas  suchen  zu  müssen,  und  erwachte,  ein 
brennendes  Zündholz  in  der  Hand.  Belastung,  Wutausbrüche  seit  der  Kmd- 
heit,  Alkoholmißbrauch  machen  doch  zweifelhaft,  ob,  wie  K.  annimmt,  Epi- 
lepsie „ganz  ausgeschlossen^  ist  Matusch.^  Zu  der  von  mir  wiederholt 
betonten  Gefahr,  Träume  für  Wirklichkeit  zu  halten  und  unter  Umständen 
aggressiv  zu  werden,  bietet  obiger  Fall  eine  neue  Dlustration.  Leider  ist 
nicht  sicher,  ob  der  Betreffende  ein  Paralytiker  oder  —  fast  noch  wahr- 
scheinlicher, wie  es  auch  Referent  hervorhebt  —  ein  Epileptiker  war, 
ja  es  ist  nicht  einmal  sidier,  ob  er  deutlich  krank  war.  Doch  das  ist 
Nebensache.  Solche  überaus  lebhafte  Träume  mit  plastischer  Deutlichkeit 
und  Reaktion  darauf  können  bei  Gesunden  und  Kranken  vorkommen,  bei 
Letzteren  vielleicht  häufiger.  Namentlich  sind  in  dieser  Hinsicht  die  Epi- 
leptiker sehr  verdächtig  mit  ihren  vorwiegend  schreckhaften  Träumen.  In- 
teressant ist  in  obigem  Falle  audi,  daß  bei  demselben  Kranken  zweimal 
solche  gefährliche  Handlungen  durch  den  Traum  ausgelöst  vorkamen.  Man 
könnte  noch  die  Frage  aufwerfen,  ob  bei  wiederholtem  Auftreten  solcher  Reak- 
tionen niclit  die  Verwahrung  eines  solchen  Träumers  wegen  Gemeingefähr- 
lichkeit beantragt  werden  sollte. 


6. 

Schranken  in  der  Größe  des  Schätzens,  Erkennens  und 
Beurteilens  bei  demselben  Individuum.  Prof.  Groß  behauptet  in 
seiner  Arbeit:  Die  Zeugenprüfung  (Monatsschrift  für  Kriminalpsychologie  etc. 
1906,  p.  580)  daß,  „wer  heute  eine  Entfernung,  eine  Menge,  eine  Zeit  usw. 
richtig  schätzt,  wer  heute  einen  Menschen  auf  ungewöhnliche  Distanz  er- 
kennt, wer  heute  für  irgend  etwas  ein  gutes  Gedächtnis,  gute  Unterscheidungs- 
gabe  und  gutes  Vergleichsvermögen  zeigt,  der  hat  dieselbe  Gabe  auch  vor 
8  Tagen  gehabt  und  wird  sie  in  14  Tagen  auch  wieder  haben  .  .  .  Aber 
bei  der  Frage  des  Wahmehmens,  Merkens  und  Wiedergebens  wissen  wir 
im  allgemeinen  manches,  jedoch  nicht  genug,  um  im  einzelnen  Falle  be- 
weisende Experimente  machen  zu  dürfen.'^  Nun,  ich  glaube,  daß  wenn 
auch  bez.  des  Schätzens  und  Erkennens  der  Gegenstände  Stimmung,  Auf- 
fassung, Affekt  etc.  nicht  so  großen  Einfluß  haben,  als  beim  Wahrnehmen, 
Merken  und  Wiedergeben,  sie  doch  auch  bei  jenen  psychischen  Tätig- 
keiten mitredend  und  dalier  zu  berücksichtigens  sind.  Ein  halbverschlafener 
oder  stark  ermüdeter  Förster  z.  B.  wird  eine  Distanz  heute  nicht  so  richtig 


Kleinere  Mitteilungen.  371 

eingchätzen^  wie  gestern,  wo  er  frisch  war.  Zu  diesem  Einschätzen  gehören 
ja  nicht  nur  Schärfe  des  Gesichts,  sondern  auch  starke  Eonzentrierung 
der  Aufmerksamkeit  und  nicht  weniger  ein  gewisses  Gedächtnis.  Alle  diese 
Komponenten  müssen  selbstverständlich  unter  Ermüdung,  Affekt,  Versdilafen- 
sein  etc.  leiden  und  dies  sogar,  wenn  auch  weniger,  bei  denen,  die  gewohn- 
heitsmäßig Entfernungen  (Geometer)  oder  Gewicht  (Fleischer)  schätzen.  Es 
müßte  also,  wenn  einer  heute  gut  Distanz  schätzt,  immer  nodi  eruiert 
werden,  unter  welchen  geistigen  und  körperlichen  Bedingungen 
er  früher  beim  Distanz-Abschätzen  etc.  stand,  um  sicher  zu 
sein,  daß  die  Schätzung  richtig  war. 


7. 

Feinfühligkeit  eines  Idioten.  Wenn  auch  im  Allgemeinen,  wie 
ich  dies  oft  betont  habe,  die  ethische  mit  der  intellektuellen  Entwickelung 
Hand  in  Hand  geht  und  der  Intellekt  auch  auf  die  ethische  Seite  zurück- 
wirken kann,  so  gibt  es  davon  immerhin  Ausnahmen,  wie  jeder  solche 
kennt.  Audi  bei  Idioten  ist  meist  die  ethische  Seite  ganz  verkümmert  und 
w^o  etwa  Anhänglichkeit  an  Personen  besteht,  so  dürfte  sie  sich  kaum  über 
die  des  Tieres  erheben.  Aber  auch  hier  gibt  es  Ausnahmen.  So  haben 
wir  z.  B.  einen  1 1  jährigen  Idioten  hier,  auch  körperlich  schlecht  entwickelt, 
mit  vielen  Entartungszeichen  behaftet,  der  in  Folge  schwerer  Zangengeburt 
eine  Kopfverletzung  davontrug,  wonach  bald  Krämpfe  auftraten  und  eine 
Halblähmung  der  ganzen  rechten  Seite  zurückblieb.  Er  ist  unehelich  ge- 
boren; der  Vater  hat  die  Mutter  bald  verlassen.  Im  vierten  Jahre  erst 
lernte  das  Kind  gehen  und  konnte  nie  ordentHch  sprechen.  Immerhin  ver- 
steht man  ihn  einigermaßen.  Er  ist  aufmerksam,  ahmt  gut  nach,  kennt 
die  Gegenstände  und  ist  unter  unsem  Idioten-Kindern  entschieden  ein 
lumen.  Er  ist  für  jede  Aufmerksamkeit,  jedes  gute  Wort  sehr  dankbar, 
errötet  vor  Freude  und  sucht  zu  helfen,  wo  er  kann,  so  daß  er  von  den 
Pflegern  und  Mitkranken  sehr  gern  gesehen  wird.  Erwähnt  man  ihm 
gegenüber  nun,  daß  er  ein  uneheliches  Kind  ist,  so  errötet  er 
schamhaft,  obgleidi  er  offenbar  nicht  die  volle  Tragweite  der  unehelichen 
Geburt  kennt.  Er  eri'ötet  aber  auch,  wenn  erzälilt  wird,  daß  sein  Vater 
die  Mutter  verlassen  hat,  sie  sitzen  Üeß.  Sicher  sind  das  hohe  Beweise 
einer  angeborenen  Feinfühligkeit.  Seine  intellektuellen  Kräfte  sind  aber, 
wie  schon  gesagt,  für  einen  Idioten  noch  recht  anerkennenswerte.  In  seinem 
feinen  Takte  und  in  seinem  sozialen  Verhalten  dürfte  er  manche  normal 
Geistige  sicher  beschämen. 


24* 


Besprechungen. 


1. 

Dr.  Friedri  ch  Stein,  Professor  in  Halle:  „Zur  Justitzreform", 
sechs  Vorträge.  Tübingen.  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Sie- 
beck).    1907. 

Vor  nicht  ganz  einem  Jahre  ist  die  Schrift  „Gmndlienien  durch- 
greifender Justizreform'*  von  F.  Adickes  erschienen,  in  welcher  die  eng- 
lischen Justizeinrichtungen  als  Grundlage  für  ein  neues  deutsches  Zivil-  und 
Strafverfaliren  empfohlen  werden.  Der  Widerlegung  dieser  Vorschläge 
sind  die  Vorschläge  Steins  gewidmet,  der  in  klarer  und  überzeugender 
Weise  die  Unmöglichkeit  solcher  Umformungen  dartut  und  beweist,  daß 
manches  von  den  Justizeinrichtungen  Englands  auch  dort  nicht  mehr  be- 
friedigt, manches  andere  aber  auf  unsere  Verhältnisse  nicht  paßt.  Beide 
Schriften,  die  von  Adickes  und  die  von  Stein  beanspruchen  das  größte 
Interesse  und  eingehendes,  vergleichendes  Studium.  Redit  haben  dürfte 
Stein,  die  Anregung  zur  neuerlichen  Überlegung  der  Fragen  hat  aber 
Adickes  gegeben.  Hans  Groß. 


2. 

L.  S.  A.  M.  von  Römer,  med.  Dr.  und  Nervenarzt  in  Amsterd,'am: 
Die  Uranische  Familie.  Untersuchungen  über  die  Ura- 
nier. Beiträge  zur  Erkenntnis  des  Uranismus.  Deutsch  von 
E.  W.  Lpzg.,  Amsterdam,  Maas  u.  van  Suchtelen.     1906. 

Das  klug  und  überlegsam  geschriebene,  mit  \ielen  Diagrammen  aus- 
gestattete Heft  kommt  zu  einer  Anzahl  von  Grundsätzen,  die  wichtig  zu 
sein  scheinen:  Uranismus  an  sich  vererbt  sich  wenig,  aber  familiäres  Vor- 
kommen ist  sehr  häufig;  ihr  Prozentsatz  beträgt  minimum  2  %,  maximum 
33  "/o  1  ^61*  Altersunterschied  zwisohen  Vater  und  Mutter  ist  häufig  be- 
sonders groß;  in  uranischen  Familien  kommt  Carcinom  viel  häufiger  vor, 
als  Tuberkulose;  Anlage  zum  Uranismus  zeigt  sich  meistens  sehr  früh; 
bleibender  (echter)  Uranismus  ist  Prädisposition,  die  durch  äußere  Momente 
ausgelöst,  aber  nicht  hervorgerufen  werden  kann ;  Heilung  durch  Suggestions- 
therapie ist  verachwindend  selten,  diese  Therapie  ist  wegen  der  zumeist 
anzuwendenden  Nebenmittel  als  verwerf licli  zu  bezeichnen. 

Hans   Groß. 


Besprechungen.  373 

3. 

Carl  Kurtz,  Amtsgerichtsrat:  Die  Untersuchungen  von 
Körperverletzungen  insbesondere  der  tötlichen.  Zu- 
sammenstellung der  hierauf  bezüglichen  gesetzlichen 
und  Verwaltungs- Bestimmungen  einschließlich  der 
neuesten  Vorschriften  über  Leichenuntersuchungen 
zum  Gebrauch  für  Gerichts-  und  Polizeibehörden, 
Staatsanwaltschaften  und  Gerichtsärzte.  Textausgabe 
mit  Vorbemerkungen^  Anmerkungen,  Beispielen,  Ge- 
bühren- und  Reisekosten-Vorschriften  und  Sachregister. 
Düsseldorf,    1906,   L.   Schwarz. 

Zweck  und  Inhalt  der  sehr  bequemen  und  übersichtlichen  Zusammen- 
stellung ist  aus  dem  umständlichen  Untertitel  deutlich  zu  entnehmen.  Mit 
den  selbständigen  Ansichten  des  Verf.  bin  ich  nicht  überall  einverstanden; 
so  wird  in  einem  „Beispiele  für  die  Praxis"  in  der  ersten  Vorerledigung 
einer  Anzeige,  der  Amtsvorsteher  aufgefordert,  ein  Lokal  zur  Obduktion 
bereit  zu  halten,  „wohin  die  horizontal  zu  lagernde  Leiche  vorsichtig  zu 
schaffen  ist".  Es  wird  also  von  vornherein  darauf  verzichtet,  an  der  Leiche 
des  erschossen  im  Walde  Aufgefundenen  in  loco  rei  sitae  einen  Augenschein 
vorzunehmen! 

In  dem  folgenden  „Beispiel"  (Protokoll  der  Leicheneröffnung  des  Er- 
schossenen) fehlt  negative  Feststellung,  daß  in  der  Leiche  kein  Geschoß, 
kein  Kugelpflaster  oder  Pfropfen,  kein,  von  den  Kleidern  mitgerissener 
Fetzen  etc.  gefunden  wurde.  Es  ist  auch  nicht  möglich,  aus  dem  Befunde 
zu  entnehmen,  ob  es  sich  um  mehrere  Kugelschüsse,  einen  Pfosten-  oder 
Schrotschuß  handelt,  auch  vom  Brandsaum,  eingesprengten  Pulverkömem 
etc.  (was  auch  negativen  Falles  festgelegt  werden  muß)  ist  nicht  die 
Rede  —  etc.  Hans  Groß. 


4. 

Ernst  Zitel  mann:  „Ausschluß  derWi  der  rechtlich  keif.  Tübingen 
1906.  J.  C.  B.  Mohr  (Sonderabdruck  a.  d.  99.  Bd.  des 
„Arch.  f.  d.  ziv,  Praxis*). 

Die  heute  so  vielfach  behandelte,  freilich  auch  außerordentlich  wichtige 
Frage  nach  der  Widerrechtlichkeit  hat  durch  die  feine,  schwungvolle  und 
tiefgründige  Arbeit  Zitelmanns  namentlich  deshalb  eine  so  wichtige  Be- 
reicherung erfahren,  weil  sie  Verfasser  namentlich  von  der  zivilistischen  Seite 
beleuchtet  und  sie  hierdurch  auf  eine  breitere,  sicherere  Grundlage  stellt. 
Man  liest  das  Buch  mit,  ich  möchte  sagen,  Spannung  und  legt  es  mit  Dank 
für  den  Verf.  aus  der  Hand. 

Wenn  man  einen  Zweifel  nennen  dürfte,  so  ginge  er  dahin,  ob  Verf. 
wohl  Recht  hat,  wenn  er  viele  Fälle,  namentlich  bei  der  Frage  nach  der 
Einwilligung,  dahin  löst,  dass  manche  Einwilligung,  als  gegen  die  guten 
Sitten  verstoßend,  nichtig  sei. 

Wenn  ich  mich,  sagt  Zitelmann,  über  Mittag  vom  fortgehenden  Be- 
amten in  der  Bibliothek  einsperren  lasse,  so  handelt  der  Beamte  natürlich 
nicht  strafbar;  wenn  aber  der,  der  einen  Dieb  erwischt,  ihn  mit  seiner  Ein- 


374  Besprechungon. 

wiUigung  statt  der  Anzeige  24  Standen  im  Keller  einsperrt^  so  ist  das  straf- 
bar, weil  die  Einwilligung  contra  bonos  mores  verstößt,  also  ungültig  ist. 
Ich  glaube  der  Grund  der  Strafbarkeit  liegt  darin,  daß  die  Einwilligung 
erpresst  war:  ^entweder  läßt  du  dich  einsperren,  oder  ich  übergebe  dich 
der  Polizei". 

Ebenso:  wenn  sidi  die  Frau  vom  Arzt  kastrieren  läßt,  um  (etwa 
wegen  erblicher  Belastung  etc.)  keine  Kinder  zu  bekommen,  so  sei  die  Ein- 
willigung nichtig,  weil  gegen  die  guten  Sitten  verstoßend.  Ich  glaube,  die 
Strafbarkeit  liegt  hier  im  Dilemma:  entweder  ist  eine  solche  Operation  be- 
denklidi,  dann  hat  der  Arzt  das  Leben  der  Frau  nicht  gefährden  dürfen, 
oder  sie  ist  gleichgültig,  dann  verallgemeinert  sich  die  Sitte,  wir  bekommen 
wenig  Nachwuchs  und  zu  wenig  Rekruten.  Vielleicht  könnte  man  aber 
den  Vorgang  auch  als  nicht  strafbar  bezeichnen?  Sagen  wu",  der  Gatte 
ist  geisteskrank,  Abstinenz  ist  nicht  zu  erreichen,  verlassen  will  sie  den 
Mann  auch  nicht  —  hat  die  Menschheit  etwas  davon,  wenn  geisteskranke 
Kinder  gezeugt  werden? 

Wir  müssen  uns  dahin  bescheiden,  daß  wir  so  oft  nichts  Gutes  schaffen, 
sondern  nur  das  geringere  Übel  passieren  lassen  müssen.  Wenn  ein  ge- 
sunder Mensch  vom  Arzt  die  Vornahme  einer  Blmddarmoperation  verlangt, 
weil  er  die  Angst  vor  einer  solchen  überstanden  haben  möchte,  so  wird 
ihn  der  Arzt  abweisen;  er  wird  das  aber  nicht  tun,  wenn  Patient  schon 
oft  ernste  Mahnungen  einer  Blinddarmreizung  hatte  und  jetzt  eine  Reise 
nach  Südafrika  antreten  muß,  wo  er  gegebenen  Falles  nicht  operiert  werden 
kann  und  zugrunde  gehen  muß. 

Im  ersten  Falle  ist  operieren  das  größere,  im  zweiten  Falle  das  ge- 
ringere Übel,  und  die  Abwägung  der  Übel  also  ist  für  uns  bei  der  Be- 
urteilung eines  Vorganges  die  freilich  armselige,  aber  oft  einzige  Anweisung, 
wie  wir  entscheiden  müssen.  Hans  Groß. 


5. 

Dr.  jur.  Karl  Weidlich:  „Die  englische  Strafprozeßpraxis 
und  die  deutsche  Strafprozeßreform''.  Berlin  1906. 
J.  Guttentag. 

Diese  Arbeit  ist  zwar  durch  die  von  Stein  und  Adikes  überholt,  bietet 
aber  einerseits  für  diese  eine  gute  Unterstützung  und  ist  auch  andrerseits 
durch  ihre  klare  Zusammenstellung  von  W^ert.  Verf.  kommt  zu  dem  Sdiluß, 
daß  vieles  im  engl.  Prozeß  und  auf  national -englischen  Boden  wurzelt 
und  daher  nicht  übertragbar  sei;  das  meiste  sei  auch  durch  deutsche  Ein- 
richtungen überholt.  Hans  Groß. 


6. 

Dr.  Max  Altberg,  Gerichtsassessor:  ,,Vo]lendung  und  Real- 
konkurrenz beim  Meineid  des  Zeugen  und  Sachver- 
ständigen'* (zugleich  eine  Lehre  vom  fortgesetzten  Ver- 
brechen).    Berlin   1906.     J.  Guttentag. 

Die  Schrift  befaßt  sich  mit  der  Einzelbekundung  und  Gesamtaussage 
{Vollendung  und  Verbrechenseinheit),  die  Vollendung,   Fixieining  des  „Ab- 


Besprechungen.  375 

Schlusses  der  Vernehmung",  Verbrechenseinheit  und  -Mehrheit  und  den  Kon- 
sequenzen der  Auffassung,  daß  mehrere  falsche  Einzelbekundungen  ein  fort- 
gesetztes Verbrechen  bilden.  Hans  Groß. 


/. 


Dr.   med.  Arnemann   in   Großschweidnitz:    „Über  Jugendirre- 
sein^    (Dementia  präcox).     Leipzig  1906.     B.   Konneger. 

Ob  es  richtig  ist,  wenn  heute  der  Begriff  der  Dementia  präcox  so 
weit  ausgebildet  wird,  daß  für  alle  anderen  Geisteskrankheiten  verhältnis- 
mäßig wenig  übrig  bleibt,  das  haben  wir  Juristen  nicht  zu  erörtern,  \iir 
wissen  aber,  daß  für  den  Kriminalisten  kaum  eine  andere  Psychose  so 
wichtig  ist,  als  die  Dementia  präcox  (vielleicht  neben  den  larvierten  Formen 
der  Epilepsie),  da  sie  am  leichtesten  den  Laien  in  medizinischen  Dingen 
irreführen«  kann.  Einerseits  kann  dieser  selbst  weit  vorgeschrittene  Formen 
mit  Eigensinn,  Bosheit,  Faulheit,  Hinterlist  und  allen  möglichen  anderen 
Übeln  Eigenschaften  verwechseln,  ohne  überhaupt  an  das  Vorhandensein 
einer  Krankheit  zu  denken,  andererseits  wird  der  Laie  und  selbst  der 
psychiatrisch  nicht  besonders  geschulte  Arzt  mitunter  zwar  die  Erscheinung 
von  Irrsein  wahrnehmen,  diese  aber,  eben  nach  der  seltsamen  Natur  der 
Dementia  präcox,  für  Simulation  halten.  Da  nun  aber  gerade  der  Richter, 
der  medizinische  Laie,  derjenige  ist,  welcher  die  psychiatrische  Untersuchung 
eines  Beschuldigten  zu  veranlassen  hat,  so  sollte  er  doch  über  das  Wesen 
der  fraglichen  so  rätselhaften  Krankheit  so  weit  informiert  sein,  daß  er  auch 
hier  weiß,  wann  er  nicht  an  Bosheit,  nicht  an  zweifellose  Simulation  zu 
glauben,  sondern  den  Arzt  zu  fragen  hat. 

Das  vorliegende  Schriftchen  (47  S.)  informiert  hierüber  in  klai'er,  jedem 
gebildeten  Laien  verständlichen  Weise  vortrefflich,  seine  Lektüre  kann  vor 
schweren  Irrtümern  bewahren.  Hans  Groß. 


8. 

Prof.  Dr.  Max  Ernst  Mayer  in  Straßburg  i.  E.:  „Die  Befreiung 
von  Gefangenen.'^  Eine  Ergänzung  zum  ersten  Bande 
der  auf  Anregung  des  Reichsjustizamtes  herausge- 
gebenen ^Vergleichenden  Darstellung  des  Deutschen 
und  ausländischen  Strafrechts'^  (besonderer  Teil). 
Leipzig  1906.     C.  J.  Hirschfeld. 

Die  im  Titel  genannte  Materie,  welche  aus  Rücksicht  auf  den  Raum 
im  großen  Sammelwerke  nicht  Platz  fand,  wird  hier  als  besondere  Arbeit 
in  erschöpfender  und  übersichtlicher  Weise  bearbeitet.  Die  äußere  An- 
ordnung ist  dieselbe,  wie  im  großen  Sammelwerk:  zueret  das  Deutsche 
Recht  (Objekt  und  Subjekt  der  Befreiung  und  Befreiungshandlung)  und  das 
ausländische  Recht  (mit  derselben  Materieneinteilung).  Die  Schrift  stellt 
sich  als  eine  erwünschte  Ergänzung  des  genannten  Sammelwerkes  dar. 

Hans  Groß. 


376  Besprechungen. 


9. 


Dr.  Ed.   Löwenthal:    ^Grundzüge    zur   Reform    des    Deutschen 
Strafr'echts  und  Strafprozesses.    2.  Aufl.    Berlin.  H.  Mus- 
kalla.    1905. 
Auf  1&  Seiten  -wird  dargelegt^  daß  das  ^Budistabenrecht'^  zu  sehr  im 
Vordergrunde  stehe,  das  Ermittlungsverfahren  müsse  In  der  Form  des  Verf. 
bei  Privatbeleidigungsklagen   umgestaltet  werden,   das  Beweisverfahren  sei 
zu  reformieren  und  z.  B.  ein  notorischer  Feind  des  Beschuldigten  nicht  als 
Zeuge   zuzulassen,    Untersuchungshaft  darf  nur  bei  Mord   und  Todschlag 
vorkommen  etc.  Hans  Groß. 


10. 

Wilhelm  Wundt:  „Völkerpsychologie".  Eine  Untersuchung^ 
der  Entwicklungsgesetze  von  Sprache,  Mythus  und 
Sitte.  II.  Bd.  Mythus  und  Religion.  2.  Teil.  Leipzig 
1906.  W.  Engelmann. 
Ich  beziehe  mich  auf  das  über  dieses  großartige  Werk  schon  früher 
(Bd.  IV  p.  359,  Bd.  VII  p.  179,  namentlich  Bd.  XXIV  p.  185)  Gesagte. 
In  dem  vorliegenden '  Bande  dieses  Standard  work  hat  nun  Verf.  mit  be- 
wundernswerter Übersicht  und  Belesenheit  die  Frage  der  Seelenvorstellungen 
behandelt,  was  in  der  Tat  eine  Grundlage  für  die  Entwicklung  des  für  uns 
so  wichtigen  kriminellen  Aberglaubens  darstellt.  Es  wäre  dringend  zu 
wünschen,  daß  ein  Kenner  des  Kapitels  „Krimineller  Aberglauben^^,  z.  B. 
A.  Hellwig,  diesen  Band  ad  hoc  ausbeutet  und  die  daselbst  vorfindlidie 
große  Menge  von  Tatsachen,  die  Erklärungen,  Untersuchungen  und  Er- 
örterungen Wundts  für  unsere  Zwecke  verwertet  Das  wäre  eine  dankens- 
werte Aufgabe.  Besonders  wichtig  wären  die  Abschnitte:  Das  Blut  al» 
Seelen  träger;  Hauchzauber;  der  Seelen  vogel;  Vision  und  Ekstase;  Wach- 
und  Traumvision,  die  Prophetie;  Seelen,  Geister  und  Dämonen;  Zauber- 
glaube; Fetischismus  (nicht  im  psychiatrischen  Sinne);  Ursprung  des  Sülm- 
opfers,  Kannibalismus  und  Menschenopfer;  Gespenster;  Behexung;  Krank- 
heits-  und  Wahnsinnsdämonen  etc.  —  kurz  Belehrung  und  Aufklärung  über 
Geschichte,  Entstehung  und  Wesen  vieler  Aberglaubensformen  ist  überall  in 
dem  schönen  Werk  zu  finden.  Hans  Groß. 


11. 

Hans  Ostwald:  „Das  Berliner  Dirnentum.  5.  Band:  Männliche 
Prostitution".  Leipzig,  Walter  Fiedler.  Ohne  Jahres- 
zahl. 

Viel  Neues  enthält  dieses  Heft  nicht:  Zeitungsberichte  über  die  be- 
kannten Erpressungsgeschichten  der  letzten  Zeit  (Hasse,  Israel,  Acker- 
mann etc.)  und  auch  ähnliche,  weniger  oft  genannte,  Auszüge  aus  den 
Arbeiten  von  Dr.  Magnus  Hirschfeld,  Berichte  über  Bälle  und  sonstige 
Unterhaltungen  der  Homosexuellen  etc.  Aber  im  ganzen  ist  das  so  entsetz- 
lich widerliche  Thema  gut  dargestellt.  — 

Ob  blos  Not  die  männliche  Prostitution  erzeugt  ist  ebenso  zweifelhaft, 
wie   die  Erwartung,    daß   mit   der  Beseitigung  des  §  175  D.  R.St.G.  und 


Besprechnngeo.  377 

§  I29b  Oestr.  St.6.  alle  Erpressung  verschwinden  würde.  Dann  würden  die 
Erpresser  eben  mit  Mitteilung  an  die  Frau,  an  Vorgesetzte,  an  die  Öffent- 
lichkeit; mit  Briefen  und  Postkarten  drohen.  Man  kann  Betätigung  der 
Homosexualität  zu  etwas  Nichtstrafbarem,  aber  sicher  nie  zu  etwas  Sym- 
pathischem, nicht  Ekelhaftem  machen,  sodaß  immer  noch  erpreßt  werden 
würde.  Hans  Groß. 


12. 

Theodor  Lipps:    ^^Leitfaden  der  Psychologie".    Zweite,  völlig 
umgearbeitete  Auflage.  Leipzig  1906.  Wiih.  Engelmanu. 

Es  hat  selten  eme  Behauptung  so  rasch  bei  den  betreffenden  Leuten 
Geltung  ei'langt,  als  die,  daß  der  moderne  Kriminalist  unbedingt  als  Psy- 
chologe ausgebildet  sein  muß,  daß  er  sich  um  die  Lehren  der  Allgemein- 
psychoiogie  und  dann  um  die  der  Kriminalpsychologie  eingehend  zu  kümmern 
hat.  Der  Nutzen,  den  die  Verbreitung  dieser  Überzeugung  gebracht  hat, 
ist  ein  unabsehbar  großer,  kein  gewissenhafter  Kriminalist  zweifelt  mehr  an 
der  Notwendigkeit^  sich  die  betreffenden  Kenntnisse  zu  erwerben,  es  wird 
höchstens  darum  gefragt,  wie  dies  am  besten  und  einfachsten  geschieht. 
Diesfalls  kann  das  klare,  erschöpfende  und  vollständig  moderne  Buch  des 
berühmten  Münchener  Pliilosophen  dringend  empfohlen  werden. 

Hans  Groß. 


13. 

Med.    und    phil.    Dr.    Georg  Buschan:     „Gehirn    und    Kultur". 
Wiesbaden   1906.    J.  F.  Bergmann. 

Die  so  wichtige  Frage  nach  der  Bedeutung  der  Himmenge  ist  über- 
sichtlich und  für  jedermann  verständlich  dargestellt.  Manche  Ergebnisse  der 
Forschung  geben  vielfach  Anlaß  zum  Überlegen :  z.  B.  daß  man  die  größten 
Gehirne  bei  Idioten  und  Epileptikern,  dann  aber  bei  den  bedeutendsten 
Männern  gefunden  hat;  weiter:  nicht  nur  haben  gebildete  Leute  durch- 
schnittlich mehr  Gehirn  und  größere  Köpfe,  als  ungebildete,  sondern  es 
wurde  (in  Cambridge)  festgestellt,  daß  die  Studenten  mit  erster  Note  die 
giößten,  die  mit  zweiter  Note  kleinere  Köpfe  hatten,  und  die  Durchge- 
fallenen hatten  die  kleinsten  Köpfe.  Da  werden  ja  die  Examina  über 
flüssig!  Bei  Hutmachem  hat  man  erhoben,  daß  sie  erfahrungsgemäß  die 
ordinären  Hutsorten  (für  minder  günstig  gestellte  und  weniger  unterrichtete 
Leute)  in  viel  kleineren  Nummern  erzeugen  müssen,  als  die  feinen  Hüte 
(für  günstig  gestellte  und  gebildete  Leute).  Solche  und  zahlreiche  ähnliche 
Daten  bringen  zur  Überlegung,  daß  die  Frage  über  die  Kopf  große  der 
Leute  vielleicht  einmal  von  erheblicher  kriminalistischer  Bedeutung  werden 
kann.  Hans  Groß. 


14. 

Dr.  med.  Emil  Lobedank,  Stabsarzt  in  Hann.  M  iinden:  „Rechts- 
schutz und  Verbrecherbehandlung*^  Ärztlich-natur- 
wissenschaftliche Ausblicke  auf  die  zukünftige  Kri- 
minalpolitik.    Wiesbaden  1906.     J.  F.  Bergmann. 


380  Besprechungen. 

eine  zweite  bei  den  Opfern  selbst,  die  sicli  zweifellos  im  Bunde  mit  dem 
Teufel  geglaubt  haben.  So  nahm  dieser  Wahn  immer  größeren  Umfang 
an,  es  wurden  auch  Weiber  gerichtet,  die  wußten  und  sich  darüber  klar 
waren,  daß  sie  unschuldig  sind. 

Diese  Momente  sind  kriminalistisch  von  großer  Bedeutung,  und  so 
nehmen  wir  die  Arbeit  von  Günther  gerne  entgegen.  Sie  liest  sich  übrigens 
auch  gut  und  spannend.  Hans  Groß. 


21. 

Hugo  Marx:  Einführung  in  die  gerichtliche  Medizin  für 
praktische  Kriminalisten.  Mit  14  Textfiguren.  Berlin 
1907.     Aug.  Hirschwald. 

Im  engen  Rahmen  von  vier  Vorträgen  untemchtet  der  Verf.  Anfänger 
übersichtlich,  zweckmäßig  und  gut  über  die  wichtigsten  Fragen  der  gericht- 
lichen Medizin.  Wie  der  Titel  besagt,  beabsichtigt  das  Werk  keine  end- 
gültige Belehrung,  sondern  bereitet  nur  auf  das  Studium  eines  Lehrbuches 
für  gerichtliche  Medizin  zweckmäßig  vor. 

Ausnahmsweise  sei  es  mir  hier  gestattet,  etwas  pro  domo  zu  sagen, 
da  mir  Verf.  Vorwürfe  macht,  die  ich  mir  nicht  gefallen  lasse.  Er  sagt 
(pag.  32):  „Ganz  besonders  widerrate  ich,  nach  dem  Vorschlage  von  Groß 
die  sogen.  Quajakprobe  .  .  .  an  Ort  und  Stelle  vorzunehmen.  Sie 
könnte  auf  solche  Weise  das  kostbarste  Material  vergeuden.^^ 
Wie  lautet  aber  bei  mir»)  die  angegriffene  Stelle? 

„Die  einzige  Reaktion,  welche  zu  machen  ich  dem  U.R.  auf  Blut  zu 
machen  gestatten  würde,  wäre  die  mit  Quajaktinktur,  wie  sie  Dragendorf 
angegeben  hat.    Aber  auch  das  wäre  nur  gestattet,  wenn: 

1.  die  Sache  äußerst  dringend  ist,  etwa  eine  Verhaftung  davon 
abhängt,  und  in  der  Tat  nicht  so  lange  gewartet  werden  kann,  bis  man 
das  Gutachten  des  Gerichtschemikers  erlangt  —  also  weit  entfernt  vom  Ge- 
riditsort; 

2.  mehrere  Flecken  zur  Verfügung  stehen,  so  daß  durch  den  Verlust 
eines  derselben  durchaus  kein  Nachteil  entstehen  kann; 

3.  ein  Arzt  oder  doch  ein  Apotheker  zur  Hilfeleistung  vorhanden  ist." 
Wenn  man  das  unter  2.  angegebene  liest,  so  begreift  man  allerdings 

nicht,  wie  Herr  H.  Marx   behaupten  kann,  ich  hätte  zur  „Vergeudung  von 
kostbarem  Material"  angeraten. 

Ein  ähnlicher  Vorwurf  findet  sich  auf  pag.  33;  es  heißt:  „Eine  nicht 
sehr  empfehlenswerte,  von  Groß  vorgeschlagene  Maßregel  ist  die,  schwer 
zu  entfernende  Blutspuren  mittelst  feuchten  Fließpapier  abzusaugen;  auch 
dabei  kann  kostbares  Material  verloren  gehen.  In  Fällen  von  bedeutender 
Wichtigkeit  würde  ich  viel  eher  empfehlen,  den  Sachverständigen  selbst  an 
Ort  und  Stelle  zu  zitieren,  als  zu  solchen  nicht  absolut  zuverlässigen  Mitteln 
zu  greifen."  Wie  lautet  aber  die  hier  angegi'iffene  Stelle  2)?  „In  despe- 
raten Fällen  muß  man  sieh  noch  anders  helfen.  Ich  hatte  einmal  auf 
einem  Felsen   (grober,  nicht  geschichteter,  sehr  harter  „gewachsener"  Gneis) 


1)  Handbuch  f.  U.R.,  4.  Aufl.,  11.  Band,  pag.  111. 

2)  Pag.  121  loc.  eit. 


Besprechungen.  381 

eine  wichtige  BlutBpur  zu  behandeln.  Absprengen  gestattete  die  Härte  und 
Struktur  des  Gesteines  nicht,  schaben  war  wegen  der  allzu  großen  Rauhheit 
der  Oberfläche  unmöglich.  Die  Fläche,  auf  der  der  Tropfen  auflag,  war 
etwas  geneigt;  idi  machte  also  aus  Wachs  um  den  Blutstropfen  einen  Rand, 
und  tropfte  nun  etwas  reines  Wasser  auf  den  Tropfen.  Dieser  war  nach 
etwa  einer  halben  Stunde  erweicht  und  gelöst.  Ich  rührte  mit  einem  reinen, 
spitzen  Hölzchen  um  und  saugte  das  Gemenge  mit  Filtrierpapier  auf.  Das 
getränkte  F^trierpapier  wurde  in  einem  reinen  Fläschchen  verwahrt,  durch 
einige  Tropfen  Wasser  feucht  erhalten  und  dem  Sachverständigen  unter 
genauer  Bekanntgabe  des  Sachverhaltes  (und  Ansdiluß  des  Wachsrandes, 
des  RührhölzchenS;  unbenutzten  Filtrierpapiers  und  einer  Probe  des  benutzten 
Wassers)  übergeben.'* 

Ich  möchte  wissen,  wer  diesen  Vorgang  angreifen  kann.  In  unseren 
Fällen  darf  man  eben  nicht  immer  mit  den  Verhältnissen  der  Reichshaupt- 
stadt rechnen,  wo  man  um  die  richtigen  Sachverständigen  telephoniert.  Da 
ich  von  „desperaten  Fällen*'  und  davon  sprach,  daß  die  Blutspur  sich 
auf  „einem  Felsen''  befand,  so  wai*  zu  entnehmen,  daß  dies  auf  dem  Lande 
war  (tatsächlich  im  Gebirge,  6  Stunden  vom  nächsten  Orte),  so  daß  ich 
die  Sachveratändigen  sicher  nicht  vor  einigen  Tagen  hätte  daliin  geleiten 
können.  Wie  hätte  ich  die  Blutspur  gegen  Tiere,  Menschen,  Regen  und 
Sonne  schützen  sollen,  bis  die  Sachverständigen  kommen?  Etwa  gericht- 
lich versiegeln?  Oder  einen  Gendarmen,  den  ich  übrigens  nicht  zur  Ver- 
fügung hatte,  einige  Tage  dabei  stehen  lassen,  der  bei  Regen  seinen  Helm 
über  die  Blutspur  hält?  Ich  glaube,  daß  ich  das  Zugeständnis  beanspruchen 
darf,  nichts  Unsinniges  oder  Bedenkliches  vorzuschlagen  und  wxnn  Herr 
H.  Marx  die  Verhältnisse,  unter  welchen  der  U.R.  auf  dem  flachen  Lande 
oder  im  Hochgebirg  arbeiten  muß,  vielleicht  nicht  kennt,  so  möge  er  anderen 
keine  ungerechten  Vorwürfe  machen.  Ich  wiederhole:  In  meinem  Vorschlag 
ist  nicht  gesagt,  wo  sidi  der  Fall  zutrug,  aber  bei  aufmerksamen  Lesen 
der  fraglichen  Stelle  konnte  man  entnehmen,  daß  es  sich  um  einen  „des- 
peraten" Fall  gehandelt  hat. 

Einen  dritten  Angriff  erhebt  Verf.  gegen  „einen  jungen  Juristen",  der 
in  diesem  Archiv  (Bd.  XXV,  p.  1)  zum  Dilettantismus  anregen  wolle.  Wer 
diesen  Aufsatz  genau  liest,  muß  zu  der  Überzeugung  kommen,  daß  dessen 
Verf.  zweierlei  beabsichtigte: 

1.  Der  Kriminalist  möge  sich  mit  Hilfe  eines  Taschenmikroskopes 
(um  5 — 6  Mark)  an  verschiedenen  harmlosen  Objekten  einige  Kenntnisse 
darüber  verschaffen,  was  man  mit  dem  Mikroskope  überhaupt  erreichen 
kann,  was  also  der  Kriminalist  vom  Mikroskopiker  (der  ja  den  aller^'er- 
schiedensten  sachlichen  Fächern  angehören  kann)  verlangen  kann.  Er  soll 
also  angeleitet  werden,  der  Arbeit  der  Mikroskopiker  nicht  völlig  verständ- 
nislos gegenüberzustehen. 

2.  Er  soll  aber  auch  in  die  Lage  versetzt  werden,  in  den  sogen, 
„desperaten"  Fällen  —  wenn  also  1.  die  Sache  dringend  ist,  2.  kein  Sach- 
verständiger zur  Verfügung  steht,  und  3.  nichts  verdorben  werden  kann  — 
sich  selber  vorläufig  Hilfe  zu  schaffen. 

Auch  hier  darf  man  nicht  die  Verhältnisse  in  der  Reichshauptstadt 
allein  vor  Augen  haben,  man  denke  auch  an  den  U.R.  an  ferne  ab  gelegenen 
kleinen  Orten  und  noch  dazu  bei  einer  Lokalerhebung  in  einsamer  Gegend, 


382  Besprechungen. 

wo  er  höchstens  einen  alten  Landarzt  zu  Hilfe  hat;  der  anch  nicht  mehr 
Yom  Mikroskopieren  versteht  als  der  U.R.  Es  heißt  doch,  empfindliche 
Eifersüchtelei  zu  weit  treiben,  wenn  man  behauptet,  daß  dieser 
nicht  genau  schauen  darf! 

An  dem  Tage,  als  ich  U.R.  wurde,  habe  ich  ein  ausgezeichnetes  in 
Nickel  gefaßtes  Koneopsid  an  meiner  Uhrkette  befestigt  (an  der  es  heute 
noch  hängt),  und  mit  Hilfe  dieser  Lupe  habe  ich  mir  erlaubt,  in  einer  sehr 
großen  Menge  von  Fällen  wichtige  Klärung  zu  schaffen  und  ich  habe  ge- 
wiß nicht  ein  einziges  Mal  „wichtiges  Material  vergeudet**.  —  Ich  möchte 
daher  dem  Herrn  Verf.  raten,  die  Erfahrungen  erst  einmal  genauer  anzu- 
sehen, bevor  er  sie  angreift.  Hans  Groß. 


.      22. 

Dr.  Gustav  Radbruch,  Privatdozent  der  Rechte  in  Heidelberg, 
„Geburtshilfe  und  Strafrecht*,  Jena.  GustFischer.  1907. 

In  sympathisch  vorsichtiger  tiberlegsamer  Weise  behandelt  Verf.  die 
schwierige  Frage,  welche  Rechte  dem  Geburtshelfer  zustehen,  wenn  es  sich 
um  Tötung  der  Frucht  zur  Rettung  dör  Mutter  handelt;  hierbei  bespricht 
er  natürlich  das  gesamte  schwierige,  heute  mit  Vorliebe  behandelte  „Ärzte- 
recht*,  nennt  und  verwertet  die  ganze  Literatur  und  kommt  klugerweise 
zu  keinem  bestimmten  Vorschlag,  sondern  nur  zu  Möglichkeiten:  Die  eine 
geht  dahin,  daß  die  Perforation  eine  chirurgische  Operation  ist,  die  man 
in  einem  künftigen  St.  G.  zngleicli  mit  einer  Bestimmung  über  die  Recht- 
mäßigkeit chirurgischer  Operationen  decken  könnte.  Die  andere  geht  auf 
die  Regelung  einer  besonderen  Bestimmung  über  die  Rechtmäßigkeit  der 
Perforation  —  was  allerdings  eine  Menge  Zweifel  rege  machen  würde. 
Jedenfalls,  sagt  Verf.,  müßte  dann  eine  Reformierung  der  Notstandsfrage 
geschehen,  etwa  dahin,  daß  Notstand  vorliegt,  wenn  ....  Einer  .  .  einen 
Anderen  (also  nicht  bloß  sich  und  seine  Angehörigen)  aus  einer  Gefahr  . .  rettet 

Durch  seine  vorsichtigen  Äußerungen  hat  Radbruch  der  wichtigen  Sache 
mehr  genügt,  als  durch  einen  bestimmten,  vielleicht  doch  nicht  haltbaren 
Vorschlag*).  Hans  Groß. 

23. 

Dr.  jur.  Oskar  Holer:  „Die  Einwilligung  des  Verletzten.  Ein 
Beitrag  zu  den  allgemeinen  Lehren  des  Strafrechts. ^' 
(Aus  den  „Züricher  Beiträgen  zur  Rechtswissenschaft^^). 
Zürich  1906.     Schultheß  &  Comp. 

Die  scharfsinnige  Arbeit,  so  ungefähr  in  der  Richtung  von  Hold 
V.  Femecks  ^  Rechtswidrigkeit"  gehalten,  erörtert  zuerst  die  objektive  und 
subjektive  Seite  der  Rechtswidrigkeit,  dann  den  Begriff  der  Einwilligung 
und  die  Frage,  ob  sie  die  Rechtswidrigkeit  zu  beseitigen  vermöge.  Die 
gefundenen  Interpretationsregeln  werden  dann  an  Beispielen  geprüft;    Ein- 


1)  Meine  Ansicht  über  die  Frage  habe  ich  in  einem  dem  „Vereine  für 
Psychiatrie  und  Neurologie  in  Wien"  am  21.  Februar  1905  erstatteten  Referate 
(„Wiener  klinische  Wochenschrift'',  XVUI.  Jhrgg.  Nr.  10  ex  1905)   niedergelegt 


Besprechimgcn.  383 

willigung  beim  bedingten    und   unbedingten  Reditsgüt    (Körperverletzung^ 
ärztlicher  Eingriff,  Zweikampf).  Hans  Groß. 


24. 

Josef   Poppenscheller:    Die   Daktyloskopie    als    Erkennungs- 
mittel für  Wechselfälschungen.  Prag  1906.  Selbstverlag, 

Verf.  schlägt  vor,  den  Aussteller  und  Akzeptanten  eines  Wechsels  zu 
veranlassen,  auf  jedem  Wechsel  den  Abdruck  eines  bestimmten  Fingers  an- 
zubringen. Kontrollabdrücke  müßten  dann  in  den  Bankinstituten  erliegen. 
Hier  liegt  aber  eine  Verwechslung  vor.  Damit,  daß  auf  der  ganzen  Welt 
vieUeicht  nicht  zwei  Menschen  gleiche  Papillarlinien  haben,  ist  nicht  gesagt, 
daß  ein  Fingerabdruck  nicht  nachgemacht  werden  kann.  Freih'ch  muß 
man  einen  Wechsel  mit  einem  echten  Abdruck  haben,  aber  dann  kann 
man  mit  Hilfe  von  Photogi-aphie  und  Photogravure  unkenntliche  Abzüge 
in  beliebiger  Menge  machen,  wie  man  sie  in  allen  Lehrbüchern  der  Dak- 
tyloskopie findet.  Auch  zur  Unterschriftsfälschung  muß  man  eine  echte 
Vorlage  haben  —  es  wäre  also  mit  dem  Vorschlage  nichts  geholfen. 

Hans  Groß. 


25. 

Dr.  Erich  Wulffen,  Staatsanwalt  in  Dresden:  „Georges 
Manolescu  und  seine  Memoiren.  Kriminalpsychologische 
Studie.  Dr.  F.  Langenscheidt,  Berlin-Groß-Lichter- 
felde-Ost.     Ohne  Jahreszahl. 

Georges  Manolescu,  „Der  Fürst  der  Diebe^^,  hat  vor  Kurzem  durch 
seine  Taten  und  Schicksale  viel  Aufsehen  erregt.  Ein  auffallend  schöner, 
kräftiger  und  sicher  intelligenter  Mensch  ohne  eigentliche  Bildung,  Sohn 
eines  rumänisches  Offiziers,  genießt  er  keinen  eigentlichen  Schulunterricht, 
gerät  früh  auf  Abwege  und  stiehlt  unzählige  Male  in  Hotels  und  bei  Juwe- 
lieren, treibt  sich  als  Hochstapler  unter  dem  Namen  Prinz  Georges  Lahovary 
herum,  wird  oft  und  empfindlich  bestraft,  heiratet  eine  deutsche  Gräfin, 
verläßt  sie  wieder,  stiehlt  und  wird  wieder  eingespeiTt,  kommt  ins  Irren- 
haus, geht  durch  und  stiehlt  wieder,  geht  als  Goldgräber  nach  Nordkanada, 
bricht  den  Arm,  kommt  wieder  heim,  schreibt  zwei  Bände  Memoiren,  und 
heiratet  eine  sehr  reiche  Französin,  nachdem  ihm  der  Arm  im  Schulterge- 
lenk abgenommen  wurde. 

Wulffen  hat  sich  nun  der  großen  Mühe  unterzogen,  die  Memoiren  auf 
Ginind*  der  Gerichtsakten  und  sonstiger  verläßlicher  Behelife  genau  zu  prüfen, 
eine  Menge  liichtigstellungen  vorzunehmen  und  namentlich  die  großen  Über- 
treibungen, die  Manolescu  begeht  (besonders  bei  Angabe  des  Wertes  des 
Gestohlenen),  zu  korrigieren.  Memoiren  von  Verbrechern  haben  zweifachen 
W^ert:  einerseits  bezüglich  des  Dargestellten  als  Vorgang  und  als  psycho- 
logisches Moment,  wobei  allerdings  die  Frage  nach  der  Wahrheit  der  An- 
gaben offen  bleibt;  anderseits  als  Tatsache,  daß  der  Verbrecher  dies  ge- 
schrieben hat,  wobei  uns  nur  dieses,  oft  so  eigentümliche  Vorgehen  inter- 
essiert. Wulffen  hat  uns  nun  die  Memoiren  M.'s  in  beiden  Richtungen 
wertvoll  und  lehrreich  gemacht,    indem  er  uns  zeigt,    was  daran  wahr  ist 


384  Besprechungen. 

und  indem  er  alle  einzelnen  Vorgänge  scharfsinnig  vom  kriminalpsycholo- 
gischen Standpunkte  aus  untersucht.  Wenn  Verbrediermemoiren  nodi  weiter 
in  ähnlicher  Weise  bearbeitet  werden,  so  hat  Wulffen  eine  wertvolle  Art 
der  kriminellen  Forschung  inauguriert.  Hans  Groß. 

26. 

Robert  Gaupp:  Wege^und  Ziele  psychiatrischer  Forschung. 
Eine  akademische  Antrittsvorlesung.  Tübingen  1907. 
H.  Laupp. 

In  formschöner  Sprache  und  alle  einzelnen  Momente  wissenschaftlicher 
Forschung  auf  psychiatrischem  Gebiete  von  Heinroth  an  bis  in  unsere  Tage 
kurz  streifend,  kommt  der  ausgezeichnete  Tübinger  Forscher  zu  dem  Er- 
gebnisse, daß  die  Aufgabe  modemer  Psychiatrie  darauf  hinausgeht,  Samm- 
lung der  Tatsachen  vorzunehmen  und  das  gefundene,  zweifellos  gesicherte 
Tatsachenmaterial  zu  gruppieren,  die  Symptome  zu  Symptomenkomplexen 
und  diese  zu  Krankheitseinheiten  zusammenzufügen. 

Das  ist,  wie  Verf.  selbst  sagt,  allerdings  nicht  neu,  aber,  wie  er  zu 
diesen  Ergebnissen  mit  fortwährenden  Seitenblicken  und  Ausblicken  auf  die 
Zukunft  kommt  ist  überzeugend,  schön  und  belehrend  durchgeführt. 

Hans  Groß. 


27. 

Rechtsanwalt  Rothe  in  Chemnitz:  „Gegen  den  Gottesläste- 
rungsparagrapheu'^  und 

Pfarrer  Adolf  Schreiber  in  Wedlitz:  „Gegen  das  Jesuiten- 
gesetz."   Tübingen  1906.     J.  0.  B.  Mohr. 

Der  erste  Vortrag  zeigt  uns  die  für  die  Gesetzgebung  wichtige  Tat- 
sache, daß  wenigstens  ein  großer  Teil  der  protestantischen  Orthodoxen  einen 
„Gotteslästerungsparagraphen"  (d.  h.  den  ganzen  §  166  D,  R.  G.  B.)  im 
künftigen  Gesetze  nicht  mehr  wtlnscht.  Hierfür  werden  eine  Menge  von 
Gründen  angegeben^  von  denen  als  wichtigster,  nur  indirekt  ausgesprochener 
der  zu  sein  scheint,  daß  Gotteslästerung  immer  weniger  und  weniger  be- 
straft wird,  so  daß  es  am  klügsten  erscheint,  wenn  die  zunächst  Betroffenen 
selbst  auf  Bestrafung  verzichten. 

Der  Herr  Verf.  wolle  als  Jurist  zur  Kenntnis  nehmen  (ad  pag,  6), 
daß  in  Österreich  „die  Verleitung  eines  Christen  zum  Abfall  vom  Christen- 
tum" und  „die  Ausstreuung  einer  der  christlichen  Religion  widerstrebenden 
Irrlehre"  seit  fast  40  Jahren  (Ges.  v.  25.  5.  1868  No.  49  R.  G.  Bl.)  nicht 
mehr  strafbar  ist. 

Die  zweite  Rede  über  die  Jesuiten  interessiert  hier  nicht. 

Hans  Groß. 


ARCHIV 

FÜR 


KRIMINAL  -  ANTHROPOLOGIE 


UND 


KRIMINALISTIK 

MIT  EINER  ANZAHL  VON  FACHMÄNNERN 

HERAUSOEOEBEN 
von 

Pbof.  Dr.  HANS  GROSS 


ACHTTHrDZWAIZI&STER  BAlim. 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  F.  C.  W.  VOGEL 

1907. 


Inhalt  des  achtnndzwanzigsten  Bandes. 


Erstes  und  Zweites  Heft 

ausgegeben  3.  Oktober  1907. 

Original*Arbeiten.  s«ite 

I.  Über  Kontrast-Träume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.    Von 

P.  Näcke •    .        1 

II.  Zur  Lehre   vom   psychopathischen   Aberglauben.     Von   Professor 
Dr.  Robert  Gaupp 20 

III.  Ein  Wiederaufnahmsfall  ob  falsa.    Mitgeteilt  von  Prof.  Dr.  Rosen- 
blatt • 49 

IV.  Aus  den  Erinnerungen  eines  Polizeiheamten.   Von  Hof  rat  J.  Hölzl      57 
V.  Versuchter  Meuchelmord  eines  Epileptikers.    Mitgeteilt  vom  Unter- 
suchungsrichter Dr.  Huber 61 

VI.  Die  Rache  einer  Stiefmutter.    Mitgeteilt  von  Dr.  Bauer    ...    .  70 
Vn.  Suggestibilität  im  postepileptischen  Zustande.   Von  Dr.  Alexander 

Marguli6s 78 

Vin.  Presse  und  Recht    Von  Landgerichtsdirektor  Rote  ring    .    .    .    .  91 
IX.  Die    Straf rechtsreform    im    Aufklärungszeitalter.      Von    Professor 

Dr.  Günther 112 

Kleinere  Mitteilungen. 

Von  Medizinalrat  Dr.  Paul  Näcke: 

1.  Dr.  F6r^.    In  memoriam 193 

2.  Ein  Fall  von  Panik 194 

3.  Erröten  beim  Beten 194 

4.  Die  Wichtigkeit  der  kollateralen  orblichen  Belastung     .    .    .  195 

5.  Determinismus  und  freier  Wille ,    ....  196 

6.  Vorsicht  bei  der  Stellung  der  Diagnose:  Homosexualität!  .    .  197 

7.  Die  Wertung  des  Weibes  als  Kulturmesser 199 

8.  Die  Feinde  der  Assoziations-Psychologie 199 

9.  Angebliche  Vererbung  der  Neigung  zur  Ehelosigkeit     .    .    .  201 

10.  Merkwürdige   Motivation    onanistischer   Handlungen    seitens 
Geisteskranker 202 

Von  Dr.  Heinrich  SvorSik: 

11.  Das  Anerbieten  einer  Prostituierten  an  einen  Bordellbesitzer    202 

Von  Privatdozent  Dr.  Hans  Reichel: 

12.  Reservatio  mentahs  eines  Zeugen 208 


ly  Inhaltsverzeicbnis. 

Seite 
BficherbeBprechungen. 

Von  HanB  Groß: 

1.  Dr.  Hermann   Pfeifer:    Die   Vorschale   der   gerichtlichen 
Medizin 205 

2.  Dr.  med.  Moritz  AUberg:   Die  Grundlagen  des  Gedächt- 
nisses, der  Vererbung  und  der  Instinkte    ...*....    205 

3.  Dr.  M.  Rumpf:  Gesetz  und  Richter      ...    * 206 

Von  Dr.  P.  Näcke: 

4.  Bresler:  Religionshygiene 206 

5.  Laquer:  Der  Warenhaus-Diebstahl 207 

6.  Elstadistica  de  la  Administracion  de  justicia  en  lo  criminai  etc.  207 

7.  Zeitschrift  für  Religionspsychologie.   Grenzfrajgen der 
Theologie  und  Medizin 208 

8.  Rudeck:  Geschichte  der  öffentlichen  Sittlichkeit  in  Deutsch- 
land        208 


Drittes  und  viertes  Heft 

ausgegeben  4.  Dezember  1907. 

Original -Arbeiten. 

X.  Über  die  mexikanische  Gaunersprache  (Calö  mexicano).    Von  Amts- 
gerichtsrat Sommer 209 

XL  Simulation  von  Paralysis  progressiva.   Mitgeteilt  von  Untersuchungs- 
richter JüDr.  Ant  Glos 215 

XU.  Der  „böse  Blick"  als  Mordmotiv.    Von  Dr.  Albert  Hell w ig  .    .    220 

XIII.  Über  Schartenspuren.    Von  Landgerichtsdirektor  Knauer      .    .    .    223 

XIV.  Die  Strafrechtsreform  im  Auf klärungszeitalter.   Von  Professor  Dr.  L. 
Günther      226 

XV.  Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtlichen  Psycho- 
logie und  Psychiatrie  zu  Gießen.    Vom  k.  k.  Staatsanwaltssubstitut 

Dr.  Richard  Bauer 292 

XVI.  Unwahre  Geständnisse.     Mitgeteilt  vom  Staatsanwalt  Dr.  Richard 

Jung 818 

XVII.  Ein  Fall  gewohnheitsmSJSiger  Majestätsbeleidigung.     Mitgeteilt  vom 

Hof-  und  Gerichtsadvokat  Dr.  Max  Po  Hak 331 

XVIIL  Versuchter  Meuchelmord  eines  Fünfzehnjährigen.     Mitgeteilt  vom 

k.  k.  Staatsanwaltssubstitut  Dr.  RichardBauer 344 

XIX.  Identitätsnachweis  an  Kindern.     Vom  Medizinalrat  Dr.  G.  Näcke 
XX.  Ein  eigenartiger  Diebsaberglaube  in  Europa  und  Asien.    Von  Dr. 

Albert  Hellwig 358 

XXL  Das  „Backen**  von  Kranken.    Von  Dr.  AlbertHellwig      .    .    .    361 
XXII.  Das  Ameisenbad  als  Heilmittel.    Von  Dr.  Albert  Hellwig     .    .    366 

XXIII.  Erbschlüssel  und  siebentes  Buch  Mosis.   Von  Dr.  Albert  Hellwig    369 

XXIV.  Appetitliche  Zaubertränke.    Von  Dr.  Albert  Hellwig      ....    371 
XXV.  Regenwurmmedizin.    Von  Dr.  AlbertHellwig 376 


InhaltsverzeichniB.  Y 

8«ito 
Kleinere  Mitteilungen. 

Von  Medizinalrat  Dr.  P.  Näcke: 

1.  Nekrolog  für  Prof.  Mendel 879 

Von  Hans  Groß: 

2.  Falsche  Würfel  in  Japan 379 

S.  Brief  an  den  Heransgeber.    Von  Dr.  A.  Reiß 881 

Vom  Landgerichtsrat  Ungewitter: 

4.  E^n  Fall  von  dementia  praecox      ....    * 382 

Bficherbesprechungen. 

Von  Dr.  P.  Näcke: 

1.  Adler:  Studie  Über  Minderwertigkeit  von  Organen  ....  884 

2.  Sommer:  Klinik  für  psychische  und  nervöse  Krankheiten  .    .  384 

3.  Krauss:  Historische  Quellenschriften  zum  Studium  der  Anthro- 
pophyteia 385 

4.  Kötscher:  Das  Erwachen  des  Geschlechtsbcwußtseins  .    .    .  386 

5.  Otto  Groß:   Das  Freudsche  Ideogenitätsmoment  und   seine 
Bedeutung  im  manisch-depressiven  Irresein  Kracpelins  .    .    .  386 

6.  Weygandt:  Die  abnormen  Charaktere  bei  Ibsen     ....  387 

7.  Kreusor:  Geisteskrankheit  und  Verbrechen 387 

8.  Bloch:  Der  Ursprung  der  Syphilis 388 

9.  Morselli:  La  tuberculosi  nella   etiologia  e  nclla  patogenesi 
delle  malattie  nervöse  e  mental! .*    •    •  888 

10.  Toulouse:  Les  le^ons  de  la  vie 389 

IL  Siemerling:  Streitige  geistige  Krankheit 389 

12.  Westermarck:  Uraprung  und  Ent  Wickelung  der  Moral  begriffe  390 

13.  Iwan  Bloch:  Das  Texualleben  unser  Zcitschr. 891 

14.  N.  0.  Bady:  Aus  eines  Mannes  Mädchenjahren 391 

15.  NÄvrat:  Der  Selbstmord 391 

16.  Mutterschutz.     Zeitschrift  zur  Reform  der  sexuellen  Ethik  392 

Von  Dr.  Ernst  Lohsing: 

17.  Kompendien  des  österreichischen  Rechtes 393 

Von  Hans  Groß: 

18.  Schmidtmann:  Handbuch  der  gerichtlichen  Medizin    .    .    .  394 

19.  Der  Pitaval  der  Gegenwart 395 

20.  Dr.  med.  Moritz  Olsberg:    Die   Grundlagen   des   Gedächt- 
nisses, der  Vererbung  und  der  Instinkte 395 

21.  Gerichtsassessor  Dr.  M.  Rumpf:  Gesetz  und  Richter  .     .  395 


I. 

Über  Kontrast-Träame 
und  speziell  sexaelle  Kontrast-Träume. 

Von 

Medizinalrat  Dr.  F.  Käcke  in  Hubertusburg. 


Immer  mehr  hat  man  eingesehen,  daß  der  Traum  nicht  das 
regellose  Durcheinander  ist,  als  welches  er  dem  Laien  und  oberflächlich 
Blickenden  erscheint  Je  tiefer  man  sich  mit  der  Psychologie  dieses 
Phänomens  abgibt,  um  so  mehr  erkennt  man,  daß  hier  alles  deter- 
miniert ist  und  zwar,  wie  jede  gute  oder  schlechte  Handlung,  von 
innen  und  von  außen  zugleich  bedingt,  wobei  einmal  mehr  das  endo  — , 
das  andere  Mal  mehr  das  exogene  Moment  die  Tat  auslöst 

Seit  uralter  Zeit  hat  das  Traumleben  die  Menschen  angezogen 
und  zu  allerlei  Aberglauben  geführt,  sogar  mit  einer  Wurzel  die  Ur- 
Beligion  gebildet  0  Aber  einzudringen  in  das  tiefe  psychische  Sätsel 
des  Traumes  hat  man  erst  in  neuester  Zeit  angefangen. 

Wie  bei  jedem  psychischen  Phänomen  hat  man  die  Selbst- 
beobachtung^ die  fremde  Beobachtung  und  endlich  sogar  das  Experi- 
ment mit  Erfolg  herangezogen.  Die  Sache  ist  aber  eine  so  spröde, 
daß  nur  sehr  wenige  wirkliche  Traum-Psychologen  da  sind,  ja  von 
zünftigen  Psychologen  wird  der  Traum  immer  noch  stiefmütterlich, 
um  nicht  zu  sagen  geringschätzig  behandelt.  Und  doch  habe  ich  in 
letzter  Zeit  wiederholt  auf  die  forensische  Bedeutung  des  Gegenstandes 
hingewiesen,  mehr  als  andere.  ^)    De  Sanctis  in  B^m  hat  vor  einigen 

1)  Die  Lehre  von  der  Seelenwandenmg  ist  z.  T.  wohl  sicher  auf  Träume 
zurückzuführen.  Dieselben  lehren  aber  auch  weiter,  daß  der  Mann,  auch  der 
zivilisierte,  von  Haus  aus  polygam  angelegt  ist 

2)  Näcke.  a)  Die  forensische  Bedeutung  der  Träume.  Dies  Archiv,  Bd.  5, 
p.  114 ff.  b)  Der  Traum  als  feinstes  Reagens  für  die  Art  des  sexuellen  Empfindens. 
Monatsschr.  für  Kriminalpsychol.  etc.  1905,  p.  560.  Dazu  noch  c)  Nachtrag  zu 
den  „sexuellen  Träumen'^,  ibidem,  p.  637.  Diese  Arbeiten  sind  in  ihrer  Art  die 
ausführlichsten. 

ArohiT  fOr  Kriminalanthropologi«.  26.  Bd.  1 


2  L  Näcke 

Jahren  ein  interessantes  Buch  fiber  Träume  geschrieben,  auf  großer 
Erfahrung  beruhend.  Vaschide  in  Paris  machte  außerordentlich 
wichtige  Beobachtungen  an  sich,  indem  er  längere  Zeit  hindurch  sich 
zu  bestimmten  Zeiten  wecken  ließ  und  so  nachweisen  konnte,  daß  er 
stets  träumte,  vor  Mittemacht  sich  fast  nur  mit  der  Vergangenheit, 
nach  Mittemacht  mit  der  Gegenwart  und  Zukunft  beschäftigte.  Er 
konnte  dasselbe  auch  an  anderen  Personen  in  gleicher  Weise  erhärten, 
was  ein  wichtiges  Ergebnis  darstellt  Waren  nun  schon  früher 
direkte  Experimente  an  Schlafenden  gemacht  worden,  so  wurden  sie 
systematisch  nach  einer  bestimmten  Richtung  hin  neuerdings  von 
Vold  in  Christiania  wieder  aufgenommen,  wodurch  der  große  Einfluß 
des  äußeren  Reizes  von  neuem  nachgewiesen  ward.  Dann  kam  Freud 
mit  seinem  Buche  1900:  Die  Traumdeutung,  welcher  psychoanalytisch 
vorging,  höchst  Interessantes  entdeckte,  aber  mit  seiner  Hauptthese, 
daß  nämlich  der  Traum  nur  als  „Wunschtraum''  aufträte,  offenbar 
weit  über  das  Ziel  hinausschoß,  ebenso  ein  in  seiner  Psychoanalyse 
der  Hysterie,  Zwangsneurose  etc.  In  nächster  Zeit  wird  uns  voraus- 
sichtlich der  ausgezeichnete  englische  Psycholog  Havelock  Ellis  mit 
einem  Buche  über  Traumpsychologie  erfreuen.  Seit  Jahren  habe 
auch  ich  mich  mit  Traumpsychologie  beschäftigt  und  ein  großes 
Material  angesammelt,  das  hoffentlich  einmal  in  extenso  verarbeitet 
werden  wird.  Unterdes  habe  ich  verschiedene  größere  Arbeiten  und 
kleinere  Mitteilungen  über  den  Gegenstand  veröffentlicht,  die  mein 
reges  Interesse  daran  genugsam  bekunden. 

Man  hatte  sich  aber  nicht  mit  dem  Aufsuchen  der  Determination 
bei  Träumen  begnügt,  sondem  wollte  noch  weitergehen  und  suchte 
sogar  nach  spezifischen  Träumen.  Da  sollten  zunächst  die  Ver- 
brecher mehr  oder  weniger  solche  haben  (Lombroso),  dann  die 
Geisteskranken,  wie  das  besonders  S.  de  Sanctis  an  eigenem  Materiale 
zu  beweisen  suchte.  Eigene  Verbrecherträume  gibt  es  aber  nicht  und 
auch  von  spezifischen  bei  Irren  habe  ich  mich  trotz  jahrelangen  Suchens 
bei  sehr  großem  Materiale  nie  wirklich  überzeugen  können.  Ja,  nicht 
einmal  das  konnte  von  mir  festgestellt  werden,  ob  die  Irren  mehr 
träumen  als  Gesunde !  Da  man  es  bei  Träumen  nur  mit  subjektiven 
Angaben  zu  tun  hat,  kann  man  nicht  vorsichtig  genug  sein  und  speziell 
Geisteskranke  sind  hierin  sehr  unsicher.  Bei  Epileptikem  etc.  wollte 
man  ebenfalls  charakteristische  Träume  gefunden  haben ;  auch  das  ist 
nicht  zutreffend,  wenn  auch  hier  vielleicht  schreckhafte  und  solche 
mit  Feuerschein  etc.  häufiger  als  sonst  vorkommen. 

Die  interessante  Frage  der  Träume  bei  Tieren  ist  weiter  durch- 
aus noch  nicht  einwandfrei  gelöst,  wenn  auch  manche  Beobachtungen 


über  Kontrast-Traume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  3 

dafür  zn  sprechen  scheinen.  Die  uns  noch  näher  angehenden  Kinder- 
tränme  sind  wenig  erforscht  und  die  psychologisch  so  wichtigen  bei 
den  sog.  Wilden  noch  viel  weniger,  obgleich  z.  B.  de  Sanctis 
manches  Material  hierüber  herbeibringt. 

An  dieser  Stelle  will  ich  nur  ein  kleines  Gebiet  der  Traum- 
psychologie betreten,  das  fast  Neuland  genannt  werden  muß  und  hier 
zum  1.  Male  näher  untersucht  wird,  nämlich  das  der  Kontrast- 
Träume!  0  Zuvor  aber  noch  einige  Erläuterungen.  In  meiner  ange- 
zogenen Arbeit  (unter  b)  setzte  ich  auseinander,  daß  mehr  als  im 
Wachen  die  Instinkte  in  Träumen  walten,  das  sog.  „primäre  Ich", 
namentlich  die  zwei  Grundtriebe  der  Selbsterhaltung  und  der  Fort- 
pflanzung. Daher  auf  der  einen  Seite  die  Signatur  der  meisten 
Träume  der  Egoismus  ist,  auf  der  anderen  häufig  der 
Erotismus^),  der  ja  auch  schließlich  als  eine  Art  Egoismus  sich  auf- 
fassen läßt  Es  wird  nun  von  vielen  Umständen  abhängen,  ob  beide 
Grundtriebe  stark  oder  schwach  oder  scheinbar  gar  nicht  anklingen. 
Vor  allem  ist  hier  die  angeborene  Stärke  jener  Instinkte  ausschlag- 
gebend, dann  in  zweiter  Linie  die  Stärke  und  Festigkeit  des  „sekundären 
Ichs^,  d.  h.  also  des  durch  Erziehung,  Leben  und  Milieu  erworbenen 
und  „superponierten^  geistigen  Zuwachses,  das  im  Wachen  als  Regulator 
der  Handlungen  auftritt  und  die  Triebe  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
niederhalten  kann  oder  sie  stärken,  wenn  sie  zu  schwach  ausgefallen 
waren.  Sehr  wichtig  ist  auch  die  Tiefe  des  Schlafs  und  wahrscheinlich 
auch,  ob  der  Schlaf  ein  natürlicher  oder  künsüicher,  d.  h.  also  die 
Instinkte  z.  T.  scheinbar  erregender  ist 

Beobachtet  man  sich  nun  genau,  so  wird  man  finden,  daß  sehr 
oft  das  moralische  Niveau  des  Einzelnen  im  Traume  sinkt, 

1)  S.  de  Sanctis  (J  Sogni,  Torino  1899),  p.  152,  spricht  von  „Eontrast- 
träumen^  (sogni  di  contrasto),  aber  nur  bei  Hysterischen,  wo  er  sie  bisweilen  an- 
traf. Seine  Definition  deckt  sich  fast  ganz  mit  der  meinen.  Er  unterscheidet 
solche  nper  contrasto  intellettaalo''  und  „per  contrasto  emotivo".  Letztere  be- 
ziehen sich  nur  auf  den  Affekt-Kontrast  gegen  die  gewohnliche  Stimmung  oder 
die  am  Abend  vorher.  Ich  untersuche  hier  nur  die  erstere  Gruppe  (deren  Name 
freilich  nicht  gut  gewählt  ist),  für  welche  (wie  auch  die  zweite)  S.  de  Sanctis 
keine  nähere  Erklärung  gibt.  Von  sexuellen  Kontrastträumen  spricht  er  über- 
haupt nicht.  In  meiner  oben  angeführten  Arbeit  habe  ich  auch  gams  kurz  schon 
jener  gedacht  unter  sexuellen  Träumen  verstehe  ich  solche,  in 
welchem  der  Träumende  aktiv  oder  passiv  eine  sexuelle  Szene 
miterlebt. 

2)  Wenn  Jung  (Über  die  Psychologie  der  Dementia  praecox,  Halle,  Mar- 
hold  1907,  p.  52)  meint,  daß  die  meisten  Träume  und  die  meisten  Hysterien 
erotisch- sexuelle  seien,  so  ist  das  eine  starke  Übertreibung  besonders  bez.  der 
Träume.    Jung  hat  sich  leider  durch  Freud  zu  sehr  beeinflussen  lassen I 

1* 


4  I.  Nagke 

vielleicht  sogar  stets,  soweit  es  sich  nicht  um  gleichgültige  Dinge 
handelt  Man  wird  also  z.  B.  ruhig  Ungerechtigkeiten  yomehmen 
sehen,  ohne  zu  murren,  ruhig  kleine  Diebereien,  Betrügereien  begehen, 
auch  gefährliche  Liebeleien,  ja  sogar  einmal  Ehebruch,  ohne  Reue  zu 
empfinden  etc.  Das  wird  nun  bei  den  einzelnen  aber  in  sehr  ver- 
schiedener Stärke  sich  zeigen  und  eben  von  den  verschiedenen  ge- 
nannten Momenten  und  ihrer  Ausprägung  abhängig  sein.  Im  ganzen 
wird  sich  freilich  trotzdem  der  gute  oder  schlechte 
Charakter  des  Träumenden  fast  nie  verleugnen  und 
deshalb  hat  der  Traum  auch  einen  charakterologischen 
Wert,  der  sich  aber  nur  durch  Serienträume  feststellen 
läßt,  d.  h.  also  durch  eine  Reihenfolge  von  Träumen,  möglichst 
aus  weiter  auseinander  liegenden  Zeiten  und  das  ist  nur  selten  zu  haben. 
Dann  würde  man  z.  B.  bei  einem  kaltblütigen  Mörder,  Raubmörder, 
schweren  Einbrecher  etc.  nachweisen  können,  daß  der  Betreffende  ein 
schlechter  Mensch  war,  dagegen  nicht,  daß  er  ein  Mörder,  Einbrecher 
etc.  werden  würde.  Ein  Mörder  wird  auch  durchaus  nicht  immer,  ja 
wohl  nur  sehr  selten  vom  Morden  oder  gar  von  seinem  Morde 
träumen  u.  s.  f.  Jeder,  der  nähere  Selbstschau  übte,  wird  sich  im 
Traum  auf  seinen  geheimsten  Fehlern  ertappen,  aber 
auch  auf  seinen  guten  Seiten.  Der  Gelehrte,  Suchende,  wird 
oft  im  Traume  allerhand  Probleme  behandeln,  wenn  sie  auch  weit 
ab  von  seinen  Wachgedanken  liegen,  der  Edle  wird  vornehm  agieren, 
worüber  er  sich  sogar  während  des  Traumspiels  freuen  kann  etc. 

Kontrast-Träume  nenne  ich  nun  diejenigen,  die  in 
schreiendem  Kontrast  zum  gewöhnlichen  Charakter 
stehen,  also  nicht  solche,  die  dem  gewöhnlich  niedriger 
eingestellten  Moral-Niveau  im  Traum  entsprechen.  Wenn 
also  z.  B.  ein  seelensgtiter  Mensch  einmal  träumt,  er  habe  Jemanden 
ermordet,  um  ihn  zu  berauben,  oder  aus  Neid,  oder  wenn  ein  keuscher 
Jüngling  sich  als  raffinierten  Wüstling  auftreten  sieht,  oder  wenn  ein 
Halunke  von  Kindesbeinen  an  die  Rolle  eines  edlen  Mannes  spielt,^) 
so  sind  das  Kontrast-Träume.  Man  erkennt  sie  auch  daran,  daß  sie 
meist  den  Träumer  so  tief  affizieren,  daß  er  darüber  aufwacht  und 
froh  ist,  daß  der  böse  Spuk  vorüber  ging.  Während  die  gewöhnlichen 
Träume  zum  größten  Teile  vergessen  werden,  so  geschieht  es  mit 
jenen  meist  nicht  Sie  können  sogar  noch  den  ganzen  Tag  über  im 
Wachen  die  Stimmung  regieren,  die  Gedanken  hemmen  oder  fördern. 

1)  Dieser  Fall  dürfte  sehr  selten  sein,  kommt  aber  doch  wohl  einmal  vor, 
obgleich  ich  keinen  solchen  kenne.  Theoretisch  wenigstens  ist  die  Möglichkeit 
dazu  gegeben. 


über  Kontrast-Träume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  6 

Bei  dazu  Disponierten  könnte  im  ersten  Falle  vielleicht  einmal  der 
Anstoß  zu  einer  Psychose,  besonders  zu  Melancholie  gegeben  sein. 
In  ihrer  erregenden  Wirkung  ähneln  sie  den  sog.  prämonitorischen* 
(Ahnungs-)  Träumen,  auf  die  ich  später  einmal  zurückzukommen 
gedenke. 

Wie  hat  man  sich  nun  den  Mechanismus  solcher  Kontrast-Träume 
zu  denken?  Meiner  Ansicht  nach  etwa  folgendermaßen.  Es  muß  zu 
einer  gegebenen  Zeit  aus  irgend  welchen  Ursachen  entweder  das 
sekundäre  Ich  ganz  oder  zum  größten  Teile  ruhen,  sodaß  ein 
relativ  starker  Grundinstinkt  nun  mehr  oder  minder  nackt  hervortritt 
und  im  Spiele  der  Assoziationen  einen  Kontrast-Traum  erzengt  Oder: 
das  sekundäre  Ich  bleibt  ziemlich  unberührt  und  der  bestehende 
Instinkt  wird  aus  inneren  oder  äußeren  Ursachen  in  besondere  Er- 
regung versetzt  Oder  endlich  der  Fall  1  und  2  treten  kombiniert 
auf,  sodaß  dann  selbst  ein  schwach  angelegter  böser  Instinkt  zu  relativ 
gefahrdrohender  Höhe  anwächst.  Da  nun  Fall  1  normalerweise 
gewiß  nur  selten  eintritt,  so  bleiben  für  gewöhnlich  nur  die  Fälle  2 
und  3  übrig  und  es  wird  dann  von  Fall  zu  Fall  zu  ent- 
scheiden sein,  ob  man  annehmen  soll,  daß  vorwiegend 
nur  das  „primäre  Ich^  gereiztf  oder  aber  auch  gleich- 
zeitig das  ^ySekundäre'^  geschwächt  wurde. 

Nun  lassen  sich  verschiedene  Ursachen  dafür  denken.  Da  unter 
gewöhnlichen  Verhältnissen  solche  Kontrast- Träume 
wahrscheinlich  nicht  oder  nur  abnorm  selten  sind,  so 
müssen  außergewöhnliche  Ursachen  vorliegen.  Das  wird 
z.  B.  stattfinden  können,  wenn  große  geistige  oder  körperliche 
Anstrengungen  am  Tage  vorher  stattfanden,  oder  starke  Affekte 
oder  Erschütterungen  eingewirkt  hatten.  Es  ist  dann  wohl  nicht 
zu  gewagt  sich  als  möglich  vorzustellen,  daß  dadurch  das  sekundäre  Ich 
geschwächt  erscheint,  die  Gedankenkomplexe  gelockert  sind,  und  dies 
besonders  bei  Personen  mit  gering  entwickeltem  sekundärem  Ich  oder 
bei  schon  schwer  heruntergekommenen  Menschen.  Es  würde  eventuell 
auch  ohne  alle  Reizung  der  großen  Gehimganglien,  wohin  man  sich 
das  „primäre  Ich'^  vorwiegend  konzentriert  denkt,  ein  Kontrasttraum 
dann  wohl  möglich  sein.  Ist  unsere  Hypothese  richtig,  so  müßten 
solche  Träume  besonders  bei  sehr  Nervösen,  körperlich  und  geistig 
Überangestrengten  —  z.  B.  nach  großen  Bergtouren,  Badfahrpartien, 
durchwachten  Nächten  etc.  —  häufiger  sein,  aber  auch  bei  sonst  ge- 
sunden Kindern  und  sog.  Wilden  mit  ihrem  geringer  entwickelten 
sekundären  Ich  Leider  ist  uns  hierüber  nichts  bekannt  Wahr- 
scheinlich aber  ist  es,  daß  gleichzeitig  durch  die  oben  angeführten 


6  I.  Näcke 

Momente  giftige  Stoffwechselprodnkte  im  Körper  sich  anhäufen  und 
diese  nicht  nur  die  höheren  Gefühle  u.  s.  f.  schwächen,  sondern  zu- 
gleich auch  die  Grundtriebe  reizen.  Das  scheint  der  gewöhnliche  Modus 
zu  sein.  Andrerseits  —  der  3.  Fall  —  gibt  es  wohl  gewisse  Gifte,  be- 
sonders Alkohol,  Aether,  Morphium,  Absinth  etc.,  die  wieder 
vorwiegend  —  aber  kaum  allein  —  auf  die  Grundtriebe  ein- 
wirken und  sieso  erregen,  daß  diese  alle  sich  entgegensetzenden 
Schranken  durchbrechen.  Bei  jenen  Vergiftungen  müßten  daher  solche 
Träume  häufiger  sein,  was  aber  auch  noch  zu  beweisen  ist.  Fall  2 
scheint  mir  also  der  häufigste  zu  sein,  wenn  nicht  überhaupt  der 
einzig  mögliche.  Es  dürfte  sich  jedoch  um  gewisse  Kumulativ  Wirkungen 
handeln,  da  vorher  der  Träumende  nicht  aufwachte,  wohl  aber  dann, 
wenn  der  schreckliche  Kontrasttraum  eintritt,  was,  da  wohl  stets  die 
ganze  Nacht  durch  geträumt  wird,  auf  vorhergehende  mehr  gleich- 
gültige Träume  hinweist  Die  Katastrophe  tritt  dann  scheinbar  etwa 
so  plötzlich  ein  wie  das  delirium  tremens. 

Natürlich  ist  das  hier  Vorgetragene  nur  Hypothese.  Man  wird 
aber  zugeben,  daß  obige  Erwägungen  durchaus  im  Bahmen  der  Mög- 
lichkeit sich  bewegen.  Auch  aus  dem  Wachleben  können  wir  analoge 
Zustände  anführen,  die  unsere'Hypothese  noch  mehr  empfehlen.  Wir 
wissen  nämlich,  daß  die  Moral  der  Masse  stets  niedriger  ist 
als  die  des  Einzelnen,  was  vorwiegend  auf  die  stark  suggerierende 
gegenseitige  Einwirkung  zu  schieben  ist,  bei  möglichst  gleichem 
Milieu.  Jeder,  der  die  vor  Lust  glänzenden  Augen  der  Zuschauer 
bei  einem  Stierkampfe  gesehen  hat  —  besonders  bei  den  Frauen  —  hat 
ein  weiteres  Beispiel  dafür,  wie  durch  diese  Massen-Suggestion  etc.  die 
grausamen  Triebe  zum  Vorschein  kommen.  Sicher  gibt  es  trotzdem  unter 
den  Zuschauern  ebensoviele  wirklich  gute  Menschen  wie  bei  uns,  die  mit 
Abscheu  an  jene  Szenen  zurückdenken,  soweit  es  sich  wenigstens  um 
das  rohe  Blutvergießen  der  Pferde  handelt.  Wer  hat  nicht  von  den 
entmenschten  Weibern  der  großen  Revolution  gehört,  den  tricoteuses, 
wie  sie  frenetisch  die  Carmagnole  sangen,  oder  von  den  p6troleuses 
während  der  Kommune?  Sicher  gab  es  darunter  nicht  wenige,  die 
nicht  wirklich  entmenscht  waren.  Sie  wurden  es  durch  die  Macht 
des  Beispiels,  der  Ansteckung  der  Leidenschaft  etc.  Und  in  wie  roher 
Weise  zeigt  sich  nicht  selten  der  Erhaltungstrieb  bei  schweren 
Unglücksfällen,  wie  Schiffsstrandungen,  Überschwemmungen  etc.  selbst 
bei  sonst  guten  Menschen?  i)    Alle  diese  Umstände  haben   es   also 

1)  Mir  ist  es  daher  ganz  unerfindlich,  wie  ein  so  hervorragender  Schriftsteller 
wie  Henri  Lavedan  in  einem  kurzen  Artikel,  betitelt :  les  femmes  sous  la  Revolution, 
in  den   „Annales,  noel  1906,  La  Frangaise  i\  travers  les  ages"   folgenden  Satz 


über  Kontrast-Träume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  7 

vermocht,  einerseits  die  Grandinstinkte  aufzustacheln  und  wahr- 
scheinlich andrerseits  gleichzeitig  die  Macht  des  sekundären  Ichs  zu 
schwächen.  Auch  hier  treten,  wie  es  scheint,  Stoffwechselanomalien 
ein,  die  das  abnorme  Verhalten  physiologisch  erklären  könnten.  Man 
sieht  jedenfalls  die  Ähnlichkeit  dieser  auch  meist  vorübergehenden 
Zustände  mit  den  Kontrastträumen,  die  sogar  so  groß  ist,  daß  man 
fast  an  eine  Identität  der  physio-  und  psychologischen  Verhältnisse 
denken  könnte,  zumal  auch  bei  jenen  Wachzuständen  eine  Art  Extase 
entstehen  kann,  eine  Einengung  des  Bewußtseins,  die  lebhaft  an  einen 
Schlafzustand  erinnert 

Will  mau  nun  dieses  mehr  oder  minder  momentane  Durch- 
brechen der  Grundtriebe  im  Traume  als  einen  Atavismus  bezeichnen, 
so  kann  man  es  tun,  vergesse  aber  nicht,  daß  es  sich  dabei  wahrschein- 
lich stets  um  einen  leichten  oder  schweren  pathologischen  Zustand  i) 
handelt. 

Wenden  wir  uns  jetzt  den  sexuellen  Kontrastträumen  zu, 
80  mögen  zuvor  noch  einige  einleitende  Sätze  gestattet  sein.  Seit 
Jahren,  besonders  aber  in  meiner  angezogenen  ersten  Arbeit,  habe 
ich  auf  den  Traum,  als  ein  wohl  untrügliches  Reagens  für  die 
spezielle  Art  des  sexuellen  Empfindens  eines  jeden  hingewiesen. 
Dies  wird  auch  immer  mehr  anerkannt  und  erscheint  daher  forensisch 
als  ein  nicht  unwichtiges  Mittel,  um  iu  die  Vita  sexualis  eines  An- 
geschuldigten zu  dringen^  wenn  es  gelingt^  Serienträume  zu  er- 
halten. Übrigens  haben  die  Wichtigkeit  der  sexuellen  Träume  schon 
F6t6,  V.  Krafft-Ebing  und  Havelock  Ellis  erkannt,  indem 
sie   diese  in  ihren  Krankengeschichten  oft  erwähnen.     Zum  ersten 


schreiben  kann :  ^Les  catastrophes  ont  toujours  attendri  les  femmes  et  les  grandes 
cruaut^s  politiques  et  sociales  ont  pour  invariable  et  premier  effet  de  les  rendre 
moins  craelles".  Ein  Satz,  den  die  Geschichte  und  Kulturgeschichte  überall  wider- 
legt Freilich  gibt  es  genug  Männer  und  Frauen,  die  so  glücklich  beanlagt  sind, 
daß  auch  jene  plötzliche  Umstände  sie  nicht  fallen  lassen.  Daß  sie  aber  dadurch 
noch  besser  werden  sollten,  durfte  eine  ungeheure  Ausnahme  sein,  wenn  man 
z.  B.  auch  Fälle  kennt,  wo  schwere  Verbrecher  in  Gefahren  zu  großer  Aufopferung 
bereit  waren.  Anders  freilich  als  plötzliches  wirkt  lang  anhaltendes  Unglück 
irgend  welcher  Art  Hierbei  kann  und  zwar  scheinbar  gar  nicht  allzuselten  ein 
wahres  inneres  Läuterungswerk  eintreten. 

1)  Ich  habe  nie  Kontrastträume  bei  Geisteskranken  angetroffen.  Gerade 
hier  sollte  man  sie  a  priori  häufiger  erwarten.  Auch  bei  ihnen  wird  aber  im 
großen  und  ganzen  der  frühere  Charakter  in  der  Krankheit  bewahrt,  wenn  auch 
verzerrt,  hier  atrophiert,  dort  hypertrophiert  etc.  Eine  totale  und  bleibende  Um- 
wandlung sah  ich  kaum  je!  Das  dürften  auch  die  Träume  bezeugen.  Wo  frei- 
lich schon  Blödsinn  oder  Aufhebung  des  Bewußtseins  eingeti*eten  ist,  kann  von 
Charakter  mcht  mehr  gut  die  Rede  sein. 


8  L  Nagke 

Mal  jedoch  hat,  so  viel  ich  sehe,  Moll  in  seinem  Buche:  Die  kon- 
träre Sexnalempfindnng  (Berlin  1891)  auf  die  diagnostische  Wichtigkeit 
derselben  aufmerksam  gemacht  und  zwar  speziell  bez.  der  Homo- 
sexuellen. Er  sagt  (1-  c.  p.  193)  klipp  und  klar,  „daß  die  erotischen 
Träume  gewöhnlich  denselben  Inhalt  haben,  wie  die  Geschlechts- 
empfindungen  im  wachen  Zustande^  i).  Er  kennt  allerdings  einige 
Ausnahmen,  die  ich  aber  als  Kontrastträume  ansehe  und  erkläre. 
Diese  Diagnostik  erscheint  mir  daher  so  gesichert,  daß  ich  bis 
jetzt  keine  Ausnahme  kenne  oder  höchstens  nur  Scheinausnahmen. 
Jede  Nuance  der  Geschlechtsempfindung  wird  auf  das  genaueste 
wiedergegeben.  Und  der  Wert  dieses  diagnostischen  Mittels  erscheint 
um  so  größer,  als,  wie  Havelock  Ellis  (in  einer  Besprechung 
meiner  obigen  Arbeit  im  Journal  of  Mental  Science,  1906)  richtig  be- 
merkt —  und  das  gilt  auch  von  den  nicht  sexuellen  Träumen!  — 
die  Leute  lieber  ihre  Träume,  als  ihre  Handlungen  kundtun.  Das- 
selbe sagt  übrigens  schon  Moll.  Nur  muß  man  auch  bei  den 
sexuellen  Träumen  sich  ruhig  und  unabsichtlich  erzählen  lassen,  um 
möglichst  vertrauenswürdiges  Material  zu  gewinnen.  In  meiner  Arbeit 
(b.,  p.  505)  hatte  ich  weiter  gesagt:  „Der  von  Jugend  auf  Homo- 
sexuelle träumt  nur  homosexuell,  nieanders;  der  Bisexu- 
elle natürlich  hetero-  und  homosexuell,  d.  h.  entweder  ab- 
wechselnd so  oder  während  gewisser  Zeiten  nur  homo-,  während 
anderer  nur  heterosexuell,  der  tardiv  Homosexuelle  nur  zuletzt 
homosexuell,  der  temporäre  Homosexuelle  nur  tempo- 
rär so.'' 

Als  Erster  habe  ich  dagegen  wohl  auf  eine  andere  Wichtigkeit  der 
sexuellen  Träume  in  foro  hingewiesen.  Es  handelt  sich  nämlich  bis- 
weilen um  Bektifizierung  irrtümlicher  Geschlechtsbestimmung  mit 
ihren  Folgen,  also  in  Fällen  von  Scheinzwittern,  da  echte 
(d.  h.  also  Personen  mit  Hoden  und  Eierstöcken  zugleich)  bisher  nur 
einigemale  beschrieben  wurden.  Hier  könnten  nun  Serien- 
träume große  Dienste  leisten  und  ziemlich  sicher  auf 
das  richtige  Geschlecht  schließen  lassen.  Stets  auf  den 
Mann  gerichtete  libidinöse  Träume  sprechen  durchaus  für  ein 
Weib,  das  umgekehrte  Verhalten  für  einen  Mann.  Natürlich  muß 
man  an  eine  mögliche  Homosexualität  denken,  doch  wissen  wir  hier- 
über bei  Scheinzwittem  wohl  noch  nichts,  auf  alle  Fälle  sind  es 
nur  große  Ausnahmen.  Bei  echten  Zwittern  anderseits  würden  unserer 
Theorie   nach  wegen  Vorliegen  beider  Arten  von  Keimdrüsen,  wenn 


1)  Im  Text  ist  dieser  Satz  gesperrt  gedruckt. 


über  Kontrast-Träume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  9 

sie  gleich  stark  entwickelt  sind,  auch  bisexuelle  Träume  eintreten.  Bis 
jetzt  hat  man  leider  alif  die  Träume  der  Zwitter,  d.  h.  also  meist  der 
Scheinzwitter,  nur  wenig  geachtet.  Wo  es  dennoch  geschah,  zeigt  sich 
durch  nähere  Untersuchung  meine  Theorie  glänzend  bestätigt.  So 
hat  wieder  ganz  kürzlich  Hirschfeld  0  zwei  Fälle  von  Schein- 
zwittem  vorgestellt,  die  sich  bei  genauer  ortlicher  Untersuchung  in 
vivo  als  Männer  erwiesen;  sie  hatten  stets  auf  Weiber  gerichtete 
Geschlechtsträume  gehabt  Interessant  ist  aber  auch  ein  von 
Hirschfeld  zitierter  Fall  von  Garr^e,  und  zwar  deshalb,  weil  man 
im  Bruchsacke  des  Zwitters  einen  Hoden  mit  Eierstock  verbunden 
vorfand,  was  auch  die  mikroskopische  Untersuchung  erwies.  Hier 
waren  menses,  Pollutionen  mit  Erektionen  und  „libidinösen  Träumen, 
die  sich  auf  das  Weib  bezogen"  eingetreten.  Die  betreffende  Person 
fühlte  sich  ganz  als  Mann,  wie  auch  die  sexuellen  Träume  zeigten. 
Warum  traten  dieselben  nun  hier  nicht  bisexuell  auf,  da  doch  Hode 
und  Eierstock  sich  vorfanden?  Das  wird  wohl  vom  Vorwiegen  der 
tätigen  Hoden  über  die  Eierstockssubstanz  abgehangen  haben,  was 
natürlich  nur  die  Sektion  entscheiden  könnte.  Ob  in  dem  im  Bruch- 
sacke Vorgefundenen  mehr  Hoden  als  Eierstock  da  waren,  ist  leider 
nicht  angegeben.  2) 

Endlich  wies  ich  auch  darauf  hin,  daß  eine  sichere  Diag- 
nose der  sexuellen  Abnormitäten  durch  die  Träume 
„nicht  nur  einen  gewissen  forensen  Wert,  sondern  auch 
einen  prognostischen  und  therapeutischen^  (1.  c.  p.  508) 
besitzt,  da  bei  von  Jugend  auf  konstant  gebliebener  Perversion  und 
also  genau  derselben  entsprechenden  sexuellen  Träumen  jede  Hoff- 
nung auf  eine  erfolgreiche  Therapie  so  gut  wie  ausgeschlossen  er- 
scheint, nicht  aber  da,  wo  sie  nur  schwach  auftritt  oder  in  Form  von 
Bisexualität,  oder  nur  spät  oder  vorübergehend. 

Jetzt  endlich  kommen  wir  zu  den  sexuellen  Kontrast- 
träumen. Ich  nenne  so  libidinöse  Träume,  die  der  ge- 
gewöhnlichen Geschlechtsempfindung  des  Träumenden 
entgegengesetzt  sind,  also  wenn  ein  sonst  durchaus  heterosexuell 
Empfindender  ein-  oder  mehrmals  deutliche  homosexuelle  Träume  hat, 
oder  wenn  ein  echter  Homosexueller  einmal  heterosexuell  träumt.  Die 
Bedingungen  dazu  scheinen  dieselben  zu  sein   wie  bei   den   nicht- 

1)  Drei  Fälle  vou  irrtümlicher  Geschlechtsbestimmung.  Medizinische  Reform, 
Nr.  51,  1906. 

2)  Auch  in  der  eingehendsten  Selbstbiographie  eines  Scheinzwitters ,  die 
wir  besitzen,  in  dem  Buche  N.  0.  Body's:  Aus  eines  Mannes  Mädchenjahren 
Berlin,  Riecke,  1907)  finden  wir  wieder  unsere  These  bestätigt. 


10  I.  Näcke 

sexuellen  Eontrastträumen.  Über  Vorkommen,  Häufigkeit  derselben 
etc.  wissen  wir  noch  weniger  als  bei  jenen,  es  scheint  aber  fast  sicher, 
daß  der  Heterosexuelle  über  einen  homosexuellen  Traum  fast  noch 
mehr  erschrickt  als  über  einen  andern  Eontrasttraum,  da  die  meisten 
Heterosexuellen  einen  anerzogenen  —  gewiß  nicht  angeborenen !  — 
Abscheu  vor  der  Homosexualität  haben. 

Ich  kann  mich  nicht  entsinnen,  in  der  Literatur  bez.  Hetero- 
sexueller diese  Art  von  Träumen  gefunden  zu  haben,  was  freilich  für 
ihre  Häufigkeit  oder  Seltenheit  wenig  besagen  will.  Gewiß  werden 
manche,  die  solches  erlebt  haben,  schweigen,  weil  sie  von  der  Inversion 
überhaupt  nichts  wissen,  die  andern,  weil  sie  sich  schämen.  Vergessen 
werden  diese  Träume  gewiß  nicht  so  leicht.  In  einer  früheren 
Mitteilung  brachte  ich  einen  Fall  eines  typisch  Heterosexuellen,  der 
in  seinen  späteren  Jahren  vielleicht  3—4  mal  deutlich  homosexuell 
träumte,  mit  Orgasmus  etc.  Heute  bin  ich  nun  in  der  Lage,  über 
einen  weiteren  zugehörigen  Fall  zu  berichten.  Einer  meiner  Eorres- 
pondenten,  gleichfalls  ein  Heterosexueller,  hatte  einige  Male  homo- 
sexuelle Träume.  Einen  solchen  teilte  er  mir  kürzlich  im  folgenden 
mit.    Er  stammt  von  Mitte  Dezember  1906. 

„Ich  wurde  von  einem  kleinen  Jungen,  der  sein  Wasser  abschlagen  wollte 
und  sich  allein  nicht  behelfen  konnte,  zu  Hülfe  gerufen.  Als  ich,  um  ihm  diese 
zu  leihen,  sein  Hoschen  aufknöpfte  und  seinen  Peniculus  hervorzog  (Dinge,  die 
beiläufig  bemerkt,  im  Leben  nie  an  mich  herangetreten  sind),  bemerke  ich  mit 
Erstaunen,  daß  der  vordere  Teil  desselben  mit  einem  weißen  Läppchen  umwickelt 
und  dieses  durch  eine  sog.  Fingerdute  aus  buntem  Stoff  mit  Bändern  befestigt 
war.  Nachdem  ich  dieses  Hindernis  entfernt,  zerfloß  der  Traum,  ohne  daß  ich 
erwachte  oder  eine  Pollution  eingetreten  wäre.  Der  Traum  kam  mir  erst  im 
Wachen  wieder  zum  Bewußtsein.  So  tief  mußte  der  Eindruck  also  doch  ge- 
wesen sein,  daß  er  nachwirkte;  nur  daß  ich  natürlich  mir  gleich  darüber  klar 
war,  daß  es  sich  um  einen  Traum  und  nicht  um  ein  wirkliches  Erlebnis  handelte. ** 

Dieser  Tranm  ist  typisch  nnd  auch  sonst  psychologisch  vielfach 
interessant  Der  betreffende  Herr  hat  nie  mit  Jungen  zu  tun  gehabt 
und  doch  träumt  er  einmal  davon,  ohne  zunächst  aufzuwachen  oder 
Orgasmus  zu  empfinden.  Daß  beides  nicht  geschah,  ja  der  Traum  sogar 
vergessen  schien,  mochte  vielleicht  daher  kommen,  daß  dieser  Herr 
schon  öfter  ähnlich  geträumt  hatte,  also  dagegen  etwas  abgestumpft  war. 
Vergessen  aber  war  der  Traum  nicht,  da  er  kurz  darauf  durch  irgend 
welche  Assoziationen  im  Wachen  wieder  aus  dem  Unterbewußtsein 
hervortrat.  Der  Betreffende  hatte  sonst  —  mit  Ausnahme,  wie  gesagt, 
einiger  homosexueller  Träume  —  nur  „Unanständigkeiten**  mit  Frauen 
im  Traume  gehabt,  war  also  ein  typisch  normal  Empfindender  und 
dazu  (trotz  eintretenden  Orgasmus   mit  Pollutionen)  ein  quasi  plato- 


über  Kontrast-Träume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  11 

nischer  Heterosexueller,  da  er  nie  in  seinem  Leben  mit  Weib  (noch 
weniger  natürlich  mit  einem  Mann)  geschlechtlich  verkehrt  hatte. 

Ich  habe  selbst  nicht  von  heterosexuellen  Träumen  echter  Urninge 
gehört,  doch  zweifle  ich  nicht  einen  Moment  daran,  daß  auch  sie 
vorkommen.  Nebenbei  erwähnt  sie  Moll  (1.  c.)  als  bisweilen  eintretend 
und  Hirschfeld  (Mitteilung  vom  12.  Jan.  1907)  schreibt  mir:  „Über 
Eontrastträume  bei  Homosexuellen  erinnere  ich  mich  im  Augenblick 
nur  einiger  Fälle  von  Homosexuellen,  welche  häufige  Angstträume 
hatten,  die  sich  auf  den  Verkehr  mit  Frauen  bezogen."  Demnach  rief 
also  der  Kontrasttraum  bei  ihnen  kein  Entsetzen  aus  Scham^  wie  bei 
den  Heterosexuellen,  sondern  geradezu  Angst  hervor,  weil  der  Verkehr 
mit  Frauen  sie  entsetzlich  dünkt.  Man  sieht  also,  wie  wenig  gerade 
die  Kontrastträume  zur  Theorie  Freuds  bez.  der  Erklärung  der 
Träume  als  „Wunschtraum''  passen  und  so  passen  noch  viele  andere 
Träume  nicht  hinein.  Übrigens  ist  es  geradezu  grotesk,  welche 
Assoziationen  Freud  seinen  Träumenden  unterschiebt,  um  seine 
Theorie  zu  retten.  Man  möchte  oft  von  „kindisch''  reden,  wenn  es 
nicht  in  einem  ernsthaften  Buche  sich  vorfände  und  nicht  oft  dürfte 
ein  Autor  seine  Kritik  über  eine  geliebte  Theorie  so  leicht  verloren  haben, 
wie  er!  Bekannter  als  diese  Kontrastträume  bei  Homosexuellen  da- 
gegen ist  es,  dass  Sadisten  nicht  nur  sadistische  Träume  haben,  sondern 
öfter  auch,  oder  sogar  kombiniert,  masochistische;  dasselbe  gilt  von 
den  Masochisten.  Das  erscheint  freilich  nicht  wunderbar,  da  Sadismus  und 
Masochismus  so  nahe  miteinander  verwandt  und  sogar  oft  miteinander 
verbunden  sind  und  gleichsam  das  Doppelgesicht  derselben  Sache 
darstellen. 

Schwieriger  liegt  allerdings  die  Erklärung  bei  den  andern  sexuellen 
Kontrastträumen.  Das  homosexuelle  Fühlen  ist  nicht  etwa  nur  die 
Kehrseite  des  heterosexuellen,  sondern  ein  toto  coelo  Verschiedenes,  und 
alle  Phantasietätigkeit  eines  Heterosexuellen  wird  ihm  das  Gefühl  eines 
Homosexuellen  nicht  nahe  bringen  können.  Nun  sagt  H.  EUis  ein- 
mal folgendes:  „Obgleich  Träume  immer  determiniert  sind,  so  sind 
sie  es  oft  nicht  durch  die  Urinstinkte  (radical  instincts)  des  Träumers 
sondern  durch  ein  Ineinanderfließen  (fusion)  von  unzusammenhängenden 
(incongruous)  und  stets  sich  ändernden  Bildern  (imagery),  was  oft  sehr 
wohl  imstande  ist,  einen  homosexuellen  Traum  bei  einer  normalen 
Person  zu  erzeugen."  H.  Ellis  nimmt  also  hier  zunächst  das  Vor- 
kommen von  homosexuellen  Träumen  bei  Heterosexuellen  als  häufig 
an.  Ich  weiß  nicht,  wie  er  das  belegen  will.  Bekannt  ist  darüber 
z.  Z.  wohl,  wie  schon  gesagt^  so  gut  wie  nichts.  Daß  aber  irgend- 
welche Assoziationsbilder  einen  gleichgeschlechtlichen 


12  L  Näck£ 

Tranm  wirklich  erzeugen  können,  wäre  erst  noch  zu  be- 
weisen. Ich  glaube  es  nicht  An  anderer  Stelle  spricht  H.EUis 
(das  konträre  Geschlechtsgefühl,  übersetzt  von  Eurella,  Leipzig, 
Wigand  1896,  p.  221)  von  heterosexuellen  Kontrast-Träumen,  die  sich  ge- 
wöhnlich aus  den  früheren  oder  neuesten  Erlebnissen  des  Träumenden 
erklären  sollen.  Wenn  in  seinem  Falle  X  bei  einem  „unzweifelhaft 
kongenital  Konträren^  häufiger  Weiber-  als  Männerträume  eintraten, 
so  handelte  es  sich  sehr  wahrscheinlich  um  einen  echten  Bisexuellen, 
während  Fall  XI  weniger  häufig  solche  hatte,  also  weniger  bisexuell 
beanlagt  erscheint  Fall  XII,  wo  „anfangs  immer  Träume  von  Weibern^ 
da  waren,  ist  sehr  wahrscheinlich  ein  „tardiv''  Homosexueller.  Und 
so  lassen  sich  wohl  alle  Ausnahmen  als  nur  Schein- Ausnahmen  erklären. 

Es  steht  wohl  jetzt  außer  allem  Zweifel,  daß  der  Mensch  bez.  der 
Generationsorgane  bisexuell  angelegt  ist  Dafür  sprechen  Onto-  und 
Pbylogenie  eine  zu  laute  Sprache  und  selbst  beim  Erwachsenen  beider« 
lei  Geschlechts  finden  sich  dafür  noch  Anzeichen  genug.  Gibt  man 
das  zu,  so  wird  man  verlangen  dürfen,  daß  ebenfalls  bei  ein  und  der- 
selben Person  männliche  und  weibliche  Eigenschaften,  die  ja  direkt 
oder  indirekt  mit  der  Entwicklung  der  Geschlechtsdrüsen  zusammen- 
hängen, in  versch iedener  Mischung  vorkommen.  Männlich  nennen 
wir  einen  Charakter,  bei  dem  die  sog.  männlichen  Eigen- 
schaften überwiegen,  weiblich,  bei  welchem  die  weiblichen  es 
tun.  Männliche  Eigenschaften  finden  sich  also  z.  B.  beim  Durch- 
schnittsmann 750/0,  bei  der  Frau  25<^/o,  während  weibliche  dort  25o/o, 
hier  75®/o  vorkommen.')  Dieses  mehr  oder  weniger  starke  Anklingen 
der  somatischen  und  psychischen  Eigenschaften  bei  Mann  oder  Frau 
an  das  entgegengesetzte  Geschlecht  kann  man  sehr  gut  als  Zwischen- 
stufen vom  Mann  zum  Weib  und  umgekehrt  bezeichnen.  Gibt  man 
auch  dies  zu  —  und  ernste  Einwände  dagegen  dürfen  sich  kaum  er- 
heben —  so  scheint  mir  auch  die  Zwischenstufentheorie  auf  die 
Geschlechtsempfindung  selbst  übertragen  werden  zu  müssen. 

Waren  ursprünglich  —  wie  es  der  Fall  gewesen  zu  sein  scheint  — 
die  beiden  Keimdrüsen  gleich  stark  entwickelt,  so  müssen  es  wohl 
auch  die  beiden  heterosexuellen  Geschlechtsempfindungen  gewesen  sein. 
Mit  der  allmählichen  Atrophie  der  einen  Keimdrüse  verschwand  dann 
auch  das  entsprechende  heterosexuelle  Gefühl  und  es  blieb  in  summa 
ein  eingeschlechtliches  Individuum  mit  heterosexuellem  Fühlen  übrig. 
Der  Schritt  der  physischen  und  psychischen  Bisexualität  zur  Einge- 
schlechtlichkeit auf   dem  Wege   der  Auslese   wahrscheinlich   mußte 

1)  Es  gibt  also  an  sich  keine  spezifischen  rein  männlichen  oder 
weiblichen  physischen  Eigenschaften! 


über  Kontrast-Träume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  13 

jedenfalls  aus  teleologischen  Oründen  erfolgen,  da  so  allein  eigentlich 
eine  wirkliche  Weiterentwickelung  denkbar  ist  Nur  so  konnte  jedes 
Geschlechtsorgan  zur  vollen  Höhe  emporwachsen  und  damit  die  ent- 
sprechenden psychischen  Eigenschaften,  speziell  auch  das  sexuelle 
Fühlen.  Letzteres  ward  so  intensiv,  daß  es  nicht  nur  die  andern 
Eigenschaften  quantitativ,  sondern  auch  qualitativ  abänderte.  Daher 
kommt  es,  daß  der  Mann  nicht  etwa  bloß  männliche  und  weibliche 
Eigenschaften  besitzt,  sondern  das  männliche  sexuelle  Fühlen  färbt 
alles  so  eigentümlich,  daß  in  der  Tat  der  Mann  nie  und  nimmer 
in  die  wirkliche  Psychologie  des  Weibes  eindringen 
kann  und  umgekehrt^  was  namentlich  in  foro  wichtig  ist.  Hier 
werden  Frauen  von  Männern  mit  männlicher  Psychologie  ver- 
urteilt, wie  überhaupt  das  ganze  Recht  der  männlichen  Psychologie 
seinen  Ursprung  verdankt,  leider  zur  schweren  Schädigung  der  Frau. 
Welcher  Mann  kann  z.  B.  sich  wirklich  in  die  Psyche  einer 
Menstruierenden,  einer  Schwangeren,  einer  Gebärenden,  also  auch  einer 
Eindsmörderin  etc.  versetzen?  Wir  ahnen  nur  gewisse  Zusammenhänge 
und  deshalb  hat  man  mit  Recht  verlangt,  daß  beim  Ver- 
urteilen der  Frauen  unter  den  Geschworenen  auch 
Frauen  sein  sollen,  die  allein  die  weiblichen  Ange- 
klagten innerlich  verstehen  können. 

Wie  aber  ist  die  Homosexualität  zu  erklären?  Fassen  wir  als 
Zweck  der  Menschheit  lediglich  die  Fortpflanzung  auf,  so  ist  die 
gleichgeschlechtliche  Liebe  absolut  nicht  zu  verstehen  oder  nur  als 
ein  Pathologisches.  Über  den  Menschheitszweck  wissen  wir  jedoch 
nichts  und  werden  nie  Sicheres  wissen.  Unter  solchen  Umständen 
sind  uns  aber  gewisse  Hypothesen  gestattet;  es  kommt  nur  darauf 
an,  sie  mundgerecht  zu  machen.  Könnte  die  Entwicklung  der  Keim- 
drüsen mit  ihren  Keirastoffen  und  deren  Ausstoßung  nicht  noch  einen 
andern  Zweck  verfolgen,  als  bloße  Fortpflanzung?  Wir  wissen,  daß 
unter  den  gegebenen  Umständen  der  Mensch  meist  auf  der  Höhe 
seiner  körperlichen  und  seelischen  Entwicklung  steht;  ja  letztere  ist 
sicher  zumeist  von  der  Entwicklung  der  Genitalien  abhängig.  Also 
zunächst  völlige  Entwicklung  der  Menschen  wäre  das 
Ziel  aller  Wesen.  Zeitweise  Orgasmus  mit  Ausstoßen  der  Keim- 
stoffe wird  dadurch  bedingt;  der  Reiz  dazu  ist  jedoch  nicht  immer 
der  gleiche.  Gewöhnlich  geht  er  vom  andern  Geschlechte  aus,  doch 
zeigt  er  hier  wieder  unendliche  Abstufungen ;  die  bloß  über  eine 
grosse  Breite  hinaus  als  pathologische  Erscheinungen  auftreten  oder 
auftreten  können,  da  z.  B.  manche  Autoren  selbst  ausgeprägten  Sadis- 
mus oder  Masochismus  noch  zur  normalen  Variationsbreite  der  ge- 


14  I.  Nacke 

wohnlichen  libido  rechnen.  Es  ist  also  dann  nicht  abzuweisen,  d&ß 
dieser  Beiz  bei  gewissen  Personen  vom  gleichen  Geschlechte  aus- 
gehen kann,  ohne  an  und  für  sich  pathologisch  sein  zu  müssen. 
Wir  hätten  also  dann  die  libido  als  vom  gleichen  oder  ent- 
gegengesetzten Geschlecht  angeregt  uns  zu  denken,  mit 
gleicher  oder  ähnlicher  Wirkung  auf  Körper  und  Geist, 
bis  auf  die  Fortpflanzung.  Untersuchungen  haben  immer  mehr 
ergeben,  daß  die  Homosexualität  sehr  wahrscheinlich  keine 
pathologische  Erscheinung  ist,  sondern  eine  Variation  der 
libido  darstellt,  wenn  auch  einer  nicht  zu  verachtenden  Minorität 
Dafür  spricht  ihre  Geschichte  undUbiquität  Die  gemeinsame  Zweck- 
setzung  der  Hetero-  und  Homosexualität  könnte  man 
also  sehr  wohl  in  der  Hervorbringung  von  Erwachsenen 
und  nützlichen  Gliedern  der  Menschheit  finden,  bei  den 
Heterosexuellen  außerdem  in  der  Fortpflanzung,  die  aber 
de  facto  nur  von  einem  sehr  geringen  Teile  derselben 
besorgt  wird. 

Wie  entstand  aber  diese  Variation  der  libido?  Man  könnte  sich 
vorstellen,  daß  zu  der  Zeit,  als  beide  Keimdrüsen  sich  an  einem 
Individuum  vorfanden,  das  sich  selbst  befruchtete,  durch  Berührung 
der  eigenen  Haut  etc.  bei  Bewegungen  Gefühle  angenehmer  Art 
ausgelöst  wurden,  die  sich  zu  mehr  oder  weniger  klaren  sexuellen 
ausbildeten.  Man  leitet  ja  in  der  Tat  die  Genese  des  Geschlechts- 
gefühls  vom  Berührungsgefühl  als  eine  Variation  ab.  Ist  dem  aber 
so,  dann  wäre  das  homosexuelle  nicht  nur  das  ältere  und  erste 
Geschlechtsgefühl  und  das  heterosexuelle  folglich  eine 
Weiterbildung,  eine  höhere  Stufe,  sondern  nach  Analogien 
vieler  andern  Tatsachen  der  Biologie  ist  ein  langes  Nachwirken 
dieser  Geschlechtsempfindung  durch  Vererbung  trotz  weiterer  Ab- 
schwächung  unter  Zunahme  der  heterosexuellen  Empfindung,  als  hei 
der  bisexuellen  gleichen  Anlage  zwei  Individuen  sich  paarten  oder 
gar,  als  nur  noch  eingeschlechtliche  Befruchtung  eintrat,  durchaas 
nicht  unmöglich.  Die  Auslese  tat  dabei  das  ihrige.  Weiter  denkbar 
wäre  es,  gleichfalls  nach  Analogien,  daß  unter  bestimmten  Umstanden, 
die  wir  nicht  kennen,  jener  homosexuelle  Anteil  der  libido,  der  im 
Laufe  der  Zeit  verschwunden  zu  sein  schien,  wieder  erwachte  und 
so  die  Homosexualität  als  eine  Art  von  Atavismus  er- 
schien,  der  aber  nicht   pathologisch   begründet  zu  sein 

braucht^ 


1)  Wenn  sie  auch  vielleicht  so  eine  gewisse  Entwickelungshemmnng  daistellt 


über  Kontrast-Träame  and  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  15 

Dieser  Atavismus  ist  noch  leichter  möglich,  wenn  wir 
annehmen,  daß  der  homosexuelle  Hang  bei  der  Weiterent- 
wicklung des  Menschen  nicht  wirklich  bis  auf  etwaige  Bückschläge 
verschwand,  sondern  stets  im  Keime  bei  jedem  vorhanden  blieb 
und  nun  bei  gewissen  Anlässen  vorbrechen,  ja  sogar  die  hetero- 
sexuelle Neigung  ganz  unterdrücken  konnte.  Gerade  das  immerhin 
relativ  häufige  Auftreten  der  Homosexualität  dürfte  sehr  für  ein  kon- 
stantes Vorhandensein  einer  solchen  Neigung  in  jedem  Heterosexuellen, 
wenn  auch  bloß  im  Keime,  sprechen.  Noch  mehr  natürlich  plä- 
dieren dafür  das  scheinbar  nicht  allzu  seltene  Auftreten 
von  homosexuellen  Träumen  bei  Normalen,  wie  endlich 
auch  der  zeitweise  Durchbruoh  echten  Urningtums  bei 
heterosexuellen  0 eis tesk ranken,  speziell  Schwachsin- 
nigen. Das  wären  nebenbei  auch  weitere  Stützen  für  die 
bisexuelle  Anlage  des  Menschen.^)  Eine  noch  offene  Frage 
wäre  aber  die,  warum  diese  homosexuelle  Anlage,  stark  oder  schwach, 
gerade  bei  deutlichen  „sexuellen^  Zwischenstufen  und  besonders  gern, 
nach  Einigen,  bei  femininem  körperlichen  und  geistigen  Typus  sich 
vorfindet  ^) 

Der  Mechanismus  des  sexuellen  Kontrasttraumes  wäre 
also  nach  Obigem  ziemlich  analog  dem  der  übrigen  Kontrastträume. 
Die  latente  homosexuelle  Komponente  würde  im  Traume 
einmal  durchbrechen  können  und  so  entsprechende 
Träume  erzeugen.  Hauptbedingung  ist  aber  stets:  Vorhanden- 
sein einer  mehr  oder  minder  starken  latenten  homosexuellen 
Komponente. 

Der  Leser,  der  mir  bis  jetzt  gefolgt  ist,  wird  zugeben,  daß  die 
obige  Darlegung  und  Hypothese  durchaus  nicht  unmöglich  erscheint, 
daß  sogar  eine  Beihe  von  Momenten  direkt  dafür  sprechen.  Rechnen 
wir  gar  zur  Homosexualität  die  nicht  so  seltenen  Fälle  von  homo- 
sexuellen Handlungen  in  Schulen,  Internaten,  besonders  aber  in  Ge- 
fängnissen und  auf  Schiffen,  wo  es  an  Frauen  fehlt,  —  und  ich 
sehe  keinen  prinzipiellen  Grund  ein,  dies  nicht  zu  tun  —  so  wird 
unsere  Hypothese  und  Darlegung  immer  wahrscheinlicher,  besonders 
wenn  man  an  die  so  häufige  sexuelle  Indifferenzzeit  der  Pubertäts- 
jahre denkt,  wo  erst  nach  längerem  seelischen  Schwanken  und  Hin- 

1)  Siehe  Näheres  bei  Näcke:  Einige  psychiatrische  Erfahrungen  als  Stfitze 
für  die  Lehre  von  der  bisexuellen  Anlage  des  Menschen.  Jahrbuch  für  sexuelle 
Zwischenstufen.  YUI.  Jahrgang,  1906. 

2)  Ich  selbst  habe  aber  den  femininen  Typus  bei  Homosexuellen  nicht  so  oft 
gefunden,  wie  andere,  wenigstens  nicht  in  ausgeprägterer  Form. 


16  I.  Nacke 

gezogen  werden  zu  beiden  Geschlechtern  schließlich  die  Kompaßnadel 
der  libido  auf  die  bleibende  Geschlechtsrichtnng  sich  einstellt. 

Die  vorgetragene  Theorie  könnte  noch  eine  Variation  haben,  die 
ich  aber  weniger  empfehle.  Ich  ging  bei  der  Ableitung  des  homo- 
sexuellen Gefühls  vom  taktilen  aus  und  zwar  von  dem  des  eigenen 
Körpers  am  somatisch  bisexuell  angelegten  Vorfahren,  der  sich  selbst 
befruchtete.  Man  könnte  nun  als  Ausgangspunkt  die  nächst  höhere 
Stufe  annehmen,  wo  nämlich  zwei  bisexuelle  Individuen  sich  paaren 
und  sagen,  in  jedem  muß  ein  doppeltes  heterosexuelles  Gefühl 
dasein,  welches  sich  durch  Berührung  des  andern  Körpers  entwickelte. 
Durch  komplizierte,  uns  ganz  unverständliche  Verhältnisse,  würde  nun 
infolge  fortschreitender  und  kreuzweiser  Unterdrückung  der  somatischen 
und  sexuellen  Eigenschaften  in  einem  eingeschlechtlichen  Wesen  die  auf 
das  eigene  Geschlecht  gerichtete  libido  zurückgeblieben  sein.  Mir  scheint 
meine  oben  skizzierte  Annahme  natürlicher  zu  sein.  Daß  aber  auch  im 
echtesten  Homosexuellen  noch  ein  Minimum  heterosexueller  Richtung 
besteht,  auch  wenn  sie  sich  nicht  in  Kontrastträumen  kundgibt,  sehe 
ich  darin,  daß  der  Homosexuelle  stets  geistig  und  körper- 
lich ihm  entgegengesetzt  geartete  Personen  (Homo-  oder 
Heterosexuelle)  zu  Freunden  wählt,  d.  h.  also,  wenn  er 
selbst  femininen  Typus  zeigt,  nur  solche,  die  männlichen  aufweisen 
und  umgekehrt  Das  kann  nicht  streng  genug  betont  wer- 
den und  könnte  sogar  verleiten,  die  homosexuelle  libido  als  eine 
Abart  der  heterosexuellen  hinzustellen,  was  sie  wahrscheinlich  schon 
aus  phylogenetischen  Gründen  nicht  ist,  sondern  sie  ist  etwas  ganz 
Selbständiges. 

Iwan  Bloch  hat  nun  in  seinem  letzten  Buche ^)  eine  neue 
Theorie  der  Homosexualität  aufgestellt,  die,  wenn  richtige  unsere 
oben  dargelegten  Hypothesen  und  Darlegungen  hinfällig  machen 
würde.  Er  hat  darin  zunächst  Recht,  daß  er  meint,  die  angeborene 
Inversion  sei  wohl  dem  Menschen  ausschließlich  eigentümlich  2) 
also  gäbe  es  dafür  keinen  phylogenetischen  Anknüpfungspunkt. 
Hirschfelds  und  v.  Kraf ft  -  Ebings  „Zwischenstufentheorie" 
erkläre  wohl  die  Bisexualität  und  die  unbestimmte  geschlechtliche 
Empfindung,   nicht  aber  die  eindeutige  gleichgeschlechtliche  libido, 


1)  Das  Sexualleben  unserer  Zeit.    Berlin,  Marcus,  1907,  p.  5S2  sc. 

2)  In  der  Tat  sind  überhaupt  wohl  echte  Fälle  von  Homosexualität  bei 
Tieren  nicht  streng  nachgewiesen.  Wenn  koitusartige  Versuche  bei  Hunden, 
Pferden  etc.  vorkommen,  so  ist  es  immerhin  fraglich,  ob  homosexuelle  Geffihle 
dabei  vorliegen,  da  dieselben  Tiere,  wenn  nicht  anders,  auch  durch  Reiben  an 
X  beliebigen  Gegenstanden  ihres  Samens  etc.  sich  entledigen. 


über  Kontrast-Träume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  17 

besonders  nicht ,  wo  sie  bei  „Fehlen  jeder  Abweichung  vom  Typus '^ 
aufträte.  Er  meint  weiter,  daß  die  normale  ^Sexualspannung^  eine 
große  (?  Näcke)  Unabhängigkeit  von  den  Keimdrüsen  besitze  und 
wohl  durch  chemische  Einflüsse  stattfinde.  Würde  nun  hierin  be- 
reits embryonal  eine  Störung  eintreten^  dann  entstände  so  vielleicht 
die  Homosexualität,  was  auch  den  Umstand  erklären  dürfte,  weshalb 
sie  so  oft  in  völlig  gesunden  Familien  auftritt.  Diese  „chemische 
Theorie^  hat  sicher  manches  Bestechende,  aber  auch  ihre  großen  Be- 
denken. Es  ist  freilich  wahrscheinlich,  daß  durch  die  Keimdrüsen 
chemische  Stoffe  bereitet  und  in  den  Saftstrom  geworfen  werden,  die 
fast  alle  Gewebe  zur  erhöhten  Tätigkeit  anregen,  daher  das  Sichaus- 
bilden der  sekundären  Geschlechtsmerkmale  in  der  Pubertätszeit  Nach- 
gewiesen hat  sie  aber  bis  jetzt  noch  niemand  und  wir  wissen  also  auch 
erst  recht  nicht,  wann  sie  sich  zu  bilden  beginnen.  Im  allgemeinen 
herrscht  ein  ziemlieh  strenger  Parallelismus  zwischen 
Keimdrüsen  und  Pubertätsentwicklung,  der  aber  kein 
Kausalitätsverhältnis  zu  involvieren  braucht.  ^)  Die  Fälle,  wo  bei 
Kastraten  noch  libido,  sogar  bisweilen  starke,  besteht,  könnte  man 
sich  wohl  so  erklären,  daß  bei  gewissen  Entmannungsverfahren  nicht 
alle  Hodensubstanz  untergeht  oder  vielleicht  noch  andere  Drüsen,  als 
die  Keimdrüsen,  die  fraglichen  chemischen  Substanzen  liefern.  Mög- 
licherweise werden  solche  aber  auch  vom  wachsenden  Gehirn  selbst 
geliefert.  Dafür  könnte  z.  B.  der  Umstand  sprechen,  daß  manche 
tiefe  Idioten  trotz  gut  entwickelter  innerer  und  äußerer  Genitalien 
keine  libido  zeigen,  und  anderseits  selbst  bei  schlecht  entwickelten 
von  geistig  Gesunden  bisweilen  sich  gute  libido  findet. 

Vor  allem  aber  bleibt  bei  der  chemischen  Theorie  ganz  unauf- 
geklärt, warum  gerade  eigengeschlechtliche  Geschlechtsrichtung  sich 
entwickelt.  Freilich  ist  dies  auch  der  schwache  Punkt  meiner  Theorie, 
aber  bei  Ableitung  der  libido  vom  taktilen  Sinne  ist  immerhin  doch 
<lie  Möglichkeit  einer  homosexuellen  Empfindung  gegeben  und  es 
würde  wohl  nicht  direkt  dagegen  sprechen,  daß  phylogenetisch  dar- 
über nichts  bekannt  ist  Möglich,  daß  beim  Tiere  diese  Komponente 
fio  schwach  ausgeprägt  war,  daß  sie  nie  eigentlich  zum  Durchbruch 
kam,  erst  beim  Menschen^  wie  ja  auch  hier  verschiedene  psychische 
Seiten  sich  entwickelten,  die  in  dem  Tierreiche  nicht  nachweisbar 
fiind,  latent  aber  irgendwie  wohl  bestanden  haben  müssen,  da  die 
Natur  sonst  kaum  Sprünge  macht  Es  würde  wohl  die  Annahme 
nicht  zu  kühn  erscheinen,  daß  gewisse  Abnormitäten  im 
gröberen  oder  feineren  Gehirnbau  den  gleichgeschlecht- 

1)  Siehe  darüber  weiter  unten. 

AxchiT  ffir  EriminaUinthiopologie.   2&  Bd.  2 


18  I.  Näcke 

liehen  Beiz  zur  libido  werden  lassen.  Hierin  trafen  wir  uns 
dann  mit  Bloch,  nur  daß  wir  anatomische,  er  chemische  embryonale 
Störungen  annimmt.  Diese  gewiß  nur  leichteren  Abnormitäten  hätten 
sicher  eine  Funktionsveränderung  zur  Folge,  brauchen  aber  keine 
solche  des  Stoffwechsels  zu  erzeugen.  Ich  habe  s.  Z.  darauf  hin- 
gewiesen, wie  wertvoll  es  wäre,  eine  Reihe  von  Hirnunter- 
suchungen bei  echten  Homosexuellen  vorzunehmen,  was 
bis  jetzt  mangelt.  Ich  glaube  fast,  wir  würden,  den  Nor- 
malen gegenüber,  manche  leichtere  Abnormitäten  dort 
finden,  die  uns  dringend  wieder  die  erfolglose  Therapie 
gegen  solche  Fälle  predigen  würden.  Fragt  es  sich  ja  doch, 
ob  überhaupt  die  Entwickelung  der  Keimdrüsen  unabhängig  von  der 
des  Gehirns  ist.  Vieles  spricht  dafür,  daß  das  Gehirn  mehr  das 
Gebende  hierbei  ist  als  das  Nehmende,  folglich  muß  sich  dies  auch  in 
seinem  Baue  zeigen,  da  zuletzt  das  Sexuelle  doch  ein  Geistiges,  auf  ana- 
tomischem Substrate  Beruhendes  ist,  und  also  das  Gehirn  den  Aus- 
schlag zu  geben  hat,  ob  hetero-  oder  homosexuell  gefühlt  wird. 

Man  sieht:  Theorie  gegen  Theorie!  Von  zwei  Theorien  ist  aber 
nicht  jede  gleich  gut.  Der  Leser  hat  also  zu  wählen.  Ich  will  nur 
noch  hinzufügen,  daß  bei  Blochs  Theorie  das  Auftreten  sexueller 
Kontrastträume,  das  episodische  Auftreten  von  Inversion  bei  Geistes- 
kranken usw.  kaum  oder  nur  sehr  schwer  zu  denken  ist,  viel  leichter 
dagegen  bei  der  meinigen,  indem  die  latente  Funktionierung  postu- 
lierter anatomischer  Anomalien  für  gewöhnlich  völlig  unbemerkt  bleibt 
und  nur  unter  besonderen,  uns  noch  unbekannten  Verhältnissen  zu- 
tage tritt.  Daß  unter  gleichen  Umständen  ein  derartiger  chemisch  ab- 
normer Stoffwechsel  eintreten  müßte,  der  gerade  die  homosexuelle 
libido  erzeugen  soll,  ist  entschieden  viel  schwerer  zu  denken. 

Zu  guter  Letzt  noch  ein  Wort,  nicht  pro  domo,  sondern  pro 
scientia.  ICürzlich  hatte  ein  bekannter  Arzt  in  einem  unserer 
ersten  medizinischen  Blätter  über  das  schon  erwähnte,  hochbedeut- 
same neue  Buch  Iwan  Blochs:  ,,Das  Sexualleben  unserer  Zeif* 
einige  herablassende  Worte  geäußert;  er  fand  es  passend,  gleichzeitig 
über  die  Schriftstellerei  bez.  der  Sexualsphäre  zu  schimpfen.  Ich  be- 
merke, daß  der  Referent,  so  weit  ich  wenigstens  weiß,  nie  etwas  über 
Physiologie  oder  Pathologie  der  Sexualität  geschrieben  hat  und  wahr- 
scheinlich in  diesen  Dingen  wenig  zu  Hause  ist.  Wenn  nun  schon 
so  viele  Laien  in  gleicher  Weise  schimpfen,  so  mag  es  noch  hingehen. 
Tun  dies  aber  Mediziner,  so  ist  es  schlimm  und  stellt  nicht  nur  die 
Wissenschaft,  sondern  sie  selbst  bloß. 

Bez.  der  sexuellen  Arbeiten  und  Schriften  muß  man  scharf  drei 


über  Kontrast-Träume  und  speziell  sexuelle  Kontrast-Träume.  19 

Kategorien  unterscheiden:  1.  die  pornographischen,  nur  auf  Sinnes- 
kitzel ausgehenden  und  selbstverständlich  zu  verdammenden;  2.  die 
Aufklärungsschriften,  unter  denen  leider  sehr  viele  schlechte  sind, 
während  die  guten  durchaus  lobenswert,  ja  sogar  nötig  erscheinen^); 
3.  die  eigentlich  wissenschaftlichen ,  die  natürlich  ebenso  berechtigt 
sind  wie  jede  andere  wissenschaftliche  Tätigkeit  DieWissenschaft 
hat  nicht  nach  gut  und  schön,  sondern  nur  nach  Wahr- 
heit zu  fragen,  oder  was  dasselbe  ist:  nach  Kausalität. 
Je  mehr  man  sich  mit  der  normalen  und  pathologischen  Sexual- 
psychologie beschäftigt  hat,  um  so  mehr  staunt  man  nicht  nur  über 
die  unzähligen  Probleme,  sondern  die  unzähligen  Verbindungen,  die 
dies  Gebiet  mit  dem  ganzen  Mikrokosmus  besitzt.  Schon  dieser 
kleine  Abschnitt  daraus  —  die  Kontrastträume  — ,  welchen  wir  oben 
behandelten,  zeigt  die  großen  Schwierigkeiten  der  Forschung  und  ihr 
stetes  Hinübergreifen  in  Anthropologie  und  Biologie.  Immer  mehr  ist 
es  erkannt,  daß  die  Familie,  der  Stamm  und  Erhalter  unserer  Kultur, 
und  in  zweiter  Linie  der  Staat,  schließlich  auf  sexuellen  Beziehungen 
beruhen,  wie  auch  Kunst,  Literatur  und  Religion  ohne  solche  kaum 
oder  nur  notdürftig  existieren  würden.  Nicht  nur  in  der  Geschichte 
gilt  das  berühmte  Wort:  oü  est  la  femme.  Alles  dreht  sich  um 
Hunger  und  Liebe;  letztere  ist  vielleicht  auch  nur  eine  Art  Hunger. 
Wer  heute  dies  und  anderes  im  Ernste  leugnen  wollte,  würde  sich 
einfach  lächerlich  machen!  Und  wie  das  Sexuelle  direkt  oder  in- 
direkt den  Forscher  interessieren  muß,  brauche  ich  nicht  erst  zu 
betonen.  Ein  großer  Teil  unserer  heutigen  großen  sozialen  Fragen:  die 
Frauenrechte,  Kindererziehung,  Ehereform  usw.  beruhen  in  letzter 
Instanz  auf  dem  Sexuellen;  wer  das  schöne  Buch  Blochs  gelesen 
hat,  wird  über  das  gewaltige  Gebiet  billig  staunen.  Ich  rechne  es 
mir  daher  geradezu  als  ein  Verdienst  an,  daß  ich  eine  große  Keihe 
sexuell  psycho-  und  pathologischer  Arbeiten  unternahm  und  immer 
gern  in  den  „kleineren  Mitteilungen"  auf  dies  so  überaus  wichtige  Ge- 
biet zurückkomme.  Mögen  Dunkelmänner  und  prüde  Geister  noch 
so  auffahrend  und  grob  sich  benehmen,  sie  werden  die  Fortschritte 
der  Wissenschaft  auch  nicht  einen  Moment  aufhalten  können.  Und 
die  Wissenschaft  arbeitet  auch  nicht  umsonst:  sie  befruchtet  die  Praxis 
und  läßt  uns  immer  tiefer  in  die  Psychologie  des  Menschen  blicken. 

1)  Als  solche  kann  ich  dem  Laien  dringend  bez.  d.  Homosexualität  empfehlen: 
a)  Hirschfeld:  Was  soll  das  Volk  vom  dritten  Geschlechte  wissen?  Leipzig, 
Septbr.  1901  und  b)  Meissner:  Uranismus  etc.,  Leipzig,  Septbr.  1906.  Bez.  der 
gesamten  Sexualspbäre  aber  besonders  Bloches  schon  zitiertes  Werk,  das  populär 
und  hoch  wissenschaftlich  zugleich  ist. 

2* 


IL 
Zar  Lehre  Tom  psychopatbischen  Aberglauben, 

« 

(Mordversadi  und  Mord  aas  Hexenwahn,  i 

Von 

Professor  Dr.  Bobert  Ckkupp,  Tubingeo. 


Die  Bedentang  des  Aberglaubens  für  das  Strafirecht  ist  in  den 
letzten  10  Jahren  in  immer  zunehmenden  Maße  Gegenstand  fach- 
männischer Erörterung  geworden.  Die  Arbeiten  von  A.  Lowen- 
stimm^  Hans  Groß  und  Albert  Hellwig  sind  den  Lesern  dieses 
Archivs  bekannt.  In  seinem  Aufsatz :  ^Der  kriminelle  Aberglaube  in 
seiner  Bedeutung  für  die  gerichtliche  Medizin"*)  gibt  Hellwig  eine 
kurze  Übersicht  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Frage,  soweit  sie 
für  den  Gerichtsarzt  von  Bedeutung  ist ;  die  Abhandlung  enthalt  auch 
die  ganze  einschlägige  Literatur  zusammengestellt  Der  Jurist  orien- 
tiert sich  am  besten  im  Handbuch  für  den  Untersuchungsrichter  von 
Hans  Groß;  der  Kulturhistoriker  lernt  den  deutschen  Volksaber- 
glauben der  Gegenwart  aus  dem  Buche  von  AdolfWuttke  kennen. 

Hellwig  weist  mit  Recht  darauf  hin,  daß  es  eine  für  alle  Zeit 
gültige  scharfe  Begriffsbestimmung  des  Aberglaubens  nicht  gibt  und 
nicht  geben  kann.  Er  sagt:  ^es  existiert  keine  einzige  Form  des 
Aberglaubens,  welche  nicht  zu  einer  gewissen  Zeit  oder  bei  dieser 
oder  jener  Klasse  von  Menschen  als  wahrer  Glaube  gegolten  hat* 
Er  definiert  den  Aberglauben  als  „denjenigen  Teil  des  Volksglaubens, 
welchen  die  herrschende  wissenschaftliche  Richtung  unserer  Zeit  als 
irrig  erachtet*  Ich  möchte  glauben,  daß  es  nicht  ausschließlich  auf 
die  „wissenschafüiche  Richtung  der  Zeit*,  sondern  überhaupt  auf  die 
Anschauungen  der  für  die  Kultur  maßgebenden  Teile  des  Volkes  an- 
kommt; diese  Anschauungen  sind  nicht  immer  streng  wissenschaftlich 
fundiert  Doch  ist  dies  mehr  nebensächlich;  im  Ganzen  kann  man 
sich   die  Definition  Hellwigs  wohl  gefallen  lassen 2).    Kriminellen 

1)  Ärztliche  Sachverständigen-Zeitung  1906,  Nr.  16  ff. 

2)  Auch  Löwenstimm's  Definition  (Aberglaube  und  Gesetz,  H.  Groß' 
Archiv  25,  S  und  4)  trifft  das  Wesentliche  des  Aberglaubens  recht  gut:  ^niit  dem 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglauben.  21 

Aberglauben  nennt  man  den  Teil  des  Aberglaubens,  der  für  den 
Kriminalisten  wichtig  werden  kann.  Er  spielt  in  verschiedenen  Ländern 
Europas  eine  sehr  verschiedene  Bolle.  In  Eußland  z.  B.  ist  er  noch 
heute  ein  kriminalpsychologisches  Moment  von  großer  Bedeutung; 
dementsprechend  beschäftigt  sich  das  russische  Strafgesetzbuch  aus- 
drücklich mit  ihm.  In  Deutschland  ist  dies  nicht  der  Fall  und  die 
Zahl  der  schwereren  Delikte,  die  im  Aberglauben  wurzeln,  ist 
nicht  eben  sehr  groß.  Hans  Groß  hat  in  seinen  trefflichen  Aus- 
führungen über  den  psjchopathischen  Aberglauben  dargelegt,  daß  bei 
geistig  normalen  Personen  der  Aberglauben  auf  ein  bescheidenes  Maß 
beschränkt  bleibt.  Normale  werden  von  der  Verwertung  einer  aber- 
gläubischen Meinung  zurückgeschreckt,  wenn  bei  derselben  strafrecht- 
liche Grenzen  energisch  überschritten  werden  müssen. 

Auf  Grund  dieser  Erwägungen,  denen  die  Erfahrungen  des  Lebens 
durchaus  Recht  geben,  kommt  Groß  zum  Begriffe  des  „psycho- 
pathischen Aberglaubens^.  Die  abergläubische  Idee  muß,  soll 
sie  eine  kriminelle  Handlung  im  Gefolge  haben,  überwertig  werden; 
die  normalen  ethischen  Hemmungsvorstellungen  müssen  den  äußeren 
Verhältnissen  unterliegen  oder  innerlich  geschwächt  worden  sein.  Ein 
Mensch,  der  in  sich  selbst  keinen  genügenden  Halt  hat,  in  unsicheren 
Existenzbedingungen  lebt,  den  Einflüssen  der  Religion  besonders  stark 
unterliegt,  eine  mangelhafte  Bildung  genoß,  läßt  sich  noch  am  ehesten 
zu  Verbrechen  aus  Aberglauben  hinreißen. 

Wie  richtig  dies  ist,  möge  der  Fall  zeigen,  den  ich  unten  des  Ge- 
naueren mitteilen  werde. 

Eine  historisch  besonders  wichtige  Form  des  Aberglaubens  ist 
der  Hexen wahn.  Er  hat  auch  für  Deutschland  heute  noch  eine 
gewisse  kriminelle  Bedeutung,  da  er,  wie  Naecke  mit  Recht  betont, 
noch  immer  im  deutschen  Volke  lebendig  ist  Hellwig  hat  erst 
vor  kurzer  Zeit  Fälle  von  Beleidigung  und  Körperverletzung  infolge 
Hexen wahns  mitgeteilt  (Monatsschrift  für  Krim.  III,  1906  und  Archiv 
für  Krim.  1 905).  Dort  erörtert  er  die  Möglichkeit,  daß  es  beim  Hexen- 
wahn auch  einmal  zu  Mißhandlungen  kommen  könne,  und  er  fährt 
dann  fort:  „Vielleicht  wird  sich  über  kurz  oder  lang  ein  deutsches 
Gericht  auch  mit  einer  solchen  Ausgeburt  des  Hexenwahns  zu  be- 
fassen haben."     Diese  Prophezeihung   ist   eingetroffen,   wie  Hellwig 


Worte  Aberglauben  muß  man  einen  logischen  oder  tatsächlichen  Fehler  bezeich  - 
nen,  welcher  darin  besteht,  daß  der  abergläubische  Mensch  infolge  von  Ansichten, 
welche  sich  auf  ihn  von  seinen  Vätern  vererbt  haben,  von  der  modernen  Wissen- 
schaft aber  verworfen  werden,  zwei  Erscheinungen  in  einen  kausalen  Znsammen- 
hang bringt,  welche  ihrer  Natur  nach  keinen  Einfluß  aufeinander  haben  können.'' 


22  IL  Gaupp 

meiner  Arbeit  entnehmen  wird.  An  anderer  Stelle  (Arztl.  Sacfaverst- 
Zeitung,  1906)  sagt  der  gleiche  Autor:  „Hoffentlich  beschenken  uns 
recht  bald  Gerichtsärzte  mit  eingehend  begründeten  Ausarbeitungen 
über  die  psychologische  und  psychiatrische  Seite  derartiger  Hexen- 
prozesse.^  Möge  er  das  von  mir  erstattete  ausführliche  Gutachten  als 
einen  solchen  Beitrag  ansehen. 

Unter  den  Krankheiten,  die  von  abergläubischen  Menschen  auf 
die  Einwirkung  böser  Geister  (Zauberer,  Hexen  etc.)  zurückgeführt 
wurden,  spielt  seit  den  ältesten  Zeiten  die  männliche  sexuelle  Im- 
potenz eine  hervorragende  Rolle.  Schon  Thomas  von  Aquino  kennt 
das  Vorkommen  der  Impotenz  durch  Verhexung  (Hansen,  Quellen  und 
Untersuchungen  zur  Geschichte  des  Hexen wahns  im  Mittelalter,  1901). 
Bei  Byloff  (Das  Verbrechen  der  Zauberei,  Graz  1902)  lesen  wir, 
daß  die  „impotentia  ex  malificio^^  eine  ständig  wiederkehrende  Er- 
scheinung in  den  Ehescheidungsprozessen  des  15. — 18.  Jahrhunderts 
sei,  wo  sie  eine  „quaestio  qnotidiana"  bilde.  Im  alten  Recht  gab  es 
eine  „Impotentia  ex  operatione  diaboli",  die  zur  Trennung  der  Ehe 
berechtigte.  Dieser  Glaube  an  eine  Impotenz  durch  Verhexung  hat  sich 
bis  auf  unsere  Zeit  erhalten.  Löwenstimm  erwähnt  in  seinem 
Buche  über  ^,Aberglaube  und  Strafrecht^'  ein  Vorkommnis  in  Rußland, 
wo  ein  Bauer  seine  Frau  erschlug,  weil  er  glaubte,  sie  habe  ihm  die 
Geschlechtskraft  abgehext  Hellwig  macht  darauf  aufmerksam,  daß 
namentlich  solche  Leiden  gerne  auf  dämonische  Einflüsse  zurückge- 
führt werden,  deren  Entstehungsursache  am  schwersten  zu  ergründen 
ist  und  deren  Krankheitsbild  dem  medizinisch  Ungeschulten  das  Ein- 
wirken einer  dämonischen  Macht  am  meisten  nahe  legt  Dies  ist 
durchaus  richtig.  Bei  der  Impotenz  kommt  noch  hinzu,  daß  der  Ver- 
lust der  Manneskraft  den  Affekt  gewaltig  erregt,  Gefühle  der  Wut 
und  Scham  aufwühlt  und  damit  einen  Boden  schafft,  auf  dem  aber- 
gläubische Vorstellungen  leicht  Wurzel  fassen  und  sich  üppig  ent- 
wickeln können.  Und  da  es  sich  um  einen  bleibenden  gesundheit- 
lichen Defekt  handelt,  an  den  der  geschädigte  Mann  oft  und  vielleicht 
auch  in  peinlicher  Weise  erinnert  wird  (wenn  er  z.  B.  verheiratet  ist), 
so  kann  sich  gerade  in  einem  solchen  Falle  der  Haß  gegen  die  ver- 
meintliche Urheberin  des  Übels  allmählich  zu  einer  Stärke  entwickeln, 
daß  Beleidigung,  Körperverletzung  und  Mord  die  Reaktion  des  em- 
pörten Abergläubischen  werden. 

Ein  solcher  Fall  sei  nun  im  Folgenden  mitgeteilt.  Ich  lege  meiner 
Darstellung  in  der  Hauptsache  das  Gutachten  zu  Grunde,  das  ich  im 
Januar  1907  für  das  Schwurgericht  in  Ulm  erstattet  habe  und  das 
alles  Wichtige  enthält.   Einiges  Unwesentliche  wurde  hier  weggelassen. 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglauben.  28 

Am  29.  Oktober  1906,  abends  10  Uhr,  kam  der  Hausierer  Jo- 
hami  B.  aus  0.  in  Krain  nach  dem  Bericht  des  Polizeiwachtmeisters 
K.  rasch  auf  die  Polizeiwache  in  6.  und  rief  in  aufgeregtem  Tone: 
„Sperren  Sie  mich  nur  ein,  ich  habe  eben  einen  beim  ,,Beben^  (Name 
eines  Wirtshauses)  gestochen,  dort  liegt  er/'  B.  gab  an,  daß  er  schon 
längere  Zeit  mit  dem  Verletzten  in  Feindschaft  lebe  und  ihm  deshalb 
ein  Messer  in  den  Leib  gestoßen  habe,  so  daß  er  nun  weg  sei.  Er 
selbst  (B.)  habe  vorher  „im  Reben^  ein  Glas  Bier  getrunken  gehabt, 
sei  dann  dort  weggegangen.  Beim  Verlassen  der  Wirtschaft  sei  ihm 
der  Josef  6.  begegnet;  nunmehr  habe  er  schnell  sein  Messer  gezogen 
und  es  dem  6.,  ohne  ein  Wort  zu  sagen,  in  den  Unterleib  gestoßen. 
Bei  diesem  Vorgang  habe  niemand  zugesehen.  Nach  vollbrachter 
Tat  sei  er  sofort  zur  Polizeiwache  gegangen. 

Auf  Veranlassung  des  Polizeiwachtmeisters  war  der  Schutzmann 
W.  alsbald  zur  Bebenwirtschaft  gegangen,  wo  er  einen  Mann  in  seinem 
Blute  hegend  fand,  um  den  mehrere  Personen  herumstanden.  Die 
Angabe  des  B.,  daß  er  vor  Begehung  der  Mordtat  nur  ein  Glas  Bier 
in  der  Rebenwirtschaft  getrunken  habe,  wurde  von  der  Frau  des 
Bebenwirtes  bestätigt  Letztere  nahm  an,  B.  habe  im  Hausgang  der 
Wirtschaft  auf  den  G.  gewartet  Auch  sei  ihr  durch  Äußerungen  des 
B.  bekannt  gewesen,  daß  die  beiden  schon  längere  Zeit  einen  Haß  auf 
einander  gehabt  haben.  Aus  den  sofort  gemachten  Angaben  des  Zeugen 
T.  St  ist  bemerkenswert,  daß  sofort  nach  dem  Messerstich  B.  selbst 
laut  nach  der  Polizei  gerufen  habe.  B.  wurde  in  Haft  genommen 
und  am  folgenden  Tage  vor  dem  Amtsgericht  Geislingen  erstmals 
richterlich  vernommen.  Hier  gestand  er  die  Tat  unumwunden  ein. 
Als  Motiv  seiner  Tat  bekannte  er  eine  schon  seit  8  Jahren  bestehende 
Feindschaft  mit  G.,  dessen  Frau  ihm  vor  8  Jahren  als  Hexe  durch 
eine  überirdische  Macht  das  „Mannesrecht^'  genommen  habe,  so  daß  er 
zeugungsunfähig  geworden  sei.  Diese  Hexe  habe  er  vor  4  Jahren 
im  Wartezimmer  des  Gerichtsgebäudes  zu  Tsch.  fünfmal  gestochen, 
sei  dafür  aber  nicht  gestraft  worden,  weil  ihn  zwei  Ärzte  für 
geisteskrank  erklärt  haben,  so  daß  er  für  10  Monate  in  eine  Irren- 
anstalt bei  Laibach  verbracht  worden  sei.  Er  sei  jedoch  damals  nicht 
geisteskrank  gewesen,  sei  es  auch  heute  nicht  Sein  Haß  gegen  G. 
habe  jedoch  immer  fortgedauert.  Letzterer  habe  1905  seine  (des  B.) 
Frau  beinahe  totgeschlagen,  sei  aber  dafür  nur  mit  8  Tagen  Gefäng- 
nis bestraft  worden,  während  die  Frau  B.  14  Tage  Gefängnis  be- 
kommen habe.  Er  sei  sich  schon  längst  darüber  klar  gewesen,  daß 
er  den  G.  aus  der  Welt  schaffen  müsse ;  auch  sei  er  der  Überzeugung, 
daß  G.  ihn  bei  Gelegenheit  würde  getötet  haben.    Am  29.  Oktober, 


24  IL  Gaupp 

dem  Tage  der  Bluttat,  habe  er  mit  6.  nicht  den  geringsten  Wort- 
wechsel gehabt;  auch  sei  die  Tat  von  ihm  in  ganz  nüchternem  Zu- 
stande begangen  worden.  ^Um  halbzehn  Uhr  ging  ich  die  Treppen 
^hinab  und  hoffte  den  6.  zu  treffen,  und  hatte  gleich  im  Sinn,  ihn 
„zu  töten.  Zu  diesem  Zweck  habe  ich  extra  dieses  Messer  ~  ich 
,,handle  mit  solchen  Messern  —  zu  mir  gesteckt,  und  war  damit  in 
„den  Beben  gegangen.  Wie  ich  nun  die  Treppe  im  Reben  hinabging, 
„kam  6.  gerade  des  Wegs  daher.  Kaum  hatte  er  den  unteren  Haus- 
„öhm  betreten,  wobei  er  kein  Wort  zu  mir  sprach,  wie  auch  ich  nicht 
„zu  ihm,  so  zog  ich  das  Messer,  das  ich  in  Papier  eingewickelt  ge- 
„habt  hatte,  aus  meiner  rechten  Hosentasche  heraus  und  rannte  es 
„ihm  in  den  Leib.  Ich  sah  ihn  noch  taumeln  und  schreien;  sofort 
„darauf  eilte  ich  rasch  auf  die  Polizei  und  erklärte  einem  dort  an- 
„wesenden  Schutzmann,  daß  ich  soeben  den  6.  erstochen  habe.  Ich 
„habe  keine  Beue  über  meine  Tat ;  ich  wußte  ja,  daß  6.  oder  ich  tot 
„sein  müsse,  ich  rechne  mein  Leben  für  nichts  mehr  auf  dieser  Welt'' 
B.  fügte  dann  hinzu  (ob  auf  Frage  oder  Vorhalt,  ist  aus  den  Akten 
leider  nicht  ersichtlich),  es  wäre  ihm  doch  lieber,  wenn  nichts  pas- 
siert wäre. 

Die  amtsärztliche  Sektion  der  Leiche  des  6.  ergab  als  Todes- 
ursache Verblutung  durch  Verletzung  der  linken  Schenkelblutader,  die 
das  Messer  durchschnitten  hatte. 

Der  Rebenwirt  A.  schilderte  den  B.  bei  seiner  Vernehmung  als 
einen  ruhigen  und  nüchternen  Mann,  an  dem  er  nie  Zeichen  geistiger 
Störung  wahrgenommen  habe,  obwohl  er  ihn  seit  Jahren  kenne.  B. 
und  6.  haben  noch  nie  in  der  Reben  Wirtschaft  Streit  oder  Händel 
angefangen.  Am  Abend  der  Tat  sei  B.  gegen  9  Uhr  in  die  Wirt- 
schaft gekommen,  habe  ein  Glas  Bier  getrunken,  ohne  daß  er  sich 
dabei  auffällig  benommen  habe.  Ruhig  habe  B.  die  Wirtschaft  ver- 
lassen und  eine  Viertelstunde  später  habe  er  ( A.)  den  6.  rufen  hören : 
„ich  bin  gestochen'*. 

Bei  der  Vernehmung  durch  den  Oberstaatsanwalt  von  ü.  am 
30.  Oktober  1906  machte  B.  genauere  Angaben  über  die  Motive  seiner 
Mordtat.  Er  berichtete,  daß  er  seit  37*2  Jahren  nicht  mehr  zu  Hause 
bei  seiner  Familie  gewesen  sei.  „Meine  Leute  haben  nämlich  von 
„anderen  Krämern  erfahren,  daß  ich  gegen  die  Frau  des  Getöteten 
„Drohungen  ausgestoßen  habe,  und  mir  deshalb  geschrieben,  es  sei 
,,besser,  wenn  ich  nicht  nach  Hause  komme.  Diese  Frau,  Katharina  G., 
„ist  nämlich  eine  Hexe.  Sie  hat  vor  ungefähr  8  Jahren  zunächst 
„mich  und  mein  Kind  verhext,  dann  auch  meine  Frau;  wir  sind  mit 
„Hilfe  von  Sympathie  wieder  gesund  worden;  mir  haben  ein  Dillinger 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglauben.  25 

„Kapuziner  und  der  Bauer  und  Schäfer  Josef  Ba.  auf  Scb.  geholfen ; 
„die  Hexe  hatte  mir  die  Mannesehre  (Mannbarkeit)  genommen,  aber, 
,,wie  gesagt,  das  erste  Mal  konnte  Ba.  helfen.  Am  18.  Januar  1899 
„waren  ich  und  meine  Frau  mit  ihr  vor  Gericht  in  Erain.  Beim 
„Verlassen  des  Oerichtsgebäudes  hat  sie  damit,  daß  sie  uns  beiden 
„mit  den  Händen  über  die  Brust  heruntergefahren  ist,  uns  wieder 
„Krankheiten  angehext  und  mir  zum  zweiten  Mal  die  Mannesehre 
„genommen,  so  daß  mir  der  Samen  von  selbst  abgeht  Jetzt  kann 
„man  mir  nicht  mehr  helfen.  Am  10.  Juli  1902  wollte  ich  sie  er- 
„stechen  und  habe  ihr  auch  fünf  Stiche  beigebracht;  sie  ist  aber  da- 
„von  gekommen,  da  man  sie  als  Hexe  nicht  hinmachen  kann.  Ich 
„wurde  verhaftet,  in  das  Irrenhaus  St  bei  L.  verbracht  und  am  Kar- 
„freitag  1903  nach  Hause  entlassen.  Eine  Strafe  habe  ich  nicht  er- 
„halten,  aber  Kosten  und  Schmerzensgeld  habe  ich  zahlen  müssen; 
„diese  Leute  haben  mich  um  viel  Geld  gebracht;  ich  glaube,  daß  sie 
„mich  um  3000  Gulden  gebracht  haben.  Im  Mai  1903  habe  ich  0. 
„(seinen  Heimatsort)  verlassen  und  seitdem  nicht  wieder  gesehen.  Ich 
„habe  auch  kein  Verlangen  nach  Hause;  die  Hexe  ist  schuldig,  ich 
„habe  nichts  mehr  vom  Leben.  Ich  habe  den  G.  getötet,  weil  er  mir 
„nach  dem  Leben  getrachtet  hat  und  hat  mich  des  öfteren  bedroht 
„und  mit  mir  Händel  angefangen;  er  ist  stärker  als  ich.  Solche 
„Drohungen  hat  mitangehört  der  Händler  Georg  M.  Ich  habe  ihn 
„auch  deshalb  getötet,  weil  er  weiß,  daß  seine  Frau  eine  Hexe  ist 
„und  doch  zu  ihr  steht  und  ihr  hilft  Ich  habe  mein  Leid  auch  dem 
„Fostexpeditor  in  L.  geklagt  und  der  hat  zu  mir  gesagt,  er  wisse 
„wohl,  daß  es  böse  Leute  gebe  und  die  (Frau  G.)  hätte  er  schon 
„längst  totgeschlagen.  Daß  G.  mich  am  letzten  Kirchweihtag  in  D. 
„mit  dem  offenen  Messer  bedroht  hat  kann  der  schon  genannte  M. 
„bezeugen.  Im  Jahre  1905  hat  er  meine  Frau  halbtot  geschlagen. 
„Er  war,  wenn  auch  kein  Hexenmeister,  so  jedenfalls  kein  Guter. 
„Ich  war,  als  ich  ihm  das  Messer  in  den  Leib  stieß,  ganz  nüchtern. 
„Ich  dachte:  Deine  Frau  hat  mich  bailacht  (wallacht),  jetzt  bailach 
„ich  auch  Dich,  jetzt  muß  ich  oder  mußt  Du  hin  sein.^^  In  dem 
Protokoll  wird  beigefügt,  der  Beschuldigte  lebe  und  sterbe  darauf, 
daß  es  Hexen  gebe  und  daß  die  Frau  des  Getöteten  eine  Hexe  sei 
und  ihn,  seine  Frau  und  sein  Kind  verhext  habe.  Von  den  Aussagen 
des  Michael  B.,  des  Bruders  des  Angeschuldigten,  ist  hervorzuheben: 
Die  ganze  Familie  sei  körperlich  und  geistig  gesund.  „Mein  Bruder 
„hat  oft  zu  mir  gesagt,  es  müsse  anders  werden,  Gott  verlasse  ihn  nicht, 
„Gott  helfe  ihm ;  so  könne  es  nicht  fortgehen,  er  werde  ihn  (den  G.)  er- 
„stechen,  weil  er  seiner  Frau  recht  gebe.     Ich  bin  sehr  häufig  mit 


26  II.  Gaupp 

,,ibm  znsammeDgetroffen,  wir  sind  immer  gut  miteinander  ausge- 
„kommen.  Mein  Bruder  ist  gescheiter  als  mancher  andere.  Dem  6. 
,,hat  er  es  übel  genommen,  daß  er  seine  Frau  gegen  die  Verdäch- 
„tigung  der  Hexerei  verteidigt  hat.  Mein  Bruder  wurde  dadurch  in 
,,dem  Glauben,  6.  halte  selbst  seine  Frau  für  eine  Hexe,  bestärkt. 
„Die  Frau  6.  will  gescheiter  sein,  als  alle  B.  Mein  Bruder  ist  durch 
„sie  um  viel  Geld  gekommen;  er  hat  bei  mir  Geld  entlehnt  und 
„schuldet  mir  über  4000  Mark." 

Der  Handelsmann  Johannes  Bi.  schildert  den  Getöteten  als  einen 
„rechten  Mann",  gegen  den  er  nichts  sagen  könne;  B.  habe  sich  nicht 
ausreden  lassen,  daß  die  Frau  G.  eine  Hexe  sei  und  ihm  seine  Im- 
potenz angehext  habe.  B.  habe  geäußert,  wenn  er  nach  Hause  komme, 
werde  man  sehen,  was  er  tue.  B.  hat  viel  gebetet  und  von  Gott  ge- 
sprochen. Der  Zeuge  S.  schildert  den  B.  als  einen  ganz  vernünftigen 
Geschäftsmann,  aber  als  einen  Mann,  der  fest  an  sein  Verhextsein 
glaubte.  G.  habe  sich  neutral  verhalten,  jedes  Zusammentreffen  mit 
dem  B.  vermieden. 

Dem  die  Untersuchung  führenden  Oberstaatsanwalt  machte  der 
Angeschuldigte,  abgesehen  von  seinem  Hexenglauben,  den  Eindruck 
eines  geistig  völlig  gesunden  Menschen. 

Am  6.  November  1906  schrieb  die  Witwe  des  Ermordeten,  Frau 
G.,  an  das  K.  Amtsgericht  Ge.  einen  Brief,  aus  dem  namentlich  her- 
vorzuheben ist,  daß  B.  1903  auf  Verantwortung  seiner  Verwandten 
aus  der  Irrenanstalt  entlassen  worden  sei.  Er  habe  schon  damals 
öfters  erwähnt,  er  werde  noch  drei  Leute  erstechen. 

Der  Zeuge  Hermann  Bl.  schilderte  bei  seiner  Vernehmung  am 
7.  November  1906  den  B.  als  einen  fleißigen,  ruhigen,  zuverlässigen 
Geschäftsmann,  der  nie  Spuren  von  Geistesstörung  geboten  habe ;  um- 
habe er  den  Wahn,  daß  die  Frau  G.  eine  Hexe  sei  und  in  dieser 
Eigenschaft  ihm  und  seiner  Familie  schon  viel  Böses  angetan  habe. 
B.  habe  ihm  gegenüber  öfter  Äußerungen  gebraucht  wie:  „die  Hexe 
muß  verrecken,  ich  bringe  sie  unter  allen  Umständen  um".  B.  habe 
gesagt,  wegen  der  Hexe  habe  er  keine  Heimat  mehr;  er  gehe  noch 
einmal  nach  Hause,  dann  bringe  er  sie  um.  Bl.  erzählte,  der  Bru- 
der des  B.  in  L.  sei  ebenfalls  des  Wahns,  die  Frau  G.  sei  eine  Hexe. 
Ihm  gegenüber  habe  dieser  Michael  B.  geäußert,  sein  Bruder  habe 
den  G.  töten  müssen,  er  habe  nicht  anders  gekonnt. 

Bei  seiner  Vernehmung  vor  dem  Untersuchungsrichter  am  16. 
November  1906  machte  B.  im  Wesentlichen  die  gleichen  Aussagen 
wie  früher.  Er  stellte  in  Abrede,  am  Abend  der  Mordtat  auf  den 
G.  gewartet  zu  haben,  dieser  sei  ihm  vielmehr  gerade  am  Hauseingang 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglauben.  27 

begegnet    Das  Messer,  mit  dem  er  die  Tat  ausgeführt  habe,  habe 
er  stets  bei  sich  getragen,  da  er  fürchtete,  6.  werde  ihm  etwas  antun. 

unter  dem  25.  November  1906  erstattete  Dr.  X.  in  ü.  ein  Gut- 
achten über  den  Geisteszustand  des  Angeschuldigten.  Dr.  X.  kon 
statierte  bei  dem  B.  einen  etwas  beschleunigten  Puls  (90),  etwas  be- 
legte Zunge,  lebhafte  Patellarreflexe,  etwas  gebückte  Haltung.  Das 
Wesen  des  B.  war  gelassen  bei  trüber  Grundstimmung,  er  äußerte 
Lebensüberdruß,  weil  ihm  die  Hexe  die  Potenz  genommen  und  ihn 
krank  gemacht  habe.  Er  lebe  nur  noch,  um  für  seine  Kinder  zu 
sorgen.  Sein  Wissen  erwies  sich  als  seinem  Bildungsgang  ent- 
sprechend, sein  Gedächtnis  intakt,  die  Erinnerung  an  die  Straftat 
ungetrübt.  Keue  äußerte  er  nicht,  er  sei  jetzt  erst  zur  Buhe  gekommen. 
„Gott  hilft  mir  und  Wahrheit,  da  hab'  ich  gute  Buh.^  Der  Arzt 
fand,  daß  B's.  Fühlen  und  Denken  von  seinem  Wahne  beherrscht  sei 
und  daß  er  seit  Jahren  an  Verfolgungswahn  leide;  seine  Mordtat  sei 
unter  dem  Einfluß  einer  krankhaften  Wahnidee  vollbracht  worden. 
Da  jedoch  die  Erankheitssymptome  nicht  sehr  markant  seien,  so 
empfehle  sich  die  Beobachtung  des  B.  in  einer  öffentlichen  Irren- 
anstalt 

Diesen  Antrag  entsprechend  wurde  B.  der  Psych.  Klinik  in 
Tübingen  zur  Beobachtung  und  Begutachtung  überwiesen  und  daselbst 
am  14.  Dezember  aufgenommen. 

Aus  den  Akten  ergab  sich  Folgendes: 

Am  7.  Januar  1899  stellte  Frau  Katharina  G.  in  0.  in  Krain 
Strafantrag  gegen  den  Johann  B.  wegen  Beleidigung  und  Verleum- 
dung; B.  habe  sie  am  30.  Dezember  1898  mitten  im  Dorfe  vor  seinem 
Hause  angefallen,  sie  angeschrieen,  sie  sei  eine  große  Hexe;  sie  sei 
nach  Deutschland  gegangen,  um  seinem  Leib  ein  Ende  zu  machen. 
Diese  Beschuldigung  habe  ihr  das  Herz  zusammengeschnürt,  sie  be- 
zeuge bei  Christus,  daß  sie  dieser  bösen  Tat  nicht  schuldig  sei.  Sie 
habe  ihm  ruhig  geantwortet:  ,, täusche  Dich  nicht!  oder  weißt  du  es 
nicht,  daß  es  einen  Gott  im  Himmel  gibt,  der  alle  unseren  Gedanken 
und  Wünsche  kennt?  Darum  glaube  an  den  einen  alleinigen  Gott, 
nicht  an  Hexerei  und  an  einen  falschen  Gott.^  B.  habe  darauf  er- 
widert: „Du  Katharina  G.  bist  eine  große  Hexe,  das  bezeuge  ich 
durch  Aufheben  der  Finger,  daß  du  es  bist  Ich  möge  Gott  niemals 
schauen,  wenn  Du  nicht  eine  große  Hexe  bist,  denn  Du  betreibst  es 
mit  dem  Teufel  und  dienest  dem  Teufel."  Das  habe  B.  vielmals 
gerufen  in  Gegenwart  von  Vielen.  Auch  spreche  er  oft  aus,  daß  er 
sie  noch  erschlagen  werde.  Auch  die  Marina  B.  (seine  Ehefrau)  habe 
immer  geschrieen,  daß  sie  (die  G.)  eine  große  Hexe  sei  und  ihn  und 


28  IL  Gaupp 

sein  Kind  verderbe  und  fresse.  Derart  habe  sie  fortwährend  geschrieeDi 
worauf  ihr  die  E^atbarina  6.  (die  Klägerin)  geantwortet  habe:  ^Gott 
der  Allmächtige  möge  mich  verderben,  wenn  ich  den  Wunsch  gehabt 
habe,  sie  oder  ihr  Kind  oder  irgend  jemand  zu  verderben,  oder  wenn 
ich  schuldig  bin  solcher  bösen  Tat  Denn  ich  glaube  gar  nicht  an 
diese  Sachen,  noch  viel  weniger  verstehe  ich  etwas  derartiges.  Aber 
in  dem  Hause  des  Johann  B.  glaubt  man,  daß  es  Hexen  in  Wirk- 
lichkeit gibt  Schon  der  Vater  des  Johann  B.  hat  über  ein  Frauen- 
zimmer das  Gerücht  ausgestreut,  daß  sie  eine  Hexe  seL  Auch  in 
der  Fremde  bezichtigt  mich  Johann  B.  als  Hexe,  spricht  schandbare 
Dinge  über  mich  und  verleumdet  mich  sehr.  Denn  mein  Mann 
Josef  G.  hat  mir  schon  dreimal  davon  nach  Hause  geschrieben. 
Das  ist  für  mich  eine  schwere  Verleumdung,  denn  ich  bin  unschuldig 
daran." 

Die  Klägerin  nahm  damals  die  Anklage  wieder  zurück,  es  kam 
zum  Vergleich.  Allein  die  Beschuldigungen  hörten  nicht  auf  und 
im  August  1899  sah  sich  die  Frau  G.  abermals  veranlaßt,  gegen  den 
Johann  B.  wegen  Beleidigung  mit  einer  Klage  vorzugehen.  Sie  teilte 
dem  Gericht  in  T.  am  17.  August  1899  mit,  B.  habe  sie  vor  vielen 
Leuten  beschimpft  und  ihr  mit  Ermorden  gedroht,  da  er  das  Bacht 
habe,  sie  als  Hexe  zu  ermorden.  Mit  diesen  Beschimpfungen  bringe 
er  viele  Schande  über  sie,  gebe  ihr  keine  Buhe;  dabei  wisse  sie  von 
dem  allem  gar  nichts,  sei  vielmehr  ganz  still  und  ruhig  über  ihn. 
Sie  bat  um  strenge  Bestrafung  des  B. 

Am  Verhandlungstage  entfernte  sich  der  Angeklagte  vor  der 
Verhandlung  aus  dem  Gerichtsgebäude,  so  daß  in  seiner  Abwesenheit 
das  Urteil  gefällt  wurde.  Durch  Zeugenaussagen  wurde  erwiesen, 
daß  die  Angaben  der  Frau  G.  auf  Wahrheit  beruhen,  B.  habe  die 
Klägerin  angeschrieen:  „Es  möge  Dich  das  heilige  Kreuz  und  das 
Gestein  der  Kirche  erschlagen;  du  bist  eine  Hexe,  ich  hab  ein  Recht, 
dich  zu  erschlagen;  ich  werde  dich  ermorden;  was  hast  Du  aus  mir 
gemacht  und  meinem  Kinde."  Die  G.  habe  darauf  erwidert :  „was  sprichst 
du  da,  dir  ist  nicht  recht  im  Kopf,  ich  bin  an  Dir  nicht  schuldig 
und  weiß  von  nichts/'  Darauf  habe  sich  B.  gegen  die  Leute  ge- 
wandt und  habe  gerufen:  „da,  seht  sie  euch  an,  das  ist  eine  große 
Hexe/  Sodann  habe  B.  zwei  Schritte  nach  vorne  gemacht,  habe 
sich  umgekehrt  und  gerufen :  „wenn  du  keine  Hexe  bist,  so  verfluche 
dich  jetzt,  wie  auch  ich  mich  jetzt  verfluchen  werde.  Es  mögen 
mich  jetzt  aus  dem  heiteren  Himmel  vor  der  strahlenden  Sonne  alle 
Blitze  erschlagen,  wenn  du  nicht  eine  Hexe  bist  und  wenn  du  mich 
nicht  verhext  hast."     Die  Klägerin   fuhr  fort:   ich  habe  darauf  ge- 


Zar  Lehre  vom  psychopathisthen  Aberglauben.  29 

• 

antwortet:  ^ich  will  mich  nicht  verfluchen,  weil  man  mir  in  der 
Beichte  gesagt  hat,  daß  ich  mich  nicht  verfluchen  darf  und  daß  ich 
Dir  sagen  soll,  daß  ich  dir  etwas  zufügen  werde,  daß  du  es  merkst^ 
Er  antwortete  darauf:  „0  ja,  du  wirst  es  mir  zufügen,  denn  du 
kannst  alles.  Auf  dashin  habe  ich  mich  trotzdem  verflucht,  es  möge 
mich  die  strahlende  Sonne  nie  mehr  bescheinen,  wenn  ich  etwas  von 
Hexerei  verstehe.^  B.  fing  darauf  an  zu  schreien:  „du  bist  eine 
Hexe,  ich  habe  das  Recht  dich  zu  erschlagen  und  werde  es  tun." 

B.  wurde  damals  vom  Bezirksgericht  T.  wegen  Beleidigung  zu 
3  Wochen  Gefängnis  verurteilt;  das  Gericht  nahm  an,  er  habe  diese 
Beleidigungen  nicht  ganz  ohne  Verstand  ausgesprochen.  Der  Ver- 
urteilte legte  Berufung  ein,  doch  bestätigte  das  Obergericht  die  Strafe. 
In  seinem  Berufungsschreiben  behauptete  er,  alles,  was  er  zu  der  G. 
gesagt  habe,  sei  wahr,  sie  habe  ihm  seine  Männlichkeit  genommen. 

Am  4.  Juni  1902  teilte  der  Polizeiwachtmeister  V.,  Bezirk  T. 
mit,  die  Katharina  G.  habe  sich  bei  ihm  darüber  beschwert,  daß  der 
Johann  B.  ihr  nachgehe,  um  ihr  das  Leben  zu  nehmen,  wobei  er 
behaupte,  sie  sei  eine  Hexe  und  habe  ihn  an  seiner  Gesundheit  be- 
schädigt. Sie  sei  dadurch  in  Furcht  versetzt  und  getraue  sich  nicht 
mehr,  ins  Freie  zu  gehen.  B.  habe  dem  Wachtmeister  auf  Vorhalt 
geantwortet,  er  werde  schon  noch  seine  Meinung  tun,  wenn  ihm  die 
G.  das  von  ihr  verursachte  L^bel  nicht  beseitige.  J.  Butala  sei  nicht 
bei  normaler  Vernunft  Die  Heimatgemeinde  des  B.  äußerte  sich  auf 
Anfrage  des  Gerichts  damals  über  ihn,  er  glaube  fest  an  Hexen ;  das 
komme  daher,  daß  er  häufig  ins  Glas  schaue  und  geringe  Fähigkeiten 
besitze.  Aber  das  liege  in  der  Verwandtschaft;  er  sei  der  Sohn  des 
alten  „üsin^  (alten  Quaerulanten),  sei  auch  vor  einigen  Jahren  richtig 
närrisch  gewesen  und  gewiß  noch  nicht  ganz  ausgeheilt.  Am  1 0.  Juni 
1902  sollte  es  zur  Verhandlung  gegen  B.  wegen  Beleidigung  und  Be- 
drohung der  G.  kommen.  Im  Vorzimmer  des  Gerichtssaals  stürzte 
sich  der  Angeklagte  B.  plötzlich  in  sinnloser  Wut  auf  die  Klägerin 
und  brachte  ihr  mit  einem  Messer  mehrere  Stiche  in  Bauch  und 
Bücken  bei,  worauf  er  sich  flüchtete.  Er  wurde  festgenommen  und 
machte  bei  seiner  Vernehmung  vor  dem  Eichter  am  10.  Juni  1902 
ausführliche  Aussagen,  die  auch  für  die  jetzige  Straftat  von  großer 
Bedeutung  sind,  so  daß  ihre  wörtliche  Wiedergabe  hier  am  Platze 
sein  dürfte.  Er  sagte:  „Maria  S.,  Tochter  meiner  Kousine  gleichen 
Namens,  hat  vor  4  Jahren  bei  der  Katharina  G.  als  Dienstmagd  ge- 
dient. Sie  wäre  auch  das  andere  Jahr  in  dem  Dienste  verblieben, 
aber  weil  meine  Frau,  Marina  B.,  ihr  etwas  mehr  Lohn  angeboten 
hat,   hat  Maria  S.  den  Dienst  bei  der  Katharina  G.  gekündigt  und 


30  IL  Gaupp 

ist  bei  meiner  Frau  als  DieDstmädchen  eingetreten.  Ich  habe  damals 
in  Deutschland  den  Hausierhandel  betrieben.  Als  ich  nach  Hause 
gekommen  bin,  war  Maria  S.  schon  bei  uns  im  Dienst  und  Ka- 
tharina G.  hat  wegen  dieser  Sache  nie  irgend  eine  Feindschaft  gegen 
uns  gezeigt  Sie  hat  mit  uns  in  aller  Freundschaft  verkehrt,  und  ich 
habe  ihr  sogar  2  mal  Geld  geliehen,  einmal  20  Gulden,  das  andere 
Mal  5  Gulden.  Am  Anfang  Oktober  1898  bin  ich  wieder  nach 
Deutschland  gegangen,  um  zu  hausieren,  um  die  Zeit  Allerheiligen 
erhalte  ich  von  meiner  Frau  einen  Brief  mit  der  Nachricht,  daß  sie 
sich  mit  Katharina  G.  wegen  eines  Schadens,  den  die  Hühner  ange- 
richtet hatten,  überwerfen  habe.  Als  ich  das  Josef  G^  der  zu  der  Zeit 
auch  in  der  Nähe  von  U.  den  Hausiererhandel  im  Württembergichen 
betrieben  hat,  erzählte,  antwortete  er  mir,  daß  seine  Frau  auf  meine 
Frau  ärgerlich  sei,  seitdem  sie  ihr  die  Magd  genommen  habe. 

„Bald  darauf  habe  ich  im  Unterleibe  Schmerzen  gefühlt;  infolge- 
dessen habe  ich  mich  dem  Josef  G.  gegenüber  beklagt,  daß  es  mir 
seit  der  Zeit,  seitdem  seine  und  meine  Frau  sich  überwerfen  haben, 
nicht  mehr  recht  sei.  Bei  der  Gelegenheit  habe  ich  ihm  in  Gegenwart 
anderer  Hausierer  gesagt,  daß  seine  Frau  nicht  ganz  „sauber^  sei, 
d.  h.  daß  seine  Frau  „schlecht''  ist,  daß  sie  andern  Leuten  böses 
wünscht  und  zufügt  Darauf  gab  mir  G.  zur  Antwort:  „Warum  hat 
mir  deine  Frau  mein  Mädchen  genommen,  da  ich  immer  ein  Waisen- 
kind bin.''  Darauf  habe  ich  meiner  Frau  einen  Brief  geschrieben, 
daß  ich  von  der  Zeit  an,  da  sie  sich  mit  der  G.  überwerfen  habe, 
nicht  mehr  ganz  recht  sei,  und  habe  sie  darauf  aufmerksam  gemacht, 
daß  sie  auf  die  Kinder  achtgeben  solle,  damit  den  Kindern  nichts 
Böses  geschehe.  Bald  darauf  bekam  ich  die  Antwort,  daß  zu  Hause 
alles  in  Ordnung  ist  Kaum  sind  darüber  etliche  14  Tage  vergangen, 
bekam  ich  von  zu  Hause  ein  Schreiben,  daß  das  kleine  Töchterlein 
eine  geschwollene  Hand  habe,  die  immer  schwärzer  wird  und  immer 
mehr  anschwillt  Ich  habe  daraus  gefolgert  daß  die  Ursache  dieses 
Übels  nur  die  Bosheit  der  Katbarina  G.  ist.  Ich  habe  deshalb  einen 
gewissen  Johann  Ba.  in  Seh.  im  Bayerischen  aufgesucht,  der  weit 
und  breit  bekannt  ist,  daß  er  mit  großem  Erfolge  alle  Krankheiten 
heilt  Als  ich  ihm  gesagt  habe,  daß  mein  Töchterlein  nach  der  An- 
gabe meiner  Frau  eine  schwarze  geschwollene  Hand  habe,  die  immer 
weiter  schwelle,  hat  er  mir  befohlen,  daß  ich  ihm  die  genaue  Adresse 
des  Kindes  mit  Angabe  des  Bezirks,  der  Hausnummer  und  des  Lan- 
des geben  solle.  Diese  genaue  Adresse  legte  er  daraufhin  auf  ein 
Fenster,  hat  einige  Kreuze  um  dieselbe  gemacht  und  hat  während- 
dessen  dabei   murmelnd   seine  Gebete  verrichtet.    Das   geschah   an 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglauben.  31 

einem  Freitag,  bald  darauf  bekam  ich  von  meiner  Frau  ein  Schreiben 
mit  der  Nachricht,  daß  am  Sonntage  die  Geschwulst  bei  dem  Kinde 
plötzlich  vergangen  ist  Dem  Johann  Ba.  habe  ich  daraufhin  gesagt 
bei  der  Gelegenheit,  als  er  Gebete  für  das  Kind  verrichtete,  daß  ich 
ein  ganz  anderer  Mann  geworden  bin.'^  „Ich  bin  ein  ganz  anderer 
Mann/  Darauf  antwortete  dieser  das  Folgende:  da  hat  sie  Ihnen 
das  Mannesrecht  genommen.  Ba.  hat  darauf,  mich  an  meinem  Kopfe 
haltend,  über  mir  einige  Gebete  verrichtet  und  gab  mir  in  einem 
Fläschchen  eine  gelbschillernde  Flüssigkeit,  von  der  ich  4  mal  den 
Tag  trinken  sollte,  worauf  mir  der  Schmerz  gleich  vergangen  ist. 
Das  erste  Mal  gab  ich  ihm  eine  Mark,  später  aber  jedesmal  Waaren 
im  Werte  von  einer  Mark. 

„Als  ich  darauf  einige  Tage  vor  den  Weihnachtsfeiertagen  des 
Jahres  1898  nach  Hause  gekommen  bin,  hat  mir  meine  Ehefrau  er- 
zählt, daß  Katharina  G.  meiner  Schwägerin  Margarete  Bu.  gesagt  habe, 
ihr  Mann  Josef  G.  habe  ihr  aus  Deutschland  nach  Hause  geschrieben, 
daß  mir  die  Hoden  geschwollen  seien,  und  daß  ich  nicht  recht  bei 
Verstände  sei,  da  ich  sie  (die  Kath.  G.)  für  eine  Hexe  ausgebe.  Kurze 
Zeit  nach  den  Weihnachtsfeiertagen  habe  ich  Kath.  G.  zum  1.  Male 
gesehen,  denn  ich  war  eben  zu  Hause,  als  sie  Dünger  aufgeladen 
hat.  In  einem  vorwurfsvollen  Tone  sprach  ich  zu  ihr:  du  bist  mir 
eine  gute  Nachbarin,  worauf  sie  antwortete,  daß  sie  gar  nicht  an 
meinem  Leiden  schuld  ist,  daß  sie  Mitleid  mit  mir  habe,  daß  sie  aber 
meinem  Weib  wohl  etwas  zufügen  möchte,  wenn  sie  es  dürfte.  Weil 
ich  ihr  darauf  vorgeworfen  habe,  daß  sie.  sowohl  mich  als  auch  mein 
Kind  verhext  habe,  und  sie  eine  Hexe  geschimpft  habe,  hat  sie  mich 
in  den  ersten  Tagen  des  Monats  Januar  im  Jahre  1899  bei  dem 
k.  k.  Bezirksgericht  in  T.  wegen  Ehrenbeleidigung  verklagt  Bei  der 
diesbezüglichen  Verhandlung  hat  sie  mir  zwar  verziehen  und  sowohl 
mich  als  auch  mein  Weib  mit  den  Fingern  an  der  Brust  berührt, 
dabei  die  Worte  sprechend:  ^Ihr  fürchtet  euch  vor  mir,  ich  werde 
euch  nun  berühren,  damit  Ihr  nicht  an  mich  denkt,  so  euch  etwas 
fehlen  würde.**  Wie  ich  später  in  Deutschland  von  verschiedenen 
Seiten  gehört  habe,  hätte  ich  damals  der  Katharina  G.  auf  die  Hand 
schlagen  sollen  und  sie  hätte  keinerlei  Macht  mehr  über  mich  be- 
kommen. 

^Nach  Ostern  des  Jahres  1899  ging  ich  wieder  nach  Deutsch- 
land, dem  Hausiererhandel  obzuliegen.  Weil  es  mir  im  Kopfe 
gesummt  hat,  und  ich  auch  im  Unterleib  öfters  Schmerzen  gespürt 
habe,  habe  ich  in  Deutschland  verschiedenen  Leuten  erzählt,  was  mir 
widerfahren   ist,   und  sie  haben  gesagt,   wie  ich  es  vorher  bemerkt 


32  n.  Gaupp 

hatte,  daß  Kath.  G.  alle  Macht  über  mich  und  mein  Weib  verloren 
hätte,  wemi  ich  sie  damals,  als  sie  mich  mit  den  Händen  an  der 
Bmst  berührt  hatte,  auf  die  Hand  geschlagen  hätte.  Einige  haben 
mir  damals  geraten,  ich  möge  mich  bei  den  Patres  in  Dillingen,  im 
Bayerischen,  benedizieren  lassen.  Darauf  bin  ich  in  das  Kloster  ge- 
gangen und  habe  einem  Pater  gesagt,  daß  ich  krank  bin  durch  böse 
Leute.  Er  antwortete  darauf:  ,Ja  das  gibf s^  und  hat  einen  anderen 
Pater  gerufen,  der  mich  ausfragte,  ob  ich  verheiratet  und  getauft  bin, 
ob  ich  bei  der  Beichte  gewesen  bin,  und  als  ich  das  alles  bejaht 
habe,  legte  er  mir  das  hier  aufliegende  Skapulier  über  die  Schulter 
und  erklärte  mir,  daß  er  mir  nun  den  päpstlichen  Segen  geben 
werde;  dabei  betete  er  aus  großen  Büchern  über  mir.  Dafür  gab 
ich  ihm  eine  Mark  und  bald  darauf  haben  die  Kopfschmerzen  nach- 
gelassen. 

Anfang  Äpgust  kehrte  ich  wieder  heim.  Am  15.  August  1899 
habe  ich  der  Kath.  G.  vorgeworfen,  daß  ich  jetzt  bereits  es  weiß, 
warum  sie  damals  beim  Gericht  mich  berührt  habe,  daß  ich  es  weiß, 
daß  sie  schuld  sei  an  meiner  Krankeit;  ich  habe  sie  eine  Hexe  ge- 
scholten und  zu  ihr  gesagt,  daß  ich  sie  erschlagen  werde  und  daß 
ich  auch  das  B,echt  habe,  sie  zu  erschlagen.  Kath.  G.  hat  mich 
deshalb  wieder  bei  dem  Bezirksgericht  in  T.  wegen  Ehrenbeleidigung 
verklagt  und  ich  wurde  zu  3  Wochen  Arrest  verurteilt;  diese  Strafe 
hat  auch  das  Berufungsgericht  in  B.  bestätigt.  Damit  ich  wenigstens 
für  kurze  Zeit  der  Strafe  entgehe,  bin  ich  im  Oktober  des  Jahren 
1899  wieder  nach  Deutschland  gegangen,  wo  ich  im  bayerischen 
und  württembergischen  Gebiet  dem  Hausierhandel  oblag. 

„Weil  ich  nicht  schlafen  konnte  und  auch  in  den  Stunden  des 
Schlafes  träumte  und  schwitzte,  bin  ich  wieder  zu  Jobannes  Ba.  ge- 
gangen, der  mich  für  einige  Zeit  mit  der  gelbschillernden  Flüssigkeit 
gesund  machte.  Im  Februar  des  Jahres  1900  ging  ich.  zu  einem  ge- 
wissen Jobann  L.  in  E.  im  Württembergischem,  der  sich  auch  mit 
dem  Gesundmachen  der  Leute  beschäftigt  Kaum  hat  der  mich  er- 
blickt, rief  er  mir  zu:  „Ist  schon  wieder^',  aus  dem  ich  gefolgert 
habe,  daß  er  sofort  erkannte,  daß  ich  verhext  bin.  L.  hat  nun  eine 
kleine  Schüssel  (oder  ein  kleines  Tischchen)  geöffnet  und  sprach  da- 
bei :  „es  ist  schon  zum  Helfen.^^  Dann  schloß  er  sie  wieder  zu.  Ich 
habe  ihm  dafür  ein  paar  Hosenträger  gegeben  und  ging  von  dannen. 
Daraufhin  kehrte  das  Scblafenkönncn  für  einige  Zeit  zurück.  Bald 
darauf  fühlte  ich  wieder  Schmerzen  in  der  Brust  und  mein  Mund 
trocknete  mir  aus,  als  ob  ich  auszehrend  wäre.  Als  mich  die  Hausierer 
in  Gegenwart  des  Josef  G.  befragten,  was  mir  fehle,  antwortete  ich 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglanben.  33 

ihnen,  daß  ich  es  nun  bereits  weiß,  was  mir  ist,  und  daß  ich  nach 
Hause  gehen  und  sie  erschlagen  werde.    Bald  darauf  erhielt  ich  von 
meinem  Bruder  Michael  B.,   der  einen  Besitz  in  L.  im  Bayerischen 
hat,  dabei  aber  auch  dem  Hausierhandel  obliegt,  ein  Schreiben,  daß 
ich  zu  ihm  kommen  soll,  denn  er  kenne  einen  Menschen,  der  mich 
gesund  machen  könne.    Ich  ging  dort  zu  einem   alten  Manne   aus 
der  Umgebung,   der  über   mir   einige  Gebete  verrichtete  und  mich 
darauf  3  mal  mit  Weihwasser  besprengte,   worauf  ich  mich  wieder 
besser  fühlte.    20  Monate  bin  ich  in  Deutschland  geblieben  und  An- 
fangs des  Monats  August  1901  kehrte  ich  nach  Hause  zurück  und 
habe  dann  der  Strafe  des  3  wöchigen  Arrests  genüge  geleistet    Den 
12.  Oktober  1901   ging   ich   wieder  nach   Deutschland.    Ich  fühlte 
wieder  ein  Summen  im  Kopf  und  wiederholt  schmerzte  mich  meine 
Brust.    Am  Tage  der  heiligen  drei  Könige  1902  fühlte  ich  aber,  als 
ob  mich  jemand  mit  seiner  Hand  an  den  Hoden  halten  würde.   Weil 
sich  dieser  Zustand  wiederholte,  habe  ich  vor  14  Tagen  den  Entschluß 
gefaßt,   nach    Hause  zurückzukehren,  mit  der  Absicht,   Eath.  G.  zu 
ermorden,   weil   dieselbe   die  Ursache   meines  Unglücks  ist  und  es 
nicht   mehr  zugibt,   daß  ich   so  friedlich  leben  könnte,  als   vorher. 
Zuerst  hatte  ich  die  Absicht,  Kath.  G.  zu  erschießen,  aber  weil  mein 
Bruder  die  Flinte  vor  mir  versteckte,   entschloß  ich  mich,  Kath.  G. 
zu  erstechen.    Da  es  aber  der  Kath.  G.  bekannt  war,   daß   ich   ihr 
nach  dem  Leben  trachte,  blieb  sie  immer  im  Hause;  wenn  sie  aber 
etwas  außer  dem  Hause  zu  verrichten  hatte,  war  sie  immer  mit  einem 
kleinen  Beil  bewaffnet,   darum    habe  ich  mich  nicht  an  sie  getraut 
Als  ich  am  10.  Juni  1902   als   Angeklagter  wegen  eines  Vergehens 
oder  Verbrechens  der  öffentlichen  Gewalttätigkeit  vor  das  Gericht  in 
T.  kam,   habe   ich   das   hier  vor   mir   liegende  Messer  zu  mir  ge- 
nommen;  denn  ich  dachte  bei  mir,   daß  sich  mir  eine  Gelegenheit 
bieten   werde,   die  Kath.  G.  totzustechen.    Auf  dem  Hausflur  nahm 
ich  die  Gelegenheit  wahr,  da  Kath.  G.  unter  lauter  Frauen  saß  und 
da  habe  ich  sie  mit  dem  Messer  einigemale  gestochen,  in  der  Absicht, 
dieselbe  aus  den  ebengenannten  Gründen  zu  ermorden.   Ich  habe  zwar 
jetzt,  da  ich  die  Kath.  G.  ermordet  habe,  nicht  die  Meinung,  daß  es 
mit  mir  und  meiner  Verwandtschaft  besser  werde,  weil  sie  nun  alle 
Macht  über  uns  verloren  hat,  ich  wollte  sie  vielmehr  nur  aus  dieser 
Welt  schaffen,  denn  sie  hat  mir  alle  Lust  am  Leben  genommen.^ 

Der  als  Zeuge  vernommene  OrtsYorstand  M.  schilderte  am  14.  Juni 
1902  den  Vater  des  B.  als  einen  unbescholtenen,  aber  nicht  ganz 
normalen  Mann,  der  in  der  Trunkenheit  sehr  erregt  sei  und  immer 
eine  und  dieselbe  Angelegenheit  betreibe,  die  ihn  gerade  beunruhige; 

Archiv  für  Eriminslanthropologie.  28.  Bd.  3 


34  n.  Gaupp 

er  belästige  wegen  eines  Diebstahles,  den  er  erlitten  habe,  die  Gerichte 
fortwährend,  obwohl  die  Angelegenheit  längst  genchtlich  entschieden 
sei.  Auch  von  dem  Angeklagten  Johann  B.  heiße  es,  er  sei  nicht 
ganz  bei  gesundem  Verstände  und  zwar  seit  jener  Zeit,  als  er  die 
Eath.  6.  Hexe  geschimpft  und  behauptet  habe,  sie  habe  sein  Kind 
verhext.  Auch  gehe  von  ihm  das  Gerücht,  er  habe  sich  aus  Deutsch- 
land Figürchen  mitgebracht,  die  er  zur  Herstellung  seiner  Gesundheit 
erhalten  habe. 

Am  14.  Juni  1902  wurde  B.  durch  die  Arzte  P.  und  D.  be- 
gutachtet Sie  gaben  an,  B.  stamme  aus  einer  psychopathisch  belasteten 
Familie,  der  Vater  leide  seit  Jahren  an  Querulantenwahn,  die  übrigen 
Verwandten  in  aszendenter  und  deszendenter  Linie  seien  angeblich 
normal.  Die  häusliche  Erziehung  sei  keine  besonders  sorgfältige  ge- 
wesen, dagegen  habe  er  in  der  Schule  befriedigend  gelernt.  Das 
psychische  Gleichgewicht  habe  möglicherweise  durch  Mißbrauch  von 
geistigen  Getränken  und  durch  wiederholte  gerichtliche  Untersuchungen 
femer  durch  Erscheinungen  in  der  sexuellen  Sphäre  gelitten.  Er  sei 
vor  mehreren  Jahren  in  der  L.  Irrenanstalt  wegen  Melancholie  längere 
Zeit  behandelt  worden.  (Diese  Angabe  ist  nicht  richtig,  B.  war  noch 
nie  in  einer  Irrenanstalt,  sondern  nur  in  einem  gewöhnlichen  Kranken- 
haus  gewesen).  Die  Arzte  fanden  bei  B.  apathischen  Gesichtsaus- 
druck, stupiden  Blick,  schwermütige  Apathie,  Verstimmung  über  den 
Verlust  seiner  Potenz  durch  die  Hexenkünste  der  Frau  G.  und  über 
die  Verhexung  seiner  Kinder.  Als  Motiv  seiner  Tat  gab  der  Ange- 
klagte  den  Ärzten  Rache  an  der  Urheberin  seines  Unglücks  an;  er 
habe  bei  vollem  Bewußtsein  den  lange  geplanten  Mordversuch  aus- 
geführt Die  Tat  sei  der  einzige  Ausweg  gewesen,  um  seinem  trost- 
losen Zustand  ein  £)nde  zu  machen.  Was  weiter  mit  ihm  geschehe, 
kümmere  ihn  wenig;  das  gegenwärtige  Leben  habe  für  ihn  ohnedies 
keinen  Wert  gehabt  Mit  Hülfe  des  allmächtigen  Gottes  sei  es  ihm 
geglückt,  die  gottlose  Zauberin  unschädlich  zu  machen.  Die  Arzte 
kamen  zu  der  Ansicht,  der  Angeklagte  scheine  an  Melancholie  bezw. 
Verfolgungswahn  zu  leiden  und  die  Tat  unter  dem  Druck  seiner 
Wahnideen  verübt  zu  haben.  Da  eine  Simulation  nicht  ausgeschlossen 
werden  könne,  so  beantragten  die  Gutachter  die  Beobachtung  des  B. 
in  einer  Irrenanstalt 

Am  28.  Juni  1902  äußerte  sich  der  Gemeindevorstand  in  0. 
über  den  B.  dahin,  er  habe  sich  bis  in  die  letzte  Zeit  gut  betragen, 
sorge  für  die  Ernährung  von  Weib,  5  Kindern,  Eltern  und  einem 
Bruder,  habe  mit  Schulden  belastete  Liegenschaften  im  Werte  von 
4050  Kronen;  er  sei  ,,nicht  ganz  rein  im  Verstände,  habe  aber  bisher 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  AberglanbeD.  35 

keinerlei  Narretei  betrieben/*  Auch  seine  m&nnlichen  Verwandten 
könne  man  nicht  unter  die  Normalen  zählen. 

Am  10.  Juli  1902  gaben  die  Sachverständigen  Dr.  V.  und  Dr.  D. 
auf  Grund  14tflgiger  Beobachtung  ein  Gutachten  über  den  Geistes- 
zustand des  B.  ab.  Dieser  habe  sich  ruhig  und  geordnet  benommen, 
zeige  aber  die  fixe  Idee,  er  habe  die  ganze  Lebenslust  durch  die 
Zauberei  der  Frau  G.  verloren.  Diese  psychische  Störung  werde  von 
allerlei  Sensationen  begleitet:  Sensationen  im  Kopfe,  schmerzhafte 
Gefühle  im  Unterleibe,  namentlich  in  der  Blasen-  und  Schamgegend, 
Schlaflosigkeit  und  Druckgefühl  in  den  Hoden,  weswegen  er  zur 
Beseitigung  dieser  Zustände  seine  Zuflucht  zu  mehreren  Charlatanen 
in  Bayern  genommen  habe.  B.  leide  an  Wahnsinn  (Paranoia  per- 
secutoria  sexualis),  habe  die  Tat  unter  dem  Zwange  einer  fixen  Idee, 
also  in  unzurechnungsfähigem  Zustande  begangen;  er  sei  gemein- 
gefährlich.  Auf  Grund  dieses  Gutachtens  wurde  das  Strafverfahren 
gegen  B.  eingestellt,  er  selbst  als  gemeingefährlich  in  die  Irrenanstalt 
S.  bei  L.  eingewiesen,  wo  er  bis  zum  9.  April  1903  verblieb.  In 
den  Akten  findet  sich  endlich  noch  ein  Schreiben  der  Frau  Marina 
B.  vom  26.  August  1902  an  das  Ereisgericht  in  R,  worin  die 
Schreiberin  mitteilt,  die  Kath.  G.  habe  vor  einigen  Tagen  zu  dem 
Johann  B.  gesagt:  „ich  werde  Dich  verhexen,  daß  du  noch  heute 
entzweiplatzest.  ^  B.  habe  sie  „als  Seh  wachsinniger''  dann  aus  Angst 
beschädigt 

Der  uns  von  der  Direktion  der  Irrenanstalt  in  St.  überlassenen 
Krankengeschichte  des  B.  ist  zu  entnehmen,  daß  er  auch  dort  als 
Geisteskranker  (Dementia  praecox,  phantastische  Verrücktheit)  gegolten 
hat  Es  wurde  festgestellt,  daß  B.  früher  noch  nie  in  einer  Irren- 
anstalt war.  Der  Mann  erschien  als  bedeutend  „dement^,  gab  sein 
Verbrechen  quasi  als  selbstverständlich  zu,  er  habe  nur  in  gerechter 
Notwehr  gehandelt.  Seit  Jahren  sei  er  wegen  der  Hexe  schlaflos 
und  habe  keine  Minute  Euhe.  Es  heißt  dann:  „Halluzinationen  aller 
Art  werden  unumwunden  zugegeben."  Er  gab  willig  etwas  gewundene, 
weitschweifige  Auskünfte  und  führte  eine  Sprach  weise,  die  „für  den 
bestehenden  Zustand  ziemlich  bezeichnend  ist."  ,,B.  benahm  sich 
während  seines  Anstaltsaufenthaltes  völlig  geordnet.  Sobald  der  Grund 
seiner  Intemierung  berührt  wird,  ergeht  sich  Pat  in  einem  endlosen 
Wortschwall,  verwickelt  sich  in  alle  möglichen  Einzelheiten,  wird  ab- 
schweifend und  umständlich,  erzählt  in  phantastisch  gefärbter  Form 
von  allen  möglichen  Erlebnissen,  bringt  Einzelheiten,  die  jeden  sach- 
hchen  Zusammenhanges  entbehren,  in  mystischem  Märchenton  mit 
einander  in  Verbindung." 

3* 


36  IL  Gaüpp 

Leider  enthält  die  kurze  snmmariscbe  Krankengeschichte  keine 
irgendwie  verwertbaren  Einzelheiten,  sondern  begnügt  sich  mit  diesen 
allgemeinen  Ausführungen,  die  die  angenommene  Diagnose  der 
,, Dementia  praecox^  in  keiner  Weise  zu  begründen  vermögen.  Es 
ist  weiterhin  auch  nicht  ersichtlich,  weshalb  B.  trotz  seiner  erwiesenen 
enormen  Gefährlichkeit  schon  nach  wenigen  Monaten  wieder  entlassen 
wurde,  wenn  man  doch  glaubte,  es  bei  ihm  mit  einem  schwachsinnigen 
Geisteskranken  zu  tun  zu  haben. 

Bei  der  Bedeutung,  welche  im  vorliegenden  Falle  eine  genauere 
Kenntnis  der  abergläubischen  Anschauungen  der  slovenischen  Hausierer 
haben  mußte,  sah  ich  mich  veranlaßt,  noch  weitere  Erkundigungen 
über  diesen  Punkt  einzuziehen. 

Der  Hausierer  Peter  F.  aus  R.,  ein  Heimatgenosse  des  B.  gab 
mir  im  Januar  1907  Folgendes  an:  B.  sei  immer  ein  ausgezeichneter 
Mensch  gewesen,  nur  sei  er  bald  nach  1870  eine  Zeit  lang  nicht 
recht  gewesen,  in  Deutschland  sei  die  Störung  ausgebrochen,  er  habe 
damals  in  Günzburg  Waren  weggeworfen  und  sei  sehr  fromm  geworden. 
In  seiner  Heimat  seien  die  Leute  fromm,  aber  B.  sei  als  ganz  Junger 
nicht  frommer  gewesen,  als  andere.  Er,  F.,  sei  damals  mit  dem  B. 
nach  Hause  gefahren,  letzterer  habe  gerne  Kirchen  besucht  und  dabei 
einmal  in  der  Kirche  in  Yillach  die  Bemerkung  gemacht,  dem  Petrus 
dort  (einem  Heiligenbild)  sei  der  Bart  gewachsen.  Später  sei  er  dann 
wieder  ganz  normal  gewesen.  Er,  F.,  sei  auch  der  Meinung,  daß  es 
Hexen  gebe  und  daß  die  Frau  G.  keine  richtige  Person  sei ;  ihm  habe 
ein  Mann  namens  Sp.  gesagt,  die  Frau  G.  sei  der  reine  Teufel,  sie 
sehe  immer  auf  den  Boden;  auch  ihr  Schwiegervater  habe  Angst  vor 
ihr  als  einer  Bösen  gehabt,  es  deshalb  nicht  gewagt,  sie  zu  schlagen ; 
der  G.  sei  wegen  dieser  Person  zu  bedauern  gewesen.  G.  habe 
anderen  Leuten  erzählt,  wenn  man  träume,  gehe  die  Seele  aus  dem 
Leibe  heraus;  er  habe  nämlich  gesehen,  daß  sein  Weib  wie  tot  da- 
gelegen und  nicht  mehr  geatmet  habe  und  sie  habe  nachher  gesagt, 
sie  habe  nur  geträumt;  es  wandle  ihre  Seele  dann  weiter,  ohne  daß 
sie  selbst  dabei  sei.  Er  wisse  nicht,  ob  G.  ein  gefährlicher  oder  ge- 
walttätiger Mensch  gewesen  sei,  doch  habe  B.  erzählt,  G.  habe  ge- 
droht, daß  er  dem  B.  das  Messer  3  Hand  breit  in  den  Leib  steche, 
B.  solle  sich  hüten.  In  seiner  Heimat  Krain  spreche  man  viel  von 
bösen  Leuten  und  Hexen.  Er  sei  auch  überzeugt,  daß  man  das  Vieh 
verbexen  könne.  Eines  sei  auch  auffällig  gewesen:  G.  habe  sich 
geschämt,  wenn  im  Wirtshaus  von  Hexen  und  namentlich  von  seiner 
Frau  die  Rede  war.  Wenn  einer  gefragt  habe :  wo  ist  der  Mann  der 
Hexe?  so  habe  G.  nach  unten  gesehen  und  gesagt:   meine  Frau  ist 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglauben.  37 

gescheiter  als  alle  B.  zusammen.  B.  habe  sicher  einen  Grund  ge- 
habt, weshalb  er  den  G.  gestochen  habe;  er  sei  ein  sehr  anständiger 
Mensch. 

Am  5.  Januar  1907  wurde  der  Bruder  des  B.,  Michael  B.  ver- 
nommen ;  aus  seinen  Angaben  ist  hervorzuheben,  daß  auch  er  glaubt, 
daß  die  Frau  G.  eine  Hexe  ist,  es  gebe  viele  solche  böse  Menschen, 
auch  in  L.  „Meine  Frau  kam  neulich  ins  Kindsbett  und  da  ließen 
wir,  bevor  das  Kind  getauft  war,  eine  solche  böse  Frau  nicht  herein. 
Ich  sage  nicht,  wer  diese  böse  Frau  ist,  aber  sie  hätte  unser  Kind 
behexen  können." 

Dieser  Bruder  des  Angeschuldigten,  Michael,  besuchte  nun  am 
20.  Januar  1907  den  Angeschuldigten  in  der  Klinik  und  wir  nahmen 
dabei  Anlaß,  ihn  über  seine  Beurteilung  der  G.  genauer  zu  befragen. 
Zunächst  ergab  sich,  daß  auch  Michael  fest  davon  überzeugt  ist,  daß 
die  G.  eine  Hexe  sei  und  den  Angeschuldigten  krank  gemacht  habe. 
Und  zwar  habe  sie  dies  dadurch  erreicht,  daß  sie  einen  Schinken, 
den  Frau  B.  dem  G.  für  ihren  Mann  mitgegeben  habe,  verhext 
und  dadurch  seine  Gesundheit  zu  Grunde  gerichtet  habe.  G.  habe 
jedenfalls  davon  gewußt;  denn  er  habe,  wenn  davon  die  B«de  ge- 
wesen sei,  immer  gesagt:  recht  hat  sie.  Einmal  erzählte  ein  Nachbar 
des  G.,  er  habe  gehört,  wie  G.  mit  seiner  Frau  Streit  bekam  und  ihr 
im  Zorn  zurief:  „gelt  du  willst  mich  hinmachen  wie  den  B.'^  Michael 
bedauert  ebenfalls,  daß  die  G.  nicht  den  Verletzungen  erlegen  sei,  weil 
sein  Bruder  dann  gesund  worden  wäre. 

„Oh,  das  möchte  ich  noch  erleben,  daß  die  stirbt,  denn  auf  dem 
Totenbett  muß  es  herauskommen,  daß  sie  schuldig  ist,  mein  Bruder 
ist  so  heilig  wie  auf  50  Kilometer  kein  Mensch;  er  ist  unschuldig, 
das  ist  gewiß."  Man  habe  sich  allgemein  darüber  gewundert,  daß  G. 
auf  alle  Anschuldigungen  des  B.  nie  mit  einer  Klage  reagiert  habe;  er 
habe  eben  selber  an  die  Schuld  seiner  Frau  geglaubt  Der  Ange- 
schuldigte habe  immer  gesagt:  „ach  wenn  ich  nur  gesund  würde, 
dann  würde  ich  gerne  alles  verzeihen."  Würde  B.  nur  ein  einziges 
Mal  gesagt  haben,  es  tue  ihm  leid,  daß  seine  Frau  so  handle,  er 
könne  nichts  dafür,  so  würde  der  Angeschuldigte  „eine  ganz  andere 
Fassung'^  bekommen  haben.  Aber  statt  dessen  habe  G.  immer  gesagt; 
recht  hat  sie,  recht  hat  sie.''  Wenn  B.  im  Wirtshaus  seinem  Hasse 
gegen  die  Hexe  Luft  gemacht  habe  („wenn  sie  nur  verrecken  würde**), 
so  habe  der  G.  in  der  Regel  nichts  gesagt,  bisweilen  habe  er  aber 
auch  im  Zorn  geäußert:  „wart^  nur,  wenn  wir  einmal  wieder  zu  Hause 
sind,  werde  ich  Dir  schon  kommen.**  G.  sei  ein  grober  Mensch  ge- 
wesen, im  Oktober  1906  habe  er  einmal  am  Wirtshaustisch  gegen 


38  IL  Gaupp 

den  Angeschuldigten  hin  geäußert :  ^dir  muß  dais  Messer  noch  so  tief 
hinein/  wobei  er  eine  Bewegung  mit  der  Hand  machte.  Diese 
Äußerung  habe  seinem  Bruder  sehr  zu  schaffen  gemacht  und  er  habe 
sich  gedacht,  einer  von  beiden  muß  hinsein.  Michael  B.  bestreitet, 
daß  sein  Bruder  jemals  geisteskrank  gewesen  sei,  er  sei  sogar  ein 
kluger  Mensch. 

Das  Bezirksgericht  in  T.  teilte  am  10.  Januar  1907  auf  Anfrage 
mit,  daß  die  Frau  6.  sich  eines  guten  Rufes  erfreue,  im  Wohnort 
nicht  als  Hexe  gelte,  sondern  als  eine  vernünftige  und  verträgliche 
Frauensperson  geschildert  werde.  Die  Familien  B.  und  6.  seien  seit 
Jahren  mit  einander  verfeindet 

Der  Hausierer  M.  sagte  bei  seiner  Vernehmung  vor  dem  Bezirks- 
gericht in  T.  am  12.  Januar  1907  aus,  B.,  6.  und  er  selbst  seien  am 
19.  Oktober  1906  „im  Löwen  zu  D.  zusammengesessen,  B.  habe,^ 
wie  gewöhnlich  mit  dem  G.  zu  streiten  angefangen,  wobei  B.  dem 
Anderen  vorwarf,  daß  seine  Frau  ihn  verhext  habe.  Tags  darauf  sei 
es  abermals  zum  Streit  gekommen,  im  Verlauf  dessen  6.  sein  Taschen- 
messer auf  den  Tisch  legte,  den  Zeigefinger  an  die  Grenze  zwischen 
Heft  und  Klinge  legte  und  dabei  sagte;  „Nur  soviel  möchte  ich  es 
in  ihm  haben.^  Dies  habe  dann  M.  dem  B.  auf  Fragen  wieder  er- 
zählt, worauf  dieser  etwas  Unverständliches  vor  sich  hingemurmelt 
habe.  Einige  Tage  später  sei  abermals  Streit  ausgebrochen,  wobei  B. 
gedroht  habe,  der  Frau  G.  den  Garaus  zu  machen.  Darüber  sei  6 
sehr  aufgebracht  gewesen,  habe  bald  nach  B.  das  Gasthaus  verlassen 
und  dabei  gesagt:  „nun  gehe  auch  ich,  werde  jedoch  ein  Messer  in 
die  Tasche  stecken."  M.  meinte,  B.  habe  die  fixe  Idee,  die  Frau  G. 
habe  ihn  verhext,  sonst  sei  er  aber  ganz  vernünftig. 

Das  K.  I^andgericht  U.  requirierte  femer  auf  meine  Bitte  beim 
Bezirksgericht  T.  die  Strafakten  der  Katharina  G.  und  des  er- 
mordeten Josef  G.  Ihnen  ist  noch  Folgendes  von  Belang  zu  ent- 
nehmen: Am  7.  Januar  1899  verklagte  Johann  B.  die  G.  wegen 
Beleidigung,  weil  sie  von  ihm  ausgesagt  habe,  seine  Hoden  seien 
angeschwollen  und  seine  Vernunft  habe  sich  getrübt.  Es  kam  zum 
Vergleich.  Im  November  1901  wurde  die  Katharina  G.  verklagt, 
weil  sie  ihre  15  jährige  Dienstmagd  sehr  beschimpft  und  mißhandelt 
habe,  so  daß  diese  sich  schließlich  aus  Verzweiflung  habe  im  Fluß 
das  Leben  nehmen  wollen;  sie  sei  nur  zufällig  von  2  Frauen  gerettet 
worden.  Diese  Mißhandlungen  seien  erfolgt,  weil  das  Mädchen  das 
Kind  der  G.  schlecht  beaufsichtigt  habe.  Die  Mißhandelte  machte 
bei  ihrer  Vernehmung  Aussagen,  welche  die  G.  als  eine  sehr  heftige,  rohe 
und  brutale  Person  erscheinen  ließen;    Frau  G.  bestritt  jedoch   die 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglauben.  39 

Aussagen  der  Klägerin  und  wurde  vom  Gericht  freigesprochen,  da 
nicht  zu  erweisen  war,  daß  sie  das  Zfichtigungsrecht  der  Arbeitgeberin 
überschritten  habe. 

Am  5.  August  1905  verklagte  die  Frau  Maria  B.  den  Josef  6. 
wegen  Körperverletzung ;  dieser  habe  sie  mit  einem  großen  Prügel  so 
geschlagen,  daß  sie  hingestürzt  sei  und  geblutet  habe,  sie  sei  ganz 
zerschlagen  gewesen.  6.  sei  ihr  feindselig  gesinnt  und  habe  schon 
1 904  gedroht,  daß  er  ihr  den  Kopf  zurichten  werde.  Der  Arzt  stellte 
leichte  Verletzungen  fest  Das  Bürgermeisteramt  zu  B.  stellte  dem  O. 
bei  diesem  Anlaß  ein  gutes  Zeugnis  aus;  am  3.  August  seien  ihm 
2  Kinder  gestorben  und  dies  habe  ihn  wohl  betrübt  und  aufgeregt 
gehabt  6.  gab  bei  der  Verhandlung  zu,  daß  er  die  Frau  B.  auf 
Brust  uud  Schulter  gestoßen  habe,  so  daß  sie  zu  Boden  gefallen  sei, 
dann  habe  er  sie  auf  den  Hintern  geschlagen;  sie  habe  ihn  am 
gleichen  Tage  gekränkt  gehabt  6.  wurde  vom  Gericht  zu  einer 
Woche  Arrest  verurteilt  und  hat  diese  Strafe  in  T.  abgesessen. 

Endlich  liegt  noch  ein  Fascikel  Akten  vor,  der  eine  Klage  der 
Katharina  G.  gegen  den  Vater  des  B.,  den  74  jährigen  Johann  B. 
zum  Inhalt  hat  Frau  G.  verklagte  am  6.  September  1 902  den  Alten, 
weil  er  am  31.  August  1902  mit  Bezug  auf  sie  gesagt  habe:  Jetzt 
muß  sie  der  Teufel  holen,  es  wird  das  nicht  lange  anstehen.**  Über 
diesen  Johann  B.  gab  der  Bürgermeister  in  Hadence  das  Zeugnis  ab, 
er  sei  als  ein  Ehrenmann  bekannt,  verständig,  erzähle  nur  in  Wein- 
laune Spaßiges.  Dagegen  habe  die  Klägerin,  die  Frau  G.  eine 
böse  Zunge  und  das  sei  der  Grund  der  Zwistigkeiten;  „ich  würde 
nicht  Unrecht  tun,  wenn  ich  dieser  Partei  8  Tage  Arrest  geben  würde. ** 
Eine  Wachtmeistermeidung  an  das  Bezirksgericht  in  T.  bestätigt,  daß 
der  alte  Johann  B.  nicht  als  geisteskrank  gelten  könne,  es  habe  noch 
niemand  Zeichen  wirklichen  Irreseins  an  ihm  wahrgenommen. 

Untersuchung  und  Beobachtung  des  B.  in  der  Klinik: 

B.  wurde  vom  14.  Dezember  1906  bis  zum  25.  Januar  1907  in  der 
psychiatrischen  Klinik  beobachtet  und  wiederholt  eingehend  untersucht. 
Er  bot  im  Ganzen  ein  stets  gleichförmiges  Bild.  Er  war  völlig 
orientiert  über  Zeit,  Ort  und  Umgebung,  benahm  sich  stets  ganz  ge- 
ordnet, gab  freundlich  über  alles  Auskunft,  was  er  gefragt  wurde, 
war  mit  der  Verpflegung  zufrieden,  unterhielt  sich  mit  den  anderen 
Kranken  in  durchaus  ruhiger  und  sachlicher  Weise.  Er  gab  nie  zu 
irgendwelchen  Klagen  Anlaß,  war  nie  mißtrauisch.  Irgendwelche 
Symptome,  die  auf  Sinnestäuschungen  oder  Beziehungswahn  hinge- 


40  II.  Gaupp 

wiesen  hätten,  kamen  niemals  zur  Beobachtung.  Die  körperliche 
Untersuchung  ergab:  B.  befindet  sich  in  mäßigem  Emährungs- 
zustand,  ist  ein  für  sein  Alter  rüstiger  Mann.  Au  den  Schläfen  sind 
die  Schlagadern  leicht  geschlängelt.  Die  Reaktion  der  Pupillen  auf 
Lichteinfall  ist  vorhanden^  scheint  aber  etwas  langsam  zu  erfolgen. 
Im  Übrigen  war  der  körperliche  Befund  völlig  normal;  es  fanden 
sich  keine  Zeichen  von  Tabes  oder  einer  anderen  Bückenmarks- 
erkrankung, auch  keine  körperlichen  Symptome  des  chronischen 
Alkoholismus.  Bei  der  Stuhlentleerung  trat  aus  der  Harnröhre 
gelegentlich  ein  milchig  gefärbtes  Sekret  aus,  ein  Vorgang,  den  B- 
dem  Arzt  mit  Entrüstung  als  Beweis  seiner  Verhexung  zeigte. 

In  seelischer  Beziehung  erwies  sich  B.  als  ein  keineswegs  schwach- 
sinniger Mensch ;  seine  Kenntnisse  und  sein  Urteil  auf  allen  Gebieten, 
mit  denen  ihn  das  Leben  als  Hausierer  in  Berührung  gebracht  hatte, 
waren  ganz  gute;  bereitwillig  beantwortete  er  bei  einer  Prüfung  seines 
Wissens  alle  an  ihn  gerichteten  Fragen.  Seine  Ausdrucksweise  war 
dabei  nach  keiner  Richtung  hin  auffällig,  niemals  verschroben  oder 
auch  nur  besonders  umständlich.  Die  Gefühlsbetonung  alles  dessen, 
was  er  von  sich  aus  oder  auf  Fragen  äußerte,  war  stets  eine  normale; 
bei  gleichgültigen  Dingen  blieb  er  ruhig;  bei  Dingen,  die  seine  Person, 
seine  Familie,  seine  Zukunft  angingen,  geriet  er  in  ganz  angemessene 
Erregung,  bei  Erzählung  seiner  Verhexung  wurde  er  leidenschaftlich, 
betonte  unter  öfterer  Einflechtung  religiöser  Beteuerung  (so  wahr  ein 
Gott  im  Himmel  lebt,  Gott  rufe  ich  zum  Zeugen  an"  etc.),  wie  sehr  er 
gelitten  habe,  wie  schlecht  es  von  der  Frau  sei,  ihn  so  zu  schädigen,  wie 
sicher  es  für  ihn  erwiesen  sei,  daß  alles  das  Werk  der  Hexe  sei,  die 
ihn  zu  Grunde  richte.  Immer  betonte  er,  er  sei  nicht  geisteskrank,  sei 
es  nie  gewesen,  damals,  als  man  ihn  in  St  in  die  Anstalt  brachte,  so 
wenig  wie  heute.  Auch  er  habe  früher  gezweifelt,  ob  es  Hexen 
gebe,  bis  er  es  am  eigenen  Leibe  erfahren  habe.  Sein  Vater  sei 
immer  davon  überzeugt  gewesen,  sein  Bruder  sei  es  ebenfalls  und 
ebenso  sehr  viele  Krainer.  Auch  in  Württemberg  und  Bayern  habe 
man  seine  Meinung  geteilt,  und  zwar  nicht  blos  Bauern  und  Schäfer, 
sondern  auch  Geistliche  und  andere  Gebildete.  Die  Kirche  habe  ihm 
anfänglich  helfen  können,  weil  sein  Leiden  das  Werk  teuflischer  Macht 
sei.  Aber  jetzt  sei  nichts  mehr  zu  machen,  jetzt  sei  er  für  immer 
seines  Mannesrechtes  beraubt. 

Seine  Vergangenheit  und  die  Motive  seiner  Mordtat  schilderte  B. 
genau,  wie  es  in  den  Akten  niedergelegt  ist  und  von  mir  oben  bereits 
ausführlich  mitgeteilt  wurde,  so  daß  es  zwecklos  erscheint,  nochmals 
alles  zu  rekapitulieren.     Im  Oktober  1898    sei   die  Impotenz   einge- 


Zur  Lehre  vom  psychopathiBchen  Aberglauben.  41 

treten  und  seither  sei  er  verhext.  Der  Getötete  Bei  kein  Hexenmeister 
gewesen,  aber  er  habe  das  Treiben  seiner  Fraa  gekannt  und  gebilligt, 
habe  ihm  niemals  gesagt,  daß  es  ihm  leid  tue,  daß  die  Frau  so 
schlecht  sei.  Damit  habe  sich  O.  zum  Mitschuldigen  gemacht  Der 
gegenseitige  Haß  sei  in  den  Monaten  vor  der  Tat  besonders  groß 
gewesen,  namentlich  seit  Frau  B.  von  dem  G.  halbtot  geschlagen 
worden  sei  und  dieser  dafür  weniger  Strafe  bekommen  habe,  als  die 
Geschlagene.  Die  Überzeugung,  daß  G.  ihn  bei  günstiger  Gelegen- 
heit niederstechen  werde,  habe  er  haben  müssen,  da  G.  eine  solche 
Drohung  ausgestossen  habe.  Ihm  habe  es  festgestanden,  daß  einer 
von  beiden  „hinsein^  müsse,  und  darum  habe  er  den  G.  an  dem 
Abend  des  29.  Oktober  niedergestochen.  Er  sei  dabei  nicht  betrunken 
gewesen,  auch  sei  kein  Streit  vorausgegangen ;  er  selbst  sei  auch  bei 
klarer  Besinnung  gewesen.  Da  die  Akten  einen  Hinweis  darauf  ent- 
halten, daß  B.  viel  trinke,  so  wurde  er  hierüber  ausgefragt  Er  gab 
an,  daß  er  in  den  letzten  Jahren  ziemlich  viel  getrunken  habe, 
etwa  7 — 9  Glas  Bier,  oft  auch  Most,  seltener  Schnaps,  fast  nie  Wein ; 
doch  habe  er  große  Mengen  vertragen  können,  sei  nie  betrunken  ge- 
wesen, habe  nie  in  angeheitertem  Zustande  etwas  Dummes  oder  gar 
etwas  Strafbares  getan. 

B.  zeigte  niemals  Beue  über  die  Tat  Er  schlief  immer  ganz 
gut  Er  betrachtete  die  Tat  als  eine  Art  Gottesurteil,  als  einen  Akt 
berechtigter  Notwehr  gegen  die  Verhexung  der  Hexe,  die  man  eben 
„als  Hexe  nicht  hinmachen^  könne  („sonst  wäre  sie  damals  verreckt, 
als  ich  sie  5  mal  gestochen  habe'^)  und  als  eine  Handlung  der  Klug- 
heit, da  sonst  sicherlich  er  das  Opfer  des  G.  geworden  wäre.  Nie- 
mals jedoch  brüstete  er  sich  mit  der  Tat,  zeigte  überhaupt  gegenüber 
den  anderen  Kranken  niemals  ein  gehobenes  Selbstgefühl,  sondern 
ein  ruhiges,  leicht  gedrücktes  Wesen.  Für  freundliche  Worte  war 
er  stets  dankbar.  Seine  Frömmigkeit  hatte  nichts  Auffälhges  an  sich, 
wurde  nicht  aufdringlich,  sondern  machte  sich  nur  deutlich  bemerk- 
bar, wenn  er  sein  ganzes  Verhalten  gegenüber  der  Familie  G.  zu 
rechtfertigen  suchte,  namentlich  wenn  man  ihm  den  Vorwurf  der 
Brutalität  machte,  der  ihn  sehr  kränkte.  An  seinem  Hexenglauben 
hielt  er  fest;  sagte  ihm  der  Arzt,  es  gebe  doch  keine  Hexen,  so  ant- 
wortete er:  ja  so  habe  ich  früher  auch  gedacht;  solange  einem 
nichts  Schlimmes  passiert,  glaubt  man  nicht  daran ;  ich  habe  es  aber 
erfahren.  Bei  uns  zu  Hause  glauben  manche  dran,  andere  nicht 
Bei  eingehenderen  Untersuchungen,  die  auf  jede  nur  mögliche  Weise 
angestellt  wurden,  konnte  niemals  irgend  etwas  von  Sinnestäuschungen 
festgestellt  werden.    Den  Ausdruck  „Stimmen**  verstand  er  nicht.    Er 


42  n.  Gacpp 

bestritt  aach  auf  das  Bestimmteste,  daß  er  während  seines  Aufent- 
haltes in  der  Irrenanstalt  in  St.  Sinnestanschnngen  (Stimmen,  Bilder^ 
sonderbare  Hantempfindnngen,  Gemchstanschnngen)  gehabt  habe,  nur 
habe  er  schon  damals,  wie  auch  jetzt,  bisweilen  ein  schmerzhaftes 
Ziehen  am  Damm  nnd  in  den  Hoden  verspürt,  das  mit  der  Impotenz 
znsammenhänge,  also  der  Hexe  znr  Last  falle.  Andere  Feinde  als 
die  6.  habe  er  nicht;  er  sei  ein  stiller,  friedliebender  HenscL 

Gedächtnis  nnd  Merkfahigkeit  erwiesen  sich  als  intakt,  er  erzählte 
stets  alles  in  gleicher  Weise  wie  früher  nnd  alle  seine  Angaben,  die 
wir  an  der  Hand  der  Akten  kontrollieren  konnten,  erwiesen  sich  als 
richtig.  Es  bestand  sicher  keine  Neigung  znr  Lüge  oder  znr  Simula- 
tion irgend  welcher  Erscheinungen.  Es  war  sogar  geradezu  frappant,  wie 
fast  wörtlich  seine  jetzigen  Aussagen  mit  seinen  1902  gemachten  An- 
gaben übereinstimmten.  Seine  Auffassung  der  Yerhexung  hat  sich  seit 
1S9S  in  keiner  Weise  geändert  noch  auch  nach  irgend  einer  Bich- 
tung  weiter  ausgedehnt  Gegen  die  Arzte,  die  ihn  1902  für  geistes- 
krank erklärt  hatten,  hegt  er  keinerlei  Groll ;  er  meint,  sie  haben  sich 
geirrt;  sein  Glaube  an  die  Hexerei  der  G.  sei  kein  Wahn,  keine 
Geisteskrankheit,  sondern  Wahrheit  Hexen  habe  es  zu  allen  Zeiten 
gegeben  und  das  haben  ihm  auch  gebildete  Leute  bestätigt 

Gutachten. 

Die  Fragen,  deren  Beantwortung  mir  obliegt,  sind: 

1.  Ist  B.  zur  Zeit  geisteskrank? 

2.  War  er,  falls  dies  verneint  werden  muß,  am  Abend  des 
29.  Oktober  1906  bei  der  Ermordung  des  G.  geisteskrank  oder  be- 
wußtlos im  Sinne  des  §  51  des  Str.G.B.? 

Da  die  Akten  keinerlei  Anhaltspunkt  dafür  enthalten,  daß  der 
Angeschuldigte  am  Abend  der  Tat  sich  in  einem  anderen  Zustande 
befand,  als  heute,  so  fallen  beide  Fragen  sachlich  zusammen.  In  Be- 
tracht käme  für  die  2.  Frage  nur  sinnlose  Trunkenheit  oder  ein 
Dämmerzustand.  Beides  ist  nach  dem  Akteninhalt  und  nach  den 
bestimmten  Angaben  des  Angeschuldigten  selbst  auszuschließen.  Die 
Frage  lautet  also  kurzerhand:  ist  B.  ein  Geisteskranker?  Diese  Frage 
ist  bisher  von  den  ärztlichen  Sachverständigen  dahin  beantwortet 
worden,  daß  er  mit  Verfolgungswahn  behaftet  und  deshalb  unzu- 
rechnungsfähig sei.  Im  Jahre  1902  wurde  bei  ihm  Paranoia  per- 
secutoria  sexualis  (sexuelle  Verrücktheit)  und  Dementia  praecox  mit 
Schwachsinn  angenommen.  Ist  diese  letztere  Diagnose  richtig?  Dies 
muß   auf  das  Bestimmteste  verneint  werden.    B.   bietet  heute  auch 


Zur  Lehre  vom  psychopathifichen  Aberglauben.  43 

nicht  ein  einziges  Symptom  der  Dementia  praecox.  Er  ist  weder 
schwachsinnig,  noch  verworren,  er  hat  keine  Sinnestäuschungen, 
keinen  allgemeinen  Beziehungswahn.  Vor  allem  fehlt  ihm  das  Grund- 
symptom der  lange  bestehenden  Dementia  praecox,  die  gemütliche 
Verblödung  vollständig,  auch  zeigt  er  keinerlei  Willensstörungen. 
Ferner  ist  aus  dem  vorliegenden  Aktenmaterial  mit  Sicherheit  zu 
entnehmen,  daß  sein  Hexenwahn  in  den  letzten  8  Jahren  (also  seit 
seinem  Bestehen)  gar  keine  Veränderung  erfahren  hat,  er  ist  nach 
keiner  Richtung  progressiv  geworden,  er  trat  niemals  in  dem  psychi- 
schen Zusammenhang  auf,  der  für  Dementia  praecox  charakteristisch  ist. 

Können  wir  also  die  Frage,  ob  bei  B.  Dementia  praecox  vorliegt, 
mit  Sicherheit  verneinen,  so  ist  die  andere  Frage,  ob  er  nicht  viel- 
leicht ein  Verrückter,  ein  Paranoiker  ist,  weniger  einfach  zu  beant- 
worten. Bei  oberflächlicher  Beurteilung  scheint  ja  B.  in  der  Tat  die 
Symptome  der  Verrücktheit  aufzuweisen :  er  glaubt  sich  seit  8  Jahren 
verfolgt,  er  projiziert  seine  körperlichen  Leiden  auf  eine  bestimmte 
Person  und  hält  mit  der  Starrheit  eines  Paranoikers  an  diesem  Hexen- 
wahn fest,  ohne  durch  Andere,  auch  nicht  durch  die  gerichtliche  Be- 
strafung in  dieser  Auffassung  wankend  zu  werden.  Er  steht  seiner 
Mordtat  jetzt  mit  der  Gelassenheit  gegenüber,  die  wir  sonst  nament- 
lich bei  verrückten  Verbrechern  finden,  die  in  ihrem  Delikt  nur 
die  Erfüllung  einer  höheren  Mission  erblicken.  AU  dies  erinnert  sehr 
an  das  Verhalten  bei  Paranoia.  Allein  trotzdem  ist  die  Annahme  der 
Paranoia  bei  B.  abzulehnen. 

B.  hat  keinen  paranoischen  Wahn,  sondern  nur  einen 
starren  Aberglauben.  In  relativ  jugendlichem  Alter  wird  er  ge- 
schlechtlich impotent,  erkrankt  also  an  einem  realen  Leiden,  das  dem 
sonst  rüstigen  und  kräftigen  Manne  ganz  unerklärlich  ist,  und  das 
von  Alters  her  bei  der  ungebildeten  Bevölkerung  mit  dem  Einfluß 
von  Hexen  in  Verbindung  gebracht  wird.  Auch  B.  hält  seine  Im- 
potenz für  das  Werk  einer  Hexe  und  er  verfällt  dabei  auf  die  Frau 
G.,  weil  er  sich  von  ihr  nach  dem  Streite  mit  seiner  Frau  Böses  ge- 
wärtigt.  Seine  Annahme  findet  Stütze  in  dem  Zustimmen  anderer 
Leute,  vor  allem  des  Paters  und  in  dem  Umstand,  daß  die  Suggestiv- 
behandlung des  Paters,  also  eines  Dieners  der  christlichen  Kirche, 
das  Leiden  vertreibt:  für  den  slavonischen  Hausierer  ein  Beweis,  daß 
seiner  Impotenz  nicht  ein  organisches  Leiden  seines  Körpers,  sondern 
ein  unchristlicher  Einfluß  zu  Grunde  liegen  müsse.  Mit  einer  Logik, 
die  keineswegs  für  Schwachsinn  spricht,  sondern  dem  einfachen 
Manne  nahe  liegt,  sagt  er  sich:  böser  Einfluß  einer  Hexe  hat  mich 
krank  gemacht^  also  muß  mich  das  Gebet  und  die  Beschwörung  wie- 


44  II.  Gaüpp 

der  gesund  machen  können.  In  der  Tat  gelingt  den  Kurpfuschern 
durch  die  Macht  der  Suggestion  ein  vorübergehender  Erfolg  —  ei^o 
muß  die  Ursache  in  der  Einwirkung  böser  Leute  gelegen  haben. 

Die  wissenschaftliche  Literatur  lehrt,  daß  bei  den  Slaren  der 
Aberglaube,  namentlich  der  Glaube  an  das  Anhexen  von  Krankheiten 
noch  heute  eine  große  Gewalt  über  die  Menschen  hat  Wir  erfahren, 
daß  Bs.  Vater  an  Hexen  glaubt,  und  ich  habe  mich  selbst  davon 
überzeugt,  daß  auch  der  Bruder  des  Angeschuldigten  an  diesem  Aber- 
glauben teilnimmt;  er  ist  felsenfest  davon  überzeugt,  daß  Frau  G. 
tatsächlich  eine  Hexe  ist.  Und  wo  der  Angeschuldigte  bei  uns  in 
Württemberg  und  Bayern  hinkam,  fand  seine  Annahme  Zustimmung. 
So  fixiert  sich  bei  ihm  der  Aberglaube.  Um  ein  Urteil  darüber  zu 
gewinnen,  welche  Macht  der  Glaube  an  Hexen  und  Hexenbanner 
noch  bei  uns  im  Volke  hat,  habe  ich  mir  vom  Königl.  Landgericht 
Tübingen  die  Akten  Georg  Sp.  (wegen  Meineids  1896  verurteilt)  er- 
beten, die  einen  interessanten  Einblick  in  das  Blühen  des  Hexen- 
glaubens bei  unserer  schwäbischen  Bevölkerung  in  der  Gegend  von 
Urach  gewähren.  Aus  diesen  Akten  geht  hervor,  daß  auch  bei  uns 
in  Deutschland  der  Hexenglaube  ganz  ähnliche  Formen  trägt,  wie 
der  slavonische  Hausierer  sie  zeigt  Auch  hebt  dieser  immer  selbst 
hervor,daß  manihm  im  Bayerischen  undWürttembergischen 
überall  geglaubt  habe,  und  sein  Bruder  bestätigte  diese  Behaup- 
tung nachdrücklich. 

Ist  also  die  Tatsache,  daß  6.  sich  verhext  glaubt,  an  sich  noch 
keinerlei  Beweis,  daß  er  ein  Verrückter  sei,  so  sprechen  nun  noch 
andere,  schwerere  Beweisgründe  direkt  gegen  die  Möglichkeit 
eines  paranoischen  Wahns.  B's.  geistige  Verfassung  hat  in  den  letzten 
8  Jahren  (also  seit  dem  Beginn  der  „Verhexung");  keine  Veränderung 
erfahren;  er  ist  immer  der  gleiche  geblieben,  keine  einzige  andere 
Verfolgungsvorstellung  ist  hinzugekommen,  kein  anderer  Mensch  ist 
mit  in  den  „Wahn^  hineingezogen  worden,  niemals  sind  Sinnes- 
täuschungen sicher  erwiesen  worden.  Die  Paranoia  ist  aber  eine 
Krankheit,  die  ihrem  ganzen  Wesen  nach  progressiv  verläuft;  der 
Wahn  zieht  bei  ihr  immer  weitere  Kreise;  unter  dem  Einfluß  der 
fortschreitenden  Hirnerkrankung  kommt  es  zu  immer  weiterer  Aus- 
dehnung des  Verfolgungswahns,  der  Standpunkt  des  Kranken  gegen- 
über der  Außenwelt  wird  allmählich  „verrückt",  daher  der  Name 
„Verrücktheit".  Ein  Paranoiker,  der  seit  8  Jahren  krank  ist,  hat 
nicht  bloß  eine  einzige  Wahnidee,  er  hat  ein  ganzes  System,  in  dem 
auch  meist  die  Größenvorstellungen  nicht  fehlen.  Von  all  dem  ist 
bei  B.  keine  Rede.     Noch  schwerer  wiegt  aber  folgendes  Moment: 


Zur  Lehre  vom  psychopatbischen  Aberglauben.  45 

Der  Wahn  des  Paranoikers  kommt  auf  ganz  andere  Weise  zu  Stande, 
als  dies  bei  dem  Hexenglauben  des  B.  der  Fall  war.  Hier  sehen 
wir  einen  Mann,  der  in  Unkenntnis  der  menschlichen  Pathologie  die 
ihm  unverständliche  frühe  Impotenz,  die  als  ein  reales  Übel  vorhan- 
den ist,  in  der  Weise  erklärt,  die  ihm  als  abergläubischen  Südslaven 
nahe  liegt,  die  einer  Yolksmeinung  entspricht.  Die  gewissermaßen 
zufällige  Projektion  auf  die  Frau  G.  erklärt  sich  aus  dem  Umstände, 
daß  sie  die  einzige  Frau  war,  mit  der  er  in  der  kritischen  Zeit  eine 
Differenz  gehabt  hat  und  die  wegen  ihrer  bösen  Zunge  wohl  Anlaß 
zu  Streit  und  Haß  geben  mochte.  Der  Wahn  des  Paranoikers  ent- 
stammt anderen  Quellen;  auf  dem  Boden  eines  dauernden  patho- 
logischen Mißtrauens  kommt  es  unter  dem  Einfluß  krankhafter  Stim- 
mung zu  Mißdeutungen,  zu  Trugwahmehmungen,  zu  einem  allmählich 
sich  ausdehnenden  Wahn.  Wenn  der  Paranoiker  sich  verhext  glaubt 
(was  zweifellos  vorkommt),  so  rührt  dieser  Hexenwahn  bei  ihm  in 
der  Hauptsache  nicht  von  der  falschen  Deutung  wirklich  vorhan- 
dener körperlicher  Leiden  her,  sondern  er  fühlt  sich  beeinflußt,  in 
seinem  freien  Handeln  beschränkt,  er  hört  Stimmen,  ohne  die  Sprechen- 
den sehen  oder  greifen  zu  können.  Der  Hexenwahn  entsteht  bei 
Geisteskranken  fast  immer  unter  dem  Einfluß  akuter  Angst,  geheimnis- 
voller Stimmen,  mannigfaltiger  Visionen,  peinlicher  Trugwahmeh- 
mungen in  der  Körperfühlsphäre  (vergl.  die  Coitushalluzinationen  der 
geisteskranken  Frauen,  die  in  früheren  Zeiten  angaben,  mit  dem 
Teufel  im  Bunde  zu  stehen.)  Niemals  bleibt  auch  bei  Geisteskranken 
die  Vorstellung,  von  einem  bestimmten  Menschen  verhext  zu  sein, 
die  einzige  Wahnidee  im  Laufe  vieler  Jahre.  Es  sind  z.  B.  zur 
Zeit  2  Kranke  in  der  Klinik,  die  in  ihren  verworrenen  Wahnbildungen 
auch  von  Hexen  reden ;  allein  in  beiden  Fällen  ist  dieser  Hexenwahn 
nur  eines  der  vielen  Symptome,  durch  die  sich  die  Geisteskrankheit 
der  Patienten  verrät;  er  entstand  in  akuter  halluzinatorischer  Er- 
regung. So  ergibt  also  die  genauere  klinische  Betrachtung  der  gei- 
stigen Persönlichkeit  des  B.,  daß  er  nicht  an  Paranoia  leidet,  daß  sein 
Hexenglauben  und  seine  Verfolgungsideen  kein  Wahn  im  Sinne  der 
Psychiatrie  darstellen. 

Noch  ist  aber  ein  Einwand  zu  erledigen.  Wohl  ist  der  Aber- 
glaube eine  Macht  im  Leben  der  ungebildeten  Menschen,  aber  im 
Allgemeinen  ist  es  doch  bei  uns  selten,  daß  er  zu  verbrecherischen 
Handlungen  führt.  Spricht  nicht  gerade  der  Umstand,  daß  B. 
seinem  Haß  gegen  die  Hexe  das  Verbrechen  folgen  ließ,  für  eine 
pathologische  Grundlage?  In  der  Tat  ist  das  Verbrechen  aus  Aber- 
glauben  bei   uns   in   Deutschland    selten    und   das   Strafgesetzbuch 


46  IL  Gaüpp 

beschäftigt  sich  daher  nicht  ausdrücklich  mit  dieser  Verbrechensart 
Allein  einmal  ist  nicht  zu  vergessen,  daß  B.  Slave  ist  und  die  wissen- 
schaftliche Forschung  gerade  der  letzten  Jahre  hat  gezeigt,  daß  in 
den  slavischen  Ländern  Delikte  aus  Aberglauben  weit  häufiger  sind 
als  bei  uns.  (Löwenstimm,  Hans  Groß,  Uellwig).  Femer  ist  zu  be- 
denken, daß  B.  seinen  Aberglauben  bei  einer  körperlichen  Störung 
verankert  hat,  die  dauernd  fortbesteht,  ihn  dauernd  schwer  deprimiert, 
ihn  damit  gemütlich  nicht  zur  Buhe  kommen  läßt  und  so  in  dem 
Manne  im  Laufe  der  Jahre  einen  Haß  anwachsen  ließ,  der  kein 
Hindernis  mehr  kannt  Außerdem  haben  wir  eine  Reihe  von  Tat- 
sachen, die  uns  darauf  hinweisen,  daß  B.  ein  abnorm  leidenschaft- 
licher, aus  abnormer  Familie  stammender  psychopathischer  Mensch 
ist,  der  schon  einmal  in  jungen  Jahren  an  einer  (vielleicht  hysterischen) 
Gemütsverstimmung  gelitten  hat.  Dazu  kommt,  daß  er  seit  Jahren 
ziemlich  viel  trinkt;  erfahrungsmäßig  ist  der  chronische  Trinker  reiz- 
bar und  neigt  zu  Gewalttaten,  weil  der  Alkohol  die  feineren  sittlichen 
Gefühle  abstumpft  und  die  Triebhandlungen  erleichtert.  Auch  dürfen 
wir  es  nach  dem  Inhalt  der  Akten  (Zeugenaussage  des  M.)  als  er- 
wiesen annehmen,  daß  B.  Anlaß  hatte,  sich  vor  dem  G.  zu  fürchten. 
Eine  langjährige  Feindschaft,  die  beiden  Parteien  gerichtliche  Strafen 
eingetragen  hatte,  schürte  den  bei  erregbaren  Südslaven  leicht  auf- 
flackernden Haß  bis  zu  einem  Grade,  daß  die  Vernichtung  des  Gegners 
im  Vorstellungsleben  des  Angeschuldigten  den  Charakter  einer  be- 
rechtigten Notwehrhandlung  annehmen  konnte.  Daher  die  Gemüts- 
ruhe B.  nach  vollbrachter  Tat,  sein  Mangel  an  Reue,  die  bei  dem 
sonst  ordentlichen  und  durchaus  nicht  gemütsrohen  Manne  zunächst 
so  schwer  verständlich  erscheint. 

Ich  faßte  mein  Gutachten  dahin  zusammen:  B.  befand  sich 
bei  Begehung  der  ihm  zur  Last  gelegten  Straftat  nicht  in 
einem  Zustand  von  krankhafter  Störung  der  Geistestätig- 
keit oder  Bewußtlosigkeit,  durch  den  seine  freie  Willens- 
bestimmung völlig  ausgeschlossen  gewesen  wäre.  Indem 
ich  aber  über  die  mir  gestellte  Frage  bewußt  hinausgehe,  gestatte 
ich  mir  beizufügen,  daß  B.  meines  Erachtens  ein  erblich  belasteter  und 
abnorm  veranlagter  und  ein  durch  chronischen  Alkoholismus  ge- 
schwächter Mann  ist,  der  unter  dem  Einfluß  eines  starren  Aber- 
glaubens  die  ruhige  Besonnenheit  und  Überlegung  verloren  hat. 
Würde  unser  Strafgesetzbuch  den  Begriff  der  verminderten  Zu- 
rechnungsfähigkeit kennen,  so  würde  er  in  diesem  Falle  ganz 
gewiß  in  Anwendung  zu  kommen  haben.  — 

Soweit  mein  Gutachten.    Bei  der  Schwurgerichts  verband- 


Zur  Lehre  vom  psychopathischen  Aberglauben.  47 

lung  in  U.  bot  B.  das  gleiche  Verhalten^  wie  während  seines  Auf« 
enthaltes  in  der  Klinik.  Er  gestand  seine  Tat  unumwunden  ein, 
machte  durchweg  wahrheitsgetreue  Angaben,  motivierte  den  Mord 
mit  der  Angst  vor  dem  größeren  und  stärkeren  G.,  der  8  Tage  vor- 
her tatsächlich  mit  Erstechen  gedroht  hatte,  und  namentlich  mit  seinem 
Haß  auf  die  Familie  6.,  weil  ihm  die  Eath.  6.  die  Potenz  geraubt 
habe.  Seinen  Hexenwahn  hielt  er  in  gleicher  Weise  wie  bisher  fest. 
Von  typisch  psychopathologischen  Symptomen  (krankhafte  Eigen- 
beziehung auf  anderen  Gebieten,  Sinnestäuschungen,  Erinnerungs- 
fälschungen, Wahnbildungen)  trat  auch  während  der  sehr  langen 
Verhandlung  nicht  das  Geringste  zu  Tage.  B.  benahm  sich  beschei- 
den, gab  ehrlich  Auskunft,  weinte  bisweilen,  wenn  er  scharf  auge- 
fahren wurde  oder  wenn  man  von  seiner  Familie  und  seiner  Impotenz 
sprach.  Der  Staatsanwalt  plaidierte  auf  Mord,  unter  gleichzeitigem 
Hinweis  darauf,  die  Geschworenen  sollen  ihn  der  Gnade  des  Regenten 
empfehlen;  der  Verteidiger  beantragte  in  erster  Linie  Freisprechung, 
weil  der  fanatische  Aberglaube  in  seinem  Einfluß  auf  das  Handeln 
dem  Wahn  des  Geisteskranken  gleichkomme;  sollte  die  Freisprechung 
auf  Grund  des  §  51  abgelehnt  werden,  so  käme  die  Verurteilung 
wegen  Totschlags  in  Frage.  Die  Geschworenen  verneinten  die  Frage 
des  Mords,  sprachen  B.  des  Totschlags  schuldig. 

Der  mitgeteilte  Fall  zeigt  in  krasser  Weise  den  Einfluß  des  Aber- 
glaubens auf  eine  psychopathische  Persönlichkeit.  Hellwig  sagt: 
„Soviel  steht  fest,  daß  diejenigen,  welche  im  unerschütterlichen 
Glauben  an  die  Macht  der  Hexen  befangen  sind  und  sich  hierdurch 
in  einer  Art  irrig  angenommener  Notwehr  zu  strafbaren  Handlungen 
hinreißen  lassen,  im  weitesten  Grade  die  Milde  und  Nachsicht  des 
Straf richters  verdienen.^  Diesen  Standpunkt  nahm  auch  ich  bei 
meinem  mündlichen  Gutachten  vor  dem  Schwurgericht  ein  und  diesem 
Standpunkt  trug  offenbar  auch  die  Geschworenenbank  Rechnung, 
indem  sie  den  B.  wegen  Totschlags  verurteilte,  obwohl  die  Tat  selbst 
sich  juristisch  zweifellos  als  Mord  charakterisierte.  Gross  macht  die 
Bemerkung:  „Gelingt  es  einmal  festzustellen,  welche  riesige  und  ein- 
greifende Verbreitung  der  Aberglauben  heute  noch  in  krimineller  Be- 
ziehung hat,  können  wir  namentiich  beweisen,  daß  eine  große  Reihe 
allerschwerster  Verbrechen  nur  durch  den  Aberglauben  veranlaßt 
wird^  dann  ist  es  auch  höchste  Zeit,  einmal  ernsthaft  darnach  zu 
fragen,  welchen  Einfluß  der  Aberglauben  auf  die  Zurechnungsfähig- 
keit hat,  d.  h.  ob  eine  auf  Aberglauben  beruhende  Überzeugung  als 
entschuldbarer  Irrtum  aufzufassen  ist."  Der  berichtete  Fall  ist  meines 
Erachtens  derart,  daß  er  zu  solchem  Nachdenken  besonders  anregen 


48  IL  Gaupp 

muß,  zumal  es  sich  um  ein  Delikt  handelt,  für  das  unser  deutsches 
Strafgesetzbuch  unbegreiflicher  Weise  nur  eine  einzige  Strafe  kennt. 
De  lege  lata  konnte  aber  eine  Exkulpierung  auf  Grund  des  §  5t 
des  B.Str.G.B.  nicht  statthaben. 

Die  psychiatrische  Bedeutung  des  Falles  soll  an  dieser  Stelle  nicht 
eingehender  erörtert  werden,  da  diese  Erörterung  sich  auf  rein  klini- 
schem Boden  bewegen  müßte.  Das  Wichtigste  ist  oben  im  Gutachten 
schon  auseinandergesetzt  werden.  Der  Kernpunkt  ist:  Ein  noch  so 
auffälliges  Einzelsymptom  (Hexenwahn)  beweist  noch  nicht  das  Vor- 
handensein eines  psychischen  Krankheitsprozesses,  einer  Geisteskrank- 
heit Wichtiger  als  das  Einzelsymptom  selbst  ist  seine  Entstehung, 
seine  Stellung  zum  übrigen  Bewußtsein,  seine  Verbindung  mit  an- 
deren psychopathologischer  Zeichen.  Die  klinische  Psychiatrie  der 
Gegenwart  kennt  keine  partielle  Geistesstörung,  die  in  einer  einzigen 
„fixen  Idee"  bestünde.   (Vergl.  Jolly,  Irrtum  und  Irrsinn.  Berlin  1893.) 


IIL 
Ein  Wiederaufnahmsfall  ob  falsa. 

Strafsache  dee  k.  k.  Bezirks -Veterinfire  Feiwel  M.  wegen  Mißbrauches 

der  Amtsgewalt 

Mitgeteilt  Ton 

Prof.  Dr.  Boaenblatt  in  Krakau. 


Der  Tierarzt  und  k.  k.  Bezirks-Veterinär  Feiwel  M.  wurde  vom 

5/3 


Schwurgericht  in  Rzeszöw  mit  urteil  vom   10.  Juni  1903  Vr.  — ' 

auf  Grund  des  Verdiktes  der  Geschworenen  des  Verbrechens  des 
Mißbrauches  der  Amtsgewalt  nach  §  101  Str.GB.  schuldig  gesprochen 
und  hieffir  zu  einer  dreimonatligen  verschärften  Kerkerstrafe  ver- 
urteilt. 

Das  ihm  zur  Last  gelegte  Verbrechen  soll  darin  bestanden  haben, 
daß  der  Angeklagte  im  November  1901  als  Staatsbeamter^  und  zwar 
als  von  der  k.  k.  Bezirkshauptmannschaft  zur  Tilgung  der  Schweine- 
seuche delegierter  Bezirks-Veterinärarzt  sein  Amt  als  Vorsitzender  der 
Tierseuche -Kommission  dadurch  mißbraucht  hat,  daß  er  ein  zur 
öffentlichen  Versteigerung  gebrachtes  Schwein  einer  von  ihm  prote- 
gierten Person,  d.  i.  dem  Ludwig  M.  verkauft  habe,  und  zwar  für 
einen  niedrigeren  Preis,  als  das  bei  der  Versteigerung  gebotene  höchste 
Offert  betrug,  wodurch  dem  Staatsärar  ein  vermögensrechtlicher  Schade 
hätte  zugefügt  werden  sollen. 

Gegen  obiges  Urteil  überreichte  der  Angeklagte  die  Nichtigkeits- 
beschwerde an  den  obersten  Gerichtshof,  in  welcher  er  unter  anderem 
durch  Vorlage  einer  notariellen  Erklärung  von  zwei  Zeugen  den 
Nachweis  führte,  daß  die  Geschworenen  anfangs  einig  und  ent- 
schlossen waren,  den  Angeklagten  freizusprechen,  und  nur,  als  ihnen 
der  Obmann  erklärte  und  versicherte,  daß  im  Falle  eines  Freispruches 
der  Anzeiger  (ein  Selcher)  zu  einer  viel  strengeren  Strafe  verurteilt 
werden  würde,  sich  entschlossen  haben,  die  ihnen  vorgelegte  Schuld- 
frage zu  bejaheui 

Aiühir  tHx  S^iimliudanthropologie.    26.  Bd.  4 


50  III.  ROSENBLATT 

Der  Kassationshof  verwarf  die  auf  diese  Tatsache  gestützte 
Nichtigkeitsbeschwerde. 

Es  worden  in  den  Tagesblättem  Stimmen  laut,  daß  der  Kasssr 
tionshof  doch  in  einem  so  krassen  Falle  hätte  die  Nichtigkeitsbe- 
schwerde berficksichtigen  oder  wenigstens  im  Wege  der  außerordent- 
lichen Revision  ex  §  362  Str.PO.  dem  Verurteilten  Abhilfe  gewähren 
sollen,  denn  es  wäre  doch  unerhört,  wenn  der  Angeklagte  trotz  obiger 
Sachlage  verurteilt  bleiben  müßte. 

Wir  haben  uns  damals  über  diesen  Fall  in  folgender  Weise  ge- 
äußert *) :  Es  dürfte  vor  allem  gar  keinem  gegründeten  Zweifel  unter- 
liegen, daß  der  obangeführte  Tatumstand  keinen  Nichtigkeitsgrund 
abgeben  kann,  da  er  sich  unter  keinen  der  gesetzlichen  Nichtigkeits- 
gründe  des  §  344  Str.PO.  subsummieren  läßt.  Es  läßt  sich  zwar  nicht 
behaupten,  daß  die  Vorgänge  im  Beratungszimmer  der  Geschworenen 
überhaupt  der  Anfechtung  im  Wege  einer  Nichtigkeitsbeschwerde 
entrückt  sind,  denn,  wenn  beispielsweise  eine  fremde  Person  wälirend 
der  Beratung  der  Geschworenen  im  Beratungszimmer  anwesend  war, 
so  würde  dies  den  Nichtigkeitsgrund  des  §  344  z.  4  in  Verbindung 
mit  §  327  Str.PO.  abgeben.  Die  Art  und  Weise  aber,  wie  das  ord- 
nungsmäßig kundgemachte  Verdikt  der  Geschworenen  zustande  kam, 
insbesondere  der  Gang  der  Beratung  und  die  Motive,  durch  welche 
sich  dieselben  bei  der  Beantwortung  der  ihnen  vorgelegten  Fragen 
leiten  ließen^  können  sicherlich  keinen  Nichtigkeitsgrund  abgeben. 
Auch  zur  Anwendung  des  §  362  Str.PO.  gibt  aber  die  obangeführte 
Tatsache  betreffend  den  Vorgang  bei  der  Abstimmung  der  Geschwo- 
renen an  und  für  sich  keinen  Anlaß,  denn  Voraussetzung  für  die  An- 
wendung des  dem  obersten  Gerichtshofe  vorbehaltenen  Rechtes  der 
außerordentiichen  Revision  sind:  ,, erhebliche  Bedenken  gegen  die 
Richtigkeit  der  dem  Urteile  erster  Instanz  zugrunde  gelegten  Tat- 
sachen". Liegen  solche  Bedenken,  trotz  des  oben  geschilderten  Ver- 
fahrens der  Geschworenen  bei  der  Beratung  und  Abstimmung,  nicht 
vor,  dann  hat  auch  der  oberste  Gerichtshof  keinen  Anlaß,  von  dem 
Rechte  des  §  362  Str.PO.  Gebrauch  zu  machen;  findet  er  aber  in 
den  Akten  gegründete  Bedenken  gegen  die  dem  Urteile  erster  Instanz 
zugrunde  gelegten  Tatsachen,  dann  hat  er  es  auch  nicht  notwendig, 
seine  eventuellen  Maßnahmen  mit  Hinweis  auf  den  Vorgang  der  Ge- 
schworenen zu  motivieren. 

Wenn  somit  der  oberste  Gerichtshof  zur  Anwendung  des  §  362 
Str.PO.  wegen  des  in  Rede  stehenden  Vorganges  bei  der  Beratung 


1)  Siehe  A.  österr.  Gerichtszeitung  ex  1903  Nr.  50. 


Ein  Wiederaafnahmsfall  ob  falsa.  51 

und  Abstimmung  der  Geschworenen  keinen  Grund  gefunden  hat,  so 
kann  deswegen  kein  Einwand  erhoben  werden. 

Nun  drängt  sich  aber  die  Frage  auf:  Gibt  es  tatsächlich  in  der 
Strafprozeßordnung  kein  Mittel,  gegen  den  in  Rede  stehenden  Vorgang 
bei  der  Beratung  und  Abstimmung  der  Geschworenen  Abhilfe  zu  ge« 
währen  und  dem  offenbar  durch  einen  inkorrekten  Vorgang  Verur- 
teilten zu  helfen? 

Wir  glauben,  daß  unsere  Str.PO.  ein  solches  Mittel  kennt,  und 
das  ist  die  ordentliche  Wiederaufnahme  des~  Strafverfahrens  im 
Grunde  des  §  353,  Z.  1.    Diese  Gesetzesstelle  bestimmt  nämlich: 

„Der  rechtskräftig  Verurteilte  kann  die  Wiederaufnahme  des 
Strafverfahrens  selbst  nach  vollzogener  Strafe  verlangen,  wenn  dar- 
getan ist,  daß  seine  Verurteilung  durch  Fälschung  einer  Urkunde 
oder  durch  falsches  Zeugnis  oder  Bestechung  oder  eine  sonstige 
strafbare  Handlung  einer  dritten  Person  veranlaßt  worden 
ist.^  Ein  Wiederaufnahmegrund  des  Strafverfahrens  liegt  also  unter 
anderem  vor,  wenn  dargetan  ist,  daß  die  Verurteilung  durch  eine 
strafbare  Handlung  einer  dritten  Person  veranlaßt  worden  ist 

unsere  Str.PO.  verlangt  hier  nicht,  wie  so  manche  andere  Straf- 
prozeßgesetze (der  Code  d'instr.  crim.  und  die  auf  diesem  basierenden 
Strafprozeßordnungen),  daß  die  strafbare  Handlung,  wegen  welcher 
die  Wiederaufnahme  des  Strafverfahrens  bewilligt  werden  soll,  durch 
ein  strafgerichtliches  Urteil  konstatiert  sein  soll,  sie  verlangt  nur 
Oberhaupt,  daß  dargetan  wird,  daß  die  Verurteilung  durch  eine  straf- 
bare Handlung  veranlaßt  worden  sei  (vgl.  Mayer,  Kommentar,  III, 
S.  392;  Mitterbacher  S.  600  u.v.a.).  Es  hat  somit  das  Gericht 
welches  über  das  Wiederaufnahmsbegehren  zu  entscheiden  hat,  nach 
freiem  Ermessen  festzustellen,  ob  eine  strafbare  Handlung  objektiv 
vorliegt  und  ob  dargetan  erscheint,  daß  die  Verurteilung  durch  eine 
solche  veranlaßt  worden  ist. 

Nun  glauben  wir  aber,  daß  ein  Geschworener,  der  wider  seine 
bessere  Überzeugung  einen  Angeklagten,  den  er  für  unschuldig  hält, 
schuldig  spricht  oder  auch  umgekehrt,  sich  das  Verbrechen  des  Miß- 
brauches der  Amtsgewalt  zu  Schulden  kommen  läßt,  sowie  daß  der- 
jenige Mitgeschworene,  sowie  jede  dritte  Person,  welche  einen  Ge- 
schworenen  verleitet,  wider  seine  bessere  Überzeugung  das  Urteil  ab- 
zugeben, sich  der  Anstiftung  zum  Mißbrauch  der  Amtsgewalt  nach 
§  5  bezw.  §  9  und  §  101  bezw.  §  102  Str.GB.  schuldig  macht,  und 
zwar  nicht  nur  dann,  wenn  dies  im  Wege  einer  gewöhnlichen  Be- 
stechung erfolgt,  sondern  auch  dann,  wenn  es  sich  nicht  um  eine 
eigentliche  Bestechung,   sondern  um  eine  durch  was  immer  für  ein 

4* 


52  IIL  BOSENBIJLTT 

Mittelf  z.  B.  Drohungen  —  oder,  wie  im  gegebenen  Falle,  durch 
falsche  Vorspiegelungen  — j  verübte  oder  versuchte  Verleitung  zum 
Mißbrauche  der  Amtsgewalt  handelt  (vgl.  Lammasch,  Grundriß, 
S.  88).  Daß  sich  ein  Geschworener  des  Mißbrauches  der  Amtsgewalt 
schuldig  machen  kann,  ist  sowohl  in  der  Literatur  (vgl.  Lammasch 
I.  c.  und  Finger,  Straf r.  II  S.  406),  wie  in  der  Judikatur  (vgl.  die 
E.  des  KH.  v.  24.  Februar  1877,  Z.  8332,  KH.  142  und  v.  9.  Mai 
1897,  Z.  627,  KH.  201)  anerkannt.  Eonsequenterweise  dürfte  es  aber 
auch  nicht  bestritten  werden  können,  daß  ein  Geschworener,  ebenso 
wie  ein  gelehrter  Richter  sich  des  Mißbrauches  der  Amtsgewalt 
schuldig  macht,  wenn  er  sich  durch  irgendwelche  nicht  in  der  Sache 
selbst  gelegenen  Motive  verleiten  läßt,  wider  seine  bessere  Überzeu- 
gung den  Angeklagten,  den  er  nicht  für  schuldig  hält,  zu  verurteilen, 
oder  umgekehrt  den  Angeklagten,  den  er  für  schuldig  hält,  freizu- 
sprechen. Der  Mitgeschworene  aber,  der  ihn  hierzu  zu  verleiten  sucht, 
macht  sich  entweder  der  Mitschuld  am  Verbrechen  des  Mißbrauches 
der  Amtsgewalt  oder  der  versuchten  Verleitung  zu  demselben  schuldig. 

Der  strafprozessuale  Vorgang  bei  Geltendmachung  obigen  Wieder- 
aufnahmegrundes wäre  nun  folgender: 

Der  Verurteilte  müßte  beim  zuständigen  Gerichte  erster  Instanz 
um  die  Wiederaufnahme  des  Strafverfahrens  im  Grunde  des  §  353 
Z.  1  Str.PO.  ansuchen  und  es  müßte  der  angeführte  Wiederaufnahms- 
grund ordnungsmäßig  nachgewiesen  werden,  d.  h.  die  vor  einem 
Notar  privatim  abgegebene  Erklärung  zweier  Geschworenen  kann  nur 
eine  Tatsache  bilden,  auf  Grund  welcher  erst  vom  Untersuchungs- 
richter gemäß  der  Bestimmung  des  §  357  Str.PO.  die  erforderlichen 
Erhebungen  durchzuführen  sein  werden. 

Daß  zufolge  dieser  Erhebungen  der  Vorgang  im  Beratungs- 
zimmer der  Geschworenen,  die  Art  und  Weise  der  Beratung  und  Ab- 
stimmung zum  Gegenstande  einer  gerichtlichen  Untersuchung  gemacht 
wird,  kann  kein  Hindernis  für  die  Erhebung  bilden,  ebensowenig  wie 
im  Falle,  wenn  z.  B.  die  Staatsanwaltschaft  die  Wiederaufnahme  zu 
Ungunsten  des  Freigesprochenen  im  Grunde  des  §  355,  Z.  1  Str.PO. 
deshalb  beantragen  würde,  weil  Geschworene  zugunsten  des  Ange- 
klagten bestochen  worden  sind. 

Nur  im  Falle  einer  Wiederaufnahme  des  Strafverfahrens  aus 
dem  Gesichtspunkte  des  §  353,  Z.  1  resp.  §  355,  Z.  1  Str.PO.  lassen 
sich  die  Vorgänge  im  Beratungszimmer  der  Geschworenen,  insbeson- 
dere die  rechtswidrigen  Beeinflussungen,  Verleitungen  zur  Abstimmung 
wider  die  bessere  Oberzeugung,  Bestechungen  usw.  einer  gerichtlichen 
Feststellung  und  Überprüfung  unterziehen. 


Ein  Wiederaufnahmsfall  ob  falsa.  53 

Selbstverständlich  wird  aaf  Grundlage  der  Ergebnisse  dieser  Er- 
hebungen der  Gerichtshof,  welcher  berufen  sein  wird,  über  den 
Wiederaufnahmeantrag  zu  entscheiden,  nach  freiem  Ermessen  erkennen^ 
ob  der  Wiederaufnahmegrund  des  §  353,  Z.  1  resp.  §  355,  Z.  1  Str.PP. 
tatsächlich  vorliegt,  d.  h.  ob  es  dargetan  ist,  daß  die  Verurteilung 
des  Angeklagten  durch  eine  strafbare  Handlung  veranlaßt  worden  ist 

Wird  nun  der  Gerichtshof  auf  Grund  der  Ergebnisse  der  Er- 
hebung in  einem  dem  Verurteilten  gUnstigen  Sinne  entscheiden,  dann 
ist  ihm  auch  geholfen,  ohne  daß  es  notwendig  wäre,  an  das  außer- 
ordentliche Rechtsmittel  des  §  362  Str.PO.  zu  appellieren  oder  die 
Nichtigkeitsbeschwerde  geltend  zu  machen,  wo  kein  Nichtigkeits- 
grund vorliegt 

Tatsächlich  hat  nun  der  Angeklagte  resp.  rechtskräftig  Verur- 
teilte beim  k.  k.  Ereisgerichte  in  Bzeszöw  um  Wiederaufnahme  des 
gegen  ihn  durchgeführten  Strafverfahrens  im  Sinne  obiger  Ausfüh- 
rungen angesucht    Der  Antrag  wurde  abgewiesen. 

Der  unermüdliche  Angeklagte  wiederholte  aber  sein  Wiederauf- 
nahmsbegehren und  erneuerte  seine  Anträge  so  lange,  bis  endlich 
das  Ereisgericht  nach  Durchführung  von  Erhebungen  mit  Beschluß 

vom  24.  Dezember  des  Jahres  1905  Vr.  -^^  dem  Wiederaufnahms- 
begehren des  Angeklagten  Folge  leistete  und  den  Schuldspruch  vom 
10.  Juni  1903  außer  Kraft  setzte. 

Die  k.  k.  Staatsanwaltschaft  erklärte  sohin,  die  Strafverfolgung 
gegen  M.  nicht  weiter  aufrechterhalten  zu  wollen,  so  daß  derselbe 
endlich  nach  mehr  als  2  und  V^  Jahren  post  tot  discrimina  rerum 
mit  Entscheidung  des  Kreisgerichts  Bzeszöw  vom  10.  Februar  1906 

Vr.  -~^  endgültig  und  rechtskräftig  außer  Verfolgung  gesetzt  und  das 

Strafverfahren  gegen  ihn  eingestellt  worden  ist 

Der  uns  interessierende  Teil  der  Begründung  der  die  Wiederauf- 
nahme bewilligenden  Entscheidung  lautet  wie  folgt: 

„Durch  welche  Motive  sich  die  Geschworenen  bei  der  Bejahung 
der  ihnen  vorgelegten  Schuldfrage  leiten  ließen,  ist,  mit  Rücksicht 
darauf,  daß  die  Geschworenen  gemäß  §  326  Str.PO.  die  Gründe  ihrer 
Überzeugung  nicht  angeben,  unbekannt;  jedenfalls  soll  aber  das  Ver- 
dikt der  Geschworenen,  wie  dies  §  313  Str.PO.  vorschreibt,  sich  auf 
die  während  der  Hauptverhandlung  für  und  gegen  den  Angeklagten 
vorgebrachten  Beweise  stützen,  ohne  der  Stimme  der  Zu-  oder  Abnei- 
gung Gehör  zu  geben  usw. 

Bezugnehmend  auf  die  den  Geschworenen  bezüglich  der  dem  M. 


54  III.  ROSENBULTT 

zur  Last  gelegten  Tat  gestellte  Hauptfrage  hätten  sich  also  die  Ge- 
schworenen nur  durch  die  bei  der  Hauptverhandlung  vorgebrachten 
Beweise  leiten  lassen  sollen. 

Solche  Beweise  wären  die  beeideten  Aussagen  der  bei  der  Ver- 
handlung einvernommenen  Zeugen  usw. 

Die  vom  verurteilten  M.  nach  Rechtskraft  des  ürteiles  über- 
reichten Eingaben  um  Wiederaufnahme  des  Strafverfahrens  haben 
aber  neue  Umstände  ergeben,  welche  jedenfalls  die  Sicherheit,  daß 
das  Verdikt  der  Geschworenen  und  somit  auch  das  Urteil  des  Ge- 
richtshofes  das  Ergebnis,  einer  solchen,  auf  Beweisen  basierten,  Über- 
zeugung waren,  erschüttert  haben  und  in  Frage  stellen,  ob,  wenn 
diese  neuen  Umstände  vor  Fällung  des  Spruches  bekannt  gewesen 
wären,  das  Ergebnis  der  Überzeugung  der  Geschworenen  das  gleiche 
gewesen  wäre. 

Diese  Umstände,  welche  die  auf  Begehren  des  M.  durchgeführten 
Erhebungen  ergeben  haben,  sind  folgende: 

In  erster  Linie  hat  der  Zeuge  Stanislaus  S.,  welcher  in  der  Sache 
des  verurteilten  Feiwel  M.  als  Hauptgeschworener  funktioniert  hat, 
ausgesagt,  daß  während  der  Hauptverhandlung  gegen  M.  in  der  freien 
Zeit,  wo  keine  Verhandlung  stattgefunden  hat,  sowie  noch  vor  der 
Verhandlung  dem  Zeugen  nicht  näher  bekannte  Leute  den  Geschwo- 
renen nachgingen  und  dieselben  beredeten,  den  M.  zu  verurteilen, 
indem  sie  sagten,  er  hätte  als  Veterinär  den  Fleisch  selchem  gut  zu- 
gesetzt und,  wenn  die  Geschworenen  ihn  freisprechen  würden,  werde 
es  schlecht  ergehen. 

Derselbe  Zeuge  hat  femer  vor  Gericht  deponiert,  daß  während 
der  Beratung  der  Geschworenen  sich  ein  Geschworener  (der  Obmann) 
geäußert  habe,  man  müsse  den  M.  verurteilen,  denn  im  entgegen- 
gesetzten Falle  würde  der  Zeuge  Johann  M.,  der  durch  seine  Aus- 
sage den  Angeklagten  belastet  hat,  wegen  Betruges  zur  Verantwor- 
tung gezogen  werden  und  müßte  dem  M.  die  Kosten  ersetzen,  wobei 
er  noch  hinzufügte,  der  Angeklagte  M.  sei  ein  Jude,  der  Zeuge  M.  ein 
Katholik;  am  Juden  sollte  aber  den  Geschworenen  nicht  gelegen  sein. 

Obige  Aussagen  des  Zeugen  Stanislaus  S.  bestätigte  teilweise, 
als  Zeuge  in  dieser  Sache  verhört,  ein  zweiter  Geschworener, 
Sebastian  S^  welcher  auch  gesehen  hat,  wie  einige  der  Geschwo- 
renen mit  Rzeszöwer  Selchem  gesprochen  haben. 

Es  muß  hier  bemerkt  werden,  daß  der  Anzeiger  Johann  M. 
Selcher  in  Rozwadöw  ist,  und  daß  derselbe,  wie  dies  die  beeideten 
Aussagen  des  dortigen  Bürgermeisters  Ludwig  M.  bestätigen,  mit  dem 
verurteilten  M.  in  Feindschaft  lebt. 


Ein  Wiederaufnahmsfall  ob  falsa.  55 

Zwar  haben  die  übrigen  Geschworenen,  welche  in  der  Sache  des 
M.  fnngirt  haben,  die  Aussagen  des  Stanislans  S.  nicht  bestätigt,  es 
ist  aber  auch  nicht  erhärtet  worden,  daß  diese  Aussagen  der  Zeugen 
Stanislaus  S.  und  Sebastian  S.  falsch  wären. 

Ein  weiterer  neuer  durch  Zeugenaussagen  konstatierter  Umstand 
ist  damit  gegeben,  daß  der  Zeuge  Kasimir  P.,  welcher  bei  der  frühe- 
ren Verhandlung  gegen  den  Angeklagten  ausgesagt  hat,  bei  der  Ver- 
steigerung des  Schweines  des  Klemens  M.  gar  nicht  anwesend  war 
und  trotzdem  dem  Gerichte  Einzelheiten  über  den  Vorgang  bei  der 
Versteigerung  mitgeteilt  hat 

Schon  im  I^ufe  der  früheren  Hauptverhandlung  hat  der  Ange- 
klagte laut  Beweis  des  VerhandlungsprotokoUes  eingewendet,  daß  der 
Zeuge  P.  bei  der  Versteigerung  des  Schweines  gar  nicht  anwesend 
war,  da  aber  dieser  Zeuge  standhaft  behauptete,  damals  wohl  anwe- 
send gewesen  zu  sein,  und  da  auch  der  Zeuge  Klemens  M.  —  Eigen- 
tümer des  versteigerten  Schweines  —  dies  bestätigte,  wurde  die 
Sache  nicht  näher  untersucht.  Nun  wurde  aber  durch  die  oben  an- 
geführten Beweise,  insbesondere  durch  die  Aussagen  des  Gendarmen 
Anton  W.  und  des  Zeugen  Johann  K.  erwiesen,  daß  P.  in  Wirklich- 
keit bei  der  Versteigerung  nicht  anwesend  war,  daß  somit  seine  Aus- 
sagen, wie  auch  die  diesbezügliche  Aussage  des  Klemens  P.  falsch 
waren. 

Zwar  sind  weder  gegen  den  Zeugen  P.  noch  gegen  Klemens  M. 
Erhebungen  wegen  fidscher  Zeugenaussage  durchgeführt  worden, 
noch  ist  ein  Strafurteil  in  dieser  Richtung  gegen  dieselben  ergangen, 
es  liegt  aber  auch  gar  kein  Grund  vor,  die  Aussagen  des  Gendarmen 
Anton  W.  und  der  Zeugen  Johann  K.  und  Josef  W.  nicht  für  wahr 
zu  halten. 

Ein  weiterer  durch  die  Akten  der  k.  k.  Statthalterei  konstatierter 
neuer  Umstand  ist  der,  daß  der  bei  der  Versteigerung  des  Schweines 
des  Klemens  M.  erzielte  Preis  von  30  h  für  1  kg  lebenden  Gewichtes 
nicht  als  niedrig  betrachtet  werden  kann  im  Vergleiche  zu  den  an- 
derwärts bei  ähnlichen  Versteigerungen  erzielten  Preisen,  daß  zu 
solchen  Preisen  wiederholt  bei  Versteigerungen  Schweine  an  den 
Meistbietenden  verkauft  worden  sind,  und  daß  die  kompetente  k.  k. 
Bezirkshauptmannschaft  nach  den  gegen  den  Angeklagten  durch- 
geführten Disziplinarerhebungen  ein  Verschulden  desselben  nicht  an- 
genommen hat. 

Ein  fernerer  neuer  Umstand,  welchen  die  Zeugen  Jacob  B.  und 
Israel  K.  bestätigt  haben,  ist  darin  enthalten,  daß  der  Zeuge  Klemens  B. 
vor  seiner  Einvernahme  im  Gericht  gedroht  habe,  er  werde  den  An- 


56  ni.  ROBEKBLATT 

geklagten  gut  einseifen,  weil  er  ihnen  (den  Selchem)  alle  Schweine 
schlage  (wegen  der  Seuche).  Diese  Drohung  wirft  ein  licht  auf  die 
Aussage  dieses  Zeugen,  welcher  bestätigte,  daß  Kasimir  P.  bei  der 
Versteigerung  des  Schweines  anwesend  war. 

Endlich  ist  zu  bemerken,  daß  der  Angeklagte  Feiwel  M.  bei  der 
ersten  Verhandlung  noch  vorgebracht  hat,  daß  auch  der  Zeuge 
Wojeiech  S.,  welcher  gegen  ihn  über  Einzelheiten  der  vorgenommenen 
Versteigerung  ausgesagt  hat,  ebenfalls  bei  derselben  nicht  anwesend 
war.  Es  wurden  sogar  diesbezüglich  gegen  diesen  Zeugen  Vorerhe- 
bungen wegen  falscher  Aussage  durchgeführt 

Da  aber  diesbezüglich  widersprechende  Aussagen  vorlagen,  indem 
mehrere  Zeugen  aussagten,  daß  Wojeiech  St  bei  der  Versteigerung 
nicht  anwesend  war,  andere  Zeugen  aber  behaupteten,  daß  er  wohl 
anwesend  war,  so  wurden  die  Erhebungen  eingestellt  Welche  Zeu- 
genaussagen aber  Glauben  verdienen,  muß  dem  Ermessen  des  Ge- 
richtes überlassen  werden. 

Diese  oben  angeführten  umstände  sind  nun  in  Verbindung  mit 
den  früher  erhobenen  Beweisen,  wenn  dieselben  den  Geschworenen 
bekannt  sein  werden,  geeignet,  die  Freisprechung  des  Angeklagten 
von  der  gegen  ihn  erhobenen  Anklage  zu  begründen.  Angesichts 
dessen  erscheint  die  Zulassung  der  Wiederaufnahme  des  gegen 
Feiwel  M.  durchgeführten  Strafverfahrens  und  die  Aufhebung  des 
verurteilenden  Erkenntnisses  vom  10.  Juni  1903  gerechtfertigt.^ 

Der  hier  mitgeteilte  Wiederaufnahmsfall  scheint  uns  in  mehr- 
facher Richtung  interessant  und  beachtenswert  zu  sein. 

Er  bietet  vor  allem  einen  Beitrag  zur  Beurteilung  des  Wertes 
der  Geschworenengerichte,  welcher  wohl  den  Gegnern  des  Instituts 
willkommener  sein  wird,  als  dessen  Anhängern. 

Es  wirft  aber  obiger  Fall  auch  ein  grelles  Licht  auf  die  Ver- 
läßlichkeit oder  richtiger  Unverläßlicbkeit  der  Zeugenaussagen,  indem 
über  denselben  tatsächlichen  umstand  direkt  entgegengesetzte  Ausr 
sagen  vorliegen  und  es  dem  Gerichte  unmöglich  gemacht  wird,  aus 
den  widersprechenden  Angaben  der  Zeugen  das  Wahre  herauszu- 
finden. 

Endlich  spricht  aber  auch  der  oben  mitgeteilte  Fall  nicht  nur 
für  die  Beibehaltung,  sondern  auch  für  die  Notwendigkeit  der  Er- 
weiterung und  Erleichterung  des  Rechtsmittels  der  Wiederaufnahme 
des  Strafverfahrens,  zufolge  welcher  der  Straffall  nach  durchgeführter 
Revision  oft  in  ganz  anderem  Lichte  sich  darstellt,  als  es  im  ersten 
Verfahren  der  Fall  war. 


IV. 
Aus  den  Erinnerungen  eines  Polizeibeamten. 


Von 
Hofrat  J.  Hdlsl. 


IL  Merkwürdige  Znf iUle. 

In  die  erste  Zeit  meiner  Amtstätigkeit,  die  ich  als  junger,  noch 
wenig  bekannter  Polizeibeamter  in  Graz  verbracht  habe,  fällt  ein  Er- 
lebnis, das  uns  zeigt,  welch'  große  Rolle  oft  der  Zufall  spielt 

Eines  Morgens  erfuhr  ich  durch  eine  Zeitungsnotiz,  daß  in  der 
Idlhofgasse,  im  zweiten  Stockwerke  des  Hauses  No.  669,  Bilder  zu 
verkaufen  seien,  und  ich  beschloß  nun,  mir  dieselben  am  Nachmit- 
tage anzusehen.  Im  bezeichneten  Hause  und  Stockwerke  angekommen, 
sah  ich  verschiedene  Ttlren,  so  daß  ich  nicht  wußte,  wohin  ich  mich 
der  Bilder  halber  wenden  sollte ;  es  war  mir  deshalb  sehr  angenehm, 
daß  zufällig  eine  Dame  erschien,  die  mir  auf  meine  diesbezügliche 
Frage  in  liebenswürdiger  Weise  den  richtigen  Weg  wies.  Sie  meinte 
nur,  daß  vielleicht  Niemand  zu  Hause  sein  werde.  Auf  mein  Klopfen 
wurde  mir  jedoch  geöffnet,  ich  besichtigte  die  Bilder,  die  aber  nicht 
meinem  Geschmacke  entsprachen,  und  konnte  sohin  schon  nach 
kurzer  Zeit  das  Haus  wieder  verlassen.  Als  ich  durch  die  nicht  sehr 
belebte  Straße  weiterging,  fiel  mir  ein  Mann  auf,  der  langsam  vor 
mir  herschritt  und  ein  schottisches  Shawituch  über  den  Arm  hängend 
trug.  Näherkommend  erkannte  ich  in  dem  Manne  einen  bereits 
wiederholt  wegen  Diebstahls  abgestraften  und  deshalb  unter  Polizei- 
aufsicht gestellten  Maurer  Namens  Josef  H.  Da  derselbe  aber  das 
Shawituch  ganz  offen  trug  und  damit  langsam  ging,  konnte  ich  nicht 
sofort  annehmen,  daß  er  das  Tuch  gestohlen  habe  müsse,  und  da  er 
mir  überdies  als  ein  gewalttätiger  Mensch  bekannt  war,  so  wollte 
ich  ihn  auch  nicht  auf  der  Straße  anhalten,  sondern  ging  an  ihm 
vorüber,  so  daß  auch  er  mich  sehen  konnte. 

Wie  groß  war  nun  mein  Erstaunen,  als  ich  am  nächsten  Morgen 
im  Amte  eine  Anzeige  vorfand,  in  welcher  eine  Offizierswitwe  Frau 
N.  mitteilte,  daß  ihr  tagszuvor,  und  zwar  am  Nachmittage,  aus  ihrer 
Wohnung,  Idlhofgasse  No.  669,  II.  Stock,  während  einer  kurzen  Ab- 


68  IV.  HÖLZL 

Wesenheit  ein  schottisches  Shawltuch  und  ein  Portemonnaie  mit  Geld 
entwendet  worden  sei.  Die  Eingangstiire  zur  Wohnung  wäre  nicht 
versperrj;  gewesen  und  ihre  Tochter,  welche  sich  in  einem  Neben- 
raume  aufgehalten,  habe  wohl  gehört,  daß  Jemand  die  Wohnung  be- 
treten und  den  Kasten,  an  welchem  der  Schlüssel  gesteckt,  aufge- 
sperrt habe,  in  der  Überzeugung  jedoch,  daß  dies  nur  die  Mutter  sein 
könne,  habe  sie  nicht  weiter  nachgesehen.  Als  des  Diebstahls  sehr 
verdächtig  bezeichnete  Frau  N.  einen  gut  gekleideten  jungen  Mann 
mit  Augengläsern,  der  sich  unter  dem  Verwände  Bilder  zu  kaufen 
im  Hause  aufgebalten  und  dem  sie  selbst  diesbezüglich  eine  Auskunft 
erteilt  habe.  Dieser  junge  Mann  war  natürlich  ich.  Mein  Verdacht 
fiel  selbstverständlich  sofort  auf  Josef  H.,  den  ich  ja  mit  einem 
schottischen  Shawltuche  in  der  Idlhofgasse  gesehen  hatte,  und  ich 
veranlaßte  daher  dessen  Festnahme,  welche  noch  am  selben  Tage 
erfolgte,  ohne  daß  jedoch  das  gestohlene  Gut  bei  ihm  gefunden 
werden  konnte.  Bei  der  Einvernehmung  verlegte  sich  Josef  H.  auf 
hartnäckiges  Leugnen.  Er  wollte  weder  von  einem  Shawltuche 
etwas  wissen,  noch  wollte  er  mich  tagszuvor  gesehen  haben,  noch 
überhaupt  zur  kritischen  Zeit  in  der  Idlhofgasse  gewesen  sein.  Trotz- 
dem ließ  ich  ihn  vorläufig  in  den  Arrest  abführen,  gab  jedoch  noch 
vorher  und  in  seiner  Gegenwart  den  Auftrag,  in  den  verschiedenen 
Trödlerläden,  in  erster  Linie  in  jenen  nächst  der  Idlhofgasse,  nach 
dem  verschwundenen  und  höchst  wahrscheinlich  bereits  verkauften 
Shawltuche  zu  forschen,  wobei  ich  demjenigen,  der  das  Tuch  bringen 
würde,  eine  spezielle  Belohnung  meinerseits  in  Aussicht  stellte.  Es 
lag  mir  ja  begreiflicherweise  viel  daran,  so  schnell  als  möglich  in 
den  Besitz  des  gestohlenen  Gutes  zu  gelangen,  um  I^>au  N.  von  der 
Unrichtigkeit  ihres  Verdachtes  zu  überzeugen. 

Kurz  darauf  ließ  Josef  H.  um  eine  neuerliche  Vorführung  bitten 
und  als  er  mir  gegenüber  stand,  sprach  er:  „Herr  Kommissär  haben 
gesagt,  wer  das  Shawltuch  bringt,  bekommt  eine  Belohnung;  geben 
sie  mir  die  Belohnung  und  ich  sage,  wo  das  Tuch  ist""  Josef  H. 
gestand  nunmehr  den  in  Bede  stehenden  Diebstahl  ein  und  ermög- 
lichte hierdurch  die  rasche  Zustandebringung  des  von  ihm  tatsächlich 
an  einen  Trödler  verkauften  Shawltuches  sowie  des  gestohlenen 
Portemonnaie's,  welches  er  seiner  Geliebten  zum  Geschenke  gemacht 
hatte.  Durch  weitere  Erhebungen  wurde  dann  auch  festgestellt,  daß 
Josef  H.  noch  einige  andere  Diebstähle,  gleichfalls  durch  Einschleichen 
in  Wohnräume  und  Dachböden,  ausgeführt  hatte^  und  es  wurden 
auch  Gegenstände  aus  diesen  Diebstählen,  wie  Pretiosen,  Kleider, 
Wäsche  u.  dergl.  zustande  gebracht    Er  hatte  das  Gestohlene  immer 


Aus  den  Erinnerangen  eines  Polizeibeamten.  59 

gleich  verkauft  und  den  Erlös  in  Gesellschaft  seiner  Geliebten  in 
Gasthäusern  und  Branntweinschänken  durchgebracht  Das  Landes- 
gericht, an  welches  Josef  H.  wegen  der  von  ihm  begangenen  Dieb- 
stähle eingeliefert  wurde,  verhängte  über  denselben  eine  mehrjährige 
schwere  Kerkerstrafe,  die  er  jedoch  nicht  überlebte. 

Aus  dem  Vorangeführten  ist  wohl  deutlich  zu  ersehen,  daß  die 
schnelle  Eruierung  des  Diebes  sowie  des  gestohlenen  Gutes  nur  einem 
Zufalle  zu  verdanken  war;  es  ist  aber  hierbei  auch  zu  bedenken,  daß 
der  von  Frau  N.  geäußerte  Verdacht  sich  leicht  hätte  verhängnisvoll 
gestalten  können,  wenn  nämlich  der  verdächtigte  junge  Mann  ein  an- 
derer gewesen  wäre,  als  ich.  — 

Gerade  für  mich  als  jungen  Polizeibeamten  war  das  eben  ge- 
schilderte Erlebnis  noch  von  besonderer  Bedeutung,  denn  es  hat  mir 
klar  und  deutlich  bewiesen,  daß  selbst  dann,  wenn  augenscheinlich 
zutreffende  Verdachtsmomente  gegeben  sind,  ein  Irrtum  doch  noch 
immer  nicht  ausgeschlossen  ist,  was  mich  fernerhin  stets  und  nach- 
drücklichst zur  Vorsicht  mahnte.  Vorsicht  zu  üben  ist  für  den 
Kriminalisten  überhaupt  immer  von  größter  Wichtigkeit,  weil  dadurch 
nicht  nur  mancher  Mißgriff  vermieden,  sondern  oft  auch  schweres  Un- 
recht hintangehalten  werden  kann,  wie  beispielsweise  im  folgenden  Falle: 

Vor  Jahren  lebte  in  Graz  ein  Portraitmaler,  der  durch  seine 
Kunst  einen  bedeutenden  Namen  erlangt  und  sich  deshalb  großen 
Zuspruchs  zu  erfreuen  hatte.  Auch  ein  Professor  saß  diesem  Künstler 
zu  einem  Bilde,  und  als  dasselbe  der  Vollendung  nahe  war,  ersuchte 
letzterer  den  Professor  um  die  Zusendung  seiner  Kravatte  mit  Brillant- 
nadel, damit  diese  auf  dem  Gemälde  möglichst  genau  wiedergegeben 
werden  könne;  besagte  Brillantnadel  war  nämlich  das  Geschenk  einer 
hohen  fürstlichen  Persönlichkeit  und  als  solches  für  den  Professor 
von  besonderem  Werte.  Dem  Wunsche  des  Malers  entsprechend, 
fibergab  nun  der  Professor  seiner  Magd  die  Kravatte  sammt  der 
Brillantnadel  mit  dem  Auftrage,  dieselbe  in  das  Atelier  des  Malers 
zu  bringen  und  sie  diesem  persönlich  einzuhändigen. 

Es  verging  hierauf  geraume  Zeit,  und  als  sich  die  beiden  Herren 
gelegentlich  begegneten,  machte  der  Professor  die  scherzhafte  Be- 
merkung, daß  die  Kravattennadel  wohl  nicht  leicht  zu  malen  sein 
müsse,  nachdem  er  sie  noch  immer  nicht  zurückbekommen  habe. 
Hierbei  stellte  es  sich  heraus,  daß  der  Maler  die  Kravatte  mit  der 
Brillantnadel  gar  nicht  erhalten  hatte.  Begreiflicherweise  geriet  hier- 
über der  Professor  in  große  Aufregung,  umsomehr,  als  ihm  nun  auch 
auffiel,  daß  gerade  an  dem  Tage,  an  welchem  er  die  Magd  zum 
Maler  gesendet,  diese  um  die  Erlaubnis  gebeten  hatte,   wegen  plötz- 


60  IV.  HÖLZL 

licher  schwerer  Erkrankung  ihrer  Mutter  sogleich  auf  kurze  ZiCit 
nach  Hause  reisen  zu  dürfen,  was  ihr  anstandslos  gewährt  worden 
war.  Seither  war  die  Magd  noch  immer  nicht  zurückgekehrt  und  es 
wurde  daher  sowohl  beim  Professor  als  auch  beim  Maler  der  Ver- 
dacht rege,  daß  die  Erkrankung  der  Mutter  nur  ein  Vorwand  ge- 
wesen sei,  damit  das  Mädchen  mit  der  kostbaren  Brillantnadel  unbe- 
hindert aus  Graz  verschwinden  konnte. 

Von  diesem  Gedanken  erfüllt,  erschienen  beide  Herren  bei  mir 
im  Amte,  um  gegen  die  Magd  ein  schnelles  und  energisches  Ein- 
schreiten zu  erwirken,  was  gewiß  auch  nicht  schwer  zu  rechtfertigen 
gewesen  wäre;  allein  in  der  Erinnerung  an  mein  vorerwähntes  E^ 
lebnis  und  die  dadurch  gewonnene  Überzeugung  ließ  ich  auch  in 
diesem  Falle  wieder  Vorsicht  walten,  und  ich  tat  gut  daran. 

Durch  die  eingeleiteten  Erhebungen  wurde  alsbald  festgestellt, 
daß  sich  die  bisher  vollkommen  unbescholtene  Magd  des  Professors 
tatsächlich  in  ihre  Heimat  begeben  hatte  und  auch  noch  immer  dort 
befand,  da  mittlerweile  die  erkrankte  Mutter  gestorben  war.  Außer- 
dem kam  auch  fast  gleichzeitig  durch  einen  glücklichen  Zufall  die 
vermißte  Kravatte  samt  der  Brillantnadel  zum  Vorschein.  Ein  Kauf- 
mann aus  dem  Stadtteile,  in  welchem  der  Professor  wohnte,  hatte  in 
seinem  Geschäftsladen  ein  verschlossenes  Paket  vorgefunden,  von 
welchem  er  vermutete,  daß  es  Jemand  dort  vergessen  habe ;  da  aber 
längere  Zeit  vergangen,  ohne  daß  darnach  gefragt  worden  war,  so 
brachte  er  dasselbe  uneröffnet  zum  Amte.  Das  Paket  enthielt  unver- 
sehrt die  Kravatte  sammt  der  Brillantnadel  und  war  es  nun  auch  nicht 
mehr  zweifelhaft,  daß  es  die  Magd  des  Professors  gewesen,  die  ge- 
legentlich eines  Einkaufes  das  Paket  im  Kaufladen  niedergelegt  und 
auf  dasselbe  beim  Weggehen,  in  Folge  der  Aufregung  über  die  plötz- 
liche Erkrankung  der  Mutter,  vergessen  hatte. 

Der  Verdacht,  unter  welchem  das  eigentlich  schuldlose  Mädchen 
längere  Zeit  gestanden,  ward  dadurch  vollständig  behoben,  zur  freu- 
digsten Überraschung  für  den  Professor  und  Maler,  wie  nicht  weniger 
zur  Freude  auch  für  mich,  wenn  ich  daran  dachte,  daß  durch  ein 
vorsichtiges  und  daher  minder  scharfes  Vorgehen  einer  ohnehin 
schwerbetroffenen  Familie  neues  Ungemach  erspart  werden  konnte.  0 

1)  Anmerkung  des  Herausgebers.  Nehmen  wir  an,  die  Krankheit  der 
Mutter  wäre  eine  Ausrede  gewesen  und  die  Magd  wäre  z.  B.  zu  ihrem  Geliebten 
gereist  —  Dienstbotenausrede,  wie  sie  alle  Tage  vorkommt  —  und  weiter:  das 
Paket  mit  der  Nadel,  das  viele  Tage  im  Laden  des  Kaufmanns  unbeachtet  lag, 
wäre  in  Verstoß  geraten  oder  wäre  entwendet  worden,  was  alles  ebenso  gut 
hätte  geschehen  können.  In  diesem  Falle  wäre  die  Magd  nicht  bloß  verhaftet, 
sondern  vielleicht  auch  verurteilt  worden. 


V. 
Versuchter  Meuchelmord  eines  Epileptikers. 

Mitgeteilt  ▼om 

Untereuchungsrichter  Dr.  Huber  in  Bozen. 


Johann  D.  aus  Vinstgau,  geboren  1884,  stand  durch  mehr  als 
3  Jahre  als  Schneiderlehrling  bei  dem  Meister  Johann  St.  in  L.  in 
Verwendung. 

In  der  Nacht  zum  19.  August  1904  schlich  er  sich  aus  seiner 
Schlaf  kammer  im  2.  Stocke  des  St 'sehen  Hauses  herab  in  die  im 
1.  Stocke  gelegene  Schlafkammer  der  Meisterseheleute,  nachdem  er 
zuvor  einer  Lade  der  nebenan  befindlichen  Werkstätte  das  Basier- 
messer seines  Meisters  entnommen  hatte,  trat  an  das  obere  Ende  des 
Ehebettes  nnd  versetzte  dem  Meister  rasch  drei  Schnitte  über  den 
Hals.  St  wurde  anscheinend  nur  dadurch  vor  dem  Tode  bewahrt, 
daß  ein  Beinknöpfchen  die  volle  Kraft  der  Schnitte  aufhielt  Durch 
den  Buf  des  Oatten  vom  Schlafe  geweckt  entzündete  Frau  St  das 
elektrische  Licht  und  sah  zu  ihrem  Schrecken  den  Lehrling  mit  der 
Waffe  in  der  Hand.  D.  lieB  das  Messer  auf  die  Aufforderung  des 
Meisters  erst  fallen,  als  ihm  dieser  versprochen  hatte  ihm  nichts  zu 
leide  zu  tun.  Dann  sprang  er  durch  das  Fenster  ins  Freie.  So  die 
Darstellung  der  Eheleute  St 

D.  trug  bei  der  Tat  nur  Hose  und  Weste,  war  barhaupt  und 
barfuß.  Am  folgenden  Tage  trieb  er  sich  in  der  Nähe  eines  Schieß- 
standes herum  und  beschäftigte  sich  mit  dem  Ausgraben  von  Blei- 
geschossen, die  er  einem  Knaben  um  22  Heller  verkaufte.  Am 
20.  August  wurde  er  verhaftet  Das  Motiv  der  Tat  war  rätselhaft, 
ein  Baubmordversuch  erschien  nach  den  umständen  ausgeschlossen. 
Schon  die  erste  Oendarmerieanzeige  sprach  aus,  daß  die  Tat  ohne 
Zweifel  im  Zustande  momentaner  Sinnenverrückung  (nach  dem  Aus- 
drucke des  österreichischen  Strafgesetzes)  begangen  sei.  Beim  ersten 
Verhör  vor  dem  Strafrichter  des  (ländlichen)  Bezirksgerichts  am 
20.  August  gab  D.  an,  er  habe  in  der  Nacht  des  18.,  wie  öfters. 


62  V.  Huber 

nicht  einschlafen  können,  habe  über  seine  Lage  nachgedacht  und  be- 
sonders darüber,  daß  ihn  die  Meisterin  des  öfteren  ganz  ungerechter 
Weise  schelte  und  ihm  wegen  Trägheit,  wegen  Stehlens  von  Zwirn 
u.  dergl  unverdiente  Vorwürfe  mache.  Sie  sei  nie  mit  ihm  freund- 
lich, sondern  immer  zänkisch  gewesen  und  schließlich  sei  auch  der 
Meister  durch  sie  aufgehetzt  worden  und  zeige  ihm  nicht  mehr  das 
freundliche  Benehmen.  Obwohl  schon  über  3  Jahre  bei  St  als 
Lehrling,  habe  er  keinen  Lohn  und  die  Verköstigung  sei  nicht  be- 
sonders reichlich  und  gut  So  sei  ihm  das  Ehepaar  schließlich  ganz 
verhaßt  geworden  und  er  habe  gegen  beide,  besonders  aber  gegen 
die  Frau,  einen  starken  Zorn  gefaßt  In  schlaflosen  Nächten  habe 
er  über  sein  elendes  Dasein  nachgegrübelt,  so  sei  auch  in  jener 
Nacht  sein  Zorn  beim  Nachsinnen  heftiger  geworden  und  er  habe 
sich  gedacht:  „Heute  werde  ich  Meister  und  Meisterin  ermorden  und 
so  meinem  elenden  Dasein  ein  Ende  bereiten.''  Als  er  dann  nach 
10  Uhr  in  das  Zimmer  der  Meisterleute  geschlichen  sei,  habe  er 
gerade  das  elektrische  Licht  entzünden  wollen,  als  ihm  die  Meisterin 
damit  zuvorkam.  Er  habe  dann  dem  Meister,  der  gleichfalls  schon 
wach  war,  hinter  einander  mehrere  Schnitte  in  den  Hals  versetzt 
um  ihn  zu  ermorden,  doch  sei  es  St  gelungen  ihn  am  Arme  zu  er- 
fassen, so  daß  er  die  Tat  nicht  vollenden  konnte.  Die  Meisterin  sei 
inzwischen  aus  dem  Zimmer  gelaufen.  Er  habe  die  Absicht  gehabt 
auch  sie  auf  die  gleiche  Art  zu  ermorden.  Auch  der  Meister  sei 
plötzlich  davoDgelaufen,  er,  D.,  habe  das  Messer  fallen  gelassen  und 
sei  durch  das  Fenster,  das  er  erst  öffnen  mußte,  davon  geeilt,  ohne 
sich  um  die  drei  im  Zimmer  schlafenden  Kinder  St's.  zu  kümmern, 
denen  er  auch  nie  ein  Leid  habe  tun  wollen.  „Meine  Absicht^  — 
fährt  das  erste  Verhör  fort  — ,  „war  nur  die,  mich  meiner  Meisters- 
leute zu  entledigen  und  sie  zu  töten,  nicht  aber  zu  rauben  oder  zu 
stehlen.  Ich  handelte  mit  voller  Überlegung  und  nur  durch  Sach- 
sucht beeinflußt^ 

Er    habe    sich    dann    im  Walde  herumgetrieben   und    sich    am 

20.  August  früh  nach begeben  um  sich  dem  Gerichte  zu 

stellen.  Da  sei  er  von  einem  Gendarm  aufgegriffen  worden.  Er 
fügt  sich  dem  Haftbeschlusse  mit  dem  Beisatze:  „Ich  sehe  ein,  daß 
ich  Strafe  verdiene,  so  kann  ich  mein  Unrecht  gut  machen.^ 

Der  Gendarm,  der  die  Verhaftung  vorgenbmmen  hatte,  gibt  an, 
D.  habe  ihm,  als  er  ihn  ansprach,  sofort  seinen  richtigen  Namen  an- 
gegeben und  auf  die  Frage,  was  er  hier  mache ^  erklärt,  er  habe 
seinen  Meister  umgebracht;  dann  sei  er  hierher  geflohen,  habe  zur 
Zerstreuung  Bleikugeln  ausgegraben  und  von  dem  Erlöse  von  22  b 


Versuchter  Meuchelmord  eines  Epileptikers.  63 

einen  Kreuzer  beim  St.  Martinskirchlein  geopfert  Er  schien  der 
Meinung  zu  sein  den  Meister  tatsächlich  ermordet  zu  haben  und  gab 
auch  an,  er  sei  im  Begriffe  ^sich  zu  stellen.^ 

Aus  der  Aussage  der  Meistersleute  interessiert,  daß  der  Lehrling 
am  Abend  vor  der  Tat  noch  einige  Zeit  mit  dem  Meister  und  ein 
paar  Nachbarn  im  Oespräche  vor  dem  Hause  saß,  daß  er  nie  über 
schlechte  Behandlung  klagte  und  daß  er  das  letztemal  am  9.  August, 
also  neun  Tage  vor  der  Tat,  von  der  Meisterin  Schelte  bekam,  weil 
er  einen  Besuch  in  der  Heimat  ohne  Urlaub  auf  3  Tage  ausgedehnt 
hatte.  Früher  hatte  man  öfters  mit  ihm  gezankt,  weil  er  unreinlich 
war,  die  Wäsche  nicht  wechseln  wollte,  L&use  acquirierte,  auch  sein 
Bett  wiederholt  verunreinigte.  Zeitweise  sei  er  auch  träge  zur  Arbeit 
gewesen  und  es  sei  manchmal  vorgekommen,  daß  er  Stoffabschnitte 
oder  Zwirn  sich  aneignete,  weshalb  er  auch  wohl  getadelt  wurde. 
Die  Kost  hatte  er  am  Tische  der  Meistersleute;  sie  sei  gut  gewesen. 

Der  Meister  charakterisiert  D.  als  eher  kopfhängerisch,  nie  recht 
fröhlich,  im  Sprechen  einsilbig,  wenn  er  auch  andrerseits  mit  anderen 
Leuten  über  Viehzucht,  Landwirtschaft  und  über  sein  Handwerk  ganz 
vergnügt  geredet  habe. 

Zur  Tat  Ds.  selbst  gibt  St  an,  er  habe,  als  er  die  Schnitte  fühlte, 
den  Burschen  gepackt  und  gefragt,  was  er  da  mache.  D.  habe  ganz 
ruhig  erwiedert:  „Dem  Meister  die  Ourgel  abschneiden.^  Es  ist 
interessant,  daß  die  Meisterin  diese  Worte  nicht  hörte  und  daß  der 
Meister  selbst  als  Zeuge  bei  der  Hauptverhandlung  am  12.  Dezember 
1904  jene  Angabe  nicht  mit  Bestimmtheit  aufrecht  hielt:  er  wisse 
nicht  zweifellos,  ob  D.  diese  Worte  wirklich  gesprochen  habe,  er  habe 
nur  diesen  Eindruck.  Gesprochen  habe  D.  aber  ohne  Zweifel.  Es 
dürfte  sich  hier  wohl  eher  um  eine  Erinnerungstäuschung  auf  Seite 
St's.  handeln:  Die  furchtbare  Erkenntnis  dessen,  was  D.  vorhatte, 
verdichtete  sich  in  der  Erinnerung  St's.  geradezu  zu  bestimmten 
Worten,  in  denen  er  unbewußt  den  D.  diese  Absicht  aussprechen  ließ. 

Der  wiederholten  Aufforderung  das  Messer  fallen  zu  lassen  habe 
D.  dann  erst  entsprochen,  als  der  Meister  sagte:  „Ich  tue  Dir  nichts'^, 
worauf  er  hervorgestoßen  habe:  „Laßt  mir  gehen !^,  das  Messer 
fallen  gelassen  und  sich  mit  einem  Sprunge  durch  das  Fenster  ent- 
fernt habe. 

Der  Leumund  D's.  wird  sowohl  von  der  Heimats-  als  von  der 
Aufenthaltsgemeinde  als  „unbescholten  in  jeder  Beziehung^  bezeichnet 
Nach  den  Erhebungen  der  Gendarmerie  genießt  er  wegen  seines 
ruhigen  und  bescheidenen  Wesens  allgemeine  Achtung.  Sein  Katechet, 
inzwischen  zur  Leitung   einer  großen   Pfarre  berufen,   äußert  sich. 


64  V.  HUBEB 

daß  er  an  D.  zwar  nie  Spuren  von  Geistesgestörtbeit  wahrgenommen 
habe^  doch  sei  er  von  schwacher  Begabung  gewesen,  der  auch  die 
Leistungen  in  der  Schule  entsprachen.  Doch  lasse  sein  sanfter  und 
gutmütiger  Charakter  die  Tat  völlig  unerklärlich  erscheinen.  Die 
Eltern  seien  brave,  arbeitsame  Bauersleute  und  die  Erziehung  gewiß 
nicht  schlecht  gewesen. 

Die  Erhebungen  ergaben  auch  das  Vorkommen  von  Geistes- 
krankheiten in  der  mütterlichen  Verwandtschaft.  Ein  Vetter  mütter- 
licher Seite  ist  Kretin. 

Es  wurde  nun  die  Untersuchung  von  D's.  Geisteszustand  durch 
zwei  Gerichtsärzte  veranlaßt  Dem  Befunde  entnehmen  wir  folgen- 
des :  Die  Entwicklung  des  20jährigen  D.  entspräche  eher  einem  Alter 
von  15  Jahren.  Die  Schädelbildung  ist  asy metrisch,  die  rechte  Ge- 
sichtshälfte hypertrophisch,  die  Pupillen  beiderseits  gleich,  prompt 
reagierend.  Bei  der  Untersuchung  durch  die  Ärzte  zeigt  D.  ein 
ruhiges,  affektloses  Wesen.  Er  antwortet  auf  alle  lYagen  logisch  und 
korrekt  und  auch  sein  Erinnerungsvermögen  für  Details  ist  als  nor- 
mal zu  betrachten.  Von  Wahnideen  konnte  keine  Spur  entdeckt 
werden.  Doch  fiel  sofort  eine  ziemlich  bedeutende  Herabsetzung  der 
Intelligenz  auf.  D.  erzählt  ganz  ruhig  und  naiv  und  wie  sich  nach 
den  Zeugenaussagen  konstatieren  läßt,  auch  wahrheitsgetreu  die  Be- 
weggründe seiner  blutigen  Tat:  das  kränkende  Verhalten  der  Meisterin, 
ein  Kachegefühl  und  der  Drang  einen  unleidlichen  Zustand  zu  be- 
enden. Auf  die  P'rage,  warum  er  nicht  einfach  davon  gelaufen  sei, 
antwortet  D.,  das  sei  verboten  und  er  hätte  Strafe  gefürchtet  Die 
schwere  Strafbarkeit  eines  Mordes  scheint  ihm  nicht  hinreichend  klar, 
obwohl  er  über  das  Strafwürdige  seiner  Tat  nicht  im  unklaren  sich 
befindet  Das  Gutachten  lautet  dahin,  daß  D.  nicht  wahnsinnig,  auch 
trotz  erblicher  Belastung  nicht  im  engeren  Sinne  geisteskrank,  wohl 
aber  in  seiner  intellektuellen  Entwicklung  zurückgeblieben  und  daher 
vermindert  zurechnungsfähig  sei. 

Die  Anklage  lautete  auf  versuchten  Meuchelmord,  der  „tückischer 
Weise''  geschehen  sollte  (§§  134,  135  ZI.  1  östr.  Str.G.). 

Bei  der  Hauptverhandlung  am  12.  Dezember  1904  wich  der 
Angeklagte  etwas  von  seiner  früheren  Darstellung  ab.  Er  sagte,  die 
Meisterin  habe  sich  vom  Bette  erhoben,  er  habe  ihre  Stelle  einge- 
nommen und  die  Schnitte  gegen  den  Hals  des  Meisters  geführt 
Doch  erklärte  er  auf  Vorhalt  seiner  früheren  Angaben  diese  als 
richtig. 

Die  Geschwomen  bejahten  einstimmig  die  auf  versuchten  Meuchel- 
mord gestellte  Hauptfrage  und  die  erste  Zusatzfrage,  ob  der  Angriff 


Versuchter  Meachelmord  eines  Epileptikers.  65 

tückischer  Weise  geschehen  sei.  Die  zweite  Zusatzfrage  auf  Begehung 
der  Tat  ^in  einer  Sinnenverwirrnng,  in  der  sich  D.  seiner  Hand- 
lungen nicht  bewußt  war^,  wurde  einstimmig  verneint 

Das  Urteil  lautete  auf  schweren  Kerker  in  der  Dauer  von  drei 
Jahren  mit  Verschärfung. 

Der  Verteidiger  hatte  vor  der  Hauptverhandlung  und  im  Laufe 
derselben  den  Antrag  auf  Einholung  eines  Fakultätsgutachtens  über 
D.'s  Geisteszustand  gestellt  und  gründete  auf  dessen  Ablehnung  die 
Nichtigkeitsbeschwerde.  Der  oberste  Gerichts-  und  Kassationshof  ver* 
warf  zwar  diese,  hob  aber  gemäß  §  362  StPO.  MO.  das  Urteil  samt 
dem  zugrunde  liegenden  Wahrspruche  der  Geschwomen  auf  und  ver- 
wies die  Sache  zur  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  an  die  erste 
Instanz.  Die  Verwerfung  der  Nichtigkeitsbeschwerde  whrd  damit  be- 
endet, daß  das  ärztliche  Gutachten  an  sich  nicht  mangelhaft,  dessen 
Überprüfung  durch  eine  medizinische  Fakultät  aber  nicht  obligatorisch, 
sondern  dem  richterlichen  Ermessen  anheimgestellt  sei.  Allein  mit 
Rücksicht  auf  das  Verhalten  des  Angeklagten  vor  und  nach  der  Tat, 
die  Art  der  Begehung,  das  geringfügige  Motiv,  die  erbliche  Belastung 
des  Angeklagten  und  dessen  körperliche  Gebrechen  ergeben  sich  dem 
Kassationshofe  erhebliche  Bedenken  gegen  die  Richtigkeit  der  dem 
Urteile  zugrunde  gelegten  Tatsache,  daß  der  Angeklagte  zur  Zeit  der 
Verübung  der  Tat  den  vollen  Gebrauch  seiner  Vernunft  hatte.  Auch 
die  Annahme  einer  verminderten  Zurechnungsfähigkeit  durch  die 
Sachverständigen  lasse  im  konkreten  Falle  die  Einholung  eines  Fakul- 
tätsgutachtens geboten  erscheinen.  Der  zitierte  §  362  berechtigt  den 
Kassationshof  nach  Anhörung  des  Generalprokurators  die  Wieder- 
aufnahme des  Strafverfahrens  zu  gunsten  des  Verurteilten  zu  verfügen, 
ohne  daß  er  an  die  sonstigen  Bedingungen  einer  Wiederaufnahme 
gebunden  wäre,  wenn  sich  erhebliche  Bedenken  gegen  die  Richtig- 
keit der  dem  Urteile  zugrunde  gelegten  Tatsachen  ergeben,  welche 
auch  nicht  durch  einzelne  vom  Kassationshofe  angeordnete  Erhebungen 
beseitigt  werden. 

D.  wurde  nunmehr  der  psychiatrischen  Klinik  in  Innsbruck  über- 
stellt und  über  seinen  Geisteszustand  ein  Fakultätsgutachten  eingeholt 
(Ref.  Prof.  C.  Mayer  und  Prof.  C.  Ipsen).  Wir  entnehmen  demselben 
folgendes:  Neu  wird  nach  den  Angaben  der  Mutter  Ds.  angeführt, 
daß  dieser  ungefähr  vom  10.  bis  zum  14.  Lebensjahre  öfters  an 
leichten  Kopfschmerzen  litt  und  in  früheren  Jahren  infolge  Aufgeregt- 
heit nachts  wiederholt  aufschrie,  femer,  daß  er  vor  2  Jahren  wegen 
Magenleidens  durch  4  Wochen  zu  Hause  krank  war,  welches  Leiden 
sich    zu   Anfang    1903   wiederholte.    Auch   damals  klagte  D.  über 

ArahiT  fttr  Krimiiudantliropologie.  28.  Bd.  5 


66  V.  Httbeb 

leichte  Kopfschmerzen.  Bei  seinen  Besuchen  daheim  habe  sich  D. 
wohl  manchmal  über  die  Meisterin  beklagt,  den  Meister  aber  so- 
gar gelobt 

„Der  untersuchte  überrascht  durch  sein  knabenhaftes  Aussehen; 
die  Körperlänge  beträgt  157  cm.  Er  ist  im  allgemeinen  von  gutem 
Kräfte-  und  Ernährungszustände,  frischer  Oesichtsfarbe,  jedoch  voll- 
kommen bartlos.  Es  besteht  leichte  Schiefköpfigkeit  wegen  geringerer 
Entwicklung  der  linken  Stimscheitelgegend.  Beiderseits  springt  die 
hintere  Scheitelgegend  kantig  vor.  Auch  das  Gesichtsskelett  ist  leicht 
asymetrisch  zu  Ungunsten  der  linken  Seite.  Der  Brustkorb  ist  vorne 
kielförmig  verbildet,  das  Glied  und  die  Hoden  knabenhaft  klein,  die 
Schamhaare  spärlich.  Beiderseits  besteht  hochgradige  Schwerhörig* 
keit  bei  Unversehrtheit  des  Trommelfells.^ 

In  Ds.  geistigem  Wesen  sei  eine  gewisse  Stumpfheit  und  auf- 
fallende Gleichgültigkeit  zu  bemerken,  in  seinen  meist  kurzen  Ant- 
worten eine  leicht  undeutliche  Artikulation  mit  gelegentlichen  An- 
sätzen zum  Stottern.  Auch  stelle  sich  öfter  fluxionäre  Bötung  der 
Gesichtshaut  ein.  Die  Antworten  seien  durchaus  zutreffend,  weder 
Verwirrtheit  nach  Wahnideen  seien  nachweisbar.  Hinsichtlich  seines 
intellektuellen  Besitzstandes  und  seiner  Urteilsfähigkeit  stehe  er  über 
dem  Durchschnitte  seiner  bäuerlichen  Altersgenossen. 

D.  erzählt,  seine  Gesundheit  sei  nicht  gut,  seitdem  er  im  6.  oder 
7.  Lebensjahre  2.5—3  m  hoch  von  einem  Heufuder  herabstürzte. 
Er  sei  danach  ohnmächtig  gewesen,  hatte  eine  Wunde  an  der  linken 
Kopfseite  und  mußte  durch  14  Tage  wegen  Hitze  und  Kopfschmer- 
zen das  Bett  hüten.  Sein  Kopfleiden  und  die  Schwerhörigkeit  am 
linken  Ohre  führt  er  darauf  zurück.  Seit  Jahren  habe  er  an  hefti- 
gem Kopfschmerz  zu  leiden  in  Form  von  Schmerz  und  Ziehen  in 
der  Unken  Kopfseite  und  Schwere  über  den  Augen  von  mehrtägiger 
Dauer.  Danach  sei  ihm  übel  und  er  habe  auch  manchmal  im  An- 
schlüsse daran  erbrechen  müssen.  In  den  letzten  Jahren  sei  der 
Kopfschmerz  in  Pausen  von  3 — 4  Wochen  aufgetreten;  alle  paar  Tage 
sei  ihm  überdies  der  Kopf  durch  einen  halben  Tag  „mürb^.  Seit 
Jahren  schlafe  er  schlecht,  meist  erst  nach  Mitternacht,  und  sei  dann 
morgens  müde.  Vor  schlechtem  Wetter  spüre  er  Krämpfe  im  Magen. 
Seit  einigen  Jahren  leide  er  an  Schwindelanfällen  durch  ein  paar 
Minuten  und  es  werde  ihm  schwarz  vor  den  Augen;  alles  gehe  „um 
und  um^.  So  sei  es  auch  im  Sommer  1904  vorgekommen  und  auch 
während  der  Haft  in  Bozen.  In  seinem  Dienstorte  L.  habe  er  manch- 
mal bemerkt,  daß  er  morgens  beim  Erwachen  aus  dem  Munde  blutete, 
weil  er  sich  im  Schlafe  auf  die  Zunge  oder  in  die  Lippen  gebissen 


Versuchter  Meuchelmord  eines  Epileptikers.  67 

hätte.  Bis  zu  seinem  17.  Lebensjahre  habe  er  nachts  ins  Bett  genäßt 
Nächtliches  Aufstehen  und  Vor-sich-hin-reden  sei  schon  zu  Hanse 
Yorgekommen,  und  auch  die  Meisterin  habe  von  seinem  lauten  Reden 
bei  Nacht  erzählt,  ohne  daß  er  davon  gewußt  hatte. 

Schon  durch  einige  Zeit  vor  der  inkriminierten  Handlung  habe 
er  trübe  Gedanken  gehabt,  wenn  er  nachts  nicht  schlafen  konnte. 
Zwei  Tage  vorher  litt  er  an  Kopfschmerzen  und  Schwindel,  am  18. 
sei  dies  besser  gewesen,  doch  sei  er  an  diesem  Tage  im  Gfemüte  be- 
sonders niedergeschlagen  gewesen,  ohne  zu  wissen,  was  ihm  fehlte. 
Es  sei  auch  mit  der  Arbeit  wenig  vorwärts  gegangen,  worüber  ihm 
der  Meister  auch  Vorwürfe  machte.  Nach  dem  Abendessen  habe 
sich  sein  Kopfschmerz  nach  einem  Gang  ins  Freie  etwas  gebessert 
Ohne  Erregung  gegen  den  Meister  habe  er  sich  um  halb  9  Uhr  vou 
diesem  verabschiedet  und  sei  dann  in  seine  Schlafkammer  in  den 
2.  Stock  hinaufgegangen.  Er  kann  keinen  Aufschluß  darüber  geben, 
ob  er  sich  ins  Bett  legte  oder  ob  er  auf  dem  Bette  saß.  Die  Erin- 
nerung ist  für  die  Zeit  seines  Aufenthaltes  im  Zimmer  überhaupt 
eine  lückenhafte.  Er  führt  die  „finsteren  Gedanken'^  ähnlich  wie  im 
Verhöre  aus,  weiß  nicht,  ob  er  dazwischen  schlief.  Doch  erinnert  er 
sich,  es  sei  ihm  vorgekommen,  als  müsse  er  fort,  als  müsse  er  hin- 
untergehen und  etwas  tun.  Wie  das  gekommen,  weiß  er  nicht  Er 
erinnert  sich  an  die  Stiege,  an  den  Mondschein  am  Fenster,  doch 
weiß  er  nicht,  wie  er  vom  Bett  zur  Stiege  kam,  auch  nicht,  daß  ihm 
einfiel,  nachzudenken,  warum  er  hinuntergehe.  In  der  Werkstätte  sei 
er  eine  Weile  auf  einem  Stuhle  gesessen,  »weil  er  sich  nicht  recht 
auskannte^.  Da  sei  ihm  eingefallen,  daß  er  fortspringen  solle,  dann 
wieder,  daß  es  ihm  nichts  nützen  würde,  weil  er  keine  Kleider  an- 
ziehen könne,  ohne  daß  die  Meistersleute  es  merkten.  Er  könne  aber 
so  nicht  fort  ohne  Werkzeug,  Geld,  Arbeitsbuch.  Dann  sei  ihm  so 
eingefallen^  daß  er  den  Meister  umbringen  solle,  damit  er  fortkomme. 
Er  könne  nicht  sagen,  ob  er  habe  beide  umbringen  wollen.  Nun 
habe  er  schnell  das  Messer  genommen;  niemals  habe  er  früher  an 
dieses  gedacht  gehabt  Er  sei  nun  gleich  ins  Zimmer,  auf  die  Bank 
neben  dem  Bette,  habe  licht  machen  wollen,  aber  gezögert  und  ge- 
dacht, daß  er  zurückgehen  müsse.  Da  habe  die  Meisterin  Licht  ge- 
macht, und  nun  habe  er  schnell  den  Meister  angepackt,  weil  er  sich 
entdeckt  sah.  Er  hält  daran  fest,  daß  er  bei  Licht  dem  Meister  die 
Verletzungen  beigebracht  habe.  Die  Meisterin  habe  gefragt:  „Hansl, 
was  machst  Du?'^  Daß  er  selbst  antwortete,  weiß  er  nicht  Nach 
der  Flucht  ins  Freie  sei  ihm  alles  wie  ein  Traum  erschienen,  dann 
aber  kam  ihm  seine  Tat  schrecklich  vor.    Sie  erscheint  ihm  bei  wie- 

5* 


68  V.  Huber 

derholter,  eingehender  Erorternng  unverständlich,  er  glaubt  nicht,  daß 
er  bei  klarem  Verstände  so  etwas  habe  begehen  können.  Er  sieht 
ein,  daß  er  Strafe  verdiene. 

Nach  diesem  Befunde  findet  das  Gutachten  in  D.  eine  Reihe  von 
Zügen,  die  als  Ausdruck  einer  krankhaften  Artung  des  Nervensystems 
zu  bezeichnen  sind.  Hieher  gehören  die  leichten  Sprechstomngen, 
die  fluxionäre  Bötung  der  Gesichtshaut,  das  lange  fortdauernde  Bett- 
nässen, das  nächtliche  Aufreden,  schlechter  Schlaf,  Müdigkeitsgefühl 
beim  Erwachen,  abnorme  Empfindungen  im  Kopfe,  zeitweise  heftige 
Kopfschmerzen  mit  Brechneigung  und  namentlich  die  Schwindelan* 
fälle,  femer  die  gedrückte  Stimmung  und  Freudlosigkeit,  überhaupt 
sein  kopfhängerisches,  stilles  Wesen.  Hand  in  Hand  mit  diesen 
krankhaften  Erscheinungen  des  Nervensystems  gehe  eine  Reihe  von 
auffallenden  Veränderungen  auf  körperlichem  Gebiete,  mangelhafte 
Entwicklung  des  Geschlechtsapparates  und  der  sekundären  Geschlechts- 
charaktere^  Wachstumsstörungen  am  Knochen  (Schiefköpfigkeit,  Ver- 
bildung  des  Brustkorbes).  Zusammengehalten  mit  diesen  körperlichen 
Veränderungen  seien  die  von  seite  des  Nervensystems  bestehenden 
Störungen  als  konstitutionelle,  angeborene  aufzufassen,  wahrscheinlich 
begründet  in  einer  von  der  Mutterseite  ererbten  krankhaften  Anlage. 

Besondere  Beachtung  beanspruchten  unter  diesen  Symptomen  die 
zeitweise  auftretenden  Schwindelanfälle  mit  Gesichtsfeldverdunkelung 
in  der  Dauer  von  einigen  Minuten  und  das  Vorkommen  von  nächt- 
lichen Zungenbissen.  „Diese  an  sich  vollkommen  glaubwürdigen  und 
von  D.  immer  gleichartig  geschilderten  Erscheinungen  tragen  das  Ge- 
präge von  epileptischen  Zufällen  an  sich.  Erfahrungsgemäß  verber- 
gen sich  nicht  selten  hinter  solchen  gelegentlichen  wiederholten  nachts 
liehen  Zungenbissen  nächtliche  epileptische  Anfälle,  die  als  solche 
nicht  zum  Bewußtsein  kommen,  sowie  andererseits  die  von  D.  ge- 
gebene Darstellung  der  Schwindelanfälle  mit  dem  Ablaufe  abortiver 
epileptischer  Anfälle,  des  sogenannten  epileptischen  Schwindels,  über- 
einstimmt^ Eine  solche  Krankheitsveranlagung  sei  auch  bei  D.  an- 
zunehmen und  aus  dieser  heraus  könne  die  inkriminierte  Tat  als  eine 
triebartige,  impulsive,  aus  einem  Zustand  krankhaft  veränderten  Be- 
wußtseins hervorgegangene  ungezwungen  gedeutet  werden.  Für  einen 
solchen  Zustand  spreche  die  unklare,  verwaschene  Erinnerung  des  D. 
für  die  Zeit  des  Aufenthaltes  in  der  Schlafkammer,  das  Fehlen  der 
Erinnerung  für  einzelne  Phasen  des  kritischen  Vorfalles  und  die  teil- 
weise den  Zeugenaussagen  widersprechenden  Angaben  über  das 
Hineinlangen  in  das  Bett  der  Meistersleute,  sowie  über  den  Zeitpunkt 
der  Erhellung  des  Raumes. 


Versuchter  Meuchelmord  eines  Epileptikers.  69 

Das  Triebartige  der  Handlang  komme  zum  Ansdmcke  in  dem 
plötzlichen  Aoftaachen  der  Vorstellung  bei  D.,  er  müsse  fort,  er 
müsse  hinantergeben  und  etwas  tun,  welcber  Impuls  zunächst  ohne 
Zielvorstellung  auftrat,  woran  sich  in  ganz  unklarer  Verknüpfung  der 
Gedanken  des  Nichtfortkonnens,  weil  die  Meistersleute  es  hören 
würden,  die  Vorstellung  der  Notwendigkeit  des  Überfalles,  um  ent- 
fliehen zu  können,  anschloß.  Wie  auch  sonst  wohl  in  ähnlichen 
IMen  erscheine  die  im  Zustande  getrübten  Bewußtseins  auftauchende 
und  das  Handeln  D.s  bestimmende  Vorstellung  nicht  ohne  Beziehung 
zu  seinem  sonstigen  Bewußtseinsinhalt,  indem  seine  sonstige  Unzu- 
friedenheit mit  manchen  Härten  des  Dienstes,  seine  Sehnsucht,  nach 
Hause  zu  kehren  —  Dinge,  die  ihn  auch  bei  Tage  beschäftigten  — , 
sich  in  dem  Drange  fortzulaufen  spiegeln.  Dennoch  werde  die 
njichtliche  Handlung  beim  Erwachen  am  nächsten  Morgen  in  charak- 
teristischer Weise  als  etwas  Fremdartiges  empfunden,  an  dessen  Wirk- 
lichkeit D.  zunächst  nicht  glauben  will. 

Daß  die  Angaben  D.'s  vor  Gericht  in  teilweisem  Widerspruch 
mit  diesem  Befunde  stehen,  erklären  die  Psychiater  zum  Teil  darausi 
daß  D.  sich  selbst  das  Zustandekommen  der  ihm  eigentlich  unver- 
ständlichen Handlung  in  ftlr  ihn  plausibler  Weise  zurechtzulegen 
sucht    Das  Gutachten  spricht  schließlich  aus: 

Johann  D.  leidet  an  Epilepsie.  Die  Handlung  vom  18.  August 
1904  ist  ein  Ausfluß  eines  durch  epileptische  Veranlagung  bedingten 
krankhaften  Bewußtseinszustandes.  D.  hat  also  die  Handlung  in 
einem  Zustande  abwechselnder  Sinnenverrückung  zu  der  Zeit,  da  die 
Verrückung  dauerte,  begangen  (§  2  österr.  Str.G.). 

Demnach  wurde  das  Strafverfahren  nach  §  109  Str.PO.  einge- 
stellt und  D.  der  Landesirrenanstalt  überstellt,  jedoch  im  Januar  1907 
gegen  Bevers  seinem  Bruder  in  Pflege  übergeben. 


VI. 
Die  Rache  einer  Stiefmutter. 

MitgeteUt  yon 

Dr.  Biohard  Bauer,  k.  k.  StaatsanwaltBBubstitut  in  Troppau. 


Der  Fabrikarbeiter  GoBtay  S.  aus  E.,  einem  Dorfe  im  Gebilde 
Westseblesiens,  hatte  vor  ungefähr  3  Jahren  in  zweiter  Ehe  die  im 
Jahre  1875  geborene  Anna  S.  geheiratet  nnd  brachte  in  diese  Ehe 
seine  Kinder,  die  16jährige  Hermine,  die  15jährige  Marie  nnd  den 
13  jährigen  Gustav  mit.  Anna  S.  vertrug  sich  aber  mit  ihren  Stief- 
kindern und  auch  mit  ihrem  Manne  nicht  und  verließ  denselben 
mehrere  Male,  um  schlieBlich  wieder  zu  demselben  zurückzukehren. 

Im  Mai  1906  behauptete  Anna  &^  daß  ihr  aus  versperrtem  Koffer 
50  Kr.  entwendet  wurden  und  beschuldigte  dieses  Diebstahls  ihre 
beiden  Stieftöchter  bei  der  Gendarmerie,  welche  aber  keinerlei  Ver- 
dachtsgrfinde  gegen  dieselben  finden  konnte,  so  daß  es  schon  damals 
den  Anschein  hatte,  als  ob  Anna  S.  diesen  Diebstahl  nur  zu  dem 
Zwecke  fingiert  hätte,  um  den  Gustav  S.  mit  seinen  Töchtern  zu 
entzweien. 

Letzterer  war  über  das  Vorgehen  seiner  Frau  so  empört,  daß  er 
dieselbe  aus  dem  Hause  jagte,  worauf  sie  zu  ihrem  Bruder  in  den 
ungefähr  2  Stunden  entfernten  Ort  £.  zog. 

Schon  Ende  Juni  1906  fand  die  Marie  K.,  die  Hausfrau  des 
Gustav  S.,  die  Anna  S.  eines  Morgens  hinter  Holzbündeln  in  der 
Scheune  versteckt,  woselbst  sie  die  ganze  Nacht  zugebracht  hatte, 
ohne  hierfür  einen  glaubwürdigen  Erklärungsgrund  vorbringen  zu 
können. 

Im  August  1906  übersiedelte  Gustav  S.  mit  seiner  Familie  in 
ein  im  selben  Orte  gelegenes,  ihm  gehöriges  kleines  Häuschen. 
Dasselbe  war  mit  Ausnahme  einer  Mittelmauer  ganz  aus  Holz  her- 
gestellt, hatte  ein  Schindeldach  und  bestand  aus  einem  einzigen 
Zimmer. 

Dieser  Wohnraum  war  4,1  m  breit,  5  m  tief  und  2V2  hoch  und 
wurde  von  3  kleinen  Fenstern  beleuchtet.  —  Während  Gustav  S.  mit 


Die  Bache  einer  Stiefmutter.  71 

seinem  Sohn  in  einem  Bette  schlief,  benutzten  die  beiden  Mädchen 
gemeinsam  ein  gegenüberliegendes  Bett. 

Am  Sonntag,  den  23.  September  1906,  kam  Gustav  &^  der  mit 
einer  seiner  Töchter  bei  einer  Unterhaltung  gewesen  war,  erst  gegen 
11  Uhr  nachts  nach  Hause,  während  die  andere  Tochter  und  der 
Sohn  des  Abends  das  Zimmer  überhaupt  nicht  verlassen  hatten. 
Gegen  3  Uhr  morgens  erwachte  Gustav  S.  plötzlich  und  sah  vor  dem 
gegenüber  befindUchen  Bette,  in  welchem  seine  beiden  Töchter 
schliefen,  eine  Flamme  hoch  emporlodern,  während  er  zugleich  eine 
Person  mit  bloBen  Füßen  aus  dem  Zimmer  laufen  hörte. 

Dem  Gustav  S.,  der  rasch  aus  dem  Bette  sprang,  gelang  es  mit 
Aufbietung  aller  seiner  Kräfte,  einen  vor  und  unter  dem  Bette  seiner 
Töchter  liegenden  und  zu  brennen  anfangenden  Strohhaufen  ansein- 
anderzureißen  und  so  das  Feuer  zu  löschen.  —  Am  nächsten  Morgen 
fand  man,  daß  der  Eaum  unter  dem  Bette  der  beiden  Mädchen  ganz 
mit  Stroh  ausgefüllt  war,  und  daß  bereits  ein  Teil  des  hölzernen 
Fußbodens  zu  brennen  angefangen  hatte.  —  Im  Bette  der  Mädchen 
lag  unten  über  mehreren  quer  gelegten  Brettern  Stroh,  über  welches 
erst  ein  Strohsack  gebreitet  war. 

Wäre  Gustav  S.  nur  einige  Minuten  später  erwacht,  so  hätten 
die  Flammen  bereits  das  Stroh  des  Bettes  erfaßt,  und  die  beiden  fest- 
schlafenden Mädchen  wären  rettungslos  dem  Feuer-  oder  Erstickungs- 
tode preisgegeben  gewesen.  —  Ebenso  gewiß  ist  auch,  daß  das  alte 
hölzerne  Häuschen,  das  eigentlich  nur  aus  Brennmaterial  bestand, 
binnen  kurzem  dem  verheerenden  Elemente  zum  Opfer  gefallen  wäre, 
wobei  es  noch  sehr  fraglich  bleibt,  ob  sich  Gustav  S.  mit  seinem 
Sohne  aus  dem  Bauch  und  Qualm  hätte  retten  können. 

Der  Verdacht  des  Gustav  S.,  daß  nur  in  seiner  Ehegattin  die 
Urheberin  dieser  teuflischen  Tat  zu  suchen  sei,  rechtfertigte  sich  tat- 
sächlich. Anna  S.  wurde  dem  Gerichte  eingeliefert  und  gab  an,  daß 
sie  sich  des  Abends,  vom  Begen  überrascht,  in  das  Haus  ihre^s  Ehe- 
gatten geflüchtet  und  daselbst  unter  der  Bodenstiege  versteckt  habe. 
Gegen  3  Uhr  morgens  sei  sie  von  einem  plötzlichen  Zorne  erfaßt 
worden,  sei  nun  in  das  Zimmer  geschlichen  und  habe  Stroh,  das  sie 
im  Vorhause  gefunden,  unter  das  Bett  ihrer  Stieftöchter  gesteckt  und 
dasselbe  angezündet,  damit,  „wenn  sie  nichts  habe,  ihr  Mann  auch 
nichts  haben  solle^. 

Allein  das  Beweisverfahren  ergab,  daß  Anna  S.  nicht  in  einem 
plötzlichen  Anfalle  von  Haß,  sondern  nach  einem  wohlüberlegten 
Plane  gehandelt  hatte.  —  So  wurde  ihr  z.  B.  nachgewiesen,  daß  sie 
erst  um  halb  7  Uhr  abends  aus  ihrem,  von  K.  ungefähr  2  Stunden 


72  VL  Bauer 

entfernten  Wohnorte  E.  aofgebrochen  war^  so  daß  sie  damit  rechnen 
maßte,  in  E.  za  übernachten,  und  weiter,  daß  sie  das  Stroh  nicht 
etwa  aus  dem  Vorhause,  wo  sich  überhaupt  keines  befand,  genommen, 
sondern  aus  einem  ziemlich  weit  entfernt  Scheuer  bereits  mitgebracht 
hatte. 

Die  Handlungsweise  der  Anna  S.,  welche  aus  ihrem  Hasse 
gegen  Mann  und  Stieftöchter  gar  kein  Hehl  machte  und  die  Be- 
schuldigung wegen  der  angeblich  gestohlenen  50  Er.  fortwährend 
aufrecht  erhielt,  deutet  wohl  in  erster  Linie  darauf  hin,  daß  sie  es 
auf  das  Leben  ihrer  Stieftöchter  abgesehen  hatte,  da  sie  eine  Brand- 
legung ohne  weitere  Nebenabsicht  in  viel  einfacherer  Weise  durch 
Anzünden  von  Stroh  unter  der  hölzernen  Bodenstiege  hätte  ausführen 
können.  —  Jedenfalls  war  ihr  Plan  sehr  schlau  erdacht,  da  man  bei 
Umkommen  der  Bewohner  des  Häuschens  kaum  an  eine  Brand- 
legung, viel  eher  an  eine  Unvorsichtigkeit  der  spät  abends  nach  Hause 
gekommenen  Verunglückten  gedacht  hätte. 

Bei  der  am  18.  Januar  1907  beim  Landesgerichte  Troppau  ab- 
gehaltenen Schwurgerichtsyerhandiung  beantworteten  die  Geschwo- 
renen die  erste  Hauptfrage,  lautend  auf  das  Verbrechen  des  ver- 
suchten Meuchelmordes,  mit  4  Stimmen  ja,  8  Stimmen  nein,  die  zweite 
Hauptfrage,  lautend  auf  das  Verbrechen  der  Brandlegung,  mit 
12  Stimmen  ja. 

Anna  S.  wurde  zu  4  Jahren  schweren  Eerkers  verurteilt 


VII. 

Ans  der  k.  k.  psychiatrischen  Klinik  des  Herrn  Professor  A.  Pick 

in  Prag. 

Saggestibilit&t  im  postepileptischen  Zustande. 

Von 
Dr.  Alexander  Margnli^s,  I.  AssiBtent  der  Klinik. 


Das  Stndinm  der  Zustände  nach  epileptischen  Krampfanfällen 
hat  sich  bisher  in  vielen  Beziehungen  als  erfolgreich  und  nutzbringend 
erwiesen.  Vornehmlich  haben  die  dabei  zu  Tage  tretenden  Herder- 
scheinungen, ganz  besonders  im  Gebiete  der  Aphasie  und  Apraxie, 
das  Interesse  der  Beobachter  erregt,  aber  auch  der  allgemeine  Be- 
wußtseinszustand,  die  eigentlichen  psychischen  Symptome  halte  ich 
einer  genaueren  Analyse  wert  Schon  im  allgemeinen  klinischen 
Interesse  erscheint  eine  eingehende  Betrachtung  jener  Periode  not- 
wendig, wo  sich  nach  dem  eigentlichen  Sopor  unter  allmählicher 
Klärung  ein  Bewußtseinszustand  entwickelt,  in  dem,  bei  oft  weitgehen- 
der Orientierung  und  Besonnenheit,  Störungen,  die  vorwiegend  die 
Stimmungslage  des  Kranken  betreffen,  gefunden  werden.  Wir  sehen 
dabei,  ganz  allgemein  betrachtet,  daß  die  Individuen  neben  einer  ge- 
wissen schläfrigen  Müdigkeit,  einem  wechselnden  Grade  von  Schwer- 
besinnlichkeit, einer  mehr  oder  weniger  hochgradigen  Einengung  des 
Vorstellungskreises,  vor  Allem  eine  auffallende  Gereiztheit  und  eine 
eigentümliche  morose  Verstimmung  zeigen. 

Eine  genauere  Darlegung  der  einzelnen  dabei  beobachteten  Symp- 
tome ist  ganz  besonders  im  Hinblick  auf  die  Auffassung  der  Lehre 
Kraepelin's,  der  in  der  periodischen  Verstimmung  ein  hervorragend 
wichtiges,  diagnostisches  Kriterium  sieht,  gerechtfertigt,  da  wir  so  nicht 
nur  einen  Einblick  in  das  klinische  Bild  der  Störung  selbst  gewinnen, 
sondern  zugleich  auch  die  feineren  Merkmale  zur  Abgrenzung  von 
ähnlichen,  periodisch  auftretenden  Störungen  beobachten  können. 

Meine  heutigen  Untersuchungen  sollen  nun  ganz  besonders  einem 
Symptome  gelten,  das  wir  wiederholt  im  postepileptischen  Zustande 


76  VIL  Mabguli^ 

M.  stand  vom  24./VIII.  bis  27./IX.  1901  in  Beobachtong  der 
psychiatrischen  Klinik  des  Herrn  Prof.  A.  Pick  in  Prag.  Ich  erwähne 
zunächst  ans  der  Anamnese  des  Vaters,  daß  von  9  Geschwistern  des 
Observanten  6,  darunter  eins  an  Fraisen  gestorben  sind.  Ein  Bruder 
befindet  sich  mit  progressiver  Paralyse  in  einer  Irrenanstalt.  Die 
ersten  Eiämpfe  traten  bei  M.  im  6.  Monate  auf  und  wiederholten 
sich  immer  seltener  werdend  bis  zum  3.  Lebensjahre.  Mit  13  Jahren 
trat  neuerdings  ein  Anfall  von  Bewußtlosigkeit  zunächst  ohne  und 
am  nächsten  Tage  mit  Krämpfen  auf  und  diese  Anfälle  bestehen  in 
verschiedener  Intensität  und  Häufigkeit  bis  zum  heutigen  Tage  fort 
M.  ist  seit  6  Jahren  verheiratet  und  hat  3  Kinder,  von  denen  eins 
schwachsinnig  ist  Seit  2—3  Jahren  fühlt  Patient  angeblich  das 
Herannahen  eines  Krampfes  durch  ein  Kriebeln  im  linken  Daumen 
und  hat  auch  beobachtet^  daß  er  häufig  im  Stande  ist,  durch  festes 
Drücken  dieses  Daumens  den  Anfall  hintanzuhalten  oder  abzu- 
schwächen. Tritt  der  Anfall  dennoch  ein,  so  ist  Patient  gewöhnlich 
eine  halbe  Stunde  bewußüos  und  dann  kehrt  erst  nach  einigen 
Stunden  allmählich  das  Bewußtsein  wieder.  Wiederholt  hat  der  Vater 
beobachtet,  daß  während  dieser  allmählichen  Wiederkehr  des  Bewußt- 
seins M.  ganz  sinnlos  in  Büchern  herumblättert  oder  unzusammen- 
hängende Worte  oder  Ziffern  aufschreibe.  Zur  Zeit  als  er  den  Droh- 
brief schrieb,  habe  er  besonders  häufig  Anfälle  gehabt 

Bei  den  klinischen  Untersuchungen  gibt  Pat  die  Tatumstände 
in  der  gleichen  Weise  an,  wie  bei  seiner  Verantwortung  vor  dem 
Richter  und  erklärt  über  seine  Anfälle  befragt,  daß  diese  immer  mit 
einer  Ängstlichkeit,  einem  eigentümlichen  Herzklopfen  und  Zucken 
in  der  linken  Hand  beginnen,  dabei  sei  die  Zunge  ganz  wie  in  Milch 
gebadet;  hierauf  habe  er  ein  Gefühl,  als  ob  der  linke  Daumen  über- 
streckt würde;  in  einem  solchen  Zustande  habe  er  einmal,  wie  er 
nachträglich  erfuhr,  den  Vater  geschlagen;  er  sei  in  diesem  Zeitpunkte 
noch  nicht  ganz  bewußtlos,  er  könne  nur  nicht  sprechen  und  habe 
das  Gefühl,  als  ob  es  in  seinem  Kopfe  arbeiten  würde,  dann  trete 
volle  Bewußtlosigkeit  ein.  Nach  dem  Anfalle  gehe  er  herum,  sei 
aber  schon  manchmal  umgefallen;  er  habe  heftigen  Kopfschmerz, 
fühle  sich  verschlafen,  finde  aber  keinen  Schlaf.  Durch  die  ge- 
häuften Anfälle  der  letzten  Zeit  habe  sich  seine  Aufregung  sehr 
gesteigert 

Während  seines  Aufenthaltes  werden  wiederholt  Anfälle  be- 
obachtet, die  alle  ungefähr  folgendermaßen  verlaufen:  Die  Anfälle 
setzen  mit  einem  Oppressionsgefühl  und  leichter  Benommenheit  ein, 
dann  folgen  zunächst  Zuckungen  im  linken  Daumen,  die  rasch  auf 


Suggestibilität  im  postepileptischen  Zustande.  77 

den  linken  Arm  übergehen  nnd  gewöhnlich  nach  maximaler  Streckung 
des  linken  Daumens  sistieren.  Nach  dem  Anfalle  ist  Patient  deut- 
lich verstimmt  und  stumpf,  so  daß  unmittelbar  oder  kurze  Zeit  nach* 
her,  ein  Gespräch  mit  ihm  nicht  durchzuführen  ist 

Bezüglich  der  intellektualen  und  moralischen  Vorstellungen  des 
M.  ist  zu  bemerken,  daß  er  einen  Bildungsgrad  besitzt,  der  etwa  dem 
Wissen  entspricht,  das  durch  den  Besuch  einer  Volksschule  von  einem 
mäßig  begabten  Menschen  erworben  wird.  Er  übersetzt  die  Bedeutung 
des  Wortes  ^respektive"  mit  „wiederholt",  schreibt  „direkt"  mit  „ie" 
und  ähnl.  Nach  längerem  Zögern  gibt  er  zu,  sich  am  politischen 
Leben  beteiligt  und  auch  einer  bestimmten  Partei  angehört  zu  haben, 
kennt  aber  die  Bedeutung  und  die  Ziele  der  einzelnen  Parteien  nicht 
Als  ihm  die  traurigen  Folgen  seiner  Tat  vorgehalten  werden,  zeigt 
er  aufrichtige  Beue  und  erklärt,  es  tue  ihm  leid,  daß  sich  Dr.  H.  das 
Leben  genommen  habe. 

Aus  dem  körperlichen  Status  sei  bezüglich  nervöser  Symptome 
erwähnt:  Eine  geringe  Innervationsdifferenz  des  Facialis  zu  Ungunsten 
der  linken  Seite,  Konjunktival-,  Gorneal-  und  Scleralreflexe  fehlen, 
Würgreflexe  lebhaft  Mäßiger  Tremor  der  Zunge  und  der  ausge- 
streckten Finger;  das  Eniephaenomen  sehr  lebhaft  mit  kräftigem 
ünterschenkelausschlag,  die  übrigen  Sehnenreflexe  sehr  lebhaft.  Außer- 
dem finden  sich  am  ganzen  Körper  ausgedehnte  Hautnarben  und 
teilweise  auch  Substanzverluste  im  Knochen  als  Ausdruck  einer  alten 
Osteomyelitis. 

Bis  zum  Schlüsse  seines  Aufenthaltes  erzählt  M.  seine  Tat  immer 
in  der  gleichen  Weise,  nur  fällt  dabei  auf,  daß  er  ein  eigentümlich 
gedrücktes,  scheues,  zurückhaltendes  Wesen  zeigt,  als  ob  er  noch 
etwas  am  Herzen  hätte.  Vorher  war  schon  der  Verdacht  rege,  daß 
es  mit  dem  Briefe  eine  eigene  Bewandnis  haben  müsse,  weil  M.  ein- 
zelne Wörter  in  jenem  nicht  verstand  und  auch  die  Form  der  späteren 
Schriftprobe  nicht  ganz  mit  der  des  Briefes  übereinstimmte.  Am 
26JIV.  läßt  er  einen  Assistenten  rufen  und  gibt  ihm  nach  Zuspruch 
Folgendes  an;  er  sei  durch  Ehrenwort  verhindert,  die  volle  Wahrheit 
einzugestehen;  jetzt  aber  habe  er  sich  doch  entschlossen,  zu  sagen, 
daß  ihm  der  Brief  diktiert  wurde.  Er  sei  von  einem  Herrn,  dessen 
Namen  er  nicht  nennt,  dem  er  Geld  schuldig  war  und  der  eine  poli- 
tische Bolle  in  seinem  Heimatsorte  spielte,  eines  Tages  aufgefordert 
worden,  einen  Drohbrief  an  Dr.  H.  zu  schreiben,  habe  dies  aber  ab- 
gelehnt Einige  Tage  später  sei  er  wieder  zu  den  Betreffenden  ge- 
rufen worden ;  er  habe  gerade  unmittelbar  vorher  einen  Anfall  gehabt, 
30  daß  er  noch,  wie  er  es  immer  nach  den  Anfällen  tue,  mit  einem 


78  VIL  Mabouli^ 

nassen  Tuch  nm  die  Brust  gewickelt  hingeeilt  sei.  Als  er  hinkam, 
sei  er  noch  so  aufgeregt,  zerstreut  und  wiUensschwach  gewesen,  daß 
er  nicht  wußte,  was  mit  ihm  vorgehe  und  er  habe  nun  demselben 
Ansinnen  ganz  willenlos  nachgegeben  und  sich  den  Brief  diktieren 
lassen.  Er  sei  noch  so  verwirrt  gewesen,  daß  er  später,  als  die 
Sache  herauskam,  nur  ungefähr  wußte,  daß  er  einen  Brief  an  den 
Dr.  H.  geschrieben  und  daß  darin  Anspielungen  auf  die  Gerächte, 
die  damals  im  Orte  herumgingen,  waren* 

Bei  der,  nach  erfolgter  Mitteilung  seitens  der  Klinik  weiter- 
geführten gerichtlichen  Untersuchung,  gibt  der,  als  intellektueller  U^ 
heber  des  Briefes,  ausgeforschte  Kaufmann  B.  nach  anfänglichem 
Leugnen  zu,  daß  er  M.  den  Brief  diktiert  habe.  Er  gestehe  auch, 
daß  dieser  damals  eben  einen  Anfall  überstanden  hatte,  und  alles 
unter  seinem  Einflüsse  niedergeschrieben  habe;  des  Inhaltes  aber 
müsse  sich  M.  bewußt  gewesen  sein,  da  er  einmal  aufstand  und  eine 
Stelle  nicht  schreiben  wollte,  dann  sich  aber  doch  dazu  hergab,  als 
er  ihm  sagte,  daß  seine  Handschrift  weniger  bekannt  sei. 

Einen  Monat  später  widerruft  allerdings  B.  diese  seine  Aussage 
und  gibt  an,  daß  er  von  dem  Vormunde  eines  Friseurgehilfen,  an 
dem  Dr.  H.  conträrsexuale  Handlungen  begangen  haben  soll,  das 
Konzept  eines  Briefes  erhalten  habe,  das  er  nicht  selbst  abschreiben 
wollte,  und  deshalb  dem^M.  übergeben  habe.  Dieses  Konzept  decke 
sich  übrigens  nicht  mit  dem  Inhalte  des  wirklich  abgeschickten 
Briefes.  B.  fügt  noch  hinzu,  er  habe  die  früheren  Angaben  nur  in 
der  durch  die  Untersuchungshaft  bedingten  Aufregung  gemacht.  Bei 
der  Haupt  Verhandlung  verantwortet  er  sich  in  der  gleichen  Weise 
und  wird  auch  im  Sinne  dieser  Verantwortung  freigesprochen. 

Am  10.  und  11.  Dezember  1902  wird  M.  in  Fortsetzung  des 
gegen  ihn  weitergeführten  Verfahrens  neuerlich  auf  der  Klinik  unter- 
sucht, er  macht  dabei  ungefähr  die  gleichen  Angaben,  wie  bei  seinem 
Geständnis  am  26./IX.  und  fügt  noch  ausdrücklich  bei,  daß  er  nur 
infolge  der  durch  den  vorangegangenen  Anfall  bedingten  Schwäche 
und  Benommenheit  dem  B.  nachgegeben  und  den  Brief  nach  dessen 
Diktat,  ohne  selbst  recht  zu  wissen,  was  ihm  diktiert  werde,  ge- 
schrieben habe. 

Das  vom  Herrn  Prof.  Pick  der  Fakultät  erstattete  Gutachten 
ging  zunächst  von  der  Feststellung  aus,  daß  die  Beurteilung  des 
Falles  wesentlich  dadurch  erschwert  erscheine,  daß  während  der 
Untersuchung  Umstände  zu  Tage  getreten  sind,  die  die  Tat  in  ver- 
ändertem Lichte  erscheinen  lassen  und  daß  die  einzelnen  Zeugen  teil- 
weise Gründe  haben,   die  Vorgänge  der  Handlung  zu  verschleiern, 


Soggeatibilitat  im  postepileptischen  Zustande.  79 

und  geht  dann  zu  der  weiteren  Feststellnng  ttber,  daß  M.  zweifellos 
an  Epilepsie  leidet  Diese  Erkrankung  ist  trotz  mancher  Anhalts« 
punkte,  die  dafür  sprechen  würden,  daß  es  sieh  um  symptomatische 
epileptische  Anfälle  bei  einem  Himleiden  bandeln  könnte,  doch  mit 
Bücksicht  auf  das  Qesammtbild  als  idiopathische  Epilepsie  aufzufassen, 
wobei  auch  ganz  besonders  hervorzuheben  sei,  daß  außer  der  in  der 
Klinik  beobachteten  postepileptischen  Verstimmung  und  Hemmung 
vom  behandelnden  Arzte  entsprechende  Erregungszustände  konstatiert 
wurden.  An  die  Feststellung  der  Epilepsie  knüpft  sich  nun  die 
weitere  Frage,  ob  M.  zur  Zeit  der  Begehung  der  Tat  unter  dem  Ein- 
flüsse einer  Geistesstörung  gestanden,  die  erfahrungsgemäß  bei  Epi- 
lepsie vorkomme.  Nun  lasse  sich  sowohl  ein  höherer  Grad  von 
Geistesschwäche,  als  Ausdruck  sogenannter  epileptischer  Degeneration, 
als  auch  das  Bestehen  eines  Dämmer-  oder  Traumzustandes  zur  Zeit 
der  Begehung  der  Tat,  entsprechend  den  anscheinend  ganz  zutreffen- 
den Ausführungen  der  ersten  Gutachter  ausschließen,  aber  damit  sei 
der  Kreis  der  Möglichkeit  einer  Beeinflussung  durch  die  Epilepsie 
noch  nicht  geschlossen,  insofern  das  eine  feststeht,  daß  eine  Einwirkung 
einer  zweiten  Person  auf  M.  stattgefunden  hat.  In  dieser  Beziehung 
ist  zunächst  zu  bemerken,  daß  M.,  als  er  den  Brief  schrieb  unter 
dem  Einflüsse  der  Nachwirkung  eines  Anfalls  stand  und  daß,  wie 
bekannt  dieser  Einfluß,  ganz  abgesehen  von  Bewußtseinstrübungen 
in  der  Form  von  Dämmerzuständen,  auch  darin  bestehen  könne,  daß 
infolge  der  geistigen  und  körperlichen  Erschöpfung  neben  einer  aus- 
gesprochenen gemütlichen  Verstimmung  ein  Zustand  sich  entwickelt, 
in  welchem  ganz  speziell  eine  Willensschwäche  sich  in  derBichtung 
kundgibt,  daß  das  Individuum  infolge  mangelnder  Gegenvorstellungen 
leichter  fremdem  Willen  Untertan  wird.  Und  dies  wird  umsomehr 
der  Fall  sein,  wenn  bei  demselben  die  Intelligenz  doch  in  etwas 
alteriert  ist  und  die  sitüichen  Vorstellungen  und  Gefühle  nicht  so 
fest  gegründet  sind  wie  bei  geistig  höher  Stehenden.  Diese  all- 
gemeine Darstellung  muß  nan  im  speziellen  Falle  auf  beide  Mög- 
lichkeiten geprüft  werden,  die  sich  sowohl  aus  der  Darstellung  der 
Sachlage  des  M.  als  der  durch  den  ihn  beeinflussenden  B.  ergeben. 
Die  Angaben  M's.  lassen  sich  ungezwungen  mit  der  allgemeinen  Dar- 
stellung in  Einklang  bringen  und  es  ist  leicht  verständlich,  daß  die 
ohnehin  mäßige  Intelligenz  M's.  durch  den  Anfall  in  ihrer  Urteils- 
fähigkeit zu  herabgesetzt  und  das  Verhältnis  zu  B.  als  Schuldner  zu 
mächtig  war,  um  in  dieser  Situation  den  früher  geleisteten  Wider- 
stand gegen  das  Ansinnen  aufrecht  zu  erhalten,  ganz  im  Sinne  der 
früher  erwähnten   erhöhten  Suggestibilität    Dem  widerspricht  auch 


80  VII.  Mabgüli^ 

nicht  der  von  B.  angeführte  Umstand,  daß  M.  während  des  Diktats 
einmal  nicht  weiter  schreiben  wollte,  sich  aber  doch  dazu  herbeiließ. 
Die  gleichen  Erwägungen  kommen  M.  aber  auch  zugute^  wenn  die 
Darstellung  des  B.,  daß  M.  einen  Brief,  der  in  veränderter  Form  das 
Konzept,  das  B.  ihm  übergeben,  enthielt,  an  Dr.  H.  geschickt  hat 
Es  liegt  im  Rahmen  der  Möglichkeit,  daß  M.  den  Brief  auf  Grund- 
lage des  Konzepts  aufgesetzt  hat,  ohne  sich  über  die  Tragweite  der 
ganzen  Handlung  irgendwie  klar  zu  sein,  ja  es  läßt  sich  nicht  aus- 
schließen, daß  er  das  Schreiben  auch  ohne  das  Konzept  verfaßt 
hätte,  einzig  unter  dem  suggestiven  Einfluß  der  vorangegangenen 
Unterredung  mit  B.  und  der  in  der  Stadt  über  Dr.  H.  kursierenden 
Gerüchte.  Allerdings  erscheint  es  wahrscheinlicher,  daß  M.  den 
Brief  unter  dem  Diktat  von  B.  geschrieben  hat,  wofür  die  unkorrekte 
Schrift  und  der  Gebrauch  von  Worten  spricht,  deren  Bedeutung  M. 
kaum  kennt 

Auf  Grund  der  vorstehenden  Darstellung  läßt  sich  nicht  aus- 
schließen, daß  M.  zur  Zeit  der  Begehung  der  Tat  sich  infolge  Nach- 
wirkung des  epileptischen  Anfalles  in  einem  Zustande  abnormer 
Geistestätigkeit  befunden  habe,  in  welchem  seine  freie  Willens- 
bestimmung soweit  herabgesetzt  war,  daß  er  unter  einem  unwider- 
stehlichen Zwange  im  Sinne  des  Gesetzes  gestanden  hat. 

Mit  Bücksicht  auf  den  Umstand,  daß  in  dem  soeben  skizzierten 
Gutachten  alle  für  die  Beurteilung  des  Geisteszustandes  des  M.  wesent- 
lichen Momente  hervorgehoben  sind,  habe  ich  nur  auf  einige  Punkte 
näher  einzugehen.  Zunächst  möchte  ich  noch  betonen,  daß  die  Art 
der  Entstehung  und  des  Verlaufs  des  ganzen  Anfalls,  ganz  besonders 
mit  Bücksicht  auch  auf  die  in  der  Klinik  beobachteten  psychischen 
Erscheinungen  der  morosen  Verstimmung  und  Hemmung,  die  Diagnose 
auf  idiopathische  Epilepsie  rechtfertigen^  trotzdem  die  Art  der  Aura 
und  die  Beschränkung  der  Krämpfe  manchmal  allein  auf  den  linken 
Arm  zunächst  den  Verdacht  auf  symptomatische  Epilepsie  hervor- 
rufen könnte.  Die  uns  im  vorliegenden  Falle  zunächt  interessierenden 
psychischen  Störungen  zeigen  durchaus  den  Charakter  der  auch  sonst 
bei  der  Epilepsie  bekannten  und  sprechen  jedenfalls  dafür,  daß  regel- 
mäßig bei  M.  eine  psychische,  allmählich  abklingende  Nachwirkung 
der  Anfälle  besteht.  Für  den  Nachweis  des  Bestehens  einer  ge- 
steigerten Suggestibilität  bot  die  klinische  Beobachtung  selbst  aller- 
dings keinen  direkten  Hinweis,  so  daß  ich  in  dieser  Frage  ent- 
sprechend den  Ausführungen  in  dem  Gutachten  mich  darauf  be- 
schränke, ihr  Bestehen  nur  nach  der  Aktenlage  anzunehmen  und  nicht 
weiter   gehen   kann,   als  eben  in  dem  Gutachten  ausgeführt  wurde. 


Saggestibilität  im  postepileptischen  Zustande.  81 

daß  die  Möglichkeit  nicht  ansgeschlossen  werden  könne,  daß  M.  zur 
Zeit  der  Begehung  der  Tat  eine  Willensschwäche  zeigte,  die  ihn 
fremdem  Einflüsse  zugänglicher  machte  als  g'ewöhnlich.  Nun  könnte 
allerdings  der  an  sich  nicht  ungerechtfertigte  Einwand  gemacht  wer- 
den, daß  sich  die  vorstehenden  Erwägungen,  ganz  abgesehen  von  der 
allgemeinen  Darstellung  im  vorliegenden  Falle,  auf  die  Aussagen 
eines  Angeklagten  stützen,  der  allen  Grund  hat,  seine  eigene  Schuld 
in  möglichst  mildem  Lichte  erscheinen  zu  lassen.  Zufällig  hatten  wir 
aber  gerade  in  der  letzten  Zeit  Gelegenheit,  bei  forensisch  nicht  kom- 
plizierten Fällen  den  Einfluß  gesteigerter  Suggestibilität  auf  das  Den- 
ken und  Fühlen  im  postepileptischen  Zustande  zu  verfolgen,  und  ganz 
besonders  konnten  wir  vor  kurzem  gerade  mit  Rücksicht  auf  den  Fall 
M.  bei  einem  Kranken,  der  auch  schon  vorher  Zeichen  gesteigerter 
Suggestibilität  geboten  hatte,  gewissermaßen  ein  Experiment  anstellen, 
das  die  Richtigkeit  der  aus  dem  Falle  M.  gezogenen  Schlüsse  bestä- 
tigte und  über  das  ich  nachstehend  im  Rahmen  eines  Auszuges  der 
Krankengeschichte  berichten  will. 

Am  31,  Dezember  1906  wurde  der  30jährige  Taglöhner  W.  K., 
aus  Groß-ÜUersdorf  bei  Mähr.-Schönberg  gebürtig,  zur  Klinik  aufge- 
nommen. Fat.  soll  seinen  eigenen  Angaben  zufolge  seit  5  Jahren  an 
Epilepsie  leiden.  Körperlich  zeigt  er  in  seiner  anfallsfreien  Zeit  von 
Seiten  des  Nervensystems  nur  sehr  gesteigertes  Kniephänomen,  rechts 
noch  mehr  als  links,  beiderseits  Patellarklonus ;  Bauchreflexe  links 
deutlicher  als  rechts.  Psychisch  zeigt  er  für  gewöhnlich,  d.  i.  außer- 
halb der  Anfälle,  ebenfalls  nur  wenig  auffallende  Symptome,  seine 
Intelligenz  ist  innerhalb  normaler  Grenzen  mäßig,  sein  Fühlen  erweist 
sich  nicht  irgendwie  stärker  alteriert,  nur  besteht  dauernd  ein  gewisser 
Grad  von  langsamen  Denken  und  Apathie.  Wiederholt  werden  an 
ihm  in  der  Klinik  epileptische  Krämpfe  beobachtet,  die  manchmal 
nur  die  rechte  Seite,  manchmal  den  ganzen  Körper  betreffen  und 
stets  von  voller  Bewußtlosigkeit  begleitet  sind.  Nach  den  Anfällen 
ist  immer  der  rechte  Arm  etwas  schwächer,  und  finden  sich  sehr  häufig 
Zangenbisse.  Regelmäßig  steht  Fat.  auch  durch  längere  Zeit  unter 
der  Nachwirkung  der  Anfälle  und  zeigt  dementsprechend  morose 
Stimmung  und  eine  das  bei  ihm  gewöhnliche  Maß  weit  überschrei- 
tende Denkhemmung;  sehr  oft  werden  auch  bei  ihm  delirante,  post- 
epileptische Zustände  beobachtet,  bei  denen  eine  ganz  besondere 
Suggestibilität  in  die  Erscheinung  tritt  und  über  die  ich  dann  des 
Weiteren  berichten  will. 

In  der  Nacht  zum  2.  April  d.  J.  hatte  Fat.  wiederum  einen  An- 
fall; am  Morgen  bei  der  klinischen  Visite  ist  er  verstimmt  und  ge- 

Arohiv  für  Kriminalanthropologie.   28.  B<L  6 


82  VII.  MARGULlis 

hemmt,  aber  zeitlich,  örtlich  und  Ober  seine  Persönlichkeit  orientiert. 
Er  wird  im  Lanfe  des  Gespräches  aufgefordert,  einen  Schuldschein 
auf  1000  fl.  auszustellen,  lehnt  es  aber  ab  mit  der  Begründung,  daß 
er  kein  Geld  habe,  und  bleibt  auch  bei  der  Ablehnung,  als  ihm  zu- 
geredet wird;  er  sagt:  „Ich  möchte  das  Geld  dann  nicht  haben  und 
Schulden  will  ich  mir  keine  machen.^  In  der  nächsten  Nacht  hat 
Fat  wieder  3  Anfälle;  am  nächsten  Morgen  klagt  er  über  heftige 
Kopfschmerzen,  ist  neuerlich  ausgesprochen  verstimmt  und  stumpf. 
Heute  aufgefordert,  einen  Schuldschein  auszustellen,  ergreift  er  ohne 
Widerstreben  einen  Bleistift  und  schreibt  nach  Diktat:  „Ich  ver- 
pflichte mich,  Ihnen  einen  Schuldschein  von  500  Kronen  zu  bezahlen", 
schreibt  dann  spontan  seinen  Namen  darunter  und  „Prag,  deutsche 
Klinik^,  und  endlich,  nach  wiederholter  Aufforderung,  das  richtige 
Datum:  „3.  April  1907''. 

Es  wird  ihm  dann  nochmals  ein  Schuldschein  vordiktiert,  auf 
5000  Kronen  und  zahlbar  binnen  einer  Woche  lautend,  den  er  eben- 
falls ohne  Widerspruch  nachschreibt.  Nach  dem  Diktat  weiß  er,  daß 
er  einen  Schuldschein  auf  5000  Kronen  ausgestellt  und  fängt  dann 
auch,  als  er  darauf  aufmerksam  gemacht  wird,  daß  er  binnen  einer 
Woche  die  Summe  werde  zahlen  müssen,  zu  klagen  an,  er  habe  kein 
Geld  und  werde  nicht  zahlen  können;  er  habe  nur  unterschrieben, 
weil  er  folgsam  sein  wollte  und  der  Professor  es  ihm  diktiert  habe, 
und  führt  weiter  zur  Entschuldigung  an,  er  habe  es  nicht  eigentlich 
geschrieben,  sondern  nur  die  Feder.  Am  nächsten  Tage,  wo  Pat. 
wesentlich  freier  ist,  fängt  er  selbst  wieder  von  dem  Schuldschein 
zu  reden  an  und  erklärt  wieder,  er  könne  nicht  zahlen,  er  habe  nur 
unterschrieben,  weil  er  dachte,  der  Professor  mache  einen  Spaß,  da 
er  doch  kein  Geld  habe  und  man  von  einem  Schaf  nichts  anderes 
bekommen  könne,  als  Wolle.  An  diesem  und  den  folgenden  Tagen 
lehnt  er  es  regelmäßig  energisch  ab,  einen  neuen  Schuldschein  aus- 
zustellen. 

Ich  habe  schon  erwähnt,  daß  sehr  häufig  bei  Pat.  delirante  post- 
epileptische Zustände  beobachtet  werden,  in  denen  die  Wirkungen 
gesteigerter  Suggestibilität  deutlich  zu  Tage  treten,  und  will  jetzt 
zunächst  als  Beispiel  derartige  Szenen  beschreiben,  die  sich  wenige 
Tage,  nachdem  er  den  Schuldschein  unterschrieben,  abgespielt  haben. 
Am  7.  IV.  07  ist  Pat  ebenfalls  nach  einem  Anfall  stumpf,  verstimmt, 
fast  gar  nicht  zum  Sprechen  zu  bewegen.  Plötzlich  fällt  sein  Blick 
auf  einen  blinden  Patienten,  er  geht  auf  ihn  zu,  legt  ihm  die  Hände 
auf  und  sagt:  „Ich  bin  Jesus,  Du  wirst  gesund  werden'';  als  man 
dann  wieder  mit  ihm  spricht,  behält  er  seine  stolze  pathetische  Hai- 


Snggestibilität  im  postepileptischen  Zustande.  83 

tung  bei  und  erklärt  auf  Befragen,  er  sei  Jesus,  er  wisse  das  seit 
heute^  es  sei  ihm  eingegeben  worden,  und  zwar  von  Gott.  Er  wie- 
derholt dann  ausdrücklich,  er  habe  es  nicht  gehört,  sondern  es  sei 
ihm  eingegeben  worden,  und  spricht  dann  unzusammenhängend  von 
seinen  Kindheitserlebnissen,  von  der  Taufe  und  der  Firmung.  Hierauf 
in  energischem  Tone  gefragt,  ob  er  Jesus  oder  der  E.  sei,  antwortet 
er  rasch:  „Der  E.'',  und  gibt  auf  weiteres  Befragen  an,  er  habe  sich 
nur  eingebildet,  Jesus  zu  sein,  weil  er  ein  schwaches  Gehirn  habe. 
Als  dann  im  nächsten  Augenblick  die  Frage  an  ihn  gerichtet  wird, 
ob  er  Jesus  sei,  bejaht  er  sie  wieder  und  verkennt  die  anwesenden 
Arzte  in  dem  Sinne,  den  Professor  als  Gott  Vater,  einen  Assistenten 
als  heil.  Joseph  u.  dergl.  Aufgefordert,  sich  ins  Bett  zu  legen,  wehrt 
er  sich  und  gibt,  über  den  Grund  befragt,  an,  er  gehöre  nicht  ins 
Bett,  er  könne  es  nicht  bezahlen.  Den  ganzen  Tag  über  ist  Fat.  in 
sichtlich  gehobener  Stimmung,  grimassiert  lebhaft  und  spricht  nur  in 
schreiendem  Tone ;  in  der  Nacht  steigert  sich  die  Erregung,  er  wirft 
sich  im  Bette  hin  und  her,  schlägt  mit  Eopf,  Händen  und  Füßen 
an  den  Bettrand,  springt  häufig  heraus,  macht  sich  etwas  zu  schaffen, 
behauptet,  in  Mähr.-Schönberg  in  einer  Wollfabrik  zu  sein,  schimpft 
häufig  auf  eine  Frau  Bichter,  schimpft,  daß  man  ihn  mit  Wasser  be- 
gossen habe,  daß  Wanzen  im  Bette  sind  und  weist  früh  das  Früh- 
stück zurück,  weil  er  sich  ekle,  bei  dem  „Sauluder,  der  Richtern^, 
etwas  zu  essen.  Am  Vormittag  ist  Fat  entschieden  etwas  freier, 
schwankt  aber  in  der  Auffassung  der  Umgebung,  weiß  nicht  ob  er 
in  Prag  oder  in  Mähr.-Schönberg  ist,  glaubt,  die  Frau  Richter  müsse 
auf  dem  Eorridor  sein;  er  wird  dahin  geführt,  blickt  sich  orientie- 
rend überall  um  und  sagt  plötzlich :  „Hier  sind  nur  Männer,  wir  sind 
in  Prag  in  der  Irrenanstalt",  und  nun  entwickelt  sich  das  nachfol- 
gende Zustandsbild.  Er  gibt  zunächst  über  Befragen  an,  er  sei  hier 
in  Prag,  er  habe  in  der  Nacht  nur  geglaubt,  daß  er  nach  Mähr.- 
Schönberg  in  seine  Heimat  fahre,  weil  er  immer  den  Zug  pfeifen 
hörte  (entspricht  den  Tatsachen),  er  sei  auch  nicht  hier,  sondern  in 
seiner  Heimat  in  Weikersdorf  bei  Schönberg  von  Wanzen  gebissea 
und  mit  Wasser  begossen  worden.  Nun  weiter  gefragt,  wo  er  also 
sei,  springt  er  auf  und  sagt,  doch  in  Weikersdorf  in  der  Wollfabrik, 
oder  Papierfabrik ;  der  Professor  ist  der  Professor  von  der  Wollfabrik, 
vom  Verein,  der  ein  Erankenhaus  in  Weikersdorf  hat.  Auf  die 
Frage:  ist  hier  eine  Fabrik  oder  ein  Erankenhaus?  entgegnet  er: 
ein  Erankenhaus,  ich  habe  nur  geglaubt,  daß  hier  eine  Wollfabrik 
ist,  weil  sie  hier  so  viel  mit  Wolle  oder  Baumwolle,  mit  der  Watte 
hantiert  haben   (es  wurden  tatsächlich  früh  mehrere  Verbände  ange- 

6* 


84  VII.  Maroüli^s 

legt).  Wieder  gefragt,  wo  er  sei?  Hier  ist  das  Vereinshaus,  der  mit- 
schreibende Arzt  sei  der  Schreibervom  Verein,  die  anderen  anwesen- 
den  Arzte  bezeichnete  er  jetzt  als  Schulkameraden,  aus  seiner  Heimat. 
Auf  die  Frage:  was  ist  also  hier?  Eine  Schule,  eine  Irrenschule. 
Nun  aufgefordert,  zu  erzählen,  was  in  der  Nacht  war,  gibt  er  an: 
„Weil  ich  hab'  so  ge wirtschaftet  im  Bette  in  der  Nacht,  da  habe  ich 
geglaubt,  daß  sie  mich  haben  geschlagen,  und  da  ist  mir  die  Ge- 
schichte von  Weikersdorf  durch  den  Kopf  gegangen,  die  habe  ich 
immer  im  Kopfe,  weil  ich  ein  gutes  Gedächtnis  habe;  ich  habe  mit 
den  Füßen  geschlagen,  weil  sie  mich  —  ja,  das  war  ja  nicht  da, 
das  war  in  Weikersdorf,  wie  ich  noch  jung  war,  bei  dem  Bichter. 
Ich  habe  halt  geglaubt,  daß  ich  nach  Hause  fahre,  weil  der  Zug 
immer  gepfiffen  hat."  Jetzt  bezeichnet  er  den  Professor  richtig  als 
Professor  Pick  von  der  Irrenklinik  in  Prag,  aber  unmittelbar 
darnach  glaubt  er  wieder  in  Weikersdorf  zu  sein,  verkennt  die 
Umgebung  und  so  wechseln  immer  in  dem  gleichen  Sinne  die  Ant- 
worten ab,  je  nach  der  Fragestellung  oder  der  Beeinflussung  durcb 
die  vorgehende  Antwort.  In  den  nächsten  Tagen  wird  Pat  immer 
freier  und  gibt  nun  spontan  ganz  geordnet  die  Schilderung  seines 
Zustandes  so,  wie  es  schon  aus  den  abrupten  Äußerungen  erschlossen 
wurde.  Er  habe  nachts  den  Zug  pfeifen  gehört  und  geglaubt,  daß 
er  nach  Hause  fahre,  und  weil  ihn  von  dem  Herumwerfen  im  Bette 
alles  geschmerzt  habe,  habe  er  sich  erinnert,  wie  schlecht  es  ihm 
bei  dem  Richter  in  Weikersdorf  ergangen  war;  die  Frau  sei  ein  Sau- 
luder gewesen,  habe  den  Arbeitern  nur  ekelhaftes  Essen  gegeben,  so 
daß  er  nichts  anrühren  wollte,  und  die  Betten  waren  dort  voller 
Wanzen.  Er  habe  dann  früh  gesehen,  daß  die  Wärter  Wattepakete 
aufmachen,  und  da  habe  er  geglaubt,  weil  er  damals  in  Weikersdorf 
auch  in  einer  Fabrik  war,  daß  hier  eine  Wollfabrik  ist. 

Ähnliche  Zustände  waren  auch  schon  vorher  bei  Pat.  beobachtet 
worden;  so  hatte  er  eines  Tages  einen  Brief  von  seiner  Schwester, 
die  in  Komom  in  Ungarn  in  einer  Spinnfabrik  arbeitet,  erhalten.  In 
der  Nacht  hatte  er  mehrere  Anfälle  und  am  nächsten  Morgen  be- 
hauptet er,  in  der  gleichen  Weise  abwechselnd  mit  richtigen  Angaben, 
er  sei  in  Mähr.-Weißkirchen  in  Ungarn  in  einer  Spinnfabrik  und  gab 
nachher  zur  Erklärung  an,  er  habe  plötzlich  nicht  gewußt,  wo  er  sei, 
habe  darum  zum  Fenster  hinausgesehen  und  die  w  e  i  ß  gestrichene 
Anstaltskirche  gesehen,  und  da  sei  es  ihm  eingefallen,  daß  er  in 
Weißkirchen  sei;  zusammen  mit  dem  Inhalt  des  gestern  erhaltenen 
Briefes  habe  er  nun  geglaubt,  dort  und  in  Ungarn,  und  zwar  bei 
seiner  Schwester  in  der  Spinnfabrik  zu  sein. 


Suggestibilität  im  poBtepilepdschen  Znstande.  85 

Wenn  wir  die  sich  aus  dem  vorliegenden  Falle  ergebenden  Ge- 
sichtspunkte überblicken,  so  finden  wir  zunächst  in  dem  Verhalten 
des  Kranken  gegenüber  der  Forderung,  einen  Schuldschein  auszu- 
stellen^ eine  volle  Bestätigung  der  in  dem  Gutachten  über  M.  ge- 
brachten allgemeinen  Darstellung.  Das  erste  Mal  besitzt  der  Kranke, 
obwohl  psychisch  durch  einen  Anfall  affiziert,  genügend  Gegenvor- 
stellungen, um  dem  Verlangen  entsprechenden  Widerstand  entgegen- 
zusetzen, aber  schon  am  nächsten  Tage,  durch  neue  Anfälle  noch 
mehr  erschöpft^  gibt  er  sofort  der  Aufforderung  nach.  Dabei  erfolgt 
die  ganze  Handlung  äußerlich  ganz  geordnet,  der  Kranke  setzt  den 
ersten  Schuldschein  in  geänderter  Form,  und  zwar  ziemlich  korrekt 
auf;  die  Erinnerung,  daß  er  den  Schuldschein  unterschrieben,  wird 
auch  in  seine  normale  Zeit  herübergenommen,  und  unmittelbar  nach- 
dem er  geschrieben,  ist  er  sich  über  die  Folgen  ganz  klar;  trotzdem 
findet  er  diesmal,  im  Gegensatz  zu  seinem  früheren  und  späteren  Ver- 
halten, nicht  die  Kraft^  zu  widerstreben.  Ganz  interessant  ist  auch 
die  unmittelbare  Motivierung,  daß  er  folgsam  sein  wollte,  weil  es  der 
Professor  verlangte,  und  die  späteren  Motivierungen  ganz  im  Sinne 
einer  Ausrede,  daß  er  nicht  selbst,  sondern  die  Feder  das  geschrie- 
ben habe,  daß  das  Ganze  nur  Spaß  sei^  weil  auch  dieser  Umstand 
zum  Teil  sich  mit  den  bei  M.  beobachteten  Erscheinungen  deckt. 
Für  das  Zutreffende  der  Anschauung,  daß  auch  ohne  direkte  Ein- 
flußnahme seitens  einer  zweiten  Person  ein  suggestiver  Einfluß  denk- 
bar wäre,  wie  z.  B.  im  Falle  M.  die  in  der  Stadt  kursierenden  Ge- 
rüchte, dafür  sprechen  einzelne  Momente  in  den  beobachteten  diliranten 
Zuständen.  Diese  selbst  erweisen  sich  sowohl  in  ihrer  Entstehung, 
als  auch  in  ihrem  Verlauf  direkt  als  Ausdruck  der  gesteigerten 
Suggestibilität.  So  ruft  zunächst  der  Anblick  eines  blinden  Mitkran- 
ken bei  H.  die  Vorstellung  hervor,  daß  er  Christus  sei  und  ihn  heilen 
müsse,  oder  erweckt  in  ihm  ein  Zugpfeifen  den  Gedanken,  daß  er  in 
die  Heimat  fahre  und  damit,  daß  er  auch  dort  sei.  Dieses  An- 
knüpfen an  nachweisbare  äußere  Einflüsse,  die  eigene  Aussage  des 
Kranken,  sowie  sein  ganzes  Verhalten  lassen  damit  die  Annahme, 
daß  es  sich  um  direkt  halluzinatorisch  bedingte  Zustandsbilder  handle, 
hinfällig  erscheinen.  Aber  auch  außer  bei  der  Entstehung  zeigt  sich 
der  suggestive  Einfluß  in  dem  eigentlichen  Wechsel  der  &schei- 
nungen.  Es  erinnert  dieses  fortwährende  Hin-  und  Herschwanken 
zwischen  zutreffenden  und  wahnhaften  Antworten,  der  Wechsel  zwi- 
schen richtiger  und  fehlerhafter  örtlicher  und  persönlicher  Orientie- 
rung direkt  an  die  oszillierenden  Bewußtseinszustände  bei  Hysterischen. 
Aber  bei  näherem  Zusehen  treten  doch  deutliche  unterschiede  hervor. 


36  VII.  Margülies 

Zunächst  ganz  wesentlich  der,  daß  der  eigentliche  Bewußtseinszustand 
nicht  direkt,  wie  beim  Hysterischen,  'suggestiv  beeinflußt  und  geän- 
dert wird,  sondern  eine  richtige,  der  normalen  Orientierung  ent- 
sprechende Antwort  eben  durch  die  gestellte  Frage  hervorgerufen 
wird,  genau  so  wie  die  falsche  durch  die  entsprechende  Frage  be- 
ziehungsweise andere  suggestive  Einflüsse  geweckt  wurde;  dabei  aber 
bleibt  der  allgemeine  Bewußtseinszustand,  im  Sinne  der  vorherrschen- 
den Verstimmung,  Denkhemmung  und  erschwerten  Auffassungsfähig- 
keit bei  eingeengtem  Vorstellungskreise  bei  beiden  der  gleiche. 
Ferner  ruft  bei  unserem  Kranken  jede  Frage  einen  schon  durch 
den  äußeren  Ton  der  Stimme  bestimmten  Einfluß  hervor,  so  daß 
eigentlich  hier  die  Suggestion  noch  intensiver,  zum  mindesten  wahl- 
loser ist,  als  beim  Hysterischen.  In  manchen  Zügen  führt  auch  eine 
Brücke  zu  den  Konfabulationen  im  Korsakow'schen  Symptomen- 
komplex; es  ist  ja  auch  bei  diesen,  natürlich  abgesehen  von  dem 
der  eigentlichen  Störung  zugrunde  liegenden  Merkfähigkeitsdefekt, 
für  die  Entstehung  der  einzelnen  Konfabulation  ein  suggestiver  Ein- 
fluß unverkennbar.  So  erinnert  die  Art,  wie  der  Kranke  seine  richti- 
gen und  falschen  Vorstellungen  in  Einklang  zu  bringen  trachtet, 
z.  B.  behauptet,  der  Professor  sei  Professor  an  einem  Vereinskran- 
kenhause der  Fabrik  in  Weikersdorf  direkt  an  Korsakow'sche  Kon- 
fabulationen. Aber  der  wesentliche  Unterschied  liegt  darin,  daJß  bei 
dem  epileptischen  Kranken  solche  Einfälle,  die  er  gelegentlich  als 
Eingebungen  deutet,  nicht  zur  augenblicklichen  Ausfüllung  im  Reden 
verwendet  werden,  sondern  auch  in  seinem  Denken  und  sogar  Han- 
deln wirksam  sind  und  so  die  Quelle  eines  anscheinend  deliranten 
Verhaltens  werden.  Sehen  wir  nun  zu,  welcher  Art  die  suggestiven 
Einflüsse  sind,  die  so  bei  dem  Kranken  wirksam  sind,  so  finden  wir 
erstens  den  Einfluß  einer  anderen  Person  durch  Frage  und  Auffor- 
derung, zweitens  das  der  Ideenflucht  verwandte  Anknüpfen  an  zu- 
fällige, gewöhnlich  ganz  gleichgültige  äußere  Ereignisse  oder  zufällig 
in  den  Gesichtskreis  getretene  Gegenstände  und  drittens  die  Nach- 
wirkung von  entweder  kurz  zurückliegenden  oder  bedeutsam  fixierten 
Vorstellungen.  Das  dritte  Moment  erinnert  schon  einigermaßen  an 
Autosuggestion,  aber  es  wird,  soweit  man  es  verfolgen  kann,  nie 
direkt  willkürlich  hervorgerufen,  sondern  immer  nur  in  Verbindung 
mit  einem  der  ersten  beiden  Momente.  Unter  allen  Umständen  ist 
es  bemerkenswert,  daß  sich  dem  äußeren  Anschein  nach  so  schwere 
delirante  Zustände  im  Halbbewußtsein  entwickeln,  wo  sicher  ein 
immerhin  beträchtlicher  Grad  von  Orientierung,  Besonnenheit  und 
sogar  etwas  Urteilsfähigkeit  vorhanden  sind,  und  es  bilden  offenbar 


Suggestibilität  im  poBtepileptiBchen  Zustande.  87 

diese  snggeBtiyen  Delirien  einen  Übergang  zwischen  den  eigentlichen 
epileptischen  Dämmer-  oder  Tranmznständen  und  jenen  feinsten  Stö- 
rungen, die  wir  bei  M.  vorausgesetzt  und  bei  E.  beobachtet  haben. 
Ich  glaube  auch,  daß  unseren  bisherigen  Erfahrungen  nach  solche 
epileptische,  suggestive  Delirien  nicht  gar  zu  selten  sein  dürften  und 
daß  sie  auch  durch  längere  Zeit  fortbestehen  können,  beweist  ein  dem 
eben  besprochenen  vielfach  ähnlicher  Fall,  über  den  ich  nachstehend 
berichten  will. 

Am  21.  Dezember  1906  wird  der  21jährige  Schuhmachergehilfe 
A.  W.  aus  Blottendorf  vom  Erankenhause  in  Aussig  unserer  Elinik 
überwiesen.  Fat.  leidet  seit  7  Jahren  an  Epilepsie;  seit  4  Tagen 
soll  er  sehr  aufgeregt  sein  und  in  einem  Tobsuchtsanfalle  seine  Mutter 
und  die  ganze  Umgebung  geschlagen  haben.  Im  Erankenhause 
blickte  er  stier  vor  sich  hin,  wollte  nichts  essen,  sprach  unzusammen- 
hängend und  sang  unflätige  Lieder.  Zur  Elinik  gebracht,  ist  er  zu- 
nächst gar  nicht  auffällig,  macht  über  Alter,  Name,  Wohnort  u.  dgl. 
ganz  richtige  Angaben,  weiß,  daß  er  in  Prag  ist;  weiter  gefragt,  was 
hier  für  ein  Haus  sei,  erwidert  er  mit  hoheitsvoller  Pose :  der  Himmel, 
und  erklärt  dann,  er  sei  der  Herrgott  und  filhrt  dann  fort:  „Ich 
habe  es  dem  Herrn  versprochen,  weil  ich,  daß  ich  will  Herr  — 
Gott  werden,  weil  er  schon  zu  alt  ist^  Hierauf  bezeichnet  er  sich 
wieder  als  Christus,  dann  nochmals  gefragt:  „Also  sind  Sie  Christus 
oder  A.  W.?^  sagt  er:  „Ich  bin  A.  W.,  ich  bin  nur  anders  geworden, 
weil  ich  habe  die  Erankheit  bekommen.^  Auf  die  Frage:  „Was  hat 
die  Erankheit  aus  Ihnen  gemacht?''  sagt  er:  „Jesus  Christus^,  und 
fährt  fort:  „Ich  bin  jetzt  im  Himmel,  wir  sind  alle  dort,  und  ich 
werde  jetzt  sorgen  für  die  ganze  Welt^  Sein  Alter  gibt  er  hierauf 
wieder  mit  21  Jahren  an  und  beantwortet  die  weiteren  Fragen  korrekt; 
er  heiße  W.,  sei  in  Blottendorf  geboren,  wohne  in  Neulerchenfeld 
und  habe  die  Schusterei  gelernt,  bejaht  aber  dann  sofort  wieder  die 
Frage,  ob  er  im  Himmel  und  Herrgott  sei.  Pat  erkennt  Gegen- 
stände und  bezeichnet  sie  richtig,  führt  einfache  Bechnungen  aus  und 
schreibt  auch,  wenngleich  mühselig  und  häufig  unterbrochen,  ziemlich 
korrekt  Im  E^rankenzimmer  ist  Pat.  im  allgemeinen  sehr  still,  nur 
manchmal,  wenn  er  angesprochen  wird  oder  zu  einem  anderen  Eran- 
ken  tritt,  nimmt  er  plötzlich  die  Heilandspose  an.  In  seinem  Wesen 
zeigt  sich  sonst  im  allgemeinen  eine  ausgesprochene  Hemmung  und 
vorwiegend  eine  morose,  ablehnende  Haltung.  Die  Hemmung  und 
Erschwerung  des  Gedankenablaufes  tritt  vornehmlich  dann  zutage, 
wenn  Pat.  längere  Gespräche  führen  und  eine  Sache  ausführlicher 
erklären  soll ;   so  ist  er  z.  B.,  im  Gegensatz  zu  seinem  späteren  Ver- 


88  VII.  Mabguli^s 

halten  in  der  anfallsfreien  Zeit,  nicht  imstande,  über  den  Verlauf 
seiner  Krankheit  und  die  Art  seiner  Krämpfe  geordnete,  zusammen- 
hängende Aufklärungen  zu  geben.  Die  Wahnidee^  daß  er  Herrgott 
oder  Jesus  Christus  sei,  tritt  bis  zum  29.  Dezember  immer  in  der 
gleichen  Weise  in  Erscheinung,  und  es  zeigt  sich  im  klinischen 
Examen  der  Wechsel  in  den  zutreffenden  und  wahnhaften  Antworten 
immer  ganz  deutlich  als  durch  die  Fragestellung  hervorgerufen,  z.  B.: 

Wie  heißen  Sie?  —  A.  W. 

Was  sind  Sie?  —  Schuhmacher. 

Woher?  —  Aus  Neulerchenfeld  bei  Aussig. 

Sind  Sie  krank?  —  Ja,  ich  habe  die  hinfallende  Krankheit 

Haben  Sie  häufig  Anfälle?  —  Manchmal  ja,  dann  werde  ich 
damisch. 

Wo  waren  Sie  zuletzt?  —  In  Aussig  im  Krankenhaus. 

Warum  haben  Sie  sich  so  eigentümlich  benommen,  als  Sie  her- 
kamen? —  (Aufstehend):  Ich  will  sorgen,  für  Euch  sorgen,  ich  bin 
der  Herrgott. 

Sind  Sie  der  liebe  Gott?  —  Ja. 

Sie  sind  doch  Schuhmacher?  —  Ja,  Gehilfe. 

Und  Jesus  Christus?  —  Das  bin  ich. 

Seit  wann?  —  Schon  lange. 

Sind  Sie  auch  gekreuzigt  worden?  —  Ja,  gestern. 

Ist  heute  Charsamstag?  —  Ja. 

Wann  werden  Sie  auferstehen?  —  Morgen. 

Wo?  —  Zu  Hause. 

Wo  wohnen  Sie?  —  In  Neulerchenfeld. 

Wie  konnten  Sie  als  Schuster  Christus  werden?  —  Das  war 
der  erste,  ich  habe  es  übernommen,  weil  er  schon  zu  alt  war. 

In  der  gleichen  Weise  spielen  sich  immer  bis  zum  29.  Frage  und 
Antwort  ab.  An  diesem  Tage  ist  nun  Fat.  sichtlich  freier  und  gibt 
über  seine  Erkrankung  ziemlich  geordnete  Auskünfte.  Er  habe  die 
Krankheit  durch  einen  Steinwurf  bekommen,  früher  war  er  nur  be- 
wußtlos bei  den  Anfällen,  aber  in  der  letzten  Zeit  hatte  er  12  bis 
15  Anfälle  täglich,  und  da  habe  es  ihm  so  im  Kopfe  gesummt,  und 
plötzlich  .habe  er  so  ein  Gefühl  bekommen,  als  ob  er  fliegen  würde, 
er  glaube,  er  habe  dabei  auch  gekräht;  dann  habe  er  geglaubt,  daß  er 
im  Himmel  sei,  glaubt  auch  Engel  gesehen  zu  haben;  dann  habe  ihm 
im  Krankenhause  ein  neben  ihm  liegender  alter  Fat.  gesagt,  daß  er  sein 
Geschäft  übernehmen  könne,  und  da  sei  es  ihm  so  vorgekommen,  als 
ob  der  Herrgott  zu  ihm  spreche,  und  er  habe  selbst  geglaubt,  daß 
er  der  Herrgott  sei.    Fat.  bleibt  nun  bis  zum  H.Januar  vollkommen 


Suggestibilit&t  im  postepileptischen  Zustande.  89 

geordnet  und  orientiert;  er  erweist  sich  im  ganzen  als  mäßig  begabt 
and  etwas  kindisch,  aber  doch  sowohl  intellektuell  als  moralisch  in 
der  Grenze  des  Normalen.  In  der  Nacht  zum  14.  Januar  hat  Pat. 
drei  typische  epileptische  Anfälle;  nachher  ist  er  zunächst  soporös, 
später  sehr  moros,  unzugänglich,  zeigt  sich  aber  in  den  wenigen  Ant- 
worten, die  man  von  ihm  erhält,  vollkommen  orientiert;  auch  am 
nächsten  Tage  ist  das  Verhalten  das  gleiche.  Am  16. 1.  tritt  wieder 
die  Wahnidee,  daß  er  Herrgott  oder  Heiland  sei,  zum  Vorschein, 
und  zwar  ganz  genau  in  gleicher  Weise  wie  das  erste  Mal,  abwech- 
selnd mit  richtiger  Orientierung,  und  jedesmal  der  Wechsel  bedingt 
durch  die  entsprechende  Fragestellung.  Hie  und  da  tritt  auch  eine 
Mischung  von  falschen  und  richtigen  Antworten  in  die  Erscheinung, 
so  z.  B.  gibt  er  an,  er  sei  jetzt  in  Prag,  im  Himmel,  Prag  sei  auch 
im  Himmel,  er  sei  in  den  Himmel  gekommen  und  habe  alles  mitge- 
nommen. Der  gleiche  Zustand  dauert  diesmal  bis  zum  26.  L,  wo 
ziemlich  plötzlich  Klärung  eintritt;  während  der  ganzen  Dauer  besteht 
auch  wiederum  die  ärgerliche  Verstimmung,  Denkhemmung  und 
Schwerbesinnlichkeit  fort  Sobald  Pat  klar  geworden,  erinnert  er  sich 
und  auch  in  der  Folgezeit  wohl  daran,  daß  er  sich  für  den  Herr 
Gott  gehalten  hat  und  gibt  an,  er  habe,  als  er  die  Anfälle  hatte,  das 
Gefühl  gehabt,  als  ob  die  ganze  Welt  um  ihn  herum  versinke,  und 
dann  plötzlich  seien  ihm  die  Augen  ganz  starr  geworden  und  er  habe 
alles  ganz  klar  gesehen  und  darum  wieder  geglaubt,  daß  er  im 
Himmel  sei;  diesmal  habe  niemand  zu  ihm  gesprochen,  sondern  der 
Gedanke,  daß  er  der  Herr  Gott  oder  Jesus  Christus  sei,  sei  ihm 
durch  die  Krankheit  in  den  Kopf  gekommen,  weil  er  nach  den  An- 
fällen ganz  blöd  sei.  Pat  zeigt  bis  zu  seiner  am  18.  III.  erfolgten 
Entlassung  keine  weitere  Störung  in  seinem  psychischen  Verhalten. 
Wir  sehen  also  auch  hier,  daß  sich  nach  epileptischen  Anfällen 
Wahnideen  entwickeln,  die  suggestiv  entstanden  und  suggestiv  beein- 
flußbar sind.  Ebenso  wie  beim  früheren  Falle  tritt  dadurch  ein  steter 
Wechsel  zwischen  richtigen  und  wahnhaften  Antworten  zutage  und 
erweist  sich  hier  dieser  Wechsel  ganz  besonders  bedingt  durch  die 
entsprechende  Fragestellung.  Ein  Unterschied  liegt  nur  vorwiegend 
darin,  daß  die  Wahnidee  länger  bestehen  bleibt  und  nicht  immer 
durch  eine  andere  abgelöst  wird ;  aber  auch  hier  wirkt  sie  ihrem  In- 
halt entsprechend  auf  Denken  und  Handeln  des  Kranken  und  verän- 
dert vorübergehend  nicht  nur  sein  Persönlichkeitsbewußtsein,  sondern 
auch  ihrem  Inhalt  angepaßt  die  Umgebung.  Es  liegt  nahe,  für  die 
Erklärung  der  Festigkeit  der  Wahnidee  die  Stärke  der  ihr  zugrunde 
liegenden  Suggestion  heranzuziehen  und  dabei  in  unserem  Falle  auf 


90  VII.  Mabgüli^ 

die  bekannte  Hinneigung  der  Epileptiker  zu  religiösen  Dingen  zurück- 
zugreifen, die  sich  ja  auch  so  häufig  in  dem  Inhalt  der  postepilepti- 
Bchen  Visionen  äußert. 

Wenn  ich  die  Ergebnisse  meiner  Beobachtungen  nochmals  zu- 
sammenfasse, so  hat  sich  ergeben^  daß  sich  in  einem  gewissen  Sta- 
dium nach  epileptischen  Anfällen  als  Ausdruck  der  fortbestehenden 
Erschöpfung  ein  Zustand  entwickeln  kann,  in  dem  erhöhte  Suggesti- 
bilität  eine  ganze  Reihe  von  Symptomen  hervorruft,  die  wieder  durch 
Suggestion  in  der  Art  ihres  Verlaufes  bestimmt  werden.  Die 
Suggestion  selbst  kann  wieder  deutlich  werden  als  Einwirkung  einer 
fremden  Person  oder  zufälliger  Erscheinungen  in  der  Umgebung  und 
endlich  als  Nachwirkung  älterer  Vorstellungen,  die  zufällig  durch 
einen  äußeren  Beiz  geweckt  werden.  Gerade  das  letzte  Moment  halte 
ich  für  bedeutsam  im  Hinblick  auf  die  forensische  Seite  der  Frage, 
die  den  Ausgangspunkt  meiner  Erörterungen  gebildet  hat  Denn  des- 
wegen ist  es  in  entsprechenden  Fällen  notwendig,  bei  Beurteilungen 
strafrechtlicher  Verfehlungen  der  Epileptiker  alle  begleitenden  Um- 
stände und  den  ganzen  Vorstellungskreis  des  zu  Beurteilenden  in 
Erwägung  zu  ziehen,  denn  sonst  könnte  leicht  der  Fall  eintreten,  daß 
eine  der  verminderten  Widerstandsfähigkeit  beziehungsweise  der  er- 
höhten Suggestibilität  entspringende  Tat  fälschlich  als  gegründete  und 
überlegte  Handlung  aufgefaßt  wird. 


vm. 

Presse  und  Recht. 

Voa 
Landgerichtsdirektor  Botering-Magdeburg. 


I.  Unterhaltuiig  und  Belehrung. 

Keineswegs  die  yornehmste,  aber  die  älteste  Aufgabe  der  Tages- 
presse ist  diejenige  der  Unterhaltung.  Die  ersten  Zeitungen  dienten 
diesem  Lebenszwecke  ausschließlich.  Als  nach  der  Wende  des  Mittel- 
alters das  Unausgeglichensein  politisch  -  konfessioneller  Streitigkeiten 
dem  großen  Kriege  zudrängte,  waren  die  bange  Ahnung  der  schweren 
Not  kommender  Tage,  eine  krankhaft  erregte  Volksstimmung,  der 
krankhafte  Wunderglaube  und  Sensationsifistemheit  die  Signatur  der 
Zeit.  Und  ihr  entspricht  die  Etikette,  unter  welcher  die  ältesten 
Tageszeitungen  ihre  Verbreitung  fanden.  Die  Entwicklung  war  eine 
allmähliche.  Mit  ihrem  Erscheinen  vollzog  sich  eine  Anlehnung  an 
die  Flugblätter,  welche  schon  in  der  Beformationszeit  dem  theologi- 
schen Gelehrtenstreit  seine  Bedeutung  zuerkannten.  Als  „griindliche 
und  wahrhaftige",  „doch  schreckliche  und  erbärmliche^,  „unnatür- 
liche^, „klägliche  neue  Zeitung"  kündigen  sie  selbst  sich  an,  um  zu 
berichten  von  Himmelsersch einungen,  Feuer-  und  Blutzeichen,  dem 
jüngsten  Tage,  dem  Antichrist  und  neuen  Propheten,  dem  Wieder- 
erscheinen verschollenen  Menschentums,  dem  Verbrennen  von  Un- 
holden, den  Künsten  höllischer  Mächte.  Doch  schon  1605  erschien 
in  Frankfurt  die  erste  Wochenzeitung,  welche  mehr  den  Bedürfnissen 
der  besseren  Leserwelt  die  Bechnung  trug.  Aber  bei  dem  Nieder- 
gange des  öffentlichen  Lebens,  dem  erlahmenden  Volksinteresse  für 
staatliche  Angelegenheiten  boten  noch  lange  sensationelle  Ereignisse, 
und  zwar  bei  der  einschränkenden  Zensur  solche,  welche  im  Aus- 
lande sich  ablagerten,  oder  Kriegshändel,  aber  solche,  die  „fem  in 
der  Türkei"  sich  ausleben  mochten,  den  Stoff  für  die  periodisch  er- 
scheinenden Druckerzeugnisse. 


92  VIII.  ROTERING 

So  sehr  nun  der  Unterhaltnngsstoff  für  die  sich  abwickelnde 
Kulturperiode  sich  ausgewachsen  hat  bis  ins  Ungemessene,  interessiert 
auch  die  Betrachtung  in  der  Richtung,  in  welcher  Tragweite  sich  die 
der  Unterhaltung  dienende  Tagespresse,  da  es  ein  anderes  Privileg 
nicht  gibt,  auf  den  Schutz  des  §  193  Str.GB.  zu  berufen  vermag. 

Beachtlich  ist  nun,  daß  die  der  Unterhaltung  dienende  perio* 
dische  Presse  nicht  allein  ein  dringendes  Volksbedürfnis  befriedigt, 
daß  vielmehr  der  Herausgeber  kontraktlich  gehalten  ist,  den  Lesestoff 
auf  demselben  Gebiete  zu  belassen,  die  Haupltendenz  der  Zeitung 
nicht  zu  wechseln.  Er  darf  den  Lesern  einen  dem  bisherigen  frem- 
den Lesestoff  nicht  darbieten,  weil  diese  Vertragsleistung  der  verab- 
redeten gegenüber  ein  aliud  wäre. 

Nun  ist  anzuerkennen,  daß  die  Presse  im  Sinne  des  §  193  ein 
berechtigtes  Interesse  verfolgt,  wenn  sie  der  Vertragspflicht  zu  ge- 
nügen sucht,  ein  Volksbedürfnis  zu  befriedigen  sich  abmüht,  genau 
so,  als  wenn  die  von  einem  Unternehmen  herausgegebene  Fachzeit- 
schrift bestimmungsgemäß  die  Vorzüge  jener  Gründung  hervorhebt 
oder  Mängel  der  Konkurrenzanstalten  nicht  verschweigt.  Damit  ist 
aber  nicht  behauptet,  daß  nun  jeder  Unterhaltungsstoff  in  den  Schutz 
jenes  Gesetzes  fällt.  Vielmehr  inwieweit  das  zutrifft,  bestimmt  sich 
nach  dem  durch  die  Auslegung  des  Gesetzes  gewonnenen  Resultate. 

Interessen  im  Sinne  des  Strafgesetzes  sind  aber  diejenigen  Lebens- 
beziehungen, welche,  weil  sie  unser  Wohl  fördern,  von  uns  aufrecht- 
erhalten oder  erstrebt  werden.  Das  Gesetz  hat  diese  den  unmittelbar 
vorher  hervorgehobenen  „Rechten^  scharf  entgegengesetzt,  es  sind 
daher  die  berechtigten  Interessen  0  ein  aliud  und^  da  sie  ein  Mehreres 
nicht  sein  können,  weniger  als  Rechte.  Das  entspricht  auch  der  Be- 
deutung des  Wortes  „berechtigt",  soweit  die  Umgangssprache  in  Frage 
kommt.  2)  Wir  sagen  „zu  der  Auffassung,  der  Hoffnung  berechtigt**. 
Es  soll  aber  für  die  Auslegung  des  Gesetzes  nicht  die  Umgangs- 
sprache entscheiden,  weil  dieses  mit  seinen  Worten  einen  „technisch- 
juristischen Sinn"  verbindet.  3)  Kann  daher  dieses  Moment  als  ein 
durchschlagendes  nicht  erachtet  werden,  so  führt  doch  das  Zweck- 
moment zu  einem  gleichen  Ergebnisse.  Das  nämlich,  was  §  193  fest- 
legen will,  ist  die  Entscheidung  zwischen  kollidierenden  Interessen. 
Es  schließt  das  Gesetz  sich  anderen  an,  welche  gleichen  Zweck  ver- 
folgen,   wie    diejenigen    im    Rechtskreise    der    Polizeiübertretungen, 

1)  §  S21.    (810  rechtliches  ?  Interesse)  B.G.B.  und  §  6  Ge|.  betreffend  den 
Wettbewerb. 

2)  V.  Bulow,  Gerichtssaal  S.  279,  Bd.  46. 

3)  Binding,  Handbuch  S.  465. 


Presse  und  Recht.  93 

welche,  weil  das  Setzen  der  bedingungsweise  untersagten  Handlung 
ein  Volksbedürfnis,  diese  aber  auch  für  die  Interessen  derjenigen  nicht 
ganz  ungefährlich  ist,  welche  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden 
könnten,  die  Handlung  selbst  von  der  Entscheidung  der  Behörde  ab- 
hängig machen  ^)  oder  davon,  daß  die  Selbstkontrolle  ergeht  hinsicht- 
lich der  „erforderlichen  Vorsichtsmaßregeln  zur  Verhütung  von  Be- 
schädigungen^ (§  367}/^j  So  macht  der  §  193  aus  Zweckmäßigkeits- 
grfinden  eine  Konzession  den  Anforderungen  des  praktischen  Lebens, 
derselbe  anerkennt,  daß  die  Verfolgung  einzelner  Lebenszwecke  von 
so  eminenter  Bedeutung  ist,  daß  ihnen  gegenüber  nicht  die  absicht- 
liche Beleidigung,  wohl  aber  die  bloße  Gefährdung  der  Ehre  durch 
die  Äußerung  für  glaubhaft  erachteter,  aber  noch  unbewiesener  Tat- 
sachen zurücktreten  soll.  Jene  Lebenszwecke  also  erfordern,  wie 
so  manche  andere  —  wie  die  gefährlichen  Gewerbe  insbesondere  — , 
wie  das  Leben  überhaupt  ein  gewisses  Risiko,'^)  weil  so  oft  über- 
wiegende Interessen  in  Frage  stehen. 

Ist  das  richtig,  so  kann  eine  Konzession  niemals  gemacht  wer- 
den solchen  Lebenszwecken,  welche,  an  sich  dem  Recht  zuwider- 
laufend, vom  positiven  Gesetze  reprobiert  sind.  Das  Gegenteil  wäre 
die  Begünstigung  des  Unrechts.  Ist  das  richtig,  so  folgt  einen  Schritt 
weiter,  daß  auch  ein  der  Sittlichkeit,  dem  praeceptum  juris  des 
honeste  vivere  widersprechendes  Streben  durch  das  berechtigte  Inter- 
esse nicht  gedeckt  wird.  Denn  auch  der  Unsittlichkeit  kann  das 
Recht  Konzessionen  nicht  machen,  sie  nicht  befördern  wollen. 

So  erübrigt  kaum  noch,  nach  der  Methode  der  Rechtsanalogie 
zu  operieren,  aus  einer  Mehrheit  von  Gesetzen  ein  höheres  Prinzip 
zu  entnehmen.  Daß  aber  ,,Recht  und  Moral  in  Einklang^  zu  bringen, 
die  Ansicht,  „das  Recht  dürfe  seine  Hand  nicht  dazu  bieten,  das 
sittliche  Bewußtsein  des  Volkes  zu  verletzen",  —  haben  auch  die 
Motive  (II.  Kom.)  zum  §  814  BGB.  schon  angemerkt.  Daß  ein  „gegen 
die  guten  Sitten"  verstoßender  Zustand  nicht  aufrechterhalten  werden 
soll,  lassen  §§  139,  819  BGB.-»)  erkennen,  nicht  minder  §§  123,  124 
Gew.Ordg.  Die  „Aufrechterhaltung  der  guten  Sitten  und  des  An- 
standes"  betont  §  62  Hand.GB.,  nicht  minder  §  120  b  Gew.Ordg. 
und  schließlich  §  9  Ges.  betr.  Wettbewerb  entbietet  in  der  Fassung 


1)  §§  367.  3.  8.  11.  15;  36S.  3  R.St.G.B. 

2)  §  366  5.  8. 

3)  Finger,  Lehrb.  d.  St.R.  S.  105. 

4)  Auch  §  276  betreff,  das  pactum  de  dolo  dou  praeatando.  Türk-Nieden- 
fuhr,  Bürg.  Recht  S.  372,  der  Gegensatz:  legibus  ac  moribus  comprobatus  1.  s. 
Dig.  50  —  13  — . 


94  VIII.  ROTEBTNO 

^gegen  das  Gesetz  oder  die  guten  Sitt^^  dasselbe  Grundprinzip,  i) 
Dafür,  daß  das  Becht  der  Unsittlichkeit  keine  Konzession^  macht, 
wäre  auch  zu  verweisen  auf  §§  534.  814.  1446.  1641.  1804.  2113. 
2205.  2330  BGB. 

Wenn  aber  §  193  bezweckt,  soweit  hier  der  nicht  bloß  deklara- 
torische Bestandteil  dieses  Gesetzes  in  Frage  steht,  einen  gewissen 
Mittelweg  zu  finden,  wenn  einmal  die  Verfolgung  nicht  minderwerti- 
ger Lebenszwecke  nur  auf  Unkosten  der  Ehre  durchgesetzt  werden 
kann,  so  kann  die  Gefährdung  der  letzteren  jedenfalls  nur  dann  noch 
straflos  ausgehen,  wenn  diese  das  einzige  und  notwendige  Mittel  ist, 
um  jene  anderen  Interessen  zu  wahren.  So  lange  nämlich  ein  an- 
derer Ausweg  bleibt,  ist  ein  Widerstreit  der  schutzbedürftigen  Lebens- 
güter nicht  vorhanden. 

Und  schließlich  kann  eine  Entscheidung  im  EoUisionsfalle  immer 
nur  statthaben  unter  der  Signatur  des  Prinzips  der  Verhältnismäßigkeit 
Denn  unter  diesem  Zeichen  wickelt  sich  das  Verkehrsleben  ab,  fast 
alle  wirtschaftlichen  Vorteile  werden  mit  Opfern  erkauft  Und  es  ist 
eine  antiökonomische  Maßregel,  welche  den  geringeren  Vorteil  auf- 
wiegen läßt  durch  ein  größeres  Opfer.  Dieser  Gesichtspunkt  hat 
auch  in  der  Gesetzgebung  den  bestimmten  Ausdruck  ^  gefunden 
(§§  228.  904.  138.  320  BGB.,  105  f.  Gew.O.,  302a  Str.GB,).  Der  Be- 
griff des  berechtigten  Interesses  ist  ein  relativer. 

Die  Anwendung  dieser  Bechtsgrundsätze  auf  die  Bestrebungen 
der  sogenannten  Unterhaltungspresse  führt  aber  zu  folgendem  Ergeb- 
nisse: Auszuscheiden  von  der  Betrachtung  ist  zunächst  derjenige  Teil 
der  Tagespresse,  welcher  des  negativ  harmlosen  Charakters  nicht 
darbt  Glücklicherweise  wohl  in  dem  geringeren  Bestandteile  unserer 
Tagesliteratur  lagern  die  Erzeugnisse  sich  ab  auf  dem  Nährboden, 
welchen  die  niedrigen  Leidenschaften  befruchten,  der  Haß,  der  Neid 
und  die  Schadenfreude,  die  ihnen  entspringende  Sensationslust,  welche 
alle  sich  befriedigen  sollen  auf  Unkosten  fremder  Achtungsbedürftig- 
tigkeit.  Die  gesamte  Tagespresse,  welche  dem  NationalhaB  fröhnt, 
dem  Elassenhaß,  dem  konfessionellen  Hader,  politischer  Verfolgungs- 
sucht, dem  Konkurrenzneid,  Wahlmanövem,  der  bloßen  Klatschsucht 
und  der  Tagedieberei,  dem  bloßen  Haschen  nach  Neuigkeiten,  vermag 
sich  nicht  auszuleben  auf  dem  Boden  der  Ethik.  Und  schon  das 
Gewand  der  sogenannten  Winkelblätter  und  staatsfeindlichen  undeut- 
schen Tagesschriften  läßt  erkennen,  daß  wenigstens  die  von  solchem 
Geiste  getragenen  Mitteilungen  nicht  aus  dem  Motive  der  Verfolgung 

1)  Schon  §  138  Preuß.  Gesinde-O.:  „Handlungen,  welche  wider  die  Gesetze 
oder  wider  die  guten  Sitten  laufen." 


Presse  and  Recht.  95 

berechtigter  Interessen  ins  Leben  getreten  sind.  Und  mit  der  nega- 
tiven Sittlichkeit  dieses  Mittelzwecks  kann  auch  der  anf  Erwerb  ge- 
richtete Endzweck  solcher  Tagespresse  als  ein  solches  Interesse  nicht 
mehr  bezeichnet  werden. 

Allein  in  weiterem  Umfang  kann  auch  die  gesamte,  auch  die 
bessere  Unterhaltungsliteratur  den  Schutz  des  §  193  nicht  beanspruchen, 
sobald  die  Mitteilungen  geeignet  sind,  bei  anderen  Mißachtung  hervor- 
zurufen. Der  Unterhaltungsstoff  nämlich,  welchen  das  Menschenleben 
sowohl  als  das  Leben  und  Weben  in  der  Natur  darbieten,  ist  ein  so 
mannigfaltiger,  nicht  auszudenkender,  daß  es  des  Angriffs  auf  die 
Achtungswürdigkeit  eines  bestimmten  Bechtsgenossen  niemals  bedarf, 
um  die  der  Unterhaltung  gewidmeten  Spalten  überhaupt  auszufüllen. 
Der  Fall  widerstreitender  Interessen  ist  also  niemals  gegeben.  Die 
Befriedigung  des  Unterhaltungsbedürfnisses  erheischt  gar  kein  Opfer 
auf  dem  Altare  der  fremden  Ehre.    Es  geht  auch  so. 

Schließlich  aber,  und  damit  wird  dem  dritten  in  der  vorgehen- 
den Betrachtung  aufgestellten  Gesichtspunkte  sein  Recht,  kann  das 
Unterhaltungsbedürfnis  allein  kein  Interesse  bilden,  welches  entgegen 
dem  Bedürfnisse  der  sozialen  Vollgeltung  im  Kreise  der  Volksgenossen 
als  ein  berechtigtes,  d.  h.  als  ein  solches  erscheint,  welchem  entgegen 
das  letztere  zurückzutreten  hat  Vielmehr  leidet  nun  einmal  der  Be- 
griff des  berechtigten  Interesses  im  Sinne  des  Strafgesetzes  an  einer 
gewissen  Relativität,  es  fragt  sich  immer,  ob  berechtigt  einem  be- 
stimmten Faktor  gegenüber?  Einem  minimalen  Lebensinteresse  ent- 
gegen darf^)  niemals  die  soziale  Stellung  im  Gesellschaftsleben  er- 
schüttert werden.  Und  das  Prinzip  der  Verhältnismäßigkeit  weist 
darauf  hin,  daß  die  Ehre  des  einen  höher  steht  als  das  Amüsement 
des  andern.  Gerade  dieser  Gesichtspunkt  ist  es,  welchen  der  höchste 
Gerichtshof  in  seiner  Entscheidung  Bd.  15  S.  15  betont,  darauf  näm- 
lich komme  es  an,  ob  das  Recht  die  Interessen  anerkenne,  „und  zwar 
auch  gegenüber  dem  Rechte  auf  Achtung  der  Person*^.  Die  poten- 
tielle Gefährdung  der  Ehre  bleibt  deshalb  strafbar,  wenn  sie  nur  er- 
folgt zwecks  Unterhaltung  des  Leserkreises. 


Eine  andere  Aufgabe  der  Presse,  nicht  allein  der  Tageszeitung, 
sondern  auch  der  wissenschaftlichen  Zeitschriften,  ist  diejenige  der 
Belehrung.  Daß  die  Belehrung  ein  berechtigtes  Lebensinteresse  ist, 
kann  nicht  zweifelhaft  erscheinen.  Das  Wirtschaftsleben  und  das 
Gesellschaftsleben  können  ihrer  nicht  entbehren,   und  der  Staat  be- 


1)  Frank»  Komm.  §  193. 


96  VIIL  ROTEWNG 

zweckt,  dem  VolksbedürfniBse  abzuhelfen  durch  Bildungsanstalten,  er 
setzt  die  Ergebnisse  der  Belehrung  voraus  für  seine  Angestellten,  er 
hat  damit  die  Vollberechtigung  dieses  Ijebenszweckes  anerkannt 
Dieser  Mittelzweck  für  das  Preßuntemehmen  heiligt  den  Erwerbs- 
zweck als  solchen.  Der  Rechtsstandpunkt  ist  hiemach  ein  von  dem- 
jenigen wesentlich  verschiedener,  welcher  hinsichtlich  des  ünterhal- 
tungsbedürfnisses  festzulegen  war.  Das  Volksbedürfnis  der  Belehrung 
ist  zum  Staatsbedürfnis  geworden,  wie  das  hinsichtlich  der  Unterhal- 
tung nicht  oder  nur  in  ganz  beschränktem  Maße  (Theaterwesen)  zu- 
trifft. Es  gab  nur  eine  Zeit,  in  welcher  auch  dem  Staate  es  aufge- 
drungen war,  das  Volk  zu  unterhalten  (panem  et  circenses).  Damals 
war  die  Blüte  des  staatlichen  Lebens  im  Niedergange.  Es  läßt  sich 
daher  nicht  allgemein  und  ausnahmslos  behaupten,  die  Belehrung  sei 
kein  berechtigtes  Interesse  gegenüber  dem  Bechte  auf  Achtung  der 
Person.  Vielmehr  die  soziale  Stellung  im  Kreise  der  Rechtsgenossen 
ist  ebenso  abhängig  von  dem  Vollbesitze  der  Ehre  als  davon,  ob  die 
Individualität  infolge  genossener  Belehrung  ihre  Kulturaufgaben 
erfüllt 

Von  den  für  die  Entscheidung  in  einem  Kollisionsfalle  nicht  un- 
maßgeblichen Momenten  aber  ist  das  eine  auch  hier  mit  Sicherheit 
zu  verwerten,  die  Belehrung  wird  wohl  ausnahmslos  erfolgen  können, 
ohne  den  Angriff  auf  den  einzelnen,  geschweige  denn  ohne  eine 
auf  diesem  Wege  ergehende  Einmischung  durch  die  Presse.  Die 
Strafbarkeit  der  unnötigen  Einmischung  ergibt  sich  damit  von  selbst, 
kollidierende  Interessen  sind  eben  noch  nicht  da. 

Ein  Rechtsumschwung  tritt  aber  ein,  sobald  mit  dem  Zwecke  der 
Belehrung  ein  anderer  zusammengeht,  sobald  jene  erfolgt  gleichzeitig 
zum  Zwecke  der  Gefahrverhütung.  Der  im  Recht  Jahrgang  1907  aus 
der  Rechtsanalogie  durch  Ausdehnung  des  der  Notwehr,  der  erlaubten 
Selbsthilfe  und  negotiorum  gestio  zugrunde  liegenden  Gedankens 
gewonnene  Schuldausschließungsgrund  trifft  dann  zu,  wenn  die  Hin- 
weisung auf  Tatsachen  nicht  zu  umgehen  war  trotz  ihrer  Rechtsnatur 
als  potentieller  Ehrengefährdung  in  Rücksicht  auf  andere  Personen. 
So  wenn  die  Belehrung  ergeht  über  ein  der  Gesundheit  abträgliches 
Verfahren  eines  Naturarztes,  über  die  Geringwertigkeit  der  Grund- 
stoffe eines  neuerfundenen  Heilmittels,  über  die  Schädlichkeit  von 
Fleischkonserven  im  Betriebe  bestimmter  Handelsfirmen  oder  des 
Färhens  von  Getränken,  die  Schädlichkeit  der  Zusatzstoffe,  über  Vor- 
sichtsmaßregeln beim  Gebrauche  von  Kochgefäßen,  über  die  für  die 

1)  Verß^l.  Alt.  240  StG.B.  für  Sachsen:  „Bei  der  Abwehr  unerlaubter  oder 
unsittlicher  Handlungen  oder  Zumutungen  von  sich  oder  Anderen." 


Presse  und  Recht.  97 

öffentliche  Sicherheit  mangelhafte  Einrichtung  der  Kleinbahnen,  über 
die  UnVollständigkeit  der  Sicherheitsmaßregeln  gegen  ansteckende 
Krankheiten,  Viehseuchen  oder  anderer  öffentlicher  Einrichtungen. 
In  Erörterungen  über  Gegenstände  dieser  Gattung  nämlich  leitet  natur- 
notwendig die  Belehrung  dem  Fallbewandtnis  nach  über  zur  Gefahr- 
wamung.  Sie  kehrt  dann  auch  ihre  Spitze  nur  zu  oft  gegen  be- 
stimmte Persönlichkeiten,  Fabrikanten,  Unternehmer  oder  andere  Ge- 
werbetreibende, staatliche  oder  im  Privatdienste  angestellte  Beamte. 
Das  tritt  um  so  leichter  in  die  Erscheinung,  als  die  Zeitschrift  einen 
relativ  kleinen  Verbreitungskreis  hat,  damit  leicht  erkennbar  ist, 
gegen  welche  Person  die  Beschwerde  sich  richtet  Immer  aber  ist 
Voraussetzung  der  Straflosigkeit  solcher  Veröffentlichung,  daß  die 
Einmischung  der  Presse  nötig,  nämlich  Zahl  und  Individualität  der 
Gefährdeten  unbekannt  sind,  eine  vertrauliche  Warnung  nicht  erfol- 
gen kann,  schließlich  auch,  daß  sich  die  Bekanntmachung  nicht 
mehr  als  nötig  mit  demjenigen  beschäftigt,  gegen  welchen  die  Be- 
schwerde sich  richtet. 

n.  Haftpflicht  der  Presse.     Beeht  der  Kritik. 

Es  unterstellt  die  Volksauffassung  und  ihr  entsprechend  die 
Redeweise,  wie  sie  im  Volke  lebt,  ein  Recht  der  Kritik.  0  Es  darf 
eben  ein  jeder  alles  kritisieren,  was  er  sieht  und  hört,  das  sei  sein 
gutes  Recht.  Und  ein  solches  vindiziert  sich  auch  die  Presse.  Ja 
noch  mehr,  es  erscheint  als  die  Berufsaufgabe  der  Tagespresse,  all- 
gemein interessierende  Tatsachen  mitzuteilen,  die  Leser  sozusagen 
auf  dem  Laufenden  zu  erhalten,  dann  aber  auch  sich  des  Urteils 
nicht  zu  entschlagen. 

In  dieser  Auffassung  liegt  Wahres  mit  Falschem  gemischt. 
Wohl  gibt  es  ein  Recht  der  Kritik,  aber  es  ist  nicht  überall  da  zu 
finden,  wo  man  ein  solches  zu  erkennen  glaubt.  Berücksichtigt  man 
vielmehr,  wie  oft  im  Leben  berufen  und  unberufen  Kritik  geübt  wird, 
so  ist  zu  sagen,  ein  Recht  der  Kritik  solchen  zahllosen  Tageserschei- 
nungen gegenüber  ist  eine  Singularität  Jene  aber  sind  auch  gleich- 
gültig für  das  Rechtsleben,  Veränderungen  in  demselben  hervorzu- 
rufen sind  sie  nicht  geeignet.  Sie  gehen  spurlos  vorüber,  wenn  auch 
zufällig  einmal  das  Urteil  einer  Autorität  an  anderer  Stelle  nicht  ohne 
Rücksicht  bleibt.  Anders  immer  da,  wo  die  Kritik  ein  Recht  ist  und 
als  solches  zur  Ausübung  kommt.  Sie  ist  hier  nur  zu  oft  bestimmend 
für  das  Lebensgeschick  der  ihr  unterworfenen  Volksgenossen,   kann 

1)  Stenglein,  Komment  St.G.B.  S.  413. 
Anhir  ffir  Krlminalaiithiopologie.    28.  Bd.  7 


98  VIII.  ROTERING 

mindestens   ihr    Fortkommen   erheblich   erschweren   oder    gegenteils 
demselben  eine  sichernde  Unterlage  daxbieten. 

Nun  ist  aber  ein  Becht,  ja  sogar  eine  Pflicht  der  Kritik  überall 
da  gegeben,  wo  der  vorgesetzte  Staatsbeamte  ein  Urteil  abzugeben 
hat  in  Beziehung  auf  Leistungen  und  Fähigkeit  des  ihm  unterstellten 
Staatsdieners,  der  staatlich  angestellte  Lehrer  oder  Examinator  über 
das  Wissen  und  Können  des  Examinanden.  Und  es  gehört  zu  den 
im  §  193  Str.GB.  hervorgehobenen  ähnlichen  Fällen,  wenn  in  der 
privaten  Guts-  oder  Eisenbahnverwaltung  oder  in  anderen  privaten 
Unternehmungen  sich  ein  ähnliches  Über-  und  Unterordnungsver- 
hältnis unter  den  Privatbeamten  herausgebildet  oder  die  Familie  einen 
Hauslehrer  zur  Kindererziehung  berufen  hat  0 

Ein  Recht  der  Kritik  ist  auch  da  anerkannt^  wo  das  Gesetz  ein 
solches  anknüpft  au  ein  auf  Dauer  bestehendes  Vertragsverhältnis. 
So,  wo  das  Ausstellen  von  Zeugnissen  vorgeschrieben  ist,  oder  wo 
Innungen  bestehen,  das  Ausstellen  von  Lehrbriefen,  wo  dem  Lehrimg 
ein  Zeugnis  vom  Lehrherrn,  dem  Handlungsgehilfen  ein  solches  vom 
Prinzipal  (§  127  c  Gew.O.,  §  73  Hdls.GB.),  dem  Gesinde  ein  solches 
von  der  Herrschaft  gegeben  werden  soll  oder  mindestens  verlangt 
werden  kann. 

Und  schließlich  ist  das  Recht  der  Kritik  auch  Folge  eines  bloßen 
Auftrags,  es  besteht  daher  für  die  berufenen  Taxatoren  oder  Preis- 
richter. Und  so  kann  ausnahmsweise  auch  einmal  die  Presse  kraft 
Auftrags  das  Recht  der  Kritik  ausüben  wie  da,  wo  ihr  ein  Werk  zur 
Besprechung  zugesandt  worden,  wo  die  Fachpresse  zur  Entscheidung 
in  einem  Wettkampfe  berufen  ist,  die  Theaterrezension  um  eine  Ver- 
öffentlichung von  den  Interessenten  selbst  angerufen  worden. 

Von  solchen  besonderen  Lebenserscheinungen  jedoch  abgesehen 
hat  auch  die  Presse  ein  Recht  der  Kritik  mit  nichten.  Vielmehr  wenn 
sie  kritisiert,  nimmt  sie  nur  eine  aus  der  rechtlichen  Freiheit  sich  er- 
gebende Möglichkeit  rechtlich  erlaubten  Verhaltens  wahr,  was  sie  in 
Ausübung  bringt,  ist  ein  sog.  bloßes  Fakultätsrecht,  res  merae  facul- 
tatis.  Was  sie  wahrnimmt,  ist  nur  eine  Befugnis,  wie  denn  jeder 
Mensch  befugt  ist,  von  seinen  körperlichen  Fähigkeiten  durch  belie- 
bige Körperbewegung  den  beliebigen  Gebrauch  zu  machen.  Gerade 
hierin  aber  ist  gelegen  eine  fernere  Differenzierung  zwischen  der 
Kritik  über  fremde  Leistungen,  wie  eine  solche  einem  jeden  freistellt 
und  keinem  untersagt  werden  kann,  oder  aber  dieser  als  dem  Aus- 
flusse eines  Rechts,   über  dieselben  Lebenserscheinungen  sein  Urteil 


1)  Abhandl.  d.  Verf.  Gerichtssaal  02,  S.  52. 


Presse  und  Recht.  99 

abzugeben.  Jene  allgemeine  Befugnis  nämlich  geht  nur  bis  an  die 
Grenze  des  fremden  Rechts,  eine  Verletzung  oder  Gefährdung  der 
fremden  Ehre  wird  nicht  dadurch  straflos  gestellt,  daß  sie  in  Form 
der  Kritik  entäußert  worden.  Ganz  anders  aber,  wo  die  Kritik  auf- 
tritt als  das  Ergebnis  eines  Rechts  oder  gar  eines  solchen  und  der 
Pflicht  Hier  nämlich  bringt  das  Recht  ein  Opfer  den  Bedürfnissen 
des  Lebens;  letztere  treten  so  dringend  hervor,  daß  sie  sich  durch- 
setzen sollen  nötigenfalls  auch  auf  Unkosten  der  fremden  Ehre. 
Daher  verhält  es  sich  mit  der  berechtigten  Kritik  nicht  anders  als 
mit  den  im  §  193  Str.GB.  hervorgehobenen  „Vorhaltungen  und  Rügen 
der  Vorgesetzten  gegen  ihre  Untergebenen",  —  welchen  gleichstehen 
„dienstliche  —  Urteile  von  seiten  eines  Beamten''.  Soweit  die  Presse 
ein  Recht  der  Kritik  nachzuweisen  vermag,  wird  daher  die  Mittei- 
lung auch  dann  noch  nicht  in  den  Schatten  des  Strafrechts  gerückt, 
wenn  sie  an  und  für  sich  eine  Beleidigung  entbietet,  so  lange  nicht 
der  Exzeß  in  der  Form  oder  den  Umständen  sich  kundbart.  Karrika- 
turen  sind  nicht  gestattet,  auch  nicht  der  Witz,  welcher  das  plus  quam 
ridiculum  schlecht  verhehlt.')  Es  entspricht  der  kulturellen  Entwick- 
lung und  der  Verbreitung  der  Tageszeitungen,  bis  in  die  niederen 
Schichten  der  Bevölkerung  hinein,  wenn  nicht  allein  die  Mitteilung 
allgemein  interessierender  Ereignisse,  sondern  deren  Beurteilung  also 
die  Kritik  nicht  selten  in  bestimmter  politischer  oder  konfessioneller 
oder  literarischer  Färbung  von  der  Presse  verlangt  und.  eine  Zeit- 
schrift refüsiert  wird,  welche  solchen  Anforderungen  nicht  entspricht. 
Solche  Postulate  sind  die  natumotwendige  Folge  allgemein  verbrei- 
teter und  verbesserter  Schulbildung.  Diesen  Anforderungen  aber 
hat  die  Gesetzgebung  keine  Konzessionen  gemacht  Vielmehr  diesen 
Veröffentlichungen  ist  die  Barre  da  gestellt,  wo  dieselben  das  Gewand 
der  potentiellen  Gefährdung  fremder  Ehre  umzulegen  sich  unter- 
fangen. In  gewissem  Sinne  läßt  sich  sagen,  die  Gesetzgebung  ging 
mit  der  Zeit  nicht  mit.  Allein  diese  Rückständigkeit  ist  nicht  auf 
dem  Blatte  verzeichnet,  auf  welchem  die  Fehler  eingetragen  sind, 
welche  auch  ihr  anhaften,  wie  allem  menschlichen  Bestreben.  Viel- 
mehr sind  es  rechtspolitische  Momente,  welche  einem  Fortschritt  hin- 
dernd entgegenzutreten  scheinen.  Wenn  die  revolutionären  Strömun- 
gen jenseits  des  Rheins  in  ihrer  Nachwirkung  auch  für  die  deutschen 
Lande  allerdings  die  Zensur  beseitigt  hatten,  welche  bei  der  Stagna- 
tion des  politischen  Lebens  insbesondere  während  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  so  lange  eine  lähmende  Fessel  gewesen  war  für  die 


1)  Nicht  das  vexandi  causa  1.  13.    3  Big.  de  injur. 


7* 


100  VIII.  ROTERING 

immer  mächtiger  sich  entfaltende  Tagespresse,  so  mußten  naturgemäß 
dieselben  Strömungen  das  Caveant  consules  der  Legislatur  da  zu- 
rufen, wo  die  Gefahr  besteht,  daß  auch  die  Presse  ihnen  ein  Opfer 
bringen  könnte  auf  Kosten  dessen,  was  als  das  Rechtsgebiet  der  boni 
mores  und  des  jus  publicum  von  den  Alten  einst  bezeichnet  worden. 
Das  adversus  bonos  mores  convicium  cui  fecisse  durfte  nicht  straflos 
ausgehen,  auch  für  die  Presse  blieb  immer  das  praetorische  Verbot, 
ne  quid  infamandi  causa  fiat.  Es  trifft  daher  nicht  zu,  wenn  aus 
der  modernen  Verkehrsüblichkeit  heraus  die  Aufgaben  der  Presse, 
wie  das  Wirtschaftsleben  allerdings  sie  stellt,  entwickelt  werden  und 
aus  diesen  heraus  der  Einwand  des  berufsmäßigen  Gebahrens  auch 
dann  erhoben  wird,  wenn  bei  loyaler  Absicht,  in  gutem  Glauben 
ehrenkränkende  Tatsachen  kundgegeben  werden,  welche  doch  nicht 
zu  beweisen  sind.  Dieser  Einwand  ist  nicht  geeignet,  die  Behauptung 
unwahrer  Tatsachen  dem  Schatten  des  Strafrechts  hinwiederum  zu 
entrücken.  Die  Gesetzgebung  ging  eben  mit  der  kulturellen  Ent- 
wicklung doch  nicht  mit  und  die  Reserve  des  Gesetzgebers  hat  ihren 
guten  Grund,  ist  ihm  aufgedrungen  durch  das  Vorhandensein  kolli- 
dierender Interessen  des  Volksbedürfnisses  auf  der  einen  Seite,  der 
Staatssicherheit  auf  der  anderen,  und  mit  ihr  des  Schutzes  der  bür* 
gerlichen  Ehre  der  Rechtsgenossen. 

Zu  einem  entgegengesetzten  Ergebnisse  führt  auch  nicht  etwa 
die  Auslegung  des  §  193  RStr.GB.  Wenn  das  Gesetz  „tadelnde  Ur- 
teile über  wissenschaftliche,  künstlerische  oder  gewerbliche  Leistungen^ 
nur  für  strafbar  erklärt,  insofern  ^das  Vorhandensein  einer  Beleidi- 
gung  aus  der  Form  der  Äußerung  oder  aus  den  Umständen^  her- 
vorgeht, so  hat  die  normative  Satzung  in  diesem  ihrem  Bestandteile 
nicht  etwa  der  Freiheit  der  Kritik  ein  weiteres  Feld  eröffnen  wollen, 
sie  hat  überhaupt  keine  disponierende  Bedeutung,  ist  vielmehr  aus- 
schließlich deklaratorischer  Rechtsnatur.  Gerade  hier  ist  nicht  zu- 
rückzuweisen die  geschichtliche  Entwicklung^)  als  Auslegungsmittel 
für  das  Gesetz.  Denn  wir  kennen  die  Kräfte,  wir  kennen  die  sozia- 
len Lebenserscheinungen,  welche  in  der  Zeit  seines  Werdeganges  für 
den  legislatorischen  Gedanken  die  mitbestimmenden  Faktoren  waren. 
Die  Gesellschaft  des  achtzehnten  Jahrhunderts  wendete  bei  dem  Er- 
starren des  öffentlichen  Lebens  unter  dem  Drucke  einer  lähmenden 
Zensur  den  kleinlich  lokalen  Interessen  ihre  Aufmerksamkeit  zu,  die 
ständische  Gliederung  zersplitterte  sie  in  sich  abschließende,  sich  be- 
feindende, beneidende  Kreise,  das  Ringen  um  äußerliche  Ehrenvorzüge 


1)  Finger,  Lebrb.  I,  S.  ISl. 


Presse  und  Recht.  101 

leitete  über  zur  Überspannung  des  Ehrbegriffes,  diese  zu  einer  in 
massenhaften  Zweikämpfen  sich  auslebenden,  zu  den  landesherrlichen 
Duellmandaten  nötigenden  gesellschaftlichen  Reibung,  vermehrt  durch 
das  Haschen  nach  den  Vorzügen  des  Standes,  des  Ranges  und  der 
Titulatur  mit  einer  in  dem  Grade  unvernünftigen  Wertschätzung,  daß 
nichts  unsympathischer  war  als  der  Gedanke,  diese  Differenzierung 
könnte  einmal  niedergelegt  werden  in  den  Regionen,  welche  für  uns 
alle  ein  unbekanntes  Land  sind.  Daher  die  Ehrenbezeugung,  welche 
auch  dem  Verstorbenen  zuzumessen  war,  genau  nach  dem,  was  ihm 
im  Leben  zustand.  Ohne  die  Höflichkeitsprädikate  —  selig  —  wohl- 
selig —  hoch-,  schließlich  höchstselig  —  wäre  auch  ein  ewiges  Leben 
nicht  auszudenken  gewesen.  Daher  die  Häufung  der  Titulaturen, 
wie  man  einst  zu  sagen  pflegte,  der  Solemnes  adlocutionis-for- 
mulae  0  für  die  höheren  Stände,  sie  reichten  bis  zu  dem  „ehrenfesten, 
weitberichteten  Meister  des  Handwerks  herunter,  das  Sichverlieren 
„in  die  unendliche  Verletzlichkeit  des  individuellen  Gefühls  und  Stan- 
desvorurteils". 2)  Die  Epidemie  der  Injurienprozesse,  wenn  einmal 
das  unterlassene  Grüßen,  Nachtrinken,  schließlich  die  Nichtbefolgung 
der  gerichtlichen  Ladung  3)  oder  gar  die  Herabsetzung  wissenschaft- 
licher, künstlerischer,  technischer  Leistungen  strafrechtlich  zu  rügen 
waren,  wenn  in  jeder  zurückgehaltenen  Ehrenbezeugung  dem  Beamten 
entgegen  die  Beleidigung  lag,  war  erklärlich.  Es  war  in  jener  Zeit, 
als  die  Versagung  des  „Ew.  Gnaden"  zum  Verluste  des  Lehns  führte, 
die  Klagen,  Beschwerden  und  Suppliken  mehr  Titulaturen  und  Erge- 
benheitsausdrücke darboten  als  gesunde,  sachentsprechende  Gedanken. 
Diese  Überreizung  entsprach  der  beschränkten  örtlichen  Gebundenheit 
der  Zeit.  Die  Stadt  oder  das  Dorf,  die  engere  Heimat  waren  die 
Welt  Wohl  war  der  ritterlichen  Standesehre  die  Rechtsbasis  ent- 
zogen, längst  hatte  in  den  Städten  der  echte  Begriff  der  bürgerlichen 
Ehre  sich  entwickelt,  aber  der  Bauernstand  oder  wer  sonst  zu  „den 
armen  Leuten"  gehörte,  war  dieser  Ehre  nicht  teilhaftig.  Ein  ge- 
wisses Stück  Menschheit  zählte  noch  nicht  mit.*)  Der  Bauer  lebte 
in  Stumpfsinn  dahin,  „leg  dich  krumm  und  Gott  hilft  dir",  war  die 
Devise,  ein  altes  Bauemwort.  Endlich  aber  nahm  die  Doktrin  doch 
Stellung  diesem  ^)  so  schwer  pathologischen  Zustande  der  Gesellschaft 

1)  Pütter,  Staatsrecht,  §  24. 

2)  Koßlin,  S.  72. 

3)  Weber  III,  S.  216.    H  elf  fehl  Jurisp.  for.,  S.  252.    Verweigerung  des 
Tanzes,  Händedrucks,    v.  Bülow,  Gerichtssaal  46,  S.  270. 

4)  Roßhirt,  Gesch.  d.  St.R.  II,  §  103.      Hälschner,   System  I,  S.  213. 
Osenbrügger,  Alamannisches  St.R.,  S.  243.    Köstlin,  S.  13,  76. 

5)  Rieh! ,  Burg.  Gesellschaft  I,  1. 


102  Vm.  ROTEEIKG 

entgegen,  und  das  war  in  jenen  Tagen,  als  das  achtzehnte  Jahrhun- 
dert sich  zum  Abschluß  neigte.  Auch  die  Bedaktoren  des  Allgemei- 
nen Preußischen  Landrechts  hatten  das  Kranken  der  Volksseele  nur 
zu  wohl  erkannt.  Nun  vollzog  sich,  was  Weber  *)  angebahnt,  es  er- 
folgte eine  gesunde  Reaktion.  Und  diese  einzuleiten  waren  die  §§  552 
u.  f.  IL  20  des  Gesetzbuchs  berufen.  Erwägt  man,  daB  gerade  das 
achtzehnte  Jahrhundert^  zumal  in  der  keineswegs  allein  die  schönen 
Wissenschaften  oder  die  Dichtkunst  beeinflussenden  Periode  des 
Sturmes  und  des  Dranges,  unter  der  Signatur  des  Aufschwungs  zur 
Rüste  ging,  daß  die  Erzeugnisse  der  Dichtkunst,  Malerei  und  Archi- 
tektur, die  Umwälzung  auf  dem  Gebiete  der  Technik  fort  und  fort 
das  offenfliche  Urteil  herausforderten,  so  erklärt  sich,  daß  gemäß  der 
Auffassung  Webers,  „daß  freimütige  Urteile  über  Werke  des  Geistes 
und  der  Eunst^  bloß  darum,  weil  sie  eine  unangenehme  Empfindung 
erregen,  eine  Beleidigung  nicht  sind,  der  §  562  Tit  20  II  den  ani- 
mus  injuriandi  nicht  vermuten  ließ  „bei  öffentlichen  Urteilen  über 
Werke  oder  Handlungen  der  Kunst,  des  Geistes  oder  des  Fleißes",  — 
insofern  sie  eingeschränkt  werden  auf  den  Gegenstand  selbst  Allein 
damit  war  der  Übelstand  nicht  allsofort  beseitigt  Es  wiederholte 
sich  eine  Erscheinung,  welche  das  ganze  Mittelalter  beherrscht,  das 
Rechtsleben  hält  fest  an  alter  Grundlage,  wie  eben  „ein  und  der- 
selbe Geist"  dasselbe  Jahrhunderte  hindurch  durchwehte.  Noch 
immer  erschien  als  Ebrenkränkung  die  Unterlassung  des  Grußes,  die 
Nichterwiderung,  das  Verweigern  des  Tanzes  oder  des  Mittrinkens,  *-) 
die  Reaktion  nach  der  Wende  Jahrhunderts  war  der  Nivellierung  der 
Stände  wieder  abträglich,  und  so  erschien  die  Aufnahme  desselben 
Rechtsgedankens  in  den  §  154  Preuß.  Str.GB.  als  der  Versuch  „eines 
praktischen  Fingerzeigs"  als  noch  nicht  unentbehrlich.  Aber  nicht 
als  Ergebnis  der  Gesetze,  vielmehr  als  die  naturnotwendige  Folge  der 
sozialen  Entwicklung,  der  Verkümmerung  alles  politischen  und  öffent- 
lichen Leben,  wie  sie  die  Jahrhunderte  gezeitigt  hatten,  war  auch 
dann  noch  nicht  überwunden,  was  Köstlin  bezeichnet  als  den 
„übertriebenen  Selbstkultus  verweichlichter  Stubenhockerempfindlich- 
keit", Binding  als  „die  alte  unjuristische  Gefühlstheorie"  ^),  und  so 
wurde  der  wesentliche  Inhalt  des  §  154  Str.GB.  in  das  RStr.GB. 
übernommen.  Aber  auch  das  geschah  mit  nichten,  um  etwa  ein 
neues  bis  dahin  unbekanntes  Recht  der  Kritik  zu  begründen,^)  viel- 

1)  Weber  1,  S.  124. 

2)  Tittmann,   Ilandb.  S.  198,  IL    Köstlin,  S.  48.    Zöpfl,  Rechtsalter- 
thümcr  II,  S.  393.    Heffter,  Lebrb.,  §300.    v.  Bülow,  Gerich tssaaU 6,  S.  270. 

3)  Binding,  Lchrb.  I,  §  132. 

4)  Jedoch  v.  Bülow,  Gericht8saal  46,  S.  274. 


Presse  und  Recht.  -  103 

mehr  nur,  wie  die  Motive  bemerken,  um  anzudeuten,  daß  die  Hand- 
lung mit  Bücksicht  auf  den  Gegenstand  ungeeignet  sei,  „den  Schluß 
auf  einen  rechtswidrigen  Willen  zu  gestalten^,  also  im  Hinblick  auf 
die  in  einer  abgeklungenen  Eulturperiode  sich  ablagernde  Bechtsver- 
wirrung,  im  Hinblick  darauf,  daß  es  so  unendlich  schwer  ist,  Irr- 
tümer eines  eingewurzelten  Bechtsgefühls  zu  Grabe  zu  tragen. 

Soviel  hatte  man  längst  erkannt,  daß  tadelnde  Urteile  über  die 
Leistungen  eines  Bechtsgenossen  eine  Beleidigung  der  Person  nicht 
sind,  weil  diese  Leistungen  ein  von  dieser  getrenntes  Dasein  führen. 
Wer  sein  Werk  herausgibt,  „löst  es  dadurch  von  seiner  Person,  *) 
daher  unterliegt  die  Kritik  der  letzteren  rechtlich  einer  anderen  Be- 
urteilung, sie  wird  durch  den  §  193  nicht  gedeckt. 

Man  hat  aber  die  Freiheit  der  Kritik  der  im  Gesetze  hervorge- 
hobenen Leistungen  als  etwas  so  Selbstverständliches  erachtet,  daß 
die  normative  Satzung  doch  wohl  ein  weiteres,  nämlich  auch  das 
bezweckt  habe,  „die  aus  Anlaß  einer  wissenschaftlichen  usw.  Leistung 
erfolgende  Kritik  der  Person  für  straflos**  zu  erklären.  2) 

Dieser  Rechtsansicht  wird  beigetreten,  jedoch  die  Straflosigkeit 
der  Kritik  der  Person  nur  in  bestimmter  Tragweite  aus  anderem 
Grande  behauptet  Die  Kritik  der  Person  nämlich  ist  jedenfalls  in- 
soweit freigegeben,  als  sie  sich  mit  Notwendigkeit  aus  dem  Geleiste- 
ten oder  Geschaffenen  selbst  ergibt.  Denn  da  dieses  von  der  Person 
losgelöst  und  dem  Urteile  der  Offentiichkeit  preisgegeben  ist,  so  hat 
die  Person  selbst  auch  dieses  Urteil  vorausgesehen  und  genehmigt. 
In  dieser  Tragweite  kann  sie  sich  durch  die  Kritik  nicht  beleidigt 
fühlen,  volenti  non  fit  injuria.  So  wenn  der  Inhalt  der  Schrift  den 
Schluß  gestattet,  der  Verfasser  sei  ein  Gottesleugner  oder  Anarchist 
oder  dem  Aberglauben  verfallen.  Insoweit  nämlich  ermangelt  der 
Verfasser  der  Achtungsbedürftigkeit  und  damit  der  Fähigkeit,  belei- 
digt zu  werden.  Selbst  wo  infolge  Mißverständnisses  eine  Schrift 
falsch  beurteilt,  z.  B.  die  Ironie  nicht  erkannt  wird,  kann  die  an  und 
für  sich  nicht  zutreffende  Kritik  der  Person  als  entschuldbar  er- 
scheinen. £s  fällt  ins  Gewicht,  daß  man  dem  Verfasser  nicht  sugge- 
rieren darf,  er  glaube  selbst  nicht,  was  er  ausführe. 

m.  Haftpflicht  der  Fresse.     Büge  allgemeiner  Übelstände. 

Das  berechtigte  Interesse  im  Sinne  des  §  193  BStr.GB.  hat  seine 
Begrenzung  in  der  Bichtung  zunächst,   daß  unser  Werturteil  nicht 


1)  Kronocker,  Ger.  S.  38  zu  III. 

2)  Frank,  Kommentar,  §  193. 


104  VIII.   ROTERIKG 

verstoßen  darf  gegen  das  Becht  und  die  guten  Sitten.    Hier  nämlich 
hört  das  Interesse  auf,  ein  berechtigtes  zu  sein. 

Eine  andere  Betrachtung  muß  ergehen  in  der  Richtung,  wann 
das  Interesse  beginnt,  ein  berechtigtes  zu  werden?  Verweist  nun 
auch  das  Wort  ^berechtigte  der  Umgangssprache  wohl  entsprechend 
keineswegs  auf  das  Dasein  eines  subjektiven  Rechts,  so  doch  jeden- 
falls auf  das  Rechtsleben.  Die  Lebensbeziehungen,  auf  deren  Be- 
stehen das  Gewicht  gelegt  wird,  müssen  schlechterdings  auf  der  Ebene 
des  Bechtslebens  sich  ablagern.  Und  dem  Bechtsleben  entgegen  steht 
gewissermaßen  als  ein  Minus  das  soziale  oder  das  bloße  Gesellschafts- 
leben. Es  gibt  Rechtsvorteile  und  Rechtsnacbteile,  es  gibt  aber  auch 
Vorteile  und  Nachteile,  welche  unter  jene  Kategorie  noch  nicht  fallen. 
Bloße  Unannehmlichkeiten,  auch  Zurücksetzungen  im  Gesellschafts- 
leben 0  sind  solche  nicht,  Unhöflichkeiten  sind  keine  Beleidigung,  das 
alles,  wenn  solche  Dinge  nicht  ausnahmsweise,  wie  in  den  Kreisen 
des  hohen  Regimes,  der  Politik,  der  Diplomatie  und  des  Hoflebens 
bestimmungs-  oder  usancemäßig  die  Stelle  bestimmter  Willenserklä- 
rungen vertreten  sollen.  Der  Grund  ist  darin  gelegen,  daß  anders 
nur  unser  Gefühlsleben  durch  dieselben  berührt  wird,  aber  gerade 
dieses  in  der  Gesetzgebung  als  ein  zu  schützendes  Rechtsgut  nur  ganz 
ausnahmsweise  in  das  Rechtsgüterinventar  ist  eingereiht  worden. 
Der  Rechtsschutz,  bekannte  Ausnahmen  (§§  116.  189.  183.  360  n.  13; 
Vogelschutz-Ges.)  hinweggedacht,  begnügt  sich  „mit  einer  Sicherstel- 
lung starker,  allgemeiner,  also  inhaltlich  gleicher  Empfindungen^. 
^Rechts-  und  Rechtsgüterschutz  ist  die  Aufgabe  der  Rechtsordnung 
und  nicht  Gefühlsschutz."  *^) 

Das  Affiziertwerden  unseres  Gefühlslebens  aber  ist  Tagesereignis 
infolge  der  Zugehörigkeit  zu  einer  der  unzähligen  Personenmehr- 
heiten. Jeder  Rechtsgenosse  hat  eine  weitere  oder  engere  Heimat, 
gehört  dem  Staate  an,  der  Provinz,  der  Ortsgemeinde,  seine  Geburt 
verweist  auf  eine  solche  immer,  sein  Glaubensbekenntnis,  wenn  auch 
nicht  ausnahmslos,  auf  Zugehörigkeit  zu  einer  kirchlichen  Gemein- 
schaft, einer  politischen  Partei,  die  Nationalität  und  die  Sprache  ver- 
weisen auf  die  Zugehörigkeit  zu  einem  Verbände,  welcher  durch  die 
Mehrheit,  unbestimmt  welcher  und  wievieler  Personen,  mithin  durch 
das  Unabgeschlossene  seines  Daseins  sich  kennzeichnet  Bisweilen 
treten  verschiedene  dieser  die  Gemeinsamkeit  begründenden  Lebens- 
erscheinungen verbunden  auf,  die  Katholiken  polnischer  Zunge,  die 
braunschweigischen  Weifen  sind  Beziehungen,  welche  die  Tagespresse 

1)  Betreffend  den  geselligen  Verkehr  E.  Kassel,  Goltd.Arch.  53,  S.  86. 

2)  Binding,  Nonnen  I,  S.  347.  363, 


Presse  und  Hecht.  105 

ZU  besprechen  pflegt  Bisweilen  auch  treten  die  Verbände  der  Kechts- 
genossen  auf  in  noch  weniger  oder  ganz  und  gar  nicht  geschlossener 
Einheit.  Die  Vertreter  der  Kunst  oder  die  Vertreter  der  Wissenschaft 
sind  dieses  nur  infolge  allgemeiner  Anerkennung  ihrer  Leistungen 
oder  Kenntnisse,  sie  darben  nur  als  solche  der  formellen  Legiti- 
mation. 

Je  intensiver  nun  das  Interesse  der  Individualität  besteht  für  die 
idealen,  die  Gemeinsamkeit  erst  begründenden  Lebensbeziehungen,  je 
mehr  die  Heimatliebe  sich  erhalten  hat,  die  Pietät  als  das  gemein- 
same Fühlen  mit  der  religiösen  Gesamtheit,  je  reger  die  Beteiligung 
am  politischen  Leben  in  die  Erscheinung  tritt,  das  nationale  Empfin- 
den, die  Pflege  der  Muttersprache,  schließlich  der  Kunst  und  der 
Wissenschaft  0  überhaupt,  um  so  tiefer  wird  es  empfunden,  wenn 
sich  die  Angriffe  von  feindlicher  Seite  gegen  das  richten,  was  als 
Lebensideal  nun  einmal  erkannt  worden.  Und  allsofort  erhebt  sich 
die  Frage,  ob  die  Abwehr  solcher  Angriffe  als  Wahrnehmung  berech- 
tigter Interessen  im  Sinne  des  §  193  Str.GB.  erscheint,  ob  sie  also 
straflos  gestellt  ist  trotz  potentieller  Gefährdung  jener  Persönlichkeit, 
von  welcher  die  Invektive  ausgegangen  ist 

Und  zu  einem  negativen  Ergebnisse  führt  die  Betrachtung  um 
deswillen,  weil  das  Affiziertsein  des  Gefühls-  und  Empfindungslebens 
zwar  als  ein  Übel  aufscheint,  keineswegs  aber  schon  als  em  Übel  im 
Bechtssinne.  Denn  jene  Unzuträglichkeit  läßt  unsere  Bechtsstellung 
nach  wie  vor  intakt,  alles  bis  dahin  Geschehene  hat  sich  noch  nicht 
abgelagert  auf  der  Ebene  des  Rechtslebens  selbst  Wohl  mag  unser 
Interesse  verletzt  sein,  es  hält  schwer,  diesen  Begriff  zu  begrenzen, 
wohl  mag  auch  ein  Interesse  der  Abwehr  gegeben  sein,  aber  ein 
berechtigtes  Interesse,  und  zwar  ein  solches  im  Sinne  des  Berechti- 
gungsparagraphen, tritt  noch  nicht  in  den  Blickpunkt  der  Reflexion, 
ist  auch  das  soziale  Leben,  das  Gesellschaftsleben  in  Mitleidenschaft 
gezogen.  Nicht  bloß  an  dieser  Stelle  im  Recht  tritt  uns  dasselbe 
Phänomen  entgegen.  Die  Erregung  antipathischer  Gefühle,  des  Un- 
willens und  des  Zorns  in  der  Gesellschaft  sind  noch  nicht  grober 
Unfug.  2)  Auch  das  Unabgeschlossene  des  Gesellschaftskreises  beein- 
flußt dieses  Urteil  nicht  Erst  die  Störung  der  öffentlichen  Ordnung 
in  der  Außenwelt,  die  Erregung  des  Tumults,  Zusammenlaufs,  Ge- 
dränges, der  zur  Ungebühr  gehemmten  oder  beschleunigten  Bewe- 
gung des  Publikums  verschiebt  die  Rechtslage.  Denn  in  demselben 
xiugenblick  erhebt  sich  die  abstrakte  Gefahr  der  Rechtsgüterverletzung. 

1)  E.R.G.  Goltd.Arch.  52,  S.  85. 

2)  Goltd.Arch.  52,  S.  205. 


106  VIII.   ROTERING 

Wie  oft  ist  es  nicht  die  so  geschaffene  Reibung  zwischen  Personen 
oder  Sachen  oder  zwischen  der  Person  zur  Sache,  welche  als  die 
Vorbedingung  der  Verletzung  hinsichtlich  der  Integrität  der  Indivi- 
dualität oder  des  Sachguts  in  Wirksamkeit  getreten  ist?  Nicht 
anders  in  dem  Reehtskreise  der  Erpressung.  Die  hier  als  Delikts- 
merkmal fungierende  Drohung  muß  sein  eine  solche  im  Rechtssinne, 
eine  solche  mit  dem,  was  nur  erst  unangenehm  ist,  unser  Gefühl 
verletzt,  ist  nicht  geeignet,  als  kausal  in  der  engeren  strafrechtlichen 
Betrachtungsweise  aufscheinen  zu  können.  Letztere  vielmehr  darbt 
der  Eigenschaft,  den  psychologischen  Zwang  zu  bewirken,  sie  ist 
nur  geeignet,  etwa  zufällig  andere,  dem  Drohenden  unbekannte  Mo- 
tive zu  wecken,  dadurch  zur  Handlung  oder  Unterlassung  die  Ver- 
anlassung zu  bieten. ')  Deshalb  soll  das  angedrohte  Übel  seine  Be- 
ziehung haben  auf  Vermögen,  Ehre,  Freiheit,  den  Hausfrieden  oder 
auch  öffentliche  Berechtigungen,  2)  welche  auf  dem  Rechtsboden  des 
sozialpolitischen  Lebens  zur  Geltung  kommen.  Ein  Übel  aber,  welches 
unser  Rechtsleben  allganz  unberührt  läßt,  ermangelt  der  erforderlichen 
Intensivität,  um  eine  für  den  Vermögensbestand  erhebliche  Handlung 
oder  Unterlassung  auszulösen,  die  Rechtsgenossen  können  unmöglich 
bloß  zwecks  Abhaltung  der  täglich  und  aller  Orten  auf  sie  eindrin- 
genden antipathischen  Gefühle  auf  Kosten  Ihres  Vermögensbestandes 
ein  Opfer  bringen.^)  Dasselbe  Rechtsphänomen  wiederholt  sich 
innerhalb  eines  anderen  Rechtskreises,  und  zwar  desjenigen,  welcher 
das  Gebiet  der  Urkundenfälschung  bestreicht.  Und  zwar  dieses, 
soweit  das  Gebrauchmachen  von  der  falschen  Urkunde  in  Frage  ge- 
stellt ist.  Denn  auch  hier  muß  der  Gebrauch  statthaben  zu  dem 
Zwecke,  „rechtliche  Wirkungen"  auszulösen,  eine  „rechtlich  bedeut- 
same Handlung  oder  Unterlassung".^)  Auch  hier  reicht  nicht  aus 
die  alleinige  Absicht,  auf  das  Gefühlsleben  anderer  einzuwirken,  es 
ist  (Frank)  ^)  kein  Gebrauch  machen,  wenn  der  Student  die  quittierte 
Schneiderrechnung  dem  Vater  an  den  Weihnachtsbaum  hängt,  bloß 
um  ihm  eine  Freude  zu  bereiten.  Dann  also  auch  nicht  das  Vor- 
zeigen einer  gefälschten  Quittung,  bloß  um  das  Gefühl  des  Neides 
in  einem  Konkurrenten  zu  erwecken.  Denn  die  rechtswidrige  Absicht 
des  §  267  RStr.GB.  ist  schlechterdings  auf  einen  Zweck  gerichtet, 
welcher  nicht  ausschließlich   im  Gesellschaftsleben  sich  auslebt,   die 

1)  Hälschner,  StR.  II,  S.  3Sl. 

2)  V.  Schwarze,  Komm.,  §  259. 

3)  Binding,  Grundriß,  §  183. 

4)  Binding,  1.  c.  III,  S.  206. 

5)  Komm.  §  267,  VI. 


Presse  und  Recht.  107 

Eecbtsgenossen  bloß  von  der  Seite  des  Gefühlslebens  in  Mitleiden- 
scbaft  zieht 

Es  geht  nicht  an,  ^eine  Rechtsverletzung  darin  zn  suchen,  daß 
irgend  ein  Seelenzustand  in  uns  gegen  unseren  Willen  hervorgerufen 
wird*.  0  Um  den  ausschließlich  inneren  Vorgang,  um  ein  vorüber- 
gehendes, bald  sich  verflüchtigendes  Unlustempfinden  kümmert  sich 
nicht  das  trockene  Becht.  Es  ist  eben  das  menschliche  Empfmdungs- 
leben  nicht  allgemein  ein  schutzwürdiges,  schutzbedürftiges  Bechtsgut. 
Nur  ganz  ausnahmsweise  wird  dem  Gefühl  eine  Beachtung  geschenkt, 
wenn  die  Umschau  ergeht  nach  Schutzgütern  des  Strafrechts.  *'^) 

Allein  es  ist  mit  nichten  etwas  der  Persönlichkeit  Unwürdiges, 
wenn  das  Gefühlsleben  affiziert  wird  durch  Angriffe  auf  das  Vater- 
land, die  engere  Heimat,  die  Religion  oder  die  einzelne  Kirchen- 
gesellschaft, selbst  auf  die  Sprache  oder  die  Landessitten,  zumal 
wenn  solche  ergehen  etwa  fern  von  der  Heimat  oder  da,  wo  die 
eigene  Kirche  ecclesia  pressa  ist  —  oder  durch  Angriffe  auf  die  Kunst 
oder  Wissenschaft,  zumal  von  seiten  solcher  Individualitäten,  welche 
das  Leben  nur  von  der  Vergnügenskante  aus  zu  beurteilen  verstehen. 
Niemand  wird  sagen,  daß  solche  Vorkommnisse  nicht  uns  nahe  an- 
gehende Angelegenheiten  sind. 

Wenn  daher  gleichwohl  der  höchste  Gerichtshof  die  Kränkung 
des  Werturteils  hinsichtlich  jener  idealen  Lebensbeziehungen  nicht 
als  eine  den  Angehörigen  solcher  Gemeinschaften  angehende,  ihn 
treffende  „individuelle  Angelegenheit**  betrachtet 3),  so  daß  derselbe  in 
Wahrnehmung  eines  berechtigten  Interesses  auch  die  Abwehr  selbst 
unter  potentieller  Ehrenkränkung  für  denjenigen,  von  welchem  die 
Invektive  ausgeht,  unternehmen  darf,  so  kann  der  Rechtsgrund  dieser 
Entscheidung  nur  darin  gelegen  sein,  daß  die  sich  ausschließlich  in 
unserem  Gefühlsleben  ablagernde  Unstimmigkeit  die  Entscheidung 
Rechtens  nicht  bestimmt,  vielmehr  nur  der  Reflex  auf  das  Rechts- 
leben. So  sind  es  nur  die  Rechtsinteressen,  deren  Wahrnehmung 
auch  eine  potenziell  beleidigende  Äußerung  straflos  zu  stellen  geeignet 
ist.  In  dem  Kreise  des  durch  den  §  193  beizulegenden  Wettstreits 
kollidierender  Interessen  wiegt  die  alleinige  Gefühlsverletzung  die 
Ehrenverletzung  nicht  auf.  Eine  Rechtsauffassung  im  Sinne  Gegen- 
teils würde  den  Zaun  des  Ehrenschutzes  an  so  ungezählten  Stellen 
durchbrechen,  daß  ein  für  das  Gesellschaftsleben  ausreichender  Schutz 


1)  Glaser,  Abh.  d.  Österreich.  St.R.,  S.  12. 

2)  Binding,  Normen  II  n.  766,  I  S.  364. 

3)  E.R.G.  Goltd.Arch.  43,  S.  3S4  und  45  S.  504  und  E.R.G.  23,  S.  422. 


108  VIII.  ROTERING 

Überhaupt  nicht  mehr  gegeben  wäre.  0  I^^r  Seelenschmerz,  über- 
haupt das  Affizieren  des  Empfindungslebens,  dieser  rein  interne  Vor- 
gang, will  ertragen  sein,  die  Ehrenkränkung  mit  ihrer  unausbleib- 
lichen Bückwirkung  für  unsere  soziale  Stellung  und  Wirken  harrt 
der  strafrechtlichen  Keaktion.  Dieses  ist  der  utilitare  Gesichtspunkt, 
welcher  seine  Bücksicht  fordert.  Die  Herabminderung  der  subjek- 
tiven  Ehre  unterbindet  dem  Beleidigten  die  Möglichkeit  sozialen 
Schaffens.  *^) 

Wohl  ließe  sich  speziell  für  die  Presse  eine  Ausnahme  dann 
wenigstens  aufstellen,  wenn  die  Bekanntmachung  eines  Ubelstande^ 
in  wohlmeinender  Absicht  statthat.  Es  gibt  Legislaturen,  welche  diese 
Ausnahme  machen.    So  bestimmt  Art  261  Str.GB.  für  Italien: 

„Es  liegt  weder  Schmähung  noch  Schmähschrift  vor,  wenn  der 
Täter  augenscheinlich  im  allgemeinen  Nutzen  gehandelt  hat." 

Auch  Bulgarien  239  verordnet  Straffreiheit,  wenn  die  Verbrei- 
tung „im  Interesse  des  Staats  oder  der  Gesellschaft"  getan  ist,  es  ge- 
stattet auch  Solothurn  130  den  Beweis,  daß  die  Veröffentlichung 
^nicht  in  böswilliger  Weise  geschah''  —  die  Wahrheit  der  Tatsache 
vorausgesetzt 

Das  BStr.GB.  hat  das  Bestreben,  im  Interesse  der  Öffentlichkeit 
einzugreifen,  als  einen  Strafausschließungsgrund  nicht  anerkannt  Es 
kann  daher  die  Presse  die  Büge  über  allgemein  empfundene  Übel- 
stände, welche  sich  aber  nur  für  das  Empfindungsleben  anderer  be- 
merkbar machen,  im  Publikum  antipathische  Gefühle  erzeugen,  die 
Mißbilligung  bis  zur  Entrüstung  hinan,  nur  ergehen  lassen  bis  an  die 
Barre  der  potentiellen  Ehrenkränkung  solcher  Personen,  welche  jene 
Unzuträglichkeiten  verschulden  sollen.  Auch  die  gute  Absicht,  „im 
Interesse  des  Staates  oder  der  Gesellschaft"  die  Preßrüge  ergehen  zu 
lassen,  hat  eine  schuldausschließende  Wirkung  keinesfalls.  ^)  Vielmehr 
jenen  Unwillen,  die  Entrüstung,  als  das  bloße  intensive  Mitfühlen  mit 
fremdem  Leid  muß  die  Gesellschaft  ertragen,  sie  kann  den  Kampf 
nicht  aufnehmen  mit  allen  Dingen,   welche   ihr  unsympathisch  sind. 

Mißgriffe  in  der  Gesetzgebung,  Übelstände  in  der  Staats-, 
Finanz-,  Kirchen-,  Gemeinde-,  Schul-,  Transportverwaltung,  schäd- 
liche wissenschaftliche  Theorien,  Abweichungen  von  der  anerkannten 
Kunstrichtung  sind  der  Gegenstand  der  nimmer  ruhenden  Preßan- 
griffe;  vielleicht   nicht   der  bessere  Teil  des  Leserpublikums  ist  so 

1)  E.R.G.  Goltd-Arch.  45,  S.  53.    E.K.G.  23,  S.  422. 

2)  Kohl  er,  Goltd.Arch.  47,  S.  4  und  f. 

3)  Jedoch  Kohl  er,  Goltd.Arch.  47,  S.  111. 


ProBse  und  Recht.  109 

sensationslüstern  geworden,  daß  die  besonnenere  Tagespresse  als  zu 
wenig  des  Interessanten  bietend  abgelehnt  wird.  Aber  die  Ehre  des 
geringsten  Staatsbürgers  steht  so  hoch,  daß  die  relativ  minderwertige 
Tendenz,  die  Sensationslust  zu  befriedigen,  deren  Gefährdung  nicht 
aus  dem  Schatten  des  Strafrechts  entrückt. 

Allsofort  ändert  sich  die  Eechtslage,  wenn  jene  Interessen  in 
ihrer  Gefährdung  einen  ungünstigen  Einfluß  ausüben  auf  die  Eechts- 
lage  dessen,  welcher  sie  wahrnimmt,  wenn  sie  für  diesen  also  Rechts- 
interessen werden.  So  wenn  behördliche  Maßnahmen  sein  Wahlrecht 
beschränken,  die  staatliche,  kirchliche,  gemeindliche  Vermögensver- 
waltung in  der  Tendenz  der  Abgabenerhöhung  sich  auslebt,  die 
Schulverwaltungsmaßnahmen  der  Gesundheit  oder  Ausbildung  seiner 
Kinder,  die  Anstellung  untüchtiger  Sicherheitsbeamten  oder  auch 
schon  die  Ausführung  der  Straßenreinigung  oder  -Beleuchtung  die 
Gefährdung  seines  körperlichen  Wohlseins  nicht  ausschließt,  Trans- 
Porteinrichtungen  auf  seine  geschäftlichen  Unternehmungen  verzögernd 
einwirken,  wenn  die  Unbilligkeit  in  der  Konzessionserteilung  ihn 
nicht  unberührt  ließ,  wenn  die  Angriffe  auf  seine  wissenschaftliche 
Methode  oder  technischen  Ausführungsmaßnahmen,  wie  bei  ärztlichen 
Eingriffen  des  realen  Hintergrundes  nicht  ermangeln,  überhaupt  wenn 
solche  Dinge  auszulaufen  scheinen  in  einer  für  den  Vermögens- 
bestand, die  persönliche  Sicherheit,  Freiheit  oder  der  Kultur  ent- 
sprechenden Entwicklung  abträglichen  Endtatsache.  Denn  in  dem- 
selben Moment  sind  sie  auch  eine  ihn  individuell  nahe  angehende 
Angelegenheit,  sie  sind  eben  erstarkt,  sie  sind  aus  einem  Interesse 
geworden  zu  einem  berechtigten  Interesse  des  §  193. 

Gewissermaßen  ein  Prüfstein  in  der  Kichtung,  ob  unser  Inter- 
esse den  Boden  des  ausschließlich  Idealen  verlassen  hat,  ist  gegeben 
in  der  Reflexion,  ob  die  öffentlichen  Behörden  verpflichtet  und  ge- 
halten sind,  auf  unser  angebliches  Rechtsbegehren  nicht  bloß  zu  ant- 
worten, sondern  zu  entscheiden.  Und  zwar  dieses  den  Umständen 
nach  erst  nach  stattgefundener  causae  cognitio  und  Beschwerde  vor- 
behalten. Denn  alle  Dinge,  welche  ausschließlich  das  Empfindungs- 
und auch  das  Gesellschaftsleben  betreffen,  gehören  nicht  dahin. 

Steht  nun  aber  fest,  daß  dasjenige  Interesse,  dessen  Wahrneh- 
mung nicht  ohne  Angriff  auf  die  fremde  Ehre  sich  ausgelöst  hat, 
ein  Rechtsinteresse  ist,  so  geht  es  nicht  an,  nach  Rechtsgrundsätzen 
zu  forschen,  welche  auch  die  Entscheidung  treffen,  daß  dieses  Inter- 
esse im  Kollisionsfalle  auf  Kosten  fremder  Ehre  sich  durchsetzen  darf. 
Solche  normative  Vorschriften  kann  es  nicht  geben,  so  wenig  eine 
Norm    die   Einzelhandlungen   umschreiben   kann,   aus   welchen   die 


110  Vm.  ROTERING 

Tötung  resultiert.  *)  Das  Menschenleben  ist  vielgestaltig,  der  Kom- 
plikationen sind  unzählige,  die  Entscheidung  ergeht  von  Fall  zu 
Fall,  sie  hat  zu  berücksichtigen  ^die  Verhältnisse  und  Anforderungen 
des  praktischen  Lebens"  ^),  daß  sich  alles  stößt  und  schiebt  im  Ver- 
kehr, der  Gesellschaft,  daß  wie  selbst  das  Eigentum,  so  auch  einmal 
die  Ehre  sich  Einschränkungen  gefallen  lassen  muß,  wenn  anders  die 
Koexistenz  sich  nicht  zur  Unerträglich keit  gestalten  soll  ^) 

Aber  der  Schwerpunkt  der  Prüfung  ist  darin  gelegen,  ob  die 
Wahrung  des  Rechtsinteresses  immerhin  eine  so  intensive  Beeinträch- 
tigung der  Ehre  gestattet  Geht  der  Angriff  zu  weit,  so  wird  das 
vom  Vorsatz  umfaßte  Übermaß  auch  durch  das  Bewirkungsverbot 
gedeckt  *)  Und  darin  liegt  das  Korrektiv  gegen  den  Mißbrauch  der 
Preßfreiheit.  Sogar  an  erster  Stelle  ist  zu  erwägen,  ob  nicht  das 
„Abmachen  in  der  Stille"  eine  zureichende  Reaktion  gewesen  wäre? 
Die  Öffentlichkeit  ist  ultima  ratio. 

Dies  freie  Ermessen  unter  Rücksicht  auf  alle  Postulate  des  Ver- 
kehrslebens trifft  aber  auch  den  Umstand,  ob  eine  den  Redakteur 
selbst  oder  die  durch  ihn  vertretenen  Personen  nahe  angehende  An- 
gelegenheit im  Sinne  Rechtens  in  Frage  steht?  Ob  solchenfalls  die 
Wahrnehmung  der  Rechtsinteressen  Dritter  durch  den  Berechtigungs- 
paragraphen noch  gedeckt  wird?  Und  in  die  Betrachtung  fällt  hier 
keineswegs  bloß  die  gesetzliche  Vertretungsmacht,  wie  solche  für  den 
Vater,  den  Ehemann,  den  Vormund  sich  der  bestimmten  Anerkennung 
erfreut,  vielmehr  hat  das  Verkehrsleben  andere  Rechtsbeziehungen 
gezeitigt,  welche,  wo  der  Einwand  aus  dem  Berechtigungsparagraphen 
einmal  erhoben  wird,  nicht  ignoriert  werden  dürfen.  So  kann  die 
häusliche  oder  familiäre  Aufsicht  eine  öffentlich  rechtliche  oder  pri- 
vatrechtliche Haftpflicht  begründen  (§§  5  resp.  11  Preuß.  Feld-  und 
Forst-Pol.Ges.  resp.  Forstdiebst.Ges.,  §  18  Wildschon-Ges.). 

Ahnliches  gilt  für  den  Leiter  von  Versammlungen,  für  die  Vor- 
steher von  Vereinen,  soweit  Ordnungswidrigkeiten  behauptet  sind, 
die  Unwürdigkeit  von  Mitgliedern,  deren  notwendiges  Ausscheiden 
die  Rechtsbeziehungen  der  Verbleibenden  nicht  unbeeinflußt  läßt, 
überhaupt  für  die  Teilnahme  an  öffentlichen  Angelegenheiten,  welche 
bei  bestimmten  Vorkommnissen  öffentlich  rechtliche  Nachteile  nach 
sich  zieht.    So  der  Verdacht,«^)    „in  sittlicher,   artistischer  und  finan- 


1)  Finger,  Lehrb.,  S.  103. 

2)  V.  Bülow,  I.  c,  S.  284. 

B)  Kohler,  1.  c,  S.  101  und  f. 

4)  Goltd.Arch.  53,  S.  298,  E.  Kassel. 

5)  §  32  Gewerbe-Odff. 


Presse  und  Recht.  111 

zieller  Hinsicht^^  oder  hinsichtlich  solcher  Tatumstände,  welche  für 
eine  polizeiliche  Erlaubnis,  Genehmigung,  Konzession  von  Belang 
sind,  oder  die  polizeiliche  Schließung  eines  Vereins.  Solche  Gesichts- 
punkte ergeben  ein  umfassendes  Gebiet  der  Rechtsinteressen,  welche 
auch  der  Kedakteur^  falls  die  öffentliche  Erörterung  nun  einmal  nicht 
zu  umgehen  ist,  durch  die  Presse  verfolgen  darf,  falls  der  Kechts- 
nachteil  ihn  selbst  nicht  würde  unberührt  lassen,  oder  solche  Per- 
sonen nicht,  deren  Kechtsinteressen  zu  wahren  er  berufen  ist.  und 
der  Redakteur  der  Fachpresse,  als  einer  Zeitschrift,  welche  von  einem 
Unternehmen  zu  dem  Zwecke  gegründet  ist,  dessen  Interessen  zu 
wahren,  nimmt  den  Berechtigungsparagraphen  soweit  in  Anspruch, 
als  er  glaubt,  nur  auf  dem  Wege  der  Öffentlichkeit  Nachteile  von 
dem  Unternehmen  fernhalten  zu  können.  Nur  ist  die  Parteipresse 
nicht  auch  eme  Fachpresse,  so  wenig  als  das  Rechtsinteresse  ^)  der 
Partei  oder  eines  Genossen  als  solches  schon  jeden  anderen  Genossen 
betrifft,  das  bloße  Mitgefühl  aber  noch  vor  der  Schwelle  des  Rechts- 
lebens erstirbt. 

Scheint  aber  das  Ergebnis  dieser  Betrachtung  abzuschließen  mit 
einer  gar  zu  großen  Unterbindung  einer  gewissen  Preßfreiheit,  welche 
das  lesende  Publikum  in  Anspruch  zu  nehmen  beliebt,  so  gestaltet 
sich  in  der  Praxis  die  Rechtslage  immer  noch  als  eine  mehr  zufrie- 
denstellende. Denn  zunächst  ist  Gerichtssaal  B.  62  S.  44  darauf 
hingewiesen,  daß  ein  Schuldausschließungsgrund  dann  gegeben  ist, 
wenn  die  Presse  die  Publikation  zur  Abwendung  einer  konkreten 
Gefahr  von  den  Volksgenossen  für  unentbehrlich  erachtete.  Ohne 
diesen  auf  dem  Wege  der  Analogie  gewonnenen  Schuldausschließungs- 
grund kann  das  Leben  nicht  bestehen.  Die  Körperverletzung,  Ope- 
ration, Perforation,  die  Sachbeschädigung,  Entgleisung  des  Trans- 
ports,^) zu  Zwecken  des  Rechtsgüterschutzes  unternommen,  führen 
sonst  zu  Urteilen,  welche  dem  Rechtsbewußtsein  widersprechen,  das 
im  Volke  lebt.  Und  schließlich  beseitigt  die  irrtümliche  Unterstellung 
der  Interessenerheblichkeit  3)  und  Publikationsnotwendigkeit  das  Be- 
wußtsein der  Rechtswidrigkeit,  wenn  nur  das,  was  verkannt  ist,  ins 
Gebiet  des  Tatsächlichen  hineinfällt. 


1)  E.R.G.  Goltd.Arch.  36,  S.  165. 

2)  Olsbausen,  Komm.,  §  315,  Note  11. 

3)  Kohler,  1.  c,  S.  113,  117. 


IX. 
Die  Strafrechtsreform  im  Aufklärungszeitalter 

nebst  Vergleichen  mit  unserer  modernen  kriminalpolitischen  Hcfonnbewegung 

von 
Professor  Dr.  Ij.  Qüiither,  Giessen.*) 


„Ceux  qui  veulent  acqulrir  ane  connais- 
sance  exacte  de  la  mani^re  dont  il  faut 
6tablir  ou  abroger  les  lois  ne  la 
peuvent  puiser  que  dans  l'histoire.'^ 
Friedrich  der  Große  in  seiner  ^Dis- 
sertation sur  les  raisoDs  d'ltablir  on  d'ab- 
roger  les  lois"  (Oeuvres  de  Frederic  le 
Grand,  T.  IX  [Oeuvres  philos.,  T.  II],  BerL 
1848,  p.  11). 

Die  Geschichte  des  Strafrechts,  das  grofie  Buch  von  dem  zu 
allen  Zeiten  sich  wiederholenden  Kampfe  der  Begierden  und  Leiden- 
schaften des  Einzelnen  gegen  die  staatliche  Ordnung,  enthält  begreif- 


*)  Die  Abhandlung  stellt  die  Erweiterung  eines  Vortrags  dar,  der  von  mir 
am  17.  November  1906  in  einer  Gießener,  aus  Mitgliedern  aller  Fakultäten  ge- 
bildeten akademischen  Vereinigung  gehalten  worden.  In  diesem  war  daher  einer- 
seits auf  manches  näher  eingegangen,  was  dem  Kriminalisten  im  wesentlichen 
bekannt  ist,  andererseits  wieder  zu  genaues  juristisches  Detail  vermieden  worden. 
Bei  der  nachträglichen  Umarbeitung  des  Vortrags  für  den  Druck  sind  dann  im 
eigentlichen  Text  einige  Stellen  gestrichen,  andere  dagegen  durch  Zusätze  ver- 
mehrt worden,  während  die  hinzugefügten  Anmerkungen  noch  Einzelheiten,  nament- 
lich aber  Quellen-  und  Literaturbelege  bringen.  Eine  völlige  Erschöpfung  des 
Themas  lag  nicht  in  meiner  Absicht;  sie  wäre  auch  schon  dadurch  vereitelt  worden, 
daß  mehrere  Werke  aus  dem  18.  Jahrhundert  mir  leider  nicht  zugänglich  waren. 
Die  Mitberücksichtigung  derselben  würde  freilich  wohl  kaum  viel  geändert  haben 
an  dem  Gesamtbilde  der  kriminalistischen  Aufklärungsbewegung  des  IS.  Jahr- 
hunderts. Mit  der  Skizzierung  dieses  Bildes,  wie  es  sich  besonders  bei  uns  in 
Deutschland  gezeigt,  wollte  ich  einen  ergänzenden  Beitrag  liefern  zu  der  bisher  (ab- 
gesehen etwa  von  Rieh.  L  ö  n  i  n  g  s  Abhandlung  in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.,  Bd.  S. 
S.  2 19 ff.  [stellenweise]  und  E  Landsberg,  Geschichte  der  deutschen  Rechts- 
wissenschaft III,  1.  Abtlg.,  München  und  Leipz.  1S98,  S.  3S6ff.)  fast  lediglich  in 
der  Form  von  einzelnen  Monographien  erschienenen  Literatur  über  das  Strafrecht 
der  Aufklärungsepoche  (vgl.  v.  L  i  s  z  t ,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrcchts, 
14./15.  Aufl.,  Berlin  1905,  §  7,  S.  33).   —   Abeggs  Abhandlung  im  „Gerichts- 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärunjcszeitalter.  113 

licberweis^  viel  trübe  und  finstere  Blätter,  die  uns  Kunde  geben 
nicbt  nur  von  dem  Übermut  und  der  Verworfenheit  verbreeheriscber 
Mitmenschen,  sondern  leider  auch  von  der  Willkür,  dem  Fanatismus 
und  der  Grausamkeit  der  über  jene  urteilenden  Richter;  dazwischen 
zerstreut  finden  sich  aber  doch  auch  einzelne  hellere,  freundlichere 
Bilder,  auf  denen  noch  in  der  Gegenwart  unser  Blick  nicht  ungern 
verweilt,  da  sie  uns  einen  Kulturfortschritt  der  gesamten  Menschheit 
zeigen.  Dahin  gehört  auch  die  kriminalpolitische  Beformbewegung 
in  der  sog.  Aufkläxungszeit  nach  der  Mitte  bis  zum  Ausgange  des 
achtzehnten  Jahrhunderts,  eine  Bewegung,  die  ein  —  unter  langer  Herr- 
schaft veralteter,  zum  Teil  barbarischer  Strafgesetze  zurückgehaltenes 
—  freieres  Denken  und  humaneres  Empfinden  gleichsam  mit  elemen- 
tarer Gewalt  zum  Durchbruche  gebracht  und  sodann  auch  in  der 
Gesetzgebung  zum  Siege  verhelfen  hat.  *)  Es  ist  —  um  mit  Josef 
Kohler 2)  zu  reden  —  „ein  interessanter  Zug  der  Völkerpsychologie, 
wie  sich  auf  einmal  die  Völkerseele,  die  den  Verbrecher  mit  Feuer 
und  Schwert  verfolgte,  dringend  seiner  annimmt  und  ihn  als  ein 
Opfer  der  Gerechtigkeit  bedauert/*  Hierbei  lag  nun  freilich  die  Ge- 
fahr nahe,  daß  der  allzu  „ungestüme  Humanitätseifer''  in  eine 
„krankkafte  Sentimentalität*^  ausarte,  —  und  dieser  Gefahr 


saal",  Bd.  15  (1863),  S.  108  ff  über  ^Die  Bestrebungen  für  Reform  der  Strafgesetz- 
gebung in  der  sog.  Aufklärungsepoche  am  Ende  des  vorigen  (d.  h.  18.)  Jahr- 
hunderts*^ ist  trotz  des  ganz  allgemein  gehaltenen  Titels  hauptsächlich  nur  eine 
literärgeschichüiche  Studie  über  eine  einzelne  Schrift  (Karl  v.  Dalbergs 
^Entwurf  eines  Gesetzbuchs  in  Kriminalsachen *",  1792).  Auch  L.  Maiila rd, 
£tude  historique  sur  la  politique  criminelle,  (Paris  1899)  enthält  nicht  das,  was 
man  nach  dem  Titel  wohl  erwarten  konnte. 

1)  S.  Richard  L  5  n  i  n  g  in  der  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.,  Bd.  3  (1S83),  S.  248,  249, 
der  mit  Recht  hinweist  auf  den  Zusammenhang  der  damaligen  kriminalpolitischen 
Bewegung  mit  der  allgemeinen  „großen  geistigen  Umwälzung*^,  die  fast  alle  Ge- 
biete des  menschlichen  Lebens  (Staatswesen,  Literatur,  Kunst,  Philosophie  usw.) 
ergriffen  hatte,  und  die  wir  „kurz  und  treffend  als  definitive  Abschüttelung  und 
Überwindung  des  Mittelalters  und  seiner  geistigen  Unfreiheit  bezeichnen  können*^. 
Vgl.  auch  Geib,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts,  Bd.  L,  Leipz.  1861,  §  56, 
S.  312:  Günther,  Die  Idee  der  Wiedervergeltung  in  der  Geschichte  und 
Philosophie  des  Strafrecbts,  II  (Eriangen  1891),  S.  161  u.  Ann.  352.  —  Daß  auch 
unsere  moderne  strafrechtliche  Reformbewegung  „in  engem  Zusammenhangt 
steht  „mit  Wandlungen,  die  das  geistige  und  gesellschaftliche  Leben  in  seiner 
Gesamtheit  ergriffen",  hebt  u.  a.  richtig  hervor  F.  Kitzinger,  Die  inter- 
nationale kriminalistische  Vereinigung  (Betrachtungen  über  ihr  Wesen  und  ihre 
bisherige  Wirksamkeit),  München  1905,  S.  3. 

2)  Einführung  in  die  Rechtswissenschaft  (1.  Aufl.,  Leipz.  1902,  S.  149),  2. 
verb.  u.  verm.  Aufl.,  Leipz.  1905,  S.  163. 

Aichir  ffir  Kriminalanthropologie.    28.  Bd.  8 


114  IX.   GüNTHEK 

ist  man  damals  in  der  Tat  vielfach  nicht  entgangen.  ^)  Auch  sonst 
noch  hat  man  den  Schriftstellern  jener  Zeit,  die  ja  ^wie  keine  andere 
vorher  oder  nacher  mit  blinder  Einseitigkeit"  nicht  nur  „bewundert", 
sondern  auch  „geschmäht  .  .  .  worden  ist"  2),  gar  mancherlei  zum 
Vorwurfe  gemacht,  wie  u.  a.  die  allzu  starke  „Verachtung  gegen 
alles  historisch  tTberlieferte*' ^)  neben  einer  „grenzenlosen 
Erwartung  von  der  gegenwärtigen  Zeit"  ^),  einer  „maßlosen  Über- 
schätzung des  eigenen  Verdienstes  und  der  eigenen  Kraft"  *),  eine 
Scheu  vor  gründlicher  wissenschaftlicher  Forschung,  ja  eine 
teilweise  in  „leere  Phraseologie''  aufgehende  Oberflächlichkeit«) 


t)  Vgl.  dazu  etwa  Hälschner,  Geschichte  dos  brandenb.-preußischen 
Strafrechts,  Bona  1855,  S.  161;  Glaser,  Gesammelte  kleinere  Schriften  über 
Strafrecht,  Zivil-  und  Strafprozeß,  Bd.  I  (Wien  1868),  S.  25;  Geib  ,  a.  a.  0. 
S.  312. — Noch  in  der  Aufklärungsepoche  selber  machte  sich  eine  gewisse  Reak- 
tion gegen  die  „übertriebene  Gclindigkcif^,  gegen  eine  „falsche  Humanität''  usw. 
mancher  Schriftsteller  bemerkbar.  Vgl.  z.  B  :  J.  Fr.  M  a  1  b  1  a  n  k  ,  Geschichte  der 
P.  G.-O.  KaiserKarls V.,  Nümb.  1783,  §  52,  S.  236  („übertriebene  E  m  p  f  i  n  d  e  1  e  i  ^) 
u.  bes.  Chr.  Gottl.  Gmelin,  Grundsätze  der  Gesetzgebung  über  Verbrechen 
und  Strafen,  Tüb.  1785,  Vorrede,  S.  XUI,  XIV,  §  15.  S.  35  u.  §  16,  S.  36,  37 
(„gezwungene  Modeempfindel  ei,  welche  oft  die  Vernunft  bei  Seite  leget") ; 
vgl.  auchnoch  unten  S.  125,  Anm.  3. — Ausdrückliche  Zurückweisung  solcher  Voi-würfe 
aber  bei  H.  A.  Vezin  (in  der  unten  S.  131,  Anm.  2  angeführten  Schrift,  S.  111 
[Anm.  12],  Note  b).  Über  den  auch  der  modernen  Reformbewegung  gemachten 
Vorwurfzu  großer  Milde  gegenüber  den  Verbrechern  s.noch  unten  S.  120,  Anm.  2,  a.E. 

2)  Fr.  V.  Liszt,  Meineid  und  falsches  Zeugnis,  Wien  1876,  S.  129.  — 
Eine  Reihe  abfälliger  Urteile  über  die  Aufklärungszeit  im  allgem.  (aus  dem  An- 
fange des  19.  Jahrh.)  ist  angeführt  bei  Ab  egg  im  „  Gerichtssaal  *",  Bd.  15  (1863), 
S.  114  u.  Anm.  11,  S.  115  u.  Anm.  12,  S.  117,  Anm.  13  a.  E.;  vgl.  auch  Geib, 
a.  a.  0.  S.  112.  Eine  allgemeine  „Geschichte  der  Aufklärungsbewegung"  von 
Prof.  Dr.  E.  Troeltsch  wird  in  dem  von  G.  v.  Below  u.  F.  Meinecke 
herausgegebenen  „Handbuch  der  mittelalterlichen  u.  neueren  Geschichte"  erscheinen. 

3)  Geib,  a.  a.  0.  S.  312  u.  §  57,  S.  320;  vgl.  auch  Löning,  a.  a.  0. 
S.  249  u.  Glaser,  Übersetzung  von  Beccaria  „Über  Verbrechen  und  Strafen", 
2.  Aufl.,  Wien  1876,  Vorwort  (zur  1.  Aufl.),  S.  3. 

4)  V.  Savigny,  Vom  Berufe  unserer  Zeit  für  Gesetzgebung  und  Rechts- 
wissenschaft, Heidelb.  1814,  S.  4;  Geib,  a.  a.  0.  S.  312. 

5)  Geib,  a.  a.  0.  S.  312;  vgl.  Löning,  a.  a.  0.  S.  250.  —  Prof. 
Claproth  in  Göttingen  meinte  z.  B.  in  der  „Vorrede"  zu  seinem  nichts  weniger 
als  vollkommenen,  1774  veröffentlichten  Entwurf  eines  Kriminalgesetzbuchs 
(vgl.  unten  S.  128,  Anm.  1)  „daß  man  dagegen  alles  vertauschen  könne,  was  wir  von 
Kriminalsachen  haben",  u.  Karl  v.  D  a  1  b  e  r  g  wollte  es  den  Universitätslehrern 
„verstatten",  von  seinem  „Entwurf  eines  Gesetzbuchs  in  Kriminalsachen **  (1792) 
„einen  Auszug  zu  fertigen  und  zu  ihren  Vorlesungen  drucken  zu  lassen*.  Über 
H.  A.  Vezin  s.  Löning,  a.  a.  0.  S.  251. 

6)  S.  Geib,  a.  a.  0.  S.  312  vbd.  mit  Glaser,  Übersetzg.  von  Beccaria, 
Vorw.  S.  4;  vgl.  auch  Günther  im  Archiv  f.  Strafr.,  Jahrg.  48  (1901),   S.  1, 


Die  Strafrechtsreform  im  Anfklärungszeitalter.  115 

Allein  diese  Mängel  erscheinen  doch  zu  einem  guten  Teile  mindestens 
entschuldbar.  Man  denke  nur  an  den  damaligen  niedrigen  Stand 
der  rechtshistorischen  Forschung '),  an  die  —  eben  damit 
wieder  zusammenhängende  —  fast  alleinige  Herrschaft  des  sog. 
Naturrechts  auf  rechtsphilosophischem  Gebiete  ^j;  ja  selbst  eine 
gewisse  Oberflächlichkeit  war  gleichsam  unvermeidlich,  wollte  man 
endlich  einmal  ein  allgemeineres,  über  den  engen  Kreis  der  Fach- 
gelehrten hinausgehendes  Interesse  für  die  Schäden  der  bisherigen 
Strafgesetzgebung  erwecken.  ^)  Wenn  schließlich  heute  uns  Kindern 
des  zwanzigsten  Jahrhunderts  bei  der  so  viel  größeren  Mannig- 
faltigkeit aller  Lebensverhältnisse,  bei  der  ungeheueren  Veränderung 
der  religiösen,  politischen  und  sozialen  Anschauungen  manches  von  dem, 
was  die  Aufklärer  erstrebt  und  erreicht  haben,  bereits  als  selbst- 
verständlich oder  doch  geringfügig,  anderes  wieder  als  ver- 
fehlt oder  sonderbar  erscheint,  so  sollten  wir  das  eine  doch  niemals 
vergessen,  daß  erst  seit  jener  Zeit  unsere  Strafgesetzgebung  von  den 
Fesseln  befreit  worden,  die  ihre  ersprießliche  Fortentwicklung  bis  da- 
hin noch  gehemmt  hatten,  ja  daß  sie,  wie  wohl  unser  bedeutendster 
Krirainalpolitiker  der  Gegenwart,  Franz  v.  Liszt,  sich  ausgedrückt 
hat  *)j  „ihre  ganze  Kraft  aus  dem  vielgeschmähten  Jahrhundert  der 
Aufklärung  geschöpft^  hat. 


Anm.  1  u.  im  G.-S.  6],  S.  181,  Anm.  ].  Schon  K.  v.  Grolman,  Grundsätze 
der  Kriminalrechtswissenschaft,  Vorwort  (zur  1.  Aufl.,  Gießen  1798),  S.  IV  hat 
^das  viele  seichte  Räsonnieren  und  Deräsonnieren  über  Gegenstände  der  Philo- 
sophie des  Kriminalrechts  und  der  Kriminalgesetzgebung^  getadelt. 

1)  Ausführlicher  hierüber  L  ö  n  i  n  g ,  a.  a.  0.  S.  273  („Von  der  Bedeutung 
der  Rechtsgeschichte  als  Schlüssel  für  den  Geist  des  bestehenden  Rechts  hatte 
man  noch  keine  Ahnung'');  vgl.  auch  Glaser,  Übersetzg.,  Vorwort  S.  4  u. 
Anm.  *  *  ♦.  —  Über  die  Verachtung  des  röm.  Rechts  und  der  Carolina  s.  noch 
unten  S.  149.  Anm.  3  u.  S.  168,  Anm.  3. 

2)  S.  Abegg  in  G.-S.  15,  S.  114ff,  117;  Löning,  a.  a.  0.  S.  275ff.  (mit 
weitei'en  Literaturangaben);  vgl.  i.  allg.  auch  R.  Frank,  Naturrecht,  geschicht- 
liches Recht  und  soziales  Recht,  Leipz.  1891;  Solari,  La  scuola  del  diritto 
naturale  nelle  dottrine   ethico-giuridiche  dei  secoli  XVII  e  XVIII,  Torino  1906. 

3)  S.  darüber  bes.  Glaser,  Übersetzg.  von  Beccaria,  Vorwort  S.  4,  5 ; 
vgl.  Günther  im  Archiv  f.  Strafr.,  Jahrg.  48,  S.  1,  Anm.  1;  über  den  Vor- 
wurf der  „Phraseologie*^  s.  auch  Prof.  E.Mayer  in  der  „Beilage  zur  (Münchener) 
Allgem.  Zeitung*^  v.  2.  Mai  1902  (Nr.  101),  S.  218,  Sp.  2. 

4)  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts,  5.  Aufl.,  1892,  S.  64 )v  vgl.  auch 
F  u  1  d ,  Die  Ergebnisse  der  Strafgesetzgebung,  in  der  „Gegenwart"  v.  15.  Dez. 
1906  (Jahrg.  36,  Nr.  50),  S.  369:  „Blicken  wir  uns  unter  den  Ergebnissen  der 
Strafgesetzgebung  um,  so  konstatieren  wir  sofort  die  Tatsache,  daß  die  Einflüsse 
des  18.  Jahrhunderts  und  der  Aufklärungsphilosophie,  über  welche  vom  hohen 
Piedestal  herunter  mit  mitleidigem  Spott  sich  zu  äußern  lange  Zeit  für  wissen- 

8* 


116  IX.  Günther 

Gerade  in  unseren  Tagen  nun,  wo  die  seit  einigen  Jahrzehnten 
auf  eine  ^Reform"  des  Straf  rechts  „an  Haupt  und  Gliedern*  ge- 
richteten Bestrebungen  ihrer  demnächstigen  Erfüllung  entgegensehen, 
schweift  der  Blick  des  Rechtshistorikers  unwillkürlich  zurück  in  die 
Vergangenheit,  um  die  heutige  Reformbewegung  einmal  mit  jener 
älteren  zur  Zeit  unserer  Urgroßväter  zu  vergleichen.  Eine  solche 
Vergleichung  ergibt  —  wie  man  schon  öfter  kurz  hervorgehoben 
hat  ^)  —  einerseits  in  mehr  als  einer  Beziehung  ganz  überraschende 
Ähnlichkeiten,  während  anderseits  begreiflicherweise  auch  wesentliche 
Unterschiede  hervortreten. 

Eine  Ähnlichkeit  zeigt  sich  —  um  dies  vorweg  zu  betonen  — 
zunächst  schon  äußerlich  in  der  Entstehung  und  Ausbreitung  beider 
Bewegungen.  Sie  tragen  nämlich  beide  sozusagen  einen  inter- 
nationalen oder  kosmopolitischen  Charakter.^)  Im  achtzehnten 
Jahrhundert  sind  es  vor  allem  die  Franzosen,  dann  auch  die  Italiener 
gewesen,  von  denen  der  Anstoß  zur  Umgestaltung  des  Strafrechts 
ausging;  darauf  aber  hat  Deutschland  die  unbestrittene  Führerschaft 
auf  diesem  Gebiet  übernommen,  so  daß  es  selbst  von  seinen  gallischen 
Nachbarn  neidlos  als  ;;der  Mittelpunkt^  der  ganzen  Bewegung  an- 
erkannt worden  ist  ^) ;   und  in  der  Neuzeit  hat  sich  dieser  Kreislauf 

schaftlich  galt,   doch   weit,  weit  erheblicher  sind  als  diejenigen  des  19.  Jahr- 
hunderts.^ 

1)  Zu  Tgl.  u.  a.Hagerup  (auf  dem  nord.  Juristentag  in  Kopenhagen  1S90), 
8.  Mitügn.  der  L  K.  V.,  Bd.  3  (1891),  S.  102  u.  Anm.  22;  Zucker, 
Einige  kriminalistische  Zeit-  und  Streitfragen  der  Gegenwart,  im  G.-S. 
Bd.  44  (1S91),  S.  Iff.;  Stooß  in  den  Berichten  der  1.  Yersammlg.  der 
Schweiz.  Landesgruppe  der  I.  K.  V.,  Bern  1891  (S.-A.  aus  der  Schweiz. 
Z.  für  Strafr.,  Heft  3),  S.  21;  Günth'er,  Idee  der  Wiedervei^ltung, 
II  (1891),  Vorwort  S.  VII— IX  u.  Anm.  9 ff.;  derselbe  im  Archiv  f.  Strafr., 
Jahrg.  48  (1901),  S.  2,  3u.  Anm.  5;  Ad.  Merkel,  Vergeltungsidee  und  Zweck- 
gedanke im  Strafrecht,  Straßb.  1892,  bes.  S.  Iff.,  3ff.,  10,  31,  44ff.,  49,  Anm.  1, 
64;  V.  Liszt,  Strafrechtliche  Aufsätze  und  Vortrage,  Berlin  1905,  Bd.  II,  S.  135  ff. 
u.  139 ff.;  s.  auch  noch  Fritz  Berolzheimer,  System  der  Rechts-  und  Wirt- 
schaftsphilosophie, Bd.  V  (Strafrechtsphilosophie  und  Straf rechtsreform),  München 
1907,  S.  25,  228,  231ff.,  255  sowie  die  unten  S.  121,  Anm.  1  angeführten  Stellen. 

2)  Manche  Autoren  des  18.  Jahrhunderts  erklären  ausdrücklich,  daß  sie 
nicht  „nur  für  eine  einzige  Nation'^,  sondern  „für  die  ganzeMenschheit*^  ge- 
schrieben hätten.  So :  Gaetano  F  i  1  a  n  g i  e  r  i  (vgl.  Günther,  Wiedervergeltg.  II, 
S.  185 ff.,  Anm,  461  ff.)  in  seinem  Werke:  La  scienza  della  legislazione,  Napoli 
1780  ff.,  deutsch  („System  der  Gesetzgebung")  von  Link,  3.  verb.  Aufl.,  180S, 
Bd.  rV,  Buch  3,  Teil  2,  Kap.  46,  S.  429.  Auch  die  zahlreichen  Gesetzentwürfe 
dieser  Zeit  sind  in  der  Regel  nicht  speziell  gerade  für  einem  bestimmten  Staat 
angefertigt  worden. 

3)  Der  spätere  Girondist  Jean  Pierre  Brissot  de  Warville  hat  schon  17S2 
Deutschland  als  das  „centre  des  reformes  politiques*^  bezeichnet,  oü  s'^coulent 


Die  Straf rechtsrefonn  im  Aafklämngazeitalter.  117 

gleichsam  wiederholt  So  hat  ohne  Zweifel  z.  B.  die  berühmte  Lehre  des 
Italieners  Lombroso  und  seiner  juristischen  Anhänger  (Ferri, 
Garofalo  u.  a.  m.)  yom  ,^eborenen  Verbrecher"  oder  der  Hinweis 
des  geistvollen  Tarde  0  und  anderer  Franzosen  auf  die  sozialen 
Faktoren  des  Verbrechens  auch  bei  uns  Deutschen  auf  die  moderne, 
psychologisch-soziologische  Auffassung  vom  Straf  recht  eingewirkt; 
das  meiste  über  „Kriminalpolitik''  ist  dann  aber  entschieden  jetzt 
wieder  in  Deutschland  geschrieben  worden.  Auch  bei  der  Gründung 
der  —  speziell  der  Ausbreitung  der  neueren  Reformbestrebungen  ge- 
widmeten —  „internationalen  kriminalistischen  Vereinigung"  im  Jahre 
1889  stand  ein  Deutscher,  v.  Liszt,  als  „die  Seele  des  Unternehmens" 
an  der  Spitze  ^),  und  deutschem  Gelehrtenfleiße  zu  verdanken  sind  die 
als  Basis  für  die  Umgestaltung  des  geltenden  Rechts  anzusehenden 
großartigen  Sammelwerke  „Die  Strafgesetzgebung  der  Gegenwart  in 
rechts  vergleich  ender  Darstellung"  und  die  auf  Anregung  des  Reichs- 
justizamts erscheinende,  zur  Zeit  noch  nicht  abgeschlossene  „Ver- 
gleichende Darstellung  des  deutschen  und  ausländischen  Strafrechts."  ^) 
Ein  Hinweis  auf  diese  Arbeiten  läßt  uns  nun  aber  zugleich  auch 
einen  wesentlichen  Unterschied  zwischen  unserer  modernen  Reform- 
bewegung und  derjenigen  des  achtzehnten  Jahrhunderts  erkennen, 
nämlich:  die  viel  fachwissenschaftlichere  Behandlung  des 
Gegenstandes  in  der  Neuzeit.  Während  jene  ältere  Bewegung  aner- 
kanntermaßen in  erster  Linie  nicht  von  den  eigentlichen  Kriminalisten 
ausgegangen,  vielmehr  zunächst  von  philosophisch  denkenden,  phil- 
anthropisch gesinnten  Männern  aus  allen  Fakultäten  gefördert  worden 
ist^),  deren  Spuren  die  strenge  Fachwissenschaft  sogar  anfangs  nur 

et  66  vendent  taDt  de  livres  snr  la  I^gislation'*;   vgl.   G.  W.  Böhmer,   Handb. 
der  Literatur  des  Kriminalrechts,  Gott  1816,  S.  231. 

1)  S.  bes.  dessen  „CriminalitS  compar^e'',  Paris  1886,  4.  Aufl.  1898;  vgl.  Ku- 
rella, Cesare  Lombroso  u.  die  Naturgeschichte  des  Verbrechens,  Hambg.  1892,  S.41ff. 

2)  Kitzinger,  Die  L  K.  V.,  S.  4  u.  Anm.  1.  Auch  der  Mitgliederzahl 
nach  nimmt  Deutschland  die  erste  Stelle  in  der  Vereinigung  ein  (näheres  das. 
S.  4—6).  Während  schon  1889  eine  deutsche  „Landesgruppe*^  gebildet  worden, 
ist  in  Frankreich  eine  solche  erst  im  Jahre  1905  zustande  gekommen;  s.  Mitügn. 
der  L  K.  V.,  Bd.  13  (1906),  S.  647. 

3)  Obwohl  dieses  (seit  1905  in  Berlin  bei  Liebmann  erscheinende)  ^in 
seiner  Art  einzig  dastehende  Standard  work'*  (H.  Groß  im  Archiv  für  Krim.- 
Anthrop.,  Bd.  26,  S.  68)  „ursprünglich  nicht  als  Vorbild  irgend  einer  natio- 
len  Gesetzgebung  gedacht  war",  sind  tatsächlich  doch  „bei  der  Fortführung  in 
erster  Linie  die  Interessen  der  deutschen  Gesetzgebung"^  ins  Auge  gefaßt  worden, 
was  V.  Liszt  schon  im  Jahre  1902  als  wünschenswert  bezeichnet  hatte  (s. 
dessen  Strafrechtl.  Aufsätze  und  Vorträge,  II,  S.  432). 

4)  S.  darüber  bes.  Löning  in   d.  Z.  f.  d.  ges.   Str.-W.  Bd.  3,  S.  249  und 


118  IX.   GÜNTHEB 

zögernd  zu  folgen  wagte  ^),  haben  in  der  Gegenwart  von  vornherein  vor- 
wiegend die  Jurifiten  die  Bewegung  geleitet,  und  erst  nach  und  nach  — 
im  letzten  Jahrzehnt  allerdings  in  stetig  zunehmendem  Maße  —  haben 
sich  ihnen  auch  „Laien^  als  Bundesgenossen  angeschlossen,  so  zunächst 
die  —  teilweise  durch  Lombrosos  Schriften  angeregten  —  Medi- 
ziner, insbesondere  die  Psychiater,  sodann  neuerdings,  wo  sich 
namentlich  die  wichtige  Frage  nach  der  Willensfreiheit  der 
Verbrecher  (bezw.  der  Zurechnung  und  der  Berücksichtigung  der 
Vergeltung  bei  der  Strafe),  wie  man  wohl  gesagt  hat,  zu  einem 
Kampfe  „zweier  Weltanschauungen^  zugespitzt  hat^),  auch  einzelne 
Theologen  und  Philosophen.  3) 


278;  vgl.  auch  R.  Frank,  Die  WolfTsche  StrafrechtsphiloBOphic  und  ihr  Ver- 
hältnis zur  kriminalpol.  Aufklärung  des  IS.  Jahrhdts.,  Gott.  18S7,  S.  86  u. 
insbes.  über  die  französ.  Aufklärung:  Rieh.  Schmidt,  Die  Aufgaben  der 
Strafrechtspflege,  Leipzig  1895,  S.  248. 

1)  Daß  die  kriminalpolitische  Aufklärungsliteratur  zunächst  als  eine  von 
dem  eigentlichen  positiven  ^peinlichen  Recht"  noch  scharf  getrennte  Richtung 
erschien  (s.  Landsberg,  Geschichte  der  deutschen  Rechtswiss.  III  1,  S.  462) 
zeigt  sich  recht  deutlich  z.  B.  bei  G.  A.  Kleinschrod,  der  in  der  „Vorrede'* 
zu  seiner  „Systematischen  Entwicklung  der  Grundbegriffe  und  Grundwahrheiten 
des  peinl.  Rechts  u.  s.  w.  (1.  Aufl.  1793  ff.),  2.  Aufl.  Erl.  1799,  S.  1  ausführt, 
daß  „die  Schriftsteller  sich  entweder  bloß  mit  der  Natur  der  Sache  und 
Kriminalpolitik  oder  bloß  mit  dem  peinlichen  Rechte,  wie  es  ist^  beschäf- 
tigten, um  dann  den  von  ihm  unternommenen  Versuch  zu  motivieren,  „das  positive 
Recht  in  Verbindung  mit  den  allgemeinen  philosophischen  Wahrheiten  vor- 
zutragen". Später  hat  dann  die  strafrechtliche  Doktrin  —  nach  Vorgang  der 
gerichtlichen  Praxis  —  die  Reformbewegung  nicht  nur  als  berechtigt  anerkannt 
und  ihre  Forderungen  näher  geprüft,  sondern  sogar  „sich  .  .  selbst  zur  Trägerin 
und  Führerin  dieser  Bewegung  gemacht";  s.  Loning,  a.  a.  0.,  S.  249  n.  273, 
der  übrigens  darin  „einen  Fehler"  erblickt,  an  dessen  Folgen  die  Strafrechts- 
doktrin  noch  heute  zu  laborieren  habe;  vgl  das.  auch  noch  S.  287. 

2)  So  u.  a.:  Birkmeyer,  Gedanken  zur  bevorstehenden  Reform  der  deut- 
schen Strafgesetzgebung,  im  Archiv  für  Straf r.,  Jahrg.  48  (1901),  S.  79.  Ferd. 
Ton  nies,  Straf rechtsreform  («„Moderne  Zeitfragen",  herausgeg.  von  Dr.  Hans 
Lands berg,  Nr.  1.),  Berlin  1905,  S.  11  bezeichnet  die  „verschiedene  Art  des 
Denkens  über  die  Freiheit  des  Willens"  als  „das  Wegekreuz",  das  den  Zugang 
zu  einem  objektiven,  wissenschaftlich  gültigen  Urteil  über  die  Grundfragen  des 
Straf  rechts  „versperrt".  Eine  zusammenfassende  Übersicht  über  die  Frage  nach 
der  Willensfreiheit  (nebst  Angabe  der  wichtigsten  Literatur  bis  zum  Jahre  1905) 
enthält  J.  Petersen,  Willensfreiheit,  Moral  und  Straf  recht,  München  1905;  dazu 
noch  W.  V.  Rohland,  Die  Willensfreiheit  und  ihre  Gegner,  Leipzig  1906; 
vgl.  auch  die  folgende  Anm.  sowie  die  ausführl.  Lit.- Angaben  bei  Berol  zheimer, 
System  V.,  §  5,  S.  57,  38,  Anm.  1. 

3)  Die  wichtigsten  neueren  Schriften  und  Aufsätze  kriminalpolitischen  In- 
halts von  Theologen  und  Philosophen  sind  zusammengestellt  bei  Birk- 
meyer,  Strafe  und  sichernde  Maßnahmen,  Münchener  Rektoratsrede,  1906,  S.  27, 


Die  Strafrecbtsreform  im  Aufkläniogszeitalter.  119 

Bei  sämtlichen  Schriftstellern  beider  Epochen  zeigt  sich  Einig- 
keit in  der  Unzufriedenheit  mit  dem  Bestehenden^)  in  der 
„Negation",  dem  Wunsche  nach  „Vernichtung"  oder  Beseitigung 
der  —  für  unhaltbar  erklärten  —  geltenden  Rechtszustände 2),  ins- 
besondere in  der  Bekämpf  ung  des  herrschenden  Strafensystems; 
und  es  kann  nicht  sonderlich  auffallen,  daß  sowohl  die  ältere  als  auch 
die  neuere  Eeformbewegung  speziell  hiervon  ihren  Ausgang  genommen 
hat.  Sind  es  doch  ^gerade  die  Straffolgen,  .  .  die  jedermann  am 
meisten  zum  Bewußtsein  kommen  und  gegen  die  sich  am  ehesten 
der  Sturm  der  allgemeinen  Entrüstung  entfesseln  läßt",  während  etwa 
„die  Formulierung  der  Tatbestände"  einzelner  Verbrechen  u.  dergl. 
„eine  mehr  technische  Frage  ist,  bei  der  sich  nur  selten  ein  Reform- 

Anm.  1  u.  3.  Hen^orzuheben  sind  vou  den  ersteren  außer  der  Tendenzschrift 
des  Jesuiten  Viktor  Cathrein  (Die  Grundbegriffe  des  Straf  rechts,  eine  recbts- 
philosophiscbe  Studie,  Freiburg  i.  B.  1905)  bes.:  v.  Roh  den,  Das  Wesen  der 
Strafe  im  ethischen  und  strafrechtl.  Sinne  (aus  den  theolog.  Arbeiten  des  rhein. 
Prediger-Seminars,  N.  F.  Heft  7,  S.  47fP.),  Tüb.  1904,  Paul  Drews,  Die  Re- 
form des  Straf  rechts  und  die  Ethik  des  Christentums,  in  den  „Liebensf ragen**, 
herausgeg.  von  H.  Weinel,  Tüb.  1905,  F.  A.  Karl  Rrauß,  Der  Kampf  gegen 
die  Vorbrechensursachen,  übersichtlich  dargestellt  für  alle  Volks-  und  Vaterlands- 
freunde, Paderborn  1905;  von  den  letzteren:  Th.  Lipps,  Der  Begriff  der 
Strafe,  in  derMonatsschr.  f.  Kriminalpsychologie  usw.,  Bd.  3, 1906,  S.  279 ff.  und  schon 
aus  früherer  Zeit  etwa:  £.  Laas,  Vergeltung  und  Zurechnung,  in  der  Vierteljahrs- 
schrift für  wiss.  Philos.,  Jahrg.  5.  (1881),  S.  137  ff.,  296 ff.,  448  ff.  u.  Jahrg.  6.  (1882), 
S.  189 ff.,  295 ff.  und  J.  Niemierower,  Der  Zusammenhang  von  Willensfreiheit, 
Gewissen,  Belohnung  und  Strafe  («s  Bemer  Studien  zur  Philos.  u.  ihrer  Ge- 
schichte, herausgeg.  v.  L.  Stein,  Bd.  2,  Bern  1896).  —  Auf  die  rege  Beteiligung 
der  Mediziner  an  kriminalpolitischen  Fragen  in  den  letzten  Jahren  braucht  an 
dieser  Stelle  wohl  nicht  noch  besonders  hingewiesen  zu  werden.  Gegen  eine 
zu  befürchtende  „Präponderanz  der  Psychiater  im  Strafrecht*  bes.  Birkmeyer 
in  seiner  Schrift  ^Was  läßt  von  Liszt  vom  Straf  recht  übrig  ?^,  München  1907, 
S.  57 ff.;  s.  dazu  TesarinGroß'  Archiv,  Bd.  26,  S.  65,  66. 

1)  Merkel,  Vergeltungsidee  und  Zweckgedanke,  S.  3.:  „In  beiden  Perioden 
tritt  ein  großer  Reformcifor  und  eine  entschiedene  Unzufriedenheit  mit 
den  bestehenden  Einrichtungen  hervor,  die  wirklichen  oder  vermeintlichen 
Grundlagen  derselben  werden  zu  einem  Gegenstande  des  Angriffs'*.  Aehnlich 
V.  Liszt,  Straf r.  Aufs,  und  Vorträge,  II.  S.  135. 

2)  Für  die  Aufklärungszeit  zu  vgl.  u.  a.:  G.  W.  Böhmer,  Handb.  der 
Lit  des  Kriminalrechts,  §  4,  S.  9:  „Über  die  Mängel  des  Kriminalwesens  gibt 
es  nur  eine  Stimme'^  (was  S  10 ff.  durch  Anführungen  aus  der  Literatur  des 
18.  Jahrh.  näher  bewiesen  wird) ;  Ed.  Henke,  Handb.  des  Kriminalrechts  usw.,  Beri. 
u.  Stattg.  1821,  I,  S.  49;  Geib,  Lehrb.  I,  §  57,  S.  320  (mit  Anführung  von 
Voltaires  Anspruch:  „Voulez-vous  avoir  de  bonnes  lois?  brülez  les  vötres 
et  faitesen  de  nouvelles'*  (Dict.  philos.,  6d.  stör.  Par.  1809,  T.  XI,  Art.  „Lois", 
sect  I.  p.  20]);  Glaser,  Übersetzung,  von  Beccaria,  Vorwort,  S.  3;  v.  Liszt; 
Meineid  u.  falsches  Zeugnis,   S.   129;  Löning  in   d.  Z.   f.   d.  ges.  Str.-W.  3, 


120  IX.  Günther 

bedürfnis  mit  elementarer  Gewalt  geltend  macht/  *)  Genaner  be- 
trachtet zeigt  sich  dabei  freilich  in  der  älteren  Bewegung  eine  andere, 
einseitigere  Tendenz  als  in  der  heutigen.  Die  kriminalistischen 
Stürmer  und  Dränger  jener  Zeit,  ganz  erfüllt  vom  Geiste  der  Hu- 
manität, die  man  damals  wohl  geradezu  als  den  „sechsten  Sinn*^ 
bezeichnet  hat  (Servan),  erstrebten  fast  ausschließlich  die  Milde- 
rung für  unzeitgemäß  gehaltener  Härten,  während  in  der  Gegenwart 
die  Verbesserungsvorschläge  nur  teilweise  auf  eine  Abschwächung,  teil- 
weise dagegen  auch  auf  eine  Verschärfung  des  heutigen  Strafvollzugs 
gerichtet  sind  2),  was  sich  hauptsächlich  aus  der  viel  genaueren  Son- 
derung der  verschiedenen  „  Verbrecherklassen"  (so  besonders  der  Gelegen- 
heits-  oder  Augenblicksverbrecher  und  der  [besserungsfähigeaund  unver- 
besserlichen] Gewohnheits-  oder  Zustandsverbrecher)  erklärt  ^)  Übrigens 

S.  248 ff.;  Günther,  Idee  der  Wiedervergeltung  II,  S.  196,  197  n.  Anm.  520, 
S.  228  u.  Anm.  624;  derselbe  im  Archiv  f.  Strafr.,  Jahrg. 4S,  S.  1  u.  Anm.  3; 
für  die  Gegenwart  s.  bes.  v.  Liszt,  Lehrbuch  des  deutsch.  Strafrechts,  14/15. 
Aufl.,  Berl.  1905,  §15,  S.  74,  Nr.  II;  vgl.  auch  Zucker  im  G.-S.  Bd.  44,  S.  1,  2; 
Birkmeyer  im  Archiv  f.  Strafr.,  Jahrg.  48,  S.  79  (im  Anschl.  an  Frank  in  d. 
Deutsch.  Jur.-Ztg.  IV  [1899],  S.  146).  Übrigens  gilt  natürlich  was  Abegg  (G.-S. 
15,  8.  116)  von  der  Aufklärungszeit  bemerkt,  daß  doch  ^nicht  bloß  das 
Negieren  des  Bestehenden  stattfand,  sondern  auch  das  Streben,  etwas  Positives, 
für  recht  und  gut  Gehaltenes  an  die  Stelle  zu  setzen",  erst  recht  von  unserer 
modernen  Reformbewegung.  Dabei  verbindet  sich  dann  wohl  auch  heute,  ganz 
ähnlich  wie  damals  (vgl.  oben  S.  114,  Anm.  3  ff.),  „mit  der  pessimistischen  Beurteilung 
des  Bestehenden*^  leicht  eine  allzu  „optimistische  Auffassung  des  Erreichbaren'^. 
Merkel,  Vergeltungsidee  und  Zweckgedanke,  S.  8;  vgl.  auch  Zucker  im 
G.-S.  44,  S.  5;  Kitzinger,  Die  I.  K.  V.,  S.  53. 

1)  V.  Lilienthal,  Heidelberger  Lehrer  des  Straf  rechts  im  19.  Jahrhundert 
(S.-A.),  Heidelb.  1903,  S.  4. 

2)  Es  ist  bekannt,  daß  neben  der  Befürwortung  von  Hausarrest,  Ver- 
weis, Wirtshausverbot,  der  Zwangsarbeit  ohne  Einsperrung,  der  bedingten 
Verurteilung  und  anderen  hauptsächlich  die  Milderung  des  herrschenden  Strafen- 
systems und  Strafvollzugs  anstrebenden  Einrichtungen  auch  der  Wunsch  nach 
Wiedereinführung  der  Prügelstrafe  und  nach  Verschärfung  des  Vollzugs  der 
kurzen  Gefängnisstrafen  (durch  hartes  Lager,  Kostfichmälerung,  Lichtentziehung 
usw.)  öfter  wiederholt  worden  ist  Ebenso  gehört  in  diese  Richtung  der 
Vorschlag  einer  Hinaufrückung  des  Mindestmaßes  der  Freiheitsstrafen  und 
namentlich  das  Verlangen  der  „Unschädlichmachung**  der  sog.  „unverbesseriichen"^ 
Verbrecher  (das  übrigens,  wie  noch  nachzuweisen  ist,  auch  der  Aufklärungs- 
zeit  schon  nicht  ganz  unbekannt  gewesen;  vgl.  bes.  unten  S.  161,  Anm.  1.)  Mit 
Rücksicht  hierauf  erscheint  der  der  modernen  Reformbewegung  wohl  gemachte 
Voi-wurf  zu  großer  Milde,  eines  Sympathisierens  mit  den  Verbrechern  usw.  keines- 
wegs ohne  weiteres  berechtigt.  Vgl.  u.  a.  Linden  au  im  Jurist.  Literaturblatt  v. 
I.Juli  1905  (Bd.  17,  Nr.  6),  S.  179,  Sp.  1  u.  Tesar  in  Gross'  Archiv,  Bd.  26,  S.  66 

3)  Nach  dieser,  u.  a.  bes.  von  v.  Liszt  (Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  16,  S.  516ff. 
Lehrb.,  14/15.  Aufl.,  §  14,  S.  71,  72)  aufgestellten  Unterscheidung  sollen  bei  der  Strafe 


Die  Stiiifrechtsrefonn  im  AufkläruDgszeitalter.  121 

/ 

sind  die  Reformbestrebungen  beider  Epochen  nicht  bloß  bei  der  For- 
demng  einer  Umgestaltung  der  Strafarten  und  -Formen  stehen  ge- 
blieben, haben  sich  vielmehr  von  dieser  bedeutsamen  Vorfrage  aus 
allmählich  auf  fast  alle  wichtigeren  Fragen  des  Strafrechts  (sowie 
auch  des  Strafprozeßrechts)  erstreckt,  und  daß  sich  auf  diesem  ganzen 
weiten  Gebiete  mehr  als  einmal  auch  eine  innere,  sachliche 
Übereinstimmung  in  beiden  Perioden  feststellen  läßt^  daß  viele 
heute  für  neu  gehaltene  Ideen  schon  damals  gleichsam  vorgedacht 
sind,  so  daß  man  wohl  unsere  neuzeitliche  Bewegung  „in  manchem 
Betracht  ...  als  eine  durch  umfassendere  Kräfte  getragene  Wieder- 
aufnahme^ der  älteren  bezeichnen  kann  %  das  wird  die  nähere  Be- 
trachtung der  wichtigsten  Anschauungen  der  Aufklärungsschriftsteller 
sogleich  ergeben. 

Zuvor  aber  sei  es  gestattet,  in  aller  Kürze  den  äußeren  Verlauf 
der  kriminalistischen  Aufklärungsbewegung  zu  skizzieren  und  dabei 
noch  speziell  einiger  jener  Männer  zu  gedenken,  die  zuerst  oder  doch 


entweder  die  Zwecke  der  Abschreckung  und  der  Besserung  (bei  den  Augen- 
blicks- und  den  besserungsfähigen  Zustandsverbrechern)  oder  der  Sicherung  bezw. 
Unschädlichmachung  (bei  den  sog.  unverbesserlichen  Zustandsverbrechern)  vor- 
wiegend berücksichtigt  werden;  vgl.  auch  noch  unten  S.  160,  Anm.  2.  Gegen  diese 
Klasseneinteilung  u.  a.  aber:  Birkmeyer  im  G.-S.  Bd.  67  (1905),  S.  409ff.; 
Kitzinger,  die  I.  K.  V.,  S.  133  ff.;  Hugo  Meyer-Allfeld,  Lehrbuch  des 
deutsch.  Straf  r.,  6.  Aufl.,  Leipzig  1907,  §  3,  S.  12  u.  Anm.  10;  Bin  ding,  Grund- 
riß des  deutschen  Strafrechts,  Allg.  Teil,  7.  Aufl.  (Leipzig  1907),  §  85,  S.  207  u. 
Anm.  1;  z.  Teil  auchMittertoaier  in  der  Schweiz.  Z.  f.  Straf r.,  Jahrg.  14,  (1901), 
S.  149  ff.  (mit  einem  Verbesserungsversuch  der  Grappierung  nach  „dem  psychi- 
schen Momcnf).  Über  andere  Einteilungen  der  Verbrecher  s.  noch  Fr.  Be- 
rolzheimer,  Die  Entgeltung  im  Strafrechte,  München  1903,  8.  478ff. ; 
Aschaffenburg,  Das  Verbrechen  und  seine  Bekämpfung,  2.  Aufl.  Heidelbg. 
1906,  S.  175 ff.;  Binding,  Grundriß  (7.  Aufl.),  S.  207/8,  Anm.  1. 

1)  Merkel,  Vergcltungsidee,  S.  3;  s.  neuestens  auch  Binding,  Grundriß, 
7.  Aufl.,  Vorwort,  S.  IV,  Anm.  1,  der  aber  doch  entschieden  zu  weit  geht,  wenn 
er  meint,  „daß  in  der  ganzen  ,modemen  Bewegung'  nicht  ein  einziger  neuer 
Gedanke  aufgetaucht**  sei,  ausgenommen  etwa  die  bedingte  Verurteilung,  woran 
übrigens  die  Aufklärungszeit  auch  schon  Anklänge  gekannt  hat;  b.  unten 
S.  158,  Anm.  2  u.  3.  Gegen  eine  solche  Auffassung  der  modernen  Reformbewegung 
als  eines  bloßen  „Abklatsches^'  von  derjenigen  des  18.  Jahrhunderts  s.  v. 
Liszt,  Strafrechtl.  Aufsätze,  IL  S.  380;  vgl.  auch  Berolzheimer,  System  V, 
S.  228.  —  Ein  wichtiger  Unterschied  ist  u.  a.  auch  der,  daß  in  der  Aufklärungs- 
zeit „im  Allgemeinen  die  Autonomie  des  Individuums  im  Vordergrunde  der 
theoretischen  Betrachtung''  stand  (Merkel,  a.  a.  0.,  S.  46;  vgl.  auch  Frank, 
Die  Wolff'sche  Strafrechtsphilosophie,  S.  81),  wogegen  wir  heute  auch  im  Straf- 
recht den  sozialen  Charakter  in  erster  Linie  betonen.  Näheres  hierüber  bei 
Merkel,  a.  a.  0.,  S.  45ff.;  vgl.  auch  Mitteilgn.  der  L  K.  V.  3  (1891),  S.  102 
(Hagerup)  u.  Kitzinger,  Die  I.  K.  V.,  S.  3, 


122  IX.   GÜMTHEB 

besonders  nachdrücklich  als  unerschrockene  ^Bufer  im  Streit^  für 
die  neuen  Ideen  hervorgetreten  sind,  Männer,  deren  Namen  in  unserer 
schnelllebigen  Zeit  bereits  zum  Teil  der  Vergessenheit  anheimgefallen  sind, 
und  deren  Verdienste  wir  auch  deshalb  leicht  unterschätzen,  weil 
heute  niemand  mehr  durch  eine  engherzige  Zensur  in  der  Verbreitung 
seines  kriminalpolitischen  Glaubensbekenntnisses  gehemmt  wird, 
„während  damals  die  Opposition  gegen  die  ,herrschende  Meinung' 
gegen  die  Wünsche  der  Regierung,  die  Ansichten  weltlicher  oder 
kirchlicher  Behörden  nicht  selten  mit  persönlichen  Gefahren  ver- 
bunden war."  0 

In  Frankreich,  wo  die  Greuel  der  Straf  Justiz  des  sog.  anciea 
regime  um  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhunderts  kaum  noch  einer 
Steigerung  fähig  waren,  ist,  wie  schon  bemerkt,  der  Anfang  der  kri- 
minalistischen Aufklärungsbewegung  zu  finden.^)  Hier,  wo  schon 
Montesquieu,  der  „Vater  der  Kriminalpolitik",  mit  seinem  „Esprit 
des  lois"  (174S),  Rousseau  mit  seinem  „(Tontrat  social"  (1762)  das 
rechtsphilosophische  Denken  gefördert  hatten,  wo  bereits  die  sog. 
Enzyklopädisten  „für  religiöse  Aufklärung  und  Duldung^  ein- 
getreten und  „gegen  Fanatismus  und  Aberglauben"  zu  Felde  gezogen 
waren,  3)  wo  endlich  in  Voltaire,  dem  großen  „Apostel  der 
Humanität^,  den  Willkürlichkeiten  und  Härten  der  Straf rechtspflege 
ein  sehr  erbitterter  Gegner  erstanden  war,  4)    hier  war  der  empfäng- 

1)  Günther  in  Archiv  f.  Strafr.,  Jahrg.  48,  S.  3  vbd.  mit  S.  6  u.  Anm.  2b, 
S.  18  u.  Anm.  80,  S.  14  u.  Anm.  83. 

2)  Za  dem  im  folgenden  kurz  gcßchUderten  Gang  der  kriminalpolitiBchen 
Aufklärungsbewegung  in  Frankreich  finden  sich  ausfiihrlichere  Literaturangaben 
u.  a.  in  der  Einleitung  zu  meiner  Abhandig.  über  Jean  Paul  Marat  als  Krimi- 
nalisten, G.-S.  Bd.  61  (1902),  S.  161—177,  worauf  hier  verwiesen  sei;  vgl.  auch 
m.  Idee  der  Wiedervergeltg.  II,  S.  161  ff. 

3)  So:  Ed  Hertz,  Voltaire  und  die  französische  Strafrechtspflege  im  ach- 
zehnten  Jahrhundert,  ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Aufklarungsieitalters, 
Stuttg.  1SS7,  S.  123.  Über  die  Enzyklopädisten  s.  jetzt  bes.  die  Monographie  von 
Alfr.  Frhm.  v.  Overbeck,  Das  Straf  recht  der  franzosischen  Enzyklopädie,  ein 
Beitrag  z.  Gesch.  der  Aufklärung  im  achtzehnten  Jahrhdrt,  Karlsruhe  1902  (»  Heft 
1  der  Freiburger  Abhdlgn.  aus  dem  Geb.  des  öffentl.  Rechts);  vgl.  auch  Be- 
rolzheimer,  System  V,  S.  220  u.  Anm.  34—86.  Neben  vereinzelten,  fiir  das 
Strafrecht  mehr  indirekt  bedeutsamen  Beiträgen  von  Diderot  und  d'Alem- 
bert,  den  beiden  Herausgebern  der  Enzyklopädie,  jenes  großen  „Reallexikons 
des  Zeitalters  der  Aufklärung*'  (Windel band),  sind  hauptsächlich  die  Artikel 
des  Chevaliers  de  Jaucourt  als  kriminalpolitisch  wichtig  zu  nennen,  während 
die  von  den  beiden  Pariser  Parlamentsräten  Toussaint  und  Boucher  d'Ar- 
gis  gelieferten  das  Strafrecht  „lediglich  in  referierender  (historisch-dogmatischer) 
Weise"  dargestellt  haben.    Näheres  bei  v.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  6—11. 

4)  Ober  das  erste  Auftreten  Voltaires  zu  Gunsten  der  durch  die  Härte 


Die  Straf rechcsrefoim  im  Aufklärungszeitalter.  123 

lichste  Boden  für  kriminaliBtische  Reformgedanken.  Ein  einzelner 
besonders  greller,  noch  dazu  konfessionell  gefärbter  Justizmord  ans 
dem  Jahre  1762,  nämlich  die  Verurteilung  und  (durch  die  schreck- 
liche Strafe  des  Bäderns  vollzogene)  Hinrichtung  des  fälschlich  der 
Ermordung  seines  ältesten  Sohnes  beschuldigten  protestantischen 
£[auf manns  Jean  C  a  1  a  s  in  Toulouse,  ^)  ließ  die  schon  lange  glim- 
menden Funken  zu  vollen  Flammen  ausbrechen.  In  den  weitesten 
Kreisen  erregte  der  Ausgang  dieses  Prozesses  großen  Unwillen,  und 
Voltaire,  der  sich  sofort  der  hinterbliebenen  Mitglieder  der  Familie 
Calas  angenommen,  ruhte  nicht  eher,  bis  nach  einer  Revision  des 
Verfahrens  die  Unschuld  des  Verurteilten  festgestellt  worden.  Höchst- 
wahrscheinlich ist  aber  dieser  Calas- Prozeß  auch  die  äußere  Ver- 
anlassung gewesen  für  die  Veröffentlichung  der  berühmten  Schrift 
des  italienischen  Marquis  Beccaria  „Über  Verbrechen  und  Strafen", 
die  gleichsam  mit  einem  Schlage  die  Blicke  aller  Gebildeten  auf  die 
Gebrechen  der  Straf rechtspflege  lenkte.  ^)  Eigentlich  brachte  ja  dieses 
kleine,  zuerst  im  Jahre  1764  anonym  erschienene  Büchlein,  das  sich 
gegen  zu  harte  Strafen,  namentlich  auch  gegen  den  zu  ausgiebigen 
Gebrauch  der  Todesstrafe  wandte  sowie  die  Folter  und  andere  Miß- 
bräuche  des  Strafprozesses  bekämpfte,  nichts  absolut  Neues,  ^)   es  ist 


der  französischen  Strafgesetze  Bedrängten  s.  Hertz,  Voltaire  usw.,  S.  153 ff., 
überhaupt  über  diese  ganze  Tätigkeit  Voltaires:  ebd.  S.  157—446;  dazu  jetzt 
noch  E.  Masmonteil,  La  l^gislation  criminelle  dans  l'oeuvre  de  Voltaire, 
Paris  1901,  p.  18—100;  vgl.  auch  die  Lit-Angabcn  im  G.-S.  61,  S.  164,  Anm.  3. 
Weitere  Lit  über  Voltaire  u.  Rousseau  auch  bei  Berolzheimer,  System  V, 
S.  221,  Anm.  40. 

1)  Über  den  Calas-Prozeß  und  Voltaires  Beteiligung  daran  s.  u.  a.  Hertz, 
Voltaire,  S.  157 ff.  u.  186 ff.;  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  18-47  u.  280/81  („Biblio- 
graphie"); Beruh.  Wege,  Der  Prozeß  Calas  im  Briefwechsel  Voltaires,  Berl. 
Gymn.-Progr.,  2  Teile,  1896/7  (das.  II,  S.  22,  23  Lit-Angaben). 

2)  S.  Löning  in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  3,  S.  272ff.  Über  Beccarias 
Leben  (1738—1794)  und  Werke,  insb.  die  Ausgaben  und  Übersetzungen  seiner 
Schrift  „Dei  delitd  e  delle  pene'S  s.  jetzt  bes.  die  Einleitg.  (S.  1—58)  der 
neuesten  Übersetzung  derselben  von  Dr.  jur.  Karl  Esselborn  (Leipzig  1905), 
dessen  Literaturangaben  übrigens  keineswegs  vollständig  sind.  Zu  den  kri- 
tischen Darstellungen  des  Inhalts  der  Beccaria'schen  Schrift,  insbes.  seiner 
Strafrechtstheorie  (vgl.  G  ünther,  Wiedervergltg.  n.,S.  177,  Anm.  420),  s.  jetzt  noch 
Maillard,  Etüde  historique  sur  la  politique  criminelle,  Par.  1899,  Chap.  I, 
p.  22—38;  vgl.  auch  v.  0 verbeck,  a.  a.  0.  S.  114ff.;  Esselborn,  a.  a.  0. 
S.  17ff. 

3)  8,  darüber  schon  J.  E.  F.  Schall,  Von  Verbrechen  und  Strafen  usw., 
Leipzig  1779,  Einltg.  S.  2 ff.  und  von  Neueren  bes.  v.  Bar,  Handb.  des  deutsch. 
Straf  rechts  I,  Berl.  1882,  S.  233,  Anm.  90 ;  weitere  Lit.-Angaben  noch  bei 
Günther  im   Arch.  f.  Strafr.  48,   S.  3,    Anm.  14;  bes.  betr.  die  Todesstrafe  s. 


124  IX.  Günther 

auch  nicht  frei  von  Widersprüchen  und  am  wenigsten  kann  es  wohl 
Ansprach  auf  Vollständigkeit  erheben.  Allein  gerade  durch  seine 
gedrängte  Fassung,  ^)  durch  den  Verzicht  auf  jeden  gelehrten  Ballast, 
vor  allem  aber  durch  seine  zündende  Sprache  —  eine  Sprache,  wie  sie 
nach  Ausspruch  eines  Zeitgenossen  „nur  Engel  reden'^  könnten/^)  — 
hat  es  seinen  so  ungeheueren  Erfolg  gehabt,  ^)  der  sich  natürlich  zu- 
erst in  den  Ländern  romanischer  Zunge  zeigte.  Sofort  hatten  die 
französischen  Philosophen  das  Werk  gleichsam  als  ihr  geistiges 
Eigentum  betrachtet,  und  schon  1765  erschien  es  auf  Anregung  von 
Malesherbes  in  einer  vom  Abb^  de  Morellet  angefertigten 
Übersetzung,  Diderot,  der  es  als  ein  „bei  ouvrage,  plein  de  g^nie 
et  de  vertu"  gelobt,  *)  veröffentlichte  dazu  mehrere  „Noten'',*)  Voltaire, 
der  in  Beccaria  „einen  Bruder"  erkannte,  ß)  schrieb  darüber  einen 
sog.  Kommentar, ')  die  Ökonomische  Gesellschaft  in  Bern  verlieh  dem 

noch  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  5,  S.  721.  —  Schon  1789  hatte  J.  L.  E.  Püttmann 
in  seinen  ^Stricturae  in  incl^'tum  Beccariae  de  delictis  et  poenis  libellom^ 
(»  Miscell.  ad.  jus  pertinent  spec  VIl;  vgl.  Böhmer,  Handb.,  Nr.  5S5, 
S.  202,  203)  die  »^klassischen  Aatoren"  zusammengestellt,  ,,au8  welchen  der 
Italiener  zweifellos  geschöpft  hatte*'  (Landsberg,  Gesch.  d.  deutsch.  R.-W.  III 
1,  S.  478).  —  Über  den  Sizilianer  Tomaso  Natale,  Marchese  di  Monterosa- 
to,  dessen  mit  Beccarias  Ideen  vielfach  verwandte  Schrift  „Riflessioni  poli- 
tiche  intorno  all'  efflcacia  e  necessitä  delle  pene'^  schon  1759  im  Manuskript 
vollendet  gewesen,  aber  erst  1772  durch  den  Druck  veröffentlicht  worden,  s. 
näheres  in  meiner  Abhandig.  im  Archiv  f.  Straf r.,  Jahrg.  48,  S.  1—38. 

1)  Vgl.  dazu  Frank,  Die  Wolffsche  Straf  rech  tsphilosophie,  S.  70;  Essel- 
born, a.  a.  0.  S.  19. 

2)  K.  F.  Hommel,  Philosophische  Gedanken  über  das  Eriminalrecht, 
herausgegeben  von  K.  Gottl.  Rossig,  Breslau  1784,  S.  48;  vgl.  ebd.  S.  53 
(„ein  gottliches  Werk").  —  Über  die  Überschätzung  Beccarias  durch  die  Zeit- 
genossen überhaupt  s.  Günther,  Wiedervergeltg.il,  S.  178,  179  u.  Arch,  f.  Strafr. 
48,  S.  3,  4  u.  die  Anmkgn. 

3)  S.  hierüber  sowie  zu  den  folgenden  Ausführungen  im  Text  bes.  Glaser, 
Übersetzg.,  Vorwort  S.  8 ff.  u.  Esselborn,  Übersetzg.,  Einltg.,  S.  31  ff.;  vgl. 
auch  Pessina,  II  diritto  pönale  in  Italia  dal  1764  al  1890,  Milano  1906,  p.  18. 
—  Über  die  Gegner  Beccarias  s.  bes.  Esselborn,  S.  20ff.,  25,  Anm.  ♦;  vgl. 
Hertz,  Voltaire,  S.  312ff.,  Günther,  Wiedervergltg.  II,  S.  178,  Anm.  423  u. 
Archiv  f.  Strafr.  48,  S.  9,  Anm.  45  u.  G.-S.  61,  S.  165,  166,  Anm.  2;  vgl. 
auch  unten  S.  125,  Anm.  3. 

4)  S.  Oeuvres  complötes  de  Diderot  (par  I.  Ass^zat  et  M.  Tourneux, 
Par.  1875  ff.),  T.  IV.,  p.  69. 

5)  Abdruck  derselben  in  d.  Oeuvres  compL,  T.  IV,  p.  63 ff.;  näheres 
darüber  u.  a.  bei  Esselborn,  a.  a.  0.  S.  33,  34,  der  sie  selber  seiner  Überset- 
zung als  Fußnoten  hinzugefügt  hat,  wie  vor  ihm  auch  schon  ältere  Übersetzer  (s. 
Landsberg,  Gesch  d.  deutsch.  R.-W.  III  1,  S.  25S). 

6)  Esselborn,  a.  a.  0.  S.  32. 

7)  Über  diesen,    zuerst    anonym     („par  un   avocat    de  province")    1766 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  125 

Verfasser  —  unter  Umgehung  ihrer  Statuten  —  eine  goldene  Me- 
daille, Fürstlichkeiten  und  gekrönte  Häupter  bezeugten  ihm  unver- 
hohlen ihren  Beifall,  ja  die  Kaiserin  Katharina  II.  von  Bußland  ließ 
ihm  ein  hohes  Amt  in  Petersburg  anbieten.  In  Friinkreich  bekann- 
ten sich  sogar  viele  praktische  Juristen,  insbesondere  die  Advokaten 
an  den  höheren  Gerichten  —  so  vor  allem  der  Generaladvokat  am 
Parlament  zu  Grenoble,  Jos.  Antoine  Michel  de  Servan  —  offen  zu 
Beccarias  Grundsätzen,  i)  und  Akademien  und  andere  gelehrte  Ge- 
sellschaften sorgten  dann  dort  durch  Preisausschreiben  über  Gegen- 
stände der  Kriminalpolitik  dafür,  daß  die  einmal  angefachte  Bewe- 
gung im  Flusse  blieb.  2) 

Erst  verhältnismäßig  spät  ist  dagegen  die  große  Masse  der  Ge- 
bildeten in  Deutschland  auf  Beccaria  aufmerksam  geworden, 
und  noch  länger  hat  es  gedauert,  bis  man  seine  Ideen  bei  uns  vor- 
urteilsfrei zu  würdigen  vermochte.  Meinten  doch  noch  gegen  Ende 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  einzelne,  sonst  keineswegs  beschränkte 
Bechtsgelehrte,  daß  vieles  in  dem  Buche  des  italienischen  Marchese 
„für  eine  andere  Welt  als  diese^  geschrieben  sei.  ^)  Im  ganzen  ist 
es  daher  nicht  zu  viel  behauptet,  daß  Deutschland  auf  kriminalisti- 
schem Gebiete  zunächst  noch  in  seinem  Winterschlafe  verharrt  hat, 
als  sich  bereits  ringsherum  im  Auslande  der  Hauch  eines  neuen 
Geistesfrühlings  regte.  Zwar  hatte  in  Preußen  schon  Friedrich  der 
Große   in   seiner   1748   erschienenen   „Dissertation   sur  les  raisons 

zu  Genf  (aber  ohne  Ortsangabe)  erschienenen  „Commentalre"  (abgedruckt 
n.  a.  in  Brissot  de  Warvilles  Biblioth^que  philosophique  du  l^gislateur 
[1782ff.),  T.  I,  p.  201  ff.)  8.  näheres  bei  Hertz,  Voltaire,  S.  173,  310  u. 
Anm.  2;  Masmonteii,  a.  a.  0.  p.  lOSff.,  Landsberg,  Gesch.  III  1  (Noten) 
S.  258,  Günther  im  G.-S.  61,  S.  165,  Anm.  2;  Esselborn,  a.  a.  0.  S.  32,  33. 

1)  Ober  Servan  und  seine  Schriften  (insb.  s.  Discoras  sur  Tadministration 
de  le  justice  criminelle,  abgedr.  in  Brissot  de  Warvilles  Biblioth^que  philos. 
du  Ißgislateur,  T.  II,  p.  125ff.)  s.  näheres  bei  Hertz,  Voltaire,  S.  314ff.,  451 
Anm.  6,  456  und  Günther,  Wiedervcrgltg.  II,  S.  192,  193  u.  Anm. 495 ff.  u.  im 
G.-S.  61,  S.  166  u.  Anm.  1. 

2)  S.  darüber  Hertz,  a.  a.  0.  S.  448 ff.;  Günther  im  G.-S.  61,  S.  167ff., 
169,  170  u.  Anm.  1. 

3)  So:  E.  L.  M.  Rathlef,  Vom  Geiste  der  Kriminalgesetze  (1.  Aufl.  in 
Hamb.  1777  anonym  erschienen  [vgl.  Landsberg,  Gesch.  d.  d.  R-W.  in  1, 
S.  411  u.  Noten  S.  267]),  2.  Aufl.,  Bremen  1790,  8.  3.  —  Über  J.  Claproths 
absprechende  Beurteilung  Beccarias  s.  Günther,  Wiedervergeltg.  IL,  S.  178, 
Anm.  423  u.  S.  215  u.  Anm.  577.  Noch  der  Philosoph  Kant  vermochte  in 
Beccarias  Gegnerschaft  gegen  die  Todesstrafe  bekanntlich  nichts  anderes  als 
das  Ergebnis  „einer  teilnehmenden  Empfindelei  einer  affektierten  Humanität''  zu 
erblicken.  (Metaphys.  Anfangsgründe  der  Rechtslehre,  2.  Aufl.  Konigsb.  1798, 
S.  232.) 


126  IX.  Günther 

d'ötablir  ou  d'abroger  les  lois"  einige  freisinnige  Gedanken  über  eine 
gute  Gesetzgebung  entwickelt,  die  sich  vielfach  mit  denen  Montes- 
quieusund Voltaires  berühren,  *)  allein  in  weitere  Schichten  des  Volkes 
vermochten  diese  in  französischer  Sprache  niedergelegten  Aphorismen 
des  „Philosophen  auf  dem  Throne''  erklärlicherweise  ebensowenig 
einzudringen,  wie  vereinzelte  gute  Vorschläge  in  den  lateinisch  ge- 
schriebenen Werken  älterer  deutscher  Gelehrter.  Welche  Anschanun- 
gen  bei  uns  z.  B.  noch  1765  —  also  ein  Jahr  nach  dem  Erscheinen 
von  Beccarias  Schrift  —  vorherrschten,  beweist  recht  deutlich  das 
kühle,  ja  ablehnende  Verhalten,  das  ein  sehr  auserlesenes  Publikum 
einer  von  dem  Leipziger  Professor  Karl  Ferdinand  Hommel.  einem 
vielseitig  gebildeten,  human  und  fortschrittlich  gesinnten  Juristen,  2} 
am  30.  April  des  genannten  Jahres  gehaltenen  kleinen,  aber  gehalt- 
vollen Universitätsrede  gegenüber  beobachtet  hat.  =*)  Aufgefordert,  in 
Gegenwart  des  damals  noch  minderjährigen  Kurfürsten  Friedrich 
August  von  Sachsen  einen  Gegenstand  der  Rechtswissenschaft  öffent- 
lich zu  besprechen,  der  „einem  künftigen  Landesherm  dienlich  sein 
könnte",  hatte  sich  Hommel  die  Reform  der  Strafgesetzgebung  zum 
Thema  gewählt.  Er  wandte  sich  u.  a.  gegen  die  unzulässige  Ver- 
mischung rein  religiöser  Vorschriften  mit  dem  staatlichen 
Rechte,  insbesondere  gegen  die  unzeitgemäßen  Bestimmungen,  die 
den  —  für  uns  völlig  unverbindlichen  —  mosaischen  Gesetzen 
ihren  Ursprung  verdankten  und  die  „unter  Trommelschlag  abge- 
schafft" werden  müßten,  er  geißelte  den  Aberglauben  früherer  Zeiten, 
trat  für  Freiheit  in  Glaubenssachen  ein,  kritisierte  das  geltende  Stra- 
fensystem, das  vielfach  zu  hart  erscheine,  und  suchte  namentlich  die 
Unwirksamkeit  der  —  allzu  häufig  verwendeten  —  Todesstrafe  nach- 
zuweisen. Sachlich  hatte  also  der,  übrigens  in  lateinischer  Sprache 
gehaltene  (als  „principis  cura  leges"  betitelte)  Vortrag  ^)  offenbar  mit 

1)  S.  darüber  bes.  jetzt  Ferdinand  Willenbücher,  Die  strafrechtsphiloso- 
phischen  Anschauungen  Friedrichs  des  Großen  (Tiib.  Inaug.-Diss.),  Breslau  1904. 
Über  das  Verhältnis  des  Königs  zu  Montesquieu  s.  auch:  v.  Liszt,  Straf r. 
Aufsätze  II,  S.  138,  zu  Voltaire:  Günther,  Wiedervergeltg.  II,  S.  176,  Anm.  41S. 

2)  Über  Hommel  (1722—1781)  s.  näheres  jetzt  bes.  bei  Landsberg, 
Gesch.  der  deutsch.  R.-W.  III  1,  S.  386 ff.  u.  Noten  S.  253 ff.;  vgl.  auch  noch 
unten  S.  130,  Anm.  2,  S.  13.5,  Anm.  5,  S.  149,  Anm.  5. 

3)  Über  die  Veranlassung,  den  hauptsachlichsten  Inhalt  und  die  Wirkung 
der  Rede  s.  Hommel,  Vorrede  zur  Übersetzung  Beccarias  (von  Phil.  Jak 
Fiat  he),  1.  Aufl.  Berlin  1778,  S.  Illff.  u.  Philosophische  Gedanken  usw.,  §Uff., 
S.  29 ff.;  vgl.  auch  Böhmer,  Handb.  der  Lit  d.  Krim.-R,  Nr.  586,  &87,  S.  203 ff. 
u.  Landsberg,  Gesch.  III  1,  S.  390  u.  Noten  S.  257. 

4)  Über  eine  spätere  deutsche  Übersetzung  (von  Hankel,  Leipz.  u.  Fran- 
kenhausen 1766)  8.  Landsberg,  a.  a.  0.,  Noten  S.  257. 


Die  Straf rechtsrefonn  Im  Aufklämngszeitalter.  127 

dem,  freilich  dem  Redner  damals  noch  völlig  nnbekamit  gewesenen 
Buche  Beccarias  manche  Ähnlichkeit  anfzuweisenJ)  Seine  Wirkung 
auf  die  Zuhörer  aber  war  nichts  weniger  als  die  gewünschte,  denn 
sie  bestand  —  nach  Hommels  eigenen  Worten  —  nur  in  einem  allge- 
meinen Eopfsschütteln.  Wenn  die  Grundsätze  dieses  noch  jungen 
Bechtsgelehrten,  der  wohl  nur  seinen  Geist  habe  zeigen  wollen,  in 
die  Praxis  übertragen  würden,  dann  —  so  meinte  man  —  dürfe  kein 
Mensch  es  mehr  wagen,  „des  Nachts  .  .  .  über  die  Straße  zu  gehen, 
aus  Furcht,  erschlagen  zu  werden**.  2) 

Aber  nicht  lange  ist  Hommel  auch  in  deutschen  Landen  ohne 
Kampfgenossen  geblieben.^)  In  Österreich  war  schon  ungefähr  gleichzei- 
tig mit  ihm  der  Wiener  Nationalökonom  und  Literat  Josef  v.  Sonnen- 
fels in  Vorlesungen  und  Schriften  mit  großer  Entschiedenheit  gegen 
veraltete  Kriminalrechtseinrichtungen,  insbesondere  gegen  die  Todes- 
strafe und  den  Gebrauch  der  Folter  aufgetreten,  während  in  Bayern 
wenige  Jahre  darauf  der  Hofkriegsrats-Sekretär  und  spätere  Lehrer 
der  Philosophie  (an  der  „Marianischen  Landes-  [dann  Militär-]  Aka- 
demie**) in  München,  Andreas  Zaupser,  trotz  lebhafter  Anfeindungen 
des  katholischen  Klerus,  in  ähnlicher  Weise  tätig  gewesen.  Im  Jahre 
1774  hatte  der  Göttinger  Professor  der  Rechte,  Hof  rat  Justus  Clap- 
roth,  „durch  einen  höheren  Wink  veranlaßt**,  denjenigen  Teil  seines 
großangelegten  „Ohnmaßgeblichen  Entwurfs  eines  Gesetzbuchs"  er- 
scheinen lassen,  welcher  das  „Criminal-ßecht**  zeitgemäß  reorgani- 
sieren sollte,  diesem  Vorhaben  aber  freilich  nur  zum  Teil  gerecht 
geworden  ist  ^)    Ungleich  freisinniger  erscheinen  z.  B.  die  Gedanken, 


1)  Dies  hat  Hommel  selbst  wiederholt  (Vorrede  zur  Übers.  Beccarias, 
S.  VIII,  IX  u.  Philos.  Gedanken  S.48,  49,  S.  164,  169  ff.)  mit  Stolz  hervorgehoben. 
Böhmer,  Handb.,  S.  851  im  Register  nennt  Hommel  denn  auch  geradezu 
den  ,,deat8chen  Beccaria  und  mehr  als  dieser^. 

2)  Hommel,  Philos.  Gedanken,  S.  47,  4S;  vgl.  Landsb  erg,  a.  a.  0. 
S.  892. 

3)  Über  die  Spezialliteratur  betr.  die  im  folgenden  erwähnten  Schriftsteller 
(v.  Sonnenfels,  Zaupser,  Claproth,  Michaelis)  und  ihre  Schriften  s.  bes. 
Landsberg,  Gesch.  d.  deutsch.  R.-W.  III  1,  S.  401—411  u.  Noten  S.  263— 267 
sowie  Günther,  Wiedervergltg.  II,  S.  212—227;  insbes.  über  v.  Sonnenfels 
jetzt  auch  noch  Högel,  Gesch.  des  Österreich.  Straf  rechts  usw.,  HeftI  (Wien 
1904),  §  28,  S.  107,  108  u.  Berolzheim  er,  System  V,  S.  225,   Anm.  75. 

4)  Über  die  von  Claproth  in  seinem  Entwürfe  nach  beibehaltenen  vielen 
harten  Strafen  (insbes.  auch  die  sog.  qualifizierten  Todesstrafen  für  einzelne 
Fälle;  vgl.  unten  S.  165,  Anm.  1,  die  schon  den  Unwillen  der  „fortgeschritteneren 
Zeitgenossen"  erregt  hatten,  hat  man  übrigens  meistens  übersehen,  daß  der 
Verfasser,  der  nebenbei  bemerkt   auch   ein   prinzipieller  Gegner  der  Folter  ge- 


128  IX.   GÜNTHER 

die  Glaproths  gelehrter  Kollege  aus  der  theologischen  Fakultät  der 
^Georgia  Augusta*^,  der  berühmte  Rationalist  Johann  David  Michaelis, 
in  der  1775  veröffentlichten  Vorrede  zum  sechsten  Teile  seines  geist- 
reichen, als  einen  Beleg  zu  Montesquieus  ,;Esprit  des  lois^'  be- 
handelten ^Mosaischen  Rechts^  niedergelegt  hat. 

Einen  größeren  Umfang  hat  jedoch  die  kriminalpolitische  Schrift- 
stellerei  in  Deutschland  erst  seit  dem  Jahre  1777  angenommen,  in 
dem  von  der  ^Ökonomischen  Gesellschaft  zu  Bem^  ein  Preisausschrei- 
ben über  den  „vollständigsten  und  ausführlichsten  Plan  einer  guten 
Eriminalgesetzgebung^  veranstaltet  worden  war,  ^  und  zwar  auf 
Veranlassung  des  Hauptverteidigers  im  Calas-Prozesse,  Elie  de  Bean- 
mont,  und  Voltaires,  der  zur  Erläuterung  der  Aufgabe  eine  kleine 
Schrift,  „Prix  de  la  justice  et  de  Thumanitö**,  erscheinen  ließ.-) 
Schon  darum  ist  es  begreiflich,  daß  sich  unter  den  44  Bewerbern 
um  diesen  Berner  Preis  auch  mehrere  Franzosen  befanden,  so  unter 
anderen 3)  der  Parlamentsadvokat  Antoine  Nicolas  Servin  zu  Ronen ^j 
und  der  aus  den  Greueln  der  französischen  Revolution  als  „ami 
du  peuple"  bekannte  Jean  Paul  Marat,*^)  der  hier  sonderbarerweise 


wesen,    „der    späteren    Landcs^esetzgebuDg  vielfach    förderlich  vorgearbeitet*' 
hat.    So:  Landsberg,  Gesch.  III  1,  8.  407,  40S,  woselbst  näheres. 

1)  Zur  Literatur  über  diese  sog.  „Bemer  Preisfrage"  s.  Günther,  Wieder- 
vergltg.  II,  S.  193  u.  Anm.  500  und  im  G.-S.  61,  S.  16$,  Anm.  3  (Abdruck  des 
Wortlauts);  vgl.  auch  Landsberg,  Gesch.  III  1,  S.  411ff.;  Esselborn,  Übers. 
V.  Beccaria,  Einitg.,  S.  34,  Anm.**. 

2)  Näheres  über  diese  Schrift  (erschienen  in  Femay  1778),  von  der  sich  ein 
Abdruck  auch  in  Brissots  Bibliothäque  philos.,  T.  V.,  p.  7 — 108  findet,  bei 
Hertz,  Voltaire,  S.  427  ff.  u.  Masmonteil,  a.a.O.  p.  111;  vgl.  Glaser,  Übers., 
Vorwort  8.  9,  10;  Landsberg,  a.  a.  0.,  Noten  S.  267,  Esselborn,  a.  a.  0., 
Einltg.,  S.  34,  Anm.  ***. 

3)  Eine  genauere  Zusammenstellung  der  sämtlichen  nach  Bern  eingeschick- 
ten franzosischen  Preisschriften  habe  ich  im  G.-S.  61,  S.  169,  Anm.  1  gegeben. 
Über  die  ursprünglich  gleichfalls  zur  Bewerbung  um  den  Bemer  Preis  verfaßte 
,, Theorie  des  lois  criminelles"  von  Brissot  de  Warville  (2.  Vols.,  Nenchätel  et 
Paris  1781)  s.  Hertz,  Voltaire,  S.  44S;  Günther,  Wiedervergltg.  II,  S.  195, 
Anm.  510  u.  G.-S.  61,  S.  174  u.  2  u.  3. 

4) BiographischesüberServin bei  Teichmann  in  v.Holtz endo  rff  8 Rechts- 
Lex.  III,  S.  674/75.  Seine  Schrift  „De  la  Ißgislation  criminelle"  etc.  (gedr.  Bäle 
1782)  hat  mehrere  deutsche  Übersetzungen  erhalten,  so  z.  B.  von  Joh.  Erast 
Grüner  („Über  die  peinliche  Gesetzgebung*^  Nümbg.  1786),  nach  der  sie  im 
folgenden  angeführt  ist 

5)  S.  über  Marats,  zuerst  anonym  zu  Neuchätel  1780  erschienene  Schrift 
„Plan  de  l^gislation  criminelle**  (Abdr.  in  Brissots  Bibl.T.  V,  p.  117 ff.)  näheres 
in  meiner  Abhandlung:  „Jean  Paul  Marat,  der  ,Ami  du  peuple*,  als  Krimi- 
nalist" usw.,  im  G.-S.  61,  S.  161  ff.  u.  821  ff. 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  129 

als  ein  Prediger  der  Humanität  auftritt;  aber  die  Mehrzahl  bildeten 
doch  deutsche  Schriftsteller,  und  zwei  deutschen  Juristen,  die  eine 
gemeinschaftlich  verfaßte  „Abhandlung  von  der  Eriminalgesetzgebung'' 
eingereicht  hatten,  nämlich  den  beiden  sächsischen  Praktikern  Hans 
Ernst  V.  Globig  und  Joh.  Georg  Huster,  wurde  denn  auch  der 
Preis  zugesprochen,  ^)  obwohl  uns  heute  ihre  Ausführungen  im  ganzen 
weniger  ansprechen  als  diejenigen  anderer  Mitbewerber,  wie  etwa  die 
in  vielen  Beziehungen  reichhaltigeren,  zum  Teil  freilich  auch  kon- 
servativeren Arbeiten  des  Tübinger  Professors  der  Kechte  Christian 
Gottlieb  Gmelin^)  oder  des  norddeutschen  Juristen  Dr.  Johann 
Melchior  Gottlieb  Beseke.  3)  Seit  der  „Bemer  Preisfrage*'  beginnt 
nun  die  frühere  Zurückhaltung  der  deutschen  Gelehrten  gegenüber 
den  kriminalpolitischen  Zeit-  und  Streitfragen  nicht  nur  zu  weichen, 
sondern  sogar  einer  Art  Überproduktion  Platz  zu  machen,  die 
„Kriminalpolitik^  war  jetzt  „im  schreibseligen  Deutschland*^  zu  einem 
„Modeartikel^)  oder,  wie  ein  Zeitgenosse  sich  ausdrückt,  „zu  einem 
solchen  Lieblingsgegenstand  der  Schriftstellerei  und  Lek- 
türe geworden,  daß  das  Publikum  jede  Messe  (geradezu)  mit  einem 


1)  Ober  V.  Gl  obig  und  Hub t  er  und  ihre  „Abhandlung"  (Zürich  1783),  zu  der 
{Später noch  „Vier  Zugaben"  (Altenburg  17 85)  erschienen,  8.be8.Land8berg ,  Gesch. 
III  1,  S.  412,  415  und  Noten  S.  268—270;  vgl.  v.  Bar,  Handb.  I,  S.  236ff., 
Günther,  Wiedervergeltg.  II,  S.  253 ff.  u.  Anm.  700 ff.;  s.  auch  ebd.  S.  230, 
Anm.  629.  Die  Bedeutung  der  Schrift  liegt  teils  darin,  daß  sie  „gewissermaßen 
eine  offiziöse  Darstellung  der  damals  herrschenden  Ansichten"  lieferte  (v.  Li szt, 
Meineid  usw.,  S.  131/32),  teils  dann,  daß  „in  ihr  zum  erstenmal  eine  Strafrechts- 
theorie als  Vorarbeit  für  eine  Gesetzgebung**  durchgeführt  worden  (v.  Bar, 
a.a.O.  S.  237).  Über  ihre  Verdienste  in  dem  am  besten  ausgefallenen  straf- 
prozessualen Abschnitt  s.  Landsberg,  a.  a.  0.  S.  413. 

2)  Über  Gmelin  (1749—1818)  und  seine  von  den  Preisrichtern  „des  Druckes 
für  würdig  erkannten"  ,,Grundsätze  der  Gesetzgebung  über  Verbrechen  und 
Strafen",  CTüb.  1785),  s.  Landsberg,  Gesch.  III  1,  8.  412/13,  415/16  u.  Noten 
S.  270/71;  vgl.  auch  Günther,  Wiedervergeltg.  II,  S.  229  u.  Anm.  627. 

3)  Über  J.  M.  G.  Beseke  (f  1802  zu  Mitau  in  Kurland,  wo  er  Professor 
der  Rechte  an  der  sog.  „Petrinischen  Akademie^  gewesen)  und  seinen,  auf  Ver- 
langen der  Ökonomischen  Gesellschaft  zu  Bern  zum  Drucke  beforderten  „Versuch 
eines  Entwurfs  zu  einem  vollständigen  Gesetzesplan  für  Verbrechen  und  Strafen '^^ 
Dessau  1783  (n.  Aufl.  Berl.  1794)  s.  Böhmer,  Handb.,  Nr.  651,  S.  288-290 
(der  näher  ausführt,  daß  sich  in  dieser  Schrift  „unter  vielen  brauchbaren  Vor- 
schlägen^ auch  manche  rückständige  und  bizarre  Gedanken  befinden)  n.  Lands- 
berg,  a.  a.  0.  S.  412/13  und  Noten  S.  267;  vgl.  Günther,  Wiedervergeltg.  II, 
S.  229/30  u.  Anm.  629. 

4)  Henke,  Grundr.  einer  Gesch.  d.  deutsch,  peinl.  Rechts,  Teil  II  (Sulzb.  1809), 
S.  314;  vgl.  auch  Glaser,  Ges.  kl.  Schriften  I,  S.  25. 

Archiv  für  Kriminalanthropologie.     28.  Bd.  9 


130  IX.  Günther 

ganzen  Schwann  solcher  Schriften  überschwemmt^  wurde.  0  Als 
einige  der  hervorragendsten  Autoren  aus  dieser  Zeit  dürften  etwa  — 
neben  dem  immer  noch  tätig  gebliebenen  Nestor  der  deutschen  Auf- 
klärer, K.  F,  H  0  m  m  e  1 , 2)  —  besonders  angeführt  werden  ^) :  der  Trierer 
Domherr  Johann  Friedrich  Hugo  y.  Dalberg,  ein  Bruder  und  Ge- 
sinnungsgenosse des  bekannten  Eirchenfürsten  Karl  y.  Dalberg, 
des  letzten  Kurfürsten  von  Mainz  und  späteren  ^Grofiherzogs  von 
Frankfurt",  der  sich  ebenfalls  auf  unserem  Gebiete  betätigt  hat; 
der  wirkliche  geheime  Kanzleirat  Heinrich  August  Vezin  zu  Osna- 
brück, der  vielseitige  Nationalökonom  Graf  Julius  von  Soden,  der 
Leipziger  Philosophieprofessor  Ernst  Karl  Wieland,  und  unter  den 
verschiedenen  Professoren  der  Rechte  namentlich  Karl  Otto  Graebe 
an  der  preußischen  Akademie  zu  Lingen,  Job.  Christ  Quistorp  in 
Rostock,  Josias  Ludw.  Ernst  Püttmann  in  Leipzig,  Gallus  Aloys 
Kaspar  Kleinschrod  in  Würzburg,  Ernst  Ferdinand  Klein  in  Halle, 
später  Berliner  Obertribunalsrat  und  bekannt  als  Mitarbeiter  am 
preußischen  Allgemeinen  Landrecht,  allenfalls  auch  noch  Karl  Ludwig 


1)  Malblank,  Gesch.  der  P.  G.-O,  Nümb.  1783,  §  59,  S.  256.  —  Der 
Franzose  Brissot  de  Warville  hat  (in  seiner  Biblioth^que  phil.,  T.  X,  p.  149) 
diese  Art  der  deutschen  rechtswissenschaftl.  Literatur  als  einen  „unerschöpflichen 
Schlund*^  (gouffre  in^puisable)  bezeichnet.  Vgl.  Böhmer,  Handb.,  S.  244; 
Landsberg,  Gesch.  III  1,  S.  412 

2)  Als  Schriften  Hommels  aus  dieser  Zeit  sind  bes.  zu  nennen:  die  Vor- 
rede und  die  Anmerkungen  zu  der  (von  Flathe  besorgten)  Übersetzung  Becca- 
rias  (Breslau  1778)  und  die  erst  nach  seinem  Tode  (1781)  durch  s.  Schwieger- 
sohn, den  Juristen  und  Natlonalokonomen  K.  Gottl.  Rossig  (vgl.  Lands- 
berg, Gesch.  III  1,  S.  393  u.  Noten  S.  257/58)  herausgegebenen  und  von  einer 
„Vorerinnerung"  begleiteten  „Philosophischen  Gedanken  über  das  Kriminalredit'^ 
Breslau  1784.    Vgl.  Günther,  Wiedervergeltg.  II,  S.  230  u.  Anm.  632/33. 

3)  Die  folgende  Aufzählung  schließt  sich  im  wesentlichen  an  Landsberg, 
Geschichte  Ili  1,  S.  412  ff.  an.  Ebendas  in  den  Noten  (S.  267  ff.)  auch  die  näheren 
Angaben  über  das  Biographische,  die  Titel  der  Schriften  und  die  darauf  bezügl. 
Literatur;  s.  femer  S.  408—411  u.  Noten  S.  266/67  (über  Quistorp),  S.422,  461ff., 
464ff.,  470ff.,  507,  515—517,  525  u.  Noten,  S.  257,  261,  266,  270,  296ff.,  299ff.. 
303/4,  318,  321ff.  (über  Püttmann,  Kleinschrod,  Klein  u.  v.  Grolman). 
Vgl.  auchLoning,  Z.  f.d.  ges.  Str.-W.  3,  S.  276ff.,  280;  Günther,  Wiederver- 
geltung II,  S.  229ff.  und  in  1  (1895),  S.  23,  Anm.  17.  Insbes.  über  K.  v.  Dal- 
berg's  noch  Abegg  im  G.-S.  15,  S.  lOSff. ;  über  E.  F.  Klein:  v.  Liszt: 
Straf r.  Aufsatze  II,  S.  133  ff.  u.  bes.  S.  140 ff.  Unter  den  ausführlicheren  Über- 
sichten der  deutschen  kriminalpol.  Literatur  dieser  Epoche  aus  älterer  Zeit  sind 
hervorzuheben:  Malblank,  Gesch.  d.  P.G.-O.,  §59,  S.  260ff;  Hommel,  Philos. 
Gedanken,  S.  56ff;  Graebe,  Über  die  Reformation  der  peinlichen  Gesetzct 
Münster  1784,  §  17ff.,  S.  29ff.;  Böhmer,  Handb.  d.  Lit  des  Krim.-R.,  §  46ff., 
S.  259 ff.,  Nr  634  ff. 


Die  Straf recbtsreform  im  Aafklärungszeitalter.  131 

Wilb.  V.  Grolman  in  Gießen  (später  hessischer  Staatsminister),  ob- 
wohl dieser  bereits  an  der  Schwelle  der  neueren,  durch  Kant  einge- 
leiteten und  durch  Anselm  Feuerbach  fortgeführten  Richtung  des 
Strafrechts  steht. 

Wie  die  Aufklärungsschriftsteller  den  verschiedensten  Ständen 
und  Berufen  angehörten,  so  sind  natürlich  auch  ihre  Arbeiten  nichts 
weniger  als  gleichartig  gewesen.  Neben  kleineren  Broschüren  und 
Aufsätzen  finden  sich  mehrbändige  Werke,  neben  der  Darstellungs- 
form des  Dialogs^)  und  des  Staatsromans'^)  Gesetzentwürfe, 3) 
juristische  (oder  recbtsphilophische)  Lehrbücher  und  lehrbuchartige 
Abhandlungen  (über  das  Strafrecht  und  in  der  Regel  auch  noch  das 
Straf  Prozeßrecht)  4),   Monographien   über  einzelne  allgemeine  oder 

1)  So  z.  B.:  Job.  Fr.  Hngo  v.  Dalberg,  Ariston  oder  über  die  Wirksam- 
keit der  peinlich.  Strafgesetze,  ein  Dialog,  Erfurt  1782,  abgedr.  auch  in  Plitts 
Repertorium  f.  d.  p^l.  Recht,  Bd.  I  (1786),  Nr.  2,  S.  27  ff.  Vorbildlich  könnte 
dafür  de  Mablys,  ebenfalls  in  Dialogform  gehaltenes  Werk  „De  la  l^gislation 
ou  prindpes  des  lois",  1776  (Oeuvres  compl.,  T.  XV.,  Par.  1790;  vgl.  Böhmer, 
Handb.,  Nr.  591,  S.  207/8)  gewesen  sein. 

2)  So.  H.  A.  Vezins  namentlich  gegen  die  Talionsidee,  die  Todesstrafe 
und  deren  Anhänger  (Feder,  Runde)  sowie  die  Folter  gerichtete  Schrift: 
Das  peinliche  Halsrecht  der  Teneriffaner,  ein  Märchen,  wie  es  mehrere  gibt,  mit 
Anmerkungen,  erste  (anonym  erschienene)  Aufl.  Osnabrück  1780,  2.  Aufl. 
ebd.  1798;  vgl.  Böhmer,  Handb.,  Nr.  672,  S. 302/3;  Landsberg,  Gesch.  III  1, 
Noten,  S.  267. 

3)  Über  die  wichtigsten  Arbeiten  dieser  sehr  zahlreic-hen  Literatur- 
gattung (z.  B.  von  E.  F.  Klein,  Quistorp,  K.  v.  Dalberg,  M.  Pflaum, 
V.  Eberstein  u.  a.  m.)  s.  Böhmer,  Handb.,  §  46,  S.  259ff  und  Günther, 
Wiedervergeltg.  II,  S.  229,  Anm.  628,  S.  233,  Anm.  644 ff  u.  HI  1,  S.  83,  So, 
Anm.  182;  vgl.  auch  Gelb»  Lehrb.  I,  S.  321/22.  Ober  Glaproth  u.  Beseke, 
der  wenigstens  dem  Titel  nach  auch  hierher  gehört,  s.  schon  oben  S.  127,  Anm.  4 
u.  S.  129,  Anm.  3. 

4)  Außer  den  schon  erwähnten  Werken  von  Gmelin  (s.  S.  129,  Anm.  2, 
Kleinschrod(S.  118,  Anm.  l)undv.  Grolman  (S.  114/15,  Anm.  6)  sind  etwa  noch 
Püttmanns  Elementa  juris  criminalis,  Lips.  1779  u.  Kl  eins  Grundsätze  des  gem. 
deutsch,  peinl.  Rechts  (1.  Aufl.  1796,  2.  Aufl.  Halle  1799)  zu  nennen;  aber  auch 
die  preisgekrönte  Abhandig.  von  v.  Globig  u.  Huster,  die  Schriften  von 
Rathlef  (8.S.  125,  Anm.  3)  und  Graebe  (s.S.  130,  Anm.3),  besonders  jedoch  die  um- 
fangreichen Darstellungen  von  V.Soden  (Geist  der  peinlichen  GesetzgebungTeutsch- 
lands,  1.  Aufl.  1782,  2.  [von  mir  benutzte]  Aufl.,  2.  Bde.,  Frankf.  1792)  und 
Wieland  (Geist  der  peinlichen  Gesetze,  S  Bde.,  Leipz.  1783/84)  gehören  im 
wes.  dieser  Klasse  an.  Über  das  anonym  erschienene,  unvollendet  gebliebene 
Werk  des  kurfürstl.  Mainziflchen  Hofrats  Martin  v.  Reder:  Das  peinliche  Recht 
nach  den  neuesten  Grundsätzen  voUständig  abgehandelt  und  meine  Gedanken 
über  den  Entwurf  zu  einem  neuen  peinlichen  Gesetzbuch,  4  Teile,  Offen- 
bach a./M.  1783/85  8.  die  Lit-Angaben  bei  Günther,  Wiedervergeltg.  II,  S.233, 
Anm.  645.  —  Job.  Chr.  Quintorps,  in  1.  Aufl.  schon  1770  (Rostock  u.  Leipzig)  er* 

9* 


132  IX.  Günther 

besondere  Gegenstände  des  Straf  rechts,  ^)  und  vollends  sachlich 
gehen  sie  in  mehr  als  einer  Frage  weit  auseinander.  ^)  Bei  fast  allen 
kehren  aber  doch  bestimmte,  gleichsam  zn  allgemeinen  Dogmen  er- 
hobene Sätze  wieder,  ans  denen  sich  ein  immerhin  ziemlich  getreues 
Gesamtbild  der  damals  herrschenden  Anschauungen  sowohl  von  Ver- 
brechen und  Strafen  im  allgemeinen,  als  auch  von  den  einzelnen  De- 
likten und  ihrer  Strafwürdigkeit  geben  läßt  ^)  Nach  der  Skizzierung 
dieses  Bildes  (bei  dem  übrigens  das  Strafproze Brecht  —  zur  Ent- 
lastung des  Stoffe«  —  grundsätzlich  außer  Betracht  bleiben  soll) 
wird  dann  noch  die  Frage  zu  beantworten  sein,  welche  Forderungen 
der  Aufklärer  bereits  durch  die  Gesetzgebung  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts ihre  tatsachliche  Erfüllung  gefunden  haben. 

Die  wichtigen  allgemeinen  Lehren  vom  Verbrechen,*)  die  in 
den  modernen  Strafrechtskompendien  einen  so  breiten  Platz  einneh- 
men, haben  selbst  in  den  größten  und  besten  Werken  der  Aufklärer 
im  ganzen  nur  eine  ziemlich  stiefmütterliche  und  meistens  unbefrie- 

schienenen  Grundsätze  des  deutschen  peinlichen  Rechts  (s.  Landsberg,  Gesch. 
III  1,  S.  40S/9  u.  Noten,  S.  266)  enthalten  vorwiegend  eine  Darstellung  de? 
geltenden  Rechts  und  nur  wenige  eigentliche  kriminalpolitische  Betrach- 
tungen. 

1)  Erschöpfende  Angaben  über  diesen  Zweig  der  kriminalpol.  Literatur 
können  hier  nicht  gegeben  werden.  S.  imallg.  Böhmer,  Handb.,  §  4S,  S.  297ff. 
(„Schriften  über  einzelne  Gregenstande  der  Krimlnalpolitik**).  Verdienstlich  die 
Sammlung  verschiedener  Monographien  dieser  Art  durch  Joh.  Friedr  Pütt 
(s.  Landsberg,  Gesch.  III  1,  Noten,  S.  267)  in  dessen  „Repertorinm  für  das 
peinliche  Rechf^  (2  Bde.,  Frankf.  1786  u.  1790)  sowie  die  Zusammenstellung  der 
wichtigsten  „Meinungen  über  die  Todesstrafe*^  durch  den  Popularphilosophen 
Joh.  Adam  B  erg  k  (s.Lan  d  sb  erg ,  a.a.  0.  Noten,  S.  258)  m  dem  II. Teile  seine  Über- 
setzung von  Beccarlas  „Abhdlg.  über  Verbrechen  und  Strafen**,  Leipz.  179*^ 
(S.  65-184);  vgl.  Landsberg,  a.  a.  0.  S.  416/17  und  Noten,  S.  271. 

2)  S.  darüber  schon  Malblank,  Gesch.  d.  P.  G.-O.,  §  60,  S.  265. 

3)  S.  Malblank,  a.  a.  0.,  S.  265.  Daselbst  S.  265—273  eine  Übersicht 
über  die  „Hauptgrundsatze . . .,  worin  die  meisten**  Aufklärungsschriftsteller  „über- 
einstimmen*'. Aus  neurer  Zeit  vgl.  dazu:  Hälschner,  Gesch.  des  brand.-preuß. 
Strafrechts,  S.  169ff.  u.  Geib,  Lehrb.  I,  §  56,  S.  812ff,  §  57,  S.  320ff.  a.  bes. 
§58,  S.  331  ff.;  femer  etwa  noch  Löning  in  d.  Z.  f.  d.  ges.Str.-W.  3,  S.  248 ff., 
273 ff.;  V.  Liszt,  Strafrechtl.  Aufs.  II,  S,  139 ff.  u.  I^hrbuch  (fortlaufend  in  den 
einleitenden  rechtshistorischen  Bemerkungen  zu  den  einzelnen  Abschnitten); 
Günther,  Wiedervergeltg. ,  II,  S.  234ff.;  Fr.  Berolzheimer,  System  V, 
S.  217  ff. 

4)  Über  den  Begriff  des  „Verbrechens"  bei  den  wichtigsten  Anfklärnngs- 
schriftstellem  (Wieland,  Feder,  Servin,  v.  Globig  u.  Huster,  Cella. 
V.  Soden,  Stübel,  Klein,  v.  Grolman)  gibt  eine  Übersicht  Klei  nschrod, 
System.  Entwicklung  usw.  (2.  Aufl.  1799),  I,  §  5ff.,  S.  16ff.  u.  bes.  §  9—11, 
S.  25—33. 


Die  Straf rechtsrefonn  im  Aufklärungszeitalter.  133 

cligende  Darstellung  erfahren,  was  sieb  zum  Teil  wobl  daraus  erklärt, 
daß  diese  Materien  im  großen  ganzen  ja  weniger  von  kriminalpoliti- 
schem, als  rein  rechtlichem  Interesse  sind,  zum  Teil  aber  auch  daraus, 
daß  man  damals  noch  nicht  recht  imstande  gewesen,  den  Einfluß,  den 
die  veränderten  kriminalpolitischen  Anschauungen  der  Zeit  konse- 
quenterweise immerhin  doch  auch  auf  diesen  Teil  des  Strafrechts 
hätten  äußern  müssen,  richtig  einzuschätzen.  ^)  Namentlich  gilt  dies 
von  den  juristisch  so  bedeutsamen  Erscheinungsformen  straf- 
barer Handlungen:  Tun  und  Unterlassen,  Vorbereitung,  Versuch 
und  Vollendung,  Mittäterschaft,  Anstiftung  und  Beihilfe,  Einheit 
und  Mehrheit  der  Verbrechen  (Konkurrenz,  Rückfall)  usw.  Ver- 
sagen hierfür  zum  Teil  sogar  die  eigentlichen  ,» Rechtsgelehrten  ^, 
trotzdem  sie  einzelne  dieser  Fragen  oft  sehr  weitschweig  behandeln,  '^) 
»0  erst  recht  natürlich  diejenigen  Schriftsteller,  die  für  das  streng 
juristische  Gebiet  mehr  oder  weniger  als  „Laien^  zu  betrachten  sind. 
Gerade  hierbei  paart  sich  dann  öfter  unwissenschaftliche  Oberfläch- 
lichkeit mit  eigenem  Selbstbewußtsein.  So  glaubte  z.  B.  Graf 
von  Sod^n,  „alle  Einteilungen  der  Kommentatoren"  bezüglich  der 
Lehre  von  der  Teilnahme  am  Verbrechen  durch  einen  einzigen, 
noch  dazu  ganz  allgemein  gefaßten  Satz  überflüssig  machen  zu  können  ^j ; 
Beccaria  hat  Versuch  und  Teilnahme,  deren  Begriffe  nicht  näher 
definiert  sind,  zusammen  in  einem  kurzen  Paragraphen  behandelt 
und  bei  den  Erörterungen  über  die  letztere  ausführlicher  nur  die 
kriminalpolitisch  wichtige  Frage  behandelt,  ob  es  ratsam  sei, 
einem  Teilnehmer  an  einem  schweren  Verbrechen,  der  seine  Genossen 
anzeigt,  Straflosigkeit  zu  versprechen,   eine  Frage,  die   er   übrigens 


1)  Auch  in  der  Reform bewegung  der  Neuzeit  sind  diese  Fragen  bislang 
noch  mehr  in  den  Hintergrund  getreten  gegenüber  der  Verbessemng  des  Strafen- 
systems, obwohl  sie  allerdings  auf  den  Kongressen  der  I.K.V.  (zu  Linz  und 
Lissabon)  kurz  zur  Erörterung  gelangt  sind ;  s.  darüber  Mitt  der  LK.V.  5,  S.  336, 
:US,  513ff.u.  6,  S.  305  ff,  340ff.  u.  dazu  Kitzinger,  die  LK.V.,  S.  20ff.  u.  S.24ff. 
u.  Anm.  2,  S.  31  ff.,  34  (bes.  über  die  Behandlung  des  Versuchs  und  der  Teil- 
nahme). Vgl.  auch  Mitter  maier  in  der  Schweiz.  Z.  f.  Strafr.,  Jahrg.  14  (1901), 
S.  146. 

2)  Vgl.  z.  B.  was  Jos.  Heimberger,  Die  Teilnahme  am  Verbrechen  usw., 
Freib.  u.  Leipz.  1896,  §  69,  70.  S.  226ff.,  230ff.  bezügl.  der  Ansichten  Kleins 
u.  Kleinschrods  über  die  Teilnahme  ausgeführt  hat 

3)  Geist  der  peinl.  Gesetzgebung  Teutschlands  (2.  Aufl.  1792),  Bd.  I,  §  29, 
S.  45.  Sehr  kurz  und  allgemein  (über  dieselbe  Lehre)  auch  K.  v.  Dal  borg. 
Entw.  eines  Gesetzbuchs  in  Kriminalsachen,  Frankf.  u.  Leipz.  1792,  Teil  II, 
Abschn.  3,  S.  129  ff.,  desgleichen  über  Rückfall  u.  Verbrechenskonkarrenz:  Rathlef, 
Vom  Geiste  der  Kriminalgesetze  (2.  Aufl.  1790),  Kap.  35,  S.  108. 


134  IX.  Günther 

Temeinend  beantwortet.  ^)  Ein  wenig  besser  ist  es  im  ganzen  in  der 
Aufklärungsliteratnr  schon  mit  der  Sondemng  der  Sehuldarten 
(Vorsatz,  Fahrlässigkeit  usw.)  bestellt  gewesen.  So  gebührt  z.  B. 
von  Soden  das  Verdienst,  den  sog.  indirekten  Vorsatz  („dolos  in< 
directus^),  von  ihm  nicht  unpassend  „einwilligende  Schuld^  genannt, 
richtiger  gewürdigt  zu  haben,  ^)  woran  u.  a.  später  auch  K  F. 
Klein,  „der  erste  Vertreter  der  modernen  Doktrin"  über  den  „dolus", 
angeknüpft  hat;^)  und  aus  dem  Gebiete  der  sog.  Schuldaus- 
schließungsgründe ist  lobend  hervorzuheben,  daB  in  der  Preis- 
Schrift  von  v.  Globig  und  Huster  die  Notwehr,  die  man  bis 
dahin  stets  nur  ganz  einseitig  im  Anschluß  an  die  Tötungen  behan- 
delt hatte,  zum  ersten  Male  ihre  richtige  systematische  Stellung  bei 
den  allgemeinen  Lehren  des  Strafrechts  gefunden  hat.  ^) 

1)  Boccaria  (Übere.  von  Esselborn),  §  14,  S.  lOOff. ;  vgl.  Maillard, 
Etüde  histor.  sur  la  pollt  crim.,  p.  34,  der  übrigens  Beccarias  Entscbeidong 
der  Frage  für  eine  Inkonsequenz  gegenüber  dem  sonst  von  ihm  vertretenen 
Prinzip  der  Nützlichkeit  erklait.  Übereinstimmend  mit  Beccaria  auch 
Filangieri,  System  der  Gesetzgebg.,  Bd.  IV,  (Buch  3,  Teil  2)  Kap.  57,  S.  724ff.; 
abweichend  dagegen:  Diderot  in  seinen  Noten  zu  Beccaria  (Oeuvres  compL 
T.  IV,  p.  66;  vgl.  Esselborn,  Übers.,  S.  101,  Anm.*  u.  Einltg.,  S.  34),  desgl. 
Zaupser,  Gedanken  über  einige  Punkte  des  Kriminalrechts,  4.  Aufl.,  Müncheu 
1781,  Abhdlg  3.,  S.  87  u.  Kleinschrod,  System.  Entwicklung,  Teil  II,  §  110, 
S.  291  u.  a.  m. 

2)  V.  Soden,  Geist  usw.  I,  §  Sff.,  S.  16ff.,  und  dazu  AI.  Löffler,  Die 
Schuldformen  des  Straf  rechts  im  vergleich. -histor.  u.  dogmat  Darstellung,  Leipz. 
1S95,  S.  207,  208;  vgl.  auch  Landsberg,  Gesch.,  III  1,  S.  415  u.  Noten,  S.270. 
—  Ziemlich  ausführlich  ist  über  den  „indirekten  Vorsatz''  auch  v.  Reder,  Das 
peinliche  Recht  I,  Kap.  ni,  §  8  ff.,  S.  45  ff. 

3)  S.  bes.  Klein,  Grundsatze  usw.  (2.  Aufl.),  §  123,  S.  102  u.  dazu  Löffler, 
a.  a,  0.  S.  208—210. 

4)  V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  Teil  I,  Abschn.  3,  S.  119ff.  (ähnlich 
auch  Bcseke,  Versuch,  S.  117,  Nr.  14);  vgl.  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  38,  S.  144. 
Während  sich  dieser  Behandlung  der  Notwehr  z.  B.  Erhard,  Tittmann, 
V.  Dalberg  (Entwurf,  S.  133),  Klein  (Grundsätze,  2.  Aufl.,  §  35,  S.  33 ff.)  an- 
schlössen, haben  sich  andere  Schriftsteller  noch  längere  Z^it  dagegen  ablehnend 
verhalten  (so  z.  B.  Quistorp,  Ausführl.  Entw.  zu  einem  Gesetzb.  in  peinl.  u. 
Strafsachen,  Rost.  u.  Leipz.  1782,  Abschn.  14,  §  155 ff.,  S.  176ff.,  übereinstimmend 
mit  s.  Grundsätzen  d.  deutsch,  peinl.  Rechts,  3.  Aufl.,  1783,1,  §237,  S.450ff.,  6. 
Aufl.  1 796,  S.  368 ff. ;  auch P  f  aum ,  Entwurf  einer  neuen  peinl.  Gesetzgebung,  Frankf • 
u.  Leipz.  1793,  Teil  I,  Abschn.  14,  §  117ff,  S.  UOff.;  desgl.  Wieland,  Gmelin, 
v.  Eber  st  ein  u.a.  m.),  bis  dann  Feuerbachs  Ansehen  der  neuen  Auffassung 
den  endgültigen  Sieg  verschaffte;  s.v.  Liszt,  a.  a.  0.,  S.  144.  —  Erwähnt  sei 
noch,  daß  die  früher  oft  nicht  genügend  gewürdigte  und  erst  in  der  Neuzeit  wieder 
mehr  betonte  Bedeutung  dos  hohen  Alters  alsSchuldausschließungs-bezw. 
M  indem ngsgrundes  von  den  Aufklärungsschriftstellem  vielfach  schon  ausdrück- 
lich, und  zwar  meist  als  Seitenstück  zu  der  geringeren  Zurechnungsfähigkeit  der  Jugend- 


Die  Straf rcchtsreform  ira  AufkJärnngszeitalter.  135 

Sehr  geteilt  waren  schon  damals  —  ganz  wie  noch  heute  —  die 
Ansichten  über  das  Problem  der  Willensfreiheit  der  Verbrecher, 
wenngleich  dieses  in  jener  Zeit  bei  weitem  noch  nicht  die  her- 
vorragende Bolle  gespielt  bat  wie  in  der  Gegenwart.  0  Während  die 
Mehrzahl  der  Aufklärer  noch  geradezu  mit  einem  gewissen  Enthu- 
siasmus an  der  Allmacht  des  guten  Willens  festhielt,  standen  an- 
dere, wie  z.  6.  Diderot,  dem  Problem  schon  skeptischer  gegen- 
über, 2)  ja  Voltaire,  der  anfänglich  noch  ein  Verteidiger  der  Wil- 
lensfreiheit gewesen,  bekehrte  sich  später  völlig  zum  Determinismus  ^) 
und  hat  so  gerade  den  umgekehrten  Entwicklungsgang  durchge- 
macht wie  sein  königlicher  Freund  und  Gönner,  Friedrich  der 
Große. ^)  In  Deutschland  erscheint  als  konsequentester  Vertreter 
des  Determinismus  jedenfalls  Hommel,  der  unter  dem  Pseudonym 
Alexander  von  Joch  schon  im  Jahre  1770  in  einer  besonderen 
Schrift  „Über  Belohnung  und  Strafe  nach  türkischen  Gesetzen^  das 
Strafrecht  von  diesem  Standpunkt  aus  zu  begründen  und  „die  Ver- 
träglichkeit der  Unfreiheit  des  Willens^  selbst  „mit  der  Ethik  .  .  . 
nachzuweisen^  versucht  hat^) 

liehen,  hervorgehoben  worden  ist.  Vgl.  darüber  u.  a.  bes.:  Claproth,  Entw.  I, 
Hauptst  1,  §  10,  S.  S;  Quistorp,  £ntw.  I,  §  75,  S.  90  (3.  auch  s.  Grundsätze 
d.  deutsch,  peinl.  Rechts,  3.  Aufl.  1783, 1,  §  107,  S.  198/99);  v.  Globig  u.  Huster 
Abhdlg.,  S.  116;  Wieland,  Geist  I,  §  273,  S.  364ff.;  v.  Reder,  Das  peinl. 
Recht  I,  Kap.  V.  §  S,  S.  85flF.  u.  Kap.  XVII,  §  51,  S.  389/90  u.  Anm.  (m.  Lit- 
Angaben);  Kleinschrod,  Syst.  Entwickig.  I,  §89,  S.  177,  178;  Ma rat,  Plan  etc. 
(a.  a.  0.  p.  140;  8.  G.-S.  61,  S.  228,  Anm.  2);  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg., 
8. 122.  —  Für  die  Neuzeit  vgl.  Kitzinger,  Die  1.  K.  V.,  S.  50,  51;  J.  Bresler, 
Greise  und  Kriminalität,  Halle  1907.  («  Bd.  V,  Heft  3  der  „Jurist. -psychiatr.  Grenz- 
fragen",  herausgeg.  v.  Finger,  Hoche  u.  Bresler). 

1)  S.  darüber  näheres  bei  v.  0  verbeck,  Das  Straf  recht  der  französ.  Enzy- 
klopädie, S.  43,  46  ff.  (zunächst  mit  bes.  Bezugnahme  auf  die  Enzyklopädisten). 

2)  S.  darüber  Hertz,  Voltaire,  S.  128  u.  v.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  47ff ;  über 
den  Determinismus  bei  den  franzÖs.  Aufklärern  überhaupt:  Hert  z ,  a.  a.  0.  S.  126 ff. 

3)  S.  das  nähere  hierüber  bei  Hertz,  Voltaire,  S.  126,  127,  130;  vgl. 
Masmonteil,  La  l^gisl.  crim.  etc.,  p.  196ff.  und  Willenbücher,  Die  straf- 
rechtsphilos.  Anschauungen  Friedrichs  des  Großen,  S.  27  ff. 

4)  S.  Willenbücher,  a«  a.  0.,  S.  27,  28,  u.  Anm.  1  (Polemik  Friedrichs 
des  Großen  gegen  Holbachs  „Systeme  de  la  nature*^). 

5)  So:  Binding,  die  Nonnen  und  ihre  Übertretung^  Bd.  II  (1.  Aufl., 
Leipz.  1877),  S.  25,  Anm.  42;  vgl.  auch  S.  4,  Anm.  4,  (Lob  des  Werkes,  „aus 
welchem  zu  einseitig  die  abstoßenden  Steilen  zitiert  zu  werden  pflegen' '),  S.  23, 
Anm.  38;  näheres  noch  bei  Landsberg,  Gesch.  III  1,  S.  393/4  u.  Noten,  S.  258. 
Zunächst  hat  Hommel  in  dieser  Beziehung  noch  wenig  Anhänger  gefunden; 
u.  a.  (vgl.  Böhmer,  Handb.,  S.  812,  Nr.  3107  über  Joh.  Tob.  Sattler,  Pseu- 
don3rm  Frey)  ausdrücklich  gegen  ihn  auch  Kleinschrod,  Systemat  Ent- 
wicklung usw.    I,   §  44,   S.  104/5,  der    der  „Paradoxie"   Hommel s    „das 


136  IX.  Günther 

Noch  unbekannt  ist  der  damaligen  Zeit  im  ganzen  die  realistisch- 
natnrwissenschaftlicbe  Auffassung  vom  Verbrechen  gewesen,  wie  sie 
heute  von  der  sog.  anthropologischen  Schule  Lombrosos  vertreten 
wird,  wonach  die  Verbrecher  einen  besonderen,  auch  an  äußer- 
lichen Merkmalen  erkennbaren  Typus  bilden  sollen.  Immerhin 
lassen  sich  aber  schon  einige  schüchterne  Ansätze  auch  zu  dieser  Rich- 
tung bei  den  Aufklärern,  den  Zeitgenossen  eines  Lavater  und  Gall, 
nachweisen;  so  wenn  nach  Montesquieus  Vorgang^)  der  Einfluß 
des  Klimas  und  der  Bodenbeschaffenheit  auf  die  Kriminalität  be- 
tont wird,  '^)  oder  wenn  man  auf  die  hellere  oder  dunklere  Haarfarbe 
der  Delinquenten  Gewicht  legt^  weil  hiervon  vermeintlich  die  kühlere 
oder  hitzigere  Beschaffenheit  des  Bluts  und  damit  die  geringere  oder 
größere  Geneigtheit  zur  Verübung  von  Missetaten  abhängen  sollte,'^) 
—  eine  Ansicht,  der  bekanntlich  auch  noch  Lombroso  nicht  abge- 

Bild  menschlicher  Freiheit,   welches  denkende  Philosophen   (wie  z.  B.   Feder, 
Michaelis,  Klein)  gezeichnet  haben**,  gegenüber  stellt. 

1)  Esprit  des  lois  (öd.  Firmin-DidotetCie.,  Paris  1894),  Li  vre  XIV,  p.  187  ff. 
(,J)e8  loisdans  le  rapport  qu'clles  ontavecianatare  duclimaf),  insb.chap.  2, 
p.  188ff  („Combienleshommes  sont  diff Brests  dans  les  divers  climats'*);  vgl.  auch 
noch  Li  vre  XV — XVII  u.  XVIII  („Des  lois  dans  le  rapport  qa'elles  ont  avec  la 
naturo  du  terrain"). 

2)  Derartige  Bemerkungen  erfreuten  sich  damals  schon  ziemlich  allgemeiner 
Beliebtheit  (vgl.  v.  Liszt,  Strafrechtl.  Auf  f.  II,  S.  380).  Über  Einzelheiten  s. 
z.  B.  Hommel,  Philos.  Gedanken,  §  42,  S.  79  („Das  heiße  Klima  mäht  grausam'*), 
§  43,  S.  80 ff.;  Rössig,  „Vorerinnerung**  dazu,  S.  XIV  („Gebirgige  Einwohner 
[sie]  sind  unternehmender  und  kühner  als  Bewohner  der  Ebenen.  In  feuchten 
Himmelsstrichen  sind  die  Menschen  melancholicher. . .  [Sie]  sind  bösartiger,  je  mehr 
sie  sich  der  Linie  [Äquator]  nähern  und  immer  gutartiger,  je  näher  man  zu  den 
Polen  kommt"),  vgl.  S.  XVII,  Anm.  *  (Lit.-Angaben) ;  Seeger  in  Pütts  Reper- 
torium  f.  d.  peinL  Recht  I  (1786),  S.  178/79;  Filangieri,  System  der  Gesetz- 
gebung, Bd.  IV  (B.  3,  Teil  2),  Kap.  25,  S.  5,  Nr.  8,  Kap.  36,  S.  217  ff,  220 ff.  (dem 
aber  doch  Montesquieu  zu  weit  geht;  s.  Bd.  I,  Kap.  14,  S.  305 ff);  nur  Be- 
merkungen allgemeinerer  Art  bei  Rathlef,  Vom  Geiste  der  Kriminalgesetze, 
S.  llff.;  Klein,  Fragmente  eines  peinl.  Gesetzbuchs  usw.,  in  dessen  „Vermischten 
Abhandlungen  über  Gegenstande  der  Gesetzgbg.  und  R.-W.,  Bd.  I,  iStuck  2,  Nr.  3 
(Leipz.  1780),  S.  40—42;  Wieland,  Geist  usw.  I,  §  ISff,  S.  25ff;  ausdrücklich 
dagegen  bes.  Gmelin,  Grundsätze  usw.,  §  19,  S.  42,  43  u.  i.  wes.  auch 
V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S,  16,  17  u.  Vier  Zugaben,  S.  23ff. 

3)  So  z.  B.  bes.  Rüssig,  a.  a.  0.,  S.  XV.  „Je  dunkler  das  Haar  einer 
Nation  im  ganzen  genommen  ist,  desto  häufiger  finden  sich  Verbrechen  und 
Gegenstände  des  Kriminalrechts.  Lavater  (und  John  Howard)  beobachteten, 
daß  die  größten  Verbrecher  (in  den  Gefängnissen)  immer  dunkles,  schwarzes 
Haar  hatten  .  .,;.  Die  Farbe  des  Haares  hängt  vom  Blute  ab  und  von  diesem 
letzteren  häufig  unsere  M  o r a  1  i  t ä  t  Dunkles  Haar  setzt  ein  heftiges,  feuriges  Blut 
voraus**,  das  zwar  „zu  großen,  edlen  Taten"  treiben,  ebenso  aber  auch  zu  „Bos- 
heiten" verleiten  könne,  „für  welchen  die  Menschheit  zurückschaudert**. 


Die  betraf  rech  tsreform  im  Aufklärungszeitalter.  137 

neigt  gewesen  ist  *)  — ,  ja  vereinzelt,  so  z.  B.  bei  dem  Sizilianer  Tomas  o 
Xatale  di  Monterosato,  finden  sich  sogar  Bemerkungen  über  die 
Abhängigkeit  der  menscblichen  Leidenschaften  von  den  physiolo- 
gischen Verhältnissen  des  Körpers,  die  an  die  modernsten  Ansichten 
italienischer  Kriminalisten  erinnern.  ^) 

Der  verhältnismäßig  dürftigen,  im  ganzen  jedenfalls  ungenügen- 
den Behandlung  der  allgemeinen  Lehren  vom  Verbrechen  bei  den  Auf- 
klärern steht  eine  um  so  eingehendere  Beschäftigung  mit  der  Straf e 

—  und  allem,  was  damit,  wenn  auch  nur  mittelbar,  zusammenhängt 

—  gegenüber.  Hier  ist  nun  gleich  zu  Anfang  wieder  eine  inter- 
essante Übereinstimmung  mit  unseren  heutigen  Keformbestrebungen 
festzustellen;  ich  meine  die  starke  Betonung  der  sog.  prophylak- 
tischen Maßregeln,  d.  h.  der  Vorbeugungs-  oder  Verhütungs- 
mittel der  Verbrechen  —  noch  abgesehen  von  der  eigentlichen 
StraQustiz  — ,  die  seit  Montesquieu 3)  einen  charakteristischen  Be- 
standteil fast  aller  damaligen  kriminalistischen  Verbesserungsvor- 
schläge bildeten  *)  und  ebenso  wiederum  heute  zu  ^den  auffallendsten 


1)  S.  Lombroso,  Der  Verbrecher  in  anthropolog.,  ärztlicher  u.  juristischer 
Beziehung,  deutsche  Bearbeitung  von  0.  Fraenkei,  Hamburg  1SS7,  S.  223.  241. 

2)  S.  T  o  m  a  s  o  N a t  a  1  e ,  Riflessioni  politicheetc.  ( vgl.  S.  1 23/24,  Anm.  3),  heraus^, 
von  Guardione  u.  Impailomeni,  Palermo,  1895,  p.  9,  10,  Anm.  1  und  dazu 
Günther  im  Archiv  f.  Strafr.,  Jahrg.  48,  S.  17  u.  Anm.  9S,  99^  Ähnliche  Äuße- 
rungen auch  sonst  noch  hier  u.  da.  So  wirft  z.  B.  Servin,  Über  die  peinliche 
Gesetzgbg.  I,  Kap.  4,  Abschn.  1,  §  1,S.  215  die  Frage  auf,  ^ob  die  Irrtümer  unseres 
Geistes  nichte  benso  gut  aus  einem  Fehler  der  Organisation  als  auä  der  Bosheit 
des  Herzens  kommen  können*",  und  K.  v.  D  al  b  erg ,  Entw.,  S.  US  bemerkt,  daß  „der 
Körperbau  . . .  offenbar  auf  viele  Laster  Einfluß*'  habe.  Vergl.  auch  Willen- 
brichera.a.0.  S.  9, 10,  Anm.  2  u.  3  (über  die  Ansichten  Friedrichs  des  Großen) 

3)  Esprit  de  lois,  Li  vre  VI,  chap.  9,  p.  72:  « un  bon  I^gislateur  s'attachera 

moins  ä  punir  les  crimes  qu'ä  les  prövenir;  il  s'appliquera  plus  ä  donner 
des  moeurs  qu'a  Inf  liger  des  supplices"".  Ihm  schließen  sich  an  Beccaria, 
(§36  [Esselborn,  S.  154J  u.  §  41  [Ö.  162 ff.]:  „Es  ist  besser,  den  Verbrechen  vorzu- 
beugen, als  sie  zu  bestrafen'')  und  Voltaire  (Commentaire,  §1  (Brissot,  Bibl. 
philos.  T.  I,  p.  203]:  „La  v^ritablc  jurisprudence  est  d'empecher  les  d^lits";  Prix 
de  la  justice,  Ait.1  [Bibl.  philos.  T.  V,  p.  9]),  mit  dem  auch  Friedrich  der  Große 
übereinstimmt  (Brief  an  Voltaire  v.  11.  Okt.  1777:  „qu'il  vaiait  mieux  em- 
pOchcr  et  prßvenir  les  crimes  que  les  punir";  vgl.  Masmonteil,a.  a.  0.  p.  209, 
210).  Von  Franzosen  s.  auch  noch  Brissot  de  Warville,  Discours  couronnö  v. 
J.  17S0  (in  s.  Bibl.  phil.  T.  VI.),  p.  23  ff.  und  Theorie,  T  I,  chap.  1,  p.  87  und  ff. 
(..Moyens  de  prßvenir  le  crimes") ;  M.  1.  F.,  Plan  de  l^gislation  sur  les  matidres  cri- 
minelles (bei  Brissot,  Bibl.  phil.  T.  V.),  p.  336 ff.  (^De  la  maniöre  de  prßvenir 
les  crimes);  de  la  Cretelle,  Vues  sur  la  justice  criminelle  (Bibl.  phil.  T.  VIII, 
p.  338 ff.  („Des  moyens  politiques  de  pr6venir  les  crimes""). 

4)  Zitate  dafür  zu  häufen  erscheint  daher  überflüssig.     Vergl.  i.  allgem. 
Malblan  k,  Gesch.  d.P.G.-O.,  §  60,  S.  2()5,  Ziff.  1;  Hälschncr,  Gesch.  d.  brand.- 


138  IX.   GfKTHER 


Kennzeichen  der  modernen  Richtong^  gehören,  >)  ja  von  manchen  so 
stark  in  den  Vordergrund  gerückt  sind,  daß  sie  das  ganze  „Stiafrecht* 
am  liebsten  in  den  weiteren  Begriff  eines  „Verbrechensbek&mpfongs- 
rechts^  aufgehen  lassen  möchten/-)  Selbst  in  der  Ausdrucks- 
weise tritt  die  Ähnlichkeit  in  den  Anschauungen   beider  Perioden 


preuß.  Strafr.,  S.  171  ff.,  197;  Birkmeyerim  Archiv  für  Straf r.,  Jahi^^.  48,  S.  9T. 
Anm.  86;  Günther,  ebds.  S.  34,  35,  Anm.  165  u.  166  (betr.  Prdsaossdireiben 
und  die  monographische  Literatur  über  diesen  Gegenstand  nach  Böhmer. 
Handbuch  d.  Lit.  des  Khminairechts)  u.  G.-S.  61,  S.  206  ff.  u.  die  AnmerkgiL 
Bes.  merkwürdig  ist  die  in  sich  widerspruchsvolle  Schrift  „Versuch  über  die  gesetz- 
gebende Klugheit,  Verbrechen  ohne  Strafen  zu  verhüten*'  (Frankfort  u.  Leipzig 
1778),  deren  Verfasser  (nach  Böhmer,  Handb.,  S.  278,  Nr.  645)  E.H.  Prätorins 
gewesen  ist.  Vergl.  Allg.  dtsch.  Bibl.,  Bd.  39  (1779),  S.  403ff.,  s.  auch  GUser, 
Übersetzg.  v.  Beccaria,  S.  9  Anm.  **. 

1)  Kitzinger,  Die  IKV.,  S.  23.  —  Angaben  von  Spezialliteratnr  u.a.  bei 
Birkmeyer  im  Archiv  für  Straf  recht,  Jahrg.  48,  S.  97,  Anm.  86.  Für  die  ge- 
schichtlichen Wandlungen  von  Interesse:  E.  v.  Jage  mann.  Die  Vorbeugung* 
mittel  gegen  Verbrechen  einst  und  jetzt  (Vortrag,  gehalten  auf  dem  4.  intemat. 
Pönitentiarkongreß  in  St  Petersburg,  1890,  S.-A.  aus  den  Akten  des  Kongr.,  Bd. 

1.  S.  759ff.)  1891;  bedeutsam  auch  Ferri,  Das  Verbrechen  als  soziale  ErscheiDong. 
Grundzüge  der  Kriminalsoziologie,  deutsch  v.  Kurella,  1896,  S.  179 ff.:  rg). 
femer  noch  die  in  den  folgenden  Anm.  angeführten  Werke. 

2)  S.  bes.  die  Schriften  von  Andreas  Thomson:  Grundriß  des  Verbrechens- 
bekämpfungsrechts,  enthaltend  das  Straf-  und  das  sonstige  Bekampfnngsrecht, 
2  Teile,  Berlin  1905  (Allgem.  Teil,  bes.  die  Vorrede,  S.Vmff.,  XXIVff.,  XL 
XLI)  und  1906  (Bes.  Teil,  namentl.  das  ,3chlußwort'')  und  Das  deutsche  Straf- 
recht,  Vorieaungen,  Beriin  1906/7,  femer  Z.  f.  d.  d.  ges.  Str.-W.  26  (1906),  S.  698 ff.  n. 
27  (1907),  S.696ff.,  zum  Teil  auch  schon  Thomsons  ältere  Schrift:  Kiiminal- 
politische  Bekämpfungsmethoden,  Beriin  1893.  Vergl.  auch  Mittermaierind. 
Schweiz.  Z.  f.  Straf r.,  Jahrg.  14  (1901),  S.  153  (für  die  Ausgestaltung  des  alten 
Strafrechts  zu  einer  neuen  „Verbrechenswissenschaft'').  Gegen  die  zq 
starke  Berücksichtigung  der  prophylaktischen  Maßregeln  aber  Bin  ding,  Grundriß. 
Allg.  Teil,  7.  Aufl.  (1907),  Vorwort  S.  VII ff.  -  Beachtenswert  ist  der  Hinweis 
Thomsons  (Grandriß  I,  Vorrede  S.  XIX)  darauf,  daß  auch  in  der  modernen 
Jjiteratur  bereits  mehr  und  mehr  allgemein  von  einem  „Kampfe''  gegen  das  Ver- 
brechen oder  von  „Bekämpfung*'  des  Verbrechens  und  seiner  Ursachen  statt 
nur  von  dessen  „Strafe"  oder  „Bestrafung"  gesprochen  wird.  Vergl.  z.  B.  Stooß. 
Der  Kampf  gegen  das  Verbrechen,  Bern  1894;  Lombroso,  Die  Ursachen  und 
die  Bekämpfung  des  Verbrechens,  deutsch  von  Kurella  u.  Jentsch,  1902; 
Asch  äffen  bürg,  Das  Verbrechen   und  seine  Bekämpfung   (1.  AnfL  1903), 

2.  Aufl.  Heidelberg  1906;  F.  A.  K.  Krauß,  Der  Kampf  gegen  die  Verbrecheos- 
ursachen  usw.,  Paderbom  1905  (vergl.  oben  S.  119,  Anm.  3).  Übrigens  ist  natürlich  die 
„Bekämpfung  des  Verbrechens"  weder  schlechthin  identisch  mit  der  „Vorbeogong'' 
(8.  Ascbaff  enburg,  a.  a.  0.,  Vorrede  {zur  1.  Aufl.],  T.  VI),  noch  bildet  sie  stets 
einen  Gegensatz  zur  „Vergeltung";  s.  darüber  Birkmeyer,  Strafe  und  sichernde 
Maßnahmen,  München  1906,  S.  43,  Anm.  90  (gegen  Kraepelin  in  der  M.-S.  für 
Kriminalpsych.  3,  S.  25S). 


Die  Strafrccbtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  139 

zuweilen  ganz  deutlich  hervor.  So  ist  die  in  den  „Satzungen^  der 
internationalen  kriminalistischen  Vereinigung  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Fassung  (Art.  II,  d)  aufgestellte  Regel:  „Die  Strafe  ist  (nur) 
eines  der  wirksamsten  Mittel  zur  Bekämpfung  des  Verbrechens, . . . 
aber  nicht  das  einzige  Mittel^  dazu  (weshalb  sie  auch  „nicht  aus 
dem  Zusammenhange'^  mit  den  übrigen  Bekämpfungs-,  insbesondere 
den  Verhütungsmitteln  „gerissen  werden"  dürfe)  fast  wörtlich 
in  den  Werken  mancher  Aufklärungsschriftsteller  anzutreffen.  0  Auch 
der  heute  so  überaus  beliebte  Vergleich  des  Gesetzgebers  mit  dem 
Ärzte,  der  dem  Ausbruch  von  Krankheiten  zunächst  durch  hygieni- 
sche Maßregeln  zuvorzukommen  suchen  soll,  ehe  er  zu  deren 
Heilung  scharfe  Arzneimittel  verwendet,  ist  bereits  unseren  Vorfahren 
im  achtzehnten  Jahrhundert  nicht  unbekannt  gewesen.  ^)  Aufgabe  des 
Staats  —  so  lehrte  man  schon  damals  genau  so  wie  heute  —  ist  es 
vor  allem,  die  Ursachen  des  Verbrechens  zu  erforschen  und  zu  be- 
seitigen, 3)  seine  Quellen  zu  verstopfen, 4)  also  Armut  und  Müßig- 

1)  S.  bes.  V.  Soden,  Geist  usw.  I,  §  36,  S.  60:  „Der  Endzweck  der  pein- 
lichen Gesetze  überhaupt  ist  Verhütung  der  Verbrechen.  Strafen  sind  aber 
nun  eines  der  Mittel  zu  diesem  Endzweck";  vgl.  Günther,  Wiedervgltg.  II, 
Vorwort,  S.  IX,  Anm.  15.  Ahnlich  auch  Rathlef,  Vom  Geiste  usw.,  S.  6; 
Beseke,  Versuch,  Kap.  VI,  Absobn.  7,  S.  88,  Nr.  4  u.  Kap.  VIT,  Abschn.  1,  S.  58 ff., 
64;  Wieland,  Geist  usw.  I,  §835,  S.  453.  Zu  vgl.  auch  v. Globig  u. Huster, 
Abhdig.,  S.  8.  Wie  femer  in  der  Neuzeit  u.  a.  v.  Liszt  (Straf r.  Auf  f.  II, 
S.  139)  noch  ausdrücklich  betont  hat,  daß  die  Strafe  auch  lange  ,,nicht  (einmal) 
das  wirksamste ''  Mittel  zur  Verhütung  der  Verbrechen  sei,  ganz  ebenso  ist 
dies  öfter  auch  schon  in  der  Aufklärungszeit  geschehen;  s.  z.  B.  v.  Soden, 
a.  a.  0.  §  73,  S.  113  u.  Corrodi  in  Plitts  Rep.  f.  d.  peinl.  Recht  n,  S.  143; 
zu  vgl.  auch  Gmelin,  Grundsätzen  sw.,  Einltg.,  §  1,  S.  2  (im  Anschluß  an  Servin). 

2)  S.  u.  a.  bes.  V.  Gl  obig  u.  Hnste'r,  Abhdig.,  S.  12:  „  .  .  Der  peinliche 
Gesetzgeber  ist  der  Arzt  des  Staates,  und  kann  er  durch  gute  Diät  den  Pa- 
tienten heilen,  so  fordert  die  Gerechtigkeit,  daß  er  sich  nicht  heftiger  Arzneien 
bediene^^;  ähnlich  auch  Seeger  in  Plitts  Repert  f.   d.  peinl.  Recht  I,  S.  18$. 

3)  S.  im  allgem.  v.  Liszt,  Strafrechtl.  Auff.  11,  S.  380:  „  .  .  die  Trage 
nach  den  Ursachen  der  Kriminalität  war  den  Schriftstellern  der  Aufklärungszeit 
nicht  fremd'%  nur  fehlten  ihnen  noch  ^die  Mittel  zur  Losung  des  (kausalen) 
Problems",  weil  damals  die  Wissenschaften  der  Kriminalpsychologie  und  Krimi- 
nalsoziologie i.  wes.  noch  unbekannt  waren. 

4)  S.u.a.  bes.  Karl  v.  Eckhartshausen,  Von  den  Quellen  der  Verbrechen 
und  der  Möglichkeit  selben  vorzubeugen,  in  dessen  „Reden  zum  Wohl  der 
Menschheit*',  München  1784,  Nr.  V.  (Böhmer,  Handb.,  S.  303,  Nr.  673);  vgl.  femer 
Klein,  Fragmente  usw.,  Kap.  V,  a.  a.  0.  S.  59ff.:  „Wie  verstopft  man  die 
Quellen  der  Verbrechen?";  Beseke,  Versuch,  Kap.  4,  S.  19,  20  („man  ver- 
stopfe .  .  nur  die  Quellen  des  Lasters,  (so)  wird  es  schon  von  selbst  ver- 
schwinden"); vgl.  auch  ebd.  Kap.  5,  S.  22ff.,  Kap.  1,  Absch.  1,  S.  59;  See g er 
in   Plitts  Repertor  f.  d.    peinl.   R.   I,    S.    184    („rätlicher^    als   zu    strengen 


140  IX.  Günther 

gang,  ^aller  Laster  Anfang'',^)  Unwissenheit,  Aberglauben^)  nnd 
sonstige  Vorurteile  zu  beheben  und  —  zunächst  immer  noch  ohne  das 

Strafgesetzen  zu  greifen  sei  es  „auf  die  Quellen  (der  Verbrechen)  zuriickzugeheu 
und  diese  zu  verstopfen  zu  suchen'*);  v.  Dalberg,  Entwurf,  S.  14S ff.  („Prak- 
tische Bemerkungen  über  die  Ursachen  der  Verbrechen",  S.  187 ff.  („Von  den 
Ursachen  der  Verbrechen")i  u.  S.  190  ff.  „Von  den  Mitteln,  wie  die  Ursachen  der 
Verbrechen  zu  heben  sind'');  vergl.  auch  die  allgem.  Literaturangaben  über  die 
Vorbeugung  der  Verbrechen  oben  S.  ISS,  Anm.  1. 

1)  V.  Sonnenfels,  Grundsätze,  der  Polizei,  Handlung  und  Finanz  (l.AofL 
Wien  1765,  9.  Aufl.,  ebd.  1S19),  Teil  I,  §  99,  S.  115:  „Müßiggang  ...  die  Pfle?- 
schule  des  Lasters'*;  R.  v. Dalberg,  £nt^\,  S.  1SS:„  . ..  gewiß  ist,  daß  Müßig- 
gang der  wahre  Anfang  zu  allen  Lastern  und  Verbrechen  ist';  veigl-  auch 
Klein,  Fragmente;  S.  60:  „Faulheit  auf  der  einen  Seite,  Mangel  auf  der  anderen 
erzeugen  die  meisten  Verbrechen.''  Cber  die  Bekämpfung  bezw.  Bestrafung  der 
Bettelei  und  des  Müßiggangs  finden  sich  bald  mehr  allgemeine,  bald  speziellere 
Bemerkungen  u.a.  beiBeccaria,  §34,  ^^.  146  47  („Von  dem  politischen  Müßiggang"»; 
Filangieri,  System  der  Gesetzgbg.  IV  (3,  2),  S.  509|10;  Brissot  de  Warville, 
Discour»  (Bibl.  phil.  T.  VI),  p.  68ff.,  Theorie  I,  chap.  1,  p.  75ff.  u.  258ff.;  M.  le  F.. 
Plan  de  l^gislation  en  mati^res  criminelles  (bei  Brissot,  Bibl.  phil.  T.  V)  p.  33Sff., 
342ff.;  de  la  Cretelle,  Vues etc.  (Bibl.  phil.  T.  Villi,  p.340;  Servin,  Über  die 
peml.  Gesetzgbg.,  S.  328/9;  v.  Sonnenfels,  a.  a.  0.  §  99,  S.  llSff.,  §  100,  S.  117 ff., 
§  102ff.,  S.  121  ff.,  §119ff.,  S.  142ff.;  Versuch  einer  gesetzgeb.  Klugheit  usw. 
(Allg.  deutsch.,  Bibl.,  Bd.  39,  S.  404);  v.  Dalberg,  Ariston,  in  Plitts  £ep.  I,  &34; 
Quistorp,  Entwurf  I,  2,  §  42,  S.46  („Verhütung  des  Müßiggangs");  B  eseke,  Ver- 
such, Kap.  7,  Abschn.  2,  Xr.  7,  S.  77ff.;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhdlung,  S. IT 
u.  252;  Corrodi  in  Plitts  Rep.  II,  S.  143;  Wieland,  Geist  I,  §  184ff.,  S.  241ff. 
(„Von  den  Polizeianstalten  wider  den  Müßiggang"),  vergl.  auch  ebd.  §193 ff.. 
S.  254ff.;  Gmelin,  Grunds.,  §  4,  S.  7,  S;  Bergk,  Übersetzung  von  Beccaria  II» 
S.  278;  vergl.  auch  noch  die  Angaben  bei  Günther,  Wiedervergeltg.,  n  S.  252  und 
Anm.  696  (Einsperrung  solcher  Personen,  die  aus  Müßiggang  und  Faulheit  zu 
Verbrechern  geworden,  in  Arbeits-  und  Zuchthäusern).  Über  den  Luxus  als 
Quelle  des  Vcrbrecheus  s.  bes.  J.  Fr.  H.  v.  Dalberg,  Ariston,  in  Plitts  Rep.  I. 
S.  35  undK.  V.  Dalberg,  Entw.,  S.  1S9,  193,  Nr.  7;  vergl.  auch  v.  Globig  und 
Huster,  Vier  Zugaben,  S.364ff.;  Gmelin,  Grundsätze,  §  4,  S.  6,  7.  Über, über- 
mäßiges Trinken^  (Alkoholismus)  s.  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I,  §  123,  S.  l4S/.<, 
Gmelin,  a.  a.  0.  S.  6,  7  u.  bes.  Vcrauch  über  die  gesetzgebende  Klugheit  usw. 
(Allg.  dtsch.  Bibl.,  Bd.  39,  S.  404).  Über  Verhütung  der  Armut  (durch  .Beför- 
derung des  Nahrungsstandes'^,  Verschaffung  von  Arbeit  für  die  Arbeitsfähigen 
u.  -willigen,  Emchtuug  von  Armenhäusern  usw.)  s.  v.  Sonnenfels,  a.a.  0.  §  lOU 
S.  119;  Quistorp,EntwurfI,  2,  §42,  S.  46;  B eseke.  Versuch, Kap. 7,  Abschn. 2, 
Nr.  4,  S.  73ff.;  v.  Globigu.  Huster,  Abhdlg.,S.  13;  Graebe,  Befonnation  usw.. 
§  53,  S.  93;  Corrodi  in  Pliits  Rep.  II,  S.  143;  Gmelin,  Grunds.,  §  4,  S.  ^; 
v.  Dalberg,  Entwurf,  S.  ISS,  192,  Nr.  3;  Bergk,  Übersetzung  von  Beccaria  II, 
S.  278.  Über  Voltaire  s.  Masmonteil,  a.a.O.  p.  209.  Über  das  schon  da- 
mals teilweise  (so  von  MorelU'u.  de  Mably)  anerkannte  »Recht  auf  Existenz*  s. 
Anton  Menger,  Neue  Staatslehre,  3.  Aufl.,  Jena  1906,  S.  98,  Anm.  1. 

2)  Vergl.  darüber  bes.  H  o  m  m  e  1 ,  Philos.  Gedanken,  §  39,  S.  70  ff.,  §  4S,  S.  97, 
§  77,  S.  154/5;  v.  Dalberg,  Ariston,  a.  a.  0. 1,  S.  35. 


Die  Straf  rech  tsreform  im  Aufklärnogszeitalter.  141 

scharfe  Bepressivmittel  der  Strafe  —  die  sog.  „Tugend"  der  Unter- 
tanen zu  befördern. 

Als  hierzu  geeignete  Mittel  allgemeiner  Art  werden  dann  namentlich 
richtige  Erziehung  der  Jugend,  Bildung  des  Volkes,  seine  Anhaltung 
zur  Arbeit,  Erhaltung  seiner  Religion,  und  —  nicht  zum  wenigsten  — 
endlich  auch  eine  „gute  Polizei^  genannt  In  einer  Zeit,  wo  soeben 
Bousseau's  „Emile^^  die  Geister  der  Gebildeten  beschäftigt,  wo 
Pestalozzi  die  dort  niedergelegten  Ideen  bereits  praktisch  durch- 
zufahren begonnen  hatte,  lag  es  ja  nahe,  vor  allem  auf  eine  gute 
Erziehung. der  Kinder,  der  späteren  Staatsbärger  als  „die  erste, 
wichtigste  und  wesentlichste  Angelegenheit  des  Staats"  i)  hinzu- 
weisen. ^)  Die  Bedeutung  des  Satzes  „Sauvez  Penfant  et  il  n'y  aura 
plus  deshommes  ä  corriger  ou  ä  punir"^)  hatte  man  schon  da- 
mals erkannt  Leider  fehlte  es  aber  den  meisten  Schriftstellern  gar 
zu  sehr  an  pädagogischen  Kenntnissen,  um  hierüber  —  namentlich 
auch  bezüglich  der  Reorganisation  des  eigentlichen  Unterrichts  — 
mehr  als  allgemeine  Redensarten  vorzubringen,  „Gewäsch"  nennt  es 


1)  Seeger  in  Pütts  Rep.  I,  S.  216. 

2)  Von  den  französischen  Juristen  hat  bes.  Servan  unter  dem  Einflüsse 
Kousseaus  ^in  der  Erziehung  ...  das  vomigliehste  Yorbengungsmittel  gegen 
Verbrechen''  erblickt.  Hertz,  Voltaire,  S.317,  wo  d.  nähere.  ÜberMontesquieu 
(Esprit  des  lois,  Liv.  IV,  p.  27ff.)  s.  Esselborn,  Übers,  von  Beccaria,  S.  16S, 
Anm.  *;  über  Marat  s.  Günther,  G.-S.  61,  S.  206,  Anm.  4;  vgl.  auch  Brissot 
de  Warville,  Discoure  (Bibl.  phil.  T.  VI),  p.  54  ff.,  Theorie  I,  chap.  1,  p.  66ff.; 
auch  de  laCretelle,  Vues  etc.  (Bibl.  phil.  T.Vin),p.  340  u.  Servin,  Über  die  pein- 
liche Gesetzgebung,  S.  23  haben  die  Frage  kurz  berührt.  Beccaria  (§  41,  S.  16S), 
der  die  „Verbesserung  der  Erziehung''  als  „das  sicherste,  aber  (auch)  das  schwie- 
rigste Mittel,  die  Verbrechen  zu  verhüten'',  bezeichnet,  ist  gmndsatzlich  nicht 
näher  auf  den  Gegenstand  eingegangen.  Viel  ausführlicher  sind  z.  B.  seine  Lands- 
leute Tomaso  Natale  (s.  n.  bei  Günther  im  Arch.  für  Strafr.  48,  S  35ff )  und 
Filangieri,  System  der  Gesetzgbg.  IV  i3,  2),  Kap.  58,  S.  734ff.  In  Deutschland 
finden  sich  fast  bei  allen  kriminalpolit.  Schriftstellern  dieser  Zeit  kürzere  oder 
längere  Exkurse  über  die  Erziehung  und  ihre  Verbesserung;  vcrgl.  Günther  im 
Arch.  f.  Strafr.,  Jahrg.  48,  S.  35  u.  Anm.  169.  Eine  lateinisch  geschriebene  Mono- 
graphie über  gute  Kindererziehung  als  sicherstes  Mittel  der  Verbrechens- 
verhütung erschien  1795  in  Leipzig  von  J.  Fr.  Aug.  Baumann  (s.  Böhmer, 
Handb.,  S  806,  Nr.  683).  —  Über  Vorschläge  zur  Verbesserung  der  Erziehung  im 
allgemeinen  in  der  Gegenwart  s.  etwa  C.  v.  M  a  s  s  o  w ,  Reform  oder  Revolution , 
2.  Aufl.Beri  1895,  S.  58ff.;  Tonnies,  Strafrechtsreform,  S.21ff.  Über  die  „Pro- 
phylaxe durch  Erziehung"  s.  auch  Krauß,  der  Kampf  gegen  die  Verbrechens- 
Ursachen**,  S.  69  ff. 

3)  Ausspruch  von  Th^ophile  Roussel*auf  dem  Internat.  Gefängniskongreß 
in  St  Petersburg  1890,  von  As  ehr  Ott  seiner  Schrift  „Die  Behandlung  der 
verwahrlosten  und  verbrecherischen  Jugend  und  Vorschläge  zur  Reform'*  (Berlin 
1892)  als  Motto  vorangestellt. 


142  IX.  Günther 

geradezu  einmal  der  etwas  derbe  HommeP),  welcher  der  Ansicht 
ist,  es  sei  nötiger,  zunächst  den  Bildungsstand  der  Volksschull ehrer 
selber  zu  heben,  die  auch  v.  Soden  nicht  nur  als  die  „yerachtetste"^ 
und  ^dürftigste'^y  sondern  geradesu  als  „größtenteils  die  unwissendste 
Menschenklasse^  bezeichnet  2)  Unter  den  Voraehlägen  zur  äußeren 
Umgestaltung  des  Erziehungswesens  kehrt  öfter  wieder  der  Wunsch 
nach  Befreiung  von  der  —  namentlich  in  den  romanischen  Staaten 
auf  diesem  Gebiete  damals  noch  überwiegenden  —  Herrschaft  des 
Klerus 3)  sowie  nach  staatlicher  Leitung  und  Oberaufsicht  des  Schul- 
wesens *) ;  jamancheSchriftsteller  sind  nach  antiken  Vorbildern  (Sparta)  — 
und  zugleich  in  Übereinstimmung  mit  modernen  sozialistischen  Ideen^) 
—  zu  der  Forderung  gelangt,  die  Kinder  schon  in  frühester  Jugend 
den  Eltern  ganz  wegzunehmen,  um  ihnen  bis  zu  einem  bestimmten 
Lebensalter  unter  ausschließlicher  Aufsicht  des  Staats,  aber  auch  auf 
dessen  Kosten,  eine  gemeinschaftliche,  gleichmäßig  geregelte  Er- 
ziehung zu  geben.  ^)  Nur  vereinzelte  Ansätze  zeigen  sich  dagegen 
schon  in  dieser  Zeit  zu  einer  staatlichen  „Fürsorgeerziehung^  nicht 
bloß  der  „verbrecherischen",  sondern  auch  der  „verwahrlosten 
Jugend."  7) 

Neben  verbesserter  Jugenderziehung  sollte  dann  auch  Erziehung 
oder  Bildung  der  Erwachsenen   im   Staate,  ihre  Veredlung  in 


1)  Philosophische  Gedanken,  §  49,  S.  9S. 

2)  Geist  der  peinl.  Gesetzgb.  I,  §  76,  S.  116. 

3)  Sobes.Toma8oNatale(8.  Günther,  Arch.  f. Straf r.  48,  S.  37,  Anm.  ISO); 
von  Deutschen  z.  B.:  Rathlef ,  Vom  Geiste  usw.,  S.  S:  „Die  Pädagogik  muß  ganz 
von  den  Priestern  genommen  werden." 

4)  S.  namentlich  v.  Sonnenfeis,  Grundsätze  I,  §  70,  S.  79,  SO  und  dazu  \V. 
Müller,  Josef  von  Sonnenfels,  biogr.  Studie  aus  d.  Zeitalter  der  Aufklärung 
in  Österreich,  Wien  18S2,  S.  124. 

5)  Vgl.  A.  Menger,  Neue  Staatslehre,  3.  Aufl.,  Jena  1906,  S.  216  vbd.  mit 
S.  138. 

6)  S.  bes.  schon  Morel ly,  Code  de  la  nature  ou  le  v6ntable  esprit  deslois 
(1755),  p.  34 ff.,  133 ff.  u.  namentl.  p.  220 ff.  („Lois  d'dducation",  bes.  §  4 ff.;  vergl. 
A.  Meng  er,  a.  a.  0.  S.  13S,  Anm.  2);  femer:  Francesco  Paolo  di  Blasi  (sizilian. 
Advokat,  1795  wegen  poHtischer  Verschwörung  hingerichtet),  Sulla  legislationc 
della  Sicilia  (1779),  §  5  („Deir  educazione"),  in  den  ,,Scritli  di  F.  P.  di  Blasi"  etc, 
ed.  Francesco  Guardione,  Palermo  1905,  p.  27,28;  Filangieri,  System  der 
Gesetzgbg.,  Bd.  V  u.  VI  =  4.  Buch,  I.Teil  („Von  den  Gesetzen,  welche  die  Erziehung 
betreffen),  bes.  Bd.  V,  Kap.  2,  S.  21  ff.,  Kap.  7,  S.  50 ff.  u.  Bd.  VI.  Kap.  17,  S.  Iff. 
Dagegen  aber:  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I,  §70,  8.  Sl,  Anm.  m. 

7)  So  bes.  bei  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I,  §  71,  S.  82,  Beseke,  Ver- 
such, S.  109,  Nr.  1  und  Wieland,  Geist  I,  §  138,  S.  186,  §  139  S.  187 ff.;  ver^. 
auch  v.  Globig  u.  Huster,  Vier  Zugaben,  S.  330/31. 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärungszcitalter.  143 

Wissenschaften  und  Künsten  USW.  einhergehen.  M  Diese  ,,Anfklärung^^ 
des  Volkes,  wie  das  allgemeine  Schlagwort  der  Zeit  lautet*),  macht 
aber  die  Beligion  noch  keineswegs  entbehrlich '),  sie  wird  vielmehr 
neben  der  —  besonders  als  Bekäropfungsmittel  des  Müßiggangs  em- 
pfohlenen —  Arbeit  wohl  als  ein  wichtiges  Beförderungsmittel  der 
Gesittung  eines  Volkes  angeführt,  da  sie  —  wie  der  Sizilianer 
Tomaso  Natale  di  Monterosato  sich  ausdrückt  —  die  ^Recht- 
schaffenheit,  Gerechtigkeit  und  Barmherzigkeit^^  verbreite.^)  Auch  in 
Deutschland  hat  sie  noch  viele  Lobredner  aufzuweisen  gehabt,  und 
zwar  keineswegs  etwa  bloß  unter  den  Theologen.  ^)  So  ist  sie  z.  B. 
von  V.  Globig  und  Huste r  als  „eine  unsichtbare  Führerin  zur 
Tugend  und  zum  ordentlichen  Leben'*   gepriesen^),   von  v.  Soden 

1)  Vergi.  etwa  Tomaso  Natale  (Günther  im  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  37); 
Fiiangieri,  System,  Bd.  VII  (4.  Buch,  3.  Teil),  Kap.  49 ff.,  S.  147 ff.;  v.Sonnen- 
feU,  Grunds.  I,  §80,  S.  93;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  13;  v.  8oden, 
Geist  I,  §  78,  S.  117;  femer  die  Angaben  in  der  folgenden  Anm. 

2)  Über  die  „Aufklärung''  des  Volkes  als  Vorbeugungsmittel  von  Verbrechen 
s.  bes.  Beccaria,  §41,  S.  164ff.  u.  166/7;  Servin,  Über  die  peinL  Gesetzgbg., 
S.  22  u.  26;  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  80,  S.  93;  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.6; 
Corrodi  in  Pütts  Rep.  U,  S.  143;  vergl.  auch  Quistorp,  Entw.  I,  2,  §  42, 
S.  46,  Wieland,  Geist  I,  §37,  38,  S.  55—57  u.  imallg.  noch  Hälschuer,  Gesch. 
d.  brand.-preuß.  Strafr.,  S.  175. 

3)  Fr.  Th.  Vischer,  Ästhetik,  II.  Teil,  1.  Abt,  Reutlingen  u.  Leipzig  1847, 
S.  82:  ,,(Die  Aufklärung  war)  keine  wahre  Kritik  der  Religion  und  darum  ließ 
sie  dieselbe  bestehen.*^  Selbst  Voltaire  meinte:  „s'i  Dieu  n'existait  pas,  il  fau- 
drait  Finventer  (Masmonteil,. a.  a.  0.  p.  198). 

4)  S.  dazu  Günther  im  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  37;  ähnlich  auch  Filangieri, 
System  IV  (3,  2),  Kap.  58,  S.  735/6  u.  VIU  (5.  Buch),  Einltg.,  S.  2,  3;  Servin, 
Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  24  ff.  und  S.  211. 

5)  Daß  diese  gerade  in  der  Religion  „die  festeste  Stutze  aller  Tugenden" 
und  in  ihrem  „Mangel^  die  Hauptursache  der  Verbrechen  sahen  (v.Dalbergr 
Entw.,  S.  189/90,  Nr.  8  u.  dazu  Ab  egg  in  G.-8.  15,  S.  133)  kann  um  so  weniger  auf- 
fallen, als  dies  auch  heute  noch  in  den  Kreisen  der  Theologen  die  herrschende 
Anücht  ist  S.  Krauß,  Der  Kampf  gegen  die  Verbrechensursachen,  I.  Teil. 
L  Abschn.,  Kap.  3,  §  5,  S.  17  ff.  u.  bes.  Kap.  5,  §  9 ff.,  S.  34  ff.  („Die  Religionslosig- 
keit als  Hauptursache  des  Verbrechertums^); 'vergl.  dazu  Kohlrausch  in  d, 
Z.  f.  d.  ges.  Str..-W.  26,  S.  883.  Über  eine  ü  nte  r Schätzung  des  Einflusses  der  Re- 
ligion im  e.  S.  (im  Gegensatze  zur  „Moral^)  auf  die  Kriminalität  bei  neueren 
Schriftstellern,  wie  z.  B.  Bonget  (dem  Verfasser  des  Werkes  „Criminalit6  et 
conditions  ^conomiques,^  Amsterd.  1905),  s.  Näcke  in  Gross'  Archiv  für  Krim.- 
Anthrop.,  Bd.  26  (1906),  S.  112,  113. 

6)  Abhdlg.,  S.  22;  s.  auch  Vier  Zugaben,  S.  293;  vergl.  Hä Ischner  a.  a.  0. 
S.  198;  V.  Roh  1  and.  Historische  Wandlungen  der  Religionsverbrechen,  in  der 
Freiburger  Festschr.  zum  50  jähr.  Regier.» Jubil.  des  Großh.  von  Baden,  Freiburg 
1902,  S.  187. 


144  IX.   Gi'NTHER 

als  „die  Basis  gesellschaftlicher  Verbindung''^),  von  v.  Sonnenfels 
derber  als  ,,der  Leitriemen''  bezeichnet  worden,  an  dem  der 
Regent  seine  Untertanen  gängeln  könne.  2)  Hand  in  Hand  mit  diesen 
Verhütungsmitteln  der  Verbrechen  soll  dann  noch  eine  „gnte 
(kluge  oder  aufmerksame)  Polizei'*  (oder  auch  „Polizeiaufsicht"')  als 
„treue  Gehilfin  des  peinlichen  Rechts"  (v.  Gl  ob  ig)  ihre  präventive 
Tätigkeit  zur  Aufrechterhaltung  guter  Sitte  und  Ordnung  ausfibeo.  'i 
Nur  gehen  die  Ansichten  über  diesen  Begriff  noch  auseinander. 
Meistens  freilich  räumt  man  der  Polizei  eine  fast  unbeschränkte 
Machtbefugnis  ein,  und  nur  wenige  sind  so  vorurteilsfrei  wie  Bom- 
mel, der  sich  energisch  gegen  die  „gesetzgeberische  Mückenfängerei*' 
der  damaligen  —  nach  seiner  Meinung  im  Predigtton  gehaltenen  — 
Polizeiordnungen  wendet,  „welche  den  Menschen  zur  Maschine  machen" 
wollten,  „die  zu  gehöriger  Zeit  schlafen,  beten,  essen  und  trinken" 
solle.  *)    Schließlich  sei  noch  erwähnt,  daß  schon  damals  die  nener- 


1)  Geist  der  peinl.  Gesctzgbg.  I,  §  77,  S.  116.  Ähnlich:  Sehott,  Obsenat. 
de  delict.  et  poenis  etc.,  Tüb.  1767  (deutsch  bei  Schall,  Von  Verbrechen  und 
Strafen,  Leipzig  1779)»  S.  29  („die  stärkste  Stütze  der  bürgerlichen  Gesellschaft- 1. 

2)  Grundsätze  der  Polizei  usw.  I,  §  63,  S.  70;  vergl.  W.  Müller,  a.  a.  0. 
S.  111.  Übrigens  bildet  diese  häufig  zitierte  Stelle  nur  den  Schlnß  einer  längereo. 
überschwänglichen  Lobrede  auf  die  Religion  (näher,  s.  §  63,  S.  69  ff.),  vergl.  aoch 
§65,  S.  72ff.  S.  im  allgem.  etwa  auch  noch  Wieland,  Geist  I,  §  27 ff.,  S. 41  ff.. 
§  37,  S.  55;  Gmelin,  Grundsätze,  §  3,  S.  5ff.;  Pütt  i.  ».  Rep.  I,  Vorwort,  S.22: 
V.  Eber  st  ein,  Entw.,  Vorrede,  S.  4  u.  Text  S.  22  ff.  u.  S.  79  ff.  u.  a.  m.  (vergl.  auch 
Günther  im  Areh.  f.  Strafr.  48,  S  35,  Anm.  169). 

3)  Schon  Friedrich  der  Große  bemerkt  in  einem  Briefe  an  Voltaire 
V.  9.  Nov.  1777):  „üne  bonne  police  emp^che  autant  de  crimes  que  ladoucear 
des  lois'MMasmonteil,  a.a.O.  p.  210).  S.  femer  bes.  v.  Sonnen  f  eis,  Grunds., 
S.  46Sff.;  Rathlef ,  Vom  Geiste,  S.  8.;  v.  Soden,  Geist  I,  §  74,  75,  S.  115ff.: 
Quistorp,  Entw.  1,2,  §42,  S.  46;  Beseke,  Versuch,  S.  121,  Nr.  IX;  v.  Globig 
u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  8,  19ff.  u.  250  u.  Vier  Zugaben  S.290ff.;  Rossig,  •Vor- 
erinnerung'* zu  Homroels  Phil.  Ged.,  S.XXII,  Nr.  8;  Gmelin,  Grandsatzc,  §4. 
S.  6,  7;  v.Dalberg,Entw.,  S.  187,  188,189,  192,  Nr.  4,  194ff.;  Brissot  de  War- 
ville,  Discours  (Bibi.  phil.  T.  VI),  p.  73 ff.:  („mar^chauss^es,  police"),  Theorie,  1. 
p.  85 ff.;  de  la  Cretelle,  Vues  etc.  (Bibl.  phil.  T.  VUI),  p.  340;  Schall,  Von 
Verbrechen  und  Strafen,  S.  92;  Corrodi  in  Plitts  Rep.  II,  S.  14.*J;  Wieland. 
Geist  I,  §  103ff.,  S.  143ff.;  Bergk,  Übers,  v.  Beccaria  II,  S.  278.  Über  den  Ein- 
fluß der  ganzen  Richtung  der  Zeit  auf  die  Polizeiübertretongen  s.  noch  Geib. 
Lehrb.  I,  S.  332;  Hälschner,  a.  a.  0.  S.  171ff.  —  Auch  die  Neuzdt  eriiennt  an, 
daß  ^zur  Prophylaxe  des  Verbrechens"  auch  „die  Ausbildung  der  Polizd"  gebort 
Aschaffenburg,  Die  Bekämpfung  usw.,  S.  205. 

4)  Bommel,  Philosophische  Gedanken,  §  22,  S.  42  vbd.  mit  §  26,  S.45, 
§  71,  S.  143;  s.  auch  Übers,  v.  Beccaria,  S.  217,  Anm.  a;  vergl.  Landsberg,  Gesch. 
III 1,  S.  396.  Warnungen  vor  Überspannung  der  polizeilichen  Überwachung  auch 
bei  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  8  und  v.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  21. 


Die  Strafrech tsrefonn  im  Aufklärangszeitalter.  145 

dings  ebenfalls  wieder  mehrfach  aufgeworfene  Frage  diskutiert  wor- 
den ist,  ob  es  sich  nicht  empfehle,  dem  Umsichgreifen  der  Verbrechen 
auch  einmal  dadurch  zu  steuern  zu  suchen,  daß  man  die  sog.  „Tugend^', 
d.  h.  das  Wohlverhalten  der  Staatsbürger  positiv  durch  Gewährung 
von  (gesetzlich  bestimmten)  Belohnungen  befördere.  Während  da- 
für z.  B.  in  Italien  Beccaria  und  Francesco  Paolo  di  Blasi,  in 
Frankreich  Voltaire  und  Diderot,  in  Deutschland  Hommel, 
V.  Gl  ob  ig  und  Huster  u.a.m.  eingetreten  sind^),   haben  dagegen 


1)  S.  Beccaria,  §41,  S.  168  (vergl.  dazu  Günther,  Wiedervergeltung  II, 
S.  181,  Anm.  439  u.  die  dort  Angeführten);  Fr.  P.  di  Blasi,  Sulla  iegislazione  etc., 
§9  („dei  premj"),  ed.  Guardione,  p.  36—38;  vergl.  auch  Giacinto  Dragonetti 
(Advokat  in  Neapel),  Trattato  delle  virtü  e  dei  premi  (u.  dazu  Brissots  Bibl.pbil. 
T.  IX,  p.  289ff.);  Voltaire,  Prix  de  la  justice,  Art  XXVIII  (ßrissot,  Bibi.phil. 
T.V,p.l05ff. ;  vergl.Frank,  DieWolffsche  Straf  recht8phil.,S.  65;  Günther,  Wieder- 
vergeltung II,  S.  167.  Anm.  377);  Diderot,  Oeuvres  eompl.  T.  I:  „Essai  sur  le 
m6rite  et  la  vertu'',  p.  17 ff.,  bes.  p.  55,  femer  in  den  ^Lettres  k  Mademoiselle  de 
Volland"  (Oeuvr.  T.  XVIII,  p.  353tf.)  und  im  Artikel  „Libertß*'  der  Enzyklopädie 
(s.  V.  0 verbock,  a.a.O.  S.  48  u.  Anm.  3  u  S.  51);  vergl.  auch  die  Observations 
sur  le  trait^  des  dälits  et  des  peines  bei  Brissot,  Bibl.  phil.  T.  I,  p.  311,  312 
und  M.  le  F.,  Plan  de  Mgisl.  sur  les  matiäres  criminelles,  ebd.  T.  V,  p.  336 ff.; 
Uommel,  Übersetzg.  v.  Beccaria,  S.  230,  231,  Anm.  f;  v.  Globig  u.  Huster, 
Abhandlung,  S.  13;  femer  Rathief,  Vom  Geiste,  S.  6;  Quistorp,  Entw.  I,  2. 
§42,  Ö.  46;  Beseke,  Versuch,  Kap.  6,  S. 30,31  u.Ab8chn.II,  S.  122/23;  Wieland, 
Geist  I,  §  8  ff.,  S.  10 ff.  (der  jedoch  nur  mit  wesentl.  Einschränkungen  [s.  bs.  §9, 
S.  12,  Nr.  I— lU]  dafür  ist).  Speziell  noch  über  Belohnung  der  Keuschheit  des 
weibl.  Geschlechts:  Rathief,  Der  Eindermord  und  seine  Strafe  usw.,  Anhang  I 
zu  seiner  Schrift:  Vom  Geiste  der  ELriminalgeaetze,  S.  170ff.  u.  Quistorp,  Elntw.  I, 
§326,  S.  361ff.,  363,  Anm.  c;  vergl.  auch  Hommel,  a.  a.  0.  S.  231,  Anm.  f; 
über  Belohnung  für  gute  Erziehung  der  Kinder:  Wieland,  Geist  I, 
§  128,  S.  174ff.,  §  140,  S.  18Sff.  (und  dazu  Graebe,  Über  die  Reformation 
usw.,  §  29,  S.  54);  über  Belohnung  der  Dankbarkeit:  v.  Globig  u.  Huster, 
Abhdlg.,  S.  15,  16;  über  solche  für  Verhinderung  von  Selbstmorden: 
Quistorp,  Entw.  I,  §  254,  S.  281  und  Pflaum,  Entw.  I,  §  188,  S.  179;  über 
solche  für  Anzeige  eines  bevorstehenden  Zweikampfs  s.  Gmelin,  Grands. 
§  75,  S.  157;  über  solche  für  das  Ausschlagen  einer  Herausforderung 
zum  Duell  näheres  noch  weiter  unten.  —  Über  die  „belohnende  Vergel- 
tung""  bei  den  vorkantischen  Rechtsphilosophen  Karl  Chr.  Erfa.  Schmid,  Ludw. 
Heinr.  Jakob  u.  Joh.  Heinr.  A  b  i  c  h  t  s.  näheres  bei  Günther,  Wiedervgltg.  II, 
S.  265ff.;  ebd.  S.  266,  Anm.  751  a.  E.  auch  über  J.  G.  H.  Feder.  Über  das  preuJB. 
All g.  Landrecht  s.  noch  weiter  unten;  aus  späterer  Zeit  zu  vergl.  noch  Jer. 
Beut  harn  (Th6orie  des  peines  et  des  r^compenses  par  E.  Dumont,  3.  ed  ,  Paris 
1826,  P.  II,  bes.  Livre  I,  p.  1—162)  und  über  ihn  jetzt  Maillard,  £tude  histor. 
etc.,  p.  39  ff.  In  der  Neuzeit  hat  den  iauch  mehrfach  in  der  Tagespresse  erörter- 
ten) Gegenstand  gründlich  behandelt  bes.  der  Brüsseler  Advokat  F.  Holbach  in 
seinem  Werke:  Justice  laudative,  Recherches  des  616ments  d'un  droit  social  com- 
plämenture  de  ia  justice  pönale,  Brax.  et  Paris  1904.    Vergl.  im  allg.  auch  noch 

Archir  für  Eriminalanthiopolofie.    28.  Bd.  10 


146  IX.   Gi-XTHER 

andere  (wie  z.  B.  Tomaso  Natale,  Marat,  v.  Sonnenfels  xmi 
Gmelin)  Bedenken  geltend  gemacht  i),  und  zwar  n.  a.  besonders  ein- 
mal mit  Rücksicht  anf  die  Schwierigkeit  einer  Abgrenzung  der  Be- 
lohnnngswürdigkeit,  falls  diese  nicht  mit  einer  bloßen  Nichtkoilision 
mit  den  Gesetzen  (sog.  „politische  Tngend"  inr  Gegensatze  zur 
.^moralischen'^)  gleichbedeutend  sein  solle  ^),  sodann  aber  auch  beznir- 
lieh  der  Beschaffung  der  geeigneten  Belohnungs  mittel  für  so  viele 
Personen. ') 

Wäre  es  nun  auch  der  idealste  Zustand  der  menschlichen  Gesell- 
schaft, wenn  sie  strafbare  Handlungen  allein  durch  nicht-kriminelle 
Vorbeugungsmittel  verhindern  könnte,  so  wird  sich  dieser  „seit  alter 
Zeit**  gehegte  „Traum  der  Menschenfreunde'*  *)  in  Wirklichkeit  kanm 
je  erfüllen,  da  es  erfahrungsgemäß  in  jeder  staatlichen  Gemeinschaft 
stets  doch  einzelne  Mitglieder  gibt,  deren  egoistische,  antisoziale  Triebe 
nur  durch  stärkere  Maßregeln  zurückgehalten  werden  können.  Daher 
bedarf  der  Staat  zum  Schutze  seiner  friedlichen  Mitglieder  auch  des 
Zwangsmittels  der  Strafe.  ^)  Der  eigentliche  „Rechtsgrund"  für  dieses 
staatliche  ..jus  puniendi''  wird  übrigens  von  den  Aufklärern  überein- 
stimmend auf  die  seit  Rousseau  herrschend  gewordene  und  durch 
Beccaria  speziell  in  das  Strafrecht  eingeführte  naturrechtliche 
Theorie  von  dem  sog.  Gesellschafts-  oder  Bürgervertrage  (contrat 
social)  zurückgeführt  ♦%  obwohl  dessen   —   heute  ziemlich  allgemein 


Thomsen,  Kriminalpolit  Bekämpf uni^sniethodcn,  S.  5ff.,  61  ff.,  102  ff.  u.  Ötkcr 
in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  17  (1S9T),  S.  553  ff.  u.  564  (Literatur). 

1)  Über  Tomaso  Natale  s.  das  nähere  bei  Günther  im  Arch.  f.  Strafr. 
4S,  S.  1%,  tiberMarat,  Plan  de  l^gisl.,  p.  12T,2S:  G.-S.  61,  S.205.  v.  SonnenfeU 
hat  »eine  ablehnende  Haltung  bes.  in  der  ^Vorrede"  zur  4  Aufl.  seiner  ^Grand- 
sätze-,  S.  IX— XII  motiviert,  Gmelin,  Grunds.  §  2,  S.  4,  5  erklärt  sich  haupt- 
sächlich deshalb  dagegen,  weil  zu  befürchten  sei,  ^es  mochten  leicht  schlechte  Be- 
weggründe zu  guten  Handlungen  führen". 

2)  Dagegen  ausdrücklich  z.  B.  v.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  13,  14. 

3)  Die  auch  sonst  noch  gegen  das  System  gesetzlicher  Belohnungen 
sprechenden  Gründe  sind  gut  erörtert  in  der  oben  S.  119,  Anm.  3  angeführten  Schrift 
von  Niemierower,  Über  den  Zusammenhang  von  Willensfreiheit  (usw.)  und 
Strafrecht,  Kap.  II,  §  5,  8.  5*5;  vergl.  das.  auch  §  4,  S.  S  u.  Laas  in  d.  V.-J.-Schr. 
für  wiss.  Philos.  V  (ISSl),  S.  329  ff. 

4)  A.  Meng  er.  Neue  Staatslehre,  S.  150. 

5)  S.  dazu;  S ervin.  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  32:  „Da  eine  traurige 
Erfahrung  uns  die  Unzulänglichkeit  aller  dieser  (Vorbeugungs-)  Mittel  (der  Ver- 
brechen) lehrt,  so  wird  der  Gesetzgeber  sich  gezwungen  finden,  Strafe  zu  be- 
stimmen'*; ähnlich  Gmelin,  Grundsätze,  Einltg.,  §6,  S.  11. 

6)  Über  die  allgemeine  Beliebtheit  dieses  Gesellschafts-  oder  Bürgenvertrags 
bei  den  Aufklärern  s.  Wahlberg,  Ges.  kl.  Schriften,  S.  76ff.;  Günther,  Wieder- 
verpcltung  II,  S.  197,  19S  und  Anm.  523  und  im  Arch.  für  Strafr.  4S,  S.  16  und 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufkläningszeitalter.  147 

anerkannter  —  Widerspruch  mit  der  historischen  Entwicklung  der 
Staaten  schon  damals  von  einzelnen  nicht  verkannt  worden  ist.  0 
Nach  dieser  Theorie  —  welche  anknüpft  an  die  ältere,  u.  a.  schon 
von  Hobbes  und  Spinoza  aufgestellte  Fiktion  eines  staatenlosen 
Naturzustandes  der  Menschheit,  eines  fortwährenden  „bellum  omnium 
contra  omnes"  —  gilt  der  Staat  als  das  Produkt  eines  auf  Gründung 
einer  friedlichen  und  gesicherten  Gemeinschaft  gerichteten  Ver- 
träges.  2)  Nach  freiwilliger  Übereinkunft  verzichtet  jeder  einzelne 
auf  einen  —  möglichst  kleinen  —  Teil  seiner  bisherigen  Freiheit  zum 
Wohle  der  Gesamtheit,  der  Staatsgewalt,  welche  sich  darstellt  als 
die  Summe  der  geopferten  Freiheitsteile  und  als  deren  Träger  der 
Souverän  erscheint.  Die  Verbrechen,  die  nun  aus  dem  Bestreben  der 
Menschen  entspringen,  den  von  ihnen  für  die  Gesamtheit  geopferten 
Freibeitsanteil  wieder  zurückzuziehen  und  sich  womöglich  auch  noch 
etwas  von  den  Anteilen  der  anderen  anzueignen,  sind  mithin  als 
Vertragsbrüche  aufzufassen,  denen  die  Staatsgewalt  durch  Strafen 
entgegenzutreten  berechtigt  ist,  —  jedenfalls  wenigstens  dann,  wenn 
sie  auch  ihrer  Verpflichtung  zu  geeigneten  Vorbeugungsmaßregeln 
nachgekommen  ist^)  Eine  weitere  Bedingung  für  den  Eintritt  der 
Strafe  ist   aber   noch    die  Bekanntmachung   der  gesetzlichen  Gebote 

Anm.  92 — 95  (bes.  über  Rousseau,  Beccaria,  Tomaso  Natale)  vbd.  mit 
Hertz,  Voltsure,  S.  132,  306;  Masmonteil,  La  l^gisi.  crim.,  p.  200;  v.  Over- 
boek,  a.a.O.  S. 25 ff.,  124;  Willenbucher,  a.  a.  0.  S.Mff.,  12;  Pessina,  II  dir. 
penale  in  Italia,  p.  10,  11,  19  (über  Filangieri);  speziell  über  Beccaria  (§  2, 
S.  69 ff.)  8.  noch  Maillard,  ßtude  histor ,  p.  23ff.  u.  Esselborn,  Übers.,  Einltg., 
S.  17  ff.;  über  V.  Sonnenfels:  W.Müller,  a.  a.  0.  S.  111. 

1)  S.bes.  V.  Globig  u.  Huster,  Abhdig.  S.  4  („die  gewohnliche  Fabel  der 
Staatsrechtslehrer'^,  „jener  erdichtete  Ursprung  der  Gesetze**),  S.  9  („den  fabel- 
haften Grundsatz  des  Ursprungs  des  Staats''),  S.  37  („nach  dem  ebenso  unent- 
behrlichen als  fabelhaften  Grundsatz*^  usw.).  Ahnlich  auch  Hommcl,  Übers, 
von  Beccaria,  S.  9,  Anm.  c  (dagegen:  v.  Red  er,  Das  peinl.  Recht  I,  Kap.  I, 
§  3,  S.  16 ff.);  vergl.  auch  noch  Observations  sur  le  trait^  des  dßlits  et  des  peines 
(bei  Brissot,  Bibl.  philos.  T.  I),  p.  269/70  undMarat,  Plan  de  l^sl.,  p.  119/20 
(8.  Günther  im  G.-S.  61,  S.  198  u.  Anm.  3). 

2)  Gewisse  Ähnlichkeiten  mit  dem  Gesellschaftsvertrage  finden  sich  auch 
schon  bei  Grotius  u.  Pufendorf,  besonders  aber  bei  dem  Engländer  Locke. 
Vergl.  Hertz,  Voltaire  S.  125,  Anm.  1;  Günther  im  Arch.  f.  Strafr.  4S,  S.  16  u. 
Anm.  95  vbd.  mit  Wiedervergltg.  II,  S.  105ff.  (betr.  Grotius),  n2ff.  (betr. 
Hobbes),  114ff.  (betr.  Locke  und  Spinoza),  117ff.  (betr.  Pufendorf); 
Pessina,  II  diritto  penale,  p.  9. 

3)  Daß  nur  in  diesem  Falle  die  Strafe  gerecht  (bezw.  notwendig)  erscheine, 

betonen  ausdrücklich  v.  Gl  ob  ig  u.  Huster,  Abhdig.,  S.  8  und  Servin,  Über 

die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  20 ff.;  vergl.  auch  Malblank,  Gesch.  der  P.G.-O.,  §60, 

S.  266,  Nr.  2. 

10* 


148  IX.  GÜ^NTHER 

und  Verbote  für  alle  Staatsgenossen.  Der  Staat  kann  nur  dann  den 
Grandsatz  befolgen,  daß  Unkenntnis  des  Gesetzes  nicht  vor  Strafe 
schütze,  wenn  er  seinerseits  alles  für  eine  möglichst  ^eite  Verbreitnng 
der  Gesetzeskenntnis  getan  hat.  ^)  Er  muß  zu  diesem  Zwecke  — 
wie  z.  B.  von  Soden  sich  ausdrückt  — ^)  jedes  „Vehikel"  benutzen, 
wie  die  Kanzel,  die  Kalender  (die  damals,  zumal  auf  dem  Lande, 
zum  Teil  noch  die  Tagespresse  [„Intelligenzblätter'^]  ersetzten)  3,)  den 
Unterricht  der  Schulkinder  in  dem  heute  als  „Bürgerkunde*^  *)  be- 
zeichneten Fache  ^)  und  namentlich  in  den  Hauptgeboten  d^  Straf- 
rechts. Sodann  aber  müssen  die  Gesetze  selber  nach  Form  and  In> 
halt  dem  Verständnisse  des  Volkes  angepaßt  sein,  ^j    Ein  gutes  Straf- 


1)  Vergl.  Kleinschrod,  System.  Entw.  I,  §  131,  S.  240:  „  . . .  Wer  vennag 
(die)  Strafbarkeit  (von  Verbrechen)  einzusehen,  wenn  er  nicht  davon  belehrt 
war?''  —  Beccaria,  §  5  S.  75:  „Je  großer  die  Zahl  derer  ist,  die  die  anerkannte 
Sammlung  der  Gesetze  verstehen  und  in  Händen  haben,  desto  weniger 
häofig  werden  die  Verbrechen  sein.^  Auch  S ervin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg. 
S.  23,  V.  Soden,  Geist  I,  §  78,  S.  117  und  Be>eke,  Versuch,  S.  94,  Nr.  3  wün- 
schen, daß  das  Gesetzbuch  des  Staats  sich  in  den  Händen  aller  Untertanen  be- 
finde. Vergl.  über  allgemeine  Bekanntmachung  der  Strafgesetze  auch 
Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  6;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  25;  Gmelin, 
Grundsätze,  §  2,  S.  5. 

2)  Geist  der  peinl.  Gesetzgbg.  I,  §  30,  S.  47. 

3)  V.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  162,  S.  207/8  erwähnt  neben  Bekannt- 
machung der  Gesetze  „durch  Anschlagnng  an  die  Tore  der  Stadt,  der  Kirchen, 
der  Staats-  und  Gerichtshäuser''  usw.  auch  schon  ausdrücklich  ^die  Einrückung 
in  die  Zeitung,  in  die  Intelligenzblätter";  für  die  des  Lesens  unkundigen 
Bürger  empHehlt  er  die  „Ablesung  von  der  Kanzel"  oder  „unter  öffentlichem 
Ausrufe  oder  Trommelschlage^  u.  dergl.  mehr.  —  Über  Lesung  des  Strafgesetz- 
buchs in  den  Gefängnissen  s.  Filangieri,  System  IV  (3,  2),  Kap.  33,  S.  103. 

4)  Äußerungen  aus  neuester  Zeit  über  die  Bedeutung  der  Bnrgerkunde  in 
den  Schulen  u.  a.  in  der  Deutschen  Juristen-Zeitung  vom  5.  April  1905,  Sp.  825  ff. 
(Glock),  vom  15.  Nov.  1905,  Sp.  1045/46  (Hedemann)  und  vom  I.Jan.  1907. 
Sp.  23  (Hamm). 

5)  Vergl.  u.a.  Claproth,  Entw.  I,  Hauptst  1,  §21,  S.  13,  14;  Beseke,  Ver- 
such, S.  94,  95,  Nr.  7 ;  Kleinschrod,  System.  Entwicklung  I,  §  130,  S.  239,  §131, 
S.  241;  Marat,  Plan  de  l^gisl.  er.,  p.  139/40  u.  Anm.  1  (vergl.  Günther,  G.-S.  61, 
S.  227  u.  Anm.  3);  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S,  23.  Aus  den  mono- 
graphischen Behandlungen  der  Frage  (vergl.  auch  Böhmer,  Handb.,  §  34,  S.  530 ff .^ 
bes.  Nr.  1417,  S.  531/32  [Schott])  sei  erwähnt:  E.  F.  Klein,  Von  der  ersten  Ein- 
führung der  Jugend  in  die  Kechtsgelehrsamkeit,  bes.  auf  Schulen*',  in  dessen 
„Vermischten  Abhdlgn.'*  usw.,  3.  St,  Leipz.  1780,  S.  39 ff.  u.  bes.  S.  44  ff. 

6)  S.  ausdrücklich  (betr.  die  Form)  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  161,  S.  206: 
„(Der  Gesetzgeber  muß)  im  Ausdrucke  oft  zur  Volkssprache  herabsteigen*; 
V.  Eberstein,  Entw.,  Vorrede  S.  2,  3  (eine  Kriminalgesetzgebung  sollte  „nicht 
nur  ...  eine  Anweisung  für  den  Richter,  sondern  ein  Volksbuch  sein,  ...  ein 
Belehrungsbuch,  ein  Sittenspiegel  für  das  Volk").    Über   die  Forderung   einer 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  149 

gesetzbucb  muß  daher  vor  allem  in  der  Nationalspracbe,  nicht  etwa 
in  einem  fremden  Idiom  abgefaßt  sein  O7  ebensowenig  wie  man  einem 
Volke  fremde  Rechtseinrichtungen  aufdringen  soll^j,  eine  Forderung, 
bei  der  es  sich  einige  Schriftsteller  nicht  entgehen  lassen,  ihrer  Ab- 
neigung gegen  das  römische  Becht  durch  einige  scharfe  Seiten- 
hiebe Ausdruck  zu  verleihen.*)  Weiter  aber  muß  die  Gesetzes- 
sprache möglichst  kurz  und  klar,  bestimmt  und  deutlich  sein^),  sie 
soll  unnütze  Wiederholungen  und  „verwirrende  Weitläufigkeiten^, 
(v.  Soden),  lateinische  Brocken  und  juristische  Eunstausdrücke  tun* 
liehst  vermeiden.^)  Trotzdem  soll  dann  aber  das  Gesetzbuch  doch 
inhaltlich  möglichst  erschöpfend  sein^),   so   daß   selbst  der  gewöhn- 

„volkstümlichen  Gesetzgebung'^  als  Schlagwort  der  Zeit  s.  im  allgemeinen  auch 
Hälschner,  Gesch.,  S.  195. 

1)  S.  darüber  bes.:  Beccaria,  §5,  S.  75;  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I, 
§  162.  S.  207;  v.  Soden,  GeistI,  §  30,  S.  46;  Beseke,  Versuch,  S.  62  und  S.  85, 
Nr.  1. 

2)  Vergl.  V.  Globig  u.  Huster  a.a.O.  S.  26  u.  Wieland,  GeistI,  §60, 
S.  87,  88  (über  die  ^mannigfachen  und  zum  Teil  unvermeidlichen  bösen  Folgen", 
die  mit  der  ^  Auf  nähme  und  Emführung  fremder  Rechte'^  verbunden  sind). 

3)  S.  bes.  z.  B.  V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  26.  Als  prinzipielle  Gegner 
des  romischen  Rechts  erscheinen  femer  Beccaria  („An  den  Leser^,  S.  61:  „ein 
Ausfluß  der  b>irbarischsten  Jahrhunderte^)  imd  Filangieri,  System  IV  (3,  2), 
Kap.  50,  S.  569  („eine  monströse  Sammlung  von  Denkmälern  der  Weisheit,  der 
Grausamkeit  und  der  Schwäche  der  verschiedenen  Gesetzgeber  Koms^).  Vergl* 
auch  Marat,  Plan  de  legisl.  crim.,  p.  125  (G.-S.  61,  S.  202/3);  Pütt  in  s.  Rep.  f.  d. 
peinl.  Recht  I,  Vorwort,  S.  3;  Bergk,  Übersetzung  von  Beccaria,  Vorrede, 
S.  I,  Vil,  VIU. 

4)  S.u.a.  Beccaria,  $5,  S.  75 ff.,  §  7,  S.80  u.  §41,  S.  163  (vergl. Mai  11  ard, 
Etüde  histor.,  p.  27);  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I,  §161,  S.206;  v.  Globig  u. 
Huster,Abhdlg.,  S.  24,  25;  Beseke,  Versuch,  S.62u.  S.  82,  Nr.  1  u.2;  v.  Soden, 
GeistI,  §30,  S.46,  47;  Wieland,  GeistI,  S44ff.,  S.64ff.;  Kieinschrod,  System. 
Entwicklung  II,  §  116,  S.  304;  Bergk,  Übers,  v.  Beccaria II,  S.  278;  vergl.  auch 
die  folgende  Anm.  (5). 

5)  S.  V.  Soden,  GeistI,  S.  46;  vergl.  auch  v.  Sonn  enfels,  Grunds.  I,  §  161, 
S.  206,  207  (gegen  „fremdes  Gemengscl",  Weitschweifigkeit  usw.);  Beseke,  Ver- 
such, S.  85,  Nr.  1;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  25;  Kleinschrod,  Syst 
Entwicklung  I,  §  131,  S.  240;  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgebung,  S.  23,  24 
(keine  „Wortpracht"  usw.).  —  Über  die  Bemühungen  Hommels  in  seiner  Schrift 
„Teutscher  Flavius"  (1763,  4.  Aufl.  1800)  zur  Verbesserung  der  „Barbareien*^  der 
Gerichtssprache  damaliger  Zeit  (s.  auch  Philos.  Ged.,  §34,  S.  60)  näheres  bei 
Landsberg,  Gesch.  III  1,  S.  389  u.  Noten,  S.  257;  vergl.  auch  Feldmann,  Zur 
Geschichte  der  deutschen  Amtssprache*^,  in  der  „Beilage  zur  (Münchener)  Allgem. 
Ztg.»*,  Jahrg.  1904,  Nr.  184,  S.  293. 

6)  V.  Soden,  GeistI,  S.46;  Beseke,  Versuch,  S.  63,  vergl.  auch  ebd.  S  85, 
86,  Nr.  2  u.  3;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  29,  30;  s.  auch  Servan,  Dis- 
conrs  sur  Tadministration  etc.  (Bibl.  phil.  T.  II),  p.  192 ff ,  196. 


150  IX.  Günther 

liebe  Mann  aus  dem  Volke  sich  über  eine  einzelne  Rechtsfrage  selbst 
unterricbten,  sozusagen  also  ,;Sein  eigener  Advokat  sein  kann.^  *} 
Damit  sind  wir  bei  einem  Lieblingswunsche  fast  samtlicher  Auf- 
klärungsschriftsteller  angelangt,  einem  Wunsche,  der  sich  unschwer 
erklärt  als  ,,die  naturgemäße  Reaktion^  '^)  gegen  die  fast  schranken- 
lose, bei  der  Auslegung  der  Strafgesetze  überhaupt  und  bei  der 
Strafzumessung  insbesondere  geübte  Willkür  der  Richter  in  den  vorauf- 
gegangenen  Jahrhunderten,  die  ihrerseits  wieder  das  Ergebnis  der  da- 
maligen lückenhaften  und  allmählich  immer  mehr  veraltenden  Gesetzes- 
bestimmungen gewesen.  ^)  Mehrere  der  älteren  Aufklärungsschrift- 
steller haben  sogar  diese  Art  der  Rechtsprechung  nach  richterlichem 
Ermessen,  die  geschickte  Umgehung  der  zu  harten  Strafbestimmungen 
der  Carolina  im  Interesse  der  Angeklagten  noch  ausdrücklich  gut- 
geheißen. So  meinte  noch  Hommel,  daß  es  dem  Richter  nicht 
schwer  fallen  könne,  „mit  gutem  Gewissen  abgeschmackte  Gesetze  zu 
umschiffen",  und  hielt  ein  solches  Verfahren  für  richtig*);  Malblank 
lobte  den  älteren  Meister  in  Göttingen  nicht  nur  wegen  seines 
„menschenfreundlichen  Herzens^',  das  er  überall  „in  seinen  peinlichen 
Erkenntnissen^^  zeige,  sondern  auch  wegen  seiner  hervorragenden 
Fähigkeit,  „seine  gelinden  Gesinnungen  mit  den  Gesetzen  so  schick- 
lich zu  vereinigen,  daß  man  niemals  eine  gewaltsame  Abweichung 
davon^  merke  und  er  doch  immer  seinen  Endzweck  erreiche,^)  und 
Professor  Gmelin  in  Tübingen,  der  sich  über  diesen  Gegenstand  in 
der  Vorrede  zu  seinen  „Grundsätzen  der  Gesetzgebung  über  Verbrechen 
und  Strafen"  ausführlicher  ergeht,  versichert,  daß  er  als  Mitglied  in 
einem  Spruchkollegium,  „welchem  sehr  viele  peinliche  Fälle  zur  Ent- 

1)  V.  Globig  u.  Huster,  a.  a.  0.  S.  32. 

2)  So:  Frank,  Die  Wolffsche  Straf rechtsphilosophie,  S.  71;  zu  verg"!.  der- 
selbe, Naturrecht  usw.,  S.  16;  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  179,  Anm.  424 
a.  E.;  V.  Liszt,  Lehrb.,  §  6S,  S.  274. 

3)  S.  über  die  Willkür  in  der  gemeinrechtl.  Doktrin  (Interpretation  der  C.C.C.i 
und  Praxis  u.  a.:  Malblank,  Gesch.  d.  P.G.-O., S.  230,  249ff.,  251ff.;  Hälschncr, 
Gesch.  d.  brandb.-preuß.  Strafr.,  S.  164,  203,  214ff.;  Geib,  Lehrb.  I,  S.  301  ff.,  312, 
II,  S.  102ff.;  V.Bar,  Handb.I,  S.  141ff.;  Löning  in  Z.f.d.gC8.Str.-W.8,S.264ff., 
268 ff.;  Günther,  Wiedervergeltung II,  S.7u.  Anm. 8,  S.  11,  Anm.  19— 21;  v.  Liszt; 
Lehrbuch,  §68,  S.  274;  bes.  über  Frankreich  noch:  Hertz,  Voltaire,  S.  10«»; 
Frank,  Die  Wolffsche  Strafrechtsphilos.,  S.  66;  v.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  14. 

4)  Hommel  in  seiner  Übersetzung  von  Beccaria,  S.  19,  Anm.  h  (mit  Hin- 
weis auf  seine  Rhapsodia  Quaest.  obs.  439:  „Icti  recte  leges  insulsas  interpreta- 
tione  cmendantet  in  melius  provchunf^  etc.)  Vergl.  dazu  Löning  in  d.  Z  f.d. 
ges.  Str.-W.  3,  S.  274;  s.  auch  Landsberg,  Gesch.  III  1,  S.  397. 

5)  Malblank,  Gesch.  d.  P.G.-O.,  §  56,  S.  249;  vgl.  Löning,  a.  .i.  0.  S.274; 
Landsberg,  G  csch.  III  1,  S.  306. 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  151 

scbeidang  zugeschickt''  warden,  sieb  „nur  äußerst  selten  ...  in  der 
Notwendigkeit  befunden  babe,  durcb  allzu  deutlicheGesetze.. 
wider  die  (in  der  gericbtlicben  Praxis  angenommenen)  gereinigten 
und  vernünftigeren  Grundsätze  der  Menschlicbkeit''  oder  wider  sein 
„inneres  Gefübl  einem  Urteil  beizustimmen.''^)  Bald  aber  bat  man 
dann  gegen  diese  Praxis  nicbt  nur  Widerspruch  erhoben^),  sondern 
ist  bei  ihrer  Bekämpfung  leider  in  das  andere  Extrem  verfallen,  in- 
dem man  den  Richter  lediglich  zu  einem  ganz  mechanisch,  gleich 
einer  unbeseelten  Maschine  arbeitenden  Handlanger  des  Gesetzes 
herabwürdigen  wollte,  dessen  eigenem  Befinden  nichts  überlassen  wer- 
den dürfe 5),  der  daher  aber  auch  —  wie  z.B.  von  Globig  und 
Hu  st  er  in  ihrer  gekrönten  Preisschrift  in  wesentlicher  Überein- 
stimmung mit  Beccaria^)  ausdrücklich  sagen  —  nichts  weiter  zu 
besitzen  brauche  als  „den  vollkommenen  Gebrauch  der  fünf  Sinne, 
gute  Beurteilungskraft  und  Rechtschaffenheit",  während  „Wissen- 
schaften" bei  seinem  Amte  völlig  „überflüssig^'  seien.  ^)  „Glückliche 
Zeiten",  so  meinte  man,  würden  dann  anbrechen,  „da  der  Einfältigste 
mit  leichter  Mühe  seine  Schuldigkeiten  gegen  den  Staat  und  seine 
Jlitbürger  erfahren..."  könne  und  „da  so  viele  Schwätzer  und  spitz- 


1)  Gmelin,  Grunds.,  Vorrede,  T.  VI,  VII;  Löning,  a.  a.  0.  S.  274  (ebds. 
auch  über  v.  Sodenj;  vergl.  y.  Lilien  thal,  Heidelberger  Lehrer  des  Straf  recht», 
S.  3,  4. 

2)  Vergi.  zu  der  ganzen  Frage  Klcinschrod,  System.  Entw.  II,  §  131, 
S.  342 ff.  (,,l8t  es  gut,  dem  Richter  viel  Willkür  zu  lassen?";  das.  S.  342,  Anm.  a 
auch  Angabe  zeitgenöss.  Spezialliteratur). 

3)  S.  schon  Montesquieu,  Esprits  dos  lois,  Livro  XI,  eh.  6,  p.  134  («Leä 
juges  de  la  nation  ne  sont  . . .  que  la  bouche  qui  prouonce  les  paroles  de  la  loi, 
des  ütres  inanimes  qui  n'cn  peuvent  modercr  ni  les  forces  ui  les  rigueurs" 
(vergl.  Binding  in  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  1,  S.  7,  Anm.  5),  femer  Voltaire,  Idecs 
republicaines,  Art.  XL  u.  XLI,  Dict.  philos.,  Art.  „Crime''  ü.  „Criminell,  Prix  de  la 
justice  Art  XIV  (Bibl.phil.T. V,  p.66;  vergl.  Frank,  Die  Wolffsche  Straf rechtsphil., 
S.  66,  Anm.  IS;  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  242);  Letrosne,  Vues  sur  la  justice 
criminelle  (Brissot,  Bibl.  phil.  T.  II),  p.  310  (^les  magistrats. . .  ne  doiventetre, 
que  l'organe  de  la  loi'O;  Marat,  Plan  etc.,  p.  249  (vergl.  Günther,  G.-S.  61 
S.  203,  204,  Anm.  4);  v.  G  lob  ig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  31  („Der  Richter  ist  nur 
der  mechanische  AusQber  der  klaren  Bestimmungen  des  Gesetzes'^); 
vergl.  auch  ebd.  S.  96,  97  und  v.  Dalberg,  Entwurf,  S.  139,  femer  die  Angaben 
unten  S.  152/53,  Anm.  4  und  im  allgem.  noch  Günther,  im  Archiv  für  Straf r.  4S 
S.  l.und  Anm. 2  (Literatur). 

4)  Beccaria,  §  4  (^Auslegung  der  Gesetze^),  S.  72  u.  bes.  §  7  („Indizien  und 
Gerichtsverfassung""),  S.  80  (Zur  Urteilsfallung  durch  den  Richter  gehört  ^nur  der 
einfache  und  gewöhnliche  gesunde  Menschenverstand'') ;  vergl.  Maillard,  £tude 
histor.,  p.  25,  26. 

5)  V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  32. 


152  IX.  Günther 

findige  Ausleger  endlich  gezwungen"  würden,  „dem  Staate  durch  gute 
Künste  und  Wissenschaften  nützlich  zu  sein."  ^)  Auch  das  Gewohnheits- 
recht, diese  „wächserne  Nase  der  Rechtsgelehrsamkeit"  aus  „den  Zeiten 
der  Barbarei,  da  niemand  an  Gesetze  dachte"'^,  glaubte  man  viel- 
fach bei  einem  vollständigen  Gesetzbuch  entbehren  zu  können^), 
und  jede  ausdehnende  oder  einschränkende  Interpretation  desselben 
hielt  man  nicht  nur  gleichfalls  für  überflüssig,  sie  sollte  nach  manchen 
sogar  „bei  nachdrücklicher  Strafe^  verboten  sein.  ^)  In  einer  Zeit, 
wo  man  eine  solche  Gebundenheit  des  Richters  für  ersprießlich  er- 
achtete, konnte  natürlich  auch  bei  seiner  Tätigkeit  noch  kein  Platz 
für  eine  individualisierende  Behandlung  der  Verbrecher  sein,  auf 
welche  die  moderne  Eriminalpolitik  gerade  so  viel  Gewicht  legt,  daß 

1)  V.  Globig  u.  Haster,  Abhdlg.,  S.  32 ;  yergl  auch  S.  30, 31 :  ^Die  Recbts- 
gelehrsamkeit  wird  alsdann  aufhören,  eine  Wissenschaft  zu  sein,  und  die  pedan- 
tischen Anhäoger  derselben  werden  trauern.  Allein  die  Menschheit  wird  sich 
freuen,  daß  das  Leben,  die  Ehre,  die  Güter  des  Staatsbürgers  nicht  mehr  von 
sophistischen  Streitigkeiten,  von  vergötterten  Meinungen  alter  Heiligen  derXhemis, 
sondern  bloß  von  der  Beurteüung  der  gesetzgebenden  Gewalt  abhängen."  Auch 
bei  diesen  Stellen  ist  die  Ähnlichkeit  mit  Beccaria,  §  4,  S.  74  u.  §  7,  S.  80  ganz 
unverkennbar.  Über  Verwandtschaft  des  Schlusses  der  im  Text  zitierten  Steile 
aus  V.  Globig  und  Huster  (S.  32)  mit  den  Anschauungen  Friedrichs  des 
Großen,  dessen  Haß  gegen  die  Juristen,  insbes.  die  Advokaten,  ja  allgemein 
bekannt  ist,  s.  näheres  bei  Bin  ding  in  d.  Z.  f.  .d.  ges.  Str.-W.  Bd.  1,  S.  8,  Anm.  6.  — 
Gegen  jene  Knebelung  der  richterlichen  Meinungsfreiheit  als  verkehrt  haben 
sich  zum  Teil  schon  die  Zeitgenossen  selber  gewandt,  wie  z.B.  Graebe,  Über 
die  Reformation  usw.,  S.  74.  Von  neueren  vergl.  Glaser,  Übers,  v.  Beccaria, 
Vorwort,  S.  12;  Binding  in  d.  Z.  f.d. ges.  Str.-W.  1,  S.  8 («krankhafte Träume*'); 
V.  Bar,  Handb.  I,  S.  233;  Esselborn,  Übers.,  Einltg.,  S.  18.  Übrigens  sind  in 
der  Neuzeit  auch  schon  wieder  manche  Stimmen  für  Einschränkung  des  „viel 
zu  weit  gehenden  richterlichen  Ermessens''  laut  geworden  (s.  Birkmeyer  im 
Arch.  für  Strafr.  48,  S.  76  u.  die  Literaturangaben  ebd.  S.  96,  Anm.  80—82;  vergl. 
auch  Hedemann  in  der  Deutschen  Jur.-Ztg.  v.  I.Jan.  1906,  Sp.  93 ff.),  während 
dagegen  freilich  die allermodcmste  —  bes.  durch  die  Schrift  von  GnaeusFlavius 
(H.  U.  Kantorowicz),  Der  Kampf  um  die  Rechtswissenschaft  (Heidelbeig  1906) 
angeregte  —  sog.  „freirechtliche  Bewegung**  der  rechtschöpfenden  Tätig- 
keit des  Richters  (nicht  bloß  in  Strafsachen)  nach  freiem  Ermessen  noch  einen 
weiteren  Spielraum  gewährt  wissen  will  als  bisher.  Zur  Literatur  über  diese 
Frage  s.  Radbruch  in  der  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  Bd.  27,  S.  241—245  u.  S.  740/41. 

2)  V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.  S.  31. 

8)  S.  gegen  das  Gewohnheitsrecht  ausdrücklich  (außer  v.  Gl.  u.  H.)  auch 
Claproth,  Entw.  I,  Hauptstück  1,  §  2,  S.  2;  Quistorp,  Entw.,  Teil  I,  Absdin.  1, 
§  1,  S.  3,  4;  vgl.  auch  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  132,  S.  158  u.  §  134,  S.  160ff.; 
dafür  aber  Wieland,  Geist  I,  §  49,  S.  70,  71. 

4)  So  Claproth,  Entw.  I,  1,  §  3,  S.  2  (vergl.  Hälschner,  Gesch.,  S.  170; 
Frank,  Die  Wolffsche  Strafrechtsphilos.,  S.  71,  Anm.  40);  s.  auch  Pflanm, 
Entw.,  Teil  I,  Abschn.  1,  §  5,  S.  3  4).  —  Schon  Montesquieu,   Esprit  des  loi», 


Die  ^trafrcchtsreform  im  Aufklärnngszcitaltcr.  153 

man  wohl  ihr  eigentlichstes  Wesen  darin  erblickt  hat.  ^)  Zwar  findet 
sich  hin  nnd  wieder  wohl  der  Wunsch  ausgesprochen,  bei  der  Aus- 
messung der  Strafe  auf  den  Stand  des  Täters  besondere  Rücksicht 
zu  nehmen  2),  da  man  jedoch  befürchtete,  hierdurch  in  ein  —  u.  a. 
ausdrücklich  schon  von  Beccaria  yerworfenes  —  Klassenstrafrecht 


Livre  III,  eh.  3  hatte  die  Interpretation  nacli  dem  „Geiste  der  Gesetze^  nur 
für  solche  monarchische  Staaten  für  zulässig  erklärt,  in  denen  das  Gesetz 
nicht  bestimmt  sei,  bei  der  republikanischen  Kegierungsform  dagegen  sei 
nach  der  Natur  der  Verfassung  der  Richter  überhaupt  anden  Buchstabendes 
Gesetzes  gebunden  (vergl.  Esselborn,  Übersetzg.  von  Beccaria,  S.  73,  Anm.  *). 
Gegen  Interpretation  der  Strafgesetze  sehr  scharf  femer :  Beccaria,  §4,  S.  71 
bis  74  (und  dazu  Frank,  Die  Wolff sehe  Strafrechtsphilosophie,  S.  71  u.  Anm.  39; 
V.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  120);  Lotrosne,  Vues  etc.  (Brissot,  Bibl.  phil.  T.  D), 
p.  810;  Quistorp,  Entw.  I,  l,  §  5,  S.  6,  7,  §  6,  S.  8;  v.  Globig  und  Huster, 
Abhdlg.,  S.  24;  vergl.  auch  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  Ißl,  S.  209  a.  E.; 
gemäßigter  schon  Kleinschrod,  Syst  Entw.  II,  §  lt6ff.,  S.  304ff.,  bes.  S.305/H 
(nur  Mißbrauch  der  Interpretation  nicht  zu  billigen);  ausdrücklich  dafür:  Risi, 
Obseryations  sur  des  mati^res  de  jurisprudence  criminelle,  bei  Brissot,  Bibl.  phil. 
T.  II,  p.  llOff.,  Wieland,  Geist  I,  §45,  S.  65  und  bes.  y.  Grolman,  Grunds.' 
(1.  Aufl.).  §  260,  S.  142/3  vbd.  mit  §  136 ff.,  S.  63  (Der  Richter  kann  ohne  Gesetzes- 
auslegung  gar  ^nicht  Richter  sein"). 

1)  y.  Liszt,  Lehruch,  §  15,  S.  73  hat  bekanntlich  den  Begriff  der 
^Rriminalpolitik'^  geradezu  als  die  „Bekämpfung  des  Verbrechens  durch  indiyi- 
dualisierende  Einwirkung  auf  den  Verbrecher''  definiert ;  y ergl.  auch  M i 1 1 e r - 
maier  in  der  Schweiz.  Z.  f.  Strafr.,  Jahrg.  14,  S.  146.  Auch  Vertreter  der  Vergel- 
tungsidee haben  hierauf  Gewicht  gelegt,  s.  z.  B.  Birkmeyer  im  G.-S.  67,  S.  418. 

2)  S.  z.  B.  Tomaso  Natale,  Rifl.  pol.,  p.  33  (und  dazu  Günther  im  Arch. 
f.  Strafr.  48,  S.  22  u.  Anm.  n9ff ,  S.  23,  24  u.  Anm.  124);  ycrgl.  Seeger  in  Pütts 
Rep.  I,  S.  203ff.,  208ff.;  v.  Eberstein,  Entw.,  §  10,  S  5;  auch  Gmelin,  Grund- 
sätze, §  51,  S.  110  u.  a.  m.  Ausführliche  Behandlung  der  ganzen  Frage  bei  G.  J.  F. 
Meister,  Über  den  Einfluß,  welchen  der  Stand  des  Verbrechers  auf  die  Strafe 
und  das  Verfahren  in  Strafsachen  hat  (Gott  1784),  auch  in  Plitts  Rep.  I,  S.  Iff. 
—  Nur  ganz  ausnahmsweise  ist  man  damals  noch  weiter  gegangen  nnd  hat  auch 
noch  auf  andere  Verschiedenheiten  der  Verbrecher  Rücksicht  nehmen  wollen. 
Sehr  modern  mutet  z.  B.  in  dieser  Beziehung  eine  Stelle  in  Corrodis  Abhand- 
lung „Von  Bestrafung  der  Verbrechen **  in  Plitts  Rep.  II  (S.  140 ff.)  an,  die  dem 
Wortlaute  nach  angeführt  zu  werden  yerdient.  Es  heißt  dort  (S.  155/56):  „Wer 
kann  sagen,  alle  .  .  Verbrecher  sind  gleich  schlimm,  es  ist  gleich  schwer,  alle 
yon  Wiederholungen  ihrer  Missetaten  abzuschrecken  . . .  Um  das  zu  entscheiden, 
müssen  wir  nicht  die  Verbrechen  wissen,  sondern  die  Verbrecher 
kennen,  wissen,  ob  sie  eine  Fähigkgt  in  solchen  Verbrechen  erlangt  haben, 
wie  sie  darein  geraten  sind,  ob  sie  durchaus  lasterhaft  und  yerdorben  sind,  oder 
ob  sie  yielleicht  besser  sind  als  yiele  andere,  welche  die  Ruhe  der  Gesellschaft 
nie  auf  diese  Art  gestört  haben 7^^  usw.  Vergl.  etwa  auch  Quistorp,  Entwurf, 
§  72ff.,  S.  86  ff.  Ausdrücklich  gegen  die  Berücksichtigung  solcher  Umstände 
als  „ganz  unrichtig'*  aber  Gmelin,  Grunds.,  §  9,  S.  16. 


154  IX.  Günther 

ZU  geraten  ^),  und  zugleich  den  wahren  Maßstab  verübter  Missetaten 
nicht  in  der  verbrecherischen  Schuld  oder  (wie  heute  nach  der 
modernsten  Richtung)  in  der  verdorbenen  bezw.  gefährlichen  (anti- 
sozialen) Gesinnung  des  Deliquenten,  sondern  vorwiegend  rein  ob- 
jektiv in  dem  der  Gesellschaft  zugefügtem  Schaden  erblickte'^),  so 
vermochten  sich  jene  spärlichen  Ansätze  zu  einer  freieren  Tätigkeit 
des  Bichteis  bei  der  Strafzumessung  nicht  weiter  zu  entwickeln. 

Nicht  selten  sind  in  der  kriminalistischen  Äufklärungsliteratur  schon 
Erörterungen  über  den  Zweck  der  Strafe  anzutreffen,  owohl  der 
eigentliche  Streit  der  sog.  y,Strafrecht8theorien'^  über  diesen  Gegen- 
stand damals  noch  nicht  entbrannt  war.  3)  Schon  seit  den  Zeiten  der 
französischen  Encyklopädisten  war  man  dabei  im  Wesentlichen  einig 
in  der  Verwerfung  des  früher  sogeläufig  gewesenen  Vergeltungs- 

1)  Beccaria,  §27(S.  135ff.)un(l§41  (S.  163);  vergl.  Günther  im  Areh.  für 
Strafr.  48,  S.  24,  Anm.  124;  Maillard,  £tade  histor.,  p.  35,  vgl.  p.  26,  27;  gegen 
ein  Klaascnstraf recht  im  allgem.  auch  Marat,  Plan  delS^sl.  er.,  p.  121  ff.,  133ff. 
(vergl.  G.-S.  61,  S.  198,  199  u.  Anm.  1,  S.  222  u.  Anm.  3-,  Servin,  Über  die  peinl. 
Gesetzgbg.,  8.  117/18  und  überhaupt  die  Mehrzahl  der  französischen  Auf- 
klärungsschriftsteller (s.  darüber  Hertz,  Voltaire,  S.  452;  yergl.  G.-S.  61,  S.  222, 
Anm.  5).  Die  herrschende  Meinung  in  Deutschland  faßt  zusammen  Mal  blank. 
Gesch.  der  P.G.-O.  §  60,  S.  270,  Nr.  9:  „Bei  der  Strafe  muß  nicht  auf  die  Vei^ 
schiedenheit  des  Standes  der  Bürger  gesehen  werden,  denn  was  die  Strafe 
bei  Vornehmen  an  Starke  zunimmt,  wird  durch  ihre  größere  Fähigkeit,  sieh  vor 
Verbrechen  zu  hüten,  und  das  bessere  Beispiel,  womit  sie  vorangehen  soUtcu 
ersetzt," 

2)  S.  darüber  im  allgem.  v.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  II,  S.  380,  wo  auch  ausgeführt 
ist,  warum  die  Aufklärungszeit  noch  nicht  die  Gesinnung  des  Täters  zum 
Maßstab  der  Strafe  machen  konnte.  Im  einzelnen  s.  bes.  wieder  Beccaria,  §  24, 
S.  129ff.  („Der  wahre  Maßstab  der  Verbrechen  ist  der  der  Gesellschaft  zu- 
gefügte Schaden";  yergl.  Maillard,  Etüde  bist,  p.  29  u.  p.  26ff.,  33),  dessen 
Ansicht  sich  auch  die  meisten  deutschen  Aufklärer  (wie  bes.  Hommel  [Phil. 
Gedanken,  §  53,  S.  106 ff.,  §  67,  S.  137 ff.  und  Übersetzg  von  Beccaria,  Vorrede 
S.  XXI,  XXXI,  XXXIIIJ,  ferner  Beseke,  Versuch,  S.  89,  Nr.  12  a.  E.  und 
V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.  S.  38 ff.  u.  a.  m.)  angeschlossen  haben,  so  daß  sie 
Malblank,  Gesch.  der  P.G.-O.,  §  60,  S.  266,  Nr.  3  als  die  damals  herrschende  an- 
führen konnte;  vergl.  auch  noch  weiter  unten  über  die  Klassifikation  der  ein- 
zelnen strafbaren  Handlungen  nach  diesem  Maßstabe.  Dagegen  u.  a.  aber 
als  zu  einseitig  schon  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  191,  S.  245;  Schott,  Obser- 
vationes  de  delictis  et  poenis  etc.  (betr.  Beccarias  Schrift),  Tüb.  1767  (deutsch  bei 
Seh  all,  Von  Verbrechen  und  Strafen  usw.,  Leipzig,  1779S.24ff.,  27ff.);desgl.Schan 
selbst,  a.  a.  0.  S.  26,  Anm.*;  Vezin,  Das  peinliche  llalsrecht  usw.,  2.  Aufl.,  S.66ff. 
(Anm.  3)  mit  Anführung  von  Eenazzi  u.  Püttmann;  Kleinschrod,  System. 
Entw.,  I,  §  43,  S.  107  u.  Anm.  **  (Literaturl ;  zweifelnd  femer  Seeger  in  Plitts 
Eep.  1,  S.  160 ff.  und  mehr  vermittelnd  auch  Klein,  Fragmente,  a.  a.  0.  S.  49 
bis  55. 

3)  S.  Geib,  Lehrb.  I,  S.  314. 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufklärungszcitalter.  155 

gedankens,  und  zwar  in  erster  Linie  nicht  sowohl  in  Folge  der 
deterministischen  Auffassung  des  Verbrechens  0  oder  einer  verän- 
derten Ansicht  vom  Wesen  der  „Gerechtigkeit  im  Strafrecht^  die  uns 
heute  vielfach  entgegentritt  ^)y  als  vielmehr  aus  grundsätzlicher  Ab- 
neigung gegen  theologische  Einflüsse '),  denen  man  nicht  mit  Unrecht 
vor  allem  das  lange  Festhalten  an  der  Talionsidee  im  Strafrecht  zu- 
schrieb.^) ^Theologische  Sachen"  dürfen  aber  —  wie  Hommel 
einmal  drastisch  sagt  —  ^^keinen  Einfluß  auf  die  Verwaltung  der 
(staatlichen)  Gerechtigkeit  haben/^  mit  der  sie  so  wenig  in  Zusammen- 
hang stehen,  wie  etwa  „die  Chronologie  mit  der  Hantierung  eines 
Kupferschmiedes  oder  Seifensieders."  ^)  Müssen  daher  die  „Bibel  und 
das  Corpus  juris  .  .  .  zwei  verschiedene  Bücher  bleiben",  so  entfällt 
auch  die  unrichtige  Vorstellung,  „daß  Gott  durch  Hängen  und  Köpfen 
sich  versöhnen  lasse  und  daran  einen  Gefallen  finde."  ^)  Die  Vergeltung 
strafbarer  Taten  muß   vielmehr  dem  göttlichen  Richter  im  Jenseits 


1)  Daß  auch  diese,  besonders  in  Frankreich,  zur  Zurückdrängung  der 
Vergeltungsidee  mitgewirkt  hat,  ist  natürlich  anzuerkennen.  Vergl.  Hertz, 
Voltaire,  S.  127 ff.;  Masmonteil,  La  Ißgisl.  er.,  p.  198/99;  v.  Overbeck,  a.a.O. 
S.  46.  —  Daß  in  derNeuzeitmanche(wiebe8.  Mittelstadt,  Merkel,  Liepmann) 
versucht  haben,  den  Determinismus  und  die  Vergeltnngsidee  mit  einander  zu 
vereinigen,  ist  bekannt.  S.  bes.  v.  Liszt,  Die  deterministischen  Gegner  der 
Zweckstrafe  (Strafr.  Aufs.  U,  S.  25  ff.  und  bes.  8. 42  ff.);  H.  Meyer- Allfeld,  Lehrb- 
§  2,  S.  6,  Anm.  9;  Berolzheimer,  System,  Bd.  V,  S.  15,  14  u.  die  Anm. 

2)  S.  namentlich  Jos.  Heimberg  er,  Der  Begriff  der  Gerechtigkeit  im 
Strafrecht,  Leipzig  1903,  bes.  S.  9ff.  (im  wes.  Anschluß  an  H.  Seuffert,  Ein 
neues  Strafgesetzbuch  für  Deutschland,  München  1902,  S.  5  ff.  und  im  Gegen- 
satze zu  der  älteren,  namentlich  in  den  Abhandlungen  Birkmuyers  [s.  z.B. 
Archiv  für  Strafr.  48,  S.73,  G.-S.67,  S.  402 ff.,  Münchener  Rektoratsrede  1907,  S.  9 ff.] 
vertretenen  Ansicht,  welche  eine  strafende  Gerechtigkeit  ohne  Vergeltung  nicht 
anzuerkennen  vermag). 

3)  S.  darüber  bes.  Merkel,  Vergcitungsidce ,  S.  44 ff.  mit  interessantem 
Hinweis  auf  die  grundsätzlich  viel  schroffere  und  systematischere  Bekämpfung 
der  Vergeltungsidee  bei  den  modernen  Strafrechtsreformem. 

4)  Vergl.  dazu  etwa  Günther,  Wiedervergeltung  H,  S.  12  u.  Anm.  25 ff. 
(und  die  dort  Angeführten),  auch  S.  165,  180;  femer  Glaser.  Obers.,  Vorw.,  S.  16; 
Hertz,  Voltaire,  S.  5,  21,  132 ff.  Henke,  Grundr.  e.  Gesch.  d.  deutsch,  peinl. 
H.  IL,  S.  311  hat  die  Straf rechtspflege  zu  Beginn  des  18.  Jahrhunderts  nicht  un- 
zutreffend als  ein  „rabbinischcs  Blut-  und  Rachesystem^  bezeichnet. 

5)  Hommel,  Philos.  Gedanken,  §  85,  S.  162/3;  vergl.  auch  Rössigs  „Vor- 
erinnerung^  dazu,  S.  VIH.  Ähnliche  Bemerkungen  auch  schon  bei  Becoaria, 
S.  64  und  §  24,  S.  130/1. 

6)  Hommel,  Philos.  Gedanken,  §  36,  S.  67  vbd.  mit  §  50,  'S.  99  und  §  85, 
S.  164;  vergl.  auch  Übersetzung  von  Beccaria,  Vorrede,  S.  XVUI  und  S.  157, 
Anm.  g. 


156  IX.   GÜNTHER 

tiberlassen  bleiben  0.  der  —  wie  K.  v.  Dalberg  bemerkt  —  „allein 
das  Innere  des  Herzens  erforscht  und  erkennt  nnd  angemessen  zu 
bestrafen  weiß"'')^  während  sich  der  irdische  mit  Erreichung  anderer 
Ziele  begnttgen  muß.  Schon  im  Jahre  1755  hatte  der  Chevalier  de 
Jaucourt  in  dem  Artikel  „Crime^'  in  der  .»Enzyklopädie^  es  ausge- 
sprochen, daß  es  „eine  durch  die  Vernunft  yerurteilte  reine  Grausam- 
keit^' sei,  bloß  deshalb  «Jemanden  Übles  dulden^'  (zu)  lassen,  .  .  .  weil 
er  selbst  Böses  zugefügt  hat,  und  nur  den  Blick  auf  das  Geschehene 
zu  richten^ 3),  und  selbst  dem  Theologen  Michaelis  blieb  es  un- 
verständlich, wozu  das  bloße  Straftibel  „ohne  weiteren  Zweck,  der  es 
rechtfertigt'*,  dienen  sollte.^)  Zwar  spricht  man  wohl  auch  noch  in 
dieser  Zeit  hin  und  wieder  von  einer  „Stihne^  des  Verbrechens  durch 
die  Strafe  ^)  oder  hält  eine  —  auch  über  den  Schadenersatz  hinaus- 
gehende —  Genugtuung  des  Verletzten  (oder  auch  des  Gemein- 
wesens) für  berechtigte^),  aber  energisch  protestiert  man  gegen  die 
Ausübung   einer   „Rache''   gegen  den  Täter'),  und  auch  die  An- 

1)  Hommel,  Übereetzg.  von  Beccaria,  Vorrede,  S.  XXI:  ^Gottes  Gerichte 
und  menschliche  Gerichte  sind  heterogene  Dinge  und  so  schwerlich  wie 
Wasser  und  Ol  miteinander  zu  vermischen'';  Klein,  Fragm.,  a.  a.  0.  S.  53,  54: 
\pDie  Obrigkeit  (hat)  gar  nicht  zur  Absicht,  in  das  oberste  Richteramt  Gottes 
einzugreifen/ 

2)  Entwurf,  S.  115  (s.  Günther,  Wicdervergeltung  II,  S.  288,  Anm.  660). 
Vergl.  auch  Michaelis,  Mos.  Recht  (2.  Aufl.)  VI,  Vorrede,  S.  10. 

3)  Hertz,  Voltaire,  S.  131;  vergl.  v.  0  verbeck,  a.  a.  0.  S.  30  u.  Anm.  1. 

4)  Michaelis,  Mos.  Recht  (2.  Aufl.)  VI,  Vorrede,  S.  8;  vergl.  Günther, 
Wiedervergeltung  II,  S.  220,  Anm.  594 ;  Merkel,  Vergeltungsidee,  S.  4;  Lands- 
berg, Gesch.  III  1,  S.  405. 

5)  Bei  den  Franzosen  Marat  (Plan  etc.  p.  133,  174,  289)  und  B risset  de 
Warville  (Theorie  T.  I,  chap.  2,  p.  128)  findet  sich  die  Bezeichnung  „expiation'^ 
für  die  Eriminalstrafe;  s.  Günther,  Wiedcrvergeltung  n,  S.  197,  Anm.  521 
und  G.-S.  61,  S.  210,  Anm.  3  a.£.  —Vgl.  im  allg.  auch  Hälschner,  (resch.,  S.  197. 

6)  Ausdrücklich  als  ein  Straf  zweck  (neben  Sicherung,  Besserung  und 
Abschreckung  anderer)  anerkannt  ist  die  Genugtuung  z.B.  von  Rössig  zu 
Hommel,  Philos.  Ged.,  S.  32,  Anm.  S.  ferner  Filangieri  (vgl.  Günther, 
Wiedervergeltg.  II,  S.  187,  Anm.  472);  Marat  (vgl.  G.-S.  61,  S.  209/10,  Anm.  3); 
Michaelis,  Mos.  Recht  (2.  Aufl.)  VI,  Vorrede,  S.  68  u.  8lff.  (vgl.  m.  Wiedervergeltg. 
II,  S.  219,  Anm.  591);  Quistorp,  Grunds,  d.  deutsch,  peinl.  Rechts  (6.  Aufl 
1796),  I,  §  71,  S.  90.  —  Als  Hauptzweck  ist  die  Genugtuung  sogar  betrachtet 
bei  V.  Reder,  Das  peinl.  Recht  usw.  I,  Kap.  VIII,  §2.  S.  141  {vgl  Günther» 
Wiedervergeltg.  II,  S.  224/25,  Anm.  111).  Dagegen  aber:  Servin,  Über  d.  peinl. 
Gesetzgbg.,  S.  15  und  zum  Teil  auch  Tomaso  Natale  (s.  Arch.  f.  Straf r.  48, 
S.  20)  und  V.  Sonnenfels  (s.  m.  Wiedervergltg.  11,  S.  225,  Anm.  611). 

7)  Hierin  herrscht  fast  ausnahmslose  Übereinstimmung.  Ausführlichere  Be- 
lege bei  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  198,  Anm.  524  (Franzosen  und 
Italiener)  u.  S.  23S,  Anm    658  (deutsche  Aufklärungsschriftsteller;  s.  dazu  noch 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  157 

hänger  der  Talion,  sowohl  in  ihrer  reinsten  Form  (^Leben  um  Leben 
Auge  um  Auge,  Zahn  um  Zahn^)  als  in  ihren  verschiedenen  Ab- 
Schwächungen,  werden  immer  seltener.  *)  Statt  dessen  wird  das  Ge- 
wicht auf  die  in  der  Zukunft  wirkenden  Zwecke  des  Strafrechts 
gelegt.  ^)  An  Stelle  der  so  lange  Zeit  hindurch  sehr  beliebt  gewesenen 
Definition  der  Strafe  nach  Hugo  Grotius  als  ^malum  passionis, 
quod  infligitur  ob  malum  actionis^^),  wird  jetzt  überaus  häufig  eine 
Stelle  aus  Senecas  Schrift  ,,de  ira^  (I,  cap.  16):  ,,Nemo  prudens 
punit,  quia  peccatum  est,  sed  ne  peccetur^  als  „weiser  Ausspruch^'  *) 
gepriesen  und  zitiert,  auch  den  kriminalpolitischen  Abhandlungen 
wohl  als  Motto  vorangestellt  ^)    Durch  das  Nicht-Begehen,  das  Unter- 

Vezin,  Das  peinliche  Halsrecht  usw.,  S.  7ff..  15 ff.,  50 ff.,  63  ff.  und  Anm.  1; 
vergl.  auch  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  20  und  G.-S.  61,  S.  208  u.  Anm.  1.) 

1)  Über  Anerkennung  derTalion  oderVergeltungsidee  bezw.  Annäherungen 
und  Konzessionen  daran  bei  manchen  Schriftstellern  auch  noch  in  dieser  Zeit  s. 
ausführlicheres  in  m.  Wiedervergeltung  II,  S.  166,  168  ff.,  173  ff.,  176,  183  ff. 
188,  189ff.  u.  Anm.  478,  201,  202,  207,  215/16.  217ff.,  223ff.,  241ff.;  vergl.  auch 
Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  21  und  G.-S.  61,  S.  209ff.,  221  ff.,  222,  Anm.  2;  femer  unten 
S.  174,  Anm.  3.  —  Über  v.  Globig  u.  Huster  s.  m.  Wiedervergeltung  II,  S.  253 ff. 
—  Nicht  selten  aber  findet  sich  eine  ausdruckliche  Zurückweisung  des  Talions- 
oder Vergeltungsgedankens,  so  z.  B.  schon  bei  Voltaire,  Prix  de  la  justice, 
Art  III  (Bibl.  phil.  T.  V,  p.  16,  17;  vgl.  Günther,  Wiedervergeltung  II, 
S.  165/6,  Anm.  370ff.; Hertz,  Voltaire,  S.  127);  femerbeiBrissot  de  Warville 
(Theorie  I,  p.  142, 151  ff.,  II,  p.  33)  u.  anderen  Franzosen  u.  Italienern  (s.  Günther, 
Wiedervergeltung  II,  S.  200, 202,  Anm.  533),  bei  v.  S o n n  e n f  el  s ,  Grunds.  I,  §  345, 
S.  426/7  (Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  224,  Anm.  608),  Vezin,  Das  pein- 
liche Halsrecht,  S.  9  ff.,  20  ff.  und  65  ff.,  Anm.  2  und  anderen  deutschen  Auf- 
klärern (8.  m.  Wiedervergeltung  II,  S.  238/9  u.  Anm.  659,  661). 

2)  S.  Belege  dafür  bei  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  198  u.  Anm.  524 
(Franzosen),  S.  220  (Michaelis),  S.  224  (v.  Sonnenfels),  S.  237  u.  Anm.  657 
(spätere  deutsche  Aufklärer). 

3)  De  jure  belli  ac  pads  (1625),  Lib.  11,  c.  20,  §  1 ;  vergl.  Günther,  Wieder- 
veigeltung  II,  S.  105.  Eline  Beziehung  auf  diese  Definition  des  Grotius 
findet  sich  noch  bei R enaz  z i ,  Elem.  jur.  crim.,  1773,  Lib.  II,  c.  5,  p.  38  (s.  m.  Wieder- 
vergeltung II,  S.  197,  Anm.  521)  sowie  bei  Püttmann,  Elem.  jur.  crim.,  1779, 
Cap.  I,  §  24,  p.  13,  der  jedoch  §  63,  p.  29  auch  Senecas  Ausspruch  anführt. 
Ausdrücklich  dagegen  aber  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I,  §  343,  S.  423,  §  346, 
8.428  (vergl.  m.  Wiedervergeltung  II,  S.  224,  Anm.  610);  gegen  Grotius  im  allgem. 
auch  Voltaire  (s.  m.  Wiedervergeltung  II,  S.  197,  Anm.  522;  Hertz,  Voltaire, 
S.  315). 

4)  So:  Wieland,  Geist  J,  §296,  S.  401;  s.  dagegen  aber  Merkel,  Ver- 
geltungsidee, S.  4;  vergl.  auch  H.  Meyer-Allfeld,  Lehrb.,  §  3,  S.  13,  Anm.  13. 

5)  S.  z.  B.  Rathlefs  Abhandig.  ^Vom  Kindermord *^  usw.,  Anh.  I  zu  seiner 
Schrift,  „Vom  Geiste  der  Kriminalgesetze'^,  S.  145.  —  Vergl.  im  allgem.  auch  noch 
Hälschner,  Gesch.,  S.  170/71  u.  Anm.  4;  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  237, 
Anm.  657. 


158  IX.  Günther 

bleiben  von  Missetaten  wird  die  (ja  auch  durch  den  Gesellschafts^ 
vertrag  angestrebte)  Wohlfahrt,  insbesondere  die  Ruhe  und  Sicherheit 
des  Staats,  das  ^bien  public''  (oder  ^hien  g^neral^,  „bien  de  la 
80ci6t6",  „utilitö  publique*,  wie  die  französischen  Schriftsteller  es 
nennen)  befördert,  und  dies  ist  nach  damals  allgemein  herrschender 
(übrigens  ebenso  auch  in  der  Neuzeit  wieder  von  unseren  kriminal- 
politischen  Reformern  vertretener)  Ansicht  der  oberste  Zweck  (^le 
grand  [principal,  demier]  but**)  aller  Strafe  ^),  der  nur  im  einzelnen 
wieder  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  seine  Erfüllung  finden 
kann.  So  zunächst  mit  Rücksicht  auf  den  Verbrecher  selber.  Seine 
Besserung  gewährt  auch  der  staatlichen  Gemeinschaft  Vorteil,  näm- 
lich die  Sicherung  vor  ferneren  Übeltaten;  sie  muß  deshalb 
wenigstens  angestrebt  werden.  Dazu  sind  dann  wohl  hier  und  da 
schon  Einrichtungen  empfohlen  worden,  die  mit  unserer  heutigen  „be- 
dingten Verurteilung"  (bezw.  „bedingten  Begnadigung")  unver- 
kennbare Ähnlichkeit  aufweisen,  so  z.  B.  in  Frankreich  von  Servin 
für  jugendliche  Delinquenten  in  speziellen  Fällen  *^)  und  in  schon  all- 
gemeinerer Weise  bei  uns  in  Deutschland  von  Ernst  Ferdinand  E^lein. ») 


1)  S.  bes.  V.  Liszt,  Strafrechtl.  Auf.  II,  S.  139:  ,,Die  strafrechtliche  Grund- 
aoschauusg,  . . .  von  der  fast  sämtliche  Schriftsteller  der  Aufklärungszeit  aus- 
gegangen sind,  ...  ist  dieselbe,  wie  sie  seit  einiger  Zeit  von  der  überwiegenden 
Mehrheit  der  deutschen  Straf rechtslehrer  vertreten  wird:  Salus  publica  suprenia 
ex.-  Vergl.  Abegg  im  G.-S.  15  il863»,  S.  114  u.  Anm.  11;  Löning  in  d.  Z.  f .  d. 
ges.  Str.-W.  3,  S.  249;  Hertz,  Voltaire,  S.  131  ff.;  Frank,  Die  Wolffsche  Straf- 
rechtsphilos.,  S.  65  u.  Anm  12;  v.O verbeck,  S.  30  u.  Anm.  3;  Willenbücher. 
a.a.O.  S.  62.  Belege  aus  einzelnen  Schriftstellern  bei  Günther,  Wiedervei^gel- 
tungll,  S.  173/74,  Anm.  404  (Voltaire),  S.  180/81,  Anm.  438  u.  441  (Beccaria), 
S.  198,  Anm.  525  u.  S.  199,  20U  u.  Anm.  531  (spätere  Italiener  und  Franzosen), 
S.  234ff.  (deutsche  Aufklärungsschriftsteller),  S.  255  u.  Anm.  708/9  (v.  Globig  u. 
Huster);  vergl.  auch  noch  G.-S.  61,  S.  208  u.  Anm.  2. 

2)  Servin,  Über  die  peinliche  Gesetzgebung,  Buch  I,  Kap.  1,  Abschn.  4, 
§8,  S.  124:  „Ich  halte  es  für  nicht  unmöglich,  (gegen  jugendliche  Missetäter) 
eine  Art  von  bedingter  Unehre  zu  erkennen,  das  heißt  ist  ihnen  eine  Probe- 
zeit zu  gestatten,  nach  deren  Verlauf  sie,  je  nachdem  ihre  Sitten  be- 
schaffen sind,  dem  Bürger- Staat  wieder  einverleibt  oder  auf  immer  mit  Ent- 
ehrung belegt  werden." 

3)  Klein,  Fragmente  eines  peinlichen  Gesetzbuchs,  in  dessen  „Vermischten 
Aufsätzen"  usw.,  II.  Stück,  Leipzig  1780,  S.  79  (gelegentlich  der  Besprechung  eines 
«Ehrengerichts'',  das  für  gewisse  geringere  Delikte  eine  Art  Begnadigung  ver- 
hängen kann).  Der  Gerichtspräsident  soll  dabei  den  Delinquenten  u.  a.  mit  fol- 
genden Worten  ansprechen:  „Freue  dich  über  die  Liebe  deiner  Nebenmenschen, 
die  dich  schonten  .  . .  Aber  wisse,  das  kleinste  Verbrechen,  welches  dich  der 
strafenden  Gerechtigkeit  von  neuem  in  die  Hände  liefert,  stürat  dich  wieder 
in  die  alte  Schande.    Nur  unter  der  Bedingung  einer  künftigen  untadel- 


Die  Strafrechterefonn  im  Aufklärungszcitalter.  159 

Auch  an  die  von  vielen  für  noch  moderner  gehaltene  sog.  ,,anbe- 
stimmte  Verurteilung^  wäre  in  diesem  Zusammenhange  zu  erinnern. 
Sie  bat  nämlich  schon  damals  ~  wie  v.  Liszt  ausführlich  dargetan 
hat  —  ebenfalls  einen  besonders  eifrigen  Vorkämpfer  gefunden  in 
Klein,  der  sie  „als  Mitglied  des  Spruchkollegiums  der  Hallischen 
Juristenfakultflt  selbst  in  einer  Reihe  von  Rechtssprüchen  zur  prak- 
tischen Anwendung  gebracht  hat''  und  auch  ^als  Schriftsteller  .  .  . 
unablässig  bemüht  gewesen  ist,  ihr  die  wissenschaftliche  Fassung  und 
die  rechtliche  Begründung  zu  geben  und  ihr  so  die  Stellung  in  der 
Gesetzgebung  zu  sichern." ')  Bei  den  gewöhnlichen  Formen  des 
Strafvollzugs  dachte  man  übrigens  bei  der  Besserung  weniger  an 
die  eigentliche  moralische  oder  sittliche  Besserung  —  „denn  die  Staats- 
gewalt ist  nicht  mit  emer  Hofmeisterstelle  zu  vergleichen"  -),  —  als 
vielmehr    an    die   sog.   politische,    bürgerliche    oder    „physische'' '% 


haften  Aufführung  erhältst  du  die  Verzeihung.  Sobald  du  dich  eines  neuen 
Verbrechens  schuldig  gemacht,  verlierst  du  alle  Vorteile  des  heutigen  Tages 
und  wirst  auf  immer  unfähig,  von  neuem  auf  ein  Ehrengericht  dich  zu  berufen" 
usw.  Vergl.  Günther,  Wiedervergeltung  II,  Vorrede,  S.  IX,  Anm.  16;  v.  Liszt, 
Strafrechtl.  Aufs.  II,  S.  142. 

1)  T.  Liszt,  E.  F.  Klein  und  die  unbestimmte  Verurteilung,  ein  Beiti'agzur 
preußischen  Kriminalpolitik  des  IS.  Jahrhunderts,  Hallische  Rektoratsrede  (in 
den  Strafrechtl.  Aufsätzen  usw.  II, S.  I33ff.),  S.  148;  vergl.  auch  Günther,  Wieder- 
vergeltung III  1,  S.  66,  Anm.  129.  Anklänge  daran  auch  sonst  hier  und  da, 
so  z.  B.  bei  v.  Red  er,  Das  peinliche  Recht  II,  Kap.  XII,  §  5S,  S.  263,  IV,  Kap.  X, 
§  20,  S.  391  (Zuchthaus  auf  unbestimmte  Zeit);  vergl.  auch  I,  Kap.  XI,  §  7, 
S.  804),  in  den  Str.-G.-Entwurfen  von  v.  Dalberg  (S.  126)  und  v.  Eber  st  ein 
(§12,  ä.  6:  Arbeitshaus  auf  unbestimmte  Zeit);  vgl.  auch  Zaupser,  Gedanken  usw. 
Abh.  II,  S.  66,  Anm.  *  (betreffend  eine  Art  „korrektionellc  Nachhaft*^  im  Arbeits- 
hause nach  ausgestandener  Strafe).  Über  einen  ganz  eigenartigen  Fall  unbestimmter 
Verurteilung  bei  Marat  s.  Günther  im  G.-S.  61,  S.  337,  838,  Anm.  1.  —  Über 
die  Gesetzgebung  des  IS.  Jahrhunderts  in  Preußen  und  Österreich  s.  noch 
weiter  unten. 

2)  V.  Grolman,  Grundsätze  (1.  Aufl.),  §  106,  S.  50. 

3)  Diesen  Ausdruck  gebraucht  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §70,  S.  456; 
8.  auch  §343,  S.  425,  Anm.  c  (vergl.  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  226, 
Anm.  616).  —  Gegen  die  damals  nur  vereinzelt  aufgestellte  Ansicht,  daß  Besse- 
rung der  alleinige  oder  doch  der  Hauptzweck  der  Strafe  sei  (vergl.  darüber 
die  Angaben  bei  Bergk,  Übersetzg.  von  Beccaria  II,  S.  137  a.  E.,  140,  15S  betr. 
Schulz,  Benj.  Rush  u.  Püttmann;  s.  auch  Zaupser,  Gedanken,  Abhdlg. II, 
S.  35;  Beseke,  Versuch,  Kap.  G,  S.  28)  ausdrücklich:  Bergk,  a.  a.  0.  S.  280; 
vergl.  auch  Michaelis,  Mosaisch.  Recht  (2.  Aufl.)  VI,  Vorrede,  S.  12,  13,  95 ff.; 
besonders  gegen  die  moralische  Besserung  als  Strafzweck  bezw.  Haupt- 
zweck: V.Soden,  Geist  I,  §36,  S.  60,  61;Corrodi  inPlitts  Rep.  f.  d.  p.  R.  II, 
S.  147/8;  Kleinschrod,  System.  Entw.  I,  §28,  S.  64,  67,  §48,  S.  126 ff.,  auch 
III,  §  4,  S.  15  (nicht  Hauptzweck);  Bergk,  a.  a.  0.  II,  S.  44ff.  47;   vergl.  auch 


160  IX.  Günther 

d.  h.  das  in  Zukunft  vorhandene  gesetzmäßige  äußere  Verhalten,  das 
Nicht -Bückfälligwerden.  Dazu  aber  präsumierte  man  gleichsam  die 
Fähigkeit  in  der  Regel  noch  schlechthin  0,  woneben  jedoch  auch 
die  heute  so  weit  verbreitete  Annahme  einer  tatsächlichen  Unver- 
besserlichkeit bestimmter  Individuen  hin  und  wieder  anzutreffen 
ist  2).    Für   diese   hat  man  dann  beachtenswerterweise  schon  damals 


ebd.  I|  Vorrede,  S.  XXII;  mehr  indirekt  auch:  Hommel,  Übers,  v.  Beccaria 
S.  12,  Anm.  d  („Abgewöhnen  übler  Gewohnheiten^);  Malblank,  Gesoh.  d.  P.G.-O. 
S.  267/8;  desgl.  die  meisten  franzosischen  Aufklärer  (s.  Günther,  Wieder- 
Vergeltung  II,  S.  199,  Anm.  527  und  G.-S.  61,  S.  209,  Anm.  1).  Dafür  aber: 
Wieiand,  Geist  I,  §  317,  S.  42S;  Plitt  in  s.  Rep.  f.  d.  peinl.  Recht  I,  Vorrede, 
S.  18,  21;  Gmelin,  Grunds.,  §  15,  S.  34ff.,  §  25,  S.  58,  Nr.  6  (aber  nicht  Haupt- 
zweck); V.  Dalberg,  Entw.,  S.  144,  2ülff.,  205,  vergl.  auch  S.  117ff.,  218ff, 

1)  Noch  weiter  ging  z.  B.  t.  Dalhcrg,  der  sogar  die  moralische  Besse- 
rungsfähigkeit jedes  Menschen  (d.  vor.  Anm.  a.  E.)  schlechthin  voraussetzte.  S. 
bes.  Entwurf,  S.  144:  „•••  weil  in  jedem  Menschen  die  Besserung  immer  liegt*^; 
ebd.  S.  205:  „ein  allgemeiner  Grundsatz,  . .  .  daß  man  an  der  möglichen  Ver- 
besserung eines  Verbrechers  niemals  ganz  vorzweifeln  muß,  und  wenn  er  auch 
der  eingewurzeltste,  ruchloseste  Bösewicht  wäre.**  Vergl.  dazu  Abeggi.  G.-S.  15, 
S.  126. 

2)  Über  Beccaria  (in  einem  Gutachten  vom  Jahre  1792  [Esselborn, 
Überstzg.,  Anhang  1],  S.  184)  s.  Günther  im  Arch.  für  Strafr.  48,  S.  2,  Anm. 7; 
vergl.  V.  Sonnenfels,  Grundsatze  I,  §  101,  S.  119  („nach  den  Stufen  der  Un- 
verbesserlichkeit**),  §121,  S.  145  („unverbesserliche  Ausschweiferund  Böse- 
wichte''), §343,  S.  425,  Anm.  c;  Michaelis,  Mos.  Recht  (2.  Aufl.)  VI,  Vorrede. 
S.  98/99  („Bei  wie  manchem  ist  die  Besserung  nicht  möglich  . .  .*);  Beseke, 
Versuch,  Kap.  6,  S.  37,  Nr.  3  („Sollte  es  Falle  geben,  daß  der  Verbrecher  duidi 
Strafen  nicht  gebessert  .  .  .  werden  könnte*^),  S.  106  („als  ein  unzubessern- 
der  Mensch'^I);  Corrodi  in  Plitts  Rep.  U,  S.  148  („Die  Verbesserung  mancher 
Lasterhafter  scheint  .  . .  durch  kein  gedenkbares  Mittel  zu  bewerkstelligen^); 
Wieland,  Geist  I,  §  303,  409 ff.:  („Nicht  alle  Lasterhafte  werden  durch  ihre 
Besserung  die  Mühe  des  Menschenfreundes  .  .  .  belohnen"  usw.;  näheres 
S.  410  über  den  Begriff  des  Unverbesserlichen;  vergl.  auch  §  305,  S.  412,  §  317, 
S.  428).  S.  auch  noch  S ervin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  221  u.  260;  Rathlef. 
Vom  Geiste,  S.  73  (Präsumtion  der  Unverbesserlichkeit  bei  Brandstiftern); 
V.  Red  er,  Das  peinl.  Recht  II,  Kap.  XII,  §60,  S.  265  (Präs.  der  Unverbeaser- 
lichkeit  bei  mehrfach  rückfälligen  Gotteslästeiem);  femer  die  Angaben  in  der 
folgenden  Anmerkung.  —  Gegen  den,  in  der  Gegenwart  besonders  von 
V.  Liszt  (s.  Lehrb.,  §  13,  S.  67  u.  §  15,  S.  76)  und  seinen  Anhängern  aufgestellten 
(neuestcns  übrigens  zum  Teil  auch  von  Bin  ding  [Grundriß,  Allg.  Teil,  7.  Aufl., 
Vorrede,  S.  XVII/XVIII]  anerkannten)  Begriff  der  Unverbesserlichkeit  (vergl.  die 
ausführl.  Literaturangaben  bei  Berolzheimer,  System  V,  S.  154,  Anm.  4)  s.  u.  a. 
die  Angaben  bei  Kitzinger,  Die  IKV.,  S.  8  u.  134,  femer  v.  Bar,  Probleme 
des  Straf  rechts,  Festrede,  Göttingen  1S96,  S.  9  ff.  und  neuerdings  besonders 
Bi  rkm  ey er  im  Arch.  für  Strafr.  48,  S.  412,  G.-S.  67,  S.  125,  Münchener  Rektorats- 
rede, S.  12;  vergl.  auch  £.  Spira,  Die  Zuchthaus-  und  Gefängnisstrafe  usw., 
München  1905,  S.  105  u.  Anm.  *. 


Die  Straf i-cchtsreform  im  Aufkläruu^^eitalter.  161 

ganz  dieselbe  Behandlung  in  Vorschlag  gebracht  wie  noch  in  der 
Gegenwart,  nämlich  die  dauernde  ^^Unschädlichmachung^'  für 
die  bürgerliche  Gesellschaft,  sei  es  nun  durch  den  Vollzug  der  Todes- 
strafe, durch  Landesverweisung  oder  durch  die  —  heute  dafür  mehr 
empfohlene  —  lebenslängliche  Einsperrung  (bezw.  Deporatation).  0 
lieben  der  Besserung  und  Sicherung  hat  dann  weiter  auch 
der  Abschreckungszweck  damals  eine  sehr  bedeutende,  ja  im 

1)  Vergl.  im  allgem.  v.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  II,  S.  139,  140:  „Man  vergesse 
nicht,  daß  die  damalige  Strafgosetzgebung  eine  reiche  Falle  von  Sicherungs- 
strafen zur  Verfügung  stellte*,  nicht  nur  die  (einfache  oder  verschärfte)  Todes- 
strafe, sondern  auch  die  Landesverweisung,  die  Verurteilung  zu  lebens- 
länglicher Arbeit,  ...  die  Verstümmelung,  ja  selbst  die  Brandmar- 
kung dienten  dem  Sichcrungszweck."^  In  der  Literatur  findet  sich  denn  auch 
—  neben  mehr  allgemeinen  Bemerkungen  über  Unschädlichmachung  der 
Unverbesserlichen,  öfter  als  („Ausrottung"  bezeichnet  und,  wie  vielfach  auch 
heute,  mehr  als  „außerordentliches  Verteidigungsmittel  des  Naturstandes^  denn  als 
eigentliche  Strafe  betrachtet  [vgl.  Michaelis,  Mos.  Recht  VI»  Vorrede,  S.  68 ff.,  71; 
Mal  blank,  Gesch.  d.  P.G.-O.,  S.  2G7,  268])  —  bald  spezieller  dieses  oder  jenes  der 
genannten  Strafmittel  als  dazu  besonders  geeignet  empfohlen.  Beispiele:  a)  für 
Unschädlichmachung  im  allgemeinen  bes.:  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §343, 
S.  425,  Anm.  c  („Abschneidung''  des  Unverbesserlichen  von  der  Gesellschaft,  „damit 
er  dieselbe  nicht  femer  verletze");  vergl.  auch  Seeger  in  PlittsRcp.  I,  S.  158; 
Beseke,  Versuch,  S.  37,  Nr.  3  (der  unverbesserliche  Verbrecher  muß  „außer 
Stand  gesetzt  werden,  neue  Verbrechen  zu  begehen");  v.  Globig  u.  Huster, 
Abhdlg.,S.  155;  Kleinschrod,  System.  Entwickig.  III,  §4,  S.  15, 16  (.Vorsetzung 
des  Missetäters  in  einen  physischen  Zustand,  wo  es  ihm  unmöglich  wird,  femer 
zu  schaden");  b)  für  Unschädlichmachung  durch  Todesstrafe  s.  im  allgemeinen 
Michaelis.  Mos.  Recht  VI.  Vorrede,  S.  71,  Nr.  1  und  bes.  S.  Sl  (neben  anderen 
Mitteln);  Scegcr  in  Plitts  Rep.  I,  S.  158  (.gänzliche  Ausrottung");  Bark- 
hausen ebd.  I,  S.  332;  Corrodi  ebd.  II.,  8.  151;  v.  Grolman,  Graudsätze 
§  114,  S.  53  (alternativ  neben  ewiger  Freiheitsberaubung);  vergl.  auch  Wieland, 
Geist  I,  §305,  S  212;  c)  für  Unschädlichmachung  durch  Vemrteilung  zu  „gefähr- 
lichen", schweren,  gleichsam  als  Ersatz  der  Todesstrafe  dienenden  („langsam 
tötenden'' !)  Arb  citen,  wie  in  Bergwerken  und  „einigen  Fabriken" :  Rössig  „Vor- 
erinnerang*  zu^Hommcls  Philos.  Gedanken,  S.  XXVI,  Nr.  12;  vergl.  auch  v. 
Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  188,  Anm.  ♦(und  näheres  darüber  noch  unten  S.  175, 
Anm.  1)  und  im  allg.  noch  Michaelis,  a.  a.  0.  S.  71,  Nr.  7  und  S.  77;  di  durch 
Landesverweisung:  Servin,  Über  d.  pcinl.  Gesetzgbg.,  S.  90  (in  Fällen,  „wo 
der  Gesetzgeber  überzeugt  ist,  daß  .  .  .  Bessemng  gar  nicht  mehr  stattfindet**), 
S.  260/61  (für  wiederholt  Rückfällig  bei  Kuppelei,  die  als  „unverbesserlich" 
gelten);  Quistorp,  Entw.,  §305,  S.  337  (bei  widernatürlicher  Unzucht  im  Rück- 
fall und  der  infolgedessen  fehlenden  „Hoffnung  zur  Bessemng",  übrigens  erst 
nach  ausgestandener  „Strafe^'  und  alternativ  neben  lebenslänglichem  Arbeitshaus); 
V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  244/45  (für  als  unverbesserlich  betrachtete 
rückfällige  „Hurer  und  Hurenwirte"  sowie  Kuppler  in  gewissen  Phallen);  vgl. 
weiteres  hierzu  auch  noch  unten  bei  den  Anhängern  und  Gegnern  der  Landes- 
verweisung, zu  denen  bes.  auch  Michaelis  gehört,  obgleich  er  (a.  a.  0.  S.  71, 
Archiv  (tlr  Krimmalanthropologie.   28.  Bd.  1 1 


162  IX.  Günther 


ganzen  wobl  die  eigentlich  führende  Rolle  gespielt.  ^)  Sofern  es  sich  auch 
dabei  nur  um  den  Verbrecher  selber  handelt  (^Spezialprävention^), 
deckt  sich  dieser  Strafzweck  —  dem  Erfolge  nach  —  im  wesent- 
lichen schon  mit  dem  der  ^politischen  Besserung. '^  ^)  Es  sollten  aber 
zugleich  auch  andere,  zur  Begehung  von  Delikten  etwa  geneigte 


Xr.  4)  sie  unter  den  Mitteln  der  „ Ausrottung^  mit  aufgezahlt  hat;  e)  durch  die 
(auch  heute  gerade  hierfür  vielfach  befürwortete  [b.  zur  Literatur:  Berolz- 
heimer,  Entgeltung,  S.  448  u.  Anm.  2,  456])  Deportation  oder  ^Transpor- 
tation''; s.  z.  B.:  Filangieri,  System  IV  (S,  2),  Kap.  33,  S.  115  (betr.  Deportation 
auf  Inseln)  Michaelis,  a.  a.  0.  S.  71,  Nr.  2  und  3  und  S.  79  (im  allgem.); 
(imelin,  Grundsätze,  §  27,  S.  62;  Wieland,  Geist  II,  §511,  S.  227,  Anm.  * 
(für  Notzucht);  v.  Grolman,  Grunds.,  §  US,  S.  55  („zuweilen  als  Surrogat  der 
Todesstrafe  zweckmäßig**);  s.  dagegen  aber  Schott,  Observat  de  del.  et  poen. 
bei  Schall,  a.a.O.  S.  55);  f)  durch  lebenslängliche  Einsperrung  (in  Straf- 
anstalten): Rathlcf ,  Vom  Geiste,  S.  19,  25  und  73  („ewige  Gefangenschaf f") ; 
Klein,  Fragmente,  a.  a.  0.  S.  73;  v.  Soden,  Geist  I,  §  63,  S.  101/2.  (,cwige  Ge- 
fängnisstrafe*"); Quistorp,  Entwurf,  §305,  S.  337  („lebewieriger  Aufenthalt  im 
Arbcitshause*"  altemat.  neben  Landverweisung,  vergl.  oben  unter  d);  Beseke, 
Versuch,  S.  6;  Graebc,  Über  die  Reformation,  §42,  S.  S4  (für  mehrmals  rück- 
fällige Diebe  als  „unverbesserliche  Menschen""  „ewiges  Zuchthaus'');  Klein- 
schrod,  Systemat.  Entwickig.  i,  §  47,  S.  125;  v.  Grolman,  Grunds.,  §  114,  S.  55 
(altem,  neben  Todesstrafe).  S.  auch  Marat,  Plan  de  lö^sl.  criminelle,  p.  223 
(G.-S.  61,  2>.  339).  Auch  Michaelis  zählt  (a.  a.  0.  S.  71,  Nr.  5)  das  „ewige  Ge- 
fängnis"" in  der  allgemeinen  Überaicht  der  Mittel  der  «Ausrottung*"  auf,  hält  es 
aber  in  der  praktischen  Durchführung  für  zu  kostbar  (^.  75  ff.).  Vergl.  auch  schon 
oben  S.  159,  Anm.  1  über  die  sog.  unbestimmte  Verurteilung,  über  Ver- 
stümmelungen und  Brandmarkung  s.  näheres  noch  unten  8.  179,  Anm.  1 
u.  S.  182,  Anm.  1. 

1)  Über  das  Überwiegen  des  Abschreckungszwecks  (und  sein  Ver- 
hältnis zu  den  Zwecken  der  Sicherung  und  Besserung)  bei  den  Aufklärungs- 
schriftstellem  s.  etwa  die  Angaben  bei  Gm  eil  n,  Grundsätze,  §  14,  S.  27,  Anm. 
r  und  näheres  noch  bei  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  167  u.  Anm.  377. 
181  u.  Anm.  400,  401,  186/7  u.  Anm.  469,  198/99  u.  Anm.  526,  215ff.  u.  Anm.  579, 
218ff.  und  Anm.  591,  223,  Anm.  605,  225  und  Anm.  6 14 ff.,  234/35,  Anm.  650, 
255  u.  Anm.  712.  Gegen  den  Abschreckungszweck  hatte  sich  im  allgemeinen 
Rousseau  ausgesprochen  (s.  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  165,  Anm.  368, 
S.  167).  In  Deutschland  ist  ge^en  die  Abschreckung  anderer  ausdrücklich  bes. 
Vezin,  Daspeinl.  Halsrecht  usw.,  S.  187,  188,  Anm.  13  u.  bes.  S.  194  ff.,  Anm.  16, 
aufgetreten  (vergl.  dazu  auch  Böhm  er,  Handb.,  S.  303);  gegen  sie  als  Hauptzweck 
femer  Kleinschrod,  Syst.  Entwickig.  I,  §  49,  S.  1 29 f f . ;  vergl .  auch  B e r g k . 
Übers.  IV,  S.  49ff. ;  über  Wioland  s.  noch  unten  S.  163,  Anm.  2. 

2)  S.  ausdrücklich  Mal  blank,  Gesch.  der  P.G.-O.  §66,  S.  267  („politische 
Besserunfz:  des  Täters,  d.  i.  seine  Abschreckung  von  Übeltaten  fürs  Künftige*").  — 
Für  Abschreckung  des  Verbrechers  selbst  in  erster  Linie:  Kleinschrod, 
System.  Entwickig.  III,  §4,  S.  15,  16  und  besonders  v.  Grolman  (Grundsätze 
§  Iff.,  S.  Iff.,  §  105 ff.,  S.  49ff.  und  namentl.  §  110,  S.  51),  der  Hauptvertreter  der 
sogen.    Spezialpräventions-Theorie     (vergl.   H.  Meyer-Allfeld,   Lehrb.  §  13, 


Die  Straf rechtsreform  im  Aafkläningszeitalter.  163 

Mitglieder  des  Staates  abgeschreckt  werden  („Generalprävention^),  sei 
es  schon  durch  die  gesetzliche  Strafdrohung,  worauf  später 
Feuerbach  das  entscheidende  Gewicht  gelegt  hat^),  sei  es  —  woran 
man  in  dieser  Zeit  meist  noch  an  erster  Stelle  denkt  —  durch  die 
Strafvollstreckung  an  dem  Missetäter. 2)  Diese  soll  daher  in 
möglichst  breiter  Öffentlichkeit 3),  ja  mit  einem  gewissen  auf  die 
Sinne  wirkenden  Gepränge  vor  sich  gehen.  4)  Gerade  in  Deutsch- 
land  hat  diese  Anschauung  in  der  Literatur  sich  länger  zu  erhalten 
vermocht  als  anderswo.  Während  in  Frankreich  z.  B.  schon  Vol- 
taire geäußert  hatte,  daß  die  öffentlichen  Hinrichtungsszenen 
auf  die  große    Masse    (^la  canaille^)    nicht    sowohl    abschreckend 


S.  11  und  Anm.  5),  als  deren  „Vorläufer*^  übrigens  auch  schon  Wicland  (s.  bes. 
Geist  I,  §294,  S.  398  [und  unten  Anm.  2])  bezeichnet  werden  kann  (s.  Lands- 
berg, Gesch.  III  1,  S.  413). 

1)  Über  die  zahkeichen  Anklänge  an  die  Feuerbachscho  Theorie  des  sog. 
psychologischen  Zwangs  bei  den  Aufklärungsschriftsteilem  s.  im  allg.  v.  Liszt, 
Strafr.Aufs.il,  S.  380  und  Einzelheiten  dazu  bei  Günther,  Wicdervergltg.  II, 
S.  82,  Anm.  441,  186  u.  Anm.  469,  187,  Anm.  471,  235,  Anm.  650,  243,  244,  Anm. 
667  u.  668  (das.  Erklärung  dieser  Erscheinung);  vergl.  auch  Arch.  f.  Straf r.,  Jahrg. 
4S,  S.  19  u.  Anm.  103.  Über  Friedrich  den  Großen  s.  Willenbücher,  a.a.O. 
Ö.  27. 

2)  S.  Malblank,  Gesch.  der  P.  G.-O.  S.  267,  268,  Nr.  5.  —  Als  Hauptvertreter 
dieser  Theorie  pflegen  in  den  Lehrbüchern  Filangieri  (System  IV  [3,2],  Kap.  25, 
S.  9, Nr.  8  u.Kap.27,S.  19 ff.) und Gmel in, (Grunds.,  Einltg.,  §6,8.12  ls.Günther, 
Wiedervergeltung  II,  S.  186,  187,  Anm.  469  u.  471  u.  S.  234,  Anm.  650])  angeführt 
zu  worden  (s.  z.B.  H.  Meyer-Allfeld,  Lehrb.,  §3,  S.  11,  Anm.  7;  Thomsen, 
Deutsch.  Strafrecht,  §  2,  S.  28).  Ober  Beccaria  (§  15,  S.  102,  103,  §  12,  S.  89) 
s.  Esselborn,  Einltg.,  S.  18;  über  v.  Dalberg:  Abegg,  G.-S.  15,  S.  121.  Gegen 
diese  Art  der  Abschreckung  (außer  Vezin)  ausdrücklich  auch  Wieland,  Geist  I, 
§  294,  S.  397 ff.,  §  308 ff.,  S.  415ff.,  §  836 ff.,  8.  454 ff.;  von  Neuerem  bes.  Thom- 
sen, a.a.O.  §2,  S.  28. 

3)  So  allgem.  herrschende  Meinung.  S.  Malblank,  Gesch.  d.  P.  G.-O.,  §  60, 
S.  270,  Nr.  11:  „Die  Strafen  sind,  soweit  möglich,  öffentlich  zu  vollziehen, 
damit  durch  selbige  kein  Mißbrauch  getrieben  und  zugleich  der  öffentliche 
Eindruck  erreichtwerde.^  Vergl.  über  einzelne  Schriftsteller  noch  Günther, 
Wiedervorgeltung  II,  S.  199,  Anm.  529,  223,  Anm.  605,  236,  237  u.  Anm.  654, 
256,  Anm.  714. 

4)  S.  Malblank,  a.  a.  0.  §  60,  S.  268,  Nr.  6  (es  kuunen  „zur  Verstärkung 
des  Eindrucks  [bei  der  Todesstrafe]  allerlei  Feierlichkeiten  und  äußere  Zeichen 
gebraucht  werden").  Vergl.  (übereinstimmend,  bes.  betr.  die  Todesstrafe) 
Giaproth,  Entwurf  II,  Abschn.  3,  Hauptst  12,  §  2,  S.  194ff.;  Zaupser,  (^ed., 
Abhdlg.  3,  8.  77;  Quistorp,  Entw.  I,  Abschn.  4,  §  52,  S.  62,  Anm.  c,  §55,  S.64; 
Pf  laum.  Entw.,  T.  I,  Abschn.  4,  §  45,  S.  40;  Pli  tti  i.  s.  Rep.  L  Vorrede,  S.  2Sff.; 
Filangieri,  System.  IV  (3,  2),  Kap.  80,  S.  52.  —  Cber  die  Praxis  des  gem.  Rechts 
s.  Günther,  Wiedcrvergeltung  II,  S.  9 ff.,  Anm,  14—16. 

11* 


164  IX.  Günther 

als  vielmehr  anziehend,  unterhaltend  und  belustigend  wirkten  O7 
und  in  Nordamerika  der  Philanthrop  Josias  Benjamin  Bush  sogar  in 
einer  eigenen  Abhandlung  gegen  die  Übelstände  einer  allzu  großen 
^Publizität^  der  Strafvollstreckung  aufgetreten  war,  2)  haben  die 
deutschen  Schriftsteller  mit  großer  Zähigkeit  an  dem  altäberlieferten 
Herkommen^)  festgehalten;  konnten  es  doch  noch  Juristen,  die  sich 
selbst  bereits  zu  den  Aufgeklärten  ihrer  Zeit  zählten,  als  einen  päda- 
gogisch „löblichen  Brauch''  empfehlen,  am  Tage  einer  Hinrichtung 
die  Schulen  zu  schließen,  um  auch  den  Kindern  das  vermeintlich  ab- 
schreckende Beispiel  vor  Augen  zu  führen.^)  Konsequenter  weise 
hätte  man  nun  eigentlich  auch  zu  möglichst  harten  Strafformen  grei- 
fen müssen,  allein  dem  stand  die  zunehmende  Humanität,  die  Tendenz 
der  Zeit,  die  Todesstrafen  möglichst  einfach  zu  gestalten  oder  sie  gar 
völlig  durch  leichtere  Straf  arten  zu  ersetzen,  hindernd  entgegen. 
Man  ist  jedoch  nicht  um  einen  Ausweg  aus  diesem  Dilemma  verle- 
gen  gewesen.    An  Stelle  der  früher  tatsächlich  vollzogenen  sog.  qua- 

1)  S.  Voltaire,  Prix  de  la  justice,  Art.  II  (Bibl.  phil.  T.  V,  p.  11):  ^Toute 
.a  Canaille  . .  .  court  ^  ces  spectacles  comme  au  sernion,  parcequ'on  y  entre  sans 
payer**,  vergl.  Hertz,  Voltaire,  S.  IIb,  119.  —  S.  auch  Observations  sur  le  traite 
des  dölits  et  des  peines,  bei  Brissot,  Bibl.  phil.  T.  L  p.  292:  („Les  supplices  . . . 
sontlespectacledu  peuple")  u.Vezin,Da8peinl.  Halsrecht,  S.  llOff.  (Anni.  12). 
Auffälligerweiso  konnten  sich  aber  gerade  die  Franzosen  nicht  zu  der  Einführunir 
der  sog.  Intramuran-Hinrichtung  entschließen.  S.  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  160,  8.  257, 
Anm.  S;  Mittermaier  in  der  Deutsch.  Jur.-Ztg.  vom  15.  Dez.  1908  (Jahrg.  VIII, 
Nr.  24),  S.  555,  Sp.  1. 

2)  Über  J.  B.  Rush  (Professor  der  Chemie  in  Pennsylvanien)  und  seine 
Schrift  ^Enquiry  into  thc  effects  of  public  punishments  upon  criminals  and  upon 
Society",  London  17S7  (deutsche  Übersetzung,  Leipzig  1793)  s.  Böhmer,  Handb.. 
S.  710,  Nr.  2575);  C.V.Lichtenberg,  Die  Strafe,  die  Zuchthäuser  und  das 
Zwangserziehungssystem  usw.,  Berl.  1846,  S.  235;  Günther,  Wieder\'ergeltung II. 
S.  209ff.,  Anm.  560,  S.  237.  Anm.  656;  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  60,  S.  257,  Anm.  S. 
Über  J.  L.  E.  Püttmanns  dagegen  gerichtetes  Sendschreiben  („Über  die  öffent- 
liche Vollstreckung  der  peinlichen  Strafen**)  s.  Böhmer,  a.  a.  0.,  S.  711,  Nr.  2577; 
Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  237,  Anm.  656.  Eine  Prüfung  der  Gründe 
Rush's  gegen  die  „Publizität"  der  Strafvollstrekungen  auch  bei  Kleinschrod. 
System.  Entw.,  §79,  S.  66ff.  Übereinstimmend  mit  Rush:  Wagnitz,  Histo- 
rische Nachrichten  usw.  über  die  merkwürdigsten  Zuchthäuser,  Halle  1791,  Bd.  1, 
S.  14.  Weitere  hierher  gehörige  Literatur  noch  bei  Böhm ej,  Handb.,  S.  710,  711 ; 
vergl.  auch  ebd.  S.  307,  Nr.  684  und  S.  759;  v.  Liszt,  a.  a.  0.  S.  257,  Anm.  S. 

3)  S.  über  die  ältere  Praxis  in  Deutschland  Günther,  Wiedervergeltg.il, 
S.  8  ff. 

4)  So:  Zaupser,  Gedanken  usw.,  Abhandlung  3,  S.  83;  noch  ausführiicher 
darüber  Claproth,  Entw.,  Teil  IJ,  Abschn.  3,  Hauptst.  12,  §  1,  S.  193ff.  und  §  2, 
S.  195.  Vergl.  Günther  Wieder^'crgcltung  II,  S.  215,  216,  Anm.  579  und  S.  223, 
Anm.  605. 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärangszeitalter.  165 

lifizierten  oder  geschärften  Todesstrafen,  für  die  jetzt  nur  noch  ganz 
vereinzelte  Verteidiger  auftreten  0«  empfahl  man  wohl  mehrfach 
Scheinexekutionen  an  den  bereits  entseelten  Körpern  der  Hingerich- 
teten oder  sonstige,  dem  Delinquenten  zwar  nicht  mehr  fühlbare, 
dem  Publikum  aber  Schaudern  erregende  Maßnahmen,  wie  z.  B.  das 
Flechten  des  Leichnams  auf  das  Ead  oder  das  Aufstecken  der  Köpfe 
toder  der  Hände)  Enthaupteter  auf  Pfähle  u.  dergl.  mehr.  2)  Größere 
Schwierigkeiten  hat  es  schon  bereitet,  die  Freiheitsstrafen  (namentlich 
auch  da,^  wo  sie  als  Ersatz  der  Todesstrafen  erschienen)  in  öffent- 
lich wahrnehmbare  abschreckende  Formen  zu  bringen.  Vielfach  hat 
man  dieöffentliche  Verrichtung  schwerer  Arbeiten  durch  die 
Strafgefangenen  auch  gerade  aus  diesem  Gesichtspunkte  befürwortet  ^) 

1)  S.  Malblank,  Gesch.derP.G.-O.,  §60.  S.  164,  Nr.  6;  Kleinschrod,  Syst 
Entw  III,  §  10,  S.  271.  „Dai-über  sind  alle  neueren  Schriftsteller  einig,  daß 
qualifizierte  Todesstrafen  unangebracht  sind,  weil  sie  mehr  Schmerz  zufügen, 
als  zum  Töten  notig  ist*"  Vergl.  auch  Geib,  Lehrb.  I,  S.  386  und  Günther, 
Wiedervergeltung  II,  S.  276  u.  Anm.  653  und  G.-S.  61,  S.  822.  Als  Anhänger  der 
sllteren,  von  dem  Philosophen  Chr.  Wolff  noch  verteidigten  Richtung  (s.  Jus  na- 
turae  etc.,  1740  ff.,  p.  VIII,  c.  8,  §  601  ff.)  erscheinen  u.  a.  (vergl.  Böhmer,  Handbuch 
Nr.  675,  S.  304)  noch  Claproth  (vergl.  schon  oben  S.  127,  Anm.  4)  und  Beseke 
(wozu  näh.  zu  vergl.  in  m.  Wiedervergeltung  II,  S.  2 16  ff.  u.  Anm.  580,  587  bis  589 
u.  S.  242,  Anm.  665).  —  Über  das  ausdrückliche  Verbot  aller  Schärf ungen  der 
Todesstrafe  im  französ.  StGB,  von  1795  s.  näh.  noch  weiter  unten. 

2)  Dafür  bes.  v.  Soden,  Geist  §  61,  S.  95,  96;  Gmelin,  Grundsätze,  §  46, 
8. 100,  101  und  §  168.  S.  138ff. ;  femer  Versuch  einer  geset/^eb.  Klugheit  (vergL 
Allg.  deutsche  Bibl.,  Band  39,  S.  405 1;  Rathlef,  Der  Kindesmord  usw.,  Anhang  I 
zn  der  Schrift:  Vom  Geiste  usw.,  S.  158  ff.;  Quistorp,  Entwurf],  Abschn.  4, 
§52,  S.  61,62  u.  Anm. b,c und  §  126,  S.  140,141;  Pflaum,  Entw.  T.  I,  Abschn.  4, 
§48,  S.  88,  39  (Rädern  nach  vorheriger  Strangulierung  und  Verbrennen  des 
entseelten  Körpers);  v.Dalberg,Entwurf,  S.141,159;  vgl.  auch  noch  Günther, 
Wiedervergeltung  U,  S.  216,  Anm.  579  (über  Claproth)  und  S.  236,  Anm.  654 
und  G.-S.  61,  S.  322,  323  (überMarat).  Mehr  allgemeine  Sätze  bei  Beccaria, 
§15,  8.103  (und  dazu  Esselborn,  Einltg.,  S.18)  und  Filangieri,  System  IV 
(3, 2),  Kap.  27,  S.  19 ff.,  die  beide  mit  der  möglichst  geringen  Pein  des  Verurteilten 
doch  einen  möglichst  großen  Eindruck  der  Zuschauer  verbinden  wollten. 
Gegen  die  Scheinexekutionen  überhaupt:  Kleinschrod,  System.  Entw.  in, 
§  11,  S.  27;  vergl.  femer  v.  Red  er.  Das  peinliche  Recht  I,  Kap.  IX,  §  29,  S.  159 
(„Soll  das  Publikum  ein  abschreckendes  Beispiel  erhalten,  wenn  ein  toter  Körper 
gehängt,  ihm  die  Hände  abgehauen  oder  sonst  metzgermäßig  behandelt 
wird,  so  muß  man  demselben  zuvörderst  das  Märchen  predigen,  daß  auch  entseelte 
Körper  Schmerzen  fühlen  können");  insbes.  gegen  das  Aufstecken  der  Köpfe  auf 
Pfähle  auch:  v.  Eberstein,  Entwurf,  Vorrede,  S.  11. 

3)  8.  bes^Kleinschrod,  System.Ent\incklg.  I,  §32.  S.  77  und III,  §  28.  S  58, 
§36,  S.  71, 72(Öff  entliche  Arbeiten  seine  u.a.  auch  deshalb ,,  sehr  zweckmäßig. . ., 
weil  siemchr  Publizität  und  Abschreckung  mit  sich  verbinden*^) ;  zu  vgl.  dersei  b  e, 
Über  die  Strafe  der  öffentlichen  Arbeiten,  Würzburg  1789  (»  Abhdlgn.  aus  dem  pein. 


166  IX.  Günther 

Wo  man  aber  an  der  eigentlichen  Einsperrung  in  den  Strafanstalten 
als  Kegel  festhalten  zu  müssen  glaubte,  da  wollte  man  doch  wenig- 
stens  den  Schein  der  Öffentlichkeit  noch  dadurch  retten,  daß  etwa 
der  Verurteilte  vor  seiner  Abführung  zur  Straf  verbüßung  „mit  ge- 
wissen Feierlichkeiten  vor  das  Volk''  geführt  und  ihm  dann  hier 
das  urteil  verkündet  würdet),  oder  daß  gar  die  Insssaen 
der  Strafanstalten  „in  jedem  Monat  einmal  durch  die  Hauptstraßen 
der  Stadt  oder  des  Orts,  wo  sie  gefangen  sitzen,  mit  einer  ihr  be- 
gangenes Verbrechen  bezeichnenden  Inschrift  geführt"  würden  "^j, 
oder  aber  auch  dadurch,  daß  die  „Gefängnisse  an  öffentlichen 
Plätzen  und  nur  mit  Gittern  vermacht  sein"  und  so  „allen  Vorüber- 
gehenden zum  Beispiel"  dienen  müßten.  Letzteres  haben  namentlich 
V.  Globig  und  Huster  in  ihrer  Preisschrift  in  Vorschlag  gebracht 3), 
nach  der,  beiläufig  bemerkt,  auch  die  Geldstrafen  „auf  öffent- 
lichem Platz  entrichtet  werden"  sollten.*)    In  einem  gewissen  Zu- 


Rccht  I,  Nr.  5);  ferner  v.  Roder,  Das  peinl.  Recht  I,  Kap.  XI,  §  15,  S  311; 
Gmelin,  Grundsatze,  §25,  S.57,  Nr.  5  (für  Verrichtung  öffentlicher  Arbeiten 
durch  die  Gefangenen  ^zu  gewissen  Zeiten  . . .  außer  ihrem  Gefängnishanse,  damit 
auch  andere  das  tibel  (der  Strafe)  einsehen  und  also  die  Strafe  einen  wirksa- 
men Eindruck  auf  andere  machen  könne^. 

1)  So:  Plitt  in  8.  Rep.  für  das  peinl.  Recht  I,  Vorrede,  S.  20— 21  (mit  bes. 
Beziehung  auf  Kindesmörderinnen),  S.  22(jjihrliche  Wiederholung  der  Ausstellung! ; 
vergl.  Gmelin,  a.  a.  0.  S.  57  (öffentliche  „Vorstellung**  vor  der  Abführung  in  die 
Strafan6talt);Klein8chrod,  System.  Entwickle- 1,  §28,  S.  58,  II,  §  32,  S.  78,  Xr.Ji, 
ebenso  (um  „dem  Mangel  an  zweckmäßiger  Publizität"  vorzubeugen);  Pflaum, 
P^ntwurf  I,  Abschn.  4,  §  47,  S.  42  (öffentliche  Ausstellung  bezw.  Züchtigung  der 
zum  Zuchthaus  Venirteilten);  s.  auch  Kloin,  Fragmente  S.  70  (für  vorhergehende 
öffentliche  Züchtigungen  auf  freiem  Platze  zur  Erhaltung  des  „exemplarischen 
Zweckes"  der  Strafe). 

2)  b?o  Quistorp,  Entwurf  I,  Absch,  1,  §  57,  S.  68, 

3)  V.  Globig  u.  Huster,  Abhdg.,  S.  75,  wiederholt  in  Teil  n,  S.  437  („das 
Gefängnis  muß  öffentlich  und  mit  Gittern  sein,  daß  ein  jeder  hineinsehen  kann'^i; 
Vgl  auch  Vier  Zugaben,  S.  104.  Übereinstimmend  Kl  eins  ehr  od,  Syst.  Entw.  III, 
§  28,  S.  58.  —  Gmelin,  Grunds.,  §25,  S.  57,  Nr.  5  wünschte,  „daß  der  Zugang 
(zu  d.  Strafanstalten)  jedermann  freigestellt  (und)  besonders  die  Jugend  manchmal 
(hinein)geführt"  werde.  Auch  Beccaria  hat  sich  in  einem  (zusammen  mitScotti 
u.  Risi  verfaßten)  Gutachten  über  die  Todesstrafe  vom  Jahre  1792(abgedr.  bei  Esse  1 - 
born,  Anh.  2,  S.  190  ff)  mit  dem  Mangel  der  „Publizitäf*  der  Freiheitsstrafen 
beschäftigt  u.  glaubte  diesem  bes.  dadurch  abhelfen  zu  können,  daß  man  statt 
einer  einzigen,  „in  einem  Winkel  der  Provinz"  gelegenen  Strafanstalt  solche 
„in  den  verschiedenen  Städten"  errichte,  „damit  die  Strafe  sich  vor  den  Augen 
des  Publikums  vollziehe"  (S.  198). 

4)  V.  Gl  obig  u.  Huster,  a.  a.  0.  II,  S.  437.  Kleinschrod,  Syst  Entw. 
in,  §  59,  S.  121,  Nr.  4  w^ollte  öffentliche  Bekanntmachung  der  gezahlten 
Geldstrafen. 


Die  Straf rechtsrefonn  im  Auf klärungszei taller.  167 

sammenhange  mit  dem  Grundsatze  der  ^Pablizität^'  der  Strafvoll- 
streckung stehen  auch  noch  zwei  andere,  damals  wiederholt  aufge- 
stellte Forderungen,  nämlich  einmal  die,  daß  die  Strafe,  wo  es  angehe, 
an  dem  Orte  des  begangenen  Verbre<5hens  vollzogen  werde*),  sodann 
auch  die,  daß  sie  möglichst  rasch  auf  die  Tat  folge.-)  Hiermit 
verfolgte  man  nämlich  in  erster  Linie  den  Zweck,  einem  unnötigen 
Mitleid  mit  dem  Delinquenten  vorzubeugen,  erst  in  zweiter  Linie 
allerdings  auch  den,  dem  Angeklagten  eine  längere  Ungewißheit  über 
sein  Schicksal  zu  ersparen  bezw.  dem  schon  Verurteilten  die  pein- 
volle Zeit  des  Wartens  auf  die  Exekution  der  Strafe  zu  verkürzen.^) 
Da  alle  von  den  Aufklärern  erwähnten  Einzelzwecke  der  Strafe 
stets  dem  Nutzen  der  Gesamtheit  als  dem  gemeinsamen  Oberzwecke 
dienen  sollten,  so  darf  die  Strafe  auch  niemals  härter  sein,  als  es  zur 
Erreichung  dieses  Zieles  eben  gerade  nötig  ist^)   Schon  daraus  folgt 


1)  Über  diesen,  auch  sebon  der  Praxis  des  älteren  Rechts  (vgl.  Günther, 
Wiedervgltg.  II,  S.  8,  Anm.  13)  entsprechenden  Grundsatz  s.  u.  a.  bes.:  Klein- 
schrod,  Syst.  Entw.  II,  §  30,  S.  72 ff  (wo  speziell  auf  den  Zusammenhang  mit 
dem  Abschreckungszwecke  hingewiesen).  Vgl.  auch  Klein,  Fragmente 
S.  70;  V.  Globig  u.  Hustcr,  Abhdg.,  II  S.  437;  Rössig,  „Vorerinnerung''  zu 
Hommels  Phil.  Ged.,  S.  XXVI,  Nr.  14. 

2)  Schon  Beccaria  meinte  (§  19,  S.  llS/19):  „Je  rascher  und  näher  die 
Strafe  auf  das  begangene  Verbrechen  folgt,  desto  gerechter  und  nützlicher  ist 
sie";  näher,  das.  S.  119/20  (vgl.  auch  §  13,  S.  98;  Günther,  Wieder  Vergeltung 
II,  S.  183  u.  Anm.  449».  Das  wurde  seitdem  herrschende  Meinung.  Vgl.  (über 
Tomaso  Natale)  Günther  i.  Archiv  f.  Strafr.  48,  S.  24  u.  Anm.  125;  von 
Franzosen  s.  bes.  Servan,  Discours  sur  V  administration  etc.  (Brissot,  Bibl. 
phil.  T.  II.),  p.  144,  146 ff.  (vgl.  Günther,  Wiedervgltg.  II,  S.  199,  Anm.  528), 
z.  Teil  abweichend  aber  Servin,  Über  die  pcinl.  Gesetzg.,  S.  56.  Von  Deutschen 
(vgl.  i.  allg.  m.  Wiedervgltg.  II,  S.  236,  Anm.  654)  s.  bes.  v.  Sonn enf eis, 
Grunds.  I,  §  354,  S.  436;  Zaupser,  Gedanken,  Abhdg.  3,  S.  77;  Michaelis, 
Mos.  Recht,  (2.  Aufl.)  VI,  Vorrede,  S.  107ff.;  Seegor  in  Plitts  Rep.  I,  S.  ISS, 
Anm.  s;  Klein,  Fragmente,  S.  42;  v.  JSodon,  Geist  1,  §72,  S.  118;  Beseke, 
Vereuch,  Kap.  VI,  Abschn.  5,  S.54tf.;  v.  Globigu-Huster,  Abhdg.,  S.  60,  61, 
Ziff.  5  u.  Teil  II,  S.  437;  v.  Dalberg,  Entw.,  S.  138f.;  Kleinschrod,  Syst. 
Entw.  IT,  §  33,  S.  79ff. 

3)  S.  darüber  ausdrucklich  z.  B.  Servin,  a.  a.  0.  S.  56  (^weil  man  dem 
Schuldigen  die  unnützen  Qualen  der  Ungewißheit  ersparen  muß");  Kleinschrod, 
a.  a.  0.  S.  79;  Beseke,  Versuch,  S.  54,  55;  Plitt  in  s.  Repertor.  I,  Vorrede,  S.  30. 

4)  S.  hierüber  i.  allg.  v.  Liszt,  Strafr.  Auff.  U,  S.  139,  der  diesen  Grund- 
satz als  die  „negative  Scite^  der  bekannten,  gleich  noch  näher  zu  erwähnenden 
Forderung  der  Proportionalität  zwischen  Verbrechen  und  Strafe  bezeichnet;  vgl.  v. 
Overbeck,  a.  a.  0.  S.  33.  Im  einzelnen  s.  noch  bes.  Beccaria,  §  2,  S.  70; 
Filangieri,  System  ly  (3,  2),  Kap.  27,  S.  19ff.;  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  350, 
S.  433,  §  352,  S.  436  (der  Gesetzgeber  hebt  sonst  „mit  Riesenkräften  einen  Stroh- 
halm aus  dem  Wege");  Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Von^de,  S,  50;  v.  Gl  ob  ig 


168  DL  GrsTHER 

also  die  Verwerfang  annötiger  Grausamkeiten  (^barbaries  inn- 
tiles'^jO*  die  außerdem  leicht  ein  übel  angebrachtes  Mitleid  mit  den 
Verbrechern  erregen  könnten -j  nnd  endlich  ancb  noch  der  Huma- 
nität widersprechen.  Mit  Absehen  blickt  man  jetzt  anf  die  harten 
Strafen  der  Carolina,  fiber  die  —  nnter  Tölliger  Verkennnng  ihrer 
historischen  Bedeutung  —  als  ein  Produkt  gesetzgebmscher  Unfihig- 
keit   zu    räsonnieren    zum  Modeton   gehört')    Daß  die  Barbareien 

n.  Hnster,  Abhd^.  S.  59  Vezin,  Das  peiii]idie  Halsredit«  &  105  (Adid.  12); 
Wieland,  GeisL  I,  {  294,  S.  39S:  v.  Dalberg,  Entw^  S.  116,  137;  Klein- 
scbrod,  Syst.  Entw.  I,  {  35,  S.  S3  84. 

1)  S.  da^ei^en  n.  a.  schoa  Montesqaien  (Esprit  des  lois,  L.  VI.,  eh.  12, 
p.73),  Voltaire,  (Prix  de  la  justice,  Art.  XXVIII  [s.  Günther,  Wiedervgltg.il, 
S.  166/67,  Anm.  376])  n.  andere  Fnuizosen  (s.  Gfinther,  Wiedervgltg.  IL  S.  199, 
Anm.  530  o.  G.-S.  61,  S.  212ff.,  213  a.  Anm.  2);  femer  Beccaria,  S  2,  S.  7U 
§  15,  S.  102ff.,  §  16,  S.  105.  Filangieri,  System.  IV  (3,  2),  Kap.  30,  S.  58, 
Michaelis,  Mos  Recht  VI,  Vorrede,  S.51,  Bommel,  Phil.  Ged,  §  14,  S.  31, 
§  S7,  S.  166fr.,  Übers,  v.  Beccaria,  S.  232,  Anm.  f.  sowie  überhaupt  fast  alle 
späteren  deutschen  Anfklirongsachriftateller  (s.  Günther,  Wiedervgltg.  II 
S.  236  n.  Anm.  653) ;  vgl.  andi  schon  oben  S.  165,  Anm.  1  sowie  die  folgende 
Anmerkung.  Monographien  darüber  lieferten  Seeger,  Sind  scharfe  Gesetze  einem 
Staate  vortrSglich  ?,  in  Pütts  Rep.  1,  S.  154 ff.  u.  Eymar,  De  nnfincnce  de  la 
tH*v^rit6  des  peines  sur  les  crimes  (Diss.  qui  a  rempli  le  prix  au  jugemmt  de 
l'acad^mie  de  Marseille),  17S9. 

2)  Dies  betonen  z.  B.  ausdrücklich:  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  353, 
S.437ff.  u.  $375,  S.  463;  Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  54;  Quistorp, 
Entw.,  Vorrede,  S.  5;  Besehe,  Versuch,  §  87,  Nr.  5;  Gmelin,  Grunds.,  $  23, 
S.  50;  V.  Eberstein,  Entw.,  Vorrede  S.  7;  Klcinschrod,  Syst  Entw.  II, 
§  35.  8.  S4;  Bergk,  Übersetzg.  I,  Vorrede  S.  XXII  u.  II,  S.  79,  Anm.*: 
Filangieri,  a.  a.  0.  S.  53;  Servin,  Über  d.  p.  Gesetzgbg.,  S.  70.  Vgl.  auch 
Plitt  in  8.  Repertor  I,  Vorrede,  S,  31;  v.  Dalberg,  Ariston,  ebd.  1,  S.  30,  31; 
Seeger,  ebd.  S.  190.  Daß  infolge  des  Mitleids  mit  dem  Täter  sogar  vollige 
Straflo8igkeit(  „Impnnität**)  bewirkt  (also  die  gerade  entgegengesetzte  Wirkung 
des  Gesetzes  hervorgerufen)  werden  könne,  ist  seit  Beccaria  (§  15,  S.  105)  eben- 
falls öfter  (namentlich  auch  gelegentlich  der  Besprechung  der  früheren  harten 
Strafen  des  Hausdiebstahls)  bemerkt  worden;  so  u.  a.  von  Voltaire.  Com- 
mentaire,  §  18  (BIbl.  phil.  T.  I,  p.  250/51),  Prix  de  la  justice,  Art  II  (Bibl., 
phil.  T.  V,  p.  11),  Servan,  Discours  sur  radministration  etc.  (Bibl.  phil.  T.  II), 
p.  200,  Filangieri,  System  IV  (3,  2),  Kp.  54,  S.  650,  Marat  (s.  G.-S.  61, 
S.  212,  Nr.  3),  Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  92,  Gmelin,  Grundsätze, 
§  9S,  S.  199,  Seeger  in  Pütts  Rep.  I,  S.  197. 

3)  S.  darüber  schon  v.  Grolman,  Grunds.  (1.  Aufl.),  Vorrede,  S.  V  u.  näheres 
bei  Löning,  in  d.  Z.  f.  d.  ges.  8tr.-W.,  Bd.  3,  S.  240  u.  274/75.  Vgl.  auch  Böhmer, 
Handb  ,  S.  113  (über  Bommel).  Übrigens  war  auch  schon  die  der  AufkUbrongs- 
zcit  vorhergehende  Generation  (Leyser,  Böhmer)  der  Carolina  bekanntlich 
wenig  günstig  gesinnt  gewesen;  s.  darüber  Mal  blank,  Gesch  der  P.  G.-O..  Kap.  9, 
§  57,  S.  253 ff.  vbd.  mit  §  47,  S.  224 ff.;  Landsberg,  Gesch.  III 1,  S.  »02.  Dagegen 
haben  allerdings  v.  Globig  n.  Hu  st  er,  Abhdg.,  S.  264  (u.  ebenso  Rössig,  zu 


Die  Strafrechtsroform  im  Aufklärungszcitalter.  169 

früherer  Zeiten  nicht  einmal  den  Abschreckungszweck  erfüllt  haben, 
wird  von  den  meisten  für  ausgemacht  gehalten,  denn  dafür  habe 
schon  die  abschwächende  Kraft  der  Gewohnheit  gesorgt.  ,,Je  grau- 
samer die  Strafen  sind,^  lehrt  z.  B.  schon  Beccaria,  ,,desto  mehr 
verhärten  sich  die  Gemüter  der  Menschen  . . .  .^,  so  ^daß  nach  hun- 
dertjähriger Anwendung  grausamer  Strafen  das  Rädern  nicht  ab- 
schreckender wirkt  als  zuerst  das  Gefängnis^.  0  Dagegen  können 
auch  mildere  Strafen  verbrechen  verhütende  Kraft  erlangen,  wenn 
sich  mit  absoluter  Gewißheit  auf  ihre  Vollziehung  rechnen  läßt-), 
so  daß  „die  Strafe  dem  Verbrechen  ebenso  unfehlbar"  folgt  „wie  der 
Schatten  dem  Körper''  (Servin),  und  „das  Schwert  der  Gerechtig- 
keit unerbittlich  alle  Verbrecher  trifft"  (Kl  ein  sehr  od).  5)  Mit  dieser 
Forderung,  die  ja  auch  dem  Ausschlüsse  des  richterlichen  Ermessens 
entspricht,  muß  dann  freilich  sowohl  die  Kriminalverjährung  als 
namentlich  auch  das  Begnadigungsrecht  (nicht  nur  des  Richters, 
sondern  auch  des  Landesherrn)  eigentlich  ganz  in  Wegfall  kommen, 
und  beide  Konsequenzen  sind  denn  damals  auch  von  einer  Reihe 
sonst  human  denkender  Schriftsteller  gezogen  worden.  4)    Während 


Hommels  Phil.  Ged.,  S.  25,  Anm.  *)  den  Verfasser  der  C.  C.  C.  als  den  „Bcccaria 
seiner  Zeit"  bezeichnet  (vgl  auch  Malblank,  a.  a.  0.  §  61,  S.  272ff.). 

1)  Beccaria,  §  15,  S.  104;  vgl.  Günther,  Wiedervgltg.  II,  S.  181/182, 
Anm.  444;  Maillard,  £tude  histor.,  p.  82.  Übereinstimmend  i.  wes.  auch  Montes- 
quieu (s.  Esselborn,  a.  a.  0.  S.  104,  Anm.  *;  vfcl.  auch  oben  8.  168,  Anm.  1); 
ferner  Tomaso  Natale  (s.  Archiv,  f.  Strafrecht  48,  S.  22,  23);  Filangieri, 
System  IV  (3,  2,)  Kap.  30,  S.  50/51;  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  9,  10;  Beseke, 
Versuch,  8.  30  u.  40,  41;  v.  Globig  u.  Hu  st  er,  Vier  Zugaben,  S.  29;  Vezin, 
Das  peinliche  Halsrecht,  S.  41,  100,  101,  111  ff.  (Anm.  12);  Pütt  in  s.  Rep.  1, 
Vorrede,  S.  22;  v.  Dalberg,  Entw.,  S.  115,  116  u.  a.  m.  A.  M.  jedoch  Diderot 
in  s.  Noten  zu  Beccaria  (Oeuvres  T.  V,  p.  66,  67). 

2)  S.  Beccaria,  §  20  („Gewißheit  und  Unausbleiblichkeit  der  Strafen''  usw.), 
S.  121  ff.:  „Eines  der  wirksamsten  Mittel,  die  Verbrechen  einzuschränken,  ist 
nicht  die  Grausamkeit,  sondern  die  Unausbleiblichkeit  der  Strafen''  (S.  121). 
Vgl.  Günther,  Wiedervgltg.  U,  S.  182  u.  Anm.  446/7;  Maillard,  a.  a.  0.  p.  32. 
Ebenso  fidereinstimmend :  v.  Sonnenfels,  Grds.  I,  §354,  S.  437ff.,  Michaelis, 
Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  45  und  die  meisten  späteren  französischen  und 
deutschen  Aufklärungsschriftstelier;  vgl.  näh.  bei  Günther,  Wiedervgltg.  II, 
S.  199,  Anm.  530,  S.  236,  Anm.  653. 

3)  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg ,  S.  31;  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  II» 
§  34,  S.  82. 

4)  Vgl.  betr.  die  Verjährung  im  allgem.  Geib,  Lehrb.  II,  S.  136;  v.  Liszt, 
Lehrb.,  §  77,  S.  293;  H.  Meyer- Allfeld,  Lehrb.,  §  45,  S.  263,  Anm.  12. 
Während  Beccaria,  §  17,  S.  96 ff.  noch  gemäßigter  war  und  namentlich  für 
leichtere  Fälle  die  Kriminalverjährung  (u.  a.  auch  wegen  der  Möglichkeit  der 
Besserung  des  Schuldigen)  noch  zugelassen  hatte,  wollte  namentlich  Servin,  Über 


170  IX.  Günther 

z.  B.  noch  Montesquieu  das  BegDadig:ungsrecht  als  ^eine  große 
Triebfeder  gemäßigter  Regierungen''  gepriesen,  die  „bei  kluger  An- 
wendung wunderbare  Wirkungen  hervorrufen''  könne  0»  und  auch 
RousseaUfVoltaireunddieEncyklopädistensich  prinzipiell  noch 
für  die  Handhabung  des  landesherrlichen  Gnadenrechts  als  eines 
geeigneten  Mittels  zur  Ausgleichung  etwaiger  Härten  des  Gesetzes, 
ja  als  des  „schönsten  Attributes  der  Souveränität"  (Encykl.,  Art. 
„Grace")  ausgesprochen  hatten*^),  tritt  mit  Beccaria  ein  Umschwung 
der  Ansichten  hierüber  ein^),  der  seine  schroffste  Gestalt  wohl  in  den 
leidenschaftlichen  Angriffen  des  Italieners  Filangieri  gegen  die 
(denkbaren)  Mißbrauche  des  Begnadigungsrechts  gefunden  hat^),    zu 

die  peinl.  Gesetzgbg..  S.  31,  Ul,  123ff,  130ff  jede  Verjährung  grandsätzlicb  völlig 
ausschließen.  Ebenso  Claproth,  Entwurf  I,  Hauptst.  1,  §  24,  S.  18,  Bcscke, 
Versuch,  S.  93.  Nr.  20  u.  i.  wes.  auch  Kleinschrod,  Syst  Entw.  II,  §  34. 
S.  82,  Nr.  2  (völlige  Aufhebung  oder  doch  möglichst  enge  Begrenzung).  —  Die 
Verteidiger  der  Verjährung  stötzten  sich  meist  geradezu  auf  eine  Art  Prä- 
sumtion der  Besserung  des  Täters,  so  bes.  v.  Globig  u.  Huster,  Abhg.,  S.  151  ff. 
und  Hommel,  Übers.,  S.  157,  Anm.  g;  vgl.  auch  Rathlef,  Vom  Geiste,  »S.  142, 
Gmelin,  Grunds.,  §  265,  S.  436ff.  u.  v.  Dalberg,  Entw.,  S.  179,  Ziff.  2  u.  3; 
dagegen  aber:  Kleinschrod,  a.  a.O.  II,  §  102,  S.  268  und  v.  Globig  u.  Huster, 
Vier  Zugaben,  S  272 ff.  u.  2S3.  —  Über  die  Bekämpfung  der  Begnadigung 
s.  i.  allg.  Geib,  Lehrb.  II,  S.  152/3;  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  75,  S.  2S8;  Sternberg, 
Die  Begnadigung  bei  den  Naturrechtslehrem,  in  d.  Z.  f.  vgl.  R.-W.  13  (1899), 
(S.  321  ff.),  bes.  S.  399ff.;  über  Einzelheiten  s.  d.  Text  und  die  folgenden  Anmkgn. 
II  Über  Montesquieu,  Esprit  des  lois,  Livrc  VI,  chap.  16,  p.  79  und  chap. 
21,  p.  81ff.  (,,De  la  clömence  du  prince")  s.  Geib,  a.  a.  0.  11,  S.  154,  Stern- 
berg, a.  a.  0.  S.  399,  400;    Esselborn,  Übers.,  S.  122,  Anm.*. 

2)  Über  Rousseau  (Contrat  social,  II,  5)  s.  Stornberg,  a.  a.  ().,  S.401, 
Esselborn,  a.  a.  0.  S  122,  Anm.*;  über  Voltaire:  Hertz,  Voltaire,  S.  459; 
über dieEnzyklopädistcnu. bes.  de  Jaucourt;  v.  Overbeck,a.  a.O.,S.  36 ff., 
39—43.  —  Zur  Erklärung  dieser,  (im  Vergleich  zu  den  Italienern)  weniger 
schroffen  Stellung  der  (älteren)  Franzosen  zur  Begnadigung  s.  das  nähere  bei 
Sternberg,  a.  a.  0.,  S.  40lff. 

3)  Beccaria,  §  20,  S.  122:  „.Je  milder  die  Strafen  werden,  desto  weniger 
notwendig  sind  Begnadigung  und  Verzeihung.  Die  Gnade  also  .  ..  sollte  bei 
einer  vollkommenen  Gesetzgebung,  bei  der  die  Strafen  milde  und  das  Gerichts- 
verfahren geregelt  ist,  ausgeschlossen  sein."  Näheres  noch  S.  122,  123  und 
§21,  S.  123  ff.  (gegen  „tVeistätten"  für  Verbrecher)  u.  dazu  Sternberg,  a.a.O.. 
S.  402,  403;  vgl.  auch  Günther  im  Archiv  für  Strafr.  48,  S.  26,  Anm.  129, 
Birkmeyer,  ebd.  ö.  98,  Anm.  88  a.  E.,  v.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  120; 
Esselborn,  a.  a.  0.  S.  122,  Anm*;  s.  auch  oben  S.  134,  Anm.  1. 

4)  S.  Filangieri,  System  IV  (3,2),  Kap.  57,  S.  7l2ff.  («Von  der  Straflosig- 
keit-), bes.  S.  715ff.,  718ff.,  721/22  (gegen  .Freistätten-);  s.  auch  schon  oben  S.  134, 
Anm.  1;  Sternberg,  a.  a.O.  S. 402,  403 ff.  u.  Anm. 215;  vgl.  auch  noch  Kohler, 
Shakespeare  vor  dem  Forum  der  Jurisprudenz,  Würzb.  18S4,  S.  109,  Anm.  1,  110, 
Anm.  1.  Über  Tomaso  Natalc  (bes.  als  Gegner  der  , Freistätten'*)  s.  Günther 


Die  Strafrechtsreform  im  AufklSrungpszeitaltcr.  171 

dem  sich  aber  auch  in  Deutschland  manche  Schriftsteller  bekannt 
haben,  wie  vor  allem  v.  Globig  und  Huster  in  ihrer  preisge- 
krönten Abhandlung  0- 

Auch  die  milden,  das  Staatswohl  befördernden  Strafen  müssen 
nun  aber  stets  gerecht  sein,  und  sie  sind  dies  dann,  wenn  sie  zu 
den  Verbrechen  in  einem  richtigen  Verhältnisse  oder  Ebenmaße 
(„Proportion,  Proportionalität^,  juste  proportion")  stehen,  so  daß,  wie 
Friedrich  der  Große  es  einmal  umschrieben  hat,  „eines  mit  dem 
anderen  balanciert"  ^);  insbesondere  muß  man  dahin  streben,  die 
Strafen  der  „Natur''  oder  dem  „Geiste"  der  Delikte  anzupassen. 
Dieser  vielgepriesene  Satz,  der  schon  von  Montesquieu  geradezu  als 


i.  Archiv  f.  Strafr.  48,  S.  26  u.  Anm.  130.  Von  den  späteren  Franzosen  sind  u.  a. 
(9.  Hertz,  Voltaire,  S.  459  u.  Anm.  3  über  Bernardi  u.  Pastoret)  als  Gegner 
der  Begnadigung  bes.  zu  nennen:  Servin,  über  d.  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  31  u.  r25ff. 
und  Brissot  de  Warville,  Theorie I»  p.  200 ff .  (,Jä  oii  la  i^gislation  est  bonne. 
les  graces  ne  sont  que  des  erimes  contre  la  loi'')?  Observations  sur  la  trait^  des 
delit  set  des  peines  (bei  Brissot,  Bibl.  pbil.  T.  I),  p.  SOS  ff.;  s.  auch  Marat, 
Plan  de  l^gisl.  er.,  p.  ISO,  179,  252  (auch  gegen  Freistätten;  vgl.  Günther  im 
G.-S.  61,  S.  212,  213,  227,  Anm.  2). 

1)  S.  i.  all^.  Sternberg,  a.  a.  0.,  S.  405  ff.  Herzubeben  i.  einzelnen  bes. 
noch  (außer  v.  Globig  und  Huster,  Abhdlg.,  S.  157ff  ):  v.  Sonnenfels, 
Grunds.  I,  §  354,  S.  438,  Beseke,  Versuch,  Kap.  8,  Abschn.  1,  S.  87,  88  unter 
Nr.  9  und  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  II,  §  34,  S.  81,  Nr.  4  u.  §  108ff., 
S.  280 ff.;  übereinstimmend  im  wes.  auch  Zaupser,  Gedanken,  Abhdlg.  S.  S.  85 ff. 
u.  Abhdlg.  4  (,.Von  den  Asylen  oder  Freiungen")^  S.  91  ff.;  Michaelis,  Mos. 
Recht  VI,  Vorrede,  S.  18fif.,  45ff.;  Gmelin,  Qrunds.,  §  55,  S.  118ff.  u.  §266, 
S.  437,  vgl.  auch  §  263,  S.  434  (gegen  Freistätten).  —  Noch  Kant  bezeichnete 
in  seinen  „Metaphysischen  Anfangsgründen  der  Rechtslehre'^  (2.  Aufl.,  Konigsb. 
1798,  S.  236)  das  Begnadigungsrecht  als  „das  schlüpfrigste"  unter  allen 
Rechten  des  Souveräns,  „um  den  Glanz  seiner  Hoheit  zu  beweisen  und  dadurch 
doch  in  hohem  Grade  unrecht  zu  tun."  Ge^en  d.  volligeVei-werfung  des  Be- 
gnadigungsrechts u.a.  aber  Seeger  i.  Plitts  Rep.  I.  S.  190/91;  Rathlef,  Vom 
Geist,  S.  143/44;  Hommel,  Vorrede  zur  Übers.  Beccarias,  S.  XXIV  u.  Phil.  Ge- 
danken, §  54,  S.  110,  §  57,  S.  118ff.;  Gr^aebe,  Über  d.  Reformation  usw.,  S.  44. 
—  Über  Gegner  der  Begnadigung  in  der  Neuzeit  s.  H.  Meyer-Allfeld,  Lehrb., 
§  46,  S.  273,  Anm.  14  a.  E. 

2)  S.  darüber  Stölzel,  Suarez,  ein  Zeitbild  aus  der  2.  Hälfte  d.  18.  Jahrb., 
Berlin  18S5,  S.  240,  241  u.  Willenbücher,  a.  a.  0.,  S.  21.  Über  die  Forderung 
der  Proportionalität  zwischen  Verbrechen  und  Strafen  in  Friedrichs  des 
Großen  „Dissertation'*  (Oeuvres  T.  IX,  p.  26)  s.  u.  a.  Günther,  Wiedervgltg.  II, 
S.  176,  Anm.  418  (u.  die  das.  Angeführten),  v.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  II,  S.  139, 
Willenbücher,  a.a.O.  S.  19  u.  Anm.  1  u.  Berolzheimer,  System  V,  S.  222/23, 
Anm.  54,  wo  noch  eine  Stelle  aus  Friedrichs  Briefwechsel  mit  Voltaire 
(Oeuvres  T.  XXIIl,  p.  103)  angeführt  ist. 


172  IX.  GCnther 

^der  Triumph  der  Freiheit^  bezeicbnet^O  von  Voltaire  als  das 
erste  Axiom  der  Straf rechtspflege^  anerkannt  worden  ^)  und  der  auch 
^die  Quintessenz  des  Beccariaschen  Buches^  bildet 3),  ist  Gemein- 
gut sämtlicher  Aufklärungsschriftsteller  geworden.  4)  Nun  unterliegt 
es  zwar  keinem  Zweifel^  daß  man  damit  zunächst  nur  dem  alten 
unzweckmäßigen,  harten  und  grausamen  Strafensystem,  namentlich 
der  allzu  häufigen,  aus  der  Geringschätzung  des  menschlichen  Lebens 
hervorgegangenen  Anwendung  der  Todesstrafe  (selbst  für  so  unbe- 
deutende Delikte  wie  z.  B.  Hausdiebstähle)  den  Krieg  erklären 
wollte^),   und  das  tritt  auch  ganz  unzweideutig  zutage,   wenn  etwa 

1)  Montesquieu,  Esprit  des  lois,  Livre  XU,  chap.  4,  p.  156:  «C'est  le 
triomplc  de  ia  libert^,  lorsque  les  lois  crimiDelle»  tireut  chaque  peine  de  la  nature 
particuli^re  du  crime.  Tout  l'arbitraire  cesse;  la  peine  ne  descend  point  du  caprice 
du  legislateur,  mais  de  la  nature  de  la  chose ;  et  ce  n'est  point  Thomme  qui  fait 
violenco  ä  Fhomme.**  S.  dazu  (sowie  auch  über  die  fast  wörtliche  Aufnahme  der 
Stelle  in  die  Instruktion  Katharinas  II  von  Rußland  v.  1767  für  die  Kom- 
mission zur  Ausarbeitung  eines  neuen  Gesetzbuchs:  Gfinther,  Wiedervgltg.  II, 
S.  169,  170  u.  Anm.  3S7;  vgl.  auch  Rieh.  Schmidt,  Die  Aufgaben  der  Straf- 
rechtspflege, Leipzig  1895,  S.  248/49.  Fast  ganz  gleichlautend  mit  Montesquieu 
auch  Marat,  Plan  etc.,  p.  133  (s.  6.-S.  61,  S  220/21  und  Anm.  5);  im  engen 
Anschlüsse  daran  femer  Bernardi,  Discours  (Brissot,  Bibl.  phiLT.  VIII),  p.  66 ff. 

2)  Voltaire,  £loge  histor.  de  la  raison:  „Les  petites  fantee  ne  seront 
point  punies  comme  les  grands  crimes,  parce  qu'il  fautde  la  proportion  ä 
tout;  . . .  ce  devrait  etre  le  premier  axiome  de  la  justicecriminelle'* 
(zitiert  bei  Masmontcil,  La  legisl.  crim,  p.  257,  25S).  Weitere  ähnliche  Stellen 
aus  Voltaires  Schriften  bei  Günther,  Wiedervgltg.  II,  S.  174,  Anm  406-40S; 
vgl.  Masmonteil,  a.  a.  0.,  p.  248/49,  258;  Berolzheimer,  System  V,  S.  222 
n.  Anm.  45. 

3)  So:  Wil  lenbücher,  a.  a.  0.  S.  18.  Über  Beccaria  (bes.  §  19, 
S.  120,  121  u.  §  23,  S.  126  ff.  („Verhältnis  zwischen  Verbrechen  und  Strafen**) 
s.  näh.  bei  Günther,  Wiedervgltg.  II,  S.  183  u.  Anm.  450,  S.  184  u.  Anm.  453; 
vgl.  Maillard,  £mde  histor.,  p.  37 ff, 

4)  Vgl.  darüber  i.  allg.  M  a  1  b  1  a  n  k ,  Gesch.  der  P.  G.-O.,  §60,  S.  268/69,  Nr.  7^ 
Kleinschrod,  Syst.  Entw.,  II,  §  21,  S.  4  und  von  Neueren  Hälschner, 
Gesch.  d.  brand.-preuB.  Strafr.,  8.  171,  Hertz,  Voltaire,  S.  135,  Masmonteil, 
a.a.O.,  p. 257 ff.,  Richard  Schmidt,  Aufgaben,  S.  21,  111,  248ff.,  v.  Liszt, 
Strafr.  Aufs,  n,  S.  379 :  („Zu  den  ständigen  Forderungen,  die  bei  allen  Schrift- 
stellern dieser  Zeit  wiederkehren,  gehört  die  „Proportionalität  zwischen  Verbrechen 
und  Sti-afen").  Über  Einzelheiten  s.  noch  Günther,  Wiedervgltg.  II, 
S.  168ff.  u.  Anm.  381,  8.  188  u.  Anm.  475,  S.  202  n.  203 ff..  Anm.  538,  S.  220/21 
u.  Anm.-597,  S.  242 ff.  u.  Anm.  666 ff.,  S.  247 ff.;  zu  vgl.  auch  Archiv  f.  Strafr.  48, 
S.  22  u.  Anm.  118  u.  G.-S.  61,  S.  210  n.  Anm.  3,  S.  211  u.  Anm.  2;  s.  auch 
noch  unten  S.  174,  Anm.  1. 

5)  S.  darüber  Hertz,  Voltaire,  S.  135  u.  430  ff;  G  ü  n  t  h  e  r,  Wiedervgltg.  II, 
S.  168  u.  Anm.  381  S.  183  u.  Anm.  452,  S.  203  u.  Anm.  539;  Arch.  f.  SU-afr. 
48,  S.  21  u.  Anm.  115/16;  G.-S.  61,  S.  211  u.  Anm.  1;  v.  Liszt,  Strafr.  Auf 8. II, 
S.  379;  vgl.  auch  noch  Rieh    Schmidt,  Aufgaben,  S.  21. 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  173 

Voltaire  bemerkt,  daß  keine  Verhältnismäßigkeit  bestehe  ^zwischen 
einem  Dutzend  (gestohlener)  Servietten  und  dem  Leben^  eines  Men- 
schen i),  wenn  Beccaria  es  tadelt,  ^daß  die  Todesstrafe  in  gleicher 
Weise  den^  treffe,  „der  einen  Fasan  tötet,  wie  den,  der  einen  Menschen 
umbringt^ '^),  oder  wenn  Hommel  sich  dagegen  empört,  daß  man 
^das  Leben  eines  Menschen  und  das  eines  Windhundes^'  gleich  achte.  ^) 
Andererseits  läßt  sich  aber  wohl  nicht  verkennen,  daß  durch  dieses, 
an  und  für  sich  doch  recht  dehnbare  Dogma  zugleich  auch  die  prin- 
zipiell verworfene  Vergeltungsidee  gar  leicht  sozusagen  durch  eine 
Hintertür  wieder  einschlüpfen  konnte  ^),  zumal  ihr  auch  die  fast  allei- 
nige Betonung  des  äußeren  Erfolgs  der  Tat  für  die  Strafausmessung 
dabei  unterstützend  zur  Seite  stehen  mußte.  ^)  Diesem  Verhängnis 
sind  denn  auch  recht  viele  Schriftsteller,  wenngleich  teils  mehr  un- 
bewußt, ja  teils  selbst  wider  Willen,  nicht  entgangen.^)  So  enthält 
schon  die  mehr  spezialisierte  Forderung,  daß  die  Strafe  den  Trieb- 
federn (Beweggründen),  Neigungen  od.  Leidenschaften,  kurz  den 


1)  Voltaire,  Dict  philos.  Art. „Supplices",  aect.  3,  T.XIII,  p.  32  („quil 
n'y  a  nulle  proportion  entre  douce  serviettcs  et  la  vie*') ;  vgl.  Günther, 
Wiedervgltg.  II,  S.  168,  Anm.  382 ;  Rieh.  Schmidt,  a.  a.  0.,  b.  249.  Der 
Ausspruch  nimmt  übrigens  Bezug  auf  einen  tatsächlich  vorgekommenen  Fall 
(Hinrichtung  der  Antoinette Toutan  zu  Lyon  im  Jahre  1772);  s  Masmonteil, 
a.  a.  0.  p.  235  u.  248  u.  Anm.  2.  Ebd.  S.  257  u.  25S  sind  auch  noch  ähn- 
liche AusspriicHo  Voltaires  angefühlt. 

2)  Beccaria,  5  23,  S.  127;   vgl.  Günther  i.  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  26, 

3)  Hommel,  Philos.  Ged.,  §  35,  8.  66  u.  Vorrede  zur  Cbers.  Beccarias, 
S.  XVII.  Ahnliche  Bemerkungen  auch  bei  Zaupser,  Gedanken,  Abhdg.  2. 
S.  64,  Tomaso  Natale  (s.  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  26)  n.  Marat,  Plan  etc. 
p.  154  (9.  G.-S.  61,  S.  236/37). 

4)  Über  die  Verwandtschaft  des  Grundsatzes  mit  der  Vergeltungsidee  (Talion) 
8.  von  den  deutschen  Aufklärungsschriftstellem  bes.  Gmelin,  Grunds.  I,  §21, 
S.  45u.  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  U,  §  21,  S.  52  vbd.  mit  §  24,  S.  57 ff. 
u.  111,  §  16,  S.  27,  Anm.  k.  Näh.  noch  bei  Günther,  Wiedervgltg.  II,  S.  168, 
169,  Anm.  384/85,  S.  204.  205  ff,  Anm.  541,  S.  24.8, 244  u.  Anm.  669,  III  1,  S.  79, 
Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  21  u.  Anm.  11 3 ff.  u.  G.-S.  61,  S.  221  u.  Anm.  1.  Vgl. Merkel, 
Vergeltungsidee,  S.  6 :  „Jetzt  finden  wohl  die  meisten,  daß  man  sich,  so  lange 
man  das  Verbrechen  oder  den  Geist  desselben  zum  Maßstab  der  Strafe 
nimmt,  auf  dem  Grunde  des  Vergeltungsgedankens  bewegt.''  Anderer 
Meinung  dagegen  bes.  v.  Liszt,  btrafr.  Aufs.  II,  S.  379/80 ff.,  nur  zum  Teil 
auch  Klch  Schmidt,  Aufgaben  der  Straf rechtspf lege  S.  21  vbd.  mit  S.  111.- 
u.  Anm. 2,  S. 306  n.  Anm.  2  (und  dazu  Günther,  Wiedervgltg.  III  1.  S.  511, 
Anm.  829). 

5)  Vgl.  Frank,  Die  Wolffsche  Straf  rechtsphilos.,  S.  67;Günther, 
Wiedervgltg.  II,  S.  168;  s.  auch  oben  S.  154,  Anm.  2. 

6)  S.  im  allgem.  Rieh.  Schmidt,  Aufgaben,  S.  240  u.  die  näheren 
Belege  in  meiner  Wiedervgltg.  U,  S.  16S  ff.,  169,  Anm.  384, 173  ff ,  183  ff.,  188  ff.. 


174  IX.  Günther 

„Urquellen"  (v.Dalberg)  entgegenwirken  müsse  0»  ohne  Zweifel  eine 
gewisse  Hinneigung  zum  Vergeltungsgedanken,  was  denn  auch  bei 
der  (noch  näher  zu  erwähnenden)  Anwendung  auf  die  einzelnen  Fälle 
bei  den  meisten  —  bald  mehr,  bald  weniger  deutlich  —  hervortritt. 
Wenn  vollends  gar  Montesquieu  meinte,  auch  die  Todesstrafe 
für  Tötungen  fließe  aus  der  Natur  dieser  Verbrechen^),  so  darf  man 
das  mit  ihm  selber  wohl  geradezu  als  eine  „espöce  de  talion"^  be- 
zeichnen. ^)  Wenigstens  erscheint  es  viel  konsequenter,  als  in  einem 
auf  der  genauen  Wiedervergeltung  aufgebauten  Strafrechte  die  Todes- 
strafe für  den  Mord   nicht  zuzulassen,   wie  dies  v.  Gl  ob  ig   und 


190  ff.,  202  ff.,    204/5  u.  Anm.  541,  207/8  u.  Anm.  551  u.  553/4,  227,    Anna.  620, 
242  ff,  248  ff.,  253  ff.,  261  ff. 

1)  Belege  auch  für  diese  speziellere,  bes.  seit  Beccaria  oft  wiederholte 
Forderung  bei  Günther,  Wicdervgltg.  II,  b.  168 ff.,  1S4,  188/S9,  Anm.  476, 
203/4  u  Anm.  540,  220u.Aum.597,  221,  u.Anm.600,  222  u.Anra.  603,  226,  Anm. 
617,  618  u.  besondera  S.  242  ff.,  Anm.  667  u.  668;  vgl.  auch  noch  Arch.  für 
Strafr.  48,  S.  21  u.  G.-S.  61,  S.  210,  Anm.  2  u.  3,  S.  220  u.  Anm.  1—3.  Über 
den  Zusammenhang  dieser  Forderung  mit  der  Theorie  des  sog.  psychologischen 
Zwangs  (oben  S.  163,  Anm.  1)  s.  m.  Wiedervgltg.  II,  S.  244,  Anm.  668.  Über  Be- 
denken und  Einwände  gegen  die  a  11  g  e  m  e  i  n  e  Brauchbarkeit  derselben  (bes. 
von  W i e  1  a n d ,  dann  auch  von  Gmelin,  Kleinschrod,  v.  Grolman 
u.  a.  m.)  s.  ebd.  S.  245  ff.,  Anm.  670  ff.;  vgl.  auch  S.  246/47,  Anm.  676/77  (über 
Schall  u.  Stichler). 

2)  Dafür  auch  noch  andere  Franzosen  (so  bes.  der  Verf.  der  Observations  sur  Ic 
traite  des  delits  et  des  peines,  iBibl.  phiLT.l]  p.  271 ;  vgl.  Günther,  Wiedervgltg.  II 
S.  208y  Anm.  555)  u.  deutsche  Aufkiarungsschriftst eller,  wie  bes.  z.  B.  Zaupser  u. 
v.  Soden,  dann  auch  Gmelin  u.  KIeii*nschrod  (s.  m.  Wiedci-vgltg.  II,  S.  223,  Anm. 
606,  S.  247,  Anm,  678;  vgl.  auch  noch  S.  239,40,  Anm.  662|,  während  andere 
sich  dagegen  erklärten.  S.  m.  Wiedervgltg.  II,  S.  209,  Anm.  559  (betr.  d.  Fran- 
zosen) u.  bes.  S.  240,  Anm.  674—676,  (über  Viktor  Barkhansen  [in  Plitts 
Rep.,  Bd.  I,  ö.  30  2 ff.  u.  bes.  S.  407 ff.]  und  dessen  Kontroverse  mit  J.  E.  F. 
Schall  [Von  Verbrechen  und  fctrafen  usw.,  Leipzig  1779,  „Anbang**,  S.  97 ff., 
bes.  S.  131  ff.].) 

3)  Montesquieu,  Esprit  des lois,  Livre XIII.,  chap  4,  p.  158:  ,.C*est  une 
espece  de  talion  qui  fait  que  la  soci^te  refuse  la  sürete  ä  un  citoyen  qui  en  a 
prive  .  .  .  un  autre.  Cette  peine  est  tir6e  de  la  nature  de  la  chose.  Un  citoyeu 
m^rite  la  mort,  lorsqu'il  a  viele  la  surete  au  point  qu'il  a  ötc  la  vie  .  .  .  Cette 
peine  de  mort  est  comme  le  remöde  de  la  soci^tä  malade*^.  Vgl.  Günther, 
Wiedervergltg.  II,  S.  169,  Anm.  385  u.  S.  172,  Anm.  397—399  (das.  auch  über 
die  fast  wörtliche  Aufnahme  des  Satzes  in  die  Instruktion  Katharinas  n.  v.  1767 1. 
Über  das  Verhältnis  des  Chevalier  de  Jaucourt  (in  der  Ejizyklopädie)  zu 
M  ontesquieus  obigem  J^atze  s.  n.  bei  v.  0  v e r b e c k ,  a.  a.  0.  S.  28,  29.  — 
Eine  ausdrückliche  Rechtfertigung  der  Todesstrafo  gerade  für  Jtf  o  r  d  unter 
Bezugnahme  auf  die  T  a  1  i  o  n  s  i  d  e  e  findet  sich  ferner  bei  F  i  1  a  u  g  i  e  r  i , 
System  IV  (3,  2),  Kap.  29,  S.  23 ff.  (s.  G  ü  n  th  c  r,  Wiedervgltg.  li,  S.  187/88,  Anm. 
473)  u.  bei  M  a  r  a  t,  Plan  de  legisl.  er.,  p.  178/9  (ähnlich  wie  später  bei  K  an  t  u. 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  175 

Huster  getan  haben 0?  oder  auch  umgekehrt  unter  angeblicher 
Verwerfung  der  Talionsidee  die  Todesstrafe  doch  gerade  für  den 
Mord  besonders  zu  befürworten,  was  uns  u.  a.  bei  Gmelin  und 
teilweise  auch  bei  Hommel  entgegentritt.^) 

Überhaupt  sind  absolute  Gegner  der  Todesstrafe  in  dieser  Zeit 
viel  seltener  anzutreffen,  als  man  gemeinhin  wohl  annimmt '-%  da  die 


Hegel;  8.  G.-S.61,  8.321,322);  vgl.auchZaupser,  Gedanken,  Abhdg  2,S.62ff. 
(s.  m.  Wiedervgltg.  U,  ö.  224  u.  Anm.  607);  R  a  t  h  1  e  f,  Vom  Geiste,  ö.  15,  vbd.  mit 
S.  17,  29;  Beseke,  Versuch,  S.  35,  41,  92  unter  Nr.  15,  101  (u.  dazu  Böhmer, 
Handb.,  S.  289  u.  Günther,  Wiedervgltg.  II,  Ö.  240/41,  Anm.  663.) 

1)  Vgl.  Abhandlung,  ö.  57,  Vier  Zugaben,  b>.  bOff.  u.  dazu  Günther, 
Wiedervgltg.  II,  S.  257  ff.  n.  Anm.  720.  SSchon  die  Zeitgenossen  haben  hierin 
eine  Inkonsequenz  erblickt  (s.  G  m  e  1  i  n,  Grunds. ;  §  37,  S.  82,  Anm.  b ;  Grabe, 
Über  d.  Reformation,  §  40,  S.  76.);  jedoch  haben  die  Verfasser  der  Preisschrift 
auf  andere  Weise  die  Talionsidee  zu  retten  versucht  (wie  z.  B.  durch  Verurteilung 
von  Giftmischern  zu  Arbeiten  in  Giftbergwerken ;  s.  Abhdg.  b.  188,  Anm.  *  u- 
dazu  Günther,  Wiedervgltg.il,  S.  258,  Anm.720;  vgl.  auch  schon  oben,  S.  161, 
Anm.  1,  c. 

2)  CberGm elin(Grundsätze) bes. §37, S.82ff. u. § 40ff., S.86ff.) s. G ü n t h e r, 
Wiedervgltg.  II,  ö.  247,  Anm.  678  a.  £.;  über  Homraol  (Übers,  von  Beccaria, 
Vorrede,  S.  XXIff.,  Philos.  Ged.,  §.  50,  8.  99,  §  51,  5S.  102,  §  54,  b.  107 
bis  HO  u.  §  58,  S.  118)  s.  Glaser,  Übers.,  Vorwort,  S.  15;  vgl.  auch 
G  ü  n  t  h  e  r,, Wiedervgltg.  II,  S,  240,  Anm.  662.  Auch  R  ö  s  s  i  g  („Vorerinnerung"  zu 
H  o  m  m  e  1  s  Phil.  God.,  S.  XXXIV,  Ziff.  1,  XXXV  ff.),  G  r  a  e  b  e ,  (Über  die  Refor- 
mation, §  22,  S.  38  vbd.  mit  §  30,  S.  56,  57)  und  viele  andere  Schriftsteller 
(S.  die  Zusammenstellung  in  m.  Wiedervergeltung  II,  ^.  239/40,  Anm.  662) 
sind  in  dieser  Beziehung  mehr  oder  weniger  inkonsequent  gewesen. 

3)  Auf  eine  Aufzahlung  sämtlicher  Gegner  und  Anhänger  der  Todesstrafe 
in  der  Aufklärungszeit,  deren  scharfe  Sonderung  aus  dem  im  Text  genannten 
Grunde  Schwierigkeiten  bereitet,  muß  hier  verzichtet  werden.  Die  wichtigsten 
Namen  finden  sich  schon  bei  Bergk,  Übers,  v.  Beccaria,  Bd.  II,  S.  65—183 
(«Meinungen  über  die  Todesstrafe''  und  dazu  ebendas.  S.  183— 268:  „Kritik*"  dieser 
Meinungen);  vgl.  femer  auch  die  Angaben  bei  Graobe,  Über  die  Reformation, 
§  23,  b.  40ff.,  §  25,  S.  46ff.,  Gmelin,  Grunds.,  §  36,  Ö.  76—84,  Klein- 
echrod,  Syst.  Entw.  III,  §  4,  S.  15,  Anm.  1,  sowie  bei  Böhmer,  Handb. 
d.  Lit  d.  Krim-R.,  §  107 ff.,  S.  672 ff.  (§  108,  S.  674 ff.:  Verteidiger  der  Todes; 
strafe,  §  109,  S.  680  ff.:  Gegner  der  Todesstrafe) ;  dazu  ans  neuei-erZeit:  Goib,Lehrb.  I, 
S.  337;  Hetzel,  Die  Todesstrafe  in  ihrer  kultnrgeschichtl.  Entwicklung,  Berlin 
1870,  S.  148—194  vbd.  mit  S.  490— 495;  Max  Koch,  Helferich  Peter  Stura, 
München  1879,  8.  210—13  (über  den  literarischen  Streit  im  „Deutschen  Museum'*, 
1776 — 78  zwischen  Barkhausen,  Runde,  Moser  u.  H.  P.  Sturz);  v.  Liszt, 
Lehrb.,  $  60,  S.  254  u. Anm.  2;  vgl.  auch  Günther,  Wiedervgltg.  II  an  den 
den  verschiedensten  Stellen,  bes.  aber  S.  182,  Anm.  448,  S.  187/88,  Anm. '473, 
S.  201,  Anm.  53:i,  S.  208,  Anm.  558,  S.  209  u.  Anm.  559,  S.  225,  239ff.  u.  Anm. 
662  und  S.  245 ff.  u.  Anm.  671  ff.;  femer  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  27 ff.  u.  G.-S. 
61,  S.  217  u.  Anm.  1,  5,  S.  218,  Anm.  1,  5  u.  6.  —  Während  in  der  Aufklärungs- 
zeit  die  Untersuchungen  über  die  Rechtmäßigkeit  und  Zweckmäßigkeit  der  Todes- 


176  IX.   üfXTHER 

meisten  dem  Staate  doch  wenigstens  gegen  ganz  besonders  gefähr- 
liche oder  gemeinschädliche  Verbrecher  (wie  etwa  Meuchelmörder 
Mordbrenner,  Verschwörer,  Hochverräter  usw.)  noch  die  —  häufig  ans 
dem  Gesichtspunkt  eines  Not-  oder  Verteidigungsrechts  betrachtete  — 
Befugnis  zur  Aberkennung  des  Lebens  („Ausrottung")  einräumen.  ^) 
Als  verfehlt  müssen  sodann  die  Versuche  bezeichnet  werden,  die 
Unrechtmäßigkeit  der  Todesstrafe  rechtsphilosophisch  zu 
begründen,  was  namentlich  auch  von  der  unlogischen  Ableitung  der- 
selben  aus   dem   Gesellschaftsvertrage    bei   Beccaria    gilt-) 


strafe  im  Vordergrunde  des  Interesse  standen,  gehört  diese,  seitdem  ,,von  alleo 
Seiten  bereits  bis  zum  Überdruß  erörterte  Frage'^  (v.  Liszi,  Straf r.  Aufs.  H, 
8.  394)  heute  nicht  mehr  zu  den  „brennendsten**  (s.  Köhler,  Reformfragen. 
S.  20),  namentlich  bei  uns  in  Deutschland,  wo  sie  wegen  der  Seltenheit  der 
Todesurteile  bezw.  deren  tatsächlicher  Vollstreckung  keine  große  praktische 
Bedeutung  hat  (s.  v.  Liszt,  Aufs.  II,  S.  395u.  Lehrb.,  S.  254,  Anm.  1),  während 
über  ihre  ^Kechtsmäßigkeit*'  in  der  Theorie  jetzt  kaum  noch  Zweifel  bestehen 
(s.  Mittcrmaier  in  der  Deutsch.  Jur.-Ztg.  v.  15.  Dez.  1903,  [Jahrg.  Vlll. 
Nr.  24],  S.  554,  Sp.  2i.  Viele  halten  ihre  gänzliche  Abschaffung  (die  u.  a.  auch  auf 
dem  Programm  der  Sozialdemokratie  steht  vgl.  darüber  D  o  c  h  o  w  in  d.  Z.  f.  d. 
ges.  Str.-W.  27  [1907 1,  S.  116,  Nr.  5),  nur  noch  für  eine  Frage  der  Zeit  (s.  bes. 
Seuffert,  Ein  neues  Strafgesetzbuch,  S.  56,  57;  \g\.  auch  Groß,  der  i. s. 
Arch.  für  Krim.-Anthrop.  26  (1906),  S.  73  die  Todesstrafe  für  ,. psychologisch  un- 
möglich*^  bezeichnete),  während  andere  sie,  bes.  aus  politischen  Gründen, 
zunächst  in  gewissem  Umfange  noch  beibehalten  wollen,  so  z.  B.  v.  L  i  s  z  t,  btrafr. 
Aufs.  I,  S.  1S3,  262  (u.  dazu  Lohsing  in  Gross'  Archiv  24,  S.  163);  vgl. 
auch  Köhler,  a.  a.  0.,  S.  20;  B  orolzh  ei  mer,  System  V,  8.231,  242; 
Bin  ding,  Grundriß,  AlIg.Teil,  7.  Aufl.,  Vorrede,  S.  XVII;  Kahl,  Das  neue 
Strafgesetzbuch,  Vortrag  (Neue  Zeit-  u.  Streitfragen,  herausgeg.  v.  d.  Gehe- 
Stiftung,  Jahrg.  IV,  Heft.  6),  Leipzig  1907,  S.  19;  v.  Hippel,  Strafrechts- 
reform u.  Strafzwecke,  Rede,  Göttingen  1907,  S  10  (mit  ausdrückl.  Hinweis  auf 
das  ^Vergeltungsbedürfnis"). 

1)  So  selbst  Beccaria,  §  16,  S.  107  (und  dazu  Hertz,  Voltaire  S.  30S)  und 
Voltaire,  Prix  de  la  justice,  Art.  111.  (Bibl.  phil.  T.  V.  p.  20  und  dazu  Günther, 
Wiedcrvergltg.  II.  S.  175  u.  Anm.  412,  413  u.  Masmonteil,  La  legisl.  er,  p.  247i; 
s.  ferner  Tom  aso  Natalc  (vgl.  Günther  im  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  31);  Servin. 
Über  die  peinl.Gosbzg.,S.  155;  v.  Gl  olb  ig  u.  Hu  st  er,  Abhandig.,  S.  16S;Hommel, 
Phil.  Gcd.  §  51,  S.  102;  Plitt  i  s.  Rcp.  I,  Vorrede,  S.  12/13;  Kleinschrod,  Syst. 
Entwickl.  IIL,  §  6,  S.  10,  §  7,  S.  20.  Cbcr  H.  P.  Sturz  (der  mit  B  e  c  c  a  r  i  a  über- 
einstimmt) s.  M.  Koch,  a.  a.  0.  S.  211.  Vgl.  auch  noch  Günther,  Wieder- 
vergltg.,  II,  S.  ISS,  Anm.  473  a.  E.  (über  Filangieri),  S.  208.  Anm.  558  (über 
de  Mablv  u.  andere  Franzosen),  z.  Teil  auch  noch  S.  239  u.  240,  Anm.  662 
sowie  die  schon  oben  S.  161,  Anm  .1  angeführten  Stellen  betr.  die  Unschädlich- 
machung („Ausrottung")  gefährlicher  Verbrecher  durch  die  Todesstrafe. 

2)  S.  B  cccaria,  §  16,  S.  105  ff.,  dem  sich  zahlreiche  Schriftsteller  angeschlossen, 
von  Deutschen  z.  B.  bes.  nachdrücklich  v.  Red  er,  Das  peinliche  Recht  I.  Kap.  X, 
§  9  ff.,  S.  172  ff.    Dagegen  mit  Recht  aber  schon  von  den  Zeitgenossen :  Diderot 


Die  Straf rechtsrefonn  im  Anfklärungszeitalter.  177 

Dagegen  darf  man  den  von  den  meisten  seit  Voltaire  voran- 
gestellten sog.  Nützlichkeitsgründen 0  gegen  die  Todesstrafe  im 
ganzen  auch  hente  noch  überzeugende  Kraft  beimessen.^)  Es  sind 
hauptsächlich  3)  die  allbekannten  Einwände,  daß  die  Todesstrafe  den 
Besserungszweck  ausschließe,^)  den  Abschreckungszweck  nur 
mangelhaft  erfülle  ^)  —  da  ja  selbst  unter  dem  Galgen,  an  dem  man 

i.  8.  Noten  zu  Beccaria  (Oeuvres  compl.  T.  IV.,  p.  67  (vgLEsselborn ,  a.  a.  0.  S.  106, 
Anm.**);  Tomaso  Natale  (s.  Günther  i.  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  29ff.  u.  Anm. 
139.);  Zaupscr,  Gedanken,  Abhdlg.  2,8.  60;  Klein,  Fragmente,  S.36ff.;  über  Ka^ 
8.  Esselborn,  a.  a.  0.  S.  106/07,  Anm.  ♦♦*;  von  Neueren  s.  u.  a.  Glaser, 
Cbersetzg,  Vorw.,  8.10—12,14;  v.  Bar,  Handbuch  I,  S.  234;  Hertz,  Voltaire, 
S.  307/S;  Maillard,  £t.  bist,  p.  35 ff.;  vgl  auch  noch  die  Angaben  bei  Günther, 
Wiedervergltg.  H,  S.  182/83,  Anm.  448.  Über  die  größere  Konsequenz  in  dieser 
Beziehung  bei  Rousseau,  der  gerade  von  seinem  Gesellschaftsvortrag  aus  zur 
Anerkennung  der  Todesstrafe  gelangte  (wogegen  freilich  ausführlich :  V  e  z  i  n,  Das 
peinliche  Halerecht,  S.  146  ff.  (Anm.  13]),  s.  Glaser,  a.a.O.  S.  11 ;  Hertz,  a.a.O.  S.309; 
Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  183,  Anm.  449  a.  E.  u.  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  30, 
Anm.  140  «mit  weiteren  Angaben);  v.  Overbeck,  a.  a.  0.,  S.  117  n.  Anm.  4;  desgl. 
bei  Tomaso  Natale,  s.  Günther  i.  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  129  u.  130  u.  Anm. 
139ff.),  bei  Filangieri  (System,  Kap. 29,  S.23ff.l  s.  Günther,  Wiedervergeltg. 
II,  «.  188,  Anm.  473;  vgl.  Pessina,  11  diritto  penale  in  Italia  etc.,  p.  19, 20.  Über 
Diderot  s.  v.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  27  u.  Anm.  3. 

1)  S.  hierzu  näheres  bes.  bei  H  etzel,  Die  Todesstrafe  usw.,  S.  153—166;  vgl. 
auch  Hertz,  Voltaire,  Ö.  428ff.;  Günther,  Wiedervergltg.  II,  S.  175  u.  Anm.  411; 
Masmonteil,  La  l^gisl.  er.,  p.  244ff. 

2)  S.  etwa  Berner,  Lehrbuch  des  deutschen  Strafrechts,  17.  Aufl.,  Leipzig 
1896,  S.  190ff.;  H.  Meyer- Allfeld,  Lehrb.,§ 48,  S.  28lff.;  vgl.  auch  Mittermaier 
i.  d.  Deutsch.  Jur.-Ztg.  vom  15,  Dezbr.  1903,  ö.  554. 

3)  Der  namentlich  für  die  Verurteilung  von  Unschuldigen  bedeutsame  Hin- 
weis darauf,  daß  die  Todesstrafe  „nicht  wieder  gut  zu  machen  ist'',  erscheint 
in  der  Aufklärungsliteratur  im  ganzen  seltener.  Auch  Beccaria  hat  in  seiner 
Schrift  von  Verbrechen  und  Strafen  (§16)  diesen  Grund  nicht  erwähnt,  dagegen 
findet  er  sich  in  dem  von  ihm  (mit  Scott!  u.  Risi)  ausgearbeiteten  Gutachten 
über  die  Todesstrafe  vom  Jahre  1792.  S.  Esselborn,  Obers.,  Anhang  2,  S,  196 ff. 
—  Hommel,  Philos.  Gedanken,  §  52,  S.  103  macht  u.  a.  noch  eine  Art  ästhetischen 
Bedenkens  gegen  die  Todesstrafe  geltend,  daß  es  nämlich  ^der  äußerlichen 
Schönheit  des  Landes  und  der  Städte  entgegen'*  sei,  „Galgen  und  Rad  an 
öffentlichen  Plätzen  auszustellen''.  Vgl.  auch  Obers,  von  Beccaria,  8. 134,  Anm.  a; 

4)  Vgl.  bes.  Gmeltn,  Grunds,  $37,  S.82;  Kleinschrod,  Syst  Entw.  III, 
§4,  S.  16;  s.  auch  Marat,  Plan,  etc.,  p.  132  (G.-S.  61,  S.217  u.  Anm.  4),  mehr 
indirekt:  v.  Eberstein,  Entw.,  Einltg.,  $  11,  8.  5.  —  Michaelis,  Mos.  Recht  VI, 
Vorrede,  S.  95  ff.  gelangte  umgekehrt  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Notwendigkeit 
der  Todesstrafe  zu  einer  grundsätzlichen  Verwerfung  des  Bessemngszweckes  bei  den 
eigentlichen  Kriminalstrafen  (im  Gegensatze  zu  bloßen  „Züchtigungen".) 

5)  S.  darüber  bes.  Beccaria,  §  16,  S.  109,  Tomaso  Natale  (Archiv  f.  Stinfr. 
48,  S.  28,29  u.  Anm.  138),  Marat,  Plan  etc.,  p.  130/31  (s.  G.-S.  61,  S.  215,  217  u. 
Anm.  2),  Servin,   Über  die  peinl.  Gesetzgebung,  S.  63 — 66  u.  andere  Franzosen 

Arohiv  fftr  Kriminalanthropoloffie.    28.  Bd.  12 


17S  IX.   GÜNTHER 

Diebe  erhängte,  die  Zuschauer  schon  bestohlen  worden  seien  — ,  0 
und  daß  endlich  auch  die  Unschädlichmachung  gefährlicher 
Verbrecher  noch  auf  andere,  und  zwar  dem  Gemeinwesen  vor- 
teilhaftere Weise  erreicht  werden  könne,  so  besonders  durch 
lebenslängliche  Freiheitsberaubung  verbunden  mit  nützlichen  Ar- 
beiten.'')  Dieser  Hinweis  auf  den  Nutzen  des  Staates  ist  —  neben 
der  zunehmenden  Humanität  —  auch  für  die  damals  fast  allgemein 
geforderte  Abschaffung  der  sog.  verstümmelnden  Körperstrafen 


(9.  G  ä  n  t  h  e  r,  Wieder  Vergeltung  II,  S.  209  u.  Anm.  559) ;  f  omer  v.  Globigu.  Haster, 
Abhdig..  S.  6S,  69;  Hommel,  Phil.  Gcd.,  §50,  S.  99, 100,  §  52,  S.  tOSff.;  Vezin, 
Das  peinliche  Halsrccht,  b.  lu6ff.  (Anm.  12);  Kl  ein  sehr  od,  Syst  Entw.  III. 
§  4.,  S.  16,  §  S,  S.  22. 

1)  Diesen  Umstand  erwähnen  ausdrücklich:  v.  Sonnenfcis,  Grunds.  L 
§  375,  S.  462,  Zaupser,  Gedanken,  Abhdig.  2,  S.  65  u.  Hommel,  Obers,  von 
Beccacaria,  S.  125,  Anm.  v.;  vgl.  auch  Marat,  Plan,  p.  130  (s.  G.-S.  61,  S. 215j; 
dagegen  aber  Claproth  £ntw.,  Vorrede,  S.  VllI  und  Gmelin,  Grunds., 
§  42,  S.  91  (wenig  übeizeugend);  aus  der  Neuzeit  s.  Berolzheimcr,  S^'stem, 
Bd.  V,  S.  16. 

2)  Im allgem.  s.  Kleinschrod,  System.  Entw. III,  §  5,  S.  17:  ^ Darin  werden 
alle  übereinkommen,  daß  es  so  lange  ungerecht  ist,  einen  Menschen  zu  töten, 
als  man  durch  gelindere  Mittel  ihn  ganz  unschädlich  machen  kann".    Für 
Empfehlung   nützlicher  Arbeiten  auf  Lebenszeit  an  Stelle  der  Todesstrafe 
bes.  (außer  Beccaria,  §  16,  S.  109ff )  noch:  Voltaire  (s.  z.  B.  Commentairc. 
§  10  u.  18  [Bibi.  phil.  T.  I,  p.  229  ff.  u.  251],  Prix  de  la  justice,  Art  III  [Bibl. 
phil.T.  V, p.  17,  20]  u  Art.  VIII  [p.  26] ;  vgl.  auch  Dict.  philos.,  Art  „Supplices",  sect  l 
T.  XI II.  p.  221  ff:  s.  näheres   noch  bei  M asm on teil,  La  legisl.   crim.,  p.  224 
247, 249,  250;  vgl.  Günther,  Wicdervergltg.  II,  S.  175,  Anna.  411),  Fr.  P.  di  Blasi. 
Sulla  legislazione  led.  Guardione,  §  10,  p.  40),  Sorvin,  Über  die  peinl.  Gesetz-. 
gebung,  S.  64,  66ff.,  Brissot  de  Warville,  Discours  (Bibl.  phil.  T.  VI),  p.  12> 
Theorie  I,    p.    147 ff.    und  andere  Franzosen    (s.  Brissot,   Bibl.   phil.   T.   \\ , 
p.  73   [Philipon    de   la  Madeleine],   T.  V.   p.  3ü0   iM.   le  F.];   vgl.  Günther 
Wiedorvergltg.  II,  S.  209,  Anm.  559),  v.  Sonnen  fei  s  (».Günther,  Wiedervgltg.  II, 
S.  225,  Anm.  612),  Zaupser,  Gedanken,  Abh.  2.,  S.  72,  v.  Reder,  Das  peinliche 
Recht   I,    Kap.  X,    §  53,    S.   227  ff.,   §  62    S.    241  ff.    u.   §   71,   S.    259   u.  a.  ni. 
Ausdrücklich    dagegen    aber:    Bernardi,    Discours   (Bibl.   phil.    T.    Villi, 
p.  70ff.   im  Anschluß   an    de  Mably.     Durch   die  möglichst  abschreckende 
Ausgestaltung  der  statt  der  Todesstrafe  einzuführenden  lebenslänglichen  Freiheits- 
strafe („Knechtschaft")  sind  übrigens  manche  Schriftseller,   wie  u.  a.  Beccaria, 
(§16,S.  llOff.),  diBlasi,  Voltaire  (s.  Mas mon teil  a.  a.  0.  p.  247/48),  Serv in, 
Phil,  de  la  Madeleine  (a.  a.  0.  p.  71/72)  dahin  gelangt,  daß  dieses  Ersatzmittel, 
eigentlich  noch  grausamer  erscheint  als  die  Todesstrafe  selbst    S.  dagegen  schon 
Diderot  in  s.  Noten  zu  Beccaria,  Oeuvres  compl.  T.  IV.  p.  67;  femer  die  Obsei-^ 
vatious  sur  le  trait6  des  d^lits  et  des  peines  (bei  Brissot,  Bibl.  phil.  T.  I),  p. 300; 
de  la  Cretelle,  Vues  (Bibl.  phil.  T.  VI II),  p.  344;   Schott,  Observat  de  delict. 
et  poenis  (bei  Schall,  a.  a.  0.,  S.  57,  Nr.  7);  vgl.  i.  allg.  auch  v.  Liszt,  Strafr 
Aufs.  I,  S.  262. 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärangszeitalter.  179 

ausschlaggebeDd  gewesen:  sie  sind  dem  Gemeinwesen  schädlich, 
weil  der  Verstümmelte  in  der  Regel  für  nützliche  Arbeiten  unbraach- 
bar  wird  und  daher  dem  Staat  als  Bettler  zur  Last  fallen  muß.  ^) 
Weniger  skrupulös  dachte  man  dagegen  damals  noch  über  die  (bloß 
Schmerz  erregenden)  körperlichen  Züchtigungen,  ja  ihre  Anwen- 
dung wird,  sowohl  für  sich  allein,  als  auch  in  Verbindung  mit  Frei- 
heitsstrafen,yon  manchen  ausdrücklich  „für  sehr  nützlich^  (Graebe), 
auch  „dem  Endzweck  der  Strafe  . . .  angemessen''  (Gmelin)  erklärt  ^) 


1)  S.  i.allgem.  Malblank,  Gesch.  d.  P.  G.-O.,  §  60,  S.  269,  Xr.8;  Günther, 
Wicdervergeltung II,  S.  236,  Anm.  653  a. E.  Im  einzeln,  s. bes.  etwa :  Filangieri, 
System  IV  i3,  2»,  Kap.  48,  S.  529,  Anm.  ♦♦;  Brissot  de  Warville,  Discours 
(Bibl.  phil.  T.  VI),  p.  133,  Theorie  1,  p.  157ff.,  („une  atrocitä  politiqu^**);  Zaupser, 
Gedanken,  Abh.  2,  S.  40;  Püttmann,  Elcm.  jur.  er.,  Praef.,  p.  IIl  vbd.  mit 
L.  I,  c.  II,  §  71,  p.  33;  Hommel,  Phil.  Ged.,  S.  20;  Rossig,  „Vorerinnening''  dazu, 
S.  XXV  Nr.  6;  v.  Soden,  Geist  I,  §  62,  8.99;  Wieland,  Geist  I,  §  318,  S.429, 
431  ff;  y.  Reder,  Das  peinl.  Recht  I,  Kap.  IX,  §  14,  8.  151  u.  Kap.  XI,  §  12, 
S.  308;  Graebe,  Über  die  Reformation,  §  31,  S.  58;  Gmelin,  Grunds.,  §  35.  S.  T5ff. 
u.  Anm.y;  Kleinschrod,  System  Entw.  I,  §35,  S.  84,  Nr.  2,  III,  §  15,  S.  84ff; 
V.  Grolmann.  Grunds.,  §  114,  S.  53  (auch  als  iMittel  der  Unschädlichmachung 
[s.  oben  S.  161,  Anm.  1]  sind  verstümmelnde  Strafen  zu  verwerfen).  Dafür  aber 
noch  (in  einzelnen  verschiedenen  Fällen):  Claproth  in  s.  Entw.  (als  Schärf img 
der  Todesstrafe  für  Gotteslästerung;  s.  näheres  bei  Günther,  Wiedervergltg.  II, 
8.  217  u.  Anm.  585;  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  63  u.  Anhang  I:  Der  Kindes- 
mord usw.,  S.  159  (üandabhauen  vor  der  Todesstrafe);  Tom  aso  Natal  e,  Rifl.  pol., 
p.  45  (als  Ersatz  der  Todesstrafe  in  schwereren  Fällen;  vgl.  Arch.  f.  ^trafr.  48, 
S.  32  u.  Anm.  154»;  Marat,  Plan.,  p.  179  (vgl.  Wiedervergltg.  II,  S.  202,  Anm. 
537  u.  G.-S.  61,  S.  326) ;  M.  le  F.,  Plan,  de  legisl.  etc.  (Bibl.  phil.  T.  V )  p.  391 ;  S  er  vi  n 
Über  d.  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  S7ff.,  177,  221ff.,  260,  293ff.  Auch  v.  Globig 
u.  Huster,  Abhdg.,  S.  73,  196,  die  im  allgem.  Gegner  der  Verstümmelungen  sind, 
wollten  sie  doch  „im  Falle  der  Wiedervergoltung'^  zulassen,  was  sie  jedoch 
in  den  „Vier  Zugaben"^,  S.  93 ff.  unter  näheren  Motivierung  wieder  aufgegeben 
haben.  Vgl. näh.  dazu  bei  Günther,  Wiedervergltg.  II,  S.  258—260  u.  Anm.  724, 
725.  Naeh  Beseke,  Versuch,  S.  90,  91  sollte  mit  der  „ewigen  Zuchthausstrafe*' 
immer  „Abschneidung  der  beiden  Ohrzipfel"  verbunden  sein,  damit  „der  hierzu 
verdammte  Bösewicht  kenntlich  sei  und  nie  entfliehen  könne,  ohne  in  die 
Hände  der  Richter  zu  fallen.'^ 

2)  S.  Graebe,  Über  die  Reformation,  §  31,  S.  58;  v.  Red  er,  Das  peinliche 
Recht  I,  Kap  XII,  §5,6,  S.  319;  Gmelin,  Grunds..  §34,  S.  73,  74;  vgl.  auch 
V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  8.74:  Kleinschrod,  Syst  Entw.  I,  §32,  8.78, 
Nr.  2  („mehrere  Anwendung  der  Leibesstrafe").  Über  die  Vorzüge  der  Prügel- 
strafe, wie  bes.  ihre  Abstufungsfähigkeit,  s.  auch  8 er v in,  Über  die  peinliche 
Gesetzgebung,  S.  82 ;  im  allg.  über  das  Für  und  Wider  derselben:  Klein* 
sehr  od,  Syst  Entw.  III,  §  16, 17,  8.  36  ff.  Einen  sehr  ausgiebigen  Gebrauch  von 
ihr  (bes.  auch  in  der  Form  des  sog.  „Willkomms^  und  „Abschieds"  bei  der 
Zuchthausstrafe)  hat  auch  Klein,  Fragmente  (s.  bes.  8.  61  ff.,  66fL,  70ff.) 
empfohlen  (wogegen  mit  Recht  Böhmer,  Handb.,  S.  263;  vgl.  auch  S.  713.)  Für 

12* 


180  IX.  Günther 

was  in  einer  Zeit,  wo  ja  anch  in  den  Schulen  und  beim  Militär  noch 
fleißig  geprügelt  wurde,  nicht  eben  sonderlich  Wunder  nehmen 
kann.  Als  der  Natur  der  Verbrechen  besonders  entsprechend  hielt 
man  die  Prügelstrafe  vielfach  bei  Sittlichkeitsdelikten  wegen  der  — 
in  dieser  Allgemeinheit  jedenfalls  nicht  ganz  einwandfreien  -—  An- 
nahme, daß  ^der  Wollust  nichts  mehr  entgegenstehe  als  körperlicher 
Schmerz^  i),  femer  aber  auch  wohl  bei  Zufügnng  von  Verletzungen 
und  sonstigen  Akten  roher  Gewalt^)  (in  letzterer  Beziehung  in  Über- 
einstimmung mit  manchen  Neueren),  wobei  sich  dann  die  oben  er- 
wähnte Annäherung  an  die  Idee  der  Talion  in  recht  bedenklichem 
Gewände  zeigt  *^)  Für  die  äußerlich  wahrnehmbaren,  beschimpfen- 
den Ehrenstrafen,  in  deren  möglichst  drastischer  Ausgestaltung  sich 
der  Volkshumor  früherer  Zeiten  so   gern   gefallen,   schwärmte  man 


^ Willkomm*^  und  „Abschied"  bei  der  Zuchthausstrafe  anch  Quistorp,  Entw., 
§  57,  S.  6S  u.  V.  Ebe  rstein,  Entw.,  §  12,  S.  6;  für  obligatorische  Verbindung  von 
körperlicher  Züchtigung  mit  Gefängnisstrafe:  Wieland,  Geist  I,  §320,  S.  43\ 
Der  Vorschlag  der  Vollstreckung  der  Prügelstrafe  mittels  einer  Maschine 
findet  sich  schon  bei  v.  Globig  u.  Huster,  Vier  Zugaben,  S.  97;  vgl.  Geib, 
Lehrb.'  II,  S.  408.  Zu  den,  in  dieser  Zeit  noch  ziemlich  seltenen,  völligen  Gegnern 
der  Prügelstrafe  darf  wohl  schon  Zaupser  gerechnet  werden;  s.  dessen  Gedanken, 
Abhdlg.  2,  S.  40. 

1)  So  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  II,  §23,  S.  56,  Nr.  6.  Übereinstimmend 
einige  französische  Aufklärer,  wie  S ervin  (Über  d.  peinliche  Gesetzgbg.,  S.  *»2 
vbd.  mit  S.  195  u  S.  248/49),  und  viele  Deutsche  aus  der  Zeit  nach  1777.  S.  d. 
Belege  in  mr.  Wiedcrvergltg.il,  h>.  252  u.  Anm.  694;  ausdrücklich  dagegen  aber 
v.  Globig  u.  Huster,  Vier  Zugaben,  S.  315,  Anm.*  u.  S.  318  —  Noch  weiter  ging 
Klein,  Fragmente,  S.  63  (Prügelstrafe  für  alle  diejenigen  Verbrechen,  „welche 
ein  träges,  sinnliches  und  blos  dem  gegenwärtigen  Eindrucke  nachgebendem 
Gemüt  voraussetzen").  Ahnlich  auch  Kleinschrod,  Syst  Entw.,  Bd.  III,  §16. 
S.  36. 

2)  Soz.  B.  bes.  die  Franzosen  Bri SS ot  deWarville  (Theorie  II,  p.  31,  32ff.» 
u.  S e  r V i  n.  (Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  204  u.  369 ;  vgl.  Günther,  Wieder>'ergltg. 
II,  S.  206/7  u.  Anm.  550/51).  Über  Beccaria,  §  27,  S.  134ff.  s.  m.  Wiedervergltg  II. 
S.  185,  Anm.  459.  Vergl.  auch  Graebe,  Über  die  Reformation,  §43,  S.  80;  v. 
Dalberg,  Entw.,  S.  141  („öffentliche  Schläge"  für  Verbrechen,  die  mit  „besonderer 
Grausamkeit^'  begangen)  u.  S.  159,  Nr.  2  (für  Verwundungen  bes.  aus  Bosheit): 
V.  Ebe  rstein,  Entw.,  S.  176,  177  (für  boshafte  Verletzungen,  jedoch  neben  anderen 
b  trafen) :  ursprünglich  dafür  auch  Kleinschrod,  der  jedoch  später  seine  Ansicht  ge- 
ändert (s.  Günther,  Wiedervergltg.  II,  S.  251/52  u.  Anm.  693).  Auch  v.  Globigu. 
Hu  st  er,  die  (Abhdlg.,  S.  89,  Nr.  2)  gleichfalls  gemeint,  daß  „körperliche  Strafen 
eigentlich  nur  für  gewaltsame  Taten  folgen*^  sollten,  sind  darin  nicht  kon- 
sequent geblieben.   Vgl.  Günther,  Wiedervergltg.  II,  S.  262. 

3)  S.  darüber  Abegg  i.  G.-S.  15  (1863),  S.  122  und  Günther,  Wieder- 
vergltg. II,  S.  207,  Anm.  553  u.  S.  251,  252,  Anm.  693.  —  Die  zahlreichen  Schrift- 
steller, die  neuerdings  die  Prügelstrafe  für  sog.  „Rohheitsdelikte'^,  bes.  der  heran- 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufkiärungszeitalter.  181 

dagegen  weniger  mehri);  mit  der  hin  und  wieder  nebst  der  öffent- 
lichen Äusstellnng  am  Pranger^)  noch  empfohlenen  Brand- 
markung^)    verfolgte  man   zugleich   den   praktischen  Nebenzweck 

wachsenden  Jugend,  befürwortet  haben  (so  jetzt  z.B.  auch  B  er  olzeim  er,  System 
y.,  S.25$),  sollten  doch  diesen  Zusammenhang  nicht  aus  den  Augen  lassen.  Bichtig 
darüber  Heinr.  Krauße,  Die  Prügelstrafe,  eine  kriminalpolitische  Studie,  Berl. 
1899,  S.  118. 

1)  S.  darüber  bes.  Kleinschrod,  Syst  Entw.  III,  §  75,  S.  147:  „.' .  .  in 
einem  hohen  Grade  sind  alle  Strafen  zu  mißbilligen,  welche  den  Ver- 
brecher dem  Hohn  des  Pöbels  und  dessen  Neckereien  preisgeben '^ ;  vgl.  auch 
V.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  293,  8.  369  ff.  A.  M.  dagegen  allerdings  noch 
Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  67  (für  „spanischen  Mantel,  Fiddel,  Eselreiten  u.  dergl.*' 
als  Injurienstrafen);  ebenso  v.  Gl  ob  ig  u.  Huster,  Abhdlg.,  S.  240,  244  (für  ge- 
wisse n Beleidigungen  der  Sitten'^  Schandstrafen,  „welche  lächerlich  machen* S  wie 
z.  B.  Tragen  eines  gelben  Huts  oder  einer  „Eselsmütze**  (für  Hurenwirte)  u.  dergl.); 
vergl.  auch  v.  Eber  stein.  Entw.,  §  12,  8.  6  („Auspeitschen  auf  einem  Esel**) 
u.  Teil  II,  Hauptst.  2,  Abschn.  1,  $  2S£f.,  S.  106  ff.  (für  Eselreiten,  Ausstellung 
mit  einem  „Strohkranz"  u.  dergl.  für  gewisse  Sittlichkeitsdelikte),  v.  Reder,  Das 
peinliche  Hecht  I,  Kap.  XV,  §  S,  S.  338  versprach  sich  besonders  von  der  (für  eine 
Reihe  von  Delikten  als  Nebenstrafe  empfohlenen)  Anwendung  des  «Trillhauses** 
„noch  gute  Wirkung*^,  desgl.  in  einzelnen  Fällen  auch  von  anderen  öffentlichen 
8chandstrafen  (s.  I,  Kap.  XV,  §  16,  S.  343.)  Über  die  Bekämpfung  der  (bes.  für 
gewisse  Sittiichkeitsdelikte  gebräuchlich  gewesenen)  sog. Kirchenbuße  s.  näheres 
noch  weiter  unten. 

2)  Für  den  Pranger  („H^s^isen'*)  und  andere  Formen  der  öffentlichen  Aus- 
stellung (ev.  mit  Anhängung  von  Tafeln,  die  das  begangene  Verbrechen  ver» 
kündeten)  sind  noch  die  meisten  deutschen  Auf klärungsschriftsteller  eingetreten, 
u.  a.  auch  für  ihre  Verwendung  als  zweckmäßige  „Vorbereitungen**  anderer 
Strafen,  „weil  die  Publizität  derselben  dadurch  ungemein  befördert^  werde. 
So:  Kleinschrod,  Syst.  Entwickig.  III,  §  80,  S.  157  ff.  Ein  sehr  reichlicher 
Gebrauch  solcher  Strafarten  findet  sich  in  den  Strafgesetzentwürfen  dieser  Zeit,  ganz 
besonders  in  dem  von  v.  Eberstein  (s.  Günther,  Wiedervergeltg.  II,  S. 
236,  237,  Anm.  654).  —  Ausdrücklich  dagegen  aber  schon  Zaupser,  Ge- 
danken, Abh.  2,  S.  40;  Bedenken  auch  bei  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  293, 
S.  370.  —  Die  Errichtung  einer  Schandsäale  (für  die  Nachwelt)  ist  u.  a.  bes.  von 
Bescke,  Versuch  (s.  z.B.  S.  91  u.  an  anderen  Stellen)  für  bes.  schwere  Delikte  em- 
pfohlen worden,  in  beschränkterem  Umfange  auch  von  v.  Globig  u.  Huster,  Vier 
Zugaben,  8.  141/42;  vergl.  femer  noch  Qnistorp,  Entw.  I,  §  52,  8.  61  und 
Pflaum,  Entw.  I,  §  43,  S.  39;  dagegen  aber  v.  Red  er,  Das  peinl.  Recht  I, 
Kap.  XV,  §  12,  8.  340. 

3)  Auch  die  Brandmarkung  ist  (wenigstens  für  gewisse,  jedoch  im  einzelnen 
recht  verschieden  bestimmte  Delikte),  s.  noch  von  einer  ziemlichen  Anzahl  der  Auf- 
klärungsschriftsteiler befürwortet  worden,  so  u.  a.  von  Fr.  P.  die  Blasi,  Sulla 
legisl.  etc.,  §  10,  ed.  Guardionc,  p. 39  (für Diebstahl),  Marat,  Plan  etc.,  p.  175 
(für  Prävarikation;  s.  G.-8.  61,  S.  250),  Servin.  Über  die  pcinl.  Gesetzgbg.,  8. 177, 
221,  260,  293,  294  (für  Abtreibung,  Gotteslästerung,  Kuppelei,  Meineid,  Ver- 
fälschungen), Claproth.  Entw.  I,  Buch  2,  Abschn.  4,  Hauptst  1,  §  2,  8.279 
(für  Diebstahl  im  Rückfalle),   Rathlef,  Kindermord,  8.152  (für  Verheimlichung 


182  IX.  Günther 

der  event.  Wiedererkennung  flüchtiger  oder  rückfälliger  Verbrecher  *j, 
wofür  sich  die  Kriminalpolizei  der  Gegenwart  weniger  barbarischer 
Mittel  (anthropomethsches  Signalement^  Strafregister  nsw.)  bedient. 
Die  sog.  Infamie  oder  völlige  Ehrlosigkeit  hielt  man  durchweg  schon 
für  zu  hart  '^)  und  nur  allenfalls  noch  da  für  zulässig  (oder  geboten), 
wo  sie   als  Zugabe  zur  Todesstrafe   oder  lebenslänglicher  Freiheits- 


deF  Schwaogerschaft  nach  außerchd.  Beischlafet,  v.  Eber  st  ein,  £nti;^\,  §  12. 
8.  6  u.  aD  einzelnen  Stollen  des  bes.  Teils,  z.  B.  S.  177.  Noch  allgemeinere 
Empfehlung  (nämlich  für  alle  zur  lebensl.  Strafarbeit  Verurteilten  behuf^i 
Wiederkennung  bei  etwaiger  Flucht)  beiBrissot  de  W arvi  11  e,  Discours  (Bibl. 
phil.  T.  VI),  p.  131  u.  Theorie  I,  p.  150ff.  (vergl.  Günther,  Wieder^-erglig.  II, 
S.  202,  Anm.  537).  Ahnlich  auch :  Observations  sur  le  trait^  des  d^llts  et  des  peines 
bei  Brissot,  Bibl.  phil.  T.  I,  p.  296,  300,  301;  Phiiipon  de  la  Madeloine, 
Discours  sur  la  nöccssitß  de  supprimer  les  peines  capltales,  ebend.  T.  IV.,  p.  71, 
72;  M.  le.  F.,  Plan  de  l^gisl.  de  mati^res  criminelles,  ebd.  T.  V.,  p.  302,3; 
Bernardi,  Discours.,  ebd.  T.  VIII,,  p.  76;  v.  Soden,  Geist  I,  §63,  S.  101/2 (zur 
Wiederkcnnung  der  zum  ^ewigen  Gefängnis'*  verurteilten  Verbrecher);  vgl.  auch 
Tomaso  Natale.  Rifl.  pol.,  p.  45  (als  Ersatz  der  Todesstrafe  in  leichteren 
Fällen  (näh.  s.  Arch.  f.  Strafr.  48,  S.  32,  Anm.  154 ff.);  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  25 
(zur  Bezeichnung  gefährlicher  rückfälliger  Verbrecher);  v.  Red  er,  Das  peinl. 
Recht  I,  Kap.  X,  §  71.  S.  260  (im  allgem.  ebenso,  außerdem  auch  bei  den  verschie- 
densten einzelnen  Delikten  neben  der  „ewigen  Zuchthausstrafe'^  oder  lebensläng- 
lichen „Knechtschaft"  erwähnt) ;  s.auch  noch  Wieland,  Gcistl,§  319,8.431,32  (gegen 
Brandmarkung  als  „eigentliche  Strafe'S  jedoch  noch  dafür,  sofern  sie  nur  als  Mittel 
zur  Kenntlichmachung  von  bestraften  Verbrechern  dienen  soll.)  Dagegen  über- 
haupt aberu.a.  (vgl.  Böhmer,  Handb.,  S.  712zuNr.2585tLinguet]):  Filangieri, 
System.  IV.  (3,  2),  Kap.  48,  S.  53l.ff,  533  vbd.  mit  Kap.  40,  S.  307  ff .  {gegen 
Bd.  II,  Kap.  25,  S.  348,  wo  er  für  ,»betrügerisches  Falliment"  die  Strafe  noch 
empfohlen  hatte);  Zaupser,  Gedanken,  Abh. 2,  S.  40;  Püttmann,  Elem.  jur. 
crim.,  §  73,  p.  34;  v.  Globig  u.  Huster,  VierZugaben,  S.  142;  Kleinschrod. 
Syst  Entw.  II  §  35,  S.  84,  Nr.  2;  v  Grolmnan,  Grands.  (l.Aufl.),  §115,  S..54. 
l)  Vgl.  darüber  die  in  der  vor.  Anm.  angeführten  Stellen  aus  Brissotde  War- 
villc,  Tomaso  Natale,  Rathlef,  v.  Soden  undWicland  und  im  allg.  noch 
Makarewicz,  Einltg.  in  die  Philosophie  des  Strafrechts  auf  ontwicklungsgesch. 
Grandlagc,  Stuttg.  1906,  S.  229;  v.  Liszt,  Strafr.  Ausfs.  II.,  S.  240  (vergl.  oben 
S.  161,  Anm.  1). 

2)  S.  bes.  v.  Dalberg,  Entw.  S.  142:  „Die  Worte:  Infamie  undEnt- 
c  h  r  u  n  g  müssen  ...  in  Zukunft  von  den  Kriminalgesetzen  und  der  peinlichen 
Gerichtsbarkeit  ganz  ausgeschlossen  sein";  vergl.  auch  Versuch  einer 
gesetzgebenden  Klugheit  usw.  (Allg.  deutsch.  Bibl.,  Bd.  39,  S.  405):  „Man  hebe 
alle  Infamie  auf;  s.  ferner  v.  S  o  n  n  o  n  f  e  1  s ,  Grunds.,  §  360,  S.  445 ; 
Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  119,  120:  Kleinschrod,  System. 
Entwickig.  II,  §  35,  S.  85  u.  III,  §  74,  S.  144  u.  §  75,  S.  145  ff.  (dagegen  als  eine 
^grausame"  u.  „unzweckmässige"  Strafe);  v.  Grolmann,  Grands.,  §119,  S.  56. 
Daß  von  dieser  Strafe  höchstens  nur  ein  sehr  vorsichtiger  und  seltener  Gebrauch 
gemacht  werden  dürfe,  betonen  auch :  B  e  c  c  a  r  i  a,  §  18,  S.  1 77 ff.,  S  e  r  v  i  n , 
Über  die  peinl.  Gesctzgbg.,  S.  SSff.;   Puttmann,  Elem.  jur.  crim.,  §26,  p.  35; 


Die  Strafrechtsrefonn  im  Aufklärungszeitalter.  183 

entziehang  erkannt  wurde.  ^)  Überhaupt  sollten  Ebrenstrafen  nicht 
zu  häufig  verhängt  werden,  weil  sonst  leicht  auch  ^der  edle  National- 
stolz eines  Volkes  sowie  die  Achtung  bei  Auswärtigen^^  leiden  könnte.^) 
Im  ),Geiste  der  Verbrechend^  liegen  sollten  sie  nach  ziemlich  allge- 
meiner Ansicht  vor  allem  bei  Delikten  aus  ehrloser  (oder  ,,nieder- 
trächtiger^O  Gesinnung,  wie  sie  in  der  Regel  z.  B.  bei  dem  Meineid  oder 
der  Verleumdung  anzunehmen  ist^),  sodann  aber  auch  wohl  —  was 
uns  heute  befremdlicher  erscheint  —  bei  strafbaren  Handlungen  aus 
ijbertriebenem  Ehrgeiz  oder  falschem  Ehrgefühl  (,,Point  d'honneur'V) 
wofür  besonders  der  Zweikampf  als  typisches  Beispiel  angeführt 
zu  werden  pflegt.  ^)    Ziemlich  modern  erscheint  zum  Teil  bereits  die 

y.  Red  er,  Das  peinl.  Recht  I,  Kap.  XIV,  §  4,  S.  335/36;  Gmelin,  Grunds., 
§  29,  8.  63;  im  wes.  auch  Rathlef.  Vom  Geiste,  S.  24  (^nur  bei  seltenen 
Verbrechen";  s.  jedoch  auch  8.  63  u.  Anh.  I,  S.  152).  Über  die  Beurteilung 
der  „infamierenden  Strafen'^  in  dieser  Zeit  s.  i.  all^^em.  auch  noch  M  a  1  b  1  a  n  k , 
Gesch.  d.  P.G.-O.,  §60,  S.  271,  Nr.  14;  Gei  b,  Uhrb.  II,  8.  424:  über  die  gesetz- 
liche Beschränkung  der  Infamie  durch  Friedrich  den  Großen  (1756) 
6.  V.  Bar,  flandb.  I,  S.  157. 

1 )  So  indirekt  schon  Diderot,  Noten  zu  Beccaria  (Oeuvres  compl.  T.  IV, 
p.  69;  vgl.  E  8  s  e  1  b  0  r  n,  a.a.O.  S.  117.  Anm.  *);  s.  ferner Observations  sur  le  traite 
des  delits  et  des  peines  bei  Brissot,  Bibl.  phil.  T.  I,  p.  306;  Michaelis, 
Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  115,  116;  Beseke,  Versuch,  S.  91,  Nr.  14  a.  E.; 
Gmelin,  Grunds.,  §  29,  S.  67;  Kleinschrod,  Syst  Entw.  Ili,  §74,  S.  143, 
Pflaum,  Entw.  I,  Abschn.  4,  §  46,  S.  41 ;  v.  G  r  o  l  m  a  n ,  Grundsätze,  §  1 19,  S.  56. 
2)  So:  Rössig,  „Vorerinnung"  zu  Hommels  Philos.  Ged.,  XXV,  Nr.  7. 
Gegen  zu  häufige  Verhängung  von  Ehrenstrafen  (mit  näherer  Motivierung) 
auch:  Beccaria,  §  18,  S.  118  (vergl.  Maillard,  Etüde  histor.,  p.  35); 
Filangieri,  System.  IV  (3,  2\  Kap.  31,  S.  78;  Michaelis,  Mos.  Recht 
VI,  Vorrede,  S.  116;  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  III,  §  75,  S.  146. 

3)  S.dio  Belege  dafür  bei  G  ü  n  t  h  e  r,  Wiedervergeltung  II,  S.  191  u.  Anm.4SS 
b.491  (über  F  i  I  a  n  g  i  e  r  i),  S.  206,  Anm.  547  (üb.  die  Franzosen  Marat, Brissot, 
Bernardi,  Servin),  8.  250  u.  Anm.  6S6  (über  Rathlef,  v.  Soden,  Wie- 
land, V.  Reder,  Gmelin),  S.  261,  Anm.  730  (überv.  Glo  bi  g  u  Huster). 

4)  S.  d.  Belege  dafür  bei  G  ü  n  t  h  e  r,  Wiedervergeltung  II,  S.  222,  Anm.  600 
(über Michaelis),  S.  223,  Anm.  604  (über  Zaupser),  S.  227,  Anm.  619  (über 
V.  Sonnenfels)  8.  250,  Anm.  687  (über  Püttmann,  Klein,  Gmelin, 
Wagnitz),  S.  261,  Anm.  730  (über  v.  Globig  u.  Husten;  vergl.  auch  S. 
250,  Anm.  689  u.  690  (über  spezielle  Empfehlung  de  mütigender Strafen  für 
Verbrechen  aus  Stolz,  Hochmut  u.  Überhebung).  S.  in  dies.  Bez.  auch 
schon  Beccaria,  §  18,  S.  118  u.  §28,  S.  136  (Günther,  Wieder\'gltg.  II, 
S.  185,  Anm.  459  a.  E.) 

5)  S.  die  Belege  bei  Günther,  Wieder vergeltg.  IT.,  S.  227,  Anm.  619 
(über  v.  Sonnenfels),  S.221,  222,  Anm.  600  (überv.Segneru.Mich  aelis 
[l(t2torer  nicht  ohne  Bedenken;  s.  darüber  näheres  noch  weiter  unten]),  S.  223, 
Anm.  604(überZaup8er),  S.  250/51,  Anm.  688  (überRathlef,  Quistorp, 
G m  e  1  i n  u.  a.  m.) ;  vgl.  ferner  noch  Letroene,  Vues  sur  la  justice  criminelle 


184  IX.    GCSTHER 

Behandlung  der  Geldstrafen  in  der  kriminalistischen  Anfklänings- 
literatur.  Zwar  waren  ihnen  manche  wegen  der  ihnen  anhaftenden 
Mängel  (nachteilige  Folgen  für  die  unschuldigen  Familienmitglieder^ 
ungleiche  Wirkung  für  Unbemittelte  und  für  Wohlhabende,  möglicher- 
weise auch  Ausbeutung  zu  Gunsten  fiskalischer  Interessen)  grundsätz- 
lich abgeneigt  0  oder  wollten  sie  doch  nur  auf  leichtere  Delikte, 
insbesondere  die  dem  Gebiete  des  Polizeistrafrechts  angehörigen  be- 
schränken^),  die  Mehrzahl    der   damaligen  Schriftsteller  aber  wollte 

(bei  B risset,  Bibl.  phil.  T.  il),  p.  310,  Aniu.  1;  M.  le  F.,  Plan  de  I^gislatiou 
etc.  (ebd.  T.  V.),  p.  410;  vgl.  auch  Ciaproth,  Entw.l,  B.  II,  S.  54,  Anm.  a.; 
Beseke,  Versuch,  S.  101;  Kleinscbrod,  Syst  Entw.  III,  §  74,  S.  143  und 
Anm.  c;  dafür  sogar  noch  v.  Savigny  (vgl.  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  93,  S.  32<»). 
Dagegen  n.  a.  aber  Fiiangieri,  Syst.  IV  (3,  2),  Kap.  31,  8.  68 ff.  u.  v. 
Giobig  u.  Huster,  Abhdig.,  S.  183  (vgl.  Günther,  Wiedervergeltung  II, 
S.  261,  Anm.  730). 

])  S.  z.  B.  Rössig,  „Vorerinnerung'^  zu  Hommel,  S.  XXVI,  Nr.  10:  „Man 
vermeide  soviel  als  möglich  die  Geldstrafen"   Über  die  Nachteile  der  (mög- 
lichst selten  und  jedenfalls  mit  Vorsicht  anzuwendenden)  Geldstrafen  s.  auch:  v. 
Soden,  Geist  I,   §  64,   8.  102ff.,  und  II,  §  376,  S.  12;    Wieland,  Geist  I, 
§  323  ff.,  S.  435;  v.  Red  er,  Das  peinl.  Recht  I,  Kap.  XIII,  §§2—4,  S.  328/29, 
§  8,  8.330;  Graebe,  Reformation,  §31,S.  59;  Gmelin,  Grunds.,  $31,  8.69, 
über  die  Vorzüge  s.  8  e  r  v  i  n ,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  8. 93 ff  ;  ausführlich 
über  Nachteile  und  Vorzüge:  Kleinschrod,  byst.  Entw.  III,  § 56ff., 
8.  106 ff.;  über  Fiiangieri  (Kap.  32,  8.  85  ff.)  s.  d.  Text.    Die  g  e  g  e  n  die  Geld- 
strafen vorgebrachten  Gründe  gelten  natürlich   in  erhöhtem  Maße  noch  von  der 
Vermögenskonfiskation.  S. dagegen u.  a. i. wes. schon Montesquiea, 
Espr.  des  lois,  L.  V,  chap.  15  (F  r  a  n  k,  Die  Wolf  f  schob  traf rcchtsphil.,  b.  68,  Anm.  29), 
femerBeccaria,   §17,   8.  117  (vgl.  Frank,  a.a.  0.,  8.  74;  Maillard,  Et 
hist,  p.  35);  Voltaire,  bes.  Dict.  philos.  Art.  „Confiscation**,  T.  V,  p.  125 ff., 
Commentaire,  §  21  (Bibl.  phil.  T.  I,  p.  255  ff.),   Prix   de  la  justice,  Art  XXVII 
(Bibl.  phil.  T.  V  ,  p.  lOOff. ;  8.  H  e  r  t  z ,  Voltaire,  S.  437  ;  G  ü  n  t  h  e  r  i.  G.-S.  61,  S. 
224,  Anm.  4;  Massonteil,  a.  a.  0.  p.  260  ff.);  Bernardi,  Discours  (Bibl.  phil. 
T.  VIII),  p.  88;   V.  Sonnenfells,   Grunds.  I,  §  368,  8.  447ff.;    v.  Soden, 
Geist  I,   §  64,   8.  102;   v.  Red  er,  Das  peinl.  Recht  I,   Kap.  XI,  §  21,   S.  316 
u.  Kap.  XIV,  §  2  ff.,  8.  327  ff.;  v.  Gl  ob  ig  u.  Huster,  Vier  Zugaben,  8.  153, 
Anm.*    (jedoch  nicht   ohne  Ausnahmen);   v.   Daiberg,    E^tw.,   8.  147;    v. 
Grolman,  Grunds.,  §  122,  8.57.    Jedoch  finden  sich  auch  dafür  (wenigstens 
für  „gewisse  Fälle**,  bezw.  in  beschränktem  Umfange)  Verteidiger 
vgl.  u.a.:  Fiiangieri  Syst  IV  (3,2),  Kap.  46,  8.434,  440;  Marat,  Plan,  p. 
136 ff.  (G.-S.  61,8. 225  u.  Anm.  2) ;  8  e  r  v  i  n ,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  102 ff.; 
V.  Eberstein,  Entw.,  §  12,  S.  6.  Zu  der  ganzenFrage   vcrgl.  bes.  auch  noch 
Kleinschrod,   Syst  Entw.,  III,   §§  57,   58,   8.  107,  108,  109 ff.  vbd.  mit  II, 
§  35,   S.  84,  Nr.  4  u.  §  36,  8.  85ff . ;  insbes.  über  die  Vemiögenskonfiskation  beim 
Selbstmorde  noch  näheres  weiter  unten. 

2)  S.  bes.  Rathlef,  Vom  Geiste.  S.  28,  29  (Geldstrafen  sind  „wider  die 
eigentlichen  Verbrechen  nicht  anzuwenden'');  v.  Daiberg.  Entw.,  8.  145 
(„Verbrechen   aus  Bosheit  müssen  niemals  mit  Geldstrafen   bestraft 


Die  Straf rechtsi-eform  im  Aufkinrun^szeitalter.  185 

sie  doch  auch  bei  schwereren  Verbrechen  zulassen,  und  insbeson- 
dere werden  sie  hier  mit  großer  Übereinstimmung  —  sowie  übrigens 
auch  im  Einklänge  mit  den  Ansichten  vieler  heutiger  Schriftsteller  i) 
—  als  zweckmäßiges  Strafmittel  für  alle  diejenigen  Fälle  empfohlen, 
in  denen  Gewinnsucht  oder  Geiz  als  die  regelmäßige  Triebfeder  des 
Handelnden   anzusehen   ist^),   wie   z.  B.   namentlich    beim  Wucher, 


werden"),  vgl.  §177,  Ziff.  3,  a;  8.  auch  noch  Graebe.  Reformation,  S.  59  (nur 
,,bei  geringen  Verbrechen*'.)  Diese  Anschauungen  stehen  im  Gegensätze  zu  der 
neuerdings  de  lege  ferenda  vielfach  befürworteten  (s.  H.  M  03' er- All  fei  d, 
Lehrb.,  §  50,  S.  300,  Anm.  5)  noch  größeren  Ausdehnung  des  Gebiets 
der  Geldstrafe. 

1)  Zu  den  in  meiner  Wiedervergeltung  III  1,  S.  553/54  Anm.  582,  S.  554 
Anm.  SS2,  S.  554,  Anm.  SS3,  S.55Sff.,  Anm.  889  angeführten  neueren  Schriftstellern, 
welche  Geldstrafe  (meist  in  Kumulation  mit  längeren  P^reiheitsstrafen)  für  „Ge- 
winnsuchtsdelikte"*  empfohlen,  s.  Jetzt  auch  Berolzheimer,  Die  Ent- 
geltung usw,  S.  467/68  und  System  V,  S.  255  (s.  jedoch  das.  auch  S.  254).  — 
Über  das  Hervortreten  der  Vergeltungsidee  dabei  s.  die  in  meiner  Wieder- 
vergeltung III  1,  S.  81,  Anm.  175  u.  S.  553/54,  Anm.  882,  883  zusammengestellten 
Angaben  u.  dazu  jetzt  etwa  noch:  Spira,  Die  Zuchthaus-  und  Gefängnis- 
strafe usw.,  S.  134  („eminente  Vergeltnngsstrafe'')  u.  Berolzheimer,  System  V, 
S.  254  („talion  ahn  liehe"  Bestrafung).  A.  M.  dagegen:  Hich.  Schmidt,  Auf- 
gaben, S.  111,  Anm.  2u.  S.  306,  Anm.  2  (u.  dazu  zu  Günther,  Wieder  Vergeltung 
III  1,  S.  557/58,  Anm.  888). 

2)  Es  ist  dies  mit  geringen  Ausnahmen  (wie etwa  Wieland,  Geist  I,  §  324. 
S.  436  ff.)  die  herrschende  Ansicht  gewesen.  S.  Rosenfeld  in  den  Mitteilungen 
der  I.K.y.,  Bd.  3  (1892),  S.  141  und  die  näheren  Nachweise  bei  Günther,  Wieder- 
vergeltung II,  S.  223,  Anm.  604  (über  Zaupser),  8.  2o5/6  n.  Anm.  542-  546  (über 
französische  Schriftsteller;  vgl.  über  Marat  auch  G.-S  61,  S.  221  u.  Anm.  1,  S.  239 
327),  S.  226,  Anm.  619  (über  v.  Sonnenfels),  S.  248  ff.  u.  Anm.  679, 680,  081  (über 
spätere  deutsche  Aufklärungsschriftsteller),  S.  261/62,  Anm.  731—733  (über  v. 
Globig  u.  Huster).  Über  Filangieri  s.  die  folgende  Anmerkung.  Be- 
stritten war,  ob  die  Anwendung  des  Grundsatzes  auch  auf  Diebstähle  angebracht 
erscheine.  Dafür  z.  B.  Filangieri,  System  IV  (3,2),  Kap.  54,  S.  667  (vgl.  m. 
Wiedervergeltung  II,  S.  ]91,  Anm.  487);  femer  Marat,  Bernardi  u.  andere 
Franzosen,  nur  in  der  Theorie,  nicht  für  Durchführung  in  der  Praxis  auch 
Brissot  de  Warville,  Theorie  II,  p.  60  (n.  s.  Günther,  Wiedervergeltung  II, 
S.  205,  Anm.  543);  Michaelis,  (s.  m.  Wiedervergeltung  II,  S.  221,  Anm.  599); 
V.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.  S.  85,  86  und  Vier  Zugaben,  S.  210 ff.  (jedoch 
hauptsächl.  nur  für  Diebstähle  aus  Gewinnsucht  oder  Faulheit  [s.m.  Wiedervergeltung 
II,  S.  262,  Anm.  734/5]).  Dagegen  schon  Montesquieu,  Esprit  des  lois,  L.  XIT, 
chap.  4,  p.  158  (s.  Günther,  Wiedervergeltung II,  S.  173,  Anm.  400)u.Beccaria, 
§  30,  S.  140,  141  (s.  Wiedervergeltung  n,  S.  184)  sowie  mehrere  deutsche  Schrift- 
steller (wie  Graebe  u.  Gmelin;  s.  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  249  und 
250,  Anm.  682  vbd.  mit  Anm.  683—85);  vgl.  etwa  auch  noch  Zaupser,  Ge- 
danken, Abhdlg.  2,  S.  66  (s.  jedoch  auch  S.  72);  v.  Soden,  Geist I,  §  41,  S.  68, 
§  331,  S.  370. 


186  IX.  Günther 

dann  auch  bei  Betrug,  Erpressung,  Münzfälschungen  u.  a.  m.  Als  eine 
Einseitigkeit  erscheint  uns  freilich  heute  die  ausschließliche  Be- 
schränkung der  Geldstrafen  auf  solche  Fälle,  wie  sie  z.  B.  von 
Filangieri  befürwortet  ist^y  einem  Schriftsteller,  der  sonst  auf 
diesem  Gebiete  sehr  gesunde  und  fortschrittliche  Gedanken  entwickelt 
hat,  die  bald  zahlreiche  Nachfolger  fanden.  Er  ist  es  u.  a.  gewesen, 
der  besonders  nachdrücklich  hingewiesen  auf  die  Ungerechtigkeit  der 
ein  für  allemal  gleichmäßig  fest  bestimmten  Geldstrafen  gegenüber  dem 
notleidenden  Armen  wie  dem  Reichen  —  der  ohne  die  geringste 
Furcht  „mit  dem  Beutel  in  der  Hand  auf  Verbrechen  ausgehen^ 
könne  ^)  —  und  daher  den  auch  in  der  Neuzeit  oft  wiederholten  (und  nur 
im  einzelnen  noch  spezieller  gefaßten)  Wunsch  geäußert  hat,  bei  der 
Festsetzung  des  Geldbetrags  auf  die  konkreten  Vermögensverhältnisse 
Rücksicht  zu  nehmen,  ihn  insbesondere  nach  einer  Quote  vom 
Vermögen  des  Übeltäters  zu  berechen.^)    Auch  das  „Abverdienen*" 


1)  System  IV  (3,2),  Kap.  32,  S.  S^,  90;  vgl.  Rosenfeld,  Mitteilungen  d- 
IX V.,  Bd.  3,  S.  141,  175/76;  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  190  Anm.  4S5 
u.  S.  191,  Anm.  4S6/7  (über  die  einzelnen  Fälle).  Nur  auf  Vermögensdelikte  wollte 
grundsätzlich  auchQuistorp  (Entw.,  §62,  S.  74,  75)  die  Geldstrafe  beschränken. 

2)  Filangieri,  a.  a.  0.  S.  86,  u.  zu  vgl.  überhaupt  das.  S.  85—88.  Vor 
ihm  haben  übrigens  u.  a.  auch  schon  Montesquieu,  Esprit  des  lois,  Li  vre  VI 
chap.  18,  p.  80u.  Risi,  Observations  sur  des  matiercs  de  jurisprudcnce  crim,  bei 
Brissot,  Bibl.  phil.  T.,  II  p.  78,  nach  ihm  bis  in  die  Gegenwart  hinein  viele  (auch 
deutsche)  ^Schriftsteller,  wie  aus  der  Auf  klärungscpochc  bes.  Soden,  Greist  I,  §  64, 
S.  113,  Beseke,  Versuch,  S.  91,  Kleinschrod,  Syst  Entw. II,  §59 ff.,  S.  111  ff., 
diesen  Übelstand  mehr  oder  weniger  betont.  Vgl  auch  schon  oben  S.  184,  Anm.  1. 
Näheres  noch  bei  Rosen  fei  d,  a.  a.  O.  S.  147  u.  Anm.  11,  12  u.  S.  148. 

3)  S.  Filangieri,  a.  a.  0.,  S.  89,  90 ff.  u.  dazu  Rosenfeld,  a.  a.  0. 
S.  174  ff.  (Würdigung  der  Verdienste  F*8),  S.  177  ff.  (Kritik  der  gegen  F.  er- 
hobenen Einwände)  u.  t^.  187,  Anm.  87;  vgl.  auch  Geib,  Lehrb.  II  S.  422; 
Schmolder,  Die  Geldstrafe  (in  seinen  „Drei  Aufsätzen  zur  Reform  des  Straf- 
rechts", betr.  die  Freiheitsstrafe,  die  Berufsverbrecher  u  die  Geldstrafe,  Bert.  18S9», 
S.34  ff.;  Gü nt her ,  Wiedervergeltung  II,  Vorwort.  S.  VIII  u.  Anm.  14  u.  S.  190/91  u. 
Anm.  485;  Berolzheimer,  System  V,  S.  255,  Anm.  16.  Über  Vorläufer 
Filangieris  in  dieser  Beziehung (Carpzov,  Frolich  v.  Fröblichsberg  u. 
Montesquieu  [Esprit  des  lois,  Li\Te  Vl.ch  18])  s  Rosenfeld,  a- a.  0.  S.  175; 
vgl.  auch  Berolzheimer,  System  V,  S.  218  u.  Anm.  18u.S.255,  Anm.  15  (über 
Montesquieu);  über  seine  Nachfolger  inderAufklärungsepoches.  Rosenfeld,  a. 
a.  0.  b.  176  u.  Anm.  62  u.  Berolzheimer,  System  V,  S.  255,  Anm.  16.  Zu 
den  hier  genannten  u.  zum  Teil  näher  angeführten  Schriftstellern  (v.  Soden,  Geist!« 
§  64  S.  103,  WieUnd,  Geist  I.  §  326,  S.  442  u.  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  111 
§  58,  S  111  u.  §  60,  S.  113)  s.  auch  noch  Rathlef ,  Vom  Geiste,  S.  28,  Beseke, 
Versuch,  S.  91,  v.  Globig  u.  Huster,  Vier  Zugaben,  S.  154 ff.  u.  v.  Grol- 
man,  Grunds.  (1.  Aufl.),  §121,  S.  57.  Über  die  Vorschläge  der  Neuzeit,  wonach 
meist  anstatt  einer  Quote  vom  Vermögen  eine  solche  vom  Einkommen,   ins- 


Die  Straf  rech  tsrcform  im  Aufklärungszeitalter.  187 

der  Geldstrafen  durch  Arbeit  an  Stelle  des  bloßen  ^Absitzens",  d.  h. 
der  Einsperrang  für  die  Fälle  der  „Uneinbringlicbkeit'^,  das  heute 
gleichfalls  auf  dem  kriminalpolitischen  Reformprogramm  steht  i),  ist 
schon  damals  von  manchen  in  Vorschlag  gebracht  worden.  ^)  Endlich 
wünschte  man  wohl,  um  dem  öfter  erhobenen  Vorwurfe  der  Eigen- 
nützigkeit des  Staats  zu  begegnen,  daß  „der  Ertrag  der  Strafgelder 
zum  Besten  der  Armen  oder  anderer  öffentlicher  Anstalten*'  (wie 
Schulen,   Strafanstalten,   „Manufakturen"  usw.)  verwendet"   werde.  ^) 


bes.  eine  Berechnung  derselben  nach  der  Steuerstufe  (so  11.  a.  bes.  v.  Liszt) 
befürwortet  werden,  s.  näheres  aus  der  umfau^eichen  Literatur  etwa  bei  Rosen - 
feld,  a.  a.  0.  S.  173  ff.  178  ff.,  u.  indess.  Verfs.  btrafmittcl,  S.  310  ff.,  femer  bei 
Schmolder,  a.  a  0.  S.  35  ff-,  Seidler  in  Conrads  Jahrbüchern  für  Nationalöko- 
nomie usw.,  N.  F.  Bd.  20,  S.  246,  250 ff.,  Reinhardt,  Geldstrafe  und  Buße,  Halle 
Diss.  1S90,  S.  70  ff.,  v.  Liszt,  Strafrechtl.,  Aufs.  L  S.  406  ff.,  II,  S.  117  u.  396; 
Berolzheimer,  Entgeltung,  S.  407  und  Anm.  1,  S.  40$  u.  System  V,  S.  255 
(dagegen),  Köhler,  Reformfragen,  S. SOff.,  H.Meyer-Allfeld,  Lehrb.,  §50, 
S.  301  u.  Anm.  11  ff. 

1)  S.  darüber  etwa:  Roscnfeld,  Mitteilungen d.  I.K.V.  IV,  S.  202  ff.  u. bes. 
S.  210  ff.  u.  ^trafmittel,  S.  314  ff.;  Schmolder,  a.  a.  0.  S.  3S ;  Reinhardt, 
a.  a.  0.  S.  71;  Stooß  in  d.  Schweiz  Z.  für  Strafr.,  /Jahrg.  4  (1891).  S.  344  ff.; 
V.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  L  S. 369 ff.,  386  (Literaturangaben,  auf  S.  37516),  II, 
S.  117.1S;  Richard  Schmidt,  Aufgaben,  S.  305  u.  Anm.  3,  4;  Seuffert,  Ein 
neues  St.G.B.  für  Deutschland,  S.  76,  77;  Berolzheimer,  Entgcltung,  S.  469ff., 
471  u.  Sj^stem  V,  S.  257  u.  Anm.  20,  21. 

2)  S.  bes.  V.  Globig  u.  Huster,  Abhandlung,  S.  98:  „Wenn  der  Ver- 
brecher (die  Geldstrafe)  zu  tragen  nicht  imstande  ist,  so  muß  sie  abgearbeitet 
werden"  (durch  Handarbeit);  vgl.  ebd.  S.  93:  „kann  (der  Dieb  das  Gestohlene 
und)  die  Geldstrafe  nicht  ganz  aufbringen,  so  muß  man  ihn  das  übrige  ab- 
arbeiten lassen'';  S.  252  (betr.  die  Geldbußen  in  den  Polizeigesetzen) :  „Wenn  der 
Schuldige  ganz  unvermögend  ist,  so  bat  er  . . .  die  Geldbuße  abzuarbeiten,'^ 
vgl.  auch  noch  Vier  Zugaben,  S.  161  ff.  u.  214  ff.,  239;  dafür  ferner:  Ser  vin,  Über  die 
peinl.  Gesetzgbg.,  S.  94;  Bescke,  Versuch,  S.  93,Nr.  22;  Kleinschrod,  Syst.  Ent- 
wicklung III,  §  59,  S.  112  (vgl.  Rosenfeld,  Mitteilungen  d.  I.K.V.  3,  S.210u. 
Anm.  21);  v.  Grolman,  Grunds.  (1.  Aufl.),  §  122,  S.  57,  Anm.  a  („Der  Arme 
muß  seine  Geldstrafe  abverdienen ^).  Für  Abarbeitung  der  Entschädigung 
der  Eigentümer  durch  vermögenslose  Diebe  s.  u.  a.:  v.  Soden,  Geist  I,  §  332, 
S.  371.  —  Über  den  von  Filangieri  (a.  a.  0.  S.  96)  in  Anschluß  an  die 
attische  Gesetzgebung  gemachten  u.  neuerdings  von  Schmolder  (a.a.O.,  S. 37) 
wieder  aufgenommenen  Vorschlag,  bis  zur  völligen  Bezahlung  der  Geldstrafe  dem 
Verurteilten  die  Ausübung  der  staatsbürgerlichen  Rechte  zu  untersagen,  s.  Rosen - 
feld,  Mitteilungen  d.  LK.V.  3,  S.  199. 

3)  S.  Quistorp,  Entwurf,  §  62,  S.  74,  75  vbd.  mit  Kleinschrod,  Syst, 
Entw.  III,  §  58,  S.  HO  u.  Anm.  a  (Lit.- Angaben);  vgl.  auch  Beseke,  Verauch, 
S.  95,  Nr.  8,  v.  G 1 0  b  i  g  u.  H  u  s  t e  r ,  Vier  Zugaben,  S.  1 53,  S  e  r  v  i  n ,  Über  die  peinl. 
Gesetzgbg.,  S.  378  und  (betr.  Verwendung  der  Konfiskationen)  Marat, 
Plan  etc.,  p.  137  (G.-S.  61,  S.  225). 


isS  IX.  Günther 

Unter  den  die  menschliche  Freiheit  beeinträchtigenden  Strafmitteln 
findet  die  früher  so  viel  mißbrauchte  Landesyerweisnng  kaum 
noch  ernsthafte  Verteidiger,  da  man  zu  der  Einsicht  gekommen,  daß 
dieser  „Tausch  benachbarter  Länder   über  pestilenzialische  Ware^^  ^) 

—  ganz  abgesehen  von  seiner  Staats-  und  völkerrechtswidrigen 
Beschaffenheit  —  auch  zur  Erfüllung  der  wichtigsten  Strafzwecke, 
namentlich  aber  desjenigen  der  Besserung,  ganz  unbrauchbar  und 
vielmehr  nur  dazu  geeignet  sei,  das  Vagabunden-  und  Bettlertum  zu 
befördern,  ja  den  aus  seiner  Heimat  Verstoßenen  in  der  Fremde  aufs 
neue  auf  die  Bahn  des  —  nun  vielleicht  gewerbsmäßig  betriebenen 

—  Verbrechens  zu  treiben.  2j  Denn  ein  solcher  Unglücklicher  —  so  führt 
z.  B.  Michaelis  aus  —  „kann  in  der  Fremde  nicht  unterkommen 
und  Brot  verdienen;  wo  Polizei  ist,  leidet  man  ihn  nicht  einmal, 
wenn  man  weiß,  wer  er  ist,  er  wird  sich  also  in  den  Wäldern  verstecken, 
da  Gesellschaft  finden,   und  so  wird  aus  dem,    der  einmal  gestohlen 


1)  So:  Michaelis,  Mos.  Recht  (2.  Aufl.)  VI,  Vorwort,  S.  78;  vgl  überhaupt 
das.  S.  78,  74  u.  92. 

2)  S.  im  allg.  6eib,  Lehrb.  I,  S.  811  u.  11,  S.  405.  Im  einzelnen  sind  hervor« 
zuheben  als  Gegner  dieser  Straf art  etwa  (außer  Michaelis)  bes.  noch  Vol- 
taire, Dict.  phil,  Art,  „Bannissement**,  T.  EI,  p.  251/52  (vergl.  Hertz,  Voltaire, 
S.  429  u. 480);  Brissot  de  Warville,  Theorie  I,  p.  186/7;  Bernardi, 
Discoure  (Bibl.  phil.  T.  VIII),  p.  83;  Zaupser,  Gedanken,  Abb.  2,  S.  51 ; 
H  0  m  m  e  1 ,  Übers,  v.  Beccaria,  Vorwort,  S.  XVIII  n.  S.  152,  Anm.  e  u.  an  anderen 
Stellen  (vgl.  auch  G  e  i  b  ,  a.  a.  0. 1,  S.  311) ;  P  Q 1 1  m  a  n  n ,  Eiementa  jur.crim.  §  74, 
p.  34;  Malblank,  Gesch.  d.  P.G.-O.,  §49,  8.228;  Corrodi  in  Pütts 
Repert.  I,  S.  148/49;  Wieland,  Geist  I,  §829  ff.,  S.  447  ff.;  v.  Red  er.  Das 
peinl.  Recht  I,  Kap.  XI,  §  20,  S.  314/15;  Joh.  Jak.  Cella  (Markgrfl.  Ansbach- 
Bayrouthischer  Justizrat  und  Beamter  zu  Ferrieden),  Freimütige  Gedanken  über 
Landesverweisungen,  Arbeitshäuser  u.  Bettelschube,  Ansbach  1784;  Gmelin, 
Grundsätze,  §  23,  S.  50,  Nr.  5  u.  §  26,  S.  60ff.;  Pf  laum ,  Entw.,  Teil  I,  Ab- 
schnitt 4,  §  48,  S.  42;  v.  Dalberg,  Entw.,  S.  146;  Kleinschrod,  Syst. 
Entwickl.  I,  §  35,  S.  84,  Nr.  3,  III,  §  45,  46,  S.  87  ff.  Dagegen  wollten  sie, 
wenigstens  in  beschränktem  Umfange ,  noch  zulassen:  Fllangieri; 
System  IV  (3,2),  Kap.  36,  S.  188 ff.,  S ervin.  Über  die  peinl.  Gesetzgebung, 
S.  90  ff.  vgl.  auch  S.  219,  260  u.  dazu  oben  S.  161,  Anm.  l,d.;  v.  Sonn  enf  eis, 
Grundsätze  I,  §  859,  S.  443/44,  (vgl.  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  227,  Anm. 
619);  Quistorp,  Entwurf,  §  58,  S.  70  ff..  §283,  S.  310,  §305,  S.  337  (vgL  oben 
S.  161,  Anm.  1, d.);  v.  G 1  o  b  i  g  u.  Muster,  Abhdlg.,  S.  77,  79,  244  (vgl.  oben 
S.  161,  Anm.  l,  d.).  Vier  Zugaben,  S.  120  ff. ;  v.  E  b  e  r  s  t  e  i  n ,  Entw.,  §  12,  S.  6.  Über 
die  Beseitigung  der  Landesverweisung  durch  die  Gesetzgebung  des  18.  Jahr- 
hunderts (in  Preußen  schon  durch  Kab.-Ordre  v.  4.  Jan.  1744)  s.  u.  a.  M  al  b  1  a  n  k . 
Gesch.  d.  P.G  -0.,  S.  229  u.  Anm.  a;  vgl.  auch  Hälschner,  Geschichte,  S.  181 ; 
V.  Bar,  Handb.  I,  S.  157;  Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  36  u.  Anm.  1;  Rotc- 
ring  in  d.  Monatssehr.  f.  Krim.-Psyeh.,  1  (19045),  S.  583. 


Die  Straf  rech  tBreform  im  Aufkiärungszeitalter.  189 

hatte,  ein  vom  Diebstahl  Lebender,  dann  bald  ein  Räuber  werden^^  0 
Um  so  lebhafterer  Empfehlung  erfreute  sich  dagegen  wegen  ihrer 
gleichmäßigen  Gerechtigkeit  und  Zweckmäßigkeit  (Zulässigkeit  vieler 
„Modifikationen'^  sowohl  die  eigentliche  Freiheitsstrafe,  d.  h. 
die  Einsperrung  in  „wohl  eingerichtete'^  Strafanstalten  (Zuchthäuser 
und  „Spinnhäuser'',  Arbeitshäuser,  Gefängnisse,  Festungen  und  andere 
Arrestlokale)  %  die  seit  dem  Auftreten  des  englischen  Philanthropen 
John  Howard  jetzt  allmählich  auch  in  Deutschland  anfangen 
menschenwürdigere  Zustände  aufzuweisen  3),  als  auch  die  —  schon  an 


1)  Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  73.  —  Die  ErÖrteruDgen  der  Aufklärangs- 
fichriftstclier  über  die  Mängel  der  Landesverweisung  erinnern  in  vieler  Beziehung 
an  die  durch  den  Fall  des  „falschen  Hauptmanns  von  Köpenick^'  unlängst  wieder 
mehrfach  vorgebrachten  Bemängelungen  unseres  Rechts  zur  Ortsausweisung  in- 
folge der  Polizeiaufsicht  (R.St.G.B.  § 39).  S.  hierzu  jetzt  Mittcrmaier»  Die 
Polizeiaufsicht^  in  der  Deutach.  Juristen-Ztg.  v.  1.  Jan.  1907  (Jahrg.  XII,  Nr.  1), 
S.  26  ff.  u.  Anm.  1  (Literaturangaben);  vgl.  auch  Kohl  er,  Reformfragen»  S.  36 
u.  Anm.  1. 

2)  Vgl.  imallgem.  Malblank,  Gesch.  d.  P.6.-0.,  §49,  S.  229 ff.;  Geib, 
Lehrb.  I,  S.  311,  337.  Im  einzelnen  s.  u.  a.  (über  die  Vorzüge  der  Freiheits- 
flti-afen)  bes.  noch  Filangieri,  System  IV  (3,2),  Kap.  33,  S.  101;  Servin, 
Cber  die  peinl.  Gesetzgbg  ,  S.  70  ff.;  v.  S  o  d  e n ,  Geist  I,  §  62,  8.  98;  B  e s  e  k  e , 
Versuch,  Kap.  6,  Abschn.  2,  8.  42  u.  Kap.  7,  Abschn.  2,  S.  78/79;  G  m  e  1  i  n,  Grund- 
sätze, §25,  S.  52ff.;  Kleinschrod,  Syst.  £ntw.  III,  §24.  S.  49ff.  (während 
§  25,  S.  51  ff.  die  Bedenken  gegen  die  Freiheitsstrafen  würdigt);  v.  G  r  o  1  m  a  n » 
Grundsätze  (1.  Aufl.),  §  116,  S.  54.  Insbes.  über  Verwendung  der  Arbeits-  und 
Zuchthäuser  für  Delikte  aus  Müßiggang  und  Faulheit  s.  die  Angaben  bei 
Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  252,  253,  Anm.  696  (vgl.  auch  schon  oben 
S.  140,  Anm.  1).  Cber  häufige  Androhung  der  Zuchthausstrafe  in  den  Entwürfen  von 
Beseke,  v.  Dalbergu.  v.  Eberstein:  ebenda s. S.  253,  Anm.  697.  Auch 
der  sog.  Hausarrest  ist  vereinzelt  schon  damals  ebenso  wie  heute  (s.  u.  a.  jetzt 
Auch  Groß  in  d.  Monatsschr.  für  Krim.-Psych.  2,  S.  209  gegen  v.  Liszt, 
ätrafr.  Aufs.  II,  S.  385,  Aschaffenburg,  Bekämpfung,  S.  236  u.  a.  m.;  vgl. 
im  allg.  Rosenfeld,  Strafmittel,  S.  302)  für  ganz  leichte  Delikte  ao  Stelle  der 
kurzen  Gefängnis-  (od.  Haft-)  Strafen  empfohlen  worden,  so  z.B.  von  v.  Red  er. 
Das  peinl.  Recht  I,  Kap.  XIII,  §  10,  S.  325,  v.  Dalberg,  Entw.,  S.  146  u. 
Kleinschrod,  Syst  Entw.  III,  §  30,  S.  62.  Gegen  bloße  Einsperrung  ins 
Gefängnis  ohne  Arbeit  ausdrücklich :  H  o  m  m  e  1 ,  Übersetzg.  v.  Beccaria,  S.  150, 
Anm.  d;  gegen  die  Festungshaft:  Klein,  Fragmente,  S.  74. 

3)  Daß  der  Vollzug  der  Freiheitsstrafen  auch  der  Gesundheit  der  Ge. 
f angenen  nicht  nachteilig  sein  dürfe,  wird  in  dieser  Zeit  mehrfach  ausdrück- 
lich verlangt  S.  z.  B.  Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  121;  Qui- 
8 1  o  r  p,  Entw.,  §  60,  S.  73;  P  f  1  a  u  m ,  Entw.  I,  Abschn.  4,  §  49,  S.  43;  v.  S  o  d  e  n  ^ 
Geist  I,  §  62,  S.  97;  Wieland,  Geist  I,  §322,  S.  434  (und  dazu  Berolz- 
h  e  i  m  e  r ,  System  V,  S.  224,  Anm.  69);  v.  R  e  d  e  r ,  Das  peinl.  Recht  I,  Kap.  XI, 
§6,  S.  803;  V.  Globig  u.  Huster,  Vier  Zugaben,  S.  104;  Gmelin,  Grund- 
sätze, §  25,  S.  52 ;  v.  Dalberg,  Entw.,  S.  214,  Nr.  2 ;  vgl.  auch  v.  G  r  o  I  m  a  n, 


190  IX.   GÜKTHEB 

ältere  Vorbilder  sich  anlehnende  —  dauernde  („ewige")  oder  zeitweilijxe 
.jKnechtschaff' (esclavage),  d.  h.  die  Verwendung  von  Sträflingen 
zum  Straßen-  und  Festungsbau  LSchanzarbeit^),  zum  „Graben  der 
Kanäle,  zur  Errichtung  von  Dämmen  gegen  Überschwemmungen,  Aus- 
trocknung von  Sümpfen*^  0>  in  Bergwerken  2»,   staatlichen  Münzwerk- 

Gmnds.i  §  117,  S.  55.  Über  sittliche  Besserung  u.  Geistesbildung  der  Gefangenen 
8.  bes.  V.  Dalberg,  Entw.,  S.  201,  203 ff.  (vgl.  auch  oben  S.  160,  Anm.  1). 
Nach  Ab  egg  im  G.S.  15  (lb63),  S.  116,  Anm.  3  hat  K.  v.  Dalberg  sich 
lebhaft  mit  dem  Wunsche  beschäftigt,  das  sog.  pens3'lvanischc  Gefängnis* 
System  (vgl.  v.  L  i  s  z  t ,  Lchrb.,  §  61 ,  S.  255/59)  in  den  Strafanstalten  des  danaaligen 
Großherzogtums  Frankfurt  einzufuhren.  —  Cber  schärfere  Trennung  der  Unter- 
suchungs-  u.  Strafgefangenen  s,  u.  a.  Malblank,  Gesch.  d.  P.G.-O.,  §  60, 
S.  271,  Nr.  13;  vgl.  auch  G.-S.  61,  5>.  475  ff.  (bes.  über  Marat,  Servan  u. 
Brissüt  [Bibl.  phil.,  T  I,  p.  147  ff.  u.  T.  VII.  p.  198  ff.]);  M.  le  F.,  Bibl.  phii-, 
T.  V.  p-  813  ff.  u.  a.  m. 

1)  So:  Quistorp,  Entw.,  §  57,  S.  67 ff.,  s.  auch  Grundsätze  des  deutsch,  peinl. 
Rechts  (8.  Aufl.,  1783),  §  78,  S.  131);  ganz  ähnlich  der  Sizilianer  di  Blasi. 
Sulla  legislazione  etc.,  §  10  (ed.  G  u  a  r  d  i  o  n  e),  p.  39,  40 ;  vgl.  femer  Voltaire 
(an  verschiedenen  Stellen;  s.  näh.  bei  M  a  s  m  o  n  t  e  i  1 ,  La  l^gisl.  crim.,  p.  247/4^); 
Tomaso  Nataleis.  Archiv  f.  Strafr.  48,  S.  33,  Anm.  158);  Filangieri. 
System  IV  (3, 2),  S.  109  ff.;  Versuch  der  gcsetzgeb.  Klugheit  usw.  (Allg.  deutsche  Bibl. 
Bd.  39,  S.  405);  Rössig,  „Vorerinneraug"  zu  Hommels  Phil.  Ged.,  S.  XXVI, 
Nr.  11;  Gmelin,  Grundsätze,  §  25,  S.  53ff.j  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  III. 
§  36,  S.  71  ff.  vbd.  mit  §  37,  38,  ^.  73 ff.,  76  ff.  (betr.  Einwendungen  dagegen)  und 
die  schon  oben  S.  165,  Anm.  3  (betr.  die  erwünschte  „PublizitäC*  solcher  Strafen)  an- 
geführte Monographie  Rleinschrods  v.  J.  1789.  Während  heute  die  „Strafarbeit 
ohne  Einsperrung^'  meist  nur  als  Ersatz  nicht  beizuti-eibender  Geldstrafen  (s.  oben 
S.  187),  Anm.  1  empfohlen  worden  (s.  jedoch  auch  S 0  uf  f  e  r  t ,  Ein  neues  Strafgesetz- 
für Deutschland,  S.  59 :  für  Verwendung  von  Zuchthausstrafüngen  zur  Bodenkultur), 
also  i.  wes.  für  eine  leichtere  btrafe  als  das  Gefängnis  usw.  anzusehen  ist,  hielten 
damals  manche  die  Verurteilung  zu  jenen  öffentlichen  Arbeiten  für  schwerer 
als  die  zur  Zuchthausstrafe  (vgl.  z.  B.  K 1  e  i  n  s  c  h  r  o  d ,  a.  a.  0.  III,  S.  71,  der 
übrigens,  gleich  anderu,  dabei  voraussetzt,  daß  die  Verurteilten  „außer  der 
Arbeitszeit  sich  im  Zuchthause  oder  einem  andernVerwahrungs- 
orte  aufhalten**  müssen).  Über  Verwendung  von  Verbrechern  zu  lebens- 
gefährlichen Arbeiten  zum  Zwecke  der  Unschädlichmachung  s.  schon 
oben  S.  161,  Anm.  1,  c;  dagegen  aber  ausdrücklich  v.  G  r  o  1  m  a  n  ,  Grunds.,  §  UH. 
S.  55,  Anm.  1. 

2)  Vgl.  darüber  auch  schon  oben  S.  161,  Anm.  1,  c  u.  S.  175,  Anm.  1.  (über 
Rössig  u.  V.  G 1  o  b  i  g  u.  H  u  s  t  e  r).  Speziell  dafür  die  Monographie  von  Joh 
Chr.  Knötzschker,  Von  der  Verdammung  der  Missetäter  zur  Bergarbeit, 
Leipzig  1795  (u.  dagegen:  Chr.  (rottl.  Hübner,  Über  die  Anwendbarkeit  der 
Bergbaustrafe  iu  Deutschland,  Leipz.  1796);  vgl.  dazu  auch  Böhmer,  Handb., 
S.  723,  Nr.  2641  ff.;  s.  auch  K  1  e  i  nschrod,  Syst.  Entw.  III,  §  36,  S.  72,  Anm.  h., 
§  38,  S.  77.  Die  zuweilen  von  Ausländern  (wie  z.  B.  dem  Sizilianer  Tomaso 
Natale,  [s.  Archiv  f.  Strafr.  48,  S.  33  u.  Anm.  158])  noch  einer  nützlicheren 
Ausgestaltung  für  fähig  gehaltene  Galeerenstrafe  ist  in  Deutschland  damals 


Die  StrafrechtBreform  im  Aufkläiiingszeitalter.  191 

Stätten  oder  zu  ähnlichen  öffentlichen  Arbeiten  (ohne  Einsperrung^ 
wenn  auch  event  mit  Anlegung  von  Fesseln  bei  der  Arbeit  sowie 
mit  Verwahrung  in  einer  Strafanstalt  außerhalb  der  Arbeitszeit)  zum 
Nutzen  des  Gemeinwesens,  das  dabei  nicht  nur  die  Kräfte,  sondern 
auch  die  —  etwa  vorhandenen  —  besonderen  Fähigkeiten  der  Ver- 
urteilten möglichst  für  sich  auszubeuten  berechtigt  erscheint.  0  Erwähnt 
sei  noch,  daß  manche  die  Freiheitsstrafen  im  e.  S  für  ganz  besonders 
,,im  Geiste  des  Verbrechens  liegend"  erachteten  bei  der  Freiheits- 
beraubung, wobei  sich  wieder  die  Annäherung  an  die  Talionsidee 
sehr  deutlich  bemerkbar  macht  ^);  eine  allgemeinere  Fassung  hat  schon 


nur  sehr  selten  noch  als  zweckmäßig  empfohlen  worden,  so  z.  B.  von  v.  R  e  d  e  r , 
Das  peinl.  Recht  I,  Kp.  XI,  §  17,  S.  812  (wenigstens  „bei  Abgang  guter  und 
hinlänglicher  Gefängnisse");  vgl.  etwa  auch  noch  Q  u  i  s  t  o  r  p,  Entw.,  §  57,  S.  68. 
Ausdrücklich  dagegen:  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  III,  § 39,  S.  78f f.  Die 
heute  so  heiß  umstrittene  Deportation  in  die  Kolonien  als  Strafe  (zur 
Literatur  vgl.  u.  a.  v.  L  i  s  z  t ,  Lchrb.,  §  15,  S.  77,  Anm.  8;  Berolzheimer, 
Entgltg.,  S.  460,  Anm.  1  u.  System  V,  S.  243/44,  Anm.  1 ;  K  i  t  z  i  n  g  e  r,  die  I.K. V., 
S.  116  ff.)  hat  auch  damals  schon,  bes.  als  Mittel  der  Unschädlichmachung,  Für- 
sprecher gehabt  Vgl.  darüber  schon  oben  S.  162,  Anm.  1,  e.  Ausführliche  Er- 
örterung über  die  Gerechtigkeit  und  Zweckmäßigkeit  dieser  Strafart  bes.  bei 
Filangieri,  System  IV  (3,  2),  Kp.  33,  S.  110—119,  der  (wie  auch  andere 
damals)  dabei  übrigens  die  Verschickung  auf  (unbewohnte)  Inseln  von  der 
Dopoitation  in  Kolonien  sondert 

1}  So  ist  Voltaire  in  Verfolgung  des  Grundsatzes,  durch  die  Strafe  „den 
Verbrecher,  der  sich  gegen  die  Interessen  der  menschlichen  Gesellschaft  vergangen 
hat,  in  den  Dienst  dieser  Interessen  zu  stellen^  (Frank,  Die  Wolffsche  Straf- 
rechtsphilosophie, S.  64/65),  zu  der  Forderung  gelangt,  den  Falschmünzer 
als  „excelient  artiste**  iu  den  Münzwerkstätten  des  Staates  zu  beschäftigen.  Vgl. 
Voltaire,  Prix  de  la  justice,  Art  VII  (Bibl.  phil.  T.  V.  p.  27 1,  s.  auch 
Commentaire,  §  17  (Bibl.  phil.  T.  J,  p.  250);  vgl.  Frank,  a.a.O.,  S.  65  u. 
Anm.  12;  Günther,  Wiedervgltg.  II,  S.  175,  Anm.  416;  Masmonteil,  a.  a. 
0.  p.  251.  Derselbe  Vorschlag  kehrt  wieder  bei  Brissot  de  Warville,  Dis- 
cours (Bibl.  phil.  T.  VI)  p.  94  u.  Theorie  I,  p.  315/16,  bei  dem  Pseudonymen  M. 
le  F.,  Plan  de  legisiation  etc.  (Bibl.  phil.  T.  V.)  p.  424  u.  (für  den  Rückfall)  aiicli 
bei  M  a  r  a  t ,  Plan  etc.,  p.  170  (vgl.  Günther,  Wicdervergltg.  II,  S.  206,  Anm.  546 
u.  im  G.-S.  61,  S.  246/247  u.  Anm  1),  desgl.  bei  v.  G 1  o  b  i  g  u.  H  u  s  t  e  r ,  Abhdg., 
S.  176  u.  Graebe,  Über  die  Reformation,  §  3S,  S.  72  (vgl.  Günther, 
Wiedervgltg.  II,  S.  237,  Anm.  657.  S.  249,  Anm.  681).  —  R  ö  s  s  i  g,  „Vorcrinnerung'" 
zu  Hommeis  Philos.  Ged.,  S.  XXV,  Nr.  5  wollte  „Holzbeschädiger^  mit  „  Arbeiten 
in  den  Geholzen,  Ausrotten  der  Wurzeln  usw.''  ivgl.  Günther,  Wiedervgltg.  11, 
S.  238,  Anm.  657  a.  E),  Beccaria  (§.  31,  S.  142)  ,.den  Tabakschmuggler  im 
Dienst  der  Tabakregie  beschäftigt  wissen*^  (Frank,  a.  a.  0.,  S.  74). 

2)  S.  bes.  V.  Globig  u.  Hustcr,  Abhdg.,  S.  200,  202,  Vier  Zugaben, 
S.  107  u.  Kleinschrod,  Syst  Entw.  II,  Ö.  56,  Nr.  5,  III,  §  29,  S  61,  (vgl. 
m.  Wiodci-vergltg.  II,  S.  258,  Anm.  699,  ?.  255,  Anm.  722  u.  S.  268,  Anm.  738) 


192  IX.  Günther 

der  Satz,  ,,daß  nichts  natiirlicber'^  sei,  „als  daß  man  denjenigen  seiner 
Freiheit  beraube,  der  sich  derselben  (durch  ihren  Mißbrauch)  anwürdig 
machte^  0?  iind  von  hier  aus  war  es  dann  nur  noch  ein  Schritt  zu 
der  Behauptung,  daß  „die  Einschränkung  der  bürgerliehen  Freiheit"* 
diejenige  Strafe  sei,  die  „in  dem  Geiste  aller  Verbrechen'*  liege,  da 
sie  ja  sämtlich  „das  Verlangen  nach  Ungebundenheit  voraus- 
setzen^^  2)  Damit  war  dann  die  Grundlage  für  die  Ausbildung  unseres 
modernen  Strafensystems  geschaffen,  in  dem  die  Freiheitsstrafen  be- 
kanntlich fast  zur  „Universalmedizin^'  geworden  sind. 


Über  Marat,  Plan  de  K^gisl.  er.,  p.  ISO  s.  m.  Wieder vergltg.  II,  S.  207,  20S  u. 
Anm.  554  u.  G.-S.  61,  S.  324  u.  Anna.  5. 

1)  So:  Kleinschrod,  Syst.  Entw.  III,  §  24,  S.  50;  vgl.  v.  Globi^  n. 
Haster,  Abhd»:,  S.  S9,  Nr.  2  (und  dazu  Günther,  Wiedervgltg.  II,  S.  282. 
Anm.  737);  Wagnitz,  Historische  Nachrichten  I,  S.  s  (s.  m.  Wiedervergltg.  IL 
8.  253,  Anm.  69S);  über  Marat  s.  G.-S   61.  S   324,  Anm.  4  a,  E. 

2)  V.  Grolman,  Grundsätze  (l.  Aufl.»,  8  131,  S.  60. 


(Schluß  folgt.)*) 


*)  Nicht  mehr  benutzt  werden  konnte  leider  für  diesen  Teil  des  Aufsatzes 
die  Inaug.-Dissertation  von  EdwinBaumgarten,  Das  Recht  der  Persönlichkeit 
und  der  Zweckgedankc  in  Theorie  und  Praxis  des  deutschen  Strafrechts  von  der 
Carolina  bis  auf  Feuerbach,  Tüb.  1907,  die  im  §  3,  S.  32,  .33,  Anm.  16  u.  bes. 
in  §§  5—7,  S.  49—90  auch  die  Schriftsteller  der  Aufklärungszeit  berücksichtigt  hat. 


Kleinere  Mitteilungen. 


Von  Medizinalrat  Dr.  P.  Näcke. 


1. 


Dr.  Y6r^,  In  memoria m.  Wieder  ist  ein  Großer  der  Wissen- 
schaft dahingegangen.  Am  22.  April  1907  starb  in  Paris  Dr.  F6t^,  bis 
zuletzt  Arzt  am  Bic^tre  daselbst.  Es  hat  wohl  wenige  Männer  gegeben, 
die  in  ihrem  Leben  so  viel  und  so  gat  gearbeitet  haben,  wie  er.  Sein 
Hauptgebiet  war  Psychiatrie,  Neurologie  und  Psychologie,  doch  hat  er  viele 
Beiträge  auch  auf  anderen  Gebieten  der  Medizin  geliefert.  Von  seinen 
größeren  Werken  seien  hier  nur  folgende  namhaft  gemacht:  les  ^pilepsies 
et  les  ^pileptiques,  1890,  ein  grundlegendes  Werk;  la  pathologie  des  ^mo- 
tions,  1892;  1e  traitement  des  ali^n^s  dans  les  f amilies,  1893;  sensations 
et  mouvement,  1900;  d^g^n^rescence  et  criminalit^,  1900;  la  famille  n^vro- 
pathique,  1892;  Tinstinct  sexuel,  1902;  les  troubles  de  rintelligence,  1902; 
Hysteria,  epilepsy  and  the  spasmodic  neurose,  1897  etc.  Daneben  hat  er 
noch  Tausende  von  Artikeln  geschrieben,  die  stets  interessant  und  anregend 
waren  und  deren  Krankengeschichten  immer  eine  Fundgrube  bleiben  werden. 
Er  war  ein  scharfer  Beobachter,  akkurater  Experimentator,  geistreicher 
und  eleganter  Schriftsteller  und  viel  gesuchter  Arzt.  Ein  wahrer  Kliniker, 
wie  er  sein  soll !  Für  die  Kriminalanthropologie  hat  er  Bedeutendes  geleistet, 
aber  fast  alle  Theorien  Lombrosos  mit  wuchtigen  Schlägen  bekämpft.  Die 
letzten  Jahre  seines  Lebens  füllten  Studien  experimentell-psychologischer  Art 
aus  und  sein  großes  Werk:  travail  et  plaisir,  1904  gibt  davon  ein  glänzendes 
Zeugnis.  Es  ist  bewunderungswürdig,  was  er  in  einem  kleinen  und  schlecht 
ausgestatteten  Laboratorium  doch  fertig  brachte!  Er  arbeitete  fast  stets 
allein  und  hat  wohl  keine  Schüler  hinterlassen.  Ein  großer,  starker  Mann, 
erinnerte  er  auch  in  seinem  ruhigen,  wortkargen  Wesen  an  seinen  nor- 
mannischen Ursprung.  Möge  sein  Name  recht  lange  fortleben  und  möchten 
seine  Schriften  den  Zahn  der  Zeit  nicht  verspüren!    Requiescat  in  pace! 


AfohlT  ffir  Kriminalanthropologio.  28  Bd. 


13 


194  Kleinere  Mitteilangeii. 


2. 

Ein  Fall  von  Panik.  Paniken  sind  namentlich  bei  Theaterbränden^ 
Schiffsnnfällen  etc.  bekannt.  Eine  solche  in  einem  Bergwerke  ist  mir 
bisher  nicht  vorgekommen,  d.  h.  wo  ein  Grund  zur  Panik  nicht  vorlag. 
Nach  dem  Gmbenunglfick  von  Coarri^i*e8  in  Frankreich  (1906)  fuhr  eine 
Kettungsmannschaft  mit  einem  Arzte  hinab,  um  zu  retten,  was  noch  zu 
retten  war.  Nun  wird  in  der  ,, Revue  de  Psychiatrie^,  1907,  p.  165,  aus 
einem  Buche  von  Dervieux,  betitelt:  ^^tude  m^dioo-l^gale  de  la  catastrophe 
de  Courri^res'^  (Paris,  1906),  folgendes  von  dem  Verfasser,  der  Augenzeuge 
war,  berichtet:  „ Plötzlich  kommt  aus  einer  Galerie  großes  Lärmen  . .  .  Leute, 
welche  die  Gänge  (la  mine)  zwecks  Rettung  sondierten,  kommen  atemlos 
angestfirzt,  zwecklos  umherlaufend  (courant  au  hasard)  und  brflllend:  , Feuer! 
Glocke!  Rette  sich,  wer  kann!^  Diese  Leute  hatten  den  Begriff  aller  Dinge 
verloren  .  .  .  Lampen  waren  während  des  tollen  Laufens  in  der  Finsternis 
zurückgelassen  worden.  Und  wie  nötig  wäre  gerade  Licht  gewesen,  wenn 
es  nötig  gewesen  wäre,  durch  einen  anderen  Gang  (puits)  zu  fliehen !  . . . 
In  dem  Kohlenschmutze  gab  es  ein  unbeschreibliches  Chaos  von  Leuten, 
die  sich  untereinander  balgten,  die  gegen  die  Leichen  kämpften,  welche  sie 
(bis  hierher)  geschleppt  hatten,  indem  sie  dieselben  schlugen,  beschimpften  . . . 
Alle  diese  tollgewordenen  Retter  setzten  ihren  Lauf  fort  bis  zur  Auffahrts- 
stelle (accrochage)  und  schlugen  sich  wild,  um  hinaufzusteigen  . .  .  Nichts 
war  geschehen,  was  diese  Panik  gerechtfertigt  hätte  .  . .  Außerdem,  unter 
Einfluß  der  Kohlenoxydvergiftung,  fand  man  in  den  ersten  Tagen  Bergleute, 
die  in  den  Galerien  ohne  Gedächtnis,  ohne  Orientierung,  schwankend,  fast 
stupid  umherinien  . .  .  Andere,  nachdem  die  Periode  der  Verwirrtheit  vorüber 
war,  bemühten  sich,  die  Lücken  ihres  Gedächtnisses  durch  Konfabulationen 
auszufüllen.'^  Man  sieht  also  eine  Reihe  klassisclier  psychologischer  Symptome 
bis  zur  vollendeten  Psychose  bei  den  verunglückten  Bergleuten  und  eine 
unbegreifliche  Panik  mit  ihren  interessanten  psychischen  Folgen  bei  den 
üettern. 


3. 

Erröten  beimaßet cn.  Bresier  schreibt  in  dem  Vorworte  seiner 
Schrift:  Religionshygiene  (Halle,  Marhold,  1907)  folgendes:  „Vor  Beginn  der 
Reise  hatte  ich  noch  die  Äußerung  Kaufs  gelesen,  daß  viele  Mensdien 
ciTöten,  wenn  sie  beim  Gebet  überrascht  werden,  und  hatte  seine  Erklärung, 
daß  der  Fromme,  der  Zwecklosigkeit  des  Betens  bewußt,  sich  dessen  schäme, 
widerspruchslos  hingenommen.  Ich  konnte  mir  nun  sagen,  daß  Kant  nur 
Nordländer  hatte  beten  sehen.^  Dieser  Passus  frappierte  mich  sehr.  Ich 
besinne  mich  nicht,  einen  Betenden  bei  uns  unter  obigen  Umständen  er- 
rötet gesehen  zu  haben.  Das  sind  sicher  sehr  große  Ausnahmen  und  wenn 
Kant  einmal  einen  solchen  Fall  sah,  so  ist  sein  Ausspruch,  daß  „viele  er- 
röten^, sicher  falscli.  Kant  hat  namentlich  in  der  letzten  Zeit,  wie  es 
scheint,  schleclit  beobachtet  und  seine  Altei*sschrift:  ^Über  die  Macht  des 
Gemüts*^  strotzt  von  falschen  Beobachtungen,  laienhaften  Ansichten  und 
pranz  oberflächliclien  Urteilen,  sodaß  man  sogar  diese  Schrif  therangezogen 
liat,    um    zu    beweisen,    daß    der    große    PJiilosoph    zuletzt    an    dementia 


Kleinere  Mitteilungen.  195 

senilis  litt.  Wie  dem  auch  sei,  jedenfalls  ist  das  EiTöten  während  des 
Gebets,  unter  Beobachtung  eines  Dritten,  sehr  selten  und  dann  wohl  nur  bei 
Hochgebildeten.  Wie  aber  ist  es  dann  zu  erklären?  K an t's  Erklärung  ist 
sicher  ftir  gewöhnlich  eine  total  verfehlte!  Das  Nächstliegende  ist  jedenfalls, 
daß,  da  unter  den  heutigen  Gebildeten  der  dogmatische  Glaube  immer  mehr 
sdiwindet,  ein  kindlicher  Glaube  immer  seltener  sich  vorfmdet,  der  Betende 
dessen  bewußt  wird  und  unwillkürlich  bei  Anwesenheit  eines  Gebildeten  — 
nicht  eines  Ungebildeten  —  sich  quasi  seiner  Bethandlung  schämt,  freilich 
dies  unedle  GefQhl  wahrscheinlich  sofort  unterdrtlcken  wird.  Nun  ist  immer- 
hin die  Kant'sche  Erklärung,  der  Betende  werde  der  Zwecklosigkeit  seines 
Gebets  inne  und  schäme  sich  dessen,  bisweilen  möglich.  Wir  stoßen 
hier  nämlich  auf  das  interessante  Problem,  daß  selbst  Ungläubige  oft  doch 
noch  beten  und  zwar  nicht  nur  .in  Geistes-  und  Leibesnöten.  Wie  ist  dies 
zu  erklären?  Im  Innern  ringen  2  Mächte:  der  Verstand  und  das  Herz. 
Jener  sagt:  es  gibt  keinen  Gott  oder  wenigstens  keinen  menschlich  zu 
denkenden,  das  Herz  ersehnt  ihn,  hofft,  trotz  des  Verstandes,  und  so  fühlt 
sich  auch  der  Vorurteilsloseste  bisweilen  in  die  kindlichen  Bahnen  gelenkt 
und  betet.  Er  weiß  wohl,,  daß  schon  das  Gebet,  d.  h.  das  Bittgebet,  wie 
es  gewöhnlich  geschieht,  einem  Gotte  gegenüber  eigentlich  eine  unwilrdige 
Handlung  ist,  da  Gott,  wie  er  übermenschlich  zu  denken  ist,  nicht  durch 
menschliche  Bitten  gerührt  werden  darf.  Aber  auch  die  höhere  Bedeutung 
des  Gebets:  die  einer  Danksagung  oder  Vertrauenskundgebung,  erscheint 
einem  höchsten  Gotte  gegenüber  völlig  überflüssig  und  zwecklos,  freilich 
ethisch  höher,  als  ein  bloßes  Bittgebet,  das  Gottes  Ratschluß  ablenken  soll. 
Dieses  Dualismus  im  Innern  wird  man  sich  nun  bei  näherer  Selbstbeobachtung 
leicht  bewußt  und  kann  sich  unter  Umständen  dessen  schämen.  Diesen 
nicht  abzuleugnenden  Dualismus  aber  mit  manchen  Theologen  als  strikten 
Beweis  für  das  Vorhandensein  eines  Gottes  hinzustellen,  ist  ein  falscher 
Schluß.  Er  beweist  eben  nur,  daß  unser  Egoismus  einen  Gott  und  zwar 
einen  persönlichen  Gott  wünscht  und  in  weiterem  Ausbaue  dieser  Idee, 
auch  eine  Unsterblichkeit  der  Seele  —  schon  das  Bestehen  einer  Seele 
überhaupt  ist  eine  petitio  principii  —  und  einen  Himmel,  wo  wir  weiter 
fortleben  und  unsere  lieben  Abgeschiedenen  wiedersehen  dürfen.  Welche 
ungeheure  Kluft  aber  ist  zwischen  diesem  egoistischen  Wunsche  und  einem 
Beweise  für  das  Bestehen  dieser  Dinge!  Praktische  und  „reine^^  Vernunft 
können  keinen  Pakt  schließen  und  die  erstere  ist  nur  eine  Konzession  an 
das  schwache  Fleisch! 


4. 

Die  Wichtigkeit  der  kollateralen  erblichen  Belastung. 
Von  jeher  ist  die  erbliche  Belastung  mit  Nerven-,  Geisteskrankheiten,  chro- 
nischen Leiden  anderer  Art,  Selbstmord,  Apoplexie  etc.  seitens  der  Eltern 
als  sehr  wichtig  hingestellt  und  das  mit  vöUigem  Recht.  Dagegen  wollen 
manche  die  sogenannte  kollaterale  Belastung,  d.  h.  seitens  der  Seitenlinien 
und  Geschwister  gar  nicht  oder  nur  wenig  bewerten.  Das  geht  entschieden 
über  das  Ziel  hinaus!  Wenn  die  Eltern  gesund  sind,  aber  eins  oder  gar 
mehrere  Geschwister  des  Unterauchten  konstitutionell  erkrankt  sind,  oder 
auch  ein  Onkel,  eine  Tante  oder  gar  mehrere  Glieder,  so  ist  dies  ein  nicht  zu 


Vj* 


196  Kleinere  Mitteilungen. 

unterschätzender  Hinweis  darauf,  daß  im  Hauptstamm  niclit  alles  in  Ordnung 
ist,  und  wenn  ein  näheres  Suchen  vielleicht  auch  nichts  bei  den  Eltern 
finden  kann,  so  wird  es  vielleiclit  bei  den  Großeltern  oder  deren  Geschwistern 
gelingen.  Eben  lese  ich  folgendes  schöne  Beispiel  kollateraler  Erblichkeit 
in  dem  vortrefflichen  Buche  von  A.  MorselU:  la  tuberculosi  etc.  Torino  1907, 
p.  21.  Verf.  fand  nämlich  bei  Frauen,  deren  Brüder  lungenschwindsflchtig 
waren,  einen  hohen  Prozentsatz  (39,5  ®/o)  anormaler  Schwangersdiaften. 
Mit  Recht  fQgt  er  dem  bei:  ^das  kann  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  man 
bedenkt,  dass  die  Infektion  (i.  e.  Schwindsucht)  der  Ausdruck  der  dystro- 
phischen Verhältnisse  nicht  nur  der  Kranken  ist,  sondern  aller  Personen,  die 
mit  ihnen  von  einem  oder  von  beiden  Erzeugern  stammten. .  .^  Selten 
sehen  wir  diese  Verhältnisse  so  rein,  wie  in  obigem  Bdspiele.  Der 
tuberkulöse  Bruder  etc.  ist  also  ein  Hinweis  darauf,  daß  seine  Geschwister 
wahrscheinlich  einen  wenig  widerstandsfähigen  Organismus  geerbt  haben. 
Sind  gar  mehrere  Geschwister  erkrankt,  dann  wird  die  Sache  nodi  viel 
wahrscheinlicher.  Verwickelter  dagegen  ist  es  bei  Erkrankung  von  Onkel 
oder  Tante,  doch  auch  hier  kann  ein  Hinweis  gegeben  sein,  der  zu  weiteren 
Nachforschungen  und  Untersuchungen  auffordert^  besonders  w^enn  reichliche 
und  wichtige  Entartungszeichen  vorhanden  sind,  die  bekantlich  mit  Vorliebe 
bei  körperlich  oder  geistig  Minderwertigen  auftreten. 


0. 

Determinismus  und  freier  Wille.  Trotzdem  wohl  alle  irgendwie 
naturgeschichtlich  und  biologisch  Gebildeten  und  Denkenden  Deterministen 
sind,  sogar  unter  den  Juristen,  so  wird  doch  der  freie  Wille  als  Grund 
der  Sti*afmöglichkeit  noch  festgehalten,  und  das  mit  Hecht.  Aber  diese  schein- 
bare Inkongruenz  der  Auffassung  wird  von  vielen  nicht  empfunden,  von 
anderen  verschiedentlich  zu  erklären  versucht.  Ich  lese  z.  B.  bei  West  er- 
m  ar  ck  1)  folgendes :  „ .  • .  sieht  der  Determinismus  die  Person  selbst  in  jeder  Be- 
ziehung als  ein  Produkt  von  Ursachen  an.  Er  nimmt  uiclit  an,  daß  irgend 
ein  Teil  seines  Willens  vor  seiner  Entstehung  durch  diese  Ursachen  be- 
standen hat;  sein  Wille  wird  nicht  von  ihnen  gezwungen,  er  ist  von  ihnen 
hervorgerufen...  wir  unterscheiden  zwischen  dem  ursprünglichen 
Selbst  einer  Person  und  dem  Selbst,  das  teils  angeboren,  teils  das  Er- 
zeugnis äußerer  Umstände  ist  Sein  angeborener  Charakter  gehört  zu  seinem 
ursprünglichen  Selbst. . . .  Nach  den  Fatalisten  ist  der  angeborene  Charakter 
gezwungen,  und  daher  kommt  persönliche  Verantwortung  nicht  in  Frage. 
Nach  den  Deterministen  ist  der  angeborene  Charakter  verursacht,  und 
dies  hat  mit  der  PVage  der  Verantwortlichkeit  nichts  zu  tun.  Die  sitt- 
lichen Gefühle  haben  mit  dem  Ursprung  des  angeborenen  Charakters  eben- 
sowenig zu  schaffen  wie  die  ästhetischen  mit  dem  Uraprung  des  schönen 
Objekts." 

Dagegen  wäre  nun  so  Manches  einzuwenden.  Der  Mensch,  der  Charakter, 
ist  sicher  nur  das  Produkt  von  Endo-  und  Exogenem.  Das  Äußere  kann 
aber  nur  auf  das  Angeborene  insoweit  einwirken,  es  entwickeln,  unterdrücken 


1)  Weste rmarck:  Ursprung  und  Entwickelung  der  Moralbegriffe.   Bd.  I, 
Leipzig,  Klinkhardt,  1907,  p.  277. 


Kleinere  Mitteilungen.  197 


oder  umwandeln,  als  es  vorhanden  ist.  Nicht  ursprünglich  Vorhandenes  kann 
unmöglich  nachträglich  erzeugt  werden.  Das  alles  bezieht  sich  also  auf 
Intellekt  und  Gemüt.  Es  ist  folglich  falsch^  wenn  Westermarck  sagt;  die 
sittlichen  und  ästhetischen  Gefühle  hätten  mit  dem  angeborenen  Charakter 
nichts  zu  tun.  Sicher  sind  ihre  Anlagen  angeboren  und  werden  nachher 
nur  durch  das  Milieu  beeinflußt.  Wer  keine  Anlagen  dazu  mitbringt^  bleibt 
sein  Lebelang  ein  sittlicher  und  ästhetischer  Idiot.  Da  nun  Alles  —  der  Anlage 
nach  wenigstens  —  angeboren  ist  und  späterhin  durch  das  Milieu  beeinflußt 
wird,  so  ist  sicher  jede  menschliche  Handlung  determiniert,  die  gute  wie 
die  böse;  insofern  ist  sie  nicht  dem  Menschen  zuzurechnen,  die  Guttat 
nicht  als  Verdienst,  das  Verbrechen  nicht  als  strafwürdig.  Denn  auch 
der  Wille  ist  seiner  Grundlage  nach  angeboren,  seiner  Stärke 
und  Qualität  nach«  Warum  lassen  wir  trotzdem  die  Zurechnungs- 
fähigkeit nicht  fallen,  da  jeder  freie  Wille  eigentlich  Illusion  ist? 
Wur  müssen  hier  vom  Durchschnittsmenschen  ausgehen.  Derselbe 
hat  eine  mittlere  Beanlagung  zum  Guten  und  Bösen,  eine 
mittlere  Stärke  des  Willens  etc.  von  der  Natur  mitbekommen. 
Bei  der  gleichmäßigen  Schulerziehung  und  der  Annahme,  daß  auch  die  Familien- 
erziehung eine  leidliche  ist,  folgert  man  —  und  das  mit  Recht  — 
daß  der  Betreffende  in  der  Lage  war,  im  Laufe  der  Zeit  eine 
gewisse  Summe  von  sittlichen  Motiven  und  Hemmnissen  in 
sich  aufzunehmen,  die  dann  in  die  Determinationskette  mit  ein- 
greif en.  Geschieht  das  nun  nicht,  so  strafen  wir  ihn,  weil  es  —  ob  stets?  — 
seine  Schuld  war,  daß  er  sich  keine  Mühe  gab,  sie  aufzunehmen  und  an- 
zuwenden, trotzdem  er  die  Fähigkeiten  dazu  hatte.  Ob  nun  letzteres  wirk- 
lich immer  zutrifft,  könnte  nur  von  Fall  zu  Fall  entscliieden  werden, 
was  viel  zu  zeitraubend  wäre.  Wir  können  in  der  Praxis  nur  die 
pathologischen  oder  an  das  Pathologische  streifenden  Fälle 
ausnehmen  und  müssen  für  die  große  Masse  eine  Zu- 
rechnungsfähigkeit statuieren,  die  freilich  strikte  im  wissenschaft- 
lichen Sinne  nicht  gilt,  da  alles  deteminiert  ist,  auch  der  gute  Wille.  Jeder 
wird  aber  durch  Selbstbeobachtung  wissen,  daß  er  nach  ernstem  Überlegen 
etc.  gute  Motive  erlangen  kann;  das  für  und  wider,  das  bei  jedem  reifen 
Entschlüsse  entschieden  mitspricht,  zeugt  dafür.  Voraussetzung  ist  jedoch 
immer,  daß  er  den  betreffenden  Willen,  dies  zu  überlegen,  zu  tun,  von  der 
Natur  mitbekommen  hat.  Trotz  dieses  Hin-  und  Herschwankens  der  Urteile  bis 
zum  Entschlüsse  handelt  es  sich  aber  nicht  um  eine  eigentliche  freie  Tat, 
sondern  wieder  nur  um  Determination,  die  gegeben  ist.  Wenn  nun 
Westermarck  einen  scharfen  Unterschied  zwischen  „Gezwungenem  Sein*' 
und  „Verursacht  Sein^'  des  angeborenen  Charakters  macht;  so  halte  ich  dies 
für  bloße  Spiegelfechterei  mit  AVorten.  Der  angeborne  Charakter 
ist  durch  endogene  und  meist  nicht  näher  bekannte  Ursachen  erzeugt 
und  als  solcher  gezwungen,  etwas  zu  tun  oder  zu  lassen,  soweit 
nicht  das  Milieu  modifizierend  eingriff. 


6. 

Vorsicht  bei  der  Stellung  der  Diagnose:   Homosexualität! 
Während  bekanntlich  die  Homosexuellen  geneigt  sind,    auf  oft  nur  leiclite 


198  Kleinere  Mitteilangcn. 

Indizien  hin  Jemanden  unter  den  Großen  und  Berühmten  den  Ihrigen  bei- 
zuzählen, stemmen  sich  wiederum  sehr  viele  Heterosexuelle  mit  allen  Kräften 
dagegen,  einen  ihrer  Lieblinge  zum  Urning  ,,degradiert''  zu  sehen,  selbst 
wenn  offenkundige  Beweise  vorliegen.  Also  hier  gilt  es  wieder  nicht  die 
Mittelstraße  zu  verlassen  und  Vorsicht  zu  üben,  andererseits  aber  dieselbe 
nicht  bis  zum  äußersten  Skeptizismus  zu  treiben.  Wer  z.  B.  unvordngenommen 
die  Biographie  und  Gedichte  Walt.  Wliitmann's  ^)  liest,  kann  an  dessen  Homo- 
sexualität nicht  zweifeln,  ebenfalls  kaum  an  der  Michelangelo's.  Nun  hat 
s.Z.  H.  Fuchs^)  versucht,  Richard  Wagner  zu  den  Bisexuellen  und  zwar  den 
piatonischen  zu  zählen,  besonders  auf  Grund  seiner  Opern  und  auch  seiner 
merkwürdigen  Vorliebe  für  gewisse  Stoffarten.  Ich  habe  dies  in  meiner  Be- 
sprechung seines  Werkes  (Das  Archiv,  Bd.  XIII,  p.  183),  worin  ich  ausdrück- 
lich zur  größten  Vorsicht  malmte,  als  ungenügend  für  eine  Diagnose  hin- 
gestellt. Jetzt  versucht  Pudor  (in  „Geschlecht  und  Gesellschaft,  Nr.  3,  1907'^ 
wieder  R.  Wagner  als  Bisexuellen  hinzustellen  3),  und  zwar  gleichfalls  und 
allein  auf  Grund  seiner  Briefe  an  eine  Putzmacherin,  worin  er  Tcrschiedene 
Stoffe  bestellt.  Nun  genügt  dies  noch  lange  nicht  zur  sicheren  Diagnose, 
sonst  müßten  z.  B.  alle  Stoffetischisten  Homosexuelle  sein,  was  doch  total 
verkehrt  ist.  Sie  können  es  sein,  brauchen  es  aber  nicht  zu  sein!  Eben- 
sowenig sind  alle  Frauen,  die  gewisse  männliche  Neigungen  aufweisen. 
Uminden.  Zur  Diagnose  gehören  meist  mehrere  Momente,  eines 
genügt  nicht,  höchstens  wäre  dies,  wie  ich  das  schon  oft  sagte 
die  Art  der  Träume  und  zwar  in  Serien.  Wie  aber  die  Träume 
Richard  Wagners  etc.  waren,  wissen  wir  nicht.  Pudor  leistet  sich  jedoch 
an  dem  gleichen  Orte  noch  folgenden  Satz:  „Ein  Musiker  von  Talent  muß, 
es  ist  nicht  anders  denkbar,  in  hohem  Grade  bisexuell  veranlagt  sein,  denn 
um  Musik  in  sich  aufzunehmen,  muß  man  hingebend  wie  ein  Weib  sein, 
unendlich  viel  mehr  hingebend,  als  gegenüber  den  anderen  Künsten, 
denn  bei  der  Musik  dringt  der  Ton  auf  dich  ein,  zieht  in  dein  Inneres  und  lebt 
dort  drinnen  in  dir.  Also  die  verkörperte  Receptivität  setzt  die  Musik 
voraus.  Deshalb  macht  die  Musik  ihre  Jünger  bisexuell,  wenn  sie  es  noch 
nicht  sein  sollten,  und  macht  sie  immer  mehr  bisexuell,  wenn  sie  es  sind  ^' 
Die  reine  Phantasie!  Pudor  dürfte  unter  den  „Musikern  von  Talent*^  (Defi- 
nition?) sicher  nur  eine  kleine  Zahl  Homo-  oder  Bisexueller  finden,  wenn- 
gleich bekanntlich  Künstler  und  Schauspieler  insbesondere  ein  relativ  starkes 
Kontingent  dazu  stellen.  Man  kann  sich  ganz  in  eine  Musik  hineinarbeiten, 
von  ihr  erschüttert  sein,  und  braucht  deshalb  noch  lange  nicht  bisexuell 
zu  sein  oder  nur  zu  fühlen.  In  Bayreuth  sitzen  sicher  die  meisten  „ge- 
aichten",  tief  empfindenden  Wagnerianer  und  wie  viele  davon  sind  wohl 
bisexuell?  Wie  viele  unter  den  Verehrern  und  Kennern  von  Beethoven, 
Brahms?  Bei  nur  irgend  einer  kleinen  gegebenen  Anlage  kann  man  sich 
ganz  in  einen  Meister  hineinarbeiten,  mit  ihm  schwärmen  und  trauern  und  man 


1)  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen  etc.  VII.  Jahrg.   (1905.)    Bertz: 
Walt  Whitmann,  Bd.  I,  p.  153. 

2)  H.  Fuchs:   Richard  Wagner  und   die  Homosexualität.     Berlin,   Bare- 
dorf  1903. 

3)  Zitiert  im   „Monatsbericht    des  Wissenschaftl.  humanitären   Komitees'', 
Berlin,  1907,  1.  Juli,  S.  140. 


Kleinere  Mitteilungen.  idd 

ist  docli  nicht  bisexuell  geworden !  Ganz  dasselbe  bezieht  sich  auf  Litteratur 
und  anderes.  Ist  einer  aber  wirklich  bisexuell,  dann  dürfte  er  es  durch  Musik 
nicht  noch  mehr  werden,  wie  Pudor  sagt.  Zu  beweisen  hat  er  aber  vor 
allem;  daß  die  Musik  jemanden  bisexuell  machen  kann.  Die  Musik  kann 
vielleicht  auch  ohne  Text  sexuell  erregen,  sicher  aber  nie  homo-sexuali 
sieren.  Man  sieht,  Pudor  versteht  von  Homosexualität  sehr  wenig!  Und 
was  sagt  seine  Phrase,  daß  die  Musik  in  das  Innere  des  Hörers  eingehe 
und  drinnen  lebe?  Erweise  mir  den  wirklich  ethisierenden  Einfluß  der  Musik 
nach !  Derselbe  ist  so  wenig  wirklich  vorhanden,  daß  gerade  unter  großen 
Musikern  genug  elende  Kerle  waren  und  sicher  erscheint  auch  Richard 
Wagner  nicht  als  ein  wirklich  großer  Charakter! 


7. 


Die  Wertung  des  Weibes  als  Kulturmesser.  In  einer 
größeren  Arbeit  ^)  hatte  ich  gesagt,  daß  für  die  Höhe  und  Gesundheit 
einer  Kultur  die  Stellung  des  Weibes  im  sozialen  Leben  wahr- 
scheinlich noch  der  beste  Wertmesser  sei;  sinke  die  Stellung,  so 
sei  das,  meines  Erachtens,  vielleicht  das  beste  Zeichen  einer  eingetreteneu 
Entartung  des  Volkes.  Nun  beweist  allerdings  Westermarck  2),  daß  für  frühere 
Zeiten  dies  nicht  gilt,  indem  mehrere  der  niedersten  Rassen  die  Weiber  höher 
achten  als  fortgeschrittenere  Kulturen.  Ich  muß  demnach  meinen  Satz  ein- 
schränken, indem  ich  nun  sage,  daß  Obiges  nur  für  unsere  europä- 
ischen  Kulturen  zu  gelten  hat  Dann  aber  scheint  mir  diese  These 
durchaus  richtig  zu  sein.  Gerade  weil  nun  in  den  romanischen  Ländern, 
besonders  aber  in  Frankreich,  die  Frau  immer  noch  hoch  steht,  kann  ich 
mich  durch  andere  Momente,  wie:  Abnahme  der  Körpergröße,  Zunehmen 
der  Zahl  von  Militäruntauglidien  etc.,  besonders  aber  Abnahme  der  Geburten, 
nicht  überzeugen,  daß  eine  Degeneration  hier  schon  eingetreten  sei.  Alle  diese 
Momente  machen  sich  auch  im  übrigen  Europa  und  bei  uns  geltend  und 
man  hat  sogar  schon  vom  „sterbenden  Europa^  gesprochen!  So  weit  sind 
wir  noch  lange  nicht!  Die  Verhältnisse  liegen  so  kompliziert,  daß  wir  die 
einschlägigen  Verhältnisse  gar  nicht  durchschauen  und  nur  einzelne  Punkte 
in  dem  dichten  Gewebe  von  Ursachen  und  Wirkungen  erkennen  können. 
Foi-twährend  wediseln  diese  Verhältnisse  und  so  ist  wohl  sicher  zu  er- 
warten, daß  auch  gewisse  alarmierende  Zeichen  nur  temporär 
sind  und  wieder  verschwinden  können.  Wir  sterben  noch  lange 
nicht  aus  oder  ab  und  die  „gelbe  Gefahr^  ist  hoffentlich  auch  nur  eine 
Chimäre.  

8. 

Die  Feinde  der  Assoziations-Psychologie.  Seitdem  die  Eng- 
länder die  Assoziations-Psychologie  zur  allgemeinen  Herrschaft  gebracht 
haben  und  zwar  zur  Zufriedenheit  der  Meisten,  hat  es  immer  einige  Köpfe 

1)  Näcke:  Zur  angeblichen  Entartung  der  romanischen  Volker,  speziell 
Frankreichs.    Archiv  für  Rassen-  und  Geselischafts-Biologic,  Juli  1906. 

2)  Westermarck :  Ursprung  und  Entwickelung  der  Moralbegriffe.  Leipzig 
1907,  p.  529. 


200  Kleinero  Mitteilangen. 

gegeben,  die  damit  nicht  übereinstimmten.  In  den  letzten  Jahren  wetterte 
immer  dagegen  Moebius,  ohne  aber  Besseres  dafür  hinzustellen.  Jetzt  tat 
es  Cox  in  Utrecht^).  Er  wendet  sich  namentlich  gegen  Ziehen 's  Leitfaden 
der  physiologischen  Psychologie  und  gegen  dessen  Assoziations-Pbychologie. 
Er  behauptet  nun,  daß  sie  zu  Unrecht  besteht,  wie  schon  die  plötzlich 
entstandenen  Gedanken,  die  „Einfälle'^,  beweisen,  und  die  Entsdilüsse,  für 
die  keine  Motivierung  sich  finden  lasse.  Ebenso  gelte  es  von  den  plötzlich 
auftauchenden  Wahnideen  Geisteskranker.  Man  könne  dies  nebenbei  nur 
durch  eine  logische  Verarbeitung  unterhalb  der  Bewußtseinsschwelle  erklären 
oder  vielmehr  so,  daß  die  ^Instinkte''  plötzlich  neue  Gedanken  lösen.  Dem 
kann  ich  aber  durchaus  nicht  ganz-  beistimmen.  Sicher  ist  die  Assoziations- 
lehre  nur  Theorie,  ein  Schema,  aber  von  heuristischem  Werte.  Sicher  femer 
ist  es,  daß  die  wenigsten  Menschen  wissen,  wie  sie  zu  einem  Entschlüsse 
oder  Gedanken  gekommen  sind.  Derjenige  aber,  der  an  Introspektion 
gewöhnt  ist,  wird  in  den  meisten  Fällen  alle  oder  wenigstens 
einen  Teil  der  Zwischenglieder  und  den  Ausgangspunkt  der 
Assoziationskette  ausfindig  machen,  so  daß  per  analogiam  die  große  Wahr- 
scheinlichkeit besteht,  daß  dies,  wenn  nicht  für  alle,  so  doch  für  die 
meisten  Fälle  gilt.  Wo  man  solches  aber  nicht  nachweisen  kann,  liegt 
es  immerhin  nahe  genug,  emen  ähnlichen,  im  Unterbewußtsein  verlaufenden 
Prozeß  anzunehmen.  Daß  Trieb,  Instinkt  plötzlich,  wie  Cox  annimmt, 
„Einfälle'^,  Wahnideen  etc.  erzeugen,  d.  h.  ohne  weitere  Zwischenglieder, 
ist  wohl  möglicli,  sogar  wahrscheinlich,  wenn  auch  sicher  nicht  so  oft, 
wie  er  glaubt.  Meist  aber  werden  unterbewußt  eme  Reihe  schnell  ver- 
laufender Assoziationen  doch  vorliegen.  Dasselbe  gilt  auch  von  den 
plötzlich  auftauchenden  Wahn-Ideen  der  Irren,  die  freilich  meist  ihre  Latenz 
und  daher  gewiß  auch  Assoziationsketten  haben.  Jeder  Trieb,  Instinkt 
ist  sicher  stark  betont  und  damit  stehen  die  im  Leben  damit 
verknüpften  Vorstellungen  in  Verbindung.  Gerade  das  scheip- 
bare  zusammenhanglose  Reden  Manischer  läßt  meist  unschwer  die  Assoziationen 
erkennen.  Dasselbe  gelingt  es  öfters  auch  im  Traume  nachzuweisen.  Also  Cox 
ist  sehr  weit  entfernt,  die  Assoziationslehre  entthront  zu  haben!  Freilicli 
lehrt  diese  nun  gewisse  Erfahrungen  kennen,  die  sich  immer  wiederholen 
oder  fast  immer.  Das  Wunderbare  daran  ist  nur,  warum  dies  geschieht, 
da  schließlich  alle  Erklärungen  von  ^ ausgeschliffenen  Bahnen^,  Berührungen 
von  Protoplasmafortsätzen  etc.  doch  nur  Phrasen  sind,  die  mit  der  Mode 
wechseln.  Tatsache  ist  jedenfalls,  daß  keine  Theorie  bisher  die  mästen 
facta  so  gut  erklärt,  wie  jene.  Richtig  ist  allerdings,  daß  meist  eine  ge- 
mütlich stark  betonte  bewußte  oder  unbewußte  Vorstellung  (also  auch  der 
Instinkt)  Ausgangspunkt  einer  Assoziationsreihe  werden  kann.  Cox  hat 
überhaupt  öfters  schnurrige  Ansichten.  So  legt  er  z.  B.  einen  übergroßen 
Wert  auf  die  de  Vries'sche  „ Mutationstheorie '^j  wonach  ganz  plötzlich, 
unerklärlich  eine  neue  Tier-  oder  Pflanzenart  entsteht  und  das  ist  für  Cox 
nicht  nur  die  Hauptursache  des  Entstehens  von  Arten  und  Varietäten,  sondern 
auch  der  Fixierung  und  —  was  für  uns  noch  wichtiger  ist!  —  es  soll 
dies  auch  bei  der  Vererbung  und  bei  Entstehen   neuer  Eigenschaften  der 


1)  Cox:   AprioristiBohe  en  vrije  Vorstellingen.    Psychiatrische  en  Neuro- 
logische Bladen,  1907,  p.  117  ss. 


Kleinere  Mitteilungen.  201 

Fall  sein.  Bisher  konnte  man  die  de  Vries'sche  Theorie  nur  an  einigen 
Pflanzen  konstatieren.  Kein  Biolog  wird  derselben  die  Bedeutung  zumessen, 
die  Cox  ihr  beilegt.  Niemand  wird  auch  dieselbe  auf  geistige  Eigenschaften, 
auf  Instinkte  anwenden,  wie  Jener,  der  geradezu  von  plötzlich  neu  auf- 
tretenden Instinkten  spricht.  Er  leugnet  imgrunde  überhaupt  Instinkte  und 
glaubt,  daß  letztere,  w^o  man  sie  statuiert,  der  Umgebung  ganz  adaptions- 
fähig  sind.  Dazu  ist  zu  bemerken,  daß  wohl  niemand  jetzt  an  In- 
stinkten zweifelt,  wenn  sicher  auch  nicht  alles  Instinkt  ist,  was 
dafür  gehalten  wird.  Ebenso  sicher  ist  aber  auch  zweitens, 
daß  die  Abänderungsfähigkeit  eines  Instinktes  nur  in 
sehr  geringem  Umfange  stattfindet.  Die  Bienen  z.  B.  bauen  ihre 
Waben  in  ßseitigen  Prismen  seit  der  Urzeit.  Hin  und  wieder  kommen 
hier  gewisse  Unregelmäßigkeiten  vor,  die  wir  uns  nicht  erklären  können, 
und  diese  sind  nicht  vererblich.  Gerade  das  Bauen  der  Honigzellen  ist 
aber  eins  der  Hauptargumente  für  das  Bestehen  von  Instinkt  und  wir 
sehen  hier  deutlich,  wie  es  im  Laufe  von  Zehntausenden  Jahren  sicli  nicht 
verändert  hat. 


9. 

AngeblicheVererbung  der  Neigung  zur  Ehelosigkeit.  Cox  >) 
in  Utrecht  hat  die  wunderbare  Entdeckung  gemacht,  daß  auch  die  Neigung  zur 
Ehelosigkeit  vererbt  wird.  Zu  diesem  Behufe  gibt  er  die  Stammbäume  von 
5  Familien  und  zeigt,  daß  hier  auf  männlicher  und  weiblicher  Seite  in  der 
Tat  viel  mehr  über  20  Jahre  alte  Personen  unverheiratet  waren,  als  es 
sonst  der  Fall  in  Holland  ist.  Er  sieht  das  nun  als  Beweis  dafür  an, 
daß  „durch  unbewußt  wirkende  Beweggründe'^,  die  vererbbar  als  Neigungen 
auftreten,  dies  zu  erklären  sei.  Meiner  Ansicht  nach  ist  der  Schluß  total 
verfehlt !  Der  Gründe  für  das  Nicht-Heiraten  sind  bekanntlich  bei  Mann  und 
Frau  unendlich  viele.  Cox  hätte  müssen  jedes  der  Mitglieder  jener  5  Familien 
genau  nach  den  Gründen  zur  Ehelosigkeit  fragen  resp.  untersuchen  und  er  würde 
sicher  gefunden  haben,  daß  seine  These  unhaltbar,  wenigstens  durch  seine 
sog.  Beweise  nicht  erwiesen  ist.  Es  gibt  wohl  Fälle  bei  Männern,  wo  die 
libido  gering  ist  oder  gar  fehlt  bei  sonstiger  Normalität  und  es  läßt  sich 
wohl  denken,  daß  dies  übertragen  werden  kann.  Ebenso  die  nicht  allzu- 
seltene Frigidität  der  Frau,  die  trotzdem  gewiß  nur  selten  ein  Ehehindernis 
abgibt,  da  eben  trotzdem  Grründe  für  Eingehen  der  Ehe  oft  sprechen. 
Dann  könnten  auch  gewisse  vererbbare  Abnormitäten  an  den  Geschlechts- 
teilen vorliegen.  An  Abneigung  durch  homosexuelle  Anlage,  die  eventuell 
vererbbar  ist,  kann  gleichfalls  gedacht  werden  und  doch  heiraten  viele 
Urninge.  Kurz  und  gut:  Die  Möglichkeit  der  Vererbung  der 
Neigung  zur  Ehelosigkeit  ist  bei  näherem  Zusehen  eine  ganz 
außerordentlich  geringe  und  darf  in  concreto  nur  unter  Ausschluß 
aller  anderen  Möglichkeiten,  die  eine  scheinbare  Vererbung  darstellen,  be- 
wiesen werden,  was  eben  Cox  nicht  getan  hat 


1)  Aprioristische  en   vrije  Vorstellingen.    Psychiatrische  en  Neurologische 
Bladen,  1907,  p.  127. 


202  Kleinere  Mitteilungen. 


10. 

Merk  würdige  Motivation  o  n  an  is  tisch  er  Handlungen  seitens 
Geisteskranker.  Onanie  ist  in  Irrenanstalten  bekanntlich  nicht  selten, 
wenngleich  lange  nicht  so  häufig,  als  oft  geglaubt  wird,  allerdings  wohl 
häufiger,  als  sonst,  da  verschiedene  zentrale  und  periphere  Reizungen  vor- 
liegen können,  die  libido  nicht  selten  gesteigert  ist,  die  erzwungene  Abstinenz 
mithilft  und  moralische  Hemmungen  oft  fehlen.  Die  Motivierung  kann  also 
eine  sehr  verschiedene  sein,  aber  auch  bei  Normalen.  Nun  kommen  bei 
Irren  als  neu  hinzu  gewisse  Wahnideen  und  wohl  bisweilen  auch 
Impulse,  d.  h.  also  nidit  bewußte  Motive  und  Zwangsvorstellungen. 
Neulich  kamen  mir  zwei  interessante  Fälle  vor.  Ein  junger,  ca. 
30jähriger  Kaufmann  bietet  das  klassische  Bild  einer  dementia  praecox 
mit  Wiüinideen  und  Halluzinationen.  Er  phantasiert  dabei  das  Unmögliche 
vom  Himmel  herab  und  wechselt  damit  oft,  wie  es  ja  gerade  bei  jenen 
Irren  so  häufig  geschieht.  Er  sagte  nun  einmal  dem  Arzte,  der  ihn  nach 
der  Ursache  seiner  häufigen  Onanie  frug:  er  sei  Gott;  Gott  habe  nun  in 
sich  Adam  und  Eva  und  letztere  verlange  die  Befriedigung  durch  seine 
Onanie!  Morgen  wird  er  den  Vorgang  walirscheinlich  anders  motivieren 
und  es  ist  mehr  als  wahrschemlich,  dali  es  nicht  das  richtige  Motiv  war, 
sondern  daß  er  dies  nur  durch  momentanen  Einfall  als  solches  bezeichnete. 
Es  ist  das  derselbe  Kranke,  der  ausgeprägt  den  so  seltenen  Narcismus, 
d.  h.  das  Insichverliebtsein  zeigt  Er  besieht  sich  im  Spiegel,  in  reflektierenden 
Fensterscheiben  etc.  mit  seligem  Gesichte,  und  mit  einem  Gefühle,  das  an 
sexuellen  Genuß  erinnert  —  Ein  anderer,  älterer  Kranker  mit  periodischer 
Manie  motivierte  seine  Onanie  damit,  daß  das  Zeug  heraus  müsse,  sonst 
steige  es  ihm  in  den  Kopf.  Das  aber  ist  sicher  keine  Wahnidee,  sondern 
ein  weitverbreiteter  Volksglaube  und  der  „SamenkoUer^  ist  ftlr  viele  die 
letzte  Ursache  des  Irrseins.  Ich  bericlitete  wohl  schon  einmal  früher,  daß 
eine  Mutter  beim  Besuche  ihres  epileptischen  Sohnes  in  der  Anstalt  eine 
Hure  mitbrachte  und  die  Bitte  aussprach,  ihren  Sohn  mit  jener  allein 
zu  lassen,  damit  ihm  der  Same  nicht  in  den  Kopf  steige,  wovon  sie  jeden- 
falls Heilung  der  Krampfanfälle  erwartete! 


Von  Dr.  Heinrich  Svorcik  in  Keichenberg. 

11. 

Das  Anerbieten  einer  Prostituierten  an  einen  Bordell- 
besitzen  Ein  Bordellbesitzer  aus  R.,  welcher  sich  über  Ersuchen  des  k.  k. 
Landesgerichtes  Brunn  bei  mir  wegen  Kuppelei  zu  verantworten  hatte,  recht- 
fertigte sein  Vergehen  u.  a.  damit,  daß  ihn  die  Prostituierten  regelmäßig  um 
Aufnahme  ins  „Geschäft^'  bitten  und  daß  somit  von  einer  Verführung  ihrer- 
seits keine  Rede  sein  kann.  Er  legte  mir  einige  Beispiele  solcher  Briefe 
vor,  von  denen  einer  für  die  Leser  des  A.  nicht  ohne  Interesse  sein  dürfte. 
Bezeichnend  ist  die  Behauptung  der  Schreiberin,  sie  sei  intelligent  sowie 
die  Beschreibung  der  eigenen  Reize. 


Kleinere  Mitteilungen.  203 

Der  Brief  hat  einschließlich  der  Fehler  folgenden  Wortlaut: 

Geehrte  Gnädige  Frau!! 

Nachdem  ich  Ihre  werte  Adresse  erfahren,  so  möchte  ich  bitten  ob 
zu  Ihnen  kommen  kann,  daß  ich  erfahren  habe,  daß  es  bei  Ihnen  sehr  gut 
sei;  könnte  mir  Gnädige  Frau  vielleicht  mittheilen,  ob  ich  kommen  kann 
ich  bin  zu  jeder  Zeit  bereit  zu  fahren  bitte  Gnädige  Frau; 

Ich  bin  groß  und  rothblond  strak  gebaut  19  Jahre  alt  und  schöne 
Zähne. 

Ich  war  schon  in  große  Häuser  kann  mit  Gäßte  fein  sprechen  und 
bin  inteligent.  Bitte  Gnädige  Frau  mittheilen  ob  ich  komen  kann  oder 
nicht  aber  ich  bin  150  Gulden  schuldig  aber  die  Gnädige  Frau  brauclit 
sidi  nicht  zu  fürchten  daß  ich  daß  nicht  abzahlen  kann,  ich  habe  noch 
flberal  sehr  gut  verdient  und  immer  meine  groß  Schulden  abgezahlt. 

Bitte  Gnädige  Frau  mit  sofort  zu  schreiben  ob  ja  oder  nicht. 

Achtungsvoll 

E.  L. 

meine  Adresse  ist: 

E.  L.  in  11.  ü.- 

Bitte  mir  sofort  zu  schreiben. 

Bitte  Gnädige  Frau  hier  schicke  ich  mein  Bild  bin  aber  sehr  schlecht 
getroffen  da  dies  eine  schnell  Fotographie  ist. 


Von  Privatdozent  Dr.  Hans  Reichel  in  Leipzig. 

12. 

Reservatio  mentalis  eines  Zeugen.  Zu  einem  unerfreulichen 
Vorkommnis  führte  eine  Verhandlung,  die  am  30.  Januar  1907  vor  der 
6.  Strafkammer  des  Landgerichts  zu  Leipzig  stattfand.  Eine  Frauens- 
person war  angeklagt,  ihr  uneheliches  Kind  an  einem  bestimmten  Tage 
in  erbarmungsloser  Weise  mißhandelt  zu  haben.  Als  sachverständiger 
Zeuge  ffir  die  Folgen  dieser  Mißhandlung  war  von  der  Anklagebehörde 
der  Dr.  med.  X.  geladen!.  Dieser  bekundete  unter  Eid,  er  habe  das 
Kind  alsbald  nach  der  angeblichen  Mißhandlung  nach  Entkleidung  des- 
selben im  Bdsein  eines  Gendarmen  sorgfältig  untersucht  und  hierbei  an 
verschiedenen  Körperteilen,  insbesondere  auf  dem  Rücken  und  an  den  Schenkeln 
des  Kindes  Striemen,  blutunterlaufene  Stellen,  Schwielen  und  dgl.  festge- 
stellt. Die  Angeklagte,  welche  die  Beschuldigung  allenthalben  bestritt,  be- 
rief sich  zum  Beweise  ihrer  Unschuld  auf  das  Zeugnis  eines  von  ihr  sistierten 
Arztes  Dr.  Y.  Unter  Eid  vernommen^  erklärte  dieser  mit  Bestimmtheit,  er 
habe  das  Kmd  einige  Tage  nach  der  angeblichen  Mißhandlung  untersucht, 
hierbei  aber  keinerlei  äußere  Verletzungen  am  Körper  des  Kmdes  wahr- 
genommen. Bei  dieser  Aussage  verblieb  er  auch,  als  Dr.  X.,  anderweit 
vorgerufen,  seine  eigene  Vernehmlassung  Punkt  für  Punkt  wiederholt  und 


204  Kleinere  MitteilaDgen. 

> 

überdies  versichert  hatte,  es  sei  absolut  ausgeschlossen,  daß  die  Ver- 
letzungsspuren  nach  so  kurzer  Zelt  schon  sollten  unsichtbar  geworden  sein. 
Zur  Bekräftigung  semer  Aussage  berief  sich  Dr.  X.  auf  die  Wahrnehmungen 
des  bei  der  Untersuchung  zugegen  gewesenen  Gendarmen.  Der  Gendarm 
wurde  sofort  beigezogen  und  bestätigte  eidlich  die  Aussage  des  Dr.  X. 
Der  Vorsitzende  hielt  nunmehr  dem  Dr.  Y.  die  Aussage  des  Gendarmen  vor* 
gab  semem  Bedenken  Ausdruck  und  richtete  schließlich  an  den  Zeugen 
noch  die  Frage:  „Haben  Sie  denn  das  Kind  vor  der  Untersuchung 
überhaupt  ausgezogen?^'  Auf  diese  Frage  antwortete  der 
Zeuge  mit  Nein!    Die  Angeklagte  wurde  verurteilt.    (6  Bv.  8/07.) 


Bespredmngen. 


Dr.  Hermann  Pfeifer,  Privatdozent  an  der  Universität  Graz: 
,,Die  Vorschule  der  gerichtlichen  Medizin,  dargestellt 
fQr  Juristen.  Mit  62  Abbildungen  im  Text.  Leipzig  F. 
C.  W.  Vogel.  1907.  M.  8.00,  geb.  M.  9.25. 
Eine  wichtige  Erkenntnis  des  letzten  Jalirzehntes  hat  gezeigt,  daß 
der  Kriminalist  eine  beträchtliche  Menge  medizinischer  Kenntnisse  brauclit, 
wenn  er  seines  Amtes  richtig  walten  soll.  Er  bedarf  ihrer  gewiß  nicht  um 
selber  zu  pfuschen,  sondern  um  den  Arzt,  seinen  wichtigsten  und  unent- 
behrlichsten Sachverständigen  zu  verstehen,  ihn  fragen  und  ausnützen  zu 
können,  ohne  ihn  mit  törichten  Anliegen  zu  quälen,  kurz:  um  mit  dem 
Arzt  zusammen  gedeihliche  Arbeit  verrichten  zu  können.  In  dieser  Richtung 
hat  die  gerichtlidie  Medizin  namentlich  in  letzter  Zeit  unabsehbar  viel  ge- 
leistet und  die  großen  modernen  Lehrbücher  dieser  Disziplin  sind  von  den 
Lehrbüchern  keiner  anderen  Wissen  chaft  übertroffen.  Aber  sie  sind  nicht 
leicht  zu  verstehen,  weil  sie  wegen  der  Fülle  und  Schwierigkeit  des  Stoffes 
nicht  populär,  für  den  Juristen  geschrieben  sein  können.  Diesfalls  Hilfe 
und  Erleichterung  zu  schaffen,  ist  der  Zweck  des  Pfeifferschen  Buches. 
Es  ist  kein  Kompendium  der  gericlitlichen  Medizin,  kein  Nachschlagebuch  für 
unverstandene  Ausdrücke,  sondern  es  will  dem  Laien,  welcher  irgend  ein 
großes  Lehrbuch  der  gerichtlichen  Medizin  zu  studieren  beabsichtigt,  eine 
kurze  aber  genügende  Darstellung  der  wichtigsten  medizinisdien,  chirurgischen, 
anatomischen,  histologischen,  physiologischen  Orundleliren  bieten,  deren 
Besitz  ihm  das  weitere  Verständnis  möglich  macht.  Das  ist  dem  Ver- 
fasser in  glänzender  Weise  gelungen.  Überall  verständlich,  nirgends  banal, 
überall  knapp,  nirgends  zu  kurz,  vollkommen  modern  und  nirgends  mehr 
voraussetzend  als  normale  Gymnasialbildung,  allerdings  aber  auch  guten 
Wille,  das  Gebotene  aufzugreifen.  Es  kann  jedem  jungen  Kriminallisten 
nicht  dringend  genug  geraten  werden,  dieses  ausgezeichnete  Werk  zu  studieren 
nnd  dann  erst  ein  großes  Lehrbuch  der  gerichtlichen  Medizin  vorzunehmen 
—  er  hat  davon  gewiß  unschätzbaren  Nutzen  für  seine  ganze  Arbeitszeit. 

Hans  Groß. 


2. 

Dr.    med.  Moritz    Aisberg:    „Die    Grundlagen    des    Gedächt- 
nisses, der  Vererbung  und  der  Instinkte.''  (Aus  „Grenz- 
fragen der  Literatur  und  Medizin'',  2.  Heft).    München 
1906.    E.  Reinhardt 
Für  die  Frage  des  Gedächtnisses  interessieren  wir  uns  heute  in  Bezug 

auf  Zeugen  gerade  so,  wie  für  die  der  Vererbung  beim  Verbrecher.    Es 


206  Besprechongen. 

kann  daher  die  hauptsächlidi  auf  Richard  Semons  ^Mneme''  znrflckftthrende, 
mit  einer  Menge  aufklärender  Einzelheiten  nnd  Beispiele  versehene  Arbeit 
dem  Kriminalpsychologen  zur  Lektüre  empfohlen  werden.      Hans  Groß. 


3. 

Dr.  M.  Rumpf,  Gerichtsassessor:  ,,Gesetz  und  Richter.**  Ver- 
such einer  Methodik  der  Rechtsanwendung.  Berlin 
1906.     0.  Liebmann. 

Der  Verf.,  der  über  ausgebreitete  Belesenheit  und  Kenntnis  der  Ju- 
dikatur verfügt,  hat  es  sich  zur  Aufgabe  gestellt,  zu  erheben,  wie  der 
Richter  das  Gesetz  auslegen  und  anwenden  soll.  Diese  Frage  läuft  auf 
die  Erörterung  hinaus,  wie  man  vorzugehen  hat,  wenn  das  Gesetz  Lücken 
aufweist,  und  wie,  wenn  seine  wörtliche  Anwendung  im  dnzelnen  Fall 
Härte,  Ungerechtigkeit,  selbst  unsinnige  Entscheidung  ergeben  müßte.  Ich 
glaube,  daß  der  Verf.  die  strafrechtliche  Literatur  mehr  berücksichtigen 
hätte  sollen;  er  meint,  man  habe  bisher  in  der  Frage:  Welche  psychischen 
Faktoren  im  Auslegen  in  Tätigkeit  treten,  noch  kein  Problem  „gewittert^. 
Ich  meine,  daß  die  viele  Arbeit,  die  der  subjektiven  Kriminalpsychologie, 
der  Psychologie  des  Richters,  Sachverständigen,  Zeugen  etc.  gewidmet 
wurde,  das  Problem  doch  „gewittert^'  haben  muß. 

Im  allgemeinen  geht  die  vorliegende  Arbeit  darauf  hinaus,  daß  der 
Richter  denken  muß;  wenn  Verf.  darauf  besteht,  so  hat  er  ohne  Zweifel 
recht,  aber  in  eine  Methodik  läßt  sich  das  Denken  und  gescheidt  sein  nidit 
zwängen.  Wo  uns  das  Gesetz  verläßt,  wo  die  Wissenschaft  nicht  hilft, 
wo  die  Interessenabwägung  keine  Klärung,  schafft,  da  entscheidet  man,  wie 
es  vornehmer  ist.  Mehr  läßt  sich  mit  allem  Rechnen,  Kombinieren  und 
Abstrahieren  auch  nicht  finden. 

Seltsam  berührt  mitunter  die  Ausdrucksweise  des  Verf.,  der  von  einem 
„unbegreiflichen  Mnß^*,  der  „Flüssigkeit  der  Grenzen^  spricht,  etwas  „vieler- 
wärts'^  antrifft  und  von  „ungefährem  Wissen*'  redet  Hans  Groß. 

4. 

Bresler:   Religionshygiene.  Halle,  Marhold  1907,  55  S.  1  Mk. 

Bisher  blieb  der  Arzt  der  Reh'gion  gegenüber  untätig.  Seitdem  man 
aber  letztere  auch  psychologisch  zu  verstehen  lernte,  mußte  der  Arzt  auf  den 
Plan  treten,  und  so  konnte  Verf.  eine  „Reiigionshygiene'^  befürworten. 
Er  weist  nacli,  daß  ein  „einheitliches,  allgemeines  Erfassen  Gottes  nicht 
denkbar^'  sei,  gemeinsam  bleibe  nur  das  Verlangen  nacli  Gott,  alles  übrige 
ist  nur  menschliche  dogmatische  Zutat.  (Selbst  dies  „Verlangen^'  nacli  Gott 
ist  aber  noch  lan^e  kein  Beweis  für  Gott !  Ref.)  Die  Zahl  der  Zweifler  an  den 
Dogmen  wird  immer  größer;  das  religiöse  Bedürfnis  aber  ist  ein  „feineres, 
edleres*^  geworden.  Die  Psycliiatrie  soll  nun  die  „Verjüngung  der  Religions- 
pflege und  Gesundung  des  religiösen  Lebens  in  die  Wege  leiten'^,  da  sie 
ja  nur  angewandte  Psychologie  ist.  Verf.  weist  nacli,  daß  die  Psychiatrie 
und  Neurologie  meist  die  wahre  Religion  als  solche  nicht  nur  anerkenneor 
sondern  sogar  als  Vorbeugungsraittel  gegen  Psychosen  empfehlen.  Die  ge- 
reinigte Religion  wird  aber  auch  von  vielen  Philosophen  und  Theologen  ge- 


Besprechungen.  207 

predigt  Verf.  denkt  sich  die  Religion  als  auf  „Gesetze  der  angeschlossenen 
Vorstellungen''  aufgebaut;  d.  h.  unsere  Vorstellungen  bedürfen  einer  Er- 
gänzung über  metaphysische  Dinge  (ob  durchaus  stets?  Ref.),  welche  dann 
stark  gefühlsbetont  werden.  So  wird  die  Reli^on  eine  »^psychologische 
Realität.  Jesu  Lehre  sei  ein  Pantheismus  (?  Ref.)  mit  erfahrungsreicher 
Religionspsychologie.  Dann  wird  die  Letztere  beleuchtet  und  als  die  2  Ziele 
der  Religionshygiene  bezeichnet  endlich  Verf.  1.  die  Anerkennung  der  Natur- 
wissenschaft durch  die  Reli^onswissenschaft  und  2.  die  Beseitigung  der 
Beligionspfuscherei.   Leider  wird  kaum  näher  darauf  eingegangen. 

Dr.  P.  Näcke. 


5. 

Laquer:   Der  Warenhaus-Diebstahl.   Marhold,  Halle,  1907,  43  S.,  1  Mark. 
Nach  den  Abhandlungen   aus   den  Nerven-  und  Geisteskrankheiten. 

Verf.  stellt  zunächst  das,  namentlich  durch  die  Franzosen  Bekannte 
über  obiges  Thema  zusammen.  (Referent  bemerkt,  daß  Dubuisson  in 
seiner  Arbeit  psychiatrisch  unzulängliche  Diagnosen  macht.)  Auch  die  Deutschen 
haben  manches  beigesteuert  Verf.  erwähnt  aber  auch  die  noch  unbekannten 
Warendiebstähle  seiteiis  der  Kinder,  nicht  bloß  solche  an  Automaten.  Alle 
Beobachtungen  von  Warenhausdiebstählen  zeigen,  daß  es  meist  Frauen  aus 
besserem  Stande  sind,  welche  gewöhnlich  krankhafte  Zustände  darboten. 
Die  Polizei  sollte  die  Warenhäuser  genau  bewachen;  offene  Auslagen  bieten 
stets  große  Gefahren.  Jeder  Fall  sollte  psychiatrisch  untersucht  werden, 
auch  bez.  des  gleiclizeitigen  Bestehens  von  Menstruation,  Schwangerschaft 
und  Klimacterium.  Endlich  hätten  die  Ärzte  festzustellen,  ob  bei  leicht  Neu- 
rasthenischen  und  Hysterischen  eine  mildere  Auffassung  Platz  zu  greifen 
hat  oder  ob  nicht  einfach  unlautere  Motive  den  meist  wohlüberlegten  Dieb- 
stählen zu  gründe  liegen.  Ref.  bemerkt,  daß  Diebstähle  als  Zwangshandlungen 
sicher  vorkommen  (gegen  Dubuisson!),  ebenso  auch  impulsives  Handeln^ 
also  ohne  jegliches  Motiv.  Dr.  P.  Näcke. 


6. 

Estadistica  de  la  Adroinistracion  de  justicia  en  lo  criminal 
durante  el  ano  de  1001  en  la  Peninsula  e  islas  adyacentes  publicata 
por  el  Ministerio  de  Gracia  y  Justicia.  Madrid,  1907. 

Auch  Spanien  macht  Fortschritte.  Wie  uns  das  vorliegende,  einge- 
gehende  Heft  beweist,  haben  fast  alle  Hauptverbrechen  im  Jahre  1901  gegen- 
über dem  Jahre  1900  und  dem  Quinguenium  1896 — 1901  abgenommen; 
desgleichen  die  Zahl  der  Selbstmorde.  1901  wurden  20  Personen  zum 
Tode  verurteilt,  die  Hinriclitung  selbst  aber  nur  in  7  Fällen  ausgeführt. 
Die  meisten  Delikte  gegen  die  Prrson  fanden  1901  in  der  Provinz  Logi'oiio 
(Norden)  statt,  überhaupt  noch  mehr  im  Norden  als  im  Süden,  was  man 
a  priori  nicht  annehmen  sollte.  Die  gegen  das  Eigentum  im  Norden  ganz 
tiberwiegend  und  hier  wieder  in  der  Provinz  Salamanca.  Die  meisten  An- 
alphabeten finden  sich  noch  im  Süden.  Dr.  P.  Näcke. 


208  Besprechungen, 


<. 


Zeitschrift    für  Religionspsychologie.     Grenzfragen  der  Theologie 
und  Medizin.    Halle,  Marhold  1907.    Jahrgang  10  Mk. 

Herausgeber  sind  Oberarzt  Dr.  Bresler  und  Pfarrer  Vorbrodt  Zweck: 
Behandlung  1.  der  Religionspsychologie,  2.  der  Anomalien  des  religiösen 
Lebens  und  3.  die  Ermittelung  der  Gesetze  einer  gesunden  Keligionspflege. 
Bisher  war  leider  die  Religion  nicht  auf  die  psychologisdie  Basis  hin  unter- 
sucht worden  und  doch  ist  das  absolut  nötig,  soll  die  Religion  unter  den 
Dogmen  nicht  erstarren.  Mitarbeiter  sind  vorurteilslose  Greistliche  und 
vor  allem  Psychologen  und  Psychiater.  Das  1.  vorliegende  Heft  führt  sich  sehr 
gut  ein.  Vorbrodt  behandelt  sehr  tief  und  geistreich  die  Grundlagen  der 
biblischen  Religionspsydiologie  und  Freud  die  Ähnlichkeiten  zwischen 
Zwangshandlung  und  Religionsübung.  Dann  folgen  kleine  Aufsätze  und 
Notizen.  Wir  aber  rufen  ein  herzliches  Willkommen  dem  neuen,  sehr 
zeitgemäßen  Unternehmen  zu.  Dr.  P.  Näcka 


8. 

R  u  d  e  c  k :  Geschichte  der  öffentlichen  Sittlichkeit  in  Deutschland.  2.  vermehrte 
und  verbesserte  Auflage  1905.   Berlin,  Barsdorf.   514  S.    10  Mk. 

Ein  wundervolles  Buch  für  jeden  Gebildeten,  besonders  für  den 
Kulturhistoriker!  Möge  es  weitere  Auflagen  erleben!  Verf.  behandelt  die 
öffentliche  Sittlichkeit  im  Verkehr  (Badewesen,  Prostitution,  Kleidung, 
Vergnügen  und  Spiele,  Stammbücher,  Erziehung,  Sprichwörter  und  Volks- 
lieder), bei  Festen  (die  großen  Jahresfeste,  Hochzeiten),  im  Rechte  (Rechts- 
bücher, gesetzliche  Bestimmungen),  in  der  Kirche  (Skulpturen  und  Bilder, 
Kirchenlieder,  Predigten,  Erbauungsliteratur,  Hexenglauben),  endlich  in 
Kunst  und  Literatur  (Theater,  Flugschriften,  Literatur).  Aller  geschieht  in 
großen  Zügen,  mit  guter  Dokumentierung,  einem  vorzüglichen  Register; 
jedem  Hauptabschnitte  folgt  eine  Zeittabelle,  die  den  Fortschritt  anzdgt. 
Die  Illustrationen  sind  wertvoll.  Unter  öffentlidier  Sittlichkeit  (Schamhaftig- 
keit)  versteht  Verf.  die  wirklichen  Sitten,  auf  das  Sexuelle  bezüglich,  die 
aber  nicht  als  unsittlich  gelten.  Die  Durchführung  und  die  Kritik  sind  geist- 
reich, die  Sprache  schön.  Viele  Vorurteile  werden  zerstört,  vor  allem  das, 
daß  weniger  die  fortschreitende  Kultur  und  die  Kirche  oder  Ge 
setze  die  Sittlichkeit,  die  Schamhaftigkeit  emporgehoben,  als  vielmehr 
materielle  Gründe.  Verf.  zeigt  femer  von  neuem,  daß  das  Scham- 
gefühl nicht  angeboren,  sondern  anerzogen,  daß  die  Geschichte 
der  Moral  eine  der  Unmoral  ist,  daß  die  Einführung  des  römischen 
Rechts  ganz  neue  Werturteile  einführte  und  allmählich  „anzüchtete^,  allerdings 
nur  unter  Einwirkung  materieller  Erwägungen.  Die  Kirche  hat  nicht 
so  viele  Verdienste  für  die  Hebung  der  Sittlichkeit,  als  ihr 
immer  nachgesagt  wird.  Schließlich  „handelt  es  sich  doch  überhaupt 
nur  um  einen  Kompromiß;  nicht  um  Unterdrückung  der  Sexualität  in  der 
Öffentlichkeit,  sondern  um  eine  Ordnung. ...  In  der  Öffentlichkeit  sind  wir 
heute  das  Anblicks  der  Sexualität  entwöhnt  . .  .^  Ob  wir  deshalb  aber 
w^ahrhaft  sittlicher  geworden  sind  als  unsere  Altvordern,  das 
möchte  Ref.  billig  bezweifeln!  Dr.  P.  Näcke. 


X. 
Ober  die  mexikanische  Gaunersprache  (Cal6  mexicano). 


Von 

AmtBgerichtsrat  Sommer. 


Die  Gaunersprache,  die  Art  und  Weise  wie  der  Verbrecher,  nament- 
lich der  Gauner,  also  derjenige,  der  gewerbsmäßig  Verbrechen  gegen 
das  Eigentum  verübt,  sich  ausdrückt,  ist  von  Eulturhistorikem  wie 
von  Sprachforschem  zum  Gegenstand  des  Studiums  gemacht  worden. 
Aber  auch  für  den  Kriminalisten,  den  Untersuchungsrichter  ist  die 
Kenntnis  der  Gaunersprache  von  großem  Interesse.  Professor  Groß, 
bekanntes  Handbuch  für  Untersuchungsrichter  enthält  u.  a.  ein  kleines 
Wörterbuch  der  deutschen  Gaunersprache.  Dabei  wird  auch  der 
Gaunersprache  nichtdeutscher  Völker  gedacht,  Engländer,  Italiener, 
Franzosen,  Slaven,  Ungarn.  Merkwürdigerweise  wird  der  spanischen 
Gaunersprache  keine  Erwähnung  getan.  Der  spanische  Schriftsteller 
Salillas  hat  in  einem,  wenn  ich  nicht  irre  1893  erschienenen  Buche 
El  Delincuente  Espanol  die  spanische  Gaunersprache  behandelt.  Dem 
spanischen  Verbrechertum  nach  jeder  Richtung  hin  verwandt  ist  das 
Verbrechertum  Mexikos,  das  wie  ein  Franzose  bemerkt  hat,  vielleicht 
das  verbrecherischste  Land  der  Erde  ist  Ein  höherer  Polizeibeamter 
Mexicos,  Polizeidirektor  Roumagnac  hat  sich  zur  Aufgabe  gestellt,  in 
einem  auf  eine  Beihe  von  Bänden  berechneten  Werke  Por  los  mundos 
del  Delito  *)  die  Verbrecherwelt  Mexikos  vom  psychologischen  und 
soziologischen  Standpunkt  auf  Grund  persönlicher  Erfahrungen  und 
eigener  Untersuchungen  auf  wissenschaftlicher  Grundlage  zu  schildern. 
Im  ersten  Band  ist  ein  kurzer  Abschnitt  der  mexikanischen  Gauner- 
sprache gewidmet  und  ein  kleines  Wörterverzeichnis  beigegeben,  das 
der  Verfasser  in  einem  späteren  Bande,  der  das  Gefängnisleben  in 
Mexiko  behandeln  soll,  noch  zu  vervollständigen  gedenkt. 


1)  I.  Bd.    Lob  criminales  in  Mexico.    Mexico  Tipofn-.-El  Fenix  1905.   II.  Bd. 
Crimenes  sexuales  y  pasionales     Mexico  Libr.  BounDt  1906.    . 

AfDhir  fflr  Krlmioalanthropoloffie.    28.  Bd.  14 


210  X.  SOMHEB 

Bei  der  internationalen  Natar  des  Gaunertums  und  der  Bedeutung, 
die  die  Sprache  als  Äusserung  des  Seelenlebens  hat,  dfirfte  die  Mit- 
teilung des  kleinen  Wörterbuches  hier  von  Interesse  sein,  zumal  das 
in  Mexiko  erschienene  Buch  Roumagnacs  zwar  nicht  teuer,  aber  um- 
ständlich zu  beschaffen,  überdies  die  spanische  Sprache  bei  uns  wenig 
verbreitet  ist 

Wie  das  Gaunertum  international  ist  und  mit  der  Heimat  nur 
einen  loseren  Zusammenhang  bewahrt  wie  das  seßhafte  Bürgertum, 
so  hat  auch  die  Sprache  des  Gaunertums  viele  fremde  Bestandteile 
in  sich  aufgenommen.  Sie  gleicht  gewissermaßen  den  aus  bunten 
Lappen  zusammengesetzten  Lumpen,  in  die  der  Gauner  seine  Glieder 
hüllt.  Es  ist  bekannt,  ein  wie  großer  Teil  der  deutschen  Gauner- 
sprache dem  Hebräischen  entstammt,  auch  französische  Worte  oder 
Sprachstämme  sind  bekanntlich  zahlreich  darin  vertreten.  Aus  den 
örtlichen  Verhältnissen  erklärt  es  sich  leicht^  daß  die  deutsche  und 
die  mexikanische  Gaunersprache  wenig  Zusammenhang  aufweisen 
können.  Gleichwohl  scheint  dieser  Zusammenhang  nicht  vollständig 
zu  fehlen.  Der  Ausdruck  Calo,  mit  dem  die  spanische  Sprache  das 
Botwelsch  der  Gauner  bezeichnet,  findet  sich  auch  (nach  Groß  kleinem 
Wörterbuch)  in  der  deutschen  Gaunersprache.  Dort  bezeichnet  Galo 
schwarz  »>  Zigeuner.  Die  mexikanischen  Gauner  selbst  bezeichnen 
ihre  Sprache  als  Sirigonzia  oder  Jerigonza  (Jargon).  Das  Wort  Lima 
■»  Hemd  findet  sich  in  der  gleichen  Schreibweise  und  der  gleichen 
Bedeutung  in  dem  Wörterbuch  von  Groß  wie  in  dem  von  Boumagnac, 
dürfte  also  wohl  gleichen  Ursprung  sein.  Die  Gaunersprache  kenn- 
zeichnet sich  dadurch,  einmal  daß  sie  eine  Menge  Ausdrücke  enthält 
denen  in  der  Alltagssprache  keine  Bedeutung  entspricht  deren  Über- 
setzung man  vergebens  in  irgend  einem  Wörterbuch  suchen  würde, 
die  zum  Teil  fremden  Sprachen  entstammen,  zum  Teil  aus  Wörtern 
der  eigenen  Sprache  so  verdorben  sind,  daß  die  ursprüngliche  Be- 
deutung nicht  mehr  zu  erkennen  ist  Eine  andere  Klasse  von  Aus- 
drücken dagegen  findet  sich  gleichlautend  in  der  Sprache  des  Alltags- 
lebens ebensowohl  wie  in  der  Gaunersprache,  aber  mit  v^rschied^er 
Bedeutung.  Das  gilt  ja  auch  von  anderen  Fachsprache.  Wie  in  der 
Jägersprache  Schweiß,  Wolle,  Wechsel,  Löffel  usw.  eine  andere  Be- 
deutung haben  wie  in  der  Alltagsspraehe,  so  haben  auch  die  Gauner- 
sprachen eine  Menge  Ausdrücke,  die  an  sich  unverfänglich  in  dem 
Milieu  der  Gaunersprache  ihre  besondere  d.  h.  hier  verbrecherische 
Bedeutung  gewinnen. 

Ein  hervorstechender  Zug  der  mexikanischen  wie  anderer 
Gaunersprachen    ist   der  groteske  Humor,   der  darin  oft  derbzotige 


über  die  mexikanische  Gaunersprache  (Galö  mexicano).  211 

Formen  annimmt,  was  wiederam  auf  den  engen  Zusammenhangs 
zwischen  Verbrechertum  und  Prostitution  hinweist.  Zuweilen  blitzt 
selbst  ein  Funke  Poesie  durch,  so  wenn  der  mexikanische  Gauner 
die  Leintücher  Palomas  nennt,  was  eigentlich  Tauben  bedeutet,  dann 
in  übertragenem  Sinne  die  weißen  Schaumkämme  der  Wellen,  die 
„Bosse  des  Neptun^.  Betrunkensein  gibt  der  Oaunerhumor  mit 
„dichten^  wieder  (trovar,  derselbe  Stamm  wie  in  Troubadour). 
Während  der  deutsche  Gauner  von  einem  Genossen,  der  ihn  verrät^ 
sagt:  „Er  hat  gepfiffen^,  sagt  der  Mexikaner:  ^Er  hat  Wasser  ge- 
spritzt^ oder  „Fische  ausgerufen''  (von  dem  Straßenruf  der  Fisch- 
händler, die  mit  gebratenen  Fischen  handeln,  hei^leitet).  Zahlreiche 
Benennungen  weist  die  Gaunersprache  für  diejenigen  Vertreter  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  auf,  mit  denen  den  Verbrecher  sein  Hand- 
werk am  meisten  in  Berührung  bringt :  mit  den  Polizisten.  Der 
deutsche  Gauner  bezeichnet  den  Polizisten  als  IltiS;  den  wegen  seiner 
Blut-  und  Mordgier  im  Tierreich  gefürehteten  Bäuber,  als  „Lampe*^ 
oder  „Licht^,  die  Polizei  als  „Greiferei'^  Der  Mexikaner  nennt  den 
Wächter  der  heiligen  Hermandad  „Greifer''  (Garfin),  daneben  schimpft 
er  ihn  „Uhu"  (Tecolote)  oder  „Eidechse"  (Tequis).  Das  Polizeiamt  be- 
zeichnet er  als  „Schlächterei"  oder  als  „Galgen".  Nachstehend  gebe 
ich  nun  das  Wörterbuch  wieder.  Bei  denjenigen  Ausdrücken,  die 
sich  übersetzen  lassen,  ist  eine  Übersetzung  beigefügt.  Wo  das  nicht 
der  Fall  ist,  entspricht  dem  Ausdruck  keine  Bedeutung  in  der  spanischen 
Sprache.  Der  Verfasser  hat  mir  dabei  eine  Reihe  dankenswerter 
Aufklärungen  gegeben. 

Instnunente,  Werkzengre,  Waffen,  KleldmiKssttteke  u.  s.  w. 

Chinampinas  (Feuerwerkskorper  für  Kleine  Glasstücke,   um  Börsen  abzu- 

Kinder  (Schwärmer,  Frösche),  san-  schneiden  oder  im  Geeicht  zu  ver- 

grias  (Aderlaß).  wunden. 

Danza  (Tanz),  Charrasca  (Säbel),  fUero  Messer. 

Sutia  oder  shutia.  Schneidendes  Werkzeug,  Dolch,  Messer. 

Concha  (Muschel),  pozo  (Brunnen).  Börse. 

Mondovero  ojo  (Auge). 

Molleja  (Magen  der  Vögel),     l  Uhr. 

Maquina  (Maschine). 

Amarillo  (Gelber).  Goldne  Uhr. 

Bepi.  Repetieruhr. 

Rienda  (Zügel).  Uhrkette. 

Tuje,  vellon  (Fließ).  Mexikan.  Kittel. 

Lima  (Feile).  Hemd. 

Cabailoe  (Pferde).  Unterhosen. 

Soprepuesta  (Umhang).  Jaquet. 

14* 


212 


X.  SOMMEB 


Degolla  (Gaülotine). 

Tnbncos  (Statzen,  Büchse). 

Cascorros. 

Largas  (Aaswdtesohleo,  Stiefelhölzer). 

Chicharrones,  tortagoe. 

Yeraniego,  tando. 

Caero  (Hant,  Leder),  Papelera  (Zettel, 

Papier). 
Lisa. 

Jaola  (Käfig). 

Escopidora  (Speier),  Cohete  (Rakete). 
Güicho. 
Palomas  (Tauben;  weiße  Schaumkämme 

der  Wellen), 
Campanas  (Glocken). 
Colebro  f  Schlange,  ähnl.  Boa). 
Chimichi. 


Weite  Westen. 

Hosen. 

Schuhe. 

Schlüssel. 

VorfaängschI5sser. 

Hut 

Brieftasche. 

Ein  Seidenstoff. 

Haus. 

Pistole. 

Tuch. 

Bettücher. 

Weißer  Frauenunterrock. 

Umschlagtuch. 

Branntwein. 


Personen.  Gesehleehter.  Körperteile. 


Jano. 

Güisa,  jafia. 

Piusa. 

Lumnia. 

Sarra. 

Rupante. 

Riilo. 

Cuatatal. 

Gachos. 

Tecolote  (Uhu),   dorais,   cuico,  garfln 

(Greifer),  tequis  (Eidechse),  choco. 
Pasma. 
Gorri. 
Maje,    madei-a    (Holz)    jarano;    primo 

(Vetter;  auch  Grande  von  Spanien), 

tio  (Onkel). 
Cruzadora  (Kreuzerin). 
Pcnsadora   (Denkerin;   maceta   de  los 

piojos  (Blumentopf  der  Läuse). 
Atlayos. 

Saboreadora  (Leckermaul). 
Baisas. 

(,'olumnas  (Säulen). 
Masteo. 
Perdi^o. 
Gummarros. 


Mann. 

Frau. 

Geliebte. 

Prostituierte. 

Mutter. 

Dieb. 

Gauner. 

Pferd. 

Falsche  Zeugen. 

Gendarm. 

Sichcrheits  Wächter. 

Bursche. 

Der  zu  Bestehlende.    Gimpel. 


Ladendiebin. 
Kopf. 

Augen. 

Mund. 

Hände. 

Beine. 

Männlicher  Geschlechtsteil. 

Weiblicher  Geschlechtsteil. 

Hoden. 


Einige  Ausdrücke. 


€abear  gacho. 
Mocar,  refinar. 


Das  sagen,  was  ein  Anderer  tut. 

Essen. 


über  die  mexikanische  Gannereprache  (Cal6  mexicano). 


213 


Sonar  (tönen;  ein  Instrament  spielen). 

öffnen. 

Trovar  (Finden,  Dichten). 

Trinken,  sich  betrinken. 

Cabear. 

Wissen,  sehen,  vermuten. 

Berbear. 

Sagen. 

Aparamudar. 

Hehlen. 

Rajar  lefia  (Holzspalten), 

echar  agua    \ 

(Wasser  spritzen).     Cantar  juiles    \ 

Bekennen,  Angeben. 

(Fische  ausrofen   zmn 

Verkauf;.     1 

. 

Versar  (studieren). 

# 

Verkehren  mit  Jemand. 

Hostigar  (necken,  züchtigen). 

Den  Beischlaf  vollziehen. 

Rupar. 

Stehlen. 

Trincar  (Anknüpfen). 

Festhalten,  ergreifen. 

Arapar. 

Geben. 

Sutiar,  shutiar. 

Verwunden  m.  schneidendem  Werkzeug, 

Pelarse  (sich  hären). 

Weggehen. 

Guasiar. 

Entfliehen. 

Batir  (Ausstoßen). 

Gebären. 

Archivar  (ins  Archiv  legen). 

Ins  Gefängnis  stecken. 

Einige  Eigenschaftswörter. 

Asoodi. 

Etwas  Gutes. 

Furris. 

Etwas  Schlechtes  oder  Häßliches. 

^el,  nadando. 

Nein ;  nicht  zu  tun. 

Xido  (chido). 

Gut,  hübsch. 

Chupido. 

Klein. 

Arangön. 

Groß. 

Perruco. 

Alt 

De  pintada. 

Eilends. 

Mayate  (Mistkäfer). 

Aktiver  Päderast 

Caballo  (Stute),  mula  (Maultier). 

Passiver  Päderast. 

Fürwörter, 

Zahlen  n.  s.  w. 

Yimis. 

Ich. 

Yutis. 

Du. 

Tesco. 

Er. 

Junio. 

Einer. 

Junio  bati. 

Zwei. 

Trofo  bati. 

Drei. 

Gefängnisse. 

Chero  gacho  (gebeugt),  tabique  (Ver-      Gefängnis. 

schlag). 
Palacio  blanco  (Weißer  Palast).  Gefängnisanstalt. 

Camiceria  (Schlächterei),  patibulo  Polizeiamt. 

(Galgen). 

Gehörte  Ansdrtteke. 

Vamos  ä  mocar.  Gehen  wir  essen. 

Vamos  ä  sonar  un  chicharron.  Gehen  wir  ein  Vorhängschloß  erbrechen. 


214 


X.  SoncER 


Arapame  la  satia  para  satiar  ä  tesoo. 

Eatä  trovo. 

No  cabea. 

Oaasia  de  pintada. 

Berbeale  ä  tesco. 

No  vayas  ä  rajar  lefia. 

Chane,  chane. 


Gieb  mir  das  DoJehmeaser,  am  den  zn 

stechen. 
Er  ist  betrunken. 
Es  geht  nicht 
€reh  eilends  weg. 
Sage  diesem. 

Daß  dn  nicht  die  Wahifaeit  sagst! 
Schweig! 


Art  IHelMtlhle  sossiillilireii* 


Irae  de  concha. 
Embaisar  el  pozo. 
Dar  ctiichaiTon  (Orgel  spielen). 
Sonar  el  tortngo. 

Dar  de  Christo  (Einen  wie  Christas  miß- 
handeln, d.  h.  stoßen,  schlagen). 
Dar  de  rosquete  (Brezel  machen). 
Dar  de  coscorron  (Schlag). 
Dar  de  parusca. 
El  retorcipon  (die  Winde). 

Descabezar  (enthaupten). 


Taschendiebstahl  gegen  Fraaen  verüben. 
Taschendiebstahl  gegen  HSnner  verüben. 
Ein  Haus  aufbrechen. 
Ein  Voriiängschloß  öffnen. 
Eine  TOr  einstoßen. 

Eine  Wand  durchlöchern. 

Ein  Dach  durchlöchern. 

Mit  Gewalt  rauben. 

ührdiebstahl ,    indem    man    die  Kette 

bricht. 
Uhrdiebstahl,  indem  man  den  Ring  bricht 


XI. 
Simulation  von  Paralysis  progressiva. 

Mitgetoat  von 
JÜBr.  Ant.  Glos,  ünterBUchungsrichter. 


Am  30.  Jänner  1900  brannte  dem  Omndbesitzer  K.  Z.  in  6. 
eine  Scheuer  ab,  wobei  auch  eine  Scheuer  eines  Nachbarn  ein- 
geäschert wurde.  Dba  Strafv^ahren  wurde  ursprünglich  gegen  un- 
bekannte Täter  eingeleitet  und  K.  Zuy  als  Zeuge  einvernommen,  machte 
detaillierte  Angaben  über  den  Wert  und  die  Menge  der  ihm  angeblich 
verbrannten  Vermögensstücke.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Untersuchung 
wurde  der  Verdacht  r^ge,  daß  K.  Z.  falsche  Angaben  machte  und 
seinen  Schaden  höher  bezifferte;  er  wurde  nun  als  Beschuldigter  ein- 
v^mommai,  wußte  aber  geschickt  sich  zu  verantworten.  Plötzlich 
verschwand  er,  und  erst  nach  Jahresfrist  stellte  er  sich  selbst  dem 
Gerichte  und  wurde,  da  inzwischen  seine  steckbriefliche  Verfolgung 
eingeleitet  war,  verhaftet.  Er  will  in  Amerika  gewesen  sein,  wo  er 
bei  seinem  Schwager  bessere  Pflege  suchen  wollte,  da  er  krank  ge- 
wesen sei  Er  sei  nicht  mehr  in  der  Lage,  detaillierte  Angaben  zu 
machen,  da  er  infolge  eines  im  Jahre  1899  durchgemachten  Typhus 
an  Vergeßlichkeit  leide. 

Nach  erhobener  Anklage  wegen  Betrug  und  Brandlegung  brachte 
die  Verteidigung  den  Antrag  auf  Untersuchung  des  Geisteszustandes 
des  Inkulpaten  ein,  worin  insbesondere  dessen  abnorme  Vergeßlich- 
keit betont  wurde.  In  der  Familie  des  Inkulpaten  litt  eine  Schwester 
an  Geisteskrankheit,  sie  starb  auch  in  der  Irrenanstalt,  sonst  lieferte 
die  Anamnese  nichts  Belastendes.  Den  Gerichtsärzten,  die  mit  der 
Untersuchung  des  Geisteszustandes  des  Inkulpaten  betraut  wurden, 
erscheint  er  apathisch,  gleichgültig,  er  weiß  sein  Alter  nicht  anzu- 
geben, desgleichen  das  Jahr  des  Brandes;  weiter  konstatierten  die 
Oerichtsärzte  schwankende  Haltung,  träge  reagierende  Pupillen  und 
gesteigerte  Patellarreflexe.  Inkulpat  lag  den  ganzen  Tag  im  Bette, 
ohne  ein  Wort  zu  sprechen.    Die  Sachverständigen  erklärten,  daß 


216  XL  Glos 

Inkulpat  gegenwärtig  an  progressiver  Paralyse  leide,  zur  Zeit  der  Tat 
aber  zurechnungsfähig  gewesen  sei. 

Am  31.  Mai  1902  wurde  K.  Z.  'als  schwer  leidend  und  im 
Sterben  liegend  gegen  Gelöbnis  enthaftet.  Sein  Zustand  wurde  weiter 
beobachtet;  anfangs  wird  berichtet,  daB  sich  dieser  nicht  ändere,  der 
Kranke  sei  bettlägerig ;  später  wird  gemeldet,  er  verlasse  das  Zimmer, 
mache  aber  den  Eindruck  eines  blöden  und  menschenscheuen  Indi- 
viduums. 

Über  Auftrag  des  Gerichtes  stattete  der  Stadtarzt  Dr.  J.  ihm 
unvermutet  einen  Besuch  ab  und  fand  ihn  angezogen  im  Bett  Der 
Arzt  konstatierte  hochgradigen  Stumpfsinn  und  beantragte  Beobach- 
tung in  einer  Irrenanstalt  Da  nach  einer  gewissen  Zeit  gemeldet 
wurde,  daß  der  Zustand  des  Inkulpaten  sich  besserte,  wurde  er 
neuerlich  den  Gerichtsärzten  des  Gerichtshofes  vorgestellt  Diese  kon- 
statierten unsicheren  Gang,  ausdruckslosen  wie  blöden  Blick,  apa- 
thisches Benehmen  und  gelangten  zum  Schlüsse,  daß  Inkulpat  seit 
Jahren  geisteskrank,  ein  beginnender  Paralytiker  und  auch  zur  Zeit 
der  Tat  unzurechnungsfähig  gewesen  sei. 

Das  Strafverfahren  wurde  eingestellt  und  E.  Z.  über  Antrag 
seiner  Frau  unter  Kuratel  gestellt.  —  Der  Verhängung  der  Kuratel 
ging  eine  neuerliche  Untersuchung  des  Geisteszustandes  des  K.  Z.  durch 
andere  Gerichtsärzte  voran,  welche  gleichfalls  die  Paralysis  pro- 
gressiv mit  vollständiger  Verblödung  konstatierten.  Die  Versicherungs- 
summe wurde  dem  K.  Z.  nunmehr  anstandslos  ausgezahlt  und  seine 
weitere  Beobachtung  eingestellt 

Am  16.  November  1905  strebte  K.  Z,  mittels  eines  Gesuches  die 
Aufhebung  der  Kuratel  an,  und  führte  er  an,  daß  gegen  Ende  1903 
sein  Zustand  sich  gebessert  habe,  er  habe  selbst  die  neuen  Bauten 
ausgeführt  und  auch  eine  Zeitlang  in  Wien  als  Maurer  gearbeitet 
Seine  Arbeitsgenossen  bezeichneten  ihn  als  einen  tüchtigen,  sehr  ver- 
nünftigen Arbeiter,  der  den  Eindruck  eines  zwar  nervösen,  aber 
sonst  durchaus  normalen  Menschen  mache.  Man  vernimmt  auch  Leute 
seiner  Gemeinde,  wo  man  ihn  allgemein  für  einen  Simulanten  hält; 
ein  Zeuge  betont  seine  besondere  Schlauheit  und  Verstellungskunst, 
der  er  auch  seine  Superarbitrierung  vom  Militär  zu  verdanken  habe. 
Der  Geisteszustand  des  K.  Z.  wurde  neuerlich  durch  jene  Gerichts- 
ärzte, die  für  die  Kuratelsverhängung  das  Gutachten  geliefert  haben, 
untersucht;  diese  fanden  an  ihm  nichts  Abnormes  und  nennen  ihn 
einen  recht  intelligenten  Menschen,  der  aus  den  schwierigen  psycho- 
logischen Prämissen  richtige  Schlußfolgerungen  zieht  Die  Gerichts- 
ärzte finden  keinen  Anhaltspunkt  für  Paralyse  und  meinen,  daß  die 


Simulation  von  Paralysia  progi-eesiva.  217 

damalige  GeisteBstörung  entweder  erst  während  der  Flacht  entstand 
oder  vorgetäuscht  wurde.  Die  Kuratel  ttber  K.  Z.  wurde  aufgehoben; 
das  hatte  zur  Folge,  [daß  nunmehr  das  Strafverfahren  wieder  aufge- 
nommen und  K.  Tu  verhaftet  und  eine  neuerliche  Untersuchung  des 
Geisteszustandes  desselben  durch  Psychiater  angeordnet  wurde. 

Das  Gutachten  stellt  fest,  daß  K.  Z.  gegenwärtig  als  geistes- 
gesund bezeichnet  werden  muß;  sein  Bildungsgrad  erhebt  sich  über 
den  des  Durchschnittsmenschen.  Gleichzeitig  verweist  das  Gutachten 
darauf,  daß  die  früheren  Diagnosen  auf  Paralysis  progressiva  unhalt- 
bar seien;  es  wird  insbesondere  betont,  daß  die  Beobachtung  im 
Inquisitenspitale  mit  ungeschulter  Wärterschaft  erfolgte  und  daß  die 
aus  den  Zeugenaussagen  sich  ergebende  Anamnese  nicht  genügend  ge- 
würdigt wurde  und  man  sich  allzu  sehr  auf  die  Angaben  der  Frau 
stützte.  Die  Psychiater  heben  hervor,  daß  Inkulpat  die  gegenwärtig 
behauptete  Amnesie  vortäuscht,  wobei  er  mit  seinem  Mienenspiel 
und  Gesten  in  dem  Fragenden  die  Vorstellung  erwecken  will,  wie 
schwer  er  sich  erinnert.  Bemerkenswert  ist,  daß  K.  Z.  im  Dorfe  als 
belesener  M a n n .bezeichnet  wird,  der  immer  aus  den  Zeitungen 
das  Neueste  erzählte  und  den  Gescheiten  hervorkehrte.  Das  Gut- 
achten hebt  hervor,  daß  es  sich  auch  um  eine  epileptische  Absence 
nicht  handeln  kann,  da  das  ganze  Leben  des  Inkulpaten  keinen  An- 
halt für  Epilepsie  biete.  Die  Psychiater  gelangten  zum  Schlüsse, 
daß  R.  Z.  auch  zur  Zeit  der  begangenen  Tat  zurechnungsfähig  war. 

Bei  der  gegen  ihn  durchgeführten  Schwurgerichtsverhandlung 
beharrte  K.  Z.  dabei,  daß  er  an  Vergeßlichkeit  leide  und  nicht  in 
der  Lage  sei,  in  der  Sache  selbst  Angaben  zu  machen.  Die  Ge- 
schworenen verneinten  die  Schuldfrage  mit  Stimmeneinhelligkeit,  so 
daß  die  Frage  der  Zurechnungsfähigkeit  zur  Beantwortung  nicht 
gelangte. 

Der  geschilderte  Fall  soll  nicht  dazu  dienen,  um  die  Kasuistik 
der  Simulation  von  Geisteskrankheit,  insbesondere  der  Paralyse  zu 
beieichern,  da  ja  ein  vertieftes  Studium  der  Akten,  eine  gründliche 
Exploration  des  Inkulpaten  und  eine  zweckentsprechende  Beobachtung 
es  ermöglicht  hätten,  frühzeitig  die  Vortäuschung  des  Krankheits- 
bildes aufzudecken.  Bemerkenswert  ist  der  geschilderte  Fall  jedenfalls 
durch  die  seitens  des  Inkulpaten  bewiesene  Energie  und  Ausdauer  im 
Simulieren.  Zugleich  ist  der  Fall  ein  Beleg  für  die  immer  mehr  und  mehr 
fühlbar  werdende  Lücke  in  dem  nach  §  134  Ost  St.P.O.  geregelten 
Verfahren  bei  Zweifeln  über  Geistesstörungen  oder  über  Zurechnungs- 
fähigkeit ;  Tatsache  ist,  daß  heutzutage  beinahe  in  allen  größeren 
Fällen  die  Untersuchung   des  Geisteszustandes  platzgreift,  diese  Tat- 


218  XI.  Glos 

Sache  ist  dem  Verbrecher  wohl  bekannt  und  wird  hänfig  genng  aus- 
genützt Es  maß  auch  beachtet  werden,  daß  insbesondere  dnreh  Zeitungs- 
berichte über  Straffälle,  belletristische  Literatur,  weiters  durch  die 
immer  stetig  wachsende  Untersuchung  des  Geisteszustandes  in  den 
Gefängnissen  und  dergl.  verschiedene  Kenntnisse  aus  der  Psychiatrie 
den  breiten  Schichten  des  Volkes  zugänglich  werden,  so  daß  selbst 
einfache  Leute  sofort  auf  hereditäre  Belastung,  gewisse  Krankheiten 
in  der  Familie  spontan  hinweisen,  ja  sogar  sich  hiebei  der  in  der 
Wissenschaft  gebräuchlichen  Ausdrücke  bedienen.  Vom  kriminali- 
stischen Standpunkt  ergibt  sich  die  zwingende  Notwendigkeit,  daß 
auch  der  Richter  sich  die  nötigen  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der 
forensischen  Psychiatrie  aneigne  (allenfalls  in  einem  „forensisch- 
psychiatrischen  Praktikum^,  siehe  hierüber  Dr.  K  Kraepelin:  Der  Unter- 
richt in  der  forensischen  Psychiatrie  in  Aschaffenburgs  Monatsschrift 
1905),  sowie  daß  die  Untersuchung  des  Geisteszustandes  in  einer 
den  wissenschaftlichen  Anforderungen  entsprechenden  Weise  erfolge. 
Diesbezüglich  besteht,  wie  eingangs  erwähnt,  eine  fühlbare  Lücke 
in  der  österr.  Gesetzgebung,  die  jeder  praktische  Untersuchungsrichter 
schwer  empfindet  §  134  StP.O.  spricht  lediglich  von  dar  Unter- 
suchung  durch  2  Arzte,  ohne  an  deren  Qualifikation  besondere  An- 
forderungen zu  stellen;  eine  Beobachtung  in  einer  Irrenanstalt  (das 
zweckentsprechendste  Mittel  [Krafft-Ebbing:  Lehrbuch  d&t  ger.  Psycho- 
pathologie S.  25])  ist  in  der  österr.  Strafprozeßordnung  überhaupt 
nicht  Torgesehen.  Prinzipiell  ist  eine  zeitweise  Unterbringung  in 
eine  Irrenanstalt  behufs  Beobachtung  nicht  ausgeschlossen.  (Dies  be- 
merkt auch  Mayer:  Kom.  zur  österr.  StPr.O.  I  S.  461.)  Diese  Lücke 
in  der  Strafprozeßordnung  hatte  verschiedene  Unzukömmlichkeiten  im 
Gefolge,  deren  Beseitigung  durch  die  Verordnung  des  J.-M.  v.  6./8. 
1902,  betreffend  die  Behandlung  geisteskranker  (oder  einer  Geistes- 
krankheit  verdächtiger)  Häftlinge,  angestrebt  wird.  Auch  diese  Ver- 
ordnung betont,  daß  eine  Abgabe  in  eine  Irrenanstalt  zur  Erhebung 
des  Geisteszustandes  eines  Untersuchungsgefangenen  im  §  134  StP.O. 
nicht  vorgesehen  ist  und  daß  diese  Maßregel  nur  dann  zulässig 
sein  wird,  wenn  gerade  zwingende  Erwägungen  einen  anderen  Weg 
verschließen,  da  die  dermal  bestehenden  Irrenanstalten  sich  nach  ihrer 
ganzen  Organisation  nicht  zur  Aufnahme  von  Gefangenen  eignen. 
In  der  Mehrheit  der  Fälle,  insbesondere  auf  dem  Lande,  ist  daher  die 
Möglichkeit,  psychiatrisch  vorgebildete  Arzte  mit  der  Untersuchung 
des  Geisteszustandes  zu  betrauen,  nicht  gegeben.  Dieser  Zustand  hat 
auch  zur  Folge,  daß  dem  Richter,  der,  wie  Hans  Groß  in  seinem 
Handbuch  für  den  Untersuchungsrichter  treffend  bemerkt,  an  eigenen 


Simulation  von  Paralysis  progressiva.  219 

Fällen  viel  lernen  kann,  die  beste  Oelegenheitbenommen  wird,  durch 
das  Studium  wissensohaftlioh  aufgebauter  Outachten  seine  Erfahrungen 
auf  dem  Gebiete  der  forensen  Psychiatrie  zu  vermehren  und  sein 
Wissen  zu  vertiefen.  Bemerkenswert  ist,  daß  die  Verteidigung  in 
konkreten  Fällen  Anträge  auf  Untersuchung  des  Geisteszustandes 
durch  Psychiater  stellt  und  diesen  Anträgen  vielfach  in  der  Art 
entsprochen  wird,  dass  Inkulpat  an  den  Sitz  eines  Gerichtes,  wo 
sich  Irrenärzte  befinden,  geschafft  wird;  freilich  bleibt  er  in  den 
Hafträumen  des  Gerichtes,  wodurch  die  Beobachtung  beeinträch- 
tigt wird. 


XIL 
Der  ,,böse  Biick^^  als  Mordmotiv. 

Von 

Dr.  Albert  Hellwig. 


In  meiner  Abhandlung  über  die  Bedeutung  des  kriminellen  Aber- 
glaubens für  die  gerichtliche  Medizin  („Ärztl.  Sachverst-Ztg.''  1906, 
S.  328)  habe  ich  kurz  darauf  hingewiesen,  daß  der  Glaube  an  den 
„bösen  Blick^  mitunter  zu  schweren  Mißhandlungen  mit  nicht  selten 
tödlichem  Ausgang  Anlaß  gibt.  Manchmal  wird  man  die  Tat  sogar 
als  Mord  oder  doch  Totschlag  charakterisieren  müssen. 

Im  „Schweizer  Archiv  für  Volkskunde"  (1906,  S.  29)  habe  ich 
einen  derartigen  Fall  aus  Frankreich  erwähnt  Ende  1904  fand  in 
Paris  eine  Gerichtsverhandlung  gegen  den  Maurer  Merot  aus  dem 
Dorfe  George- sur-Moulons  statt.  Merot  hatte  einen  Nachbar,  von 
dem  er  behauptete,  daß  er  den  ^bösen  Blick"  besitze  und  ihm  da- 
durch  schon  manches  Übel  zugefügt  habe.  Der  von  ihm  Getötete 
—  so  sagte  der  Angeklagte  —  habe  beständig  Unglück  vorausgesagt, 
was  jedesmal  auch  eingetroffen  sei.  Just  am  Tage  seiner  Ermordung 
sei  ihm  der  Nachbar  wieder  begegnet  und  habe  gesagt:  „Was,  du 
bist  noch  nicht  gestorben  ?  Du  hast  noch  eine  Woche  zu  leben!" 
Da  habe  er  denn  seinen  Gegner  getötet  und  glaube,  dadurch  die 
Welt  von  einem  Bösewicht  befreit  zu  haben.  Die  Geschworenen 
sprachen  ihn  frei. 

Interessant  ist,  daß  die  „Zeitschrift  für  Spiritismus"  (Bd.  VIH, 
Leipzig  1904,  S.  395)  offen  erklärt,  gleichfalls  an  die  Macht  des  bösen 
Blickes  zu  glauben:  Allerdings  würde  man  wohl  Wege  finden  können, 
um  sie  anders  als  durch  Mord  unschädlich  machen  zu  können. 

Kürzlich  ist  auch  in  Deutschland  ein  Mord  oder  Totschlag 
passiert,  in  den  der  Glaube  an  den  bösen  Blick  hineinspielt  Am 
11.  Oktober  1906  berichtete  das  ,,Deutsche  Blatt"  (Berlin)  über  diesen 
Fall  folgendes: 


Der  ,,bd8e  Blick''  als  Mordmotiv.  221 

„Eine  rätselhafte  schwere  Bluttat,  bei  der  eine  61  Jahre  alte 
Frau  lebensgefährlich  verletzt  wurde,  ereignete  sich  gestern  vormittag 
auf  dem  Hermannplatz.  Hier  wartete  an  der  Haitestelle  der  Straßen- 
bahn der  erst  kürzlich  aus  Ungarn  zugereiste  und  Fürstenstraße  16 
wohnhafte  20  jährige  Schlosser  Samuel  Kaufmann  auf  einen  Straßen- 
bahnwagen. In  diesem  Augenblick  ging  die  6  t  jährige  Witwe  Cres- 
centia  Sackmeister  aus  Rixdorf,  Wißmannstraße  11,  an  dem  Warten- 
den vorbei  und  sah  ihn  unwillkürlich  an.  In  demselben  Moment 
zog  der  Bursche  einen  Dolch,  stieß  in  wahnsinniger  Wut  auf  die 
alte  Frau  ein  und  brachte  ihr  schwere  Verletzungen  an  der  Brust, 
an  den  Armen  und  am  Unterleib  bei;  u.  a.  zerschnitt  er  ihr  auch 
die  Pulsader  der  linken  Hand. 

Einige  Männer  stürzten  sich  auf  den  Wütenden,  entrissen  ihm  sein 
Opfer,  entwandten  ihm  den  Dolch  und  schlugen  ihn  halbtot,  bis  die  her- 
beieilende Polizei  ihn  aus  den  Handelnder  Lynchrichter  befreite.  In- 
zwischen war  auch  die  schwerverletzte  Frau  zu  einem  in  der  Nähe 
wohnenden  Arzt  gebracht  worden,  der  sie  nach  Anlegung  von  Notverbän- 
den nach  der  Rixdorfer  Krankenanstalt  in  der  Cannerstrasse  bringen  ließ, 
wo  sie  in  hoffnungslosem  Zustande  Aufnahme  fand.  Der  Attentäter  gab 
bei  seiner  Vernehmung  auf  der  Polizei  über  den  Grund  zu  seiner  Tat 
an,  daß  die  von  ihm  Überfallene  Frau  den  —  „Bösen  Blick^  hätte 
und  ihn,  als  sie  ihn  anblickte;  behext  habe.  Darüber  sei  er  so  in 
Wut  geraten,  daß  er  blindlings  auf  die  Wehrlose  eingestochen  habe. 
Ob  der  Bursche  diese  an  den  krassesten  Aberglauben  des  Mittelalters 
erinnernde  Aussage  nur  als  Notlüge  gebraucht  hat,  um  den  wahren 
Beweggrund  zu  verbergen,  oder  ob  er  wirklich  an  solchen  Wahn- 
witz glaubt,  muß  doch  erst  die  weitere  Untersuchung  aufklären/ 

So  wird  sich  also,  wie  es  scheint^  in  nächster  Zeit  ein  Berliner 
Gericht  mit  der  Frage  zu  beschäftigen  haben,  welchen  Einfluß  der 
Glaube  an  den  bösen  Blick  auf  die  Zurechnungsfähigkeit  ausübt  Ob 
der  Täter  geisteskrank  ist  oder  nicht;  läßt  sich  natürlich  nur  durch 
eingehende  Untersuchung  feststellen.  Aber  ein's  sei  doch  bemerkt. 
Nach  jener  Zeitungsnotiz  hat  es  den  Anschein,  als  ob  der  Mörder 
das  Opfer  im  Augenblick  der  Tat  zum  ersten  Mal  gesehen  habe.  Er 
konnte  also  nicht  etwa  durch  verschiedene  zufällig  eintreffende 
Unglücksfälle  und  durch  sonderbares  Benehmen  allmählich  zu  dem 
Glauben  gekommen  sein,  daß  die  Witwe  Sackmeister  eine  Hexe  sei. 
Anscheinend  ist  ihm  also  der  Gedanke,  daß  jene  ihm  unbekannte 
Frau  den  bösen  Blick  habe  und  ihn  behexen  wolle,  ganz  unvermittelt 
gekommen.  Daraus  könnte  man  schließen,  daß  der  Täter  das  wahre 
Motiv  verbirgt  und  den  Glauben  an  den  bösen  Blick  nur  vorschützt, 


222  XII.  Hellwig 

oder  daS  er  g^teskrank  ist  Diee  wfire  aber  ein  Tmgschlaß,  denn 
Hex^  nnd  Lente,  die  den  bösen  Blick  haben,  erkennt  man  meiatens 
an  bestimmten  änß^i^n  Merkmalen,  an  rotnnterlanfenen  oder  triften- 
den Angai,  an  zneammengewaehs^ien  Augenbrauen  usw^  oft  genagt 
es  gar,  jemand  scharf  anznsehen,  nm  in  den  Verdacht  des  bösen 
Blickes  zu  kommen.  Vielleicht  ist  Kaufmann  dorch  einen  derartigen 
Umstand  vielleicht  in  Verbindung  mit  einem  unbehaglichen  Gefiihl 
so  erregt  worden.  Hierauf  deutet  auch  eine  Notiz  .des  ,,Berlin^ 
Lokalanzeigers'^  vom  13.  Oktober,  wonach  Frau  Sad^meister  in  der 
Tat  einen  eigenartigen  Blick  haben  soll.  Eigenartig  bleibt  sein  Ver- 
halten allerdings  auch  dann.  Hoffentlich  wird  der  interessante  Fall 
durch  erfahrene  Psychiater  eingehend  analysiert  0 

1)  Mittlerweile  ist,  wie  mir  der  Herr  Erste  Staatsanwalt  liebenswürdiger 
Weise  mitteilte,  das  Verfahren  gegen  Kaufmann  eingestellt,  weil  er  nach  dem 
Gutachten  der  Psychiater  nicht  zurechnungsfShig  sei.  Ohne  dies  natürlich  be- 
streiten zu  können,  muß  ich  doch  auf  die  Möglichkeit  hinweisen,  daß  sieh  die 
Psychiater  durch  den  Hexenglauben  des  Beschuldigten  haben  irreführen  laasen. 
In  dem  Mordprozeß  gegen  Butala  (Ulm  1906)  ließen  sich  einige  Sachverständige 
durch  den  Hezenglauben  des  Angeklagten  gleichfalls  verführen,  ihn  für  un- 
zurechnungsfähig zu  halten,  während  der  Gerichtshof  mit  Recht  den  klaren  Aus- 
führungen von  Professor  Dr.  Ganpp  (Tübingen)  folgte.  Auch  die  interessanten 
Beeiehungen  zwischen  Geisteskrankheit  und  Aberglauben  werde  ich  demnächst 
in  einer  größeren  Arbeit  über  „Blutmord  und  Aberglaube:  Tätsadien  nnd  Hypo- 
thesen" in  der  .2^it8chrift  für  die  gesamte  Strafrechtswissenschaft*'  näher  an- 
gehen. Mittlerweile  sind  mir  schon  wieder  mehrere  Hexenmorde  aus  Bußland, 
Italien,  Deutschland  und  Frankreich  bekannt  geworden.  Ich  gedenke  sie,  dem- 
nächst zusammenfassend  zu  bearbeiten.  Eine  besonders  interessante  Ermordung 
einer  Hexe,  die  1896  vor  dem  Schwurgericht  zu  Freiburg  i.  B.  ihre  geriditliche 
Sühne  fand,  werde  ich  in  der  volkshandlichen  Zeitschrift  „Allemannia''  (Freibor^ 
i.  B.)  aktenmässig  kurz  schildern;  die  sehr  interessanten  Gutachten  werde  ich 
vermutlich  in  einer  psychiatrischen  Zeitschrift  mit  Glossen  besonders  publizieren, 
um  dann  den  ganzen  Stoff  in  Buchform  ausführlich  zu  behandeln.  Den  Uhner 
Hexenmord  wird  Herr  Professor  Gaupp  dankenswerter  Weise  in  diesen  Blättern 
eingehend  behandeln. 


XIIL 
Über  Schartenspuren.  0 

Von 

Landgerichtsdirektor  Knaue)r  in  Amberg. 


Eine  bemerkenswerte  Anwendung  der  Photographie  bietet  folgen- 
der Fall: 

Am  28.  Oktober  1906  worden  in  S.  4  Stück  jnnge  Apfelbäume 
Ton  ruchloser  Hand  abgeschnitten.  Der  als  Täter  in  Verdacht  ge- 
zogene 75  jährige  J.  J.  stellte  die  Begehung  der  Tat  entschieden  in 
Abrede.  Die  Baumabschnitte  und  drei  bei  J.  J.  vorgefundene  Messer, 
wovon  er  das  eine  stets  in  einer  Scheide  bei  sich  trug,  wurden  am 
7.  November  1906  zur  Untersuchung  an  die  König!.  Polizeidirektion 
Dresden  eingesendet  Das  von  dem  dortigen  Polizeiphotographen 
M.  E.  erstattete  Outachten  stellte  mit  großer  Bestimmtheit  fest,  daß 
die  Bäume  mit  dem  in  der  Scheide  verwahrten  Messer  des  J.  J.  ab- 
geschnitten waren.  Der  Gang  der  Untersuchung  und  Beweisführung 
war  im  wesentlichen  folgender: 

Von  den  zur  Prüfung  eingesendeten  Baumabschnitten  erwiesen 
sich  besonders  zwei  Teile  als  brauchbar  für  die  Untersuchung. 

Durch  die  auf  den  Schnittflächen  von  links  nach  rechts  führen- 
den, schon  mit  bloßem  Auge  sichtbaren  Schartenspuren  ließ  sich 
feststellen,  welche  Partie  der  Schnittfläche  dem  gegen  die  Spitze,  und 
welche  dem  gegen  das  Heft  zugekehrten  Teile  der  Messerklinge 
entsprach. 

Um  nun  die  immerhin  feinen  Schartenspuren  deutlicher  sichtbar 
zu  machen,  wurden  die  beiden  Abschnitte  in  doppelter  Vergrößerung 
photographiert 

Es  ergaben  sich  auf  beiden  Schnittflächen  in  bestimmten  Ab- 
ständen ganz  charakteristische,   teils   in    einfachen  Linien,   teils  in 


1)  Vergl.  R.  Kockel   dieses  Archiv  Bd.  XI,  p.  347  u.  Bd.  XXIII,  p.  245, 
u.  A.  Schulz  Bd.  XXIÜ,  p.  222. 


224  Xin.  Knauer 

Bündeln  verlaufende  Schartenspuren,  deren  Gleicbmfißigkeit  über- 
zeugend dafür  sprax^h,  daß  bei  den  beiden  Baumabscbnitten  der  Schnitt 
mit  einem  und  demselben  Messer  erfolgt  war. 

Um  nun  festzustellen,  ob  die  Schnittflächen  von  einem  der  drei 
eingesendeten  Messer  herrühren,  wurden  mit  den  3  Klingen  Wachg- 
schabeplatten  angefertigt,  die  in  dem  gleichen  Größenverhältnis  wie 
die  Schnittfläche  photographiert  wurden.  Es  ergab  sich,  daß  nur 
das  in  der  Scheide  befindliche  Messer  die  groben  und  charakteristischen 
Scharten  aufwies,  welche  den  Schartenspuren  der  beiden  Schnitt- 
flächen entsprachen.  Mit  diesem  Messer  wurde  nun  noch  eine  Schabe- 
platte hergestellt,  und  zwar  mit  der  im  Winkel  von  40  Proz.  auf 
Schrägschnitt  eingestellten  Klinge,  und  nun  zeigte  sich,  daß  die  Lage 
und  Entfernung  der  Schartenspuren  auf  der  Schabeplatte  den  Sparen 
auf   den   beiden  Schnittflächen  der  Baumabschnitte  völlig  entsprach. 

Da  es  als  ausgeschlossen  gelten  kann,  daß  eine  zweite  Messer- 
klinge existiert,  die  genau  die  gleichen  und  gleichweit  voneinander 
entfernten  Scharten  besitzt,  wie  sie  in  dem  zur  Untersuchung  gestellten 
Fall  beobachtet  wurden,  so  erschien  der  Schluß  gerechtfertigt,  daß 
die  Schnittflächen  der  beiden  Baumabschnitte  nur  von  dem  in  der 
Scheide  verwahrten  Messer  des  J.  J.  herrührten. 

Zur  gerichtlichen  Aburteilung  kam  der  Fall  nicht,  weil  der  An- 
geklagte kurz  vor  der  Hauptverhandlung  starb.  An  seiner  Verurteilung 
war  aber  angesichts  des  vorbeschriebenen,  überzeugenden  über- 
führungsbeweises,  der  auch  noch  durch  andere  Verdachtsgründe  unter- 
stützt war,  nicht  zu  zweifeln. 

Der  Erfolg  bei  ähnlichen  Untersuchungen  wird  natürlich  wesent- 
lich davon  abhängen,  daß  die  betreffenden  Baum-,  Strauch -Abschnitte 
möglichst  bald  in  Verwahrung  genommen  und  mit  den  zu  unter- 
suchenden Schneidewerkzeugen  eingesendet  werden,  damit  die  Schnitt- 
flächen tunlichst  frisch  und  die  Schneidewerkzeuge  tunlichst  unverändert 
zur  Untersuchung  kommen. 

(Akten  des  k.  Landgerichts  Amberg  No.  41/07). 


XIV. 
Die  Strafrechtsreform  im  Aufkl&rungszeitalter 

nebst  Vergleichen  mit  unserer  modernen  kriminalpolitischen  Beformbewegung 

von 
Professor  Dr.  Ii.  Günther,  Giessen. 


(Schluß.) 

Eine  sehr  verschiedene  Behandlung  ist  in  der  Aufklärungs- 
literatnr  den  einzelnen  strafbaren  Handlangen  zu  Teil  geworden. 
Während  für  viele  dasselbe  gilt,  was  v.  61  ob  ig  und  Huster  dem 
Marchese  Beccaria  zum  Vorwurfe  gemacht,  daß  er  nämlich  ,,über 
dieses  weitläufige  und  mühsame  Feld  (in  seiner  ungezwungenen 
Betrachtung)  mit  einigen  Sprüngen  hinweggehüpft^  sei  ^),  sind  andere 
hierin  zwar  gründlicher  gewesen  ^),  weichen  aber  in  der  systematischen 
Darstellung  vielfach  von  einander  ab.  Manche,  wie  z.  B.  die  Fran- 
zosen Voltaire  und  Marat,  haben  ihrer  Einteilung  gewissermaßen 
eine  kriminal-statistische  Grundlage  gegeben,  indem  sie  mit  dem 
Diebstahl  als  dem  angeblich  häufigsten  Delikt  —  nicht  nur  gegen 
da£  Eigentum,  sondern  überhaupt  —  beginnen  ^),  meistens  ist  jedoch 

1)  V.  Globig  und  Huster,  Abhandig.,  S.  162,  vgl.  auch  S.  50 ff.  und  Anm.** 
—  Einzelne  Schriftsteller  (wie  z.  B.  Kleinschrod  in  seiner  ,,Systemat  Ent- 
wicklung'* usw.)  haben  sich  grundsätzlich  nur  auf  die  Darstellung  der  allgemeinen 
Lehren  des  Strafrechts  beschränkt. 

2)  Zuweilen  überwiegt  sogar  der  ^besondere  Teil*^  die  allgemeinen  Lehren 
sehr  erheblich,  so  z.  B.  besonders  auffällig  in  dem  St-G.-ELntwurfe  von  v.  Eber- 
stein, wo  die  l^teren  in  der  „Einleitung*^  auf  nur  6  Seiten,  die  einzelnen  De 
likte  und  ihre  Strafen  dagegen  auf  246  Seiten  abgehandelt  sind. 

3)  S.  Voltaire,  Prix  de  la  justice,  Art.  II  (Bibl.  phil.  T.  V.,  p.  9ff.);  Marat, 
Plan  de  Ißgisl.  crim.  (Bibl.  phil.  T.  V.),  p.  142ff.,  154ff.,  vgl.  G.-S.  61,  S.  229,  230 
und  Anm.  2  und  3.  Von  deutschen  Schriftstellern  s.  auch  noch  v.  Grolman, 
Grundsätze  (1.  Aufl.),  §  285 ff.,  160ff.  (Buch  n,  TeU  1,  Abtlg.  2:  „Von  den  ein- 
zelnen Verbrechen  und  den  Strafen  derselben*^,  A,  I,  Hauptabschn.  1,  Kiq).  1: 
^Verbrechen,  welche  das  Eigentum  der  Bürger  beeinträchtigen'',  Titel  1, 
Abschn  1,  ünterabschn.  1,  Abs.  1:  „Vom  Diebstahl*").  —  Mit  den  wichtigsten 
Sittlichkeitsdelikten  („crimes  moranx*")  beginnt  Brissot  de  Warville,  Theorie  I, 
p.  204  ff.  seine  Darstellung  des  besonderen  Teils. 

Anhiv  für  Erimiiuaanthropologie.    28.  Bd.  15 


226  XIV.  Gltitheb 

eine  Grnppiening  des  Stoffes  nach  der  Seh  were  des  Schadens  vor- 
genommen, den  die  strafbaren  Handinngen  gewohnlich  für  die  Ge- 
samtheit nnd  deren  Wohl  enthalten.  ^  In  dieser  Beziehung  machen  aber 
nicht  mehr  —  wie  früher  —  die  Beligionsdelikte  %  sondern  in  der  Regel 
die  sog.  Staatsverbrechen  den  Anfangt),  wogegen  die  als  j^Polizei- 
Vergehnngen^  oder  ähnlich  bezeichneten  leichtesten  Straftaten  (nnsere 
modernen  „Übertretungen")  den  Beschluß  zu  bilden  pflegen.  *)  Im  ein- 

1)S.  Malblank,  Geach.  der  P.G.-O.,  §  60,  S.  266,  Nr.  3:  „(Die)  Größe  (der 
Verbrechen  ist)  allein  nach  dem  schädlichen  Einfloß,  den  sie  in  das  Wohl  de^ 
Staats  haben,  zu  benrteilen  nnd  nach  diesem  Maßstab  ihre  Rangordnung 
zn  bestimmen/  Vgl.  anch  schon  oben  S.  154,  Anm.  2  nnd  im  allgem.  noch 
Alex.  Philipsborn,  Die  Klassifikation  der  einzelnen  strafbaren  Handlungen 
(->  Abk  des  krimin.  Seminars  zu  Berlin,  N.  F.  Bd.  V,  Heft  2),  Berlin  1906,  S.  81  ff. 
(bes.  über  Beccaria,  v.  Globig  u.  Huster  und  v.  Soden  [Geist  I,  §  2ff. 
S.  9  ff.]);  ebd.  S.  80,  81  auch  über  die  Ausnahmen  von  der  im  Text  genannten  Regel. 

2)  Als  Ausnahmen  erscheinen  z.  B.  noch  das  Filangierische  ^System" 
(vgl.  darüber  i.  allg.  A.  Philipsborn,  a.  a.  0.  S.  85),  in  dem  (IV,  3,  2,  Kap.  44, 
S.  339  ff.)  die  „Verbrechen  gegen  die  Gottheit*^  allen  anderen  vorangestellt  sind, 
der  Claprothsche  Str.-G.-£ntwurf  (Teil  I,  Buch  n  [„Von  den  einzelnen  Ver- 
brechen*^], Abschn.  1  [S.  17ff.]:  „Von  den  Verbrechen,  welche  wider  Gott  be- 
gangen werden"),  v.  Soden s  Geist  usw.,  der  (I,  Abschn.  IV  [„Von  den  einzelnen 
Verbrechen"],  §  79 ff.,  S.  118 ff.)  mit  der  ,, Blasphemie'*  und  anderen  Religions 
delikten  beginnt,  und  v.  Reders  Peinlich.  Recht,  wo  (II,  Kap.  Xm,  S.  132 ff.) 
Ketzerei,  Gotteslästemng,  Hexerei,  Zauberei,  Meineid  usw.  als  „Verbrechen 
gegen  Gott"  ebenfalls  zuerst  behandelt  sind.  Dagegen  motiviert  z.  B.  Brissot 
de  Warville,  Theorie  II,  p.  2 ff.  die  Stellung  der  Religionsdelikte  fast  an  das 
Ende  seines  Systems  ausdrücklich  damit,  daß  es  sich  nach  seiner  Überzeugung 
hier  um  „respecc  de  crime  la  moinsimportante,  la  moins  präjudiciable  h 
Tordre  social"  handle. 

3)  S.  Malblank,  Gesch.  d.  P.G.-O.,  §  60,  S.  266,  Nr.  4;  vgl.  auch  Servin, 
Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  143ff.;  Quistorp,  Entw.  L  §  79ff.,  S.  93ff.  (anders 
noch  seine  „Grundsatze  des  deutseh.  peinl.  Rechts,  §  118  ff.  [auch  in  den  späteren 
Auflagen);  s.  darüber  A.  Philipsborn,  a.  a.  0.  S.  85);  v.  Globig  u.  Huster, 
Abhandig..  S.  3Sff.  und  167 ff.,  Vier  Zugaben,  S.  52ff.,  55ff.;  Wieland,  Geist  1, 
§  236,  S.  307 ff.  u.  n,  §  342ff.,  S.  Iff.;  Gmelin,  Grundsätze,  §  12,  S.  22ff.  u.  §  5^, 
S.  122ff.;  V.  Eberstein,  Entwurf,  Teil  1,  Hauptst.  1,  Abschn.  1,  §  Iff.,  8.  7ff.; 
auch  Kleinschrod,  System.  Entwickl.  II,  §  12,  S.  33  und  III,  §  133,  S.  249ff 
,, Klassifikation  der  Verbrechen").  Anderswo  sind  dagegen  die  Staatsverbrechen 
(luch  wohl  umgekehrt  (jedoch  gleichfalls  wegen  ihrer  hervorragenden  Bedeutung) 
an  das  Ende  (oder  doch  fast  ans  Ende)  des  Systems  gestellt  So  z.  B.  bei  Klein, 
(irundsatze  (2.  Aufl.  1799),  Spcz.  Teil,  Kap!  XI,  §  497 ff.,  S.  397 ff.;  vgl.  auch 
Kathlef,  Vom  Geiste,  Abschn.  XXI ff.,  S.  75ff.;  v.  Dalberg,  Entw.,  S.  169ff. 
—  Über  die  Einteilung  der  Verbrechen  in  unmittelbare  und  mittelbare  Ver- 
lotzungen  des  Staats  (z.  B.  bei  Wieland,  Gmelin  u.  a. m.)  im  Anschluß  an  den 
alteren  Meister  s.  A.  Philipsborn,  a.  a,  0.  S.  Sl. 

4)  S.  über  die  damals  zum  Teil  mit  besonderer  Vorliebe  behandelten  „Polizei- 
Vergehungen"  und  ihre  „schwankenden  Cirrenzen":  Mal  blank,  Gesch.  der  P.G.-O.r 


Die  Straf rcchtsreform  im  Aufklärangszeitalter.  227 

zelnen  herrscht  dabei  natürlich  auch  wieder  noch  viel  Willkür,  überhaupt 
sind  keineswegs  sämtliche  Delikte  in  gleichmäßig  erschöpfender  Weise  be- 
handelt worden,  vielmehr  stehen  im  Vordergrunde  des  Interesse  überall 
bestimmte  einzelne  Verbrechen,  die  durch  die  veränderten  Anschauungen 
der  Zeit  besonders  beeinflußt  erscheinen.  Diese  umgestalteten  Ansichten 
aber  gehören  den  verschiedensten  Gebieten  an.  So  sind  z.  B.damalsinfolge 
neuer  staatsrechtlich -politischer  Ideen  über  die  Stellung  des  Souveräns 
—  wonach  dieser  nicht  mehr  als  „i^age  de  dieu^'  i),  als  Stellvertreter 
Gottes  auf  Erden 2),  sondern  nach  Friedrichsdes  Großen  bekanntem 
Ausspruche  nur  als  „erster  Diener  des  Staats"  erscheint  3)  —  sowohl, 
die  sog.  Majestätsverbrechen  im  allgemeinen  sehr  wesentlich  ein- 
geschränkt worden  ^)  als  insbesondere  auch  die  Majestäts  beleidigungen 

S.  267,  Nr.  4  a.  E.;  Hommel,  Übereetzg.  von  Beccaria,  Vorrede  S.  XXXlVff., 
Philos.  Gedanken,  §  71,  S.  143ff.;  v.  Globig  u.  Hustor,  Abhandig.,  S.  279ff., 
Viers Zugaben,  S.  43 ff.,  56  u.  bes.  289 ff. ;  Job.  Jak.  Cella,  Über  Verbrochen  und 
Strafen  in  Unzuchtsfällen,  Zweibrücken  u.  Leipzig  1787,  §  15  ff.,  S.  19ff.;  Klein- 
schrod,  System.  Entwickig.  II,  §  6,  S.  15ff.;  vgl.  auch  Wieland,  Geist  I,  §  103ff., 
S.  143  und  im  allg.  noch  Hälschner,  Geschichte,  S.  171  u.  Gcib,  Lehrb.  I, 
S.  331.  Über  eine  Dreiteilung  der  strafbaren  Handlungen  (in  „Verbrechen",  „Ver- 
gehen" und  polizeiliche  Reate)  in  der  Aufklärungszeit,  jedoch  auf  anderer 
Grundlage  als  heute  im  deutsch.  RStG.B.  §  1),  s.  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  26,  S.  118. 
Zu  der  ganzen  Materie  vgl.  auch  noch  Philipsborn,  a.a.O.  §  13  („Die  Auf- 
klärungsliteratur'*), S.  80—86. 

1)  So  noch:  Jons 86,  Trait6  de  la  justice  criminelle  de  France,  Paris  1771, 
T.  III,  p.  681 ;  vgl.  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  204  u.  Anm.  1. 

2)  Gegen  den  „falschen  Satzes  daß  die  Obrigkeit  die  unmittelbare  Stell- 
vertreterin Gottes  sei,  s.  u.  a.  ausdrücklich  Rössig,  „Vorerinnerung'*  zu  Hommels 
Philos.  Grcdanken,  S.  XL  Auch  Friedrich  der  Große  lehnte  „die  Ansicht  von 
dem  göttlichen  Ursprung  der  fürstlichen  Gewalt*'  aufs  entschiedenste  ab.  S.Willen- 
bücher,  a.  a.  0.  S.  31  sowie  die  folgende  Anm. 

3)  Vgl.  dazu  auch  A.  Wislicenus,  Friedrichs  des  Großen  Ansichten  vom 
Fflrstcn  in  seinen  Schriften  bis  1756,  Progr.,  Leipz.  1906,  bes.  S.  14.  Ganz  über- 
einstimmend mit  dem  Ausspruche  des  preußischen  Königs  ist  Marat,  Plan  etc., 
p.  167:  „Dans  tout  gouvornement  16gltime  lo  princo  n'est  que  le  premier 
ministre  de  la  loi"  (vgl.  G.-S.  61,  S.  243  u.  Anm.  3).  —  Über  den  Einfluß  dieser 
neueren  Anschauungen  auf  die  sog.  Amtsverbrechen  s.  v.  Liszt,  Lehrbuch, 
§  17S,  S.  578  und  Wachinger  in  der  Vergleich.  Darstellung  IX,  S.  194. 

4)  Gegen  die  frühere,  sowohl  in  Deutschland  als  bes.  auch  in  Frankreich 
(8.  Hertz,  Voltaire,  S.  26 ff.)  ganz  ungeheuer  gewesene  Ausdehnung  der  „Ma- 
jestätsverbrechen** s.  im  allg.  schon  Montesquieu,  Esprit  des  lois,  L.  XII,  chap.  7, 
p.  161  (vgl.  Esselborn,  Übersetzung  von  Beccaria,  S.  133,  Anm.  *);  de  Jan- 
court  in  der  Enzyklopädie,  Art.  „Löse-majestß"  (vgl.  v.  Overbeck  a.  a.  0.  S.  80 
u.  Anm.  4);  Beccaria,  §26,  S.  133;  Marat,  Plan  etc.,  p.  161ff  (vgl.  G.-S.  61, 
S.  240);  Graebc,  Über  die  Reformation  usw.,  §  35,  S.  66;  insbesondere  gegen 
die  Subsumierung  der  Münzverbrechen  unter  jenen  Begriff :  Montesquieu, 

15* 


228  XIV.  Günther 

in  der  Bewertung  ihrer  Strafbarkeit  erheblich  gesunken.  0  Sodann 
haben  einzelne  nationaldkonomische  Lehren  ihre  Spuren  in 
diesem  Teile  des  Strafrechts  hinterlassen.  Es  sei  nur  erinnert  an  die 
besonders  von  den  sog.  Physiokraten  ausgegangenen  Bestrebungen 
für  die  Wucherfreiheit ^),  infolge  deren  auch  manche  Juristen,   ganz 


Espr.  des  lois,  L.  XII,  chap.  S,  p.  162;  de  Jaueourt,  a.  a.  0.  (vgl.  v.  Overbeck 
S.  80  u.  Anm.4  u.  S.  S'2);  Marat,  Plan,  p.  169  (s.  G.-S.  61,  S.  246i;  Rathlef, 
Vom  Geiste,  S.  74.  A.  M.  dagegen  bes.  noch  Claproth,  Entwurf  I  (II,  2),  S.  3Sff.: 
zu  vergl.  auch  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  I76ff.;  Wieland,  Geist  II, 
§  396,  S.  7S;  v.  Reder,  Das  peinl.  Recht  III,  Kap.  V,  §  1,  S.  161  u.  §  34ff., 
8.  201  ff.;  Graebe,  Reformation,  S.  72.  —  Gegen  die  barbarische  Behandiun^^ 
der  Konigsmörder  im  älteren  Rechte  s.bes.:  Filangieri,  System  IV  (3,  2i. 
Kap.  46,  S.  430,31  ;  Marat,  Plan,  p.  16^  (G.-S.  61,  S.  244);  M.  le  F.,  Plan  de 
legisl.  sur  les  matiäres  criminelles  (Brissot,  Bibl.  phil.  T.  V),  p.  37Sff.;  Micha- 
elis, Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  5 1  ff. ;  v.  G 1  o  b  i g  u.  II  u s  t  er ,  Abhandig.,  S.  1 7 1  ff .. 
die  es  sogar  —  wie  später  Mariat  in  der  Revolutionsepocho  (s.  G.-S.  61,  S.  245 
u.  Anm.  2),.  vielmehr  für  löblich  als  strafbar^  hielten,  „einen  Tyrannen,  der  sicli 
auf  wirft,  umzubringen.''  Dagegen  wollte  B  es  eke,  Versuch,  S.  99,  daß  für  Tötung 
<les  ^ Regenten*^  dem  Täter  „die  Adern  geöffnet*^  würden,  damit  er  sich  auf  dei:: 
Oerichtsplatze  zu  Tode  blute. 

1)  Über  die  Enzyklopädisten  und  die  franzosischen  Aufklärer  s.  im  allg. : 
V.  Overbeck,  a.  a.  Ö.  S.  125  vbd.  mit  Hertz,  VolUire,  S.  432/33  (über  Mon- 
tesquieu [z.  B.  Espr.  des  lois,  Livre  XII,  chap.  12,  p.  163 ff.]  und  Voltaire 
(Prix  de  la  justice,  Art.  XXI,  in  d.  Bibl.  phil.  T.  V,  p.  79 ff.;  Dict  philos.  Art. 
.Verite-,  T.  XIV,  p.  141)),  S.  452/53  (über  Brissot  de  Warville  [Theorie  1. 
p.  271  ff.]);  über  Marat  (Plan  etc.,  p.  162,63)  s.  G.-S.  61,  S.  240—242.  Von  den 
deutschen  Aufklärern  sind  für  nachsichtige  Beurteilung  der  Majcstätsbeleidignn- 
gen  eingetreten  bes.:  VVieland,  Geist  II,  §  392,  S.  71  (bloße  Verbalinjurien  seien 
4}ntweder  ganz  zu  Tcrzeihen  oder  nur  mit  einer  ., Polizeistraf c**  zu  belegen)  u. 
V.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  173ff. ;  zu  vgl.  auch  v.  Sonnenfels,  Grund- 
sätze I,  §  132,  S.  190  (betr.Pasquillanten);  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  S9;  Graebe. 
Reformation,  §  36,  S.  69,  70.  Ziemlich  streng  sind  dagegen  noch  v.  Reder. 
JMS  peinl.  Recht  III,  Kap.  IV,  §  23ff.,  26ff.,  S.  152/53,  154ff.  u.  v.  Ebersteiu. 
Entwurf,  S.  20  ff.  —  Auf  die  auch  neuerdings  wieder,  u.  a.  von  Birkmeyer  (in 
der  „Deutschen  Revue^  1S99  [J],  S.  US  ff.),  Binding  (Lehrbuch,  Bes.  Teil,  1 
12.  Aufl.,  Leipz.  1902),  §  35,  S.  167)  und  van  Calker  (in  d.  Vergleich.  Dai-stclig.. 
Bd.  I,  S.  93  u.  109  u.  Anm.  1),  empfohlene  schärfere  Sonderung  zwischen  den 
Beleidigungen  der  Würde  des  Staatsoberhaupts  als  solchen  und  denen  des 
Fürsten  als  Privatmannes  hat  man  auch  schon  in  der  Aufklärungazeit  (wie 
z.  Teil  übrigens  auch  schon  in  der  gemeinrechtl.  Doktrin)  gedrungen.  S.  z.  B. 
bes.  Gmelin,  Grundsätze,  §  62,  S.  129ff.  u.  Klein,  Grundsätze  (2.  Aufl.),  §  511, 
S.  407.    Über  die  Gesetzgebung  des  preuß.  Allg.  Landr.  s.  noch  weiter  unten. 

2  )  S.  darüber  Röscher,  Geschichte  der  Nationalokonomik  in  Deutschland, 
München  1S74,  S.  4S0ff.;  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  143,  S.  4SI;  Jsopescul- 
<irecul.  Das  Wuchcretraf recht  usw.,  Bd.  I,  Leipz.  1906,  S.  142 ff.  u.  Anm.6  (über 
Montesquieu).  Über  wucherfreundliche  Abliandlungen  von  Turgot  (1769  b. 
JTS9)  und  Bentham  (17S7)  s.  ebdas.  S.  143,  Anm.4.   —   Über  v.  Sonnenfels, 


1 

I 


Die  Straf rechtsi'eform  im  Aufklärungszeitalter.  229 

besonders  nachdrücklich  z.  B.  der  Italiener  Filangieri,  völlige 
Straflosigkeit  des  Wuchers  verlangt  oder  doch  seine  Verweisung  in 
das  Gebiet  der  Polizeifibertretungen  befürwortet  habend);  erwähnt 
sei  in  dieser  Beziehung  ferner,  daß  die  Strafwürdigkeit  der  Vermögens- 
delikte und  namentlich  des  Diebstahls  sehr  beeinträchtigt  werden 
mußte  durch  die  freieren  Anschauungen  vieler  Aufklärer  über  das 
Eigentum,  das  u.  a.  Beccaria  einmal  ,,ein  schreckliches,  vielleicht 
nicht  nötiges  Recht'^  genannt  hat^),  und  das  von  einzelnen  Fran- 
zosen, wie  den  beiden  späteren  Revolutionären  Brissot  de  Warville 
und  Marat,  sogar  fast  schon  ganz  in  derselben  sozialistisch-kommuni- 
stischen Weise  betrachtet  worden  ist,   wie   später  von  ihrem  Lands* 


Schriften  gegen  die  Wucherfreiheit  (aus  den  Jahren  1789  u.  1791)  s.  näh.  ebda. 
S.  144  u.  Anm.  1;  vgl.  auch  W.Müller,  Josef  von  Sonnenfeis,  S.  112/13;  Lands- 
berg, Geschichte  III  1,  S.  403/4. 

1)  Über  Filangieri,  System  IV  (3,  2),  Kap.  55,  S.701ff.  s.  Geib,  Lehrb.I,. 
S.  334  u.  jetzt  bes.  Jsopescul-Grecui,  a.a.  0.  S.  142, 143  u.  Anm.  7  (mit  weiteren 
Literatarangaben ).  Als  bloßes  Polizei  vergehen  wollten  den  Wucher  in  Deutsch- 
land  bes.  Hommel  (Vorrede  zur  Ubersetzg.  von  Beccaria,  S.  XXXVII  u.  XL, 
Philos.  Gedanken,  §  73,  S.  149 ff.,  §  75,  S.  151  ff.,  §  78,  S.  155)  und  v.  Globigu. 
Huster  (Abhandlung,  S.  241,  249,  Vier  Zugaben,  S.  2S9ff.)  behandelt  wissen. 
Dagegen  erblickten  im  Wucher  i.  d.  R.  ein  strafbares  Verbrechen  u.  a.:  Wie  land, 
Geist  II,  §  487 ff.,  S.  2 00 ff.  u.  Gmeiin,  Grundsätze,  §  118,  S.  217,  Anm.  h;  vgl. 
auch  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgebg.,  S.  357 ff.  M.  le  F.,  Plan  de  lögisl. 
etc.  (Brissot,  Bibi.  phil.  T.  V),  p.  437  bezeichnet  den  Wucher  als  den  leichtesten 
Fall  des  „Diebstahls''. 

2)  Beccaria,  §  30,  S.  140;  vgl.  Hertz,  Voltaire,  S.  310.  In  dem  Manuskript 
und  in  der  ersten  Ausgabe  der  Schrift  soll  übrigens  diese  Stelle  ctrv'as  anders 
(nämlich:  „ein  schreckliches,  aber  vielleicht  nötiges  Recht^)  gelautet  haben. 
S.  C  an  tu,  Beccaria  eildiritto  pönale,  französ.  Übers,  von  Lacointa  et  Delpech, 
Paris  1885,  p.  107,  Anm.  2;  Günther  im  G.-S.  61,  S.-232,  Anm.  3;  Esselborn 
Ubersetzg.,  S.  140.  Anm.  *♦.  —  In  ähnlicher  Weise  habcu  sich  auch  andere  Gegner 
des  Privateigentums  in  dieser  Zeit  geäußert,  so  bes.  Morel ly  in  seinem  Code 
de  la  nature  ou  le  v6ritable  esprit  des  lois  (1755),  p.  230  („la  dßtestablo 
propri6t6)  vbd.  mit  p.  30  („les  pernicieuses  consdquences  de  la  propri6t6") 
p.  35,  79  („la  propri6t6  particuliöre**  «.  „summi  materia  mali"),  p.  Ut 
(„resprit  cruel  depropri6t6),  p.  132,  190  usw.;  s.  femer  de  Mably,  De  la  16gis- 
lation  ou  principes  des  lois  (Oeuvres  compL,  Paris  1790,  T.  XV),  bes.  Li  vre  I, 
chap.  3,  p.  74,  75  („cette  malheureuse  proprißtö"*),  chap.  4,  p.  101  ff.  u.  Brissot 
de  Warville,  Theorie  II,  p.  57,  („ce  droit  terrible  [de  propri6t6]  .  .  .  qui  n'est 
fond4  sur  aucun  titre'');  vgl.  auch  die  folgende  Anm.  —  Eine  ausdrückliche  An- 
erkennung des  Wertes  der  Sicherheit  des  Eigentums  findet  sich  dagegen  z.  B. 
bei  Fr.  P.  di  Blasi,  Sulla  legislazione  etc.,  §  3,  p.  22  ff.  u.  v.  Sonnen  fei  s,  Grund- 
sätze I,  §  138,  8.  166  ff.  Über  die  oft  nicht  richtig  aufgefaßte  Stellung  Rousseaus- 
zu  dieser  Frage  s.  G.-S.  61,  S.  232,  Anm.  3  u.  näheres  bei  Liepmann,  Die  Rechts- 
philosophie des  J.  J.  Rousseau,  Berl.  1898,  S.  125  ff.  u.  Anm.  2. 


230  XIV.  Günther 

manne  Pro ud hon  mit  seinem  bekannten  geflügelten  Worte  ,,La  pro- 
pri6t6  c'est  le  vol"  —  „Eigentum  ist  Diebstahl".  *)  Kein  Wunder 
daher,  daß  sich  im  Vereine  mit  der  zunehmenden  Humanität  der 
Wunsch  nach  einer  leichteren  Behandlung  dieser  Art  von  De- 
likten regte. '2)  Im  einzelnen  zeigt  sich  derselbe  besonders  in  den 
•eifrig  und  nicht  selten  mit  deklamatorischem  Pomp  aufgestellten 
Forderungen  der  Abschaffung  der  Todesstrafe  für  Diebstahle  überhaupt^), 
der  besonders  milden  Bestrafung  oder  gar  der  Straflosigkeit  solcher 
Entwendungen,  die  von  Armen  und  Bedürftigen  aus  Not  begangen 
worden  0«  sowie  endlich  der  Umwandlung  des  bisher  zum  Teil  noch 


1)  In  seiner  1840  zu  Besangen  erschienenen  Schrift  „Qu'est  ce  que  la  pro- 
pri6t6?  ou  recherches  sur  le  principe  du  droit  et  du  gouvemement'' ;  s.  Günther 
im  G.-S.  61,  S.  283,  Anm.  1;  vgl.  G.  Bachmann,  Geflügelte  Worte,  21.  Aufl., 
bearbeitet  von  Ed.  Ippel,  Berlin  1903,  S.  330,  derauf  die  Ähnlichkeit  eines  Aus- 
spruchs bei  Brissot  de  Warville  (in  seiner  schon  1780  erschienenen  Jugend- 
arbeit „Recherches  philosophiques  sur  le  droit  de  propriöt6  et  sur  lo  vol,  consi- 
d§r6s  dans  la  nature  et  dans  la  soci§te  1  Abdr.  in  der  Bibl.philos.T.  VI,  p.263ff.n 
hinweist  Übrigens  lautet  die  einschlägige  Stelle  aus  dieser  Schrift  nicht  (wie 
Büchmann  in  den  älteren  Auflagen  seiner  „Gofiagelten  Worte"  angeführt):  ^La 
propri^tö  exdusive  est  un  vol  dans  sa  nature",  sondern  „est  uu  dölit  v^ri- 
table  dans  la  nature"  (s.  Bibl.  phil.  T.  Vi,  p.  293;  vgl.  Alexandre,  La  mus^c 
de  la  conversation,  3.  6d.,  Paris  1897,  p.  407).  —  Das  nähere  über  Marat  (Plan 
de  16gisl.  crim.,  p.  143ff.)  s.  bei  Günther  im  G.-S.  61,  S.  232ff.  u.  Anm.  3. 

2)  Daß  in  der  Neuzeit  besonders  unsere  Sozialdemokraten  für  mildere  Be- 
strafung der  Eigentumsdelikte  im  künftigen  Recht  eingetreten  sind  (s.  darüber 
Dochow  in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  27  S.  116;  vgl.  auch  A.  Menger,  Neue  Staats- 
lehre, S.  149)  kann  nicht  weiter  auffallen,  aber  auch  sonst  hat  man  heute  wohl 
auf  das  Mißverhältnis  hingewiesen,  das  nach  dem  geltenden  Gesetze  zwischen 
der  (zu  hohen!  Wertschätzung  des  Eigentums  und  der  (zu  geringen)  des  mensch- 
lichen Lebens  besteht  S.  z.  B.  W eh rli,  Der  Kindesmord,  dogmat-kri tische  Studie 
mit  Berücks.  des  französ.  und  Schweiz.  Rechts,  Bern  1889,  S.  126;  Gocpcl  in  der 
Deutsch.  Juristen.-Ztg.  v.  10.  Jan.  1905,  Sp.  962 ff.;  Kahl,  Das  neue  Strafgesetz- 
buch, S.  2ö,  24;  vgl.  auch  A.  Meng  er,  a.  a.  0.  S.  149. 

3)  Diese  Forderung  begegnet  uns  damals  schon  so  allgemein,  daß  besondere 
Anführungen  dafür  unnötig  erscheinen.  Im  allgom.  s.  über  die  Franzosen  mit 
Voltaire  an  der  Spitze  etwa  Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  41ff.:  vgl.  auch  Hertz, 
Voltaire,  S.  428,  Frank,  Die  Wolffsche  Strafrcchtsphilosphic,  S.  66,  67,  Günther 
im  G.-S.  61,  S.  230,  236ff.  sowie  die  folgende  Anm.;  insbes.  betr.  Deutschland 
8.  die  Zusammenstellung  bei  Gmelin,  Grandsätze,  §  96,  S.  194,  Anm.  b;  ebds- 
u.  S.  l'J*>,  Anm.  c  auch  über  die  immer  seltener  werdenden  Anhänger  der  älteren 
Richtung,  zu  denen  namentlich  auch  der  (dort  übrigens  nicht  erwähnte)  Claproth 
(Entw.  I,  B.  2,  Abschn.  4,  Hauptst.  1,  §  3 ff.,  S.  80ff.)  gehört.  Über  die  Frage, 
ob   und  inwieweit  Geldstrafen   für  Diebstahl   angemessen  seien,  s.  schon  oben 

S.  1S5,  Anm.  2  a.  E, 

4)  Sehr  nachdrücklich  ist  dies  namentlich  veriangt  worden  von  Beccaria 
§  16,  S.  111   vbd.  mit  §  30,  S.  140),  Marat  (Plan  etc.,  p.  143ff.,  s.  G.-S.  61,  S.  231ff.) 


i 


Die  Straf rechtsreform  im  Aafklänmgszeitalter.  231 

als  ;,qualifizierte'^  Handlung  betrachteten  sog.  Hausdiebstahls  in  einen 
gewöhnlichen  (wenn  nicht  gar,  wie  heute,  einen  [durch  die  Antrags- 
Stellung]  „privilegierten^)  Fall,  wozu  man  sich  freilich,  namentlich  in 
Deutschland,  nur  allmählioh  bekannt  hat.  0 

Vor  allem  aber  mußte  die  schärfere  Trennung  von  Becht  und 
Beligion,  von  Verbrechen  und  Sünde  (Laster,  Immoralität)  eine 
ganze  Beihe  früher  aufs  grausamste  bestrafter  Delikte  zu  bloßen 
moralischen  „Schwachheiten^  (oder  „Unarten^)  umgestalten,  die  vom 
Staat  entweder  gar  nicht  mehr  oder  doch  nur  leicht,  etwa  als  Polizei- 
übertretungen, verfolgt  werden  sollten  ^)  Am  deutlichsten  zeigt  sich  dieser 

und  Friedrich  dem  Großen  (s.  Wilienbücher,  a.a.O.S.39,  40),  die  unter 
einander  übrigens  aach  darin  übereinstimmen,  daß  sie  ihre  Anschauungen  „dem 
des  Diebstahls  (bezw.  Baubes)  Angeklagten  in  den  Mund  legen.^  Willenbücher, 
S.  42;  s.  ebds.  auch  noch  Anm.  1  (Literatnrangaben)  u.  S.  39,  Anm.  1. 

1)  Die  Bewegung  zu  Gunsten  der  leichteren  Bewertung  des  Hausdiebstahls 
ist  hauptsächlich  vou  Frankreich  ausgegangen,  wo  namentlich  Voltaire  (s.  bes. 
s.  Dict  philos.  T.  XIII,  Art.  „Supplice**,  Sect  8,  p.  201  ff.;  Commentaire,  §  IS 
iBibl.  philos.  T.  I,  p.  250/51];  Prix  de  la  justice,  Art  II  [Bibl.  phil.  T.  V,  p.  9ff.], 
eifrig  gegen  die  Härten  der  älteren  Gesetzgebung,  die  darin  einen  besonders 
schweren  (todeswürdigen)  Treubruch  erblickte  (s.  darüber  Hertz,  Voltaire,  S.  29, 
117,  471  u.  Günther  im  G.-S.  61,  S.  287  Anm.  5)  angekämpft  hat  (s.  Hertz,  a. 
a.  0.  S.  429;  Günther,  Wiedervergeltung  II,  S.  168  u.  Anm.  882  ;  Masmonteil, 
La  lägisl.  crim.,  p.  235  ff.,  559);  vgl.  auch  schon  oben  S.  168,  Anm.  2.  Über 
Servan  (Discours sur Tadminstration  etc.  [Bibl.  philos. T. U],  p.  199 ff.)  s.  Günther 
Wiedervergeltg.il,  S.  203,  Anm.  539;  vgl.  auch  noch  M.  le  F.,  Plan  de  i^gis- 
lation  etc.  (Bibl. phil. T.  V),  p.  425/26,  Bernardi,  Discours  etc.  (Bibl.  phil.  T.  VIH), 
p.  158ff.  u.  a.  m.  Für  Gleichstellung  mit  dem  einfachen  Diebstahl  auch  Fiian- 
gieri,  System  IV  (3,  2),  Kap.  54,  S.  659/60.  Marat  (Plan  etc,  p.  156)  wollte 
zwar  für  den  Hausdiebstahl  keine  Todesstrafe  mehr  verhängt  wissen,  stellte  ihn 
aber  in  der  Strafbarkeit  doch  noch  dem  Einbruchsdiebstahle  gleich  (wogegen 
z.  B.  ausdrückl.  Vezin,  Das  peinl.  Halsrecht  usw.,  S.  42).  Die  Mehrzahl  der 
deutschen  Aufklärer  hielt  jedoch  —  in  teilweiser  Übereinstimmung  mit  der  ge- 
meinrechtlichen  Doktrin  (worüber  jetzt  näh.  bes.  bei  Walter  Keller,  Haus-  und 
Familiendiebstahl,  Bemer  Dissert  1905,  S.  20  ff.  u.  Anm.  32  ff.)  —  noch  an  einer  re- 
höhten Strafwürdigkeit  des  Delikts  fest;  daher  begnügte  man  sich  wohl  damit, 
die  Todesstrafe  hier  ausdrücklich  auszuschließen  (s.  z.  B.  Graebe,  Über  die  Re- 
formation, §  48,  S.  86)  oder  überhaupt  zu  harte  Strafen  wegen  der  drohenden 
Gefahr  der  „Impunität'',  d.  h.  der  Nichtanzeige  des  Falles  von  Seiten  des  Be- 
stohlenen,  zu  verwerfen  (s.  z.  B.  Gmelin,  Grundsätze,  §  98,  S.  199  u.  die  Angaben 
oben  auf  S.  168.  Anm.  2).  —  Über  das  Verlangen  nach  milderer  Bestrafung  des 
Kirchendiebstahls  s.  unten  S.  236,  Anm.  2. 

2)  S.  darüber  im  allg.  Geib,  Lehrb.  I,  §  58,  S.  331/32  ;  vgl.  etwa  auch  Mal- 
blank, Gesch.  der  P.G.-O.,  §  51,  S.  235,  §  55,  S.  247ff.;  über  die  Enzyklopädisten 
8.  V.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  32,  33  u.  Anm.  1.  —  Feder  bemerkt  1786  in  seiner 
Vorrede  zu  Servin,  Über  die  peinl  Gesetzgbg.,  S.  IV:  „Man  ist  einig,  daß 
Sünde  und  Verbrechen  nicht  einerlei  ist*'.  Im  einzelnen  vgl.  bes.  noch  Beccaria, 


232  XIV.  GÜÄTHEB 

UmBchwuDg  der  Ansichten  erklärlicherweise  bei  den  Verbrechen 
gegen  die  Religion,  aber  anch  bei  den  Sittlichkeitsdelikten  iipd 
mehreren  strafbaren  Handlungen  gegen  Leib  und  Leben  ist  er  un- 
schwer zu  erkennen.  Diese  Wandlung  der  Verhältnisse  ist  für  die 
Weiterentwicklung  unseres  Strafrechts  von  so  entscheidendem  Ein- 
flüsse gewesen,  daß  sie  noch  eine  etwas  nähere  Betrachtung  der 
Einzelheiten  erfordert. 

Die  Wirkung  der  Aufklärungsbewegung  auf  die  Religions- 
verbrechen  hat  man  zutreffend  wohl  als  deren  ,,Säkularisation''  be- 
zeichnet. V)  Es  sind  damals  nicht  nur  die  Begriffe  ^Zauberei"  und 
^Hexerei^f  gegen  die  noch  Christians  Thomasius  vergeblich  an- 
gekämpt  hatte,  schlechthin  in  das  Gebiet  des  Aberglaubens  („Schwach- 
heit des  Verstandes '0  verwiesen  worden 2),  sondern  auch  die  Ketzerei 


§  24,  S.  130/31  (u.  dazu  Esselborn,  a.  a.  0.  S.  130,  Anm.  '*');  Hommel,  Über 
setzg.  von  Beccaria,  S.  37,  Anm.  q,  S.  42,  43,  Anm.  t  u.  Philos.  Gedanken.  §  20, 
S.  89.  S  38,  S.  69 ff.,  §  48,  S.  96 ff.,  §  60,  S.  121  ff.  §  85,  S.  162 ff.;  v.  Globig  u. 
Huster,  Abhandig.,  S.  106ff.;  Wieland,  Geist  I,  §  224ff.,  S  291ff.,  §  228ff., 
S.  296ff.;  V.  Beder,  Das  peinl.  Recht  I,  Kap.  III,  §§  2,  3,  S.  41;  Graebe,  Über 
die  Reformation,  §  28,  S.  51ff.;  Gmelin,  Grundsätze,  §  11,  S.  20ff.;  Ceiia, 
Über  Verbrechen  und  Strafe  in  Unzuchtsfällcn  (1787),  §  21,  S.  28;  Kleinschrod, 
Syst.  Entwickle.,  I,  §  43,  S.  99ff.,  §  134,  S.  245;  v.  Eberstein,  Entwurf,  Einltg., 
§}  4,  5,8.3,  4^ 

1)  V.  Eohland,  Historische  Wandlungen  der  Religionsverbrechen  (in  der 
oben  S.  143,  Anm.  6  angeführten  Festschrift),  S.  138;  vgl.  auch  v.  Overbeck, 
a.  a.  0.  S.  125.  Dagegen  meint  Kahl  in  der  Vergleich.  Darstellg.,  Bd.  III,  S.  13, 
daß  der  Einfluß  der  Aufklärungsbewegung  auf  die  Religionsdelikte  „nicht  so 
hoch  einzuschätzen"^  sei,  „als  es  gemeinhin  geschieht^. 

2)  Schon  Montesquieu  (Esprit  des  lois,  Li  vre  XII,  chap.  5,  p.  159)  hatte 
die  Zauberei  als  „le  crime  du  monde  le  plus  incertain",  Voltaire  (Prix  de  la 
justice,  Art.  IX  [Bibl.  phil.  T.  V,  p.  35],  vgl.  auch  Commentaire,  §  9  [Bibl.  phil.  T. 
I,  p.  226 ff.])  den  Hexenprozeß  als  eine  „barbarie  idiote*^  bezeichnet  (Frank,  Die 
Wolffsche  Strafrechtsphilosophie,  S.  67  u.  Anm.  23,  24),  Beccaria  (§  37,  S.  154  ff.» 
aber  hielt  es  überhaupt  nicht  mehr  für  nötig,  noch  näher  auf  diese  bloß  ver- 
meintlichen Delikte  einzugehen.  —  Die  späteren  Aufklärer  wollten  im  wesentl. 
nur  noch  Betrügereien  durch  Ausbeutung  des  Aberglaubens  und  der  Dummheit 
bestraft  wissen.  So  sogar  schon  C  laproth,  Entw.  I,  B.  II,  Abschn.  1,  Hauptst.  4, 
§  1,  S.  23,  24;  s.  femer:  Marat,  Plan  etc.,  p.  246  (G.-S.  61,  S.  450);  Servin, 
Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  229ff.;  Quistorp,  Entw.,  §  334,  S.  372  u.  Grund- 
sätze (8.  Aufl.  1783)  I,  §  14S,  S.  26S— 270;  v.  Soden,  Geist  I,  §  101  ff,  S.  139ff.: 
Gmelin,  Grundsätze,  §157,  S.  283  vbd.  mit  §  11,  S.  21,  22;  v.  Dalberg,  Entw., 
S.  151;  V.  Grolmann,  Grundsätze,  §  530,  S.  341.  Vgl.  im  allg.  auch  noch 
Filangieri,  System  IV  (3,  2),  Kap.  55,  S.  692,  701;  Püttmann,  Elementa  jur. 
erim.,  Cap.  V,  §  132ff.,  p.  60ff.,  bes.  §  143,  p.  65ff.  vbd.  mit  „Praefatio",  p.I  u.  U; 
Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  61;  v.  Reder,  Das  peinl.  Recht  II,  Kap.  XIV,  bes. 
§  2  ff.,  S.  2S4ff.  u.  §  22  ff.,  S.  314  ff.  (der  übrigens  den  Gegenstand  noch  reichlich 


Die  Strafrechtsreform  im  Aafklärungszeitalter.  233 

(Häresie),  die  Apostasie,  ja  wohl  gar  der  Atheismus  (solange  dessen 
Anhänger  wenigstens  änßeriich  noch  die  Staatsreligion  respektierten  und 
ihre  Lehren  nicht  in  weiteren  Kreisen  zu  verbreiten  suchten)  sollten  grund- 
sätzlich vom  Staate  nicht  mehr  kriminell  verfolgt  werden.  0  Denn 
man  wttrde  dadurch  in  Konflikt  geraten  sein  mit  der  vom  Natur- 
recht aufgestellten  Lehre  von  dem  Freiheitsrechte  des  Einzelnen,  einer 
Lehre,  die  im  Vereine  mit  der  Betonung  des  Nutzens  der  Religion 
für  die  staatliche  Gemeinschaft  zur  Anerkennung  der  Glaubens- 
freiheit, der  Gleichberechtigung  aller  staatlich  zugelassenen  Be- 
kenntnisse geführt  hat^),  auf  deren  Grund  nach  Friedrichs  des 
Großen  Ausspruch  ein  jeder  „nach  seiner  Fa^on  selig  werden" 
könne.  ^)    Mit  diesen  freieren  Beligionsanschauungen  mußte  dann  auch 


breit  behandelt);  Bommel,  Philos.  Gedanken,  §  15,  S.  Sl,  §  77,  S.  153ff.  — 
V.  Globig  u.  Buster,  Abhdlg.,  S.  221  wollten  dagegen  „eine  natuiiicho  Zau- 
berei^, wie  z.  B.  bei  der  „nur  wenig  entdeckten  Sympathie*^,  doch  nicht  ganz  in 
Abrede  stellen. 

1)  Zur  Verwerfung  der  herkömmlichen  Strafen  für  Ketzerei  s.  u.  a.  bes.: 
Voltaire,  Commentaire,  §§  8,  4  (Bibl.  phil.  T.  I,  p,  205ff.,  209ff.),  Prix  de  la 
justice,  Art.  VIII  (Bibl.  phil.  T.  V,  p.  28ff.),  Dict.  philos..  Art  „Bßr^sie",  T.  IX, 
p.  122ff.  (u.  dazu  Frank,  a.  a.  0.  S.  67,  Anm.  25);  ferner  Marat,  Plan  etc.,  p.  245 
(s.  G.-S.  61,  S.  120,  121  u.  Anm.  8);  Brissot  de  Warville,  Theorie  U,  p.  4; 
M.  le  F.,  Plan  de  l^gislation  etc.  (Brissot,  Bibl.  phil.  T.  V),  p.  854 ;  v.  Soden, 
Geist  I,  §  90,  S.  127ff.;  v.  Globig  u.  Buster,  Abhandig.,  S.  256;  Hommel, 
Philos.  Gredanken,  §  85,  S.  168  n.  dazu  Bössig,  „Vorerinnernng",  S.  XII;  Graebe, 
Beformation,  §  84,  S.  68,  64:  v.  Grolmann,  Grundsätze,  §526,  S.  287.  Im  allg. 
zu  vgl.  auch  noch  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg,  S.  216 ff. ;  Püttmann, 
Elem.  jur.  crim.,  Gap.  VI,  §  145 ff.,  p.  67  ff.  (Strafbarkeit  nur  bei  Ausbreitung  der 
Ketzereien  zum  Nachteile  des  Staats);  Quistorp,  Entwurf,  §  885.  S.  878 ff.,  s. 
auch  Gi-undsätze  (8.  Aufl.,  1788),  §  145,  S.  264/65;  Beseke,  Versuch,  S.  112; 
Wieland,  Geist  II,  §  406ff..  S.  98ff.  (i.  d.  B.  keine  weltliche  Strafe  für 
Ketzerei,  die  „für  sich  betrachtet  ...niemals  ein  Verbrechen*^  ist  [§409,  S.  97], 
Ausnahme  s.  §  410,  S.  98);  v.  Reder,  Das  peinliche  Hecht  II,  Kap.  XIII,  8. 132 ff., 
insbes.  §  9,  S.  140  (wie  Püttmann);  Gmelin,  Grundsätze,  §  11,  S.  20  vbd.u^it 
§  156,  S.  280  ff.  —  Über  die  (meist  nur  mit  der  im  Text  erwähnten  Beschränkung 
vorgeschlagene)  Straflosigkeit  des  Atheismus  s.  bes.  F i  1  a n g i e r i ,  System 
IV  (8,  2),  Kap.  44,  S.  845;  Marat,  Plan  etc.,  p.  245  (G.-S.  61,  S.  448/49) ; 
Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  214  ff. ;  v.  G 1  o  b  i  g  u.  B  u  s  t  e  r ,  Ab- 
handig., S.  256;  Bössig,  „Vorerinnerung'^  zu  Hommels  Phil.  Ged.,  S.  X; 
Gmelin,  Grundsätze,  §  11,  S.  21.  —  Strengere  Anschauungen  hatten  noch 
V.  Sonnenfels,  Grundsätze,  §  64,  S.  71  („erklärte  Freigeiste  nicht  zu  dulden*^) 
u.  M  i  c  h  a  e  1  i  s ,  Mos.  Becht  IV,  Vorrede,  S.  125  („völlige  Gottes verleugner*  sind 
„sehr  gefährlich"). 

2)  Vgl.  V.  Rohland,  Historische  Wandlungen  usw.,  S.  186-188. 

5)  Über  Friedrichs  des  Großen  Toleranz  in  Glaubenssachen  s. näheres  bei 
Willen  buch  er,  a.  a.  0.  S.  31,  84.    Ähnlichkeit  mit  dem  im  Text  angeführten 


234  XIV.  Glnthee 

die  Gotteslästerung,  früher  das  schwerste  aller  Delikte^  das  in 
katholischen  wie  protestantischen  Gebieten  in  gleicher  Weise  mit  dem 
Tode  bedroht  war  i),  eine  völlig  veränderte  Stellung  erhalten.  Man  zälilt 
sie  nun  wohl  bloß  zu  den  Polizeiübertretungen  ^),  ja  befürwortet  gar 
—  wie  es  auch  heute  vdeder  einige  radikale  Neuerer  getan  haben  *)  — 
ihre  gänzliche  Straflosigkeit.  *)    Denn  ihre  Bestrafung  bezweckt  ja  nur 

Aussprache  des  KöniKs  hat  wiederam  (vgl.  oben  S.  227,  Anin.  3)  Marat,  Plaa 
etc.,  p.  245,  Anm.  1  („la  libert^  laiss^  ächaeun  de  servir  Dieu  k  sa  maniere*"; 
vgl.  Günther  im  G.-S.  61,  S.  447/48,  Anm.  4).  —  Über  Glaubensfreiheit  s.  ferner 
bes.  noch  Voltaire,  Commentaire,  §  4  (Bibl.  Phil.  T.  I,  p.  211/12),  Dict.  philo». 
Art  „Hßr^sie",  Sect  2,  T.  IX,  p.  130/31  u.  Art  „Tol^rance",  T.  XIV,  p.  73  ff,  und 
an  anderen  Stellen  (vgl.  Frank,  a.  a.  0.  S.  67  Anm.  25)  und  Hommel,  Philos. 
Gedanken,  §  22,  S.42,  §  47,  S.  92ff.  nebst  Rössigs  „Vorerinnerang''  dazu  S.Xi. 

1)  Vgl.  Kahl  in  d.  Vergleich.  Darstcllg.,  Bd.  III,  S.  12,  13. 

2)  V.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  252 ff.  zahlten  dahin  überhaupt  alle 
„Beleidigungen  der  Religion*^,  wollten  aber  die  Blasphemie  in  der  Regel  („ohne 
Beziehung  auf  den  besonderen  Gottesdienst  des  Staats*^)  überhaupt  nicht  strafen 
<S.  255);  vgl.  Graebe,  Reformation,  §  32,  S.  60  (wenn  ausnahmsweise  Strafe 
zu  verhängen  sei,  müsse  diese  „mehr  Polizeistrafe  als  peinliche  sein*^). 

3)  S.  darüber  näheres  bei  Kahl,  a.  a.  0.  III,  S.  Slff.  u.  87  vbd.  mit  S.  101. 
Vgl.  ferner  die  Schriften  von  Rot  he,  (regen  den  Gotteslästerungsparagraphen 
(in  den  ^Heften  zur  christl.  Welt*^,  herausgeg.  von  Rade,  Nr.  57,  Tüb.  1906)  und 
von  W.  Thümmol,  Der  Religionsschutz  durch  das  Straf  recht  (§166  d.  StG.Bs.), 
Leipzig  1906,  sowie  (zu  beiden  Schriften):  v.  Kirchenheim,  Zur  Aufhebung  von 
§  166  R.St.G.B.,  im  Zentralblatt  für  R.-Wiss.,  Febr.  1907,  S.  81— 83.  Für  Bei- 
behaltung des  Deliktsbegriffs  dagegen  ausdrücklich  Köhler,  Refonnf ragen,  S.  SO. 

4)  S.  im  allg.  Geib,  Lehrb.  I,  8.333;  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  117,  S.  396. 
Für  Straflosigkeit  der  Gotteslästerung  —  schlechthin  oder  doch  in  der  Regel 
(wenn  ohne  öffentl.  Ärgernis  begangen  usw.)  —  sind  u.  a.  bes.  eingetreten:  Mon- 
tesquieu und  Voltaire  (worüber  näheres  unten  S.  235,  Anm.  3),  Filangieri 
(vgl.  ebenfalls  unten  S.  235,  Anm.  3)  und  Quistorp,  Entwurf,  §  283,  S.  310. 
über  V.  Globig  u.  Huster  und  Graebe  s.  schon  oben  Anmerkung  2;  über 
Hommel  vgl.  unten  S.  235,  Anm.  2.  Femer  wollte  v.  Eberstein  (Entwurf, 
S.  82  ff.)  für  die  ganz  leichten  Fälle  keine  eigentliche  Strafe  eintreten  lassen,  und 
auch  Michaelis  (Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  122),  Püttmann  <Elem.jur.crim.  II, 
Cap.  III,  §  107/9,  p.  49,  50  vbd.  mit  .Praefatio**,  p.  HI),  v.  Soden  (Geist  I, 
§  soff.,  S.  llSff.  u.  bes.  §  85,  S6,  S.  123 ff.),  Wieland  (Geist  II,  §  400,  S.  83,  85k 
Gmelin  (Grundsätze,  §  155,  S.  278 ff.)  waren  grundsätzlich  zu  einer  leichteren 
Auffassung  des  Delikts  geneigt.  Vgl.  auch  noch  die  Franzosen  M.  le  F.,  Plan 
de  lägislat  sur  les  matteres  crim.  (Brissot,  Bibl.  phil.  T.  V)  p.  351/52  und  Ber- 
nardi,  Discours  etc.  (Bibl.  phil.  T.  VIII),  p.  36ff.  —  Marat  (Plan,  p.  245/46) 
wollte  die  GottesJästerung  durch  (kürzere  oder  Längere)  Einsperrung  in  die  Irren- 
häuser „bestrafen",  ein  Vorschlag,  der  in  der  österreichischen  Gesetzgebung  (17S7) 
Verwirklichung  gefunden  hat  is.  G.-S.  61,  S.  349  50,  Anm.  5  u.  näheres  noch 
weiter  unten).  —  Gegen  die  völlige  Straflosigkeit  ausdrücklich  Schott, 
Observat.  de  delictis  et  poenis  etc.  (deutsch  bei  Schall,  Von  Verbrechen  und 
Strafen,  S.  29  u.  dazu  Schall  selbst,  S.  29,  Anm.*);   vgl.  auch  v.  Reder,   Das 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  235 

—  indirekt  —  den  Schatz  staatlicher  Interessen  ^)y  nicht  mehr,  wie  man 
früher  angenommen,  denjenigen  der  Gottheit  selber,  der  nicht  Auf- 
gabe des  weltlichen  Rechts  und  Gerichts  sein  kann.  Näher  begrün- 
det wird  dies  bald  damit,  daß  Gott  als  ein  „unendliches  Wesen^ 
(„un  Stre  infini")  überhaupt  nicht  von  Menschen  verletzt  werden 
könne  %  bald  damit^  daß  die  menschliche  Justiz  jedenfalls  nicht  die 
Mittel  besitze,  um  die  der  Beleidigung  eines  solchen  höchsten  Wesens 
entsprechende  Sühne  zu  verwirklichen,  weshalb  denn  schon  Mon- 
tesquieu —  dem  rasch  eine  große  Schar  von  Gesinnungsgenossen 
gefolgt  ist  —  das  „venger  la  divinitö"  für  verwerflich  erklärt  hatte.  ^) 


peinJ.  Recht  II,  Kap.  XII,  §  4 ff.,  S.  208  ff.  u.  §  57 ff.,  S.  262 ff.  (z.  Teil  für  [durch 
Prügel]  geschärfte  Zuchthausstrafe,  ev.  [beim  2.  Ruckfall]  auf  Lebenszeit  nebst 
BrandmarkuDg);  Pflaum,  Entwurf  I,  §  199,  S.  189  (hier  abweichend  von 
QuistorpK  Besonders  rückstandig  erscheint  noch  die  Behandlung  des  Vorbrechens 
bei  Claproth,  Entwurf  I, B.  II,  Abschn.  1,  Hauptst  1,  §  1,  S.  17ff.  (vgl.  Günther, 
Wiedervergeltg.  n,  S.  217  u.  Anm.  585)  und  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg. 
S.  221,  wo  noch  Verstümmelungen  des  „schuldigen  Giiedes*^,  also  in  der  Regel 
der  Zunge  (bei  Claproth  sogar  als  schärfender  Zusatz  zur  Todesstrafe!)  an- 
gedroht sind;  vgl.  auch  schon  oben  S.  179,  Anm.  1.  Beseke,  Versuch,  S.  US 
ist  nur  gegen  hartnäckige  (rückfällige)  Delinquenten  streng.  (Strafe:  lebenslang]. 
Zuchthaus). 

1)  Dies  betonen  von  den  in  der  vorigen  Anmerkung  erwähnten  Schriftstellern 
bes.  Michaelis  und  Wieland;  ygl.  im  allgem.  femer  noch  Rössig,  ^Vor- 
erinnerung'^  zu  Hommels  Philos.  Gedanken,  S.  XVÜI  u.  Gmelin,  Grundsätze, 
§  154,  S.  277.  —  V.  Rohlaud,  Historische  Wandlungen,  S.  187. 

2)  S.  Hommel,  Übersetzg.  von  Beccaria,  S.  46,  Anm.  u.  *:  «...  Niemand 
kann  durch  Taten,  geschweige  denn  durch  Worte  bewirken,  daß  Gottes  Reich  zu 
Grunde  gehe*";  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  255:  „Welch  Unternehmen, 
. . .  dem  Schöpfer  Genugtuung  zu  vorschaffen,  der  gar  nicht  beleidigt  werden 
kann**;  Wieland,  Geist  II,  §  400,  S.  85:  „Der  Mensch  ist . . .  viel  zu  ohnmächtig, 
um  sich  eines  Verbrechens  wider  die  göttliche  Majestät  schuldig  machen  zu  können*". 
Vgl.  im  allg.  auch  v.  Rohland,  a.  a.  0.  S.  187. 

3)  Montesquieu,  Esprit  des  lois,  Livre  XII,  chap.  4,  p.  157:  „Le  mal  est 
venu  de  cette  id^e,   qu'il  faut  venger  la  divinit6.    Mais  il  faut  faire  honorer  ia 
divinitö  et  ne  pas  la  venger  jamais  . . .  Si  les  lois  des  homraes  ont  ä  venger 
un  ^tre  infini,  elles  se  rt^gleront  sur  son  infinit^  et  non  pas  sur  les  faiblesses, 
suT  les  ignorances,  sur  les  caprices  de  la  natnre  humaine*'.   Vgl.  Geib,  Lehrb.  I, 
S.  332;  Hertz,  Voltaire,  S.  133  u.  Anm.' 2,  137/38;  Günther,  Wiedervergeltg.  II, 
S.  171  u.  Anm.  394  u.  im  G.-S.  61,  S.  447  u.  Anm.  3;  Masmonteil ,  La  Mgislation 
crim.,  p.  200;  V.  Rohland,  a.  a.  O.  S.  187.  —   Im  wesentl.  übereinstimmend  mit 
Montesquieus  Auffassung  u.  a.  auch:   Voltaire  (s.  bes.  Commentaire,  §  5 
(Bibl.  phil.  T.  I,  p.  21(J/17J;  vgl.  auch  Dict  philos.,  Art.  ^lasphOme'*,  T.  IV,  p.  75ff. 
u.  dazu  Hertz,  a.  a.  0.  S.  431,  Masmonteil,   a.  a.  0.  p.  200,  201   u.  Berolz- 
heimer,  System  V,  S.  222,  Anm.  48);  Marat,  Plan  etc.,  p.  243  („Que  les  lois  se 
gardent  de  vouloir  venger  le  ciel"   etc;   vgl«  G.-S.  61,  S.  347  u.  Anm.  2); 
Brissot  de  Warville,  Discoure  etc.  (Bibl.  phil.  T.  VI),  p.  116ff.;  Filangieri, 


236  XIV.  Günther 

Im  Zusammenhange  mit  dieser  leichteren  Bestrafung  der  Verbrechen 
gegen  die  Gottheit  steht  auch  die  neu  aufkommende  systematische 
Behandlung  des  Meineids  als  Fälschung  oder  einer  besonderen 
(erschwerten)  Art  des  Betrugs^)  sowie  die  mildere  Ahndung  des 
früher  übertrieben  schwer  bestraften  Kirchendiebstahls^  der 
z.  B.  nach  der  Ansicht  Filangieris  „vor  dem  Richterstuhl  der 
Vernunft**  weit  weniger  strafbar  erscheint  als  etwa  die  Tat  desjenigen, 
„der  einem  Unglücklichen  das  raubt,  was  zum  Unterhalte  seiner  Fn- 
milie  notwendig  war".'^) 

System  IV  (S,  2),  Kap.  44,  S.  342  („....  bedarf  wohl  die  Gottheit  unser,  um 
ihre  Beleidigungen  zu  rächen  ?");  Quistorp ,  Entwurf,  §  283,  S.  310  („vielmehr  ist 
die  Rache  dem  höchsten  und  allwissenden  Hichter  Himmels  und  der  Erde 
lediglich  zu  überlassen*^);  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  255  („.  .  .  wie 
werden  schwache  Sterbliche  das  große  Vergehen  [gegen  das  höchste  Wesen] 
rächen  können?")  Vgl.  im  allgem.  auch  noch  Michaelis.  Mos. Recht  VI,  Vor- 
rede, S.  122  u.  Gmelin,  Grundsätze,  §  11,  S.  20,  21;  ja  selbst  Servin,  der  ja 
in  der  Bestrafung  des  Delikts  noch  allzu  konservativ  erscheint  (s.  oben  S.  235, 
Anm.  4  a.  E.),  verwarf  doch  die  Idee,  durch  die  Strafe  die  ^Rache  des  unend- 
lichen Wesens'^  auszuüben.  (Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  212/13.). 

1)  Für  die  Einzelheiten  dieser,  übrigens  erst  allmählich  und  nicht  ganz  ohne 
Widerspruch  und  Schwankungen  durchgedrungenen  Behandlung  des  Memeids,  in 
dem  man  nun  nicht  mehr  eine  Mißachtung  Gottes,  sondern  eine  Verletzung  bloß 
staatlicher  Interessen  erblickte,  kann  hier  auf  v.  Liszt's  Monographie  ^Meineid 
und  falsches  Zeugnis'',  S.  130 ff.  verwiesen  werden,  wo  die  Ansichten  der  wich- 
tigsten Aufkläioingsschriftsteller  ausführlich  dargestellt  sind.  Vgl.  auch  v.  Liszt, 
Lehrb.,  §  180,  S.  591  u.  v.  Rohland,  Histor.  Wandlungen,  S.  139.  —  Von  Inter- 
esse sind  vereinzelte  Stellen  in  der  Aufklärungsliteratur,  aus  denen  hervorgeht, 
daß  man  zum  Teil  schon  damals  —  wie  noch  heute  vielfach  (vgl.  dazu  etwa 
Köhler,  Reformfragen,  S.  83i  —  darauf  bedacht  gewesen,  zur  Verminderung  der 
Venirteilungen  wegen  Meineids  den  Gebrauch  eidlicher  Beteuerungen  einzu- 
schränken, wenn  nicht  ganz  abzuschaffen.  S.  z.  B.  Filangieri,  System  IV, 
(3,  2),  Kap.  44,  S.  361  ;  Hommel,  Philos.  Gedanken,  §  15,  S.  31;  Bergk,  Über- 
setzung von  Beccaria  f,  S.  122/23,  Anm.  ♦.  —  Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Vor- 
rede, S.  12  meinte,  „daß  ein  religiöses  Volk  auch  ohne  bürgerliche  Strafe 
des  Meineids  bestehen  könne".  —  „Von  den  Mitteln,  dem  Mißbrauche  der  Eide 
vorzubeugen"  hat  E.  F.  Klein  in  seinen  „Vermischten  Abhandlungen",  I  Stück 
(Leipz.  1799),  S.  4 ff.  gehandelt. 

2)  S.  Filangieri,  System  IV  (3,  2i,  Kap.  44,  S.  337,  überhaupt  daselbst 
S.  356—358  (vgl.  Geib,  Lehrb.  I,  S.  835).  Für  leichtere  Behandlung  des  Kirchen- 
diebstahls sind  u-  a.  ferner  eingetreten:  Voltaire  (s.  z.  B.  Prix  de  la  justice, 
Art.  II  [Bibl.  phil.  T.  V,  p.  12,  13]  u.  näh.  bei  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  236); 
M.  le  F.,  Plan  de  legisl.  etc.  (Bibl.  phil.  T.  V),  p.  417;  v.  Soden,  Geist  I,  §  127, 
S.  164  (keine  Todesstrafe);  Wieland,  Geist  11,  §  478,  S.  188  89;  Graebe,  Re- 
formation, §  49,  S.  87.  Über  Marat  s.  G.-S.  61,  S.  451.  Eine  konservativere  Be- 
handlung des  Delikts  findet  sich  dagegen  bes.  noch  bei  Claproth,  Entwurf  I 
B.  II,  Abschn.  4,  Hauptst  1,  §  7,  S.  83  und  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg. 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  237 

In  ganz  ähnlicher  Weise  hat  die  Entziehung  der  religiös- 
sittlichen Grundlage  auch  auf  die  Umwertung  der  Sittlich keits- 
delikte  eingewirkt  i),  so  daß  an  Stelle  der  bekannten  früheren  maß- 
losen Ausdehnung  dieser  Gruppe  strafbarer  Handlungen  eine  freiere, 
ja  yielfach  selbst  nach  heutigen  Begriffen  allzu  laxe  Auffassung  trat, 
die  in  der  Mehrzahl  der  hierher  gehörigen  Exzesse  nur  entschuldbare 
menschliche  Schwächen  („Schwachheiten",  „Unarten")  erblicken 
wollte,  eine  Lehre,  die  in  dem  „galanten  Jahrhundert"  erklär- 
licherweise nur  allzu  willige  Ohren  gefunden  hat,  ganz  besonders 
in  Frankreich,  wo  Voltaire  als  ihr  Hauptvertreter  erscheint 2), 
dann  aber  auch  bei  uns  in  Deutschland.  3)    Übrigens  haben  hietbei 


S.  223ff.;   vgl.  auch   v.  Eberstein,   Entwurf,  S.  95  (der  jedoch  Schärfung  der 
Strafe  gegenüber  der  des  einfachen  Diebstahls  nur  für  Katholiken  wollte). 

1)  S.  Joh.  Jak.  Cella ,  Über  Verbrechen  und  Strafe  in  ünzuchtsfällen,  §§  3—7. 
S.  4— 13,  §  59,  S.  95ff.;  Geib,  Lehrbuch  I,  8.338;  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  103, 
S.  366;  vgl.  auch  Berolzheimer,  Syst.  V,  S.  170.  —  Dagegen  meint  Mitter- 
mai er  in  der  Vergleich.  Darstellung,  Bd.  IV,  S.  12,  daß  die  Aufklärungszeit  im 
ganzen  nicht  allzu  tiefgreifende  Veränderungen  auf  dem  Grebiete  der  Sittlichkeits- 
delikte hervorgebracht  habe. 

2)  Über  Voltaire  (z.  B.  Prix  de  la  justice,  Art.  XII,  XIV  u.  bes.  XIX)  s.  in 
dieser  Beziehung  im  allgem.  Masmonteili  a.  a.  0.  p.  231:  ,,Vo Itaire,  qui  s'est 
content^  d'en  plaisantcr,  toutes  ces  fautes  (d.  h.  die  Sittlichkeitsdelikte)  n'6tant  ^ 
ses  yeux  quo  des  honteuses  ou  d'aimables  faiblessses'^ ;  s.  ebds.  überhaupt 
p.  231—235;  vgl.  auch  Frank,  Die  Wolffscho  Strafrechtsphilosophie,  S.  68  und 
Anm.  31.  —  Über  Montesquieu  s.  Günther,  Wiedervergeltg.  II,  S.  171;  vgl. 
auch  nnten  S.  239,  Anm.  1. 

3)  Selbst  Claproth  (Entwurf  I,  B.  II,  Abschn.  5,  Hauptst.  2,  §  1,  S.  110. 
Anm.  a  hielt  schon  für  „Verbrechen,  die  blos  aus  Geilheit  herfließen,  die  Schärfe 
derer  Strafen  vor  unzureichend'^,  v.  Sonnenfels  (Grundsätze  I,  §  122, 
S.  147/48)  warnte  die  Polizei  davor,  „daß  sie  durch  übertriebene  Strenge 
gegen  (solche)  Schwachheiten  nicht  etwa  zu  größeren  und  schändlicheren 
Verbrechen  Anlaß  gebe*^,  und  (der  in  dieser  Beziehung  besonders  milde)  Hommel 
(s.  Landsberg,  Gesch. III 1,  Noten  8.255)  beklagte  es  (Philos.  Gedanken,  S.  66. 
S.  135  ff.  u.  [im  wes.  gleichlautend]  Übereetzg.  von  Beccaria,  S.  168,  Anm.  1),  daß 
dem  Staate  so  viel  „junger  Anflug"  dadurch  verloren  gehe,  „daß  Obrigkeiten, 
welche  es  gottselig  gut  zu  machen  denken,  die  fleischlichen  Vergehungen  allzu 
hart  bestrafen  . .  .,  wodurch  sie  Abtreibung  der  Kinder  und  (Kindcr-)Mord,  also 
einen  (für  den  Staat,  ja  für  das  ganze  menschliche  Geschlecht  sehr  beträchtlichen) 
Verlust  bewirken^.  Zu  vgl.  ebds.  §  28,  S  46.  §§  59,  60,  S.  121  ff.  („da  . . .  fleisch, 
liehe  Vergehung  bloße  Sünde  ist"),  §  69,  i^.  139 ff.  vbd.  mit  Übersetzung  von 
Becacria,  Vorrede,  S. XVIII,  XXIX  („Fleischliche  Vergehen  entstehen  aus  S  ch  wach- 
heit,  Verbrechen  aus  Bosheit''),  S.  XL  („fleischliche  Verbrechen  .  .  .  und  andere 
unartige,  nicht  aber  ungerechte  Dinge"),  S.  165,  Anm.  k(bes.  betr.  die  „Sodomi- 
terey)";  s.  auch  Rössig,  „Vororinnerung"  zu  Hommels  Phil.  Ged.,  S.  XIX,  XX; 
femer  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  241  ff.,  246  (Blutschande  «  ,.Unan- 


238  XIV.  Günther 

noch  zwei  andere,  sozusagen  mehr  objektive  Vorstellungen  unter- 
stützend mit  eingewirkt,  einmal  nämlich  der  Hinweis  darauf,  daß 
bei  vielen  (leichteren)  Fällen  der  fleischlichen  Delikte,  so  u/a.  bei 
den  Akten  der  widernatürlichen  Unzucht,  kein  „dritter"  beleidigt  er- 
scheine und  insbesondere  auch  das  „gemeine  Wohl^  des  Staats  nicht 
gefährdet  werde  O»   sodann  die  von  der  neueren  Wissenschaft  inzwi- 


ständigkeif'l,  248;  Cella,  a.  a.  0.  §  82,  S.  149  (^delicta  carais'^  dürfen  and 
müssen  „als  moralische  Unarten  nicht  schlechterdings  und  immer  gestraft 
werden'*);  vgl.  ebds.  §  21,  S.  28ff.  („moralische  Vergehungen  und  Unarten*), 
§  58,  S.  91  (Ehebruch  «  „moralische  Untugend"),  §  79,  S.  135,  §  83,  S.  140 
(Blutschande  =  „moralische  Unart").  Strengere  Auffassung  dagegen  bes.  noch 
bei  Gmelin,  Grundsatze,  Vorrede,  S.XV,  XVI  u.  §  188,  S.  235/36,  zum  Teil  auch 
bei  Filangieri,  System  IV,  (3,  2),  S.  493 ff.  —  Übrigens  sind  selbst  die  frei- 
sinnigsten deutschen  Aufklärer  nicht  für  völlige  Straflosigkeit  selbst  der  leichteren 
Sittlichkeitsdelikte  eingetreten,  haben  vielmehr  wegen  der  auch  bei  ihnen  meist 
doch  vorhandenen  Gefährlichkeit  für  die  bürgerliche  Ordnung  polizeiliche 
Verfolgung  und  Bestrafung  zugelassen  (vgl.  Hai  sehn  er,  Geschichte,  S.  224);  so 
namentl.  auch  Cella,  a.  a.  0.  an  verschiedenen  Stellen,  wie  bes.  §  19,  S.  26fr., 
§  23,  S.  34  u.  §  24,  S.  35  (u.  dazu  Mittermaier  in  der  Vergleich.  Darstellg.  IV, 
S.  12),  ferner  Hommel,  Übersetzung  von  Beccaria,  Vorrede,  S.  XL,  Nr.  2  und 
Philos.  Gedanken,  §  78,  S.  155  und  Graebc,  Reformation,  §  51,  S.  89ff.;  vgl. 
auch  V.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  241  ff.  u.  bes.  Vier  Zugaben  (Zugabe 3, 
Hauptst.  II:  „Sorge  der  Polizei  für  die  Sitten"),  S.  305  ff. 

1)  S.  im  allg.  V.  Liszt,  Lehrbuch,  §  103,  S.  366.  Im  einzelnen  s.  be:^. 
Hommel,  Philos.  Gedanken,  §  60,  S.  121  ff.  („Fleischliche  Vergehungen,  wodurch 
niemand  beleidigt  wird"),  §  69,  S.  139ff.  („Fleischliche  Fehltritte*'  sind  nur  Sünde, 
nicht  aber  Verbrechen,  wodurch  man  dem  gemeinen  Wesen  schadet"),  vgl. 
auch  Übersetzg.  von  Beccaria,  Vorrede,  S.  XXIX  („Blutschande  ==  nur  „Sünde, 
wodurch  niemand  beleidigt  wird");  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  40  (Unzucht  = 
„ein  Verbrechen,  wobei  niemand  beleidigt  wird**),  S.  53  (betr.  Ehebruch),  S.  51 
(betr.  Blutschande);  derselbe,  Der  Kindermord,  a.  a.  0.  S.  171  („da  bei  der  bloßen 
Unzuchtkeindritterbeleidigtwird");Cella, a.a.O.  §  9,  S.  15ff.  vbd.  mit§iy 
S.  26ff.  (es  fehlt  „die  Absicht^ .  . .  anderen  Leuten  zu  schaden,  sie  zu  belei- 
digen**), s.  auch  §  65,  S.  101  (betr.  Ehebruch),  §  83,  S.  140  (betr.  Blutschande, 
die  nicht  zu  den  „eigentlichen  Beleidigungen  des  Staats"  gehöre);  vgl. 
(betr.  die  gewöhnliche  Unzucht,  stupnim,  „Hurerei"  od.  Fomikution)  auch  noch: 
Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgebg.,  S.  257;  v.  Soden,  Geist  H,  §  874,  S.  10 
u.  §  384,  S.  19;  Wieland,  Geist  II,  §  501,  S.  216;  dagegen  aber:  Gmelin, 
Grundsätze,  §  133,  S.  235 ff.  Über  die  Verwendung  des  Arguments  bei  der 
widernatürlichen  Unzucht  s.  insbes.  noch  Hommel,  Übersetzg.  von  Beccaria 
S.  165,  Anm.  k.  und  Cella,  a.  a.  0.  §  25,  S.  37  sowie  von  neueren  Schriftstellern 
etwa  H.  Dorn,  Strafrecht  und  Sittlichkeit,  zur  Reform  des  deutschen  Reichs- 
strafgesetzbuchs, München  1907,  S.  66  vbd.  mit  S.  9;  vgl.  auch  Berolzheimer, 
System  V,  S.  170,  183  u.  bes.  S.  185.  Speziell  dagegen  aber  schon  Gm-elin, 
Gi-undsätze  §  20,  S.  44  vbd.  mit  §  137,  S.  242/43  und  von  Neueren  Mitter- 
maier in  der  Vergleich.  Darstellg.  IV,  S.  152,  Anm.  2,  welcher  meint,  daß  die 
Argumentation    „heute   einen   ernsthaften   Juristen   nicht  mehr  Kopfzerbrechen 


Die  Strafrechtsrefonn  im  Aufkläningszeitalter.  239 

sehen  längst  widerlegte  Annahme  einer  körperlichen  und  geistigen 
Überlegenheit  der  illegitimen  Nachkommenschaft  über  die  „blöden 
und   dummen   Pflanzen**    des  Ehebetts.  0     Dieser  letztere   umstand 


machen"  könne.  —  Auch  abgesehen  von  jener  Begründung  ist  wohl  die  Mehrzahl 
der  Aufklämngsschriftsteller  für  die  Beseitigung   oder  doch  Einschränkung  der 
Strafen  (Abschaffung  der  Todesstrafe)  bez w.  des  Begriffs  der  widernatürlichen 
Unzucht,  (im  Gegensatze  zu  seiner  ungeheueren  Ausdehnung  im  gemeinen  Hechte 
[v^l.  Mittermaier  in  d.  Vergl.  Darstellg.  IV,  S.  148,  Anm.  1;  auch  Köhler  in 
Gross'  Archiv  24,  S.  868 ff.])  eingetreten  (vgl.  im  allg.  Geib,  Lehrb.  I,  S.  833; 
V.  Liszt,  Lehrb.,  §  110,  S.  385),  wenngleich  eine  Agitation  zu  Gunsten  der  „Ho- 
mosexuellen^, wie  sie  heutzutage  betrieben  wird  (vgl.  zur  Lit.  [besonders  für  und 
wider  die  Aufhebung  des  §  175  R.SlG.B.1    im  allgem.  etwa  Berolzheimer, 
System  V,  S.  180,  Anm.  2,  S.  181,  Anm.  2  u.  S.  182)  damals  noch  unbekannt  ge- 
wesen ist.  —  S.  u.  a.  im  wes.  schon  Montesquieu,  Esprit  des  lois,  Li  vre  XII, 
chap.  6.  p.  159   (vgl.  Frank,  Die  Wolffsche  Strafrechtsphilos ,  S.  68,   Anm.  81 
a.  E.);  femer  Beccaria,  §  36,   S.  153  (mehr  indirekt);  Voltaire,  Prix  de  la 
justice,  Art.  XIX  {Bibl.  phil.  T.  V,  p.  70ff.;  vgl.  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  234); 
Marat,  Plan  de  legisl.  crim.,  p.  224   (s.  G.-S.  61,  S.  389/40);  M.  le  F.,  Plan  de 
legisl.  etc.  (Bibl.  phil.  T.  V,  p.  452/53) ;  B  e  r  n a  r  d  i ,  Discours  etc.  (Bibl.  phil.  T.  VII), 
p.  110;  Brissot  de  Warville,  Theorie  I,  p.  238/39,  242;  Servin,  Über  diepeinl. 
Gesetzgebg.,   S.  249  ff.,   253  (Strafbarkeit  nur  bei  Ärgernis  oder  Verführung  der 
Jugend);    Hommel,   Philos.  Gedanken,    §   28,  S.  46;   v.  Globig  u.  Huster, 
Abhandig.,  S.  245 ff..  Vier  Zugaben,  S.  318ff.;   Cella,  a.  a.  0.,  §  26,  S.  37ff., 
§  27  ff.,  S.40ff.;  §  42  ff.,  S.  62ff.,  §  46  ff.,  S.  70  ff.  (der  nur  polizeiliche  Bestrafung, 
diese  aber  in  recht  weitem  Umfange  zulassen  wollte;  vgl.  oben  S.  238,  Anm.  8 
a.  £).    Als  Anhänger  der  älteren,  strengeren  Richtung  erscheinen  (außer  dem  schon 
erwähnten Gmelin [Grunds.,§  ]35ff.,S. 239ff.,§  244,  Anm.  v mit ausdrückl. Polemik 
gegen  Montesquieu  u.  üommel])  mehr  oder  weniger  auch :  Claproth,  Entw.I, 
B.  U,  Abschn.  5..  Hauptst.  2,  S.  109/10;  Quistorp,  Entwurf,  §§  304/5,  S.  336—338; 
Pflaum ,  Entw.  I,  §§ 207/8,  S.  195/96 ;  v.  Soden,  Geist II,  § 411,  S. 48ff.;  v.  Reder, 
Das  peinl.  Rocht  IV,  Kap.  IV,  §30 ff.,  S.  86ff.;  v.  Ebers t ein,  Entwurf,  S.  111  ff.; 
mehr  vermittelnd   dagegen  wieder:  Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  38, 
98   und  Wieland,   Geist  II,   §  518,   S.  236/36.    Über  v.  Grolman  s.   n.   bei 
Wachenfeld,  Homosexualität  u.  Strafgesetz,  Lpz.  1907,  S.  22  u.  Mittermaier 
i.  d.  Vergl.  Darstellg.  IV,  S.  148.  —  Auffällig  erscheint  die  ungleiche  Behandlung  der 
sog.  „Bestialität"  und  der  „Päderastie"  bei  Beseko,  der  (Versuch,  S.  111,  Nr.  9)  für 
die  erstere  lebenslängliches  Zuchthaus  verhängt  wissen  wollte,  während  die  letztere 
„nur  vom  Prediger  als  grobe  Sünde  vorgehalten  .  .  .  werden"  sollte. 

5)  So  bes.  Hommel,  Philos.  Gedanken,  §  66,  S.  135ff.  (vgl.  Geib,  Lehrb.  I, 
S.  333;  V.  Liszt,  Lehrb.,  §  103  S.  366),  der  dies  wieder  damit  begründet,  daß 
„der  Beischlaf  (in  der  Ehe)  allzu  oft  mit  Überdruß,  auch  wohl  in  tiefen  Nahrungs- 
sorgen  vor  sich"  gehe;  auch  Zaupser,  Gedanken,  Abh.  2,  S.  47  meinte,  daß 
„die  Talente  aus  einer  gewissen  physikalischen  Ursache  bei  unehelichen 
Kindern  oft  großer  als  bei  den  ehelichen  soien^,  und  noch  heute  scheint  zu 
dieser  Ansicht  zu  neigen  H.  Dorn,  Strafrecht  und  Sittlichkeit,  S.  62,  63.  — 
Nicht  selten  ist  zur  Begründung  der  Straflosigkeit  bezw.  der  leichteren  Bestrafung 
gewisser  Sittlichkeitsdolikte   auch   wohl  noch   der  Satz  hervorgehoben  worden, 


240  XIV.  Günther 

dürfte  besonders  mit  beigetragen  haben  zu  der  sehr  leichten  Beurtei- 
lung des  Ehebruchs,  den  man  nach  Voltaires  Ansicht  gar  nicht 
gerichtlich  verfolgen  könne,  ohne  sich  zugleich  lächerlich  zu  machen  >), 
den  aber  auch  in  Deutschland  damals  manche  nur  als  eine  rein  privat- 
rechtlich zu  beurteilende  Verletzung  des  Ehevertrages  aufgefaßt  haben. -j 
Daneben  findet  sich  dann  freilich  auch  noch  eine  strengere  An- 
schauung,   wonach   der   Ehebruch    nicht   als    „eine   artige   Mode"" 

daß,  ^wo  die  Natur  (schon)  strafe'^  (wie  z.  B.  die  Mädchen  bei  einem  außer- 
ehelichen Beischlafe  durch  Schwangerschaft  und  Niederkunft),  „so  daß  der  Ver- 
brecher ohne  alle  Gesetze  schon  sattsam  Ursache  hat,  die  Sünde  zu  unterlassen, . . .  der 
Gesetzgeber  gar  nicht  strafen^  solle;  so:  Hommol,  Phiios.  Gedanken,  §  19, 
S.  37:  vgl.  Michaelis;  Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  38;  Quistorp,  Entwurf,  f  315, 
S.  348;  Gmelin,  Grundsätze,  §  147,  S.  263,  Nr.  2;  dagegen  aber  ausdrucki.  bes. 
Kleinschrod,  Syst.  Entwickig.  II,  §  5,  S.  13. 

1)  Voltaire,  Prix  de  la  justice,  Art,  XII  (Bibl.  phil.*T.  V,  p.  62):  „un  crime, 
que  tout  le  monde  est  tent^  de  commettre,  que  tout  le  monde  favorvise,  quand 
il  est  commis,  qu'il  est  si  difficile  de  prouver  et  dont  on  ne  peut  gudre  se 
plaindre  en  justice,  sans  se  couvrir  de  ridicule";  s.  auch  Dict.  phiios.. 
Art.  „Adult6re^  T.  I,  p.  lülff.  «vgl.  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  232/83,  auch  Geib, 
Lehrb.  I,  S.  333).  Wörtliche  Wiederholung  der  Stelle  aus  Voltaires  Prix  bei 
Brissot  de  Warville,  Theorie  I,  p.  22S  (der  schon  im  „Discours"  iBibl.  phiL 
T.  VI,  p.  107  ff.,  bes.  p.  109,  113]  für  mildere  Behandlung  des  Delikts  eingetreten). 
Nachsichtig  sind  im  wes.  auch  Beccaria,  §  36,  S.  151ff.  und  Filangieri, 
System  IV  (3,  2),  Kap.  50,  S.  573 ff.,  577/578  (die  beide  mehr  Verhütung  als  Be- 
strafung wollten);  nur  für  leichtere  Strafe  auch  Bernardi,  Discours  etc.  (Bibl. 
phil.  T.  VII),  p.  117.  Dagegen  erblickte  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgebg. 
S.  233  ff.  im  Ehebruch  eine  „außerordentlich  schwere  Missetat'  (S.  237),  die  in 
Frankreich  viel  zu  lax  beurteilt  werde  (S.  238) ;  über  die  Strafe  s.  ebds.  S.  243.  — 
Über  Marat  s.  noch  unten  S.  241,  Anm.  2. 

2)  Vgl.  im  allgem.  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  116,  S.  393.  Her\'orzuheben  bes. 
Oclla,  a.  a.  0.,  §  57,  S.  88 ff.  u.  uamentl.  $  58,  S.  89  (Randbemerkung:  „Eheliche 
Untreue  sowie  jede  andere  Verletzung  eines  Privatvertrags  begründet 
keine  öffentliche  Strafe,  sondern  bloß  eine  Verbindlichkeit  zur  Privat- 
satisfaktion gegen  den  anderen  Teil";  ebds,  S.  91:  «Nie  ziemt  es  dem  Staate, 
dieser  moralischen  Untugend  (vgl.  oben  S.  328,  Anm.  3)  halber  mit  dem 
fiachschwert  des  peinlichen  Richters  gegen  seine  Untertanen  zu  wüten**;  vgl. 
{betr.  d.  Strafe)  §  63,  S.  9Sff.,  §§  64,  65,  S.  lOlff,  §  71,  S.  118ff.;  s.  femer 
v.  Sodeu,  Geist  II,  §  395,  S.  31,  32  (bes.  gegen  die  Todesstrafe  für  diesen 
„Bruch  eines  Vertrags").  Für  mildere  Bestrafung  im  wes.  auch  Wieland, 
Geist  II,  §  508 ff.,  S.  22 3 ff.  sowie  (wenigstens  tatsächlich)  Quistorp,  Entw.. 
§  290,  S.  320,  Pflaum,  Entw.  I,  §  202,  S.  191,  v.Dalberg,  Entw.,  S.  156,  Nr.  li 
und  V.  Grolman,  Grundsätze,  §543/44,  S.  353/54.  —  Über  Vorschläge  zu  freierer 
Behandlung  des  Ehebmchs  in  neuerer  Zeit  s.  jetzt  bes.  die  aasführl.  Angaben 
bei  Mittermai  er  in  d.  Vergleich.  Darstellg.,  Bd.  IV,,  S.  100  u.  Anm.  1,  S.  101 
u.  Anm.  2,  der  selber  für  Beseitigung  des  Deliktstatbestands  ist;  zu  vgl.  auch 
Gautier,  Contre  la  r^pression  penale  de  l'adult^re,  in  der  Schweiz.  Z.  f. 
Strafr.  7  (1899),   S.  353 ff.;   Alfr.  Kahn,   Die  Bestrafung  des  Ehebruchs  in  der 


Die  Strafrechtsreform  im  AufklSrongszeitalter.  241 

behandelt,  sondern  „mit  einer  ziemlichen  Strafe^  belegt  werden 
sollte^),  wobei  manche  insbesondere  noch  den  weiblichen  Teil 
wegen  der  dnrch  diese  Tat  oft  in  Frage  gestellten  Herkunft  der 
Kinder  (^perturbatio  sanguinis^)  härter  bestraft  wissen  wollten  als 
den  Mann.  2)  Einigen  Einfluß  hat  jene  Höherschätzung  der  unehe- 
lichen Kinder  femer  wohl  auch  geübt  auf  die  Auffassung  der  (öfter 
nur  als  eine  besondere  Unterart  des  Ehebruchs  behandelten  ^))  Bigamie 
oder  mehrfachen  Ehe  sowie  des  Inzests  („Blutschande''),  Delikte,  für 
deren    mildere    Bestrafung    (bezw.   Straflosigkeit)    man   sich   zudem 


heatigen  Gesetzgebung  und  de  lege  ferenda,  Tübinger  Diss.,  Stuttg.  1902,  S.  55fr., 
61  (a.  die  literatarangaben  das.  S.  55,  Anm.  114);  H.  Dorn,  Strafrecht  and  Sitt- 
lichkeit, S.  62ff.,  66;  Berolzheimeir,  System  V,  S.  173. 

1)  So:  Gmelin,  Grundsätze,  §  189,  S.  247.  Für  strengere  Bestrafung  mehr 
oder  weniger  auch  noch  Zaupser,  Gedanken,  Abh.  2,  S.  52;  Michaelis,  Mos. 
Recht  VI,  Vorrede,  S.  42;  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  48;  Beseke,  Versuch,  S. 
108,  Nr.  3;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  231  und  Vier  Zugaben,  S.  204ff.; 
▼.  Red  er,  Das  peinl.  Recht  IV,  Kap.  VI,  §  43,  S.  207 ff. 

2)  Für  diese,  auf  Grund  römisch-rechtlicher  Ideen  (s.  Mittermaier,  Vergl. 
Darstellg.  IV,  S.  93 ff.)  ausgebildete  Anschauung  sind  u.  a.  bes.  eingetreten: 
Montesquieu,  Esprit  des  lois,  Livre  XXVI,  chap.  8,  p.  403  und  (im  wesentL 
Anschluß  daran)  Cella,  a.  a.  0.  §  71,  S.  118—124;  femer  Beccaria  in  seinem 
Gutachten  vom  Jahre  1792  (bei  Esselborn,  Übers.,  Anhang  I,  S.  185);  S ervin, 
Über  die  peinl.  Gesetzgebg.,  S.  243;  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  49;  wenigstens  im 
Prinzip  wohl  auch  v.  Reder,  Das  peinl.  Recht  IV,  Kap.  VI,  §  7,  S.  139/40  und 
V.  Eberstein,  Entwurf,  S.  186/87,  da  sie  die  Tat  der  Frau  der  Folgen  halber 
als  schwerer  bezeichnen.  S.  auch  noch  Bernardi,  Discours  (Bibl.  phil.  T. 
VIII),  p.  117  („ce  [d.  h.  die  perturbatio  sanguinis]  serait  lä  .  .  .  une  raison  de 
diminuer  la  peine  du  mari*^,  nicht  jedoch  für  dessen  völlige  Straflosigkeit). 
Ausdrückl.  dagegen  aber  Marat,  Plan  de  legist  crim..  p.  2 10 ff.,  der  sogar 
am  liebsten  den  Ehemann  (als  den  sr.  Meinung  nach  regelmäßig  schuldigeren 
Teil)  strenger  als  die  Frau,  mindestens  aber  gleich  (und  zwar  im  ganzen  leicht) 
bestraft  wissen  wollte.  N.  s.  im  G.-S.  61,  S.  334  u.  Anm.  3,  S.  335  u.  Anm.  1, 
vbd.  mit  S.  329/30  u.  Anm.  3.  —  Bezgl.  der  Behandlung  der  Frage  in  der 
neueren  Zeit  s.  Kahn,  Die  Bestrafung  des  Ehebruchs  usw.,  S.  49 ff.  u.  Anm. 
104  (Literaturangaben);  Mittermaier  i.  d.  Vergleich.  Darstellg.  V,  S.  94  n. 
Anm.  1—4  (der  selber  für  gleiche  Strafe  beider  Teile  ist);  Berolzheimer» 
System  V,  S.  173. 

3)  S.  z.  B.  S ervin.  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  244;  Rathlef,  Vom 
Geiste,  S.  53;  Quistorp,  Entwurf,  §  289,  S.318,  §  297,  S.  329/30;  v.  Globig 
n.  Huster,  Abhandig.,  S.  234;  Gmolin,  Grundsätze,  §  142,  S.  252/53;  Cella, 
a.  a.  0.  §  24,  S.  36,  Anm.^u.  §  73,  S.  126;  v.  Grolmann,  Grundsätze,  §  546,  S. 
356 ff.  Als  bloßes  „Lokaldelikt''  war  die  Bigamie  von  Voltaire,  Prix  de  la 
justice,  Art.  XII.  (Bibl.  phil.  T.  V,  p.  61)  betrachtet  worden  (s. Hertz,  Voltaire, 
S.  434);  vgl.  auch  Brissotde  Warville,  Thöorie  I,  p.  236ff.;  M.  le  F.,  Plan 
de  16gisl.  etc.  (Bibl.  phil.  T.  V),  p.  444/45.  Ganz  übergangen  ist  ue  von  Marat 
in  seinem  Plan  de  legisl.  criminelle  (s.  G.-S.  61,  S.  335,  Anm.  2). 

Arehiv  fVr  Kiiminalanthropolo^e.    28.  Bd.  16     . 


242  XIV.  GüirrHEB 

wohl  noch  auf  das  ^Natorrecht^  oder  das  „Naturgesetz^  zu  berufen 
pflegte.  1)  Eine  strengere  Beurteilung  bmden  dagegen  auch  damals 
noch   wegen    des   in   den   Vordergrund   tretenden   Umstandes    des 

1)  Za  Y^.  a)  betr.   d.   Bigamie   (bezw.  Polygamie)  im  allg.:   v.  Liszt, 
Lehrb.,  §  115,  8.  892;  hervorzoh.  namentL:  ▼.  Soden,  Geist  II,  §  398 ff., S.  54 ff.: 
«Die  Polygamie,  von  der  die  Bigamie  nur  eine  Gattung  ist,  ist  eigentlich 
keine  Handlang,  die  nach  dem  Naturgesetz  das  Wohl  der  Gesellschaft  stört 
Das  Gesetz  der  Natur  verbietet  die  Vielweiberei  nicht  .  .  .   Das  Gesetz  der 
Monogamie   ist   also   nor  ein  Gresetz   der  Konvenienz*^  usw.    Für  mildere  Be- 
strafung des  Delikts  (insbes.  für  Ausschluß  der  Todesstrafe,   die  z.  B.  selbst 
Glaproth,  Entw.  I,  B.  II,  Abschn.  5,  Hauptst  4,  S.  112  nicht  mebr  befürwortete) 
auch  Graebe,   Befonnation,  §  51,   8.  90  und  Cella,   a.a.O.,   §  75,  8.  226ff.; 
vgl.  auch  Wieland,   Geist  II,  §  510,   S.  225/26.    Über  die  Franzosen  s.  schon 
die    vorige    Anmmerknng    und    zu     ygl.    dazu    noch    Bernardi,    Discour» 
(Bibl.  phil.  T.  VIII),  p.  105.    Einzelne  Schriftsteller  (wie  z.  B.  Rathlef ,   Vom 
Geiste,  S.  5S)  wollten  die  Doppelehe  ausdrücklich  nur  dem  Ehebrache  gleidi  be- 
strafen, die  meisten  jedoch  härter  als  jenen;  s.  z.  B.  bes.  Beseke,  Versuch,  S. 
108,  Nr.  6   vbd.  mit  Nr.  3  u.  y.  Beder,  Das  peinl.  Recht  IV,  Kap.  VII,  §  32, 
S.  258 ff.  vbd.  mit  Kap.  VI,  S.  207.   —  FGr  Milderung   des  heate  geltenden 
Rechts:  Bartolomaeus  in  d.  Z.   f.  d.  ges.  Str.-W.  25,  S.  129/30;  für  völlige 
Aufhebung  des  Bigamie-Paragraphen:   Dr.  Samuel o  in  der  Schrift  »Die  Poly- 
gamie in  sozialer  und  rechtlicher  Beziehung''  (Leipz.,  Spohr,    ohne  Jahreszahl); 
vgl.  dazu  Gross  in  s.  Archiv,  Bd.  25  (1906),  S.  390.    b)    Betr.   des  Inzests 
(Blutschande)  s.  im  allg.  Geib,   Lehrb.  I,  S.  333;   v.  Liszt,   Lehrbuch,   §  111, 
S.  387;  Aber  die  Enzyklopädisten:  v.  Overb;eck,  a.  a.  0.  S.  93;  vgl.  auch 
Mittermaier  i.  d.  Vergl.  Darstellg.  IV,   8.145,  Anm.  3;  Aber  Voltaire  (Prix 
de  la  justice,  Art  XIV  [Bibl.  phil.  T.  V,  p.  66 ff.])  s.  M asm on teil,  a.  a.  0.  p. 
233.    Vgl.  auch  M.  le  F.,  Plan  de  l^slation  (Bibl.  phil.  T.  V),  p. 447 ff.;   Ber- 
nardi, Discours  (Bibl.  phil.  T.  VIII),  p.  108/9;  Brissot  de  Warville,  Thtorie 
h  p.  223ff.  In  Deutschland  ist  namentlich  Hommel  sehr  eneigisch  g^gendie 
Überspannung   der  Strafwürdigkeit   des  Inzests   (dessen  Verdeutschung  durch 
„Blutschande*   ihm   sehr  unsympathisch  war)  aufgetreten.    Die  Handlung,  von 
deren  Strafbarkeit  das  Natur  recht  nichts  wisse,  stelle  sich  als  eine  höchstens 
mit  bloßer   Kirchenbuße    zu   belegende   Sünde   (vgl.  oben  S.  237,  Anm.  3)^ 
nicht  aber   als  ein  eigentliches  Verbrechen  dar.  S.  Philos.  Gedanken,  §  36, 
S.  67,  §§  59,  60,  S.  121  ff.  vbd.  mit  d.  Vorrede  zur  Übersetzung  von  Beccaria; 
S.  XXIV,  XXVni/IX.    Für  leichtere  Bestrafung  (bezw.  Einschränkung  des  Tat- 
bestandes) auch:  Rathlef,  Vom  Geiste,  8.  54,  v.  Soden,  Geist  II,  §405,  8.41, 
V.  Globig  u.  nuster.  Abhandig.,  S.  246ff.,  Vier  Zugaben,  8.  313ff.,  Graebe, 
Reformation,  §  52,  S.  92   (weil  davon   „das  Naturrecht  eigentlich   nichts*^ 
wisse)  und  bes.  Cella,  a.  a.  0.,  §  78,  8.  132ff.,  §  79,   S.  135,  §  80,   S.  135fr., 
§  83,  8.  140  (Blutschande  .  .  .  gehörtnnter  die  moralischen  Unarten  [s.  schon 
oben  8.  238,  Anm.  3],   wo  nicht  von  eigentlichen  Beleidigungen  des  Staats,  der 
öffentlichen  Sicherheit  der  Mitbürger  Ivgl.  oben  8.  238,  Anm.  1],  mithin  auch 
von  keiner  peinlichen  Strafe,   sondern  von  einer  hauptsächlich  zur  Besse- 
rung der  Fehlenden  und  Aufrechterhaltung  des  sittlichen  Grefiihls  gerdchendea 
Korrektion  die  Rede  sein  muß'');   vgl.   auch  noch  ebds.  S.  141 — 143  u.  §  85, 
8.  143 ff.    Auch  Gmelin,  Grundsätze,  §  136,  S.  241,  Nr.  I  bemerkt,  daß  «das 


Die  Strafrechtsreform  im  AuflEl&ningBzeitalter.  24S 

gewaltsamen  Handelns  die  Entführung  and  die  Notzucht^), 

Natnrrecht . . .  kein  Verbot  (des  Inzests)  enthalte^  daß  daher  die  Todesstrafe 
für  alle  Fälle  „viel  zu  hart^  sei,  ja  daß  es  yielleicht  am  besten  wSre,  «die 
BlatBchande  ganz  aas  der  Klasse  der  Verbxechen  aii8(za)tilgen  und  sie  nur  als 
einen  Grand  an(za)ffiliren,  die  Strafe  derer  Verbrechen  zn  schSrfen,  welche  durch 
Beischlaf  begangen  werden."  —  Für  strengere  Bestrafong  (wenngleich  nicht  mehr 
Todesstrafe)  sind  dagegen  u.  a.  noch;  Filangieri,  System  V  (8»2),  Kap.  50,  § 
568/64;  Seryin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  &  248/49;  Claproth,  Entwarf  I, 
B.  n,  Abschn.  5,  Haaptst  3,  S.  111;  Qaistorp,  Entwarf,  §  809,  S.  340ff.; 
Pflaam,  Entwarf  I,  S.  210,  S.  198;  v.  Reder,  Das  peinl.  Recht  IV,  Kap,  V, 
f  28  ff.,  8. 120  ff.  (jedoch  mit  Beschränkung  auf  Aszendenten  nnd  Deszendenten 
als  Täter);  v.  Dalberg,  Entwarf,  S.  156;  v.  Eberstein,  Entwarf,  S.  109/tO; 
8.aach  noch  Wieland,  Geist  II,  §  519,  S.  287.  —  Aach  in  neuerer  Zeit  ist 
die  Straflosigkeit  der  Blutschande  —  die  übrigens  die  meisten  romanischen 
Rechte  und  das  St-G.-B.  der  Niederlande  im  wesentl.  nicht  als  besonderes  Delikt 
kennen  (vgl.  v.  Liszt,  Lehrbuch,  8. 145  u.  Anm.  5;  Mittermaier,  a.  a.  0.  S.  145 
und  Anm.  8—5)  —  befürwortet  worden.  So  auch  von  Mittermaier,  a.  a.  0. 
S.  147.  Dagegen  meint  Köhler,  Reformfragen,  8.  79,  daß  die  (schon  im  gelten- 
den Rechte  [R.-St-G.-B.  §  178]  anerkannte)  völlige  Straflosigkeit  der  Inzestuösen 
absteigender  Linie  bis  zum  18.  Lebensjahre  recht  gut  fallen  könne. 

1)  Wegen  der  angewendeten  Gewalt  sind  diese  beiden  Verbrechen  nicht 
selten  von  den  übrigen  Sittlichkeitsdelikten  abgesondert  und  im  System  bei  den 
„Freiheitsdelikten*^  (Verbrechen  gegen  die  persönliche  Freiheit  u.  dergl.)  oder  bei 
den  „Gewalttätigkeiten*^  behandelt  worden.  S.  z.  B.  8 ervin,  Über  die  peinl. 
Gesetzgebg.,  S.  187  ff.  u.  S.  196 ff.  (im  Buch  I,  Kap.  8,  Abschn.  2:  „Von  Ein- 
griffen in  die  natürliche  Freiheit*"),  s.  übrigens  auch  S.  365ff.;  Bernardi,  Dis- 
cours (Bibl.  phü.  T.  Vm),  p.  189,  140ff.;  Quistorp,  Entwurf  I,  Abschn.  16, 
§  169,  S.  191  ff.  und  Abschn.  17,  §  172  ff.,  S.  196  ff.  (abweichend  von  s.  Grund- 
sätzen des  deutchen  peinl.  Rechts  [3.  Aufl.  1788],  I,  §  486 ff.,  S.  984fr.  n.  §  508 ff., 
S.976f£.);  Pflaum,  Entwurf  I,  Abschn.  16,  §  180,  S.  124ff.  u.  Abschn.  17,  §  133 ff., 
S.  127ff.;  V.  Soden,  Geist  I,  §  148,  S.  174£f.  und  §  164,  S.  199ff.  (im  unmittel- 
baren Anschluß  an  den  Abschnitt  „Von  der  Gewalt^,  §  129 ff.);  v.  Grolman, 
Grundsätze,  §  879  ff.,  S.  229ff.  u.  §  S85ff.,  S.  234;  s.  auch  noch  Kl  eins  chrod, 
System.  Entwickig.  III,  §  185,  S.  254,  Nr.  6  (betr.  d.  Entführung).  Anders  da- 
gegen noch  Wieland,  Geistll,  §  511,  S.  228  u.  §  512ff.,  8.  229ff.;  v.  Reder, 
Das  peinl.  Recht  IV,  Kap.  VIII,  S.  261ff.  u.  Kap.  EL,  S.  816ff.;  Cella,  a.  a.  0. 
§  99,  S.  174ff.  u.  §  109ff.,  8. 194ff.;  Marat,  Plan  etc.,  p.  215ff.  u.  p.  218ff.  (s. 
G.-S.  61,  S.  836—888);  s.  auch  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  284—236 
(betr.  die  Notzucht).  —  Dafi  noch  heute  Streit  über  die  richtige  systematische 
Stellung  der  Entführung  herrscht,  ist  bekannt  S.  einerseits  Binding,  Lehi^ 
buch.  Bes.  Teil,  I  (2.  Aufl.,  Ldpz.  1902),  $  28,  8.  117  (für  Stellung  unter  die 
Freihdtsv6rbrechen)i  andererseits  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  104,  S.  368  (für  die  ältere 
Behandlung  bei  den  Sittlichkeitsdelikten)  und  dazu  im  allg.  noch  Mittermaier 
in  d.  VergL  Darstellg.  IV,  8. 137  ff.  —  Sehr  kasuistische  Abstufungen  der  ein- 
zelnen Fälle  der  Entführung  bei  Wieland,  Gdst  11«  §  512ff.,  8.  228ff. 
und  Filangieri,  System  IV  (8,2),  Kap.  50,  8.  566ff.,  570ff.,  der  für  den 
schwenten  Fall  sogar  nodi  die  Todesstrafe  wollte  (S.  567).  Für  lebenslängliche 
Freiheitsstrafe:   Servin,   Über  die  peinl.  Geeetzgbg.,  8.  197;  für  mehr  oder 

16* 


244  XIV.  GUNTHEB 

nur  daß  bei  diesem  letzteren,  meist  ja  sehr  schwer  zu  beweisenden  ^) 
Verbrechen  gleichzeitig  öfter  anch  Zweifel  geäußert  worden,  ob 
es  überhaupt  zur  Vollendung  kommen  könne,  wenn  die  An- 
gegriffene sich  energisch  zur  Wehr  setze.  ^)  Großer  Verabscheu- 
ung  begegnet  femer  durchweg  die  Kuppelei  (und  „Hurenwirt- 
schaft'^),  namentlich,  insofern  sie  —  wie  es  ja  meistens  der  Fall  — 
aus  43chnöder   Gewinnsucht    begangen  wird.^)     Während  uns  dies 


weniger  strenge  Bestrafong  der  Entführung  auch  die  meisten  anderen 
Schriftsteller,  ziemlich  milde  dagegen  Marat,  Plan,  p.  215ff.  (s.  G.-S.  61,  a  336). 
—  Über  die  Aosnahmestellang  der  Notzucht  in  der  kriminalist  Aufklärung»- 
terator  s.  im  allg.  Hälschnet,  Geschichte,  8.  224.  Für  Todestrafe  dafür 
noch  Claproth,  Entw.  I,  B.  II,  Abschn.  8,  Hauptst  1,  §  2,  S.  106;  ausdrückl. 
dagegen  und  auffällig  milde:  Marat,  Plan,  p.  218  (s.  G.-S.  61,  S.  337/38).  Für 
strenge  Bestrafung  (jedoch  nicht  Todesstrafe)  die  meisten,  s.  u.  a.  besonders 
S ervin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  187/88,  195;  Bernardi,  Discours  (Bibl. 
phil.T.  VIII),  p.  140;  Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Von^e,  S.  91;  Rathlef,Voin 
Geiste,  S.  53 ff.;  Quistorp,  Entwurf,  §  173,  S.  197;  Pflaum,  Entw.  I,  §  134, 
S.  129ff.;  V.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  236;  Wieland,  Geist  II, 
§  511,  8.  227  u.  Anm.*  (für  Deportation;  vgl.  schon  oben  S.  162,  Anm.  1);  v. 
Beder,  Das  peinl.  Recht  IV,  Kap.  VIU,  §  28ff.,  S.313ff.;  Gmelin,  Grundsätze, 
§  129,  8.  229  (für  „eine  der  Todesstrafe  ziemlich  nahe  Strafe'');  Cella,  a.a.O. 
§§  104,  105,  8.  184ff.,  187ff.;  v.  Dalberg,  Entwurf,  8.  155  (für  lebensiängtich. 
Zuchthaus  mit  8chanzarbeit);  t.  Eberstein,  Entwurf,  8.  103 ff. 

1)  8.  darüber  ausdrücklich  u.  a.  bes.:  8 er y in,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg., 
8.  188ff.;  Brissot  de  Warville,  Theorie  II,  p.  79,  80;  Claproth,  Entwarf 
I,  B.  U,  Abschn.  8,  Hauptst  1,  §  2,  8.  107;  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  55;  t. 
Soden,  Geist  I,  §  154,  8.  188;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhdlg.,  8.  234/35;  v. 
Reder,  Das  peinl.  Recht  IV,  Kap.  VIII,  §  14,  S.  283ff.;  Gmelin,  Grundsätze, 
§  129,  S.  229,  Anm.  1;  Cella,  a.  a.  0.  §  103,  S.  179. 

2)  Vgl.  im  allgem.  v.Liszt,  Lehrbuch,  §  105,  8.  371.  Hervoizuheben  bes.: 
Voltaire,  Prix  de  la  justice,  Art.  XV  (Bibl.  phil.  T.  V.,  p.  68  und  dazu  Mas- 
monteil,  a.  a.O.  p.  233);  Brissot  de  Warville,  Theorie  U,  p.  81;  Cella, 
a.  a.  0.  §  99,  8.  174ff.,  181ff.;  s.  auch  noch  v.  Reder,  Das  peinl.  Recht  IV, 
Kap.  VIII,  §  1,  8.  261/62,  §  11,  S.  275  sowie  (wenngleich  mehr  indirekt)  8  ervin, 
Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  8.  188  u.  v.  Eberstein,  Entwurf,  Vorrede,  8.  9. 
Dagegen  aber  in  wes.:  M.  le  F.,  Plan  de  lägisl.  etc.  (Bibl.  phil.  T.  V),  p.  450: 
„Le  fait  est  impossible,  qnand  Paggresseur  est  moins  fort  que  celle  qul  se  d^fend 
11  est  difficile  ä  forces  Egales,  il  est  tr^s-possible,  quand  la  f  orce  est  da 
cdtö  de  r  homme."  —  v.  Gl  ob  ig  u.  Hu  st  er.  Abhandig.,  8.  235  hatten  verlangt, 
daß  der  Täter  „wirklich  bewaffnet*^  gewesen;  dagegen  aber  Quistorp, 
Entwurf,  §  177,  8.  196.  —  Über  die  österreichische  Gesetzgebung  vom  Jahre 
17  87  s.  noch  unten  S.  284,  Anm.  4. 

3)  Auf  besonders  strenge  Bestrafung  dieses,  von  ihnen  mit  den  schSifsten 
Ausdrucken  gebrandmarkten  Verbrechens  dringen  namentlich  die  Franzosen  Marat 
(Plan  etc.,  p.  220 ff.;  vgl.  G.-S.  61,  S.  338/39)  und  Servin  (Über  die  pdnL  Ge- 
setzgbg., S.  260).    Von   Deutschen  s.  v.  Sonnenfels,  Grands.  I,  §  122,  S.  147; 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufklärangszeitalter.  246 

auch  heute  noch  ohne  weiteres  verständlich  erscheint,  muß  es  da- 
gegen —  in  Anbetracht  der  sonstigen  liberalen  Anschauungen  auf 
diesem  Gebiet  —  auf  den  ersten  Blick  befremden,  daß  die  sogar 
nach  unserem  hetitigen  Rechte  straflose  Verführung  erwachsener 
Mädchen  (arg.  §  182  B.-Str.-6.-B.)  den  Täter  nicht  nur  zur  strikten 
Erfüllung  seiner  zivilrechtlichen  Verbindlichkeiten  (Ausstattung  [bezw. 
auch  Alimentation  des  Kindes]  oder  Heirat)  verpflichten  i),  sondern 
nach  den  Wünschen  einzelner  Schriftsteller  auch  wirkliche,  unter  Um- 
ständen sogar  bis  zum  Tod  oder  zu  lebenslänglicher  Freiheitsberaubung 


Qai8torp,Entwurf  I,§S27ff.,  S.  364ff.,  Pflaum,  Entwurf  I,  §  221  ff.,  S.209ff.; 
V.  Soden,  Geist  II,  §  418,  S.  53ff.  u.  bes.  §  422,  S.  57;  v.  Globig  u.  Huster, 
Abhandig.,  S.  244/45,  Vier  Zugaben,  S.  315;  v.  Heder,  Das  peinl.  Recht  IV, 
Kap.  X,  §  20,  S.  d90ff.;  Gmelin,  Grundsätze,  §  134,  S.  238/39;  v.  Dalberg, 
Entwurf.  S.  107 ff.;  v.  Eberstein,  Entwurf,  S.  156/57.  Dagegen  wollte  Cella, 
a.  a.  0.  §  82,  S.  148  die  „Hurenwirtschaft  und  Kuppelei^  (als  Begünstigung  der 
ja  i.  d.  Regel  nicht  unter  die  Kriminalfälle  gehörigen  delicta  camis)  nur  zu  den 
„Polizei-Vergehungen'^  rechnen.  Über  die  Strafe  s.  noch  §  89,  S.  149  ff.  —  Eine 
ausdriicküche  Anerkennung  der  Prostitution  („gewerbsmäßigen  Unzucht**)  und 
des  (schon  damals  nicht  selten  zur  Verhütung  schwererer  Sittlichkeitsdelikte 
empfohlenen)  Bordellwesens  (vgl.  Hälschner,  Geschichte,  S.  171)  als  eines 
„notwendigen  Übels*^  (als  welches  es  auch  heute  wohl  noch  den  meisten  erscheint) 
findet  sich  u.  a.bei  Beccaria  in  seinem  Gutachten  vom  Jahre  1792  (Essel- 
born, a.  a.  0.,  Anh.  I,  S.  186);  s.  femer  Rathlef ,  Der  Kindermord  usw.  (Anh.  I 
zu  seiner  Schrift  „Vom  Geiste*  usw.),  S.  168-170;  v.  Soden,  Geist  11,  §  374ff., 
S.  10,  11,  §  378,  S.  13  („notwendiges  Übel%  wenigstens  in  großen  Städten); 
Wieland,  Geist  II,  §517,  S.  234/35  („traurige  Notwendigkeit •*);  vgl.  auch 
V.  Globig  u.  Huster,  Vier  Zugaben,  S.  311/12.  Dagegen  für  Bestrafung  der 
Prostitution  (bezw.  gegen  die  Bordelle)  noch  Marat,  Plan  etc.,  p.  219/20  (s.  G.-S. 
61,  S.  338;  Püttmann,  Elem.  jur.  crim.,  Gap.  XXXIX,  §§  569,  572,  p.  277,  279; 
Quistorp,  Entwurf,  §314,  S.  347/48;  Pflaum,  Entw.  I,  §  213,  S.  200;  Gmelin, 
Grundsätze,  §  144,  S.  275  vbd.mit  §  5,  S.  9  ff.  (gegen  „öffentliche  Bordelle*"). 

1)  Die  Heirat  der  Verführten  (nicht  bloß  ihre  angemessene  Ausstattung) 
hielten  viele  Schriftsteller  damals  —  bes.  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Verhütung 
des  Kindermordee  (vgl.  darüber  im  allg.  Mal  blank  in  der  [von  ihm  u.  Sieben - 
kees  herausgegebenen]  „Aligem.  Jurist  Bibliothek",  Bd.  II,  St  2  {Nümb.  1782], 
S.  239/40,  Nr.  7  u.  Bopp  in  v.  Rotteck  u.  Welckers  Staats-Lexikon,  Bd.  VIII, 
[1847],  8.  125)  —  als  besonders  empfehlenswert.  So  namentl.  v.  Globig  u. 
Hnster,  Abhandig.,  S.  243  (Heirat  als  Regel  empfohlen,  Ausstattung  nur  dann, 
„wenn  die  Mannsperson  von  solchem  Stande  wäre,  daß  durch  eine  ungleiche 
Heirat  die  ganze  Familie  leiden  würde");  femer  Marat,  Plan,  p.  202 ff.  (s.  G.-S.  61, 
S.  332  u.  Anm.  3);  Quistorp,  Entwurf,  §  153,  S.  174  u.  §  319,  S.351;  vgl.  auch 
V.  Soden,  Geist  U,  §  388,  S.  21  u.  §  389/90,  S.  23ff.;  Wieland,  Geist  II,  §  454, 
S.  157.  Claproth  hat  die  Heirat  sogar  bei  Verführung  von  Mädchen  unter 
16  Jahren  sowie  bei  Notzucht  befürwortet  (s.  Entwurf  I,  B.  II,  Abschn.  5,  Hauptst  1, 
§§  1,  4,  S.  106,  109);  für  letzteres  auch  Marat,  a.  a.  0.  p.  218ff.  (s.  G.-S.  61, 
S.  236/37).     Gegen  solche  „Zwangsehen*^   überhaupt  u.  a.  aber:  Filangieri, 


246  XIV.  GümHEB 

ansteigende  Eriminalstrafen  nach  gich  ziehen  soUte.  0  DieErkla- 
ning  ffir  diese  Übertreibungen  ist  nnn  freilich  nicht  allzu  schwer  za 
finden:  man  wollte  damit  indirekt  der  Begehung  des  Kindesmordes 
vorbeugen,  und  gerade  dies  erschien  den  Aufklärern  als  eine  ganz 
besonders  wichtige  Aufgabe  der  bfirgerlichen  Gesellschaft  Bildete 
doch  die  Frage  nach  der  besten  Art  der  Verhütung  des  Kindesmordes, 
eines  Verbrechens,   „von  dem  sich  die  Empfindsamkeit  der  Zdt  ge- 

System  IV  (3,  2),  Kap.  50,  S.  582;  Bathlef,  Kindemiord,  S.  166;  Joh.  JaL 
Cella,  Von  Strafen  unehelicher  Schwängerungen,  beeonderB  von  denen  diesfills 
gebiSochlichen  Zwangakopnlationen  usw.,  Eriangen  1783,  2.  AnfL,  Anab.  1784 
(ygL  daza  AUgem.  jor.  BibL,  Bd.  IH,  St  1,  1788,  8.  187 ff.);  Pütt  in  aemem 
Bepert  f.  d.  peinL  Recht  I,  Vorrede,  8. 26ff.;  TgL  aneh  Malblank  in  d.  Allg. 
jur.  Bibl.,  Bd.  H,  St  2  (1782),  S.  240. 

1)  8o  bes.:  Versuch  einer  gesetzgebenden  Klnghdt  nsw.  (s.  Allgem.  deatacbe 
BibL,  Bd.  89  [1779],  S.  405:  Um  den  Kindesmord  zn  verhüten,  solle  „der  nn- 
efaeliehe  Beischhif  an  der  Mannsperson  am  Leib  nnd  beim  Wiederfaolnngsfalle 
mit  ewigem  Karrenschieben  oder  demTode**  bestraft  werden);  TgL  daza 
anch  Glaser,  Übersetzong,  Vorwort,  S.  9,  Anm.  **.  Für  strenge  Bestrafung  des 
Verführers  (bes.  behufs  indirekter  Verhütung  des Kindesmordes  [vgl.  darüber  im 
allg.  Malblank  in  der  Allg.  jur.  Bibl.  n,  2,  S.  239,  Nr.  7])  femer  namenü.: 
T.Soden,  Gdst  I,  §  268,  S.  310;  vgl.  SerTin,  Über  die  peinL  Gesetzgbgn 
S.  179  (der  übrigens  beide  Teile  bestrafen  will);  Wieland,  Geist  11,  §  453, 
8. 155 ff.  a.  bes.  §  517,  S.  235;  prinzipiell  anch  Gmelin,  Grundsätze,  §  145,  B.  259 
<der  jedoch  in  Anm.  k  Bedenken  gegen  allzn  harte  Bestrafung  des  Verführen 
hegt);  s.  auch  noch  Rössig,  „Vorerinnerung*^  zu  Hommels  Philos.  Gedanken, 
S.  XXL  Über  J.  J.  Cella,  Von  Strafen  unehelicher  Schwängerungen  usw.  (wo- 
nach der  Verführer,  ^wenn  er  die  Verführte  nicht  heiraten  will,  ihr  den  sechsten 
Teil  seines  beätzenden  Vermögens  als  eine  Aussteuer  geben  oder,  wenn  er 
kein  Vermögen  hat,  auf  ein  Jahr  ins  Zuchthans  kondamniert  werden*^  soUte) 
s.  AUg.  jur.  Bibl.  III,  2,  S.  188 ff.  —  Nur  für  leichtere  Bestrafung  (jedoch 
beider  Teile):  t.  Dalberg,  Entwurf,  S.  156,  Nr.  4  u.  t.  Eberstein,  Entwurf, 
S.  101;  Tgl.  auch  Gmelin,  Grundsätze,  §  147,  S.  263;  für  leichte  Bestrafong 
nur  des  Mannes:  Rathlef,  Kindermord,  S.  171  u.  Quistorp,  Entw.,  §  3)5, 
S.  348ff.  Gegen  Kriminalstrafe  für  den  Mann  ausdrÜckl.  t.  Globig  a. 
Huster,  Abhdlg.,  S.  242/43  (Tgl.  oben  S.  245,  Anm.  2)  u.  Cella,  ünzuchts- 
fälle,  §  23,  S.  33,  34,  §  51,  S.  77,  78  u.  §  53,  S.  79,  80,  Anm.  *;  gegen  die  Be- 
strafung des  Mädchens  ausdrÜckl.  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  42  u.  Hommel, 
Übersetzg.Ton  Beccaria,  S.  126,  Anm.  w;  s.  auch  t.  Globig  u.  Huster,  Abhandig, 
S.  190  n.  unten  S.  251,  Anm.  4.  Gegen  die  TÖllige  Straflosigkeit  des 
außerehel.  Bdschlafs,  die  «als  Mittel  gegen  den  Kindermord  ihren  Zweck  T^ehlt*", 
aber  Gmelin,  Grundsätze,  §  133,  S.  2.B7  u.  bes.  §  143,  S.  255/56  u.  Anm.  f  (Lite- 
raturangaben). —  Auch  in  der  Neuzeit  sind  übrigens  manche  wieder  für  Be- 
drohung der  schwereren  Fälle  des  außerehel.  Beischlafs  mit  Kriminalstrafen  (für 
den  Mann)  eingetreten,  da  die  Vorschriften  unseres  geltenden  (bürgerlichen  n» 
Straf-)  Rechts  dem  weibl.  Geschlechte  keinen  genügenden  Schutz  (bezw.  keine  ans- 
rrichende  Genugtuung)  gewährten.  Vgl.  darüber  z.  B.  Anton  Menger,  Neue 
Staatslehre  (3.  Aufl.),  S.  142/43.  Über  AbänderungSTorschläge  des  §  182  R.-St-G.-B. 


Die  Strafrechtsrefonn  im  Aufklänmgszeitalter.  247 

waltsam  ergriffen  fand'*  ^\  ein  derartiges  lieblingsthemai  daß  eine 
darüber  im  Jahre  1780  zu  Mannheim  vom  Freiherm  E.  v.  Dalberg 
und  J.  D.  Michaelis  ausgeschriebene  Preisanf gäbe 2)  allein  gegen 
vierhundert  Schriften  zu  Tage  gefördert  hat,  darunter  solche  von 
bekannten  oder  berühmten  Persönlichkeiten,  wie  z.  B.  dem  schweize- 
rischen   Pädagogen    Pestalozzi 3),    dem    Tübinger    Kriminalisten 

-de  lege  ferenda  s.  auch  Bartolomaena  in  d.  Z.  f.  d.  gee.  Str.-W.  25,  S.  14S, 
Berolzheimer,  System  V,  S.  171  u.  zu  der  ganzen  Frage  noch  Mittermaier 
in  d.  Yei^gl.  Dantellg.  IV,  S.  126  ff.  —  Über  die  sehr  beachtenswerten  Vorschläge 
4er  Strafgesetzbacher  für  Finnland  (§  3)  and  Norwegen  (§§  240  ff.,  388  ff.), 
wonach  die  Pflichten  dee  Schwängerers  (and  anderer  Personen)  gegen&ber  der 
Geschwängerten  and  der  GeseUschaft  anter  Straf  schätz  gestellt  sind,  s.  jetzt  bes. 
V.  Liszt  in  d.  Vergi.  Darstellg.  V,  S.  124/25;  vgl.  aach  Dochow  in  d.  Z.  f .  d.  ges. 
Str.-W.  26,  S.  905 ff.;  H.  Dorn,  Strafrecht  and  Sittlichkeit,  S.  57.  Eine  Art  Vor- 
Ifiafer  aach  dieser  Bestimmangen  findet  sich  schon  in  der  Aafklärangsliterator, 
80  z.  B.  bei  Qaistorp,  Entwarf,  §  151,  S.  170/71,  wonach  n.  a.  der  Schwängerer, 
<„der  von  der  Schwangerschaft  Wissenschaft  gehabt  and  den  nachhin  erfolgten 
Eindermord,  nach  allen  umständen  za  arteilen,  hat  vermaten  müssen,  gleichwohl 
(aber)  zar  Abwendang  desselben  keine  zweckdienlichen  Mittel  ange- 
wandt, aach  der  zaständigen  Obrigkeit  davon  in  Zdten  keine  Anzeige 
gemacht,  .  .  .  den  umständen  nach  aaf  drei  Monate  zam  Zachthaase  oder  halb- 
jährigem engen  Arrest  verarteilt  werden**  sollte;  ganz  ähnlich  Pflaam,  Entw.  I, 
Abschn.  13,  §  114,  S.  107/8;  vgl.  etwa  aach  noch  Gmelin,  Grandsätze,  §  68, 
S.  142—145  a.  im  allg.  Malblank,  Allg.  jar.  Bibl.  II,  2,  S.  243/44,  Nr.  4,  d. 

1)  So:  Boppinv.  Bottecka.Welckers  Staats -Lexikon,  Bd.  VIU  (1847) 
nnter  „Kindermord'*,  S.  125. 

2)  S.  Qber  die  Mannheimer  Preisfrage  („Welches  sind  die  besten  aasführ- 
baren  Mittel,  dem  Kindermorde  Einhalt  za  tan?**)  a.  a.:  Brissot  de  Warville, 
BibLphilos.  T.  VIU,  p.  95ff.;  Graebe,  Über  die  Reformation,  §20,  S.  SSff.; 
Hälschner,  Geschidite,  S.  172;  Landsberg,  Geschichte  DI  1,  S.  416.  Eine 
Übersicht  der  wichtigsten  aas  dieser  Veranlassang  erschienenen  Schriften  findet 
sich  bei  Malblank  in  der  Allg.  jar.  Bibliothek,  Bd.  n,  St.  2  (1782),  S.  233  ff., 
Gmelin,  Grandsätze,  §  68,  S.  140—143  a.  Bopp  in  v.  Rotteck  a.  Welckers 
Staats -Lexikon,  VIII,  S.  125—128.  Aach  sonst  spielen  die  Vorbeagangs- 
mittel  gegen  den  Kindesmord  in  der  zeitgenössischen  Literatar  eine  bedeatende 
Holle  (vgl.  im  allg.  Gmelin,  a.  a.  0.  S.  140—145).  Hervorzaheben  bes.  etwa: 
Beccaria,  §  36,  S.  153/54;  Voltaire,  Prix  de  la  jastice,  Art  VI  (Bibl.  phil. 
T.  V,  p.  26ff.),  s.  aach  Commentaire,  §  1  (Bibl.  phil.  T.  I,  p.  208);  Servin, 
Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  178 ff.;  Bernardi,  Discoars  (Bibl.  phil.  T.  VIU), 
p.  128;  Glaproth,  Entwarf  I,  B.  II,  Abschn.  3,  Haaptst  3,  §  10,  S.  60£f.; 
Qaistorp,  Entwarf,  §  153,  S.  172ff.;  v.  Soden,  (Jeist  II,  §  261ff.,  S.  298ff,; 
V.  Globig  a.  Huster,  Abhandig.,  S.  190;  Wieland,  G^istll,  §  453,  S.  155£f.; 
Hommel,  Philos.  Gedanken,  §  63,  S.  127 ff.;  Graebe ,  Reformation,  §  42,  S.  78ff.; 
TgL  aach  die  Angaben  anten  S.  251/52,  Anm.  l,  S.  252/53,  Anm.l  a.  S.  253/54, 
Anm.  2. 

3)  Pestalozzis  Schrift  „Über  Gesetzgebang  and  Kindermord,  Wahriieiten 
cmd  Träume,  Nachforschangen  and  Bilder**  ist  zaerst  1780  anonym,  dann  mit 


248  XIV.  GUHTHEB 

6  m  e  1  i  n  <)  nnd  dem  französischen  Be volutionsmanne  P  e  t  i  o  n.  ^> 
Natürlich  wenden  sich  die  Sympathien  der  Verfasser  —  im  schar&ten 
Gegensatze  zn  den  Ansichten  früherer  Generationen  3)  —  fast  allge- 
mein der  unehelichen,  von  dem  Verführer  yerlassenen  Matter  zu, 
deren  trostlose  Lage  auch  in  der  schönen  Literatur  jener  Tage  viel- 
fach lebhafte  Schilderangen  erfahren  hat  (vergl.  Schillers  Gedicht 
„Die  Kindesmorderin*^).^ )  Bei  der  Erklarang  der  Ursachen  des  Kin- 
desmordes hat  man  damals  freilich  den  Einfloß  des  physiologiscfacD 
Vorgangs  des  Gebarens  selbst,  der  nach  heatiger  Ansicht  nicht 
selten  eine  Art  „  verminderter  Zarechnongsfahigkeit^  begründen  soll,  noch 
weniger  in  Betracht  gezogen  %  am  so  stärkeres  Gewicht  legte  man 

NamenaneDDOPg  (nvom  Verfasser  yon  Gertrad  imd  Lienhard*')  1783  (Frdbaig  a> 
Leipz.)  erschienen;  in  der  Aasgabe  von  Pestalozzis  sämtlichen  Weisen  (durdi 
L.  W.  Seiffartti)  steht  sie  im  Vlll.  Bande  (Brandenbg.  a.  H.  1870).  Von  bea. 
Interesse  das.  S.  88  ff.  (von  den  ^^Qaellen''  des  Kindesmordes)  n.  S.  124  ff.  (Vor- 
beognngsmittel  dagegen). 

1)  Gmelins  Aibeit,  betitelt  ,3esntwortang  der  Frage:  Welches  sind  die 
besten  ausführbaren  Mittel  usw.?'',  ist  1782  zu  Frankf.  u.  Leipag  erschienen  (s. 
Gmelin,  Grands.,  S.  145).  —  Auch  £.  L.  M.  Rathlefs  (schon  öfter  angeführte) 
Abhandlung  «Der  Kindennord  und  seine  Strafe  nebst  den  Mitteln,  demsdben 
Yorzubengen''  (»  Anhang  I  [S.  145  ff.]  zo  des  Verfs.  Schrift  „Vom  Geiste  der 
Kriminalgesetze^')  ist  dorch  die  Mannheimer  Preisfrage  veranlaßt  worden  (s.  das. 
&  146). 

2)  Die  nrsprünglich  anonym  erschienene  und  schon  vor  der  Preisyertctloog^ 
yeröffentlichte  Schrift  von  Jerome  Petion  (de  Villeneave),  des  späteren  Maire 
von  Paris  (s.  G.-S.  61,  S.  174,  Anm.  1),  worin  er  bes.  mit  Nachdradc  g^gen  die 
Todesstrafe  für  den  Eindesmord  aufgetreten,  führte  den  Titel:  „Moyens  pro- 
pos^s  pour  pr^venir  rinfanticide"'  (Paris  1782),  Abdrack  auch  in  B risset  de 
Warvilles  Bibl.  philos.  T.  VII,  p.  101— ISl ;  vgl.  Böhmer,  Handb.,  S.  239/40  n. 
Günther  in  G.-8.  61,  S.  175,  Anm.  2  vbd.  mit  S.  173,  Anm.  1  u.  S.  174,  Anm.  1. 

3)  Es  wird  genügen,  hierfür  auf  Carpzows  Practica  nova  etc.  (ed.  Frankf. 
1677),  P.  I,  qu.  9,  Nr.  27,  p.  42  zu  verweisen,  wo  der  Kindesmord  als  crime» 
„crudelissimum"  bezeichnet  ist  Über  die  verschiedenen  (objektiven  und  subjek- 
tiven) Gründe  für  die  Auffassung  des  Verbrechens  als  besonders  qualifiziotea 
Falls  der  Tötung  im  früheren  Hechte  s.  näh.  jetzt  bes.  bei  v.  Liszt  in  der 
Vergl.  Darstellg.  V,  S.  107,  108;  vgl  auch  unten  S.  254,  Anm.  2. 

4)  Vgl.  im  allg.  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  84,  S.  810,  Anm.  1;  nSh.  bei  Mai 
Koch,  Helferich  Peter  Stuiz,  München  1879,  S.  211  ff.  Über  das  Verhältnis  des 
Schillerschen  Gedichts  zu  der  Schrift  Pestalozzis  s.  Seyffarth,  a.a.O. 
Bd.  Vm,  Einleitg.,  S.  8  vbd.  mit  Morikofer,  Die  schweizerische  Literatur  des 
18.  Jahriiunderts,  Leipz.  1861,  S.  423/24.  Über  Ähnlichkeiten  des  Gedichts  mit 
den  AusftLhrangen  in  H.  P.  Sturzes  Aufsätze  gegen  die  Todesstrafe  im  „Dentschea 
Museum"",  Jahrg.  1776,  St.  12  s.  M.  Koch,  a.  a.  0.  S.  212,  213. 

5)  Über  das  erste  Auftreten  dieses,  in  gleicher  Weise  auch  für  die  eheliche 
Mutter  geltenden  Umstandes  s.  v.  Liszt  in  der  Vergl.  Darstellg.  V,  S.  110  a. 
Anm.  2;  vgl.  auch  Wehrli,  Der  Kiudesmord  usw.,  S.  50,  Anm.  1.  —  Übrigen» 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufklärangszeitalter.  249 

dagegen  auf  die  lediglich  dem  sittlichen  (psychischen)  Gebiet  ange- 
hörenden Motive,  wie  namentlich  die  von  Beccaria,  aber  vor  ihm 
n.  a.  auch  schon  von  Friedrich  dem  Großen  betonte  Furcht 
des  verführten  Mädchens  vor  der  ihr  drohenden  Schande^)  sowie 
vor  den  etwaigen  Mißhandlungen  und  Vorwürfen  der  Eltern  (sonstiger 


fiadet  sich  doch  auch  schon  in  der  Literatur  der  AnfklSrongsepoche  eine  ganze 
Reihe  dahin  gehender  Andeatangen,  daß  sich  die  Kindesmörderin  bei  der  Tat 
in  einem  mehr  oder  weniger  unzurechnungsfähigen  Zustande  befunden  habe. 
Vgl.  z.  B.  V.  Sonnenfelsi  Grundsätze  I,  §  190,  S.  243  („eme  nicht  gemeine 
[d.  h.  ungewöhnliche]  GemQtsverstörung");  Pestalozzi,  a.  a.  0.,  Werke 
Bd- VIII,  S.  122 ff.  („Verwirrung'',  „Beunruhigung"),  Petion,  Moyens  pro- 
posös  (Bibl.  phil.  T.  VII),  p.  119  („dans  ces  moments  de  d^lire  et  d'^gare- 
ment*);  Graebe,  Reformation,  §  41,  8.78  („halbe  Raserei");  Diez,  Über 
Eindermord  (1784),  in  Plitts  Report  f.  d.  peinl.  Recht  II,  8. 82  („dem  Bewußtsein 
ihrer  Sinne  beraubt'',  „B etäubung ");  P,litt  in  s.  Rep.  I  (1786),  Vorrede,  S.  IS 
(„Zustand  einer  unverschuldeten  Sinnlosigkeit")  u.  S.  24  («Das  Mädchen 
handelt  in  der  Hinute  der  Geburt,  .  .  .  wenn  [diese]  hart  ist»  .  .  .  beinahe 
wie  eine  Wahnsinnige'*);  y.  Eberstein,  Entw.,  §  72,  S.  159/60  („die  in 
diesen  schmerzhaften  Augenblicken  betäubte  Mutter'*).  Über  H.  P.  Sturz  s. 
M.  Koch,  a.  a.  0.  8.  212;  über  G.  J.  Fr.  Meister,  Praktische  Bemerkungen  aus 
dem  Kriminal-  u.  Zivilrecht,  Gott  1791  ff.,  I,  Bem.  8  („des  Gebrauchs  der  Vernunft 
und  der  Willensfreiheit  völlig  beraubf*)  s.  Wehrli,  a.  a.  0.  S.  35.  Aus- 
drücklich gegen  diese  Betonung  des  „verwinten  oder  betäubten  Zustandes  der 
Kindesmörderinnen'*  als  eines  Momentes  von  selbständiger  Bedeutung  aber: 
Malblank  in  d.  AUgem.  jur.  Bibl.  II,  2  (1782),  S.  238.  Ähnlich  neuerdings  auch 
Gross  in  seinem  Aufsatze  „Kriminalpsychologie  und  Strafpolitik''  im  Archiv 
für  Kriminalanthropologie,  Bd.  26,  1906  (S.  67ff.),  bes.  8.  75,  76  und  dagegen 
wieder  ausführlich  Graf  Gleispach,  Ober  Kindesmord,  im  Archiv,  Bd.  27»  1907, 
S.  224ff.,  bes  S.  234,  24Sff.,  248. 

1)  Über  die  Priorität' Friedrichs  des  Großen  (in  seiner  „Dissertation*^, 
wo  es  [Oeuvres  T.  IX,  p.  28]  heißt,  daß  sich  das  verführte  Mädchen  befinde  „dans 
le  cas  d*opter  ontre  la  perte  de  son  honnenr  ou  celle  du  fruit  malheureux  qu'elle 
a  con^u'^)  vor  Beccaria  (§  36,  S.  153)  s.  ausdrückl.  v.  Liszt  in  d.  Vergl. 
Daretellg.  V,  S.  113,  Anm.  3;  vgl.  Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  46.  —  Übrigens  ist 
das  Motiv  der  Rettung  der  Geschlechtsehre  auch  schon  Leyser  (in  s.  Medit.  ad 
Pandectas,  Lips.  1741,  Sp.  611,  Nr.  8,  9,  p.  628)  bekannt  gewesen  (s.  Wehrli, 
a.  a.  0.  S.  35  u.  38;  Ciosmann,  Die  Kindestötung,  histor.  u.  dogmat  dargestellt, 
Erlang.  Diss.,  1889,  S.  16),  ja  schon  im  17.  Jahrhundert  hatte  Antonius  Matthaeus 
(1644)  auf  die  Furcht  vor  der  Schande  („infamiae  metus")  hingewiesen;  s.  Wehrli, 
a.  a.  0.  S.  35;  v.  Liszt,  a.  a.  0.  S.  112.  In  der  deutschen  Aufklärungsliteratur  ist 
dann  auf  dieses  Motiv  der  Tat  von  Hommel  (Philos.  Gedanken,  §  19,  8.  37, 
38)  bis  auf  Kant  (s.  Ciosmann,  a.  a.  0.  S.  16,  17)  so  häufig  und  nachdrücklich 
hingewiesen  worden,  daß  noch  besondere  Belege  dafür  nicht  nötig  erscheinen. 
Vgl.  im  allg.  Malblank  in  der  Allg.  jur.  Bibl.  U.  2,  (1782),  S.  237,  Nr.  1  n.  S.  239; 
Wehrli,  a.  a.  0.  §  8,  S.  37ff.;  v.  Liszt  in  d.  Vergl.  Darstellg.  V,  S.  112ff.,  116ff. 
vbd.  mit  Dochow  in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  26,  S.  905  n.  Anm.  1  u.  Graf  Gleis- 
pach  in  Gross'  Archiv  27,  S.  241,  Anm.  1,  245,  253ff.,  266ff. 


260  XIV.  GeVTHEB 

AngebSriger  oder  auch  der  Dienatherrschaft),  „die  oft  strenger  und 
unerbittlicher''  seien  „als  die  Gericbte  des  Landes^  0;  femer  die 
Sorge  um  die  Erhaltung  des  Kindes  und  den  dadurch  erschwerten 
Kampf  um  die  eigene  Existenz.  2)  Um  diesen  Motiven  erfolgrdch 
entgegenzuwirken,  verlangte  man  vor  allen  Dingen  die  gänzliche  Auf- 
bebung der  Schand-  oder  Ehrenstrafen  (wie  besonders  auch  der  sog. 
Kirchenbuße),  die  eine  gefühllose  Vorzeit  schon  auf  die  außereheliche 
(heimliche)  Niederkunft  an  sich ')  gesetzt  hatte  ^);  sodann  aber  wollte  man 


1)  So;  Diez»^  Ober  Kindennord,  in  Pütts  Bep.  f.  d.  peinL  Recht  II,  S. 
97.  DioBer  Grand  wird  seltener  und  meist  nur  von  den  Siteren  Sdiriftstelleni 
hervorgehoben  (vgl.  i.  allg.  Malblank  i.  d.  Allg.  jor.  Bibl.  II,  2,  S.  2S7,  Nr.  3, 
b;  V.  Liszt,  a.  a.  0.  S.  112),  so  z.  B.  von  Pestalozzi,  a.  a.  0.  VIII,  S.  lllff., 
y.  Soden,  Geist  I,  §  265,  8.  S07,  Bommel,  Philos.  Gedanken,  §  19,  8.  38; 
vgl.  anvh  Petion,  Moyens  proposös  etc.  (Brissot,  Bibl.  phiL  T.  VU),  p.  107. 

2)  8.  Maiblank,  a.  a.  0.  8.  237,  Nr.  2,  vgl.  auch  Nr.  3,  a.  Nach  Wehrli, 
Der  Kindesmord,  S.  35  u.  42,  Anm.  1  (der  hierfiber  im  §  9,  S.  42  ff.  aoafühilicher 
handelt)  soll  auf  dieses  Motiv  vor  allem  G.  J.  F.  Meister  in  seinen  , Praktischen 
Bemerkungen*^  usw.  I  (1791),  Bemerkg.  8  speziell  hingewiesen  haben.  Vergi. 
aber  ferner  auch  schon  Pestalozzi,  a.  a.  0.  VIII,  8.  91  ff.  (u.  dazu  Seiffarth, 
a.  a.  0.  Einltg.,  8.  8);  Petion,  Moyens  propos6s  etc.  (Bibl.  phil.  T.  VII),  p.  HS; 
Bathlef ,  Kindermord,  8. 150,  153ff.,  v.  Soden,  GeistI,  §  267,  8.  309;  Rösaig, 
«Vorerinnernng''  zu  Bommels  Philos.  Gredanken,  8.  XU;  Diez  in  PlittsBq). 
n.,  S.  100;  Gmelin,  Grundsätze,  §  68,  8.  138/39;  Pütt  in  s.  Bep.  I,  Vorrede, 
8.  13;  s.  auch  v.  8onnenfels,  Grandsätze  I,  §  193,  8.  246/47  n.  §  195,  8.  249 
(obwohl  dieser  sonst  nicht  gerade  für  milde  Behandlung  des  Kindesmordes  ist; 
Tgl.  unten  8.  254,  Anm.  2).  —  Aus  der  neueren  Literatur  zu  vgl.  über  diesen 
Umstand  noch  v.Liszt  i.  d.  VergL  Darstellg.  V,  8.  112  u.  Anm.  2;  Aschaffen- 
burg, Die  Bekämpfung  des  Verbrechens  (2.  Aufl.),  8.  22;  Graf  Gleispach  in 
Gross'  Archiv  27,  8.  255ff.,  26S/69.  —  Über  sonstige,  seltenere  Motive  des 
Deükts  s.  noch  Malblank,  Allg.  jur.  Bibl.  II,  2,  8.  237,  238,  Nr.  3,  a. 

3)  8.  über  die  Verheimlichung  der  Schwangerschaft  bezw.  der  außerehe- 
lichen Niederkunft  (als  selbständiges  Delikt),  bes.  in  der  Praxis  des  älteren  ge- 
meinen Rechts:  C.  J.  A.  Mittermaier  in  N.  Archiv  des  Kriminalrechts,  Bd.  10 
(1828),  8.  367ff.,  559ff.;  v.  Wächter  im  Arch.  des  Kriminalr.,  N.  F.,  Jahig. 
1835,  8.71ff.;  Bopp  in  v.  Rotteck  u.  Welckers  8taatB-Lexikon,  Bd.  Vm, 
8. 129ff.;  Wehrli,  Kindesmord,  §  20,  8.  115;  v.  Liszt  i.  d.  Vergl.  Darstellg. 
V,  8.  124,  Nr.  1.  Für  Bestrafung  sindu.  a.  noch  eingetreten:  Rathlef,  Eander- 
mord,  8.  152  (der  hier  sehr  grausam  erscheint);  Qnistorp,  Entwurf,  §  144, 
S.  162:  Pflaum,  Entw.  I,  Abschn.  13,  §  107,  8.  102;  Wieland,  Geist  II,  §  461, 
8.  165,  vgl.  auch  §  457,  8.  160;  prinzipiell  auch  Rossig,  „Vorerinnorung^  zu 
Hommels  Phil.  Gedanken,  8.  XXI  (der  jedoch  hinzufügt,  „man  lasse  der  Un- 
glücklichen Gelegenheit,  der  8trafe  zu  entgehen*^).  Dagegen  aber  ausdrückl 
2.  B.  Voltaire,  Commentaire,  §  1  (Brissot,  BibL  phil.  T.  I,  p.  202);  Filan- 
gieri,  System  IV  (3,2),  Kap.  50,  8.560;  Gmelin,  Grundsätze,  §  68,  8.146, 
Nr.  4  a.  E.  Gegen  die  Pflicht  zur  Anzeige  unehelicher  8chwangerBchaft 
(die  z.  B.  Wieland,  Geist  II,  §  457,  S.  160  u.  v.  Eberstoin,   Entwurf,  §  66, 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufkläningszeitalter.  251 

anch  positiv  die  bedauernswerte  Lage  der  Verfflhrten  mSglichst  ver- 
bessem,  was  nach  fast  fibereinstimmender  Ansicht  am  zweckmäßigsten 
dadurch  geschehen  sollte,  daß  man  die  etwa  bestehenden  Findelhäoser  — 
deren  mangelhafte  Beschaffenheit  ziemlich  allgemein  zugegeben  wird  0 


8.  157,  ja  sogar  noch  v.  Qrolman,  Gnmdaätze,  §  435,  8.273  —  zarVerhütang 
des  Kindeimordea  —  aufgestellt  hatten)  ausdrfickl.  schon  y.  Sonnenfeis, 
GnmdaStze  I,  §  194,  S.  248  (als  ngleichsam*^  im  Widerstreite  „mit  dem  End- 
zwecke*', den  man  dadurch  za  erreichen  snche).  —  Über  die  preußische 
Oesetzgebung  des  18.  Jahrhnndeits  s.  noch  unten  S.  287,  Anm.  2  und  zu  der 
ganzen  Frage  noch  Malblank  i.  d.  Allg.  ]ur.  Bibl.  II,  2,  S.  243,  Nr.  4  vbd. 
mit  Bopp  i.  Rotteck  u.  Welckers  Staats-Lezikon  Vin,  S.  127,  Anm.  37. 

4)  Ffir  Aufhebung  aller  (beschimpfenden  oder  sonstigen)  Ehrenstrafen 
ffir  die  uneheliche  Niederkunft  (die  nur  dazu  dienen  können,  den  Kindesmord  oder 
die  Abtreibung  zu  befördern)  überhaupt:  Filangieri,  System  IV  (3,2),  Kap.  50, 
S.  562/63;  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I,  §  193,  S.  246;  Zaupser,  Gedanken, 
Abhdlg.  2,  S.  40,  41;  Glaproth,  Entwurf  I,  B.  II,  Abschn.  3,  Hauptst  3,  §  10, 
S.  60;  Pestalozzi,  a.  a.  0.  S.  91;  Quistorp,  Entwurf,  S.  153,  S.  174  vbd. 
mit  §  318,  S.  351;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  190,  s.  auch  Vier 
Zugaben,  S.  309,  317;  Cella,  Von  Strafen  unehelicher  Schwängerungen  usw., 
£rl.  1783  (vgl.  Allg.  jur.  Bibl.  III,  1,  S.  189,  190);  Hommel,  Philos.  Gedanken, 
§  62,  S.  125;  Plitt  m  s.  Bep.  f.  d.  peinl.  Recht  I,  Vorrede,  S.  26;  y|^.  auch 
Rathlef,  Vom  Geiste,  S.42  (oben  S.  246,  Anm.  1)  und  Malblank  L  d.  Allg. 
jur.  Bibl.  II,  2,  S.2S9,  Nr.  6  u.  S.  240/41,  Nr.  1  (gegen  die  äuOerlichen 
Schandstrafen,  aber  doch  nicht  für  Aufhebung  »auch  aller  moralischen 
Schande*^).  —  Insbes.  für  Beseitigung  der  Kirchenbufie  s.  noch:  v.  Sonnen- 
fels,  Grunds.  I,  §  193,  S. 246/47;  Glaproth,  Entw.,  a.  a.  0.  S.  60,  64,  Anm.  a 
n.  I,  B.  II,  Abschn.  5,  Hptst  7,  S.  115;  Michaelis,  Mos.  Recht  VI,  Voirede, 
€.38,  39  u.  S.  119,  120;  Hommel,  Übersetzung  von  Beccaria,  S.  126,  Anm. 
w  a.  E.  u.  Philos.  Gedanken,  §  61,  S.  123;  Quistorp,  Entw.,  §  64,  S.  76, 
§153,  S.  174  (vgl  auch  Grunds,  d.  deutsch,  peinl.  Rechts,  3.  Aufl.  1783, 1,  §  82, 
S.  145);  Rathlef,  Kindermord,  S.  151;  v.  Reder,  Das  pdnl.  Recht  I,  Eüip. 
XV,  §  5,  S.  350;  auch  Gmelin,  §  30,  S.  68  u.  §  147,  S.  263/64  (obwohl  dieser 
—  gleich  Mal  blank  —  sonst  nicht  für  Abschaffung  aller  „Schande*'  des 
unehei.  Beischlafs  ist;  s.  §  133,  S.  237  u.  §  143,  S.  257,  Anm.  g  a.  E.).  —  Die 
deutsche  Gesetzgebung  hat  diese  Wünsche  der  Aufklärer  übrigens  zum  Teil 
bereits  im  18.  Jahrhundert  erfüllt.  Selbst  in  Mecklenburg  wurde  z.  B.  die 
Kirchenbuße  schon  im  Jahre  1753  gänzlich  aufgehoben  (s.  Quistorp,  Grund- 
sätze usw.,  S.  146,  Anm.^;  Landsberg,  Geschichte  III  1,  S.  409)  und  in 
Preußen  die  Abschaffung  aller  „Hurenstrafen'^  unter  Friedrich  dem  Großen 
(durch  Edikt  vom  8.  Febr.  1765)  verordnet;  s.  Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  46. 
Im  neunzehnten  Jahrhundert  scheint  dann  aber  gegen  die  freieren  Anschauungen 
der  Aufklärungszeit  zunächst  wieder  eine  gewisse  Reaktion  eingetreten  zu  sein. 
€harakteristisch  dafür  z.  B.  Welcker  in  v.  Rotteck  u.  Welckers  Staats- 
Lezikon,  Bd.  V  (1847),  S.  675  (unter  „Geechlechtsverhältnisse''). 

1)  Daß  die  Einrichtung  der  Findelhäuser  (vgl.  darüber  u.  a.  i.  allgem. 
Beseke,  Versuch,  Kap.  7,  Abschn.  2,  Nr.  3,  S.  73,  Gmelin,  Grundsätze,  §  5, 
S.  10,  Anm.  h,  R.  Mohl  in  v.  Rotteck  u.  Welckers  Staats-Lexikon,  Bd.  IV 


252  XIV.  6Ü19THEB 

—  in  gnt  geleitete,  auf  öffentliche  Kosten  zu  unterhaltende  Asyle  für 
gefallene  Mädchen  und  zugleich  für  deren  Kinder  nmge^tei), 
also  Einrichtungen  schaffe,  wie  sie  in  vollkommenerer  Gestalt  auch  in 
der  Neuzeit  wieder  von  den  verschiedenen  Vereinen  für  Mütter-  und  Sang- 
lingsheime, insbesondere  auch  von  dem  im  Jahre  1905  begründeten 
„Bunde  für  Mutterschutz^   angestrebt  und  teilweise  auch  schon  ver- 

[1846],  S.  726 ff.  u.  neaerdings  Kraufi,  Der  Kampf  gegen  die  Verbiediens- 
nreacben  usw.,  S.  89ff.)  mangelhaft  und  für  sich  allein  noch  niclit  genügend 
sei,  den  Kindesmord  zn  verhüten  (A.  M.  z.  B.  noch  Püttmann,  Elem.  jar. 
crim.,  Cap.  XXI,  §  346,  p.  157  und  v.  Sonnenfeis,  Grands.  I,  §  74,  S.  S6  in 
Übereinstimmung  mit  verschiedenen  Franzosen  [vgl.  Böhmer,  Handb.,  S.221 
über  Dum 08t],  s.  aach  die  folgende  Anmerkg.),  vielmehr  geeignet  erschdne,  die 
Unzucht  zn  befördern,  ist  in  Deutschland  bes.  seit  Hommel  (s.  Philos.  Ge- 
danken, §  65,  S.  132  ff.  [anders  zum  Teil  noch  Obersetzg.  von  Beocaria,  S.  16S. 
Anm.  1,  wo  er  nur  Bedenken  wegen  der  Kosten  äufiert;  s.  dag^cn  aber  t. 
Sonnen fels,  a.  a.  0.  S.  85])  ziemlich  allgemein  anerkannt  worden.  S.  im  aDj^. 
Mal  blank  i.  d.  Allg.  jur.  Bibl.  II,  2,  S.  243,  Nr.  3,  b;  femer  von  Eim&elnen  noch 
R a  t h  1  e  f ,  Kindermord,  S.  1 53  f f . ;  R  ö  s  s  i  g ,  „ Vorerinnernng*^  zn  Hommels  PhiL 
Gedanken,  S.  XXI;  Graebe,  Über  die  Reformation,  §  42,  8.  78 ff.;  Gmelin, 
Grundfiätze,  §  5,  8.  9ff.;  Viktor  Barkhausen  in  Plitts  Bep.  f.  d.  peinl.  Recht 
I,  8.  399  ff. 

1)  Die  Forderung  öffentlicher  Gebärhäuser  (vgl.  darüber  im  allg.  Mal- 
blank i.  d.  Allg.  jur.  Bibl.  II,  2,  8.  241/42,  Nr.  2,  bes.  unter  a  n.  b.  n.  8.  243, 
Nr.  3,  a)  ist  schon  von  Voltaire  (Prix  de  la  justice,  Art  VI  [Bibl.  phil.  T.  V, 
p.  25,  26])  erhoben  (s.  Hertz,  Voltaire,  8.  428;  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  209 
u.  231)  und  von  Friedrich  dem  Großen  zum  Teil  verwirklicht  worden,  wie 
u.  a.  aus  einem  Briefe  des  Königs  an  Voltaire  vom  11.  Okt  1777  (Oeuvres  T. 
XXIII,  p.  410)  hervorgeht,  uk  dem  es  heißt:  ^autrefois  on  avait  aasujetti  ces 
pauvres  filles  (d.  h.  die  Verführten)  ä  faire  des  p^nitcnces  pnbliqnes  dans  les 
^glises,  je  les  en  ai  dispensä  (vgl.  oben  8.  251,  Anm.  4);  il  y  a  des  maisons 
dans  chaque  province  oü  elles  penvent  accoucher  et  oü  Ton  se  Charge 
d'61ever  leurs  enfants";  vgl.  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  210;  Willen^ücher, 
a.  a.  0.  8.  47  u.  Anm.  3.  —  Dafür  sind  femer  u.  a.  eingetreten:  Brissot  de 
Warville.  Discours  (Bibl.  phU.  T.  VI),  p.  80ff.,  Thßorie  I,  p.  96  u.  II,  p.  47,  49; 
M.  leF.,  Plan  de  lögislation  etc.  (Brissot,  Bibl.  phil.  T.  V.)  p.  400  (neben 
Findelhäusem);  Petion,  Moyens  proposäs  etc.  (Bibl.  phil.  T.  VII),  p.  127,  12S 
und  bes.  129ff.  (gleichfalls  neben  Findelhäusem);  Filangieri,  System  IV  (3,2), 
Kap.  50,  8.  562/63;  v.  Sonnenfels,  Grunds.  I,  §  193,  8.  246/47,  Anm.  i;  Rathlef , 
Elindermord,  S.  155  („Das  Findelhaus  muß^  [um  seinen  Mängebi  abzuhelfen, 
„ohne  die  Mutter  von  dem  Kinde  zu  trennen*^]  „in  ein  Hospital  für  .  .  • 
unverehelichte  Kindbetterinnen  verwandelt  werden;  näh.  s.  das.  8.  155 ff.) ;  Qui- 
storp.  Entw.,  §  153,  S.  173;  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  190,  v|^.  auch 
S.  242;  Wieland,  Geist  II,  §  457,  S.  159/60  („Eigene  Gesetze  müssen  [dem  ge- 
fallenen Mädchen)  den  Aufenthalt  in  öffentlichen  Anstalten,  wo  sie  nicht  aliein 
ihre  Niederkunft  abwarten,  sondem  auch  Gelegenheit  finden  kann,  sich  in 
der  Folge  ihren  Unterhalt  zu  erwerben,  müssen  ihr  die  kräftigste  Unterstützung 
bei  der  Erziehung  ihres  Kindes  versprechen'^  usw.);  Hommel,  Philos.  Ge- 


Die  Strafrechtsrefonn  im  AafklSrungszeitalter.  253 

wirklicht  worden  sind.O  S^st  wenn  der  Staat  diesen  Verpflichtungen 
nachgekommen  ist,  außerdem  auch  noch  die  Eingehung  legitimer 
Ehen  möglichst  erleichtert  hat^),  darf  er  den  Eindesmord  kriminell 
bestrafen.  Diese  Strafe  aber  soll  nicht  mehr  —  wie  zu  den  Zeiten 
Oarpzows  —  eine  Schärf ung  gegenüber  derjenigen  der  einfachen 
Tötung  enthalten,  sondern  umgekehrt  eine  Milderung,  so  daß  an 
Stelle  der  barbarischen  Todesstrafen  der  Vergangenheit  (Lebendig- 
begraben, Pfählen,  Säcken,  Ertränken),  die  doch  „im  geringsten  nicht 


danken,  §  65,  S.  132ff.;  Rössig,  „  Vorerinnenmg''  dazu,  §  42,  S.  78;  Viktor 
Barkh aasen  in  Pütts  Bep.  f.  d.  peinl.  Recht  I,  S.  399,  400  („eine  gemeine 
Anstalt,  wo  [aoßerehelich  Gleschwängerte]  sich  insgeheim  aufhalten  und  nieder- 
kommen könnten"  usw.);  s.  auch  noch  P.  Frank  (Aizt),  System  einer  voli- 
ständigen  medizin.  Polizei,  Frankf.  1791,  Bd.  IV,  S.  145  ff.  —  Über  Bedenken 
der  Gegner  solcher  Einrichtungen  (daß  sie  nämlich  die  Unsittlichkeit  befördern 
konnten)  s.  schon  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I,  S.  247,  Anm.  vbd.  mit  §  75, 
<S.  87ff ,  der  dieselben  aber  zu  entkräften  sucht;  aus  späterer  Zeit  s.  Welcker 
in  y.  Rotteck  n.  Welckers  Staats-Lexikon,  Bd.  V,  S.  675;  vgl.  auch  Bopp, 
ebd.  Bd.  YIII,  S.  126,  Anm.  35  sowie  die  folgende  Anmerkg. 

1)  Über  die  Bestrebungen  der  Neuzeit  und  ihre  bisher  (bes.  auch  in  Deutsch- 
land) eraielten  Erfolge  s.  u.  a.  den  orientierenden  Aufsatz  von  Leopold  Katscher, 
Zur  Anstaltsbekämpfung  der  Kindersterblichkeit,  in  der  «Gegenwart*'  vom  8. 
Sept  1906  (Jahrg.  35,  Bd.  70,  Nr.  36).  S.  148  ff.  und  dazu  aus  der  Spezialliteratur 
A.  Pappritz,  Die  Errichtung  von  Wöchnerinnen-  und  Säuglingsasylen,  eine 
soziale  Notwendigkeit,  eine  nationale  Pflicht  (S.-A.  aus  „Sozialer  Fortschritt", 
Nr.  12/13),  Leipz.  1904;  Adele  Schreiber,  Was  tut  Paris  für  seine  unehelichen 
Eänder  und  Mütter,  in  der  Zeitschr.  „Mutterschutz'^  (herausgeg.  von  Dr.  phil. 
Helene  Stöcker),  Jahrg.  I  (1905),  Nr.  3.  —  Vgl.  i.  allg.  auch  noch  L.  Levin, 
Die  Fruchtabtreibung  durch  Gifte  und  andere  Mittel,  ein  Handb.  für  Ärzte  und 
Juristen,  2.  verm.  Aufl.,  Berlin  1904,  S.  6,  7,  der  gleichfalls  mit  Nachdruck  für 
die  Errichtung  von  „Gebärasylen''  in  genügender  Zahl  eintritt  und  zum  Schlüsse 
meint,  „es  wäre  kein  geringer  Ruhmestitel  des  neuen  Jahrhunderts,  hier  Muster- 
gültiges geschaffen  zu  haben,  was  vergangene  Jahrhunderte  nicht  oder  nur  ver- 
einzelt in  unzulänglicher  Form  zu  leisten  vermochten''.  —  Auf  den  Umst^d, 
daß  von  den  180,000  unehelichen  Kindern,  die  in  Deutschland  jährlich  etwa  zur 
Welt  kommen  (d.  h.  etwa  10  bis  12  Proz.  aller  Geburten;  vgl.  Gross'  Archiv, 
Bd.  26,  S.  100),  zunächst  natürlich  nur  ein  geringer  Bruchteil  in  den  Anstalten 
Aufnahme  Hnden  kann,  sollte  von  den  grundsätzlichen  Widersachern  der  (viel- 
fach absichtlich  in  ein  falsches  Licht  gerückten)  modernen  Bestrebungen  nicht 
aUzu  starkes  Gewicht  gelegt  werden,  da  die  ganze  humane  Bewegung  ja  doch 
ihre  Anfangsstadien  noch  nicht  überschritten  hat. 

2)  Die  Erleichterung  der  Ehen  ist  vielfach  nicht  nur  zur  speziellen 
Verhütung  des  Eandesmordes  (s.  z.  B.  Rathlef ,  Kindermord,  S.  166 ff.,  v.  Soden, 
Geist  I,  §  261,  S.  301  u.  im  allgem.  Malblank  i.  d.  Allg.  jur.  Bibl.  H,  2,  S.  234, 
Nr.  4),  sondern  auch  als  allgemeines  Vorbeugungsmittei  gegen  die  Sittlichkeits- 
üelikte  empfohlen  worden  (so  z.  B.  von  Quistorp,  Entwurf,  §  326,  S.  361,  v. 
Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  242,  246  n.  Vier  Zugaben,  S.  309,  v.  Reder, 


254  XIV.  GüirrHKR 

geschickt^  gewesen,  „Kindesmörderinnen  zu  schrecken"  ^) ,  schon 
auf  einfache  Freiheitsentziehung  (wenn  etwa  auch  auf  Lebenszeit) 
oder  allerhöchstens  auf  die  gewöhnliche  Hinrichtung  erkannt  werden 
sollte.  2)    Nur  vereinzelt  ist  man  damals  wohl  noch  weitergegangen 


Das  peinl.  Recht  IV,  Kap.  IV,  §  4,  8.  62  [indirekt],  Gmelin,  Grandaitze,  §  5, 
S.  9;  vgl.  auch  Bernardi,  Discoure  [Bibl.  phil.  T.  VIII],  p.  110,  116);  desgL 
inabea.  eine  wdtere  Anwendung  der  „Ehe  zur  linken  Hand",  deren  Begriff 
frdlich  oft  nicht  ganz  klar  erscheint  S.  bee.  Rathlef ,  Kindennord,  S^  168,  t. 
Globig  a.  HuBter,  Vier  Zugaben,  S.  310,  S17,  Gmelin,  Grundsätze,  §  149, 
S.  267  n.  im  allg.  noch  Malblank,  i.  d.  Allg.  jur.  Bibl.  II,  2,  S.  239,  Nr.  5  o. 
Hälschner,  Geschichte,  S.  171.  —  Außerdem  finden  sich  in  der  damaligen 
Literatur  als  Verhütungsmittel  des  Kindesmordes  unter  vielen  anderen  (s.  daifiber 
die  allgem.  Zusammenstellung  von  Kalb i an k  in  d.  Allgem.  jur.  Bibl.  n,  2, 
S.  238 ff.)  bee.  auch  noch:  bessere  Erziehung  des  weiblichen  Gesdilechts  (soz.  B. 
Bössig,  „Vorerinnerung"  zu  Honunels  Philos.  Gedanken,  8.  XXI;  vgL  Mal- 
blank,  a.  a.  0.  S.  238,  Nr.  1,  auch  S.  244,  Nr.  6),  Belohnungen  für  dessen  Keusch- 
heit (s.  darüber  schon  oben  S.  145,  Anm.  1  u.  dazu  noch  Petion,  Moyens 
proposäs  etc.,  a.  a.  0.  p.  115)  und  völlige  gesetzliche  Gleichstellung  der  unehe- 
lichen Kinder  mit  den  ehelichen  (s.  z.B.  Qnistorp,  Entwurf,  §  153,  S.  173; 
vgl.  Malblank  i.  d.  Allg.  jur.  BibL  II,  2,  S.  244,  Nr.  5,  b),  die  auch  heute 
wieder  mit  Recht  als  sehr  wesentlich  betrachtet  wird.  Dafür  z.  B.  auch  der 
i,Bund  für  Mutterschutz*'  auf  s.  Generalversammlung  zu  Berlin  am  12./14.  Jan. 
1907;  (vgl.  Zentralblatt  für  R.-Wi8s.,  Febr.  1907,  „Literatur  und  Nachrichten% 
S.  47*). 

1)  So:  Diez,  Ober  Kindermord,  in  Plitts  Rep.  II,  S.  78.  Vgl.  auch  Pe- 
tion, Moyens  propos^  etc.,  a.  a.  0.  p.  107  u.  Vezin,  Das  peinliche  Halsrecht 
usw.,  S.  106,  107  (Anm.  12). 

2)  Über  diese  Umwandlung  des  Kindesmordes  ans  einem  sog.  „qualifizierteD' 
zu  einem  „privilegierten''  Fall  (in  Deutschland)  s.  imallg.  Geib,  Lehrbuch  I, 
S.  334/35;  v.  Liszt,  i.  d.  Vergl.  Daistellg.  V,  S.  106 ff.  (das.  auch  über  die  ab> 
weichende  Entwicklung  des  französischen  und  englischen  Rechts).  Der  Übergang 
hat  sich  übrigens  nur  allmählich  vollzogen  (s.  auch  Wehrli,  a.  a.  0.  S.  34). 
So  hat  z.  B.  noch  Justus  Moser  die  Milde  der  neueren  Gesetzgebung  getadelt 
(vgl.  näh.  bei  V.  Barkhausen  in  Plitts  Rep.  f.  d.  peinl.  Recht  I,  S.  401ff.; 
M.  Koch,  H.  P.  Sturz,  S.  214;  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  84,  S.  310,  Anm.  1)» 
desgl.  Runde  (im  „Deutsch.  Museum"^,  Aug.-Heft  1777;  s.  Pütts  Repert  I,  S 
298ff.);  ja  auch  v.  Sonnenfels  (Grundsätze  I,  §  189,  S.  243)  hatte  noch  ge- 
meint, daß  „die  Gesetze  durch  in  die  Augen  fallende  Strenge  der  Strafe 
(vom  Kindesmorde)  abzuhalten  bedacht  sein  müßten";  vgl.  auch  S ervin.  Über 
die  peinl.  Gresetzgebg.,  S.  177  (für  „scharfe  Strafen"  für  Abtreibung  u.  Kindes- 
mord; s.  näh.  noch  unten  S.  255,  Anm.  1).  Eine  besondere  Untersuchung,  ob 
für  die  Verschuldung  einer  Kindesmörderin  die  Todesstrafe  angemessen  sei^,  er- 
schien 1798  von  C.  A.  H.  Ausdrückl.  für  die  Todesstrafe  als  Regel  z.  B. 
noch:  Ciaproth,  Entw.  I,  B.  II,  Abschn.  3,  Hauptst  3,  §  10,  S.  62,  63  (der 
für  bes.  grausame  Begehung  der  Tat  sogar  noch  die  geschärfte  Strafe  des 
Räderns  verlangte);  Rathlef,  Kindermord,  S.  157 ff.  (der  ebenfalls  noch  ganz 
barbarische  Schäifungen  befürwortete);   Quistorp,  Entwurf,  §  141,  8.  159/60 


Die  Strafrecbtsrefonn  im  AnfkläruDgazeitalter.  255 

und  ffir  völlige  Straflosigkeit  des  Delikts  eingetreten  i),  eine  Über- 
treibung der  Prinzipien,  die  ein  modernes  Seitenstfick  hat  in  der 
immerhin  schon  weit  eher  zn  rechtfertigenden  (ans  dem  von  vielen  ge- 
rade hier  betonten  ^popnlationistischen  Gesichtspunkte^  freilich  nicht  zu 
billigenden)  Agitation  einzehier  neuerer  Schriftsteller  zn  Gunsten  der 
straflosen  Vernichtung  des  keimenden  Lebens  (^ Abtreibung^  ).^  Auch 

vbd.  mit  §  152,  S.  171;  Pflaum,  Entwurf  I,  Absdm.  18,  §  104,  8.  99  vbd.  mit 
AbflchiL  11,  §  92,  S.  86;  vgl.  auch  v.  Dalberg,  Entw.,  S.  160,  Nr.  8.  Speziell 
gegen  die  Todesstrafe  u.  a.  aber:  Brissot  de  Waryille,  Theorie  II,  p. 
48;  Petion,  Moyens  proposte  etc.  (BibL  phil.  T.  VII),  p.  105;  Diez  in  Plitts 
Bep.  f.  d.  peinL  Becht  II,  8.  78  (vgl.  oben  S.  254,  Anm.  1);  V.  Barkhausen, 
ebendas.  I,  8.  407.  Über  H.  P.  Sturz  s.  M.  Koch,  a.  a.  0.  S.  21l£f.;  fiber 
Kant:  Closmann,  Kindestötung,  S.  16,  17.  Für  Verstümmelung  und 
Brandmarkung  der  Täterin:  Servin,  Über  diepeinl.  (xesetzgbg.,  S.  177/78  (s. 
dazu  y.  Rotteck  u.  Welcker,  Staats-Lezikon  VIII,  8. 126;  vgl  auch  schon  oben 
8. 179,  Anm.  1  u.  8. 181,  Anm.  8);  für  Brandmarkung  auch:  Gmelin,  Grund- 
sätze, §  68,  S.  140  (falls  man  die  Todesstrafe  abschaffen  würde);  für  lebens- 
längl.  Freiheitsstrafe  (vgL  Malblank,  AUg.  jur.  Bibl.  11,  2,  8.  244,  Nr. 
5,  c)  z.  B.  Wieland,  Geist  U,  §  458ff.,  S.  161ff.  u.  Plitt  in  s.  Bep.  I,  Vor- 
rede, S.20,  21;  für  Freiheitsstrafe  auf  Zeit  bes.  G.  J.  Fr.  Meister,  Prakt. 
Bemerkungen  I  (1791)  und  die  meisten  neueren  Schriftsteller.  Über  die  preoß. 
Gesetzgebung  des  18.  Jahrhunderts  s.  noch  S.  286/87  unten;  über  eine  spätere  Be- 
aktion  gegen  die  vermeintlich  zu  milde  Bestrafung  der  Kindestötung  s.  Wehrli, 
a.  a.  0.  &  126/27. 

1)  S.  V.  Liszt,  Lehrbuch,  {  84,  S.  810,  Anm.  1.  Daß  übrigens  hier 
Servin  angeführt  ist,  scheint  — -  soweit  wenigstens  dessen  Schrift  ^De  la  legis- 
lation  criminelle^  in  Betracht  kommt  —  auf  einem  Irrtum  za  beruhen  (vgl.  die 
vorige  Anm.),  zu  dem  allerdings  eine  (z.  B.  auch  von  Gmelin,  Grundsätze, 
§68,  S.  139,  Anm.  i  und  neuerdings  wieder  von  0.  v.  Sterneck  in  Gross' 
Archiv  22,  8.  75,  Anm.  1  zitierte)  Stelle  aus  der  Einleitung  des  „von  Ab- 
treibung'^  usw.  handehiden  Teils  (Buch  I,  Kap.  8,  Abschn.  1,  §  2,  8.  176)  bei 
Servin  leicht  Veranlassung  geben  kann.  Dagegen  dürfte  hierher  wohl  Petion 
gerechnet  werden,  der  in  s.  Moyens  propos^s  etc.  (Bibl.  phil.  T.  VII),  p.  104 
bemerkt:  «Ce  n'est  point  par  des  loix  pönales  qn'on  parviendra  Jamals 
ni  k  pr^venir  ni  ä  arrdter  l'infanticide^,  s.  aach  ebd.  p.  110,  114;  desgl.  viel- 
leicht auch  Pestalozzi  (worüber  zu  vgl.  Gmelin,  Grundsätze,  §  68,  S.  139, 
Anm.  i). 

2)  Zu  dieser  schwierigen  Frage  (auf  die  hier  nicht  näher  eingegangen  wer- 
den soll)  und  ihre  (sehr  verschiedene  und  leider  oft  ziemlich  oberflächliche)  lite- 
rarische Behandlung  s.  jetzt  bes.  Radbruch  in  der  Veigl.  Darstellg.  V,  S.  160 ff., 
18dff.;  außerdem  etwa  noch:  Gross  ins.  Archiv,  Bd.  12,  S.  845;  Schneickert, 
ebds.  Bd.  18,  S.  121  ff.  u.  in  der  Monatsschrift  für  Kriminalpsychologie  usw., 
Jahrg.  n  (1905),  Heft  10,  S.  628ff.;  0.  v.  Sterneck  in  Gross'  Archiv,  Bd.  22, 
S.  78ff.;  Schnitzenstein  in  der  Z.  f.  vgl.  R.-W.,  Bd.  17,  S.  411ff.  n.  i.  d.  Z. 
«Gesetz  und  Recht*^  7,  20;  Ed.  Aug.  Schröder,  Das  Recht  in  der  geschlecht- 
lichen Ordnung  usw.,  2.  Aufl.,  Leips.  1896,  S.  240/41;  Lewin,  Die  Frucht- 
abtreibnng  usw.  (2.  Aufl.,    Berl.  1904),   8.  114—120;   H.  Dorn,   Strafrecht  und 


256  XIV.  Günther 

eine  nach  heute  geltendem  Rechte  wirklich  straflose  TStnng, 
nämlich  der  Selbstmord  mit  Einschloß  des  Selbstmordversuchs, 
verdankt  diese  liberale  Behandlung  gleichfalls  den  Bemühungen  der 
Aufklärungszeit  Waren  auch  anfangs  —  unter  den  Nachwirkungen 
der  Wo Iff  sehen  Philosophie  —  die  Ansichten  hierüber  noch  geteilt  0, 
so  konnte  man  auf  die  Dauer  doch  nicht  darüber  im  Zweifel  bleiben, 
welcher  der  beiden,  immer  schärfer  gesonderten  Klassen:  „Verbrechen^ 
und   „unmoralische  Handlungen^    der   Selbstmord  zuzurechnen  sei. 


Sittlichkeit,  S.  53ff.;  Berolzheimer,  System  V,  S.  174/75  n.  Anm.  15  (literatnr- 
angaben).  Vgl.  auch  die  Berichte  von  Graf  zu  Dohna  in  d.  Z.  f.  d.  ges. 
Str.-W.  26  (1906),  S.  283ff.  (bes.  fiber  Gisela  y.  Streitberg),  von  Rade  im 
Jurist  Literaturblatt  vom  15.  Sept  1905,  S.  169,  Sp.  1  und  von  Gross  in  s. 
Archiv,  Bd  22,  &  88,  89  (über  Marie  Raschke)  sowie  Bd.  23,  S.  382  (über  J. 
Guttzeit),  von  Schultzenstein  im  Jurist  Dteraturbl.  v.  16.  Okt  1906,  S.  186, 
8p.  2  (über  E.  Wachtelborn).  —  Über  die  Schrift  des  Mediziners  Fr.  Ahl- 
feld, Nasciturus  usw.,  Leipz.  1906  (bes.  S.  74 ff.,  79 ff.)  s.  Beling  in  d.  Z.  f.  d. 
ges.  Str.-W.  27,  S.  832.  Über  die  Stellungnahme  des  ^Bundes  deutscher  Frauen- 
vereine" zu  der  Frage  s.  Zentralblatt  für  R-Wiss.,  Jan.  1907,  S.  39.  —  Betr. 
Abtreibung  u.  Kindermord  bei  den  Naturvölkern  s.  Makarewicz,  Einführung 
in  die  Philos.  des  Strafrechts  usw.,  S.  51ff.  u.  Berolzheimer,  System  V,  S. 
174,  Anm.  15;  vgl.  auch  G.  Bode  im  Arch.  f.  Strafr.  53,  S.  113ff.  u.54,  S.  123 ff. 
Schon  die  Aufklärungsschriftsteller  wollten  die  Abtreibung  der  Ldbesfrucht  meist 
gelinder  als  den  „Kindermord*^  bestrafen,  obwohl  sie  freilich  in  den  Systemen 
oft  geradezu  nur  als  eine  bes.  Art  dieses  letzteren  Delikts  aufgefaßt  wird  (s. 
z.  B.  Quistorp,  Grundsätze  des  deutsch,  peinl.  Rechts  [3.  Aufl.  1783],  I,  §  277, 
S.  526).  Ebenso  bezügl.  der  Aussetzung  der  Kinder  z.  B.  v.  Globig  u. 
Huster,  Abhandig.,  S.  191;  vgl.  auch  Rathlef,  Vom  Kindermord,  S.  154, 
während  Quistorp  (Grundsätze  I,  §  279,  S.  528ff.  u.  §§  285/6,  S.539ff.,  542ff.) 
hierbei  die  einzelnen  Fälle  genauer  sondert 

1)  S.  Frank,  Die  Wolffsche Strafrechtsphilosophie,  S.42,  Anm.  10  (mit  näh.  An- 
gaben); v.Liszt,  Lehrbuch,  §35,  S.  156;  Willen  bücher,a.a.O.S.  44;  Ossip.  Bern- 
stein, Die  Bestraf ung  des  Selbstmords  und  ihr  Ende  (»  Heft  78  der  „Straf rechtl. 
Abhandlgn.^,  herausg.  von  v.  Lilien thal),  Breslau  1907,  S.  30 ff.  Über  noch  spätere 
Gegner  der  liberalen  Behandig.  des  Selbstmordes,  insbes.  unter  den  Theologen,  s. 
ebds.  S.  34  ff.  —  Die  dem  Selbstmorde  heute  eingeräumte  systematische  Stellung 
unter  den  allgemeinen  Lehren  des  Straf  rechts  (vgl.  etwa  die  Lehrbücher 
des  Strafrechts  von  Bern  er  [17.  Aufl.],  §  53,  S.  94,  v.  Liszt,  §  35,  S.  156, 
Anm.  8  u.  H.  Meyer-Allfeld,  §  38,  S.  223ff.,  Nr.  8)  —  statt  im  „besonderen 
Teile*^  bei  den  Totungsf allen  (wie  noch  bei  v.  Grolman,  Feuerbach  und 
Rosshirt;  s.  dagegen  C.  G.  v.  Wächter,  Lehrb.  des  röm.-teutsch.  Strafr.,  Teil 
I  [Stuttg.  1825],  §  58,  S.  100,  Anm.  16)  —  erscheint  in  der  kriminalist  Auf- 
klärungsliteratur noch  als  seltene  Ausnahme,  s.  z.  B.  bei  Wieland,  Geist  I, 
Abschn.  4,  Kap.  5  („Von  den  wahren  Gründen  der  Strafbarkeit  gesetzwidriger 
Handlungen"),  §  240ff.,  S.  314ff.  Schärfere  Absonderung  von  den  übrigen 
Totungsf  allen  jedoch  auch  bei  Rathlef,  Vom  Geiste,  Kap.  23,  S.  93  ff.  und 
Quistorp,  Entwurf  §  252,  S.  277ff. 


Die  Strafrechtsreform  im  Aufkläningszeitalter.  257 

So  betrachtete  ihn  denn  schon  Beccaria  (§  35,  S.  151)  zwar  als 
^eine  Sünde...,  die  Gott  bestraft,  da  er  allein  auch  nach  dem 
Tod  bestrafen  kann^, aber  nicht  als  „ein  Verbrechen  vor  den  Men- 
schen^. Damit  stimmten  bald  auch  viele  andere  überein,  in  Deutsch- 
land —  wo  sich  seit  Goethes  „Werther"  die  schöne  Literatur  der  Zeit 
ebenfalls  aufs  eifrigste  mit  dem  Thema  beschäftigt  hat  —  vor  allem 
wiederum  Hommel.  i)    Dabei  war  man  in  der  günstigen  Lage,  sich 

1)  Über  Beccaria  vgl.  auch  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  2S,  2^.  Von  Hommels 
Schriften  s.  bes.  Übersetzung  von  Beccaria,  S.  173,  Anm.  o:  „Es  mag  die  Tat 
allenfalls  Sünde  sein,  nur  kann  ich,  nach  dem  gegebenen  deutlichen  Merkmale 
eines  politischen  Verbrechens  (d.  h.  einer  Polizeiübertretung),  es  für  ein  solches 
nicht  erkennen*^;  desgl.  ebd.  S.  ISl,  Anm.  p:  „Die  Tat  kann  ...  Sünde  sein, 
die  aber  zu  bestrafen  Gott  allein  sich  vorbehalten  hat*^;  vgl.  auch  Rhap- 
sodia  Quaest  (ed.  1769),  bes.  obs.  127,  auch  obs.  896/97  (s.  Landsberg,  Ge- 
schichte III  1,  S.  397  u.  Noten  S.  259;  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  40  u.  58,  Anm. 
71).  —  Über  die  schone  Literatur  der  siebziger  und  achtziger  Jahre  des  Jahr- 
hunderts (Goethe  und  der  Streit  um  „Werther'^  [erschienen  1774]  bezw. für  und 
wider  das  „ehrliche  Begräbnis'')  s.  O.Bernstein,  a.  a.  0.  S.  36 — 40  u.  Anm. 
65 — 78  (S.  57—59).  Als  Gegner  der  Bestrafung  des  Selbstmordes  (wenn 
auch  zum  Teil  unter  sich  nicht  g^nz  einig  über  die  ethische  Bewertung  der 
Tat)  sind  unter  den  Philosophen  und  Juristen  (vgl.  im  allg.  Gmelin,  Grund- 
sätze, §  78,  S.  164,  Anm.  s;  Geib,  Lehrb.  I,  S.  332;  v.  Liszt,  Lehrbuch,  S. 
156,  Anm.  8;  Bernstein,  a.  a  0.  8.  20-30  u.  40—44)  femer  (außer  Bec- 
caria und  Hommel)  bes.  zu  erwähnen  noch:  Montesquieu  in  s.  „Lettres 
Persanes",  nicht  mehr  dagegen  im  „Esprit  des  lois**  (s.  näh.  bei  Wellauer,  Der 
Selbstmord,  insbes.  Anstiftung  und  Beihilfe  zum  Selbstmord,  Benier  Diss.,  St. 
Gallen  1896,  S.  10,  63,  64  u.  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  21,  22;  vgl.  auch  unten 
S.  260,  Anm.  1);  Voltaire,  bes.  Commentaire,  §19  (Bibl.  phil.  T.  I,  p.  251  ff.), 
Prix  de  la  justice,  Art.  V  (Bibl.  Phil.  T.  V,  p.  22  ff.),  Dict  phil.,  Art  „Suicide«, 
T.  XIII,  p.  202ff.  (s.  auch  unten  S.  259,  Anm.  2;  vgl.  Hertz,  Voltaire,  S.  433; 
Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  228/29;  Berolzheimcr,  System  V,  8.222,  Anm.  47; 
Bernstein,  a.  a.  0.  S.  22,  23  u.  Anm.  33,  34  [S.  53,  54]);  Holbach,  Systeme 
de  la  nature,  1770,  T.  I,  p.  234,  T.  II,  chap.  14,  p.  304ff.  (vgl.  Bernstein,  a. 
a.  0.  S.  23,  24,  ebds.  S.  24,  25,  26  auch  über  Rousseau  [in  seiner  „Nouvelle 
H61oise*^]  u.  Diderot);  Marat,  Plan  de  l^glslation  crim.,  a.  a.  0.  p.  184/85 
(vgl.  G.-S.  61,  S.  326ff.,  auch  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  26,  27);  Brissot  de 
Warvillo,  Discours  (Bibl.  phil.  T.  VI),  p.  97,  98,  Theorie  I,  p.  93  u.  323 ff. 
(vgl.  Bernstein,  a.  a.  C  S.  27);  s.  auch  noch  Bibl.  phil.  T.  IX,  p.  230; 
Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg,  S.  3 10 ff.  (und  dazu  Bernstein,  a.  a.  O. 
S.  28  sowie  näh.  noch  unten  S.  259,  Anm.  %,  S.  260,  Anm.  1,  u.  S.  26], 
Anm.  1);  M.  le  F.,  Plan  de  l^gislation  etc.  (Bibl.  phil.  T.  V),  p.  401;  ßer- 
nardi,  Discours  (Bibl.  phil.  T.  VIII),  p.  129;  de  Valaz6,  Lois  penales  (in 
deustcher  Übers,  1786,  B. lU,  Kap.  X  (s.  Bernstein,  a.  a.  C,  S.  28;  ebd.  S.  55, 
Anm.  40  auch  noch  über  andere  Franzosen);  Filangieri,  System  IV  (3,2), 
Kap.  55,  S.  679ff.  (vgl.  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  29,  30);  Friedrich  .d. 
Große  (s.  näh.  bei  Willenbücher  S.  44,  45  n. Bernstein,  a.a. 0.  S.S3;  vgL 
auch   unten  S.  258,  Anm.  1,  S.  259,   Anm.  2  u.  S.  260,  Anm.  2);  v.  Sonnen - 

Axchiy  für  Kriminalanthropologie.   28.  Bd.  17 


268  XIV.  Bü 

für  die  Beseitigang  der  Strafe  f&r  die  yoUendete  Tat  schon  auf  einen 
allgemeinen  kriminalpolitischen  Grundsatz  bemfen  zn  dfirfen,  da& 
nämlich  die  Strafen  stets  ^persönliche  sein,  d.  h.  sieh  nnr  g^en 
den  schuldigen  Täter  selbst  richten  sollen^),  ein  Prinzip,  dem  die 


fels,  Qnindsfttze,  §  187ff.,  S.  240ff.  (vgl.  auch  Bernatein,  a.  a.  0.  8.  41); 
Claproth,  Entwurf  I,  Bd.  II,  Abachn.  3,  Hauptst.  3,  §  15,  S.68,  60  (wenn- 
gleich nicht  ohne  Ausnahme;  vgl.  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  41);  Michaelis, 
Mos.  Recht  VI,  Vorrede,  S.  39;  Rathief ,  Vom  Geiste,  S.  93,  99lf.;  v.  Globig 
o.  Huster,  Abhandig.,  S.  193  n.  Vier  Zugaben,  S.  148,  189  u.  346—348  (vgl 
Bernstein,  a.  a.  0.  S.  42,  auch  unten  S.  :261,  Anm.  1);  Graebe,  BeformatioD, 
§  41,  8.  78;  V.  Grolman,  Grundsätze,  §  447,  S.  284;  vgl.  auch  noch  y.  Dal- 
berg,  Entwurf,  S.  134,  Nr.  3,  4.  Über  Job.  Jak.  Cella  s.  Bernstein,  a.  a. 
0.  a  40.  —  Wieland,  Geist  I,  §  240ff.,  S.  314ff.  wollte  zwar  keine  Strafe 
mehr  für  den  vollendeten  Selbstmord,  weil  er  „kein  Verbrechen,  wenn  auch 
«dne  schändliche  Handlung"  sei  (§  242,  S.  317),  wohl  aber  ev.  nodi  Be- 
strafung des  mißglückten  Versuchs  (so  übrigens  auch  Bommel,  Rhapsodis, 
oba.  127  iBern stein,  a.  a.  0.  S.  40]  und  grundsätzlich  wohl  auch  v.  Soden, 
Geist  I,  §  275,  S.  318/19,  der  seine  Ansicht  freilich  so  stark  verklausuliert  hat, 
dafi  man  mit  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  43  beinahe  das  Gegenteil  herauslesen  kann), 
und  zwar  wegen  der  in  der  Seele  der  Selbstmörders  herrschenden  „bösen  und 
schädlichen  Gesinnung'^  (s.  bes.  {  244,  S.  320  u.  näh.  noch  bei  Bernstein,  a.  a.0. 
S.  42,  43).  Gerade  umgekehrt  dagegen  wollte  Gmelin,  Grundsätze,  §  79,  S, 
165/66  u.  Anm.  t,  §  80,  S.  167ff.  u.  S  ^U  S.  170  den  Versuch  des  Selbst- 
mordes in  d.  Regel  zwar  straflos  lassen,  die  voUendete  Tat  dagegen  —  die  nicht 
mit  dem  „Modeton*^  für  gCine  unsträfliche  Handlung*^  oder  gar  für  „eine  ent- 
schlossene Heldentat*^  zu  betrachten  sei  (S.  167)  —  aus  dem  Gresichtspunkte  der  Ab- 
schreckung anderer  noch  mit  Strafe  belegen  (vgl.  dazu  auch  Bernstein,  a.  a.  0. 
S.  43,  44  u.  S.  57,  Anm.  59  a.  E.,  S.  60,  Anm.  90).  Für  stilles  (unfeierücbes), 
wenn  auch  nicht  geradezu  schimpfliches  (od.  sog.  EMs-)  Begräbnis  als  Folge  de» 
Selbstmordes  auch  Quistorp,  Entwurf,  {  252,  S.  277/78;  Pflaum,  Entw.  I,  f 
186,  S.  176ff.;  v.  Soden,  Geist  II,  §  273,  S.  315/16;  Beseke,  Versuch,  S.  100, 
Nr.  1  (und  dazu  Böhmer,  Handb.,  S.  289);  v.  Eberstein,  Entwurf,  S.  132. 
Schimpfliches  Begräbnis  (auf  dem  Richtplatze),  ja  event  selbst  Exekution  der 
(eigentlich  verwirkten)  Strafe  am  Leichname  wollten  manche  noch  für  den  Fall, 
daß  ein  Verbrecher  sich  durch  Selbstmord  der  irdischen  Justiz  entzogen.  VgL 
bes.  Filangieri,  System  IV  (3,2),  Kap.  55,  S.  691  (wahrscheinl  unter  dem 
Einflüsse  des  römischen  Rechts;  vgl.  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  29,  30):  Clap- 
roth.  Entw.,  S.  69;  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  98;  Quistorp,  Entw.  I,  §  252, 
S.  277  vbd.  mit  S  66,  S.  78;  Pflaum,  Entw.  I,  §  186.  S.  176  vbd.  mit  §  51, 
S.  45;  V.  Eberstein,  Entwurf,  S.  133ff.  —  Über  die  Stellung  der  Siteren  eng- 
lischen Schriftsteller  zum  Selbstmorde  s.  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  53,  Anm. 
29;  für  die  Erlaubtheit  ist  unter  ihnen  z.  ,B.  D.  Hume,  On  soidde  (gedr. 
17  S3)  eingetreten. 

1)  S.  darüber  bes.  Beccaria,  {  35,  S.  147/48  und  ihm  folgend  Voltaire 
(s.  Hertz,  a.  a.  0.  S.  433;  Bernstein,  a.  a.  O.S.  23)  und  Friedrich  der 
Große  (in  s.  Reskript  vom  6.  Dez.  1751  betr.  d.  früheren  Selbstmordedikte; 
s.  Willenbücher,   a.  a.  S.  44,  45;   Bernstein,   S.  33).  —   Im  allg.  s.  noch 


Die  Strafrechtsreform  im  AnlklSnmgszeitalter.  259 

alten  SelbstmordstrafeD,  wie  das  schimpfliche  („unehrliche^)  Begräb- 
nis and  die  Vermöge  nskonfiskation  i),  die  ja  nur  noch  die  unschul- 
digen Hinterbliebenen  trafen^),  aufs  ärgste  verletzen,  weshalb  sie 
als  ^nnnütz  und   ungerecht^    durchaus  zu  verwerfen   sind.  ^}    Zum> 


über  den  Gnmdsatz  der  Persönlichkeit  der  Strafe  Marat,  Plan  etc.,  p. 
136  ff.  („Lee  peines  doivent  toe  penonelleB";  vgl.  G.-S.  61,  S.  22S[24  a.  Anm. 
1,  2  vbd*  mit  S.  170,  Anm.  1  u.  S.  176,  Anm.  3  [über  Robespierre;  vgl.  auch 
Bernstein,  S.  27]);  Brissot  de  Waryille,  Theorie  I,  chap.  2,  p.  34 
(„La  peine  ne  doit  6tre  ßtendue  qne  sar  le  coapable*^)  und  ebendas.  p.  190; 
Bernardi,  Discours  (Bibl.  phil.  T.  VIII),  p.  81ff.;  de  Pastoret,  Consi- 
dtotioDB  sar  les  lois  pönales  (1790),  T.  I,  P.  II,  p.  123  (Bernstein,  a.  a.  0. 
S.  27);  Bathlef,  Vom  Geiste,  S.  83;  Quistorp,  Entw.,  §  65,  S.  77,  78;  v. 
ßeder,  Daspeinl.  Becht  I,  Kap,  IX,  §  22ff.,  S.  154ff.  vbd.  mit  §  29,  S.  159 
a.  Kap.  XV,  {  18,  S.  344;  ▼.  Dalberg,  Entw.,  S.  138,  c;  Bergk,  Über- 
setzung vom  Beccaria,  8.  61,  62;  v.  Grolman,  Grandsätze,  §  128,  S.  59. 

1)  S.  darüber  nfiheres  o.  a.  bei  Guderian,  Die  Beihilfe  zum  Selbstmord 
and  die  Tötang  des  Einwilligenden,  Teil  I,  Berl.  Diss.,  1899,  S.  8,  9,  Anm.  4  a. 
Bernstein,  a.  a.  0.  S.  4 — 16.  Insbes.  über  Frankreich  s.  noch  Hertz,  Vol- 
taire, S.  162;  y.  Oyer.beck,  a.  a.  0.  S.  101,  Anm.  1;  Bernstein,  S.  18, 19. 

2)  S.  darüber  schon  Friedrichs  des  Großen  Reskript  vom  6.  Dez. 
1751  (Willenbü  eher,  a.a.O.  S. 44  u.  Anm.  2;  Bernstein,  a.  a.0.  S.  33); 
femer  Beccaria,  §  35,  S.  147  a.  151;  Voltaire,  Commentaire,  §19  (Bibl. 
phil.  T.  L,  p.  253/54),  Prix  de  la  jastice,  Art  V  <Bibl.  phil.  T.  V,  p.  24),  Diet. 
philos.,  Art  „Confiscation'',  T.  V,  p.  125ff.  (vgl.  Hertz,  Voltaire,  8.433;  Mas- 
monteil,  a.a.O.  p.  227,  260ff.;  Bernstein,  a.  &  0.  S.  23);  Marat, 
Plan  etc.,  p.  1 84/85  (inbes.  gegen  die  Vennögenakonfiskation  bei  Selbstmord  als 
none  terrible  tyrannie*,  obwohl  er  im  allg.  kein  Gegner  der  Konfiskation  war; 
vgl  G.-S.  61,  S.  225,  Anm.  2  vbd.  mit  S.  327  a.  oben  S.  184,  Anm.  1); 
Brissot  de  W  arvillCt  Theorie  I,  p.  328;  Servin,  Über  die  peinl.  Ge- 
setzgebg.,  S.  314;  Fi  lang  i  er  i,  System  IV  (3,2),  Kap.  55,  S.  686;  r.  Sonnen- 
fels, Gnmdsfttze,  §  187,  S.  241  („Für  [den  Selbstmörder)  fUlt  die  Strafe  aofier 
den  Kreis  der  Wirksamkeit  and  ISfit  Schmera  and  Betrübnis  nar  die  schald- 
losen  Angehörigen  fühlen**);  Rathlef,  Vom  Geiste,  S.  105  (bei  dem 
anehrlichen  Begräbnisse  des  Selbstmörders  bleibe  nichts  übrig  als  der  „anselige 
Endzweck,  die  Familie  eines  Unglücklichen  za  beschimpfoi^);  Wieland, 
Geeist  I,  S.  249,  S.  327/28,  §  250,  8.  329 ff.;  Graebe,  Reformation,  §  41,  S.  78 
(„Strafe,  die  ohnehin  nar  U n s c h a  1  d i g e  treffen  würde*^).  Vgl.  aach  nodi 
Qaistorp,  Entwarf  I,  §  252,  S.  279,  Anm.  a  (if^egen  das  sog.  Eselsb^gräbnis) 
n.  S  253,  8.  280  (gegen  die  Konfiskation;  vgl.  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  41); 
V.  Soden,  Geist  I,  §  271,  S.  314,  §  273,  S.  815  a.  §  276,  8.  819  (a.  daza 
Bernstein,  a.  a.  0.  8.  43);  Gmelin,  Grnndsfttze,  {  80  a.  E.,  &  170  (gegen 
die  Konfiskation  als  «unbillige  Strafe^;  vgl.  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  44). 

3)  So  aosdrücklich:  Filangieri,  System  IV  (3,  2),  S.  668  in  Überein- 
stimmang  mit  den  meisten.  Vgl.  z.  B.  Beccaria,  }  35,  S.  147  („angereoht 
und  tyrannisch"^)  n.  S.  150  („onnüti  and  angereoht*^);  Michaelis,  Moe. 
Recht  VI,  Vorrede,  S.  39  („die  unnütze  Strafe  des  Selbetmoidee'').  —  3.  im  allg. 
auch  noch  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  44,  der  übrigens  hervorhebt,  daß  die  den  tsch  en 

17* 


260  XIV.   GÜOTHER 

Nachweise  der  Kichtstrafbarkeit  anch  des  Selbstmordversuchs  be- 
durfte man  dagegen  noch  eines  weiteren  rechtsphilosophischen  Hin- 
tergrundes. Man  fand  ihn  hauptsächUch  in  dem  Satze,  daß  der 
Mensch  zwar  dem  Staate  verpflichtet  sei,  solange  er  lebe,  nicht  aber 
auch  sein  Leben  unter  allen  Umständen  für  den  Staat  erhalten  müsse, 
daS  es  vielmehr  Verhältnisse  gebe,  wo  man  das  Recht,  wenn  nicht 
gar  die  Pflicht  habe,  einer  unerträglich  gewordenen  Lage  durch  frei- 
willigen Tod  ein  Ende  zu  bereiten,  wie  dies  u.  a.  schon  Mon- 
tesquieu in  seinen  „Lettres  Persanes^^)  und  Friedrich  der 
Große  in  seiner  „Apologie  du  suicide^  ausgeführt  haben. 2)  Im 
Anschluß  an  Beccaria  wird  zuweilen  auch  noch  ein  Vergleich 
zwischen  einem  Selbstmorder  und  demjenigen  gezogen,  der  dem 
Vaterlande  seine  Dienste  durch  Auswanderung  entzieht  und 
zugleich  sein  ganzes  Vermögen  niit  sich  nimmt  Dieser  letztere 
erscheint  viel  strafbarer  als  der  erstere  (der  ja  dem  Staate  sein  Ver- 
mögen nicht  entzieht),  denn  —  so  meint  z.  B.  Servin  —  er  bestehle 
geradezu  sein  Vaterland,  da  er  „nur  insofern  ein  Becht  an  dem 
Eigentum  des  Staates*^  habe,  „als  er  denoselben  Dienste  leistet,  wofür 
derselbe   ihm    etwas   zu  Eigentum  anweist^,    der   Selbstmörder  da- 


Schriftsteller  trotz  der  Mißbilligung  der  Selbtmordetrafen  die  Tat  selbst  doch 
„ethisch,  meistens  noch  verworfen*^  haben. 

1)  Montesquieu,  Lettres  Persanes  (1721),  Lettre  76  (6d.  Firm.-Didot,  Paris 
1891),  p  362/63:  „Pourquoi  vent-on  que  je  travaille  ponr  une  sod^t^  dont  je 
consens  de  n'toe  plus  ...  La  vie  m'a  6t6  donn6e  comme  une  faveur;  je  puis 
donc  la  rendre  lorsqu'elle  ne  Fest  plus:  Ja  cause  cesse,  Teffet  doit  donc  cesser 
aussi ...  Je  suis  oblig6  de  suivre  les  lois  quand  je  vis  sous  les  lois; 
mais  quand  jen'y  vis  plus,  peuvent-elles  melier  encore?**  Vgl.  dazu 
Wel lauer,  Der  Selbstmord  usw.,  S.  63,  64,  Berolzheimer,  System  V,  S.  218, 
Anm.  20,  21  u.  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  21  vbd.  mit  S.  53,  Anm.  81  (über  Ähn- 
lichkeit der  Ansichten  Montesquieus  mit  denen  Schiopenhauera).  Über- 
einstimmend  im  wes.  auch  Servin,  Über  die  peinliche  Gesetzgebg.,  S.  312: 
„.  .  .  .  Kein  Gesetz  verbindet  mich,  (den  Staat)  mehr  als  mich  selbst  zu  lieben, 
und  da  ich  (dem  Staate)  nicht  mehr  dienen  kann,  ohne  mir  dabei  ein  Übel  an- 
zutun,  das  ich  mehr  als  den  Tod  fQrchte,  so  bin  ich  berechtigt,  <die)  Dienste 
(des  Staats)  niederzulegen^.  S.  auch  noch  Marat,  Plan  de  l^gisl.  crim., 
p.  184/85  (vgl.  G,-S.  61,  S.  326/27;  Bernstein  a.  a.  0.  S.  26,  27  u.  S.  55,  Anm.  42). 

2)  S.  darüber  Zeller,  Friedrich  der  Große  als  Philosoph,  Berlin  18S6,  S.  Sl 
u.  Anm.  236;  Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  44  u.  Anm.  3;  Bernstein,  a  a.  0.  S.  33, 
34  u.  56,  57,  Anm  58.  —  Auch  in  der  neueren  Zeit  ist  man  nicht  viel  über  diese 
Begründung  hinausgekommen.  S.  z.  B.  Hals  ebner,  Das  gemeine  deutsche 
Strafrecht,  Bd.  I  (Beri.  1881),  S.  468/69,  Berner,  Lehrbuch  (17.  Aufl.,  Leipz.  1895), 
S.  94  u.  a.  m.;  vgl.  näheres  noch  bei  Well  au  er,  a.  a.  0.  8.  39  ff.  (im  Anschluß  an 
Bindings  Übersicht  in  s.  Handb.  des  Strafrechts  I,  Leipz.  1885,  S.  698,  Anm.  9) 
u.  Guderian,  a.  a.  0.  S.  lOff.,  16ff. 


Die  Straf rechtsreform  im  AofklärnngBzeitalter.  261 

gegen  verlasse  „alles,  was  er  hat^,  versetze  sich  gegenüber  der  Ge- 
sellschaft also  wieder  „ganz  in  den  Znstand  . . .,  in  dem  er  beim  Ein- 
tritt seiner  Verbindung  (mit  ihr)  war".*) 

Unter  den  Delikten,  die  Leib  und  Leben  des  Einzelnen  gefährden, 
verdient  endlich  eine  kurze  Erwähnung  noch  der  Zweikampf,  über 
dessen  zweckmäßige  legislatorische  Behandlung  (Vorbeugung  und 
Bestrafung)  man  sich  schon  damals  nicht  recht  einigen  konnte,  und 
der  auch  heute  noch  sozusagen  ein  Schmerzenskind  unserer  Gesetz- 
gebung geblieben  ist.  Auch  in  unseren  Tagen  ist  immer  aufs  neue 
wiederholt  worden,  was  schon  im  Jahre  1784  ganz  richtig  Prof.  Graebe 
bemerkt  hat,  daß  man  bei  den  nun  einmal  herrschenden  Ansichten  die 
Duelle  schwerlich  hemmen  werde,  solange  nicht  zweckmäßige  Ein- 
richtungen getroffen  werden,  den  Beleidigten  anständige  Genugtuung 
zu  verschaffen.  2)  Trotz  aller  Bemühungen  (neuerdings  z.  B.  von 
Seiten  der  deutschen  Anti- Duell-Liga)  ist  aber  dieses  Problem  bisher 
noch  nicht  zu  allgemeiner  Zufriedenheit  gelöst  worden.  3)    Soll  nun 


1)  Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  310,  312  u.  315  im  Bach  I,  Kap.  4, 
Abschn.  5,  §  1  mit  der,  auch  schon  äußerlich  mit  Beccaria  (§  35,  S.  147ff. : 
„Vom  Selbstmord  und  der  Auswanderung*^)  übereinstimmenden  Überschrift  „Vom 
Selbstmord  und  von  Entsagung  des  Vaterlandes"  (vgl.  auch  Bernstein,  a.  a.  0. 
S.  28).  Ahnlich  auch  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  193  (vgl.  Bernstein 
S.  42);  dagegen  aber  Gmelin,  Grundsäte  §  28,  S.  164,  Anm.  r.  Zu  dem  ganzen 
Veigleiche  s.  bes.  auch  noch  C.  G.  v.  Wächter,  Revision  der  Lehre  vom  Selbst- 
morde, im  N.  Archiv  des  Kriminalrechts,  Bd.  10  (1828),  S.  656  ff.,  bes.  S.  661/62  so- 
wie Wel lauer,  a.  a.  0.  S.  49. 

2)  Über  die  Reformation  der  peinlichen  Gesetze,  §  42,  S.  79.  —  Zu  vgl. 
auch  schon  Friedrich  der  Große  in  seiner  „Dissertation"  (Oeuvres  T.  IX, 
P-  32):  „Le  point  de  difficult6  qui  reste  ä  resoudre  serait  de  trouver  un  exp6- 
dient  qui  en  conservant  Thonneur  aux  particuliers  maintient  la  loi 
dans  toute  sa  rigueur";  vgl.  dazu  Willenbücher  a.  a.  0.  S.  42,  43  und  Kohl- 
rausch in  d.  Vergl.  Darstellg.  lU,  S.  133  u.  137.  Für  besseren  Schutz  der  Ehre 
u.a.  auch  Zaupser,  Gedanken,  Abhdlg.  2,  S.  39;  v.  Soden,  Geist  I,  §  295, 
S.  336ff.;  V.  Globxg  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  184;  Gmelin,  Grundsätze,  §  75, 
S.  157.  Für  die  heutige  Zeit  s.  Kohlrausch,  a.  a.  0.  S.  133:  „Gelingt  es  dem 
Staate,  der  verletzten  Ehre  denjenigen  Schutz  zu  geben,  der  bisher  im 
Duell  gesucht  wird,  so  wird  dieses  verschwinden'';  s.  jedoch  auch 
ebds.  S.  181  ff.  betr.  d.  Zweifel,  ob  ein  solcher  Schutz  durch  eine  bloße  Reform  (Er- 
höhung) unserer  Beleidigungsstrafen  möglich  sei;  desgl.  v.  Lilien thal  in  der 
Deutsch.  Jur.-Zeitg.  vom  15.  Juni  1907,  Sp.  673  ff.,  bes.  Sp.  676/77. 

3)  Über  die  —  auch  als  Zugabe  zur  Deutschen  Juristen-Zeitg.,  Jahrg.  1905, 
Nr.  7  erschienenen  —  „Anträge  der  Deutschen  Anti-Duell-Liga**  (bes.  auch 
betr.  Einführung  von  „Ehrengerichten''  [von  Standesgenossen])  s.  im  allg. 
Graf  zu  Dohna  in  d.  Z.  f.d.  ges.  Str.  W.  26,  S.  557  ff.;  Liepmann  in  der  Monats- 
schrift für  Kriminalpsych.  usw.,  Jahrg.  11  (1905),  S.  126 f.;  vgl.  Kohlrausch, 
^  a..O.  S.  181  u.  Anm.  1,  S.  184ff.  u.  Anm.  2.    Ebds.  S.  184—189  auch  über  die 


262  XIV.  GfhvTHEB 

der  Zweikampf,  so  lange  er  noch  gehandhabt  wird,  bestraft  werden, 
nnd,  wenn  dies  zn  bejahen,  an  wem  nnd  anf  welche  Weise?  Das 
sind  die  Fragen,  über  die  auch  in  der  Anfklämngszeit  schon  die 
Meinungen  sehr  wesentlich  auseinander  gingen.  Während  damals 
viele  das  Wesen  dieser  eigenmfichtigen  Selbsthilfe  verkannten,  so  daB 
sie  darin  lediglich  etwa  eine  „espöce  de  menrtre^  (Friedrich 
der  Große) Oy  ja  wohl  geradezu  eine  „fiberlegte  Mordtat'  e^ 
blickten  (v.  Globig  und  Huster)  und  daher  beide  DueOante» 
(ganz  besonders  aber  den,  der  seinen  Gegner  getStet  oder  verwundet) 
einer  strengen  Bestrafung  unterwerfen-),  andere  (wie  namentlich  von 
Soden)  dagegen  umgekehrt  womöglich  alle  beide  ganz  straffrei  anr 
gehen  lassen  wollten'),    glaubte  eine  dritte   Gruppe   mit    Beccaria 


bei  Eiiisetzaiig  von  Standesge  richten  zu  bewUtigendai 
Für  Ehren-  bexw.  Standesgerichte  sind  von  den  AnfkllningaschTiftBteUein 
flehen  eingetreten  in  DeatBchland  u.  a.:  v.  Soden,  Gdsi  I,  9  295,  S.  337/'3S, 
nnd  Gmelin,  Grundsätze,  §75,  S.  158,  Anm.  p;  von  Franzosen  s.  bes.  Servin, 
Über  die  peinl.  Gesetzgebg.,  S.  174;  vgl.  auch  Marat,  Plan  etc.,  p.  ISd  (S.G.-S.61, 
8.  S26  n.  Anm.  2).  Hier  (sowie  bei  Claproth,  Entw.  I,  B.  n,  Abschn.  3, 
Haupst  3,  §  1,  S.  54,  Anm.  a,  v.  Soden,  a.  a.  0.  S  294ff.,  S.  383£r.,  Gmelin, 
a.  a.  0.  §  75,  S.  157ff.  u.  a.  m.)  auch  fiber  die  Vorbeugungsmittel  gegen  den 
Zweikampf  überhaupt  (wie  z.  B.  Kontrolle  des  Waffentra^^ens  u.  drgl.).  —  Dafl 
die  Vorschriften  unseres  geltenden  deutschen  Beichsstrafrechts  weit  mehr  den 
Charakter  von  Bekämpfungsmaßregeln  als  von  eigentlichen  Stnfbestim- 
mungen  an  sich  tragen,  hat  neuerdings  bes.  A.Thom8en  (Grundrifi  des dentscben 
VerbrechensbekSmpfungsrechts,  Bes.  Teil,  Berl.  1906,  8.  82  ff.  und  Das  deatscbe 
Strafrecht,  Beri.  1907,  S.  315  ff.,  318)  betont 

1)  So:  Friedrich  der  Große  in  seiner  «Dissertation"  (Oeuvres  T.  IX, 
p.  32/33),  wo  die  Duellanten  als  „esp^ce  de  meurtriers'*  bezeichnet  sind;  Tgl. 
Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  43;  Kohlrausch,  a.  a.  0.  S.  137.  —  Über  Vol- 
taires feindliche  Stellung  zum  Duell  s.  Masmonteil,  a.  a.  0.  p.  226/27;  über 
die  Enzyklopädisten:  v.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  101—103;  fiberHarat,  der 
(Plan  etc.,  p.  184)  ebenfalls  für  strenge  Bestrafung  war,  s.  Günther  im  G.-8. 
61,  S.  325/26,  370. 

2)  8.  (außer  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  185,  183  (,,ich  sehe  nicht 
ein,  warum  solche  vorsätzliche  Mörder  besser  daran  sein  sollten  als  andere?"}) 
bes.  auch  S ervin.  Über  die  peinl.  Gresetzgebg.,  S.  174  (der  „jeden,  der  sich  in 
einen  Zweikampf  einläßt,  als  vorsätzlichen  Mörder**  betrachtete).  Mehr 
oder  weniger  ähnlich  femer:  v.  Sonnenfels,  Grundsätze  I,  §  185,  S.  237/38; 
Zaupser,  Gedanken,  Abhdig.  2,  S.  38;  Claproth,  Entw.  I,  B.  II,  Abecfan.  S, 
HauptBt.  3,  §  1,  S.  53;  Quistorp,  Entwurf  I,  §  273,  S.  800;  Pflaum,  Entw.  I, 
S  198,  8.  186  ff.;  Beseke,  Versuch,  S.  101  (für  Talion  im  Falle  der  Tötung;  vgl. 
Böhmer,  Handb.,  S.  289);  Wieland,  Geist  H,  §  442,  8. 147,  Nr.  XVIU;  Gmelin, 
Grundsätze,  §  75,  S.  154ff.;  v.  Dalberg,  Entwurf,  S.  169  u.  a.  m.  Ausdrficklidi 
gegen  diese  Auffassung  aberRathlef,  Vom  Geiste,  S.  34,  85;  gegen  die  Todes- 
strafe auch  Graebe,  Reformation,  §  42,  8.  79. 

3)  V.  Soden,  Geist  I,  §  294,  8.  335/36:   „Strenge  der  Gesetzgebung  würde 


Die  Strafrechtsrefonn  im  Anfklärangszmtalter.  263 

^das  wirksamste  Mittel  zur  Verhütung  dieses  Verbrechens^  darin  er- 
blicken zu  dürfen,  daß  man  nur  den  sog.  Angreifer,  d.  h.  ,,den^  der 
die  Veranlassung  zum  Zweikampf  gegeben^,  bestrafe^  den  dagegen 
^tüLT  unschuldig^  erkläre,  „der  ohne  seine  Schuld  gezwungen  worden^, 
seine  Ehre  (die  die  bestehenden  ,,Gesetze  nicht  zu  schützen  vermögen*') 
2tt  verteidigen.^)  Besonders  hervorgehoben  zu  werden  verdient  end- 
lich noch,  daß  die  auch  in  der  Neuzeit  wieder  von  einzelnen  erhobene 
Forderung,  das  Duell  statt  mit  der  sog.  custodia  hone4<ita  der  Festungs- 
haft mit  strengen,  entehrenden  Strafen  (Zuchthaus,  Verlust  der  bttrg^- 
lichen  Ehrenrechte  u.  dgl.)  zu  belegen '0,  det  Aufklärungszeit  bereits 
ganz  geläufig  gewesen  ist  Meinte  man  doch  diesen  Wunsch  mit  dem 
—  früher  schon  näher  erörterten  —  Grundsatz  in  Übereinstimmung 
bringen  zu  können,  die  Strafe  als  Reaktion  gegen  die  entscheidende 

nur  den  Enthusiasmas  des  Staatsbürgers  erhöhen  .  .  .  Man  verlasse  also  die 
Strafe  des  Zweikampfs  ganz.  Man  suche  Mittel  gegen  ihn,  wo  sein  Grand 
liegt:  im  Herzen  des  Menschen:*^;  ebd.  §  296,  8.338:  ^Bis  dahin  (nämlich  bis 
Eur  Einsetzang  von  Standesgerichten  zur  Aburteilung  von  Beleidigungen  [s.  oben 
S.  262,  Anm.  4])  kann  die  Gesetzgebung  zwar  den  mutwilligen  Beleidiger 
strafen,  aber  ohne  die  äußerste  Ungerechtigkeit  nie  den  beleidigten  Mann  von 
Ehre,  der  sein  kostbarstes  Gut  selbst  zu  schützen,  zu  erhalten,  zu  retten  sucht, 
das  ihm  die  Gesetzgebung  mit  aller  ihrer  Macht  nicht  erhalten  kann*^  (vgl.  dazu 
auch  Geib,  Lehrb.  I,  S.  335;  v.Liszt,  Lehrbuch,  §  93,  S.  327).  Von  Franzosen 
s.  noch  Brissot  de  Warville,  Discours  <Bibl.  phil.  T.  VI),  p.  98:  („Changez 
Topinion  .  .  .  sur  Thonneur,  mais  ne  la  punlssez  pas.  La  peine  est  in- 
suffissante  .  .  ,%  Theorie  I,  p.  325  („Qne  les  lois  cessent  donc  de  lutter 
contre  ce  fl6au,  le  fruit  de  Topinion  public!  Qu'on  cesse  d'armer  la  main 
du  bourreau  contre  ces  duellistes!  C'est  une  fausse  politique"  etc.)  und  Ber- 
nardi,  Discours  (Bibl.  phU.  T.  VIU),  p.  151. 

1)  Beccaria,  §  29,  S.  139, 140.  Im  weaentl.  übereinstimmend  Filangieri, 
System  IV  (3,  2),  Kap.  51,  S.  603ff.  u.  bes.  S.  608ff.  Dagegen  aber  ausdrücklich 
Servin,  Über  die  peinl.  Gesetzgbg.,  S.  174  u.  v.  Globig  u.  Huster,  Abhandig., 
S.  183/84.  ~  Claproth,  Entwurf,  S.  53,  54,  Anm.  a  wollte  für  den  Fall,  daß 
keiner  der  Duellanten  getötet  worden,  den  „Herausforderer**  allemal 
doppelt  so  hoch  als  den  Herausgeforderten  bestrafen.  Ebenso  der  Sache  nach 
Beseke,  Versuch,  S.  101.  Sehr  ikasuistisch  ist  Wieland,  Geist  II,  §  343ff., 
S.  142  ff. 

2)  S.  darüber  im  allgem.  Eohlrausch  in  d.  VergL  Darstellg.  III,  S.  197  u* 
Anm.  1  u.  S.  198,  der  aber  selber  (S.  128,  197 ff.)  dagegen  ist  Hervorzuheben 
bes.  Binding  in  der  Deutsch.  Jur.-Ztg.,  Jahrg.  H  (1897),  Nr.  1,  S.  2 ff.,  bes.  S.  4, 
Sp.  2  u.  Anm.  1  u.  S.  5,  Sp.  1  sowie  in  sm.  Vortrage  „Der  Zweikampf  und  das 
Gesetz**  (»—  „Neue  Zeit-  und  Streitfragen**,  herausgeg.  von  der  Gehe-Stiftung  zu 
Dresden,  Jahrg.  III,  Heft  2),  Dresden  1905,  bes.  S.  11  ff.;  femer  Landgerichtsrat 
Thomsen  in  der  Deutsch.  Jur.-Ztg.,  Jahrg.  1902,  S.  134,  Jahrg.  1906,  Sp.  193 ff.; 
Strantz,  ebds.  Jahrg.  1906,  Sp.  182/83:  Hamm,  ebds.  Jahrg.  1906,  Sp.  222 ff.  — 
Die  Anti-Duell-Liga  will  die  custodia  honesta  wenigstens  durch  Gefängnis  ersetzen 
<vgl.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  26,  S.  557/58). 


264  XIY.   GüKTHEB 

Triebfeder  des  Delikts  (hier:  das  übertriebene  Ehrgefühl)  erscheinen 
zn  lassen.  0  Nor  haben  sich  freilich  die  Einsichtigeren  schon  damals 
nicht  verhehlt,  daß  das  Gesetz  vergeblich  Ehrenstrafen  für  Hand- 
Inngen  androht,  die  in  der  öffentlichen  Meinung  nichts  Ent- 
ehrendes an  sich  tragen,  nnd  daß  demnach  anch  jener  vorgeschlagenen 
Behandlung  des  Zweikampfs  gegenüber  das  Volksempfinden  sich  wohl 
ablehnend  verhalten  würde. ^)  „Könnte  jemand",  so  meinte  z.  B. 
der  prinzipiell  jener  Forderung  nicht  abgeneigte  Michaelis,  ^das 
Kunststück  erfinden,  das  Duell,  zu  dem  bloß  ein  unrecht  verstandener 
Point  d'honneur  die  Triebfeder  ist,  mit  einer  (auch)  beidemPubliko 
geltenden  Infamie  zu  bestrafen^,  dann  —  aber  auch  eben  nur 
dann  —  „hätte  er  das  alle  Preisaufgaben  übersteigende  Problem  der 
gesetzgebenden  Klugheit . . .  gelöst^  ^)  Bis  heute  hat  man  jedoch  auf 
die  „Erfindung"  jenes  „Kunststücks^  noch  immer  vergeblich  ge- 
wartet 

Fragen  wir  nun,  welche  Rückwirkung  die  kriminalistische 
Aufklärungsliteratur  tatsächlich  auf  die  Gesetzgebung  der  Zeit 
ausgeübt  hat,  so  ist  zunächst  festzustellen,  daß  fast  keiner  der  größeren 
europäischen  Staaten  von  der  fortschrittlichen  Strömung  ganz  unbe- 
rührt geblieben  ist^),  —  und  auch  hierin  zeigt  sich  wieder  ihre  Inter- 


1)  S.  das  nähere  darüber  schon  oben  S.  183/84,  Anm.  4  u.  5.  Über  die  Gegner 
des  Grundsatzes  s.  anch  die  folgende  Anmerkg. 

2)  8.  z.  B.  Filangieri,  System  IV  (3,  2),  Kap.  31,  S.  68ff.  u.  bes,  S.  76ff.; 
Observations  snr  le  trait6  des  d^lits  et  des  peines  (Brissot,  Bibl.  phü.  T.  I),  p. 
315;  Gmelin,  Grundsätze,  §  29,  S.  65  u.  Anm.  t  (Ehrenstraf^i  „würden  mit 
Schaden  gegen  solche  Verbrechen  gebraucht  werden,  mit  welchen  man  nach  ge- 
meinem Vorurteile  keinen  Begriff  von  Unehre  verbinden  kann,  und  die 
gesetzliche  Ehrlosigkeit  würde  zuletzt  dem  Verbrecher  zur  Ehre  werden  .  .  . 
[Anm.  t]  Eben  daher  sind  die  entehrenden  Strafen  wider  den  [sie]  Duell  nicht 
immer  zu  raten  ...");  vgl.  ebds.  §  75,  S.  157;  s.  auch  Klein,  Fragmente,  S.  75 
u.V.  Soden,  Geist  I,  §  294,  S.  335. 

3)  Michaelis,  Mos.  Recht  (2.  Aufl.)  VI,  Vorrede,  S.  55  (s.  Günther,  Wieder- 
vergeltg.  II,  S.  221/22,  Anm.  600),  vgl.  auch  ebds.  S.  120,  121  u.  S.  117:  ,j:hre  und 
Schande  hängen  eigentlich  nicht  von  den  Gesetzen,  sondern  von  der  Meinung 
der  Menschen  ab  .  .  .  Man  verbiete  einmal  das  Duell  unter  der  Strafe,  daß  jeder 
Duellant  zur  Schande  zeitlebens  einen  Strick  um  den  Hals  tragen  soll,  so  wird 
mancher  sich  duellieren,  bloß  um  dies  Ordenszeicben  zu  erringen.*'  —  Eine  ähnliche 
Beurteilung  von  Seiten  des  Volks  würde  wohl  auch  der  Verwirklichung  des  von 
V.  Glob'.ig  u.  Huster,  Abhandig.,  S.  184  gemachten  Vorschlags  zu  Teil  werden, 
„diejenigen  zu  belohnen,  welche  den  angebotenen  Zweikampf  ausgeschlagen 
haben'S  der  sich  in  ähnlicher  Weise  auch  schon  bei  Claproth,  Entwurf  S.  54, 
Anm.  a  findet    Über  Gmelin  s.  schon  oben  S.  145,  Anm.  1. 

4)  Da,  wie  Löning  (i.  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  4,  S.  252)  bemerkt,  für  die  Auf- 
klärungsachriftsteller  „der  Erlaß  neuer  Strafgesetze  nach  den  hierfür  aufgestellten 


Die  Straf rechtsreform  im  Aufklärungszeitalter.  265 

nationalität.  Merkwürdig  ist  es  dabei  aber^  daß  gerade  derjenige 
Staat,  von  dem  die  ganze  Bewegung  einst  ihren  Ausgang  genommen, 
Frankreich,  erst  verhältnismäßig  so  spät,  nämlich  kurz  vor  und 
während  der  Revolution  0  dazu  geschritten  ist,  die  Forderungen  seiner 
großen  Philosophen  und  Philanthropen  in  die  Tat  umzusetzen  ^),  während 
lange  zuvor  in  dem  uns  heute  so  konservativ  erscheinenden  Rußland 
schon  Katharina  IL  —  in  ihrer  berühmten  „Instruktion  für  die  zur  Ver- 
fertigung des  Entwurfs  zu  einem  neuen  Gesetzbuche  verordnete  Kom- 
mission^ 3)  —  den  Versuch   gemacht  hatte,  die  Gedanken  Montes- 


Rezepten  das  Ziel  aller  Bestrebungen  und  Bemühungen*'  bildete,  so  ist  es  wohl 
begreiflich,  daß  die  Verfasser  es  für  einen  „überschwänglich  beglückenden  Lohn^ 
hielten  (s.  v.  S  öden,  Geist  der  peinl.  Gesetzgbg.,  Vorrede  zur  2.  Aufl.,  S.  8),  wenn 
ihre  Schriften  —  wie  es  tatsächlich  öfter  der  Fall  gewesen  (vgl.  darüber  außer 
V.Soden,  a.  a.  0.  S.  2  auch  Graebe,  Reformation  {  12,  S.  23,  Hetzel,  Die 
Todesstrafe  usw.,  S.  162,  v.  0  verbeck ,  a.  a.  0.  S.  126  sowie  das  unten  S.  270, 
Anm.  3  über  Marats  Plan  de  legisl.  crim.  Bemerkte)  —  „in  die  Kabinette  der 
Großen*'  eindrangen,  da  sie  hierdurch  mehr  Gutes  wirken  konnten  „als  die  tiefsten 
spekulativen  Untersuchungen,  die  in  den  Studierstuben  der  Gelehrten  verborgen 
geblieben  wären"  (Mal blank,  Geschichte  der  P,G.-0.,  §  52,  S.  236).  „Die  Ge- 
setzgeber" aber  priesen  sich  ihrerseits  „glücklich,  die  Ehre  zu  haben,  daß  sie  die 
wissenschaftlichen  Ansichten  ihrer  Gelehrten  durch  Gesetze  verewigen  konnten^ 
um  dadurch  den  Ruhm  philosophischer  Regenten  einzutauschen".  (G.  J.A.Mi tter- 
maier,  Über  die  Grundfehler  der  Behandlung  des  Kriminal  rechts  in  Lehr-  und 
Strafgesetzbüchern,  Bonn  1819,  S.  9.)  —  Auf  einzelne  gesetzliche  Bestimmungen  aus 
dieser  Zeit  ist  schon  im  Vorhergehenden  gelegentlich  hingewiesen  worden.  Vgl. 
bes.  S.  165,  Anm.  1  a.  E.,  S.  18S,  Anm.  2  a.  £.,  S.  234,  Anm.  4,  S.  251,  Anm.  4 
a.  E.,  S.  252,  Anm.  1,  S.  258,  Anm.  1  u.  S.  259,  Anm.  2. 

1)  S.  V.  Overbeck,  a.  a.  0.  S.  127.  —  über  den  sehr  hervorragend  ge- 
wesenen „Anteil  der  französischen  Aufklärungsliteratur  an  der  Revolution"  über- 
haupt s.  den  gleichlautenden  Aufsatz  von  P.  Sakmann  in  der  „Beilage  zur 
(Münchener)  Allgem.  Zeitung**,  Jahrg.  1902,  Nr.  144  (vom  27.  Juni),  S.  561  ff.;  vgl. 
auch  Günther  im  G.-S.  61,  S.  170 ff.  —  Bezügl.  der  Meinungsverschiedenheiten 
über  den  Einfluß  der  französischen  Aufklärungsschriftsteller  auf  die  „D6claration 
des  droits  de  Fhomme  et  du  citoyen"  vom  26.  Juli  1789  s.  näheres  bei  Egon 
Zweig,  Zur  Verfassungsgeschichte  der  französischen  Revolution,  in  der  „Beilage 
zur  Allgem.  Zeitung**,  Jahrg.  1905,  Nr.  121,  S.  353  ff.  u.  Nr.  122,  S.  363ff. 

2)  Zur  Literatur  über  die  Strafgesetzgebung  der  französichen  Revolutionszeit 
8.  Günther  im  G.-S.  61,  S.  161/62,  Anm.  1  u.  S.  192/93,  Anm.  8  vbd.  mit  Wieder- 
vergeltung, III  1,  S.  32,  Anm.  40  u.  S.  113/14,  Anm.  250.  Hervorzuheben:  Ed. 
Seligmann,  La  justice  en  France  pendant  la  r^volution,  Paris  1901  (das.  p.  559ff. 
„Bibliographie^') ;  zu  vgl.  auch  Hertz,  Voltaire^  Kap.  18,  S.  503 ff. 

3)  Von  dieser  Instruktion,  datiert  vom  30.  Juli  1767,  die  Roschor  in 
seiner  „Geschichte  der  Nationalökonomik  in  Deutschland^  (München  1874),  S.  793 
eine  „aphoristische  Enzyklopädie  der  Rechts-  und  Staatswissenschaft"  genannt 
hat,  findet  sich  ein  Abdruck  (der  franz.  Übersetzung)  in  Brissots  Biblioth^que 
philos.  T.  III,  p.  34  ff;    Auszüge  daraus  nach  der  deutschen  Übersetzung  (Riga 


266  XIV.  GÜKTHKB 

gnieuB  und  Beocarias  ^in  die  Spmche  des  Geaetzgeben  za  Ober- 
tragen^  %  ja  diese  Gedanken  in  dem  kleinen  GroBherzogtiun  Tos- 
kana (durch  Peter  Leopold  „den  Weisen'^)^)  und  noch  firuher  in 
PreuSen  (durch  Friedrich  den  Großen)  zn  wirklicher  Dorchf&h- 
rung  gelangt  waren.  Ist  es  doch  eine  der  ersten  Begiemngshand- 
Inngen  des  jungen  Königs  gewesen,  die  Folter,  die  er  in  seiner 
,,Dissertation^  f&r  einen  „ebenso  gransamen,  wie  nnn&tzen  Brauch'' 
erkUrte '),  in  seinen  Landen  so  gut  wie  völlig  zu  beseitigen  ^),  woru 
sich  dann  eine  fast  ununterbrochene  Reihe  fortschrittlicher,  tou  frei* 


IL  Mitfto  1768)  bei  Flathe-Hommel ,  ÜbeneCznng  von  Beccaria,  Voirede, 
8.  Xff^  Bergk,  Überaetzang  von  Beocaria  I,  S.  38 ff.  und  Böhmer,  Haodb. 
der  lit  des  Krimmalrechts,  i  67,  Nr.  1056,  S.  424  ff.  Zur  Literatur  s.  äacfa  ^ 
Angaben  bei  G&nther,  Wiedervergeltung  II,  &  170,  Anm.  388  n.  daza  jeHt 
noch  Masmonteil,  La  l^gial.  crim.,  p.  116  n.  EsBelborn,  Üben.  vonBeccaiia, 
Einltg.,  S.  40  Q.  Anm.** 

1)  So:  V.  Liszt,  Lehrbach,  §  7,  S.  36  (betr.  Montesqaieua  Esprit  da 
lois;  vgl.  auch  schon  oben  S.  172,  Anm.  1  n.  S.  174,  Anm«  8),  womit  (betr. 
Becoaria)  za  verbinden  EsBelborn,  a.  a.  0.  S.  40  u.  Pessina,  II  diritto 
pönale  in  Italia  etc,  p.  18.  —  Über  die  tatsächliche  Nichtvollziehang  der  Todet- 
strafe  in  Rußland  unter  der  Kaiserin  Elisabeth  s.  unten  S.  278,  Anm.  2. 

2)  Zur  Literatur  fiber  das-toskanische  Strafgesetzbuch  von  1786  (in  deatsch. 
Übersetzung  abgedr.  in  Schlözers  Staats- Anzeigen,  Bd.  X,  Heft  39,  S.  384 ff., 
393  ff.)  8.  Böhmer,  Handbuch,  §68,  S.  432  ff.;  G&nther,  Wiederveigeltnng U, 
S.  26ff.,  Anm.  26  u.  8.  86,  Anm.  185,86  (über  die  Einwiikung  der  Ideen  Beo- 
carias auf  das  Gesetzbuch);  Pessina,  a.  a.  0.  p.  1  u.  21  ff.  Das  Gesetzbuch 
hat  auch  Einfluß  auf  deutsche  Strafgesetzentwiirfe  ausgeübt,  s.  z.  B.  anf 
den  von  K.  v.  Dalberg  vom  Jahre  1792;  s.  das.  Einleitung,  S.  4.  —  Über  die 
Abschaffung  der  Todesstrafe  in  Toskana  s.  noch  unten  S.  278,  Anm.  2. 

3)  8.  Dissertation  (Oeuvres  T.  IX),  p.  28:  „un  nsage  honteux  k  des 
chr^tiens  et  ä  des  peuples  polioös, .  .  .  aussi  cruel  qu'inutile*;  vgl.  Willen- 
bücher, a.  a.  0.  S.  49  u.  Anm.  5.  —  Eine  kurze  Zusammenstellung  der  An- 
sichten der  übrigen  wichtigsten  Aufklärungsschriftsteller  über  die  Folter  (auf 
die  hier  grundsätzlich  nicht  naher  eingegangen  werden  soll)  hat  anlangst 
Hans  Schneickert  in  diesem  „Archiv'',  Bd.  27  (1907),  S.  343/44  gegeben. 

4)  S.  näheres  hierüber  (Kab.-Ordre  vom  3.  Juni  1740  und  spätere  Eigin- 
zungen)  bes.  bei  Koser,  Die  Abschaffung  der  Tortur  durch  Friedrich  den 
Großen,  in  den  „Forschungen  zur  brandenb.  u.  preuß.  Geschichte*^,  Bd.  VI  (ISSl), 
8. 233ff.  u.  Holtze  ebds.  Bd.  VII,  S.  128  ff.,  133  ff.  sowie  in  dessen  Schrift  «Die 
Strafrechtspflege  unter  Friedrich  Wilhelm  I.*^  (Beiträge  zur  brtndenb.-preoß. 
Rechtsgesch.  III),  Beriin  1894,  Exkure  Nr.  20,  8.  71  ff.  Zu  vgl.  etwa  ferner 
noch  Hälschner,  Geschichte,  S.  147;  Berner,  Die  Strafgesetzgebung  m 
Deutschland  von  1751  bis  zur  Gegenwart,  Leipz.  1867,  §  40,  S.  32;  Stölzel, 
Brandenb. -Preußens  Rechtsverwaltung  und  Rechtsverfassung,  Bd.  11  (1S8S), 
S.  141ff.;  Landsberg,  Geschichte  III  1,  S.  222;  Willenbücher,  a.  a.  0. 
S.  48 ff.,  51  ff.  u.  Anm.  1  (Literatur).  —  Über  Abschaffung  der  Folter  in  anderen 
deutschen  Staaten  s.  u.  a.  Malblank,  Geschichte  der  P.  G.-O.,  §  53,  S.  243ff. 


Die  Straf  rech  tsrefoim  im  Anfklärungszeitalter.  267 

sinnigem  Qeiste  getragener  Gelegenheitagesetze  angeschlossen  hat.!) 
Ziemlich  lange  freilich  hat  es  dagegen  anch  in  Preaßen  gedauert,  bis 
eine  neae,  vom  Hauche  der  Aufklärung  berührte  Geaamtkodi- 
fikation  des  Strafrech ts  zustande  gekommen.  Sie  ist  enthalten  im 
20.  Titel  des  IL  Teils  des  sog.  ^^Allgemeinen  Landrechts  ffir  die 
preußischen  Staaten'^,  jenes  großartigen,  allen  Oebieten  des  Rechts 
gewidmeten  Gesetxeswerkes ,  das  schon  unter  Friedrich  dem  Großen 
begonnen,  jedoch  erst  unter  seinem  Nachfolger  Friedrich  Wilhelm  IL 
im  Jahre  1794  zum  Abschlüsse  gebracht  isL^)  Schon  sieben  Jahre 
früher  (1787)  hatte  in  Österreich  Josef  IL,  des  preußischen  Königs 
Gesinnungsgenosse,  ein  —  jetzt  meist  nach  ihm  als  „ Josef ina^  be- 
zeichnetes —  Strafgesetzbuch  erlassen '),  das  nach  Form  wie  Inhalt 
den  denkbar  stärksten  Gegensatz  zu  der  bisherigen  veralteten,  unter 


€.  G.  V.Wächter,  Beilagen  zu  Vorlesungen  fiber  d.  deutsch.  Strafr.,  Leipz.  1881, 
S.  140;  Franz  Helbing,  Die  Tortur  (Gesch.  der  Folter  im  Kriminalverfahren 
jiller  Völker  und  Zeiten),  Berlin  (ohne  Jahreszahl),  Bd.  IT,  Kap.  XIII,  S.  216; 
Schneie kert,  a.a.O.,  8. 345.  Insbes.  fiber  Österreich  si  auch  noch:  Finger, 
österreichisches  Strafrecht,  Bd.  I  (2.  Aufl.,  Berl.  1902),  S.  54  u.  Anm.  83;  Essel- 
born,  Übers,  v.  Beccaria,  Einltg.,  S.  50  u.  Anm.**;  Pessina,  II  diritto  penale, 
p.  18;  über  Toskana  (G.-B.  von  1786,  Einltg.  u.  Art  33)  s.  Günther,  Wieder- 
vergltg.  n  S.  26,  Anm.  26;  über  andere  nicht-deutsche  Staaten:  Malblank, 
«.a.O.  §  52,8.241;  Hei  hing,  a.a.O.  S.  216;  über  die  Instruktion  Katharinas  U. 
von  Ruüland  v.  1767  (Anm.  113):  Böhmer,  Handb.,  S.  424/25. 

1)  S.  darüber  Willenbücher,  a.  a.  0.  8.  3,  14 ff.,  35 ff.,  47  ff.,  63;  vgl. 
auch  Malblank,  a.  a.  0.  {  52,  S.  237  ff ;  Graebe,  Über  die  Reformation,  §  8, 
S  14  ff.;  (V.Arnim),  Bruchstücke  über  Verbrechen  und  Strafen  usw.,  Frankf.  u. 
Leipz.  1803,  Bd.  I,  8.  Uff.;  Ab  egg,  Versuch  einer  Gesch.  der  Strafgesetzgbg. 
und  des  Strafrechts  der  brandenb.-preuß.  Lande,  Berlin  1835,  §  26 ff.,  S.  133  ff.; 
flälschner ,  Geschichte,  {  20,  S.  172  ff.;  Berner,  Strafgesetzgbg.,  §  40,  8.  32  ff.; 
Stölzel,  a.a.O.  II,  8.  229  ff.;  derselbe,  Suarez,  ein  Zeitbild  usw.,  Berl.  1885, 
8.  220  ff.;  V.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  11,  S.  140. 

2)  Zur  Literatur  über  die  Entstehungsgeschichte  und  den  Inhalt  des  preuß. 
A.L.-R.,  dessen  strafrechtlicher  Teil  ziemlich  allgemein  als  der  schwächste  gilt 
<vgl.  o.  a.  auch  v.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  II,  S.  147),  s.  die  Angaben  bei  Günther, 
Wiedervergeltg.  III  1,  8.  19,  Anm.  3  a.  E.,  S.  23  ff.,  Anm.  15  ff.  u.  bes.  17, 
S.  61,  Anm.  118  ff.;  vgl.  auch  noch  Landsberg,  Geschichte  III  1,  8.  465  ff. 

3)  S.  über  die  österreichische  Josef ina  (übrigens  „das  erste  aus- 
schließlich dem  Strafrecht  gewidmete  Gesetzbuch'*  [H.  Meyer- Allfeld,  Lehr- 
buch, S.  66])  die  Literaturangaben  bei  Günther,  Wiedervergeltg.  III 1,  S.  26ff. 
u.  Anm.  28  ff.,  8.  86  u.  Anm.  187  ff.  und  dazu  noch:  Landsberg,  Geschichte 
HI  1,  S.  520/21;  Finger,  Österreich.  Strafr.  I  (2.  Aufl.),  S.  54  f f .  n.  Lehrbuch 
des  deutsch.  Strafrechts  I  (1904),  8.  56,  57;  Hdgei,  Geschichte  des  österrei- 
-chischen  Strafrechts,  HeftI,  Wien  1904,  Kap.  22,  23,  S.  7  8  ff.  u.  82  ff.  Über  das 
nahe  verwandte  8t.G.B*  f.  Westgalizien  von  1796  s.  m.  Wiedervergeltg.  in  1, 
b.  28,  29,  Anm.  33  u.  S.  92,  93,  Anm.  206. 


268  XIV.  Günther 

Maria  Theresia  erlassenen  Kriminal-Eonstitutionydersog.  ^^Theresiana'^  ^% 
bildete.  ^) 

Diese  Gesetzbücher  der  zwei  größten  Glieder  des  damaligen 
deutschen  Reichs^)  verdienen  nun  noch  eine  etwas  nähere  Betrach- 
tung schon  deshalb,  weil  sie  beide  auf  die  Rechtsentwicklnng  der 
Folgezeit  einen  wesentlichen  Einfluß  geübt  haben.  *)  Die  Josefina  ist 
zwar  nur  wenige  Jahre  in  offizieller  Geltung  gewesen,  aber  das  Straf- 
gesetzbuch von  1803,  das  an  ihre  Stelle  trat,  ist  —  von  einigen  ein- 
schneidenden  Änderungen  abgesehen  —  eigentlich  nur  eine  erweiterte 
Auflage  davon  und  dieses  dann  wiederum  die  unmittelbare  Quelle 
des  Strafgesetzbuchs  vom  27.  Mai  1852  gewesen^),  das  trotz  seiner 

1)  S.  zu  der  Llteraturza&ammenstelluDg  betr.  die  ThereBiana  bei  Günther, 
Wiedervergeltg.  EI  1,  S.  20  ff.  u.  Anm.  8  ff.  (bes.  Anm.  10)  u.  S.  43  ff.  u.  die 
Anmerkgn.  jetzt  bes.  Doch:  E.  v.  Kwiatkowsky,  Die  Constitutio  criminali» 
Theresiana^  ein  Beitrag  zur  Theresian.  Reichs-  und  Rechtsgeschichte,  Innsbr.  1904; 
vgl.  auch  Landsberg,  Gesch.  III  1,  S.  520;  Finger,  Österreich.  Strafr.  I, 
S.  48  ff.  u.  Lehrb.  d.  deutsch.  Strafr.  I,  S.  55;  Ho  gel,  a.  a.  0. 1,  Kap.  20,  S.65ff. 

2)  V.  L i  szt ,  Meineid  und  falsches  Zeugnis,  S.  128;  S  t  o  o  ß  in  d.  Deutsch. 
Jur.-Ztg.,  Jahr.  VIII  (1903),  Nr.  24,  S.  563,  Sp.  2.  A.  M.  anscheinend  Wacher- 
feld ,  Die  Begriffe  von  Mord  und  Totschlag  in  der  Gresetzgebg.  seit  der  Mitte 
des  18.  Jahrhrds.,  Marburg  1890,  S.  39  (welcher  meint,  die  Josefina  bedeute 
„keinen  Bruch  mit  der  Vergangonheif^).  —  Übrigens  ist  die  Theresiana  in  neuerer 
Zeit  viel  gunstiger  beuiteilt  worden  als  von  den  älteren  Schriftstellern.  S.  dar- 
über Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  21,  Anm.  11  u.  dazu  jetzt  noch  v. 
K  w  i  a  t  k  o  w  s  k  y ,  a.  a.  0.  S.  137  n.  144. 

3)  In  allen  anderen  deutschen  Staaten  ist  man  damals  —  abgesehen  von  dem 
kleinen  Fürstbistum  Bamberg,  wo  der  (im  wes.  sich  dem  Entwürfe  Quistorps 
anschließende)  Pfla umsehe  Strafgesetzentwurf  von  1793  (vgl.  oben  S.  131, 
Anm.  3  u.  8.  134,  Anm.  4)  zehn  Jahre  (von  1795^1805)  in  gesetzlicher  Geltung 
gewesen  (vgl.  Günt  her,  Wiedervergeltg.  IUI,  S.  84,  85,  Anm.  182  u. 
J.  Heimberger,  Die  Teilnahme  usw.,  S.  182)  —  nicht  über  Entwürfe  hinaus- 
gekommen. Wegen  der  unerfreulichen  politischen  Verhältnisse  des  damaligen 
römisch-deutschen  Kaiserreichs,  das  „die  große  Aufgabe  (der  Schaffung  eines 
neuen,  gemeinverständlichen  und  zeitgemäßen  Strafrechts)  nicht  einmal  zu  stellen 
verstanden  hatte"  (v.  Li  szt,  Strafr.  Aufs.  II,  S.  137),  konnten  die  vereinzelten 
Wünsche,  die  auf  „ein  allgemeines  neues  und  dem  Geist  des  Zeitalters  an- 
gepaßtes peinliches  Nationalgesetzbuch"  für  das  ganze  Reich  (s. 
•V.  Soden,  Geist  usw.,  2.  Aufl.,  Vorwort,  S.  5)  gerichtet  gewesen  waren  (vgl. 
Böhmer,  Handlung,  S.  269/70  unter  Nr.  639),  keine  Erfüllung  finden.  S.  hierzu 
auch  noch  Graebe,  Reformation,  §  21,  S.  36,  37  u.  Ab  egg  im  G. -S.  15 
(1863),  S.  134. 

4)  Die  außerdeutsche  Gesetzgebung  des  18.  Jahrhunderts  (vgl.  oben  S.  265, 
Anm.  2  ff.)  ist ,  um  den  Stoff  etwas  zu  entlasten ,  im  folgenden  grundsätzlich 
nur  ausnahmsweise  zum  Vergleiche  herangezogen  woi*den. 

5)  Vgl,  V.  L  i  s  z  t ,  Lehrbuch,  §  7,  S.  36 ;  S  t  o  o  ß  in  der  Deutsch.  Jur.-Ztg., 
Jahrg.  VIII  (1903),  S.  563,   Sp.  2.     Über  das  nationale  Element  im  StG.B.  von 


Die  Straf rechtsreform  im  AnfklSrungszeitalter.  269 

anerkannten  Reformbedürftigkeit  nnd  den  zahlreichen  Versuchen  zn 
seiner  Modernisierung  offiziell  noch  immer  in  Geltung  ist.  Übrigens 
hat  die  Josefina  in  einzelnen  Punkten  auch  die  französische  (4e- 
setzgebung  und  dadurch  indirekt  wieder  das  preußische  und  das  heu- 
tige deutsche  Strafrecht  beeinflußt  ^  Von  viel  größerer  Bedeutung 
für  das  neue  deutsche  Reich  aber  ist  natürlich  der  kriminalistische 
Teil  des  preußischen  Landrechts  gewesen,  der  —  wenn  auch  durch 
manche  spätere  Verordnungen  und  Kabinettsordres  ergänzt  und  ver- 
ändert —  im  wesentlichen  doch  über  ein  halbes  Jahrhundert  lang 
die  Praxis  der  Gerichte  beherrscht  und  —  neben  dem  französischen 
Code  pönal  —  seine  Einwirkung  auch  bei  der  Schöpfung  des  neuen 
preußischen  Gesetzbuchs  von  1851  geübt  hat,  das  bekanntlich  wiederum 
als  die  Hauptquelle  des  jetzt  geltendenden  Reichsstrafgesetzbuchs  zu 
betrachten  ist.  Jedoch  auch  ganz  abgesehen  von  diesem  Verhältnisse 
zu  dem  Rechte  der  Neuzeit  ist  sowohl  die  Josefina  als  das  Landrecht, 
namentlich  auch  ein  Vergleich  beider  Gesetze  miteinander,  von  all- 
gemeinem rechtshistorischen  Interesse.  Obwohl  sie  nämlich  völlig 
unabhängig  von  einander  zustande  gekommen  sind  2),  zeigen  sie  doch 
bemerkenswerte  Ähnlichkeiten,  denen  dann  freilich  auch  wieder  sehr 
viele  Verschiedenheiten  in  Haupt-  und  Nebenpunkten  gegenüberstehen. 
Im  großen  ganzen  können  zunächst  beide  Strafgesetzbücher  als 
typische  Erzeugnisse  des  Aufklärungszeitalters,insbesonders 
des  sog.  aufgeklärten  Despotismus  bezeichnet  werden.^)    Weist 


1852  8.  Gr  088  in  8.  Archiv,  Bd.  26,  8.  67.  —  Über  das  Verhältnis  des  St.G.Bs. 
von  1803  zur  Josefina  s.  Günther,  Wiedervergeitg.  III 1,  S.29ff.|  Anm.  34ff. 
n.  bes.  S.  31,  Anm.  36,  vgl.  auch  S.  92  ff. 

1)  S.  das  nähere  (insbes.  über  die  Definition  dos  Versuchs,  die  zunächst 
auf  das  französische  Gesetz  vom  22.  Prairial  des  Jahres  IV  („commencement 
d'ex^cution*^],  dann  auch  auf  den  Code  pänal  von  1810  eingewirkt  hat  und  daraus 
in  das  deutsche  Straf  recht  übergegangen  ist)  bei  Eisenmann  in  d.  Z.  f.  d. 
ges.  Str.-W.  13,  S.  518,  523 ff.  vbd.  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §7,  S.  36  a.  E.,  §46, 
S.  203;  vgl.  auch  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  28,  Anm.  29  a.  E., 
Högel,  a.  a.  0.  I,  S.  211  und  neuestens  Stooß,  Z.  f.  d.  g.  Str.-W.  28,  S.  27  ff. 
(s.  unten  S.  291). 

2)  Vgl.  Hälschner,  Geschichte,  S.  215,  Anm.  12. 

3)  Ober  die  Josefina  s.  v.  Liszt,  Meineid  und  falsches  Zeugnis,  S.  129 
(^wie  kein  anderes  Gesetzbuch  ...  erfüllt  von  dem  Geiste  der  Auf- 
klärungsperiode"),  auch  Lehrbuch,  S.  36;  Hiller  in  der  Strafgesetzgbg. 
der  Gegenwart  in  rechtsvergl.  Darstellg.  I,  S.  116  (^ein  typisches  Werk  der 
Aufklärungsperiode*^);  vgl.  auch  noch  die  Angaben  bei  Günther,  Wieder- 
vergeltg. III  1,  S.  25,  Anm.  25.  Ober  das  p  r  e  u  ß.  A.L.-R.  s.  u.  a.  Hälschner, 
Geschichte,  S.  193  u.  227;  Loning  in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  3,  S.  276; 
V.  Liszt,  Lehrbuch,  S.  37   („ein  bezeichnender  Ausdruck  der  den  aufge- 


270  XIV.  G9»THBR 

doch  das  österreichisohe  Gesetz  schon  durch  seine  herkömmliche  Be- 
zeichnung auf  den  Namen  des  freisinnigen  Monarchen  hin,  der  nicht 
nur  für  ^Anfklämng''^  ^^religiöse  Duldung^'  und  „Gleichheit  vor  dem 
Oesetse'^  sehwftrmte  0,  sondern  tatsächlich  auch  ^wiederholt  persön- 
lich zielbewußt  und  tonangebend^  in  die  Gesetzgebungsarbeit  em- 
gegriffoi  hat');  konnte  sich  doch  femer  der  Franzose  Marat  auf 
,,die  sttfle  Genugtuung^  berufen,  daB  mdnere  Grundsitze  seines 
^Plan  de  lögislation  criminelle''  in  dieser  Kodifikation  Aufnahme  ge- 
funden hätten'),  und  ist  doch  —  neben  dem  Hofrat  Franz  Georg 
Edlen  y.  Keeß,  dem  Urheber  des  technisch  -  juristischen  InhaHs  des 
Werkes  —  auch  Josef  y.  Sonnenfels,  wenngleich  nur  für  die 
äufiere,  stilistische  Fassung,  Mitarbeiter  gewesen.^)  Für  das  Straf* 
recht  des  preußischen  allgemeinen  Landrechts  aber  ist  hauptsäehlicb 
Ernst  Ferdinand  Klein  tätig  gewesen,  den  wir  im  Laufe  dieser  Ab- 
handlung bereits  mehrfach  als  Anhänger  und  Förderer  der  kriminal- 
politischen Brformbeweguug  kennen  gelernt  haben.  ^)    Auf   ihn  ist 

klärten  Polizeistaat  b^emcbendea  Ansiofateii'') ;  Edwin  Banni- 
garten,  Das  Recht  der  Persönlichkeit  uaw.,  Tübing^  19QT  (vgl.  oben  S.  192, 
Arno.'*'),  S.  57  („das  klassische  Gesetzeswerk  des  aufgeklarten  Des- 
pot i  s  m  u  s^). 

1)  Bern  er,  Die  Strafgesetzgebung,  §  22,  8.  18;  vgl.  Rulf,  Kaiser 
Josef  II,  der  Reformator  des  Strafrechts,  Prag  1882. 

2)  Högel,  Geeehichte  I,  S.  105. 

3)  S.  Vonede  zur  2.  Ausgabe  des  „Plan  de  l^gislation  crimineUe**:  vgL 
Böhmer,  Handb.,  S.  211  u.  näheres  noch  bei  Günther  im  G.  a.  S.  61, 
8.  192,  Anm.  1.  Auch  die  Schrift  Beccarias,  zu  dem  Joa^II  auch  persön- 
liehe  Beziehungen  gehabt,  ist  auf  den  Inhalt  des  österreichischen  St-G.^Bs.  Ton 
1787  in  manchen  Punkten  maßgebend  gewesen.  S.  näheres  bei  Günther, 
Wiedervergeltg.  III  1,  S.  86,  Anm.  187  u.  S.  89,  90,  Anm.  197.  ^  Interessant 
ist  Beccarias  Gutachten  über  die  sog.  «politisdien  Verbreoben*',  d.  b.  die 
Polizeiübertretungen  in  der  Josefina  (^Brevi  riflessioni  intoxno  al  Codioe  generale 
sopra  i  delitti  e  pene,  perciö  che  rignarda  i  delitti  politici'')  vom  Jahre  1792,  Ab- 
druck in  deutscher  Übersetzg.  jetzt  bei  fisselborn,  a.  a.  0.,  Anhang  1, 
S.  178  ff.;  Tgl.  auch  ebds.  Einleitung,  S.  52. 

4)  S.  nähere»  darüber  bei  H  ö  g  e  1 ,  a.  a.  0.  I,  S.  79,  81,  108  vbd.  mit 
S.  188  u.  1 92 ;  über  die  ausgedehntere  Mitarbeiterschaft  von  v.  Sonnenfeis 
am  St-G.-B.  von  1803  s.  Högel,  S.  87,  88  u.  bes.  108;  ygl  auch  Günther, 
Wiedervergeltg.  HI  1,  8.  95,  96,  Anm.  212.  —  Über  Fr.  G.  v.  Keeß,  zuletzt 
nofrat  der  obersten  Justizstelle,  s.  H  ögel,  a.  a.  0.  8.  79  u.  106;  vgl.  anch 
Landsberg,  Geschichte  lU  1,  8.  521. 

5)  Vgl.  u.  a.  oben  8.  130,  Anm.  3,  8.  131,  Anm.  3  v.  4  o.  S.  158,  Anm.  3. 
Über  Kl  eins  Verdienste  um  das  Landreeht  s.  u.  a.  v.  Lisat,  Stra&eoktUche 
Aufsätze  n,    8.    143ff.;    8t51zel,   8ttarez,    8.    221ff.   u.  320ff.:   Lands- 
borg,  Geschichte  III  1,   S.  470 ff.;   weitere  Angaben  noch  bei  Oialher, 
Wiedervergeltg.  HI  1,  8.  23,  Anm.  17;   ebds.  auch  über  die  andern  Kitarbeiter 


Die  Straf rechtsreform  im  Aofklärangszeitalter.  271 

jedenfalls  wohl  aach  die  starke  Berücksichtigung  der  gekrönten  Preis- 
schrift von  y.  Globig  nnd  Hnster  zurückznffihren,  die  an  mehreren 
Stellen  des  strafrechtlichen  Teils  des  Landrechts  unverkennbar  her< 
vortritt.  0  Jedoch  war  Klein  immerhin  noch  zu  sehr  positiver  Jurist^ 
um  zuzugeben,  dafi  das  preußische  Straf  recht  auf  Kosten  der  neuen 
Ideen  völlig  von  seiner  bisherigen  geschichtlichen  Entwicklung  gelöst 
wäre  2);  er  hat  daher  neben  der  Aufklärungsliteratur  im  e.  S.  auch 
die  kriminalistischen  Kompendien  der  noch  mehr  konservativen  Juristen 
(wie  z.  B.  V.  Böhmer,  Meister,  Paalzow)  fleißig  zu  Kate  ge- 
zogen'), und  ganz  besonders  gilt  dies  von  den  „Institutiones  juris 
criminalis'^  des  langjährigen  „Kanzlars^  der  Universität  Gießen,  des 
Professors  Jobann  Christoph  Koch. 4)  Übrigens  ist  hieraus  kaum 
ein  Nachteil  für  das  Landrecht  erwachsen,  es  wurde  vielmehr  gerade 
dadurch  vor  jenem  allzu  radikalen  Bruche  mit  der  Ye^angenheit 
bewahrt,  der  dem  österreichischen  Gesetzbuch  —  in  seiner  ursprung- 
liehen Fassung  —  ein  längeres  Bestehen  unmöglich  gemacht  hat^). 


(insbes.  v.  Gar m er  u.  Saarez);  vgl.  daza  aach  Landsberg,  a.  a.  0. 
8.  468  ff.  n.  Noten  S.  298.  Über  die  Fehde  beaug).  des  A.L.R8.  zwischen  Klein 
und  Goethes  Jugendfreund  und  Schwager  Joh.  G.  Schlosser  s.  Stölzel , 
Suarez,  S.  270 ff.;  v.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  I,  S.  144;  Landsberg,  Gesch. 
m  1,  S.  471/72  und  Noten  S.  299. 

1)  S.  darüber  u.  a.  bes.  Hälschner,  Geschichte,  S.  198/99:  „Daß  (die 
Preisschrift  von  v.  G 1  o  b  i  g  und  H  u  s  t  e  r)  es  war,  welche  auf  die  . . .  Tendenz 
der  preußischen  Strafgesetzgebung  einen  überwiegenden  Einfluß  ausübte,  kann 
um  so  weniger  bezweifelt  werden,  als  G 1  o  b  i  g  für  seine  Beurteilung  des  Ent- 
wurfs desselben  (s.  darüber  Böhmer,  Handbuch,  S.  106,  Nr.  312)  mit  dem 
Preise  gekrönt  wurde.**  Vgl.  auch  v.  Liszt,  Lehrbuch,  S.  87  u.  Strafrechtl. 
Aufs.  II,  S.  143;  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  24,  Anm.  18  a.  E.  (mit 
weiteren  Angaben);  für  die  Einzelheiten  s.  noch  Hälschner,  Geschichte» 
S.  201, 203. 204, 220.  Über  den  Einfluß  der  preisgekrönten  Kritik  über  den  Entwurf 
des  A.L.-R.  von  dem  Königsberger  Magistratsdiiektor  Th.  v.  H  i  p  p  e  1  (s.  B  ö  h  • 
mer,  a.  a.  0.  S.  106  unter  Nr.  311)  vgl.  Ab  egg,  Versuch  usw.,  S.  181  u. 
y.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  11,  S.  143. 

2)  Vgl.  Hälschner,  Geschichte,  S.  208. 

8)  S.  Hälschner,  a.  a.  0.  S.  213;  v.  Wächter,  Beilagen  zu  Vor- 
lesungen, S.  143. 

4)  S.  Hälsehne.r,  a.  a,  0.  S.  213  vbd.  mit  S.  214,  218,  Anm.  15,  219, 
Anm.  16,  222,  Anm.  24,  223  u.  Anm.  28,  226;  v.  Wach  t er,  Beilagea,  S.  143; 
Landsberg,  Geschichte  III  1,  S.  473.  —  Ausführlicheres  über  Koch 
(1782-^1808)  und  seine  „Institutiones  juris  criminaUs'*  (1.  Ausg.  1758, 9.  Ausg.  1791) 
bei  Landsberg,  Gesch.  III  1,  S.  310—314  u.  Noten,  S.  208—211. 

5)  S.  etwa  Hälschner,  Geschichte,  S.  193 ff.  u.  227 ff.  (über  das  A.L.-R.) 
vbd.  mit  Henke,  Geschichte  des  peinl.  Rechts  II,  S.  40ff.  n.  Stooß  in  d. 
Deutsch.  Jur.-Ztg.  VIII,  Nr.  24,  S.  563,  Sp.  2  (über  die  Josefina). 


272  XIV.  Günther 

Beide  Gesetzes  werke  sind  von  dem  Streben  nach  Volkstümlich- 
keit beseelt*),  aber  ganz  verschieden  erscheint  der  von  ihnen  ein- 
geschlagene Weg.  Die  Josefina  hat  nämlich  dabei  das  Hanptgevncht 
anf  eine  möglichst  kurze,  knappe  Fassung  ihrer  Bestimmungen  ge- 
legt 2),  so  daß  auch  ihr  äußerer  Umfang  nur  sehr  mäßig  erscheint 
und  vorteilhaft  absticht  gegen  den  dicken  Folianten,  den  noch  die 
breit  angelegte  Theresiana  ausfüllte.  Leider  hat  aber  unter  dieser 
Kürze  der  Sprache  vielfach  die  Deutlichkeit  gelitten,  so  namentlich 
bei  den  oft  mangelhaften  Begriffsbestimmungen  und  Tatbestands- 
angaben. 3)  Hierin  ist  nun  das  Landrecht,  dessen  Sprache  überhaupt, 
namentlich  aber  wegen  der  Reinigung  von  unnötigen  Fremdwörtern, 
lateinischen  Eunstausdrücken  und  Redewendungen  Lob  verdient^), 
dem  österreichischen  Gesetze  überlegen,  dafür  jedoch  ist  es  seinerseits 
häufig  in  eine  allzu  behagliche  Breite,  in  einen  ^professoralen  Katheder- 
ton^  verfallen^)  und  dadurch  natürlich  —  auch  im  strafrechtlichen 
Teile  —  wieder  viel  umfangreicher  geworden  als  die  Josefina.  „Es 
ist  aber  sehr  dicke^  hatte  schon  Friedrich  der  Große  zu  einem, 
ihm  im  Jahre  1785  vorgelegten  anderen  Teile  des  Landrechts  als 
launige  Randbemerkung  hinzugefügt  ^)  Und  noch  aus  einem  anderen 
Umstand  erklärt  sich  das  verschiedene  Format  der  beiden  Gesetzbücher. 
Beide  sind  zwar  einig  in  dem  von  den  Aufklärern  so  nachdrücklich 


1)  In  einer  Anmerkung  zu  dem  Entwürfe  des  A.L.-Rs.  (vom  Jahre  17S6) 
hieß  es  ganz  in  Übereinstimmung  mit  den  damals  in  der  Literatur  herrschenden 
Ansichten  (vgl.  oben  S.  148,  Anm.  Iff.):  «Das  Kriminal-Gesetzbuch  muß  noch 
mehr  als  das  bürgerliche  ein  eigentlicher  Volks-Eodex  sein,  der  nicht 
nur  überhaupt  dem  großen  Haufen  der  Einwohner  des  Staats  so  viel  als  möglich 
in  die  Hände  zu  bringen,  sondern  auch  selbst  bei  dem  Schulunterricht 
mit  zu  Grunde  zu  legen  ist.*^    Hälschner,  a.  a.  0.  199,  vgl.  auch  S.  202. 

2)  S.  V.  Liszt,  Lehrbuch,  §  7,  S.  36. 

3)  Berner,  Die  Strafgesetzgebung,  §  32,  S.  25;  v.  Liszt,  a.a.O.  S.  36; 
Ho  gel,  Geschichte  I,  S.  84. 

4)  S.  Hälschner,  a.  a.  0.  S.  202  u.  dazu  jetzt  noch  bes.  Otto  Wendt.  Über 
die  Sprache  der  Gesetze,  Akad.  Rede,  Tübingen  1904,  S.  2Lff.,  24:  „Die  Rein- 
heit des  Ausdrucks  (im  A.L.-R.I  übertrifft  alles,  was  früher  in  Deutsch- 
land in  der  Gesetzgebung  geleistet  war,  es  wird  stets  anerkannt  werden  müssen, 
daß  eine  neue  Epoche  der  Gesetzgebung  mit  dieser  Arbeit  angebrochen  war.*" 

5)  S.  Wendt,  a.  a.  0.  S.  20;  vgl.  v.  Liszt,  Lehrb ,  §  7,  S.  37.  Es  entsprach 
dies  eigenüich  nicht  der  Fordeiimg  des  Entwurfs,  wo  in  einer  Anmerkung 
gesagt  war:  „(Das  Kriminalgesetzbuch)  muß  .  .  .  aus  kurzen  und  deutUchen 
Vorschriften  bestehen,  wonach  die  Bürger  des  Staats  ihr  Verhalten  einrichten 
können^  (s.  Hälschner,  a.  a  0.,  S.  199). 

6)  Vgl.  Stölzel,  Suarez,  S.  220,  239;  Landsberg,  Geschichte  IUI, 
S.  475. 


Die  Straf recbtsrefoim  im  Anfklärnngszeitalter.  273 

geforderten  Ausschlüsse  der  richterlichen  Willkür;  während 
aber  die  Josefina  dieser  Forderung  in  mehr  allgemeiner  Weise  nach- 
gekommen ist,  indem  sie  ein  Verbot  jeglicher  Analogie  auf- 
gestellt 0  und  dadurch  zum  ersten  Male  die  berühmte,  neuerdings 
wieder  (als  das  freie  Spiel  rechtsbildender  Kräfte  lähmend)  angefein- 
deten Bechtsregel  „nuUum  crimen,  nulla  poena  sine  lege^  gesetzlich 
«auktioniert  hat  2),  ist  das  Landrecht  durch  das  Streben  nach  mög- 
lichst absoluter  Vollständigkeit  in  allen  Bestimmungen  in  eine  über- 
mäßige, sich  in  Einzelheiten  erschöpfende  Kasuistik  verfallen  3),  die 
dem  Volke  das  Verständnis  des  Gesetzbuchs  erschweren  mußte,  statt 
€S  —  wie  man  beabsichtigt  hatte  —  zu  erleichtern.*) 

Die  sonstigen  allgemeinen  Lehren  vom  Verbrechen  sind 
—  ganz  entsprechend  ihrer  Behandlung  in  der  Aufklärungsliteratur  — 
in  beiden  Gesetzbüchern  vernachlässigt  worden,  in  besonders  arger 


1)  S.  Josefina,  Teil  I,  Kap.  1,  §  1:  „Und  sind  als  Kriminal  verbrechen  nur 
diejenigen  gesetzwidrigen  Handlangen  anzusehen  und  zu  behandeln,  welche 
durch  gegenwärtiges  Strafgesetz  als  solche  erklärt  werden";  ähnlich  auch 
Teil  II,  Kap.  1,  §  1.  Das  Kundmachungspatent  des  Gresetzbuchs  (vom  13.  Jan. 
1787)  erklärt  ausdrücklich,  daß  man  beabsichtigt  habe,  „bei  Verwaltung  der 
strafenden  Gerechtigkeit  alle  Willkur  zu  entfernen^',  und  Teil  I,  Kap.  2, 
S  13  bestimmt:  „Der  Kriminalrichter  ist  an  die  buchstäbliche  Beobachtung 
•des  Gesetzes  gebunden,  soweit  in  demselben  auf  die  Missetat  die  Größe  und 
•Gattung  der  Strafe  ausdrücklich  bestimmt  ist:  Es  ist  ihm  bei  strenger  Verant- 
wortung die  gesetzmäßig  vorgeschriebene  iS träfe  weder  zu  lindern  noch  zu 
verschärfen  erlaubt.  Noch  weniger  ist  er  berechtigt,  die  Gattung  der  Strafe 
zu  ändern"  usw.  Vgl.  im  allg.  noch  Bern  er,  Strafgesetzgebg.,  §  25,  S.  20; 
Stooß  in  d.  Deutsch.  Jur.-Ztg.  VIII,  Nr.  24,  S.  563,  Sp.  1;  Finger,  Österreich. 
Strafrecht  I,  S.  55;  Högel,  Geschichte  I,  S.  82;  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  7,  S.  37. 
—  Über  die  gleiche  Richtung  der  französischen  Gesetzgebung  (Code  penal  von 
1791)  s.  Günther  im  G.-S.  61,  S.  203,  Anm.  4  u.  S.  204,  Anm.  1. 

2)  Bezügl.  der  neueren  Meinungsverschiedenheiten  über  diese,  auch  im 
B.StG.B.  §  2,  Abs.  1  anerkannte  Rechtsregel  s.  v.  Liszt  i.  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W. 
13,  S.  355 ff.,  Mitteilgn.  der  L  K.  V.  4  (1894),  S.  129ff.,  Strafr.  Aufs.  II,  S.  390/91; 
v.  Lilien thal  i.  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  14,  S.  696 ff.;  Birkmeyer  im  Archiv  für 
Strafr.  48,  S.  74  u.  90,  91,  Anm.  52;  Makarewicz,  Einführung  in  die  Philosophie 
des  Straf  rechts  usw.,  S.  94,  95,  97  ff.;  v.  Bar,  Gesetz  und  Schuld  im  Strafrecht 
•(Fragen  des  geltenden  deutsch.  Strafr.  und  seiner  Reform),  Bd.  I  (Das  Strafgesetz), 
Berlin  1906,  S.  3ff.;   Binding,  Grundriß,  Allgera.  Teil  (7.  Aufl.),   §  92,  S.  236. 

3)  S.  darüber  die  bei  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  24,  Anm.  22  an- 
geführte Literatur.  —  Schon  v.  Globig  u.  Huster  Abhandig.,  S.  30  hatten  es 
richtig  vorausgesehen,  daß  bei  dem  (ja  auch  von  ihnen  geteilten)  Streben  nach 
möglichster  Vollständigkeit  „das  Gesetzbuch  ziemlich  dick  ausfallen^  würde. 

4)  S.  Hälschner,  Geschichte,  S.  202,  der  jedoch  (S.  214/15  u.  S.  228/29) 
andererseits  zugibt,  daß  die  vom  Landrecht  beliebte  Methode  der  Behandlung 
des  Rechtsstoffs  doch  auch  wieder  manches  verdienstliche  an  sich  gehabt  habe« 

Arohiv  fflr  Eriminalantbropologie.   2B.  Bd.  18 


274  XIV.  Gt^THEE 

Weise  aber  in  der  Josefina,  die  es  fertig  gebracht  hat,  sämtliche 
hierher  gehörige  Gesetzesvorschriften,  so  weit  sie  sich  auf  die  sog. 
„Eriminalverbrechen^  beziehen,  im  wesentlichen  in  9  Paragraphen  ab- 
zutun J)  Dabei  sind  die  Fortschritte,  die  sich  auf  diesem  Gebiete 
zeigen,  wie  etwa  bei  der  Behandlung  des  Versuchs  im  österreichi- 
schen 2)  oder  bei  der  Zurechnungslehre  im  preußischen  Gesetz- 
buch '),  in  erster  Linie  mehr  auf  die  juristische  Fachliteratur  als  auf 
die  eigentliche  Aufklärungsschriftstellerei  zurttckzufQhren  ^) ;  nur  für 
eine  Neuerung  zweifelhaften  Wertes^),  welche  die  Josefina  brachte, 
scheint  diese  speziell  verantwortlich  gemacht  werden  zu  dürfen, 
nämlich  für  die  gänzliche  Abschaffung  der  Kriminalverjäh- 
rung«),  die  freilich  im  Jahre  1803  schon  wieder  eingeführt  wurde.") 
Die  Notwehr,  welche  die  Josef ina  noch  in  der  bisher  üblichen 
Weise,  d.  h.  im  Zusammenhange  mit  den  Tötungen  behandelt  hat^), 


1)  S.  dar&ber  HälB ebner,  a.  a.  0.  S.  208,  209,  Anm.  3.  Außer  Teil  I, 
Kap.  1,  §§1—9  kommen  übrigens  auch  einzelne  Beetimmuni^en  aus  Kap.  2 
(§  lOff.)  u.  Kap.  7  (§  178 ff.)  in  Betracht  —  Insbes.  über  die  Teilnahme  s. 
noch  H5gei,  Geschichte  I,  S.  193/94;  über  die  Schuldlehre:  Loffler, 
Die  Schuldformen  des  Straf  rechts  I,  S.  186  u.  (zum  TeÜ  dagegen)  Högel, 
a.  a.  S.  138/39.  —  Beide  Gesetzbucher  standen  noch  auf  streng  iudeterministischem 
Standpunkte.  Vgl.  A.  L.-R,  Teil  II,  Tit.  20,  Abschn.  1,  §  7;  Josefma,  Teil  I, 
Kap.  1,  §§  2,  5  und  Teil  II,  Kap.  1,  §  2  (und  dazu  Högel,  a.  a.  0.  I,  S.  S2, 
84,  165/66). 

2)  S.  Josefina  I,  Kap.  1,  §  9  u.  II,  Kap.  1,  §  4  u.  dazu  H  ögel,  a.  a.  0. 
S.  84  u.  210 ff.;  vgl.  auch  schon  oben  S.  269,  Anm.  1. 

3)  S.  darüber  näheres  bei  H  ä  1  s  c  h  n  e  r,  Geschichte,  S.  208/9 ,  210  ff., 
213;i4. 

4)  S.  Hälschner,  a.  a.  0.  S.  213|14. 

5)  Finger,  Österreich.  Strafr.  I,  8.  57  bezeichnet  sie  mit  Recht  als  einen 
„Rückschritt". 

6)  Josefina  I,  Kap.  7,  §  183:  »^^cn  Verbrechen  und  Strafbarkeit  soll 
künftig  keine  Verjährung  stattfinden^  usw. 

7)  Vgl.  V.  Liszt,  Lehrbuch,  §  77,  S.  293;  H.  Meyer-Allfeld,  Lehr- 
buch, §  45,  S.  263,  Anm.  12.  '—  Weder  in  Österreich  noch  in  Preußen  hat  da- 
gegen die  Gesetzgebung  das  Begnadigungsrecht  anzutasten  gewagt 
(s.  Josefina  I,  Kap.  7,  §  180 ff.;  A,  L.-R.  Teil  ü,  TiL  13,  §  9ff.  vbd.  mit  Teil 
I,  Tit  20,  §  63  n.  201  [vgl.  auch  unten  S.  281,  Anm.  1]),  während  es  in  Frank- 
reich in  der  Tat  vorübergehend  (von  1791  bis  1801)  beseitigt  gewesen  ist  Vgl. 
dazu  V.  Liszt,  Lehrbuch,  §  75,  S.  288;  Günther  im  G.-S.  61,  S.  227,  Anm. 
1  (mit  weiteren  Literaturangaben);  Stern berg  in  d.  Z.  f.  vgl.  R.-W.  13,  S. 
408.  —  Über  das  Recht  zur  Bestätigung  der  Straf  urteile  in  Preußen  unter 
Friedrich  dem  Großen  s.  Hälschner,  a.  a.  0.  S.  184ff.;  Willen- 
bücher, a.  a.  0.  8.  58ff. 

8)  S.  Josefina  I,  Kap.  4,  §§  96,  97  u.  dazu  H  o  g  e  1 ,  Geschichte  usw.,  Heft  II 
Wien  1905),  S.  152,  162,  174ff.,  185 ff. 


Die  Straf rechtsrefoim  im  Aufklämngszeitalter.  21b 

ist  insofern  im  Landrecht  schon  etwas  besser  gewürdigt  worden,  als 
es  sie  zwar  noch  nicht  unter  die  allgemeinen  Lehren,  wohl  aber 
doch  in  die  Einleitung  zu  sämtlichen  „Privatverbrechen^  gestellt  hat.^ 
Stärker  ist  begreiflicherweise  der  Einfluß  der  Aufklärungsliteratnr 
auf  die  Behandlung  der  Strafe  in  den  beiden  Gesetzbüchern  ge* 
wesen,'  die  übrigens  auch  hier  grundsätzlich  nur  als  die  ^ultima  ratio^ 
erscheint,  die  erst  dann  eintritt,  wenn  die  Maßregeln  der  Prophylaxe 
die  Verbrechen  nicht  zu  hindern  vermocht  haben.  Ganz  besonderen 
Nachdruck  hat  —  unter  offenbarem  Einflüsse  v.  Globig  und 
Husters^)  —  das  Allgemeine  Landrecht  auf  solche  (nicht-kriminelle) 
Verhütung  von  Delikten  gelegt  Begipnt  doch  gleich  sein  erster 
Paragraph  mit  dem  Satze,  daß  „eine  jede  Obrigkeit  und  jeder  Vor- 
gesetzte im  Volke  Laster  und  Verbrechen  bei  seinen  Untergebenen 
zu  verhüten  ernstlich  beflissen  sein^  müsse.  Als  dafür  geeignete 
Mittel  allgemeinerer  Art  aber  werden  dann  —  in  völliger  Überein- 
stimmung mit  der  unter  den  Aufklärern  herrschenden  Meinung  — 
namentlich  gute  Erziehung  der  Kinder  in  Haus  und  Schule, 
Achtung  vor  der  Religion  und  Verhinderung  des  Müßigangs  und. 
Betteins  (durch  Anhaltung  zur  Arbeit  bezw.  billige  Versorgung  der 
Armen  und  Gebrechlichen  und  Ausweisung  der  Fremden)  genannt  3), 
während  außerdem  noch  fast  allen  wichtigeren  Abschnitten  über  die 
einzelnen  strafbaren  Handlungen  eine  große  Anzahl  spezieller  „Vor- 
beugungsmittel'' vorangestellt  (oder  auch  nachgeschick)  sind,  die  in  dem 


1)  A.  L.-R.  n,  20,  Abschn.  9  («Von  Privatverbrechen"),  §  517 ff.;  vgl.  v. 
Liszt,  Lehrb.,  §  3S,  S.  144  u.  näheres  beiHälschner,  Geschichte,  S. 220/21. 

2)  S.  Hals  ebner,  a.  a.  0.  8.  201;  Bern  er,  Straf gesetzgebung,.  §  44, 
S.  37,  88;  Günther,  Wiedervergeltung  Ilt  1,  S.  24,  Anm.  IS  und  S.  64, 
Anm.  127. 

S)  A.  L.-R.  II,  20,  Einltg.,  §§  2—4  (mit  mehr  indirekter  Wortfassong). 
Noch  genauere  Einzelheiten  hatte  der  Entwurf  in  dieser  Beziehung  enthalten. 
Vergl.  darüber  Hälschner,  a.  a.  0.  S.  199,  200.  --  Weitere  Stellen  (betr. 
Vorbeugung)  in  allgemeiner  Fassung  (wie  §§  6,  17,  95)  s.  bei  Günther, 
Wiedervergeltung  HI  1,  S.  64,  Anm.  127.  Über  die  Ermahnung  der  Elinder  zur 
Sittlichkeit  durch  die  „Eltern  und  Eraieher*"  s.  A.  L.-B.  11,  20,  Abschn.  12, 
§  992  ff.  —  Vgl.  auch  noch.§§  5,  (Abschn.  12)  §  1024  u.  (Abschn.  14)  §  1160 
u.  dazu  (betr.  die  Verwendung  des  „Arbeitshauses^  überhaupt  in  Preußen 
|n  damaliger  Zeit):  v.  Liszt,  Strafr.  Aufs.  U,  S.  154ff.;  s.  auch  Günther, 
Wiedervergeltg,  III  1,  S.  64,  65,  Anm.  129.  —  Über  Belohnungen  für 
tugendhaftes  Verhalten  (A.  L.-B.  n,  20,  Abschn.  11,  §  784  ff.  betr.  «Edeknut'' 
bei  Rettung  aus  Lebensgefahr  u.  dergl.)  bezw.  Strafminderung  bei  Anzeige  von 
Mitachuldigen  (II,  20,  Abschn.  1,  §  58,  Abschn.  3,  §  118,  Abschn.  14,  §  1221^ 
s.  bes.  Ötker  in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  17  (1897),  S.  554  u.  S.  558/59:  vgl.  auch 
Hälschner,  a.  a.  0.  S.  202. 

18» 


276  XIV.  Günther 

Bestreben,  ein  in  allen  Lebenslagen  gesetzmäßiges  nnd  vorsichtiges  Ver- 
halten der  Staatsbürger  zn  erzielen,  häufig  geradezu  ans  Komische 
grenzen.  1)  Wird  man  doch  z.  B.  durch  die  im  §  1547  zur  „Ver- 
hütung der  Feuersbrünste^  ganz  allgemein  gebotene  „Beobachtung  der 
genauesten  Vorsicht  in  Ansehung  des  Feuers  und  des  Lichts"  unwill- 
kürlich an  den  bekannten  Vers  eines  alten  Nachtwächterliedes  erinnert 
Hiermit  war  dann  jene,  alles  bevormundende  Polizeigewalt  geschaffen, 
die  nach  den  treffenden  Worten  Hälschners  „fast  eine  jede  Lebens- 
äußerung des  Menschen  zu  überwachen  hatte,  selbst  bis  in  das  Innerste 
des  häuslichen  Lebens  sich  eindrängte,  um  hier  die  Beschaffenheit 
des  Eupfergeschirrs,  die  Art  wie  Mütter  und  Ammen  mit  Säuglingen 
umzugehen  haben,  zu  beaufsichtigen  und  schwangere  Frauen  gegen 
heftige  Gemütsbewegungen  durch  Strafmittel  zu  schützen."  2) 

Auch  hinsichtlich  des  Zwecks  der  Strafe  stimmen  die  beiden 
Oesetzbücher  im  wesentlichen  mit  den  Ansichten  der  Aufklärer  über- 
ein. Grundsätzlich  ist  daher  die  biblisch-theologische  Vergeltungs- 
idee, die  z.  B.  noch  in  der  Theresiana  ganz  unverkennbar  in 
Vordergrunde  stand,  aufgegeben  worden.^)  Im  preußischen  Land- 
recht lassen  sich  allerdings  noch  einzelne  Zugeständnisse  an  den 
Talionsgedanken  nachweisen^),  während  die  Josef ina,  die  aus- 
drücklich überall  nur  „das  richtige  Verhältnis'^,  das  „billige  Ebenmaß^ 
zwischen  Verbrechen  und  Strafen  herstellen  will  %  hierin  konsequen- 


1)  S.  Hälscilnery  a.  a.  0.  S.  222  u.  v.  Liazt,  Lehrbuch,  S.  37;  eine 
Übersieht  der  wichtigsten  einschlägigen  Paragraphen  bei  Günther,  Wieder- 
vergeltg.  III  1,  S.  64,  Anm.  127. 

2).Hftischner,  a.  a.  0.  S.  201  (mit  bes.  Bezagnahme  aof  A.  L.-R  II, 
20,  Abschn.  11,  §  728ff.);  vgl.  auch  Ab  egg  in  G.-S.  15,  8.  119. 

8)  S.  darüber  Günther,  Wiedervergeltg.  Ill  1,  S.  66  u.  Anm.  130,  S.  67 
a.  .Anm.  133  (über  das  A.  L.-R),  S.  86  ff.,  90  u.  Anm.  19S  (über  die  Josofina) 
vbd.  mit  S.  45ff.  u.  Anm.  64 ff.  u.  8.  5Sff.  (über  die  Theresiana);  vgl.  auch  noch 
unten  8.  283,  Anm.  1. 

4)  S.  darüber  näheres  bei  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  69 ff.  Es 
mag  auch  dies  wohl  mit  den  Ansichten  der  v.  Globig  u.  Huster  sehen 
Abhandlung  zusammenhängen,  in  der  ja  die  „Wieder Vergeltung*'  als  Prinzip  zu 
Grunde  gelegt  war.  8.  m.  Wiedervergeltg.  III  1,  8^69  vbd.  mit  II,  S.  260  ff. 
(vgl.  auch  oben  S.  157,  Anm.  1  u.  8.  175,  Anm.  1. 

5)  So  ausdrücklich  schon  das  Kundmachungspatent  vom  13.  Januar  1787 
(„um  .  .  .  zwischen  Verbrechen  und  8trafe  dasbilligeEbenmaßzu  treffen 
und  die  letztere  nach  einem  Verhältnisse  zu  bestimmen*').  Weitere  ähn- 
liche Stellen  aus  dem  Gesetzbuche  selbst  (wie  bes.  I,  Kap.  2,  §§  11,  14)  sind 
angeführt  in  m.  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  87,  Anm.  191.  Über  dasselbe  Prinzip 
im  toskanischen  Gesetzb.  von  1786  s.  ebds.,  S.  87,  Anm.  190.  —  Über  das  Streben 
nach  einem  gerechten  Verhältnisse  zwischen  8 c h u  1  d  und  Strafe 


Die  Strafrechtsrefonn  im  Aufklärungszeitalter.  277 

ter  gewesen  ist.  Eine  bestimmte  Strafrechtstheorie  liegt  übrigens 
noch  keinem  der  beiden  Gesetzeswerke  zu  Grunde,  denn  die  wenigen 
Stellen,  die  in  ihnen  (sowie  den  ihnen  vorhergegangenen  Entwürfen)  0 
die  Zwecke  der  Sicherung,  Besserung  oder  Abschreckung  betonen  ^)y 
können  darauf  keinen  Anspruch  erheben.  3)  Es  sollten  eben  bei  einer 
gerechten  Strafrechtspflege  alle  jene  Zwecke  nebeneinander  zum  Nutzen 
des  Gemeinwesens  angestrebt  werden,  wenngleich  sich  freilich  nicht 
verkennen  läßt,  daß  tatsächlich  der  Abschreckungszweck  das 
Übergewicht  erlangt  hat  Dies  gilt  nicht  nur  vom  Allgemeinen 
Landrecht  *),  das  —  neben  den  schon  recht  häufig  angedrohten  Frei- 
heitsstrafen —  doch  auch  mit  der  Todesstrafe,  wie  man  gesagt 
hat,  noch   „einen  gewissen   Luxus   getrieben"   hat^),   sondern  nicht 

auch  im  preuß.  A.  L.-R.  s.  m.  Wiedervgltg.  III  1,  S.  62,  63,  Anm.  123;  über 
die  Bestrafaog  nacti  der  Natur  oder  dem  Geiste  der  Verbrechen  in  A.  L.-R. 
8.  näh.  ebd.  S.  79—88  a.  Anm.  169— ISl.  Der  §  24  des  Entwurfs  hatte  aus- 
drfickHch  von  „Züchtigung  der  schädlichen  Leidenschaf  f^  gesprochen,  „die 
(den  Täter)  zum  Verbrechen  bewogen  hat'' 

1)  Der  Entwurf  des  A.  L.-R.  $  24  hatte  die  Bestimmung  enthalten:  „Der 
Zweck  der  Strafe  ist  vorzüglich  die  Sicherheit  des  Staats  und  seiner  Ein- 
wohner,  zugleich  aber  auch  die  Besserung  des  Verbrechers  durch 
Züchtigung  der  schädlichen  Leidenschaft**  usw.  (vgl.  die  vor.  Anm.  a.  £.);  s. 
Günther,  Wiedervergeltg  III  1,  S.  68,  Anm.  124;  H.  Meyer-Aiifeld, 
Lehrbuch,  §  4,  S.  18,  Anm.  43. 

2)  Nähere  Mitteilungen  hierüber  in  mr.  Wiedervergeltg.  III  1,  und  zwar 
betr.  die  Josef ina:  S.  87,  88  u.  Anm.  198  (Besserung),  S.  88  u.  Anm.  194 
(Prävention,  Sicherung),  S.  88,  89  u.  Anm.  195,  196  (Abschreckung);  betr.  das 
A.  L.-R.:  S.  68  u.  Anm.  125/26  (im  allgem.),  8.  63,  64  u.  Anm.  127  (Prävention, 
Sicherung),  S.  64,  65  und  Anm.  128  (Abschreckung),  S.  65,  66,  Anm.  129 
(Besserung). 

3)  S.  (betr.  das  A.L.-R.)  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  67  und 
Anm.  131,  132;  vgl.  auch  S.  63,  Anm.  126  a.  E.;  Hals  ebner,  Geschichte, 
S.  207  ff. 

4)  8.  Hälschner,  a.  a.  0.  208;  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S. 
65,  Anm.  128  a.  E.  Eine  Anmerkung  zu  §  82  des  Entwurfs  des  A.  L.-Rs.  hatte 
auch  ausdrücklich  die  „Abschreckung  von  Verbrechen  bei  der 
Menge**  für  den  Hauptzweck  erklärt.  Vgl.  Günther,  Wiedervergeltg. 
ni  1,  S.  63  und  Anm.  125;  ebds.  auch  über  eine  Anmerkung  ähnlichen  Inhalts 
zu  §  1262  des  Entwurfs. 

5)  So:  Kostlin  in  Arndts  „Geituania^  II,  S.  590.  —  Obgleich  dem 
Gesetzbuche  sogar  noch  mehrere  geschärfte  Todesarten  bekannt  gewesen  (wie 
das  mUlem  und  Verbrennen  [wohl  nicht  aber  mehr  das  Vierteilen;  s.  K 1  e  i  n; 
Grundsätze  2.  Aufl.  1799,  §  85,  S.  69,  70;  A.  M.  Hälschner,  Geschichte, 
S.  217,  Anm.  14  mit  Bezug  auf  §93]),  vermochte  doch  Klein  (in  s.  „Annalen", 
Bd.  Vni,  S.  XXII)  im  Vergleiche  zu  den  früheren  Rechtszuständen  nicht  ganz 
mit  Unrecht  darin  schon  „den  Genius  einer  menschenfreundlicheren  und  sanfteren 
Philosophie''   zu  erblicken   (s.  Hälschner,   Geschichte,  S.  193;   Günther, 


278  XIV.  GüSTHEB 

weniger  auch  yon  der  Josefina  0,  die  zwar  im  Einklang  mit  den 
extremsten  Aufklärern  den  kühnen  Schritt  gewagt  hat^  die  Todes- 
strafe (mit  Ausnahme  der  sog.  standrechtlichen  FSlle)  gänzlich  zu  be- 
seitigen 2),  dafür  aber  so  lange  dauernde  und  durch  so  barbarische 
Behandlungsarten  (wie  z.  B.  „Anschmiedung^,  Hungerkost,  hartes 
Lager,  Prügel)  ausgezeichnete  Freiheitsstrafen  eingeführt  hatte  ^),  daß 


Wiedervergelt^.  JH  1,  S.  61,  Anm.  118;  bildete  doch  auch  die  Freiheits- 
strafe bereits  „entschieden  den  Mittelpunkt  des  ganzen  Straf ensystoms*' 
(Hälschner,  a.  a.  0.  &  215).  Über  dieses  Strafensystem  übertiaupt  a.  u.  a. 
noch  C.  y.  Lichtenberg,  Die  Strafe,  die  ZucbthlUiseT  und  das  Zwangs- 
eiziehongssystem  usw.,  Berlin  1846,  S.  176 ff.  a.  Günther,  Wiederveigeltg 
III  1,  8.  25,  Anm.  23  (mit  wdteren  Angaben).  —  Über  die  Beseitigung  der 
Landesverweisung  in  Preußen  s.  schon  oben  8.  188,  Anm.  2. 

1)  8.  im  allg.  8 1  o  o  ß  in  d.  Deutsch.  Jnr.-Ztg.,  Jahig.  Vm,  Nr.  24,  8.  563. 
8p.  1  u.  näheres  noch  bei  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  88—90  und 
Anm.  195—197.  Auch  die  Abschaffung  der  Todesstrafe  erfolgte  lediglich  aus 
diesem  Gesichtspunkte,  nicht  (wie  im  toskanischen  St-G.-B.  von  17b6 
[Einltg.  u.  Art  LI,  LIVJ)  aus  dem  des  Bessemngszwecks.  Näh.  darüber  bei 
Günther,  a.  a.  0.  S.  89,  90,  Anm.  197. 

2)  8.  darüber  Josefina  I,  Kap.  2,  20  u.  näh.  dazu  bei  Günther,  Wieder- 
vergeltg.  III  1,  8..  27,  Anm.  29,  S.  89,  90,  Anm.  197  (vgl.  auch  die  vorige  Anm.) 
u.  Anm.  199.  Über  das  standrechtliche  Verfahren  s.  d.  Allg.  Kriminal-Ordnung 
von  1788,   §§  238 ff.;  vgl.  Esselborn,   Übers,   v.  Beccaria,   S.  193,  Anm.* 

'  Schon  längere  Zeit  vorher  war  übrigens  in  Österreich  der  Vollzug  der  Todes- 
urteUe  tatsächlich  eingestellt  gewesen ;  vgl.  darüber  Finger;  Österreich. 
Strafr.  I,  S.  54,  55;  HGgol,  Geschichte  I,  S.  72;  s.  auch  Günther,  a.  a.  0., 
8.27,  Anm.  29.  Ebenso  war  es  in  Toskana  (seit  1765)  gewesmi  (s.  m. 
Wiedervergeltg.  III  1,  8.  25;  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  60,  S.  254),  und  auch  in 
Rußland  ist  die  Todesstrafe,  die  hier  schon  1754  auf  politische  Verbrechen  (im 
heutigen  Sinne  des  Wortes)  beschränkt  gewesen  (s.  v.  Liszt,  a.  a.  0.  8.  254). 
unter  der  Regierung  der  Kaiserin  Elisabeth  (1741—1762)  infolge  eines  Gelübdes 
nicht  zum  Vollzuge  gelang^.  Vgl.  H  e  t  z  e  1 ,  Die  Todesstrafe  usw.,  8.  140.  Über 
die  Wiedermnführung  der  Todesstrafe  in  Toskana  (1790  bezw.  1795)  und  in 
Österreich  (1795)  s.  näheres  in  m.  Wiedervergeltg.  III  1,  8.  28,  Anm.  Slff.  — 
Der  französische  Code  des  d^lits  et  des  peines  vom  Jahre  1795,  P.  I,  T.  1,  Art.  2 

•  schloß  jede  qualifizierte  Todesart  ausdrücklich  aus. 

3)  Über  das  System  der  Freiheitsstrafen  in  der  Josef ina  (I,  E^ap.  2,  §21ff.l 
B.  näheres  bei  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  27,  Anm.  30;  vgl.  auch 
Finger,  Österreich.  Strafr.  I,  S.  56;  Hogel,  Geschichte  I,  S.  82ff.;  v. 
Ewiatkowsky,  Die  Const.  crim.  Theresiana ,  S.  137,  Anm.  1 ;  8 1 o o ß 
i.  d.  Deutsch.  Jur-Ztg.  VIII,  Nr.  24,  S.  563,  8p.  2.  Der  Gipfelpunkt  dieser 
Barbareien,  die  Strafe  der  sog.  „ A  n  s  c  h  m  i  e  d  n  n  g*^  (I,  2,  §  25)  wurde  aller- 
dings bereits  durch  Hofdekret  vom  7.  Mai  1790  aufgehoben  (Finger,  a.  a.  0. 
S.  56,  Anm.  86).  —  Über  die  (in  den  Jahren  1788—1790)  im  Gebrauch  gewesene 
Strafe  des  Schiffziehons,  die  in  der  Wirkung  fast  einer  „langsamen  Hin- 
richtung'^ gleichkam  (v.  Liszt,  Lehrb.,  §  60,  S.  54),   s.  (außer  der  darüber  m 


Die  StrafrechtBrefonn  im  Aufklämngazeitalter.  279 

die  anscheinend  gröfiere  Humanität  des  Gesetzes  sich  bei  nährer  Be- 
trachtung eigentlich  in  das  Gegenteil  verwandelt,  i)  Auf  den  Ab- 
schreckungszweck in  erster  Linie  berechnet  gewesen  sind  wohl  auch 
'  die  in  beiden  Gesetzen  noch  sehr  freigebig  angedrohten  Prügel- 
strafen 2)  sowie  die  beschimpf  enden ,  äußerlich  wahrnehmbaren 
Ehrenstrafen  des  Prangers  und  der  Brandmarkung,  die 
namentlich  in  der  Josefina  in  sehr  abstoßender  Form  erscheint  ^)  Der 
Geldstrafe  gegenüber  ist  im  ganzen  noch  ziemliche  Zurückhaltung 
beobachtet  worden;  im  Allgemeinen  Landrecht  hat  sie  den  Wünschen 
der  Aufklärer  gemäß  bauptsächUch  für  ^Gewinnsuchtsdelikte"  Ver- 
wendung gefunden^),  für  Polizeiübertretungen  ist  sie  in  Österreich 
damals  (mit  alleiniger  Ausnahme  des  verbotenen  Spiels)  ausdrücklich 
ausgeschlossen  worden.^) 

Wien   1890   erschienenen  Monographie   von   v.   Maaeharg)   auch    Finger, 
.  a.  a.  0.  S.  55,  Anm.  34  u.  Högel,  a.  a.  0.  8.  72  u.  84. 

1)  8.  darüber  etwa  v.  Bar,  Handbuch  dee  dentach.  Strafr.  I,  8.  159; 
Högel,  Geschichte  I,  S.  72  u.  bes.  S.  82;  Esselborn,  Übersetzg.  von 
Beccarie,  S.  175,  Anm.*;  vgl.  auch  Stooß,  a.  a.  0.  8.  568,  8p.  2. 

2)  S.  über  die  Josefina  (bes.  I,  Kap.  2,  §§  25,  82;  n,  Kap.  2,  §§  10,  11) 
näh.  bei  Günther,  Wiedervergeitg.  III  1,  S.  27,  Anm.  80  u.  S.  88,  Anm.  195; 
über  das  A.  L.-R. :  ebds.  8.  79,  Anm«  167  (mit  weiteren  Angaben  u.  dazu  noch 

.  Krauße,  Die  Prügelstrafe  usw.,  Berl.  1899,  S.  51  ff.  u.  Anm.  146,  147  und 
8.  105.  —  Auf  den  sehr  reichlichen  Gebrauch  des  sog.  „Willkomms*^  und  « Ab- 
schieds" im  A.  L.-B.  (s.  V.Lichtenberg,  a.  a.  0.  176;  Krauße,  a.  a.  0., 
8.  53)  dürften  die  oben  (S.  179,  Anm.  2)  erwähnten  Ansichten  K 1  e  i  n  s  wohl 
Ton  entscheidendem  Einflüsse  gewesen  sein. 

3)  Über  die  Prangerstrafc  („Schandbühne*')  in  der  Josefina  (bes.  I, 
Kap.  2,  §  38,  II,  Kap.  2,  §  10,  12)  s.  Günther,  Wiedervergeltg.  IH  1,  S.  89, 
Anm.  185;  desgl.  im  A.  L.-R.:  ebds.  8.80,  Anm.  178,  a.  £.;  vgl.  v.  Lichten- 
berg, a.a.  0.  8.  176,  d.  Erst  1848  erfolgte  bekanntlich  die  allgemeine  gesetzl. 
Abschaffung  dieser  Straf art  in  Deutschland  (vgl.  H.  Meyer-Allfeld,  Lehrb., 

.  §  47,  8.  279,  Anm.  4).  —  Über  die  Brandmarkung  in  der  Josefina  (bes.  I, 
E:ap.  2,  S§  24,  39)  s.  v.Bar,  Handb.  I,  8.  159,  Anm.  652;  Günther,  Wieder- 
veigeltg.  UI  1,  S.  27,  Anm.  30;  Esselborn,  a.  a.  0.  8.  51;  Makarewicz, 
Einführung  in  die  Philosophie  des  Strafrechts,  8.  229;  desgl.  im  A.  L.-R.:  v. 
Lichtenberg,  a.  a.  0.  S.  176,  b;  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1,  S.  79, 
Anm.  167.  —  Über  den  Grundsatz  der  Verhängung  von  Ehrenstrafen  für  Delikte 
aus  ehrloser  Gesinnung  (im  A.  L.-R.)  s.  m.  Wiedervergeltung  III  1,  8.  79,  80  und 
Anm.  173. 

4)  S.  dazu  i.  allg.  Günther,  Wiedervergeltg.  IH  1,  8.  80,  81  u.  Anm.  175; 
ebds.  8.  81  ff.,  Anm.  176  ff.  über  die  einzelnen  Fälle.  —  Über  die  Berücksichtigung 
der  „Vermögensumstände  des  Täters''  bei  Verhängung  der  Geldstrafen 
sowie  das  Abarbeiten  derselben  bei  Unfähigkeit  zur  Zahlung  ( A.  L.-R.  II, 
20,  Abschn.  1,  (§  85,  88,  89,  Abschn.  14,  §  1262)  s.  Rosenfeld  i.  d.  Mitteilgn. 
der  LK.-V.  8,  8. 166,  205;  Günther,  Wiedervergeltg.  III 1,  8.  80,  81,  Anm.  174. 

5)  8.  Josef  Ina  II,  Kap.  2,  §  10  vbd.  mit  U,  Kap.  4,  §  39  (verbotenes  Spiel). 


280  XIV.  Günther 

Erfreuliche  YerbesseniDgeii  gegenüber  dem  früheren  Rechte  weisen 
beide  Gesetzbücher,  namentlich  aber  das  Landrecht,  in  ihren  den 
einzelnen  strafbaren  Handinngen  gewidmeten  Abschnitten  anf^ 
aber  auch  diese  Keuerungen  sind  nicht  allein  den  Reform bestrebnngen 
der  Aufklärer,  sondern  daneben  mehr  oder  weniger  auch  der  in- 
zwischen fortgeschrittenen  juristischen  Doktrin  zuzuschreiben,  so  z.  B. 
die  bessere  systematische  Stellung  und  die  schärfere  Tatbestands- 
um  grenzung  verschiedener,  insbesondere  mit  einander  verwandter  De- 
likte i),  wie  z.  B.  im  Landrecht  die  von  Mord  und  Totschlag^),, 
während  für  die  Unterscheidung  von  Hochverrat  und  Landes- 
verrat, die  als  die  Grundlage  unseres  geltenden  deutschen  Recht» 
betrachtet  werden  darf '),  doch  wohl  zunächst  die  Aufklärungsliteratur,, 
und  zwar  speziell  v.  Gl  ob  ig  und  Husters  Preisschrift,  vorbildlich 
gewesen  sein  mag.^)  Einer  milderen  Behandlung  der  Staats-  und 
Majestätsverbrechen  ist  man  damals  freilich  im  ganzen  noch  abge- 
neigt gewesen.  Wenn  z.  B.  das  Landrecht  für  die  gewöhnlichen  Fälle 
der  sog.  tätlichen  Majestätsbeleidigungen  (§  197)  die  Todesstrafe 

1)  Insbes.  erwähnt  seien  u.  a.:  die  bessere  Würdigung  der  Freiheits- 
verbrechen (A.  L.-K.  II,  20,  Abschn.  13,  §  1073  ff.)  und  die  spezieUe  Her- 
vorhebung der  Nötigung  in  §  1077  (vgl.  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  99,  S.  354; 
Rosenfeld  i.  d.  Vergl.  Darstellg.  V,  S.  397),  die  Behandlung  des  Haus- 
friedensbruchs als  selbständigen  Veigehens  (A.  L.-R.  II,  20,  Abschn.  9^ 
§  525;  vgl.  V.  Liszt,  Lehrb.,  §  119,  S.  402),  die  schärfere  Sondemng  der 
falschen  Anschuldigung  von  der  Verleumdung  (s.  bes.  A.  L.-R.  II,  20, 
Abschn.  15,  §  1431ff.;  vgl.  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  182,  S.  600;  Heilborn  in 
d.  Vergi.  DarsteUg.  III,  S.  105;  s.  auch  GQnther,  Wiedervergeltg.  IUI,  S. 69, 
Anm.  140ff.),  die  fortschrittlichere  Behandlung  der  Münzverbrechen 
(A.  L.-B.  n,  20,  Abschn.  7,  §  252 ff.;  s.  auch  Josefina  I,  Kap.  3,  §  68 ff.)  und  der 
Amtsdelikte  (A.L.-R.  II,  20,  Abschn.  8,  §d23ff.:  vgl.  Wachinger  in  d. 
Vergl.  Darstellg.  IX,  S.  195  ff.,  200). 

2)  S.  darüber  näheres  beiUälschner  ,^6eschichte,  S.  222/23  u.  Anm.  28  (über 
den  vermutl.  Anschluß  an  Koch,  Inst  jur.  crim.,  §  456)  vbd.  mit  Wachen- 
feld, die  Begriffe  von  Mord  und  Totschlag  usw.,  S.  141,  147/48.  —  Über  die 
schärfere  Sonderung  der  „Aussetzung''  von  der  Tötung  in  der  Josefina  s.  v.  L  i  s  z  t,. 
Lehrbuch,  §  90,  S.  321. 

3)  8.  V  a  n  G  a  1  k  e  r  in  d.  Vergl.  Darstellg.  I,  S.  4. 

4)  S.  dazu  Hälschner,  a.  a.  0.  S.  218  u.  Anm.  15;  vgl.  v.  Liszt,. 
Lehrbuch,  §  164,  S.  538  (ebds.  auch  über  die  Josefina,  die  gleichfalls  schon  die 
beiden  Begriffe  von  einander  geschieden  hatte.)  —  Ausdrücklich  bemerkt 
Kitzinger  in  d.  Vergl.  Darstellg.  IX,  8.  1,  dafi  die  zuerst  im  A.  L.-R.  (U,. 
20,  Abschn.  17,  §  1495 ff.)  begegnende  Verwirklichung  des  Gedankens,  „den  Be- 
griff der  Gemeingefahr  zur  Bildung  einer  selbständigen  Gruppe  strafbarer 
Handlungen  zu  verwerten'',  eines  „Produkts  der  Rechtsentwicklung  der  Auf- 
klärungszeit",  „ohne  erkennbare  Beeinflussung  durch  die  zeitgenossische 
Rechtswissenschaft"  stattgefunden  habe. 


Die  Strafrechtsreform  im  Anfklärangszeitalter.  281 

androht,  so  merkt  man  dabei  kaum  noch  etwas  von  dem  Geiste  Frie- 
drichs des  Großen,  der  auf  ihn  verfaßte  Schmähschriften  niedriger 
gehängt  haben  wollte,  damit  man  sie  besser  lesen  könne.  ^  In  beiden 
Gesetzbüchern  zeigen  sich  femer  noch  Härten  in  den  Straf bestimmnngen 
über  den  Zweikampf^)   nnd  den  Selbstmord 3),  bei  deren  Rege- 


1)  S.  dazu  Meents,  Die  Majestatsbeleidigang  in  geschichti.  und  dogmat 
Beziehungy  Erlang.  Dias.  1894,  8.  36.  —  Im  übrigen  zeigt  aber  die  Behandlang 
der  Majestatabeleidigangen  im  A.  L.-R.  (II,  20,  Abschn.  5,  §  196  ff.)  in  ver- 
schiedenen Beziehungen  Fortschritte  gegen  früher.  Vgl.  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  164, 
S.  538  u.  näheres  (bes.  auch  fiber  die  Trennung  der  Beleidigung  des  Staats- 
oberhauptes als  solchen  von  der  Beleidigung  desselben  als  Privatperson  (vgl. 
oben  S.  228,  Anm.  1)  bei  Hälschner,  Geschichte,  S.  Sl8/19;  vgl.  auch 
van  Calker,  a.  a.  0.  S.  91ff.  Über  das  Begnadigungsrecht  des  Landes- 
herm  in  diesen  Fällen  s.  A.  L.-R.  II,  20  §  201.  —  Auch  die  Josefina  (I,  Kap.  3, 
§  41  ff.)  hatte  harte  Straf bestimmuugen,  obwohl  Josef  II.  persönlich  ziem- 
lich liberalen  Ansichten  über  die,  als  „UnsinDlge^  zu  betrachtenden  Majestäts- 
beleidiger gehuldigt;  vgl.  Meents,  a.  a.  0.  S.  34  u.  Anm.  75. 

2)  S.  in  dieser  Beziehung  über  die  Josef ina  (I,  Kap.  4,  §  105 ff.)  bes.: 
Hogel,  Geschichte  II,  S.  154,  164,  176ff.,  187 ff.;  über  das  A.  L.-R.  (11,  20, 
Abschn.  10,  §  667 ff.):  Klein,  Grundsätze  (2.  Aufl.),  §  329ff.,  S.  257ff.,  Levi,  Die 
Lehre  vom  Zweikampf  verbrechen,  Leipzig  1889,  8.  37  ff.  und  jetzt  bes.  Kohl- 
rausch  in  d.  Vergl.  Darstellg.  III,  H.  137 ff.,  welcher  (S.  138)  zum  Teil  auch 
gegen  die  bisher  herkömmliche  Auffassung  (s.  z.  B.  Levi,  a.  a.  Ö.  S.  37,  auch 
V.  Liszt,  Lehrb.,  §  93,  S.  327)  auftritt,  daß  das  Landrecht  den  Zweikampf  als 
„Standesdelikf*  behandelt  habe.  —  Das  Landrecht  (§671)  wollte  die  Tötung  im 
Zweikampfe  schlechthin  als  gemeinen  Mord  bestrafen,  die  Josefina  (§  107) 
nur  dann,  wenn  „der  Überiehende  .  .  der  Ausf oderer  (sie)  gewesen.'* 

3)  S.  darüber  im  allgem.  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  35,  S.  156,  Anm.  8;  im 
einzelnen  noch  (bezügl.  der  hier  z.  T.  noch  sehr  rückständigen)  Josefina  [I,  Kap.  4, 
§  89,  i  u.  §  123 ff.]):  Guderian,  Die  Beihülfo  zum  Selbstmord  usw.,  S.  9,  Anm.  4, 
S.  18,  Anm.  1;  Högel,  Geschichte  II,  S.  156ff.,  171ff.,  183ff.,  191;  O.Bern- 
stein, Die  Bestrafung  des  Selbstmords  usw.,  8.16;  bezügl.  des  (etwas  fort- 
schrittlicheren) preuß.  A.  L.-R.  (II,  20,  Abschnitt  11,  §  803 ff.):  Klein,  Grund- 
sätze, §  264,  S.  269;  Geib,  Lehrbuch  I,  S.  332;  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  9  und 
44.  —  Wie  das  A.  L.-R.  bezügl.  der  Behandlung  des  Zweikampfes  in  wes.  mit 
den  strengen  Anschauungen  Friedrich  des  Großen  (s.  Willenbücher,  a.a.O. 
S.  42ff. ;  vgl.  oben  S.  262,  Anm.  1)  übereinstimmt,  so  schließen  sich  seine  Vor- 
schriften über  den  Selbstmord  zwar  im  wesentl.  der  —  für  ihre  Zeit  ja  schon 
recht  freisinnigen  —  Fridericiani sehen  Gesetzgebung  an  (Reskr.  vom  6.  Dezbr. 
1751  nebst  Erläuterungen  vom  28.  Okt  1752;  s.  Hälschner,  Geschichte,  S.  182; 
Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  44;  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  8,  9  vbd.  mit  S.  33, 
34  u.  44;  vgl.  auch  schon  oben  S.  258,  Anm.  1,  S.  259,  Anm.  2  u.  S.  260,  Anm.  2), 
jedoch  erscheinen  die  Bestimmungen  gegen  den  Selbstmord  von  Verbrechern 
(insbes.  §  805  über  die  Exekution  der  Strafe  am  „toten  Körper**  verurteilter 
Delinquenten)  dem  Geiste  der  Zeit  oicht  mehr  angemessen.  Über  die  Behand- 
lung des  Falls  der  sog.  „mittelbaren  Selbstmords*'  (Begehung  eines  Totschlags 
,4n  der  Absicht  hingerichtet  zu  werden'')   im  A.  L.-R.   s.  das.  §  831  ff.   u.  dazu 


282  XIV.   GÜNTHBB 

lung  man  sich  von  alten  Vorarteilen  noch  nicht  völlig  zu  befreien 
vermocht  hat.  Auf  andern  Gebieten  sind  dagegen  die  Forderungen 
der  Aufklärer  im  wesentlichen  durchgedrungen,  so  namentlich  hin- 
sichtlich der  Beligionsverbrechen  und  der  meisten  Sittlichkeitsdelikte, 
teilweise  auch  des  Kindermordes,  femer  bezüglich  der  leichteren  Ein- 
schätzung des  Diebstahls,  des  Wuchers  u.  a.  m. 

Daß  man  mit  der  Bestrafung  der  Religionsveribrechen  nur 
rein  weltliche  Zwecke  (nämlich  die  Wohlfahrt  des  Staats,  nicht  mehr 
den  Schutz  der  Gottheit)  verfolgt  hat,  zeigt  schon  deren  veränderte 
systematische  Stellung  in  beiden  Gesetzbüchern  recht  deutlich.  Im 
preußischen  Landrecht  begegnen  wir  ihnen  nämlich  unter  der  ganz 
modern  klingenden  Kapitelüberschrift  „Von  Beleidigungen  der  Beligions- 
gesellschaften"  i)  mitten  unter  den  Staatsverbrechen  2),  während  sie  in  der 
Josefina  sogar  in  den  Abschnitt  von  den  „politischen  Verbrechen^,  d.  h. 
den  Polizeiübertretungen  gestellt  sind. 3)  Die  Delikte  der  „Zauberei^ 
und  „Hexerei^  sind  verschwunden^),  und  nur  von  einem  ^Mißbrauch 
der  Religion  zu  abergläubischen  Gaukeleien^  ist  allenfalls  noch  die 
Bede  (A.  L.-B.,  II,  20,  Abschn.  6,  §  220).  Dagegen  glaubte  man  allerdings 
im  Interesse  des  konfessionellen  Friedens  in  Österreich  noch  die  Ver- 
breitung von  Irrlehren  und  Unglauben  sowie  die  Verleitung  zum  Ab- 
falle vom  christlichen  Glauben,  in  Preußen  die  Sektenstiftung  bestrafen 
zu  müssen. <")    Sehr  fortschrittlich   ist  aber   die   Gotteslästerung, 

Hälschner,  Geschichte,  S.  223,  Anm.  29  —  In  Frankreich  wurde  die  Strafe  des 
Selbstmordes  durch  die  Nationalversammlung  am  21.  Jan.  1790  aufgehoben.  VgL 
Hertz,  Voltaire,  S.  507;  Bernstein,  a.  a.  0.  S.  19  u.  44. 

1)  S.  dazu  Kahl  in  d.  Vergl.  Darstellg.  III,  S.  14,  15,  nach  dem  dasLand- 
,  recht,  das  hierin   ^fast  unvermittelt  modern'^  anmutet,   der  Wegweiser  für  das 

19.  Jahrhundert  geworden  ist. 

2)  Nämlich  im  Abschnitt  6,  §  214ff.  (zwischen  Abschn.  5,  „Von  Verletzung 
der  Ehrfurcht  gegen  den  ^taaf^  u.  Abschn.  7,  «Von  Anmaßungen  und 
Beeinträchtigungen  der  vorbehaltenen  Rechte  desStaats**).  VgLHäUchner, 
Geschichte,  S.  220;  v.  Rohland,  Historische  Wandlungen  usw.,  S.  139. 

3)  Im  Teil  II,  Kap.  5  („Von  den  Verbrechen,  die  zum  Verderbnisse  der 
Sitten  führen''),  §  61  ff. 

4)  8.  dazu  (bezügl.  der  Josef ina):  Finger,  Österreich.  Straf r.  I,  S.  57; 
Stooß  in  d.  Deutsch.  Jur.-Ztg.  VIII,  Nr.  24,  S.  563,  Sp.  2.  —  In  der  Thereslana 
(Art  58)  war  die  Zauberei  zwar  noch  anerkannt,  jedoch  auch  schon  mit  „vor- 
sichtiger Zurückhaltung"  behandelt  worden.  S.  v.  Ewiatkowsky,  Die  Const 
crim.  Thereslana,  S.  142  u.  Anm.  3;  vgl.  auch  Kahl,  a.  a.  0.  S.  13. 

5)  S.  Josefma  II,  Kap.  5,  §  64  (Bestimmung  zum  Abfalle  vom  christlichen 
Glauben  usw.),  §  65  (Verbreitung  von  Irrlehren  und  Unglauben);  ebenso  übrigens 
auch  noch  das  St^G.-B.  von  1852,  §  122  c  u.  d,  aufgehoben  durch  Ges.  vom 
25.  Mai  1868,  aber  neuerdings  wieder  angeregt  im  6.  St.-G.-Entwurf  (s.  Zucker 
im  G.-S.  46  [1892],    S.  36;   Jauck  in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  24  [1904],  S.  351). 


Die  Strafrecbtsreform  im  Aufklänin^^eitalter.  283 

welche  die  Theresiana  noch  als  ,,das  erste  und  ärgste  unter  allen 
Lastern^  bezeichnet  hattet)  behandelt  worden.  Wegen  des  dadurch 
gegebenen  „gemeinem  Ärgernisses^'  tritt  in  Preußen  zwar  eine  Be- 
strafung eiu;  aber  der  Täter  verliert  nicht  mehr  sein  Leben,  sondein 
kommt  mit  einer  leichten  Gefängnisstrafe  davon  2);  in  Österreich  ist 
man  sogar  noch  weiter  gegangen :  man  nahm  hier  den  Gotteslästerer 
überhaupt  nicht  für  voll,  präsumierte  vielmehr  seine  ünzurechnungs- 
fähigkeity  so  daß  er  bis  zur  ^^Besserung^'  seines  „Wahnwitzes^'  ins 
,,Tollhaus''  gesperrt  werden  sollte.^)  Der  Meineid,  den  noch  die 
Theresiana  als  eine  „Art  Gotteslästerung^'  aufgefaßt  hatte  ^),  ist  in 
beiden  Gesetzen  —  ganz  wie  nach  den  Systemen  der  meisten  Auf- 
klärungsschriftsteller —  nur  als  ein  erschwerter  Fall  des  Betruges  be- 
handelt. ^) 

Auch  die  Sittlichkeitsdelikte,  von  denen  eine  ganze  Reihe 
im  Josefinischen  Gesetzbuch  unter  die  „politischen  Verbrechen''  ver- 


—  Über  das  A.  L.-R.  (U,  20,  Abschn.  6,  §  223 ff.:  ^Sektenstiftung'')  vgl. 
Häl&chner,  Geachichte,  S.  220;  v.  Lissst,  Lehrbuch,  §  117,  8.396;  Kahl, 
a.  a.  0.  S.  13. 

1)  Kahl,  a.  a.  0.  S.  13;  vgl.  Günther,  Wiederver|:eltg.  III  1,  S.  58ff.  u. 
Anm.  105 ff.;  Finger,  Österreich.  Straf r.  I,  S.  57.  Über  ^den  übertrieben 
religiösen  Zug'S  der  überhaupt  das  Theresianische  Gesetzbuch  noch  kennzeichnet 
8  jetzt  bes.  v.  Kwiatkowsky,  a.  a.  0.  S.  143  (mit  Belegstellen);  vgl.  auch 
Kulf,  Josef  II  usw.,  S.  3  ff. 

2)  S.  A.  L.-R.  II,  20,  Abschn.  6,  §§  217-219  u.  dazu  v.  Liszt,  Lehrbuch, 
{  117,  S.  396  u.  Kahl,  a.  a.  0.  S.  15.  Sonderbar  erscheint  die  in  §217  zugleich 
mit  der  Strafe  vorgeschriebene  „Belehrung  des  Gotteslästerers"  über  „seine 
Pflichten  und  die  Größe  seines  Verbrechens"  im  Gefängnisse.  Vergl.  dazu 
Hälschner,  Geschichte,  S.  202. 

3)  S.  Josefina  II,  Kap.  5,  §  61  u.  dazu  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1, 
S.  92,  Anm.  203  (mit  weiteren  Literaturangaben)  vbd.  mit  S.  88,  Anm.  193  (über 
noch  andere  Fälle  solcher  „unbestimmter  Verurteilungen"  in  der  Josefina). 
Über  die  im  wes.  gleiche  Behandlung  der  Gotteslästerer  bei  J.  P.  Marat  s. 
schon  oben  S.  234,  Anm.  4.  Nach  v.  Liszt,  Lehrb.,  §  U7,  S.  396  geht  die 
Bestimmung  zurück  auf  dem  Hofrat  Freiherm  K.  A.  v.  Martini  (s.  Lands- 
berg, G^eschichte  III  1,  S.  383  ff.,  403,  521  ff.  u.  Noten,  S.  249,  263).  —  Noch 
weiter  ging  die  französische  Gesetzgebung,  wo  unter  Rousseau schem  Einflüsse 
die  Gkitteslästeining  ganz  ans  dem  Rahmen  der  strafbaren  Handlungen  gestrichen 
wurde.    S.  v.  Bohl  and,  Histor.  Wandlungen,  S.  138.    . 

4)  S.  Theresiana  Art.  50,  §  2;  vgl.  v.  Liszt,  Meineid  und  falsches  Zeugnis, 
S.  137;  Günther,  Wiedervergeltg.  III  1  S.  60  u.  Anm.  113. 

5)  S.  Josefina  I,  Kap.  6  (^Von  Kriminalverbrechen,  welche  auf  Vermögen 
und  Rechte  Bezug  haben**),  §  151 ;  A.  L.-R.  II,  20,  Abschn.  15  („Von  Beschädi- 
gungen des  Vermögens  durch  Eigennutz  und  Betrug**),  §  1045 ff.;  vgl.  y.  Lisst) 
Meineid  usw.,  S.  136/37  u.  Lehrbuch,  §  180,  S.  591. 


284  XIV.  Günther 

wiesen  worden  i),  haben  durchweg  eine  der  Richtung  der  Zeit  ent- 
sprechende  bedeutende  Milderung  der  Strafe  gegenüber  dem  früheren 
Becht  erfahren.^)  Dem  oben  erwähnten  Zweifel  mancher  Aufklärer 
an  einer  VoUendungsmöglichkeit  der  Notzucht  bei  ernsthaftem  Wider- 
Stande der  angegriffenen  Frau  ^)  entspricht  die  erhebliche  Einschrän- 
kung des  Tatbestandes  dieses  Verbrechens  in  der  Josefina,  die  es 
übrigens  unter  die  Freiheitsdelikte  gestellt  hat^),  ebenso  wie  dieEnt- 
führung,  die  auch  im  preußischen  Landrecht  die  gleiche  systema- 
tische Behandlung  erfahren  hat^)  In  letzterem  hat  ferner  ein 
in  der  Literatur  des  achtzehnten  Jahrhunderts  zuweilen  geäußerter 


1)  Nämlich  Ehebruch  (Teil  U,  Kap.  4:  „Von  den  politischen  Verbrechen 
wodurch  das  Vermögen  oder  die  Rechte  der  Mitbürger  gekränkt  werden**,  §  44 
bis  46),  Kuppelei,  gewerbsmäßige  und  widernatürliche  Unzucht 
(Teil  n,  Kap.  5:  „Von  den  polit  Verbrechen,  die  zum  Verderbnisse  der  Sitten 
führen",  §§  71—76). 

2)  Dies  gilt  von  beiden  Gesetzbüchern,  denn  auch  im  A.  L.-B.  „macht  sich 
die  Richtung  der  Zeit  geltend,  welcher  die  religiöse  Basis^  auf  der  die  Be- 
handlung der  Sittiichkeitsdelikte  im  gemeinen  Rechte  (sowie  bes.  auch  noch  in 
der  Theresiana,  worüber  zu  vergl.  v.  Kwiatkowsky,  a.a.O.  S.  143  u.  Anm.  3) 
beruhte,  „abhanden  gekommen  war"  (Hälschner,  Geschichte,  S.  223/24),  wenn- 
gleich seine  Strafbestimmungen  „den  Forderungen  des  Zeitalters  gegenüber  immer 
noch  zu  hart  erscheinen  mochten"  (Hälschner  a.  a.  0.  S.  224).  Vgl.  auchHitter- 
maier  in  d.  Vergl.  Darstellg.  IV,  S.  12. 

3)  S.  näheres  darüber  oben  S.  244,  Anm.  2. 

4)  Josef ina  I,  Kap.  5  („Von  den  Kriminalverbrechen,  weiche  auf  die  Ehre 
und  die  Freiheit  unmittelbar  Beziehung  haben"),  §  130:  „Notzucht  begeht 
derjenige,  der  eine  Weibsperson  in  der  schändlichen  Absicht,  sie  zu  mifibrancfaen, 
durch  gewalttätige  Bindung  oder  durch  GehUfen  seines  Lasters  außer 
Stand  setzt,  seinen  sträflichen  Begierden  Widerstand  zu  leisten,  und  der  sie 
dann  in  einem  solchen  gewaltsamen  Zustande  wirküch  mifibrauchetf ' ;  §  134: 
„Auch  ist  dieses  Verbrechens  schuldig  wer  durch  vorgezeigte  mörderischo 
Waffen  und  Drohung,  sich  derselben  su  gebrauchen,  eine  Weibsperson  zur 
Duldung  der  schändlichen  Mißbrauchung  nötiget*'.  Über  die  Strafen  (L  d.  R. 
hartes  Gefängnis  u.  öffentl.  Arbeit)  s.  §§  132,  133.  Über  die  Behandlung  der 
Notzucht  (u.  verwandter  Fälle)  im  A.  L.-R.  (II,  20,  Abschn.  12  [„Von  fleisch* 
liehen  Verbrechen"],  §  1048  ff.),  das  die  Beschränkungen  der  Josefina  nicht  auf- 
genommen hat,  obwohl  ihnen  v.  Globig  u. Huster  (Abhdlg.,  S.  235)  zugeneigt 
gewesen  (vgl.  oben  S.  244,  Anm.  2  a.  £.),  s.  näheres  noch  bei  Bartolomaeus  in 
d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  25,  S.  136  ff.  Die  Strafe  sollte  i.  d.  R.  Zuchthaus  (ev. 
auch  Festungs-  oder  Gefängnisstrafe)  von  längerer  oder  kürzerer  Daner  sein. 

5)  S.  Josef  ina  I,  Kap.  5,  §  140  ff.;  A.  L.-R.  II,  20,  Abschn.  18  („Von  Be- 
leidigungen der  Freiheit*'),  §  1095 ff.;  s.  dazu  v.  Liszt,  Lehrbuch,  §  104,  S.  368; 
Bartolomaeus  i.  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  25,  S.  145,  148/49;  Mlttermaier 
in  d.  Vergl.  DarsteUg.  IV,  S.  139  u.  Anm.  3.  Über  die  gleiche  Behandlung  dea 
Deükts  in  der  Literatur  s.  schon  oben  S.  243,  Anm.  1. 


Die  Strafrechtsreform  im  AnfkläniDgBzeitalter.  286 

Wansch  0  seine  gesetzliche  Festlegung  erhalten:  nämlich  die  strengere 
Bestrafung  des  Ehebruchs  der  Frau  (gegenüber  dem  des  Mannes) 
wegen  der  für  sie  damit  oft  verbundenen  physiologischen  Folgen.^) 
Während  dieses  Delikt  in  dem  Josefinischen  Gesetzbuche,  das  den 
erwähnten  Unterschied  nicht  kennt '),  in  den  Übertretungsabschnitt 
verwiesen  ist  4),  finden  wir  die  Bigamie  hier  sonderbarerweise  in 
«inem  Kapitel  mit  Betrug,  Diebstahl,  Baub  und  Brandlegung  zusam- 
mengestellt^) Im  Anschluß  an  die  Vorschriften  über  Kuppelei  und 
„Hurerei ^  (d.  h.  die  gewerbsmäßige  Unzucht,  Prostitution)  —  Delikte 
welche  die  Josefina  zwar  zu  „politschen  Verbrechen^  degradiert,  aber 
doch  ganz  allgemein  mit  Strafe  bedroht  hat  ^)  —  ist  vom  preußischen 
Gesetzgeber  auch  eine  kurze  Begelung  des  Bordellwesens  vorgesehen 
worden,  die  schon  einen  ziemlich  modernen  Anstrich  hat^)  In  ge- 
wissem Gegensatze  zu  den  freieren  Anschauungen  mancher  Aufklärer 

1)  Vgl.  oben  S.  241,  Anm.  2. 

2)  S.  A.  L.-R.  n,  20,  Abschn.  12,  §  1061—1064  n.  dazu  v.  Liszt,  Lebr- 
bach,  §  116,  S.  393/94,  auch  Bartolom  aens,  a.  a.  0.  S.  130  (vbd.  mit  S.  125 
tLber  die  gesetzliche  Regelung  des  ehelichen  Geschlechtsverkehre  im  A.  L.-R.  II. 
1,  §  694  ff.). 

3)  S.  Josefina  II,  Kap.  4,  §  44 — 46.  Ausdrücklich  hat  dies  Beccaria  in 
«einem  Gutachten  über  Teil  II  des  Jos.  Gesetzbuchs  vom  Jahre  1792  (Essel- 
born,  a.  a.  0.,  Anh.  I,  S.  185)  bemängelt  (vgl.  oben  S.  241,  Anm.  2).  —  In 
■beiden  Gesetzbüchern  war  das  Delikt  nur  auf  Antrag  zu  verfolgen  (s.  Jos.  n, 
§  45;  A.  L.-B.,  §  1061).  —  In  Frankreich  ist  vom  Jahre  1791—1810  der  Ehe« 
brach  straflos  gewesen.    Vgl.  Hittermaier  i.  d.  Vergl.  Daretellg.  IV,  S.  91. 

4)  S.  schon  oben  S.  284,  Anm.  1.  Hiergegen  bemerkte  Beccaria  in 
seinem  Gutachten  vom  Jahre  1792  (a.  a.  0.  S.  185),  daß  die  Wichtigkeit,  das 
eheliche  Band  unbefleckt  zu  erhalten,  .  .  .  vielleicht  die  Aufnahme  (des  Ehe- 
brachs)  unter  die  Kriminal  verbrechen  rechtfertigen  könnte.'' 

5)  S.  Josefina  I,  Kap.  6  („Kriminal verbrechen,  welche  auf  Vermögen  und 
Rechte  Bezug  haben^'),  §  175  ff.  —  Über  die  Behandlung  der  —  anscheinend  als 
-dem  Ehebruche  gleichartig  betrachteten  ~  Bigamieim  A. L.-R.  (II,  20,  Abschn. 
12,  §  1066ff.)  B.  Bartolomaeus,  a.  a.  0.  S.  128/29  u.  Mittermaier,  a.  a.  0. 
S.  85.    Über  den  Inzest  (A.  L.-R.  §  1039ff.)  s.  Bartolomaeus,  a.  a.  0.  S.  131. 

6)  S.  Josefina  11,  Kap.  5,  §  73,  74  (Kuppelei),  §  75,  76  (gewerbsmäßige 
Unzucht;  Strafe:  zeitlich,  strengeres  Gefängnis,  im  Rückfalle  jedesmal  Verdoppelung 
der  „letzten  ausgestandenen  Strafe*^).  S.  dagegen  als  zu  hart:  Beccaria  in 
seinem  Gutachten  vom  Jahre  1792  (Esselborn,  a.  a.  0.  S.  186;  vgl.  auch  schon 
oben  S.  245,  Anm.  3.)  Über  die  ähnliche  Behandlung  der  Prostitution  bei 
Marat  (Plan  de  lögislation  criminelle,  p.  219ff.)  s.  G.-S.  61,  S.  338  und 
Anm.  5. 

7)  S.  A.  L.-R.  II,  20,  Abschn.  12,  §  996ff.  (Kuppelei),  §  999ff.  („gemeine 
Hurerei**),  §  1000—1027  (betr.  das  Bordell wesen)u.  dazu  Mitte rmai er,  a.  a.  0.  S. 
158,  177  u.  S.  12,  wo  er  meint,  daß  sich  „inhaltlich^  unsere  modernen  Prostitutions- 
bestimmungen nicht  allzu  sehr  von  den  damaligen  unterscheiden. 


286  XIV.   GÜNTHEK 

über  die  Fälle  der  sog.  „widernatfirlichen  Unzucht^  yerrät 
sich  gegen  diese  Straftaten  in  der  gesetzlichen  Ansdmcksweise 
noch  ein  ziemlich  starker  Abschen  sowohl  im  Landrecht  als  anch  in 
der  Josef ina  %  tatsächlich  erscheint  jedoch  die  Bestrafung  dieser  Hand- 
lungen (die  in  Österreich  ebenfalls  ans  dem  Gebiete  der  Kriminal* 
verbrechen  in  das  der  Polizeiübertretnngen  verwiesen)  in  beiden  Ge- 
setzen —  im  Vergleich  wenigstens  zu  den  barbarischen  Bestimmungen 
des  früheren  Rechts  —  immerhin  nicht  unwesentlich  gemildert^ 

Das  in  der  zeitgenössischen  Literatur  so  lebhaft  erörterte  Ver- 
brechen des  Kindesmordes  ist  vom  Josefinischen  Gesetzbuch 
absichtlich  nicht  speziell  hervorgehoben  worden  3),  so  daß  die  all- 
meinen  Vorschriften  über  den  Verwandtenmord  darauf  angewendet 
werden  mußten  %  eine  Härte,  die  nur  durch  die  gänzliche  Abschaffung 
der  Todesstrafe  auch  für  diese  Missetat  in  etwas  gemildertem  Lichte 
erscheint  In  Preußen  hatte  schon  Friedrich  der  Große  —  ganz 
in  Übereinstimmung  mit  den  Aufklärern  —  viel  Gewicht  auf  die  Ver- 
hütungsmittel des  Kindesmordes  gelegt  und  gleichzeitig  die  grausamen 


1)  Vgl.  Josefina  II,  Kap.  5,  §  71  (^Wer  die  Menschheit  in  dem  Grade 
abwflrdigt  .  .  .'')  A.  L.-R.  n,  20,  AbBchn.  12,  §  1069ff.  („Sodomiteiei  nnd 
andere dergl. unnaturliche  Sünden,  welche  wegen  ihrer  Ab&chealichkeit  hier 
nicht  genannt  werden  können  . .  .**).  Vgl.  BartolomaeuB  in  d.  Z.  f.  d.  gea. 
Str.-W.  25,  S.  1S5;  Mittermaier  in  d.  Vergl.  Darstelig.  IV,  S.  148  n.  Anm.  4 
u.  5.  Zu  beiden  Gesetzen  s.  insbes.  anch  noch  Wachenfeld,  Homosexualität 
und  Strafgesetz,  Leipz.  1901,  S.  25  n.  35,  der  (bes.  gegen  Wahlberg  in  v. 
Holtzendorffs  Rechtslexikon,  Bd.  III,  S.  693  [vgl.  auch  v.  Liszt,  Lehrb. 
§  110,  S.  385])  die  Ansicht  vertritt,  daß  die  Josefina  nur  scheinbar  eine  viel 
leichtere  Auffassung  von  diesen  Delikten  gehabt  habe  als  das  A.  L.-R. 

2  )  S.  z.  B.  Finger,  Österreich.  Strafr.  I,  §  57  (Vergleich  der  Strafe  für 
Bestialität  in  der  Theresiana,  die  hierfür  noch  den  Feuertod  kannte,  mit  der- 
jenigen der  Josefina).  Auch  das  A.  L.-R.  ließ  für  keinen  Fall  mehr  die  Todes- 
strafe  zu. 

3)  In  den  Entwürfen  zur  Josefina  hatte  man  allerdings  eine  besondere, 
mildere  Vorschrift  für  den  Kindesmord  im  e.  Sinne  (begangen  durch  die  un- 
eheliche Mutter)  vorgesehen,  die  jedoch  —  nach  sehr  eingehenden  Verhandlungen 
darüber  —  nicht  in  das  Gesetzbuch  selbst  aufgenommen  wurde.  Vgl.  das  nähere 
hierüber  jetzt  bei  Högel,  Geschichte  II,  S.  152,  159,  160,  178-181  u.  188/89. 

4)  S.  Ciosmann,  Die  Kindestötung,  S.  17.  Über  den  Verwandtenmord, 
s.  Josefiua  I,  Kap.  4,  §92  (Strafe:  „im  2.  Grade  langwieriges  hartes  Gefängnis'', 
das  „noch  durch  empfindliche  Zusätze  verschärfet  werden'^  sollte).  Ausdrückliche 
gesetzliche  Regelung  haben  dagegen  in  der  Josefina  die  dem  Kindesmorde  nahe 
verwandten  Delikte  (vgl.  oben  S.  255/56,  Anm.  2  a.  £.)  der  „Abtreibung  der 
Leibesfrucht''  (I,  Kap.  4,  §§  89  f.  u.  112  ff.  [vgl.  Lew  in,  Die  Fruchtabtreibung  usw. 
S.  83])  und  der  „Weglegung  der  Kinder''  (I,  Kap.  4,  §§  89,  g  u.  116  ff.  [vgl. 
Radbruch  in  d.  Veigl.  Darstelig.  V,  S.  187,  Anm.  4])  erfahren« 


Die  Strafrechtsrefonn  im  Aafklänm^szeitalter.  287 

Strafen  des  älteren  Rechts  gemildert  0  Im  Anschlüsse  hieran  hat 
anch  das  Landrecht  seinen  Strafbestimmnngen  zunächst  ansführliche, 
mis  heute  zum  Teil  recht  sonderbar  anmutende  „Vorbeugungsmittel"^ 
Yorangeschickt^),  hält  dann  für  die  Tat  selbst  zwar  noch  an  der 
Todesstrafe  als  Segel  fest,  will  diese  aber  doch  in  einfachster  Weise 
(durch  Enthauptung  mit  dem  Schwerte)  vollziehen,  ^)  ja  für  einige  be- 
sondere Falle  auch  nur  Festungshaft,  allerdings  noch  auf  Lebenszeit, 
eintreten  lassen.^) 

Deutlicher  zeigt  sich  die  Fortbildung  der  Fridericianischen  Ge- 
setzgebung in  humanem  Sinne  bei  der  Behandlung  des  Diebstahls 
im  Landrecht  Die  Freiheitsstrafen,  die  an  Stelle  der  schon  in  den  vier- 
ziger und  fünfziger  Jahren  des  achtzehnten  Jahrhunderts  beseitigten 
Todesstrafe  getreten  waren*),  haben  hier  noch  eine  weitere  Herab- 

1).  S.  die  Kab.-Ordre  vom  81.  Juli  u.  Reskript  vom  7.  August  1740  (betr. 
Aufhebung  der  [von  Friedrich  Wilhelm  I  1721/23  noch  eingeschärften]  Strafe 
des  „Säckens**  und  ihren  Ersatz  durch  einfache  Enthauptung)  und  die  Edikte 
vom  17.  Aug.  1756  u.  8.  Febr.  1765  (bes.  beti*.  die  Verhütung  des  Rindesmordes). 
Vgl.  Hälschner,  Geschichte,  S.  174  u.  Anm.  3,  S.  182;  v.  Bar,  Handbuch  I, 
S.  157  u.  Anm.  645;  Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  45ff. 

2)  S.  A.  L.-K.  II,  20,  Abschn.  11,  §  888 ff.  und  dazu  Bopp  in  v.  Rot- 
teck und  Welckers  Staats-Lexikon  Bd.  VIII  (1847),  S.  123ff.  Besonders  an- 
stößig erscheint  uns  heute  die  oft  ang^eführte  Vorschrift  des  §  902,  wonach  u.  a. 
die  Mütter  (oder  deren  Steüvertretorinnen)  „ihre  Töchter  (oder  Pflegebefohlenen) 
nach  zurückgelegtem  vierzehnten  Jahre  von  den  Rennzeichen  der  Schwanger- 
schaft und  den  Vorsichtsmaßregeln  bei  Schwangerschaften  und  Niederkünften, 
besonders  von  der  Notwendigkeit  der  Verbindung  der  Nabelschnur  .  .  .  unter- 
richten*'  sollten.  —  S.  Hälschner,  a.  a.  0.  S.  202;  v.  Liszt,  Lehrb.,  §84. 
S.  310.  Über  die  (in  Übereinstimmung  mit  Friedrichs  des  Großen  Edikt 
vom  8.  Febr.  1765,  §  2  [vgl.  v.  Bar,  Handbuch  I,  S.  158,  Anm.  645])  noch 
beibehaltene  Pflicht  zur  Anzeige  der  Schwangerschaft  bezw.  Bestrafung  der  Ver- 
heimlichung derselben  s.  A.  L.-R.  II,  20,  Abschn.  11,  §  933  ff. 

3)  S.  A.  L.-R.U,  20,  Abschn.  11,  §  965ff.  unddazu  i.allg.:  Klein,  Grund- 
sätze (2.  Aufl.),  §  345 ff.,  ö.  267 ff.  u.  bes.  §  853,  S.  273 ff.;  Bopp  in  v.  Rot- 
teck u.  Welckers  Staats-Lexikon  VIII,  S.  117  u.  Anm.  11  (Literaturangaben); 
vgl.  auch  Wehrli,  Kindesmord,  S.  122. 

4)  S.  A.L.-R.  II,  20,  Abschn.  11,  §  968  (bei  Zweifel,  ob  „das  Kind  lebendig 
zur  Welt  gekommen  oder  in  der  Geburt  noch  gelebt  habe")  u.  §  972  ff.  (bei  Ver- 
leitung zur  Tat  durch  die  Eltern).  Vgl.  dazu  Ciosmann,  Kindestötung,  S.  17. 
Für  die  Abtreibung  verhängte  das  A.  L.-B.  (II,  20,  Abschn.  11,  §  985ff.)  in 
keinem  Falle  mehr  die  Todesstrafe.  Vgl.  Klein,  Grundsätze,  §  360,  S.  281; 
Lew  in,  Die  Fruchtabtreibung,  S.  83,  84., 

5)  S.  die  Kab.-Ordre  vom  27.  Juli  1743  (mit  Beseitigung  der  Todesstrafe 
für  die  gewöhnlichen  Fälle  des  Diebstahls)  und  die  Edikte  vom  8.  April  1750 
und  17.  Jan.  1751  (die  bei  Diebstahl  „aus  Unbesonnenheit,  Armut  und  dergleichen 
Umständen  mehr*^  besondere  Milde  empfahlen).  Näheres  noch  bei  Willen - 
bücher,  a.  a.  0.  S.  37,  38. 


288  XIV.  Günther 

Setzung  erfahren  i);  ja  sie  galten  nach  damaligen  Anschauungen  für 
80  milde,  daß  Preußen  von  Dieben  und  Gaunern  aus  benachbarten 
Staaten,  wo  ihnen  vielfach  noch  der  Galgen  drohte,  förmlich  über- 
schwemmt worden  sein  soll.  2)  Scharf  sind  freilich  noch  die  Straf- 
drohungen gegen  den  Bandendiebstahl  geblieben^},  aber  dies  erklärt 
fiich  unschwer  aus  dem  damals  blühenden  Bäuberwesen,  gegen  dessen 
Unterdrückung  auch  schon  Friedrich  der  Große  aufs  energischste 
vorgegangen  war.*)  Die  Bestrebungen  für  die  Wucherfreiheit 
endlich  haben  —  gleichwie  in  Frankreich  ^)  —  einen  vorübergehenden 
Erfolg  in  der  österreichischen  Gesetzgebung  zu  verzeichnen  gehabt, 
indem  im  Jahre  1787  durch  ein  besonderes  kaiserliches  Patent  (vom 
29.  Januar)  in  den  Erblanden  der  Monarchie  alle  bisherigen  Wucher- 
gesetze aufgehoben  wurden,  wogegen  freilich  schon  1803  wieder 
die  Reaktion  eintrat.  <^)  Im  preußischen  Landrecht  zeigt  sich  die  freiere, 
auch  von  Friedrich  dem  Großen  geteilte^  Auffassung  des  Wuchers 
wenigstens  noch  darin,  daß  eine  Überschreitung  des  Zinsmaximums 
nur  dann  kriminell  strafbar   sein  sollte^    wenn  sie  zum  Zwecke  der 


1)  S.  A.  L.-B.  II,  20,  Abschn.  14,  §  tlOSff.  u.  bes.  §  1121  ff.  Insbes.  über 
den  Hausdiebstahl,  der  i.  d.  Regel  bereits  zum  Antragsdelikt  erhoben, 
£.  §  1137ff.  vbd.  mit  §  1122,  1124.  Der  Müde  der  Strafen  (vgl.  auch  Berner, 
Die  Straffi^esetzgebung,  §  53,  S.  43)  steht  freilich  eine  unbefriedigende,  mit  starker 
Kasuistik  durchsetzte  juristische  Behandlung  gerade  dieser  Deliktsgruppe  gegen- 
über. S.  Hälschner.  Geschichte,  S.  224/25.  Gleichfalls  unbefriedigend  ist  hierin 
•die  Joseflna  (I,  Kap.  6,  §  156  ff.),  die  z.  B.  —  gleich  der  Theresiana,  Art  94, 
§  4  (s.  Harburger  in  d.  Vergl.  Darstellg.  VI,  S.  1S6)  —  auch  die  Unterschlagung 
(§  157)  noch  „ganz  in  den  Diebstahl  aufgehen*^  ließ.  (v.  Liszt,  Lehrbuch« 
§  131,  S.  446). 

2)  S.  (V.  Arnim,)  Brachstucke  über  Verbrechen  und  Strafen,  I,  S.  25 ; 
Hälschner,  Geschichte,  S.  226. 

3)  S.  A.  L.-R.  II,  20,  Abschn.  14,  §  1208 ff.  („Diebstahl  und  Raub  in  Ban- 
^en""),  wo  sich  (bes.  für  die  Anführer)  mehrfach  die  Todesstrafe  (nach  §  1210 
z.  B.  durch  den  Galgen,  nach  §  1212  sogar  durch  das  Rädern  „von'  oben 
her*"  zu  vollstrecken)  angedroht  findet;  vgl.  auch  §  11 87 ff.  über  den  Raub. 

4)  S.  Kab.-Ordre  vom  13.  März  1786;  Bern  er,  Die  Strafgesetzgebung,  §  40, 
S.  34;  V.  Bar,  Handbuch  I,  S.  158;  Willenbücher,  a.  a.  0.  S.  20  und 
Anm.  2. 

5)  S.  darüber  jetzt  bes.  Rieh.  Schmidt  in  d.  Vergl.  Darstellg.  VIII,  S.  170 ff. 
u.  Anm.  3. 

6)  Näheres  hierüber  bei  Isopescul-Grecul,  Das  Wucherstrafrecht  usw. 
S.  143/44,  145ff.;  vgl.  auch  R.  Schmidt,  a.  a.  0.  S.  170;  v.  Liszt,  Lehrbuch, 
%  143,  S.  481/82. 

7)  S.  über  die  Kab.-Ordres  vom  23.  und  26.  Mai  1779:  Willenbücher, 
a.  a.  0.  S.  41. 


Die  Strafrechtarefonn  im  AufklärungBzeitalter.  289 

Verschleierung  ^unter  irgend  einem  anderen  Namen  und  Geschäfte^ 
verborgen  worden  war.*) 

Überblicken  wir  zum  Schlüsse  noch  einmal  die  deutsche  Straf- 
gesetzgebung der  Aufklärungsepoche,  so  wird  man  zugeben  müssen 
daß  sie  —  trotz  vieler  Mängel  im  einzelnen,  trotz  so  mancher  noch 
unerfüllt  gebliebener  Wünsche  —  im  großen  ganzen  doch  einen  un- 
verkennbaren Fortschritt  enthält,  daß  sie  sich  darstellt  als  eine  unent- 
behrlich  gewesene  Ubergangsstufe  von  dem  alten  ^gemeinen*^  Bechte 
zu  der,  durch  Feuerbachs  geniale  Arbeiten  (insbesondere  das 
bayerische  Strafgesetzbuch  von  1813)  eingeleiteten  Epoche  der  Neu- 
zeit^). Sie  wird  deshalb  in  der  Geschichte  unseres  Strafrechts  stets 
ihren  ehrenvollen  Platz  behaupten.  Aber  auch  für  die  Gegenwart 
für  die  modernen  Reformbestrebungen  auf  strafrechtlichem  Gebiete 
können  wir  aus  ihr  lernen.  Zunächst  zeigt  sie  uns,  daß  alle  einiger- 
maßen berechtigten  Wünsche  des  Volkes  schheßlich  doch  früher  oder 
später  auch  beim  Gesetzgeber  Gehör  und  Erfüllung  finden,  während 
die  mit  der  jeweiligen  Kulturstufe  nicht  mehr  vereinbaren  Be- 
stimmungen verschwinden.  Sodann  aber  lehrt  uns  jene  Epoche  der  Ge- 
setzgebung auch,  daß  nur  diejenigen  neueren  Vorschriften  längeren  Be- 
stand zu  haben  vermögen,  in  denen  sich  zugleich  noch  die  Wahrung 
der  sog.  „geschichtlichen  Kontinuität^  zeigt,  daß  dagegen  allzu  kühne 
Reformen,  durch  die  der  Zusammenhang  mit  den  geschichtlichen 
Wurzeln  des  heimischen  Rechts  ganz  zerrissen  wird,  sozusagen  nur 
das  Leben  von  Eintagsfliegen  haben  können.  3)    Das  kurze  Bestehen 


1)  S.  A.  L.-R.  II,  20,  AbschD.  15,  §  1273 ff.;  vgl.  I80pe8cul-Grecul,a.a.  0. 
S.  153  u.  Anm.  1;  s.  (über  die  Strafe  [i.  d.  R.  Erlegung  des  T,ganzen  ver- 
scbriebonen  Betrags  an  Kapital  und  Zinsen"  an  den  Fiskus])  auch  Gunthofi 
Wiedervergeitung  KI  1,  S.  83,  Anm.  179,  180. 

2)  Ausdrücklich  anerkannt  ist  dies  bezügl.  des  A.  L.-R.  von  Hälschner, 
Geschichte,  S.  194  (eine  „notwendige  Vorstuf e*^  der  zukünftigen  Gesetz- 
gebung). Über  den  Einfluß  der  Anschauungen  der  Aufklärungszeit  bezw.  auch 
des  Strafrechts  des  A.  L.-Rs.  auf  Feuerbach  s.  llälschner,  a.  a.  0.  S.  230. 
V.  Rohland,  Histor.  Wandlungen,  S.  137  bezeichnet  Feuerbach  geradezu 
noch  als  den  „hervorragendsten  Vertreter  der  Auf  klärungszeit  in  derStral- 
rechtswissenschaft.'' 

3)  8.  über  die  Wahrung  der  sog.  „Kontinuität^  der  Rechtsentwicklung  bes. 
Birkmeyer  im  Archiv  für  Straf r.  48,  S.  72;  vgl.  auch  Lucas  in  der  Deutsch. 
Jur.-Ztg.  vom  1.  Jan.  1906  (Jahrg.  XI,  Nr.  1),  8p.  29.  Richtig  bemerkt  ferner 
Oerland  im  Zentralblatt  für  Rechtswiss.,  Jahr^'.  1906  (Bd.  XXV,  Heft  10),  Nr. 
298,  S.  305:  «Will  eine  Refoim  wirklich  Lebensfähiges  schaffen,  so  muß  sie 
organisch  an  die  Entwicklung  der  Vergangenheit  anschließen.''  Vgl.  auch 
noch  Binding,  Grundilß  (Allg.  Teil»,  7.  Aufl.,  Vorworts.  XIX  (,Fortbildung 

Archiv  für  Kriminalanthropologie.    28.  Bd.  19 


290  XIV.   GÜ2?THEB 

der  radikalen  Nenernngen  des  Josefinischen  Gesetzbuchs  in  Österreich 
einerseits,  die  langjährige  Geltung  des  mehr  konservativ  gebliebenen 
Allgemeinen  Landrechts  in  Preußen  andererseits  sind  dafür  schlagende 
Beispiele.  Allerdings  wird  nun  der  moderne  Strafgesetzgeber  bei  der 
täglich  zunehmenden  Intemationalität  des  Bechts  und  des  Becbts- 
Verkehrs  nicht  umhin  können,  auch  im  Auslande  bestehende  Vor- 
schriften und  Einrichtungen,  die  sich  dort  bereits  bewährt  haben,  zu 
berficksichtigen,  wie  ja  denn  auch  die  große  wissenschaftliche  Vor- 
arbeit zu  unserer  Strafrechtsreform  auf  breitester  rechtsvergleichender 
Grundlage  aufgebaut  ist.  Zweierlei  aber  —  und  das  betont  auch  das 
Vorwort  zu  diesem  monumentalen  Werke  ausdrücklich  —  wird  man 
dabei  trotz  aller  internationalen  Zugeständnisse  nicht  außer  Acht 
lassen  dürfen :  einmal  die  Anknüpfung  des  neuen  Gesetzes  an  unsere 
heimische  Rechtsentwicklung,  sodann  die  Berücksichtigung 
des  Rechtsbewußtseins  des  deutschen  VolkesJ)  Nach  diesen 
beiden  Seiten  hin  werden  die  schier  zahllosen  Abänderungsvorschläge 
unseres  geltenden  Straf  rechts,  die  sich  von  Tage  zu  Tage  noch 
mehren,  zu  prüfen  und  zu  sichten  sein,  wird  man  das  Untaugliche 
verwerfen,   das  Passende   aufnehmen    dürfen.  2)    Freilich   eine  müh- 


des   Rechtszustandes   der  Gegenwart    in    der   Richtang    geschichtlicher 
Überlieferung"). 

1)  Vorwort  zur  Vergleich.  Darstellung.,  S.  V.  S.  etwa  auch  (über  die  Be- 
rücksichtigung der  nationalen  Seite  des  Rechts)  Lucas,  a.  a.  0.  Sp.  27  und 
(über  die  des  Volksbewußtseins)  Günther,  Wiedervergeltg ,  II,  Vorwort,  S.  XI; 
vgl.  femer  v.  Hippel,  Strafrechtsreform  und  Strafzwecke,  Göttingen  1907, 
S.  6,  9,  10. 

2)  Auf  Einzelheiten  in  dieser  Beziehung  einzugehen,  würde  hier  zu  weit 
führen.  Um  jedoch  wenigstens  das  engere,  am  heißesten  umstrittene  Grebiet  des 
Strafensystem s  kurz  zu  berühren,  so  scheint  mir  die  Inangriffnahme  einer  Reform 
kaum  erfolgreich,  ehe  man  sich  nicht  über  die  großen  Grundprinzipien  (wie  z.  B. 
Verwerfung  oder  Beibehaltung  der  Vergeltungsidee  neben  dem  Zweckgedanken) 
einig  geworden  ist.  Hierbei  aber  dürfte  es  m.  £.  allerdings  wohl,  um  die  an- 
erkennenswerten Fortschritte  der  neueren  Richtung  im  Strafrecbte  mit  den  zur 
Zeit  in  ziemlich  weiten  Kreisen  des  Volkes  doch  nun  einmal  noch  herrschen* 
den  Anschauungen  zu  vereinbaren,  zunächst  kaum  ohne  „Kompromisse'^ 
zwischen  der  älteren  sog.  ^klassischen'*  und  der  „modernen^  Schule  abgehen, 
falls  nicht  alle  bereits,  geleistete  Arbeit  am  Ende  vergeblich  gewesen  sein  soll. 
S.  dafür  (in  wesentl.  Übereinstimmung  mit  v.  Liszt,  jedoch  gegen  Birkmey er, 
V.  Sichart  [in  d.  Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  27,  S  562]  u.a.m.)  auch:  Mittermaier, 
in  d.  Z.  für  Schweiz.  Strafr.  14,  S.  145ff.;  Spira,  Die  Zuchthaus-  u.  Gefängnis- 
strafen usw.,  S.  2,  3;  Hamm  in  d.  Deutsch.  Jur.-Ztg.  v.  15.  Febr.  1907,  Sp.  252; 
Kahl,  Das  neue  Strafgesetzbuch,  S.  17.  —  Daß  es  weder  vom  Standpunkte  der 
alten  noch  der  neuen  Richtung  zu  billigen  wäre,  wenn  Strafmittel  in  die  künftig^e 
Gesetzgebung    Aufnahme   fänden,     die,   wie   die    (befremdlicherweise    neuer- 


Die  Strafrechtsrefonn  im  Aufkläningszeitalter.  291 

same  und  schwierige  Aufgabe!  Für  ihr  endgültiges  Gelingen  aber  läßt 
die  Gründlichkeit,  mit  der  man  sie  in  Angriff  genommen,  die  beste 
Hoffnung  hegen. 

dingB  in  Norwegen  [im  Str.-G.-B.  vom  22.  Mai  1902,  $  201  und  in  Dänemark 
[durch  Ges.  vom  1.  April  1905,  vgl.  Mittlgn.  der  I.  K.  V.  13,  S.  760  u.  Z.  f.  d. 
ges.  Str.-W.  26,  S.  235]  in  gewissem  umfange  wieder  eingeführte)  Prügelstrafe, 
einen  unzweifeUiaften  Kulturrückschritt  bedeuten,  sollte  eigentlich  heute,  wo 
selbst  China  zu  einer  Humanisierung  seines  Strafensystems  geschritten  (s.  darüber 
Z.  f.  d  ges.  Str.-W.  26,  S.  576),  bei  uns  in  Deutschland  kaum  noch  einer  be- 
sonderen Hervorhebung  bedürfen. 

♦)  Nachtrag  zu  S.  269,  Anm.  1:  In  seinem  Aufsatze  „Das  Josefinische 
Strafrecht  in  den  belgischen  Niederianden''  (Z.  f.  d.  ges.  Str.-W.  28,  S.  22  fL) 
hat  C.  Stooß  näher  nachgewiesen,  daß  „die  Franzosen**  zwar  „das  Josefinische 
Strafgesetz  bei  der  Bestimmung  des  Versuchs  zu  Rate  gezogen'*  haben,  daß  sie 
jedoch  ,die  Formel  des  Vereuchs,  die  das  französische  Strafrecht  und  seine  Nach- 
bildungen charakterisiert,  den  ,commencement  d'execution*  .  .  .  nicht  dem  öster- 
reichischen Gesetze"  verdanken  (a.  a.  0.  S.  29). 


19 


XV. 

Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs 
der  gerichtlichen  Psychologie  und  Psychiatrie  zu  Giessen 

vom  15.— 20.  April  1907. 

Von 

Dr.  Richard  Bauer,  k.  k.  Staatsanwaltssubstitat  in  Troppaa. 


Hans  Groß  war  sicherlich  einer  der  ersten,  welcher  in  der  neu- 
eren Zeit  in  dem  Handbuche  für  den  Untersuchungsrichter  darauf 
hinwies,  daß  der  Straf-  insbesondere  aber  der  Untersuchungsrichter 
gewisse  Kenntnisse  in  der  Psychiatrie  sein  eigen  nennen  müsse,  um 
seinen  Beruf  voll  und  ganz  ausfüllen  zu  können.  Langsam  nur 
brach  sich  dieser  Gedanke  Bahn,  bis  er  endlich  immer  stärkere  Wurzeln 
faßte,  und  fast  gewinnt  es  nun  den  Anschein,  als  ob  er  heute  im  Be- 
ginne einer  Siegeslaufbahn  wäre.  —  Im  Großherzogtum  Hessen 
besteht  seit  dem  Jahre  1904  eine  Vereinigung  für  gerichtliche  Psycho- 
logie und  Psychiatrie,  deren  Zweck  ist,  die  psychologischen  und 
psychiatrischen  Fragen  im  Bechtsleben  zu  erörtern  und  zu  studieren. 
Die  genannte  Vereinigung,  deren  Mitglieder  sich  aus  Juristen  und 
Medizinern  zusammensetzen,  zählt  heute  fast  200  Mitglieder  und  ent- 
faltet eine  äußerst  rege  geistige  Tätigkeit 

Wie  aus  dem  ersten  Hefte  des  4.  Jahrganges  der  von  Professor 
Dr.  Gustav  Aschaffenburg  herausgegebenen  Monatsschrift  für  Kriminal- 
Psychologie  und  Strafrechtsreform  zu  entnehmen  ist,  sind  in  diesem 
Jahre  zu  den  bereits  bestehenden  Vereinigungen  dieser  Art  auch  solche 
in  Halle  a.  S.  und  in  Holland  dazugekommen,  und  es  wäre  nur  zn 
wünschen,  daß  auch  in  Österreich  derartige  Vereinigungen  entstehen 
würden.  Ein  schöner  Gedanke  wäre  es  dann,  wenn  alle  diese  Ver- 
einigungen in  geistige  Verbindung  treten  und  regelmäßig  ihre  Schriften 
unter  einander  tauschen  würden. 

Die  günstigen  Erfahrungen  nun,  welche  Professor  Dr.  Robert 
Sommer  in  Gießen  bezüglich  des  Zusammenarbeitens  von  Medizinern 
und  Juristen  in  der  obenerwähnten  hessischen  Vereinigung  gewonnen 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtl.  Psychologie  usw.  293 

hatte,  bewog  denselben  im  Vereine  mit  den  Professoren  Dr.  med.  Gustav 
Aschaffenburg  aus  Köln,  Dr.  jur.  W.  Mittermaier  aus  Gießen  und  dem 
Privatdozenten  Dr.  med  Dannemann  aus  Gießen  in  der  Zeit  vom  15. 
bis  20.  April  1907  einen  internationalen  Kurs  abzuhalten,  welcher 
jedenfalls  der  Idee  der  juristisch-psychiatrischen  Vereinigungen  weitere 
Verbreitung  verschaffen  sollte.  Aus  dem  Anklänge,  welchen  dieser 
Gedanke  des  Professors  Sommer  fand,  ist  zu  entnehmen,  daß  derselbe 
nicht  nur  ein  glänzender  war,  sondern  auch  einem  allgemeinen  Be- 
dürfnisse entsprach.  135  Teilnehmer,  Mediziner,  Juristen,  Strafanstalt»- 
beamte,  darunter  21  Österreicher,  konnte  Professor  Sommer  am  H.Apnl 
1907  als  Hörer  des  Kurses  begrüßen,  welchen  Privatdozent  Dr.  Danne- 
mann am  15.  April  eröffnete  und  mit  einem  Zitate  aus  dem  Handbuche 
für  den  Untersuchungsrichter  des  Professors  Hans  Groß,  daß  sich  der 
Untersuchungsrichter  noch  einmal  auf  die  Schulbank  setzen  und  am 
lebendigen  Materiale  studieren  müsse,  seinen  ersten  Vortrag:  „Der  an- 
geborene Schwachsinn  in  Bezug  auf  Kriminalität  und  Psychiatrie^ 
begann.  Unter  diesem  Titel  wurden  einesteils  die  Ursachen,  welche 
die  Entwicklung  des  Gehirnes  beeinträchtigten  und  somit  den  Schwach- 
sinn des  Kindes  herbeiführten,  die  sowohl  während  des  fötalen  Lebens 
als  auch  nach  der  Geburt  des  Kindes  entstanden  sein  können,  andern-- 
teils  die  verschiedenen  Grade  des  Schwachsinns  (Idiotie,  Imbezillität) 
erörtert  und  dargetan,  daß  die  Erkennbarkeit  von  leichten  Fällen  der 
Imbezillität  mitunter  recht  schwierig  und  nur  durch  die  Analyse  der 
gesamten  Persönlichkeit  zu  erweisen  sei.  Nach  Aufzählung  der  Ver- 
brechen, welche  von  Schwachsinnigen  häufig  begangen  werden,  zu  welchen 
oft  ihre  Reizbarkeit  und  Intoleranz  gegen  Alkohol  Anlaß  geben,  oft 
auch  Eachsucht  und  Grausamkeit  das  Motiv  bilden,  rät  Dannemann 
einesteils  zur  Bekämpfung  des  Schwachsinns  duröh  prophylaktische 
Maßregeln,  andemteils  durch  Versorgung  der  Imbezillen  in  Heimen, 
in  welchen  sie  für  verschiedene  Berufe  ausgebildet  und  im  Falle  der 
Unverbesserlichkeit  dauernd  verwahrt  werden  könnten^  In  seinem 
zweiten  Vortrage  „Erworbene  Geistesschwäche  und  Kriminalität"  er- 
läuterte Dannemann  an  zahlreichen  Beispielen  Fälle  des  primären 
Schwachsinns,  behandelte  die  auf  organische  Änderungen  des  Sicntral- 
organs  zurückzuführende  dementia  paralytica,  deren  Ursprung  zumeist 
in  Syphilis  zu  suchen,  und  die  dementia  senilis,  bei  welch  letzterer 
das  häufig  an  Kindern  begangene  Sittlichkeitsdelikt  besonders  die 
Aufmerksamkeit  der  praktischen  Strafrechtler  in  Anspruch  nahm. 
Dannemann  führte  diesbezüglich  aus,  daß  die  Konstatierung,  daß  beim 
Manne  eine  gewisse  Altersgrenze  überschritten  sei,  an  sich  noch  gar 
keinen  Beweis  mache,  und  daß  zur  Erreichung  eines  richtigen  Ergeh- 


294  XV.  Bauer 

nisses  eine  genaue  Untersuchung  der  gesamten  Persönlichkeit,  der 
Merkfähigkeit^  des  Assoziationsvermögens,  des  Vorhandenseins  von 
Alkoholismus  etc.  vorgenommen  werden  müsse^  wodurch  unseres  Er- 
achtens  nach  Dannemann  in  einen  angenehmen  Gegensatz  zu  manchen 
Psychiatern  tritt,  die  bei  Sittlichkeitsdelikten  von  älteren  Leuten  mit 
Greisenblödsinn  oft  allzurasch  bei  der  Hand  sind,  wobei  aber  zu  be- 
denken ist,  daß  Straflosigkeit  solcher  Personen,  die  dann  nach  wie 
vor  ihren  Geschäften  und  Vergnügungen  nachgehen,  das  allgemeine 
Bechtsgefühl  auf  das  Tiefste  verletzen  muß. 

Mit  der  Schilderung  der  strafrechtlichen*  Verwicklungen  der  Pa- 
ranoiker  betrat  Dannemann  ein  Gebiet,  welches  für  den  praktischen 
Kriminalisten  von  der  größten  Bedeutung  ist,  da  z.  B.  der  Wahn  ehelicher 
Untreue,  Größenwahn  etc.  sehr  häufig  zu  strafbaren  Handlungen  Anlaß 
geben  und  somit  die  Vertrautheit  des  Strafrichters  mit  den  Symptomen 
dieser  Krankheitsformen  um  so  gebotener  erscheint,  als  in  solchen 
Fällen  mit  der  psychiatrischen  Untersuchung  je  eher  desto  besser  ein- 
zusetzen ist 

Nach  Schilderung  einiger  transitorischer  geistiger  Störungen  (Me- 
lancholie^ Manie  etc.)  ging  Dannemann  zur  Erörterung  der  Simulation 
geistiger  Erkrankungen  über,  welche  nach  seinen  Ausführungen  bei 
völliger  geistiger  Gesundheit  sehr  selten,  dagegen  auf  der  Basis 
krankhafter  Beschaffenheit  häufiger  auftritt  (Ahnlich:  „Kriminalpsycho- 
logie" von  Dr.  Robert  Sommer.  Leipzig,  Verlag  von  S.  Ambrosius 
Barth.  1904,  Seite  223  und  „Das  Verbrechen  und  seine  Bekämpfung^ 
von  Prof.  Dr.  G.  Aschaffenburg.  Heidelberg  1906,  Carl  Winters  Uni- 
versitätsbuchhandlung, Seite  169.)  Wenn  wir  auch  Dannemanns  wei- 
terer Behauptung,  daß  der  Psychiater  heute  auf  die  Dauer  durch 
Simulation  nicht  *zu  täuschen  sei,  nicht  widersprechen  wollen,  so 
können  wir  dennoch  nicht  umhin,  unserem  Zweifel  über  das  seltene 
Vorkommen  der  Simulation  durch  geistig  völlig  Gesunde  Ausdruck 
zu  geben.  Pannemann  schloß  seine  Vorlesungen  mit  einem  höchst 
interessanten  Vortrage  über  „Psychologie  und  Psychopathologie  im 
Polizeiwesen^,  wobei  er  die  Anschauung  vertrat,  daß  man  auch  den 
Polizeischutzleuten  in  besonderen  Kursen,  wie  er  es  vor  3  Jahren  in 
Darmstadt  getan,  die  wichtigsten  Grundlehren  der  Psychiatrie  bei- 
bringen solle,  was  z.  B.  bei  der  Feststellung  des  Trunkenheitsgrades, 
des  Vorhandenseins  eines  pathologischen  Bausches  des  Beschuldigten, 
sowie  in  vielen  anderen  Fällen  bei  Einvernahme  der  Polizeileute  als 
Zeugen  seine  nützliche  Wirkung  äußern  würde,  weshalb  die  Um- 
setzung der  von  Dannemann  gegebenen  Anregung  in  praktische  Tat 
auf  das  Freudigste  zu  begrüßen  wäre.    Sehr   originell  ist  auch   der 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtl.  Psychologie  usw.  295 

Vorschlag  Dannemanns,  ans  solchen  psychiatrisch  gebildeten  Polizei- 
leaten  einen  Stock  von  Vormündern  für  Geisteskranke  zu  gewinnen. 

Waren  die  äußerst  sachlichen  und  doch  so  lebensvoll  gehaltenen 
Vorträge  Dannemanns  geeignet,  auch  in  dem  juristischen  Laien  das 
jeweilige  Bild  der  betreffenden  geistigen  Krankheit  fast  plastisch 
vor  das  geistige  Auge  zu  zeichnen  und  so  dauernd  dem  Gedächtnisse 
einzuprägen,  so  wurde  das  Verständnis  der  Hörer  noch  durch  Demon- 
stration krimineller  Geisteskranker  im  Projektionsbilde  und  durch 
Vorführung  einzelner  Geisteskranker  unterstützt,  so  daß  es  unseres 
Erachtens  nach  kaum  unter  den  zuhörenden  Juristen  jemanden  ge- 
geben haben  wird,  der  nicht  aus  diesen  Vorträgen  einen  dauernden 
Nutzen  für  seine  zukünftige  Praxis  gewonnen  haben  dürfte. 

Geradezu  genußreich  waren  die  Stunden,  in  welchen  Professor 
Sommer  nicht  nur  durch  sein  einnehmendes  Wesen  die  Herzen, 
sondern  auch  durch  die  Klarheit  seiner  wissenschaftlichen  Ausführungen 
die  Aufmerksamkeit  seiner  Hörer  zu  gewinnen  wußte. 

In  seinem  ersten  Vortrage  behandelte  Professor  Sommer  das 
Problem  des  Ausdruckes  psychischer  Zustände.  Unter  Hinweis  auf 
Cartesius,  welcher  ein  sensorinm  commune  suchte  und  die  Seele  in 
die  Zirbeldrüse,  also  in  ein  Organ  verlegte,  wies  Sommer  auf  das 
Bestreben  späterer  Zeiten  hin,  bestimmte  Gehirnfunktionen  mit  be- 
stimmten Gehimteilen  in  Verbindung  zu  bringen,  die  Vielheit  des 
Seelenvermögens  in  verschiedene  Teile  zu  lokalisieren,  woraus  der 
von  Galt  vertretene  Gedanke  des  morphologischen  Ausdruckes  und 
der  von  Lavater  verfochtene  des  physiologischen  Ausdruckes  ent- 
standen, während  die  Lehre  Lombrosos,  daß  ein  Teil  derjenigen  In- 
dividuen, welche  das  Strafgesetz  unter  Annahme  der  freien  Willens- 
bestimmung als  Verbrecher  bestraft,  morphologische,  also  anatomisch 
greifbare  Kennzeichen  habe,  in  der  Lehre  Galls  wurzelt 

Bei  Besprechung  des  Verhältnisses  von  psychischen  und  mor- 
phologischen Abnormitäten  im  Gebiete  des  angeborenen  Schwachsinns 
imd  der  anderen  Psychosen  behandelte  Sommer  die  Frage,  ob 
sich  angeborene  Zustände  auch  in  morphologischen  Formen,  aus- 
drücken, und  führte  dabei  aus,  daß  sich  verschiedene  Formen  des 
angeborenen  Schwachsinns  durch  Abnormitäten  des  Schädelbaues  aus- 
zeichnen, die  sich  als  Folgen  überstandener  Gehirnkrankheiten  dar- 
stellen und  fügte  hinzu,  daß  sich  solche  Schädelabnormitäten  bei 
Hydrocephalie,  Mikrocephalie  und  Porencephalie,  andere  morpho- 
logische Erscheinungen  bei  Kretinismus  (schwammige  Hautbeschaffen- 
heit [Myxoedem],  Hemmung  des  Knochenwachstums  und  Störung  der 
Gehimfunktion);  bei  cerebraler  Kinderlähmung  (Schädigung  der  mor- 


296  XV.  Bauer 

phologischen  Entwicklung  anf  der  dem  Defekte  entgegengesetzten 
Seite)  und  bei  meningitischen  Formen  der  Idiotie  (idiotische  Schädel- 
abnormitäten) finden. 

Es  lasse  sich  wohl,  meint  Sommer,  ans  morphologischen  Verhält- 
nissen der  Schluß  auf  eine  Gehimerkrankung,  infolge  welcher  oft  an- 
geborener Schwachsinn  und  Epilepsie  auftreten,  ableiten,  doch  aus  der 
bloßen  Tatsache  allein,  daß  jemand  ein  Degenerationszeichen  bat, 
könne  man  keinen  Schluß  ziehen,  da  ein  notwendiger  Zusammenhang 
zwischen  Schädelform  und  Geistesstörung  selbst  bei  den  ausgeprägten 
Fällen  dieser  Art  nicht  immer  gegeben  ist,  weshalb  die  Behauptung 
unzulässig  ist,  daß  geistige  Krankheit  immer  einen  morphologischen 
Ausdruck  finden  müsse.  Was  nun  Sommers  Stellung  zur  Lehre 
Lombrosos  anlangt,  so  behauptet  er  wohl,  daß  es  keine  gesetzmäßige 
Proportion  zwischen  der  verbrecherischen  Beschaffenheit  und  der 
Morphologie  gibt,  ist  aber  andererseits  dennoch  der  Anschauung,  daß 
es  geborene  Verbrecher  gebe;  er  zieht  aber  nicht  die  Konsequenz 
daraus,  daß  diese  als  Geisteskranke  in  Irrenanstalten  zu  internieren, 
sondern  in  eigenen  Detentionsanstalten  zu  verwahren  seien.  (Siehe 
Sommer,  Kriminalpsychologie  Seite  318.)  Weiter  erörterte  Sommer 
die  Bedeutung  der  Vererbung  von  Eigenschaften  in  Familien  und 
zeigte  an  Beispielen,  daß  sich  Eitelkeit,  Zerstreutheit,  Härte,  Mitleid- 
losigkeit  etc.  oft  durch  mehrere  Generationen  fortpflanzen,  anderer- 
seits auch  Generationen  überspringen  können,  und  legte  den  ins- 
besondere für  die  Juristen  interessanten  Unterschied  in  der  Auffassung 
der  früheren  sogenannten  Kleptomanie,  Pyromanie  usw.  und  der  heu- 
tigen Behandlung  dieser  Fälle  dar,  gemäß  welcher  untersucht  wird, 
aus  welchen  inneren  Gründen  die  Handlung  stattgefunden,  und  die- 
selbe dann  auf  Grundlage  einer  Reihe  pathologischer  Momente  be- 
urteilt wird.  —  Einen  weiteren  Gegenstand  der  Erläuterungen  Sommers 
bildete  die  Untersuchung  der  Ausdrucksbewegungen  bei  Melancholie, 
Paranoia,  Schwachsinn  usw.  und  die  Analyse  der  Ausdrucksbewe- 
gungen im  Gebiete  der  Epilepsie,  des  Alkoholismus  und  der  Hysterie. 
—  AJIgemeines  Interesse  erweckten  die  Versuche,  welche  zum  Thema: 
„Psychologie  der  Aussage**  gemacht  wurden.  —  Professor  Sommer  pro- 
jizierte drei  photographische  Momentaufnahmen  durch  drei  verschiedene 
Zeiträume  auf  eine  Wand  und  wählte  zur  Prüfung,  wie  viel  die  Ver- 
suchspersonen von  dem  exponierten  Bilde  auffaßten,  zwei  Methoden, 
die  des  freien  Berichtes  und  die  der  Fragebeantwortung,  indem  die 
Versuchspersonen  auf  einem  Blatt  Papier  erst  ganz  allgemein  die 
Frage,  was  sie  gesehen,  und  dann  noch  6  besondere  Fragen  beant- 
worten mußten.     Die  Verschiedenheit  der  erhaltenen  Antworten  wirkte 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtJ.  Psychologie  usw.  297 

auf  jene,  welchen  solche  Experimente  fremd  waren,  wohl  verblüffend, 
und  seien  alle,  welche  vielleicht  anläßlich  dieses  Ergebnisses  geneigt 
wären,  nun  sämtliche  Zeugenaussagen  für  unsicher  und  unglaubwürdig 
zu  halten,  auf  die  Worte  Professors  Sommer  verwiesen,  der  sagt: 
(„Die  Forschungen  zur  Psychologie  der  Aussage/  Juristisch-psychi- 
atrische Grenzfragen,  Halle  a.  S.  bei  Karl  Marhold,  B.  IL  Heft  6. 
Seite  41)  „Es  führt  auch  hier,  wie  man  es  in  der  Geschichte  der 
Wissenschaft  so  oft  beobachten  kann,  die  beginnende  Einsicht  in  die 
Unrichtigkeit  lange  gehegter  Voraussetzungen  viele  zu  einem  Skep- 
tizismus, der  nur  durch  systematische  Untersuchungen  der  eigentlichen 
Fehlerquellen  und  der  subjektiven  Bedingungen  der  Aussage  über- 
wunden werden  kann." 

Nicht  unerwähnt  können  wir  die  Demonstration  eines  Apparates 
durch  Professor  Sommer  lassen,  welcher  zur  Analyse  der  direkten 
Ausdrucksbewegungen  dient  und  es  ermöglicht,  ein  möglichst  feines 
Reagens  auf  die  minimalsten  Bewegungen  speziell  an  der  Hand  des 
Lebenden  zu  schaffen.  (Siehe  Sommer,  Lehrbuch  der  psychopatho- 
logischen  Untersuchungsmethoden,  Urban  und  Schwarzenberg,  Berlin 
1899),  Seite  97.) 

Ein  Arm  der  Versuchsperson  wird  in  eine  Schlinge  des  Apparates 
gebracht,  zwei  Finger  ruhen  auf  einer  Fingerplatte,  und  vermittelst  einer 
sinnreichen  Konstruktion  werden  die  leisesten  Bewegungen  der  Finger 
durch  Hebel  in  Form  von  Kurven  auf  eine  rotierende  Trommel  auf- 
gezeichnet. Es  ist  nun  durch  diesen  Apparat  möglich,  1)  das  perio- 
dische Auftreten  von  Zittererscheinnngen  bei  notorischer  und  larvierter 
Epilepsie,  2)  die  motorischen  Wirkungen  der  Alkoholintoxication  in 
deutlich  sichtbarer  und  meßbarer  Weise  herauszustellen  und  damit 
für  die  Behauptung,  daß  periodische  Nervenstörung  und  Alkohol- 
intoleranz vorliegt,  einen  greifbaren  Beweis  zu  liefern.  (Siehe  Sommer 
a.  0.  0/ Seite  102.) 

Wie  Professor  Sommer  mitteilte,  war  es  ihm  mittelst  dieses 
Apparates  gelungen,  eine  hartnäckig  Taubstummheit  simulierende 
Person,  bei  welcher  die  Anwendung  der  gewöhnlichen  Mittel  .fehl- 
geschlagen hatte,  dadurch  zu  überweisen,  daß  plötzlich,  als  sie  die 
Hand  im  Apparate  hatte,  eine  elektrische  Klingel  ertönte,  worauf  der 
Stift  auf  der  Trommel  einen  solchen  Sprung  machte,  daß  kein  Zweifel 
darüber  bestand,  daß  der  Betreffende  die  Klingel  gehört  hatte  und 
mit  der  Hand  zusammengezuckt  war,  eine  Bewegung,  die  man  ohne 
Apparat  kaum  hätte  konstatieren  können. 

Die  größte  Vielseitigkeit  zeigten  die  Vorlesungen  Professor 
Aschaffenburgs,  dessen  Vortrag  bald  sämtliche  Hörer  gefangen  nahm. 


298  XV.  Baues 

Unter  Hinweis  auf  die  entsprechenden  statistischen  Daten  erörterte 
Ascbaffenbnrg  den  Einfluß  der  Jahreszeit,  der  BassC;  Religion,  des 
Berufes,  des  Aberglaubens,  den  er  bald  ausgerottet  glaubt,  der  wirt- 
schaftlichen Lage  usw.  auf  die  Begehung  von  Verbrechen.  (Siehe 
Aschaffenburg  „Das  Verbrechen  und  seine  Bekämpfung^.) 

Von  den  Punkten,  in  welchen  wir  mit  den  Anschauungen 
Aschaffenburgs  nicht  übereinstimmen,  wollen  wir  nur  einen  hervor- 
heben. 

Aschaffenburg  weist  statistisch  nach,  daß  die  Unzuchtsverbrechen 
in  Deutschland  im  März  zu  steigen  beginnen,  um  im  Juli  ihren  Höhe- 
punkt zu  erreichen  und  dann  wieder  abzunehmen,  und  stellt  unter 
Zurückweisung  des  von  Hans  Groß  (Archiv.  Krim.  Antr.  B.  12.  Seite  370) 
gegebenen  £rklärungsgrundes,  nämlich  der  sich  durch  die  Jahreszeit 
im  Freien  darbietenden  6elegenheit|  die  Vermutung  auf,  daß  die  Ab- 
und  Zunahme  des  Geschlechtstriebes  der  Brunst  der  Tiere,  wenn  auch 
in  sehr  abgeschwächter  Haltung  und  erheblich  umgestalteter  Form 
entspricht.  Zur  Widerlegung  der  Ansicht  von  Groß  führt  Aschaffen- 
burg aus,  daß  im  Jahre  1903  von  106  auf  Grund  des  §  176  III 
D.StG.  Verurteilten  62  im  Hause,  35  im  Freien,  9  im  Zimmer,  wie 
im  Freien  die  Angriffe  auf  Kinder  machten. 

Nun  ist  aber  diese  Beweisführung  entschieden  ungeeignet,  um 
die  gegenteiligen  Behauptungen  zu  entkräften,  denn  Erfahrungstatsache 
ist  nur,  daß  die  meisten  sexuellen  Delikte  an  erwachsenen  Frauens- 
personen im  Freien,  an  Kindern  aber,  von  welchen  der  §  176  III 
D.StG.  handelt,  eher  im  Hause  begangen  werden,  da  eben  von  letz- 
teren weniger  Gefahr  durch  Schreien  etc.  zu  besorgen  ist 

Um  nun  zu  einem  halbwegs  verläßlichen  Resultate  zu  gelangen, 
müßte  man  die  Sittlichkeitsdelikte  an  Frauenspersonen  von  denen  an 
Kindern  sondern,  und  dann  würde  man  besonders  bei  Berücksichtigung 
des  Ergebnisses  mehrerer  Jahre  jedenfalls  zu  dem  Resultate  ge- 
langen, daß  die  meisten  Notzuchtsattentate  im  Freien,  also  in  der  wär- 
meren Jahreszeit,  begangen  werden. 

Nicht  minder  anregend  als  die  Ausführungen  Aschaffenburgs  über 
die  sozialen  Ursachen  des  Verbrechens  waren  die  über  die  individuellen, 
als  welche  er  in  erster  Linie  Abstammung  und  Erziehung  in  Betracht 
zieht  und  darauf  hinweist,  daß  die  Kinder  aus  degenerierten  Familien 
zwar  nicht  mit  angeborenen  kriminellen  Neigungen  ausgestattet,  aber 
vielfach  körperlich  und  geistig  minderwertig  sind.  Dieses  minder- 
wertige Material  stelle  auch  den  Hauptbestandteil  der  späteren  Ver- 
brecher, weshalb  es  auch  begreiflich  erscheine,  daß .  unter  diesen 
Schwachsinn  und  geistige  Anomalien  eine  so  bedeutende  Rolle  spielen, 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gcrichtl.  Psychologie  usw.  299 

« 

wobei  auch  za  berücksichtigen  ist,  daß  die  vernachlässigte  Erziehung, 
insbesondere  bei  den  Unehelichen,  einen  bedeutenden  Einfluß  auf  die 
Entwicklung  dieser  Minderwertigen  auf  der  weiteren  Laufbahn  des 
Verbrechers  besitzt 

Bei  Besprechung  des  Themas  der  Jugendlichen  wendete  sich 
Aschaffenburg  mit  Hecht  gegen  die  Fassung  des  §  56  D.St.6.,  der 
nur  die  erforderliche  Einsicht  fordert,  allein  auf  die  sittliche  Beife 
keine  Bücksicht  nimmt,  beantragt  die  Hinaufsetzung  der  Straf- 
mündigkeit auf  das  16.  Jahr  und  beantwortet  die  Frage,  wie  gegen 
das  verbrecherische  Kind  vorzugehen  sei,  mit  dem  Bäte  der  Abgabe  in 
Fürsorgeerziehung,  der  Anwendung  der  bedingten  Begnadigung  und 
der  Schaffung  von  Jugendgerichten. 

Aschaffenburg  teilt  die  Verbrecher,  welche  er  im  Großen  und 
Ganzen  als  geistig  minderwertig  betrachtet,  ein  in  1)  Zufalls-,  2)  Affekts-, 
3)  Gelegenheits-,  4)  Vorbedachts-,  5)  Bückfalls-,  6)  Gelegenheits-  und 
7)  Berufsverbrecher,  ist  ein  Gegner  der  Lehre  Lombrosos,  insofern 
dieser  behauptet,  daß  es  geborene  Verbrecher  gebe,  welche  es  auch 
in  den  besten  Verhältnissen  bleiben,  während  seiner  Anschauung  nach 
diese  minderwertigen  Elemente,  würden  sie  dem  schlechten  Boden, 
in  dem  sie  wurzeln,  entrissen,  würden  sie  durch  Erziehung  und  kör- 
perliche Kräftigung  gestählt,  noch  zum  größten  Teile  vor  dem  so- 
zialen Untergang  bewahrt  werden  könnten. 

Mit  vollster  Berechtigung  nimmt  Aschaffenburg  gegen  Lombroso 
auch  insofern  Stellung,  als  dieser  zu  den  psychologischen  Eigen- 
schaften des  Verbrechers  auch  die  Neigung,  sich  tätowieren  zu  lassen 
und  die  Gaunersprache  rechnet.  (Vergleiche:  Ein  Vorlagebuch  für 
Tätowierungen.  Archiv.  Krim.  Antr.  B.  19.  Groß,  Handbuch  B.  I. 
Seite  170     Sommer,  Kriminalpsychologie,  Seite  346.) 

Als  Moderner  ist  Ascbaffenburg  Anhänger  der  Schutzstrafe. 
„Zweck  der  Strafe  ist,  die  Gesellschaft  vor  den  verbrecherischen  An- 
griffen einzelner  Individuen  zu  schützen.^ 

Ohne  auf  die  vielen  für  und  wider  gellend  gemachten  Gründe 
näher  einzugehen,  möchten  wir  nur  vom  Standpunkte  des  Praktikers 
auf  das  Entschiedenste  gegen  die  reine  Durchführung  dieses  Systems 
Stellung  nehmen. 

Der  erste  Vorwurf,  den  wir  diesem  Systeme  machen,  wäre  der, 
daß  er  das  Becbtsbewußtsein  im  Volke,  das  doch  wie  ein  kostbarer 
Schatz  gehütet  werden  soll,  unbedingt  mit  der  Zeit  untergraben  müßte. 
Muß  es  denn  nicht  das  Bechtsgefübl  auf  das  Tiefste  verletzen,  wenn 
der  Bäuber,  Mörder,  Brandleger,  Notzüchtler  etc.,  der  18  Monate  in 
einer  Strafanstalt  ä  la  Elmira,   weil  er  Böses  getan,  als  Kranker  be- 


300  XV.  Bauer 

handelt  wurde  (Siehe:  Das  Reform atorium  von  Elmira,  von  Dr.  Witry, 
Archiv.  Krim.  Anthr.  B.  12.  Seite  130),  der  die  ganze  Zeit  vormittags 
sein  Beefsteak  gegessen,  mittags  Zeitung  gelesen  und  abends  musiziert 
hat  (Siehe:  Wach,  Die  unbestimmte  Verurteilung,  Seite  51),  nun  nach 
verhältnismäßig  kurzer  Zeit  ^^gebesserf^  spazieren  geht,  wobei  natürUch 
der  Schutz  der  Gesellschaft  ein  sehr  problematischer  bleibt,  da  ja  gar 
keine  Gewähr  dafür  vorhanden  ist,  daß  der  Gebesserte  nicht  etwa 
ein  raffiniertes  heuchlerisches  Individuum  war,  das  trotz  der  Schutz- 
strafe nun  wieder  auf  die  Gesellschaft  losgelassen  wurde,  ohne  daß 
ihm  nun  die  Spezialprävention  hemmend  gegenüber  stünde,  da  ja  ein 
Aufenthalt  in  einer  derartigen  Strafanstalt  kaum  besonders  ab- 
schreckend, vielleicht  eher  anziehend  wirken  kann. 

Aschaffenburg  meint,  daß  der  Richter  nicht  imstande  ist,  ein  der 
Schuld  wirklich  entsprechendes  Strafausmaß  im  Urteile  festzusetzen, 
denn  es  sei  unmöglich,  „eine  Formel  zu  finden,  die  subjektive  und 
objektive  Schuld  vereinigt",  (Siehe:  Aschaffenburg  a.  o.  0.  Seite  218) 
und  zitiert  diesbezüglich  Wach,  der  (Die  Reform  der  Freiheitsstrafe, 
Seite  41)  sagt:  „Es  ist  wahr,  die  richterliche  Strafzumessung  ist  zum 

guten  Teile  Willkür,  Laune,  Zufall, Ob  der  Angeklagte 

zu  6  oder  5  oder  4  Wochen  oder  zu  2  Monaten  Gefängnis  verurteilt 
wird,  das  hängt  mehr  von  der  zufälligen  Zusammensetzung  des 
Kollegiums,  den  subjektiven  Anschauungen  und  Anregungen  des 
Richters,  seinem  Geblüt  und  seiner  Verdauung  ab,  als  von  der  Schwere 
des  Verbrechens." 

Über  den  Zeitpunkt  der  Entlassung  des  Sträflings  soll  nach 
Aschaffenburg  eine  gemischte  Kommission  entscheiden. 

Nun  wird  es  aber  kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  daß,  je  großer 
eine  solche  Kommission  wäre,  sie  sich  um  so  mehr  stets  auf  das 
Urteil  der  Strafanstaltsbeamten  stützen  müßte,  weil  diese  ja  schließlieh 
allein  eine  gründliche  Kenntnis  des  Sträflings  besitzen  können.  Und 
nun  fragen  wir,  ob  denn  unter  solchen  Verhältnissen  die  Entlassung 
des  Sträflings  nicht  von  den  subjektiven  Anschauungen,  dem  Geblüt 
und  der  Verdauung  der  Strafanstaltsbeamten  abhängen  würde  und  ob 
man  bei  ihnen  diese  zufälligen  Faktoren  als  gänzlich  einflußlos  auch 
dann  ausschalten  könnte,  wenn  dieselben,  wie  Kräpelin  (Die  Ab- 
schaffung des  Strafmaßes,  Stuttgart  1886)  verlangt,  „Persönlichkeiten 
von  höchster  allgemeiner  und  fachwissenschaftlicher  Bildung,  tiefster 
theoretischer  und  praktischer  Menschenkenntnis  und  reichster  Er- 
fahrung im  Amte"  wären? 

Indem  wir  diesbezüglich  unserem  begründeten  Zweifel  Ausdruck 
geben  und  noch  hervorheben,    daß    man   den  unverbesserlichen  Ver- 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtl.  Psychologie  usw.  301 

brecher  auch  im  Wege  der  Sichernngsmaßregeln  unschädlich  machen 
könnte,  glauben  wir,  daß  speziell  nach  dem  Ergebnisse  des  26.  deutschen 
Juristentages  in  Kiel  im  September  1906  (Siehe  Z.  B.  27  Seite  106) 
es  bis  zu  einem  allgemeinen  Siegeszuge  des  unbestimmten  Strafmaßes 
noch  einige  Zeit  in  Anspruch  nehmen  dürfte.  Allein,  wenn  man  auch 
Gegner  des  unbestimmten  Strafausmaßes  ist,  so  kann  man  doch  ein 
getreuer  Anhänger  Aschaffenburgs  in  Bezug  auf  sein  anderweitiges 
System  der  Verbrechensbekämpfung,  insbesondere  bezüglich  seiner 
Anschauungen  über  den  Alkohol  sein. 

Schon  durch  Mengen,  die  zur  Hervorrufung  eines  Bausches  noch 
durchaus  nicht  groß  genug  sind,  wird,  so  führte  Aschaffenburg  aus, 
eine  deutliche  Herabsetzung  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  hervor- 
gerufen. Es  erfolgt  eine  Störung  der  Auffassung,  der  Merkfähigkeit 
und  des  Gedächtnisses.  Interessant  ist,  daß  bei  den  Beaktions- 
versuchen,  bei  ganz  kleinen  Alkoholgaben  die  Reaktionszeit  yerkürzt 
wird,  daß  eine  vorzeitige  Reaktion,  und  zwar  eine  Fehlreaktion  ein- 
tritt. Die  Kenntnis  der  psychologischen  Alkoholwirkung  erklärt  auch 
die  Alkoholverbrechen,  bei  welchen  das  charakteristische  die  rasche 
Reaktion  auf  einen  erfolgten  Reiz  bildet,  also  zum  Beispiel  der  Stich 
mit  dem  Messer  als  Reaktion  auf  eine  Beschimpfung,  welche  als  Reiz 
wirkt  Aschaffenburg  unterzog  auch  die  klinischen  Formen  des  Al- 
koholismus einer  Erörterung,  beschäftigte  sich  mit  dem  normalen  und 
pathologischen  Rausch  und  hob  die  große  Wichtigkeit  von  Trinker- 
heilstätten hervor.  Obwohl  Aschaffenburg  der  Ansicht  ist,  daß  theo- 
retisch die  Zurechnungsfähigkeit  der  meisten  Betrunkenen  auszu- 
schließen sei,  so  versöhnt  er  sich  doch  vom  praktischen  und  krimi- 
nalpohtischen  Standpunkte  mit  ihrer  Verurteilung  und  befürwortet  nur 
ihre  nachherige  Übergabe  an  Schutzvereine.  Ebenso  praktisch  ist 
auch  seine  Anschauung,  daß  man  Epileptiker  auch  dann,  wenn  ihre 
Anfälle  geraume  Zeit  nachgelassen  haben,  aus  der  Irrenanstalt  nicht 
entlassen  soll,  da  sie  sonst  immerhin  wieder  eine  Gefahr  für  die  Ge- 
sellschaft bilden  könnten.  Was  die  Verbrechen  durch  Hypnotisierte 
und  an  Hypnotierten  anlangt,  so  neigt  Aschaffenburg  der  Anschauung 
zu,  daß  ein  Hypnotisierter  das  nicht  tut,  was  gegen  seinen  Charakter 
und  Willen  geht,  und  daß  sich  ein  Hypnotisierter  nur  das  gefallen 
läßt,  was  er  sich  gefallen  lassen  will,  eine  Anschauung,  welche 
für  den  praktischen  Kriminalisten  von  der  größten  Bedeutung  ist 
(Vergleiche:  Der  Fall  Mainone  von  Dr.  Freiherr  von  Schrenk- 
Notzing,  Archiv  Krim.  Antr.,  B.  VII.,  Seite  132,  femer  „Die  gericht- 
lich medizinische  Bedeutung  der  Suggestion"  Archiv  Krim.  Antr., 
B.  V,  Seite  5,   „Gerichtliche  Psychiatrie*'    von  A.  Kramer,   Jena  bei 


302  XV.  Baueb 

Gostay  Fischer  „über  die  gerichtliche  Bedentang  der  Hypnose'^y 
Seite  50.) 

Im  Bezug  auf  Homosexualität  steht  Aschaffenburg  auf  dem  Stand- 
punkte, daß  dieselbe  meist  wohl  nicht  angeboren  sei,  befürwortet  aber  den- 
noch die  Abschaffung  des  §  175  D.StG.,  ist  aber  unter  einem  für  die 
Hinauf  Setzung  der  Altersschutzgrenze  bis  auf  18  eventuell  20  Jahre. 
(Vergleiche :  Sommer,  Eriminalpsychologie,  Seite  245.)  Bei  Erläuterung 
der  Assoziationsversuche  berührte  Aschaffenburg  auch  jene  Methode, 
welche  von  einigen  Schülern  Hans  Groß's  auf  dem  praktischen  Ge- 
biete als  Mittel  zum  Zweck  von  Entdeckung  des  Schuldigen  im  Straf- 
verfahren angewendet  wurde.  (Vergleiche:  „Psychologische  Tat- 
bestandsdiagnostik von  Max  Wertheimer  und  Julius  Elein^'  Archiv 
Krim.  Antr.,  Band  XV,  Seite  52.)  Aschaffenburg  spricht  sich  gegen 
die  Verwendbarkeit  dieses  Verfahrens  in  der  Praxis  aus  und  befindet 
sich  hiermit  in  Obereinstimmung  mit  Hoegel  („Die  Tatbestands- 
diagnostik im  Strafverfahren",  M.  Sehr.  Krim.  Psych.,  IV.  Jahrgang, 
I.  Heft.)  und  wohl  auch  mit  Prof.  Dr.  Heilbronner  („Die  Grundlagen 
der  psychologischen  Tatbestandsdiagnostik".  Z.  B.  XVII,  Heft  6). 
Unter  „Gutachtertätigkeit  und  Technik  der  Gutachten"  wurde  von 
Aschaffenburg  manche  interessante  Frage  aufgerollt  Aschaffenburg 
ist  der  Anschauung,  daß  er  sich  als  Sachverständiger  den  Wortlaut 
des  betreffenden  Paragraphen  zur  Grundlage  seines  Gutachtens  zu 
nehmen  und  z.  B.  im  Falle  des  §  51  D.StG.  zu  sagen  hat,  die  freie 
WillensbestimmuDg  sei  ausgeschlossen  oder  nicht;  er  verwirft  den 
Antrag,  sich  als  Mediziner  auf  die  Klarlegung  der  Sachlage  zu  be- 
schränken und  den  Einfluß  der  geistigen  Anomalien  auf  das  Handeln 
zu  erörtern,  die  Schlußfolgerungen  aber  dem  Richter  zu  überlassen. 
Im  Gegensatze  hierzu  sagte  bei  der  IV.  Hauptversammlung  der 
Hessischen  juristisch-psychiatrischen  Vereinigung  am  17.  Juli  1906  zu 
Butzbach  Prof.  Dr.  Mittermaier:  „Aber  auch  für  ganz  falsch  halte  ich 
die  beliebte  Praxis,  vom  Sachverständigen  eine  bestimmte  Meinung 
über  den  juristisch  wichtigen  Vorgang  selbst  z.  B.  ob  der  Angeklagte 
„zurechnungsfähig"  sei,  zu  verlangen.  Das  ist  eine  rein  richterliche 
Aufgabe  "  (Juristisch  psychiatrische  Grenzfragen  Halle  a.  S.  bei  Karl 
Machold,  B.  V,  Heft  6,  Seite  33). 

Professor  Sommers  Ansicht  scheint  sich  diesbezüglich  der  Aschaffen- 
burgs  sehr  zu  nähern,  wenn  nicht  ganz  zusammenzufallen,  denn  er 
äußerte  sich  am  17.  Juni  1906  zu  Butzbach  (a.  o.  0.  Seite  56)  zu 
diesem  Punkte  wie  folgt:  „Praktisch  ist  es  das  Beste,  daß  man  sich 
gewöhnt,  nach  einer  Darstellung  des  gesamten  psychiatrischen  Be- 
fundes, die  von  den  Juristen  gestellten  Fragen,  soweit  sie  medizinischer 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerieh tl.  Psychologie  usw.  303 

Natur  sind,  im  Sinne  der  Gesetzgebung  ganz  exakt  zu  be- 
antworten,  damit  der  Jurist  auf  die  Fragen,  die  ihn  bei  der  Rechts- 
lage interessieren,  ganz  bestimmte  klare  Antworten  hat".  (Vergleiche 
Sommer,  Kriminalpsychologie,  Seite  6  ff.) 

Bei  der  am  18.  Mai  1906  stattgehabten  Beratung  der  österr.  kri- 
minalistischen Vereinigung  hob  Primarius  Dr.  Berze  hervor,  daß  die 
psychiatrischen  Sachverständigen  lediglich  die  Natur  der  Krankheit 
festzustellen,  nicht  aber  den  Paragraphen  zu  bezeichnen  haben,  unter 
den  sie  zu  subsumieren  sei''.  Hof  rat  Prof.  Dr.  Wagner  trat  ebenfalls 
dafür  ein,  daß  der  Gerichtsarzt  die  Subsumption  unter  das  Gesetz 
auszusprechen,  inkompetent  sei  (Vergleiche  „Gerichtliche  Psychiatrie 
von  Dr.  A.  Gramer,  Seite  37).  Prof.  Dr.  Loeffler  führte  dabei  aus, 
daß  kein  Zweifel  darüber  bestehe,  daß  die  Gesetzesauslegung  aus- 
schließlich den  Juristen  obliege,  daß  aber  die  gegenteilige  Praxis 
dadurch  zu  erklären  sei,  daß  der  Richter  geneigt  sei,  einen  Teil  seiner 
Verantwortung  von  sich  auf  den  Sachverständigen  abzuwälzen.  (Mit- 
teilungen der  J.  K.  V.  Band  XIV,  Heft  2,  Seite  435—437).  Zweifel- 
los  haben  nun  theoretisch  Mittermaier,  Dr.  Berze  und  Dr.  Wagner 
recht,  praktisch  aber  Aschaffenburg,  besonders,  wenn  er  behauptet 
(Geschworenengerichte  und  Sachverständigentätigkeit"  im  „Schwur- 
gerichte und  Schöffengerichte/  Heidelberg  bei  Karl  Winter  Band  I, 
Heft  2,  Seite  108)  daß  in  dem  einzigen  Falle,  in  welchem  er  ver- 
suchte die  Entscheidung,  welche  Einwirkung  ein  Zustand  krankhafter 
Störung  der  Geistestätigkeit  auf  das  Zustandekommen  von  Betrugereien 
ausgeübt  habe,  dem  Gerichtshofe  zu  überlassen,  einfach  um  die  Er- 
gänzung seines  Gutachtens  ersucht  wurde.  Wir  möchten  noch  zu  dem 
oberwähnten  Erklärungsgrunde  Loefflers  für  diese  Erscheinung  noch 
einen  andern  ins  Treffen  führen,  nämlich  die  psychiatrische  Unge- 
scbultheit  der  meisten  unserer  Strafrichter.  Wir  müssen  offen  ein- 
gestehen, daß  die  wenigsten  Strafrichter  derartige  psychiatrische  Kennt- 
nisse besitzen,  daß  sie  nur  auf  Grundlage  der  festgestellten  Krankheit 
die  Subsumption  unter  das  Gesetz  durchzuführen  vermöchten,  da 
hierzu  unseres  Erachtens  ebenso  psychiatrische  als  juristische  Kennt- 
nisse notwendig  sind,  weshalb  es  wahrscheinlicherweise  noch  geraume 
Zeit  bei  der  bisherigen  Praxis  bleiben  dürfte. 

Und  da  wirft  sich  nun  ganz  von  selbst  die  Erörterung  der  Frage 
auf,  in  welchem  Maße  der  Strafrichter  auch  Psychiater  sein  soll,  da 
darüber,  daß  er  es  sein  soll,  wohl  heute  kein  Streit  mehr  be- 
stehen dürfte.  Prof.  Sommer  meinte  bei  der  vorhin  erwähnten  Haupt- 
versammlung in  Butzbach,  daß  die  ganze  Art  und  Weise  des  psychia- 
trischen Gutachtens  so  sein  soll,  daß  ein  unbefangener  Jurist,  der  mit 


304  XV.  Bauer 

einigen  psychologischen  nnd  psychiatrischen  Begriffen  an  die  Sache 
herangeht,  es  als  überzeugend  anerkennen  kann,  und  fugte  noch  hinzu^ 
daß  es  noch  soweit  kommen  werde,  daß  gewisse  psychiatrische 
Kenntnisse  von  den  Juristen  obligatorisch  verlangt  werden.  Aschaffen- 
bürg  sagt  diesbezüglich  (Geschworenengerichte  und  Sachverständigen- 
tätigkeit  a.  o.  0.  Seite  109)  folgendes:  „Ich  möchte  deshalb  davor  warnen, 
die  Kenntnisse  der  Psychiatrie  bei  den  Juristen  soweit  vertiefen  zn 
wollen,  daß  sie  sich  für  sachverständig  halten ;  es  genügt,  wenn  ihnen 
die  Schwierigkeiten  der  Diagnose,  die  Methoden  der  Untersuchung  die 
Zusammenfassung  der  Symptome  soweit  geläufig  sind,  daß  sie  den 
Ausführungen  des  Sachverständigen  folgen  können.'^  Diese  Auffassung 
Aschaffenburgs  scheint  sich  mit  der  Sommers  ziemlich  zu  decken. 

Vor  der  weiteren  Erörterung  dieser  Frage  wäre  die  Stellung 
des  Sachverständigen  gegenüber  dem  Bichter  näher  ins  Auge  zu 
fassen,  und  stimmen  wir  diesbezüglich  vollkommen  mit  Prof.  Mitter- 
maier  überein,  welcher  bei  der  schon  mehrfach  erwähnten  Haupt- 
versammlung am  17.  Juli  1906  zu  Butzbach  sagte:  „Einmal  soll 
der  Richter  den  Sachverständigen  als  seinen  Lehrer  ansehen,  dem  er 
vertraut;  er  soll  suchen,  sich  selbst  zu  unterrichten,  sich  Verständnis 
verschaffen  zu  lassen.  Er  muß  sich  deshalb  von  dem  Sachverstän- 
digen nicht  nur  einen  Lehrsatz  sagen  lassen,  dem  er  glaubt,  sondern 
zum  Verständnis  gehört  Überzeugung  über  die  Grundlage 
des  Wissens.^  Faßt  man  nun  den  Sachverständigen  in  diesem 
Sinne  als  Lehrer  des  Richters  auf,  so  werden  allerdings  gewisse 
Kenntnisse  des  Letzteren,  welche  gerade  hinreichen;  um  dem  Gange 
des  Gutachtens  folgen  zu  können,  nicht  genügen,  denn  der  Richter 
soll  ja  eine  Überzeugung  über  die  Grundlage  des  Wissens  besitzen 
und  dazu  gehört  offenbar  schon  ein  höherer  Grad  von  Kenntnissen 
als  der,  welcher  nur  befähigt  der  Erklärung  des  Gutachtens  zu  folgen. 
Gerade  dieses  höhere  Maß  von  Wissen  sollte  nun  der  Richter  an- 
streben, ohne  daß  damit  gesagt  sein  soll,  daß  er  sich  hierdurch  dem 
Sachverständigen  gleichstellen,  oder  dafür  halten  sollte.  Denn  der 
Richter  ist  ja  an  das  Gutachten  nicht  gebunden,  er  kann  frei  ent- 
scheiden, um  aber  mit  gutem  Gewissen  dem  Gutachten  nicht  glauben 
zu  können,  ist  jedenfalls  ein  höherer  Grad  von  Wissen  erforderlich, 
da  es  zweifellos  schwieriger  ist,  stichhaltige  Gründe  für  das  Nicht- 
glauben  anzuführen,  als  sich  den  Gründen  des  Gutachtens  an- 
zuschließen. 

Von  Entscheidung  auf  das  Maß  des  vom  Strafrichter  zu  fordernden 
psychiatrischen  Wissens  dürfte  in  erster  Linie  die  von  demselben  be- 
kleidete amtliche  Stellung  sein.   Zweifellos  nimmt  in  dieser  Hinsicht  der 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtl.  Psychologie  usw.  305 

Untersuchungsrichter  diejenige  Stellung  ein,  bei  welcher  das  größte 
Maß  psychiatrischen  Wissens  verlangt  werden  sollte,  da  er  ja  einer 
der  ersten  ist,  die  sich  mit  dem  Beschuldigten  eingehender  zu  befassen 
Gelegenheit  haben.  Von  seinen  Kenntnissen  wird  es  —  von  auf- 
liegenden Fällen  abgesehen  —  abhängen,  ob  er  Spuren  einer  Geistes- 
krankheit oder  geistigen  Abnormität  an  dem  Beschuldigten  entdecken, 
dieselben  richtig  verwerten  und  zeitgerecht  den  Psychiater  zuziehen 
wird  oder  nicht.  Es  ist  bekannt,  daß  Schädelabnormitäten  sehr  häufig 
als  Folgen  von  durchgemachten  Gehirnkrankheiten  zurückbleiben. 
Wie  ganz  anders  nun  wird  der  Untersuchungsrichter  mit  einiger 
psychiatrischen  Vorbildung  z.  B.  einen  Hydrocephalen,  einen  Epi- 
leptiker behandeln  und  die  Untersuchung  führen,  als  der  Unter- 
suchungsrichter, dem  jegliche  psychiatrische  Kenntnisse  fehlen.  Durch 
des  Letzteren  Verschulden  kann  es  sich  ereignen,  daß  die  geistige 
Schwäche  des  Beschuldigten  zu  spät,  vielleicht  gar  nicht  entdeckt 
wird,  weil  sich  im  späteren  Laufe  des  Verfahrens  niemand  mehr  so 
eingehend  mit  demselben,  als  der  Untersuchungsrichter  befassen  kann. 
Fast  ebenso  notwendig  wie  dem  Untersuchungsrichter  sind  auch  dem 
Staatsanwalt  psychiatrische  Kenntnisse.  Bei  Befolgung  des  Grund- 
satzes, daß  ein  guter  Staatsanwalt  stets  auch  Untersuchungs- 
richter gewesen  sein  muß,  würde  diesem  Erfordernis  bei  der  Staats- 
anwaltschaft immer  entsprochen  sein.  Aber  auch  dem  Zivilrichter 
werden  psychiatrische  Vorkenntnisse  äußerst  nützlich  sein  können. 
Es  wird  gewiß  dem  Vormundschaftsrichter,  der  viel  mit  Unmündigen 
zu  tun  hat,  von  großem  Vorteile  sein,  wenn  er  über  alle  Arten  des 
Schwachsinnes  sehr  gut  informiert  ist,  um  denselben  eventuell  bei 
dem  Jugendlichen  zu  erkennen  und  rechtzeitig  für  dessen  Unter- 
bringung sorgen  zu  können.  Bei  Einführung  von  Jugendgerichten 
wird  man  wohl  zweifellos  von  dem  Jugendrichter  nebst  sonstigen 
Eigenschaften  auch  eine  gewisse  Vorbildung  in  der  Psychiatrie  ver- 
langen müssen.  Derartige  Kenntnisse  würden  aber  auch  den  Richter, 
der  über  eine  Kuratelsverhängung  wegen  Wahn-  oder  Blödsinn  zu 
entscheiden  hat,  bei  Fällung  der  Entscheidung  auf  das  Stärkste 
unterstützen. 

Wie  und  wo  soll  sich  aber  der  Richter  derartige  psychiatrische 
Kenntnisse  in  hinreichendem  Maße  verschaffen?  Hans  Groß  meint, 
(Handbuch,  Band  I,  Seite  174)  der  Untersuchungsrichter  brauche  so 
viel  psychiatrische  Kenntnisse,  um  zu  wissen,  wann  er  den  Psychiater 
fragen  muß.  Das  sei  anscheinend  wenig,  in  der  Tat  aber  sehr  viel, 
deshalb  müßte  sich  der  Untersuchungsrichter  einige  Semester  auf  die 
Schulbank   setzen    und  Vorlesungen  über  Geisteskrankheiten   hören. 

AxohiT  für  EiimmAiantkropologie.    2a  Bd.  20 


306  XV.  Bauer 

Dieses  Mittel,  welches  allerding^s  als  das  geeignetste  anzusehen  wäre, 
wird  aber  in  allen  Fällen   versagen,   in   denen   der  Untersuchnngs- 
richter  nicht  in  einer  Universitätsstadt  angestellt  ist.    Dem  Vorschlage 
Sommers,    daß    der    Jurist   an    der   Universität    Vorlesungen    über 
Psychiatrie   hören   soll,   welchem  ja  im   allgemeinen   beizupflichten 
wäre,  steht  das  Bedenken  entgegen,   daß   es  für  manche  Studenten 
eine  Überlastung,  für  andere  wieder,  welche  der  Sache  kein  Interesse 
entgegenbringen,  die  Inskription  eine  leere  Formalität  wäre  und  daß 
die  Ausbildung  des  bereits  im  praktischen  Leben  stehenden  Juristen 
in  der  Psychiatrie  jedenfalls  einen  größeren  praktischen  Wert  besitzt, 
als  die  des  Studenten,   der  sich  noch  nicht  praktisch   betätigt  hat 
Wir  würden  nun  speziell  für   österreichische  Verhältnisse   den  Vor- 
schlag machen,    daß   in  Zukunft   die   gerichtliche  Psychiatrie   einen 
feststehenden  Vortragsgegenstand  der  Auskultantenkurse  bilden  soll, 
welche   der   Gerichtspsychiater   vorzutragen    und   tunlichst    oft   mit 
Demonstrationen  an  lebendem  Materiale  in  der  nächstgelegenen  Irren- 
anstalt zu  unterstützen  hätte.     Diesen  Vorträgen  könnten   auch  alle 
jene  Strafrichter  beiwohnen,  welchen  bis  jetzt  eine   genügende   psy- 
chiatrische   Vorbildung    mangelt,    sowie   alle   jene    Bezirksgerichts- 
adjunkten der  nahegelegenen  Bezirksgerichte,  so  daß  auf  diese  Weise 
sich  alle  im  Strafverfahren  tätigen  Personen  in  verhältnismäßig  kurzer 
Zeit  gewisse  psychiatrische  Vorkenntnisse    aneignen    könnten.      Um 
diesen  Kursen  größeren  Nachdruck  zu  geben,  müßte  auch  bei  der 
Richteramtsprüfung  ein  gewisses  Maß  von  Kenntnissen  in  der  Psy- 
chiatrie und  Kriminalistik  verlangt  werden,    denn   diese   ist  ja   die 
Prüfung,  bei  welcher  der  Kandidat  zeigen  soll,  ob  er  für  die  Tätigkeit 
des  praktischen  Lebens  reif  sei  oder  nicht     Die  etwa  dagegen  er- 
hobene Einwendung,  daß  der  Auskultant  sich  alle  diese  Kenntnisse  in 
der  Praxis  aneignen  könne,  ist  deshalb  unstichhaltig  einesteils,  weil 
nicht  jeder  die  Lust  und  Gelegenheit  hat,  sein  Wissen  zu  vergrößern, 
und  andemteils,  weil  doch  der  geprüfte  Auskultant  auch  schon  einen 
gewissen  Grundstock  von   praktischen  Kenntnissen    mitbringen   soll, 
um  bei  selbständiger  Tätigkeit,  als  Gerichtsadjunkt  und  Erhebungs- 
richter ersprießlich  zu  wirken  und  nicht  erst  mit  einigen  mißlungenen 
Untersuchungen,  in  denen  Ehre  und  Freiheit  von  Menschen  auf  dem 
Spiele  stehen,  seinen  Weg  zur  weiteren  Ausbildung  zu  pflastern.    Und 
dieses  Ziel  ließ  sich  unseres  Erachtens  mit  Leichtigkeit  dadurch   er- 
reichen,  daß  in  den  Auskultantenkursen  die  jungen  Juristen  nicht 
nur  theoretisch,  sondern  auch  praktisch  in  den  modernen  Strafrechts- 
disziplinen ausgebildet  würden.    (Vergleiche:  Einige  Worte  über  die 
Wichtigkeit  des  Lokalaugenscheines  im  strafrechtlichen  Vorver&hren 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtl.  Psychologie  usw.  307 

Yon  Dr.  Bauer,  Archiv  Krim.  Anthr.  Band  XV,  Seite  343.)  Daß  aber 
Interesse  unter  den  jüngeren  richterlichen  Beamten  für  Psychiatrie 
und  Kriminalistik  vorhanden  ist,  und  daß  ihnen  nur  die  gewünschte 
Gelegenheit  zu  weiterer  Ausbildung  fehlt,  geht  schon  daraus  hervor, 
daß  sich  an  dem  Kurse  in  Gießen,  obwohl  vorauszusehen  war,  daß 
bei  täglich  siebenstündiger,  ernster  Arbeit  nicht  viel  Zeit  für  Ver- 
gnügungen übrig  bleiben  würde,  dennoch  14  Gerichtsadjunkten  be- 
teiligten. 

Prof.  Mittermaier  sprach  zuerst  über  die  praktische  Bedeutung  der 
Strafrechtstheorien,  legte  den  bekannten  Gegensatz  zwischen  den 
Klassikern,  welche  die  Tat,  und  den  Modernen  die  in  der  Strafe  die 
Gesinnung  des  Täters  treffen  wollen,  dar,  und  bekannte  sich  dann 
als  Anhänger  einer  Mittelmeinung,  welche  die  Tat  bestrafen  und  dabei 
auf  die  Gesinnung  des  Täters  Rücksicht  nehmen  will.  Die  Strafe 
soll,  wie  Mittermaier  ausführte,  an  eine  begangene  Tat  anknüpfen, 
soll  Reaktion  gegen  eine  begangene  Tat,  soll  ein  Übel  sein,  welches 
dem  Täter  zum  Bewußtsein  bringt,  daß  er  dies  nicht  hätte  tun  dürfen 
und  soll  Vergeltung,  nicht  aber  Rache  sein,  weshalb  sie  sich  auch 
nach  der  Gesinnung  (Charakter)  des  Täters  richten  müsse.  Mitter- 
maier behandelte  weiter  Begriff  und  Wesen  der  Zurechnungsfähigkeit 
und  Schuld,  die  verminderte  Zurechnungsfähigkeit,  wobei  er  die  ver- 
mindert Zurechnungsfähigen  nicht  im  Strafausmaße,  sondern  in  der 
Strafart  anders  behandelt  wissen  will,  sowie  Charakter  und  Motiv  in 
der  Schuld.  Den  Schluß  der  Auseinandersetzungen  Mittermaiers, 
dessen  scharfsinnige  Logik  sowohl  Juristen,  als  auch  Mediziner  in 
gleich  hohem  Grade  fesselte  und  befriedigte,  bildeten  Erörterungen 
über  die  Psychologie  der  Gerichte,  der  Parteien  und  des  Prozesses. 
Außerdem  suchte  Mittermaier,  der  auch  in  höchst  instruktiver  Weise 
über  amerikanisches  Gefängniswesen  sprach,  durch  freie  Diskussionen 
das  Interesse  an  den  behandelten  Fragen  zu  heben  und  allen  Hörern 
Gelegenheit  zu  geben,  ihrer  Meinung  freien  Ausdruck  zu  geben.  — 
Am  letzten  Nachmittage  der  Woche  wurde  ein  Ausflug  nach  Butz- 
bach bei  Gießen  zur  Besichtigung  des  Gefängnisses  und  des  nahe- 
gelegenen Zuchthauses  in  Marienschloß  unternommen,  wobei  in 
liebenswürdiger  Weise  in  ersterem  von  Strafanstaltsleiter  Clement, 
in  letzterem  von  Direktor  Bomemann  die  Führerrolle  übernommen 
wurde,  und  war  gewiß  wohl  niemand  unter  den  Besuchern,  welcher 
diesen  beiden  Anstalten  die  Bezeichnung  „Musteranstalt^  vorenthalten 
hätte.  Diese  Fahrt  nach  Butzbach,  an  welcher  sich  auch  die  Mit- 
glieder der  hessischen-juristisch-psychiatrischen  Vereinigung  beteiligten 
war  sicher  nicht  nur  als  bloßer  Vergnügungsausflug  gedacht,  sondern 

20* 


308  XV.  Baxter 

sollte  gewiß  das  Interesse,  an  der  von  der  genannten  Vereinigung 
gepflegten  Idee,  die  praktischen  Juristen  mit  dem  Strafvollzüge  ver- 
traut zu  machen,  wecken.  Es  ist  noch  nicht  so  lange  her,  daß  ein 
richterlicher  Beamter,  der  sich  um  den  Strafvollzug  in  intensiver 
Weise  gekümmert  hätte,  unter  seinen  Berufskollegen  kaum  ernst  ge- 
nommen worden  wäre.  Langsam  trat  auch  in  dieser  Hinsicht  ein 
Umschwung  zum  Bessern  ein  und  heute  dürfte  sich  jedermann,  auch 
der  Anhänger  der  Vergeltungsstrafe,  darüber  im  Klaren  sein,  daß 
eine  Änderung  des  Strafvollzuges  wohl  eintreten  muß.  Soll  aber  der 
Strafvollzug  die  ihm  gebührende  Stellung  einnehmen,  dann  werden 
sich  wohl  auch  die  Juristen  damit  befassen  müssen,  und  ist  vor 
allem  die  Forderung  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  der  Richter, 
der  eine  Strafe  ausspricht,  auch  die  Wirkung  derselben  kenne.  Diese 
Forderung  wird  nicht  nur  von  Modernen,  wie  z.  B.  von  Aschaffen- 
burg (Das  Verbrechen  und  seine  Bekämpfung.  Seite  215  u.  263) 
der  allerdings  vom  Standpunkte  des  unbestimmten  Strafausmaßes 
hierfür  eintritt,  sondern  auch  von  Vertretern  der  klassischen  Richtung, 
wie  z.  B.  Wach  aufgestellt,  der  (Zukunft  des  deutschen  Strafrechtes, 
Rede,  gehalten  in  Düsseldorf  auf  der  75.  Jahresversammlung  der 
Rheinisch- Westphälischen  Gefängnisgesellschaft,  Düsseldorf  1 902 
Seite  12)  sagt:  „Der  junge  Kriminalist  bleibt  im  Dunkeln  über  die 
Straf  werte;  so  noch  im  Vorbereitungsdienst  Daher  ist  es  noch 
immer  so,  wie  schon  der  Justizminister  von  Arnim  beklagte,  daß 
Richter  Strafurteile  sprechen,  ohne  zu  wissen,  was  sie  tun.^  Die 
Frage,  auf  welchem  Wege  nun  sich  die  Juristen  die  Kenntnis  über 
das  Wesen  des  Strafvollzuges  verschaffen  sollen,  wird  heute  all- 
gemein dahin  beantwortet:  Durch  Schaffung  von  Gefängniskursen 
für  Juristen.  Über  die  Notwendigkeit  solcher  Gefängniskurse  sprach 
sich  Prof.  Mittermaier  auf  der  am  17.  Juli  1906  zu  Butzbach  abge- 
haltenen  Hauptversammlung  nachstehend  in  treffender  Weise  aus: 
„Der  Jurist  muß  auch  den  Strafvollzug  um  seiner  selbst  willen 
kennen  lernen;  einmal  gehört  dieser,  sogut  wie  der  ProzeB  zu 
den  Mitteln  der  Verbrechensbekämpfung,  und  wer  bei  dieser  mit- 
arbeiten will,  kann  dies  doch  nur  dann  mit  Aussicht  auf  Erfolg  tun, 
wenn  er  die  Bedeutung  der  einzelnen  Bekämpfungsfaktoren  kennt, 
und  der  ist  kein  guter  Sozialarzt,  sondern  nur  ein  Mathematiker, 
der  nicht  das  Wesen  der  Größen  kennt,  mit  denen  er  rechnet" 
Auch  Staatsanwalt  Dr.  Wulff en  in  Dresden  (Zur  Ausbildung  des  prak- 
tischen Kriminalisten.  Archiv  Krim.  Anthr.  Band  XVI  Seite  143)  ist 
der  Ansicht,  daß  praktische  Juristen  vorübergehend  in  die  größeren 
Strafanstalten  kommandiert  werden  sollen,   um  die  Angemessenheit, 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtl.  Psychologie  usw.  309 

Zweckmäßigkeit  und  Wirkung  der  yon  den  Gerichten  erkannten 
Strafen  zu  studieren,  will  aber  die  Lehrzeit  auf  ein  Jahr  ausgedehnt 
wissen,  während  Mittermaier  die  Dauer  eines  solchen  Kurses  mit 
14  Tagen  für  genügend  groß  bemessen  hält  und  nach  der  An- 
schauung eines  gewiegten  Praktikers,  des  Direktor  Clement  der  Straf- 
anstalt in  Butzbach  auch  schon  ein  Zeitraum  yon  12  Tagen  für 
diesen  Zweck  ausreichend  wäre,  vorausgesetzt,  daß  die  Zeit  ent- 
sprechend ausgenutzt  würde.  Unseres  Erachtens  ließe  sich  dieser  Vor- 
schlag in  Österreich  am  Besten  so  durchführen,  daß  man  mit  einer 
beschränkten  Anzahl  von  Gerichtsbeamten  aus  allen  Eronländem, 
welche  Vorliebe  und  Verständnis  für  Gefängniswesen  besitzen  und 
sich  schon  eine  gewisse  theoretische  Vorbildung  erworben  haben, 
1 4tägige  Kurse  in  einer  Strafanstalt  unter  der  Leitung  eines  bewährten 
Anstaltsbeamten  abhält;  und  könnten  die  Teilnehmer  dieses  Kurses, 
welche  dann  einen  Grundstock  von  Lehrenden  bilden  würden,  das 
Erlernte  regelmäßig  in  den  Auskultantenkursen  vortragen.  Später 
könnten  ja  diese  Kurse  erweitert  und  dann^  wenn  sich  die  Kenntnis 
der  Gefängniskunde  verbreitet  hätte  auch  bei  der  Bichteramtsprüfung 
einige  diesbezügliche  Fragen  gestellt  werden.  Auf  diese  Weise  würde 
der  Anfang  dazu  gemacht,  daß  der  junge  Jurist,  dem  Strafvollzuge, 
dem  offenbar  in  der  neueren  Zeit  eine  größere  Bolle  beschieden, 
nicht  mehr  so  fremd  gegenüberstände,  als  bisher.  Bei  der  führenden 
Bolle,  welche  Oberstaatsanwalt  Hoegel,  selbst  eine  hervorragende 
Autorität  im  Gefängniswesen,  in  Österreich  einnimmt,  ist  zu  hoffen, 
daß  Gefängniskurse  für  Juristen,  welche  sich  schon  anderwärts  be- 
währten, in  Österreich  keine  Utopie  bleiben  dürften. 

Zum  Schiasse  sei  noch  eine  kleine  Abschweifung  zu  dem  Zwecke 
gestattet,  um  einen  Blick  auf  die  Anwendung  der  bedingten  Be- 
gnadigung im  Großherzogtume  Hessen  zu  werfen,  was  durch  die 
Wichtigkeit  der  Bolle,  welche  heute  die  bedingte  Begnadigung,  die 
wir  der  „sogenannten"  bedingten  Verurteilung  bei  weitem  vorziehen, 
spielt,  gerechtfertigt  sein  möge. 

Eine  Verfügung  des  Ministeriums  des  Innern  und  der  Justiz  vom 
22.  Juni  1891  bestimmt  unter  anderem,  daß  bei  jugendlichen  Ge- 
fangenen die  Strafvollstreckungsbehörde  stets  die  Einreichung  eines 
Gnadengesuches  der  Hälfte  der  Strafe  zu  veranlassen  hat,  ohne  daß 
hiedurch  die  bestehenden  Vorschriften  über  die  vorläufige  Entlassung 

der  §§  23  ff  des  Beichsstrafgesetzbuches  berührt  werden.     Eine  Ver- 

« 

*  Anmerkung:  Verfasser  verdankt  nachstehendes  Material  der  Liebens- 
wQrdigkeit  des  Herrn  Oberstaatsanwalt  Dr.  Buff  in  Mainz,  welchem  hierfür  noch- 
mals der  beste  Dank  gesagt  sei. 


310  XV.  Bauer 

fügung  des  Ministeriums  des  Innern  und  der  Justiz  vom  29.  Juni  1 895 
zu  Nr.  M.  J.   15708  empfiehlt  den  Strafvollstreckungsbehörden  die 
bedingte  Aussetzung  der  Strafvollstreckung  auch  dann  zu  beantragen, 
wenn  mit  dem  Strafvollzuge  noch  nicht   begonnen   worden   ist,   be- 
sonders bei  Jugendlichen  zwischen  12 — 18  Jahren.    Durch  eine  Ver- 
fügung des  Ministeriums  des  Innern   und   der  Justiz    vom   25.  Juni 
1896  zu  J.  M;  16920  wird  es  dem  Ermessen  und   der  Einsicht  des 
Bichters  und  des  StrafvoUstreckungsbeamten  überlassen,  zu   prüfen, 
ob  die  Vollstreckung  der  erkannten  Freiheitsstrafe,  oder  der  bedingte 
Erlaß  der  ganzen  Strafe  oder  nur  eines  Teiles  derselben,  oder  endlich 
nur  die  bedingte  Aussetzung  der  Strafvollstreckung  mit  Aussicht  auf 
spätere  Begnadigung  in  jedem  einzelnen  Falle  das  geeignetste  Mittel 
sei,  um  bessernden  Einfluß  auf  den  jugendlichen  Übeltäter  zu  nehmen. 
Die  mit  der  Behandlung  von  Strafsachen   betrauten  Beamten,   heißt 
es  in  der  Verfügung  weiter,   dürfen   deshalb   nicht   unterlassen,   die 
Ursachen  zu  erforschen,  denen  die  Übeltat  ihre  Entstehung  verdankt. 
Liegt   der  Grund   in   einer  schlechten  Charakteranlage,  m  Verwahr- 
losung der  Erziehung,  so  wird  sich  in  der  Regel  die  Vollstreckung 
der  Strafe   empfehlen;   dagegen   bei  Handlungen,   die   auf  jugend- 
lichen Leichtsinn,  Unerfahrenheit,  Unbesonnenheit,  Verlockung  durch 
Dritte,  zurückzuführen  sei,  kann  die  bedingte  Begnadigung  oder  Aus- 
Setzung  der  Strafvollstreckung  von  gutem  Einfluß  anf  die  Übeltäter 
sein.     Die  Verfügung  des  Ministeriums   des  Innern   und  der  Justiz 
vom    17.   September   1897    zu  J.  M.    6769   empfiehlt   in   Ansehung 
Jugendlicher   eine  besonders  sorgfältige  Prüfung  der  Frage,  ob  eine 
bedingte  Aussetzung  des  Strafvollzugs   zu  beantragen  sei,  in  Fällen^ 
in  welchen  die  verhängte  Freiheitsstrafe   von   kurzer  Dauer  ist,   da 
gerade  hier  die  Möglichkeit  besteht,  daß  die  Vollstreckung  eher  schäd- 
lich, als  vorteilhaft  auf  den  Sträfling  einwirke.     Die  Verfügung  des 
Ministeriums   des  Innern   und  der  Justiz   zu  J.  M.    9203   bestimmt, 
daß  in  allen  Fällen  der  Vollstreckung  von  Freiheitsstrafen  über  einen 
Monat  an  jugendlichen  Gefangenen  vor  Ablauf  der  Hälfte  der  Straf- 
zeit zu  prüfen  ist,  ob  die  zweite  Hälfte  bedingt  oder  unbedingt  zu 
erlassen,   oder  ihre  Vollstreckung   bedingt   aufzuschieben  sei     Aus 
diesen  Bestimmungen  läßt  sich  entnehmen,  daß  Hessen  die  bedingte 
Begnadigung   bei  Jugendlichen   schon   lange   vor   dem  Jahre   1895, 
allerdings  erst  nach  Verbüßung  eines  Teiles   der  Strafe  hatte,   und 
dieses  Prinzip  bis  1.  Januar  1903  bevorzugte.     Der  großherzogliche 
Justizminister  Exzellenz  Dr.  Dittmar  sprach  sich  in  der  Sitzung  vom 
25.   Februar   1904  der  Zweiten   Kammer   der  Landstände    hierüber 
nachstehend  aus:      „Die  Erfahrungen,   die   wir   mit   diesem  System 


Einige  Worte  über  den  internationalen  Kurs  der  gerichtl.  Psychologie  usw.  311 

gemacht  haben,  waren  keine  glänzenden,  aber  auch  keine  schlechten. 
Die  Erwägungen,  auf  denen  dieses  System  beruhte,  waren  die:  Läßt 
man  einen  Teil  der  Strafe  verbüßen,  so  wird  dem  Übeltäter  immer 
der  Ernst  der  Folgen  seiner  Tat  nachdrücklich  zu  Gemüte  geführt; 
läßt  man  ihn  aber  das  Strafübel  nicht  bis  zum  Ende  ausstehen,  son- 
dern erwartet  man  ihm  gegenüber,  daß  er  sich  künftig  richtig  und 
gesetzmäßig  führen  werde,  in  welchem  Falle  er  die  Strafe  überhaupt 
nicht  bis  zum  Ende  zu  verbüßen  hat,  während  er  im  andern  Falle 
auch  noch  den  jetzt  nicht  verbüßten  Rest  zu*  verbüßen  haben  würde, 
so  —  haben  wir  uns  gedacht  —  ist  das  ein  außerordentlich  wirk- 
samer erziehlicher  Zwang  für  den,  der  einmal  das  Gesetz  übertreten 
hat,  demnächst  auf  die  Bahn   der  Gesetzmäßigkeit  zurückzukehren." 

Auch  nach  dem  1.  Januar  1903,  an  welchem  Tage  für  die 
deutschen  Bundesstaaten  gemeinsame  Grundsätze  hinsichtlich  der 
Behandlung  der  bedingten  Begnadigung  in  Geltung  traten  (Siehe: 
Die  bedingte  Begnadigung  in  den  Deutschen  Bundesstaaten  von 
Dr.  Klee  Z  Band  XIV  Seite  69  und  Z  Band  XVI  Seite  458)  wurde 
noch  teilweise  an  diesen  Grundsätzen  festgehalten,  und  die  bedingte 
Begnadigung  nicht  nur  vor  Antritt,  sondern  auch  nach  Abbüßung 
eines  Teiles  der  Strafe  in  Anwendung  gebracht,  was  unseres  Erachtens 
nach  sehr  empfehlenswert  ist,  als  ein  solches  Vorgehen  eine  äußerst 
eingehende  Individualbehandlung  des  einzelnen  Falles  zuläßt 

Wenn  wir  so  in  Kürze  das  Ergebnis  der  einwöchentlichen  Vor- 
lesungen in  Gießen  überblicken,  so  müssen  wir  hervorheben,  daß  der 
schwerwiegendste  Erfolg  derselben  einesteils  in  der  Annäherung  der 
Mediziner  und  Juristen,  anderesteils  in  den  mannigfachen  Anregungen 
gelegen  ist,  welche  den  Teilnehmern  in  den  verschiedensten  Richtungen 
zuteil  wurde,  und  welche  diejenigen,  welche  sich  mit  den  modernen 
Fragen  noch  gar  nicht,  oder  nur  oberflächlich  beschäftigten,  ver- 
anlassen dürfte,  sich  dem  Studium  derselben  mit  vollem  Eifer  zu 
widmen.  Und  nicht  nur  in  diesem  Ergebnisse  liegt  das  große  Ver- 
dienst Prof.  Sommers,  welcher  wohl  der  geistige  Vater  dieses  Kurses 
genannt  werden  kann,  sondern  auch  darin,  daß  er  die  Gedanken  und 
Bestrebungen,  welche  in  der  juristisch-psychiatrischen  Vereinigung 
gepflegt  wurden,  vor  einer  internationalen  Zuhörerschaft  zur  Geltung 
brachte.  Wir  werden  auf  Grund  der  gemachten  Erfahrungen  mit  der 
Prophezeihung  kaum  fehlgehen,  daß  dieses  geistige  Samenkorn,  welches 
von  Gießen  in  die  Welt  hinausgestreut  wurde,  in  den  Heimatländern 
sämtlicher  Teilnehmer  reiche  Früchte  tragen  werde. 

Es  wäre  nicht  nur  unvollständig,  sondern  auch  undankbar,  diese 
Zeilen  abzuschließen,  wollten  wir  nicht  der  großen  Mühe  gedenken, 


312  XV.  Bauer 

welche  sich  die  Veranstalter  des  Kurses  gaben,  am  allen  Wünschen  der 
Teilnehmer  gerecht  zu  werden,  wollten  wir  nicht  der  Verdienste  Er- 
wähnung tun,  welche  sich  Prof.  Sommer,  der  sogar  sämtlichen  Teil- 
nehmern die  gastlichen  Pforfen  seiner  Villa  öffnete,  und  Dr.  Danne- 
mann  um  die  Unterbringung  der  Gäste  erwarben,  und  würden  wir 
nicht  in  Dankbarkeit  der  Stadt  Gießen  gedenken,  welche  alle  Teil- 
nehmer zu  einem  Ausfluge  und  auch  zu  einem  solennen  Festessen 
einlud.  Indem  wir  nun  diesen  Allen  im  Namen  der  öster- 
reichischen Teilnehmer  nochmals  den  herzlichsten  Dank  sagen,  rufen 
wir  ihnen  zu:  „Auf  fröhliches  Wiederschauen  nach  zwei  Jahren 
bei  dem  nächsten  internationalen  Kurse  in  der  gastfreundlichen  Stadt 
an  der  Lahn!" 


XVL 
Unwahre  Geständnisse. 

Mitgeteilt  Tom 
Staatsanwälte  Dr.  Richard  Jung  in  Feldkirch. 


L 

Anfangs  1890  teilte  mir  die  Gendarmerie  in  S.,  wo  ich  als 
Gerichtsadjunkt  die  Geschäfte  eines  üntersnchungsrichters  zu  besorgen 
hatte,  mit,  daß  Stimmen  laut  seien,  das  1875  gebome  Mädchen  M.  St 
habe  Zeichen  der  Schwangerschaft  gezeigt,  die  verschwunden  seien, 
ohne  daß  eine  Geburt  bekannt  worden  wäre.  Ich  erklärte,  daß  die 
Gendarmerie  die  Sache  im  Auge  behalten  könne,  daß  aber  die  bis* 
herigen  Erhebungen,  nach  denen  einige  Personen  eine  Anschwellung 
des  Bauches  des  Mädchens,  ein  eigentümliches  Halten  des  Schales 
und  die  Wäscherin  das  Ausbleiben  von  Wäsche,  die  von  der  Monats- 
regel beschmutzt,  behaupteten,  zu  einem  gerichtlichen  Einschreiten 
noch  keinen  genügenden  Anhalt  böten,  da  viel  geschwätzt  werde,  das 
Zuhalten  eines  Schales  im  strengen  Winter  nur  natürlich  sei,  die 
fragliche  Wäsche  vom  Mädchen  oder  deren  Mutter  selbst  gewaschen 
worden  sein  konnte,  überdies  nicht  ausgeschlossen  sei,  daß  die  menses 
bei  einem  erst  vierzehnjährigen  Mädchen  unterbrochen  worden  seien. 

Ich  hörte  dann  mehrere  Wochen  nichts  mehr  von  dieser  Sache 
und  war  sehr  überrascht,  als  ich  am  1.  März  den  Bericht  der  Gen- 
darmerie erhielt,  daß  die  am  7.  März  1875  geborene  M.  St.  wegen 
Verbrechens  der  Abtreibung  der  Leibesfrucht  »beziehungsweise  drin- 
genden Verdachtes  des  Kindesmordes"  und  deren  Mutter  A.  St.  wegen 
Mitschuld  hieran  eingeliefert  worden  seien. 

Beide  wohnten  im  Schlosse  H.,  wo  Militär  lag,  und  war  die 
Mutter  Kantinärin. 

M.  St  war  tags  zuvor  in  die  Postenkanzlei  gerufen  worden,  als 
sie  sich  zufällig  zur  Besorgung  von  Einkäufen  in  S.  aufhielt  Sie 
wurde  dann  von  den  beiden  anwesenden  Gendarmen,  wie  der  Bericht 
meldete,  „über  ihre  Schwangerschaft,  sowie  über  die  Art  der  Entbindung 


814  XVI.  Juno 

und  Verbleib  des  Kindes  auf  das  Eingehendste  zur  Rede  gestellt;  sie 
leugnete  anfänglich  hartnäckig  jemals  mit  einer  Mannsperson  Umgang 
bzw.  Beischlaf  gepflogen  zn  haben,  nnd  noch  mehr,  sich  jemals  in 
gesegnetem  Znstande  befunden  zu  haben;  erst  nach  längerer  vor- 
genommener Kombination  gelang  es  beiden  Postenführem  das  Mädchen 
in  ein  Netz  lügenhafter  Angaben  zu  verwickeln  und  sie  so  in  Ver- 
wirrung zu  bringen,  daß  sie  durch  Widerspruche  ihrer  Aussagen  im 
Leugnen  entkräftet,  und  durch  Überweisung  der  Tat  zu  einem 
Geständnisse  bewogen  wurde.  Sie  gibt  in  ihrem  Geständnisse  an- 
fänglich an,  daß  bei  ihr  in  den  Monaten  September,  Oktober,  November 
und  Dezember  1889  die  monatliche  Reinigung  ausgeblieben  sei  und 
daß  sich  diese  erst  anfangs  Januar  1890  wieder  eingestellt  habe,  sie 
will  aber  angeblich  nicht  gewußt  haben,  daß  sie  sich  im  schwangeren 
Zustande  befinde.  —  Später  gibt  St  an,  wegen  öfteren  Beischlafes 
nicht  imstande  zu  sein,  die  Zeit  ihrer  Empfängnis  angeben  zu  können; 
jedoch  gibt  sie  zu,  daß  die  Empfängnis  schon  im  Monat  Mai  v.  J. 
stattgefunden  haben  dürfte,  da  sich  die  Anzeichen  der  Schwanger- 
schaft im  Laufe  des  Monats  Juni  schon  eingestellt  hatten." 

Nach  dem  Gendarmeriebericht  gab  St  weiter  an,  daß  ihre  Mutter 
ihre  Schwangerschaft  gekannt  habe  und  anfangs  November  von  einem 
Kaiserjäger  gelegentlich  des  Fassens  von  Tabak  für  die  Kompagnie 
von  der  Apotheke  in  J.  (in  S.  befindet  sich  eine  solche  nicht)  eine 
Arznei  habe  bringen  lassen.  Diese  Arznei  sei  von  der  Mutter  ab- 
gekocht und  ihr  hiervon  innerhalb  zehn  Tagen  dreimal  je  ein  Wein- 
glas voll  zu  trinken  gegeben  worden.  Die  Flüssigkeit  habe  weißgelbe 
Farbe  und  süßlichen  Geschmack  gehabt  Da  die  beiden  ersten  Gaben 
der  Arznei  ohne  Wirkung  gewesen,  sei  die  Arznei  das  dritte  Mal 
stärker  bereitet  worden.  Nach  diesem  dritten  Mal  hätten  sich  die 
Geburtswehen  alsbald  eingestellt,  weshalb  sie  sich  in  das  Bett  gelegt, 
dann  von  dort  auf  den  Abort  gegangen  sei,  wo  sie  bei  Verrichtung 
des  Stuhlgangs  das  Kind  in  den  Abortschlauch  hinunter  geboren  habe. 

Im  Berichte  wird  daran  die  Bemerkung  geknüpft,  daß  die  Ent- 
bindung doch  nicht  so  leicht  vor  sich  gegangen  sein  dürfte,  weil  St 
nach  ihrer  eigenen  Angabe  die  Fruchtbewegung  schon  im  Monat 
September  verspürt  habe,  das  Kind  daher  schon  groß  gewesen  sein 
müßte,  und  daß  daher  Verdacht  des  Kindesmordes  vorliege. 

Zum  Verhör  vorgeführt  und  befragt,  ob  sie  sich  schuldig  fühle, 
antwortete  sie  zunächst  mit  einem  zaghaften  „Nein^.  Als  sie  aber 
dann  um  die  Gründe  befragt  wurde,  aus  denen  sie  der  Gendarmerie 
ein  Bekenntnis  der  Leibesfruchtabtreibung  abgelegt  habe,  erklärte  sie 
sofort,  ihre  Angaben  vor  der  Gendarmerie  entsprächen  der  Wahrheit 


Unwahre  Greständnisse.  315 

Der  Bericht  der  Gendarmerie  wurde  ihr  nicht  vorgelesen,  M.  St  viel- 
mehr veranlaßt,  den  ganzen  Vorgang  ans  Eigenem  zu  erzählen,  wobei 
nur  Fragen  zur  besseren  Aufklärung  gestellt  wurden.  Sie  gab  an: 
„Am  15.  August  1889  fuhr  ich  mit  P.  W.,  Knappen  in  H.,  nach  St. 
zu  meiner  Schwester.  Während  der  Eisenbahnfahrt  von  Fr.  nach  St. 
wohnte  mir  P.  W.  bei.  Anfangs  August  hatte  ich  noch  meine 
monatliche  Begel,  die  dann  aufhörte,  um  erst  wieder  am  1.  Januar  1890 
einzutreten.  Beiläufig  Mitte  Oktober  v.  J.  trug  ich  Speisen  über  die 
Stiege  im  Schlosse  H.  und  fiel  rücklings  über  die  Stiege  auf  das 
Kreuz,  so  daß  ich  zwei  bis  drei  Tage  Schmerzen  am  Bücken  ver- 
spürte und  schwer  gehen  konnte.  Dies  kann  Georg  B.  bezeugen. 
Ende  Oktober  v.  J.  sprach  ich  mit  Barbara  T.  und  erzählte  mir  diese 
u.  a.,  daß  sie  in  der  Hoffnung  sei,  da  ihr  die  monatliche  Beinigung 
ausbleibe.  Jetzt  erst  wußte  ich  die  Ursache  zu  deuten,  daß  auch  mir 
jene  Beinigung  fehlte.  Um  jene  Zeit  wurde  mir  von  Therese  H. 
hinterbracht,  daß  man  erzähle,  ich  sei  schwanger.  Ich  hatte  schon 
früher  bemerkt,  daß  sich  meine  Bauchdecke  spanne.  Schon  bevor 
ich  den  Sturz  auf  der  Stiege  erlitt,  zankte  mich  meine  Mutter  aus, 
sagte,  daß  ich  dick  werde  und  daß  ich  zuviel  mit  den  Jägern  spreche. 
—  Vor  ungefähr  IV2  Jahren  wurde  von  den  Jägern  in  der  Kantine 
darüber  gesprochen,  daß  man  mit  einem  Pulver  die  Frucht  der 
schwangeren  Weiber  wegbringen  könne.  —  Anfangs  November  v.  J. 
kam  ich  hierüber  mit  meiner  Mutter  zu  sprechen  und  zwar  begann 
ich  das  Gespräch.  Die  Mutter  war  einverstanden,  jenes  Mittel  bei 
mir  anzuwenden  und  schickte  den  Kaiserjäger  L.  M.  nach  J.  in  die 
Apotheke,  ohne  ihm  bekannt  zu  geben,  um  was  es  sich  handle.  Das 
Mittel  war  ein  weißes  Pulver,  dessen  Namen  ich  nicht  weiß.  Meine 
Mutter  kochte  mir  das  Mittel,  dessen  Bereitung  ich  nicht  gesehen 
habe,  und  ich  nahm  es  in  der  Früh  bei  nüchternem  Magen  ein.  Es 
bereitete  mir  keine  Schmerzen,  wirkte  aber  auch  nicht,  weshalb  ich 
es  nach  fünf  Tagen,  und  dann  neuerdings  nach  sieben  Tagen  ein- 
nahm. —  Einen  Tag  nach  dieser  letzten  Einnahme  ging,  als  ich  auf 
dem  Aborte  die  Notdurft  verrichtete,  aus  meiner  Scheide  etwas  weg. 
Die  nächsten  Tage  fühlte  ich  mich  schwach,  die  Bauchanschwellung 
verlor  sich  und  die  auch  etwas  angeschwollenen  Brüste  wurden  regel- 
mäßig. Meiner  Mutter  erzählte  ich  sofort,  daß  etwas  weggegangen 
sei.  Dies  war  ungefähr  Mitte  November  v.  J.  —  Als  ich  das  dritte 
Mal  einnahm,  hatte  die  Mutter  das  Mittel  stärker  bereitet,  und  während 
ich  die  ersten  beidemale  nur  ein  Weingläschen  voll  trank,  nahm  ich 
das  dritte  Mal  um  ein  halbes  Glas  mehr.  Der  Geschmack  des 
Getränkes  war  süßlich. '^ 


316  XVI.  Jung 

Als  ihr  hierauf  vorgehalten  wurde,  daß  sie  der  Gendarmerie 
angegeben  habe,  sie  habe  schon  im  Juni  v.  J.  Anzeichen  der 
Schwangerschaft  verspürt,  was  mit  dem  eher  übereinstimmen  würde, 
daß  man  schon  im  Oktober  von  ihrer  Schwangerschaft  gesprochen, 
erklärte  sie:  „Ich  bleibe  dabei,  daß  ich  am  15.  August  v.  J.  emp- 
fangen haben  muß,  da  ich  seit  dem  Sommer  1886  bis  dorthin  keinen 
Beischlaf  ausüben  ließ  und  der  Knappe  P.  W.  nur  einmal  nach  dem 
15.  August  mit  mir  den  Beischlaf  ausübte.  Im  Sommer  1886  als 
die  gesamte  Kompagnie  Schießübungen  in  den  Feldern  von  P.  abhielt, 
ging  ich  in  die  Küche,  wo  der  Offiziersbursche  war  und  sprach  mit 
diesem.  Derselbe  nahm  mich  dann,  ohne  etwas  zu  sagen,  auf,  legte 
mich  auf  das  dort  befindliche  Bett,  hob  mir  den  Bock  auf,  betrachtete 
mich  an  den  Geschlechtsteilen,  legte  sich  dann  auf  mich  hinauf  und 
führte  sein  männliches  Glied  in  meine  Scheide  ein,  ohne  daß  er  voll- 
kommen einzudringen  vermochte.  Er  begann  auch  den  Beischlaf 
auszuführen,  als  man  die  Kompagnie  zurückkehren  hörte,  und  ich 
infolge  dessen  mich  los  machte  und  davonsprang.  Zu  einem  Samen- 
erguße  war  es  nicht  gekommen.  —  Ich  füge  noch  bei,  daß  ich  in 
der  Früh  jenes  Tages,  als  ich  das  dritte  Mal  das  Abtreibungsmittel 
nahm,  schon  im  Bette  Reißen  im  Bauche  verspürte,  weshalb  ich  mich 
dann  auf  den  Abort  begab,  wo  die  Frucht  wegging.  Die  Mutter  war 
damals  nicht  im  Zimmer,  sondern  schon  in  der  Kantine  beschäftigt^ 

Die  Mutter  A.  St  erklärte,  sie  habe  mit  ihrer  Tochter  in  ein 
und  demselben  Zimmer  geschlafen,  wisse  aber  nichts  von  einer 
Schwangerschaft  derselben,  habe  um  kein  Abtreibungsmittel  geschickt, 
kein  solches  bereitet  und  würde  auf  keinen  Fall  Mithilfe  bei  einem 
solchen  Verbrechen  geleistet  haben. 

Von  den  einvernommenen  Zeugen  wollten  tatsächlich  einige  Ende 
Oktober  und  Anfangs  November  des  Vorjahres  an  M.  St  Anschwellung 
des  Bauches  und  der  Brüste  und  gegen  Dezember  Schlankerwerden 
der  Gestalt  beobachtet  haben;  andere,  und  gerade  diejenigen,  die 
öfters  mit  M.  St.  verkehrten,  hatten  solche  Beobachtungen  nicht 
gemacht  Eine  Zeugin  hatte  im  Oktober  M.  St  im  Hemde  gesehen 
und  von  einer  Schwangerschaft  durchaus  nichts  gesehen.  Unter  den 
Zeugen  befand  sich  auch  der  Wundarzt  L.  K.  Er  gab  an,  daß  er 
vom  Gerede  über  die  Schwangerschaft  der  M.  St.  hörte,  sie  deshalb 
Ende  Oktober  beim  Vorbeigehen  auf  der  Straße  betrachtete,  wobei 
ihm  vorkam,  daß  M.  St  einen  etwas  größeren  Bauch  habe,  so  daß 
er  sich  dachte,  es  wäre  möglich,  daß  sie  sich  in  anderen  Umständen 
befinde  und  zwar  ungefähr  im  vierten  Monate.  Ende  November 
habe  er  der  M.  St  einen  Zahn  gezogen  und  schien  sie  ihm  hierbei 


Unwahre  GestSndnisse.  317 

schlanker  zu  sein.  Sowohl  damals  als  wie  sie  im  Dezember  einige- 
male  um  Medikamente  für  ihre  kranke  Mutter  kam,  habe  sie  auf 
sein  Befragen  erklärt,  sie  habe  ihre  Regel. 

Der  Kaiserjäger  L.  M.,  der  durch  ein  entferntes  Bezirksgericht 
einvernommen  werden  mußte,  erklärte,  er  sei  nie  in  die  Apotheke  in 
J.  gekommen,  habe  von  A.  St  keinen  Auftrag  erhalten,  etwas  von 
jener  Apotheke  zu  holen,  und  seien  die  gegenteiligen  Angaben  der 
M.  St  unwahr. 

Von  entscheidender  Bedeutung  wurden  die  Aussage  des  Knappen 
P.  W.  und  die  ärztliche  Untersuchung,  die  wegen  der  notwendigen 
Berufung  eines  zweiten  Arztes  von  auswärts  und  wegen  eingetretener 
Monatsregel  bei  M.  St  sich  fünf  Tage  hinausschob. 

P.  W.  gab  an,  er  habe  M.  St.  selten  gesehen  und  ihr  nie  fleischlich 
beigewohnt  Richtig  sei  nur,  daß  er  am  Frauentage,  den  15.  Aug.  1889, 
mit  M.  St  bis  zur  Eisenbahnhaltestelle  H.  gefahren,  dann  zu  Fuß 
mit  ihr  nach  I.  gegangen  sei,  hierauf  sie  zu  einem  Wirte  in  H. 
zurückbegleitet  habe,  woselbst  M.  St.  bei  Verwandten  geblieben, 
während  er  nach  St.  und  von  dort  einige  Tage  später  nach  Hause 
zurückgefahren  sei. 

M.  St  wurde  infolge  dieser  Aussage  dem  P.  W.  gegenübergestellt 
und  gab  an:  „Ich  habe  meine  früheren  Angaben  bei  der  Gendarmerie 
und  vor  Gericht  nur  aus  Furcht  gemacht,  insbesondere  bei  der 
Gendarmerie,  da  ich  bei  dieser  stark  herumgefragt  wurde,  und  da 
ich  glaubte,  vor  Gericht  die  dort  gemachten  Angaben  wiederholen  zu 
sollen,  da  mir  meine  Unschuld  nicht  geglaubt  wurde.  Es  hat  mit 
mir  noch  kein  Mann  den  Beischlaf  ausgeübt,  und  ist  auch  jene 
Geschichte  unwahr,  die  ich  von  dem  Offiziersburschen  aus  dem 
Jahre  1886  erzählt  habe.    Alle  meine  früheren  Angaben  sind  unwahr.^ 

Ich  bemerke  ausdrücklich,  daß  ich  auf  M.  St  keinerlei  Druck 
ausübte,  um  ein  Geständnis  zu  erlangen,  da  ich  von  Anfang  an 
Zweifel  an  der  Echtheit  des  Geständnisses  der  Gendarmerie  gegenüber 
hatte  und  mir  sofort  auffiel,  daß  M.  St  vor  Gericht  in  Einzelheiten 
von  ihren  Angaben  bei  der  Gendarmerie  abwich,  was  allerdings  auch 
von  der  verschiedenen  Befragensart  herstammen  konnte. 

Der  ärztliche  Befund  ergab:  „M.  St.  ist  von  schwächlichem, 
schlankem  Körperbau  mit  ganz  geringer  Fettentwicklung.  Die  Brüste 
sind  entsprechend  der  übrigen  Körperentwicklung  mäßig  stark,  ohne 
Fettpolster,  die  Warze  und  der  Warzenhof  schwach  pigmentiert  und 
noch  in  der  Ausbildung  begriffen.  Die  Bauchdecken  sind  straff  und 
gespannt,  die  Bauchhaut  ohne  Pigment  und  Schwangerschaftsnarben. 
Die   Schamhaare   sind    spärlich,    der   Schamhügel    ebenfalls    mäßig 


318  XVI.  Juno 

entwickelt  Die  großen  Schamlippen  sind  nur  rudimentär  vorhanden, 
die  kleinen  Schamlippen,  die  dunkel  gefärbt  und  lederartig  hart  sind, 
nicht  im  mindesten  deckend.  Das  Hymen  ist  schlaff,  dehnbar  und 
ringförmig,  mit  einer  großen  Zentralöffnung.  Dasselbe  zeigt  keinerlei 
Einrisse  oder  Narben.  Die  Scheide  ist  geräumig  ohne  Falten.  Das 
Scheidenstück  der  Gebärmutter  ragt  als  ein  derber,  kegelförmiger 
Zapfen  in  die  Scheide  hinein.  Die  Gebärmutter  selbst  ist  derb,  hart 
im  inneren  Durchmesser  gegen  5  cm  lang.'' 

Das  Gutachten  lautete:  „Aus  der  Untersuchung  der  Person  kann 
nicht  abgeleitet  werden,  daß  an  M.  St  der  Beischlaf  vollzogen  wurde. 
Die  Möglichkeit  eines  stattgehabten  Beischlafes  ist  nicht  ausgeschlossen, 
da  das  elastische,  nachgiebige  Jungfernhäutchen  das  Eindringen  des 
männlichen  Gliedes  nicht  verhindert,  da  man  sogar  behufs  Unter- 
suchung mit  dem  Spiegel  in  die  Scheide  hineinkann.  Ausgesprochene, 
ganz  bestimmte  und  unzweideutige  Zeichen  für  eine  stattgehabte 
Schwangerschaft  sind  nicht  vorhanden,  was  aber  nicht  ausschließt, 
daß  M.  St  3  bis  4  Wochen  schwanger  gewesen  sein  könnte.  Daß 
keine  länger  dauernde  Schwangerschaft  anzunehmep  ist,  ist  aus  der 
kleinen,  derben  Gebärmutter  zu  entnehmen,  sowie  aus  dem  spalt- 
förmigen,  keinerlei  Einrisse  zeigenden  Muttermund.  Anzeichen  für 
eine  gewaltsame  Äbtreibung  der  Leibesfrucht  sind  nicht  vorhanden. 
Abtreibungsmittel  von  Farbe  und  Geschmack,  wie  es  von  M.  St 
beschrieben  wurde,  gibt  es  keines.  Pulver  von  weißer  Farbe  kann 
ein  mineralisches  Salz  sein,  ohne  daß  dasselbe  aber  die  mindeste 
Eignung  zu  einer  wirksamen  Abtreibung  der  Leibesfrucht  hat'' 

M.  St.  wurde  im  Anschlüsse  an  ihre  körperliche  Untersuchung 
noch  einmal  vernommen,  beteuerte  ihre  Unschuld  und  fuhr  fort:  „Ich 
habe  mich  bei  der  Gendarmerie  vor  dem  Einsperren  gefürchtet,  und 
da  die  Gendarmen  mir  sagten  der  Arzt  E.  bestätige  meine  Schwan- 
gerschaft, so  glaubte  ich  wirklich,  es  müsse  wahr  sein.  P.  W.  gab 
ich  deshalb  als  Beischläfer  an,  weil  ich  von  den  Leuten  gehört  hatte, 
man  gebe  diesen  als  meinen  Befruchter  an,  und  ich  hatte  auch  von 
den  Leuten  gehört,  daß  ich  etwas  eingenommen  haben  müßte,  da  ich 
nicht  dicker  würde.  Es  ist  auch  unrichtig,  daß  im  Jahre  1886  der 
Offiziersbursche  mich  am  bloßen  Leibe  angegriffen  und  den  Beischlaf 
versucht  habe ;  derselbe  hat  mir  nur  über  den  Kleidern  mit  der  Hand 
zwischen  die  Füße  gegriffen.  Da  mich  die  Gendarmen  gefragt  hatten, 
ob  ich  nicht  schon  früher  mit  einem  Manne  zu  tun  gehabt  habe,  so 
habe  ich  auch  jenes  in  entstellter  Form  angegeben.  Bei  Gericht  habe 
ich  die  Angaben  wiederholt,  da  ich  glaubte,  ich  müßte  dajsselbe  an- 
geben wie  bei  der  Gendarmerie." 


Unwahre  Geständnisse.  319 

Auf  Grund  des  ärztlichen  Gutachtens  und  der  übrigen  Erhebungen 
setzte  ich  M.  und  A.  St  sofort  auf  freien  Fuß  und  die  Staatsanwalt- 
schaft gab  das  Einstellungserklären  ab  (Akt  B.  4,  1890,  des  Bezirks- 
gerichtes Sillian). 

Ich  bemerke  hiezu  noch,  daß  Wundarzt  K.  eine  sehr  ausgebreitete 
Praxis  hatte,  weshalb  es  erklärlich  war,  warum  das  Mädchen  auf 
dessen  Meinung  großes  Gewicht  legte,  und  daß  M.  St  mir  auch  an- 
gab, sie  habe  in  der  Kantine  oft  zugehört,  wie  die  Soldaten  von  ge- 
schlechtlichen Dingen  sprachen. 

Das  Gerede  über  ihre  Schwangerschaft  dürfte  wohl  auf  ihren 
Fall  über  die  Stiege  und  die  hiebei  erlittene  Verletzung  in  der  Kreuz- 
gegend zurückzuführen  sein,  wodurch  ihr  Gang  durch  einige  Zeit 
schwerfällig  wurde.  Sie  mochte  nicht  nur,  wie  sie  selbst  angibt,  von 
Fmchtabtreibungen  gehört  haben,  sondern  auch,  daß  die  hiezu  ange- 
wandten Mittel  nicht  immer  sofort,  sondern  erst  bei  wiederholter  Ein- 
nahme wirkten.  Auch  von  den  Geburtswehen  hatte  sie  sicher  schon 
gehört  Aber  es  fiel  mir  schon  bei  ihrer  Einvernahme  auf,  daß  sie 
in  keine  nähere  Beschreibung  der  Wehen  einging,  sondern  diese  nur 
erwähnte  und  leichtweg  darüber  ging.  Sie  konnte  sie  naturgemäß 
nicht  beschreiben,  weil  sie  solche  nie  gefühlt 

Hervorzuheben  ist  noch  besonders  die  Ausgestaltung  des  Vor- 
gehens des  Offiziersburschen,  der  sie  in  einem  Alter  von  It  Jahren 
über  den  Kleidern  abgegriffen  hatte,  zu  einem  unternommenen  Bei- 
schlaf, so  daß  die  Fantasie  des  Mädchens  nicht  nur  ihrer  Mutter, 
sondern  bald  auch  noch  einer  weiteren  Person  zum  Nachteile  ge- 
worden wäre. 

Das  Gerede  der  Leute,  die  vom  Umgange  mit  Soldaten  ver- 
dorbene Einbildungskraft  des  Mädchens,  das,  wie  schon  aus  der 
Anzeige  hervorgeht,  ungeschickte  Vorgehen  der  Gendarmen,  die  von 
vornherein  von  der  Schuld  des  Mädchens  überzeugt  waren  und  darauf 
ausgingen,  ein  Geständnis  zu  erreichen  (es  sei  erwähnt,  daß  der  er- 
fahrenere Postenkommandant  abwesend  war),  verbunden  mit  der  leichten 
Beeinflußbarkeit  des  Mädchens,  das  sich  gerade  im  Entwickelungs- 
zustande  befand,  riefen  dann  jenes  eigentümliche  Gebilde  von 
Wahrheit  und  Dichtung  hervor,  wie  wir  es  in  ihrem  Geständnisse 
finden. 

Es  ist  dies  das  eigentümlichste  der  unwahren  Geständnisse,  die 
mir  vorgekommen,  und  es  hat  mich  davor  bewahrt,  Geständnisse 
Jugendlicher,  die  sich  nach  den  Umständen  überwiesen  glauben, 
ohne  genaue  Prüfung  für  wahr  zu  halten. 


320  XVL  Jung 

IL 

Der  Vater  der  am  22.  August  1895  geborenen  El.  Tr.,  der 
Maschinenführer  A.  Tr.,  machte  bei  der  Oendarmerie  folgende  Anzeige: 

El.  Tr.  habe  am  Sonntag,  den  18.  März  1906  mit  ihrem  4  Jahre 
alten  Bruder  oberhalb  des  Hauses,  das  am  FuSe  desA.-berges  liegt, 
Blumen  gepflückt  Da  seien  zwei  Burschen  gekommen,  hätten  das 
Mädchen  mit  der  Angabe,  sie  bekomme  dort  schöne  Blumen,  in  den 
Wald  hinaufgelockt,  den  Bruder  aber  nach  Hause  geschickt  Im 
Walde  angelangt,  habe  ihr  ein  Bursche  Blumen  in  den  Schoß  gelegt, 
nachdem  sie  sich  auf  sein  Geheiß  niedergesetzt  hatte,  habe  ihr  dann 
die  Böcke  aufgehoben  und  sie  aufgefordert,  sich  niederzulegen  und  die 
Beine  auseinander  zu  tun.  El.  Tr.  habe  dies  getan,  worauf  ihr  der 
Bursche  an  die  Geschlechtsteile  gegriffen  und  mit  einem  Finger  in 
die  Scheide  gebohrt  habe,  trotzdem  sie  wegen  Schmerzen  gebeten 
habe,  von  ihr  abzulassen.  Der  andere  Bursche  habe  nur  zugesehen. 
Der  Bursche  sei  mit  ihr  dann  gegen  das  Haus  zurückgegangen,  beim 
Daherkommen  des  vom  Bruder  verständigten  Vaters  aber  entflohen. 

Der  Gendarmeriebericht  fährt  dann  fort,  daß  El.  Tr.  in  dem 
einen  der  Burschen  R.  E.  erkannt  habe,  und  gibt  wörtlich  an:  „R 
E.  der  beim  Bauern  M.  als  Enecht  bedienstet  ist,  gestand  dem  Gen- 
darmen H.  in  Gegenwart  seines  Dienstgebers  und  dessen  Haushälterin 
die  Tat  sogleich  ein  und  gab  an,  daß  der  zweite  Bursche  der  in  A. 
bei  seinen  Eltern  wohnte  Fr.  W.  gewesen  sei.  Dieser  Fr.  W.  wurde 
ausgeforscht  und  stellt  rundweg  in  Abrede,  am  18.  März  mit  B.  E. 
verkehrt  zu  haben.  Nachdem  nun  in  A.  noch  ein  zweiter  Fr.  W.  von 
gleichem  Alter  lebt,  wurde  auch  dieser  befragt  Da  aber  Letzterer 
auch  in  Abrede  stellte,  mit  B.  E.  verkehrt  zu  haben,  wurden  die 
beiden  W.  dem  B.  E.  gegenübergestellt  Nun  stellte  sich  heraus, 
daß  die  von  B.  E.  gemachten  Angaben  vollkommen  aus  der  Luft 
gegriffen  waren  und  keiner  der  beiden  W.  mit  ihm  verkehrt  habe. 
Jetzt  gab  B.  E.  an,  daß  der  Bursche,  der  damals  bei.  ihm  war,  von 
B.  sei,  daß  er  aber  weder  dessen  Namen  noch  dessen  Beschäftigung 
wisse  und  er  denselben  früher  überhaupt  nie  gesehen  habe.  El.  Tr. 
gab  an,  daß  nur  B.  E.  die  Unsittlichkeiten  begangen  habe,  während 
der  andere  Bursche  daneben  gestanden  sei  und  zugesehen  habe. 
B.  E.  gibt  dies  bald  zu,  bald  sagt  er  wieder,  daß  auch  der  andere 
Bursche  dem  Mädchen  unter  die  Röcke  gegriffen  habe.  B.  E.  ist 
trotz  seines  jugendlichen  Alters  ein  sehr  geriebener,  lügenhafter  Bursche. 
Bei  der  Zurredestellung  gab  E.  an,  daß  er  nur  schauen  wollte, 
was  das  Mädchen  zwischen  den  Füßen  habe;  dann  sagte  er  wieder, 
daß  er  seine  Gelüste  durch  Greifen  befriedigen  wollte." 


Unwahre  GeständnIsHe.  321 

IL  K.  ward  am  17.  Dezember  1891  geboren,  wird  von  der  Ge- 
meinde gut  beleumundet,  von  Lehrer  und  Pfarrer  dahin  beschrieben, 
daß  seine  Leistungen  in  der  Volksschule  sehr  schwache  waren,  er 
geistig  wenig  begabt  und  in  seiner  Entwicklung  zurückgeblieben  ist, 
wozu  der  Pfarrer  noch  bemerkte,  daß  er  nicht  geringe  Neigung  zum 

Eigensinne  zeige. 

Seine  Angaben  vor  dem  Untersuchungsrichter  müssen  mit  gering- 
fügigen Kürzungen  wörtlich  angeführt  werden;  sie  lauteten: 

„Sonntag,  den  18.  Mftrz  begab  ich  mich  nachmittags  zwischen 
2  und  4  Uhr  auf  den  A.-Berg,  um  Veilchen  zu  suchen.  Ich  traf 
dort  einen  Burschen  aus  A.,  mit  dem  ich  8  Jahre  die  Schule  be- 
suchte, dessen  Namen  und  Wohnort  ich  jedoch  nicht  weiß.  Bald 
darauf  sah  ich  auf  der  Wiese  unter  mir  Kl.  Tr.  mit  ihrem  Brüderchen. 
Da  stieg  in  mir  der  Gedanke  auf,  unzüchtige  Handlungen  mit  ihr 
vorzunehmen.  Wissend,  daß  Kl.  Tr.  hochgradig  schwerhörig,  winkte 
ich  ihr  mit  der  Hand,  sie  solle  heraufkommen,  was  sie  auch  tat  Ich 
schickte  ihr  Brüderchen  heim  und  ging  mit  Kl.  Tr.  und  dem 
Kameraden  bei  200  Schritte  weiter  bis  unter  einigen  Tannen  und 
Gestrüpp.  Dort  hieß  ich  sie  auf  einen  großen  Stern  setzen,  und 
forderte  sie  dann  auf,  sich  ganz  niederzulegen  und  die  Beine  aus- 
einander zu  spreizen,  was  sie  ohne  weiteres  tat.  Ich  stand  in  einer 
Erdvertiefung  vor  dem  Steine,  während  mein  Kamerad  ungefähr 
2  Schritte  links  vom  Kopfe  der  Kl.  Tr.  stand  und  zuschaute.  Nach- 
dem sich  Kl.  Tr.  ganz  niedergelegt  hatte,  schob  ich  ihr  die  Röcke 
hinauf  schaute  die  Geschlechtsteile  an  und  führte  dann  meinen  rechten 
Zeigefinger  bis  zum  dritten  Gliede  in  die  Scheide  des  Mädchens 
hinein.  Kl.  Tr.  klagte  über  Schmerzen  und  sagte,  daß  ich  sie  in 
Ruhe  lassen  solle.  Ich  sagte  meinem  Freunde,  daß  Kl.  Tr.  ein  Loch 
zwischen  den  Beinen  habe,  und  er  lachte  dazu.  Da  ich  eine  Freude 
daran  fand,  die  Geschlechtsteile  des  Mädchens  anzuschauen,  mit  dem 
Finger  daran  zu  spielen  und  hineinzubohren,  so  sagte  ich  ihr,  sie 
solle  ruhig  sein,  es  geschehe  ihr  nichts,  und  setzte  die  unzüchtigen 
Blicke  und  Handlungen  über  V*  Stunde  fort.  Wenn  ich  mich  nicht 
täusche,  führte  ich  meinen  Zeigefinger  bis  zum  dritten  Gliede  dreimal 
und  meinen  rechten  Mittelfinger  bis  etwas  über  das  zweite  Ghed 
zweimal  in  die  Scheide  ein.  Ich  hörte  erst  dann  auf,  Unzucht  zu 
treiben,  als  mir  mein  Freund  sagte,  ich  soll  sie  gehen  lassen.  Als 
ich  dann  Kl.  Tr.  auf  die  Wiese  zurückführte,  damit  sie  heimgehe 
und  ich  ihren  Vater  daher  kommen  sah,  hef  ich  durch  das  Gestrüpp 
und  über  die  Wiesen  allein  nach  Hause." 

KL  Tr.  machte  vor  Gericht  im  allgemeinen  die  gleichen  Angaben, 

AiohiT  für  Kiimiiialanthiopologie.    28.  Bd.  2  L 


322  XVI.  Jung 

wie  sie  im  Gendarmerieberichte  enthalten,  nnr  behauptete  sie,  daß 
sie  während  der  unzüchtigen  Handlungen  auf  einem  Steine  gesessen 
sei  und  sich  nie  in  liegender  Stellung  befunden  habe,  wozu  sie 
übrigens  der  Täter  auch  nicht  aufgefordert  habe.  Am  19.  März  sei 
sie  mit  ihrer  Freundin  Ä.  H.  zur  Kirche  gegangen ;  hierbei  sei  ihnen 
R.  E.  begegnet  und  sie  habe  in  ihm  jenen  Burschen  erkannt,  der  sie 
in  den  Wald  gelockt,  an  den  Geschlechtsteilen  betastet  und  ihr  „drei- 
mal^  mit  dem  Finger  in  die  Scheide  gebohrt  habe. 

Ihrer  Mutter  E.  Tr.  hatte  sie  die  gleichen  Angaben  gemacht,  nnr 
sprach  sie  ihr  von  einem  zweimaligen  Einbohren  in  die  Scheide.  Die 
Mutter  gibt  an,  daß  das  Mädchen  mit  geröteten  und  geschwollenen 
Geschlechtsteilen  nach  Hause  kam  und  von  ihr  ausgewaschen  wurde. 
Sie  bezeichnet  das  Mädchen  als  „im  höchsten  Maße  schwerhörig". 

Der  Vater  A.  Tr.  gab  an,  sein  vierjähriger  Sohn  habe  ihm  mit- 
geteilt, „zwei  Jäger^  hätten  die  Schwester  auf  den  Berg 
geführt  und  erschossen.  Als  er  dann  den  Berg  hinaufgesprungen 
sei,  habe  er  seine  Tochter  mit  einem  Burschen,  den  er  vom  Sehen 
aus  gekannt,  herunterkommen  sehen.  Der  Bursche  sei  fünf  bis  sechs  , 
Schritte  zurückgeblieben  und  während  er  seine  Tochter  ausfragte, 
geflohen.  Erst  durch  seine  Frau  habe  er  dann  erfahren,  daß  der 
Bursche  B.  K.  sei.  Auf  Grund  dessen  sei  er  am  22.  März  zu  R.  E. 
gegangen  und  habe  ihn  gefragt,  warum  er  Sonntag  nachmittags 
davongelaufen  sei.  „Es  sagte  mir,  daß  er  fürchtete,  von  mir  Schläge 
zu  bekommen.  Meine  weitere  Frage,  warum  er  sich  denn  hätte 
fürchten  sollen,  ließ  er  unbeantwortet  Ich  fragte  ihn  dann,  wer  der 
zweite  Bursche  gewesen  sei.  R.  E.  leugnete  zuerst,  am  fraglichen 
Nachmittage  in  Begleitung  eines  anderen  Burschen  gewesen  zu  sein, 
gab  jedoch  dies  dann  zu,  ohne  jedoch  zu  sagen,  wer  es  gewesen  sei, 
indem  er  mir  angab,  den  Burschen  nicht  zu  kennen.  Er  ersuchte 
mich  schließlich  bei  der  Gendarmerie  keine  Anzeige  erstatten  zu 
wollen;  und  als  ich  ihm  erklärte,  daß  ich  den  Fall  unbedingt  anzeigen 
müsse,  fing  er  zu  weinen  an  und  entfernte  sich  von  mir.^ 

Die  ärztliche  Untersuchung  des  Mädchens  ergab  einen  frisch 
vernarbten  Einriß  in  das  halbmondförmige  Hymen,  der  durch  Ein- 
führen eines  Fingers  in  das  Hymen,  den  Angaben  des  Mädchens 
entsprechend,  entstanden  sein  konnte. 

Auch  R.  E.  wurde  ärztlich  untersucht  Der  Befund  lautete: 
„Der  Untersuchte  macht  den  Eindruck  eines  sehr  beschränkten 
Burschen.  Er  ist  von  gesundem  Aussehen,  seinem  Alter  entsprechend 
groß,  hat  ziemlich  kräftig  entwickelte  Muskulatur.  Der  Penis  ist 
ziemlich  groß,  befindet  ßich  in  halberigiertem  Zustande.    Die  Eichel 


Unwahre  Geständnisse.  323 

ist  von  der  Vorbaut  entblößt,  die  Hoden  befinden  sich  im  Hoden- 
sacke, sind  sehr  gut  entwickelt  Es  besteht  spärliche  Behaarung  der 
Schamgegend.  Der  Untersuchte  gibt  zu,  häufig  onanistische  Mani- 
pulationen an  seinem  Glied  vorzunehmen.  Bei  Ausführung  des  ihm 
zur  Last  liegenden  Deliktes  hat  er  seiner  Angabe  nach  Erektionen 
gehabt*^  Gutachten:  „Der  Untersuchte  ist  dem  Befunde  nach  bereits 
in  das  Alter  der  Geschlechtsreife  eingetreten.  Sein  Delikt  hat  er 
jedenfalls  unter  dem  Einflüsse  des  Geschlechtstriebes  begangen.^ 

Die  Voruntersuchung  war  hiermit  abgeschlossen  und  es  erfolgte 
die  Anklage  wegen  des  Verbrechens  der  Schändung. 

Gegen  die  Anklage  wurde  ein  Einspruch  nicht  erhoben,  neue 
Beweisanträge  zur  Hauptverhandlung  nicht  eingebracht 

Bei  der  Hauptverhandlung  erklärte  B.  K.,  er  sei  vollkommen 
unschuldig  und  zur  Zeit  der  Tat  gar  nicht  auf  dem  A.-Berge  gewesen. 
Über  Vorhalt  der  früher  abgelegten  Geständnisse  erklärte  er:  ,,Er 
habe  bei  den  Verhören  gar  nicht  gewußt,  um  was  es  sich  handle, 
und  nur  aus  Furcht,  er  könnte  eingesperrt  werden,  zu  allem  jja'' 
gesagt  Denn  der  Wachtmeister  habe  ihm  gleich  anfangs  gedroht, 
er  werde  ihn  in  Arrest  tun,  wenn  er  einmal  ,)nein^  antworte.  Über- 
haupt habe  derselbe  ihn  nichts  gefragt  und  nur  vorgelesen,  und  habe 
er  gar  nichts  davon  verstanden  und  damals  wie  heute  nicht  gewußt, 
von  was  die  Rede  sei ;  trotzdem  habe  er  nur  aus  Furcht  ,Ja^  gesagt 
Auch  der  Untersuchungsrichter  habe  ihm  etwas  vorgelesen^  ohne  daß 
er  etwas  davon  verstanden  hätte.  Das  Protokoll  über  sein  Geständnis 
sei  ihm  zwar  vorgelesen  und  er  befragt  worden,  ob  er  es  verstanden 
habe,  er  habe  aber  trotzdem  nicht  gewußt,  um  was  es  sich  handle, 
und  auch  hier  nur  aus  Furcht  Ja^  gesagt.  Er  habe  nicht  einmal 
gewußt,  daß  es  sich  um  eine  Unsittlichkeit  handle.^ 

Der  Verteidiger  erwähnte,  B.  E.  soll  auf  die  Frage  der  Gendarmen, 
ob  er  wisse,  warum  er  hier  sei,  erwidert  haben,  ja,  wegen  Steine- 
herunterwerfens  vom  A.-Berge. 

Der  Verteidiger  beantragte  dann  die  Einvernahme  einer  Reihe 
von  Zeugen  zum  Beweise  dessen,  daß  R.  K.  am  fraglichen  Nach- 
mittage zwischen  2  und  4  Uhr,  um  welche  Zeit  die  Tat  geschehen 
war,  nicht  am  A.-Berge  gewesen  sein  konnte. 

Bei  der  fortgesetzten  Hauptverhandlung  gelang  dem  Beschuldigten 
der  Alibi-Beweis  durch  eine  ganze  Reihe  unbedenklicher  Zeugen.  Es 
wurde  durch  Augenschein  weiter  festgesetzt,  daß  der  Beschuldigte 
dem  Untersuchungsrichter  als  Tatort  eine  Stelle  bezeichnet  hatte,  die 
weit  ab  vom  wirklichen  Tatorte  lag. 

Zum  psychologischen  Verständnisse  der  Sache  ist  es  aber  nötig, 

21* 


324  XVI.  Juno 

verschiedene  Zengenanssagen,  die  sich  nicht  auf  den  Alibi-Beweis 
beziehen,  auszugsweise  wiederzugeben  .| 

Der  Untersuchungsrichter  gab  an,  B.  E.  habe  die  Tat  anfangs 
geleugnet  und  erst  über  Vorhalt  der  Anzeige  gestanden.  Suggestive 
Fragen  seien  keine  gestellt  worden;  der  Beschuldigte  habe  in  ruhiger 
Weise  geantwortet,  und  zwar  nicht  nur  mit  „jh.^,  sondern  auch  durch 
eigene  Erzählung  des  Sachverhaltes.  R.  K.  habe  ihm  auch  den  Tat- 
ort gezeigt.  Die  Eltern  des  Beschuldigten  seien  vor  dem  Verhöre 
gekommen  und  hätten  ihren  Sohn  als  unschuldig  hingestellt,  weshalb 
er  das  anfängliche  Leugnen  des  Beschuldigten  auf  Beeinflussung 
durch  die  Eltern  zurückführte. 

Der  Eanzleischreiber,  der  dem  Untersuchungsrichter  als  Schrift- 
führer gedient  hatte,  sagte  aus,  daß  der  Beschuldigte  bald  geleugnet, 
bald  wieder  gestanden  habe,  und  daß  dessen  Angaben  sehr  kurz  und 
mangelhaft  gewesen  seien. 

Der  Vater  des  Mädchens,  A.  Tr.,  gab  an,  er  sei  zu  E.  K. 
gegangen  und  sei  ihm  dieser  sofort  erschrocken  vorgekommen.  Auf 
seine  Frage,  was  er  am  Sonntage  mit  seinem  Mädel  gemacht  habe, 
habe  R.  E.  erwidert,  er  wisse  nichts.  Erst  auf  seine  Drohung,  er 
werde  zur  Gendarmerie  gehen,  habe  derselbe  erklärt,  er  sei  es  gewesen, 
und  auf  seine  weitere  Frage,  warum  er  davon  gerannt  sei,  habe  R  E. 
gesagt,  er  habe  gemeint,  er  (A.  Tr.)  wolle  ihn  schlagen. 

Vom  Mädchen  El.  Tr.  wird  festgestellt,  daß  es  früher  ganz  blind 
gewesen  und  jetzt  noch  kurzsichtig  ist  Es  will  in  R  E.  den  Täter 
erkennen,  weil  er  ebenso  dick  und  so  groß  sei,  ein  solches  Gewand 
getragen  und  schwarze  Haare  gehabt,  auch  eine  Ubrkette  getragen  habe. 

Die  elfjährige  Eameradin  der  El.  Tr^  die  mit  ihr  am  19.  März 
zur  Eirche  ging,  A.  H.  sagte  aus:  El.  Tr.  habe  ihr  von  dem  Vor- 
falle am  vergangenen  Tage  erzählt,  und  da  hätten  sie  gerade  den  ihr 
wohlbekannten  R  E.  (er  wohnt  in  der  Nähe  beider  Mädchen)  gesehen 
und  El.  Tr.  hätte  gerufen:  ,,Siehst  Du,  dieser  Bub  war  auch  dabei!", 
worauf  sie  erwidert  habe,  dies  sei  B.  E. 

Der  Gendarm  H.  gab  an,  er  sei  von  A.  Tr.  über  die  Sache 
unterrichtet  gewesen.  R  E.  habe,  seiner  ansichtig  geworden,  gezittert 
wie  ein  Espenlaub.  Er  habe  den  Enaben  gefragt,  was  er  mit  dem 
Mädel  gemacht,  worauf  derselbe  erwidert  habe:  .„Nichts".  Er  habe 
dann  R  E.,  ohne  ihm  ausdrücklich  zu  sagen,  um  was  es  sich  handle, 
gefragt,  ob  er  nicht  am  A.-Berge  gewesen  und  dort  „Schweinereien" 
gemacht  habe.  Auf  diese  Frage  sowie  auf  die  weiteren  Fragen  im 
Gegenstand  habe  er  immer  mit  „Ja"  geantwortet  Als  R  E.  an- 
fänglich leugnete,  habe  er  ihm  allerdings  gesagt,  wenn  er  nicht  die 


Unwahre  Geständnisse.  325 

Wahrheit  sage,  werde  er  ihn  einsperren.  Vom  Steineherunterwerfen 
habe  ihm  R  K.  nichts  gesagt.  Als  geriebenen,  lügenhaften  Burschen 
habe  er  B.  E.  in  der  Anzeige  nur  deshalb  bezeichnet,  weil  dieser  ihn 
betreffs  seines  angeblichen  Kameraden  bei  der  Tat  angelogen  hatte. 

Die  Mutter  des  Beschuldigten  sagte  aus,  ihr  Sohn  habe  ihr  mit- 
geteilt, es  sei  ein  Gendarm  bei  ihm  gewesen  und  habe  er  diesem 
zugegeben,  daß  er  die  „Geschichte  angestellt^  habe.  Nach  einigen . 
Tagen  habe  ihr  der  Sohn  aber  gesagt^  er  habe  nichts  getan,  doch 
wenn  er  gesagt  hätte  „nein^,  wäre  er  eingesperrt  worden.  Sie  habe 
ihm  hierauf  erwidert,  wenn  er  es  getan  habe,  solle  er  es  sagen. 

Der  Bezirksarzt,  der  R  K.  auf  seine  Geschlechtsreife  untersucht 
hatte,  gab  als  Zeuge  an:  B.  K.  habe  auf  ihn  den  Eindruck  eines 
Onanisten  gemacht  Auf  die  Frage,  ob  er  (K.)  es  getan,  habe  dieser 
mit  ,Ja^  geantwortet  und  ihm  auch  gezeigt,  wie  weit  er  den  Finger 
in  die  Scheide  des  Mädchens  hinein  gegeben  habe,  was  mit  dem 
objektiven  Tatbestande  fibereinstimmte.  Er  (der  Arzt)  habe  aus  den 
Akten  als  feststehend  angenommen,  daß  B.  E.  der  Täter  sei,  und  habe 
ihm  dieser  den  Eindruck  gemacht,  als  schäme  er  sich  dessen.  Er 
sei  R  E.  sehr  ruhig  und  freundlich  entgegengekommen,  doch  erkläre 
sich  der  Umstand,  daß  B.  E.  ihm  gegenüber  trotzdem  gestanden, 
daraus,  daß  auch  der  Untersuchungsrichter  anwesend  war.  Im 
übrigen  habe  R  E.  auf  ihn  einen  minderwertigen  Eindruck  gemacht 
und  halte  er  für  möglich,  daß  derselbe  suggestibel  sei,  um  so  mehr 
als  dies  ja  auch  bei  ganz  normalen  Menschen  vorkomme. 

Der  öffentliche  Ankläger  trat  am  Schlüsse  der  Hauptverhandlung 
von  der  Anklage  zurück  und  B.  E.  wurde  freigesprochen  (Strafakt 
Vr.  85/6  des  Ereisgerichtes  Feldkirch). 

Es  kann  nach  den  Beobachtungen  der  Mutter  und  dem  Befunde 
der  Ärzte  kaum  zweifelhaft  sein,  daß  El.  Tr.  wirklich  geschändet 
wurde.  Die  Bezeichnung  des  B.  E.  als  Täter  beruhte  aber  offenbar 
auf  Selbstsuggestion.  El.  Tr.  hatte  B.  E.,  da  er  in  ihrer  Nähe  wohnte, 
wohl  schon  öfters  gesehen,  ohne  mit  ihm  bekannt  zu  sein.  Als  sie 
nun  ihrer  Freundin  von  dem  Vorfalle  erzählte,  sah  sie  auf  einmal 
R  E.  vor  sich;  er  kam  ihr  bekannt  vor  und  sie  bezog  jetzt  diese 
Bekanntschaft  auf  den  Vorfall  vom  Vortage.  Aber  sie  sagte  zunächst 
nicht,  dieser  ist  der  Täter  gewesen,  sondern  nur  „der  war  auch  dabei**. 
Bis  sie  nach  Hause  kommt,  ist  es  ihr  dann  schon  feststehend,  daß 
B.  E.  der  Täter  selbst  ist,  sie  gibt  hierüber  der  Mutter  Ausdruck 
und  bleibt  später  bei  ihrer  so  gewonnenen  Überzeugung. 

Nicht  umsonst  wird  R  E.  vor  dem  Vater  des  Mädchens 
erschrocken  sein;  denn  dieser  erschien  vor  ihm  sicherlich  nicht  in 


326  XVL  JuKG 

der  freundlichsten  Stimmung.  Als  dann  die  Drohung  mit  der  Gfen- 
darmerie  erfolgte,  war  es  begreiflich;  daß  der  eingeschüchterte,  gdstig 
wenig  begabte  Knabe  zu  Allem  ja  sagte;  noch  begreiflicher,  als  der 
Wachtmeister  mit  Einsperren  drohte.  Vor  dem  Untersuchungsrichter 
hieß  es  dann  ja  und  amen  sagen,  da  dem  Knaben  die  Kraft  fehlte, 
die  schüchtern  vorgebrachte  Unschuldsbeteuerung  aufrecht  zu  halten 
.  und  zu  begründen. 

Die  Behauptungen  R  K.'s  daß  er  gar  nicht  gewußt  habe,  um 
was  es  sich  handle,  sind  übrigens  gewiß  zu  weit  gehend ;  denn  wenn 
er  zugeben  muß,  daß  das  ausführliche  Protokoll  über  sein  Geständnis 
vor  dem  Untersuchungsrichter  in  seiner  Gegenwart  angegeben  und 
dann  vorgelesen  wurde,  so  muß  er  von  der  wider  ihn  erhobenen 
Beschuldigung  genügend  unterrichtet  gewesen  sein,  wenn  er  auch 
deren  Tragweite  nicht  begriff.  Wir  finden  auch  jene  charakteristische 
Ausschmückung  des  Tatbestandes  bei  unwahren  Geständnissen,  und 
zwar  hier:  die  Vorgabe,  er  habe  mit  dem  ihn  begleitenden  Burschen 
8  Jahre  die  Schule  besucht,  die  Beschreibung  des  falschen  Tatortes 
und  seiner  Körperstellung  bei  der  Tat,  besonders  aber  seine  Angabe, 
er  habe  seinem  Freunde  gesagt,  daß  Kl.  Tr.  ein  Loch  zwischen  den 
Beinen  habe,  und  daß  dieser  dazu  gelacht  habe.  Diese  von  ihm 
angegebenen  Umstände  lagen  außerhalb  des  Bereiches  der  möglichen 
Suggestion.  Auch  wird  man  annehmen  müssen,  daß  R  K.  mit  einem 
anderen  Mädchen  irgend  welche  Unsittlichkeit  getrieben,  oder  mindestens 
die  nackten  Geschlechtsteile  eines  solchen  gesehen  habe,  und  dann 
jene  Begebenheit  zur  näheren  Beschreibung  der  erdichteten  benützte. 
Hingegen  ist  nicht  unbedingt  nötig,  daß  er  einmal  seine  Finger  in 
eines  Mädchens  Scheide  eingeführt  hatte,  weil  ihm  wohl  beim  Ver- 
höre angedeutet  wurde,  mit  welchen  Fingern  und  ungefähr  wie  tief 
er  eingedrungen  sein  dürfte. 

Bezeichnend  ist,  daß  er  der  irrigen  Annahme  des  Vaters  des 
Mädchens  und  des  Gendarmen  entsprechend  angab  oder  richtiger 
wohl  nur  zugab,  das  Mädchen  in  „liegender^  Stellung  mißbraucht  zu 
haben,  und  daß  er  sofort  nach  einem  Namen  des  angeblichen  Be- 
gleiters suchte.  Als  er  in  letzter  Richtung  der  Unwahrheit  überwiesen 
ward,  half  er  sich  vor  dem  Untersuchungsrichter  auf  die  einfältige 
Weise,  daß  er  behauptete,  der  Begleiter  sei  ein  vieljähriger  Schul- 
kamerad gewesen,  dessen  Namen  er  nicht  wisse.  Die  falsche  Be- 
zeichnung des  Tatortes  war  dem  für  ihn  glücklichen  Umstände 
zuzuschreiben,  daß  er  nicht  zugleich  mit  dem  Mädchen  an  Ort  und 
Stelle  geführt  worden  war. 

Die  Hauptschuld  an  der  Verwirrung  der  Sache  traf  das  Mädchen, 


Unwahre  GeständniBse.  327 

das  in  R.  E.  den  Täter  zu  erkennen  glaubte,  und  dessen  Vater,  der 
ungestüm  den  Knaben  zur  Bede  stellte  und  zu  einem  Geständnisse 
zwang. 

III. 

Dem  Gastwirte  und  Krämer  J.  R  wurde  an  einem  Aprilabende 
zwischen  9V4  und  10  Uhr  eine  4  dm  lange  und  ebenso  breite  Blech- 
schachtel mit  Geldfächern  und  einem  darin  befindlichen  Barbetrage 
von  rund  50  K.  in  Münze  entwendet  Die  Schachtel  lag  in  einer 
unversperrten  Schublade  des  Schreibtisches  in  einem  Zimmer,  das 
mit  dem  Gastzimmer  durch  eine  Tür  verbunden  ist  Das  Zimmer 
kann  jedoch  auch  unmittelbar  vom  Hausgange  aus  betreten  werden, 
und  muß  der  Dieb  von  dorther  eingedrungen  sein,  da  das  Gastzimmer 
von  2  Gästen  besetzt  war  und  der  Wirt  dort  bediente. 

Der  Bestohlene  lenkte  den  Verdacht  auf  den  16  Jahre  alten  B.  L., 
der,  700  Schritte  vom  Tatorte  entfernt,  bei  seinen  Angehörigen  wohnt 
Es  war  aufgefallen,  daß  er  tags  zuvor  um  Eier  kam  und,  da  keine 
vorrätig  waren,  verlangte,  man  solle  im  Stalle  nachschauen,  und  daß 
er,  obwohl  damals  abgewiesen,  am  Tage  der  Tat  vormittags  wieder 
Eier  kaufen  wollte;  daß  er  am  Nachmittage  desselben  Tages  barfuß 
in  die  Gaststube  kam  und,  da  dort  niemand  anwesend,  ohne  weiteres 
in  das  Nebenzimmer  trat,  wo  das  Geld  war.  Als  er  dann  die  Haus- 
hälterin erblickte,  verlangte  er  allerdings  ein  Glas  Most  Man 
vermutete,  er  habe  schon  bei  diesen  Gelegenheiten  den  Diebstahl 
verüben  wollen,  zu  dem  ihn  seine  genaue  Kenntnis  der  Örtlichkeit 
und  der  Personverhäitnisse  befähigte. 

Die  Gendarmerie  erhob  weiter,  daß  vor  1 — IVi  Jahren  in  einer 
anderen  Wirtschaft  24  h  abhanden  kamen,  die  dann  B.  L.,  zur  Bede 
gestellt,  zahlte;  und  daß  er  an  einem  Februarabende  im  Jahre  1904 
in  einem  Bäckerladen  unter  verdächtigen  Umständen  betreten  wurde; 
endlich  daß  er  am  fraglichen  Abende  auf  einige  Zeit  seine  Wohnung 
verlassen  habe  und  während  dieser  Zeit  den  Diebstahl  verübt  haben 
könne. 

Die  Gendarmerie  verhaftete  daher  B.  L.  Dieser  leugnete,  den 
Diebstahl  begangen  zu  haben,  und  gab  an,  er  sei  an  jenem  Abende 
gegen  7  Uhr  nach  Hause  gekommen,  habe  zu  Abend  gegessen,  dann 
im  Konsumverein  Einkäufe  besorgt,  sei  gegen  8  Uhr  nach  Hause 
gekommen  und  dann  von  diesem  nicht  mehr  weggegangen,  habe 
vielmehr  mit  seinen  Familienangehörigen  bis  gegen  ^112  Uhr  nachts 
Karten  gespielt.  L.  blieb  auch  während  seiner  Einlieferung  in  die 
bei  zwei   Stunden   entfernte   Frohnveste   des   Bezirksgerichtes   beim 


328  XVL  Jung 

Leugnen,  obwohl  ihm  der  Gendarm  die  gegen  ihn  gesamnuelten  Be- 
weise mit  dem  Bemerken  vorhielt,  daß  er  ^jedenfalls  der  Täter^  sei, 
und  ihm  sagte,  es  sei  daher  besser  zu  gestehen,  dann  sei  auch  die 
Verhaftung  nicht  nötig.  In  der  Frohnveste  angelangt,  wiederholte 
der  Gendarm  seine  Aufforderung,  zu  gestehen,  und  drückte  sich 
dahin  aus,  wenn  L.  die  Wahrheit  sage,  dann  könne  er  „schon''  oder 
„bald^  gehen.  Als  nun  vom  Gefangenenaufseher  die  Schlüssel  in  die 
Hand  genommen  wurden,  erklärte  L.,  daß  er  das  Geld  zwar  nicht 
selbst  gestohlen,  wohl  aber  die  Schachtel  samt  Geld  am  gegenständ- 
lichen Abende  vor  der  Wirtschaft  des  J.  B.  auf  der  Straße  von  einem 
unbekannten  Burschen  in  seinem  Alter  erhalten  habe. 

Vor  dem  Untersuchungsrichter  gestand  L.  ein,  den  Diebstahl  ver- 
übt zu  haben.  Er  habe  sich  wollen  einen  Anzug  kaufen,  wozu  er 
kein  Geld  gehabt,  sei  an  jenem  Abende  (nähere  Zeitangabe  fehlt)  zur 
Wirtschaft  des  J.  B.  gegangen,  da  er  öfters  Gelegenheit  gehabt  hatte^ 
dort  den  Aufbewahrungsort  des  Geldes  zu  sehen,  habe  sich  überzeugt, 
daß  niemand  im  Gastzimmer  ist,  sei  durch  dieses  in  das  Nebenzimmer 
und  habe  die  Schachtel  samt  Inhalt  genommen  (über  den  Ort  des 
Austrittes  aus  dem  Zimmer  fehlt  eine  Angabe).  Die  Schachtel  habe 
er  sofort  in  einen  Winkel  des  Biergartens  jener  Wirtschaft  geworfen^ 
das  Geld  zu  Hause  in  ein  Säckchen  getan,  das  er  im  Schlafzimmer 
der  Mutter,  während  diese  geschlafen  (I),  unter  einem  losen,  unter  der 
Bettstatt  (!)  befindlichen  Brette  des  Fußbodens  versteckt  habe.  Wie 
viel  er  Geld  genommen  habe,  wisse  er  nicht;  er  habe  es  nicht  gezählt. 

Die  weiteren  Erhebungen  ergaben  zu  Lasten  L'.  nichts;  denn  die 
Angabe  der  Haushälterin  bei  J.  R.,  sie  habe  um  V2 10  Uhr  abends 
beim  Stadel  eine  Mannsperson  „ungefähr  von  der  Größe  des  L."  ge- 
sehen, von  der  sie  annahm,  sie  habe  das  Gespräch  im  Gastzimmer 
belauschen  wollen,  liefert  keinen  Beweis  gegen  L.  —  Dieser  war  schon 
am  Tage  nach  der  Tat  zur  Mittagszeit  verhaftet  worden  und  befand 
sich  im  Besitze  von  nur  44  h.  Allerdings  hatte  er  vormittags  einige 
kleine  Ausgaben  gemacht,  die  er  aber  mit  dem  Gewinne  beim  Karten- 
spiel am  Vorabende  aufklären  konnte. 

Das  Geld  wurde  an  der  von  L.  bezeichneten  Stelle  nicht  ge- 
funden; ebensowenig  die  Blechschachtel.  Seine  Angaben  über  die 
Art  des  Diebstahls  (Einschleichen  durch  das  Gastzimmer  und  Tragen 
der  Beschuhung)  wurden  vom  Bestohlenen  als  bestimmt  unrichtig 
erklärt:  Der  Dieb  müsse  vom  Hausgange  und  ohne  Schuhe  in  das 
Nebenzimmer  gekommen  sein. 

Über  den  Aufenthalt  des  L.  an  jenem  Abende  wissen  wir:  Eine 
Frau  begleitete  ihn  vom  Konsumvereine  nach  Hause  und  verließ  dieses 


Unwahre  Geständnisse.  829 

noch  vor  V^  ^  Uhr.  Sofort  darauf  machte  ein  Schwager  des  L.  diesen 
auf  einen  Mann  aufmerksam,  der  in  geringer  Entfernung  vor  dem 
Hause  auf  und  ab  ging ;  er  schickte  L.  zu  jenem ;  L.  ging  hin,  glaubte 
(falschlich,  wie  sich  später  herausstellte),  einen  gewissen  L.  fi.  zu 
erkennen,  sprach  mit  ihm  einige  Worte  und  wurde  von  seinem 
Schwager,  der  sich  auf  kurze  Zeit  entfernte,  noch  ins  Haus  zurück- 
gehen gesehen  (auf  dieses  kurze  Verlassen  des  Hauses  dürfte  sich 
die  Angabe  der  Gendarmerie  vom  Verlassen  der  Wohnung  bezogen 
haben).  Der  Schwager  kam  noch  vor  9  Uhr  ins  Haus  zurück  und 
spielte  mit  L.  und  den  anderen  Familienangehörigen  bis  yi\2  Uhr 
nachts  Karten.  Sowohl  der  Schwager  als  die  Mutter  des  L.  erklären 
mit  Bestimmtheit,  daß  dieser  während  dieser  ganzen  Zeit  das  Haus 
nicht  verlassen  hat  Die  Mutter  gibt  auch  an,  daß  es  ganz  unmöglich 
ist,  daß  ihr  Sohn  das  Geld  auf  die  von  ihm  bezeichnete  Weise  ver- 
steckt habe. 

Als  der  Untersuchungsrichter  von  L.  weitere  Aufklärungen  ver- 
langte,  erklärte  L.,  er  habe  den  Diebstahl  nicht  begangen,  „er  habe 
das  Geständnis  nur  aus  Furcht  gemacht,  er  habe  gemeint,  im  Falle 
seines  Geständnisses  werde  er  sogleich  freigelassen^.  Auch  die  24  h, 
von  denen  oben  gesprochen  wurde,  habe  er  nicht  gestohlen  gehabt, 
sondern  diese  nur  gezahlt,  damit  er  nicht  von  Gendarmen  verhört 
oder  gar  abgeführt  werde.  Auch  im  Bäckerladen  (1904)  sei  er  mit 
Unrecht  verdächtigt  worden,  einen  Diebstahl  versucht  zu  haben. 

Wenn  die  Angaben  seiner  Angehörigen  richtig  sind,  so  ist  es 
zweifellos,  daß  L.  der  Dieb  nicht  sein  konnte.  Nur  unter  dieser 
Voraussetzung  ist  es  erklärlich,  warum  L.  nicht  wußte,  daß  zur  Zeit 
der  Tat  im  Gastzimmer  Gäste  anwesend  waren,  daß  er  die  Höhe  des 
gestohlenen  Geldes  auch  nicht  annähernd  angeben  konnte,  daß  er 
(notgedrungen)  falsche  Angaben  über  den  Verbleib  des  Geldes  und 
der  Schachtel  machte,  daß  er  vermied,  genaue  Angaben  über  die  Zeit 
des  Diebstahls  und  seine  Entfernung  vom  Wohnhause  zu  machen. 

L.  ist  nicht  nur  erst  16  Jahre  alt,  sondern  hat  auch  die  Volks- 
schule durch  7  Jahre '  mit  so  geringem  Erfolge  besucht,  daß  er  seinen 
eigenen  Angaben  nach  nur  seinen  Namen  lesen  und  schreiben  kann; 
er  stammt  aus  einer  geistig  belasteten  Familie.  Dem  Untersuchungs- 
richter fiel  auf,  daß  L.  während  des  Verhöres  eigentümlich  spähende 
Blicke  zu  dem  Drehkhopfe  des  elektrischen  Lichtes  warf  und  sich 
selbst  dann  nicht  ganz  beruhigte,  als  ihm  der  Zweck  jener  Vorrichtung 
erklärt  worden  war.  L.  äußerte  auch  Furcht,  in  dem  Arreste  zu 
bleiben,  da  sich  dort  einer  aus  dem  gleichen  Ort  einige  Zeit  früher 
erhängt  hatte. 


330  XVI.  Juno 

Bei  solchem  Geisteszustände  ist  es  erklärlich^  daß  L.  auf  die 
wiederholte  Aufforderung  des  Gendarmen,  den  Diebstahl,  dessen  er 
doch  überwiesen  sei,  einzugestehen,  in  der  Hoffnung,  dem  gefürchteten 
Arreste  zu  entrinnen,  dessen  Schrecken  ihm  schon  der  Klang  der 
Schlüssel  einflößte,  ein  falsches  Geständnis  ablegte. 

Das  Verfahren  wider  ihn  wurde  eingestellt,  der  wirkliche  Dieb 
bisher  nicht  ausgeforscht    (Akt  Z  50/7  des  Bezirksgerichtes  Dombim.) 


XVIL 
Ein  Fall  gewohnheitsmässiger  Majestätsbeleidigang. 

Mitgeteilt  von 

Dr.  Max  FoUak,  Hof-  und  Gerichtsadvokat  in  Wien. 


Der  Maurer  J.  T.,  im  Jahre  1852  in  Wien  geboren  und  eben- 
dahin Zuständig,  begann  seine  Verbrecherlanfbahn  gelegentlich  seines 
Militärdienstes.  Nebst  einer  Reihe  von  Disziplinarstrafen  zog  er  sich 
daselbst  eine  dreimonatige  Kerkerstrafe  wegen  Veruntreuung,  eine 
dreitägige  Arreststrafe  wegen  Kameradschaftsdiebstahls  und  eine  drei- 
monatige Straf haft  wegen  Verkaufes  eines  ärarischen  Montur- 
stückes  zu. 

In  der  Folge  erlitt  er  nachstehende  Strafen: 
Im  Jahre  1873  vom  Bezirksgericht  Stockerau  8  Tage  Arrest  wegen 

Landstreicherei; 
im  Jahre  1874  vom  Bezirksgerichte  in  Krems  48  Stunden  Arrest  wegen 

Landstreicherei; 
im  Jahre  1874  vom  Landesgerichte  Wien  wegen  Diebstahls  15  Monate 

schweren  Kerker  und  Stellung  unter  Polizeiaufsicht; 
im  Jahre  1876  vom  Landesgerichte  Wien  wegen  Diebstahls  5  Jahre 
f    schweren  Kerker; 

im  Jahre  1882  vom]  Landesgerichte  Wien  wegen  Veruntreuung  4  Mo- 
nate strengen]Arrest;^ 
im  Jahre  1882  vom  Bezirksgerichte  Weitz  wegen  Landstreicherei  2  Tage 
Arrest 
Nun  folgen  eine  ReiheJ  von  Abstrafungen  wegen  Majestätsbelei- 
digung,, welche  J.  T.  geradezu  typisch  in  der  gleichen  Weise  began- 
gen hat. 

Im  Jahre  1882  befand  sich  T.  wegen  Verdachtes  des  Diebstahls 
in  Verwahrungshaft  im  Gemeindearrest  von  Brück  a.  d.  Mur.  Dort 
schrieb  er  einen  Zettel  mit  unflätigen  Äußerungen  über  „Den,  der  un- 
sere^Gesetze  sanktioniert  hat^,  und  schließt  mit  den  Worten:  „darum 


332  XVD.  PoLLAK 

ist  jeder,  der  ein  kaiserliches  Amt  bekleidet,  ein  Lump.  Nehmen  Sie 
dies  zu  Protokoll;  ich  bin  nicht  etwa  närrisch,  sondern  ganz  ver- 
nünftig^, und  gab  diesen  Zettel  dem  Wachmanne  znr  Befördemng 
an  den  Gemeindesekretär. 

Als  Motiv  dieses  Deliktes  gab  T.  damals  an,  er  habe  das  Delikt 
begangen,  um  von  Brück  a.  d.  Mur  an  ein  anderes  Gericht  überstellt 
zu  werden,  da  er  es  in  dem  dortigen  Gemeindearreste  nicht  anshalte. 
J.  T.  wurde  dieserhalb  wegen  Majestätsbeleidigung  vom  Kreisgerichte 
Leoben  zu  dreijährigem  schweren  Kerker  verurteilt,  den  er  1885 
verließ. 

Noch  im  selben  Jahre  meldete  er  sich  auf  dem  Polizeikommissa- 
riate Leopoldstadt  unter  dem  Namen  Karl  Eausch  und  äußerte,  als  er 
dem  diensthabenden  Beamten  vorgeführt  wurde,  fast  wörtlich  so,  wie 
in  dem  genannten  Zettel.  Er  gab  diese  Worte  auch  zu  Protokoll  und 
fügte  hinzu:  ^Diese  Worte  sagte  ich,  um  meine  Erbitterung  über 
meine  Lage  auszulassen ....  Ich  sagte  dies  zu  dem  Zwecke,  um  über 
den  Winter  eingesperrt  zu  werden.** 

Beim  Untersuchungsrichter  bestätigte  er  die  Richtigkeit  dieser 
Äußerung,  leugnete  aber  die  Absicht,  hierdurch  eine  Versorgung  zu 
finden;  er  meinte:  „Ich  war  damals  gereizt,  weil  ich  ganz  mittellos 
war,  getrunken  hatte  ich  auch  was,  und  da  mich  der  Kommissar 
schimpfte,  wurde  ich  böse  und  machte  die  beleidigende  Äußerung." 
Bemerkt  sei,  daß  T.,  der  sich  ibeim  Kommissariate  als  Bausch  mel- 
dete, das  Protokoll  mit  seinem  richtigen  Namen  unterschrieb.  Dies- 
mal wurde  T.  wegen  Majestätsbeleidigung  und  Falschmeldung  zu  einer 
18  monatigen  schweren  Kerkerstrafe  verurteilt.  Kaum  hatte  er  diese 
Strafe  verbüßt,  so  wurde  er  1887  vom  Landesgerichte  Graz  wegen  Maje- 
stätsbeleidigung zu  4  Jahren  schweren  Kerkers  verurteilt  Er  befand 
sich  damals  in  Haft  des  Bezirksgerichtes  Birkfeld  und  gab  dem  Ge- 
fängnisaufseher einen  Brief  zur  Vorlage  an  das  Gericht  mit  dem 
gleichen  Inhalte,  wie  ihn  der  erstgenannte  Zettel  von  1882  enthält 

Damals  gab  T.  als  Motiv  an,  er  sei  aufgeregt  gewesen,  der  Ge- 
richtsadjunkt habe  ihn  einen  Gauner  genannt,  weil  er  immer  unter 
Polizeiaufsicht  sei. 

Nach  Abbüßung  der  Strafe  und  einer  kurzen  Strafhaft  beim  Be- 
zirksgerichte Baden  wegen  §  1  Vagabundengesetz,  erscheint  er  im 
Jahre  1891  vom  Landesgerichte  Wien  wieder  wegen  Majestätsbelei- 
digung mit  4  Jahren  schweren  Kerker  bestraft  Er  war  damals  beim 
Bezirksgerichte  Baden  in  Haft  gewesen  und  gab  während  seiner  Es- 
korte nach  Wien  einen  Brief  an  die  Kabinettskanzlei  auf,  welcher 
begann: 


Ein  Fall  ^wohnheitsmäßiger  Majestfttsbeleldignng.  833 

^An  die  Hof-  und  Eabinetts-Kanzlei  in  Wien. 

Ich  wurde  in  Graz  eines  Verbrechens  wegen  zu  einer  vierjährigen 
Eerkerstrafe  venirteilt.  Gleichzeitig  wurde  über  mich  die  Abgabe  in 
eine  Zwangsarbeitsanstalt  ausgesprochen.  Durch  Vermittlung  einer  mir 
befreundeten  Person  entfiel  diese  Abgabe,  Mit  Freuden  ging  ich  in 
meine  Heimat,  mit  dem  Bewußtsein  zu  arbeiten  und  ein  braver  Mensch 
zu  werden.  Doch  ich  •  erfuhr  eine  bittere  Enttäuschung.  Nachdem 
ich  der  k.  k.  Polizei-Direktion  zur  Verfügung  überstellt  wurde,  bekam 
ich  neuerdings  die  Polizeiaufsicht.  Ich  bekam  kein  Dokument,  konnte 
mich  nicht  legitimieren,  und  so  war  alles  mit  einem  Schlage  ver- 
nichtet, so  zwar,  daß  ich  in  Baden  neuerdings  10  Tage  Arrest  bekam. 
Nachdem  ich  einsehe,  daß  man  mich  gewaltsamerweise  ins  Zuchthaus 
bringen  will,  so  soll  es  nur  um  den  Preis  meines  Lebens  sein.^ 

Nun  folgen  wieder  dieselben  Schmähungen  wie  früher,  es  werden 
aber  noch  Drohungen  gegen  den  Eaiser  beigefügt. 

Als  Motiv  gab  er,  bei  der  Polizei  einvernommen,  an:  „Aus  wel- 
chem Grunde  ich  das  gethan  habe,  weiß  ich  nicht.  Ich  bin  hie  und 
da  so  aufgeregt,  wenn  ich  über  meine  Lage  nachdenke,  daß  ich  dann 
meiner  Sinne  nicht  mächtig  bin.^ 

Bemerkt  sei,  daß  bei  der  Verhaftung  sich  bei  J.  T.  ein  dem  Brief 
wörtlich  gleichlautendes  Eonzept  vorfand.  Beim  Untersuchungsrichter 
darüber  einvernommen^  gab  er  an:  „Als  ich  am  7.  VII.  1.  J.  meine 
letzte  wegen  Verbrechens  der  Majestätsbeleidigung  vom  Landesgerichte 
in  Graz  vierjährige  mir  zuerkannte  Strafe  abgebüßt  hatte,  wurde  ich 
nach  Wien  abgeschoben.  Ich  hatte  damals  einen  Uberverdienst  von 
4  fl.  70  kr.  aus  der  Strafanstalt  bekommen.  Ich  wollte  mich  hier  als 
Maurergehilfe  fortbringen  und  begab  mich  zum  Magistrate],  um  mir 
ein  Arbeitsbuch  ausstellen  zu  lassen.  Ich  erhielt  dies  jedoch  nicht, 
da  ich  den  Lehrbrief  nicht  -beibringen  konnte.  Dies,  sowie  der  Um- 
stand, daß  ich  unter  Polizeiaufsicht  gestellt  wurde,  machte  mich  ganz 
verzweifelt  Planlos  kam  ich  nach  Baden  und  wurde  daselbst  wegen 
Nichtbefolgung  der  polizeilichen  Vorschriften  in  Haft  genommen  und 
vom  Bezirksgerichte  Baden  mit  3  Tagen  Arrest  bestraft  Den  Anlaß 
zur  Absendung  des  mir  hier  vorgewiesenen  Briefes  an  die  Eabinetts- 
kanzlei  Seiner  Majestät  des  Eaisers  habe  ich  bereits  in  meinem  poli- 
zeilichen Protokolle  angeführt.  Ich  kann  auch  heute  nur  wiederholen, 
daß  ich  nicht  weiß,  warum  ich  dies  getan  habe;  es  war  ein  Akt  der 
Verzweiflung  über  die  desperate  Lage,  in  der  ich  mich  befand.^ 

Aus  dieser  Straf haft  entlassen,  wurde  er  1895  wieder  vom  Lan- 
desgerichte Graz  wegen  Majestätsbeleidigung  zu  4  Jahren  schweren 


334  XVU.  POLLAK 

Kerker  verurteilt    Er  schickte  damals  selbst  eine  Karte  an  die  k.  k. 
Staatsanwaltschaft  mit  dem  Inhalte  des  Zettels  von  1882. 

Er  verantwortete  sich  damals,  er  habe  um  einige  Sechser!  Bier 
und  Schnaps  getrunken,  da  könne  man  bald  närrisch  werden;  es  sei 
ihm  jede  Absicht  fem  gelegen,  den  Kaiser  zu  beleidigen,  er  habe  auch 
nicht  die  Absicht  gehabt,  sich  eine  Versorgung  zu  verschaffen,  er  müsse 
unzurechnungsfilhig  gewesen  sein. 

Er  wurde  deshalb  von  den  Gerichtsärzten  am  11.  XI.  1895  bezüg- 
lich seines  Geisteszustandes  untersucht,  doch  konnte  weder  eine  habi- 
tuelle Geistesstörung,  noch  eine  solche  zur  Zeit  des  Deliktes  festgestellt 
werden. 

Er  verantwortete  sich  damals  den  Gerichtsärzten  gegenüber  da- 
hin, daß  er  eigentlich  keine  Majestätsbeleidigung  beging,  sondern  daß 
er  eine  „andere  Absicht^  hatte,  nämlich  das  Bestreben  nach  einer 
Unterkunft  Schon  damals  suchte  er  krank  zu  erscheinen:  „so  wie  er 
könne  doch  nur  ein  Narr  handeln". 

Im  Dezember  1899  aus  der  Haft  tretend,  schrieb  er  mehrere  Kor- 
respondenzkarten, aus  welchen  deutlich  das  Bestreben  hervorgeht, 
durch  Begehen  einer  strafbaren  Handlung  neuerdings  in  den  Kerker 
zu  kommen.  Zunächst  schrieb  er  eine  offene  Karte  an  einen  seiner 
ehemaligen  Arbeitsgeber,  welchen  er  brieflich,  jedoch  erfolglos,  um 
Unterstützung  ersucht  hatte,  folgenden  Inhaltes: 

„Geehrter  Herr! 
Nachdem  ich  auf  mein  Schreiben  keine  Antwort  erhielt,  so 
mache  ich  Ihnen  bekannt,  daß,  wenn  Sie  mir  nicht  bis  morgen  12  Uhr 
25  fl.  pr.  Postanweisung  IL  Bezirk  poste  restante  senden,  so  schwöre 
ich  bei  Gott,  daß  Sie  Ihre  Wohnung  lebend  nicht  betreten.  Dann 
mag  mit  mir  geschehen  was  will.  J.  T.^ 

Weiteres  richtete  er  an  das  Sicherheitsbureau  der  Polizei-Direk- 
tion Wien  nachstehende  anonyme,  jedoch  offenl)ar  von  seiner  Feder 
herrührende  Zuschrift: 

„Hochlöbliches  Agenten-Institut I 

Den  Raubanfall  auf  der  Landstraße  vom  4.  auf  den  5.  nachts 

hat  J.  T.  (folgt  voller  Namen)  verübt^).    Ich  bitte  um  Diskretion. 

Es  wurde  nämlich  eine  Frauensperson  angefallen.  J.  T.  hält  sich  in 

der  Branntweinschänke  Igolitzer,  Tandelmarktgasse  IL  Bezirk  auf.^ 

Femer    schrieb    er    an    das    Polizeikommissariat    Leopoldstadt 

eine  offene  Karte  mit  dem  Inhalte  des  Zettels  von  1882  und  seinem 

vollen  Namen. 


1)  Ein  solcher  Raubanfall  war  tatsächlich  kürzlich  verübt  worden. 


Ein  Fall  gewohiiheitsmäßiger  Majestätsbeleidi^ng.  335 

Endlich  schrieb  er  an  das  Polizei-Präsidium  nachstehenden  Brief: 

„Hohes  Polizei-Präsidium! 

Keine  Feder  ist  im  Stande  das  zu  schildern,  wie  man  in  der 
Haupt-  und  Residenzstadt  Wien  mit  armen  Leuten  verfährt  In  den 
Armendepartement  sitzen  solche  schuftige  Kerls  mitsamt  den  Ma- 
gistratsratsekretär,  welche  mit  einer  solchen  Gemeinheit  die  Leute 
abweisen',  daß  man  es  gar  nicht  glauben  kann;  wenn  sich  irgend 
Jemand  darüber  aufhält,  so  ist  in  nächster  Nähe  ein  Gehilfe  des 
Henkers,  die  man  die  Vampire  der  Menschen  nennt,  beständig  in 
der  Nähe  um  seines  Amtes  zu  walten. 

Man  rühmt  in  den  auswärtigen  Staaten  die  Humanität  des 
österreichischen  Kaiserstaates,  aber  wenn  man  die  Sache  genauer 
ins  Auge  faßt,'  da  muß  man  sich  ekeln  über  die  Zustände,  die  in 
Wien  herrschen.  Die  k.  k.  Polizei-Direktion  besteht,  vom  Präsiden- 
ten angefangen  bis  auf  den  letzten  Wachmann  aus  lauter  erbärm- 
lichen Schuften,  die  selbst  schlechter  sind,  als  der  gemeinste  Ver- 
brecher. Ihre  Hauptaufgabe  besteht,  nur  Verbrecher  heranzuziehen, 
die  sie  dann  mit  eisernen  Klammem  festhalten,  bis  einem  solchen 
Menschen  der  letzte  Blutstropfen  ausgesogen  wird,  daß  er  nicht  mehr 
fähig  ist  zu  arbeiten. 

Und  die  Männer,  die  im  Reichsrate  sitzen,  schauen  zu,  sie  wissen, 
daß  die  allmächtige  Polizei  in  Wien  aus  lauter  Schuften  besteht,  aber 
machen  trotzdem  nichts.  Darum  sind  diese  Herren  auch  nicht  viel 
besser.  Nach  meiner  Ansicht  noch  viel  erbärmlicher.  Sie  machen  Ge- 
setze, aber  was  für  Gesetze?  Lauter  solche,  wo  man  den  Leuten  das  Geld 
aus  der  Tasche  stiehlt  unter  dem  Verwände :  es  gehört  für  den  Staat. 

Pfui  Teufel,  wenn  sie  nichts  anderes  zusammenbringen.  Da 
soll  man  solche  Gesetze  respektieren.  Ich  nicht,  denn  solche  Ge- 
setze sollen  diejenigen  halten,  die  es  machen.  Die  ganze  Beamten- 
schaft Österreichs  ist  keinen  Schuß  Pulver  wert. 

Wenn  ich  zu  schaffen  hätte,  ich  würde  sie  alle,  einen  nach  dem 
anderen  auf  einem  hohen  Galgen  baumeln  lassen. 

Unser  edler  Monarch  würde  gewiß  anders  handeln,  aber  leider 
er  ist  zu  gut,  unser  Kaiser,  das  wissen  die  Herren  im  Reichsrate, 
darum  machen  sie  was  sie  wollen.  Darum  sage  ich  offen:  Ver* 
tilget  diese  Beamtenbrut  alle  ohne  Ausnahme.  Nur  dann  kann  es 
besser  werden  in  Österreich. 

Ich  bitte  diese  Zeilen  zu  veröffentlichen. 

Der  Schreiber  befindet  sich  im  städtischen  Werkhause. ^ 

J.  T. 

(voller  Namen). 


336  XVn.  POLLAK 

Beim  Untersuchongsricfater  einyeroommeny  gab  er  an: 
^Ungefähr  2 — 3  Tage  nach  meiner  Freilassung  wurde  mir  vom 
Magistrate  der  Betrag  von  25  fl.,  welche  ich  mir  in  der  Strafanstalt 
erspart  hatte,  ansgefolgt,  und  von  diesem  Betrage  lebte  ich.  Ich  habe 
mehrfach  versucht,  Arbeit  beim  Schneeschaufeln  zu  bekommen,  es 
gelang  mir  aber  nicht,  und  ich  trat  daher  am  12.  oder  13.  d.  Mts.  in 
das  städtische  Werkhaus  in  Arbeit,  da  ich  nur  mehr  ca.  2  fl.  in  meinem 
Vermögen  hatte.  Nach  2  Tagen  verlangte  ich  meine  Entlassung  und 
habe  dann  die  den  Akten  beiliegenden  Briefe  und  Korrespondenz- 
karten an  die  Polizei-Direktion  geschrieben.'' 

,,Ich  weiß  nicht,  wie  ich  dazu  kam,  die  Briefe  an  die  Polizei  zu 
schreiben,  es  packt  mich  öfters  eine  Wut  über  mein  unglückliches 
Schicksal,  und  dann  setze  ich  mich  hin  und  schreibe  derartige  Briefe 
über  den  Kaiser  und  die  Behörden.  Die  Karte,  in  der  ich  mich  selbst 
des  Baubanfalles  beschuldige,  habe  ich  geschrieben,  um  die  Polizei 
auf  mich  aufmerksam  zu  machen  und  weil  ich  hoffte,  dadurch  ver- 
haftet zu  werden.  Ich  habe  in  der  Zeitung  von  dem  Baubanfalle  ge- 
lesen und  habe  dann  diese  Karte  geschrieben.  Die  Karte  an  Schmalz- 
hofer,  der  früher  mein  Lehrherr  war,  habe  ich  geschrieben,  weil  ich 
hoffte,  daß  mir  Schmalzhofer  aus  Furcht  vor  meiner  Drohung  Geld 
schicken  würde."  — 

Mit  Urteil  des  Wiener  Landesgerichtes  vom  20.  Januar  1900  wurde 
T.  wegen  Majestätsbeleidigung  und  Erpressung  zu  einer  fünfjährigen 
schweren  Kerkerstrafe  verurteilt,  aus  welcher  er  1905  entlassen  wurde. 

Am  3.  März  1905  richtete  er  an  die  k.  k.  Hof-  und  Kabinetts- 
kanzlei einen  Brief,  in  welchem  er  dem  Kaiser  in  unflätiger  Weise 
prophezeite,  er  werde  ermordet  werden. 

Im  städtischen  Werkhause,  wo  er  damals  in  Arbeit  stand,  aus- 
geforscht und  der  Polizei  vorgeführt,  gab  T.  über  das  Motiv  dieses 
Schreibens  an,  er  könne  darüber  gar  nichts  sagen;  es  kommen  über 
ihn  oft  eigentümliche  Momente,  so  daß  er  nicht  wisse,  was  er  mache. 
Beim  Untersuchungsrichter  fügte  er  hinzu,  daß  er  am  3.  März  nicht 
betrunken  gewesen  sei,  sich  aber  erst  im  Augenblick,  als  ihm  bei  der 
Polizei  der  Brief  gezeigt  wurde,  erinnert  habe,  diesen  geschrieben  zu 
haben.  Er  verstehe  überhaupt  nicht,  wie  er  den  Brief  geschrieben 
haben  konnte.  Aber  er  habe  oft  Momente,  in  denen  seine  Sinne  völlig 
wirr  seien.  Er  fügt  bei:  „Ich  leugne  entschieden,  daß  ich  es  getan 
habe,  um  mir  eine  Versorgung  in  der  Strafanstalt  zu  verschaffen.  Seit 
ich  in  Graz  auf  meinen  Geisteszustand  hin  untersucht  wurde,  hat  sich 
mein  nervöser  Zustand  bedeutend  verschlechtert,  und  habe  ich  insbe- 
sondere manchmal  jedes  Erinnerungsvermögen  verloren.   Ich  bitte  da- 


Ein  Fall  gewohnheitsmäßiger  Majestätsbeleidigang.  837 

her  um  Untersuchung  meines  Geisteszustandes,  da  ich  sicher  glaube, 
daß  ich  die  Handlung  in  einem  Zustande  momentaner  Geistesabwesen- 
heit begangen  habe;  ich  weiß  nicht  was  in  dem  Briefe  steht,  da  mir 
bisher  nur  die  Unterschrift  und  die  Adresse  gezeigt  wurden,  die  ich 
als  von  meiner  Hand  herrührend  anerkannte/ 

Von  den  Gerichtsärzten  auf  seinen  Geisteszustand  untersucht,  gab 
T.  an  (aus  dem  gerichtsärztlichen  Gutachten): 

Wo  und  wann  er  den  Brief  geschrieben  habe,  wisse  er  nicht, 
vielleicht  habe  er  Schnaps  getrunken  und  er  sei  dadurch  in  Zorn 
geraten,  er  wisse  nichts  vom  Briefe,  er  habe  ein  schlechtes  Gedächt- 
nis, er  merke  sich  auch  öfters  einen  Namen  nicht  und  so  wisse  er 
auch  über  das  Delikt  nichts.  Es  müsse  eine  Art  Krankheit  sein,  die 
ihn  wie  ein  Zwang  befällt  und  dazu  treibt,  die  Briefe  zu  schreiben. 
Er  sei  krank,  vielleicht  könne  man  diese  Art  von  Krankheit  nicht 
konstatieren.  Er  habe  nicht  das  Motiv  gehabt,  eingesperrt  zu  werden ; 
auch  früher  nicht  Über  Vorhalt  seiner  damaligen  Angaben  meint 
er,  wenn  es  in  den  Akten  stehe,  dann  müsse  es  wohl  so  sein,  aber 
jetzt  wisse  er  kein  Motiv  zu  seinem  Delikte.  Wenn  er  in  Freiheit 
wäre  und  es  würde  außerkriminell  sein  Geisteszustand  untersucht 
werden,  würde  man  vielleicht  ein  anderes  Urteil  über  ihn  und  seine 
unglückselige  Schreiberei  abgeben.  Er  gibt  zu,  daß  er  schon  Arbeit 
hätte  bekommen  können,  aber  jede  Arbeit  nehme  er  auch  nicht  an, 
er  habe  Bekannte  als  Maurer  und  da  geniere  er  &ich,  Straßen  zu 
kehren.  Übrigens,  wenn  er  ein  paar  Kreuzer  habe,  denke  er  nicht 
auf  die  Arbeit  und  wenn  der  letzte  Kreuzer  weg  ist,  verdrieße 
ihn  alles. 

Bezüglich  überstandener  Krankheiten  gibt  Ink.  an,  bei  der  Kriegs- 
marine an  Trachom  gelitten  zu  haben,  in  der  Strafhaft  einmal  einen 
Bronchialkatarrh  gehabt  zu  haben  und  einmal  von  einer  Katze  in 
die  Hand  gebissen  worden  zu  sein. 

Ink.  zeigt  eine  seinem  Bildungsgange  entsprechende  Intelligenz, 
er  rechnet  prompt  11  x  12  —  132,  35+17  —  52,  er  paßt  gut  auf 
und  reproduziert  entsprechend. 

In  seinem  Äußern  macht  er  einen  sehr  verwahrlosten  Eindruck, 
apathisch,  gleichgütig.  Er  zeigt  ein  gedunsenes  Gesicht  mit  schlaffen 
Gesichtszügen,  die  Pupillen  sind  gleich  und  reagieren  prompt,  Zunge 
und  Finger  zeigen  einen  lebhaften  Tremor,  die  Zunge  ist  belegt  und 
weicht  beim  Vorstrecken  eine  Spur  nach  links  ab ;  am  linken  Vorder- 
arm ist  er  tätowiert;  am  linken  Handrücken  eine  Krone,  am  linken 
Unterarm  ein  Kreuz  und  gekreuzte  Ochsenhömer  und  T.  J.  1868. 
Die  Herztöne  sind  dumpf,  der  Puls  84  regelmäßig,  die  Kniesehnen- 

Arehir  fflr  Kriminalaiithropologie.    28.  Bd.  22 


338  XVII,  POLLAK 

reflexe  sind  vorhanden,  bei  AagenBchlnß  besteht  kein  Schwanken;  am 
Penis  fällt  die  Pbimosis  auf. 

Die  Gerichtsarzte  gaben  auf  Grand  ihres  Befundes  nachstehendes 
Gutachten  ab: 

„Was  zunächst  die  Beurteilung  des  habituellen  Geisteszustandes 
des  Inkulpaten  betrifft,  so  ergibt  sich  aus  dem  vorstehenden  Be- 
funde, daß  er  völlig  orientiert,  klar  und  geordnet  ist,  rasch  auffaßt 
und  gut  reproduziert  Auch  aus  den  anamnestischen  Daten  ergibt 
sich  kein  aetiologischer  Grund,  der  auf  eine  zu  gewftrtigende 
Geistesstörung  schließen  ließa  Der  Inkulpat  ist  nicht  here- 
ditär belastet,  wenigstens  ließ  sich  eine  erbliche  Belastung 
nicht  nachweisen.  Seine  Entwicklung  ging  glatt  vor  sich.  Die 
Krankheiten,  die  er  überstand,  Scharlach,  Schafblattern,  Eopftyphns 
haben  keine  weiteren  Folgen  für  seinen  Geisteszustand  mit  sich 
gebracht  und  auch  der  Sturz  von  der  Leiter  im  24.  Jahre  hat 
keine  Gehirnerschütterung  oder  sonstige  üble  Folgen  bei  ihm  gezeigt 

Früh  schon  machte  sich  bei  ihm  der  Hang  zur  Masturbation 
geltend,  der  er  bei  der  Kriegsmarine  und  in  den  verschiedenen 
Strafanstalten  weiter  oblag,  so  daß  er  nach  seiner  Angabe  im 
sexuellen  Verkehr  mit  Frauen  keine  rechte  Befriedigung  habe  und 
es  nicht  zum  Samenerguß  komme.  Diese  Erscheinung  mag  auf 
seine  von  Kindheit  auf  betriebene  Masturbation  zurückzuführen  sein. 

Eine  weitere  schwerere  Erkrankung  hat  Inkulpat  nicht  erlitten, 
doch  hat  er  in  den  Tagen  seiner  Freiheit  dem  Schnapsgenusse 
gehuldigt 

Schon  frühzeitig  machten  sich  bei  dem  Inkulpaten  moralische 
Defekte  geltend,  die  sich  durch  schlaffere  Erziehung  und  schlechte 
leichtsinnige  Gesellschaft  entwickelten.  Er  versuchte  es  erst  in  ver- 
schiedenen Lehren  bei  einem  Riemer,  dann  bei  einem  Schlosser, 
doch  blieb  er  nirgends,  bis  ihn  sein  Vater  zur  Kriegsmarine  gab. 
Hier  ging  es  einige  Zeit  in  der  strengen  Zucht,  doch  kamen  auch 
hier  seine  moralischen  Defekte  zur  Geltung,  er  wurde  wiederholt 
wegen  Veruntreuung  und  Diebstahls  bestraft  und  schließlich  wegen 
Verkaufs  ärarischer  Monturstücke  nach  Bestrafung  degradiert  und 
entlassen.  Seit  dem  Jahre  1872  erscheint  er  nun  fort  kriminell 
und  hat  bereits  28  Jahre  Straf haft  hinter  sich. 

Im  Jahre  1881  erhielt  er  sein  väterliches  Erbteil  von  2200  fl., 
das  er  in  kurzer  Zeit  in  leichtsinniger  Gesellschaft  vergeudete, 
während  er  keinerlei  Arbeit  suchte.  In  den  verschiedenen  Straf- 
haften wurde  er  wiederholt  wegen  Renitenz,  Aufwiegelung  und 
groben  Benehmens  disziplinariter  gemaßregelt 


Ein  Fall  gewohnheitBinäßiger  Majestätsbeleidigung.  339 

In  den  kurzen  Pausen,  in  denen  er  die  Freiheit  genoß,  lebte 
er  in  den  Tag  hinein,  trank  mit  leichtsinnigen  Gesellen,  suchte 
keine  Arbeit  und  wenn  er  kein  Geld  mehr  hatte,  beging  er  eine 
Majestätsbeleidigung,  um,  wie  er  selbst  wiederholt  in  den  Vorakten 
angab,  seine  mißliche  Lage  zu  ändern. 

Er  steht  nun  bereits  das  7.  Mal  wegen  Majestätsbelei- 
digung vor  Gericht,  nachdem  er  schon  21^2  Jahre  wegen 
dieses  Deliktes  Strafhaft  verbüßte. 

Dabei  liegt  der  Gedanke  nahe,  ob  nicht  der  Inkulpat  infolge 
einer  psychischen  Störung  beständig  immer  dasselbe  Delikt  begeht, 
wie  es  etwa  auf  Grund  von  Wahnideen  vorkommen  könnte.  Die 
genaue  Untersuchung^  seines  Geisteszustandes  hat  aber  ergeben,  daß 
er  keinerlei  Wahnideen  darbietet,  daß  er  gut  auffaßt  und  für  alle 
Begebenheiten,  die  nicht  sein  jetziges  Delikt  betreffen,  ein  gutes 
Erinnerungsvermögen  zeigt  Er  urteilt  ganz  richtig,  zeigt  keinerlei 
Intelligenzdefekte  und  zeigt  eine  ziemlich  gewshidte  Redeweise. 
Auch  Zeichen  einer  periodischen  Geistesstörung  bietet  der  Inkulpat 
nicht  dar.  Es  kann  also  von  einer  habituellen  Geistesstörung  bei 
dem  Inkulpaten  nicht  gesprochen  werden,  wohl  ist  er  aber  ein 
moralisch  herabgekommenes  Individuum,  das  verschiedene  Inner- 
vationsstörungen :  Schlaffheit  des  Gesichtes,  leichtes  Abweichen  der 
Zunge  beim  Vorstrecken,  Tremor  der  Zunge  und  Finger  darbietet 
Dazu  kommt  noch  seine  erhöhte  Reizbarkeit  Diese  nervösen 
Symptome  bilden  aber  nur  einen  Grund  für  verminderte  Wider- 
standsfähigkeit bei  Begehung  von  Delikten. 

Was  nun  den  Geisteszustand  des  Inkulpaten  zur  Zeit  des 
Deliktes  betrifft,  so  gibt  er  derzeit  an,  daß  er  sich  nicht  erinnere, 
den  Brief  geschrieben  und  befördert  zu  haben.  Solche  Handlungen, 
an  welche  nachträglich  die  Erinnerung  fehlt,  können  in  psychischen 
Ausnahmszuständen,  in  Dämmerzuständen,  die  auf  alkoholischer, 
epileptischer,  hysterischer  oder  toxischer  Basis  beruhen,  statt- 
finden. Für  alle  derartigen  pathologischen  Zustände  fehlen  aber 
bei  dem  Inkulpaten  alle  Symptome.  Er  hat  weder  hysterische 
noch  epileptische  Symptome,  noch  gibt  er  einen  Rauschzu- 
stand zu. 

liegt  einerseits  keinerlei  pathologische  Basis  vor,  auf  Grund 
welcher  solche  Ausnahmezustände  eingetreten  wären,  so  zeigt 
andererseits  die  Schrift  und  der  Stil  des  Briefes  keinerlei  Zeichen 
eines  abnormen  Geisteszustandes  zur  Zeit  des  Schreibens,  und 
außerdem  muß  erwogen  werden,  daß  die  Art  des  Deliktes  doch 
eine   planmäßig    verfolgte    ist,    da  ja   Inkulpat  zuerst  den  Brief 

22* 


340  XVn.  POLLAK 

schreiben  und  ihn  dann  znm  Postkasten  tragen  mnßte,  was  doch 
eine  gewisse  Z^t  in*  Ansprach  nimmt 

Während /^keinerlei  pathologische  Momente  vorliegen,  daß  In- 
kulpat  znr  Zeit  des  Deliktes  in  einem  psychischen  Ansnahmsznstand 
war,  liegen  eine  Reihe  von  Momenten  vor,  daß  er  das  Delikt  vor- 
sätzlich begangen  hat  und  absichtlich  einen  Erinnemngsdefekt  für 
die  Zeit  des  Deliktes  angibt  Zunächst  hat  er  schon  bei  der  Polizei 
Zügegeben,  daß  er  sich  erinnere,  den  Brief  selbst  in  den  Briefkasten 
geworfen  zn  haben,  während  er  jetzt  sich  an  nichts  erinnern  will. 
Das  sind  Widersprüche,  die  nicht  in  pathologischen  Gründen  liegen. 
Im  Jahre  1895/1899  und  auch  jetzt  hat  er  selbst  um  die  Unter- 
suchung seines  Geisteszustandes  gebeten.  Es  konnte  schon  im 
Jahre  1895  an  ihm  eine  Geistesstörung  im  Sinne  des  §  2  Str.G. 
nicht  konstatiert  werden  und  im  Jahre  1899  erregte  er  den  Ver- 
dacht, daß  er  sich  eine  bessere  Versorgung  in  der  Irrenanstalt  da- 
mit verschaffen  wolle. 

Für  seine  Angabe,  er  verliere  zeitweise  sein  Erinnerungsver- 
mögen, fehlt  jedoch  jede  pathologische  Grundlage. 

Wenn  er  angibt,  daß  er  eigentümliche  Zustände  habe,  etwa  so, 
wie  er  in  der  Zeitung  las,  daß  die  Kleptomanen  unter  unwider- 
stehlichem Zwang  einen  Diebstahl  vollführen  müssen  in  denen  er 
also  unter  einem  förmlichen  unwiderstehlichen  Zwang  zum  Schreiben 
der  Briefe  mit  der  Majestätsbeleidigung  hingetrieben  würde,  so  muß 
erwähnt  werden,  daß  es  solche  monomanische  Triebe  ohne  Grund- 
lage einer  anderweitigen  psychischen  Störung  nicht  gibt  Bei  einem 
solchen  unwiderstehlichen  Zwange  würde  ihm  überdies  dann  die 
Erinnerung  an  das  Delikt  fehlen. 

Das  Motiv  des  Deliktes  war  bisher  immer  seine  mißliche  Loge. 
Schon  im  Jahre  1882  hat  er  selbst  angegeben,  er  habe  die 
Majestätsbeleidigung  begangen,  um  in  ein  anderes  Gericht  über- 
stellt zu  werden,  da  er  es  im  Gemeindearrest  in  Brück  nicht  aus- 
hielt; im  Jahre  1885  gab  er  selbst  als  Motiv  an,  das  Delikt  der 
Majestätsbeleidigung  begangen  zu  haben,  um  aus  seiner  mißlichen 
Lage  herauszukommen;  im  Jahre  1887  und  1891  motivierte  er  das 
Delikt  mit  Aufregung  in  seiner  mißlichen  Lage.  Seit  dem  Jahre 
1895  versucht  er  nun  immer  wieder  das  Delikt  auf  seine  psychische 
Störung  zurückzuführen,  für  die  jede  pathologische  Grundlage  auch 
jetzt  fehlt  Auch  vor  dem  jetzigen  Delikte  hat  er  sich  in  einer 
mißlichen  Lage  befunden,  sein  Geld  (120  K.),  mit  dem  er  am 
29.  Januar  1805  aus  der  Strafhaft  in  Stein  entlassen  wurde, 
war  zu  Ende,   um  eine  Arbeit  scheint  er  sich   nicht  umgesehen 


£m  Fall  gewohnheitBinSßiger  Majestätsbeleidigung.  341 

ZU  haben  und  er  mußte  nun  das  Asyl  und  das  Werkbaus  auf« 
suchen. 

Seine  Lage  und  morose  Stimmung,  unterstützt  vielleicht  von 
Alkoholgenuß}  scheinen  ihn  wieder  zu  dem  Delikte  bewogen  zu 
haben,  um  sich  eine  Unterkunft  zu  verschaffen.  Bei  seiner  mora- 
lischen Abstumpfung  scheint  die  Strafhaft  für  ihn  nichts  Abstoßendes 
mehr  zu  haben. 

Der  Inkulpat  ist  demnach  ein  haltloses,  moralisch  völlig  ab- 
gestumpftes Individuum,  das  weder  eine  dauernde  Geistesstörung 
im  Sinne  des  §  2a  St.6.  aufweist,  noch  zur  Zeit  des  Deliktes  im 
Sinne  des  §  2b  und  c  St.6.  geistig  gestört  erschien.  Seine  Halt- 
losigkeit und  seine  nervösen  Beschwerden  bedingen  nur  eine 
verminderte  Widerstandsfähigkeit  gegenüber  dem  Antriebe  zum 
Delikte." 

Das    kk.   Landesgericht  Wien   in   Strafsachen    verhängte    über 

Trittinger    mit  Urteil    vom   27.  April  1905   6.  Z.  — — ^^-^  wegen 

Verbrechens  der  Majestätsbeleidigung  und  der  Beleidigung  von  Mit- 
gliedern des  kaiserlichen  Hauses  eine  fünfjährige  schwere  mit  einem 
Fasttag  vierteljährlich  verschärfte  Eerkerstrafe.  In  den  sich  im 
wesentlichen  an  das  Gutachten  der  Psychiater  anschließenden 
Gründen  wird  als  vermutlicher  Beweggrund  für  die  Handlungs- 
weise des  Angeklagten  dessen  Absicht  bezeichnet,  neuerliche  weitere 
Versorgung  im  Strafhause  zu  finden.  Bei  der  Strafbemessung 
wurde  als  mildernd  das  Geständnis  und  die  geistige  Minderwertig- 
keit des  Angeklagten,  als  erschwerend  die  Konkurrenz  zweier 
Verbrechen,  der  sechsmalige  Rückfall  und  dessen  Raschheit  an- 
genommen. Gegen  dieses  Urteil  meldete  der  Angeklagte  die 
Nichtigkeitsbeschwerde,  nicht  aber  die  Berufung  an.  Diese  wurde 
vom  kk.  Kassationshofe  in  nichtöffentlicher  Sitzung  verworfen. 
Der  Angeklagte  büßt  seine  Strafe  derzeit  in  der  Strafanstalt  Stein 
a.  d.  Donau  ab. 

Von  dort  aus  wendete  er  sich  gegen  Ende  1905  brieflich  an 
mich  mit  der  Bitte,  eine  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  zu  seinen 
Gunsten  zu  erwirken.  Er  behauptete,  nicht  zu  wissen,  auf  welche 
Weise  der  inkriminierte  Brief  zustande  gekommen  und  zur  Post 
aufgegeben  worden  sei  und  berief  sich  zum  Beweise  dafür,  daß 
nicht  er  dessen  Urheber  gewesen,  auf  Zeugen,  die  mit  ihm  im 
städtischen  Werkhause  zusammen  gewesen  seien,  die  aber,  als  ich 
sie  einvernahm,  nichts  Sachdienliches  anzugeben  wußten. 

Zu   Beginn    des  Jahres   1906    besuchte   ioh   den   J.  T.  in  der 


342  XVII.  POLLAK 

Strafanstalt,  um  aus  eigener  Wahrnehmung  ein  Bild  des  mir  in 
mancher  Hinsicht  rätselhaft  erscheinenden  Falles  zu  gewinnen.  Die 
Erklärung,  die  das  landesgerichtliche  Urteil  ftir  die  Motive  der 
strafbaren  Handlung  gab,  das  Streben  des  Angeklagten  nämlich 
nach  neuerlicher  Versorgung  im  Strafhause,  schien  mir  mit  seinem 
Verhalten  nach  seiner  Verurteilung  nicht  ganz  in  Einklang. 

Ich  fand  in  ihm  ein  äußerlich  den  Anschein  völliger  geistiger 
Gesundheit  erweckendes  Individuum,  welches  sich  klar  und  geordnet 
ausdruckte,  von  seiner  Lage  mit  Ruhe  und  Gefaßtheit  als  einer  ohne 
sein  Verschulden  durch  Verkettung  unglücklicher  Zufälle  herbei- 
geführten sprach  und  durchblicken  ließ,  daß  er  sich  in  der  Anstalt 
höchst  unglücklich  fühle.  Auf  näheres  Befragen  gab  er  an,  seine 
Situation  hauptsächlich  deshalb  unangenehm  zu  empfinden,  weil  er 
von  seinen  Mithäftlingen,  größtenteils  schweren  Berufsverbrechern, 
als  „freiwilliger  Zuchthäusler'^  gehänselt  und  über  die  Achsel  an- 
gesehen werde. 

Die  Strafanstaltsbeamten  erklärten  mir  seine  Unzufriedenheit 
damit,  daß  er  während  seiner  früheren  Strafzeiten  als  Maurer  in 
der  Anstalt  zu  arbeiten  pflegte  und  als  solcher  verhältnismäßige 
Freiheit  genoß.  Während  seines  letzten  Aufenthaltes  außerhalb  der 
Anstalt  sei  aber  diese  Funktion  anderweitig  besetzt  worden,  so  daß 
J.  T.,  als  er  in  die  Anstalt  zurückkehrte,  eine  andere,  ihm  offenbar 
nicht  konvenierende  Arbeit  zugeteilt  wurde.  Er  sei  übrigens  ein 
durchaus  harmloses,  sich  in  jeder  Hinsicht  gut  aufführendes  In- 
dividuum und  an  das  Anstaltsleben  so  gewöhnt,  daß  bei  seiner 
jedesmaligen  Entlassung  aus  der  Strafanstalt  seiner  Rückkehr  nach 
kurzer  Zeit  als  etwas  Selbstverständlichem  entgegengesehen  werde. 

Unter  diesen  Umständen,  und  da  auch  Anhaltspunkte  für  eine 
neuerliche  Untersuchung  seines  Geisteszustandes  mangelten,  mußte 
ich  meine  Bemühungen,  eine  Wiederaufnahme  des  Verfahrens  zu 
erwirken,  als  aussichtslos  einstellen.  Gleichwohl  schienen  mir  die 
geschilderten  Tatsachen  zu  einer  Erklärung  seines  Verhaltens  nicht 
völlig  ausreichend.  Es  ist  auf  den  ersten  Blick  zweifellos  sehr 
plausibel,  anzunehmen,  daß  J.  T.  sowie  in  früheren  Fällen,  einfach 
die  ihm  zur  zweiten  Heimat  gewordene  Strafanstalt  wieder  beziehen 
wollte  und  zu  diesem  Zwecke  die  inkriminierte  Miyestätsbeleidigung 
beging;  und  selbst  sein  damit  kontrastierendes  Bestreben,  eine 
Wiederaufnahme  des  Verfahrens  zu  erwirken,  ließe  sich  aus  den 
oben  mitgeteilten  Umständen  erklären,  die  ihm  diesmal  den  Anstalts* 
aufenthalt  weniger  angenehm  als  sonst  erscheinen  lassen  mochten« 
Aber  damit   steht   in  Widerspruch   seine   Reaktion   gegen   das  ihn 


Ein  Fall  gewohnheitsmäßiger  Majwtätsbeleidigung.  343 

koI^/"'°**5  ^kenntnis  unmittelbar  nach  dessen  Fällung.    Damals 

k^«  a';;  ^r    •''"'''  "•'•'*  ^^°'    ^  «^  *>«  seiner  Bückkehr 
Md   Hn^?  *  '^"'*°  gewohnten  Maurerposten  besetzt  finden  werde; 

«•^!^  ?  '  Berufung,  sondern  die  Nichtigkeitsbeschwerde 
WidZl  1.  \  ■'"^°  gänzlichen  Freispruch  erstrebt  Dieser 
Fa^T^K  1?  ?^^"**  "^  •'^  °'"'  unlösHch,  wie  denn  der  ganze 
^1  überhaupt  eine  bittere  Ironie  auf  den  Zweck  der  Strafe  einer- 
sa«,  auf  unsere  sozialen  Zustände  andererseits  erscheint  Der 
wM-hSf.'"  ,f°^®°  harmlose,  wegen  Alters  und  Krankheit  er- 
rSääS.  '"^'''  ^''*  '•'*'  ^  ^^-^  Versorgung»,  als  in 


XVIIL 
Yersnchter  Meuchelmord  eines  Fünfzehnjährigen. 

Mitgeteilt  von 
Dr.  Biohard  Bauer,  k.  k.  StaatsanwaltsBubstitut  in  Troppau. 


Als  am  25.  März  1906  Josef  B.  durch  eine  schmale  Gasse  des 
kleinen  Ortes  0.  in  Westscblesien  ungefähr  um  die  achte  Stunde 
abends  nach  Hause  ging,  hörte  er  plötzlich  eine  Frauenstimme  rufen: 
„um  Gottes  willen,  kommt  mir  zu  Hilfe/  und  sah  beim  Näherkommen 
die  ihm  bekannte  Eaufmannsfrau  Lina  H.  blutüberströmt  mit  einer 
Hacke  in  der  Hand  vor  dem  Hause  eines  Nachbarn  stehen,  woselbst 
sie  eingelassen  wurde,  während  Joseph  B.  um  den  im  Gasthause  befind- 
lichen Gatten  der  Lina  H.  eilte.  —  Lina  H.  stammelte  nur  mühsam 
die  Worte,  daß  sie  der  bei  ihnen  als  Lehrling  angestellte  Rudolf  0. 
mit  einer  Hacke  überfallen  habe,  welche  sie  ihm  nach  längerem 
Kampfe  entriß,  und  verlor  dann  das  Bewußtsein.  Rudolf  0.  wurde 
nun  in  der  Küche  der  Wohnung  seines  Lehrherm  festgenommen  und 
dem  Gerichte  überstellt.  Rudolf  0.,  am  28.  Januar  1891  geboren, 
stammt  aus  anständiger  Familie,  genoß  die  gewöhnliche  Volksschul- 
bildung und  trat  am  24.  Juli  1904  bei  dem  Kaufmann  H.,  dem  Ehe- 
gatten der  Lina  H.  als  Lehrling  ein. 

Lina  H.,  welche  mit  der  Hacke  mehrere  Hiebe  über  den  Kopf 
erhalten  hatte,  lag  durch  einige  Wochen  krank  darnieder  und  gab 
nach  ihrer  Genesung  Nachstehendes  an.  Sonntag,  den  25.  März  1906, 
abends,  war  Zeugin  allein  zu  Hause  und  saß  lesend  in  der  Küche. 
Plötzlich  —  es  mochte  ungefähr  3/4  8  Uhr  gewesen  sein  —  kam  0.  zu 
ihr  und  sagte:  „Frau,  schauen  Sie,  was  der  Kommis  X.  unter  seinem 
Bette  versteckt  hat.^  Zeugin,  welche  glaubte,  daß  ihr  0.  Gegenstände, 
welche  X.  im  Geschäfte  entwendet  hatte,  zeigen  werde,  begab  sich 
nun  mit  0.  in  die  von  diesem  und  dem  Kommis  X.  bewohnte  kleine 
Kammer,  woselbst  sie  sich  bückte,  um  unter  das  Bett  des  X.  zu 
blicken.  Kaum  hatte  sie  dies  aber  getan,  so  erhielt  sie  von  rückwärts 
zwei  starke  Schläge  über  den  Kopf,  wurde  nun  von  0.  gepackt  und 


Versuchter  Meuchelmord  eines  Fünfzehnjährigen.  345 

ZU  Boden  gedrückt,  so  daß  sie  in  die  Knie  fiel.  Obwohl  ihr  schon  das 
Blut  in  Strömen  über  das  Gesicht  rann,  gelang  esxihr  dennoch,  auf- 
zuspringen, worauf  sie  nun  0.  bei  den  Armen  faßte  und  ihr  den 
Mund  zuzuhalten  versuchte.  Da  gelang  es  nun  der  Zeugin  mit  den 
Zähnen  einen  Finger  der  linken  Hand  des  0.  zu  erfassen  und  den- 
selben so  mit  der  Anstrengung  ihrer  letzten  Kräfte  zu  der  versperrten 
Zimmertür  zu  schleppen,  woselbst  0.  nochmals  die  Hacke  gegen  sie 
erhob,  die  sie  ihm  aber  —  noch  immer  dessen  Finger  mit  den  Zähnen 
festhaltend  —  entwand.  Endlich  gelang  es  ihr  aufzusperren  —  der 
Schlüssel  steckte  von  innen  —  und  zu  entfliehen,  wohl  hauptsächlich 
deshalb,  weil  sie  bis  zum  letzten  Momente  den  Finger  des  0.  nicht 
losgelassen  hatte.  An  dieser  Stelle  sei  bemerkt,  daß  0.  ein  für  seine 
Jahre  gut  entwickelter  Bursche,  Lina  H.  eine  kleine  schwächliche 
Frau  war. 

Rudolf  0.  gab  diese  Angaben  als  richtig  zu  und  gab  noch  fol- 
gendes an:  Neben  der  Wohnung  des  Kaufmanns  H.  befand  sich  das 
Geschäft  und  das  Wohnzimmer  einer  Leinwandhändlerin^  in  welch' 
letzteres  er  seit  dem  Jahre  1904  wiederholt  mit  Hilfe  eines  Nach- 
schlüssels eingedrungen  war  und  daselbst  Gelddiebstähle  verübt  hatte, 
welche  sich  die  Bestohlene  absolut  nicht  erklären  konnte.  Da  nun 
0.  nur  von  dem  Vorhause  seines  Lehrherm  in  das  Zimmer  der  Lein- 
wandhändlerin gelangen  konnte,  und  Lina  H.,  welche  ihrer  Kränklich- 
keit halber  auch  dann  meist  zu  Hause  blieb,  wenn  alle  anderen 
Hausgenossen  fortgegangen,  ihm  somit  bei  Ausführung  seiner  Dieb- 
stähle hinderlich  war,  so  hatte  er  schon  seit  längerer  Zeit  den  Plan 
gefaßt,  dieselbe  zu  ermorden  und  mit  einer  größeren  Summe  ge- 
stohlenen  Geldes  durchzugehen.  Auch  am  25.  März  1906  wollte  er 
wieder  stehlen  und  empfand  daher  über  das  Zuhausebleiben  der  Lina 
H.  solchen  Arger,  daß  er  sich  entschloß,  an  diesem  Tage  seinen  längst 
gefaßten  Plan  zur  Ausführung  zu  bringen.  Zu  diesem  Zwecke  be- 
reitete er  sich  in  seiner  Kammer  einen  Strick  und  zwei  Beile  vor  und 
lockte  dann  sein  Opfer  mit  der  obenerwähnten  listigen  Vorspiegelung 
in  die  Falle,  in  welche  es  auch  ging  und  wobei  dasselbe  nur  durch 
außerordentliche  Geistesgegenwart  und  Entschlossenheit  vom  Tode 
bewahrt  wurde. 

Rudolf  0.  wurde  am  22.  Juli  1906  vom  Schwurgericht  zu  Troppau 
wegen  des  Verbrechens  des  versuchten  Meuchelmordes  zu  schwerem 
Kerker  in  der  Dauer  von  6  Jahren  verurteilt 


XIX. 
Identitätsnachweis  an  Kindern. 

Eine  anthropologisch-forensische  Studie 

von 

Medizinalrat  Br.  F.  Näoke  in  Habertusborg. 


Schon  seit  längerer  Zeit  ist  es  bekannt,  daß  gar  nicht  so  selten 
Lebende  oder  Tote  selbst  von  den  nächsten  Angehörigen  nicht  agnos- 
ziert oder  von  anderer  Seite  fälschlicherweise  in  Ansprach  genommen 
werden,  and  zwar  durchaas  nicht  nur  in  erklärlichen  abnormen  Zu- 
ständen. Diesen  merkwürdigen  Fällen  psychologisch  näher  zu  treten, 
ist  eine  überaus  reizvolle  Aufgabe.  Der  psychologischen  Gründe 
können  verschiedene  vorliegen,  meist  in  Kombination,  an  deren  Spitze 
Suggestion  und  Autosuggestion  schreiten.  Aber  diese  Vorkommnisse 
beanspruchen  begreiflicherweise  auch  einen  hohen  forensischen  Wert 
und  deshalb  ist  eine  Materialsammlung  durchaus  nötig.  Kasuistische 
Beiträge  hierzu  liest  man  nicht  selten  in  den  Zeitungsnotizen.  Erst 
kürzlich  hat  Hellwig  in  diesem  Archiv  (Bd.  XXVII,  S.  352  ff.)  über 
^einige  merkwürdige  Fälle  von  Irrtum  über  die  Identität  von  Sachen 
oder  Personen^  berichtet  und  verschiedene  sachgemäße  Randglossen 
darangeknüpft.  Ich  selbst  habe  gleichfalls  in  verschiedenen  „kleinen 
Mitteilungen^  ähnliche  Tatsachen  besprochen^). 

Eine  gleiche  Frage  kann  natürlich  auch  bez.  der  Kinder  ent- 
stehen, und  schon  allein  das  große  Kapitel  der  Kindesunterschiebungen, 
die  namentlich  in  früheren  Zeiten  eine  so  bedeutende  Bolle  spielten,  ist 
hierfür  Beweis  genug.  Aber  auch  in  neuerer  Zeit  hört  man  immer 
noch  zeitweis  davon.  So  hat  Kirsten  vor  Kurzem  einen  interessan- 
ten Fall  zweifacher  Kindesunterschiebung  veröffentlicht  2),  ebenso 
Reiche  1^),  und  in  aller  Erinnerung  ist  noch  der  Fall  der  Gräfin 
Kwilecka,  der  jetzt  sogar  wieder  aufzuleben  scheint.   Die  Psychologie 


1)  Bd.  Vir,  p.  339.    Bd.  XXII,  p.  270.    Bd.  XXVI,  p.  360. 

2)  Das  Archiv,  XVI,  324. 

3)  R  e  i  c  h  c  1 :  Ein  eigenartiger  Fall  von  Kindesunterschiebang.  Dieses  Archiv 
XXVI,  351. 


Identitätsnachweis  an  Kindern.  347 

solcher  Fälle  von  Unterschiebungen  wie  auch  von  Kindesdiebstählen 
ohne  Unterschiebungen  ist  eine  äußerst  interessante  und  komplizierte, 
kommt  aber  für  uns  hier  nicht  in  Betracht  Es  mag  genügen  darauf 
hinzuweisen,  daß  bei  Unterschiebungen  meist  dynastische  oder  reine 
Erbfragen  eine  Hauptrolle  spielten,  die  bloßen  Kindesdiebstähle  heute 
bei  uns  sehr  selten  geworden  sind  und  die  Zigeuner  gern  solcher  be- 
zichtigt werden,  hier  und  da  auch  wandernde  Artisten. 

Aber  auch  sonst  kann  an  Lebende  einmal  die  Frage  der  Iden- 
tifizierung herantreten.  Hierfür  nur  ein  Beispiel  aus  meiner  eigenen 
Erfahrung.  Als  ich  vor  vielen  Jahren  als  Volontärarzt  an  einer  groß- 
städtischen Entbindungsanstalt  fungierte,  brach  am  Tage  unter  dem 
Dachstuhle  Feuer  aus,  welches  das  ganze  Dach  zerstörte.  Gerade  darunter, 
im  2«  Stockwerke,  lagen  in  verschiedenen  Sälen  ca.  30  Wöchnerinnen ' 
mit  ihren  Neugeborenen.  Es  war  außer  mir  noch  ein  Arzt  anwesend 
und  unsere  erste  Sorge  —  bevor  noch  Rettungsmannschaften  kamen, 
um  die  Wöchnerinnen  fortzuschaffen  —  bestand  darin,  die  Kleinen 
fest  an  die  Mütter  zu  drücken,  damit  sie  in  dem  Trubel  nicht  von 
einander  getrennt.würden  und  so  vielleicht  Kinder  zu  falschen  Müttern 
kämen.  Denn  wer  viel  mit  Neugeborenen  zu  tun  hatte,  wird  bald 
bemerken,  daß  eine  Verwechselung  hier  sehr  leicht  möglich 
ist  und  das  aus  mehreren  Gründen.  Zunächst  sehen  sich  sehr  viele 
außerordentlich  ähnlich  und  die  Familienähnlichkeit  tritt  gewöhnlich  erst 
später  hervor.  Nur  in  einigen  wenigen  Fällen  sah  ich  eine  frappante 
Ähnlichkeit  zwischen  Mutter  und  Kind.  Selbst  prägnante  Zeichen, 
wie  Adlernase,  mißgestaltete  Ohren,  besonders  geformter  Kopf  etc.sind 
doch  recht  seltene  Vorkommnisse«  Das  Gesicht  der  meisten  ist  noch 
verschwommen,  die  Teile  in  ihrer  endgültigen  Gestalt  noch  nicht 
fixiert,  nur  angedeutet  Dazu  kommt  ein  zweites  Moment  Mütter 
der  niederen  Volksklassen,  besonders  wenn  sie,  wie  in  den  Gebär- 
anstalten gewöhnlich,  unehelich  geschwängert  sind,  sehen  sich  in  der 
ersten  Zeit  ihre  Kinder  nicht  so  genau  auf  feinere  Details  hin  an, 
daß  nicht  in  den  ersten  Tagen  eine  Verwechselung  möglich  wäre. 
Um  so  weniger,  als  viele  dem  kleinen  Wesen  grollen  und  es  vielleicht 
anfangs  fast  abweisen.  Dann  ist  die  Größe  und  der  Ernährungs- 
zustand der  meisten  ein  ähnlicher  und  etwa  Unterscheidungen  bezüg- 
lich der  Kleidung  gibt  es  in  diesem  Alter  noch  wenige,  am  wenigsten 
bei  Armen  und  in  Anstalten. 

Je  mehr  das  Kind  heranwächst,  um  so  größer  wird  natürlich 
die  Ähnlichkeit  mit  [einem  der  beiden  Eltern,  doch  tritt  meist  Ver- 
mischung gewisser  Körperzeichen  der  letzteren  ein,  so  daß  dann,  wie 
es  so  oft  geschieht,  der  eine  Beobachter  Ähnlichkeit  mit  dem  Vater, 


348  XIX.  NicKE 

der  andere  mit  der  Matter  findet  Wir  sind  hier  leider  mehr  oder 
weniger  auf  das  subjektive  Ermessen  des  Einzelnen  angewiesen  und 
dies  trügt  bekanntlich  nur  zu  häufig.  Bloß  bei  ganz  prägnanten 
Ähnlichkeiten  stimmen  alle  überein,  damit  ist  aber  streng  genommen 
immer  noch  kein  Beweis  für  Filiation  gegeben.  Diese  Ähnlichkeit 
spielt  in  der  Literatur  und  Kunst  ihre  Bolle;  sie  wird  für  empfind- 
same Seelen  ausgespielt  oder  es  wird  gar  darauf  ein  ganzer  Plan 
gebaut  So  entdecken  in  dem  großartigen  Bomane  Zola's:  TArgent  — 
wahrscheinlich  der  gewaltigsten  Epopöe,  die  es  bez.  des  Schadens 
und  Nutzens  des  Geldes  gibt  —  der  scheußliche  Geldjude  Blum  und 
die  Megäre  Mächain  einen  Jungen,  der  dem  Helden  des  Romans, 
Saccard,  wie  aus  den  Augen  geschnitten  ist.  Damit  wollen  sie  einen 
Erpressungsversuch  in  Szene  setzen.  Man  zeigt  dem  total  verwahrlosten, 
moralisch  verblödeten  >)  15  jährigen  Jungen  der  Freundin  jenes  Saccard, 
der  wackeren  Madame  Caroline.  Und  es  heißt  dann  (p.  161):  „..sie 
blieb  mit  offenem  Munde  stehen,  ganz  erstaunt  über  seine  außerordent- 
liehe  Ähnlichkeit  mit  Saccard.  Alle  ihre  Zweifel  schwanden,  die 
Vaterschaft  war  unzweifelhaft.*' 

Zola  und  die  meisten  anderen  werden  also  nicht  den  pessimistischen 
Ansichten  Toulouse's^)  huldigen,  der  in  einem  mit  „la  recherche  de 
la  patemit6''  überschriebenen  Kapitel  (S.  309  f )  unter  anderem  folgendes 
schreibt:  „Ich  werde  vielleicht  das  Gefühl  so  mancher  verletzen,  wenn  ich 
erkläre,  daß  die  Vaterschaft  vor  einer  vernünftigen  Kritik  nur  eine  ein- 
fache soziale  Fiktion  ist,  trotz  ihrer  großartigen  glücklichen  Erfolge 
und  obgleich  sie  die  Quelle  der  reinsten  Handlungen  der  altruistischen 
Moral  ist  Dem  etwas  trockenen  Auge  des  Biologen  ist  sie^  in  den 
gewöhnlichen  Bedingungen  der  Ehe,  nur  die  reine  Hypothese,  denn 
nichts  beweist  die  wirkliche  Filiation  bei  diesem  Zustande  freier 
Handlungsfähigkeit  (d'activitö  libre),  in  dem  sich  die  Frau  befindet  und 
immer  mehr  befinden  wird.  .  .  .  Eine  Großmutter  .  .  .  drückte  dieses 
physiologische  Problem  durch  eine  praktische  Formel  aus;  sie  nannte  die 
Nachkommenschaft  ihrer  Tochter  „die  Kinder  ihrer  Tochter",  während 
der  Nachwuchs  ihres  Sohnes  für  sie  nur  „die  Kinder  ihrer  Schwieger- 


1)  Zola  zeichnet  hier  vortrefflich  den  tief  Degenerierten,  friihzeitig  Ent- 
wickelten, der  trotzdem  er  zuletzt  aus  seinem  Schmutze  entfernt  und  in  ein  Er- 
ziehungsheim gebracht  wird,  in  seiner  Roheit  und  Ungebundenheit  verharrt,  ent- 
flicht und  ein  junges  Mädchen  notzuchtigt.  Zola  weist  auf  die  erblichen 
Verhältnisse  hin,  die  allerdings  zu  denken  geben.  Saccard  hatte  s.  Z.  auf  einer 
Treppe  ein  junges  skrophulöses  Geschöpf  genotzüchtigt  und  der  Junge  war  die 
traurige  Frucht  dieses  Aktes  gewesen. 

2)  Toulouse.    Les  le^ons  de  la  vie.    Paris,  librairie  universelle  1906. 


Identitätsnachweis  an  Kindern.  349 

tochter"  waren  .  .  .  Die  gesetzliche  Fiktion  der  Vaterschaft  reali- 
siert sich  im  Verhältnis  der  Solidität  der  Bande,  welche  die  Gemahlin 
bindet.  Es  ist  klar,  daß  die  Institution  der  Ehe  .  .  .  eine  hohe 
Schranke  für  die  Emanzipation  der  Frau  nach  dieser  Richtung  hin 
entgegensetzt  .  .  es  ist  nicht  zweifelhaft,  daß  um  die  Filiation  des 
Hauptes  der  Familie  zu  sichern,  der  Harem  das  wirksamste  Mittel  ist. 
unsere  Gesellschaft  gewährt  dagegen  die  schwächsten  Garantieen  und 
zwar  in  gleichem  Maße,  als  die  Fran  sieh  mehr  und  mehr  von  allen 
Fesseln  frei  macht,  die  ihre  sexuelle  Tätigkeit  zügelten.  Folglich  bestrebt 
sich  die  Vaterschaft  immer  mehr  bei  vielen  Gelegenheiten  nur  eine 
soziale  Konvenienz  zu  sein,  die  durch  das  Gesetz  konsakriert  ist  .  .  . 
Das  Vorurteil  des  Volkes  ffir  die  „Stimme  des  Bluts^,  die  Unbekannten 
eine  heimliche  Elternschaft  offenbaren  würde,  ist  gänzlich  illusorisch . . . 
Das  väterliche  Gefühl  ist  nur  eine  soziale  Bildung.  Es  beruht  nicht 
auf  einer  physiologischen  Basis  ...  Es  entwickelt  sich  durch  Er- 
ziehung .  .  .^  Sicher  hat  Toulouse  in  vielem  Recht  In  so  manchen 
Ehen  mag  die  Vaterschaft  in  der  Tat  nur  eine  Fiktion  sein  und  zwar 
nicht  bloß  in  den  unteren  Schichten.  Auch  ich  sehe  in  der  Ehe 
keinen  absoluten  Beweis  dafür,  daß  ein  bestimmtes  Kind 
wirklich  von  dem  legalen  Vater  abstammt  Nur  mög- 
liche, wahrscheinliche,  sehr  wahrscheinliche  Gründe 
mögen  wir  dafür  anführen.  Mehr  sicher  nicht,  wenn  wir  streng 
kritisch  verfahren  I  Es  wäre  dies  freilich  ein  trostloser  Ausblick,  wenn  wir 
hier  nicht,  wie  in  so  vielen  Dingen  des  Lebens,  ein  gewisses  Vertrauen 
und  einen  gewissen  Optimismus  mitbringen  müßten.  Eine  gute, 
glückliche  Ehe  wird  doch  immer  noch  die  besten  Garantieen  darbieten, 
besser  als  selbst  die  frappanteste  Familienähnlichkeit,  da 
letztere  doch  auch  einmal  nur  der  reinste  Zufall  sein 
könnte.  Jedenfalls  erscheint  es  nötig,  obige  Ansichten  von  Toulouse 
speziell  zji  unterstreichen,  da  die  Laien  nicht  gewohnt  sind,  hier  mit 
dem  „etwas  trockenen  Auge  des  Biologen '^  die  Dinge  sich  anzusehen. 
Ja,  man  könnte  sogar  noch  einen  Schritt  weiter  als  Toulouse  gehen 
und  sagen:  selbst  für  die  Frau  kann  die  Filiation  unsicher  sein.  Ich 
denke  nämlich  vor  allem  an  jene  Fälle,  wo  während  der  Entbindung 
BewußÜosigkeit  eintrat  oder  die  Kreißende  chloroformiert  werden 
mußte  und  ihr  dann  ein  fremdes  Kind  unterschoben  ward,  das  sie 
als  das  ihrige  ansieht  Viel  öfter  allerdings  kommt  es  vor,  daß  die 
Mutter  selbst  nicht  weiß,  wer  der  Vater  des  Kindes  ist  Abgesehen 
von  Fällen,  wo  sie  ein  Unbekannter  genotzüchtigt  hatte,  kommt  es 
bekanntlich  nicht  selten  vor,  daß  sie  mit  mehreren  Männern  verkehrte 
und  dann  unter  Umständen  nicht  wissen  kann,  von  wem  sie  empfangen 


360  XIX.  Näcke 

hat^)    Hier  wäre  es  besonders  wichtig^  die  Paternität  festznstellen, 
schon  wegen  der  Alimentationskosten. 

Bisher  handelte  es  sich  nur  um  Lebende.  Aber  auch  von  Toten 
wäre  ein  Identitätsnachweis  oft  sehr  nötige  schon  um  bei  eventaellen 
Verbrechen  den  Verdacht  und  die  Becherchen  in  die  richtigen  Bahnen 
zu  leiten. 

Jedem  wird  es  hierbei  wohl  zuerst  einfallen.^  daß  ein  solcher 
Nachweis  möglich  wäre,  wenn  schon  bei  allen  Neugeborenen  die 
Bertillonage,  vor  allem  aber  die  Daktyloskopie  in  Anwendung  käme. 
Freilich  wird  man  sich  sofort  sagen  müssen,  daß  1.  erstere  praktisch 
unmöglich  durchführbar  ist  —  schon  die  so  wünschenswerte  Ber- 
tillonage  etc.  ganzer  Klassen,  z.  B.  der  Soldaten,  mußte  bisher  aus 
technischen  und  geldlichen  Gründen  unterbleiben.  —  2.  daß  vor  allem 
die  Bertillonage  wenig  Zweck  hätte,  da  der  Körper  ja  noch  bis  in 
die  zwanziger  Jahre  hinein  wächst  Man  müßte  die  Messungen  also 
mindestens  mehrmals  in  dieser  Zeitspanne  wiederholen,  was  nicht  gut 
möglich  ist  Die  Daktyloskopie  allein  käme  also  in  Frage,  da  sie  leicht 
und  billig  durchgeführt  werden  kann  und  schon  am  Neugeborenen  fast 
unzerstörbare  Zeichen  liefert,  die  sich  später  nicht  in  ihrer  Konfigu- 
ration, wenn  auch  in  den  Größenverhältnissen,  ändern.  2)  Soweit  sind 
wir  aber  noch  lange  nicht  und  es  kommt  darauf  an  zu  wissen,  ob 
wir  dies  anderweitig  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ersetzen  könnten. 
Somit  kommen  wir  zu  einigen  anthropologischen  Erwägungen,  die 
sehr  wohl  einmal  nützlich  werden  könnten,  vorläufig  freilich  mehr 
Probleme  aufstellen  als  Lösungen  geben. 

Das  Haar  spielt  bei  Neugeborenen  kaum  eine  Rolle,  da  es  noch 
zu  spärlich  vorhanden  ist  und  seine  Farbe  später  häufig  genug  ändert. 
Wichtiger  erscheint  die  Kopfform.  Es  ist  sicher,  daß  manche  Neu- 
geborene ganz  ausgesprochene  Brachy-  oder  Dolichocephalen  sind, 
doch  waren  die  meisten,  die  ich  selbst  sah,  mehr  Mesocephalen.  An- 
fängliche Kurzköpfe  (mehr  noch  Mesocephalen)  können  aber  später, 
wie  ich  glaube,  aucli  zu  Langköpfen  auswachsen,  während  das  Um- 
gekehrte kaum  je  eintreten  dürfte.  Schon  bloß  die  Lagerung  im  1.  Jahre 
vermag  den  Kopfindex  zu  ändern,  allerdings  weiß  man  nicht,  ob  auf 


1)  Öfter  freilich  kommt  es  vor,  daß  das  Mädchen  etc.  von  dem  alimen- 
tationspflichtigen Manne  beschuldigt  wird,  mit  Mehreren  verkehrt  zu  haben. 

2)  Schwarz  (siehe  später)  macht  darauf  aufmerksam,  daß  nnter  umständen 
Identifizierung  aus  dem  Gebiß  besser  ist,  als  die  Daktyloskopie,  z.  B.  bei  Brand- 
nnd  Wasserleichen.  Bas  ist  sicher,  aber  leider  erscheint  eine  mehr  oder  weniger 
ausgedehnte  Untersuchung  und  Registrierung  des  Gebisses  noch  viel  weniger 
durchführbar  als  jene  und  käme  bloß  eventuell  in  Frage. 


Identitätsnachweis  an  Kindern.  351 

immer  oder  nur  anf  einige  Zeit  Aber  selbst  ausgesprochener  Enrz- 
oder  Langkopf  —  beides  sehr  vererbliche  Momente!  —  besagen 
wenig,  da  sie  zu  sehr  ubiqnitär  sind.  Man  könnte  nur  sagen,  daß 
ein  ganz  exquisiter  Langkopf  bei  Neugeborenen  selten  genug  ist, 
so  daß  wenn  auch  ein  Elter  ihn  aufweist,  besonders  gleichzeitig  in 
den  andern  Kindern,  wohl  eine  Möglichkeit  der  Filiation  dann  ge- 
geben ist  Es  haben  nun  aber  sehr  häufig  Vater  und  Mutter  verschiedene 
Schädelmaße  und  so  erscheint  eine  Mischung  derselben  leicht  möglich, 
obgleich  manche  Anthropologen  es  bezweifeln.  Da  eine  Mischung 
aller  Eltemteile  denkbar  ist,  sehe  ich  nämlich  nicht  ein,  warum  hier 
der  Kopfindex  eine  Ausnahme  machen  sollte.  Zur  Erhärtung  des 
Umstandes  mußten  freilich  erst  noch  vergleichende  Untersuchungen 
einsetzen,  welche  längere  Zeit  durchgeführt  würden,  und  zwar  an 
den  Köpfen  der  Kinder  und  ihrer  beiden  Eltern.  Das  ist  wohl  bisher 
noch  nicht  geschehen.  Oder  aber,  was  s.  Z.  der  leider  so  früh  ver- 
storbene ausgezeichnete  Anthropolog  Mies  vorschlug:  man  unter- 
suche die  Schädel  in  Grüften,  wo  mehrere  Oeschlechter  bei- 
sammen sind  und  die  einzelnen  bezüglich  des  Geschlechts  und  Alters 
bekannt  sind. 

Genau  das  Gleiche  bezieht  sich  auf  die  Augen-  und  Haarfarbe, 
die  wohl  sicher  auch  Mischfarben  aufweisen  können.  Ich  halte  also 
den  blonden  und  brünetten  Typus  für  nicht  so  unabänderlich  wie  es 
manche  wollen.  Mit  auffälligen  Kopfformen:  Turm-,  Spitzkopf,  Mikro-, 
Makro-,  Hydrocephalus  etc.  ist  es  weiter  eine  sehr  prekäre  Sache. 
Die  meisten  sind  rein  pathologische  Bildungen,  die  nur  selten  in 
gleicher  Art  sich  vererben ;  auch  dann  ist  es  noch  fraglich,  ob  es  ein 
wirklicher  Vererbungsvorgang  ist  Ziemlich  hartnäckig  vererbt  sich 
dagegen  der  Mongolen-  oder  Mongoloidentypus,  der  auch  bei  uns 
vorkommt  und  vielleicht  von  früherer  Vermischung  mit  Hunnen-  oder 
Slavenblut  etc.  herstammt,  wenn  nicht  eine  bloße  pathologische 
Bildung  vorliegt 

Vom  Gesicht  wären  spezieller  noch  anzuführen  und  zu  unter- 
suchen :  die  Nase,  das  Mundorgan  und  die  Ohren.  Auffallende  Nasen- 
formen, wie  die  aufgebogene  Nase,  die  Adlernase  etc.  erben  sich  gern 
fort  —  auch  außerhalb  von  Basseneigentümlichkeiten  — ,  aber  sie 
sind  doch  noch  zu  häufig  und  die  Vererbungen  zu  unregelmäßig,  als 
daß  man  viel  darauf  geben  könnte.  Hier  kommen  Mischungen  nur 
zu  oft  vor  und  häufig  verändert  sich  die  Nasenform  später  nicht  un- 
beträchtlich. Eine  „Stubsnase"  z.  B.  kann  verschwinden,  eine  kleine 
Nase  auswachsen,  spitz  werden  etc. 

Wichtiger  erscheint  mir  das  Mundorgan  und  hier  besonders  der 


352  XIX.  Nacke 

harte  Gaumen  und  die  Zähne.  Schwarz  0  behauptet,  daß  das  Erb- 
lichkeitsgesetz kaum  deutlicher  zutage  träte  als  in  den  knöchernen 
und  weichen  Mundgebilden,  besonders  in  der  Gaumenschleimhaut  mit 
den  individuell  vererbten  wulstähnlichen  „rugae*^.  Ob  und  inwieweit 
dies  richtig  ist,  können  nur  weitere  Nachprüfungen  erweisen.  Ich 
selbst  habe  den  Eindruck  empfangen,  als  ob  namentlich  die  Gestalt 
der  Zahnbögen  sich  leicht  vererbt  Die  Zähne  selbst  erscheinen  ziem- 
lich irrelevant,  wichtiger  schon  Form  und  Größe  des  harten  Gaumens. 
Was  mich  aber  stets  frappierte,  war  der  Umstand,  daß  die  sog.  Pro- 
genie, d.  h.  das  Vorragen  des  Unterkiefers  über  den  oberen  me 
starke  Erblichkeitstendenz  zeigt.  Man  denke  z.  B.  nur  an  die  spa- 
nischen Habsburger.  Ich  sah  bisweilen  ganze  „Progeneenfamilien''. 
Weniger  häufig  ist,  wie  ich  glaube,  das  umgekehrte  Verhältnis:  die 
Prognathie,  d.  h.  also  das  starke  Vorragen  und  Schiefstehen  der 
oberen  Schneidezähne  mit  ihrem  Zahnbogen.  Die  Progenie  ist  außer- 
dem eine  ziemlich  seltene  Erscheinung,  wenigstens  bei  uns,  doch  sah 
ich  auch,  soweit  ich  mich  erinnere,  Leute  mit  dieser  Anomalie  oder 
mit  „geradem  Bisse^^')  (d.  h.  Aufeinandertreffen  der  Vorderzähne),  ohne 
daß  es  sonst  in  der  Familie  zu  beobachten  war. 

Endlich  wäre  am  Gesicht  noch  das  äußere  Ohr  zu  betrachten. 
Es  ist  sicherlich  das  variabelste  Organ  und  nicht  zwei  Ohren  gleichen 
sich  völlig.  Dagegen  fand  ich  bei  meinen  zahlreichen  Untersuchungen 
an  demselben  Individuum  beide  Ohren  meist  gleichgestaltet,  oft  bis 
in  die  feinsten  Details.  Bezüglich  der  Vererbung  gleicher  Ohrformen 
kann  ich  persönlich  nichts  aussagen,  ich  finde  aber  bei  Imhofer') 
(p.  160)  daß  „die  Übertragung  besonders  hervorstechender  Formano- 
malien der  Ohrmuschel  von  Eltern  auf  Kinder  nicht  abzuleugnen^  ist 
Er  gibt  einige  Beispiele  hierfür  an  und  zieht  den  Schluß,  daß  „eine 
Ähnlichkeit  des  Ohres  zwischen  Vater  und  Kind  in  vielen  Fällen, 
wo  die  Ehelichkeit  der  Geburt  angezweifelt  wird,  im  positiven  Sinne 


1)  Cbcr  die  Beziehungen  der  wissenschaftlichen  Zabnheiiknnde  zur  Kriminal- 
anthropologie 8.  ds.  Archiv  Bd.  XXV,  p.  339.  Der  Aufsatz  ist  geist-  und 
gedankenreich,  aber  ganz  einseitig  und  vielfach  unrichtii^.  So  namentlich,  wenn 
Verf.  behauptet,  daß  man  aus  dem  Gebiß  auf  seelische  Eigentümlichkeiten 
schließen  könne,  daß  zwischen  Intelligenz  und  Gehimgewicht  gar  keine  Be- 
ziehungen beständen  etc. 

2)  Ich  nannte  diese  Abweichung  „halbe  Progenie",  der  ^ganzen'',  also  dem 
Vorragen  der  unteren  Vorderzahne  vor  den  oberen  entgegengesetzt  Siehe: 
Näcke,  Vergleichende  Untersuchungen  über  einige  weniger  beobachtete  Ano- 
malien am  Kopfe.    Archiv  für  Psych,  etc.    Bd.  28. 

3)  Iinhofer:  Bedeutung  der  Ohrmuschel  für  die  Feststellung  der  Identität 
Dieses  Archiv  XXVI,  150. 


Identitätsnachweis  an  Kindern.  353 

zu   verwerten "  sei.    Letzteren  Satz  möchte  ich  freilich  positiv 

nicht  so  hinstellen,  sondern  die  gleiche  Ohrform  eventuell  bloß  als  ein 
konkurrierendes  Unterstützungsmittel  der  Identifikation  gelten  lassen 
und  auch  nur  dann,  wenn  eine  Reihe  von  Details  die  gleichen  sind, 
eben  weil  das  Ohr  so  variabel  ist  und  daher  der  Zufall  um  so  eher 
eine  Rolle  spielen  kann.  Auch  wissen  wir  nicht  sicher^  ob  das  Ohr 
des  Neugeborenen  in  den  feineren  Details  sich  später  ändern  kann 
oder  nicht.  In  den  gröberen  sicher,  ich  glaube  jedoch  auch  öfters 
in  den  feineren. 

Von* den  übrigen  etwaigen  Merkmalen  am  Kopf  und  dem  Körper, 
wie  Warzen,  Feuerroale  etc.  kann  wohl  einmal  Vererbung  stattfinden, 
aber  diese  Dinge  sind  zu  alltäglich,  als  daB  sie  auffallen  müßten. 
Noch  mehr  gilt  dies  vom  Schielen,  einer  ganz  eminenten  Manifestation 
der  Vererbung.  Selten  und  außerordentlich  erblich  und  familiär  ist 
die  Polydaktylie,  die  Mehrfingerigkeit,  daher  ein  wichtiges  Argument, 
besonders  wenn  mehrfach  in  der  Familie  vertreten.  Weniger  erblich 
sind  gewisse  Abnormitäten  der  äußeren  Geschlechtsteile,  wie  Hypo- 
spadie,  Kryptorchie  etc.  Betrachten  wir  den  ganzen  Körper,  so  ist 
Langwuchs  viel  häufiger  und  darum  weniger  charakteristisch  als 
echter  Zwergwuchs.  Letzterer  ist  bei  uns  so  ungeheuer  selten,  dabei 
meist  erblich,  daß  dies  einen  wichtigen  Fingerzeig  abgeben  könnte. 
Freilich  gibt  es  rein  pathologische  und  nicht  vererbte  Formen  des- 
selben oder  es  handelt  sich  um  einen  Fall  von  Schein-Zwergwuchs, 
Pseudo-Nanismus.  Wir  haben  jetzt  z.  B.  in  Hubertusburg  einen  zirka 
40  jährigen  Zwerg,  dessen  Schädel  (Wasserkopf)  und  Rumpf  die  eines 
Erwachsenen  sind,  während  die  Extremitäten  zurück  blieben.  Also 
liegt  hier  ein  Fall  von  Mikromelie,  d.  h.  von  Bestehen  kleingebliebener 
Extremitäten  vor,  verursacht  durch  einen  rhachitischen  Prozeß,  wie 
genugsam  der  Wasserkopf,  die  Zähne  und  die  verkrümmten  Glied- 
maßen des  Patienten  beweisen.  Freilich  wird  Zwergwuchs  beim 
Neugeborenen  und  beim  Kind  noch  wenig  hervortreten,  sondern  erst 
später. 

Gerade  daß  wir  es  bloß  mit  eben  Geborenen 
und  höchstens  Kindern  zu  tun  haben,  erschwert  ganz  be- 
deutend die  Identifikationsmöglichkeit,  da  bei  Ersteren, 
selbst  bei  Annahme  einer  möglichst  großen  Erblichkeit,  die  oben  ge- 
schilderten Momente  noch  gering  ausgeprägt  sind.  Von  der  Kopf- 
formation sahen  wir  dies  schon,  aber  auch  die  Progenie  dürfte  kaum 
hier  hervortreten;  ich  selbst  sah  keinen  hierher  gehörigen  Fall« 
Bezüglich  des  Ohrs  ward  schon  oben  Reserve  eingelegt  Viel 
sicherer  als   alle  die  besprochenen  Momente  erscheinen 

ArehiT  ffir  Kriminalanthropoiogie.    28.  Bd.  23 


354  XIX.  Näcke. 

dagegen  die  Fingerabdräcke^  die  ganz  individuell,  stabil 
und  80  gut  wie  unzerstörbar  sind.  Es  käme  nur  darauf 
an,  den  hohen  oder  geringen  Vererbungsprozentsatz  fest- 
zustellen, was,  vielleicht  außer  F6rä  (wenn  ich  nicht  irre),  niemand 
bisher  unternommen  hat. 

Noch  unendlich  schwieriger  liegen  natürlich  die 
Verhältnisse,  wo  gar  etwa  eine  Frühgeburt  in  Frage 
kommt,  und  das  könnte  wohl  einmal  geschehen.  Die  Fragestellung 
wird  aber  weiter  noch  darnach  verschieden  sein,  je  nachdem  es  sich 
um  lebende  oder  tote  Eltern  oder  Kinder  handelt,  und  je  nachdem  die 
Mutter  oder  der  Vater  das  Kind  genau  kennen  oder  nicht  Beschreibt 
z.  B.  Vater  oder  Mutter  einen  bestimmteren  naevus  (Feuermal)  von 
ganz  bestimmter  Größe  und  Form,  an  ganz  bestimmter  Stelle  sitzend^ 
und  zwar  bevor  sie  noch  das  inkriminierte  Kind  sahen,  so  ist  wohl 
jeder  Zufall  ausgeschlossen,  besonders  wenn  etwa  noch  weitere  an- 
gegebene Eigentümlichkeiten  stimmen. 

Im  allgemeinen  wird  eine  Identifikation  am  lebenden  Kinde 
immer  leichter  sein  als  am  toten.  Und  dort  handelt  es  sich  meist 
um  Ansprüche  der  Legitimität  in  Unterschiebungs-  oder  Alimentationa- 
Prozessen  oder  um  Anerkennung  der  Echtheit  eines  Kindes. 

Versuche  solcher  Bekonstruktionen  sind  wohl  schon  gemacht 
worden,  zuletzt  in  interessanter  Weise  in  dem  berühmten  Prozesse 
Kwilecka  durch  Professor  Straß  mann')  in  Berlin,  in  Gemeinschaft 
mit  einem  anderen  Arzte,  einem  Maler  und  einem  Beamten  des 
anthropometrischen  Meßamtes  in  Berlin.  Den  Maler  hatte  man  dazu 
genommen,  um  den  Eindruck  der  allgemeinen  Ähnlichkeit  zwischen 
der  Mutter  und  dem  angeblichen  Kinde  festzustellen.  Diesen  Weg 
möchte  ich  als  zu  sehr  subjektiv  entschieden  ablehnen.  Als  wichtig 
bezeichneten  die  Untersucher,  daß  die  Ohren  der  beiden  in  Frage 
kommenden  Knaben  (des  fraglichen  6jährigen  Sohnes  der  Gräfin 
und  des  7  V2 jährigen  der  Bahnwärtersfrau  Meyer)  verschieden, 
während  die  des  fraglichen  Grafensohnes  denen  der  Gräfin  ähnlich 
waren  und  sich  dort,  wie  auch  bei  der  ganzen  gräflichen  Familie 
ein  deutliches  Darwinsches  Knötchen  vorfand.  Das  ist  freilich  herz- 
lich wenig  und  das  so  überaus  häufige  Darwinsche  Knötchen  er- 
scheint absolut  belanglos!  Ebenso  besagt  es  nicht  viel,  daß  die  zwei 
fraglichen  Knaben  Kryptorchie  darboten,  der  Graf  aber  nicht  Daß 
die   Nase   des  Knaben  keine  Familienähnlichkeit  zeigte,  will  wenig 


1)   Straßmann:   La  „Rassomiglianza  fisica"  in  tribnoale.    Archivio  di 
Pßichiatria  etc.    1904,  p.  109). 


IdentitätBiuu^weis  aa  Kindern.  365 

bedeuten,  da  sie  nach  dem  6.  Jahre,  wie  es  scheint,  sich  bisweilen 
nidit  unwesentlich  nodb  ändern  kann.  Mit  Becht  konnte  die  Kom- 
mission nnr  eine  WahrscheinlichkeitsdiagnoBe  stellen  und  der  zu- 
gezogene Polizei-Inspektor  Elatt  berichtete  vor  Gericht  von  vielen 
F&Ilen,  wo  eine  frappante  äußere  Ähnlichkeit  trog. 

Zum  Schlüsse  unserer  Arbeit  stellen  wir  also  folgende  Sätze  auf: 

1.  Ski  Identifikationszwecken  an  Neugeborenen  oder 
Kindern  ist  der  bloße  Eindruck  einer  äußeren  Ähnlich- 
keit mit  dem  einen  oder  anderen  Teile  der  Eltern  zu  verwerfen. 
Selbst  der  beste  Künstler  kann  sich  hier  irren! 

2.  Geben  Vater  und  Mutter  in  Abwesenheit  des  Kindes  ein  ganz 
bestimmtes  Zeichen,  noch  besser  freilich  mehrere,  als  ftlr  den  Körper 
desselben  charakteristisch  an,  so  ist  Zufall  fast  ausgeschlossen. 

3.  Absolut  sicher  wären  wohl  Übereinstimmungen 
der  daktyloskopischen  Bilder  an  Kind  und  Eltern  und 
zwar  solcher  an  allen  Fingern  womöglich,  wenn  die 
konstante  Vererbung  derselben  erst  einmal  erwiesen  ist. 
Um  das  festzustellen,  müßten  Vater,  Mutter  und  Kind  daraufhin  unter- 
sucht werden,  was  freilich  nicht  immer  möglich  ist  Wären  bei  der 
Geburt  und  etwa  noch  bei  der  Konfirmation  im  Geburts-  und  Kon- 
firmations-Begister  zugleich  die  daktyloskopischen  Abdrücke  eines 
Jeden  beigegeben,  dann  würden  Streitigkeiten  kaum  mehr  vorkommen. 

4.  Die  Bertillonage  ist  hier  ganz  trügerisch. 

5.  Kopfform,  Augen-,  Haarfarbe  sind  bei  ganz  Kleinen  sehr  un- 
sichere Zeichen  und  selbst  bei  Erwachsenen  trügerisch. 

6.  Als  noch  die  besten  Vergleichsobjekte  scheinen  mir 
der  harte  Gaumen,  die  Form  der  Zahnbögen,  die  feinere 
Konfiguration  der  Ohrmuschel,  die  Progenie,  Polydak« 
tylie  und  der  Zwergwuchs  zu  sein,  doch  müßte  vor- 
her noch  der  Wahrscheinlichkeitsgrad  der  Vererblich- 
keit  festgestellt  werden,  was  sicher  noch  nicht  oder  nicht 
hinreichend  geschehen  ist 

7.  Die  Wahrscheinlichkeit  einer  sicheren  Diagnose 
wird  sich  mit  einer  Mehrzahl  sich  gleichender  Objekte 
steigern.  Bei  Daktyloskopie  —  wenn  die  Erblichkeit  hier  erst 
einmal  feststeht,  ist  dagegen  jede  weitere  Untersuchung  überflüssig. 

8.  Bei  anderen  selteneren  Zeichen,  wie  Feuermale,  Warzen, 
Abnormitäten  der  Genitalien  kommt  die  Konkurrenz  der  Mo- 
mente in  Frage. 

9.  Wir  sehen  also,  daß  sich  für  unsere  Frage  alles  auf 
die  größere  oder  geringere  Vererblichkeit  gewisser  kör- 

23* 


356  XIX.  NicKE. 

perlichen  Abweichungen  zuspitzt.  Wer  diese  gelöst  hat,  be- 
sitzt den  Schlüssel  zur  definitiven  Identifikation  von  Kindern;  als 
einfachste  Lösung  würde  dann  für  die  meisten  Fälle  die 
Daktyloskopie  zu  gelten  haben.  Und  selbst  dann  ist 
nicht  zu  vergessen,  daß  positive  Ergebnisse  wohl  fast 
beweisend  sind,  negative  dagegen  nicht,  da  es  bei  der  großen 
Mischungsmöglichkeit  der  elterlichen  und  großelterlichen  Anteile  denk- 
bar wäre,  daß  daraus  ein  Wesen  entsteht,  welches  äußerlich,  also 
auch  daktyloskopisch,  absolut  keine  Ähnlichkeit  mit  Vater  oder  Mutter 
hätte  und  doch  das  Kind  sein  könnte.  Unsicher  sind  endlich 
auch  die  Resultate,  wenn  das  Kind  ebensoviel  vom  Vater  als  von 
der  Mutter  geerbt  hat 

Bis  dahin  wird  noch  viel  Wasser  ins  Meer  fließen,  aber  man 
wird  allmählich  dem  Problem  schon  näher  kommen  und  zugleich 
der  ganzen  Lehre  von  der  Vererbung  einen  wesentlichen  Dienst  leisten. 
Nicht  am  wenigsten  würde  man  so  z.  B.  auch  der  interessanten  Frage 
näher  treten,  ob  Organteile  und  welche  davon  mehr  von  der  Mutter 
oder  vom  Vater  ererbt  werden,  femer  ob  der  Grad  der  Vererbung 
stets  derselbe  ist  oder  Abweichungen  darbietet,  die  man  eventuell 
dem  Einflüsse  des  anderen  Elters  zuschreiben  könnte.  Man  würde 
an  bestimmten  Organen,  z.  B.  dem  Ohre,  der  Nase,  die  wichtigen 
und  die  mehr  nebensächlichen  Details  auf  Grund  der  Vererbungsstärke 
feststellen  können  u.  s.  f.  Man  sieht  also:  nicht  bloß  die  forense 
Medizin  würde  durch  solche  langwierige  und  schwierige  Untersuch- 
ungen gefördert  werden,  sondern  auch  die  Anthropologie  aind  nicht 
zuletzt  die  Biologie.  Die  Tierzucht  hat  ja  aus  den  von  ihr  er- 
schlossenen Vererbungsgesetzen  schon  lange  einen  direkten  Nutzen 
gezogen.  Dies  könnte  vielleicht  auch  einmal  bei  der  Menschenzucht 
geschehen,  wenn  nicht  hier  ein  unübersteigliches  Hindernis  sich  auf- 
türmte: der  krasse  menschliche  Egoismus,  der  sich  um  die 
Art  der  Nachkommen  nicht  weiter  kümmert  Und  so  werden 
alle  Vorschläge  zu  einer  „Eugenesie^  des  Menschengeschlechts  wohl 
für  alle  Zeiten  auf  dem  Papiere  stehen  bleiben,  so  sehr  der  wahre 
Menschenfreund  ihre  volle  Berechtigung  auch  einsieht 

Nachtrag  bei  der  Korrektur. 

1.  Zu  p.  347.  Auch  in  der  Ethnographie  spielt  die 
Unterschiebung  eine  gewisse  Rolle.  So  lese  ich  z.  B.  bei  Stieda 
(Keferat  aus  der  Russischen  Literatur,  Archiv  für  Anthropologie  [Neue 
Folge],  Bd.  VI,  1907,  p.  204)  bez.  der  Syrjänen  (am  weißen  Meere 
wohnend)  folgendes:   „Bei  Mißgeburten  sagen  manche,   Ikota  (eia 


Identitätsnachweis  an  Kindern  357 

Qeist)  habe  das  Kind  vertauscht,  nach  andern  sind  es  besondere 
Geister y  Waldmenschen,  die  die  Vertauschung  des  Kindes  machen. 
Früher  suchte  man  den  Ikota  zu  veranlassen,  das  Kind  zurückzu- 
geben,  aber  der  Glaube  an  die  Vertauschung  der  Kinder  durch  böse 
Geister  wird  von  Jahr  zu  Jahr  schwächer/  Man  sieht  daraus  den 
horror  der  Naturmenschen  vor  allem  Außergewöhnlichen,  also  hier 
vor  Mißgeburten.  Das  kann  nur  durch  Hexerei  etc.  entstanden  sein! 
Es  ist  das  zugleich  auch,  wie  ich  glaube,  ein  Hinweis  darauf,  daß 
Mißgeburten  scheinbar  bei  Primitiven  seltner  sind,  als  bei  uns.  Da 
nun  Hexerei,  also  ein  Fremdes  vorliegt,  geht  der  Primitive  leicht  an 
den  Mord  solcher  Unglückswesen.' 

2.  Zu  p.  35  4.  In  ganz  seltenen  Fällen  könnte  es  sich  auch 
um  Identifizierung  von  Zwillingen  handeln.  Siehe  hier- 
über Dejouany:  Archives  d'anthropol.  crim.  1898,  p.  284ss,  speziell 
287  SS.  Verf.  kommt  zum  Schlüsse,  daß  2  vorgelegte  Neugeborene 
eventuell  Zwillinge  sein  könnten,  was  aber  nie  sicher  zu  beweisen 
wäre.    Auch  hier  wäre,  glaube  ich,  die  Daktyloskopie  sehr  wertwoll. 

3.  Zu  p.  355.  Zur  Daktyloskopie.  Vor  allen  Dingen  ist 
es  wichtig,  zuerst  die  Erblichkeitsverhältnisse  hier  festzustellen.  Dies 
könnte  wohl  gut  an  Schulkindern  geschehen  und  dann  an  deren  Ge- 
schwistern und  Eltern  zu  Hause,  was  noch  nicht  geschah,  so  viel  ich 
weiß.  Man  würde  dann  auch  finden  können,  welche  daktylo- 
skopischen Typen  sich  am  meisten  vererben,  was  zu  wissen 
sehr  wertvoll  wäre.  Daß  überhaupt  alle  Fingerabdrücke  sich  zu- 
sammen vererben,  dürfte  wohl  nur  selten  stattfinden.  Wir  müssen 
uns  also  auf  weniger  gefaßt  machen.  Sind  nun  z.  B.  7 — 8  Abdrücke 
des  Kindes  denen  des  Vaters  oder  der  Mutter  —  und  zwar  an  den 
gleichen  Fingern  —  ähnlich,  so  ist  das  Resultat  bez.  der  Identität 
so  gut  wie  zweifellos.  Sind  es  dagegen  nur  5,  dann  wird  die  Sache 
schon  zweifelhaft,  noch  mehr  bei  3  oder  gar  1 .  Dann  müssen  selbst- 
verständlich um  so  mehr  noch  andere  Momente  in  Konkurrenz 
treten,  um  die  Diagnose  mehr  oder  weniger  zu  stützen. 


XX. 
Ein  eigenartiger  Diebsaberglaube  in  Europa  und  Asien, 

YOA 

Dr.  Albert  Hellwig  (Berän-Hwinadoif). 


Fast  in  ganz  Europa  Ittßt  sich  der  eigenartige  Brauch  nach- 
weisen,  dafi  Diebe,  besonders  gewerbsmäßige,  am  Ort  der  Tat  ihre 
Notdurft  verrichten,  weil  sie  glauben,  dann  nicht  entdeckt  zu  werden, 
oder  wenigstens  nicht  überrascht  werden  zu  können,  s<dange  der 
Haufen  warm  ist  Wenngleich  nicht  alle  Fälle  von  Beschmutzung 
des  Tatortes  auf  diesen  Aberglauben  zurückgehen,  manche  viehnehr 
rein  physiologischen  Ursprungs  sind  und  andere  der  Bosheit  oder 
Rachsucht  des  Täters  entspringen,  ist  andererseits  doch  durdi  ein- 
gehende Detailforschungen  festgestellt,  daß  in  der  Begd  der  oben- 
genannte Aberglaube  das  treibende  Motiv  war.  Dieser  Brauch  geht 
weit  in  das  Mittelalter  zurück  und  wird  auch  heute  noch  vielfach 
beobachtet,  wie  man  überhaupt  auch  bei  den  modernsten  gewerbs- 
mäßigen Gaunern  aller  Art  noch  auf  eine  ungeahnte  Fülle  von  ur- 
aUem  Ab^glauben  mannigfachster  Art  stößt  Bezeichnend  sind  die 
volkstümlichen  Ausdrücke  für  Eothaufen:  Wächter,  Nachtwächter, 
Wachtmeister,  Posten,  Schildwache  in  den  verschiedensten  Gegenden 
Deutschlands,  der  Schweiz  und  Österreichs,  schildwachten  in  Holland, 
sentinelle  in  Frankreich,  uomini  di  nette  in  Italien,  feris  (Hirt)  bei 
den  Zigeunern.  Einen  analogen  Brauch  haben  die  arabischen  und 
griechischen  Verbrecher,  indem  sie  in  dem  ausgeraubten  Baume  viel- 
fach onanieren.  Diese  Bräuche  gehen  vermutlich  auf  die  Idee  zurück, 
daß  der  Täter  irgend  etwas  am  Tatorte  als  Sühneopfer  freiwillig 
zurücklassen  muß,  um  selber  glücklich  entkommen  zu  können.  Als 
derartige  Sühneopfer    kommen   sowohl    menschliche    Sekrete   (Blut, 


Ein  eigenartiger  Biebsaberglaube  in  Europa  und  Asien.  359 

Sperma,  Exkremente)  als  auch  im  Besitz  des  Täters  befindliohe  Gegen- 
stände (Mordwaffe,  Hut  n.  s.  w.)  in  Betracht  i)  Än&erst  interessant  ist 
nun;  daß  die  japanischen  Diebe  nach  neuerlichen  Mitteilungen  von  Dr. 
Hermann  ten  Kate  ^^Aus  dem  japanischen  Volksglauben^  (Olobus" 
1906,  p.  112)  einen  anscheinend  identischen  Brauch  haben.  Hiemach 
verrichtet  der  Dieb  in  der  Nähe  des  Hauses,  in  dem  er  stehlen  will, 
seine  Notdurft  „und  stellt  dort  eine  umgekehrte  Bütte.  ^  Es  wäre 
nun  im  höchsten  Grade  interessant  zu  erfahren,  ob  der  japanische 
Diebsglaube  auf  denselben  Glauben  wie  der  europäische!  zurückgeht 
Sehr  wichtig  wäre  es  auch,  wenn  sich  in  der  japanischen  Volks- 
sprache oder  Gaunersprache  eine  den  obigen  Ausdrücken  für  mensch- 
liche Exkremente  analoge  Bezeichnung  nachweisen  ließe.  Femer  wäre 
zn  erforschen,  weshalb  eine  umgekehrte  Bütte  hingestellt  wird  und 
ob  dieser  Brauch  mit  dem  gmmus  merdae  wesentlich  zusammenhängt, 
schließlich  ob  der  japanische  Brauch  originären  Ursprongs  ist  oder 
dem  europäischen  Gaunertum  entlehnt  zu  sein  scheint  Wie  mir  Dr. 
ten  Kate  (z.  Z.  in  Tokio)  brieflich  mitteilte,  ist  ihm  dieser  Diebes- 
brauch auch  aus  Jara  bekannt  Weitere  Einzelheiten  wußte  er  zur 
Zeit  nicht  anzugeben,  will  sie  aber  zu  erfahren  suchen.  Das  Vor- 
kommen des  gmmus  merdae  in  Japan  bestätigte  mir  auch  mein  Kollege, 
der  Kammergerichtsreferendar  Dr.  phil.  et  jur.  Crasselt,  der  als 
Dozent  an  der  Hochschule  Tokio  längere  Zeit  in  Japan  geweilt  und 
dem  japanischen  Volksleben  reges  Interesse  zugewandt,  insbesondere 
auch  über  den  Aberglauben  zahlreiche  wertvolle  Materialien  gesammelt 
hat  Kürzlich  bekam  ich  auf  liebenswürdige  Veranlassung  Dr.  ten 
Kate's  folgende  Notiz  von  Dr.  K.  Miura  über  den  japanischen  gmmus 
merdae:  „Die  japanischen  Diebe  entleeren  auch  manchmal  ihre  Ex- 
kremente außerhalb  des  zu  einbrechenden  Hauses  und  dies  scheint 
meist  bei  Gewohnheitsdieben  vorzukommen.  Die  Ansicht  darüber 
ist  geteilt,  doch  meint  man,  daß  sie  dadurch  ihr  Herzklopfen  oder 
Unruhe  bemhigen.  Andere  Ausdrücke  wie  Wächter  oder  Hirt  kommen 
hier  nicht  vor."^  Leider  ist  auch  diese  Angabe  nicht  ausführlich 
genug,  um  ein  abschließendes  Bild  über  den  japanischen  Diebsbrauch 
zu  gewinnen.  Immerhin  gibt  die  Notiz  einige  schätzenswerte  Hinweise. 
Es  wird  bestätigt,  daß  die  Diebe  nicht  im  Hause,  sondern  außerhalb  des 


1)  Vgl.  meine  Skizzen:  „Einiges  über  den  grumus  merdae  der  Einbrechei'*' 
in  der  Monatsschrift  für  Kriminal  Psychologie  und  Straf  rechtsreform  Bd.  I  (1904) 
p.  257  ff.,  n Weiteres  über  den  gnimas  merdae*^,  ebenda  II  (1905)  p.  639 ff.,  ^Die 
Bedeutung  des  grumus  merdae  für  den  Praktiker'^  im  « Archiv  für  Kriminal- 
anthropologie und  Kriminalistik*',  Bd.  XXIII  (1906)  p.  188  ff.  und  die  ebendort 
demnächst  erscheinende  „Kriminaltaktik  und  Verbrecheraberglaube. ^ 


360  XX.  Hellwig 

Hauses  und  zwar,  wie  Kate  sagt,  in  der  Nähe,  ihre  Notdurft  ver- 
richten. Hiemach  ist  es  ausgeschlossen,  daß  Vandalismus  das  Motiv 
hierfür  ist,  wie  es  bei  uns  manchmal  vorkommt,  wenngleich  es  irrig 
ist,  wie  es  mitunter  geschieht,  diesen  Diebsbrauch  immer  ans  Boheit 
zu  erklären.  Ob  von  einigen  japanischen  Gelehrten  gleichfalls  ein 
abergläubisches  Motiv  angenommen  wird,  sagt  Miura  nicht  Ich 
möchte  das  aber  annehmen,  da  er  ausdrücklich  sagt,  die  Ansichten 
hierüber  seien  geteilt.  Als  herrschende  Meinung  gibt  Miura  aber  an, 
daß  es  sich  um  einen  durch  die  Angst  bewirkten  rein  physiologischen 
Vorgang  handle.  Wenngleich  das  in  dem  einen  oder  anderen  Falle 
zutreffen  mag,  so  halte  ich  diese  Ansicht  als  allgemeines  Erklärungs- 
prinzip für  verfehlt'  Es  wäre  dann  nämlich  nicht  zu  verstehen,  ein- 
mal, weshalb  besonders  gerade  Gewohnheitsdiebe,  die  doch  bei 
Ausübung  ihres  ihnen  vertrauten  Gewerbes  bei  weitem  nicht  so 
ängstlich  zu  sein  pflegen  wie  Anfänger,  diesen  Brauch  befolgen,  und 
dann,  weshalb  die  Angst  gerade  vor  Begehung  der  Tat  am  größten 
ist  —  der  grumus  merdae  ist  außerhalb  des  Hauses  —  und  nicht, 
wenn  sie  sich  bei  der  unmittelbaren  Ausführung  des  Diebstahls  im 
Hause  befinden,  wobei  doch  die  Gefahr  der  Entdeckung  weit  größer 
ist  Deshalb  bin  ich  der  Ansicht,  daß  auch  bei  dem  japanischen 
Diebsbrauch  ein  dem  europäischen  analoger  Gedanke  zu  Grunde 
liegen  wird.  Freilich  ist  dies  nur  eine  Vermutung,  aber  wie  ich 
glaube,  eine  begründete,  die  ich  später  noch  einmal  auf  Grund  weiterer 
Becherchen  als  richtig  erweisen  zu  können  hoffe. 


XXI. 
Das  „Backen'^  von  Kranken. 

Von 
Dr.  Albert  Hellwig  (Berlin-Hennsdorf). 


Schon  in  meiner  Abhandlung  „Der  kriminelle  Aberglaube  in 
seiner  Bedeutung  für  die  gerichtliche  Medizin^  0  habe  ich  nach- 
gewiesen, daß  zwar  schon  die  alten  deutschen  Bußbücher  es  verbieten, 
ein  fieberkrankes  Kind  in  den  Ofen  zu  legen,  daß  aber  dennoch 
durch  all'  die  Jahrhunderte  hindurch  sich  im  deutschen  Volke  der 
Glaube  an  die  Heilkraft  des  Feuers  und  die  hierdurch  veranlaßte 
Prozedur  des  Backens  der  Kranken  erhalten  hat  Den  dort  für  die 
Siebenbürger  Sachsen  und  für  Steiermark  beigebrachten  Beispielen 
seien  einige  analoge  Bräuche  angereiht  Ein  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts erschienenes  Buch,  das  eme  wahre  Fundgrube  für  Aber- 
glauben jeder  Art  ist,  berichtet,  daß  in  manchen  Gegenden  Deutsch- 
lands die  Dorfhebammen  den  gefährlichen  Brauch  haben,  kleine 
Kinder,  welche  die  „zehrenden  Dinger^  haben,  d.  h.  nicht  gut  ver- 
dauen und  infolgedessen  schlecht  gedeihen,  auf  eine  Kuchenplatte 
zu  legen  und  in  den  heißen  Ofen  hinein-  und  wieder  herauszuschieben, 
wodurch  sie  wer  weiß  wie  manches  Kind  durch  die  Wirkung  der 
Hitze  auf  das  Gehirn  dumm  machten  oder  bei  ihm  zu  künftigen 
Krankheiten  den  Grund  legten,  die  dann  wohl  noch  gar,  weil  die 
Ursach'  unbekannt,  der  Verhexung  zugeschrieben  werden  !^  ^)  Leidet 
in  Pommern  ein  Kind  an  einem  Ausschlage,  der  hartnäckig  allen 
sonst  gebräuchlichen  Mitteln  widersteht,  so  wird  es  geheilt,  wenn 
man  es  nackend  vor  einen  frischgeheitzten  Backofen  legt  und  die 
eben  ausgelöschten  Kohlen  über  das  Kind  hinwegscharrt,  sodaß  es 


1)  „Arztliche  Sachverständigen-Zeitung'',  Berlin  1906  Nr.  16  ff.,  §  7. 

2)  H.  L.  Fischer  ^Das  Buch  vom  Aberglauben".    Neue  verbesserte  Auflage. 
Bd.  III  (Hannover  1794)  S.  139  f. 


362  XXI.  Hellwiq 

ganz  damit  bedeckt  ist  ^)  In  Ungarn  läSt  sich  ein  mit  E^iätze  Be- 
hafteter mit  Haasseife  tüchtig  abreiben,  nimmt  dann  tatsächlich  treff- 
lich wirkende  Bäder  von  gekochtem  Hensamen  und  salbt  sich  mit 
Schwefelbutter.  „Nach  einigen  Tagen  aber,  wenn  nach  dem  Brot- 
backen der  Backofen  noch  heiß  ist,  wird  der  arme  Patient  hinein- 
gesteckt, und  es  gab  schon  Fälle,  daß  er  bei  solcher  Gelegenheit 
ersticken  mußte.^^)  Hier,  wie  auch  früher,  ist  betont,  daß  derartige 
Prozeduren  leicht  schädliche  Folgen  für  die  Gesundheit  der  armen 
Patienten  haben  können  und  daß  derartige  Fälle  auch  schon  vor- 
gekommen sind. 

Zwei  Beispiele  berichtet  das  schon  oben  zitierte  ^Buch  vom 
Aberglauben^^  Ein  Knabe  in  Oberschlesien,  Thomas  Gablunec,  litt  an 
der  Krätze.  Ein  Quacksalber  riet,  ihn  in  den  Backofen  zu  stecken, 
nachdem  das  Brot  drei  Stunden  darin  gebacken  hatte.  Dies  geschah 
auch.  Die  Mutter  ging  in  die  Stube,  kam  nach  einer  Weile  wieder 
und  fand  den  Knaben  lang  ausgestreckt,  ohne  jedes  Lebenszeichen, 
über  und  über  verbrannt  Nur  mit  größter  Mühe  gelang  es,  ihn 
überhaupt  wieder  aus  der  Bewußtlosigkeit  zu  erwecken,  doch  verfiel 
er  sogleich  in  Zuckungen  und  starb  nach  zwei  Tagen.^) 

Ein  anderer,  beinahe  auch  tödlich  verlaufener  Fall  ereignete  sich 
im  Jahre  1 789  auf  Rat  eines  Wunderdoktors  in  der  Nähe  von  Kulm- 
bach, wenn  auch  nicht  durch  sein  Verschulden.  Einem  36jährigen 
Bauemknecht  riet  er  ein  warmes  Bad  an.  Der  Knecht  meinte,  es 
käme  nur  darauf  an,  seinen  Körper  durch  recht  große  Hitze  in 
Schweiß  zu  bringen.  Um  dies  zu  erreichen,  wählte  er  —  wie  man 
annehmen  darf,  veranlaßt  durch  den  allgemeinen  Volksbrauch  des 
Backens  —  folgendes  Mittel.  In  einem  nahe  bei  seines  Vaters  Hanse 
stehenden  Ofen,  der  zwei  Tage  lang  geheizt  worden  war,  schob  er, 
als  das  Brot  soeben  herausgenommen  war,  ein  Brett,  versperrte  die 
eine  Hälfte  des  Heizloches  recht  dicht,  um  die  Hitze  möglichst  gut 
halten  zu  können  und  kroch  hinein.  Er  wurde  aber  sofort  durch  den 
Dunst  so  stark  betäubt,  daß  er  das  Brett  verfehlte  und  daneben  auf  die 
glühend  heißen  Steine  zu  liegen  kam  und  sich  jämmerlich  verbrannte. 
Durch  die  entsetzlichen  Schmerzen  aus  der  Betäubung  erwacht,  fing 
er  an  um  Hilfe  zu  rufen,  bis  die  Seinen,  die  von  der  Schwitzkur 
nichts  wußten,  herbeieilten  und  ihn  halb  geröstet  herauszogen.    Ge- 

1)  Rnorrn  „Sammlang  abergläubischer  Gebräache^  (^Baltische  Stadien*' 
XXX VIII,  Stettin  18S3)  S.  132  Nr.  142. 

2)  Ferdinand  Bronts  „Volksmedizin  in  Südungam*.  („Ethnologsche 
Mitteilangen  aus  Ungarn"  VI,  Budapest  1904)  S.  51. 

3)  (H.  L.  Fischer)  a.  a.  0.  I  (Leipzig  1799)  S.  189. 


Das  „Backen^  von  Kranken.  863 

sicbty  Brost,  Arme  und  Hftnde  waren  entsetzlich  zugerichtet,  am 
schlimmsten  aber  die  eine  Kniescheibe,  die  trotz  sorgfältiger  Behand- 
lang erst  nach  binger  Zeit  heilte,  und  an  dem  einem  Fuße  war  die 
große  Zehe  ganz  weggebrannt.  <)  Daß  diese  Prozedur  nicht  tödlich 
•endete,  kann  man  fast  ein  Wunder  nennen.  Daß  sie  auf  den  Aber- 
glauben zurflckgeht,  kann  man  mit  um  so  größerer  Sicherheit  ver- 
muten, als  gerade  aus  Schlesien  noch  in  der  allemeuesten  Zeit  ein, 
noch  dazu  tödlich  verlaufener,  Fall  vom  Backen  von  Kranken  be- 
.richtet  wurde. 

Der  Ackerbürger  Seh.  litt  stark  an  Rheumatismus.  Um  die 
Schmerzen  zu  beseitigen,  rieb  er  die  betreffenden  Körperteile  mit 
Petroleum  ein  und  legte  sich,  wie  ihm  geraten  wurde,  in  einen  noch 
warmen  kegelförmigen  Backofen.  Als  man  nach  einigen  Stunden 
nachsehen  wollte,  wie  dem  Patienten  diese  eigenartige  Kur  bekommen 
wäre,  fand  man  nur  noch  eine  Leiche  vor.  Man  nahm  an,  daß  Seh. 
-durch  die  sich  im  Ofen  entwickelnden  Gase  erstickt  ist^)  Bemerkt 
sei,  daß  diese  Kur  durch  die  Wärme  an  und  für  sich  geeignet  er- 
scheint, rheumatische  Leiden  günstig  zu  beeinflussen. 

Ein  anderer  Fall  wurde  Anfangs  1907  aus  einem  Dorfe  in  der 
Nähe  von  Zürich  berichtet  Die  Einzelheiten  sind  mir  entfallen,  da  mir 
•die  Notiz  leider  abhanden  gekommen  ist.  Ich  weiß  nur  noch,  daß 
der  Betreffende  die  Ofenkur  oft  vorzunehmen  pflegte.  Durch  eine 
Sohnurvorrichtung  vermochte  er  die  Ofentür  selber  wieder  von  innen 
zu  öffnen.  Eines  Tages  aber  riß  diese  Schnur  und  der  arme  Kranke 
kam  elendiglich  um:  Sicherlich  nicht  das  letzte  Opfer  eines  Jahr- 
tausende alten  Aberglaubens  I 

Das  Backen  von  Kranken  ist  auch  in  Niederösterreich  und  bei  den 
Slovaken  in  Oberungam  bekannt.  Dort  heilt  man  Atrophie  bei  Säug- 
lingen durch  Einschieben  in  den  Backofen  oder  warmes  Brot^),  und 
hier  wird  derjenige,  der  an  der  Krätze  leidet,  mit  Petroleum  be- 
schmiert, vorher  aber  in  den  warmen  Backofen  gesteckt,  damit  die 
Milbe  herauskriecht^) 

Über  den  Brauch  des  Einbackens  von  Kindern  berichtete  kürz- 
lich der  Petersburger  Korrespondent  der   „Hamburger  Nachrichten^. 


1)  H.  L.  Fischer)  a.  a.  0.  III  (Hannover  1794)  S.  139. 

2)  „Bromberger  Zeitung",  8.  November  1906. 

8)  H.  Moses  „Krankheitsbeschwörungen  lund  Sjonpathiemittel  in  Nieder- 
osterreich''  (Zeitschrift  für  österreichische  Volkskande'S  Jahrg.  IX,  1903,  Heft  4). 

4)  Mor.  Kacser  „Volksmedizin  und  Aberglaube  beim  slovakischen  Volke 
in  Oberungarn"  (Wiener  medizinische  Wochenschrift",  1907  No.  32  ff.).  In  dem 
mir  vom  Verfasser  freundlichst  zur  Verfugung  gestellten  Separatabzug  S.  13. 


ST 


362  XXL  Hellwio 

ganz  damit  bedeckt  ist^)  In  Ungarn  läSt  sich  ein  mit.^ 
hafteter  mit  Haosseife  tüchtig  abreiben,  nimmt  dann  ti^'|^ 
lieh  wirkende  Bäder  von  gekochtem  Heusamen  and  ^'  4 
Schwefelbutter.  „Nach  einigen  Tagen  aber,  wenn  i  |  ^  | 
backen  der  Backofen  noch  heiß  ist,  wird  der  dAf'i  % 
gesteckt,  und  es  gab  schon  Fälle,  daß  er  beV  i  v*  y  « 
ersticken  mußte."  2)  Hier,  wie  auch  früher,  ^ii/<^ 
Prozeduren  leicht  schädliche  Folgen  für  ^'i  f  '  f  #  f  * 
Patienten  haben  können  und  daß  derartf;  ^  ^  |  )  j  *  .- 
gekommen  sind.  >#*'•*• 

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Aberglauben^    Ein  Knabe  in  Oberschi  ^    f  (  \  '  ' 
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auch.    Die  Mutter  ging  in  die  P^^^ ;  «      j  %  '   - 
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überhaupt  wieder  aus  derT^*^  i  [  c  uie  Harke  er- 

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er  sogleich  in  Zuckungen  '^  f  l  } 

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im  Jahre  1789  auf  R»  ••  /  i  ohne    deine    Hilfe,    bleibt 

bach,  wenn  auch  ni  *  ^  '  .nnen*'.      Dann    holte   sie    das 

Bauemknecht  riet   ^^  ^n  ruhig  schlief.    Der  Teig  wurde 

käme   nur   darap  '  von   der    Alten    mit  heiligem  Wasser 

Schweiß  zu  bri'  ^^md  wurde  bei  dieser  Prozedur  etwas  an- 

annehmen dar  alich  nicht  gut  genug  in  den  Teig  eingewickelt 

Backens  —  ewährsmann  drei  Jahre  später  wieder  in  das  Dorf 

stehenden  nochmals  die  alte  Bäuerin  auf  und  fragte  sie  scherz- 

als  das  T     ^^  ihre  „Kinder-Pirogen*"  machten.    ^Gesund,  alle  gesund, 
eine  Er    ß^ngel  Kuschka  ist  mir  mißlungen.**    i^Was  ist  mit  Kuschka 
halter    -^^j?«  fragte  ich.     „Das  war  ein  Bengel!    Nicht  eine  Minute 
D^^  .-•'pullte  er  Euhe  finden,  es  war  nicht  möglich  ihn  in  den  Teig 
ß''  -^^ickeln;   er   kroch    immer   wieder  heraus.    Da  haben  wir  uns 
•f^ geschaffen:    Wir  banden  ihn  an  die  Harke  und  schoben  ihn  in 
j\  Ofen  ....    Ich  stehe  dabei,  lese  meine  Gebete  und  sieh'  mal, 
^  geschieht?    Kuschka,  von  Kopf  bis  zur  Sohle  schwarz  von  Ruß, 
kffecht  auf  allen  Vieren  aus  dem  Ofen  heraus,  denken  sie  mal:  auf 
^len  Vieren!    Und  was  war  das  Resultat?    Er  starb  etwa  in  einem 
jahre,_weil  er  eben  nicht  genügend  eingebacken  ist."  ^) 

1)    „Hsuiiburger  Nachrichten' ^   Hamburg,   den  15.  November  1907,  Zweite 
Morgenausgabe. 


Das  .Backen*^  tob  Kranken.  365 


^er  Bericht  bestätigt,  was  uns  Löwenstimm  ^)  schon  über  den 
"brauch  im  Lukojanow'schen  Kreise  über  das  Backen  von 
^        ^  -^teilt  hat.   Löwenstimm  berichtet  dort  auch  einen  tödlich 


^ 


'  ^       '"^w:  '  *^®  ^®°^  Wilna'schen  Kreise  und  auch  die  oben  ge- 

<  ^H    ^^       ♦^  niuß  man  sich,  daß  diese  gefährliche  Gewaltkur 


."^^."^        >•  'in  hat  wenigstens  eines  der  Mädchen  tüchtig  an- 


'^  ^^,  ^!^       \  nigen  Fällen  schädliche  Folgen  hinterläßt. 

^  ^V  *  ^    ^^      ^  '^^®  zeigen,  daß  der  Gebrauch  des  Backens 

praktische  Bedeutung  dieser  Volkssitte 
einmal  darin,  daß  er  nicht  auf  Mord 


n    verunglückt  oder   wenn  ein   Er- 
^'    ^V<^  •'  '^V  ■*'  ^^  gelegt  hat,  hier  jämmerlich  ver- 

'      'V^^    <  "^  *     "'    *  m  wegen  eines  derartigen  Falles 

V   '^-.^  c         *^.  ^    ^'  Körperverletzung beziehungs- 

•*^v '-^'N  ^     V     ^*  berglauben  als  mildernden 

.N  ^  ad  Strafrecht'*  (Berlin  1895)  S   140f. 


364  XXI.  Hellwio  ^ 

Der  Gewährsmann  hat  „vor  vielen  Jahren"  in  dem  kleinen  Dorfe 
Odinuschka  am  Ufer  des  Flusses  Petschora  die  Heilmethode  selber 
anwenden  gesehen.  Das  ganze  Dorf  ist  von  altglänbigen  Sektierern 
bewohnt;  an  der  Spitze  stand  die  Frau  des  Gründers,  eine  alte  Greisin, 
die  gleichzeitig  auch  die  Heilkunst  ausübte.  Die  kleinen  Kinder^  die 
an  Ehaehitis  litten,  kurierte  sie  durch  Einbacken  in  Teig.  Vor  Vor- 
nahme der  Zeremonie  kroch  die  Alte  langsam  auf  den  Ofen  und 
murmelte  dort  Gebete.  Ein  Kind  nach  dem  andern  wurde  dann  auf 
einen  Klumpen  Teig  gelegt  und  mit  derselben  Teigmasse  bedeckt^ 
gerade  so  als  ob  man  einen  ^Pirog",  einen  großen  Teigkuchen  backen 
wollte.  Das  Kind  wurde  dann  in  eins  der  Körbchen  gelegt^  in  dem 
die  Bauern  der  dortigen  Gegend  ihre  Brote  zu  backen  pflegen,  die 
Teigmasse  dann  mit  einem  nassen  Tuch  bedeckt  und  das  Kind  dann 
in  den  Ofen  geschoben.  Die  Alte  fing  dann  wieder  an  zu  beten. 
Nach  einiger  Zeit  kroch  die  Alte  in  den  Ofen  und  sah  nach  dem 
Kinde;  es  war  aber  ^noch  nicht  warm  genug."  Sie  las  wieder  ein 
Gebet,  das  sie  kaum  beendet  hatte,  als  das  Kind  im  Ofen  an  zu 
jammern  fing.  Die  Mutter  des  Kindes  wollte  schon  die  Harke  er- 
greifen, als  die  Alte  sie  mit  einer  energischen  Geste  zurückwies. 
„Hab*  Geduld,  meine  Liebe,  meine  Sonne",  sagte  sie  ruhig, 
„soll  das  Kind  sterben,  so  stirbt  es  ohne  deine  Hilfe,  bleibt 
es  leben,  so  wird  es  nicht  verbrennen^.  Dann  holte  sie  das 
Kind  heraus,  das  jetzt  vollkommen  ruhig  schlief.  Der  Teig  wurde 
abgebrochen  und  das  Kind  von  der  Alten  mit  heiligem  Wasser 
bespritzt.  Ein  anderes  Kind  wurde  bei  dieser  Prozedur  etwas  an- 
gebrannt, da  es  vermutlich  nicht  gut  genug  in  den  Teig  eingewickelt 
war.  Als  unser  Gewährsmann  drei  Jahre  später  wieder  in  das  Dorf 
kam,  suchte  er  nochmals  die  alte  Bäuerin  auf  und  fragte  sie  scherz- 
haft, was  denn  ihre  „Kinder-Pirogen"  machten.  „Gesund,  alle  gesund 
Nur  der  Bengel  Kuschka  ist  mir  mißlungen."  „Was  ist  mit  Kuschka 
geschehen?"  fragte  ich.  „Das  war  ein  Bengel!  Nicht  eine  Minute 
lang  konnte  er  Buhe  finden,  es  war  nicht  möglich  ihn  in  den  Teig 
einzuwickeln;  er  kroch  immer  wieder  heraus.  Da  haben  wir  uns 
Bat  geschaffen:  Wir  banden  ihn  an  die  Harke  und  schoben  ihn  in 
den  Ofen  ....  Ich  stehe  dabei,  lese  meine  Gebete  und  sieh'  mal, 
was  geschieht?  Kuschka,  von  Kopf  bis  zur  Sohle  schwarz  von  Ruß, 
kriecht  auf  allen  Vieren  aus  dem  Ofen  heraus,  denken  sie  mal:  auf 
allen  Vieren!  und  was  war  das  Resultat?  Er  starb  etwa  in  einem 
Jahre,  weil  er  eben  nicht  genügend  eingebacken  ist."  ^) 

1)    „Hamburger  Nachrichtcn^S   Hambarg,   den  15.  November  1907»  Zweite 
Morgenausgabe. 


Das  «Backen'^  tob  Kranken.  365 


n 


Dieser  Bericht  bestätigt,  was  uns  Löwenstimm  i)  schon  über  den 
analogen  Brauch  im  Lukojanow'schen  Kreise  über  das  Backen  von 
Kindern  mitgeteilt  hat  Löwenstimm  berichtet  dort  auch  einen  tödlich 
verlaufenen  Fall  aus  dem  Wilna'schen  Kreise  und  auch  die  oben  ge- 
nannte Heilkünstlerin  hat  wenigstens  eines  der  Mädchen  tüchtig  an- 
gebrannt. Wundem  muß  man  sich,  daß  diese  gefährliche  Gewaltkur 
überhaupt  in  relativ  wenigen  Fällen  schädliche  Folgen  hinterläßt. 

Die  gebrachten  Beispiele  zeigen,  daß  der  Gebrauch  des  Backens 
noch  weitverbreitet  ist  Die  praktische  Bedeutung  dieser  Volkssitte 
für  den  Kriminalisten  besteht  einmal  darin,  daß  er  nicht  auf  Mord 
schließt,  wenn  ein  Kind  hierbei  verunglückt  oder  wenn  ein  Er- 
wachsener, der  sich  in  den  Backofen  gelegt  hat,  hier  jämmerlich  ver- 
brennt und  femer  darin,  daß  man,  wenn  wegen  eines  derartigen  Falles 
Anklage  erhoben  wird  wegen  fahrlässiger  Körperverletzung  beziehungs- 
weise Tötung,  den  uralten  heidnischen  Aberglauben  als  mildernden 
Umstand  in  Bücksicht  ziehen  wird. 


1)  Löwenstimm  ,,Aber^laube  und  Strafrecht''  (Berlin  1895)  S   140f. 


XXII. 
Das  Ameisenbad  als  Heilmittel. 

Dr.  Albert  Hellwig  in  Beriin-Hennsdoif , 


In  älteren  gerichtsärztlichen  ZeitBchriften  findet  der  moderne 
Kriminalist  manch'  interessanten  Fall,  manch'  weitvoUe  Anregang. 
Besonders  trifft  dies  zu  bei  dem  Studium  des  kriminellen  Aber- 
glaubens, bei  dem  man  diese  reichhaltigen  Quellen  noch  gamicht 
berücksichtigt  hat.  Der  im  folgenden  dargestellte  Fall  mag  gleich- 
zeitig als  treffender  Beleg  dafür  dienen,  daß  auch  die  Kenntnis  mittel- 
alterlichen Aberglaubens,  dessen  Weiterbestehen  nicht  bekannt  ist, 
unter  Umständen  von  größter  praktischer  Bedeutung  werden  kann.  Vor 
ungefähr  sechs  Jahrzehnten  verordnete  eine  „weise  Frau^,  namens  St, 
einem  Mädchen,  welchem  infolge  von  Chlorosis  die  Menstruation  aus- 
geblieben war,  ein  Ameisendampfbad.  Das  Mädchen  wurde  gleich 
nach  dem  Essen  in  ein  Faß  gesetzt,  in  welchem  sich  ein  aus  i^- 
gefähr  einer  Metze  Ameisenhaufen  und  heißem  Wasser  bereiteter 
Aufguß  befand,  und  der  Körper  mit  Tüchern  fest  verhüllt  Das 
Mädchen  bekam  infolge  dieser  Prozedur  natürlich  bald  großen  Durst^ 
zu  dessen  Stillung  ihr  von  der  St  Branntwein  gegeben  wurde.  Das 
Mädchen  konnte  diese  Gewaltkur  nicht  vertragen^  wurde  bald  schlaff 
und  starb  nach  kurzer  Zeit  an  Herzlähmung  i).  Für  die  Frage,  ob  die 
St  sich  der  fahrlässigen  oder  gar  vorsätzlichen  Tötung  schuldig  ge- 
macht hat,  ist  es  natürlich  von  größter  Bedeutung,  zu  erfahren,  ob 
das  Ameisenbad  auch  sonst  als  Heilmittel  in  Übung  ist  In  der 
neueren  volkskundlichen  Spezialliteratur  habe  ich  darüber  keine  An- 
deutung gefunden;  doch  beweist  dies  selbstverständlich  noch  nicht, 
daß  auch  im  19.  Jahrhundert  derartige  Heilpraktiken  in  Deutschland 
angewendet  werden.     Schwerer  wiegt  schon,  daß  auch  ein  umfang- 


)  „Ccntralarchiv   für  die   gesamte  StaatBarzneikunde'',  Jhg.  IT,  (Ansbach 
1845)  S.  664«  unter  Berafung  auf  Siebenhaar's  Magazin,  Bd.  4,  Heft  2. 


Das  AmdBonbad  als  Heilmittel.  367 

raohes  Spezialwerk  über  die  Verwendung  der  Tiere  in  der  deutschen 
Volkflmedezin  zwar  zahlreiche  Angaben  hat  über  mannigfachste  Ver- 
wendung von  Ameisen  als  Heilmittel  in  dem  geltenden  Volksglauben  >), 
dagegen  kein  einziges,  das  einen  auch  nur  ähnlichen  Brauch  be- 
schriebe. Dagegen  finden  wir  ebendort  ein  Excerpt  aus  einem  in  der 
königlichen  öffentlichen  Bibliothek  zu  Dresden  befindlichen  Manuskript 

(0.  323)  „Ein  sehr  köstlich  Ertzeneybüchlein **,  das  folgender- 

mafien  lautet:  „Wenn  eyne  frawe  Ihrer  zeitt  nichtt  recht  hatt  und  vor- 
keltet  ist,  die  Geruinne  von  manssfeldt  Man  soll  nehmen  die  großen 
Sperck  (?)  Eymissen,  so  vile,  als  die  aufm  häufen  istt,  die  alle  mitt- 
einander  In  eynenn  newen  beutel  thun  vnnd  legen  sie  In  eynen 
kesssei  mit  wasser,  lassen  sie  wol  siedenn,  giessen  es  ab  In  eyne 
wannenn  und  giessen  noch  ein  mhall  frisch  wasser  darauf  vnnd 
lassens  woU  wieder  sieden  und  giessen  es  wieder  zum  eistenn  ihn  die 
wanne,  setzen  sich  darein  biss  an  den  Nabell  ynnd  legen  den  sack 
mitt  Eymissen  hinder  den  ruckken  vnnd  eine  stunde  in  dem  bade 
geschwiczzettt  vnnd  darnach  In  ein  Bette  gelegett  vnnd  noch  ein 
mhall  geschwiczzett,  diss  muss  man  eine  woche  nach  einander  thun 
uud  nichtt  in  die  Luft  gehen^  '^).  Wir  haben  hier  also  in  dem  Kezept 
aus  dem  16.  Jahrhundert  im  wesentlichen  die  Anweisung  für  ^e 
Heilprozedur,  wie  sie  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  vorgenommen 
worden  ist  Ob  etwa  dem  Ameisenbad  tatsächlich  irgendwelche 
therapeutische  Wirkung  beigemessen  werden  kann  wegen  der  Ein- 
wirkung der  Ameisensäure,  das  zu  unterscheiden,  muß  ich  den  Fach- 
gelehrten überlassen.  Was  den  von  der  St.  zur  Bekämpfung  des 
Durstes  gegebenen  Branntwein  betrifft,  so  ist  er  zwar  in  dem  ge- 
schriebenen Eezept  nicht  angeordnet  Möglicherweise  befand  er  sich  aber 
in  der  betreffenden  Variante,  welche  durch  mündliche  oder  schriftliche 
Überlieferung  auf  die  St  überkommen  war.  Möglicherweise  hat  die  St 
diese  Anordnung  auch  aus  sich  heraus  getroffen.  Irgend  einen 
Schluß  bezüglich  des  Dolus  läßt  sich  hieraus  keineswegs  ziehen,  da 
Branntweingenuß,  oft  bis  zur  völligen  sinnlosen  Berauschung,  ein 
gar  häufiges  therapeutisches  Mittel  der  Volksmedizin  ist.  Wenn  man 
fragt,  wie  es  möglich  ist,  daß  die  St  ein  derartiges  altes  Mittel  ge- 
kannt hat,  das  anscheinend  schon  lange  nicht  mehr  angewandt  wurde, 
so  muß  einmal  darauf  hingewiesen  werden,  daß  es  zwar  wahrschein- 
lich, aber  nicht  sicher  ist,  daß  das  Ameisenbad  nicht  mehr  weiter 

1)  Johannes  Jühling  „Die  Tiere  in  der  deutschen  Volksmedizin  alter 
und  neuer  Zeit"  (Mittweida  1900)  S.  84—88,  außerdem  S.  39,  43,  134,  138,  140, 
160,  217,  218,  221,  298,  341. 

2)  Jühling  a.  a.  0.  S.  84  f. 


368  XXn.  Hellwio. 

verbreitet  war,  und  daß  sich  erfahrungsgemäß  bei  einzelnen  „weisen 
Frauen^  und  ^Hexenmeistern^  zahlreiche  uralte  Rezepte  Jahrhunderte 
lang  konservieren.  Es  sei  nur  erwähnt,  daß  im  Jahre  1 895  bei  einem 
37  Jahre  alten  Medikaster  und  Geheimkünstler  in  einem  kleinen 
württembergischen  Örtchen,  der  einer  alten  Schatzgräber-  und 
Wunderdoktorenfamilie  angehörte,  in  der  dies  Gewerbe  schon  seit 
Generationen  betrieben  wurde,  einige  hundert  handschriftliche  und  ge- 
druckte Zauberbücher  gefunden  wurden  ^).  Wie  uns  der  vorliegende 
Fall  zeigt,  muß  man  äußerst  vorsichtig  sein  mit  der  Behauptung,  eine 
bestimmte  Heilprozedur  sei  im  Volke  nicht  gebräuchlich  und  es  sei 
daher  den  Angaben  des  Angeklagten  kein  Glauben  zu  schenken,  daß 
er  an  den  Erfolg  der  Heilkur  geglaubt  hat  Die  Folgerung,  welche 
wir  weiter  daraus  ziehen  müssen,  ist,  daß  wir  nicht  verschmähen 
sollen,  uns  mit  irgend  einem  Aberglauben  oder  Volksbrauch  vertraut 
zu  machen,  weil  wir  nicht  gleich  einzusehen  vermögen,  daß  er  noch 
von  praktischer  Bedeutung  werden  kann:  Eines  Tages  wird  uns  seine 
Kenntnis  vielleicht  doch  noch  nutzen! 


1)  PaulBeck  „Die  Bibliothek  eines  Hexenmeisters'^  („ZeitBchrift  des  Vereins 
für  Volkskunde"  Berlin  1905  S.  412-424).  Über  die  beiden  Fälle  von  Grab- 
schändung, die  zur  Untersuchung  gegen  den  Hexenmeister  Anlaß  gaben,  ver- 
gleiche jetzt  meine  Abhandlung  „Zwei  eigenartige  Fälle  von  Grabschändung  aus 
Aberglauben"  in  den  ,,Hessischen  Blättern  für  Volkskunde*",  Bd.  V,  1907,  S.  75/82. 


XXIII. 
Erbschlüssel  und  siebentes  Buch  Mosis 

Von 
Dr.  Albert  Hellwig  (Berlin-Hermsdorf). 


Daß  mystische  Zauberprozeduren,  um  Diebe,  Hexen  und  sonstige 
Übeltäter  zu  entdecken,  heutigen  Tages,  wie  noch  vor  Jahrhunderten, 
auch  bei  den  Kulturvölkern  in  Übung  sind,  zeigen  alljährlich  mehrere 
Fälle,  von  denen  die  Zeitungen  zu  berichten  wissen.  Besonders 
häufig  kommt  der  Zauberspiegel  und  der  Erbbuchzauber  in  An- 
wendung. Über  beide  Prozeduren  habe  ich  schon  umfangreiche 
Materialien  gesammelt.  Einige  besonders  interessante  Fälle,  in  denen 
man  mit  Hülfe  eines  „Erbschlüssels*'  und  eines  „Erbbuches"  Ver- 
brecher zu  entdecken  suchte,  gedenke  ich  demnächst  auf  Grund  der 
Akten  eingehend  darzustellen.  Soeben  berichten  die  Zeitungen  über 
einen  neuen  Fall,  in  dem  sogar  beide  Prozeduren  zur  Sprache 
kommen^  und  der  außerdem  die  Besonderheit  hat,  daß  als  „Erbbuch" 
anscheinend  das  sattsam  bekannte  „sechste  und  siebente  Buch  Moses" 
Verwendung  gefunden  hat,  während  es  sonst  in  der  Regel  eine 
„Erbbibel"  oder  ein  ererbtes  Gesangbuch  ist.  Der  Zeitungsbericht 
lautet  folgendermaßen: 

„Durch  Aberglauben  in  übles  Gerede  gekommen  ist  ein  hiesiger 
Handwerksmeister.  Im  Dezember  vorigen  Jahres  wurde  bei  einem 
hiesigen  Geschäftsmann  ein  Einbruch  verübt,  der  dem  Diebe  eine 
größere  Summe  Geldes  einbrachte.  Der  erwähnte  Meister  gehörte 
nun  zu  denjenigen,  die  der  Bestohlene  im  Verdacht  hatte,  den  Ein- 
bruch verübt  zu  haben,  um  aber  ja  keinen  Fehlgriff  zu  machen, 
zog  man  einen  „klugen  und  weisen  Mann"  zu  Rate,  in  der  be- 
stimmten Erwartung,  daß  es  diesem  mit  dem  siebenten  Buch  Moses 
und  einem  mehrmals  „vererbten  Schlüssel"  gelingen  müsse,  den  oder 
die  Diebe  zu  ermitteln.  Mit  allem  möglichen  Hokuspokus  und 
vielerlei  Beschwörungsformeln  wurde  denn  nun  auch  festgestellt,  daß 
der  erwähnte  Handwerksmeister  —  ein  bis  dahin  völlig  unbescholtener 

Arohiy  für  Kriminal anthropologie.    28.  Bd.  ;  24 


870  XXJII.  Hellwio.    ErbechlOBsel  und  siebentes  Bnch  Mosis. 

Mann  —  der  Dieb  sei.  Um  jeden  Zweifel  zu  beheben,  sollte  der 
Bestohlene  noch  zu  einem  Kollegen  des  „weisen  Mannes^  nach  Gold- 
berg fahren.  Dieser  besitzt  einen  Wanderspiegel,  der  dem  Bestohlenen 
den  Dieb  zeigen  sollte.  Die  Feststellungen  der  „weisen  Mfinner^ 
wurden  nun  weiter  erzählt,  und  es  entwickelte  sich  daraus  ein  ganz 
gehöriger  Klatsch,  der  dem  Handwerksmeister  zu  Gfehör  kam.  Die 
Geschichte  wird  nun  ein  gerichtliches  Nachspiel  haben^  <). 

Falls  der  Bestohlene  auf  der  Anklagebank  sitzen  sollte,  werden 
die  Richter  seinen  Aberglauben  in  weitgehendem  Maße  als  straf- 
mildernd in  Betracht  ziehen  müssen;  wünschenswert  wäre  es  da- 
gegen, wenn  Polizei  und  Gericht  gegen  die  „weisen  Männer^  energisch 
vorgehen  könnten. 

1)  ^»Schlesische  Zeitung'^,  Breslau,  16.  Mftrz  1907,  mir  übereandt  von  Pastor 
Schwärs  (Kreisewitz,  Bezirk  Breslau).  Quelle  ist  das  «Liegiiitzer  Tai^latf". 
Derselbe  Bericht  stand  auch  in  verschiedenen  anderen  Blflttem. 


XXIV. 
Appetitliche  Zaubertränke. 

Von 

Dr.  Albert  Hellwig  (Berlin-Hennsdoif). 


Haß  und  liebe,  Trunksucht  und  allerlei  andere  Leidenschaften 
glaubt  das  Volk  auf  rein  mechanische  Weise,  durch  Einflößung  von 
gar  mancherlei  Zauber-  und  Wundertränken  erregen  und  bekämpfen 
zu  können  und  steht  auch  in  dieser  Beziehung  im  Grunde  genommen 
auf  derselben  Kulturstufe  wie  der  Australneger  oder  der  Feuerländer. 
Daß  derartige  Zauberkuren  auch  heute  noch  vielfach  gebraucht 
werden,  zeigen  die  häufigen  Zeitungsberichte.  Zu  bemerken  ist  da- 
bei, daß  sich  auch  hier  wieder  konstatieren  läßt,  daß  der  Aberglaube 
nicht  allein  auf  die  unterste  Kulturschicht  des  modernen  Europas  be- 
schränkt ist,  sondern  vielmehr  auch  unter  den  „Oebildeten*^  trotz 
immer  fortscheitender  Naturerkenntnis  immer  noch  mehr  wie  genug 
Gläubige  findet  So  wurde  von  der  Strafkammer  zu  Freiburg  im 
Breisgau,  wie  die  „Tägliche  Rundschau^  (Berlin)  vom  1.  Juni  1906 
meldete,  der  Kaufmann  Theodor  Heintz  wegen  Betruges  zu  einem 
Jahr  Gefängnis  verurteilt,  weil  er  Aalschleim  als  Mittel  gegen  Trunk- 
sucht vertrieben  hatte.  Für  dies  wenig  appetitliche  Mittel,  das  ihm 
15  bis  20  Pfennig  kostete',  nahm  er  10  Mark.  Wie  groß  trotzdem 
der  Umsatz  war,  kann  man  daraus  ersehen,  daß  er  bei  seiner  Ver- 
haftung bereits  5470  M.  eingenommen  hatte,  während  über  3000  M. 
noch  einzukassieren  waren.  Bei  dem  Preise  darf  man  wohl  an- 
nehmen, daß  sich  die  Kundschaft  dieses  Wunderdoktors  größtenteils 
aus  Leuten  zusammensetzte,  die  es  als  beleidigend  auffassen  würden, 
wenn  man  sie  nicht  zu  den  Gebildeten  zählte.  Die  volkstümlichen 
Mittel  gegen  Trunksucht  sind  mannigfach  und  weit  verbreitet: 
Bezeichnend  für  den  trotz  aller  Temperenzlerbewegungen  immer  noch 
gewaltigen  deutschen  Durst.     Meistens  sind  sie  wenig  appetitlich  ^ 

1)  Vgl.  Ad.  Wuttke    „Der   deatsche   Voiksaberglanbe   der   Gegenwart^' 
S.  Bearbeitung  von  Elard  Hugo  Meyer  (Berlin  1900)  §§  188,  541,  547. 

24* 


372  XXIV.  Heixwio 

und  oft  höchst  kurioser  Art.  Ich  habe  zahlreiche  Materialien  dar- 
über gesammelt,  die  ich  in  einer  volkskundlichen  Zeitschrift  yer- 
öffentlichen  werde.  Aalschleim  als  Trunksuchtsmittel  habe  ich  zwar 
nirgends  finden  können.  Dagegen  klingt  an  dieses  Bezept  an  das  in 
Oldenburg  1)  und  in  Schwaben  2)  gebräuchliche  Verfahren,  einen  Aal 
in  Wein  oder  Branntwein  ertrinken  zu  lassen  und  den  Trank  dann 
dem  Säufer  zu  trinken  zu  geben. 

Noch  weniger  appetitlich ,  ja  sogar  recht  gefährlich  war  jenes 
Zaubermittel  gegen  Trunksucht,  welches  sich  nach  der  ^Eatto witzer 
Zeitung^  vom  25.  April  1906  eine  Viktualienhändlerin  in  Königshütte 
(Schlesien)  verschaffte,  um  ihren  Mann  zu  kurieren,  der  ein  unver- 
besserlicher Trunkenbold  war  und  ihr  das  Leben  zur  Hölle  machte. 
Auf  den  guten  Rat  einiger  „weiser  Frauen"  verschaffte  sich  die  Händ- 
lerin etwas  von  dem  Waschwasser,  mit  dem  eine  Leiche  gereinigt 
worden  war  und  goß  dieses  dem  Manne  in  den  Schnaps.  Doch  ver- 
sagte dieses  Mittel  bei  dem  trinkfesten  Mann.  Da  erfuhr  die  ver- 
zweifelte Frau,  daß  das  „Wasser",  das  von  einer  bereits  eingesargten 
Leiche  abtropfe,  ein  unfehlbares  Mittel  sein  solle.  Es  gelang  ihr 
auch,  sich  eine  derartige  Flüssigkeit  zu  verschaffen  und  der  Mann 
schluckte  den  schaurigen  Trank  „half  and  half"  hinunter.  Ob  das 
Mittel  seine  Wirksamkeit  getan  oder  ob  der  Mann,  dessen  Magen 
auf  derartigt  verfälschte  Spirituosen  sicherlich  nicht  geaicht  war,  er- 
krankt ist,  hat  man  leider  nicht  erfahren  können.  Branntwein,  ge- 
mischt mit  dem  Wasser,  mit  dem  eine  Leiche  abgewaschen  ist,  ist 
außer  in  Schlesien  auch  in  Thüringen  als  Trunksuchtsgegenmittel 
bekannt.^)  Ahnlich  heilt  man  in  der  Wetterau  einen  Trunkenbold 
gänzlich,  wenn  man  das  auf  der  Leiche  gelegene  Gesichtstuch  in  den 
Branntweinkrug  des  Trinkers  steckt  und  ihn  davon  trinken  läßt*) 
Bemerkenswert  ist  in  dem  obigen  Fall  die  mir  sonst  nicht  bekannte 
Steigerung  der  Intensität  des  Mittels:  Der  von  der  eingesargten  Leiche 
herausquellende  Flüssigkeit  muß  entschieden  mehr  von  der  angeb- 
lichen Heilkraft  der  Leiche  innewohnen,  als  dem  Wasser,  mit  dem 
die  Leiche  abgewaschen  ist,  das  also  nur  flüchtig  mit  dem  Leichnam 
in  Berührung  gekommen  ist  und  den  Heilstoff  in  stark  verdünntem 
Zustande  enthält.     Ferner  ist   die  Aufmerksamkeit  der  Kriminalisten 


1)  Wuttke  a.  a.  0.  §  541. 

2)  Dr.  M.  R.  Bück  „Medizinischer  Volksglaube  und  -aberglanbe  aas 
Schwaben*^  (Ravensburg  1865)  S.  53,  zitiert  bei  Johannes  Jühling  „Die  Tiere 
in  der  deutschen  Volksmedizin  alter  und  neuer  Zeit"  (Mittweida  1900)  S.  20. 

3)  Wuttke  a.  a.  0.  §  183. 

4)  eodem. 


Appetitliche  Zaubertränkc.  373 

darauf  zu  lenken,  daß  eine  sonst  unerklärliche  Grab-  oder  Leichen- 
schändung auf  einen  derartigen  Aberglauben  zurückgehen  kann,  wo- 
für wir  weiter  unten  aus  Bußland  ein  Beispiel  beibringen  werden. 

Einen  andern  Fall,  in  dem  man  Streit-  und  Zanksucht  durch 
einen  Zaubertrank  zu  kurieren  suchte,  berichtete  die  ^Berliner  Morgen- 
zeitung" vom  24.  Januar  1907.  Dieser  Fall  ist  um  deswillen  be- 
sonders interessant;  aber  auch  traurig,  weil  das  angewandte  Mittel 
äußerst  gefährlich  war  und  leicht  ein  ganzes  Dorf  hätte  verseuchen 
können  und  weil  der  Abergläubische  sich  einer  Leichenschändung 
schuldig  machte,  die  er  in  den  Bergwerken  Sibiriens  büßen  muß. 
Der  Bericht  des  Petersburger  Korrespondenten  jener  Zeitung  lautete 
folgendermaßen : 

„Zwischen  dem  Bauern  Gluchich  und  seinem  Sohne  herrschte 
fortgesetzt  Streit,  der  beiden  das  Leben  verbitterte  und  den  Vater  da- 
zu trieb,  sich  einer  Dorfzauberin  anzuvertrauen.  Diese  riet  dem  un- 
glücklichen Vater,  er  solle  dem  Sohne  längere  Zeit  hindurch  Wasser 
zu  trinken  geben,  in  dem  eine  Menschenleiche  gelegen  habe.  Dann 
werde  die  Streit-  und  Zanksucht  des  Sohnes  von  selbst  aufhören. 
Da  der  Bauer  wußte,  daß  vor  etwa  anderthalb  Monaten  ein  ein- 
jähriges Kind  auf  dem  Dorfkirchhof  beerdigt  worden  war,  schlich 
er  sich  nachts  auf  den  Friedhof,  scharrte  die  Kinderleiche  aus  und 
warf  sie  zu  Hause  in  den  Brunnen,  aus  dem  Trinkwasser  für 
Menschen  und  Vieh  geschöpft  wurde.  Einen  vollen  Monat  lag  die 
Leiche  im  Brunnen,  aber  die  Streit-  und  Zanksucht  des  Sohnes  wollte 
nicht  nur  nicht  abnehmen,  sondern  schien  sogar  zn  wachsen.  Eines 
Tages  stieg  aber  die  Leiche  an  die  Oberfläche  des  Brunnens  und 
wurde  auf  diese  Weise  zum  Ankläger  und  Verräter.  Bei  der  einge- 
leiteten Untersuchung  gestand  der  Vater  das  Verbrechen  der  Leichen- 
schändung, auf  die  dem  russischen  Bechte  nach  Verschickung  zur 
Zwangsarbeit  steht,  reumütig  ein  und  wurde  ins  Gefängnis  abge- 
führt. So  geschehen  im  Dorfe  Iljino,  im  Kreise  Sarapul  des  Gou- 
vernements Wiatka." 

Leichenwasser  als  Zaubertrank  ist  auch  sonst  bekannt;  so  heilt 
man  in  Schlesien  und  Thüringen  einen  Trunkenbold,  wenn  man  ihm 
das  Wasser,  mit  welchem  eine  Leiche  abgewaschen  ist,  im  Brannt- 
wein zu  trinken  gibt.')  Der  hierbei  maßgebende  Gedanke  ist  offen- 
bar der,  daß  das  Leichenwasser  dieselben  Kräfte  und  Eigenschaften 
wie  der  tote  Körper  hat,  also  als  Totenfetisch  gilt;  man  meint  nun, 
daß  wie  der  Tote  verwest,  so  auch  die  Trunksucht,  beziehungsweise 

1)  Wuttke  a.  a.  0.  §  183. 


374  XXIV.  HsLLwia 

die  Zanksncht  vergeben  müssen  weil  der  Mnnd  der  Betreffenden  mit 
dem  Leichenwaaser  in  Berührung  gekommen  ist.  Zu  beachten  ist 
dabei,  daß  sowohl  bei  der  Tmnksacht  als  auch  bei  der  Streitsucht 
der  Mund  dasjenige  Organ  ist,  durch  das  sich  das  betreffende  Laster 
nach  außen  hin  manifestiert:  deshalb  wird  das  Heilmittel  auch  hier 
angewandt  Wie  aus  diesen  Überlegungen  und  Analogien  zu  schließen, 
kann  jener  Zeitungsbericht  als  zuverlässige  Quelle  angesehen  werden. 
Bemerkt  sei  noch,  daß  nach  der  Fassung  jener  Notiz  es  zwar  an- 
scheinend nur  Zufall  war,  daß  gerade  die  Leiche  eines  kleinen  Kindes 
zu  der  Zauberprozedur  genommen  wurde,  daß  es  aber  immerhin  auch 
möglich  ist,  daß  die  Leiche  eines  Erwachsenen  für  nicht  wirksam 
oder  doch  nicht  für  in  gleichem  Maße  heilkräftig  gegolten  hätte, 
denn  es  ist  ein  bekannter  Volksglaube,  daß  gerade  „unschuldige 
Kinder^  besonders  zauberkräftig  sind. 

Zum  Schluß  sei  noch  eine  Tragikomödie  erwähnt,  die  sich  kürz- 
lich in  Brüssel  abgespielt  hat,  wo  eine  gebildete  Sängerin  in  den 
Verdacht  des  versuchten  Giftmordes  kam.  „Das  Deutsche  Blatt^  vom 
25.  Januar  1907  berichtete  darüber  folgendes: 

Der  Liebestrank.  Eine  Angelegenheit,  die  in  Brüssel  Auf- 
sehen erregte,  hat  sich  jetzt  in  milde  Heiterkeit  aufgelöst  Ein 
Künstlerehepaar  —  er  Maler,  sie  Sängein  —  vertrug  sich  schon  seit 
längerer  Zeit  nicht  zum  besten.  Obgleich  sie  ein  Töchterchen  hatten, 
schienen  sie  entschlossen,  sich  scheiden  zu  lassen,  und  schon  hatten 
sich  zwei  Advokaten  mit  dem  Fall  befaßt  So  weit  war  die  Sache, 
als  eines  Tages  und  dann  mehrere  Tage  hintereinander  der  Ehemann 
sich  nach  jeder  Mahlzeit  von  Leibschmerzen  gequält  fühlte.  Ein 
schrecklicher  Verdacht  stieg  in  ihm  auf,  der  sich  befestigte,  als  der 
Hund  des  Malers,  nachdem  er  ein  für  diesen  bestimmtes  Törtchen 
gefressen,  auf  gleiche  Weise  krank  wurde.  Und  das  Dienstmäddien, 
streng;  ins  Gebet  genommen,  verriet  schließlich,  daß  die  gnädige  Frau 
allen  Speisen  des  Mannes  ein  giftiges  Pulver  beigemischt  habe.  Da 
erstattete  der  Mann  die  Anzeige,  und  die  Frau  legte  vor  dem  Unter- 
suchungsrichter ein  volles  Geständnis  ab,  nur  fiel  es  etwas  anders 
aus,  als  man  erwartet  hatte.  Die  Frau  hatte  nämlich  nicht  im  ge- 
ringsten daran  gedacht,  ihren  Mann  ums  Leben  zu  bringen ;  im  Gegen- 
teil. Nicht  Gift  hatte  sie  ihm  beibringen  wollen,  sondern  einen 
Liebestrank.  Sie  hatte  fest  geglaubt,  daß  ihr  Mann  zärtlicher 
werden  und  zu  ihr  zurückkehren  würde,  wenn  sie  ihn  häufig  von 
einem  wohlbekannten  Aphrodisiakum,  dem  Kantharidin,  schlucken 
ließ.  Daß  die  Wirkung  eine  ganz  andere  war,  dafür  konnte  diese 
Isolde  nichts.     Der  Apotheker,   der  das  Mittel  ohne  ärztliche  Ver- 


Appetitliche  ZaabertrSnke.  375 

Ordnimg  abgegeben  hatte,  wird  dafür  bestraft  werden.  Der  Maler 
Tristan  aber  kehrt  jetzt  vielleicht  doch  in  die  Arme  der  Gattin  znrück, 
die  auf  so  besondere  Art  um  seine  Liebe  geworben.'' 

Hierzu  sei  bemerkt,  daß  es  sich  hier  offenbar  um  die  Anwen- 
dung eines  in  gesundheitlicher  Beziehung  recht  gefährlichen  Zauber- 
trankes handelte,  der  auch  in  Deutschland  bekannt  ist  Dies  bezeugt 
ein  Mediziner  von  umfassenden  ethnologischen  und  folkloristischen 
Kenntnissen:  „Nicht  ungefährlich  mag  die  Liebeswut  sein,  welche  die 
fränkischen  Mädchen  bei  ihren  Geliebten  dadurch  erzeugen,  daß  sie 
denselben  in  Kaffee  eine  Abkochung  von  spanischen  Fliegen  über- 
geben, denen  sie  vorher  den  Kopf  abgebissen  haben;  denn  das  in 
diesen  Tierchen  enthaltene  Gantharidin  wirkt  schwer  schädigend  auf 
die  inneren  Organe,  namentlich  auf  die  Nieren,  ein.^  ^)  Dieser  Fall 
ist  besonders  um  deswillen  interessant,  weil  ein  Bichter,  dem  jener 
Volksglaube  nicht  bekannt  wäre,  bei  den  Zerwürfnis  zwischen  den 
Ehegatten  die  Angaben  der  Liebeszauberin  für  erdichtet  halten  müfite; 
daneben  sei  auch  noch  darauf  hingewiesen,  dafi  zahlreiche  Zauber- 
mittel, welche  sich  durch  das  „sechste  und  siebente  Buch  Mosis''  und 
in  anderen  weitverbreiteten  modernen  „Zauberbüchem^  befinden, 
gleichfalls  höchst  gesundheitsschädlich  sind,  sodaß  auch  von  diesem 
Gesiditspunkt  aus  ein  behördliches  Einschreiten  gegen  diese  Schund- 
literatur Wünschenwert  wäre. 


1)  Dr.  EL  PI 088  ,,Das  Weib  in  der  Natur-  and  Völkerkunde".  3.  Aoü. 
von  Dr.  Max  Bartels  Bd.  I  (Leipzig  1891)  S.  360.  Eine  neuere  Auflage  i»t 
mir  augenblicklich  nicht  zur  Hand. 


XXV. 
Regenwarmmedizin. 

Von 
Dr.  Albert  Hellwig. 


Zu  welchen  höchst  eigenartigeD,  ebenso  ekelerregenden  als  anter 
Umständen  gefährlichen  ^Heilmitteln^'  das  Volk  immer  noch  seine 
Zuflucht  nimmt,  zeigt  von  neuem  wieder  folgender  Vorfall,  den  das 
,,  Hannoversche  Tageblatt^  vom  31.  August  1906  im  Anschluß  an 
das  ;^HoxaIer  Wochenblatt^  berichtete:  „In  der  Nähe  von  Intschede 
war  ein  Kind  schon  seit  längerer  Zeit  krank,  ohne  daß  dem  Laien 
eine  eigentliche  Krankheitsursache  erkennbar  war;  es  mußte  also  be- 
hext sein.  Auf  den  Bat  eines  ,weisen^  Mannes  wurde  dem  armen 
Wesen  ein  lebender  Regenwurm  eingegeben,  um  das  Kind  zu  heilen 
und  den  Zauber  der  bösen  Hexen  zu  brechen.  Der  Wurm  blieb 
dem  Kinde  in  der  Kehle  stecken,  und  so  mußte  das  unglückliche 
Opfer  des  dunkelsten  Wahnes  elendiglich  an  Erstickung  sterben.^ 

Der  Regenwurm  wird  in  der  Volksmedizin  gar  nicht  all  zu  selten 
als  Medikament  angewendet  i),  meistens  äußerlich  als  Salbe,  Pulver, 
Ol,  oft  aber  auch  innerUch.  So  heißt  es  in  einem  älteren  in  der 
Königlichen  öffentlichen  Bibliothek  zu  Dresden  vorhandenen  Manu- 
skripte: „Wieder  den  Biß  eines  thörichten  Hundes.  Nim  vier  kleine 
Würmlein  vund  schneidt  ihnen  mit  einem  faden  das  Haupt  abe  vund 
lege  sie  in  honig,  vier  aber  die  zu  reibe  in  Bier  vund  trincke  davon.** 
In  der  Oberpfalz  gibt  man  dem  Kranken  gegen  Auszehrung  das 
Pulver  von  gedörrten  ßegenwürmern  in  der  Suppe  zu  essen  2).  In 
Oldenburg   ertränkt   man   gegen  Bheumatismus  und  Gicht  dreizehn 


1)JohanneB  Jühlin^  „Die  Tiere  in  der  deutschen  Volksmedizin  alter 
und  neuer  Zeit"  (Mittweida  1900)  S.  67,  133-  141,  144,  149,  177,  178,  213, 215,  260. 

2)  Schon  wer  th  „Sitten  und  Sagen  der  Oberpfalz"  (1858)  S.  38,  2,  zitiert 
bei  Jühling  a.  a.  0.  S.  139. 


Regen  warmmedizin.  377 

Begen Würmer  in  Branntwein  und  schluckt  sie  mit  ihm  hinunter^)  und 
in  Pommern  gilt  es  als  ein  probates  Mittel  gegen  Magenkrämpfe, 
wenn  man  eine  reife  Pflaume  aufschneidet,  einen  Begenwurm  hinein- 
steckt und  sie  ganz  verschluckt^). 

Was  die  Verwendung  des  Begenwurmes  als  Heilmittel  anbelangt, 
so  ist  hierfür  vermutlich  maßgebend  gewesen  der  allgemeine  Glaube 
an  die  Entstehung  zahlreicher  Krankheiten  durch  „Würmer^.  Sicher- 
lich gaben  die  Eingeweidewürmer  dem  parasitären  Dämonismus  in 
der  ehemaligen  Nosologie  den  eigentlichen  Boden.  Vielleicht  hat 
nichts  den  Glauben  an  Krankheitsdämonen  solange  forterhalten  als 
gerade  der  allen  bekannte  Parasitismus,  in  dessen  faktischer  Kenntnis 
unsere  Zeit  so  große  Fortschritte  aufzuweisen  hat ;  namentUch  mußten 
die  in  fettigem  Eingeweide  voll  von  schmierigem  Schleim  lebenden 
Bauchwürmer,  die  aus  der  crusta  vermicularis,  der  innersten  Schleim- 
haut des  Darmes  entstehen  sollten,  dem  Eingeweidebeschauer  auf- 
fallen. Gerade  in  solchen  krankhaften  Sekretionen  (Qualster)  mußte 
der  elbische  Dämon  oder  wenigstens  ein  Stück  von  ihm  sitzen^)." 

Vermutlich  hat  man  auch  in  dem  oben  geschilderten  Fall,  der 
den  Ausgangspunkt  unserer  Betrachtungen  bildete,  einen  Wurm  als 
Krankheitsursache  vermutet,  und  zwar  den  „Herzwurm'^,  „das  ist  ein 
wurm  der  den  Leuten  das  Herz  absperrt  und  nimand  wais,  was  es 
ist  und  sterben  gähling  daran;  es  hat  Hoerner  vom  am  Haubt  wie 
ein  hirsch  *).*'  Der  gemeine  Mann  glaubt,  daß  jeder  Mensch  einen 
solchen  Herzwurm  habe  und,  wenn  dieser  aus  dem  Munde  krieche 
und  auf  die  Zunge  trete,  so  müsse  er  sterben.  In  Gestalt  eines  Herz- 
wurmes können  auch  die  Hexen  das  Herz  des  Menschen  abspeisen, 
aufzehren,  so  daß  das  Herz  dns  Menschen  nach  dem  Tode  bohnen-, 
nuß-,  erbsengroß  zusammengeschrumpft  vorgefunden  wird;  dann  hatte 
etwas  am  Herzen  genagt^).  Als  Gegenmittel  gegen  die  durch  Würmer 
verursachten  Krankheiten  nahm  man  nach  dem  bekannten  Grundsatz 
der  Volksmedizin  „similia  similibus  curare*'  auch  wieder  Würmer  ein. 
So  ließe  es  sich  auch  in  unserem  Falle  erklären,  daß  einem  „behexten'^ 
Kind  ein  Begenwurm  eingegeben  wird;  denn  durch  das  Hexen  ent- 
steht der  Herzwurm  und  dieser  wird  durch  den  Begenwurm  bekämpft. 


1)  Strakerjan  „Aberglaube  und  Sagen  aus  Oldenburg*^  Bd.  I  Oldenburg 
1867  §  111. 

2)  Knoop  in  der  „Zeitschrift  für  pommersche  Volkskunde''  Bd.  V,  zitiert 
bei  Jühling  a.  a.  0.  S.  140. 

3)  Jahling  a.  a.  0.  S.  334. 

4)  Jühling  a.  a.  0.  S.  338. 

5)  eodem. 


378  XXV.  Hellwio 

Interessant  ist  übrigens,  daß  noch  eine  Oöttinger  Dissertation  von 
1786  die  Begenwürmer  als  wirksam  lobt,  besonders  gegen  Gicht, 
Gelbsucht,  Milzkrankheiten,  Lähmungen^  SchlagfluB,  Konvulsionen, 
Krämpfe,  Tollwut,  Ohrenleiden,  Eingeweidewfirmer,  Skorpionstiche, 
Skorbut  und  Hamverhalten  ^). 

So  geben  uns  auch  hier  die  volksmedizinischen  Parallelen  einen 
brauchbaren  Anhidt  zur  strafrechtlichen  Charakterisierung  der  töd- 
lichen Heilprozedur.  Denn  die  Anwendung  eines  derartig  verbr^teten 
Yolksheilmittels  wird  den  daran  Glaubenden  fast  immer  vor  dem 
Vorwurf  des  fahrlässigen  Handelns  bewahren;  mindestens  aber  ist 
der  Grad  der  Fahrlässigkeit  ein  so  geringer,  daß  die  Strafe  milde 
ausfallen  dfirfte. 


1)  JQhling  a.  a.  0.  S.  140. 


Kleinere  Mitteilnngen. 

Von  Medizinalrat  Dr.  P.  Nftcke. 

1. 


Nekrolog  für  Prof.  Mendel.  Am  23.  Juni  h.  a.  ist  einer  der 
bedeutendsten  Psychiater  des  Kontinents  heimgegangen.  Geb.  1839  zu 
Bunzlau,  habilitierte  sich  M.  in  Berlin ,  ward  1884  außerordentlicher  Prof^ 
vor  kurzem  erst  zum  Oeheimrat  ernannt,  und  ward  als  Lehrer  und 
Kousulent  hochgeschätzt  Nach  Gharcot  besaß  er  wahrscheinlich  die  größte 
Nervenklinik  in  Europa  und  seine  Kranken  und  Schüler  vergötterten  ihn. 
Aber  auch  in  der  Wissenschaft  hat  er  tiefe  Spuren  hinterlassen.  1898 
begründete  er  das  hochangesehene  „Centralblatt  für  Neurologie  und 
Psychiatrie*'  und  schrieb  viel  neurologische  und  psychiatrische  Arbeiten,  die 
sidb  alle  durch  große  Klarheit,  Ruhe,  große  Erfahrung  und  Gründlichkeit 
auszeichneten.  Seine  Hauptwerke  sind:  Progressive  Paralyse  der  Irren 
(1880);  die  Manie  (1831),  der  Leitfaden  der  Psychiatrie  (1902)  und  anderes 
mehr.  Die  Juristen  interessiert  besonders  seine  intensive  forensische  Tätig- 
keit und  verschiedene  forense  Arbeiten,  die  auch  von  den  Juristen  sehr 
gelobt  werden.  Seinen  zahlreichen  Freunden  und  Bekannten  war  er  ein 
treuer  Berater,  stets  gütig,  hilfsbereit  und  wahr,  was  er  auch  in  seiner 
früheren  politischen  Tätigkeit  bewies.  Sein  Andenken  wird  stets  in  der 
Wissenschaft  erhalten  bleiben  und  auch  die  Mitwelt  kann  nur  sagen:  Er 
war  ein  guter  und  ein  ganzer  Mann!     Requiescat  in  pace! 


Mitgeteilt  von  Hans  Groß. 
2. 

Falsche  Würfel  in  Japan.  Herr  Shitara  Jsao,  Rat  am  Apel- 
iationsgerichtshof  in  Sendai^),  Japan,  hatte  die  Güte,  mbr  4  falsche  Würfel 
zu  senden,  die  japanischen  Falschspielern  abgenommen  wurden.    Leider  ist 


1)  In  der  Provinz  Rikuzen,  Ostküste  der  Insel  Nippon  mit  (1894)  78771 
Einwohnern. 


380  EJeinere  Mitteilungen. 

einer  der  Würfel,  gerade  der  interessanteste,  nicht  angekommen  i).  Die 
übriggebliebenen  Würfel  sind  aus  Bein  hergestellt,  und  nicht  von  gleicher 
Größe;  die  Längsseiten  der  drei  Würfel  messen  9,  S,  7  mm,  so  daß  die 
drei  Würfel  nicht  dne  zusammengehörige  Garnitur  gebildet  haben.  Es 
geht  auch  aus  der  folgenden  Beschreibung  hervor,  daß  man  in  Japan  stets 
nur  mit  emem  einzigen  Würfel  zu  spielen  scheint;  Herr  Shitara  sagt: 
„beim  Spielen  legt  man  den  Würfet  —  „man  schüttelt  den  Würfel^' 
etc.  — 

Ich  bringe  den  ganzen  Brief  des  Herrn  Shitara  buchstäblich  zum  Ab- 
druck: es  ist  bewunderungswürdig,  wie  vortrefflich  sich  der  Asiate  im 
Deutschen  auszudrücken  vermag. 

Sendai,  den  16.  August  1907. 

Geehrter  Herr  Professor! 

Wie  geht  es  Ihnen?  Hoffentlich  sehr  gut  Hier  bleibt  alles  beim 
alten.  Herr  Tacagi  wird  Sie  auf  seiner  Reise  um  die  Welt  besucht 
haben  und  Sie  haben  wohl  von  ihm  erfahren,  wie  es  hier  bei  uns  zu 
Hause  geht. 

Diesmal  schicke  ich  Ihnen  4  Würfel.  Einer  von  ihnen  ist  abge- 
brochen. Er  war  so  beschaffen,  daß  er  immer  auf  einer  Flache  mit 
der  ungeraden  Zahl  stand,  indem  man  in  der  Nähe  derselben  Blei  in 
den  Würfel  hineingegossen  hatte.  Ich  wollte  das  Blei  herausholen  und 
machte  es  dabei  ungeschickt,  daß  eine  Ecke  desselben  absprang.  Von 
den  drei  anderen  ist  der  kleinste  nur  mit  den  geraden  Zahlen  versehen^ 
während  der  mittelgroße  nur  die  ungeraden  Zahlen  hat.  Von  dem  größten'^) 
ist  jede  ungeradzahiige  Fläche  mit  einer  Nadel  versehen,  welche  frei 
heraus-  und  hineintritt.  Beim  Spielen  legt  man  den  Würfel  in  einen 
kleinen  tassenförmigen  Becher,  welchen  man  in  der  flachen  Hand  hält. 
Man  schüttelt  den  Würfel  drin  und  wirft  ihn  daraus,  indem  man  den 
Becher,  den  man  noch  immer  in  der  Hand  hält,  schnell  auf  den  mit 
einem  Tuch  überzogene  Würfelmatte  umstülpt.  Dabei  fühlt  der  Spieler 
geschickt  den  Würfel  mit  der  Fingerspitze  oder  schiebt  denselben  ein 
wenig  auf  der  Matte,  um  zu  wissen,  auf  welcher  Fläche  derselben  steht. 
Wenn  er  dann  durch  das  Kratzen  der  Nadel  auf  dem  Tuche  merkt,  daß 
der  Würfel  auf  einer  un geradzahligen  Fläche  steht,  so  kehrt  er  denselben 
mit  derselben  Fingerspitze  um  eine  Fläche  um,  so  daß  die  geradzahlige 
Bläche  nach  oben  kommt.  Oder  überhaupt  hindert  die  Nadel  den  Würfel 
am  Rollen,  so  daß  dieser  in  den  meisten  Fällen  auch  ohne  irgend  welches 
Zutun  vonseiten  des  Spielers  von  selbst  auf  der  geradzahligen  Fläche  zu 


1)  Die  Pappschachtel,  in  der  sich  die  Würfel  befanden,  kam  zerdrückt  an; 
gleichwohl  kann  der  vierte  Würfel  unmöglich  verloren  worden  sein,  da  die  ai>> 
gekommenen  drei  Würfel  sorgfaltig  in  vierfachem  zähen  Baumwollenpapier  ein- 
geschlagen waren,  welches  wieder  mehrfach  hermngelegt  war.  Der  vierte  Würfel 
muß  also  herausgenommen  worden  sein,  was  nur  möglich  war,  wenn  man  das 
vielfach  herumgelegte  Papier  aufgeschlagen  (und  wieder  ebenso  zusammengelegt) 
hat.  Ich  bedaure  den  Verlust  des  vierten  Würfels  lebhaft  —  Nachforschungen, 
wo  er  auf  der  langen  Reise  verschwunden  ist,   wären  natürlich  ganz  zwecklos. 

2)  Dieser  größte  ist  eben  der  abhanden  gekommene. 


Kleinere  Mitteilungen.  381 

stehen  kommt.  Diese  Würfel  sind  Ihnen  nichts  neaes,  wenn  ich  Ihnen 
und  Ihren  Landesleuten  nur  zeigen  kann,  daß  die  Gauner  ihre  Sache 
überall  gleich  geschickt  machen,  so  ist  der  Zweck  meiner  Sendung  erreicht. 

Hiermit  empfiehlt  sich  mit  Hochachtung 

Ihr 

Shitara  Isao. 


3. 

Herr    Prof.   Dr.  R.  A.  Reiß   in  Lausanne  schreibt  (unterm  28.  Juli 
1907)  an  den  Herausgeber: 

Sehr  geehrter  Herr  Kollege! 

Mit  vielem  Interesse  habe  ich  im  letzten  Hefte  Ihres  Archives  die 
Arbeit  von  Hellwig:  „Einige  merkwürdige  Fälle  von  Irrtum  über  die 
Identität  von  Sachen  oder  Personen^'  gelesen.  Die  darin  angeführten 
Irrtümer  über  die  Identität  wundern  mich  garnicht,  da  solche  Irrtümer 
öfters  vorkommen  als  man  denkt.  In  meiner  Praxis  habe  ich  zwei  sehr 
typische  Fälle  gehabt,  die  ich  Ihnen,  sehr  geehrter  Herr  Kollege,  für 
etwaige  Verwendung  im  folgenden  mitteile: 

1.  Ein  Mann  stürzt  sich  in  selbstmörderischer  Absicht  von  einer 
unserer  sehr  hohen  Lausanner  Brücken.  Der  sofort  herbeigeholte  Poli- 
zeisergeant glaubt  in  dem  Toten  eine  recht  bekannte  Lausanner  Per- 
sönlichkeit zu  erkennen.  Kurze  Zeit  nachher  kommen  Gerichtsarzt, 
Untersuchungsrichter,  der  Greffier  des  letzteren  etc.  in  die  Polizeiwache, 
wo  unterdessen  der  Körper  des  Verstorbenen  untergebracht  wurde,  und 
erkennen  in  dem  Selbstmörder  ebenfalls  die  obengenannte  Persönlichkeit 
Jetzt  geht  ein  Polizist  die  Frau  des  Verstorbenen  von  dem  Vorfalle 
möglichst  schonend  zu  benachrichtigen.  Sein  Erstaunen  ist  jedoch  groß, 
als  der  vermeintlich  Selbstgemordete  ihm,  auf  sein  Klingeln  an  der 
Wohnung,  selbst  aufmacht.  Die  Leiche  war  die  einer  anderen,  auch 
sehr  bekannten  Persönlichkeit,  die  höchstens  in  der  Größe  und  der  Bart- 
tracht etwas  Ähnlichkeit  mit  dem  für  den  Selbstmörder  gehaltenen  Manne 
hatte.  Alle  Leute,  vom  Untersuchungsrichter  angefangen,  die  die  Leiche 
gesehen  hatten,  machten  denselben  Irrtum  in  der  Identität 

2.  Vor  einigen  Jahren  wohnte  ich  etwas  außerhalb  des  Stadtge- 
bietes Lausanne.  Der  Weg  zu  meinem  Hause  führte  über  eine  soge- 
nannte „passage  ä  niveau^'  oder  unbewachten  Bahnübergang.  Elines 
Abends,  es  war,  wenn  ich  mich  nicht  irre,  Ende  Februar,  kehrte  ich  mit 
einem  jungen  Studenten,  der  in  meiner  Gegend  wohnte,  nach  Hause  zu- 
rück. Am  betreffenden  Bahnübergang  angekommen  kamen  wir  gerade 
dazu,  wie  einige  Leute  einen,  eben  vom  Zug  überfahrenen,  gut  gekleideten 
Mann  (Selbstmörder)  vom  Geleise  wegtrugen.  Mein  Begleiter  und  ich 
traten  hinzu  und  besichtigten  die  nicht  sehr  verstümmelte  Leiche. 
Der  Kopf  zeigte  nur  an  der  rechten  Schläfengegend  eine  breite,  blutende 
Wunde.  Die  beiden  Vorderarme  und  Beine  waren  gebrochen.  Ich  fand 
unterdessen  den  schwarzen,  steifen  Hut  des  Verstorbenen,  der  jedenfalls 
beim  Anprall  der  Maschine  hinweggeschleudert  worden  war,  und  fand  in 
ihm    die  Adresse    eines    Turiner   Hutmachers.      Mein  Begleiter  und  ich 


382  Kleinere  Mitteilungen. 

waren  also  überzeugt,  daß  es  sich  nm  die  Leiche  eines  Italieners  handelte. 
Wir  hatten  beide  den  Toten  beim  Lichte  einer  starken  Laterne  mehrfadi 
eingehend  besichtigt.  Nachdem  wir  noch  eine  Decke  über  die  Leiche 
gelegt  hatten,  gingen  wir  hinweg.  Am  anderen  Morgen  erfuhr  nun  mein 
Begleiter,  daß  der  Tote  einer  seiner  Verwandten  war,  den  er  oft  gesehen 
hatte.  So  hatte  er  also  während  der  relativ  langen  Zeit,  während  der 
wir  uns  die  Leiche  betrachteten,  seinen  Verwandten  nicht  erkannt,  ja  er 
hatte  sogar  die  Leiche  für  die  eines  Italieners  gehalten. 

Die  von  Hellwig  als  Erklärung  solcher  Identitätsirrtümer  angeführte 
Autosuggestion  mag  wohl  teilweise  daran  schuld  sein.  Die  Hauptursache 
ist  jedoch,  wie  ich  es  schon  seiner  Zeit  in  m^er  „Photographie  judici- 
aire*'  angab,  wohl  die,  daß  wir  die  flach  auf  dem  Boden  mit  meist  ge- 
schlossenen Augen  daliegenden  Leichen,  tatsächlich  nicht  wiedererkennen. 
Der  Mensch  ist  so  gewöhnt  seinen  Nächsten  in  aufrechter  Stellung, 
sitzend  oder  stehend,  zu  sehen,  daß  er  sich  dessen  Bild  in  dieser  Stellung 
eingeprägt  hat.  Sieht  er  denselben  nun  flach  auf  dem  Boden  Begend, 
von  oben  oder  von  unten,  so  erkennt  er  ihn  in  vielen  Fällen  einfach 
nicht  wieder,  da  er  ihn  noch  nie,  oder  doch  nur  sehr  selten  so  gesehen 
hat.  Wie  unbekannt  kommt  einem  oft  der  beste  Freund  vor,  den  man 
Morgens  noch  im  Bett  liegend  antrifft! 

Die  falsche  Identitätsbestimmung  von  Leichen,  oft  von  Sdten  der 
nächsten  Angehörigen,  schreibe  ich  hauptsächlich  der  ungewöhnlichen 
Lage  der  Leiche  zu.  Es  kommt  natürlich  dann  noch  oft  die  Veränderung 
des  Ausdruckes  des  Gesichtes,  die  geschlossenen  Augen,  Fehlen  der 
Kleidung  hinzu,  die  die  Wiedererkennung  noch  schwieriger  machen 
Selbst  Leute,  die  sich  viel  mit  Identitätsbestimmungen,  wie  ich,  abgeben 
kommen  oft  in  solchen  Fällen,  nur  durch  die  genaue  Analyse  der  em- 
zelnen  Oesichts-  und  Körperteile  zu  einem  sicheren  Resultate.  Was  nun 
die  Bestimmung  der  EJeider-  und  Haarfarbe  durch  das  Publikum  be- 
trifft, habe  ich  schon  so  unglaubliche  Sachen  erlebt,  daß  es  mich  nicht 
wundert,  daß  blonde  Haare  für  braune  und  umgekehrt  (namentlich  wenn 
sie  naß  sind)  angesehen  werden. 

Das  wären  in  Kurzem  die  Bemerkungen,  die  ich  zur  Hellwigen'schen 
Arbeit  zu  machen  hätte. 

Ihr 

etc. 

R.  A.  Reiß. 


Mitgeteilt  vom  Landgerichtsrat  Ungewitt er- Straubing. 

4. 

Ein  Fall  von  dementia  praecox.  Der  am  10.  Mai  1889  ge- 
borene Tageiöhnerssohn  Franz  B.  war  vom  Sommer  1904  bis  Lichtmeß 
1905  bei  einem  Fabrikbesitzer  als  Laufbursche  verwendet.  Als  solcher 
diente  er  zur  Zufriedenheit  und  zeigte  keine  absonderlichen  Eigenschaften. 
Später  kam  aber  auf^  daß  er  während  seiner  Dienstzeit  auf  dem  Namen 
seiner  Dienstherrschaft  Geld  und  Lebensmittel  bei  Geschäftsleuten  heraus- 
geschwindelt und  Quittungsbücher  gefälscht  hatte.  Auch  nach  seiner  Ent- 
lassung begmg  er  solche  Handlungen.    Als  er  schließlich  noch  einen  Ein- 


Kleinere  Mitteilimgen.  383 

bnichsdiebBtahl  verübte,  wurde  er  verhaftet  Nach  wenigen  Wochen  zeigten 
sich  Sparen  emer  Oeisteskrankheity  weshalb  er  in  die  Irrenanstalt  emgeschafft 
wnrde^  ans  welcher  er  erst  nach  IV2  Jahren  als  gebessert^  nicht  aber  als 
geheilt,  entlassen  wurde. 

B.  ist  erblich  belastet,  der  Sohn  eines  Trinkers,  seine  Schwester  ist 
in  der  Eretinenanstalt  nntergebracht  Nach  dem  Gutachten  des  Irrenarztes 
leidet  der  im  Pabertätsalter  stehende  B.  an  dementia  praecox,  er  zeigte 
Größenwahnideen  abwechselnd  mit  Verfolgongswahnäußerongen;  den  Dieb- 
stahl hat  er  in  semem  geisteskranken  Znstande  verübt,  die  früheren  straf- 
baren Handlungen  sind  als  Vorläufer  seiner  später  auftretender  geistigen 
Erkrankung  anzusehen. 

Wegen  der  strafbaren  Handlungen  vor  Geridit  gestellt  zeigt  B.  ein 
äußerst  schüchternes  Benehmen,  gesteht  die  ihm  zur  Last  gelegten  Hand- 
lungen zum  Teü  zu  und  erklärt  im  übrigen  sich  an  nichts  mehr  zu  er- 
innern.   Er  wurde  im  Hinblick  auf  §  51  StGB,  freigesprochen. 

—  ürteU  des  Landgerichts  Sti&ubmg  vom  11.  Mai  1907.  AYZ   1117/05.  — 


Besprecliungen. 


1. 

Adler:  Stadie  über  Minderwertigkeit  von  Organen.  Wien,  Urban  u.  Schwarzen- 
berg,  1907,  92  S-,  3  Mk. 

Eine  höchst  verdienstliche  Arbeit,  die  gewisse  Perspektiven  eröffnet, 
freilich  wie  dies  bei  solchen  Gelegenheiten  nnr  zn  oft  geschieht,  öfters  über 
das  Ziel  hinaus  schießend.  Das  meiste  ist  allerdings  schon  bekannt,  erscheint 
aber  teilweise  in  nener  Beleuchtung.  So  sind  jetzt  z.  B.  wohl  alle  darin  dnig, 
da£  jede  Erkrankung,  also  doch  auch  durch  Infektionen,  nur  auf  dem  Boden 
einer  angeerbten  oder  erworbenen  Disposition  entsteht,  also  einer  Minder- 
wertigkeit einer  oder  mehrerer  Organe.  Ebenso  ist  die  „relative''  Minder- 
wertigkeit schon  bekannt,  wie  auch  die  Wichtigkeit  der  äußeren  und  be- 
sonders der  physiologischen  „Stigmata".  Nach  „Grundzügen"  einer  Organ- 
Minderwertigkeitslehre  behandelt  Verf.  die  Heredität,  die  Anamnese,  die 
morphologischen  Kennzeichen,  die  Reflexanomalien  (speziell  am  Gaumen  und 
Rachen)  als  Minderwertigkeitszeichen,  die  mehrfachen  Organminderwertigkeiten, 
die  Rolle  des  Zentralnervensystems  und  die  biologLschen  Gesichtspunkte  der 
neuen  Lehre.  Viele  interessante  Krankengescliichten  sind  eingestreut  Defi- 
nitionen von  Heredität  und  Stigmaten  giebt  Verf.  nicht.  Vieles  ist  ent- 
schieden übertrieben,  vielleicht  sogar  direkt  falsch.  Auf  die  Freud'schen 
Lehren  wird  geschworen,  die  doch  nur  zum  Teil  richtig  sind.  Sehr  fraglich 
erscheint  es  Ref.,  ob  ein  minderwertiges  Organ  wirklich  selbst  überkompen- 
siert werden  kann,  ob  stets  (was  Verf.  allerdings  später  selbst  modifiziert) 
einem  minderwertigen  Organ  ein  minderwertiges  entsprechendes  Stück  Zentral- 
nervensystem entspricht,  ob  die  „segmentäre"  Minderwertigkeit  berechtigt 
ist,  ob  das  Genie  wirklich  Ausdruck  eines  minderwertigen  Organes  ist,  ob 
Letzteres  stets  emb\Tonale  Züge  zeigt,  ob  es  eine  Funktionsanomalie  ohne 
anatomisches  Substrat  gibt,  ob  die  „Stigmata*'  stets  nur  angeborene  sind, 
ob  stets  Neoplasmen  nur  minderwertige  Organe  betreffen  etc.  Kurz, 
man  sieht,  daß  hier  eine  Revision  sehr  nötig  erscheint!  Trotzdem  ist  die 
Schrift  wertvoll  und  sehr  anregend.  Dr.  P.  Näcke. 


2. 

Sommer:  Klinik  für  psychische  und  nervöse  Krankheiten.    H.  Bd.  2.  H. 
3  M.  1907,  Marhold,  Halle. 

Hier  interessiert  uns  folgendes.   Zunächst  ein  Aufsatz  von  Roemheld 
über  die  sog.  Zyklothymie,  das  heißt  die  leichtere  Form  der  periodischen 


Besprechungen.  385 

Störungen  des  Nerven-  und  Seelenlebens,  die  zwar  eine  leidite  Form  von 
Psychose  ist,  aber  gewöhnlich  niclit  als  solche  angesehen  wird  und  nur  zu 
oft  mit  Neurasthenie;  Hysterie  oder  Paralyse  verwechselt.  In  Irrenanstalten 
ist  sie  sehr  selten,  oft  aber  in  Sanatorien  und  in  der  Sprechstunde.  Bei 
Kindern  sah  sie  der  Verf.  nicht;  in  der  Hälfte  der  Fälle  bestand  bei  den 
Andern  schwere  hereditäre  Belastung,  oft  gleicher  Art.  Auslösend  wirken  oft 
Menstruation,  Verlobung,  Wochenbett,  Klimakterium  etc.  Laquer  be- 
spricht sodann  ausführlich  die  Fürsorgeerziehung  seiner  Debilen  und  Imbe- 
cillen,  die  antisozial  werden,  unter  denen  bekanntlich  viele  Psychopathen 
sind.  Er  verlangt  mehrjährige  gemeinsame  Volksschule  für  Reiche  und 
Arme,  damit  alle  Debile,  d.  h.  auch  unter  den  Wohlhabenden,  erkannt 
und  behandelt  werden  können.  Nach  der  Schule  müssen  sie  in  besondere 
Lehranstalten  kommen,  am  besten  in  Arbeitskolonien.  Personalbogen  in  der 
Schule  und  Fürsorgeregister  nach  der  Schulentlassung  werden  verlangt.  Die 
Fürsorgeerziehung  kann  nach  Verf.  ohne  Nachteil  in  den  Händen  der  Seel- 
sorger und  Pädagogen  bleiben,  doch  mit  ärztlicher,  besonders  psychiatrischer 
Hilfe.  Ref.  glaubt,  daß  am  besten  auch  der  Arzt  (Psychiater) 
Leiter  solcher  Anstalten  sein  sollte. 

Dr.  P.  Näcke. 


3. 

Krauss:  Historische  Quellenschriften  zum  Studium  der  Anthropophyteia. 
Jährlich  4  Bändchen,  20  M.  1906.  Leipzig,  Deutsche  Verlags- Aktien 
Gesellschaft 

Der  unermüdliche  Folklorist  Dr.  Fr.  Krauss  in  Wien  gibt  unter  Mit- 
wirkung hervorragender  Fachmänner  deutsche  und  fremde  Quellenschriften 
vergangener  Zeiten  heraus,  die  uns  das  Kulturleben,  das  Denken  und 
Fühlen  des  Volkes  und  zwar  in  seinen  intimsten  Seiten,  das  heißt  seine 
Erotik  näher  bringen  sollen.  Der  1.  Jahrgang  dieses  höchst  ver- 
dienstlichen Unternehmens,  das  den  literatur-Kultushistoriker,  So- 
ziologen, Psychologen  und  Ethnologen  in  gleiclier  Weise  interessieren  muß, 
liegt  nun  vor.  Das  I.  Bändchen  enthält  in  guter  Übersetzung  mehrere 
altitalienische  Novellen,  mit  vortrefflicher  Einleitung  von  Ulrich  und  als 
Anhang  Macchiavellis  Mandragola.  Es  sind  Pendants  zu  den  Sachen  von 
Bocaccio,  Poggio  etc.  In  dem  2.  bis  4.  Bändchen  gibt  Karl  Amrain  einen 
ganzen  Strauß  von  Erzählungen  und  Schnurren  deutscher  Schwankerzähler 
(Bebel,  Frey,  Bobertag  etc.),  besonders  aber  reizende  Schilderungen  aus  der 
Zimmerschen  Chronik.  Das  Ganze  gewinnt  dadurch  noch  mehr  an  Wert, 
daß  unter  vielen  Schnurren  die  Angaben  ähnlicher  auch  aus  fremden  Litera- 
turen mitgeteilt  werden.  Die  Ausstattung  ist  eine  vornehme  und  die  Exem- 
plare sind  numeriert,  damit  sie  nicht  in  unrichtige  Hand  geraten.  Die 
Erzählungen  entstammen  z.  T.  höchst  seltenen  Drucken,  spätere  sollen  sogar 
teilweis  alten  Manuskripten  entnommen  werden. 

Medizinalrat  Dr.  P.  Näcke  in  Hubertusburg. 


Archiv  für  Kriminalanthropolotpe.    28.  Bd.  25 


386  Besprechungen. 


4. 


Kötscher:    Das  Erwachen  des  Geschlechtshewußtseins.  Wiesbaden,  Berg- 
mann,  1907,  82.  S. 

Verf.  behandelt  sein  Thema  erschöpfend,  in  blühender  Sprache,  an  der 
Hand  mannichfacher  Beispiele  nnd  sehr  anregend.  Hunger  und  Liebe,  Zelleben, 
und  Sexualität^  die  Differenzierung  von  Mann  und  Weib,  die  Homo- 
Bi-  und  HeteroSexualität,  die  Faktoren  des  Geschlechtstriebs,  die  psychische 
Entwickelung  des  Geschlechtstriebs,  das  Schamgefühl,  der  Schmerz  als  Er- 
reger der  Sexualität,  das  Gefühlsleben  in  der  Pubertätszeit,  erotische  Sym- 
bolien,  die  1.  Liebe,  Selbstmorde  aus  Liebeskummer,  Heimweh,  Aben- 
teuerlust, jugendliches  Verbrechertum,  Pubertätspsychose,  endlich  die  Prophy- 
laxe und  Behandlung  der  Gefahren  der  Pubertätszeit  bilden  die  wichtigsten 
Themata.  Man  wird  dem  Meisten  sicher  beistimmen,  besonders  bezüglich 
der  Prophylaxe  und  Therapie.  Verf.  fordert  mit  Recht  eine  gesunde 
Sozialpolitik,  die  Koedukation  in  der  Schule  und  frühzeitige  sexuelle  Auf- 
klärung, Schulärzte,  Wegfall  der  Züchtigung  auf  das  Gesäß,  Hinaufrücken 
des  straf  mündigen  Alters  bis  mindestens  auf  das  vollendete  14  Jahr,  und 
bis  zum  18.  Jahre  Prüfung  der  Strafmündigung,  eine  verständige  Für- 
aorgeerziehung,  Berufsvormundschaft  und  (dann  aber  erst)  Jugendgerichte 
Abschaffung  des  §  175.  Hier  nur  einige  kleine  Einwendungen  des  Re- 
ferenten. Der  Altruismus  ist  wohl  mehr  aus  dem  Geschlechtstrieb,  als  aus 
dem  der  Sympathie  entstanden.  Daß  die  Liebe  der  Mutter  zum  Kinde  über- 
wiegend geschlechtiich  ist,  erscheint  zweifelhaft,  ebenso,  daß  die  älteste  Ge- 
sellschaftsform nur  aus  Männern  bestand;  die  Promiskuität  oder  vielmehr 
der  an  solche  nahe  Zustand  —  der  also  bereits  die  Einehe  in  sich  schloß  — 
war  sicher  auch  innerhalb  desselben  Stammes  da.  Was  der  psychologische 
Zusammenhang  von  Grausamkeit  und  Wollust  ist,  wissen  wir  nicht,  auch 
werden  Schmerznerven  vielfach  geleugnet.  Nur  ausnahmsweise  erregen 
Prügel  etc.  sexuelle  Gefühle.  Ref.  bedauert  es  endlich,  daß  Verf.  immer 
noch  von  morai  insanity  spricht.  Dr.  P.  Näcke. 


5. 

Otto  Groß:  Das  Freudsche  Ideogenitätsmoment  und  seine  Bedeutung  im 
manisch-depressiven  Irresein  Kraepelins,  Leipzig,  Vogel,  1907,  50.  S. 

Verf.  hat  uns  wieder  eine  tiefgründige  psychologische  Untersuchung 
geliefert,  die  große  Perepektiven  eröffnet.  Er  stellt  sich  ganz  auf  die 
Seite  Freud's  und  sucht  den  Einfluß  „verdrängter^*  Komplexe  auf  das 
manisch-depressive  Irresein  nachzuweisen,  an  der  Hand  eines  sehr  schönen 
Falles  aus  der  Kraepelin 'sehen  Klinik.  Hier  war  nämlich  während  der  Krank- 
heit das  Symptom  der  Kleptomanie  aufgetreten,  das  nach  Groß  der  Aus- 
druck eines  verdrängten  sexuellen  Affekts  war,  ein  Beweis,  der  dem  Ref. 
nicht  ganz  einwandsfrei  erscheint.  Die  Broschüre  ist  schwer  zu  verölehen, 
liest  sich  noch  schwerer  als  Wernicke,  aber  man  hat  auch  etwas  davon, 
doch  will  es  dem  Ref.  scheinen,  als  ob  Verf.  in  seinem  Enthusiasmus  für 
die  Freudsche  Theorie  doch  zu  weit  geht.  Die  Theorie  Freuds  ist,  wie 
von  den  meisten  wohl  mit  Recht  behauptet  wird,  stark  übertrieben  und 
seine  Psychoanalysen  sind  oft  rein  subjektiv  und  phantastisch  und  das  gilt 


Besprechungen.  387 

aoch  z.  T.  von  denen  seiner  Anhänger.  Groß  stellt  mit  Recht  an  die  Spitze 
seiner  Abhandlung  den  Satz:  ,,aUe  Forschung  in  der  Psychiatrie  ist  not- 
wendig moni8tisch^^  Wemicke's  Sejanktionslehre,  sowie  seine  eigene  von 
der  ^^Seknndärfunktion^^  sucht  er  mit  der  Ideogenitätstheorie  Freud's  mehr 
oder  mmder  zu  identifizieren.  Verf.  untersucht  dann  eingehend  die  Spaltungs- 
und Eomplex-Phänome,  ihr  Abdrängen  und  das  Übertragen  ihres  Affekt- 
wertes auf  einen  anderen  damit  in  Verbindung  stehenden  Assozations- 
prozeß.  Immer  sucht  er  alles  auf  biologische  Verhältnisse  zurückzuführen. 
Jedes  psychische  Geschehen  ist  für  ihn  zugleich  ein  physiologisches.  So  ist 
auch  der  zh-kuläre  Mechanismus  biologisch  praeformiert.  Verf.  schildert  nun 
die  Stöimngen,  die  daraus  das  manisch-depressive  Irresein  erzeugen;  die 
sog.  „Mischzustände''  dieser  Form  sind  nach  ihm  meist  durch  ideogene 
Komplikation  bedingt.  Die  Schrift  wird  sicher  eine  sehr  wichtige  Ergänzung 
und  Begründung  des  manisch-depressiven  Irreseins  bleiben.     Dr.  P.  N  ä  c  k  e. 


6. 

Weygandt:    Die  abnormen   Charaktere   bei   Ibsen.      Wiesbaden ^   Berg- 
mannU;   Grenzfragen  des  Nerven-  und  Seelenlebens.     1907,    16  S. 
0,80  M. 
Eine  außerordentliche  feine,    kurze    psychologische  Charakteristik    der 
Hauptpersonen  bei  Ibsen.      Besonders  eingehend  werden  Peter  Gynt  und 
die  „Wildente^'  behandelt.     Verf.  zeigt,    daß  Ibsen,    wie  auch  die  meisten 
andern  Dichter  (Goethe,  Shakespeare)  besser  die  Psychopathen  schildern,  als 
die  eigentlichen   Geisteskranken,    die   mehr  oder  minder  falsch   gezeichnet 
sind.  Und  das  ist  ja  aucli  nur  natürlich,  meint  Referent ;  Psychopathen  sieht  der 
aufmerksame  Dichter  alle  Tage  um  sich,  dagegen  nicht  die  eigenüichen  Geistes- 
kranken, die  er  fast  nur  in  den  Irrenanstalten  sehen  könnte.     Bloße  Intu- 
ition ersetzt  hier  n  i  e  die  Erfahrung !  Sehr  wahr  ist  die  Bemerkung  Weygandts^ 
daß  die  Psychopathischen  wohl  dramatisch  wirken  und  Helden  sein  können^ 
nie  aber  die  Geisteskranken.  Dr.  P.  Näcke. 


7. 

Ereuser:  Geisteskrankheit  und  Verbrechen.     Wiesbaden,  Bergmann,  1907^ 
73  S.     1.80  M.     Grenzfragen  des  Nerven-  und  Seelenlebens. 

Vei-f.  spricht  auf  Grund  von  182  Begutachtungen  krimineller  Geistes- 
kranken. Er  schildert  eingehend  und  ausgezeichnet  in  klinischer  und 
psychologischer  Hinsicht,  welche  Päychosen  am  meisten  zu  Verbrechen 
neigen  und  zu  welchen.  Das  Meiste  ist  ja  bekannt.  Bedauerlich  ist,, 
daß  Verf.  die  Kraepelin'sche  Einteilung  des  Irreseins  fast  ganz  ablehnt. 
Bei  Verbrechen  und  Geisteskrankheit  findet  er  einen  gemeinsamen  Nähr- 
boden, aber  doch  ungleichartige  Keime.  Durchaus  nicht  jeder  Verbrecher 
ist  geisteskrank.  Der  freie  Wille  ist  zu  negieren.  Mehr  als  die  Mani& 
kommt  für  Verbrechen  die  Melancholie  in  Betracht.  Die  Familienmorde 
sind  hier  oft  nur  ein  „erweiterter"  Selbstmord.  Ein  Drittel  der  weiblichen 
Exploranden  ward  der  Brandstiftung  beschuldigt  Ernstiiche  Versuche  zur 
Simulation  von  Psychosen  sah  Verf.  verschwindend  selten.  Er  meint  femer, 
daß  bei  Idioten  Sittiichkeitsdelikte  zahlreich  seien,  weil  bei  ihnen  die  libida 
normal  sei;  das  ist  aber  unrichtig  und  bezieht  sich  nur  auf  Schwachsinnige. 

25=^ 


388  Besprechungen. 

Der  eigentliche  Idiot  besitzt  keine  oder  nur  geringe  libido.  Nur  an 
relativ  wenigen  Verbrechen  beteiligen  sich  Geisteskranke  wesentlich  mehr 
als  Normale.  Vorbestraft  sind  am  meisten  die  psychopathisch  Entarteten 
und  die  Epileptiker.  Ob  man  die  „Haftpsychosen**  wirklich  als  eine  Unterart 
anderer  Krankheitsfonnen  gelten  lassen  soll,  erscheint  Kef.  zweifelhaft.  Vor- 
trefflich sind  aber  Verf. 's  Ideen  bez.  des  Strafrechts  und  des  Strafvollzuges. 
Den  Standpunkt  der  Unschädlichmachung  ,,geborener**  und  „unverbesser- 
licher** Verbrecher  hält  er  für  einen  traurigen.  Dr.  P.  Näcke. 


8. 

Bloch:  Der  Ursprung  der  Syphilis.     Jena,  f^cher  1901.     313  S.     Erste 
Abteilung. 

Eine  mustergiltige  kritische,  grundgelehrte  Abhandlung  von  höchstem 
Interesse !  Es  handelt  sich  nidit  bloß  darum,  festzulegen,  woher  die  f Qrditer- 
liche  Lustseuche  entsprang,  sondern  auch  wie  und  warum  sie  sich  aus- 
breiten mußte.  Ein  ganzes  Stück  Kulturgeschichte  und  Geschichte  wird 
vor  unserm  Auge  aufgerollt.  In  dem  vorliegenden  Bande  wird  beinalie  er- 
drückend nachgewiesen,  daß  die  Syphilis  zuerst  in  Europa  1495  und 
zwar  im  französischen  Heere  Karls  VIII  von  Frankreich,  in  Neapel  in 
furchtbarster  Weise  auftrat,  und  zwai*  als  eine  bis  dahin  noch  allen 
Ärzten  unbekannte  Kranklieit;  daß  sie  von  Spanien  stammte,  die  im 
Söldnerheere  des  Franzosenkönigs  dienten  und  denjenigen,  die  aus  der  be- 
lagerten Festung  Castelnuovo  in  Neapel  hinausgetrieben  wurden ;  daß  man  in 
Spanien  vorher  diese  Seuche  in  Sevilla  und  Barcelona  kannte,  daß 
sie  mitgebracht  wurde  von  den  Gefährten  des  Columbus  von  seiner  2.  Reise 
nach  Haiti  (Espanola),  daß  endlich  seit  Urzeiten  dort  und  in  Südamerika 
etc.  die  Syphilis  heimisch  war  und  bereits  daselbst,  namentlich  in  Mexico, 
eine  genaue  Kenntnis  und  Behandlung  der  Syphilis,  besonders  mit  Gua- 
jak  und  Sarsaparilla  stattgefunden  hatte.  Endlich  steht  es  fest,  äaß  diese 
Krankheit  in  der  ganzen  übrigen  Welt  erst  nach  der  Entdeckung  Amerikas 
bekannt  wurde.  Sonach  ist  es  nach  Verf.  ganz  ausgeschlossen,  daß  sie 
vorher  schon  in  Europa  war  und  dafür  bringt  Verfasser  noch  weitere 
Zeugnisse.  Speziell  in  einem  2.  Bde.  —  der  bald  folgen  wird!  —  soll 
das  Nichtbestehen  der  „Altertums-Syphilis**  noch  weiter  bewiesen  werden. 
Kef.  ist  in  der  Tat  jetzt  (gegen  früher)  vom  amerikanischen  Ur- 
sprung der  Syphilis  durch  Verf.  so  ziemlich  überzeugt  worden  und  er 
glaubt  auch  jetzt  kaum  noch,  daß  es  möglich  sein  wird,  die  „Altertums- 
Syphilis**  zu  retten.  Es  spriclit  zu  viel  dagegen,  dafür  bis  jetzt  kaum 
irgend  etwas  Positives.  Dr.  P.  Näcke. 


9. 

A.    Morselli:      La  tuberculosi    nella    etiologia   e    nella  patogenesi    deile 
malattie  nervöse  e  mentali,     Torino,  1907.     239  8. 

Verf.,  Sohn  des  berühmten  In-enarztes  in  Genua,  hat  in  vorliegendem 
Buche  eine  ausgezeichnet  kritische,  klinische  und  experimentelle  Studie  ge- 
iefert,  die  entschieden  eine  Lücke  ausfüllt.      Er   faßt    nicht    nur  alle   die 


Besprechnngen.  389 

weitzeratrentea  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  zusammen,  sondern  fügt 
eigene  Beobachtungen  und  Experimente  hinzu.  Wichtig  ist  es,  daß  von 
neuem  aufgezeigt  wird,  wie  Tuberkulose  in  der  Familie,  be- 
sonders aber  die  der  Mütter,  für  Nerven-  und  Geisteskrank- 
heiten der  Nachkommen  belastend  wirkt,  indem  sie  den 
Organismus  schwächt  und  dazu  disponiert,  was  von  den 
meisten  Deutschen  bisher  bestritten,  dagegen  von  den  Franzosen 
und  Italienern  etc.  schon  längst  behauptet  ward.  Weiter  wird  gezeigt, 
daß  durch  die  Giftwirkung  des  Tuberkelbazillus  nicht  nur  der  Charakter 
etc.  des  Tuberkulösen  geändert  wird,  sondern  auch  verschiedene  echte 
Psychosen  entstehen  können,  nur  daß,  wie  Ref.  mehr  noch  als  Verf.  be- 
tonen möchte,  das  post  hoc  ergo  propter  hoc,  sehr  schwierig  in  concreto 
zu  entscheiden  ist.  Aber  die  Intoxikation  kann  noch  weiter  führen, 
zu  Selbstmord,  Verbrechen  (auch  sexuelle!),  Prostitution  etc.,  und  mit 
Recht  verlangt  dann  Verf.  für  solche  Fälle  den  Ausspruch  der  Unzurechnungs- 
fähigkeit oder  wenigstens  der  verminderten  Zurechnungsfähigkeit  Eme 
Verdeutschung  dieses  ganz  vortrefflichen  Buches  wäre  sehr  erwünscht. 

Dr.  P.  Näcke. 


10. 

Toulouse:    Les  le9ons  de  la  vie.     Etudes  sociales.     Paris,  1906,  librairie 
universelle.     318  S. 

Verf.  hat  seinen  2  anderen  Büchern  sozialen  Inhalts,  die  hier  schon 
besprochen  wurden,  kürzlich  ein  drittes,  das  obige,  hinzugefügt,  das  eben- 
falls die  früher  hervorgehobenen  Vorzüge  der  Eleganz  der  Sprache,  die 
großen  sozialen  Ausblicke  und  das  feine  Eingehen  in  das  soziale  Ge- 
triebe zeigt.  Speziell  behandelt  werden  3  große  Kapitel:  „le  dressage  humain^', 
die  soziale  Tätigkeit  und  die  beiden  Geschlechter  bei  ihrer  Arbeit  und 
in  der  Ehe.  Hier  wirklich  ist  das  Angenehme  mit  dem  Nützlichen  ver- 
bunden. Dr.  P.  Näcke. 


11. 

Siemerling:  Streitige  geistige  Krankheit.  III.  Band  des  Handbuchs  der 
gerichtlichen  Medizin,  herausgegeben  von  Dr.  Schmidtmann,  9.  Aufl. 
des  Casper-Liman'schen  Handbuchs.  Berlin,  Hirsch wald  1906, 
727  S.     20  M. 

Dieser  Band  ist  als  ganz  hervorragend  zu  bezeichnen  und 
dürfte  bez.  der  Reichhaltigkeit  der  mitgeteilten  Gutachten  (68)  fast  einzig 
dastehen.  Da  sie  meist  in  extenso  wiedergegeben  sind,  bilden  sie  für 
den  Arzt,  Gerichtsarzt  und  Juristen  eine  wahre  Fundgrube,  auch  für  den 
Psychiater.  Die  meisten  stammen  vom  Verf.  und  sind,  wie  nicht  anders 
zu  erwarten  war,  ausgezeichnet  abgefaßt  Den  einzelnen  Kapiteln  der 
Psychosen  —  und  alle  sind  hier  vertreten  —  geht  eine  kurze  und  klare 
Darstellung  voraus,  die  freilich  dem  Psychiater  kaum  Neues  bietet,  aber 
überall  das  möglichst  Gesicherte  darstellt  und  strittige  Punkte  höchstens 
nur  berührt  und  stets  zur  höchsten  Vorsicht  mahnt  Der  allgemeine  Teil 
befaßt  sich  mit  der  Darstellung  der  allgemeinen  Grundsätze  und  des  Ver- 


390  Besprechungen. 

fahrens  in  Zivil-  und  Krixninalforum.  Die  Literatur  ist  ziemlich  voll- 
ständig vertreten,  doch  traf  Ref.  hier  auf  verschiedene  Lücken  und  sein 
Name  war  unter  den  Autoren  bez.  der  Homosexualität  nicht  genannt,  trotz- 
dem er  mehr  darüber  geschrieben  hat  als  die  meisten  Anderen.  Ausge- 
zeichnet sind  besonders  die  Kapitel  über  hysterische  und  epileptische  Geistes- 
störungen klargelegt  und  überall  zeigt  sich  die  große  Erfahrung  und 
Vorsicht  des  Verfassers.  Er  ist  nicht  dafür,  daß  man  im  Gutachten 
den  Ausdruck  „verminderte  Zurechnungsfähigkeit*'  annimmt.  (?  Kef.). 
Mit  Hecht  empfiehlt  er,  daß  im  Protokoll«  Fragen  und  Antworten 
wörtlich  wiedergegeben  werden;  auf  Reue  ist  nichts  zu  geben^  zur 
Unterstützung  der  Diagnose  können  Entartungszeichen  helfen,  besonders 
die  seelischen ;  es  gibt  keine  Gefängnispsychose,  nicht  einmal  charakteristische 
Färbungen  in  Gefängnissen.  Mit  Recht  warnt  er  vor  zu  schneller  Diag- 
nose eines  Schwachsinns.  Leider  nimmt  Verf.  erworbene  Fälle  von  Homo- 
sexualität an,  ohne  Beweise  vorzubringen  und  scheint  die  bisexuelle  Anlage 
zur  Erklärung  der  Inversion  nicht  anzunehmen,  welch  letztere  er  aber  an 
sich  nicht  als  Zeichen  einer  Psychose  oder  Minderwertigkeit  ansieht.  Das 
Ganze  ist  ein  schönes  Zeugnis  deutschen  Gelehrtenfleißes  und  vor- 
sichtiger Kritik.  Dr.  P.  Näcke. 


12. 

Weste rmarck:    Ursprung  und  Entwickelung  der  Moralbegriffe.      Erster 
Band.     Verdeutscht    Leipzig  1907,  Klinkhardt,  632  S. 

Ein  vorzügliches  Buch  des  berühmten  schwedischen  Ethnologen  und 
Soziologen.  Der  vorliegende  1.  Bd.  behandelt  auf  279  Seiten  Allgemeineres 
über  der  Gefühlsursprung  sittlicher  Urteile  (Ref.  hält  den  utilitaristischen 
für  den  richtigen!),  über  Gefühlsregungen,  Wille,  Bewegründe  etc.  Dieser 
Teil  schemt  dem  Bef.  der  schwächere  zu  sein  und  ist  von  Wundt  und 
Störring  viel  eingehender  und  wissenschaftlicher  behandelt  worden.  Der 
spezielle  Teil  dagegen  (vom  Töten  im  allgememen,  das  Töten  von  Eltern, 
Kranken,  Kindern,  Ungeborenen,  Sklaven,  Weibern,  die  Menschenopfer, 
Bluti*ache,  Entschädigung,  Todesstrafe,  der  Zweikampf,  Körperverletzung, 
Barmherzigkeit,  Gastfreundschaft,  Hörigkeit,  Sklaverei)  ist  ausgezeichnet  dar- 
gestellt, an  der  Hand  kritisch  gesichteten  Materials,  z.  T.  eigenen,  und 
genetisch  geordnet,  d.  h.  also  von  den  Naturvölkern  bis  zur  Neuzeit.  Für 
den  Juristen  bildet  das  Ganze  ein  wichtiges  Supplement  zur  vergleichendea 
Rechtsgeschichte,  da  diese  ja  eigentlich  nur  ein  Teil  der  Kulturgeschichte 
ist.  Besonders  gern  werden  alte  Gesetze  der  Orientalen,  die  von  Hummu- 
rabi,  der  antiken  Völker  und  von  modernen  die  der  alten  und  modemea 
Engländer  und  Schweden  angeführt.  Wir  sehen  wieder  so  recht,  daß  der 
Keim  der  sogenannten  Tugenden  nirgends  fehlt,  nur  Quantitätsuntersohiede 
bestehen,  ebenso  aber  auch,  was  freilich  Verf.  weniger  betont,  daß  die 
Gesetze  mehr  dem  Egoismus  der  oberen  Schichten  entsprangen.  Wieder- 
holt weist  Verf.  darauf  hin,  daß  die  Kirche  zur  Abschaffung  häßlicher 
Einrichtungen,  wie  z.  B.  der  Sklaverei,  nur  wenig  oder  nidhts  beitrug, 
dieselbe  vielmehr  besonders  wirtschaftlich  bedingt  war.  Man  wird  den 
meisten  Schlüssen  des  gelehrten  Verf.'s  voll  beitreten.  Ein  Sachregister 
wäre  sehr  zu  wünschen.  Dr.  P.  Näcke- 


Besprechungen.  391 

13. 

Iwan  Bloch:  Das  Sexualleben  unser  Zeit  etc.  4 — 6.  verb.  und  vermehrte 
Auflage.  Berlin,  Marcus,  1908,  19—40  Tausend. 
Schon  ca.  9  Monate  nach  der  1.  Auflage  (1907),  die  wir  kürzlich 
hier  ausfahrUch  besprachen,  ist  die  4. — 6.  nötig  geworden.  Sicher  ist 
daran  weniger  der  pikante,  als  der  gediegene  Inhalt  Schuld  und  der  Er- 
folg ist  somit  ein  durchaus  gerechtfertigter.  Mehrfache  Ergänzungen,  Zu- 
sätze und  Literaturnenheiten  im  Anhang  wurden  eingeführt,  sodaß  der  Um- 
fang des  Ganzen  um  einige  Seiten  zunahm.  Der  Hauptvorzug  ist  jetzt 
ein  ausführliches,  absolut  nötiges  Register.  Eine  Reihe  von  Punkten,  die 
ich  in  meiner  letzten  Kritik  besprach,  sind  leider  nicht  berücksicht  worden. 

Dr.  P.  Näcke. 


14. 

N.  0.  Body:    Aus  eines  Mannes  Mädchen  jähren.    Berlin,  Riecke.  218  S. 
(1907). 

Man  weiß,  daß  die  sog.  „errenrs  de  sexe'^  gamicht  so  selten  smd  und 
forensisch  wichtig  werden  können.  Von  der  Psychologie  der  davon  betroffenen 
Individuen  wußte  man  bisher  so  gut  wie  nichts.  Diese  Lücke  ist  durch 
obiges  hochinteressante  Buch  nun  ausgefüllt  worden.  Verf.  (Pseu- 
donym), veranlaßt  durch  Presber,  der  das  Vorwort  geschrieben  hat,  gibt 
hier  in  seiner  Autobiographie,  die  überall  den  Eindruck  ernster  Wahrheit 
macht,  die  tragischen  Konflikte  kund,  die  er,  als  Psendohermaphrodit  ge- 
boren und  als  Mädchen  erzogen,  durchzumachen  hatte,  bis  er  nach  dem  20.  Jahre 
endUch  gerichtlich  Männerkleidung  und  Männernamen  annehmen  durfte, 
nachdem  er  lange  die  tiefe  Kluft,  die  zwischen  ihm  und  dem  weiblichen 
Geschlecht  bestand,  bitter  vermerkt  hatte.  Das  Buch  ist  voll  der  fernsten 
Psychologie,  ausgezeichneter  Ratschläge  für  Eitern  und  Lehrer  und  es  ist 
nur  schwer  zu  glauben,  daß  Verf.  erst  23  Jahre  alt  sein  soll.  Hirschfeld  hat 
ein  Nachwort  geschrieben,  das  mit  Recht  den  hohen  psychologischen  Wert 
des  Buches  hervorhebt.  Schade  nur,  daß  das  bunte  Titelblatt  und  der  Titel 
selbst  sehr  nach  Reklame  und  Sinnenkitzel  riechen! 

Dr.  P.  Näcke. 


15. 

Nävrat:   Der  Selbstmord.    Eine  soziaiärztliche  Studie.    Wiener  Klinische 
Rundschau.     No.  3,  4,  5,  6,  7,  9,  10,  12,  14,  15,  16,  17,  19.  1907. 

Bezüglich  des  Selbstmordes  ist  noch  vieles  sehr  dunkel,  daher  jede  neue 
Schrift  willkommen,  besonders  aber  obige.  Verf.,  Irrenarzt,  hat  ersichtlich 
sehr  eingehende  Studien  gemacht,  bringt  manches  aus  eigener  Erfahrung  uud 
berücksichtigt  namentlich  die  österreichischen  Verhältnisse.  Ursprünglich 
tschechisch  geschrieben,  ist  es  übersetzt  worden,  leider  aber,  wie  der  Verf. 
dem  Ref.  schrieb,  vielfach  verstümmelt.  Trotzdem  ist  es  hochinteressant 
und  man  wird  wohl  dem  Meisten  beipflichten  können.  Nach  einem  all- 
gememen  Teile  folgen  die  Selbstmordmotive,  die  verschiedenen  endo-  und 
exogenen  Einflüsse,   die  Arten  des  Selbstmordes,   seine  Häufigkeit,  sowie 


392  Besprechtmgen. 

die  Begründung.  Spezieller  wurden  die  Selbstmorde  im  Heere,  in  Oefäng- 
niesen  und  im  Irrenhause  betrachtte.  Mit  Recht  glaubt  Verf.  mit  Masaryk, 
daß  der  Selbstmord  kein  Naturgesetz  sei;  dazu  sind  die  Ursachen  doch 
zu  viele  und  meist  kombinierte.  Die  verschiedenen  en-  und  exogenen  Ein- 
flüsse werden  richtig  bewertet,  die  Gefährlichkeit  der  Presse  etc.  hervor- 
gehoben. Verf.  glaubt,  daß  von  den  Angehörigen  selten  (?  Ref.)  Psychose 
als  Grund  der  Tat  vorgeschützt  wird.  Krankhaftem  Geisteszustände  weist 
er  70,7%  aller  Fälle  zu,  den  Affekten  25,6^/0.  Gewissensbisse  rechnet  er 
zu  ersteren  (stets?  Ref.).  Es  ist,  meint  Ref.  und  Verf.,  unrichtig,  die 
bestehende  Geistesstörung  durch  die  Sektion  sicher  nachweisen  zu  wollen. 
Die  sog.  Erblichkeit  faßt  er  richtig  als  eine  Disposition  auf,  auf  die  dann 
der  Nachahmungstrieb  wirkt.  Die  Rolle  von  Liebe  und  Eifersucht  ist  keine 
große,  2  o/o  bei  M.  und  3^/o  bei  W.  (Das  dürfte  wohl  etwas  zu  niedrig  seüi! 
Ref.)  Dagegen  wird  die  große  direkte  und  indirekte  Rolle  des  Alkohols 
betont.  Gegenüber  Verf.  möchte  Ref.  doch  glauben,  daß  bei  Juden  der 
Selbstmord  häufiger  ist,  weil  hier  relativ  mehr  P&ychopathen  sind,  ebenso 
läßt  sich  manches  dafüranführen,  daß  ceteris  paribus  die  Religion  lüs  solche 
nicht  ganz  gleichgültig  ist.  Ob  mehr  Ledige  oder  Verheirathete  sich  ent- 
leiben, hängt  von  mancherlei  Umständen  ab.  Dr.  P.  Näcke. 


16. 

Mutterschutz.  Zeitschrift  zur  Reform  der  sexuellen  Ethik.  Herausgegeben 
von  Dr.  phil.  Helene  Stoecker.  Sauerländer,  Frankfurt  6  Hefte  im 
Halbjahr,  3  M. 

Schon  früher  hat  Ref.  dies,  jetzt  im  3.  Jahrgang  stehende,  hochver- 
dienstliche Unternehmen  warm  empfohlen  und  es  hat  gehalten,  was  es  ver- 
sprochen :  „Ledige  Mütter  und  deren  Kinder  vor  wirtschaftlicher  und  sittlicher 
Gefährdung  zu  bewahren  und  die  herrschenden  Vorurteile  gegen  sie  zu 
beseitigen^',  hat  es  praktisch  durchzuführen  gesucht  und  bereits  schöne 
Früchte  gezeitigt ,  wie  die  Arbeiten  von  Dr.  Mai'cuse  „Aus  unseren  bis- 
herigen Erfahrungen  und  Erfolgen''  (1906)  und  von  Maria  Lischwenska: 
„Unser  praktischer  Mutterschutz"  (1907)  beweisen.  Es  gilt  da  namentlich 
für  die  armen  unehelich  Geschwängerten  und  ihre  künftige  Kinder  zn 
sorgen,  weiter  aber  auch  die  Ehereform  anzubahnen,  gegen  die  Prostitution 
anzukämpfen  etc.  Mitglied  dieses  so  nützlichen  Bundes  (Sitz  Berlin  W.,  Res- 
beritzerstr.  8)  kann  Jeder  werden,  der  jährlich  einen  Mindestbetrag  von  2  M. 
einsendet.  Aber  auch  die  Zeitschrift  selbst  ist  warm  zu  empfehlen,  wie  jede 
einzelne  Nr.  bezeugt,  und  schon  die  stattiiche  Zahl  der  bedeutenden  Mit- 
arbeiter genügsam  beweist.  Das  Januarheft  1907  enthielt  z.  B.  einen 
interessanten  Aufsatz  von  Ellen  Key:  Die  Gorki-Frage,  dann  einen  von 
Helene  Stöcker  über  die  deutschen  Brownings  und  den  Beginn  einer  wert- 
vollen Untersuchung  von  Havelock  Ellis  über  Ursprung  und  Entwickelung 
der  Prostitution.  Auch  die  für  den  3.  Jahrgang  angekündigten  Aufsätze  sind 
für  den  Menschenfreund  anheimebid.  Man  darf  die  Zeitschrift  nicht  etwa 
als  ein  Organ  verrückter  Frauenrechtierinnen  ansehen,  sondern  es  ist  ein 
fachwissenschaftliches  Blatt  mit  hohen  idealen  Zielen,  das  jeder 
Warmherzige  nach  Kräften  unterstützen  sollte.  Dr.  P.  Näcke. 


Besprechungen.  393 

17. 

Kompendien  des  österreichischen  Rechtes.  Das  Strafprozeßrecht.  Syste- 
matisch dargestellt  von  Dr.  Julius  Vargha,  o.  ö.  Professor  der  Rechte 
an  der  Karl-Franzens-Üniversität  in  Graz.  Zweite  vermehrte  Auf- 
lage. Berlin,  Carl  Heymanns  Verlag,  1907  (8«,  XII  und  468 
Seilen). 

Vorliegendes  Werk  ist  entschieden  als  eine  erfreuliche  Erscheinung  zu 
begrüßen.  Der  österreichische  Strafprozeß  hat  nur  drei  systematische  Bear- 
beitungen in  deutscher  Sprache  erfahren;  die  von  Rulf,  die  sich  jedoch 
gar  zu  eng  an  die  Legalordnung  und  den  Wortlaut  des  Gesetzes  an- 
schließt, die  von  Uli  mann,  die  in  vielem  als  veraltet  bezeichnet  werden 
muß,  und  die  von  Vargha,  welche  an  demselben  Fehler  litt,  der  nun- 
mehr durch  die  soeben  erschienene  zweite,  reichlich  vermehrte  Auflage 
glücklich  beseitigt  erscheint.  Daß  es  unter  solchen  Umständen  an  einem 
geeigneten  Lehrbehelf  für  die  Studierenden  gebrach,  ist  klar,  und  wenn 
Vargha,  was  Umfang  und  Inhalt  seines  Systems  anlangt,  zunächst  die 
Bedürfnisse  der  Studierenden  vor  Augen  hatte,  so  hat  er  den  einzig  rich- 
tigen Weg  gewählt.  Es  wu-d  die  wichtigste  Literatur  angeführt,  jedoch 
jeglicher  gelehrte  Beweisapparat  sorgfältig  vermieden;  die  Rechtspreclmng 
wird  nur  in  vereinzelten  Fällen  herangezogen.  Hingegen  wird  durch  ent- 
sprechende Bezugnahme  auf  die  einzelnen  Kapitel  darauf  hingewiesen,  daß 
der  Strafprozeß  ein  einheitlich  Ganzes  ist,  und  dadurch,  daß  neben  histo- 
rischen Rückblicken  sich  auch  Ausblicke  auf  das  künftige  Recht  befinden, 
der  Gedanke  der  Fortbildung  des  Rechts  nach  Gebülir  berücksichtigt;  in 
der  einen  wie  der  anderen  Richtung  faßt  sich  aber  Vargha  sehr  kurz, 
denn  das  geltende  Recht  darzustellen  ist  seine  Aufgabe,  welche  er 
niemals  aus  den  Augen  läßt. 

Vargha  ist  im  großen  ganzen  ein  Anhänger  jener  Grundsätze, 
welciie  dem  östen*eichischen  Strafverfahren  in  seiner  gegenwärtigen  Gestalt 
zugrunde  liegen.  Der  nchterliche  Anklagebeschluß,  wie  ihn  die  deutsche 
StPO.  kennt,  ist  ihm  sehr  unsympathisch;  desgleichen  will  er  von  einer 
Abschaffung  der  Geschworenen  und  von  ihrer  Ablösung  durch  Scliöffen- 
gerichte  nichts  wissen.  Hingegen  tritt  er  für  eine  Fortbildung  des  Prinzips 
der  Waffengleichheit  ein  und  will  nicht  nur  die  Verteidigung  dort,  wo  sie 
heute  noch  ausgeschlossen  ist  (Vorverfahren,  Berufung  gegen  die  Strafe, 
Behandlung  eines  Wiederaufnahmeantrags  usw.)  zu  Worte  kommen  lassen, 
sondern  auch  de  lege  lata  eine  weitgehendere  Berücksichtigung  der  Ver- 
teidigung seitens  des  Gerichts,  als  gegenwärtig  die  Praxis  mancher  Ge- 
richte zugestehen  will.  Seine  Wünsche  pro  futuro  lassen  sich  kurz  dahin 
zusammen  fassen,  mit  jener  Methode  zu  brechen,  die  Grillparzer  mit 
den  Worten  „auf  halben  Wegen  und  zu  halber  Tat  —  mit  halben  Mitteln 
zauderhaft  zu  streben^  in  einer  Weise  gekennzeichnet  hat,  die  wir  in 
Österreich  sehr  gut  zu  würdigen  verstehen. 

Das  System,  das  Vargha  semer  Darstellung  zugrunde  legt,  hat 
insofern  einen  Fehler,  als  er  die  Zeitbestimmungen  der  StPO.  bei  der  Zu- 
ständigkeit der  Gerichte  als  „zeitliche  Zuständigkeit '^  behandelt.  Allem 
schon  die  Tatsache,  daß  der  Strafprozeß  eine  Wiedereinsetzung  kennt, 
spricht  sehr  gegen  diese  Auffassung.     Tatsächlich  ist  aber  die  Zeit  ds  solche 


394  Besprechungen. 

kern  Kompetenzgi'und,  sie  hat  nicht  auf  die  Zuständigkeit  des  Gerichts^ 
sondern  lediglich  auf  die  Möglichkeit  prozessnaleo  Handelns  Einfluß;  nicht 
die  Kompetenz  des  Gerichts,  sondern  die  Berechtigung  zur  Vornahme  dieses 
oder  jener  Brozeßakts  geht  durch  Zeitablauf  verloren.  Wäre  Varghas 
Ansicht  richtig,  so  müßte  an  Stelle  des  zeitlich  unzuständigen  Gerichts  ein 
anderes  treten,  was  aber  nicht  der  Fall  ist;  ja  doch!  Das  Standgericht 
verliert  nach  §  439  St-P.-O.  seine  Zuständigkeit,  wenn  die  vor  ihm  ver- 
handelte Sache  nicht  nach  drei  Tagen  urteilsmäßig  erledigt  werden  kann; 
doch  gerade  diesen  Fall  erwähnt  Vargha  in  diesem  Zusammenhange  nicht. 
Davon  abgesehen,  kann  Yarghas  Anordnung  des  Stoffs  nur  zugestimmt 
werden  und  die  gemeinschaftliche  Darstellung  des  Verfahrens  vor  den 
Gerichtshöfen  erster  Instanz  mit  dem  vor  den  Geschworenen,  sowie  der  un- 
mittelbar daran  anschließende  Abschnitt  über  das  bezirksgerichtliche  Ver- 
fahren ist  eine  vortreffliche  Zusammenfassung  des  ordentlichen  Strafprozesses 
und  läßt  auch  die  Darstellung  des  Rechtsmittelverfahrens  in  einer  recht 
übersichtlichen  Weise  zu. 

Daß  beim  Wirkungskreis  der  Oberstaatsanwaltschaft  die  Aufsicht  über 
die  Strafanstalten  keine  Erwähnung  gefunden  hat,  ist  deshalb  zu  bedauern, 
weil  ohnedies  dem  Strafvollzug  in  Österreich  zu  wenig  Beachtung  geschenkt 
wird.  Die  Ansicht,  daß  der  Generalprokurator  gegebenenfalls  verpflichtet 
ist,  die  Nichtigkeitsbeschwerde  zur  Wahrung  des  Gesetzes  zu  erheben^ 
ist  leider  arg.  „kann'*  in  §.33  StPO.  unridhtig.  Auch  sonst  entwickelt 
Vargha  dann  und  wann  Ansichten,  welche  nicht  auf  allgemeine  Zustimmung 
rechnen  können.  Doch  geht  dies  nicht  anders  bei  einem  System  und  soll 
keineswegs  ein  Tadel  sein.  Im  Gegenteil!  Seine  Arbeit  ist  im  höchsten  Grade 
verdienstvoll  und  stellt  sie  sieh  auch  in  erster  Linie  als  ein  Lehrbuch  dar,  so 
soll  damit  keineswegs  gesagt  sein,  daß  Vargha  nur  für  Studierende  ge- 
schrieben habe.  Auch  dem  Praktiker  wird  das  Werk  ob  seiner  Klarheit 
im  Ausdruck  und  Übersichtlichkeit  in  der  Behandlung  des  Stoffes  ausge- 
zeichnete Dienste  leisten  und  es  wäre  zu  wünschen,  daß  auch  Richter,. 
Staatsanwälte  und  Verteidiger  sich  dieses  Werks  als  Wegweisers  bedienen. 
Die  Beherzigung  der  von  Vargha  vertretenen  Ideen  wäre  ein  Gewinn  für 
die  Praxis.  Ist  ja  Vargha  aus  der  Praxis  hervorgegangen  und  hat  er  es 
in  meisterhafter  Weise  verstanden,  die  Wechselbeziehungen  zwischen  Theorie 
und  Praxis  zu  beleben.  Ernst  Loh  sing. 

18. 

A.    Schmidtmann:      „Handbuch     der    gerichtlichen    Medizin^'^ 
herausgegeben  unter  Mitwirkung  der  Prof.  Dr.  Haberda, 
Eockel,  Wachholz,  Puppe,  Ziemke,  Ungar  und  Siemer- 
ling.    9.  Auflage  des  Caspar-Limanscben   Handbuches. 
2.  Band  mit  63  Abbildungen  im  Text  und  dem  General- 
register.   Berlin  1907.     Aug.  Hirschwald. 
Mit  diesem  Bande,  der  sich  dem  schon  erschienenen  ersten  und  dritten 
Band  würdig  anschließt,  ist  das  große  Werk  vollständig  geworden.     Auch 
dieser  Band    ist   selbstverständlich   in    erster  Linie   für    Gerichtsärzte  ge- 
schrieben, aber  alles  ist  so  klar  und  einfach  gehalten,  daß  jeder  Kriminalist^ 
dem  an  seiner  Ausbildung  gelegen  ist,  das  Buch  mit  größtem  Nutzen  lesen 
wird.  Dies  wird  namentlich  durch  die  reiche  Kasuistik  —  ein  wertvolles  und 


Besprechungen.  395 

reichlich  vermehrtes  Erbe  aus  dem  guten,  alten  Caspar-Liman  erreicht.  Gut 
dargestellte  Fälle  versteht  jeder ,  und  mit  ihrer  Hilfe  kann  er  auch  den 
ihm  etwa  zu  schwierigen  Text  verstehen.  Auf  den  ersten  Blick  hat  es  fast 
den  Anschein,  als  ob  an  Fällen  zuviel  gebracht  worden  sei  —  aber  Fest- 
stellung von  Tatsachen  und  ihre  Sammlung  ist  heute  nicht  nur  die  Grund- 
lage aller  Forschung,  sondern  auch  das  Wichtigste  für  Belehrung.  Wer  die 
ausgezeichnete  Geschichte  gesammelter  und  gut  dargestellter  Fälle  einmal 
studiert  hat,  wird  sich  gewiß  des  betreffenden  Falles  erinnern,  wenn  ihm  bei  der 
Arbeit  ein  ähnlicher  unterkommt.  DaS  die  Kasuistik  trotz  der  vielen  Ver- 
fasser so  gleidiartig  und  abereinstimmend  durchgearbeitet  erscheint,  hat  wohl 
auch  darin  seinen  Grund,  daß  sich  alle  an  das  allerdings  mustergiltige  Bei- 
spiel Caspar-Iiman's  gehalten  haben.  Der  vorliegende  Band  enthält  ,,Tod 
durch  Trauma**  (Puppe);  „Tod  durch  Erstickung^'  (Ziemke);  „Kindesmord" 
(Ungar).  Hans  Groß. 


19. 
Der  Pitaval  der  Gegenwart.  Herausgegeben  von  Prof.  Frank 

Polizeidirektor  Röscher  und  Reichsgerichtsrat  Schmidt. 

Tübingen  J.  C.  B.  Mohr.  HI.  Bd.  4.  Heft,  bringt  einen  außer- 
ordentlich merkwürdigen  und  vortrefflichen  Fall  einer  Handschriftfälschung, 
in  welchem  ein  Unschuldiger  verurteilt  wurde  und  eine  längere  Strafe  ab- 
büßen mußte.  Im  Wiederaufnahmeverfahren  gelang  es  dem  Verfasser,  Dr. 
Postelberg  in  Wien,  durch  einen  höchst  komplizierten  und  mühsamen  Be- 
weis die  Unschuld  des  Verurteilten  und  die  Schuld  der  mitlerweile  ver- 
storbenen Täterin  darzutun.  Der  Fall  ist  in  mehrfacher  Weise  sehr  lehrreich. 
Auch  der  zweite  Fall  von  St.  Anw.  Brendler,  m  welchem  es  sich  um  Wieder- 
aufnahme zum  Nachteile  des  Freigesprochenen  handelt,  ist  juristisch  und 
psychologisch  interessant.  Hans  Groß. 

20. 
Dr.  med.  Moritz  Olsberg:  „Die  Grundlagen  des  Gedächtnisses, 
der  Vererbung  und    der  Instinkte"    (aus  „Grenzfragen 
der  Literatur  und  Medizin".   2.  Heft)   München  1906.    E. 
Reinhardt. 
Für  die  Frage  des  Gedächtnisses  interessieren  wir  uns  heute  in  Bezug 
auf  Zeugen  gerade  so,   wie  für  die  der  Vererbung  beim  Verbrechen.     Es 
kann  daher  die  hauptsächlich  auf  Richard  Semon's  „Mneme^^  zurückführende, 
mit  einer  Menge  aufklärender  Einzelheiten  und   Beispiele  versehene  Arbeit 
dem  Kriminalpsychologen  zur  Lektüre  empfohlen  werden.      Hans  Groß. 

21. 
Dr.  M.  Rumpf,    Gerichtsassessor:   „Gesetz  und  Richter".   Ver- 
such einer  Methodik  der  Rechtsanwendung.    Berlin  1906. 
0.  Liebmann. 
Der  Verf.,   der   über  ausgebreitete  Belesenheit  und  Kenntnis  der  Ju- 
dikatur  verfügt,   hat  es    sich  zur  Aufgabe  gestellt,   zu  erheben,   wie  der 
Richter   das  Gesetz    auslegen   und  anwenden   soll.     Diese  Frage  läuft  auf 
die  Erörterung  hinaus,  wie  man  vorzugehen  hat,  wenn  das  Gesetz  Lücken 
aufweist,   und  wie,   wenn   seine  wörtliche  Anwendung    im    einzelnen   Fall 


396  Besprechangen. 

Härten,  Ungerechtigkeit,  selbst  ansinnige  Entscheidung  ergeben  müßte.  Ich 
glaube,  daß  der  Verf.  die  strafrechtliche  Literatur  mehr  berücksichtigen 
hätte  sollen;  er  meint,  man  habe  bisher  in  der  Frage:  welche  psychischen 
Faktoren  im  Auslegen  in  Tätigkeit  treten,  noch  kein  Problem  „gewittert". 
Ich  meine,  daß  die  viele  Arbeit,  die  der  subjektiven  Kriminalpsychologie,  der 
Psychologie  des  Richters,  Sachverständigen,  Zeugen  etc.  gewidmet  wurde, 
das  Problem  doch  „gewittert^*  haben  muß. 

Im  allgemeinen  geht  die  vorliegende  Arbeit  darauf  hinaus,  daß  der 
Richter  denken  muß;  wenn  Verf.  darauf  besteht,  so  hat  er  ohne  Zweifel 
recht,  aber  in  eine  Methodik  läßt  sich  das  Denken  und  Gescheidtsein  nicht 
zwängen.  Wo  uns  das  Gesetz  verläßt,  wo  die  Wissenschaft  nicht  hilft,  wo 
die  Interessenabwägung  keine  Klärung  schafft,  da  entscheidet  man,  wie  es 
vornehmer  ist.  Mehr  läßt  sich  mit  allem  Rechnen,  Kombinieren  und  Ab- 
strahieren auch  nicht  finden. 

Seltsam  berührt  mitunter  die  Ausdrucksweise  des  Verf.,  der  von  einem 
„unbegreiflichen  Muß",  der  „Flüssigkeit  der  Grenzen"  spricht,  etwas  „vieler- 
wärts**  antrifft  und  von  „ungefährem  Wissen"  redet.  Hans  Groß. 


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Stanford  ünlferslfy  UDraiy 

Stanford,  California 


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