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ABHANDLUNGEN AUS DEM
SEMINAR FÜR STRAFREOIT und KRIMINALPOLITIK
AN DER HAMBURGISCHEN UNIVERSITÄT
HERAUSGEBER:
Professor Dr. M. LIEPMANN
Hefts:
Änselm v, Feuerbach
und das Problem
der strafrechtlichen Zurechnung
Von
Dr. MAX GRÜNHUT
Privatdozent an der Hamburgischen Universität
IG78^ jENTE, wissenschaftlicher VERLAG, HAMBURG
1922 1922
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Presented to the
LIBRARY ofthe
UNIVERSITY OF TORONTO
by the
INSTITUTE FÜR
CHRISTIAN STUDBES
HAMBURGISCHE SCHRIFTEN
ZUR GESAMTEN
STRAFRECHTSWISSENSCHAFT
ABHANDLUNGEN AUS DEM
SEMINAR FÜR STRAFRECHT und KRIMINALPOLITIK
AN DER HAMBURGISCHEN UNIVERSITÄT
HERAUSGEBER:
Professor Dr. M. LIEPMANN
Hefts:
Änselm v. Feuerbach
und das Problem
der strafrechtlichen Zurechnung
Von
Dr. MAX GRÜNHUT
Privatdozent an der Hamburgischen Universität
W. GENTE, WISSENSCHAFTLICHER VERLAG, HAMBURG
1922
Diese Arbeit wurde als
Habilitationsschrift
zur Erlangung der Venia legendi
der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät
der Hamburgischen Universität
vorgelegt.
Anselm v. Feuerbach
und das Problem
der strafrechtlichen Zurechnung
Von
Dr. Max Grünhut
Privatdozent an der Hamburgischen Universität
Da das Geistige wie das Materielle wandelbar ist
und der Wechsel der Zeiten die Formen, welche das
Gewand des äußern wie des geistigen Lebens bilden,
unaufhörlich mit sich rafft, ist das Thema der Ge-
schichte überhaupt, daß sie die zwei in sich identischen
Grundrichtungen zeige und davon ausgehe, wie erstlich
alles Geistige, auf welchem Gebiete es auch wahr-
genommen werde, eine geschichtliche Seite habe, an
welcher es als Wandlung, als Bedingtes, als vorüber-
gehendes Moment erscheint, das in ein Großes, für
uns unermeßliches Ganzes aufgenommen ist, und wie
zweitens alles Geschehen eine geistige Seite habe, von
welcher aus es an der Unvergänglichkeit teilnimmt.
Denn der Geist hat Wandelbarkeit, aber nicht
Vergänglichkeit.
Jacob Burckhardt.
Vorwort.
Die nachfolgenden Studien sind als ein Beitrag zur Dogmen-
geschichte der deutschen Strafrechtswissenschaft gedacht. Sie wollen
an einem zentralen kriminalistischen Problem die grundlegenden
Gedanken Änselm v. Feuerbachs lebendig werden lassen, sie aus
den wissenschaftlichen und rechtsgeschichtlichen Strömungen der Zeit
verstehen und zugleich in ihrer Bedeutung für die strafrechtlichen
Fragen der Gegenwart kennzeichnen. Eine gewisse Willkür in
Auswahl und Gruppierung des überreichen Stoffes schien dabei
unvermeidlich.
Dankbaren Herzens lege ich die nachfolgenden Blätter in die
Hände meines verehrten Lehrers, des Herausgebers dieser Sammlung.
Wie sehr mein strafrechtliches Arbeiten in den Grundlagen und in der
Auffassung vieler Einzelheiten auf seinen Anregungen beruht, vermag
am besten die Abhandlung selbst zu bezeugen, zu der er immer
wieder Rat und Hilfe beigesteuert und überdies manches Mal dem
Verfasser Geduld und Ausdauer neu gestärkt hat.
Herrn Professor Weygandt darf ich für die freundliche Durch-
sicht der Bemerkungen zur Geschichte der gerichtlichen Psychiatrie
herzlich danken.
HAMBURG, November 1922.
Max Grünhut.
. Inhalt.
I. Kapitel ^'"^
Feuerbachs rechtsphilosophische Ausgangspunkte
Naturrecht, Aufklärung, Kritizismus 1
Äußerer Studiengang Feuerbachs 6
Der autonome Rechtsbegrit! bei Kant und Feuerbach .... 11
Kriminalistische Folgerungen: Psychologische Zwangstheorie
und Bindung des Richters an das Strafgesetz 19
Naturrechtliche Nachwirkungen in der Feuerbachschen
Rechtsphilosophie 27
II. Kapitel
Feuerbachs Verhältnis zu zeitgenössischen Krimi-
nalisten
Die Anhänger der Spezialprävention: Stübel, Tittmann,
Grolman 31
Der Streit mit Grolman 45
Älmendingen 53
Spätere Schriften Stübels, Tittmanns, Grolmans 55
Die strafrechtliche Reformbewegung 60
Beccaria, Filangieri, Hommel, Michaelis, Servin, Gmelin . . 62
E. F. Klein 69
III. Kapitel
Die systematische Ausgestaltung der Feuerbach-
schen Zurechnungslehre in der Revision der
Grundsätze und Grundbegriffe des positiven
peinlichen Rechts
Begriff der Zurechnung 74
Strafrecht und ethische Werturteile : Feuerbachs Zurechnungs-
lehre in ihrem Verhältnis zu Kant
1. Willensfreiheit und Verantwortlichkeit 7S
2. Der Vergeltungsgedanke 91
Zurechnungsfähigkeit und Strafwürdigkeit 99
Kritik des Feuerbachschen Begriffs der Zurechnungsfähigkeit 110
lY. Kapitel Seiie
Die Reformbedürftigkeit der bayerischen Kriminal-
gesetzgebung
Entwicklung des älteren bayerischen Kriminalrechts 117
Kreittmayr und sein Werk 121
Schuld und Strafe im Codex juris Bavarici Criminalis
von 1751 129
Die strafrechtliche Zurechnungslehre bei G. Ä. Kleinschrod 142
Kleinschrods Entwurf von 1802 156
V. Kapitel
Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813
Entstehungsgeschichte des Gesetzes 171
Formale Prinzipien 180
Grundfragen strafrechtlicher Zurectinung 185
Verminderte Zurechnungsfähigkeit, Schuldbeweis, Strafbar-
keit des Versuchs 190
Schuldformen 201
Rechtsirrtum 203
Praesumtio doli 208
Todesstrafe, Freiheitsstrafen, Ehrenstrafen 214
VI. Kapitel
Feuerbach als Kriminalpsychologe
Neue Wendung in Feuerbachs Leben 227
Äktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen 230
Psychologie und Verbrecherstudien 231
Die Anfänge der forensischen Psychiatrie 242
Medizinische und strafrechtliche Beurteilung der Zurech-
nungsfähigkeit bei Feuerbach 249
Schlußbetrachtung 261
Literatur 263
Zeitschriften 281
Digitized by the Internet Archive
in 2010 with funding from
University of Toronto
littp://www.archive.org/details/anselmvfeuerbachOOgr
Erstes Kapitel
Feuerbachs rechtsphilosophische
Ausgangspunkte.
Naturrecht, Aufklärung und kritische Philosophie waren die treiben-
den Mächte der deutschen Rechtswissenschaft vor der Wende des
18. zum 19. Jahrhundert. Nicht als mechanisch wirkende Kräfte, nicht
als konstante Inbegriffe feststehender Gedankeninhalte, denen sich
Personen und Zeitabschnitte eindeutig zuordnen ließen, sondern als
geistige Strömungen, die sich bald feindlich gegenübertraten, bald
einander helfend und verstärkend durchdrangen und befruchteten und
in denen, sie bestimmend und durch sie bestimmt, die Menschen
gedacht und gerungen haben, in deren Schaffen und Wirken der Gang
der Wissenschaft vom Recht und die Entwicklung des Rechts selber
beschlossen liegt. Wie jedes Stück Geistesgeschichte zugleich eine
Geschichte der Menschen ist, in denen der Geist lebendig war, führt
eine dogmengeschichtliche Betrachtung des Rechts zu den Persönlich-
keiten der großen Juristen. Nur in seltenen Äugenblicken begnadet
die Geschichte einen Einzelnen, in dem die kulturellen Mächte der
Zeit und die schöpferischen und gestaltenden Kräfte des Rechts in
solchem Maße in lebendiger Individualität verkörpert sind, wie in der
unvergleichlichen Persönlichkeit Änselm v. Feuerbachs. Sein Ringen
und Schaffen im Strom des geistigen Lebens seiner Zeit, die individuelle
Konzentration der herrschenden Ideen in seiner eigenen Gedankenwelt
und der bestimmende Einfluß, der von ihm zurückwirkte auf Zeit und
Umwelt, sind auch in einzelnen engen Ausschnitten seines Wirkens
erkennbar, wenn es gelingt, den inneren Zusammenhang mit Feuerbachs
Persönlichkeit und wissenschaftlicher Entwicklung aufzudecken. Das
Problem der strafrechtlichen Zurechnung, die Fragen nach den Vor-
aussetzungen und dem Maßstab für die strafrechtliche Verantwortlichkeit,
hängen aufs engste mit den letzten Grundfragen des Strafrechts
zusammen. So umschließt die Stellung Feuerbachs und seiner Zeit
zur strafrechtlichen Zurechnungslehre ein Stück von der Geschichte
der Anschauungen über Sinn und Wert der staatlichen Strafe, und es
werden dabei zugleich Kräfte sichtbar, welche noch heute in der
Strafrechtswissenschaft wirksam sind.
1
Das Naturrecht, die alte Lehre von dem „Recht, das mit uns
geboren" und darum in seiner Geltung von bestehenden staatlichen
Gesetzen unabhängig ist, war seit Hugo Grotius in steigendem Maße
in fruchtbare Beziehung zum positiven Recht getreten. Mehr und mehr
suchte man die Regeln des positiven Rechts aus allgemeinen Prinzipien
zu entwickeln und seine Geltung durch Zurückführung auf letzte,
allgemeine Grundsätze wissenschaftlich zu erweisen. Seit der Mitte
des 18. Jahrhunderts aber konkretisierte sich die naturrechtliche Doktrin
von einem formalen Erklärungsprinzip zu einem selbständigen Inbegriff
inhaltlich bestimmter Vorrechte, zu einer Quelle neuer materieller
Rechtssätze, welche mit dem positiven Recht der bestehenden Gesetze
konkurrierten. Eine Bewegung von ungeheurer Resonanz erhob die
großen politischen Forderungen der Zeit, Freiheit, Gleichheit, Volks-
souveränität, als die in der menschlichen Vernunft begründeten,
unveräußerlichen natürlichen Rechte zur Idee des Rechts, zu dem
Recht schlechthin, das mit dem Anspruch auf Ällgemeinverbindlichkeit
die bestehenden Gesetze zu meistern suchte. Dieser Kultus der
Vernunft führte zu einem weitgehenden Subjektivismus, denn, was mit
dem Anspruch auf naturrechtliche ÄUgemeingültigkeit dem bestehenden
Recht entgegengestellt werden sollte, entnahm der reflektierende Jurist
den Gedanken der eigenen Brust. Auch im Strafrecht wurden die
überkommenen, der Zeit längst unverständlichen Gesetze durch natur-
rechtliche Neubildungen modifiziert. „Verlassen von Gesetzen, die nur
den gröbsten Bedürfnissen ihres Zeitalters abhelfen sollten, verwickelt
in unauflösliche Widersprüche und undurchdringliche Dunkelheiten des
positiven Willens der Gesetze, war der Geist philosophischer Rechts-
lehrer gedrungen, in sich selbst die Prinzipien und Hauptsätze seiner
Wissenschaft zu suchen und durch Philosophie die unzähligen
Lücken des Kriminalkodex auszufüllen."^
' Revision der Fortschritte des Kriminalrechts. Ergänzungsblätter zur
Ällg. Lit. Zt. I, 1. Jena und Leipzig 1801. Nr. 33, Sp. 255. Vgl. über diesen
Aufsatz unten S. 25, Änm. 1. Zur geschichtlichen Entwicklung der neueren
Naturrechtsbewegung siehe: Ä. Lassen, System der Rechtsphilosophie,
Berlin und Leipzig 1882, S. 28—108. O. v. Gierke, Johannes Althusius
und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. 3. Ausgabe, Breslau
1913 (Unters, z. dtsch. Staats- und Rechtsgeschichte VII). Derselbe,
Naturrecht und deutsches Recht. Breslauer Rektoratsrede. Frankfurt a. M.
1883. R. Loening, Über geschichtliche und ungeschichtliche Behandlung
des deutschen Strafrechts. Mit Anmerkungen zur Geschichte der deutschen
Strafrechtswissenschaft seit 150 Jahren. Z. Str. W. Bd. 3, 1883, S. 219 ff.
K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I. Leipzig 1892,
S. 148 — 231. H. Kantorowicz, Die Epochen der Rechtswissenschaft.
In: Die Tat VI, Jena 1914/15, S. 345— 361.
Der kulturgeschichtliche Hintergrund dieser mehr rechtspolitischen
als rechtsphilosophischen Strömung war die Aufklärung. Ruf allen
Gebieten geistigen und kulturellen Lebens legte diese Zeit den Maßstab
subjektiver Vernunft an die überkommenen Dogmen und Bindungen
und führte allenthalben zu einer Überwindung mittelalterlicher Lebens-
formen. Mit ihnen verschwanden die letzten Fesseln scholastischer
Denkweise, schwanden Leibeigenschaft und Feudalismus, Tortur und
Scheiterhaufen. Die Macht der Kirche wurde durch weitgehende
Säkularisation auf politischem und geistigem Gebiet immer mehr
zurückgedrängt. Eine Rationalisierung des Lebens hat zwar den
Himmel zu entvölkern gedroht, aber die Erde für uns wohnbar gemacht.
Im Gedanken der Humanität lebte mit dem Glauben an das Recht der
freien Persönlichkeit die kühne Hoffnung, daß es gelingen werde, hier
auf Erden das Menschengeschlecht zu innerer und äußerer Vollkommen-
heit zu führen. Was als höchstes Ziel für die Entwicklung der Menschen
den kühnen Reformfreunden voranleuchtete, was eine ideale Rechts-
ordnung gewähren und ermöglichen sollte, das schien ihnen in der
ursprünglichen Natur eines jeden Menschen beschlossen, in dem
abstrakten Begriff des Menschen schlechthin für alle Zeiten und Völker
vorgezeichnet. Wenn sie nach rationalistischer Weise das geschichtlich
Gewordene nach abstrakten Begriffen zu meistern suchten, wenn sie,
was von Rechtswegen sein sollte, mit dem identifizierten, was
natürlicherweise allein sein kann, — es war ja nicht ihr Ziel,
Gewordenes zu begreifen, sondern Überkommenes in Trümmer zu
schlagen und in neue, vollkommene Formen zu gießen. Schöner sind
kaum diese Männer und Zeiten geschildert worden als in den Worten
des Kriminalisten Adolf Merkel, aus denen man etwas von der tiefen
Herzensheiterkeit Jean Pauls herauszuhören vermeint: „... Es war
eine schöne Zeit, die Zeit ihres jugendlichen Wirkens. Nichts schien
dem strebenden Geiste damals unerreichbar. Ein glänzendes Morgenrot
breitete sich vor dem Äuge jener Trefflichen über Höhen und Tiefen
des Völkerlebens aus und der Odem eines goldenen Zeitalters ging
leise, verheißend durch die Welt. Sie aber standen auf ragender
Warte, des Tages harrend, dem Wanderer vergleichbar, der auf hoher
Alpenspitze die nahende Sonne erwartet, wenn das erste Licht die
Nebel zerteilend die zahllosen Gipfel rings in Purpur kleidet und einen
wundersamen und rührenden Glanz über die harrende Welt verbreitet."^
* Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe. Stuttgart
1912, S. 39 f., Änm. 2. Die von E. Troeltsch für Below und Meineckes
Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte angekündigte
Geschichte der Äufklärungszeit ist leider immer noch nicht erschienen. —
Politische Zusammenhänge in großen Zügen bei Karl Lamprecht, Deutsche
Mit der Erfüllung ihrer Forderungen führte die Aufklärung
zugleich zu einer Überwindung naturrechtlicher Denkweise. Der
Liberalismus wollte den Einfluß staatlicher Gewalt gegenüber der
freien Sphäre des Einzelnen fest begrenzen und gelangte so zu der
Forderung strenger Bindung der staatlichen Organe an das Gesetz:
die rechtsstaatliche Neubildung von Justiz und Verwaltung bedeutete
eine höchste Steigerung der Autorität des positiven Rechts. Und
zugleich wurden im Konstitutionalismus, in der Anteilnahme der
Bürger an der Bildung und Ausübung des Staatswillens, die großen
historischen Kräfte geschaffen, welche ein Jahrhundert lang der
Schöpfung neuen positiven Rechts in nie gekannter Fruchtbar-
keit gedient haben.
Die Gestalt Immanuel Kants erscheint in der Geschichte der
Rechtswissenschaft nicht in gleicher Weise wie sonst nur als der alles
Zermalmende, sondern wie ein wahrer Januskopf zugleich der geschicht-
lichen Vergangenheit und der zukünftigen Entwicklung zugewandt.^ Der
kritischen Philosophie entsprach es, vor dem Erwerb von Kenntnissen
nach der Möglichkeit des Erkennens, vor der Verkündung sittlicher
Gebote nach der Möglichkeit der Pflichterfüllung, vor der Aufstellung
von Rechtsgesetzen nach der Möglichkeit des Rechtes selbst zu fragen.
Die Einsicht in diese Problematik hat auf dem Gebiete des Rechts
Kant keineswegs gehindert, es den alten Naturrechtslehrern in der
Ableitung inhaltlich bestimmter allgemeingültiger Rechtssätze aus der
Vernunft nachzutun: „Der Zerstörer des flachen Dogmatismus, der
Erneuerer der kritischen Erkenntnistheorie — ein Naturrechtsdoktrinär
und dazu Stifter der zünftigsten Naturrechtsschule, die es je gegeben
hat!", so spottet Bergbohm.-' So bewegte sich Kants Einfluß zunächst
innerhalb der naturrechtlichen Denkweise und drängte lediglich zu einer
Vertiefung der Methode, indem man dem formalen Begriffe des Rechts,
Geschichte 3, II (Bd. 9 der ganzen Reihe), Berlin 1907, 23. Buch, 1. Kap.
Neue Anschauungen von Staat und Gesellschaft. S. 3 — 122. Manche
historisch merkwürdige Einzelheit aus jener Zeit bei Br. Bauer, Geschichte
der Politik, Kultur und Aufklärung des 18. Jahrhunderts I, II, 1 — 3,
Charlottenburg 1843—1845. Von speziellen Gesichtspunkten ausgehend,
aber auch für allgemeine Fragen wichtig: Rudolf Unger, Hamann und
die Aufklärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im
18. Jahrhundert. I. Bd. Text. Jena 1911. S. 19-59.
' E. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3, I.
München und Leipzig 1898. S. 503 ff. Auf die Landsbergschen Bände
des großen historischen Äkademiewerkes über die „Geschichte der Wissen-
schaften in Deutschland" sei an dieser Stelle als auf die unvergleichliche
literarische Grundlage aller dogmengeschichtlichen Arbeit aus
dem Gebiet der Jurisprudenz grundsätzlich verwiesen!
" K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I, S. 198.
aus dem man den Inhalt der einzelnen materiellen Rechtssätze ableitete,
stärkere Aufmerksamkeit zuwandte und die „reine Vernunftidee des
Rechts" in ihrer Selbständigkeit von Moral und Sitte herauszustellen
suchte.^ „In die Kantische Revolution der Philosophie wurde auch das
Naturrecht gezogen. Der Genius der Untersuchung, der bisher auf
diesem Gebiet geschlummert zu haben schien, raffte sich gleichsam
auf. Die Mischung der Moral und Rechtslehre sprang in voller Klarheit
einem jeden Parteilosen in die Augen und man sah wohl ein, daß nur
das Durchgraben des eigentlichen Bodens dieser Wissenschaft, daß das
Aufsuchen fester, von moralischen Grundsätzen abgesonderter Prinzipien
die Wissenschaft ihrer Bestimmung näher führen könnte" (Feuerbach)."
Die Aufklärung verdankt Kants berühmter Definition von 1784
die unvergängliche Deutung ihres Zieles und ihres Wesens: „Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündig-
keit . . . Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu
bedienen!, ist also der Wahlspruch der Aufklärung."^ Das Humanitäts-
ideal fand im kategorischen Imperativ, in dem die sittliche Persönlichkeit,
die reine praktische Vernunft zum allgemeinen moralischen Gesetzgeber
erhoben wird, seinen metaphysischen Ausdruck.
Gleichwohl lagen in der Kantischen Philosophie die Kräfte, welche
beiden, Aufklärung und Naturrecht, ein Ende zu bereiten bestimmt
waren. Gegenüber dem Polizei- und Wohlfahrtsstaat der älteren Auf-
klärung entsprach dem Kantischen Rechtsbegriff ein Staat im Sinne
einer reinen Rechtsanstalt, dem die Garantie der Äufrechterhaltung der
Freiheit aller zugleich Aufgabe und Begrenzung seiner Befugnisse ist.
In diesem formalen Charakter des Kantischen Rechtsbegriffes lag zugleich
der innere Gegensatz zu den naturrechtlichen Konstruktionen. Freilich,
die völlige Unvereinbarkeit von Kritizismus und Rationalismus auf dem
Gebiete des Rechts haben erst spätere Zeiten aus Kant erschlossen,
indem sie allein dem eigentlichen kritischen Nachweis einer Möglichkeit
des Rechts überhaupt Ällgemeingültigkeit, jedem einzelnen materiellen
Rechtssatz aber geschichtliche Bedingtheit zusprachen, indem sie jenen
formalen Rechtsbegriff zwar als Beurteilungsnorm, ob etwas Recht sei,
anerkannten, die Ableitung einzelner inhaltlich bestimmter Rechtssätze
^ Vgl. hierzu: W. G. Tafinger, Über die Idee einer Kriminalgesetz-
gebung in Beziehung auf die Wissenschaft sowohl als das praktische Leben.
Tübingen 1811. S. 17 ff.
^ Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven
peinlichen Rechts Bd. II. Chemnitz 1800. S. 465.
^ Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Cassirer Bd. IV, S. 169. Über den historisch verhältnismäßig begrenzten
Zusammenhang dieses „Programms" siehe G. Beyer haus, Kants „Programm"
der Aufklärung aus dem Jahre 1784. Kant-Studien XXVI, 1—2, S. 1 — 16.
aus ihm aber verwarfen. So blieb vom Naturrecht nicht sein Inhalt,
nicht der Codex ewiger Menschenrechte, sondern seine Fragestellung,
die Methode, „sich zum Recht nicht nur deskriptiv sondern auch
normativ, nicht urteilend sondern beurteilend zu verhalten, aber nicht
irgend eines ihrer Ergebnisse" (Radbruch). ^ Ein „Naturrecht mit
wechselndem Inhalt", in dem es sich nicht um einzelne, inhaltlich
feststehende Rechtssätze handelt, sondern um eine allgemeingültige,
formale Methode, nach der „man den notwendig wechselnden Stoff
geschichtlich bedingten Rechts dahin bearbeiten, richten und bestimmen
mag, daß er die Eigenschaft des objektiv Richtigen erhält" (Stammler).^
Solche Schlußfolgerungen haben ohne Zweifel zu der Isolierung des
Rechts von kulturellen und sozialen Werten und zu der Formalistik
der „rein juristischen Methode" beigetragen, welche das Wesentliche
der Jurisprudenz in ihrer logisch-konstruktiven Arbeit sehen will. Aber
andererseits hat der Verzicht auf ein inhaltlich bestimmbares allgemeines
Vernunftgesetz den Weg zu positiver Gesetzgebungsarbeit freigemacht,
hat die kritische Methode durch die Überwindung des Naturrechts der
historischen Rechtsschule die Wege gebahnt. Hat doch gerade Savigny
den formalen Charakter der Kantischen Philosophie früh erkannt: „Ich
werde nie vergessen", heißt es in einem Brief an Jacob Friedrich Fries,
„wie sehr ich bei meiner ersten Bekanntschaft bekümmert war, das
Sittengesetz in meinem Bewußtsein — nicht zu finden. Der Kummer
ist von mir gewichen, und es ist noch die Einsicht hinzugekommen,
daß die Sache da garnicht zu suchen sei."^
Es war eine Zeit reichen geistigen Lebens und jener hochentwickelten
Kultur, in die die Schläge der großen Revolution von Frankreich her
hereinklangen, jenes letzte Jahrzehnt des 1 S.Jahrhunderts, in welches die
Studienzeit des jungen Feuerbach fällt.* ITjährig bezog er im
Jahre 1792 die Universität Jena. Hochbegabt, voll glühenden Eifers,
' G. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie. Leipzig 1914, 5.5.
^ R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte. Berlin 1902,
S. 116{. Gegen diese ganze Richtung: E. Kaufmann, Kritik der Neu-
kantischen Rechtsphilosophie. Tübingen 1921.
' Jac. Friedr. Fries, Aus seinem handschriftl. Nachlasse dargestellt von
E. L. Th. Henke, Leipzig 1867, S. 296f. Siehe hierüber: Hermann Cohen,
Von Kants Einfluß auf die deutsche Kultur. Marburger Kaisergeburtstags-
rede. Berlin 1883. S. 23ff.
* Die Hoffnung, welche der Berliner Kriminalist Hitzig nach Feuer-
bachs Tode äußerte: „daß er doch, was jetzt in Deutschland nicht mehr ein
so seltenes Glück ist, als es wohl früher war, einen seines Gegenstands
würdigen Biographen fände," scheint unerfüllt zu bleiben. Die wichtigste
Quelle für Feuerbachs Lebensgang ist: Anselm Ritter v. Feuerbachs
Leben und Wirken, aus seinen ungedruckten Briefen und Tagebüchern,
Vorträgen und Denkschriften veröffentlicht von seinem Sohne Ludwig
ein Vulkanus von früh an, in dem wie mit urwüchsiger KraR in lebens-
langem Wechsel die Stürme eines leidenschaftlichen Temperaments nach
außen drängten, in dessen Leben beständig Zeiten verhaltener Erregung
mit vesuvischen Ausbrüchen empfindlichster Reizbarkeit wechselten, hatte
er nach zornigem Streit seine Freiheit dem Vater abgetrotzt. Dem
Elternhaus des Frankfurter Advokaten wandte er den Rücken und floh
nach Jena. Hier in der Nähe, in Hainichen, hatte einst seine Wiege
gestanden, hier nahm ihn die Jungfer Tante in ihr gastliches Haus, hier
ward der Heimatlose der alma mater dankbarer Sohn.
Feuerbach, Leipzig 1852, 2 Bände, sowie für die Kieler Zeit neuerdings
Liepmann, Von Kieler Professoren. Briefe aus drei Jahrhunderten zur
Geschichte der Universität Kiel, Stuttgart -Berlin 1916, S. 90 — 98. Die
vollständigste Bibliographie über die Fülle kleinerer biographischer
Darstellungen bei Frantz Dahl, Juridiske Profiler, Kjobenhavn og
Kristiania 1920, S. 77—85. An älteren, z. T. auf persönliche Eindrücke
zurückgehenden Berichten seien erwähnt: Brockhaus, Zeitgenossen, Neue
Reihe III, 11, 1823, S. 159 — 174; Hitzig in seinen Ännalen der deutschen und
ausländischen Kriminalrechtspflege XV, 1833, S. 398 — 410; Mittermaier
in Bluntschli und Braters deutschem Staatswörterbuch III, 1858, S. 503 — 513;
Äbegg im Gerichtssaal Vlll, 1, 1856, S. 230 — 237, 241-275. — Von
Späteren haben über Feuerbachs Leben geschrieben: Glaser (Ges. kl.
Schriften über Strafrecht, Zivil- und Strafprozeß 1, Wien 1868, S. 19 — 61),
Geyer (Münchener Festrede zum 100. Geburtstag 1875 und Kl. Schriften
strafrechtlichen Inhaltes, München 1889, S. 553 — 584), Binding (Straf rechtl.
und strafproz. Äbhdlg. 1, 1915, S. 507— 521). Die Darstellungen in Rottecks
u. Welckers Staatslexikon 3. Aufl., Bd.V, 1869, S. 346— 354 und in der
Ällg. deutschen Biographie VI, 1877, S. 731—745 stammen von
Marquardsen, Ferner K. Th. Heigel, Aus drei Jahrhunderten, Wien 1881,
S. 234 — 257. Mit vielen Literatur- und Quellenangaben E. Landsberg,
Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3, II, München 1910, Textband
S. 112—139, Notenband S. 60-68. — Zum Jahrhunderttag des Bay. StGB.
Erich in Äschaffenburgs Monatsschrift X, 1913, S. 385—414, Edw. Baum-
garten im Gerichtssaal 81, 1913, S. 98 — 150. — Von speziellen Gesichts-
punkten gehen aus die Studien von Holder, Savigny und Feuerbach,
Virchow und Holtzendorffs Sammlung wissenschaftlicher Vorträge XVI, 378,
Berlin 1881; Ä. v. Bechmann, Feuerbach und Savigny, Münchener
Rektoratsrede 1894; Fleischmann, Anselm v. Feuerbach. Der Jurist als
Philosoph, Erlangcr Diss. 1906; Edw. Baumgarten, Recht der Persönlich-
keit und Zweckgedankc in Theorie und Praxis des deutschen Strafrechtes
von der Carolina bis auf Feuerbach, Tübinger Diss. 1907; O. Döring
in Kantstudien, Ergänzungsheft 3, Berlin 1907; Jos. Breuer, Die politische
Gesinnung und Wirksamkeit des Kriminalisten Anselm v. Feuerbach, Straß-
burger Diss. 1905; Coenders, Richtlinien aus den Lehren Feuerbachs für
die moderne Strafrechtsreform (Recht und Staat in Geschichte und Gegen-
wart 7), Tübingen 1914; Radbruch, Feuerbach als Kriminalpsychologe
(Äschaffenburgs Monatsschrift VI, 1910, S. 1-9). — Zur Familien-
geschichte siehe Henriette Feuerbach, Anselm Feuerbachs Leben,
Briefe und Gedichte, Bd. I der von Herm. Hettner herausgegebenen
8
Es war die Zeit Karl Augusts, Jenas klassische Zeit!' Goethe
kam oft von Weimar in das „liebe närrische Nest", Schiller hatte
1 789 seine Antrittsvorlesung gehalten: „Was heißt und zu welchem Ende
studiert man Universalgeschichte?", in der er am Eingang den Hörern dem
philisterhaften „Brotstudenten" den ewig jugendlichen „philosophischen
Kopf" gegenüberstellte und deren Grundgedanken durchdrungen waren
von dem stolzen Selbstgefühl des aufgeklärten Zeitalters, dem die Fort-
schritte bisheriger Menschheitsentwicklung zu immer höherer Vollkommen-
heit zu führen bestimmt schien. Feuerbachs späterer „Lehrer, Freund
und Gegner" Hufeland lehrte Naturrecht. Als Philosoph galt neben
C. E. Schmid K. L. Reinhold als Berühmtheit. Dem österreichischen
Jesuitenkloster entflohen, nun Wielands Schwiegersohn, war er einer
der einflußreichsten Verkünder der Philosophie Kants, mit dem er selbst
in regem Briefwechsel stand. ^ Es war Jenas Glanzzeit, berühmt durch
bedeutende Männer in allen Fakultäten, so der Theologe Griesbach,
der Naturwissenschaftler Froriep. Voran aber stand die Philosophische
Fakultät, deren Ruhm damals alle anderen deutschen Universitäten über-
sh-ahlte. Fast alle führenden Philosophen haben in jenen Jahren dort
gelernt und gelehrt: Fichte, der Reinholds Nachfolger wurde. Sehe Hing
und Hegel, Fries und Krause. Auch die Brüder Schlegel haben
dort begonnen. Waren sie auch meist nur für kurze Zeit dort, so
wollte doch jeder gern eine Zeitlang an dem regen Austausch geistigen
Lebens an der Jenaer Universität und im Kreise ihrer Freunde, denen
sich zeitweilig Alexander und Wilhelm v. Humboldt mit Caroline zu-
gesellten, teilhaben.
Dem jungen Feuerbach wurden die Professoren, „die Väter auf
der Universität", alsbald zu den „besten Freunden". Mit tiefer Treue
Nachgelassenen Schriften von Änselm Feuerbach (Archäologe) I — IV,
Braunschweig 1853, sowie das große Werk über den Maler Änselm Feuerbach,
den Enkel des Kriminalisten: Julius Allgeyer, Änselm Feuerbach. In
zweiter Aufl. in 2 Bänden herausgegeben von Carl Neumann, Berlin und
Stuttgart 1904, — Nachricht über handschriftliches Material: Breuer,
a. a. O. pag. V — VIII. Daselbst Angaben über sonstige verstreute biographische
Mitteilungen. An Bildern Feuerbachs ist am bekanntesten Kreuls Porträt,
das freilich, nach Ludwig Feuerbachs Urteil, „obwohl ein sehr gutes
Bild, doch mehr den Präsidenten als den geistvollen Menschen darstellt".
Wiedergaben in Bd. 1 von Leben und Wirken und bei Dahl a. a. O.
Ungleich lebensvoller ist ein Biid aus jüngeren Jahren, dessen Wiedergabe
der ersten Auflage von Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft
(V/issenschaft und Bildung 79), Leipzig 1910, vorangestellt ist.
^ K. Biedermann, Die Universität Jena nach ihrer Stellung und Be-
deutung in der Geschichte des deutschen Geisteslebens. Jena 1858. S. 77 ff.
- Karl Leonhard Reinholds Leben und literarisches Wirken. Heraus-
gegeben von Ernst Reinhold. Jena 1825.
und Dankbarkeit hängt er an seinem Lehrer Reinhold, seinem „Führer
zum Guten und väterlichen Freund". „Ihm danke ich es und mit mir
unzählige Jünglinge", — so bekennt er bei Reinholds Weggang nach
Kiel — „daß ich besser geworden bin, ihm danke ich die Ausbildung
meines Geistes und die Schärfung meiner Denkkraft, ihm danke ich es
endlich, daß ich warmer Freund reeller Wissenschaften, Freund des
eigentlichen angestrengten Denkens geworden bin. " ^ So ward Philosophie
sein Studium. Kant stählte ihm Seele und Verstand, Rousseau erwärmte
die Glut des Herzens. Unruhig und begierig nahm er die Dinge auf,
brennend vor freudigem Ehrgeiz, in heller Begeisterung dabei mitten im
akademischen Leben, offenen Sinnes in der Hingebung jugendlicher
Freundschaft, wenn „die Herzen sich wechselweise ergossen, die
sich schon beim ersten Anblick einander zuschlugen". Schwelgend
in der Romantik der „Rudolphsburg" und den Wäldern des Saale-
tales, — so trinkt er in vollen Zügen das reiche Leben der Studentenzeit.
Früh erwarb er den Doktorhut, schon brachte Niethammers Journal
die ersten Abhandlungen aus der Feder des jungen Philosophen, da
band er sein Schicksal an die Frau, an die schöne Mine Tröster, an
deren Seite und zugleich nahe den verstehenden Freunden in der alten,
nun neugewonnenen Thüringer Heimat zu leben, ihm höchster Wunsch
an das Schicksal schien.' Nun galt es, den Vater völlig auszusöhnen,
galt es, baldige Heirat möglich zu machen. Darum hieß es dem
Lieblingsstudium entsagen und ein Brotfach ergreifen: Jurisprudenz!
Nach Jahren hat der gefeierte Rechtsgelehrte dem Sohn Änselm, dem
Vater des liebenswerten, unglücklichen Malers, von der schweren
Entsagung, aber auch von der Kraft zielbewußten Pflichtgefühls
gesprochen, die der 21jährige damals erlebte.'^ Mit dem Ernst der
Arbeit stellte sich die Freude auch an dem neuen Gegenstand ein,
die Beschäftigung mit den Quellen selbst zog ihn an, bald schien ihm
das Corpus iuris kein confusum Chaos mehr, sondern „ein Produkt
tiefster Weisheit, der innigsten Kenntnis des Menschen und seines
Geistes".* Freilich, seinem Schicksal entgeht keiner: der „schlüpfrige
' Feuerbach, Leben und Wirken I, S. 8 und 9. — Doch scheinen
die Meinungen über den wissenschaftlichen Wert der Reinholdschen Vor-
lesungen bei älteren, kritischen Hörern geteilt gewesen sein. So wird von
dem Leipziger Philologen Gottfried Hermann, der als junger Magister bei
Reinhold Kant studieren wollte, berichtet, ihn habe dessen Bestreben, das
System Kants zu popularisieren und allgemein faßlich zu machen und alle
Schwierigkeiten wegzuräumen, enttäuscht. Vgl. Otto Jahn, Biographische
Aufsätze. Leipzig 1886, S. 99.
' Fe u erb ach, Leben und Wirken I, S. 16.
" Ebendort II, S. 132 ff.
* Ebendort I, S. 26 f.
10
Pfad des akademischen Lebens", den er mit der Abkehr von der
Philosophie als die Torheit jugendlicher Unbesonnenheit verlassen
wollte, war ihm gleichwohl vorbestimmt. Kurz nach seiner juristischen
Promotion 1799 wurde er Privatdozent. Bald hält er wohlbesuchte
Kollegs: Rechtsgeschichte, Institutionen, peinliches Recht. Schüler
reihen sich um ihn: Gildemeister, einer seiner „ersten und talent-
vollsten Schüler", Lehmann aus Göttingen „ein interessanter Mensch,
voller Kenntnisse".^ In 2 Jahren wird er Extraordinarius und alsbald
Beisitzer des Schöppenstuhls und ordentlicher, wenngleich unbesoldeter,
Professor des Lehnrechts. Sein Ruf dringt nach auswärts. Ein
Monat bringt ihm vier Berufungen.
Im Frühjahr 1802 geht er als Ordinarius nach Kiel, dem
„freundlichen, munteren Ort, voll liebenswürdiger, guter, treuherziger
Menschen". Seit dem Fackelzug bei Reinholds Weggang war kein
Hochschullehrer so geehrt worden wie Feuerbach, dem die Studenten,
ähnlich wie Reinhold, eine Ehrenmedaille prägten: Praeceptori optimo,
quem Jena sibi ereptum dolet, Kiloniae donatum gratulatur f. f. pietas
auditorii Jenensis.^ Mit Freuden begann er die Arbeit der Kieler Zeit.
In Jena war er bloß Gelehrter, hier wird er Mensch. „Nie war ich
tätiger, nie habe ich mehr gelernt und mehr gewirkt als hier, und
doch habe ich weniger als sonst an meinem Pult gesessen."^ Der
freundliche Ort wirkt auf ihn unvergleichlich erheiternd, die Segelboote
auf der grünen Flut, kriegerische Fregatten und friedliche Kauffahrtei-
schiffe. Den Wein läßt man sich hier „trefflich schmecken", er hat
„von dem besten Medoc im Keller". Welche Freude für den Binnen-
länder, wenn er „aus dem Wäldchen auf Düsterbrook den himmelblauen
Wellen in ihrem Spiel" zusieht oder „selbst in einem Segelboote auf
ihren Spitzen tanzt" ! Reinhold nahm den einstigen Jenenser Schüler
mit Freuden auf, der Kreis um Hegewisch, den „tätigsten Schriftsteller
in Kiel", und um Hensler bringt ihm Anregung und Erholung, bei
dem Curator, Staatsminister von Reventlow, einem „ungemein liebens-
würdigen und kenntnisreichen Mann" ist er häufiger Gast. „Der ganze
akademische Senat ist nur eine Familie, eine Gesellschaft von Freunden . . . " ^
Eine Idylle, die ihn wohltuend und verlockend aufnahm — die ihm
aber kein dauernder Gewinn sein konnte. Da war er doch von Jena
eine andere geistige Beweglichkeit gewohnt als in der norddeutschen
Kleinstadt, eine andere Hörerschaft als die „holsteinischen Klötze",
deren „Nationalcharakter zu sehr in den Körper treibt: die viele
' Ebendort I, S. 55, 54.
' Ebendort I, S. 66.
' Ebendort I, S. 78.
* Ebendort I, S. 72, 73, 84, 92 f., 75.
11
Krütze (sie) und das häufige fette Rindfleisch muß sich endlich auch
den Köpfen mitteilen"! Es ward ihm zu eng, zu unbefriedigend in
Kiel, und so ging er schon nach zwei Jahren mit Freuden daran,
seinen „Katheder von den Ufern der Ostsee hinter die Donau zu
versetzen" : durch kurfürstliches Dekret wurde er, der erste Nichtbayer,
der erste Protestant, an die Universität Landshut berufen/
Die Grundlagen der strafrechtlichen Lehren Feuerbachs sind bereits
in seinen philosophischen Jugendarbeiten vorgezeichnet. Früh hat er
sich schon in seiner philosophischen Epoche Problemen des Rechts
zugewandt, so wie später der Kriminalist auf Jahre hinaus den Philo-
sophen der Kantischen Schule nicht verleugnen mochte. Als echter
Jünger der kritischen Philosophie müht er sich von Anfang an um
die Grundfrage nach dem Wesen des Rechts, fragt er vor der
Ableitung einzelner materieller Rechtssätze, ob überhaupt aus der
Vernunft Recht hervorgehen kann. Den „Vater des Naturrechts"
nannte ein zeitgenössischer Rezensent den jungen Feuerbach, ^ nicht
ahnend, daß mit solcher Vertiefung der naturrechtlichen Methode —
der Bestand des Naturrechts alsbald in Frage gestellt war.
Der Rechtsbegriff, der Feuerbach vorschwebte, sollte autonom
sein. Recht sollte mehr sein als eine Ausstrahlung der Moral, sollte
nicht, wie er es von seinem Lehrer Reinhold gehört hatte, im Verhältnis
zum Sittengesetz heteronom bleiben. Reinhold nannte Recht dasjenige,
„was durch Freiheit des Willens vermittelst des Sittengesetzes möglich
ist,"^ d. h. was vom Sittengesetz weder geboten noch verboten ist.*
Unter diesen allgemeinen Begriff fallen innere und äußere Rechte,
„Gewissensrechte" und „Naturrecht". Im juristischen Sinne, im Sinne
des Naturrechts, habe ich nach Reinhold ein Recht gegen jemand,
wenn dieser mich rechtswidrig angreift, „folglich durch das von dem
anderen übertretene Sittengesetz". '^
In zwei Gruppen teilt Feuerbach die Versuche ein, das Recht aus
dem Sittengesetz herzuleiten, die „absoluten" Methoden, nach denen
das Recht mit den sittlichen Pflichten des Berechtigten zusammenfällt
und seine Kraft aus der Wirksamkeit des Sittengesetzes unmittelbar
erhält und die „relativen" Methoden, welche das Recht auf die
' Leben und Wirken I, S. 90 f.
'^ Leben und Wirken I, S. 28.
' K. L. Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie II. Bd.
Leipzig 1792, S. 193.
* K. L. Reinhold, Beitrag zur genaueren Bestimmung der Grund-
begriffe der Moral und des Naturrechts. Neuer teutscher Merkur v. J. 1792
I. Bd. Weimar 1792. 6. Stück, S. 105 ff., vgl. S. 120.
^ Briefe über die Kantische Philosophie II. Bd., S. 153.
12
mittelbaren Wirkungen zurückführen, welche von derjenigen sittlichen
Pflicht ausgehen, die für den andern gilt, der dem Berechtigten als
Verpflichteter gegenüber steht. ^
Die Wirksamkeit des Sittengesetzes besteht nach Feuerbach
allein darin, daß es Pflichten begründet. Es erlaubt ein Verhalten
nur insofern, als es auf seine Wirksamkeit verzichtet. „Das Sitten-
gesetz als tätig erlaubt nichts, aber es erlaubt, inwiefern es nicht
tätig ist, sondern als ruhend betrachtet wird."^ Nicht von einem
Berechtigen, nur von einem Nichtverbieten kann man hier sprechen.
Man kann ein solches nicht verbotenes Verhalten immerhin recht
nennen, das Recht ist mehr als ein ethisches aSi-icpopov oder, wie
Feuerbach es ausdrückt, etwas anderes als nur eine Negation des
Sittengesetzes. „Beruhigt blicke ich in mein Inneres, wenn ich finde,
daß das, was ich tat, recht war; aber frei und mutig blicke ich um
mich her, wenn ich weiß, daß ich ein Recht habe."^ Vollends
bliebe, wäre das Recht inhaltlich gleichbedeutend mit sittlich zulässigem
Verhalten, jener immer wieder erlebte tragische Zwiespalt zwischen
rechtlicher Bindung und sittlicher Pflicht — summum ius summa
iniuria — schlechthin unerklärlich.
Ebenso weist Feuerbach die Unzulänglichkeit der relativen
Methode nach. Nach ihr sollte sich aus der Verbindlichkeit des Ver-
pflichteten das Recht als die Befugnis des andern, des Berechtigten
ableiten lassen. Alles, so wird geschlossen, was der eine leiden muß,
ist des anderen Recht. Ich habe zu allem Recht, was zu dulden
der andere verpflichtet ist. Recht ist: „Nicht-gehindert-werden-dürfen".*
Aber auch auf diesem Wege kommt man nicht zu einem Rechts-
begriff, der inhaltlich Wesentliches enthält: „denn wie kann sein (des
andern) Unrecht meine Handlung rechtmäßig machen?"^ Aus der
Pflicht des andern folgt noch nicht das Recht, die Innehaltung dieser
Verpflichtung zu erzwingen. Vielmehr wird eine Pflicht erzwingbar
(„vollkommen") erst dadurch, daß ein Recht, sie zu erzwingen, besteht.
Es ergibt sich somit, „daß die Rechte nicht vollkommene Pflichten,
sondern die vollkommenen Pflichten, inwiefern sie vollkommen sind,
die Rechte voraussetzen".^
' Feuerbach, Versuch über den Begriff des Rechts. Niethammers
Journal II. Bd., 2. Heft, S. 138 ff.; vgl. S. 144 f. Feuerbach, Kritik des
natürlichen Rechts . . . Ältona 1796. S. 94 ff. und S. 139 ff.
■ Kritik des natürlichen Rechts S. 104.
" Ebendort S. 114.
* Ebendort S. 145.
'" Ebendort S. 146.
« Ebendort S. 174.
13
Huf diese Kritik folgt nunmehr die eigene Lösung Feuerbachs:
Die Ableitung des Rechts aus einer gegenüber dem sittlichen
Vermögen selbständigen Funktion der Vernunft.
Das Vermögen, das sich auf die Willensbestimmung bezieht,
heißt praktische Vernunft. Der Wille ist das „Vermögen, sich mit
dem Bewußtsein eigener Tätigkeit zur Hervorbringung einer Vorstellung
zu bestimmen".^ Die Hervorbringung der Vorstellung kann als not-
wendig oder nicht notwendig bestimmt werden. Diejenige Funktion
der praktischen Vernunft, bei der die Bestimmung als notwendige
gegeben ist, ist die moralische, entsprechend dem Wesen der Pflicht:
Du sollst; diejenige, bei der diese Bestimmung nicht als not-
wendig gegeben ist, ist die juristische, entsprechend dem Wesen
des Rechts: Du darfst. Es liegt dieser Deduktion der Gedanke
zugrunde, daß, wie das Leben des Menschen undenkbar wäre, wenn
ihn nicht das eigene Gewissen an seine Pflichten mahnte, ebenso
notwendige Voraussetzung seines Daseins ist, daß er bestimmte
Handlungen zu tun oder zu unterlassen berechtigt ist. Mag dies
im einzelnen noch so verschieden gestaltet sein, wir können uns
des Menschen Verhältnis zu den verschiedenen Möglichkeiten des
Handelns immer nur unter der Form denken, daß er Rechte und
Pflichten hat.
Mit dieser Deduktion ist eine Form gefunden, unter der wir uns das
Wesen des Rechts als etwas Eigenartiges, gegenüber der Moral begrifflich
Selbständiges vorstellen können. Aber dieser von der Sittlichkeit
unabhängige Begriff des Rechts läßt nur die formale Struktur des
Rechts erkennen, über Inhalt und Wesen des Rechts vermag er uns
nichts zu sagen. Erst wenn nachträglich das Recht wiederum zur
Sittlichkeit in Beziehung gesetzt wird, erhält der — grundsätzlich von
der Sittlichkeit unabhängige — Begriff des Rechts Leben und Farbe.
Die Vernunft ist ein Begriff, unter dem wir eine Fülle von Einzelheiten
in systematischer Einheit zusammenfassen. Diese vereinheitlichende
Tendenz zeigt sich bei der praktischen Vernunft in einem für alles
menschliche Wollen und Handeln gesetzten höchsten Zweck. „Die
Vernunft setzt, vermöge ihrer Form, welche systematische Einheit ist,
dem Willen einen höchsten Zweck, indem sie ihm ein absolutes,
schlechthin durch sich selbst gültiges, allgemeines und notwendiges
Gesetz vorschreibt."^ Zur Erfüllung der aus diesem absoluten Gesetz
sich ergebenden Verbindlichkeiten wählt die Vernunft zwei Mittel:
sie macht diese Erfüllung in der Moral dem Menschen zur Pflicht
und sie gibt ihm im Recht die Möglichkeit, diese Pflichten zu
' Ebendort S. 248.
=* Ebendort S. 251 ff.
14
erfüllen. Um dem Dienst sittlicher Pflichterfüllung leben zu können,
muß der Mensch frei in seinem Tun sein; um sich allein sittlicher
Bindung zu unterwerfen, muß er unabhängig sein von äußerem Zwang.
Denn allein um des Sittengesetzes willen handelt nur derjenige, dem
es freisteht, auch entgegengesetzt zu handeln. Es kommt nicht darauf
an, daß „die Pflichten der Erscheinung nach erfüllt werden (dies gibt
bloße Legalität), sondern auch, daß das bepflichtete Subjekt sich frei
zur Erfüllung derselben bestimmt".^ Hier liegt die Wurzel des Rechts
im Sinne von Freiheit. „Gibt die Vernunft das Recht zur Freiheit,
als einer Bedingung der Erreichung des höchsten Zwecks, so muß
sie auch dadurch unmittelbar um dieses Rechtes, mittelbar um des
Sittengesetzes und des höchsten Zwecks willen nicht allein die Hand-
lungen sanktionieren, durch welche sich das Subjekt für, sondern auch
gegen das Sittengesetz bestimmt."'' Z. B.: Warum habe ich das
Recht, mir das Leben zu nehmen? — Hätte ich kein Recht dazu, so
wäre Selbstmord eine Rechtswidrigkeit. Ich wäre rechtlich verpflichtet,
mir nicht das Leben zu nehmen und könnte zur Erfüllung dieser
Verpflichtung durch Zwang angehalten werden. Dann wäre der
Verzicht auf Selbstmord keine sittliche Tat. „Denn ich hätte die
Pflicht nicht durch Freiheit, sondern durch Nohvendigkeit erfüllt. Die
Vernunft muß aber Freiheit in Erfüllung der Pflichten wollen. Folglich
muß sie mir das Recht geben, mich zur Erfüllung der Pflicht nicht
zwingen zu lassen, sie muß mir das Recht geben, mir das Leben
zu nehmen."^
Aber diese Freiheitssphäre darf nicht ohne Schutz bleiben. Wenn
dem sittlich Handelnden in dem Verhalten anderer ein Hindernis
entsteht, sanktioniert das Recht einen Zwang gegen diese anderen auf
Beseitigung des Hindernisses. Huf diese Weise gelangt Feuerbach in
der „Kritik des natürlichen Rechts" zu der Ableitung einer zweiten,^
dem Rechte wesentlichen Eigenschaft, der Erzwingbarkeit. In diesem
Sinne ist Recht ein Zwangsrecht, damit „mir die Erreichung des
höchsten Zwecks durch Erfüllung meiner Pflichten möglich werde, in
Beziehung auf andere vernünftig sinnliche Wesen, die in eine Sphäre
meiner Handlungen mit Gewalt eingreifen können. Dieses kann nicht
anders geschehen als dadurch, daß ich dem Zwang der anderen
Zwang entgegensetze."^
' Feuerbach, Über die einzig möglichen Beweisgründe gegen das Dasein
und die Gültigkeit der natürlichen Rechte. Leipzig und Gera 1795, S. 95 ff.
' Über die einzig möglichen Beweisgründe ... S. 96 L
* Kritik des natürlichen Rechts S. 291.
* Kritik des natürlichen Rechts, Vorrede pag. XXVII.
^ Kritik des natürlichen Rechts S. 258.
15
So kommt Feuerbach zu dem Ergebnis: Das Recht ist seinem
Wesen nach etwas Selbständiges und von der Moral Unabhängiges.
„Das Naturrecht hat mit der Moral nichts gemein als ihre
allgemeine Quelle — die Vernunft, und zwar die praktische
Vernunft. Im übrigen sind sie durchgängig voneinander ver-
schieden."^ Aber dieses Recht, das etwas anderes ist als Sittlichkeit,
wird angewandt um des Sittlichen willen, dient der Erfüllung
sittlicher Pflichten. Denn „Moralität ist Endzweck der Welt".-
Eine scholastische Argumentation! Und doch sind diese abstrakten
Sätze Grundlagen, auf denen der ganze Bau der Feuerbachschen
Lehren ruht. Die Autonomie des Rechts durchzieht wie ein Grund-
dogma sein ganzes Wirken. Dieser Gedanke dient uns zur Erklärung,
ihm selbst zur Rechtfertigung für die übermäßige Härte seiner straf-
rechtlichen Bestimmungen, die eben den Anspruch nicht erheben
wollten, als eine sittlichen Forderungen genügende Regelung mensch-
lichen Verhaltens zu gelten. Bei dem Begriff des Rechts, um den
es hier geht, ist nun aber nicht so sehr gedacht an das Recht im
objektiven Sinn, an die Norm, den Imperativ, sondern in subjektivem
Sinn an die Befugnis, an die Berechtigung des Einzelnen. Hier liegt
die rechtspolitische Bedeutung jener abstrakten Deduktion, die in ihrem
Kern ein Bekenntnis zu dem Rechtsgedanken der Äufklärungszeit
enthält, jenem zu Unrecht verschrieenen „Htomismus", nach dem das
Recht nicht allein als absolute Macht über der Masse der Untertanen
lastet, sondern jeder Einzelne zugleich als Träger von Rechten und
Pflichten den andern wie der Gesamtheit gegenüber Befugnisse und
Ansprüche geltend machen kann. Derselbe Gedanke, der im Äntihobbes
von 1796, dem Feuerbachschen Seitenstück zu Friedrich II. Äntimachiavel,
in einer Apologie des ius resistendi gegenüber den Ansprüchen des
unbeschränkten Staatsabsolutismus zum Ausdruck kam. Solche rechts-
politischen Forderungen fanden — auch das ist von grundsätzlicher
Bedeutung für Feuerbachs Entwicklungsgang — in den Lehren der
Kantischen Philosophie eine formale Stütze.
Nicht nur rein äußerlich nimmt Feuerbach an vielen Stellen auf
Kant Bezug."^ Die wichtigsten Bausteine der Beweisführung sind den
Grundbegriffen der praktischen Philosophie Kants entnommen: die
allgemeine gesetzgebende Bedeutung der Vernunft, der kategorische
Imperativ und die sittliche Freiheit sind die unentbehrlichen Grundlagen
für Kant wie für Feuerbach. ^ Selbst der Grundgedanke, daß, um
' Kritik des natüriichen Rechts S. 305. ' Ebendort S. 276.
' Kritik des natüriichen Rechts S. XXV, 90, 112, 171, 174.
* Döring, Feuerbachs StraUheorie und ihr Verhältnis zur Kantischen
Philosophie. Kant- Studien, Erg.-Heft III. Berlin 1907. S. 36.
16
sittliche Pflichterfüllung möglich zu machen, wir zum Handeln nicht
gezwungen werden dürfen, ist echter Kant. Wenn wir, heißt es in
der „Kritik der praktischen Vernunft", alle Konsequenzen unseres
Tuns wüßten, wenn „Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät
uns unablässig vor Augen" ständen . . ., „so würden die mehresten
gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und
gar keine aus Pflicht geschehen, ein moralischer Wert der Handlungen
aber, worauf allein der Wert der Person und selbst der der Welt in
den Äugen der höchsten Weisheit ankommt, würde garnicht existieren"/
Gleichwohl hat sich Feuerbach seine Selbständigkeit gegenüber dem
„Königsberger Weisen" zu wahren bemüht, wiewohl nach seinen eigenen
Worten „ihn niemand inniger verehren, niemand mit tieferer Dankbarkeit
die Verdienste erkennen kann, die sich dieser große Denker um Philosophie
und Menschheit, um Welt und Nachwelt erworben hat . . . " ^
Feuerbachs rechtsphilosophische Untersuchungen weisen in der
Tat über Kant hinaus. Dadurch, daß der Rechtsbegriff als Recht im
subjektiven Sinn, als Recht des einzelnen Subjekts, als Berechtigung
gefaßt ist, verstärkt sich zugleich der Gegensatz von Recht und
Moral. Beide erscheinen ihrer Struktur nach als verschiedene Funktionen
der praktischen Vernunft: rechtliches Dürfen und sittliches
Müssen. Von hier aus war es kein weiter Schritt mehr, den Feuerbach
in seinen kriminalistischen Schriften unbedenklich vollzieht: die Trennung
von Recht und Moral auch in objektiver Hinsicht auf das Inhaltliche
zu erstrecken und zwischen rechtlichen und sittlichen Geboten
zu scheiden, welche Pflichten entgegengesetzten Inhalts be-
gründen können.
Nach Kant besteht das Recht in der „Einschränkung der Freiheit
eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit
von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist". ^
Ist die Freiheit des einzelnen das Ziel dieses Rechts, so tritt es
doch vorwiegend als allgemein ausgleichende objektive Norm, nicht
als der subjektive Anspruch des einzelnen in die Erscheinung.
Kant kennt nur Zwangsgesetze, keine Erlaubnisgesetze.* Selbst die
Befugnis zu rechtlichem Zwang folgert er aus der Verpflichtung des
Handelnden zur Ausübung dieses Zwanges.^ Den Begriff der recht-
lichen Freiheit kennt er nicht als Befugnis, innerhalb einer lediglich
' Akademie-Ausgabe Bd. V, S. 147, Cassirer Bd. V, S. 159.
'^ Kritik des natürlichen Rechts, Vorrede pag. XXV.
" Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber niclit für die Praxis. Cassirer Bd. VI, S. 373.
* Zum ewigen Frieden. Cassirer Bd. VI, S. 432, Note 1.
'" Rec. V. Hufelands Versuch über den Grundsatz des Naturrechts.
Cassirer Bd. IV, S. 346.
17
vom Recht gezogenen Schranke beliebig zu schalten und walten,
sondern er spricht von rechtlicher Freiheit nur im staatsrechtlichen
und politischen Sinne als dem Prinzip, „keinen äußeren Gesetzen zu
gehorchen, als denen ich habe meine Zustimmung geben können".^
Auch als ein Jahr nach Feuerbachs „Kritik des natürlichen
Rechts" Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre"
erschienen," blieb die Darstellung des Rechtsbegriffs in gleicher Weise
auf das objektive Recht beschränkt. Überhaupt war diese späte
systematische Rechtsphilosophie des 73jährigen Kant wenig fruchtbar,
ein Werk, wie es der Kriminalist Grolman nannte: „eines großen,
aber keineswegs infalliblen Greises".^ Grundsätzlich ist auch hier das
subjektive Recht, die Berechtigung lediglich gleichbedeutend mit einem
Nichtverbotensein,* gelegentlich aber auch mit Nichtgehindertwerden-
dürfen.^ Es ist die hergebrachte Doktrin, wie sie charakteristischer-
weise auch von Reinhold vertreten war, dem Kant selbst drei Jahre
zuvor brieflich bezeugt hatte, daß er über die Prinzipien des Natur-
rechts im wesentlichen mit ihm übereinstimme.^ Feuerbachs Kritik
an Reinholds Ableitung des Begriffes Recht hat Kant offenbar nicht
gekannt. Spricht er doch in dem gleichen Brief an Reinhold davon,
daß er zwar „wohl allenthalben Abhandlungen aus meinem eigenen
Fonds herausspinnen" könne, sein Älter ihm aber Schwierigkeiten
bereite, sich „in die Verkettung der Gedanken eines anderen hinein-
zudenken und so dessen System, bei beiden Enden gefaßt, reiflich
beurteilen zu können".
Hatte die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" gelehrt, daß
ein ethisches Gesetz verlange, das Gebot solle lediglich um des
Gebotes willen, allein aus ~ Pflichterfüllung befolgt werden, so zeigte
die „Metaphysik der Sitten", daß sich das Rechtsgesetz damit begnügt,
daß sein Gebot überhaupt, gleichgültig aus welchen Beweggründen,
erfüllt wird.^ So beruht bei Kant der Gegensatz von Moralität
* Zum ewigen Frieden. Cassirer Bd. VI, S. 434 f., Note 1.
^ 1797. Seit der 3. Aufl. — noch im gleichen Jahre — zusammen
mit „Metaph. Anfangsgründe der Tugendlehrc" in der „Metaphysik der
Sitten" vereinigt.
* Über die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung.
Gießen 1799, S. 218.
* Metaphys. der Sitten, Äkademie-Äusgabe Bd. VI, S. 222; Cassirer
Bd. VII, S. 23.
' Metaphys. der Sitten, Äkademie-Äusgabe S. 246; Cassirer S. 47.
* K. L. Reinholds Leben und literarisches Wirken . . . Herausgegeben
von Ernst Reinhold. Jena 1825, S. 158. Der Brief findet sich auch in den
großen Kantausgaben: Akademie-Ausgabe Bd. XI, S. 475 ff. (Nr. 585) und
Cassirer Bd. X, S. 235 ff. (Nr. 345).
' Äkademie-Äusgabe Bd. IV, S. 397; Cassirer Bd. IV, S. 253 f. —
Äkademie-Äusgabe Bd. VI, S. 219; Cassirer Bd. VII, S. 19.
18
und Legalität auf einem Unterschied der Motivierung der Pflicht-
erfüllung.^ Darüber hinaus ist die Autonomie des subjektiven
Rechts und der Sinn und die Möglichkeit eines schneidend scharfen
Gegensatzes rechtlicher Freiheit und sittlicher Pflicht klarer
und vollkommener bei dem jungen Feuerbach erkannt und zum
Ausdruck gebracht worden. Anders dachte offenbar der zeitgenössische
Rezensent der Feuerbachschen „Kritik des natürlichen Rechts", der dieses
Buch zwar rühmt als ein Beispiel, wie man Begriffe erörtern müsse, aber
meint: „Die nach Ausgabe dieser Schrift erschienene Metaphysik der
Sitten würde dem Verfasser Gelegenheit gegeben haben, sich noch die
Seite des Begriffes aufzuhellen, die ihm dunkel geblieben war."'
Daß die herausgestellten Unterschiede zwischen den Lehren Kants
und Feuerbachs zum Problem der Selbständigkeit von Recht und
Sittlichkeit mehr sind als begriffliche Spitzfindigkeiten, zeigt sich in
der Art, wie beide die ihrem Wesen nach von einander unabhängigen
Größen Recht und Sittlichkeit zu einander in Beziehung setzen. Kant
lehrte: Der Staat ist zwar seinem Wesen nach eine Institution äußerer
Gesetzgebung, aber einen Staatsverband zu begründen ist sittliche
Pflicht.^ In der „Metaphysik der Sitten" wird weiter ausgeführt, daß
die Staatengründung für den Menschen geradezu eine Notwendigkeit
ist, „wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will".* Grundsätzlich
faßt hier Kant die Beziehung zwischen Recht und Sittlichkeit in dem
Gedanken zusammen, daß es eine sittliche Pflicht sein kann, allgemein
den Gesetzen des Staates, nur weil sie dessen Gesetze sind, auch ohne
daß sie selbst ein ethisches Gebot zum Inhalt haben, zu gehorchen.^
^ E. Kaufmann, Kritik der Neukantischen Rechtsphilosophie, Tü-
bingen 192L S. 59 f.
' AUgem. Lit.-Ztg. Jena u. Leipzig 1798. Bd. IV, Nr. 323, Sp. 224 ff.,
insbes. Sp. 234. — In der heutigen Literatur betonen die Priorität Kants
und die Abhängigkeit Feuerbachs von Kant in der Frage der Selbständig-
keit von Recht und Sittlichkeit: Baumgarten, Recht der Persönlichkeit
und Zweckgedanke... Tübinger Diss. 1907, S. 131, und Landsberg,
Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3, II, S. 61, Note 9. (Vgl. aber
ebendort Text S. 113.) Für die Selbständigkeit Feuerbachs, unbeschadet
des allgemeinen Einflusses der Kantischen Philosophie und seine Priorität
im Sinne der im Text gegebenen Darstellung: Fleischmann, Anselm
V. Feuerbach, Der Jurist als Philosoph, Erl. Diss. 1906, S. 70. Döring,
Feuerbachs Straftheorie und ihr Verhältnis zur Kantischen Philosophie.
Kant-Studien, Erg.-Heft III, Berlin 1907, S. 17. Nagler, Die Strafe.
Eine juristisch-empirische Untersuchung. Berlin 1918. S. 65.
^ Idee zur allgem. Geschichte in weltbürg. Absicht. Cassirer Bd. IV,
S. 156. Zum ewigen Frieden, Cassirer Bd. VI, S. 465.
* Akademie-Ausgabe Bd. VI, S. 312. Cassirer Bd. VII, S. 118.
' Akademie-Ausgabe Bd. VI, S. 219 f. und 231. Cassirer Bd. VII,
S. 20 und 32.
19
Diese Argumentation Kants schuf der Gehorsamspflicht gegen die
Autorität des gegebenen Staates einen ethischen Unterbau und mündete
damit in eine Apologie des unbeschränkten Staatsabsolutismus — in
schroffem Gegensatz zu den rechtspolitischen Forderungen der Auf-
klärungszeit. Es ist derselbe Gegensatz, der sich darin zeigt, daß
der junge Feuerbach im „Hntihobbes" das Zwangsrecht der Bürger
gegen das Staatsoberhaupt bei einem Bruch des imaginären Unter-
werfungsvertrages verficht, während Kant den Gedanken von einem
Recht zur Revolution unbedingt zurückwies, die ihm ihrem Wesen nach
eben stets ein Rechtsbruch bleibt.^ In der Beurteilung einzelner
revolutionärer Bewegungen blieb Kant durch diese theoretische Fest-
stellung jedoch keineswegs gebunden, hat er doch selbst die Enhvicklung
der großen französischen Revolution mit einer „an Enthusiasmus
grenzenden Anteilnahme" verfolgt.^
Das Recht ist begrifflich selbständig gegenüber der Sittlichkeit,
aber es ist nur da um der Sittlichkeit willen. Dieser doppelte Gedanke
bestimmte Feuerbachs Anschauungen auf dem Gebiet des Strafrechts.
Er entspricht in seiner negativen Seite dem leidenschaftlichen Kampf
gegen eine Hinübernahme der ethischen Begriffe Schuld und Willens-
freiheit in die strafrechtliche Zurechnungslehre, von dem sein großes
theoretisches Werk, die „Revision" von 1799/1800 erfüllt ist. Auf
der andern Seite dient er ihm bereits im „Rntihobbes" zur Begründung
seiner eigenen Strafrechtstheorie, wobei er, auch hier bewährter Dialektik
folgend, von einer Kritik entgegenstehender Meinungen ausgeht. Ein
Äbschreckungsstrafrecht, nach dem eine Strafe über einen Verbrecher
verhängt wird, damit andere durch diese Strafe von ähnlichen Taten
abgeschreckt werden, wäre eine unsittliche Rechtsanwendung. Denn
sie würde ein Menschenschicksal als Mittel für einen außer ihm selbst
liegenden Zweck — um größerer Furcht der anderen willen — dienstbar
machen. Gebietet doch das Sittengesetz — nach Kants „Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten" — „Handele so, daß du die Menschheit
sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest".'' In der
' Feuerbach, Äntihobbes S. 80 ff. sowie die Bemerkung S. 51, Note.
Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber nicht für die Praxis, Cassirer Bd. VI, S. 383. Zum ewigen Frieden,
Cassirer Bd. VI, S. 469. Metaphysik der Sitten, Äkademie-Äusgabe Bd. VI,
S. 320. Cassirer Bd. VII, S. 126 f. Über weitere Probleme der staatsrechts-
philosophischen Auffassung Kants im Verhältnis zum Strafrecht siehe unten
Kap. III, S.93.
* K.Vorländer, Kants Stellung zur französischen Revolution. Philos.
Äbhdl. f. Herm. Cohen, Berlin 1912, S. 247 ff., insbes. S. 260 u. 265.
" Akademie-Ausgabe Bd. IV, S. 429. Cassirer Bd. IV, S. 287.
20
„Metaphysik der Sitten" heißt es dann in spezieller Anwendung auf
das Strafrecht: Es kann nie eine Strafe ein Mittel sein, „ein anderes
Gute zu befördern für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche
Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt
werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als
Mittel zu den Absichten eines andern gehandhabt und unter die
Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine
angeborene Persönlichkeit schützt, ob er gleich die bürgerliche ein-
zubüßen gar wohl verurteilt werden kann"/ Ganz in diesem Sinne
hält Feuerbach, der später ausdrücklich diese Worte Kants aufnahm,^
dem Äbschreckungsstrafrecht entgegen: „Heißt das nicht ein vernünftiges
Wesen als eine Sache, als ein beliebiges Mittel zu einem höheren
Zweck gebrauchen? Wie kann die Vernunft ein solches sich selbst
widersprechendes Recht begründen?"^
Aber auch das Ziel, durch den Strafvollzug im Sinne einer
Spezialprävention auf die Persönlichkeit des bestraften Verbrechers
selbst zu wirken, lehnte Feuerbach als Zweck der Strafe ab. Daß es
überhaupt ein „Zwangsrecht zur Prävention" gebe, eine Befugnis, „sich
gegen den Beleidiger in Sicherheit zu setzen und ihm entweder die
Lust oder die Möglichkeit zu nehmen, ferner Beleidigungen auszuüben,"*
hat auch Feuerbach ursprünglich angenommen und erst später bestritten,''
wohl aber ist ihm von vornherein ein derartiges Recht niemals
Strafrecht. Ein Strafrecht, das der Besserung des Bestraften diente,
wäre kein Strafrecht, sondern ein Züchtigungsrecht. „Der Staat ist
aber nicht Vormund, sondern Beschützer, nicht Zuchtmeister, sondern
Verteidiger. " ''
Diese Fragen kehren später in dem Streit mit dem Kriminalisten
Grolman ausführlich wieder. Der „Äntihobbes" begnügt sich damit,
die Strafe als „ein zugefügtes sinnliches Übel" zu definieren, das zum
Unterschied von dem „Präventionsübel" stets „eine Androhung oder
ein Strafgesetz" voraussetzt.'
Damit werden die beiden Anschauungen fallen gelassen, welche
die Rechtfertigung der Strafe herzuleiten suchten aus der Wirkung der
Vollziehung der Strafe, sei es auf die Allgemeinheit, sei es auf
1 Äkademie-Äusgabe Bd. VI, S. 331. Cassirer Bd. VII, S. 139.
- Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen
Rechts Bd. I. Erfurt 1799. S. 48.
' Äntihobbes. Ältona 1796. S. 210.
* Äntihobbes S. 205 f.
' Vgl. unten Kap. II, S. 50.
" Äntihobbes S. 204.
' Ebendort S. 204 und 207.
21
den Bestraften. Es bleibt Feuerbach nur der andere Weg, den Nach-
weis für die Berechtigung der Strafe zu führen durch Hinweis auf die
Wirkung der Strafdrohung. Auf diesem Wege gelangt er bereits
am Ausgang seiner philosophischen Periode im „Antihobbes" von 1798
zu der für ihn charakteristischen Strafrechtstheorie, die meist als
„psychologische Zwangstheorie" bezeichnet wird. v. Bar hat sie
„Theorie des positiven Gesetzes" genannt,^ ähnlich wie sie ein zeit-
genössischer Berichterstatter der Allgemeinen Literaturzeitung als
„gesetzliche Straftheorie" bezeichnete." Binding gab ihr den Namen
„Balancirtheorie".^
Der Gedankengang dieser Theorie ist folgender:* Das Motiv des
Verbrechens ist Befriedigung eines Bedürfnisses. Durch Androhung
eines Übels wird der Vorstellung von der durch die Bedürfnisbefriedigung
erzielten Lust ein Unlustgefühl wegen des zu erwartenden Schmerzes
assoziiert. Überwiegt dieses, so wird der Täter von der Begehung des
Verbrechens abgehalten. „Die Tat kann nicht begangen werden, ohne
das Übel zu leiden; das Übel kann nicht vermieden werden, ohne daß
die Tat unterlassen wird. Es wird also nicht bloß die Vorstellung,
die dem rechtswidrigen Begehren zum Grunde lag, verdunkelt, sondern
das Begehren selbst wird an einem ganz andern, dem vorigen wider-
sprechenden Gegenstande festgehalten."'^ Es ist dieselbe Theorie, aus
der später in der „Revision" die Zurechnungslehre abgeleitet wurde.
So ist der Zweck des Strafgesetzes Verhinderung von Ver-
brechen überhaupt. Erzielt wird dies dadurch, daß durch die gesetz-
liche Straf drohung alle Bürger als mögliche Verbrecher von der
Begehung verbotener Taten abgeschreckt werden. Die Berechtigung
der abschreckenden Strafdrohung ergibt sich aus eben diesem Zweck
und daraus, daß durch sie keiner in seinem Recht verletzt wird, „da
das Übel nur auf den Fall einer Verletzung der Freiheit
bestimmt, mithin die Freiheit, insofern sie mit der Freiheit aller
besteht, durch die Androhung um nichts beschränkt, kein Recht
also dadurch beleidigt wird".'' Diese Formulierung will besagen, daß
der Staat nicht schlechthin befugt ist, denjenigen Übel in Aussicht
' V. Bar, Geschichte des deutschen Straf rechts und der Straf rechts-
theoricn, Berlin 1882, S. 249.
- Revision der Fortschritte des Kriminalrechts. Erg.-Bl. z. Allgem. Lit.-
Ztg., Jena u. Leipzig 1801, Nr. 49, Sp. 387. Vgl. unten S. 25, Hnm. 1.
" Binding, Handbuch des Strafrechts I. Bd., Leipzig 1885, S. 21.
^ Ausführliche Darstellung dieser Theorie, ihrer Argumente und eine
kritische Betrachtung der gegen sie vorgebrachten Einwände bei Hepp,
Kritische Darstellung der Strafrechtstheorien, Heidelberg 1829, S. 80 ff.
^ Antihobbes S. 217 f.
« Antihobbes S. 220 f.
22
zu stellen, die irgendwelche gesetzlich bestimmte Handlungen
begehen, sondern daß er nur Rechtsverletzungen unter Strafe
stellen darf. Keineswegs liegt also in der Verbotswidrigkeit allein die
Strafwürdigkeit einer Handlung.
Wird das Hauptgewicht auf die Wirkung der gesetzlich angedrohten
Strafe gelegt, so erscheint die Zufügung der Strafe bei der
Bestrafung des einzelnen Verbrechers als etwas Sekundäres. Sie
hat nur den Zweck, „die Androhung selbst wirksam zu machen".^
Wie aber läßt sich bei diesem bescheidenen Zweck die Berechtigung
der Zufügung der Strafe erweisen? Dieser Rufgabe dient schon im
„Äntihobbes" die „Einwilligungstheorie". Durch das Gesetz ist die
Ausübung der Tat an die Bedingung der Bestrafung geknüpft. Wer
die Tat willentlich begeht, willigt mit dem Bedingten in die Bedingung
ein, und „ich habe durch seine Handlung aus eben dem Grunde ein
Recht, die Strafe zu exequieren, aus welchem ich das Recht habe,
die Erfüllung eines eingegangenen gültigen Vertrages zu fordern"."
Ganz im Sinne des Hugo Grotius, der aus der gleichen obligationen-
rechtlichen Analogie den Satz ableitete: qui directe vult peccare, per
consequentiam et poenam merere voluerit.^
Diese Einwilligungstheorie entspricht der naturrechtlichen Doktrin
vom Sozialkontrakt mit dem Unterschied, daß bei Feuerbach der
Vertragsschluß in der Begehung des einzelnen Verbrechens fingiert
wird, während nach jener Doktrin im ursprünglichen Staatsvertrag
jeder Bürger generell von vornherein dem Gemeinwillen die Befugnis
zu strafrechtlicher Ähndung von Rechtsverletzungen überträgt. Auf
diesem Gedanken beruhte der durch Kants Gegenargumentation
berühmt gewordene Versuch Beccarias, die Unrechtmäßigkeit der
Todesstrafe durch den Hinweis darauf naturrechtlich zu erweisen, daß
kein Bürger über sein Leben zugunsten Dritter verfügen könne.*
^ Äntihobbes S. 226.
2 Äntihobbes S. 233.
^ Jus belli ac pacis. Lib. II, cap. XX, § 2, Abs. 3.
^ Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Übersetzt v. K. Esselborn,
Leipzig 1905, S. 105 ff. — Kant, Metaphysik der Sitten. Akademie-Ausgabe
Bd. VI, S. 334 f.; Cassirer Bd. VII, S. 142. Kant findet in der „teilnehmender
Empfindelei einer affektierten Humanität" entsprungenen Behauptung Beccarias
„alles Sophisterei und Rechtsvcrdrehung". Im „Sozialkontrakt ist gar
nicht das Versprechen enthalten, sich strafen zu lassen" und
der Bürger als Subjekt der Gesetzgebung, als homo noumenon keineswegs
identisch mit dem Verbrecher als Gegenstand strafrechtlicher Beurteilung,
dem homo phaenomenon. — Wie wenig eine doktrinäre Widerlegung der
rationalistischen Begründung Beccarias die wahre Gültigkeit seiner Ideen
in Frage zu stellen vermag, dafür zeugt der Umstand, daß er selbst weit
mehr Gewicht auf die beredte Darstellung der Innern Gründe gegen die
23
Wie die begriffliche Ableitung des autonomen Rechtsgedankens ist
auch Feuerbachs Strafrechtstheorie der Ausdruck bestimmter rechts-
politischer Überzeugungen. Denn sie führte folgerichtig zu einer
Stärkung der Autorität des positiven Gesetzes und damit im
Sinne des modernen Rechtsstaates zu einer gesicherten Abgrenzung
zwischen der Freiheitssphäre des Einzelnen und der Macht des Staates.
Wenn Feuerbach mit aller Leidenschaft den Kampf gegen schranken-
lose richterliche Ungebundenheit führte und eng bestimmte Grenzen
obrigkeitlichen Ermessens forderte, so folgte er gewiß den Konsequenzen
seiner Strafrechtstheorie, zugleich aber bahnte er damit dem Staats-
gedanken der Äufklärungszeit den Weg.
Nulla poena sine lege! Dieser Grundsatz unbedingter rechtlicher
Beschränkung der staatlichen Strafgewalt ergab sich Feuerbach aus
der doppelten Wurzel seiner dogmatischen Strafrechtstheorie und seiner
politischen Rechtsüberzeugung. Wenn die Bedeutung der Strafe in
erster Linie in der abschreckenden Wirkung der gesetzlichen Straf-
drohung besteht, wenn die Verhängung der Strafe nur diese Wirksamkeit
der vom Gesetz angedrohten Strafe stärken soll, — so darf im Einzelfall
nur die Strafe verhängt werden, die das Gesetz selbst angedroht hat.
Daß damit das Strafrecht zugleich den Forderungen der Lehre von
der „Teilung der Gewalten" entspricht, indem gesetzgebende und
richterliche Gewalt nur dann in Wahrheit streng getrennt bleiben, wenn
der Richter an das allgemeine Gesetz ausnahmslos gebunden bleibt,
hat Feuerbach selbst mit einem Hinweis auf Hobbes gezeigt, wenn
er auch nicht wie Hobbes in den richterlichen Beamten allein die
Adressaten der strafgesetzlichen Bestimmungen sah.^ Mit dieser
positivistischen Tendenz zugunsten einer strengen Bindung des Richters
an das geschriebene Gesetz haben die Staatsrechtslehrer der Auf-
klärungszeit und auf strafrechtlichem Gebiet Feuerbach den Rechts-
garantien des modernen Staates die Wege geebnet. Freilich wir Heutigen
erschrecken über die allzu ängstliche Beschränkung richterlichen
Ermessens, zu der das Mißtrauen gegen den absoluten Staat führte.
„Les juges de la nation", so verlangt es Montesquieu, „ne sont que
la bouche, qui prononce les paroles de la loi, des etres inanimes, qui
Todesstrafe gelegt hat und vor allem der tiefe Eindruck, den seine Worte
noch nach IV2 Jahrhunderten aufs neue jedem hinterlassen, der den berühmten
16. Abschnitt dieses unvergänglichen Buches nachliest.
' Feuerbach, Revision Bd. I, S. 148 l — Vgl. Hobbes, De cive XIV,
§ 7 a. E., Deutsche Ausgabe von Frischeisen -Köhler (Philos. Bibl. Bd. 158),
S. 230. Zu dem Satz: Nulla poena sine lege: Binding, Handbuch des
Strafrechts I. Bd., Leipzig 1885, S. 17 ff., und in bezug auf das Feuer-
bachschc Strafgesetzbuch die Darstellung unten Kap. V.
24
n'en peuvent moderer ni la force, ni la vigueur."^ Aber der Grund-
gedanke, daß das Gesetz die unübersteigbare Schranke staatlicher
Strafgewalt bildet, bleibt uns ein unverlierbares Erbe der Äufklärungs-
zeit, und wir sehen auch heute in dem Satz: Nulla poena sine lege
das „Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der rücksichtslosen Macht
der Mehrheit, gegenüber dem Leviathan". (Liszt.^)
Dieser Gedanke der strengen Bindung des Richters an das positive
Gesetz beherrschte Feuerbachs Stellung zu dem Problem der straf-
rechtlichen Zurechnung. Nicht richterliche Willkür, nicht eigenes
Ermessen oder besondere Rücksicht auf die Umstände des einzelnen
Falles, sondern einzig und allein die Bestimmungen des Gesetzes sollen
Voraussetzung und Begrenzung der strafrechtlichen Verantwortung
bestimmen. Auch dieser Gedanke war zugleich eine Konsequenz der
kriminalistischen Doktrin Feuerbachs wie seiner staatsrechtlichen Über-
zeugung. Wenn das Wesen der Strafe in ihrer Wirkung als angedrohtes
Übel besteht, so kann die Frage nach strafrechtlicher Verantwortlichkeit
grundsätzlich nicht gestellt werden im Hinblick auf den einzelnen, dem
die Strafe zugefügt wird, sondern auf die Allgemeinheit, die durch ihre
Androhung abgeschreckt werden soll. Zurechnung ist für Feuerbach
daher primär ein abstraktes Problem, eine Beurteilung generalisierter
Tatbestände, keine Diagnose einmaliger konkreter Tatsächlichkeiten.
So mag der Gesetzgeber generell die Bedingungen vorschreiben, unter
die der Richter den konkreten Einzelfall zu subsumieren hat. Hatte man
sich gegenüber der für jene Zeit unerträglichen Härte der überkommenen
Strafgesetze mit einem aus der italienisch -gemeinrechtlichen Doktrin
von der poena extraordinaria abgeleiteten und zum Gewohnheitsrecht
gewordenen Gebrauch geholfen, der dem Richter ein System von außer-
gesetzlichen Milderungsgründen an die Hand gab, die ihn zur Änderung
des gesetzlichen Strafrahmens berechtigten, so eröffnete Feuerbach einen
leidenschaftlichen Kampf gegen diese Anarchie des positiven Rechts.'*
^ Esprit des lois. Livre XI, Chap. VI. Edition st^räotype Didot,
Paris 1816, pag. 57.
'' V. Liszt, Straf rechtl. Aufsätze u. Vorträge II, Berlin 1905, S. 80. —
Anders Binding: „Wer indessen Verständnis für das Verbrecherleben und
dafür besitzt, daß die Gesetzgebung demselben nicht in alle Schlupfwinkel
zu folgen vermag, wer empfindet, was es heißt, schwere Mißtaten bloß in
Ermangelung des Gesetzesbuchstabens straflos zu lassen, der muß dem
Richter die Verurteilung auf Grund der Analogie nicht nur freigeben, sondern
sie von ihm fordern." (Handbuch des Strafrechts I, Leipzig 1885, S. 28.)
** Über diese Lehre siehe: C. Lippmann, Historisch-dogmatische Dar-
stellung der Lehre von der richterlichen Strafänderungsbefugnis. Münchener
Preisschrift 1863. - R. Loening, Über geschichtliche und ungeschichtliche
Behandlung des deutschen Strafrechts. Mit Anmerkungen zur Geschichte der
deutsch. Strafrechtswissenschait seit 150 Jahren, Z.Str.W. Bd. 3, 1883, S.219ff.
25
Gerade aus dem Vorhandensein bestimmter Strafgesetze (d. h. Strafgesetze
mit absolut -bestimmten Strafgrößen) im Gegensatz zu unbestimmten
Strafgesetzen (mit willkürlicher Strafdrohung) folgt, so lehrte seine
juristische Dissertation von 1799: De causis mitigandi ex capite
impeditae libertatis, daß das Gesetz, wo es eine bestimmte Strafe
androht, will, daß eben diese unverändert verhängt wird. Nicht nach
wohlerwogener Billigkeit oder naturrechtlichen Reflexionen, sondern
allein den Bestimmungen des Gesetzes gemäß hat der Richter die
Strafbarkeit der Tat zu beurteilen. Mochte, wem das Recht nur eine
Ausstrahlung des Sittengesetzes war, bei der strafrechtlichen Zurechnung
auf moralische Erwägungen Rücksicht nehmen, dem Gedanken der
Autonomie des Rechts entsprach es, die Tat allein den Bestimmungen
des Gesetzes zu subsumieren. Damit war keineswegs der unerträglichen
Härte der Carolina das Wort geredet, sondern die drängende Notwendig-
keit gesetzgeberischer Reformen nur um so fühlbarer gemacht. Feuerbach
wollte, wie es ein in seinem Sinn abgefaßter zeitgenössischer Hufsatz
in der Allgemeinen Literaturzeitung schildert, keineswegs „solange die
Carolina besteht, sacken und pfählen", sondern sein Kampf galt der
Doktrin, welche den Notbehelf der Praxis zum Prinzip erhob, welche
„human wurde auf Kosten der Gerechtigkeit". Er wandle
sich dagegen, daß „jene Milderungstheorie, die nach seiner Meinung
zum Notbehelf für gegenwärtige Bedürfnisse erfunden ist, sich den
Schein allgemeiner, notwendiger Wahrheit gebe" und verlangte, daß
„der Richter . . . dem Begnadigungsrecht des Oberherrn in seinem
Urteil die Milderung grausamer Strafen überlassen, nicht aber
durch ungerechte Überschreitung seines Richteramtes der
Menschlichkeit ein Opfer bringen müsse". ^
' Revision der Fortschritte des Criminalrechts in d. letzten drey Quin-
qucnnien. Erg.-Blätter zur Allgemeinen Literaturzeitung I, 1, Jena u. Leipzig
1801, Sp. 257 u. 414. Von wem dieser Aufsatz stammt, steht nicht fest, —
Landsberg 3, I, Noten S. 318, nennt Grolmann (sie!) als Verfasser.
Dagegen spricht nicht nur, wie Esselborn (S. 241 der unten S. 31 an-
gegebenen Schrift) angibt, die, übrigens keineswegs konsequent durch-
geführte, falsche Orthographie (Grohlmann) oder der Umstand, daß Grolman,
der von sich stets mit größter Bescheidenheit sprach, hier mit Vorliebe als
der „scharfsinnige Gegner Feuerbachs" bezeichnet wird, sondern vor allem
der Inhalt der Abhandlung. Im allgemeinen beschränkt sich der Verlasser
auf bloßes Referieren, wo er aber selbst Partei ergreift, ist eine enge
innere Beziehung zu Feuerbach unverkennbar. So namentlich in
dem oben im Text wiedergegebenen, der Grolmanschen Auffassung entgegen-
gesetzten Bekenntnis zu der Lehre von der Bindung des Richters an das
positive Gesetz. Dagegen, daß Feuerbach selbst der Verfasser ist, spricht
die bei ihm sonst ungebräuchliche Bezeichnung der psychologischen Zwangs-
theorie als „gesetzliche Straftheorie" (Sp. 387).
26
Mit solchen Folgerungen war Feuerbach von dem naturrechtlichen
Ausgangspunkt seiner Deduktion abgerückt. Bedeutet doch die Souve-
ränität des positiven Gesetzes eine Überwindung der naturrechtlichen
Doktrin. Hatten die jüngeren Naturrechtler und unter ihrem Einfluß
Kriminalisten, wie Stübel und Grolman, die Herrschaft des Naturrechts
auf subsidiäre Geltung gegenüber dem positiven Recht zu beschränken
gesucht, so wurde Feuerbach nicht müde, immer wieder zu betonen,
daß auch die Lücken der positiven Gesetzgebung nur dann durch
philosophisch ermittelte Naturrechtssätze ergänzt werden dürfen, wenn
sich ihre Zulässigkeit aus dem positiven Recht selbst nachweisen läßt.
Ausführlich erörtert er in der „Revision", daß nur solche allgemeine
Prinzipien zur Ergänzung des positiven Gesetzes herangezogen werden
dürfen, die „in dem Willen des Gesetzgebers enthalten, mithin still-
schweigend von demselben sanktioniert sind".^ Im Willen des Gesetz-
gebers ist aber nach Feuerbach nur enthalten, was notwendig mit
seinen Äußerungen verbunden ist, d. h. die zwar unausgesprochenen,
aber gleichwohl mit den Bestimmungen des positiven Gesetzes untrennbar
verbundenen Grundsätze. Eine Anweisung zur Interpretation von Gesetzen,
die auch heute in unverminderter Geltung bleibt.
Als Feuerbach sein Landshuter Lehramt antrat, nahm er die
Frage nach dem Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht, von
Philosophie und Empirie zum Gegenstande seiner akademischen Antritts-
vorlesung.^ Wohl erfüllt ihn der Glaube an die Vernunft als letzte,
allgemeingültige Quelle allen Rechts, als den höchsten Maßstab
aller vergänglichen Rechte, aber das geltende Recht ist allein das
positive Gesetz, das um irdischer Rechtssicherheit willen erlassen
werden muß. Denn über die Auslegung des wahren Naturrechts
können sich die Gelehrten nicht einigen, das Recht aber soll „Frieden
im Handeln begründen, während des Krieges der Meinungen, während
des Kampfes der Philosophen".^ Der Rechtsgelehrte soll die juristischen
Begriffe aus dem Gesetz ableiten, unmittelbar, durch Analogie, durch
Generalisieren und selbst, wenn er aus allgemeinen Erwägungen heraus
Begriffe bilden muß, die nicht im Gesetz enthalten sind, kann die
Philosophie ihn nur vorläufig zum Wahren „leiten", die Geltung der
gewonnenen Hypothese bestimmt allein das Gesetz. So mag er „mit
der Fackel der Wissenschaft das Gesetz beleuchten, aus dem der
Richter dem Untertan seine Rechte zuerkennen soll",* und selbst als
' Revision Bd. I, S. 185.
* Feuerbach, Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse
zur positiven Rechtswissenschaft. Landshuter Antrittsrede 1804.
^ Über Philosophie und Empirie a. a. O., S. 29.
' Ebendort S. 31.
27
Ratgeber für den Gesetzgeber des Staates hat ihn die Erfahrung über
Schäden und Bedürfnisse der überkommenen Rechtspflege in seinen
philosophischen Erwägungen zu ergänzen. Das war eine deutliche
Absage an die Naturrechtler, ein Streitruf „wider die Anmaßung derer,
welche alles Positive in der positiven Rechtswissenschaft nur als eine
untertänige Magd wollen behandelt wissen, deren höchste Bestimmung
es sei, der Philosophie die Schleppe nachzutragen, ihren herrschaft-
lichen Befehlen sich in Untertänigkeit zu beugen und, wenn es der
Herrin beliebt, vor ihren Äugen ganz zu verschwinden"/
Aber nur zu oft waren in Feuerbachs Wirken Fortschritt mit
Beharren, neue Erkenntnis zugleich mit starrem Festhalten an alten
Irrtümern allzumenschlich verschwistert. So sehr er immer wieder den
Richter allein auf die Bestimmungen des positiven Rechts verweist,
er selbst hat es keineswegs verschmäht, in naturrechtlichem Sinne
inhaltlich bestimmte Rechtssätze aus Vernunftideen zu entwickeln. Mag
er der Gedankenwelt, von der er ausgegangen war, unbewußt noch
einen Tribut gezollt haben, oder hat das Pathos der naturrechtlichen
Ideen in seinem Temperament empfänglichen Boden gefunden, freilich
nicht als Rechtfertigung einer absolutistischen Staatsauffassung wie bei
Hobbes, sondern im Sinne eines unvergänglichen Freiheitsbriefes gegen
despotische Willkür? Wir müssen dem Tyrannen, der uns unterdrückt,
„die Rechte, die er kränkt, beweisen, wir müssen ihm zeigen, daß
wir über diese Rechte nicht bloß meinen, sondern daß wir sie wissen,
daß sie nicht bloß erträumt, sondern wirklich, daß sie nicht das
Produkt des menschlichen Stolzes, sondern der menschlichen
Vernunft sind" !'
Nach naturrechtlichem Vorbild leitet Feuerbach den Rechtsstaat
als ideelle Norm — nicht als reales, historisch entstandenes
Gebilde — aus dem dreifachen Vertrag, dem Bürgerlichen Vertrag,
dem Unterwerfungsvertrag und dem Verfassungsvertrag ab."^ Diese
Lehre vom Sozialkontrakt will nicht ein historischer Erklärungsversuch,
sondern ein rechtliches Beurteilungsprinzip sein, nicht behaupten, daß
die historischen Staaten tatsächlich durch wirklich abgeschlossene
Verträge entstanden sind, sondern „daß ein rechter Staat sich als
durch einen Vertrag seiner Mitglieder entstanden denken lassen muß".*
So hat die Vorstellung vom Staatsvertrag eine normative Bedeutung.
Das tritt am stärksten bei Kant hervor, der dieser Lehre zugleich
' Ebendort S. 25.
"" Kritik des natürlichen Rechts S. 235.
^ Äntihobbes S. 10 u. 37. Vgl. Landsberg, Geschichte d. deutschen
Rechtswissenschaft 3, II, S. 115.
* G. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914, S.107.
28
eine Vertiefung nach der ethischen Seite hin gab: einen Sozialkontrakt
einzugehen ist ethische Pflicht, d. h. eine Staatsordnung, die sich
durch Vertrag entstanden denken läßt, zu begründen und zu bewahren,
ist sittliches Gebot. Aber schon Rousseaus Contrat social von 1762
verstand den Vertragsgedanken als ideelle Norm.^ Feuerbach leitete
aus jener imaginären dreifachen Vertragsform zugleich das ius resistendi
der Untertanen — und die Tatbestände des Hochverrats ab.^
Waren das immerhin Dinge aus seiner philosophischen Jugend-
epoche, so blieb Feuerbach auch in Fragen von grundsätzlicher
Bedeutung in naturrechtlicher Denkweise befangen.^ Er selbst glaubte
fest daran, daß seine Zurechnungslehre den Bestimmungen und dem
Sinn der positiven Gesetze entspreche. Aber in Wahrheit war sie
allein aus seiner Straftheorie abgeleitet, aus der Lehre, daß Sinn und
Zweck eines jeden Strafgesetzes in der Abschreckung aller Bürger
durch die Drohung liege. Wenn Feuerbach hierbei den naturrecht-
lichen Vertragsgedanken, der Verbrecher hätte durch seine Tat in die
Erduldung der Strafe eingewilligt, mehr und mehr dahin abwandelte,
er habe in die Strafe einwilligen müssen, weil der Staat zu ihrer
Androhung berechtigt war, so läßt sich die Berechtigung der einzelnen
staatlichen Strafandrohung wiederum nur naturrechtlich durch den Hin-
weis auf die letzten Prinzipien des Rechts, aus der Notwendigkeit des
wechselseitigen Schutzes der Freiheit aller ableiten.* Wenn die Wirkung
der Androhung Zweck des Strafgesetzes ist, dann mußte nach Feuerbach
zurechnungsfähig derjenige sein, auf den mit der Strafdrohung gewirkt
^ Liepmann, Die Rechtsphilosophie des Jean Jacques Rousseau,
Berlin 1898, S. 95. — M. Salomon, Kants Originalität in der Auffassung
der Lehre vom Staatsvertrage, Ärch. d. öffentl. Rechts XXVIII, Tübingen
1912, S. 97 ff., konstruiert Kants Originalität aus dem Unterschied zwischen
der „ideellen Auffassung" bei Rousseau und der Erhebung zur „Idee" bei Kant.
- Äntihobbes oder Über die Grenzen der höchsten Gewalt und das
Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn I, Erfurt 1798. Philosophisch-
juridische Untersuchung über das Verbrechen des Hochverrats, Erfurt 1798.
' K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I, Leipzig 1892,
S. 186, Anm. 14, weist Feuerbach „lauterste Naturrechtsdoktrin" nach, als
ein Beispie! dafür, „welche Wirkungen der Druck einer unwiderstehlichen
Zeitidee auf die hellsten Köpfe auszuüben vermag".
* Feuerbach, Antihobbes S. 222 ff.; Strafe als Sicherungsmittel,
S. 100; Revision I, S. 53 f.; Lehrbuch 9. Aufl., § 17, S. 20 f. Schon Köstlin,
Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts, Tübingen 1845, S. 810 f.,
weist auf diese Entwicklung hin, nach der Feuerbach der wirklichen Ein-
willigung die rechtliche Notwendigkeit, sich der Strafe zu unterziehen,
substituierte. Wenn der Verbrecher einwilligen mußte, dann wurde der
Vertragsgedanke mit seiner ideellen Einwilligung — eine „entbehrliche
Zutat". So Seeger, Die Strafrechtstheorie Kants und seiner Nachfolger,
Tübinger Festschrift für Berner, 1892, S. 30.
29
werden kann. Ob aber das einzelne positive Gesetz sich diesen
Standpunkt zu eigen gemacht hat, ob es tatsächlich die Verhängung
der Strafe um der abschreckenden Wirkung ihrer Drohung willen
anordnet, ob es die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit als ein Urteil
über die Bedingungen verstanden wissen will, welche eine abschreckende
Wirkung möglich machen, das hat Feuerbach niemals geprüft. Er hielt
seine Auffassung vom Wesen der Strafe für die einzig richtige und
allein mögliche und schloß hieraus als echter Naturrechtler, daß sie
von jedem positiven Gesetz vorausgesetzt werden muß. Seine
Zurechnungslehre war somit ein deduktiv gewonnenes Philosophem;
daß sie vom positiven Gesetz sanktioniert sei, blieb — eine Fiktion!^
Als hätte Feuerbach diese schwache Stelle seiner Argumentation selbst
empfunden, hat er in seiner Landshuter Antrittsrede für solche
Elementarbegriffe wie Gesetz, Verfassung, Strafe, Strafgesetz nicht
anders wie für Vernunft, Wille, Verstand, die jedes Gesetz voraus-
setzt, seinen Positivismus selbst durchbrochen und den forschenden
Rechtsgelehrten in diesem Fall ohne Rücksicht auf das positive Gesetz
den „wohltätigen Händen der alles ergründenden und erleuchtenden
Philosophie" anvertraut.' Damit ist dem Widerspruch lediglich ein
theoretisches Gewand geschaffen. Wenn Feuerbach bei der Frage,
ob vermindert Zurechnungsfähige der vollen Bestrafung unterliegen,
nicht von den Bestimmungen und dem Sinn des einzelnen Gesetzes
ausging, sondern es darauf abstellte, wieweit auf diese Personen mit
der Strafdrohung eingewirkt werden kann, so hielt ihm der zeit-
genössische Kriminalist Tittmann entgegen: „Hier ist doch in der
Tat nicht von den positiven Bestimmungen auf das Allgemeine, sondern
von dem Allgemeinen (Was kann der Zweck des Strafgesetzes sein?)
auf das Positive (Kann das gegebene Strafgesetz auf Kinder der
Gemütsart angewandt werden?) geschlossen."^
Der Einwurf Tittmanns ist richtig. Was Feuerbach bei den Gegnern
leidenschaftlich bekämpfte, tat er selbst: er trug ein philosophisches
Beurteilungsprinzip, eine aus allgemeinen Überlegungen abgeleitete
Doktrin in die gesetzlichen Bestimmungen über strafrechtliche Zurechnung
hinein. Seine Zurechnungslehre und seine Strafrechtstheorie stammten
nicht aus dem Gesetz, sondern waren naturrechtlichen Ursprungs, —
' Loeninp, Z. Str. W. III, S. 294.
^ Über Philosophie und Empirie a. a. O., S. 67.
' Tittmann, Über die Grenzen des Philosophierens in einem System
der Strafrechtswissenschaft und Strafgeselzkunde, Leipzig 1802, S. 84. —
Mit „Kindern der Gemütsart" sind Personen gemeint, die gleich Kindern
als vermindert zurechnungsfähig anzusehen sind. Die Bemerkung Tittmanns
bezieht sich auf Feuerbach, Revision I, S. 186.
30
und doch kämpfte Feuerbach gerade um ihretwillen für eine Stärkung
der Autorität des positiven Rechts. So lebte in seinen Lehren neben
positivistischen Forderungen der Aufklärung die alte naturrechtliche
Denkweise ungestört weiter, und indem seine Ideen ihre beste Stütze
in ihrer methodischen Verknüpfung mit der Kantischen Philosophie
fanden, erscheint das wissenschaftliche Schaffen des jungen Feuerbach
als ein Spiegel seiner Zeit, jener reichen Epoche, in der drei geistige
Strömungen einander befruchteten und bekämpften, einander zu stützen
suchten und schließlich überwanden: Naturrecht, Aufklärung und
Kritizismus.
31
Zweites Kapitel
Feuerbachs Verhältnis zu zeitgenössischen
Kriminalisten.
Die erste Epoche der strafrechtlichen Wirksamkeit Anselm von
Feuerbachs wird eingeleitet durch eine literarische Auseinander-
setzung mit dem hessischen Kriminalisten Karl von Grolman.^ Erneute
Durchdringung und tiefere Fundamentierung der eigenen Lehren,
meisterhafte Dialektik und glanzvolle Form wissenschaftlicher Kritik
und Apologie erwuchsen Feuerbach mehr und mehr als dauernder
Gewinn aus dieser Fehde. Zugleich spiegelt dieser Streit ein echtes
Stück deutscher Gelehrtengeschichte wieder. Immer wieder senken
die Gegner bei aller Leidenschaft und Unnachsichtlichkeit, mit der um
die sachlichen Gegensätze gestritten wird, vor der Persönlichkeit des
andern die Klingen. „Noch nie ist Rezensent, so begann Feuerbach
die Polemik mit einer Besprechung von Grolmans »Grundsätzen der
Kriminalrechtswissenschaft« in der Allgemeinen Deutschen Literatur-
zeitung vom 9. April 1798, durch eine juristische Schrift freudiger
überrascht worden, noch keine schien ihm so sehr das Gepräge des
entschiedenen Talents an sich zu tragen und zu größeren Erwartungen
von ihrem Verfasser zu berechtigen, als die gegenwärtige . . . Der
Verfasser hat nicht bloß Philosophie gelernt, sondern er versteht zu
philosophieren." Und Grolman nimmt in der gleichen Gesinnung
den Handschuh auf: „Aus dem Kampfe der Meinungen tritt erst die
Wahrheit in ihrem vollen Glänze hervor. Darum habe ich mich
herzlich gefreut, als die Resultate meines Nachdenkens über die letzten
Gründe des Strafrechts Anfechtung fanden."" So konnte tiefe persön-
liche Freundschaft die Zeiten wissenschaftlichen Kämpfens überdauern,
' Über Grolman vgl. Brockhaus, Zeitgenossen, Neue Reihe III,
9, S. 3 ff. Leipzig 1823. K. Esselborn, K.L.W, v. Grolman in Gießen.
In: Beitr. zur Geschichte der Universitäten Mainz und Gießen. Archiv für
hessische Geschichte und Altertumskunde, herausg. v. Dieterich und Bader.
Neue Folge Bd. V. Darmstadt 1907.
^ Magazin f. Philosophie und Geschichte des Rechts und der Gesetz-
gebung Bd. I. Gießen und Darmstadt 1800. S. 241.
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und als nach Jahren Feuerbach sein reifes Manneswerk über „Öffent-
lichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege" dem Freunde
widmete, gedachte er nicht ohne stille Wehmut der alten Zeiten.^
Die Anschauungen, die Feuerbach in den Schriften Grolmans
bekämpfte, lassen sich zusammenfassen in der Lehre von der
Spezialprävention, die in der Geschichte der deutschen Strafrechts-
wissenschaft nicht zu mindest infolge der Feuerbachschen Polemik mit
Grolmans Namen verknüpft zu werden pflegt. Allerdings stammt sie
nicht eigentlich von Grolman. Er selbst nahm „nur allenfalls das
Prädikat eines eifrigen Verteidigers jener Theorie" in Anspruch"
und erkannte allzeit gern die Priorität eines andern Strafrechtlers,
Chr. C. St üb eis, an. „Den ersten Versuch, auf die reine Präventions-
theorie ein System des Kriminalrechts aufzubauen, machte Herr
Professor Stübel zu Wittenberg."^
Die Lehre von der Spezialprävention sieht Ziel und Zweck der
Strafe in der Einwirkung auf das Wesen und in der Beeinflussung
des künftigen Verhaltens des einzelnen zu bestrafenden Verbrechers.
Ein Gedanke, ebenso alt wie naheliegend! Plato und Cicero haben
ihn geäußert* und Senecas Wort: Nemo prudens punit, quia peccatum
est, sed ne peccetur wurde den Anhängern dieser Anschauung für
alle Zeiten zum Wahlspruch.^ Wenn man trotzdem von dieser Lehre
im Sinne einer eigenen Theorie einer Gruppe deutscher Kriminalisten
spricht, so liegt die Berechtigung hierfür darin, daß hier jener Gedanke
zur Grundlage eines geschlossenen strafrechtlichen Systems gemacht
wurde. Dieses Verdienst gebührt als erstem Stübel. Ihm diente
jener Grundgedanke, daß im einzelnen Verbrecher die antisozialen
Tendenzen überwunden oder unschädlich gemacht werden müssen, zu
einem einheitlichen Prinzip, aus dem er die Berechtigung der
^ Feuerbach, Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit
der Gerechtigkeitspflege. Gießen 1821, Widmung, — Eine kriminalistische
Würdigung des Streites zwischen Feuerbach und Grolman bei C. G. v.
Wächter, Die deutsche Straf rechtswissenschaft des XIX. Jahrh. und ihre
Aufgaben. In: Schletters Jahrbüchern der deutschen Rechtswissenschaft
und Gesetzgebung I. Erlangen 1855. S. 105 ff.
'^ Magazin für die Philos. und Geschichte des Rechts und der Gesetz-
gebung Bd. I. 1800. S. 241.
' Grolman, Über die Begründung des Strafrechts. Gießen 1799.
S. 210. Vgl. auch E. Henke, Grundriß einer Geschichte des deutschen
peinl. Rechts u. d. peinl. Rechtswissenschaft II. Tl. Sulzbach 1809. S. 359.
* Ziegler, Über die Sicherungstheorien. Gerichtssaal 14, 1862, S. 3 ff.
Insbes. vgl. den Nachweis S. 24, Änm. 33.
^ De dementia c. 16. Vgl. Grolman, Grundsätze der Kriminalrechts-
wissenschaft. Gießen 1798. S. 9.
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Strafe in juristischem Sinn in gleicher Weise wie ihre Zweckmäßig-
keit in kriminalpolitischer Hinsicht abzuleiten suchte.^ Naturgemäß
mußte in diesem Präventionsrecht die Prognose für das künftige
Verhalten des Täters und damit die Beurteilung der Gefährlichkeit des
Täters eine entscheidende Rolle spielen. Ein solches Urteil war aber
nicht auf die Tatsache des begangenen Delikts allein zu stützen,
sondern mußte auf die Persönlichkeit des Täters, auf die Gesinnung
des Verbrechers zurückgreifen. Durch diese Berücksichtigung der
Gesinnung näherte sich die strafrechtliche Zurechnung der sittlichen
Beurteilung des Täters.
Alle diese Momente sind in einheitlichem Aufbau in S t ü b e 1 s „ System
des allgemeinen peinlichen Rechts" (1795) zum Ausdruck gekommen. -
Die Zurückführung aller strafrechtlichen Lehren auf das eine Grundprinzip
der Spezialprävention mußte jener Zeit philosophischer Abstraktionen
als erheblicher methodischer Vorzug erscheinen. Als Problem empfand
man dagegen die Frage, in welchem Verhältnis diese Regeln, die als
philosophische Prinzipien den Anspruch auf naturrechtliche Ällgemein-
gültigkeit erhoben, zum positiven Recht standen. Hier war sich Stübel
offenbar selbst nicht ganz klar. Grundsätzlich soll das Naturrecht, das
den allgemein menschlichen, von staatlichen Bindungen unabhängigen
Bedürfnissen entspricht, die maßgebende Rechtsquelle sein. Aber im
Staat ist durch positive Gesetze bestimmt, wie die — an sich allgemein
gültigen — Naturrechtssätze „in den bürgerlichen Verhältnissen im
einzelnen anzuwenden sind".^ So beschränkt sich das Naturrecht auf
subsidiäre Geltung und auf die Aufgabe, die Gründe und Zwecke der
einzelnen positiv -rechtlichen Bestimmungen aufzuzeigen. Andererseits
hat Stübel später von Fällen gesprochen, „in welchen, ungeachtet sie
• Vgl. Stübel, System des allg. peinl. Rechts IL Bd. Leipzig 1795,
Vorerinnerung pag. IV. — R. Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechts-
pflegc, Leipzig 1895, S. 27, meint, diese Vereinheitlichung sei ein Verdienst
Grolmans und erkläre sich aus dem Einfluß Kants auf Grolman. Aber
Grolman hat doch wohl diesen Aufbau schon von Stübel übernommen.
Es liegt dessen „System des allg. peinl. Rechts" von 1795 zugrunde,
während die Darstellung der Strafrechtstheorie Kants in der „Metaphysik
der Sitten" (Äkademie-Äusgabe Bd. VI, S.331 ff., Cassirer Bd. VII, S. 138 ff.)
erst zwei Jahre nach diesem Werk Stübels erschien. Wenn Kant bereits
vorher gelegentlich vom Strafrecht spricht, etwa im Zusammenhang mit der
Frage, warum Glückseligkeit nicht Zweck der Moral sein kann (Kritik der
praktischen Vernunft, Akademie-Rusg. Bd. V, S. 37, Cassirer Bd. V, S. 43),
so hat er damit kaum einen Einfluß auf die Strafrechtswissenschaft ausgeübt.
"^ Chr. C. Stübel, System des allgemeinen peinlichen Rechts mit
einer Anwendung auf die in Chursachsen geltenden Gesetze besonders
zum Gebrauch für akademische Vorlesungen Bd. I und IL Leipzig 1795.
" System Bd. I, S. 53.
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unter ein vorhandenes Strafgesetz subsumiert werden können, dennoch
höhere Gründe die Freisprechung rechtlich möglich machen. Diese
höheren Gründe werden aus den philosophischen Rechtsprinzipien und
der Politik abgeleitet"!^ Jedenfalls gehören die Voraussetzungen der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu den allgemeinen naturrechtlichen
Prinzipien: „Denn die Regeln von der Zurechnung und der Subsumtion
der einzelnen Handlungen unter die Gesetze gehören in das Gebiet
der Philosophie und werden von dem Gesetzgeber vorausgesetzt."^
Aus der naturrechtlichen Idee eines allgemeinen Schutzrechts
gegen jedwede Bedrohung des Rechtsfriedens leitet Stübel neben der
Befugnis zur Verteidigung gegen Angriffe und dem Anspruch auf
Schadenersatz ein „moralisches Präventionsrecht" ab, das darin zum
Ausdruck kommt, daß „die Gewalt denjenigen, der mich beleidigen
will, überzeugt, er werde durch die Ausführung seiner Absicht mehr
verlieren als gewinnen".^ Um dieses naturrechtlich vorbestimmten
Zieles willen hat der Staat Strafgesetze erlassen, „zu jedermanns
Warnung . . ., damit solchergestalt die bloße Drohung soviel wirke als
die wirkliche Ausübung der Gewalt".^ Hat die Drohung aber nicht
gefruchtet, so ist die „Vollziehung der Strafe das einzige unentbehrliche
Mittel, dergleichen Gesetze in Ansehung zu erhalten".^ Während
Feuerbach und Grolman über die Frage stritten, ob das Strafrecht
generelle oder spezielle Wirkungen erstreben, sich an die Allgemeinheit
oder den einzelnen Bestraften wenden solle, redet hier Grolmans
Vorläufer Stübel selbst der generellen psychologischen Wirkung der
gesetzlichen Strafdrohung, wie sie später Feuerbach vertrat, das Wort.*"
Indessen hat diese Aufgabe der Strafe bei Stübel für den inneren
Aufbau seiner Lehren im Verhältnis zur Spezialprävention nur geringe
Bedeutung. Mag um dieser psychologischen Wirkung willen kriminal-
politische Zweckmäßigkeit immerhin zur Bestrafung ein Bewußtsein der
Strafbarkeit wünschenswert erscheinen lassen, zur rechtlichen Begründung
der Bestrafung erscheint dies Stübel überflüssig. Ebenso wie es nach
dem natürlichen Schutzrechte nicht notwendig ist, vorher bekannt zu
machen, welche Art von Gewalt zur Prävention gegen gefährliche
Elemente angewandt wird, kann auch in der bürgerlichen Gesellschaft
^ Stübel, Das Kriminalverfahren in den deutschen Gerichten Bd. III.
Leipzig ISn. S. 148.
^ System Bd. II, Vorcrinncrung pag. IX.
' System Bd. I, S. 50.
* Ebendort S. 14.
^ Ebendort S. 124.
* Binding, Normen III, S. 96 f., Note 15, bezeichnet Stübel geradezu
als Vorläufer Feuerbachs. — In der Formulierung erinnern jene Worte Stübels
an die spätere Warnungstheorie Bauers. Über diese unten Kap. III.
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ein Delinquent mit einer Strafe belegt werden, die der Täter vorher
nicht gekannt hatte oder die vorher gar nicht bekanntgemacht worden
ist. Vor allem zeigen sich die Konsequenzen der Lehre von der
Spezialprävention in Stübels Verbrechensauffassung. Indem die Strafe
der Gefährlichkeit des Täters, der Wahrscheinlichkeit künftigen anti-
sozialen Verhaltens begegnen soll, wird das Verbrechen in erster Linie
als Symptom künftiger Gefährlichkeit, die begangene Rechtsverletzung
als Erkenntnisgrund für künftige weitere Rechtsverletzungen betrachtet.^
„Wir strafen keineswegs eine verbotene Handlung deswegen, weil sie
geschehen ist, sondern weil wir ihre Wiederholung zu befürchten haben
und betrachten sie also bei der Bestrafung als Drohung."- So lag
in der Lehre der Spezialprävention bereits eine theoretische Aus-
gestaltung des Grundgedankens des modernen Sicherungsstrafrechts
v. Li szt scher Prägung, das die begangene Rechtsverletzung zwar als
Voraussetzung strafrechtlicher Reaktion beläßt, mit dieser aber nicht die
Tat, sondern den Täter treffen will. Die Gefahren eines einseitig über-
triebenen symptomatischen Verbrechensbegriffes haben später
Feuerbach als willkommene Angriffspunkte gegen die Lehre von der
Spezialprävention gedient. Auf der anderen Seite hätte diese Lehre,
welche die strafrechtliche Wirkung auf die Persönlichkeit des einzelnen
bestraften Verbrechers abstellte, einer sinnvollen Ausgestaltung erfolg-
reicher Verbrechensbekämpfung zur theoretischen Grundlage werden
können. Wenn, wie zu zeigen sein wird, in jenem Streite Feuerbach
Sieger blieb und seinem Generalpräventionsgedanken zunehmenden
Einfluß verschaffte, so trägt dieser Ausgang nicht wenig zu der auf
lange Zeit fühlbaren Unfruchtbarkeit auf dem Gebiet rationeller Behand-
lung der Verbrecher und sinnvoller Ordnung des Gefängniswesens bei.
Was Feuerbach bei seiner Anschauung einer begrifflichen Selb-
ständigkeit von Recht und Moral in den Lehren zeitgenössischer
Kriminalisten und namentlich Stübels und Grolmans mit besonderem
Eifer bekämpfte, war die Verbindung indeterministischer Gedanken mit
der strafrechtlichen Zurechnungslehre. Streng genommen hätten sich
Stübel und Grolman vom Standpunkt ihrer Spezialprävention zu einem
konsequenten Determinismus führen lassen müssen. Beruhte doch
ihre Lehre auf dem Gedanken, daß, wer einmal gegen das Gesetz
verstoßen habe, dies auch fernerhin tun müsse, womit geradezu die
Determination zu einem bestimmten antisozialen Verhalten zur Vor-
aussetzung strafrechtlicher Reaktion gemacht wurde. '^ Und das Ziel,
1 System Bd. I, S. 15.
' Ebendort Bd. II, S. 11.
* V. Bar, Geschichte des deutschen Strafrechts und der Strafrechts-
theorien. Berlin 1882. S. 171.
3*
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durch sinnlich wirkende Mittel den gefährlichen Verbrecher zu beein-
flussen, konnte nur erreicht werden, wenn überhaupt menschliches
Verhalten durch Ursachen bestimmt werden kann. Jene Kriminalisten
ließen sich jedoch, je mehr sie zu einer Prognose über die Gefährlich-
keit des Verbrechers einer Beurteilung seiner Gesinnung bedurften, zu
Anschauungen treiben, die einer moralischen Bewertung menschlichen
Tuns entsprachen, und solchen Reflexionen lag eine indeterministische
Betrachtungsweise nicht eben fern. Stübel selbst sind gelegentlich
Bedenken gekommen, die strafrechtliche Zurechnung in so ent-
scheidendem Maße auf eine Beurteilung der Gesinnung des Täters zu
gründen, da wir die Gesinnung anderer nie vollkommen beurteilen
können. Aber er meint, „wir können doch wenigstens mit hoher
Wahrscheinlichkeit von den Äußerungen bei den Unternehmungen und
Ausführungen eines Verbrechens so weit auf die Gesinnung des Täters
schließen, als nötig ist, um zu entscheiden, ob sie mehr oder weniger
für den Staat gefährlich sei".' Ob und inwiefern die Handlung eines
Verbrechers moralisch gut oder böse sei, das „liegt ganz außer der
Sphäre des peinlichen Richters, da auch ein ganz unmoralischer Mensch
ein guter und tugendhafter Bürger sein kann, insofern er seine Maximen
und Handlungen nicht auf das Vernunftgesetz bezieht, sondern allein
durch positive Gründe, durch sinnliche Furcht und Hoffnung zur
Erfüllung der bürgerlichen Gesetze und Pflichten bestimmt wird".^
Hier klingt wieder die Kantische Unterscheidung von Legalität und
Moralität als eine Verschiedenheit der Motive zur Pflichterfüllung heraus.
Will die Präventionstheorie somit keineswegs die sittliche Schuld,
sondern allein die Notwendigkeit und Möglichkeit strafrechtlichen Ein-
schreitens zur Grundlage der strafrechtlichen Verantwortung machen,
so leitet sie doch eben diese strafrechtlichen Voraussetzungen nicht
aus einer Bewertung der begangenen Tat, sondern aus einer Beurteilung
des Täters ab. Dabei herrschte die Vorstellung, daß eine begangene
Rechtsverletzung dann von einer besonders gefährlichen Gesinnung des
Täters zeuge, wenn er sich aus freien Stücken zu ihr entschlossen hat.
Diese Freiheit der Willensentschließung ist völlig in indeter-
ministischem Sinne gedacht. Zu ihrer philosophischen Rechtfertigung
verweist Stübel auf Reinhold, der neben dem Kantischen reinen Willen,
der der sittlichen Triebfeder unabhängig von sinnlichen Motiven folgt,
die Möglichkeit eines in gleicher Weise „freien" unreinen Willens
annahm und somit dem Menschen die Fähigkeit zusprach, sich mit
der „natürlichen Freiheit des Willens" sowohl für als gegen das Gesetz
' Stübel, System Bd. II, S. 32.
- Ebendort S. 37.
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zu bestimmen/ Der freie Willensentschluß, der nach Stübel ein
Anzeichen für die gefährliche Gesinnung des Täters ist, besteht für
ihn aus drei Elementen: aus dem Bewußtsein, daß durch die Handlung
ein Gesetz übertreten wird, einer freien Überlegung über Zwecke und
Folgen der Handlung und schließlich der eigentlichen Willensbestimmung,
dem Entschluß. Hieraus folgt, daß es für Stübel im Grunde nur eine
Schuldform gibt: Vorsatz.^ Gleichwohl suchte er sich mit der her-
kömmlichen Zweiteilung der Schuldformen abzufinden. Vorsatz im
engeren Sinne ist ihm der freie Entschluß mit dem ausdrücklichen
Ziel einer Gesetzesübertretung, Fahrlässigkeit der freie Entschluß
zu einem Handeln mit dem Bewußtsein, daß daraus wahrscheinlich
eine Gesetzesverletzung entstehen kann, ohne daß diese beabsichtigt
ist. Eine Handlung zu unterlassen, aus der nur möglicherweise
eine Rechtsverletzung entstehen kann, kann dagegen nach seiner
Ansicht von niemand verlangt werden; tritt diese Folge doch ein,
so ist das ein Zufall, für den niemand verantwortlich ist.
Der Grad der persönlichen Gefährlichkeit und ihm entsprechend
das Maß strafrechtlicher Verantwortlichkeit sind für Stübel um so größer,
je mehr die Tat als der freie Entschluß ihres Urhebers anzusehen ist,
je weniger äußere Gründe ihn zu seinem Verhalten determinierten.
Hier liegt der Kern jener Zurechnungslehre, die Feuerbach wohl noch
mehr ihrer indeterministischen Tendenz als ihrer präventionstheoretischen
Begründung wegen mit aller Energie bekämpfte. Wo mangelhafte
Erziehung, körperliche oder geistige Entwicklungsstörungen, über-
raschend sich bietende Versuchungen oder gewaltsame Zwangslagen
die innere Entschlußfreiheit beeinträchtigen, da rührt nach Stübel die
Gesetzwidrigkeit weniger von der Gesinnung des Täters her, als von
einem „zufälligen", d. h. nicht aus der Persönlichkeit des Täters zu
erklärenden „ungewöhnlichen Ereignis ... Es bleibt in dem Fall zu
hoffen übrig, daß der Verbrecher unter anderen Umständen anders
gehandelt haben würde und daß, wie diese Hindernisse gehoben werden
können, auch die Entschließung desselben eine andere Richtung nehmen
werde ".^ Hier handelt es sich nicht um eine fehlerhafte Gesinnung,
auf die mit Bestrafung eingewirkt werden muß. Darum bedingt eine
^ Carl Leonhard Reinhold, Beitrag zur genaueren Bestimmung der
Moral und des Naturrechts. Der neue teutsche Merkur vom Jahre 1792.
Weimar 1792. 6. Stück, S. 103 ff., insbes. S. 112 ff. Derselbe, Briefe über
die Kantische Philosophie II. Bd. Leipzig 1792. 8, Brief, insbes. S. 272.
Die Stellung Feuerbachs zu dieser Lehre seines Jenaer Lehrers sowie
ihr Verhältnis zu Kant vgl. unten Kap. III, S. 82.
^ Stübel, System Bd. II, S. 54, auch Feuerbachs Schuldlehre führte
zu dieser Konsequenz. Vgl, unten Kap. III.
" System Bd. II, S. 85.
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Verminderung der Freiheit des Willensentsclilusses eine
Herabsetzung der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit.
Huf der anderen Seite wird eine Tat umso ernstlicher ihrem Urheber
zum Verbrechen zugerechnet, je geringer der äußere Anlaß zu ihrer
Begehung war. War die Versuchung nur gering, hat der Täter nicht
einmal die leichte Mühe aufgebracht, die dazu nötig gewesen wäre,
die Tat zu vermeiden, so enthüllt er dam.it die ganze Fülle seiner
eigenen verbrecherischen Neigungen und ihn trifft um seiner erhöhten
Gefährlichkeit willen von Rechtswegen die schwerere Strafe.
Gegenüber diesem starken Subjektivismus in der strafrechtlichen
Bewertung verbrecherischen Verhaltens fehlen jedoch bei Stübel nicht
die traditionellen objektiven Momente, von denen gemeinhin die Schwere
der begangenen Tat im Strafrecht abhängig gemacht wird: die Differen-
zierung von Versuch und Vollendung, die Bedeutung des verletzten
Rechts, Ort, Zeit und Umstände der Ausführung usw. Immerhin versucht
Stübel, den Einfluß dieser objektiven Momente auf die strafrechtliche
Zurechnung aus der Bedeutung zu erklären, die sie als Anzeichen für
die Gesinnung des Täters haben. Wer eine Verbindlichkeit von
besonderem Wert übertritt, bew^eist dadurch eine besonders starke
„Mißachtung gegen das Rechtsgesetz ". Und wer „an öffentlichen Orten
oder außer denselben in dem Angesichte anderer die Gesetze übertritt,
der gibt zu erkennen, daß er auch in den Äugen seiner Mitmenschen
nicht einmal für einen guten Bürger gelten wolle und die Meinung
anderer, die ihn für einen gefährlichen Menschen halten könnten,
nicht achte ".^
Ähnliche Gedanken wie Stübel vertrat sein Schwager Tittmann.
Freilich ist er erst später zu umfassenden systematischen Werken
gekommen, als die andern Anhänger der Lehre von der Spezial-
prävention bereis ihre Anschauungen unter dem Eindruck der Feuerbach-
schen Angriffe zu verändern begannen. Aber auch aus seinen früheren
Schriften lassen sich charakteristische Züge seiner Lehren erkennen.
Auch er behandelt die Grundsätze der strafrechtlichen Zurechnung als
philosophische Prinzipien, sie dürfen „auf keine Weise der Willkür
positiver Gesetze überlassen werden".^ Ist ihm doch das Naturrecht
nicht wie bei Stübel grundsätzlich auf subsidiäre Geltung beschränkt,
sondern „der Grund alles und jedes Rechts, welchen Namen es auch
haben mag, und wenn sich ein Recht, das im Staate ausgeübt wurde,
' Stübel, System Bd. II, S. 95.
' Tittmann, Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des
peinlichen Rechts. Leipzig 1798. S. 38. Eine in gezierter Sprache
geschriebene, vornehmlich methodologischen Fragen gewidmete Schrift.
Über Tittmanns spätere Werke vgl. unten S. 56.
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nicht durch einen Titel jenes Rechts begründen (rechtfertigen) läßt,
so ist es eine Anmaßung eines Rechts und Verletzung der Freiheit,
von der kein Mensch, wenn er in den Staat tritt, mehr aufopfern kann,
als wie nach dem natürlichen Rechte erlaubt ist".^ Inhaltlich entspricht
Tittmanns Zurechnungslehre dem auch von Stübel vertretenen indeter-
ministischen Beurteilungsprinzip, wonach ein minderer Grad der Freiheit
des Entschlusses, körperliche und geistige Fehler, Leidenschaft und
Trunkenheit, Not und Gelegenheit die strafrechtliche Verantwortlichkeit
des Täters mildern.' Ferner läßt er eine Strafmilderung zu, wenn der
Täter ein lediglich auf positive Gesetzesbestimmungen begründetes
Verbot nicht gekannt hat.^
Die stärkste Förderung verdankt die Lehre von der Spezial-
prävention Carl V. Grolman. Mit unermüdlichem Fleiß und Gewissen-
haftigkeit hat er immer aufs neue die alten Probleme durchdacht und
an den Lehren gefeilt und gebessert. Doch blieb seinen Schriften die
geistige Kraft und die suggestive Dialektik versagt, die den Arbeiten
seines großen Gegners Feuerbach innewohnt. Die Gründlichkeit der
' Ebendort S. 35.
^ Diese Anschauungen ergeben sich für diesen Zeitpunkt aus einer
a. a. O. S. 192 if, veröffentlichten „tabellarischen Übersicht über das System
des peinlichen Rechts", einem in Stichworte zusammengefaßten Abriß nach
Art der gedruckten Unterlagen der Vorlesungen.
^ Bei Handlungen, welche erst durch ausdrückliches Verbot zu Delikten
werden, verlangt Tittmann eine Publikation des Gesetzes. „In dieser Hinsicht
sollte es Bücher geben, nach denen schon in der Schule die Verbote bekannt-
gemacht, nicht aber von den Kanzeln abgelesen würden, wobei der
Zweck gar nicht erreicht wird, indem teils die Kirche nicht der Ort dazu
ist, teils dem gemeinen Mann der Sinn der Gesetze nicht erklärt werden
kann, den er doch aus der für ihn unverständlichen Gesetzessprache zu
verstehen nicht imstande ist, zumal die Gesetze selbst von der Kanzel
gewöhnlich immer in aller Eile abgelesen werden." Bei diesen Delikten
ist Unkenntnis des Gesetzes Strafmilderungsgrund. Dagegen wird voraus-
gesetzt, daß jeder weiß, daß die „übrigen Handlungen, z. B. Tötung und
Brandstiftung" verboten sind. Es ist deshalb auch gar nicht nötig, daß die
Gesetze hierüber publiziert werden — man kann sie doch nicht alle
kennen. „Es ist fast unmöglich, die zahllose Menge von Mandaten,
Reskripten, Befehlen, Instruktionen und dickleibigen Gesetzbüchern bei
einem immerwährenden Studio derselben ganz kennen zu lernen, selbst
in den Spruchkollegien wird so mancher Streit darüber veranlaßt, wie
sollten die Bürger die Strafgesetze kennen?" Versuch über die
wiss. Behandlung des peinl. Rechts S. 52, Note 14. „Die Geheimkunst
des Kriminalistenstandes", — so nannte auch Binding die dem
Pflichtigen Volksgenossen nicht zuzumutende schwierige Kenntnis der
Strafgesetze (Strafrechtl. und strafproz. Äbhdl. I, S. 415)! — Tittmann
widmete jenem Thema eine besondere Schrift: Über den Unterricht des
Volkes in Strafgesetzen auf Schulen. Leipzig 1799.
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Grolmanschen Bücher, die Verbindung fortgeschrittener humaner Tendenz
mit der Beibehaltung traditioneller Institutionen und die einflußreiche
Stellung des Verfassers, der von seinem Gießener Ordinariat nach
Darmstadt auf einen leitenden Posten im Staatsdienst berufen wurde,
trugen zur Verbreitung seiner Lehren bei, an der die Polemik Feuer-
bachs vielleicht den stärksten Anteil gehabt hat. Seine „Grundsätze
der Kriminalrechtswissenschaft" waren seinerzeit ein vielgelesenes,
einflußreiches Buch. In ihrer ersten Auflage 1798 enthalten sie eine
reine Darstellung der Lehre von der Spezialprävention, bis dann später-
hin, wie zu zeigen sein wird, Grolmans literarisches Schaffen mehr und
mehr den Einfluß der Auseinandersetzung mit Feuerbach verrät.
Auch für Grolman bedarf das positive Strafrecht einer Ergänzung
durch philosophisch deduzierte Grundsätze des Naturrechts. Dieser
doppelten Quelle strafrechtlicher Sätze suchte er dadurch in dem
Aufbau seiner Wissenschaft gerecht zu werden, daß er diese in zwei
Teile spaltete: Gesetzeskunde und Rechtswissenschaft. Dabei blieb es
freilich eine Selbsttäuschung, daß die Gesetzeskunde eine selbständige
Bearbeitung des positiven Rechts aus seinem spezifischen Geist heraus
sein sollte. Grolman vermochte ebensowenig wie sein Vorgänger zu
einer von naturrechtlichen Korrekturen freien Darstellung des positiven
Rechts zu kommen.^
Ähnlich wie Stübel geht Grolman von der naturrechtlichen Idee eines
allgemeinen Schutzrechts aus, aus dem die Befugnis folgt, die Bürger vor
Rechtsverletzungen, die ihnen drohen, zu schützen: das Präventionsrecht.
Da Grolman in der Begehung eines Verbrechens eine Drohung mit
künftigen weiteren Rechtsverletzungen erblickte, so folgte für ihn aus
dem Präventionsrecht die Befugnis, den Urheber eines Verbrechens von
weiteren Verbrechen abzuschrecken oder solche Handlungen physisch
unmöglich zu machen. Dieser Aufgabe aber dient das Straf recht.
Indem von dem Urteil darüber, ob der Verbrecher durch seine
Handlungsweise künftige Rechtsverletzungen wahrscheinlich gemacht
hat, die Berechtigung der Strafe abhängt, erhält das Problem der
strafrechtlichen Zurechnung für Grolman eine zentrale Bedeutung.
So verweist er in seinen „ Grundsätzen " die Zurechnungslehre in
systematischer Geschlossenheit an den Anfang des Buches. Dabei zeigt
sich, daß Grolman ebenso wie Stübel die strafrechtliche Beurteilung
menschlichen Verhaltens mit indeterministischer Betrachtungsweise ver-
knüpft. „Zurechnen (auf eine Rechnung schreiben) heißt: erklären, daß
einer für etwas einstehen könne und müsse."" Für seine Handlungs-
weise kann nach Grolman der Mensch nur dann einstehen, wenn es
' Loening, Z. Str. W. Bd. 3, S. 287.
^ Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft 1. Aufl. 1798. S. 13.
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von ihm abhing, ob er die Tat wollte oder nicht. Eine Zurechnung
menschlichen Handelns zur Schuld oder zum Verdienst wäre gleicher-
weise undenkbar, wenn der Mensch ein reines Vernunftwesen wäre,
das seinem Wesen nach gar nicht anders als vernünftig handeln kann,
oder wenn er zu den bloßen Naturwesen gehörte, deren Verhalten
durch Naturgesetze zwangsmäßig festgelegt ist. Aber der Mensch
erlebt in seinem Selbstbewußtsein seine doppelte Natur: das Gefühl
des Könnens, die Unabhängigkeit von der Sinnenwelt der äußeren
Natur wie das Bewußtsein des Sollens in der Abhängigkeit des
Gewissens von sittlichen und rechtlichen Pflichten. Diese Erfahrung des
Selbstbewußtseins macht Grolman zur Grundlage der Beurteilung anderer
Menschen. Ihm ist der Mensch ein „beschränktes Vernunft-
wesen", ein Geschöpf, begabt mit der doppelten Eigenschaft, „den
Forderungen der Vernunft Genüge zu leisten und die Tierheit der
Persönlichkeit unterzuordnen, aber auch sich leidend zu verhalten,
sich als Tier nach Gefühlen bestimmen zu lassen und Sklave seiner
Leidenschaften und Lüste zu werden".^ Der Gedanke des „beschränkten
Vernunftwesens", der auch bei Feuerbach wiederkehrt,* geht auf die
Argumentation Kants zurück, mit der dieser die Möglichkeit eines
kategorischen Imperativs beweist. Ein kategorischer Imperativ wird
dadurch möglich, daß ich mich als „Glied der Sinnenwelt ansehen"
kann und zugleich „die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede der
intelligiblen Welt macht ".^ Was aber bei Kant eine Zuweisung zu
verschiedenen Denkordnungen bedeutet, konkretisiert sich bei Grolman
zu bestimmten menschlichen Fähigkeiten, wobei er zudem jene Alternative
der Zuordnung zu den beiden Gesetzlichkeiten in ein willkürliches
So-und-auch-anders-Handeln-Können umdeutet. Damit ist die indeter-
ministische Willensfreiheit als selbstverständliche Wesenseigenschaft des
Menschen statuiert. „Hat man nun ein Recht, zu behaupten, daß
man den Menschen solange als Menschen betrachten müsse, bis gezeigt
werden kann, daß er seiner Menschenwürde verlustig sei, so kann
man auch mit demselben Recht behaupten, daß man im Zweifel jede
Handlung eines Wesens, welches uns als Mensch erscheint, für eine
menschliche halten, mithin vermuten müsse, daß sie willkürlich
durch den Menschen hervorgebracht sei."' Indem Grolman in der
strafrechtlichen Zurechnung das begangene Verbrechen als willkürliche
* Grundsätze. 1798. S. 14. — Über die Begriffe von Dolus und Culpa.
Bibl. f.d. peinl. Rechtswissenschaft u. Gesetzkunde I.Teil. 1798. I.Stück, S.20.
' Revision Bd. I, S. 33.
■'' Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Äkademie-Äusgabe Bd. IV,
S. 454, Cassirer Bd. IV, S. 313 f.
•* Wird dolus bei begangenen Verbrechen vermutet? Bibl.I, 2. Stück, S.74.
42
Tat der freien Persönlichkeit beurteilt, bewegt er sich völlig in den
Bahnen ethischer Betrachtungsweise. Ihm selbst ist das nicht ent-
gangen, doch dünkt ihm dieser Zusammenhang „ganz zufällig . . .:
Moralität und Inmoralität sind für uns hier ganz fremde Wörter".^
In der Tat war der Ausgangspunkt Grolmans nicht die Beurteilung
der sittlichen Schuld, sondern die strafrechtliche Prognose der künftigen
Gefährlichkeit. Dabei schloß er, genau wie Stübel, daß der freie
Entschluß zum Verbrechen ein besonders deutliches Symptom anti-
sozialer Gesinnung sei, daß gerade „willkürliche illegale Handlungen
künftige, ähnliche wahrscheinlich machen".^ Grolmans und Stübels
indeterministische Präventionstheorie führt ebenso wie das deterministische
moderne Sicherungsstraf recht zu einer „Ethisierung des Straf-
rechts", indem in beiden Fällen die Prognose künftiger Gefährlichkeit
das entscheidende Gewicht auf eine Beurteilung der Persönlichkeit des
Täters verlegt, eine Berücksichtigung der Tat unter dem Gesichtspunkt
ihres Verhältnisses zum Täter aber mit der sittlichen Bewertung mensch-
lichen Verhaltens zusammenfällt.
Das Maß der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für Übertretungen
des Gesetzes ist bei Grolman entsprechend dem Gedanken der Spezial-
prävention abhängig von dem Grad der Wahrscheinlichkeit künftiger
Rechtsverletzungen, davon, wie gefährlich man die durch die begangene
Tat dokumentierte Bedrohung des Rechtsfriedens einschätzt. Dieser
Gefährlichkeit des Verbrechers entspricht die Stärke des inneren Kampfes
zwischen der Stimme des Gewissens und den verbrecherischen Neigungen.
Gerade an dieser Stelle zeigt sich das Widerspruchsvolle in der Ver-
bindung indeterministischer Anschauungen mit dem Gedanken der
Spezialprävention. Die Gefährlichkeit des Verbrechers wird nicht in
der Stärke verbrecherischer Neigungen und der Schwäche des redlichen
Gewissens gefunden, sondern in jenem geheimen Agens des freien
Willens, das dann am schärfsten als antisoziale Willensbestimmung
sich kundtut, wenn die Tat trotz starker innerer Hemmungen zustande-
kommt. Hiernach würde der Musterknabe, der einmal strauchelt,
besonders strafwürdig sein, denn sein verbrecherischer Wille war so
stark, daß er selbst ein Höchstmaß innerer Rechtschaffenheit zu
erschüttern vermochte."^
' Grundsätze. 1798. S. 17.
' Ebendort S. 17.
" Diese Entscheidung würde richtig sein vom Standpunkt eines ethischen
Subjektivismus, der jeden mit seinem eigenen Maß mißt. Vom Standpunkt
der Gefährlichkeit aus wäre umgekehrt nicht der Tugendmensch, sondern
der unzurechnungsfähige Gewohnheitsverbrecher am meisten strafwürdig, —
eine Beurteilung, die, wie zu zeigen sein wird, nicht Grolmans, sondern
gerade Feuerbachs Zurechnungslehre entsprechen würde!
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„Je mehr der Mensch kämpfen mußte, um seine Vernunft zum
Schweigen zu bringen und je stärker er ihre Stimme unterdrückt hat,
desto mehr muß er willkürlich gestimmt sein, seine subjektiven
gesetzwidrigen Maximen auf Kosten des Gesetzes durchzusetzen, desto
wahrscheinlicher sind von ihm künftige Verbrechen, desto stärkeres
Strafübel muß ihn treffen."^
Drei Momente gibt Grolman als Kennzeichen der Stärke jenes
inneren Kampfes und als Maßstab für die Strafwürdigkeit an. Einmal
die Wichtigkeit des verletzten Rechts, ein objektives Moment, das wie
bei Stübel subjektiviert wird. Der traditionelle Gedanke, daß das
Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als Voraussetzung zur Zurechenbar-
keit verlangt, aber zugleich mit der Zurechnungsfähigkeit des Täters
präsumiert wird, wird hier von Grolman zu einer Fiktion gesteigert.
Er nimmt an, daß dem willkürlich Handelnden die übertretene Ver-
bindlichkeit nicht nur überhaupt, sondern auch in der Stärke vor-
schwebt, die ihrem Werte in der Rangordnung der Rechte entspricht.
Bei einem Mord würde Grolman voraussetzen, daß der Täter nicht
nur das Bewußtsein hatte: „Du sollst nicht töten!", sondern auch
die Vorstellung, daß er ganz besonders dazu verpflichtet ist, nicht
zu töten. Tut er es dennoch, so hat er eben ein ganz besonders
starkes Interesse an seiner Tat, das selbst die Vorstellung dieser
besonders ernsten Verpflichtung zu paralysieren vermochte. „Es ist
unleugbar, daß die gemeine Menschenvernunft oder lieber das auch
dem rohesten Menschen beiwohnende Rechtsgefühl sich dieser Rück-
sichten des größeren und unersetzlicheren Schadens als besonderer
Äbratungsgründe, als Gegengewicht zur Überschreitung der Verbind-
lichkeiten bedient und von, den formal gleich großen Verbindlichkeiten
die eine dringender als die andere ans Herz legt."^' Darum soll
die Übertretung einer besonders heiligen Rechtspflicht auch subjektiv
einen besonders starken verbrecherischen Willen beweisen, — der
„Psychologie und aller Erfahrung widersprechend", wie Feuerbach
späterhin bemerkte.^ Das zweite Merkmal für die Ermittlung des
Maßes der Strafbarkeit ist aus dem Vorhandensein von Momenten
zu entnehmen, die es dem Täter hätten erleichtern können, frei der
Stimme der Vernunft zu folgen. Denn je ungestörter die Vernunft
spricht, ist Grolmans Vorstellung, „um so mehr muß es ihn Anstrengung
gekostet haben, seine Vernunft zu betäuben".^ Der Verbrecher ist
um so strafbarer, je mehr er sich über seine Handlung, ihre Folgen
' Grundsätze. 1798. S. 33.
' Grundsätze. 1798. S. 35.
» Revision Bd. II, S. 209.
' Grundsätze. 1798. S. 34.
44
und ihre Rechtswidrigkeit im klaren ist. Nach dem Verhältnis zwischen
dem Willen des Täters und seiner Vorstellung von der Rechtswidrigkeit
seines Tuns bestimmt Grolman die Differenzierung des Schuldbegriffs
in die traditionellen Formen von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Vorsatz
ist ihm der Entschluß zur Realisierung eines Zweckes durch vorher-
gesehene Rechtswidrigkeit; Fahrlässigkeit Entschluß zu einer Handlung
„ohne daß der Handelnde der Vermeidung eines rechtswidrigen Erfolges
gewiß ist".^ Grolmans Fahrlässigkeitsbegriff ist also weiter als der
Stübels, der Bewußtsein der Wahrscheinlichkeit für den Eintritt des
rechtswidrigen Erfolges gefordert hatte. Wer trotz geringer äußerer
Motive zum Verbrecher wurde, ist besonders strafwürdig, denn —
erschreckend intellektualistisch gedacht! — er wurde nur wenig an
„der ruhigen Subsumtion der Handlung unter das Gesetz" gestört. '
Dagegen gelten Unmündige, Kranke und in leidenschaftlicher Erregung
Handelnde nur in geringerem Maße als strafrechtlich zurechnungsfähig.
Als drittes Merkmal für die Stärke des inneren Kampfes und die
Gefährlichkeit des Willens nennt Grolman den Umfang der rechts-
widrigen Tätigkeit. Auch dieser Gedanke wird subjektiv gedeutet:
alle Schwierigkeiten der Tat beweisen nur die Stärke des Willens, der
sie überwand. „Denn jedes dieser Hindernisse war eine Klippe für die
strebende Sinnlichkeit, bei welcher die Stimme der Vernunft erwachte
und also neue Unterdrückung forderte oder doch erwachen mußte,
wenn sie nicht ganz ertötet war."^
Wie verhalten sich nun diese Regeln über Voraussetzung und
Umfang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zum positiven Gesetz?
Wenn das Gesetz das Ausmaß der Strafe richterlichem Ermessen
überläßt, soll der Richter die Strafe nach jenen Prinzipien bemessen.
Bei Gesetzen mit absolut bestimmten Strafgrößen soll der Richter nach
Grolman stets an die gesetzliche Strafe gebunden sein — sofern der
Gesetzgeber selbst alle möglichen Variationen des Tatbestandes, alle
verschiedenen „Bedingungen des Falles" berücksichtigt hat. Ist dies
nicht der Fall, dann nimmt Grolman an, „daß der Gesetzgeber nur
von dem gewöhnlichen Fall subjektiver Gesetzwidrigkeit redet".*
Normale subjektive Gesetzwidrigkeit wird dabei voller Zurechnungs-
fähigkeit im Sinne ungestörter Freiheit des Willensentschlusses gleich-
gestellt. Alle diejenigen Momente, die auf die Strafwürdigkeit von
Einfluß sind und als Gründe verminderter Zurechnungsfähigkeit oder
' Grundsätze. 1798. S. 22. Über die Begriffe Dolus und Culpa
a. a. O. S. 26 ff.
' Grundsätze. 1798. S. 38.
' Ebendort S. 40.
* Ebendort S. 68.
45
Anzeichen erhöhter Gefährlichkeit den Richter bei willkürlicher
Strafdrohung zu besonders milder od-rr strenger Bestrafung verpflichten,
berechtigen ihn hier zu einer Modifikation der gesetzlich festgelegten
Strafe. Somit führte Grolmans Lehre zu einer neuen Rechtfertigung
der überkommenen Doktrin von der richterlichen Strafänderungsbefugnis,
nach der eine Variation des fingierten gesetzlichen „Normalfalls" zu
einer willkürlichen poena extraordinaria berechtigte, und zu einer
rationalistischen Begründung des traditionellen Systems außerordent-
licher Strafmilderungsgründe, mit dem die Praxis die unerträgliche
Härte der antiquierten Strafgesetze zu mildern sich abmühte. Dagegen
entspricht der Gedanke, daß die Strafzumessungsgründe innerhalb des
gesetzlichen Strafrahmens und die Strafänderungsgründe, welche den
Übergang zu einem außerordentlichen Strafmaß bedingen, auf den
gleichen Prinzipien beruhen, auch heutiger Rechtsauffassung, wie Adolf
Merkels Untersuchung hierüber lehrt.' Nur sind wir heute, entgegen
Grolman und hierin seinem großen Gegner Feuerbach folgend, streng
an das positive Gesetz gebunden, das den Übergang zu einem außer-
ordentlichen Strafrahmen auf bestimmte, gesetzlich festgelegte Fälle
beschränkt. Gerade Adolf Merkel hat einen Positivismus von besonderer
Konsequenz vertreten, indem er darauf hinwies, daß, wenn unser
Gesetz grundsätzlich darauf verzichtet, dem Richter bestimmte Anhalts-
punkte für die Strafbemessung zu geben, es zwar das Strafmaß freier
richterlicher Überzeugung überläßt, daß aber darum nicht, wo das
Gesetz die Verbrechen nach der Schwere der begangenen Tat klassifiziert,
im richterlichen Strafmaß allein eine Beurteilung der Gefährlichkeit des
Täters zum Ausdruck kommen darf.
Noch im selben Jahre, in dem Grolmans grundlegendes Werk
über die „Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft" erschienen war,
eröffnete Feuerbach mit einer Rezension dieses Werkes in der
Allgemeinen Literaturzeitung den Kampf." Schon in dieser ersten
Auseinandersetzung sind die inneren Gegensätze in voller Schärfe
herausgearbeitet. Zugleich erscheinen die Ansätze zu Feuerbachs
eigenen Lehren, zwar noch nicht in voller Abrundung und allseitiger
systematischer Geschlossenheit, dafür aber in der kraftvollen Lebendig-
keit des ersten Wurfes. Sein rechtspolitischer Positivismus und seine
von moralischen Reflexionen unbeeinflußte deterministische Zurechnungs-
lehre sind die Ausgangspunkte für seine Kritik an Grolmans Lehren.
Von dem einen aus sucht er zu zeigen, daß Grolmans Strafbegriff
* Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe. Stuttgart
1912. S. 314 H.
* Allgemeine Literaturzeitung. Jena und Leipzig 1798. Bd. II, Nr. 113
und 114, Spalte 65 H.
46
nicht aus dem Gesetz selbst abzuleiten ist und daß, wenn er gleichwohl
richtig wäre, die Geltung von Strafgesetzen überhaupt in Frage
gestellt würde. Selbst wenn es ein allgemeines Verteidigungsrecht
gegen drohende Rechtsverletzungen gäbe, so wäre dieses nicht identisch
mit dem Strairecht der PCriminalgesetze. Denn die Strafe ist ein Übel,
das „ohne Rücksicht auf die Zukunft bloß der Vergangenheit wegen
zugefügt wird"/ Würde man trotzdem nach Grolmans Vorgang das
Maß künftiger Gefährlichkeit des zu Bestrafenden zum Prinzip der
strafrechtlichen Zurechnung machen, so träten an Stelle des Gesetzes,
das allgemein an einen speziellen Tatbestand eine bestimmte Strafe
als Rechtsfolge knüpft, irgendwelche allgemeinen Regeln, nach denen
der Richter die Gefährlichkeit des Einzelnen abschätzt. Bereits an
dieser Stelle stellt Feuerbach der Präventionstheorie, welche die
Voraussetzungen der Strafbarkeit von dem subjektiven Urteil des
Richters über die Gefährlichkeit des Delinquenten abhängig macht,
die Bindung des Richters an das Gesetz und damit die Rechtsschutz-
garantien des Bürgers gegenüber den Ansprüchen der allmächtigen
staatlichen Strafgewalt entgegen. Materiell weist Feuerbach der
Grolmanschen Zurechnungslehre ihre indeterministische Herkunft nach
und zugleich den Widerspruch zwischen dieser indeterministischen,
moralisch gefärbten Zurechnung und dem Sicherungszweck, dem sie
dienen soll. Denn gerade der unfrei Handelnde und am meisten der
Wahnsinnige und Rasende in ihrer zwangsläufigen Handlungsweise
sind für die Rechtssicherheit gefährlich. Die Determiniertheit zum
Verbrecher, nicht ein willkürliches Handeln und eine moralische
Beurteilung der Gesinnung müßte die Grundlage der strafrechtlichen
Zurechnung in einem konsequenten Sicherungsrecht bilden. „Bei
einem Bösewicht, dessen ganzes Leben von Jugend auf ein Gewebe
von Verbrechen war, werden alle Schandtaten endlich zur Gewohnheit
und so zum Bedürfnis, daß er selbst unwillkürlich oder nur mit
einem sehr geringen Grad der Willkür die Gesetze übertritt. Ist
dieser etwa weniger gefährlich als ein anderer, der jetzt erst, aber
mit voller Willkür Übertretungen begeht? Man nehme noch andere
Beispiele: der zum Laster erzogene Mensch, der durch sein Tem-
perament gleichsam zum Mörder Geborene, der, welcher durch
unwiderstehlichen Trieb zu Freveltaten fortgerissen wird und so viele
andere Auswüchse der menschlichen Natur, von welchen uns die
Kriminalakten so häufige Beispiele liefern."" In allen diesen Fällen
handelt der Täter mehr oder weniger unüberlegt und willkürlich nach
der „Triebfeder der tierischen Natur", ist aber besonders gefährlich
' Ebendort Spalte 67.
* Ebendort Spalte 72.
47
und müßte daher gerade vom Standpunkt der Sicherungsstrafe aus
besonders hart bestraft werden. „Und bei wem ist die Gefahr
drohender und gewisser: bei dem verständigen Bösewicht oder bei
dem seiner Vernunft unheilbar beraubten Beleidiger? Der erstere
kann noch auf verschiedenen Wegen zum guten Bürger, vielleicht
auch zum guten Menschen werden, dieser ist aller moralischen
Wirksamkeit für immer entzogen, er ist ganz zum schädlichen Tier
geworden und wir müssen ihn vertilgen, wenn wir uns vor ihm
sichern wollen."^ Wenn also nach Grolman Sicherung vor dem
Verbrecher Zweck der Strafe ist, so wären gerade nach seiner Theorie
diejenigen am meisten strafbar, die er für unzurechnungsfähig hielt.
Während Grolmans Straf rechtstheorie „bloß auf die Zufügung des
Übels, nicht auf die Androhung im Gesetz gerichtet" ist,^ will
Feuerbach die Prinzipien der Bestrafung aus dem Gesetz selbst ableiten
und darum ihre wesentliche Bedeutung in der generellen Androhung
der Strafe durch das Gesetz, nicht in der speziellen Verhängung der
Strafe durch den Richter suchen. Darum vindizierte er dem Strafrecht
die Aufgabe, durch die Strafdrohung des Gesetzes den verbrecherischen
Neigungen der Bürger entgegenzuwirken. Die Größe der angedrohten
Strafe wird, um abschreckend wirken zu können, der Stärke der
verbrecherischen Neigungen entsprechen müssen: „je stärker die
Triebfeder ist, die zur Tat antreibt, desto größer muß das Übel sein,
das jene Triebfeder aufheben soll."^ Nach diesem Prinzip hat nach
Feuerbach die strafrechtliche Zurechnung die Verantwortlichkeit des
Täters zu bemessen, ohne daß er ihr damit, wie Grolman, das Recht
zusprach, gesetzlich festgelegte Strafen zu modifizieren. Denn nur
dann kann die Vollstreckung der Strafe ihrer Aufgabe, den Ernst der
gesetzlichen Strafdrohung zu erhärten, genügen, wenn in jedem Falle
der Übertretung eines Gesetzes die durch dieses Gesetz angedrohte
Strafe verhängt wird.
Mit einer erneuten Darstellung dieses Gedankens erschien Feuer-
bach noch im gleichen Jahre in der von Grolman begründeten, später
von ihnen beiden zusammen mit Älmendingen herausgegebenen
Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde. ^ Er
geht hier davon aus, daß Sprachgebrauch und Geschichte deutlich von
der Sicherung vor künftigen Rechtsverletzungen die Strafe als Reaktion
gegen die begangene Tat unterscheiden. Die Strafdrohung bezweckt
^ Ebendort Spalte 71.
^ Ebendort Spalte 68.
" Ebendort Spalte 72.
* Ist Sicherung vor dem Verbrecher Zweck der Strafe? Bibl. f. d. peinl.
Rechtswissenschaft und Gesetzkunde I. Teil, 2. Stück, S. 3 ff.
48
die Vermeidung von Verbrechen überhaupt und findet hierin ihre Berech-
tigung. Den Vollzug der Strafe nach begangener Tat rechtfertigt er ähnlich
wie im „Äntihobbes" durch den Gedanken, daß der Verbrecher mit der
Begehung seiner Tat in die Bestrafung einwilligt, die der Staat im
Gesetz als Bedingung an die Ausübung der Tat zu knüpfen berechtigt
war. Daraus ergibt sich, daß berechtigt nur die Verhängung eines
vor der Tat im Gesetz für bestimmte Handlungen festgesetzten Übels
ist, während nach dem Präventionsrecht das Maß der gegenüber dem
einzelnen Verbrecher erforderlichen Sicherung niemals eine im voraus
im Gesetz bestimmte Strafgröße sein kann. Schärfer als im „Äntihobbes"
tritt in diesen Ausführungen Feuerbachs der repressive Charakter der
Strafe hervor: „ein Übel, das wegen einer begangenen Verschuldung
und bloß in Beziehung auf diese einem Subjekt zugefügt wird."^
Es ergibt sich hierbei aus den Ausführungen Feuerbachs, daß bei ihm
diese Auffassung vom Wesen der Strafe nicht etwa die Folge eines
absoluten Vergeltungsstrafrechts ist, sondern daher rührt, daß nur
auf diese Weise der Zweck des Strafrechts, die generelle Abschreckung
aller Bürger durch die gesetzliche Drohung erreicht werden kann.
Die repressive Strafe Feuerbachs und die präventive Strafe Grolmans
verkörpern keineswegs einen Gegensatz absoluter und relativer Straf-
theorien, sondern in beiden Fällen ist die Bestrafung ein Mittel zu
bestimmten kriminalpolitischen Zwecken.
Das folgende Jahr brachte Grolmans Replik: „Über die Begründung
des Strafrechts"." Gern erkannte er an, daß ihm die Kritik Feuerbachs
zu einer „richtigeren und besseren Einsicht" verholfen und daß er
namentlich „die ganze Lehre von der juristischen Imputation und die
darauf sich gründende von der Abfassung der Strafgesetze noch nicht
in ihrer vollen Reinheit dargestellt" habe.^ In der Tat ist Feuerbachs
Einfluß unverkennbar. Im Gegensatz zu Grolmans ursprünglicher
Zurechnungslehre erscheint der festgewurzelte Hang zum Verbrechen
nunmehr als Grund erhöhter Strafwürdigkeit und selbst der Gedanke
der psychologischen Wirkung der angedrohten Strafe wird mit der
Spezialprävention verbunden. „Zweck der Strafe an und für sich ist
bloß und für alle Ewigkeit: Abhaltung des Strafbaren von künftigen
illegalen Handlungen, aber Zweck der Strafe als Drohung des
Gesetzes ist Abschreckung aller."* Aber die Berechtigung der Strafe,
wie es Feuerbachs „Einwilligungstheorie" versuchte, allein daraus
abzuleiten, daß sie im Gesetz angedroht war, lehnt er nach wie vor ab.
' Ebendort S. 12.
^ Über die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung nebst
einer Entwicklung der Lehre von der juridischen Imputation. Gießen 1799.
» Ebendort S. 104, Note 2 und S. 196, Note. ' Ebendort S. 116.
49
Die dem Verbrecher zugefügte Strafe kann nur aus dem Zweck dieser
Zufügung selbst gerechtfertigt werden. „Weder", meint Grolman, „willige
ich in alles ein, was mir als unabwendbare Folge meines Tuns angedroht
ist, noch erlaubt mir der Staat etwa ein Verbrechen zu begehen, unter der
Bedingung, daß ich mich bestrafen lasse. " Gerade umgekehrt wie Feuer-
bach zeigt Grolman, daß die Berechtigung der generellen Strafandrohung
sich nur aus der Zulässigkeit der Verhängung der Strafe im speziellen
Fall ableiten läßt, „daß in dem Gesetze selbst die Größe der Strafe, wenn
diese anders eine gerechte sein soll, bloß und allein nach dem Zweck
berechnet sein könne, durch welchen dieselbe als zugefügtes Übel
nach den Grundsätzen des Rechts gerechtfertigt werden kann".^
Wesentlich enger waren die Berührungspunkte zwischen Feuerbach
und Grolman in speziellen Fragen der strafrechtlichen Zurechnung.
Wollte die psychologische Zwangstheorie gegenüber der sinnlichen
Triebfeder abschreckend wirken, so hatte Feuerbachs Kritik zugleich
gezeigt, daß auch Grolmans Präventionsrecht konsequenter Weise die
Höhe der Strafe von der Stärke der verbrecherischen Neigung abhängig
machen müßte. So erscheint nunmehr bei Grolman als Symptom beson-
derer Gefährlichkeit des Verbrechers neben dem freien und bewußten
Entschluß zum Verbrechen der entgegengesetzte Fall, „daß die vor-
handene Verwilderung dieses Menschen eine tief eingewurzelte, die
illegale Maxime ein festes Gesetz für sein Handeln geworden ist".^
Der unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher, der mangelhaft Erzogene,
der geistig Beschränkte, der trunksüchtige Verbrecher, — sie alle handeln
regelmäßig unüberlegt und fast unwillkürlich und gerade deshalb stellt
ihr Tun eine besonders ernste Bedrohung des Rechtsfriedens dar. So
tritt die festeingewurzelte „illegale Maxime", d. h. die Determiniertheit
zum Verbrechen neben die sich willkürlich auswirkende rechtswidrige
Gesinnung als Grund zu erhöhter Strafwürdigkeit. Aber auch in der
Beurteilung der Gesinnung bemüht sich Grolman, den einseitigen
Subjektivismus zu mildern. Nicht die Gesinnung selbst soll aus der
Tat erschlossen werden, „denn keiner kann dem andern im Herzen
lesen", sondern das Verbrechen muß für gewisse äußere Erscheinungen
„illegal" gestimmter Menschen typisch sein, wofür ihm Fichtes „Ver-
wilderung der Sitten" der beste Ausdruck scheint.^ Schließlich soll
> Ebendort S. 111.
^ Ebendort S. 145.
^ J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissen-
schaitslehre. II. Teil oder angewandtes Naturrecht. Jena und Leipzig 1797.
S. 115. „Wer um des Schadens willen geschadet hat, hat außer der inneren
Bosheit, darüber der Staat nicht Richter ist, eine Wildheit der Sitten und
eine ungewöhnliche Sorglosigkeit für sich selbst gezeigt." Vgl. Grolman
a. a. O., S. 126 ff. sowie S. 122.
4
50
das Gesetz durch relativ bestimmte Strafratimen dem Richter den
geeigneten Spielraum gewähren, um die Strafe nach den Grundsätzen
der Zurechnung im einzelnen Fall zu bemessen.
Im gleichen Jahr wie diese Schrift Grolmans erschien der erste
Band der Feuerbachschen „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe
des positiven peinlichen Rechts"/ Die Darstellung der Gedankenwelt
•dieses Werkes bleibt einem besonderen Kapitel vorbehalten. Hier soll
zuvor, ehe das Verhältnis Feuerbachs zu anderen kriminalistischen
Gruppen behandelt wird, von der weiteren Entwicklung der Aus-
einandersetzung mit den Anhängern der Lehre von der Spezialprävention
die Rede sein. Die „Revision" brachte eine systematische Darstellung
einer strafrechtlichen Zurechnungslehre, die aus dem Gedanken der
generellen Wirkung der gesetzlichen Strafdrohung abgeleitet ist. Wieder-
um wird ausgeführt, daß allein die Stärke der sinnlichen Triebfeder,
auf die mit der Strafdrohung abschreckend eingewirkt werden soll, die
Strafwürdigkeit bestimmt. Dieses Prinzip steht in unüberbrückbarem
Gegensatz zu einer moralischen Beurteilung menschlicher Handlungs-
weise und Gesinnung. Denn gerade der Unfreiheit im Handeln, welche
eine moralische Verantwortung herabsetzt, entspricht eine Stärkung
der sinnlichen Triebfeder und deshalb muß „z. B. ein Verbrecher, der
durch eine böse Erziehung verderbt ist und durch tief eingewurzelte,
heftig antreibende sinnliche Triebfedern zu Verbrechen fortgerissen wird,
in einem höheren Grade strafbar sein"." Hatte sich diesen Gedanken
Grolman inzwischen auch für seine eigene Theorie nutzbar gemacht,
so rückt nun Feuerbach in einer anderen Frage wieder weiter von
Grolman ab. Im Gegensatz zu seiner früheren Meinung sieht er sich
nämlich durch „bessere Überzeugung" genötigt, ein Zwangsrecht des
Staates gegen die durch Begehung eines Verbrechens dokumentierte
Bedrohung des Rechtsfriedens auch außerhalb des Strafrechts zu leugnen.
Aus der Begehung des Verbrechens folgt lediglich eine Wahrscheinlich-
keit der Wiederholung desselben: der Verbrecher erscheint künftiger
Delikte verdächtig. Wenn aber „einmal nicht das Verbrechen selbst,
sondern nur die wahrscheinliche Gefahr Grund der Zufügung des Übels
ist", so heißt das, „daß der Staat das Recht habe, alle seine ver-
dächtigen Bürger aufzugreifen und sie aus Gründen der moralischen
Prävention ein wenig zu brandmarken oder, wenn die Gefahr gar zu
groß ist, ihr Leben der künftigen Sicherheit aufzuopfern".^ Der Gedanke,
der Feuerbachs leidenschaftlichen Kampf gegen die Präventionstheorie
erst voll würdigen läßt, ist hier klar zum Ausdruck gekommen. Es
> Erfurt 1799.
^ Revision L Bd., Einleitung pag. XXIL
* Revision I, S. 87.
51
ist das sichere Gefühl dafür, daß der Rechtsschutzgedanke im Straf-
recht dem Sicherungszweck nicht geopfert werden darf und daß allein
ein repressiver Charakter der Strafe die feste Abgrenzung der Sphäre
des Einzelnen gegen staatliche Allmacht gewährleistet, indem hier die
Bestrafung an die offenkundige Voraussetzung einer bestimmten, dem
gesetzlichen Tatbestand entsprechenden äußeren Handlung gebunden
ist. Kein Wunder, daß Adolf Merkel mit fast den gleichen Worten
gezeigt hat, zu welchen Konsequenzen eine einseitig symptomatische
Verbrechensauffassung führen muß. Würde diese Lehre doch „die
Ordnung der gesetzlichen Verbrechensbegriffe als nichts anderes gelten
lassen, denn als eine Sammlung von Stichwörtern, durch welche die
Justiz heute diesen, morgen jenen Besserungsbedürftigen vor das Forum
der weltlichen Gerechtigkeit zitiert, auf daß hier seine Willens-
beschaffenheit einer allgemeinen Untersuchung unterzogen und der
richterlichen Diagnose entsprechend eine moralische Kur für ihn
angeordnet werden könne".*
So brannte der Kampf zwischen beiden Kriminalisten aufs heftigste,
und Feuerbachs temperamentvolle Natur bohrte sich immer schärfer
in die theoretischen Grundlagen der Streitfrage. Das nächste Jahr
brachte eine neue Abhandlung „Über die Strafe als Sicherungsmittel","
in der gegenüber den vermittelnden Annäherungsversuchen Grolmans
wieder die ganze Schärfe des Gegensatzes herausgearbeitet wurde.
Beide meinen mit der Strafe etwas anderes. Feuerbach will auch hier
nicht etwa einen Unterschied von absoluter und relativer Straftheorie
begründen, sondern ihm sowohl wie Grolman ist die Strafe Zweckstrafe,
nur daß sie dem verschiedenen Zweck entsprechend jeweils auch ihrem
Wesen nach verschieden ist. Für Grolman ist „Realzweck"^ der
Verhängung der Strafe Sicherung gegen den Verbrecher; dieser
Grund der Bestrafung ist ihm wesentliches Merkmal der rechtlichen
Strafe. Feuerbach dagegen, der die Zwecksetzung der Strafe in das
Stadium der Androhung verlegt, sieht den Grund der Verhängung der
Sh-afe lediglich in der begangenen Tat. Das ist für ihn der Sinn
des Satzes, daß die Strafe durch die begangene Handlung rechtlich
verschuldet sein muß. Zwar ist auch für Grolman die Tat Voraus-
setzung der Strafe , aber „ man erinnere sich nur an den Begriff von
rechtlicher Verschuldung und an den Unterschied zwischen Sachgrund
und Erkenntnisgrund und man wird dann von selbst finden, daß
durch diese Handlung die Strafe nicht verschuldet wird, daß die
' Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe S. 321.
' Chemnitz 1800.
" Strafe als Sicherungsmittel S. 43.
52
begangene Handlung der Strafe zwar vorhergehen müsse, daß sie diese
aber nicht rechtlich begründe, daß sie zwar Erkenntnisgrund für
den bösen Willen sei (so wie dieser wieder Erkenntnisgrund der
zukünftigen Verbrechen ist), daß sie aber nach richtigen Begriffen
weder Sachgrund noch Rechtsgrund sei."^ Eine verklausulierte
Rusdrucksweise, die den Gedanken der „Revision" erneut zum Ausdruck
bringt, daß ein Strafrecht, dem das Verbrechen lediglich ein Symptom
der künftigen Gefährlichkeit des Täters ist, sich nicht verträgt mit dem
Gedanken, daß allein die Ausführung des vom Gesetz mit Strafe
bedrohten Tatbestandes Grund zur Bestrafung ist, daß um der Rechts-
sicherheit der Bürger willen die gesetzlichen Tatbestände die unüber-
steigbare Schranke für die staatliche Strafgewalt bilden. In der Bindung
des Richters an das positive Gesetz geht Feuerbach so weit, daß er
selbst den Vorschlag Grolmans, einen Strafrahmen mit gesetzlichem
Maximum und Minimum, verwirft. Später hat er im bayerischen StGB,
von 1813 selbst diesen Weg beschritten, hier aber hält er Grolman
entgegen, daß dann immer noch die Frage, wann ein Fall geringerer
oder größerer Strafwürdigkeit vorliege, nicht aus dem Gesetz selbst
zu entnehmen, sondern aus allgemeinen Erwägungen zu ermitteln wäre.
Nicht nach irgendwelchen außerhalb des Gesetzes geltenden Theorien
hat sich das Maß strafrechtlicher Zurechnung zu bestimmen, sondern
nur aus dem Gesetz selbst. Einzig und allein die „positiv -rechtlichen
Grundsätze sind der unmittelbare Gegenstand des positiven Kriminal-
rechts; die Philosophie ist bloß die Magd, welche den Weg
beleuchtet. Zur Herrin brauchen wir sie nicht, dazu hat sie der
Launen zu viel".^ Vollends unerträglich ist das Präventionsrecht
dadurch, daß es eine Beurteilung rechtswidriger Gesinnung zur Grund-
lage der strafrechtlichen Zurechnung macht. „Die wechselseitige Freiheit
aller wird dadurch nicht um eine Linie beschränkt, daß die Gesinnung
und der Wille nicht mit dem Rechtsgesetz übereinstimmt. Nur durch
Handlungen wird dem rechtlichen Zustand widersprochen . . . Wer
einen Menschen bloß darum zwingt, weil die Maxime desselben nicht
dem Rechtsgesetz gemäß ist, der begeht einen Verrat an dem ersten
Rechte der Menschheit und handelt nicht vernünftiger als der Tyrann,
der seine Untertanen dem Henker übergibt, weil seine Grillen nicht
ihre Gedanken sind."^
Unter der Wucht solcher Angriffe, in denen mehr und mehr die
revolutionäre Forderung nach rechtlicher Garantie gegenüber der Gefahr
der Willkür allmächtiger Staatsgewalt sich durchsetzte, fühlte Grolman
' Ebcndort S. 37.
^ Ebcndort S. 87.
* Ebendort S. 26 f.
53
seine Position schwanken. „Es ist mir nicht unbekannt, daß man
ziemlich allgemein die Sache, für w^elche ich gestritten habe, für
verloren hält . . . , indessen wage ich es dennoch , den Kampfplatz
noch einmal zu beh-eten", freilich nicht ohne ein bedenkliches Gefühl
von Resignation: wie die Entscheidung auch ausfallen mag, „in solchem
Kampfe zu unterliegen, kann nur ehren ".^ Cogitationis poenam
nemo patitur ist auch für Grolman „heiliges Rechtsgesetz". Aber
im Gegensatz zu Gedanken und Wünschen sieht er in der rechts-
widrigen Richtung des Willens einen Verstoß gegen das Rechtsgesetz,
das sich als ein Sollen gerade an den Willen wendet. Da wir nun
die lediglich im Innern des Menschen sich abspielenden Willens-
regungen nicht bestrafen dürfen, so beschränkt Grolman die Bestrafung
des bösen Willens auf die Fälle, in denen er zur bösen Tat geworden
ist. Hiermit sind im Grunde die Feuerbachschen Einwände gegen
Grolmans Subjektivismus zugegeben und nur durch eine künstliche
Konstruktion der Gedanke aufrechterhalten, daß in der Bestrafung der
Tat sich die Strafe lediglich gegen die rechtswidrige Gesinnung
des Täters richtet.
Diese literarische Auseinandersetzung konnte in der wissenschaft-
lichen Welt nicht ohne Wirkung bleiben. Unschwer lassen sich die
Spuren der Polemik zwischen Feuerbach und Grolman bei den zeit-
genössischen Kriminalisten nachweisen. Wie ein Chorus begleitete
der nassauische Rechtsgelehrte Harscher von Älmendingen den
Sh-eit der Beiden. Aber so wie sein Lebensgang wenig glücklich
verlief, so fehlte auch seinen Schriften trotz kluger Gedanken die
Freiheit und souveräne Behandlung des Stoffes wie bei Feuerbach
und Grolman. Für seine nasäauische Regierung verhandelte er während
der Rheinbundzeit mit Grolman, dem Vertreter des größeren Hessen,
über ein gemeinsames Vorgehen beider Länder in der Frage der Ein-
führung des Code civil. Lange Zeit zählte er als Dritter zu dem
Grolman - Feuerbachschen Freundschaftsbunde.
Älmendingen bekannte sich ursprünglich „unter gewissen Modi-
fikationen" zur Präventionslehre. ^ Dabei geht er dem Problem des
Strafzwecks, das Feuerbach immer schärfer zuspitzte, zugunsten einer
vermittelnden Stellung aus dem Wege. „Die Form der Strafe ist
mithin keine andere, als die eines Übels für den Bestraften, der
Endzweck — Sicherheit. Der Mittelzweck derselben — oder die Art
' Grolman, Sollte es denn wirklich kein Zwangsrecht zur Prävention
geben? Magazin f. d. Philos. und Gesch. d. Rechts u. d. Gesetzgebung Bd. L
Darmstadt 1800. S. 241 H.
^ Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde II,
1. Stück, S. 350, Note.
54
und Weise, wie der Staat durch die über den Verbrecher verhängten
Übel seinen Endzweck erreicht — kann mir hier gleichgültig
sein."^ Soweit dieser Sicherungszweck durch das Mittel der Spezial-
prävention erreicht werden soll, hängt die Höhe der Bestrafung von
der Gefährlichkeit des Verbrechers ab. Die strafrechtliche Zurechnung
soll in der Beurteilung der Gefährlichkeit wie bei Grolman von dem
freien und bewußten Entschluß zum Verbrechen ausgehen, zugleich
aber — ein Gedanke, den Älmendingen offenbar ebenso wie Grolman
von Feuerbach übernommen hat — diejenigen Fälle berücksichtigen,
in denen umgekehrt tief eingewurzelte verbrecherische Neigungen dem
Täter eine freie Wahl unmöglich machen und ihn darum besonders
gefährlich erscheinen lassen. „Der rohe, unaufgeklärte, beinahe aus
bloßem Instinkt frevelnde Missetäter ist nach den Regeln der rechtlichen
Imputation strafwürdiger als der Mann von Aufklärung, der in einem
unbewachten Äugenblick oder in einer verzweifelten Lage mit vollem
klaren Bewußtsein der Widerrechtlichkeit seiner Tat sich zu einem
Verbrechen hinreißen ließ."^ Wer infolge „roher Erziehung" zum Ver-
brecher wird, bei dem „würde also die rechtliche Imputation in eben
dem Grade steigen müssen, in welchem die moralische abnimmt".'^
Daß solche Gedanken mit Grolmans ursprünglichen Lehren in Wider-
spruch standen, hat Almendingen bereits in einer Besprechung der
1. Auflage der Grolmanschen „Grundsätze" zum Ausdruck gebracht.^
Enger als Grolman bindet er den Richter in der strafrechtlichen Zu-
rechnung an die gesetzlichen Voraussetzungen der Bestrafung und er
zeigt, daß es bei der Beurteilung der Gefährlichkeit des Verbrechers
nicht auf eine sittliche Bewertung ankommt, sondern daß gerade um-
gekehrt „der rohe sinnliche Mensch, der ohne Überlegung mechanisch
Strafgesetze nur darum bricht, weil er sich zu gewissen sinnen-
befriedigenden Handlungen gewöhnt hatte, ohne sie unter das ihm
innewohnende Rechtsgesetz zu subsumieren, gerade der gefährlichste
ist, zu welchem man sich eines neuen Verbrechens am ersten versehen
muß".^ Nicht Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, nur die Möglichkeit
der Subsumtion der Tat unter das Gesetz gehört nach Almendingen
zur Zurechnungsfähigkeit. Wo diese fehlt, wo ihr „physische Hinder-
nisse" entgegenstehen: Trunkenheit, Leidenschaft, Blödsinn, da ist
' Versuch über das Prinzip des Strafrechts. Bibl. für peinl. Rechts-
wissenschaft und Gesetzkunde Bd. I, 3. Stück, 1799, S. 3 ff. Vgl. S. 55.
- Ebendort S. 51.
' Ebendort S. 68.
* Bibl. f. peinl. Recht und Gesetzkunde I, 3. Stück, S. 290 ff. und II,
1. Stück, S. 349 ff.
" Bibliothek ... I, 3. Stück, S. 312.
55
keine strafrechtliche Zurechnung denkbar, während „moralische
Hindernisse": vernachlässigte sittliche Erziehung, Gewohnheit zu
sündigen, gänzliche Abstumpfung des moralischen Sinnes die Gefähr-
lichkeit der Handlungsweise des Verbrechers und damit seine
Strafbarkeit erhöhen.
So folgte Älmendingen, als er dem Problem der strafrechtlichen
Zurechnung eine eigene Monographie widmete, Feuerbach, dem „mir
unvergeßlichen Schöpfer meiner besseren Erkenntnis"/ Er
hielt nunmehr die Verhängung der Strafe für gänzlich ungeeignet, die
rechtswidrige Gesinnung des Verbrechers zu ändern und verlegte darum
die Bedeutung der Strafe in die generelle Wirkung der gesetzlichen
Strafdrohung. Auch ihn führte diese Lehre zu einer strengen Bindung
des Richters an das Gesetz. Von äußerlich erkennbaren Handlungen,
nicht von einem subjektiven Urteil über Gefährlichkeit und Äbschreck-
barkeit des Täters hat der Richter die Bestrafung abhängig zu machen:
er imputiert „die nackende Tat".^ Wo Furcht und Leidenschaften,
wo der Druck einer Zwangslage oder das Gefühl der Berechtigung
zur Tat die freie Wahl des Entschlusses beeinträchtigen, da mindert
sich allenfalls die moralische Verantwortlichkeit, auf die strafrechtliche
Zurechnungsfähigkeit, die der Richter zu prüfen hat, haben diese
Zustände keinen Einfluß. Wo es ungerecht und zwecklos erscheint,
Handlungen, die aus solchen Motiven entspringen, mit Strafen zu
bekämpfen, da mag der Gesetzgeber sie für straflos erklären und
ihre Verhütung der höheren Staatspolizei überlassen! Um mit den
alten Strafgesetzen zu erträglichen Entscheidungen zu gelangen, unter
dem Gesichtspunkt einer „Äccomodation an die Carolina",'' gab
Älmendingen selbst der Grolmanschen Lehre den Vorzug, die das
überkommene richterliche Milderungsrecht aufs neue stützte. Dagegen
waren seine und Feuerbachs Lehren in die Zukunft gerichtet: sie
forderten eine Gesetzgebung, „welche keine richterliche Willkür zuläßt
und keine Begnadigung nötig macht" !*
Besonders schmerzlich war es Grolman, daß unter dem Einfluß
Feuerbachs der Begründer der Präventionstheorie, Stübel, „selbst
öffentlich die Lehre verwarf, auf welche er mich geführt hatte ".^
Stübel hat sich später mit dem Problem der Straftheorien weniger
befaßt und seine ganze Kraft nunmehr seinen grundlegenden
' Darstellung der rechtlichen Imputation. Gießen 1803. S. 91.
■ Ebcndort S. 24.
" Ebendort S. 18.
* Ebendort S. 190.
^ Grolman, Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft, Nachtrag zur
Einführung i. d. II. Ru\l In der III. Aufl. (1818) pag. XIII.
56
prozeßrechtlichen Studien und gesetzgeberischen Arbeiten zugewandt.^
Aber das läßt sich erkennen, daß er im Gegensatz zu seinen früheren
Lehren die strafrechtliche Zurechnung nunmehr auf die begangene
Tat, nicht nur auf die Willensrichtung des Täters basierte. „Gesetzt
auch, daß jemand ein Verbrechen unter solchen Umständen, welche
einen weit gefährlicheren Willen verraten als die im Gesetz beschriebene
Tatsache, unternommen habe, so kann das Gesetz doch keine An-
wendung haben, wenn die nach demselben vorausgesetzte Rechts-
verletzung nicht zugleich erfolgt ist."^ Zur Zurechnungsfähigkeit
verlangt er zwar ebenso wie früher bewußtes Handeln, Kenntnis der
Rechtswidrigkeit und Selbstbestimmung des Täters zur Tat, aber das
sind ihm nicht mehr Symptome für die Gefährlichkeit der Willens-
richtung des Täters, sondern im Sinne Feuerbachs Bedingungen für
die Wirksamkeit der gesetzlichen Straf drohung.^
Nur Tittmann blieb der alten Lehre von der Spezialprävention
treu. Seine im gleichen Jahr wie der zweite Band der Feuerbachschen
„Revision" erschienenen „Grundlinien der Strafrechtswissenschaft"*
ebenso wie die später erschienenen Bände seines umfangreichen
Handbuchs'' entsprechen fast völlig den Lehren Stübels und Grolmans
in ihrer ursprünglichen Gestalt. Die Begründung der strafrechtlichen
Zurechnung auf das Urteil über die Gesinnung des Täters und die
indeterministische Denkweise in der Bewertung menschlichen Handelns
sind bei ihm unverändert zum Ausdruck gekommen. Die strafrecht-
liche Zurechnung bestimmt sich nach dem Urteil darüber, inwieweit
^ Über die Mitarbeit Stübels an den Kommissionsarbeiten für ein
sächsisches StGB, siehe Landsberg, Geschichte der deutschen Rechts-
wissenschaft 3, Äbt. II, Noten S. 69, Nr. 61. Für das Gebiet des Prozeß-
rechts: Chr. C. St übel. Über den Tatbestand der Verbrechen, die Urheber
derselben und die zu einem verdammenden Endurteil erforderliche Gewiß-
heit des erstem, besonders in Rücksicht der Tötung nach gemeinen in
Deutschland geltenden und chursächsischen Rechten. Wittenberg 1805. —
Das Kriminalverfahren in den deutschen Gerichten mit besonderer Rücksicht
auf das Königreich Sachsen wissenschaftlich, auch zum praktischen Gebrauch
dargestellt, Bd. 1—5. Leipzig 1811.
- Stübel, Über den Tatbestand der Verbrechen .. . 1805. S. 14.
^ Stübel, Grundsätze zu der Vorlesung über den allgemeinen Teil
des deutschen und chursächsischen Kriminalrechts nebst einer Einleitung
und Übersicht der ganzen Kriminalrechtswissenschaft. Wittenberg (1803).
§ 50 f., S. 37 f.
* Leipzig 1800.
^ Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetz-
kunde 1. Handbuch des gemeinen deutschen peinlichen Rechts. I. Teil
Halle 1806, II, Teil 1807, III. Teil 1809. — Über Tittmanns Bemühungen für
Verbesserung der Strafgesetzgebung siehe Landsberg 3, II, Noten S. 59,
Nr. 1 und S. 69, Nr. 6L
57
„ein gewisses Subjekt mehr od.- weniger gefährliche Gesin-
nungen geäußert habe und inwiefern nun die Drohung des Straf-
gesetzes auf ihn passe ".^ Dabei ist die Tat dem Verbrecher um so
mehr zuzurechnen, je mehr sie seinem freien Entschluß entsprach
und je sorgfältiger sie überlegt war. Bei aller Fülle von Einzelheiten
und, vor allem älteren, Literaturangaben ist auf eine tiefere, grund-
sätzliche theoretische Begründung zumeist verzichtet. Dabei trifft die
Ablehnung der Feuerbachschen Lehre allerdings die empfindlichste
Stelle seiner Argumentation, den Versuch, die Vollziehung der Strafe
allein aus ihrer Androhung zu rechtfertigen. „Die Androhung der
Strafe nämlich, sofern sie keine leere sei und Zufügung des Gedrohten
wirklich nach sich ziehen soll, darf geschehen, weil das Recht, zu
strafen, vorhanden ist, und liegt mithin der Grund der Androhung
in diesem Recht, nicht umgekehrt der Grund dieses Rechts
in der Androhung."" Ähnlich wie Grolman kommt Tittmann zu
einer Neubelebung der alten Doktrin von der richterlichen Straf-
änderungsbefugnis. Die Gesetze bestimmen „in der Regel bloß das
Gewöhnliche eines Verbrechens als das allein Bestimmbare, das Un-
gewöhnliche dagegen bleibt unberührt". Darum muß der Richter bei
„ungewöhnlichen Eigenschaften eines Verbrechens, welche höhere
Zurechnung veranlassen und bei der Strafbestimmung unberechnet
geblieben sind", die gesetzliche Strafe verschärfen, während ein Umstand,
durch welchen dem Verbrechen „die eine oder andere der bei ihm
von dem Strafgesetz vorausgesetzten Eigenschaften abgeht", zu einer
Strafmilderung berechtigt.^ Die reiche Kasuistik geltender und anti-
quierter Milderungsgründe, die Tittmann hier bringt, ist kulturhistorisch
nicht ohne Reiz. Zu den Momenten, denen Tittmann keinen Einfluß
auf die strafrechtliche Zurechnung mehr zugesteht, zählt er Reue und
freiwilliges Geständnis, Übergang zur herrschenden Religion des Staates,
favor matrimonii contrahendi und weibliches Geschlecht. „Ist es
Galanterie oder Nichtanerkennung des weiblichen Geschlechts, daß alle
Strafrechtslehrer einstimmig Frauenzimmer gelinder bestraft wissen
wollen?"* Feuerbachs heißen Kampf um eine strenge Bindung an das
Gesetz erwähnt Tittmann mit keinem Wort. Den einen Fall aber,
in dem bei Feuerbach die alte Doktrin von der poena extraordinaria
und der Verdachtstrafe nachwirkt, zieht Tittmann als Stütze für seine
Lehre von der richterlichen Strafänderungsbefugnis herbei: jene selt-
same Anomalie zu dem Positivismus der Feuerbachschen Lehren, die
' Handbuch I, S. 245.
- Handbuch I, S. 50.
" Handbuch I, S. 322 und 333.
* Grundlinien des Strafrechts, S. 77, Note G.
58
Modifikation der gesetzlichen Strafe beim Mangel an Tatbestand, oder,
wie es Tittmann nicht eben klarer nennt, wegen „Mangels an den
im Gesetz angenommenen Eigenschaften der Rechtsverletzung an
sich selbst"/
Als Grolman daran ging, seine „Grundsätze" neu zu bearbeiten,
konnte vom alten Bau vieles nicht mehr unverändert stehen bleiben.
Indessen sind keineswegs alle die Folgerungen zum Ausdruck gekommen,
zu denen er selbst in seinen anderen Schriften, dem Zwang der Feuer-
bachschen Argumentation folgend, sich bekannte. Es fehlte ihm, seit
er 1816 nach Darmstadt in die Hessische Gesetzgebungskommission
berufen und 1819 zum Staatsminister ernannt war, an der Muße und
den literarischen Hilfsmitteln seines Gießener Professorendaseins. ^ Das
mag erklären, warum das Werk durch mannigfache Änderungen zwar
an innerer Geschlossenheit verlor und gleichwohl noch manchen Zweifel,
der in der Diskussion mit Feuerbach zu Tage trat, unbeantwortet ließ.^
Eins ist aber unverkennbar: das Bestreben, den von Feuerbach immer
wieder aufgedeckten Widerspruch zwischen einer indeterministischen
Beurteilung, die einer sittlichen Bewertung, aber nicht einer Prognose
der Gefährlichkeit des Täters gerecht wird, und den Bedürfnissen eines
erfolgreichen Sicherungsstrafrechts zu beseitigen. Darum soll nicht
mehr das Urteil über die Gefährlichkeit des Täters für die Höhe
der Bestrafung entscheidend sein, sondern die Strafe ist so zu bemessen,
daß sie das Interesse des Täters an seinem Verbrechen zu paralysieren
vermag. Das kommt dem Feuerbachschen Äbschreckungsstrafrecht
erheblich nahe, nur daß Grolman die abschreckende Wirkung in die
Spezialprävention verlegt. Kann man doch allgemein gar keine
Proportion zwischen Äbschreckungsübel und dem Interesse am Ver-
brechen aufstellen. „Denn was für das eine Individuum das Ziel
rastloser Tätigkeit ist, vermag kaum das andere zu bewegen, und nicht
selten ist ein Vorteil, welcher die Mehrheit der Menschen kaum zu
einer gleichgültigen Handlung bestimmen könnte, in dem Individuum
der Erzeuger der scheußlichsten Taten und darum notwendig der
Gegenstand, welcher dessen ganzes sinnliches Interesse fast einzig
beschäftigte."* Ahnlich wie früher bei der Beurteilung der rechts-
widrigen Gesinnung erscheint ihm das Interesse an der Tat um so
' Handbuch I, S. 351. Zu dieser Lehre Feuerbachs vgl. Revision II, S. 5 ff,
■^ Dem folgenden liegt die 20 Jahre nach dem Erscheinen des Buches
herausgekommene 3. Aufl. (1818) zugrunde. Eine 4. Aufl. folgte noch 1825.
Auch jetzt war er zwar nicht mehr von den „literarischen Hilfsmitteln,
wohl aber von den gewohnten literarischen Beschäftigungen getrennt".
' Vgl. Grundsätze III. Aufl., Vorwort pag. XVI.
' Grundsätze III. Aufl., S. 81.
59
größer, je mehr innere Hemmungen bei der Tat überwunden werden
mußten, je wichtiger die rechtliche Verbindlichkeit war, die übertreten
wurde. Dagegen straucheln nur aus Schwäche, aus geringem ver-
brecherischen Interesse Unmündige und geistig Minderwertige. Das
entspricht noch seiner früheren indeterministischen Denkweise und
erscheint zugleich wie eine neue rationalistische Begründung der
traditionellen Art, menschliches Handeln zu bewerten. Dagegen ent-
spricht es der strafrechtlichen Zurechnung bei Feuerbach, wenn Grolman
da ein besonders intensives verbrecherisches Interesse annimmt, wo die
Vorstellung des Verbotes dauernd unterdrückt ist. Denn hiermit
begründet Grolman, was seine frühere Zurechnungslehre nicht zuließ,
die größere Strafbarkeit des Gewohnheits- und Zustands-
verbrechers.
Überblickt man so die Entwicklung der Lehren der zeitgenössischen
Kriminalisten, so ergibt sich, daß in historischem Sinn von einem Sieg
der Feuerbachschen Ideen gesprochen werden muß. Was dieses Ergebnis
erleichterte, war ein zeitgeschichtliches Moment. Den alten Polizeistaat
durch den Rechtsstaat zu überwinden, die Allmacht des absoluten Staates
durch feste Normen zu begrenzen, war jener Epoche tiefstes Bedürfnis.
Und nun zeigte Feuerbach, in dessen Sprache etwas von dem revolu-
tionären Pathos der Ideen der Aufklärungszeit wiederklingt, daß das
Sicherungsstrafrecht zu einer erneuten, zwar wohlgemeinten, aber ufer-
losen Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt führen muß, während er
selbst durch strenge Bindung des Richters an das Gesetz die Rechts-
garantien des einzelnen zu stärken verhieß. Dazu kam das Persönliche:
der hinreißenden Kraft der Feuerbachschen Dialektik, hinter der etwas
von dem sprühenden Geist und dem leidenschaftlichen Temperament
ihres Urhebers zu spüren war, haben sich die Zeitgenossen nicht ent-
ziehen können. Lange über die Zeit, in der seine Lehren selbst in Geltung
waren, ist sein Wirken fruchtbar geblieben, ja als in dem modernen
Sicherungsstrafrecht der Lisztschen Schule der alte Gedanke der
Spezialprävention eine Neubildung erfuhr, ging man gleichwohl über
Grolmans verstaubte Theorie schnell hinweg, um immer wieder aufs
neue aus den lebenerfüllten kriminal -psychologischen Schöpfungen
seines großen Gegners Feuerbach Anregungen zu gewinnen.' Hier
hat die Geschichte nicht nach dem Inhalt vergangener Theorien,
sondern nach der geistigen Bedeutung ihrer Schöpfer entschieden,
und dies Ergebnis ist für Grolman dadurch nicht minder tragisch,
daß sie dabei seinen eigenen Maßstab verwandte: sie hat nicht
die Tat, sondern den Täter beurteilt!
* Lands bcrg, Geschichte d. deutschen Rechtswissenschaft 3, II, S. 144.
60
Solche philosophischen Auseinandersetzungen über den Zweck der
Strafe und das Wesen der strafrechtlichen Zurechnung kennzeichnen
nur das äußere Gepräge der strafrechtlichen Literatur jener Zeit.
Allem theoretischen Streit um naturrechtliche Deduktionen und gesetz-
geberische Prinzipien lag ein Gemeinsames zu Grunde, ein heißer
Drang, neue bessere Zustände in der Strafrechtspflege zu schaffen
und der ernste Wunsch, mit den systematischen und kritischen Studien
einem idealen neuen Strafrecht die Wege zu bereiten. Eine „Wissen-
schaft de lege ferenda", wie sie Loening genannt hat,^ geltende
Bestimmungen des positiven Rechts willkürlich beiseiteschiebend, aber
durchdrungen von tiefer Verantwortlichkeit gegenüber den Forderungen
des Rechts, das gerechterweise gelten sollte. Jeder einzelne Kriminalist
fühlte sich zugesellt der großen strafrechtlichen Reformbewegung,
einer bedeutsamen geistigen Strömung, in der nicht wenig von der
sieghaften Zuversicht der Zeit lebte, die glaubte, daß es gelingen
werde, durch neue bessere Gesetze und zweckmäßigere Institutionen
das Menschengeschlecht einer Zeit neuer Wohlfahrt und Vervollkomm-
nung entgegenzuführen. Diese Gesinnung beseelte und stärkte sie alle,
und ein erwachendes Gewissen für die Grausamkeiten und Sinnlosig-
keiten der überkommenen Sb-afrechtspflege bahnte einen nachhaltigen
inneren und äußeren Läuterungsprozeß an. Dem Humanitätsgedanken
der Zeit und dem Streben nach rationeller Ordnung des Lebens sollten
auch die Gebiete des Strafrechts nicht fürder verschlossen bleiben.^
Diese Gedankenwelt war der geistige Boden, auf dem die straf-
rechtliche Literatur jener Zeit erwuchs. Hier erstrebten Grolman und
Feuerbach bei aller Verschiedenheit der Wege, die sie einschlugen,
im Grunde gemeinsame Ziele. In Feuerbachs Wirken, das seinen
krönenden Abschluß in der Schöpfung des ersten neuzeitlichen Landes-
strafgesetzbuchs fand, sind mannigfache Wünsche der Reformfreunde
> Z. Str.W. Bd. 3, S. 321.
^ Die großen Züge der geschichtlichen Entwicklung der Rechtsstrafe
siehe bei Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe. Stutt-
gart 1912, S. 27 ff, und 238 ff. — Im einzelnen: v. Liszt, Strafrechtliche
Aufsätze und Vorträge Bd. II, S. 133 ff. E. F. Klein und die unbestimmte
Verurteilung. Hallenser Rektoratsrede 1894. — Ed. Hertz, Voltaire und
die französische Strafrechtspflege im XVIII. Jahrhundert. Ein Beitrag zur
Geschichte des Äufklärungszeitalters. Stuttgart 1887. — L. Günther, Die
Strafrechtsreform im Äufklärungszeitalter. Gross' Archiv Bd. 28. 1907.
S. 112 ff. und 225 ff. — Derselbe, Tomaso Natale, Marchese di Monterre-
sato. Ein in Deutschland vergessener Vorläufer Beccarias. Goltdammers
Archiv Bd. 48, S. 1 ff. — Derselbe, Französische Revolutionäre als
Kriminalpolitiker und Gegner der Todesstrafe. Frankfurter Zeitung 64. Jahrg.,
Nr. 809 (1. Morgenblatt v. 29. X. 18).
61
erfüllt — und enttäuscht worden. Es kann erst später nachgewiesen
werden, wie seine Lehren zwar dem radikalen Reformgeist der Aufklärung
entstammten, in ihrer speziellen Ausprägung aber zu einer alsbaldigen
Erstarrung und zu einem Strafrecht von rigoroser Härte führen mußten.^
Neben diesen allgemeinen Beziehungen wirken bei allen wichtigen Einzel-
problemen Einflüsse aus dem Geiste jener Bewegung und den Forderungen,
die ihre Anhänger erhoben. So blieb Feuerbachs Stellung zu der Frage
der strafrechtlichen Zurechnung nicht unberührt von den Gedanken, die
von den Reformfreunden mit heiligem Eifer immer aufs neue verkündet
wurden. Hatte Feuerbach in seinen rechtsphilosophischen Erörterungen
die Selbständigkeit des Rechts gegenüber der Moral gefordert und im
Gegensatz zu Grolmans Präventionslehre das Widerspruchsvolle einer
moralischen Beurteilungsweise im Strafrecht nachgewiesen, so fand er
bei den Vorkämpfern der strafrechtlichen Reformbewegung
neue Elemente zu einer allein strafrechtliche Gesichtspunkte
berücksichtigenden Zurechnungslehre. Die leidenschaftlichen
Angriffe jener Bewegung galten einem Strafrecht, in dem an individueller
Schuld Vergeltung geübt wurde. So wie über ein Jahrhundert später
die Lisztsche Schule zeigte man damals, welche verhängnisvollen
Wirkungen dies Vergeltungsstrafrecht zeitigte — und wie beschämend
oft ihm Erfolge versagt bleiben mußten. Das führte einmal zu einer
Selbstbescheidung des Strafrechts, das die Grenzen seiner Wirksamkeit
zu erkennen begann: immer wieder betonte man, Verbrechen zu
verhüten sei besser, als begangene Delikte zu bestrafen. Auf der
anderen Seite führte jene Kritik dazu, daß man sich darüber Rechen-
schaft zu geben suchte, was mit der Strafe erreicht werden
kann. Nicht ob der Täter die Strafe verdiente, sondern ob seine
Bestrafung zweckmäßig war, nicht das Maß persönlicher Schuld,
sondern ob die Strafe wirken kann, wird zur Kernfrage der straf-
rechtlichen Zurechnung. Führt auch diese ganze Betrachtungsweise
ihrem Inhalte nach näher an Grolmans als an Feuerbachs Lehren
heran, so entzog sich Feuerbach um nichts weniger jenem formalen
Prinzip: nicht in der sittlichen Bewertung der Tat, sondern in
der Möglichkeit, strafrechtliche Ziele zu erreichen, den Sinn
und die Berechtigung der Bestrafung zu suchen.
Den Führern dieser Bewegung war es nicht um eine systematische
Verarbeitung neuer strafrechtlicher Theorien zu tun, sondern sie kämpften
gegen Not und Elend mit dem ganzen Ernste sittlicher Hingebung und
eben diese Wärme und Inbrunst sicherte ihnen die stärkste Wirkung.
Allen voran, an erster „ehrenvoller Stelle" nennt Feuerbach Cesare
' Vgl. unten Kap. V.
62
Beccaria, dessen Name Generationen zum Symbol fortgeschrittener,
humaner Strafrechtspflege wurde. Hier flössen strafrechtliche Anregungen
zusammen mit den großen geistigen Strömungen der Zeit. Der „un-
sterbliche Präsident von Montesquieu" hatte Beccaria stark beeinflußt,
Voltaire wiederum schärfte unter dem Eindruck des Bieccariaschen
Buches über Verbrechen und Strafen (1764), während er für die
Unschuld des hingerichteten Calas eintrat, die Waffen zum Kampf gegen
die Todesstrafe. Beccarias „Verbrechen und Strafen" ist ein klassisches
Werk geworden, nicht nur in der strafrechtlichen Literatur, sondern
in der Geschichte des neuzeitlichen Kulturlebens überhaupt. Es ist
kein wissenschaftliches Werk eines zünftigen Kriminalisten, sondern
der geniale Wurf eines Dilettanten, elegant in der Form, suggestiv in
der Sprache, zwanglos und gefällig in der Darstellung, zwingend und
eindrucksvoll in der Wirkung.*
Sowie die Satzungen der menschlichen Rechtsordnung nicht den
Naturgesetzen oder göttlicher Offenbarung entstammen, sondern auf
den Gesellschaftsverträgen der Bürger beruhen, sieht Beccaria im
Verbrechen nicht Sünde und schlechte Absicht des Täters, sondern
den der Gesellschaft zugefügten Schaden. Wo kein anderes Mittel
übrig bleibt, Verbrechen zu verhindern, da greift der Staat zur Strafe,
nicht um Vergangenes ungeschehen zu machen, nicht um den Ver-
brecher zu quälen, sondern um ihn „daran zu hindern, seinen Mit-
bürgern neuen Schaden zuzufügen, und die anderen von gleichen
Handlungen abzuhalten".^ „Die Schwere der Sünde hängt von der
unerforschlichen Bosheit des Herzens ab: diese kann von beschränkten
Wesen ohne Offenbarung nicht ergründet werden; wie kann man also
sie zur Norm für die Bestrafung der Verbrechen nehmen?"^ Vielmehr
muß die Strafe um so größer sein, je mehr das Verbrechen das
öffentliche Recht gefährdet, je stärker der Anreiz für andere ist, der
von ihm ausgeht. „Fühlbare Beweggründe" soll die Strafe schaffen,
indem mit ihr ein Maß von Leiden über den Täter verhängt wird,
„das den aus dem Verbrechen erwachsenden Vorteil überwiegt" und
dieses Übel muß der Begehung des Delikts als unausbleibliche Kon-
sequenz nachfolgen.^ Hier fand Feuerbach Berührungspunkte mit seiner
Abschreckungstheorie, wiewohl auch er mehr in dem Geist und der
Tendenz als in den einzelnen theoretischen Formulierungen die blei-
bende Bedeutung Beccarias erkannte. „Bestimmtheit ist keines seiner
* Über Verbrechen und Strafen von Ccsare Beccaria. Übersetzt von
K. Esselborn, Leipzig 1905.
■ Beccaria -Esselborn S. 102 f.
' Ebendort S. 131.
' Ebendort S. 69 und 103.
63
Verdienste, er resümiert nicht als Philosoph, sondern nach der Ansicht
seines eigenen gesunden Verstandes, und schreibt nicht für die Schule,
sondern für die Welt."^
Nach Beccaria wirkte in Italien in seinem Sinn und Geist am
stärksten der Ritter Cajetan Filangieri. Auch er geht bei der
strafrechtlichen Zurechnung von dem Zweck der Bestrafung aus, auch
ihm dient die Strafe zugleich den Zwecken der Spezialprävention und
Generalprävention. „Der Endzweck der Gesetze, wenn sie Verbrechen
bestrafen, kann also kein anderer sein, als den Verbrecher von fernerer
Beunruhigung der Gesellschaft abzuhalten und andere von der Nach-
ahmung seines Beispiels durch den Eindruck abzuschrecken, den die
an ihm vollzogene Strafe auf ihr Gemüt machen soll."" Solche
kriminalistischen Gesichtspunkte, nicht eine Beurteilung der Schuld
des Täters, begründen die Strafwürdigkeit. „Die Moralisten mögen
die Grundsätze prüfen, nach welchen das Gewissen sich richtet, wir
aber wollen nicht vergessen, daß unser Amt, unendlich von jener
ihrem (sie!) verschieden, sich bloß darauf einschränke, anzugeben,
was die Gesetze über diese Handlungen bestimmen sollten.""^ Jenem
doppelten Zweck der Strafe entspricht ein zwiefacher Maßstab in der
strafrechtlichen Beurteilung: die Wichtigkeit des verletzten Rechts und
der Grad der „mehreren oder mindern Bosheit, welche der Übeltäter
hat blicken lassen".^ So geht Filangieri in der strafrechtlichen Zu-
rechnung zwar aus von der Rücksicht auf den Zweck der Strafe,
aber auch ihn führt der Gedanke einer Spezialprävention zu einem
Urteil über das Verhältnis von Tat und Charakter, das einer An-
erkennung persönlicher Schuld nahekommt.
Unter den Bahnbrechern der Gedanken Beccarias in Deutschland ist
an erster Stelle die anziehende Gestalt Karl Ferdinand Hommels zu
nennen. '^ Mit Weitblick und Unerschrockenheit ist er früh für den neuen
Geist in der Strafrechtspflege eingetreten und bereits ehe er Beccaria
kannte, hatte er die Unhaltbarkeit des herrschenden Systems bloßgelegt,
ohne freilich zunächst mehr als das mitleidige Lächeln verständnisloser
Überlegenheit zu ernten : „ Wenn Landesverweisung, wenn die Lebensstrafen
abgeschafft werden sollten, so sei des Nachts niemand sicher, über die Straße
* Feuerbach, Revision II, S. 449.
"^ System der Gesetzgebung. Aus dem Italienischen des Ritters Cajetan
Filangieri IV. Bd. Ansbach 1787, S. 19.
" Ebendort S. 256.
* Ebendort S. 8.
^ K. V. Zahn, Karl Ferdinand Hommel als Strafrechtsphilosoph und
Strafrechtslehrer. Ein Beitrag zur Geschichte der strafpolitischen Auf-
klärung in Deutschland. Leipzig 1911.
64
zu gehen, aus Furcht, erschlagen zu werden!" Man hielt solche
Vorschläge einfach für undiskutabel und meinte, er sei nur ein junger
Mann, der seinen Geist zeigen wollte.^ Später wurde er der eifrigste
Verkünder der Ideen Beccarias, „dieses Weisen . . ., dieses Sokrates
unserer Zeit, dem die künftige Welt Bildsäulen setzen und Altäre
errichten wird".^ Ganz im Sinne der Hufklärung will Hommel nicht
immer nur strafen, sondern durch Wohlfahrtspflege und Unterricht auf
die Menschen wirken. „Man muß erst die Schulmeister bessern, ehe
man Kinder verbessern will. Wenn es in dem Gehirn des Lehrers
wie in einer Polterkammer aussieht, wie will er den Anflug des Staates
in Ordnung bringen? . . . Man nehme reichen Pfarrherren den sechsten
Teil ihrer Pfründe und gebe ihn dem Kinderlehrer, damit man bessere
Leute bekomme."^
Huch Hommel und sein Gesinnungsfreund Rössig, der Hommels
Betrachtungen über Beccaria herausgab, wollen nicht Schuld und Sühne,
sondern den gesellschaftlichen Schaden zum Maßstab der Bestrafung
machen. „Es kann etwas schädlich, es kann etwas sündlich und doch
bürgerlich kein Verbrechen sein. Mensch, Bürger und Christ sind drei
unterschiedene Begriffe."* Eine ethisch-religiöse Zurechnung zur Schuld,
das hat dann Rössig ausgeführt, könnte nur in einem theokratischen
Staate gerechtfertigt werden, in dem die Obrigkeit als unmittelbare Stell-
vertreterin Gottes eingesetzt ist, — „ein Grundsatz, den kein vernünftiger
Gottesgelehrter mehr behaupten wird".^
Noch eine andere Seite der Hommelschen Gedanken berührt das
Problem der strafrechtlichen Zurechnung: sein konsequenter Deter-
minismus. Unter dem Pseudonym Alexander von Joch hat er dem
Verhältnis zwischen Determinismus und strafrechtlicher Verantwortlich-
keit ein besonderes Buch „Über Belohnung und Sh-afe nach türkischen
Gesetzen" gewidmet.^ Luthers De servo arbitrio kehrt oft in diesem
reizvollen Werkchen wieder, indem ein barocker Stil wie im Spiel
übermütiger Laune bis hart an das Groteske getrieben wird. Kann
der Mensch zwar tun, was er will, so kann er doch nicht zugleich
das eine oder das andere wollen. Er besitzt — entsprechend den
Lehren der deterministisch gerichteten englischen Philosophie — die
Freiheit des Handelns, aber nicht die Freiheit des Willens.^
' K. F. Hommels Philosophische Gedanken über das Kriminalrecht. . .
Herausg. v. K. G. Rössig, Breslau 1784. S. 47 f.
^ Ebendort S. 169. ' Ebendort S. 98 f.
* Ebendort S. 39 f. ' Ebendort S. X.
« 2. Aufl. Bayreuth und Leipzig 1772.
' Vgl. das unten Kap. III zitierte charakteristische Wort von Hob bes.
65
Auch der Willensentschluß des Menschen ist nur ein Glied in der
endlosen Kette von Ursachen und Wirkungen. Trotzdem können wir
ihm seine Handlungen zurechnen. „Gott ist notwendig gut und doch
muß ich ihn loben. Im Gegenteil hasse ich die Kröte und doch ist sie
notwendig häßlich."^ Ebenso kann ich das Verhalten eines Menschen
loben oder tadeln, wiewohl er so und nicht anders handeln mußte.
Eine Strafe wäre, wenn der Mensch unabhängig von äußeren Bedin-
gungen so oder so wollen könnte, zwecklos, denn sie soll ja gerade
seinem Willen eine bestimmte Richtung geben. In der Tat folgt der
Mensch in seinem Entschluß dem stärkeren Trieb, wie die Wagschale
dem schwereren Gewicht. Eine solche Stärkung des Triebes zu dem vom
Gesetz verlangten Verhalten soll die Strafe bewirken. „Dieses Gewicht —
im Bilde von der Wage — heißt Strafe. Es wird guten Nutzen haben
und bewirken, daß du besser acht geben wirst. "^ Dabei mag Hommel
ein leiser Zweifel gekommen sein, ob nicht der um gemeinen Nutzens
willen Bestrafte sein Schicksal als Ungerechtigkeit empfinden würde.
Verweist er doch die Verurteilten, „die Anzahl der Unglücklichen,
die ein Dichter Schlachtopfer des Schicksals nennen würde", auf die
ewige ausgleichende Gerechtigkeit, die sie einst im Himmel durch
besseres Los für ihr irdisches Leid schadlos halten wird!^ Feuerbach
entnahm Hommel wertvolle Gesichtspunkte, um zu zeigen, daß man
die strafrechtliche Zurechnung von einer indeterministischen Bewertung
sittlicher Schuld unabhängig machen müsse. Gleichwohl nannte er sich
selbst keinen Deterministen, glaubte er doch im Bereich moralischer
Beurteilung des freien Willens nicht entraten zu können.
Zu den Vorkämpfern der neuen Richtung gesellte sich auch ein
Theologe, Johann David Michaelis.^ Auch er löst das staatliche
Strafrecht von der Voraussetzung subjektiver Verschuldung. Wie wir
es in modernen Untersuchungen gewohnt sind, trennt er deskriptive
und teleologische Strafbegriffe: Mag zu dem Wesen der Strafe Ver-
geltung vergangener Handlungen gehören, ihr Zweck ist General-
prävention.^ Wie bei Hommel ist das Mittel hierzu Abschreckung:
' Alexander von Joch, Belohnung und Strafe nach türkischen
Gesetzen S. 205.
- Alexander von Joch, a. a. O. S. 129.
' Ebendort S. 158.
* J. D. Michaelis, Mosaisches Recht VI. Teil. Frankfurt a. M. 1775.
Vorrede pag. 1 — 190.
^ Michaelis, a. a. O. S. 11. — Vgl. E. Kohlrausch, Über deskriptive
und normative Elemente im Vergeltungsbegriff des Strafrechts in „Zur Er-
innerung an I. Kant", Äbhandl. herausgegeben v. d. Universität Königsberg.
Halle 1904. S. 269 ff. — M. E. Mayer, Der allgem. Teil des deutschen
Straf rechts. Heidelberg 1905. S. 422 ff.
66
„Strafen sind andern zum Exempel . . ."/ aber eine Abschreckung,
niciit durch die Vollziehung der Strafe, sondern wie später bei Feuer-
bach durch die Wirkung der gesetzlichen Strafdrohung." „Soll der,
der seinen Vorteil bei Begehung eines Verbrechens sieht oder zu sehen
meint, davon abgehalten werden, so muß ihm mehr Übel gedrohet
werden, als der vermeinte Vorteil beträgt und dies selbst nach seiner
eigenen Rechnung, d. i. ein Übel, das er, alles in Anschlag gebracht,
die Gewißheit des vermeinten Vorteils und die Ungewißheit des Übels,
doch größer schätzt als den Vorteil."^ Konsequenterweise führt diese
Lehre Michaelis zu der Forderung, daß die gesetzliche Strafdrohung
in allen Fällen in vollem Umfang zur Ausführung gelangen muß.
Ganz wie bei Feuerbach soll endlich nicht Schuld oder Bosheit des
Verbrechers, nicht die „ohnehin von einem nicht in das Herz sehen
könnenden menschlichen Richter fast nie mit Gewißheit auszumachende
Schwärze und Weiße des Verbrechens",* sondern die Stärke der zum
Verbrechen reizenden „Triebe oder Bewegungsgründe" das Maß der
strafrechtlichen Verantwortung begründen.^
Einen starken Widerhall fanden die neuen Lehren in Frankreich.
Dort hatten schon vor Beccaria die Enzyklopädisten*" scharfe Angriffe
gegen die herrschende Strafjustiz geführt. In den Sitzungen der
Nationalversammlung gab es um die großen Fragen der Strafrechts-
reform ernste Diskussionen.^ Für die fruchtbare Förderung einzelner
dogmatischer Probleme dagegen waren die französischen Kriminalisten
wenig ergiebig. Schon Feuerbach wirft ihnen ein Zuviel an „Dekla-
mationen und Sentimentalischen Ergießungen des Herzens" und ein
Zuwenig an „kalter Vernunft und trockener Spekulation" vor. „Solidität
und philosophischen Geist" findet er noch am meisten bei Servin.*^
Wenn uns auch heute Servins übermäßige Fülle naturrechtlicher
Konstruktionen und abstrakter Begriffsbildungen ermüdet, dem zeit-
genössischen Göttinger Philosophen Feder schien sein Werk „Über
^ Michaelis, a. a. O. S. 18.
'^ Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3. Abt.,
L Halbbd., S. 405 bezeichnet Michaelis' Lehre geradezu mit dem für Feuerbach
charakteristischen Namen Psychologische Zwangstheorie.
" Michaelis, a. a. O. S. 18 f.
* Michaelis, a. a. O. S. 14.
^ Michaelis, a. a. O. S. 64.
* Ä. V. Overbeck, Das Strafrecht der französischen Enzyklopädie.
Freiburger Diss. 1902.
' Ch. Lucas, Recueil des d^bats des Ässembldes Legislatives de la
France sur la question de la peine de mort. Paris 1831. — H. Remy,
Les principes g^n^raux du Code p^nal de 1791. Paris 1910.
* Feuerbach, Revision II, S. 453 und 458.
67
die peinliche Gesetzgebung" das „beste philosophische Buch über das
peinliche Recht"/ Auch bei Servin ist nicht Vergeltung, sondern der
Sicherungszweck für die strafrechtliche Ahndung bestimmend. „Die
Gerechtigkeit tut niemals etwas Übels, weil es das nämliche ist, das
sie zu bestrafen hat, sondern um andern Missetaten zuvorzukommen."*
Daraus ergibt sich die Forderung, „daß das Übel, mit dem das Gesetz
droht, genau einen Grad stärker sei als das Gut, das man sich von
dem Verbrechen verspricht".^ Liegt hierin eine deutliche Parallele zu
der strafrechtlichen Zurechnungslehre Feuerbachs, so neigt andererseits
Servin dem Prinzip der Spezialprävention zu und kommt hier, ähnlich
wie Filangieri oder Grolman, dem Gedanken subjektiver Verschuldung
nahe. Der Täter selbst soll durch das Strafübel, das er erleiden muß,
vor weiteren Verbrechen abgeschreckt werden. Richtet sich so die Strafe
in erster Linie gegen den Täter, so hat die Tat für die strafrechtliche
Zurechnung vorwiegend symptomatische Bedeutung: „Das, was eigent-
lich eine Missetat bewirkt, ist der sich veroffenbarte Wille, zu schaden."*
Einen nachhaltigen Einfluß auf Feuerbachs strafrechtliche Lehren
hat der Tübinger Rechtslehrer Chr. Gottlieb Gmelin ausgeübt. Die
systematische Entwicklung der Zurechnungslehre in Feuerbachs „Re-
vision" verwertet eine Reihe von Gedanken, die Gmelin in seinen
„Grundsätzen der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafe"^ ent-
wickelt hatte. Dieser Einfluß mag durch eine gewisse innere Ver-
wandtschaft gestärkt worden sein. Ähnlich wie später Feuerbach und
stärker noch als er verbindet Gmelin mit seinem Eintreten für eine
Reform der Strafgesetzgebung ein starres Festhalten an einzelnen
Institutionen des alten peinlichen Rechts. So bleibt er entgegen
Beccaria Anhänger der Todesstrafe,*^ und er tritt im Gegensatz zu
dem ganzen Geiste der Aufklärung für ernstere Bestrafung der
Fleischesdelikte ein. Selbst die „Bestrafung" des Selbstmörders mit
unehrlichem Begräbnis findet in ihm noch einen Fürsprecher. Ver-
brechen zu verhüten, ist nach Gmelin eine der wichtigsten Pflichten
des Regenten. Eines, das letzte Mittel ist die Strafe. Sie besteht
nicht „darin, dem Verbrecher ein Äquivalent für seine Schuld
^ Servin, „Über die peinliche Gesetzgebung". Aus dem Franzö-
sischen . . . von J. E. Grüner. Mit einer Vorrede von Herrn Hofrat Feder.
Nürnberg 1786. S. III.
"^ Servin, a. a. O. S. 51.
' Ebendort S. 33.
' Ebendort S. 19.
* Tübingen 1785.
^ Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung S. 76 ff. enthält eine über-
sichtliche Zusammenstellung der zeitgenössischen Anhänger und Gegner
der Todesstrafe.
68
aufzuerlegen, ihm dasselbe Übel zuzufügen, das er durch moralische
Häßlichkeit seiner Handlung verdient hat", sondern „das Übel der
Strafe soll den Willen eines jeden vor der Begehung dahin bestimmen,
daß er die strafbare Handlung unterlasse"/ So soll das Ziel der Straf-
rechtspflege, Generalprävention, erstrebt werden durch Abschreckung,
und zwar in dem alten Sinn, wie ihn auch Hommel noch vertrat,
durch die abschreckend wirkende Vollziehung der Strafe. „Der Ver-
brecher muß durch die Strafe leiden, damit andere in der Vorstellung
dieser Leiden einen hinlänglichen Beweggrund finden, von ähnlichen
Verbrechen abzustehen, und töricht ist es, solche Leiden eine Grau-
samkeit zu nennen . . . " ^ Hier findet die Rücksichtslosigkeit des
absolutistischen Polizeistaates noch einmal eine Apologie. Wenn
Feuerbach im Sinne Kants, der auch im Verbrecher die menschliche
Persönlichkeit zu respektieren verlangte, eine Bestrafung, damit ein
Exempel statuiert werde, verwarf, so triumphierte bei Gmelin noch
die allmächtige Staatsräson. Individual- ethischen Einwürfen hält er
Hagedorns Vers entgegen:
Wenn ihr mit Dieben Mitleid habt.
So habt ihr keines mit dem Lande!
Zugleich führt der Äbschreckungsgedanke Gmelin zu einer Reihe
von Folgerungen, wie sie auch für die Feuerbachsche Zurechnungslehre
charakteristisch sind. So wie Feuerbach das Maß der Strafe als ein
Äquivalent gegenüber der zum Verbrechen drängenden sinnlichen
Triebfeder zu bestimmen sucht, soll sie auch nach Gmelin „den
Vorteil überwiegen, welchen sich der Verbrecher bei der Ausführung
seiner Missetat verspricht".^ Ähnlich wie bei Feuerbach sind angeborene
Neigungen und schlechte Erziehung als „Milderungsgründe nicht anzu-
sehen, da ohne solche Umstände niemand zur Begehung eines Ver-
brechens kommt und eben deswegen die Strafen verordnet werden,
um solchen Umständen das Gegengewicht zu halten".^
So ergeben sich eine Reihe von Parallelen zwischen den Gedanken
der Anhänger der strafrechtlichen Reformbewegung und Feuerbachs
Lehren von Strafe und Zurechnung. Der Einfluß jener Richtung auf
Feuerbach beschränkt sich dabei keineswegs auf die stets wieder-
holten Hinweise darauf, daß die Strafe ein Gegengewicht gegen
die verbrecherischen Neigungen sein soll. Vielmehr liegt all diesen
Erörterungen der gemeinsame Gedanke zugrunde, daß nicht Vergeltung
' Gmelin, a. a. O. S. 29 l
^ Ebendort S. 29 f.
" Ebendort S. 41.
* Ebendort S. 107.
69
begangenen Unrechts, sondern Verhütung künftigen Verbrechens Auf-
gabe der Strafe ist. Der Emanzipation des Kulturlebens aus kirchlich-
dogmatischen Banden, wie sie das Ziel der Aufklärung war, entspricht
die Tendenz, auch das Strafrecht allein seinen eigenen Zwecken unter-
zuordnen. Nicht die Schuld des Verbrechers, sondern die Zweck-
mäßigkeit seiner Bestrafung vermag die staatliche Kriminalstrafe
zu rechtfertigen. Das Problem der strafrechtlichen Zurechnung
konzentriert sich daher nicht auf die Frage: „Hat der Täter
schuldhaft gehandelt? Dann muß er bestraft werden!", sondern
lautet: „Ist es zweckmäßig, den Verbrecher zu bestrafen?" Diesem
ganzen Gedankengang entspricht das Ziel Feuerbachs, dem Recht
eine der Sittlichkeit gegenüber selbständige Geltung zu gewährleisten
und Prinzipien einer von allen Beimischungen moralischer Beurteilung
freien, rein kriminalistischen Zurechnungslehre zu gewinnen.
Wie in der Behandlung einzelner Fragen, so zeigen die Krimina-
listen der Aufklärung in der staatsrechtlichen Grundauffassung innere
Gegensätze. Liegt doch in dem Prinzip, daß der gesellschaftliche
Schaden und die antisozialen Neigungen des Verbrechers, nicht seine
individuelle Schuld zum Maßstab der Bestrafung dienen soll, ebenso
die Rechtfertigung der polizeistaatlichen Doktrin, die um gemeinen
Nutzens willen über das Recht des Einzelnen hinwegschreitet, wie der
Kampf gegen die Barbarei und Willkür der alten Kriminaljustiz zu der
Forderung fester Begrenzung der staatlichen Strafgewalt führen mußte.
Dabei ist zu bedenken, daß die Vorkämpfer des neuen Strafrechts,
von denen hier nur einzelne mit wenigen Strichen charakterisiert
wurden, nicht systematisch ausgebaute Strafrechtstheorien geben,
sondern die Gewissen der Menschheit aufrütteln und stärken wollten.
Der soziale Nutzen der Strafe war nicht wie bei den Apologeten
des Absolutismus als eine Generalklausel gedacht, die jedweden
staatlichen Eingriff rechtfertigt, sondern bedeutete in einschränkendem
Sinne den Maßstab, an dem sich der Wert der im Rahmen des
Rechts verhängten Strafe bewähren muß.
Die Frage, wieweit neben der Berücksichtigung kriminalpolitischer
Zweckmäßigkeit eine Beurteilung des sittlichen Wertes in der strafrecht-
lichen Zurechnung zum Ausdruck kommen soll, bildete den Gegenstand
eines erbitterten Streites zwischen Feuerbach und Ernst Ferdinand Klein.^
Auch Klein war für die Entwicklung der strafrechtlichen Reformbewegung
' Eine Darstellung dieses Streites, allerdings im Unterschied von der
im folgenden gegebenen Darstellung mehr unter Berücksichtigung der
beiderseitigen Anschauung über das Wesen der Strafe im allgemeinen,
gibt F. C. Th. Hepp, Darstellung und Beurteilung der deutschen Straf-
rechtstheorien II, 1, 2. Aufl. Heidelberg 1844. S. 109 ff.
70
von Bedeutung, indem er neben Suarez von Carmer zur Bearbeitung
des strafrechtlichen Teils des Allgemeinen Landrechts, des Gesetzbuchs
der aufgeklärten Despotie des friderizianischen Preußens, berufen wurde/
Auch nach Klein gilt die Strafe nicht der Wiedervergeltung, sondern
der Verhütung der Verbrechen, wenn er auch die historische Bedeutung
des Genugtuungsbedürfnisses für die Entwicklung der Rechtsstrafe
zutreffender zu würdigen wußte als Feuerbach und manch einer der
zeitgenössischen rationalistischen Erklärer." Als sich Klein nach seinem
gesetzgeberischen Wirken literarischer und akademischer Tätigkeit als
Professor und Universitätsdirektor in Halle widmete, gewann er bald
den Ruf eines einflußreichen Kriminalisten. Aber seinen Werken fehlte
die philosophische Vertiefung der Probleme und die juristische Schärfe
und Klarheit, wie sie Feuerbachs Schriften eigneten.^ So wie das
Allgemeine Landrecht wie eine ideale Kodifikation des herrschenden
naturrechtlichen Lehrgebäudes anmutet, steckt auch Klein viel tiefer
in der naturrechtlichen Doktrin als Feuerbach, der in der strengen
Bindung des Richters an das staatliche Gesetz mit den Vorkämpfern
des konstitutionellen Gedankens den Grundstein der bürgerlichen Frei-
heit pries. Klein trat erneut für das alte Dogma von dem zwiefachen
Strafrecht ein, den „natürlichen" Verboten und solchen, die erst durch
staatliche Anordnungen Verbotscharakter erhalten.^ Hand in Hand
damit geht das Bestreben, dem Richter, weitherziger wie bei Feuer-
bach, einen Spielraum freien Ermessens einzuräumen und er fragt
erstaunt, ob denn der Gebrauch des gesunden Menschenverstandes
gänzlich von dem Richterstuhle verbannt und der Richter zu einer
bloßen Referier- und Dekretiermaschine umgebildet werden soll?^
Rus solchen Gedankengängen heraus lag es nahe, auch moralischer
Bewertung Einfluß auf die strafrechtliche Zurechnung zu verschaffen.
' Ä. Stölzel, Carl Gottiieb Suarez. Berlin 1885. S. 170 L —
Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3. Äbtlg.,
1. Halbband, S. 470 f.
- E. F. Klein, Über die Natur und den Zweck der Strafe. Archiv
des Kriminalrechts II, 1, S. 74 ff. — Hierzu v. Bar, Geschichte des deutschen
Straf rechts und der Straf rechtstheorien, S. 172.
^ E. F. Klein, Grundsätze des gemeinen deutschen peinlichen Rechts,
2. Aufl., Halbband, 1799, sowie zahlreiche Aufsätze in dem von Klein und
Kleinschrod 1799 begründeten Archiv des Kriminalrechts.
* Bei den Übertretungen naturrechtlicher Verbote hat der Verbrecher
nicht einen Anspruch auf Innehaltung der gesetzlichen Festsetzung der
Strafgröße, sondern „er muß sich bei an sich unerlaubten Handlungen
jede Strafe gefallen lassen, welche durch seine unerlaubte Handlung not-
wendig geworden ist". Grundsätze, S. 11.
^ Archiv II, 1, S. 128.
71
Zwar nicht um eine rein moralische Bewertung („moralische Schätzung"),
wohl aber um die mißbilligende Beurteilung einer Pflichtverletzung
(das nennt Klein „moralische Zurechnung") handelt es sich im Straf-
recht/ Es würde „das Ansehen der Gesetze untergraben werden,
wenn man sie mit einer das moralische Gefühl empörenden Strenge
anwenden wollte".^
Mit solchen Gedanken setzte sich Klein zu dem Rigorismus
Feuerbachs in Widerspruch. Er tat das nicht ohne die Überheblichkeit
des Alters gegenüber der Neuerungssucht der Jugend, die unaufhörlich
an der Zerstörung dessen arbeitet, „was unsere Vorfahren aufgeführt
haben" und er hielt es zudem als „alternder Mann" für „unerläßliche
Pflicht", dem jungen Schriftsteller eine unverblümte „Sittenpredigt"
wegen der „pomphaften Weise" zu halten, mit der Feuerbach angeblich
den ersten Band seiner „Revision" in der Allgemeinen Literatur-Zeitung
angekündigt hatte. ^ Feuerbach, persönlichen Angriffen gegenüber allzeit
aufs äußerste empfindlich, lieh seinem Unmut die schärfsten Waffen
seiner unvergleichlichen Dialektik, und seine Worte wirkten nicht minder
suggestiv dadurch, daß er sich zugleich mit einem Appell an die
„Urbanität in der Gelehrtenrepublik" gegenüber einer phrasenhaften
Weichheit im Ausdruck bei Klein das Recht vindizierte, ohne Ansehen
der Person Irrtum Irrtum und Wahrheit Wahrheit zu nennen. „Wem
etwas bloß scheint, der tut besser, wenn er schweigt, und wer sagt,
daß es ihm scheine, wenn er überzeugt ist, daß er es gewiß wisse, —
der lügt, der erniedrigt sich und die Wahrheit unter die Schellenkappe
der Konvenienz und des Trugs. "^ Hatte Feuerbach aus Klein den
Vorwurf der Niederträchtigkeit und Verfälschung herausgehört, so
beklagte sich Klein nunmehr über Feuerbachs Vorwurf der Lügen-
haftigkeit.^ Daß solch persönlicher Streit der Förderung des Problems
wenig dienlich war, war zu erwarten. Klein versuchte, dem Problem
der strafrechtlichen Zurechnung dadurch die Spitze abzubiegen, daß
er die Gegenwirkung gegen die verbrecherischen Neigungen mit sinn-
lichen Übeln als Züchtigung oder Sicherungsmaßnahme dem eigentlichen
Strafrecht gegenüberstellte, bei dem es sich darum handelt, Gesetzen
Gehorsam zu leisten. Hier hat der Freiheitsbegriff seine Stätte, indem
' Grundsätze, a. a. O. § 95, S. 77.
- Archiv II, 1, S. 129.
" Archiv II, 1, S, 113 ff. Die gerügte Ankündigung Feuerbachs im
Intelligenzblatt der Allg. Lit.-Ztg. vom Jahre 1799. Nr. 35, Sp. 274 enthält
eine kritische Kennzeichnung der Mängel der bisherigen Lehren über die
strafrechtliche Zurechnung, ohne die Vorzüge des eigenen Werkes in unzu-
lässiger Weise zu rühmen.
■* Revision II, Vorrede pag. VII.
* Für den Herrn Dr. Feuerbach, Archiv II, 3, S. 123 ff.
72
das Recht nicht die heroische Freiheit des Sittengesetzes, sondern eine
alltägliche gemeine Freiheit in Tun und Lassen voraussetzt. Aber all
diese Dinge sind so allgemein und wenig bestimmt behandelt, daß man
aus den Darlegungen immer nur ein verschwommenes Bild bekommt.
Die Zweifel bleiben, und Klein führt dafür selbst Beispiele an, z. B. den
Hausdiebstahl: die große Versuchung mindert die Schuld, aber der
Gesetzgeber sucht die Strafe zu erhöhen, „damit die Leichtigkeit,
solche Verbrechen zu begehen, nicht den Reiz dazu vermehren
möchte".^ In diesem Streit zwischen den Forderungen der General-
prävention und den Bedürfnissen der Spezialprävention findet Klein
keine rechte Lösung, wenn er den ersteren in diesem Fall mehr
zuneigt, zugleich aber erklärt, im Grunde sei auch die Schuld,
nämlich der Vertrauensbruch, keineswegs gering. So gelangt er immer
nur zu allgemeinen Erwägungen, eine wirkliche Durchdringung der
Probleme, ein Versuch, diese Fragen aus einem methodisch geschlossenen
Gedankengebäude heraus zu entwickeln, wie es Feuerbachs wissenschaft-
lichen Zielen entsprach, fehlt bei Klein. Mag er mit dieser notgedrungenen
Selbstbescheidung den fließenden Übergängen des Lebens oft im Grunde
besser gerecht geworden sein, als es die starren Formen dogmatischer
Straftheorien vermochten, ihm fehlten bei allem Versuch einer Anleh-
nung an Kant die scharfen Waffen, welche die völlige Beherrschung
und Verarbeitung der kritischen Philosophie, wie sie Feuerbach
besaß, bei der Vorliebe jener Zeit für philosophische Methodik allein
gewähren konnten." Und doch war sein Wirken gerade für die Fragen
der Zurechnung von Bedeutung. Sicherlich hat er das Ällgemein-
interesse für das Problem der ethischen Werturteile im Strafrecht
angeregt. Er hielt im Jahre 1802 in der Königlichen Akademie der
Wissenschaften zu Berlin eine Vorlesung „Über die Schätzung des
Menschen und seiner Handlungen in politischer und moralischer Hin-
sicht als Einleitung in die Lehre von der rechtlichen Zurechnung".^
Für das folgende Jahr erließ die Königliche Akademie ein Preisaus-
schreiben über die Frage, ob und wieweit die moralische Schätzung
der Handlung bei Festsetzung und Anwendung eines Strafgesetzes
zu berücksichtigen sei. Unter den gedruckten Äkademieschriften*
findet sich eine Beantwortung von dem Kirchenrat J. H. Gebhard,
der in ruhigen und klaren Worten den Gedanken einer strafrechtlichen
Ähndung sittlicher Schuld verwarf und im Sinne der Aufklärung die
' Archiv IV, 3, S. 22.
^ Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3, 1, S.517.
' Archiv IV, 4, S. 44 ff.
^ Drei Preisschriften d. Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin
für das Jahr 1803. Berlin 1804.
73
Aufgaben der staatlichen StrafrechtspJlege auf die Sicherung des
Zusammenlebens der Bürger und eine durch humane und vernünftige
Gesetze gewährleistete mittelbare Stütze ihrer inneren Vervollkomm-
nung beschränken wollte. Gebhard erhielt jedoch nur das Äkzessit,
während der Preis dem Quedlinburger Domprediger Fr. Äug. Boysen
zuerkannt wurde. Dieser wandte sich in langatmigen Ausführungen
gegen den Rigorismus einer einseitig kriminalistischen Zurechnungs-
lehre und verlangte, der Staat müsse um seiner eigenen und des
Verbrechers Würde willen die strafrechtliche Beurteilung von einer
moralischen Würdigung des bösen Willens abhängig machen. Den
Schwierigkeiten einer Klassifikation moralisch verwerflicher und in
gleichem Maße sozial schädlicher Handlungen vermochte freilich der
Verfasser nicht gerecht zu werden, und wenn er die Möglichkeit
menschlicher Fehlsprüche um des hohen Zieles der Verwirklichung
überirdischer Gerechtigkeit willen in Kauf nehmen zu können glaubte,
so hat schon damals die Kritik eine solch theokratische Ethisierung
staatlichen Strafrechts als „mönchische Einmischung des Staates in
Dinge, die nur vor die Kompetenz des allwissenden Richters gehören",
zurückgewiesen und der Brutalität, die in der Überspannung des Prinzips
der moralischen Beurteilung liegt, die Frage entgegengehalten: „Wie
kann selbst die beste Absicht den Frevel heiligen, mit welchem ein
Mensch auf die Gefahr hin, ungerecht zu sein, in das Amt des
höchsten Richters einzugreifen und die Rechte des Herzenskündigers
zu usurpieren kein Bedenken trüge?" ^
* Neue Leipziger Litcraturzeltung I. Bd. Leipzig 1805. 2. Stück, Sp. 28.
74
Drittes Kapitel
Die systematische Ausgestaltung der
Feuerbachschen Zurechnungslehre in der
Revision der Grundsätze und Grundbegriffe
des positiven peinlichen Rechts.
Unter den Zeugnissen der deutschen Rechtswissenschaft vergangener
Zeiten steht die „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven
peinlichen Rechts" von Anselm von Feuerbach an besonderer Stelle.
Eine virtuose Fähigkeit, den spröden Stoff abstrakter Begriffe plastisch
zu gestalten, eine Zuspitzung der Antithesen von dramatischer Wucht
und bei aller Formalistik der Argumentation der sichere Instinkt des
geborenen Kriminalisten sichern diesen beiden Bänden bei aller Be-
dingtheit ihres Gegenstandes, bei aller Anfechtbarkeit ihrer Ergebnisse
unvergänglichen Wert.
Versucht man, der historischen Bedeutung dieses Werkes nahe-
zukommen, so erweist es sich als eine systematische Ausgestaltung
und erneute Rechtfertigung der mannigfachen Versuche Feuerbachs,
das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, der Imputation,
allein nach rein kriminalistischen Gesichtspunkten zu lösen.
Das Zurechnungsproblem enthält die Frage nach der Verantwortlichkeit
für bestimmte menschliche Handlungen. Je nach dem Gesichtspunkt,
der für die Voraussetzungen und die Gestaltung der Verantwortung
maßgebend sein sollte, verband man mit dem Wort Zurechnung,
imputatio, einen verschiedenen Begriff. Ursprünglich bedeutet imputare
jemand etwas anrechnen, kaufmännisch gesprochen: jemand — buch-
mäßig — belasten. So heißt es z. B. 1. 1, § 4 D. 37, 3: Praeterea
si matrem aluit pupilli tutor, putat Labeo imputare eum posse. So
bemerkt Thomasius: Imputare nativa significatione terminus arith-
meticus est et significat in rationes referre, auf die Rechnung schreiben.^
Neben dieser wirtschaftlich-rechnerischen Bedeutung hatte das Wort als-
bald einen allgemeinen Sinn. Darnach bedeutet imputatio die Erklärung,
^ Fundamcnta juris naturac et gentium ... in usum auditorii Thomasiani.
Halle u. Leipzig 1713. Lib. I, caput VII, § XXIV. — Vgl. Revision I, S. 151 ff.
75
daß ein Mensch Ursache einer bestimmten, im einzelnen gleichgültig
wie gearteten Wirkung sei. Dann engte man diesen allgemeinen Sinn
wieder ein in dem Sinne, daß nur einzelne von den Wirkungen, die ein
Mensch verursacht hat, ihm zuzurechnen sind. So sagt man: „Ich habe
die Handlung zwar getan, aber sie kann mir nicht imputiert werden. " ^
Und zwar beschränkt man dabei herkömmlicherweise die Zurechnung
auf solche Wirkungen eines Subjekts, bei denen es als eine Ursache
gedacht wird, die selbst nicht wieder durch andere Ursachen bedingt
ist, und somit frei gehandelt hat. Diesen engsten Begriff der Zu-
rechnung, die Zurechnung zur freien Handlung, nennt Feuerbach die
Zurechnung im engeren und eigentlichen Sinn oder nach dem Vor-
gang von Darjes moralische Zurechnung im Gegensatz zu jenem
weiteren Begriff der physischen Zurechnung.^
Dieser Begriff der moralischen Zurechnung, nach dem die freie
Tat eines Menschen ihrem Urheber als persönliche Schuld zugemessen
wird, ist, wie das Feuerbach bereits erkannt hat, aus Ethik und
Theologie zuerst von Samuel Pufendorf in das Strafrecht eingeführt
und unter der Bezeichnung imputatio als Zusammenfassung der sub-
jektiven Voraussetzungen der strafrechtlichen Verantwortung verwertet
worden.^ Pufendorf hat nach dieser Richtung hin die wissenschaftliche
Behandlung des Strafrechts für lange Zeit entscheidend beeinflußt.
Die moralische Huffassung der strafrechtlichen Zurechnung findet sich
dann in der Wolf f sehen Philosophie, und gerade in der ausgedehnten
Herrschaft dieser Richtung hat Feuerbach einen wesentlichen Grund
für die Ausbreitung jener Anschauung gesehen. In der Tat spielen
bei Christian Wolff moralische Gesichtspunkte bei der Zurechnung
strafrechtlich relevanten Verhaltens eine Rolle. In dem strafrechtlichen
System, das sein Schüler Regnerus Engelhard nach Wolffs verstreut
geäußerten kriminalistischen Gedanken bearbeitet hat, wird das Ver-
brechen als freie, pflichtwidrige Handlung seinem Urheber zugerechnet.^
' Revision I, S. 153.
'^ J. G. Darjes, Observationes iuris naturalis, socialis et gentium. Vol. II.
Jena 1754. Obs. XLII, § XVII. - Vgl. Revision I, S. 153.
' Samuel Pufendorf, Elementorum iurisprudentiae universalis libri II
(1660), Liber I, Def. I, § 1—8. — De iure naturae et gentium, libri VIII (1672),
Liber I, Cap. IX de actionum moralium imputatione. — De officio hominis
et civis iuxta legem naturalem libri II (1673), Liber i, Cap. I de actione
humana. — Vgl. dazu v. Bar, Geschichte des deutschen Straf rechts und
der Strafrechtstheorien. Berlin 1882. S. 171. — R. Loening, Die Zu-
rechnungslehre des Ari.stoteles. 1903. Vorwort S. X f.
* R. Frank, Die Wolffsche Strafrechtsphilosophie und ihr Verhältnis
zur kriminalpolitischen Aufklärung des XVIII. Jahrhunderts. Göttingen
1887. S. 18 u. 23.
76
Allerdings haben solche Gedanken bei WoHf nur theoretische
Bedeutung. Die Staatsräson und das Interesse an der Erhaltung der
allgemeinen Ruhe und Sicherheit lassen ihm jedes Mittel berechtigt
sein, das zu gemeinem Nutzen für tauglich und erforderlich erachtet
wird.' Damit treten die subjektiven Momente der Zurechnung zugunsten
einer objektiven, der Erfolgshaftung nahekommenden strafrechtlichen
Bewertung menschlichen Tuns zurück, für welche die Größe des
Schadens für Staat und Gesellschaft das Entscheidende ist."
Eine Abkehr von dieser Methode, bei der strafrechtlichen Zu-
rechnung von einer moralischen Beurteilung freien Handelns auszugehen,
bahnten die Anhänger der strafrechtlichen Reformbewegung an.
Indem sie sich allein in den Fällen zu strafen berechtigt glaubten, in
denen man mit der Strafe etwas erreichen kann, in denen es Zweck
hat, zu strafen, tritt an Stelle der Zurechnung zur Schuld die
Beurteilung der Zweckmäßigkeit der Bestrafung als Voraussetzung
und Rechtfertigung strafrechtlicher Ähndung. In dieser Eliminierung
des Zurechnungsbegriffs lag zugleich eine Emanzipation des Strafrechts
von dem Einfluß ethischer Werturteile. Diesem Ziele strebte Feuerbachs
bisheriges Schaffen zu. Nun stellte er noch einmal die grundsätzliche
Frage: „Ist die Imputation ein Grund der äußeren Strafbarkeit
oder sind es andere Gründe, welche die äußere Strafbarkeit
begründen?"^
Der Begriff der Zurechnung ist mit dem „rein theoretischen
Urteil", daß ein Erfolg die Wirkung einer bestimmten Ursache oder
der freien Handlung eines Subjekts sei, nicht erschöpft. Erst wenn
durch ein „pragmatisches Urteil", durch die Beziehung des fest-
gestellten kausalen Zusammenhangs auf ein Pflichtgesetz eine Bewertung
zum Ausdruck kommt, wenn also festgestellt ist, ob das Subjekt, das
einen bestimmten Erfolg verursacht hat, diesen Erfolg auch verursachen
' Frank, a. a, O. S. 82. — Landsberg, Geschichte der deutschen
Rechtswissenschaft 3. ÄbtL, I. Halbbd., S. 204.
^ Das Wesen des Verbrechens besteht nach Wolff darin, daß damnum
datur vel injuria infertur universitati vel civitati und die Schwere des
begangenen Delikts hängt ab ex nucomento, quod affertur, et periculo,
quod inde imminet. — Chr. Wolff, Jus naturale methodo scientifica per-
tractatum. Pars octava, Halle u. Magdeburg 1748. §§ 580 u. 625. — Über
die Bedeutung ähnlicher Äußerungen bei den Vorkämpfern der eigentlichen
strafrechtlichen Reformbewegung vgl. oben Kap. II, S. 69.
* Revision I, S. 166. Leider wirkt Feuerbach oft selbst dadurch unklar,
daß die Bedeutung des Wortes Zurechnung oder imputatio in der „Revision"
schwankt. Grundsätzlich (so an dieser Stelle) versteht er darunter Zurechnung
zur moralischen Schuld (Revision I, S. 159 und 170), zuweilen, dann meist
mit dem Zusatz „im uneigentlichen Sinn", Zurechnung zum strafbaren
Verbrechen (Revision I, S. XX und 176).
77
sollte, kann von einer Zurechnung zur Schuld oder zum Verdienst
gesprochen werden. Das ist von Feuerbach richtig erkannt und im
Grunde nicht anders ausgedrückt, als wenn Adolf Merkel die Zu-
rechnung als die Verbindung eines kausalen Urteils, das den Erfolg
auf den Willen des Täters zurückführt, mit einem distributiven Urteil,
das den Wert der Handlung dem Täter auf die Rechnung setzt, erklärt/
Bei der Untersuchung der entscheidenden Frage, ob die Zurechnung
zur Schuld die Grundlage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit bilden
solle, geht Feuerbach von der Voraussetzung aus, daß Zurechnung
zur persönlichen Schuld mit der Annahme der Willensfreiheit
untrennbar verbunden ist. „Soll aber das Subjekt selbst für schuldig
oder für das Gegenteil gehalten werden, so muß die Tat aus wirk-
licher Freiheit geschehen sein, weil Freiheit die Bedingung der
Moralität ist und ohne diese zwar Legalität und Illegalität (äußere
Gesetzmäßigkeit oder Gesetzwidrigkeit), aber keine Moralität oder Im-
moralität der Handlung vorhanden sein kann."" Das scheint zunächst
einleuchtend und entspricht üblicher vorwissenschaftlicher Redeweise,
man sei nur für das verantwortlich, was man ebensowohl hätte tun
als lassen können. Erst Adolf Merkel hat solche Gedankengänge
aus strafrechtlichen Überlegungen verbannt und die „kriminalistische
Schuldlehre aus der Umarmung des Indeterminismus befreit".^ Daß
es auch ohne Annahme einer Wahlfreiheit einen Zweck haben könne,
Menschen zu bestrafen, hatten bereits die Deterministen der Ruf-
klärungszeit nachzuweisen versucht.* Feuerbach selbst erschien eine
Bestrafung, die nicht auf den Menschen determinierend zu wirken
bestimmt ist, zwecklos und ungerecht. „Die Strafe, wenn sie sich
auf den Menschen, insofern er freie Ursache ist, bezöge, würde daher
durchaus ungereimt sein und ihren Zweck auch nicht in einem Punkt
berühren . . .," denn „insofern das Subjekt freie Ursache ist, insofern
ist es allen Einwirkungen entzogen".^ Äußer der „Ungerechtigkeit
' Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe S. 80 H.
■^ Revision I, S. 155.
^ Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe S. 89 ff. —
Weiterhin: Liepmann, Einleitung in das Strafrecht S. 163 ff. Graf Dohna,
Willensfreiheit U.Verantwortlichkeit. Heidelberg 1907. — Ahnliche Gedanken-
gänge bei: G. Heymans, Einführung in die Ethik auf der Grundlage der
Erfahrung. Leipzig 1914. S. 98 If. — Vgl. auch Fr. Jodl, Allgemeine Ethik.
Herausgegeben von W. Börner, Stuttgart und Berlin 1918. S. 291: „In der
Tat würden wir bei einer Regellosigkeit in der moralischen Welt so wenig
bestehen, wie wir auf einem Planeten zu leben vermöchten, auf dem gelegent-
lich die Schwerkraft zu wirken aufhörte."
^ Vgl. die charakteristischen Äußerungen Hommels (oben Kapitel II,
S. 65) und Feders (unten Kapitel IV).
' Revision II, S. 131.
78
einer eigenwilligen Tyrannei" läßt sich für solche unnütze und zweck-
lose Strafe kein Grund denken/ Nur das bestritt Feuerbach, daß in
einem solchen deterministischen Strafrecht eine Beurteilung nach
ethischen Wertmaßstäben, eine Zurechnung zur persönlichen Schuld
denkbar wäre. So hieß es auch bei v. Liszt ursprünglich: „Für die
deterministische Huffassung entfällt aber freilich dem Zurechnungsfähigen
wie dem Nichtzurechnungsfähigen gegenüber der von der klassischen
Schule überlieferte, von der Willensfreiheit untrennbare Schuld-
begriff und mit ihm der Begriff der Vergeltung."^ Erst Merkel hat
gezeigt, daß die Voraussetzungen, unter denen wir uns und andere
für Tun und Lassen verantwortlich machen, nichts mit der Annahme
einer Gesetzlosigkeit menschlichen Handelns zu tun haben, daß wir
in den Äußerungen der Menschen lediglich die damit kundgewordenen
Eigenschaften ohne Rücksicht auf das, was möglicherweise von ihnen
sonst hätte ausgehen können, beurteilen und daß die Gewißheit der
Verknüpfung typischer Handlungsweisen mit bestimmten Persönlichkeiten
Achtung oder Abscheu vor ihnen nur steigert. „Das Wort Luthers:
Hier stehe ich, ich kann nicht anders, hat ihm in der Achtung der
Welt keinen Abbruch getan, und niemand hat das Wort im Sinne
einer Ablehnung der Verantwortung gedeutet!"*''
Im Gegensatz hierzu identifiziert Feuerbach die Loslösung des
Strafrechts von der Voraussetzung persönlichen Verschuldens mit
einer Eliminierung der indeterministischen Betrachtungsweise aus der
strafrechtlichen Zurechnung. Gleichwohl wollte Feuerbach nicht als
„Determinist" gelten.* Er bekannte sich zu Kants Lehre von der
sittlichen Freiheit und war der Meinung, daß eben diese dazu
nötige, außerhalb des Reiches der Sittlichkeit in der strafrechtlichen
Zurechnung den Freiheitsbegriff auszuschließen, „also in dem Gebiet
der Rechtslehre . . . Determinist zu sein".^
Die Ethik Kants gipfelt in der Autonomie des Willens. „Die
Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen
Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten"." Der autonome Wille ist
1 Revision II, S. 308.
^ V. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge Bd. II, S. 86. Später
gab auch v. Liszt zu, daß „von indeterministischer wie von deterministischer
Seite die Verantwortlichkeit anerkannt wird", a. a, O. S. 370. Ebenso Lehr-
buch des deutschen Strafrechts 23. Aufl. 1921. S. 23 f., Note 1 und S. 161.
" Merkel-Liepmann, a. a. O. S. 93.
^ Revision II, S. 130 und 463, sowie ausdrücklich I, S. 319 f., Note.
'" Revision II, S. 133 f., Note.
•* Kritik der praktischen Vernunft. Akademie- Ausgabe Bd. V, S. 33,
Cassirer Bd. V, S. 38. Vgl. zu dem folgenden: C. Gerhard, Kants Lehre
von der Freiheit. Philos. Monatshefte Bd. XXII. 1886. S. 1 ff.
79
in doppeltem Sinne ein freier Wille, in negativem Sinne, insofern er
unabhängig von den durch den begehrten Gegenstand hervorgerufenen
Reizen ist, und in positivem Sinne, insofern er allein durch das
Sittengesetz selbst bestimmt wird: Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit
von sinnlichen Triebfedern und Freiheit im Sinne der Selbstgesetzgebung
der reinen praktischen Vernunft.^ Wieweit nun der Mensch für sein
Tun verantwortlich ist, zeigt Kant an der Lehre vom intelligiblen
und empirischen Charakter. Die Kausalität des Menschen läßt
sich nach zwei Seiten betrachten, „als intelligibel nach ihrer Handlung,
als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel nach den Wirkungen
derselben als einer Erscheinung in der Sinnenwelt"." Die Tat eines
Menschen als Erscheinung läßt sich nur erklären als notwendige Folge
seines empirischen Charakters.^ Hierbei geht man auf dessen Quellen
zurück: schlechte Erziehung, üble Gesellschaft, bösartiges Naturell,
Leichtsinn usf.^ Aus diesem empirischen Charakter mußte diese
konkrete Tat entspringen. Aber warum hatte der Mensch diesen
empirischen Charakter? Hinter dem empirischen Charakter als Er-
scheinung steht der intelligible Charakter als Ding an sich. Die
empirische Kausalität ist eine Wirkung der intelligiblen Kausalität: der
intelligible Charakter ist die transzendentale Ursache des empirischen,
der empirische Charakter das sinnliche Zeichen des intelligiblen.^ „Ein
anderer intelligibler Charakter würde einen anderen empirischen gegeben
haben. "*^ So ist die Beschaffenheit des intelligiblen Charakters der
letzte Grund, auf den die Handlung zurückgeführt werden kann. Mit
dieser Feststellung begnügt sich die Kritik der reinen Vernunft.^
Wieweit man aber für den intelligiblen Charakter verantwortlich ist,
das sucht die Kritik der praktischen Vernunft aufzuzeigen. Hiernach
ist der intelligible Charakter, der als Ding an sich durch keine Ursache
bedingt ist, durch einen Akt der Freiheit des intelligiblen Subjekts
erworben. Diese „intelligible Tat"'^ besteht in der freiwilligen
Annahme guter oder böser Grundsätze, die für das Wesen
des Menschen entscheidend ist und ihn für die Handlungsweisen,
welche notwendige Folgen dieses Wesens sind, voll verantwortlich
' Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Äkademie-Äusgabe Bd. IV,
S. 446, Cassirer Bd. IV, S. 305.
- Kritik der reinen Vernunft. Akademie- Ausgabe Bd. III, S. 366,
Cassirer Bd. III, S. 377.
' Ebendort, Akademie-Ausgabe S. 372, Cassirer S. 384.
* Akademie-Ausgabe S. 375, Cassirer S. 387.
° Akademie-Ausgabe S. 370, Cassirer S. 382.
® Akademie-Ausgabe S. 376, Cassirer S. 388.
' Akademie-Ausgabe S. 376 f., Cassirer S. 388 f.
" Gerhard, a. a. O. S. 29.
80
macht/ Dies ist die Grundlage der Zurechnungslehre bei Kant.
Für alle menschlichen Handlungen, mögen sie gut oder böse sein,
ethisch oder juristisch bewertet werden, gilt es in gleicher Weise, wenn
er sagt: „Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich
wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere
sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß
jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen
alle auf diese wirkende äußere Veranlassung, man eines Menschen
Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit so wie eine Mond- oder
Sonnenfinsternis ausrechnen könnte und dennoch dabei behaupten, daß
der Mensch frei sei.""
Feuerbach geht bei seiner Argumentation, die versuchen will, die
Unhaltbarkeit indeterministischer Beurteilung im Strafrecht zu beweisen
und damit zugleich die Eliminierung ethischer Werturteile in der straf-
rechtlichen Zurechnung zu rechtfertigen, von Kant aus. Hat er sich
doch Kants Philosophie zu der seinigen gemacht, „nicht weil sie die
Kantische, sondern weil sie die einzig wahre ist".^ Wenn der Straf-
richter menschliches Handeln beurteilt, erscheint der Mensch als
Gegenstand der Erfahrung und insofern „müssen wir ihn als Natur-
wesen betrachten, das dem unabänderlichen Naturgesetz von Ursache
und Wirkung unterworfen ist".^ Verbürgt uns aber nicht unser
Selbstbewußtsein, die Vorstellung, daß wir uns nach vorheriger Wahl
selbsttätig zu einem Entschluß bestimmen, daß wir tatsächlich in der
Wahl und Entschließung frei sind? Diese Frage wird — das Thema
von Schopenhauers berühmter Preisschrift vorausnehmend — verneint.
Denn, sagt Hommel, auf dessen Determinismus Feuerbach sich in
diesem Zusammenhang stützt, wenn eine Kugel auf einem Brett frei
liegt und ich das Brett in die Höhe richte, gerade in dem Äugen-
blick, in dem die Kugel sich bewegen möchte, so bin ich die Ursache
der Bewegung, nicht die Kugel. „Weil sie aber meine Hand nicht
sieht, muß sie glauben, daß ihr Wille das Laufen verursache."^ Alle
menschlichen Handlungen können als zeitliche Erscheinungen nur als
Glieder in der unendlichen Kette von Ursachen und Wirkungen erkannt
werden, eine freie, d. h. ursachlose Handlung wäre unvorstellbar. Aber
ebenso wie die Kausalität für unser Erkenntnisvermögen unentbehrlich
^ Kritik der praktischen Vernunft. Äkademie-Äusgabc Bd. V, S. 100,
Cassirer Bd. V, S. 109.
^ Äkademic-Äusgabe S. 99, Cassirer S. 108.
^ Revision I, S. 319 f., Note.
' Revision I, S. 320.
'" Alexander v. Joch (Hommel), Über Belohnung und Strafe nach
türkischen Gesetzen 2. Aufl. 1772. S. 64.
81
ist, führt uns die praktische Vernunft zu der Annahme des katego-
rischen Imperativs. Dieser stellt sich als das sittliche Gesetz dar,
das den Anspruch erhebt, unbedingt, d. h. bloß um seiner selbst willen
befolgt zu werden. Er setzt somit einen Willen voraus, der sich unab-
hängig von sinnlichen Antrieben nur durch das Gesetz selbst bestimmen
läßt: d. h. sittliche Freiheit. Aber kann nicht diese gesetzmäßige
Gesinnung selbst wieder von äußeren Ursachen abhängen, wird es
nicht ein „bloßes Werk der Natur und des Geschickes sein, daß wir
moralisch oder unmoralisch sind"? Dann wäre „der Begriff des
SoUens ein leerer Begriff, das Sittengesetz ein Hirngespinst und der
Begriff der Pflicht ein eitler Name!" Darum setzt das Sittengesetz
zugleich ein Vermögen voraus, „einen Zustand schlechthin von selbst
anzufangen, die unbedingte Ursache einer Erscheinung zu sein":
transzendentale Freiheit.^
Was folgt aus diesem philosophischen Exkurs für das Problem
der Zurechnung? Nach Feuerbach dies, daß die Idee der Freiheit
zwar Voraussetzung sittlichen Handelns und darum Grundlage mora-
lischer Beurteilung ist, daß sie aber außerhalb des Gebietes des
Sittlichen und namentlich für eine juristische Betrachtungsweise
gegenstandslos ist. Die Annahme von der transzendentalen Freiheit
geschah nur im Hinblick auf das Sittengesetz, das verlangt, daß der
Mensch sich freiwillig zur Pflichterfüllung bestimmen soll. Das Sitten-
gesetz ist also der Grund der Freiheit. „Da nun", schließt Feuerbach,
„das Begründete nicht weiter gehen kann als sein Grund, so kann
auch der Freiheitsbegriff durchaus nicht über das Gebiet des Sitten-
gesetzes hinaus ausgedehnt werden, wenn wir uns nicht der sonder-
barsten iJ.£Ta^a7'c v.z To a/.AO -fi-toc zuschulden kommen lassen und mehr
annehmen wollen, als der Grund, aus welchem wir es allein annehmen
können, gestattet."" Die Rechtsgesetze verlangen nicht eine von äußeren
Antrieben unabhängige Befolgung, sondern sie begnügen sich damit,
daß ihre Gebote überhaupt, gleichgültig aus welchen Motiven heraus,
erfüllt werden. Sie setzen nicht Freiheit sondern staatliche Macht,
die gegebenenfalls ihre Erfüllung erzwingt, voraus. Wir dürfen daher
bei Befolgung eines sittlichen Gebotes von Freiheit reden, während
die Verletzung einer Rechtspflicht — wenn man nicht darin zugleich
ein moralisches Verhalten erblickt, — nicht voraussetzt, daß der Täter
in Freiheit gehandelt hat. Soweit Feuerbachs Stellung zu Kants Lehre
von der sittlichen Freiheit. Die Lehre vom intelligiblen Charakter
berührt die „Revision" nur kurz. Von der Wahl der Maxime hängt
' Revision II, S. 100.
- Revision II, S. 107.
82
die Gesetzmäßigkeit oder Gesetzwidrigkeit unserer Gesinnung ab.
Aber das ist eine Frage moralischer Bewertung. Im Strafrecht ver-
wirft Feuerbach das Bestreben, Prinzipien, „die sich bloß auf die
Denkungsart und den intelligiblen Charakter des Menschen beziehen,
in das peinliche Recht, das auch nicht ein Wort über die
Denkungsart des Menschen zu sagen hat, hinüberzupflanzen".^
Sucht man eine kritische Stellung zu dieser Argumentation
Feuerbachs zu gewinnen, so ergibt sich ein Doppeltes. Daß der
landläufige Indeterminismus sich nicht auf Kant berufen dürfe,
darin hatte Feuerbach zweifellos recht. Wenn Reinhold glaubte,
sein „Äquilibrismus" sei „dem Geiste der Kantischen Philosophie
vollkommen angemessen" und widerspreche lediglich den Buchstaben
einiger Äußerungen der Kritik der praktischen Vernunft, „wenn man
diese falsch auslegt",- so hat das Feuerbach mit Recht als ein Miß-
verständnis der Kantischen Freiheitslehre bezeichnet.^ Denn es gibt nicht
ebenso einen „unreinen" wie einen „reinen" freien Willen, wie Reinhold
es wollte, sondern sittliche Freiheit kann nur in dem Vermögen bestehen,
sich unabhängig von sittlichen Triebfedern zu dem von dem Pflichtgesetz
geforderten Verhalten zu bestimmen. Ein „unreiner", d. h. rechts-
widriger Entschluß liegt demnach außerhalb der Sphäre sittlicher
Freiheit.^ Auf der anderen Seite folgt aber hieraus keineswegs
eine Beschränkung von Verantwortlichkeit und Zurechnung
der Schuld auf das Gebiet des Sittlichen. Hier ist Feuerbach einem
Trugschluß zum Opfer gefallen.'' Der Satz, daß das Begründete
nicht weiter ausgedehnt werden darf als der Grund, gilt nur für einen
Realgrund, nicht für einen bloßen Erkenntnisgrund. Das Sitten-
gesetz ist aber für Kant lediglich die ratio cognoscendi der Freiheit.
Ja, umgekehrt ist vielmehr die Freiheit die ratio essendi des Sitten-
gesetzes, denn — wie Kant im III. Abschnitt der Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten zeigt — allein auf die Idee der Freiheit, die
mit dem Begriff eines jeden vernünftigen Wesens notwendig verbunden
ist, kann das moralische Prinzip von der Autonomie des Willens
gegründet werden.*^ Das Verhältnis von Freiheit und Verantwortlichkeit
versucht Kants Lehre vom empirischen und intelligiblen Charakter zu
verdeutlichen. Ihr Sinn ist der: unsere Handlungen sind notwendig,
* Revision II, S. 365.
^ Rcinhold, Briefe über die Kantische Philosophie II. Bd., S. 285.
' Revision II, S. 305.
* Revision II, S. 290. Vgl. Gerhard, a. a. O. S. 18 f.
'" Döring, Feuerbachs Straftheorien und ihr Verhältnis zur Kantischen
Philosophie. Kant-Studien, Erg.-Heft 3. Berlin 1907. S. 46.
" Äkademie-Äusgabe Bd. IV, S. 446 ff., Cassirer Bd. IV, S. 305 ff.
83
wir selbst aber sind frei, wir haben für unser Tun einzutreten, nicht
weil wir auch anders hätten handeln können, sondern weil wir so
sind, daß wir so handeln mußten. Von hieraus hätte man unschwer
zu jenem Merkeischen Standpunkt gelangen können, daß die Zurechnung
zur Schuld nicht die Bejahung der Wahlfreiheit, sondern im Gegenteil
ihre Verneinung voraussetzt/ Liegt doch jener Lehre Kants der
Gedanke zugrunde, daß der Vorwurf des Gewissens nicht die einzelne
Tat trifft und somit den Trost läßt, daß wir das nächste Mal anders
handeln werden, sondern unser ganzes innere Selbst als die Ursache
aller unserer Handlungen belastet: „Diese unlautere Handlung ist wie
du selbst, aber du selbst bist nicht wie du sein solltest und könntest!"^
Das, was Feuerbach gegen diese Lehre Kants vorbringt, hat denn
auch nichts mit einer Kritik der Willensfreiheit zu tun, sondern ist
nur eine Wiederholung seiner alten Forderung, daß sittliche Werturteile
nichts im Strafrecht zu tun hätten. Dieser Gedanke war ihm seit
seinen ersten rechtsphilosophischen Versuchen zum Dogma geworden,
das er unermüdlich verteidigte: „Das Gebiet der Moral und des Rechts
sind beide voneinander getrennt, beide haben ihre eigentümlichen
Prinzipien und darum kann ein moralischer Grund weder eine recht-
liche Möglichkeit noch eine rechtliche Notwendigkeit begründen, wie es
hier angenommen wird, wo aus der Immoralität der Tat die rechtliche
Möglichkeit und Notwendigkeit einer bürgerlichen Strafe begründet
werden soU."^ Deutlicher als bei den rechtsphilosophischen Speku-
lationen tritt hier das von Feuerbach mit instinktiver Sicherheit
herausgefühlte kriminalistische Bedürfnis nach einer — in der
„Revision" freilich in unerträglicher Weise übertriebenen — Elimi-
nierung moralischer Gesichtspunkte aus der strafrechtlichen
Zurechnung hervor. Es ist derselbe Gedanke, der ihn mit aller
Leidenschaft den Subjektivismus Grolmans bekämpfen ließ: die Sorge
vor der schiefen Bahn der Gesinnungsstrafe. Gibt man erst einmal
zu, daß persönliche Schuld das Recht des Staates zu strafen begründe,
„so läßt sich nicht begreifen, warum man ihm nicht auch das Recht ein-
räumen will, auch bloß die unmoralischen Gesinnungen, selbst
wenn sie nicht in ungerechte Handlungen übergegangen sein sollten,
und die Übertretung bloß unvollkommener Pflichten (d. h. Pflichten,
die nicht vom Recht erzwingbar gemacht sind) zu bestrafen".^
' Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe S. 99.
* Kuno Fischer, Geschichte der Philosophie Bd. V, 2. Teil, 4. Aufl.
1899. S. 94. Vgl. auch desselben Heidelberger Rektoratsrede 1875, Über
das Problem der menschlichen Freiheit S. 24.
* Revision II, S. 118 ff.
* Revision II, S. 120.
6*
84
Indem Feuerbach aus der strafrechtlichen Zurechnung ethische
Werturteile verbannte, trat er zugleich der herrschenden Doktrin ent-
gegen, welche in den Fällen verminderter Zurechnungsfähigkeit
eine Milderung der Strafe verlangte. Ihr liegt der Gedanke zugrunde,
daß die Tat eines Menschen ihm in dem Maße zur Schuld zuzurechnen
ist, indem sie sich als typisches Abbild seines inneren Wesens, als
unmittelbare Verkörperung seiner Gesinnung darstellt. Alle die Momente
dagegen, die nicht dem Charakter des Täters entspringen, sondern von
außen her die Handlungsweise des Täters bestimmen, ohne sein eigenes
Selbst zur Entfaltung kommen zu lassen, mögen menschliche Fehltritte
entschuldigen. Das entspricht der Beurteilungsweise von Ethik und
Pädagogik und hat auch in Kants Metaphysik der Sitten Eingang
gefunden. Von geringer Verschuldung wird hier gesprochen, wenn
lebhafte Affekte, sinnliche Triebfedern von ungewöhnlicher Stärke oder
Mängel der Erziehung die Tat zu erklären vermögen, aber „je kleiner
das Naturhindernis, je größer das Hindernis aus Gründen der
Pflicht, desto mehr wird die Übertretung als Verschuldung zu-
gerechnet".^ Der sittlich hochstehende, aus äußeren Hemmungen
herausgehobene Ehrenmann trägt daher die stärkste Verantwortung:
sein Fehltritt wiegt ungleich schwerer, als wenn der verkommene
Minderwertige den täglich wachsenden Versuchungen zum Opfer fällt.
Es hat den Kampf Feuerbachs gegen die Übertragung solcher Gedanken-
gänge in das Strafrecht erleichtert, daß sie zumeist in indeterministischem
Gewände auftraten. Heutiger vulgärer Vorstellungsweise entsprechend
knüpfte man die volle Zurechenbarkeit der Tat an die Bedingung, daß
sie dem freien Willen ihres Urhebers entsprungen sei, während man
im Sinne einer Verminderung der Zurechnungsfähigkeit von geringer
Strafwürdigkeit sprach, wenn der Täter zwar nicht völlig unfrei galt,
aber zu seinem Entschluß unter mehr oder minder starkem Einfluß
pathologischer Zustände oder sozialer Umstände kam, also nicht mit
„voller Freiheit" gehandelt hat." Daß mit dieser Lehre aufs engste
das Institut des richterlichen Milderungsrechts zusammenhing, machte
* Metaphysik der Sitten. Äkadcmie-Äusgabe Bd. IV, S. 228, Cassirer
Bd. VII, S. 29.
■ Vgl. z. B. J. Chr. V. Quistorp, Grundsätze des deutschen peinlichen
Rechts VI. Aufl., herausgegeben v. E. F. Klein, Bd. I. 1810. § 63, S. 107. —
G. R. Kleinschrod, System. Entwicklung der Grundbegriffe und Grund-
wahrheiten des peinlichen Rechts 2. Aufl., I.Teil. Erlangen 1799. § 44 f.,
S. 102 ff. — C. Ä. Tittmann, Handbuch der Strafrechtswissenschaft und
der deutschen Strafgesetzkundc 2. Aufl., I. Bd. Halle 1822. § 82, S. 156 f. —
Eine Charakterisierung dieser ganzen Richtung gibt Ed. Henke, Grundriß
einer Geschichte des deutschen peinlichen Rechts und der peinlichen Rechts-
wissenschaft II. Teil. Sulzbach 1809. S. 336.
85
sie für Feuerbach nur noch verdächtiger. So wußte er diese Lehre
mit einem ganzen Arsenal von Gründen zu bekämpfen. „Ich frage
zuerst, wie man sich denn einen erhöhten oder verminderten
Grad der Freiheit bei Hervorbringung gesetzwidriger Handlungen
denke?" ^ Freiheit bedeutet Unabhängigkeit von sinnlichen Triebfedern,
ist demnach ein absoluter Begriff, bei dem Grade von verschiedener
Stärke unvorstellbar sind. „Ich will es nicht in Anregung bringen,
daß eine Freiheit, die dem Grade nach geschwächt, vermindert ist,
ein gerader Widerspruch, ein viereckter Zirkel oder ein rundes Vier-
eck ist."^ Man kann von einem Spielraum, einer Möglichkeit, sich
für das Gesetz zu bestimmen, sprechen, aber die Kraft, welche die
dem Verbrecher entgegenstehenden äußeren Hindernisse überwindet,
die allgemein als Grund besonderer Strafwürdigkeit gewertet wird,
nimmermehr als Freiheit bezeichnen. Die Triebfeder, der sinnliche Reiz
bestimmte vielmehr den Verbrecher zu seinem Schritt und vermochte
die Gegengründe zum Schweigen zu bringen, nicht weil der Verbrecher
darin freie Wahl hatte, sondern weil sich die Freiheit — verstanden
als das Vermögen, unabhängig von sinnlichen Triebfedern zu handeln —
nicht äußerte. „Alle nicht -moralischen Handlungen haben ihren
eigentlichen Grund schlechterdings nicht in der Freiheit, sondern in
Naturursachen, in Leidenschaften, Neigungen und Begierden,
haben ihren Grund nicht in einer Äußerung, sondern in einer Nicht-
äußerung der Freiheit."^
So wiederholt sich in immer neuen Wendungen der Grundgedanke
Feuerbachs: die strafrechtliche Zurechnung hat nichts zu tun mit einer
Beurteilung menschlichen Handelns nach sittlichen Maßstäben. Die
persönliche Schuld ist nicht Voraussetzung und Maß der staatlichen
Strafe. So bleibt nur der andere Weg, aus dem Wesen und Zweck
der Strafe selbst die Grundlagen zur Beurteilung der Strafwürdigkeit
zu ermitteln. „Denn wenn keine ausdrücklichen positive Gesetze uns
über die Prinzipien der subjektiven Gründe der Strafbarkeit unter-
richten, was anders könnte uns nötigen, eine solche Lehre in dem
peinlichen Rechte aufzustellen, was anders könnte uns auf die ersten
Grundsätze derselben leiten, als jene Natur und jener Zweck
der Strafe?"'
Das Zurechnungsproblem, die Frage nach den Voraussetzungen
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit hat für die Rechtswissenschaft
eine doppelte Bedeutung. Der Gesetzgeber fragt nach den Gründen
' Revision II, S. 285.
■^ Revision II, S. 289.
' Revision II, S. 290 f.
' Revision II, S. 328 f.
86
der Strafbarkeit in abstracto, der Richter nach den Gründen der
Strafbarkeit in concreto. Dieser prüft die Strafbarkeit eines einzelnen
Verbrechens, jener die einer generellen Deliktsform, dieser beurteilt
die Handlungsweise eines bestimmten Diebes, jener den Diebstahl
überhaupt, dieser hat es mit einem Faktum, jener mit einem Begriff
zu tun. Woher schöpfen nun Richter und Gesetzgeber die Prinzipien
ihrer Beurteilung? „Von positiven Gesetzen sind wir hier fast ganz
verlassen und es läßt sich kein einziges aufzeigen, welches auch nur
mit einiger Bestimmtheit sich über die Art der Anwendung der Straf-
gesetze im allgemeinen erklärte."^ Also müssen diese Prinzipien aus
allgemeinen Erv^'ägungen heraus ermittelt werden. Ausnahmsweise ist
es hier Aufgabe der Philosophie, dem Juristen inhaltlich bestimmte
Normen zu erschließen. Aber die Rechtswissenschaft darf solche all-
gemeinen Prinzipien nicht ohne weiteres utilitatis et iucunditatis gratia
annehmen. Als Wissenschaft vom positiven Recht darf sie Grundsätze,
welche nicht ausdrücklich in positiven Gesetzen enthalten sind, nur
unter der Bedingung akzeptieren, „daß jene allgemeinen Prinzipien in
dem Willen des Gesetzgebers enthalten, mithin stillschweigend
von demselben sanktioniert sind".^ Im Willen des Gesetzes aber ist
enthalten, was mit einer positiven Verordnung desselben notwendig
verbunden ist, „so daß sich ein Widerspruch in der ausdrücklichen
Verordnung selbst fände, wenn das Gegenteil angenommen würde ".^
Wenn also der Gesetzgeber ein Strafgesetz erläßt, so hat er damit
alle Prinzipien sanktioniert, die mit dem Wesen des Strafgesetzes und
der Strafe notwendig verbunden sind. Hieraus folgt: „Nur diejenigen
Gründe der Strafbarkeit sind wahr, welche sich aus der Natur
des Strafgesetzbuches und der Strafe ergeben."* Das Problem
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit verlangt somit eine Untersuchung
über die Natur der Strafe und des Strafgesetzes. Diese führt Feuerbach
zu seiner Straftheorie vom psychologischen Zwang, wie sie bereits dem
Antihobbes zugrunde liegt.
Strafe ist ein vorwissenschaftlicher Begriff. Über ihr Wesen gibt
der allgemeine Sprachgebrauch Auskunft. Nach ihm ist Strafe ein
^ Revision I, S. 176.
^ Ebendort I, S. 185.
^ Ebendort I, S. 185.
^ Ebendort I, S. 187. Während die Formulierung dieser Argumentation
in mustergültiger Weise die Methodik der Interpretation des positiven
Rechts zum Ausdruck bringt, ist Feuerbach unbewußt gerade hier natur-
rechtlicher Denkweise verfallen, dem Glauben, daß seine eigenen Straf-
rechtsprinzipien mit dem Begriff des Strafgesetzes als solchen notwendig
verbunden und darum bei der Erlassung eines jeden Strafrechts von diesem
vorausgesetzt seien. Vgl. oben Kap. I, S. 29.
87
Übel, „welches um begangener gesetzwidriger Handlungen, und zwar
bloß um dieser willen einem Subjekt zugefügt wird: malum passionis
ob malum actionis, wie die älteren Rechtslehrer sagen".' Dem Wesen
nach unterscheidet die gemeine Vorstellung von der Strafe, die lediglich
wegen einer in der Vergangenheit erfolgten Handlung eintritt, Übel,
welche ein künftiges Verhalten erzwingen wollen. In den sogenannten
natürlichen Strafen des Lasters und in den Strafen, die wir der
göttlichen Gerechtigkeit zuschreiben, sehen wir lediglich die Wirkung
vergangener Taten, ebenso wie in der Belohnung nur die Folge eines
in der Vergangenheit liegenden lobenswerten Verhaltens. Ist dagegen
die begangene Tat nur ein Symptom für die zu erwartende künftige
Handlungsweise eines Menschen und füge ich ihm Übel zu, um da-
durch auf sein künftiges Verhalten einzuwirken, so sprechen wir von
Züchtigung, Verteidigung oder Sicherung, aber nicht von Strafe. ÄU
diese Dinge hielt Feuerbach immer wieder dem Grolmanschen
Präventionsrecht entgegen. Mit jener Definition ist die Strafe ihrer
Gattung nach bestimmt. Es fragt sich nun, welche besondere Art
von Strafe ist die bürgerliche Strafe, mit der allein es das Straf-
recht zu tun hat, diejenige, welche „von der bürgerlichen Gesellschaft
(der höchsten Gewalt) den Bürgern zugefügt wird".^
Die Frage nach dem Wesen der bürgerlichen Strafe ist eine
Rechtsfrage: Wie muß die Strafe beschaffen sein, welche der Staat
von Rechts wegen seinen Bürgern auferlegt?
Der Staat beruht auf der Idee des Rechts. Diese besteht, indem
hier Feuerbach die Kantische Begriffsbestimmung aufnimmt, darin,
„daß die Freiheit eines jeden mit der Freiheit alier bestehe, daß
jeder die freie Ausübung seines Rechts habe und keiner die Rechte
des andern beeinträchtige".^ Aufs neue fordert Feuerbach auch hier
um der Idee des Rechts willen eine scharfe Sonderung juristischer
und ethischer Werte. Moralische Vergeltung kann nicht Aufgabe des
Staates sein, denn sie beruht nicht auf dem Prinzip des Rechts als
dem rechten Einklang der Freiheit des einzelnen mit der Freiheit
aller, sondern sie ist eine Forderung der sittlichen Weltordnung als
einer Harmonie zwischen Glückswürdigkeit und Glückseligkeit: ein
sittlicher Fehler soll zur Schmälerung des Glückes, Schuld soll zur
Strafe führen. Solche Harmonie zwischen Verschuldung und Schicksal
anzubahnen, ist nach Feuerbach nicht Aufgabe des Rechts. Da Zu-
rechnung zur Schuld die Voraussetzung einer moralischen Vergeltung
' Revision I, S. 5.
- Revision 1, S. 23.
' Revision I, S. 26. Kant, Metaphysik der Sitten. Äkademie-Äusgabe
Bd. VI, S. 230, Cassirer Bd. VII, S. 31.
88
ist, so scheidet mit dieser auch jene aus dem Bereich des Strafrechts
aus. Es ergibt sich, „daß, wo wir eine Beurteilung nach dieser
moralischen Idee voraussetzen, die Handlung, welche nach derselben
beurteilt wird, nur als eine Verletzung der inneren moralischen
Gesetze, nicht aber der äußeren Rechtsgesetze betrachtet werden
kann und mithin die Tat nicht als eine Rechtsverletzung, sondern
als immoralische Handlung bestraft wird"/
Hiermit war nun insofern nichts Neues gesagt, als die Forderung,
der Staat solle sein Strafrecht in den Dienst sittlicher Vergeltung stellen,
in dieser Allgemeinheit damals von niemand vertreten wurde. Ruch
die anderen Kriminalisten gingen davon aus, daß das Strafrecht staat-
lichen und sozialen Aufgaben zu dienen hat. Um dieser kriminal-
politischen Zwecke willen aber verlangten sie in mehr oder minder
hervortretender Weise, daß die strafrechtliche Verantwortlichkeit von
dem Verschuldungsprinzip abhängig sein sollte. So sehr namentlich
bei den Anhängern der Präventionstheorie, bei Stübel und Grolman,
aber auch bei Filangieri und Servin, der Zweckgedanke im Vorder-
grund steht, so kommen eben diese Kriminalisten, weil sie von einer
Beurteilung der antisozialen Gesinnung des Täters ausgehen, der
Zurechnung zur Schuld sehr nahe. Feuerbach dagegen verwirft
auch eine solche mittelbare Verwertung des Schuldgedankens im
Strafrecht. Einmal wäre es „lächerlichste Anmaßung", zu glauben,
es sei menschlichen Richtern gegeben, Schuld und Vergeltung in
rechtem Maß abzuwägen: „Nur von einem allwissenden Herzens-
kündiger, von dem unbeschränkten Vernunftwesen . . . dürfen wir die
Einführung dieser sittlichen Ordnung erwarten."" Wie es Feuerbach
Grolman entgegenhielt, entspricht zudem die Höhe der Schuld keines-
wegs immer dem staatlichen Strafbedürfnis. Je mehr der Verbrecher
durch Triebe und Leidenschaften, durch schlechte Erziehung und Ge-
wohnheit zum Verbrechen determiniert ist, um so geringer erscheint
seine persönliche Schuld — , aber um so gefährlicher er selbst.
Hier steht das Bedürfnis des Staates, mit energischen Strafen einzu-
greifen, in umgekehrtem Verhältnis zur Schuld des Täters. „Es steigt
also da die Gefahr für das Recht, wo die eigentliche moralische
Häßlichkeit der Tat, die Schuld verringert wird. Daher muß die
moralische Strafe die Beleidigungen begünstigen und der sittlichen
Ordnung die rechtliche aufopfern, weil sie jenen Triebfedern nicht
gehörig widerstehen, ihnen kein überwiegendes Gegengewicht entgegen-
setzen kann.""^ Hier liegen in der Tat tiefe Gegensätze zwischen dem
' Revision I, S. 27.
^ Revision I, S. 34.
^ Revision I, S. 32.
89
Schuldprinzip und dem Sicherungsgedanken, wie sie am Problem des
Gewohnheitsverbrechers und Rückfälligen am stärksten zutage treten.
Während „oberflächliches Sichabfinden" gemeinhin den Rückfall als
schulderhöhenden Umstand charakterisiert, hat Merkel gezeigt, daß
nur der Gedanke der Sicherung vor dem Täter — unter der Annäherung
an den Standpunkt, den wir dem Irrsinnigen gegenüber einnehmen —
staatliche Eingriffe von gesteigerter Intensität in diesen Fällen recht-
fertigen kann, wo eine Vergeltung für die Tat die Waffen senken muß :
„Je tiefer ein Gewohnheitsverbrecher sinkt oder auch von Anfang an
steht, um so weniger wird die Frage nach dem Maße der in einer
einzelnen Handlung sich begründenden sittlichen Verschuldung
uns einen Weg zeigen können . . ."^
Will der Staat dem Recht — in jenem formalen Sinn Kants und
Feuerbachs als Garantie der wechselseitigen Freiheit aller verstanden —
dienen, so muß er dafür sorgen, daß „keine Beleidigungen im Staate
geschehen". Und da trotz Erziehung und Aufklärung nicht allen eine
bürgerliche Gesinnung angewöhnt werden kann, so ist es im besonderen
Aufgabe des Staates, „daß, wer unbürgerliche (rechtswidrige)
Neigungen hat, psychologisch verhindert werde, sich nach
diesen Neigungen wirklich zu bestimmen".*
Diese anspruchsvolle Aufgabe, auf psychologischem Wege Ver-
brechen überhaupt zu verhindern, dünkt Feuerbach nicht allzu
schwer. Er erklärt sich das Zustandekommen des verbrecherischen
Entschlusses deterministisch als die Wirkung der „sinnlichen Trieb-
feder" : auf das Begehrungsvermögen wirkt die Vorstellung eines
Erfolges, die mit einem Lustgefühl verbunden ist, ein bis zum Eintritt
des Erfolges schmerzvoll empfundenes Bedürfnis. Der Staat muß nun
versuchen, „durch die Sinnlichkeit selbst auf die Sinnlichkeit zu wirken
und die Neigung durch entgegengesetzte Neigung, die sinnliche Trieb-
feder zur Tat durch eine andere sinnliche Triebfeder aufzuheben".^
Da der Mensch dem stärkeren Trieb, der Vorstellung, die mit einem
lebhafteren Lustgefühl verbunden ist, folgt, so muß mit der Vorstellung
von dem erstrebten verbotenen Erfolg eine stärkere, unlustbetonte
Vorstellung assoziiert werden. „Die Übertretungen werden daher
verhindert, wenn jeder Bürger gewiß weiß, daß auf die Übertretungen
ein größeres Übel folgen werde, als dasjenige ist, welches aus der
Nichtbefriedigung des Bedürfnisses nach der Handlung (als einem
Objekt der Lust) entspringt."*
* Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe S. 99.
* Revision I, S. 39 und 43.
* Revision I, S. 44.
* Revision I, S. 46.
90
Diese Vorstellung darf in den Bürgern nicht, wie es das alte Äb-
schreckungsstrafrecht versuchte, das seine Anziehungskraft in diesem
Punkte noch auf manche Kriminalisten der Äufklärungszeit nicht ein-
gebüßt hatte (Hommel, Gmelin), dadurch hervorgerufen werden, daß
der einzelne Delinquent „exemplarisch" — umb mer forcht willen! —
besh-aft wird. Solches Verfahren, das den einzelnen zum Mittel fremder
Zwecke mißbraucht, hatte der jünger Kants immer wieder als mit dem
Recht der Persönlichkeit, die auch im Verbrecher zu respektieren ist,
unvereinbar verworfen. Darf die Vollziehung der Strafe nicht der
Abschreckung der anderen dienen, so bleibt als einziges Mittel, die
verbrecherischen Neigungen der Bürger psychologisch zu beeinflussen,
„daß die Verknüpfung des Übels mit dem Verbrechen durch das
Gesetz angedroht sein müsse". Das Gesetz droht die Strafen
allen Bürgern als rechtlich notwendige Folge von Verbrechen an. Es
sagt: „Wer diese Handlung tut, soll Strafe leiden. Niemand, der sie
tut, darf der Strafe entgehen."^
Aber das Gesetz ist nur dann eine ernsthafte Drohung, die
determinierend auf die Bürger wirkt, wenn die Bedingung, die es an
die Begehung des Verbrechens knüpft, tatsächlich in allen Fällen, in
denen ein Verbrechen begangen wird, eintritt. Es muß immer, aber
auch nur dann, wenn ein Verbrechen begangen ist, die angedrohte
Strafe verhängt werden. Hierin erschöpft sich für diese Lehre die
kriminalistische Bedeutung des Strafvollzugs. Er dient lediglich dazu,
die Ernstlichkeit der gesetzlichen Strafdrohung zu erhärten, dem Gesetz
Genüge zu leisten, das verlangt, daß jeden die bestimmte Strafe trifft,
der es übertritt. Die Rechtfertigung eines Strafvollzugs, dem eine
solch sekundäre Rolle im Strafrecht zugedacht ist, bleibt nach wie vor
der schwächste Punkt der Feuerbachschen Theorie — so wie in der
späteren gesetzgeberischen Ausgestaltung der Feuerbachschen Lehren
sich seine Theorie am unfruchtbarsten auf dem Gebiet des Strafvollzugs
erwies. Auch die „Revision" bleibt bei der naturrechtlichen Ein-
willigungstheorie," nach welcher der Verbrecher in die Strafe als
Bedingung für die Begehung des Unrechts einzuwilligen genötigt ist.
Aber das hatte diese Lehre voraus: sie entsprach der Forderung
Feuerbachs nach strenger Bindung des Richters an das Gesetz und
fester Begrenzung der staatlichen Strafgewalt. Hat der Verbrecher die
vom Gesetz mit Strafe bedrohte Handlung begangen, so kann
und muß der Richter allein die vom Gesetz für die Handlung
angedrohte Strafe verhängen.
' Revision I, S. 49.
'' Vgl. oben Kap. I, S. 22 und S. 28.
91
Von dieser letzten Überlegung aus gewinnt die Feuerbachsche
Straftheorie ihre besondere Bedeutung. Will sie bewußt alle ethischen
Werturteile und Forderungen ausschalten, so ist gleichwohl die formale
Struktur dieses Strafrechts, die ausnahmslose Verknüpfung bestimmter
Tatbestände mit feststehenden Strafgrößen — Vergeltung. „So wie
in der moralischen Welt Verminderung der Glückseligkeit mit der
Immoralität nach der Idee von Glückswürdigkeit notwendig verbunden
ist, so ist es unter der Voraussetzung eines solchen drohenden Gesetzes
nach einer rechtlichen Ordnung notwendig, daß auf das Verbrechen
das Übel folge . . . Das Gesetz sagt kategorisch: Das Verbrechen
soll mit dem Übel verknüpft sein; es ist daher notwendig und nach
einer rechtlichen Ordnung an dasselbe geknüpft."^ Ferner: „Um zu
wissen, daß ein Mensch jenes Übel verdiene, brauche ich nur zu
wissen, daß er ein solches Gesetz übertreten hat, keineswegs aber,
ob und daß er noch künftig Rechte verletzen werde. "^ Indem so
Zweckerwägungen und Nützlichkeitsgedanken von jedem bestimmenden
Einfluß auf die Verhängung der Strafe ausgeschaltet werden, liegt in
dieser Lehre etwas von dem Rigorismus absoluter Strafrechtstheorien.
Die starke Gebundenheit dieses Strafrechts, das allein der an die
Gesamtheit gerichteten, abstrakt gefaßten gesetzlichen Drohung zu
dienen bestimmt ist, wurde von Feuerbach mit einer Unerbittlichkeit
verfochten, in der etwas von dem Pathos des kategorischen
Strafimperativs Kants wiederklingt. ^
Für Kant ist das Strafgesetz ein kategorischer Imperativ, d. h. es
muß allein um seiner selbst willen befolgt werden: „Richterliche Strafe. . .
kann niemals bloß als Mittel, ein anderes Gute zu befördern für den
Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß
jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen
hat."* Für das Ausmaß der Strafgröße, die solcherweise als unentrinn-
bare Folge an die Übertretung des Gesetzes geknüpft ist, gilt das Prinzip
der Gleichheit zwischen Schuld und Strafe „im Stande des Züngleins
' Revision I, S. 55.
^ Ebcndort.
^ Zu Kants Strafrechtstheorie: H. Seeger, Die Strafrechtsphilosophic
Kants und seiner Nachfolger im Verhältnis zu den allgemeinen Grundsätzen
der kritischen Philosophie. Ehrengabe für Berner, Tübingen 1892. — Döring,
Feuerbachs Straftheorien und ihr Verhältnis zur Kantischen Philosophie.
Kant-Studien, Erg.-Heft III. Berlin 1907. — M. Salomon, Kants Strafrecht
in Beziehung zu seinem Staatsrecht. Z. Str. W. 33, S. 1 H. — Vgl. auch
desselben Idee der Strafe. In: Philos. Äbhandl. für Herm. Cohen. Berlin
1912. S. 223 ff.
'' Metaphysik der Sitten. Äkademic-Äusgabe Bd. VI, S. 331, Cassirer
Bd. VII, S. 139.
92
an der Wage der Gerechtigkeit", ius talionis. Darum Todesstrafe für
den Mord! „Hat er aber gemordet, so muß er sterben. Es gibt kein
Surrogat zur Befriedigung der Gerechtigkeit. Es gibt keine Gleich-
artigkeit zwischen einem noch so kummervollen Leben und dem Tode,
also auch keine Gleichheit des Verbrechens und der Wiedervergeltung,
als durch den am Täter gerichtlich vollzogenen . . . Tod."^ In dem
unerhörten Rigorismus, in dem hier gestraft wird, bloß weil das Gesetz
der Gerechtigkeit es will, und somit jede Rücksicht auf Zweckgedanken,
auf die „Schlangenwindungen der Glückseligkeitslehre" aus dem Straf-
recht verbannt wird, sieht Kant die höchste Anerkennung der Würde
der menschlichen Persönlichkeit, die selbst den Verbrecher als Mittel
für die Zwecke irdischer Nützlichkeit zu gebrauchen verbietet.
Hiermit war freilich nur bewiesen, daß Strafe, wenn sie verhängt
wird, Vergeltung sein müsse. Warum der Staat berechtigt und ver-
pflichtet sei, überhaupt zu strafen, ist mit keinem Worte dargetan.
Eben diesen Nachweis vermißten die zeitgenössischen Kriminalisten
bei Kant, und schon Grolman meinte, als der erste Teil der Meta-
physik der Sitten 1797 unter dem Titel „Metaphysische Anfangsgründe
der Rechtslehre" erschien, Kant habe es offenbar vergessen, „sein Prinzip
der Wiedervergeltung zu deduzieren, sodaß also jeder, der nicht schon
vorher Kants Meinung war, keinen anderen Grund finden kann, seine
vorige Überzeugung aufzugeben, als Kants Autorität".' In dem
kriminalpolitischen Wert des Vergeltungsstrafrechts kann seine
Berechtigung im Sinne Kants nicht gefunden werden, weil ja
gerade nach ihm in der völligen Unberührtheit von menschlichen
Zweckmäßigkeitserwägungen der Rechtscharakter der Strafe sich
bewähren soll. Müßte doch bei einer Auflösung der bürgerlichen
' Ebendort. Äkademie-Äusgabe S. 333, Cassircr S. 140 ff.
^ Grolman, Kants metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre.
Bibl. f. d. peinl. Rechtswissenschaft I, 1, S. 123 ff., insbes. S. 130. — Als
charakteristisches Zeichen für die Ablehnung, welche Kants Straf-
rechtslehre bei zeitgenössischen Juristen fand, siehe die kritischen
Äußerungen in den Ergänzungsblättern zur AUg. Lit.-Ztg. I, 1, Nr. 33,
Jena u. Leipzig 1801, Spalte 255 und Neue Leipziger Literaturzeitung I, 1,
Leipzig 1805, Spalte 4. Der Verfasser dieser letzten Rezension bezeichnet
Spalte 6 Feuerbach als den Urheber der oben Grolman zugeschobenen
kritischen Anzeige in der Bibl. f. d. peinl. Rechtswissenschaft, wobei er
übersieht, daß sich deren Verf. ausdrücklich als Anhänger des Präventions-
rechts bekennt (S. 128 a. a. O.). — Im Gegensatz zu diesen zeitgenössischen
Meinungen über Kant steht die Beurteilung Bindings: „Gibt es doch kein
besseres Zeugnis für den erhabensten Apostel der Gerechtigkeit, für Kants
Charakter als seine großartige Straflheorie in ihrem eklatanten Widerspruch
zu seiner Lehre von der Entstehung des Rechts aus der Willkür." Strafr.
u. strafproz. Abhandlungen I. München und Leipzig 1915. S. 64.
93
Gesellschaft „der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hin-
gerichtet werden, damit ... die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte. "^
Wenn Kant gleichwohl in anderen Zusammenhängen von der Wirksam-
keit der Strafe spricht,^ so sah er doch Wesen und Aufgaben der
Rechtsstrafe, deren Rigorismus er mit unvergleichlichem Pathos zum
Ausdruck zu bringen wußte, keineswegs darin, daß sie etwa im Sinne
einer Generalprävention seelische Wirkungen auf die Allgemeinheit aus-
übt.^ Einer Ableitung der Kantischen Strafrechtstheorien aus seinem
Staatsrecht steht die Doppelzüngigkeit der Kantischen Staatsrechts-
philosophie hindernd im Wege. Der Staat als Idee, als regulatives
Prinzip, an dessen Maßstabe sich der Wert des rechten Staates
erweisen muß, ist nach Kant getreu dem Ideal der Aufklärung der
konstitutionelle Staat, der sich durch einen Vertrag freier Bürger
entstanden denken läßt und dessen Gesetzen jeder Bürger seine Zu-
stimmung hätte geben können.* Der Staat in der Erscheinung dagegen,
wie er als reales Gebilde seinen Untertanen gegenübertritt, ist bei
Kant mit der Autorität des absoluten Staates umkleidet, über dessen
unerf erschlichen Ursprung zu „vernünfteln" den Untertanen verboten
ist, denn — nicht im Sinne einer historischen Erklärung, sondern
eines Anspruchs auf Anerkennung ihrer absoluten Geltung, nicht als
„Geschichtsgrund der bürgerlichen Verfassung", sondern im Sinne
einer „Idee als praktischen Vernunftprinzips": „Alle Obrigkeit ist von
* Metaphysik der Sitten. Akademie-Ausgabe Bd. VI, S. 333, Cassirer
Bd. VII, S. 141.
'' Gelegentliche Verwertung des Abschreckungsgedankens bei
Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Akademie- Ausgabe Bd. V, S. 30,
Cassirer Bd. V, S. 34 und Metaphysik der Sitten, Akademie- Ausgabe
Bd. VI, S. 235 f., Cassirer Bd. VII, S. 37. An der ersten Stelle wird zur
Erläuterung der sittlichen Freiheit davon gesprochen, daß man sich durch
Androhung der Todesstrafe zwar gemeinhin von scheinbar unwiderstehlichen
Gelüsten abschrecken läßt, von einer sittlichen Tat aber trotz Androhung
der Todesstrafe nicht abhalten zu lassen braucht. Im zweiten Fall wird die
Straflosigkeit im Notstandsfall — Brett des Carneades — damit begründet,
daß gegenüber dem sichern Tod die ungewisse Androhung künftiger Strafe
wirkungslos sein müsse.
' Diese Anschauung vertritt R. Schmidt, Die Aufgaben der Straf-
rechtspfiege, Leipzig 1895, S. 25: „...wirklich schwebte Kant die Hervor-
rufung solcher wertvollen psychischen Eindrücke darum nicht weniger
lebhaft vor, weil er auf sie nicht ausdrücklich hinzuweisen für notwendig
fand." Gegen R. Schmidt auch Th. Sternberg, Das Verbrechen in Kultur
und Seelenleben der Menschheit (Koblers Recht Bd. IX). Berlin 1912.
S. 59, Anm. 42.
* Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Bd. VI, S. 315, Cassirer
Bd. VII, S. 122. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig
sein, taugt aber nicht für die Praxis. Cassirer Bd. VI, S. 380 f.
94
Gott."^ Einem solchen absoluten Staat, dessen Institutionen in ihrer
Geltung unabhängig sind von ihrem Wert und Nutzen für die einzelnen
Bürger, würde allerdings ein absolutes Strafrecht entsprechen, in dem
die Rechtsverletzung allein um deswillen bestraft wird, weil das staat-
liche Gebot übertreten ist.^ Aber damit ist keine methodische Ableitung
der Vergeltungslehre aus den Prinzipien der kritischen Philosophie,
sondern bestenfalls eine historische Erklärung für die Strafauffassung
Kants gewonnen. Kant selbst war offenbar des Glaubens, daß der
Vergeltungsgedanke in der Idee der Gerechtigkeit gegründet sei,
die in überirdischer Erhabenheit über menschliche Schicksale hinweg-
schreitet; „denn wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen
Zweck mehr, daß Menschen auf Erden leben". ^ Wenn Kant über
die entscheidende, ungelöste Frage, inwiefern denn der irdische Staat
zum Richter ewiger Gerechtigkeit berufen und die Übertretung positiver
Gesetze in jedem Fall der Verletzung wahren Rechts gleichzuachten
sei, ohne Bedenken hinwegglitt, so lag hierin offenbar eine ihm selbst
unbewußte Nachwirkung jener naturrechtlichen Tradition, für welche
die geltenden positiven Gesetze nur die unvollkommene Form des
ewig gültigen, in der Vernunft offenbarten Rechts waren.
Nur von der Erkenntnis dieser Bruchstelle der Kantischen Straf-
rechtsphilosophie aus vermag man der Bedeutung der Feuerbachschen
Strafrechtstheorie in ihrem Verhältnis zu Kants Vergeltungslehre
gerecht zu werden. Er gab jener rechtlichen Vergeltungstheorie, die
straft, nur weil das Gesetz übertreten ist, das, was ihr bei Kant
fehlte: die Rechtfertigung durch ihre Verbindung mit dem
Zweckgedanken. ^ Indem die Strafe nur verhängt wird, weil das
^ Metaphysik der Sitten. Äkademie-Äusgabe Bd. VI, S. 318 f., Cassirer
Bd. VII, S. 125.
' Über die innere Beziehung zwischen absoluter Strafrechtstheorie
und „ überindividualistischer ", „ transpersonaler " Staatsauffassung vgl. G,
Radbruch, Die politische Prognose der Strafrechtsreform. ÄschaHenburgs
Monatsschrift V, S. 1 ff. Derselbe, Einführung in die Rechtswissenschaft,
Leipzig 1910, S. 49, sowie Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig 1914,
S. 125. — Radbruch bezeichnet das Verhältnis der Vergeltungslehre Kants
zu seiner — in obiger Darstellung in normativem Sinne verstandenen —
individualistischen Staatslehre als „ungelöstes Problem". (Äschaffenburg V,
S. 3, Änm. 1.)
^ Metaphysik der Sitten. Äkademie-Äusgabe Bd. VI, S. 332, Cassirer
Bd. VII, S. 139.
* Weniger glücklich war Ed. Henkes Versuch einer „Versöhnung"
der Strafrechtstheorien, indem er die absolute Vergeltungsstrafe mit dem
Gedanken der Besserung des Verbrechers in Verbindung bringen wollte,
ohne damit irgendwelchen pädagogischen Erwägungen Einfluß auf die
95
Gesetz, das sie androht, verletzt ist, das Gesetz sie aber androht,
damit keine Rechtsverletzungen begangen werden, behält die Strafe
ihren absoluten, durch Nützlichkeitserwägungen nicht zu beeinflussenden
Vergeltungscharakter — und dient doch kriminalpolitischer Zweck-
mäßigkeit. Am stärksten hat Reinhold Köstlin dieses Verdienst der
Lehre Feuerbachs gerühmt, in dem er, „wenn er gleich oder vielmehr
gerade weil er die Feuerbachsche Lehre für eine in ihrer TotaHtät
schneidend einseitige und unwahre erkennt, gleichwohl den kühnen
und großartigen Begründer einer neuen Epoche für die Philosophie
des Strafrechts" grüßte. Feuerbach war es, der nach Köstlins Meinung
mit der Theorie vom psychologischen Zwang das punctum saliens in
der kriminalistischen Bedeutung der kritischen Philosophie traf und „die
wahre Konsequenz der Kantischen Gedanken energisch aussprach und
zum System ausführte".^ In der Tat wird der Rigorismus des Kanti-
schen Vergeltungsstrafrechts erst in der durch Feuerbach gewiesenen
irdischen Zweckbestimmung erträglich. Auf Erden eine staatliche Ord-
nung an überirdische Gesetze zu binden, übersteigt die menschlicher
Natur weise gesetzten Grenzen und führt, wie die blutige Geschichte
chiliastischer Träume bisher vergebens gelehrt hat, zu einem er-
schreckenden Höllensturz in nackte Gewalt. Glaubte Kant, die
unverlierbare Würde der menschlichen Persönlichkeit nimmermehr
irdischer Zweckbestimmung unterordnen zu dürfen, so führte gerade
ihn sein Dogma von der absoluten Strafgerechtigkeit, die souverän
über Leben und Schicksal des empirischen Trägers der menschlichen
Persönlichkeit hinwegschreitet, zu dem Pharisäerwort, mit dem seit je
das Recht des Gewissens dogmatischem Fanatismus und die Persön-
lichkeit des Einzelnen mißverstandener Staatsräson geopfert wurde:
„Es ist besser, daß ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk
Gestaltung der moralischen Vergeltungsstrafe zuzubilligen. Er scheut sich
nicht zu sagen, „so sehr die gegenwärtigen Stimmiührer in der Rechts-
wissenschaft auch hohnlächeln werden, daß die Trennung des Rechts von
der Moral, worauf man sich in unseren Tagen so viel zugute tut, eine
schmachvolle, bis in den Grund verderbliche sei, welche die Rechtswissen-
schaft zu ewigem Tode verdammt". Über den Streit der Strafrechtsschulen.
Regensburg 1811. S. 67 f.
' R. Köstlin, Neue Revision der Grundbegriffe des Kriminalrechts.
Tübingen 1845. S. 2 und 3. Vgl. auch S. 804—819. — Neuerdings wird
diese Bedeutung des Verhältnisses zwischen Kant und Feuerbach hervor-
gehoben bei: E. Baumgarten, Das Recht der Persönlichkeit und der
Zweckgedanke in Theorie und Praxis des deutschen Strafrechts . . . Tübinger
Diss. 1907. S. 95, 116 f. — Döring, Feuerbachs Straftheorie und ihr
Verhältnis zur Kantischen Philosophie. Kant- Studien, Erg.-Heft 3. Berlin
1907. S. 47. — Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft
3, IL Berlin und München 1910. Noten S. 62, Nr. 23.
96
verderbe!"^ Verbietet, wie uns Kant gelehrt hat, die Achtung vor
der Persönlichkeit im Verbrecher, jede irgendwie nützliche Maßregel
ihm gegenüber durch den bloßen Hinweis auf ihre Zweckmäßigkeit
zu rechtfertigen, so hat Kant selbst in grotesker Überspannung jener
Lehre verkannt, daß die Strafe, die irdische Richter über Menschen
verhängen, ihre Legitimation nur in ihrer sozialen Brauchbarkeit finden
kann.^ So heißt es schon bei Hugo Grotius: Sed haec in hominibus
punientibus vera sunt: nam homo ita homini alteri ipsa consanguinitate
alligatur, ut nocere ei non debeat nisi boni alicuius consequendi causa.
In deo alia res est . . .^
Erscheint so die Feuerbachsche Strafrechtstheorie für die fruchtbare
Ausgestaltung Kantischer Gedanken von entscheidender Bedeutung, so
verdankt sie selbst wiederum ihren engen Beziehungen zu Elementen
der kritischen Philosophie einen guten Teil ihres eigenen Ansehens
und Einflusses. Darüber hinaus hat diese Annäherung an Kant ganz
allgemein Feuerbachs kriminalistisches Denken beeinflußt und dazu
beigetragen, daß die mit so unvergleichlichem jugendlichem Feuer
vorgetragenen fortschrittlichen Ideen alsbald zu einer neuen Stärkung
der Autorität des absoluten Staates und zu einer Erstarrung in
dogmatischer Enge führten. Die rücksichtslose Härte des von ihm
befürworteten Strafensystems, in dem in steigendem Maße infamierend
wirkende Freiheitsstrafen und als Krönung die Todesstrafe eine uner-
bittliche Stufenleiter scharf differenzierter Strafgrößen bildeten, erscheint
wie eine Konkretisierung des Kantischen Vergeltungsgedankens. Wenn
er hier gerade diejenigen enttäuschte, in deren Reihen er selbst einst
in starker Begeisterung für die Gedanken der Aufklärung erglühte,
wenn er sich selbst später dem Eindruck der Aussichtslosigkeit und
Härte des neu geschaffenen Strafensystems nicht entziehen konnte,
so mag er sich im Sinne Kants mit dem Hinweis abgefunden haben,
daß der Wert der Strafe unabhängig von ihrem Nutzen für den
Bestraften sei.
Einer wirksamen Fortbildung des Gedankens, das Vergeltungs-
strafrecht Kants der Doktrin von der gesetzlichen Zwangstheorie dienst-
bar zu machen, stand Feuerbachs Dogma von der radikalen Trennung
rechtlicher und moralischer Beurteilung entgegen. Schon früh hat sich
^ Metaphysik der Sitten. Äkademie-Äusgabe Bd. VI, S. 331 f., Cassirer
Bd. VII, S. 139.
^ Liepmann, Einleitung in das Strafrecht S. 199.
' De iure belli ac pacis libri tres. Lib. II, cap. XX, § IV, 2. — Vgl.
als Gegenstück zu der Überspannung des individualistischen Prinzips bei
Kant: Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht
und Strafe 2. ÄuH. Berlin 1908. S. 105 ff.
97
die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß Feuerbachs Strafrecht dadurch,
daß es in der Zurechnung zum Verbrechen ausschließlich krimina-
listischen Gesichtspunkten folgte und allgemeingültige ethische
Werturteile zugunsten des Maßstabes der kriminellen Gefährlichkeit
unberücksichtigt ließ, sich des besten Teils seiner Wirkungskraft
beraubte. Thibaut, der Zivilrechtler, gleich Feuerbach von der Über-
zeugung durchdrungen, „daß ein vernünftiges Kriminalrecht nur allein
von dem Hauptgrundsatz der Nötigung durch psychologischen Zwang
ausgehen kann", tadelte sein System, weil es nicht „der gemeinen
Meinung etwas nachgibt" und, indem es herrschenden Werturteilen
entgegengesetzt ist, den Delinquenten, den es bestraft, als Märtyrer
erscheinen läßt. Denn „gegen die herrschende Meinung strafen,
ist keine Wohltat, sondern vielmehr eine der Nation selbst zugefügte
Strafe, ein aufgedrungenes verhaßtes Glück und insofern ein Gegen-
stand, worauf die Rechte und Verbindlichkeiten des Regenten nur in
sehr wenig Fällen gerichtet sein können".^ So hat der bedeutendste
Versuch, Feuerbachs Lehre von der psychologischen Wirkung der
gesetzlichen Strafdrohung fortzuentwickeln, zu einer Umbildung gerade
dieser Seite seiner Theorie geführt, indem man das Hauptgewicht
weniger auf die Abschreckung der sinnlichen Triebfeder, als auf den
Appell an das moralische Gewissen legte: Bauers Warnungstheorie.
Bauer, der freilich keineswegs „dem unverwelklichen Lorbeerkranze
Feuerbachs, welchem auch ich so sehr viel schuldig bin, undankbarer-
weise auch nur das kleinste Blättchen entreißen wollte",^ sah in der
gesetzlichen Strafdrohung nicht nur eine Abschreckung mit sinnlichen
Übeln, sondern eine ernste Mahnung, die sich an Pflichtgefühl und
Besonnenheit richtet und darum ihre beste Kraft aus der Überein-
stimmung mit den Normen des sittlichen Verhaltens schöpfen muß.
„Die warnende Stimme des Gesetzgebers will durch die Vorstellung
des mit der Handlung verknüpften Strafübels dem Menschen außer
den Beweggründen der Sittlichkeit, des Rechts, der Religion und der
Ehre noch einen wichtigen Abratungsgrund mehr geben und ihm
dadurch die pflichtmäßige Beherrschung seiner sinnlichen Antriebe
erleichtern."'^
Sieht man von der speziellen Prägung des Feuerbachschen
Gedankens ab, nach dem die Wirkung der Sb-afe sich in der
^ Änton E. J. Thibaut, Beiträge zur Kritik der Feuerbachschen Theorie
über die GrundbegriHc des peinlichen Rechts. Hamburg 1802. S. 24 u. 100 f.
^ Ä. Bauer, Noch ein Wort über die Straftheorien, Äbhandl. aus dem
Strafrecht u. Strafprozeß Bd. I. Göttingen 1840. S. 1 ff., S. 118.
' R. Bauer, Die Warnungstheorie nebst einer Darstellung und Beur-
teilung aller Straf rcchtstheorien. Göttingen 1830. S. 38.
98
Abschreckung durch die gesetzliche Strafdrohung erschöpfen soll,
so bleibt aus der Verbindung Feuerbachscher Ideen mit der Ver-
geltungslehre Kants der Kern, daß die Vergeltungsstrafe ihre
Rechtfertigung in ihrer Bedeutung für die Generalprävention
findet. Der Vergeltungsidee, so wie sie sich bei Feuerbach findet,
als reiner Rechtsvergeltung, für die das Recht sich allein seinen
eigenen Maßstab schafft, wird diese Bedeutung nur derjenige zusprechen,
der in der Tendenz des Rechts, sich in seiner Geltung mehr und mehr
von anderen Werten zu isolieren, den Grundwert des Rechts sieht
und der These huldigt, die Rechtswidrigkeit einer Handlung gründe
sich unabhängig von ihrem inneren sozialen und kulturellen Unwert
allein darauf, daß sie vom Staat verboten sei/ Aus dieser formalen
Rechtsidee heraus, die zu einer einseitigen Überspannung des Rechts-
positivismus führen müßte, hat Richard Schmidt aufs neue auf die
Bedeutung Feuerbachs verwiesen, der „die einzelne Bestrafung zur
Einzelanwendung eines die Autorität der Rechtsordnung sichernden
Vergeltungsprinzips erhob, das sich die Rechtsordnung zu
ihrer eigenen Sicherung selbst geschaffen hatte"."
Was aber schon Thibaut und Bauer der psychologischen Zwangs-
theorie im speziellen entgegengehalten hatten, gilt auch in dem all-
gemeineren Zusammenhang: einer wirkungsvollen Generalprävention
vermag ein Vergeltungsstrafrecht nur dann zu dienen, wenn es den
Feuerbachschen Gedanken strengster Isolierung rechtlicher und ethischer
Werturteile aufgibt. Rdolf Merkels Untersuchungen haben die Be-
ziehungen zwischen Zweckgedanken, rechtlicher Vergeltung
und ethischen Werturteilen deutlich herausgestellt. „Vergeltungs-
strafe ist Zweck strafe und mißt sich an den Bedingungen ihres
Zweckes."^ „Überall ist es aber für die Erreichung der staatlichen
Zwecke wichtig, daß die Art ihrer Verfolgung nicht dem Gerechtig-
keitssinne des Volkes widerstreite." Gerechtigkeit bedeutet „die
Wahrheil der in unseren Handlungen zu praktischem Ausdruck
gelangenden Urteile". Bei der Rechtsstrafe kommt es dabei auf eine
dreifache Wahrheit an: auf die richtige Entscheidung der quaestio
'■ Vgl. K. Bin ding, Grundriß des gemeinen deutschen Strafrechts I,
Einl. und allgem. Teil. 5. Aufl. Leipzig 1897. S. 58 f. — E. Bcling, Lehre
vom Verbrechen. Tübingen 1906. S. 145 ff.
- Richard Schmidt, Die Aufgaben der Straf rechtspflege. Änselm
Feuerbach zum Gedächtnis. Leipzig 1895. S. 65. (Im Original gesperrt!) —
Als weitere moderne Apologie Feuerbachscher Lehren, hier mit stärkerer
Betonung des psychischen Zwanges im Gegensatz zu eigentlichen Vergeltungs-
theoricn, sei erwähnt: A. Coendcrs, Richtlinien aus den Lehren Feuerbachs
für die moderne Strafrechtsform. Tübingen 1914.
' Merkel-Liepmann, Lehre von Verbrechen und Strafe S. 212.
99
facti, auf die richtige Subsumtion der Tat unter das Gesetz und neben
solcher faktischen und juristischen Wahrheit des Urteils auf die
„ethische Wahrheit des Gesetzes, das die Strafe androht, das ist:
auf die Übereinstimmung desselben mit den herrschenden
ethischen Anschauungen und Werturteilen".^ Finden doch,
wie Merkel in anderem Zusammenhang ausführte, die Rechtsnormen
für ihre verpflichtende Kraft ihre stärkste Stütze in dem „Bündnis
mit den im Volke lebenden moralischen Kräften", während es um-
gekehrt „kein moralisches Ansehen für das Recht und demgemäß
keine verpflichtende Kraft seiner Vorschriften gibt, welche von seinem
Einklang mit den im Volke sich geltend machenden moralischen
Kräften unabhängig wäre"."
Hat somit das Streben Feuerbachs nach einer ethisch indifferenten,
rein kriminalistischen Zurechnungslehre ihm den Blick für den tieferen
Sinn der kriminalpolitischen Bedeutung der Vergeltungsidee getrübt, so
hat er den Wert eines solchen Strafrechts als Garantie des Rechts-
staatsprinzips um so klarer erkannt. Lag doch seinem Kampf gegen
Grolmans Präventionsrecht die Einsicht zugrunde, daß das Vergeltungs-
recht, in dem nach fester Regel einem Kanon bestimmter Tatbestände
ein System gesetzlich normierter Strafgrößen entspricht, ein Damm
gegen willkürliche Ausdehnung staatlicher Strafgewalt sein und damit
zum Eckstein bürgerlicher Freiheit werden kann.''
Aus dem Begriff der Strafe als eines allgemein angedrohten
Übels, mit dem Feuerbach zugleich dem Vergeltungsgedanken wie den
Forderungen kriminalpolitischer Zweckmäßigkeit zu entsprechen glaubte,
suchte er das Wesen der Zurechnungsfähigkeit zu bestimmen. In
jedem Strafgesetz kommt nach Feuerbachs Theorie der Wille des Gesetz-
gebers zum Ausdruck, daß durch die Vorstellung eines bestimmten
Übels jeder, der eine Neigung zu einer Rechtsverletzung hat, von der
Verwirklichung seiner verbrecherischen Absichten abgeschreckt wird.
Soll der Richter nach dem Willen des Gesetzgebers die Strafbarkeit
' Ebendort S. 228.
- R. Merkel, Elemente der allgem, Rechtslehre. In: Holtzendorffs
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft 5. Äull. Leipzig 1890. Bd. I, S. 12 f.
Vgl. auch desselben Juristische Enzyklopädie. Berlin-Leipzig 1885. S. 13.
" Siehe oben Kap. II, S. 50 f. — Vgl. die Polemik Merkels gegen die
Gefahren des symptomatischen Verbrechensbegriffs. Merkel-Liepmann, a. a. O,
S.321, und ähnlich Richard Schmidt, a.a.O. S. 134 ff. Als Beispiel dafür,
daß auch vom Boden des modernen Sicherungsrechts aus an eine einseitige
Überspannung des Präventionsgedankens nicht gedacht werden darf, vgl.
v. Liszt, der an der „Überlieferung des Zeitalters der Aufklärung",
der rechtlichen Begrenzung der staatlichen Strafgewalt allzeit festhielt. StGB.
„Magna Charta des Verbrechers"! Aufsätze u. Vorträge II, S.60u. 80.
7*
100
einer Handlung beurteilen, so muß er in gleicher Weise wie der Gesetz-
geber vorgehen: er muß diejenige Strafe verhängen, durch deren
Androhung allgemein ein dem speziellen Verbrecher entsprechender
Täter von der gleichen Handlung abgeschreckt werden kann, denn
allein dies ist die Strafe, die das Gesetz gemeint hat. „Die Gründe
der Strafbarkeit in abstracto sind zugleich die Gründe der Strafbarkeit
in concreto, oder aus denselben Gründen, nach welchen der Gesetz-
geber die Strafbarkeit beurteilt, nach denselben Gründen muß sie
auch der Richter beurteilen."^
Jeder strafrechtlichen Beurteilung geht die Prüfung der Frage
voraus, ob der Täter überhaupt für sein Tun strafrechtlich verantwort-
lich zu machen ist, eine Untersuchung der „absoluten Gründe
der Strafbarkeit", der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit. Diese
Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit ermittelt Feuerbach,
indem er die Natur des Strafgesetzes analysiert. Es können für ihn
nur solche Bedingungen sein, die durch die Natur des Strafgesetzes
notwendig bestimmt sind, welche das Strafgesetz seinem Wesen nach „in
der Person, welche es mit der Strafe bedroht, notwendig voraussetzt".^
Nach seiner Theorie ist „absolut notwendiger Zweck" eines jeden Straf-
gesetzes, Verbrechen durch Gegenwirkung gegen die rechtswidrigen
Triebfedern zu verhindern, indem für den Fall der Ausführung des
Verbrechens ein Übel angedroht wird. Wesentlicher Zweck des Straf-
gesetzes ist Abschreckung. Es ist nur für den Fall gegeben, wo
es diesen Zweck erreichen, wo es abschrecken kann, wo also „die
psychische Möglichkeit seiner Wirksamkeit zur Verhinderung der Tat
begründet ist"."^ Da die Strafe nur in dem Fall verhängt werden
darf, für den sie angedroht ist, so folgt, daß die Voraussetzungen
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit „diejenigen Eigenschaften der
Person als Ursache der strafbaren Handlung sind, durch welche die
psychische Wirksamkeit des Strafgesetzes begründet ist".^ Damit
identifiziert Feuerbach die Zurechnungsfähigkeit mit Äbschreck-
barkeit,^ — nicht um durch die Bestrafung den Bestraften oder
vermutliche künftige Verbrecher abzuschrecken, sondern um dem
Gesetz zu entsprechen, das nur diejenigen mit Strafe bedroht, die
es abschrecken kann. Um die einzelnen Momente, welche die
' Revision I, S. 196.
* Revision II, S. 37.
^ Revision II, S. 40.
* Revision II, S. 41.
^ Diese Formulierung stammt von Finger, Lehrbuch des deutschen
Strafrechts Bd. I, 1904, S. 14. Von ihm hat sie G. Erich in Äschaffenburgs
Monatsschrift Bd. X, S. 385 ff., übernommen.
101
Rbschreckbarkeit begründen, zu ermitteln, bedarf es einer Unter-
suchung über die Wirksamkeit der gesetzlichen Strafe. Das Straf-
gesetz will nach Feuerbach durch die Erzeugung von bestimmten
Vorstellungen das Begehrungsvermögen beeinflussen. Soll die Vor-
stellung des drohenden Strafübels mich von einer Handlung abhalten,
so muß ich das Strafgesetz kennen, muß wissen, daß die Handlung
unter dies Strafgesetz fällt, und es muß eine Handlung sein, die aus
meinem Begehrungsvermögen entspringt. Drei Momente sind es hier-
nach, welche die Wirkung des Strafgesetzes bedingen und infolge-
dessen Voraussetzungen der Verhängung der Strafe sind: erstens
Kenntnis des Strafgesetzes; zweitens Subsumtion der Tat unter das
Strafgesetz; drittens willentliche Begehung der Tat. Alle Menschen,
bei denen diese Momente vorausgesetzt werden können, sind zu-
rechnungsfähig. Wer eine Tat begangen hat, während diese Umstände
bei ihm vorliegen, ist für sein Verhalten verantwortlich im Sinne
des Strafrechts. „Die Bestimmung des Begehrens zur Übertretung
eines Strafgesetzes mit dem Bewußtsein der Übertretung ist der
höchste und letzte Grund aller äußeren Strafbarkeit. " ^
Will man in dieser Formulierung die Bildung eines Schuldbegriffs
erblicken, so wäre eine Handlung verschuldet, wenn der Täter durch
die Drohung des Strafgesetzes nicht gehindert wurde, seine Tat aus-
zuführen, obwohl er sich hätte abschrecken lassen können.
Dieses Verfahren, das Zurechnungsfähigkeit auf Hbschreck-
barkeit und Verschulden auf Sichnichtabschreckenlassen
zurückführt, hat bereits bei Feuerbach selbst zu einer Reihe von
Schwierigkeiten geführt, die ihn zu neuen Konstruktionen nötigten.
So ist ihm das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit auch bei solchen
Handlungen vorhanden, die ohne Überlegung einem Affekt, einer
momentan besonders starken Regung entspringen. „Daß aber die
Bedingung zur Strafbarkeit der Handlungen aus dem tierischen
Begehren (wir wollen sie, um kurz zu sein, künftig nicht -willkürliche
Handlungen nennen) in der Tat eintreten können, daß auch bei einer
solchen Willensbestimmung das Bewußtsein der Handlung als enthalten
unter einer Strafdrohung möglich sei, wird kein aufmerksamer Beob-
achter, am wenigsten der Psychologe leugnen können."' In einer
beispiellosen Überschätzung der psychologischen Wirkung des straf-
gesetzlichen Verbots meinte er, die Furcht vor der angedrohten Strafe
sei so stark, daß, wenn sich das Begehren auf ein verbotenes Tun
richtet, die Phantasie unmittelbar die Vorstellung des Verbotes in dem
' Revision II, S. 66.
" Revision II, S. 161.
102
Täter auf dem Wege der Ideenassoziation hervorruft und damit „die
Vorstellung der Strafe an die Vorstellung der Tat knüpft und den
Lockungen des Verbrechens, dem Stachel des gegenwärtigen Bedürf-
nisses, welcher zur Übertretung fortreißt, ihre künftigen Drohungen
gegenüberstellt"/
Willentliches Handeln umfaßt nach Feuerbach nicht nur willkür-
liches, überlegtes Tun, sondern alles Handeln, das sich auf das
Begehrungsvermögen zurückführen läßt, also auch ein unwillkürliches
Handeln, eine Tat aus Leidenschaft oder in Trunkenheit. Ähnlich wie
Stübel stellt sich hier Feuerbach die Schwierigkeit entgegen, vom Stand-
punkt reiner Willensschuld der Fahrlässigkeit gerecht zu werden.
Während beim vorsätzlichen Handeln die Rechtsverletzung bewußt
vom Täter bezweckt ist, führt das fahrlässige Handeln, ohne daß der
Täter das will, zu einem rechtswidrigen Erfolge. Gleichwohl versucht
Feuerbach auch die Fahrlässigkeit als Willensschuld zu konstruieren.
Bei einem fahrlässigen Verhalten hat sich der Täter bereits vor der
Begehung seiner eigentlichen Tat über eine Verbindlichkeit hinweg-
gesetzt, eine obligatio ad diligentiam, welche ihm auferlegt, bei seiner
Handlungsweise vorsichtig zu sein, damit sie keine Rechtsverletzung
zur Folge hat, und alle Handlungen zu unterlassen, „aus welchen
ein gesetzwidriger Erfolg nach Naturursachen entspringen kann"."
In diesem Vorstadium hat der fahrlässig Handelnde willentlich und
vorsätzlich eine Verbindlichkeit übertreten. Die Fahrlässigkeit wird
damit erklärt aus einem actus voluntatis remotus.'^ Voraussetzung
ist, daß es dem Täter bei Anwendung des schuldigen Fleißes möglich
war, den rechtswidrigen Erfolg zu vermeiden. Ob das Maß des
schuldigen Fleißes ein objektives oder subjektives sein soll, dieses
Problem hat Feuerbach nicht berührt. In der objektiven Ausdehnung
des Gebietes fahrlässigen Tuns geht er ziemlich weit. Sein Culpa-
Begriff umfaßt einmal die Fälle des alten dolus indirectus, in denen
das ältere gemeine Recht unbeabsichtigte Folgen vorsätzlichen
Handelns als dolose Rechtsverletzungen bestrafte.^ Feuerbach zeigte,
daß hier der rechtswidrige Erfolg nur fahrlässig und allein die
gefährdende Handlung vorsätzlich herbeigeführt sei und setzte darum
* Revision II, S. 163. Zu der Frage, wieweit Feuerbach selbst die
Konsequenzen aus dieser Theorie zog, nach der Bewußtsein der Straf-
gesetzwidrigkeit zur Strafbarkeit gefordert werden müßte, siehe die
Ausführungen unten Kap. V.
^ Revision II, S. 64.
^ Ebendort II, S. 53.
^ Über die Entwicklung dieser Lehre siehe die Darstellung unten
Kap. IV, S. 132 ff. und 155.
103
der alten Bezeichnung dolus indirectus den Terminus culpa dolo
determinata entgegen.^ Gemeint ist damit eine Idealkonkurrenz
zwischen einer vorsätzlichen Handlung und dem durch diese Handlung
fahrlässig herbeigeführten Erfolg. Nach der anderen Richtung hin
glaubte er auch die Fälle unbewußter Fahrlässigkeit als vorsätzliche
Übertretung der allgemeinen Diligenzpflicht konstruieren zu können.
Denn jene „Verbindlichkeit zum gehörigen Fleiß" erstreckt sich auch
auf „innere Handlungen" und verpflichtet dazu, das „Erkenntnis-
vermögen" anzustrengen, damit der Täter nicht aus mangelndem
Verständnis für die Tragweite seiner Handlungen Rechtsverletzungen
begeht! So straft Feuerbach in all den Fällen wegen fahrlässiger
Begehung eines Delikts, in denen die Rechtsverletzung eine Folge
der Handlungsweise des Täters ist, ohne daß er sich dieser Möglich-
keit bewußt war, weil er sich keine genügende Kenntnis vom Gesetz
verschafft, weil er sich das Wesen der Handlung und ihre Subsumtion
unter das Gesetz nicht genügend klargemacht oder weil er etwaige
Folgen seiner Tat nicht entsprechend in Rechnung gesetzt hatte."
Eine solche Konstruktion der unbewußten Fahrlässigkeit als willent-
liche Übertretung der allgemeinen Diligenzpflicht ist, wie Kohlrausch
gezeigt hat, eine Abkehr von dem Prinzip der individuellen Ver-
schuldung zugunsten der Erfolgshaftung. Denn während hier die
Schuld darin besteht, daß der Täter es unterläßt, sich die zur
Einhaltung der Rechtsordnung allgemein erforderlichen Kenntnisse
anzueignen und sich somit auf die generelle Gefährdung erstreckt,
ist die Strafe je nach dem speziellen rechtswidrigen Erfolg — Tod,
Körperverletzung, Brandstiftung usw. — verschieden.^
* Gleichwohl nahm Feuerbach genau wie die alte Doktrin vom dolus
indirectus an, wenn der Urheber einer an sich verbrecherischen
Handlung sich der Folgen seines Tuns bewußt ist, seien ihm diese Folgen
zum Vorsatz zuzurechnen. Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs 1804,
Teil II, S. 42 f.
'^ Betrachtungen über dolus und culpa überhaupt und den dolus indirectus
insbesondere, von D. Feuerbach, Bibliothek f. d. peinl. Rechtswissenschaft
u. Gesetzeskunde Bd. II, Göttingen 1800. S. 193 ff., insbesondere S. 216 ff.
und in bezug auf dolus indirectus S. 241 ff. Ausführliche Darstellung und
Würdigung der Fahrlässigkeitslehre Feuerbachs bei Fr. Exner, Das Wesen
der Fahrlässigkeit. Wien 1910. S. 15 f.
^ E. Kohlrausch, Die Schuld. In: Die Reform des Reichsstrafgesetz-
buchs. Hcrausg. von Aschrott und v. Liszt. Bd. I, S. 180 ff., vgl. S. 208 f.
Binding nennt Feuerbachs Culpa-Begriff „eine der interessantesten
Verwirrungen des auch in seinen Irrtümern der großen Ein-
wirkungen auf die Geister sicheren Genies". Normen IV, 1.
Leipzig 1919. S. 217.
104
Sind jene drei Momente, Kenntnis des Gesetzes, Subsumtion
und willentliche Begehung der Tat gegeben, so hat der Richter die
Handlung dem Täter zum Verbrechen zuzurechnen. Verstößt der
Täter gegen ein Gesetz mit absolut bestimmter Strafdrohung, so hat
der Richter diese Strafe zu verhängen, ist ihm ganz oder innerhalb
eines Strafrahmens freie Hand im Ausmaß gelassen, so bedarf er
eines Prinzips für die Bemessung der Strafbarkeit, für die relativen
Strafbarkeitsgründe. Aber auch in diesen Fällen ist der Richter
an das Gesetz gebunden. Er darf nur das aussprechen, was im
Willen des Gesetzgebers liegt; das Prinzip, nach dem das Maß der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Einzelnen zu beurteilen ist,
muß nach Feuerbach aus der generellen gesetzlichen Strafdrohung
abgeleitet werden. Das Strafgesetz soll durch die Androhung eines
Übels die Bürger von möglichen Rechtsverletzungen abhalten, die in
dieser Möglichkeit liegende Gefahr abwenden. Läßt der Gesetz-
geber den Strafrahmen offen, so will er gleichwohl für den Einzelfall
nicht mehr und nicht weniger an Übeln in Aussicht stellen, als zur
Abwendung der durch eine solche Tat begründeten Gefahr erforderlich
ist. Will der Richter also die Höhe der Strafe im Sinne des Gesetz-
gebers bestimmen, so muß sein Maßstab für die Festsetzung der Strafe
die Gefährlichkeit der Handlung sein. Nicht, um dadurch auf den
Täter in besonderer Weise einzuwirken, sondern wiederum nur, um
auf diese Weise diejenige Strafgröße zu ermitteln, welche der Gesetz-
geber für die der konkreten Tat entsprechenden Fälle angedroht hat.
Die Strafbarkeit einer Handlung ist daher um so größer, je größer die
durch sie für den rechtlichen Zustand begründete Gefahr ist. Eine Strafe
ist rechtmäßig, „wenn ohne ihre Androhung jene Gefahr nicht abgewendet
werden kann, wenn sie also mit der Größe der Gefahr in einem
richtigen Verhältnis steht". ^
Indem Feuerbach die Gefährlichkeit des verbrecherischen
Verhaltens zur Grundlage der strafrechtlichen Beurteilung machte,
stimmte er, was er selbst nicht leugnen konnte, im Grunde doch
wieder mit Grolmans Präventionstheorie überein. ^ Das zeigt sich am
stärksten bei der Behandlung der subjektiven Momente, aus denen
die kriminelle Gefährlichkeit geschlossen werden soll. Nicht anders
wie für Grolman handelt es sich hier um die Frage nach der Gefahr
künftiger Rechtsverletzungen. Da es für Feuerbach darauf ankam,
ein Strafübel zu bestimmen, durch dessen Androhung determinierend
auf den Täter eingewirkt werden sollte, so hätte er konsequenterweise
' Revision II, S. 204.
- Revision II, S. 208 und 440.
105
die Gefährlichkeit ausschließlich nach der Persönlichkeit des Täters
bestimmen müssen, der abgeschreckt werden soll. Indessen wird man
diese Folgerung bei Feuerbach vergeblich suchen. Vielmehr berück-
sichtigt er neben der Gefährlichkeit des Täters die Schwere
der Tat und ihre gefährlichen Folgen für die Rechtsordnung. Hierin
kommt wiederum die enge Beziehung seiner Straftheorie zum Vergel-
tungsgedanken und sein tiefes Mißtrauen gegen ein reines Sicherungs-
strafrecht zum Ausdruck, das die strafrechtliche Ahndung allein nach
der Prognose für die künftige Haltung des Täters bemißt, zum Ausdruck.
Die symptomatische Verbrechensauffassung Grolmans, der auch
die objektive Erscheinung des Verbrechens lediglich ein Indiz für die
Wahrscheinlichkeit künftiger Rechtsverletzungen des Täters ist, verwirft
er darum auch an dieser Stelle. „Die Wahrscheinlichkeit kann bei
Hochverrat und dem Falsum gleich groß sein. Sind darum Hochverrat
und Falsum gleich strafbar?"^
Nach Feuerbach bemißt sich die objektive Beurteilung der
Gefährlichkeit des verbrecherischen Verhaltens nach der Bedeutung
des verletzten Rechts für das Staatsganze. Das setzt eine
Klassifikation der Rechte nach ihrem sozialen Wert voraus. Hier
folgte Feuerbach naturrechtlicher Denkweise, indem er versuchte, die
einzelnen abstrakten Verbrechensbegriffe nach a priori -Gesichtspunkten
zueinander in ein bestimmtes Wertverhältnis zu bringen." An die
Spitze stellte er diejenigen Rechte, welche für die Existenz des Staates
unumgänglich notwendig sind. In dieser Beziehung sind die schwersten
Delikte ein unmittelbarer Angriff auf die Existenz des Staates selbst:
Hochverrat, eine Tat gegen die Ausübung des staatlichen Herrschafts-
rechtes : Rebellion, und eine Verletzung des Anspruchs auf Anerkennung
der Würde des Staates: Crimen laesae majestatis. An zweiter Stelle
stehen Privatrechte, wobei Privatrechte des Fiskus und der Krone
denen anderer Personen im Werte voranstehen. Unter den Privat-
rechten stehen am höchsten die ursprünglichen Rechte auf Leben, auf
Gesundheit und freien Gebrauch des Körpers und der geistigen Kräfte.
Dann kommen die erworbenen Rechte: Eigentum und vertraglich
begründete Ansprüche auf Leistungen, und an letzter Stelle steht
wiederum ein ursprüngliches Recht: der Anspruch auf äußere Ehre.
' Revision II, S. 208 f. — Über diese Inkonsequenz bei Feuerbach siehe
O. Tesar, Die symptomatische Bedeutung des verbrecherischen Verhaltens.
V. Liszts Seminarabhandlungen Neue Folge V, 3, S. 237. — Bemerkens-
wert ist, daß A. Bauer Feuerbach vorwarf, er beurteile das verbrecherische
Verhalten allzu streng nach der Stärke der sinnlichen Triebfeder und berück-
sichtige dabei zuwenig die objektive Bedeutung der Tat. Die Warnungs-
theorie. Göttingen 1830. S. 125.
- Locning, Z. Str. W. Bd. 3, S. 304.
106
Geringer als eine Verletzung dieser Rechte ist ein Polizeivergehen zu
bewerten. Dieses ist eine Handlung, deren Unterlassung die Zwecke
des Staates nicht bedingt, sondern lediglich erleichtert, und die nur
durch das staatliche Verbot von einer indifferenten Handlung zur
Rechtsverletzung wird. Bei der Beurteilung der Gefährlichkeit der
Rechtsverletzung und ihrer Strafbarkeit kommt es ferner auf die Art
und Weise an, wie die Tat bewirkt ist. Bei derselben Tat ist der
Anstifter strafbarer als der Täter, weil er der gefährlichere ist. Denn
der Täter hätte nicht ohne Einfluß des Anstifters gehandelt, der
Anstifter aber hätte, wenn dieser Täter nicht zur Ausführung
geschritten wäre, andere Mittel gefunden, um den Erfolg herbei-
zuführen. Als Mittel zur Anstiftung ist am gefährlichsten und daher
am meisten strafbar: Drohung und Zwang, danach Befehl, dann Rat,
in dem auch eine Art Zwang liegen kann und am wenigsten Auftrag.
Der Gehilfe ist weniger strafbar als der Urheber. Die Abgrenzung
von Mittäterschaft und Beihilfe geschieht sowohl nach subjektiven
als nach objektiven Gesichtspunkten. Der Mittäter hat den Willen,
unmittelbar das Gesetz zu übertreten, während der Wille des Gehilfen
auf Unterstützung des Urhebers, also nur auf eine mittelbare Rechts-
verletzung gerichtet ist. Jener setzt eine „positiv wirkende Ursache",
dieser eine bloße „conditio sine qua non".^ Unter mehreren Gehilfen
ist der socius principalis, ohne den die Tat nicht geschehen konnte,
gefährlicher als der den Erfolg lediglich befördernde socius minus
principalis. Schließlich ist der Versuch als eine Handlung, welche
unmittelbar auf Hervorbringung eines rechtswidrigen Erfolges gerichtet
ist, ohne daß dieser Erfolg erzielt wurde, weniger gefährlicher als das
vollendete Delikt. Innerhalb des Versuches werden verschiedene
Grade der Strafbarkeit nach der Gefährlichkeit abgestuft, d. h. nach
der Wahrscheinlichkeit der Vollendung des Verbrechens, auf das der
Verbrecher bei der Versuchshandlung hinzielt.
Ungleich wichtiger sind die Momente, welche in der Persönlichkeit
des Täters liegen, die subjektiven Gründe der relativen Strafbarkeit.
Gerade hier zeigt die kriminalistische Zurechnungslehre Feuerbachs
ihren Gegensatz zu einer Beurteilung der Schuld des Täters. Auch
hier handelt es sich ihm darum, diejenige Strafgröße zu ermitteln,
die zwar nicht ausdrücklich vom Gesetzgeber angegeben ist, die sich
aber gleichwohl aus der gesetzlichen Strafdrohung notwendig ergibt.
Die gesetzliche Strafdrohung will determinierend auf die sinnliche
Triebfeder wirken, indem sie dem verbrecherischen Motiv die Vor-
stellung eines Übels assoziiert. Soll diese entscheidenden Einfluß
ausüben können, so muß sie sich der Stärke des Verbrechensmotivs,
' Revision II, S. 263.
107
der Größe der durch dieses begründeten Gefahr anpassen. Maßgebend
für den Umfang strafrechtlicher Verantwortlichkeit ist daher die Stärke
der zum Verbrechen drängenden sinnlichen Triebfeder. „Die
Gefahr künftiger Rechtsverletzungen ist um so größer, je
stärker, herrschender und fester die sinnlichen, zum Ver-
brechen hindrängenden Triebfedern sind, desto größer also
die Strafbarkeit. "^
So gründet Feuerbach seine strafrechtliche Zurechnungslehre nicht
auf die Annahme der Willensfreiheit, sondern umgekehrt auf die
Sinnlichkeit, d. h. auf die Triebe und Motive des Menschen, auf die mit
den Mitteln der Strafjustiz erfolgreich eingewirkt werden kann.^ i\uch
auf willkürliche und klare Überlegung kommt es nicht an, denn der
wirklich Kriminelle überlegt sich weniger das Ziel als die Mittel seiner
Handlung. Je stärker und unwiderstehlicher es ihn zur Tat drängt,
um so weniger wird er sich seinen Schritt überlegen, — aber um so
gefährlicher ist er. Gerade da, wo die sittliche Schuld gering ist, wo
äußere Umstände und innere Veranlagung den Täter hemmungslos auf
die Bahn des Verbrechens treiben, wo der Mensch zum Kriminellen
determiniert scheint, ist er besonders gefährlich und darum nach
Feuerbach in stärkerem Maße strafwürdig. Denn nicht die Schuld,
sondern ob die Strafe wirken soll und kann ist Voraussetzung
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. Nicht nach der sittlichen Schuld,
sondern nach dem strafrechtlichen Bedürfnis hat sich die Reaktion
gegen das Verbrechen zu bestimmen. „Der Verbrecher muß um so
mehr strafbar sein, je stärker die Antriebe zum Verbrechen sind,
je zahlreicher und herrschender sie sind, je weniger er fähig, den-
selben zu widerstehen, je mehr er entweder durch seine natürliche
Anlage oder durch andere äußere Naturursachen, durch Erziehung,
Gewohnheit, böses Beispiel usw., der Herrschaft der Sinnlichkeit
hingegeben ist.""^
Die Stärke der sinnlichen Triebfeder, die den Maßstab für die
Größe der zu verhängenden Strafe bildet, dokumentiert sich nach
drei Richtungen, nach ihrer Intensität, nach ihrer Festigkeit und
nach ihrem Umfang.^
' Revision II, S. 334. Hier kommt die Annäherung an die sympto-
matische Verbrcchensauffassung Grolmans am stärksten zum Ausdruck.
^ V. Bar, Geschichte des deutschen Stralrechts und der Strafrechts-
theorien. Berlin 1882. S. 171 und 249.
' Revision II, S. 336.
■* Die Einteilung Feuerbachs ist wenig glücklich und führt im einzelnen
zu Widersprüchen. Er betont darum immer wieder, nicht die Beurteilung
eines dieser einzelnen Faktoren, sondern nur eine Gesamtbeurteilung
der verbrecherischen Neigung nach allen angegebenen Richtungen sei für
die strafrechtliche Zurechnung von Bedeutung.
108
Die Intensität der sinnlichen Triebfeder kann nur aus ihren
Wirkungen erschlossen werden. Sie wird um so größer sein, je mehr
sie ihr entgegenwirkende Kräfte überwunden hat. Demnach muß sie
stärker sein, wenn sie Gemütskräfte, Verstand und Überlegung zum
Schweigen zu bringen vermochte, als wenn sie bloß irgendwelche aus
Vorstellungen und Gefühlen abgeleiteten Gegenmotive gegen die Tat,
wie Ängstlichkeit oder den Gedanken an die Möglichkeit der Ent-
deckung, zu überwinden hatte. Schwieg bei der Tat die Stimme der
Vernunft und Überlegung, so geschah das Verbrechen rein aus der
sinnlichen Triebfeder heraus: unwillkürlich. Wenn der Mensch, der
die Fähigkeit besitzt, willkürlich und überlegt zu handeln, gleichwohl
unwillkürlich „durch bloß tierische Antriebe" sich bestimmen läßt, so
ist das für Feuerbach ein Zeichen, „daß die Gewalt der Sinnlichkeit
und der durch diese begründete Antrieb zu der Handlung so lebhaft
und heftig war, daß er die Selbsttätigkeit des Verstandes beschränkte,
seine Wirksamkeit zur Reflexion über die Handlung, zu der die Begierde
antrieb, unterdrückte".^ Hieraus schließt Feuerbach bei unwillkürlichem,
blindem Handeln auf eine verbrecherische Neigung von besonders
starker Intensität und folgert daraus, daß „Verbrechen, welche durch
das bloß tierische Begehren hervorgebracht wurden, der Intensität der
Triebfeder nach in einem höheren Grade strafbar sind als Verbrechen,
die in der Willkür und Überlegung ihren Grund hatten".^ i\ls fast
unwillkürlich zustandegekommene Handlungen zeugen von besonders
intensiver verbrecherischer Neigung Delikte, die gewohnheitsmäßig
oder unter dem Eindruck leidenschaftlicher Affekte begangen sind.
Unter den willkürlich herbeigeführten Rechtsverletzungen bestimmt
sich die Größe der Strafbarkeit nach der Bedeutung der gegen die
Ausführung der Tat wirkenden Äbratungsgründe und Naturhindernisse,
denn je größeren Gegenmotiven und Hindernissen zum Trotz die Tat
vollbracht wurde, um so intensiver war die verbrecherische Triebfeder.
Der Täter ist um so strafbarer, je zahlreicher und klarer ihm die
Gegengründe vor Äugen gestanden haben, je mehr Gründe er hatte,
die Tat zu unterlassen. Darum ist bei einem entehrenden Delikt
der Ehrsüchtige, bei einem gefährlichen der Furchtsame, bei einem
grausamen der Mitleidige und aus mancherlei Gründen die Frau bei
vielen Delikten besonders strafbar!
Die Gefährlichkeit der sinnlichen Triebfeder ist ferner um so größer,
je fester und dauernder sie ist, je weniger leicht eine Änderung
der Willensdisposition erwartet werden kann. Infolgedessen steigt die
Strafbarkeit entsprechend der Festigkeit und Unverbesserlichkeit
' Revision II, S. 386 f.
' Revision II, S, 338.
109
der sinnlichen Triebfeder. Von einer besonders festen und mit dem
Charakter des Täters dauernd verbundenen Triebfeder kann man nicht
reden, wenn momentane Reize zur Tat besonders stark und dringend
waren. Daher ist die Strafbarkeit gering bei Delikten, die begangen
werden aus Gelegenheit, aus Armut und Not, aus Furcht oder aus
Leidenschaft — unter diesem Gesichtspunkt, während um der Intensität
der sinnlichen Triebfeder eben diese Umstände eine besonders harte
Bestrafung notwendig machen können.
In erhöhtem Maße offenbart sich Festigkeit und Unwandelbarkeit
der sinnlichen Triebfeder, wenn sie die guten, der verbrecherischen Tat
entgegenwirkenden Triebe dauernd unterdrückt. So macht Gewohnheit
die von der Tat abhaltenden Kräfte wirkungslos, schlechte Erziehung
läßt den Hang zum Bösen fast unausrottbar im Menschen erstarken,
körperliche und geistige Veranlagung lassen die verbrecherische
Neigung fast „unverbesserlich" erscheinen. „Wer aus Gewohnheit
Verbrechen begeht, der handelt gleichsam aus Instinkt und, seine
Begierde zu befriedigen, ist ihm zur anderen Natur geworden."^
„Wer durch Erziehung verdorben ist, der ist von Grund aus verdorben.
Das Böse, das aus dieser Quelle in uns gekommen ist, hat sich mit
unserm ganzen Wesen so innig verwebt, daß es durch die Vernunft
beschränkt, aber nie ganz vertilgt werden kann."" Dem geistig
Minderwertigen „mangelt die Fähigkeit, gehörig zu überlegen und zu
vergleichen, ihm mangelt die Kraft über sich selbst, über die Mittel,
sich zu verbessern, über das Neigen der Begierde und die aus ihrer
Befriedigung entspringenden Folgen nachzudenken . . . Soll daher die
Strafe als zureichende Ursache zur Unterlassung des Verbrechens
gedacht werden, so muß sie zugleich von der Größe sein, daß sie
die Nichtexistenz jener Kräfte ersetzen kann".^ Bei all diesen
Menschen ist die sittliche Schuld gering. Aber die verbrecherische
Neigung wohnt fest und inkorrigibel in ihnen. Ihre sinnliche Triebfeder
erscheint besonders gefährlich und ist deshalb vom Gesetz mit einer
besonders hohen Strafdrohung bedacht. Noch ist hier das Handeln
gewollt, d. h. es entspringt dem Begehrungsvermögen. Aber dies
ist so disponiert, daß die Kräfte, die der verbrecherischen Neigung
entgegenwirken könnten, kaum zur Entfaltung kommen. Sollen sich
diese Menschen gleichwohl entgegen ihrer starken, fast widerstands-
losen verbrecherischen Neigung zu gesetzmäßigem Verhalten bestimmen,
so bedürfen sie der Gegengründe, die in ganz besonderem Maße auf
sie einwirken. Die Vorstellung von dem rechtswidrigen Erfolg muß
» Revision II, S. 415.
' Ebendort II, S. 417.
" Ebendort II, S. 423.
110
sich mit dem Bilde eines besonders heftigen Übels verbinden; ihnen
muß eine ausnehmend harte Strafe in Aussicht gestellt werden. Und
lediglich diese ihnen angedrohte Strafe hat der Richter zu verhängen.
Hier kommt am schärfsten die schneidende Härte dieser rein
kriminalistischen Zurechnungslehre zum Ausdruck, in der die Zu-
rechnung zur Schuld und das Äbschreckungsbedürfnis zu entgegen-
gesetzter Beurteilung führen. Nur in einer Beziehung von unter-
geordneter Bedeutung nimmt auch Feuerbach eine gewisse Parallelität
zwischen moralischer Beurteilung und kriminalistischem Strafbedürfnis
an: bei der Berücksichtigung der Motive. Mitleid, Liebe und Pflicht-
gefühl führen nur ausnahmsweise zu Verbrechen. Sie begründen
darum nur eine geringe Gefahr für den Rechtsfrieden, wenn einmal
durch sie ein Mensch sich zu einer Rechtsverletzung hat bestimmen
lassen. Haß und Neid, Rachsucht und Eigennutz aber gehören zu
den typischen Verbrechensmotiven und verlangen daher eine Drohung
mit einem besonders empfindlichen Strafübcl.
Alle diese Überlegungen, das faßte Feuerbach am Schlüsse noch
einmal zusammen, gehen von dem Strafbedürfnis, von der Gefährlich-
keit aus. Sie wollen aber nicht — und hierin liegt der entscheidende
Unterschied von der Präventionstheorie — feststellen, welche Strafe
erforderlich ist, um auf den speziellen konkreten Verbrecher
einzuwirken, sondern gehen davon aus, welches Strafübel der
Gesetzgeber allgemein solchen Tätern zur Abschreckung androht.
„Welche Strafe — um diese Frage handelt es sich für Feuerbach
bei dem Problem der strafrechtlichen Zurechnung — würde der
Gesetzgeber gedroht haben, wenn er dieses spezielle Ver-
brechen, so wie es unter den vorliegenden individuellen
äußeren und inneren Bestimmungen gegeben ist, durch
eine bestimmte Strafe hätte bedrohen wollen?"^
Zu diesen Lehren Feuerbachs seien dem Begriff der Zurechnungs-
iähigkeit noch einige kritische Bemerkungen gewidmet. Aus dem
Grundsatz, daß die Strafe durch die Drohung des Gesetzes abschreckend
wirken soll, folgert Feuerbach, daß strafrechtlich zurechnungsfähig
nur derjenige sei, auf den das Gesetz mit seiner Drohung wirken
kann. Zurechnungsfähigkeit wird zur Bestrafungsmöglichkeit.
Dieses Ergebnis hängt mit seinem Bestreben zusammen, aus dem
Strafrecht alle indeterministischen Beurteilungsweisen zu verbannen.
Denn wenn man von der einzelnen konkreten Tat ausgeht und dabei
annimmt, daß jede begangene Tat, eben weil sie begangen wurde,
begangen werden mußte, so erscheint es sinnlos, eine Grenze zu
^ Revision II, S. 442. (Im Original gesperrt!)
111
ziehen zwischen Handlungen, für die der Täter verantwortlich zu
machen ist und solchen, die ihm nicht zur Last fallen. Wohl aber
kann man fragen, ob die Strafe wirken kann oder nicht.' Auf Grund
ähnlicher Gedanken ist auch v. Liszt zu entsprechenden Ergebnissen
gekommen. Er hatte hierin, ohne daß er sich dessen bewußt war,
einen weiteren Vorläufer in Gustav Geib, nach dem gleichfalls die
strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit in der „Möglichkeit der Erreichung
des Zwecks der Strafgesetze" und darum in der „Bestimmbarkeit des
Menschen durch äußere Momente . . . insbesondere durch die Aussicht
auf Strafe" bestehen soll." Liszt schließt von seinem deterministischen
Standpunkt aus, es könne nur Notwendigkeit oder Unmöglichkeit, aber
nicht bloße Möglichkeit schuldhaften Handelns geben und darum müsse
Bestrafung immer für diejenigen eintreten, auf welche die Strafe wirken
kann. Die Strafe soll determinieren, durch Motive das Verhalten
beeinflussen. Zurechnungsfähigkeit ist daher Empfänglichkeit für die
durch die Strafe bezweckte Motivsetzung, normale Bestimmbarkeit
durch Motive, normale Determinierbarkeit.^ In seiner Rede über die
strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit auf dem III. Internationalen Psy-
chologen-Kongreß von 1896 hat er dann, allerdings unter ausdrück-
licher Ablehnung praktischer Verwertbarkeit, hieraus die Konsequenz
gezogen, daß umgekehrt der unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher,
auf den die Strafe keinen Eindruck macht, eben deshalb unzurechnungs-
fähig ist.* Die Berührungspunkte mit der Zurechnungslehre Feuerbachs
zeigen sich in doppeltem: in der Eliminierung von Willensfreiheit
und Schuld und in der Identifizierung von Zurechnungsfähig-
keit und Bestrafungsmöglichkeit.^ Dagegen unterscheiden sich
beide dadurch, daß Feuerbach die Wirkung der Strafe als General-
prävention, Liszt aber als Spezialprävention auffaßt. Infolgedessen iden-
tifiziert Feuerbach Bestrafungsfähigkeit mit Äbschreckbarkeit, weil nach
ihm diejenige Strafe verhängt werden soll, welche das Gesetz angedroht
hat, um durch diese Drohung abschreckend zu wirken, v. Liszt aber
mit Determinierbarkeit in dem Sinne, daß die verhängte Strafe auf
' E. Kohlrausch, Sollen und Können als Grundlage der strafrecht-
lichen Zurechnung. In: Festgabe für Güterbock. Berlin 1910. S. 14 f,
- G. Geib, Lehrbuch des deutschen Strafrechts II. Bd. Leipzig 1862.
S. 57. Auf diese Zurechnungslehre Geibs weisen hin: Merkel-Liepmann,
Lehre von Verbrechen und Strafe S. 66, und Kahl in der Vergleichenden
Darstellung, Ällg. Teil Bd. I, S. 11.
' V. Liszt, Aufsätze II, S. 43, 45 und 85. — Derselbe, Lehrbuch des
deutschen Straf rechts 23. Aufl. 1921. S. 165.
* Aufsätze II, S. 222 und 227.
* Kennzeichnung und Kritik dieser Doktrin bei M. E. Mayer, Der
allgemeine Teil des deutschen Strafrechts. Heidelberg 1915. S. 202 f.
112
den Bestraften wirken kann. Feuerbach berücksichtigt die Stärke der
sinnlichen Triebfeder und kommt damit zu einer, der ethischen Beur-
teilung entgegengesetzten Bewertung, v. Liszt betrachtet dagegen, um
die individuellen Bedürfnisse der Spezialprävention zu beurteilen, die
antisoziale Gesinnung des Täters und er gelangt damit, indem die
Tat um so strafbarer wird, je mehr sie sich aus dem Charakter
des Täters erklärt, ähnlich wie die Anhänger der Spezialprävention,
welche Feuerbach entgegentraten, zu einer „Ethisierung des Straf-
rechts ".^ Dadurch wird bei v. Liszt die Schuld zu einem wesentlichen
Moment der Zurechenbarkeit der einzelnen Handlung. In diesem Sinne
liegt es als Konsequenz einer nur die zukünftigen Wirkungen der Strafe
beachtenden Präventionstheorie, „im Rahmen eines folgerichtigen
Sicherungsstrafrechts" nahe, mit Radbruch die grundsätzliche Frage
aufzuwerfen, ob nicht überhaupt zwar die „Zurechenbarkeit der
Tat dem Kreise jener Merkmale des Verbrechens, auf denen die
Strafwürdigkeit beruht, die Zurechnungsfähigkeit des Täters
aber dem davon ganz unabhängigen Kreise derjenigen Verbrechens-
merkmale, welche die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit einer Strafe
bedingen", angehört.^ Soll man, wenn die Wirklichkeit der Schuld
in jedem einzelnen Fall erwiesen sein muß, ihre Möglichkeit im
Sinne der traditionellen Zurechnungsfähigkeit noch zum Gegenstand
besonderer Prüfung machen?^
Hier muß zugegeben werden, daß da, wo wir Maßnahmen nur
um des Sicherungszweckes willen verhängen, der Gesichtspunkt
maßgebend ist, ob wir diese Maßregeln im gegebenen Fall für
wirksam halten oder nicht. Das gilt nicht nur von der Behandlung
Kranker, sondern ist ein Gesichtspunkt, der z. B. gegenüber kriminellen
Jugendlichen mehr und mehr Anerkennung findet, indem hier die
Verhängung von Strafen oder Erziehungsmaßnahmen davon abhängig
gemacht werden soll, ob das Gericht Erziehungsmaßregeln für aus-
reichend oder Strafe für erforderlich hält, um den Jugendlichen an
ein gesetzmäßiges Leben zu gewöhnen.^ Überall aber, wo wir strafen,
bedarf der Kreis der durch die staatliche Reaktion Betroffenen einer
Beschränkung auf diejenigen, denen man aus ihrem Tun einen Vorwurf
zu machen berechtigt ist. Denn die Strafe trifft die Tat nicht nur
als gefährliche antisoziale Handlung, sondern als Pflichtverletzung,
als Unrecht. Wollte der Staat unterschiedslos alle sozialgefährlichen
' Aufsätze II, S. 377.
^ G. Radbruch, Fr. v. Liszts Strafrechtslehrbuch, Deutsche Litcratur-
zeitung 1919, Nr. 36, Sp. 683 ff., vgl. Sp. 688.
-' G. Radbruch, Über den Schuldbegriff, Z.Str.W. Bd. 24. 1904. S. 333 ff.
* § 4 d. Entw. z. Jugendgerichtsgesetz. 1920. Begründung dazu S. 10.
113
Handlungen bestrafen ohne Rücksicht darauf, ob der Täter in seiner
geistigen Verfassung krankhaft gestört oder in seiner Entwicklung
zurückgeblieben ist, so hätte er in dieser moralisch indifferenten
Sphäre sich selbst des Rechts begeben, dem Verbrecher aus seiner
Tat den Vorwurf der Pflichtverletzung zu machen. Hier gerade zeigt
es sich, daß das staatliche Strafrecht die beste Stütze seiner ver-
pflichtenden Kraft — wie es Merkel lehrte — in seinem Einklang
mit ethischen Anschauungen findet. Der Gedanke, daß das staatliche
Gebot eine innere Pflicht für den Bürger enthält, fällt in sich zusammen,
wenn der Staat den Zurechnungsfähigen und den Verantwortungslosen
in gleicher Weise allein nach kriminalistischen Nützlichkeitsrücksichten
behandelt. Nicht, daß sich das sittliche Gefühl empört, wenn ein
Kranker nach dem strengen Maßstab des Gesunden bestraft wird, ist
das Entscheidende, sondern daß dem Verbrecher aus seiner Handlung
kein Vorwurf gemacht werden kann, wenn sie genau so zu beurteilen
wäre, wie das Tun eines Unzurechnungsfähigen.^
Hiergegen macht die Radbruchsche Argumentation zugunsten des
Liszt-Feuerbachschen Begriffes der Zurechnungsfähigkeit geltend, daß
selbstverständlich die Schuld, aber gerade deshalb nicht noch neben
ihr die Möglichkeit der Schuld Voraussetzung der Strafbarkeit
bildet. Der Einwand, daß das Wirkliche immer möglich war, besagt
aber nichts gegen die Zurechnungsfähigkeit als Begrenzung der straf-
rechtlichen Verantwortlichkeit, wenn man nach Franks Vorgang die
Zurechnungsfähigkeit nicht als Voraussetzung, sondern als Element
der Schuld auffaßt. Sieht man in ihr mit Kohlrausch eine Vor-
aussetzung der Schuld, dann teilen sich allerdings die Wege.^ Vom
Standpunkt einer individualisierten Zurechnungsfähigkeit aus, wie
sie Bin ding '^ verstanden wissen will, erscheint dann jener Vorwurf
berechtigt. Denn wenn man die einzelne spezielle Tat und den ein-
zelnen konkreten Täter isoliert betrachtet, so hat man nur zwischen
indeterministischen Spekulationen und einer glatten Tautologie die Wahl,
indem derjenige, dem eine Tat zugerechnet wird, eben darum als
zurechnungsfähig gilt. Hier wäre in der Tat die Zurechnungsfähigkeit
nur eine Wiederholung des Wirklichen in der Dimension
des Potentiellen. Der Fehler liegt darin, daß man ein objektives
Möglichkeitsurteil — ein solches liegt der Zurechnungsfähigkeit
' Liepmann, Einleitung in das Strafrecht S. 107.
^ R. Frank, Über den Aufbau des Schuldbegriffs. Gießener Fest-
schrift 1907. S.519 ff. — E. Kohlrausch, Die Schuld. In: Liszt-Aschrott,
Die Reform des Reichsstrafgesetzbuchs. Berlin 1910. S. 180 f.
' K. Binding, Die Normen und ihre Übertretung II. Bd., 1. Hälfte,
2. Aufl. 1914. S. 200 f.
8
114
zugrunde — niemals fällen kann auf Grund einer isolierten Einzel-
betrachtung, sondern nur auf Grund einer Generalisierung. ^ Nicht
an jeden einzelnen Menschen, sondern an einen abstrakten Durch-
schnittstyp (diese Normalität ist zumeist keine Norm im Sinne eines
heroischen Vorbildes) denkt der Gesetzgeber, und er richtet seine
Gebote an diejenigen Menschen, welche einem allgemeinen Durch-
schnittsmaß von Pflichtgefühl, von intellektuellen Fähigkeiten, von
Energie und Selbstbeherrschung entsprechen. Von einem solchen
Mann wird erwartet, daß er die staatlichen Gebote innehält, den
Anforderungen der Rechtsordnung zu genügen ist seine Pflicht.
Zurechnungsfähigkeit bedeutet ein Urteil darüber, daß der einzelne
Delinquent jenem generellen Durchschnittsbilde entspricht, daß er in
seiner Individualität die allgemeinen Eigenschaften besitzt, die der Staat
in seinen Bürgern voraussetzt und daß ihm darum aus seinem Tun
ein Vorwurf gemacht werden kann."
Im Gegensatz zu diesen Überlegungen könnte man aus der
jüngsten strafrechtlichen Entwicklung den Eindruck gewinnen, als sei
die Schranke zwischen Veranhvortlichkeit und Unzurechnungsfähigkeit
im Fallen begriffen und als gehöre die Zukunft dem Gedanken Liszts
und Feuerbachs, man solle Ob und Wie der Bestrafung allein davon
abhängig machen, wie die Strafe wirken kann. Die italienische
Schule, die den konsequenten Sicherungsgedanken am radikalsten
zur Anerkennung zu bringen trachtet, versucht die Scheidewand der
Zurechnungsfähigkeit zugunsten eines unbegrenzten staatlichen Ver-
teidigungsrechts zu durchbrechen, das eine soziale Verantwortlichkeit
für alle von Menschen überhaupt vermeidbaren Handlungen begründet.^
^ J. V. Kries, Über den Begriff der objektiven Möglichkeit. Viertel-
jahrsschrilt f. wissensch. Philos. Bd. 12, S. 179 ff., 287 ff., 393 ff.
- Über die Zurechnungsfähigkeit auf Grund einer Generalisierung
vgl. Liepmann, Einleitung in das Strafrecht. Berlin 1900. S. 168 f. —
Derselbe, Äbschn. „Zurechnung" in: Religion in Geschichte und Gegen-
wart. 1913. Ferner E. Kohlrausch, Sollen und Können als Grundlagen
der strafrechtlichen Zurechnung. In: Festschrift für Güterbock. Berlin 1910.
S. 1 ff., vgl. S. 24 f. — P. Natorp, Willensfreiheit und Verantwortlichkeit
in Phil. Äbh. f. H. Cohen, Berlin 1912, S. 203 ff., begründet den der Zu-
rechnung zugrunde liegenden Vorwurf des Änderskönnens auf eine Beur-
teilung der dem Täter bekannten Bedingungen — also eine Generalisierung
auf dem Standpunkt ex ante.
** Enrico Ferri, Das Verbrechen als soziale Erscheinung. Deutsche
Ausgabe von G. Kurella. Leipzig 1896. S. 274 ff. — Derselbe noch
neuerdings: Die Reform der Strafjustiz in Italien. Z. Str. W. 41. 1920.
S. 473 ff. — Vgl. hierzu a 18, Vorentwurf zu einem italienischen Straf-
gesetzbuch, 1921, und die Ausführungen der Denkschrift, Deutsche Aus-
gabe, S. 227 ff. — Über die Widersprüche, in welche die italienische Doktrin
115
Aber was noch frappanter ist: unabhängig von allen theoretischen
Erörterungen über die Zurechnungsfähigkeit lehrt die Wirklichkeit des
Strafvollzuges, daß, wenn man erst einmal Ernst damit gemacht hat,
der Freiheitsstrafe jede infamierende Wirkung zu nehmen und über die
unsagbar schwere Strafe der Freiheitsentziehung hinaus auf alle absicht-
liche Verstärkung ihres Übelscharakters zu verzichten — Forderungen
innerer Gerechtigkeit wie kriminalpolitischer Zweckmäßigkeit — , anderer-
seits aber einen energischen Schutz der Gesellschaft vor sozialgefährlichen,
wenngleich schuldlos handelnden Personen durchzuführen, dann mehr
und mehr die Grenzen zwischen der Strafe Zurechnungsfähiger und der
Verwahrung Unzurechnungsfähiger schwinden und beide Institutionen
sich in ihrer äußeren Ausgestaltung wie in ihrer psychologischen
Wirkung ähneln/ Wozu dann, so könnte man fragen, eine Differen-
zierung der Voraussetzungen, wenn die Folge in beiden Fällen die
gleiche ist, wozu die Sonderstellung der Zurechnungsfähigen, wenn in
jedem Fall nach der gleichen wirksamen Maßnahme gegriffen wird?
Gleichwohl wird auch in Zukunft Verurteilung zum Zuchthaus
etwas anderes bedeuten als Einweisung in eine Irrenanstalt, wird der
Fürsorgezögling nicht das Gefühl haben müssen, als Verbrecher bestraft
zu sein. Sicherungs- und Erziehungsmaßnahmen gelten einem sozial-
gefährlichen Zustand, Strafe setzt stets eine bestimmte antisoziale Tat
voraus. In bezug auf den Unzurechnungsfähigen trägt der Staat die
Verantwortung: erweist sich sein Zustand als gefährlich, so hat der
Staat dafür zu sorgen, daß er keinen Schaden anrichtet. Er braucht
nicht zu warten, bis er ein bestimmtes Unheil angerichtet hat. In
vielen Fällen wird freilich erst hierdurch sein gefährlicher Zustand
offenbar, aber dann pflegt es meist nicht an Vorwürfen zu fehlen —
nicht gegenüber dem unzurechnungsfähigen Gemeingefährlichen, sondern
gegenüber dem Staat und der Nachlässigkeit der Polizei, die wieder
einmal wartete, bis das Kind in den Brunnen gefallen war. Anders
gegenüber dem Zurechnungsfähigen. Er trägt selbst dem Staate gegen-
über die Verantwortung, seine gefährlichen Neigungen zu bekämpfen
ist seine Sache — bis er sich zur offenkundigen Tat hinreißen läßt.
Jetzt „macht", wie der Sprachgebrauch mit feiner Psychologie sagt,
der Staat „ihn verantwortlich", d. h. das, was er selbst hätte tun sollen,
durch ihr Bestreben, ethische Werturteile aus dem Strafrecht zu eliminieren,
selbst gerät, siehe Liepmann, Die Reform des deutschen Strafrechts
(Hamburgische Schriften Heft 2). 1921. S. 5 ff.
' Ein deutlicher Beweis für die Schwierigkeiten einer Differenzierung
in der inneren Struktur und Wirkungsweise von Freiheitsstrafe und
Sicherungsverwahrung ist das Buch von Exner, Die Theorie der Siche-
rungsmittel. Liszts Seminarabhandlungen 3. Folge 1, 1. Berlin 1914.
8*
116
zwingt ihm der Staat nunmehr auf, da er sich nicht selbst im Zaume
hält, sperrt ihn der Staat ein. So hat im Verhältnis zum Unzurechnungs-
fähigen der Staat jederzeit das Recht und die Pflicht, Maßnahmen zum
Schutze der Gesellschaft zu ergreifen, während er dem Zurechnungs-
fähigen den Schutz der Gesellschaft vor den eigenen Begierden selbst
überläßt. Darum ist dem Unzurechnungsfähigen gegenüber jede Maß-
nahme moralisch indifferent, während die Verhängung derselben
Maßregel der Freiheitsentziehung dem Zurechnungsfähigen gegenüber
ein Schuldurteil, den Vorwurf der Pflichtverletzung, des Vertrauens-
bruches bedeutet. Das ist nicht ein Dogma und eine Forderung, die
sagt, daß es so aufgefaßt werden sollte. Vielmehr ergibt sich dies
Bild aus der Erfahrung auf Grund der Tatsache, daß in einem Fall
die Beurteilung des gefährlichen Zustandes, im anderen aber der
Nachweis einer bestimmten vom Gesetz bezeichneten antisozialen Tat
die Voraussetzung der strafrechtlichen Reaktion bildet. Ein strafrecht-
liches Einschreiten ist dem Unzurechnungsfähigen gegenüber auch
ohne daß eine bestimmte Tat vorliegt und nicht bei jeder verbotenen
Handlung, dem Zurechnungsfähigen gegenüber dagegen nur, aber
auch stets geboten, wenn er ein Delikt begangen hat. Wenn aber
das Recht beide Gruppen von Individuen verschieden behandelt, so hat
es einen guten Sinn, durch gesetzliche Kennzeichnung allgemeiner
Eigenschaften den Kreis derer zu bestimmen, an die sich die
staatlichen Pflichtgebote wenden. Das führt zu einer Ablehnung
des Gedankens, es handele sich bei der Zurechnungsfähigkeit nur
um die Prüfung der Frage, ob und wie die Strafe wirken kann,
und damit zu einer Preisgabe des Begriffes der Zurechnungsfähigkeit
im Sinne Erfolg versprechender Bestrafungsmöglichkeit, wie es Liszt
und Feuerbach gelehrt haben.
in
Viertes Kapitel
Die Reformbedürftigkeit der bayerischen
Kriminalgesetzgebung.
Die kritische Durchdringung der strafrechtlichen Lehren und ihre
theoretische Neugestaltung waren das Ziel der ersten Epoche der
kriminalistischen Wirksamkeit Änselm von Feuerbachs. Es folgte
die zweite Periode seines Schaffens, die unmittelbare praktische Rrbeit
an der Weiterbildung des Strafrechts selbst: die Jahre der Reform-
arbeiten an der bayerischen Kriminalgesetzgebung, die ihren
Abschluß in dem Strafgesetzbuch von 1813 fanden.
Niemals wird man einer gesetzgeberischen Reformarbeit durch
bloßen Vergleich des alten mit dem neuen Gesetz gerecht. Ganz
besonders dann nicht, wenn der Neuordnung eine starke und einfluß-
reiche Bewegung voranging, wie die Reformbewegung der Äufklärungs-
zeit. Vieles von dem Neuen war Gemeingut der Kriminalisten geworden,
seit langem hatten Gewohnheit und Gerichtsgebrauch, dem Gedanken
der Humanität folgend, das geschriebene Recht modifiziert. Die straf-
rechtliche Doktrin jener Zeit trug als „Wissenschaft de lege ferenda"
ihr Gesicht der Zukunft zugewandt und geriet mehr und mehr unter
die Führung ausgesprochener Reformfreunde, deren theoretische
Erörterungen der Aufstellung von praktischen Forderungen für die
Neugestaltung der künftigen Strafgesetzgebung galten. Indem die
Gesetzgebungen der Äufklärungszeit solche Forderungen zu verkörpern
suchten, entstand ein enger Zusammenhang zwischen der Gesetzgebung
und jener wissenschaftlichen Entwicklung, während ihnen eine organische
Verbindung mit den früheren Gesetzen fehlte. Deshalb kann nur ein
Vergleich mit den Forderungen der zeitgenössischen Wissenschaft —
nicht der Fortschritt allein gegenüber dem früheren Rechtszustand ein
Wertmaßstab für die Beurteilung der Reformarbeit sein. Und schließlich
haben die bisherigen Gesetze auch darum wenig Bedeutung für die
Entwicklung der neuen Gesetzgebung, weil die Forderungen der jungen
Strafrechtswissenschaft, befruchtet von den Gedanken der Naturrechts-
lehrer und von dem Glauben an ihre absolute Vernunftgemäßheit
getragen, einen allgemeingültigen, kosmopolitischen Charakter zeigten.
118
All diese Umstände erklären es, daß für die historische Betrachtung
von Feuerbachs Gesetzgebungswerk der Zustand der bisherigen
Gesetzgebung von geringer Bedeutung ist. Die gleichen Strömungen,
aus denen heraus seine theoretischen Arbeiten erwachsen sind, bilden
den Zusammenhang, in den sein Wirken auch in dieser Epoche hinein-
gestellt werden muß. Nur als Hintergrund, von dem sich sein Gesetz-
gebungswerk abhebt, erscheinen das frühere bayerische Kriminalrecht
und die bisherigen Reformversuche von Bedeutung. Aber in dieser
Begrenzung liegt zugleich die Notwendigkeit, bei einer historischen
Würdigung des strafrechtlichen Schaffens Änselm v. Feuerbachs
an diesen Dingen nicht vorbeizugehen. Denn die Reformbedürftigkeit
des bayerischen Kriminalrechts ward für ihn zum Hnreiz, seine
Lehren für die praktische Gesetzgebung zu verwerten, der Stein, an
dem sich der Funken seines Geistes entzündete. „Nicht den Richtern,
sondern allein den Gesetzen, welchen sie dienen sollen," schob
er die Verantwortung für die „großen Gebrechen des Criminalwesens"
in Bayern zu, die eine gründliche Reform der Strafgesetzgebung zu
den dringendsten Bedürfnissen des Staates machten.^
Das alte bayerische Kriminalrecht zeigt einen ausgesprochen
konservativen Charakter." Man suchte in der Entwicklung des ge-
schriebenen Rechts die Tradition bis auf Kaiser Ludwig zurückzuführen,
der seine Söhne in einem Rechtsbuch die in Bayern geltenden
Gewohnheitsrechte aufzeichnen ließ (1346). Noch lange mag die
bayerische Strafjustiz von der Praxis jenes mittelalterlichen Herzogs
Heinrich des Reichen beherrscht gewesen sein, von dem der Chronist
rühmte: „Der Herzog last kainen Räuber leben, wo der betretten wird.
Man henket auch die Wölff als wol in dem Land als die Räuber oder
Dieb."^ Während im Rechtsbuch sich noch keine Bestimmungen über
die Folter finden, sah sich die folgende Kodifikation, die Reformation
des Landrechts von 1518, bereits genötigt, einem übermäßigen
Gebrauch der inzwischen aufgekommenen Tortur entgegenzutreten;
niemand sollte ohne „genügsame Anzeige" verhaftet oder auf die
Folter gespannt und in allen zweifelhaften Fällen vor Erkennung der
Tortur beim Herzog oder dem Hofgericht angefragt werden. Wie
überall in Deutschland war die Carolina in Bayern nicht formell gültiges
positives Recht, aber sie gewann durch ihren inneren Wert, ihr
Bestreben nach begrifflicher Klarheit und den Willen, mit den Mißbräuchen
' Leben und Wirken Bd. I, S. 137.
- Zum folgenden: F. J. Lipowsky, Geschichte des bayerischen
Kriminalrechts. München 1803. (Von Feuerbach oft benutzte Quelle.) —
Jos. R. V. Mussinan, Bayerns Gesetzgebung. München 1835.
* Oeffelc, Script, rer. boic. pag. 312, zitiert bei Lipowsky, S. 29 f.
119
einer unzulänglichen Strafjustiz aufzuräumen, einen mehr tatsächlichen
als rechtlichen Einfluß.^ Während sie mit ihren verstümmelnden Strafen
in Norddeutschland von vornherein als grausam empfunden wurde,
bedeutete sie für Süddeutschland, z. B. gegenüber der Nürnberger Praxis,
eine Milderung des herrschenden Strafensystems," so sehr sich auch
der bayerische Geschichtsschreiber Lipowsky bemüht, zu beweisen, daß
die schon vor der CCC entstandenen bayerischen Gesetze „ebensoviel
Gutes enthalten"."' Durch die Malefiz-Ordnung Maximilians I. wurde
1616 die Carolina ausdrücklich neben bayerischem Recht als subsidiär
geltendes Gesetz anerkannt. Die Malefiz-Ordnung enthielt eine Reihe
wohlgemeinter Bestimmungen: die Strafen des Ertrinkens und Lebendig-
verbrennens sollten abgeschafft, wer zum dritten Mal, aber nur 5 Gulden
gestohlen hat, von der Todesstrafe des a 162 CCC verschont bleiben.
Auch durfte grundsätzlich ohne Befehl der kurfürstlichen Justiz -Kollegien
kein Landgericht auf peinliche Frage erkennen.
Erst der Codex Juris Bavarici Criminalis von 1751 macht end-
gültig auch der subsidiären Geltung der Carolina ein Ende. Freilich
nur in formellem Sinne, denn dieses Gesetz, das noch zur Zeit
Feuerbachs in Bayern galt, stand inhaltlich in vielem der Carolina
nahe. Es war entstanden zu einer Zeit, in der das große Ringen
zwischen einem Strafrecht mittelalterlicher Gebundenheit und den
Forderungen der kühnen Reformfreunde noch nicht allenthalben
entbrannt war. Weithin beherrschten die aus dem Mittelalter über-
lieferten, in scholastischer Enge und dogmatischer Starrheit erhärteten
Denkformen das Geistesleben. Staatliche und kirchliche Autorität
regierten unbeschränkt. Das Strafrecht stand unter dem Einfluß
Benedict Carpzovs, in dessen Wirken die Gebundenheit und der
Rigorismus jener Zeit ihren erschütterndsten Ausdruck fanden. Und
doch war die Morgenröte der neuen Zeit nicht mehr fern. Mit „allzu
raschem Trompetenton" hatte nach Malblank* Christian Thomasius
das „Signal zum Erwachen" gegeben. Entgegen den positiven Gesetzen
bekämpfte er Hexenwahn, Inquisition und Folter, seine Argumente auf
die Bibel und die Vernunft stützend.'' Kress, Boehmer und Leyser
suchten durch erneute Durchdringung des alten Materials eine mehr
kontinuierliche als reformatorische Entwicklung zu fördern. 1748
* V. Bar, Handbuch des deutschen Strafrechts I. Geschichte des
deutschen Strafrechts und der Strafrechtstheorien. Berlin 1882. S. 128 f.
'' V, Bar, a. a. O. S. 121 und 129.
•'' Lipowsky S. 90.
■• Malblank, Geschichte der peinl. Gerichtsordnung Kaiser Karl V.
Nürnberg 1783. S. 233.
^ Landsberg, Gesch. der deutschen Rechtswissenschaft 3, 1, S. 71 ff.
120
erschien Montesquieus Esprit des lois, auf dessen geistvolle An-
regungen späterhin die Reformfreunde immer wieder zurückgriffen.
Die Zeit stand unmittelbar bevor, da die Männer der Aufklärung,
wie es in der überströmenden Sprache jener Zeit hieß, „die Fackel
der Philosophie in schaudervolle Martergewölbe und auf die vom Blute
dampfenden Schaffotte" trugen/
So war die Jahrhundertmitte die Wende zweier Zeiten. In solchem
Äugenblick mußte es für das Schicksal und den Wert einer Gesetz-
gebung entscheidend sein, wem ihr Antlitz zugewandt war. Zukunfts-
reiche Gedanken zeigten die gesetzgeberischen Bestrebungen in dem
erstarkenden Preußen des jungen Friedrich, wo Coccejis Entwürfe
versuchten, den Forderungen der öffentlichen Meinung und den Leit-
sätzen der fortgeschrittenen Doktrin gerecht zu werden und nicht nur
formell das ältere gemeine Recht zu beseitigen, sondern auch materiell-
rechtlich Neues zu schaffen.' Anders in Bayern.^ Hier war 1745 der
Kurfürst Maximilian 111. Joseph zur Regierung gelangt. Die Macht-
politik seiner Vorgänger, die weit über die Kräfte des Landes ging,
unglückliche Kriege, feindliche Besatzung im eigenen Land ließen ihn sein
Reich verarmt und verwüstet vorfinden. Der Staat war überschuldet.
Bettler, Landstreicher und entlassene Soldaten durchzogen wie nach
dem 30jährigen Krieg in Scharen das Land, eine Quelle des ständig
zunehmenden Verbrechertums. Der Kurfürst hatte den besten Willen,
den Leiden seines Volkes zu steuern, nach dem Worte eines Zeit-
genossen „ein Ehrenmann, der gut denkt und das Gute will", wie
ihn spätere Historiker rühmten: „der liebenswürdigste und gutmütigste
Fürst, den sein Volk so innig, wie er das Volk liebte".* Doch fehlten
ihm Energie und Kraft zu großen Entschlüssen. So kennzeichnet sein
Leben und seine Politik eine Kette von Halbheiten. In seine Erziehung
teilten sich der Jesuit Daniel Stadler und der Wolffianer Johannes
Hdam Ickstatt. In der Politik schwankte er beständig zwischen
Frankreich und Österreich, später zwischen einer Annäherung an
Friedrich IL und einem Bündnis mit dessen Gegnern. So konnte
auch die Strafrechtspflege von ihm keine durchgreifenden Reformen
erwarten. Vielmehr schien ihm gerade angesichts der Notlage der
Gegenwart, welche ein energisches Einschreiten gegen das bedrohlich
zunehmende Verbrechertum verlangte, jede unerprobte Neuerung
* Lipowsky, a. a. O. S. 130.
■ Projekt des Corpus Juris Fridericianum 1749 u. 1751. — Hälschner,
Geschichte des Brandenburg-Preußischen Strafrechts. Bonn 1855. S. 172 ff.
* Zu dem folgenden: M. Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns
II. Bd. München 1912. S. 254 ff.
' .V.ussinan, Bayerns Gesetzgebung S. 50.
121
bedenklich. Gleich der Vergangenheit sah er alles Heil in vielen
und strengen StraJen und in einer in den Bahnen des bestehenden
Rechts sich bewegenden, sicher und gleichmäßig arbeitenden Rechts-
pflege. Darum sollte auch die Gesetzgebung nur das vorhandene
Recht klar herausarbeiten und in eine Fassung bringen, die eine
gleichmäßige und zuverlässige Handhabung gewährleistete.
Für eine solche konservative Reform fand der Kurfürst die
geeignete Persönlichkeit in seinem Kanzler Alois v. Kreittmayr,^
dem Schöpfer der „Neuverbesserten Kurbayerischen Gerichtsordnung"
von 1753 und des „Neuen Kurbayerischen Landrechts" von 1756.
Von ihm stammt auch der Codex Juris Bavarici Criminalis
von 1751.^'
Eine originale Schöpfernatur war Kreittmayr keineswegs. Zu
reformatorischen Neuordnungen fehlten ihm Kraft und Schwung. Die
Äufklärungsgedanken blieben ihm, wiewohl er gelegentlich Thomasius'
Namen nennt, im Grunde in gleicher Weise fremd, wie späterhin
die Anfänge der kritischen Philosophie. Doch besaß er eine große
Belesenheit und sichere Kenntnisse in der Literatur des positiven
Rechts. Ein gesunder Instinkt für das praktisch Gebotene befähigte
ihn, mit seinen Bestimmungen den Bedürfnissen der damaligen Rechts-
pflege in weitem Maße entgegenzukommen. Durch plastische, sinn-
fällige Bezeichnungen, eher volkstümlich als gelehrsam, wußte er
abstrakte Rechtsfragen in ausführlichen Anmerkungen zu erläutern
und an zahlreichen, dem Leben entnommenen Beispielen zu ver-
anschaulichen. So rühmte C. v. Menz, den freilich auch innerlich
manch antiquierte Anschauung mit Kreittmayr verband, noch 1827
den Kanzler, „der mit seinem vielen Wissen stets die höchste
Lebensweisheit verband und immer das Leben so richtig und treffend
ergriff". (!)^
Solche formalen Vorzüge vermögen gleichwohl nicht über den
inneren Charakter des Werkes hinwegzutäuschen. Kreittmayr gehört
* Vgl. über ihn: J. Ä. Kalb, Biographie des kurfürstl. bayerischen
Staatskanzlers Ä. W. v. Kreittmayr. München 1825. — Berner, Die Stral-
gesetzgebung in Deutschland. Leipzig 1867. S. 1 ff. — Bechmann, Der
kurbayerische Kanzler A. v. Kreittmayr. Münchener Äkademierede 1896. —
Eisenhart, Ällgem. deutsche Biographie Bd. 17, S. 102 ff. — Landsberg,
Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3. Abt., I. Halbbd., S. 222.
■ München 1751: Gedruckt bei joh. Jak. Yötter, kurfürstl. Hof- und
Landschaftsbuchdrucker. — Dazu: Anmerkungen über den Cod. Jur. Bavar
Crim. von einem unbenannten Authorc (Kreittmayr). München 1752.
•' C. V. Menz, Einige Stücke und Beiträge aus dem Gebiet der Erfahrung
im Fache der Gesetzgebung. In: Zu Rheins Beiträge zur Gesetzgebung und
prakt. Jurisprudenz I. Bd., S. 188.
122
ganz der Zeit an, die sich gerade damals ihrem Ende zuwandte. Erhob
sein Kodex auch formell den Anspruch einer selbständigen Kodifikation,
so versuchte er doch fast nirgends, materiellrechtlich über den Stand-
punkt des älteren Rechts, der Carolina und Carpzovs hinauszukommen.
Er bietet ein Bild einer „von der bedeutsamen reformatorischen Bewegung
des Strafrechts unberührt gebliebenen, sich nur auf das gemeine Recht
in seiner bisherigen Gestalt, die ältere Landesgesetzgebung und heimische
Praxis stützenden Gesetzgebung".^
Kreittmayrs Kodex ist ein strafrechtliches Spiegelbild des voll-
endeten Fürstenabsolutismus. ^' In harten Strafen sieht er allein
das Mittel zur Bekämpfung der Verbrechen, in denen ihm die Hint-
ansetzung über den obrigkeitlichen Willen als besonders ver-
werflich erscheint. Im Prozeß fehlt es an einer klaren Abgrenzung der
Rechtssphäre des Beschuldigten gegenüber den allmächtigen Organen
der staatlichen Strafjustiz.
Im Strafensystem hatte die Carolina, so grausam sie den
Männern der Aufklärung erscheinen mußte, für ihre Zeit eine gewisse
Milderung erstrebt. Entgegen der „Gewohnheit etlicher Gegend"
bestimmte sie dem Totschläger die gegenüber dem Rade des Mörders
mildere Schwertstrafe (a 137). Weitere Milderungen brachte für Bayern
die Malefiz- Ordnung Maximilians I. von 1616. Kreittmayrs Kodex
bricht diese mildernde Tendenz jäh ab.'^ Seine Strafdrohungen sind
„in Drakos Geist gedacht, geschrieben mit Blut" (Feuerbach).* Rädern,
Verbrennen, Vierteilen ohne vorherige Tötung des Hinzurichtenden
findet sich als ordentliche Kapitalstrafe, Schleifen zur Richtstatt, Zungen-
reißen, „härteres oder langsameres genus mortis" sind qualifizierte
Todesarten des Gesetzes. Nur zur „Vermeidung unnötiger Kosten"
soll es künftig unterlassen werden, die Stücke des gevierteilten Körpers
auf offener Straße aufzuhängen! (cap. 1, § 5 und 6).° Dabei ist von
der Todesstrafe reichlichst Gebrauch gemacht. Der Hochverräter wird
„auf die Richtstatt geschleift, lebendig alldort gevierteilt oder mit Pferden
zerrissen und all sein Hab und Gut dem Fisco heimgeschlagen"
(cap. VIII, § 1). Die Entwendung einer Hostie wird mit dem Feuertod
' Hälschner, Geschichte des Brandenburg -Preußischen Strafrechts.
Bonn 1855. S. 173.
" V. Bar, Geschichte des deutschen Stralrechts und der Strafrechts-
theorien S. 155.
^ Eine Milderung gegenüber der CCC besteht darin, daß der Codex
die Strafe des Fingerabhauens beim Meineid, die CCC a 107 als „gemeine
gewöhnliche Leibstraff nit ändern" will, gänzlich abschafft.
' Leben und Wirken Bd. 1, S. 130.
' Wo der Codex ohne Zusatz zitiert ist, ist der erste, materiell-
rechtliche Teil gemeint.
123
(cap. II, § 1 7) bestraft. Die Schwertstrafe steht nicht nur auf Totschlag,
Notzucht und Entführung (cap. III, § 1 und cap. VI, §§ 7 und 8),
sondern bedroht den Falschmünzer (cap. IX, § 1), den mehrfach rück-
fälligen Ehebrecher (cap. V, § 2) oder denjenigen, der einem anderen
nachsagt, er hätte ein Kapitalverbrechen begangen (cap. Vlll, § 11).
Ruf „großem Diebstahl" (20 fl.) oder „gefährlichem Diebstahl" (Einbruch
und Bandendiebstahl) steht der Strang (cap. II, §§ 3 und 5), auf Blut-
schande der Feuertod (cap. VI, § 1).
Die grausame Härte des Gesetzes wird besonders bei den
Bestimmungen über den Kindesmord offenbar. Das Mittelalter, dem
der Kindesmord als Folge des außerehelichen Geschlechtsverkehrs unter
dem Einfluß des kanonischen Rechts besonders sündhaft erschien,
behandelte ihn als qualifizierten Fall der gemeinen Tötung.^ Außer-
dem hatte man ausdrückliche Bestimmungen gegen Verheimlichung
der Niederkunft, die sich aus der Schutzbedürftigkeit des nasciturus
bei heimlicher Schwangerschaft erklären. Zu Schwarzenbergs Zeit
wurden die Kindesmörderinnen „gewöhnlich lebendig begraben und
gepfählt" (CCC a 131), während den gemeinen Mörder nur das Rad
traf (a 137). In der Carolina selbst läßt sich ein deutliches Schwanken
zwischen dem Hbschreckungsprinzip und dem Streben nach einer
privilegierenden Behandlung des Kindesmords nachweisen. „Aber
darinnen Verzweiflung zu verhüten, mögen dieselben Übeltäterinnen,
in welchem Gericht die Bequemlichkeit des Wassers dazu vorhanden
ist, ertränkt werden, wo aber solch Übel oft geschähe, wollen
wir die gemeldete Gewohnheit des Vergrabens und Pfählens um mehr
Furcht willen solcher boshaftigen Weiber auch zulassen ..." (a 131).
Im 18. Jahrhundert war der Kindesmord, von dem „sich die Empfind-
samkeit der Zeit gewaltsam ergriffen fand", geradezu ein literarischer
Lieblingsgegenstand. "'^ Man erkannte, daß man dem Übel nicht mit
harten Strafen allein begegnen konnte, sondern vor allem die Mutter
vor Beleidigung und Schande schützen mußte. Findelhäuser wurden
errichtet und erweckten das Interesse menschenfreundlicher Reformer.
Zugleich begann man einzusehen, wie der Entschluß der unehelichen
Mutter durch ihre physiologische Situation und vor allem durch ihre
innere Notlage, ihre Angst vor Schande, bestimmt wird. Friedrich
der Große schaffte 1740 die Strafe des Säckens ab und Beccaria
ward späterhin (1764) zum beredten Verteidiger jener unglücklichen
Frauen: ,,Wie sollte die, welche die Wahl hat zwischen der Schande
' V. Liszt, Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen
Strafrechts. Besonderer Teil Bd. V, S. 106 ff.
^ L. Günther, Die Strafrechtsreform im Hufkiärungszeitalter. Gross'
Archiv Bd. 28, S. 246 ff.
124
und dem Tod eines für Leiden noch unempfindlichen Wesens, nicht
diesen dem unausbleiblichen Elend vorziehen, dem sie und der unglück-
liche Sprößling ausgesetzt sein werden?!"^
Kreittmayr blieb von solcher Enhvicklung unberührt. Rückständiger
noch als die tastenden Versuche der Carolina bedroht er den Kindesmord
mit der Strafe für gemeinen Totschlag und bemerkt mit unverständigem
Staunen, daß „manchen Rechtsgelehrten die Ordinari-Sfa-aff hart zu sein"
scheine.^ Der Lehre Carpzovs folgend, daß die Verheimlichung der
Schwangerschaft eine Präsumtion für den Vorsatz des Kindesmords
bedeute,^ soll jede ledige Weibsperson, die heimlich niederkommt und
deren Kind tot aufgefunden wird, mit der Entschuldigung, sie habe
ein totes Kind geboren, „nicht angehört, sondern für eine Kindes-
mörderin gehalten und mit dem Schwert am Leben bestrafft werden"
(cap. VII, § 21). Hier sei, meint Kreittmayr, das bisherige Recht
„mehr in favorem als in odium feminarum" abgeändert, denn —
eine erschreckende Spitzfindigkeit! — nach den alten bayerischen
Gesetzen forderte man ausdrückliches Leugnen der Schwangerschaft,
jetzt aber brauche bis zur Niederkunft die Frau ihren Zustand nicht
zu offenbaren!^ In verhängnisvoller Weise hat sich der Gedanke
eines solchen Mißtrauens gegenüber der unglücklichen Mutter, die
ihren Zustand verheimlicht hat, lange behauptet und noch in Feuer-
bachs Strafgesetzbuch zu einer gesetzlichen Sanktionierung von
Verdachtstrafen beim Kindesmord geführt.
In solch harten Strafdrohungen spricht sich neben dem Einfluß
kirchlicher Vorstellungen über die Sündhaftigkeit unmoralischer
Handlungen der Äbschreckungscharakter des Kreittmayrschen
Strafensystems aus, der in Verbindung mit einem unnachsichtlichen
Vergeltungsdrang jeden Terrorismus rechtfertigte. Von solchen
Voraussetzungen aus muß, wie es Fe u erb ach Kreittmayr vorwarf,
„ein Gesetzgeber seine unbedachtsame Strenge in immer wachsender
Progression zum Extrem aller möglichen Grausamkeiten hinaufsteigern,
damit der vorige Stachel, gegen welchen sich immer die Gemüter
abstumpfen, eine neue schneidende Spitze bekomme". Dabei blieb
solch blutige Strafjustiz im Kampf gegen das Verbrechertum letzten
Endes ein untaugliches Mittel: die Zahl der Verbrechen nahm zu,
„so wie sich die Galgen und Räder an den Landstraßen mehrten"!^
' Cesare Beccaria, Über Verbrechen und Strafen. Übersetzt von
K. Esselborn. Leipzig 1905. S. 153.
- Anmerkungen über den Cod. Jur. Bav. Crim. Änm. a zu cap. III, § 19.
' Pract. Nov. Rer. Crim. Qu. 15, Nr. 51.
* Anm. zum Codex, Änm. c zu cap. VII, § 21.
'- Leben und Wirken Bd. I, S. 132.
125
Mit solch drakonischen Strafen wetteiferte ein System rigoroser
kriminalpolitischer Sicherungsmittel. So modern der Gedanke eines
den Straf Sanktionen angegliederten Systems sichernder Maßnahmen
anmutet, sie waren bei dem Mangel jeglicher rationeller Vollzugs-
vorschriften und dem trostlosen Tiefstand der alten Zucht- und
Werkhäuser nicht viel anders als eine Legitimierung reiner Kampf-
maßnahmen gegen das Verbrechertum, wobei die wenigen, im Interesse
der Rechtssicherheit gezogenen Schranken der Strafjustiz fielen und
der des Verbrechens Verdächtigte selbst ohne die bescheidenen
Rechtsgarantien des alten Strafrechts den allmächtigen Staatsorganen
gegenüberstand. Dabei wurden die verhängten Maßnahmen von den
Betroffenen kaum minder einschneidend empfunden als die eigentlichen
Kriminalsh-afen. Ist doch die Freiheitsstrafe, die im Mittelpunkt des
modernen Strafensystems steht, ursprünglich als — wichtigste —
„bloße" Sicherungsmaßnahme verhängt worden. Die Carolina kennt
neben der Sicherungshaft von unbestimmter Dauer (Straff oder Ver-
sorgung a 176) nur ausnahmsweise die Androhung der Freiheitsstrafe
subsidiär neben Geldstrafe (a 157). Kreittmayr betont zwar aus-
drücklich, „Gefängnuss dient nicht nur zur Verwahr, sondern auch
zur Straff" (Änm. zum Codex Tl. I, cap. I, § 9e), doch ist auch bei
ihm im Gesetz Freiheitsstrafe nur in wenigen und nicht bedeutenden
Fällen angedroht. Häufiger war die Verhängung von Gefängnis als
„poena extraordinaria", wie man ja überhaupt aus dem gesetzlichen
Strafensystem des Codex Juris Bavarici allein kein zutreffendes Bild
der damaligen Strafrechtspflege erhält.
Am schärfsten prägt sich der rigorose Charakter jenes Sicherungs-
rechts auf dem Gebiet aus, wo — man kann sagen: durch Jahrhunderte
hindurch — die staatliche Ordnung in schwerem Kampfe mit einer
gewohnheitsmäßigen, schwer faßbaren Form chronischer Kriminalität
begriffen war: begünstigt durch die nur dünne Besiedelung des platten
Landes, die staatliche Zerrissenheit, die machtlose, schlecht organisierte
Exekutive erwuchs den Territorien in dem berufsmäßigen Bettler- und
Vagabundentum eine unversiegbare Quelle ständiger Beunruhigungen.^
Diesen Leuten trat man mit äußerster Rücksichtslosigkeit entgegen.
Kreittmayrs Codex bringt einen Katalog solcher Persönlichkeiten, der
nicht ohne kulturhistorisches Interesse ist: Bettler, Vaganten, Stationierer,
Wallfahrter, Pilger, Gartenknechte, abgedankte Soldaten, fahrende Schüler,
verstellte Pfaffen, Klausner, Eremiten, Pfannenflicker, Spielleut, Schergen,
Freileut, Schinder u. dgl. (Tl. 1, cap. IX, § 1). Werden solche Personen
' Vgl. R. Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege. Leipzig 1895.
S. 178 H.
126
„aui dem Bettel -Vagiren oder Müssiggang betreten", so werden sie, falls
sie nicht Bayern sind, gegen geschworene Uriehde und Huibrennung
des Buchstabens B des Landes verwiesen. Werden sie ein zweites Mal
in Bayern aufgegriffen, so werden sie „als Verächter des Chur- und
landesfürstlichen hohen Gebotes" — hier wird die besondere Bewertung
des Verbrechens als Verletzung obrigkeitlichen Willens offenbar — „von
dem Leben zum Tode, und zwar die Mannsbilder mit dem Strang, die
Weibsbilder aber mit dem Schwert hingerichtet.. ." (ebendort). Eine
Brutalität, die in gar keinem Verhältnis zu der oft nur geringen
kriminellen Energie ihrer einzelnen Opfer stand und die sich nur
als Konsequenz des untauglichen, aber immer wieder unternommenen
Versuchs erklärt, Massenerscheinungen allein mit strengen Strafen
zu begegnen. Dabei trat man im Prozeß diesen Leuten von vorn-
herein mit einem noch stärkeren Mißtrauen als anderen Verdächtigen
entgegen. Die Folter durfte ihnen gegenüber auch bei Nicht -Kapital-
verbrechen angewandt werden (Tl. II, cap. VIII, § 6). Werden sie
„an abseitigen Orten", mit Dietrichen, Leimruten, Gewehr od. dgl.
„oder sonst etwas mehr als andere gemeine Bettler und
Müßiggänger verdächtig" befunden, so werden sie ohne Anfrage
auf die Reck gezogen. Bekennen sie. hier nichts, so „sind selbe
ebenfalls ohne weiteren Prozeß und Anfrage wenigist auf Jahr und Tag
wegen des verbotenen Bettels und Müßiggangs in das Arbeitshaus
mit Determinierung deren alldort zu empfangenhabender Carbatsch-
Streichen zu liefern" (Tl. 1, cap. XI, § 5). Ein Hinwegsetzen über
anerkannte Grundsätze des damaligen Strafrechts glaubte man den
„verschreyt- und in öffentlichen Charten beschriebenen Dieben oder
Räubern oder dergleichen fürchterlich- und gefährlichen Leuten"
gegenüber — also da, wo man einmal einer wirklich ernsthaften
Kriminalität gegenüberstand, zu rechtfertigen: Während sonst die
ausgestandene Tortur vor jedem Verdacht reinigte und zum völligen
Freispruch führen mußte, sind diese Leute „auch post Torturam nicht
zu entlassen, sondern in dem Arbeitshaus lebenslänglich oder doch
auf lange Jahre einzusperren, weil solches nicht so viel zur Straff
als guter Disziplin anzusehen ist" (Tl. II, cap. VIII, §22).
Solch harte Strafjustiz, in der etwas wiederklingt von dem Pathos
des vollendeten Fürstenabsolutismus, wurde noch begünstigt durch die
Ansprüche klerikaler Intoleranz. Der Kurfürst stellte, seiner allgemeinen
Politik einer „ausschließlichen Katholizität" des Landes entsprechend,
das weltliche Recht völlig in den Dienst der katholischen Kirche,
Nicht nur wird der Abfall vom Katholizismus zum Heidentum und
Judentum mit Schwert und Güterkonfiskation bestraft (Tl. I, cap. VII,
§ 4), sondern — im Zeitalter Friedrichs des Großen und Voltaires —
127
aufs neue die Ketzerei strafrechtlicli geahndet. Diejenigen, die den
„Christ -katholischen Glaubensartikeln widerige Meinungen wissentlich
hegen und verfechten", sollen zunächst von der Geistlichkeit unter-
richtet werden. Bleiben sie darnach „halsstarrig", so sind sie „des
Landes gegen geschworene Urfehd auf ewig zu verweisen oder ein-
zusperren und mit geringer Kost so lang in Verwahr zu halten, bis sie
ihren Fehler erkannt, abgelegt und widerrufen haben" (Tl. I, cap. VII,
§ 5). Nun aber die qualifizierten Fälle: „Aufwieglerische" Ketzerei
wird mit dem Schwert und Verbrennen des Leichnams, „leichtfertige"
Ketzerei willkürlich gestraft (ebendort). Darüber, ob eine Handlung oder
Äußerung gegen die Lehren der katholischen Kirche verstößt und eine
offenbare Ketzerei darstellt, entscheidet das geistliche Gericht der Kirche.
Einer ähnlichen Gedankenwelt entstammen die Bestimmungen über
die Bestrafung von Zauberei und Hexentum. Während die Carolina
dieses Verbrechen zu säkularisieren suchte und die ordentliche Strafe
des Feuertodes auf die Fälle beschränkte, wo die Zauberei einen
objektiven Schaden verursacht hatte (a 109), bedrohten die Sächsischen
Konstitutionen das Teufelsbündnis als solches — also ein rein geistiges
Delikt — mit dem Feuertod, die Schadenszufügung durch Zauberei
aber mit dem Schwert.^ Carpzov, bei dem die fanatische Härte
seiner strafrechtlichen Wirksamkeit nicht zuletzt auf seinem Glauben
beruhte, mit der Strafjustiz die sittlichen und religiösen Grundlagen
des Volkslebens stützen zu müssen, folgte der sächsischen Praxis und
verhalf ihr zu nachhaltigem Einfluß." Doch lebte späterhin, wie die
Tübinger Konzilien zeigen, in der Praxis die Tendenz auf, im Gegensatz
zu Carpzov zu der milderen Auffassung der Carolina zurückzugehen:
„cui inhaerere potius convenit quam textui vim inferre."^ Kreittmayr
dagegen folgt in Wort und Sinn völlig Carpzovs Vorbild. Teufels-
bündnis wird mit lebendiger Verbrennung, Schadenszufügung durch
Zauberei mit dem Schwert, abergläubische Possen und Künste mit
geringerer Strafe geahndet (Tl. I, cap. VII, § 7).*
^ Schletter, Die Konstitutionen Kurfürst Augusts von Sachsen.
Leipzig 1857. S. 315 ff.
- Vgl. Nov. Pract. Qu. 49, Nr. 23 ff.
° M. Grass, CoUationes iur. civ. Rom. Tübingen 1723. In: R. Hegler,
Die prakt. Tätigkeit der Juristenfakultäten. Freiburg 1899. S. 25.
* Mit kindlichem Anthropomorphismus wird in den Anmerkungen zu
dieser Bestimmung die Huldigung vor dem Teufel bei versammeltem Hexen-
tanz am Sonntag früh in der Kirche geschildert. Kreittmayr steht hier ganz
in der Gedankenwelt Carpzovs und des Frölichschen Carolinenkommentars.
Für die lebendige Darstellung jener märchenhaften Vorgänge aber war seine
Quelle der protestantische Kirchenrat Joh. Georg Wal eh. Dessen Philoso-
phisches Wörterbuch brachte noch in späteren Auflagen neben realistischen.
128
So wurden denn noch einmal Ketzerei und Hexenwahn gesetzlich
sanktioniert. Ein halbes Jahrhundert nachdem Thomasius Ketzerei
als Irrtum, als Fehler des Intellekts, nicht des Willens erklärt und
gezeigt hatte, daß man zwar von einer geistigen Wirkung des Teufels,
Verführung zu schlechtem Lebenswandel, der alle Menschen unterliegen,
reden kann, daß aber Bündnisse und Buhlschaften mit dem Teufel
ein Ding der Unmöglichkeit sind/ Und jener bayerische Stiftsdechant
und Pfarrer zum heiligen Peter in Neuburg, Leonhard Mayr, der sein
Sterberegister vom Jahre 1630, in das er wieder den Namen von so
mancher hingerichteten Hexe aufnehmen mußte, schloß mit den Worten:
„Sic annus finem habuit, faxit Deus, ut finem quoque habeat ille
modus procedendi plurimum suspectus"^ — er wäre durch Kreittmayr
aufs neue enttäuscht worden. Alle Bedenken und Proteste der Zeit,
in der bereits die Morgenluft der Hufklärung fühlbar wurde, bewegen
ihn nur zu der Warnung: „nicht alles, was dem menschlichen schwachen
Verstände unergründlich scheint, gleich für Hexenwerk und Aberglauben
anzusehen" (cap. VII, § 7). Innerlich stand er selbst jedenfalls kaum
über den Vorurteilen orthodox kirchlicher Kreise. Er selbst war im
Jesuitenkolleg erzogen, sieben seiner Schwestern nahmen den Schleier,
„ob gezwungen oder ungezwungen, fügt der Biograph hinzu, ist ganz
begreiflich unbekannt geblieben".^ So entsprach es seinen eigenen
Anschauungen, wenn neben der Allgewalt des Staates die Ansprüche
der Kirche im Gesetz voll zur Geltung kamen. Auch hier ein An-
knüpfen an das Gegebene, kein zukunftsreiches Fortführen der Gesetz-
gebungsreform, eine Zurückhaltung, wie sie Kreittmayr geradezu als
Verdienst angerechnet wurde : „Ein Gesetzesverfasser dürfe durch-
aus und unter gar keiner Bedingung dem herrschenden Zeit-
geist vorspringen oder vorgreifen."'*
aus Bodinus, Torreblanca und Fausts Leben geschöpften Schilderungen der
Walpurgisnacht auf dem Blocksberg als Apologie gegen die seit den Tagen
des Erasmus einsetzende Kritik einen „historischen Beweis", in dem aus den
Wirkungen des Teufels auf seine Existenz geschlossen wird. Diese Wirkungen
sollten sein: übereinstimmende Aussagen geständiger Hexen und biblische
Erzählungen, die sich nicht rationalistisch, nur magisch erklären lassen. —
Joh. G. Wa Ichs Philos. Lexikon, fortgesetzt u. vermehrt von J. Chr. Hennings,
4. Aufl. Leipzig 1775. S. 1918 H.
^ An haeresis sit crimen? (1697), De crimine magiae (1701). — Dazu:
Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3, I, S. 85u. 91.
- Aus den Akten mitgeteilt in: Lipowsky, Geschichte des bayerischen
Kriminalrechts S. 210.
' Kalb, Biographie des kurfürstl. Staatskanzlers v. Kreittmayr 5.2.
* Kalb, a.a.O. S. 11. — Vgl. Berners Spott: „In unsrcs guten
Kreittmayrs Kopf spukt noch die ganze Walpurgisnacht!" Strafgesetz-
gebung in Deutschland. Leipzig 1867. S. 6.
129
Gehört somit Kreittmayrs Werk, kulturhistorisch betrachtet, einer
schon zu seiner Zeit dem Ende nahen Epoche an, so stellt es auch
rein strafrechtlich einen Ausläufer einer vergangenen Zeit dar. Seine
Zurechnungslehre spiegelt noch einmal die strafrechtlichen Lehren
des 17. Jahrhunderts wieder, die in Benedict Carpzov ihren stärksten
Ausdruck gefunden hatten. Diese späte Kodifikation Carpzovscher
Gedanken ist ein Beweis für den Einfluß Carpzovs auf die Entwicklung
des deutschen Strafrechts, der, an Ruhm und Ansehen nur Bartolus
vergleichbar, über ein Jahrhundert lang Doktrin und Praxis als Autorität
beherrschte.^ Und indem Feuerbach berufen war, Kreittmayrs Codex
durch ein neues Gesetzbuch zu ersetzen, bilden dessen Arbeiten für
die bayerische Strafrechtsreform die große geschichtliche Scheide
zwischen der Gedankenwelt Carpzovs und den Anfängen des modernen
Strafrechts.
Untersucht man Begriff und Formen der strafrechtlichen
Schuld bei Kreittmayr, so ist die Frage vor allem die, ob man über-
haupt im alten Strafrecht in Fällen, in denen einer verschiedenen
inneren Beziehung des Täters zur Tat und zu ihrem Erfolg entsprechend
die Straffolgen differenziert wurden, diese Differenzierung tat-
sächlich auf verschiedene Formen der Verschuldung zurückführte.
Für die Abgrenzung der Tatbestände, die entwicklungsgeschichtlich
zur Rufstellung bestimmter Schuldformen geführt haben, waren zwei
Momente von Bedeutung. Einmal die Notwendigkeit, die vom Gesetz
vorgesehenen Möglichkeiten der Bestrafung den Bedürfnissen
des Einzelfalls anzupassen und sodann die Beweisschwierigkeiten,
mit den Mitteln und den Zielen des Inquisitionsprozesses das Innen-
leben des Täters aufzudecken. Nur wenn man sich klar gemacht hat,
welche Stellung das alte gemeine Recht diesen beiden Problemen
gegenüber einnahm, kann man die schwankende Abgrenzung und die
mangelnde Differenzierung der strafrechtlichen Schuldhaftung verstehen.
Das ältere gemeine Recht war beherrscht von dem Gegensatz
zwischen der von dem Gesetz für einen idealen Normalfall angedrohten
poena ordinaria und der vom Richter der Individualität des einzelnen
Falles entsprechend modifizierten poena extraordinaria. Ein Prinzip,
das dazu half, unzeitgemäße Grausamkeiten veralteter Strafgesetze
gewohnheitsrechtlich außer Kraft zu setzen, das aber wegen seiner
Gefahr für die Autorität des positiven Rechts von den Kritikern der
Äuiklärungszeit und namentlich von Feuerbach nicht weniger scharf
als die alten Gesetze selbst bekämpft wurde. ^ Kreittmayr überließ
' Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 2. Äbtlg.
München und Leipzig 1884. S. 61.
- Vgl. oben Kap. I, S. 24 f.
130
die Modifikation der gesetzlich vorgesehenen Strafe nicht völlig richter-
licher Willkür, indem er ein Abgehen von der „ordinari Straff" nur
bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung oder per analogiam juris
zuließ (Tl. I, cap. I, § 13). Dieser Bindung des Richters an das
positive Gesetz entsprach eine Stärkung der Autorität des erkennenden
Gerichts: die gemeinrechtlich übliche Äktenversendung an höhere
Kollegien wurde verboten, statt dessen sollten die Richter selbst
zweifelhafte Fälle „ex aequitate et analogia juris ihrem besten Wissen
und Gewissen nach ohne Änfrag" entscheiden und lediglich hinterher
an den geheimen Rat berichten, der dann eine eventuelle Gesetzes-
änderung erwägt.^ Von diesen Prinzipien galt als wichtigste Ausnahme
die Bestimmung, daß bei einer strafwürdigen Handlungsweise eines
Bettlers und Vagabunden, die nicht unter einen bestimmten Tatbestand
des Gesetzes fällt, der Fall „zu denen churfürstlichen Dikasteriis ein-
berichtet und die Decision, wie derselbe zu bestrafen sein möchte,
von dort erwartet werden" sollte (Tl. I, cap. II, § 10).
Auch über diesen Sonderfall hinaus bot das Gesetz mannigfachen
Anlaß, die Strafe den Bedürfnissen des Einzelfalls entsprechend zu
modifizieren. In vielen Fällen ist vom Gesetz eine willkürliche, d. h.
absolut unbestimmte Strafe angedroht, sodaß der Richter zwar, ob er
strafen soll, dem Gesetz, wie hoch aber, eigenem Ermessen entnehmen
muß. Dazu kennt das Gesetz eine große Zahl von Milderungsgründen,
die in den Fällen, in denen eine bestimmte Strafgröße angedroht ist,
zur willkürlichen poena extraordinaria berechtigen. Nimmt man hinzu,
daß für zahlreiche Delikte als ordentliche Strafe die Todesstrafe angedroht
war, und Kreittmayr, eine alte Kontroverse „in mitiorem" entscheidend,
bei willkürlicher Strafe die Todesstrafe ausschloß, so ist klar, daß auch
nach dem Kreittmayrschen Gesetzbuch für die Urteilstätigkeit des
Richters die Frage von höchster Bedeutung war, ob die bestimmte
ordentliche Strafe oder die nach Größe und Art vom
Ermessen des Richters abhängige poena extraordinaria
anzuwenden sei.
Dieser Fragestellung erwuchs eine weitere besondere Bedeutung
aus dem Verhältnis prozessualer Besonderheiten zur Anwendung
der poena extraordinaria. Kreittmayr huldigte dem alten Inqui-
sitionsprozeß, der von dem Gegensatz zwischen einem grenzenlosen
Mißtrauen gegen den Beschuldigten und einer weitgehenden Vorsicht
von unendlicher Naivität, die einen allgemeingültigen Nachweis absoluter
Wahrheit zur Verurteilung forderte, durchzogen war. Hierin liegt die
psychologische Wurzel der Tortur und der ganzen Ausprägung, die der
* Mandatum praemissum zum Codex Juris Bav. Crim.
131
Inquisitionsprozeß und sein Beweisrecht bei den italienischen Juristen
in den Formen erhalten haben, die in Deutschland rezipiert wurden.
So knüpfte man die Verhängung der gesetzlich angedrohten Strafe an
die Erfüllung gesetzlicher Beweisregeln, in denen man eine Garantie
objektiver Wahrheit zu sehen glaubte — und konnte sich doch nicht
entschließen, wenn jene Beweisregeln nicht erfüllt waren, den Ver-
dächtigen frei laufen zu lassen. So entstand das absurde Kompromiß
der milderen poena extraordinaria als Verdachtstrafe. Diese Lehre
der italienischen Doktrin behielt ihren unheilvollen Einfluß durch das
ganze ältere gemeine Recht. ^ Ihre Nachwirkung ist noch bei Feuer-
bach fühlbar. Bei Kreittmayr sind Folter- und Verdachtstrafe in
vollem Umfang in Geltung. Dem a 22 CCC entsprechend ist zur
Verurteilung zur ordentlichen Strafe — „sonderbar da es an Leib
und Leben gehen soll" — „ein vollständiger sonnenklarer
Beweis von Nöten, welcher auf zweierlei Weis, nämlich die Bekenntnis
des Delinquenten oder desselben gänzliche Überweisung (d. h. durch
zwei klassische Zeugen) bewirket wird" (Tl. II, cap. V, § 1). Andere
Umstände, aus denen sich die Tat „rechtlich vermuten" läßt, Indizien
führen nur zur peinlichen Frage oder — zur „extraordinari Straff".
Dieser prozessualen Regelung entspricht die materiellrechtliche Bestim-
mung, daß ein Mangel im Beweis zur Verwandlung der ordentlichen
in die willkürliche außerordentliche Strafe berechtigt (Tl. I, cap. I, § 24).
Die Schlußbestimmung des materiellen Teils (Tl. I, cap. XII, § 11)
bedroht allgemein den Verdacht eines Verbrechens mit außerordentlicher
Strafe. So führte polizeistaatliche Ängstlichkeit im Verein mit jener
beweisrechtlichen Naivität zu der grotesken Schöpfung: dem Ver-
brechen, eines Verbrechens verdächtig zu sein!
Im übrigen ist der Inquisitionsprozeß bei Kreittmayr besonders
rigoros ausgestaltet. Das ehrliche Bestreben der Carolina, durch bis
ins einzelne gehende Anweisungen an den Richter, der im Inquisitions-
prozeß zugleich Defensor sein sollte, die Verteidigung des Angeklagten
sicherzustellen, da „mancher aus Einfalt und Schrecken nit fürzuschlagen
weiß, ob er gleich unschuldig ist" (a 47), ist hier keineswegs fortgesetzt.
Die Pflichten des Richters, für die Verteidigung des Angeklagten zu sorgen,
sind eng begrenzt, ein Entlastungsbeweis aufs äußerste erschwert. Dem
Angeklagten soll der Inhalt der einzelnen Zeugenaussagen vorenthalten
werden (Tl. II, cap.V, § 20). Ausdrücklich wird davor gewarnt, den
„rechtlichen Favor" beim Entlastungsbeweis zu weit auszudehnen,
d. h. dem von Carpzov befürworteten Gedanken zu sehr nachzugeben,
* Liepmann, Gedanken über den Rechtsirrtum. Z. Str.W. 39, S. 533.
Auf diese Abhandlung sei hier auch für die unmittelbar folgende Dar-
stellung verwiesen.
132
daß der Nachweis von Momenten, die zugunsten des Angeklagten
spreclien, nicht an die strengen Voraussetzungen des formalen Schuld-
beweises geknüpft sei.^ „Zwanzig Unschuldige auf dem Schaffot oder
im Zuchthaus" scheinen nach einem Wort Feuerbachs dem Urheber
solcher Bestimmungen lieber zu sein, als wenn „ein Schuldiger den
Händen der Gerechtigkeit entschlüpft"!^
In welcher Weise haben nun diese Momente auf die Ausgestaltung
der Zurechnungsprinzipien und Schuldformen gewirkt? Kreittmayr hat
bereits im Gegensatz zu Carpzov einen allgemeinen Teil: „Von denen
Criminalverbrechen und Straffen überhaupt", aber trotzdem sind auch
bei ihm wichtige Fragen der Zurechenbarkeit, vor allem die Abgrenzung
des Dolusbegriffes in der seit den Postglossatoren üblichen Weise bei
den Tötungsdelikten behandelt. „Ein Verbrechen wird begangen", heißt
es in den einleitenden allgemeinen Bestimmungen (Tl. I, cap. I, § 3),
„da man gegen das Gesetz etwas tut oder unterlasset, und zwar ent-
weder aus gefährlichem bösem Fürsatz oder aus merklichem Versehen,
zu Latein dolo vel culpa ..." Und die Anmerkungen fügen hinzu:
„. . . wo keins von beiden ist, da ist auch kein Verbrechen, folglich
keine Straff." Wie es scheint, eine klare und eindeutige Ausprägung
des Verschuldungsprinzips. Und doch zeigt eine nähere Untersuchung,
daß bei Kreittmayr keineswegs Vorsatz und Fahrlässigkeit als
selbständige Schuldformen gedacht sind.
Eine Legaldefinition des Vorsatzes findet sich im Codex Juris
Bavarici Criminalis nicht. In den Anmerkungen bestimmt Kreittmayr
den Vorsatz als die „böse Meinung, dem andern Schaden zu
tun", und er versteht darunter sowohl die Fälle, in denen der Täter
„das ausgeübte Verbrechen schon vorgehabt", als auch die, in denen
er „in böser Meinung, Schaden zu tun, etwas unternimmt, woraus
die verübte Übeltat gemeiniglich zu erfolgen pflegte, ob man schon
selbe in specie nicht vorgehabt hat" (Anm. zu Tl. I, cap. I, § 3b).
Diese Begriffsbestimmung entspringt einer Lehre, die, von Carpzov
stark beeinflußt, in der Entwicklung freilich schon über ihn hinaus
gediehen war. Carpzov ging nicht von einer allgemeinen Unter-
suchung der Zurechenbarkeit zur Schuld aus, sondern er fragte
nach dem Umfang der Strafbarkeit. Auf homicidium simplex
dolosum steht als poena ordinaria für Totschlag das Schwert. Ein
solcher vorsätzlicher Totschlag ist normalerweise ex voluntate et animo
occidendi begangen. Quid autem, si animus occidendi desit? . . . Anne
delinquens poena mortis sive gladi puniri debeat?'^ Ungezählte Morde
' Carpzov, Pract. Nov. Rcr. Crim. Qu. 115, Nr. 75.
■' Leben und Wirken I, S. 13L
» Pract. Nov. Rcr. Crim. Qu. 1, Nr. 15.
133
blieben ungesühnt mit Hilfe der Ädvokati, „quorum Studium plerumque
est lites ac inquisitiones protrahere", wenn die ordentliche Strafe auf
die Fälle beschränkt bliebe, in denen eine unmittelbare Tötungsabsicht
nachgewiesen ist/ Carpzov entscheidet daher jene Frage dahin, daß
derjenige, der einem andern eine Verletzung beibringt, welche allgemein
geeignet war, den Tod herbeizuführen, auch wenn er den Tod des
andern nicht gewollt hatte, geradeso mit der poena ordinaria bestraft
werden müßte, wie wenn er den Tod beabsichtigt hätte: ac si habeat
animum occidendi." Wer auf einen andern mit einer lebensgefährlichen
Waffe losgeht, lediglich um ihn zu verwunden, wird mit der Strafe
des vorsätzlichen Totschlägers bestraft, wenn der andere an seinen
Verletzungen stirbt. Mit dieser Entscheidung rezipierte Carpzov die
bei den Postglossatoren durch den Einfluß des Baldus zur Herrschaft
gebrachte Doctrina Bartoli.^
Hierbei handelt es sich für Carpzov zunächst keineswegs darum,
den Begriff des Tötungsvorsatzes inhaltlich zu erweitern, als viel-
mehr die Anwendbarkeit der poena ordinaria auf Fälle auszudehnen,
in denen der durch Menschenhand verursachte Tod eines andern nicht
beabsichtigt — oder aber diese Absicht nicht nachweisbar war.
Diesen Gedanken drückt er auch in der Weise aus, daß in diesen
Fällen der gleiche, aber als solcher nicht beweisbare animus
occidendi präsumiert wird. Der gleiche Vorsatz ist, ohne an Inhalt
und Umfang geändert zu sein, um seiner Unerweislichkeit halber ein
dolus praesumtus. Wer mit dem Schwert den andern anfällt und
ihn tödlich trifft, dem wird nicht geglaubt, daß er ihn nicht töten
wollte und er wird deshalb so bestraft, als ob er ihn animo occidendi
getötet hätte. Quia seit aut sattem scire debebat, certo et destinato
modo vulnus praesertim gladio vel simili instrumento ad homicidium
perpetrandum apto dari non posse, in effectu negari nequit, quin talis
habeat animum occidendi . . .*
* Qu. 1, Nr. 42. Auch Stintzing, Geschichte der deutschen Rechts-
wissenschaft II. Abt., 1884, S. 77, legt entscheidendes Gewicht auf diese
Begründung der Carpzovschen Doluslehre. — ' Qu. 1, Nr. 28.
'■' Vgl. hierüber Engclmann, Die Schuldlehre der Postglossatoren.
Leipzig 1895. S.77 ff. — Bartolus (Digest, ad nov. ad 1. Corn. de sie, 1. divus,
Nr. 7): Si quidem delictum, quod principaliter facere proposuerat, tendit ad
illum finem, qui secutus est, et tunc inspicimus eventum. Baldus spricht
ausdrücklich davon (Lectura in Codice IVmandati 1. si mandati), daß derjenige,
der einen andern in der Absicht, ihn nur zu verwunden, mit einer Waffe
verletzt, die aptum ad inferendum mortem ist, zu bestrafen sei: ac si habuis-
set animum occidendi. (Zitiert bei Engelmann S. 79 f.)
* Qu. 1, Nr. 28. Lobe, Die allgemeinen strafrechtlichen Begriffe nach
Carpzov, Leipzig 1894, S. 13, sieht hierin keine Dolus-Präsumtion, sondern
meint, hier werde das Bewußtsein der Möglichkeit des Erfolges beim Gebrauch
gefährlicher Werkzeuge lediglich „angenommen".
134
Mit diesen Lehren hätte sich Carpzov begnügen können, um die
Schwertstrafe auch für die tödlich verlaufenen, generell gefährlichen
vorsätzlichen Verletzungen zu rechtfertigen. Wenn er weiterhin ver-
sucht, den Tötungsvorsatz auch inhaltlich begrifflich auf jene Fälle
zu erweitern, so ist das ein Beweis dogmatischer Unklarheit in den
grundlegenden Fragen der Zurechnungslehre. Sonst hätte er erkennen
müssen, daß Präsumtion des animus occidendi und Erweiterung des
Dolus -Begriffes sich ausschließen. Denn wenn eine erweiterte Dolus-
Form jene Yerletzungsfälle umfaßt, braucht nicht der enge animus
occidendi präsumiert zu werden. Indessen sah sich Carpzov zur
Erweiterung des materiellen Dolus-Begriffes durch die Doktrin gedrängt,
daß bei Kapitalverbrechen dolus requiratur nee lata culpa dolo aequi-
paretur.^ Um dieses — auch von Kreittmayr vertretenen — Satzes
willen bemühte sich Carpzov nachzuweisen, daß er nicht etwa in
Fällen, wo in Wahrheit fahrlässige Tötung vorliegt, dolus fingiere,
sondern daß tatsächlich derartige lebensgefährliche Verletzungen
unter den Begriff der vorsätzlichen Tötung zu subsumieren seien.
Die Gedankengänge, die Carpzov zur Lösung dieser Aufgabe
heranzog, lassen sich auf den Satz des kanonischen Rechts zurück-
führen: Versanti in re illicita imputantur omnia, quae sequuntur ex
delicto.^ Hiermit war im kanonischen Recht freilich kein allgemeines
Zurechnungsprinzip ausgesprochen, sondern nur ein Maßstab für die
Frage gegeben, wann ein homicidium Irregularitätsgrund sei, d. h. wann
derjenige, der den Tod eines Menschen verursacht hat, nicht mehr
der geistlichen Würden der katholischen Kirche teilhaftig sein darf.^
Jene Regel hat sich mit fortschreitender Rechtsentwicklung aus einem
Privilegierungs- in ein Qualifizierungsmoment verwandelt.* Gegenüber
einer unbegrenzten Erfolgshaftung bedeutet sie eine Ausnahme zugunsten
des Handelnden, indem sie die Zurechenbarkeit des Erfolges von einem
subjektiven Moment abhängig machte, von der rechtswidrigen Absicht
oder der Nachlässigkeit bei der vorausgegangenen Handlung, während
' Qu. 1, Nr. 51.
■ Vgl, Bernard Papiensis, Summa decretalium (Editio Laspeyres
1860) Lib. V, Tit. 10, §5: „ . . . distingue, an ille, qui casu occidit, instabat
licito operi et adhibuit illam diligcntiam, quam debuit, an non; primo casu
non imputatur sibi sed casui et fato et fortunae . . . , alioquim si vel non
instabat operi licito vel non adhibuit illam diligentiam, quam debuit, sibi
dcbet imputari."
•"* Vgl. Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts Bd. I.
Berlin 1S69. S. 41 f. — Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts Bd. I.
Leipzig 1895. S. 136 ff. — Binding, Normen IV. Bd., S. 115.
' Das Folgende nach KoUmann, Die Lehre vom Versari in re illicita
im Rahmen des Corp. Jur. Can. Z. Str. W. 35, S. 46 ff.
135
sie vom Standpunkt ausschließlicher Schuldhaftung eine vom Geist
der Kasualhaftung bedingte Anomalie darstellt.
Aus dem Gedanken, daß man für alle Folgen einer schuldhaften,
verbotenen Handlungsweise einstehen muß, läßt sich auf zwei Wegen
ein erweiterter Dolus -Begriff ableiten. Entweder man sieht von einer
psychologischen Beziehung zum speziellen Erfolg überhaupt ab und
sucht den Dolus allein in dem inneren Verhältnis zu der voran-
gegangenen Handlungsweise, man stellt lediglich fest, der Täter hat
überhaupt dolos gehandelt: Dolus generalis. Oder aber man
setzt die eingetretene Folge als Konsequenz der beabsichtigten Handlung
mit dem Willen zu dieser Handlung in Beziehung: Dolus indirectus.
Von diesen Lösungsmöglichkeiten ist die zweite in der geschichtlichen
Entwicklung ungleich stärker ausgeprägt v/orden.^ So trat auch bei
Carpzov zu dem dolus directus im Sinne des alten animus occidendi
ein neuer materiell anders gearteter Dolus -Begriff, die Beziehung des
Willens auf die Folgen des unmittelbar Gewollten: Dolus indirectus. -
Der Mann, dessen Gedankenarbeit Carpzov hier übernahm, war
der Spanier Covarruvias, der gelehrt hatte: wer die verursachende
Handlung will, der will damit auch zugleich alle Folgen, die sich
normalerweise unmittelbar aus ihr ergeben; wer einen anderen absicht-
lich schwer verletzt, der hat auch den Tod gewollt, wenn jener an
seinen Wunden gestorben ist.^ Auf Grund dieser Doktrin stellte
Carpzov neben den Dolus directus (quando quis animum habet occidendi)
den Dolus indirectus als zweite Form des materiellen Dolus -Begriffes:
indirecte autem et per accidens fertur voluntas in homicidium, quoties
* Es findet sich auch der dolus generalis bei Carpzov (Qu. 1, Nr. 29).
Jedoch ist für die Entwicklung des gemeinrechtlichen Dolus -Problems und
seine Ausprägung bei Kreittmayr der dolus indirectus ungleich wichtiger.
Über die Entstehung und die (geringe) Bedeutung des dolus in gcnere
im italienischen Recht vgl. Engelmann, Schuldlehre der Postglossatoren
S. 75 und 103 f.
' Hälschncr, System des preußischen Strafrechts I. Bonn 1858.
S. 131 f. — Lobe, Die allgemeinen strafrechtlichen Begriffe nach Carpzov
S. 12 f., bestreitet einen wesentlichen Unterschied zwischen dolus generalis
und dolus indirectus. Die obige Darstellung sieht im dolus indirectus
eine — mittelbare — Beziehung des Willens zum Erfolg, während beim
dolus generalis entweder überhaupt keine Beziehung des Willens zum Erfolg
oder nur zu einem generalisierten Erfolg (dolus cum obiecto generali) ver-
langt wird. Vgl. auch Engelmann, Schuldlehre der Postglossatoren S. 104f.
^ Covarruvias, Relcct. Clement, p.ll de homic. Init Nr. 1: ...voluntas
cnim percutientis fertur in percussionem et in omne id, quod immediate
et per se, non per accidens ex eo fuerit secutum et sie in homicidium
ex percussione per se et immediato secutum. Zitiert bei Engelmann,
a. a. O. S. 108, Änm. 7.
136
fertur in id, ex quo immediate et per se, non per accidens homicidium
sequitur.^ So braucht Carpzov bei absichtlicher lebensgefährlicher
Verletzung den Tötungsvorsatz nicht mehr zu präsumieren, denn der
Täter wollte — zwar unmittelbar nur die Verletzung, mit ihr aber
„mittelbar'' den Tod. Darum trifft ihn wie jeden andern Totschläger
die Schwertstrafe. Das war Ausgangspunkt und Ziel der Carpzovschen
Untersuchung: Verissima ergo manet haec nostra sententia, quod
nimirum poena gladii seu ultimo supplicio afficiendus sit non solum
ille, qui animo occidendi aliquem interfecit sed et qui doloso ac pravo
animo percussit gladio nolens ipsum occidere, si mors subsecuta fuerit."
Huch Leyser geht an die ganze Frage vom Standpunkt des
kriminalpolitischen Strafbedürfnisses heran: diejenigen, welche die ordent-
liche Strafe nur bei animus occidendi directus zulassen, saepe homicidis
elabendi occasionem praebent.^ Dabei verläßt Leyser Carpzovs Stand-
punkt insofern, als er an Stelle des Ausdrucks dolus indirectus, „ut male
appellatur", dievoluntasnocendi setzte. Darin lag eine Einschränkung,
indem hiernach der Tod nicht als vorsätzlich verursacht galt, wenn er
die Folge harmloser Gesetzesverletzungen war: verbotene Feiertags-
arbeit, übermütiges Abfeuern einer Kanone, Spielerei mit Waffen am
unrechten Ort und so fort.^ Nur wenn der Tod die Folge einer
Handlungsweise war, die mit einer allgemein auf Schädigung gerichteten
Absicht begangen war, die keine Beziehung zu dem speziellen Delikts-
tatbestand zu haben braucht, gilt der Tod als vorsätzlich verursacht. In
ähnlicher Weise findet sich diese Vorsatzform bei Samuel Boehmer,
der den Carpzovschen Voraussetzungen ähnlich wie Leyser einen animus
laedendi hinzufügte.^ Später hat Boehmer den Begriff erheblich um-
gestaltet. Dabei macht sich eine Verschiebung des Ausgangspunktes
geltend. Es handelt sich nun nicht mehr um eine bloße Frage der
Strafbarkeit, sondern Boehmer geht von einem einheitlichen Zurechnungs-
prinzip, der Willensschuld, aus. Wer beabsichtigt, einen andern auf
eine Weise zu schädigen, von der er weiß — non enim sufficit cogitare
debuisse — , daß sie den Tod des andern herbeiführen kann, der will
eventualiter den Tod.''
' Qu. 1, Nr. 3L
ä Qu. 1, Nr. 62.
^ Leyser, Mcditationes ad Pandectas. Specimen 597, Nr. 17.
■* Ebendort Specimen 603, Nr. 3.
" Jo. Sam. Fr. Boehmer, Elementa Jurisprudentiae Criminalis Sect. I,
§ 43 und II, § 202. Zitiert nach der 3. Aufl. 1743 (L Aufl. 1732).
" Jo. Sam. Fr. Boehmer, Observationes selectae ad B. Carpzovii
Prac. Nov. Rcr. Crim. Frankfurt a.M. 1759. Observ. II ad quaest. 1, Nr. 62. —
Mcditationes in CCC. Halle -Magdeburg 1770. § V— VIII zu a 137. —
V^i. o.aru: Löiiler, Schuldformen S. 172 ff. — Im Gegensatz zu den Elementa
137
Von Leyser und der auf ihn zurückgehenden, in Boehmers
ersten Schriften vertretenen Auffassung vom dolus indirectus übernahm
Kreittmayr seinen Vorsatzbegriff. Auch er behandelt das Für und
Wider dieser Lehre bei den Tötungsdelikten und bringt den Vorsatz
in seiner doppelten Form, als animus Decidendi directus: „was jener
sei, begreift jedermann leicht!", und als dolus indirectus. Dolus
indirectus ist der „böse Wille, dem andern ohngeacht der dabei ob-
schwebenden Todesgefahr Schaden zu tun" (Änm. zu Tl. I, cap. 111, § 2 a).
Der vorsätzliche Totschlag besteht für ihn nicht „schon in einer
ungebührlichen Handlung, wodurch ein Totschlag begangen wird,
welcher leicht hätte vorgesehen werden können und sollen". Kreittmayr
bringt in Anlehnung an Leyser folgendes Beispiel: „Es schießet einer
auf dem Capuziner- Graben allhier gegen obrigkeitlichen Verbot auf
die Schwalben, trifft dabei unglücklicher Weis einen Vorbeigehenden
und schießt ihn tot." Carpzov würde hier vorsätzlichen Totschlag
annehmen, meint Kreittmayr, weil der Täter „in re illicita versirt".
Aber nach Leyser, dessen Doktrin Kreittmayr folgt, ist er nur
homicida culposus, „weil er zwar ungebührlich gehandelt, jedoch dem
Vorbeigehenden zumal auf eine Tods gefährliche Weis Schads zu tun,
die böse Meinung nicht gehabt hat." Vorsätzliche Tötung im
Sinne eines dolus indirectus würde vorliegen, wenn er „mit Fleiß auf
den Entleibten schießen und denselben nur hätte lähmen oder ver-
wunden wollen" (Hnm. zu Tl. 1, cap- 111, § 2a).
Eine ähnliche entwicklungsgeschichtliche Vergangenheit wie der
Dolus indirectus weist die Culpa auf. Auch hier ist allmählich aus
einer Formel, die eine Berechtigung — nicht wie beim dolus indirectus
zur erweiterten Anwendung — sondern zur Modifikation der poena
ordinaria zum Ausdruck bringen sollte, eine selbständige Schuldform
entstanden. Noch bei Carpzov bedeutet die Culpa nichts anderes
als eine Legitimation für die Anwendung der arbiträren poena extra-
ordinaria in Fällen, in denen die Verhängung der für die „normale",
vorsätzliche Begehung des Delikts angedrohten ordentlichen Strafe zu
hoch erschien und in keinem Verhältnis zur wirklichen Schuld stand. ^
Bei Kreittmayr lassen sich deutlich Spuren dieser Auffassung nach-
weisen, während andere Stellen auf eine beginnende Anerkennung
wird in diesen späteren Schriften Boehmers an Stelle der Möglichkeit
des Bewußtseins des Erfolges (objektiv) das Bewußtsein der
Möglichkeit des Erfolges (subjektiv) zum dolus indirectus verlangt.
' Liepmann, Rechtsirrtum, a.a.O. S. 531. — Ausführliche Darstellung
der Carpzovschen Fahrlässigkeitsfälle bei Binding, Normen IV, 1. Hbtl.,
S. 158 H., der in Carpzov zwar den „Schöpfer der gemeinrechtlichen Praxis
auf diesem Gebiet" sieht, über das Wesen der Fahrlässigkeit jedoch
tiefere Aufschlüsse bei ihm vermißt (S. 164).
138
einer begrifflich selbständigen Fahrlässigkeitsschuld schließen
lassen. Verbrechen werden begangen, heißt es Tl. I, cap. I, § 3, dolo
vel culpa und die Anmerkungen ergänzen: wo keins von beiden ist,
da ist auch kein Verbrechen.^ Nach dem Vorgang der Carolina
(a 134, 146, 180) werden eine Reihe von Delikttatbeständen aufgezählt,
die in bezug auf die subjektiven Voraussetzungen in ihrer Terminologie
zwar schwanken, aber das gemeinsam haben, daß hier ausdrücklich
eine andere, geringere Form der Schuld als die des Vorsatjes verlangt
wird: Totschlag „aus Unbehutsamkeit" (Tl. I, cap. 111, § 3), „Apotheker
und Materialisten, welche unvorsichtiger Weis Gift verhandeln" (cap. 111,
§ 14), Äbtreibung „mehr aus Versehen als bösen Fürsatz" (cap. 111,
§ 20), „verwahrloste Brünsten, welche sich nicht aus bösen Fürsatz,
sondern aus Verschulden zutragen" (cap. VlII, § 8). Wenn man auch
unschwer in diesen Tatbeständen Vorläufer der Fahrlässigkeitsdelikte
erblicken kann, so zeigt doch die schwankende Terminologie, daß die
Frage nach dem Wesen und den Graden der Fahrlässigkeitsschuld
noch nicht als einheitliches Problem gesehen ist. Wie nahe Kreittmayr
im Grunde auch hier noch Carpzov steht, zeigt der Umstand, daß alle
diese Fälle nicht mit einer bestimmten gesetzlichen Strafe bedroht sind,
sondern — entsprechend der CCC — lediglich willkürlicher Bestrafung
überlassen bleiben. Hier wirkt die Fahrlässigkeitsstrafe in Form der
Carpzovschen poena extraordinaria nach, obwohl allgemein bei Kreittmayr
die Culpa als gesetzlicher Strafmilderungsgrund nicht anerkannt ist.
Wer aus gemeinrechtlichen Bestimmungen Prinzipien der Zu-
rechnungslehre abzuleiten sucht, muß sich vor der Gefahr hüten,
in den alten gesetzlichen Regelungen Lösungen für Probleme zu sehen,
die erst die moderne Strafrechtsdoktrin gestellt hat. Zeigte sich schon
bei den Bestimmungen über Dolus und Culpa, daß es sich ursprünglich
weniger um eine Differenzierung selbständiger Schuldformen handelte,
als vielmehr um den Versuch, bestimmte Fälle der poena ordinaria,
andere der willkürlichen poena extraordinaria zuzuweisen, so ist auch
bei einer Darstellung der Bedeutung des Rechtsirrtums bei Kreitt-
mayr besondere Vorsicht notwendig. Insbesondere darf man aus der
Behandlung des Rechtsirrtums Rückschlüsse auf das Wesen des Vor-
satzbegriffes nur ziehen, wenn nachgewiesen ist, daß der Gesetzgeber
die Irrtumsfälle in konsequenter Anwendung des Vorsatzbegriffes
geregelt hat. Von einer Irrtumslehre darf nur dort geredet werden,
wo die einzelnen Bestimmungen aus einer bestimmten Doktrin heraus
einheitlich gestaltet sind.
' In cap. 1, § 30 wird culpa im Sinne einer genus- Bezeichnung für
Schuld überhaupt verwandt.
139
Auf den ersten Blick scheint das bei Kreittmayr der Fall zu
sein. „Wem^ es an genügsamen Verstand und freien Willen ermangelt,
der ist keines Verbrechens fähig." Aus einer solchen Doktrin ergibt
sich folgerichtig der Satz, daß unvernünftiges Vieh, unmündige Kinder,
unsinnige Leute kein Verbrechen begehen können. Verstand und Wille
als Voraussetzungen der Zurechnungsfähigkeit — dem scheint eine
Zurechenbarkeit im Sinne einer bewußten Willensschuld zu ent-
sprechen: was „aus Irrtum, Unwissenheit . . . geschieht, wird
für kein Verbrechen geachtet" (Tl. I, cap. I, § 4).
Aber die näheren Bestimmungen des Gesetzes widersprechen
solch trügerischer dogmatischer Aufmachung. Irrtum (sc. über die
Identität der Tat) hebt alle Strafe auf, „wenn der Irrende in facto
licito et inculposo versiret" (cap. I, § 30). Eine Verallgemeinerung
des a 145 CCC, der Straflosigkeit zuläßt, „so einer in rechter not-
wehr einen unschuldigen wider seinen, des täters willen entleibt"!
Wer aber umgekehrt eine strafbare Handlung zu begehen glaubt, bei
dem vermag ein error in obiecto allerhöchstens Strafmilderung zu
bringen, ihn aber auch in den Fällen nicht von Strafe zu befreien,
in denen wir von einem Putativdelikt sprechen würden. „. . . z. e. es
beschlaft einer seine Schwester in der Meinung, es seye die Magd.
Dieser wird nicht poena incestus, sondern milder gestraft, wenn er
den angeblichen Irrtum wahrscheinlich dartun kann" (Änm. c zu Tl. 1,
cap. I, § 30). Nun aber die Fälle der Unwissenheit (sc. der Rechts-
widrigkeit), die eigentliche Domäne des Rechtsirrtums! Dabei ist die
wichtigste Frage: welches Wissen setzt die Bestrafung mit der
ordentlichen Strafe, also offenbar die Ähndung für vorsätzliches
Handeln voraus? „Es ist aber hierzu nicht nötig, die besondere
Gattung derselben Sh-aff zu wissen, sondern es ist genug, dass die
innerliche Boss- und Straffmässigkeit der Tat nicht unbekannt
sei oder sein könne" (Tl. I, cap. I, § 31). Kenntnis des positiven
Strafgesetzes wird also nicht verlangt. Zwar heißt es in der Präambel,
man habe dies Gesetz „zu Jedermanns Wissenschaft in öffentlichen
Druck legen lassen", aber die Anmerkungen zu dieser Präambelstelle
erklären, der Codex sei „lediglich für die Obrigkeiten zu mehreren
Unterricht, nicht aber für die Malefikanten geschrieben, als
welchen ihres Orts genug sein kann, dass ihnen die Straffmässigkeit
ihrer bösen Thal nicht unbekannt seye oder seyn könne, ohne dass
sie die besondere Gattung der Straff, womit jedes Verbrechen denen
peinlichen Rechten nach belegt ist, zu wissen vonnöten haben, massen
Richter und Rechtsgelehrte das Genus Poenae oft selbst
* In dem vorliegenden Text heißt es „Wenn..."; offenbar Druckfehler.
140
schwer zu erraten wissen und sich ihren Meinungen vieimahl
nicht hierüber vereinigen können, mithin wann auf Seiten der Misse-
thäteren zu ihrer Bestraffung allmahl eine so genaue Wissenschaft
erforderlich wäre, wohl gar selten oder vielleicht niemahl die gesetz-
mässige Straff gegen gemein- oder unstudierte Leute würde vorgenommen
werden können"/ Fehlt diese Kenntnis der Innern Büß- und Straf-
mäßigkeit der Tat, so entfällt, müßte man annehmen, Vorsatz und,
abgesehen von den wenigen kulposen Deliktstatbeständen, jede Straf-
barkeit. Statt dessen aber führt solche Unkenntnis lediglich zur
Zulassung der milderen poena ordinaria! So hat der Rechtsirrtum
bei Kreittmayr die Bedeutung einer Modifikation der poena ordinaria.
Dem entspricht die Stellung dieser Bestimmung inmitten anderer Straf-
änderungsgründe, deren dogmatische Sonderbehandlung als einzelne
Momente der Schuld, der Rechtswidrigkeit oder als bloße Strafbarkeits-
bedingungen herauszuarbeiten erst der späteren Strafrechtswissenschaft
vorbehalten blieb. All solche Momente erwähnte das ältere gemeine
Recht lediglich als Gesichtspunkte, die den Bedürfnissen des einzelnen
Falles entsprechend zu einem Abgehen von der festen Strafgröße der
ordentlichen Strafe berechtigten, also in der Regel den Delinquenten mit
der Todesstrafe verschonten. Jugend und hohes Alter, Schwäche des
Körpers und verminderte Zurechnungsfähigkeit („denen der Verstand
nur halb verruckt ist", § 17), Gähheit und Übereilung, ebenso wie langer
Anstand (d. h. ein Verstreichen einer längeren Zeit nach der Tat, ohne
daß sie bereits verjährt ist) oder „Befehl der Oberen'' zur Tat, unver-
schuldete Haft vor dem Urteil. Ebenso wie diese Fälle ist auch der
Rechtsirrtum lediglich ein gesetzlich anerkannter Strafänderungsgrund.
Aber selbst von der ordentlichen Strafe befreit der Rechtsirrtum
nicht in allen Fällen. Nur „Unwissenheit in Sachen, welche von
Rechtswegen zu ignorieren erlaubt ist, entschuldigt wo nicht
von aller, doch von der Ordinari- Straff" (Tl. I, cap. I, § 31). Die
Anmerkungen grenzen diese Einschränkung näher ab. Hier wird
unterschieden: „die Unwissenheit ist facti vel iuris'". Ohne auf den
Unterschied beider Formen des Irrtums einzugehen, fährt Kreittmayr
fort: „Jene (d. h. ignorantia facti) wird niemand imputiert, wer mit
behöriger Vorsicht verfahrt und keine böse Meinung dabei hat."^
' Änm. e ad Mandatum Electorale praemissum.
- Die oben S. 139 besprochenen Irrtumsfälle handeln davon, daß ent-
weder der Täter, während er tatsächlich recht handelt, irrtümlich
einen verbotenen Erfolg herbeiführt (Irrtum des in echter Notwehr
befindlichen Täters) oder umgekehrt glaubt, ein Delikt zu begehen,
während der objektive Tatbestand gar nicht vorliegt. Hier aber begeht
der Täter wirklich ein Delikt und ist sich infolge eines Irrtums über
einen tatsächlichen Vorgang der Rechtswidrigkeit seines Tuns nicht bewußt.
141
Error iuris „kann in Sachen, welche Jure naturae verboten
sind, niemal, im übrigen aber nur von jenen vorgeschützt werden,
quibus Jus ignorare licet"/ Kreittmayr folgt hier einer neuzeitlichen
mildernden Tendenz, die Fälle auszudehnen, in denen ein Verbots-
irrtum berücksichtigt werden kann. Er will „sogar in capitibus Juris
naturae magis abstrusis et intricatis, wie z. B. bei dem Crimine
sodomiae, incestus und dergleichen sich zuweilen ereignet, die Igno-
rantiam Juris bei einfältigen Leuten pro Casu mitiganti passieren
lassen" (Änm. a zu Tl. 1, cap. 1, § 31). Solche Billigkeitsmodifikation
war um so notwendiger, weil es überaus bestritten war, ob im einzelnen
Fall eine Norm dem positiven oder dem Naturrecht angehörte. Blut-
schande unter Aszendenten galt als vom Naturrecht verboten, zwischen
Verwandten der Seitenlinie im zweiten Grade war sie nur vom positiven
Recht untersagt, aber „wie weit nun das Verbot des natürlichen Rechts
in der Blutschande gehe, ist und bleibt ein philosophischer Disput,
welcher vor Ende der Welt wohl schwerlich wird ausgemacht werden!"
(/\nm. d zu Tl. I, cap. VI, § 5). In solchen Bestimmungen kommt
zweierlei zum Ausdruck. Einmal, daß Rechtsunkenntnis und Verbots-
irrtum nicht schuldausschließend, sondern lediglich straf-
mildernd wirken. Und sodann die die Entwicklung vom 16. bis
ins 18. Jahrhundert kennzeichnende, gewohnheitsrechtlich rezipierte
römisch -italienische Doktrin, daß nur bei bestimmten Delikten
und nur zugunsten bestimmter Personen ein Verbotsirrtum
berücksichtigt wird."
In stärkerem Maße noch als bei der Abgrenzung von Dolus und
Culpa spiegeln hier Kreittmayrs Bestimmungen die Lehren Carpzovs
wieder. Carpzov sah ebenso wie in der Culpa im Rechtsirrtum nicht
eine besondere Schuldart, sondern einen Strafmilderungsgrund.
Gegenüber der unzeitgemäßen Strenge überkommener Strafgesetze
wurde dieser Gedanke zu einem „Sicherheitsventil gegen zu harte
Bestrafung"."' Die Aufnahme dieser Doktrin in das Gesetzbuch
Kreittmayrs erscheint daher als notwendige Ergänzung zu den harten,
vom Geist der neuen Zeit unberührten Strafdrohungen des Codex
Juris Bavarici Criminalis.
^ Die privilegierten Personenklassen des römischen Rechts 1. 9 D XXII, 6.
" Vgl. zu dieser Lehre: Liepmann, Rechtsirrtum, a. a. O. S. 399 f. —
Binding, Normen 2. Aufl., Bd. III, S. 246 iL, sieht (anders wie die obige
Darstellung) in den Bestimmungen des Codex Juris Bav. Crim. eine erste
allgemeine Bezugnahme auf die „damals allgemein anerkannte Lehre: error
iuris nocet, error facti non nocet", lindet aber von dieser Annahme aus
selbst, daß jenes Gesetz sich „einigermaßen widerspricht" (S. 248).
' Liepmann, a. a. O. S. 539.
142
So läßt es eine nähere Prüfung des Strafensystems und der
kriminalistisch -dogmatischen Ausgestaltung erklärlich erscheinen, daß
dieses Werk nach der bald nach der Jahrhundertmitte immer stärker
zutage tretenden Wandlung der Anschauungen auf allen Gebieten des
öffentlichen Lebens und damit auch des Strafrechts alsbald veraltet war.
Diese Entwicklung wurde gefördert durch die politischen Verhältnisse.
Offenbarten sich allgemein in der französischen Revolution und in
ihren Rückwirkungen auf die andern kontinentalen Staaten Wirkungen
der neuen Geistesrichtung, so brachte vollends die napoleonische Ära
den deutschen Ländern mit einer Loslösung von der Zentralmacht
des Reiches eine starke Konsolidation der eigenen inneren Kräfte,
die durch die Überwindung der alten Standesmächte die modernen
Staaten entstehen ließ.^ In Bayern fand diese Entwicklung ihren
äußeren Ausdruck in der Rheinbundpolitik und in der Königskrone
des Jahres 1806. Im Innern wirkte Graf Maximilian v. Montgelas,
der „dirigierende Minister" des aufgeklärten und freisinnigen ersten
Königs Maximilian Joseph, für den Ausbau des Staates. Auf fast
allen Gebieten staatlicher Wirksamkeit wurden nach neuzeitlichen
Grundsätzen aufgebaute Verwaltungseinrichtungen geschaffen, von
denen viele ein Jahrhundert überdauert haben. Von dieser Ent-
wicklung blieb die Gesetzgebung nicht unberührt. Dem mehrfach
ausgesprochenen Wunsche Napoleons folgend, beschäftigte man sich
lange und noch in Feuerbachs Münchener Zeit hinein mit dem
Gedanken, den Code civil in Bayern einzuführen. Vor allem ver-
langte die neue Zeit dringend eine gründliche Reform des Strafrechts,
nachdem inzwischen die Anhänger der strafrechtlichen Reformbewegung
allenthalben ihren Gedanken Eingang verschafft hatten und unter ihrem
Einfluß in Österreich, Preußen und Frankreich neue Strafgesetzbücher
entstanden waren.
Für die Reform des Strafrechts zog die Regierung zunächst den
Würzburger Kriminalisten Gallus Alois Caspar Kleinschrod heran.
Daß man die Bearbeitung des neuen Strafgesetzentwurfs nur einem
Manne anvertraute, in dem sich die Gedanken der neuen Richtung
verkörperten, lag im Wesen der Hufgabe. Zugleich ist aber damit
seine Bedeutung selbst umgrenzt. Kein kühner Neuerer, kein
schöpferischer Reformator, erscheint Kleinschrod als ein getreues
Spiegelbild der herrschenden Strömungen der strafrechtlichen Äuf-
klärungsbewegung , weniger ein Führer als ein Glied der neuen
Richtung. Seinen Schriften eignet nichts mehr von der Brutalität des
' M. Do eb er 1, Entwicklungsgeschichte Bayerns IL Bd. München 1912.
S. 381 ff.
143
Carpzov-Kreittmayrschen Strafenregisters. Unverkennbar durchzielit
sein Wirken ein milder Geist fortgeschrittener Humanität. Eine
vorwiegend pragmatisctie Tendenz läßt ihn befriedigende Lösungen
von Einzelfragen einer konsequenten Deduktion philosophischer Begriffe
und Leitsätze vorziehen. Mit geschickter Hand weiß er als Eklektiker
aus der Fülle der Anregungen jener reichen strafrechtlichen Äuf-
klärungsliteratur wertvolle Bausteine zu dem Mosaik seiner „systema-
tischen Entwicklung" zusammenzutragen.^ Sicherlich war ein solcher
Synkretismus um eine Welt entfernt von der Art, in der Grolman
und Feuerbach voller Leidenschaft und mit dem Anspruch auf
apodiktische Gewißheit ihre Strafrechtssätze aus naturrechtlichen und
philosophischen Prinzipien deduzierten. Und doch hat auch Kleinschrod
einen Schritt in der Methode getan, nach der jene die Fragen des Straf-
rechts auf philosophische Probleme zurückführten. Kleinschrod versuchte
die aus der Interpretation des positiven Rechts gewonnenen Bestimmungen
mit den Forderungen der Theorie zu vergleichen, „das positive Recht
in Verbindung mit den allgemeinen Wahrheiten vorzutragen"."
Kleinschrods äußerer Lebensgang verlief in ruhigen Bahnen.^
Als Sohn eines würzburgischen Beamten erregte er durch seinen Fleiß
und seine Interessen früh die Aufmerksamkeit des Fürstbischofs Frei-
herrn V. Erthal, der ihm in jungen Jahren eine Professur verschaffte.
Als im Jahre 1795 der Bischof von Bamberg, dem Bedürfnis der Zeit
folgend und im Gedächtnis an seinen Vorgänger Georg v. Limburg,
der einst die Anregung zu Schwarzenbergs Bambergensis gegeben
hatte, das Bamberger Strafrecht reformieren ließ, wurde Kleinschrod
zur Mitarbeit herangezogen. Dies war für die bayerische Regierung
der Anstoß, ihm im Jahre 1800 die Ausarbeitung des neuen Strafgesetz-
entwurfs anzuvertrauen. Schon im nächsten Jahre legte Kleinschrod
seine Arbeit im Manuskript vor, das von dem Rat am obersten
Gerichtshof Joh. Bapt. Schieber und dem geistlichen Rat Professor
Jos. Socher durchgesehen und nach entsprechenden Verbesserungen
im Jahre 1802 als Entwurf eines peinlichen Gesetzbuchs für
die kurpfalzbayerischen Staaten veröffentlicht wurde.*
' Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten
des positiven peinlichen Rechts. 1. Aufl. Erlangen 1793, 2. Aufl. 1799,
3. Aufl. 1805. Im folgenden im Zweifel nach der 2. Aufl. zitiert.
-' System, Entw. Tl. I, Vorrede.
' Über Kleinschrod: Neuer Nekrolog der Deutschen, hcrausgeg.
von Fr. Aug. Schmidt, 2. Jahrg. 1824, II. Heft. Ilmenau 1826. S. 999 ff. —
Teichmann, in Allg. deutsche Biographie Bd. 16, S. 109 ff. — Landsberg,
Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3. Abt., I. Halbbd., S. 462 ff.
* Als Ergebnis der Revisionsarbeit Schiebers und Socher s: Mate-
rialien zur peinlichen Gesetzgebung in Bayern 1. Teil. München 1802.
144
Die Arbeiten Kleinschrods an der Reform des bayerischen
Strafrechts und das, was er zu der Entwicklung der strafrechtlichen
Zurechnungslehre beigetragen hat, weisen auf Einflüsse aus einer
doppelten Richtung hin. Man sieht eine starke Abhängigkeit von
Gl ob ig und Hu st er und bemerkt einen Einfluß der zeitgenössischen
psychologischen Literatur.
Ernst Y. Globig und Georg Huster, zwei sächsische Geheim-
räte, waren die Preisträger in jenem berühmten Preisausschreiben,
das die Ökonomische Gesellschaft in Bern auf die Initiative von
„zweien unbekannten Freunden der Menschheit" im Jahre 1777 für
die beste Bearbeitung der Frage nach der heilsamsten Einrichtung
der peinlichen Gesetzgebung veranstaltet hatte. Durch weitere Schriften
und durch ihre persönliche Berühmtheit gewannen sie großen Einfluß
und wurden insbesondere für die Entwicklung des Preußischen
Rechts von Bedeutung.^ Trajans: satius impunitum relinqui facinus
nocentis quam innocentem damnare war das Motto ihrer Bearbeitung
und anders als die aus Ärgwohn und Ängstlichkeit entsprungene
brutale Rücksichtslosigkeit des alten Strafrechts sollte nach ihrer
Meinung der peinliche Gesetzgeber als ein rechter Arzt die Krankheit
des Staates „mit desto größerer Behutsamkeit behandeln, je mehr
Schaden aus einer übereilten Kur entstehen könne ".^
Ein Bemühen, die Strafgewalt des Staates durch Verringerung
und Vereinfachung der kriminellen Tatbestände zu begrenzen, ein
Streben nach bestimmt gefaßter, klarer strafrechtlicher Gesetzgebung
ist deutlich erkennbar. Im einzelnen freilich läßt sich nur in bedingtem
Sinne von einem Fortschritt sprechen. '^ Sie huldigen noch dem Äb-
schreckungsprinzip und glauben durch Abschreckung um so mehr
erreichen zu können, je mehr die Strafe eine „Wiedervergeltung des
zugefügten Schadens" ist.* Im Gegensatz zu Beccaria leiten sie aus
naturrechtlichen Prinzipien ein Recht zu einem allerdings sparsamen
Gebrauch der Todesstrafe ab. Das Prinzip der Talion läßt sie sogar
verstümmelnde Körperstrafen bei Körperverletzungen befürworten, ein
Gedanke, den sie freilich alsbald selbst aufgaben.^ Vermeintliche
kriminalpolitische Gesichtspunkte führen sie zu dem Gedanken von
' Hälschner, Geschichte des Brandenburg-Preußischen Strafrechts.
Bonn 1855. S. 199.
- E. V. Globig und G. Huster, Abhandlung von der Kriminal-
gesetzgebung. Zürich 1783. S. 10.
^ V. Bar, Geschichte d. Strafrechts u. d. Strafrechtstheorien S. 236 f.
* Gl ob ig und Huster, Abhandl. v. d. Kriminalgesetzgebung S. 56.
* Globig und Huster, Abhandl. v. d. Kriminalgesetzgebung S. 196. —
Vgl. auch S. 94, Der revidierte Standpunkt: Vier Zugaben zu der gekrönten
Schrift von der Kriminalgesetzgebung. Altenburg 1785. S. 93 f.
145
der Publizität des Strafvollzugs. Allgemeine Fragen der strafrecht-
lichen Dogmatik erfahren wenig Förderung. Vorsatz ist das Bewußt-
sein, daß „die Handlung schädlich und den Gesetzen zuwider sei",
„Nachlässigkeit" besteht in einem „mehr oder weniger verminderten
Bewußtsein des Verbrechens".^ Huf solche Differenzierung wird aber
nur geringes Gewicht gelegt: „Gesetzt aber, man könne das wahre
Maß der Schuld bei jedem . . . Verbrechen ergründen, so würde solches
doch bei weitem den Nutzen nicht haben, den einfache und beständige
Verhältnisse (gemeint ist: zwischen Strafe und angerichtetem Schaden)
in dem Gemüt des gemeinen Mannes hervorbringen.""
Der psychologische Einschlag der damaligen kriminalistischen
Literatur, wie er bei Kleinschrod in einem zunehmenden Interesse für
die subjektiven Momente der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und
die Voraussetzungen der Verschuldung offenbar wird, entspricht einer
allgemeinen Popularisierung psychologischer Lehren durch einflußreiche
Schriften zahlreicher Eklektiker. Hier waren Ausflüsse von Wolffs
Rationalismus wirksam im Verein mit dem Positivismus der Engländer
und der neugewonnenen naturwissenschaftlichen Erkenntnis.^ Ein
Führer dieser Richtung war der auch von Kleinschrod häufig zitierte
Joh. Hch. Feder. Feder wollte den praktischen Wissenschaften,
Pädagogik und Politik, dienen, indem er sie auf die Erfahrungen
über die menschliche Natur hinwies, wie sie in Biographien, Selbst-
bekenntnissen und ethnographischen Studien vorliegen. Seine Haupt-
untersuchungen galten dem Wirken und der Bedeutung des mensch-
lichen Willens.* Aus seinen Erörterungen spricht eine ausgesprochen
deterministische Tendenz, die sich als Konsequenz eines bereits
das Jahrhundert von Descartes bis Leibniz kennzeichnenden Über-
wiegens des Denkens über den Willen ergibt.^ Dabei ist Willens-
freiheit von Feder in der von den damaligen Kriminalisten mit Vorliebe
übernommenen Formulierung des Thomas Hobbes gedacht: nicht
im Wollen sind wir frei, sondern darin, daß wir handeln können,
wie wir wollen.'' Die Willenskraft ist nach Feder abhängig von der
' Vier Zugaben . . . S. 249. — '' Ebendort S. 247.
' Max Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie 1. Bd.,
2. Aufl. Berlin 1910. S. 249 ff.
* Hch. Feder, Untersuchungen über den menschlichen Willen Tl. 1 — 3,
2. Aufl. Göttingen und Lemgo 1785.
■' Vgl. Wilh. Windelband, Geschichte der Philosophie Bd. 1, 5. Aufl.
Leipzig 1911. S. 156.
" „Eine Freiheit, die Freiheit von Notwendigkeit wäre, kommt weder
dem Willen des Menschen, noch dem der Tiere zu. Verstehen wir aber
unter Freiheit die Fähigkeit nicht des Wollens, sondern des Aus-
führ ens, dann besitzen eine solche Freiheit sicherlich beide, Mensch und
10
146
Vorstellungskraft. Aber der Wille ist nicht an einzelne bestimmte
Antriebe „gefesselt '". Man kann auch anders handeln, als man sich
ursprünglich entschlossen hatte, so oft man Lust dazu hat, aber dann
hat „diese Lust allemal ihren Grund in einer neuen Vorstellung".^
Dieser Determinismus bedeutet nicht eine Verneinung, sondern eine
Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. „Will man
weiter einwenden, daß es für denjenigen, der nur einmal so gehandelt,
gewollt und gedacht hat, hypothetisch unmöglich war, anders zu
wollen, zu empfinden und zu urteilen, so ist die Antwort, daß die
Strafe eben dieser hypothetischen Unmöglichkeit für ein anderes
Mal abhelfen soll. Es wird nicht gestraft, um das Geschehene
ungeschehen zu machen, sondern um die Beweggründe wider
das Böse für die Zukunft zu beleben und zu vermehren."" Freiheit
des Handelns dagegen im Sinne der Fähigkeit, sich nach Vor-
stellungen und Überlegungen zu bestimmen, dem durch diese Reize
hervorgerufenen Willen entsprechend tätig zu werden, ist Voraussetzung
jeder moralischen Beurteilung menschlichen Verhaltens.^
Neben den Einwirkungen Feders begegnen uns bei den Kriminalisten
die Namen der Kantianer Reinhold und C. C. E. Schmid. Der nach
Dessoirs Wort „zu Unrecht vergessene" Ehrhard Schmid war nicht
nur als Popularisator Kants neben Reinhold einer der einflußreichsten
Bahnbrecher des Kritizismus, sondern er suchte auch auf psycholo-
gischem Gebiet durch Zeitschriften, die er herausgab, die Fülle des
Tatsachenmaterials zu sichten und auf einleuchtende Regeln und
Begriffe zurückzuführen und in eigenen Werken die Methoden der
herrschenden Vermögens- und Ässoziationspsychologie zu verwerten.*
Er faßte die Schuld im formalen Sinne des Kritizismus als Mangel
an Ächtung vorm Gesetz auf, schied aber schärfer als Kant selbst
zwischen zwei Schuldformen: Bosheitssünden „wider Wissen und Ge-
wissen" und Nachlässigkeitssünden, bei denen man ohne Kenntnis des
Gesetzes oder in falscher Beurteilung des Falles — also unbewußt —
Tier, in gleicher Weise, soweit sie überhaupt möglich ist." — Thomas
Hobbes, Qrundzüge der Philosophie I.Teil. Lehre vom Körper (1655).
Deutsche Ausgabe von M. Frischeisen -Köhler. Phiios. Bibliothek Bd. 157.
Leipzig 1915. Kap. 25 (S. 176).
' Feder, Untersuchungen über den menschlichen Willen Tl. I, S. 48.
Vgl. S. 27 ff. und 49.
-' Feder, a. a. O. Tl. III, S. 538.
' Feder, a.a.O. Tl. III, S. 417 f.
* C. C. E. Schmid, Empirische Psychologie I.Teil. Jena 1791. Vgl.
M. Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie l.Bd., 2. Aufl.,
S. 145 und 289 f., sowie Abriß einer Geschichte der Psychologie (Ebbing-
haus-Meumann, Psychologie in Einzeldarstellungen IV). 1911. S. 158.
147
rechtswidrig handelt.' Gerade auf diese Stelle nahm Kleinschrod bei
der Darstellung von Vorsatz und Fahrlässigkeit Bezug," obwohl er es
sonst grundsätzlich ablehnte, von der Kantischen Philosophie Gebrauch
zu machen, deren „Einfluß auf Rechtsgelehrsamkeit überhaupt noch
so unbestimmt, so zweifelhaft, so schwankend ist".^
Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Strafrecht und Psycho-
logie zu einer besonderen Wissenschaft zu erheben, war das Ziel
Joh. Chr. Gottlieb Schaumanns. Zwar verdankt die junge Kriminal-
psychologie ihm mehr Namen und Programm, als inhaltliche
Bereicherung, aber dafür bringen seine „Ideen zu einer Kriminal-
psychologie, Friedrich Wilhelm IL, dem weisen Gesetzgeber und milden
Richter gev,feihet" ^ ein anderes: mit aller Empfindsamkeit der Zeit
ist hier in Briefen an einen jungen Juristen das Bild des idealen
Richters gezeichnet, der, beseelt von Liebe und Ächtung auch gegen-
über dem Verdächtigen, mit dem Leben vertraut, voll Erfahrung und
Menschenkenntnis, der Bürger wie der Verbrecher Vertrauen gewinnt
und aus tiefem Verstehen der Handlungsweise des Täters zu dessen
eigenen Besten die Strafe auswählt. Eine reizvolle Apotheose des
ausgehenden Inquisitionsprozesses und zugleich über alle zeitlichen
Prozeßformen hinaus ein Vorbild des gerechten Strafrichters.
Kleinschrods Arbeit an einem Strafgesetzentwurf waren theore-
tische Untersuchungen vorangegangen.^ Aus ihnen ergibt sich deutlich,
welche Fortschritte die Strafrechtswissenschaft in der dogmatischen
Ausgestaltung der grundlegenden Prinzipien gegenüber dem, noch
' C. C. E. Schmid, Versuch einer Moralphilosophie 3. Aufl. Jena 1795.
S. 620 f. Schmid führt die „Nachlässigkeitssünden" ähnlich wie Feuerbach
auf Vorsatz zurück: ich habe „nicht Fleiß genug angewendet..., um die
Forderungen der Pflicht . . . gewiß und lebhaft zu denken . . ." (ebendort). —
Kant, Metaphysik der Sitten: „Eine unvorsätzliche Übertretung, die
gleichwohl zugerechnet werden kann, heißt bloße Verschuldung (culpa).
Eine vorsätzliche (d. h. diejenige, welche mit dem Bewußtsein, daß sie
Übertretung sei, verbunden ist) heißt Verbrechen (dolus)." Akademie- Ausgabe
Bd. VI, S. 224, Cassirer Bd. VII, S. 24.
* Kleinschrod, System. Entwicklung der Grundbegriffe und Grund-
wahrheiten des peinl. Rechts Tl. I, 1. Aufl., 1794, S. 44, Anm.: „Fast auf
dieselbe Art definiert C. C. E. Schmid die Nachlässigkeitssünden." In der
2. Aufl., 1799, S. 65, Anm. spricht er infolge veränderter Formulierung des
eigenen Standpunktes von Übereinstimmung mit Schmid in der Hauptsache,
.„jedoch mit andern Worten".
^ Syst. Entwicklung, Vorrede.
' Halle 1792.
'" Systematische Entwicklung der Grundbegriffe und Grundwahrheiten
des positiven peinlichen Rechts Tl. I— III, Erlangen 1793-94, 2. Aufl. 1799,
3. Aufl. 1805. Abhandlungen aus dem peinlichen Rechte und peinlichen
Prozesse Tl. I— III. Erlangen 1797—1805.
10*
148
von Kreittmayr rezipierten, älteren gemeinen Recht gemacht hatte.
Zugleich liegt auf diesem Gebiet weit mehr als in seinem Straf-
gesetzentwurf die wissenschaftliche Bedeutung Kleinschrods. Diese
Entwicklung hat namentlich zur Ausgestaltung der Lehre von der
strafrechtlichen Zurechnung Erhebliches beigetragen, indem nunmehr
die subjektiven Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit in
ihrer Eigenbedeutung erkannt und differenziert wurden.^ Hatten sich
früher aus der stets wiederkehrenden Frage, ob die Tat mit der
poena ordinaria oder mit willkürlicher Strafe zu ahnden sei, nur
tastende Anfänge einer Scheidung in verschiedene Schuldarten ergeben,
so trennt Kleinschrod bewußt zwischen den Voraussetzungen der
Zurechnung zur Schuld und den kriminalpolitischen Bedürfnissen
der Strafbarkeit. Der wechselseitigen Bedeutung beider Prinzipien
sucht er mit der Formel gerecht zu werden, ob gestraft werden soll,
bestimme die Voraussetzung einer Verschuldung, die Höhe der
Ähndung aber ergebe sich aus Zweck und Wesen der Strafe. „Wir
setzen die Schuld als eine Bedingung, ohne welche nicht gestraft
werden kann. Ist diese erwiesen, dann muß die Größe der Strafe
nach den Gesichtspunkten, die bisher vorkamen (d. h. aus dem Wesen
der Strafe entwickelt sind), vom Gesetzgeber bestimmt werden."^ Daß
diese Formel keine endgültige Lösung enthält, sondern selbst ein
kompliziertes Problem darstellt, geht aus Kleinschrods Darstellung
unmittelbar hervor. Denn Schuld und Strafbarkeit lassen sich nicht
völlig isoliert ermitteln. Die Höhe der Schuld ist abhängig auch
von objektiven Momenten, von der Bedeutung des verletzten Rechts
für die „gemeine Ordnung", von dem „bürgerlichen Schaden" und
von dem Maß der Strafbarkeit, mit dem die Rechtsordnung die
antisoziale Bedeutung der Tat bewertet. Umgekehrt ist auch das Maß
der Strafbarkeit von der Höhe der Schuld abhängig, und zwar
glaubte Kleinschrod, anders als Feuerbach, einen Parallelismus zwischen
dem Maß der Schuld und dem Bedürfnis nach strafrechtlicher Ahndung
annehmen zu können: „Schwächung der Innern Zurechnung muß auf
den Grad der äußern Strafbarkeit Einfluß haben. Zudem ist derjenige
für die Sicherheit der Gesellschaft nicht so gefährlich , dessen Tat nicht
voll kann zugerechnet werden."^ Doch finden sich bei Kleinschrod
Fälle genug, in denen diese Harmonie nicht ohne weiteres her-
stellbar ist. Leichte Gelegenheit und große Versuchung vermindern
' Vgl. die Anerkennung dieser Vorzüge bei Henke, Grundriß einer
Geschichte der deutschen peinlichen Rechtswissenschaft Tl. II. Sulzbach
1809. S. 337.
- Syst. Entwicklung 2. Aufl., Tl. IL, S. 31.
* Syst. Entwicklung Tl. II, S. 153 f.
149
die Zurechenbarkeit.^ Bleibt dieser Zustand aber dauernd bestehen,
wie beim Dienstboten, dem die Güter des Hausherrn leicht zugänglich
sind, so fordert die Gefahr ständig wiederkehrender Eigentumsdelikte
erhöhten strafrechtlichen Schutz. Ebenso, wenn in einer Zeit, in der
Delikte bestimmter Rrt häufig und von sehr vielen begangen werden,
durch aufmunterndes Beispiel und die skrupellose Selbstverständlichkeit,
mit der das Gesetz immer wieder von neuem übertreten wird, die Ver-
suchung des einzelnen erhöht wird. Hier hilft sich Kleinschrod durch
den Gedanken der motivierenden Kraft der gesetzlichen Strafdrohung,
der bei Feuerbach die Grundlage der Strafrechtstheorie bildet. Nach
Kleinschrod soll der Staat jenen Personen, die durch starke Motive
auf die Bahn des Verbrechens gedrängt werden, härtere Strafen
androhen: die Vorstellung dieses Übels wirkt jenen Motiven entgegen,
damit entfällt die Herabminderung der Verantwortlichkeit, und die Straf-
barkeit entspricht der Zurechenbarkeit der Tat." Ruch die Erhöhung
der Rückfallstrafen sucht er auf ähnliche Weise durch den Ab-
schreckungsgedanken zu rechtfertigen,^ während er beim Gewohn-
heitsverbrecher, der die böse Tat „nicht mehr lassen kann und
wider Willen zu seiner Lieblingsneigung fortgerissen wird",* den
Gegensatz zwischen geringer Verschuldung und stärkster krimineller
Gefährlichkeit als unausgleichbar anerkennt und hier das geringe
Repressivbedürfnis dem Sicherungsgedanken unterordnet: „Seine Strafe
ist zwar gering anzusetzen, aber in eine verhältnismäßige Einschränkung
seiner Freiheit zu verwandeln, welche so lange dauern muß, bis man
vom Verbrecher nichts mehr zu fürchten hat."^
Voraussetzung der Schuld ist Zurechnungsfähigkeit, diese
wiederum auf der Freiheit des Handelns begründet. Feuerbach
rechnete Kleinschrod zu seinen indeterministischen Gegnern. Im
Grunde ließ Kleinschrod die Frage nach der Motivation des Willens
offen und begnügte sich mit der bei Feder und andern Vorbildern
nachwirkenden Hobbesschen Freiheit des Handelns. „Ohne in
theoretische, hier überflüssige Untersuchungen einzugehen, ob
es absolute Freiheit gebe, können wir uns damit begnügen, daß
der Mensch nicht nur ein vernünftiges, sondern auch ein Sinneswesen
sei, und der Erfahrung gemäß nicht nur dem Gesetz gemäß, sondern
auch entgegen handeln kann."'^ Im einzelnen aber zog er aus
dieser Handlungsfreiheit alle die Konsequenzen, die Feuerbach bei
den Indeterministen bekämpfte, so vor allem die Lehre von der
' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 294.
- Syst. Entwicklung Tl. I, S. 290 ff.
" Ebendort Tl. II, S. 167. — ' Ebendort Tl. I, S. 300.
' Ebendort Tl. II, S. 167. — " Ebendort Tl. I, S. 102.
150
verminderten Zurechnungsfähigkeit. Ähnlich wie auch der
Determinist Feder keineswegs die verschiedene kausale Bedeutung
der Motive, die verschiedene „Stärke des Willens" verkannte/ schloß
Kleinschrod aus geringen äußeren Anlässen bei der Begehung des
Verbrechens auf besonders schwere Schuld in der Person des Täters,
während starke Motive entschuldigend wirken: „Je stärker also die
Reize und Beweggründe zu einer Handlung sind, desto geringer ist
ihre Freiheit und Zurechnung."" Hierauf beruht nach Kleinschrod
die geringe subjektive Schuld des unverbesserlichen Gewohnheits-
verbrechers und die Minderung der Verantwortlichkeit für Handlungen,
die einem starken Affekt, einer übermächtigen Leidenschaft entsprungen
sind. Denn hier läßt sich nur in geringem Grade von menschlicher
Handlungsfreiheit sprechen. Ähnlich liegen die Fälle, in denen
„natürliche Dummheit" oder vernachlässigte Erziehung die „Geistes-
kräfte einschränken". „Menschen dieser Art können das Gute und
Böse einer Handlung nicht hinreichend unterscheiden" und sind nicht
imstande, „ihre Leidenschaften zu bemeistern ... Je größer also
die Stupidität ist, desto geringer die Zurechnung".^
Mit solchen Gedanken vertrat Kleinschrod die damals herrschende
auf ethischer Betrachtung fußende Zurechnungslehre, der Feuerbach
seine auf völliger Trennung von Recht und Moral beruhende, streng
deterministische, rein strafrechtliche Zurechnungslehre entgegenzusetzen
suchte. Kleinschrod erkannte den großen Gegner bereits in jener ersten
kurzen Darstellung bei Gelegenheit der Besprechung von Grolmans
Grundsätzen der Kriminalrechtswissenschaft in der Jenaer Literatur-
zeitung* und er bemühte sich, dem „einsichtsvollen Rezensenten"
gegenüber den eigenen Standpunkt zu wahren: „Rechtliche Handlungen
hören dadurch, daß sie dieses werden, nicht auf, moralische zu sein."
Darum „können wir auch im Kriminalrecht die moralische Imputation
nicht entbehren".'' In der dritten Auflage seines Werkes setzte sich
Kleinschrod ausführlich mit der Zurechnungslehre der Feuerbachschen
„Revision" auseinander. Wenn man die ethische Beurteilung aus dem
Recht ausschaltet und den Menschen in der Zurechnung „bloß als
Naturmenschen behandelt", dann sei auch die Feststellung der „psy-
chologischen Wirksamkeit der Gesetze" überflüssig und es kann ohne
weiteres „die tierische Züchtigung stattfinden, sobald man weiß, daß
' Unters, über den menschl. Willen Tl. III, S. 46L
' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 124.
' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 237.
* Allgemeine Literaturzeitung. Jena und Leipzig 1798. Bd. II, Nr. 113
und 114, Sp. 65 ff. — Vgl. oben Kap. II, S. 45 ff.
' Syst. Entwicklung 2. ÄuJl., Tl. I, S. 120.
151
ein Mensch eine gesetzwidrige Tat beging".^ Feuerbach habe aber
selbst diese Konsequenz gar nicht gezogen, sondern verlange zur
Zurechnungsfähigkeit „Bewußtsein des Strafgesetzes, Beziehung der
Handlung unter dasselbe und das Vermögen, sich zur Handlung zu
bestimmen". Das sei letzten Endes nichts anderes als die „Willkür"
und Handlungsfreiheit, die Kleinschrod zur Zurechnungsfähigkeit vor-
aussetzt.^
Geisteskrankheit schließt die Zurechnungsfähigkeit aus. „Wahn-
sinnige" sind nicht fähig, „richtige und bestimmte Begriffe sich zu bilden
und den Willen durch die Vernunftgründe zu bestimmen"."' Das gilt
naturgemäß nicht für die scheinbar normalen Stadien des temporären
Irreseins, die berühmten, schon von Justinian so benannten, dilucida
intervalla.'* Aber Kleinschrod nimmt auch hier nur verminderte Zu-
rechnungsfähigkeit an: „Denn ist auch jemand nur eine Zeitlang oder
in Ansehung eines Gegenstandes wahnsinnig, so kann man doch nie
ganz gewiß behaupten, daß er einen vollkommen gesunden Geist habe."''
Einer milden Auffassung huldigt Kleinschrod auch in den Fällen,
in denen die Handlung zwar in einem Stadium vorübergehender Unzu-
rechnungsfähigkeit ausgeführt, diese Unzurechnungsfähigkeit selbst aber
von dem Täter freiwillig herbeigeführt ist: Äctionesliberae in causa,
Handlungen, die, wie man auch sagte, auf ein früheres Stadium voller
Zurechnungsfähigkeit zurückbezogen werden können: Äctiones in liber-
tatem relatae. Das ältere gemeine Recht bestrafte nach dem Vorgang
der italienischen Doktrin und unter dem Einfluß Carpzovs und
Boehmers die Ebrietas affectata, mit der ordentlichen Strafe des
vorsätzlich begangenen Delikts.*' „Wer sich gar fürsetzlicher Weis",
heißt es bei Kreittmayr, „in der bösen Absicht, um die Tat desto
beherzter vollbringen zu können, mit Fleiß betrinkt . . . , verdienet keine
Strafmilderung und wird diesfalls für nüchtern gehalten."^
Anders Kleinschrod. Er nimmt bei den actiones liberae in causa
nur Fahrlässigkeit an und lehnt eine Bestrafung wegen vorsätzlichen
Handelns auch für die Fälle ab, in denen der Täter den Zustand der
Unzurechnungsfähigkeit in der Absicht herbeigeführt hat, um desto
' Syst. Entwicklung 3. Aufl., Tl. I, S. 1 10.
' Syst. Entwicklung 3. Aufl., Tl. I, S. 109.
" Syst. Entwicklung 2. Aufl., Tl. I, S. 199.
M. 9 C VI, 22.
•• Syst. Entwicklung Tl. I, S. 201.
'' Carpzov, Nov. Pract. Qu. 146, Nr. 58. — Bochmcr, Obscrv. ad
Carpzovii Pract. Rer. Crim. Obs. I ad quaest. 146 sowie Mcditationes in CCC,
§ 9 f. zu a 179. — Über die Behandlung des Problems bei den italienischen
Juristen vgl. Engelmann, Schuldlehre der Postglossatoren S. 31 f.
' Cod. Jur. Bav. Crim. Tl. I, cap. I, § 19.
152
leichter ein Verbrechan zu begehen. Denn der Täter gibt ja selbst
die Karten aus der Hand: „man ist nicht gewiß, ob die Tat auch so
ausgefallen wäre, wenn der Wille vollkommene Freiheit behalten hätte"/
Nur „der Entschluß, dies Verbrechen zu begehen und die freiwillige
Beraubung des Gebrauchs seiner Vernunft sind ohne Zweifel dolos".
Bei der Ausführung aber kann der Täter „nicht mehr frei bestimmen,
ob er handeln wollte oder nicht, er vermochte es nicht, die Äbratungs-
gründe einzusehen. Er handelte ohne Bewußtsein, bloß nach tierischem
Instinkt. Wer kann eine Handlung dieser Art dolos nennen?" "
Ein ähnlicher Gedankengang kehrte im späteren preußischen Recht
wieder. Savigny sah in der Behandlung der actiones liberae in causa
als vorsätzliche Rechtsverletzungen einen Widerspruch, denn wenn
der Täter unzurechnungsfähig ist, kann er „die früher beabsichtigte
Handlung nicht infolge des früheren Entschlusses vollziehen", — oder
aber er kann das, dann ist er eben nicht unzurechnungsfähig.^ Unter
seinem Einfluß nahm man damals allgemein in solchen Fällen Fahr-
lässigkeit an,^ während heute die herrschende Meinung Vorsatz
bejaht, wenn der Täter vor oder durch Herbeiführung eines die Zu-
rechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes eine Ursache für einen
rechtswidrigen Erfolg gesetzt und dabei den Erfolg vorausgesehen hat.°
' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 136.
■■' Ebendort S. 45.
' Goltdammer, Materialien zum Strafgesetzbuch für die preußischen
Staaten Tl. 1. Berlin 1851. S. 353.
* Vgl. Urteile des Obertribunals in Goltdammers Ärch. VIII, S. 407 f.
und IX, S. 70 f. — Hälschner, System des preußischen Strafrechts Tl. I.
Bonn 1858. S. 116. — Berner, Lehrb. des deutschen Strafrechts 6. Aufl.
Leipzig 1872. S. 129 f. — Beide Autoren änderten später ihre Ansicht
zugunsten der heute herrschenden Meinung. Vgl. Hälschner, Das gemeine
deutsche Strafrecht I. Bd. Bonn 1881. S. 212. — Berner, Lehrbuch des
deutschen Strafrechts 17. Aufl. Leipzig 1895. S. 86.
^ V. Liszt, Lehrbuch 23. Aufl. 1921. S. 167. — Frank, Strafgesetz-
buch 11. 14. Aufl. 1919. §51, IV. — Olshausen, 9. Aufl. 1912. §51,
Nr. IIa. — Ebermayer, Strafgesetzbuch. 1920. Anm. 8 zu § 51. —
RQ. 22, 418. — Gegen diese Ansicht: Katzenstein, Die Straflosigkeit
der Actio libera in causa, Liszts Scminarabhandlg., Neue Folge 1, 1. Hier
wird in dem kausalen Handeln im zurechnungsfähigen Vorstadium nur eine
Vorbereitungshandlung im Sinne der objektiven Versuchsauffassung gesehen
(S. 50). Der Täter kann nicht „als Werkzeug seiner eigenen Tat" betrachtet
werden (S. 59). — Gegen Katzenstein: v. Bar, Gesetz und Schuld II,
S. 104 ff. und 110, der Strafbarkeit annimmt, wenn es keines Willensaktes
mehr bedarf, sondern der Täter im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit
lediglich den bereits in Bewegung gesetzten Naturkausalismus ablaufen
läßt, da eben hierdurch die auslösende Handlung über das Stadium der
Vorberci'ungshandlung hinausgewachsen erscheint.
153
Die psychologische Vertiefung der strafrechtlichen Probleme zeigt
sich in der Differenzierung und dogmatischen Ausgestaltung der
Schuldarten. Hier liegt, abgesehen von den Ergebnissen, auf
methodischem Gebiet der große Unterschied zwischen dem neueren
und dem älteren gemeinen Recht. Dabei haben die damaligen
Kriminalisten selbst das Wesentliche dieses Gegensatzes nicht gesehen:
daß nämlich die Bestrafung fahrlässiger Vergehen unter ihren Händen
von einer Modifikation der gesetzlichen poena ordinaria zu einer nicht
minder gesetzlichen, einer andern Schuldart entsprechenden Strafe
wurde. Noch bei der Abfassung des bayerischen Strafgesetzbuches
von 1813 verschloß sich Feuerbach in dieser Frage der bessern
Einsicht Gönners.^ Gleichwohl trat damals in der dogmatischen
Ausgestaltung der kriminalistischen Begriffe die Fahrlässigkeit als
selbständige Schuldform neben den Vorsatz.
Nach Kleinschrod handelt vorsätzlich, wer sich zu einer
unerlaubten Handlung bestimmt und einsieht, daß „dieselbe gesetz-
widrig sei", fahrlässig, wer ohne dies Bewußtsein handelt, wiewohl
er es hätte haben können und sollen. ■ Vorsatz, der bewußt rechts-
widrige Wille. Daraus folgt, daß es zur Begriffsbestimmung des
Vorsatzes gehört, das Maß der zum Bewußtsein der Rechtswidrig-
keit erforderlichen Kenntnisse zu begrenzen. Und umgekehrt: der
Rechtsirrtum hat nicht mehr, wie bisher, die Bedeutung eines Straf-
milderungsgrundes, sondern er stellt die Zurechenbarkeit zum
Vorsatz in Frage. Auch hier werden Strafbarkeitsvoraussetzungen
zu Schuldelementen: „Wenn es wahr ist, was in der Natur der Sache
liegt (!), daß die Kenntnis des Strafverbots und das Bewußtsein, daß
man unrecht handle, zur Essenz des Vorsatzes gehört, so ergibt sich
daraus die natürliche Folge, daß Unwissenheit und Irrtum einen großen
Einfluß haben müssen, die Zurechnung zu bestimmen."'^ Dabei
genügt zur Annahme des Vorsatzes bei Kleinschrod nicht eine Kenntnis
der „Innern Büß- und Strafmäßigkeit" der Handlung (Kreittmayr).
Braucht der Täter auch nicht das einzelne Strafgesetz, das er über-
tritt und die Höhe der verwirkten Strafe zu kennen, so muß er doch
wissen, daß seine Tat von den positiven Gesetzen verboten ist.
Daß die Tat „natürlich unerlaubt" ist, war nur eine der Veranlassungen,
warum die Gesetze eine Strafe dagegen verordnet haben, die Bestrafung
des Vorsatzes hat „ihren nächsten Grund darin, weil das positive Recht
dem Urheber eines Vergehens ein Übel droht und dieser desungeachtet
mit Verachtung der Drohung seine zügellose Willkür dem Gehorsam
' Vgl. unten Kap. V.
'' Syst. Entwicklung Tl. 1, S. 36.
' Ebendort Tl. I, S. 246.
154
gegen die Gesetze vorzog".^ So ist Bewußtsein der Strafgesetzwidrigkeit
zum Vorsatz notwendig. Bei der formalen Enge des alten Beweisrechts
kann nach Kleinschrod der Vorsatz, da der bewußt rechtswidrige Wille
eine innere Tatsache ist, nur durch das Geständnis des Verbrechers
bewiesen werden.'- Hier rührt Kleinschrod an Probleme, deren gesetz-
geberische Ausgestaltung in seinem Entwurf ihm selbst erhebliche
Schwierigkeiten machte und die in anderer Form bei der Entwicklung
von Feuerbachs Vorsatzlehren eine Rolle spielten.
Neben dem Vorsatz steht die Fahrlässigkeit, die unbewußt
rechtswidrige Verwirklichung eines verbotenen Tatbestandes. Etwa zur
gleichen Zeit hatte der Hallenser Kriminalist Ernst Friedrich Klein
in ähnlicher Weise dem bewußt rechtswidrigen Willen eine zweite,
selbständige Schuldform zur Seite gestellt, wobei er versuchte, die
formale Einheit beider Arten als Willens schuld zu wahren.'' Nach
ihm besteht eine Schuld entweder darin, daß jemand etwas unter-
nimmt, von dem er weiß, daß er es nicht tun sollte: positiv böser
Wille. Vorsatz. Oder es fehlt dem Täter der Entschluß, „die zur
Vermeidung gesetzwidriger Handlungen erforderliche Fähigkeit und
Aufmerksamkeit auszubilden oder anzustreben": ein Mangel des guten
Vorsatzes, negativ böser Wille, Fahrlässigkeit.^ Kleinschrod
konstruiert die Fahrlässigkeit als Wissensfehler. „Der Unwissende
hält eine Handlung für erlaubt, die es nicht ist, der Unbedachtsame
hält sich zu keiner weiteren Vorsicht verbunden, als er wirklich
anwendet, der Nachlässige untersucht nicht, welchen Fleiß dieses
oder jenes Geschäft erfordere, er hält den von ihm angewandten
Fleiß für hinlänglich. So wird man bei allen Arten von Culpa,
z. B. Unvorsichtigkeit, Unbedachtsamkeit, Nachlässigkeit, zu große
Sicherheit, Ungeschicklichkeit, Schwachheit usw. einen Trugschluß,
einen Irrtum entdecken." ' Der Schuldcharakter eines solchen Irrtums,
seine Vorwerfbarkeit liegt darin, daß die Sicherheit des sozialen Zu-
sammenlebens der Menschen ein bestimmtes Durchschnittsmaß an
Kenntnissen und Einsicht voraussetzt. Darum ist „jeder Mensch
schuldig, die allgemein bekannten physischen und moralischen Wir-
kungen seiner Tat in Betracht zu ziehen und diese so einzurichten,
damit er niemand beschädige"."
' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 40 f. — ' Ebendort S. 60.
' Vgl. Binding, Normen IV, 1, S. 186 f.
* E. F. Klein, Grundsätze des gemeinen deutschen peinlichen Rechts
2.Äufl. Halle 1799. §120,S.99f. — Derselbe, Vom Unterschiede zwischen
Dolus und Culpa in Beziehung auf Verbrechen und Strafe. Ärch. des
Kriminairechts I, 2. Stück, S. 56 ff.
■ Syst. Entwicklung Tl. I, S. 66. — '' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 68.
155
Sind so Vorsatz und Fahrlässigkeit als selbständige Schuldformen
ausgebildet, so kann auch die Entscheidung über das strittige Grenz-
gebiet zwischen beiden, den dolus indirectus nur aus der Analyse
der Schuldbegrifie heraus erfolgen. Dabei knüpfte die Doktrin zunächst
an die spätere Fassung Boehmers an, in der dieser an Stelle des dolus
indirectus im Sinne der Leyserschen voluntas nocendi, wie ihn Kreitt-
mayr rezipierte, den dolus eventualis setzte/ Eine bedeutsame Rolle
spielte die berühmte Abhandlung Nettelbladt-Glaentzers." Gegen
die traditionelle Anschauung, welche die bewußt herbeigeführten Folgen
einer beabsichtigten Handlung als „indirekt" oder „eventuell" mit-
gewollt behandelte, polemisierte als erster der Kieler Kriminalist
Christiani,^ indem er auf die psychologischen Mängel dieser
Konstruktion hinwies. „Die Erfahrung lehrt, daß der Mensch sehr oft
eine Tat wolle, ohne zugleich die Folgen derselben zu wollen, selbst
dann, wenn solche mit großer Wahrscheinlichkeit vorausgesehen
werden."'* Das Mädchen, das sich dem Verführer hingibt, denkt
wohl an die Folgen ihres Tuns, aber sie will und billigt alles andere
als ihr Eintreten, der Student auf der Mensur denkt wohl an die
Möglichkeit eines tragischen Ausgangs, aber er würde den Gedanken
entsetzt zurückweisen, zum Mörder seines Gegners werden zu wollen.
Tritt die unerwünschte Folge dann ein, so kann ihretwegen der Täter
nicht wegen dolus, sondern nur wegen culpa lata zur Verantwortung
gezogen werden.
Kleinschrod nimmt in dieser Kontroverse eine vermittelnde
Stellung ein und nähert sich im Ergebnis der Art, in der die heute
herrschende Meinung die Grenze zwischen dolus eventualis und
bewußter Fahrlässigkeit zieht.'' Er unterscheidet zwei Fälle. Erstens:
„Jemand entschließt sich zu einer Handlung. Er sieht ein, es könne
hieraus ein Verbrechen entstehen. Es ist ihm gleichgültig, ob es erfolgt
oder nicht, er will das Verbrechen, wenn es auch erfolgen sollte.
Hier ist offenbar wahrer Dolus, und zwar ein eventueller da."*^
' Vgl. oben S. 136.
^ Diss. de homicidio ex intentione indirecta commisso. 1753.
' Die Chimäre des Totschlags aus indirektem Vorsatze. Kielsches
Magazin vor die Geschichte, Staatsklugheit und Staatenkunde Bd. I.
Kiel 1783. S. 345 ff.
' Ä. a. O. S. 351.
'' Vgl. z. B. den Standpunkt bei M. E. Mayer, Der allgemeine Teil
des deutschen Strafrechts. Heidelberg 1915. S. 251 und 266.
'• Syst. Entwicklung Tl. I, S. 38. Während bei Boehmcr dolus
eventualis und indirectus synonym gebraucht werden, ist der Sinn von
Kleinschrods Argumentation, nachzuweisen, daß dolus eventualis ein dolus
directus ist. Er folgt hier Eschenbach, Progr. de dolo indirccto homi-
cidarum. Rostock 1787. § 5. Vgl. Kleinschrod, Syst. Entwickl. Tl. I, S. 55.
156
Hat er dagegen infolge Unüberlegtheit nicht an die Folge seines
Vorhabens gedacht oder glaubt er, „seine Handlung so einrichten
zu können, daß jene nicht daraus entsteht", handelt er „mit aller
Vorsicht, das zu Jürchtende Ereignis zu vermeiden...", so „kann
unmöglich die Folge als dolos betrachtet werden".^ So bildet der
heutigen Doktrin entsprechend letzten Endes das Maß der Sympathie
für die Folgen des Vorhabens die Grenze zwischen Vorsatz und
Fahrlässigkeit.^ Dabei bemühte sich Kleinschrod auch in diesen,
unserer bewußten Fahrlässigkeit entsprechenden Fällen gemäß seiner
Anschauung vom Wesen der Fahrlässigkeit die Schuld in einem
Irrtum des Täters zu begründen: auch hier irrte der Täter, denn
„er glaubte, durch seine Vorsicht die Folgen vermeiden zu können,
was aber nicht möglich war".^
Zeigt so Kleinschrod in der theoretischen Bearbeitung der straf-
rechtlichen Probleme eine entschiedene Wendung zu der Dogmatik
des modernen Strafrechts, so bleibt sein Entwurf eines peinlichen
Gesetzbuchs für die kurpfalzbayerischen Staaten, München
1802, in auffallendem Maße hinter den Lehren seines Verfassers zurück.
Die theoretische Trennung von Schuld und Strafbarkeit ist im
Gesetzentwurf nicht zum Ausdruck gekommen. Ganz im Sinne des
alten gemeinen Rechts kennt sein Entwurf nur gesetzliche Straf-
drohungen und Bestimmungen darüber, wann die gesetzliche Strafe
wegfällt, gemildert oder verschärft wird. In kasuistischer Regelung
erscheinen in buntem Wechsel Notwehr und Jugend, weibliches
Geschlecht und pathologische Zustände, Armut und Irrtum lediglich
als Strafänderungsgründe, und auch aus der schwankenden Termino-
logie, nach der z. B. Kinder „kein Verbrechen zu begehen fähig"
sind (§ 214), während der in der Notwehr Handelnde lediglich „nicht
als Verbrecher gestraft" werden kann (§ 184), läßt sich im Zu-
sammenhalt aller Bestimmungen kein einheitliches Prinzip ableiten.
Bei der Zurechnungsfähigkeit überrascht eine auffallende Strenge
gegenüber Kindern unter sieben Jahren, die „mit einer mittleren oder
leichteren Züchtigung im Gericht belegt werden" können, wenn
„die Bosheit das Alter übertrifft" (§ 216).* Dabei hatte Kleinschrod
* Syst. Entwicklung Tl. I, S. 56.
'^ Im Gegensatz zu dieser Lehre suchte der Vorentwurf 1909, § 59,
Abs. 2 die Grenzziehung von dem Grade der beim Täter vorhandenen
Gewißheit des Erfolges abhängig zu machen.
' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 56.
'' Diese Bestimmung, die im Wortlaut eine Reminiszenz an CCC 164
und den in zivilrechtlicher Beziehung gemeinten Satz der römischen Quellen:
malitia supplet aetatem enthält, ist eine gesetzliche Sanktionierung der
Carpzovschen Praxis, die selbst Kreittmayr nicht ins Gesetz aufnahm,
157
selbst mit lebhaften Worten auf die für die Verantwortung noch
zu schwache jugendliche Psyche hingewiesen/ wie sich auch bei
seinem Vorbild Feder manche gute Beobachtung über das Weiche,
Schwankende, den wechselnden Eindrücken Hingegebene jugendlicher
Seelen findet.^ Bei den Jugendlichen zwischen sieben und vierzehn
Jahren wird die Bestrafung nicht mehr von dem subjektiven Urteil
des Richters über die Strafwürdigkeit des jungen Delinquenten abhängig
gemacht, sondern im Gesetz selbst ist die Strafe auf die Hälfte bis
ein Drittel der Strafe für den völlig zurechnungsfähigen Erwachsenen
herabgesetzt und an die Voraussetzung geknüpft, daß der Richter
festgestellt hat, daß der Jugendliche „die gehörige Kenntnis habe,
daß er die Strafbarkeit der Tat, ehe er sie beging, hätte einsehen
können" (§217f). Hier wirkt bereits das Discernement des franzö-
sischen Rechts, das sich in traditioneller, wenn auch keineswegs un-
angefochtener Weise bis ins Reichsstrafgesetzbuch (§ 56) erhalten hat.^
Die theoretische Ausgestaltung der Schuldformen erwies sich
für eine gesetzgeberische Regelung ungeeignet. Vorsätzlich handelt,
wer „einsieht, daß seine Handlung von den Gesetzen unter Strafe
verboten sei und dieser Wissenschaft ungeachtet die Tat vollbringt"
(§ 25). Aber diese Kenntnis der positiven Strafbarkeit war natur-
gemäß in unzähligen Fällen nicht vorhanden oder nicht zu beweisen.
Darum wird jedoch der Vorsatzbegriff nicht erweitert, sondern jene
Kenntnis als vorhanden fingiert: „Da Wir alle Sorge tragen werden,
daß Unsere Gesetze zur Kenntnis aller Unserer Untertanen gelangen,
so soll der Regel nach niemand sich durch Unwissenheit der Gesetze
entschuldigen können" (§ 276). Zwei Fälle hebt der Entwurf besonders
hervor, in denen die „vorgeschützte Unwahrheit als unbegründet zu
verwerfen" ist (§ 277). Einmal beim error affectatus, wenn sich jemand
„die Gesetze absichtlich nicht bekannt macht, um nach zügelloser
Willkür handeln zu können". Für diese Bestimmung findet sich eine
sondern nur in den Anmerkungen, gegen den Wortlaut das Gesetzes, als
Erziehungsmaßregel: damit „keine böse Gewohnheit Wurzel fasse!" erwähnte
(Änm. zum Cod. Jur. Bav. Crim. zu Tl. I, cap. I, § 4 c).
' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 161 ff.
- Feder, Unters, über den menschlichen Willen 2. Aufl., 1787, Tl. II,
S. 293 ff. und 304.
■' Diese Bestimmung geht zurück auf den Code p^nal von 1791,
Titre V, al. — R. Garraud, Traitö th^oretique et pratique du Droit p^nal
Fran^ais 3. ed., 1913, Tome I, pag. 721. Während die Voraussetzung des
Discernements im Code p^nal im Zusammenhang steht mit der freien
Beweiswürdigung durch die Jury, bildet sie in dem formalen Beweis-
recht des Kleinschrodschen Entwurfs eine Anomalie. — Vgl. auch Remy,
Les principes gdn(!raux du code pdnal de 1791. Paris 1910. Pag. 135 ff.
158
Begründung in den theoretischen Erörterungen Kleinschrods, zu der
ihn weniger die Analyse seiner SchuIdbegriHe als kriminalpolitische
Bedürfnisse führen: „ein Mensch solcher Rrt ist für das öffentliche
Wohl ebenso gefährlich als derjenige, der die Gesetze kennt und sie
überschreitet"/ Entsprechend seiner Beurteilung der actiones liberae
in causa hätte er allerdings auch in diesem Falle Fahrlässigkeit
annehmen müssen. Der zweite Hauptfall der Präsumtion der Rechts-
kenntnis betrifft Handlungen, die „nach den ersten Gründen der Vernunft
und Sittlichkeit unerlaubt" sind, wenn der Täter die nötige Erziehung
genossen hat." Auch diese Ausnahme hatte er sich in der Theorie
offengehalten und sie soll nach dem Entwurf (§ 277) gellen bei
solchen Handlungen, „deren Stratlsarkeit jeder gemeine Menschen-
verstand einsehen muß". So sind hier wieder Gedanken aus dem
Naturrecht und seiner Ausgestaltung bei den Kanonisten, die Lehre
vom error iuris Divini ac naturae in die Vorsatzlehre hineingenommen.
Auch die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit ver-
mochte er nicht klar und eindeutig in seinem Entwurf zum Ausdruck
zu bringen. Nur wenn die Folgen eines an sich erlaubten Ver-
haltens den Tatbestand eines Verbrechens bilden, hängt der dolus
(eventualis) davon ab, ob der Täter „in dasselbe einwilligte, wenn es
erfolgen sollte" (§ 35). Bei der vorsätzlichen Begehung eines Delikts
dagegen werden dem Täter alle „notwendigen Folgen dieser Handlung
als vorsätzlich zugerechnet", andere Folgen, also z. B. nur mögliche
Folgen der Haupttat dann, „wenn der Urheber der Haupthandlung
diese Folgen vorsah und deren Dasein befördern wollte" (§§ 28, 29).
Die formale Trennung zwischen den Folgen erlaubten und verbotenen
Tuns und die Ausdehnung der Haftung im zweiten Falle auf alle
notwendigen Folgen, unabhängig vom Willen und Bew^ußtsein des
Täters, erklären sich als eine Nachwirkung des kanonistischen Satzes
vom Versari in re illicita, die sich auch noch im Feuerbachschen
Strafgesetzbuch an ähnlicher Stelle wiederholt.
Das Strafensystem des Entwurfs bricht endgültig mit der
Brutalität des Kreittmayrschen Gesetzes. Qualifizierte Todesarten und
verstümmelnde Strafen sind verschwunden. Aber im einzelnen macht
sich auch hier die Unzulänglichkeit Kleinschrods geltend, seine theo-
retischen Lehren für die praktische Gesetzgebung zu verwerten. Die
Berechtigung der staatlichen Strafe führt Kleinschrod anfangs auf ein
ursprüngliches staatliches Notwehrrecht, ^ später auf die dem Staate
von dem Gemeinwillen aufgetragene Verpflichtung, die öffentliche
' Syst. Entwicklung Tl. I, S. 249.
- Ebendort.
' Syst. Entwicklung 1. Aufl., Tl. II, S. 17 L
159
Ordnung zu erhalten, zurück/ Der Erreichung dieses Zieles dienen
die drei traditionellen Zwecke der Strafe: Besserung, Abschreckung,
Sicherung. Dabei will Kleinschrod nicht eine Idealstrafe konstruieren,
durch die alle drei Zwecke vereinigt werden, sondern sie sollen alter-
nativ, dem jeweiligen besonderen Reaktionsbedürfnis dienend, angewandt
werden: Der jugendliche Rechtsbrecher und der aus Irrtum Fehlende
bedürfen der Belehrung, deren Wirksamkeit durch ein gelindes Strafübel
zu steigern ist. Wer aus Bosheit handelt, verdient eine abschreckende
Strafe. Derjenige, von dem auch in Zukunft weitere Verbrechen zu
befürchten sind, erhält eine Strafe, die vorwiegend den Charakter einer
Sicherheitsmaßnahme zum Schutze der Gesellschaft trägt." Doch hat
Kleinschrod ebensowenig wie v. Liszt, an dessen Trias: Abschreckung
der Augenblicksverbrecher, Besserung der besserungsfähigen Zustands-
verbrecher, Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, man hier
unversehens erinnert wird,^ daran gedacht, die äußerste Konsequenz
aus einer solchen Auffassung zu ziehen und die Art der Strafe allein
von der Auffassung des Richters über die Persönlichkeit des Täters,
unabhängig von der Art und der Schwere der begangenen Tat
bestimmen zu lassen. Vielmehr sind bei ihm solche Überlegungen
nur Hinweise für den Gesetzgeber, die verschiedene Bedeutung
bestimmter Handlungsweisen für die Beurteilung der Persönlichkeit
in den Strafdrohungen entsprechend zu berücksichtigen. Damit nähert
sich hier Kleinschrod der symptomatischen Verbrechensauf-
fassung Grolmans. Doch wandte sich Kleinschrod bereits in der
zweiten Auflage seiner systematischen Entwicklung gegen den „zu
subjektiven Maßstab" Grolmans und lehnte es ab, die Strafbarkeit
nach der durch die Tat dokumentierten „willkürlichen Gesetzwidrigkeit"
abzustufen: „Ich halte vielmehr dafür, daß man nur durch einen
objektiven Maßstab, durch die Beziehung der Handlung auf das Wohl
der ganzen Gesellschaft, die Größe der Strafe finden könne."* Bei
der Klassifizierung solcher objektiven Maßstäbe folgte er später
Feuerbach. ^
Nur bescheidene Ansätze jener Differenzierung der Straf-
zwecke sind in Kleinschrods Entwurf zum Ausdruck gekommen.
Belehrung hielt er für angebracht bei dem Versuch des Selbstmordes
' Syst. Entwicklung 2. Aufl., Tl. II, S. 23.
^ Syst. Entwicklung Tl. II, S. 123 ff.
* V. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Aufs. I, S. 163 ff.
* Syst. Entwicklung 2. Aufl., Tl. II, S. 32 f.
' Syst. Entwicklung 3. Aufl., Tl. II, S. 35. — Vgl. auch O. Tcsar,
Die symptomatische Bedeutung des verbrecherischen Verhaltens, v. Liszts
Seminar abhandlungen, Neue Folge V, 3, S. 117 H.
160
und Religionsdelikten, darum läßt er den Selbstmörder straflos und
sichert ihm ein ehrbares, jedoch stilles Begräbnis (§§ 970, 971) und
mildert die Strafen für Religionsdelikte (Gefängnis). Als Abschreckung
ist beim Diebstahl von 5 — 10 Gulden eine „mittlere Züchtigung im
Gefängnis" gedacht (§ 1045). Völlig unter dem Gesichtspunkt des
Sicherungszwecks steht die Behandlung der Todesstrafe. Globig
und Huster folgend, sucht er die Anwendung der Todesstrafe auf die
Fälle zu beschränken, wo sie zur Erhaltung der staatlichen Sicherheit
unentbehrlich erscheint.^ Solange „Zuchthäuser, Festungen und Ge-
fängnisse einen Missetäter so fest verwahren können, daß er ganz
außer Stande ist, fernere Anfälle gegen seine Mitmenschen zu unter-
nehmen, so ist keine Notwendigkeit, also kein Recht da, das Leben
dieses Menschen zu vernichten"." Dies Bestreben, die Todesstrafe
aus den regelmäßigen Requisiten der Strafjustiz zu verbannen, war
eine Folge jenes leidenschaftlichen Kampfes gegen die Todesstrafe,
der seit Beccaria und Voltaire Geister und Herzen aller Auf-
klärungsmänner bewegte. Indem Kleinschrod aber die Todesstrafe
für Hochverräter, Mörder, Totschläger, Aufruhrer, Brandstifter als
außerordentliches Sicherungsmittel zuließ, schuf er die Gefahr,
daß die Todesstrafe von einer an festumrissene Voraussetzungen
gebundenen Rechtsfolge zu einem willkürlichen Machtmittel der
geschwächten Staatsgewalt wird. Dabei wirkte auch eine Über-
schätzung der Wirksamkeit der Todesstrafe als eines Schutzes für
die gefährdete Staatsautorität in Zeiten revolutionärer Erschütterungen
mit: „Ludwig XVI. wäre wahrscheinlich noch am Leben, wenn im
Anfange der Revolution einige Hauptanstifter derselben hingerichtet
worden wären. "^ Die „Fälle der äußersten Notwendigkeit" (§ 128)
sind sehr dehnbar gefaßt: starker Anhang der Verbrecher, der eine
Befreiung der Gefangenen befürchten läßt, erhebliche Zunahme schwerer
Verbrechen, „. . . oder überhaupt, wenn ein Missetäter dieser Art so
beschaffen ist, daß jede andere Strafe nicht im Stande ist, den Staat
und Unsere getreuen Untertanen gegen ihn in Sicherheit zu setzen"
(§ 130). Hiermit ist tatsächlich die Husmerzung der Todesstrafe aus
dem ordentlichen Recht illusorisch und ihre Anwendung in einer
für die damalige Zeit unerträglichen Weise von richterlicher Willkür
abhängig gemacht. Die Todesstrafe als Strafe verbannt, als außer-
ordentliches Sicherungsmittel zugelassen, erscheint geradezu als Prämie
für die Unzulänglichkeit der staatlichen Polizei und Strafrechtspflege.
* Vgl. Globig und Hu st er, Abhandlung von der Kriminalgesetz-
gcbung S. 64 ff.
- Syst. Entwicklung Tl. III, S. 17.
' Abhandlungen a. d. pcinl. Recht Tl. III, 1. Abt., S. 63.
161
Deren Schwäche und Ohnmacht, nicht die Schwere der Tat und das
eigene Verschulden muß der Delinquent mit dem Tode büßen/ Zu
diesen Konsequenzen führte bei Kleinschrod der Gedanke, die Todes-
strafe sei zwar als reguläre Strafe zu verbannen, als außerordentliches
staatliches Sicherungsmittel aber zulässig. Ein Dualismus, der auf
Beccaria selbst zurückging. Auch Beccaria wollte die Todesstrafe
zulassen „in einer Zeit der Anarchie, wenn Unordnung an Stelle
der Gesetze tritt", wenn ein Verbrecher, „obwohl der Freiheit beraubt,
noch solche Verbindungen und solche Macht hat, daß er hierdurch
die Staatssicherheit gefährdet . . .""
Indem die Todesstrafe ihre alte zentrale Bedeutung als — man
kann sagen — normale Strafe verlor, gewann die Freiheitsstrafe
erhöhte Bedeutung. Kleinschrod berichtet, daß „der größte Teil
der Strafen heutzutage (1797) in der Verdammung zum Zuchthause
besteht".^ Mit dieser Entwicklung hatte aber die Ausgestaltung des
Sh-afvollzugs in den alten Zucht- und Werkhäusern keineswegs Schritt
gehalten. Hier lag noch alles im Argen. Gerade um diese Zeit
hatten die ersten Versuche begonnen, in Deutschland das Interesse
auf die Mängel im Vollzug der Freiheitsstrafen hinzulenken: 1780
war in Leipzig die erste deutsche Ausgabe von John Howards
berühmtem Buch über Gefängnisse und Zuchthäuser erschienen, dem
alsbald die Berichte von Wächter^ und Wagnitz^'' folgten. Klein-
schrods Stellung zu diesen Dingen ist höchst charakteristisch: eine
unverkennbare Müdigkeit hält ihn ab, die bessere Erkenntnis in
reformatorische Taten umzusetzen. Er glaubt selbst, daß „Zucht- und
Arbeitshäuser bei einer zweckmäßigen Einrichtung die beste Wirkung
haben müssen, daß man sie zu den wirksamsten Mitteln gegen
Verbrechen erheben kann".^ Da ihm aber die Kraft zu einer sinn-
vollen Umgestaltung des Systems der Freiheitsstrafen fehlte — eine
' Vgl. die Kritik Kleins im Ärch. des Kriminalrechts IV, 4, S. 149 L,
der die „innere Gefährlichkeit der Handlung" selbst zur Todesstrafe
erforderlich und genügend hält und meint, der Verbrecher könne gegenüber
Kleinschrods Regelung einwenden, „es müsse doch wohl an der Regierung
liegen, wenn es so viele Unzufriedene gebe", warum solle er „für die Torheit
derjenigen büßen, welche ... zu denselben Ausschreitungen hingerissen
würden?"
- Beccaria-Essclborn, S. 107.
* Über die Strafe der öffentlichen Arbeiten. G. A. Kleinschrods Ab-
handlungen aus dem peinl. Recht und Prozeß I. Tl. Erlangen 1797. S. 233.
* Über Zuchthäuser und Zuchthausstrafen. Stuttgart 1786.
■' Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten
Zuchthäuser in Deutschland. Halle 1V91-1794.
•^ Über die Strafe der öffentlichen Arbeiten, a. a. O. S. 235.
11
162
Aufgabe, die freilich nicht in einem Strafgesetzbuch-Entwurf allein zu
lösen war — , griff er angesichts der Unzulänglichkeit der bestehenden
Zuchthäuser gern zu einem Ersatz für Zuchthaus und Gefängnis: zur
Strafe der öffentlichen Arbeit, die als schwerste Strafe für die
Beurteilung des Entwurfs entscheidende Bedeutung hat. Ruch hier
führten theoretische Lehren zu verhängnisvollen gesetzgeberischen
Versuchen.
Den Äbschreckungsgedanken, der das alte gemeine Strafrecht
beherrscht hatte, lehnte Kleinschrod ab. Nach dieser Maxime brauche
man nur jedes Delikt „schwer und auffallend zu bestrafen, um desto mehr
zu schrecken. Es würde aller Unterschied zwischen den Verbrechen
aufhören und wir kämen dann auf die einfachste Gesetzgebung der Welt,
die des Drako nämlich, der alle Verbrechen mit dem Tode bestrafte".^
Aber darf der Äbschreckungszweck auch nicht Größe und Gattung der
Strafe bestimmen, so kann doch die Art des Vollzugs so gehandhabt
werden, daß die Strafe möglichst abschreckend wirkt. Gestützt auf diese
formale Unterscheidung, sucht der Entwurf eine Anregung Globigs
und Husters zu verwirklichen, die selbst konsequente Anhänger des
alten Abschreckungsprinzips waren: die Publizität des Strafvollzugs.
Nach Globig und Huster sollte die Gefängnisstrafe gxtramuran vollzogen
werden, die Gefängnisse an öffentlichen Plätzen errichtet, „nur mit Gittern
vermacht, allen Vorbeigehenden zum Beispiel sein".^' Auch in den
strafrechtlichen Reformbestrebungen der französischen National-
versammlung wurde als Konsequenz des Abschreckungsprinzips die
Forderung nach der Publizität des Vollzugs der Freiheitsstrafen in den
verschiedensten Formen erhoben.^ Dieser Gedanke führte dazu, daß
auch nach der, in Frankreich noch während der Revolutionszeit wieder
rückgängig gemachten, Aufhebung der Brandmarkung die schweren
Freiheitsstrafen infolge der entehrenden öffentlichen Zurschaustellung
stigmatisierend wirken mußten.
' Syst. Entwicklung Tl. II, S. 130.
^ Gl obig und Hustcr, Abhandlung von der Kriminalgesetzgebung.
Zürich 1783. S. 60 und 75.
^ Nach den Ausführungen des Berichterstatters Le Pelletier de Saint-
Fargeau sollten die Strafen drei Eigenschalten haben: le premier, d'etre
durables; le sccond, d'etre publiques; le troisifeme, d'etre toujours rappro-
ch^es du lieu oü le crime a ^clatä. Der Code pönal von 1791 und der von
1810 behielten daher die Ausstellung am Pranger bei, die erst 1848 auf-
gehoben wurde. In dem Aufhebungsdekret der vorläufigen Regierung hieß
es: „. . . la peine de l'exposition publique dögrade la dignitö humaine, flötrit
h jamais le condamnö et lui 6te, par le sentiment de son infamie, la possi-
bilitö de la rehabilitation. — H. Remy, Les Principes göndraux du codc
pönal de 1791. Paris 1910. Pag. 47 und 121.
163
Bei Kleinschrod wird als Grundsatz den Vorschriften über die
^Anwendung der Strafen überhaupt" die Bestimmung vorangestellt,
daß „jede Strafe öffentlich vollzogen werden" soll (§ 159). Vor dem
Antritt der Zuchthaus-, Arbeitshaus- und öffentlichen Ärbeitsstrafe soll
der Verurteilte am Ort der Tat am Pranger ausgestellt werden (§ 162).
Bei der schwersten Strafe sollen die Arbeiten der Sträflinge nach
Kleinschrods Absicht „an öffentlichen Plätzen und im Angesicht des
Publikums" verrichtet werden. Denn „wann läßt sich wohl eine
größere Abschreckung gedenken, als wo der Verbrecher durch eine
ausgezeichnete Kleidung entstellt, mit Ketten und Schande überhäuft,
vor den Äugen des Staates ein mühseliges Leben führen und durch
Arbeiten seine Mitbürger belehren muß, daß nicht Ruhe und Gemäch-
lichkeit, sondern Schande und Arbeit unausbleibliche Folge der
Verbrechen sei?"^
Hier sind Gedanken wirksam, die einer mittelalterlichen Strafjustiz
zu entstammen scheinen und ein schweres Hemmnis für eine rationelle
Entwicklung des Strafvollzugs werden mußten. Publizität des Straf-
vollzugs ist eine Erscheinung niederer Kulturstufen." Die bewußt
erstrebte infamierende Wirkung des Strafvollzugs machte alle Bemü-
hungen, erzieherisch und aufrichtend auf den Verbrecher zu wirken,
unmöglich; umsonst erwartete Kleinschrod von dem „mühseligen, mit
Schande beladenen Leben" eine bessernde Wirkung.'' Zudem mußte
der Makel der Schande nach Verbüßung der eigentlichen Strafe jede
Möglichkeit für den Bestraften, sich wieder emporzuarbeiten, unter-
binden. Hatte Gl ob ig wenigstens auf die Pflicht des Staates zu
materieller Unterstützung des aus der Strafe Entlassenen hingewiesen,
„wenn derselbe durch die erlittene Ahndung, durch die Dauer seines
Arrestes in Armut geraten und der Mittel seiner vorigen Hantierung
beraubt wäre",* so begnügt sich Kleinschrod mit dem Hinweis auf den
Ouistorpschen Vorschlag, ins Gesetz eine Straf drohung gegen den-
jenigen aufzunehmen, der einem andern eine verbüßte Strafe vorhält
und dem Rat an den Entlassenen, an einen andern Ort zu ziehen.'
* Über die Strafe der öffentlichen Arbeiten, a. a. O. S. 237.
^ G. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und
Strafe 2. Aufl. Berlin 1908. S. 137.
* Über die Strafe der öffentlichen Arbeiten, a. a. O. S. 239.
* Globig und Huster, Vier Zugaben zu der gekrönten Schrift von
der Kriminalgesetzgebung. Altenburg 1785. S. 78.
* Kleinschrod, Über die Strafe der öffentlichen Arbeiten, a.a.O.
S. 259. — Quistorp in seinem Ausführlichen Entwurf zu einem Gesetz-
buch in peinlichen und Strafsachen, Rostock und Leipzig 1782, I. Teil, §55,
S.65 f., verlangt: „Würde daher jemand einem andern die überstandenc
Leibes- oder eine andere Strafe schimpflicherweisc vorrücken
11*
164
In den Entwurf ist jener Vorschlag als besondere Vorschrift nicht
aufgenommen.^ So erkannte Feuerbach die Konsequenz aus dieser
Strafgattung des Entwurfs: eine Rehabilitation war nach der Strafe
der öffentlichen Arbeit ausgeschlossen. „Gewiß, der Elende, den das
Publikum in dem Zustand seiner Erniedrigung immer umhergehen sah,
bei welchem das Andenken an seine Schandtat täglich gleichsam
wieder verjüngt wurde, — der wird nie hoffen können, von der
Gesellschaft wieder als ihr Mitglied anerkannt zu werden: von ihr
ausgestoßen, wird er in neuen Verbrechen seine Erhaltung suchen
müssen. " " Feuerbach hat aus dieser richtigen Erkenntnis den unheil-
vollen Schluß gezogen, die Irreparabilität dieser infamierenden
Strafe zum Prinzip zu erheben: die Kettenstrafe des Strafgesetzbuchs
von 1813 konnte nie anders als auf „lebenslang" erkannt werden (a 8).'^
Treten so in Kleinschrods Entwurf bei einzelnen Strafarten
besondere Strafzwecke in den Vordergrund, so ist im ganzen
sein Strafrecht beherrscht von der Repression für schuldhaft
begangene Handlungen. Dieses repressive Prinzip bildet bei
zwei Personengruppen einen Gegensatz zum Sicherungszweck des
Strafrechts bei den vermindert Zurechnungsfähigen und den
gemeingefährlichen Gewohnheitsverbrechern. Kleinschrods
oder ihm deshalb seinen sonstigen Anteil an diesen oder jenen Rechten
ungebührlicherweise bestreiten, so soll derselbe nicht allein dem
Befinden nach zur Leistung einer gerichtlichen Abbitte angehalten,
sondern auch überdies mit einer zum Besten der Armut des Orts zu ver-
wendenden Geldbuße von 10 Talern oder in deren Ermangelung mit
achttägigem Gefängnis bei Wasser und Brot bestrafet werden." Ein noch
für die heutige Zeit beachtenswerter Vorschlag! — Vgl. auch Globig und
Huster, Vier Zugaben zu der gekrönten Schrift... Ältenburg 1785. S. 116.
' Vgl. dagegen die weitgehende Fassung des § 1324, unter dem das
Vorhalten verbüßter Straftaten fallen könnte: „Wer die Handlungen
seines Mitmenschen mit dem bösen Vorsatz lieblos beurteilt, um den
Charakter desselben verdächtig zu machen und ihm alles Zutrauen und
alle Ächtung seiner Mitmenschen zu entziehen, macht sich einer Schmähung
schuldig, welche ebenfalls zu den wörtlichen Injurien gehört." Zugunsten
der Angehörigen des Verbrechers enthält der Entwurf die inhaltsleere
Bestimmung, es sollten „unsere Gerichte die Familie des Verbrechers in
besonderen Schutz nehmen (?), wenn diese deswegen an ihrem guten Namen
gekränkt wird, weil eines ihrer Mitglieder als Missetäter gestraft wird" (§ 176).
* Kritik des Kleinschrndschcn Entwurfs III, S. 187 f.
' In Dänemark erwirkte im Jahre 1802 die Dänische Kanzlei die
Abschaffung der Festungsbaustrafe. In der „Vorstellung" an den
König führte die Kanzlei aus, durch die Öffentlichkeit des Vollzugs werde
beim Verbrecher „jedes Gefühl des Guten, was noch in seiner Seele auf-
kommen möchte, unterdrückt ... Er verzweifelt daran, jemals wieder die
Achtung der Menschen, die Zeugen seiner Schande waren, gewinnen zu
können". Blätter für Polizei und Kultur II. Bd. 1802. S. 819.
165
Entwurf will hier die durch das Vergeltungsbedürfnis geforderte und
begrenzte Strafe durch geeignete polizeiliche Maßregeln ergänzen.
Den vermindert Zurechnungsfähigen kann „eben sein beschränkter
Verstand, der ihn schon einmal zum Verbrechen antrieb", besonders
gefährlich erscheinen lassen/ Bei ihnen soll zwar „nach dem Grade
der Dummheit die Zurechnung des Verbrechens abnehmen", aber
„die Polizei darauf Bedacht nehmen, daß sie für die Zukunft einer
genauen Hufsicht anvertraut und mit den Pflichten des Menschen
und Bürgers bekanntgemacht werden" (§ 272 — 274).
Entsprechend lauten die für den Gewohnheitsverbrecher vorgesehenen
Bestimmungen: Wer „ein Verbrechen so oft wiederholt, daß er die
Gewohnheit, es zu begehen, nicht mehr unterdrücken kann", ist nach
Verbüßung der den einzelnen Handlungen entsprechenden Strafen „der
besonderen Aufsicht der Polizei zu unterwerfen", die seine Beschäftigung
bestimmen und erforderlichenfalls eine besondere Beaufsichtigung oder
eine zweckmäßige Freiheitsbeschränkung anordnen kann {§ 399 — 402).
Lassen diese Bestimmungen im Vergleich mit dem rigorosen Sicherungs-
recht im Kreittmayrschen Gesetz eine Tendenz wohlwollender Fürsorg-
lichkeit erkennen, so fehlten für eine humane, aber rationelle Kriminal-
politik alle Voraussetzungen an Einrichtungen und Persönlichkeiten.
Vom Standpunkt des Gesetzgebers treten hier die drei denkbaren
Lösungsversuche des Problems des Unverbesserlichen unmittelbar
hintereinander in die Erscheinung: in seinen theoretischen Arbeiten
ordnete Kleinschrod das geringe Repressivbedürfnis dem Sicherungs-
zweck unter,- im Entwurf treten Strafe und Sicherungsmaßnahme
kumulativ nebeneinander, und Feuer b ach hat dann den Versuch
gemacht, allein mit einer von den Schlacken moralischer Zurechnung
bereinigten Strafe auszukommen.
Gegenüber Kreittmayrs Gesetzbuch war Kleinschrods Entwurf ein
erheblicher P'ortschritt. Hier waltete der Geist der aufgeklärten
Despotie: auch hier eine schrankenlose Staatsgewalt, aber gebunden
durch ein Verantwortungsgefühl für das Wohl und Wehe des einzelnen
Untertanen. Ein unverkennbarer Einfluß der Reformbewegung, eine
Milderung der Strafdrohungen, eine Begrenzung des Umfangs krimi-
nellen Unrechts, aber in wichtigen Fragen, Todesstrafe, Strafvollzug,
ein ängstliches Schwanken und Zurücklenken zum Überkommenen.
So verband der „würdige Kleinschrod", wie ihn Feuerbach zu nennen
liebte, freundliche Empfänglichkeit für die neuen Ideen mit konservativ
gerichteter Denkart. Dagegen war die große politische Forderung der
' Syst. Entwicklung Tl. II, S. 164.
- Syst. Entwicklung Tl. II, S. 167. Vgl. oben S. 149.
166
Zeit nach der „Gleichheit aller vor dem Gesetz" im Entwurf erfüllt
und damit mit den alten Standesprivilegien gebrochen. Bei Kreittmayr
wurden gegenüber Standespersonen „Leib- und Schandstrafen " in
Geld-, Arrest- u. dgl. Strafen abgeändert (Tl. I, cap. I, S. 25). Noch
Beccaria war schwankend und wollte bei politischen Delikten, welche
„nur quasi -maleficia darstellen, ... in weitgehendem Maße den Stand
der Personen berücksichtigen, weil der Stock, der einen Packträger
bessern kann, einen Adeligen, einen ehrenhaften Kaufmann und jedwede
Person bürgerlichen Standes erniedrigt und vernichtet und deren ganze
Familie der traurigsten Schande preisgibt."^ Ähnlich wie Gl ob ig
und Huster- sieht Kleinschrod bei dem Verbrecher aus gebildeten
Kreisen eine stärkere Schuld, aber zugleich eine erhöhte Empfindsamkeit
für Strafe und eine leichtere Erziehbarkeit,^ sodaß die gleiche Strafe
Avie für den gemeinen Mann der erhöhten Zurechenbarkeit gerecht wird.
„Wer den Geist unserer Zeiten nur ein wenig studiert, wird finden,
daß die Notwendigkeit, diese Grundsätze geltend zu machen, so groß
sei, als sie noch nie war. Dieser wird es den ersten Grundsätzen
moderner Politik angemessen erklären, daß das Schwert der Gerechtigkeit
die festgesetzte Strafe an allen gleich vollziehe und keine Ausnahme
gestatte, die dem ganzen Strafsystem so schädlich werden kann, da
sie den Neid des gemeinen Mannes gegen die höheren Stände noch
vermehret."^ So kennt Kleinschrods Entwurf keinerlei privilegierende
Surrogatstrafe.
Der fühlbarste Fehler des Kleinschrodschen Entwurfs waren seine
formalen Mängel. Die Voraussetzungen der strafrechtlichen Reaktion
waren unklar und unbestimmt. Oft rührte die Vieldeutigkeit und die
Unsicherheit aus dem ängstlichen Bestreben, in reicher Kasuistik die
mannigfachen psychologischen Variationen menschlichen Verhaltens
erschöpfend zu regeln. Häufig fehlte dem Verfasser die Gabe, alt-
väterliche Ermahnungen in knappe Befehlsform zu verwandeln.^ Aber
solche formalen Unzulänglichkeiten stellten den rechtspolitischen Wert
gerade dieses Reformwerkes in Frage. Denn was die Zeit ersehnte,
war ein klares bestimmtes Gesetzbuch, nachdem durch Generationen
hindurch richterliche Willkür gegenüber veralteten Sü-afgesetzen zu einer
Anarchie des positiven Rechts geführt hatte.
' Beccaria-Esselborn S. 180.
^ Äbhandl. von der Kriminalgesetzgebung S. 102 f.
=* Syst. Entwicklung Tl. II, S. 178 l
* 1794. Syst. Entwicklung 1. Aufl., Tl. II, S. 156.
* Vgl. Landsberg, Geschichte der Rechtswissenschaft 3. Abteilung.
II. Halbband, S. 129.
167
Kleinschrods Entwurf hatte nach seines Verfassers eigenen Worten
„das Glück und Unglück, von einer Menge berufener und unberufener
Kritiker beurteilt, rezensiert, gelobt und getadelt zu werden." Aber
die „imponierendste, mit großem Aufwand von Witz und Bitterkeit
gewürzte Kritik ist die des Herrn Hofrats und Professors Feuerbach. .."^
Diese Kritik Feuerbachs sollte für das Geschick der bayerischen
Strafgesetzgebung wie für seinen eigenen Entwicklungsgang entscheidend
werden. Nach den theoretischen Studien der vergangenen Jahre ist
hier versucht, die strafrechtlichen Lehren im einzelnen den praktischen
Hufgaben der Gesetzgebung dienstbar zu machen.^' Aber nicht minder
wie dort, steht auch hier hinter dem Werk die Persönlichkeit. Die
„scharfe und beißende Schreibart" und die „unbesiegliche Gewohnheit",
die Gegner „im eigentlichen Sinne niederzuschlagen", worüber sich
Kleinschrod beklagte,^ waren ein Ausfluß seiner kampflustigen Natur
und ein Zeichen des leidenschaftlichen Eifers, im Bewußtsein des
Wendepunkts der deutschen Strafgesetzgebung an entscheidender Stelle
mitzuarbeiten. „Unter den Begebenheiten, so beginnt seine Kritik,
welche das Menschengeschlecht in seinem Streben zum Bessern
aufhalten, welche die Ketten des Vorurteils enger zusammenziehen
und es durch diese mit verjüngter Liebe an das Alte fesseln, unter
diesen Begebenheiten stehen, nicht im untersten Rang, mißlungene
Reformationen." Der Geist des Beharrens bei dem Überkommenen
zieht aus jeder verunglückten Neuerung triumphierende Nutzanwendung,
aber jenes Älles-beim-Rlten-Lassen, in „Tagen der Finsternis eine
magische Kraft", „gleicht in den Zeiten des Lichts dem Gemurmel
eines Truggespenstes, das am hellen Mittag spukt."*
So wie Feuerbachs eigene Erfolge nicht zum wenigsten auf seiner
bestechenden Dialektik und der formalen Überlegenheit seiner Argumen-
tation beruhten, macht er hier die formalen Mängel des Entwurfs
zum Ausgang seiner Kritik. Können sie doch die Wirksamkeit des
Gesetzes selbst in Frage stellen. Ein Strafgesetz muß vollständig und
volkstümlich, klar und bestimmt sein. Der Gesetzgeber soll eine
bündige, knappe Sprache reden, nicht wie Kleinschrod in lehrhafter
* Äbhandl. aus dem peinl. Recht und Prozeß 3. Tl., I.Abt., S. 3 und 5.
* Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetz-
buch für die kurpfalzbayerischen Staaten, von P. Joh. Anselm Feuerbach.
Drei Teile. Gießen 1804. Auch erschienen als Bd. II, 2 und 3 und Bd. III, 1
der Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde,
herausgegeben von Harscher v. Almendingen, Karl Grolman und
P. J. A. V. Feuer bach.
••' Kleinschrod, Abhandl. 3. Tl., I.Abt., S. 5 f.
■* Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs Tl. I, Vorrede pag. III und IV.
168
Weise „in Schlüssen deduzieren" und „Präzision und Deutlichkeit
einem mißverstandenen Streben nach Verständlichkeit" opfern. Philo-
sophischer Geist solle sich mehr in der Tiefe und Wahrheit des
Gedankens als indem „philosophischen Gewand" doktrinärer Ausdrucks-
weise dokumentieren.^ Um des Gedankens der Rechtssicherheit willen
fordert Feuerbach strikte Präzisierung der gesetzlichen Voraussetzungen
der Strafbarkeit. Darum sieht er in Kleinschrods Entwurf mit seinen
umständlich differenzierten Tatbeständen („schwere, leicht ausführbare
Drohungen", „besonders gefährliche Aufrufe", „bald vorübergehende"
Freiheitsentziehung) und den häufigen Abstufungen in „geringe",
„mittlere" und „schwere Fälle" eine „feierliche Constitutionsakte
für das Reich einer unbedingten richterlichen Willkür".^
Diesen Mangel an Bestimmtheit der gesetzlichen Strafen empfand
Feuerbach besonders stark bei der Verwendung der Todesstrafe als
außerordentliches Sicherungsmittel. Nicht, weil er diese Strafe verdient
hat, trifft den Mörder und Hochverräter die Todesstrafe. Kleinschrod
hat die Todesstrafe als einen „Akt der Gerechtigkeit aufgehoben und
als einen Akt der Willkür konstituiert . . . Man hat sich bei so vielen
Gelegenheiten des Wortes Justizmord bedient. Kann es für diese
Tötungen einen passenderen Namen geben?" ^
Bei der inhaltlichen Prüfung des Entwurfs wollte Feuerbach fern
von allem Schulensh-eit als „Repräsentant und Vermittler aller Parteien"
nur das Unumstößliche und Unbestrittene der Beurteilung zugrunde
legen. "^ Er vermißte bei Kleinschrod das „erste Erfordernis einer
Criminalgesetzgebung", daß die gesetzlichen Bestimmungen ein einheit-
liches, planmäßiges leitendes Prinzip erkennen lassen. Das fehlt
Kleinschrods sorgsamem Eklektizismus, der mit all seiner ausführlichen
Breite in den einzelnen Bestimmungen doch den Eindruck einer Leere
und Gedankenarmut erweckt und ausgesprochene klare Stellungnahmen
vermeidet. So ward Feuerbach, der es niemals liebte, eigene Gedanken
zugunsten eines Eingehens auf fremde Denkweise zurücktreten zu
lassen, durch die Schwächen des Entwurfs selbst dazu gedrängt, in
der Kritik seine eigenen Vorschläge zur Geltung zu bringen. Diese
kritische Arbeit wurde mehr und mehr zu einer Apologie der eigenen
Anschauungen Feuerbachs. Er hat sie selbst später neben der
„Revision" als wichtigste Quelle für die Motive zu seinem großen
Werk, dem Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813, bezeichnet.'' Durch
' Kritik, a. a. O. Tl. I, S. 20 f.
- Ebendort Tl. III, S. 13.
' Ebeiidort Tl. II, S. 165 und 181.
' Ebendort Tl. I, S. 39.
' Leben und Wirken Bd. I, S. 239.
169
die suggestive Kraft scharf pointierter Kritik und die geistige Über-
legenheit gegenüber Kleinschrods Unzulänglichkeit hat diese Schrift in
hohem Mafk dazu geholfen, die Wirkung der Feuerbachschen Ideen
auszubreiten und zu vertiefen.
Kleinschrod nahm eingehend zu den mannigfachen kritischen
Angriffen gegen seinen Entwurf Stellung, am ausführlichsten gegen-
über Feuerbach.^ Er tat dies mit sachlicher Ruhe und ohne persön-
liche Ausfälle gegen die Gegner, die ihm gegenüber oft, wie es
der Biograph in seinem Nachruf beklagte, die Formen verletzt hatten,
„welche für die freie Bewegung der Geister in dem Gelehrtenstaate
unumgänglich erforderlich sind"." Aber seine Repliken hatten wenig
Erfolg. Er vermied es ängstlich, auf irgendwelche grundsätzlichen
Auseinandersetzungen einzugehen, sondern begnügte sich, mit philo-
logischer Gründlichkeit Paragraph für Paragraph gegenüber dem Gegner
einzeln zu rechtfertigen. Von besonderem Interesse ist eine spätere
Kritik Globigs, der zwei Jahrzehnte zuvor Kleinschrod selbst stark
beeinflußt hatte. "^ Aus Globigs Schrift sprechen eine gewisse Müdigkeit
und Skepsis gegenüber weitergehenden Reformen und zugleich eine
starke Sympathie für Kleinschrod. Eine „absolute Vollkommenheit"
läßt sich doch nicht erreichen, darum wäre es „sehr schade, jenen
Enhvurf, der durch seltene Vollständigkeit und zweckmäßige Kürze (!)
sich vor andern Werken dieser Art auszeichnet, bloß darum, weil
manches daran zu verbessern ist, ganz bei Seite zu legen".*
Globig sucht einem vermittelnden Standpunkt zwischen den
moralischen Zurechnungsprinzipien Kleinschrods und der „schneidenden
Imputationslehre des Herrn Feuerbach" Anerkennung zu verschaffen,
weniger im Sinn einer neuen Theorie als dadurch, daß er in einzelnen
Fällen die strafrechtliche Beurteilung in stärkerem Maße als Kleinschrod
von objektiven Momenten abhängig macht. Die Humanisierung des
^ G. Ä. Kleinschrod, Revision der Kritiken über meinen Entwurf
zum peinlichen Gesetzbuch für die kurplalzbayerischen Staaten. Äbhandl.
aus dem peinl. Recht und dem peinl. Prozeß 3. Tl., 1. Äbt. Erlangen 1805.
S. 1 ff. Von den zahlreichen Kritiken seien außer den im Text besprochenen
erwähnt: Jos. Karl Schmid, Über die Unzulänglichkeit des Kieinschrodischen
Entwurfs.,., Ulm 1803, ein zu völliger Unfruchtbarkeit verdammter Versuch,
die Strafe nach einem einheitlichen naturrechtlichen Urprinzip unabänderlich
zu bestimmen, und Salchow, Beiträge zur Kritik des Kieinschrodischen
Entwurfs..., Jena 1804. Die „einzige umständliche Beurteilung des ganzen
Entwurfs". (So: Kleinschrod, a. a. O. S. 203.)
- Neuer Nekrolog der Deutschen. Herausgegeben von Fr. Aug, Schmidt,
2. Jahrg. 1824, 2. Heft. Ilmenau 1826. S. 1005.
^ E. v. Globig, Kritik des Entwurfs eines peinlichen Gesetzbuchs für
Bayern. Regensburg 1806,
' E. v. Globig, Kritik des Entwurfs usw., Vorrede pag. IV,
170
Strafrechts dürfe in dem an die drakonische Kreittmayrsche Strafjustiz
gewöhnten Volk nur allmählich erfolgen. Die Zulässigkeit der Todes-
strafe allein als Notwehrmittel „militärischer Gewalt" erscheint Globig
viel zu eng. Er will sie wieder als allgemeine schwerste Kapitalstrafe
zugelassen haben, wiewohl er selbst „in seiner Jugend" für Beccarias
Gedanken eingenommen war.^
Indessen vermied die Geschichte hier den Weg des Kompromisses.
Globigs Befürchtung, „daß die Gesetzkommission zu München den von
allen Seiten kritisierten Kleinschrodschen Entwurf nicht mehr zum
Grunde legen wolle, sondern an einem neuen Entwurf arbeiten lasse,"*
traf zu. Mit der Ausarbeitung dieses neuen Entwurfs hatte die
bayerische Regierung Feuerbach selbst beauftragt. Rn diese Tatsache
knüpft die letzte der durch die Diskussion über Kleinschrods
Entwurf angeregten Schriften an. Der Wetzlarer Kriminalist Tobias
Werner will nicht „als Schutzredner der Kleinschrodschen Verirrungen",
sondern, weil nun die Feuerbachschen Lehren ihren Einzug in die
Gesetzgebung halten werden, zu der Kritik Feuerbachs in einzelnen
praktischen Fragen vornehmlich des Besonderen Teils „metakritisch"
Stellung nehmen.'*
Noch ein anderes Mal schien Kleinschrod zum Schöpfer eines
deutschen Landesstrafgesetzbuchs berufen. Er erhielt den Huftrag, das
österreichische Strafgesetzbuch von 1803 für das junge Großherzogtum
Würzburg zu bearbeiten.^ Er legte einen Entwurf vor — da machten
die schnell wechselnden politischen Verhältnisse mit der Herrschaft
Napoleons der Selbständigkeit Würzburgs ein Ende. Das Großherzogtum
wurde dem Königreich Bayern einverleibt, just zu der Zeit, als das
neue Strafgesetzbuch von 1813 in allen bayerischen Landesteilen
eingeführt wurde. So mußte Kleinschrod, nicht ohne persönliche Tragik
einer verborgenen geschichtlichen Konsequenz folgend, zum zweiten
Male Feuerbach weichen.
' Ä. a. O. S. 54 und 56. .Auf dieser „Jugendanschauung" fußte Klein-
schrods Beschränkung der Todesstrafe. Vgl. oben S. 160.
'-' Ä. a. O. Vorrede, pag. III f.
^ Jak. Tob. Werner, Metakritik über Feuerbachs Kritik des Klein-
schrodischen Entwurfs. Frankfurt und Leipzig 1808.
* Teichmann, in Allgemeine deutsche Biographie Bd. 16, S. 110.
171
Fünftes Kapitel
Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813.
Die Entstehung des Bayerischen Strafgesetzbuchs fällt in bewegte
Zeiten. Oft mögen politische Nöte und Verwicklungen den Erfolg
jener Jahre in Frage gestellt haben, in denen Feuerbach seine besten
Kräfte der Arbeit an der Reform des bayerischen Strafrechts widmete,
bis das Befreiungsjahr 1813 auch diesem Werk den Abschluß brachte/
Damit vollendete sich eine Periode im Schaffen Feuerbachs, die von
den Kämpfen des jugendlichen Sturmes und Dranges hinüberleitet
in die Zeit gereifter Festigung und bereits ein beginnendes Erstarren
in dogmatischer Verengung erkennen läßt. Die Kritik des Klein-
schrodschen Entwurfs, noch in der Kieler Zeit geschrieben, erschien
1804, nachdem Feuerbach unter glänzenden Bedingungen an die
Landshuter Universität berufen war und brachte ihm noch im gleichen
Jahr den Auftrag der Regierung, unter Benutzung aller eingegangenen
gutachtlichen und kritischen Arbeiten und der Erfahrungen anderer
Staaten selbst einen neuen Entwurf auszuarbeiten. Im Hochgefühl
jugendlichen Schaffens machte sich der 29 jährige an die Arbeit.
„Eine sehr mühselige und z. T. sehr gefahrvolle Ehre, es läßt sich
dabei viel Ruhm erwerben, aber auch viel Ruhm verlieren", schreibt
er im Weihnachtsbrief 1804 dem Vater." Herbst 1806 hoffte er, den
ersten Teil seines Codex der Regierung zu übergeben. Da störten
die unruhigen politischen Verhältnisse die stille Muße des Ärbeitens.
Das Landshuter Universitätsleben, das ihm ursprünglich in solch
verlockendem Lichte erschienen war, dünkte ihm mehr und mehr
unbefriedigend.'^ Er fühlte sich in seiner Lehrtätigkeit durch die Ein-
führung amtlicher Studienpläne beengt, er mußte Neid und Mißgunst
' Vgl. zu diesem Abschnitt: Edm. Baumgarten, Das Bayerische
Strafgesetzbuch von 1813 und Änselm v. Feuerbach, Gerichtssaal 81, S. 98 ff.
' Leben und Wirken Bd. I, S. 101.
' Interessant sind die Eindrücke Savignys von dem Geist der Lands-
huter Universität der Jahre 1808—1810 („Deutschheit wird nicht genannt
und nicht gefühlt"!) in seinen Briefen an den Pfarrer und Konsistorialrat
Bang, den Sohn seines Marburger Lehrers und Pfarrers in Goßfeldcn,
bei Enneccerus, Fr. C. v. Savigny u. die Richtung der neueren Rechts-
wissenschaft. Marburg 1879. S. 57 ff.
172
spüren und sah sich durch das Verhalten seines Fakultätskollegen,
des Prozessualisten v. Gönner geradezu provoziert. Im Herbst 1805
kam es zum offenen Konflikt, und Feuerbach verließ fluchtartig
Landshut. Doch gelang es Friedrich v. Zentner, dem späteren
Justizminister, einem Rheinländer, den Graf Montgelas über die
Rücksichten auf Alter und Tradition hinweg als Mitarbeiter zu den
innerpolitischen Reformarbeiten berufen hatte, Feuerbach weiterhin für
Bayern zu erhalten. Feuerbach wurde am 16. Dezember 1805 nach
München berufen und im nächsten Jahr zum Ordentlichen Geheimen
Referendar des neu konstituierten Ministerial-Justizdepartements ernannt.
So traten an Stelle der Stille der Studierstube ein großes Amt und
ein Schaffen ins Weite. Gern ward der Professor zum Ministerialrat.
Noch im Weihnachtsbrief von 1804 hatte er sich dankbar der Lands-
huter „Ruhe und literarischen Muße, wie sie mir noch nie zu Teil
geworden ist", gefreut, die ihn fast allein den Wissenschaften leben
läßt.^ Im April 1805, als er mehrmals zu Besprechungen im Justiz-
departement nach München gerufen wurde, „von den ersten Männern
...geachtet, geliebt und ausgezeichnet", von Montgelas selbst „mit
Aufmerksamkeit behandelt", erscheinen ihm der bunte Strom des Lebens
und die „glänzende Knechtschaft des Weltmanns" in blendendem Licht.
Noch will er bei der Ruhe akademischer Unabhängigkeit bleiben und,
dem Vater die Salomonische Warnung : „Alles ist eitel" vorwegnehmend,
sich nur freuen an solchem Schaffen und Änerkanntwerden, „solange
das Herz sich noch freuen kann".^ Nach der Enttäuschung in Landshut
greift er mit Freuden zu. Er glaubt der Gefahr entronnen zu sein,
„an Leib und Seele ein dürrer juristischer Pedant zu v/erden", als
trockner Gelehrter kleinste Bruchstücke am Mosaik der Wissenschaft
zusammentragend. Jetzt tritt er aus „der Schule in die Welt, auf ein
Feld des Kampfes und der Ehre, jetzt sind für das Leben neue Kräfte
zu üben, neue Bahnen zu brechen, neue Aussichten zu öffnen", so
ruft er begeistert dem fürsorglichen Freund Jacobi, dem späteren
Präsidenten der bayerischen Akademie der Wissenschaften, zu.^ Ähnlich
schreibt er dem Vater: „Bei dem Umgange mit lauter schweinsledernen
Bänden assimiliert sich nach und nach Seele und Leib der schweins-
ledernen Natur." Wie anders jetzt: unmittelbar im Leben stehend, mit
menschlichen Sorgen und Hoffnungen vertraut, „gepflegt und gehegt
von der Liebe der ersten Männer an Geist und Herz . . . fange ich an,
unter den Menschen für sie wieder aufzuleben". Und das Beglückende
' Leben und Wirken Bd. II, S. 100 ff.
^ Brief an den Vater. Leben und Wirken Bd. II, S. 104.
' Leben und Wirken Bd. II, S. 124.
17S
des Wirkens im großen /^mt: „Meine Arbeiten gehen unmittelbar auf
das Wohl von Millionen!"^
In dieser Stellung hatte Feuerbach in der Gnadeninstanz und in
denjenigen Kriminalsachen, in denen es sich um Bestätigung von
Todesurteilen oder die Entscheidung in Kompetenzstreitigkeiten handelte,
den Vortrag vor dem König. Hier enthüllte sich seinem Blick das
Schicksal mancher „merkwürdiger Verbrecher", denen er später in
seiner „Rktenmäßigen Darstellung", jener reifen Frucht kriminal-
psychologischer Studien, ein bleibendes Denkmal setzte. Seine Haupt-
aufgabe aber war die „Legislation in Civil- und Criminalsachen". Als
erste Tat konnte er im Februar 1806 dem König eine Verordnung über
die Aufhebung der Folter vorlegen, welche dieser nach einem ein-
gehenden Vortrag Feuerbachs am 7. Juli unterzeichnete, angeblich mit
den Worten: „Möge es Feuerbach verantworten, wenn nun die Ver-
brecher der Strafe entgehen!"- „Aus weiser Vorsicht", sagt Feuerbach
selbst, wurde diese Verordnung nicht veröffentlicht, sondern nur den
Gerichten zur Nachachtung mitgeteilt.'"
Mit allen Kräften arbeitete Feuerbach jetzt an seinem Entwurf
zum Strafgesetzbuch. Im Dezember 1807 war bereits ein erster, das
materielle Strafrecht umfassender Teil soweit fertiggestellt, daß er zur
Grundlage von Kommissionsberatungen im Justizministerium dienen
konnte. Als Ergebnis dieser Beratungen erschien 1810 der Entwurf
des Gesetzbuchs über Verbrechen und Vergehen für das
Königreich Bayern.^ Dieser Entwurf wurde in einer weiteren, aus
den vereinigten Sektionen der Justiz und des Innern gebildeten Geheimen
Ratskommission durchberaten. Den Vorsitz führte der Minister Graf
V. Reigersberg. Unter den acht anderen Mitgliedern befand sich
neben Feuerbach der Oberappellationsgerichtspräsident Graf Ärco,
der Freiherr von Aretin und späterhin Feuerbachs ehemaliger
Fakultätskollege und Hauptgegner aus Landshut, v. Gönner, der
im Dezember 1812 als Äppellationsgerichtsdirektor nach München
kam. Die Sitzungen dauerten vom 10. September 1810 bis Ende
Dezember 1812. Am 7. Januar 1813 wurde der Entwurf in der aus
diesen 2. Kommissionsberatungen hervorgegangenen Form im Plenum
des Geheimen Rats dem König vorgetragen, am 16. Mai publiziert.
' Leben und Wirken Bd. II, S. 126.
* Ä. Geyer, Kleinere Schriften. München 1889. S. 564, ohne weitere
Quellenangabe.
' Vgl.: Die Aufhebung der Folter in Bayern, in: Themis oder Beiträge
zur Gesetzgebung von P. J. Ä. Feuerbach. Landshut 1812.
* Kritische Bemerkungen zu diesem Entwurf bei Tafinger, Über die
Idee einer Kriminalgesetzgebung. Tübingen 1811. S. 277 ff.
174
Am 1. Oktober 1813 trat das Strafgesetzbuch für das Königreich
Bayern in Kraft/
Seit diesem Tage war zum ersten Male ein neuzeitliches Landes-
strafgesetzbuch in Deutschland in Geltung. Eine selbständige Schöpfung,
ein Werk, das am Anfang einer neuen Epoche steht, geboren aus einer Zeit
tiefgreifender Umwälzungen und kultureller Wandlungen und gerade darum
in seinem Wert und in seiner Bedeutung für die weitere Entwicklung nur zu
verstehen aus den besonderen Umständen, unter denen es entstanden ist.
Was zunächst die äußere Weiterentwicklung des in diesem Gesetzbuch
kodifizierten Strafrechts anlangt, so sind der allgemeine Einfluß auf
die Strafrechtsentwicklung in Deutschland und der spezielle Gang der
Rechtsentwicklung in Bayern zu trennen. Hier stand zunächst eine
gesetzliche Beschränkung wissenschaftlicher Kritik und literarischer
Bearbeitungen einer organischen Fortentwicklung des neuen Rechts
hindernd im Wege. Die Regierung veranlaßte eine amtliche Ausgabe
der Motive in Form von Anmerkungen zum Gesetzbuch,^ welche den
Anspruch erhoben, durch ihre absolute Vollständigkeit im Zusammen-
hang mit der vom Gesetz erstrebten begrifflichen Präzision alle
Kommentare überflüssig zu machen. Aus dem Gedanken heraus, man
könne nur auf diese Weise die Gefahr einer Rechtsungleichheit bannen,
wurde die Veröffentlichung privater Kommentare ausdrücklich verboten
und Wissenschaft und Praxis angewiesen, sich allein an den Gesetzes-
text und die amtlichen Anmerkungen zu halten. Mit der Abfassung
dieses offiziellen Werkes betraute der König den Protokollführer in den
Sitzungen der Geheimen Ratskommission E. v. Kobell und Feuerbachs
alten Gegner v. Gönner.
Hierin lag nicht nur eine persönliche Kränkung Feuerbachs,
sondern auch eine sachlich bedenkliche Lösung. Hatte Feuerbach
dafür gekämpft, richterliche Willkür durch bestimmt gefaßte gesetzliche
Bestimmungen auszuschließen, so wollte er doch keine völlige Isolierung
der Rechtspflege von wissenschaftlicher Jurisprudenz. Freilich lag diese
Gefahr für die Anhänger der Aufklärungszeit nahe. Hatte der alte
Polizeistaat die Regelung aller nur denkbaren Rechtsfälle der staatlichen
Gesetzgebung vorbehalten wollen, so suchte die Aufklärung um des
Schutzes des Bürgers willen die ungeschriebene Weiterbildung des
Rechts möglichst auszuschalten. Nach der Doktrin der Gewaltenteilung
' Zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes ist außer den Angaben in
Feuerbachs Leben und Wirken zu vergleichen: Anmerkungen zum
Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern Bd. I, München 1813, Einleitung
S.12ff. und Jos.v.Mussinan, Bayerns Gesetzgebung, München 1835, S.96ff.
'^ Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern. Nach
den Protokollen des königl. Geheimen Rats, 3 Bände. München 1813—1814.
175
wollten Montesquieu und Beccaria den Richter auf die formale
Aufgabe logischer Subsumtion beschränken. Feuerbach wandte sich
in der Kritik des Kleinschrodschen Entwurfs dagegen, um dieses
Prinzips willen jede wissenschaftliche Bearbeitung positiver Gesetze
verbieten zu wollen: „Gewiß, Beccaria hätte gelacht, wenn er sich so
verstanden gefunden hätte . . ."^ Ist das Gesetz auch „kein Werk
der Wissenschaft, so ist es doch für die Wissenschaft: wie es selbst
von Wissenschaft ausgegangen ist, so soll auch von ihm künftig eine
Wissenschaft ausgehen"." Und in den Landshuter Fakultätskämpfen
konnte er nicht Worte der Entrüstung genug finden gegenüber einer
vom amtlichen Lehrplan begünstigten Methode mechanischen Einpaukens
von Gesetzesbestimmungen und offiziell abgestempelten Lehrmeinungen.
Damit würde „die Universität, soweit sie auch Rechtsgelehrte bilden
soll, zu einem Hör- und Schreibinstitut organisiert, wo einer für Bezahlung
Worte sagt, die von anderen mit den Ohren aufgefangen, mit der
Feder aufs Papier gebracht und dann schwarz auf weiß in dem Pult
zur Ruhe getragen werden". Das kann nur dazu führen, daß „der
zwecklose Finger- und Ohrenfleiß den Geist der Jünglinge tötete und
das Chaos eines verworrenen Vielerlei oberflächliche Seichtigkeit, mit
dieser den leeren Dünkel der Vielwisserei hervorbrachte".^ Gleichwohl
hat Feuerbach, als sein eigenes Werk Gesetz geworden war, von jeder,
auch einer amtlichen Kommentierung des Gesetzes abgeraten. Er
glaubte, vor einer „Enthüllung der inneren Absichten der Strafgesetz-
gebung" warnen zu müssen, denn „ein Volk, welches von dem
Gesetzgeber selbst aufgefordert ist, über seine Gesetze zu raisonnieren,
wird nicht immer diesen Gesetzen gut gehorchen".*
Man wird hier weniger einen Gesinnungswechsel als vielmehr die
Rücksicht auf taktische Erwägungen anzunehmen haben. Lag es ihm
doch vor allem daran, zu verhindern, daß ein mit alleiniger Autorität
offiziell veröffentlichtes Werk aus fremder Hand, unbeeinflußt von dem
geistigen Urheber des Gesetzes, unter Mitwirkung seines alten Gegners
Gönner entstanden, die Praxis des bayerischen Strafrechts beherrschen
sollte. Sein Protest hieb umsonst. Man kann das im Gedanken an
Feuerbach bedauern, wird aber zugeben müssen, daß diese Anmerkungen
den Bestimmungen des Feuerbachschen Gesetzbuchs in der Hauptsache
gerecht zu werden sich bemühen. An manchen Stellen sind durch
sie die Schroffheiten des Feuerbachschen Abschreckungsstrafrechts
* Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs 2. Teil, S. 21, Änm.
^ Ebendort 1. Teil, S. 30.
^ Brief an Jacobi, 1805. Leben und Wirken Bd. I, S. 112 f.
* Ebendort S. 238.
176
erfolgreich gemildert, — so namentlich durch die von den Anmerkungen
in das Gesetz hineininterpretierte Anerkennung der verminderten
Zurechnungsfähigkeit. ^
Die Unterbindung freier wissenschaftlicher Auslegung des Gesetzes
mag die Tatsache erklären, daß der literarische Niederschlag dieser
Gesetzgebung, wie es schon Feuerbachs getreuem Helfer Mittermaier
auffiel,^ gering blieb. Nur vereinzelt wurde das neue Gesetz zur
systematischen Grundlage allgemeiner strafrechtlicher Untersuchungen
gemacht, wobei hinzukam, daß die Literatur dem gemeinen Recht
zu dienen sich bestrebte, Feuerbachs Werk aber zwar nicht der
Bedeutung, aber der Geltung nach ein partikulares Gesetz blieb.
Der dänische Richter Oersted legte das Gesetz seiner Untersuchung
über die „Grundregeln der Strafgesetzgebung" zugrunde.^ Bei aller
Kritik im einzelnen und obwohl Oersted Feuerbachs Eliminierung
ethischer Grundsätze aus dem Strafrecht ablehnte, sah er in jenem
Gesetz „die reifste Frucht der Einsicht und Kunst unserer Zeit im
Criminalgesetzgebungsfach"* und bekannte sich zu diesem Urteil auch
noch in späteren Schriften.^ Auch der Jenenser Kriminalist Martin
legte auf enge Beziehungen seiner Darstellung des gemeinen Kriminal-
rechts zu dem neuen Gesetz großen Wert. Sein Lehrbuch sollte zugleich
die eigene Stellungnahme gegenüber dem Feuerbachschen Lehrbuch,
das für ihn einst Ausgangspunkt seiner eigenen wissenschaftlichen
Tätigkeit war, klarstellen.'' Später widmete Äbegg dem Feuerbachschen
Gesetzbuch eine kurze Darstellung.' Von der Wirkung des Gesetzes
in der praktischen Strafrechtspflege berichten nur allmählich vereinzelte
Aufsätze über spezielle Fragen, unter denen Untersuchungen über die
automatische Erhöhung der Rückfallstrafen nach dem Bayerischen
* Hierüber unten S. 190.
* Neues Archiv VI, S. 174. — Über das Verhältnis zwischen Mitter-
maier und Feuerbach siehe neuerdings v. Lilienthal und Wolfgang
Mittermaier, K. J. Ä. Mittermaier als Gelehrter und Persönlichkeit.
Z, Str. W. Bd. 43, S. 157—181 und die dort angegebene Literatur,
^ R. S. Oersted, Abhandlungen aus dem Gebiete der Moral und
Gesetzgebungsphilosophie 1. Bd. Kopenhagen 1818.
* R. a. O. Vorrede pag. XV.
" Ausführliche Prüfung des neuen Entwurfs zu einem Strafgesetzbuch
für das Königreich Bayern. Kopenhagen 1823. S. 1.
* Martin, Lehrbuch des Teutschen gemeinen Kriminalrechts mit
besonderer Rücksicht auf das neue Strafgesetzbuch für das Königreich
Bayern. Heidelberg 1825. Vgl. Vorrede pag. VIII.
' Äbegg, Die verschiedenen Strafrechtstheorien in ihrem Verhältnis
zueinander und zu dem positiven Recht und dessen Geschichte. Neustadt
a. d. O. 1835. S. 165 ff.
177
Strafgesetzbuch von 1813 besonders hervortreten.^ Einen ausführlicheren
Eindruck von dem damaligen bayerischen Strafrecht vermittelt die
schnell anschwellende literarische Diskussion über die späteren gesetz-
geberischen Reformprojekte. ^' Auch hat Mittermaier zu vielen Fragen
des damals geltenden bayerischen Strafrechts Stellung genommen."^
Die wichtigste Quelle dafür, wie die bayerische Praxis das Feuerbach-
sche Gesetz aufnahm und weiterverarbeitete, bildeten die Aufsätze
des Münchener Oberappella tionsgerichtsrats Arnold im Archiv des
Kriminalrechts, Neue Folge, Jahrgang 1843 und 1844.* Arnold war
unter Feuerbach Assessor am Änsbacher Rppellationsgericht gewesen.
Er besaß aus vielen Gerichtssitzungen und Privatgesprächen eine
persönliche Kenntnis von Feuerbachs eigenen Anschauungen und wußte
seine tiefe Hochachtung für seine Persönlichkeit mit einer ruhigen und
kritischen Stellung gegenüber seinem Gesetzbuch zu verbinden.
Größer als das literarische Echo war — im Augenblick des
Erscheinens des Gesetzes jedenfalls — seine Einwirkung auf die
' V. Schellhass, Von der Wiederholung der Verbrechen nach erlittener
Strafe. Neues Arch. d. Kriminalrechts II. Bd. 1818. S.578ff. — v.d. Pfordtcn,
Die Lehre vom Rückfall. Zu Rheins Zeitschrift für Theorie und Praxis des
bayerischen Zivil-, Kriminal- u. öffentlichen Rechts II. Bd. 1835. S. 151 ff. —
K. v. Menz, Über Rückfall und dessen Bestrafung nach dem königl. Bayer.
Strafgesetzbuch von 1813. Archiv des Kriminalrechts. Neue Folge, Jahrgang
1848. S. 420 ff.
* Schriften zur späteren bayer. Strafrechtsreform: Welsch, Revision
der Gesetzgebung und Rechtspflege in Bayern 1. Heft. München 1819. —
Oersted, Ausführliche Prüfung des neuen Entwurfs zu einem Strafgesetz-
buch für das Königreich Bayern. Kopenhagen 1823. — Vergleichende Kritik
des Entwurfs des Strafgesetzbuchs für Bayern mit dem Bayerischen Straf-
gesetzbuch von 1813, besonders zum Gebrauch der Landstände. Nürnberg
1823. — Kammerer, Prüfung des Entwurfs zum neuen Strafgesetzbuch
in Hinsicht der Verbrechen, Vergehen und Übertretungen durch Angriff
auf Ehre. Nürnberg 1823. — Mittermaier, Der neue Entwurf des Straf-
gesetzbuchs f. d. Königreich Bayern. Neues Archiv des Kriminalrechts VI.
1824. S. 173 ff. und 351 ff. — v. Wendt, Grundriß zu vergleichender Dar-
stellung des Kriminalrechts. Nürnberg 1825. — v. Menz, Einige Winke
und Beiträge aus dem Gebiete der Erfahrung im Fache der Gesetzgebung.
Zu Rheins Beiträge zur Gesetzgebung und praktischen Jurisprudenz I. Bd.
München 1827. S. 77 ff. — Windwart zu Amberg, Blick auf den
gegenwärtigen Zustand der Gesetzgebung Bayerns. Zu Rheins Zeitschrift
für Theorie u. Praxis d. bayer. Zivil-, Kriminal- u. öffentlichen Rechts I. Bd.
München 1835. S. 1 ff.
* Vgl. die Zusammenstellung von Mittermaiers kritischen Arbeiten
zum Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813: Neues Archiv des Kriminal-
rechts VL Bd., S. 175, Anm. 8.
* Arnold, Erfahrungen aus dem Bayerischen Strafgesetzbuch vom
Jahre 1813 und Betrachtungen hierüber. Archiv des Kriminalrcchts, Neue
Folge 1843, S. 96 iL, 240 ff., 377 ff., 512 ff.; 1844, S. 190 ff.
12
178
Gesetzgebungsarbeiten anderer Länder/ Oldenburg führte das
Bayerische Strafgesetzbuch mit nur wenigen Änderungen ein und in
Weimar und Württemberg übte es starken Einfluß auf neue Ent-
würfe aus. In Schweden bildete die Übersetzung des Feuerbachschen
Gesetzes durch den Staatsrat Ozenius den Ausgangspunkt neuer
Reformpläne. In der Schweiz wies Escher auf das bayerische
Vorbild für das neue Züricher Strafgesetzbuch hin, nachdem es bereits
seinen Einfluß auf die Gesetzgebungsarbeiten von St. Gallen und Basel
ausgeübt hatte." War auch der unmittelbare Einfluß trotz solcher
Anfänge angesichts der schnellen Wandlungen in allen Gebieten
geistigen und politischen Lebens der Zeit zwischen den Freiheitskriegen,
Vormärz und dem 48 er Jahr nicht von langer Dauer, so hat das
Feuerbachsche Gesetzbuch durch seine formale Eigenart, seine innere
Struktur und legislative Technik die gesamte Entwicklung der deutschen
Strafgesetzgebung entscheidend bestimmt.^ Weit über Deutschlands
Grenzen hinaus schloß sich noch 1886 das Argentinische Straf-
gesetz dem Feuerbachschen Werke teilweise wörtlich an.*
In Bayern selbst waren die gesetzgeberischen Arbeiten auf dem
Gebiete des materiellen Strafrechts mit dem Erlaß des Gesetzes
keineswegs zum Abschluß gelangt. Schon unmittelbar nach diesem
Zeitpunkt setzte eine fruchtbare Novellengesetzgebung ein, die mit der
Diebstahlsnovelle vom 25. März 1816 auch für grundsätzliche Bestim-
mungen einschneidende Veränderungen brachte.^ Nicht in allen Fällen
* Ausführliche Nachweise bei Günther, Wiedcrvcrgeltung Bd. III,
S. 134, Änm. 303.
- Mittermaier im Neuen Archiv des Kriminalrechts Bd. VI, S. 173 f.
und 351, Note.
' Die Motive zum ersten Entwurf des Kriminalgesetzbuchs
für die Preußischen Staaten, Gesetzrevision I. Pensum, I. Bd., als
Manuskript gedruckt, Berlin 1827, Vorrede pag. IV f., rühmen die Vorzüge
des Feuerbachschen Strafgesetzbuchs, mit dem eine neue Periode für die
Kriminalgesetzgebung begonnen habe. Allgemein anerkannt seien „seine
streng systematische Ordnung, die Schärfe der darin aufgestellten Begriffe,
das Streben, Bestimmtheit der Strafen ohne Beeinträchtigung des richter-
lichen Ermessens zu erreichen, die stetig fortschreitende Stufenfolge der
angedrohten Strafübel usw.". ~ Es ist daher kaum anzunehmen, daß der
Einfluß des Feuerbachschen Strafgesetzbuchs nur ein negativer gewesen ist
und, wie Bin ding meint, infolge der von Feuerbach verschuldeten
„Verderbnis des gemeinrechtlichen Dolus -Begriffes" die Landesstrafgesetz-
gebung „auf 25 Jahre... ins Stocken geriet". — Binding, Die Schuld im
deutschen Strafrecht, 1919, S. 32. Norm.cn Bd. III, S. 257.
* Löffler, Schuldformen des Straf rechts I, S. 242, Änm. 4.
^ (Lithographierte) Sammlung der wichtigsten königlichen Reskripte
in Beziehung auf das Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern von 1813
I. Bd. (bis 1816). Dazu (gedrucktes) Alphabetisches Sachregister über alle
179
Unzulänglichkeiten des Gesetzes, sondern die Weiterentwicklung der
kulturellen und politischen Verhältnisse, die, nach Oersteds Wort,
„unmäßige Reformiersucht ""^ der Regierung und die durch die Unter-
bindung freier Auslegung und wissenschaftlicher Interpretation des
Gesetzes verstärkten Schwierigkeiten, das geltende Recht in seiner
Anwendung organisch fortzuentwickeln, haben diese Unbeständigkeit
der damaligen Gesetzgebung verschuldet. Dazu kam als besonders
ungünstiges Moment: Kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes schied
sein Schöpfer aus dem Ministerium aus. Rls Äppellationsgerichtspräsident
in Bamberg, dann in Ansbach, blieb Feuerbach ohne Einfluß auf den
Fortgang der Gesetzgebungsarbeiten, während sein alter Widersacher
V. Gönner berufen wurde, um an der legislativen Fortentwicklung des
Feuerbachschen Strafgesetzbuchs mitzuarbeiten. So erklärt es sich, daß
das mit solch gründlicher Sorgfalt ausgearbeitete Gesetz in vielen Bestim-
mungen alsbald veraltet schien. Über hundert Novellen sollen in den
ersten vier Jahren erlassen worden sein, und Savigny fand in diesem
wenig glücklichen Zustand einer „so plötzlichen Rechtsabwechslung"
ein willkommenes Argument für seine These, daß seine Zeit „keinen
Beruf zur Abfassung eines Gesetzbuchs" habe."
Bereits 1819, im Zusammenhang mit der Bayerischen Verfassung
von 1818, beschloß die Regierung die Abfassung eines neuen Straf-
gesetzbuchs.^ Im Jahre 1822 wurde ein Entwurf veröffentlicht, dessen
Verfasser v. Gönner war. Der Entwurf brachte erhebliche Milderungen
des Gesetzes. Er erscheint nicht wie ein neues Gesetz, sondern läßt
als Grundlage Feuerbachs Werk unverkennbar bestehen. Die Regierung
neigte vorübergehend dazu, Feuerbach selbst mit einer Revision seines
Gesetzes zu betrauen. Im August 1824 wurde er aufgefordert, einen
neuen Entwurf auszuarbeiten. Doch scheint es mehr die persönliche
Initiative v. Zentners gewesen zu sein, die auch diesmal Feuerbachs
Verordnungen und Reskripte in Strafsachen. — (Lithographierte) Reskripten-
Sammlung über das königl. Bayerische Strafgesetzbuch Bd. II. 1817/18. —
Sammlung der Erläuterungen und Reskripte über das Strafgesetzbuch für
das Königreich Bayern 2. Aufl. Nördlingcn 1825. — E. Rottmann, Das
bayerische Strafrecht in seiner gegenwärtigen Gestaltung. Erlangen 1849.
' Oersted, Abhandlungen a. a. O., Vorwort pag. XV.
•^ Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft Bd. III. 1817. S.15f.
^ Vgl. zu dem Folgenden: Mussina n. Bayerns Gesetzgebung,
München 1835. — Windwart zu Ämberg, Blick auf den gegenwärtigen
Zustand der Gesetzgebung Bayerns. In: Zu Rheins Zeitschrift für Theorie
und Praxis des bayerischen Zivil-, Kriminal- und öffentlichen Rechts I. Bd.
München 1835. S. 1 ff. — Wächter, Beilagen zu den Vorlesungen über
deutsches Strafrecht, Einleitung und Allg. Teil. Leipzig 1881. S. 151 If. —
V. Liszt, Lehrbuch 23. Aufl. 1921. S. 60.
12*
180
Mitarbeit zurückzugewinnen suchte. Feuerbach ging zunächst mit allem
Eifer an die Arbeit. Als ihm aber Zentner den Rat gab, sich bei
Ansprüchen auf Vergütung für diese Arbeit nicht auf einen offiziellen
Auftrag zu berufen, sah der stets empfindliche Mann hierin eine
erneute Zurücksetzung und lehnte seitdem jede weitere Mitwirkung an
den Reformarbeiten schroff ab. Alle Manuskripte und Entwürfe, so
schrieb er dem Ministerialrat v. Spies, der sich erneut dafür einsetzen
wollte, daß Feuerbachs Einfluß auf die Gesetzgebung erhalten blieb,
habe er verbrannt und zerstreut. Indessen fand sich, wie sein Sohn,
der Philosoph Ludwig Feuerbach, berichtet,^ bei seinem Tode ein
ausgearbeiteter Entwurf vor, dessen Inhalt Mittermaier später ver-
öffentlicht hat.'''
Auch V. Gönners Entwurf wurde nicht Gesetz, ebensowenig
wie eine Revision dieses Entwurfs aus dem Jahre 1827, den Gönners
Mitarbeiter Schmidtlein bearbeitet hatte. 1831 und 1832 beschäftigte
sich die Ständeversammlung wiederum mit der Neuschaffung eines
Strafgesetzbuchs. Diesmal hatte Stürz er den Entwurf hergestellt.
Auch in diesem Entwurf waren noch „die ursprünglichen Typen der
V. Fcuerbachschen Arbeit allenthalben erkennbar".^ Aber auch diesmal
kam man nicht zum Ziel.
So kam das Jahr 1848, und die neue Zeit empfand das Bedürfnis
nach einer Reform des nunmehr veralteten und unzeitgemäßen Gesetzes
besonders lebhaft. Zunächst beseitigten neue Novellen die schlimmsten
Härten des Feuerbachschen Abschreckungsstrafrechts, aber zugleich
nahm man auch die Arbeiten für ein neues Gesetzbuch auf. Doch
kam das neue Strafgesetzbuch für Bayern erst 1861 zustande, dem
somit nur ein Dezennium an Lebensdauer beschieden war.
Das Werk Anselm von Feuerbachs bedeutet einen Wendepunkt
in der Entwicklung des deutschen Strafrechts. Von den beiden grund-
legenden Prinzipien der Strafrechtspflege, dem Sicherungszweck und
dem Rechtsgedanken, dem Schutz der staatlichen Gemeinschaft vor
dem Verbrecher und der Garantie der Rechtssicherheit des Bürgers gegen-
über der staatlichen Strafgewalt, hat das Bayerische Strafgesetzbuch das
zweite zur Herrschaft gebracht. Ein wirkliches Strafrecht will dies
Gesetzbuch schaffen, nicht lediglich eine Summe von Verboten für den
Untertan und Instruktionen für den Richter bringen. Es begründet nicht
nur den Anspruch des Staates auf Bestrafung des schuldigen Rechts-
brechers, sondern gewährt auch dem Verbrecher ein Recht darauf^
' Lb.n und Wirken Bd. II, S. 251.
* Archiv des Kriminal- echts. Neue Folge 1847. S. 587 ff.
^ Windwart zu Amberg, a. a. O, S. 5.
181
nur wegen solcher Handlungen und nur mit solchen Strafen verfolgt
zu werden, wie sie das Gesetz bestimmt. Ein Abweichen vom Gesetz
darf daher ebensowenig zulässig sein wie eine Änderung des Gesetzes
zu Ungunsten des Beschuldigten, nachdem die Tat begangen ist. Dieser
Grundsatz, welcher die Abgrenzung der freien Sphäre gegenüber der
Willkür und Allgewalt des Staates gewährleistet, entstammt jener langen
Entwicklung, in der sich der Gedanke bestimmter unverlierbarer Rechte
des Einzelnen gegenüber der allmächtigen Staatsgewalt durchsetzte. In
den Artikeln der Magna Charta (a39) der englischen Königsgewalt
abgerungen, kehrt er wieder in den Bills of rights der amerikanischen
einzelstaatlichen Verfassungen, um, von Lafayette übermittelt, in
Zusammenhang mit den Gedanken Montesquieus aus den Verhand-
lungen der französischen Nationalversammlung herauszuklingen, bis er
im a 8 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789
seinen Ausdruck fand.^ Bei Feuerbach vereinigte sich dieses staats-
rechtliche Axiom mit dem Gedanken seiner Strafrechtsdoktrin, daß der
Verbrecher durch seine Tat die Drohung des Strafgesetzes verletzt
habe, seine Bestrafung deshalb die vorherige Ankündigung der
gesetzlichen Strafdrohung voraussetze." Zugleich prägte Feuerbach
die Formulierung jenes Satzes in die traditionell gewordenen Worte:
Nulla po^ena sine lege.^
Mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zu diesem Grundsatz beginnt
der Eingangsartikel des Bayerischen Strafgesetzbuchs. „Wer eine
unerlaubte Handlung oder Unterlassung verschuldet, für welche ein
Gesetz ein gewisses Übel gedrohet hat, ist diesem gesetzlichen Übel
als seiner Strafe unterworfen" (a 1).* Der rechtlichen Begrenzung der
staatlichen Strafgewalt zu dienen, vermochte nur ein Gesetz, das wie
dieses durch klare Fassung der gesetzlichen Tatbestände in knappem
' G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.
3. Aufl. 1919. — Ä. Schottlaender, Die geschichtliche Entwicklung des
Satzes Nulla poena sine lege. Breslau 1911. Strafrechtl. Abhdlg. 132. — Gegen-
über Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung
von 1789, Leipzig 1921, S. 92 ff., der den inneren Zusammenhang zwischen
den amerikanischen Bills of rights und der Erklärung der Menschen- und
Bürgerrechte bestreitet, weist Walter Jellinek nach, daß das Verbot
rückwirkender Strafgesetze in beiden Strömungen in gleicher Weise als
eine Beschränkung der gesetzgebenden Gewalt erscheint. (Vorwort zur
3. Äull. der angeführten Schrift von Georg Jellinek, pag. IX.)
-' Binding, Handbuch des Strafrechts I. Bd. Leipzig 1885. S. 17 ff. —
Vgl. die Darstellung oben Kap. 1, S. 23.
^ Lehrbuch 1. Aufl. 1801. S. 20, § 24.
^ a 2 des Promulgationspatents zum Bayer. Strafgesetzbuch bestimmt,
daß bei Verschiedenheit des Gesetzes zur Zeit der Begehung und Aburtei-
lung die Tat nach dem milderen Gesetz zu beurteilen ist.
182
Befehlston verbotenes und erlaubtes Tun allgemein erkennbar abgrenzte
und damit wirklich ersichilich machte, welche Handlungen mit Strafe
bedroht sein sollten. Solche formalen Vorzüge bestimmten den
rechtspolitischen Wert dieses Gesetzgebungswerkes. Denn, nach
einem Wort Montesquieus : Les formalites de la justice sont necessaires
ä la liberte.^
„Die Bestimmtheit der gesetzlichen Voraussetzungen ist
die Grundbedingung jeder Gesetzgebung, weil sie die Grundbedingung
aller Gewißheit ist. Was ist aber widersprechender, als eine Gesetz-
gebung ohne Gewißheit?"^ Diese Worte Feuerbachs bildeten den
Leitstern für die formale Bearbeitung seines Gesetzes. Klarheit und Be-
stimmtheit seiner Bestimmungen erscheinen als erstes als Vorzüge dieses
Werkes. Durch ein Doppeltes wird dieser Vorzug erstrebt: durch eng
umrissene Verbrechensbegriffe uiid durch feste Strafrahmen.
Für ein System klarer Verbrechensbegriffe leistete Feuerbach durch
sein Lehrbuch die Vorarbeiten. Während zu den allgemeinen Lehren
wenig Neues gesagt ist, liegt die große Bedeutung dieses Werkes,
das in immer erneuten Auflagen fast ein halbes Jahrhundert hindurch
Generationen junger Kriminalisten in ihr Studium einführte, in der
Herausarbeitung der einzelnen Tatbestände.'' Mit sicherem Gefühl ist
Zusammengehöriges vereint, Allgemeinbedeutendes zu Oberbegriffen
erhoben und überall mit glücklichem Erfolg eine straffe, eindeutige
Formulierung erstrebt. Indem Feuerbach dieses System begrifflich
scharf geprägter Tatbestände in das Gesetz einarbeitete, konnte er
damit zugleich eine sichere Abgrenzung der Voraussetzungen straf-
rechtlicher Reaktion gewährleisten. Ein Gedanke, der in dem Satz
des französischen Staatsmannes Bigot - Preameneu zum Ausdruck
gekommen war: Les definitions sont de veritables dispositions et
meme les dispositions fundamentales de la loi.*
Für die Erkenntnis der Bedeutung dieses Satzes hat Feuerbachs
Gesetzbuch erzieherisch gewirkt. Gönners Entwurf von 1822 zeigte
eine Scheu vor „Definitionen, welche mehr der Doktrin als der
* Esprit des lois. Livrc 29, cap. I, Ed. stdröotype. Tome IV, pag. 23L
* Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs 3. Teil, S. 11.
'' Die 1. Auflage von Feuerbachs „Lehrbuch des gemeinen, in Deutsch-
land geltenden Peinlichen Rechts" erschien 1801 in Gießen bei Georg
Friedrich Heyer. Den wichtigsten Einschnitt stellt die 9. Auflage von 1826
dar. Die 11. Auflage, 1832, ist die „Ausgabe letzter Hand". Nach Feuer-
bachs Tode besorgte Mittermaier noch dreimal, 1836, 1840 und 1847, mit
eigenen Zusätzen versehene Neuausgaben. Weitere bibliographische Notizen
bei Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft 3. Abt,
IL Halbbd., Noten S. 62 f., Note 26 zu Kap. 14.
^ Feuerbach, Leben und Wirken Bd. I, S. 216.
183
Gesetzgebung angehören"/ So strich er die gesetzliche Dolus-
Definition, — aber die Kritik machte ihre Bedenken geltend mit
dem Hinweis auJ Feuerbachs Gesetz, in dem „ein gesetzlicher
Anhalt über den Begriff des Vorsatzes gegeben und hiermit die
schwankenden Lehren der Rechtslehrer hierüber entfernt wurden".^
Wieweit soll nun der Richter an diese scharf geprägten gesetz-
lichen Bestimmungen gebunden sein? In seinen Jugendschriften hatte
sich Feuerbach im Kampf gegen die in schrankenlose richterliche
Willkür ausartende Anarchie der alten peinlichen Gesetze für einen
strengen Positivismus eingesetzt. Jetzt gilt es, als Gesetzgeber die
rechte Mitte einzuhalten. Das Gesetz darf keine richterliche Willkür
begünstigen oder möglich machen, muß aber dem vernünftigen richter-
lichen Ermessen innerhalb bestimmter Grenzen die gehörige Freiheit
lassen.' Bewußt vermeidet er es, dem Vorbild der Strafgesetzgebung
der französischen Revolution zu folgen, wo man im Code penal von
1791 aus Mißtrauen gegen die schrankenlose Strafgewalt des ancien
regime und unter dem Eindruck der Gefahren, deren sich die junge
Freiheit zu wehren hatte, mit „antiker Strenge" die Verbrechen mit
absolut bestimmten Strafen, welche jeglichen Einfluß richterlichen
Ermessens ausschlössen, bedrohte.^ Das Bayerische Strafgesetz huldigt
grundsätzlich dem System der relativ -bestimmten Strafen, nach dem
dem Richter die Wahl der Strafe zwischen einem gesetzlich festgelegten
Maximum und Minimum zusteht. Aber in der Durchführung dieses
Prinzips sind dem Richter enge Grenzen gesetzt. In vielen Fällen
sind Todesstrafe oder lebenslängliche Freiheitsstrafe als einzige Strafe
angedroht, und wo dem Richter ein gewisser Spielraum gelassen ist,
bleibt in der Regel nur eine Strafart angedroht und dem Richter
lediglich eine Differenz in der zeitlichen Dauer von regelmäßig vier
Jahren, innerhalb deren er die Strafe abstufen darf. In der Kritik zum
Klcinschrodischen Entwurf war noch ein Spatium von sechs Jahren
befjrwortet.^ Zugleich mußte dies Bestreben nach enger Begrenzung
' Entwurf des Strafgesetzbuchs. München 1822. Einleitung S. 7.
* Vergleichende Kritik des Entwurfs mit dem Strafgesetzbuch. Nürn-
berg 1823. S. 30. Übrigens hat auch Feuerbach in seinem nachgelassenen
Neuentwurf die Dolus -Definition gestrichen. Lehrbuch, 14. Aufl., § 54,
Note III des Herausgebers Mittermaier (S. 101).
' Leben und Wirken Bd. I, S. 215.
* Leben und Wirken Bd. I, S. 215. — v. Bar, Geschichte des Straf-
rechls und der Strafrechtstheorien. Berlin 1882. S. 167. — H. Remy, Les
principes g^n^raux du Code pönal de 1791. Paris 1910. 5.32 11. Der Code
pönal von 1810 führte dann das Prinzip des gesetzlichen Slrafmaximums
und -minimums ein.
' Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs 3. Teil, S. 125.
184
der Strafrahmen zu einer reichen Kasuistik des Gesetzes führen, indem
Modifikationen bestimmter Delikte zu Spezialtatbeständen erhoben wurden.
War das freie Ermessen des Richters beschränkt, so blieb der Gnade
des Königs ein gewisser Spielraum. So bestimmt a 96, daß, „wenn
wegen Menge und Wichtigkeit zusammentreffender mildernder Umstände
die gesetzliche Strafe in zu ungleichem Verhältnis mit der eigentüm-
lichen Strafbarkeit des besonderen Falles zu stehen scheint", der Richter
zwar nicht selbst zu einer Modifikation der gesetzlichen Strafe befugt ist,
wohl aber von Amts wegen einen Begnadigungsantrag einreichen soll.
In dieser Frage waren die Meinungen der Äufklärungsmänner geteilt.
Während Beccaria im Strafrecht der Zukunft das Begnadigungsrecht
ausgeschlossen haben wollte, trat Montesquieu für eine Beschränkung
richterlicher Freiheit und ein „mit Klugheit" angewendetes Begnadigungs-
recht des Staatsoberhauptes ein.^ Bei ihm folgte aus dem Prinzip
der Teilung der Gewalten derselbe Gedanke, der bei den heutigen
„Klassikern" in der Anschauung wiederkehrt, ein unbestimmtes Straf-
urteil des Richters sei eine unerträgliche Gefährdung der Rechtssicherheit,
eine vorläufige Entlassung aus der Strafhaft als Gnadeninstitut aber
unbedenklich.- Feuerbach glaubte, durch die engen Voraussetzungen
des a 96 die Begnadigung auf wenige Ausnahmefälle beschränkt zu
haben, in denen ein Abweichen von dem Gesetz als ein „kleineres
Übel, das den Übergang zur besseren Gesetzgebung bereitet",^ erschien.
Das Feuerbachsche Strafgesetzbuch hat schon für seine Zeit die
richterliche Freiheit in allzu enge Fesseln geschlagen. Alsbald machte
sich das Bedürfnis nach Erweiterung des Spielraums richterlichen
Ermessens fühlbar. Bei dem Projekt einer Einführung des Bayerischen
Strafgesetzbuchs in Weimar warnte man vor dem Fehler, die Richter-
gewalt zu ängstlich zu beschränken.* In Bayern selbst brachte de
Diebstahlsnovelle vom 25. März 1816, a Vll, die Anerkennung des
Gedankens, daß bei qualifizierten Diebstählen der Richter die gesetzliche
Strafe „bei besonders mildernden Umständen" auf die Hälfte herab-
setzen darf. Eine Regelung, die auf den Einfluß des Code pcnal
von 1810 zurückgeht, der in a 463 die Gerichte ermächtigte, allgemein
^ Beccaria-Esselborn, S. 122. — Montesquieu, Esprit des lois.
Livre VI, cap. 16, Edition st^r^otype An XII (1803), Tome I, pag. 212. —
Vgl. Günther, in Gross' Archiv 28, S. 169 f.
- Birkmeyer, Z. Str. W. 16, S. 116; Goltdammers Archiv 48, S. 74;
Gerichtssaal 67, S. 414. — Wach, Reform der Freiheitsstrafe. Leipzig 1820.
S. 39f. — Schoetensack, Unbestimmte Verurteilung. (Krit. Beitr. VI.)
Leipzig 1909. S. 32 und 53 f.
' Lehrbuch 7. Aufl. 1820. § 63, Änm. 1, S. 66. — Vgl. auch Revision
Bd. I, Einleit. pag. XXVII; Anmerkungen z. Strafgesetzbuch Bd. I, S. 236 f.
* Neues Archiv des Kriminalrechts II, S. 56.
185
bei Gefängnis und Geldstrafe, si les circonstances paraissent attenuantes,
unter den gesetzlichen Strafrahmen herunterzugehen, falls der an-
gerichtete Schaden nicht mehr als 25 fr. betrug.^ Feuerbach, der
sich später bei praktischen Erfahrungen in der Strafrechtspflege dem
Eindruck einer zu weitgehenden Härte seines Gesetzes nicht verschließen
konnte — er hat es selbst nach Arnolds Bericht unbefangen zu-
gegeben^ — nahm in seinen unveröffentlichten Neuentwurf eine
Bestimmung auf, nach der, noch über den Code penal hinausgehend,
in allen Fällen der Richter zur Milderung der gesetzlichen Strafe
berechtigt sein soll, „wenn im ungewöhnlichen Falle so viele und
so starke mildernde Gründe zusammentreffen, daß die gesetzliche Strafe
mit der Schuld des Täters außer Verhältnis erscheint".^ Gönners
Entwurf von 1822 kannte solch allgemeine Bestimmung nicht, suchte
aber bei den einzelnen Delikten durch Differenzierung der Straf-
drohung auch in der Wahl der Strafgattung dem Richter größere
Freiheit zu gewähren. So drängte die Entwicklung über die engen
Schranken im Feuerbachschen Strafgesetzbuch hinaus. Doch fanden
sich auch ängstliche Stimmen, welche in diesem Fortschritt ein
„Zurückfallen in die Willkür der älteren Criminal- Gesetzgebung"
befürchteten.* Aus solcher Furcht vor richterlicher Willkür hat der
Entwurf von 1831 wiederum dem a 96 des Strafgesetzbuchs von 1813
entsprechend beim Zusammentreffen einer größeren Zahl von Milderungs-
gründen den Richter lediglich auf die Gnade des Königs verwiesen.
Erst der Referent in der Kammer trat dafür ein, die Milderung einer
vom Recht selbst als unverhältnismäßig hart erkannten Strafe als
eine Angelegenheit der Rechtspflege dem Ermessen des Richters zu
überlassen.^
Die gesetzgeberische Ausgestaltung der Zurechnungslehre
stellt sich als Niederschlag der Theorien dar, die in Feuerbachs
„Revision" entwickelt sind. Eine fruchtbare Ausgestaltung jener Lehren,
eine Bereicherung durch die Anregungen der neuen Aufgabe und der aus
ihr sich ergebenden veränderten Gesichtspunkte, hat diese Arbeit ihm
nicht gebracht. Allenthalben finden wir in den grundlegenden Bestim-
mungen des Gesetzes einen getreuen Niederschlag von Gedanken aus
' Vgl. Ortolan, El($incnts du Droit pdnal, V. ed. par A. Desjardins,
1886, Tome I, pag. 505, und P. Cuche, Trait^ de Science et de Legislation
P^nitentiaires, Paris 1905, pag. 17. Durch Novellen von 1832 und 1863
wurde a 463 auf die schwere Kriminalität entsprechend ausgedehnt.
■'' Neues Archiv. 1843. S. 97.
' Mittermaier im Neuen Archiv, 1847, S. 588.
* Vergleichende Kritik des Entwurfs und des Bayerischen Strafgesetz-
buchs. Nürnberg 1823. S. 6.
'" Mussinan, Bayerns Gesetzgebung, S. 331 f.
186
der „Revision" und dem Lehrbuch. Aber während dort die Geschlossen-
heit eines philosophisch fundierten gedanklichen Systems über eine im
einzelnen oft unzureichende Begründung hinwegtäuscht, wird hier seine
Unzulänglichkeit den Anforderungen einer modernen Entwicklung der
Strafrechtspflege gegenüber in vielen Punkten offenbar. Die Einseitigkeit
des Genera Ipräventions-Gedankens bewirkte es, daß Feuerbach
sich mehr und mehr verschloß gegenüber der Frage, wie denn eigentlich
seine Strafen auf den Verbrecher selbst wirkten. Seine Strafrechtstheorie
vom psychologischen Zwang ließ ihn die Bedeutung dieser Frage gegen-
über dem Gedanken der abschreckenden Wirkung der Strafdrohung
immer wieder zurückdrängen.
Bei der für jene Zeit charakteristischen Vorliebe für theoretische
Doktrinen empfand man mit besonderem Stolz als Eigentümlichkeit
dieses Gesetzes, daß es aus rein theoretischen Prinzipien bearbeitet
war und sich in seinen grundsätzlichen Bestimmungen aus einer
einheitlichen Gedankenwelt heraus ableiten ließ.^ Wenn auch das
Gesetz die Worte „dem Übertreter zur Abschreckung", die der Entwurf
Feuerbachs der Definition der Strafe hinzugefügt hatte (a b Entwurf
und a 1 Strafgesetzbuch), wegläßt und die Anmerkungen jede aus-
drückliche Beziehung zu einer bestimmten Strafrechtstheorie ablehnen,
„damit sich der Gesetzgeber nicht in doktrinelle Streitigkeiten
einmische"," so ist doch Feuerbachs Abschreckungstheorie
unverkennbar im Gesetzbuch zum Ausdruck gekommen. Die Strenge
der Strafen, die häufige und meist absolute Androhung von Todes-
sh-afe und lebenslänglicher Freiheitsstrafe gingen weit über Kleinschrods
Entwurf hinaus. „Humane Strenge" glaubte Feuerbach Kleinschrods
ungerechter und gefährlicher Schonung der Verbrecher entgegensetzen
zu müssen, denn die Strafe soll nach ihm „ein abschreckender
Beweggrund sein" und daher so beschaffen, „daß der Regel nach
die bloße Gefahr der künftigen Erduldung derselben in der Vorstellung
und dem Gefühl stärker wirke, als die Vorstellung des von dem Ver-
brechen erwarteten noch so großen Genusses oder Vorteils".^ Von
diesem Abschreckungsgedanken aus erklärt sich jene unbiegsame
Strafskala, die jedes Variieren der Strafart nach der Individualität des
Täters ausschloß. Das waren Momente, welche diesem Werke der
Aufklärungszeit einen Charakter bedenklicher Härte verliehen. Das
trat bereits in der „Revision" in dem schroffen Gegensatz zwischen
juristischer und sittlicher Zurechnung zutage und steht auch hier
in engem Zusammenhang mit der von Feuerbach mit Leidenschaft
' Mussinan, Bayerns Gesetzgebung. München 1835. S. 100 f.
* Anmerkungen Bd. I, S. 66,
' Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs 3. Teil, S. 139 f.
187
durchgeführten Isolierung des Rechts von der Moral. Doch
hat diere Tendenz zugleich zu einer wohltätigen Säkularisation des
Strafrechts geführt, indem der Versuch gemacht wurde, mit dem
überkommenen System strafrechtlicher Sanktionierung ethischer und
religiöser Werte zu brechen. Da der Kriminalgesetzgebung allein die
Ähndung der Verletzung von Rechten des Staates und der Bürger
vorbehalten wird, bleibt sie vor der Versuchung bewahrt, wie sie es
jahrhundertelang unter dem Einfluß kirchlicher Enge und obrigkeitlicher
Bevormundung getan hat, „das moralisch Böse mit peinlichen
Übeln zu vergelten".^ Feuerbach scheidet alle Handlungen, welche
nicht Rechtsverletzungen sind, sondern lediglich „wegen ihrer nach-
teiligen Folgen für die öffentliche Ordnung oder wegen ihres mittel-
baren Einflusses auf Sicherheit, Sittlichkeit und Wohlstand dem Staate
nicht gleichgültig sein können",^ aus dem Kriminalrecht aus und weist
sie dem Gebiet der Polizei zu.^ So kennt sein Gesetzbuch keine
„Verbrechen gegen die Sittlichkeit und die Religion". Fleischesdelikte
werden nur insoweit mit Strafe bedroht, als ihnen als einer Verletzung
von Rechten der Person (sub Beschädigungen und andere Mißhandlungen
gegen die Person) ein besonderer krimineller Gehalt innewohnt: Notzucht
a 190, Entführung a 201, Verführung eigener Kinder und Jugendlicher
a 206 und 378, oder durch betrügerische Vorspiegelungen a 372 ff.
Ehebruch a 401 wird als Bruch des durch die Ehe begründeten
Vertrages betrachtet'' und erscheint ebenso wie Bigamie a 297 unter
„Beeinträchtigung fremder Rechte durch Untreue" neben Treulosigkeit
des Bevollmächtigten a 399 und des Vormundes a 295. Ausgemerzt
ist die Bestrafung der Blasphemie. Während Kreittmayr noch einmal
Hexenwahn und Ketzerverfolgung gesetzlich sanktionierte und Klein-
schrods Entwurf eine — wenn auch milde — Bestrafung einer Lästerung
oder Verspottung Gottes oder der Heiligen vorsieht (§ 1399 ff.), kennt
Feuerbachs Gesetzbuch nur eine Beleidigung eines Religionsdieners
während seiner Amtsverrichtung oder einer Gemeinde, im Sinne einer
Störung des Gottesdienstes a 424. Denn — hier zeigt sich der echte
Sohn der Aufklärung — „daß die Gottheit injuriiert werde, ist unmöglich,
daß sie wegen Injurien sich an Menschen räche, ist undenkbar, daß
man sie durch Strafe ihrer Beleidiger versöhnen müsse, ist Torheit".^
Indessen blieb eine solche weise Selbstbeschränkung des Strafrechts
' Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs I.Teil, S. 66 f.
^ Anmerkungen z. Strafgesetzbuch f. d. Königreich Bayern Bd. I, S. 23.
" Lehrbuch l. Aufl., §27 (S. 22) und §503 ff. (S. 407 ff.); Lehrbuch
9. Aufl., § 21 ff. (S. 24 ff.) und § 449 ff. (S. 377 ff.).
* Lehrbuch 1. Aufl., § 413, S. 329 f.; 9. Aufl., § 373 ff., S. 308 ff.
* Lehrbuch 1. Aufl., § 344, S. 265; 9. Aufl., § 303, S. 250.
188
nicht unangefochten. Mitter maier sprach von „Modeansichten",
durch die das Gesetz selbst die Religion demoralisiere, indem es
derartige unmoralische Handlungen für nicht wichtig genug hält, um
sie mit Strafe zu bedrohen.^' „Viel zu voreilig", meinte Henke, noch
ehe Feuerbachs Gesetz in Kraft trat, „hat man in unseren aufgeklärten
Zeiten Verbrechen wider die Religion als dem Staate gleichgültig aus
der Liste der strafwürdigen Handlungen ausgetilgt. Es ist hier nicht
die Absicht, Ketzerverfolgungen und die Greuel der Inquisition zu
rechtfertigen und zurückzuwünschen, sondern nur die Lauigkeit zu
tadeln, womit man Atheismus, Blasphemie, Verachtung des öffent-
lichen Kultus usw. als der bürgerlichen Strafe fremd betrachtet,
während man doch inkonsequent genug den Meineid straft. " ^ Die
Entwürfe von 1827 und 1831 stellten dann auch die Äußerung von
Grundsätzen und Gesinnungen in öffentlicher Rede, Lehre und Schrift,
welche wider die Grundlage der Religion und Sittenlehre gerichtet
waren, sowie jede ärgerniserregende Beleidigung „gegen das höchste
Wesen" erneut unter Strafe.*
Der Äbschreckungsgedanke und der Grundsatz der Trennung
von Recht und Moral liegen auch den einzelnen besonderen Be-
stimmungen über die Zurechnung zugrunde. Dabei ist gesctiieden
zwischen Bestimmungen über die Zumessung der Strafe innerhalb
des gesetzlichen Strafrahmens und der Angabe derjenigen Momente,
welche ein Abgehen von der gesetzlich angedrohten Strafe
selbst zur Folge haben. Gründe, welche „die Sh-afbarkeit aufheben",
sind Unzurechnungsfähigkeit und Ausschluß der Rechts-
widrigkeit, insbesondere die aus der Materie der Tötung endgültig
in den allgemeinen Teil übernommene Notwehr.
Bei dem Ausmaß der besonderen Sh'afe innerhalb des gesetzlichen
Strafrahmens „soll der Richter teils auf die Beschaffenheit der zu
bestrafenden Handlung an und für sich, teils auf die Größe der Gesetz-
widrigkeit des Willens Rücksicht nehmen" (a 90). In der näheren
Ausführung dieser beiden Momente kehren die gleichen Gesichtspunkte
wieder, die Feuerbach in der „Revision" bei der Darstellung der
„objektiven und subjektiven Gründe der relativen Strafbarkeit"
' Mittcrmaier, Über die Grundfehler der Behandlung des Kriminal-
rechts in Lehr- und Strafgesetzbüchern. Bonn 1819. S. 32.
* Ed. Henke, Über den Streit der Strafrechtstheorien. Regensburg
1811. S. 89 f.
* Feuerbach, Lehrbuch XIV. Aufl., § 303, Note V des Herausgebers
Mittermaier, S. 491. — Über die „romantisch-orthodoxe Rückströmung" des
Religionsstrafrechts der Reaktionszeit vgl. Kohlrausch, Die Beschimpfung
von Rcligionsgesellschaften. Tübingen 1908. S. 33 f.
189
entwickelt hatte: die Bedeutung des verletzten Rechts, die Größe der
Gefahr und, auf der subjektiven Seite, alle Umstände, welche auf eine
mehr oder weniger starke Intensität, Festigkeit und Inkorrigibilität
der sinnlichen Triebfeder schließen lassen (a 91 — 94).^ Dabei wird
in gleicher Weise eine besonders starke und darum in steigendem
Maße der Abschreckung bedürftige Determination zum Verbrechen
angenommen bei dem, der trotz nur geringer äußerer Veranlassung
und starker innerer Hemmungen dennoch ein Verbrechen beging, wie
bei dem unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher (a 92). Eine Milderung
der normalen gesetzlichen Strafe ist vorgesehen innerhalb gesetzlich
genau festgelegter Strafskalen für Jugendliche zwischen 8 und 12
und zwischen 12 und 16 Jahren (a 98 und 99). Unzurechnungs-
fähig gelten Kinder unter 8 Jahren sowie Rasende, Wahnsinnige und
andere Geisteskranke, welche ihren „Verstandesgebrauch" eingebüßt
haben (a 120). Unzurechnungsfähig ist auch, wer in unverschuldeter
Verwirrung sich seiner Handlung und ihrer Strafbarkeit nicht bewußt
war (a 121). Diese Fälle, die ausführlich vom Gesetz aufgezählt
werden, ergänzen die allgemeine Regel des a 119, daß eine Handlung
straflos bleibt, wenn sie weder zum Vorsatz noch zur Fahrlässigkeit
zugerechnet werden kann. Dieser Satz bringt zwar den Gedanken:
„Keine Strafe ohne Schuld" unverkennbar zum Ausdruck, gibt aber
auf die Frage, wann denn nun eine Handlung einer Person weder zum
Vorsatz noch zur Fahrlässigkeit zugerechnet werden kann, keine
Rnhvort und ist für die Bestimmung des Wesens der Unzurechnungs-
fähigkeit ohne Wert. So bleibt es bei dem Zustand, den Feuerbach
selbst Kleinschrod gegenüber gerügt hatte, daß dem Richter lediglich
einzelne psychologische Tatbestände, Beispiele von Gemütszuständen,
welche die Strafbarkeit ausschließen, vom Gesetz gegeben werden.^
Durch diese Regelung fühlten sich namentlich die Ärzte beschwert,
da die Aufzählung einzelner Krankheitsformen und die einseitig intellek-
tualistische Ausdrucksweise des Gesetzes sich als zu eng und einseitig
erwiesen, um eine Handhabe für eine befriedigende Beurteilung zweifel-
hafter Fälle zu bieten. So verlangte J. B. Friedreich eine Änderung
des a 120 in dem Sinne, daß allgemein jedes Individuum unzurechnungs-
fähig sei, „welches zur Zeit der Tat sich in einem psychisch unfreien
Zustand befand", und er ging in der Bevorzugung einer solchen
allgemeinen Formel so weit, daß er die gesetzliche Festlegung einer
bestimmten Grenze der Strafmündigkeit ablehnte und die Zurechnungs-
fähigkeit auch bei Kindern in jedem einzelnen Fall von dem Vorhandensein
' Vgl. oben Kap. III, S. 106 ff.
- Kritik des Kleinschrodischcn Entwurfs I.Teil, S. 11.
190
der vom Sachverständigen zu prüfenden „psychischen Selbstbestimmung"
abhängig gemacht wissen wollte.^
Eine solche Formulierung wäre freilich nicht im Sinne Feuer-
bachs gewesen, der jede Verbindung von strafrechtlicher Zurechnungs-
fähigkeit und Willensfreiheit bekämpft hat. Mit dieser Stellungnahme
Feuerbachs hängt es zusammen, daß das Bayerische Gesetzbuch von
1813 sich dem Gedanken einer gesetzlichen Anerkennung des straf-
mildernden Einflusses der verminderten Zurechnungsfähigkeit
verschloß. Entgegen einer nahezu einmütigen Anerkennung der
geminderten Zurechnungsfähigkeit durch die kriminalistische Literatur
hat Feuerbach mit aller Energie und Zähigkeit an seiner Opposition
festgehalten, ähnlich wie ein halbes Jahrhundert später Friedrich Berner
in seinem Kampf gegen die Äbstufbarkeit des Begriffs der Zurechnungs-
fähigkeit die überwiegende Mehrzahl der Strafrechtler gegen sich hatte.*
Feuerbachs Stellungnahme erklärt sich nur aus dem ganzen Entwicklungs-
gang seiner strafrechtlichen Lehren. Im gemeinen Strafrecht gehörten
die Fälle der geminderten Zurechnungsfähigkeit, bei denen besondere
physische oder psychische Zustände die volle Verantwortlichkeit des
Täters beeinträchtigen, zu den vielen Momenten, aus welchen der
Richter aus Gründen der Billigkeit oder um staatlicher und kriminal-
politischer Zweckmäßigkeit willen das Recht herleitete, von der gesetzlich
angedrohten Strafe abzugehen. Eine klare Absonderung jener verant-
wortungsmindernden Zustände von anderen Strafänderungsgründen,
die ihre methodische Sonderstellung als Modifikation der Zurechnungs-
fähigkeit erkennen ließe, fehlte allgemein. Dieses Bild zeigte Kreitt-
mayrs Codex (Tl. I, cap. I, § 17), während Kleinschrod ähnlich,
wie es das Preußische Allgemeine Landrecht versuchte,^ eine
begriffliche Scheidung zwischen Prinzipien der Zurechenbarkeit und
denjenigen Momenten, welche die Strafbarkeit beeinflußten, durch-
zuführen sich bemühte. Indem Feuerbach aus den Bedürfnissen der
Rechtssicherheit heraus das ganze System richterlicher Strafänderungs-
gründe bekämpfte, trat er damit auch dem Milderungsgrund einer
geminderten Zurechnungsfähigkeit entgegen. Für eine gesetzliche
' J. B. Fried reich, in: Zu Rheins Zeitschrift für Theorie und Praxis
des bayerischen Zivil-, Kriminal- und öffentlichen Rechts I. Bd. 1835.
S. 108 ff. und II. Bd., S. 70 ff.
■ Eingehende Literaturangaben bei Kahl, Geminderte Zurechnungs-
fähigkeit. Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen
Stratrechts. Ällg. Teil Bd. i, S. 9.
* Ä. L. R. 2. Teil, XX. Titel, § 16 ff. „Moralität der Verbrechen"
und § 58 ff. „Milderung der Strafe". - Vgl. Hälschner, Geschichte des
Brandenburg - Preußischen Strafrechts. Bonn 1855. S. 210 f.
191
Anerkennung einer entsprechenden Strafminderung, welche die Bedenken
seiner positivistischen Stellungnahme hätte zerstreuen können, ließ ihm
seine Straftheorie keinen Raum. Denn wenn die Höhe der Strafe
abhängig ist von der Stärke der sinnlichen Triebfeder, die den Täter
zum Verbrechen drängt, dann bedarf gerade der Mensch der Androhung
eines besonders starken Übels zur Abschreckung, den besondere
Umstände in stärkerem Maße zur Tat determinieren, denen gegenüber
seine Hemmungen unzulänglich sind, d. h. gerade der Täter im Zustand
geminderter Zurechnungsfähigkeit. Es handelt sich hier um die Fälle, in
denen geringe moralische Verantwortlichkeit einer erhöhten kriminellen
Gefährlichkeit gegenüber steht, und hier hat Feuerbach seiner These
von der Isolierung des Rechts von der Moral entsprechend die Stärke der
Strafdrohung unbedenklich dem erhöhten Bedürfnis nach Abschreckung
angepaßt. Gegenüber der von dem Gegner gebrauchten Terminologie
einer „verminderten Freiheit" stützt er seine Opposition auf das doppelte
Argument einer Eliminierung der Willensfreiheit aus der strafrechtlichen
Zurechnungslehre und des Hinweises auf das Widerspruchsvolle einer
graduellen Abstufung der Freiheit, die nur als absoluter Begriff denk-
bar sei. Diesen Gedankengang hat er in seiner „Revision" entwickelt
und in dem Eingang des maßgebenden Kapitels (Bd. 11, cap. IX) diese
Problemgruppe als einen Gegenstand bezeichnet, der „mehr als irgend
ein anderer im Gebiet des peinlichen Rechts von dem wichtigsten Einfluß
für das Leben und Handeln ist, der mit dem Wohl des Staates, selbst
mit dem Interesse der Menschheit auf das innigste verbunden ist".^
Leider hat Feuerbach trotz dieser wuchtigen Worte die eigentliche
Bedeutung der Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit für die
Gesetzgebung und Rechtspflege nicht gesehen. Er stand ihr als einem
philosophischen Problem gegenüber, und er hat sich von dem inneren
Zusammenhang dieser Frage mit dem theoretischen System seiner
Strafrechtsdoktrin nie ganz frei machen können. Darum mußte ihm
ein tieferes Verständnis für die neuen Aufgaben der jungen Kriminal-
psychologie und Psychiatrie versagt bleiben. So kannte Feuerbachs
Lehrbuch den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit nicht, und
das Strafgesetzbuch läßt jede Sonderbehandlung von Fällen, die jenem
problematischen Zwischengebiet zwischen voller Zurechnungsfähigkeit
und Unzurechnungsfähigkeit angehören, vermissen. Im Gegensatz
hierzu unternahmen es die offiziellen Anmerkungen, den Richter
anzuweisen, bei Handlungen, die etwa im Rausch oder unter der
Einwirkung eines starken Affekts begangen sind, wenn „die Zurechnung
zum Dolus nicht offenbar vorliegt", gleichwohl aber die Tat nicht
' Revision Bd. II, S. 274.
192
„zu Fahrlässigkeit zuzurechnen" ist, auf mildere Strafe zu erkennen. '^
Die Praxis griff diesen Hinweis freudig auf, wobei man in a 106 eine
formale Stütze für diese Strafmilderung zu sehen glaubte. In a 106
handelt es sich um jene, wie zu zeigen sein wird, durchaus nicht
einwandfreie Bestimmung, wonach bei einem Mangel am Tatbestand
sich die für den gesamten, vollständigen Tatbestand angedrohte Strafe
reduziere, und man wandte diese Bestimmung auch auf einen Mangel
am subjektiven Tatbestand, nämlich eine Verminderung der Zu-
rechnungsfähigkeit, an.^ Gönners Entwurf versuchte dann eine
gesetzliche Sanktionierung dieser Übung zu schaffen, indem er bestimmte,
daß, wenn „die Zurechnung zwar nicht ganz ausgeschlossen, jedoch
in solchem Grade gemindert ist, daß die gesetzliche Strafe der Tat
außer Verhältnis mit der Strafbarkeit des besonderen Falles stehen
würde", die Gerichte zu einer Herabsetzung der Strafe nach Maßgabe
der Strafminderung beim Versuch ermächtigt seien (a 86).
Es kann nicht wundernehmen, daß diejenigen Kritiker des
Entwurfs, die in ihren Grundansichten Feuerbach nahestanden, der
Bedeutung dieser Bestimmung nicht gerecht wurden und von ihr im
Zusammenhang mit der allgemeinen Tendenz des Entwurfes zu einer
Erweiterung der gesetzlichen Strafrahmen die Gefahr erneuten Mißbrauchs
richterlicher Willkür befürchteten.^ Feuerbach selbst gab „durch
die Macht der Erfahrungen", wie Rrnold erzählt, in den letzten Jahren
seines Lebens selbst zu, daß „geminderte Zurechnungsfähigkeit eine
geminderte Strafe zur Folge haben müsse".* Sein Neuentwurf enthielt die
Bestimmung, daß der Richter zu einer Milderung der Strafe befugt sei,
wenn physische oder psychische Krankheit, welche die Fähigkeit, „nach
Willkür die mit Strafe bedrohte Handlung zu unterlassen", beeinträchtigt,
in hohem Maße vorhanden ist, ohne geradezu alle Zurechnung aus-
zuschließen.^ Doch trat in den neuen Auflagen seines Lehrbuches
diese Wandlung nirgends zutage, sodaß er selbst diese Sinnesänderung
niemals öffentlich kundgegeben hat. Dies ist wohl weniger aus einer
Scheu vor dem Eingeständnis eigener Irrtümer zu erklären, als vielmehr
als ein Anzeichen dafür, daß Feuerbach selbst die Empfindung hatte,
daß mit der Preisgabe dieser einen Position sein ganzes System ins
' Anmerkungen Bd. I, S. 299 f.
^ Seuffiirt, in: Blätter für Rechtsanwendung zunächst in Bayern
in. Bd. 1838. S. 4. - Arnold, in: Neues Archiv. 1843. S. 109.
' Oersted, Ausführliche Prüfung des neuen Entwu fs zu einem Straf-
gesetzbuch für das Königreich Bayern. Kopenhagen 1823. S. 101 u. 222. —
Ebenso: Vergleichende Kritik des Entwurfs fies Strafgesetzbuchs mit dem
Strafgesetzbuch von 1813. Nürnberg 1823. S. 42.
' Arnold, Neues Archiv. 1853. S. 245, Anm. 6.
^Mittermaier, Neues Archiv. 1847. S. 588.
193
Wanken geriet, sodaß die offizielle Aufnahme des Prinzips der ver-
minderten Zurechnungsfähigkeit zu einer neuen „Revision" seiner
„Grundwahrheiten und Grundbegriffe" hätte führen müssen. Dazu
vermochte er sich aber wohl um so weniger zu entschließen, als er jene
allgemeinen Prinzipien des Strafrechts auf deduktivem Wege gewonnen
hatte, während jetzt in zunehmendem Maße in seinen Studien zur
Prozeßreform die philosophische Methodik verlassen wurde und die
Erscheinungen des Lebens in ihrer Unmittelbarkeit und Plastik mehr
und mehr sein Interesse beherrschten. So waren seine Stellung zu
grundsätzlichen Problemen des materiellen Strafrechts und sein Ver-
hältnis zum Strafgesetzbuch selbst verhältnismäßig bald nach den
eigenen grundlegenden Taten veraltet. Und als er die Mitarbeit an
der Reformarbeit der 20 er Jahre so brüsk abbrach, mag neben der
berechtigten Empfindung erlittener Kränkung und Zurücksetzung vielleicht
im tiefsten Grunde ein — wrenn auch uneingestandenes — Gefühl der
Resignation wirksam gewesen sein, daß er doch nur eine Flickarbeit
an dem eigenen Werk hätte vollbringen können und daß die not-
wendigen Reformen auf den Zusammenhang mit einem Strafrecht
ganz anderer, ihm selbst wesensfremder Prägung hinweisen mußten.
„Überdies, schreibt er dem Ministerialrat v. Spies, hat jeder Mensch
seine Zeit, ich hatte die meinige, andere haben jetzt die ihrige.
Rn dem Ulyssesbogen der Gesetzgebung, mit welchem ich zwar nicht
jedes, doch manches Ziel getroffen, werden jetzt rüstigere Arme und
bessere Schützen sich versuchen."^ Aber Feuerbachs Temperament
war nicht dazu angetan, solch tragischen Ausgang in entsagungsvoller
Selbstbesinnung hinzunehmen. Das eigene Gefühl dafür, daß seinem
Werk gerade in solchen Punkten fühlbare Unzulänglichkeiten anhafteten,
die mit seinen einst mit so viel leidenschaftlicher Kraft verfochtenen
Grundansichten aufs engste verknüpft waren, ließ ihn die erlittene
Zurücksetzung um so schmerzvoller empfinden, als er nun sehen mußte,
wie sein alter Widersacher v. Gönner einen immer stärkeren Einfluß
auf die bayerische Gesetzgebung erlangte. Kein Spott ist ihm scharf
genug, die Arbeit der bayerischen „Solone" mit grimmigem Hohn zu
brandmarken, wo jetzt „Tagelöhnerjungen, die sich bisher nur mit
dem Steintragen und Kalkrühren beschäftigt haben", sich am Bauen
versuchen, bis daß das Haus einstürzen wird:'' „. . . also mein freund-
schaftlicher Rat, so schreibt er am 25. November 1835 an den
Ministerialrat v. Spies, der sich bemühte, Feuerbachs Einfluß auf die
gesetzgeberische Reformarbeit noch weiterhin sicherzustellen; manum
' Leben und Wirken II, S. 252.
' Leben und Wirken II, S. 253.
13
194
de tabula, welches jetzt vielmehr besser so ausgedrückt wird: fallen
Sie dem Rumpelkasten, mit welchem einige blinde Karrengäule dem
Abgrunde zurennen, nicht in die Räder, sondern springen Sie auf
die Seite!" ^
Die große Bedeutung, die Feuerbach der begrifflichen Klärung und
der prägnanten Formulierung der Zurechnungsprinzipien in seinen
theoretischen Arbeiten und seiner gesetzgeberischen Tätigkeit beigemessen
hat, hat einen tiefen Sinn. Denn nur wenn es gelang, daß Wissen-
schaft und Gesetzgebung „die subjektiven Bedingungen der Strafbarkeit"
in verständlicher Weise klar begrenzten, war die Innehaltung jenes
Satzes gewährleistet, der das Wesen des modernen Strafrechts kenn-
zeichnet: Keine Strafe ohne Schuld. Das Gesetz bekennt sich in
a 1 1 9 ausdrücklich zu diesem Satz und läßt Feuerbachs Bemühen um
die Wirksamkeit dieses Prinzips allenthalben in der Aufnahme seiner
theoretisch entwickelten Voraussetzungen und Formen der strafrechtlichen
Schuld erkennen. Und doch findet sich mitunter ein verhängnisvolles
Schwanken auf Gebieten, deren unmittelbaren Zusammenhang mit
jenem Axiom ihm selbst offenbar nicht klar war. Die Bedeutung der
berühmten Schuldpräsumtionen Feuerbachs kann erst im Zusammen-
hang mit der Vorsatzlehre dargestellt werden. Auffallend ist eine
Inkonsequenz in der Verwirklichung der prozessualen Seite jenes
Schuldprinzips, der Forderung: Keine Verurteilung ohne Beweis
der Schuld. Eine restlose Durchführung dieses Prinzips ist nur
möglich, wenn der Nachweis der Wahrheit allein gegründet wird auf
die in freier Beweiswürdigung gewonnene subjektive Überzeugung des
Richters. Solange man aus dem naiven Glauben an die Möglichkeit
einer Erkenntnis absoluter objektiver Wahrheit und der Forderung
einer unbedingten Gewißheit der Schuld eine Verurteilung von dem
Vorhandensein bestimmter, gesetzlich festgelegter Beweismittel abhängig
machte, stand man immer wieder ratlos gegenüber einer Überzahl von
Fällen, in denen zwar der gesetzlich vorgeschriebene, formale Beweis
nicht vollständig war, gleichwohl aber die Schuld des Verdächtigen
nicht bezweifelt werden konnte. Da man diese Leute nicht laufen
lassen wollte, half man sich mit dem Kurpfuschermittel der Verdacht-
strafe, indem man sie — wie mit schlechtem Gewissen — mit einer
milderen poena extraordinaria bestrafte. Dieser Zustand beherrschte
den gemeinrechtlichen Inquisitionsprozeß, für den durch a 22 CCC die
formale Beweistheorie der italienischen Juristen in Deutschland offiziell
Anerkennung gefunden hatte. ^ Im späteren gemeinen Recht wurde
* Leben und Wirken II, S. 257.
* Liepmann, Gedanken über den Rechtsirrtum im Strafrecht. Z. Str.W.
Bd. 39, S. 533.
195
das Problem der Verdachtstrafe insofern modifiziert, als einmal durch
die Aufhebung der Tortur die Notwendigkeit einer Erweiterung des
Beweisrechts offenbar wurde und allmählich die Doktrin unter dem
Einfluß positivistischer Tendenzen sich gegen die poena extraordinaria
wandte und statt einer geringeren Strafe Sicherheitsmaßregeln gegen
den eines Verbrechens Verdächtigen, aber nicht restlos Überführten,
verlangte.^
Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 huldigt noch dem
Inquisitionsprozeß, aber Feuerbach hat doch versucht, das Beweisrecht
in dem Sinne zu erweitern, daß beim Zusammentreffen besonderer
vom Gesetz in eingehender Kasuistik und mit aller Vorsicht geschilderter
Indizien eine zur Verurteilung genügende „überzeugende Gewißheit"
(II. Tl., a 328) zugelassen wird. Doch waren die Anschauungen über
das formale Beweisrecht so stark eingewurzelt, daß die Kommissionen
entgegen Feuerbachs Stimme die Einschränkung in das Gesetz brachten,
daß zur Todesstrafe ein solcher Indizienbeweis niemals ausreiche
(a 330). Feuerbach hatte sich mit klaren Worten gegen eine solche
Inkonsequenz ausgesprochen. Ist eine Tatsache nicht erwiesen, so ist
damit juristisch kein Grund für die Existenz der bedrohten Handlung
vorhanden und, so schloß er in seinem Lehrbuch," die Strafe bei
unvollkommenem Beweis ebenso wie die Verhängung von Sicherheits-
maßregeln rechtswidrig. „Wer macht denn den Richter zum Polizei-
meister? Wer gab ihm, der doch nur Kriminalgesetze anzuwenden
hat, das Recht, Verfügungen zur künftigen Sicherheit des Staates zu
treffen?"^ Hat sich aber das Gericht in einwandfreier Weise von
' G. Ä. Kleinschrod, Über die Wirkung eines unvollkommenen
Beweises in peinl. Sachen. Abhandlungen aus dem peinl. Recht und peinl.
Prozeß I.Teil. Erlangen 1797. S. 1 ff. Über Lossprechung von der Instanz
im peinl. Prozeß. Ebendort S. 165 ff. — E. L. R. Eisenbarts Preisschrift
im Archiv des Kriminalrechts III. Bd., l.St. 1800, S. 65 ff. und 2. St. 1801,
S. Iff. Gegen spezielle Sicherheitsmittel gegenüber einzelnen Verdächtigen,
unbeschadet der allgemeinen vorbeugenden Tätigkeit der Polizei: Zachariae,
im Archiv d. Kriminalrechts 111. Bd., 4. St., S. 1 ff. — Ein kurzer, die praktischen
Folgerungen ablehnender Hinweis auf den Zusammenhang dieser Frage mit
Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und Geschworenengericht bei Klein,
im Archiv d. Kriminalrechls III. Bd., 2. St., S. 64 ff., der einer der eifrigsten
Verfechter des Sicherungsrechts war. — Vgl. auch J. N agier, Verbrechens-
prophylaxe u. Strafrecht. Krit. Bcitr, XIV, Leipzig 1911, S. 17, u. K. Fuhr,
Strafrechtspflege u. Sozialpolitik, Berlin 1892, S. 1 ff.
* Lehrbuch 1. Aufl., § 91, S. 70.
^ Ebendort S. 71, Änm. In den späteren Auflagen des Lehrbuchs fehlt
diese Polemik gegen die Sicherheitsmaßnahmen. Vgl. VIII. Aufl. § 83, S. 84 f.
und XIV. Aufl., § 83, S. 153. In der „Revision" I, S. 64 f. bekannte er sich
sogar ausdrücklich für das Sicherungsrecht bei unvollkommenem Beweist
13*
196
der Schuld des Angeklagten überzeugt, dann schafft jene Einschränkung
des a 330 den merkwürdigen Zustand, bei dem, wie er später einmal
ausführte, „ein Mörder, von welchem die Justiz selbst in einem
furchtbar feierlichen Strafakte öffentlich verkündet, daß sie ihn des
Mordes für schuldig erkannt habe, gleichwohl nicht die durch den Mord
verdiente Strafe leide und auch dieses nur von Rechts wegen ".^ Um
so auffallender ist es, daß bei Feuerbach selbst in einer Bestimmung
des materiellen Teils sich der Einfluß jener alten Tradition der Verdacht-
strafe geltend machte. In a 106 findet sich der gesetzliche Niederschlag
eines Gedankens, der bereits in der „Revision" einen Gegensatz zur
positivistischen Tendenz dieser Schrift darstellt: die außerordentliche
Strafe bei Mangel am Tatbestand. Wenn der Tatbestand in dem
einen oder anderen Punkte mangelhaft oder ungewiß ist, soll hiernach
die gesetzliche Strafe gemildert werden in dem Verhältnis, in dem das
fehlende Tatbestandsmerkmal zu der Summe aller Tatbestandsmerkmale
steht. Das war der Gedanke des a 106. Bestimmte z. B. a 172 für
Äbtreibung 8 Jahre Arbeitshaus, so entfielen nach dieser Vorstellung
von diesen 8 Jahren 4 Jahre auf das Tatbestandsmerkmal des Abortiv-
mittels, 2 Jahre auf das Tatbestandsmerkmal der Schwangerschaft,
2 Jahre auf den Dolus. Fehlt eines dieser drei Tatbestandsmerkmale,
so soll sich die Strafe um die entsprechende Anzahl von Jahren
mindern.^ Die Sinnlosigkeit dieser Berechnung liegt auf der Hand.
„Schwangerschaft" und „Dolus" sind nicht selbständige mit Strafe
bedrohte Tatbestände, sondern stets bleibt die gesamte Strafe eine
Rhndung des ganzen Delikts. Der Täter wird auch bei „Mangel am
Tatbestand" für das ganze Delikt bestraft, nur sind in diesem Fall
wesentliche Tatbestandsmerkmale nicht erfüllt oder nicht erwiesen. So
wird hier ein Angeklagter bestraft wegen einer Tat, deren er nicht völlig
überführt, sondern nur aus bestimmten Gründen verdächtig ist. So
sehr sich die Anmerkungen zum Gesetz bemühen, die Bestimmung
mit den Argumenten der Feuerbachschen Konstruktion des Begriffs
„Mangel am Tatbestand" zu rechtfertigen und den Vorwurf einer
Verdachtstrafe zu entkräftigen, ^ so fand diese Regelung doch allgemeine
' Feuerbach, Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen.
3. Aufl. 1849. S. 357. — Grundlegend für die wachsende Erkenntnis der
Sinnlosigkeit des überkommenen Beweissystems, das aus Mißtrauen gegen
den Indizienbeweis der Willkür der Verdachtstrafen verfiel, wurde Chr. C.
Stübel, Über den Tatbestand der Verbrechen .. . Wittenberg 1805.
■ Mittermaie r, Über den Einfluß des Mangels am Tatbestande auf das
Strafurteil. Neues Archiv des Kriminalrechts III, 1820, S. 394 f.
^ Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern I. Bd.
München 1813, S. 246.
197
Hblehnung. Mi tt er maier wies nach, daß die Strafe nur dem
Verbrechen in seinem gesamten Tatbestand entspreche und daß zu
geringerer Strafe keineswegs ein geringerer Grad von Gewißheit der
Voraussetzungen der strafrechtlichen Reaktion ausreiche/ In Olden-
burg, wo das Bayerische Strafgesetzbuch eingeführt wurde, übernahm
man den a 106 nicht, in Weimar warnte man ausdrücklich vor
diesem Vorbild.- v. Gönners Entwurf von 1822 kannte gleichfalls
diese Bestimmung nicht mehr. Später zeigte Arnold die Entbehrlichkeit
dieser Bestimmung. Denn, da nur die bewiesene Tat strafbar ist,
so kann eine Handlungsweise nur als vollendete Ausführung aller
tatbestandsmäßigen Handlungen eines Delikts oder als Versuch zu
dieser bestraft werden."^ Feuerbach selbst hat den Gedanken nie völlig
aufgegeben, wohl aber späterhin versucht, ihm eine abschwächende
Formulierung zu geben. So spricht er in den letzten Auflagen seines
Lehrbuchs^ nicht mehr von fehlenden und ungewissen Tatbestands-
merkmalen, sondern vom Fehlen besonderer, durch das Gesetz oder
die Auslegung erforderter Eigenschaften des Tatbestands. Doch
ist hiermit der Begriff eher unklarer geworden. Die Fälle, an die
Feuerbach hier denkt, erweisen sich in Wirklichkeit, wie Mittermaiers
Anmerkung zeigt, als Verbrechensversuch (z. B. ein räuberischer
Überfall, bei dem der Täter nichts zum Wegnehmen findet), oder es
fehlen lediglich Eigenschaften, welche richtigerweise gar nicht zum
gesetzlichen Tatbestand gehören sollten, wie die Verheimlichung der
Schwangerschaft beim Kindesmord. Der a 106 ist erst durch a 8 des
Gesetzes vom 29. August 1848 aufgehoben worden.
Die Forderung: Keine Strafe ohne Schuld wird ergänzt durch
den Gedanken, daß als Bedingung strafrechtlicher Reaktion stets die
Verwirklichung eines objektiven Tatbestandes erforderlich ist, sodaß
nur eine schuldhafte Handlung eine Bestrafung rechtfertigen kann.
In der Grolmanschen Präventionstheorie hatte Feuerbach die symptoma-
tische Verbrechensauffassung bekämpft, nach der die objektive Handlung
nicht selbständige und wesentliche Voraussetzung der Strafe ist, sondern
lediglich ein Anzeichen für die durch die Strafe in erster Linie zu
treffende verbrecherische Gesinnung. Mit einer Gesinnungsstrafe
aber verliert die Strafjustiz den festen Boden des Rechts und verfällt
' Mittermaier, Neues Archiv III, S. 394 ff. Gegen Feuerbach auch
Klcinschrod, Abhandlungen S.Teil, I.Abt., S. 94 f.
- Neues Archiv Bd. II, 1818, S. 60.
* Arnold, Erfahrungen aus dem Bayerischen Strafgesetzbuch v. 1813.
Archiv des Kriminalrechts. Neue Folge, Jahrg. 1843, S. 110 ff. und 240 fl.
* XIV. Aufl., herausgeg. von Mittermaier, Gießen 1847, § 99, S. 191.
Die VII. Aufl., 1820, zeigt noch die alte Fassung.
198
der Gefahr der Despotie und Klassenjustiz, der bei der Unmöglichkeit,
einem Menschen sein Innenleben und seine Gesinnungen nachzuweisen,
derjenige zum Opfer fällt, dem man die vom Recht verpönte Gesinnung
zutraut. „Kann eine Überzeugung, eine dem Staat gefährliche Meinung,
ein der Staatsreligion gefährlicher Glaube bestraft werden ? " fragt Feuerbach.
„Niemand wird diese Fragen bejahen." Denn der Gesetzgeber „kann
nichts den Strafsanktionen unterwerfen, was nicht mittelbar oder unmittelbar
eine Rechtsverletzung in sich enthält, kein Faktum, was nicht äußerlich
erkennbar ist und dessen Existenz nicht in concreto vollständig bewiesen
werden kann".^ Diesen Gedanken hat das Bayerische Strafgesetzbuch
durch seine gesamte Anlage durchgeführt, indem nicht nur die typischen
Gesinnungsdelikte, wie Ketzerei und Aberglaube, schwanden, sondern
durchweg im Besonderen Teil durch scharfe Herausarbeitung der
Tatbestände aller und namentlich der gegen den Staat gerichteten
einzelnen Delikte der Richter in die Lage gesetzt wurde, aus dem
Verhalten des Täters ganz bestimmte Handlungen als strafbares
Unrecht zu eliminieren. Hierin liegt die große historische Mission
Feuerbachs als Gesetzgeber.^ Erst wenn man sich die Bedeutung
dieser Tat, für die ein Vorbild allenfalls im Code penal vorlag, klarmacht
und bedenkt, welch gewaltiger Schritt von dem bisher in Bayern
geltenden Recht des Kreittmayrschen Codex und dem altväterlichen,
durch die Fülle besorglicher Regeln und Ratschläge unklaren Entwurf
Kleinschrods getan ist, wird man es verstehen, daß auch diesem
Gesetz Reste jener ängstlichen Auffassung nicht fehlen, welche in dem
Bestreben, die verbrecherische Tätigkeit in einem möglichst frühen
Stadium zu bekämpfen, mit Strafdrohungen schon in einem Punkte
einsetzt, wo objektiv eine kriminelle Betätigung noch nicht erfolgt ist.
Dieser Gefahr unterliegt ein Strafrecht um so eher, je mehr es
auf dem Gebiete der Teilnahme und des Versuchs die Straf-
barkeit von subjektiven Momenten abhängig und dabei auch ein
solches Verhalten zum Gegenstand strafrechtlicher Ahndung macht,
das in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausführung
einer verbrecherischen Handlung selbst steht. So wird nach dem
Bayerischen Strafgesetzbuch ein Komplott, die bloße Verabredung
und gegenseitige Verpflichtung, ein Verbrechen zu begehen, auch
wenn es gar nicht zur Ausführung des Verbrechens kommt, als Versuch
dieses Delikts bestraft (a 52 und 50). Die Bestrafung des Versuchs
hat für Feuerbach eine hohe kriminalpolitische Bedeutung, sie ist
' Revision II. Bd., S. 13 und vorhergehende.
^ Vgl. Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft
3. Abt., II. Halbbd., S. 129.
199
bestimmt, „gleichsam dem Verbrecher den Weg abzugraben, die Keime
des Verbrechens in ihrer ersten Entwicklung zu ersticken".' Infolge-
dessen bestraft Feuerbach nicht nur den nächsten Versuch, bei dem
der Täter teilweise in der Ausführung begriffen ist, sondern auch den
entfernteren Versuch, d. h. bloße Vorbereitungshandlungen (a 60
und 62). Beiden Fällen sucht er mit einer subjektiv gerichteten
Begriffsbestimmung gerecht zu werden, nach der ein Versuch anzunehmen
ist, „wenn eine Person, in der Absicht, ein Verbrechen zu begehen,
äußerliche Handlungen vorgenommen hat, welche auf Vollbringung
oder Vorbereitung desselben gerichtet sind" (a 57). Dagegen bewahrte
Feuerbach die Auffassung, daß jede Vollendung eines Delikts die
Verletzung eines Rechts voraussetzt, vor einer Ausdehnung der Straf-
barkeit auch die Fälle des untauglichen Versuchs. Denn wenn
zur Vollendung eine wirkliche Rechtsverletzung gehört, so muß von
einem Versuch verlangt werden, daß aus ihm „die Übertretung wirklich
entspringen konnte".^ So wie die Carolina in a 178 „etliche scheinliche
wercke, die zu volbringung der missethatt dienstlich sein mögen",
verlangt, fordert Feuerbach, daß die Versuchshandlung „nach ihrer
äußeren Beschaffenheit mit dem beabsichtigten Verbrechen in ursächlichem
Zusammenhang steht, objektiv gefährlich ist"."' Ein Begriffsmerkmal,
das noch im Lis zischen Lehrbuch wiederkehrt!* „Wer", heißt es bei
Feuerbach, „von dem Verbrechen der Mitteilung eines vermeintlichen
Gifts, von dem Versuch der Tötung eines Leichnams u. dgl. spricht,
verwechselt das Moralische mit dem Rechtlichen, die Gründe der
Sicherungspolizei mit dem Recht zur Strafe und muß auch
jenen Bayern eines strafbaren Versuchs der Tötung schuldig erkennen,
der nach einer Kapelle wallfahrte, um da seinen Nachbar totzubeten ! " "^
Infolgedessen fügte Feuerbach der subjektiven Fassung des Versuchs-
begriffs in seinem Entwurf zum Strafgesetzbuch die Einschränkung
hinzu, daß der Versuch straflos bleiben sollte, „wenn die äußere
Handlung mit dem dadurch beabsichtigten Verbrechen in gar keinem
Zusammenhang war, sodaß dieses nach dem Lauf der Natur schlechterdings
nicht daraus entstehen konnte" (a 60 Abs. 2 des Entwurfs). Doch
drang Feuerbach mit dieser Ansicht nicht durch und die Anmerkungen
begründen das damit, daß in strafrechtlicher Beziehung kein Unterschied
zu machen sei zwischen demjenigen, der sich in der Wahl der Mittel
' Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs 2. Teil, S. 102.
■ Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs I.Teil, S. 67.
•'' Lehrbuch 7. Aufl., 1820, § 42, S. 45; desgl. 9. Aufl., 1826, § 42, S. 42.
' Lehrbuch 23. Aufl., 1921, § 46, I, 3, S. 201 f.
' Lehrbuch 7. Aufl., 1820, § 42, Anm. a (S. 46); desgl. 9. Aufl., 1826,
§ 42, Anm. c (S. 42 f.).
200
vergriffen habe und dem, der durch andere äußere Umstände an der
Vollbringung des Verbrechens gehindert sei.^
So stand das Gesetz nach jeder Richtung auf dem Boden der
subjektiven Versuchsauffassung. Doch blieb die Opposition nicht aus.
Bei der Neuregelung des Weimarer Strafgesetzbuchs warnte man
vor dem bayerischen Vorbild einer so weiten Ausdehnung der Straf-
barkeit des Versuchs, bei der „auf Zweckmäßigkeit der Mittel gar nicht
und nur auf die Absicht gesehen werden soll"." Die bayerische
Rechtspflege erfuhr täglich die Schwierigkeiten des gesetzlich festgelegten
subjektiven Versuchsbegriffs und bemühte sich, die extremen Fälle
untauglicher Versuchshandlungen auszuscheiden, indem man regelmäßig
freisprach, wenn das Mittel von der Art war, „daß dessen Anwendung
nur ein Produkt des reinen Unverstandes ist".^ Noch zahlreicher waren
die Stimmen, welche sich gegen die Strafbarkeit der Vorbereitungs-
handlungen wandten. 1818 erschien Mittermaiers kurzer und
wichtiger Aufsatz über den Anfangspunkt der Strafbarkeit der Versuchs-
handlungen.* Mittermaier zeigt hier, daß in dem Stadium des entfernten
Versuchs, in dem es sich nur um ein Ausspähen der Gelegenheit,
um Beschaffung und Zurüstung der Mittel handelt, in der Handlung
des Täters nichts strafrechtlich Relevantes liegt und eine Bestrafung
nur eine, zudem keineswegs unumstößlich feststehende, Absicht zum
Gegenstand hat. Er beschränkt deshalb die Strafbarkeit auf dasjenige
Stadium, in dem mit der Anwendung der Mittel bereits begonnen ist,
da man vorher von der Übertretung eines Gesetzes nicht reden kann.
Auch die Praxis empfand die Härte einer zu weit ausgedehnten
Strafbarkeit, die sich nur dadurch mildern ließ, daß der Nachweis
des Vorsatzes bei bloßen Vorbereitungshandlungen in vielen Fällen
nicht erbracht werden kann.^ Dazu kam, daß, wie das Oberappellations-
gericht an das Ministerium berichtete, die Abgrenzung zwischen entferntem
und nächstem Versuch, für die verschiedene Strafdrohungen galten, zu
zahlreichen Kontroversen und widersprechenden Urteilen führte.*' So
' Anmerkung zum Strafgesetzbuch Bd. I, S. 182 f.
- Neues Archiv Bd. II, S. 60.
* Arnold, in: Neues Archiv, 1843, S. 513. — Das Reichsgericht,
das grundsätzlich auf dem Standpunkt subjektiver Versuchsauffassung steht,
sieht ebenfalls in der Anwendung von Mitteln, „welche nicht in der
wissenschaftlichen Erkenntnis und Erfahrung des Lebens
begründet", welche „außerhalb sowohl der physischen als der psychischen
Kausalität liegen", ausnahmsweise keinen, nicht einmal einen untauglichen
strafbaren Versuch! RG. 33, S. 323.
' Neues Archiv Bd. II, S. 602 ff. Vgl. Bd. I, S. 163 ff.
* Arnold, in: Neues Archiv, 1843, S. 512.
"* Jahrbuch der Gesetzgebung und Rechtspflege im Königreich Bayern
Bd. in, 1820, S. 153.
201
suchte Y. Gönnej*s Entwurf von 1822 mit dem Prinzip der Bestrafung
„bloßer Vorbereitungen zu einer strafgesetzwidrigen Handlung" ^ zu
brechen und definierte den Versuch in Anlehnung an den Commencement
d'execution des französischen Rechts^ als „Anfang der Ausführung des
bezielten Verbrechens" (a 46). Mit dieser objektiven Fassung entfiel
die Strafbarkeit nicht nur der Vorbereitungshandlungen, sondern
ebenso — wenn auch vermutlich von Gönner nicht beabsichtigt —
des untauglichen Versuchs. Ein Umstand, auf den bereits Oersted
damals hinwies, und zwar gerade deshalb, weil er selbst ein Anhänger
der Bestrafung des untauglichen Versuchs war."
Auch die Behandlung der Schuldformen im Feuerbachschen
Strafgesetzbuch läßt den Zusammenhang mit seinen theoretischen
Studien erkennen. Hier wie dort ist die Schuld als Willens schuld
aufgefaßt, ein Standpunkt, von dem aus es im Grunde nur eine
Schuldform: Vorsatz geben kann. So ist er dem Problem der
Fahrlässigkeit niemals völlig gerecht geworden. Das zeigt sich
schon auf methodischem Gebiet. Wenn auch die Rrt der Behandlung
der Culpa im Lehrbuch keinen Zweifel darüber aufkommen läßt, daß
es sich hier um Probleme der Zurechenbarkeit der Schuld oder,
wie es dort von Dolus und Culpa heißt: um „Verschiedenheit nach
dem intellektuellen Grund der Übertretung" handelt,* so erscheint im
Entwurf zu dem Strafgesetzbuch die Fahrlässigkeit neben Versuch und
Teilnahme lediglich als Grund zur Anwendung der außerordent-
lichen Strafe (Entwurf a 59). Bis zu Feuerbach lassen sich somit
die Spuren jener dem römischen und italienischen Recht entstammenden,
im gemeinen Recht bei Carpzov besonders deutlich erkennbaren
Tradition aufzeigen, nach der Culpa nicht als besondere Schuldart,
sondern als Grund zur Strafmilderung angesehen wurde.' In den
Kommissionsverhandlungen wies v. Gönner auf die Haltlosigkeit der
ganzen Unterscheidung von ordentlicher und außerordentlicher Strafe
hin i'id die Majorität entschied sich, um das Gesetz nicht mit einer
dokirinären Kontroverse zu belasten, dahin, die Bezeichnung ordentliche
und außerordentliche Strafe zu streichen. Die Anmerkungen erklären
* Entwurf eines Strafgesetzbuchs. München 1822. Einleitung pag. VII.
- Zuerst im Gesetz vom 22. praiv. an IV. Später Code p^nal, 1810, a 2.
' Oersted, Ausführliche Prüfung des neuen Entwurfs zu einem Straf-
gesetzbuch für das Königreich Bayern. Kopenhagen 1823. S. 154 f. —
Derselbe, Über Grundregeln der Strafgesetzgebung. Kopenhagen 1818.
S. 164 ff.
' Lehrbuch VII. Aufl., Überschrift vor § 53 (S. 55).
" Liepmann, Z. Str. W. 39, S. 542 u. 531 f. — Binding, Normen IV,
S. 114, 115. Anders im A. L. R., vgl. oben S. 190, Anm. 3.
202
dies damit, man könne nicht sagen, der fahrlässige Totschläger werde mit
außerordentlicher Strafe des — begrifflich regelmäßig vorsätzlichen —
Totschlags bestraft, sondern „ihn trifft die ordentliche Strafe der
fahrlässigen Tötung"/ Feuerbach, leicht verletzt, wenn er mit
seinen Gedanken nicht durchdrang, vermerkte es bitter, daß hier
V. Gönners Argumente und nicht das Nonliquet des Kommissions-
beschlusses in den offiziellen Anmerkungen zum Ausdruck gekommen
ist.^ Aber auch inhaltlich war Feuerbachs Fahrlässigkeitsbegriff
zu Unfruchtbarkeit verdammt. Ausgehend von dem Gedanken der
Willensschuld erschwerte er sich die Erkenntnis der Natur der
Fahrlässigkeit dadurch, daß er nach seiner Äbschreckungstheorie als
Voraussetzung der Zurechenbarkeit der Handlung das Bewußtsein ihrer
Strafbarkeit verlangen mußte. So vertrug sich mit seiner Theorie im
Grunde nur die Annahme einer Schuldform, nämlich das bewußte
Wollen einer Strafgesetzwidrigkeit, ^ d. h. Vorsatz, und er hat sich
immer wieder bemüht, die Fahrlässigkeit als eine Form des
Vorsatzes zu konstruieren.^ So sieht er in oder besser vor jeder
fahrlässigen Begehung eines speziellen Delikts die vorsätzliche Ver-
letzung einer generellen Diligenzpflicht. Diese generelle Diligenzpflicht
hat ihren gesetzlichen Ausdruck gefunden in a 64: „Jeder Untertan
ist schuldig, gefährliche Handlungen zu unterlassen und in jedem
Unternehmen mit gehöriger Aufmerksamkeit und Bedachtsamkeit zu
verfahren, damit er auch nicht unabsichtlich Andere an ihren Rechten
verletze oder Gesetze des Staates übertrete." Handelt er dieser Norm
zuwider, so werden ihm die aus dieser Handlungsweise sich ergebenden
Rechtsverletzungen als fahrlässige Übertretungen zugerechnet.
Der Vorsatz wird vom Gesetz im Anschluß an die Definition
des Lehrbuchs-^ in Übereinstimmung mit dem Entwurf (a 41) begrifflich
bestimmt: „Mit rechtswidrigem Vorsatz wird ein Verbrechen begangen,
wenn eine Person die Hervorbringung des aus ihrer Handlung ent-
standenen Verbrechens sich als Zweck und Absicht dieser ihrer
Handlung vorgesetzt hat und sich dabei der Rechtswidrigkeit und
Strafbarkeit dieses Beschlusses bewußt gewesen ist" (a 39). Folge-
richtig ergibt sich aus dieser Bestimmung der Gedanke des a 42,
daß besondere qualifizierende Eigenschaften der Handlung dem Täter
' Bd. I, S. 125.
- Leben und Wirken I, S. 253 f.
' Vgl. Binding, Normen IV, S. 211.
' Vgl. oben Kap. III, S. 102 f.
' Im Lehrbuch hieß es lange Zeit „böser Vorsatz": I. Aufl., 1801,
§ 62, S.46; VII. Auil., 1820, § 53, S. 55. Dagegen „rechtswidriger Vorsatz":
IX. Aufl., § 54, S. 51.
203
nicht zum Vorsatz zugerechnet werden dürfen, wenn er sie nicht
gekannt hat. Wer also einen Tatbestand annimmt, der, wenn er
vorläge, kein strafbares Tun darstellen würde, handelt nicht vorsätzlich.^
Zwei Problemgruppen sind mit dem Feuerbachschen Vorsatzbegriff
verknüpft und erschweren eine klare Erkenntnis der Zurechnungs-
prinzipien dieses Gesetzbuchs: die Frage des Rechtsirrtums und
die Praesumtio doli.
Die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs führt, das hat man
schon früh eingesehen, konsequent zu der Unentbehrlichkeit des
Bewußtseins der Gesetzwidrigkeit des Begehrens für den Vorsatz.^
Denn, so drückt es Feuerbach selbst in der „Revision" aus: „wo
keine Vorstellung von dem Gesetz, von der Verbindlichkeit, die Handlung
zu unterlassen und von der Strafe als Bestimmungsgrund der Unter-
lassung ist, da ist es auch nicht möglich, daß die Drohung, die nur
vermittels der Vorstellung derselben wirksam sein kann, auf das Gemüt
Einfluß haben könne"." Die folgerichtige Durchführung dieses Gedankens
würde verlangen, daß der vorsätzliche Rechtsbrecher nicht nur wissen muß,
daß er sich strafbar macht, sondern auch Art und Umfang der gedrohten
Strafe kennen muß. Denn nur unter dieser Voraussetzung war er in
der Lage, die abschreckende Strafdrohung, die ja bei jeder speziellen
Deliktsart auf die verschieden starken sinnlichen Triebfedern vom
Gesetzgeber sorgfältig abgestimmt ist, auf sich wirken zu lassen. In
solcher Schärfe ist dieses Prinzip freilich nur ganz vereinzelt im Straf-
recht durchgeführt worden, so von Unterholzner, nach dem eine
Strafmilderung einzutreten hat für denjenigen, der in dem Glauben
handelte, die angedrohte Strafe sei geringer.' Feuerbach hat diese
' Vgl. Arnold, in: Archiv d. Kriminalrechts, Neue Folge, 1843, S. 534.
■ Mühlenbruch, Über iuris et facti ignorantia. Archiv für zivilistische
Praxis Bd. II, 1819, S. 399, Anm. 87. — Wächter, Lehrbuch des Römisch-
Teutschen Slrafrechts I. Teil Stuttgart 1825. S. 119, Änm. 43. — Der spätere
Feuerbachkommentator Morstadt nannte das Strafbarkeitsbewußtsein beim
Vorsatz „ebenso überflüssig, wie beim Kirchendogma die Vernunft-
gemäßheit". Ausfuhr!, krit. Kommentar zu Feuerbachs Lehrbuch. Schaff-
hausen 1855. Anm. 1 zu § 87, S. 131.
' Revision Bd. II, S. 44.
* C. A. D. Unterholzner, Jurist. Abhandlungen. Mit einer Vorrede
von Feuerbach. München 1820. S. 366. — Bei Samuel Boehmcr findet
sich der Gedanke: omnes poenas iuris positiv! esse und deshalb poenae
ignorantia ... veniam mcrctur. Jedoch wird dieser Satz keineswegs als
konsequentes Prinzip durchgeführt, sondern er erscheint nur in besonders
gelagerten Fällen als eine Handhabe, die harten, der späteren Zeit
unverständlichen Strafen früherer Gesetze zu mildern. — Meditationes ad
CCC a 179, § 12. Observationcs ad Carpzovii Practicam. Qu. 76, obs. 6
und Qu. 149, obs. 4. — Vgl. Liepmann, Rechtsirrtum. Z. Str.W. 39, S. 548.
204
äußerste Konsequenz niemals gezogen. „Irrtum oder Ungewißheit
bloß über Art und Größe der Strafe" schließt den rechtswidrigen
Vorsatz nicht aus (a 39, Abs. 2). Bei Feuerbach braucht der Täter
nicht zu wissen, welche spezielle gesetzliche Bestimmung er im ein-
zelnen übertritt, es genügt vielmehr, wenn er weiß, sein Handeln ist
überhaupt vom Gesetz verboten. Vom Gesetz ... da erhebt
sich die neue Frage: denkt hier Feuerbach an das positive Gesetz,
die Bestimmungen des geltenden Strafgesetzbuchs oder irgendeinen
außergesetzlichen Rechtssatz, der dem geschriebenen Recht zugrunde
liegt, viel genannt und doch schwer bestimmbar als die Quelle jener
Pflichten und Bindungen, welche als nur langsam wandelbares ererbtes
Gut das Leben der Menschen beherrschen, die Norm im Bindingschen
Sinne „mittelbar aus der Luft des Lebens geatmet", „allen von ihrer
Kindheit an durch die verschiedensten Kanäle des Lebens vermittelt"?^
Unzweifelhaft ist, daß von dem Boden der Lehre, die das ganze Strafrecht
darauf aufbaut, daß das Strafgesetz sich drohend und abschreckend an
den Verbrecher wendet, Feuerbach eine Kenntnis eben dieses Gesetzes
verlangen müßte, aber ebenso ist unverkennbar, daß er es immer wieder
vermeidet, diesen Gedanken klar und eindeutig durchzuführen. Das geht
schon daraus hervor, daß sich bei Feuerbach trotz der zentralen Bedeu-
tung, die für ihn das Bewußtsein der Gesetzwidrigkeit haben muß, nirgends
eine grundsätzliche dogmatische und kritische Behandlung der durch die
Wandlungen einer langen Vergangenheit schwer belasteten Lehre vom
Rechtsirrtum findet. Vielmehr wird dieses Problem nur nebenbei
berührt, zwar nicht wie im älteren gemeinen Strafrecht unter den
Strafmilderungsgründen, sondern bei der Bestimmung der Zurechnungs-
fähigkeit. Vorsätzliches Handeln ist bewußt rechtswidriges Wollen,
auch der Culpa liegt letzten Endes ein Vorsatz zugrunde, folglich
gehört nach Feuerbach zur Imputativität, oder, wie er später sagte,
zur Zurechnungsfähigkeit, d. h. zu der „Gemütseigenschaft, welche
die Strafbarkeit eines Menschen begründet", „das Bewußtsein der Straf-
barkeit der Handlung". Und diese Eigenschaft wird ausgeschlossen
und damit die Zurechnungsfähigkeit hinfällig durch „unverschuldeten
Irrtum oder Unwissenheit in Rücksicht auf das Dasein des Straf-
gesetzes überhaupt oder der Subsumtion der Tat unter dasselbe."
Das Gesetz bestimmt in a71: „Wer bei einer in diesem Gesetzbuch
als strafbar erklärten Handlung seine Unwissenheit über das Dasein
eines Strafgesetzes vorschützt, wird mit diesem Vorgehen nicht
gehört, wenn nicht Blödsinn, große Dummheit und andere dergleichen
' Binding, Normen Bd. III, S. 88.
- Lehrbuch 1. Aufl., § 92 ff. (S. 72 ff.); 7. Aufl., § 84 H. (S. 83 ff.).
205
Gemütsfehler dieses Vorgeben unterstützen. " ^ Diese Bestimmung wird
von der herrschenden Meinung als ein Ausweg aus dem Irrgang der
Feuerbachschen Zurechnungslehre erklärt: Feuerbach verlange zum
Vorsatz das Bewußtsein, daß die Handlung vom positiven Recht
verboten sei, und hier werde die Kenntnis der Verbote des
positiven Rechts vom Gesetz bei allen normalen Menschen präsu-
miert.' Sicherlich entsprang jene Bestimmung den Schwierigkeiten,
die auf deduktive Methode ermittelten Voraussetzungen der Zurechnungs-
fähigkeit dem einzelnen Verbrecher gegenüber empirisch nachzuweisen,
aber andererseits läßt sich gerade an dieser Bestimmung zeigen, daß,
soweit Feuerbach in diesem Punkte überhaupt zu einer Klarheit
gelangte, er nicht Kenntnis des Gesetzes, sondern der .,Norm" von
dem vorsätzlichen Rechtsbrecher erwartet. In diesem Sinne haben
die offiziellen Anmerkungen den a 71 verstanden. Unwissenheit der
Strafgesetze heißt es hier, kann deshalb nicht die Zurechnung zur
Schuld ausschließen, weil „gemeiner gesunder Verstand ohne Kenntnis
eines positiven Rechts für sich allein hinreicht, das Unerlaubte
solcher Handlungen einzusehen".^ Hiernach hat jene Bestimmung
allerdings einen ganz anderen Sinn als den einer Präsumtion hin-
reichender Gesetzeskenntnis. Der Einwand, man hat das positive
Gesetz nicht gekannt, ist unerheblich, weil es gar nicht auf positive
Gesetzeskenntnis, sondern auf das Bewußtsein der Norm, d. h. des
Umstandes, daß die Handlung überhaupt irgendwie unerlaubt ist, an-
kommt. Und eben diese Kenntnis der Norm wird von jedem normalen
Bürger vorausgesetzt. Daß diese Interpretation der Anmerkungen
keine Verfälschung der Gedanken Feuerbachs ist, geht aus einem
Vergleich des a 71 mit der entsprechenden Bestimmung in Feuerbachs
Entwurf von 1810 hervor. Hier ist nämlich von einer solchen Handlung
die Rede, „welche schon an und für sich unerlaubt und als
Verbrechen in diesem Gesetzbuch erklärt wird" (a 73 des Entwurfs).
Ist also eine Handlung „an und für sich" normwidrig und zudem im
Strafgesetzbuch verboten, so ist die Berufung auf Unkenntnis des
Strafgesetzbuchs unerheblich. Im Lehrbuch hatte Feuerbach
* Die Stellung dieses a unter den Bestimmungen über Fahrlässigkeit
erklärt sich daraus, daß nach Feuerbach ein erwiesener, aber unentschuld-
barer Irrtum „Culpa durch Unwissenheit des Gesetzes" zur Folge hat,
Lehrbuch 1. Aufl., § 64 (S. 48 f.).
' Vgl. z. B. Heinemann, Zur Dogmengcschichtc des Rechtsirrtums.
Z. Str.W. 13, S. 392 f. — AI Held, Bedeutung des Rechtsirrtums im Straf-
recht. Erlangcr Rektoratsrede, 1903. S. 9 I. — Ebenso bereits Köstlin,
Neue Revision der Grundbegriffe des Kriminalrechts. Tübingen 1845. S. 619.
Über Bindings Stellung zu dieser Frage siehe unten S. 207.
^ Anmerkungen zum Strafgesetzbuch Bd. I, S. 200 f.
206
ursprünglich die Zurechnungsfähigkeit überhaupt beim Vorhandensein
einer „dem Gesetz äußerlich widersprechenden Tat ... so lange ver-
mutet, bis das Gegenteil erwiesen ist". Hn Stelle einer Begründung
trat lediglich der ebenso kurze wie nichtssagende Hinweis: „aus ähn-
lichen Gründen, aus welchen auch Dolus vermutet werden muß".^
In den späteren Auflagen wird diese generelle Vermutung der
Zurechnungsfähigkeit spezialisiert und dabei mit dem Bewußtsein
der Rechtswidrigkeit begonnen: „Von jeder mit Verstand begabten
Person wird im allgemeinen als rechtlich gewiß angenommen, daß
sie mit den Strafgesetzen bekannt sei." Man denkt zunächst,
hier sei im Sinne der herrschenden Auslegung eine Kenntnis der
positiven Strafgesetze gemeint, findet aber in einer Anmerkung,
daß Feuerbach den anscheinend einfachen und unzweideutigen Sinn
jenes Satzes erheblich modifiziert. Hier heißt es mit dem Hinweis
auf vielzitierte Stellen des römischen Rechts:" „Diese Regel gilt ohne
Ausnahmen bei denjenigen Verbrechen, welche juris gentium sind,
d. h. an und für sich rechtswidrige oder moralische schänd-
liche Handlungen und schon naturali ratione als unerlaubt
betrachtet werden müssen, sodaß in Ansehung dieser die ignorantia
juris selbst den Personen nicht zustatten kommt, welchen sonst die
Rechtsunwissenheit verziehen wird. Bei solchen Handlungen, welche
nur nach den besonderen Gesetzen eines bestimmten Staates (jure
civili) Verbrechen sind (wohin alle rein polizeilichen Übertretungen
gehören), kommt die Rechtsunwissenheit wenigstens den zuletzt
erwähnten Personen zugut."^ Und durchaus im Sinne dieser Gedanken
sprechen die späteren Auflagen bei dem eine Zurechnung zur Schuld
ausschließenden Irrtum nicht wie in der früheren Fassung von „Irrtum
oder Unwissenheit in Rücksicht auf das Dasein des Strafgesetzes",
sondern von „Irrtum und Unwissenheit in Ansehung der Rechts-
widrigkeit und Gefährlichkeit der Handlung".^
Man hat es bereits damals erkannt, daß Feuerbach mit diesen
Worten den Folgerungen, die er aus seiner Strafrechtstheorie hätte
ziehen müssen, untreu wird und sich zu dem Gedanken bekennt, daß
das Verbrechen nicht als Strafgesetzwidrigkeit, sondern als Verletzung
von Pflichten, die in außergesetzlichen Normen begründet sind, bestraft
wird. Rosshirt^ nennt jene Bemerkung Feuerbachs „vielleicht die
* Lehrbuch 1. Aufl., §98 (S. 77); 7. Aufl., §90 (S. 90). — Über die
pracsumtio doli vgl. unten S. 208 ff.
M. 7, § 4 D 2, 1; 1. 39, § 2, 4, 7 D 48, 5; 1. 2 C 2, 6; 1. 4 C 5, 5.
' Lehrbuch 9. Aufl., 1826, § 86, Anm. a, S. 80 f.
* Ebendort § 90 (S. 69).
' Rosshirt, In welchen Fällen kann sich der Verbrecher mit Unkenntnis
des Rechts entschuldigen? Neues Archiv des Kriminalrechts Bd. IX, S. 491 ff.
207
wichtigste neue Erklärung in dem ganzen Feuerbachschen Buche",
so sehr sie „mit den Resultaten seiner philosophischen Entwicklungen
im Widerspruche steht ".^ Rosshirt sieht in ihr ein Zugeständnis
Feuerbachs zu dem Gedanken, daß die allgemeine Grundlage
der Verbrechen ihre „grobe Rechtswidrigkeit und besondere
moralische Schändlichkeit sei", deren sich jeder normale Mensch
ohne Kenntnis des Buchstabens des Gesetzes bewußt ist, während in
den meisten Fällen der Verbrecher die positive Strafdrohung gar
nicht zu kennen braucht.
Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist folgendes: Dogmatisch
läßt sich aus den Gedanken der Feuerbachschen Strafrechtstheorie
nur ein Dolus-Begriff ableiten, der das Bewußtsein der Straf-
gesetzwidrigkeit im Sinne eines Verstoßes gegen ein Verbot
des positiven Gesetzes als notwendigen Bestandteil in sich schließt.
Aber historisch stellen sich die Dinge so dar, daß Feuerbach
selbst diese Konsequenz nicht gezogen hat, sondern nur eine
Kenntnis des außergesetzlichen Verbots, des „an und für
sich" Unerlaubten der Handlungsweise des Täters zur Bedingung
der Zurechnung zum Vorsatz gemacht hat.
In dieser Feststellung liegt zugleich eine Präzisierung des Stand-
punkts gegenüber der Ansicht Bin ding s über den Einfluß, den
Feuerbach auf die Lehre vom Rechtsirrtum ausgeübt hat." Binding
glaubt, Feuerbach habe mit seiner psychologischen Zwangstheorie,
durch welche dem Strafgesetz „die gesetzlich bis dahin nie dagewesene
Funktion zugewiesen wird, durch die angedrohte Strafe die Verbrecher-
neigung zu paralysieren",^ eine völlige Verderbnis der italienischen
und älteren gemeinrechtlichen Irrtumslehre verschuldet durch jene
„perverse Vorstellung", als gehöre zum Vorsatz das Bewußtsein
der Strafgesetzwidrigkeit. Und „so traten nun an Stelle der
so einfachen, leicht verständlichen und allgemein verstandenen pflicht-
begründenden Rechtssätze die komplizierten Strafgesetze, die nun die
armen Rechtsgenossen aufs Haar scharf auslegen mußten".^ Gewiß,
diese Folgerung hätte Feuerbach konsequenterweise aus seiner Theorie
ziehen müssen. Tatsächlich aber hat Feuerbach niemals das
Bewußtsein des positiven Strafgesetzes, sondern lediglich die
Kenntnis des pflichtbegründenden Rechtssatzes, der Norm,
im Sinne Bin ding s verlangt! Damit entfällt der Vorwurf Bindings
» Ebendort S. 496.
* Binding, Über den Irrtum bei Delikten. Zuerst: Gerichtssaal 81,
S. 19 If. Nun: Strafrcchti. und strafprozessuale Abhandl. Bd. I, S. 403 ff.
« Ä. a. O. Abhandl. Bd. I, S. 416.
* Ebendort S. 417.
208
in bezug auf den verhängnisvollen Einfluß, den Feuerbach auf die
dogmengeschichtliche Entwicklung der Vorsatz- und Irrtumslehren
gehabt haben soll. Bindings eigene Darstellung läßt an anderer Stelle^
erkennen, wie Feuerbach alle Mittel anwendet, um den Folgerungen
seiner Theorien für die Praxis zu entfliehen. Dabei hält Binding jene
Bestimmung, der Einwand, man habe das positive Gesetz nicht gekannt,
sei in der Regel nicht zu hören, für eine Präsumtion des Bewußtseins
der Strafgesetzwidrigkeit und für ein künstliches Mittel, den — falschen —
Irrtumsbegriff „kriminalistisch unschädlich" zu machen.
Somit spielt in die Probleme des Rechtsirrtums jene weitere Kom-
plikation der gesetzlichen Regelung der Feuerbachschen Schuldformen
hinein: die Praesumtio doli. Der a 43 bestimmt: „Bei einer wider
eine Person erwiesenen gesetzwidrigen Tat wird gesetzlich angenommen,
daß dieselbe aus rechtswidrigem Vorsatz gehandelt habe, sofern nicht aus
den besonderen Umständen die Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit des
Gegenteils sich ergibt." Diese Bestimmung, die sich als Abnormität aus-
nimmt in einem Strafgesetzbuch, das, aus dem Schöße der Aufklärungszeit
entstanden, dem Rechtsgedanken im Strafrecht in besonderem Maße zu
dienen bestimmt schien, ist zu erklären aus der Enge und den Nöten
des formalen Beweisrechts. Solange man nur ein Geständnis oder
zwei klassische Zeugen für Beweismittel von genügender Zuverlässigkeit
hielt, um daraufhin einen Menschen verurteilen zu können — ein
Standpunkt, dem grundsätzlich das Bayerische Strafgesetzbuch
von 1813 noch huldigte" — , mußte man wie zum Beispiel Kleinschrod
verlangen, daß der Vorsatz als ein Faktum der Innenwelt in jedem
einzelnen Falle nur durch Geständnis bewiesen werden kann.^ Nun
drängten aber die Bedürfnisse der Strafrechtspflege gerade beim Nach-
weis der Schuld auf Zulassung eines Indizienbeweises. Schon im
Regensburger Reichsabschied von 1594 wird die Praxis, daß die
Verurteilung wegen Landfriedenbruchs „nicht allweg dolus dermaßen
erfordert, daß er eben im Buchstaben also erzehlet werde, sondern
genugsam sey, wann das Factum an ihm selbst strafwürdig",
in dem Sinn erklärt, daß „sintemal solcher dolus in mente delinquentis
beruhet und derwegen schwerlich directe zu probiren, derselbe
aus den Umständen der Tathandlung, ex perspicuis indiciis et
evidentia ipsius facti könne und möge erwiesen werden" (§ 69).
' Binding, Normen Bd. III, S. 106 ff. und 253 H.
* IL Teil, a 260. Über die — nur unvollständige — Anerkennung des
Indizienbeweises siehe oben S. 195.
^ Syst. Entwicklung der Grundbegriffe des peinlichen Rechts 2. Aufl.,
I. Teil, S. 60. Vgl. oben Kap. IV, S. 154.
209
„Der Vorsatz, heißt es ähnlich später bei Quistorp/ kann keiner
Okular -Inspektion unterworfen sein, sondern nur aus den Um-
ständen geschlossen werden." Hierbei erschien als wichtigstes
Indiz, daß der Täter die rechtswidrige Handlung ausgeführt hat, und
diese Erfahrungstatsache fand Ausdruck in dem Gedanken, daß bei
einem begangenen und erwiesenen Verbrechen der Vorsatz zu vermuten
sei." Grolman hat dann diesem Gedanken einer Praesumtio doli noch
einmal eine „zeitgemäße" theoretische Begründung zu geben versucht:
Charakteristisches Merkmal des Menschen ist seine Willkür, und da
man grundsätzlich jeden Menschen bis zum Beweis des Gegenteils
als Menschen mit menschlichen Eigenschaften betrachten müsse, so
müsse man auch von demjenigen, der eine bestimmte Tat vollbracht
hat, annehmen, er habe sie willkürlich, also vorsätzlich vollbracht.
Das sei für den Richter „viel beruhigender", als wenn man von ihm
einen Beweis für den Dolus verlangen sollte. Man müßte sonst
nach Kleinschrod ein freies Bekenntnis zum Nachweis des
Dolus fordern.^ Von Grolman übernahm Feuerbach, wiewohl er
sonst den Begriff der Willkür als Merkmal menschlichen Handelns
ablehnte, den Satz: Facta laesione praesumitur dolus, donec probetur
contrarium.* Die weitere Entwicklung dieses Prinzips ist dadurch
gekennzeichnet, daß jenes trügerische theoretische Gewand bekämpft
wird, dagegen seine wahre Bedeutung im Sinne einer Zulassung
des Indizienbeweises für den Nachweis des Vorsatzes immer mehr
zutage tritt.
Die offiziellen Anmerkungen zum Strafgesetzbuch gaben bei a 43
eine ausführliche Anweisung zu einem Indizienbeweis des Vorsatzes
aus den Umständen der Tat, wobei der Richter auf Art und Umfang
der Mittel, die Verhältnisse bei Begehung der Tat achten und so „die Tat
nach der äußern Erscheinung in ihrem vollständigen Zusammen-
hange nach allen Umständen und Verhältnissen abwägen" soll, um
hieraus Dasein, Stärke und Umfang des rechtswidrigen Vorsatzes zu
' Quistorp, Grundsätze des deutschen Peinlichen Rechts Bd. I. In
der von Klein besorgten 6. Aufl. (1810), § 34, Anm. e (S. 53).
^ Quistorp weist hier auf Stellen des römischen Rechts und Carpzovs
hin, die aber keineswegs den Sinn einer allgemeinen Praesumtio doli haben.
L. 1 C.IX, 16: Crimen contrahilur, si et voluntas nocendi intercedat. Carpzov
denkt an die durch Verheimlichung der Schwangerschaft begründete Vermutung
zugunsten des Vorsatzes des Kindesmords: ex actu enim clandestino dolus
et malus animus agentis praesumitur. Nov. Pract. Qu. 15, Nr. 51.
" Grolman, Wird Dolus vermutet? Bibliothek für peinliches Recht
I. Teil, 2. Stück, S. 70 ff.
* Lehrbuch 1. Aufl., § 68 (S. 54).
14
210
ermitteln.^ Worin die besonderen Umstände bestehen, welche den
Schluß auf das Vorhandensein des Dolus gestatten, hat Borst im
einzelnen näher dargestellt. Eine praesumtio doli könnte — meint
Borst — nur bedeuten: „Der böse Vorsatz wird aus der bösen Tat
vermutet, wenn sie so beschaffen ist, daß derselbe daraus
vermutet werden kann."" Damit war die Grolmansche Theorie
von der Vermutung zugunsten eines willkürlichen Handelns der
Menschen preisgegeben, wie dies vor Borst bereits Wening nach-
gewiesen hatte.* Auch Tittmann suchte zu scheiden zwischen solchen
Umständen der Tat, die zur Annahme von Dolus berechtigen und
solchen, die, wie eine besonders unglückliche Verkettung einzelner
Momente und ein völlig atypischer Kausalverlauf, lediglich Culpa
vermuten lassen.*
Feuerbach selbst nahm in späteren Auflagen seines Lehrbuchs'
die praesumtio doli in der früheren Form „gern zurück" und brachte
nunmehr klar und unzweideutig zum Husdruck, daß die besondere
Hrt des Verschuldens (Dolus oder Culpa), „ohne daß es dafür
eines besondern direkten Beweises bedürfte", lediglich nach
dem Vorhandensein von Indizien dreifacher Art: Beschaffenheit der
Handlung, Verhältnis von Handlung und Erfolg sowie besondere vor,
mit oder nach der Handlung selbst eingetretene Umstände zu beurteilen
sei. Und zwar glaubte Feuerbach mit diesem Gedankengang im
Einklang zu stehen sowohl mit dem Regensburger Reichsabschied
von 1594 als auch jenen Stellen des römischen Rechts, die man
gemeinhin zur Begründung des praesumtio doli heranzog.*'
' Anmerkungen zum Strafgesetzbuch Bd. I, S. 154. Die betreffenden
Worte sind im Original gesperrt! — Die Polemik Oersteds, Grundregeln
der Strafgesetzgebung S. 305 ff., gegen die Interpretation der Motive beruht
auf der unklaren Unterscheidung Oersteds zwischen der Vermutung einer
willkürlichen Handlungsweise (so angeblich Motive) und der Ver-
mutung zugunsten der Vollbringung eines Verbrechens aus bösem Vorsatz
(so angeblich Feuerbach).
- Borst, Über den Beweis des bösen Vorsatzes. Neues Archiv II,
S. 434 H., insbesondere S. 436. Im Original gesperrt!
^ Wening, Über die Vermutung des bösen Vorsatzes nach dem römischen
Recht. Neues Archiv II, S. 194 ff.
* Tittmann, Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen
StrafgesGtzkunde I. Bd., § 94, 2. Aufl. Halle 1822. S, 184 f.
' Lehrbuch IX. Aufl., 1826, § 87 (S. 81).
° L. 24 C. IX, 22 handelt von der Beweislast in zivilen oder strafrecht-
lichen Urkundenprozessen, 1. 5 C. IX, 35 erklärt beim Beweis, man habe
eine beleidigende Äußerung nicht convicii consilio getan, befreie die Glaub-
würdigkeit dieser Tatsache von der Calumnienklage. Zu 1. 1 C. IX, 16 vgl.
oben S. 209, Anm. 2.
211
So zeigt sich in bezug auJ Feuerbachs Dolus-Präsumtion, wie es
Heinrich Es eher, der Schweizer Freund Feuerbachscher Ideen,
1822 schon vor jener Änderung in der Darstellung des Lehrbuchs
aussprach, „bei genauer Einsicht . . ., daß der Streit mehr die Worte
als die Sache beb-ifit".' Denn „eigentlich", meint Mittermaier,
Eschers Urteil zustimmend, „liegt nur die Frage zum Grunde,
ob auch der Vorsatz durch Schlußfolgerungen erwiesen
werden könne, was wohl schwerlich geleugnet werden kann"."
Damit erweist sich die Vorsatzvermutung als ein Versuch, das
formale Beweisrecht zu durchbrechen, nicht im Sinne einer Beschränkung
des Beweises, sondern zugunsten seiner freieren Husgestaltung. Ihr
Sinn läßt sich in den Satz fassen: Die Art und Weise, in der die
Tat begangen wurde, kann ein Indiz für den Vorsatz des
Täters bilden. Indem Rechtspflege und Doktrin diese Folgerung
jenes Satzes immer schärfer herausarbeiteten, erweist sich, so paradox
das klingen mag, die gesetzliche Vorsatzvermutung des a 43
als erster Schritt zur Anerkennung der freien Beweiswürdigung.
Freilich barg die Formulierung jenes Gedankens in der Form
einer gesetzlichen Präsumtion bedenkliche Gefahren. Daß dadurch die
Beweislast beeinflußt und etwa, wie noch bei Ouistorp, dem Inquisiten
die Pflicht auferlegt wird, Tatsachen, welche gegen seinen Vorsatz
sprechen, zu beweisen oder doch als wahrscheinlich darzustellen,''
war allerdings nach den Grundsätzen des späteren gemeinen Prozeß-
rechts ausgeschlossen, da hierdurch dem Richter in vollem Umfang der
Nachweis aller für die Unschuld des Angeklagten sprechenden Momente
oblag.^ Aber eine verständnisvolle Handhabe des Indizienbeweises
war nur in den Fällen möglich, wo das Gesetz selbst wie in a 43 von
einer Widerlegung seiner Vermutung durch eine aus den Umständen
sich ergebende Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit des Gegen-
teils sprach. Dagegen führt, wie es Arnold^ erkannte, diese Vermutung
zu einem unzulässigen Abschneiden des eigentlichen Beweises, zu einer
Verdachtstrafe, wenn der Gegenbeweis gegen die Vermutung des
' Escher, Vier Abhandlungen über Gegenstände der Strafrechts-
wissenschaft. Zürich 1822. S. 164.
- Mittermaier, in: Neues Archiv des Kriminalrechts VI, S. 355.
Vgl. auch Mittermaier, Lehre vom Beweise. 1834. S. 145 f.
' Quistorp, Grundsätze des deutschen Peinlichen Rechts 6. Aufl.
1810. § 34, Anm. e (S. 53).
* Bayerisches Strafgesetzbuch Teil II, a 107. — Feuerbach, Lehrbuch
1. Aufl., §624 und 646 (S. 488 und 502); 9. Aufl., §600 und 623 (S. 495
und 511). — Martin, Lehrbuch des Teutschen gemeinen Kriminalprozesses.
1812. § 14, S. 20f. — Mittermaier, Lehre vom Beweise. 1834. S. 141 H.
'" Archiv des Kriminairechts. Neue Folge, 1843. S. 532.
14*
212
Gesetzes an bestimmte Bedingungen geknüpft oder gar völlig aus-
geschlossen ist. Das ist ganz allgemein in zwei Fällen so, in denen
sich letzte Nachwirkungen des kanonisch-italienischen Satzes Versanti
in re illicita imputantur omnia quae sequuntur ex delicto noch bei
Feuerbach bemerkbar machen. Einmal wird von dem, der mit
verbrecherischer Absicht eine Handlung unternahm, die sowohl
eine leichtere als eine schwerere Rechtsverletzung zur Folge haben
kann, unter Ausschluß des Gegenbeweises angenommen, daß
sein Vorsatz sich auch auf das schwerere Delikt erstreckte (a 41) —
entsprechend dem Feuerbachschen, auf mehrere Rechtsverletzungen
derselben Gattung alternativ gerichteten dolus eventualis.^ Ferner wird,
wenn die Handlung erwiesenermaßen beabsichtigt war, auch
ihr voraussehbarer Erfolg dem Täter als beabsichtigt zugerechnet,
eine Vermutung, die nur „durch klare Beweise" ausgeschlossen
werden kann (a 44). Eine verhängnisvolle Verirrung bedeuten die
gesetzlichen Schuldpräsumtionen bei den Bestimmungen über den
Kindesmord. Hier hat der Gedanke, daß Verheimlichung der
Schwangerschaft eine Vermutung für den Vorsatz der Abtreibung
oder des Kindesmords begründe in Verbindung mit der Lehre von
dem eine außerordentliche Strafe begründenden Mangel am Tat-
bestand zur Aufstellung einer grauenvollen Skala von nach den
Graden mehr oder minder vollkommener Gewißheit abgestuften Ver-
dachtstrafen von 1 — 2 jährigem Arbeitshaus bei bloßer Verheimlichung
der Schwangerschaft und Beiseiteschaffen der toten Leibesfrucht bis zu
Zuchthaus auf unbestimmte Zeit bei vollem Beweise des Kindesmords,
ja in qualifizierten Fällen der Todesstrafe geführt." Ein Rigorismus,
der um so erstaunlicher ist, als Feuerbach seit der ersten Auflage
seines Lehrbuchs die eine mildernde Beurteilung des Kindesmords
bedingenden besonderen psychologischen Momente berücksichtigte.^
Wie kaum bei irgendeiner anderen Bestimmung tritt hier die Härte des
Abschreckungsprinzips im Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 zutage.
» Lehrbuch 1. Aufl., §66 (S.51); Lehrbuch 9. Aufl., §59 (S. 56 f.). —
Ein Vergleich des Gesetzes mit dem Entwurf von 1810, a 43, widerlegt
die Vermutung Löfflers, Schuldformen 1, S. 243, die beweisrechtliche
Sonderbehandlung des bei Feuerbach „rein matericllrechtlichen
Begriffs dieser Dolus -Art" sei ein Werk der Kommission. Damit ver-
mindert sich der von Löffler gerügte Gegensatz zwischen den materiellen
Dolus -Begriffen Feuerbachs und der Darstellung der Anmerkungen, die
„alles vom Standpunkt des Beweises" auffassen.
^ a 157 ff.
' Lehrbuch l.Aufl., §271 (S. 211): Furcht vor Schande, Schwächung
der höheren Gemütskräfte, noch mangelnde Stärke des Instinkts der
mütterlichen Liebe.
213
Ruch über diese besonderen Bestimmungen des Kindesmords
hinaus hat die Regelung der Schuldformen im Feuerbachschen Straf-
gesetzbuch nicht glücklich in der Rechtspflege gewirkt. ^Es wird
kaum eine Materie des Bayerischen Strafgesetzbuchs geben, heißt es
bei Arnold, welche den Praktikern mehr Zweifel erregte, als die vom
Dolus und der Vermutung desselben."^ Es blieb nicht aus, daß allzu
strenge Richter — „Rigoristen, welche das Heil der Justiz und des
Staates in häufigen und strengen Strafen suchen" — glaubten, nur
bei zwingenden Gegengründen von der Vermutung des Vorsatzes
abgehen zu dürfen." Doch bildete sich allmählich eine mildere Praxis
aus, die auch dort, wo das Gesetz den Gegenbeweis ausschloß, analog
dem a 44 „klare Beweise" zuließ und den Begriff „klare Beweise"
möglichst weit im Sinne einer „großen Wahrscheinlichkeit" faßte.^
Arnold selbst hat versucht, die Dolus-Lehre des Gesetzes in der in
Geltung befindlichen Form in allgemeinen Linien herauszuarbeiten.
Er unterscheidet dabei den für den Vorsatz wesentlichen Irrtum über
tatsächliche Verhältnisse und Umstände, das Bewußtsein,
daß die Handlung Strafe verdient habe, wobei eine Kenntnis des
speziellen Strafgesetzes nicht erforderlich ist und schließlich die
kausale Bedeutung des Willens für die Tat und die Reflexion
über mögliche Folgen der Tat. Nur in bezug auf diese letzten
beiden Punkte gestattet das Gesetz eine Vermutung des Vorsatzes
im Sinne eines durch die gesamten zutage getretenen besonderen
Umstände und Verhältnisse des Einzelfalls gerechtfertigten Rückschlusses
auf das Innenleben des Täters.*
Ging aus solchen Untersuchungen hervor, welch unendliche Mühe
es kostete, mit der Feuerbachschen Regelung der Schuldformen aus-
zukommen, so war es doch offenbar schwer, eine grundsätzliche
Neuordnung zu schaffen. Gönner vermied es in seinem Entwurf,
den Dolus zu definieren, behielt aber die Vermutung des Vorsatzes
in alter Weise. Beim Kindesmord wurde die Verdachtstrafe zwar
nicht ausgemerzt, aber eingeschränkt und mildernde Umstände vor-
gesehen (a 243 des Entwurfs von 1822). Entwicklungsfähig erwies
sich die gesetzgeberische Ausgestaltung der Schuldformen Feuerbachs
nicht. Ernüchtert und in einer empfindlichen Reaktion auf die Jahr-
zehnte, in denen Feuerbachs dogmaüsche Requisite die Strafrechtspraxis
hemmend und beengend beherrscht hatten, brach man die Entwicklung
schließlich radikal ab. a 1 des Gesetzes vom 29. August 1848 hob
' Archiv des Kriminalrechts. Neue Folge, 1843. S. 522.
' Ebendort S. 529.
» Ebendort S. 534.
* Ebendort S. 524 ff.
214
alle Bestimmungen des Strafgesetzbuchs über Dolus und Culpa auf
und bestimmte statt dessen:
„Ob eine dem Strafgesetze äußerlich zuwiderlaufende Handlung
vorsätzlich begangen worden oder ob dem Täter desfalls Fahrlässigkeit
oder kein Verschulden zur Last fällt, gehört zur Tatfrage und ist
nach den Umständen zu beurteilen."
Das Äbschreckungsprinzip Feuerbachs und seine einseitige Bevor-
zugung des Gedankens der Generalprävention sind auch für das
Strafensystem des Bayerischen Strafgesetzbuchs bestimmend gewesen.
Nicht die Rücksicht auf die Individualität des einzelnen Falles sollte
das Maß der Strafe bestimmen, sondern der Richter hatte durch
Subsumtion unter den bestimmten Tatbestand zu ermitteln, welche
Strafe aus der nach Art und Größe vom Gesetzgeber sorgsam
abgestuften Skala für solche Verbrechen angedroht war. Denn die
wichtigste Wirksamkeit der Strafe sollte in der die sinnliche Triebfeder
abschreckend beeinflussenden gesetzlichen Drohung bestehen. Die
Unbiegsamkeit und Härte der gesetzlichen Strafrahmen trat dabei am
schroffsten in der „terroristischen Mathematik der Rückfall-
Strafen"^ zutage. Jede neue Begehung eines Delikts, wegen dessen
der Täter bereits bestraft war, bewirkte automatisch eine weitere
Erhöhung der gesetzlich angedrohten Strafe (a 1 11 ff.).
An der Spitze des Strafensystems steht die Todesstrafe. In
einem Gesetzbuch der Aufklärungszeit nichts Selbstverständliches.
Feuerbachs Ausführungen über die Todesstrafe- setzen sich keineswegs
mit allen Argumenten der Gegner, die sich um Beccarias Namen
geschart hatten, auseinander, ja, es wird erzählt, er habe schließhch
in dem großen Kulturkampf der Aufklärung um Humanisierung des
Strafrechts auch diese letzte Schranke aufgegeben und sich am Ende
überzeugt, „daß dieTodesstrafe als unrechtmäßiges Strafmittel abzuschaffen
sei"."' Bei der Reform der bayerischen Strafgesetzgebung fürchtete er
einen plötzlichen unvorbereiteten Übergang „von einem System voll
von Todesstrafen, zum Teil qualifizierten Todesstrafen zu einem
' Berner, Strafgesetzgebung in Deutschland S. 91. Die gesetzlichen
Bestimmungen über den Rückfall waren zudem schwerfällig und kompliziert
gefaßt. Die Anmerkungen bemühten .sich vergebens, allgemeine Prinzipien
herauszuarbeiten, wobei sie für den Gedanken, daß die den Rückfall begründende
Straftat mit dem Tatbestand der Vortat identisch sein muß, den Begriff der
„respektiven Identität" prägten.
^ Der Tod ist das größte Übel und die abschreckendste Strafe. Bibl.
für peinliches Recht 2. Bd. Göttingen 1880. S. 244 f. — Kritik des Klein-
schrodischen Entwurfs 2. Teil, S. 163 ff.; S.Teil, S. 164 ff. — Leben und
Wirken Bd. I, S. 232 ff.
' Leben und Wirken I, S. 232, Anm.
215
System ohne alle Todesstrafen, von der höchsten Strenge zu der
höchsten Milde" und die Besorgnis vor einer demoralisierenden
Wirkung einer radikalen Aufhebung aller Todesstrafen bestimmte ihn,
sich „für die Todesstrafe zu erklären und ihre Abschaffung wenigstens
jetzt für das gefährlichste Wagstück zu halten, das an Bayern versucht
werden könnte": Bayern würde „ebenso plötzlich von Verbrechern
überschwemmt werden, als es die Todesstrafe abgeschafft hat"/ Diese
Gedanken sprachen weniger zugunsten der Todesstrafe als gegen ihre
sofortige Abschaffung. Zum Anhänger der Todesstrafe machte ihn
seine Äbschreckungstheorie. Die Drohung mit dem Tode als dem
stärksten sinnlichen Übel schien ihm geeignet, auf den stärksten Trieb
des Menschen, den Selbsterhaltungstrieb zu wirken und darum als
abschreckendste Strafe fähig, den Willen zur Gesetzmäßigkeit zu lenken,
wo keine andere Furcht hinreicht, die verbrecherischen Begierden und
egoistischen Instinkte zu überwinden. Und da nach seiner Theorie
für den Nachweis der Berechtigung einer Strafe die Notwendigkeit
ihrer Androhung genügte, so schien ihm der Staat, wenn der Bürger
der Androhung zuwiderhandelte, nicht weniger berechtigt, in das Leben
einzugreifen, als in Freiheit oder Vermögen. So erklärt es sich, daß
im Bayerischen Strafgesetzbuch von der Todesstrafe ein ausgiebiger
Gebrauch gemacht ist, auch in Fällen, in denen man schon damals
die Todesstrafe zu hart empfand wie bei Kindesmord im Rückfall oder
Raub und Erpressung, wenn der Angegriffene in Lebensgefahr versetzt
war (a 143, 239, 241). Die Praxis der Gnadeninstanz in Bayern
war milder: man rechnete bis 1831 jährlich 3 vollzogene Hinrichtungen,
1843 nahm Arnold" an, daß von 7 Todesurteilen jährlich 1 bis 2
vollzogen wurden.
Theoretisch hat Feuerbach stets daran festgehalten, daß, wenn
überhaupt, dann jeder mit dem Tode bestraft werden müsse, der ihn
verdient hat, d. h. der eine Handlung beging, für die das Gesetz den
Tod als notwendige Folge angedroht hat. Dagegen lehnte er den
Gebrauch der Todesstrafe nach Kleinschrods Vorschlag ab, dessen
Entwurf sie als ein nur ausnahmsweise verhängtes außerordentliches
Mittel zur Aufrechterhaltung der staatlichen Sicherheit gedacht
hatte. ^ Solch staatliches Notwehrrecht könne in normalen Zeiten
niemals gegenüber einem Untertan, den der Staat schon in seine
Gewalt bekommen hat, bestehen. Ein Staat aber, der sich nur
' Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs 3. Teil, S. 171 und 168.
' Archiv des Kriminalrechts. Neue Folge, 1843. S. 363. — Vgl. auch
Arnold, Die Ohnmacht der Todesstrafe. Gerichtssaal Bd. 10. 1858.
S. 455—466.
'' Vgl. oben Kap. IV, S. 160.
216
durch die Hinrichtung vor dem Verbrecher schützen kann, könnte
sich die Mühe einer Kriminalgesetzgebung ganz ersparen.^ Und doch
hat Feuerbach selbst in seinem Gesetzbuch jenen Gedanken einer
außergewöhnlichen Erweiterung staatlicher Machtbefugnisse im Rahmen
des Strafrechts Ausdruck verliehen. Die a 441 ff. des zweiten Teils
enthalten als Mittel erhöhter Sicherung für außergewöhnliche Verhältnisse
die nach österreichischem Muster übernommene Institution des Stand-
rechts." Die Verkündung des Standrechts in Zeiten des Aufruhrs
und der Überhandnähme gemeingefährlicher Verbrechen hat die doppelte
Folge einer Erweiterung des Anwendungsgebiets der Todesstrafe
und eines außerordentlichen, schnellen, summarischen, die Rechts-
garantien des Beschuldigten kürzenden Verfahrens.
Das System der Freiheitsstrafen wird bei Feuerbach von dem
Gefängnis- oder Festungsarrest und der erst von der Kommission
zugefügten Festungsstrafe abgesehen durch drei Strafarten bestimmt:
Kettenstrafe, Zuchthaus und Strafarbeitshaus. Dabei kam es
Feuerbach um seines Generalpräventionszwecks vor allem darauf an,
den mehr oder minder schweren Charakter jeder einzelnen Strafart
in auffallender Weise kenntlich zu machen.
Die Kettenstrafe ist eine Reminiszenz an die alte Festungsbau-
strafe: öffentliche oder schwerste Zuchthausarbeiten auf Lebenszeit.
Ihre Wirkung ist der bürgerliche Tod. Sie bedeutet darum nicht minder
wie die eigentliche Todesstrafe eine völlige Vernichtung der Existenz
des Bestraften, ein unwiederbringliches Abschneiden jeder Möglichkeit
für den Sträfling, an sich zu arbeiten und sich irgendwie emporzuringen.^
In einem schon 1801 geschriebenen Gutachten, für das Feuerbach
selbst nicht Worte des Rühmens genug fand,* hatte der preußische
Staatsminister v. Arnim Freiheitsstrafen, die vom Gesetz unabhängig
von dem Verhalten und der Entwicklung des Bestraften auf volle
Lebensdauer bestimmt waren, für noch verwerflicher als Todesstrafe
erklärt. Denn man läßt den Verbrecher leben, d. h. „bloß dem Körper
nach" und versündigt sich an seiner moralischen Natur, indem ihm
jede Hoffnung, „das höchste Gut eines jeden moralischen Wesens"
' Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs 2. Teil, S. 168 f.
- Vgl. Leben und Wirken I, S. 214 f.
'■' Charakteristisch ist, daß im Bayerischen Strafgesetzbuch die — ab-
lehnend beantwortete — Frage überhaupt aufgeworfen werden konnte,
ob ein Mord an einem Kettensträfling straflos ist. — Vgl. P. Kammerer,
Prüfung des Entwurfs zu einem neuen Strafgesetzbuch in Hinsicht der
Verbrechen... durch Angriff auf Ehre, München 1823, S. 73, und Arnold,
in: Archiv des Kriminalrechts. Neue Folge, 1844. S. 209.
* Kritik dss Kleinschrodischen Entwurfs 3. Teil, S. 173, Änm.
217
genommen und er so, stumpfer Gleichgültigkeit überlassen, „zu aller
Ausbildung und Besserung unfähig gemacht wird"/ So mußten schon
die Zeitgenossen die lebenslängliche Kettenstrafe mit dem bürgerlichen
Tod als empörende Härte empfinden." Feuerbach fühlte selbst die
Verpflichtung, die Aufnahme eines solch drakonischen Strafmittels
besonders zu rechtfertigen.^ Dabei vermochte er nur den einen Gedanken
zu ihrer Rechtfertigung anzuführen: „sie ist bloß abschreckend".*
„Man kann nicht erwarten," so fährt Feuerbach fort, und man glaubt,
anstatt einer Apologie dieser Äbschreckungsstrafe eine leidenschaftliche
Polemik gegen sie zu lesen, „daß ein Mensch, der mit der Schande
des Verbrechens bedeckt vor den Äugen des Publikums Sklavenketten
geschleppt hat, dessen Gefühl eben durch die Publizität seiner schmach-
vollen, schimpflichen Erniedrigung notwendig abgestumpft worden ist,
jemals wieder sich zum Bessern aufrichten und als nützlicher Bürger
in den Schoß der Gesellschaft zurückkehren werde." Diese Wirkungen
der Kettenstrafe waren um so verhängnisvoller, als im Fall eines
Justizirrtums die Irreparabilität der Kettenstrafe jede Rehabilitation
ausschloß. Feuerbach selbst hat diesen Zustand, auf den auch Oersted
hinwies,^ in anderm Zusammenhang mit erschütternden Worten
geschildert. „Aus dem bürgerlichen Tod gibt es so wenig ein Wieder-
aufstehen zum bürgerlichen Dasein als ein Mittel der Wiederbelebung
für den Enthaupteten. Soll der bei Leibes Leben Beerbte sein Ver-
mögen von seinen Erben wieder zurückfordern, oder, wenn jenes
vielleicht schon längst unter hundert Händen sich zerstreute, aus allen
Ecken wieder zusammenlesen dürfen? Und die Gattin, deren Ehe
durch den bürgerlichen Tod ihres Gatten von Rechts wegen aufgelöst
war, kann sie der aus dem bürgerlichen Tode erstandene Kettensträfling
lÄHcder zurückfordern, während sie unterdessen in zweiter, rechtmäßiger
Ehe lebt? Mit einem Worte: der Tod, gleichviel ob bürgerlicher oder
leiblicher, ist — Tod."'' Allein der Abschreckungsgedanke
vermag die Aufnahme eines solchen Strafmittels zu erklären. Feuerbach
ging von dem Bestreben aus, zur Gegenwirkung gegen die verschiedenen
verbrecherischen Neigungen ein entsprechendes System gleichmäßig
abgestufter Strafübel anzudrohen und da schien ihm, trotzdem er die
' Bruchstücke über Verbrechen und Strafen. Anonym erschienen.
Frankfurt und Leipzig 1803. S. 138 L
* Neues Archiv des Kriminalrechts Bd. II, S. 59.
' Leben und Wirken I, S. 252.
' Kritik des Kleinschrodischcn Entwurfs 2. Teil, S. 187.
' Oersted, Ausführliche Prüfung des neuen Entwurfs zu einem Straf-
gesetzbuch für das Königreich Bayern. Kopenhagen 1823. S. 80.
'' Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrecher 3. Aufl., S. 356.
218
furchtbare Wirkung ihres Vollzugs erkannte, die Rndrohung der Ketten-
strale notwendig, da — so lautet wörtlich seine Begründung — „von
dem physischen Tod zu der bloß zeitlichen Freiheitsstrafe
ein zu großer Absprung sein würde". ^ Wie so mancher
Institution, zu der ihn die Konsequenz seiner Strafrechtstheorie führte,
soll Feuerbach auch dieser seiner Schöpfung untreu geworden sein
und die Kettenstrafe „später mündlich getadelt" haben."
Der zum Zuchthaus Verurteilte wird zu Arbeiten innerhalb der
Strafanstalt angehalten, ist ständig gefesselt und während seiner Strafzeit
unfähig zu jeder rechtlich wirksamen Verfügung über das Seine (a 10).
Bei der Zuchthausstrafe findet sich die Bestimmung, der Sträfling könne
nach Ablauf einer Reihe von Jahren, wenn er ausgezeichnete Arbeitsam-
keit bewiesen und unverwerfliche Proben gebesserter Gemütsart
abgelegt hat, gnadenweise entlassen werden. Dabei ist die Verurteilung
entweder durch den gesetzlichen Strafrahmen auf eine bestimmte Zeit
— nicht über 20 Jahre — begrenzt oder ohne bestimmte Grenze.
In diesen vom Gesetz ausdrücklich festgelegten Fällen ist die Mindest-
dauer der Straf haft 1 6 Jahre, die Höchstdauer, falls die Voraussetzungen
der Begnadigung niemals eintreten, lebenslänglich (a II f.). So kennt
schon das Feuerbachsche Strafgesetzbuch die Verurteilung auf
unbestimmte Zeit.^
Der Gedanke einer Internierung des Rechtsbrechers auf unbestimmte
Zeit war dem gemeinen Recht nicht fremd. Als besondere kriminal-
politische Maßnahme, als Sicherungsverwahrung gemeingefährlicher
Elemente hat sich Klein für die unbestimmte Verurteilung eingesetzt.*
' Leben und Wirken I, S. 252.
- Arnold, in: Archiv des Kriminalrcchts. Meue Fol^'e, 1843. S. 266.
•' Auch Octker, Rechtsgüterschutz und Strafe, Z. Str. W. 17, S. 577,
sieht in diesen Bestimmungen des Bayerischen Strafgesetzbuclis von 1813
eine „unbestimmte Verurteilung", während Binding, Grundriß des
deutschen Strafrechts, AUg. Teil, 7. Aufl., 1907, S. 237, meint, das , Zuchthaus
auf unbestimmte Zeit" sei in Wahrheit eine „lebenslängliche Freiheits-
strafe". — a 18 des Feuerbachschen Entwurfs von 1810 hatte den Gedanken
so gefaßt: Diese Verurteilung schließt „zwar die lebenswierige Dauer der
Strafe mit in sich, doch bleibt dem Verurteilten die Hoffnung..." auf
Begnadigung usw. Das Gesetz gab diesen Wortlaut auf, um zum Ausdruck
zu bringen, daß die für die Begnadigung notwendige Besscrungsfrist mit
jedem Tag beginnen könne und die Strafe daher von Rechts wegen
niemals bis zum Lebensende zuerkannt werde. Anmerkung zum
Bayerischen Strafgesetzbuch Bd. I, S. 90 f. Diese Überlegung rechtfertigt
die Bezeichnung Unbestimmte Verurteilung. — Vgl. Freudenthal, Unbe-
stimmte Verurteilung. Vergleichende Darstellung des deutschen und aus-
ländischen Strafrechts. Allgemeiner Teil. Bd. III, S. 250, Anm. 1.
* V. Liszts Hallenser Rektoratsrede 1894: E. F. Klein u. die unbestimmte
Verurteilung. Aufs. u. Vortr. Bd .II, S. 133 ff. — Auf eine Beschränkung der
219
Eine engere Beziehung zur Strafe im eigentlichen Sinn brachte die
Preußische Verordnung vom 26. Febr. 1799, nach der gegen denjenigen,
der bereits zweimal wegen Diebstahls vorbestraft ist, neben verschärfter
körperlicher Züchtigung „auf Einsperrung in eine Besserungsanstalt"
auf so lange erkannt werden soll, „bis die Vorgesetzten dieser Anstalt
sich überzeugt haben, daß der Verbrecher durch die erlittene Strafe
wirklich gebessert worden, daß er imstande sei, sich auf eine redliche
Art zu ernähren und daß durch dessen Freilassung der öffentlichen
Sicherheit nicht geschadet werde ".^ Bei dem völligen Mangel rationeller
Vollzugseinrichtungen und geschulten Personals hatte diese Verordnung
freilich nur geringe Bedeutung und eine kurze Geltungsdauer. Im
Feuerbachschen Strafgesetzbuch liegt der Wert der unbestimmten Ver-
urteilung gerade in ihrer Anwendung auf die eigentliche Kriminalstrafe.
Hat doch hiermit das Gesetz beim Zuchthaus im Gegensatz zur Ketten-
strafe eine Grundbedingung für einen individuell wirkungsvollen Straf-
vollzug geschaffen. Indem das Gesetz den Bestraften an der Gestaltung
seines Geschickes selbst teilnehmen läßt, ermöglicht es an Stelle starrer
Vergeltung, an Stelle einer Brechung und Äuslöschung der Persönlichkeit
des Verbrechers eine Weckung seiner Selbstverantwortung, einen Antrieb
zur Selbstbeherrschung und zur Gewöhnung an ein regelmäßiges und
arbeitsames Leben, um hiermit zugleich sich die Freiheit zu erarbeiten
und sich für die Freiheit fähig zu machen. Die Verfasser des Gesetzes
mögen sich dieser tieferen Bedeutung ihrer Schöpfung nicht bewußt
gewesen sein, ließ doch Feuerbachs Strafrechtstheorie für den Gedanken
eines individuell wirkungsvollen Strafvollzugs keinen Raum.' In der
zeitgenössischen Literatur fand das „Zuchthaus auf unbestimmte Zeit"
wenig Widerhall,'' und Gönners Entwurf, der eine unbestimmte Zwangs-
arbeit, bis der Sträfling „befriedigende Proben der Besserung gegeben
hat", als Rückfallstrafe bei Übertretungen vorschlug,^ wollte beim
unbestimmten Detenlion auf reine Sicherungsmaßnahmen wird von den
heutigen „Klassikern" entscheidendes Gewicht gelegt. Vgl. Joh. N agier,
Verbrechensprophylaxe und Strairccht {Kritische Beiträge XIV), Leipzig
1911, S. 250 f., und Oetker, Gerichtssaal 73, S. 435 ff., Anm. 2.
' Vgl. hierzu Klein, Archiv des Kriminalrcchts Bd. 11, Nr. I. Halle
1800. s. 32 n.
- Vgl. dagegen Fuhr, Strafrechtspflege und Sozialpolitik, S. 243, der
im „Zuchthaus auf unbestimmte Zeit" eine individualisierende Berücksichti-
gung der „sinnlichen Persönlichkeit des Verbrechers" sieht, zu der nach
seiner Ansicht im Gegensatz zu dem schroffen System abschreckender
Vergeltung im Code pönal gerade Feuerbachs Theorie vom psychologischen
Zwang führen mußte.
' Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht 1, S. 583, spricht
geradezu von einem „Überrest der Strafen des vorigen Jahrhunderts"!
■* Entwurf des Strafgesetzbuchs. München 1822. 11. Teil, a 47.
220
Zuchthaus die „dem Wort und der Tat nach unbestimmte Zeit" streichen/
Und doch ist jene Bestimmung des Feuerbachschen Gesetzes von großer
Bedeutung geworden, denn sie fand einen Mann, der ihren Wert erkannte
und ausnutzte: Obermaie r. Obermaier, ein Mann von ungewöhnlichen
pädagogischen Fähigkeiten, war als Stratanstaltsleiter in Kaiserslautern
und München eine der markantesten Erscheinungen in der Geschichte
des deutschen Strafvollzugs. Mit größtem Erfolg hat er die unbestimmt
begrenzte Internierung im Zuchthaus zu einem erzieherisch vertieften
Strafvollzug ausgestaltet. Seine Gedanken, die er mit bezwingender
Wärme vorzutragen wußte, sind in vielem noch heute vorbildlich.
Wenn gleichwohl in Deutschland sein Werk ebensowenig wie jene
gesetzliche Institution Nachahmung fand, so lag das an dem über-
triebenen Mißtrauen der Anhänger rationalistischer Strafvollzugs-
„ Systeme" gegen einen ganz auf die Persönlichkeit des Anstalts-
leiters abgestellten individuellen Strafvollzug. Wohl aber haben
Obermaiers Erfolge über die Grenzen Deutschlands hinaus F. C. Wines,
der in Amerika aufs neue für den Erziehungsgedanken im Strafvollzug
und die unbestimmte Verurteilung eintrat, nachhaltig beeinflußt. So
spinnen sich hier, wo Feuerbach seinem theoretischen Dogma einen
wertvollen Gedanken praktischer individualisierender strafrechtlicher
Behandlung abgerungen hat, die Fäden zu jenen modernen amerika-
nischen kriminalpolitischen Bestrebungen, aus denen das Strafrecht
des Kontinents in unsern Tagen wertvolle Anregungen geschöpft hat."
Leider steht dieser moderne Gedanke im Feuerbachschen Strafen-
system vereinzelt da. So fehlt den Bestimmungen über die dritte
Form der Freiheitsstrafe, das unserm Gefängnis entsprechende Straf-
arbeitshaus, in dem die Gefangenen ohne Fesselung und ohne
Beeinträchtigung ihrer Ehrenrechte zu Arbeit innerhalb der Anstalt
angehalten wurden, abgesehen von einer entsprechenden Anwendung
' Ebendort Vorrede pag. XIII.
- Näheres über diese Entwicklung bei Freudenthal, Verglexhende
Darstellung..., ÄUg. Teil, Bd. III, S. 251 ff., und HoltzendorH- Kohlers
Enzyklopädie VII. Aufl., 1914, Bd. V, S. 97 ff. - Obermaier hatte auf
Grund seiner Erfahrungen in Kaiserslautern 1835 eine Anleitung zur voll-
kommenen Besserung der Verbrecher in den Strafanstalten erscheinen
lassen. Seit 1842 war er Vorstand am Zuchthaus in München -Au. Über
sein Wirken: Arnold, Die körperliche Züchtigung und das Zuchthaus zu
München, Archiv des Kriminalrechts, Neue Folge, 1844, S. 438 ff., sowie
Verhandlungen der ersten Versammlung für Gefängnisreform im
September 1846 in Frankfurt a. M. Frankfurt a. M. 1847. Insbesondere
S. 123 ff. — Neuerdings G. Stamm, Obermaier und seine für die Gefängnis-
reform grundlegende Anleitung zur vollkommenen Besserung der Verbrecher
von 1835. In: AschaHenburgs Monatsschrift XI, S. 34 ff.
221
der Vorschriften über vorzeitige Entlassung aus dem Zuchthaus, jedes
Eingehen auf die Erzielung zweckmäßiger und wirksamer Methoden
des Strafvollzugs. Stand doch Feuerbach diesen Dingen im Grunde
fremd gegenüber. Er kannte und rühmte zwar die Schriften Howards
und des Hallenser Predigers Wagnitz, trat selbst für Modernisierung
und Verbesserung der bayerischen Gefängnisse ein, „ohne welche die
beste Gesetzgebung wie leerer Schall in der Luft verfliegt"' und
erkannte an, daß in der Gefängnisstrafe vorzugsweise die Nebenzwecke
der Besserung des Verbrechers durch Gewöhnung an Arbeit und
durch Erweckung eigenen Nachdenkens zur Geltung kommen sollten."
Doch das waren für Feuerbach im Grunde Dinge von sekundärer
Bedeutung. Eher stand noch Grolman von seiner die Individualität
des einzelnen Verbrechers berücksichtigenden Spezialpräventionstheorie
aus zu diesen Fragen in näherem Verhältnis, und er erkannte sofort
die tiefe Bedeutung jener Bestrebungen, durch Humanisierung und
Rationalisierung des Gefängnisses und durch stärkere Berücksichtigung
des Erziehungsgedankens eine bessernde Wirkung des Strafvollzugs
zu ermöglichen, auf die er bei den damals bekanntwerdenden Nach-
richten über das Gefängnis in Philadelphia mit wärmstem Eifer hinwies.^
In den 20er und 30 er Jahren des 19. Jahrhunderts erwuchs aus
solchen Bestrebungen eine einheitliche Bewegung, in der die Forderung
einer allgemeinen „hygienischen und moralischen Sanierung des Straf-
vollzugs" sich mehr und mehr auf das Dogma eines bestimmten
Prinzips, des Pönitentiarsystems, verdichtete. Einzelhaft, rationelle
Arbeit, Erziehung und Selbstbeherrschung und in allem die Wirksamkeit
religiöser Einflüsse waren die Forderungen der Reformfreunde, die in
gläubiger Zuversicht an dem System der Einzelhaft als absolutem
Heilmittel gegen alle Schäden der Kriminalität hingen und durch ihr
Wirken die Entwicklung des modernen deutschen Strafvollzugs ent-
scheidend beeinflußt haben.* Wenn auch bei den Anhängern der
Einzelhaft in Deutschland die Vorliebe für das Vergeltungsprinzip und
die Berücksichtigung des eigentlichen pönalen Elements der „einsamen
Einsperrung" den Erziehungszweck zurücktreten ließen, so bleibt es
die bleibende Bedeutung dieser Bewegung, einen nachhaltigen äußeren
Läuterungsprozeß des Gefängniswesens angebahnt und darüber hinaus
die Verantwortlichkeit für den Strafvollzug vertieft zu haben. Natur-
gemäß mußte diese Richtung allmählich auch die theoretischen, zum Teil
' Leben und Wirken Bd. I, S. 140.
* Kritik des Klcinschrodischcn Entwurfs Bd. 2, S. 209 f.
* Bibliothek für peinliches Recht I.Teil, 1. St., S. 346 f.
'' Zu dieser Entwicklung: Kriegsmann, Einlührung in die Gcfängnis-
kundc. 1912. S. 58 ff.
222
deduktiv gewonnenen Grundlagen der Lehren vom Wesen und der
Zurechnung der Strafe beeinflussen, während umgekehrt Feuerbach,
der der Wirkung des Strafvollzugs nur eine sekundäre Bedeutung
neben der gesetzlichen Drohung zugestand, der tieferen Bedeutung der
Anfänge jener Entwicklung fremd blieb. Um so interessanter ist, daß
er unter einem anderen Gesichtspunkt dem Gefängnisreformgedanken
wissenschaftliche Anregungen entnahm. Im Jahre 1817 wurde in dem
oberfränkischen Schloß Plassenburg eine Strafanstalt gegründet, in
der man jene unter dem Namen Äuburnsches System bekannte Ab-
wandlung der Einzelhaft einführte, bei der die Isolierung der Gefangenen
durch eine geistige Absonderung ersetzt wurde: für alle Insassen galt
ein durch strenge Disziplinarmittel erzwungenes Schweigegebot.
Hier interessierten Feuerbach die psychologischen Wirkungen dieses
Schweigens, die ewige Gleichförmigkeit eng begrenzter, von wortloser,
ununterbrochener Arbeit erfüllter Lebensweise, die „überall lauernde
Aufsicht", und bei allem jener „furchtbare Bann, welcher die Zungen
fesselte und den Mund verschloß". Immer wieder drängten sich die
Insassen zu freiwilligen Geständnissen längst vergessener und, noch
öfter, nie begangener schwerer Verbrechen, um aus dem unerträglichen
Druck herauszukommen. So ward „dieser Ort des Schweigens zu
einer Stätte der Bekenntnisse". Die Beurteilung dieser Geständ-
nisse erregte Feuerbachs psychologisches Interesse. Die geschickte
Taktik der Inquisiten, welche die Prozesse endlos zu verlängern wußten,
bis sich ihre Geständnisse als Erfindungen erwiesen, die kritische
Prüfung der Aussagen, aus denen alles ausgeschieden werden mußte,
was ihnen lediglich die Hoffnung, dem unerträglichen Druck der
schweigsamen Plassenburg zu entgehen, eingegeben hatte, das Schicksal
jener unglücklichen Gestalten selbst waren Fragen, welche Feuerbach
zum Ausgangspunkt kriminalpsychologischer Studien und Schilderungen
machte. Mochte die Plassenburg sich auch anfänglich günstiger Erfolge
rühmen und auf die geringen Rückfallziffern ihrer ehemaligen Insassen
hinweisen, Feuerbach stand dem System skeptisch gegenüber und hatte
für die allgemeine Bedeutung neuer Haftsysteme wenig Interesse.^
Feuerbachs gesetzgeberische Tätigkeit und die Ausgestaltung seines
Strafensystems werden beherrscht von dem Gegensatz zwischen dem
' Feuerbach, Äktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen
III. Aufl., S. 468 ff., insbesondere S. 474. — Über das /\uburnsche System:
K r i e g s m a n n, a. a. O. S. 33 f. — Feuerbachs Schilderungen jener Gefangenen
haben Jacob Wassermann, der in seinem Kaspar-Hauser-Roman zu eineni
Interpreten Fcuerbachscher Kriminalpsychologie wurde, offenbar angeregt,
die Psychologie dieses Schweigens in einer kleinen Skizze literarisch zu ver-
werten: Die Gefangenen auf der Plassenburg. Die Weltliteratur Nr. 11, 1921.
223
Rechtsstaatsprinzip der Aufklärung, die Grenze der staatlichen Macht
gegenüber der freien Sphäre der einzelnen Persönlichkeit fest abzustecken,
und den Konsequenzen seiner Äbschreckungstheorie. Ganz besonders
zeigt sich dieser Widerspruch in Feuerbachs Stellung zu den Ehren-
strafen. Der Gedanke, die Vorstellung der Strafe müsse abschreckend
wirken, ließ ihn ein System von Freiheitsstrafen befürworten, in dem
gerade der bei der einzelnen Strafart verschieden ausgestaltete Grad
der Beeinträchtigung der bürgerlichen Ehre den Charakter der
nach verschiedener Schwere abgestuften Ketten-, Zuchthaus- und
Strafarbeitshausstrafe bildeten und bei dem die einzelnen Strafen durch
besonders entehrende Behandlung: Pranger, öffentliche Aus-
stellung, körperliche Züchtigung verschärft werden konnten. Auf der
anderen Seite blieb das Bayerische Strafgesetzbuch in wesentlichen Punk-
ten hinter Feuerbachs Forderung auf Abschaffung entehrender
Strafen zurück. Die ausdrückliche Erklärung im Feuerbachschen
Entwurf, daß Ehrlosigkeit als Haupt- oder Nebenstrafe unzulässig sei
(a 32 des Entwurfs von 1810), erhielt im Gesetz eine erheblich
abgeschwächte Formulierung (a 24), und die offiziellen Anmerkungen
sabotieren den Gedanken geradezu mit der Erklärung, man wolle durch
diese Bestimmung, welche „nur die juristischen, nicht aber die
moralischen oder physischen unvermeidlichen Folgen der strafbaren
Handlung zum Gegenstand hat", keineswegs „der öffentlichen Meinung
und dem Zartgefühle guter Bürger hierdurch zu nahe treten"^ oder
etwa — so heißt es an anderer Stelle — „Ächtung, Zutrauen und
Annäherung für Menschen erzwingen, welche durch eine schändliche
Handlung sich der Ächtung und des Zutrauens guter Bürger unwürdig
gemacht haben"." Hier wird, wie Feuerbach entrüstet nachwies, die
Infamie zwar „von dem Gesetzbuch ausgeschlossen, aber in dem Leben
zugelassen." Keine Korporation, keine Zunft wird, wenn eine solche
Interpretation zur Geltung gelangt, einen entlassenen Sträfling aufnehmen,
und so der Gedanke des Gesetzgebers illusorisch werden, daß der
Verbrecher nach überstandener Strafe gerade dadurch, daß er nicht
vom freien Verkehr der Menschen ausgeschlossen bleibt, in den Stand
gesetzt werden soll, „nicht nur im Bewußtsein wiedererlangler Ehre
sich zu bessern, sondern auch sich redlich sein Fortkommen zu
verschaffen"."^ Die infamierende Wirkung der Strafe wurde ferner
dadurch besonders betont, daß das Bayerische Strafgesetzbuch nach
dem französischen Vorbild die Gerichte ermächtigte, „nach Erwägung
besonderer Umstände" anstatt auf die normale Freiheitsstrafe, auf die
' Anmerkungen zum Strafgesetzbuch Bd. I, S. 106.
* Ebendort S. 41.
'■' Leben und Wirken Bd. I, S. 247 l
224
privilegierende Festungsstrafe zu erkennen (a 19). Denn wurden
die einen durch diese bevorzugte Behandlung aus dem Niveau gewöhn-
licher Verbrecher herausgehoben, so wurde für die anderen die Ver-
urteilung zur ordentlichen Freiheitsstrafe hierdurch zu einer Deklassierung,
welche dem Bestraften den dauernden Makel unehrenhafter Qualifikation
aufprägte. Die Festungsstrafe war gegen Feuerbachs Willen von der
Kommission in das Gesetz eingefügt worden, und er hat es an dem
Fall des Frauenmörders Pfarrer Riembauer, „Tartuffe als Mörder",
erleben müssen, wie in der Festungsstrafe die privilegierende Standes-
strafe des ancien regime aufs neue Geltung fand.^ In der Folgezeit
drängte die Praxis auf eine gesetzliche Formulierung der Voraus-
setzungen für die Verurteilung zur Festungsstrafe," während die
Gesetzgebungsarbeiten an der Fiktion festzuhalten suchten, es handele
sich nur um eine besondere Vollzugsart der im übrigen gleichen
Strafen, um die Verschärfung zu paralysieren, die für den Gebildeten in
der gemeinsamen Haft mit gemeinen Verbrechern niederer Kreise liegt.^
Schließlich fehlt auch die Prügelstrafe, jenes unentbehrliche
Requisit einer Strafjustiz, welche die Persönlichkeit im Verbrecher
mißachten zu müssen glaubt, weder im Gesetzbuch noch im Entwurf
Feuerbachs von 1810, wiewohl Feuerbach angeblich sich für ihre
Abschaffung eingesetzt haben soll.^ Gönners Entwurf kannte keine
körperliche Züchtigung mehr. Bei den Kammerberatungen der Justiz-
reform der 30er Jahre befaßte man sich eingehend mit dieser Strafe. Sie
erscheine zwar, meinte damals der Berichterstatter, für gewisse Menschen
und gewisse Übertretungen als die zweckmäßigste Strafe, könne aber,
da sie „das Ehrgefühl mächtig verletze", niemals als allgemeine, auch
gegenüber Standespersonen anwendbare, Strafe in Frage kommen,
während eine Beschränkung „auf gewisse Subjekte" verfassungswidrig
sei. Überhaupt sei „mit unserer auf bürgerliche Ehre gegründeten
Staatsverfassung ein die Menschheit unleugbar erniedrigendes Strafmittel
' Äktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen III. Aufl., S. 324.
-' Bericht des Oberappellationsgerichts an das königl. Staatsministcrium
in Gönners u. Schmidtleins Jahrbüchern der Gesetzgebung u. Rechts-
pflege in Bayern III. Bd., S. 146 f.
' Anmerkungen zum Strafgesetzbuch Bd. I, S. 101 ff. — v. Gönners
Entwurf 1822, a 27. Die weitere Entwicklung bei So n tag, Die Festungs-
haft. 1872. S. 49 if.
* Geyer, Kleine Schriften strafrechtlichen Inhalts. München 1889.
S. 569. Ohne Quellenangabe. — In der Kritik des Kleinschrodischen
Entwurfs empfahl Feuerbach Rutenschläge und bemühte sich ängstlich
zu verhindern, daß beim Vollzug der für die Bestimmung der Zahl der
Tracht Prügel zuständige „Wundarzt" gewissermaßen zum Gesetzgeber und
Richter werde. (Kritik des Kleinschrodis-chen Entwurfs II. Teil, S. 220 f.)
225
nicht wohl vereinbar".^ Doch brachten auch hier erst die Stürme
der 48er Zeit endgültigen Wandel: eine Novelle vom 12. Mai 1848
hob mit einigen anderen Bestimmungen des Feuerbachschen Straf-
gesetzbuchs auch die Prügelstrafe in Bayern auf.
In diesen Fragen ist die gesetzgeberische Tätigkeit Feuerbachs ein
Zeugnis dafür, wie trotz der Einsicht in die Verwerflichkeit aller Strafen,
die an die Ehre gehen, der Gedanke der Generalprävention —
vollends in der Form des Äbschreckungsprinzips — mit anderen
terroristischen Methoden auch infamierende Strafen anzuwenden geneigt
ist. Ähnliches läßt sich immer wieder beobachten. So hat Thyren
vom Standpunkt der Spezialprävention aus keine Rechtfertigung für
eine privilegierende Behandlung von Verbrechen „aus altruistischen
Motiven" finden können, gleichwohl aber in den Schwedischen Vor-
entwurf von 1918 aus Gründen der Generalprävention eine Custodia
honesta aufgenommen.^ Auf diese Weise erklärt es sich, daß der
verhängnisvolle Gegensatz von entehrenden und nichtentehrenden Strafen
in traditioneller Weise Eingang in das geltende Recht und die neueren
Entwürfe gefunden hat."^ Zugleich wird verständlich, daß eine endgültige
Ablehnung solcher Methoden nur erfolgen konnte von einer Strafrechts-
auffassung aus, die ihre wesentliche Aufgabe in ihrer Wirksamkeit
gegenüber dem einzelnen Verbrecher sah. War schon Grolmans
Präventions- und Besserungsstrafrecht vorsichtiger und schonender gegen-
über der Ehre des Bestraften als Feuerbachs Äbschreckungssystem, so
zeigte sich vor allem auf diesem Gebiet, wie das Pönitentiarsystem
die Anschauungen über Wesen und Aufgabe der Strafe zu modernisieren
geeignet war. Wie einer jener Reformfreunde, der hessische Hof-
gerichtsrat Friedrich Noellner, in einer kleinen Schrift nachwies, mußte
diese Bewegung, die, anstatt die Persönlichkeit des Verbrechers zu
vernichten und zu zermürben, ihn aufzurichten und durch Erziehung
und rationelle Arbeit seinen inneren Wert zu erhöhen strebte, die
unbedingte Respektierung der sittlichen und Ehrensphäre des Verbrechers
in der Strafrechtspflege fordern. Darin lag mit der Abweisung aller
infamierenden und inhumanen Behandlungsarten zugleich ein wirksames
Argument für die Einzelhaft, indem durch dieses Haftsystem der
entehrende Zug der Freiheitsstrafe ausgeschaltet wird, der nach der
Meinung jener Reformer gerade darauf beruhte, daß in den bisherigen
Gefängnissen jeder Verurteilte mit dem Haufen gemeiner Verbrecher
' Mussinan, Bayerns Gesetzgebung. 1835. S. 336.
* Vgl. Joh. C. W. Thyrfen, Prinzipien einer Strafgesetzreform I. Berlin-
Lund 1910. S. 130 f.
" Vgl. über diese Entwicklung: E. Guckenheimer, Der Begriff der
ehrlosen Gesinnung im Strafrecht. Hamb. Schriften Heft I. Hamburg 1921.
15
226
zusammen unter einem Dach eingesperrt wurde. Damit entfiel aber das
Bedürfnis zu jeder privilegierenden Surrogatstrafe ebenso wie die Not-
wendigkeit, innerhalb der Freiheitsstrafen anders als nach der zeitlichen
Dauer zu differenzieren. Ein Gedankengang, von dem aus Noellner
jede Art von Ehrenstrafen als widerrechtlich, der Kriminalpolitik
und nicht minder der Humanität widerstreitend bekämpfte.^
Feuerbachs Strafgesetzbuch von 1813, ein großes Werk, ein kühner
Wurf gesetzgeberischer Kunst — und doch behaftet mit unverkennbaren
Mängeln! In der Zurechnungslehre und der Ausgestaltung des Strafen-
systems vor allem zeigten sich die im Gesetz getroffenen Lösungen
wenig entwicklungsfähig. Die starre und unbeugsame Härte des
Abschreckungsprinzips machte sich überall da hemmend fühlbar, wo
die Aufgaben einer wirkungsvollen, neuzeitlichen Strafrechtspflege ein
Eingehen auf spezielle Eigenarten des Verbrechers verlangten. Das ist
das Verhängnisvolle an dem Werdegang Feuerbachs: in jungen Jahren
von der Philosophie herkommend, hatten sich ihm die Prinzipien von
Schuld und Strafe zu einem geschlossenen System deduktiv gewonnener
Begriffe und Leitsätze gestaltet. Nun, wo es galt, ihre legislative Brauch-
barkeit zu erproben, fehlte ihm selbst die Biegsamkeit und Leichtigkeit
den eigenen Dogmen gegenüber. Sie blieben ihm in der alten Form
theoretisch wohlfundierte Resultate, aber zu einer Weiterentwicklung
seiner Lehren unter dem Einfluß praktischer Bedürfnisse haben ihn
die neuen Aufgaben nicht geführt. So mußte er später selbst —
schmerzlich genug — immer mehr von den alten Positionen aufgeben,
ohne daß er eine organische Umbildung oder einen systematischen
Neubau seiner strafrechtlichen Lehren auch nur versucht hätte."
Indessen besteht bei solcher Betrachtung die Gefahr, daß man Feuer-
bach und sein Werk allzusehr vom Standpunkt der ihm nachfolgenden
Entwicklung aus und mit modernen strafrechtlichen Anschauungen beurteilt.
Hat er doch sicherlich „den Besten seiner Zeit genug getan" mit seinem
Gesetzbuch, das nach dem Urteil der Zeitgenossen „die allgemeine
Stimme von Deutschland" zu den „ersten und gelungensten des
Jahrhunderts" zählte.^ Diesen Ruhm verdankt es nicht zuletzt seinen
formalen Vorzügen. Sind doch in ihm die Methoden des begrifflich-
abstrakten Rationalismus zu einem solchen Höchstmaß gesetzgeberischer
Technik gesteigert, daß uns auch heute noch aus seinen Artikeln die
Gesetzessprache des modernen Rechtsstaates entgegenklingt.
' Friedr. Noellner, Das Verhältnis der Strafgesetzgebung zur Ehre
der Staatsbürger. Frankfurt a. M. 1846.
'^ Vgl. Baumgarten, Gerichtssaal Bd. 81, S. 132,
^ G. W. Böhmer, Handbuch der Literatur des Kriminalrcchts.
Göttingen 1816, S. 120,
227
Sechstes Kapitel
Feuerbach als Kriminalpsychologe.
Die politisch bewegten Zeiten der Freiheitskriege brachten in
Feuerbachs Leben eine neue Wendung. In jenen Tagen des Über-
gangs zwischen Rheinbundpolitik und dem Anschluß an die Sieger
von Leipzig, zwischen partikularistischen Ansprüchen und national-
deutschen Forderungen, zwischen Liberalismus und Restauration war
es nicht ungefährlich, an exponierter Stelle im Staatsleben zu stehen
und voll Temperaments die Dinge mitzuerleben und den Drang in
sich zu fühlen, auf die Geister zu wirken, wie Änselm v. Feuerbach.
Hatte er jahrelang allen Intrigen und Anfeindungen zum Trotz wenig-
stens sein großes Gesetzgebungswerk zum Abschluß bringen können,
so war nunmehr sein Sturz unvermeidlich geworden. Sein rücksichts-
loses Eintreten für national-deutsche und liberale Forderungen berührte
empfindliche Stellen der ängstlich lavierenden bayerischen Politik.
Missen wir heute ein solch leidenschaftliches Sicheinsetzen für die
Aufgaben der großen Stunde deutscher Geschichte ungern an den
Männern jener Zeit vor 100 Jahren, die Gegenwart hat ihm das wie
vielen nicht gelohnt. Was ihm innerstes Bedürfnis und zugleich
ernste Pflicht war, kostete ihn sein Ämt.^ 1814 geht er als zweiter
Hppellationsgerichtspräsident nach Bamberg. Schmerzlich empfindet
er Verbannung und Zurücksetzung. Pläne, zur Universität zurück-
zukehren, nach Preußen überzusiedeln, beschäftigen ihn. Schließlich
kommt er 1817 als Präsident des Rppellationsgerichts für den Retzat-
kreis nach Ansbach.
Auch hier, unter den enger begrenzten Pflichten beruflicher
Alltagsarbeit bewahrte er sich noch Freiheit des Geistes zu wissen-
schaftlichem Schaffen. Freilich, wie anders stand er nunmehr zu den
Dingen, als der junge Rechtsphilosoph, der vom Naturrecht herkam
' Vgl. die 1833 als Änselm v. Feuerbachs Kleine Schriften vermischten
Inhalts erneut veröffentlichten Abhandlungen: Über die Unterdrückung und
Wiederbefreiung Europens (1813); Die Weltherrschaft, das Grab der Mensch-
heit (1814); Über teutsche Freiheit und Vertretung teutschcr Völker durch
Landstände (1814). — Zusammenfassend über Feuerbachs politische Tätig-
keit: Jos. Breuer, Die politische Gesinnung u. Wirksamkeit des Kriminalisten
Änselm v. Feuerbach. Straßburger Diss., 1905.
15*
228
und zu Füßen des Kantianers Reinhold gesessen hatte. Nicht
mehr will er als Gelehrter, „befangen in jener von Papieren und
Büchern umstellten Mauerwelt, von welcher Goethes Faust so viel
zu sagen und so wenig zu rühmen weiß . . ., nur von Ferne die
Gestalten, die der Erdgeist frei erschafft", sehen/ Die Ideen eines
aus theoretischen Deduktionen abgeleiteten Vernunftrechts und einer
allen historischen Bedingtheiten entrückten Philosophie der Gesetz-
gebung erkennt er als „Grundirrtümer, welche selbst die Idee einer
Rechtsphilosophie in ihren Elementen zerstörten . . . Das darauf
errichtete Gebäude konnte daher nicht viel melir sein als ein leeres
Fachwerk, zur Lust zu öde und zum Bewohnen zu gebrechlich und
zu enge".^ Der neuen großen geschichtlichen Epoche, welche die
Zeitgenossen staunend erlebten, können auch die Wissenschaften sich
nicht verschließen: „Haben sie sich vorher eigensinnig von der
Erfahrung losgesagt, so werden sie nun unwiderstehlich von ihr
angezogen, um in ihr und für sie zu wirken und mit neuen
Ansichten von ihr bereichert zu frischem Leben zu erwachen."^
Solches Hinlenken zu den Erscheinungen des Lebens selber,,
das Bestreben, auch mit der wissenschaftlichen Arbeit den großen
Aufgaben der Zeit zu dienen und die stille Forscherarbeit durch-
dringen zu lassen von dem Geist jener Epoche, in der vieles zerstört
und vieles aufzubauen war, dem „Geist der Kraft und der Tat" und
der mithelfenden Teilnahme aller, all das tat dem wissenschaftlichen
Wert des Feuerbachschen Schaffens keinen Abbruch. Im Gegenteil,
die Schriften, die nicht sub specie aeterni geschrieben sind, erscheinen
uns Heutigen in weit geringerem Maße zeitlich gebunden und in ihrem
Wert auf die historische Bedeutung beschränkt, als die Formalistik
seiner theoretischen Deduktionen. Hier ist sein großes Werk über
„Öffentlichkeit und Mündlichkeit in der Gerechtigkeitspflege"
und die „Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren
Frankreichs" zu nennen.^ (1821 — 1825.)
^ Einige Worte über historische Rechtsgelehrsamkeit und einheimische
teutsche Gesetzgebung. Kleine Schriften vermischten Inhalts, 1833, S. 135.
^ Blick auf die teutsche Rechtswissenschaft. Kleine Schriften S. 167^
' Ebendort S. 173.
* Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtig-
keitspflege 1. Bd. Gießen 1821. 2. Bd. unter dem Titel: Über die Gerichts-
verfassung und das gerichtl. Verfahren Frankreichs in besonderer Beziehung
auf die Öffentlichkeit u. Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege. Gießen 1825.
Ferner: Betrachtungen über das Geschworenengericht. Landshut 1813.
Erklärung des Präsidenten v. Feuerbach über seine angeblich geänderte
Überzeugung in Ansehung der Geschworenengerichte. Aus dem Rheinischen.
Mercur besonders abgedruckt. Jena 1819.
229
Wie Feuerbachs Stellungnahme zu beurteilen ist, der die Freiheit
der Advokatur preist, Öffentlichkeit und Mündlichkeit in der Haupt-
verhandlung vor dem erkennenden Gericht fordert und zugleich vor
einer Hinübernahme der französischen Einrichtungen warnt, der die
<ieschworenengerichte als notwendige Attribute freier Verfassungsstaaten
anerkennt und zugleich wegen ihrer angeblichen strafprozessualen
Mängel und, weil sie mit der herrschenden Form deutscher Monarchien
unvereinbar seien, verwirft, gehört an einen andern Ort. Hier handelt
es sich um die Bedeutung dieser Werke für die Entwicklung des
wissenschaftlichen Schaffens Feuerbachs. Da zeigt es sich, daß hier
die große Kunst, das Recht, so wie es lebt und wirkt, lebendig zur
Anschauung zu bringen, mit unübertrefflicher Meisterhand zu Werke
ging. Das Prozeßrecht, in seiner bunten Mannigfaltigkeit in juristisch
wesentliche Formen zergliedert und zugleich aus seinen abstrakten
Gesetzesbestimmungen zu plastischer Wirklichkeit dargestellt, erscheint
hier in unvergleichlicher Wiedergabe als ein Stück unmittelbaren
Kulturlebens. Uns Heutige noch lehrt dieses Werk, mögen seine
Urteile und Ziele längst der Geschichte angehören, in den scheinbar
willkürlichen und starren Formen des Prozesses und den historischen
Ordnungen der Gerichtsverfassung einen sinnvollen Ausdruck mannig-
faltiger Mächte und Kräfte im Kampf um das Recht verstehen. So
ist Feuerbach selbst weit weg von der Gefahr, vor der er die
empirisch-pragmatische Wissenschaft v/arnt: „von dem Tumult betäubt,
von dem Schimmer geblendet in der Gemeinheit zu versinken".^
Davor bewahrte ihn nicht zuletzt jener tiefe ethische Idealismus, aus
dem heraus er den Richtern des Änsbacher Gerichtshofs von der
hohen Würde des Richteramts sprach: „Der Ungehorsam ist dem
Richter eine heilige Pflicht, wo der Gehorsam Treubruch sein würde
gegen die Gerechtigkeit, in deren Dienst allein er gegeben ist.""
So bleibt eines in allen Wandlungen seines Lebens und Schaffens
stetig und unverändert: sein tiefernstes Streben, mit allen Kräften
der Seele und des Geistes dem Recht und der Wahrheit zu dienen.
„Gerechtigkeit, ein Name, auszusprechen mit jenem Gefühle der
Ehrfurcht, womit allein das Höchste und Heiligste von sterblichen
Lippen genannt werden darf."'
So war der jugendliche Philosoph als reifer Mann dem tätigen
Leben in reger Anteilnahme zugewandt. Hus dem Jünger Reinholds,
dessen „philosophischer Pedantismus" und dessen „Glaube an eine
allein seligmachende Metaphysik, für die er immer Proselythen sucht",
' Kleine Schriften S. 173.
■ Die hohe Würde des Richteramts. Kleine Schriften S. 128.
•' Kleine Schriften S. 123.
230
ihm schon in Kiel zu mißfallen begannen/ wird der Freund der
geistvollen Elise von der Recke und des liebenswürdigen Tiedge,
des „göttlichen Sängers der Urania", wird der „heitere Rat" jenes
unvergleichlichen Kreises, den die letzte Herzogin von Kurland in
Karlsbad und Löbichau um sich zu sammeln pflegte.^ Die täglichen
Aufgaben der Rechtspflege bestimmten die Richtung seines Interesses,
und seiner wissenschaftlichen Arbeit erwuchsen neue Anregungen aus
den bunten Eindrücken des Lebens selbst. Noch einmal gewann er
von hier aus ein Verhältnis zum Strafrecht. Nicht so sehr abstrakte
Begriffe und theoretische Prinzipien interessieren ihn, als vielmehr das
Studium der einzelnen Verbrecher selbst, ihre Persönlichkeiten,
ihr Schicksal, ihr Fühlen und Handeln. Kriminalpsychologische
Untersuchungen traten an Stelle philosophischer Deduktionen.^
Schon 1808 und 1811 hatte er „Merkwürdige Kriminalrechts-
fälle" erscheinen lassen, und er berichtete mit Stolz, daß sie nicht
nur in dem Studierzimmer der Gelehrten, sondern sogar hier und da
„in den Boudoirs der eleganten Lesewelt" willkommene Aufnahme
fanden.^ Doch waren sie noch nicht im eigentlichen Sinne die Frucht
besonderer kriminalpsychologischer Neigungen. Es waren Berichte,
die er in seiner Münchener Zeit in der Gnadeninstanz dem König
erstattet hatte, ein „Aggregat von Ämtsarbeiten", und sie kamen
vorwiegend „in ihrer ursprünglichen Gestalt und oft noch allzusehr
mit dem von der Geschäftseile aufgeregten Staube bedeckt unter des
Setzers Hand".'^ Erst als Präsident am Äppellationsgericht in Ansbach
fand er rechte Muße zu eigentlichen kriminalpsychologischen Studien.
Hier ward ihm der „Gerichtssaal zum Hörsaal", war er doch „einer
nie versiegenden, überreichen Quelle merkwürdiger Rechtserfahrungen
nahegestellt und ihm dabei die beneidenswerte Freiheit geblieben,
nach eigener Lust so viel und so wenig daraus zu schöpfen, als er
jedesmal seinen Bedürfnissen angemessen erachten mochte".'' So machte
er es sich „zum erheiternden und belehrenden Geschäfte mancher
Mußestunde", Kriminalfälle, die ihm im Gerichtssaal auffielen, in der
' Leben und Wirken I, S. 93.
- Vgl. hierzu: Jean Paul, Briefblättchen an die Leserin des Damen-
taschenbuchs bei gegenwärtiger Übergabe meiner abgerissenen Gedanken
vor dem Frühstück und dem Nachtstück in Löbichau, Sämlliche Werke Bd. 32,
Berlin 1842, S. 327 ff., und Henriette Feuerbach, in: Änselm Feuerbachs
Nachgelassenen Schriften Bd. I, S. 31 ff.
^ Vgl. für das Folgende den Aufsatz von Radbruch, Feuerbach als
Kriminalpsychologe. Aschaffenburgs Monatsschrift, 6. Jahrg., S. 1 ff.
' Äktenmäßigc Darstellung merkwürdiger Verbrechen. Vorrede zur
2. Aufl. 3. Aufl., 1849, pag. III.
^ Ebendort pag. IV. — '' Ebendort pag. IV.
231
Stille der Studierstube erneut zu durchdenken, sie wissenschaftlich
zu bearbeiten und sie zusammen mit anderen Darstellungen und
Mitteilungen auswärtiger Gerichtshöfe zu einem „nicht unbedeutenden
Kabinett seltener Delinquenten -Exemplare"^ zu vereinen. Aus dieser
Sammlung im Verein mit Neubearbeitungen der alten ,, Geschäfts-
arbeiten" erschien 1827 und 1829 in 2 Bänden die „Äktenmäßige
Darstellung merkwürdiger Verbrechen". -
In der noch ungeschriebenen Geschichte menschlicher Lebens-
beobachtung und Seelenkunde wäre eine Geschichte der Verbrechens-
darstellungen von besonderem Reiz. Gerade das 18. Jahrhundert
war der Entwicklung der „Psychognosis", der „praktischen und künst-
lerischen Seelenkunde, die um das Rätsel des Charakters bemüht ist",
in besonderem Maße günstig.^ Dem Rationalismus, der die bunte
Mannigfaltigkeit des Lebens in das nivellierende Gleichmaß abstrakter
Vernunftgemäßheit zwang, erwuchs die Gegenströmung des Senti-
mentalismus, der wieder subjektiven Gefühlen und innersten
Empfindungen Anerkennung verschaffte.* An Stelle des Menschen,
der nur ein abstraktes blutleeres Schema war, traten die Menschen,
wie sie waren mit ihrem Sehnen und Fühlen, in ihrer ursprüng-
lichen Verschiedenheit, losgelöst von den stereotypen Formen und
Bindungen gesellschaftlicher Kultur und Zivilisation. Es begann jener
Kult persönlichen, innerlichen Gefühlslebens, der im Sturm und
Drang in jugendlicher Frische alte Formen zu sprengen suchte und
von romantischer Naturschwärmerei und religiösem Pietismus befruchtet,
über Werther und Susanne v. Klettenbergs „Schöner Seele" allenthalben
dem „Triumph der Empfindsamkeit" die Wege ebnete. In einer Flut
von Bekenntnissen, Tagebüchern, biographischen und Erziehungsromanen
entstand eine breite Literatur einer analytischen Psychologie, die den
Lebensgang des Einzelnen in seiner individuellen seelischen Entwicklung
zu begreifen und darzustellen suchte. Von hier führen Fäden zur
Moderne, zum realistischen Roman und zum naturalistischen Drama.
Dabei standen jene beiden Richtungen keineswegs so unvermittelt
einander gegenüber, wie es ihre innere Gegensätzlichkeit vermuten
ließe. „Erkenne dich selbst!", war auch die Mahnung der Aufklärer,
* Ebendort pag. VI.
- Im folgenden zitiert nach der von Mittermai er 1849 besorgten,
unveränderten 3. Ausgabe in einem Bande. Eine englische Übersetzung von
Lady Duff Gordon erschien New York 1846, eine moderne deutsche
Auswahl von Wilhelm v. Scholz München und Leipzig 1913 (2 Bände).
^ M. Dessoir, Abriß einer Geschichte der Psychologie (Ebbiiighaus-
Meumann, Psychologie in Einzeldarstellungen IV). 1911. S. 3 und II ff.
' Zu dem Folgenden: M. Dessoir, Geschichte der neueren deutschen
Psychologie I. Bd., 2. Aufl., 1910, S. 134-164.
232
wo sie die Menschen neue Wege zu irdischer Wohlfahrt und Glück-
seligkeit führen wollten. Was man aber als tiefstes Gefühl im Herzen
zu empfinden glaubte, war oft ebenso der Wiederhall allgemeiner Ideen
der Zeit, wie die Aufklärer immer wieder für die Gedanken allgemein-
gültige Vernunftgemäßheit beanspruchten, die im Grunde allein ihrer
eigenen Brust entsprungen waren. Ruch bei Kant sind beide Richtungen
fühlbar: wie die „Metaphysik der Sitten" ein naturrechtliches System,
enthält die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" ein psychologisches
System rationalistischer Begriffe und abstrakter Sätze, — und doch treibt
es den Kant der „Kritiken", das Unerforschliche still zu verehren.
Jener neuen Freude an lebensvollen, psychologisch vertieften
Selbstdarstellungen und Biographien entsprach ein erhöhtes Interesse
an Schilderungen aus dem Leben auffallender Persönlichkeiten und an
Berichten über Kriminalrechtsfälle. In Ännalen und Magazinen
wurden Darstellungen aller möglichen Prozesse verbreitet. Schiller
schrieb 1792 eine Vorrede zu einer deutschen Ausgabe von Rechts-
fällen aus dem Pitaval,^ jenen Causes celebres et interessantes
des Pariser Parlaments -Advokaten, die schon damals die klassische
Sammlung bemerkenswerter Kriminalrechtsfälle waren. Der Dichter der
„Räuber" erzählte die Geschichte vom „Verbrecher aus verlorener Ehre",
jenes Wilddiebs, den erst die infamierende Wirkung der Festungsbau-
strafe endgültig auf die Bahn des Verbrechens brachte: „Ich betrat
die Festung, sagte er, als Verirrter und verließ sie als Lotterbube." —
„In der ganzen Geschichte der Menschheit, heißt es hier bei Schiller,
ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist, als die Ännalen
seiner Verirrungen."-
Indessen dies Interesse blieb keineswegs auf literarisch -ästhetische
Bedürfnisse beschränkt. Dem Kriminalisten war neben der Tätigkeit
in den Spruchkollegien die literarische Beschäftigung mit merkwürdigen
Rechtsfällen eine willkommene Ergänzung der allgemeinen theoretischen
Studien und Lehrtätigkeit. Gerade das Strafrecht der Äufklärungszeit,
das den abstrakten, formalen Verbrechensbegriff herausgearbeitet
hatte, bedurfte um so mehr der lebensvollen Darstellung wirklicher
Verbrechen, indem es so im eigenen Fachgebiet das Doppelantlitz
der Zeit, die logische Geschlossenheit des begrifflichen Rationalismus
und das Streben nach intuitiver Erfassung ursprünglichen individuellen
Lebens wiederspiegelte.
^ Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Mensch-
heit. Herausgegeben von Schiller, 2 Teile, Jena 1792.
-' Schillers Werke in 12 Bänden (Reclam), Bd. 10, S. 44. — Vgl.
V. Rohden, Schiller und die Kriminalpsychologie. Äschaffenburgs Monats-
schrift II, S. 81 ff.
233
Feuerbachs Buch bedeutet einen Höhepunkt in der Literatur
der Verbrechensschilderungen. Hier war ein großer Künstler am
Werk, der das Leben in unmittelbarer Plastik darzustellen versteht und
zudem ein geborener Kriminalist, dem es tiefstes Bedürfnis ist, immer
wieder das Verbrechen selbst, das Schicksal und die Persönlichkeit
der Verbrecher zu studieren, menschliches Fühlen und Wollen auch
in verborgenen und unverständlichen Regungen zu ergründen und den
es in heißem Wissensdrang und aus einer letzten seelischen Veranlagung
heraus immer aufs neue zu denen zieht, welche die Menschen aus
ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen haben. So entstand eine echte Lieb-
haberarbeit — Euphrosyne, der wohltätigsten der Grazien anvertraut —
ein Geschenk glücklicher Mußestunden und doch geschrieben unter dem
zwingenden Müssen innerster Neigung. Nur was so aus schöpferischer
geistiger Arbeit heraus erwachsen ist, wird wie Feuerbachs Buch auch
heute noch nach seines Urhebers Worten „zwar nicht dem bloß um
seinen Tagelohn arbeitenden Handwerker der Justiz, aber dem denkenden,
zumal für die Gesetzgebungswissenschaft arbeitenden Rechtsgelehrten,
dem Seelenforscher und dem Gerichtsarzte, dem Moralisten wie dem
Pädagogen nicht unwillkommen sein und hin und wieder selbst dem-
jenigen, der nur geistige Unterhaltung sucht, einige Befriedigung
gewähren können".' Freilich mögen zu Feuerbachs Zeit an den
Gerichten selbst wenig Männer gesessen haben, die so aus tiefstem
Herzen sich zum Beruf des Kriminalisten bestimmt fühlten. War
doch Feuerbach selbst noch die unmittelbar praktische Bedeutung
kriminalpsychologischen Denkens für das einzelne Strafverfahren
fremd. Ihn als Forscher trieb es immer wieder zu einer Untersuchung
der psychologischen Bedingungen der Tat, des Gewebes mannigfaltiger
Neigungen, Triebe, Gefühle und Wünsche, — aber daneben sah er die
Tätigkeit des Richters als ein rein juristisches Arbeiten, und jene ganze
Psychologie war auch ihm etwas, das „gemeiniglich entweder ganz
außerhalb der Grenzen streng richterlicher Beurteilung liegt
oder höchstens nur nebenbei und in einzelnen Punkten ihren Gesichts-
kreis berührt.""
Zweierlei ist für die Verbrechensauffassung jener Zeit charakteristisch:
Neben dem Verbrecher aus edlen Motiven bevorzugt sie namentlich
den großen Verbrecher, starke Naturen, und ist geneigt, in der
verbrecherischen Persönlichkeit eine besondere Energie und Eigen-
willigkeit zu sehen. „Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnis-
mäßig große Kraft in Bewegung. Wenn sich das geheime Spiel der
Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicherer Affekte versteckt,
* Äktenmäßigc Darstellung, Vorrede pag. Vif. — - Ebcndort pag. IV
234
so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender,
kolossalischer ..." (Schiller).^ Es war die Zeit der ersten großen
Shakespeare -Begeisterung in Deutschland, in der man sich an
Kraftgenialischem berauschte und in den Königsdramen jene tragischen
Konflikte zwischen der Eigengesetzlichkeit starker Persönlichkeiten und
einer Ordnung für Menschen von mittlerem Maß erlebte. So zieht
auch Feuerbach immer wieder Shakespearesche Gestalten und Verse
heran. In seinen Verbrechensschilderungen klingt oft eine Bewunderung
für seine Mördergestalten an, und der temperamentvolle Mann vermag
auch dem Laster die Anerkennung innerer Größe nicht zu versagen.
Mögen Reue und Geständnis den Richter zu milderem Spruch bestimmen,
Feuerbachs Sympathie gilt den „großen Sündern", die, wie der Mörder
Forster, durch kein Bekenntnis die Bürde ihrer Schuld verringern. „Wie
ein aus Eisen gegossener Riese steht er da, mit Blut bedeckt, kalt, in
sich verschlossen, unbewegt und unbeweglich, ebenso verabscheuungs-
wert durch seine aus Tiger- und Schlangennatur zusammengesetzte
Gemütsart als bewunderungswürdig durch die ungemeine Seelenstärke,
mit der er schweigend das Geheimnis seiner Schuld standhaft bewahrt. " ^
Man mag auch heute noch an jenen Feuerbachschen Verbrechen, meist
derb -brutalen Totschlägen, begangen in einer Zeit, in der noch nicht
auch im Verbrechen die Raffinements moderner Technik an die Stelle
persönlicher Kraft und Mutes getreten waren, etwas ursprünglich Gesundes
finden und mit dem zeitgenössischen Rezensenten^ eine gewisse
Sympathie empfinden für diese Taten „aus wilder Leidenschaft gezeugt,
schnell beschlossen und richtig ausgeführt . . ., nichts von mattem
Lebensüberdruß"! Aber man darf sich der Gefahr einer romantischen
Konstruktion nicht verschließen, die von außen Dinge in das Bewußtsein
des Verbrechers hineinträgt. Die Geschichte des Strafrechts hat gelehrt,
wie verhängnisvoll die Vorstellung gewirkt hat, daß im Verbrecher eine
besonders starke Energie lebt und daß es gelte, im Strafvollzug den
Willen des Verbrechers zu brechen. Die Bewunderung der Stärke und
Unbeugsamkeit verbrecherischer Neigungen hat nur zu oft den Blick
dafür getrübt, daß, was als Konsequenz und Energie erschien, nur die
Zwangsläufigkeit einer erkrankten Psyche war. Wenn wir von jenem
standhaften Mörder Forster hören, wie er jahrelang im Zuchthaus die
schwere Kette schleppt: „in seinen starren Zügen ist selten oder nie
eine Veränderung wahrzunehmen, sein Kopf gleicht einer Marmorbüste,
welche kein Leben zeigt außer in zwei großen, weit hervortretenden
^ Verbrecher aus verlorener Ehre, a. a. O. S. 44.
' Äktenmäßige Darstellung S. 364.
■' K. E. Schmid, Allg. Litcratur-Ztg. Jena und Leipzig 1809. Bd. III,
Nr. 169, S. 141.
235
Äugen, die meistens vor sich hin auf den Boden stieren und in welchen
sich nichts ausspricht als Grimm und verbissene Verzweiflung"/ so
regt sich in uns Heutigen der Verdacht einer schweren Psychose.
Auf der andern Seite war es das Verdienst der Rufklärungszeit,
das Allgemeinmenschliche im Verbrecher herauszustellen: „Alle
Menschen werden Brüder . . .", nicht nur im Jubel der Freude und im
Drang sittlicher Hingebung, sondern auch in der Erkenntnis, wie eng
nebeneinander oft die Pfade der Tugend und des Lasters laufen. Den
„Freund der Wahrheit" überrascht es nach Schiller nicht mehr, „in
dem nämlichen Beete, wo sonst überall heilsame Kräuter blühen, auch
den giftigen Schierling gedeihen zu sehen, Weisheit und Torheit, Laster
und Tugend in einer Wiege beisammen zu finden". Würde ein zweiter
Linne ein System menschlicher Triebe und Neigungen aufstellen, so
fände man manchen, „dessen Laster in einer engen bürgerlichen Sphäre
und in der schmalen Umzäunung der Gesetze jetzt ersticken muß, mit
dem Ungeheuer Borgia in einer Ordnung beisammen".^ In diesem
Sinne scheinbar unerklärliche Verbrechen auf letzte, allgemeinmenschliche
Motive zurückzuführen, war vornehmlich das Ziel der Feuerbachschen
Kriminalpsychologie. „Auf der tragischen Bühne der Verbrechen
spielen ganz dieselben Triebfedern, welche nicht nur in viele krasse
und glänzende Weltbegebenheiten, sondern auch alltäglich in den engen
Kreis des bürgerlichen Lebens und der gemeinen geselligen Verhältnisse
eingreifen."^ Solche Erkenntnis schließt alles pharisäerhafte Aburteilen
aus, aber sie birgt bei Feuerbach wiederum die Gefahr in sich, die
Sphäre des Normalen, in der der Mensch für sein Tun verantwortlich
zu machen ist, auf Kosten des in ärztlichem Sinne Pathologischen zu
weit auszudehnen. Wenn auch jede wahre sittliche Beurteilung den
Menschen mit dem Maß mißt, das seinen individuellen psychischen und
physischen Kräften entspricht, so erscheint doch jene „ideale Forderung"
auf möglichste Ausdehnung des Umfangs menschlicher Selbstverant-
wortung als ein Zeichen starken Glaubens an die Macht der sittlichen
Kräfte im Menschen. Feuerbach, dessen strafrechtliche Lehren auf die
Trennung von Recht und Moral aufgebaut sind, weilt hier gern bei
Betrachtungen über die Regungen und Wandlungen sittlichen Lebens
im Menschen. Das Bestreben der Verbrecher, auch wo sie nichts mehr
zu verlieren haben, die „abscheulichsten Züge ihrer Missetaten" zu
verbergen und abzuschwächen, ist ihm noch eine letzte Regung sittlichen
Empfindens im Verbrecher. „Solches Zurückhalten ist ein stilles Opfer,
womit selbst der Verbrecher widerwillig in seinem Herzen dem Guten
* Äklenmäßige Darstellung S. 366.
■ Verbrecher aus verlorener Ehre, a. a. O. S. 44 und 45.
" Äklenmäßige Darstellung, Vorrede pag. V.
236
huldigt, und gehört zu den vielen Erscheinungen, in welchen selbst am
Bösewicht sich offenbart, daß die Tugend kein leerer Name ist"/
Über allen Betrachtungen und Problemen aber steht die unvergleich-
liche Kraft der Darstellung der Leben und Taten jener merkwürdigen
Verbrecher selbst. Mit unvergänglicher Lebendigkeit treten sie noch
heute aus den vergilbten Blättern vor uns. Anna Margaretha Zwanziger,
die „deutsche Brinvillier", die Giftmörderin, der das geheimnisvolle
Arsenik eine verhängnisvolle Verführung wurde, in das Glück fremder
Menschen und Familien als Schicksal einzugreifen, die Fäden nach
ihrem Willen lenkend und so, berauscht von dem Gefühl persönlicher
Macht, sich für ein eigenes Leben voll Enttäuschungen schadlos zu
halten. Wie das „frohe, tröstende Wiedersehen eines lang entfernten
Geliebten" begrüßt sie vor Gericht den Anblick des „lieben Giftes".
Pfarrer Riembauer, der ein verbrecherisches, sittenloses Leben mit
scheinheiligen moralischen Spitzfindigkeiten zu rechtfertigen wußte
und seine unbequeme Geliebte umbrachte, nicht ohne ihr vorher
die priesterliche Absolution erteilt zu haben — Tartuffe als Mörder.
Seidel, der Räuberhauptmann, dessen Ehrgeiz es ist, ein zweiter
Schinnerhannes zu werden, Thalreuter, der jugendliche Hochstapler.
Aller Aberglaube der Zeit wird lebendig in der Geschichte des „Mädchen-
schlächters" Bichel, der die armen Opfer seiner Habsucht lockt, in
einen geheimnisvollen Erdspiegel zu sehen. Und so fort, eine lange Reihe,
Menschen von unserem Fleisch und Blut und doch mit einem schmerzlich-
fremden Ausdruck, wie die Kupfer zu Lavaters Physiognomischen
Fragmenten, die gerade damals auch das Interesse des Kriminalisten
erweckten. Und mit den Menschen werden Zeit und Landschaft
lebendig: jene abgelegenen bayerischen Dörfer, die Stille des Einöd-
hofs, die grausige Einsamkeit der Schwarzmühle im Sibbenthal, auch
die alte Justiz mit ihrem ängstlich-sorgsamen Verfahren, die unendliche
Geduld und die listige Schlauheit des Inquirenten, — in den zurück-
liegenden Fällen aus „Alt-Bayern" in ihren Mängeln nicht ohne eine
gewisse Freude der fortgeschrittenen neuen Zeit über die Absonderlich-
keiten der Vergangenheit geschildert. Ohne Zweifel war der ausgehende
Inquisitionsprozeß solcher Seelenanalyse außerordentlich günstig. Der
Inquisit, lediglich Objekt der Untersuchung, war genötigt, gleichsam
wie auf dem Seziertisch der „eindringenden Sonde des untersuchenden
Richters" stillzuhalten und sein Leben bis in seine letzten Regungen
zu offenbaren.
So erscheint Feuerbachs Buch mit den Strömungen und Stimmungen
seiner Zeit verbunden und zugleich als das reife Werk eines großen
' Ebendort S. 42.
237
Künstlers, dem die Ursprünglichkeit unmittelbarer Intuition und die
Kraft plastischer Darstellung über das Jahrhundert hinweg ungeminderte
Wirkung sichern. Nie wieder hat die Kriminalpsychologie eine solche
Höhe geistig bedeutender, lebensvoller Verbrecherstudien erreicht. In
der Literatur nahmen in der Folgezeit Prozeßberichte zunächst noch
einen breiten Raum ein. Die politischen Prozesse der Zeit vom Wiener
Kongreß bis zu den 48 er Jahren boten eine Fülle von Material. Eine
Flut von Schriften erschien, die teils dem Nachweis der Unschuld und
Ehrenrettung politischer Märtyrer dienten oder zeigen wollten, wie not-
wendig gerade im Hinblick auf die [deprimierenden Erfahrungen der
Demagogenprozesse eine rechtsstaatliche Umbildung der Gerichts-
verfassung und eine endliche Erfüllung der großen prozeßrechtlichen
Reformforderungen waren, wie sie im Anklang an den neuen rheinisch-
französischen Prozeß immer lauter erhoben wurden. Feuerbach hat sich
selbst lebhaft noch für die aus dem Streit um den Wert der rheinischen
Schwurgerichte bekannte Frage über „Fonks Unschuld" interessiert.^
Mancher Prozeß bot den Freiheitsmännern Anlaß, gegen „Geheime
Inquisition, Censur und Cabinetsjustiz im verderblichen Bunde"" Sturm
zu laufen. Aber die Darstellung eigentlicher Verbrechergestalten trat
zurück. Als dann unter dem Einfluß der Hegeischen Philosophie die
Strafrechtswissenschaft aufs neue unter die Abhängigkeit abstrakter
Begriffsbildungen geriet, fehlten ihr realistische Verbrecherstudien aus
der Hand kundiger Seelenschilderer, welche den Pulsschlag des Lebens
unmittelbar zu fassen verstehen. In den neuen positivistischen Schulen
stand bei den Kriminalanthropologen mehr das Somatisch -Physiologische
im Vordergrund, während die soziologische Betrachtungsweise zu einer
Entpersönlichung des einzelnen Verbrecherschicksals zugunsten eines
Massenphänomens zu führen scheint. Es war hier ein naturwissenschaft-
licher Einfluß, der auch in der Psychologie das Interesse an deskriptiver
Einzeldarstellung zugunsten des Strebens nach quantitativ auswertbaren
und beliebig überprüfbaren Feststellungen zurücktreten ließ. Erst
neuerdings erwacht ein Bedürfnis, das einseitige Gravitieren nach der
Naturwissenschaft durch eine Wiederanlehnung an die Arbeitsweise des
Historikers zu überwinden. Geschichtsforscher und Psychologe haben
in dem Verstehen des Wesens und des Entwicklungsganges individueller
Persönlichkeiten ein gemeinsames Ziel. Damit ist der wissenschaftlichen
Biographie auch von psychologischer Seite erneut Berechtigung und
Wert anerkannt."^ Zur gleichen Zeit beginnt in der Kriminalpsychologie
^ Vgl. Hitzig, Erinnerung an Feuerbach. Annalcn der deutschen und
ausländ. Kriminalrechtspflege XV (Neue Folge Bd. III). 1833. S. 398 ff. u. 410.
^ W.Schulz und C.Welcker, Karlsruhe 1845.
» W. Stern, Differentiellc Psychologie 3. Äull. 1921. S. 4 f. und 318 L
238
ein stärkeres Interesse, neben statistischer Erfassung allgemeiner Erfah-
rungen und Beziehungen einzelne antisoziale Persönlichkeiten in ihren
individuellen Lebensschicksalen und Charaktereigentümlichkeiten zu
studieren. Was fehlt, ist das wahre Ethos des Kriminalisten, die Freude
an der Beschäftigung mit dem Verbrechen in seiner kulturellen
Eigenbedeutung. Unsere Wissenschaft ist zu einer Technik ratio-
neller Verbrechensbekämpfung geworden, und sie hat vergessen,
wie ihr Sternberg nicht ohne Berechtigung vorwirft,^ „daß nur das
Interesse an dem Lebendigen, an dem Wesen, das Verbrechen heißt . . .,
die Lockung, das Verbrechen zu sehen und in seinem Geheimnis und
seiner Bedeutung kennen zu lernen," den Kriminalisten mit wirklicher
Liebe und Hingebung in seiner Wissenschaft arbeiten lassen.
Feuerbach beschränkt sich in seinen Prozeßdarstellungen nicht
auf eine Geschichtserzählung des Verbrechens oder eine Lebens-
beschreibung des Verbrechers. Vielmehr gewähren seine Studien
auch in der endgültigen Fassung noch einen Einblick in die Art,
wie er selbst das Prozeßmaterial kritisch sichtete. Die Beweis-
würdigung in jenen Verfahren läßt uns heute noch die ganze Struktur
und Psychologie des späteren inquisitorischen Beweisrechts wie aus
eigener Anschauung erkennen. Für das Problem der strafrechtlichen
Zurechnung interessieren vor allem die Fälle, in denen Feuerbach
die Frage prüft, ob der Täter vom strafrechtlichen Standpunkt aus
als zurechnungsfähig zu betrachten ist. Dabei zeigt sich, daß
Feuerbach an eine unmittelbare Anwendung seines theoretischen
Begriffs der Zurechnungsfähigkeit in der forensischen Praxis niemals
gedacht hat. Aus der Identifizierung von Zurechnungsfähigkeit mit
Bestrafungsfähigkeit im speziellen Sinne der Äbschreckbarkeit hätte
folgen müssen, daß nun in jedem einzelnen Fall zu prüfen sei: kann
auf den Täter in normaler Weise durch Motive bestimmend gewirkt
werden, vermag er insbesondere durch die Vorstellung sinnlich
wirkender Strafübel vor verbrecherischen Neigungen abgeschreckt
werden? — nur ein solcher Täter ist zurechnungsfähig. Diese
^ Theodor Sternberg, Das Verbrechen in Kultur und Seelenleben
der Menschheit. (Kobler, Das Recht, Bd. IX. Berlin 1912. S. 5.) — In der
umfangreichen Literatur moderner Kriminalromane handelt es sich
nicht so sehr um das Seelenleben des Verbrechers, als um seine Ent-
deckung und Überführung. Der mit allen Mitteln moderner Technik,
persönlicher Tollkühnheit, kaum glaublicher Kombinationsgabe und mathe-
matisch-klarer Berechnung arbeitende Detektiv ist der eigentliche Held
dieser Literatur. — Als Beispiel kriminalpsychologischen Interesses in der
modernen Belletristik sei hier nochmals (vgl. oben S. 222, Änm. 1) an
Jacob Wassermann erinnert, dem im „Christian Wahnschaffe" eine
virtuose Darstellung der psychologischen Analyse eines Lustmords gelingt.
239
Konsequenz hat Feuerbach niemals gezogen, von derartigen Unter-
suchungen hören wir nichts. Im Gegenteil, auch da, wo offensichtlich
von einer psychologischen Wirkung der Strafdrohung keine Rede sein
kann, erleidet nach Feuerbachs Berichten die volle strafrechtliche
Verantwortlichkeit keinen Zweifel. So beim Räuber Seidel, auf den
auch die schlimmsten Strafen und die Androhung der Todesstrafe,
als er das erste Mal vom Militär desertiert war, keinen Eindruck
machten, und beim Maler Franz, der sich nicht dadurch von einem
Raubmord abhalten ließ, daß er vorher an einem Hochgericht vorbei-
gehen mußte. Hier rechtfertigt Feuerbach die Todesstrafe mit dem
Zweck der Unschädlichmachung: „die zunehmende Unsicherheit in der
Oberpfalz" forderte seinen Tod! Eine Argumentation, die zwar den
Kriminalisten Fr. Meister nicht hinderte, zu bemerken, Feuerbachs
Buch müsse endlich die bekehren, die noch an der Rechtmäßigkeit
der Todesstrafe zweifelten,^ die aber seinen philosophischen Freund
Niethammer zu der Erkenntnis führte, daß hier zugunsten einer
Auffassung, die in der Hinrichtung allenfalls ein physisches
Sicherungsmittel sieht, Feuerbachs eigentliche psychologische
Theorie ad absurdum geführt ist."
Noch weniger konnte bei dem völlig aus Gedanken der General-
prävention entwickelten Begriff der Zurechnungsfähigkeit davon die Rede
sein, daß, wie es dem Lisztschen Zurechnungsfähigkeitsbegriff ent-
sprechen müßte, gefragt wird, ob ich dem einzelnen Verbrecher gegen-
über mit dem Vollzug der Strafe wirken kann. Es wirkt erschütternd
und läßt die ganze Härte der Feuerbachschen Generalprävention empfind-
lich hervortreten, wenn man sieht, mit welcher Skepsis er selbst zuweilen
die Wirkung der Freiheitsstrafen ansah, denen er in seinem eigenen
Gesetzbuch eine solch zentrale Stellung zugewiesen hatte. Mancher
Verbrecher erlebt erst in der Strafanstalt die „hohe Weihe zu größeren
Übeltaten'', und es geht ihm wie dem Mörder Wallis er, der bekannte:
„Man hätte mich nicht in das Zuchthaus tun sollen, da bin ich erst
böse geworden!" „Solche Äußerungen, sagt Feuerbach, an den Stufen
1 Ällg. Lit.-Ztg. Jena und Leipzig 1829. Bd. I., Nr. 2, S. 11.
- Ebendort S. 13. Die Autorschaft Niethammers an diesem Auf-
satz nach Radbruch, Äschaflenburgs Monatsschrift VI, S. 8, Änm. 1. —
Ebenso wirft der Rezensent in Schunks Jahrbüchern der gesamten
deutschen juristischen Literatur 13. Bd., Erlangen 1830, der den standhaften
Mörder Forster spottend den „Held des psychologischen Zwangs" nennt,
Feuerbach vor, er habe nichts zur Verteidigung seiner Theorie vorgebracht,
die durch seine eigene Darstellung einer Reihe jener Fälle geradezu wider-
legt sei (S. 144 ff. und 288). Vgl. auch Schunks Jahrb. Bd. I, S. 341-344,
wo der gleiche Rezensent die nämlichen Einwände gegen Feuerbach bei
einer Besprechung seines Lehrbuchs vorbringt.
1
240
eines Schafotts klingen fast wie Anklagen gegen den Staat ! " ^ Ja, daß
der 1 7jährige Hochstapler Thalreuter vor dem Ende seiner Strafzeit
stirbt, ist nach Feuerbach geradezu ein Glück für die bürgerliche
Gesellschaft wie für den Gefangenen selbst.^
So bleibt in Wirklichkeit die strafrechtliche Zurechnung völlig
unabhängig von der Möglichkeit und Aussicht, mit der Strafe auf den
Täter zu wirken. Der Abgrenzung zwischen Verantwortlichkeit und
Unzurechnungsfähigkeit liegt vielmehr auch bei Feuerbach, so wie es
dem banalen Empfinden entspricht, ein, wenn auch nicht bestimmt
ausgesprochener, Begriff des Normalen zugrunde. Der normale, gesunde
Mensch ist verantwortlich für sein Tun, auch und gerade vor dem
Strafrichter. Nur Krankheit exkulpiert. Wo aber läuft die Grenze
von gesund und krank? Das ist eine Frage, die eng verknüpft ist
mit den psychologischen Anschauungen und psychiatrischen Kenntnissen
der Zeit, in der sie gestellt und beantwortet werden soll.
Zwei Richtungen von polarer Gegensätzlichkeit haben sich in der
Geschichte der Psychologie die Herrschaft streitig zu machen gesucht,
je nachdem man den Willen oder das Wissen als das Primäre und
für den Ablauf des psychischen Geschehens Entscheidende ansah. ^
Nach Thomas ius war der Wille das primum agens der Menschenseele.
Der Wille bestimmt nach ihm die Richtung des Handelns, das der
Verstand nachträglich mit seinen Urteilen begleitet. Den entgegen-
gesetzten Standpunkt vertrat Christian Wolf f. Er sieht in den in der
Seele vorhandenen Vorstellungen das Primäre : erst aus den Vorstellungen
entstehen Lust- und Unlustgefühle, welche die seelische Kraft zu Hand-
lungen treiben. Diese Gedanken Wolffs entsprachen dem Weltbild des
Rationalismus und beherrschten mit diesem auch die psychologischen
Anschauungen der Äufklärungsperiode. Sie kehren wieder in der auf
englische Einflüsse zurückgehenden Lehre der Popularpsychologen von
der determinierenden Kraft der Vorstellung, wie sie oben in den
Gedankengängen Feders nachgewiesen wurde. ^ Solche Bevorzugung
der Vorstellung findet selbst wieder ihre psychologische Erklärung in
dem naheliegenden Bestreben, die unsichtbaren Vorgänge des Seelen-
lebens in einer der sichtbaren Erscheinungswelt analogen Weise dar-
zustellen, die lediglich funktionalen psychischen Beziehungen nach Art
sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände zu ver dinglichen. Darum
tritt das Wollen, in dem das Wandelbare und Fließende seelischen
Lebens in übergangsloser Bewegtheit zutage tritt, zurück hinter der
^ S. 48L — - S. 467.
' Zu dem Folgenden: M. Dessoir, Geschichte der neueren deutschen
Psychologie I. Bd., 2. Aufl., 1910, S. 60 f. und 76 f.
* Vgl. oben Kap. IV, S. 145.
241
Vorstellung, in der man gleichsam das innere Bild ihres äußeren
Gegenstandes sah, wie dieser in relativ gleichbleibender Beschaffenheit
beharrend. Aus der gleichen Wurzel entsprang die — gleich jenen ersten
Gedanken auch heute noch vorwissenschaftlichem Denken vertraute —
Tendenz, da, wo wir lediglich zur verständlichen Beschreibung eine
Klassifikation seelischer Vorgänge ausführen, objektiv vorhandene,
substantiell verselbständigte Gebilde, qualitativ bestimmbare seelische
Fähigkeiten anzunehmen/ So nahm jene berühmte Vermögens-
psychologie von Wolff ihren Ursprung, die in der Tetens sehen
Trias: Gefühl, Verstand und Tätigkeitskraft ihren klassischen Ausdruck
fand.^ Ihr erwuchs alsbald in dem Helmstedter Philosophieprofessor
G. E. Schulze ein ernster Gegner, dessen „Änesidemus" von einer
Kritik der Idee des Vorstellungsvermögens, wie sie Feuerbachs Lehrer
Reinhold verfocht, ausging. Schulze bestritt die Berechtigung, von den
Wirkungen der Seele auf bestimmte ihnen homogene Fähigkeiten zu
schließen und zeigte, daß mit solcher Tautologie gar nichts erklärt sei :
„Man hat aber schon längst eingesehen, daß die gemein üblichen
Erklärungen gewisser Veränderungen und Tatsachen aus besonderen
Ursachen und Vermögen derselben im Grunde nichts weiter aus-
machen, als eine bloße Wiederholung der Erscheinung und der
Tatsache selbst, deren Eigenschaften man erst begreiflich machen will,
mit der Hinzufügung des Wortes , Kraft' oder , Vermögen' ".^
Feuer b ach hat zwar die Kritik des Schulzeschen Änesidemus
in seiner erkenntnistheoretischen Jugendarbeit verwertet,^ aber seine
eigenen psychologischen Anschauungen stehen noch ganz auf dem
Boden der rationalistischen Vermögenslehre. Seine psychologische
1 Vgl. W. Wandt, Grundriß der Psychologie 9. Äufi. 1909. S. 6 ff. —
Otto Klemm, Geschichte der Psychologie. Leipzig 1911. S. 60 ff.
" J. N. Tetens, Philos. Versuche über die menschliche Natur I. Bd.
Leipzig 1777. S. 625. Neudruck der Kantgesellschaft. Berlin 1913. S. 613.
" „Wenn man z. B. einen Stab aus dem Wasser zieht, so werden
einige Tropfen daran hängen bleiben. Fragt man nun aber, woher dies
rühre, so wird zur Antwort gegeben, der Stab habe ein das Wasser
anziehendes Vermögen. Allein ist wohl durch diese Antwort das
Faktum selbst im geringsten begreiflicher gemacht und dasjenige bestimmt
worden, was den Tropfen am Stabe fester hält?" Änesidemus oder über
die Fundamente der von dem Herrn Professor Reinhoid in Jena gelieferten
Elementarphilosophic. Anonym erschienen 1792, S. 106. Neudruck der
Kantgesellschaft. Berlin 1911. S. 81. — Vgl. auch M. Dessoir, Abriß
einer Geschichte der Psychologie (Ebbinghaus-Meumann, Psychologie in
Einzeldarstellungen IV). 1911. S. 158 f.
'' Über die Unmöglichkeit eines ersten absoluten Grundsatzes der
Philosophie. Niethammers Philosophisches Journal einer Gesellschaft
Teutscher Gelehrter Bd. II. Neustrelitz 1796. S. 306 ff., vgl. S. 316.
16
242
Zwangstheorie geht von dem intellektualistischen Gedanken aus, daß aus
der Vorstellung eines sinnlichen Übels dem Willen die Kraft erwachse,
dem Gesetze gemäß zu handeln. Wo er die Motive verbrecherischer
Handlungen darstellt, führen ihn seine Beobachtungen nicht nur zu
bestimmten Charakterbezeichnungen, sondern diese konkretisieren sich
ihm gewissermaßen zu besonderen seelischen Organen, zu einzelnen
qualitativ konstanten, abgrenzbaren Vermögen, aus denen die Tat
entspringt: „aus Eitelkeit", „aus Rachsucht", „aus Liederlichkeit",
oder zu besonderen Kräften — „Bosheit und Verlogenheit" — , die im
Innern des Täters miteinander kämpfen. Eben dieser Intellektualismus
war auch entscheidend für die Art, menschliches Handeln zu verstehen
und zu beurteilen. Indem er in einem bestimmten Maß seelischer
Kräfte und Vorstellungen die als konstant gegebenen Voraussetzungen
des zu erklärenden psychischen Verhaltens ansieht, verbleibt ihm als
Erklärungsprinzip seelischen Geschehens und damit menschlichen Tuns
überhaupt vorwiegend das Mittel logischer Interpretation.^
So waren die Methoden der Beurteilung menschlichen Handelns
abhängig von den theoretischen Lehren der herrschenden psycho-
logischen Doktrin. Daß zu der speziellen Frage der Abgrenzung
normalen und pathologischen Seelenlebens die empirische Medizin
das entscheidende Wort zu sagen hat, war damals alles andere als
selbstverständlich. Jahrhundertelang hatte die Theologie die Beur-
teilung und Behandlung der „Seelenkrankheiten" für sich in Anspruch
genommen. Auch auf diesem Gebiet führte erst die Aufklärungszeit
zu einer Säkularisation. Dabei ging um das Erbe der Theologie ein
lebhafter „Streit der Fakultäten". Namentlich auf dem Gebiet der
damals jungen forensischen Psychiatrie erhoben philosophische
Psychologie und empirische Medizin den gleichen Anspruch, zur
Entscheidung über die Zurechnungsfähigkeit berufen zu sein."
Kant hatte „die Frage, ob der Angeklagte bei seiner Tat im Besitz
seines natürlichen Verstandes- und Urteilsvermögens gewesen sei",
' Vgl. W. Wundt und Otto Klemm a. a. O.
■ Zur Geschichte der Psychiatrie jener Zeit vgl. außer den im Text
angeführten zeitgenössischen Autoren: August Hirsch, Geschichte der
medizinischen Wissenschaften in Deutschland (Geschichte der Wissenschaften
in Deutschland, Neuere Zeit 22. Bd.). 1893. S. 623 ff. — S. Kornfeld,
Geschichte der Psychiatrie. Puschmann- Neupurger -Pagcl, Handbuch der
Geschichte der Medizin III. Bd. Jena 1905. S. 601— 728. — M. Dessoir,
Geschichte der neueren deutschen Psychologie 2. Aufl., I. Bd. Berlin 1910.
S. 524 ff. — Th. Kirchhoff, Geschichte der Psychiatrie. Aschafienburgs
Handbuch der Psychiatrie. Allgem. Teil, 4. Abt. Leipzig und Wien 1912.
S.22ff. — Carl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie 2. Aufl. Berlin 1920.
S. 404 ff. — Von speziellem Interesse für die Entwicklung der gerichtlichen
243
als „gänzlich psychologisch" bezeichnet.^ Denn „obgleich körperliche
Verschrobenheit der Seelenorgane vielleicht wohl bisweilen die Ursache
einer unnatürlichen Übertretung des Pflichtgesetzes sein möchte", so
sind Ärzte und Psychologen nicht imstande, die „Anwandlung
zu einer Greueltat" aus physiologischen Momenten zu erklären —
vollends nicht, ehe sie den Delinquenten seziert haben ! ■ Gar eine von
Juristen betriebene Medicina forensis wäre „Einmischung in fremdes
Geschäft, wovon der Richter nichts versteht, wenigstens es, als zu
seinem Forum nicht gehörend, an eine andere Fakultät verweisen muß".'^
So steht am Eingang der Entwicklung der forensischen Psychologie
der Hallenser Philosophie -Professor Joh. Christ. Hoffbauer. Seine
Psychologie: R. v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopa-
thologie 2. Aufl. Stuttgart 1881. S. 1—9. — W.Weygandt, Die Entwicklung
der gerichtl. Psychiatrie u. Psychologie. Aschaffenburgs Monatsschrift VIII,
S. 209 ff., und mit besonderer Kennzeichnung der Bedeutung Feuerbachs:
H. Reichel, Über forensische Psychologie. München 1910. S. 8 f.
* Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 1798. Äkademie-Äusgabe
Bd.YII, S. 213 f.
* Diese gleiche naiv somatisch-materialistischc Auffassung der Medizin
führte den Heidelberger Psychiater Friedrich Groos zur Ablehnung der
Todesstrafe. „. . . wie kann noch, frage ich, der Gerichtsarzt, ohne vor sich
selbst zu erschrecken, den Verbrecher, in dessen Inneres er erst nach der
Sektion des Leichnams einen schwachen, nur etwas genügenden Blick
tun kann, bei Leben für zurechnungsfähig der Todesstrafe erklären?"
Untersuchungen über die moralischen und organischen Bedingungen des
Irreseyns und der Lasterhaftigkeit. Heidelberg und Leipzig 1826. S. 71.
" Im Grunde berührte sich diese Zuständigkeitsverteilung noch eng
mit der älteren Auffassung, wonach die Behandlung Seelenkranker Sache
der Theologen sei. Das zeigt ein tragischer Fall aus Hamburg vom
Jahre 1803. Der ehemalige Prediger Rüsau hatte aus Nahrungssorgen seine
Frau und seine fünf Kinder umgebracht. Ein Gutachten zweier Arzte
stellte eine geistige Erkrankung fest. Darauf wurde eine Kommission
von neun Hamburger Gelehrten zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit
herangezogen, je drei der juristischen, medizinischen und philosophisch-
theologischen Fakultät. Während zwei Juristen und ein Mediziner
für Unzurechnungsfähigkeit eintraten, gelang es dem Direktor der
Gelehrtenschule Johanneum, Prof. Gurlitt, und zwei Pastoren, die
Majorität für Anerkennung der vollen Verantwortlichkeit zu gewinnen.
Infolgedessen bestimmte das Urteil, Rüsau sei „sich selber zur wohlverdienten
Strafe und andern dergleichen leidenschaftlichen, um alltägliche Sorgen des
Lebens willen sich feige der Verzweiflung ergebenden Menschen zum
abschreckenden Beispiel, nach dem Richtplatz zu führen und mit dem
Schwerte vom Leben zum Tode zu führen". Das Urteil wurde vom Ober-
gericht in Rädern von obenher umgewandelt und entsprechend vollstreckt.
Vgl. die zum Teil auf ungedrucktes Material des Hamburger Staatsarchivs
gestützte Hamburger Dissertation von R. Brachmann, Ein Beitrag zur
Geschichte der forensischen Psychiatrie: Der Fall Rüsau.
16*
244
„Psychologie in ihren Hauptanwendungen auf die Rechtspflege" (1808)
war von grundlegender Bedeutung;^ Heinroth kam sich 13 Jahre
später mit seinem „System der psychisch -gerichtlichen Medizin" wie
mit einer „Ilias post Homerum" vor." Hoffbauer ging von der
Vermögenspsychologie aus. Aber so sehr diese Auffassung in ihrer
Tendenz, die psychischen Erscheinungen zu vergegenständlichen, dem
psychologischen Intellektualismus verwandt ist, so versagte doch
Hoffbauer keineswegs den manischen Zuständen, der mangelnden
Herrschaft über gesteigerte Begierden grundsätzlich die Anerkennung
als Krankheiten. In der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit ist
Hoffbauer völlig abhängig von den Folgerungen der psychologischen
Zwangstheorie. Ohne Feuerbach zu nennen, wird ganz wie in der
„Revision" Zurechnungsfähigkeit mit Äbschreckbarkeit identifiziert.^
Infolgedessen muß der Unverbesserliche „als ein Kranker behandelt
werden, den man nur für die bürgerliche Gesellschaft unschädlich
machen will",^ der Beschränkte und der durch starke Affekte zur Tat
Determinierte aber durch härteres Strafübel abgeschreckt werden.
Unzurechnungsfähig ist — somit ganz im intellektualistischen Sinne —
nur derjenige, dem das Bewußtsein seines Tuns fehlte.^ Für die
praktische Gutachtertätigkeit findet sich Hoffbauer damit ab, daß der
Staat besondere Ärzte zu Sachverständigen autorisiert. Rd hoc
Psychologen als Experten anzustellen, wäre so, „als wenn man zu
öffentlichen Untersuchungen der Weine, die in den Handel kommen,
besondere Chemisten anstellen und sich hierbei nicht auf das Gut-
achten des Stadtphysikus verlassen wollte"!''
Auf dem Wege der praktischen empirischen Arbeit drangen die
Ärzte in das Gebiet der forensischen Psychologie. Kants Königsberger
Kollege Metzger trat für den „wahren Naturphilosophen", den Arzt^
ein — die Philosophen selbst seien in zu viele Schulen geteilt.
Zacharias Platner hatte bereits 1740 die Forderung vertreten : „Medicos
de insanis et furiosis audiendos esse!"^ Diese Entwicklung wurde
' Joh. Christ, Hoffbauer, Die Psychologie in ihren Hauptanwendungen
auf die Rechtspflege nach den allgemeinen Gesichtspunkten der Gesetzgebung
oder die sog. gerichtliche Ärzneiwissenschaft nach ihrem psychologischen
TeU. Halle 1808.
' Heinroth, System der psychisch- gerichtlichen Medizin. Leipzig
1825. S. 6.
» Hoffbauer, a. a. O. S. 11, Änm., und S. 181.
* Hoffbauer, a. a. O. S. 188 ff.
= Hoffbauer, a. a. O. S. 182 f. und 194
'^ Hoffbauer, a. a. O. S. 4.
' Zacharias Platner, Programma quo ostcnditur medicos de insanis^
audiendos esse. 1740.
245
namentlich durch die Entstehung der ersten großen Heilanstalten
gefördert, wo der Arzt, in enger Gemeinschaft mit dem Kranken lebend,
eine Fülle von Beobachtungen machen konnte. Berühmt war die
Salpetriere, an Stelle einer früheren Salpeterfabrik im Südosten von
Paris, in neuerer Zeit durch Charcots Wirken bekannt und noch heute
im Betrieb. Später wurde weit vor den Toren der Stadt der Bicetre
eröffnet.^ Von den Pariser Ärzten waren vor allem Pinel, der Leiter
der Salpetriere, und sein Schüler Esquirol, „die überragende Persön-
lichkeit, zu Beginn der kontinuierlichen Entwicklung der psychiatrischen
Wissenschaft" (Jaspers)-, von großer Bedeutung für Deutschland, wo
namentlich Reil (nach Langermanns Vorgang) als Vorkämpfer für
systematische Änstaltsbehandlung zu nennen ist.
Reils Wirken galt vor allem den sozialen Schäden. So wie sein
Freund, der Prediger Wagnitz, nach Howards Vorbild, die Gewissen
wachzurufen suchte angesichts der Barbareien des überkommenen
Gefängniswesens, wollte er für eine humane und sinnvolle Ausgestaltung
der Einrichtungen für Geisteskranke eintreten. Die Irren bildeten mit
Verbrechern, Landstreichern, Armen, Arbeitsscheuen, allen, mit denen
Staat und Gesellschaft nichts anzufangen wußten, die bunt zusammen-
gewürfelten Bewohner der alten Zucht- und Werkhäuser — „wie die
Pandekten ohne System, oder konfus, wie die Ideen ihrer Köpfe!" „Wir
sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben,
ausgestorbene Gefängnisse, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde
Klüfte über den Stadttoren oder in die feuchten Kellergeschosse der
Zuchthäuser ein, wohin nie ein mitleidiger Blick des Menschenfreundes
dringt und lassen sie daselbst angeschmiedet an Ketten in ihrem eigenen
Unrat verfaulen. Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf die Knochen
abgerieben und ihre hohlen und bleichen Gesichter harren des nahen
Grabes, das ihren Jammer und unsere Schande zudeckt.""^ Hier ist
schon um des Gebotes staatlicher Selbsterhaltung willen gründlicher
Wandel geboten. Zunächst verlangt Reil Trennung zwischen bloßen
Bewahrungsanstalten und eigentlichen Heilanstalten. Diese sollen mit
geringer Belegzahl in anmutiger Gegend mit freundlicher Ausstattung
ohne vergitterte Fenster und zu hohe den Ausblick hindernde Mauern,
mit Gelegenheit zu verständiger Arbeit im Freien und allen medizinischen
Einrichtungen errichtet werden.^ Die Behandlung darf nicht einem
^ Nach einer freundlichen Mittcilunj^ von Prof. Weygandt, Hamburg.
' Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie 2. Aufl. 1920. S. 404.
" Joh. Christ. Reils Rhapsodien über die Anwendung der psychischen
Kurmethode auf Geisteszerrüttungen II. Ausg. Halle 1818. S. 14 f.
' Zur Frage der Finanzierung dieses Projekts schreibt Reil den
beherzigenswerten Satz: „Man überzeuge die reichen Kapitularen, daß das
Übermaß des Fettes ihren Nachfolgern ungesund sei ..." A. a. O. S. 478.
246
..bloßen Körperarzt" anvertraut werden, denn „es ist ein empörendes
Schauspiel, wenn man zusieht, wie übel der handfeste Empiriker mit
seinen Geisteskranken umspringt. Gleich einem blinden Maulwurf wühlt
er sich in ihre Eingeweide ein und sucht die Seele auf, wo die Natur
die Werkstätte für die niedrigsten Operationen der Tierheit angelegt hat.
Deklinationen des Denkvermögens will er durch Verdünnung eines
atrabilarischen Bluts und durch Schmelzung stockender Säfte im Pfort-
adersystem berichtigen, Seelenschmerz mit Niesewurz und verkehrte
Gedankenspiele mit Klistierspritzen bekämpfen. Wehe dem Ebenbildc
Gottes, das unter einen solchen Hobel fällt! "^ Freilich, die psychische
Kurmethode, der Reil seine Rhapsodien widmet (1803), läßt ein
wirkliches Verständnis für seelische Beeinflussung der Kranken zumeist
völlig vermissen. Sie ist nicht viel mehr als ein Versuch, mit plumpen,
der normalen Erfahrungswelt entnommenen Mitteln den Symptomen
der Erkrankung entgegenzuwirken: Erheiterung des Melancholikers,
Beruhigung und Zwang zur Konzentration beim Maniakus, Erregung
des Kataleptikers, der etwa in einen Kübel mit lebenden Aalen gesteckt
wird. Im Anfang der Behandlung steht die Erzwingung des Gehorsams
im Vordergrund, wozu Hunger und Durst und der Gebrauch des
Ochsenziemers als taugliche Mittel empfohlen werden. Immer soll
möglichst intensiv und überraschend auf den stumpfen Geist gewirkt
werden: wie in Jean Paulschen Romanen lesen wir von den Schrecken
geheimnisvoller Grotten, plötzlichen Kanonenschlägen, Totenhänden, Eis-
säulen, dumpfen Glocken in finsteren Gewölben. Das erscheint wie eine
rationalistische Reminiszenz an mittelalterliche Geisterbeschwörungen.
Für die Frage der Beurteilung krimineller Handlungen sind Pinel,
Esquirol und Reil wichtig durch ihre Stellung zur Monomanien-
lehre. Diese Lehre, die den Inhalt verschiedener, im Leben auffallender
äußerer Verhaltungsweisen als besondere Krankheiten klassifizierte —
Hypochondrie, religiöser Wahn, Mordmonomanie usw. — , ging im Grunde
an den eigentlichen Symptomen und der Ätiologie der Erkrankungen
vorbei und war darum bald zur Unfruchtbarkeit verdammt." Sie ist
aber in diesem Zusammenhang von Bedeutung, als erster Versuch,
Abnormitäten des Trieblebens und pathologisch -veränderte Formen der
Willensbildung auch in solchen Fällen als krankhaft zu erkennen, in
denen der intellektuelle Habitus unversehrt schien. Gerade jene ersten
großen Anstaltsärzte haben immer wieder auf die Fälle der Manie
sans delire ou fureur maniaque non delirante, auf die „Wut ohne
Verwirrtheit" hingewiesen, bei denen der Kranke seine anscheinend
Ä. a. O. S. 138 f.
Jaspers, Allgemeine Psychopathologie II. Aufl. 1920. S. 167 f.
247
völlig intakte, oft geradezu raffinierte Überlegung in den Dienst seines
abnorm gesteigerten Trieblebens stellt.^ Sie sahen das Krankhafte in
dem automatischen Zwang, unter dem jene Unglücklichen Grausamkeiten
und Sinnlosigkeiten begingen, obwohl sie in ihren Wahrnehmungen,
ihrer Einbildungskraft, in ihrem Verstand „ganz vernünftig" schienen.
Eben dieser Widerspruch war den Gegnern ein Grund, diese Lehre
zu verdammen, in der man oft nur einen Vorwand sah, Schuldige dem
Strafrichter zu entziehen. Unter dem Eindruck intellektualistischer
Psychologie verneint Adolf Henke die Möglichkeit krankhafter Störung
der Willensbildung bei „vollkommenem Selbstbewußtsein und ungestörtem
Vernunftgebrauch".- Die Skepsis gegenüber der partiellen Erkrankung
einzelner Triebe war gewiß berechtigt, verfehlt nur der Gedanke, daß
tatsächlich das Gesamtverhalten, an dem nichts Äußeres auffiel, gesund
war und deshalb „der des Vernunftgebrauchs nicht Beraubte nicht für
toll ausgegeben werden könnte". Dazu kamen Bedenken wegen der
Konsequenzen in der Zurechnungslehre: Es wäre dann ja jeder Mensch
von Zeit zu Zeit toll, jeder „Jüngling, der ehrenrührige Reden und
Beschimpfungen durch tätliche Züchtigung rächt, jedes Mädchen, das
von sinnlicher Lust überwältigt, sich dem Verführer hingibt".^
Vollends Heinroth bekämpfte von der hohen Warte metaphysischer
Konstruktionen die Lehre von der Unzurechnungsfähigkeit manisch
Erregter. Von der „lebendigen Anschauung" in der psychisch -gericht-
lichen Medizin, die „den Psychologen in ihren Studierstuben ebenso
abgeht, wie sie den Ärzten in den Krankenstuben fast täglich entgegen-
kommt",^ merkt man in den Schriften Heinroths selbst, der den 1813
begründeten Lehrstuhl für psychische Heilkunde an der Universität
Leipzig inne hatte, herzlich wenig. Ihm „reicht Empirie für die Voll-
endung der psychischen Medizin nicht hin" ^ — so hat er nicht umsonst
noch nach seiner Promotion sich auf das Studium der Theologie geworfen.
' Reil, a.a.O. S. 387 ff. — Pinel, Philosophisch -medizinische Ab-
handlung über Geistesverwirrung oder Manie. Aus dem Französischen
übersetzt von W. Wagner. Wien 1801. — Esquirol, Bemerkungen über
Mordmonomanie. Aus dem Französischen mit Zusätzen von M. I. Bluff.
Nürnberg 1831.
* Henke, in Zeitschrift für Staatsarzneikunde. 1829. Heft 2, S. 247.
Vgl. Esquirol-Bluff, Über Mordmonomanie. 1831. S. 97 und 100.
' R. Henke, Abhandlung aus dem Gebiet der gerichtlichen Medizin
Bd. II. Bamberg 1816. S. 233 ff., insbesondere S. 259.
^ J. Chr. R. Heinroth, System der psychisch -gerichtlichen Medizin.
Leipzig 1825. S. 6.
^ Heinroth, Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens. Vom rationalen
Standpunkt aus entworfen. Tl. 1 und 2. Leipzig 1818. Tl. 1, S.VI und 170.
248
Psychische Krankheit erscheint ihm als Verstrickung der freien Persön-
lichkeit in Abhängigkeit und Unfreiheit; Ursachen der Hemmung und
Störung des wahren freien Lebens aber sind Leidenschaften und Wahn,
Laster und Sünde. Nur in der erlösenden Kraft des Glaubens, dem
Frommen allein verständlich, liegt der Weg zur Reinheit und Lauterkeit
des menschlichen Wesens, zu wahrer geistiger Gesundheit; denn Gott-
seligkeit ist zu allen Dingen nütze !^ Freilich die Folgerung, die ihm
Groos entgegenhielt, daß wir alle „Sünder allzumal" sind und es
darum gar keine Geistesgesunden geben könne,' hat Heinroth nicht
gezogen. Mit unerbittlichem Rigorismus zieht er eine scharfe Grenze
zwischen der absoluten Unfähigkeit des unfreien Zustandes und voller
Zurechnungsfähigkeit. Eine verminderte Zurechnungsfähigkeit kennt er
nicht, eine partielle Erkrankung im Sinne der Manienlehre lehnt er
ähnlich wie Henke ab, wobei auch er nicht zugeben will, daß jene
partielle Störung das Symptom einer sonst nicht erkennbar hervor-
tretenden Gesamterkrankung sein könnte.^ Und in bezug auf die
strafrechtlichen Fragen: „Wenn die Macht der Begierden und Leiden-
schaften ein Schutzmittel gegen die Zurechnungsfähigkeit wäre, was
sollte da aus der Rechtspflege werden?"^ „Heißt es also nicht,
fragt ähnlich C. W. Hufe 1 and, geradezu die Leidenschaft, die Tierheit
im Menschen, die Immoralität und Irreligiosität (!) sanktionieren und
legalisieren, wenn man die Ausbrüche derselben unter dem Namen
Monomanie entschuldigen und gesetzlich straflos erklären wolle? Denn
man vergesse doch nicht die rückwirkende Kraft der Strafe . . ."^ Es
konnte keinem Zweifel unterliegen, auf welche Seite sich die Juristen
in diesem medizinischen Streit stellten. Hitzig sah in der Lehre von
der Monomanie die „nämliche Gesinnung, welche den Deklamationen
gegen die Todesstrafe zum Grunde liegt . . ., den Verbrecher als den
Bedauernswerten darzustellen, der nicht eigene Verschuldung trägt,
sondern einem unabwendbaren Verhängnis unterlegen" ist.*'
^ Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens Tl. 2, S. 63 ff.
^ Fr. Groos, Untersuchungen über die moralischen und organischen
Bedingungen des Irrseyns. Heidelberg 1826. S. 26 f.
* Vgl. Heinroth in E. Hitzigs Zeitschr. f. d. KriminalrechtspHege in den
preußischen Staaten Bd. VIII, Berlin 1828, S. 152 f.: „Die amentia occulta
aber kommt mit den ehemaligen qualitatibus occultis in die gleiche Rubrik,
in die des Unerweislichen. Jede Krankheit hat ihre Zeichen. Eine Krank-
heit, die dergleichen nicht hätte, könnte auch nicht erkannt werden".
* System der psychisch-gerichtlichen Medizin S. 16.
^ Hitzigs Ännalen der deutschen und ausländischen Kriminalrechts-
pflege III. Bd., 5. Heft. Berlin 1829. S. 394.
^ Ebendort S. 39L
249
So hatte sich der „Streit der Fakultäten" von der philosophisch-
medizinischen zur medizinisch -juristischen Seite gewandt, und er wurde
jetzt weniger um die Zuständigkeit zur Beurteilung überhaupt, als um
die Art der Behandlung des Delinquenten selbst geführt, nicht zum
Vorteil eben dieses. Wie unzureichend freilich das durch Henke und
Heinroth geförderte System ist, wonach der Richter dem Arzt die Frage
in der stereotypen Formel: „Willensfreiheit?" vorlegt, hat schon damals
Clarus erkannt/ Beide Wissenschaften sollten nicht durch eine Formel
getrennt, sondern in gegenseitigem Verstehen und wechselseitiger Unter-
stützung zusammenarbeiten, beginnend mit einer durch Gelehrte aller
Fächer geleiteten Universitätsausbildung. Der Richter habe dann den
Arzt zu fragen, ob in der und der konkreten Beziehung der „Vernunft-
gebrauch" als aufgehoben betrachtet werden muß. Auch müsse dem
i\rzt ein non liquet gestattet sein. Nur so sei die Medizin — so tritt
immer stärker der Einfluß des „Standesinteresses" in den Debatten
über Zurechnungsfähigkeit hervor — vor dem Vorwurf geschützt, die
Ärzte erklärten jeden Menschen für unzurechnungsfähig, bei dem sich
„irgend einmal in einem Zustand von Beunruhigung des Blutumlaufs
oder der Nerven etwas Ungewöhnliches und Auffallendes in seinem
Benehmen gezeigt hat" und ließen so „jede Kriminaluntersuchung
aus den Händen der Richter in die Hände der Arzte über-
gehen!"^
So waren innerhalb der Mediziner selbst die Meinungen keineswegs
geklärt. Es trug nicht zur Milderung des Streites bei, daß den ver-
schiedenen Richtungen letzten Endes der Gegensatz der voluntaristischen
und intellektualistisch-rationalistischen psychologischen Gesamtauffassung
zugrunde lag. Zugleich im engsten Sinne des Wortes ein Kampf um
die Seele des Delinquenten, indem die einen die Berechtigung zu einem
Einschreiten des Strafrichters in eben den Fällen aufs entschiedenste
bestritten, wo die andern vor einem unberechtigten Nachlassen straf-
rechtlicher Energie warnen zu müssen glaubten.
Man darf in Feuerbachs kriminalpsychologischen Studien nicht
ein vorbehaltloses Bekenntnis zu einer bestimmten ärztlichen Schule
suchen. Heinroths Theorie vom Zusammenhang zwischen Sünde
und Wahnsinn lehnt er gelegentlich grundsätzlich ab, um dann wieder
dem Gedanken, daß Willensfreiheit bei Seelenstörungen nur durch
einen Akt der Freiheit selbst, d. h. durch Sünde, aufgehoben werden
kann, eine „logische Konsequenz" anzuerkennen.'' Hat doch auch er
^ Joh. Christ. Ku^. Clarus, Beiträge zur Erkenntnis und Beurteilung
zweifelhafter Seelenzustände. Leipzig 1828.
=" Clarus, a. a, O. S. 226 f.
' Vgl. Äktcnmäßige Darstellung S. 131 mit S. 420, Änm. 3.
250
die Willensfreiheit allein dem Gebiet des sittlichen Handelns vor-
behalten. Er hat ein periodisches Irresein anerkannt und dann wieder
die Vorstellung eines partiellen Wahnsinns abgelehnt/ Im Grunde
gehört er zu den Gegnern der Monomanienlehre. Mit einer aus-
gesprochen intellektualistischen Anschauungsweise vermochte er
den Vorgängen der Willensbildung nicht gerecht zu werden. Wo man
den Eindruck von Wahnvorstellungen hatte, wo sich aulfallende Wider-
sprüche, Sinnlosigkeiten im Handeln zeigten, da glaubte er an geistige
Störungen. Wo aber der Täter „ganz vernünftig" schien, wo er in
verständlicher und logisch einwandfreier Weise bestimmte Zwecke
durch geeignete Mittel zu erreichen suchte, da konnte von einer
„Verstandeszerrüttung" keine Rede sein. Übernormal gesteigertes
Triebleben, übermäßige Äffektivität und Hemmungslosigkeit — Er-
scheinungen, denen die Monomanielehre in einem ersten tastenden
Versuch gerecht zu werden sich mühte — vermochte Feuerbach
nicht als krankhaft anzuerkennen, solange des Täters Vorstellungs-
leben ungetrübt und seine Handlungsweise folgerichtig blieb. Mit
unerbittlicher Strenge werden solche Regungen, auch wo sie mit
unwiderstehlicher Gewalt den Menschen beherrschen, als Leiden-
schaften angesehen, für deren ersten Ursprung zumindest der
Täter selbst verantwortlich zu machen ist. Wer aber nicht selbst
seiner Leidenschaften und Triebe Herr zu werden vermag, den zu
bändigen ist Aufgabe und Pflicht des staatlichen Strafrechts. Von
diesem Gedanken aus weist Feuerbach die Ansprüche der Ärzte
zurück, die das Gebiet des Pathologischen auch auf die Fälle über-
mäßig gesteigerten Trieblebens auszudehnen und damit nach seiner
Meinung lediglich einer konsequenten Strafrechtspflege in den Hrm
zu fallen suchten. Hier verficht Feuerbach mit aller Starrheit und
Unduldsamkeit den Standpunkt, daß, mochte man das sittliche Urteil
immerhin dem ewigen Richter der Gesinnungen überlassen, das Recht
jedenfalls von jedem Menschen eine unbedingte Beherrschung seiner
Leidenschaften und Triebe fordert, und er mag die Berechtigung
zu solch unerbittlichem Rigorismus nicht zuletzt in dem eigenen
lebenslänglichen Kampf strenger Selbstdisziplin mit den Feuern seines
leidenschaftlichen Temperaments gefunden haben. ■
Solche Gedanken sind nicht wie die Zurechnungslehre der „Revision"
bloße Theorien, hervorgegangen aus philosophischen Besinnungen der
stillen Studierstube. Hier stehen unmittelbar Menschenschicksale auf
dem Spiele, deren Gestalten aus den Blättern seiner Verbrecher-
geschichten erschütternd aufleben. Und wenn dabei der Gedanke
' Vgl. Äktenmäßige Darstellung S. 237 mit S. 412.
^ Radbruch, flschaffenburgs Monatsschrift VI, S. 7.
251
der Ableitung des Begriffs Zurechnungsfähigkeit aus der Bestrafungs-
fähigkeit keine fruchtbare Fortbildung fand, so wird hier eine andere
Verbindung mit der psychologischen Zwangstheorie sichtbar. Auf die
sinnliche Triebfeder sollte nach Feuerbach das Strafgesetz wirken, die
Strafe das wohl auskompensierte Gegenmaß gegen die zum Verbrechen
drängenden Leidenschaften sein — wie konnte er anders, als sich mit
aller Energie gegen eine Zurückdrängung des Strafrechts von seiner
ureigensten Aufgabe zur Wehr setzen?
Nichts wirkt mehr zur Besinnung und zur Bescheidenheit, als
eine Geschichte der menschlichen Irrtümer. So reden jene hilflosen
Gestalten eine ernste Sprache, die zu ihrer eigenen schweren Mitgift
den Aberglauben und die Vorurteile der Welt jener Tage, Böswilligkeit
und Verständnislosigkeit oft der Nächsten tragen mußten, bis schließlich
vor dem Strafrichter ihr Schicksal bestimmt wurde von dem Streit
wissenschaftlicher Kontroversen.
Als ein Beispiel notorischer Geisteskrankheit erzählt Feuerbach
die Geschichte des jungen Sörgel. Seit seiner Jugend Epileptiker,
in Wahnideen verfangen, in denen der ganze übersinnliche Reichtum
des alten Volksaberglaubens wiederklingt, lebt er im Armenhaus.
Unklare mystische Gedanken verdichten sich ihm zu bestimmten
Vorstellungen, er erschlägt einen Arbeiter im Wald mit dem Beil
und haut ihm die Füße ab. Ohne Zögern gesteht er die Tat ein:
er wollte Armsünderblut trinken, um von der Fallsucht geheilt zu
werden, und er hätte ihm die Füße abgeschlagen, indem er — wie
Feuerbach interpretiert — daran dachte, daß seine eigenen Füße von
einer Kette, an die er während seiner Anfälle geschlossen wurde,
befreit wurden. Ob diese Auslegung des irren Gedankengangs richtig
ist, stehe dahin — Sörgel wurde freigesprochen und starb bald danach
im Irrenhaus zu Schwabach.
Wie sehr persönliche Voreingenommenheit der nächsten Umgebung
und subjektive Empfindungen der Zeugen eine objektive Beurteilung
erschweren, zeigt Feuerbach an dem Prozeß gegen Georg Eder.
Eder war ein Bauer, der seinem Hauswesen ordentlich vorstand, aber
durch aufbrausendes Wesen und maßlose, durch nichts gerechtfertigte
Zornesausbrüche alle Welt terrorisierte. Als er mit seinem Wagen
an einer Wiese vorbeikam, wo ein alter Bauer hölzerne Vorlagen am
Weg aufgestellt hatte, geriet er in solche Wut, daß er den andern
mit einer Heugabel ersticht. Dann rühmt und freut er sich laut der
Tat, will am liebsten noch ein paar andere Bauern umbringen und
ihre Häuser in Brand stecken und bleibt auch bei der Untersuchung
bei allerlei krausen, verschmitzten Redensarten. Die Bauern erklären
samt und sonders — begreiflich genug — Eder für einen Simulanten,
252
Frau und Kinder bitten flehentlich, man möchte ihn nicht wieder
in die Freiheit lassen. Das Gericht erster Instanz verurteilt zum
Tode. Auf Feuerbachs Betreiben versagt der König die Bestätigung
und ordnet ein neues Verfahren vor dem Hofgericht in München an.
Inzwischen hatte das Landgericht ein übriges tun wollen und ein
ärztliches Gutachten eingefordert. Aber der Ämtschirurgus erklärte
ihn für gesund, weil er „jede auf seine Gesundheit befindliche Frage
genügend beantwortet habe und sich sonst ganz wohl befinde".^
Das Hofgericht ließ Eder durch zwei Münchener Medizinalräte
untersuchen, die ihn als einen im höchsten Grade blödsinnigen iVlenschen
erkannten, der auf die einfachsten Fragen nichts zu antworten wußte.
Ein Fall, merkt Feuerbach an, der charakteristisch für eine dem
Kreittmayrschen Codex entsprechende Auffassung ist, die nach dem
Satz: „Wozu doch mit dem schlechten Delinquentengesindel so viele
Umstände machen?" die Kriminaljustiz gleichsam „als die partie
honteuse" der Justiz betrachtet, die keine besondere Sorgfalt verdiene,
mit der man sich nur obenhin zu befassen brauche, und „deren
Geschäfte je schneller je besser abgetan werden müßten".^
Lagen in diesen beiden Fällen die Fragen der Zurechnungsfähig-
keit für jeden ernsten Beurteiler einfach, so läßt die kaum glaubhaft
klingende romanhafte Erzählung von Joh. Holzinger, „aus Liebe
und Eifersucht erst Totschläger, dann Mörder und Selbstmörder",
die Gegensätze in der Beurteilung scharf hervortreten. Holzinger
wird als gutmütiger Schwächling, zugleich aber ausgesprochen sinnlich
veranlagt, geschildert. Nach dem Tode seiner Frau lebte er mit seiner
Schwägerin zusammen, die ihn ganz in ihrer Gewalt hatte, aber vor
dem Gesetz seine Frau nicht werden wollte. Er entschließt sich, eine
andere zu heiraten, der Hochzeitstag kommt heran, seine Gedanken
gelten nur der Schwägerin. Quälende Eifersucht und die Enttäuschung
über die Zurückweisung führen zu einem Wortwechsel. Holzinger
nimmt vom Tisch ein Messer und schneidet ihr die Kehle durch. Eine
Tat, erläutert Feuerbach, die in klar erkennbarer Absicht der Befrie-
digung seiner Leidenschaften dienen sollte. Mochten die Leidenschaften
sich zu unwiderstehlicher Stärke gesteigert haben, seine Schuld lag
eben darin, daß sie in solchem Umfange die Oberhand gewannen. Hier
berührt sich Feuerbach mit Heinroths Lehren. Indessen: „die Medi-
zinische Fakultät kommt dem Verbrecher zu Hilfe". "^ Der
Hausarzt meint, Holzinger habe infolge Trunkenheit, Zorn und Eifer-
sucht unfrei und ohne Selbstbewußtsein gehandelt, der Gerichtsarzt
lehnt eine krankhafte Störung ab. Nun gehen die Akten an das
' Äktenmäßige Darstellung S. 239. — ' S. 240. — ^ S. 377.
253
Medizinalkollegium, das zu dem Ergebnis kommt, Holzinger habe sich
„zur Zeit der Tat in einem teils durch den höchsten Grad des Affekts,
teils durch erbliche Anlage bewirkten Zustand der Geistesverwirrung
oder Unfreiheit befunden"/ „Ein Muster psychischer Gutachten, wie
sie", nach Feuerbach, „nicht sein sollen."" Unter dem Eindruck
dieses Gutachtens erhält Holzinger die Mindeststrafe für Totschlag,
acht Jahre Zuchthaus. Der Strafanstaltsdirektor bezeichnet ihn als
einen „von Seite des Geistes nur dürftig ausgestatteten, an Erziehung
und Unterricht verwahrlosten, durch unordentliches und wollüstiges
Leben physisch und moralisch erschlafften Menschen".^
Nach sechs Jahren wird er wegen guter Führung entlassen.
Und nun ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges, eine erstaunliche
Duplizität der Ereignisse. Wieder trieb ihn die Neigung zu einem
Mädchen, wieder verlobt er sich mit einer andern, die er nicht liebte.
Das dritte Aufgebot war schon bestellt. Er macht noch einen Spazier-
gang mit seiner geliebten Rosina — und schießt sie nieder. Dann
erschießt er sich selbst. Und nun ging es, wie es immer geht: jeder
sieht in den Ereignissen die Bestätigung seiner eigenen Meinung.
Die einen hielten seine Verrücktheit nunmehr über jeden Zweifel
erhaben, die andern meinten, man hätte ihn lieber gleich beim ersten
Mal einen Kopf kürzer machen sollen. Feuerbach selbst meinte, hier
liege für „den gesunden Menschenverstand" des „schlichten Bürgers"
Überlegung und vorbedachte Absicht zutage: er wollte eben lieber
mit der geliebten Rosina sterben, als die verhaßte Braut heiraten.
So hat er, nach Feuerbach, nur „durch selbstgegebenen Tod sich des
Scharfrichters Schwiert entzogen, dem er diesmal, aller ärztlichen
Rettungsversuche ungeachtet, schwerlich hätte entgehen können".^
So erscheint Niethammers Vorwurf, daß es Feuer b ach an hin-
reichendem Verständnis für den Einfluß gesteigerter Affekte auf die
Zurechnungsfähigkeit habe fehlen lassen, schon in diesem Zusammen-
hang verständlich.'"^ Indessen hinderte ihn sein rigoroser Standpunkt
nicht, gelegentlich doch die Bedeutung starker Affekte zwar nicht für
eine psychologisch wirkende Beeinträchtigung der Zurechnungsfähigkeit,
wohl aber für die Strafwürdigkeit der Handlung anzuerkennen.
Joseph Auermann, ein ehrbarer und geachteter Handwerker, wurde
von seinem ehemaligen Knecht Poegel leidiger Schulden wegen auf
das elendigste gepeinigt und gequält. Alle Versuche, das geschuldete
Geld zu beschaffen, schlagen fehl. Verzweifelt kommt er abends aus
dem Wirtshaus heim: wenn ihn Poegel, der sich in seinem Hause
S.382. — ' S.380. — ' S. 391. — - S. 395.
Vgl. die Rezension in Ällg. Lit.-Ztg. 1829. Bd. I, Nr. 2.
254
festgesetzt hat, wiederum reizt, schlägt er ihn tot. So wird er
„tadelloser Mensch und Bürger . . . zuletzt doch ein Mörder". Das
Gericht verurteilt ihn zum Tode — nach Feuerbach, „dem strengen
Rechte gemäß". Allein hier heißt es, Gerechtigkeit mit Billigkeit
versöhnen, zwischen der „unbeugsamen Strenge des unwandelbaren
allgemeinen Gesetzes und der wandelbaren Veränderlichkeit mensch-
lichen Verschuldens mit Weisheit auszugleichen". Äuermann ist kein
verderbter Verbrecher, er handelte unter dem Drang unverschuldeter
Zufälle und in der „Verwirrung eines an Verzweiflung grenzenden
Gemütszustandes". So beantragt Feuerbach auf dem Gnadenwege
eine Milderung der Strafe. Nicht, weil er nicht zurechnungsfähig
war in dem Sinne, daß seine Tat sich nicht unter die Strafdrohung
des Gesetzes subsumieren ließe, sondern weil er zu denen gehört,
die „wegen ihrer Tat mehr als Unglückliche zu bemitleiden, denn als
Missetäter zu verabscheuen sind".^ Eine einleuchtende Beurteilung,
und doch eine Anomalie in Feuerbachs Zurechnungslehre, indem er
hier selbst die Tat nach moralischen Maßstäben mißt. Vom Stand-
punkt seiner bewußt ethisch indifferenten Zurechnungslehre hätte er
es, so wie K. E. Schmid es zu diesem Fall tadelnd anmerkte, als
Inkonsequenz und Verwirrung ablehnen müssen, daß „sich die Rechts-
pflege auf die Frage einläßt, ob der Verbrecher ein gefährlicher, böser
oder ein moralisch achtenswerter Mensch sei".^ Daß Feuerbach selbst
im Gegensatz hierzu eine zu schroffe Divergenz zwischen ethischen
und juristischen Werturteilen als unerträglich empfand, beweist, daß
das Strafrecht eben doch nicht auf eine gewisse Resonanz moralischer
Beurteilung verzichten kann. Aber gerade, wenn, wie bei Feuerbach,
nur ganz ausnahmsweise ethische Gesichtspunkte maßgebend sind,
entsteht die Gefahr einer subjektiven und einseitigen Auswahl der
privilegierten Fälle. Das lehrt die Vergleichung der Beurteilung
Auermanns mit der Geschichte von den „Vorarlberger Patrioten".
Als im Jahre 1796 die Heere Napoleons die Österreicher in
Tirol bedrängten, verließen die Spitzen der Behörden von Bregenz,
angeblich auf Befehl der Regierung, die Stadt. Das Volk fühlte sich
enttäuscht und verlassen und witterte Verrat. Man versicherte sich
schließlich der Beamten und brachte sie in das Kloster St. Peter bei
Bludenz. Aber die einmal geweckte Erregung schlug immer höhere
Wellen. Bewaffnete Bauern wurden zur Bewachung der Landesverräter
aufgeboten, und die allgemeine Stimmung wurde, nachdem man nach
Kriegsbrauch auf öffentliche Kosten zu essen und zu trinken
' Aktenmäßige Darstellung S. 154 ff.
" Allg. Lit.-Ztg. 1809. Bd. III, Nr. 169, S. 139.
255
begonnen hatte, immer hemmungsloser und undisziplinierter, bis
schließlich die Internierten von ihren Wächtern auf brutale Weise
umgebracht wurden. Die österreichische Regierung hat dann die
Hauptschuldigen zur Rechenschaft gezogen, aber nach kurzer Strafzeit
„bei den neuerdings eingetretenen Kriegsverhältnissen" „aus Staats-
rücksichten" entlassen. Als Tirol 1805 durch den Frieden zu Preßburg
unter bayerische Herrschaft kam, war nur noch der Haupträdelsführer
Fr. Jos. Tochofen in Haft. Einem Gnadengesuch wurde nicht statt-
gegeben. Feuerbach kann in ihm nur einen nichtswürdigen Burschen
sehen, der aus Haß gegen die bürgerliche Ordnung und aus Eitelkeit
„die allgemeine Stimmung der Gemüter schnell ergriff, den leicht zu
betörenden patriotischen Eifer seiner rohen unwissenden Landsleute
als Werkzeug zu seinen schändlichen Absichten mißbrauchte".^ Ob er
wirklich ein solcher abgefeimter Verführer war, läßt sich heute nicht
sagen. Immerhin hätte es nahegelegen, anzunehmen, daß auch sein
Verschulden unter dem Einfluß äußerer Umstände und innerer Erregung
milder zu beurteilen ist. Zweifellos hätte bei der Prüfung der Zu-
rechenbarkeit untersucht werden müssen, wie weit die Furcht vor der
drohenden Invasion die Erbitterung gegen die flüchtigen führenden
Beamten gesteigert, wie weit selbst der Rädelsführer der Massen-
suggestion, dem Einfluß der kriegerischen Atmosphäre unterlag und
die Tat nur aus dem Rausch maßlos gesteigerter Affekte erklärbar ist.
Aber eben dafür ließ die Zurechnungslehre Feuerbachs keinen Raum,
und so war es nur eine Konsequenz, wenn er, wie ihm der Rezensent
Fr. Meister vorwarf, den Einfluß „patriotisch -politischer Gefühle in
Zeiten der Kriegsdrangsale" auf die Zurechnung außer acht ließ.^
Handelt es sich hier günstigenfalls um momentane außergewöhn-
liche Erregungszustände innerhalb der Breite der Gesundheit, so kann
in andern Fällen das Vorhandensein einer schweren geistigen Erkrankung
nicht zweifelhaft sein. Wie eine erschütternde Anklage wirkt die Tragödie
des jungen Mathias Lenzbauer. Lenzbauer erschlug seinen kleinen
Bruder im Walde, dessen Erbteil ihm die heißersehnten Mittel verschaffen
sollte, um sich als Maurer freisagen zu lassen. Eine ganze Reihe
von Umständen hätten ohne weiteres auf pathologische Momente hin-
weisen müssen. Die Leiche war auf bestialische Weise verstümmelt,
die Gedärme herausgerissen und um einen Ast geschlungen. Die
Zeugen bezeichneten den Täter zwar als nicht blödsinnig, doch habe
er immer „so etwas Schlüffelartiges an sich", er sei „nicht ganz just
im Kopf". In seiner Jugend hatte er stark an Kopfschmerzen gelitten
Äktenmäßigc Darstellung S. 222.
AUg. Lit.-Ztg. 1829. Bd. I, Nr. 2, S. 11.
256
und war völlig „würflig" und zur Arbeit unfähig, wenn er nicht alle
Jahr zur Ader gelassen wurde. So machten der Untersuchungsrichter
und der als Defensor fungierende hofgerichtliche Korreferent ernste
Zweifel an der geistigen Gesundheit des Inquisiten geltend. Anders
die Beurteilung Feuerbachs, in der sich die Gefahren einer logischen
Interpretation seelischer Vorgänge zeigen. Das Motiv zur Tat, das
Streben nach dem Geld, um sich freizusagen, die Wahl des geeigneten
Mittels, die Überlegung und Bedachtsamkeit bei der Tat, das vorsichtige
Leugnen und Beschönigen vor Gericht — alles schließt sich nach
Feuerbach zu einer lückenlosen Kette zusammen und dieser,
naturgemäß vom Interpreten konstruierte, logische Zusammenhang
der Handlungsweise ist ihm die beste Gewähr für den „gesunden
Verstandesgebrauch Lenzbauers". Auch der Landesgerichtsarzt konnte
nicht die „mindeste Verstandesschwäche" an ihm wahrnehmen. Die
unmenschlichen Verstümmelungen erklärt zwar Feuerbach aus einer
„Gemütsverwirrung", aber diese war erst eine Folge des Mordens:
Entschluß und Beginn der Tat kommen mit kalter Überlegung zustande,
erst die Ausführung der Bluttat erhitzt die Leidenschaften bis zu Wahn-
sinn und Raserei. „. . . wer die Schranken der Natur mit frevelnder
Hand durchbrochen hat, . . . der wird zum Tier, das zuletzt in seinen
eigenen Greueln sich gefällt und von Untat zu Untat selbst über die
Schranken seiner Verstandeszwecke hinauseilt, dem gezähmten Löwen
gleich, der, sobald er frisches Menschenblut gekostet hat, selbst seinen
geliebten Wärter zerreißt und gegen ihn in wollüstigem Blutdurst wütet."
Aber deshalb ist er nicht unzurechnungsfähig, denn der Entschluß und
Anfang der Tat waren ja zurechenbar! ^ Darum ist es nach Feuerbach
„nur ein Beweis der tiefsten Unkunde und der höchsten Begriffs-
verwirrung — welcher jedoch weit öfter in gerichtsärztlichen
Gutachten als in richterlichen Entscheidungsgründen gegeben wird —
wenn solche . . . Erscheinungen geradezu als Beweise eines die Zu-
rechnungsfähigkeit ausschließenden Gemütszustandes des Verbrechers
aufgeführt werden".- So vermochte Feuerbach in jenem Unglücklichen
keine andere Verkehrtheit zu finden, „als die Verkehrtheit seines
Herzens und jene sittliche Zerrüttung des Geistes, ohne welche
noch kein Mensch zu großen Missetaten gekommen ist".^ So ward
das Todesurteil bestätigt, und, „wiewohl sehr unglücklich", vollzogen.
Wohl die berühmteste Persönlichkeit jener merkwürdigen Ver-
brecher ist der unglückliche Querulant Ludwig Steiner. Steiner
war Schuhmachermeister in Regensburg. Als man einst in der
' Man könnte also in Feuerbachs Sinn geradezu von einer actio libera
in causa sprechen!
* Äktenmäßige Darstellung S. 4L — ^ Ebendort S. 38.
257
Zunft um einen neuen Fürmeister stritt, natim sich Steiner eines
seiner Meinung nach zu Unrecht zurückgedrängten Kollegen an. In
der Hitze des Streites behauptete er plötzlich, gesehen zu haben,
wie der Führer der Gegenpartei mit einem der Zunftlade gehörenden
Sechser so lange gespielt hätte, bis er ihn heimlich in die Tasche
schob. Die Folge war ein Injurienhandel, in dem Steiner zu 24 Stunden
Polizeiarrest, Abbitte und Erstattung der Kosten verurteilt wurde. Er
hielt sich für unschuldig, glaubte, ihm sei Unrecht geschehen, und so
beginnt mit diesem Urteil der verhängnisvolle Kampf dieser Michael-
Kohlhaas -Natur um sein vermeintliches Recht. Er legt Berufung ein,
aber das Urteil wird bestätigt. Mit der Verkündung und Vollstreckung
ist der Magistratsrat Elsperger beauftragt. Einen Antrag auf Rekurs
ans Ministerium lehnt Elsperger ab. Steiner bittet, noch einmal nach
Hause gehen zu dürfen, aber in „überstrengem hastigen Ämtseifer"
läßt ihn Elsperger sofort ins Gefängnis abführen. Krank kehrt er
nach zwei Tagen zurück, angeblich infolge schlechter Luft und Hitze
im Ärrestlokal. Zweimal fuhr er nach München, um die Wiederaufnahme
seines Prozesses zu bewirken. Vermögen, Geschäft, Familienglück fielen
dem unglücklichen Prozeß zum Opfer. Schließlich wird sein Rekurs
vom Staatsrat abgelehnt. Da trifft Steiner Elsperger auf der Straße,
gerät mit ihm in Wortwechsel und schlägt ihn nieder.
Mit genialer Einfühlung hat Feuerbach die einzelnen Stadien dieses
Werdeganges psychologisch entwickelt. Der Gedanke an sein Recht
verdrängt allmählich alles andere in der Gedankenwelt Steiners. Wer
ihm sein Recht nicht bestätigt, ist sein Feind, ist ein Intrigant. Weil
ja das Recht auf seiner Seite steht, so muß doch jeder einsehen, daß
er Recht hat. Nur bewußte Rechtswidrigkeit kann ihm vorenthalten,
was ihm zusteht: . . . also hat Elsperger ein falsches Protokoll unter-
geschoben. Gäbe es 100 Instanzen, er würde sie alle durchlaufen und
„von der höchsten abgewiesen, doch immer wieder von der untersten
anfangen". Ihm ist Rechtskraft ein „unverständliches Wort".^
War Steiner zurechnungsfähig? Zwei juristische und vier medi-
zinische Instanzen haben diese Frage geprüft und Feuerbach Anlaß
gegeben, seinen beißenden Spott über die ärztlichen Gegner zu ergießen.
„Seit die Ärzte sich in dem Gebiete der Rechtspflege in der Kunst
üben, aus gescheuten Leuten gutachtlich Narren zu machen,
gibt es selten einen Verbrecher, wäre er auch nach sonnenklarem Recht
der Gerechtigkeit verfallen, dessen moralisch juridischen Leiden die
Medizin nicht mit einem heilenden Vorrat psychischer Krankheiten
beizuspringen wenigstens versuchte."" Der Hausarzt beschränkte
' Aktenmäßige Darstellung S. 413. — - Ebendort S. 409.
17
258
sich, auf die Möglichkeit hinzuweisen, daß häufig derartige heftige
Leidenschaften in eine Trübung der Urteilskraft und momentanen
Wahnsinn ausarten. Der Gerichtsarzt nahm einen partiellen fixen
Wahnsinn, also eine Monomanie an. Alles und nur das, was mit
dem Prozeß in Verbindung stand, sei durch irrige Vorstellungen
beeinflußt. Ahnlich nahm auch das Medizinalkollegium Unzurechnungs-
fähigkeit wegen melancholischen Wahnsinns an. Gemäß diesem Gutachten
müßten nach Feuerbach „entweder alle Verbrechen aus Leidenschaft,
mithin ungefähr sieben Ächtteile aus der Liste der Justizsachen gestrichen
und der Heilkunde überwiesen oder es müßte den Leidenschaften zu-
gemutet werden, sich gerade ebenso verständig, abgemessen, kalt und
ruhig zu benehmen, als wenn sie — keine Leidenschaften, sondern
der klare trockene Hausverstand selbst wären". Der modernen patho-
graphischen Literatur vorgreifend meint Feuerbach, würde ein solches
Kollegium .auch Hamlet und Macbeth für geisteskrank halten und
den Dichtern, wenn sie „der Natur getreu Charaktere zu zeichnen,
Leidenschaften darzustellen glaubten", nachweisen, daß sie nur „Narren"
hervorgebracht haben. ^ Das Obermedizinalkollegium verwarf dann auch
alle bisherigen Gutachten, stellte aber doch fest, daß Steiners Gemütsart
bei der Tat verändert und „seine Selbstbestimmungskraft, das ist die
Freiheit seines Willens, trübend und gewissermaßen beschränkend
erscheint, sodaß hierin allerdings ein Milderungsgrund für Steiner
gesucht werden müsse". Auch dieses Urteil greift Feuerbach an.
Niemals sei es Sache des Arztes, dem Richter einen Strafmilderungs-
grund vorzuschreiben. Wie er in der „Revision" Freiheit nur als
absoluten Begriff, der keine gradweise Abstufung kennt, zu verstehen
vermochte, so erscheint ihm auch hier eine „gewissermaßen beschränkte"
Freiheit als Unding — „gewissermaßen" zudem „für den wissenschaftlichen
Verstand ein sehr übel klingendes, allgemein verrufenes Wörtchen" !^
Das Gericht erster Instanz verurteilte Steiner zum Tode, die zweite
Instanz aber unter Annahme verminderter Zurechnungsfähigkeit zu Zucht-
haus auf unbestimmte Zeit. Das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813
enthält zwar keine gesetzliche Anerkennung der verminderten Zurechnungs-
fähigkeit. Wohl aber hatten die amtlichen Anmerkungen — dem Sinn
des Gesetzes und dem Willen Feuerbachs entgegen — die gesetzliche
Strafmilderung wegen „Mangels am Tatbestand" auf Handlungen nicht
voll Zurechnungsfähiger angewandt.^
Feuerbach bietet eine erhebliche Energie auf, um die ärztlichen
Zweifel an der vollen Zurechnungsfähigkeit Steiners ad absurdum
Ebendort S. 419. — ' Ebendort S. 420.
Vgl. oben Kap. V, S. 191 f.
259
zu führen. Hielt doch Steiners eigene Frau ihren Mann für normal:
„...er hat zu Hause alles vernünftig getan; wenn er närrisch
gewesen wäre, wie hätte er seine Profession treiben können?"
„Man sieht," sagt Feuerbach, „die Schustersfrau hat ein gesunderes
Urteil über Geisteskrankheit als mancher gelehrte Doctor medicinae."^
Dies war bei Feuerbach mehr als eine bloß agitatorische Berufung
auf den „gesunden Menschenverstand". Denn tatsächlich entspricht
seine eigene rationalistische Beurteilung des Seelenlebens dem
vulgären Denken. Ganz ähnlich wie die Schustersfrau vermag auch
er nicht an eine geistige Störung zu glauben, weil bei Steiner alle
Handlungen ganz vernünftig erscheinen und durch einen logischen
Zusammenhang verständlich sind. Ähnlich wie bei Lenzbauer
ist ihm die aus einleuchtenden Motiven erklärbare Tat selbst ein
Beweis verständigen Handelns. „Wer gleichwohl noch zu behaupten
wagt, Steiner sei demungeachtet wahnsinnig gewesen und habe im
Wahnsinn gehandelt, weiß entweder gar nicht, was er will oder will
nichts Geringeres als die Behauptung: ein Mensch könne zu einer und
derselben Zeit bezüglich einer und derselben Handlung erwiesenermaßen
vollkommen verständig und doch zugleich, ohne daß man das mindeste
hiervon, vielmehr das Gegenteil wahrnimmt, im Grunde der Seele
wahnsinnig sein." Nur wo Wahnvorstellungen das Bewußtsein der
Handlung und ihrer Rechtswidrigkeit trüben, vermag solche intellek-
tualistische Denkart an einen Ausschluß der Zurechnungsfähigkeit zu
glauben. Ja, hätte sich z. B. „Steiners Haß bis zu der Vorstellung
potenziert, Elsperger sei nicht der Magistratsrat Elsperger, sondern
ein wildes Tier oder der leibhaftige Satan, der ihn zerreißen wollte
oder er, Steiner selbst, sei ein Erzengel, der von Gott auf die Erde
geschickt worden, den höhnischen Magistratsrat für die an dem braven
Schuster Steiner verübten Ungerechtigkeiten zu strafen . . .", dann
könnte von einer im Wahnsinn verübten Tötung die Rede sein."
Diese einseitige Stellungnahme wurde auch hier verstärkt durch
den Gedanken des Feuerbachschen Hbschreckungsstrafrechts,
das, je stärker und unwiderstehlicher Leidenschaften und Triebe zur
Tat drängen, um so härter und rücksichtsloser den Kampf gegen die
verbrecherischen Neigungen aufnehmen zu müssen glaubt. Gerade
in diesem Zusammenhang steht seine psychologische Zwangstheorie
an Härte und Schroffheit dem rigorosen Pathos der Kantischen
kategorischen Straftheorie nicht nach. Wohl haben die Stürme der
Leidenschaft und übermäßige Erregungen Steiners seelisches Gleich-
gewicht erschüttert und die Herrschaft der Vernunft gefährdet, aber
' Äktenmäßigc Darstellung S. 417. — ' Ebendort S. 412.
17*
260
das sind lediglich „die moralischen und juridischen Krankheiten
der Seele, welche ganz außer dem Kreise der medizinischen Fakultät
liegen und für welche keine Apotheken und Narrenspitäler,
sondern, wenn dagegen vernünftige Vorstellungen, religiöse und sittliche
Äbhaltungsgründe, selbst die strafdrohenden Gesetze nichts fruchten,
Gefängnisse, Zuchthäuser und Schaffotte errichtet sind"/
Ähnliche Gedanken waren späterhin auch anderwärts wirksam.
Im Jahre 1857 wurde in Tilsit der Arbeiter Wilhelm Nehring
hingerichtet, der den Kreisgerichtsrat Meyrhöfer erschossen hatte.
Nehring war wegen Verdachts des Diebstahls verhaftet gewesen und
ihm waren bei der Entlassung Geld und Kleidungsstücke abhanden-
gekommen. 1 7 Jahre hindurch überlief er Behörden und Gerichte
mit allen möglichen, zum Teil sinnlosen Beschwerden, und verfolgte
den Kreisgerichtsrat Meyrhöfer als den vermeintlichen Urheber des
erlittenen Unrechts mit Haß und Bedrohungen. Im Gegensatz zum
Fall Steiner bejahten hier die Ärzte, obwohl Nehring früher für
geisteskrank erklärt und zeitweise in der Irrenanstalt Königsberg
gewesen war, nach der Tat die Zurechnungsfähigkeit. So sprachen
die Geschworenen ihr Schuldig. Erst dem Justizminister kamen
Bedenken. Er forderte ein Gutachten der Wissenschaftlichen Depu-
tation für das Medizinalwesen. Die Deputation gibt ähnlich wie
Feuerbach eine feine und eingehende psychologische Analyse der
Entwicklung des Querulanten. Solche Momente können auch nach
ihrer Meinung der Entstehung des Wahnsinns günstige Bedingungen
darstellen; aber das berechtigte nicht, das Vorhandensein einer
geistigen Erkrankung selbst vorauszusetzen. So wurde das Todes-
urteil bestätigt.^
Erst die neueste Zeit vermochte dem Querulantenwahn gerecht
zu werden. Freilich nicht in jenem einfachen Sinn der Monomanien-
lehre. Wohl aber lernte man den Einfluß gesteigerter Reizbarkeit,
überwertiger Ideen und die oft in kaum merklichen Abgrenzungen
in das normale Vorstellungsleben sich einfügenden Wahnsysteme in
ihrer symptomatischen Bedeutung für geistige Gesamterkrankungen
verstehen. So ward auch Steiner und Nehring eine späte Ehren-
rettung. Pelmann reiht beide seinen Psychischen Grenzzuständen
ein.^ Nach seinem Urteil würden aller Wahrscheinlichkeit nach beide
„heute eine andere Beurteilung gefunden haben und als das erkannt
worden sein, was sie tatsächlich waren — nämlich geisteskrank".
' Äktenmäßige Darstellung S. 412.
- Sello, Die Irrtümer der Strafjustiz. Berlin 1911. S. 79 ff.
* Pelmann, Psychische Grenzzustände 4. Aufl., S. 166.
261
Und Sello nimmt beide auf unter seine Sammlung von Irrtümern
der Strafjustiz,' wo sie nunmehr aufs neue eine beredte Sprache
über die Beschränktheit menschlichen Richtens und Urteilens reden.
Birnbaum, der beste Schilderer psychopathischer Persönlichkeiten,
hat auch das Charakterbild des degenerativen Querulanten gezeichnet
und neuestens gerade Feuerbachs psychologische Analyse des
Entwicklungsgangs Steiners als Dokument zur Psychopathologie
der katastrophalen Tat verwertet. Freilich, indem er, anders als
Feuerbach, für das blinde und hemmungslose Durchkämpfen des
subjektiv verfälschten, egozentrisch aufgefaßten Rechts die Erklärung
in Steiners unglückseliger Veranlagung zum psychopathischen
Querulanten sieht."
In den kriminalpsychologischen Arbeiten Änselm v. Feuerbachs
zeigt sich eine ähnliche Tragik, wie in seinen philosophisch-theoretischen
Deduktionen und seinem gesetzgeberischen Wirken. An dem einmal
gewonnenen Standpunkt hängt er mit solch leidenschaftlicher Energie,
daß er bei all seiner kritischen Begabung den eigenen Schöpfungen
gegenüber sich der Einsicht in Irrtümer und Bedingtheiten verschließt.
Im Anfang ein revolutionärer Neuerer, verfällt er alsbald selbst
in dogmatische Enge. Konsequenz und Beharrlichkeit erstirbt zu
scholastischer Starrheit. So fallen seine Lehren gerade da der
Vergänglichkeit anheim, wo er mit allen Kräften um ihre dauernde
Geltung kämpft.
Aber der wirklichen Größe dieses Mannes vermag dies keinen
Abbruch zu tun. Nicht in den gewonnenen Ergebnissen, sondern
in dem Streben und Kämpfen um neue Ziele liegt sein bleibender
Wert, nicht im Inhalt seiner Lehren, sondern in der Bewegtheit und
der geistigen Bedeutung seines Wirkens. Wo er selbst die Wandel-
barkeit irdischer Wissenschaft und menschlicher Institutionen aufwies,
als kühner Neuerer die Geister aufrüttelte und Feststehendes zu Fall
brachte, hinter anerkannten Lösungen verborgene Problematik bloß-
legte, gingen von seinem Wirken wie aus einer reichen Quelle eine
Fülle von Anregungen auf die Zeitgenossen aus und über diese
auf alle die, welche hinter der virtuosen Dialektik etwas von der
' Sello, Die Irrtümer der Strafjustiz. Berlin 1911. S. 29 ff. und 79 ff.
^ Karl Birnbaum, Die psychopathischen Verbrecher. Berlin 1914.
S. 266 ff. Psychopathologische Dokumente. Berlin 1920. S. 191 ff. — Von
älteren Stimmen für die Anerkennung der psychopathologischen Bedeutung
des Querulantenwahns sei genannt: Ed. Hitzig, Über den Querulanten-
wahnsinn. Seine nosologische Stellung und seine forensische Bedeutung.
Leipzig 1895.
262
schöpferischen Kraft eines Großen zu spüren vermochten. So ver-
ehrten ihn die Freunde nach Hit zig s Wort^ mit ganz Deutschland
als den „Schöpfer neuen Lebens in der Kriminalrechts-
wissenschaft".
Im Wandel der Geister an das Beständige zu glauben und im
ewigen Wechsel für das Unvergängliche zu wirken, gehört zum Ethos
wahrer Wissenschaftlichkeit. In Änselm v. Feuerbach lebte etwas
von diesem Geist und er hat selbst in besonderer Stunde im Anschluß
an ein Wort aus Schillers Jenaer Antrittsvorlesung solche Gedanken
zum Ausdruck gebracht.^ „Der beste Teil aller literarischen Tätigkeit
besteht nicht sowohl in dem, was sie gibt, als in demjenigen, was
sie in andern Geistern anregt und durch diese wirkt. Jenes
geht notwendig mit der wechselnden Zeit wenigstens in veränderten
Formen unter; dieses aber ist, wie einer unserer großen Schriftsteller
sich ausdrückt: die Tat, welche lebt und weitereilt, wenn auch der
Name ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte."
So mag auch heute noch, wer hinter den Bedürfnissen des Alltags
den tieferen Problemen der Strafrechtswissenschaft nachsinnt, in seiner
Arbeit immer wieder Gedanken und Spuren jenes größten deutschen
Kriminalisten begegnen, wenn er, im Geiste Feuerbachs ewiger Wahr-
heit und Gerechtigkeit in leidenschaftlicher Hingebung dienend, den
wechselnden Gestaltungen wandelbarer menschlicher Satzung neue und
immer vollkommenere Formen sucht.
Und umzuschaffen das Geschaffene,
Damit sichs nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendges Tun.
' Hitzigs Zeitschrift für die Kriminalrechtspflege in den preußischen
Staaten I. Bd., 1. Heft. Berlin 1825. Widmung an Feuerbach.
- Lehrbuch des peinlichen Rechts IX. Aufl. 1826. Vorrede S. VIII.
263
Literatur.
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Verhältnis zueinander und zu dem positiven Recht und dessen
Geschichte. Neustadt a. d. O. 1835.
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S. 230-275.
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Ällfeld, Bedeutung des Rechtsirrtums im Strafrecht. Erlanger Rektorats-
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Älmendingen, H. v., Versuch über das Prinzip des Strafrechts. Bibliothek
für peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde. I. Teil, 3. Stück.
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— Rezension von Grolmans Grundsätzen der Kriminalrechtswissen-
schaft. Bibliothek für peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde.
I.Teil, 3. Stück, S. 290 ff., und II. Bd., 1. Stück, S. 349 ff.
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Anmerkungen zum Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern nach
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Sammlung der wichtigsten königlichen Reskripte in Beziehung auf das
Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern von 1813 Bd. I (litho-
graphiert), dazu (gedrucktes) Alphabetisches Sachregister über alle
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über das Königlich Bayerische Strafgesetzbuch Bd. II. 1817 — 18.
(Lithographiert.)
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Schulz, W., und Welcker, C, Geheime Inquisition, Zensur und Kabinetts-
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Leipzig 1800.
— Über die Grenzen des Philosophierens in einem System der Straf-
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Jena und Leipzig 1804—1841.
Ännalen der deutschen und ausländischen Kriminalrechtspflege.
Herausgegeben v. Ed. Hitzig. Bd. 1 , Heft 1 -34. Berlin 1828- 1837. —
Dasselbe: Fortgesetzt von Demme. Herausgegeben von Schlettcr.
Bd. 1—73. Ältenburg und Leipzig 1837—1855.
Archiv des Kriminalrechts. Herausgegeben von E. F. Klein, G. A.
Kleinschrod, C. G. Konopak. Bd. 1—7. Halle 1799 — 1807. —
Neues Archiv des Kriminalrechts. Herausgegeben von Kleinschrod,
Konopak, Mittermaier. Bd. 1 — 14. Halle 1817—1834. — Archiv
des Kriminalrechts. Neue Folge. Herausgegeben von Abegg,
Birnbaum, Heffter, Mittermaier, Wächter. Jahrg. 1834—1857.
Archiv für Kriminologie. (Kriminalanthropologie und Kriminalistik.)
Begründet von H. Gross. Herausgegeben von R. Heindl (Gross'
Archiv). Bd. 1—74. Leipzig 1899 — 1921.
Archiv des öffentlichen Rechts. Begründet von Laband und Stocrk.
Herausgegeben von Piloty, Mendelssohn Bartholdy, Triepel, Koell-
reutter. Bd. 1 — 41. Freiburg und Tübingen 1886 — 1921.
Archiv für Strafrecht und Strafprozeß. Begründet von Goltdammer.
Fortgesetzt von Kohler. Herausgegeben von Klee. Bd. 1 — 69.
Berlin 1833 — 1920.
Archiv für zivilistische Praxis. Begründet von Genslcr, Mittermaier,
Schweitzer. Herausgegeben von Blume, Heck, Rümelin, Schmidt.
Bd. 1 — 118. Heidelberg und Tübingen 1818 — 1920.
Beiträge zur Gesetzgebung und praktischen Jurisprudenz, mit
besonderer Rücksicht auf Bayern. Herausgegeben von Zu Rhein.
Bd. 1—3. München 1827-1831.
Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetz-
kunde. Herausgegeben von D. Karl Grolman. I.Teil, Stück 1 — 3.
Herborn und Hadamar 1797 — 1799. — Dasselbe: Herausgegeben
von L. Harscher v. Almendingen, K. Grolman, P. Joh. A. v. Feuerbach.
2.Bd. Göttingen 1800. — Dasselbe: 2. Bd., Stück 2— 3. Gießen 1804.
3. Bd., Stück 1. Gießen 1804. (Auch unter dem Titel: Kritik des
Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuch für die
kurpfalzbayerischen Staaten. Von P. Joh. A. v. Feuerbach. 3 Teile.
Gießen 1804.) — Bibliothek des peinlichen Rechts, der peinlichen
Gesetzgebung und Gesetzkunde. Von Almendingen, Feuerbach,
Grolman. 1. Teil. Gießen 1804.
282
Blätter für Polizei und Kultur, Schleswig -Holsteinische. Heraus-
gegeben von Niemann. Bd. 1 — 4. Ältona-Kiel 1799 — 1800. —
Dasselbe: Jahrg. 1801, Bd. 1 und 2 und Suppl.-Bd. 1, 2; Jahrg. 1802,
Bd. 1 und 2; Jahrg. 1803, Bd. 1.
Blätter für Rechtsanwendung, zunächst in Bayern. Herausgegeben
von J. Ä. Seuffert und Chr. C. Glück. Bd. 1 — 57. Erlangen
1836 — 1892.
Gerichtssaal, Zeitschrift für Zivil- und Militärstraf recht und Straf-
prozeßrecht sowie die ergänzenden Disziplinen. Begründet von
Jagemann. Herausgegeben von Oetker und Finger. Bd. 1 — 88.
Stuttgart 1849 — 1921.
Jahrbücher der deutschen Rechtswissenschaft u. Gesetzgebung.
Herausgegeben von H. Th. Schletter. Bd. 1 ff. Erlangen 1855 ff.
Jahrbücher der gesamten deutschen juristischen Literatur.
Herausgegeben von F. Ch. K. Schunk. Bd. 1 — 30. Erlangen
und Neustadt a. d. O. 1826 — 1836.
Jahrbuch der Gesetzgebung und Rechtspflege im Königreich
Bayern. Von Gönner und Schmidtlein. Bd. 1 — 3. Erlangen
1818 — 1820.
Kant-Studien, Philosophische Zeitschrift. Herausgegeben von Vaihinger
und anderen. Bd. 1 — 26. Hamburg, Leipzig und Berlin 1897 — 1921.
Dazu Ergänzungsheftc 1—54. Berlin 1906 — 1921.
Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft. Redigiert in Tübingen
von Mohl, Scheurlen, Schrader, Wächter. Bd. 1 — 6. Tübingen und
Stuttgart 1826 — 1829.
Leipziger Literatur-Zeitung. Jahrg. 1802 ff.
Magazin für die Philosophie und Geschichte des Rechts und
der Gesetzgebung. Angelegt und herausgegeben von D. Karl
Grolman. Bd. 1 — 4. Gießen und Darmstadt 1800 — 1844. (Bd. 3
und 4: Magazin für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung.)
Magazin vor die Geschichte, Staatsklugheit und Staatenkunde.
(Kielsches.) Herausgegeben von V. Ä. Heinze. Bd. 1 und 2.
Kiel und Leipzig 1783 — 1784.
Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform.
Herausgegeben von Gustav Äschaffenburg (Äschaffenburgs Monats-
schrift). Jahrg. 1 — 12. Heidelberg 1905-1922.
Neuer Nekrolog der Deutschen. Herausgegeben von Fr. Ä. Schmidt.
Jahrg. 1 ff. Ilmenau 1824 ff.
Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrter.
Herausgegeben von F. J. Niethammer. Bd. 1 — 6. Neustrelitz
1795 — 1798.
Philosophische Monatshefte. Begründet von Bergmann. Fortgesetzt
von Natorp. Bd. 1—27. Berlin und Heidelberg 1868 — 1891.
283
Teutscher Merkur. Bd. 1 ff. Weimar 1773 — 1779. — Neuer Teutscher
Merkur. Weimar 1790 — 1810. Begründet von Ch. M. Wieland.
Seit 1800 herausgegeben von Böttiger.
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie. Heraus-
gegeben von Ävenarius. Jahrg. 1 — 6. Leipzig 1877 — 1892.
Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken. Bd. 1 — 6. Leipzig und
Ältenburg 1816 — 1821. Neue Reihe: Bd. 1 — 6. Leipzig 1821—1827.
3. Reihe : Ein biographisches Journal für die Geschichte unserer Zeit.
Bd. 1-7. Leipzig 1829 — 1841 (Brockhaus).
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Begründet
von Liszt und Dochow. Herausgegeben von Lilienthal, Hippel,
Kohlrausch, Delaquis, Feisenberger (Z. Str. W.). Bd. 1 — 42.
Berlin und Leipzig 1881 — 1921.
Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft. Herausgegeben
von Savigny, Eichhorn, Göschen. Bd. 1 — 15. Berlin 1815 — 1850.
Zeitschrift für die Kriminalrechtspflege in den Preußischen
Staaten mit Ausschluß der Rheinprovinz. Herausgegeben
von Ed. Hitzig. Bd. 1—24 (Heft 1 — 48). Berlin 1825 — 1833, —
Repertorium 1 — 4, 1830 — 1833. Suppl.-Heft zu Bd. 24, 1833.
Suppl.-Bd. 1, 1836.
Zeitschrift für Staatsarzneikunde. Begründet von R. Henke.
Fortgesetzt von Siebenhaar und anderen. Jahrg. 1 — 44 (Bd. 1 — 88
und Suppl.-Bd. 1 — 47). Erlangen 1821—1864.
Zeitschrift für Theorie und Praxis des bayerischen Zivil-,
Kriminal- und öffentlichen Rechts. Herausgegeben von
Zu Rhein. Bd. 1, 1—3, und Bd. 2, 1-2. München 1834—1836.
W, GENTE • WISSEHSCBAFTllCHER VERLAG • HAMBURG
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Herausgeber: Prof. Dr. M. LIEPMÄNN
Heft i: E. GUCKENHEIMER, Der Begriff der ehrlosen Gesinnung
im Strafrecht. Ein Beitrag zur strafrechtlichen Beurteilung
politischer Verbrecher. Hamburg 1921.
„Eine neue strafrechtliche Schriftenreihe! Gewiß ein Wagnis, eben jetzt zu
beginnen in einer Zeit, in der so vielen anderen der Mut zur Fortsetzung gesunken
ist. Doch um so dankbarer muß man dem Herausgeber und denen, die sein Werk
ermöglichen, sein." Prof. E x n e r, Zeitschr. {. d. ges. Strafrechtswissenschaft XLIII, 401 .
„Die von Guckenheimer behandelte Frage ist insbesondere de lege ferenda von
großer Bedeutung. Mag man den Ausführungen des Verlassers im einzelnen zu-
stimmen oder nicht, jedenfalls ist es höchst dankenswert, daß er das schwierige
Problem der ehrlosen Gesinnung einer eingehenden historischen und dogmatischen
Untersuchung unterzieht. Wenn alle Hefte des neuen Sammelwerks diesem ersten
entsprechen, so bedarf es nicht der im Vorwort enthaltenen Rechtfertigung für den
Versuch der Begründung dieses Sammelwerks." Oberreichsanwalt Dr. Ebermayer,
Leipziger Zeitschrift für deutsches Recht, Heft 17/18 vom 1. 9. 1922.
Heft 2: M. LIEPMÄNN, Die Reform des deutschen Strafrechts.
Kritische Bemerkungen zu dem ,, Strafgesetzentwurf'*.
Hamburg 1921.
„Der Verfasser tritt den bisherigen überwiegend günstigen Beurteilungen des
Regierungsentwurfs zu einem deutschen Strafgesetzbuch von 1919 und der Vorstellung,
als liege in ihm eine reife Reformarbeit großen Stils vor, scharf entgegen... flls
Gesetz wäre er bereits im Moment seiner Geltungskraft veraltet. Denn er ist w^eit
davon entfernt, den kriminalpolitischen und kulturellen Forderungen der Gegenwart
zu genügen. Dies nachzuweisen, ist der Zweck der höchst lesenswerten und tem-
peramentvollen warmherzigen, von tiefem Verantwortungsgefühl erfüllten Schrift."
Wirkt. Geh. Rat Prof. D. Adolf Wach, Juristische Wochenschrift 1922, Heft 13, S. 985.
„Was das Werk des Verfassers so wertvoll macht, ist der Umstand, daß er es
verstanden hat, das Ergebnis der modernen Forschung in kurzer und wirksamer Weise
zusammenzufassen und den vielfach veralteten Bestimmungen des Entwurfs die neuen
Gedanken in einleuchtender und scharf geschliffener Form gegenüberzustellen. Dem
Kenner gibt diese Kritik eine schnelle Übersicht über das, was die moderne Straf-
rechtsschule und nicht zum wenigsten der Verfasser selbst in früheren Schriften
geleistet hat; den Nichtfachmann führt sie in leicht faßlicher Weise in die Probleme
ein, die unser Strafrecht bewegen... Das vorliegende Werk wird, so hoffen wir, ein gut
Teil dazu beitragen, daß das Gesetz in der Behandlung des Neuen eine glücklichere
Hand zeigt!" Oberlandesgerichtsrat Dr. Boden, Hamb. Fremdenblatt v. 25.2. 1922.
Als weitere Hefte werden erscheinen:
WALTER HERRMANN, Der Erziehungsgedanke im Hambur-
gischen Jugendgefängnis Hahnöfersand.
HENRY PHILIPP, Der Kampf gegen die Einzelhaft im neun-
zehnten Jahrhundert.
HILDEGARD v. HEIMANN, Fürsorgeerziehung an verwahrlosten
Mädchen. Unter Berücksichtigung der Erfahrungen in
Hamburg - Ohlsdorf.
HANS GROSSMANN, Entwicklung und Kritik der Lehre vom
Dolus eventualis.
MAX MÖLLER, Die Gefangenenarbeit in Hamburg- Fuhlsbüttel
während der letzten 30 Jahre.
HANS LEVIEN, Die Ehrenstrafen.